QEP: ^HAtSAma
BOUGHT WITH THE INCOME
FROM THE
SAGE ENDOWMENT FUND
THE GIFT OF
flettrg W. Sage
1891
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5474
CORNELL UNIVERSITY LIBRARY
3 1924 092 348 584
Cornell University
Library
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ADOLF HARNACK
REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND
REDEN UND AUFSlTZE
VON
ADOLF HARNACK
EESTER BAND
— a®c>-
aiESZEN
J. eio;ker'sohe veelaqsbtjchhandlung
(ALFBED tOPELMANN)
1904.
T
Druok von C. &. Roder in Leipzig.
MEINEM SCHWA&ER UND FREIINDE
HANS DELBRtJCK
VORWORT
In diesen beiden Banden habe icb solclie „Redeii und
Aufsatze" gesammelt, die sich. an einen weiteren Leserkreis
■wenden. Sie stammen aus einem Zeitraum von mekr als
zwanzig Jakren. Obschon ici jetzt dieses und jenes Thema
etwas anders behandeln wiirde, glanbte ich. docli die ein-
zelnen Stiicke unverandert in der Grestalt aufnehmen zu
sollen, in welcber sie nrspriinglicli erscMenen siad, da mir
kein einziges in seinen Grand gedanken fremd geworden ist.
Die „Ileden" des ersten Bandes sind so geordnet, dafi sie
einen Gang durch. die Kircliengeschiehte darstellen; die
des zweiten Bandes beziehen sicb vorneTimlich auf wichtige
kirclilicbe Probleme der Gegenwart. Einen Aufsatz —
den ersten des zweiten Bandes — , der nur in englischer
IJbersetzTing erscMenen ist, babe icb in dieser Spracbe aufs
nene zum Abdruck gebracht, da icb das deutsche Manu-
skript nicbt mebr besitze und eine Riickiibersetzung sieb
nicbt empfabl. Fortlassen wollte icb das Stiick aber nicbt,
da es die "Wendung, welcbe die Gescbicbte der Erforscbung
des TJrcbristentnms um das Jabr 1885 genommen bat,
widerspiegelt.
Berlin, im September 1903
ADOLF HARNACK.
INHALTSVERZEICHNIS DES ERSTEN BANDES
EESTE ABTEILUNG: EBDEN
Seite
I. Legenden als GeschiclitsqueUeii (1890) .... . 1
n. Sokrates und die alte Kirche (1900). . . 27
m. Augustins Konfessionen (1887) ... .49
- IV. Das Monehtum, seine Ideale UDd seine GeschicMe (1880) 81
^ V. Martin Luther, in seiner Bedeutung fiii- die Geschichte
der Wissenschaft und der Bildung (1883) . . . 141
- VI. Philipp MelancMlion (1897) 171
Vn. August Neander (1889) . . 193
ZWEITE ABTEILUNG: AUESATZB
I. Das apostoEselie Glaubensbekenntnis, ein geschichtliclier Be-
richt nebst einer Einleitung und einem Nachwort (1892) 219
n. Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Zum Kampf
um das Apostolikum (1892) . . 265
in. Als die Zeit erfflUet war. Der HeUand (1899/1900) . 299
IV. tJber die jiingsten Entdeckungen auf dem Gebiete der
altesten Kirchengeschichte (1898) . . 313
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
^m ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^
REDEN: I
LEGENDEN ALS GESCHICHTSQUELLEN
Vortrag
gehialten am 4. II. 1890 in der Neuen Kirclie zu Berlin. Erschienen
im Druck in: PreuB. Jahrbiiclier, Band 65 (1890) Heft 3.
Luther hat als Student auf der Bibliothek zu Erfurt
zum erstenmal eine Bibel gefunden und mit freudigem Er-
staunen das unbekannte Buck aufgeschlagen. — Nach
seinem Gesprach mit dem Kardinal Cajetan in Augsburg
ist dieser in die "Worte ausgebrochen: „ich will nicht weiter
mit dieser Bestie reden; denn sie hat tiefe Augen und
wundersame Spekulationen im Kopfe". — Auf der Wart-
burg hat Luther das Tintenfafi nach dem Teufel, der ihn
bedrangte, geworfen, sodaC der Fleck noch heute zu sehen
ist: "Wer unter uns kennt diese Erzahlungen iiber Luther
nicht und halt sie nicht hoch? Ahnliche Geschichten,
Legenden, sind uns von vielen grofien Personen beiichtet,
und dariiber hinaus wunderbare Ereignisse. Die Wunden-
male des h. Franziskus, das Rosenwunder der h. Elisabeth,
der Kaiser Karl im Untersberg, der Kaiser Friedrich im
Kyffhauser, die reiche Kaiserlegende des Mittelalters iiber-
haupt. Dann wiederum unvergeBliche Worte, wie jenes
unerschiitterhche Gahleis: „Und sie bewegt sich doch", oder
jenes ruhrende des greisen Evangehsten Johannes, unab-
lassig wiederholt: „Kindlein, liebet euch untereinander",
oder jenes verzweifelte Bekenntnis Julians des Abtriinnigen,
als er die Todeswunde empfing: „Du hast gesiegt, Gahlaer".
Von alien diesen Erzahlungen und vielen ah n lichen
wissen wir heute, dai3 sie nicht tatsacMiche Wahrheit
wiedergeben oder mindestens nicht bewiesen werden konnen.
Und doch erzahlen wir sie weiter, nicht nur den Kindern,
sondem auch den Erwachsenen, und halten es fur schlimmer,
sie nicht zu kennen als manche Ziige beglaubigter Ge-
schichte. Lassen sie sich malerisch darsteUen, so begliick-
1*
4 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
■wiinschen wir den Kiinstler, der sicL. solche Stoffe gewahlt
hat. Man kann nichts Schoneres seten als die "Wunder
des h. Franziskus, gemalt von Griotto, und man kann nicMs
Eindmcksvolleres und Grewaltigeres in sich. atifnelimen, als
die Propketen und Sibyllen Mickel Angelos in der Sixtina
— und dock sind diese Sibyllen nur Grestalten der Legends,
und die Wunder des Eranziskus Stlicke einer GrescMchte,
die sick niemals begeben kat.
Ick meine, es verloknt sick wokl der Muke, eiae
fliicktige Stunde dem Nackdenken dariiber zu widmen, was
denn eigentiick Legenden sind, warum sie uns teuer sind
und ob sie uns teuer bleiben diirfen. Wir leben in einem
Zeitalter, das vielleickt nickt geringeren Selbsttausckungen
ausgesetzt ist, als die vergangenen, aber dock ernstkafter
als die nieisten der friikeren sick bemiikt, der wirkkcken
Gesckickte ins Auge zu seken. Wir sind angstkck besorgt,
uns vor Tausckungen zu sickem. Wenn wir manckes von
dem verloren kaben, was den frukeren Grescklecktern als
unantastbar und kerrkck gait, so woUen wir wenigstens
den kerben Trost bekalten, dafiir die Wakrkeit zu besitzen.
Was soUen nun nock die Legenden? Sind sie nickt das
Uberbleibsel einer Epocke, die anders empfand und anders
urteiLte als wir? Konnen sie uns denn iiberkaupt irgend
etwas lekren? oder kaben sie nickt vielmekr die Menscken
stets in die Irre gefiikrt und kalten sie nock keute mit
Tausckungen kin?
GrewiB — die Legende ist in vieler Hinsickt die
sckUmmste, nie rastende Eeindin der wirklicken Gresckickte.
Man kann sie der Scklingpflanze vergleicken, die aufwackst,
wo nur immer Gresckickte aufwackst. East gleickzeitig
mit dem groBen Ereignis und mit dem groBen Mann strebt
auck die Legende auf. Je groCer jene werden, um so
starker wuckert auck sie. Sie umrankt und umklammert
elementare Ereignisse ebenso wie gewaltige Taten, das
Eaktum ebenso wie die Person. Sie sendet ihre Ranken
Legenden als Gre3oliiohtsc[uellen. 5
von Baum zu Baum; je hoher der Stamm, um so dicMer
und fester umzielit sie iJin. Zuletzt ist der ganze Wald
in ein G-e-wiiT von Ranken und Laub gescMungen. Ein
Stamm nach dem andern ist ausgesogen und verdorrt:
nicht mehr die natiirliolie Mannigfaltigkeit der verschie-
denen Baume stellt sich dem Beschauer dar; uberall er-
scteiat das eiaformige Laub der ScMingpflanze ; nur das
unbedeutende Grestriipp am niederen Waldboden bleibt
verscbont.
Das ist das Bild, welcbes die von der Legende um-
sponnene Gescbicbte bietet. Bedarf es Beweise? Was baben
die Grriecben, was die Romer von ihrer altesten Grescbicbte
gewuCt? So gut wie nichts mebr, weil die Legende alles
iiberwucbert batte. Was Livixis von der altesten Gescbicbte
Roms bericbtet, ist mannigfaltig genug; aber fast nicbts
bait vor der KJritik Sticb. Man wendet ein, das lage zu
weit zuriick; denn es fiibre in das Kindesalter der europa-
iscben MenscKbeit. Nun wobl, blicken wir auf das Mittel-
alter! Was bat man im Mittelalter von der altesten Ge-
scbicbte des Cbristentums gewuJJt, von der Gescbicbte
Jesu Cbristi, von dem apostobscben Zeitalter, von den
Cbristenverfolgungen, von der Entstebung der katbo-
liscben Kircbe und dem Ursprung des Papsttums, von
dem groCen Umscbwung unter Konstantin und der Ent-
stebung der Staatskircbe? Icb sage nicbt zu viel, wenn
icb bebaupte, daB man weniger als nicbts gewuUt bat;
denn nur nebelbafte und unsicbere Erinnerungen an die
Wirklicbkeit waren vorbanden, wabrend ein ungebeures
Gestriipp fortwucbernder Legenden alles iiberzog. Die Le-
gende berrscbte damals ebenso im Abendland, wie im
Morgenland. Volkstiimlicb und nationalkircbbcb verscbie-
den war sie ausgepragt; in ibren Grundziigen war sie die-
selbe. In dem weiten Gebiete der romiscben Kircbe zeigte
sie sicb in wesentlich einformiger Gestalt. Man erzablte
sie in Spanien ebenso wie in England, auf SiziUen nicbt
5 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
anders als in Schweden; denn was man erzahlte, war die
legendarisclie Uberlieferung der romischen Kirche. Noch.
schlimmer herrschte sie bei den Christen des Orients. "Wie
die heiCe "Wiistensonne im Hochsommer alles Grriinende ver-
zehrt, so erscheint z. B. in der koptisclien Klrclie alle wirk-
liche Erinnerung ausgebrannt durch. die Grlut der Martyrer-
und Heiligen-Legenden.
Lassen Sie mich. das mittelalterlicbe Geschicbtsbild in
wenigen Stricben zeicbnen. Es gebort ja leider zum ge-
ringsten Teile der Vergangenbeit an: die katboliscbe Kircbe
bait nocb beute das meiste aufrecbt. Und viele von den
Legenden, die sie erzablt, gleicben nicbt einmal der Scbling-
pflanze, die wenigstens naturwiichsig anfstrebt; sie gleicben
vielmebr der weiBgrauen Tiincbe, mit der ein Barbar die
berrlicben Ereskogemalde in dem Kreuzgang einer Eircbe
bedeckt. Scbon bier begegnet uns ein bedeutungsvoller
Unterscbied zwiscben Legende und Legende, d. b. zwiscben
der naiven und der tendenziosen Legende.
Wobl wurden die Evangelien und die Apostelgescbicbte
im Mittelalter fort und fort gelesen; aber viel lebbafter be-
scbaftigten die Pbantasie die unzabligen Legenden, die von
Jesus Cbristus, der Jungfrau Maria und den Aposteln er-
zablt und wie das EvangeHum geglaubt wurden. Joacbim
und Anna die Eltem der Maria, Maria als Nonne im Tempel
erzogen, Jesus Cbristus als Eand die staunenswertesten
Wunder verricbtend: man bat umfangreicbe Biicber aus
ibnen zusamm engestellt , daU er als zartes Eand aus Lebm
Vogel bildete und sie dann fliegen lieC und vieles abnlicbe.
Dann Marias Grescbicbte als ParaUele zur Gescbicbte Cbristi,
durcbgefiibrt bis zur Himmelfabrt. Die Apostel samtbcb
nacb strenger Moncbsregel lebend, die Wirksamkeit jedes
einzelnen eine Kette erstaunlicber Wunder; in Jerusalem
balten sie ein Konzil ab und verteilen die Welt unter sicb;
dann zieben sie binaus, ein jeder zu den ibm bestimmten
Volkern; scbon nacb einem Menscbenalter ist das Cbristen-
Legenden als Q-esohiohtsquellen. 7
tTim in der ganzen Welt verkiindet worden. Nach England
geht Joseph von Arimathia als Missionar, nach Frankreich
jener Dionysins, den Panlus zu Athen bekehrt hatte. Als
Oberbischof waltet iiber dem ganzen Abendlande der Apostel
Petrus. Ihn hat Christns zum Papst eingesetzt; er nahm
daher seinen Sitz in Eom und hat dort 25 Jahre als Bischof
gewirkt. Von Rom ans hat er Bistiimer in Italien, Spanien,
Frankreich und Deutschland gegriindet, indem er seine
Schiller ordinierte und als Bischofe iiberall hinsandte, z. B.
auch nach Koln, Trier und Mainz. Dann kamen die Ver-
folgungszeiten. Fast jeder romische Kaiser, von Nero bis
Konstantin, wurde als wiitender, furchtbarer Christenver-
folger dargesteUt. Dreihundert Jahre lang sind fort und
fort Strome von Blut geflossen; aUe romischen Bischofe z. B.
sind Martyrer geworden. Dann auf einmal, ohne Vorbe-
reitung, der herrlichste Umschwung! Die Sonne strahlt auf
iiber dem Leichenfeld : Grott erweckt Konstantin den Q-roiJen.
Dieses auserwahlte Riistzeug rottet das Heidentum aus und
setzt die Kirche auf den Thron. Schon beim Antritt seiner
Herrschaft laBt er sich vom romischen Bischof Sylvester
taufen und schenkt diesem dafiir Italien und die Inseln
d. h. nicht -weniger als aUe Inseln, die es auf der Erde gibt.
Er selbst verlaBt Rom und schlagt seinen Herrschersitz in
Konstantinopel auf; denn es ziemte ihm nicht, neben dem
Statthalter Christi in derselben Stadt zu regieren. Dieser
bleibt in Rom und iibertragt spater die romische Kaiserkrone
kraffc eigener MachtvoUkom m enheit auf Karl den Grofien.
In alien diesen Legenden und hundert ahnhchen, "welche die
Geschichtsbetrachtung und Politik des Mittelalters bestimmt
haben, ist Naives und Tendenzioses wundersam gemischt.
Aber immer starker iiberwog das tendenziose Element. Wie
vieles, was sich auf den romischen Bischof bezieht, ist Ten-
denzlegende! Nachdem im 8. Jahrhundert die Geschichte
von der Schenkung Konstantins erfunden worden war,
folgte im. 9. Jahrhundert die verhangnisvoUste Legenden-
8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
bildung, die in der Kirclie je vorgekommen ist und welclie
das Andenken an die 'wahre Grescliiclite fast vollig austilgte.
In einer gefalscMen Briefsammlung wnrden jedem der altesten
romischen Biscliofe von Petrus bis zixm 4. Jahrlmndert Briefe
beigelegt, und jeder spricbt in ihnen wie ein Papst des
9. Jakrhunderts. Da man diese Briefe fiir echt nabm, so
erloscb das Andenken an die -wirkliclie G-eschiclite; es ist
zu den Zeiten des lieiligen Petrus und seiner nacbsten
Nacbfolger in Rom und in der Kircbe alles genau so ge-
"wesen, wie es beute dort ist. Diese Annahme, die sicb wie
ein LeiclientucL. auf die wirklicbe Gresducbte legte, war
die notwendige Folge der Legendenbildung, und sie setzte
sich. mit erstaunliclier Schnelligkeit durch. Seitdem sab
man die Yergangenbeit der Ejsrcbe wesentlicb nur als den
Reflex ibrer Gegenwart.
Die Legende bat bier ibr Werk wirklicb vollbracbt. Es
bandelte sicb im Mittelalter nicbt nur um einzebie unricbtige
legendariscbe Ziige an dem Grescbicbtsbilde der Yergangen-
beit; nein — dieses Bild selbst wurde ganz und gar durcb
ein anderes ersetzt. AUein nicbt nur im Altertum und im
Mittelalter ist das gescbeben. Wenn wir beute unsere groiJen
Historiker, welcbe die neueste Gescbicbte scbreiben, be-
fragen, welcbes der scbwierigste Teil ibrer Aufgabe sei, so
antworten sie uns einmiitig, der Kampf wider die Legende.
Sie reden von einer fridericianiscben , einer napoleoniscben,
einer koburgiscben Legende, und wiederum von einer Le-
gende des Liberalismus, der Konservativen usw. Eine jede
politiscbe und kircblicbe Partei bat ibre Legenden, Tind
diese Legenden, sagen sie, lasten mit Zentnerscbwere auf
der Erkenntnis der Grescbicbte. Sollen wir diese Legenden,
nur well sie keine Wunder und Zeicben entbalten, von den
alten Legenden unterscbeiden? Ein durcbscblagender Grund
laCt sicb nicbt linden. Kernige Zusammenfassungen zu
unwirMicben Anekdoten und wiederum pure tendenziose
Erfindungen scblimmster Art finden sicb bier wie dort. Die
Legenden als Gesohiclitsquellen. 9
Unterscliiede kommen lediglich durch. die Coulissen der Zeit
und der aUgeraeinen Kultur zustande. Aber wo hort die
GescMclite auf, und wo fangt die Legende an, wenn wir
dem "Worte die weiteste Bedeiitung geben? Die Frage
scheint keine ganz einfaclie zu sein; denn wir seken Manner
von erprobter Wahrbeitsliebe heftig iiber sie streiten. Der
eine schreibt ein GescMchtswerk nnd meint in allem der
Wahrbeit die Ebxe gegeben zu baben. Aber ein anderer
tritt auf und erklart diese Darstellung fiir legendariscb.
Gregen ein katboliscbes GrescMchtswerk iiber die Reformation,
das vor zwei Jabrzebnten erscbienen ist, erboben sicb ein-
bellig die protestantiscben Gelebrten und bezeicbneten die
Darstellung als Tendenzlegende. Das ist sie aucb. Dennocb
kann man dem Verfasser kaum irgendwo nacbweisen, daC
er dem gefolgt sei, was man im gemeinen Sinn „ Legenden"
nennt. Er scbrieb seine Gescbicbte groBtenteils aus Quellen-
stellen zusammen, und docb soil sie Legende sein? Bei
dieser paradoxen Bebauptung konnen wir ankniipfen. Wir
miissen ims fragen: "Was ist denn eigentbcb Legende?
Tiber ibren Unwert und ibxen "Wert vermogen wir nur zu
urteilen, wenn wir ibre Natur kennen gelernt baben. Was
ist Legende? Nim, daiJ sie und die ibr verwandte „Sage"
etwas anderes ist als ein Mytbus oder als ein Marcben, ist
uns unmittelbar deutlicb, wenn aucb nicbt wenige Sagen
aus Legenden und Mytben gemiscbt sind. Der Mytbus
stammt aus der religiosen JSTaturbetracbtung vergangener
Zeiten: der Kampf des Zeus mit den Titanen ist ein Mytbus.
Das Marcten nimmt seiae Stoffe, wo es sie findet und will
ledigbcb unterbalten. Das Reicb des Marcbens ist die
scbrankenlose, unermeBlicbe Pbantasie. Was aber will die
Legende? Unser Spracbgebraucb scbeint auf den ersten
Blick keine einfacbe Antwort zuzulassen. Er nennt Wunder-
gescbicbten Legenden; er nennt Gescbicbten , die an sicb
wabr sein konnten, es aber nicbt sind, aucb Legenden; er
nennt fromme Erzablungen so, und andererseits bezeicbnet
10 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
er umfassende GescMcMsdarstelluiigen unter Umstanden als
legendarisch. Wo ist Mer ein Gremeinsames? Ein Gemein-
sames ist dennocli vorhandeii, und man kann es mit ein em
Worte ausdriicken: die Legende will die GrescMcMe charak-
terisieren. Die Legende — im weitesten Sinn des "Wortes
— ist Beurteilung der Greschiclite in der Form der Gre-
schiclitserzahlung. In den Mitteln fiir solche Beurteilung
ist sie nicht wahlerisch.. Sie beurteilt die Greschichte erst-
lich, indem sie in einem ungelieuren wunderbaren Ereignis
den ganzen Eindruck derselben zusammenfaCt: Konstantin
der Grofle hat am hellichten Tage ein Kreu^eszeichen am
Him m el geschaut mit der Aufschrift: „In diesem Zeichen
wirst du siegen". So vollzog sich. in ilim und im Reiche
der plotzliclie grofie Umsckwung. Die Legende beurteilt
die Geschickte zweitens aber, indem sie in einer scblagen-
den Anekdote, in einem kraftigen Wort den Wert und die
ganze Bedeutung einer Person zum Ausdruck zu bringen
sucbt. Wir erinnern uns an das Galilei in den Mund ge-
legte Wort: „Und sie bewegt sicb doch.", und an viele
ahnlicbe. Die Legende beurteilt die Gescbiclite endlicb
durcb Auswahl und Gruppierung der Tatsachen, die sie
erzablt. Sie braucht nichts binzuzufugen, und sie vermag
doch dui'ch. das, was sie erzablt und was sie verscbweigt,
ein solcbes BiLd von der Gescbichte zu scbaiFen, wie sie es
wiinscbt. Uberall ist ihr Abseben darauf gericbtet, ein be-
stimmtes Urteil liber die Geschicbte geltend zu macben
und wirksam einzupragen. Dieses Urteil, projiziert in die
Geschicbte, ist die Legende.
In dem Moment, wo wir dies erkannt baben, offnet
sicb uns die weiteste Perspektive. Wir alle leben in der
Legende, d. h. in Urteilen iiber die Geschicbte. Somit leben
wir in einer doppelten Geschicbte: in der Geschicbte der
Tatsachen, die mit elementarer Macht uns bestimmen, und
in der Geschicbte der Gedanken iiber die Tatsachen. An
jener Geschicbte vermogen wir nichts zu andern, wenn sie
Legenden als GesohioMsquellen. H
sich einmal vollzogen hat; an dieser Geschichte arbeiten
wir unanfliorlich selbst mit. Wenn eine Hungersnot oder
Krankheit oder eine wirtschaftliclie Krisis iiber ein Land
kommt, wenn eine Nation eine Mederlage im Krieg er-
leidet, wenn furclitbare Ifatur-Ereignisse ganze Stadte zer-
storen, so sind das Tatsacken, deren Folgen kein Beteiligter
auszuweichen vermag. Er mag iiber sie denken nnd nr-
teilen wie er will: er kann sicb der elementaren G-ewalt
dieser Yorgange zunacbst nicht entzieben. Dentscbland ist
durch den dreifiigjahrigen Krieg verwiistet, PreuCen ist
dnrch. die Mederlage bei Jena gebeugt, die Franzosen sind
bei Sedan geschlagen worden — das sind Ereignisse, deren
natiirlicbe Eolgen besteben bleiben, mag man sie nun gelten
lassen oder nicht, sie offen bekennen oder vertuschen. Allein
rnir ihre natiirhchen Eolgen bleiben bestehen; aber sie haben
noch andere Eolgen; denn sie treifen, indem sie den Men-
schen treffen, nicht Holz nnd Stein, sondern den lebendigen
Greist. Ans der Art aber, wie der lebendige Geist sie anf-
fai]t, entsteht eine neue, zweite G-eschichte. Bleiben wir
bei dem Beispiel der Niederlage von Jena. Alles kam dar-
auf an, wie man damals diese Mederlage deutete, als zu-
faUiges Ereignis oder als notwendiges G-eschick oder als
verdiente Strafe, als den Anfang des Endes oder als die
letzte forchtbare Mahnung an das Vaterland, in einmiitiger
Kraft sich zu erheben. Die Tatsache selbst ist stunmi und
bmtal; aber der Geist deutet die Tatsache, nnd je nach
dem Ansfall dieser Deutung bUdet er eine nene Geschichte.
So wichtig nnd entscheidend ist diese Deutung, daiJ erst
dann alles verloren ist, wenn sie falsch ist, wahrend noch
alles znriickgewonnen werden kann, wenn sie richtig ist.
In der Tat: die Deutung ist oftmals in der Geschichte viel
wichtiger geworden als die Sache selbst. DalJ der Papst
am "Weihnachtsfest des Jahres 800 dem Konig Karl die
romische Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt hat, war fak-
tisch bei dem ganzen Vorgang nicht das wichtigste und
12 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
hatte zunachst auch keine besonderen Wirkungen; aber
daB man nacbmals diese Kronung als Verleihung der Krone
' durcli den Papst dentete — diese Legende hat unermeCliclie
Folgen gebabt. Der Grlaube an die Verleihung hat in der
Greschichte dieselbe Kraft und Bedeutung gewonnen, als
ware sie wirklich geschehen. Durch die Deutung konnen
die natiirlichen Folgen eines Ereignisses geradezu um-
gebogen und in ihr Gregenteil verwandelt werden. Wer
auJJeres Leiden, Kummer und ISTot sich als Mahnungen oder
Priifungen deutet, der vermag Trauben von den Domen
und Feigen von den Disteln zu sarameln. Und was von
dem Leben des einzelnen gilt, das gilt auch von dem Leben
ganzer Volker. Mit den natiirlichen Folgen der Tatsachen
miissen wir aUe fertig werden; aber der Streit hebt an, wo
es sich um die Beuxteilung der Tatsachen handelt. Schon
ein Weiser des griechischen Altertums hat gesagt: „Nicht
die Tatsachen erschiittern die Menschen, sondern das, was
sie liber die Tatsachen denken, das erschiittert sie."
Aber gehen wir nicht zu weit, wenn wir alles das,
was man iiber die Tatsachen denkt und urteilt, also die
ganze Geschichtsbetrachtung, in die Legende hineinziehen?
1st es wirMich Legende, wenn ich sage, die Niederlage bei
Jena sei ein heilsames Strafgericht iiber PreuJJen gewesen?
1st es eine Legende, wenn man Luther den Reformator der
Christenheit nennt? 1st jedes Urteil iiber die Geschichte
Legende? Nun an dem Worte hegt es nicht, und wer es
vermeiden wiU, mag es lassen. Der Sprachgebrauch nennt
auch nicht alle Urteile iiber die G-eschichte Legenden. Das
zutrelfende geschichthche Urteil, wenn es nicht in eine
poetische Form gekleidet wird, nennen wir nicht so. Aber
im letzten Grunde ist kein. Unterschied. Denn auch das
zutreffendste Urteil iiber die Geschichte laCt sich nicht
rund und auBerhch beweisen. Niemand bestreitet, dafi
Luther im Jahre 1517 die Thesen angeschlagen, dafi er
im Jahre 1521 vor Kaiser und Reich zu "Worms gestanden
Legenden als Gesohiohtsquellen. 13
hat; aber daB er der Reformator der Kirche gewesen ist,
bestreitet die MehrzaM der Christen aufs heftigste. Es
mnU sich also rait diesem Satze ganz anders verbalten als
mit jenen, und es verhalt sicb anders. Jene driicken die
eiafacbe Anerkennung einer Tatsacbe aus; dieser stammt
aus dem Eindruck, dem Anteil und der Uberzeugung.
In -welclieia Lichte erscheint uns nun die Legende;
sie, die uns im Eingang unserer Betrachtungen als die ge-
fahrlicbste Feiadin der Greschiclite entgegengetreten ist?
Hier offenbart sie sich. vielmehr als eine zweite Greschiclite,
wichtiger als die erste, und als unsere Geschichte, d. h.
als die Geschichte, die der Geist kraft seiner Ereiheit her-
vorruft. Dieselbe Macht scheint hier zugleich zu zerstoren
und zu bauen. Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Pro-
blem eiagehen, zuvor die Naturgeschichte der Legende im
engeren Sinne des Wortes naher betrachten. Aus ihr wird
sich ergeben, daC die wahre Legende die Wahrheit und
die falsche Legende die Liige ist; und daC die wahre
Legende der Sonne gleicht, welche mit derselben Kraft das
Blatt welken macht und die Erucht reift.
Statt eiae trockene tJbersicht zu geben, in wie ver-
schiedener und mannigfaltiger Weise die Legende arbeitet,
"woUen wir uns erne Reihe der bekanntesten Legenden
naher ansehen, um aus ihnen zu lernen. "Wir fassen zu-
erst die Gruppe von Legenden ins Auge, die sich auf eia-
zelne hervon-agende Personen beziehen. "Was die Legende
hier bezweckt, ist umnittelbar deutlich. Sie will die seelische
Empfindung fixieren, die der Eindruck der Person hervor-
gerufen hat. Sie will die geistige Bedeutung und den
Wert einer groiJen PersonUchkeit in einem Ausdruck zu-
sammenfassen. Die wirkhche Geschichte ist selten so freund-
lich, dafi sie uns den bedeutenden Mann auf dem Hohe-
punkt seiaer Entwickelung sozusagen rein darsteUt. Luther
in "Worms — das ist ein geschichthches Bild, welches an
und fur sich stark genug ist, um jede Legende iiberfliissig
14 Erster Band, erste Abteilung. Beden: I.
zu inaclien. Aber wie selten liefert Tins die Greschiclite
solche Bilder! Da Mlft dann die Legende nach. Und nun
gar, wo es sicli um feine seelische Eindrucke handelt! Das
Beste am Menschen, sagt Groethe, ist gestaltlos! Wie soil
die reine Gesehiclitserzalilung das Grestaltlose -wiedergeben ?
Sie kann es nicht; aber die Legende vermag es. Als Attila
vor Rom lag und der Stadt Verderben drohte, da zog der
romisclie Biscbof Leo I., umgeben von seiaen Priestern,
Mnaus zum Hunnen-Konig, um ihn zu bescbworen, von
der Belagerung abzidassen. Wakrend er zu Attila redete,
sab. dieser die Apostelfiirsten Petrus und Paulus mit ge-
ziickten Scbwertem neben dem Papste stehen. Ln Tief-
sten erscbreckt gab der Barbar den Befehl zum Riickzug.
Das ist gewiC eine Legende; aber wer die wundersam ge-
waltige Personlicbkeit Leos des G-roCen kennt, der weiJ3,
dafi diese Legende eine wahre Legende ist. McKt in dem
gemeinen niederen Sinne; aber sie bringt in unubertreff-
Kcher Weise zxun Ausdruck, daU die ganze Kraft Leos des
GrroCen der Gredanke gewesen ist, den er zeitlebens, wie
kein anderer romischer Biscbof, geltend gemacht bat: icb
bin der Nackfolger des beiligen Petrus. Was er an Maje-
stat und imponierender Wiirde besaC, das fiolJ ibm aus
dieser felsenfesten IJberzeugung. Zugleicb zeigt die Legende
das moraliscbe Ubergewicht der romiscb-cbristlicben Kul-
tur liber einen Barbarenkonig. — Man erzablt, daB der
gewaltigste Papst des 16. Jabrbunderts, Sistus V., an dem
Tage, da er zum Papst gewahlt wurde, die Kriicken, deren
er sicb bisber bediente, von sicb geworfen babe und frei
gegangen sei. Das ist eine Legende. Aber sie zeigt, durcb
welcbe Eigenscbaften damals nacb der Volksmeinung die
dreifacbe Krone gewonnen wurde, und sie bringt in vor-
ziiglicber Weise den Kontrast zum Ausdruck zwiscben dem
Kardinal und dem Papst. Als Kardinal war Sixtus scbmieg-
sam, zuriickbaltend, vorsicbtig, als Papst selbstandig und
energiscb. — Eine sebr alte tiberbeferung bericbtet, der
Legenden als &esohichtsquellen. 15
Apostel Petrus sei in der Nacht vor seiner Hiariclitung
im Q-efangnis von Fiu-cht und Kleinmut iiberfallen worden
und sei deshalb geflolien. Da sei ihm auf der Fluclit plotz-
lich. Chiistus erschienen und habe auf die erstaunte Frage
des Petrus: „Herr, wobin gebst du?" geantwortet „nach
Rom, um mich. abermals kreuzigen zu lassen" ; bescMmt
sei Petrus in das Grefangnis zuriickgekebrt. GewiB eine
Legende; aber sie ist scbon im 2. Jabrbundert in Rom er-
zablt worden, wo man docb sonst den Petrus nur verberr-
licbte; sie pragt also den Eindruck aus, dafi Petrus bis zu
seinem Tode den leicbtbeweglicben, vordrangenden aber
nicbt standbaften Cbarakter bewabrt bat, den wir aus der
evangeliscben Greschicbte kennen. — ■ Die Meisten, die von
dem groBen Kircbenvater Augustia gebort baben, kennen
den Wablsprucb, der ibm in den Mund gelegt wird: „In
notwendigen Dingen Einbeit, in zweifelbaften Ereibeit, in
alien Dingen Liebe." "Wir wissen jetzt, daB dieser Sprucb
nicbt von Augustin berrubrt, sondern aus viel spaterer Zeit
stammt. Allein es ist nocb nicbt gelungen, kiirzer tind
besser den Mensoben und den Tbeologen Augustin zu cba-
rakterisieren als durcb diesen legendariscben Satz. — Dem
beiCbliitigen afrikaniscben Kircbenvater Tertullian wird das
"Wort in den Mund gelegt: „ Credo, quia absurdum" (Icb
glaube der cbristlicben Lehre, weil sie absurd ist). Nie-
mand vermag diese scblimme Paradoxie in den Werken
Tertullians nacbzuweisen ; aber sie cbarakterisiert den Tbeo-
logen, der trotzig der Vernunft der Gebildeten den Eebde-
bandscbub binwarf. — Kaiser Konstantin der GrroCe soil
auf dem Totenbett die Taufe mit den "Worten begebrt
baben: „Es scbwinde nun alle Zweideutigkeit." Es ist
ganz unglaubbcb, daC er das wirkbcb gesagt bat. Allein
diese Legende bringt in uniibertrefflicber Weise zum Aus-
druck, dafi das bisberige Verbalten Konstantins gegeniiber
dem Cbristentum und dem Heidentum nocb nicbt ein
vollig entscbiedenes gewesen ist. — Lutber, erzablt die
16 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
Legende, hat mit dem leibhaftigeii Teufel zu kampfen ge-
habt. Aber was damit gemeint ist, sagt uns der DicMer
■aniibertrefflicli :
„Er trug den Kampf in breiter Brust verhullt,
Der jetzt der Erde halben Kreis erfilllt;
Sein G-eist war zweier Zeiten Schlaclitgebiet :
Mich wundert's niolit, dafi er Damonen sieht."
Das alles sind Legenden im engsten Sinn des "Wortes;
aber das eben Ausgefiihrte gilt auch dort, wo es sicb. nm
groCe gescMcbtliclie Urteile iiber eine Personlichkeit ban-
delt, die im niederen Sinn nnricbtig, in einem boteren ricbtig
sind. "Wir feiem Gustav Adolf als einen deutscben Helden.
Mcbts ist leicbter zn beweisen, als daB er Dentscbland soviel
rauben woUte, als er bekommen konnte, daC er keine
deutscbe, sondern scbwediscbe PoHtik getrieben bat. Mit
Hobn weisen daber die Katboliken auf diesen angebUoben
deutscben Helden, den wir riibmen. Allein Grustav Adolf
rettete den Protestantismus, wenn er aucb Deutsobland zer-
fleiscben balf. Die Rettung des Protestantismus war aber
mittelbar aucb die Rettung Deutscblands , ja die einzige
Rettung; denn ein spaniscb-babsburgiscbes katboliscbes
Dentscbland ware kein Dentscbland mebr gewesen. So mag
man mit gutem Grewissen die Legende fortpflanaen , dafi
G-ustav Adolf ein deutscber Held gewesen ist.
Indem die Legende ibre Helden cbarakterisiert, ver-
starkt sie oftmals das in ungescbicbtlicber Weise, was ilmen
eigentiimb'cb gewesen ist. Die Legende liebt die tjbertrei-
bung. Allein das ist docb nicbt einfacb als Unwabrhaftig-
keit zu beurteilen. Sie will dorcb AVort und Scbilderung
denselben Eindruck bervorrufen, den einst die Person selbst
gemacbt bat. Aber welches Wort ist dazu fahig? So bleibt
ibr nichts iibrig, als die iiberheferten Ziige zu verstarken.
Sie tut das oft in sebr kindlicher Weise, und an der Art
der Verstarkung kann man feststellen, aus welchen Kreisen
die Legende stammt. Anders erzahlen die GTermanen ibre
Legenden als Geschiohtsquellen. 17
Heldengeschichten und anders die Romanen. Anders kaben
die Morgenlander uns die Heiligen- und Martyrergescliickten
iiberliefert und anders die Abendlander. Die frankiscken.
Heiligenlegenden des friiken Mittelalters zeicknen sick durck
gemiitvolle Sckilderung und individueRe Zeicknung aus;
die Martyrergesckickten der Orientalen sind starr und
einformig. Aber Eiaes konnen die Biograpken gerade keut-
zutage von der Legende lernen, daC as nickt Aufgabe der
G-esckicktssckreibung ist, das Kleinkcke und ErbarmUcke,
was in jedem Mensckenleben vorkanden ist, der Nackwelt
zu iiberliefern. Eine groBe Personkckkeit, welcke der G-e-
sckickte angekort, gekort ikr dock nur in dem an, was sie
ikr bedeutet. Das bringt die Legende uniibertreffkck zum
Ausdruck. Dagegen sind unsere pkotograpkiscken Bio-
grapkien ein wakrer Unfug. "Wir kaben nickt nur das
Reckt, sondern die Pflickt, das Andenken an eine groCe
Personkckkeit, die in der Gresckickte etwas geleistet kat und
fortwirkend leistet, rein zu erkalten. Was gekt es uns an,
was sie sonst nock gewesen ist, wenn sie nur das wirkkck
gewesen ist, weskalb wir sie feiern. Allerdings soweit wie
die Legende gekt, kann der Historiker nickt geken. Die
Legende bildet den Helden zum Typus aus, fordert vom
Himmel die sckonsten Sterne fiir ikn und laBt ikn kaufig
nickt einmal sterben. Sie kann sick nickt davon iiberzeugen,
daC auck gewaltige G-eister dem allgemeinen Mensckenlose
unterkegen. Daker lebt Kaiser Karl im Untersberg, Kaiser
Friedrick im Kyffkauser, und der Grabkiigel des Evange-
Jisten Jokannes in Epkesus kebt und senkt sick mit den
Atemziigen des Scklummernden. Aber sie gonnt auck den
vollkommenen Bosewicktern die Ruke des Todes nickt.
Daker ist Nero nickt gestorben, sondern aufbekalten zum
Gerickt. In dieser Art der Betracktung zeigt sick eine
bemerkenswerte tlbereinstimmung in der Legendenbildung
aller Zeiten und Volker. Indem die Legende, wie der
Propket, die Personen deutet und wagt, wird sie zum Welt-
Harnack, Keden und Aufsatze. I. 2
18 Erster Band, erste Abteilung. Keden: I.
gericlxt und teilt Belolinungeii und Strafen aus. "Was ist
Dantes gottliche Komodie anderes als das Grericht eines
Proplieten iiber die Weltgeschiclite in der Form derLegende?
Hierbei zeigt es sich, daC die Phantasie nicM unerscliopf-
lich. ist. Es gibt im groBen wie im Meinen flattemde Le-
genden, die entweder von mekreren Personen gleichformig
erzahlt werden oder so lange unruhig umlierscliweifen, bis
sie den ricbtigen Platz gefnnden baben. Sie alie kennen
bundert Beispiele fur jene wandernden Anekdoten, die lange
Zeit Timgeben, bald dieses, bald jenes Haupt kronen und
den Erzabler oft in Verlegenbeit bringen, wenn er sie z. B.
vom alten Bliicher bericbtet und ihm dann entgegengebalten
wird: ganz ricbtig; aber es war der alte Wrangel. Was
bier im kleinen tagtaglicb begegnet, wiederholt sicb auch
im groBen, und man kann daraus nur den ScbluB zieben,
daB jede Anekdote, jede Legende von Hecbts wegen dem
gebort, auf den sie am besten pafit. Aber wir macben aucb
die Beobacbtung, daU mancbe Legenden sicb ganzbcb ab-
losen von ibrem urspriingbcben Tub aber, dieser in voile
Vergessenbeit gerat, die Legende aber, an sicb vielleicbt
diirftig und nucbtern, von einem Poeten aufgegi-iffen und
mit bedeutendem Inbalt erfiillt wird. Hier erbalt die Le-
gende ein eigentiimlicbes rein poetiscbes Leben. So sind
die Legenden von den groBen Magiern, vom Faust, vom
ewigen Juden u. a. allmabHcb entstanden. Aus barten
Kieseln bat der Stabl des Dicbters Funken gescblagen und
die Legende zum aUgemein Menscblicben ausgestaltet. Diese
Gedicbte sind der bocbste Triumpb der Legende, das Siegel
der Wabrbeit auf den Sprucb: „Was sicb nie und nirgends
bat begeben, das allein veraltet nie" ; aber andererseits bat
in dieser Form die Legende jeden Zusammenbang mit der
Gescbicbte aufgegeben und sicb zu einer neuen Spbare
emporgescbwungen.
Wir baben bisber nur von Legenden gebandelt, die
sicb auf Personen bezieben. Das ist aucb das eigentlicbe
Legenden als Gesohichtsquellen. 19
Reich der Legende. Allein es gibt solclie, welche den Gang
der geschiditliclien Entwickelung zu ihrem Inhalte haben,
icli mochte sie kult-ai'gescliic]itliche Legenden nennen. Auch
sie sind keineswegs zu veracMen. Die Legende schlagt
Briicken iiber Abgrlinde, iiber geschicbtliche Partien, die
dem Historilver noch. dunkel sind. Sie verbindet Zeitalter
nnd getrennte Entwickelungen nnd weist einen einheitlichen
G-ang der Geschichte nach, wo der Gescbichtssckreiber es
nicbt vermag. Aber wie viel wertvolle Fingerzeige gibt
sie ikm docK! Wie oft hat sie wirkhch geschichthche Er-
innerungen anfbewahi-t! Sie alle kennen jene Sagen von
Kadmus und anderen, die aus Phonizien und dem Orient
nach Griechenland gekommen sind und dort die Kultur
begriindet haben! Von Jugend auf haben wir gehort, daC
der fromme Aeneas aus Troja fliichtend iiber Karthago
nach Italien gekommen ist; wir kennen die Geschichten
von Alba Longa, Romulus und Remus und von der Griin-
dung Roms. Welche Miihe hat man sich im Mittelalter
gegeben, die Franken mit den Trojanern in Verbindung
zu brrngen oder deutsche Fvirstenfamilien auf die Heroen
der romischen Geschichte zuriickzufiihren. Diese Legenden
waren auch dann schon wertvoU, wenn sie nichts anderes
waren als der lebhafte Ausdruck fur die Einsicht, dali aUe
Kultur Uberheferung ist, daC hier nichts wild wachst,
sondern dafi sich Glied an Glied reiht. AUein sehr viele
dieser Legenden enthalten weit mehr. Sie geben wirklich
bestimmte Fingerzeige, wie Eines aus dem Anderen ge-
worden ist. Vor allem ist es die religiose Uberheferung
der Nationen, welche diese Art von Geschichtsbetrachtung
nicht entbehren kann. Das zeigt sich sogar bei den poly-
theistischen V5lkern, aber in ungleich kraftigerer Weise bei
den monotheistischen. Die Uberzeugung, daiJ ein Gott sei
und daC dieser Gott die Geschichte leitet, fordert eine ein-
heitliche Betrachtung der Weltgeschichte ; ja man kann
geradezu sagen, daC wir an eine Weltgeschichte glauben
20 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
und eine einlieitliclLe Weltgesckiclite zu schreiben versuchen,
ist eine Folge des Monotlieismus. Zu den altesten Welt-
gescldclitssclireibern gelioren die alttestamentlichen Pro-
pheten. Aber wabrend ibr Ange gen Himmel scbaute,
sobrieb ilire Feder kindlicbe Ziige. In all den groCen ge-
scbicbtlicben Konzeptionen religioser Art von den Grescbicbts-
bildern der altesten jiidiscben Propbeten ab bis zu jenem
„teste David cum Sibylla" steckt mebr Vernunft, als die
Scbulweisbeit sicb traumen laBt. Sie sind als gescbicbt-
bcbe Bericbte kindbcb und unwabr, aber gewaltig und
wabrbaftig als Ausdruck des Urteils iiber den Gang der
Gescbicbte und als Anweisung, wie man sicb zu ibr zu
steUen bat. Hier oifenbart sicb die Legende in ibrer ganzen
Macbt; denn indem sie die GrescMcbte deutet und durcb
erscbiitternde Propbeten diese Deutung den Zeitgenossen
einpragt, wird sie selbst ein wirksames Element in der Gre-
scbicbte, wirft sie sicb dem Strom des gemeinen Gescbebens
entgegen, sucbt ibn aufzubalten oder in neue Babnen zu
leiten. Der Propbet, der die Mederlage Israels als Ziicb-
tigung deutet, der sicb Assur oder Babel entgegenstemmt,
well er an ibren definitiven Sieg trotz des Augenscbeins
nicbt glaubt, ermutigt und rettet durcb seine paradoxe Ge-
scbicbtsdeutung sein Volk. Er bricbt die Gewalt der Ge-
scbicbte durcb die Macbt der Legende. Man sagt -wobl,
solcbe Gescbicbts deutung sei subjektiv. Als ob es iiberbaupt
eine lebrreicbe Gescbicbtsscbreibung geben konnte, die nicbt
subjektiv ware! Nui- dem sebenden Auge und dem ur-
teQenden Geiste erscblieCt sicb die Gescbicbte. Nur darum
kann es sicb bandeln, dafl der Geist das Wabrbaftige und
die Kraft erkennt, und dafi er die Tatsacben nicbt meistert.
Neuere deutscbe Gescbicbte vom preuBiscben Standpunkt
zu scbreiben, das ist die wabre Gescbicbte Deutscblands ;
Kircbengescbicbte vom Standpunkt der Reformation zu
scbreiben, das ist die wabre Kircbengescbicbte. Hier wie
dort ist man subjektiv und bat den Vorwurf zu gewartigen,
Legenden als Gresohiohtsquellen. 21
daC man Legenden bilde. Allein man schreibt die wahre
Legende, wenn man die ricMig erkannten Tatsachen nacli
MaBgabe ihrer Kxafte gruppiert.
Aber nun die Kehi-seite zu dem Bilde! Die Legende
tritt auoh in den Dienst der Unwahxlieit und Schwache
statt in den Dienst der Wabrbeit und Kxaft. Die unge-
beuere Maebt, welcbe der Menscb besitzt, aus dem natiir-
licben Gescbeben, indem er es deutet, eine zweite Gescbicbte
zu macben — diese Macbt wird ibm aucb zum Unbeil.
Das ist der Jammer der Legende, von dem wir im Eingang
gesprocben baben, die Grescbicbtsliige, welcbe den Tatsacben
ibi- MaSi nimmt, sie erstickt oder falscbt. Den Tatsacben
ibr MaJ3 nimmt — nun an dieser Art LegendenbUdung
sind -wir alle jeden Augenblick beteiligt. Je nacb der
Stimmung, in der uns eine Tatsacbe trifft, beute so und
morgen so, beurteilen wir sie anders. Wir tauscben mit
unsern Freunden dieses Urteil aus oder scbreiben es nieder,
und die Legende ist fertig. Heute scbreiben wir, daB die
"Welt immer scblecbter wird, und vielleicbt scbreiben wir
morgen, daB sie besser wird. Heute tadeln wir die Politik,
und morgen vielleicbt loben wir sie. Uberall trifft die Tat-
sacbe, indem sie auf Menscben ti'ifft, auf Stimmungen.
Stimmungen aber sind ein unreiner Spiegel. Sie werfen
das Bild verzerrt zurlick. So wird den Tatsacben das Mafl
genommen, und es entsteben Legenden. Das ist die baufigste,
tausendfacb sicb tagbcb wiederbolende Form, der Legenden-
bildung. Sie ist darum die lastigste, aber nicbt die scblimmste.
Ersticken und Falscben, das sind die beiden Arten,
in denen die wabrbaft unbeilvoUe Legende ibr "Werk treibt,
durch welcbe sie den Ernst und die GroCe der Gesobicbte
auszutilgen versucbt. Sie erstickt die Personen und die
Tatsacben. Braucbt es Beweise dafiir? Sind wir nicbt
aucb von dieser Legendenbildung immerfort umgeben?
Mcbts liegt uns alien naber, als das naive Vorurteil, es
macbe sicb aUes von selbst, oder die Losung lautet: „so ist
22 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
es immer gewesen", und jede Partei, jede Denkweise sucht
sich in der Vergangenlieit wiederzufinden. Weil man fiiMt,
welcli eine Macht die GreschicMe ist, und weiL es unbequem
ist, eiae ITeuerung verteidigen zu miissen, so sucht jeder
sich. selbst mit der Vergangenheit zu decken. Das grotes-
keste Beispiel liefert freilich auch hier die romische Kirche.
Sie behauptet es als ein Glaubenssatz, so wie sie heute sei,
sei sie schon vor 1800 Jahren gewesen; in ihrer Lehre,
ihrer Verfassung, ihren Ordnungen habe sich wesentlich
nichts verandert. "Wir Protestanten weisen diese Tendenz-
legende, welche alle Tatsachen der Kirchengeschichte er-
stickt, weit von uns; aber machen wir es in Kirche und
Staat denn wesenthch anders? Am Ende siad wir nur
Dilettanten und sie sind Virtuosen in ein und derselben
bosen Sache. Man werfe einen Bhck auf unsere offent-
lichen Blatter, auf die G-eschichtsschreibung unserer Zei-
tungen! Die Parteilegende regiert — jene Legende, kraft
welcher jede Partei, wie sie heute ist, sich mit ihrer klas-
sischen Zeit einfach identifiziert, die Q-eschichte fiir sich in
Anspruch nimmt und die Tatsachen erstickt! Und wie be-
handelt die gemeine Legende den wahrhaft groBen Mann,
den Grenius? So lange er lebt, wirkt und daher unbequem
ist, ist sie unablassig bemiiht, ihn auf das gemeine Niveau
herabzuziehen , hundert Greschichten iiber ihn zu erfinden,
damit sie dem grofien Haufen das befriedigende BewuBtsein
verschaffe: er ist doch ganz so wie wir. Wed die Menge
das ewig Grestrige liebt, sucht sie jedes gewaltige Heute zu
ersticken. Und doch ist auch das noch nicht die schlimmste
Porm der Legendenbildung. Wo es sich um das Ersticken
handelt, da wirkt noch unbewufiter Trieb mit. Aber es
gibt eine bewufite Legendenbildung der Liige, die wissend
und schauend die Greschichte falscht und die Tatsachen in
ihr Gregenteil zu verwandeln sucht. Auf alien Blattern der
Greschichte sind seiche bewufite Liigenlegenden zu finden,
und sie haben unsaghches Unhed angerichtet. Ich erinnere
Legendeu als Geschichtsquellen. 23
roich. einmal das Wort gelesen zu haben: „inan muB den
Tatsachen die Zahne ausbreclien", und eia anderes: „man.
mufi die GrescMcMe durct das Dogma iiberwinden". Hier
haben Sie die Arznei und das farchtbare Grift der Legende
in Eins, je nach. der Deutung dieser Worte. Die Axznei —
denn gewiC, es gibt nicbts Grrofleres und Segensreicberes
als die IJberwindung des gemeinen Greschehens durcb die
wahrbaftige Deutung desselben, durcb die Freibeit des
Geistes, durcb die KJraft des Grottvertrauens. Das Grift;
denn wenn jenes "Wort besagen soil, man miisse die G-e-
scbicbte ersticken und falscben durcb raffinierte Tendenz-
dicbtungen, dann wird die Legende zur Mutter der Liige.
In diesem Sinn gilt das Urteil: die wabre Legende ist in
der Grescbicbte die Wabrbeit und die falscbe Legende ist
die Liige.
Darf icb nun zusammenfassen, was wir aus dieser tJber-
sicbt Tiber die Naturgescbicbte der Legende lernen konnen?
Die Frage, die wir stellen miissen, lautet: Sind Legenden
Gescbicbtsquellen? Wir antworten: Nein: sie sind es zu-
nacbst in keinem Sinn; denn da sie samtlicb, die wabren
und die falscben, aus dem Eindruck und dem Urteil ge-
flossen sind, so bieten sie keine Grewabr dafiir, dafi die Tat-
sacben ricbtig wiedergegeben sind. Mit der Feststellung
der Tatsacben bat es aber der Historiker vor allem zu tun.
Die Wabrbeit der Tatsacben zu ermitteln, ist seine beibgste
Pflicbt. Webe dem Grescbicbtsscbreiber, der diese Aufgabe
gering acbtet oder falscbt! Es gibt bier keine Ent-
scbuldigung: er ist ein Verrater seines beibgen Berufs. Wer
die Tatsacben ermitteln will, muB bei den Listitutionen
einsetzen; sie sind das Riickgrat der Grescbicbte. Hier sind
Tauscbungen am wenigsten zu erwarten. Erst wenn aus
dem tatsacbbeben Material die Kette der Erscbeinungen
bergestellt ist, darf sicb der Historiker nacb den Stunmungs-
bericbten und Legenden umseben. Selbst die Stimmungs-
bericbte von Augenzeugen sind scblecbte Quellen; denn die
24 Erster Band, erste Abteilung. Koden: I.
Legenden bilden sich oft im Augenblick. Dafi es nicht
schwer ist, z. B. aus Stimmungsbericliteii der Eeformatoren
ein verach-tliches Urteil iiber die Eeformation abzuleiten,
ist uns jiingst gezeigt -worden. Und wie baben die Roman-
tiker die Gescbicbte iibermalt, weil sie mit Vorliebe Legen-
den iirer Darstellung zu Grunde legten! So sind die eiast
vielbewunderten MrcbenTiistoriscben Darstellungen des groISen
Eomantikers Cbateatibriand nicMs anderes als Legenden
ans Legenden. Aber wenn die Kette der Erscbeinungen
sicber bergestellt ist, dann bat der Gescbicbtsscbreiber nicbt
mir das Reebt, sondern die Pflicbt, die Legenden kritiscb
zti benntzen; denn wenn er das personlicbe Element in der
Gescbicbte scbatzen und znr Darstellung bringen will, so
muB er nacb ihnen greifen. Die gewaltige Personlicbkeit
spiegelt sieb niemals vollkonimen in den Tatsacben; sie
spiegelt sicb nur in den Kopfen und Herzen derer, die sie
entziindet und entflammt bat. Darf icb gleicb das Hocbste
zura Beweise anfubren? "Wie unvollkonunen ware unsere
Kenntnis von Jesus Cbristus, wenn wir nur seine Worte
batten und nur seine auCere Gescbicbte kennten! Erst da-
durcb, daC wir die Legende von ibm besitzen — das Wort
bier im weitesten Sinn — d. b. den Eindxuck, den er auf
seine Jiinger gemacbt, leucbtet uns das ganze Bild seiner
Herrbcbkeit auf. Icb recline bierzu aucb alles das, was
scbon in altester Zeit von eigentbcben Legenden liber ibn
erzablt worden ist. Wir miiben uns ab, festzusteUen, was
bier tatsacbbcb ist und was nicbt, und miissen uns abmiiben,
sonst waren wir Mietlinge. Aber bocb iiber jeder Frage
und aller Kritik stebt die Tatsacbe, die sicb fast in jeder
Legende iiber ibn spiegelt, daB er die bocbste Gewalt be-
sessen bat, die iiberbaupt besessen werden kann, die Gewalt
■iiber sicb selber, und daC er durcb Demut und Liebe die
Herzen bezwungen bat. Was bier im GroBen gilt, das gilt
aucb un Kleineren. Die Tatsacben allein bringen uns nie
einer entscbwundenen Person naber. Aus dem Eindrack,
Legenden als Geschichtsquellen. 25
den sie auf die Gremiiter hinterlassen , wird sie selbst er-
kannt und geliebt: so entzundet sicli eine Packel an der
anderen. Mclit nur fiir die Zeit, aus welcher sie stammen,
sondern auch fiir die Person und das Ereignis, von welclien
sie Zeugnis ablegen, konnen die Legenden somit vom hoch-
■stenWerte werden. Die Greschich.tssclireibung des 18. Jakr-
bunderts ist darnm so diirftig und ungeniigend gewesen,
■weil sie die Bedentung der Legende verkannt hat. Die
Kritik allein vermag so wenig Geschichte zu schreiben wie
die Romantik.
Aber, was wir bente fordern miissen, ist, daC iiberall
■wo die Legende sicb als tatsacblicbe Grescbicbte gibt, dieser
Scbein zerstort wird. "Wir leben in einem Zeitalter, das
den licbten Nebel nicbt mebr vertragt, in welcbem Gre-
scbicbte nnd Legende — das Wort im engeren Sinn ge-
nommen — vermiscbt werden. Es ist freilicb leicbter, oder
es scbeint docb so, an Zweck und Ziel, EIraft und HeiT-
licbkeit der Gescbicbte zu glauben, wenn scbone Legenden
sie durcbzieben. Es ist leicbter auf die gottlicbe Leitung
der Grescbicbte zu vertrauen, wenn man den Finger Grottes
sicbtbar scbaut. Und gewifi soil man scbonend verfabren,
wo eine Legende den Halt bildet fiir eine sittbcbe Erkennt-
nis, eingedenk des tiefen Sprucbes: „Krafte und Kriicken
kommen aus einer Hand." Aber immer gebt die Walirbeit
liber alles, und scblieiJliob ist in der wirklicben Grescbicbte
Erbebung und Kraft genug zu finden, wabrend man nicbt
ungestraft unter den Palmen der erfundenen Legenden
wandelt.
Hier liegt eine Aufgabe, welcbe den beutigen und den
zukiinftigen Historikern gestellt ist. Aber wenn es wirklicb
eine doppelte Grescbicbte gibt, eine Grescbicbte der Tatsacben
und eine Gescbicbte der Gedanken liber die Tatsacben, so
ist es offenbar, dafi wir aUe an dieser zweiten Gescbicbte
mitarbeiten. Wie groC ist die Verantwortung, die wir da-
mit tragen! Wie wir urteilen und was wir sprecben, das
26 Erster Sand, erste Abteilung. Eeden: I.
schlagt sich. nieder. Ein Sandkom kommt zum anderen,
und so bilden sich. Uberlieferungen, 5ifentliche Meinungen,
die selbst wieder zu Elementen der Geschiclite -werden.
Deshalb miissen wir RecbeiisclLaft geben iiber jedes ■unniitze
Wort, well auch die lumutzeii Worte nicht niiwirksani
sind. Es gilt, die Zunge im Zamn zu balten, der falschen
Legende kraftig entgegenzutreten und mitzuarbeiten an der
TJberlieferung der Wahrbeit und der Kraft, an der IJber-
lieferung der -wabren Legende!
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^
REDEN: II
SOKRATES UND DIE ALTE KIRCHE
Eektoratsrede
gehalten in der Aula der KOnigliclien ]?riedricli-'Willielms-Universitat
in Berlin am 15. Oktober 1900.
Die akademisclie Sitte weist den Rektor an, das neue
StTidienjahr mit der Betrachtung eines wissenscliaftliclLen
Problems von allgemeiner Bedeutung zu eroffnen. Indem
ich dieser Sitte folge, lade icli Sie ein, sich. mit mix in ein
entferntes Zeitalter zu begeben. Fiircliten Sie aber nicht,
daC icli Sie aus dem hellen Tag, der uns strahlt, in ein
unfreundliclies Dunkel fiihre. Nur die Grescliiclite, die nocb
nicht vergangen ist, die ein Teil unserer Gregenwart ist
und bleibt, hat Anspruch darauf, von alien gekannt zu
werden, und fiir eine Episode aus dieser Geschiclite erbitte
icli mir Ihxe TeiLnalune.
Wie sich die christKclie Religion und die grieckLsclLe
PhilosopMe, oder daJJ icb besser sage: die griechische
Kultur, gefunden und mit welclien Augen sie sich be-
trachtet haben in dem Momente, als eine der anderen zu-
erst auf leuchtete , wie sie dann ilire Schatze verghchen
haben und Einiges nun in doppeltem Lichte strahlte,
Anderes aber erlosch — das ist ein Schauspiel, das zuriick-
zurufen der Betrachtende nie miide werden kann. Aber
nicht nur wie ein Schauspiel steht es vor seinen Augen.
Die Werte, die ihn bewegen in Gefiihl und Tat, in der
tiefsten Empfindung und in der hochsten Anspannung des
Eigenlebens, und wiederum in Eamilie und Beruf, in Kirche
und Staat — aUe die Werte, die den eigentlichen Sinn des
Lebens ausmachen, sind gepragt worden in jenem wider-
spruchsvollen Bunde, der in dem zweiten und dritten Jahr-
hundert zwischen Grriechentum und Christentum geschlossen
worden ist.
30 Erster Band, erate Abteilung. Eeden: II.
In der Tat eine concordia discors, denn von beiden
Seiten empfand man Gemeinsames und bemerkte doch
Trennendes. Das Gemeinsame waren Giiter, aus dem
Trennenden entwickelten sich. Aufgaben: so sind die
Spannungen niclit minder wirksam nnd segensreich. ge-
worden als der doppelt versicberte Besitz.
Dort wie bier aber war es je eine PersonbcKkeit, in
der alles Hobe zusammengefaCt, begriindet und verwirkbcbt
erscbien. Fiir das Cbristentnm ist das obne weiteres klar:
in der Person Obristi wurde das neue Leben mit alien
seiaen Giitern angescbaut. Aber aneb das Griecbentnm,
sofern es sicb als Erbebung iiber das sinnlicbe Leben, als
ideale Weltanscbauimg und ernste SittHebkeit darstellte,
besaJ] einen fiibrenden Heros. War er aucb nicbt so aus-
scbbeBlicb der riibrer wie Jesus Cbristus, so war er docb
die GroBe, vor der bald jeder Griecbe sicb beugte und die
er als den Begriinder eines boberen Lebens verebrte —
Sokrates. Jesus Cbristus und Sokrates: die beiden Namen
bezeicbnen die bocbsten Erinnerungen, welcbe die Menscb-
beit besitzt. Zwar war es Sokrates nicbt bescbieden, wie
Pbilo, Josepbus und Virgil, eine Stelle unter den Kircben-
vatern zu erbalten, aber etwas viel Grofieres bat die Ge-
scbicbte ibm gespendet. Sie bat seinen Namen, wenn aucb
in weitem Abstande, mit dem Jesu Cbristi verbunden.
Vom zweiten Jabrbundert ab stebt diese Verbindung vor
den Augen der empfindenden und denkenden Menscbieit
als Konsonanz und als Dissonanz, vor allem als ein wunder-
volles Problem, an dem sicb jedes Jabrbundert bat ver-
suchen miissen. Denn es gibt Probleme in der Gescbicbte,
die niemals erledigt werden und die jede Generation neu
anfassen muB. Zugleicb aber laBt sicb bier mit Handen
greifen, dafi es in der Gescbicbte der Gedanken die Per-
sonen sind, welcbe die Gescbicbte macben. Gewifi, sie
kamen, well die Zeit erfiillt war, aber die "Weisbeit, welcbe
lebrt, daU sie kommen mufiten, stebt auf der Hobe der
Sokrates und die alte Kirche. 31
Einsicht, daU iiberhaupt alles so gekommen ist, wie es
kommen muCte.
Christus und Sokrates — unter diesem Titel kann man
ein groiJes Stiick der Geistes- nnd Religionsgeschiclite von
zwei Jahi-tausenden besclireiben. Wie ernsthaffc hat sicli
noch das vorige Jahxhundert um dies Problem bemubt —
seine Dichter, seine PhiLosophen nnd seine Aufklarer!
Hamanns Tiefsinn, Mendelssobns und Eberbards
klare Verstandigkeit, Matthias Claudius' beweghohe
Mitempfindung, Wielands weltmannischer Bhck, Klop-
stocks Begeisterung haben sich an dem Probleme ver-
sucht. Einst war Portias, der Gattin des Pilatus, Traum,
in welchem ihr Sokrates erschien, aUen gebildeten Deutschen
bekannt, und der Dichter des Messias ist um dieser er-
greifenden Episode wiLlen aufs hochste gepriesen worden.
Aber auch noch in unserem Jahrhundert, in welchem "Welt-
anschauung, Wissenschaft und Dichtung immer mehr aus-
einandergetreten sind und der Poet, ja selbst der Philosoph,
selten mehr um die hochste Palme ringt, ist das Problem
nicht ganz vergessen. Man braucht auch kein Prophet zu
sein, um verkundigen zu diirfen, daC es uns in den
nachsten Jahrzehnten wieder mit ganzer Macht beschafti-
gen wird.
Aber nicht die lange Kette jener Bemiihungen gedenke
ich Hmen vorzufuhren, sondern, zum Anfang zuriickkehrend,
mochte ich Ihre Teilnahme fur die Erage erwecken, wie
von den Christen im vorkonstantinischen Zeitalter Sokrates
empfunden und betrachtet worden ist.
Darf ich Sie zunachst an einige Hauptzuge des groBen
Philosophen erinnern? Bei Grriechen und Eomern lebte er
fort ausschlieBhch in dem Bilde, welches Plato von ihm
gezeichnet hatte. Dieses Bild hatte nicht nur seine Ver-
klarung und Weihe, sondern auch seinen wesentlichen In-
halt durch den Tod empfangen. Sieht man von diesem
ab, so erscheint Sokrates als ein Sophist im hoheren Sinn
32 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
des Worts, der es verstand, seine Gregner mit Lhren eigenen
"Waifen zu schlagen. Wie sie beseitigte er die objektive
Spekulation ; wie sie hatte er mir fiir das Individuum in
seinem intellektuellen und moralisclien Znstande Inter-
esse; wie sie lehnte er es ab, aus der Sitte und Uberliefe-
rung die Entscheidung iiber das PflichtmaBige zu treffen;
endlicli wie bei ilinen fiihrte auch. bei Sokrates die ver-
niinftige IJberlegung noch. nicbt zu einem systematischen
und gescklossenen Wissen, sondern das begrifflicke Denken
war ihm nur ein Prinzip von Fall zu Fall. Aber freilicb,
an einem entscheidenden Punkte unterschied er sicb von
den Sopbisten: die vemiinftige IJberlegung fiilirte ibn nicM
auf den jedesmaligen eigenen Vorteil des Individuums,
sondern letztlicb auf etwas Allgemeines , Bleibendes, eine
Art von kategoriscbem Imperativ. In diesem Sinn schloU
sich dock bei ikm das Denken zu einer Einkeit, einer Art
von Weltansckauung zusammen, deren Ausgangspunkt das
Innenleben war und die von einem idealen und ethiscken
Gredanken bekerrsckt wurde. Aber wie wenig war diese
Lehre an und fiir sick nock imstande, wie ein Evangelium
zu wirken und epockemackend einzugreifen ! Das wesent-
licke Element fiigte Sokrates ikr erst durck seinen Tod
kinzu. Der Kerker und der Sckierlingsbecker sind die
eigentkcken Mittel seiner Pkilosopkie gewesen; denn durck
sie kob er seine Lekre aus dem Grebiet der dialektiscken
Kunst und bloBer Worte auf die Hoke der Tat und verkek
dem ideeUen Gledanken scklecktkin Autoritat und Objek-
tivitat. So ist es von Plato, so von den Tausenden nack
ikm empfunden worden. In die grieckiscke "Welt, in diese
keitere Welt der Sinnenfreudigkeit und des G-enusses, kat
Sokrates die G-ewiJJkeit und den Ernst eines k5keren Lebens
gebrackt — der sterbende Sokrates, nickt der lebxende, oder
der lekrende nur insofern, als er in der Todesstun.de lekrte.
Die Anklage, um deren wiken er verurteilt worden
war, erkielt kierdurck einen ganz neuen Sinn. Verurteilt
Sotrates und die alto Kirohe. 33
worden war er, well er neue Gotter lelirte und well er die
Jugend zum Ungehorsam gegen die Eltern und Staats-
gesetze verfulrrte: das behauptete die demokratisclie Re-
aktion, deren politisclies Opfer er geworden war. Seine
ScKiiler nnd Verelirer muBten nmgekehrt ilberzeugt sein,
daC eben das das Gerechte und Grute sei, um dessen willen
man ilin verurteilt hatte. Eine vollstandige Umwertung
der Werte war damit gegeben: unbekiimmert um den Staat,
um Sitte und Gewobnlieit sicli lediglich von personlicher
IJberzeugung und freier Selbstentscheidung leiten zu lassen,
der sittlichen Priifung nacli den hochsten Mafisttiben und
der innern Stimme allein zu folgen, das ist das Grute. Und
noch. etwas, ■ — • Leiden, Entbekrung, Verfolgung, der Tod
sind keino tJbel, sondern konnen in Quellen der Kraft ver-
wandelt werden; das irdiscbe Leben ist der Griiter hoclistes
nicbt, denn es bat ein lioberes Leben in sicL. und iiber
sicK; endlicb, selbst die Staatsgotter , die olympiscben
G-otter alle, verblassen an Macbt und Autoritat vor dem
Gott, der tief das Innerste erregt. Das sind die Empfin-
dungen und tJberzeugungen, die Sokrates durcli seinen
Tod in der AntUie entbunden bat und die die Grundpfeiler
einer neuen Weltanschauung in Griecbenland geworden sind.
Es bedarf nicbt vieler "Worte, damit man erkenne, wie
Terwandt das alles die Christen beriihren muBte. Je ein-
facher und reiner sie ihren eigenen Besitz empfanden, um
so deuthcher mufite ihnen die tJbereinstimmung sein. Aber
andererseits — wie groB war doch wiederum der Unter-
schied! Dieser Sokrates verlegte alle hoheren Giiter in das
Gebiet der Erkenntnis; sie, die Christen, aber waren an-
gewiesen, alle menschliche Erkenntnis miBtrauisch zu be-
trachten. Er rief zum Wissen, sie aber zum Glauben. Er
lieU die Gotter gelten; sie aber betrachteten sie als Damonen.
Er zeigte den Weg zur Selbsterlosung; sie kannten einen
Erloser und hofften auf ihn. "Wie konnen so viele Gegen-
satze bestehen bei soviel Gemeinschaft?
ilarnaok, Beden und Aufsatzo. L "
34 Erster Band, erste Abteilung. Keden: II.
Ein Jahrliuiidert lang horen wir in christlichen KJrei-
sen nichts von Sokrates, nicht einmal den Namen. Paulus
schweigt liber ihn, obscton er von griecliischer PhilosopMe
nicht ganz nnberTilirt geblieben ist. Anch. im Grefangnis
erinnert er sich. nicbt an den verbafteten Pbilosopben.
Mcbt einmal die Legende hat es gewagt, dem Apostel ein
Urteil liber Sokrates in den Mund zn legen, obschon sie
ihn mit Seneca zusammenbringt. jjWenn nnsere Bekenner
etwas Todliches trinken, wird es ihnen nicht schaden", be-
zengen die Christen; aber Sokrates erwahnen sie nicht.
Erst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts wu'd sein
Name in iinseren Quellen zum erstenmal genannt, und
von nun an verschwindet er nicht mehr.
Es sind die christhchen Apologeten gewesen, die ihn
anfgenommen haben, jene Manner, die das Christentum
auf den Boden der griechischen Philosophie, ja liberhanpt
des Griechentnms , hiniiber pflanzten. Und — - daB ich es
gleich sage — der erste, der dies mit nngemeiner Energie
getan hat, ist zugleich derjenige, der Christus nnd Sokrates
einander am nachsten geriickt hat, der Apologet Justin.
Um das Jahr 150 hat er eine umfangreiche Verteidigungs-
schrift fiir das Christentum an die Kaiser Antoninus Pius
und Marc Aurel, an den Senat und das ganze romische
Volk gerichtet. In dieser Schriffc streift er nicht nur So-
krates und seine Lehre, sondern die Beziehung auf sie bildet
vom ersten bis zum letzten Blatt ein Hauptmittel der
Verteidigung und des Beweises. Er weiC, daB seine kaiser-
hchen Adressaten Sokrates iiber alles schatzen; deshalb
hat er seine Schrift durchflochten mit platonischen Zitaten
und mit Anspielungen auf die letzten Reden des Philo-
sophen. Aber er selbst ist als Christ ein Verehrer des
Sokrates gebUeben, und darum argumentiert er zuversicht-
lich und unbefangen von ilun aus fiir die Christen und
fiir Christus. Wir Chiisten aUe erleiden heute das, was
Sokrates erlitten hat, weil wir wie er denken und hand ein;
Sokrates und die alte Kirche. 35
wir sind mit ihm -ungereclit verurteilt; wir sind mit iTim
im Kerker; -wir werden mit ihin getotet und — wir sind
mit ihm nnverwundbar; denn Anytus und Meletus konnen
uns -wolil toten, aber schaden konnen sie uns nicht. Das
ist keine Rhetorik, das ist auch niclit zufallige tJberein-
stimmung, nein — Justin ist tief davon durcMrungen,
daC sick in der VerurteUung der Christen die Verurteilung
des Sokrates wirklicli fortsetze. Diese tJberzeugung muC
er beweisen, und er beweist sie; denn so lauten seine
Worte: „Als Sokrates die Menschen von den Damonen ab-
zuwenden versuchte, da haben es diese dahin gebracht,
daiJ er als eiti Gottesleugner und Frevler sterben mufite;
denn sie KeUen die Bekauptung verbreiten, er fiihre neue
Grottheiten ein. Dasselbe tun sie heute uns gegeniiber;
denn nicht nur bei den G-riecken hat der Logos die falsche
Religion durch Sokrates widerlegt, sondern auch bei den
Barbaren ist dies gesckeken. Dort aber ist er personlich
erschienen und kat als Jesus Ckristus die Damonen liber-
wunden." Und an einer anderen Stelle: „Alle die mit dem
Logos gelebt kaben, die waren Ckristen, wenn sie auck als
Gottesleugner galten, wie unter den G-riecken Sokrates."
Und an einer dritten: „Unter alien Pkilosopken ist So-
krates der beste gewesen; denn er kat Homer und die
G-otter der Dickter versckmakt, dagegen die Menscken an-
gewiesen, den unbekannten G-ott mittelst des Logos zu
sucken und zu erkennen; er selbst kat Ckristus zum
Tail erkannt; denn Ckristus ist die personkcke Ersckeinung
des Logos, der jedem Menscken inne woknt."
Sokrates und Ckristus gekoren also zusammen und
werden von Justin der grieckiscken Rekgion entgegen-
gesetzt. Sie gekoren aber zusammen, well ein und der-
selbe Logos in Beiden gewaltet kat.
Enger kann man die Verbindung nickt fassen; aber
Justin ist dabei nickt bknd gegeniiber dem Unterschied.
Dieser Unterschied ist ihm ein gewaltiger; denn, so fiikrt
3(5 Erster Band, erste Abteilung. Seden: II.
er aus: Sokrates war nur ein Werkzeug des Logos, in
Cliristus aber ist dieser selbst erschienen; weiter, Sokrates
hat die AValixlieit niclit vollstandig iind rein erkannt, denn
er besafl niclit den ganzen Logos; endlicli „dem. Sokrates
hat niemand solchen Grlauben geschenkt, daB er fiir seine
Lehre gestorben ware, fiir Christus aber gehen nicht nur
Philosophen, sondern anch Handwerker und ganz unge-
bildete Leute in den Tod". Diese letzte Wendung ist ganz
besonders lelirreich: Justin vermeidet es, die so nahe lie-
gende Parallele zwischen dem Tod des Sokrates und dem
Tod Ghristi zu ziehen. Dagegen stellt er das Verhalten
der Jiinger Beider in einen Gegensatz und erschlieCt aus
ihm die einzigartige Kraft der Predigt Jesu.
In Hinsicht auf Reinheit, Universalitat, FaClichkeit
und tJberzeugungski'aft also steht dem Justin das Christen-
tum hoch Tiber der sokratischen Lehre; aber kein Zweifel
— Sokrates und seine Philosophie gehoren auf die Seite
der Wahi'heit und nicht auf die Seite des Lrrtums, darum
zu Christus und nicht zum Heidentum. Ahnlich wie Justin
haben auch die iibrigen griechischen Apologeten geurteilt,
die etwas spater geschrieben haben. Sie streifen die Person
des Sokrates zwar nur, und er steht ihnen nicht im Mittel-
punkt des Interesses, aber sie verehren ihn. Tatian schildert
das ganze Griechentum mitsamt seinen Philosophen in den
diistersten Farben, aber Sokrates nimmt er aus: „Es gibt
nur einen Sokrates." Athenagoras stellt wie Justin die
Christen mit dem athenischen Philosophen zusammen: „Wie
dieser durch die offentliche Meinung nichts von seiner Vor-
trelflichkeit einbiiBen konnte, so vermag auch uns Christen
die grundlose Verleumdung in Bezug auf die Reinheit
unseres Lebens nicht zu schaden. " Der Philosoph ApoUonius
erinnert seine Richter, die romischen Senatoren, an die be-
riihmte Stelle aus Plato, wo dieser von dem wahrhaft Gre-
rechten weissagt, er werde gegeifielt, gefoltert, geblendet
und zuletzt aufgepfahlt werden. Dann fahrt er fort: „So
Sokrates nnd die alte Kirche. 37
wie die athenisdien Anklager iiber Sokrates ein ungerecli-
tes Todesurteil abgegeben liaben, so liaben die Gottlosen
auch. iiber unseren Meister und Erloser das Verdammunss-
urteH gefallt; denn die G-erechten sind den Gottlosen stets
verhaJBt." Nur einen alten griechisohen Apologeten gibt
es, der tier eine Ausnahme maeht und Sokrates einfacli in
das blinde Heidentum. einrecbnet. Es ist gewiU nicht zu-
fallig, dafi dieser Eine zugleich. ein Biscbof gewesen ist —
TlieopliilTis von Antiochien. Er stoiJt sicli daran, dafi So-
krates, wie die IJberlieferung sagt, bei dem Hunde und der
Platane zu schworen pflegte, und scMofi daraus, dafi er
nichts von der Wakrheit erkannt babe, und dafi daber auch
sein Tod sinn- und zwecklos gewesen sei. Jene Schwiire
des Sokrates mufiten freilicb seinen christlichen Verebrern
sebr unangenebm und bedenklich sein, aber sie wuCten
sicb mit ibnen abzufinden. Lediglicb um die Atbener und
ibren Glauben zu verspotten, meinten sie, babe Sokrates
solcbe Scbwurformebi gebraucbt. So gewifi waren sie, dafi
der Mann, der, wie die cbxistbcben Bekenner, fiir seine
Lebre gestorben war, unmoglicb im Gotzendienst stecken
geblieben sei.
Er war flir seiue Lehre gestorben und die Christen
starben fiir ibre Lehre — diese tjbereinstimmung hat selbst
die gebildeten Gegner des Christentums stutzig gemacht,
und noch andere Verwandtschaften fielen ibnen auf. Celsus,
der alteste und tiichtigste Uterarische Bestreiter des Christen-
tums, hat in der Einleitung zu seiner Schrift die gefahr-
dete Lage der Christen mit der des Sokrates verglichen.
Leider kennen wir an dieser Stelle den Wortlaut seiner
Ausfiihrungen nicht mehr und wissen daher nicbt, wie er
sicb aus dem fiir seinen eigenen Standpunkt todlichen Ver-
gleich herausgezogen hat. Eben derselbe Celsus behauptet
auch, dafi die Christen das Gebot, nicht Boses mit Bosem
zu vergelten, einer Anweisung des Sokrates entnommen
batten, und dafi auch ibre Unterscheidung einer mensch-
38 Erster Band, erste Abteilung, Eeden: II.
lidien und einer gottlichen Weislieit dieser Quelle ent-
stamme. Der Heide Caeilius rat den Christen, wenn sie
denn durchaus philosophieren wollten, Sokrates nachzu-
ahmen nnd jene Zuriickhaltung in Bezug aiif die himm-
lischen Dinge zu liben, der er sich befleiBigt habe. Lucian,
der Spotter, bebauptet, die Cbristen batten einen ibrer ber-
vorragenden Lebrer „den neuen Sokrates" genannt. Gralen
gestebt einzelnen Christen zu, daU sie wie wabre Philo-
sopben, also wie Sokrates, die sinnbchen Geniisse und den
Tod verachten. Umgekebrt sucht Marc Aurel zu zeigen,
dafi die Ubereinstinunung des Sokrates und der Christen
in der Todesbereitscbaft nur eine scheinbare sei; denn
jene sei selbstbewuCt und vol! keuscben Ernstes gewesen,
diese aber unbesonnen und prablsiicbtig. Man erkennt
deutlicb — auch fiir die G-egner lag bier ein Problem.
Mcht nur die Christen nabmen Sokrates fiir sicb in An-
spruch; auoh ibre Feinde fanden bier Ubereinstimmungen,
die sie in Verwunderung setzten und fiir die sie nach Er-
klarungen suchen niufiten. Qegenseitig bezichtigte man
sicb des Plagiats: Sokrates bat die beibge Scbrift gepliin-
dert; nein — Christus oder die Cbristen baben die grie-
ehisohe Philosopbie bestohlen. So sebr empfand man das
Gemeinsame, und so unfahig war man, es zu erklaren!
Aber — kann man eiawenden — ist bier nicht alles
beriiber und biniiber nur dialektiscb-apologetiscbe Kunst
gewesen? "War es den cbristlicben Pbilosophen wirkbcb
Ernst mit ibrer Verebrung des Sokrates? Bei Justin kann
dariiber kein Zweifel sein und ebensowenig bei dei: Gruppe
von Theologen, die sicb unmittelbar ibm anscblieUt, den
alexandriuiscben cbristlicben Gelehrten. Clemens, Origenes
und ibre Schiiler baben mit der gleichen Hocbacbtung von
Sokrates gesprocben, wenn sie fiir Christen und wenn sie
fur das groCe PubUkum geschrieben baben. ■ Der Ausdruck
„Hochacbtung" ist noch viel zu schwach; Sokrates war
ibnen ein Zeuge der Wabrheit, ja der Zeuge innerhalb der
Sokrates viud die alte Kirche. 39
griechischen Geschictte. Noch mehr: Clemens AlexancLrinus
hat die ganze Geschichte der griecliischen Philosophie von
Sokrates ab nicht im Kontraste zum Christentum betrachtet,
sondern als Vorhalle desselben wie das alte Testament, und
aucb Origenes und seine Schiiler beurteilten sie ahnlich.
Wie war ilinen das moglicb, da sie dock iiberzeugte kircb-
licbe Christen waren und der Bedeutung der Person Christi
nichts abzogen? Nun, mogbch, ja selbstverstandlich war es
ihnen, weil sie in der christhchen Religion nicht eine
Religion sahen, sei es auch die wahre, sondern weil sie sie
als die Religion erkannten, auf welche die rehgiose Anlage
aUer Menschen hinweise und die sich in der Menschheits-
geschichte vorbereitet habe. Diese Erkenntnis machte sie
nicht tolerant, sondern wahrhaft Hberal, d. h. sie wufiten
das G-ute, wo immer es sich zeigte, zu finden und zu
schatzen und brachten es mit der christhchen Predigt in
Verbindung. DaJJ die Tugenden der Heiden nur glanzende
Laster, ihre Erkenntnisse samt nnd senders Irrtiimer seien —
von diesem triiben Gedanken waren sie noch weit entfernt.
Freihch entfernten sie sich auch von jener Auffassung des
Bosen und der Siinde, welche Paulus verkiindigt hatte;
aber man kann nicht sagen, daiJ sie die einzige ist, die sich
mit dem Evangelium vereinigen laCt.
Wie sehr Clemens nnd Origenes Sokrates geschatzt
haben, erkennen wir am besten an der voUkommenen Un-
befangenheit, mit der sie seine Ausspriiche als anerkannte
Wahrheiten zitieren; ja Clemens verbindet sie sogar mit
Bibelspriichen. Origenes tut das nicht mehr; die Bibel
steht ihm zu hoch, aber Sokrates ist auch ihm iiber jeder
Kritik erhaben. „Er hat", sagt er, „im Grefangnis mit voU-
kommener Fnrchtlosigkeit und mit aller Seelenruhe so viele
und so erhabene Gredanken ausgesprochen, dafl ihm kaum
die zu folgen vermochten, die voUstandig gefaiJt waren
und von keiner drohenden Gefahr beangstigt wurden."
Nur einmal erscheint seine unbedingte Verehrung er-
40 Erster Band, erste Abteilung. Eedcn: II.
scL-iittert, wo er sicli erinnern miiC, daC Sokrates doch.
auch den Gotzen geopfert hat. Aber mit Clemens ist er
der IJberzeugung, dafi das Damoninm des Sokrates kein
boser Greist gewesen ist, sondern ein G-eist des Schutzes nnd
der Wakrheit. Das ist die starkste Probe ihres Glaubens
an den Philosoplien ; denn es war fur jeden Gliristen ein
hartes Stiick, dieses Damonium anzuerkennen. Scbon der
bloBe IsTame muBte abscbrecken. Am lekrreicbsten aber
ist es, zu sehen, wie Origenes in seinem groBen "Werke
gegen Gelsus den IJbereinstimmungen zwischen Sokrates
einerseits und Ckristus und den Christen andererseits nacb-
gebt. Tausend Jahre spater haben die Schiiler des beiligen
Tranziskus .,Conformitates" zwiseben ibrem Meister und Je-
sus aufgesucbt und zusammengestellt. Dasselbe bat bereits
Origenes getan; nur einige seien angefiilu't: Jesus ist
eines scbmablicben Todes gestorben, Sokrates aucb; Jesus
bat gelebit, den Tod nicbt fiir ein Ungiiick zu acbten und
ibm gegeniiber fai'cbtlos zu bleiben, Sokrates aucb; Jesus
hat die Siinder zu sicb gerufen, Sola'ates bat den Phadon
aus einem scblechten Hause berausgenommen und ihn der
Philosophie zugefiihi-t; von Jesus werden bochst wunderbare
und anscheinend unglaubwiirdige Gescbicliten berichtet, von
Sokrates auch; Jesu Spriicbe und Gleichnisse bediirfen der
allegoriscben Erklarung, Sokrates' Mythenerzablungen eben-
falls ; aus Jesu Verkundigung endbch haben sicb verscbiedene
Sekten und Schulen entwickelt, nicht anders aus der Lehre
des Sokrates.
Diese Hochschatzung des atbenischen Pbilosophen bat
Origenes auf seine Schiiler iibertragen. In der Lobrede,
die Gregorius Thaumattrrgus seinem Meister gehalten bat,
weiC er ibm kein hoberes Lob zu spenden als in den
Worten: „Wie Solcrates bat mich Origenes geziigelt und
geleitet." Ebenderselbe Gregorius bezeichnet das sokratische
Wort „Erkenne dicb selbst" als das Gebot der tiefsten Weis-
beit. Ein anderer clrristlicher PhUosopb, Methodius, eignet
Sokrates und dio alte Kirche. 41
sich. die Auffassung vollkommen an, die Sokrates liber den
Tod ausgesproclien hat. In die Weltclironik des Eusebius
ist Sokrates als der „Pliilosophos kathartikos", der Philosoph.
„ der Reinigung" , anfgenommen, der durch. „den "Walinsinn"
der Athener den Tod erlitten bat. Damit erschien das
christlicbe Urteil liber Sokrates fiir alle kommenden Zeiten
in einem mafigebenden Werke festgelegt. Aber aticb mitten
im bewegten Leben und in der Todesstunde haben christ-
liche Martyrer des 3. Jabrhnnderts nocb immer des Sokrates
gedacbt und sich. auf ihn berufen, so Pionius und Phileas.
„Ich op fere nieht; denn ich wache eifersiichtig liber meine
Seele. Mcht nur wir Christen tun so, sondern auch Heiden;
nimm Dir den Sokrates als Beispiel: da er zum Tode ge-
flihrt wurde und seine Gattin und Kinder neben ihm standen,
kehrte er nicht um, sondern nahm bereitwUlig den Tod
auf sich." Aus dem ganzen Grebiet des Griechentums ist
mir in der Zeit vor Konstantin neben Theophilus von
Antiochien, den ich bereits erwahnt habe, nur noch ein
Christ bekannt, der sich abschatzig liber Sokrates geauBert
hat. Dieser Eine — es ist der Verfasser der clementinischen
Homilien, und er beschuldigt Sokrates grober Unsittlichkeit
— ist aber nur seiner Sprache nach ein Grieche; in Wahr-
heit ist er ein jiidisch-syrischer Christ. Der griechische
Geist lieB sich seinen Sokrates nicht rauben, auch dann
nicht, als er sich dem Evangehum unterworfen hatte.
Aber wer kann behaupten, dalJ sich diese Verbindung
der Lehre des Sokrates und Christi auf eine vollstandige
und tiefe Einsicht in die Eigentumlichkeit Beider griindete?
Man darf wohl sagen: sie kam zu frlih, und sie floi] mehr
aus der sitthchen Stimmung, dem WHlen und der Yer-
ehrung als aus gesicherter Erkenntnis. Tat man nicht
Beiden Gewalt an, indem man sie einander so nahe riickte,
und sab man nicht wesenthche Gedanken des Christentums
preis, wenn man hier nur Ubereinstimmungen' sehen -wollte?
Die abendlandischen Theologen sind es gewesen, die dies
42 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
erkannt haben, die Lateiner, die durcli kein urspriingliclies
Band mit Soki-ates und dem Grriechentum verbunden waren.
Sie haben den Unterscbied und Gegensatz zum Ausdruck
gebracbt. Aber indem sie das taten, wurden sie in der
Negative ungerecbt; denn eine relative und wabrbaft ge-
scbicbtlicbe Betracbtung gab es uberbaupt nocb nicbt.
Doch baben es nur zwei unter ibnen, Minucius Felix und
ISTovatian, iiber sicb gebracbt, den groflen PbiLosopben als
verfiibrten und verfubrenden Irrgeist, ja als „attiscben
Scbalksnarren" einfacb beiseite zu scbieben. Die beiden
einfluCreicbsten abendlandiscben Apologeten, Tertullian und
Lactantius, baben ein widersprucbsvolles Bild des Sokrates
entworfen, in welcbem aber die ungiinstigen Ziige weit
iiberwiegen.
Tertulban raumt in seiner groBen Verteidigungsscbrift
fiir das Cbristentum ein, daJJ Sokrates die falscben Grotter
verworfen babe und daB er desbalb verurteilt worden sei.
Daber laCt er ibm den Titel des Weisesten der Grriecben.
„Er erkannte etwas von der Wabrbeit", sagt er, „und era
gewisser Anbaucb derselben hat ibn den Gottern Trotz
bieten lassen." „In ibm ist die Wabrbeit im voraus ver-
dammt worden, und sein Tod ist das grofie Beispiel, daC
sie zu alien Zeiten den Menscben verbaUt gewesen ist."
Aucb die Scbwurformeln des Sokrates „beim Hunde und
dem Holze'" will Tertullian so deuten, dafi die Gotzen da-
dm'cb verspottet werden sollten. In alien diesen Urteilen,
nur nicbt in dem letzten, stimmt Lactantius mit ibm iiber-
ein; er recbnet es aber Sokrates auBerdem nocb. zu bob.em
Lobe, dafi er sicb fur das Nicbt-Wissen entscbieden und
die ganze Pbilosopbie in Etbik verwandelt babe. Aber
damit ist aucb das Lob des PbUosopben bei beiden Apolo-
geten erscbopft, und tiefe Scbatten verdunkeln es: dieser
Sokrates ist docb ein falscher, ja letztlicb ein unsittHcber
Pbilosopb gewesen; den cbristlicben Haretikern, nicbt der
Kircbe, bat er Stoff fiir ibre Lebren gegeben; er bat die
Sokrates und die alte Kirohe. 43
Wakrheit nicht besessen, sondern sie nui gesucht, ja niclit
einmal ernsthaft — mit dem Wunsche sie zu finden —
gesucht; von einem bosen Damon hat er sicb leiten lassen;
die Jugend hat er zn abscheuUchen Lastern verfiihrt, die
"Weibergemeinschaft hat er empfohlen; im Grunde war er
irrehgios, denn er verkiindete, daC das, was iiber uns ist,
nns nichts angehe, und endlich — auch jenen Anhauch
von "Wahrheit, der ihn die falschen Grotter verachten lehrte,
hat er in der Todesstunde eingebiiJJt; denn er heC dem
Askulap einen Hahn schlachten!
In dem letzten Urteil haben Tertullian und Lactantius
die heiligste Erinnerung der Antike, gleichsam ihr Evan-
gelium, anzutasten gewagt — den sterbenden Sokrates. Die
Seelenstarke , die er in der Todesstunde bewiesen, seine
letzten iieden, das Zeugnis, das er in Wort und Tat fiir
den Adel und die. Unsterbhchkeit der Seele abgelegt, hatten
ihn zum HeHigen des Altertums gemacht. Alles iibrige
von ihm und seiner Lehre war verblaCt und vergessen;
niemand achtete darauf; um so heller erstrahlte der Kon-
fessor und der Martyrer. Diesen wagte Tertullian anzu-
greifen und in den Staub zu ziehen, und weshalb? Weil
er in der Todesstunde befohlen hatte, dem Askulap einen
Hahn zu schlachten! Alle griechischen Apologeten sind
schweigend iiber diesen dunklen und peinhchen Punkt hin-
weggegangen; aber auch Tertulhan selbst hat gefiihlt, daC
er die wundervolle Grofie des sterbenden Sokrates nicht
durch den einen Hinweis auf das Hahnenopfer nieder-
reiUen konne. WoUte er das Evangelium der Antike ver-
nichten in der IJberzeugung, daC nicht wahrhaft groC, nicht
rein und heilig gewesen sein konne, wer der Offenbarung
entbehrte und den Damonen noch geopfert hat, so mufite
er Zug um Zug all das Herrhche vernichten, was Plato im
Phadon und sonst von dem sterbenden Soki'ates berichtet
hatte. Lange ist er selbst vor dieser furchtbaren Aufgabe
zuriickgeschreckt; erst in einem seiner letzten Werke hat
44 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
er sie vollzogen. Die grofie Unters-aclmng iiber das Wesen.
und die Unsterblichkeit der Seele, die wissenschaftlich. be-
deutendste Arbeit, die wir aus seiner Feder besitzen, notigte
ibn, sieh. mit Sokrates auseinanderzusetzen. Wer iiber dieses
Theraa scbrieb, muCte zu Plato's Pbadon Stellung nebmen,
das war selbstverstandlich ; aber Tertidlian mufite das erst
recbt, da er im Grrunde dasselbe iiber die UnsterblicKkeit
der Seele zu sagen batte, was der sterbende Sokrates ge-
lehrt. Wie wird er ibn also ins TJnrecbt setzen konnen?
Horen wir seine Ausfiibrungen ; mit Bedacbt sind sie bereits
im Prologe entwickelt, eroffnen also das Work:
„Im Kerker des Soki-ates wurde iiber den Znstand der
Seele verbandelt. "Wenn auch anf den Ort nicbts ankommt,
so ist mir docb allem zuvor zweifelbaft, ob die Zeit fiir den,
der bier Belelirungen erteilt hat, eine gelegene war. Denn
was soUte wohl die Seele des Sokrates in j-enem Augenblick
nocb mit Evidenz erkannt baben, da das beilige Scbiiflein
scbon vom Lande abgestoiien, der Scbierlingsbecher bereits
getrunken und die Seele, wenn es nacb der Ordnnng dor
IsTatur ging, durcli die Niibe des Todes notwendig in eine
gewisse Erregnng versetzt war? Wie belter nnd rubig sie
audi gewesen sein mag, wie wenig sie sicb aucb unter die
v.-eicben Grefiible der Natur beugen lieB, sie war docb in
Unrube durcb die Anstrengung, nicbt unrubig zu werden,
sie war in ibrer Standbaftigkeit erscbiittert durcb die krampf-
bafte Niederzwingung der Schwacbe. AVeiter, wofiir wird
ein zu Unrecbt Verurteilter sonst nocb Sinn baben als
Trostgrlinde aufzusucben in Bezug auf die UnbUl? Zumal
der Pliilosopb, dieses vom Ruhm lebende Gescbopf! So
gratuUerte sicb denn Sokrates selbst zu seinem Tode, well
es besser sei, ungerecbt als gerecbt verurteiit zu werden,
und, um seinen Anklagern ibren Triumpb zu rauben, de-
monstrierte er die Unsterbbcbkeit der Seele. Also stammte
die ganze damabge "Weisbeit des Solcrates aus den An-
Sokrates und die alte Kirche. 45
strengungen eines tendenziosen G-leichmuts , nicht aus der
Zuversicht der erlebten AVahrlieit. Denn wer kann die
Valu'heit inne werden olme Grott? wer G-ott erkennen oline "
Cliristus? wer Cluistum finden oline den lieiligen G-eist?
Naher liegt es gewiC, bei Solcrates einen ganz anderen G-eist
anzunehmen; denn man sagt ja, daC ilin von Kindheit an
ein Damon begleitet habe. Indes, -wenn selbst dieser So-
krates, den der pytbische Damon als den Weisesten be-
zeichnet, die Unsterblichkeit der Seele bezeugt bat, urn wie
viel mebr G-ewicbt bat das Zeugnis der cbristbcben Weis-
teit, bei deren Anbauch die ganze Macbt der Damonen
znriickweicbt! Sie ist die "Weisbeit aus der Scbule des
Himmels; sie leugnet kiibn die Grotter dieser Welt; sie
erweist sicb nicbt als zweidentig durcb den Befebl, dem
Asknlap einen Habn zu opfern; sie fiibrt keine nenen
Damonen ein; sie verflibrt die Jugend nicbt, sondern lebrt
sie alles, was keuscb und ziicbtig ist. Weil sie so ist,
darxim bat sie die nngerecbte Verurteilung nicbt blofi von
seiten einer Stadt, sondern des ganzen Erdkreises fiir die
Wabrbeit zu ertragen, fiir die Wabrbeit, die um so ver-
baflter ist, je vollkommener sie erscbeint. Sie scbliirft aucb
nicbt den Tod in beiterem Feierkleid aus einem Becber,
sondern mufi ilin nebst aUen Erfindungen der Grausamkeit
am Kreuz und auf dem Scbeiterbaufen dui'cbkosten, und
sie stellt in dem viel finstereren Kerker dieser Welt ibre
Untersucbungen iiber die Seele mit ibren Pbadonen nacb
den Anweisungen G-ottes an. Der wabre Lebrmeister der
Seele ist ibr Scbopfer. Von ibm allein soUst du lernen,
und wenn nicbt von ibm, dann von keinem anderen; denn
wer kann entbiillen, was er bedeckt bat? Dort soil man
fragen, wo man, aucb obne Antwort zu erbalten, am
sicbersten gebt. Es ist besser, etwas durcb Gott nicbt zu
wissen, weil er es nicbt geoffenbart bat, als durcb einen
Menscben zu wissen, weil er iiber wertlose Mutmafiungen
docb nicbt binauskommt. '■
46 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
„Wehe, wehe, du hast sie zerstort, die sclione "Welt"
— so muB man ausrufen. Und mit "welclien Mitteln zer-
■ stort! Wie kreuzt sich in diesen Ausfohrungen die IJber-
zengung von der unerreichten Hohe des Evangeliums mit
abschetdiclier Sophistik! Hat Tertnllian selbst an diese
pfaffisclien Ausfukrungen geglaubt, war es ihm Ernst mit
dieser Kritik des sterbenden Sokrates? Ja und nein! Ernst
war es ilim mit seiner Theorie, mit dem Glauben, dafi
die Wahrbeit ansscMiefilicb in der bibliscben Offenbarung
zu finden sei; aber er hat wider sein Wissen und sein G-e-
wissen gezeugt, wenn er dieser Theorie zuliebe die Tat-
sachen beugte und den Sokrates in den Staub zog. LaCt
sich doch unschwer bemerken, daU bei Tertullian hinter der
ungerechten Verurteilung noch immer eine scheue An-
erkennung uniiberwindhch raht. Der Mann, der einst das
herrhche Biichlein „De testimonio animae naturahter
Christianae" geschrieben hat, vermochte es doch nicht iiber
sich zu bringen, dem Sokrates zum zweitenmal den Schier-
hngsbecher zu reichen. Ein Funke griechischer Auffassung
lebte auch noch in ihm, jener IJberzeugung von der Ein-
heit der geistigen und der religiosen Funktion. Aber —
wenn bereits Sokrates fiir die "Wahrheit gestorben war, was
bheb fiir Jesus Christus iibrig? Mit Recht empfand Ter-
tuUian, dafi hier etwas viel Hoheres in die G-eschichte ein-
getreten sei, aber er vermochte dieser Empfindung nur auf
Kosten des Sokrates Ausdruek zu geben.
Doch — den letzten Schritt hat erst Augustin getan,
und zwar durch seine furchtbare Theorie, dafi alle Tugen-
den der Heiden nm- glanzende Laster gewesen seien. Erst
diese Lehre tauchte alles in dunkle ISTacht, was das Alter-
tum Erhabenes und Grrofies hervorgebracht hat. Aber —
wie so oft in der Greschichte — eben wenn eine einseitige
Betrachtung bis zur letzten Spitze durchgefuhrt ist, stellt
sich der Umschlag und der Fortschritt in der Methode der
Erkenntnis ein. Man kann die augustinische Theorie auch
Sokrates und die alte Kirohe. 47
als den Anfang der Einsiclit fassen, daC Religion etwas
Anderes ist als ein Wissen, daC griechisclie Philosophie und
Ckristentum zwei spezifiscli verscMedene Grofien sind, dafi
daher jede fiir sich zu betrachten und nach. verscliiedenen
MaCstaben zu wiii-digen ist. Das ist der voile Gegensatz
zu der Meinung der griechisclien Apologeten, beide geborten
einfach zusammen und die eine lieBe sich. aus der anderen
deuten und erklaren. "Wohl gibt es eine letzte Betrachtung,
nach. welcher diese Auffassung ein Recht hat, aber zunachst
bildete sie ein starkes Hemmnis fiir das Verstandnis beider
GrroJJen. Der, welcher sie auseinander gerissen hat, hat
damit, ohne es zu wissen und zu woUen, der Erkenntnis
einen Dienst geleistet. Auf dem abendlandischen Boden,
nicht auf dem griechischen, ist, freilich erst nach Greneratio-
nen, die zutreffendere Erkenntnis des Christentums und
auch des Sokrates erwachsen, und heute wissen wir besser,
als es irgend jemand im zweiten Jahrhundert gewuBt hat,
was sie trennt und was sie verbindet. Wir nehmen Christus
nicht mehr fiir die Philosophie in Anspruch und Sokiates
nicht mehr fiir das Christentum; wir erkennen, daiJ an die
Hohe des Evangeliums nichts heranreicht; aber doch be-
zeugen wir mit Justin, daU auch in Sokrates der Logos
gewaltet hat.
Ich bin am Schlusse, aber ein Doppeltes mochte ich
Ihnen, meine Herren Kommilitonen , noch ans Herz legen:
erstlich, was Sie auch studieren mogen, vernachlassigen Sie
die Greschichte nicht, die grofie Q-eschichte und die Ihrer
Wissenschaffc. Grlauben Sie nicht, daC Sie Erkenntnisse
einsammeln konnen, ohne sich mit den Personhchkeiten
innerlich zu beriihren, denen man sie verdankt, und ohne
den Weg zu kennen, auf dem sie gefunden worden sind.
Keine hohere wissenschafthche Erkenntnis ist eine bloBe
Tatsache; eine jede ist einmal erlebt worden, und an dem
Erlebnis haftet ibr Bildungswert. Wer sich damit be-
48 Erster Baud, erste Abteilung. Keden: II.
to
gnugfc, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem
Gartner, der seinen Grarten mit abgesclinittenen Blumen
bepflanzt. Sodann aber — erkennen Sie an der GescbicMe
des Sokrates, was den watrbaft groCen Mann macbt und
was von ibm bleibt. Hur der Teii seiner Pbilosopbie ist
geblieben, den er durcb die Tat besiegelt bat, alles andere
ist vergessen. Aucb an Sie stellt die "Wissenscbaft, zu der
Sio berufen sind, nicbt nur die Anforderung zu forscben
tind zu lernen, sondern lebendige Zeugen des Wabren und
Guten zu werden, Manner, die da bereit sind, um dieser
Giiter willen jedes Opfer zu bringen. Der Dienst der
Wabrbeit ist Gottesdienst, und in diesem Sinne sollen Sie
ibn treiben.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG "m
REDEN: III
AUGUSTINS KONFESSIONEN
Vortrag
erschienen in 3. Aufl. 1903 bei der J. Eicker'sohen VerlagsbuoKhandliang
(Alfred Topelmann) in Giessen.
In der Zeit vom Tode Konstantins bis zur Plunderung
Roms dm-ch die Vandalen (c. 340 — 450) ist das geistige
Kapital zusanunengebracht worden, in welcliem sich. die
IJberlieferung des Altertums an das Mittelalter darstellt.
Mag man auf die Religion und Tbeologie, auf die
Wissenschaft und Politik, mag man auf die leitenden Ideen
der mittelalterlichen Menscben iiberbaTipt blicken — iiberall
gewabrt man die voILkommene Abbangigkeit von den Er-
kenntnissen, welcbe in jenem Jabrhundert der Volkerwande-
rung Yon den Kircbenvatern zusammengestellt worden sind.
Diese Erkenntnisse selbst tragen freilicb nicbt den
Stempel friscber Produktion; sie sind vielmebr ledigKcb
eine Auswabl ans einer ungleicb reioberen Fiille von Ideen
Tind lebendigen Ki-aften.
Nacbdem die Kircbe im Reicbe Konstantins zum Siege
gekommen, sucbten ibre Fiibrer sicb des allgemeinen gei-
stigen Lebens zn bemacbtigen und alles der Herrscbaft der
Earcbe und ibres G-eistes zu nnterwerfen. Die groBe Auf-
gabe, langst scbon in Angriff genonunen, das Cbristentum
mit dem Reicbe und der antiken Kultur zu verscbmelzen,
wurde mit erstaunlicber ScbneUigkeit zu Ende gefiibrt.
Jetzt erst wurde der Bund zwiscben der cbristlicben Reli-
gion und der antiken Pbilosopbie festgescblossen. Griinstige
Bedingungen ermogbcbten nocb einmal einen regen Aus-
tauscb zwiscben Abendland und Morgenland, zwiscben Ro-
miscbem und Grriecbiscbem. Die lateiniscbe Kircbe wurde
mit dem Kapitale griecbiscber Wissenscbaft ausgestattet,
unmittelbar bevor die groBe Scbeidung zwiscben dem Osten
4*
52 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
und Westen eintrat. Es ist, als ob man das drohende Ver-
hangnis, die hereinbrechende Nacbt der Barbarei, geabnt
hatte. In Eile wurde der feste Ban der Kirclie fertig ge-
zimmert. In die Dogmatik zog man hinein, was man aus
der griechiscben Pbilosophie brauchen zu konnen meinte;
alles librige wurde als gefahrlicb oder als baretiscb zuriick-
gesteUt und so allmablicb beseitigt. Die Verfassung der
Kircbe erganzte man aus den erprobten Formen der Reicbs-
verfassung; in der kircblicben Recbtsbildung folgte man
dem romischen Recbt. Die Grottesdienstordnnng wurde
revidiert und weiter ausgefiibrt: was an den alten beid-
niscben Mysterien imponierend und ehrwiirdig erscbien, batte
man scbon langst nacbgeabmt; nun wurde alles nocb prunk-
voUer. Es bUdete sich jenes feierlicbe G-eprange, die wunder-
bare Vereinigung erbabener Gedanken mit zeremoniosen
Formen, welcbe den katboliscben Grottesdienst nocb beute
so eindrucksvoU macbt. Aucb die Kunst wurde nicbt ver-
gessen: wenige, aber bocbst bedeutende und bildungsfabige
Motive wurden der tjberlieferung entnommen und mit dem
Scbimmer des Heiligen liberkleidet. Selbst der literariscbe
Bildungsstoff, die Unterbaltungslektiire, wurde fiir die kom-
menden Jabrbunderte zubereitet. Die alten beidniscben
Fabeln, Heroengescbicbten und Novellen wurden gesicbtet
und in cbristlicbe Heiligengescbicbten umgewandelt. Uber-
aU wurde bier das asketische Ideal der Kircbe zugrunde ge-
legt. Aber der Kontrast zu dem bunten und siindigen Leben,
in welcbem man dieses Ideal erproben lieC, gab den alten
Grescbicbten in der neuen Form einen besonderen Reiz.
So macbte man alles, was man der Antike entnabm,
ncbristlicb". Es erbielt durcb die Verbindung mit dem
Heiligen die Gewabr der Dauer. Der Rest der alten Kultur,
auf diese Weise der Kircbe einverleibt, war nun fabig, den
kommenden Stiirmen zu trotzen und kommenden ISTationen
zu dienen.
Allein es war wirklicb nur ein Rest, eine diirffcige Aus-
Augustins Konfessionen. 53
wahl aus dem Bestande einer untergehenden Welt, durch
die Autoritat des Heiligen geschiitzt, zwar nicht ohne innere
Einheit, aber zunachst ohne Triebkraft und fortschreitende
Bewegung.
Das Abendland ist im Mittelalter mehr als sieben Jahr-
hunderte lang — von dem Urwiichsigen abgeseben, was die
Germanen hinzubrachten — • auf diesen Besitz beschrankt
geblieben; aber daneben hatte es doch einen Schatz von
nnvergleicbliclier Fiille, einen Mann, der am SchlnJJ der
alten Zeit gelebt und sein Leben iiber die folgenden Jahx-
bunderte ausgescbiittet bat — Atigustin.
Zwiscben Paulus, dem Apostel, nnd Lutber, dem Re-
formator, bat die cbristlicbe Earcbe niemanden besessen,
der sicb mit Augustin messen konnte, nnd an nmfassender
Wirkung kommt ibm kein anderer gleicb. Wenn wir mit
Recbt im Mittelalter und beute nocb den Geist des Abend-
lands von dem Geist des Morgenlands unterscbeiden und
an jenem Leben und Bewegung, die Spannungen macbtiger
Krafte, wertvoUe Probleme und groCe Ziele bemerken, so
verdankt die Kircbe des Abendlandes diese ibre Eigenart
nicbt zum mindesten dem einen Mann, Augustin. Er ist
mit der Kircbe, weleber er gedient bat, durcb die Jabr-
bunderte gescbritten. Ibn findet man wieder in den grofien
Tbeologen des Mittelalters bis zu dem groCten bin, Tbomas
von Aquino. Sein Geist waltet in den Erommen und in
den Mystikern des Mittelalters, in dem beiligen Bernbard
nicbt minder als in Tbomas a Kempis. Er beseelt die kircb-
Ucben Reformer des Mittelalters, die Reformer der karolin-
giscben Epocbe ebenso wie einen Wiclif, Hus, Wesel und
Wessel, und andererseits ist es docb derselbe Mann, der
bocbstrebenden Papsten das Ideal eines Gottesstaates zur
Verwirklicbung auf Erden vorgezeicbnet bat.
Docb das alles mag uns beutzutage ziemlicb fremd
sein: unsere Kultur ist, sagt man, aus der Renaissance und
der Reformation geboren. Nun denn — Augustins Geist
54 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
hat Tiber den Anfangen beider gewaltet. Petrarca und die
groCen Meister der Renaissance haben sich. an Angustin ge-
bildet, nnd Luther ist ohne ibn nicht zu verstehen: Augustin,
der Vater des romiscben Katbolizismns , ist zugleich der
einzige Kirchenvater, von dem Lntber wirldich. gelernt hat
und den die Humanisten wie einen Heros verehrten.
Aber Augustin steht uns noch viel naher. Die reli-
giose Sprache, welche wir sprechen, die uns vertraut ist aus
den Liedern, Gebeten und Erbauungsbuchern, tragt den
Stempel seines Greistes. Wir reden, ohne es zu wissen, noch
mit seinen Worten, und die tiefsten Empiindungen aus-
zusprechen, der Dialektik des Herzens Worte zu verleihen,
hat er zuerst gelehrt. Ich meine hier nicht, was man die
Sprache Zions nennt — auch an dieser ist er beteiligt, aber
in geringem MaBe. Nein, die Sprache der schlichten Erom-
migkeit und des gewaltigen christlichen Pathos, und wieder-
um die Sprache unserer Psychologen und Padagogen ist
noch eben von ihm beeinflufit. Hunderte von groJlen Mei-
stern sind uns seitdem geschenkt worden; sie haben unsere
Gedanken bestimmt, unsere Empiindungen erwarmt, unsere
Sprache berei chert; aber keiner hat ihn verdrangt.
Endlich — die Hauptsache — wie er das Wesen der
Religion und die tiefsten Probleme des Sittlichen beschrieben
hat, darin finden wir so viel treffende Beobachtung und
Wahrheit, daJJ wir ihn noch immer als unseren Lehrer zu
verehren haben, und das Gredachtnis an ihn vermag bis zu
einem gewissen Grade auch heute noch Protestanten und
Katholiken zu einigen.
Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, Ihnen ein
Bild von der Wirksamkeit und dem EinfluU dieses Mannes
zu entwerfen; schildern mochte ich ihn vielmehr lediglich
nach dem Werke, in welchem er sich selbst geschildert
hat, nach seinen Konfessionen, dem eigentiimhchsten Buche
aus der grofien Anzahl von Schriften, die er uns hinter-
lassen hat.
Aug-ustins Konfessionen. 55
Augustin hat dieses "Werk in reifen Jakren — er zahlte
damals sechsiiiidvierzig — geschrieben; zwolf Jahre waren
bereits verflossen seit seiner Taufe in Mailand. Er war
schon seit langerer Zeit Bischof von Hippo in ISTordafrika,
als er sich. getrieben fiihlte, in der Form einer BeicMe vor
Gott, sich tind der Welt Rechenschaft zn geben von seinem
Leben bis zu seiner Taufe, damit, wie er sagt, „Gott ge-
priesen wiirde". „Er hat uns geschajffen, wir aber hatten
uns zugrunde gerichtet; der uns aber geschaffen, hat uns
auch neu geschaffen." „Ich erzahle es dem Menschenge-
schlecht, ein wie unbedeutender Teil desselben meine Schrift
auch lesen "wird, damit ich und jeder, der dieses liest, daran
denke, aus wie groiJer Tiefe man zu Gott rufen miisse."
Am Ende seines Lebens, dreiUig Jahre spater, hat er auf
dieses Werk zuriickgebhckt. Er nennt es dasjenige seiner
Biicher, welches am liebsten und am meisten gelesen werde.
Er tadelt selbst einige Ausfiihrungen in ihm; aber als
G-anzes hat er es auch angesichts des Todes als ein Zeug-
nis der Wahrheit bezeichnet. Es sollte eben nicht Dichtung
und Wahrheit enthalten, sondern offen und ohne Hehl
wollte er in dem Buche zeigen, wie er gewesen.
Die Bedeutung der Konfessionen ist ebenso grofi nach
seiten der Form, wie nach seiten des Inhalts. Vor allem
sind sie eine literarische Tat gewesen. Kein Dichter, kein
Philosoph hat vor ihm das unternommen, was er hier ge-
leistet hat, und, darf ich gleich hinzufugen, fast ein Jahr-
tausend muCte vergehen, bis wieder ahnhches geleistet
worden ist. Erst die Poeten der Renaissance, die sich an
ihm gebildet, haben an ihm den Mut gewonnen, sich selbst
zu schildern und ihr Ich der Welt zu bieten. Denn was
enthalten die Konfessionen Augustins? ein Seelengemalde,
nicht psychologische Abhandlungen liber Verstand, Wille
und Gefiihl im Menschen, nicht abstrakte Untersuchungen
Tiber die Seele, nicht oberflachhches Rasonnement und mora-
lisierende Selbstbespiegelung wie die Tagebuchblatter Marc
56 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: HI.
Aurels, sondem die genaueste Schilderung eines bestimmteii
Mensclieii, eines Individnums ia seiaer Entwickelung von
der Kindheit bis znm Mannesalter in alien seinen Trieben,
Q-efiihlen, Zielen nnd Imingen, ein Seelengemalde, mit eiiier
ausbiindigen Knnst der Beobaclitnng gezeiclinet, -welclie
die gewohnliclien Hiilsen und Schablonen der Psychologie
beiseite laCt nnd der Methode des Physiologen und Arztes
folgt.
Die Beobacbtung ist die Starke Angnstias. "Weil er be-
obacbtet, darum interessiert ihn alles, was die ziinftigen
Philosopben beiseite gelassen. Er scMldert das Kind in
der Wiege, die Unarten des SaugHngs, nnd er reflektiert
iiber die „kindliche Unscbnld". Er beobachtet die Anfange
des Sprechens, und zeigt, wie die Sprache sich. langsam aus
dem Nacbalmiungstriebe bildet. Er stebt bei den Spielen
der Kinder und siebt in dem Kind den Erwactsenen, in
dem Erwacbsenen das Kind. Er bort voll TeiLaahme die
ersten Senfeer des Knaben, der lemen mtiC. Er begleitet
ibn, wie er binaustritt in die Scbule und damit hinein-
gestoJJen wird in den Strom der menscblicben Gesellscbaft.
Er beobacbtet die berrscbende Erziebungsmetbode , wie sie
auf Furcbt und Ebrgeiz rubt. Er bemitleidet die Jugend
der toten und unwabren Stoffe wegen, die sie lemen mnB.
Er meint, daU man nur lernen soil, was wahr ist, und daC
Grammatik besser sei als Mytbologie, Pbysik besser als
luftige Spekulation. Dann beobacbtet er das geschaftige
Treiben der Erwacbsenen: „die Possen der Kinder nennt
man bei Erwacbsenen G-escbafte". Er beurteilt die G-esell-
scbaft; er findet, daC ein jeder in ibr nacb Giitem strebt
und daC Bosbeit fiir niemanden eia Zweck ist; aber er
findet andererseits, dafi der, welcber seia Herz nicbt auf
das Gute ricbtet, von Stufe zu Stufe zu nicbtigeren G-iitem
binabsinkt, und daC man eiuen um so grolJeren Widerwillen
gegen das Gute und Heilige empfindet, je langer man es
entbebrt. Er beobacbtet den Reiz und die Ansteckungs-
Augustins Konfessionen. 57
kraft des gesellschaftlichen Bosen: „0 Freundschaft, arger
als die groBte Feindschaft, unergriindliclie Seelenverfiilirung!
BloC well es lieifit: ,Komni, tun wir dies' — und man
schamt sich, niclit nnvei'schamt zu sein." Er deakt die
Abhangigkeit des Einzelnen von dem Urteil der anderen
auf: jeder glaubt zu schieben und wird nur immer tiefer
hinabgestoBen. Er faCt den Einzelnen iiberhaupt niclit als
ein freies, sein selbst machtiges Individuum, sondern als ein
Q-lied in einer ungeheuren Verkettung: wir tragen die Kette
unserer SterblicKkeit und sind an die Gesellschaft gekettet.
Er beobachtet den vergniigten Bettler und sinnt iiber ibn
nacb; er gibt eine kostliclie Scbilderung von dem Ansehen
und der Hoblheit eines beriilimten Lebrers. Er scbildert die
Professoren und die Studenten, den geschaftigen , tandeln-
den und reizvollen Verkebr zwischen befreundeten Berufs-
genossen; nirgend-wo entgeht ihm das Charakteristiscbe.
Aber iiber das AUes: er beobacbtet die gebeimsten Re-
gun gen seines eigenen Herzens; er folgt dem zarten "Weben
und dem macbtigen Wogen seiner Gefiihle. Er kennt
alle Ausfliicbte und Schlichwege, auf welcben der Menscb
seinem G-ott und seiner bochsten Bestimmung zu entflieben
strebt.
IJberscblagt man, was und wie damals sonst gescbrieben
"worden ist, so wird man von staunender Bewunderung er-
griffen angesicbts dieser Dicbtung der Wabrbeit, dieser
literariscben Tat, die nicbt ihresgleichen hat. Wobl baben
Anregungen nicbt gefeblt. In der Scbule der Neuplatoniker
hatte Augustin gelernt, die oden Steppen aristoteliscber
und stoiscber Psycbologie zu flieben und auf Gremiit und
Obarakter, Trieb und Will en zu achten. Dazu — ein
groBer Lebrer, sein Lebrer, Ambrosius von Mailand, batte
ibn in eine neue Welt der Empfindung und Beobacbtung
eingefiilirt. Aber seine Konfessionen sind doch ganz sein
Eigentum. Kein Vorganger bedrobt die Originalitat dieses
Unternebmens. Wobl bat man gesagt, daB dem Werke
58 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
ein patliologisclier Zug anJiafte: er habe in dem tranen-
feuchten Buche sein Herz zux Schaubiilme gemacht. Es
ist lich-tig, daB er in manchen Ausfiihrangen uns iiberspannt
und Tingesund, sogar nnwahx ersclieint; allein bedenkt man,
daB er im Zeitalter eines tiefgesunkenen Geschmacks und
einer verlogenen Rlietorik; geschrieben kat, so darf man
sich. biLlig dariiber wundern, daB er sich. so machtig iiber
die Unsitten der Zeit erboben hat.
Wie das Unternebmen Augustins nen gewesen ist, so
war auch die Ausfiihrung iind die Spracbe neu. NicM nnr
die Kraft seiner Beobacbtung ist bewunderungswiirdig,
sondern ebensosebr die Kraft seiner Darstellung. In der
Spracbe der Konfessionen tritt nns eine nnerscbopflieb.
reicbe Individuabtat entgegen, welcbe zugleicb den macb-
tigen Tiieb und die Fabigkeit besitzt, das zu sagen, was
sie empiindet. Groetbe lafit seinen Tasso das schmerzbcbe
und stolze AYort sprecben: „Und wenn der Menscb in seiaer
Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie icb leide."
Das gilt aucb von Augustin. Aber nicbt nur von seinem
Leiden vermocbte er zu sprecben, sondern ibm war es ge-
geben, jeder Bewegung seines Herzens in Worten zu folgen
und vor allem dem frommen Gemiite, dem Verkebre mit
Gott, Spracbe zu verleiben. Von der Macbt der Siinde
und der Sebgkeit des Herzens, welcbes Gott anbangt, bat
er so reden konnen, daB aucb beute nocb jedes zarte Ge-
miit diese Spracbe versteben mufi. So baben vor ibm nur
die Sanger der Psalmen und Paulus geredet; bei ibnen ist
Augustin, der Scbuler der Rbetoren, in die Scbule ge-
gangen. So ist die Spracbe der Konfessionen entstanden.
Es ist nicbt scbwer, sie in ibre Bestandteile zu zerlegen,
das bibliscbe und das rbetoriscb-antike Element in ibr zu
unterscbeiden, aucb mancbes Gesucbte und Altertumelnde
— firostige Wortspiele und Redekiinsteleien — im einzebien
nacbzuweisen. Allein das, was uns jetzt fremd, bie und
da sogar peinlicb beriibrt, wird reicblicb aufgewogen durcb
Augustins Konfes3ionen. 59
die hochsten Vorziige. Bewundernswert ist vor allem die
BenutzTing von Spruchen und Begrift'en der heiligen Schrift.
Durch don Zusammenhang, in die er sie zu stellen weiB,
veiieiht er dem nnsciieinbarsten Wort etwas Frappierendes
Oder Erschiitterndes. In der groCen schriftstellerisch.en
Kunst, einem allgemein bekannten Spruch. die wirksamste
Fassung zu geben, hat ika kein anderer erreicM. Wunder-
bar ist aucli sein Vermogen in kurzen Sentenzen und Anti-
thesen, in pragnanten Satzen und neuen Begriffsbildungen
die Ersclieinungen des Lebens und die Ratsel der Seele
zusammenzufassen. Vieles ist aus den Konfessionen in die
Sprache der abendlandiscben Volker iibergegangen. Vieles
brauclien wir oder finden es bei unseren groCen Dicbtern,
z. B. bei Lessing und G-oetbe, wieder, olme des Urbebers
zu gedenken. „Die stummen Schwatzer", „die siegreiche
GrescKwatzigkeit", „die betrogenen Betriiger", „die ver-
fiilirten Verflihrer", „der hoffnungsvolle junge Mann", „die
Kette unserer Sterblicbkeit", „die reicbe Armut", „der
scbmacbvolle Rubra", „das verbaCte Greleier", „Leben
meines Lebens" und viele abnlicbe Bildungen sind von
Augustin gepragt worden oder geben auf ibn zuriick.
Aber wertvoller sind seine psycbologiscben Beschi'eibungen
und seine Sentenzen: „Das war mein Leben — war's ein
Leben?" — ^Icb wurde mir selbst eine groCe Frage" — •
„Ein tiefer Abgrund ist der Menscb" — „Das "Woblbefinden
ist das Merkmal unserer geheimnisvollen Einbeit" — nEin
jeder hat nur sein Ich" — „Jeder ungeordnete Geist ist
sich selbst zur Strafe" — „l:fach unwandelbarem Gresetz
folgt auf jede unerlaubte Begierde die Verblendung" —
„Es handelt niemand gut wider seinen Willen, mag auch
was er tut gut sein". Das sind Einzelbeiten; man konnte
lange mit der Anfiihrung solcher fortfahren. Aber viel
groCer ist er nocb in den zusammenhangenden Be-
scbreibungen. Ein Beispiel unter hunderten: er scbildert
sich, wie er sich zu einem kraftigen christlichen Leben er-
60 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
heben will, aber von Weltlust und Gewohnlieit zuriick-
gehalten wird:
„So lag die Last der Welt sanft auf mir wie atif einem
Traumenden, und die G-edanken, in denen sich meia Sinnen
Dir, mein G-ott, zuwandte, gliclien dem Bemiilien derer,
die sich aus dem Schlafe erkeben woUen, aber von der
Tiefe des Schlummers iiberwaltigt, immer wieder zuriick-
sinken. Und -wenn Du mir zuriefst: Stehe auf, der du
schlafst, so, wuCte ich Dir keine andere Antwort zu geben,
als die saumigen und traumenden Worte: Gleich, gleich,
laB mich. nur noch ein wenig traumen. Doch das ,G-leich,
gleich' nahm kein Ende, und das ,Nur noch ein wenig'
zog sich in die Lange."
Soviel Kunst er auch aufgewendet hat — er hat die
Einheitlichkeit seiner Sprache nicht zerstort; sie ist doch
aus einem GuB, weil beherrscht von einer geschlossenen
Personlichkeit. Eine Person tritt uns in ihr entgegen, und
wir fiihlen, dalJ diese Person liberall viel reicher ist als ihr
Wort. Das ist der Schliissel zum Verstandnis der fort-
dauernden Wirksamkeit Augustins. Leben entziindet sich
nur an Leben; ein Liebender entflammt den anderen —
das hat er selbst gesagt, und wir diirfen es auf ihn an-
wenden. Er war viel groBer als seine Schriften; denn er
verstand es, durch seine Schriften die Menschen in sein
Leben hineinzuziehen. Und bei aller Weichheit der Em-
pfindung, dem Schmelzen im G-efiihl und der Lyrik der
Sprache ist doch eine erhabene Ruhe iiber das ganze Werk
ausgebreitet. Das Motto des Buches: „Du, Herr, hast uns
auf Dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis
es Ruhe iindet in Dir", ist auch das Siegel des Buches
Tind der Grundton in seiner Sprache. Keine Angst und
keine Bitterkeit stort mehr den Leser, obgleich es eine
Geschichte der Not und inneren Sorge ist, die es scMldert.
„Die Eurcht ist das Bose", sagt Augustin einmal; er aber
redet mit dem groflen G-ott wie mit einem Freunde ohne
Augustins Konfessionen. 61
Furcht. Problematisches an dem Laufe der Welt, an dem
Menschen, an sich selber erblickt er noch iiberall; aber die
Probleme bedriicken ilm nicbt niehr; denn er vertraut, dafi
Q-ott in seiner Weisheit alles geordnet hat. Wolken des
Scbmerzes und der Tranen umgeben ihn nocb; aber seine
G-rundstimmung ist frei. So darf man den Eindruck,
welclien das Bncb liinterlaCt, mit dem Eindruck vergleicben,
den wir erlialten, wenn nacli einem dunklen Regentage
die Sonne zuletztnocb siegt und ein milder Strabl das be-
feucbtete Land verklart.
Aber die -wunderbare Eorm und der Zauber der Spracbe
des Bucbes sind docb nicht das wichtigste. Der Inbalt ist
es, die Grescbiclite, die es uns erzablt. Auf auCere Tatsacben
gesehen ist das Bucb allerdings arm. Es scbildert das Leben
eines Grelebrten, der unter Verhaltnissen , wie sie fiir jene
Zeit normal waren, aufgewacbsen ist, der mit widrigem Gre-
scbick und auCerer Not nicbt zu kampfen gebabt hat, der
die mannigfaltige "Weisheit seiner Zeit aufnimmt, einen
offentlichen Beruf ergreift, um schbefilich skeptiscb und
unbefriedigt sich einem heihgen Leben der Entsagung, der
theologischen Wissenschaft und — der festen Autoritat der
Kirche hinzugeben. Das war ein Entwicklungsgang , wie
ihn nicht wenige Zeitgenossen Augustins durchgemacht
haben. Erommigkeit und ernster -wissenschaftlicher Sinn
fanden damals iiberhaupt keinen anderen Ausweg. Diirch
diese Auffassung der Geschichte Augustins ist ein -weitver-
breitetes Vorurteil beseitigt, an dem er selbst freilich nicht
ganz unschuldig ist. In weiten KJreisen herrscht die Vor-
stellung, die Konfessionen schilderten uns einen verlorenen
Sohn, einen Mann, der nach einem wilden, ausschweifenden
Leben plotzUch in sich geht und BuBe tut, oder sie zeich-
neten uns das Bild eines Heiden, der nach einem Laster-
leben plotzlich von der Wahrheit der christlichen ReHgion
ergriffen wird. Nichts ist unrichtiger als diese Vorstellung.
Die Konfessionen schildern uns vielmehr einen Mann, der
62 Erster Band, erste Abteiliang. Eeden: III.
von Jugend auf von einer treuen Mutter chxistlicli d. h.
katholisch. erzogen ist, der aber zugleicli von Jugend auf
durch. seinen Vater und durch. den Bildungsgang , in den
er Mneingestellt ist, die Richtung auf die lioclisten welt-
liclien Ziele empfangen hat. Sie scKildern uns einen Mann,
dena sich. der Name Christi von Kind auf unauslosclilicli
eingepragt hat, der aber, sobald er zu selbstandigem Denken
erwacht ist, stets von dem Motive beseelt gewesen ist, die
"Wabrbeit zu sucben. Er wird in diesem Streben, wie wir
Alle, niedergebalten, durcb Ebrgeiz, Weltsinn und Sinnbcb-
keit; aber er kampft imablassig wider sie an; er gewinnt
endlicb den Sieg liber sicb selber, aber er bringt zugleicb
dabei sein freies Streben der Autoritat der Kircbe zum
Opfer, weil er in der Verkiindigung dieser Elircbe die Kraft
erfabren bat, mit der Welt zu brecben und Grott anzubangen.
In seinem auJJeren Leben stellt sicb das als ein Brucb mit
seiner Vergangenbeit dar, und so bat er es selbst gescbil-
dert: er siebt nur einen Kontrast zwiscben dem Einst und
dem Jetzt. Aber in seinem inneren Leben erscbeint uns
trotz seiner eigenen Darstellung alles in verstandlicber Ent-
wickelung. Wir versteben aber aucb, daU er selbst nicbt
anders iiber sicb urteilen konnte; denn niemand, der von
innerer Unrube zur Rube, von der Knecbtscbaft der Welt
zur Ereibeit in Gott und zur Herrscbaft iiber sicb selbst
gelangt ist, wird riickwarts scbauend die Pfade, die er ge-
wandelt, den Weg der Wabrbeit nennen konnen. Aber die
Mit- und ISTacbwelt darf anders urteilen, und in diesem Fall
ist es ibr besonders leicbt gemacbt; denn der Mann, der
bier zu uns spricbt, mufi in seinem Bucbe wider seinen
WiHen Zeugnis davon ablegen, daU er vor seiner Bekebrung
unablassig nacb Wabrbeit und nacb sittlicber Kraft gestrebt
bat, und andererseits zeigen die zablreicben Scbriften, die
er unmittelbar nacb dem Brucbe gescbrieben bat, dafl dieser
keineswegs so voUkommen war, wie ibn die Konfessionen
darstellen. Sie sind zwolf Jabre nacb dem groCen Um-
Augustins Konfessionen. 63
schwung gesckrieben. Vieles von dem, was erst walu'end
dieser Zeit in Angustin znr Reife gekommen ist, hat er
unbewTifit in den Moment des IJmscliwungs versetzt. Da-
mals war er noch. kein kirchlicher Theologe, vielmekr lebte
er trotz der EntscMossenlieit, sicli der Earcke zu nnter-
werfen, noch. ganz tmd gar in den philosophischen Pro-
blemen. Der groCe Bruch bezog sich ledighch auf den
anCeren Beruf und auf die geschlechthche Entsagung, nicht
auf den bisherigen Kreis seiner Interessen. So ist es nicht
schwer, Augustin aus Augustin zu widerlegen und zu
zeigen, daU er in den Konfessionen sehr vieles antizipiert
hat. Aber im letzten Grrunde hatte er ein Recht dazu;
denn sein Leben hatte wirMich nur zwei Perioden — die
eine, die er mit den Worten schildert: „In der Zerstreuung
zerfiel ich stiickweise und verier mich selbst in das Viele",
und die andere, in welcher er Kraft und Einheit seines
"Wesens in G-ott gefunden hat.
Die Schilderung jener ersten Periode Hegt in seinen
Konfessionen vor. Man hat sie vielfach mit den Konfes-
sions Rousseaus und mit Hamanns Bekenntnissen ver-
ghchen; allein diese sind anderer Art. Ich wiiUte die Kon-
fessionen trotz der durchgreifendsten Verschiedenheiten
doch mit keinem anderen Werke zusammenzustellen als
mit Groethes Eaust. In den Konfessionen tritt uns ein
lebendiger Eaust entgegen, der freUich einen anderen Aus-
gang nimmt als der Eaust der Dichtung. Aber beide sind
doch in vieler Hinsicht wahlverwandt. Alle die schmerz-
hchen Bekenntnisse aus den ersten Szenen des Eaust von
dem „IIabe nun — ach — PMlosophie" an bis zu dem
EntschluC des Selbstmordes : „Ja kehre nur der holden
Erdensonne entschlossen deinen Riicken zu" — man findet
sie in den Konfessionen wieder. Herzbewegend ruft
Augustin immer wieder aus: „0 Wahrheit, "Wahrheit, wie
innig seufzt das Mark meiner Seele nach dir." "Wie oft
klagt er, daC er trotz des „Durchaus Studierens mit heiflem
64 Erster Band, erste Abteilung. Eedeu: III.
Bemiilieii" nicM Miiger geworden sei als wie zuvor. Wie
oft bemitleidet er seine Schiiler, daiJ er, ein trunkener
Lehrer, ilineii den "Wein des Irrtums gereicht habe. Wie
schmerzlich. kommt auch. iiber seine Lippen das Bekenntnis:
„Und sehe, daC wir nichts wissen konnen, das will mir
scMer das Herz verbrennen." „Es mocbte kein Hund so
langer leben", sagt Faust, und Augustin beneidet mit dem
grimmigsten ISTeide einen verlumpten, aber frohliclien Bettler.
Auch er ergibt sich der Magie, „ob ihm durcb G-eistes Kraft
und Mund nicht mancb' Greheimnis wiirde kund", und auch
in seiner Seele steigt verlockend die dunkle Trage auf:
„AVie, wenn der Tod mit der Empfindung zugleich alle
Sorgen beschnitte und hinwegnehme?"
Aber selbst der Ausgang, den Goethe seiner Dichtung
gegeben, die Art der Befreiung, ist nicht ganz ohne G-leich-
nis. Faust wird durch die himmlische Liebe erlost:
Steigt hinan zu hohrem Kreise,
Wacliset immer unvermerkt,
"Wie nach ewig reiner Weise
Gottes Gegenwart verstarkt!
Denn das ist der Geister Nahrung,
Die im freisten Ather Tvaltet,
Ewgen Liebens Offenbarung,
Die zur Seligkeit entfaltet.
Und:
Wie strack mit eignem kraftgen Triebe
Der Stamm sioh in die Lttfte tragt,
So ist es die allmaolit'ge Liebe,
Die alles bildet, alles begt.
Das ist ganz im Sinne Augustins, und auf augusti-
nischer Anschauung ruht iiberhaupt letztUch der G-edanken-
inhalt der wunderbaren SchluCszene des zweiten Tails des
Faust, obgleich sich Goethe dessen nicht bewuCt gewesen
ist; denn G-oethe hat Augustin selbst schwerlich gekannt,
sondern beriihrte sich mit ihm nur darch Vermittelungen.
DaC in dieser Welt der Irrung und des Scheins die Liebe,
Augustins Konfeasionen. 65
die gottliclie Liebe, allein Kraft und Wahrheit ist, daJJ sie
allein, indem sie bindet, befreit und beseligi — das ist der
positive Grrundgedanke der Konfessionen und der meisten
Scliriften, die Augustin spater geschrieben hat. Die G-e-
rechtigkeit, die vor Gott gilt, ist die Liebe, mit der uns
G-ott erflillt, und darum ist die anfangende Liebe (Ge-
rechtigkeit) die anfangende SeKgkeit, die wachsende Liebe
die wachsende Seligkeit, die vollendete Liebe die vollendete
Seligkeit. Das ist die Erkenntnis, zu welcher der ringende
Philosoph gelangt ist, nachdem er sonst nirgends Ruhe
und Frieden gefunden hat.
Dennoch liegt eine gewaltige Kluft zwischen dem Faust
der Dichtung und diesem -wahrhaftigen Faust. Jener steht
in all seinen Kampfen mit festem Fufi auf dieser Erde.
Der Gott, der ihn dem Teufel zeitweilig liberlassen, ist nicht
das Gut, um dessen Besitz er ringt; der innere Kampf mit
der eigenen Not und Siinde ist kaum angedeutet. Fiir
Augustin dagegen ist der Kampf um die "Wahrheit der
Kampf um ein iiberwelthches Gut, um das Heilige und Gute
— der Kampf um Gott. Darum hat auch der Schlufi des
Faust etwas Befremdliches ; man ist auf diese "Wendung
keineswegs gefaiSt. Bei Augustin ergibt sich der SchluC
mit einer inneren Notwendigkeit. Seine Lrrwege erweisen
sich wirklich als der Weg, auf dem er gerade zu diesem
Ziele, zu der Besehgung durch die gottUche Liebe, gefiihrt
worden ist.
Lassen Sie mich diese Wege mit einigen Strichen zeich-
nen. Sie sind auch deshalb interessant, weil sie fur die
Zeit Augustins typisch sind. Mit alien groiJen geistigen
Machten des Zeitalters ist er in die innigste Verbindung ge-
treten. Sein Ich war wirklich erweitert zum Ich der da-
maligen Welt, und darum zeigt uns sein individueller Ent-
wickelungsgang, wie jene "Welt damals allmahhch aus dem
Heidentum und der PhUosophie zur katholischen Kirche
iibergegangen ist.
Ha mack, Reden und Aufsatza. I. o
66 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
Zti Thagaste, einer Landstadt Nordafrikas, geboren
zeigte Augustin als Knabe nicht glanzende, aber gute An-
lagen. Naclidem er in der Sclmle seiner Vaterstadt xmd zu
Madaiira gebildet war, brachte sein Vater miihsani die Mittel
auf , um iim in Karthago studieren zu lassen. Der Vater
war ein biirgerlicli recMscliaffener, aber schwaclier und in
seinem Privatleben nicbt vorwurfsfreier Mann, der fiir den
Solin kein hoheres Ziel kannte, als eine glanzende Lanf babn.
Er war nocb Heide, aber die Mutter Augustins war Christin.
Dieses Verbaltnis war in der Mitte des 4. Jabrbunderts
baufig: die Frauen verbreiteten in der Familie das Cbristen-
tiim. Seiner Mutter bat Augustin in den Konfessionen, aber
aucb sonst in seinen Scbriften, ein scbones Denkmal gesetzt.
Er erzablt, wie sie ibn beten gelebrt babe, und mit Leiden-
scbaft ergriff das Kind die mutterbcben Lebren: oft babe
icb Gott innig gebeten, daB icb in der Scbule keine Scblage
bekomme. Er erinnert sicb nocb als Mann, wie er als fieber-
kranker Knabe sturmiscb die Taufe begebrt babe, und Eines
ist ibm von der Kinderzeit ber unausloscbbcb auf alien
seinen AVegen geblieben — die Yerebrung Cbristi. Immer
wieder bericbtet er in den Konfessionen, daiJ ibn alle Weis-
beit von vornberein unbefriedigt gelassen babe, die nicbt
mit dem Namen Cbristi irgendwie verkniipft war. So sind
die Jugenderinnerungen dem Manne von bocbster Bedeu-
tung geworden. Faust sagt:
Sonst stilrzte sich der Himmelsliebe KuB
Auf micli herab in emster Sabbatbstille ;
Da klang so abnungsvoll des Grlockentones Fiille,
TJnd ein Gebet war briinstiger Gennfl.
Wie oft, wie wunderbar variiert klingt derselbe Gedanke
in Augustins Konfessionen wieder!
Bis zum siebzebnten Jabre iiberwogen Pbantasie und
jugendlicbe Lust in dem Knaben. Er batte anfangs wenig
G-escbmack am Lernen, obgleicb er aUes mit Leicbtigkeit
iiberwand; er batte nur Lust zu Spiel und Scberzen mit
Augustins Konfessionen. 67
den Freunden. Friilizeitig geriet er auch zum Kummer der
Mutter in die Sunden der Jugend, die weder der Vater
nock die Gesellscliaft als Siinden beurteilte. Da, in Kar-
thago, fiel ihm eiae Sckrift Ciceros, der Hortensius, in die
Hand, nnd von diesem Moment reclmet er selbst den An-
fang eines neuen hoheren Strebens. "Wir besitzen diese
Scbrift Ciceros nicht mekr, aber wir konnen nns den
Geist derselben nacli den iibrigen "Werken des Mannes
dentlich macben. Ein hober sittlicber Schwung, ein ernstes
Interesse an der Wabrheitserkenntnis , aber anf unsicberer
Grrundlage, mebr anregend als festigend, wobl geeignet,
ein jugendlicbes Gemiit von dem boblen nnd wilden studen-
tiscben Treiben znr Einkebr nnd zur Betracbtung der bocb-
sten Fragen zu bewegen. Das leistete das Bucb dem
Angustia wirkbcb; er trennte sicb nun von den gnten
Kameraden, um mit aller Hingebung die Wabrbeit zu er-
forscben. AUein von seiner sinnlicben Lust trennte ibn
das Bucb nicbt, und bald sab er sicb einer Belebnmg ent-
wacbsen, die seinen Verstand nicbt befriedigte, sein religi-
oses Gemiit leer liefi nnd ibm die Kraft der Selbstbe-
berrscbung nicbt verlieb. Er hatte Cicero, den Pbilosopben
und Morabsten, kennen gelernt und war nicbt besser ge-
worden als wie zuvor. Aber was Cicero ibm geleistet, den
IJbergang aus einem nicbtigen und tandelnden Leben zu
emster Selbstpriifung und zur Erforscbung der Wabrbeit,
das baben Morabsten wie Cicero der damabgen Welt iiber-
baupt geleistet. Augustin ist docb von Cicero viel starker
und viel dauernder abbangig gebbeben, als er dies in den
Konfessionen wabr baben will. Die frubesten Scbriften,
die er als katboMscber Cbrist gescbrieben, beweisen es.
Er wandte sicb nun dem Manicbaismus zu. Die ma-
nicbaiscbe Weisbeit iibte damals auf tiefere Gemiiter eiae
groBe Anziebung aus. Wer einen Eindruck von dem In-
balt der beibgen Scbriften gewonnen batte, aber docb die
kircblicbe Erklarung derselben fiir unricbtig Melt und
5*
()8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: in.
namentlich. iiber die AnstoiJe nicKt hinwegkommeii konnte,
welclie das alte Testament bot, wer in der freien Forschung
nicM bevormundet sein woUte, wev zu erkennen suchte,
was die Welt im Innersten zusammenhalt, wer aus den
physikalischen Elementen aucb den Bau der geistigen Welt
und das Problem des Bosen zn begreifen strebte, der wurde
damals Manicbaer. Dazu batte sicb diese Sekte teils aus
Not, teils aus innerem Triebe mit Gebeimnissen umgeben,
wie unsere Ereimaurer, und sie bildete zugleicb in der G-e-
sellscbaft einen festen gebeimen Ring. Endlicb trugen
ihre Mitglieder einen emsten Lebenswandel zur Scbau, und
indem man stufenweise zu immer engeren und boberen
Kreisen aufstieg, sab man sicb am Ziele in einer GreseU-
scbaft von Heibgen und Erlosern. In diese G-emeinscbaft
trat Augustin ein und bat ibr neun Jabre (bis zu seinem
28. Lebensjabr) angebort. DaiJ sie Cbristus eine bobe SteUe
anwies, dabei aber docb eine verniinftige Losung der Welt-
ratsel ibren Jiingern zusicberte, zog Augustin zu ibr bin.
HeiUbungrig stiirzte er sicb auf diese geistige Nabrung.
Die Ansicbt, daB das Bose wie das Grute pbysikaUscbe Po-
tenzen seien, daC der Kampf in der Menscbenbrust nur
die Eortsetzung des groJJen Kampfes zwiscben Licbt und
Einsternis, Sonne und Nebel in der Natur sei, erscbien ibm
tief und befriedigend. Statt seicbter morabscber Lebren
trat ibm bier eine tiefsinnige Metapbysik entgegen. AUein
sebon nacb Verlauf weniger Jabre — er batte unterdessen
ein Lebramt in Kartbago angetreten — wurde er skeptiscb.
Zuerst erwies sicb ibm die astrologiscbe Weisbeit, mit der
er es aucb versucbt batte, als Scbwindel. Dann war es
das Studium des Aristoteles, welcbes ibn in Bezug auf die
manicbaiscbe Pbysik erniicbterte. Sein klarer Verstand
fing an einzuseben, daC die ganze manicbaiscbe Weisbeit
auf pbysikabscber Mytbologie berube. Die angeborene
Ricbtung seines G-eistes auf das Empiriscbe und Reale ge-
wann den Sieg, nacbdem ibr Aristoteles, der groBe Natur-
Augustins Koufessionen. 69
forscher und Logiker des Altertmns, zu Hilfe gekonunen
war. Er hat den Augustin, v?-ie viele vor ihm und nach
ihm, zu niichtemem Denken zuriickgefuhrt. Die maniclia-
ischen Fabeln offenbarten sich ihin nun als die schlimmsten
Fabeln, weil ihnen schlechterdings nichts in der Welt des
Wirklicben entspricht. Er aber suchte nach dem Wirk-
lichen und hielt vor seinen Bundesbriidern mit seinen auf-
steigenden Zweifeln nicht zuriick. Damals lebte in Rom
ein hochberiihrnter manichaischer Lehrer, Faustus. Mit
ihm vertrosteten ihn die Freunde, wenn sie die Zweifel-
fragen, die er ihnen vor hielt, nicht zu losen vermochten:
„Faustus wird sie losen; Faustus wird kommen und alles
erklaren" — so hieJJ es. Und Augustin MeH sich lange
vertrosten. Endlich kam Faustus wirklich. Es ist der
einzige Abschnitt in den Koufessionen, iiber dem ein Hauch
von Humor Kegt, die Schilderung des hochgepriesenen
Faustus, des vollkommenen Salonprofessors, der aber doch
ehrHch genug war, schliefilich unter vier Augen die eigene
Unwissenheit einzugestehen. Seitdem war Augustin mit
dem Manichaismus innerlich fertig.
Aber was nun? Aristo teles war wohl ein Befreier,
aber kein Lehrer in den Fragen, auf die Augustin Ant-
wort suchte. Jetzt naherte er sich wieder der Kirche.
Aber sie verbot die freie Forschung; sie hielt die Fabeln
des alten Testaments aufrecht; sie lehrte, wie Augustin
meinte, einen Grott mit Augen und Ohren und machte ihn
zum Schopfer des Bosen. Sie konnte unmoglich die Wahr-
heit besitzen. Also gibt es iiberhaupt keine Wahrheit;
man mud an allem zweifeln. Diese Stimmung beherrschte
jetzt seine Seele, und er nahrte sie durch Lektiire der
Schriften skeptischer Philosophen. Er suchte nach einer
fertigen Wahrheit und wollte doch den rastlosen Trieb nach
Wahrheit nicht ersticken. Kein Wunder, daC er in den
Skeptizismus geriet; er fuhlte sich im tiefsten arm und
haltlos. Dazu kam, dafi er langst an sich die Anforde-
70 Erster Band, erste Abteilung. Keden: HI.
rungen gestellt hatte, alles Unsittliche abzutun und sicli
in voller Selbstbeherrsclmng zusammeiizTifasseii. Das ge-
lang ibm in vieler Hinsiclit, wie er selbst widerwillig be-
zengen muB: den gewobnlicben Tandeleien und Eitelkeiten,
den Theatem und Spielen, hatte er Valet gesagt und war
ein gewissenhafter Lekrer. Aber um Ruhm und Ehxe bei
den Menscben war es ibm nocb zu tun, und vor allem ver-
mochte er sich aus einem Verbaltnisse nicht zu befreien,
Welches er selbst bereits als ein unsittliches beurteilte, ob-
gleich es die Sitte der Zeit nicht wider sich hatte. Er
aber empfand von diesem einen Punkte her einen tiefen
RiB und eiae Spaltung in seinem Wesen. Er sah sich
von dem Gruten und Heihgen, von Gott, entfemt; er sah
sich mit der "Welt und der Sinnlichkeit veriiochten, die
er doch fliehen woUte, und — wie er spater bekennt —
er wollte sich nicht heUen lassen, weiL ihm seine KJrank-
heit heb war. Indessen — reine sitthche Empfindung
und Forciertes lagen schon damals in ihm, wie in seinen
emsten Zeitgenossen, dicht beieinander. Eia heOiges Leben
schien ihm ledighch das Leben vollkonunenster Entsagung
zu seia; ein solches zu fiihren, dazu fehlte ihm aber noch
die Kraft.
In diesen Noten ujid in der Stimmung des Skeptikers
verheB er Karthago, um ia Rom als Lehrer der Ehetorik
zu wirken. Die karthagioiensischen Studenten hatten ibm
durch ihr ungebundenes "Wesen die Heimat verleidet. Aber
auch in Rom machte er mit seiaen Zuhorem schlimme
Erfahrungen, und so nahm er schon nach wenigen Monaten
eine offentliche Professur in Mailand an. Die Manichaer,
mit denen er noch immer Beziehungen unterhielt, da „sich
ja doch nichts Besseres bisher gefunden hatte", hatten ihm
durch ihre Empfehlungen bei dem eiafluUreichen Symmachus
die AnsteUung verschafPt.
Hier ia Mailand nun hat sich der Umschwung lang-
sam, aber in wunderbar durchsichtiger "Weise und ia dra-
Aug-ustins Konfessionen. 71
matischer Folgerichtigkeit vollzogen. DaC man nur durch.
ernste unablassige Ai-beit an sicli selber ein festes Verr
haltnis zu den hochsten Fragen gewinnen konne, wurde
Augustin immer Marer, und dafi der Mensch sittliche Kraft
gewinnt, wenn er sich einer ihn liberragenden Personlich-
keit frei hingibt, das durfte er erfahren. In Mailand trat
der Biscbof Ambrosius Augustin entgegen. Bisher war
ih.m noch kein katholiscber Obrist begegnet, der ibm ini-
poniert batte, jetzt lernte er einen solchen kennen. "War
es aucb zuerst die giitige Gesinnung und die auBerordent-
licbe Rednergabe des Ambrosius, die ihn fesselten, so zog
ihn doch bald auch der Inhalt der Predigten des Bischofs
an. Er selbst sagt in den Konfessionen, daU der hochste
Dienst, den Ambrosius ihm geleistet, die Wegraumung der
AnstoBe, die das alte Testament bot, gewesen sei. Gewifi
bat die griechiscbe Kunst der Exegese, -welche Ambrosius
iibte, eine starke Anaiehung auf Augustin wie auf alle
Grebildeten der Zeit ausgeiibt. Allein das Imponierendste
an Ambrosius war die Personlichkeit, die hinter dem Wort
stand. Augustin brach jetzt auch auCerlich mit dem Mani-
chaismus. Wenn irgendwo die Wahrheit ist, so ist sie bei
der Kirche: dieses Eingestandnis notigte ihm die Autori-
tat des groBen Bischofs ab. Das Bild Christi, welches ihm
zuerst die Mutter gezeigt, stieg wieder vor seiner Seele auf,
und er lieC es nicbt mehr.
Aber Ambrosius hatte keine Zeit, sich um den Zweifler,
der doch gerne geglaubt hatte, zu kiimmern, und noch
war ein fundamentaler AnstoB der Kirchenlehre nicht be-
seitigt. Augustin vermochte sich nicht zu denken, daC es
ein wirksames geistiges Wesen geben konne ohne materieUe
Grundlage. Der geistige Grottesbegriff und die ideaUstische
Weltanschauung schienen ihm unbeweisbar, unmoglich. Aber
indem er hier vergeblich nach GewiGheit rang, war die
Verzweiflung dariiber, daC er noch immer nicht von Welt
und Sinnlichkeit loskommen und sich selbst beherrschen
72 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
konnte, viel groJJer. Furckt vor dem Richter und Todes-
furclit lagen iiber seiner Seele. Er leclizte nach einer
Kraft; sclioii liatte er alles fiir sie hingegeben , Ebre und
Beruf, ja selbst das Opfer des Verstandes gebracbt. Aber
dem Schlafenden gleich, der sich aufzurichten strebt, sank
er immer wieder zuriick. Die verscbiedensten Entschliisse
krenzten sich. in seiner Seele; mit gleicbgestimmten Eretin-
den und Scbiilern wiegt er sicb in den Plan, sict aus der
"Welt zuriickzuzieben und in der StHle gemeinsam der
eigenen Ausbildung und der Erforscbung der Wabrbeit zu
leben. Aber nocb war es ein unkraftiger EntscbluC; nocb
verbinderten Weib und Beruf die Ausfiibrung. Im Grrunde
sucbte er in seinen tbeoretiscben und praktiscben Zweifeln
bereits nur Eines, den Verkebr mit dem lebendigen Grott,
der von der Siinde befreit; aber er erscbien ibm nicbt und
er fand ibn nicbt.
Da kam ibm von unerwarteter Seite Hilfe. Er las
Scbriften aus der Scbule der Neuplatoniker. In dem Neu-
platonismus bat die griecbiscbe Pbilosopbie ibr letztes "Wort
gesprocben und ibr Testament gemacbt. Einem Sterbenden
gleicb, der sicb mit den Dingen dieser Welt nur nocb not-
gedrungen gefaiJt, bat sie alle ibre Gredanken auf das
Hocbste und Heibge, auf Gott, gerichtet. Alles Erbabene
und Edle, was sie im Laufe einer langen Arbeit erworben,
hat sie zusammengefaBt in ein kiihnes idealistiscbes System
und in eine Anweisung zum seHgen Leben. Im Neuplato-
nismus lehrte die griecbische Pbilosopbie, daJJ man der
Autoritiit der Offenbarung folgen miisse, und daC es nur
eine Reabtat gebe, Gott, nur eine Aufgabe, zu ibm aufzu-
steigen; sie lehrte, dafi das Bose nicbts anderes sei als die
Entfemung von Grott, daB die sinnlicbe Welt nur Scbein
und Grleicbnis sei, daC man zu Grott nur gelangen konne
durcb Selbstzucbt und Entbaltung, durch aufsteigende Be-
tracbtung von niederen zu immer boheren Spharen, scKbeJ]-
bcb durcb einen unbescbreiblichen ExzeB, die Ekstase, in
Augustins Konfessionen. 73
welclier Gott selbst die Seele erfaCt und ikr sein Licht
leucliteii laCt:
Alles VergJLngliclie ist nur ein Gleiohnis,
Das Unzulangliche, Her wird's Ereignis,
Bas Unbesohreibliche, hier ist's getan.
Diese Schlufiworte des Faust sind echt neuplatonisch.
Die neuplatonisclie PMlosophie hatte mehr mid mekr die
helle Wissenschaft abgedankt; sie hatte sich der Offen-
baning in die Axme geworfen, um die Menschen liber sich
selber zu erheben. Sie, die letzte Hervorbringung des stolzen
griechischen Greistes, verschmahte selbst christhche Sehriften
nicht, um aus ihnen zu lernen. Das Johannesevangehum
wurde ia neuplatonischen Eieiseii gelesen und hochgeschatzt.
In diese Philosophie vertiefte sich nun Augustia; sie loste
ihni die theoretischen Ratsel und Zweifel; sie hat ihn aus
dem Skeptizismus herausgefiihrt und fur immer gewonnen.
Die Realitat geistiger GroCen, der geistige Grottesbegriff,
wurde ihm nun zur GewiBheit. Die scharfe Kritik, die
er sonst an die theoretischen Grundlagen philosophischer
Systeme gelegt hatte — hier versagte sie ihm. Der Skep-
tizismus hatte sein Auge stumpf gemacht oder viehnehr —
er suchte vor allem nach einer Anweisung zum seUgen
Leben und nach einer Autoritat, die ihm den lebendigen
Gott verbiirgte. "Was er suchte trug er in die neue Philo-
sophie hiniiber; denn das heihge Wesen, dem er sich zu
eigen geben und dessen Nahe er fiihlen wollte, bot ihm der
Neuplatonismus nicht so, wis es vor seiner Seele stand.
Den Unterschied hat auch er nicht verkannt; aber in seinem
tiefsten Grande hat er ihn nicht, auch spater nicht, durch-
schaut. DaiJ es eiae Philosophie gebe, an die er das an-
kniipfen konnte, was seine Seele begehrte, war ihm vor
aUem wichtig. Der Neuplatonismus ist fur ihn, wie fur
viele vor ihm und nach ihm, der "Weg zur Kirche geworden;
durch ihn gewann er Vertrauen zu den Grundgedanken
der damaligen kirchlichen Theologie. Es ist merkwurdig.
74 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
wie rasch, .wie unvermerkt er vom Neuplatonismus zur An-
erkemrang der ganzen heiligen Schxift und der katholisclien
Kirclieiilehre libergegangen ist, oder vielmehr: der Neu-
platonismus erschien ihin einfacli als wahr, aber nicM als
die vollstandige "Wakrlieit. Es feMte ilim vor allem ein
Moment, die Anerkennung der Erlosimg durch. den mensch-
gewordenen Grott, und damit der recMe Weg zur Wahr-
heit. Sie sckauen, sagt er, das gelobte Land, wie Moses;
aber sie wissen nicbt, wie man in dasselbe Mneinkommt
und es bewolmt. Er glaubte es jetzt zu wissen: durch. die
Unterwerfung des Verstandes unter Christus. Aber Christus
ist nur dort wo die Kirohe ist, das hatte er an Ambrosius
gelernt. Man mufl also glauben, glauben, was die Kirche
glaubt. Augustin laCt uns in den Konfessionen dariiber
nicht im Zweifel, daC der EntscMuB, sick der Autoritat zu
unterwerfen, die Bedingung ist fiir den Besitz der Wahrkeit.
Er entschloC sick; so wurde er katkokscker Ckrist. Wunder-
bar sind bei diesem innem tjbergang die Ursacken ver-
kettet, der Neuplatonismus, der fortwirkende Eiadruck der
Person Ckristi, der durck die Lektiire pauliniscker Briefe
sick ikm verstarkte, und die imponierende Autoritat der
Kirche.
Er war jetzt katkokscker Ckrist nach Einsickt und
Wnie; aber er selbst besckreibt seinen damaligen Zustand
mit den Worten: „So katte ick die kostbare Perle gefunden,
aber ick trug nock immer Bedenken, alles zu verkaufen,
was ick besaJJ; ick katte Lust an dem Gresetze Grottes nack
dem inwendigen Menscken; aber ick sak ein anderes Gesetz
in meiaen Grkedern." Keine Tkeorie, keine Lekre konnte
ihm hier helfen. Nur iiberwaltigende personHche Eindriicke
konnten ikn bezwingen und fortreiBen. Und diese kamen.
Zuerst war es die Kunde von einem kockberukmten keid-
niscken Redner in Rom, der plotzHck eine glanzende Lauf-
bakn preisgegeben und sick offentlich als katkokscker Ckrist
bekannt katte; sie ersckiitterte ikn aufs tiefste. Dann —
Augustins Konfessionen. 75
wenige Tage darauf — erzahlte ihm ein Landsmann , der
ihn besuchte, was sich. jiingst in Trier zugetragen hatte.
Ein paar junge kaiserlicKe Beamte seien in den G-arten an
der Stadtmauer spazieren gegangen und dort auf die Hiitte
eines Einsiedlers gestoCen. In der Hiitte fanden sie ein
Bucli, das Leben des groBen Monchsvaters Antonius. Einer
von ihnen begann es zn lesen, und das Buch iibte auf sie
einen solcben Zauber aus, daC sie sofort beschlossen, alles
zu verlassen und es dem Antonius nachzutun. Mit
flammender Begeisterung berichtete der ErzaKler von diesem
plotzlichen Umscbwung; er war selbst zugegen gewesen
und hat ihn mitangesehen. Er bemerkte es nicht, Avelchen
Eindruck seine Erzahlung auf den Horer machte. Ein
furchtbarer Kampf entspann sich in Augustins Brust:
„"Wohin lassen wir es mit uns selber kommen? "Was ist
das? Ungelehrte stehen auf und reiCen das Himmeb-eich
an sich, und wir mit unserer herzlosen G-elehrsamlceit walzen
uns in Eleisch und Blut herum!" Im "Widerstreit seiner
Grefiihle, seiner selbst nicht mehr machtig, stiirzte er in den
G-arten. Der Gedanke an das, was er preisgeben sollte,
rang in ihm mit der Macht eines neuen Lebens. Er brach
zusammen und erwachte erst wieder, als er im Nachbar-
haus eine Kinderstinune , wahrscheinlich im Spiel, die
Worte immer wiederholen horte: „Mmm und lies, nimm
und hes." Er eilte in das Haus zuriick und schlug, sich
an die Geschichte des Antonius erinnernd, die heilige Schrift
auf. Sein BUck fiel auf die SteUe im Eomerbrief: „Mcht
in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht,
nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn
Jesum Christum, und wartet des Leibes, doch also, daC er
nicht geil werde." „Ich wollte nicht weiter lesen; es war
auch nicht no tig; denn beim Schlusse dieses Spruches stromte
in mein Herz sofort das Licht ruhiger Sicherheit ein und
alle Finsternisse der Unentschlossenheit verschwanden."
Er brach in diesem Momente mit seiner Vergangenheit; er
76 Erster Band, erate Abteiluiig. Keden; HI.
fiihlte die Kraft in sich, die siiadige Gewohnlieit preiszu-
geben und im Bunde mit seinem Gott ein neues heiliges
Leben zu fiihren. Er gelobte das, und bat das Grelobnis
gebalten.
Ein Beweis, daC es ein innerer Umscbwnng war, den
er hier erlebt bat, liegt in der Tatsacbe, daB er zwar fortab
auf Weib und offentlicben Beruf als auf ein IJbel ver-
zicbtete, aber keineswegs sofort seine Studien und den
KJreis seiner Interessen anderte. Er zog viekaekr mit den
Freunden und der Mutter auf ein nabe bei Mailand ge-
legenes Landgut, um dort ungestort der Pbilosopbie und
einer gebaltvollen Greselligkeit zu leben und seine pMlo-
sopbiscben Spekulationen, wie er sie bisber scbon betrieben,
fortzusetzen. Nicbt der beilige Antonius wurde sein und
seiner Freunde Vorbild, sondern die Gremeinscbaft der
Weisen, wie sie Cicero, Plotin und Porpbyrius als Ideal
vorgescbwebt batte. Keine vordringUcbe Kircbendogmatik
storte nocb die pbilosopbiscben Dialoge der Freunde; aber
beberrscbt war ilir G-emut von der GewiCbeit des leben-
digen Gottes, und statt der Unsicberbeiten iiber den Aus-
gangspunkt und das Ziel aller Wabrbeitserkenntnis lebten
sie jetzt in der Sicberbeit, welcbe die Offenbarung Gottes
in Cbristo und die Autoritat der Kircbe boten. Die Frage,
ob scbon das Forscben nacb Wabrbeit gliicklicb mache
oder erst der Besitz der Wabrbeit, wurde von Augustin
im Kreise der Freunde aufgeworfen und in letzterem Sinne
entscbieden. Rastlos woUte er weiter forscben, aber die
letzte und bocbste Wabrbeit sucbte er nicbt mebr, sondern
war sicb bewuflt, sie in der Unterwerfung unter die Autori-
tat Gottes, wie die Kircbe sie verkiindigt, gefunden zu
baben.
Icb babe nacb den Konfessionen zu erzablen versucbt
und nur zum ScbluC ibre DarsteUung aus den zuverlas-
sigeren Quellen, den Scbriften, die Augustin gleicb nacb
dem Umscbwung geschrieben, bericbtigt. Sie werden das
Augustins Konfessionen. 77
Problem, welch.es dieser Lebensgang bietet, wohl empfunden
baben. Einerseits eine Entwickelung aus dem Innem heraus
durcb imablassige Arbeit, ein Aufsteigen von einem ge-
bundenen und zerspaltenen Leben zur Freibeit und Kraft
in Grott, andererseits die Entwickelung zum Autoritats-
glauben, das Ausruben in der Autoritat der Kircbe und
die moncbiscbe Auffassung der Ebe und des Berufs. Auch
wenn man die Zeitverhaltnisse in Anschlag bringt, wie
groB scbeiat nock immer das Problem, daC dieser reicbe
und rastlose Geist zu personlicber cbristlicber Frommigkeit
emporstrebt, sie aber erst erlangt, nacbdem er sicb der
Autoritat der Eorcbe unterworfen bat!
Beides ist seitdem untrennbar in Augustins Leben und
Denken verbunden gewesen. Einerseits kiindet er nun in
einer neuen Weise — aber im Sinne der Kircbe — von
Gott und den gottlicben Dingen. Aus der innersten Er-
fabrung beraus zeugt er von Siinde und Scbuld, von BuBe
und Grlauben, von G-ottes Kraft und Grottesbebe. An die
Stelle einer blassen Moral setzt er die lebendige Frommig-
keit, das Leben in Q-ott durcb Christus. Zu diesem Leben
ruft er den Einzelnen auf ; er zeigt ihm, wie arm und elend
er bei allem Wissen und bei aller Tugend sei, solange er
von der Liebe Grottes nicbt ergriffen ist. Er zeigt ibm,
daB der natiirbche Menscb von der Selbstsucbt beberrscbt
ist, daB die Selbstsucbt Unfreibeit und Scbuld ist, und dafl
jeder von Natur ein Grbed ist in einer ungebeuren Ver-
kettung der Siinde. Er lebrt ibn aber aucb, daB Grott
groBer ist als unser Herz, daB die in Cbristus offenbarte
Liebe Gottes macbtiger ist als die Triebe der Natur, und
daB die Freibeit die sebge Notwendigkeit des Guten ist.
Wo nur immer in dem folgenden Jabrtausend und weiter
der Kampf wider eine mecbanische Frommigkeit, wider
Selbstgerecbtigkeit und stumpfe Moral unternommen wird,
da ist es sein Geist gewesen, der fortgewirkt bat. Allein
andererseits bat es niemand vor Augustin gegeben, der in
78 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
SO entscMossener und unverhiiHter Weise die Christenlieit
aiif die Autoritat der Kirche gestellt und die lebendige Au-
toritat geheiligter Personen, welche gleichartiges Leben er-
zeugen, mit der Autoritat der Institutionen verwechselt hat.
Was sich in seinen Erfahrungen und in seinem Lebens-
gang untrennbar verkettet hatte, hat durch ihn genau so
fortgewirkt auf die Kirche: seine Bedeutung fiir die Aus-
bndung des katholischen Kirchentums und fur die Herr-
schaft der Kirche ist nicht geringer als seine kritische Be-
deutung und als die KJraft, die ihm veriiehen war, in-
dividuelle Frommigkeit und personhches Christentum zu
erwecken.
Die Losung dieses Problems will ich nicht beruhren;
es mag geniigen, daran zu erinnern, daC dasselbe im Grunde
keineswegs erstaunlich ist. Rehgion und Autoritatsglaube,
so verschieden sie sind, sind durch eine sehr schmale
Grrenze getrennt, und wo der Grlaube vor allem als ein
Wissen vorgestellt wird, da schwindet diese Grrenze voUig.
Hier hat Luther eingesetzt und den Christen auf einen
Grrund zu stellen unternommen, auf dem er die Autoritat
von Institutionen und die Moncherei als Triibungen des
Grlaubens betrachten mtiiJ.
Aber jede Zeit hat von Grott ihren Inhalt empfangen
und jeder Geist sein MaC. Seine Schranken sind auch
seine Starke und die Bedingungen seiner wirksamen KJraft.
Innerhalb seiner Schranken hat sich Augustin in den drei-
undvierzig Jahren, die er als kathoHscher Christ verbracht
hat, zu einer Persordichkeit entwickelt, deren Hoheit und
Demut uns ergreift. Ein Strom von "Wahrhaftigkeit, Giite
und Wohlwollen und wiederum von lebendigen Anschau-
ungen und tiefen Gedanken geht durch seine Schriften,
durch die er der groBe Lehrer des Abendlandes geworden
ist. Wohl ist er Hberboten worden durch die Reformation,
die er doch mit hervorgerufen hat, und die Grundziige
seiner rehgiosen "Weltanschauung haben vor den Erkennt-
Augustins Konfessionen. 79
nissen, die wir seit Leibniz erworben haben, nicht Stand
lialten konnen. Der romiscbe Katholizisinus bat seinen
fortwirkenden EinfluC im Tridentinum, im Kampf gegen
den Jansenismus nnd im Vaticanum zu ersticken unter-
nommen. Aber er ist docb kein Toter: was er der Kircbe
Cbristi gewesen ist, wird nicht untergeben, und er wird
aiicb der romischen Kircbe keine Rube lassen.
Es sind zu Ostern des Jabxes 1887 genau 1500 Jabre
gewesen, seitdem sicb Augustin zu MaUand durct die Taufe
in den Dienst der Kircbe gestellt bat. Niemand bat den
Tag gefeiert; man bat dem Lebrer der Kircbe audi keine
Denkmaler gesetzt. Aber er besitzt das erbabenste Denk-
mal: auf den Blattern der Greschicbte des Abendlandes
von den Tagen der Volkerwanderung an bis auf unsere
Tage stebt unausloscblicb sein Name gescbrieben.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
"m ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^
REDEN: IV
DAS MONCHTUM
SEINE IDEALE UND SEINE GESCHICHTE
Eine kirchenhistoriscKe Vorlesung
erschienen in 6. Aufl. 1903 bei der J. Eioker'schen Verlagsbuclilian.d-
lung (Alfred TOpelmaim) in Giessen.
Die christliclien Konfessionen, so verschieden sie unter-
einander sein mogen, stimmen in der Grundforderung iiber-
ein, daC sich. der Grlaube darstellen miisse in einem christ-
liclien Leben, dafi das Christentum nur dort zu seinem Rechte
komme, wo es ein eigentiimliclies Leben erzeuge. Wahrhaft
cbristliclies Leben ist das gemeinsame Ideal der Cbristen-
heit. Aber wie soU es geartet sein? Hier scheiden sich
die Wege. DaC es unter uns verschiedene Konfessionen
gibt, ist im letzten G-runde bedingt sowoM durch die Ver-
scbiedenbeit des Grlanbens, als auch. des Lebensideals, welches
der Grlaube vorhalt. AUe iibrigen Unterschiede sind religios
betrachtet nnwesentliche oder erbalten docb von hier aus
erst ihr Gewicht und ihre Bedeutung. Mcht theologischer
Zank oder priesterliche Herrschsucht oder nationale Gegen-
satze haben aUein die Spaltung der Kirche herbeigefiihrt —
sie waren an ihr beteiligt und konservieren sie heute noch — ,
sondern die verschiedene Beantwortung der Lebensfrage
nach dem Ideal des Lebens hat getrennt und der Trennung
Dauer gegeben. Es ist in den Verhaltnissen ganzer Gruppen
nicht anders wie in den der Einzelnen. Nicht theoretische
Meinungen, sondern Gesinnungen und "Willensrichtungen
scheiden und vereinen.
Fragen wir nun die romisch- oder die griechisch-katho-
lische Earche, worin besteht das voUkommenste christliche
Leben, so antworten sie beide: in dem Dienste Gottes unter
Verzicht auf alle Giiter des Lebens, auf Eigentum, Ehe,
personlichen "Willen und personliche Ehre, kurz in der reli-
giosen Weltflucht, in dem Monchtum. Der wahre Monch ist
84 Erster Band, erste AbteiluBg. Eeden: IV.
der wahre, voUkommenste Ckrist. Das Monchtum ist also
nicht eine mekr oder weniger zufallige Ersclieiinaiig in den
katholisclien Kirchen neben anderen, sondem, wie die Kirclien
heute sind nnd wie sie schon seit Jahrhunderten das Evan-
gelium verstanden haben, ist as eine in ikrem "Wesen be-
griindete Institution: es ist das ckristliche Leben. Wir
werden deshalb erwarten diirfen, daJ3 in den Idealen des
Monchtums sicb aucb die Ideale der Kirclie, in der G-e-
scMcbte des MoncMums sicb die G-eschichte der Kircbe
darstellen werden.
Aber kann das MoncMnni iiberlianpt wechselnde Ideale,
kann es eine GrescMchte baben? Ist es nicht verurteilt, in
groBartiger Einformigkeit tausendfacber Wiederbolung durcb
die G-eschicbte zn schreiten? Welch' einer Veranderung sind
die Ideale der Armut, der Ehelosigkeit, der entschlossenen
Weltflucht fahig? "Welch' eine Geschichte konnen die er-
leben oder herbeifiihren, welche mit der Welt anch ihren
wechselnden G-estalten, d. h. ihrer Greschichte, den Riicken
gekehrt? Ist nicht Weltentsagung zugleich Verzicht auf
alle Entwickelnng und aUe Greschichte? Oder, wenn sie
das in Wirkhchkeit nicht gewesen ist, ist nicht eine Gre-
schichte der Ideale des Monchtums schon ein Protest gegen
den Gredanken des Monchtums iiberhaupt? Es scheint so,
und vieUeicht scheint es nicht bloU so. Aber das lehrt die
Greschichte des Abendlandes auch dem fliichtigsten Be-
obachter: das Monchtum hat seine Greschichte gehabt, nicht
nur eine aufiere, sondem auch eine innere, voll von ere-
waltigsten Veranderungen und gewaltigsten Wirkungen.
Welch' eine Kluft trennt den schweigsamen BiiiSer der
WHste, der ein Menschenleben hindurch in keines Menschen
Auge geblickt hat, von dem Monche, der einer Welt Befehle
gab! Und dazwischen die Hunderte von Grestalten, eigen-
tiiinlich und verschieden, und doch Monche, aUe begeistert
und beherrscht von der Idee, der Welt zu entsagen. Aber
noch mehr: aUe Eegungen des Gl-emiites, die leidenschaft-
Das MOnolitum. 85
lichsten und die zartesten, kommen uns aus jener Welt der
Weltentsagung entgegen. Kunst, Poesie und Wissenschaft
haben dort ilire Pflege gefunden, ja die Anfange der Zivi-
lisation unseres Vaterlandes sind ein Kapitel aus der Ge-
schichte des Monclitums. Hat das Moncktum dieses alles
nur leisten konnen, indem es seine Ideale verlieiJ, oder
lassen seine eigensten Ideale solcke "Wirkungen zu? Setzt
die Weltentsagung eine zweite Welt und eine zweite Ge-
schichte, der gemeinen ahnlich, nur reiner und groJJer, oder
muC sie die Welt zur Wiiste werden lassen? 1st das das
wahre Monchtum, welches in der Welt den Tempel Grottes
sieht und auch. in der scli-weigsamen Natur entziickt das
Weken gottlichen Greistes vernimmt, oder ist das das wahre
Monchtum, welches behauptet, die Welt mitsamt ihrer Natur
und ihrer Greschichte sei des Teufels? Beide Losungen
tonen zu uns heriiber aus dem Reiche der Weltentsagung:
welche von ihnen ist authentisch und hat das geschicht-
Kche Recht for sich? In dem Monchtum ist das Individuum
gerettet worden aus den Banden der Gresellschaft und der
gemeinen Gewohnheit, ist befreit und erhoben worden zu
edler Selbstandigkeit und Menschlichkeit, und in demselben
Monchtum ist ps geknechtet worden in Engherzigkeit, geist-
loser Ode und sklavischer Abhangigkeit. Hat das urspriing-
liche Ideal dieses verschuldet oder jenes hervorgebracht?
Solche und ahnhche Fragen tauchen hier auf. Der
evangeUsche Christ hat nicht bloC ein historisches Interesse
an ihrer richtigen Beantwortung. Ist es ihm auch gewiB,
daU die christliche VoUkommenheit nicht in den Formen des
Monchtums zu suchen ist, so hat er es doch zu priifen und
seine Lichtgestalt festzusteUen. Nur dann ist es in Wahr-
heit liberwunden, wenn dem Besten, was es hat, ein Besseres
iibergeordnet werden kann. Wer es abschatzig beiseite
schiebt, kennt es nicht. Wer es kennt, der wird bekennen,
wieviel von ihm zu lernen ist. Ja er wird hier nicht nur wie
von einem Gegner, er wird wie von einem Freunde lernen
86 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
konnen, unbescliadet seines evangeliscLen Standpunktes,
vielmehr zu Nutz desselben. Suclien wir uns durcli einen
geschichtlichen Uberblick liber das Moncbtum zu orientieren.
I.
Das Moncbtum ist nicht so alt wie die Kircbe. Aller-
dings bat die Kircbe des 4. Jahrbunderts, in welcber es sicb
ausbildete, wesentlicb abnlicbe Institutionen scbon im apo-
stoliscben Zeitalter zu finden gemeint; aber die Vorbilder
dort, auf welcbe man sicb berufen bat und nocb beruft, ge-
boren zum groCten Teile der Legende an. Dennocb ist die
alte Kircbe mit ibrem Urteile nicbt ganz im Unrecbte. Der
Gedanke, sicb zu separieren, gescblossene Vereinigungen
innerbalb der G-emeinde zu bilden und besondere Weltent-
sagung zu iiben, konnte freibcb den Einzebien in den ersten
Jabrzebnten des Bestebens der Kircbe gar nicbt kommen.
Aber diejenigen, welcbe sicb von dem Greiste Grottes ge-
trieben fiiblten, ibr ganzes Leben der Verkiindigung des
Evangeliums zu widmen, baben in der Regel alle ibre Habe
dabingegeben und sind in freiwiUiger Armut als Apostel und
Evangelisten Cbristi von einer Stadt zur andejren gewandert.
Andere baben sicb, auf Vermogen und Ebe verzicbtend,
ganz in den Dienst der Armen und HUfsbediirftigen der
Gremeinde begeben. Dieser apostoliscben Manner bat man
sicb, als das Moncbtum nacb seinem Ursprunge im aposto-
bscben Zeitalter sucbte, bin und bar wieder erinnert. Ferner
aber — aUe Cbristen, soweit sie es ernst nabmen, standen
gleicbmaJJig unter dem Eindrucke, daJ3 der Welt und ibrer
Grescbicbte nur nocb eine kurze Spanne Zeit gelassen sei,
daB ibr Ende bevorstebe. Wo diese Hoffnung aber lebendig
ist, da kann das irdiscbe Leben, wie es gelebt wird, einen
selbstandigen Wert nicbt mebi- bebaupten, so gewissenbaft
man es aucb mit den Berufspflicbten nebmen mag. Der
Apostel Paulus bat unter besonderen Verbaltnissen diese
Das MOnchtum. 87
wiederholt und nachdriicklich seinen Gremeinden eingescharft.
Man hat ihn deshalb evangelischerseits wider Moncherei und
alles weltfliichtige Christentum angerufen, auf die Grund-
satze christlicter Freiheit verweisend, die er verkiindet hat.
Aber man soil dabei nicht vergessen, dafi auch er in Bezug
auf die irdischen Griiter das Urteil geteilt hat, es sei dem
Christen zutraglicher, sie preiszugeben, und daJ3 wir so auch
im Evangelium lesen. Damit ist das, was sich als Monch-
tum ausgebUdet hat, dennoch nicht im voraus geboten noch
empfohlen. Jesus Christus hat nicht als ein neues, pein-
hches G-esetz schwere Lasten auferlegt, noch weniger in der
Askese als solcher — er selbst lebte nicht als Asket — eine
HeUigung gesehen, sondern eine voUkommene Einfalt und
Reinheit der Gresinnung und eiae Ungeteiltheit des Herzens
hat er vorgesteUt, die in Verzicht und Triibsal, im Besitz
und Gebrauch irdischer Griiter, wandellos dieselbe bleiben
soU. Das Einfachste und Schwerste im Gresetz, die Liebe
Grottes und des Nachsten, hat er an die Spitze gesteUt und
aller zeremoniosen Heihgkeit und raffinierten Moral ent-
gegengesetzt. Geboten hat er, daB ein jeghcher sein Kreuz,
d. h. die Leiden, die Grott geschickt hat, auf sich nehmen
und ihm nachfolgen soUe. In der Nachfolge Jesu, in welcher
sich das Trachten nach dem Reiche Grottes und seiner Gre-
rechtigkeit verwirklicht, liegt die Entaufierung von allem,
was hemmend und hinderhch ist, beschlossen. Das Monch-
tum hat aber nachmals versucht, der entscheidenden evan-
gelischenEorderung: „Enthalte dich" so gerecht zu werden,
dafi es den Umfang des Verzichtes ohne Riicksicht auf die
individuelle Beschaffenheit und den Beruf des Einzelnen
bestimmte.
Als das EvangeMum im ersten Jahrhundert und im An-
fang des zweiten seine Mission in der griechisch-romischen
Welt aufnahm, da wurde es ergriffen von den Empfang-
lichen als die Botschaft „von der Enthaltsamkeit und der
Auferstehung". Diese gewahrte die befreiende Hoffnung,
S8 Erster Band, erste Abteilung. Reden: lY.
und jene forderte die Loslosung von der Welt der Sinn-
lictkeit und Siinde. Die ersten Christen salien in dem
Heidentiun, seinem Grotzendienst, seinem offentlichen Leben,
auch. in seinem Staate, das Reich, des Satan in Wirklichkeit
aufgerichtet und forderten daher Verneinung dieser Welt;
aber far ihre Auffassung waren es nicht unvereinbare Gregen-
satze, daC die Erde G-ottes sei, von ihm geleitet und be-
herrscht werde, und daC sie doch zugleich in satanischer
Verwiistung liege. Welter: sie wuCten sich als Biirger einer
znkiinffcigen Welt, deren Eintritt ta Balde bevorstehe. Wer
das glaubt, der kann aUes gering achten, was um ihn ist,
ohne in die Stimmung zu geraten, die man die pessimistische
nennt, und die im besten FaUe die Stimmung des gekrankten
und leidensmuden Heros ist. Er wird die Freude am „Leben"
behalten; denn er wiinscht nichts sehnlicher als zu leben,
und er wird selbst dem Tode sich gerne darbieten, der ilm
zum Leben fiihrt. Dort ist kein Raum fiir den Verzicht
auf die Freude, wo der Griaube lebendig ist, dafi Q-ott die
Welt geschaffen hat und regiert, wo man der Zuversicht
lebt, daJB kein Sperling vom Dacha fallt ohne den himm-
lischen Vater. Es ist richtig, daU die Phantasie damals aufs
lebhafteste bewegt worden ist von dem Q-edanken, daC der
gegenwartige Weltlauf dem Grerichte verfalle, well aUes ver-
giftet und des Unterganges wert sei; aber man wuUte diese
Welt doch auch als die Statte des Reiehes Grottes, die man
der Verklarung fiir wiirdig erachtete. Das Ohristentum
mixBte den Kampf aufnehmen mit der groben und der feinen
Sinnlichkeit der Heidenwelt und es erschopfte, wie man
richtig gesagt hat, seine ganze Energie in der Predigt der
grofien Botschaffc: „Ihr seid keine Tiere, sondern unsterbKche
Seelen, nicht die Sklaven des Fleisohes und der Materie,
sondern die Herren eures Fleisches, Diener aUein des leben-
digen Grottes." Jedes Kulturideal muB zuriicktreten, bis
diese Botschaft geglaubt wird. Besser, der Mensch erachtet
die Ehe, Essen und Trinken, ja, sein menschhches Teil an
Das Mbnchtum. 89
sich fiir unreiii, als dafi er diese Dinge wirklicli unrein
macht durch. sinnliche Verwilderung. Kein neues Prinzip
vermag sich in dieser "Welt der Tragheit und G-ewolinlieit
durclizusetzen, das nicht die sclmeidendste Kritik an dem
Zustande der G-egenwart iibt und hochgespannte Forderungen
stellt. Das alteste Christentum stellte solclie Forderungen;
aber bald erhob sich. die Frage, wie sie theoretisch zu be-
griinden seien und in welchem Umfang sie gelten soUen.
n.
Bereits am Anfang des zweiten Jahrhunderts drangte
sich eine bunte Menge Suchender und Grlaubiger an die
christhchen Gremeinden heran. Unter ihnen gab es Manner
— man nennt sie herkommlich Grnostiker — , die genahrt
und verwirrt waren durch alte und neueste Mysterienweis-
heit, zugleich aber ergriffen von der evangehschen Botschaft
und der Reinheit des christlichen Lebens. Sie suchten zu
bestinmien, worin das Wesen der christlichen Religion als
einer Erkenntnis Grottes und der "Welt bestehe, und sie
meinten den wahren, der Menge unbekannten Sinn des
Evangeliums ergriindet zu haben: Gott als den Herrn und
den Schopfer der Geister, aber ihm von Ewigkeit gegen-
iiberstehend das Reich der Materie, der sinnhchen EndUch-
keit, welches als seiches bose ist; der menschliche Geist ein
Lichtfunke Gottes, aber schmachvoU gefangen von seiner
Feindin, der Sinnenwelt; die Erlosung durch Christus eine
Entkorperung des Geistes, die "Wiederherstellung der reinen
Geistigkeit; darum die sitthche Aufgabe: voUkommene
Askese, Flucht aus der damonischen Natur, Einswerden mit
dem UrqueU des Geistes durch Erkenntnis und "Wissen.
In dem Kampf mit dieser Lehre, welche die griechische
war, sich aber als die christhche zu legitimieren versuchte,
und im Kampfe mit der marcionitischen, die in ihren prak-
tischen Anweisungen sich mit der gnostischen beriihrte,
90 Erster Band, erste Abteilung. Beden: IV.
erlebte die Kiiche ihre erste gewaltige Krisis in der Gre-
schiclite. Sie hat sie iiberwundeii; sie hat die scheinbar so
verlockende Begriindung ihrer eigenen Kritik an der Schlech-
tigkeit der gegenwartigen Welt als eine ihr fremde, als eine
falsche abgewiesen. Sie erkannte in jenen Thesen damo-
nische, d. h. heidnische Anschanungen wieder und beurteilte
das gnostische Christentum mitsamt seiner Askese und der
hoben Botschaft von der Herrlichkeit und Wiirde des G-eistes
als ein verweltlicbtes. Auch von einem angeblicb boheren
Grebeimcbristentum fur die „G-eistigen" woUte sie nicbts
wissen; der gnostiscben Unterscbeidung eines zwiefacben
cbristlicben Ideals gegeniiber bestand sie noch, wenn aucb
nicbt mit Sicberbeit, auf der Forderung einer einbeitlicben
und allgemein zuganglicben cbristbcben Lebensordnung.
Seit dem Ende des zweiten Jabrbunderts war es fiir immer
in der Kircbe festgestellt, daC der Grlaube an jenen prin-
zipieUen Dualismus zwiscben Gott und Welt, G-eist und
Natur unvereinbar sei mit dem Cbristentum, unvereinbar
mit ibm darum aucb jede Askese, die sicb auf jenen Dua-
lismus stiitzt. Wobl fubr man fort, zu lebren, daB der
gegenwiirtige Weltlauf und die zukiinftige Zeit in einem
Kontraste steben, daC die Erde unter die Herrscbaft der
Damonen geraten sei. Aber Gott selbst bat sie dabin-
gegeben und dem Teufel iiberantwortet. Er wird aber seine
Allmacbt in dem G-ericbte erweisen und zeigt sie scbon
jetzt in dem Siege seiner Glaubigen iiber die Damonen.
Die Welt ist des Herrn, nur verwaltet wird sie zeitweilig
von den bosen Engeln; die Welt ist gut, aber die Lebens-
weise der Welt ist scblecbt. So iiberwand man den tbeo-
retiscben Duabsmus, indem man ibn in der „Tbeologie''
ablebnte und das Bose aus der im Plane Gottes notwen-
digen Ereibeit der Kreatur zu versteben sucbte. Docb der
Eeind, der bier lauert, kann wobl gescblagen, aber nicbt
vemicbtet werden. Er fand seine gebeimen Bundesgenossen
selbst in mancben maBgebenden Tbeologen, die den Dua-
Das MOnchtum. 91
lismus in sub tiler Weise mit dem Glauben an Gott, den
allmachtigen Schopfer, zu vereinigen verstanden. Unter
den verschiedensten Masken und Gestalten ist er je nnd je
wieder aufgetreten in der Geschiclite des Christentums ; aber
er liat sich verkleiden miissen. Als Feind in offener Feld-
schlacht war er gerichtet.
Da zog eine zweite Krisis herauf fiir die Kirche, nnd
noch war die erste nicM am Ende. Seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts begannen sich die Bedingungfen der
aufieren Lage fiir die Christenlieit immer metr zu andern.
In wenigen kleinen Gemeinden war sie bisher iiber das
romische Reich, zerstrent gewesen. Diese waren nur mit
den notwendigsten Formen politischer Art ausgestattet, so
wenige und so lockere, als deren ein auf iiberirdisclie Hoff-
nungen, strenge Disziplin und BruderHebe begriindeter,
religioser Bund bedurfte. Aber es wurde anders. Die
Kirche sab. Massen bei sich einziehen, die einer nachtrag-
Kchen Zucht — der Erziehung und der Nachsicht — ■ ebenso
bedurften wie einer poKtischen Leitung. Die Aussicht auf
das nahe Weltende beherrschte nicht mehr wie friiher alle
Gemiiter. An die SteUe urspriinglicher Begeisterung trat
mehr und mehr niichterne Uberzeugung, wohl auch nur
theoretisches Fiirwahrhalten und gehorsame Anerkennung.
Viele wurden nicht Christen, sondern sie waren es und
darum blieben sie es. Sie waren zu stark vom Christentum
beruhrt, um es zu lassen, und zu wenig, um Christen zu
sein. Der rein religiose Enthusiasmus verblafite, die Ideale
erhielten eine neue Form, und die Selbstandigkeit und Ver-
antwortlichkeit der Einzelnen wurde schwacher. Die
„Priester und Konige Gottes" begehrten nach Priestern und
begannen sich mit den Konigen der Erde abzufinden. Die,
welche sich einst des Besitzes des Geistes geriihmt hatten,
suchten diesen Geist, den sie nun nicht mehr so lebendig
spiirten, in Glaubensformeln und in heihgen Biichern, in
Mysterien und in Kirchenordnungen zu erkennen. Dazu:
92 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
die Unterschiede ia der sozialen Lage der „Bru.der" maditen
sich. geltend. In alien BerufsMassen fanden sich bereits
Christen, im Kaiserpalast, unter den Beamten, in den Stuben
der Handwerker und in den Salen der Grelehrten, unter
Freien und Unfreien. Sollten diese alle in ihrem Berufe
belassen werden, sollte die Kircte den entscheidenden
Schritt in die Welt hinein tun, auf ilu-e Verhaltnisse ein-
gehen, ihren Formen sich. anschmiegen, ihre Ordnungen
soweit irgend moglich anerkennen, ihre Bediirfnisse be-
friedigen, oder sollte sie bleiben, was sie anfangs gewesen,
eine G-emeinde religios Begeisterter, getrennt und gesehie-
den von der "Welt, nur durch eine direkte Mission auf sie
wirkend? Die Kirche sah sich seit der zweiten Halfte des
zweiten Jahrhunderts vor das Dilenuna gestellt, entweder
durch wirklichen Eintritt in die romische Gresellschaft eine
Weltmission im groCen zu beginnen, freilich unter Verzicht
auf ihre ursprlingliche Ausstattung und KJraffc, oder aber
diese zu behalten, die urspriinglichen Lebensformen zu be-
wahren, aber eine kleine, geringe Sekte zu bleiben, von
Tausenden kaum Einem verstandKch, nicht imstande, Ifa-
tionen zu retten und zu erziehen. Um diese Frage handelte
es sich — ■ das diirfen wir heute feststellen, so -wenig es da-
mals klar erkannt werden konnte — , es war eine gewaltige
Krisis, und nicht die schlechtesten Christen riefen der Kirche
ein Halt zu. Damals zum erstenmale wurden Stimmen in
der Kirche laut, welche die Bischofe und ihre Herden vor
der fortschreitenden Verweltlichung warnten, welche den
Weltchristen jene bekannten Satze von der Nachfolge
Christi in ihrem wortlichen Ernste entgegenhielten und eine
Umkehr zur urspriinglichen Einfachheit und Reinheit ver-
langten. Damals erhob sich noch einmal laut und ein-
dringlich der Ruf , das Leben auf G-rund der Hoffnung zu
gestalten, daC der Herr demnachst wiederkomme. Es gab
Gemeinden, die gefuhrt von ihren Bischofen, in die Wiiste
zogen; es gab G-emeinden, die alles verkauften, was sie be-
Das MonoMum. 93
safien, um frei von alien Henunnissen dem kommenden
Christus entgegenznzielien ; es gab Stimmen, die verkiindig-
ten, die Christen soUten den breiten Weg verlassen und
den sckmalen Weg und die enge Pforte aufsuchen. Die
Kirche selbst entschied sich anders, mehr von den Verhalt-
nissen getrieben als nacb einem freien Entschlufi. Sie zog
ein durch. das offene Tor in den Weltstaat, um sich fur
eine lange Dauer dort einzurichten , um ihn auf seinen
Strafien zu christianisieren, ibm die "Worte des Evangehums
zu bringen, aber ihm alles zu lassen auBer seinen Gottern.
Und sie selbst stattete sich aus mit all den Giitern, die sie
von ihm nehmen konnte, ohne das elastische Gefiige zu
sprengen, in welchem sie sich nun einrichtete. Mit seiner
Philosophie schuf sie ihre neue christliche Theologie, seine
Verfassung beutete sie aus, um sich selbst die festesten
Formen zu geben, seine Rechtsordnungen, Handel und Ver-
kehr, Kunst und Handwerk nahm sie in ihren Dienst, selbst
von seinen Kulten wuUte sie zu lernen. So finden wir die
Kirche um die Mitte des dritten Jahrhunderts, ausgeriistet
mit all den Machtmitteln, die der Staat und seine Kultur
ihr bieten konnten, eingehend auf alle Verhaltnisse des
Lebens, zu alien Konzessionen bereit, die nicht das Be-
kenntnis des Glaubens betrafen. In dieser Ausstattung hat
sie eine "Weltmission im groCen StUe unternommen und
durchgefuhrt. Und jene Altglaubigen und Ernsteren, die
gegen diese Weltkirche protestierten im Namen des Evan-
geliums, die ihrem Gott eine heUige Gemeinde sammeln
wollten ohne Riicksicht auf Zahl und Umstande? Sie ver-
mochten sich nicht mehr in der groCen Kirche zu halten,
und, indem die Mehrzahl von ihnen, um ihren strengeren
Forderungen eine Grundlage zu geben, sich auf eine neue
endgiiltige Offenbarung Gottes, die in Phrygien stattgefun-
den haben sollte, berief , beschleunigte sie den Bruch. Sie
schieden aus und wurden ausgeschieden. Aber, wie es zu
geschehen pflegt, sie waren in dem Kampf selbst enger und
94 Erster Band, ersto Abteilung. Keden: IV.
kleinsinniger geworden. Hatte in fruieren Zeiten hohe
Begeisterung strenge Lebensformen wie von selbst hervor-
gerufen, so sollten nun diese, punktlioli bemessen, jenes ur-
spriingliche Leben konservieren und erzeugen. Sie wurden
gesetzlich. in ih.rer Lebensordnung, die doch nur um wenige
G-rade strenger war als die ihrer G-egner, und hoclimutig
im Besitze des reinen Christentums , wie sie sagten. Das
Christentum der Weltkirchenleute veracbteten sie als halb-
schlacbtiges, gemodeltes und ungeistliches Christentum.
Man hat in dieser „Sekte" der „Montanisten" im Reiche
und in der ihr verwandten, alteren und schrofferen der
„Enkratiten" mit ihrer Weltscheue, ihren strengeren Fasten-
und Q-ebetsordnungen, ihrem MiBtrauen gegen das geist-
liche Amt, gegen kirchenpolitische Ordnung, gegen jeden
Besitz, selbst gegen die Ehe, den Vorlaufer des spateren
Monchtums erkennen wollen — nicht mit Unrecht, wenn
man auf die Motive beider Bewegungen sieht, aber sonst
sind sie doch noch sehr verschieden. Das Monchtum setzt
die relative Berechtigung der Weltkirche voraus, jene Mon-
tanisten bestritten jede Berechtigung. Die Auskunft einer
doppelten Sittlichkeit in der Kirche, war sie gleich schon
im Anzuge, beherrschte am Anfang des dritten Jahrhun-
derts noch nicht die gesamte Auffassung vom christlichen
Leben; eben die Ausscheidung des Montanismus aus der
Kirche beweist dies. Allerdings schatzte die Kirche ihre
„Bekenner", ihre „Jungfrauen", ihre Ehelosen, ilire Grott
dienenden Witwen, wenn sie ihrer Gemeinschaft treu bheben,
um so hoher, je haufiger sie die Erfahrung machen muBte,
daC sie gegen die „grofie G-emeinschaft" miCtrauisch wurden.
Aber jene geistUchen Aristokraten waren noch ebensowenig
Monche wie die Montanisten. Dazu — das Monchtum er-
hob eine Lebensweise zum Prinzip, die in erster Linie nicht
an der Aussicht auf die bevorstehende Offenbarung des
Reiches Ghristi, sondern an dem Gedanken des ungestorten
G-enusses G-ottes im Diesseits und der Unsterbhchkeit im
Das MOnchtum. 95
Jenseits orientiert war. Das Monchtum mulJte sicli zur
Weltflucht aufraffen, die Montanisten brauchten das nicht
erst ausdriicklich zu fiielieii, was ihre enthusiastisclie Hoff-
nung als ein bereits Abgetanes erblicken woUte.
III.
Aber kehren wir zur Kirche des dritten Jahrhunderts
zuriick. Wohl batten jene Eiferer ein Recbt zur Kritik an
ibr; denn die grofien Grefabren, die sie beim Einzug der
Kircbe in den Weltstaat kommen saben, stellten sicb wirk-
licb ein. Jenes Wort des Apostels: „Den Juden ein Jude,
den Grriechen ein Grriecbe": es war docb ein gefabrlicbes
Motto. Wir sind durcb eine Jabrhunderte alte Uberliefe-
rung gewobnt, die Verweltlicbung der Kirche erst von der
Zeit ab zu datieren, wo sie unter Konstantin Reicbskircbe
zu werden begann. Diese IJberHeferung ist falsch. Die
Kircbe in der Mitte des dritten Jabrbunderts war bereits
in bobem Grade verweltbcbt. Nicbt als ob sie die liber-
lieferten Glaubenssatze verleugnet und ibre Eigenart preis-
gegeben batte, aber ibre Anspriicbe an das cbristlicbe
Leben batte sie in bedenklicber "Weise berabgesetzt und die
Kulturausstattung, mit der sie sicb bereicbert, war ibr zum
innerbcben Scbaden geworden. Zwar war sie auCerlich
fester und gescblossener denn je gefiigt — ein Staat im
Staate war sie geworden; aber das starke Band, das sie
verband, war nicbt mebr religiose Hoffnung und Bruder-
liebe, sondern eine bierarcbiscbe Ordnung, welcbe die
cbristlicbe Miindigkeit und Freikeit, damit aber aucb den
Brudersinn zu erdriicken drobte. Ibre Grlaubenslebre riva-
Ksierte bereits mit den bewunderten Systemen der Pbilo-
sopben, aber zu tief batte sie sicb selbst mit ibnen ein-
gelassen, ibre Ziele waren ibr verriickt, ibre Metbode gestort
worden. Namentbch jenes letzte nacbgeborene System
griecbiscber Weisbeit, der Neuplatonismus , batte entscbei-
96 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
dend auf sie eingewirkt. Durch das, was sie von ihm ent-
lehnte, sucMe sie den Ausfall zu decken, den sie bei dem
Verluste oder der Umsetzung ihrer rein religiosen Ideale
friihe schon erlitten hatte. Aber der iiberweltliche Gott,
den jener lehrte, war nicM der Gott des Evangeliums, nnd
die Erlosiing ans dem Sinnlichen, die er verhiefi, war von
der nrsprunglichen christlichen Heilshoffnnng sehr verschie-
den. Docli die Theologen, die ilin studierten oder be-
kampften, lebten sich. in jene Begriffswelt ein nnd nnmerk-
lich verschob sicli ilire eigene. Weiter: die Tendenz, sich.
dem Staate anzuschmiegen , wnrde inuner offenkundiger:
woM wollte man ibn stiitzen, aber man begehrte anch
Stiitze von ibm, man tat mehr, als man tun durfte, um
ilm zu gewinnen. Endlich: die Kirche konnte auck die
bereits herabgestimmten Anspriiche an das sittliche Leben
des Einzebien nicht raehr durokfiiliren; sie muUte sick oft
genug mit einem Minimum, mit dem auCerlichen Gekorsam
gegeniiber ikren Reckts- und Kultusordnungen begniigen.
— Dagegen — das Eine katte sie erreickt, daiJ so leickt
kein Ckrist ikren Anspruck, die ckristkcke Gresellsckaft zu
sein, antastete, den Glauben katte sie begriindet, dafi ikr
gegkederter Verband mit seinen Bisckofen, seinen G-naden-
spendungen, seinen keHigen Biickern, seinem Kultus die
autkentiscke, unverfalsckte Stiftung Ckristi und der Apostel
sei, auJJer welcker es kein Heil gebe. Das war die ckrist-
kcke Kircke an der Wende des dritten Jakrkunderts zum
vierten. So war sie geworden, nickt okne ikre Sckuld.
Aber das soil gesagt werden: es ist leickt, diese Kircke an
der apostokscken Zeit oder an einem selbstgezeickneten
ckristkcken Urbilde zu messen und sie grober Verweltlickung
zu zeiken, aber es ist ungereckt, die gesckicktkcken Be-
dingungen auCer ackt zu lassen, unter denen sie gestanden
kat. Was sie in sick gerettet kat, ist dock nickt nur ein
tJberbleibsel gewesen, welckes sie eben nickt verkeren
konnte, oder ein Rest, der der Erkaltung nickt wert war,
Das MOnohtum. 97
sondem es war das alte Evangelium, freilich in die Hiillen
und Binden der Zeit gewickelt und okae den kraftigen An-
spruch, das ganze Leben von innen heraus zu bestimmen.
Aber diese Kircbe war nicht mehr imstande, alien
Gemiitern, die zn ihr kamen, Frieden zu geben, sie vor
der "Welt zn bergen. Den Gottesfrieden etnes jenseitigen
Lebens konnte sie zusicbern, den Frieden in den Stiirmen
des Diesseits konnte sie nicbt gewabren. Da begann die
grofie Bewegung. Asketen, auch Einsamlebende , bat es
scbon friiher in der groCen Kircbe gegeben, ebenso wie
von Ort zn Ort pUgernde, nictts besitzende Evangelisten.
Im Laufe des dritten Jahrbunderts mogen einzelne Welt-
miide bereits liinansgeflohen sein in die Wiiste, ja bin und
her mogen sie sick bereits zn gemeinsamem Leben ver-
einigt baben. Ibre Zabl wucbs beim Anbrncb des neuen
Jabrbunderts. Sie floben nicbt nur die Welt, sondern die
Welt in der Kircbe; aber sie floben desbalb nicbt aus der
Kircbe. Anf Ebre und Vermogen, Weib nnd Kind ver-
zicbteten sie, um Lust und Siinde zu flieben, um sick dem
GrenuiJ der Anscbauung Gottes binzugeben und das Leben
in Todesbereitscbaft zu weiben. Lebrte docb aucb die
berrschende Tbeologie, daJ3 das Ideal ohristlicben Lebens
in jener Sterbensiibung und wiederum in jenem Gottes-
staunen bestebe, da der Menscb seiner Existenz vergiCt,
sein korperlicbes Dasein bis zur Grenze des Todes ertotet,
um ganz aufzugeben in der Beschauung des Himmliscben
und Ewigen. Das war die allgemeine Tbeorie der Weisen.
Sie nabmen es ernst mit ibr. Aber weiter: keine Zeit ist
vielleicbt mebr von dem Gedanken durcbdrungen gewesen,
dafi der Weltzeitlauf altere, dabinsinke, dafi es sicb nicbt
mebr lobne, zu leben. Eine groBe Epocbe in der Ge-
scbiebte der Menscbbeit ging wirklicb zu Grabe. Das
romiscbe Reicb, die alte Welt, scbickte sicb an, zu sterben,
und furcbtbar waren die Todeskiimpfe. Aufrubr, Blutver-
giefien, Armut und Seucben im Innern, von aufien von
Harnaek, Reden nnd Aufsatze. I.
98 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
alien Seiten bedrangt durch. Barbarenhorden. "Was hatte
man ihnen entgegenzustellen ? Nicht melir die Macht eines
seiner selbst maclitigen Staates und die Kraft eiaes ein-
heitliclien nnd erprobten Bildungsideals , nein — ein aus-
einanderfallendes Reich, kaum noch. zusammengehalten
durch eine sinkende und zersetzte Kultur, eine Kultur, die
hobl und unwahr geworden war, in der kaum einer ein
gutes Grewissen, eiaen freien, natiirKchen Sinn, eine reine
Hand sick bewakren konnte. ISTirgendwo aber muBte man
die innere Unwahxkeit aller Verkaltnisse mekr empfinden,
als an den Mittelpunkten der Kultur, vor allem in Alexan-
drian. 1st es da wunderbar, daU gerade dort, in Unter-
agypten, das Eremitenleben, das Moncktum seinen Ursprung
genonamen kat? Die langste und reickste Qesckickte aller
Volker, welcke die G-esckickte kennt, kat das agyptiscke
Volk gekabt. Auck nock unter der Herrsckaft von Frem-
den und unter dem Sckwerte des romiscken Eroberers war
Agypten das Land der Arbeit, war seine Stadt die Hock-
sckule der Bildung geblieben. Aber nun scklug der Nation
die Stunde. Damals kat das Moncktum als eine gewaltige
Bewegung dort seinen Ursprung genommen; nickt Adel
spater treffen wir es auck an der Ostkiiste des Mittelmeeres
und an den Ufern des Eupkrat. Man kat in neuester Zeit
den Ursprung aus speziiisck keidniscken Einfliissen auf das
Ckristentum in Agypten erklaren woUen, aber man ist
nickt kinreickend bekutsam dabei verfakren, so dankens-
wert es war, dafi die alteren analogen Ersckeinungen auf
dem Boden der agyptiscken Rekgion aufgewiesen worden
sind. Die Einfiiisse von aufien ker sind kier nickt starker,
wakxsckeinkck sogar sckwacker gewesen, als auf irgend
einem anderen Grebiete des ckristkcken Lebens und Denkens.
Auf jeder Stufe ikrer Entwickelung kat auck die ckrist-
licke Mensckkeit das Lebensideal abstrakiert und als das
kockste proklamiert, welckes ikr die E"ot vorsckrieb. Hier
aber traf die soziale, die politiscke, die rekgiose Not zu-
Das MOnohtum. 99
sammen mit einem langst aufgestellten christliclien Ideal,
"welches bald fiir das apostolische gait.
Es sind jedoch. sekr verschiedene Bedingungen und
demgemaC auch verschiedene Vorstufen gewesen, welche
der Aiisbildung des Monchtums vorangingen. "War es auch
vor alien Dingen der der Kirche aus den Heiden eingeborene
asketische Trieb, den Geist zu befreien von den vielen
Tyrannen, den groben und den feinen Egoismus zu iiber-
winden iind die arme Seele zu G-ott zu fiihren, so spielte
doch andererseits auch ein asketisches Ideal hinein, welches
jenem Triebe mehr entgegengesetzt als verwandt war. In
der alexandrinischen Katechetenschule, welche im dritten
Jahrhundert die hohe Schule der kirchlichen Theologie
iiberhaupt gewesen ist, sind die Grundgedanken aus den
Systemen der ideahstischen, griechischen Moralisten seit
Sokrates samtlich aufgenommen und bearbeitet worden.
Diese aber hatten den sokratischen Spruch: „Erkenne dich
selbst" langst schon in mannigfaltige Regeln fiir die rechte
Lebenskunst verwandelt. Die allermeisten von diesen Regeln
lenkten den wahren jjWeisen" ab von der Geschaftigkeit
im Dienste des taglichen Lebens und von „dem lastigen
Auftreten in der Offenthchkeit". Sie besagten, daC es fiir
den Geist „nichts Eigentiimlicheres und Angemesseneres
geben konne als die Sorge fiir sich selbst, indem er nicht
nach auCen bhckt, sich nicht mit fremden Dingen befaBt,
sondem innerhch in sich gekehrt sein eigenes Wesen an
sich selber zuriickgibt und so die Gerechtigkeit ausiibt".
Hier lehrte man, daB der Weise, der keines Dinges mehr
bediirfe, der Gottheit am nachsten sei, weiL er namlich in
dem Besitze seines reichen Ichs und in der ruhigen Be-
trachtung der "Welt des hochsten Gutes teilhaftig sei, dort
kiindete man, daiJ der Geist, der sich vom Sinnlichen be-
freit habe und in steter Betrachtung der ewigen Ideen lebe,
schheClich auch der Anschauung des Unsichtbaren ge-
wiirdigt und selbst vergStthcht werde. Diese Weltflucht
7*
J^OO Erster Band, erste Abteilung. Keden: IV.
ist es gewesen, welclie auch. die kircMiclien Philosoplieii
Alexandriens iiire Schiiler gelehrt haben, vor alien anderen
Origenes. Man braucht mir den Panegyricus des G-regorius
Thamnaturgus auf seinen groBen Lehrer zu lesen, um zu
erkennen, wo die Vorbilder fiir diese weltMclitige Lebens-
weisbeit, welcbe an den Theologen geriihnit wird, zu sucben
sind. Niemand kann leugnen, daC diese Art Weltflucbt
eine speziiische Verweltlicbung des Cbristentums in sicb
scblieBt, nnd daU der selbstgeniigsame Weise so ziemlicb
das Gregenteil von der armen Seele ist. Aber niemand
kann aucb verkennen, dafi beide Formen konkret in einer
unendlicben Mannigfaltigkeit sicb darstellen nnd in dieser
Mannigfaltigkeit aucb ineinander iibergeben konnten. Und
in diesem Sinne ist nanaentlicb Origenes selbst docb zu den
wirklicben Vatern des cbristlicben Moncbtums zu recbnen.
Es ist ja aucb scbon bei ibm nicbt so, daiJ er lediglicb
das stoiscbe oder neuplatoniscbe Ideal in seiner Etbik zum
Ausdruck gebracbt und in seinem Leben verwirklicbt batte,
vielmebr kreuzen sicb bei ibm aUe etbiscben Ricbtlinien
der Vergangenbeit, aucb die cbristbcben. Das eben ist die
weltgescbicbtlicbe Stellung der agyptiscben Tbeologen, die
samtbcb Vorlaufer oder Scbiiler des Origenes gewesen sind,
dafi sie wie auf dem Grebiete der Dogmatik, so auf dem
der Disziplinierung des cbristbcben Lebens den mannig-
faltigen Ertrag der bisberigen Erkenntnisformen und prak-
tiscben Regeln vereinigt und unter den Scbutz der Offen-
barung gestellt baben. Darum sind sie aucb die Vater
aUer der Parteien in der griecbiscben Kircbe geworden,
welcbe nacbmals bervorgetreten sind und sicb bekampft
baben. Wie Origenes mit gleicbem Recbte fiir den Aria-
nismus und fiir die Ortbodoxie angerufen werden konnte,
so kann er aucb mit demselben Recbte fiir die besondere
Verweltlicbung der Tbeologie der Kircbe wie fiir die mon-
cbiscben Neigungen erst der Tbeologen, dann aucb der
Laien, verantwortlicb gemacbt werden. Es ist derselbe.
Das MSnohtum. 101
Mann gewesen, der einen dauernden Frieden des Christen-
tums mit dem Staate auf Erden als wiinschenswert be-
zeiclmet und vorausgesagt hat und der zugleich. im Schatten
des allgemeinen Friedens die Klosterzelle des fronunen, in
sich gekekrten Monclisgelehrten erblicken wollte. Wer aber
nickt fromm und gelehrt war, der hatte docb sclion an
seinem GManben einen Gregenstand der Beschaxdiclikeit von
nnerschopflichem Inhalt. Also ricktet sick die Forderung
in "Wakrkeit an alle Ckristen. Aber es kat dock fast zwei
Mensckenalter gedauert, bis in der immer trager werdenden
Ckristenkeit diese Gedanken durckscklugen, und niemals
sind sie fiir die Massen die entsckeidendsten gewesen.
Moncksvereine, wie sie jener Sckiiler des Origenes, Hierakas,
nack dem Muster, welckes Origenes aufgestellt kat, bildete,
waren selten. ITot und Uberdrufi am gemeinen Leben ent-
fesselten in elementarer Weise die Bewegung, und die Kircke
Konstantins trieb die, welcke der Rekgion leben wollten,
in die Einsamkeit und in die "Wuste.
Am SckluC der vierziger Jakre des vierten Jakrkunderts
wurde die Bewegung bereits macktig. Sckon damals muiJ
es Eremiten zu Tausenden gegeben kaben. Die Anfange
des eigentkcken Moncktums, wie jeder groCen gesckickt-
licken Ersckeinung, sind von Sagen umflossen, und nickt
mekr ist es mogUck, Dicktung und "Wakrkeit sicker zu
sckeiden. Das Andenken angebkcker Stifter kat nur die
Legende bewakrt. Aber ein Doppeltes wissen wir und das
geniigt, um die Bewegung im groCen zu kennen und ricktig
zu beurteilen. Wir kennen das urspriingkcke Ideal, und
wir konnen den Umfang der Weltfluckt ermessen. Das
urspriingkcke Ideal war: der reinen Ansckauung Grottes
teilkaftig zu werden, das Mittel: absoluter Verzickt auf alle
Griiter des Lebens, dazu gekorte auck die kirckkcke G-e-
meinsckaft. Man flok nickt nur die "Welt in jedem Sinne
dieses Wortes, man flok auck die "Weltkircke. Mckt als
ob man ihre Lehren fur unzureickend, ikre Ordnungen fiir
102 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
unangemessen, ihre G-nadenspenduiigen fiir gleiohgiiltig
Melt; aber man Melt iMen Boden fiir gefahrlich. und man
zweifelte mcht, aUe sakramentalen Griiter durcli Askese und
stetige Betrachtung des Heiligen sich zu ersetzen.
Und die Weltkirche selbst, wie stellte sie sich. zu dieser
Bewegung? Ertrug sie es, dafi iMe Glieder es wagten, sich.
von iMer direkten Leitung zu emanzipieren, einen Weg der
Heiligung einzuscMagen, den sie nicM iiberwacMe? Duldete
sie es, daC iMeSolme auf iMe Lebensordnungen den Scbatten
eines VerdacMes fallen KeCen, wenn sie sie auch. nicM an-
tasteten? Sie bat keinen Augenblick gezweifelt, sie konnte
mcht zweifeln. Sie hat das Einzige getan, was iM zu ihrem
Schutze iibrig blieb, indem sie ausdriicklich die Bewegung
billigte, ja ihr das Zeugnis gab, dafi sie das Urbild cMist-
lichen Lebens verwirkliche. Die Not, sich im Strudel des
Lebens zu verHeren, der UberdruB an dem leeren, gemeinen
Leben, die Aussicht auf ein bohes Gut hatte die Menschen
Mnausgetrieben ; die Kirche machte aus der Not recht eigent-
lich eine Tugend. Sie konnte mcht anders; denn sie selbst
hatte, je tiefer sie sich in Welt, Staat und Kultur ver-
strickte, um so lauter und eindringhcher das gepredigt, was
das Monchtum nun durchfiihrte.
Es ist eine der frappantesten gescMchthchen Beobach-
tungen, dafi die Kirche gerade in der Zeit, wo sie immer
mehr sich als Rechtsinstitut und Sakramentsanstalt ausbil-
dete, ein cMistliches Lebensideal entwarf, welches nicht in
iM, sondern nur neben lM verwirklicM werden konnte. Je
meM sie sich mit der Welt einlieJS, um so hoher, um so
iibermenschlicher scMaubte sie lM Ideal. Sie selbst lehrte,
dafi der hochste Zweck des Evangehums die Anschauung
Gottes sei, und sie selbst wufite keinen sichereren Weg zu
dieser Anschauung als die Weltflucht. Indessen, diese Ge-
dankenreihe stellt sich in ihr nur als die disparate Er-
ganzung zu der moralisierenden Verflachung des CMisten-
tums dar, der sie sich Mngegeben. War ihr Absehen fak-
Das Monchtum. 103
tisch darauf gericMet, ihren diirftigen sittlichen Regeln und
ihxen Kultussatzungen alles unterzuordnen, so reagierte docli
ihre eigene Theologie dagegen. Das Monclituin lieC es bei
der „Theologie" nicM sein Bewenden haben. Es machte
mit dem Gredanken Ernst, dafi das Christentum Eeligion sei
und Hingabe des Lebens von dem Individuum fordere. Es
ist aber ein Beweis fiir die auBerordentlicbe Macht, mit der
sich. die Kirclie bereits in den Gemiitern der Menschen fest-
gesetzt batte, dafi das Moncbtimi bei seinem Auftreten es
nicbt mehr, wie jene Montanisten, gewagt hat, an der
Eirche Kritik zu iiben, ihren Weg als einen Abweg zu be-
zeichnen. Uberschlagt man, welch' eine Begeisterung, welch'
ein Fanatismus sich rasch in den Monchskolonien ausbildete,
so kann man nur staunen, wie sparlich und unwirksam An-
griffe auf die Kirche gewesen sind, wenn sie auch nicht
ganz gefehlt haben. Kaum Einer hat eine Reform der gan-
zen Christenheit verlangt. Die Bewegung konnte eine Re-
volution fiir die AVeltkirche werden und sie hat in Wahi--
heit ihre Bahnen nicht gestort. Zwar faCte man ein schwe-
res MiBtrauen gegen das kirchliche Amt; wie viele sind ent-
flohen, als man es ihnen auferlegen wollte! Aber die Ehr-
furcht vor demselben schwand nicht; man fiirchtete nor
seine G-efahren. AUerdings trat hie und da eine Spannung
ein zwischen GeistHchen und Monchen; man verachtete
wohl auch die Personen dort, aber nicht mehr.
IV.
Doch greifen wir nicht vor. Tausende waren hinaus
gezogen, und der Ruf der Heihgkeit, WeltiiberdruB und
Arbeitsscheu lockte Tausende nach. Der Motive zum Monchs-
leben gab es viele, namentlich seit der Aufrichtung der
christhchen Staatskirche, seitdem der wahren oder gemachten
Begeisterung kein Martyrium mehr winkte. Schon imi die
Mitte des vierten Jahxhunderts war es eine bunte Gesell-
104 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
schaft in der Einsamkeit. Die einen waren hinausgezogen,
-am. wirklich BuBe zu tun und Heilige zu werden, die andern,
um dafiir zu gelten. Die einen flolien die Gesellschaft und
ihre Laster, die andern den Beruf und seine Arbeit. Die
einen waren einfaltigen Herzens und von unbeugsamem
Willen, die andern waren krank vom Rausche des Lebens.
Dort wollte man reich werden an Erkenntnis und wabrer
Freude, der „PMlosopliie" leben in stillem, geistigem Gre-
nuG, bier wollte man sicb arm macben, leibbcb und geistig,
und veracbtete Vernunft und Wissenscbaft. Ergreifende
Bekenntnisse sind auf uns gekommen; aber lauter ertonen
die lOagen iiber die Versucbungen der "Welt und die An-
laufe der Sinnbcbkeit als iiber die Selbstsucbt des Herzens.
Und neben den scbweigsamen BiiJJer tritt bald der zucbt-
lose Scbwarmer. Die Zucbtlosigkeit bedurfte einer Fessel,
die Gregensatze forderten eine Organisation. Sie ist friibe
eingetreten. Man tat sicb zusammen zu gemeinsamem Le-
ben. Wir finden zwei Formen desselben: Eremitenkolonien
und wirkbcbe Kloster. Es wurden Ordnungen aufgesteUt,
zum Ted sebr barte. Sie zeigen uns nicbt nur den Ernst
der Askese, sondern aucb scbon grobe Ausscbreitungen, die
zu bestrafen waren. Dabei wurde bie und da in den Moncbs-
kolonien ein Fanatismus wacb, der alles MaC iiberscbritt.
Wir treffen scbon friibe auf Fanatiker, die den rasenden
Derwiscben gleicben, von denen uns die Orient-Reisenden
beute nocb erzablen. Aber aucb unter den wabrbaften
Monchen bemerken wir scbon im vierten Jabrbundert die
wichtigsten Unterscbiede. Zwar die Grrundregeln: aus-
scbbefilicbes Leben mit Grott, Armut und Keuscbbeit, wozu
bei den klosterbcben Einsiedlern nocb der Geborsam trat,
sind bei aUen die gleicben. Aber wie verscbieden gestalte-
ten sie sicb in "WirMicbkeit! Lassen Sie micb nur eins
nennen. Die einen, voll Dank, einer verbildeten, unwabren
Kultur entronnen zu sein, entdecken in der Einsamkeit,
was sie nie gekannt — die Natur. Mit ibr leben sie sicb
Das MOnohtum. 105
ein, ihre Schonheit suchen sie auf und preisen sie. "Wir
haben von Einsiedlern des vierten Jahrhunderts IsTatur-
schilderungen, wie sie das Altertum selten liervorgebracht
hat. Wie froMiche Kinder woUten sie ihrem Grott leben in
seinem Grarten. In dem Garten erblicken sie den Baum
der Erkenntnis, — nicht melrr ist es verboten, seine Friichte
zn brechen — , und so wird ibnen die Einsamkeit zum
Paradies ; kein Fluch. liegt auf Direr Arbeit, denn Erkennen
ist Seligkeit. Aber die andern — sie verstanden Askese
anders. Nicbt die Kultur, audi die Natur ist zu fLieben,
nicM nur die gesellschaftlichen Ordnungen, sondern der
Mensch. Alles, was AnlaJJ zur Siinde werden kann — und
was kann nicht Anlafi werden — , ist abzutun, alle Freude,
alles "Wissen, aller Mensclienadel. Was war die Folge?
Der eine hungerte sich aus bis zum Tode, der andere scbweifte
umber, dem Tiere der Wiiste gleich, ein dritter warf sicb
in die Siimpfe des Nils und lieJJ sicb von den Insekten
peiuigen, ein vierter braclite halbnackt, Wind und Wetter
preisgegeben , Jahre hindurch scbweigsam auf einer Saule
Mil. So sollte das Fleiscb gedampft und gekreuzigt werden;
so wollte man den Frieden der Seele in der Kontemplation
Gottes erzwingen: Rein sein und Scbweigen. Aber sie
selbst muiJten gesteben, daC die Empiindung des Frieden 5
nur selten und nur auf Minuten iiber sie kam. Dafiir aber
kamen fiircbterlicbe Pbantasien, die sich zu konkreter
WirMichkeit ausgestalteten. Und die Zeitgenossen nahmen
ihre Schilderungen begierig auf. Die alternde Welt ent-
ziickte sich an dem Eaffinement der Entsagung und an
den wilden Traumen in der Wiiste hausender Monche.
Was man selbst zu leisten weder den Mut noch den WiUen
hatte, wollte man doch in der Vorstellung genieUen. FeuiUe-
tonisten im Monchsgewande formten Romane und Novellen
aus den wirkHchen und ertraumten Erlebnissen schweigen-
der BiiCer. Eine neue Liter aturgattung seltsamster Art
begann: die Monchsbelletristik , und Jahrhunderte haben
106 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
sich an ihr erbaut. Auch. eine "Weise, wie die Weltkirche
die Taten jenes grausigen Heroismus, den ihre Unterlassun-
gen immer wieder hervorriefen, quittierte!
Welclie von den beiden, hier nur im Schema gezeich-
neten Arten dieses Monchtums hat aber die Folgerichtigkeit
auf griechisch-christhchem Boden fiir sich? Welches Ideal
war unter den geschichtlich-rehgiosen Verhaltnissen das au-
thentische? Das jener natur- und gottesfrohen Briider, die
in stiller Abgeschiedenheit der Erkenntnis Grottes und der
Welt lebten, oder das jener heroischen BiiBer? Es ist nicht
bUhge Konsequenzmacherei, wenn man behauptet: nur das
letztere. Hat man doch in Bezug auf das erstere sofort
auf den Zusammenhang aufmerksam zu machen, in welchem
es mit dem antiken Ideale des Weisen steht. Aber das
geniigt noch nicht: versetzen wir uns in den geschichtlichen
Zusammenhang. Das hochste Ideal kann, so lautete die
allgemeine Ansicht der Zeit, nur aufierhalb der Welt ver-
wirklicht werden, aufierhalb jedes Berufs: in der Askese
liegt es selbst beschlossen. Sie ist zwar Mittel zum Zweck,
aber zugleich auch Selbstzweck; denn sie enthalt in sich
die Gewahr, daU der Biifiende zur Anschauung Gottes ge-
langt. Sind diese Satze richtig, dann ist aUes Halbheit,
was den Kampf bis aufs auCerste hindert; dann muB nicht
nur die Kultur, es muG die Natur, es mufi die Geschichte,
es muC schhefilich jede zweckvolle sitthche Betatigung als
eiti Unvollkommenes , Storendes, beseitigt werden; dann
gilt es den grandiosen Versuch wagen, sich vom Natur-
boden, vom Kidturboden, ja von der Welt des Sozial-Sitt-
lichen zu befreien, um den reinen religiosen Menschen in
sich auf diese Weise rein zu gestalten. Hiermit haben
wir das eigentliche Geheimnis, aber auch die Schranke der
alten griechischen Anschauung vom Christentum beriihrt.
Auch der Weltkirche schwebte als hochstes Ideal ein reli-
gioses Leben vor, das den Menschen schon hier auf Erden
Tiber alle Bedingungen seiner Existenz, also auch iiber die
Das MOnchtum. 107
geschiehtliclieii und sozial-sittlichen, hinausfiihrt. Niclit
als ob diese gleichgiiltig waren, oder als ob ilir Gegenteil
ebenso Recbt hatte, nein! Aber das Christentum batte
bisher kein neues sittliches Leben in der Gemeinschafts-
form verwirklichen konnen, und die sittlichen MaCstabe
des antiken Lebens -waren abgeniitzt, an sich. unbraucbbar
oder nicht mebr zu finden. Es war nur folgerecbt, dafi
darum die Ernsteren, die doch keine Reformatoren waren,
die sittlichen Ordnungen, verwildert wie sie waren, als
Schranken empfanden, Schranken, im Grunde nicht bessere
wie die elementaren Bedingungen des Menschendaseins.
Darum wird ein christHches Ideal entworfen, welches an-
geblich rein rehgios ist — ich mochte sagen „iibersittlich".
Nicht auf dem Boden geschichtlich gegebener sozialer Ord-
nungen und sittlich zweckvoUer Lebensbetatigung soU. der
christliche G-laube zu seinem wahren Eechte kommen,
sondern auf dem Boden der Verneinung aUes Menschhchen,
d. h. der aufiersten Askese. So soil der zukiinftige Anteil
an der gottlichen Natiu: antizipiert werden. Das ist der
Hochflug des griechischen Christentums auch heute noch,
soweit es nicht versteinert oder durch abendlandische Ein-
fliisse in eine andere Richtung gewiesen ist — man kann
ihm die Sympathie nicht versagen, wenn man das tiefhe-
gende Niveau der gemeinen sogenannten christhchen Sitt-
lichkeit beachtet, iiber das er sich erheben will, da ihm ein
anderes nicht erscheint — ; aber es ist ein Flug wie ins
Unendliche, so ins Leere. Denn was gewahren wir nun?
Auf der einen Seite eine Weltkirche, unterworfen dem
Staat und bis zur Identitat verkniipft mit dem Volkstum,
ganz wesentlich eine Kultusanstalt mit sparhchstem Einfluil
auf das sitthche Leben ihrer Glieder, keine selbstandigen
Aufgaben mehr verfolgend. Auf der anderen Seite ein
Monchtum ohne geschichtliche Ziele, darum auch ohne jede
geschichthche Entwickelung. Es ist heute, von einigen
neuem, vielleicht zukunftsreichen Erscheinungen abgesehen,
108 Erstor Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
wesentlict dasselbe, wie es zur Zeit der altesten byzanti-
nischen Kaiser gewesen. Selbst die auBeren Regeln haben
sicli kaum geandert. Zwar jene extremen SaulenlieLligen
sind nicht duxcligedrungen — solche Formen konnen nicht
siegen — , aber ihre Sache siegte uiid daria sind sie durch-
gedrungen, daC noch. immer die auBerste Askese fiir die
beste gilt, vor allem aber darin, dafi das griechische Monch-
tum sieh selten zu zweckvoller Arbeit im Dienste der Kircke
und Mensckkeit entscklossen kat. Die grieckiscken Moncke,
naturkck gibt es ekrwurdige Ausnakmen, leben nock keute
wie vor tausend Jakren „in stiller Besckaulickteit nnd
seliger Ignoranz". Arbeit wird nur gerade so viel geleistet,
als zum Leben notwendig ist; aber nock immer muJJ dem
gelekrten Monck der ungelekrte ein stiller Vorwurf sein,
der J^atiirsckeue dem ISratnrfrendigen , nock immer laixC
dem arbeitenden Eremiten das Qewissen scklagen, wenn
er den Brnder siekt, der nickt arbeitet, auck nickt denkt,
auck nickt sprickt, sondern in einsamer Besckaunng und
Selbstpeinigung erwartet, dafi ikm endkck der sekge Lickt-
glanz Grottes ersckeine. Und wie im fiinften Jakrkundert
bestekt die Spannung fort zwiscken Klosterbriidern und
Weltgeistlickkeit. Zwar werden die kokeren Kleriker ans
der Zakl der Klostergeistlicken genommen — das Monck-
tum kat selbst Kaiser und Hof zeitweikg oder dauernd
einen kaJJkcken Anstrick geben konnen — , aber das andert
nickts an den Beziekungen. Es stekt neben der Kircke,
nickt in der Kircke, und es kann nickt anders sein; denn
was soUte es der Kircke leisten, die selbst auf jede eigen-
tiimlicke Aufgabe verzicktet? Das einzige, woran es leben-
digen Anteil nimmt, ist das Interesse am Kultus der Kircke ;
es malt Heikgenbilder , malt wokl auck Biicker ab. Aber
aiick vom Kultus darf es sick emanzipieren ; die Kircke
duldet nickt bloC den Eremiten, der sick jakrelang von
ikrer G-emeinsckaft fernkalt, sie bewundert ikn. Sie mnC
ikn bewundern; denn er verwirklickt das ikr selbst uner-
Das MOnchtum. 109
reichbare Ideal. Ihx Ideal — dalJ ich so sage: ihr hoheres
Ideal, denn nun hat sie ein doppeltes ansgebildet: das der
Askese und das des Knltus. Wem die Gabe oder die Kraft
nicht verliehen ist, durcb Askese zum Anteil an Gott zu
gelangen, der kann diesen Anteil anch erreicben, indem er
sicb im Gottesdienst durch die beiligen Mysterien fiillen
lafit. Heilsgemifi ge-wabrt auch der Kultus, wenn man ihn
pietatsvoU mitmacbt und die kirchlichen Pflichten erfiillt.
Das Moncbtum bat diese Tbeorie nicbt angetastet, sondern
nnterstiitzt. Indirekt kam sie ibm ja zu gute.
Zeitweilig bat das Moncbtum sicb der "Weltkrrcbe ge-
nabert, und aucb diese bat versucbt, es in ihren Dienst zu
nebmen. Zeitweibg ist der Versucb aucb gegliickt. Die
groJJen Kircbensynoden des fiinften bis siebenten Jabrbun-
derts wissen davon zu erzablen. Die Dogmatik, welcbe
sicb dort durcbsetzte, entstammte zum Teil moncbiscber
Pbantasie und ist aucb durcb Moncbsargumente und Moncbs-
fauste verteidigt worden. Aber die Biscbofe wurden bebut-
samer und scbeuten sicb, den Fanatismus der Moncbe auf-
zurufen; denn jedesmal, wo die Weltfliicbtigen in den
Streit der Parteien eragriffen, entstand folgerecbt sine Re-
volution, KJrieg und Totscblag. Darum, nacbdem sie aucb
nocb moncbiscb - frommelnde Imperatoren kompromittiert
und bald darauf die Ideale despotiscber Reformkaiser ge-
stiirzt batten, Hefi man sie beiseite. Sie batten aucb nicbts
mebr zu tun. Seit dem Ende des neunten Jabrbunderts
baben sie selten mebr eine Rolle in der Gescbicbte gespielt.
Weil sie gesiegt batten, wurden sie aucb der Welt und
Weltkircbe gegeniiber eine konservative Macbt. Wunder-
bar! die Weltfliicbtigen scbiitzen nun in ibrer Passivitat
Kultus und nationale Sitte! Ibr Fanatismus erwacbt, wo
diese angetastet werden. Hier weiC das Moncbtum sicb
aucb im Bunde mit den Massen. Sonst geben Moncbtum
und Weltkircbe nebeneinander ber, oder vielmebr, wo jenes
dieser die Hand reicbt, da steUt es sicb aucb bedingungs-
110 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
los dem Staate zur Verfugung. Der Monch-Bischof ist wie
im byzantinisclien so im tiirkischen Reich vielfach. noch. —
doch sind allmahliche Besserungen unverkennbar — ein
Sclierge, wohl auch ein Steuerbeamter des Staates. Mit
ikm im Bunde beutet er das cbristliche Volk aus: er ge-
nieCt die Eliren der bohen Beamten, aber nimmt aucb an
der Korruption nnd den tmberecbenbaren Greschicken der-
selben Anteil. So bat sicb jener Hocbflug des Ideals ge-
racbt. Man wollte durcb den G-lauben alle natiirlicben
Bedingungen aufbeben, man vermaB sicb, aucb die sitt-
licben Giiter dabinten lassen zu diirfen — und mit ge-
brocbener Kraft langte man am Boden an. Eine verstaat-
licbte, verweltbcbte Kircbe, ein gescbicbtloses Moncbtum
•unfrucbtbarer Askese, zaber Hiiter der nationalen nnd
kircbbcben Gebrecben, war das Eesultat. Die griecbiscbe
Kircbe bebauptet die Pole der Askese und der kultiscb-
kircblicben Pflicbtleistung. Das eigentlicbe Grebiet, das
durcb den Grlauben zu regelnde sittbcbe Berufsleben, fallt
auCerbalb ibrer direkten Beobacbtung. Es wird dem Staat
und dem Volkstum iiberlassen; es ist ja Welt. Jene baben
es nicbt scbwer gebabt, auf diesem Wege allmabbcb die
gesamte Kircbe mit Bescblag zu belegen und zum Mittel
flir ibre Zwecke berabzusetzen. Eben weil das Ideal des
Moncbtums und der Weltkircbe im Kampf mit dem Welt-
staate im acbten und neunten Jabrbundert siegreicb bbeb,
eben darum unterlagen Moncbtum und Kircbe faktiscb und
deiinitiv dem Staate. Auf der Flucbt vor dem Sinnlicben
bat er sie eingebolt, ibr seine Bebandlung des Sittbcben
aufgedrungen , aber ibren Kultus sicb angeeignet. Der
byzantiniscbe Staat erweist sicb so nocb immer als eine
Abart des antiken. Aber das Eine war erreicbt, daC, wo
der Staat in offentbcbem Recbt und im offentbcben Leben
ausdrdcklicb cbristbcbe Gredanken als mafigebende auf-
steUte, er sie in moncbiscber Fassung aufnabm. Das by-
zantiniscbe Gesetzbucb — aucb unsere sozial-sittlicben An-
Das Mbnchtum. Ill
scha-Qungen haben sicli von den Harten desselben nocli
niclit befreit — ist z. T. ein seltsames Gremisch romischer,
nnbarmlierziger Klugbeit und monchisclier Weltbeurteilung.
Das ist die Geschichte des Monclitums im Morgenlande.
Immer wieder mag man sich erinnern, daC es aucb heute
noch das Komplement zur verweltlichten Kircbe ist, daC es
axTcli hente nocli einzelne ans dem gemeinen Treiben rettet,
Heilige in sich birgt iind das ode Kirchentum anklagt;
aber das lekrt diese Greschichte , dafi in der abgestuften
Reihe menscKlicher Ideale auf dem Grunde des Evangeliums
das Ideal der Bescbauliclikeit und Weltflucht zur Rettung
der Seele niclit das letzte nnd bochste sein kann, daB die
blofi leidende Tapferkeit scblieUlich unterliegt, daB die Welt
ihre Ideale in der Kirche anfricbtet, wenn der Christ sein
eigenes auBerhalb der "Welt verwirklichen -will. "Wohl gibt
es Zeiten, wo das MaB der Ungerechtigkeit, welches auf
den Handelnden fallt, ein unertraglich groBes ist, und
immer wird es Individuen geben, die so zart besaitet sind,
daB sie ihr bestes Teil in die Einsamkeit tragen miissen,
nm es zu bewahren; aber wo der Notstand zur hochsten
Tugend gestempelt wird, da werden hohe Griiter entwertet,
und schlieBlich verhert man auch den Preis, um den man
die dahingegeben. Haben wir es doch in unsern Tagen
erlebt, daB aus dem SchoBe der Kirche Rufilands eine
Personlichkeit wie die des Grrafen Tolstoi hervorgetreten ist
— ein Laie, aber als Schriftsteller doch der echte griechische
Monch, dem keine andere Moghchkeit einer Reform der
Kirche vorschwebt, als die eines radikalen Bruchs mit der
Kultur und der Greschichte, und dem alles Sitthche befleckt
erscheint — selbst die Ehe — , sofern es mit dem Sinn-
Uchen im Zusammenhang steht. Welch' ein furchtbarer
Feind der griechischen Kirche einst der Manichaismus ge-
wesen ist, lernt man an den Schriften dieses wunderbaren
Mannes abschatzen! Je ernster es der griechische Monch
mit seinem Christentum nimmt, desto hilf loser steht er
112 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
der finsteren Anscliauung gegeniiber, dafi die Welt ver-
teufelt sei, und schlieClich mulJ der Moncli sich wieder zur
Autoritat der Weltkirciie fliicMen, um. nicht dem Mani-
chaismus zu verfallen.
V.
Wie ganz anders ist docli die Entwickelung des Moncli-
tums im Abendland verlaufen! Ein Blick auf seine Ge-
scMchte dort geniigt, um gleich die wesentliclieii Unter-
schiede zu entdecken. Erstlicli — dort hat das MoncMiim
eine wirkliclie Greschichte gehabt, iind zweitens — dort hat
das Monchtum Greschichte gemacht, Kirchen- und "Welt-
geschichte. Es steht nicht nur neben der Kirche und ver-
zehrt sich in stiller Askese und mystischer Spekulation,
nein — es steht mitten inne in der Kirche, ja es ist neben
dem Papsttum auf aUen Gebieten der machtigste Faktor
der abendlandisch-katholischen Kirchengeschichte gewesen.
Man kann das orientalische Monchtum beschreiben vom
vierten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag und braucht
doch nur wenige Namen zu nennen; es hat scharf um-
rissene Individualitaten nur selten hervorgebracht. Die
Geschichte des occidentalischen Monchtums ist eine Gre-
schichte der Personen und Charaktere.
Der romische Katholizismus zeigt uns in seiner Ent-
wickelung eine fortgesetzte Kette von lebendigen Reformen,
und jede dieser Reformen ist bedingt durch eine neue
Stufe der Entwickelung des Monchtums. Die Stiftung des
Benediktinerordens im 6. Jahrhundert, die kluniazensische
Reform im 11., das Auftreten der Bettelorden im 13., die
Stiftung der Gesellschaft Jesu im 16. Jahrhundert, sie sind
die vier groBen Marksteine in der Geschichte des abend-
landischen Katholizismus. Immer ist es das Monchtiun
gewesen, welches die sinkende Kirche gerettet, die ver-
weltlichte befreit, die angegriffene verteidigt hat. Es hat
Das MOnoMum. 113
die erkaltenden Herzen erwarmt, die widerspenstigen Greister
geziigelt, die der Kirche entfremdeten Volker wiederge-
wonnen. Dieser Hinweis alleia lehrt, daC wir in dem
Monchtum des Abendlandes eiaen Kirchen- und Ktdtur-
faktor ersten Ranges zn erkennen haben. Wie ist es zu
eiaem solchen geworden?
VerhaltnismaCig spat und langsam ist das Monchtum
aus dem Morgenland in das Abendland gedrungen; denn
weder die Natur noch. die Kultur waren ibm Mer gunstig.
Wahrend es um die Mitte des vierten Jakrhunderts scbon
weit im Orient verbreitet war und, wie wir bestimmt an-
nekmen diirfen, in mancben Gegenden unabhangig von
agyptiscben Einfliissen entstanden ist, bat es im Occident
erst am Ende jenes Jabrbunderts festen Fufi gefafit, ja es
ist recbt eigentbcb aus dem Orient importiert worden. Im
Abendlande sind diejenigen Tbeologen seine ersten Be-
wunderer gewesen, welcbe Agypten und Syrien bereist
batten und mit den „GI-riecben" in engster Verbindung
standen, wie RufLa und Hieronymus. Kloster bliibten auf,
namentbcb in SiidgalHen; aber unter orientabscbem EinfluB.
Und es bat das Moncbtum gleicb anfangs entscbiedenen
"Widersprucb in der Kircbe des Westens gefunden, wabrend
wir von einem solcben ira Osten nur sebx weruges ver-
nebmen. Man muB die Scbriften des Sulpicius Severus (um
400) lesen, um zu erkennen, unter welcben Angriffen sicb in
G-aUien und Spanien das Moncbtum damals durcbgesetzt
bat. Es feblte nicbt viel, so batten die verweltbcbten Bi-
scbofe die Moncbe wie Manicbaer bebandelt. Indessen, der
Widersprucb verbaRte docb rascb; aucb im Abendlande
kam bald die berrscbende Stimmung dem Moncbtume ent-
gegen, und bald war der einst verlasterte Name des recbt-
scbaffenen Heiligen, Martin von Tours, bocbgefeiert. Nocb
bevor der gx'oJJe Augustin fur das neue Leben eingetreten,
batte es sicb eingebiirgert; unter den Sturmen der Volker-
wanderung setzte es sicb fest. Das moncbiscbe Ideal war
Harnaok, Eeden und Aufsatze. I. 8
114 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
ztinaclist in seinen Grrundziigeii dort und hier das gleiche,
und ist es durch. ein Jahrtausend hindurcL. geblieben: die
Versenkung in Grott, die strenge Askese. Famentlich war
es die Virginitat, die auch. kier als die wertvollste Voraus-
setzung eines gottgeweihten Lebens gait; erscMen sie dock
mancken geradezu als die Quintessenz ckristlicker SittHck-
keit. Die agyptiscken Anackoreten galten auck dem Abend-
lande alle Zeit als die Vater und Vorbilder des wakren
ckristlicken Lebens — es gelang dock nickt, ikre Taten
durck die des keil. Martin zu verdunkeln — , und die Er-
zaklungen von iknen kaben viele Mensckenalter kindurck
eine stille Mission getrieben in Italien, G-alHen, Grermanien,
ja bis jenseits des Kanals in England und auf der griinen
Insel. Und dock waren die Eaktoren bereits im fiinften
Jakrkundert vorkanden, die dem Moncktum des Abend-
landes eine so ganz andere Bedeutung, eine Gresckickte,
g"eben sollten. Darauf sei nur im Voriibergeken kingewiesen,
dafi sckon die klimatiscken Bedingungen des Abendlandes
dem Moncktum teilweise eine andere Lebensweise diktieren
muCten als im Orient — „edacitas in Grraecis gula est, in
Grallis natura", kat einer der altesten Patrone des abend-
landiscken Moncktums bemerkt. Indessen kiervon abgeseken
— sckon seit den Tagen TertuUians, seit dem Ende des
zweiten Jakrkunderts , katte die innere Entwickelung des
Ckristentums im Abendland eine andere Eicktung einge-
scklagen als im Morgenland. Mckt nur traten die prak-
tisck-religiosen Fragen, die nack der Bufie, der Siindenver-
gebung, dem Kirckenwesen in den Vordergrund, sondern
man keferte auck die alten Hoffnungen auf das kerrlicke
Weltreick Ckristi nickt so rasck der blassen tkeologiscken
Spekulation des Orients aus. Man nakm an der letzteren
nur von feme teil. In den sogenannten ckikastiscken Yor-
steUungen bewakrte sick die abendlandiscke Kircke den
Bkok fiir das, was die Earcke Jesu Okristi sein soil, und
diese Vorstellungen muBten um so wertvoller werden, je
Das Monchtum. 115
mekr man im G-egensatz zu den Montanisten das „Phan-
tastisclie" abgestreift hatte und die Aussiclit auf iiberzeit-
liche Erfullung der Hoffnungen von selbst verblaCt war.
Aucb das abendlandische Monchtum bat im Unterscbied
von dem morgenlandiscben ein apokalyptiscb-cbiliastiscbes
Element bewabrt, welches freiUch oft lange Zeit latent ge-
bbeben ist, aber in kritiscben Momenten immer wieder ber-
vortrat. Die kircblicben Tendenzen des abendlandiscben
Christentnms hat der heilige Augustin zu einer neuen cbrist-
lichen Welt- und Lebensanschanung zusammengeschlossen.
Die in der Kircbe gegenwartige Grnade Grottes zur Gerechtig-
keit und die Kirche selbst sind seine Zentralbegriffe. Die
Kirche, zunachst als G-emeinde des Glaubigen, dann aber
auch als sichtbare Anstalt, ist das Reich der Gerechtigkeit
nnd des sittUch G-uten — das Reich G-ottes. Beim Zerfall
des antiken Staats im Abendlande, beim Auftauchen neuer
halb-heidnischer Staaten entwarf er das groCartige Pro-
gramm einer zukiinftigen G-eschichte der Kirche. Sie hat
die Menschheit mit KJraften des G-uten, mit der wahreu
Grerechtigkeit zu erfullen; sie hat als die sichtbare Er-
scheinung des Reiches Gottes die Reiche der "Welt und den
Weltstaat sich dienstbar zu machen, die Nationen zu leiten
nnd zu erziehen. Nur dort kommt das Christentum zu
seinem Rechte, wo es ein Reich des sittHch G-uten auf
Erden schafft, erne iiberirdische Liebesverbriiderung der
Menschheit. Nur dort kommt es darum zu seinem Rechte,
wo es herrscht; es herrscht aber nicht anders, als indem
die heilige katholische Kirche herrscht. G-eistHche Welt-
herrschaft, ein G-ottesstaat der G-erechtigkeit auf Erden,
ist deshalb ein christliches Ideal, ein Ideal fiir den Ein-
zelnen und fiir das G-anze der Kirche. Die alten apokalyp-
tischen Aussichten, die praktischen Tendenzen des Abend-
landes, aber auch die griechischen Spekulationen sind von
Augustin in eine wunderbare Beziehung gesetzt; sie sollen
sich gegenseitig zwar nicht korrigieren, aber begrenzen.
116 Erster Band, erste Abteilung, Beden: IV.
Das christliche Heil ersclieint gleichsam in doppelter Ge-
stalt: es ist ewige selige Anschauung Gottes im Diesseits
wie im Jenseits; aber es ist zugleich in jenem ein welt-
beherrschendes Reich gottlicher Gaben und sittlicber Kxafte.
Diese Satze lauteten anders als die miihsam gebUdeten
Dogmen griechisch-christliclier Spekulation. Sie wiesen der
Kirche eine selbstandige Aufgabe an neben dem Staate
und fur den Staat. Sie sollte Gott dienen nnd der "Welt.
Diese Aufgabe war ein Problem, der Losung wert und
bediirftig. Das griecMsclie Ideal gibt sicb nur darin als
ein Problem, dafi seine Verwirklicliung nur annabernd
moglicb ist; an sich ist es eindeutig. Fiir jene Auffassung
aber wurde jede Aufgabe zugleich zur Frage, die man in
dem MaBe erst stellen lernte, als man wirklicli in ilir ar-
beitete. Das Einzelne in dem Ganzen der cbristlichen An-
schauung, so bestimmt es ins Auge gefaCt werden konnte,
offenbarte sein Wesen und erhielt seinen Wert doch erst
in den Beziehungen auf anderes, in die es zu stellen war.
Wie verhalt sich der Dienst fur die Welt zu dem Dienste
Gottes; in welche Beziehung ist das SittUche zu dem Reh-
giosen zu setzen? Die Entdecbung war wieder gemacht^
daB es schon auf dieser Erde wahre Giiter gebe, dafi alles,
was aus Gottes Hand hervorgegangen sei, gut sei, und daJJ
der Mensch seine Seligkeit nur in der Hingebung seines
WiUens an Gott finde. In dieser Hingebung des Herzens
und Willens durch Glaube und Liebe, welche allein die in
den Sakramenten gespendete, gottliche Gnade bewirkt, wird
der Mensch ein rechtschaffener, erhalt er Freiheit und Ge-
rechtigkeit, das heiCt die sitthche Vollkommenheit. Diese
VolLkommenheit ist zwar ein hochstes Gut, aber sie ist doch
nicht das hochste. Denn die Aussicht gilt noch, daJ3 der
Mensch zu Gott erhoben, eiae SeHgkeit geniefien soil, deren.
Art und Wert durch keiae Erfahrung des diesseitigen
Lebens im voraus deutlich festgesteUt werden kann. Sie
besteht in dem Schauen Gottes, ja in dem Sein wie Gott.,
Das Manchtuai. 117
Aber wie verhalt sich dieses religiose Ziel zu dem sittliclien
einer vollkommenen Gerechtigkeit im diesseitigen Reiche
Gottes? Man kann behaupten, daC dieses jenem unterge-
ordnet sei und doch praktisch ganz anders verfakren. So
scheiat es bei Augustia, und die Kirche auf ihrer Bahn
zur Weltherrschaft ist ibm gefolgt. Sie hat faktisch
fort und fort, indem sie sich. selbst mit dem Reiche
Christi zu identifizieren begann, die Sorge fiii" ihre eigene
Erhaltung und Herrschaft in den Vordergrund geschoben
und die Volker gelehrt, daB sie die hochsten Giiter bei
ihr zu suchen und zu finden haben. Im BewuCtsein, die
gottliche Gnade zur Gerechtigkeit allein zu verwalten
und auszuteilen, hat sie im Prinzip niemanden mehr dul-
den konnen, der in Tugendleistung und Askese seine
Seligkeit auf eigenem Wege finden woUte. Im Interesse
der aUeinwirkenden Gnade Gottes, welches mit dem
Interesse der Kirche zusammentrifft, hat sie schon im
fiinften Jahrhundert den "Wert einer kii'chlich nicht be-
vormundeten Askese auch fur den kathoKschen Christen
in Abrede gestellt. Aber iiber Schwankungen ist sie hier
nicht hinausgekommen, da sie niemals geleugnet hat, daC
die Kirche nicht die Seligkeit garantiere, und dalJ letzt-
lich der EiozeLne allein und ohne den Schutz der Kirche
vor seinem Gott stehen werde. Dem Schwanken dariiber,
wie weit der einzelne Christ selbstandig zu lassen sei
— eine Frage, die fiir die Stellung des Monchtums in
der abendlandischen Kirche von entscheidender Bedeutung
sein muCte — entspricht die Unsicherheit in der Schatzung
der biirgerhchen Rechtsordnungen und aRer pohtischen
Formen. Die Kirche ist das Reich der Gerechtigkeit und
Liebe: aufier ihr gibt es nur Unrecht und HaC. Wie aber
steht es dann mit den Staaten? Sind sie und ihre Rechts-
ordnungen in ihrer Selbstandigkeit doch eigentiimhche
Werte, oder werden sie solche nur, indem sie sich der
Kirche unterordnen oder konnen sie endlich Werte iiber-
118 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
haupt nicht werden? Hat die Kirche zu herrschen neben
dem Staate oder iiber und in den Staaten in recMliclien
Formen, oder soil sie herrschen, indem sie alle Recbtsord-
nnngen unnotig macbt? Noch waren diese Fragen nicbt
Mar erkannt, aber man lebte in ibnen. Die Gescbicbte des
abendlandiscben Katbolizismus ist die Greschichte jener Ideen,
bis sie durcb die groCen Papste des Mittelalters im Sinne
einer "Weltherrschaft der Kircbe verwirHicht wurden.
Wie muBte sicb das Moncbtum zu ibnen verbalten? Die
Antwort ist nicbt scbwer. Entweder es mufite den Versucb
macben, sicb mit der Kircbe abznfinden und in griecbiscber
Weise die bloCe Vorbereitung auf das Jenseits neben der
Kircbe fortzusetzen , oder aber es mnBte seine Askese sicb
bescbranken lassen durcb den boberen Zweck, mitzuarbeiten
an der groiJen Anfgabe, die Menscbbeit durcb das Evan-
gebum umzubilden und das Eeicb Cbristi auf Erden in der
Kircbe zu bauen. Jenes bat nicbt aufgebort, dieses ist ein-
getreten. Das abendlandiscbe Moncbtum bat teilgenonimen
an der Losung der kircbbcben Aufgabe; aber, indem es
sein urspriingHcbes Ideal des bescbaulicben Lebens nicbt
opfern wollte, wurden aucb ibm die Ideale zu Problemen,
und indem es an den Zielen der Kircbe teHnabm, aber
ibren Weg nicbt immer mitgeben konnte, erlebte es eine
eigentiimlicbe Grescbicbte. Sucben wir uns die Stadien
dieser Grescbicbte in Kiirze zu vergegenwartigen.
VI.
Die erste neue Stufe seiner Entwickelung bat das Moncb-
tum im secbsten Jahrbundert in Itaben gefanden. Es ist
der beibge Benedikt von Nursia gewesen, der ibm eine neue
Regel gegeben und es zu geordneter Tatigkeit und erspriefi-
bcbem Wirken befabigt bat. Erst muCte es selbst reorga-
nisiert sein, ebe es nacbdriickKcb eingreifen konnte. Auf
den Inbalt geseben, war die Regel allerdings keineswegs
Das MOnchtum. 119
neu. Aber es gab im Abendland am Anfang des sechsten
Jalirhunderts hochst verschiedene und z. T. hochst bedenk-
liclie Formen von „Monchtuin". In der Reduktion dieser
Formen auf die zweckmaCigste besteht das Verdienst Bene-
dikts, und noch grolJer als das Verdienst war der Erfolg.
Der strenge Gehorsam, zu welchem die Monche verbunden
warden, der geordnete ZusammenscMufi , die Opposition
gegen die vagierenden und nicMsnutzigen Monche, die feste
Regelung des taglichen Lebens und die strenge Pflicht zur
Arbeit, zunachst zum Ackerbau, sind beacttenswert. Die
Forderungen des G-eliorsams und der Arbeit treifen wir zwar
scbon in orientalischen Regeln, sie treten aucb in der neuen
Bestimmung zunachst noch nicbt an die Spitze, aber sie sind
doch in der Folgezeit vor allem wicbtig geworden. Und
welcbe Veranderungen bracbten sie bervor! Aus den roben,
zum Ten bereits zersprengten und zerriitteten Moncbs-
kolonien entstanden gesetzlicbe Yerbande mit einer Kraft
der Arbeit, die ein Feld der Tatigkeit sucben muCte. Jener
groCe Biscbof auf dem Stuble Petri, Qregor I., selbst M5ncb
von Kopf und Herzen, bat diese neue Macbt in seinen Dienst
genommen und fur die Kircbe verwertet. Scbon vorber batte
der ostgotiscbe Minister Cassiodorius, nacbdem er sicb eines
langen Lebens miide in das Kloster zuriickgezogen, aucb
wissenscbaftbcbe Bescbaftigung in den Klosterplan auf-
genommen; er selbst batte damit begonnen, tbeologiscbe und
gescbicbtUcbe Handbiicber fiir die Kloster zu verfassen. Vom
siebenten Jabrbundert ab treffen wir Briider vom Orden des
bl. Benedikt weitbin im Abendlande. Sie roden "Walder aus,
sie scbaffen Wiisteneien zu Ackerland, sie studieren mit
bosem oder mit gutem G-ewissen die Gresange beidniscber
Poeten und die Scbriftwerke der Gescbicbtsscbreiber und
Pbilosopben. Kloster und Klosterscbulen erbliiben, und eine
jede Ansiedelung ist zugleicb ein Mittelpunkt des religiosen
Lebens und der Bildung im Lande. Mit Hilfe dieser
Sebaren bat der romiscbe Biscbof das Cbristentum und
120 Erster Baud, erste Abteilung. Eeden: IV.
einen Rest der alten Kultur dem Abendlande bringen oder
ertalten koanen; durch sie hat er die neuen genaanisclieii
Staaten zu roiniscli-germanischen umgeformt. Der romisclie
Bisch-of — denn weder hatte Beneditt eine solch.e Tatigkeit
des Ordens ins Auge gefaJJt, noeli ergab sie sich von selbst
ans seiner Regel, noch. wnrde sie von seinen Jiingem be-
wuBt als eine Aufgabe vorgestellt. Auf dieser ersten Stnfe
seben -wir viebnehx da* Moncbtnm ganz im Dienste und
unter der Leitung grofier romiscber Biscbofe und romiscber
Legaten, wie des beibgen Bonifazius. Die Romanisierung
der von Lhrem TJrsprunge ber verstaatbcbten frankiscben
Kircbe, das wicbtigste Ereignis der Epocbe, und die Ver-
draagung aller nicbt nacb der Regel Benedikts geleiteten
Kloster ist dem Orden nux gelungen, indem er sicb dem von
Rom aus geleiteten Kircbenwesen unterstellte. „Die !Mit-
teilung und das Wirkenlassen seiaes geistigen Besitzes lag
auBerbalb des Zweckes des Ordens, wenn aucb viele Ordens-
briider als ilissionare mit groBem Segen tatig waren, wenn
aucb viele andere Gelebrsamkeit auUerbalb ibrer Kloster ver-
breiteten und wenn aucb einzelne sicb des armen Volkes
erbarmten und es in seiner Spracbe scbriftbcb und miind-
bcb belebxten, ermabnten, erscbiitterten und trosteten."
Indessen — und diese Erscbeinung wiederbolt sicb nun
immer wieder in der Grescbicbte des Abendlandes — je mebr
das Moncbtum sicb braucben lieC von der "Kircbe und an
ibren Aufgaben teUnabm, desto mebr verweltbcbte es selbst
und wurde zu einem Institut der Kircbe. Dies muJJten
emste Moncbe, die ibx Leben Gott allein geweibt batten,
am starksten empfinden. Es bbeb ibnen nicbts iibrig, als
entweder docb auf die Weltaufgabe zu verzicbten, sicb
wiederum ganz auf die strengste Askese zuriickzuzieben,
oder dem Orden selbst einscbneidende Reformen zu pre-
digen, um dann zu versucben, die Kanoniker, den verwelt-
liebten Episkopalklerus, zu reorganisieren. Es ist aber fiir
-das Abendland cbarakteristiscb, daB die Moncbe, welcbe mit
Das Menolatum. 121
riicksicMsloser Entschiedenheit zur griecliischen Askese zu-
riickkelireii, sich. bei ihr auf die Dauer nicht beruhigen,
sondern nach langerer oder kiirzerer Zeit sich aus freien
Stiicken dem Gredanken einer Reform des Ordens, aber auch
der Weltkirche zTiwenden; so vor allem der hi. Benedikt
von Aniane. Dooh die Reformversuche des achten und
neimten Jahrhunderts fruchteten nichts. Die Kloster ge-
rieten immer mehr in Abhangigkeit nicht nnr von den
Bischofen der Kii'che, sondern anch von den GroBen des
Landes. Die Abte wurden inimer mehr, was sie schon seit
lange gewesen — Vornehme des Hofes; es waren bald nur
Zeremonien, durch die sich Monche und Weltkleriker nnter-
schieden. Im zehnten Jahrhundert schien das Monchtnm
seine Rolle im Abendland nahezu ausgespielt zu haben, es
schien — von einigen KLostern, namentlich ISTonnenklostern,
abgesehen — der Grefahr erlegen zu sein, die im Orient in
dieser Weise liberhaupt nicht auftauchen konnte: es war
selbst Welt geworden, gemeine Welt, nm keines Haares-
breite iiber sie erhaben. Papsttum, Elirche, Monchtum
schienen im zehnten Jahrhundert gleichmaCig verfaUen.
VII.
Und doch hatte bereits eine zweite Bewegung in der
Kirche, eine zweite Erhebung des Monchtums begonnen.
Sie ging diesmal von Frankreich aus. Das Kloster von
Clugny, gestiftet schon im zehnten Jahrhundert, ist der Sitz
der groCen Reform der Karche geworden, welche das Abend-
land im elften Jahrhundert erlebt hat. Unternommen von
Monchen, wurde sie zuerst von frommen und klugen Fiirsten
und Bischofen unterstiitzt gegeniiber dem verweltlichten
Papsttum, bis sie jener groiJe Hildebrand aufgriff und sie
als Kardinal und Nachfolger Petri den Fiirsten und der
verweltlichten Greistlichkeit entgegensetzte. Was das Abend-
land in ihr erhielt, war eine wirkliche Reformation der
122 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
Kirche, nur keine evangelische , sondern eine katholische.
Was waren die Ziele dieser neuen Bewegung? Zunaclist
Wiederherstellung der alten Zucht, der waliren. Weltent-
sagung imd Frommigkeit in den Klostern selbst, sodann
aber erstens moncliische Regulierung der gesamten Welt-
geistlichkeit, und zweitens Herrschaft der monchisch. regu-
lierten Greistliclikeit iiber die Laienwelt, iiber die Fiirsten
und Nationen. Die groBe Reform der Monclie von Clngny
und ibres gewaltigen Papstes stellt sicb zunacbst dar als
der wirksame Versucb, das Leben der gesamten Greistlicb-
keit nacb moncbiscben Ordnungen zu regehi. In ibr erbebt
das abendlandiscbe Moncbtum zum ersten Male den ent-
scbiedenen Ansprucb, sicb als die cbristlicbe Lebensordnung
aller miindigen Glaubigen durcbzusetzen und zur Aner-
kennung zu bringen. Darum mufi das Moncbtum im Abend-
lande auf seinen Babnen immer wieder mit der Weltkircbe
zusammentreffen , weil es nicht aufboren kann, selbst An-
spriicbe an die ganze Cbristenbeit zu stellen und der Kircbe
zu dienen. Die cbi'istlicbe Freibeit, welcbe es erstrebt, ist
ibm bei allem Scbwanken nicbt nur eine Freibeit des Ein-
zelnen von der Welt, sondern die Freibeit der Cbristenbeit
zum Dienste Grottes in der Welt. Wir Evangebscbe konnen
aucb beute nocb jenen groBen Versucb mit Sympatbie be-
urteilen ; denn in ibm kommt das BewuBtsein zxmx Ausdruck,
daB es innerbalb der Earche nur ein Lebensideal und nur
eine SittHcbkeit geben konne, daB zu dieser darum aUe
miindigen Cbristen verpfbcbtet seien. Ist das Moncbtum
wirklicb die bocbste Form des Cbristentums, so gilt es, die
miindigen Bekenner desselben nacb der moncbiscben Regel
zu disziplinieren , die un miindigen — und das sind nacb
mittelalterlicber Auffassung alle Laien — mindestens zum
Greborsam zu bewegen. Diese Gredanken beberrscbten Clugny
und seinen groBen Papst. Daber die strenge Einfiibrung
des Zobbats beim Klerus, daber der Kampf gegen die Ver-
weltUcbung der Geistbcben, vor aUem gegen die Simonie,
Das MOnohtum. 123
daher die monchisclie Zucht der Priester. Und die politische
Weltherrscliaft? Man konnte sie von diesem Standpunkte
als ein Surrogat ansehen, solange nnd weil die allgemeine
wahrhafte Ckristianisierung sich nicht durclisetzte. Aber
kier beginnen auch. die Differenzen zwischen dem Monch-
tnm und der reformierten Weltkirche. Man kann die Ideen
Gregors und seiner ernsten Freunde so darstellen, daC sie
nur um eine Nuance verschieden scbeinen, und doch fiibxte
diese Nuance zu einem entgegengesetzten Programm. Grleich
anfangs wurden Stimmen laut, selbst unter den unbedingten
Verehrern des Papstes, die da meinten, man solle sich. be-
gniigen mit der Reform der Sitten und der Pflege der
Frommigkeit; der Kirche kame es nicM zu, nach. der Weise
und mit den Mitteln der Staaten zu herrschen. Sie ver-
langten wahrhaftige Riickkelir zum apostolischen Leben,
Wiederherstellung der Urgestalt der Earclie. Es ist nicht
richtig, diese Bestrebungen des Monchtums so aufzufassen,
als bezeicbneten sie den Riickschritt auf die Stufe der grie-
chischen Kircbe und fielen damit aus dem Rahmen des
abendlandischen Katholizismus her aus; nein — jene Monche
batten ein positives Programm vor Augen: chxistliches Leben
der gesamten Christenheit. Aber indem ihnen aus alter
Uberlieferung eine liberirdische Neu- und Reichsgestaltung
derselben vorschwebte, die auf Erden zu verwirklichen sie
nich.t verzichteten , faCten sie ein schwer iiberwindliches
Mifitrauen gegen das Surrogat, welches der romische Bischof
anbot und anstrebte. In diesem Mifitrauen war der Ab-
scheu enthalten gegeniiber allem in der Kirche, was an
staatliche und rechtliche Ordnungen erinnerte. Der Wider-
wiUe gegen offentUche Rechtsordnungen und gegen den
Staat ist fiir das abendlandische Monchtum ebenso charak-
teristisch, als es oflfenbar ist, warum den griechischen As-
keten dieser Widerwille noch fehlt. Aber im elften Jahr-
hundert war die Devotion gegen die Kirche und ihren
Lenker zu machtig, als dafi es zu Konflikten zwischen dem
124 Erster Band, ersto Abteilung. Eedeii: IV.
reformierten E^erus und dem Monclituin kommen konnte.
In dem Bufisakrament besafi die Kirche das starkste Mittel,
Tim aucL. das Monclitum an sicK zu fesseln. Mit beflecktem
Gewissen und gebroctenen Mutes baben sich. mancbe den
Planen des groBen Moncbspapstes gebeugt. Und gerade die
bolte er aus der Stille des Klosters hervor, die am liebsten
ibr ganzes Leben Grott geweibt batten. Er wuUte es, dafi
nur der Moncb die Welt bezwingen belfen wiirde, der sie
fliebt und sie los sein will. Die Weltflucbt im Dienste der
weltbeberrsobenden Kircbe: das ist die erstaunlicbe Aufgabe,
die Gregor fiir andertbalb Jakrbunderte gelost bat. Aber
seine und der reformierten Biscbofe Ziele waren bei aller
Politik dock aucb geistlicke. ISTur als solcbe baben sie die
Massen iimgestimmt und entflammt, entiiammt zum Kampf
gegen den verweltbcbten Klerus in Oberitalien, gegen
simonistiscbe Fiirsten in ganz Eirropa. Ein neuer Entbusias-
mus rebgioser Art bewegte die Volker des Abendlandes,
namentbcb die romaniscben. Die Begeisterung der Kreuz-
ziige ist die unmittelbare Erucbt der moncbiscben Reform-
bewegung des elften Jabrbunderts. Der religiose Auf-
scbwung, welcben Europa erbalten, stellt sicb am lebendig-
sten in ibnen dar. Die Herrscbaft der Kircbe soil auf
Erden durcbgefiibrt werden. Es sind die Ideen des welt-
berrscbenden Moncbs von Clugny, welcbe den Kreuzfabrern
vorangeben. Und aus dem bedigen Lande, von den beibgen
Statten bracbten sie eine neue oder docb bisber nur selten
geiibte Form der cbristHcben Erommigkeit zuriick — das
sicb Versenken ia die Leiden und den Leidenswea: Cbristi.
Die negative Askese erbielt eine positive Form und ein
neues positives Ziel: Eins zu werden mit dem Erloser in
inniger Liebe und in volLkommener Naebabmung. Ein per-
sonHcbes Element, vom Herzen zum Herzen wirkend, begann
das reiz- und zieUose Bemuben der SelbstentauBerung zu
beleben und die scblummernde Subjektivitat zu erwecken.
Aucb dem Monobtum verlieb es, wenn aucb zunacbst nur
Das MOnclitum. 125
in einzelnen wenigen Individuen, einen innerlichen Auf-
sciiwung. Die grofle Anzahl von nenen Orden, welche
gleichzeitig gestiftet wurden, namentlich in Frankreich,
legen von dem allgemeinen Aufschwunge Zeugnis ab. Da-
mals entstanden die Orden der Karthauser, Cistercienser,
Pramonstratenser, Karmeliter und viele andere. Aber ihr
zahlreicbes Anftreten beweist nur, dafi das Monchttim sick
im Bnnde mit der Weltkirclie immer wieder selbst verlor.
Jeder neixe Orden snclite dasselbe auf seine erste Strenge
zuriicfczufdhren und aus der Verweltliclinng herauszureiJBen;
aber indem er der Weltkircbe sich. nnterwirft, wird er rasch
von ihr mit Beschlag belegt und abgenutzt. Es ist ein
Beweis fiir die Illusionen, in denen man sich. bewegte, daC
die Orden, die zur Wiederherstellung des urspriinglichen
Monchtums gestiftet sind, gleich bei ihrer Stiftung die
Unterwiirfigkeit gegen die Bischofe ausdriicklich in ihr Pro-
gramm aufgenommen und auf die Losung eigentiimlicher
Aufgaben innerhalb der Kirche und fur die Kirche, so auf
die Seelsorge, von vornherein Verzicht geleistet haben. Im
zwolften Jahrhundert ist die Anhanglichkeit der Christen-
heit und so auch des Monchtums an die Kirche noch eine
vollig naive, der Widerspruch zwischen der wirklichen Ge-
stalt der weltherrschenden Kirche und dem Evangehxim,
das sie predigt, wird zwar empfunden, aber immer wieder
zuriickgedrangt, die Kritik an den Anspriichen und an der
Verfassung der Kirche ist noch eine unwirksame. Man
braucht nur den E'amen eines Mannes, den Bernhards von
Clairvaux, zu nennen, um wie in einem Bilde alles GrroJJe
was diese zweite monchische Reform der Kirche hervor-
gebracht hat, aber auch ihre Schranken und Illusionen, zu
erbHcken. Derselbe Monch, der in der Stille seiner Kloster-
zelle eine neue Sprache der Anbetung redet, seine Seele
ganz dem „Brautigam" weiht, die Weltflucht der Ohristen-
heit predigt, dem Papste zuruffc, dalJ er auf dem Stuhle
Petri zum Dienste, nicht zur Herrschaft berufen sei, ist
126 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
doch. zugieich. in alien hierarcMsclien Vorurteilen seiner
Zeit befangen und leitet selbst die Politik der weltherrschen-
den Kirche. Aber eben deswegen hat das MoncMum der
Kircbe in jenem Zeitalter so GrroCes leisten konnen, weU
es mit ilir ging. Eine Reform in der Kirche hat es her-
vorgerufen; aber diese Reform schlug schlieUlich zur Be-
festigung der Weltmacht der Kirche nnd damit zu ihrer
Verweltlichung aus. Das war das frappante und doch so
verstandliche Endergebnis. Das Gebiet, auf welchem sich
die Weltkirche und das Monchtum immer wieder traf, war
die Bekampfung aller Anspriiche der Laien, insonderheit
der Fiirsten, an die Kirche. Das abendlandische Monchtum
empfand dies als „Befreiung von der Welt" und stellte sich
deshalb der Kirche ia diesem Kampfe zu Diensten. ISTur
wenn man dies beachtet, versteht man es, wie derselbe
Mann in jener Zeit aufrichtiger Monch und Kirchenfurst
zugieich sein konnte, wie er iiber die letzten Ziele jener
Bekampfung des Staates sich selbst und andere tauschen
oder im Unklaren halten konnte.
VIII.
Eine neue Zeit kam herauf , der die alten Auffassungen
nicht mehr gewachsen waren. Die Kirche war zu pohtischer
Weltherrschaft gelangt; sie hatte das Kaisertum und die
alten Staatsordnungen bezwungen oder war doch dem
Siege nahe. Die Ziele und Ergebnisse der ungeheueren
Anstrengungen der Kirche im elften und zwolften Jahr-
hundert waren offenbar geworden. Aber nun regte es sich
in der Laienwelt und bei den Nationen. Sie strebten hin-
aus aus der hierarchischen Bevormundung. In sozialen
Bewegungen, in rehgioser Sektirerei, in frommen Ver-
einigungen, die in der offizieUen Frommigkeit kein Greniige
fanden, in dem Verlangen der Nationen und Fiirsten, ihre
Das MOnohtum. 127
Angelegenheiten selbstandig zu ordnen, kiindigte sicli eine
neue Zeit an. Ein JahrKundert hindurch. hat die Welt-
kirche es vermoclit, die Wogen derselben zuriickzudammen.
Eine neue Erliebung in dem Monchtnm liat sie dabei
nnterstiitzt. Sie ist bezeichnet durch die Stiffcung der
Bettelorden.
Die G-estalt des liebevoUsten und liebenswiirdigsten
aller Moncbe, des wundersamen Heiligen von Assisi, strahlt
in der GreschiclLte des Mittelalters leuchtend hervor. Dock
wir fragen hier nicht, wie ist er gewesen, sondern was
hat er beabsichtigt, indem er sich in den Dienst Grottes
■and seiner Briider begab. Zunachst: er woUte das Leben
der Apostel erneuern, in der Nachfolge ihres armen Lebens
und in der Predigt des Evangehums. Diese Predigt sollte
BuCe schaffen in der Christenheit und sie wirklich zn dem
machen, was sie auf Grrund des Besitzes der heil. Sakra-
mente schon war. Eine G-emeinschaft von Briidern sollte
sich bilden, die, wie die Apostel, nichts besitzen sollte als
BnCe, Grlauben und Liebe, die keinen anderen Zweck haben
sollte, als zn dienen und Seelen zu gewinnen. Mit klaren
"Worten hat es der heil. Franziskus nicht gesagt, wie weit
sich dieser Bund erstrecken sollte. Er war kein Politiker
und hat sich selbst nicht ins Regiment gesetzt. Aber was
hatten die durch die BuCpredigt der armen Briider wirk-
lich Grewonnenen selbst anders werden konnen, als wieder-
um dienende und predigendreisende Briider? Fiir diese hat
der Heihge selbst bestimmte und feste Regeln aufgestellt.
Weder die Einzelnen, noch auch der Verband, der sich zu
wahrhaft christHchem Leben zusammentat, soil irgend
welches Vermogen besitzen. „Grehe hin und verkaufe alles."
Leben in Grott, Leiden mit seinem Sohne, Liebe zu seinen
Menschen und Kreaturen, Dienstleistung bis zur Aufopfe-
rung des eigenen Lebens, der Reichtum der Seele, die nur
ihren Heiland besitzt: das war das Evangelium des heil.
Franziskus. Hat je ein Mensch in seinem Leben das ver-
128 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: rV.
wirklicM, was er gepredigt, so hat es Franziskus getan.
Unci — das ist das Charakteristische dieser abendlandischeii
Bewegung — die verscliarfte Askese, eine Religion des
Herzens und Willens, trieb auch. diesmal ihre Jiinger niclit
in die Ode und Einsamkeit Mnaus, sondern umgekekrt:
die ChristenJieit, die Welt, sollte fiir dieses neue "and doch.
alte Christentum der Bufle, Entsagung und Liebe gewonnen
werden. Die christliclie "Welt — dieser Begriif katte an
dem Anfang des 13. Jakrliunderts einen ganz anderen
Umfang, als im secksten nnd elften. Mckt nur weil der
geograpkiscke Horizont sick fiir das Abendland erweitert
katte, sondern in hokerem Grade, weil die kleinen Leute
und der gemeine Mann nun zu ikr gerecknet werden muBten.
Das abendlandiscke Monchtum war bis zum Scklusse des
zwoLften Jakrkunderts auck nock ganz wesentkck eine
aristokratiscke Institution gewesen. Den Reckten der
Kloster entsprack in den meisten EaUen die koke Abstam-
mung ilirer Insassen. Die Klostersckulen waren in der
Regel nur fiir den Adel vorkanden. Dem groben und ge-
meinen Volk bkeb das Kloster so fremd, wie das Herren-
sckloJJ. Es gab keine volkstiimlicken Orden und wenige
volkstumlicke Moncke. Der keU. Eranziskus kat die Mauern
der adeKgen Klosterburgen nickt niedergerissen , sondern
neben ihnen Hiitten erricktet fiir Arme und Reicke. So
kat er das EvangeHum dem Volke zuriickgegeben, das bis-
ker nur den Priester und das Sakrament besaiJ. Aber der
Heilige von Assisi ist der unterwiirfigste Sokn der Kircke
und des Papstes gewesen. Im Dienste der Kircke kat er
gearbeitet. So kat er zuerst dem Moncktum — denn zu
einem Moncktum wurde seine Stiftung wider seinen Willen
— eigentiimkcke Aufgaben fiir die ganze Ckristenkeit zu-
gewiesen, aber im Sckofie der Kircke; denn Sorge fiir die
Kircke ist Sorge fiir das Heil. Clugny und seiae Moncke
katten es mit ikrer Reform auf die Geistkckkeit abgeseken;
der keil. Eranziskus kannte keine Untersckiede. Okne
Das MOnclitum. 129
tJbertreibung darf man sagen: nicht einen neuen Monchs-
orden hat er stiffcen woUen — die Welt wollte er nm-
wandeln; ein schoner Garten soUte sis werden, besiedelt
von gottinnigen, ckristusnacliahinenden, bediirfnislosen
Menschen. Die Liebe hat ihm den weitesten Horizont ge-
geben; seine Phantasie verwilderte weder, noch verodete
sie unter der harten Askese; sein WiUe, der Kirche und
Christenlieit zu dienen, blieb bis zuletzt stark und kraftig,
obschon er mit Schmerzen selien muiJte, wie die Kirche
ihm seine Schopfung korrigierte und einengte. Hundert-
tausende stromten herzu. Aber was waren Tausende, "wo
es MiHionen gait? Das Auffcauchen der sogenannten Ter-
tiarierbriiderschaft neben dem eigenthchen Monchsorden ist
einerseits freilich schon ein Beweis dafur, daJ3 sich dies
Evangelium nicht ohne Kompromisse in der menschhchen
Gesellschaft diirchfuhren laCt, andererseits aber doch ein
leuchtendes Zeichen der tiefen Wirkung der franziskanischen
Predigt. Die Tertiarier verblieben im weltlichen Beruf,
in der Ehe und im Besitz ; aber sie paCten sich dem monch-
ischen Leben so viel als moglich an, hielten sich von dem
offentUchen Leben, seinen Aufgaben und Pflichten zuriick,
und widmeten sich, soweit sie es vermochten, der Askese
und from men "Werken. Diese Institution, die sich ohne
einen „Stifter" gebildet hat, ist ein schlagender Beweis fur
den universalen Charakter der franziskanischen Bewegung.
Sekten waren hier vorangegangen; diese Briiderschaffc aber
blieb der Kirche treu. Ja, das Interesse der Laien an dem
Leben und den Sakramenten der Kirche wurde hier er-
weckt; der Gedanke wurde hier leise wirksam, dafi der der
Kirche aufrichtig gehorsame und innerhch from me Laie der
hochsten Griiter teilhaftig wird, welche sie vermitteln kann.
Die Auffassung von einer doppelten, ihrem "Werte nach
verschiedenen Sittlichkeit konnte sich von hier aus in die
andere ertraglichere einer nur der Art nach verschiedenen
wandeln. Das tatige christliche Leben kann dem beschau-
H am a ok, Redeu und Anlsatza. I. 9
130 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
liclien gleicliwertig seiu; dieses ist nur der dixektere "Weg
zum Heile.
Eine in der Hingabe der Seele an Christus nen ge-
stinunte Frommigkeit ging von Assisi aus nnd bemacMigte
sicli der Kirclie. Es war die religiose Individnalitat und
Freiheit, die erweckt worden war; das Christentum als die
Religion der Armut und Liebe soUte zu seinem RecMe
kommen gegeniiber der Verkummerung in Moral und Po-
litik. Die sclionsten mittelalterliclien Kircliengesange , die
gewaltigsten Predigten stammen aus dam Franziskaner-
orden und dem ilrm verwandten der Dominikaner. Aber
aucb der Kunst und der Wissenschaft gaben sie einen
neuen Aufscbwung. Alle die bedeutenden Scholastiker des
dreizebnten Jakrhunderts , ein Thomas von Aquino, Bona-
ventura, Albertus sind BetteLnoncbe gewesen. Die berr-
lichsten G-emalde der alten italieniscben Schule sind von
dem neuen G-eiste inspiriert, dem Greiste der Versenkung in
das Leiden Cbristi, einer seligen Traurigkeit und einer welt-
erbabenen Kraft. Ein Dante, eia G-iotto und wiederum ein
Tauler und Bertbold von Regensburg, sie alle lebten mit
ihrem christlicben Fiiblen, Denken und Scbaffen in den
religiosen Ideen der Bettelorden. Aber was mebr sagen
will — jene Moncbe stiegen berab zu dem Volke und zu
den Einzelnen. Fiir ihre Leiden batten sie ein Auge, fiir
ibre Klagen ein Obr. Sie lebten mit dem Volke, sie pre-
digten ibm in seiner Spracbe und bracbten ibm verstand-
licben Trost. Das, was Sakrament und Kultus bisber nicbt
scbaffen konnten, Heilsgewifibeit, wollte die Mystik der
Orden erzeugen; aber nicbt auCerbalb der kircblicben Grna-
denstatten. Das Auge sollte es lernen, den Heiland zu
seben, die Seele soUte durcb sinnlicbe Eindrucke seiner
Gegenwart zum Frieden kommen. Aber die „Tbeologie",
die bier entstand, kiindete aucb von der religiosen Freiheit
und SeHgkeit der iiber die Welt erbabenen, ihres Gottes
gewissen Seele. Sie bat in diesem G-edanken die evange-
Das MOnchtum. 131
lische Reformation wenn auch nicht begonnen, so ihr dock
den Weg gebaKnt.
Mit Hilfe der Bettelorden, die sie sich dienstbar
machte, hat sich die Kirche im dreizeknten Jakrhundert
auf der Hoke ikrer Herrsckaft erkalten konnen. Sie kat
die Gremiiter ihrer Q-laubigen wiedergewonnen, aber zugleick
ikren eigenen Besitz an den Giitern der Welt, an Wissen-
sckaft, Knnst und Reckt, dnrck die Tatigkeit der Moncke
znm Vollbestand gebrackt und geordnet. Damals ist das
kanoniscke Recktsbuck abgescklossen worden, welckes alle
Verkaltnisse des Lebens vom Standpunkt der kircklicken
Weltkerrsckaft und einer im Dienste der Klrcke stekenden
Askese regelt. Es gilt keute in den zivilisierten Staaten
nickt mekr, aber seine Ansckauungen wirken nock nack.
In viel kokerem Mafie ist die PMlosopkie und Tkeologie,
auck die soziale Poktik, nock keute von der Denkweise
abkangig, welcke im dreizeknten Jakrkundert in den
Bettelorden zu der virtuosen Ausgestaltung groCer scko-
lastiscker Systeme gefiikrt kat. Durck die Bettelmoncke
gelang es der Kir eke ferner, der sektireriscken Bewegungen
Herr zu werden, welcke die Laienwelt ergriifen katten.
Sie kaben die ketzeriscken, aber auck die freigeistigen und
evangekscken Vereinigungen des dreizeknten Jakrkunderts
mit Zorneseifer iiberwunden. So mackten sie auck kier
gemeinsame Sacke mit der weltkerrsckenden Kircke, der
Kircke der PoUtik und des Sckwertes; ja sie wurden ge-
radezu die begunstigste papstkcke Geistlickkeit dem Welt-
klerus gegeniiber. Die Papste statteten sie mit den reicksten
Privilegien aus; sie dui-ften iiberall in die regeknaiJige
Kirckenleitung und Seelsorge eingreifen. In den Bettel-
orden sckuf sick der romiscke Papst ein Werkzeug, um
die Landeskircken fester an seinen Stukl zu kniipfen und
die Selbstandigkeit der Bisckofe zu brecken. So kaben sie
an der Romanisierung der katkokscken Kircke in Euxopa
den groIJten Anteil gekabt und auck die alteren Stiftungen,
9*
2^32 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
die aus der Benediktinerregel hervorgegangen waren, viel-
fach beeinflufit. Aber so rasch. wie rnir irgend ein anderer
Orden vor ilinen sind auch. sie verweltlicM. Der Bund mit
der Weltkirche war aucli dieses Mai dem MoncMume tod-
lich.. Er war gleicb anfangs — Franziskus hatte sich. wie
in ein Verliangnis fiigen miissen — ein aufierordentlicb
fester gewesen, um so akuter war der Verfall. Was sie
liber die "Welt erheben sollte, die Armut, wurde zuin AnlaC
spezifischer VerweltUcliung fur die, welche es mit ikr nicht
mehr ernst nakmen. Sie sahen sich. angewiesen, auf die
Roheit, den Aberglauben und die Tragheit der Massen zu
spekulieren, und wurden selbst roh, aberglaubisch und trage
wie diese.
Indessen das hohe Ideal, welches der heU. Franziskus
der Christenheit vorgehalten hatte, hat dock nicM unter-
gehen konnen, ohne zuvor den von ikm gestifteten Orden
und die Kirche auf das tiefste zu erregen. Als eine Partei
im Orden auf Milderungen der strengen Armutsregel drang,
da erhob sich eine andere, dem Meister treu, zum Schutze
derselben. Als die Papste fiir jene eintraten, da wandten
die Eiferer ihre Kritik gegen das Papsttum und die welt-
herrschende Kirche. Klagen iiber die Verderbtkeit der
Kirche aus der Mitte des Monchtums waren schon seit lange
vereinzelt laut geworden; aber sie waren immer wieder
verhaUt. Der Kampf der Kirche gegen die Staaten und
ihre Anspriiche hatte das Monchtum bisher stets verlockt,
in dem Programm der Kirche den Anfang zur Verwirk-
hchung seines eigenen zu erkennen. Jetzt aber erhob sich
der Gedanke, der im Monchtume immer geschlununert hatte
und immer wieder unterdriickt worden war. Der Bund
mit der Kirche und dem Papsttum wurde zerrissen. Die
uralten apokalyptisehen Ideen tauchten auf; die Papstkirche
erschien als das Babel, als das Reich des Widei'christs, die
das wahre Christentum, das Christentum der Entsagung
und Armut, verfalscht hat. Die ganze Geschichte der
Das MOnchtum. 133
Kirclie erschien plotzlicli in dem Lichte eines ungelieuren
Abfalls, der Papst mcht mehr als der Nachfolger Petri,
sondem als der Erbe Konstantins. Es Avar aussiclitslos,
die Kirclie zur Umkehr zu bewegen. Nur eine neue Offen-
barung des Geistes konnte retten, tind so blickte man hin-
aus auf ein kiinftiges ewiges EvangeKum christlicher Voll-
kommenbeit. Die Kircbe bat mit alien Mitteln diese ge-
fabrlicbe Bewegung nnterdriickt. Sie erklarte es fiir Ketzerei,
was die Eranziskaner iiber die Armut Christi und der
Apostel lebrten, nnd verlangte Unterwerfung. Ein er-
bitterter Kampf war die Folge. Die Cbristenlieit sab ein
neues Scbauspiel: die weltberrscbende Kircbe im Streite
mit einer aggressiv gewordenen "Weltilucbt. Mit dem Mute
von Mannern, die alles geopfert batten, predigten die Spi-
ritualen dem Papst und den Biscbofen die Armut und be-
siegelten ibre Predigt auf dem Scbeiterbaufen. Siegreicb
und unverandert ging am Ende des vierzebnten Jabrbun-
derts die Weltkircbe aus dem Kampfe mit der Armut ber-
vor. So war docb nocb einmal am Scblusse des Mittelalters
der scblummernde, aber immer wieder verdeckte prinzipielle
Gegensatz zwiscben den Zielen der Kircbe und den Zielen
des Moncbtums in einer furcbtbaren Krisis zu Tage ge-
treten. Aber dieses war unterlegen. Die Stiftung der
Bettelorden war der letzte groCartige Versucb des Moncb-
tums im Mittelalter gewesen, sich und seine Ideale in der
ganzen Kircbe durcbzusetzen und docb mit der Grescbicbte
und der Verfassung dieser Kircbe nicbt zu brecben. Aber
die Entwickelung des Franziskanerordens wurde eine zwie-
spaltige. Die eine Ricbtung gab ibr urspriinglicbes Ideal
gleicb anfangs auf, ordnete sicb der Kircbe vollig unter
und verweltbcbte sofort, die andere sucbte ibr Ideal zu be-
baupten, verscbarfte es, stellte es der Kircbe selbst entgegen
und erscbopfte sicb in scbwarmeriscben Bewegungen, bis
sie unterging. Die Tragik dieser Entwickelung erscheint
voUendet, vielleicbt auch aufgeboben, wenn wir gewabren,
134 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: rV.
daU Einzelne aus dem von der Kirclie sich emanzipierenden
Orden Rettung beim Staate sucMen und im. Gregensatz zu
den niclit mekr oder rnir teilweise anerkannten Ajispriiclien
der Kirclie nun die Selbstandigkeit des Staates nnd seiner
Ordniingen verteidigten. Franziskaner haben im vierzehnten
JatrlLundert die staufiscbe Staatslehre wissenscKaftlicK be-
griindet. Das abendlandiscbe Moncbtum, das lebrt dieser
erstaunlicbe Umscbwung, vermag eben aiif die Dauer nicht
obne engen AnscbluC an die Macbte der Gresellscbaft zn
existieren. Es sucbt selbst den Staat anf, wenn iini die
Kircbe versagt ist. Docb diese Bewegung war nur eine
voriibergebende. Im fiinfeebnten Jabrbundert ist es toten-
stille in dem der Kircbe voDig unterworfenen Orden; die
unkraftigen Reformversucbe erzeugten kein neues Leben.
Im Zeitalter der Renaissance scbien das Moncbtum sicb
selbst — wenige ebrenvolle Ausnabmen abgerecbnet — zur
Faullieit und Mcbtsnutzigkeit zu verdammen. Und docb
war die neue Kultur, deren Trager freilicb oftmals ibren
ganzen Spott Hber das unwissende, knecbtiscb-demiitige
und beucbleriscbe Moncbsvolk ausscbiitteten, den asketi-
scben Idealen nicbt durcbaus feindbcb. Das Bild des
Weisen und Frommen taucbte viebnebr wleder auf, der
sicb dem GTenufi stiller Bescbauung des Himmels, aber aucb
der Welt in iiiedbcber Abgescbiedenbeit vom Larm des
Tages bingibt, der nicbts bedarf, well, er im Greiste aUes
besitzt. Man macbte sogar den Yersucb, dieses Ideal wieder
in den berkommbcben Formen des Klosterlebens zu ver-
wirklicben, und er ist nicbt liberaU feblgescblagen. Aber
nur einzelnen Individuen gelang es, die Moncbsregel mit
dem Studium Ciceros oder Platos zu vereinen und beiden
zu geniigen. Der weltkundige Gelebrte, der fiir stoiscben
G-leicbmut oder fiir franziskaniscbe Bediirfnislosigkeit am
Scbreibtiscb sicb begeisterte, war nicbts weniger als ein
Moncb, und die Kircbe bbeb trotz aller klassiscben und er-
baubcben Abbandlungen wie sie war. Das arme VoLk
Das MOnchtum. 135
suchte wie in den Tagen, bevor ihm Franziskus den Weg
gewiesen, die Sicherstellung seiner Seligkeit in frommen
und enthusiastisclien Vereinen aller Art, die zeitweilig der
Kirche von Futzen, doch. eiae standige Gefahr fiir sie
"waren.
IX.
Was blieb noch. iibrig? Welche neue Form des Monch.-
tums war nach. alien diesen Versuchen noch iibrig? Keine
mehr oder viebnehr noch. eine, die in Wahrheit keine mehr
ist und doch das letzte nnd in gewissem Sinn auch das
authentische Wort des abendlandischen Monchtums ge-
■worden ist. Moglich bheb das Verhaltnis von Askese und
kirchlicher Dienstleistung von vornherein umzukehren, das,
was dem Monchtum im Abendlande immer vorgeschwebt
hatte, aber stets nur mit Zaudern ergriffen worden war,
nun als das selbstgewollte hochste Ziel sofort ins Auge zu
fassen; moglich bheb, statt eines Asketenvereins mit kirch-
licher Tendenz eine Kompagnie zu griinden, die keinen
anderen Zweck verfolgen sollte, als die Herrschaft der Kirche
zu stiitzen und auszubreiten. Der Ruhm, diese Moglichkeit
erkannt, die Weisung der Greschichte verstanden zu haben,
gebiihrt dem Spanier Ignaz von Loyola. Seine Schopfung,
der Jesuitenorden, die er der Reformation entgegenstellte,
ist kein Monchtum mehr im altesten Sinne des Worts, ja
sie erscheint geradezu als ein Protest gegen das Monchtum
eiues Antonius oder Franziskus. Wohl ist der Jesuitenorden
ausgestattet mit all den Regeln der alter en Orden; aber
in ihm ist das oberstes Prinzip, was die firiiheren unsicher
als ein Ziel mit ins Auge gefaCt hatten oder sich von den
Verhaltnissen widerwilhg aufdrangen hefien. Im Jesuiten-
orden ist alle Askese, alle Weltflucht nur Mittel zum
Zweck. Die Loslosung von der Welt reicht gerade so weit,
als eiae solche forderlich ist, um die Welt zu beherrschen.
136 Brster Band, erste Abteilung. Eedeu: IV.
politiscli durch die Kirclie zu beherrsclieii; denn der ausge-
sprochene Zweck ist die Weltherrschaft der Kirche. Reli-
giose Phantasie, Bildimg und Unbildung, Glanz und Armut,
Politik und Einfalt — alles verwertet dieser Orden zur
Erreicliuiig des einen Zweckes, dem er sich. geweiht hat.
In ihm hat die abendlandisch-katholische Kirche das Monch-
tum gleichsam neutralisiert und hat ilim eine Wendung
gegeben, durch welche es ihre Ziele voUig zu den seinigen
gemacht hat. Und doch ist auch dieser Orden nicht das
Werk eines kliigelnden, berechnenden Verstandes allein.
Wie er entstanden ist, war er das Produkt einer hohen
Begeisterung, aber einer Begeisterung aus der Kirche her-
aus, die jede evangehsche Reformation bereits von sich ge-
wiesen, die sich entschlossen hatte, sich in der G-estalt fiir
immer zu behaupten, die ihr Weltweisheit und Pohtik auf
dem Wege einer langen G-eschichte gegeben hatten.
Der Jesuitenorden ist andererseits das letzte und authen-
tische Wort des abendlandischen Monchtums. Seine Ent-
stehung aber auch seine Art liegen durchaus auf der Linie,
welche wir von Benedikt zu den Cluniacensern, von diesen
zu den Bettelorden verfolgt haben. Er hat die Probleme
gelost, welche jene nicht zu losen vermochten, und die
Ziele erreicht, denen sie zustrebten. Eine neugestimmte
Frommigkeit hat er erzeugt, hat fur sie eigentiimliche Aus-
dracksformen und eine Methode der Aneignung geschaffen,
hat sich mit ihr an die ganze kathoHsche Christenheit ge-
wandt und ist durchgedrungen. Er hat die Laien fiir die
Earche zu interessieren verstanden und ihnen in seiner
Mystik das zuganglich gemacht, was ihnen bisher versagt
gewesen war. Er hat das gesamte Leben der Kirche auf
alien G-ebieten durchdrungen und die G-laubigen dem Papste
zu EiiUen gelegt. Aber der Orden hat nicht nur fort und
fort selbstandige Aufgaben verfolgt im Dienste der Kirche
sondern er hat sich auch allezeit in einer gewissen Unab-
hangigkeit von ihr zu halten verstanden. Wie er die Poli-
Das MOnohtum. 137
tik der Papste nach dem Programm des Papsttums nicht
selten korrigiert hat, so beherrscht er heute mit seinem
Cliristentlun, seinem phantastiscli-sinnlichen Ktdtus, seiner
politischen Moral die Kirche. Nie ist er totes Werkzeug
in der Hand der Kirche geworden, auch ist er nicht in
Weise der friiheren Orden zu einem unbedeutenden Dasein
herabgesunken. Dieser Orden hat sich nicht in ein In-
stitut der Kirche gewandelt, sondern die Kirche ist nnter
die Herrschaft der Jesuiten geraten. Das Monchtum hat
wirkHch liber die Weltkirche des Abendlandes den Sieg
davongetragen.
Das Monchtum hat gesiegt — aber welch ein Monch-
tum? Mcht das des heil. Franziskus, sondern ein solches,
welches zuvor das Programm der "Weltkirche zu seinem
eigenen gemacht und damit sein "Wesen entleert und preis-
gegeben hat. Askese und "Weltentsagung sind hier zu
Formen und Mitteln der PoKtik geworden; sinnhche Mystik
und Diplomatic sind an die Stelle einfaltiger Frommigkeit
und sittKcher Zucht getreten. MaterieU vermag dieses
Monchtum seine Echtheit nur noch an der Antithese gegen
die Staaten und ihre Kulturentwickelung, sowie an der
G-eringschatzung des Wertes des Individuums zu legiti-
mieren. Unter der Herrschaft des Jesuitenordens ist die
Kirche ganz spezifisch und definitiv verwelthcht; sie setzt
der Welt, der G-eschichte und Bildung, ihren welthchen
Besitzstand, das Vermachtnis des Mittelalters , entgegen.
Das Bewufitsein ihrer „Uberwindlichkeit" starkt sie heute
wesentlich an dem Gegensatze zur Kultur der Renaissance
und Reformation; aber sie schopft ihre Kraft aus den Gre-
brechen und Mangeln jener Kultur und den MiUgriffen
ihrer Protektoren. LaiJt man die negative Stellung der
Kirche zum modernen Staat als Ausdruek ihrer welt-
fliichtigen Gesinnung gelten, so hat das Monchtum in der
Tat in ihr gesiegt; sieht man aber in der Art, wie die
Kirche heute diese Stellung behauptet, eine wesentliche
138 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
Verweltliclmng, so ist eben das jestdtische Monchtum fur
diese verantwortlich zu maclien. Die anderen Orden kominen.
als geschicMlicte Faktoren kaum mehr in Betrackt. Der
Jesuitenorden kat die alteren und die jiingeren fast samt-
kck beeinflufit. Mogen sie nun zu orientaliscker Sckweig-
samkeit zuriickgekekrt seia, wie die Trappisten, mogen
einige von iknen, in "Weise der alten agyptiscken Moncke,
selbst die kircklicke Wissensckaft mit MiBtrauen betrackten
und Avider sie eifern, mogen sie ikr zwiscken Welt und
Askese geteiltes Dasein fortsetzen und in sozialer Hilf-
leistung und Rettung Einzekier auck nock Bedeutendes
wirken — ein kirckengesckicktkcker Faktor sind sie nickt
mekr. Sie sind abgelost worden von den Jesuiten und —
von den Kongregationen , jenen elastiscken und sckmieg-
samen Sckopfungen, in denen sick der deist des Jesuiten-
ordens mit den Bediirfnissen und Institutionen der mo-
demen Gresellsckaft verbunden kat. Die im Sinne der
Gesellsckaft Jesu geleiteten Kongregationen und die in
eben diesem Sinne arbeitenden unzakkgeu „freien" katko-
kscken Vereine, die weltlick und geistlick, frei und ge-
bunden sein konnen, je nack Bedarf, sie siad in Wakrkeit
das moderne katkoKscke Moncktum.
In der Kii'cke des Abendlandes, die sick sittkcke und
poHtiscke Ziele gesteckt kat, kat das urspriingkcke Monck-
tum und seine Ideale auf die Dauer nur einen gebrockenen
Erfolg gekabt. Sofern es sick entscklossen kat, an der
Weltaufgabe der Kircke Teil zu nekmen, kat es sick in die
kirckkcke Kompagnie lunwandeln miissen, die ikre Freikeit
von der Welt in der weltkcken, politiscken Reaktion gegen
die Kultur und die Gresckickte bekundet und deskalb die
Verweltlickung der Kircke zum AbsckluB gebrackt kat.
Das morgenlandiscke Moncktum kat sick seiae Selbstandig-
keit erkalten, aber es ist verodet, das abendlandiscke ist
wirksam gebkeben, aber es ist entleert. Dort sckeiterte es,
weil es die sittkcken Aufgaben far die Welt miCackten zu
Das MOnohtum. 139
diirfen meinte, Mer unterlag es, weil es sich einer Kirclie
unterordnete, welch.e Religion und Sittlictkeit in den Dienst
der Politik gestellt hat. Dort wie hier ist es aber die
Kirclie selbst gewesen, welclie das Monchtum hervorgebracht
und ihrn seine Ideale vorgezeiclinet bat. Darum ist aucb
im Morgenland wie un Abendland, allerdings nacb langem
Scbwanken nnd nacb scb-weren KJrisen, das Moncbtmn
scblieiJlicb zum Hiiter der kircblicben Grewobnbeit und
zum Wacbter des kircblicben Empirismus geworden. Seine
urspriingbcben Ziele sind somit in ihr GTegenteil umge-
scblagen.
"Wobl kann das Monchtum noch heute ein^elnen "Welt-
miiden Frieden geben; aber die Geschichte weist iiber das-
selbe hinaus auf die Predigt Luthers, daB der Mensch die
Nachfolge Christi beginnt, der in seinem Beruf und Stand
durch G-lauben und dienende Liebe mitarbeitet am Reiche
Grottes. Aucb dieses Ideal fallt nicbt einfacb zusammen
mit dem Inbalt der evangebscben Botscbaft; aber es gibt
die Ricbtung an, in welcber der Christ sich zu bewegen
bat und steUt ihn gegen Selbsttauscbung und Unwahrbeit
sicber. Es ist, wie alle Ideale, aufgericbtet worden, indem
man einen unertraglicben Notstand zu heben bemiibt war,
und es ist bald verwelthcht und verfalscht worden wie
jene. Aber wenn es nicbt mehr sein will, als das Ein-
gestandnis, dafi an die Yollkommenheit des Lebens, welcbe
in dem Evangelium vorgestellt ist, Niemand binanreicht,
und wenn es der Ausdruck dafiir ist, dail der Christ in
jeder Lage der gottlicben Hilfe und G-nade vertrauen darf,
so wird es die EJraft des Schwacben sein und kann aucb
zum Eriedenszeicben werden im Streite der Konfessionen.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
9^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG 2^
REDEN: V
MARTIN LUTHER
IN SEINER BEDEUTUNG FUR DIE GESCHICHTE
DER WISSENSCHAFT UND DER BILDUNG
Rede
tei der Feier zum yierhundertjalirigeii G-edaclitiiis der Geburt Martin
Luthers, gehalten in der Aula der Grossherzoglioh-Hessisclien Ludwigs-
TJniversitat in Giessen am 10. November 1883.
Einmiitig haben wir uns in diesen hohen Ra-umen ver-
sammelt, den vierlmndertjahrigen Greburtstag des deutschen
Ref ormators , Dr. Martin Lntbers, festlich zu begehen.
In der Greschicbte unseres G-escbleciites baben die Er-
eignisse — gemeinsames Aufstreben nnd gemeinsamer Nie-
dergang — weit baufiger Epocbe gemacbt als die Personen;
aber daC mit Lntbers Wirken eine neue Stufe der Ent-
wicklung begonnen bat, ist zweifellos.
"Wenig zablreicb sind die Greister, welcbe den Hoben
nnd den Niederen, den G-ebildeten und den Ungebildeten
zngleicb neuen Sinn nnd neues Leben erweckt baben; aber
nocb beute zebxen wir Dentscbe, so verscbieden wir sind,
allznnial von den Griitern, die nns Lutber gebracbt bat.
Unsere Alma mater aber scbant in einem zweifacben
Sinne, als dentscbe nnd als bessiscbe Universitat, dankbar
anf zn dem Manne, dessen Name beute auf aller Lippen
ist. Als dentscbe Universitat: denn das berrbcbe Erbe
einer reicben und edlen BOdung, welcbes zu scbiitzen wir
mitberufen sind, tragt unverwiscbbar den Stempel seiaes
G-eistes. Als bessiscbe Universitat: denn diese, von einem
bocbberzigen Eiirsten gegriindet, ist die erste protestantiscbe
Hocbscbule Dentscblands gewesen, die erste Hocbscbule,
die gestiftet ist obne papstlicbe Privilegien in dem freien
Greiste Lntbers. Und wenn beute die Scbranken langst
gefallen siud, welcbe die dentscben Universitaten nacb der
Reformation getrennt bielten, wenn derselbe Geist mutiger
Forscbung auf alien eine Statte gefunden bat, so ist das
aucb eine Folge der "Wirksamkeit des Mannes, der unsere
144 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
Nation befreit liat, indem er ihxe Entwicklung in neue
Bahnen lenkte.
Unsere ISTation — denn fiir die gesamte Nation nehmen
wir ilin in Anspnicli und die gesamte Nation fiir ilin. In
jenen herrlichen Tagen, da er die Greister erweckte und
„es eine Lust war zu leben", da war das ganze deutsche
Volk, Adel, Biirger nnd Bauer, von ihm gewonnen. Aber
auch heute noch ist Luthers Bedeutung nicht zu ermessen
an dem Bestande und Umfang der Kircben, die sicb mit
seinem Namen scbmiicken; nein — iiberall tritt sie uns
entgegen, wo wir die Eigenart und Grofle der idealen Griiter
scbatzen wollen, die wir als Christen und als Deutsche be-
sitzen. Wir reden mit seinen Worten, wir urteilen nach
seinen MaJJstaben und wir finden die Macht seines Q-eistes
in unseren Yorziigen und in unseren Eeblern wieder.
Aber weiter: fast jede Partei unter uns bat ibren
Luther und meiut den wabren zu haben. Die Verebrung
fiir Luther vereinigt mebr als die Halfte unserer Nation,
und die Auffassung Luthers trennt sie. Von Luthers Namen
lafit so leicht kein Deutscher. Ein unvergleichlicber Mann
ist er alien, ob man ihm nun aufpaCt, um ihn anzugreifen,
oder ob man ihn riihmt und hoch preist.
Trotzdem — wer kennt ihn selbst und wen verlangt
es, ihn wirklich zu kennen? Man will ihn verehren, wie
man ibn sich wiinscht, als den Trager der eigenen Ideale;
aber im geheimen argwohnt man, daJB er doch gsmz anders
gewesen sei. Sein Charakter imponiert alien, seine tJber-
zeugungen laiJt man dahingesteUt sein oder verarbeitet sie zu
kursfahiger Miinze. Ist er so groiJ, daJJ er uns unbequem
ist? oder sind wir innerlich doch so weit von ibTn entfernt,
daJJ ein Bediirfnis nach naherer Bekanntschaft nicht mehr
aufkommt? Ist er zu schneidig fiir unsere MUde, zu be-
wegt fiir unsem Grleichmut, zu iiberzeugt fiir unsere Zuriick-
haltung, zu altertiimlich fur uns Moderne? Wie war er
wirklich, der wundersame Mann, der gewaltig wie ein Heros
Martin Luther. 145
und einfaltig wie ein Kind gewesen ist? ohne Klugheit ein
Weiser, ohne Politik ein Staatsmann, ohne Kunst ein Kiinst-
ler, inmitten der Welt ein weltfreier Mann, in kraftiger
Sinnlichkeit nnd doch rein, rechthaberisch nngerecht und
doch stets von der Sache getragen, der Antoritaten spottend
und an die Autoritat gebunden, die Vernunffc verlasternd
und befreiend!
Nur ein Meister vermag hier Antwort zu geben und
gleichsam die ganze Sum me der Existenz Luthers zu ziehen.
Ihr Redner muB sich die Aufgabe beschranken. "Welche
Bedeutung Luther in der Geschichte unserer Bildung und
Wissenschaft gehabt hat, und welcher Wert den reforma-
torischen Ideen hier zukommt, das mochte er Ihnen, so gut
er es vermag, in Kiirze vortragen.
Aber gerade diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierig-
keit. Luther hat nichts entdeckt, was der Entdeckung des
Ejreislaufs des Blutes oder des Gravitationsgesetzes oder
ernes neuen Weltsystems ahnhch ware. Auch seine histo-
rische und philosophische Gelehrsamkeit erhob sich nicht
Tiber das Durchschnitthche. Ferner: wir besitzen kein hte-
rarisches Werk von ihm, von dem man sagen konnte: das
ist's — das ist der ganze Luther. Die gotthche Komodie
ist uns Dante, der Faust ist uns in gewissem Sinne der
ganze Goethe: nichts dergleichen besitzen wir von Luther.
Das Werk, welches noch am meisten die ganze Tiefe und
den Reichtum seines Geistes abstrahlt, ist sine IJbersetzung :
die Ubersetzung der Bibel.
Dennoch ware es moghch, eine ansehnhche Summe
von einzelnen wichtigen Erkenntnissen Luthers auf ver-
schiedenen Gebieten der Wissenschaft zusammenzusteUen,
und verbramt mit einer Reihe von Zitaten, in welchen
Luther der freien Forschung das Wort redet und einen
griindlichen TJnterricht verlangt, lieBe sich vielleicht ein
eindrucksvolles Bild erzielen. Aber ich miiCte furchten,
daC der Eeformator selbst es nicht als das seinige aner-
H am a ok, Redea und Aufaatze. I. 10
;146 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
kennen wiirde. Ein solcher Luther ware ihrn, um mit ihm
selber zu reden, mir ein „gemalter". Nein — von welcher
Seite man aucli immer seine gewaltige Personlichkeit in
ihren "Wirkungen ins Auge fassen wUl, man wird ihr nie-
mals gerecht werden, wenn man nicht von LutKer, dem
kirchliclien Reformator, ausgeht. Denn er war im voUsten
Sinne eine monarchische ISTatur. Was er getan und ge-
leistet hat, das ist bei ilim aus dem religiosen Leben heraus-
geboren. Das war das Geheimnis und die Starke seines
Lebens, dafi er nahezu niemals aus dem Klreise heraus-
getreten ist, der ibm als kircMicliem Reformator vorgezeich-
net war. Freunde und Gegner haben ihn zum National-
helden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer
neuen Kirclie machen woUen. Er ist das alles nicht ge-
wesen, und er hat alien diesen Versuchen Widerstand
geleistet. Mit dem Instinkte des Genius fiihlte er die Be-
schrankung, die ihm jede dieser Tatigkeiten in ihrer Be-
sonderung aufgenotigt hatte. Er hatte GroBeres zu tun.
Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschhchen
Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit der Gewissen
— sie war das einzig Treibende in seinem Leben. Alles
iibrige, was er geleistet hat, es ist ihm zugefallen. Es war
nicht direkt beabsichtigt ; eben darum verkiindete er es,
wenn er darauf gefiihrt wurde, mit derselben Kraft, mit
der er das Evangelium predigte. So bHeb er der bahn-
brechende Reformator, weil er sich seiner Grenzen, der
Fortifikationslinie seines Daseins und seines Berufs, bewuBt
gebheben ist.
Damit ist's schon gesagt, in welchem Sinne wir Luthers
Bedeutung fiir die Wissenschaft zu wiirdigen haben. Sie
kann in der Hauptsache nur eine indirekte gewesen sein.
Aber dieses Indirekte ist nicht das Geringere, sondern das
GroBere. Denn nicht der ist der GroBere, der einzelnes
Neue — sei es auch das Gewaltigste — entdeckt, sondern
der ist es, welcher die Gesinnungen der Menschen zur Er-^
Martin Luther. 147
kenntnis der Wahrheit reinigt und die Hemmnisse wegraumt,
welche die Vergangenheit von Jahrhunderten als elementare
Last auf die Bahnen der Zukunft lagert.
Werfen wir einen Blick auf die geistigen Zustande
beim Ausgang des 15. Jahxliunderts. Vielleicht hat das
Abendland niemals starker unter der Last der Vergangen-
heit getragen als in der Epoche, welche dem Auftreten
Luthers unmittelbar vorherging. Die Kirche war noch
immer die alles beherrschende Grrundlage der allgemeinen
Ordnung. In ihrem groBen Gefiige allein waren die idealen
Griiter, die Gesetze, Erkenntnisse und Gewohnheiten der
Menschen festgestellt. Die groCte und humanste Idee,
welche das Mittelalter hervorgebracht, die Idee des Papst-
tums, beherrschte noch immer die Gemiiter. Sie war durch
eigene Schuld der Papste kompromittiert und tief er-
schiittert worden; aber sie war eigentlich nirgendwo ent-
wurzelt. An der Geschichtsbetrachtung der Zeit laCt sich
das am besten studieren. Noch immer gait die Erde als
das Jammertal, dessen Regierung dem Papste und dem
Kaiser anvertraut sei, bis die Stunde des Gerichtes schliige.
Die literarischen Widersacher der Papste im 14. Jahrhundert
hatten versucht, den Bann dieser Auffassung zu sprengen.
Aber was sie ihr entgegenzusetzen wufiten, war teils von
ihr selbst erborgt, teils vage und wirkungslos. Im 15. Jahr-
hundert, nachdem das Papsttum siegreich aus dem Kampfe
mit den konziliaren Ideen hervorgegangen, beherrscht die
papsthche Legende, wie sie durch den siebenten Gregor
begriindet, durch den dritten Innocenz ausgebaut worden
ist, wiederum die Publizistik. Wohl fiihlte man ihren Druck;
die Politik der Fiirsten hatte sich auch lange schon ihrem
Banne entwunden; aber die Erkenntnis fand keinen Aus-
weg. Sie begann, um die Geschichte zu verstehen, regel-
mafiig bei dem Siindenfall; sie war den kirchUchen Fabeln
gegeniiber fast voUig wehrlos und sie endete konsequent
mit dem Rechte des Papstes iiber die Welt — andernfalls
10*
]^4.8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
mit leeren AusfliicKten und luftigen Sophismen. Helle Kopfe
deckten zwar dies und jenes Einzelne auf ; aber das anderte
nichts an dem Granzen.
Und nun das dogmatische System. Seit mehr als
tausend Jakren hatte sich an demselben wenig geandert.
Wie die Vater der alten Kirche, vor allem Augustia, das
groCe G-efiige konzipiert und geziimnert batten, so war es
seblieben : das neue Testament mit dem Testament der Antike
seltsam und, wie es scbien, untrennbar verbunden. Wohl
batte auf diesem G-runde eine stete Bewegung im Mittel-
alter stattgefunden. Die von den Papsten geleitete Ent-
wicklung der Kircbe batte sicb den Bediirfnissen und
Stimmungen der Menscben jabrbundertelang anzuscbmiegen
verstanden. Aber seit andertbalb Jabrbunderten scbien das
System seine Elastizitat erscbopft zu baben: es konnte sicb
weder erweiten nocb entlasten. In dem Momente begannen
aucb der Zweifel und das MiCtrauen zu erstarken. Von
sebr verscbiedenen Seiten kamen die Einwiirfe. Aber, ge-
nau betracbtet, bezogen sie sicb immer nur auf Einzelnes,
und wo sie an den Fundamenten riittelten, da steRten sie
sofort nicbt nur die Kircbe, sondern die G-esellscbaft, das
ganze sozial-poHtiscbe System, in Frage. WirMicbe Revo-
lutionen stiegen drauend auf aus den verscbiedenen Scbicbten
der Gesellscbaft. Aber das Program m derselben war in den
positiven Zielen so unklar und undurcbfiibrbar, wie in den
negativen radikal. Scbwarmeriscbe Frommigkeit batte es
diktiert. Sie wollte auf den Triimmem der alten Ordnungen
era Paradies, ein Traumreicb, griinden und recbnete auf
bimmbscbe Hilfe. Eine neu gestimmte Rebgiositat kiindigte
sicb in wilden Bewegungen und in den stillen Kreisen rmter
den Laien an. Sie fiiblte sicb von der alten Kircbe ab-
gestoCen und docb wiederum angezogen. Grlaubenssebn-
siicbtiger als die Generation, welcbe seit der Eekonstruktion
des Papsttums im 15. Jabrbundert in Deutscbland aufwucbs,
ist kaum je eine andere gewesen. Die rubelose Frommig-
Martin Luther. 149
keit, das unbefriedigte Suchen, die neuen Formen — Heilige,
Wunder, Bruderscliafteii nnd genossenscliaftliche Kulte,
kuhne Kritik und rasches Erschlaffen — sie erinnern leb-
haft an jene groCe Epoche des Altertums, als die Volker
an den Kiisten des Mittelmeeres unter der Regierung der
Antonine und ihrer Nachfolger sich anschickten, die alten
Grotter mit dem Grott der Erlosung zu vertanschen. Hier
■wie dort hocliste Steigerung und Umformung des tJber-
lieferten, aber noch kein Durchbruch und kein UmscMag.
Die Wissenschaft. Sie stand augenscbeinlich unter dem
Prinzipate der Theologie, die Theologie aber auf der Au-
toritat der Kirche. Die Menschheit war seit einem Jalir-
tausend in der Erkenntnis niclit vorwarts gekommen. Sie
liatte sich geiibt zu distinguieren und zu deduzieren. Sie
lebte in kiinstlerisclien Idealen und Illusionen. Aber kaum
irgendwo hatte sie siob weiter bewegt. "Was sie in den
letzten Jahrhunderten gelernt hatte, das hatte sie alles ein-
gebaut und eingesponnen in eine kunstvolle Mythologie
von Begriffen. Keine Betrachtung ist kurzsichtiger und
unrichtiger als die, fiir diesen Zustand priesterliche Herrsch-
sucht oder die besondere Borniertheit der Theologen ver-
antwortlich zu machen. Man muil sich nur erinnern, welche
Aufgabe die untergehende Antike der Wissenschaft gesetzt
hatte. Die Theologie soUte der AbschluC und die Krone
des gesamten Welterkennens sein; die Philosophie aber
sollte einerseits die Einleitung zur Theologie bUden, anderer-
seits ihr die Beweise liefern. Beide soUten iiber diese Welt
des Sinnlichen hinausstreben, hinter ihrem Schein das wahre
Sein aufsuchen. Erkenntnis und Andacht zugleich sollten
diesem wahxen Sein gelten, dem die Objekte der rehgiosen
Dogmen einzughedem seien. Daneben gab es nur eine for-
male Schulung. So war es im Ausgang des Altertums von
den Neuplatonikern verstanden worden, und diese Erbschaft
hat die mittelalterhche Wissenschaft angetreten. Die Theo-
logie entbehrte auf diese Weise ernes ihx eigentiim lichen
J50 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
G-ebietes. Sie soUte Fundament und Spitze des G-anzen
sein. Aber diese Erhebung war faktisch. eine scbwere Be-
eintrachtigung, nicht nur fiir die Weltwissenschaffc, sondern
nicM weniger fiir die Theologie. Jener Prinzipat beschwerte
sie mit einem immensen Stoff, verwickelte sie in alle denk-
baren Fragen und tausekte sie iiber ihre wirklichen Auf-
gaben. Und in Wahrkeit war der Prinzipat der Tkeologie
dock nur sckeinbar. Sie selbst wurde, wie alles andere im
Mittelalter, regiert durck die weltbekerrsckende Kircke und
die weltfliicktige Metapkysik. Jede Welterkenntnis , die
sick kier nickt einfiigen liefl, brackte Tkeologie und Pkilo-
sopkie zugleick zu Fall. Jeder Versuck muCte Verdackt
eiTegen, in welckem man es wagte, die Welt als etwas
Selbstandiges zu nekmen. Man katte kein gutes G-ewissen
mekr, sobald man das sinnlick Erkennbare der tkeologiscken
Beleucktung entriickte. Okne diese war ja die Welt des
Teufels, waren alle ikre Stimmen Sirenenstim m en, war ikre
Sckonkeit ein Fallstrick, war die Wissensckaft von ikr
Sckwarzkunst und Magie. Selbst nock ein Petrarca kat
sick sckwere Vorwiirfe gemackt und sick sckleunigst in die
Confessiones des kl. Augustinus vertieft, als er einmal ent-
ziickt der kerrlicken Natur der Riviera ins Angesickt ge-
seken. Die Weltfliicktigkeit als die G-rundstimmung des
mittelalterlicken Menscken kemmte alle Wissensckaft. Wo
keine Naturfreudigkeit ist, da ist auck keine Naturerkennt-
nis. So war ein Fortsckritt nack keiner Seite moglick.
Aber die Kritik des Verstandes wurde dock immer
macktiger. Im Unvermogen, die kerrsckenden Vorstellungen
zu sprengen, geriet man auf die Tkeorie von der doppelten
Wakrkeit, Sie ist das SckluCwort des Mittelalters. Man
bekauptete, eine andere Wakrkeit gelte fiir die Tkeologie,
eine andere fiir die Pkilosopkie. Es war der Protest eines
formal gesckulten Denkens wider die Irrationaktaten des
kircklicken Dogmas. Aber man tastete dasselbe dock nickt
-an; man stellte es um so entscklossener unter den Sckutz
Martin Luther. 151
der heiligen Autoritat der Kirche. In dieser unertraglichen
Losung des 14. Jahrhunderts zeigt sich der Bann der Uber-
lieferung am starksten. Die Kritik arbeitete mit bundert
MacMen im Bunde; in den Augen Unzahliger war die
ganze Scbolastik bereits diskreditiert: iiberall Empfindung
der Enge und des Drucks. Indessen schien das groCe Ge-
bilde der Vergangenheit fiir ewige Dauer bestimmt zu sein
und allem Widerspruch zu trotzen.
Aber schien es wirklich so? Haben wir nicht iiber-
sehen, daC bereits seit mehr als einem Jahxhundert, vor-
nehmlich in Italien, sick eine neue Bildung, die Bildung
der Renaissance, entfaltet hatte? ISToch jiingst hat ein geist-
voller Sckriftsteller geurteilt: „Die italieniscke Renaissance
barg in sich alle die positiven Grewalten, welcken man die
moderne Knltur verdankt." Gewifi — man wird zugestehen
miissen, daB ohne die Renaissance das Mittelalter schwer-
lich. gesprengt worden ware. Unser moderner Staat, die
Entwicklung von freien und eigenartigen Individuen, die
Entzifferung der Vergangenheit, die Entdeckung der Welt
und des Menschen, die Ausgleichung der Stande, die Aus-
bildung einer hoheren Form der Geselligkeit, die aidJere
und innere Verfeinerung des Lebens, vor allem aber die
Fahigkeit, das Konkrete iiberhaupt wieder sehen und in
kunstlerischer Form zur Darstellung bringen zu konnen,
das alles verdanken wir hauptsachlich der Renaissance.
Aber war das alles und war dies alles sichergestellt? Schon
die Geschichte der Renaissance vermag uns eines Besseren
zu belehren. Bereits vor der brutalen Hispanisierung Italiens
und vor der Epoche der Kontrareformation war die Re-
naissance im Medergang. Woher dieser Medergang? Nun
— die Wiedererweckung der Antike, der Riickgang auf das
Altertum ist der Kernpunkt im geistigen Leben der Re-
naissance. Hier lag ihre Schonheit und Starke, hier lag
aber auch ihre Schwache und Schranke. Die Antike fuhrte
die Humanisten aus der Welt des Mittelalters heraus; aber
152 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
festen Halt und neue Ordmingen vermoclite sie ilmen nicht
zu geben. Sie befreite das Leben und Denken von der
kirchliclien Bevormundung; aber Freiheit von der philoso-
pbisclien und theologiscben hat sie nur in eirdgen Geistem
erzeugt, die weder die acMungswertesten nocb die einfluB-
reichsten waren. Die geistige Luft, in der die Humanisten
atmeten, der Boden, auf den sie den neuen Betrieb der
"Wissenscliaft stellten, war der Platonismus mit seiner
Mystik, seiner Naturspekulation und Theologie. Die neue
Bildung hat im einzelnen tausend Bande gesprengt und
dauernde Grrundlagen gelegt; aber als Weltanschauung hat
sie ihren Jiingern keine andere Wahl gelassen als die
zwischen Frivolitat und Mystik. Die Philosophie, fiir welche
man sich in den G-arten der Mediceer begeisterte, war die
platonische. Die Formeln der alten Wissenschaft waren in
ihrer Hohlheit erkannt: das entziickte Auge sah gleichsam
zmn ersten Male die Welt und blickte den Dingen freudig
und kiihn entgegen. Aber sobald man die Summe zog,
blieben die Erkenntnisse von demselben Kchten Nebel um-
flossen, in welchem das lebensmiide Altertum dieselben ge-
schaut hatte.
Die Renaissance hat weder den Weg zu einer neuen
kraftigen SittHchkeit gefunden, noch die Grenzlinien ent-
deckt, welche Glauben und Wissen, Qeist und Natur,
Schonheit und Wahrheit scheiden. Ihr Lebensideal war ein
kiinstlerisches ; eben darum blieb sie unsicher, wo sie sich
liber das Einzelne zu erheben strebte. Aber eben darum
ist die Kirche des Mittelalters imstande gewesen, sie zu
ertragen. Diese Kirche iiberwindet jede Bedrohung, die
aus der Indifferenz oder Frivolitat, aus dem Asthetischen
Oder Mystischen entspringt. So streng abstoCend sich die
alte Bildung der Kirche und die neue der Renaissance ent-
gegenstanden — ein geheimer Zug der Wahlverwandtschaft
war in einer Hinsicht doch vorhanden, eine Wahlverwandt-
schaft auf wirkhcher Verwandtschaft beruhend; denn das
Martin Luther. 153
Grebaude der Kiixhe war selbst mit den Mitteln der Antike
gebaut worden, und die geheimsten und zartesten Regungen
dort verleugneten ibren Ursprung nicht. Die Renaissance
und der Humanismns sind des Mittelalters nicbt macbtig
geworden, weil sie es lediglicb mit dem Altertum bekampf-
ten. Mocbte aucb eine feme Znkunft den Uberwundenen
geboren: zunacbst blieb die Kircbe mit den kiimmerlicben
nnd verzerrten Resten des Altertums Siegerin. Ja sie
wurde der Zuflucbtsort fiir viele, als die neue Zeit ein un-
erbittlicbes Dilemma aufnotigte und die Barbarei neben die
Freiheit zu stellen scbien.
Da wurde in der Zelle eines deutseben Klosters ein
Seelenkampf siegreicb ausgekampft, dessen Folgen unermeC-
licbe werden sollten. Innere Unruhe, die Sorge um sein Heil,
trieben Martin Luther in das Kloster. Fromm werden
und genug tun -wollte er, damit er einen gnadigen Gott
kriege. „Ist je ein Monch gen Himmel kommen durcb
Moncberei", durfte er spater sagen, „so wollte icb aucb
bineingekommen sein." Aber indem er alle die Mittel be-
nutzte, welcbe die mittelalterlicbe Kircbe ibm bot, wucbsen
seine Anfecbtungen und Qualen. Er batte das BewuCtsein
mit alien Macbten der Finsternis zu ringen. Wenn ibn
nacbmals auf der Hobe seines Wirkens KJieinmut iiberfiel,
so bedurfte es nur der Erinnerung an jene klosterlicben
Scbrecknisse, um ibn wieder zu festigen. In dem Systeme
von Sakramenten und Verpflicbtungen, dem er sieb unter-
warf, fand er die GewiCbeit des Friedens nicbt, die er
sucbte. Er wollte sein Leben fiir Zeit und Ewigkeit auf
einen Fels griinden; aber alle Stiitzen, die man ibm anpries,
zerbracben unter seinen Handen und der Boden wankte
unter seinen FiiUen. Nun — er glaubte mit sich und seiner
Siinde allein zu kampfen; aber in "Wabrbeit rang er zu-
gleicb mit der Macbt einer tausendjabrigen Uberbeferung,
mit ibren Idealen des Heiligen, mit ibrer Scbatzung der
Giiter, mit ibren Qualen und Trostungen.
154 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
„Er trug den Kampf in breiter Brust verhlillt,
„D6r jetzt der Erde halben Kreis erfilllt;
„Sein Geist war zweier Zeiten Schlaohtgebiet,
„Mioh. wundert's niobt, dafi er Damonen sielit.''
In solcher Not ging es iiini am Neuen Testamente auf,
was das "Wesen und die Kraft der christKchen Religion sei.
Aus einem weitschiclitigen Systeme von BiiBungen und
Trostungen, von strengen Satzungen und unsicheren Gnaden
fiikrte er sie heraus zu energischer Konzentrierung. Der
lebendige Grott — niclit die pliilosopliisclie oder mystische
Abstraktion — , der offenbare, der gewisse, der jedem
Christen erreiclibare, gnadige Grott. Unwandelbares Ver-
trauen des Herzens auf ihn, der sicli in Clnristus zu un-
serem Vater gegeben hat, personliche Griaubenszuversicht :
das wurde rhm die ganze Summe der Religion. Tiber alias
Sorgen und Gramen, iiber alle Kiinste der Askese, iiber aUe
Vorschriften der Theologie hinweg wagte er es Gott selbst
zu ergreifen, und in dieser Tat seines Glaubens gewann
sein ganzes Wesen selbstandige Festigkeit. „Mit unsrer
Macht ist nichts getan." Er kannte jetzt die Macht, die
unserem Leben Halt und Frieden verleiht, und wuBte sich
fur immer in ihr geborgen. Glauben — das hiefi ihm nun
nicht mehr das gehorsame Fiirwahrhalten kirchhcher Dogmen,
kein Meinen und kein Tun, sondern die personliche und
stetige Hingabe des Herzens an Gott, welche den ganzen
Menschen umschafft. Das war sein Bekenntnis vom Glauben :
ein lebendig, geschaftig, tatig Ding sei derselbe, eine gewisse
Zuversicht, die da frohlich und lustig macht gegen Gott und
alle Kreaturen, und die da immer bereit ist, Jedermann zu
dienen und aUerlei zu leiden. Unser Leben ist trotz aller
tjbel, trotz aUer Siinde geborgen in Gott, wenn wir ihm
nui- herzlich vertrauen wollen: das wurde der Grundge-
danke seines Lebens. In diesem hat er den anderen mit
gleicher GewiCheit erkannt und erlebt, den Gedanken von
der Freiheit eines Christenmenschen. Diese Freiheit war
Martin Luther. 155
iliin nicM eine leere Emanzipation oder der Freibrief fiir
jegliche Subjektivitat, sondern Freiheit war ihm die Herr-
schaft iiber die Welt in der GewiCheit, dafi, wenn Gott fiir
Tins ist, niemand wider iins sein kann; frei von alien menscli-
lichen Gresetzen war ihm die Seele, die in der Liebe Grottes
ihr hochstes Gesetz und das Motiv ihres Lebens erkannt
hatte.
WoM hat er von den alten Mystikern gelernt; aber er
hat gefunden, was sie suchten. Sie blieben stecken in er-
habenen Gefiihlen und brachten es nicht zur dauernden
Empfindung des Friedens. Er drang durch zu einer aktiven
Frommigkeit und zu sehger GewiBheit. Er hat das Recht
des Individuums zunachst fiir sich selber erkampft; die
Freiheit des Gewissens hat er erlebt. Aber das freie Ge-
wissen war ihm das innerlich gebundene, und das Recht
des Individuums verstand er als die heilige Pflicht, es
mutig auf Gott zu wagen und dem ISTachsten selbstandig
und selbstlos in Liebe zu dienen.
So wurde er der Anfechtungen quitt. Aber was er
gefunden, das steUte sich ihm nicht als neue Lehre dar;
im Gegenteil: er glaubte jetzt nur die alte Wahxheit er-
kannt zu haben, die eine iible Praxis und eine falsche Ge-
lehrsamkeit verdeckt gehalten hatten. Seine Pietat gegen
die alte Kirche behauptete sich zunachst unerschiittert: so
bHeb er denn auch weiterhin noch ein Monch, und nur an
der steigenden Freudigkeit, mit welcher er den neuen Lehr-
beruf in Wittenberg versah und sich in mancherlei Ge-
schaften seiaes Ordens bewegte, zeigte es sich, daU er ein
Anderer geworden. Wahrhch! dieser Eeformator ist das
Gegenbild zu alien leichtfertigen und vermessenen Reformern.
Durch schwere Erfahrungen ist er erst in der Position fest
geworden und hat an einen Angriff auf das Bestehende
durchaus nicht gedacht. Aber eben die Position macht den
wahren Reformator. Er bedarf einer personlichen Idee, die
zunachst ihn selbst volHg erfafit und bemeistert. Aber er
156 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
bedarf noch melir. Er bedarf vor allem der unimttelbaren
Einsicht in das, was den Ban der Gesellschaft zusammen-
halt. Er nrniJ die neue Stiitze immer scbon in Bereitschaffc
haben, wenn er die morsche, alte wegnimmt. Sonst ist der
erste Angriff entweder der Beginn eines allgemeinen Zu-
sammenbruclies , oder der kiihne Neuerer wird selbst bei
seite geschleudert. l^vrn — das ist das GrroBartige an
Lntlier, in welcber Umsiclit und Stetigkeit er vorgeschritten
ist aus der Peripherie bis ins Zentrum. In einer bewun-
derungswiirdigen Folgerichtigkeit entwickelte sick sein An-
griff auf das kerrsckende System in den seeks Jakren von
1517 — 23. Das war keine kluge Berecknung; es war die
segensreicke Folge der Pietat, mit welcker er selbst an dem
Uberkeferten king. Ikm waren die alten Hiillen teuer; er
kat sie sick selbst Stiick fiir Stiick vom Leibe reiCen miissen,
er kat mit sckweren, inneren Kampfen, mit seinem Herz-
blnte, jeden Protest und Angriff bezaklt. Man kat ikm
nickt mit Unreckt Unsickerkeiten und Sckwankungen in
seinem Auftreten bis 1521 vorgeworfen, namentlick in seinem
Verkaltnis zum Papst. Aber man kat dabei nickt bedackt,
wie ekrenvoll fiir ikn dieses Sckwanken gewesen ist, und
wie der Erfolg der Reformation davon abking, daC er sick
nickt liberstiirzte.
Erst als er die ganze Verwirrung der G-ewissen em-
pfunden katte, erst als er die babyloniscke Grefangensckaft
erkannt katte, in welcke das Evangelium und das deutscke
Volk durck das Papsttum gefukrt worden war, erst dann
brack in ikm mit dem keiligen Zorn der Furor teutonicus
los und entlud sick in furcktbaren Scklagen. Wie besckeiden,
aus dem nacksten Kreise seines Berufes keraus, katte er
angefangen. Die Aufnakme des Tkesenstreites mit Tetzel
war seine Pflickt als Wittenberger Seelsorger und Professor
gewesen. Zur BuCe kat er sein "Volk da gerufen und die
Kraft des Evangekums der Elraft der Ablasse entgegen-
gestellt. Dann aber katten ikn, wie er selbst angibt, die
Martin Luther. 157
Gegner beriihint gemacht und zugleich immer weiter ge-
trieben. Sie scUugen in die Kohlen: diese sprangen umher
und ziindeten. Sie suchten zu loschen, nnd sie zeigten
Luther damit den Umfang des Brandes. Er hat sich nicht
zum Reformator aufgeworfen — wer darf das? — , sondern
dieser Beruf ist ihm aufgezwungen worden. Aber an jenem
weltgeschichthchen Tage zu Worms, da er vor Kaiser und
Reich gestanden, da hat er das Szepter des Reformators
erhalten und genommen. Jenes beriihrnte „Ich kann nicht
anders" war das innerste G-estandnis seiner Seele. Das Ge-
waltige und Grute tut nur, wer nicht anders kann. Den
Schrecknissen, die jeder Umsturz zur Folge hat, vermag
nur der ins Auge zu sehen, dem wider das G-ewissen zu
handeln der hochste Schrecken ist.
Aber die ernsten Folgen des Protestes zeigten sich
nicht gleich anfangs. Ein G-eistesfriihling zog iiber die
deutschen Lande. Was sich nach Ereiheit und Aufkla-
rung sehnte, das begriifite begeistert den Reformator. Zu
Niirnberg protestierten die Stande des deutschen Volkes
einmiitig wider das alte System. Die verschiedenen un-
kraftigen Versuche zur Reform der Kirche, der G-esellschaft,
der Wissenschaft, sie schossen gleichsam zusammen und
schienen nun einen KJrystaUisationspunkt gefunden zu haben.
Aber bald wurden auch alle selbstsiichtigen Begehrungen
und Wiinsche der Menschen entbunden. Jeder Stand —
Eiirsten, Magistrate, Adel, Biirger und Bauer — hofffce bei
der ungeheuren Bewegung zu gewinnen. Das jjEvangelium"
drohte das Schlagwort zu werden fur alle denkbaren Erei-
heiten, von der Ereiheit eines Christenmenschen bis herab
zur wilden Ereibeuterei. Ernste Manner, die zuerst ge-
wonnen gewesen, wandten jetzt der neuen Sache emport
wieder den Riicken. Denn mit der Entwurzelung der alten
VorsteUung von der Kirche war aUes ins Schwanken ge-
raten. Hat Kopernikus das alte ptolemaische Weltsystem
gestiirzt: der Umsturz des Kirchensystems war zunachst
158 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
von ungleich bedeutenderen Folgen. Er griff in alle Ver-
haltnisse der Gesellscliaft, des Staates, der praktiscten
"Weltanschauung, des Kiiltus und der Sitte ein. Die Kirche
niclit mehr nnfehlbar, ein Gebaude, an dem auch Irrtum
"and Slinde gezimmert — welche Autoritat sollte nocli gelten,
wenn die Saule der Wahrlieit zusammenbrach? Alle Ord-
nnngen des Glaubens und Lebens gerieten in Verwirrung.
Die Fundamente der Gesellscbaffc scbienen zu wanken.
Aber Luther kannte einen festen Boden, auf den er
sich und sein Volk stellen woUte, das Wort Grottes, und er
wulJte von einer Kraft, machtiger im Bauen als im Nieder-
reifien, der lebendige Grlaube. „Staunenswei-t", hat ein
groBer Historiker gesagt, „ist der Ernst, die Tiefe, die
Wahrhaftigkeit des Greistes, der in sich gerungen, bis er
jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr erfiillte;
staunenswiirdiger , daB er angesichts der ungeheuren Be-
wegung, die sich auf ihn berief , auch nicht einen Augen-
blick irre geworden ist." Luther ist kein eitler Volksmann
geworden, als die Wogen einer allgemeinen Begeisterung
ihn erhoben, und er hat nicht verzagt, als er sein Schiff
durch wilde Wellen steuern muCte. Er fiihrte nicht seine
Sache; das Seelenheil der ganzen IsTation trug er auf dem
Grewissen. Diese Verantwortung — wer von uns kann sie
nachempfinden? — erhob ihn iiber alle Bedenken; sie stahlte
seinen Mut und sie legte ihm die neue Sprache des Zorns
und der Liebe, trotziger Mannlichkeit und kraftvoUer Sim-
plizitat auf die Lippen. An seiner Person lag ihm nichts.
Wohl "wuBte er sich als ein auserwahltes Riistzeug: „Mar-
tinus Luther im Himmel, auf Erden und in der HoUe wohl-
bekannt" — aber von jedem selbstischen Literesse war er
frei. „Gott kann zehn Doktor Martinus' schaffen, wo der
einige alte ersoffe": in diesem Vertrauen auf seine Sache
war er taglich bereit zu sterben.
Diese Sache war ihm ganz und gar das Wort Gottes,
das Evangelium. Mochten Andere hunderte von ISTebenab-
Martin Luther. 159
sichten haben, reine und unreine, er kannte nur diesen
einzigen Leitstern. Keine Menschensatzungen soUten mekr
gelten, sondern nur das Wort Gottes. GewiC, es war die
segensreicliste Entlastung, es war ein ungeheurer Fortschritt.
Er bedeutete DicM nur den Brucb mit der Kirche des
Mittelalters , sondern in AVabrbeit aucb die Auseinander-
setzung ncdt der Kircbe des Altertums, mit dem Katholizis-
mus, der sicb in die Triimmer der Antike eingebaut batte.
Wie die Humanisten den Riickgang auf das klassiscbe Al-
tertum lebrten, auf die Quellen aller Bildung, so verklindete
Lutber den Riickgang auf das Evangebum, auf die Quelle
der Rebgion. Was cbristlicb ist, das soUte nun nicbt mebr
zweifelbaft sein. Keine priesterlicbe Grebeimwissenscbaft,
kein wiistes Gremenge von Satzungen unter dem Schutze
des Heiligen — nein jeder Laie, jeder scblicbte Cbrist soUte
in den Stand gesetzt sein, zu priifen und zu erkennen,
was cbristlicber Grlaube ist. Das Wort Grottes nacb dem
reinen Verstande. In dieser Tbese war die unbefangene
Ermittelung des wirklicben Wortsinnes der beil. Scbrift
gefordert. Jede willkiirlicbe Auslegung nacb MaCgabe von
Autoritaten war abgesobnitten. Lutber bat, soweit er zu
seben vermocbte, mit dieser Forderung Ernst gemacbt.
Er konnte freilicb nicbt abnen, wie weit sie fiibren wiirde.
Aber seine metbodiscben Grrundsatze vom „DoUmetscben",
sein Respekt vor den Spracben baben die Scbriftwissen-
scbaft begrvindet.
Docb das ist nur die eine Seite der Sacbe. Sie barg
in sicb ein scbweres Problem; denn — was ist die Bibel?
ist sie nicbt selbst ein Stiick der kircblicben IJberlieferung?
deckt sie sicb so einfacb mit dem Evangebum Cbristi? war
es iiberbaupt moglicb, dies kompbzierte Bucb, so wie es
ist, zur unmittelbaren Kicbtscbnur des Glaubens und Lebens
zu erbeben? Was beiJ sicb nicbt aus der Bibel erweisen?
berief sicb nicbt aucb die berrscbende Kircbe fiir Glauben
und Leben auf die Bibel?
160 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: T.
GrewiC! Aber hier traten fur Luther zwei maCgebende
G-edanken ein. Er bat sie nicbt in systematiscber Klarbeit
durcbgedacbt, aber in lebendiger Uberzeugung gehandhabt.
Er bat den einen in entscbeidenden Momenten seines Le-
bens aus den Augen verloren, aber er bat sicb docb immer
wieder auf ibn besonnen.
Das eine war die Erkenntnis, daC der cbristlicbe Grlaube
ausscblieClicb an Gott und an die Person Christi gebunden
sei, und dafi daber nicbt der Bucbstabe der Scbrift ver-
pflicbte, sondern allein das Evangelium, welcbes sie entbalt.
Das andere war die G-ewiBbeit, dafi alle selbsterwablten
Formen der Frommigkeit vom Ubel seien, dafi die Bewab-
rung der Religion daber in den grofien Ordnungen des
menscblicben Lebens, in Ebe, Eamilie, Staat und Beruf,
erfolgen miisse. Eben weU er davon durcbdrungen war,
dafi kein Menscb um Gottes willen etwas tun konne und
diirfe, eben weil er das ganze Verbaltnis des Menscben zu
Gott nicbt auf ein Tun und nicbt auf ein "Wissen, sondern
lediglicb auf die glaubige Gesinnung griindete, so erkannte
er keine Ubungen als wertvolle mebi- an, die angeblicb in
besonderem Sinne nG-ottesdienst" sein soUten. Es gibt nur
einen direkten G-ottesdienst: das ist die kraftige Zuversicbt
auf Gott; sonst gilt die ausnabmslose Regel, dafi man G-ott
in der Nacbstenliebe zu dienen babe. "Weder mystiscbe
Kontemplation nocb asketiscbe Lebensfiibrung liegen in
dem Evangelium bescblossen.
Es ist ausdriicldicli zu konstatieren , dafi diese beiden
Grundgedanken sicb fiii' Lutber aus dem Religionsbegriff
ergaben, wie er ibn erfafit batte. Die Ereiheit vom G-esetz
des Buebstabens und das Recbt der natiirlicben Lebens-
ordnungen — sie waren fur Om keine selbstandigen Ideale.
Aber sie fielen ibm zu, indem er das EvangeUum durcb-
dacbte, verkiindete und anwandte. Die "Wirkungen waren
unermefiUcbe; denn es war nun mit einem Scblage die
Rebgion aus der Verkuppelimg mit allem ibr Fremden
Martin Luther. 161
befreit und zugleich das selbstandige Recht der naturlichen
Lebensgebiete — dariiin aucb der Wissenschaft von ihnen
— anerkannt.
Die Religionslebre soil nun nicbts anderes mehr sein
als die Darlegung des Evangebums , wie es die cbristUcbe
Gemeinde erzengt hat nnd zusammenbalt. Ibre Q-ewifibeit
soil nicbt mebr beruben auf einer aufieren Autoritat, aber
ancb nicbt auf pbUosopbiscben Erwagungen. Die Pbiloso-
pbie ist nicbt mebr die gefiircbtete Dieneriu der Tbeologie,
sondern ibre Bemiibungen sind unabbangig von jeder tbeo-
logiscben Bevormundung. Uber dem groiJen Gebilde, wel-
cbes wir Mitt«lalter nennen, liber diesem Chaos unselb-
standiger und in sicb verscblungener Gestaltungen, schwebte
der Greist des Grlaubens, der seine eigene Natur und darum
seine Scbranken erkannt batte. Unter seinem Wehen rang
sicb alles, was ein Recht auf freie Greltung batte, zu selb-
standiger Entfaltung empor. Vor Luther hat kein Anderer
so klar und entschieden die groBen Gebiete des Lebens ge-
trennt. Wunderbar! dieser Mann wollte die Welt nichts
Anderes lebren als was das Wesen der Religion sei; aber
indem er ein Grebiet in seiner Eigentiimli chkeit erkannte,
kamen alle anderen zu ibxem Rechte.
Der Staat — nicbt mebr ein fatales Grebilde aus Zwang
und Not, bestimmt sicb an die Kirche anzulebnen, sondern
die souverane Ordnung des offentUchen gemeinscbaftHcben
Lebens ; das Recht — nicbt mebr ein undefinierbares Mittel-
ding zwiscben der Macht des Starkeren und der Tugend
des Christen, sondern die selbstandige, von der Obrigkeit
gehiitete Norm des Verkehrs; die Ehe — nicbt mehr eine
Art von kircblicher Konzession an die Schwacben, sondern
die gottgewollte, aber von jeder kircblichen Bevormundung
freie Verbiadung der Greschlechter, die Scbule der bochsten
Sittlicbkeit; die Armenpflege und Liebestatigkeit — nicbt
mehr ein tendenzioses Getriebe zur Versicberung der eigenen
Sebgkeit, sondern der freie Dienst am Nachsten, der in der
Harnaek, Eeden und Aufsatze. I. 11
162 Erster Band, erste Abteilung. Eeden; V.
wirkliclieii Hilfleistung seinen letzten Zweck und semen
einzigen Lolin sielit. Aber iiber das AHes: der biirgerKclie
Beruf, die scKliclite Tatigkeit in Haus und Hof, in G-eschaffc
und Amt — • nicht mehr die mifitrauisch. beurteilte, weil
vom Himmel abziehende Bescbaftigung, sondem der recbte
geistlicbe Stand, die Spbare, in welcber sicb die Gresinnung
und der Cbarakter zu bewabren bat.
Nun — alle diese tjberzeugungen sind bente Gremein-
gut bei uns geworden; aber nur zu baufig wird es ver-
gessen, durcb wen sie zu kraftigem Leben geweckt worden
sind. Wir bebaupten sie beute unabbangig von jedem
reHgiosen G-lauben, und es scbeint vielleicbt den Meisten
unter uns, dafi sie desselben vollig entbebren konnten. Ja
in Hinbbck auf die irrationalen Formen des Kircbenglaubens,
welcbe Lutber nicbt aufgegeben bat, stellt sicb wobl, bald
mebr bald minder deutlicb formuliert, das UrteiL bei Vielen
ein, die Reformation an und fiir sicb sei eine Reaktion ge-
wesen, die mebr gescbadet als geniitzt babe; der Fortscbritt
sei neben ibr und unabbangig von ibr durcb eine Eeibe
giinstiger Konjunkturen entstanden. Ein Moderner bat
das jiingst also ausgedriickt: „Eine Vergleichung zwiscben
dem alten und dem neuen Kircbenglauben zeigt keinen
Xulturgewinn. In der romiscben Kircbe war der Begriff
der Wabrbeit verloren gegangen und im Protestantismus
nicbt wieder entdeckt worden. Die Grrundlage der alten
Kircbe bHeb in ibrem Kerne unberubrt. Das luftige Gre-
baude des Aberglaubens ward nicbt zerstort, viebnebr durcb
den Bibelglauben nocb mebr befestigt. Die Vernunft bat
an dem Werke der Reformation ebensowenig Anteil als
die Freibeit."
Dies Urteil ist von jedem Standpunkt aus irrig; denn
daC durcb die Reformation das Grebiet des Aberglaubens
mindestens eingescbrankt worden ist, ist uniraglicb. Docb
dies nur nebenbei. Vor allem sind hier die eigentiunlicben
Bedingungen verkannt, an welcbe jeder entscbeidende Fort-
Martin Luther. 163
schritt der Menschheit gebunden ist. Zerstorung des Aber-
glaubens fiir sich allein — so notwendig dieselbe ist —
vermag weder in die Tiefe noch in die Breite zu wirken,
Es bedarf eines durchschlagenden neuen Ideals praktisclier
Lebensgestaltung, welches an das Vorhandene ankniipft um
es umzubilden, es bedarf einer Erhohung der sittlichen
Kraft nnd des G-efiiMs der VerantwortUchkeit, um die Er-
schiitterungen, die jeder Fortsckritt mit sich bringt, zu
iiberwinden; und es bedarf endHch einer Personlicbkeit, die
in der Sache aufgeht und sie auf diese Weise in die Welt
wirksam einfuhrt. Man kann unbedenklicb zugeben, daC
Luther in mehr als einer Hinsicht eine mittelalterhohe Er-
scheinung gewesen ist, man muC sogar behaupten, daB sein
Auftreten das Absterben gewisser mittelalterhcher Ideen
verzogert hat — aber was will das sagen? "Wenn alles
verderbhch ist, was unsern G-eist befreit, ohne uns die
Herrschaft iiber uns selbst zu geben, so ist nichts segens-
reicher und fordersamer — auch fiir die Befreiung des
Greistes — als die Kraftigung seiner sittlichen Natur und
die Versicherung seines Adels. Das aber hat die Reforma-
tion geleistet. Sie hat vor allem die Q-eister erst fahig ge-
macht, die Erkenntnisse, welche die Zukunft bringen sollte,
zu ertragen, ohne die Herrschaft iiber sich selbst zu ver-
lieren; denn sie hat ihnen eine unerschiitterliche Stellung
iiber der Welt angewiesen. Nun nehme man auch alles
zusammen, was man zum NachteQe der Reformation an-
fiihren muC, die harten Ungerechtigkeiten, die neuen Irr-
tiimer, die teilweisen Ruckschritte, die unsaghchen Erbarm-
lichkeiten in der Durchfiihrung — das alles verschwindet
gegeniiber dem, was wir ihr schuldig sind, und zwar wir
alle, nicht nur die evangehschen Deutschen. Darf ich es
mit den Worten Goethes sagen: „Wir wissen gar nicht,
was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles
zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln
geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsen-
11*
1 64 Erster Band, erste Abteilung. Eeden : V.
den Kultur fahig geworden, zur Quelle ztiriickzukeliren und
das Christentum in seiner Reinlieit zu fassen. Wix haben
wieder den Mut, mit festen FiiiJen auf Grottes Erde zu
stelien nnd uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu
fiihlen."
GewiC, bier liegt es, und bier liegt zugleicb die epocbe-
macbende Bedeutung Lutbers fiir die Wissenscbaft. Lutber
bat nicbt nur angefangen, die Erkenntnis der "Wabrbeit
vom Macbtsprucb der tJberlieferung zu befreien und damit
eine reine Betracbtung der Gescbicbte zu ermogbcben, son-
dern er bat die Freibeit und VerantwortlicKkeit des Ar-
beitenden verkiindet. Er bat die Arbeitsgebiete getrennt
und sie eben dadurcb einzeln in ein belles Licbt treten
lassen. Er bat ferner das selbstandige Recbt jeder Berufs-
arbeit, und so aucb der wissenscbaftbcben, geltend gemacbt.
Aber liber das alles: er bat dem wissenscbaftlicben Arbeiter
eine GrewiBbeit seines G-ott gescbenkten, personlicben Wertes
und damit einen unverwiistlicben Ideabsmus eingebaucbt,
der ibn wappnet gegen die Erscbiitterungen des Selbst-
bewuCtseins, die eine Eolge aller empiriscben Erkenntnis
und aller Mystik sind.
Demgegeniiber kann man wolil dreist bebaupten, daC
dies abes aucb obne Lutber von unserem Gescblecbt, oder
gar von uns selbst, errungen worden ware; aber eine solcbe
Bebauptung ware zum mindesten eine voUig undiskutierbare
Tbese, eine gescbicbtlicbe KannegieBerei. ISTur das Ge-
wordene, nicbt „was geworden ware", vermogen wir zu
erkennen. Geworden aber ist infolge der Reformation,
nicbt infolge der Renaissance oder der wiedertauferiscben
Mystik, jene iinbefangene , niicbterne und gottvertrauende
Gesitmung und Stimmung, die uns den klaren Bbck fiir
die Dinge dieser Welt erst ermoglicbt und uns erlaubt bat,
dieselben mutig und freudig zu erfassen. Lutber bat die
Wissenscbaft befreit, indem er den Cbiisten wieder gezeigt
bat, der an dem Evangelium erwachsene Glaube trage
Martin Luther. 165
seine Zuversicht in sich selber; er bediirfe weder noch
dulde er auJJere Autoritaten und philosophisclie Umdeu-
tungen. Die Renaissance hatte — zum Teil wider ihren
"Willen — fiir das alte System gearbeitet. Was man
„Lutliers Lehre" nennt, siebt ihm auCerlich recht ahnlich.
Achtet man aber auf die Absichten und scblieBlicb auch
auf den Erfolg — die Absichten kommen in Betracbt, nnd
ungebrocbene Erfolge gibt es in der Geschicbte nicbt — ,
so ist das "Walten eines neuen Geistes unverkennbar.
Aber die Enge und Unvernunft des tbeologischen Sy-
stems, welches die lutherische Orthodoxie aufgerichtet hat!
Nun zunachst bei Luther selbst herrscht die Kraft und Form
einer unmittelbaren IJberzeugung. Das Systematische tritt
zuriick, und wo er systematisiert, ist's nicht zum Vorteil
seiner Sache. Erst hinter den hellen und lebendigen tjber-
zeugungen ruht bei ihm wie bei alien energischen, groB-
tatigen und fortschreitenden Naturen ein geheimnisvoUer
Griaube, der den kleingesinnten und auf sich selbst be-
schrankten Menschen ein Argernis, den riickschreitenden
und schwachen eine Gefahr und den verstandigen ein Ratsel
ist. Sie selbst haben freilich allzumal keine Ratsel, noch
weniger sind sie seiche.
Das Glaubenssystem, welches sich auf Luthers Predigt
auferbaute, muCte unter den Zeitumstanden schnell ge-
zimmert werden. Noch war der Horizont der Menschen
ein eng begrenzter, ihre Vorstellungen vielfach mittelalter-
Kche. Man hatte ein Volk in Kirche, Schule und Haus zu
erziehen. Man hatte ein neues Kirchenwesen zu griinden.
Man hatte die Sturmer und Dranger abzuwehren. Welche
Aufgaben! DaB die neue Idee, welche in die Erscheinung
trat, wii'khch im Laufe von kaum zwei Menschenaltern
einen Leib erhielt, daB iiberhaupt Formen auf alien G-e-
bieten des Lebens gefunden wurden, daB in diesen Formen
wirklich auch die Sache, der evangehsche Glaube, zum Aus-
druck gekommen ist — wahrhch nur im VerdruB iiber die
166 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
seltsame Zumutuiig, das altprotestantische Glaubenssystem
fiir das reine Evangelium zu nehmen, kann man dieses
System selbst anMagen und fiir unwert lialten. Auf seinem.
Boden hat doch im 17. Jakrhundert nicht nur ein Paul
Gerliardt mit seiner lebendigen Frommigkeit, sondern
audi ein Keppler gestanden. Sie fiihlten sich durcli das-
selbe niclit beengt, sondern erweitet und bestimmt. "Was
wir heute als Last empfinden, das war es damals noch. niclit.
Aber die heftigen theologisclien Streitigkeiten und die
traurigen Spaltungen, welche sicb so scbneU bei den Pro-
testanten einstellten! Aucli sie lassen ein giinstigeres Ur-
teil zu. Sie waren eiue Folge des Zusammenbrucbs der
auCeren Autoritaten; sie waren aber zugleich eine Folge
der neuen protestantisclien Gewissenhaftigkeit in Grlaubens-
sacben. Man muC sie zusammenhalten mit der Bereit-
scbaft der Gegner, um Dogmen zu markten und zu ban-
deln. Luther und seine Schuler zeigten keine Toleranz.
„Unsere Liebe ist bereit, fiir jedermann in den Tod zu
gehen; aber unser Grlaube ist uns unantastbar wie unser
Augapfel." Nun in der Tat, es gibt nichts Intoleranteres
als die Wahrheit; sie kennt keine Konzessionen. So lag
auch damals der Fehler nicht in dem Mangel der Toleranz,
sondern in der Beschranktheit der Erkenntnis. Daher, als
Luther zu Marburg Zwingli die Bruderhand verweigerte,
da handelte er in Kraft der hochsten Gewissenhaftigkeit.
Wir konnen seine Auffassung als eiae urtiimliche beklagen,
aber wir miissen die Festigkeit seines Charakters bewundem.
Seitdem sind Spaltungen auf Spaltungen erfolgt. Aber
trotz aUes Jammers, den sie angerichtet, trotz aUer Ver-
kummerungen, die sie verursacht, trotz aUer tJbel, die sie
liber unser Vaterland gebracht haben — die Protestanten
tauschen nicht mit der scheinbaren Einheit und Geschlossen-
heit der Gegner; denn sie achten die Voraussetzung dieser
Eiaheit nicht fiir eia Gut, sondern fur ein Ubel. Wohl
wissen wir, was die Reformation uns Deutschen gekostet
Martin Luther. 167
hat und noch. immer kostet. Sie hat unsere politische
Einigung um Jahrhunderte verzogert; sie hat uns den
dreifiigjahrigen Krieg gebracht; sie hat es uns erschwert,
der Kirche des Mittelalters , ja anch der alten Kirche, ge-
recht zu werden — man bricht nicht mit der Geschichte
ohne sie zu verdunkeln — ; sie hat uns in eine konfessio-
nelle Spaltung gefiihrt, die noch eben fiir unsere Weiter-
entwieklung verhangnisvoU ist. Aber sie hat zugleich alles
das begriindet, was wir heute als unsere Eigenart und
GrroJJe schatzen diirfen. Wir sind nicht dazu verurteilt,
die Reformation lediglich so zu riihmen und zu verteidigen,
dafi wir an ihre Anfange erinnern. Durch Martin Luther
ist die Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet
worden. Neue Faktoren sind eingetreten; aber der Grrund
ist im 16. Jahrhundert gelegt worden. Und die Segnungen
der Reformation haben sich iiber alle Deutschen erstreckt,
auch iiber die romischen; ja der Katholizismus selbst hat
sich bei uns ihren Einwirkungen nicht entziehen konnen.
Er hat nicht nur ehrwiirdigere Priester und einen reineren
Kultus, sondern geradezu eine and ere Gestalt, eine andere
Tiefe und einen hoheren Ernst erhalten als in den roma-
nischen Landern. Man kann es jenseits der Alpen von
kompetenter Seite nicht selten horen: „die Deutschen sind
alle Haretiker". "Was anders soli' damit gesagt sein, als
daU sich bei uns in Sachen der Rehgion das BewuBtsein
einer personhchen Verantwortlichkeit ausgebildet hat, wie
es die romanischen Volker in diesem GTrade nicht zu kennen
scheinen?
Aber wir wollen uns nicht selbst bespiegeln. Auch
bei xms im Lande der Reformation, sind Passivitat und
Stumpfheit die eigenthchen Feinde. Wir haben die theo-
logischen Formeln der Vergangenheit beiseite legen miissen ;
aber was haben so viele unter uns — die Frage ist heute
wohl erlaubt — an ihre Stelle gesetzt? Eine durchweg
relative Weltanschauung und eine historische Stimmung.
]^68 Erster Band, erste Abteilung. Keden: V.
Reichen sie wirklich. aus, damit wir das Hochste leisten?
1st der Standpunkt wohlwollender Indifferenz, anf welchem
der religiose Griaube harmlos wird, der erhabenste, der uns
alles GrroJJe und Edle verburgt und nur die alten Schatten
verscheucht? Anders tat sich. dariiber jiingst ein nicht be-
fangener Schriffcsteller, Renan, in offentlicher Rede ge-
auBert: „Es ist", sagt er, „vielfacli den heute widerlegten
Grlaubensformeln zu verdanken, wenn noch. ein Rest von
Tugend in uns iibrig ist. Wir leben von einem Schatten,
von dem Duft einer leeren Flasche; nacli uns wird man
leben vom Schatten des Schattens, und oft bin ich bange,
daJJ man doch zu wenig daran haben werde."
Ein mutiges, aber ein trauriges Bekenntnis! Sind audi
wir schon so weit? Ist mit der Widerlegung der theo-
logischen Grlaubensformeln der Vergangenheit das Evan-
gelium selbst widerlegt und abdekretiert? Haben wir es
nicht mehr notig? oder brauchen wir es nicht mehr wie
je in Hinbhck auf unsere fortschi-eitende Naturerkenntnis,
in Hinblick auf die geistige Beschrankung, welche uns
unsere Arbeitsteilung auferlegt, in Hinbhck auf unsere ver-
odete Greselhgkeit und auf die stets zunehmende und leider
notwendige Mechanisierung unseres offenthchen Lebens?
Wir brauchen es und dankbar wollen wir es halten.
Zu iiberwundenen Stufen geistiger Entwicklung konnen
wir aherdings nicht mehr zuriickkehren. Aber Luther hat
uns kein Rehgionssystem fertig gezimmert — Systeme ent-
.stehen und vergehen — , sondern er hat uns auf einem
festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir
soUen uns auf dem Grunde des EvangeUums stets aufs
neue reformieren und wider Gesinnungslosigkeit und Macht-
spriiche mutig allzeit protestieren. Auf dem Grunde des
Evangeliums, denn — n^iag die geistige Kultur nur immer
fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitem wie
er wih, liber die Hoheit und sitthche Kultur des Christen-
tums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet,
Martin Luther. 169
wird er nicht hinauskommen." "Wohl miissen wir die alten
Baume niederscUagen, wenn sie iiberstainmig und morsch
geworden sind; aber wir rotten nicht den alten Wald aus,
sondern wir suchen ilin eben dadiu'ch frisch und kraftig
zu erhalten.
Die Znkunft nnserer Nation und schlieBlicli auch. aller
unserer Arbeit hangt davon ab, daJJ wir die Antriebe zur
Indifferenz und Stumpfbeit, aber aucb zu Riickscliritt
und Obskurantismus iiberwinden und uns zu einem freien
Ckristentum der Gresinnung und der Tat emporringen. Den
Weg zu diesem Ziele aber bat uns nacb einer langen Nacbt
der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen diirfen:
Er war die Reformation. "Was in ibr GrroCes, Grewaltiges,
fiir alle Zeiten Dauerndes und Vorbildlicbes enthalten war,
das ist einzig gegeben und verkorpert gewesen in seiner
Person, in der Person des Wittenberger Professors Dr.
Martin Luther.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^
REDEN: YI
PHILIPP MELANCHTHON
Rede
bei der Feier zum vierkundertjakrigen G-edachtnis der G-eburt. Plailipp
Melanohthon's gehalten in der Aula der KOnigliclxen. Friedrich-Wilhelms-
TJniversitat in Berlin am 16. Februar 1897.
Unsere Hoclischule entschlieCt sicli selten dazu, die
stille Arbeit in den Horsalen zu unterbrechen nnd die
Kommilitonen in diesen festlichen Raum zu laden. Der
Gescbichte der "Wissenschaft und unserer Grescliiclite ist er
geweiht, nnd nur das, was fiir sie bedeutungsvoll ist, kann
hier eine Feier beanspruclien. So beweist Uinen bereits
nnsere Ernleidung, daiJ auch. die Universitat den Mann,
dessen Andenken hente alle Protestanten einigt, dankbar
verehrt nnd sich. seiner nniversalen Bedeutung fiir die
Wissenschaft nnd Bildung wohl bewufit ist. Hier bei nns
ist jiingst seine Stellung sowohl in der Geschichte der
G-eisteswissenschaften als des gelebi'ten Unterrichts be-
stimmt worden, und unserer Hochschule gebort der Ge-
lekrte an, der unermiidlicli tatig ist, verborgene Schriften
und Briefe des grofien Mannes ans LicM zu zieben. Nicbt
mit leeren Handen kommen wir zum Feste.
Philipp Melancbthon, der Professor zu Wittenberg,
war kein Prophet und Heros wie Luther, kein kiihner
Denker wie Servetus oder Sebastian Franck, kein Ent-
decker und kein Erfinder. Aber alle die Krafte und Tugen-
den, die in diesen Raumen am hochsten geschatzt werden,
haben ihn ausgezeichnet — das unermiidliche wissenschaft-
liche Streben, die ausgebreitetsten Kenntnisse, die Erfurcht
vor der Wahrheit, der zuversichtliche Grlaube an die sitti-
gende Macht der Bildung und, nicht zum letzten, eine un-
vergleichliche Lehrgabe. Indem er dies alles mit der
hochsten Pflichttreue ausbUdete, mit nnsaglichem FleiiJe
befestigte und in den Dienst eines fortschreitenden Zeit-
174 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VI.
alters stellte, wurde er der Lehrer des Protestantismus und
der Lehrer Deutsehlands. Auch. Martin Lutlier ist ein
deutsclier Professor gewesen; aber er stand zugleich. in
einem KoKeren Beruf, und so tollkiilin wird niemand tmter
Tins sein, ihn als vorbildliclien Kollegen in. Anspruch. zu
nehmen. PhilippMelanchthon aber hat zeitlebens nichts
anderes sein wollen als der unsrige, ist der unsrige gebKeben
— auCerhalb der Universitat gab es fiir ihn kein Leben —
und hat in diesem Beruf alle seine KJrafte entwickelt. Er
hat den Typus des deutschen Professors geschaffen; er hat
dem Vaterland einen neuen fiihrenden Stand erweckt, den
ehrenfesten und erleuchteten, nicht priesterUchen Stand des
akademisch gebUdeten Beamten und des hoheren Lehrers.
Er hat dadurch den Grrund zur Grofie protestantischer GTe-
merawesen gelegt. Dieser bescheidene Professor, der sich
nie als Prometheus empfand, auBer wenn er seine Fesseln
in eiaer barbarischen Umgebung beklagte, ferrate doch
Mensehen nach seinem Bilde; aber wahrend wir heute
staunend und dantbar die Friichte seiner Arbeit iiber-
schauen, beschloB er sein groCes Tagewerk, ohne zu ahnen,
was er der Welt geleistet hatte. „Wir haben beide ausge-
halten in der Niedrigkeit des Schullebens", ruft er kurz
vor seiaem Tode seinem Herzenfreunde Camerarius zu,
„und an unserem Ort getan, was wir konnten. Einigen
hat doch wohl unsere Arbeit geniitzt, Schaden hat sie ge-
wiB — das darf ich hoffen — niemandem gebracht."
So spricht der Mann, dessen Lebensarbeit sich an Um-
fang nur mit der von Leibniz und Kant vergleichen
laflt, dessen EinfluB aber, dank der geschichtlichen Stelle,
an der er gestanden, die Wirksamkeit jener beiden Manner
doch noch weit iibertroifen hat. Er hat die deutsche Bildung
von der priesterKchen Bevormundung befreit und von der
klerikalen Stufe zunachst auf die philosophisch-theologische
gehoben — das war der notwendige Durchgangspunkt, um
eine gediegene LaienbUdung vorzubereiten, die doch den
Philipp Melanchthon. 175
Zusammenkang mit der Religion und der G-escMclite nicht
verlieren soUte. Sein christlicher Humanismus ist Klammer
und Briicke zugleicli gewesen. "Wenn wir heute fragen,
wem es unsere Nation hauptsachlicli zu verdanken hat, dafi
ans der Reformation nicht ein Bruch in ihrer Religions-
nnd Knlturgeschichte entstanden ist, so miissen wir ant-
worten: nachst dem Reformator selbst, nnserem Melanch-
tlion. Ja, wir diirfen noch mehr sagen — Luther ware
wahrscheinlich ohne diesen Mitarbeiter nicht imstande ge-
wesen, jene Vermittelung des Neuen mit dem Alten durch-
zufuhren, die alleia das Wachstum und die Zukunft eiaer
liber den ganzen Umfang des geistigen Lebens sich er-
streckenden Bewegung sicher stellte.
Neben dem Propheten muB der Padagog stehen. Gre-
wiC, Luther war selbst Padagog — ein Bhck auf seinen
Katechismus beweist das. Aber auch seine Padagogie hat
etwas Heroisches. Ein Grrundgedanke erfiillte seine Seele;
das Ziel hatte er im Auge, nicht den "Weg. Die Klein-
arbeit, die langsame, geduldige Erziehung zum Sitthchen
auf alien den unzahligen Linien, auf denen sich das mensch-
liche Leben bewegt, war nicht seine Sache. Hier tritt der
Freund ein; er erzieht das gegenwartige Geschlecht. 0ft-
mals scheint er herabzustimmen, zu hemmen, Altes und
Neues zu mischen — Kraft, Reiz und Schmelz des frischen
Greistes scheinen verschwunden, sind wirklich oftmals ver-
schwunden. Aber wer darf klagen! Vielleicht gibt es im
Leben des Einzelnen stiirmische Erweckungen, die nach-
haltig sind; im Leben der Volker sind die Ekstasen, auch
wenn sie ein wahrhafter Prophet erweckt hat, nur fliichtige,
ja bedenkliche Erscheinungen. Das Bessere wachst nur
langsam, und weder der Lehrende noch die Lernenden
bieten der "Welt ein entziickendes oder aufregendes Schau-
spiel. Aber die Geschichte urteUt schheUhch gerecht: ein
jedes Kind weifi heute zu erzahlen, daU unser Vaterland
zwei Reformatoren besessen hat, nicht mehr und nicht
176 Erster Band, erste Atteilung. Eeden: YI.
weniger — Luther und Melanclitlioii. Trotz des ungehenren
Abstandes ist der Padagog dem Propheten unter dem
Namen „Reformator" beigesellt worden. Die Geschiclite
hat keinen mhinvollereii Kranz zu verleihen! —
Der stille Grelehi-te, dem alles Stiirraen und Drangen
zuwider war, hat doch einst selbst zwei Sturm- und Drang-
perioden erlebt, bis er die Eigenai-t und die Grenzen seiner
Anlage und Bildung erkannte. Aber er ist den Idealen,
die ihm jede dieser Perioden geschenkt hat, nicht untreu
geworden — ihrer Bewahrung und Vermittelung hat er
sein Leben geweiht.
G-eboren zu Bretten in Baden, dort wo der frankische
und der allemannische Staimn sich verschmelzen, ist er,
der GroBneffe Reuchlins, aufgewachsen imter einem
milden Himmelsstrich und edlen hochstrebenden Menschen.
Zeitlebens hat er dort seine Heimat gesehen und sich an
der Elbe im Exil gefiihlt. Eriihreif, mit vierzehn Jahren
Heidelberger Baccalaureus, mit siebzehn Tubinger Magister,
unter dem Prinzipate der neuen Philologie in alle Wissen-
schaften zugleieh eindiingend, erwarb er sich durch seinen
eisemen FleiXJ und sein ungemeines Eormtalent das be-
wundernde Lob des Erasmus. „At deum immortalem",
ruft dieser aus, „quam non spem de se praebet paene puer
Philippus Melanchthon, utraque htteratura paene ex aequo
suscipiendus ! quod inventionis acumen! quae sermonis puritas
et elegantia! quanta reconditarum rerum memorial quam
varia lectio, quam verecundae regiaeque prorsus indolis
festivitas!" Die Bekampfung der Scholastik und die Her-
stellung der wahren Philosophie, d. h. des echten Aristo-
teles, waren sein Ziel, und voll jugendhchen Frohmutes
stellte er sich in die Reihe der kecken Geister, die der alten
Welt den KJrieg erklart hatten. Es waren die Friihlings-
tage jener klassischen, in Wahrheit romantischen Bewegung,
denen doch kein Sommer gefolgt ist. Der herrhche, aber
in seiner Isolierung undurchfiihrbare Gedanke des Erasmus,
Philipp Melanchthon. 177
die Kirche und die Gresellschaft durch. die Wissenschaft zu
reformieren, und die schimmernde Hoffnung, durcli die Form
jede Schwierigkeit des Denkens und Lebens zu iiberwinden,
begeisterten die Gemiiter. Zuversichtlicher und riicksichts-
loser bat kaum einer diesen Gedanken geltend gemacht als
der jugendlicbe Melancbtbon in seiner Rede: „De corrigen-
dis adolescentiae studiis", mit der er im August 1518 sein
Lebramt an der Universitat Wittenberg antrat: Alles was
bisber auf den Universitaten nacb der alten Metbode ge-
trieben worden ist, ist nur Dunkelwerk und Possen gewesen ;
eine radikale Reform ist notwendig. "Wie sie mit den
Mitteln der griecbiscben Spracbe, des wabren Aristoteles
und mit Hilfe reiner Ausdrucksformen durcbzufubren ist,
"werde er zeigen. So dozierte mit dem Eifer des Stiirmers
und Drangers, aber aucb auf dem Grrunde anerkannter
Leistungen der junge Professor, und weU man aucb in
Wittenberg der Scbolastik den Krieg erklart batte, ziindete
sein Wort.
Aber Melancbtbon batte sicb nocb nicbt selbst ge-
funden, als er so spracb. Beriickt von dem neuen Greist
und nocb webrlos gegen den Zauber blendender Rbetorik
bat er die gediegenen und maCvoUen Krafte seiner Eigen-
art nocb nicbt erkannt. Durcbscblagender Beweis bierfiir
ist, dafi der kiibne Humanist im Laufe weniger Monate in
Wittenberg eine vollkommene Umstimmung erlebte. Dafi
das originale, bibliscbe Cbristentum etwas anderes sei als
die scbolastiscbe Kircbenlebre, wufite er bereits, als er nacb
Wittenberg kam. In dieser tJberzeugung lag das Band,
das ibn und die Humanisten mit Lutber verband, der im
Jabr zuvor mit seinen Tbesen Deutscbland erweckt batte.
Aber was nun folgte, war docb ganz unerwartet: Lutbers
Personlicbkeit und Kraft bemacbtigte sicb nicbt nur voU-
kommen des neuen KoUegen, sondern sie bestimmten ibn
aucb dazu, alle seine friiberen Ideale, den ganzen bisberigen
Inbalt seines Lebens zunacbst preiszugeben. Wie der Mami
Harnaok, Reden uud Anfsatze. I. 12
178 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VI.
im Gleichms, der alle seine Habe verkaufte, Tim die eine
kostliche Perle zu kaxifen, so gab Melanchtlioii znnaclist
alias dahin, iind wie er bister in Erasmus gelebt hatte,
so stellte er sicli nun mit Leib und Seele in den Dienst
Lutbers. Doch man darf das personliclie Element nicbt
iibertreiben. Wer kann leugnen, daC es der christlicbe
Glaube, wie Lutber ibn verkiindete, gewesen ist, der seine
Seele wirklicb erfaBte! Ibn bat er ergriffen und bis zu
seinem Tode als die Kraft seines inneren Lebens festge-
balten. Die schJicbten Worte in seinem Testament: „Ago
gratias reverendo domino Doctori Lutbero, quia ab eo evan-
gelium didici", lebren bier mebr als bundert Beweise. „Icb
babe von ibm das Evangebum gelernt" — ' das ist das
grolJe unerscbiitterlicbe Erlebnis, das ibn fortan trotz aller
Spannungen und Tauscbungen an die Sacbe der Reforma-
tion imd Wittenbergs gekettet bat.
Dennocb aber sind wir iiberrascbt, in welcbem Mafie
er in den ersten Jabren seiner Wittenberger Wirksamkeit
Lutber gleicbsam aufgesogen bat. Die Stelle, wo sein
FuB bleiben wird, bat er zwar gefunden, aber nocb immer
ist er nicbt er selbst. Denn nun ist er drei Jabre lang
Stiirmer und Dranger in der reformatoriscben Bewegung:
Die Scbulpbilosopbie ist Abgotterei, die pbilosopbiscbe Etbik
Widercbristentum ; Griecbenland lebrt nur beidniscbe Werke
und verdirbt die Jiinglinge; Paulus, niemand anders als
Paulus, soil in der Kircbe und in der Wissenscbaft gelteru
Der Humanist wandelt sicb in den Tbeologen, aber der
Rbetor drobt zu bleiben. In diesem Sinne bat der jugend-
licbe Lutberaner gescbrieben. Im beiCen Kampfe wider
ein absterbendes Zeitalter vermag das aufstrebende nur Kon-
traste zu erkennen und verkennt die Nuance; die erniicb-
temdfe Erfabrung bleibt aber nicbt aus, daU man nicbt
ungestraft die Krafte der Vergangenbeit preisgibt.
Docb aus jener lutberiscben Sturm- und Drangperiode
Melancbtbons besitzen wir ein Werk von unvergang-
Philipp Melanchthoii. 179
licher Bedeutung. An diesem Werke hat die Rlietorik
keinen Anteil, die loci communes, die erste evangelische
Dogmatik (1521). In diesem Buche haben die reformato-
rischen Q-edanken Luthers ihre zusammenhangende Dar-
stellnng gefanden. Zum ersten Male in der abendlandischen
Kirche wird die christliclie Religion nicht besckrieben im
Scliema eines Grott- Welt-Dramas nnd einer heiligen Physik,
sondern als die Erweckung nnd der ProzeC eines nenen
inneren Lebens. Die Form der loci hemmt zwar die auBere
Ansbildnng eines straffen Zusammenhangs, aber im Grunde
ist alles eiaheitHcli gedacht. Lntber selbst hat dieses Werk
als ein kanonisches bezeichnet; es ermoglichte erst den vollen
IJberblick iiber seia Gedankengefiige. Uber seine Gedanken
— derm es ist vielleicht beispiellos in der G-eschichte, daC
ein Mann von den Fahigkeiten Melanchthons sich ganz
nnd gar znm Organon eines anderen gemacht hat. Indem
ihn Luthers Personlichkeit iiberwaltigt hatte, scheint alles
Eigene zerschmolzen. Nur die Form, diese klare, natiirhch
flieCende Darstellung, gehort dem groCen Schiiler an; sonst
ist alles iibemommen, das Evangelium Luthers mit seinen
Konsequenzen nach riickwarts und vorwarts, mit seinem
Tiefsinn und seinem dunklen Hintergrund, in welchen die
Antike, der Humanismus und die Freiheit zu versinken
drohten.
Aber die Riistung des Gewaltigen, der seiner eigenen
Logik folgte, konnte nicht die Riistung des Professors
bleiben. Als die Schwarmgeister in Wittenberg erschienen,
da zeigte es sich, daB der Professor dies Schwert nicht zu
fiihren verstand, dafi vielmehr der ungestiime Held die Bil-
dung und den Zusammenhang mit der Greschichte schiitzte.
Seitdem, d. h. seit den Jahren 1522 und 1523, bemerkt
man, wie Melanchthon unsicher wird, ob man mit Paulus
und der Theologie allein die Ohristenheit bauen konne. Zu
seinem Schauder erbhckt er unter den Kraften, die die
Reformation in den Gemiitem entfesselt hat, auch die KJraft
12*
130 Erster Band, erste Abteiluag. Eeden: VI.
der Barbarei, die sich mit dem G-lauben zu decken sucht,
Tind sieht eine „duinmere und gottlosere Sophistik" und
eine Zuchtlosigkeit der entfesselten Massen heraufsteigen.
Diese Erfahrung — und sie wiederliolte sich. taglich — hat
einen Dmck auf sein Wesen ausgeiibt, der niemals ge-
schwunden ist. Auch Luther hat zurnend die kontraren
Folgen der Reformation empfunden, aber er wufite, daU
er mit seinem Grott im Bunde war; der Lauf der Welt
kiimmerte ihn wenig. Grriff er einmal in denselben ein, so
traf er den Nagel auf den Kopf und zeigte, daU er auch
der Bildung und der Wissenschaft ihr Recht gab. Melanch-
thon aber war es nicht gegeben, auf dieser Hohe zu atmen
und das Sorgen zu lassen. Allein eben aus dieser uner-
miidhchen Sorge gestaltete sich der ihm eigentiimliche Be-
ruf des Reformators; in ihr fand er sich selber; denn die
Sorge spornte seine Gewissenhaftigkeit, zunachst fiir seine
Studenten, dann fiir die reformatorische Wissenschaft, dann
fiir den ganzen Umfang der Reformation im deutschen
Vaterland. Seit dem Jahre 1524/25 etwa ist die Entwick-
lung des Mannes vollendet. Mit dem Entwurf der Visi-
tationsartikel betritt er dann die Linie, die er nicht mehr
verlassen sollte. DreiunddreiCig Jahre hat er nun gearbeitet
als der groCe, universale Lehi-er des Protestantismus. Welche
Ziele ihm dabei vorschwebten und welche Mittel er in Wirk-
samkeit setzte — sowohl in seiner kirchUchen wie in seiner
wissenschaftlichen Tatigkeit; denn beides geht immer Hand
in Hand — , das lassen Sie mich mit wenigen Strichen an-
geben.
Im Vordergrund steht auch ihTn das reine Evangehum,
das erneuerte Christentum mit seiner Grlaubensgewifiheit
und Innerlichkeit, deshalb auch Recht und Pflicht des Ein-
zelnen, dasselbe ohne priesterliche Bevormundung sich an-
zueignen. Wie Luther ist er davon durchdrungen, dafi dies
die eigenthche Aufgabe des Zeitalters ist, und in Luther
verehrt er den Eiihrer und Propheten. Aber daneben ist
Philipp Melanohtlion. 181
er ztLniekgekelirt zu seiner ersten Liebe, zTim Ideale seiner
Jngend, und ist iiberzeugt, dafi das klassische Altertum
nnersetzliche Griiter erarbeitet liat, namlicli eine wohlge-
ftigte, naturliche nnd wissenschaftliche Erkenntnis Gottes
und des Menschen, feste sittlicbe Richtlinien und eine
sicbere Metbode, die Wabrbeit zu ergriinden und darzu-
stellen. Darf dieser berrlicbe Ertrag nicbt preisgegeben
werden, weil er allein vor der Barbarei und Sittenlosigkeit
scbiitzt, so gilt es, die Sacbe des erneuerten Cbristentums
mit ibm zu verbinden. Das neu gewonnene innere Ver-
baltnis zu dem Unsicbtbaren soil seine Ausgestaltung in
der Welt des Denkens und Handelns mit Hi If p. der Krafte
empfangen, die die Mensobbeit in ibrer klassiscben Zeit
erarbeitet bat. , Sapiens et eloquens pietas" — in dieser
Losung scblieCen sicb alle Ideale zusanunen. Aus der
Frommigkeit im Bunde mit den Spracben und "Wissen-
scbaften soil sicb ein Strom von sittigenden Wirkungen
iiber das ganze Leben und Tiber alle Gemeinscbaftsformen
ergieUen. Der Bund aber zwiscben dem cbristbcben Grlauben
und der Klassizitat ist so gedacht, daC diese einerseits die
Grrundlage abgibt, sofern sie die Freibeit und die natiirlicbe
Anlage des Menscben zum Sittlicben nacbweist, andererseits
die Ausgestaltung der Grlaubenserfabrung in alien em-
piriscben Beziebungen des Lebens iibernimmt.
Die Aufgabe, die Melancbtbon aus dieser Erkenntnis
erwucbs, war eine tbeoretiscbe und praktiscbe zugleicb.
Als tbeoretiscbe erganzte sie die Aufgabe Lutbers, muiJte
aber aucb in Konflikt mit ibr geraten. Melancbtbon wollte
das Leben verbessern, Lutber es neu begriinden. Lutber
scbien den Grlauben allein zuzulassen und alle iibrigen
Krafte abscbatzig zu beseitigen. Wer ibn predigen und
scbreiben borte, konnte wobl meinen er woUe ein ent-
scbeidendes inneres Ergebnis — einen Grott haben — allein
gelten lassen und aus diesem Kapitale alles, aucb aUe Sitt-
licbkeit, alle Bildung und alle Erziebung bestreiten. DaB
182 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
gerade er den friscliereii und tieferen Blick auch fiir die
Selbstandigkeit des naturlichen Lebens besaC, dafi er viel
sicherer als irgend ein Anderer das Heilige iind das Profane
unterschied, dafi seine liarte Lehre vom gebnndenen WUlen
endlicli einmal den reizenden Schleier zerriiJ, der aus
ReKgion und fragwiirdiger PMlosophie gewoben war, das
ahnte niemand. "Was MelancMhon hier als G-efahr empfand,
was jeder gebildete Zeitgenosse so empfinden mtdSte, war
die Bedroliung des sittliclien Lebens und einer fortschreiten-
den EntwicMung. Die dogmengeschichtliclien, augustini-
schen HuUen, von denen Luther seiae tieferen Anschau-
ungen nicht zu befreien vermoclite, liefien diese "Wirkung
in der Tat befiirchten, und wenn kleinere Greister aniingen,
auf ikren Instrumenten die Tone Luthers nachzuspielen,
welch, eine barbarische Musik mufite da entstehen!
Niemand hat das tiefer gefuhlt, als der zartsinnige,
sittUch rein empfindende Melanohthon, und so bemiihte er
sich, vorsichtig, priifend, riicksichtsvoU die G-edanken
Luthers zu bearbeiten, zu beschneiden und zu erganzen.
Ein sauxes, muhsames Tagewerk, das ihm Memand recht
dankte und das doch ganz unerlaiJlich war, wenn das
gegenwartige Geschlecht erzogen werden sollte. Welch
eine Sum me von EleiC, welch eine Umsicht bezeugen die
immer wieder aufs neue durchgefeilten dogmatischen Ar-
beiten Malanchthons! Neben der angstUchen Sorge, durch
keine Paradoxie zu blenden, durch keinen padagogischen
MiCgriff zu verwirren, jede Uberstiirzung zu vermeiden,
neben mancher schuhneisterlichen TriviaKtat — wieviel
originale und treffliche G-rifte! Wie gliicklich ist der Ge-
danke, den gefahrdeten Zusamm enhang der Religion mit
der Sittlichkeit unter dem Titel „der neue Gehorsam" sicher
zu stellen, und wie ist Melanchthon seinem Ziele, eine
kraftige evangelische Moral theoretisch zu begriinden, ge-
recht geworden durch seine herrliehen Ausfiihrungen iiber
die evangelische Vollkommenheit, die er der monchischen
Philipp Melanohthon. 183
VoUkommeiilieit entgegensetzte! Grewifi — er hat die Schul-
gestalt der evangelischen Dogmatik begriindet und damit
manche frische Erkenntnis beseitigt und der Sach.e selbst
schwere Fesseln angelegt. Aber er hatte doch nicM die
WaM zwischen freieren und gebundeneren Auffassungen
und wahlte die gebundeneren, sondern er hat eine Schul-
gestalt iiberhaupt erst schaffen miissen. Wer wirken will,
mnfi formulieren und gestalten konnen; Grestaltungen aber
improvisiert man nicht, sondern muJJ ihre Grrundhnien dem
Schatze des Erarbeiteten entnehmen. Und wer die EinbuCe
beklagt, die der G-edanke in der Fessel des Schulbuchs er-
leidet, der soli sich fragen, wie lange sich ein Gredanke rein
erhalten wird, der gestaltlos wie ein Glockenton durch die
Lufte dxingt.
Die groCe Aufgabe, das erneuerte Christentum zu
lehren, und im Zusammenhang mit der Bildung des Zeit-
alters zu halten, hat Melanchthon seit dem Jahre 1525 unter
den Augen Luthers getrieben und dann noch 14 Jahre
fortgesetzt.
Die theologische Arbeit war ihm im G-runde kein
inneres Bediirfnis; er trieb sie unter dem kategorischen
Imperativ der Pflicht; nur systematisch-padagogische Form-
gebung reizte ihn hier; sonst entsprachen seiner Neigung
immer mehr die gewohnten philologischen Studien. Hat
je einer unter der theologischen Aufgabe geseufzt, so war
er es; aber er wufite, daC ihm niemand die Arbeit abnehmen
konnte, darum blieb er bis zuletzt auf dem Posten. Ge-
spannt fragt man, wie sich nun das personliche Verhaltnis
zu Luther gestaltete. Eine herzhche Vertrauhchkeit, wenn
sie je bestanden hat, verschwand bald; aber ein gegenseitiges
Vertrauen behauptete sich trotz aller Verschiedenheiten der
Charaktere, der Stimmungen und der Arbeit. „Ich bin
dazu geboren", erklart Luther, „dalJ ich mit Rotten und
Teufeln muB kriegen, darum meine Biicher viel kriegerisch
sind. Ich bin der grobe Waldrechter, der Bahn brechen
184 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
muC. Aber Magister Philipp fahrt sauberlicli stille daher,
saet und begieUt mit Lust, nacbdem ibm Gott gegeben
seine Gaben reichlicb". Nicbt mit Unrecht sagt man, daJJ
Melancbthon an Lutber zu tragen batte — imperatoriscbe
Gewalt in oft scbroffen, riicksicbtslosen Formen — , aber
die Gegenrecbnung zeigt, daB in Wabrbeit Lutber der ge-
duldigere seiu muBte. Mit welcber beroiscben Langmut bat
er dem Freunde das Kleinbcbe, Angstbcbe und Empfind-
b'cbe nacbgeseben! "Wie bat er ibn immer wieder aus der
Sorge und Furcbt auf jene Hobe erboben, von der allein
eine solcbe Bewegung geleitet werden konnte! Wie bat
er an dem Genossen jene ibm so antipatbiscbe erasmiscbe
Weise ertragen im Vertrauen auf die Ubereinstimmung ia
dem Kerne der IJberzeugungen! Mit welcber Einsicbt und
GroJJmut bat er endbcb Melancbtbon auf seinem Gebiete
scbalten lassen, dem der Padagogie und KircbenpoHtik,
und ist selbst dann nicbt an ibm irre geworden, wo er
alien Grund batte, ibm in die Wiirfel zu greifen. Li
jenen Jabren — - aucb der Augsburger Reicbstag faUt in
diese Zeit — , in denen Melancbtbon es fast mn jeden Preis
versucbte, die Einbeit der Kircbenlebre und Verfassung
festzubalten und die Reformation auf die Stufe eines blofien
Kampfes gegen MiCbraucbe berabzudriicken — in jenen
Jabren bat Lutber das voile Zutrauen zu Melancbtbon be-
wabrt, daC er die Sacbe selbst trotz aUer Politik und Pada-
gogik docb nicbt preisgeben werde. Nicbt immer bat
Melancbthon diesem Zutrauen entsprocben. Es kamen
Momente — sowobl bei Lutbers Lebzeiten als zur Zeit des
Scbmalkaldiscben Krieges und des Interims — , in denen
Melancbtbon die Probe nicbt bestanden bat. Nicbt sicb
selbst ist er dabei untreu geworden, wobl aber der Aufgabe,
die ibm, wollend und nicbt woUend, zugefaUen war, der
Hiiter des lutberiscben Erbes und die Saule der Kircbe
Lutbers zu sein. Dort in Augsbiu-g, wo er in der Formulie-
rung der evangebscben Glaubensartikel bereits bis an die
Philipp Melanohthon. 185
auCerste Grenze der Konzessionen gegangen war, droMe er
in den Verhandlungen, die ihnen folgten, jeden Halt zu
verlieren. Doch hat er sich in der ausgezeiclineten Apologia
des Augsburger Bekenntnisses wieder gefunden. Aber mit
voller Kraft drangte sich in und nach dem ungliicMichen
Verlauf des Schmalkaldischen Krieges alles in ibm hervor,
was er seit Jahren zuriickgedrangt hatte, seine Antipathie
gegen die G-ewaltsamkeiten eines Bruches der Geschichte,
seine Hochschatzung iiberlieferter Formen, die trauten
Kindererinnerungen an die alte Kixche, dazu personliche
Bitterkeit und Kleinmut. Nicht Melanchthon, sondern die
engen Kopfe, wie Flacius, und neben ihnen — Moritz von
Sachsen haben damals den Protestantismus gerettet. Aber
mit der Rettung war es nicht getan. Wieder gait es zu
bauen und zu pflegen, ein evangelisches Kirchentum und
eine evangeKsche "Wissenschaft auszugestalten, weit genug,
um den Strom der Greschichte in dieses Bett zu leiten.
Auf Melanchthon allein fiel wiederum diese Aufgabe, und
in schwerem Konflikt mit seinen Neigungen, fast mochte
ich sagen, mit seinen tJberzeugungen , kampfend fiir sein
Ideal, aber zugleich blutend fiir manche Lehren, die nicht
die seinigen waren, ist er auch nach der Wiederherstellung
des Protestantismus rastlos tatig gewesen, die Kirche nait
der Wissenschaft zu bauen, Luthers Autoritat und Luthers
Lehre als die gegebene Grundlage anzuerkennen und sie
doch nach seiner wissenschafthchen Einsicht und nach den
Bediirfnissen der gelauterten Frommigkeit zu erweitern
und zu erweichen. Die Seelenqualen des Vermittlers haben
ihn nie verlassen, und die Angriffe nicht nur des theolo-
gischen Fanatismus, sondern auch ehrhcher sproder tJber-
zeugungen drangen immer drohender auf ihn ein. Aber
er lieC das Steuer nicht aus der Hand, das er gefafit hatte,
und er warf nichts iiber Bord, um sein Schiff zu erleichtern;
denn er meinte, daU die Zukunft kein Stiick entbehren
konne. So ist er in seiner Weise fest geblieben in dem
186 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
Streit der Epigonen. Mit den Worten: „Du wirst der
Sunde abscheiden, du wirst von allem Kummer frei werden
und von der fanatisclien Wnt der Theologen", sah er dem
Tode als einer Erlosung entgegen. Im G-edacMnis seiner
Kirche war sein Andenken zunachst gefahrdet, und fast
jahrliundertelang ist sein Name im lutherischen Protestan-
tismus niclit ohne MiUtrauen genannt worden, aber sein
Werk blieb besteben. Bereits die Konkordienformel bedentet
bei allem Argwobn gegen Melancbtbon docb eine Absage
an das strengste und engste Lutbertum im Sinne Melancb-
tbons. Bald aber entstanden in Deutscbland viele Karcben,
die sicb reformiert nannten, in Wabrbeit jedocb melancb-
tboniscb waren, und in ibnen entwickelte sicb der Geist
der Unionsgesinnung, aus welcbem der groJJe Fortscbritt
im inneren Leben des Protestantismus bervorgeben soUte.
Lutbers Glaubenskraft ist Kleinod und Ziel des Protestan-
tismus gebbeben, er selbst der Heros eponymos, aber seine
Tbeologie ist in seiner Kircbe nicbt kanoniscb geworden,
und das war gut. Melancbtbon ist als Person in der Kirche
zuruckgetreten, aber entscbeidende Riobtbnien, die er der
neuen Tbeologie gegeben bat, sind gebbeben, und das war
aucb gut. Er bat den Protestantismus fiir die Wissen-
scbaft und die Wissenscbaft fiir den Protestantismus ge-
rettet — in Verkettungen, die beute nicbt mebr in voller
Geltung steben, die aber in ibrer Zeit Kircbe und Bildung
zusammengebalten baben. —
Das kircbbcb-tbeologiscbe Lebenswerk Melancbtbons
babe icb skizziert, aucb mit seinen peinbcben Eindriicken
und docb — ein groCes segensreicbes Werk! Vergessen wir
dabei nicbt, unter welcben Verbaltnissen er gearbeitet bat!
Die Scbwierigkeiten der inneren Lage sind scbon berubi-t
worden, die auCeren waren scbrecklicb. Aucb beute erfabi't
jeder scbweres Leid, der von Innen an der rebgiosen Frage
riibrt, aber damals erfohr man nocb bucbstablicb, daB die
Welt voU Teufel war, wenn man kircblicbe Verbaltnisse
Philipp Melanohthon. 187
antastete; denn vom Mittelalter her umstanden noch furcht-
bare Wacliter die Religion, Gefangnis, Sohlage, Folter —
der Tod. Unter dem Schirm seiner Landesherrn, der
erlauohten Fiirsten, und nnter dem Schild des Helden, der
alle scMtzte, der die ganze Bewegung trug — aucli als er
nicht mehr unter den Lebenden weilte — , hat Melanohthon
sein Werk voUendet, er hat die Lehre begriindet und die
Earche gebaut. —
Aber blicken wii- nun von seiner dogmatischen und
kirchlichen Tatigkeit auf die allgemein wissenschaftHche.
Mit reiner Bewunderung konnen wir zu ihm aufschauen.
Hier war er ganz in seinem Elemente und hat dem christ-
lichen Humanismus einen weiten und festen Bau aufge-
riehtet, in welchem die Wissenschaft und ihre Jiinger mehr
als anderthalb Jahrhunderte gewohnt haben. Hier hat er
sich auch des allgemeinen Vertrauens erfreut durch die
Lauterkeit seiner Gresinnung, die Selbstlosigkeit und Un-
bestechlichkeit seiner Ratschlage und eine von niemandem
erreichte didaktische Sachkenntnis. Jener Bau war kein
Neubau im vollen Sinne des Worts. Vergleichen wir ihn
mit dem des 13. und des 18. Jahrhunderts , so steht er
jenem viel naher als diesem. Koch immer ist Wissenschaft
nicht Forschung, sondern Lehre, noch immer fiihrt die
Theologie das Szepter iiber alle Wissenschaffcen , noch im-
mer gilt die durchsichtige Form fast soviel wie die Sache.
Aber der Bau umfaCte die alten Elemente in gereinigter
G-estalt und enthielt auch wesentliche neue Elemente des
Fortschritts : nicht nur die Kenntnis des Grriechischen, die
die unerlaUliche Vorbedingung jeder wissenschaftlichen
Vertiefung war, sondern iiberhaupt die Aufforderung, die
Uberlieferung so kennen zu lemen, daU man iiberall auf
die Originale zuriickging.
In erster Linie hat Melanohthon fiir den ganzen Kreis
der Wissenschaft gearbeitet durch seine Lehrbiicher. Nicht
nur Grrammatiken hat er herausgegeben, sondern Kompen-
188 Erster Band, erste Atteilung. Keden: VI.
dien der Rhetorik, der Dialektik, der Physik, der Psyclio-
logie Tind der Ethik, dazu auch einen ziemlich ausfuhrliclieii
Leitfaden der Greschichte; ja er ist einer der ersten gewesen,
der regelmaJJig Vorlesungen iiber Greschiclite gehalten hat.
Alle diese Lehrbiiclier dienten dem akademischen Unterriclit.
Als uniibertroffene Muster von Klarheit, Ordnung und ele-
ganter Angemessenbeit des Vortrages werden sie von einem
Meister der Greschicbte der Pbilosopbie geriHimt, nnd
treffend fiigt derselbe hinzu, Melanchthon habe durcb sie
die pbilosophiscben "Wissensckaften von der Kasuistik des
scholastischen Denkens befreit, den ins MaBlose getriebenen
Distinktionen der Begriffe, der verkiinstelten Spracbe nnd
dem gan^en Staube des Mittelalters. Dabei liielt er aber
zugleich den Humanisten gegeniiber die logische Grriindlicb-
keit im Vortrag aufrecbt. In der Tat — die Befreiung
von der Kasuistik, wie in der tteoretischen Philosophie,
so vor allem in der Ethik, war der groUte Fortschritt in
diesem akademiscben Unterricbt. Er war die Vorbereitung
und IJberleitung zu einer einbeitlichen Erkenntnis der
Natur und des Geistes, wie sie einem spateren Zeitalter
aufgeben sollte. Aber aucb die Zuriickdrangung der Bild-
licbkeit des Vorstellens einerseits und der Kampf gegen
die Begriffsmytbologien andererseits erboben die enzyklo-
padischen Arbeiten Melancbtbons iiber die Stufe einer in
den Formen steckengebbebenen Pbilosopbie. "Was er in
seine Lebrbiicber schrieb, das trug er in lebendiger Rede
vom Katheder berab vor, immer unverdrossen, mocbten es
viele bunderte Zuborer sein oder kaum ein Dutzend. Nocb
in dem Jabre seines Todes las er gleicbzeitig secbs Vor-
lesungen, liber die griecbiscbe Grrammatik, iiber Euripides,
iiber den Romerbrief, iiber Dialektik, iiber Ethik und iiber
G-eschichte. Alle Studenten sollten diese Vorlesungen horen,
vor allem aber die Theologen; denn — davon war Melanch-
thon durchdrungen — eine ungelehrte, unwissenschafthche
Theologie ist eine „Ilias malorum"
Philipp Melanohthon. 189
Aber der groCe Lehrer, unter dessen Handen alles
didaktisch wurde, die Religion nicht weniger als die Poesie,
lehrte mcM nur, sondem er bildete. Me ist der Beruf des
Q-elehrten, des Professors, idealer und groCer gefaJJt, nie
■niirdiger verwirHiclit worden, und darum sammelte er nicht
nnr Zuhorer, sondern erzog sicli ScMler. DaiJ der Lehr-
beruf eine sittliche Gremeinschaft der Strebenden hervor-
rufen miisse, daC der Grelehrte deia Grelehrten wie ein
Freund gegeniiberstehe, daU eine Gremeinscliaft aller Lehren-
den im Dienste der Wissenschaft kein bloBer Traum sei,
sondern ein erreichbares Ideal, das war ilim gewifi. In
diesem Sinn hat er gewirkt und seine ScKiiler sowoM wie
jeden Gelekrten als Freund an sicb gezogen, im personlicben
Verkehx — nicbts ging ihm iiber eine docta et arnica con-
fabulatio — und in einem unermeBbch reicben Briefwecbsel.
Viele tausende von Briefen sind beute bekannt, und noch
immer steigt die Zabl. Soweit es an ibm lag, blieb Me-
lancbtbon mit jedem Schiiler in Zusammenbang, beantwor-
tete jede Frage, nabm an den Lebensscbicksalen der jungen
Freunde teiL und leitete aus der Feme von seinem Schreib-
tiscb um Mitternacbt ibre Seliritte. Die Folge war, dafi
er die Universitaten und gelebrten Scbulen besetzte, nicbt
nur im evangeliscben Deutscbland, sondern aucb in Scbott-
land und England, in Polen und Ungarn. Ibn fragten
die Fiirsten, ibn die Magistrate, wenn es gait, tiicbtige
Lebrer zu gewinnen; sie wuCten, daC er niemals etwas fiir
sicb begebrte und nur der Sacbe diente. So empfing der
Protestantismus einen einbeitlicben Lebrerstand neben einer
einbeitbcben Bildung. Jenes bobe Grut des Mittelalters,
welcbes durcb die Reformation in Frage gesteUt war, die
Einbeit der Kultur — es bbeb dem Abendland erbalten,
soweit die Spaltung der Rebgion und die immer kompb-
zierter werdenden Bedingungen der auBeren und inneren
Lage es zubeUen. Der eine Melancbtbon bat im 16. Jabr-
bundert das geleistet, was im 12. und 13. die stolze Reibe
190 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
groUer Lehrer vom Lombarden bis zu Duns Scotus geleistet
hat. Aber dort war schliefilich. alles moncMcli orientiert;
auf allem weltliclieii Handeln lag der Bann der Kirclie;
hier dagegen waren Grottesdienst Tiiid weltlicter Beruf in
dem Element des Ethiscken versohnt; neue Anfgaben
waren der sittHcben Lebensbewegung gestellt.
Docb nocb. habe icb das letzte Verdienst MelancMhons
um die hohere Bildung nicbt genannt. Zwar war er zum
Herrscber nicht veranlagt, aber er war ein vorziigliclier
Organisator. Nicbt nur die Universitat Wittenberg hat
erst er nach iinvolLkoinmenen Anfangen wirklich eingerich-
tet nnd bheb zeitlebens ihr Haupt nnd ihre Seele, auch
die knrsachsische Schnlordnimg hat er entworfen. Beide
Lehrplane wurden vorbildlich fiir einen stets wachsenden
Kreis von protestantischen Universitaten nnd gelehrten
Schnlen. Solche in alien G-ebieten unseres Vaterlandes
einzurichten, den Verhaltnissen anzupassen nnd sie zu be-
raten, ist er rastlos tatig gewesen. Bis zur Stiftung der
Universitat Halle, d. h. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
ist seiue Organisation des gelehrten Unterrichts in Deutsch-
land maCgebend gebheben. Hier sind die GTenerationen
gebUdet worden, die sich durch den dreiCigjahrigen KJrieg
nicht niederwerfen liefien. Vor aUem aber die evangelischen
theologischen Fakultaten sind sein Werk. Dankbar bhcken
sie an dem heutigen Tage zn rhm auf xmd geloben, das
ihnen anvertraute Gut zu bewahren und ihre Arbeit unter
das schone Bekenntnis zn steUen, das er abgelegt hat:
„Ich bin mir bewufit, mit meiner ganzen theologischen
Arbeit nie einen anderen Zweck verfolgt zu haben, als
das Leben zu berichtigen nnd zu veredlen." —
So lehrend und bauend, sittigend nnd erziehend, hat
er ein groCes, einheithches Lebenswerk geleistet. Anders
als es sich der friihreife Jiingling gedacht, hatte sich die
Aufgabe gestaltet, und ia Stunden des Verdmsses nnd des
theologischen Haders hatte er den Eiudruck, aus seinen
Philipp Melanchthon. 191
eigentliclieii Balinen geworfen zu sein. In Wahrlieit hat
er sie nicht verlassen und alles das entwickelt, was in seiner
Natur angelegt war, vmd was das grofie Erlebnis des Zeit-
alters, die Eeformation, in eirier solcten Natur zn entziinden
vermoclite. —
Der heutige Tag regt aufs neue in uns die Frage an,
welche innere Wahrheit und welches Eecht dem Ideale des
christKchen Humanismus zukommt. Heriiber und hiniiber
wogt der Streit der Meinungen. Soviel aber ist gewiU, dafl
Christentum und Antike nicht wie zufallig von Epigonen
zusammengeschweiiJt sind, sondern daC bei allem Gegen-
satz auch ein wirklicher, uralter Zusammenhang besteht.
QewiB ist auch, daB unsere Kultur und Gesittung trotz
der Umwakung unserer "Weltanschauung solcher Manner
bedarf, die im Qeiste Melanchthons zu wirken vermogen.
Fiir einen bloBen Klassizismus ist ebensowenig E-aum und
Verstandnis mehr in unserem Zeitalter vorhanden, wie fiir
eine Theologie, die sich gegen die fortschreitenden Er-
kenntnisse absperren zu konnen meint. Aber der christ-
liche Humanismus Melanchthons, bereichert und vertieft,
ist auch heute noch die Kraft unseres hoheren Lebens,
und sein Schwert wird noch immer aufbhtzen, wo es gilt,
das Erbe der Greschichte zu verteidigen, den Adel des
Geistes zu schiitzen und die Eeinheit der Seele.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^
REDEN: VII
AUGUST NEANDER
Rede
bei der Feier zum hundertjahrigen Gtedaclitnis der Geburt August
Neanders gehalten in der Aula der KOniglichen Friedrich -Willielms-
Universitat in Berlin am 17. Januar 1889.
Die theologisclie Fakultat hat Sie eingeladen, mit ikr
das Andenken August Neanders festlicL. zu begehen.
Sie feiert in ihin den Kirchenliistoriker, mit welcliem,
wie sein groCer Rivale, Ferdinand Christian Baur, be-
zeugt, eine neue Epochs der kirchlichen Geschichtsschreibung
begonnen hat. Sie verehrt in ihm den beruhmtesten und
gehebtesten Lehrer, den sie neb en Schleiermacher in
ihxer Mitte besessen hat. Die Aufgabe, sein Lebensbild
und seine Bedeutung zu schUdern, hatte ich gerne Be-
rufeneren iiberlassen. "Weilen doch in unserer Mitte solche,
die zu seinen FiiOen gesessen haben und denen das Herz
aufgeht, wenn sein Name genannt wird; erfreuen wir uns
doch noch der Gegenwart des greisen Kirchenhistorikers,
der eine uniibertreffliche Charakteristik seines Zeitgenossen
Neanders geschrieben hat, Karl Hase. Aber auf den Lehr-
stuhl berufen, den Neander einst schmiickte und den er zu
einem Katheder des protestantisohen Deutschlands , ja der
protestantischen Welt erhoben hat, durfte ich mich der
Aufgabe nicht entziehen, am heutigen Tage einen beschei-
denen Kranz zu den FiiBen des groBen Vorgangers nieder-
zulegen. Mag der Abstand der Zeiten, mag das Fehlen
personlicher Erinnerungen dem Bilde den sonnenhaften
Grlanz versagen, in welchem nur personliche Schiiler es zu
schauen vermogen, so gelingt es vieUeicht dem spater Gle-
borenen besser, das Bleibende von dem Verganglichen zu
scheiden.
Ware Neander freilich nur eia. Virtuose gewesen, wie
sie am Anfange unseres Jahrhunderts auf alien Gebieten
13*
J^gg Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
der Wissenschaft neben den walirhaft groCen und fiihren-
den Geistern zahlreich waren und in anregender aber un-
geziigelter Eigenart den Charakter jener merkwiirdigen
Epocbe mitbestimmt haben, so wiirden wir beute seiner
nicbt feierlich und dankbar gedenken; denn die Nacbwelt
flicbt dem Virtuosen keine Kranze. Aber inmitten jener
Grruppe von enthusiastischen Greistern und beweglicben Ta-
lenten ragt er liervor durch die Lauterkeit seiner G-esinnung,
durcb die eindringende und sanfte Gewalt, mit der er eine
neue Betrachtung der Kirchengeschichte durchgesetzt hat,
und — nicht zuletzt — durch einen wahrhaft bewunderungs-
wiirdigen FleiB. Und doch ist damit fiir alle, die ihn ge-
kannt haben, noch nicht das Hochste gesagt. Was sie an
ihm verehxten, wodurch er sie innerlich bezwang und sich
zu eigen machte, das war seine christliche Personlichkeit,
seine Demut und Einfalt, seine Selbstverleugnung und
Liebe, der christliche Glaube, in welchem der Gelehrte eben-
so aufging wie der Mensch. Man kann von Neander dem
Kirchenhistoriker nicht sprechen, ohne von Neander dem
Christen zu reden. Und man darf auch an dieser Stelle
sein Andenken nicht beleben, ohne das Herz dieses Mannes
zu riihrnen, das unbegrenzte Wohlwollen, das nicht nur
iiberfioJ] in Gaben der Barmherzigkeit, sondern das sich vor
allem in edelster Freundschaft oiFenbarte. „Der Drang
geistiger und gemiitKcher Mitteilung war die Seele seines
Lebens."
Als Sohn eines jiidischen Elramers gewohnlichen Schlags
ist David Mendel — denn das war sein urspriinglicher
Name — , das jiingste von sechs Geschwistern, in Gottingen
geboren. Fiir seine Erziehung war es entscheidend, daC
die Mutter bald das Haus des unwiirdigen Gatten verlieC
und mit den Kindern nach Hamburg zog. Sie war eine
fromme, achtungswerte Frau, hatte verwandtschaftliche Be-
ziehungen zu guten jiidischen Famihen, so zu Mendelssohn
und Stieghtz, und lebte fiir ihre Kinder. In Hamburg ist
August Neander. 197
der Knabe aufgewachsen. Die Mutter machte es uiiter
Opfern moglich, ihii in das Johanneum zu scMcken, dessen
Direktor Griirlitt sicli bald fiir den nngewQhnlichen Zog-
ling interessierte. Denn -ungewohnlicli war er. Korper,
Haltung und Kleidung waren vernachlassigt und wiesen
ibn in die Klasse jener armen Judenjungen, deren Anblick
ein mit Verdrufi gepaartes Mitleid erregt. Aber der Greist,
der in dieser wenig angemessenen Behausung lebte, ent-
ging dem scharfen Auge des Direktors nicbt und scblielJ-
lich triumphierte er auch iiber die Spottlust der Mitschuler.
Scbon hier beginnt die Parallele zu den Vatern und Asketen
der alten Kircbe, die sich jedem aufdrangt, der ISTeanders
Eigenart und Entwickelungsgang iiberscliaut. Zeitlebens
ist er in kiimmerliclier Hiille geblieben. Seine Unbeholfen-
heit und Unmiindigkeit im weltKchen Lebensverkehr sind
in dieser Stadt spricbwortlich. geworden. Er blieb in den
auCeren Dingen wie ein Kind, durch. und durch abhangig
und der Bevormundung bediirftig. Aber audi dort, wo er
es vermooht hatte, sick iiber diese Unbebolfeidieit zu er-
heben, scheint er mit BewuiJtsein die Grleicligultigkeit gegen
alles AuCere festgehalten zu baben. Sie bildete gleicbsam
einen Schutzwall seines Daseins, um sick ungestorter und
volliger seinem Berufe binzugeben. So bat er sick aucb
niemals entscblieCen konnen, in die Eke zu treten. Er
blieb ein Monck, alien Aveltlicken Glesckaften abgewandt,
aber rastlos arbeitend und Seelen werbend.
Ostern 1805 ging er, im Grrieckischen und Lateiniscken
der Erste, vom Jokanneum zum akademiscken Grymnasium
iiber. Die Rede, die er nack Anordnung des Direktors
iiber das Tkema: „De Judaeis optima conditione in civi-
tatem recipiendis", also iiber die Judenemanzipation, kielt,
atmet den Greist Moses Mendelssokns und des 18. Jakr-
kunderts. Vielleickt aber darf man annekmen, daC sie mekr
den Gesinnungen des Direktors entsprack, der sie auck mit
Anmerkungen zum Druck befordert kat, als seinen eigenen.
198 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Sie mach.te iibrigens einen gewaltigen Eindruck. Niemand
iatte das von dem sonst so schiiclitenien uiid in seinem
Auftreten nngeschickten Jiingling erwartet.
Aber mochte er auch voriibergeliend von den pldloso-
pbisclien nnd biirgerliclien Idealen der Aufklarungszeit be-
riihrt gewesen sein — scbon war ilini ein anderer Stern
aufgegangen, Plato, nnd wakrend er sicK ihm mit Be-
geisterung Mngab, fiibrte ilun das akademiscbe Gymnasium
zwei Freunde zu, Varnhagen von Ense nnd Wilhelm
Neumann, altere Studenten, die bereits mit Obamisso
einen MusenabnanacK herausgegeben batten. Sie geborten
der selbstbe-wTiCt imd kiibn aufstrebenden romantiscben
Scbnle an nnd waren durcb die innigste Freundscbaft mit-
einander vereinigt. In diesen Bund, der sich das Zeicben
des Nordsterns als Symbol erwablt batte, trat David Mendel,
nnd er entscbied fiir sein Leben. Die Freunde fiibrten ibn
in die Scbriften Scblegels, Tiecks und Ficbtes, in
den Zaubergarten der Romantik, ein, und er lebrte sie den
Plato. Aus der engen Scbulstube und der "Welt niicbterner
und spieBbiirgerlicber Ideale, aus einem gedriickten nnd
kiimmerlicben Dasein, sab sicb der Jungbng plotzlicb in
die Spbare iiberscbwengbcber Herrlicbkeiten und edelster
Gefuble versetzt. Das Wunderland, welcbes Plato und die
Neuplatoniker entdeckt, welcbes die Mystiker gescbaut, Jakob
B5bme gebeimnisvoU bescbrieben, tat sicb ibm auf. Hand
in Hand mit den gleicbgestimmten Freunden bestieg er
jenen Nacben, dem der Fabrmann feblt, aber dessen Segel
beseelt sein sollen, um binauszufabren ins Weite, um das
Universum zu gewinnen, um — icb rede in seinen "Worten
— aus der VieUieit und Entzweiung die Einbeit wieder-
zufinden, die feste klare Kindlicbkeit, den absoluten Cba-
rakter der Vergottlicbung. In diesem Sturm und Drang,
in dem seine Seele scbwelgte, war ibm die Freundscbaft
der Freunde nicbt nur Mittel und Hilfe. Ibm offenbarte
sicb vielmebr in der Freundscbaft die bocbste Metapbysik
August Neander. 199
selbst. Liebe, Universum, Q-ottlieit, Einheit, Bruderscliaft,
das Gute, — er lebte in einer Sphare, wo jede Vertauschung
dieser Begriffe erlaubt, ja geboten war. Eine Reihe von
Briefen an Cbamisso aus jener Epoche, wenn auch etwas
spater beginnend, sind uns anfbewahrt. Sie sprecben die
Spracbe des Schwarmers. Ein brausender "Wein schaumt
in diesen Becbern. Doch ist die Kraft der Phantasie ge-
ringer als der Scbwung und die Spekulation. Mancbes ist
aucb nur nacbgeabmt. Platoniscbe, Bobmescbe, ScbeUing-
scbe und vor allem aucb Scbleiermacberscbe Gedanken
klingen in den Briefen des siebzebnjabrigen Jiinglings an,
die der bocbbegliickte Freund „g6ttlicbe" nennt. Aber bei
allem IJbersturzten, Unklaren und Rbetoriscben fehlt der
tiefe und ernste sittUcbe Ton nicbt, den die Produktionen
gleicbgestimmter Freunde damals nicbt selten vermissen
lieCen. So kiindigte sicb die zukiinftige Eigenart Neanders
scbon bier an. „Beten und arbeiten: ja das mag der Grund-
ton der Musik unseres Bundes sein", scbreibt er Cbamisso im
April 1806. Von Plato spricbt er in den Briefen und nennt
ibn „den vorcbristlicben Cbristen". Und wir lesen ferner
dort die "Worte: „Heiliger Heiland, du allein kannst uns ja
mit diesem profanen Gescblecbt versobnen, fiir das Du . . .
obne daC es dies verdient, lebtest, bttest, starbst. Du
liebtest die Profanen, und wir konnen sie nur bassen, ver-
achten!"
„Heiliger Heiland" — Sie werden erstaimen, diesen
Ausruf in den Worten eines Juden zu finden. Aber er war
es bereits nicbt mebr. Scbon im Februar 1806 batte er
sicb taufen lassen. Man darf wobl sagen, daiJ Plato, wie
er ibn verstand, d. b. der Neuplatonismus , Plutarcb und
Scbleiermacbers Reden iiber die Religion, verklart durcb
den Bund der Freundscbaft, ibn zu diesem Scbritte gefubrt
baben. "Wenige Tage vor seiner Taufe scbreibt l^eumann
an Cbamisso: „Wir baben unter unseren Mitstudierenden
einen trefflicben Jiingling kennen gelernt .... Plato ist
200 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
sein Idol und sein immerwahrendes Feldgeschrei. Es sitzt
Tag und NacM iiber ihin, und es mag wenige geben, die
ihn so ganz und so in aller Heiligkeit in sich. aufnehmen.
Es ist wunderbar, wie er dies alles so ganz ohne fremden
Einflufl geworden ist, bloC durcli Betracbtung seiner selbst
und redliches, reines Studium. Ohne von der romantischen-
Poesie viel zu kennen, hat er sie sich selbst konstruiei-t
und die Keime dazu in Plato aufgefunden. Auf die Welt
um sich herum, hat er mit tiefer Verachtung blicken ge-
lernt."
Wie fur die Kirchenvater Justin und Augustin, so war
auch fiii- Johann August Wilhelm Neander — denn
diese Namen erwahlte er sich nun — der Platonismus die
Briicke zum Christentum geworden. Es war kein Ubertritt
aus Konvenienz. Aber wie Neander niemals ein Jude ini
Sinne des Talmud gewesen ist, sondern vielmehr im Sinne
Philos, so trat er auch nicht zu irgend einem dogmatischen
christlichen Bekenntnis iiber. Wir besitzen noch den Auf-
satz, welchen er dem Pastor einreichte, der ihn taufte.
Hier ist das Christentum dialektisch-romantisch als die ab-
solute Wahrheit aus den Entwickelungsstufen der Religion
konstruiert. Neben Schleiermaeherschen Elementen tritt
ein Bohme-ScheUingsches deuthch hervor. Als das spezi-
fisch Christliche gilt das Verschmelzen mit dem UnendHchen,
die Liebe als die Identitat aller Gregensatze, und der dem
irdischen Staate gegeniibergestellte Verein der Seelen zur
Anschauung des Unendlichen, die Earche, deren erste Keime
Neander in dem Freundschaftsbunde der Pythagoreer finden
will. Doch fehlte ein kraftiges Pathos fiir die Person
Christi schon damals nicht. Aus der Grruppe der „Virtuosen
der Religion" tritt der Erloser deuthch hervor.
Ostern 1806 verlieC Neander Hamburg, um Jurisprudenz
zu studieren. Allein auf der Reise zur Universitat wurde
es ihm klar, daC er Theologe werden miisse. Er ging nach
Halle, um den Mann zu horen, der die Gebildeten unter
August Neander. 201
den Verachtern wieder zur Versohnung mit der E-eligion
fiiliren woUte, Schleiermacher, um „nic]it bloC ein
stummes Mitglied des heiligen Bundes zu bleiben, sondern
in die Reihe derer zu treten, welche das Christentum mit
der Freiheit des Maren BewuCtseins aussprechen und tatig
in dem inneren Leben der Kirche wirken".
ScMeiermacliers Vortrage liber Kirchengeschichte mach-
ten anf den jungen Studenten den tiefsten Eindruck. Aber
bald notigten ihn die politiscben Verhaltnisse , Halle mit
Grottingen zu vertauschen. Dort wurde er, Tag und Nacbt
rastlos arbeitend, Mittelpunkt und Haupt eines Kreises von
Freunden, denen er Plato und Schleiermaclier interpretierte.
Ungern weilte er in Gottingen, welches er Philistropolis
nannte. Allein der Aufenthalt daselbst war doch hochst
wicMig. Hier lernte er in Planck den gelehrtesten
Earcbenliistoriker jener Zeit kennen. Unzweifelbaft hat ihn
dieser ausgezeichnete Mann zu piinktUchem und nuchternem
Quellenstudium angeleitet. Der Greist der G-eschichts-
forschung, das Charisma der Gottinger Hochschule, berlihrte
den strebsamen Jiingling und fiihrte ihn zur Earchenge-
schichte. Obgleich andere Bahnen einschlagend als Planck,
hat Neander zeitlebens fur den „teuersten und innigst-
verehrten Lelu^er" die Gefiihle des Dankes gehegt. Nach-
mals als Planck sein fiinfzigjahriges Jubilaum feierte, wid-
mete ihm Neander einen Band seiner Earchengeschichte
und begleitete die Widmung mit folgenden pietatsvoUen
Worten:
„Wenn Sie auch mit vielem in diesem Werke nicht
zufrieden sind, so werden Sie doch in dem Streben nach
wohlwollender Gerechtigkeit den Schuler nicht verkennen,
der von dem grofien Meister selbst, dem er so vieles ver-
dankt, zuerst gelernt hat, dem suum cuique in der Auf-
fassung der Geschichte nachzustreben. Und Sie werden am
besten mit Ihrer, von dem Geiste der Liebe verklarten, nun
durch ein halbes Jahrhundert erprobten Gerechtigkeit auch
202 Erster Band, erste Abteilung. Keden: VII.
jeden Ihrer Sckiiler, der in ernster Gresinnung arbeitet, auf
seinem Standpunkt anzuerkennen wissen. Daher recline ich.
getrost mit einer von dankbarer Liebe und Verehrung dar-
gereichten Grabe auf Ihre NachsicM. Grott sei gepriesen,
daU er Sie nns zum Lehrer gegeben und Sie uns so lange
erhalten bat."
"Wie sticbt dieses berrliche Zeugnis ab von dem boch-
miitigen Tone, in welclieni scbon damals das neue Tbeo-
logengescblecbt von den Mannern spracb, die es Rationa-
listen nannte!
Bereits wuchs aber Neander in der Beurteilung der
Kircbenvater und des alten Dogmas iiber seinen Lebrer
Planck binaus. Wir baben dafiir ein sebr kostbares Zeug-
nis in einem seiner Glottinger Briefe. Er spricbt sicb un-
befriedigt liber Plancks Bebandlung der Dogmengescbicbte
des 5. Jabrbunderts aus. In dieser sei so vieles, was die
Leute veranlasse, nur auf, „die auBeren Grimassen" zu
seben und dann „das beillose Spiel" zu beweinen. Man
miisse vielmebr die Streitenden selbst betracbten, und man
konne speziell Augustin nicbt versteben, wenn man nicht
einsebe, daB seine Tbeorie auf dem Boden des reHgiosen
Gefiibls entstanden, dann auf das Gebiet des Verstandes
verpflanzt sei, wesbalb sie leicbt miCverstanden werden
konne. Das ist scbon der ganze spatere Neander!
In den Ferien des Jabres 1807 traf Neander in Han-
nover mit einem Professor Prick, in Hamburg mitMattbias
Claudius zusammen. Durcb diese Manner, welcbe dem
pbilosopbiscb-romantiscbem Greiste nicbt buldigten, sondern
auf ein bibliscbes Cbristentum drangen, wurde er zum
Nacbdenken dariiber gebracbt, ob Scbleiermacber, ScbeUing
und Ficbte wirMich die klassiscben Interpreten des Evan-
geliums seien. Seitdem trat die romantiscbe Pbilosopbie
fiir ibn in den Hintergrund. Er wandte sicb ganz dem
Studium des Neuen Testamentes und der Kircbenvater zu.
Das Historisebe und Bucbstablicbe wurde ibmvonWicbtigkeit
August Neander. 203
gegeniiber pMosophisclien Umdeutungen. Die Person Ohristi
als des gottliclien Erlosers ward ihm zum Mittelpunkt seines
inneren Lebens nnd seiner geschichtlichen BetracMung.
Er wuCte sicli als ein neuer Mensch, „mit jener frischen
Innigkeit wis Einzelne in den ersten Jahrhunderten, denen
das Ohristentum nicht angeboren war, sondern die es gegen
widerstrebende Verhaltnisse ergriffen haben wie einen Ranb".
Tiber das glanzende Examen, welches er im Herbst 1809
in Hamburg ablegte, bericbtet ein Augenzeuge: jjNeanders
Erscbeinung, den Examinatoren sicberlich eine Raritat
eigener Art, wenn nicbt ein geisterartiges "Wesen aus
fremden Regionen, setzte die samtlichen Herren sehr bald
in Verwunderung nnd Erstaunen ... So oft sie ihn nur
eben anriilirten, trat ein Strom tiefer und gelehrter Be-
merkungen nnd gewissermaUen — interessanter Abband-
lungen hervor, der fast kein Ende nebmen zu konnen
scbien." Nacb kurzer Kandidatenzeit ging Neander trotz
aller Bedenken der Seinigen nacb Heidelberg und babUi-
tierte sicb dort als Privatdozent. Durcb die Berufung De
Wettes und Marbeinekes nacb Berlin war in Heidelberg
Platz fiir einen tiicbtigen Dozenten gescbaffen. Mit einer
Abhandlung iiber Clemens Alexandrinus erwarb er sicb im
Jabre 1811 die venia docendi. Die Tbesen, iiber welcbe
er disputierte, sind bochst interessant, denn sie zeigen scbon
einen neuen Greist der Grescbicbtsbetracbtung. War bisber
von protestantiscben Kircbenbistorikern Bonifatius als ein
berecbnender Romling hingesteUt worden, so lautete Mean-
ders 1. Tbese: Die sind im Irrtum, welcbe die Taten des
Apostels der Deutscben, Bonifatius, aus Ebrgeiz ableiten.
Die 2. trat fiir die wesentlicbe Ecbtbeit der Ignatiusbriefe
ein, und icb vermute, aucb bierin wird ihm scblieUlieb die
KJritik Recbt geben. In der 10. warf er dem 18. Jakrbundert
den Febdebandscbuh bin, indem er unter Berufung auf
einen Aussprucb des Aristoteles in Abrede stellte, daC es
„natiirlicbe Religion" gebe.
204 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Seines Bleibens in Heidelberg war nicht lange. Im
Jahre 1812 gab er die kirchenhistorisclLe MonograpMe ber-
aus: „Uber den Kaiser Jubanus und sein Zeitalter. Ein
historiscbes Gemalde", nnd bereits im folgenden Jabre,
im Jabre des Freibeitskrieges , wurde er an nnsere neu-
gegriindete Universitat berufen. Hier wirkten Scbleier-
macber, De Wette und Marbeineke. Diese jiiagste
Faknltat gab der G-esamtentwickelung der tbeologiscben
Fakultaten eine neue Ricbtung. ¥eander, der nnsere Hocb-
scbule nicbt mebr verlassen bat, wnrde bald neben Scbleier-
macber, von dem er sicb iibrigens im Laufe der Jabre
immer mebr entfernte, der einilnBreicbste Lebrer. Nicbt
erst ein spater Rubm bat sein Grrab bescbattet; i bm ist
vielmebr die Liebe nnd Verebrung seiner Scbiiler nnd die
Anerkennung seiner Zeitgenossen im bocbsten MaCe zu teil
geworden. AVeil er nicbts anderes war und seia woRte
als ein akademiscber Lebrer, diesen Beruf aber im bocbsten
Sinne faflte und seinen Studenten seui ganzes Herz ent-
gegenbracbte, so ist er aucb yon der akademiscben Jugend
ergriffen und gleicbsam aufgesogen worden. "Weil er es
nie vergaC, wie viel sein eigenes Leben der Freundscbaft
verdankte, ist er nie miide geworden, sicb die Jugend zu
Freunden zu macben — nicbt durcb kraftlose Floskeln,
sondern indem er Herz und Hand ibnen bingab. Dabei
spracb er iiber die Erfabrungen des inneren Lebens nicbt
viel mit ibnen. Unnotigen Bekenntrdssen, wie sie von
pietistiscb gescbulten Studenten scbnellfertig ausgesprocben
warden, setzte er nicbt selten eia scbonendes Scbweigen
entgegen. Aber jedermann fiiblte, was die Seele seines
Lebens war.
Eine Reibe kircbenbistoriscber Monograpbien begriin-
dete neben den Vorlesungen seinen Eubm. Ln Jabre 1813
erscbien die Monograpbie iiber den b. Bernbard, 1818 die
iiber die gnostiscben Systeme, 1822 die iiber Cbiysostomus
und seia Zeitalter, 1825 die iiber TertuUian, 1832 die iiber
August Neauder. 205
das apostolisclie Zeitalter, 1837 die iiber das Leben Jesu.
Dazwisclieii veroffentlichte er Denkwiirdiglceiten aus der
GreschicMe des kircMichen Lebens, sowie kiirzere Studien
und Portrats aus alien Zeitaltern der Kirchengeschichte,
z. T. vorgetragen in der Akademie der Wissenschaffcen und
bis in die letzte Lebenszeit fortgesetzt. In diesen Schriften
offnete er viele Tiiren, die bisher verschlossen -waren. Im
Jaha-e 1826 aber erschien der erste Band seines Haupt-
■werks, der „Allgemeinen Greschiclite der christliclien Reli-
gion und Kirche", die im Laufe von 19 Jahren in 10 Ab-
teilungen bis Bonifatius VIII. gelangte und seit 1842 ia
neuer umgearbeiteter Auflage ausgegeben wurde. Den
SchluC des Mittelalters und die neue Zeit hinzuzufiigen,
ist Neander nicbt mehr vergonnt gewesen. Scbon im Jahre
1847 war zu anderen Leiden, die ibn qualten, ein schweres
Augeniibel binzugetreten. Er wurde im Lesen und Schrei-
ben behindert. An dem 11. Bande seiner Kircbengeschichte
arbeitend, die Schilderung der Grottesfreunde diktierend, ist
er fast mit der Feder in der Hand am 14. Juli 1850 hin-
ubergescblununert. „Ich bin miide, icb will nun scblafen
geben. Gute N"acht", waren die letzten Worte, mit denen
er sein groCes Tagewerk bescMoB. Die Universitat und die
Stadt feierten den Entschlafenen mit den hocbsten Ehren.
Die Studenten trauerten um ihn wie um einen Vater, und
liberaR in protestantiscben Landen, wobin die Kunde seines
Todes drang, gab sicb ungeheuchelter Scbmerz kund. Sein
Berufsleben, gesegnet durch den Erfolg, daB er xucbt nur
fur die Wissenscbaft gewirkt, sondern christbcbes Leben
entziindet bat, war reicb durcb die Teilnabme an groCen
Entwickelungen, ist aber aufierlicb still und gerauschlos
verlaufen. Icb muJB darauf verzicbten, es Ibnen zu scbil-
dern, zumal da Meanders tbeologiscber und historiscber
Standpunkt seit dem Jabre 1813 wesentlicb unverandert
geblieben ist. Aber einiges Wichtige seiner weiteren Er-
lebnisse wird zur Spracbe kommen, wenn wir uns die Erage
206 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VII.
beantworten: Worin lag Neanders Bedeutung als Kirclieii-
liistoriker?
Die Antwort kann nicht zweifelliaft sein. Neander
hat lebendiges Interesse mid Lust an der Kirchengeschiclite
erweckt, well er sie mit dem Auge des dankbaren Freundes
betrachtete. Neander hat das QueUenstudium der Kirchen-
geschichte belebt, weil er ein grofies Ziel dieses Studiums
kannte — den geistigen Verkehr mit bohen Abnen. N"ean-
der bat die Kircbengescbicbte der Tbeologie zuriickgegeben,
weil er den Pulsschlag ckristlicben Empfindens und Lebens
aucb unter fremden und sproden Hiillen zu entdecken ver-
stand.
In diesen Satzen ist der Versucb gemacbt, das bobe
Verdienst der Neanderscben Gescbicbtsscbreibung aufzu-
weisen und docb ibre Scbranke nicbt auJJer acbt zu lassen.
Wenn die Kircbengescliicbte eine bistoriscbe Disziplin im
strengen Sinn sein und docb der Tbeologie geboren soil,
so gab es vor dem Beginn des 19. Jabrbunderts eine solcbe
Kircbengescbicbte bei uns nocb nicbt. Die Disziplin batte
freilicb scbon groBe Wandelungen durcbgemacbt. Eir Be-
trieb war im 16. und 17. Jabrbundert neben bocbst dankens-
werten Materialsammlungen iiber eine polemiscb-konfessio-
nelle Bebandlung nicbt binausgekommen. Soweit sicb die
Tbeologen iiberbaupt um sie kiimmerten — berufsmafiige
Kircbenbistoriker gab es an den tbeologiscben Fakultaten
nicbt — , setzten sie dieselbe nacb ibrer Dogmatik zurecbt.
Wie das lutberiscbe Kircbenrecbt nur eine scbwacbliche,
notdiirftig retoucbierte Kopie des katboliscben war, so war
aucb die lutberiscbe Betracbtung der Kircbengescbicbte
nur ein mit den notigsten Korrekturen versebener Ab-
klatscb der katboliscben. Selbst der Freimut der Magde-
burger Zenturien wurde nicbt mebr erreicbt. Aber wie die
zweite Halfte des 17. Jabrbunderts auf alien Grebieten Epocbe
gemacbt bat, sofern nacb der triiben Periode der mittel-
alterlicben Eeaktionen die G-edanken der Renaissance und
August Neander. 207
Reformation, freilich zunachst in ungescliickten und ver^
kiimmerten Formen, wieder wirksam zu werden begannen,
so datiert auch. die Kirchengeschichte vom Ausgang des
17. Jahrhnnderts eine neue Epoche.
Der G-ieCener Professor Grottfried Arnold hat in
seiner „Unparteiischen Kirclien- und Ketzerhistorie" 1699
mit der alten konfessionellen Grescliiclitsschreibung ge-
broclien; ja in scharfstem Gregensatz zu ihr bat er in dem
Kirchenwesen, einscMieClich dem lutheriscben, die Verwelt-
lichung des Christentums erkannt, das Dogma nicbt an-
getastet, aber der Grleichgiiltigkeit preisgegeben und dagegen
in den Unterdriickten , in den Moncben und Asketen, in
den frommen Schismatikern und Ketzern die wahren Chri-
sten gesehen. Eine ungeheuere Wandelung! nicht die Folge
geschichthcher Einsicht, sondern religioser Stimmung, ge-
waltsam durchgefiihrt wie jedes Vorurteil, aber doch be-
herrscht durch die richtige Erkenntnis, daC der Glaube des
Herzens und das christliche Leben den Ausschlag zu geben
babe in der Frage der ChristHchkeit iiberhaupt. Neander
hat von Arnold in dieser Hinsicht viel gelernt; aber zu-
nachst wurde Arnolds Werk in einer ganz andern Richtung
wirksam; denn es kam dem Geiste des 18. Jahrhunderts
entgegen, und bald eignete man sich nur seinen negativen
Teil an.
Das philosophische Zeitalter ubernahm von Arnold die
G-leichgiiltigkeit gegen die G-eschichte und verwandelte sie
in Abneigung. Gegen nichts ist man stronger als gegen
eben abgelegte Irrtiimer, und wie groU war damals die
Last der Geschichte, die man abwalzte! Aus dem Mangel
an innerem Interesse an der Geschichte, ja aus dem Ab-
scheu vor derselben ist die Kritik geboren. Es muC nicht
immer so sein, aber damals war es so. Irre ich nicht, so
hat auch auf die deutsche Kirchengeschichtsschreibung
G-ibbons groiJes "Werk „Geschichte des Sinkens und Falls
des romischen Reichs" einen hochst bedeutenden EinfluJl.
208 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
am Ende des 18. Jahrhunderts ausgeiibt. Man bewundert
dieses Werk nacli Eorm und Inhalt und wird doch sagen
miissen, daU es sicli niclit lolint, Greschiclite zu studieren,
wenrL sie nichts anderes bereitet als ein buntes Schauspiel
oder einen nur diarcli Spott und IJberniut zu bewaltigenden
YerdruB. Im Geiste und mit dem Talente Gibbons ist
die Spittlersclie Kirchengesckichte gesckrieben. Man ver-
verdankt diesem Bucbe vieles, was nicht veralten kann.
Man verdankt ihm und gleicbartigen anderen die Einsicht,
daC eine unmoglicbe Gescbiclite beschreiben woUen, niclit
Geschichtssctreibung ist, daJJ die Kirchen- und Dogmen-
geschicbte jeglicben Zeitalters den aUgemeinen Regeln der
Historik unterliegt. Das baben wir vom 18. Jabrhundert
gelernt, und das wollen wir nicbt vergessen! Aber wie
kiimmerlich ist andererseits eine Geschicbtsschreibung, die
sicb in den Geist der Zeit, die sie bescbreibt, schlecbter-
dings nicbt zu finden vermag, die in Atbanasius nur einen
Pfaffen, in Augustin nur einen Betbruder zweifelbafter Ver-
gangenbeit, in dem b. Bernbard nur einen berrscbsiicbtigen
Schwarmer erkennt, die in Altertum und Mittelalter eigent-
bcb nur unbegreiflicbe Torbeiten oder nocb scblimmere
Bosbeiten erblickt! AUein es ware docb boebst ungerecbt,
wollten wir es bei dieser Cbarakteristik belassen. Die
Kircbenbistoriker des 18. Jahrbunderts baben sicb, nacbdem
sie sicb sozusagen von den ersten Eolgen des grofien Um-
sebwungs erbolt batten, docb sofort an die Arbeit gemacbt,
die Gescbicbte wirklicb zu versteben. Es ist aucb nicbt
ricbtig, dafi sie sicb lediglicb mit einem auCerbcben Prag-
matismus begniigt baben. Sie baben vielmebr riistig damit
begonnen, die inneren Eaden aufzudecken, die Abhangig-
keit der Kircbengescbicbte von der Weltgescbicbte, deren
Teil sie ist, nacbzuweisen und die Entwickelung und Ver-
anderungen der Institutionen zu bescbreiben. Neben anderen
ist bier vor aUem der scbon erwabnte Gottinger Planck
zu nennen. Allein unleugbar bleibt docb, daJJ das wabxe Ver-
Atigust Neauder. 209
standnis ferner Zeiten und ferner Menschen jenen Mannern
verscMossen bKeb, daiJ sie die Elastizitat der Nachempfin-
dung vermissen lassen, daC ilmen, mit wenigeii Ausnahmen,
als Historikern die Liebe felilte, und dalJ sie das Ganze auf
einen kiimmerlicheii Ansdruck brachten, well ilir eigener
Horizont beschrankt, ihr Anschauungsvermogen fiir das
Einzelne diirftig gewesen ist, und weil sie dem geschicht-
liclien Christentum entfremdet waren.
Das war die Lage der KirchengescMclitsschreibung,
die Neander vorfand. Den friscben und neuen Zug, den
er bereits in seiner ersten Monograpbie iiber Julian be-
kundete — dort nach Verstandnis zu sucben, wo die
anderen bereits aburteilten — , hat er nicht als der Erste
aufgebracbt. Auf dem Gebiete der Literaturgescbichte, der
Volker- und RecbtsgescMcbte war dieser Zug vielmebr
scbon lebendig. Herder, den Romantikern und ihren ge-
lebrten Scbiilern verdanken wir ibn. Aber Neander bat
ibn, von Scbleiermacher angeregt, zuerst auf die liircben-
geschichte iibertragen und mit ibm das freudigste und ernst-
bafteste Quellenstudium ; denn beides ist Hand in Hand
gegangen. So bat er als ein Jiinger Cbristi und der
Romantiker das kircbenbistoriscbe Studium belebt, indem
ibm in alien Zeiten wertvolle Erscbeinungen entgegen-
traten, deren Bekanntscbaft sicb lobnte, indem er das
Evangelium als einen Sauerteig erkannte, der die Welt
durcbdrungen babe, und indem er demgemaiJ den clirist-
licben Geist in alien Jabrhunderten zu entdecken verstand;
z. T. dort, wo ibn bisber niemand gesucbt hatte. Die
zarteste romantiscbe und cbiistlicbe Empfindung verband
er dabei mit einem eisernen, keiueswegs romantiscben Eleifi.
In jedes Jabrbundert trat er ein, aber in keines scbloC er
sicb eiu, und durcb kein einziges wolite er sicb reicbere
Anscbauungen verengen lassen. Mit welcher Umsicbt bat
er geforscbt, wie Vieles bat er erzablt, was niemand vor
ibm erwabnt battel wie wuUte er die religiosen und sitt-
H am a ok, Reden und Aufsatze. I. -'-^
210 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VII.
liclien Elemente in ihrer Verkniipfcuig zu wiirdigen! wie ver-
stand er es, aus dem Vielerlei die Hauptsaclie herausztLfinden!
So arbeitete er mit an einer neuen Betrachtung der Dinge.
G-estatten sie mir hier eine Parallele. Sie schlagt frei-
lich. sehr zu gunsten des deutscten und des protestan-
tischen Geistes aus; aber sie ist gegen den Vorwurf des
ChaTiviuismus, hoife ich, gedeckt:
Aucb die KircbengeschiclitssclireibTing in Frantreicb
ist naob dem Zeitalter Voltaires am Anfang des 19. Jakr-
hunderts in eine neue Epoche getreten. Aucli hier ist das
Neue ans der Roman tik geboren, und Kraft der Anschau-
ung, Freude und Anempfindung an die Vergangenheit losten
das Zeitalter des Ubermuts und des Spotts, wie in Deutsch-
land, ab. Aber wer ist der Mann gewesen, der seine Lands-
leute dort zur Kirchengeschicbte zuruckgefiihrt bat? Ein
Gelebrter, so emst und so treu wie Neander? Keineswegs,
sondern ein zweifelhafter Cbarakter, ein Mann, der niemals
mit voller Hingabe an die Sacbe gearbeitet und es im
Grunde mit keiner "Wahrheit ganz ernst genommen bat, der
von seiner Bekebrung spricbt, weil ibm der astbetiscbe
Reiz dieser Empfindung anziehend war, und der das katbo-
bscbe Christentum fiir wabr und jede Legende far wirklich
erklarte, weil er sie schon und erbaben fand — Chateau-
briand. Es ist unerfreulicb, die Namen Cbateaubriands
und Neanders nebeneinander zu nennen • — Zacbarias
Werner oder Brentano ware die ricbtige Parallele, wenn
man von der unvergleichlicben Bedeutung absiebt, die
Chateaubriand far die Entwicklung der franzosisclien
Literatur gehabt hat — ; aber ia ihren Wirkungen sind sie
in hohem MaCe vergleichbar. Die vollig romanhaften,
selbst die Verklarung des Absurden nicht scheuenden kirchen-
historischen Darstellungen Cbateaubriands haben fiir Frank-
reich dieselbe Bedeutung gehabt, wie die ernsten Mono-
graphien Neanders fiir Deutschland. Aus ihnen hat sich
die franzosische Kirchengescbichtsschi-eibung im 19. Jahr-
August Neander. 211
liundert entwickelt, und es ist nicht scliwer, selbst bei
Renaii die Eimvirkungen Chateaubriands nachzuweisen.
Aber wie im Katholizismus und in Frankreich De
Maistre neben Chateaubriand gestanden bat, so bezeich.net
auch bei uns Neander nur die eine Linie, die aus dem
18. Jahrhundert hinausfuhrte. Man darf von Neanders
Bedeutimg nicht sprechen, ohne Kegels und des groCen
Kirctenhistorikers Baurs zu gedenken. Man darf das mn
so weniger, als Neander selbst ihrer nur allzuviel gedacht
hat. Das Zeitalter der Aufklarung ist auf dem Gebiete
der Geschichtsschreibung bekanntlich nicht nur durch die
Romantiker im Sinne Schleiermachers und Neanders iiber-
wunden worden, sondern vor allem durch Hegel. Er und
seine Schiiler haben gelehrt, die Gesohichte als die Ent-
wicklung des Greistes zu verstehen, jede einzelne Phase in
ihr als notwendig zu begreifen und hinter dem Indivi-
dueUen das Allgemeine zu ermitteln. Urspriinglich war
Neander selbst von dieser spekulativen Betrachtung nicht
unberiihrt; ja die Aufgabe der genetischen Entwicklung,
die er sich geschichtKchen Problemen gegeniiber stets ge-
stellt hat, und die Freigebigkeit, mit welcher er noch in seinen
spatesten Schriften den Begriff des geschichtlichen Gesetzes
ausgespielt hat, beweisen, dafi er sich dem EinfluiJ Hegels
nicht hat entziehen konnen. Allein, so Treffliches er in
ungesuchter geschichtlicher Dialektik geleistet, seine Starke
lag nicht in dieser Betrachtung. Sie lag in dem Streben,
das Individuelle geschichtlicher Erscheinungen griindlich
zu fassen und es erbaulich wirken zu lassen. So trat er
in einen von Jahr zu Jahr scharfer werdenden Gegensatz
zu Hegel, Strauss und Baur, deren wissenschaftliche
Methode allerdings Bedenken genug bot. Wenn Neanders
Geschichtsschreibung die Zusammenhange in der Entwick-
lung nicht iiberall zu fassen und den Wert des Politischen,
Nationalen und der Institutionen nicht geniigend zu wiir-
digen verstand, so nahm sich bei den Hegelianern die
14*
212 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
absolut gewordene Theorie die groCten Freiheiten. Ifean-
der verwisclite den Gang der Entwicldung — man brauclit
nur die unzweckmafiige Anlage seiner Kirclien- und Dog-
mengeschiclite einzusehen — , aber die absoluten G-eister
losten die gescliichtliclien Individuen von jeder Realitat
ab, die nicM zur Idee ilires Tragers passte. Indessen laCt
sich niclit leugnen, dafi Baur in seiner Art, die Dinge zu
betrachten, vollkommener war als Neander in der ihm
eigentiimlichen. Denn Baur brachte es zur Darstellung
eines groBartigen geschichtlichen Prozesses; Neander aber
gab seinen Individuen nicht die feste, umrissene Cliarak-
teristik, die man vom Biographen erwarten darf. Sie
gleichen Sternen, die, von demselben lichten Nebel um-
flossen, schwer zu unterscheiden sind. Er ■wiirdigte sie
eigentlich nur in einer Richtung: wie weit die Frommig-
keit, die ihn selbst belebte, in ihnen ausgepragt war, und
weit, innig und liebevoll angelegt, zeigte er ein erstaun-
Hclies und wohltuendes Vermogen, frommen Sinn unter
fremden Hiillen aufzuspiiren. Er sagt nichfcs Unrichtiges
liber die Personen; aber er sagt nicht alles. Die Ecken
und Kanten hat er haufig abgeschliffen, die Verbindung
mit der Zeitgeschichte verkaant, den Lokalton nicht ge-
troffen. Daher ermangelu seine geschichtlichen Darstel-
lungen, besonders die spateren, der Erische ; sie haben etwas
lyrisch Monotones. Doch wie konnte das anders sein bei
einem Manne, der das oifentliche Leben nur aus Biichern
kannte und der vor der Natur die Augen schloiJ? Neander
selbst gestand offen, dafi er fiir ihre Schonheit und Mannig-
faltigkeit keinen Sinn besitze.
Aber eine noch empfindhchere Schranke darf hier nicht
unberiihrt bleiben. Baur und Hase, Neanders Mitstreiter
gegen den Rationalismus auf dem Gebiete der Kirchenge-
schichte, haben ihre neue Betrachtung der Dinge eingefiihrt,
ohne die kritischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts
preiszugeben. Von ISTeander lafit sich nicht das Gleiche
August Neander. 213
sagen. Er blieb zeitlebens, wie manche andere Romantiker,.
in Bezug auf die -wichtigsten kritischen Tragen in einer
nnbestimmten Mitte stehen. Mit Recht wollte er die Q-e-
schichte nicht durch. die Brille einer pMlosopMschen oder
dogmatischen Schule seben. Mit Freimut erklarte er nn-
zweideutig immer wieder, der protestantische Theologe
diirfe sidi seine Forschung durch. irgendwelcbe Bekenntnis-
formebi so wenig einschranken lassen wie durch Macbt-
spriicbe der Philosophie. Allein es gibt fur den Kirchen-
bistoriker Fragen — und sie sind die entscbeidenden — ,
in denen nur ein Entweder — Oder gUt, wo jede Vermit-
telung Unklarbeit ist und Unbeil scbafft. In diesen Fragen
bat Neander niemals eine feste Stellung gewinnen konnen.
Er wollte nicbt mit der Kritik gehen, ja nicht einmal so
weit wie Scbleiermacher, und er wollte docb andererseits
den Entscbiedenen , Hengstenberg und seiner Partei,
keineswegs recht geben. "Wo er daber auf die evangebscbe
G-escbicbte, auf die Frage des "Wunders und des Suprana-
turalen zu sprecben kommt, da ist es peinlicb ibm zu fol-
gen. Er mochte der entscbiedenen Fragestellung entrianen
und kann sie docb nicbt vermeiden. Er mochte das Herz
sprecben lassen und fiiblt docb sebr wobl, daJJ bier der
kritiscbe Verstand das Wort bat. Er kapitubert mit Beiden
und macbt es Keinem recbt. Am starksten tritt dieses
Schwanken in seinem Werke iiber das Leben Jesu bervor.
Man erfabrt bier vielfacb nur, wie Neander sicb die Dinge
zurecbt gelegt bat. Und was die Folge jeder Scbwacbe ist,
die gereizte Stimmung, das stellte sicb aucb bei ibm ein.
„Die Vermittler sind nicbt immer die Q-erecbten", hat er
selbst einmal gesagt. Er wurde in steigendem MaUe er-
bittert und ungerecbt gegen Hegel und seine Scbule. Hier
verbefi den sonst so liebevollen Mann die Liebe und den
sonst so geiibten Historiker die Fabigkeit, das Berecbtigte
und Grute aucb in fremder Erscbeinung berauszuiinden.
Seia BHck in die durch die Hegelsche Pbilosopbie be-
214 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
herrscMe G-egenwart wurde triibe, und da er auch im 18.
Jahrliundert melir Schatten als Licht erblickte, so erschie-
nen ilim die wenigen Jahre um 1813 wie ein fliichtiger
Sonnenblick zwiscben Nebelziigen. Er scbaute dann woM
aus auf ein Wunder, auf eine neue Grottestat, die eine
bessere, bohere EntwicMung der Kircbe scbaffen werde.
Allein man darf bier nicbt vergessen, dafi Neander in der
Hegelschen Auffassung des Cbristentums die vollige Ver-
kebrung desselben erkannte. Und er batte nicbt so Unrecbt.
Indem das Cbristentum bier lediglicb als Grbed des ge-
scbicbtlicben Prozesses betracbtet wurde, ging, nm von
anderem zu scbweigen, die Eigenart und speziiiscbe Be-
deutung der Person Cbi-isti verloren. Unzweifelhaft ver-
teidigte also Neander als Cbrist und als Historiker gegen
Hegel, StrauU und Baur ein bocbst wertvolles Gut. Selbst
Vatke bat von der „beiligen Harte" Neanders gesprocben,
und in der Tat erinnert seine erbitterte Polemik gegen die
Hegelianer an die Polemik des b. Bernbard gegen Abalard.
Aber ISTeander fand fiir das, was er woUte, keinen Idaren
und uberzeugungskraftigen Ausdruck. Er stand zwiscben
zwei Feuern, und er batte dabei selbst das Gefiibl, nicbt
geniigend gedeckt zu sein. Die Hegebaner wiesen die
Scbwacben seiner G-escMcbtsscbreibung nacb, und Heng-
stenbergs Evangeliscbe Eorcbenzeitung begann ibn als
Halbglaubigen zu denunzieren. Aber was uns mit dem
Manne bier versobnt, ist die Beobacbtung, daU er sicb
durcb seinen G-egensatz gegen die Linke nie dazu bestim-
men beC, ein Eingreifen von auBen in den Gang der tbeo-
logiscben Entwicklung gutzubeifien. Er kiindigte im
Jabre 1830 seinem KoUegen Hengstenberg die Mtarbei-
terscbaft an der Evangebscben Kircbenzeitung , als diese
die Hallescben Professoren G-esenius und Wegscbeider
bei dem Ministerium auf Grund von nacbgescbriebenen
Kollegienbeffcen angeklagt batte. „G-ebt Gesenius, so gebe
icb aucb", rief er aus. Er warnte, vom Ministerium zu
August Neander. 215
einem Grutacliten aufgefordert, davor, StrauB' Leben Jesu
zu verbieten. „Hier kann alles iitir als willklirlicher Macht-
sprucli erscbeinen", scbreibt er dem Minister, „wenn nicht
die Griinde durcb Griinde wider legt werden." Er blieb
zeitlebens unerscbiitterlich bei dera scbonen Bekenntnis:
„Der Kampf zwiscben Irrtum und Wakrheit in der Theo-
logie liegt fern von dem Bereicbe jeder aulJerlicben
Macbt" . . . „Denken wir uns", sagt er, „es Avare einem
einseitigen blinden Eifer gelungen, die Scbule eines Origenes
ganz zu unterdriicken, so -ware der ganze naturgemalJe
EntwicklungsprozeC der christKcben Lebre mit einem
Male gehemmt worden." „Leicbt", fahrt er fort, „ergibt
sich die Anwendung dieses Beispiels auf die geistigen Er-
scbeinungen unserer Zeit*)."
Aber nocb ein Anderes ist bier zu nennen, was uns
*) Noch seien hier z-wei bemerkenswerte TJrteile Neanders auge-
flihrt. Im Jahre 1830 solirieb er: „Existiert die theologisohe Fakultat
als Teil eiuer Universitat , so folgt anch daraus sohou von selbst, daG
die Theologie als Wissenschaft hier derselben Freiheit ihrer Entwick-
lung wie alle andereu Wissenschaften genieCen muG; denn die wissen-
schaftliclie Eutwicklung laBt sicli ja nicht so abgrenzen, daC sie in
einem Gebiet besclirankt, in alien ubrigeu frei sei, da die verscbiedenen
Gebiete des "Wissens miteinander in Bertihrung kommen, und bei jener
partiellen Besohrankung ein Widerstreit im Innern der so bescbrankten
"Wissenschaft entstehen mtiSte, der, wenn er nicht durch die "Wissen-
schaft selbst gescblichtet wird, fiir die Atifrichtigkeit der "fjberzeugung
nicht anders als die gefahrlichsten Folgen haben kOnnte. So -w-Urde
der Gegensatz einer theologischen und philosophischen "Wahrheit sich
bilden, welcher im Mittelalter und in den Zeiten nachst vor der Eefor-
mation die Larve eines im Verborgenen schleichenden IJnglaubens -wurde
.... Es bliebe also in diesem Ealle nichts anderes iibrig, als daC die
theologisohe Fakultat aufhOrte, ein integrierender Teil der Universitaten
zu sein, und daB geistliohe Seminarien gestiftet wiirden, um die Theo-
logie nach einer unabanderlichen , auBerlioh gegebenen Lehrnorm vor-
zutragen, und auch alle anderen von der Theologie unzertrennlichen
■vvissenschaftlichen Elemente in so bestimmter Zusammensetzung mitzu-
teilen, daC sie nichts mit jener Lehrnorm Streitendes enthalten oder
anregen kOnnten. Aber gesetzt, auch dies lieBe sich auf einmal reali-
216 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
den Mann bewundernngswiirdig macht. Das ist die Klar-
heit, mit der er die Schranke seiner Natnr und Bildnng
erkannt, und die Offenheit, mit der er sie bezeiclinet hat.
Er sclireibt in der Vorrede zum „Leben Jesu", er werde es
keiner Partei recht maclien, auch den Mannern der Evan-
geliscken Kirchenzeitung nicbt; denn er erkenne das Eecht
der Kritik an, und er babe keinen starken Grlauben gegen-
liber den Wundererzablungen. „Ich bin von Anfang an
in meiner religiosen Entwicklung zu sebr durcb den Bil-
dungsgang dieser Zeit affizieft worden." Eine Eigenart,
die so klar liber sicb selbst sieht, ist in sick auch berech-
sieren, Tvurden nicht die aus solohen Seminarien hervorgelieiideii Tlieo-
logen dooh. naclilier von den vorhandenen Elementen der wissenschaft-
liehen GeistesbildiTng feindlich berilhrt werden, und muCte ilinen nicht
der unerwartete Kampf, zu dem sie nicht gertistet waren, desto gefahr-
liolier werden? Und wie kOnnten sie durch. die Macht des Evangelinms
auf ihre Zeit recht einwirken, wenn sie niclit das geistige Leben der-
selben nach seinen mannigfachen Elementen aus eigener Ansohauung
vmA Erfabrung kennen gelemt batten?" Und gegen Hengstenberg im
Eebruar 1836: ,,Da icb soeben das Yorwort zur Evang. Kircbenzeitung
vom Monat Januar gelesen babe und darans ersebe, wie bier von dem
Standpunkt einer alleinsoligmacbenden Dogmatik alien verschiedenen
eigentumlicben tbeologischen Eiclitungen MaB und Ziel gesetzt werden
soil, so fulile icb micb gedrvingen, festbaltend an dem einen Grunde,
der Cbristus ist, vor dem sicb beugen muC jedes Knie, aufs neue in
dem Geiste der Liebe und der Freibeit, der von Ibm konimt, zu pro-
testieren gegen Jedes Papsttnm, welcber Art es sein niBge, das die
Geister, die Gott gescbaffeu bat in unendlicber Mannigfaltigkeit zu
seiner Verberrlicbung und deren Leitung Er sicb vorbebalt, am Gangel-
bande fubren zu k5nnen meint, und gegen jedes von solcbem Papsttnm
zurecbt gemacbte Prokrustesbett. Leicbt ist es, konsequent zu sein,
wenn man scbnell abscbliefit und fertig ist, scbwer, "wenn man das Ge-
wissen der Wahrbeit immer offen bait nacb alien Seiten und im sauren
Kampfe mit sicb selbst sicb gedrungen fuhlt, innner mebr inne zu
werden, daG all unser Wisseu Stuckwerk ist und bleibt. Wir kannen
nicbt umbin, zu wamen vor jener Konsequenz in der Bescbranktbeit,
welcbe so leicbt mit anmaBendem Absprecben oder Geistestragheit
sicb paart.'' [Neander meint im letzten Satze nicbt Hengstenberg selbst,
sondern einen groSen Teil der Anbanger desselben.]
August Neander. 217
tigt; ja die Kraft ihrer Wirksamkeit hangt wahrscheinlich
aucL. von dieser Mischung des Gegensatzlichen ab. Wir
konneiL die Parteien von rechts nnd links verstehen, die,
als der Kampf der Prinzipien sicli verscharfte, iiber Nean-
der hinwegschritten ; aber wir miissen anch den Mann ver-
stehen, der, seiner Anlage nnd Bildung gemafi, sich zn
entscliiedener Stellungnahme nicht drangen lieB. Als Schii-
ler der Romantiker wollte er das Hocbste, was er besaC,
gleichsam gestaltlos besitzen: ,.pectus est qnod theologum
facit." Als Christ suchte er nach einem Ausdruck fiir
das lebendige Christen turn, der von den Erwagungen des
Verstandes nnberiihrt bliebe. Er vermochte nicht, ihn zu
gewinnen, weil er in sein Christentum Uberliefemngen
hineinzog, die sich gegen die Kritilc nicht absperren lassen.
Aber was ihm vorschwebte, war doch ein Richtiges.
Sein EinfluiJ auf die Folgezeit ist ein doppelter ge-
wesen. Einerseits hat er, wie ich es zn schildern versucht
habe, das kirchenhistorische Studium neu belebt, Seelen fiir
das Evangelium gewonnen nnd in seiner Person ein hohes
Vorbild der Frommigkeit und des EleiCes gegeben. An-
dererseits ist die Influenz seiner Eigenart auf seine Schiiler
und auf den Grang der Entwicklung der kirchlichen Dinge
nicht durchweg giinstig gewesen. Die Entstehung eines
Virtuosentums , hinter dem sich Dilettantismus und Un-
sicherheit verbargen, hat er nicht kraftig genug abgewehrt*).
*) Neander liat die Notwendigkeit und den Wert kirchlicher Ge-
sbaltungen verkannt, aber auch niemals darnach getraclitet, direkten
EinfluC auf die Entwicklung der kirchliclien Dinge zu gewinnen. Bei
seinen SoliUlern wurde das z. T. anders; sie wollten, resp, sie muBten
Stellung nehmen zu den neuen Pragen der Gestaltung der Kirche. Aber
durcli die Pektoraltheologie ungenugend fiir dieselben vorbereitet, haben
sie vielfacb gefabrliche und unsicbere Wege eingesohlagen , sich ledig-
licb auf ibr eigenes cbristliobes und kirobliohes Gefubl verlassend. Man
siebt leicbt, daB Neander bieran keine Scbuld tragt — er stellte uberall
die bOcbsten wissenschaftliohen Auforderungen — ; aber er ist doob
durcb seine Eigenart als Kircbenhistoriker mit daran scbuld gewesen.
218 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Dem Aufkommen einer Richtung, welche die Probleme
verschleierte und den Gregensatzen die Spitze abbrach., hat
er wider seinen Willen Vorscbub geleistet. Was bei ibm
individuell bereclitigt war, war es bei vielen seiner Schiiler
nicbt mehr. Eine grofie AnzaM mag das selbst gefiihlt
haben. Sie zog sicb in den sicberen Hafen zuriick, als in
den fiinfziger Jahren das eintrat, was wir alle kennen.
Man kann diesen Riickzug wohl versteben; denn der Sub-
jektivismus, dem Neander das "Wort redete, ist in der Gre-
staltung des Kircbenwesens nicbt unbedenkbcb. Wenn der
strenge Symbolzwang nicbt mebr aufrechtzuerbalten ist,
so ist es vielleicbt nocb gefabrbcher, ein enges Bekenntnis
sebwacbbcb und unsicber zu bandbaben ; denn unter solcben
Umstanden ist die Kircbe der theologiscben Willkiir irgend
eines einfliiBreicben Mannes von bnks oder recbts preisge-
geben, der es verstebt, zeitweibg die Herrscbaft zu ge-
winnen und seine Tbeologie gleichsam zum Symbol zu er-
beben. Diese Qefabr aber drobte bei der Haltung, die
Neander eingenommen und vielen seiner Scbiiler "iiberliefert
bat. Allein so lange wir kein festes und weites Bekennt-
nis besitzen, das strong gebandbabt werden kann — der
Versucb von ISTitzscb und anderen, ein solcbes auf der
Generalsynode 1846 zu scbaffen, ist bekanntbcb gescbeitert,
— so lange miissen wir den Grefabren mit Greduld und
Weislieit zu begegnen sucben, die mit dem gegenwartigen
Zustande verkniipft sind. Wie aber aucb die Dinge sicb
weiter gestalten mogen — jede Idi-cblicbe Partei und jede
Ricbtung der protestantiscben Tbeologie wird das Andenken
des Mannes in hoben Ebren balten, den wir beute feiern,
well er keiner Partei dienen woUte, sondern der Earche
Jesu Cbristi.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
^ ERSTER BAND ■ ZWEITE ABTEILUNG ^
AUFSATZE: I
DAS APOSTOLISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS
EESr G-ESCHICHTLIOHEE BERICHT NEBST EINER
EINLEITUNa UND EINEM NACHWORT.
Dem Aufsatz liber das apostoKsclie G-laubensbekenntnis
stelle ich. den Artikel ans der Zeitschrift .,Die Christliclie
Welt", 1892, No. 32 v. 18. August voran, der mir heftige
Angriffe zuzog und mich. notigte, in einer kurzen Dar-
stellung einen gescMch-tlichen Bericlit liber die Entsteliung
des Grlaubensbekenntnisses zu geben. Dieser erschien
wenige "Wocben spater bei A. Haack (Berlin NW, Doro-
theenstrafie 55). Er ist Mer mit unbedeutenden Yerande-
rungen nack der 26. Auflage (1892) abgedruckt. Alle
Auflagen trugen den Vermerk, den ich. auch. jetzt wieder-
hole: Auf Mitteilung zaHreicber Belege zu den nachfolgen-
den Ausfilhrungen habe icb verzicbten miissen. Die Vor-
fiihrung des gesamten Materials wiirde viele Bogen er-
fordert haben.
In Saclieii des Apostolikums.
Vor emigea Wochen kam zu Professor Harnack in Berlin eine
Abordnung Studierender mit der Frage, ob er ihnen raten kOnne, mit
andem preufiischen Studenten der Theologie in AnlaB des Falls Scbrempf
eine Petition an den Evangeliscben Oberkircbenrat zu ricbten uni Ent-
femtmg des sogenannten Apostolikums aus der Verpflicbtungsformel
der Geistlicben und aus dem gottesdienstlichen Q-ebraucb. Professor
Harnack hat hierauf in seinem KoUeg iiber neueste Kircbengesobiobte
geantwortet und den Inbalt dieser Antwort in folgenden Satzen den
Fragestellern zugehen lassen. [Anmerkung des Herausgebers, D. Eade.]
Antwort aiif die Frage, ob dem Unterzeichneten
eine Eingabe an den Evangelischen Oberkircbenrat
nm Abs chaff ung des Apostolikums seitens der Theo-
logie-Stndierenden ratsam erscheint.
1. Icb teile mit den Fragestellern die Ansicbt, daB es
der evangeHscben Kirche zienien wurde, an die Stelle des
Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu
setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden
Zeit gewormene Verstandnis des Evangebums deutlicber und
sicberer ausdriickte und zugleicb die Anstofie beseitigte, die
jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und auf-
ricbtigen Cbristen, Laien und Geistlicben, bietet.
2. Icb balte mit den Fragestellern den Fall Scbrempf
fur einen gegebnen, ja gebotnen Anlafi, die Frage nacb
der G-eltung und dem G-ebraucb des Apostobkums in den
evangebscben Kircben wieder anzuregen und sicb durcb
die voraussicbtlicbe Erfolglosigkeit in der Gregenwart von
222 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
solcher Anregung niclit abschrecken zu lassen. Ich bin der
Meinung, dafi die Generalsynoden der evangelischen Kircheii
keine ernstere und brennendere Aiofgabe haben als die, die
Bekenntnisfrage freimiitig zu erwagen.
3. Bei solclien Bemiibungen ist aber nicbt die Parole
auszugeben: „Das Apostolikum soil abgescbafft -werden";
denn eine solcbe Parole wiirde zur Waffe in der Hand der
Gregner des Christentums werden, wiirde dem bohen reli-
giosen Werte und dem ebrwiirdigen Alter des ApostoK-
ktuns gegeniiber eine Ungerecbtigkeit sein, wiirde ferner
eine Vergewaltigung der evangeliscben Cbristen bedeuten,
die ibren Grlauben voU und obne AnstoB im Apostolikum
ausgedriickt finden, und wiirde endlicb der Art nicbt ent-
sprecben, in der sicb die Kircben der Reformation zu den
Glaubenszeugnissen der Vergangenbeit gestellt baben und
so lange stellen miissen, bis sie die Kraft zu einer neuen
reformatoriscben Tat oder eine neue reformatoriscbe Per-
sonlicbkeit erbalten.
4. Daber kann zur Zeit jeglicbe Bemiibung nur darauf
ausgeben, entweder das Apostolilcum aus dem liturgiscben
Gebraucb zu entfernen, oder docb den Gremeinden die Mog-
licbkeit zu gewabren, es nicbt zu braucben, oder es durcb
eine andre evangeliscbe Glaubensformel zu ersetzen.
5. Diese Bemiibungen werden aber nur dann eine ge-
wisse Aussicbt auf Erfolg erlangen, wenn man das kurze
Glaubensbekenntnis, das man an Stelle des oder neben dem
Apostobkum wiinscbt, wirklicb zu formuberen und zu pro-
duzieren vermag, und wenn es an Grestalt und Kraft dem
alten iiberlegen ist. In den Eircben darf man — in nocb
boberm MaUe als im Staatsleben — nur negieren, indem
man baut. Jede andre Tatigkeit ist von tJbel; bloiJe
Wiinscbe aber nacb einem neuen Bekenntnis tun es nicbt,
so wobl gemeint und so ernst gefaCt sie aucb sein mogen.
6. Die Anerkennung des Apostobkums in seiner wort-
licben Fassung ist nicbt die Probe cbristlicber und theolo-
Das apostolische Glaubensbekemitnis. 223
gischer Reife; im Gregenteil wird ein gereifter, an dem Ver-
standnis des Evangeliums und an der KircLengescMchte
gebildeter Christ AnstoJJ an mehreren Satzen des Apostoli-
kums nehmen miissen. AUein umgekehrt darf man auch
von dem gereiften nnd gebildeten Theologen erwarten, dafi
er soviel geschichtliclien Sinn besitzt, um sich von dem
hohen "Wert und dem grolJen "Wakrheitsgehalte des Apostoli-
kums zn iiberzengen nnd eine positive Stellung zu seinem
Grmndgedanken zu gewinnen, die es ihm. ermogliclit, ein
altes Zeugnis seines eignen Grlanbens in dem Apostolikum
zu erkennen.
7. Auf alle einzelnen Satze des Symbols in ihrer wort-
licben Fassung laJJt sich diese positive Stellung allerdings
nicht ausdehnen. Aber Mer darf die dreifache Erwagung
eintreten, daJJ a) die evangelische Kirche selbst nicht bei
alien Satzen des Symbols die urspriingliche wortliche Fas-
sung aufrecht erhalt („Gremeinschaft der Heiligen"); b) dafi
ein Satz der Lehre des Paulus widerspricht („Auferstehung
des Fleisches") und daher auch nach den Grundsatzen der
evangelischen Kirche in seiner wortlichen Fassung nicht
aufrecht erhalten werden darf; und dafi c) alle Einzeltat-
sachen, zu denen der Christ sich bekennt, nicht als nackte
Tatsachen, sondern um der unsichtbaren Beziehungen und
Werte willen, die der Grlaube an ihnen wahrnimmt, Satze
des Glaubensbekenntnisses sind.
8. Diese Erwagungen reichen gegeniiber einem Satze
des Apostolikums allerdings noch nicht aus („Empfangen
vom heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria"),
denn hier wird als Tatsaohe etwas behauptet, was vielen
glaubigen Christen unglaublich ist, und was eine in der
Kontinuitat der sonstigen kirchlichen Umdeutungen he-
gende Umdeutung deshalb nicht zulafit, well man es in
sein Gegenteil umdeuten miiCte. Hier hegt also ein wirk-
Notstand vor fiir jeden aufrichtigen Christen, der dies Sym-
bol als Ausdruck seines Glaubens brauchen soU und sich
224 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
docli nicht von der Wahrheit jenes Satzes -iiberzeugen kann.
Als die einfacliste Losung erscheint die, daJJ solohe, die
jenen Satz nicht anerkennen, niclit Gleistliclie werden und
bleiben, und dafi auck die Laien, die in derselben Lage
sind, sick von der Kircke, die jenes Symbol aufreckt er-
kalt, zuriickzieben sollen. In der Tat kann man denen, die
sick in ikrem Gewissen gezwungen seken, so zu kandeln,
nur ernstkck zureden, nickt wider ikr Grewissen zn tun, denn
wider das Gewissen zn kandeln ist der kockste Sckrecken.
AUein es stekt nickt so, dafi die Gewissenkaftigkeit solcker
Manner allgemeines Gesetz werden mkfite. "Wenn um eines
einzelnen Satzes willen, der mindestens nickt im Zentrum
des Ckristentums stekt, die Takigkeit, die Gemeinde, in die
man kineingeboren ist, zu erbauen und an ikrem innern
Leben teUzunekmen, aufgekoben sein sollte, so konnte eine
religiose Gemeinde iiberkaupt nickt besteken. Denn wie
ware es moglick, Institutionen der Lekre und des Kultus
zu sckaffen, die in jedem Stiick die Uberzeugung aller
wiedergeben und niemandem zum Anstofi gereicken, und
wie ist es denkbar, dafi diese Institutionen sofort jeder —
sei es auck erprobten — Wandlung des ckristkcken Ver-
standnisses folgen? Es ist also nickt Gewissenlosigkeit,
sondern eine kaltbare und sittkck zu recktfertigende Po-
sition, die der einnimmt, der in der Kircke, sei es auck
als Lekrer, bleibt, der an jenem Stiick und an aknlicken
Anstofi nimmt.
Aber dieses Bleiben ist freikck nur dann sittlick ge-
recktfertigt, wenn der betreffende Tkeologe a) mit dem
Grundgedanken seiner Kircke ubereinstimmt; b) dort wo er
auf das Verstandnis ■ — sei es auck das gegneriscke — reck-
nenkann, von seiner abweickenden Meinung keinHekl mackt;
iind c) in den Grenzen, die ikm durck seinen Beruf ge-
geben sind, fiir die Absckaifung des Notstandes wirkt. In
einem solcken belindet er sick wirklick; darum — wie er
eiaerseits nickt verpflicktet ist, seine I&aft seiner Kircke,
Das apostolische Glaubeiisbekeuntnis. 225
die keine Gesetzeskirche ist, deshalb zu entziehen, so ist er
andrerseits verpflichtet, an seinem Teil an der Hebung des
Notstandes zu arbeiten. Nur so bewahrt er sich. ein gutes
(xewissen. Die Art der Arbeit Avird aber je nach. Beruf
und Fabigkeit eine verscbiedne sein. Das Recht und die
ungemeine Kraft, die eine offentliche Agitation verlangt,
werden wohl die wenigsten, wenn sie sicb priifen, in sicb
finden. Aucb baben laute Agitationen oft den entgegen-
gesetzten Erfolg.
9. Die Frage, ob zukiinftige Greistlicbe, die zirr Zeit
nocb Studenten der Tbeologie sind, in Hinblick auf ibi'e
Znkunft berecbtigt sind, in eine Bewegung far Abscbaffung
des Apostolikums einzutreten, vermag icb nur zu verneinen
und zwar aus folgenden Grriinden:
a) weil die Parole „ Abscbaffung des Apostolikums"
iiberbaupt eine falscbe ist (s. oben);
b) weil, aucb wenn man die Aufgabe in den G-renzen
bait, die oben gezeicbnet sind, m. E. Studierende in solcben
Fragen, wie die vorliegende ist, iiberbaupt nicbt offentKcb
ein UrteU abgeben soUen;
c) weil die Bebandlung dieser besondern Frage eine
cbristbcbe und wissenscbaftlicbe Reife voraussetzt, die die
Studierenden bocbstens am Ende ibrer Studienzeit erwerben
konnen, eine Agitation aber unfeblbar aucb die jungen und
jiingsten Studierenden mitergreifen, so zu einem bocbst
bedenklicben und unerfreulicben Scbauspiel werden, viele
Grewissen nur verwirren und nicbt wenigen sebr bald eine
peinlicbe Rene eintragen wiirde (siebe aucb insbesondere
nocb das unter No. 5 bemerkte).
Indem icb die Absicbt und den Wunscb, aus denen
die Frage bervorgegangen ist, ebre, vermag icb den Frage-
stellern scblieJJlicb zwei Winke zu geben, durcb deren Be-
folgung sie angemessener und sicberer das erreicben wer-
den, was sie wiinschen:
Harnack, Reden und Aufsatze. I. 15
226 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Erstlich, fleifiiges Studium der DogmengescMchte und
Symbolik, damit ein wirkliclies Verstandnis, wie fiir den ur-
spriingliclien Sinn der Bekenntnisse, so fiir die GTeschiclite
der Wandlung ihres Verstandnisses — oft bis zu eineni
ganz neuen Sinn — erworben werde, nnd damit man sich.
ancli in scKeinbar oder wirklicli fremde Anschauungen zu
iinden lerne und ihnen den Wahrbeitsgelialt abzugewinnen
verstehe.
Sodann, Festigkeit in den auf der Universitat etwa
gewonnenen, von der sogenannten oder wirkKchen Tradi-
tion abweicbenden religiosen Uberzeugungen, damit bei dem
Eintritt ins Amt nicbt in kurzer Zeit das wieder wegge-
spiilt oder mit gebroebenem Grewissen beiseite geschoben
wird, wovon man sich. doch. einst iiberzeugt hatte. Agita-
tionen tun es nickt, am wenigsten wenn sie von noch. nicht
geniigend reifen Personen ausgehen. "Wenn aber alle als
Manner im kirchlicben Amt die Ideale treu und fest balten,
die sie als Jiinglinge erworben baben, dann kommt gewiB
eine goldne Zeit fur die Kircbe Jesu, und aucb die Not-
stande, die jetzt ertragen werden miissen, werden aufboren.
Anbang. Der wesentlicbe Inbalt des Apostolikums
bestebt in den Bekenntnissen, daJJ in der cbiistlicben Re-
ligion die Gliter „beilige Earcbe", „Vergebung der Siinden",
,ewiges Leben" gescbenkt sind, daB der Besitz dieser Griiter
dem Glauben an Grott, den aUmachtigen Schopfer, an seinen-
Sohn Jesus Christus und an den beiligen Greist zugesagt
ist, und daC sie durcb Jesus Christus unsern Herrn ge-
wonnen sind. Dieser Inhalt ist evangelisch.
I.
"WeiiB. man den Wortlaut des apostolisclien Symbols
zuriickverfolgt aus unseren Katechismen und Drucken zu
den altesten Drucken und aus ilinen zu den Handschriften
und zu den "Werken der spateren Kirchenvater, so gelangt
man etwa bis um das Jahr 500. Mcbt nur laJJt sich. der
heute bei den Protestanten und Katholiken gebrauchte
"Wortlaut niclit welter zuriickverfolgen, sondern es sprechen
auch starke Grriinde dafur, daC er vor dem Ende des 5. Jahr-
hunderts so niclit existiert hat. Wir treffen aber diese
Form des Symbols um diese Zeit in der sudgallischen
KircKe an, und nur in ihr. Daraus folgt: das aposto-
lisclie Grlaubensbekenntnis in seiner lieutigen Form ist das
Taufsymbol der siidgalLisclien Kirclie seit der Mitte be-
ziehungsweise seit der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts.
Von SiidgaUien zog das Symbol in das Frankenreich. ein
und hat sich mit der Ausdehnung dieses Reiches verbreitet.
Durch die Beziehungen der Karohnger zu Rom kam
es in die Welthauptstadt — wenigstens ist es uns nicht
bekannt, dafi dies friiher geschehen ist, — wurde dort
rezipiert, und nun verbreitete es Rom iu alien Landern
des Abendlandes, so daiJ man es seit dem 9. oder 10. Jahr-
hundert auch das neuromische Symbol nennen kann: das
„neur6mische", well es, wie sich zeigen wird, auch ein alt-
romisches Symbol gegeben hat.
Das Symbol gibt sich aber mindestens von der an-
gegebenen Zeit ab keineswegs als ein provinzialkirchhches,
vielmehr fordert es die hochste Autoritat, indem es im
strengsten Sinne des Worts „apostohsch" d. h. von den
Aposteln verfaUt seiu will. Diese Vorstellung war damals
15*
228 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
SO ausgepragt, daJJ jeder der zwolf Apostel einea Satz bei-
gesteuert habe. So oder aTinlicli lautete die allgemeine
tiberlieferung: „Ajn zehnten Tage nach. der Bammelfalirt,
als die Jiinger aus Furclit vor den Juden versammelt
waren, sandte der Herr den versprochenen Troster (den
heiligen Geist). Sie -wnrden durcli sein Kormnen entziindet
wie ein gliihendes Eisen, mit der Kenntnis aller Spraclien
erfiillt und verfaCten das Symbol. Petms sprach : „Icli
glaube an Grott, den allmachtigen Vater, den Sctopfer
Himmels und der Erde", Andreas sprach: „TJnd an Jesus
Ohi'istus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn", Jako-
bus sprach.: „Der empfangen ist vom heiligen Greist, ge-
boren aus Maria der Jungfrau", Johannes sprach: „Gre]itten
unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben",
Thomas sprach: „Niedergefahren in die Unterwelt, am
dritten Tage auferstanden von den Toten", Jakobus sprach:
„Aufgefahren gen Himmel, sitzt zur Rechten Grottes des
allmachtigen Vaters", Philippus sprach: ,,Von dannen wird
er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten",
Bartholomaus sprach: ,,Ich glaube an den heiligen Greist",
Matthaus sprach: ,,Eine heihge, katholisohe Kirche, Gre-
meinschaft der Heihgen", Simon sprach: ,,Sundenver-
gebung", Thaddaus sprach: ,,Auferstehung des Fleisches",
Matthias sprach: ,,E'wiges Leben"."
Diese Auffassung vom Ursprung des Symbols hat
meines Wissens ungebrochen und von niemandem ange-
tastet im ganzen Mittelalter und im gesamten Grebiet der
romischen Kirche geherrscht; nur die Grriechen erklarten,
dafi sie von einem apostolischen Symbol nichts wiiCten.
Man kann sich vorstellen, welche Autoritat ein Bekenntnis
besitzen muBte, das man sich so entstanden dachte! Un-
bedenkhch wurde es der heiligen Schrift gleichgestellt. Es
erschien daher als ein furchtbarer Schlag, der den christ-
lichen Grlauben zu vernichten drohte, als Laurentius
Yalla kurz vor der Reformation gegen die Uberlieferung
Das apostolisclie Glaubensbekemitnis. 229
aufteat und aucli Erasmus Zweifel auCerte. In der ganzen
Geschichte des Symbols hat es keinen kritischeren Moment
gegeben. "War docli die ganze abendlandische Christenheit,
Greistliclie iind Laien, unterrichtet worden, das Symbol sei
von den Apostela in der angegebenen Weise verfafit, nnd
nun soUte sich die Kircbe die Jalirhnnderte hindurcli ge-
irrt baben! "Welcbe bedenldicbe, scbwer zu ertragende
Erscbiitterung des Grlanbens ! Die Pariser Tbeologiscbe
Fakultat zensurierte die Zweifel des Erasmus. Sie berief
sich. auf die Tradition, die Erasmus nicht zu kennen
scheine : »Haec nescientia impietati deserviens scandalose
proponitur«, rief sie dem Gelehrten zu. Aber auch Pro-
testanten traten zuerst fiir die Wahrheit der bedrohten
tJberlieferung ein. Allein bald anderte sich das Urteil in
ihren Reihen, und sie gaben, dem erdriickenden gescliicht-
Hohen Beweise folgend , mutig die tJberlieferung preis.
Zogernd folgten die Katholiken. Der Catechismus Romanus
halt die Abfassung des Symbols durch die Apostel fest,
jedoch behauptet er nicht melir sicher, daiJ jeder Apostel
einen Satz beigesteuert habe. In den evangehschen Kirchen;
gilt das Symbol nicht mehr um seines Ursprungs willen
fiir heihg, und doch sind sie nicht zusammengebrochen.
Sie haben diese Erschiitterung iiberstanden, wie so manche
andere, aus einer geforderten Erkenntnis der Geschichte
stammende, die sie genotigt hat, sich von der Form auf
die Sache, von der auJJeren Autoritat auf den Inhalt, von
dem Buchstaben auf den Geist zui'iickzuziehen.
n.
Aber wie ist ein provinzialkirchliches, gaUisches Symbol
— als ein solches erkannten wir das Apostolikum — zu
der Ehre der Legende gekommen, es sei Satz fiir Satz von
den Apostela verfaUt, so daiJ es sich, mit dieser tJberliefe-
rung ausgestattet, in der ganzen romischen Kirche duxch-
gesetzt hat? Diese Tatsache ware schlechthin unerklarlich,
230 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
ware jene Legende niclit frtiJier schon von einem anderen
bedeutenderen Symbole ausgesagt und spater auf das gal-
lische Bekenntnis libertragen worden.
In der Zeit zwischen ca. 250 nnd ca. 460 (und noch.
dariiber hinaus) batte die romische Kirche im gottesdienst-
licben Grebraucb ein Symbol, das sie in bocbsten Etren
bielt, zu dem sie keine Zusatze duldete, das sie direkt von
den zwolf Aposteln in der Fassung, in der sie es besaC,
ableitete, von dem sie annahm, Petrus habe es nach Rom
gebracht. Dieses Symbol liegt uns in eiaer Anzahl von
Texten vor, so daJB -wir es mit fast vollkommener Sicberheit
so wiederzugeben vermogen, wie es einst gelautet hat, namhcli:
„Icli glaube an Grott den Vater, Allmacbtigen, imd an
Christns Jesus seinen eingeborenen Sobn, unseren Herm,
der geboren ist aus heiligem Geist und Maria der Jung-
frau, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben
ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, auf-
gefahren in die Himmel, sich setzend zur RecMen des
Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und
Tote, und an heiligen GTeist, beilige Kirche, Vergebung
der Siinden, Pleisches Auferstehung. "
Rufinus und Ambrosius (am Ende des 4. Jahrhunderts)
erzahlen ujis, daB dieses Symbol von den Aposteln verfaJBt
sei, ja man darf daraus, daJB es Ambrosius bereits in zwolf
Satze eingeteUt wissen will, vieUeicht schlieUen, daC die
Sage, jeder Apostel hatte ein einzelnes Glied als seinen
Beitrag zum Symbol beigesteuert, schon damals bekannt
gewesen ist. Indes Rufinus, der etwas spater geschrieben
hat, kennt sie noch nicht, sondern weiB nur von der ge-
meinsamen Abfassung des Symbols durch die Apostel bald
nach Piingsten, bevor sie sich trennten, um die Weltmission
zu beginnen. Doch kommt auf diesen Punkt, ob jeder
Apostel einen bestimmten Satz beigesteuert habe oder ob
sie in anderer Weise als an der gemeinsamen Abfassung
beteiligt vorgestellt wurden, wenig an. Die gemeinsame Ab-
Das apostolisolie Glaubansbekenntnis. 231
fassung durch. die Apostel stand fest, und zwar „auf Grund
einer alten Tradition", wie Rniinus sagt. Jedenfalls schon
im Anfang des 4. Jahrimnderts , wahrscheinlich. bereits im
dritten, war der Grlaube an sie in Rom herrschend. Die
Folge -war, dafi man mit angstlicher Sorgfalt liber jedem
Worte des Symbols wachte. „ Wenn schon den Schriften eines
Apostels", scbreibt Ambrosins, „nichts entzogen und nicMs
hinzTigefiigt -werden darf , so diirfen wir dem Symbol, das
"wir als von den Aposteln liberliefert nnd verfajjt empfangen
haben, nichts entziehen nnd nichts hinzufugen. Das aber
ist das Symbol, welches die romische Kirche besitzt, wo der
erste der Apostel, Petrus, gesessen hat und wohin er „die
allgemeine Formel" (communem sententiam) gebracht hat."
Allein diese Vorstellung der romischen Kirche von
ihrem Taufbekenntnis kann nicht so alt sein wie das Tauf-
bekenntnis selbst. Es geht das schlagend aus der Tat-
sache hervor, daC die anderen abendlandischen Kirchen
(vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zui^ 9. u. langer) Tauf-
bekenntnisse besessen haben, die sich zwar samtlich als
Tochter des alten romischen erweisen, aber von demselben
durch mehr oder weniger zahlreiche Zusatze unterscheiden.
Wir kennen jetzt eine sehr groCe Anzahl von alten Tauf-
bekenntnissen des Abendlandes, z. B. karthaginiensisch-
afrikanische, ravennatische, mailandische , aquilejensische,
sardinische, spanische, gaUische, irische usw. Sie aUe er-
weisen sich ohne Ausnahme als aus dem alten romischen
Symbol geflossen; aber kaum ein einziges gibt dieses
Symbol worthch genau wieder, sondern sie gestatten sich
Modifikationen , UmsteUungen und oft sehr belangreiche
Zusatze (Weglassungen sind wenigstens nicht mit voller
Sicherheit zu konstatieren). Diese Ereiheiten waren un-
denkbar, wenn jene Kirchen, als sie das Symbol von Rom
empfingen, bereits die Legende mitempfangen hatten, dafi
das Symbol worthch von den Aposteln verfaUt und daB
deshalb seia Wortlaut heilig sei. "Wie hatte z. B. die
232 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
afrikanische Kirche den 3. Artikel so fassen konnen: » Credo
remissionem peccatorum, resurrectionem carnis et vitam
aetemam per sanctam ecclesiani« („Icli glaube Siindenver-
gebung, Fleischesaufersteliung und ewiges Leben durcli
die lieilige Kirche"), wenn ihr ein anderer Wortlaut als
apostolisch zugegangen ware? Wie lieCen sicb die zahl-
reicben Zusatze erklaren, wenn jene Kircben das Symbol
so betracbtet batten wie Ambrosius, d. h. als apostoliscb
und daber in seinem Wortgefiige unverletzlicb?
Die Vorstellung vom strikt apostoliscben Ursprung des
Taufbekenntnisses ist somit eine Neuerung in Rom ge-
wesen, die nacb der Zeit fallt, da von Rom aus das Evan-
gelium und mit ibm aucb das Symbol in die Provinzen
getragen worden ist. Das lebren uns die provinzialkircb-
licben Taufbekenntnisse. Sie lebren uns aber ferner, dafi
in alien Provinzen der Kircbe des Abendlandes eine ge-
wisse Freibeit der Symbolbildung Jabxbunderte bindurcb
geberrscbt bat. Das romiscbe Bekenntnis war iiberall die
Grrundlage. Aber auf dieser Grundlage bauten die ein-
zelnen Kircben ibre Taufbekenntnisse nacb ibren Bedlirf-
nissen selbstandig und frei aus. So finden wir z. B. in
der Kircbe zu AquUeja gleicb im ersten Artikel als Zusatz
zu „Gott den aUmachtigen Vater" die Worte „den unsicbt-
baren und leidensunfahigen" usw. Wir lernen liier die
Bedeutung Roms fiir die Kircbe des Abendlandes aufs
neue ermessen. Das Symbol der Stadt Rom beberrscbt die
gesamte Symbolbildung. Aber nocb waltete auBerbalb
Roms kein angstlicber Zwang des Bucbstabens. Wabrend
die romiscbe Kircbe in ibren Grenzen den Wortlaut ihxes
Taufbekenntnisses skrupulos bewabrte und zm- Sicher-
steUung desselben die Legende von dem apostoliscben Ur-
sprung des Symbols erzeugte, beU sie es gescbeben, daiJ
in den Provimiialldrcben iiberaU geandert wurde. Wie sie
das ertragen hat, wissen wir nicbt. Aber das wissen wir,
daJJ zuerst Rom aus einem Griaubenszeugnis der Kirche ein
Das apostolische Glautensbekenntnis. 233
strenges Gesetz gemacht und die gefalschte Legende vom
apostolischen Ursprung aufgebracM hat.
Aber noch etwas anderes lernen wir durch eine Ver-
gleicliung der provinzialkLrchliclien Symbole mit dem alten
romischen. Man kann auf direktem Wege das Alter dieses
Symbols bochstens bis in die zweite Halfte des 3. Jahr-
hunderts zuriickfuhren. Aber die Tatsache, daC sicb alle
abendlandischen Provinzialsymbole als Abwandelungen des
romisclien erweisen, verlangt, daU wir nocb nm ein Jahr-
bnndert hinaufsteigen. Hatte die afrikaniscbe Kirche be-
reits zur Zeit Tertullian's (um d. J. 200) ein festes Tauf-
bekenntnis nnd war dasselbe, wie nicbt zweifelbaft, eine
Tocbterrezension des romischen, so muB dieses selbst be-
reits um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden sein.
Dieses Ergebnis, welcbes durcb die anCeren Zeugnisse ge-
wonnen ist, wird aber bestatigt durcb eine genaue Unter-
sucbung des Inbalts des altromiscben Symbols. Diese
Untersucbung macbt es iiberaus wabrscbeinbcb , daiJ das
Symbol um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden ist,
wie sie es andererseits widerrat, betracbtlicb bober mit der
Abfassungszeit binaufzugeben. Man darf es als ein ge-
sicbertes Ergebnis der Forscbung bezeicbnen: das alte
romiscbe Symbol, dessen Wortlaut wir oben mitgeteilt
baben, ist um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden.
Es ist in Rom selbst abgefaCt worden (wenn es aus der
orientaliscben Kircbe nacb Rom gebracbt worden ware,
miifiten sicb sicberere Spuren desselben im Orient finden,
als wir kennen; es ist nicbt einmal das gewiC, daB
es ein abnlicbes oder iiberbanpt ein ausgefubrtes und
fixiertes Taufbekenntnis im 2. Jabrbundert im Orient ge-
geben bat; doch waren die orientabscben Grlaubensregeln
besonders die cbristologiscben dem romiscben Symbol sebr
verwandt) und bat dort zunacbst nicbt als „apostobscb"
im strengen Sinn gegolten. Die Legende des apostobscben
Ursprungs ist vielmehr erst in der Folgezeit, etwa zwiscben
234 Er3ter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
den Jahren 250 und 330, in Rom aufgekommen , nachdem
sich. das Symbol schon in die abendlandisclien Provinzen
verbreitet batte. Erwacbsen ist sie aus der alteren An-
nabme, daC die kircblicbe Lebrfcradition iiberbaupt und
die Grundeinricbtungen der Kircbe auf die Apostel zuriick-
geben. Docb dacbte man sicb nrsprunglicb diese tJber-
lieferung als eine freiere. Ob nicbt aber scbon Irenaus
ein engeres Verbaltnis zwischen den Apostebi und dem
Taufbekenntnis angenommen bat, ist nocb zu nntersucben.
m.
Die Verbindung dessen, was wir im ersten Abscbnitt
dargelegt baben, mit dem im. zweiten Ausgefiibrten ist nun
mogbcb. Das „apostobscbe Grlaubensbekenntnis " , welcbes
wir jetzt braucben und "welcbes wir als das siidgalliscbe
Symbol der 2. Halfte des 5. Jabrb. erkannt baben, ist eine
der Tocbterrezensionen des alten romiscben. Es unter-
scbeidet sicb von ibm — von kleineren stilistiscben Diffe-
renzen abgeseben — durcb folgende wicbtigere Zusatze
bez. Erweiterungen: 1. Scbopfer Himmels und der Erde.
2. Empfangen vom beibgen Greist, geboren aus der Jung-
frau Maria (fiir: „ geboren aus beibgem Gleist und Maria
der Jungfrau"). 3. Grebtten. 4. Grestorben. 5. Mederge-
fabren in die Unterwelt. 6. Katbobscb (als Zusatz zu
„beibge Kircbe"). 7. G-emeinscbaft der Heibgen. 8. Ewiges
Leben. Von alien diesen Zusatzen, die wir unten naber
betracbten werden, bis auf einen (Oommunio sanctorum)
gilt, daB sie sicb in anderen Taufsymbolen und in der
kircblicben Uberbeferung — das eine Stiick bier, das an-
dere dort — bereits lange vor dem Jabre 500 finden, nur
nicbt in dieser Zusammenstellung. Aber die Erage ist
nocb nicbt beantwortet, wie es gescbeben konnte, daC die
romiscbe Kircbe ibr altes Symbol, das sie nacbweisbar bis
ins 5. Jabrbundert und dariiber binaus iiber alles bocb-
scbatzte und an dem sie nicbt die geringste Veranderuno-
Das apostolisclie G-lanbensbekenntnis. 235
zulieC, im 8. oder 9. (10?) Jalu-hundert docli preisgegeben
tind mit dem Tochtersymbol , dem ^allischen, vertauscht
hat? Das Dunkel, das iiber dieser Vertauschung liegt, ist
nocb nicM vollig gelichtet, aber doch wesentlicb erhellt.
Seit dem letzten Drittel des 5. Jabrbunderts zogen ariani-
scbe Christen in Scharen in Eom sin, und bald warden
sie die Beberrscber Italiens nnd seiner Stadt. Im GTegen-
satz zn diesen arianiscben Christen, den Ostgoten, wird
sich die romische Kircbe entschlossen baben, ihr nraltes
Symbol bei der Tanfe anfzugeben und dafiir das nicanische
(konstantinopoHtaniscbe) Symbol zu braucben, um schon
bei dieser beUigen Handlung ihre abweisende SteUung ge-
geniiber dem Arianismus zum Ausdruck zu bringen. Das
altromische Symbol ist namhch, wie man sich leicht iiber-
zeugen kann, dem G-egensatz zwischen Orthodoxie und
Arianismus gegeniiber neutral. Auch ein Arianer kann es
bekennen; denn er leugnet nicht, dafi Christus der einge-
borene Sohn G-ottes ist, sondern behauptet es und ebenso
alle Tatsachen, die im Symbol zusammengestellt sind. Um
also die orthodoxe nicanische Lehre bei der Taufe zu be-
kennen und sich auf diese Weise bestimmt gegen die aria-
niscben Ostgoten (spater gegen die gieichfalls arianiscben
Langobarden) abzugrenzen, hat die romische Ku'che seit
dem Ausgang des 5. Jabrhunderts ihr altes Symbol im
hturgischen Grebrauch allmahbch fallen gelassen. Indessen
ist es mogbch, daC der Gregensatz gegen den Arianismus
bei dieser Vertauschung keine RoUe gespielt hat, sondern
Rom im 6. Jabrhundert zum Symbol von Konstantinopel
ubergegangen ist (resp. erst am Ende des 6. Jabrh.), well
es in dieser Zeit iiberhaupt in starke Abhangigkeit von
demi byzantinischen Reiche geriet. Ob die Vertauschung
Kampfe gekostet und wie sie sich voUzogen hat, wissen
wir nicht; nur die Tatsache selbst ist uns bekannt. Aber
nachdem das alte romische Symbol einmal aus dem htur-
gischen G-ebrauch entfernt war, scheint es iu Rom selbst
236 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
allmalilich in Vergessenheit geraten zu sein. Etwa zwei
bis drei Jahrliunderte hindurcli gebraucMe Rom bei der
Taufe das Symbol von Konstantinopel. Das ist eine lange
Zeit, und sie geniigt, um es zu erklaren, daC das Symbol
mekr und mebr aus dem Gedacbtnis entscbwand; denn da-
mals bebauptete sicb im kirchliclien Leben nur, was in
dem Gottesdienste gebrancht wurde. Die Hturgischen
Handsckriften waren die Trager der gottesdienstUchen
Tind kirchlicben Tradition. Immerhin aber bleibt es eine
sebr bemerkenswerte Tatsacbe, daC selbst eine so exor-
bitante Legende, wie die von dem Ursprung des Symbols,
es auf die Dauer nicht zu scbiitzen und vor dem Unter-
gang zu bewabren vermocbt hat. ISTur in verborgenen
Winkeln der tJberlieferung ist das alte romische Symbol
im 17. Jahrbundert und in unserer Zeit wieder aufge-
funden worden; in der groCen Tradition der Kircbe ist es
fast spurlos verscbwunden, vor allem in Rom selbst.
Mit der zweiten Halfte des 8. Jahrbunderts anderten
sicb in Rom die Verbaltnisse. Das Band mit Konstanti-
nopel war gelockert, ja fast zerrissen. Der Arianismus war
im Aussterben. Eine Grefabr von dieser Seite her war
nicht mehr zu befiirchten, der Grebrauch eines gegen die
Arianer gerichteten Symbols daher nicht mehr gefordert.
Dagegen war Rom und seine Kirche in sehr enge Bezieh-
ungen zu den Franken getreten. Sie waren schon seit
Jahrhunderten katholisch und wurden unter Karl dem Gro-
fien die Herren von Rom. Der Papst und seine Kirche
gerieten in voile Abhangigkeit von dem groBen franki-
schen Konige. Damals oder etwas spater muB die zweite
Vertauschung in der romischen Kirche stattgefunden ha-
ben. Sie heB das konstantinopolitanische Symbol bei der
Taufe fallen und kehrte zu einem kiirzeren Taufbekennt-
nis zuriick. Aber nicht zu ihrem alten — dieses war ihr
entschwunden — sondern zu dem gallischen, welches nun
das frankische geworden war. Sie rezipierte dieses Sym-
Das apostolisclie Grlaubensbekenntnis. 237
bol. Nun aber geschah das Paradoxeste: sie iibertrug
jetzt die Legends von dem strikten apostolischen Ursprnng
des Tauf bekenntnisses , die sich. doch auf das altromische
Symbol bezogen hatte nnd bei Ambrosius, Rufin u. a. zu
lesen stand, ohne "Weiteres anf das Tochtersymbol, von dem
sie nie gegolten hatte nnd welches anch eine neue Ver-
teilnng der Artikel anf je einen der zwolf Apostel erheischte,
"well es mehr G-lieder zahlte als das altromische.
Welch ein wunderbarer Q-ang der G-eschichte! Die
romische Earche tragt ihr altes Symbol nach GaUien.
Dort wird es im Lauf der Zeiten vermehrt. Unterdessen
bildet die romische Kirche die Legende von dem strikt
apostolischen Ursprung ihres unveranderten Symbols aus.
Dann laJJt sie es unter dem Drnck anfierer Verhaltnisse doch
fallen, und es verschwindet. Unterdessen dringt das Toch-
tersymbol von Grallien ins Prankenreich und erobert sich
dort den entscheidenden Platz. Das Frankenreich wird zum
Weltreich, macht sich zum Herrn von Rom. Rom erhalt
von dorther sein eigenes Symbol, aber in erweiterter Gre-
stalt, znriick, es nimmt das Greschenk an, verleiht der neuen
Form romische Autoritat und kront die Tochter mit der
Krone der Mutter, indem es die Legende von dem strikt
apostolischen Ursprung auf sie iibertragt. Das Interessan-
teste an diesen geschichtlichen Prozessen ist die Bedeutung
des Frankenreichs fiir die romische Kirche der Karolinger-
zeit. So gewaltig, so schlagend tritt sie vielleicht an kei-
nem anderen Punkte hervor. Das Reich Karls des Grro-
Ben hat Rom sein Symbol gegeben. Ja es hat damals Rom
und durch Rom der abendlandischen Christenheit noch ein
zweites Symbol geschenkt, das sog. athanasianische. Zwei
von den sog. okumenischen Symbolen sind galhsch, resp.
frankisch. Aber man darf vielleicht annehmen — direkt
wissen wir freilich dariiber nichts — , dafi die romische
Kirche Umstande gemacht hatte, das frankische Symbol
als Taufsymbol zu rezipieren, wenn sie es nicht als einen
238 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
alten Bekannten erkannt hatte. Es ist doch wahrschein-
licli, daC in Eom noch. soviel geschiclitliclie Uberlieferung
vorhanden war, daJ3 man durch das frankisclie Bekenntnis
an das eigene alte, einst so Kochgeehrte erinnert wurde.
Die Differenzen iibersali man oder Melt sie nicht fur erheb-
lich. So wachte an dem neuen Symbol die Legende, die
das alte umstrablt hatte, wieder auf und wurde wiederum
und fiir lange Zeit eine Macht in ^der Earcbe, bis sie im
Zeitalter der Renaissance tmd Reformation gestiirzt wnrde.
IV.
Man sollte erwarten, daB der "Wortlaut des Symbols
nach der neuen Rezeption mit peinlichster Treue im Mittel-
alter bebutet worden ist. Im allgemeinen ist das auch der
FaU gewesen. Docb fehlen Schwankungen nicbt ganz zum
Beweise, daC etue lebendige Kircbe nicbt am Bucbstaben
kleben kann, wenn sie ein besseres Wort weiB oder dem
Bucbstaben einen sicberen Sinn nicbt abzugewinnen vermag.
So ist in einigen mittelalterlicben Formeln das „nieder-
gefabren in die Unterwelt" weggelassen. Ferner bat das
Nebeneinander der beiden Grbeder „beilige Earcbe" und
„Gemeinscbaft der Grlaubigen" dem Verstandnis Scbwierig-
keiten bereitet. Daher flieUen beide in einigen Formeln in
eins zusfmmen oder das zweite Glied erbalt Zusatze. Statt
jjKirche" findet sicb das Wort „Cbristenbeit"; ja in einigen
Formeln ist das Wort „katboliscb" weggelassen oder dafiir
„christlicb", bezw. „glaubig" gestellt. Diese Anderung ist
desbalb wicbtig, weil Lutber und die lutberiscbe Kircbe sie
rezipiert baben. Sie baben in dem deutscben Symbol „Eine
beilige cbristlicbe Kircbe" fiir „Sanctam ecclesiam catboli-
cam" gesetzt. Zusatze zu dem Symbol linden sicb in
manchen mittelalterlicben Formeln, teils aus dem Constan-
tinopobtanum genommene, teils frei binzugefugte. „Beson-
ders macbt sicb das Bediirfnis geltend, was in der alten
Kircbe nur ganz vereinzelt auftritt, das Leben Obristi auf
Das apostolisohe Glaubensbekenntnis. 239
Erden in historisclien Ziigen auszufiihren. " Nachdem Bern-
hard von Olairvaux und Franziskus von Assisi die Ziige
des geschichtlichen Chiistns m seiner Demut und Armut,
Liebe und Leiden vor die Seele gestellt hatten, ist es wohl
verstandlich, daU die wenigen Tatsachen, die im Symbol
verzeicbnet sind, nicht mehr genligten. Wie weit aber das
Bestreben, den geschicbtlichen Christus in jenen Ziigen im
Symbol anzuschauen, auf die Erklarung resp. audi die Ge-
staltung des Symbols selbst im Mittelalter eingewirkt hat,
verlangt noch eine Untersuehnng.
Luther, der das Symbol aufs hochste schatzte, hat
doch an zwei Satzen leisen Anstofi genommen. Es ist
charakteristisch, wie er sich dariiber im G-rofien Katechismus
ausgesprochen hat. Zu „Sanctorum communionem" bemerkt
er: „Aber recht deutsch zu reden, soUt es heiCen eine Gre-
meine der Heiligen, das ist, eine Gremeine, darin eitel
Heihge sind, oder noch klarlicher eine heihge Gemeine
[beides heifit es aber nicht]. Das rede ich darum, daiJ man
die "Worte: Gemeinschaffc der Heiligen, verstehe, -weil es
so in die Gewohnheit eiugerissen ist, daC schwerlich wieder
heraus zu reiCen ist, und muB bald Ketzerei sein, wo man
ein Wort andert" („et statim haeresim esse oporteat, ubi
verbulum ahquod immutatum fuerit"). Und zur „Auf-
erstehung des Fleisches" sagt er: „Dafi aber hie stehet
Auferstehung des Fleisches ist auch nicht wohl deutsch
geredt [aber der Originaltext bietet denselben AnstoB; die
tJbersetzung tragt keine Schuld]. Denn wo wir Deutschen
Fleisch horen, denken wir nicht welter denn an die Scharren
[Metzgerbank]. Auf recht deutsch aber wiirden wir also
reden: Auferstehung des Leibes oder Leichnams; doch liegt
nicht groBe Macht dran, so man nur die Worte recht versteht."
V.
In dem vorstehenden ist der Versuch gemacht, den
TJrsprung und die Grundziige der auBeren Geschichte des
240 Erster Band, zweite Abteilung. Aiifsatze: I.
Apostolikums bis zur Reformation darzulegen. SieM man
von den acht Zusatzen, die oben angegeben sind, und von
der lutheriscken Vertauschung des „Kat]iolisc]i" in „Christ-
lich" ab, so darf man sagen, daC das Symbol aus der nach-
apostolisch.en Zeit stammt und zwar aus der Hanptkirclie
des Abendlandes, Rom. Wer es dort verfaJJt hat, ist un-
bekannt. Der Zweck, nm dessen wUlen es aufgestellt
worden ist, lafit sich aus seinem G-ebraucbe mit Siclierlieit
feststellen : es ist aus der missionierenden und Icatechetisclien
Funktion der Kirche hervorgegangen und war urspriinglicli
lediglick Taufsymbol („Ter mergitamur, amplius aliquid
respondentes quam dominus in evangelic determinavit",
d. h. „dreimal werden wir untergetaucht und erwidern
[dem, der die Handlung an uns vollzieht] dabei einige
"Worte melii- als der Herr im Evangelium [s. den Taufbefehl]
angeordnet bat"). Die Meinung alterer und neuerer G-e-
lehrter, daC das Symbol der allmahlich entstandene Meder-
sclilag aus Grlaubensregeln ist, die gegen die Gnostiker auf-
gestellt wurden, dafl es also aus der Polemik stammt, laBt
sich nicbt lialten; vielmebr gilt das Umgekehrte : die ver-
schiedenen antignostiscben Glaubensregeln setzen ein kurzes,
festes, formuliertes Bekenntnis voraus, und das ist im
2. Jahrhundert eben das romische Symbol gewesen. Es
stammt aus der Zeit vor dem brennenden Kampf mit der
Haresie oder nimmt docb auf diesen Kampf keine Riicksiclit.
Ein so altes Symbol, -welches nur um etwa zwei
Menschenalter von der apostolischen Zeit entfernt liegt, und
direkt oder indirekt die Wurzel aller Symbole der Christen-
heit geworden ist, verlangt, daiJ man seinen ursprlinglichen
Sinn im ganzen und in den einzelnen Teilen, sowie sein
Verhaltnis zur altesten Verkiindigung des Evangeliums
sorgfaltig feststellt. Kann ihm auch nach den allgemein
anerkannten G-rundsatzen der evangelischen Kirchen keine
selbstandige Autoritat zukommen, geschweige eine unfehlbare,
riihrt es ferner trotz seines hohen Alters aus einer Zeit her.
Das apostolisohe Grlaubenstiekenntuis. 241
aus der sekr vieles stammt, was die Reformationskirclien ab-
gelehnt haben, so verdient docli die Frage: Was wollte das
Symbol bekennen und sagen? die genaueste Untersuchung.
Auf den ersten Blick scheiat diese Frage iiberaus leicbt
beantwortet werden zu konnen. Ein grofler Teil seiner
Satze laCt sich wortHch aus der nocb alteren ckristlichen
Verkiindigung belegen, und als G-anzes scbeint das Be-
kenntnis so durchsiclitig und einfach, daC es keiner Er-
klarung zu bediirfen scheint. AUein sieht man naher zu
und vergleicbt man die christliche Theologie der Zeit, aus
der es stammt, so stellt sich manches in anderem Lichte dar.
Das Symbol ist die erweiterte Taufformel: das muJB
man fur seine Erklarung festhalten. DemgemaU ist es
dreigKederig wie jene. Die ZerteHung in zwolf Abschnitte
ist offenbar eine spatere kunstHche Operation, gegen die
sicbi das ganze Grefiige des Bekenntnisses straubt. Die
Erweiterung ist so erfolgt, daJJ die drei Grlieder der Tauf-
formel „Vater, Sobn und beiliger Geist" naher bestimmt
wurden. Die ckristliclie Gremeinde hatte das Bediirfnis, sie
deutlicb zu beschreiben, um zu bekennen, was sie an ihnen
und durch. den Grlauben an sie besitzt.
Ein voiles, durcli keinen anderen Ausdruck zu er-
setzendes Zeugnis des Grlaubens ist der Satz des ersten
Artikels: „Icli glaube an Grott, den Vater, AUmacbtigen"
{oder vieUeicbt: „Gott den aUmachtigen Vater"). Zwar
wenn man die gleichzeitigen kirchlichen Schriften unter-
sucbt, findet man in ihnen das voile evangeliscbe Ver-
standnis des Vaternamens nicbt mebr: ibre Verfasser denken
in der Eegel nur an Grott als den Yater der "Welt, wenn
sie ibn Vater nennen. Aucb ist der Ausdruck selbst in
ihnen nicht eben haufig; gewohnlich wird Gott „der Herr"
(Despot) genannt oder „der Schopfer". Um so willkom-
mener ist es, daU er sich in dem Symbol findet. Hat ihn
der Verfasser selbst auch wahrscheinHch nicht nachMatth. 11,
25 ff., E,6m. 8, 15 und wie Luther gedeutet, so tritt er doch
Harnaok, Reden und Aufsatze. I. 16
242 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
einer solchen Deutung niclit in den Weg. In der alten
Kirche verlor sie sich. freilicli bald. Bei den ErMarungen
des Vater-Unsers blitzt sie Mer nnd dort auf (so bei Ter-
tullian und Origenes), aber bei der Erklarung der Grlaubens-
regeln sucM man sie fast iiberall vergebens.
Ebenso einfach und gewaltig, evangelisch iind aposto-
lisch ist die Erweiterung des zweiten Grliedes „Christus
Jesus, Grottes eingeborener Sobn, unser Herr" Die beiden
entscbeidenden Pradikate fur Jesus Christus, die alle evan-
geliscten Aussagen liber ihn einscblieBen , sind bier zu-
sammengestellt. Aiis alien Bezeichnungen, die sicb in der
christbcben Predigt der alteren Zeit finden, sind die beiden
umfassendsten ausgewahlt (ob die Voranstellung des
„Christus" vor „Jesus" nocb eine Erinnerung daran ent-
balt, dafi Cbristus = Messias ist, laJJt sicb nicbt sagen).
Der Zusatz jjeingeboren" findet sicb im Neuen Testament
nur im Jobannes-Evangelium ; aber die Sacbe baben aueb
Mattbaus und Lukas (s. 11, 27 f. bez. 10, 22 f.), und sie
wird iiberbaupt einliellig von der altesten Gremeinde bezeugt:
Jesus Cbristus ist nicbt nur ein Sobn Grottes, sondern er
ist „der Sobn", also der einige Sobn. Das Wort „Herr"
ist in dem pragnanten Sinne zu fassen, den die alte Zeit
mit ihm verband. Lutber, der im groCen Katecbismus die
ganze Auslegung des 2. Artikels in die Auslegung des
AVortes „Herr" bineingezogen bat (vgl. iibrigens aucb das
„sei mein Herr" im kleinen Katecbismus), bat damit nicbt
nur katecbetiscb den ricbtigen G-riff getan, sondern er bat
aucb den Sinn des Grlaubensbekenntnisses in seiner Weise
wiederbergestellt: „Das sei nun die Summa dieses Artikels,
daU das "Wortlein ,Herr' aufs einfaltigste so Adel beiUe als
ein Erloser, das ist, der uns vom Teufel zu Grott, vom Tod
zum Leben, von Siinde zur Grerecbtigkeit bracbt bat und
dabei erbalt." Aber nocb ist eine Erlauterung zu dem
Bekenntnis „ eingeborener Sobn" notig. In der Zeit nacb
dem IsTicanum wird bei diesen "Worten in der Kirche durch-
Das apostolisolie Q-laubensbekenntnis. 243
weg an die vorzeitliche , ewige Sohnscliaft Christi gedacht
tmd jede andere Auslegung gilt als Haresie. So hat auch
Luther die "Worte erklart: „walirliaf tiger Grott, vom Vater
in Ewigkeit geboren." Allein diese Fassung verlangt, auf
das Symbol iibertragen, eine Umdeutung desselben. Es
laCt sicli nicht nachweisen, dafi um die Mitte des 2. Jahr-
liunderts der Begriff „eingeborener Sohn" in diesem Sinne
verstanden worden ist; vielmebr laiJt es sich geschiclitlicli
zeigen, daiJ er nicht so verstanden worden ist. Wo Jesus
Christus „Solin" heiCt, wo ein „geboren sein" von ihm
ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichthchen
Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der ge-
schichthche Jesus Christus ist der Sohn. Erst spekulierende
christHche Apologeten und die gnostischen Theologen haben
das "Wort anders verstanden und in ihm das Verhaltnis
des vorgeschiohthchen Christus zu Gott ausgedruckt ge-
funden. Spater noch wurde die ganze Zweinaturenlehre in
die Worte hineingelegt: „der eingeborene Sohn" bedeute
die gottliche Natur und erst in dem, was folgt, werde die
menscMiche IsTatur bekannt. Es dauerte aber langere Zeit,
bis sich diese Auslegung in der Kirche durchsetzte, um dann
die allgemeine zu werden und die altere zu verdrangen.
Wer also die „ ewige Sohnschaft" in das altromische Sym-
bol hineinlegt, der gibt ihm einen anderen Sinn als der ur-
spriinghche lautete. Aber zum Haretiker ist trotzdem nach
dem 3. Jahrhundert jeder gestempelt worden, der damals
noch bei dem urspriinglichen Sinn des Symbols stehen
blieb und sich weigerte, die neue Deutung anzuerkennen.
Das Taufbekenntnis hat sich mit dem Zeugnis von
Christus als des eingeborenen Sohnes und unseres Herrn
nicht begniigt, sondern es hat noch fiinf (sechs) Satze hin-
zugefugt :
„Der geboren ist aus heiligem Greist und Maria der
Jungfrau,
der unter Pontius Pi^latus gekretizigt und begraben ist,
16*
244 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in die Himmel,
sich setzend zur RecKten des Vaters, woher er kommt
zu ricliten Lebendige nnd Tote."
Was soUten diese Satze besagen? Man bat gemeint,
sie seien nm der alttestamentlichen Weissagung willen aus-
driicklicb bervorgehoben, um die Erfullung derselben aus-
zusprecben, so wie der Apostel Paulus im ersten Korintber-
brief scbxeibt (15, 3f.): „Icb babe eucb zuvorderst gegeben,
welcbes icb aucb empfangen babe, dafi Cbristus gestorben
sei fiir unsere Siinden, nacb der Scbrift, und dafi er be-
graben sei nnd daC er auferstanden sei am dritten Tage,
nacb der Scbrift." AHeiti wenn das die Absicbt des Ver-
fassers gewesen ware, so batte sie Marer bervortreten
miissen; in Wabrbeit ist sie durcb nicbts angedentet.
Andere baben gemeiat, daC der Verfasser die wicbtigsten
einzelnen Heilstatsacben babe bervorbeben wollen. Diese
Anffassung kommt dem Ricbtigen naber; aber sie ist in
dieser Form docb nicbt baltbar; denn sie scbiebt etwas ein,
was der alten Zeit fern lag. Ibr war Jesus Cbristus der
Erloser und sein gauzes Tun ein erlosendes; aber die Zu-
sammenstellung einer besonderen Reibe von einzelnen Heils-
tatsacben, jede fur sicb ein besonderes Grut einscblieUend,
lag ibr fern. Stiinde an dieser Stelle in dem Symbol etwa
nur „der gekreuzigt ist um unserer Siinden willen und am
dritten Tage auferwecket ist" und sonst nicbts weiteres, so
ware freUicb gewiJJ, dafi das Symbol diese Ereignisse als
Heilstatsacben babe bervorbeben wollen (wie Paulus), aber
angesicbts der ganzen Reihe laCt sicb nicbts anderes be-
baupten, als daJ3 das Symbol einen gescbicbtlicben Bericbt
von dem Herrn, dem Sobne G-ottes, bat geben wollen. Die
Haupttatsacben seiner G-eschicbte, einer G-escbicbte, die ibn
von alien anderen unterscbeidet, sollten bekannt werden.
Was er ist, bezeugt der Eingang: „der eingeborene Sobn
G-ottes und unser Herr"; seine G-escbicbte — es ist die
Das apostolisclie G-laubensbekenntnis. 245
Geschichte des Erlosers — soUte in den Zusatzen aus-
gesagt werden.
Die Auswahl dieser Zusatze deckt sich. wesentlich mit
der urspriinglichen Verkiindigung des Evangeliums, aber
doch nicht mehr voUkommen. Stiinden allein die Worte
in dem Symbol: „der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und
begraben ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten,
sitzet zur RecMen des Yaters, woher er kommt zu ricMen
Lebendige und Tote", so ware kein Unterschied vorhanden.
Aber daU der Satz: „der geboren ist aus beiligem Geist und
Maria der Jungfrau", nicht der urspriinglichen Verkiin-
digung des Evangeliums angehort, ist eine der sichersten
geschicMliclien Erkenntnisse; denn 1. er fehlt in aUen
Briefen des Apostels Paulus und iiberhaupt in alien Briefen
des Neuen Testaments, 2. weder in dem Evangelium des
Markus ist er zu finden, noch. sicker in dem des Johannes,
3. er fehlte auch in der Vorlage und gemeinsamen Quelle
des Matthaus- und Lukas-Evangeliums, 4. die Genealogien
Jesu, -welche diese beiden Evangehen enthalten, fiihren auf
Joseph und nicht auf Maria, 5. alle vier Evangehen be-
zeugen es — zwei unmittelbar, zwei mittelbar — , dafi die
urspriinghche Verkiindigung von Jesus Christus mit seiner
Taufe begonnen hat. So gewiB es ist, daJJ die GTeburt
Jesu aus dem heiligen Greist und der Jungfrau Maria be-
reits in der Mitte des 2. Jahxhunderts, ja wahrscheinlich
schon nicht lange nach dem Anfang desselben, ein festes
Stiick der MrcMichen Uberheferung bildete, so gewiJJ ist es,
daB sie in der altesten Verkiindigung keine Stelle gehabt
hat. Diese begann mit Jesus Christus, dem Sohn Davids
nach dem Eleisch, dem Sohn Grottes nach dem Greist (s.
E,6m. 1, 3f.), bez. mit der Taufe Christi durch Johannes
und der Herabkunft des Greistes auf ihn. DaC in dem
apostolischen Symbolum die Davidssohnschaft, die Taufe
und die Herabkunft des Greistes auf Jesum weggelassen
und dafiir die Geburt aus dem heiligen Greist und der
246 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Jangfrau eingesetzt ist, ist also gegeniiber der altesten
Verkiindigung eine Neuerung, die da zeigt, daJJ das Syrabol
nicht der altesten Zeit angehort, so wenig wie die Evan-
gelien des Matthaus und Lukas die alteste Stufe der evan-
geKschen Greschiclite darstellen. Die Kirche hat dann welter,
schon bald nach der Zeit der Abfassung unseres Symbols,
verlangt, daC man das Pradikat „Jungfran" bei Maria von
der bleibenden Jungfrauschaft verstebe. In den evangeU-
schen Kircben aber ist dieses Verstandnis zuriickgewiesen
worden. — Mcht ebenso wicbtig, aueh. nicht sicher zu
fassen, aber doch nicht zn libergehen, ist noch eine Ab-
weichung von der altesten Predigt: es ist die besondere
Hervorhebung der Himmelfahrt. In der altesten Verkiin-
digung hat diese kein besonderes Glied gebildet; aber es ist
auch nicht ganz sicher, ob das Symbol sie so fassen, oder
ob es nicht mit den drei Worten „auferstanden, aufgefahren,
sich setzend" einen einzigen Akt beschreiben woUte. In
dem ersten Korintherbrief (15, 3f.), in den Briefen des
Clemens, Ignatius und Polykarp, im Hirten des Hermas
wird die Himmelfahrt iiberhaupt nicht erwahnt; aber sie
fehlt auch in den drei ersten Evangehen. Was wir jetzt
dort lesen, sind spatere Zusatze, wie die Textgeschichte
beweist. In einigen der altesten Zeugnisse wird die Auf-
erstehung mit dem sich Setzen zur Rechten Grottes in eins
zusammengefaUt, ohne Erwahnung einer Himmelfahrt; im
Barnabasbrief sind Auferstehung und Himmelfahrt auf einen
Tag verlegt; nur die Apostelgeschichte berichtet im Neuen
Testament, daC 40 Tage dazwischen gelegen batten. Andere
alte Zeugnisse erzahlen wieder anders und setzen gar 18
Monate dazwischen. Aus diesem Schwanken, welches lange
gedauert hat, geht hervor, daC die alteste Verkiindigung
eine einzige Tatsache mit verscliiedenen Worten beschrieben
hat und daC die Differenzierung zu mehreren Akten einer
spateren Zeit angehort. Eine solche Differenzierung ist
aber nicht unbedenHich; denn sie legt es nahe, jedem
Das apostolisohe Glaubensbekenntnis. 247
Stiicke eine besondere Bedeutung fiir sich zu geben und
damit das Grewicht des entsdieidenden Stiicks zu schwachen.
Andererseits — das „ATiferstandeii von den Toten" ver-
langte allerdings einen Zusatz; denn nicht an einfache
Wiederbelebung soUte geglaubt werden, sondern an eine
Erbohung znr Macht nnd Herrscbaft im Himmel und auf
Erden. Eben dieses driickte die alteste Verkiindigung ent-
weder dnrcb die Himmelfabrt oder durcb das Sitzen zur
Rechten G-ottes aus.
Das dritte Grlied der Taufformel: „Ich glanbe an den
beiligen Geist" ist nicbt, wie die beiden vorigen, personUch,
sondern sacblicb erganzt (durch die drei Stiicke: „Heibge
EJirche, Vergebung der Siinden, Eleiscbes Anferstebung").
BDiernach scbeint es, als sei in dem Symbol der beUige
G-eist selbst nicht als Person anfgefaJJt, sondern als Kraft
und Gabe. Dem ist -wirklicb so. Man kann nicbt nach-
weisen, daC nm die Mitte des 2. Jabrbunderts der beibge
Geist als Person geglaubt worden ist. Diese Vorstellung
ist vielmebr eine bedeutend spatere, die nocb um die Mitte
des 4. Jabrbunderts den meisten Cbristen nnbekannt ge-
wesen ist, sich dann aber im Zusammenhang mit der
nicanischen Orthodosie eingebiirgert bat. Entstanden ist sie
ans der wissenschaftlichen griechiscben Theologie; denn es
laCt sich nicht nacbweisen, daB die (scheinbare oder wirk-
liche) Personifikation des beiHgen Geistes im Jobannes-
EvangeKum als „des Trosters" bier eingewirkt hat. "Wer
also in das Symbol die Lehre von drei Personen der Gott-
heit einfiihrt, der erklart das Symbol wider seinen ur-
spriinglichen Sinn nnd deutet es um. Eine solche Um-
deutung ist allerdings seit dem Ende des 4. Jahrhtmderts
von alien Christen verlangt worden, woUten sie sich nicht
dem Vorwnrf nnd den Strafen der Haresie aussetzen.
Als Gabe ist der heUige Geist in dem Symbol gemeint,
aber als eine Gabe, in der gottliches Leben den Glaubigen
dargeboten wird; denn der Geist Gottes ist Gott selbst (in
248 Erster Band, zweite Abteiking. Aufsatze: I.
diesem Sinn ist an der PersonlicKkeit nicM gezweifelt
worden). Hinzugefiigt — aber sie sind nnr eine Explikation
der einen Grabe — werden drei Griiter, und hier gibt das
Bekenntnis die apostolisclie Predigt vollkonmien wieder:
„h.eilige Eirclae, Vergebung der Siinden und Fleisches Auf-
erstehung" . AHes, was der Glaube an Jesus Cluistus ent-
halt und scliafft, ist in diesen Worten entbalten: Die von
Christus erloste, mit dem heiligen G-eist begabte und darum
heilige Gemeinde, die ihr Burgerrecbt im Himmel bat, aber
scbon bier auf Erden den beiligen Geist besitzt, die Er-
neuerung des Einzelnen dui-ch die Vergebung der Siinden,
und die Auferstebung von den Toten. So gewiC aber diese
drei Stiicke den ganzen Inbalt der evangeliscben Giiter in
sicb begreifen, so gewiU ist die Fassung des letzten Stlicks
nicbt paulinisch und nickt johanneiscb. Paulus scbreibt
(I. Kor. 15, 50): „Davon sage icb aber, liebe Briider, dafi
Fleisck und Blut nickt konnen das Reicb Gottes ererben;
aucb wird das Verweslicke nicbt erben das Unverweslicbe'",
und im Jobannes-Evangelium stebt gescbrieben (6, 63):
„Der Geist ist es, der da lebendig macbt, das Eleisck ist
kein niitze". In der Fassung der Auferstebung und des
ewigen Lebens als ,, Auferstebung des Fleiscbes" ist mitbin
die nacbapostobscbe Kircbe iiber die Linie binausgegangen,
die in der gemeinsamen altesten Verkiindigung gegeben
war. Wobl ist scbwerbcb daran zu zweifebi, dafi von der
friibesten Zeit ber einige Cbristen die Auferstebung des
Fleiscbes gepredigt baben, aber eine aUgemeine Lebre war
sie nicbt. Aucb bieten viele Zeugnisse der alteren Zeit
statt Auferstebung des Fleiscbes „ Auferstebung" oder
„ewiges Leben". Andererseits bestand die Kircbe, als sie
bald in den Kampf mit dem Gnostizismus eintreten muCte,
auf der Auferstebung des Fleiscbes, um nicbt die Aufer-
stebung iiberbaupt zu verUeren. Aber so verstandlicb das
ist — in dem damabgen Kampfe scbeint keine andere
Formel ausgereicbt zu baben — , so kann die Anerkennung
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 249
dessen, daJJ sick die Kirche damals in einem Notstand be-
fand, das Recht der Formel nicht schiitzen.
"Wir haben bisher den Wortlaut des altromischen Sym-
bols betrachtet nnd von den aclit Znsatzen des gallisclien,
nenromischen Sjmibols (unseres jetzigen Apostolikums) ab-
geselien, die wir oben bezeichnet haben. Piinf von ilinen
verlangen keine Besprechung; denn sie sind scMecbterdings
nicMs anderes als Explikationen. DaU „gelitten" zu „ge-
kreuzigt", ngestorben" vor „begraben", „ewiges Leben"
nach Fleisctes Auferstehung" gestellt ist, daC Gott der all-
machtige Vater ausdriicklicli als „Scli6pfer Himmels und
der Erde" bezeichnet, daJJ endlich. fiir „geboren aus hedigem
Greist und Maria der Jungfrau" gesagt wird, „empfangen
vom heiligen Greist, geboren aus der Jungfrau Maria" andert
an dem sacMichen Inbalt und dem Sinn des alten Symbols
gar nicMs. Man konnte hocbstens sagen, daC das letzte Stiick
eine Ausmalung darstellt, die das alte Symbol in berechtigter
Scheu vermieden liabe. Anders steht es mit den drei nocL.
iibrigen Zusatzen, namlicb mit „niedergefahren zur HoUe",
„katholisch.e (Kirche)" und „Gremeinscliaft der Heiligen".
Das »descendit ad inferna« (inferos) kommt meines
Wissens zuerst im Taufsymbol der Kirche von Aquileja,
dann, auCer in den galhschen Symbolen, auch in dem iii-
schen usw. vor. Im Orient erscheint es zuerst in der Formel
der 4. Synode von Sirmium (i. J. 359). Das lucanische und
konstantinopolitanische Symbol bieten es nicht. Aber in
Schriften des 2. Jahrhunderts , und zwar bei kirchhchen
Schriftstellern und Haretikern, findet sich bereits der Ge-
danke, daB Christus — vor i>iTn Johannes der Taufer, nach
ihm die Apostel — in die Unterwelt hinabgestiegen sei und
dort gepredigt habe. Ob die Stelle I. Petri 3, 19 fiir aUe
diese Erzahlungen den Ausgangspunkt gebildet hat, wissen
wir nicht. Seitdem das Stiick in den Symbolen auftaucht,
d. h. seit der 2. Halfte des 4. Jahrhunderts, wird es auch
in den Auslegungen miterklart. Aber die Erklarungen
250 Erater Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
lauten verschieden. An die „H6lle" liat im Altertum
meines Wissens kaum einer gedaelit, sondern an die Unter-
welt, den Hades, das Reich, der Toten. Die einen fassen
die Worte lediglich als Erganzimg zu ^begraben" und
iinden nur den Sinn in ibnen, daiJ der Herr wirklicli an
den Ort der Toten gekonunen ist. Die anderen folgen dem
1. Petrusbrief und sprecben von einer Predigt Cbxisti in
der Unterwelt nnd der Herausfiibrruig der alttestamentlicben
Gerecbten ans dem Hades. Die Erklarnng, die Lutber in
einer Predigt vorgetragen nnd die Konkordienformel vor-
gescbrieben bat („Wir glauben einfaltig, dafi die ganze
Person, Qott nnd Menscb, nacb dem Begrabnis znr Holle
gefabren, den Teufel iiberwnnden, der Hollen Q-ewalt zer-
storet und dem Teufel alle seine Macbt genommen babe"),
iindet sicb bei den alten Erblarern nicbt, ja sie wird fast
von alien streng ausgescblossen. Als selbstandiges, ebenbiir-
tiges Grbed neben den anderen zu steben, dazn ist der Satz
zu scbwacb, und darum feblte er mit Recbt in den Symbolen
der Earcbe vor Konstantin, mag man nun diese oder jene
Erklarung oder die seltsame TJmdeutung Lntbers bevorzugen.
Der Zusatz „katbobscb" zur „beiligen Kircbe" ist in
den evangebscben Kircben getilgt und durcb jjCbristlicb"
ersetzt worden. "Wir baben es daber eigentlicb nicbt notig,
auf ibn einzugeben. AUein da er im lateiniscben Text
(s. z. B. Lutbers groBen und kleinen Katecbismus) steben
gebbeben ist, so verlangt er docb ein kurzes "Wort. Die
Bezeicbnung der Ejrcbe als „katbobscb" ist in der kircb-
bcben Literatru: sebr alt, mindestens so alt wie das alt-
romiscbe Symbol, und zwar findet sie sicb zuerst im Orient.
Sie bedeutete urspriingbcb nicbts anderes als die „allgemeine"
Kircbe, die ganze Cbristenbeit , die unter dem Himmel ist
und die Grott berufen bat. An die verfaCte sicbtbare Kircbe
ist nocb nicbt gedacbt. Hatte das "Wort also bereits in
dem altromiscben Symbol Aufnabme gefunden, so ware es
dort in diesem Sinne zu deuten. Allein seit dem Uber-
Das apostolisohe Q-laubensbekenntnis, 251
gang des 2. zum 3. Jahrhundert bekam das Wort nocli
einen Nebensinn, der dann allmahlich im Abendlande zxna
ebenbiirtigen Sinn wurde. Es bezeiclinete die sichtbare, in
bestimmten Ordnungen verfafite, um die Apostelgemeinden,
vor allem nm Rom sich gruppierende ortbodoxe Kirche im
Unterscliied von den baretischen Gremeinschaften. Es ist
namentlich. Afrika (und in Afrika Cyprian) gewesen, das
den Begriff in dieser Richtung ausgebildet bat. Wir sind
deshalb verpflicMet , die Bezeichnung, nacbdem sie in die
lateiniscben Symbole vom 3. Jabrbundert a^ aufgenommen
wnrde (beimiscb wurde sie in den Symbolen erst im 5. Jabr-
bundert), dort aucb in dem angegebenen Sinne zu versteben,
also aucb in unserem Apostolikum. Dann aber ist offenbar,
dafi die Kircbe der Reformation die so zu deutende Bezeicb-
nung nicbt steben lassen konnte. Sie muCte sie umdeuten
oder entfernen. Jenes ist in Bezug auf den lateiniscben Text
gescbeben — Lutber kebrt aber mit dieser Umdeutung
zum altesten Sinn des Wortes wieder zuriick, iiber den
Symbolsinn binwegscbreitend — , dieses in Bezug auf den
deutscben Text.
Am dunkelsten ist die Entstebung und der urspriing-
bcbe Sinn des Zusatzes „Gemeiiiscbaft der Heiligen". Man
bat versucbt, diesen Begriff in Verbindung zu setzen mit
dem Stuck „N'iedergefabren zur HoUe". Dort soil die
bimmliscbe Gemeinscbaft der Heiligen, bier die der alt-
testamentbcben Grerecbten, die aus dem Hades ausgefiibrt
seien, gemeint sein. Aber diese Verbindung ist kiinstlicb
und, -wenn sie je wiiMicb stattgefunden, spat. Man muJJ
das Glied fiir sicb betracbten. Auf griecbiscbem Boden
kommt es als Grbed im Symbol iiberbaupt nicbt vor (genau
in das Griecbiscbe iibersetzt, wiirde der Ausdruck „AnteLl
am Heibgen" d. b. am Kultus, vor allem am beiligen Abend-
mabl, bedeuten). Es ist als Symbolglied eine rein lateini-
scbe Bildung, und zwar begegnet der Begriff in der kirch-
licben lateiniscben Literatur nicbt vor Augustin und dem
252 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
donatistisclieii Streit (in den Symbolen ist er auch. damals
noch nicM zu iinden). Hier aber war er ein Hauptbegriff,
der umstritten wurde: Augustin und seine Gregner fassen
ihn als „die Gemeinscliaft der wahrbaft Heiligen (Glaubigen)
aiif Erden"; aber beide bestimmen das Verbaltnis der em-
pirisclien katholiscben Kircbe zu ibm anders. (Augustin im
Sinne der wesentlicben Identitat). Hiernach sollte man er-
warten, dafi der Begriff dort, wo er zuerst in den Sym-
bolen auftaucbt, ebenfalls als eine nabere Erklarung zu
„heilige katholiscbe Earcbe", als „die Gremeinschaft der
Heiligen, welcbe die katbobscbe Kircbe ist", verstanden
werden wltrde. Es lage dann bier der seltene Eall vor,
daB das Taufbekenntnis infolge einer kircblicben Streitig-
keit einen Zusatz erbalten batte. AUein die altesten Sym-
bolerklarungen deuten den Ausdruck, nacbdem er in die
gaUiscben Symbole gekommen war, nicbt im augustiniscben,
antidonatistiscben Sinne, sondern fassen ibn als „Gemein-
scbaft mit den vollendeten Heibgen" (oder: der voUendeten
Heiligen). Ja man muB vielleicbt nocb um einen Scbritt
weiter geben. Wabrscbeiabcb nicbt nur die aiteste Aits-
legung des Symbols, in der der Ausdruck vorkommt, ist
die des Galliers Eaustus von Reji, sondern er bietet liber-
baupt eines der altesten Zeugnisse fiir die Existenz des
Grliedes „Communionem sanctorum" in einem Symbol. AVie
aber bat Eaustus die Worte erklart? Er scbreibt: „WLr
wollen zur ,Gremeinscbaft der Heibgen' iibergeben. Dieser
Ausdruck widerlegt diejenigen, welcbe lasterlicb bebaupten,
daC man die Ascbe der Heibgen und Ereunde Gottes nicbt
in Ebren balten diirfe, welcbe nicbt glauben, daB das rulini-
reicbe Gedacbtnis der seUgen Martyrer durcb die Verebrung
ibrer beibgen Statten zu feiern sei. Solcbe Leute baben
unredbcb gegen das Symbol gebandelt und Cbristo bei der
Taufe gelogen und baben durcb diesen Unglauben mitten
im ScboB des Lebens dem Tode Raum gegeben" („Ut
transeamus ad , Sanctorum Communionem'. Illos bic sen-
Das apostolische Q-laubensbekenntnis. 253
tentia ista confudit, qui Sanctorum et Amicorum Dei cineres
non in lionore debere esse blasphemant, qui beatorum mar-
tyrum gloriosam memoriam sacrorum reverentia monumen-
torum colendam esse non credunt. In Symbolmn prae-
varicati sunt, et Chxisto in fonte mentiti sunt, et per banc
infidelitatem in medio sinu vitae locum morti aperuerunt").
Faustus beziebt also die Worte auf die Anhanger des Vi-
gilantius, auf die Gregner des Heiligenkultus. Er weiC es
nicbt anders, als daC der Ausdruck im Symbol die nHei-
ligen" (im pragnanten, katboliscben Sinn des Wortes) bedeu-
tet, und dafi er den Heiligenkult entbalt und schiitzt. Fau-
stus' Symbol aber ist, wie bemerkt, eines der altesten Sym-
bole, welches wir kennen, das die "Worte „Sanctorum com-
munionem" entbalt. Darauf bin und in Erwagung, daC
die Worte zuerst in Siidgallien (in der zweiten Halfte des
5. Jabrbunderts) im Symbol auftaucben, daC aber Vigilantius
in der ersten Halfte desselben Jabrbunderts in der Nabe,
namlicb in Barcelona, wirkte und Anbanger fand, wixd
man es nicbt fiir unwabrscbeirdicb halten konnen, dafi die
fragbcben Worte wirkbcb „Gremeinscbaft mit den Mar-
tyrem und den besonders Heiligen" bedeuten sollten. Sie
■waren in diesem Falle ursprunglicb keine Explikation des
Ausdruckes „beilige, katboliscbe Eircbe", sondern eine Fort-
setzung desselben. Sicber ist jedocb dieses Verstandnis der
Worte nicbt; ist aber der urspriinglicbe Sinn der ange-
gebene, dann war es fiir die Kircben der Reformation not-
wendig, ibn umzudeuten. Diese Umdeutung konnte um so
leicbter gescbeben, als man eine passende und wertvoUe
Auslegung, die allerdings im Symbol nicbt die urspriing-
licbe ist, bei Augustin fand. Sie war aucb wabrend des
ganzen Mittelalters nie vergessen worden.
Wer von der Lektiire der apostoliscben Vater und der
Apologeten an das altromiscbe Taufbekenntnis berantritt,
der muiJ mit dankbarer Bewunderung die Grlaubenstat der
254 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
romischen Kirclie in diesem Tauf bekenntnis erkennen. TJber-
scMagt man, welclie fremde und seltsame Gedanten sclion
damals an das Evangelium herangerlickt wtirden, wie diirf-
tig hauiig die Betrachtung desselben war, wie der Oliilias-
mus und die Apokalyptik einerseits, der Nomismus nnd die
griechische Philosophie andererseits das Evangelium zu um-
stricken droMen, so ersclieint das altromisclie Symbol doppelt
groC und ebrwiirdig. Was ilim den hoclisten und bleibenden
AVert verleiht, das ist, neben dem Bekenntnis zu Grott
als dem allmaclitigen Vater, das Bekenntnis zu Jesus
Christus, dem eingeborenen Sobn Grottes unserm Herrn,
und das Zeugnis, dafi durch. ikn die heilige Christenheit,
Vergebung der Siinden und ewiges Leben geworden sind.
Allein man vermiBt den Hinweis auf seine Predigt, auf die
Ziige des Heilandes der Armen und Kranken, der Zollner
und Sunder, auf die Personlichkeit, wie sie in den Evan-
gelien leuchtet. Das Symbol entbalt eigentlicli nur tJber-
scliriften. In diesen Sinne ist es unvoUkommen ; denn kein
Bekenntnis ist vollkommen, das nicbt den Heiland vor die
Augen malt und dem Herzen einpragt.
ISTacliwort (1892).
Erneute beftige Angriife auf meinen theologisclieu
Standpunkt und raeiae Person haben mich. veranlaBt, vor-
stehenden gescMolitlicben Bericbt zu veroffentlichen. Die
Ergebnisse desselben sind zum kleinsten Teil Priichte meiner
Eorschung. Sie sind die Resultate einer langen Arbeit der
protestantiscben Wissenscbaft, an der icb mich seit 20 Jabren
aueh beteiligt babe (s. meinen Artikel „Apostoliscbes Symbol"
in Herzogs Eeal-Encyklop. 2. Auil. 1877 und meiae Ab-
handlung »Vetustissimum ecelesiae Romanae symbolum e
scriptis virorum Cbristianorum qui I. et II. p. Cbx. n. saeculo
vixerunt illustratum« in Gebbardts Ausgabe der Apostol.
Vater I, 2 1878, vgl. aucb mein Lebrbuch der Dogmen-
Das apostolische G-laubensbekeniitnis. 255
geschichte). Was ich liier vorgetragen, habe ich in den
G-rundzligen ebenso seit der angegebenen Zeit auf den
Universitaten Leipzig, GieCen und Marburg gelehxt, nnd
es steht in meinen Schriften zu lesen. Es ist aber kein
Jahr vergangen, in dem ich nicM meine Studien iiber den
groJJen Gregenstand fortgesetzt hatte. Weitere Belehrung
Oder Bericktignng, wenn sie von Sacliverstandigen kommt,
will ich. gern empfangen.
Die erneuten Angriffe auf mich sind die Folge eines
Artikels gewesen, den ich in der „Christlichen Welt" No. 34
d. J. verolfentlicht habe. Im Laufe des Sommersemesters
wurde ich durch die Anfrage aus einem mir personHch
ganz unbekannten Kreise von Studierenden iiberrascht, ob
sie zusammen mit Komimlitonen anderer Hochschulen eine
Petition wegen Abschaffang des Apostolikums an den Ober-
kirchenrat richten soUten. Es war der nFall Schrempf",
der die Gremiiter der Jugend machtig erregt hatte. Da ich
in der Vorlesung iiber Kirchengeschichte des 19. Jahr-
hunderts die Bewegungen iiber das Bekenntnis (PreuCische
Greneralsynode von 1846) demnachst zu besprechen und zu
beurteilen hatte, so beschlofl ich einen Teil der Stunde vor-
wegzunehmen, den Studierenden in der Vorlesung ausfiihr-
lich zu antworten und den Fragestellern, um MiiJverstand-
nisse zu vermeiden, die Hauptpunkte meiner Antwort schrift-
hch zu geben. Es gelang mir, die keimende Agitation zu
unterdriicken ; aber damit iibernahm ich selbst eine einzu-
losende Verpflichtung. An eine Veroffenthchung meiner
Antwort an die Studenten habe ich urspriinglich doch nieht
gedacht. Aber welch ein Heer von Entstellungen und Ver-
leumdungen ware iiber die Vorlesung in die Welt gesetzt
worden, wenn die Veroffenthchung durch den Druck unter-
bheben ware! Was mir da bevorstand, wuUte ich aus
meiner hiesigen vierjahrigen Erfahrung, und es kiindigte
sich auch jetzt wieder an.
Von dem, was ich geschrieben habe, habe ich nichts
256 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
zuriickzunehmen und habe auch. eine Verteidigung niclit
notig. Ich hoffe, daC, wer guten Willens ist, mein Recht
und meine PilicM, den Studierenden so zu antworten, wie
ich geantwortet liabe, auf G-rund vorstehenden Bericlits
anerkennen wird; gegen den bosen Willen sind wir alle
macbtlos. Auf die Proteste, Sclimahungen, UnterscMebungen
nnd Entstellungen werde ich. so wenig antwor^on, wie vor
vier Jahren. Es ist nicht meines Amtes, die Frage zu er-
wagen, ob ein seiches Treiben, wie es jetzt wieder, wie
auf Kommando, entfesselt ist, in der evangelischen Kirche
geduldet werden darf.
Nur auf zwei sachliche Vorhaltungen muC ich zum
SchluC eingehen. Die Protestanten-Vereins-Korrespondenz
No. 36 preist mir ihren eigenen Standpunkt an und rat mir,
mich von meiner „Vermittelungstheologie" auf denselben
zurliclczuziehen ; dann seien alle Notstande und Kollisionen
mit einem Schlage beseitigt, in denen das GTewissen zu
brechen drohe. Sie laBt dabei deutlich genug durchblicken,
dafi sie mich fiir minder gewissenhaft halt als ihre Freunde.
Aber welches ist der Standpunkt der Protestanten-Vereins-
Korrespondenz ? Man soil sich der IJberzeugung hingeben,
daJJ alle kirchlich theologischen Bekenntnisse der Vergangen-
heit keinen dogmatisch bindenden Charakter mehr bean-
spruchen konnen: „Es sind denkwiirdige Dokumente einer
vergangenen Epoche der Kirche." Aber so betrachtet sie
die evangehsche Kirche doch noch nicht, wenn sie an ihre
Pfarrer die Eorderung stellt, das apostolische Grlaubensbe-
kenntnis am Sonntag vorzulesen und wenn sie von alien
ihren Grliedern verlangt, daC sie sich bei der Taufe und der
Konfirmation zu ihm bekennen. Sie sollen also zu diesem
Bekenntnis innerlich Stellung nehmen, eine Stellung, die
iiber das „ denkwiirdige Dokumente - einer vergangenen
Epoche" hinausfiihrt. Ich verstehe nicht, wie die Protest.-
Ver.-Korresp. um diesen Tatbestand herumkommt, bescheide
mich aber. Zwischen dem „dogmatisch bindenden Charakter"
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 257
iind den „denk-wurdigen Dokumenten einer vergangenen
Epoche" liegt doch noch etwas dazwisclieii, und man kann
es sehr kurz sagen, nm was es sicli dabei handelt — nm
die Person Ckristi. In einer Zeitschrift stand neulich
tingefahr folgendes zu lesen: Die „Mstorische Spezialitat"
der Person Christi sei nicht die Hanptsaclie im Ckristen-
tum, Avie die RitscMsclie Theologie annekme. Ich bin dem
Verf. fiir diesen allerdings nicht schonen Ausdrnck dank-
bar; denn er bezeichnet genan das, was uns von manclien
Freunden der Protest.-Ver.-Korresp. trennt. Uns ist die
„liistorisclie Spezialitat" der Person Christi, klar nnd sicher
erkannt, so wichtig wie seine Lehre; denn einem Christen-
txim ohne Christus fehlt die Kraft. In dieser Uberzeugung
wiinschen wir ein freies, aber deutliches Bekenntnis und
ertragen die Unvollkommenheiten der alten Bekenntnisse.
Aber wir halten nns fiir verpflichtet, aufdiese Unvollkommen-
heiten hinznweisen, darauf zn dringen, daC nicht gerade
sie for das Wesenthche erklart werden und ihre Fortbildung
vorznbereiten. Die Differenz zwischen den alten Bekennt-
nissen nnd der geschichtlichen Betrachtung unserer Zeit
■empfinden wir so stark wie die Prexinde der Protest.-Ver.-
Korresp., aber wir empfinden ihn als eiaen Notstand. Wer
seine Kirche lieb hat, der kann ihn ertragen; aber er weifi
anch, daC der Notstand damit nicht gehoben ist, daU man
die alten Bekenntnisse als „denkwurdige Doknmente einer
vergangenen Epoche" betrachtet, sondern daB man zugleich
das alte Evangelium in den neuen Eormen unserer Erkennt-
nis so fest und sicher zu fassen vermag, wie die alte Kirche
und die Reformationszeit es in ihren Eormen verstanden
haben. AndernfaHs wird das allein iibrig bleiben, was ein
frivoler Englander neulich im Gregensatz zu dem gleichfaUs
von ihm verachteten kircMichen Christentum „Amateur-
Christentum" genannt hat. Ich bin weit entfernt, iiber
ein solches zu richten, aber die gegebenen Kirchen kann
man mit ihm nicht weiter bauen.
Ham a ok, Heden und Aufaatze. I. 17
258 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Die andere Vorhaltnng, die mir zuteil geworden ist,
stammt von dem Vorstand der evangeliscli-lutherisclieii
Konferenz in der preufiischen Landeskirclie und den Vor-
sitzenden der lutherisclien Vereine in den Provinzen. Die-
ser Vorstand liat es fiir notig gehalten, eine Erklarung
■wider micL. zu veroffentlichen. Icli lasse die zaMreichen
Fakrlassigkeiten in dem Referate iiber das, was ich. ge-
schrieben habe — kein Satz ist riclitig wiedergegeben —
beiseite nnd halte mich. an den Schlufi der Erklarung; er
lautet: „DaC der Sobn Gottes „empfangen ist von dem
heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria", das ist
das Fundament des Christentums ; es ist der Eckstein, an
■welckem alle Weisheit dieser Welt zerschellen wird." Ich-
erwidere: Wenn das der Fall ware, stande es schlimm um
Markus, schlimm um Paulus, sclilimm um Johannes, schlimm
um das Christentmn. Diese Behauptung, wenn sie wort-
lich so genommen wird, wie sie lautet, widerspricht dem
Urchristentum und verwirrt den Grlauben. DaiJ Jesus
Christus der Sohn Grottes ist oder — der Ausdruck stammt
erst aus der griechischen Theologie, der Gedanke ist evan-
gelisch — der Gottmensch, in dem Gott erkannt und
ergriffen wird : das ist Fundament und Eckstein des
Christentums. Aber dieser Glaube ist nnabhangig von den
beiden widerspruchsvoUen Erzahlungen iiber die wunder-
bare Entstehung Jesu, sonst hatten ihn alle die Vielen
nicht besitzen konnen, die von dieser Entstehung nichts
gewuCt haben. Ich will mich hier einmal auf eine Anto-
ritat beziehen, auf einen Mann, dessen Ifame in alien
Kreisen der evangelischen Theologie, auch bei den Kon-
servativen, den besten Klang besitzt und der sein ganzes
Leben der Erforschnng des Neuen Testaments gewidmet
hat, den Oberkonsistoriabat H. A. W. Meyer in Hannover:
Er hat in seinem Kommentar zum Lukas - EvangeHum
(5. Aufl. 1867 S. 254) Kap. 1, 5—38 geschrieben: „Mit
Recht haben Markus und Johannes diese Wunder der
Das apostolisolie Grlaubensbekemitnis. 259
Vorgeschiclite aus dem Kreise der evangelisclieii Greschichte,
die erst mit dem Auftritt des Taufers anhob, ausgescMossen,
wie sich denn Jesus selbst nirgends, auch im vertrauten
Kreise nicht, darauf bezieht, der Unglaube der eigenen
Briider aber Job. 7, 5, ja selbst das Benebmen der Maria
Mark. 3, 21 ff. unvereinbar damit ist." Und gegen Pbi-
lippi bemerkt derselbe Grelebrte (Kommentar z. Mattb.
5. Aufl. 1864 S. 61): „Es ist eia gefahrbcbes, aber tinricb-
tiges DiLeinina, daC die Idee des Gottmenscben mit der
jungfraiilicbeii Q-eburt stebe und faUe." "Wobl wissen wir,
daU viele Cbristen. so denken wie Pbilippi. "Wir ebren
aucb diese G-estalt ihres Glaubens, lebren sie die zukiinf-
tigen Pfarrer versteben und woUen sie niemandem nebmen,
dem damit das Cbristentum genommen wird. Aber man
darf das nicbt in der Kircbe als Haupt- und Fundamental-
artikel des Grlaubens aufricbten, was nicbt zum Inbalt des
Evangebums Cbristi gebort, im besten FaUe eine Erklarung
und Hilfslinie, fur viele in unseren Tagen aber ein Stein
des AnstoCes und ein Mittel der Entfremdung vom Evan-
gelium ist. Darum miissen wir darauf binarbeiten, daU
eine Zeit konune, in der diese AnstoBe und abnbcbe be-
stimmter und sicberer iiberwunden werden, als es jetzt
mogbcb ist. Dazu gebort aber aucb, dafi die Grewissen
nicbt mit Eormebi bescbwert werden, die nicbt den Heils-
glauben entbalten, aucb wenn sie wortbcb der Bibel oder
der altesten Verkiindigung entsprecben; denn diese siad
docb selbst von den verganglicben Ziigen ibrer Zeit nicbt
frei. ifacb den Meinungen des Tages soil das Evangebum
nicbt gemodelt werden, und so toricbt oder frivol ist
wobl niemand, dafi er erwartet, der scbmale "Weg werde
zum breiten werden, wenn man nur jene AnstoBe beseitigt.
Aber mancber Stein, der in alteren Zeiten hat mittragen
belfen, ist im "Wecbsel der Zeit zum Stein geworden, der
im Wege Hegt. Es ist das Vorrecbt und die beibge Pflicbt
evangebscber Tbeologen, unbekummert um G-unst oder
17*
260 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Ungimst, an der reinen Erkenntnis des EvangeKums zu
arbeiten und offen zu erMaren, was nacli ihrer TJberzeu-
gung der Wahrheit entspriclit und was nicM. Bare Pflioht
ist es audi, im Namen der zalilreiclieii GrKeder der evan-
gelischen Kirclie zu sprechen, die aufriclitige Christen sind
und sich durch manclie Satze des Apostolikums , wenn sie
sie als ihren Glauben bekennen sollen, in ihrem Grewissen
bedrlickt fuilen. Mehr als ein Weg ist moglicli, um den
Notstand, der ftii raanclien Christen besteht, zu heben,
und die Liebe und der gemeinsame Grlaube werden den
rechten Weg in der evangelischen Kirche gewiU finden.
Einen hat die PreuBische Generalsynode im Jahre 1846
vergeblich betreten; ein anderer ist von manchen evange-
Kschen Landeskirchen schon gefunden: der fakultative litur-
gische Grebrauch des Apostolikums. Evangelische Theologen
warten ihres Amtes, wenn sie auf diese und ahnliche Wege
hinweisen und dabei die verschiedenen Richtungen in der
Kirche zu gegenseitigem Verstandnis anleiten, damit die
eine die Last der anderen tragen lerne. „Nuii sucht man
nicht mehr an den Haushaltern, denn daC sie treu erfunden
werden. "
Zusatze.
Zu S. 227 Absatz 1. Kattenbuscli, Das apostolische
Symbolum, 2. Bd. (1900), hat gegen diese Feststellungen
allerlei Zweifel aufgebraclit, auf die ich hier nicht einzu-
geheii vermag. Auch. mag es bier auf sicb berulien bleiben,
in welcbem Verbaltnis das siidgalliscbe Symbol zu einem
sehr verwandten Symbol steht, welches uns aus eiaer Kirche
in Dacien (Anfang des 5. Jahrhunderts) iiberliefert ist.
Zu S. 233. Kattenbusch u. a. glauben zeigen zu
konnen, daB das Symbol um d. J. 100 oder bald nachher
entstanden ist. Ihre Beweise haben mich aber nicht iiber-
zeugt.
Zu S. 233. Am energischsten hat Loofs (Symbolik
Bd. I, 1902, S. 6 ff.) die Ansicht verfochten, daC der Orient
ein uraltes Taufsymbol besessen hat, dem gegeniiber das
altromische Symbol sekundar ist. Ich bleibe bei der im
Text vorgetragenen Ansicht.
Zu S. 238 f. Sehr bemerkenswert ist, daJ3 Luther in
sein „Taufbuchlein" (1523. 1526. Erlanger Ausgabe Bd. 22,
S. 162. 293) nicht das Apostolische Grlaubensbekenntnis auf-
genommen hat, sondem erne verkiirzte Form desselben, die
aus dem fruhen Mittelalter stammt: „Glaubst du an Grott,
den allmachtigen Vater, Schopfer Himmels und der Erden?
Griaubst du an Jesum Christ, seinen einigen Sohn, unsern
Herrn, geboren und gehtten? Griaubst du an den heiligen
Geist, eine heihge christKche Kirche, Gremeine der Heihgen,
Vergebung der Siinden, Auferstehung des Meisches und
nach dem Tod eia ewiges Leben?"
262 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Zu S. 245. Hinzuzufugen ist, daC viele sehr alteZeugen
Lxik. 3, 22 (Erzahlung der Taufe Jesu) folgenden "Wortlaut
bieten: „Du bist mein Solm; ich. habe dich. heute gezeugt."
Also leitete man die Sohnschaft Jesu von der Herabkunft
des G-eistes auf ilji ab, betracbtete sie mitMn nicht als
eine pbysiscbe. — Das Mcaniscbe Symbolum enthalt die
G-ebiirt aus der Jungfrau nicbt.
Zu S. 246 Z. 6f. Allerdiags bieten nocb die Scbmal-
kaldiscben Artikel (lat. Text) „Maria sancta semper virgo".
Zu S. 248 Z. 10 f. „Auferstebung von den Toten" statt
„Auferstebung des Fleiscbes" findet sicb ia Symbolen und
Grlaubensregeln baufig.
Zu S. 249 Z. 20fE'. Ricbtig Hutber zu I. Petr. 3, 19 (ia
Meyers Kommentar zum Neuen Testament XII. Abt. 3. Aufl.
S. 177): „Diese StelLe sagt nicbts iiber die Esistenz Cbristi
zwiscben seinem Tode und seiner Auferstebung aus . . . Zu
bemerken ist nocb, daC -weder die Lebre der Form. Concord.,
nocb aucb die Lebren der KatboMken von dem limbus
patrum und dem Purgatorium in dieser Stelle irgend eiaen
Grrund baben." Die „H6Uenfabrt", von der das Symbol
spricbt, entbebrt der bibbscben Begriindung.
Zu S. 254 Z. 8ff. "Was icb bier zusammengefaCt babe,
entspricbt wesentbcb der Fassung Lutbers in seinem Tauf-
biicbleia (s. oben), obne daU icb an Lutber gedacbt batte.
— Zeigt man den Gegnem, dafl nicbt alle Satze des Sym-
bols bibbscb begriindet sind, so erwidern sie: ,aber es ist
das uralte Bekenntnis der ganzen Cbristenlieit. " Weist
man ibnen nacb, daU es das nicbt ist, so entgegnen sie:
„aber es ist bibliscb begriindet". DaB der Wortlaut —
um diesen bandelt es sicb — nicbt durcbweg sicber aus
der Bibel begriindet werden kann, ist scbwer zu bestreiten.
Aber selbst wenn das mogbcb ware, ware nocb nicbts ent-
scbieden. Denn ein Grlaubenssatz ist nocb nicbt desbalb
eia Grlaubenssatz in der evangeliscben Elircbe, weil es irgend
eine SteUe in der Bibel gibt, mit der man ibn belegen
Das apostolisclae Grlaubensbekenntnis. 263
kann, sondern Grlaubenssatz ist nur, was zum Inhalt des
Evangelituns gehort.
Zu S. 256 Z. 8 ff. Man hat, ohne daJl icli AnlaC dazu
gegeben hatte, diese "Worte so verstanden, als bezeichnete
ich jeden Angriff auf mich. als ein ^Treiben". Das ist mir
natiirlicb. nicM in den Sinn gekommen. Ernstliche sacli-
liche Vorhaltnngen ehre ich. und verstehe, daiJ sie gekom-
men sind. DaU aber ein nTreiben" mit Schmahungen,
Unterschiebungen und Entstellungen wider mich entfesselt
ist, nnd daC daneben nur sehr wenige ruhige und besonnene
Gregner aufgetreten sind, Hegt am Tage.
Zu S. 259 Z. 19. Aus den "Worten meiner Erklarung
in der ^Christhchen Welt" (oben S. 222 £): „Die Anerken-
nung des Apostolikums in seiner wortHchen Fassung ist
nicht die Probe christlicher und theologischer Reife; im
G-egenteil wird ein gereifter, an dem Verstandnis des Evan-
geliums und an der Kirchengeschichte gebildeter Christ
AnstoB an mehreren Satzen des Apostolikums nehmen
miissen", hat man AnmaCung, Beleidigung des Pastoren-
standes und der Grlaubigen und aUes mogliche Schlimme
herausgelesen. Demgegeniiber bemerke ich um des Eriedens
willen, 1. daJB mir jede Absicht einer Beleidigung volHg
fern gelegen hat, 2. dafl nach dem deutschen Sprach-
gebrauch -wird miissen" nicht die absolute Notwendigkeit
bezeichnet, sondern die sichere Erwartung des Eintritts
ernes Zustandes, 3. daC ich nicht von gebildeten Christen
schlechtweg, sondern von „an der Kirchengeschichte ge-
bildeten Christen" gesprochen habe, 4. daU, soviel ich aus
den Kundgebungen meiner Gregner ersehen kann, auch in
ihren Reihen AnstoC am Yv'ortlaut und urspriinglichen Sinn
des Apostolikums nicht ganz fehlt, mogen sie sich auch
durch Erklarungen d. h. Umdeutungen iiber diesen AnstoC
tauschen.
Zu S. 260 Z. 124^. Die Preufiische Generalsynode im
Jahre 1846 beschloC, das Apostolikum aus der Ordinations-
264 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
formel wegzulassen , well es teils zu viel, teils zu wenig
enthalte. Sie nakm dafiir eine neue, dem ApostoKkuin nur
zum Teil nachgebildete, in manclier Hinsicht treffliche For-
mel an, in der die Gebnrt aus der Jtmgfrau, die Himmel-
fakrt und die Anferstehung des Fleisches feMten, weil man
sie niclit zu den Hauptstiicken des G-laubens reclinete.
ADOLF HARNACK . KEDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG ^^
AUFSATZE: II
ANTWORT AUF DIE STREITSCHRITP
D. CREMERS:
ZUM KAMPF UM DAS APOSTOLIKUM
Erschienen als Nr. 3 der „Heft6 zur Cliristliclien Welt" 1892 bei Fr. Wilh.
Gninow in Leipzig, jetzt "bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tubingen.
D. Oremer hat eine „Streitschrift" wider mich. ausgehen
lassen, die ich. sowohl um des Autors als um der Sache
willen nicht imbeaiitwortet lassen darf. Fiir die Art lond
den Ton seiner Polemik bin ich. ihm zu Dank verpflichtet.
Mein G-egner hat die Freundlichkeit gehabt, das kleine
Schriffcchen, das ich unter dem Titel „Das ApostoHsche
Glaubensbekenntnis" habe ausgehen lassen, sehr genau zu
priifen. Er hat infolge dieser Priifung eine Reihe von
Ausstellungen im einzelnen erhoben, und or hat sodann
geglaubt, eine prinzipieUe Ausfiihrung in Bezug auf die
Person Jesu Christi mir entgegenhalten zu miissen. Ein
Nachwort beschliefit seine Schriffc. Es erscheint schicMich,
die Replik diesen Vorhaltungen gemalJ einzurichten. AUein
ich muU — wenn ich so verfahre • — allerdings den Ein-
wand meines Gregners befiirchten, daB ich die letzten Ab-
sichten seiner Erwiderung verkannt hatte. Er hat namhch —
vom Nachwort abgesehen — seine Streitschrift in drei
Telle geteilt und jedem dieser Telle in gesperrter Schrift
einen Satz vorangestellt, der das Thema fiir das Folgende
enthalten soil. Die Satze lauten:
1. In dem gegenwartigen Streite um das apostolische
Griaubensbekenntnis handelt es sich weder um neue Ergeb-
nisse, noch iiberhaupt um Ergebnisse historischer Forschung
(S. 3);
2. Denn die Erage nach der Person Christi oder die
Frage, wer und was Jesus ist, kann nimmermehr auf dem
"Wage und mit den Mitteln historischer Forschung ent-
schieden werden (S. 32);
268 Ei-ster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
3. 1st das die eigentliclie Frage, wer und was Christus
sei, so riclitet sich. nach. ihxer Entscheidung auch die Kritik
des Symbols (S. 41).
Diese Satze besagen teils sehx viel mehi-, toils weniger,
als die ibnen folgenden Ausfiikrungen enthalten. Ich be-
finde mich daber der Streitscbrift gegeniiber in einer
sebwierigen Lage: soil icb jene Satze, die icb teils fur
irrig, teils fiir balbwabr balte, priifen, oder vielmebx die
Ausfiibrungen, die sie angeblicb begriinden? In dem erstem
Falle feblen mir in der Scbrift meines Gregners z. T. die
Anbaltspunkte und Grrundlagen, in dem andern muB icb,
wie bemerkt, die Erwiderung befiircbten, die letzten Ab-
sicbten seiner Entgegnung verkannt zu baben. In diesem
Dilemma meine icb mieb docb vor allem an die direkten
Ausfiibrungen gegen micb und nicbt an die tJberscbriften
balten zu miissen. Icb bin dann wenigstens ge"wiC, keine
Nyktomacbie aufzufubren. Am ScbluB werde icb ver-
sucben, aucb auf jene weittragenden Uberscbriften in mog-
licbster Kiirze einzugeben.
1. Die einzelnen Einwiirfe D. Cremers.
In dem ersten Telle der Streitscbrift (S. 3 — 32) kon-
statiert D. Cremer, daiJ meine Forscbungen den bisber ge-
wonnenen Ergebnissen in Bezug auf das ApostoHkum
nicbts wesentHcb neues binzugefiigt batten, und bemerkt
dann, dafi icb „unbescbadet der Korrektbeit mancbes batte
anders formuberen diirfen'' und in mancbem irrige An-
sicbten vertrete. Sebe icb recbt, so beziebt sicb sein Tadel,
aucb Kleinigkeiten mit eingerecbnet, auf elf Punkte. G-erne
■wiirde icb dieses oder jenes, was icb gescbrieben babe, be-
ricbtigen. Allein icb mufi nacb sorgfaltiger Priifung alLes
das, was icb ausgefiibrt babe, und was D. Cremer bean-
standet, aufrecbt erbalten, und zwar bis aufs Wort. Der
Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 269
Leser moge entschuldigen , wenn einige scheinbare oder
wirkliclie Qmsquilieii dabei mat imterlaufen: ich. babe diese
Punkte nicht zur Diskussion gestellt.
1. D. Cremer beanstandet meinen Satz: „daC die ro-
misclie Eaxche zur Sicberstellung des Wortlauts ibres Be-
kenntnisses die Legende von dem apostoliscben Ursprung
des Symbols erzeugt babe." Statt „erzeiigt'' will er „ge-
pflegt" gesetzt wissen; „deiiii Legenden werden nicbt ab-
sicbtsvoll erzeugt." Demgegeniiber bemerke icb, 1. dafi
ich von „absicbtsvoll" nicbt geredet babe, und 2. dafi wir
von der Zeit und den Umstanden der BUdung jener Le-
gende nicbts wissen, also avLcb nicbt wissen, wieviel Instinkt
und wieviel bewuCte Absicbt bier gewaltet bat. Das Wort
„gepflegt" wird sicb aber niemand bier so leicbt aneignen
wollen; denn man kann docb nur pflegen, was scbon vor-
banden ist. Dafi die romiscbe Gemeinde die Legende vom
apostoliscben Ursprung des Symbols von auswarts erhalten
bat, ist nicbt anzunebmen und nimmt, soviel icb sebe, aucb
D. Cremer nicbt an. Endlicb der Satz: „ Legenden werden
nicbt absicbtsvoU erzeugt-', ist in dieser Allgemeinbeit nicbt
aufrecbt zu erbalten. Oder sind aUe Legenden, die die
romiscbe Kircbe zu ibrer eignen und des Papstes Verberr-
licbung erdicbtet bat, ledigbcb Produkte der absicbtslos
waltenden Pbantasie?
2. „Aufierdem — beifit es S. 4 — batte aucb nicbt
libergangen werden sollen, dafi neben dieser Legende aucb
ricbtigere VorsteUungen sogar bei denselben Scbriftstellern
sicb finden, wie z. B. bei Augustin im Eingang seiner Rede
liber das Symbol an die Katecbumenen: 3>Diese Worte, die
ibr gebort babt, finden sicb in den li. Scbriffcen verstreut
und sind von dortber gesammelt und zu einer Einbeit ver-
bunden.s" Diesen mir woblbekannten Satz konnte ich
nicbt anfiihren; denn 1. enthalt er kein romisches Zeugnis,
sondern ein aufierromisches , 2. stammt er aus so spater
Zeit, dafi er fiir die geschicbthcbe Erage obne Belang ist.
270 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
3. ist er nicM als Korrektur der Legend e vom apostoliseheii
Ursprtmg des Symbols gemeint, und 4. enthalt er den
scMimmsten Mstorisclien VerstoB; denn dafi die einzelnen
Satze des Apostolitams -wirklicli aus den heiligen Schriffcenj
d. h.. aus dem ISTeuen Testament zusammengeklaubt seien
Tind so der Vorgang der Entstehung des Symbols gedactt
warden miisse, ist docb — wenn man seine Ursprungszeit
bedentt — ziemlicb das Yerkehrteste, was sich. Mer sagen
lafit. Wie D. Cremer diese Ansicbt als „riclitigere" Vor-
stellung bezeiclmen kann, ist mir unverstandlich, nnd ich.
wiirde daber bier gern an einen lapsus calami glauben^
kame D. Cremer nicM S. 15 auf Augustias „Zeugnis"
wieder zuriick.
3. Seite 4 beifit es weiter: „Ferner diirfte aucb der
Satz eine andre Fassung erbeiscben: »Man darf es als
gesicbertes Ergebnis der Eorscbting bezeicbnen: das alte
romiscbe Symbol ist um die Mitte des zweiten Jabrbimderts
entstanden.« Dieses »entstanden« gebt iiber das Mafi der
zulassigen Genauigkeit in der Eormuberung der Ergebnisse
wissenscbaftbcber Forscbung binaus. IJber den Zeitpnnkt
der Entstebung dieser Formel vermogen wir bislang nicbts
zu sagen." D. Cremer bernft sicb nun auf Irenaus-Poly-
karp und auf meinen Artikel nApostobscbes Symbolum"
iu der Eealenzyklopadie , um die Moglicbkeit, daC das
Symbol bereits um das Ende des ersten Jabrbunderts ent-
standen sei, offen zu balten.
Um ganz abstrakte Mogbcbkeiten streite icb nicbt;
aucb gesicberte Ergebnisse bistoriscber Eorscbung sind
gegeniiber nMoglicbkeiten" webrlos. Von dieser Erkenntnis
bin icb tief durcbdrungen und rarmie daber meinem Gregner
bereitwiUig ein, daU die Abfassung des Apostolikums in
seiner altromiseben G-estalt um das Ende des ersten Jabr-
bunderts nicbt unmogHcb ist. Aber icb ziebe desbalb
meine Bebauptung von dem gesicberten Ergebnis der For-
scbung — daU das Symbol um die Mitte oder ktirz vor der
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 271
Mitte des zweiten Jahrhunderts*) entstanden ist — nicht
zuriick. In Kiirze dafiir den Beweis zu liefern, ist nicht
leicM; denn dii-ekte auBere Zeiignisse fehlen, und innere
Griinde stehen bei vielen nicM hoch. im Kurse. Auch.
haben die schlagendsten unter ihnen nur fiir den voile
Beweiskraft, der das Gresamtbild geschiclitliclier Anschauung
anerkennt, aus dem sie stammen. Wie konnte ich aber
ein solctes Mer entwickeln und beweisen? Dennoch "werde
ich. es versnchen, einen Teil der Beobachtungen zusammen-
zusteUen, die hier in Betracht kommen, und von denen
ich annehmen darf, daU auch solche Gelehrte sie anerkennen
werden, die liber die Entwicklung des nachapostohschen
Zeitalters anders denken als ich. Was den terminus ad
qnem betrifffc, der iibrigens zurzeit nicht zur Frage steht,
so mag der Hinweis geniigen, daC das Symbol nicht aus
der Zeit des brennenden Kampfes mit dem Grnostizismus
stammen kann. Eine Kirche, die im Streit auf Leben und
Tod mit Marcioniten und Valentiniauern stand, kann diese
Formel nicht geschaffen haben. Also ist sie, da sie nicht
junger (etwa erst aus der Zeit um das Jahr 200) sein kann,
alter. Um wieviel alter? D. Cremer hatte Anhaltspunkte
fur die Beantwortung dieser Frage gewinnen konnen, wenn
er meine Abhandlung iiber das alteste Symbol der romi-
schen Kirche in meiner Ausgabe der Schriften der aposto-
lischen Vater (1878) nicht entweder ignoriert oder fiir un-
wert gehalten hatte. Er bemerkt — auch die meisten
meiner andern Gregner betonen diesen Satz — , daiJ meine
Forschungen denen von Caspari und v. Zezschwitz
nichts "wesentKch Neues hinzugefiigt hatten. Ich bin dem-
gegeniiber in der peinlichen Lage, darauf hinweisen zu
miissen, daU jene beiden hochst verdienten Gelehrten iiber
das Verhaltnis des Symbols zum zweiten Jahrhundert der
christhchen Kirche ganz ungentigend orientieren, und daB
*) So habe ich mioli ausgedrtiokt (S. 233).
272 Erster Band, zweite Abteiluug. Aufsatze: II.
die oben zitierte Abliandlung allein dariiber ausfiilirliclier,
freilicli immer noch. nicht ausfiilniicli genug, belehrt. Der
terminus a quo bestimmt sich. auf Grrund folgender Er-
wagungen :
a) Der Hirte des Hermas eroffnete seine Mandate, in-
dem er als erstes Grebot lediglich. den Glauben an den
einen Grott einscharft. Dieses Argument beweist an sich
allerdings niclits, weil zu viel; denn der ScMuB: also exi-
stierte damals die dreigliedrige Taufformel noch nicht, ware
irrig. Hermas selbst zeigt an andern Stellen, daC er den
Vater, den heiligen G-eist als den ewigen Sohn, und den
adoptierten Sohn (den Menschen Jesus Christus) unter-
scheidet. Aber eben diese Unterscheidung macht es im
hochsten Grade unwahrscheinhch, dafi ihm das romische
Symbol mit seiner scharfen Unterscheidung des einzigen
Gottes Sohnes und des heiligen Geistes schon vorgelegen
hat. Ich wenigstens vermag beides sohlechterdings nicht
vermittelt zu denken. Hatte aber Hermas ferner so schreiben
konnen, wie er im ersten Mandat geschrieben hat, wenn
das Verstandnis der Taufformel durch die Ausfiihrung in
dem Symbol schon sichergestellt gewesen ware?*) Ich muB
es demgemaC fur ganz unwahrscheinhch halten, daJ3 zur
Zeit des Hirten das romische Symbol im Gebrauch der
Eorche vorhanden war.
b) Nicht nur die abendlandischen Valentinianer , die
sich an die kirchhchen Glaubensregeln moghchst anschlossen,
lehrten in ihren Formeln, daC Christus „durch" (nicht „aus")
Maria geboren sei (s. Iren. I, 7, 2 und Tertull. de came 20),
sondern auch Justin braucht sehr hauiig jene Praposition.
Die Zeit kann also nicht weit hinter der Mitte des zweiten
Jahrhunderts zuriicMiegen, in der in der romischen Kirche
jenes „aus" noch nicht festgestellt war.
*) Dahingestellt lasse ich es, ob die Darlegungen in dem ftlnften
Gleiclinis sich mit der symholisciien G-eltung des Satzes von der Jung-
frauengeburt vertragen.
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 273
c) Das romische Symbol erwahnt die Taufe Jesu durcli
Johannes resp. die Herabkunft des heiligen G-eistes bei der
Taufe nicbt. DaU dieses Stuck urspriinglicb als hocbst
wichtig gegolten, ja die Aussagen iiber Ckristus eroffnet
hat, ist bekannt. Noch Ignatius hat es ad Smyrn. 1 und
ad Ephes. 18 aufgenommen.*)
d) Der Ausdruck „seinen eingeborenen Sohn" im
Symbol weist auf das vierte Evangelium zuriick; wenigstens
ist uns eine andre Quelle nicht bekannt.
e) Die scharfe Unterscheidung der Q-lieder „aufer-
standen", „aufgefahren" und „sitzend" spricht fur das
zweite Jahrhundert (s. dariiber unten).
f) Die Weglassung der chiliastischen Hoffnung, die
doch Justin zur voUen Orthodoxie rechnet, fallt stark ins
Grewicht.
Diese Argumente mogen geniigen. Ich berufe mich
nicht auf den Gresamtcharakter des Symbols (z. B. in seinem
Verhaltnis zu den „Lehren des Herrn durch Vermittelung
der zwolf Apostel"), um zu zeigen, daC das ganze Unter-
nehmen im ersten Jahrhundert hoohst auffallend ist und
dafi es bereits kathohsche Art an sich tragt; denn dieser
ISTachweis kann in Kiirze nicht gefiihrt werden. Mcht nur
fallt die Beweislast dem zu, der das Symbol vor c. 140 an-
setzt, sondern man darf auch sagen: der Beweis ist nicht
gefiihrt worden und kann nicht gefiihrt werden. Die Be-
rufung auf Irenaus-Polykarp verschlagt nicht; denn dafi
Polykarp ein formuliertes Symbol besessen und dem Irenaus
liberliefert hat, davon wissen wir schlechterdings nichts.
Auf die sichere und einheitliche Eormulierung aber kommt
es an; dafi einzelne Satze sehr friihe feste Tormen erhalten
haben, z. B. der „gekreuzigt unter Pontius Pilatus", darauf
habe ich selbst mehr als einmal hingewiesen; aber damit
') Auch das PeMen. des „IIerodes" neben Pontius Pilatvis, den
-altere Pormeln "bieten, verdient Erwahnung.
Harnaok, Eeden und Aufsatze. I. 1°
274 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
ist weder die Existenz des romischen Symbols noch. eines
andern iiira gleichartigen angedentet, geschweige sicher-
gestellt.
4. D. Cremer maclit mir einen Vorwurf daraus (S. 7),
daC icli in meiner Schiift die Satze, die ich. vor sechzehn
Jahren in meinem Artikel „Apostolisches Symbolum" iiber
den Archetypus der orientalischen Symbole niedergeschrieben,
nicbt wiederbolt babe. Er selbst eignet sie sicli an und
bemerkt, es sei nicht bekannt geworden, dafi irgend ein
Grrond von irgend jemandem geltend gemacbt worden sei,
der meine friibern Ausfiibrungen zu entkraften geeignet
ware. Letzteres ist ricbtig; aber icb selbst babe meine
Studien fortgesetzt und erkannt, dafi ein orientabscber
Symbol- Arcbetypus fiir die Mitte, ja nocb fiir die zweite
Halfte des zweiten Jabrhunderts nicbt erreicbbar ist. Ein-
zelne gemeinsame Formeln und ein Kerygma von Jesus
Cbristus, dessen Satze zum TeU, aber nur zum Teil stebend
waren, lassen sicb bis ins zweite Jabi'bundert binauffiibren,
aber aucb nicbt mebr — vor allem kein gescblossenes Sym-
bol. Darum babe icb von dem orientabscben Arcbetypus
abseben miissen. Er ist mir eine Fata Morgana geworden.
"Will D. Cremer sicb dieses Arcbetypus mit gescbicbtlicben
Nacbweisen annebmen, so werde icb ihm gem Rede und
Antwort steben. Nur kommen wir dabei nicbt weiter,
wenn wir nicbt zwiscben fliissigem Kerygma, festem Sym-
bol und fliissigen (antignostiscben) Glaubensregeln unter-
scbeiden.
5. Seite 9ff. scbreibt D. Cremer: „Aucb dies diirfte
nicbt unter den Titel eines Ergebnisses bistoriscber Eor-
scbung befafit werden diirfen [sic], dafi in dem Symbol der
heilige Geist nicbt als Person, sondern als Kraft und G-abe
aufgefafit sei." Meinem Satze, man konne nicbt nacb-
weisen, dafi um die Mitte des zweiten Jabrbunderts der
beilige Geist als Person geglaubt worden sei, bait T>. Cremer
entgegen, 1. dafi das Symbol „den unwandelbaren Inlialt
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 275
der apostolischen Verkiindigung im Lapidarstil monumen-
taler Form hat bewahxen wollen, es also gar nicht darauf
ankomme, welclies MaC von Verstandnis die alte Kirclie
ihrerseits damit verbunden babe", 2. dafi Johaimes, Paulus
und iiberbaupt die apostolisclie Verkundigung sick den
keiligen Geist nicht nur als nnpersonbcke Kraft gedacht
haben: der.Begriff der Personlichkeit fehlte, aber nickt die
Sacke. Ich vermag in beiden Entgegnungen nur ein Aus-
weicken der bestimmten Fragestellung gegeniiber zu er-
kennen. "Was sick Paulus oder Jokannes gedackt kaben,
gekort mindestens so lange nickt kierker, als das Symbol
selbst eine Antwort gibt. Diese ist aber in der einfacken
Zusammenordnung „keiliger GTeist", „keilige Kircke", „Sun-
denvergebung" , „Fleisckesauferstekung" deutkck genug,
und sie wird durck den dogmengescMcktlicken Befund in
Bezug auf das zweite Jakrkundert bestarkt. Zwei Hypo-
stasen der Grottkeit, nickt drei, sind bekannt. Selbst nock
der romiscke Presbyter Hippolyt am Anfang des dritten
Jakrkunderts untersckeidet ausdriickkck zwei gottkcke Per-
sonen und drei gottlicke Okonomien. Wenn aber D. Cremer
S. 10 die montanistiscken Streitigkeiten streift, um das
Dogma von den drei Personen der Gottkeit fiir jene Zeit
zu retten, so lafit sick aus den eckten Spriicken Montans
und seiner Propketirmen leickter abnekmen, daU sie nur
eine gottkcke Hypostase anerkannt kaben als zwei oder
gar drei. Die Untersckeidung von Kraft und Hypostase
war iibrigens, wie die Gnostiker und namentlick Justin
(Dial. 128) beweisen, jener Zeit nickt fremd. Justin aber
kat nirgendwo in seinem weitsckicktigen Dialog Gelegen-
keit genommen, die personlicke Selbstandigkeit des Geistes
zu bekaupten, wie er die des Logos bekauptet kat. Der
keikge Geist ist ikm einfack „der propketiscke Geist".
"Wenn endkck D. Cremer in meiner tjbersetzung „und an
keiligen Geist" den Artikel vermilJt, so kabe ick natiirkck
nickts dagegen, ikn in der tJbersetzung einzusckalten, vor-
18*
276 Erstsr Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
ausgesetzt, daB man iim auch noch vor „Keilige Kixcke"
usw. einschaltet. Die Trennung und die verschiedene Be-
handhing der vier Grlieder des dritten Artikels ist, wis audi
D. Cremer einraumt, viel spater erfolgt, namlich erst, nach.-
dem das Dogma von der Trinitat ansgearbeitet war.
6. Seite 13 wird es mir als eine — allerdings dankbar
zu verzeiclmende — Inkonsequenz vorgebalten, daC icb. bei
der Erklarung des Wortes „Vater'" im ersten Artikel auf
das apostoKsclie Verstandnis zuriickgelie, wahrend ich sonst
diese Art Erklarung als unhistoriscb verwerfe und auch.
hier bemerke, daU der Verfasser des Symbols den Ausdruck
„Vater" wahrscbeinlicli nicht nacb Matth. 11, 25 ff. und
Rom. 8, 15 gedeutet habe. Aber eben nur „walu:sclieinlich."
nickt. Nacb dem, was ich in meiner lateiniscben Abhand-
lung liber den Ausdruck im rdmiscben Symbol (1. c. S. 134)
ausgefiihrt babe, muB es offen bleiben, ob nicbt doch. das
"Wort jjVater" noch evangebscli verstanden ist. Eben des-
halb babe icb bier auf das alteste Verstandnis Riicksicbt
genommen, um nicbt parteiiscb zu erscbeinen, sondern dem
Symbol alles zu lassen, was ibm gescbicbtlicb irgend ge-
biibren konnte. Das Ausrufongszeicben aber, das mein
Gegner zu meinem Ausdruck: „Der Verfasser des Symbols"
gemacbt bat, will icb beber nicbt versteben; denn daB das
Sjnnbol offenbart oder durcb Inspiration als Zeugnis des
beiligen GTeistes in der alten K"ircbe gebeinmisvoU ent-
standen sei, kann D. Cremer nicbt meinen.
7. Dem, was icb liber „G-emeuiscbaft der Heibgen''
ausgefiibrt babe, batte D. Cremer eine „vorsicbtigere Fas-
sung" gewiinscbt (S. 13). Icb glaube. den Tatbestand kor-
rekt zum Ausdruck gebracbt zu baben. Icb babe 1. be-
merkt, dafi die Entstehung und der urspriingbcbe Sinn
jenes Zusatzes am dunkelsten ist, 2. gesagt, daC der Aus-
druck zuerst im donatistiscben Streit und bei Augustin sicb
fande, und dafi man demgemaC erwarten miisse, er bedeute
auch im Symbol dasselbe wie dort, namlicb eine nabere
Antwort auf die Streitsohi-ift Cremers. 277
Erklarung zu „lieilige katholische Kirche", 3. darauf hin-
gewiesen, daC der Ausdruck im Symbol erst in spaterer
Zeit (und zwar in Grallien) vorkomme und dort durcli den
altesten Zeugen als „Gremeinscliaft mit den voUendeten
Heiligen" erklart werde. DemgemaiJ habe ich. es fiir „sehr
-wahrsclieinlich" gehalten, dafi die "Worte im gallischen Sym-
bol wirklieh „Gremeinscliaft mit den Martyrern und den
besonders HeLUgen" bedeuten soUten (gegen Vigilantius)
tmd urspriinglicli keine Explikation des Ansdrucks „heilige
katholische Earche", sondern eine Fortsetzung desselben
waren. Auf die mir woUbekannte Auslegung des Nicetas
von Romatiana bin ich. nicht eingegangen, weil ich weder
uber die Zeit noch liber den Ort dieses Bischofs ein Urteil
besaC. Aber auch die Tatsache, daC die Gegner der Heiligen-
verehrung z. Z. des Faustus von Eeji die Worte in ihrem
Symbol gehabt haben, glaubte ich nicht erwalinen zu
durfen, da sie fiir die Frage nach dem urspriinglichen Sinn
im Symbol gieichgidltig ist; denn Faustus hat die Vereh-
rung der HeUigen und Reliquien jedenfalls lediglich ein-
getragen.
D. Cremer meint nun, die Worte konnten (muBtenJ^
biblisch verstanden werden, „und darum bedarf es nicht
einer Umdeutung, um sie in dem Symbol belassen zu konnen^
sondern nur desjenigen Verstandnisses, das fur alle Aus-
sagen desselben nach Augustins oben angefiihrtem Aus-
spruch liber die Entstehung und den Willen des Symbols
mafigebend ist, namlich die uns die neutestamentlichen
Schriften an die Hand geben". Diese Worte bezeichnen
sehr deutlich den prinzipiell verschiednen Standpunkt, den
mein Gegner und ich. behaupten, erstlich, sofern er sich
hier auf Augustins Meinung beruft und sie fiir maCgebend
halt (s. oben S. 269 f), das Symbol sei ein Exzerpt aus neu-
testamentlichen Schriften, zweitens sofern er demgemaJJ den
Versuch einer historischen Erklarung der einzelnen Satze
des Symbols aus ihrer Zeit fiir iiberfllissig, ja im G-runde
278 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
for unstatthaft halt. Die Konsequenzen seines Verfahrens
sind uniiberselibar: selbst zugestanden , das Apostolikum
■ware — auch. noch in seinen jiingsten Bestandteilen — ein
Exzerpt aus dem Feuen Testament, diirfte man es deshalb
nacb den Grlaubensiiberzeugungen der neutestamentlichen
Schriftsteller erklaren? Die FormeLi der Semiarianer waren
auch. Exzerpte aus dem Weuen Testament: diirfen wir sie
deshalb nacb dem Neuen Testament auslegen, oder sind wir
nicht viebnehr verpflicbtet, wenn wir die Dogmengeschicbte
nicbt iiberhaupt sprengen -wollen, sie naeb der Theologie
des vierten Jahrbunderts zu verstehen? Die abstrakte Aus-
legung des Apostolikums nach MaUgabe der neutestament-
lichen Schriften ist lediglicb ein Rest der altkirchlicben
Vorstellung, dieses Symbol stamme von den Aposteln. Man
sagt das nicbt mebr, aber man verfabrt so; denn durch
den Hinweis, das Symbol sei ein Exzerpt aus apostobschen
Schriften, ist augenscbeinlich das Recht, bei seiner Er-
klarung von der Kirchengeschichte abzusehen, noch langst
nicht erwiesen.
8. Den eben gewonnenen Grrundsatz, das Apostolikum
ist nach den neutestamentlichen Schriften za erklaren,
■wendet D. Cremer nun sofort auf die sogenannte HoUen-
fahrt an. „Die alte Kirche hat mit der Aufnahme dieses
Zusatzes nichts andres getan als einer im Neuen Testa-
ment bezeugten Tatsache einen Ausdruck gegeben, der in
seiner objektiven, rein geschichtlichen Fassung ebensosehr
dem energischen WiUen der romischen Kirche entspricht
[aber aus dieser Kirche stammt der Zusatz nicht], aUe lehr-
haft gehaltenen antiharetischen (theologischen) Zusatze aus-
zuschlieCen, als in seinem Lapidarstil alien iibrigen Aus-
sagen volLkommen ebenbiirtig ist."
Ich hatte gehofft, daJJ D. Cremer wenigstens an diesem
exponierten Punkte einer geschichtlichen Betrachtung Raum
geben wUrde; aber auch, hier ist sie ausgetilgt. ErstUch. be-
zeugt das IsTeue Testament mindestens eine vor der Wieder-
Antwort auf die Streitschrift Oremers. 279
erweckung Cliristi gescheliene HoUenfahrt nirgends; zwei-
tens — selbst diese „Tatsaclie" vorausgesetzt — vermag
auch D. Cremer iiber sie nur zu sagen, daB der Zusatz „iii
seinem Lapidarstil alien iibrigen Aussagen volLkommen eben-
biirtig ist". Ja wenn es nur anf den Lapidarstil ankame —
dafi die Tatsache selbst alien iibrigen Aussagen ebenbiirtig
ist, scbeint auch. D. Cremer bier nicbt behaupten zu wollen.
Was geht uns dann aber die Grleichheit des Lapidarstils
an! D. Cremer fabrt fort: „Was die alte Kircbe sich. bei
dieser Aussage gedacht hat, ob sie mehr an Eph. 4, 8 — 10;
Koloss. 2, 15 (?) oder wie Rufmus daneben auch an 1. Petr.
3, 19 f.; 4, 6 gedacht hat, interessiert die Dogmenge-
schichte, uns aber insoweit, als wir bei jedem Punkte des
Bekenntnisses unterscheiden miissen zwischen der damit
beabsichtigten Reproduktion apostolischer Bezeugung von
Tatsacben und tatsachlichem Sachverhalt einerseits und
dem in der damaligen Christenheit vorhandnen Verstand-
nis andrerseits." Also die nackte Tatsache soil damals, als
der Zusatz entstand, und jetzt gelten, sie soU fiir den
Grlauben malJgebend sein — dazu eine Tatsache, die jeder
anders versteht! Und warum soU sie maCgebend sein? Hatte
wohl irgend ein evangelischer Christ sie fiir eine maC-
gebende „HeLlstatsache" gehalten, wenn es nicht eiaigen
Bischofen vor fiinfzehnhundert Jahren gefallen hatte, sie
in ihr Taufsymbol au&unehmen? Nein — diese „ Tat-
sache" wird ledigKch (und dies in evangelischen Kirchen!)
deshalb fiir maJJgebend gehalten, weil sie im ApostoHkum
steht, wobei jeder allerdings auch von Kirchen wegen die
Freiheit hat, iiber sie zu denken, wie er wiU! Ist dies evan-
gelischer Griaube und nicht vielmehr der purste Formel-
glaube, iiber den wir uns sehr erhaben diinken, wenn wir
z. B. liber die griechische Kirche mit ihrem traditionellen
Grlaubensrituabsmus urteilen? Photius wird gescholten, well
er den Abendlandem nicht nur das filioque vorwarf, sondern
es ihnen als die groBere Haresie anrechnete, daU sie am
280 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
heiligen Symbol eine Veranderung vorgenommen hatten:
sind wir denn in den evangelisclien Kirchen tansend Jahre
spater, trotzdem uns Luther wieder gelehrt, was Grlaube sei,
wirldich weiter gekommen?
9. D. Cremer liat sub 7 und 8 die Notwendigkeit einer
Umdeutnng des symboliscben Ausdrucks abgelehnt: niclits
sei umzudetiten; denn aus dem ISTeuen Testament empfange
alles seine recbte Deutung. Aber wie steht es mit der
„Auferste]iung des Fleisches"? Hier raumt D. Cremer ein:
„Der Ausdruck als soleher deckt sick nickt bloC entschieden
nickt mit der apostolischen, speziell Paulinischen Verkiin-
digung, sondern steht rein formell betrachtet im Wider-
spruch mit derselben. Die Abweichung dieses Artikels
von dem apostolischen Zeugnis notigt zu der Frage, ob
die Kirche sich dadurch in Widerspruch hat setzen woUen
mit der apostoHschen Predigt, oder ob sie unbewufit sich
in solchem "Widerspruch befunden hat." Soweit ist aUes
korrekt, und ich freue mich, daB D. Cremer den Tatbe-
stand so bestimmt zum Ausdruck gebracht hat. Er er-
klart nun die fraghchen Worte fiir einen „ungeschickten
Ausdruck" dessen, was unabweisbarer Bestandteil der
apostolischen Verkiindigung ist; sachlich liege kein AVider-
spruch vor. Im wesenthchen bin. ich hier mit ihm einig,
wenn auch nicht ganz (im zweiten Jahrliundert legte man
wixklich auf die Auferstehung des Fleisches, der Knochen
und Haut das grofite Gewicht). Doch das mag auf sich
beruhen. Nur zieht D. Cremer die Konsequenz nicht, die
er selbst aufgedeckt hat, daB der Ausdruck entweder timzu-
deuten oder zu tilgen ist.*) Allerdings verwahrt er sich
*) D. Cremer schreibt: „Die Angabe [Hamaoks] , daB viele Zeug-
nisse der altern Zeit statt Auferstehung des Fleisolies „AiTferstehung"
oder „ewiges Leben" bieten, ist nicbt korrekt." Aber diese Angabe ist
ganz korrekt. D. Cremer hat wohl an Symbole gedacht und dort die
fraglichen "Worte nicht haufig gefunden; ich aber sprach von „Zeugnisseu".
Nach dem Zusammenhang meiner Worte muBte es deutlich sein, daB
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 281
hier auch nicht ausdriioklich gegen den Gedanken einer
Umdeutung wie zu 7 imd 8. Also gibt er an diesem
Punkte docli einen gewissen Mangel des Symbols zu.
10. Das von mir liber die Himmelfabrt Ausgefiihrte
bestreitet D. Cremer S. 18 — 22. Er schreibt: „Niclit ein
Ergebnis Mstorischer Forscbung, sondern prinzipieller Eii-
tik ist es, daB die Differenzierung zu mekreren Akten
( Auferweckung , Himmelfahrt, Sitzen zur Rechten) einer
spateren Zeit angebort. Mit den neutestamentHchen Schrif-
ten — und dies ist bier die Hauptsacbe — stebt sie keines-
"wegs in Widerspruch."
DaB die Himmelfabrt mit den neutestamentbcben Sebrif-
ten „in "Widersprucb" stebe, babe icb nicbt bebauptet; aucb
die prinzipielle Kritik ware bier sebr am Platze; aber icb
babe sie nicbt angewendet. Was icb bebauptet babe, bat
D. Cremer nicbt erscbiittert, namlicb daC die Himmelfahrt
in der altesten Verkiindigung kein besondres Gbed gebiJdet
bat, und dafi es sicb auf gescbicbtbcbem Wege wabrscbein-
Hcb macben laJBt, daU sie nicbt zxir urspriinglicben Ver-
kiindigung geborte.*) Icb babe micb dafiir erstlicb auf
das Eeblen derselben in den drei ersten Evangelien, in dem
ersten Korintberbrief, in den Briefen des Klemens, Ignatius
und Polykarp und im Hirten des Hermas berufen. Hier
beanstandet D. Cremer, dafi icb die Himmelfabrt aucb im
Lukasevangelium vermisse. Er scbreibt: „DaJJ aucb der
Scbliifi des Lukasevangeliums ein spaterer Zusatz sei, bat
bis jetzt die Textgescbicbte nicbt bewiesen [babe icb aucb
nie bebauptet]. Icb vermute, dafi Hamack etwas andres
diese Zeugnisse nicht in Symbolen, sondern in den altesten Schriften
zu suohen sind.
*) loh habe micli ilbrigens so behutsam wie moglich ausgedruokt
und die ErOrtertmg dieses Punktes mit den "Worten (s. oben S. 246) be-
gonnen: „MclLt sicher zu fassen, aber dooh. nicht zu ilbergehen ist
noch eine Abweichung von der altesten Predigt, es ist die besondre
Hervorhebung der Himmelfahrt.''
282 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
im Sinne hat als textgescMclitliclie Forscliung, namlicli
Quellenforscliuiig. Oder sollte es sich um eine neue, bisher
niclit bekannt gegebene Entdeckung auf dem Gebiete der
TextgescMcbte bandeln?" Um eine alte Erkenntnis bandelt
es sich., die D. Cremer wohl inir augenbKckhch entfallen
ist. Ein BKck auf eine kritische Ausgabe des Neuen Testa-
ments, anf Tisohendorfs Octava oder auf "Westcotts und
Horts Edition, wird ihn daran erinnern, dafi die Worte in
Lnkas 24, 51 : xal dvstpEpsto eiq oupavo'v — das einzige Zeug-
rds der Himmelfahrt in diesem Evangelium — in den Ans-
gaben als spaterer Zusatz getUgt sind. Sie sind zwar re-
lativ gut bezeugt und jedenfalls sehr alt, aber da Sinaiticus
(erste Hand), viele lateinische Zeugen und Augustin sie
nicht bieten, so ist kein VerlaJJ auf sie. In Bezug auf
Paulus (1. Kor. 15) bemerkt D. Cremer: „DaJJ Paulus den,
der auferstanden und den Jiingern erschienen ist, als den
nunmehr zur Rechten Gottes Erhohten weiB, schheBt die
Entriickung des durch die Auferstehung in das Leben und
zu den Seinen Zuriickgekehrten ein, und daC diese Ent-
riickung identisch sein soil mit der Auferstehung, ist nicht
Ergebnis historischer Forschung, sondern eine Hypothese,
welche in prinzipieller Beurteilung und Kritik der Tat-
sachen der Greschichte Jesu ihre Wurzel hat." Durch diese
Bemerkung wird die Streitfrage verschoben: nicht darum
handelt es sich, was sich Paulus implicite ober explicite ge-
dacht, sondern darum, ob er die Himmelfahrt neben der Auf-
erstehung besonders erwahnt hat. Das hat er nicht getan,
und deshalb ist es eine einfache Eintragung, wenn man be-
hauptet, er miisse um eine leibliche Himmelfahrt (um diese
handelt es sich, nicht um irgend eine „ Entriickung") ge-
wuBt und diese fur eine „HeLlstatsache" gehalten haben.
Zweitens hatte ich mich auf das Zeugnis des Barnabas-
briefes berufen, der Auferstehung und Himmelfahrt auf
einen Tag verlegt. D. Cremer erwidert: jjWenn dies un-
zweifelhaft die Meinung der Stelle 15, 9 ware, so wiirde
Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 283
es eine absolut vereinzelte Annahme des Verfassers sein,
gegen die geltend gemacM werden mufi, daC nirgends im
kirchliclieii Altertum der Sonntag zugleicli als Feier der
Himmelfakrt erscheint. GescMchtlichen Wert hat diese
Notiz eben wegen ihrer Verbindung mit der Sonntagsfeier
niclit einmal als tJberbleibsel einer abweichenden Tradition. "
Demgegeniiber bemerke ich: 1. D. Cremer bat nicht ange-
geben, wie man die Stelle im Barnabasbrief anders ver-
steben kann; 2. vereinzelt ist die Nachricht nicht (s. jetzt
auch das Petrusevangelium ; noch anderes kommt in Be-
tracM), aber die Angabe der Apostelgeschichte , Jesus sei
vierzig Tage nach der Auferstehung gen Himmel gefahren,
ist vereinzelt; 3. daU im Altertum nirgends der Sonntag
als Festtag der Himmelfahrt erscheint, ware nur dann ein
nennenswertes Argument, wenn es in der altern Zeit iiber-
haupt einen Festtag der Himmelfahrt gegeben hatte. Granz
besonders verachtlich behandelt D. Cremer meinen Hinweis
darauf, daC in alten Zeugnissen achtzehn Monate zwischen
Auferstehung und Himmelfahrt gelegt werden. Er nennt
ihn „eine Mitteilung, die wie nur eine die Unkundigen zu
verbliiffen imstande ist"; denn ich hatte „es unterlassen,
dasjenige mitzuteilen, was den Wert dieser Notiz zur Ge-
nlige charakterisiert , namlich daC sie gnostischen Kreisen
entstammt und mit gnostischen Spekulationen iiber Aonen-
reihen zusammenhangt (Iren. I, 8, 2; 30, 14)"- Allein dem-
gegeniiber ist zu sagen: 1. Dafi die Angabe mit Speku-
lationen iiber Aonenreihen zusammenhangt, ist nicht er-
wiesen; 2. geschichtliche Nachrichten sind damit noch
nicht als fiir die groBe Kirche unerheblich diskreditiert,
daB wir sie in gnostischen EJreisen antreffen, am wenigsten,
wenn diese KJreise valentinianische waren; 3. daC diese
Nachricht gnostischen Kreisen entstammt, ist ungewifi, ja
unwahrscheinlich: sie findet sich namhch keineswegs nur
dort, wo D. Cremer sie angetroffen hat, namlich bei dem
Valentinschiiler Ptolemaus und den Ophiten, sondern auch
284 Erster Band, z-weite Abteilung. Aufsatze: 11.
in der „Himmelfahrt des Jesajas" (und hoclist walir-
scheinlich bei dem Valentinscliuler Herakleon). Alles, was
~D. Cremer sonst noch beibringt, um die Himmelfalirt als
einen -urspriingliclieii Bestandteil der altesten Verkiindigiing
zu erweisen, sind verstandige Erwagiangen dartiber, dafi
eine leibbaftige Auferstehung eine Himmelfalirt fordere,
und daC diese deshalb von Anfang an ein besondres Stiick
des Glaubens gebildet liaben miisse; aber D. Cremer ersetzt
damit nur das fehlende geschichtliche Zeugnis : Auferstehixag
und ErhoKung sind in der altesten einhelligen Verkiindigung
nachweisbar , nicbt aber Auferstehung und Himmelfalirt.
Die "Wolke von Zeugen aus dem ISTeuen Testament, die
mein G-egner S. 21 f. glaubt anfuhren zu diirfen, bitte icli
genau zu priifen; man wird linden, daU sie fiir die von mil'
scbarf gestellte Frage belanglos sind. Es bleibt also dabei,
daU man aus bistoriscben Griinden sich genotigt siebt, zu
erklaren: Die Himmelfahrt bat niebt wie der Kreuzestod
und die Auferstehung von Anfang an ein besondres Stiick
in der Verkiindigung von Gbristus gebildet, so gewilJ man
von Anfang an von einer Erbobung oder von einer Riick-
kebr Christi zum Vater gesprochen bat.
11. Icb komme schlieUlicb zu dem Hauptstiick, der
Geburt aus der Jungfrau. Die Art, wie D. Gremer bier
die Kontroverse gefulirt bat, kann icb nur tief bedauern.
ErstHcb will er audi bier eine historiscb-kritische Eraee
liberbaupt niebt wabi'nebmen und bat fiir das Gewissen
des Historikers keine N"acbempfindung, zweitens spielt er
die ganze Frage sofort auf das Gebiet der Gbristologie und
zwar der Praexistenz liber. Icb bin diese Weise der Pole-
mik von der grofien Zabl meiner Gegner ber gewobnt;
aber es befremdet micb, aucb D. Cremer in ibren Reiben
zu seben. Icb batte micb zu ibm eines Bessern verseben;
denn diese Verscbiebung der einfacben Eragestellung ist
bistorisch und theologisch betracbtet verwerflicb. Histo-
riscb aber ist sie doppelt verwerflicb; denn noch ist das
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 285
Urteil nicht widerlegt, daJJ die Vorstellung von der person-
lichen Praexistenz Christi und die Vorstellung der Ent-
steliung des GottessoKns aus wunderbarer Einwirkung des
teiligen G-eistes axif eine Jungfrau nrspriinglich. zwei ver-
scMedene, sich widersprechende "Uberzeugungen oder sicli
widersprechende Versnche sind, das wunderbare Wesen
Jesu zu entsclileiern. Nachtraglich kann man ja wohl
durcli dogmatisclie Kunst beide Ansckaunngen miteia-
ander vereiaigen, wie sie in der Tat bald vereinigt worden
sind; aber wie sie urspriinglich versckieden sind, so sind
sie es anck in der Sacke. Wer an der Praexistenz Ckristi
festkalt, der kann nickt glauben, dajj der Sokn G-ottes
dni'ck das Wirken des keiligen Geistes in der Jnngfrau
erst geworden sei, und wer an dieses Gewordensein durck
den keiligen Geist glaubt, der gibt damit die Praexistenz
in realistisckem Sinne preis. Aber auck wenn es anders
ware — und gesckicktkck ist es ja anders geworden — ,
wo liegt das Reckt, das Dogma von der Jungfrauenge-
burt so zu verteidigen, dafi man zur Verteidigung der Pra-
existenz liber gekt? Ick vermag kierin nur die Verkiillung
einer Sckwacke zu seken. Um das pkysiologiscke Wunder
der Jungfrauengeburt kandelt es sick beim Wortlaut des
Apostokkums, xind zuniickst um nickts andres. Mit jenem
Wunder wird eine gesckicktlicke Tatsacke bekauptet, und
solcke Tatsacken unterliegen der gesckicktlicken Kritik.
Ick versteke es daker nickt, wie D. Cremer sagen kann,
die Frage sei keine kistoriscke Frage. In "Wakrkeit kann
auck er nickt umkin, nackdem er eine langere dogmatiscke
Digression gemackt kat, auf die Frage als auf eine kisto-
riscke einzugeken. Die fiinf Griinde, die ick beigebrackt
kabe, vermag er nickt zu entkraften; denn die aUgemeine
Bemerkung: „die Menge der Griinde stekt in der Regel
in umgekekrtem Verkaltnis zu ikrer Beweiskraft," ware
eine sonderbare Entkraftung. D. Cremer ziekt sick viel-
mekr darauf zuriick, daB das „empfangen vom keiligen
286 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
Geist, geboren von der Jungfrau Maria" sachJich begriindet
sei, und dafi die Frage, aus welcher Quelle die beiden
EvangeHen dies geseh.6pft baben, fiir die Sache niclits
austrage. Wenn er sicb gegeniiber einer erzahlten ge-
schicbtlichen Tatsacbe und nocb dazu einer wunderbaren
imd nocb dazu einer solcben, deren Quelle man nicbt
kennt — icb glaube sie aUerdings zu kennen: Jesaj. 7,
14 — , wixklicb damit berubigt, daU sie „sacblicb" be-
griindet sei, und sie desbalb fiir zuverlassig binnimmt, so
laJJt sicb dazu nicbts bemerken. Docb bleibt aucb auf
diesem Standpunkte die Erage eine bistoriscbe; D. Cremer
lost nur die bistoriscbe Erage durcb eine dogmatiscbe
Erwagung, die ibm so sicber ist wie ein bistoriscbes Zeug-
nis, ja sicberer als ein solcbes. Auf diesem Wege vermag
icb ibm nicbt zu folgen.*) Hier entbiiUt sicb ein Gegen-
satz des Grlaubens, der Metbode und der Kritik, der eine
genauere Darlegung erbeiscbt. Icb versucbe sie im fol-
*) In welchem MaBe D. Cremer der bestimmten Frage, die Jung-
franengeburt betreffend, ausgewichen ist, zeigt f olgender Satz auf S. 29 :
„Sollte aber ein Ausdruck in Hamacks jilngster Schrift, was ioh. nicbt
annebme, dabin zu versteben sein, daB der Satz sempfangen vom
beiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria« in der Ve^kundig^^ng
Jesu selbst nicbt zu iinden sei, so miifiten zunacbst "Worte wie Job. 8,
58; 16,28; 17, 5 aus der Welt gescbafft werden, ebe diese Bebauptung
aufrecbt erbalten werden kOnnte.'' AUein an den drei Stellen, die
D. Cremer bier aufgefubrt bat, ist von der Jungfrauengeburt scbleobter-
dings nicbt die Eede. Die erste lautet: „Ebe denn Abrabam ward, bin
icb"; die zweite: „Icb bin vom Vater ausgegangen und gekommen in
die Welt," und die dritte: „ Vater, verklare miob bei dir selbst mit der
Klarbeit, die icb bei dir batte, ebe die Welt war." Man kann sicb
glaubig zu dem Inhalte dieser Stellen bekennen und docb die Geburt
aus der Jungfrau, die sie nicbt entbalten, dabingestellt sein lassen.
Von der Geburt obne Zutun eines Mannes spricbt Jobannes iibrigens
an einer Stelle wirklicb — D. Cremer bat diese Stelle auffallenderweise
nicbt angefilbrt. Hier faJ3t der Evangelist eine solcbe Geburt als ein
Bild und bebauptet, alle Gottes-Kinder seien so geboren (1, 13): „nicbt
von dem Gebliit, nocb von dem Willen des Fleisobes, nocb von dem
Willen eines Mannes, sondern von Gott."
Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 287
genden zu geben, nacMem icli im vorstehenden alle Ein-
wurfe widerlegt zu haben glaube, die D. Cremer gegen
meine Atisfuhrangen im einzelnen gerichtet hat.
2. Die prinzipiellen Satze D. Cremers.
Alle Nebenfragen inogeii hier beiseite bleiben. Ich
halte mich an die drei Satze D. Cremers, die ich oben auf-
gefiibrt babe, und die er selbst als den entscbeidenden In-
balt seiner Schrift bervorgeboben bat. Icb wUl dabei das
MaC der Ubereinstimmung, das zwiscben uns bestebt, be-
zeicbnen; denn sonst ist jeder Kampf frucbtlos.
1. Der erste Satz lautete: „In dem gegenwartigen
Streite um das apostoHscbe G-laubensbekenntnis bandelt es
sicb weder um neue Ergebnisse, nocb iiberbaupt um Ergeb-
nisse bistoriscber Forschung."
Dafi es sicb nicbt um neue Ergebnisse bandelt, babe
icb selbst von Anfang an ausgesprocben , und es mogen
daber aucb bier meine Arbeiten iiber das apostoHscbe Symbol
im zweiten Jabrbundert beiseite bleiben. Andre mogen
dariiber urteilen, ob sie Wertvolles entbalten. Aber um so
bestimmter muB icb es aussprecben: es bandelt sicb bei
dem Streite um Ergebnisse bistoriscber Eorscbung. Der
Streit ist auf ein andres Grebiet biniibergespielt worden,
well man es iiberbaupt nicbt zugeben wiU, daU die ge-
scbicbtbcbe Erkenntnis in der Rebgion — aucb zu ibrer
Bericbtigung — eine Rolle spielt, und es docb aucb nicbt
offen in Abrede stellen darf. Hier liegt die ganze Scbwierig-
keit unsrer gegenwartigen Situation. Bis zum acbtzebnten
Jabrbundert begriindete man die Religion aus der Uberliefe-
rung ; im acbtzebnten aus der Vernunft, in der ersten Halffce
des neunaebnten aus der Spekulation — die Grescbicbte spielte
bier Hberall letztlich nur die RoUe der Magd; denn immer
288 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
kannte man holiere Instanzen, vor denen sie zuriickzutreteii
habe. Was ein Kardinal oifen auszusprechen den Mut
hatte: „Man muB die Q-esckiclite durch das Dogma anf-
heben," das war und ist for Tausende die selbstverstand-
liche EicMscliDiu' ibres Verfahrens. Aber langsam bat sich
die Frage: „Was ist gescbicbtlicbe Wirklicbkeit gewesen?"
und die Einsicbt, daB diese Frage nur mit gescbicbtlichen
Mitteln zu beantworten ist, Bahn gebrocben. Nnn kann
man sie nicbt mebr totschlagen. So wenig die Metbode
reiner Erkenntnis der Natur durch Naturpbilosopbie ersetzt
werden kann, so wenig kann die Einsicbt, daB die Ge-
scbicbte der gescbicbtbcben Erkenntnis gebort, mebr ge-
raubt werden. Die Rebgion, sofern sie mit einer G-escbicbte
in der "Welt steht, macbt davon keine Ausnabme. Darum
sind Satze wie die: „geb6rte die Himmelfabrt Jesu der
urspriingbcben cbristbcben Verkiindigung an?", „wie sind
die Zeugnisse fiir sie bescbaffen?", „auf welcben Grundlagen
rubt die IJberlieferung, daB Jesus nicbt Josepbs Sobn ge-
wesen sei," unzweifelbaft bistoriscbe Fragen, die nur auf
bistoriscbem "Wege gelost werden konnen. Sagt die ge-
scbicbtbcbe Untersucbung — vorausgesetzt , daB sie sicb
nicbt irrt — , daB die Zeugnisse unsicber und unzureicbend
sind, so kann keine Kunst, keine Pbilosopbie, keine Dogmatik
sie sicber und zureicbend macben; denn die Fabigkeit ist
keinem Menscben geschenkt, eine Tatsacbenfrage a priori
zu entscbeiden. Der romiscbe StuM bat sicb zwar aucb
diese Fabigkeit angemaBt; aber er bat sicb iiberbaupt ins
Ubermenscbbcbe gestellt. Jene Fragen aber sind die eigent-
licben Hauptfragen in dem gegenwartigen Streit. Also
bandelt es sicb bei ibnen um bistoriscbe Fragen und bei
ibrer Beantwortung um Ergebnisse bistoriscber Forscbung.
Jede andre Antwort ist unstattbaft. Icb kann aucb nicbt
linden, daB D. Cremer wirkbcb Ernst damit macbt, jene
Fragen aus der Gescbicbte auszuweisen; denn tate er das,
so miiBte er aucb von den bibliscben Zeugnissen abseben
Antwort auf die Streitschrift Oremers. 289
Tind, wie gewisse Hegelianer, die Fakta einfach konstruieren.
Dazu hat er wolil einen scMchternen Ansatz bei der Jung-
frauengebvu-t gemacbt; aber auch niclit mehr. Also soil
letztHch doch. das geschicbtliche Zeugnis gelten, d. li. die
Greschiclite, und die Frage ist nur die, ob das Zetignis
voUgUtig ist Oder nicht. Dafi aber geschiclitliclie Zeugnisse
nur nach. einer Methode gepriift -werden konnen, und daC
eine Kritik, die ia der Mitte anbebt oder plotzlicb Halt
maclit, eine Kritik unter der Eiitik ist, wird D. Cremer
gewiB selbst bekennen.
Seiaem ersten Satze stelle icb daber den Satz gegen-
iiber: In dem gegenwartigen Streit um das apostoliscbe
Glaubensbekenntnis bandelt as sicb um das Eecbt der ge-
scbichtlichen Forscbung, in der Eircbe zugelassen und ge-
bort zu -werden. Wird dieses Recbt negiert, so wird das
Recbt der Reformation negiert; denn diese, die aus dem
Grlauben und der Kritik an der TJberlieferung geboren ist,
ware in diesem Fall eine beklagenswerte Revolution ge-
wesen.*)
2. Der Streit ist wider meine Absicbt auf das Grebiet
des Glaubens biniibergespielt word en, und icb folge dem.
Der zweite Satz D. Cremers lautet: „Denn die Frage nacb
der Person Cbristi oder die Frage, wer und was Jesus ist,
kann nimmermebr auf dem Wege und mit den Mitteln
bistoriscber Forscbung entscbieden werden."
Diesen Satz muB icb zu den gefabrlicben, balbwabren
Satzen recbnen, vor denen man siob biiten sollte. So wie
*) In den neutestamentlichen Einleitungen , in den Kommentaren
zu Matthaus und Lukas und in dem „Leben Jesu'' ist die Gesoliiclitlich.-
keit der Erzahlung von der Jungfrauengeburt unzahlig oft in den
letzten fiinfzig Jaliren bestritten worden, und es gab nicht mehr AnlaB
zu einer kirchlichen Erregung. Wenn dieselbe ErzahJung aber in An-
knilpfung an das Apostolikum bestritten wird, erbebt sich ein Sturm.
Wie soil man die Tatsacbe deuten? Soil es eine doppelte Wahrheit
geben? oder soil man in der evangeliscben TCirche die gesobiclitliche
Erkenntnis verbiillen?
Harnack, Keden and Aufsatze. I. 19
290 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
er lautet und in alien seinen Konsequenzen durclidaclit,
kann ihn nur entweder der Schwarmgeist oder der Katlio-
Hk oder ein spekulativer Religionsphilosopli (Hegelscher
Fiirbung) vertreten. Der Schwarmgeist braucM die Ge-
schiclite nicht; denn er scliopffc alles aus innerer Offen-
barung. Der Katliolik kann sie entbekren, denn er bait
sicb an das Cbristusbild , welches die Kircbe iim zeigt,
iind vertraut darauf, daC die Autoritat der Kircbe die
Wahrbeit des BUdes garantiere. Der spektdative Rebgions-
pbilosopb endlicb kann die Grescbicbte dabinten lassen, denn
wenn er die Mogbcbkeit und ITotwendigkeit der Idee der
Grottmenscbbeit konstruiert bat, ist er berubigt. Aber wir
evangeliscbe Christen braucben die Gescbichte; denn wir
wollen keinen andern Christus, nnd kein andrer kann uns
belfen, als der wirkbche, geschichtliche Christus, dessen
Wort wir noch eben vernehmen, und dessen Ziige wir in
nnser Herz aufnehmen konnen. Wir haben ihn kennen
nnd heben gelernt aus der Verkiindigung unsrer Kircbe;
aber wenn wir nun zur Miindigkeit erwachen — wem wird
die Frage erspart: WeiJJt du auch, an wen du glaubst?
und kannst du davon iiberzeugt sein, daC er so ist, wie
du ihn glaubst? Es gibt viele lautere und treue Christen,
die nie zu dieser Frage kommen: sie haben durch Christus
den Zugang zu ihreni Gott gefunden und wissen sich ge-
borgen. Aber wie stebt es mit den andern? Diirfen wir
ihnen die Frage abschneiden? und haben wir einen andern
Weg, auf den wir sie weisen konnen, als den: Forschet
seinem Selbstzeugnis nacb und priifet, was seine Zeugen
von ibm gesagt und welcbe Wirkungen sie von ibm er-
fabren haben; euer Streben, den wirkbchen Christus zu er-
fassen, ist recht und gut; erstickt es nicht durch irgend-
welche Beruhigungen und Beschwichtigungen, die ihre
Kraft doch bald wieder verberen.
Und so sollen sie Chiistus als ihren Herrn finden?
Nein, gewiU nicht. Hier weiB ich mich mit meinem Gegner
Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 291
einig, wenn er sagt: „Nicht der Mstorisclien Forschung
kommt es zu, das letzte Wort iiber Christus zu spreclieii."
Nur -wiirde ioh mich anders ausdriicken. NicKt um das
letzte Wort handelt es sich, sondern um ein gane neues
Wort. Innerhalb der gescMclitKchen Frage kann nur die
geschichtliclie Untersucliung AnfschluB geben: versagt sie,
so versagt bier iiberbaupt alles. Aber dafi dieser Christus,
wie ilm die Geschicbte vorsteUt, als mein Herr und Erloser
geglaubt und ergriffen wird, das bringt gewiJJ keine ge-
scMcbtKcbe Erkenntnis zuwege, sondern bier gilt, was
Lutber im Eingang der Erklarung des dritten Artikels
gesagt bat, und was der Apostel nocb kiirzer zusammen-
gefaUt bat: „Niemand kann Jesum einen Herrn beiCen
obne durcb den beibgen Geist." Ein Cbristenmenscb ist
ein Menscb, der die Erfabrung gemacbt bat: „An mir imd
meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Cbristus mir
gegeben, das ist der Liebe wert." Diese Erfabrung liegt
iiber aUem Zwang, den gescbicbtbcbe Erkenntnis ausiibt.
Aber, wie unsre Bekenntnisscbriften sagen, der beilige
Greist wirkt durcb das Wort, d. b. durcb die Predigt von
Cbristus. Nun ist's gewiJJ mit diesem Wort so berrlicb
bestellt, daJ3 scbon ein Strabl aus ibm einen Menscben er-
greifen und aus der Zerstreuung und dem selbstiscben
Wesen zur Umkebr und zu Grott fiibren kann. Aber die
cbristlicbe Gremeinscbaffc kann auf die Dauer nur besteben
und gesund bleiben, wenn das Wort lauter und rein ge-
predigt wird. Lauter und rein — es gab eine Zeit, in der
diese Forderung erfiillt scbien, wenn man Bibelstellen zu-
sammensteUte und sie nacb der analogia fidei erklarte.
Heute ist es nicbt mebr so. Wir baben gelernt, was G-e-
scbicbte ist und gescbicbtbcbe Zeugnisse. Desbalb bat die
Forderung, daB man auf festem Boden steben miisse, einen
andern Sinn als fruber. Wir denken beute bei planter und
rein" aucb, ja in erster linie, an „gescbicbtbcb zuverlassig" ;
sonst ist uns alles dabin. Damit sind wir wieder bei der
19*
292 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
GreschicMe und der reinen Erkenntnis der GescMclite; wir
werden sie nicM los, und sie laCt uns niclit los; denn wir
wollen nicM von unsern Gedanken oder von falscten Tat-
sachen leben, sondern von dem, was gewiiJ ist. Das ist
der Grrnnd, warum wir geschiclitliclie Kjitit iiben — auch.
aus einem entsclieidenden Interesse des Grlaubens geschielit
es. D. Prank freilich. meint, „wir scMelten angstlich. hin-
liber auf den wirklichen oder vermeintliclien Wahrbeits-
besitz der natiirlicben Erkenntnis". "Wir scbielen nicbt
bloB Mniiber, sofern er ein wirkliober ist, sondern wir fassen
ihn fest ins Auge, weil wir gewiC sind, daJ3 alle Wakrbeit,
aucb die „natiirliche", von dem Grott der Wahrbeit stanunt
nnd keine Wahrbeit nngestraft iiberbort wii'd. Auf die
merkwiirdige Vorbaltung D. Cramers aber, der „Historizis-
mus" sei nur eine andre Form der romiscben Metbode, die
alle diejenigen, die der wissenscbaftbcben Forschung nicbt
zu folgen und sie nicbt zu kontroUieren vermogen, zur
fides implicita verdamme und nur der geistigen Aristokratie
eine fides expbcita ermogbcbe; das Cbristentum sei aber
keine Rebgion fur die Aristokratie der Tbeologen, und die
Frage: was diinket eucb um Cbristo? konne von jedem,
der nur guten Willens ist, entscbieden werden — ■ erwidere
icb, daB D. Cremer auf keine "Weise den Unterscbied ver-
scbiedener Stufen cbristbcber Erkenntnis aus der "Welt
scbaffen kann, daJJ er aber bier ganz Disparates in eins
gesetzt bat. Ware die cbi-istbcbe Rebgion nicbts andres
als G-laube an eine gescbicbtHcbe Person, so batte er
freibcb recbt: der vollkommene Historiker ware der voll-
kommene Cbrist; aber sie ist Rebgion. Sie bat es desbalb
letztbcb mit nicbts andrem zu tun, als daC die Seele ibren
G-ott finde und ibn balte. Das Wort: „Du Herr bast uns
auf dicb bin gescbaffen, und unser Herz ist unrubig, bis
es Rube findet in dir", gilt von alien Menscben. Findet
ein Menscb durcb ein Wort, das ibm in die Seele fallt,
den lebendigen Gott, erlebt er in sicb durcb die Gnade
Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 293
Grottes, wie sie in der christliclien GemeinscHaft verkiindigt
wird, jene Umkehr, die ihn ans der Schuld und dem elen-
den Treiben der Welt herausfiilirt, und halt er sich nun
zu Gott als seinem Vater nnd dem Fels seines Lebens, so
ist er ein Christ, mag seine Kenntnis von Ckristus noch.
so unvoltkommen sein. Ein Religionslehrer in "Worten
wird er vieUeicht nicht sein konnen trotz seiner fides ex-
pKcita; aber sein Leben wird eine deutliche nnd kraftige
Predigt sein. In Summa: der Unterschied von fides ex-
plicita nnd impKcita wird, auf die Religionslehre gesehen,
immer bestehen bleiben; aber im evangelisctien Sinn hat
anch das kananaische Weib nicht die fides implieita, son-
dern den rechten Grlauben besessen. Aber nur der „Histori-
zismns" schiitzt unsre Kirche davor, daC ihr Glaube nicht
von Schlinggewachsen iiberwachert wird ; der einzelne
Christ, anf den verschiednen Stufen der Erkenntnis nnd
Bildung, kann auch nnter dem Schutt von hundert falschen
IJberlieferungen nnd Lehren, die er fiir wahr halt, ein
freies Grotteskind werden nnd bleiben, wie er umgekehrt,
ohne Verstandnis fiir den ganzen Reichtum religioser Er-
kenntnis, von einem Worte Gottes zn leben vermag. Dem
zweiten Satze D. Cremers stelle ich daher den Satz gegen-
iiber: Die Erage, wer nnd was Jesus ist, kann — wenn
die Jdrchliche Uberlieferung liber ihn an irgend einem
Punkte erschiittert ist — nur auf dem Wege und mit den
Mitteln historischer Eorschung festgestellt werden; aber die
tjberzeugung, daiJ dieser geschichtliche Jesus der Erloser
nnd der Herr ist, folgt nicht aus der geschichthchen Er-
kenntnis, sondern ans der Siinden- und Gotteserkenntnis,
wenn ihr Jesus Christus verkiindigt wird.
3. Der dritte Satz D. Cremers lautete: „Ist das die
eigentHche Erage, wer nnd was Christus sei, so richtet
sich nach ihrer Entscheidung auch die Kritik des Symbols."
In diesem Satz, der das Ergebnis aus den beiden ersten
zieht, wird das Symbol, das doch eine historische Urkunde
294 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: H.
ist, aus aller Zeit herausgehoben. Es soil als ein Bekenntnis
betraclitet werden, das voUstandig und rein verkiindigt,
was das Evangelium sagt, einerlei, ob das wirMicli mit
dem bistorisclien Befunde des Symbols stimmt. DalJ ich.
ein solches Verfahren geschiclitlicli nicKt fiir statthaffc halte,
habe icb bereits ausgefdhrt. Unter dieser Bedingung konnte
man sicb auch auf das Tridentinum verpflicbten lassen.
Aber diese Seite der Sacbe mag hier auf sick beniken; ick
gebe sogar zu, daiJ, solange wir nicbt ein kurzes evan-
geHsckes Bekenntnis baben, es — innerbalb des praktiscken
Grebraucbs — angezeigt ist, Lutber zu folgen und das
Symbol evangeksck zu versteben. Aber T>. Cremer mackt
von dieser kircbengesckicktlicken Erlaubnis einen sekr weit-
gekenden G-ebrauck, indem er die Praexistenz Christi als
den Hauptinkalt des Symbols ersckeinen laCt, und indem
er andrerseits den Gegnern ein bereits formukertes Symbol
untersckiebt, um mit der triumpbierenden Frage zu enden:
„"Wird man dann nock wagen zu bekennen: ick glaube an
eine Vergebung der Sunden und ein ewiges Leben?" Uber
jenes nock ein kurzes Wort; iiber das erfundene Symbol
mockte ick sckweigen, da dieses Symbol nickt meines ist.
Die Praexistenz — ick erklare zunackst offen, daJJ es
mir sckwer wird, dariiber zu sckreiben, zumal in einer
Streitsckrift. Einen Spruck, wie den: „SeHg sind di<e reines
Herzens sind; denn sie werden Gott sckauen" zu bedenken,
ist mekr wert als alle tkeologiscken Erwagungen iiber die
Praexistenz. Auck kat Jesus Ckristus nickt das Grekeimnis
seiner Person in den Mittelpunkt des Evangekums gestellt,
sondern Gott den Vater und sick selbst, wie er mensck-
kckem Auge und Okr imd mensckkckem Sinn zugangHck
war. Und die Seligkeit kat er denen zugesprocken, die
den Willen seines Vaters im Himmel tun, nackdem sie den
Vater am Sokne erkannt kaben. Dennock bin ick weit
entfernt, gering von den Gedanken zu denken, die in der
Vorstellung von der ^Praexistenz" einen Ausdruck gefunden
Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 295
haben. Sie fiihren bis in das innerste Heiligtuiii der Reli-
gion binein.
Es handelt sich bier aber nicbt um eia bistorisches
Urteil — mit der gemeinen Gescbicbte bat die Frage gar
nicbts !zu tun — , aucb nicbt nm ein Urteil aus der Region
des Verstandes, sondern um ein Urteil des G-laubens nnd
um ein Zengnis aus der Welt des innern Lebens. Schon
das Bekenntnis „Cbristus meia Herr" ist ein solcbes. Man
soil es nicbt anders auf die Lippen nebmen, als indem
man die Scbauer der Majestat Gottes und den Reicbtum
seiner Liebe empfindet, sonst ist's eine lose Rede und eine
klingende Scbelle. Icb fiible eruen beifien Scbmerz, indem
icb in Zeitungsinseraten und Massenkundgebungen die tief-
sten und bocbsten Bekenntnisse des cbristlicben Glaubens
zornig oder kaltbliitig ausgesprocben lese; denn dadurcb
werden sie profaniert: wieviel wirkbcbes cbristlicbes Leben
und wabrbaftiger Reicbtum in Gott stebt denn b inter dieser
Bewegung der Lippen? Sind die alle, die jetzt laut be-
kennen: „ wabrbaftiger Gott vom Vater ia Ewigkeit geboren
und aucb wabrbaftiger Menscb von der Jungfrau Maria
geboren", innerbcb berecbtigt, ibren Namen unter dies Be-
kenntnis zu setzen? Icb babe Manner gekannt und kenne
sie nocb, die es durften, aucb in Zeitungen durften; denn
ibr ganzes Leben war erfiillt von diesem Glauben. Aber
sollten ibrer so viele sein? Ware ein demiitiges Bekenntnis,
das wirkbcb Ausdruck des eignen innern Lebens ist, nicbt
mebr, wenn es gilt Unglauben, vermeintlicben oder wirk-
licben, zuriickzuweisen? Icb glaube bierin mit D. Cremer
nacb dem, was er S. 39 gescbrieben bat, einig zu sein.
Zur Sacbe aber mag mit der Zuruckbaltung, die ein solcbes
Wort fordert, folgendes gesagt sein: Wer an einen person-
licben Gott glaubt und in ibm lebt, der stellt nicbt nur
die Gescbicbte des eignen Lebens, sondern aucb das Stiick
Menscbb.eitsgescbicbte, das er kennt, unter dieses Licbt und
scbaut sie unter dem Gesicbtspunkte der Ewigkeit an. Er
296 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
bekennt mit dem Psalmisten: „Deme Augen sahen mich,
da ich. noch. unbereitet war," und er versteht, was der
Apostel meint, wenn er spriclit: „Von ihra und durch ilm
und zu ilini sind alle Dinge." "Wer aber Gott als seinen
Vater in Christus gefunden hat und darum Christus als
den Herrn bekennt, der ist gewiiJ, dafi Mer das Grebeunnis
entscHeiert ist, das wix an unsrer eignen Seele als Bestim-
mung ahnen, daC wir nicht in die Zeit geboren, sondern
in die Ewigkeit: wir soUen das werden, was er war und
ist, ein Menscb der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott
ist. Der Glaube an Jesus Christus kann nicht der rechte
sein, der nicht im Fortgang seiner Erkenntnis auf diese
Erkenntnis, die iiber aller „natiirhchen" Geschichte liegt,
gefuhrt wird und sie als ein teures Gut festhalt. Aber
wie unfahig sind Verstand und Phantasie, dies Geheimnis
zu fassen! Wie verschiedenartig haben es schon die alte-
sten Zeugen beschrieben, von jenem "Wort aus dem ersten
Petrusbrief an: „Der zuvor versehen ist, ehe der Welt
Grund gelegt ward," bis zu dem Johanneischen : „Im An-
fang war das Wort!" Nicht auf die Eassung kommt es
an, sondern auf die Ehrfurcht, mit der man das Geheimnis
der Person Christi umfaCt und das eigne Leben unter den
Geist Christi beugt. Er ist der Sohn Gottes, und wir
kennen ihn nur als den zu uns Gekommenen, der nicht
von uns ist, obschon er unser Bruder ist. Nicht die Natur
bindet oder trennt unter geistigen Wesen, sondern das, was
wir den innern Menschen nennen. In der Natur ist er
uns gleich; aber der Christus „nach dem Geist" ist ein
andrer als wir: unser Herr. Mehr vermag ich nicht zu
sagen; denn wer ohne Erfahrung oder Empfindung hier
etwas sagen woUte, wird zum Sophisten; ich wiU aber
gerne jedem lauschen, der mit Erfahrung und Empfindung
hier mehr zu sagen versteht. Nur dafi er uns nicht mit
einer Formel binde und meine, er habe das Ratsel gelost
nnd den absoluten Ausdruck gefunden. Es ist nicht notig,
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 297
es ist niclit moglich, daU das "Wahre, von dem unsre Seele
lebt, sicli in einer Formel verkorpere; schon gernig, wenn
es nns innerlicli ergreiffc und dauernd fiir die Ewigkeit
stimmt. Wenn eine einzige Siinde ein ganzes, reiches,
imposantes Leben zu zertriinimern vermag, nnd umgekehrt
ein StraM Gottes ein armes nnd gebrochenes Leben er-
traglich. macben, ja in Freude verwandeln kann, so ist es
gewiiJ, daC das Gute, trotz allem Scbein, der dagegen
spricbt, die Herzen und damit die "Welt regiert, nnd daiJ
das Bose das einzige tJbel ist. Jenes Griite aber ist nicbt
eine Abstraktion, sondern ist nur als personlicbes Leben
nnd personlicher Wille vorbanden. Wir abnen es in vielen
Menscben; aber aufgegangen ist es nns als eine nnd als
nnsre Wirldicbkeit in Jesus Cbristus. Eben darum stellen
wir ibn auf die Seite Grottes und nicbt auf die Seite der
Welt. Dort seben wir ibn steben, wo Gott das Weltall
anfgericbtet und die Menscbbeit gescbaffen bat, um das
Eeicb der Geister zu sicb zu fiibren.
Wem die Herrlicbkeit des cbristlicben Glaubens nicbt
aufgegangen ist, der bait das fiir eine Torbeit, und icb
farcbte, aucb mancbe von denen balten es fiir eine Torbeit,
die, wo sie ibre dogmatiscbe Formel nicbt vernebmen,
nicbts boren, als Nein oder eine grundlose Rede. Hat docb
nocb neulicb ein bervorragender ortbodoxer Tbeologe das
iibermiitige Wort wider uns ausgesprocben, unser cbrist-
licber Glaube berube auf einer „ Suggestion", da wir den
breiten scbolastiscben Untergrund verwerfen, den er teils
■iibemommen, teils mit vieler Kunst und Miibe sicb selbst
gezinunert bat. Wir lassen uns das bose Wort gefallen, wie
aucb das andre vom „Historizismus". Solange sie uns nicbt
versteben, miCversteben sie uns immer nocb am wenigsten,
wenn sie uns mit Historizismus und Suggestion scbelten.
Icb bin zu Ende — man kann in der Religion nicbt
alles sagen; denn sie ist ein Leben, und ein gutes Stuck
298 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
dieses unsers Innenlebens ist uns selber ein Greheimnis.
Ausspreclieii sollen ■wir nur, was den andern zugute kommt;
das Tiefste mussen wir fiii" uns behalten; aber Grott gebe,
daC es auf das, was wir tun, wie der mUde Schein einer
verborgnen Sonne seinen Grlanz breite. Was wir sagen
konnen, das wechselt mit den Zeitaltern in seinen Formen,
wenn auch. der Gelialt derselbe bleibt. "Wir sind eben jetzt
wieder in einer Krisis; umso angstliclier klammern sicK
viele der Besten an die Formeln. Diese Formeln mogen
bleiben, solange nocb. ein Tropfen Leben in ihnen ist; aber
das intellektualistische Zeitalter der Religion wird docL.
abgelost werden durcb ein andres, das freier sein, aber es
dem einzelnen sehwerer machen wird, dem Ernst der Reli-
gion zu entiiieKen. Unterdessen haben wir Theologen die
Aufgabe, den cbristlicben Glauben sowohl in seinen alten
Formen zu deuten und verstandlich. zu macben, als den
gebieteriscben Winken der Greschichte zu folgen und in
neuer Weise alte Wahrheit zu lebxen. In der Bemubung
um jene Aufgabe weiC ich mich mit meinem Gregner in
mancber Hinsicbt einig, wabrend ich zugleicb, wie er,
scbmerzlicb den Verzicbt empiinde, zu voller Einigkeit zu
gelangen. In solchen Stunden, wo mir die Verschiedenbeit
der religiosen Erkenntnisse und der kircblichen Ajrbeit^ das
Heer der MiBverstandnisse und das Heer widerstreitender
Gredanken auf die Seele fallt, troste icb micb mit den tief-
empfundnen Versen eines Mannes, der es achtzig Jahre
ausgebalten bat und nicbt stumpf, matt oder erbittert ge-
worden ist:
Zielm wir nun die acMzig Jahr
Durch. des Lebens Milhen,
Mussen auch im Silberhaar
Unsre Pfltlgo ziehen.
Fiihrt doch durch des Lebens Tor
Traun, so manche Gleise,
Ziehn wir einst im Engelcbor
Gebt's nach einer Weise.
ADOLF HARNACK • EEDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND . ZWEITE ABTEILUNG ^m
AUFSATZE: III
ALS DIE ZEIT ERFULLET WAR.
DER HEILAND
ErschieueiL in der: „Clmstliclien "Welt" 1899 :N'r. 51 und 1900 Nr. 2.
Als die Zeit erfiillet war.
„Dieser Tag tat der ganzen Welt ein andres Aussehen
gegeben; sie ware dem Untergang verf alien, wenn nicht
in dem mm Gebornen fur aUe Menschen ein gemeinsames
Gliick anfgestrahlt ware."
„E,iclitig urteilt, wer in diesem Grebnrtstag den Anfang
des Lebens nnd aller Lebenskrafte fiir sich. erkennt; mm
endlich. ist die Zeit vorbei, da man es bereuen muCte, ge-
boren zn sein."
„Von keinem andern Tage empfangt der etnzelne und
die Q-esamtheit soviel Griites als von diesem alien gleicb
gliicldichen Greburtstage."
„Unmoglich ist es, in gebiilirender "Weise Dank zu.
sagen fiir die so groBen "WoMtaten, welcbe dieser Tag ge-
bracM bat."
„Die Vorsekung, die iiber aUem im Leben waltet, bat
diesen Mann zum Heile der Menscben mit solcben Graben
erfiillt, daC sie ibn uns und den kommenden G-escblecbtern
als Heiland gesandt bat; aller Febde wird er ein Ende
macben imd alles berrlicb ansgestalten."
„In seiner Erscheinung sind die Hof&iungen der Vor-
fabren erfiillt; er bat nicbt nur die friibern Wobltater der
Menscbbeit samtbcb iibertroffen, sondern es ist aucb un-
moglicb, daC je ein GrroCerer kame."
„Der Geburtstag des Grottes bat fiir die Welt die an
ihn sich kniipfenden Freiidenbotscbaffcen [EvangeUen] ber-
aufgefiibrt."
302 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IH.
„Von seiner Greburt mufi eine neue Zeitreclmuiag be-
ginnen. "
Von wem wird hier gesproclien? Wer ist der Welt-
lieiland, der hier begriifit iind gefeiert wird? Der romische
Kaiser! "Wo ist so von ibm geredet worden? In der Pro-
vinz Asien! Und wann hat man ihn so verherrKcht? Um
das Jahr 9 vor Christi Geburt!
Wem sind bei diesen Woirten nicht nnsre alten Weih-
nachtsspriiche nnd -lieder eingefallen? „Das ewge licht
geht da herein, gibt der Welt einen nenen Scheia;' „Ich
lag in schweren Banden, du kommst und machst mich
los;" „Was der alten Vater Schar hochste Lust und Sehn-
sucht war." Und weiter: „Siehe ich verkiindige euch groCe
Freude, die aUem Volke widerfahren wird." „Wir singen
dir, Immanuel, du Friedefiirst" usw. Die oben mitgeteilten
Satze klingen wie Reminiszenzen aus ihn en, und doch sind
sie lange vor ihnen, lange vor unsern EvangeHen, ja noch
vor Christi G-eburt geschrieben.
DaC unter dem Kaiser Augustus in der Provinz Klein-
asien der JuHanische Kalender eingefiihrt, und daU dieses
Ereignis durch Tafeln mit Inschriften, die in den Stadten
aufgesteUt wurden, verkiindigt worden ist, wuJJte man seit
langerer Zeit. Reste solcher, von dem asiatischen Landtage
gesetzter Inschriften kannte man aus Apamea, Eumenea
und Dorylaum, aber sie waren triimmerhaft. Nun ist von der
deutschen Expedition eine fast vollstandig erhaltene grie-
chische Inschrift (84 Zeilen lang) in Priene entdeckt worden,
und Mommsen und von Wilamowitz-MoUendorff haben sie in
den MitteUungen des Kaiserhch Deutschen Archaologischen
Instituts (Athenische Abteilung) Bd. 23, Heft 3, Seite 275
bis 293 herausgegeben und bearbeitet. Die Inschrift zer-
faUt in zwei Teile. Der erste enthalt den Antrag des
Statthalters an den Landtag Asiens wegen der Kalender-
veranderung, der zweite den BeschluJl des Landtags: der
Jahresanfang und der Antrittstag fur samtliche Magistrate
Als die Zeit erfiillet war. 303
soil auf den 23. September verlegt werden, den Geburtstag
des Kaisers Augustus. Mommsen hat gezeigt, daU die In-
schrift zwischen die Jakre 11 und 2 vor Christi Geburt,
vahrsclieiTilicli aber ia das Jakr 9 faUt. Dieser Inschrift
sind die oben iibersetzten Stiicke entnormnen. Wilamowitz
bat natiirlicb die Bedeutung, die sie fiir die Q-eschicbte der
religiosen Spracbe und tnsbesondre fur die AusbOdung der
christliclien Sprache baben, sofort erkannt. Er bat dazu
eine andre Inscbrift (aus Halikarnafi) vergHcben, die sicb
jetzt im Britiscben Museum befindet (So. 994). Sie lautet:
„Da die ewige und unsterbKcbe Natur des Alls [die
Grottbeit] den Menscben das bocbste G-ut zu ibren iiber-
scbwanglicben Wobltaten bescberte, bat sie, damit tinser
Leben gliicMicb werde, den Oasar Augustus uns gebracbt,
der der Vater seines Vaterlandes, der gottbcben Roma, ist,
der vaterlicbe Zeus aber und Heiland des ganzen Menscben-
gescblecbts, dessen Vorsebung die Gebete aller nicbt nur
erfuUt, sondern aucb iibertroifen bat. Denn es erfreuen
sicb Land und Meer des Friedens; die Stadte blubn in
woblgeordnetem Zustande, in Eintracbt und in Reicbtum;
jeglicbes Grute ist in HuUe und Fiille vorbanden . . . Usw."
Der Weltbeiland, der Kaiser, bat der Welt den Frieden
gebracbt und fiibrt das goldne Zeitalter berauf ! Wilamo-
witz meint, niemand diirfe diese Rebgion in ibrer Auf-
ricbtigkeit bezweifeln:
„Wenn der Kaiser selbst den Grlauben ausgesprocben
bat: ,Gottes Gnade wird micb iu die bimmliscbe Glorie
binauffubren" (Sueton, Augustus 71), so batten die dank-
baren Asiaten diesen Glauben scbon jetzt."
Ob die Aufricbtigkeit wirkbeb so unzweifelbaffc ist,
mag dabingestellt bleiben; aber unzweifelbaft richtig ist es,
wenn Wilamowitz fortfabrt:
jj Tm Hintergrunde dieser ReHgiositat stebt die stoiscbe
„Vorsebung", die der Welt den Heiland sendet, den man
als „vaterlicben Zeus" bezeicbnet, weU er in Rom „Vater
304 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
des Vaterlands" heiUt. "Wenn vor seinem Erscliemeii die
Mensclieii im Chaos der Revolutioii*) nur wiinscliteii, niclit
geboren zu sein, so ist es jetzt eine Freude, zu leben. Und
mit der Freudenbotscliaft, den ^Evangelien" , hat der Tag
begonnen, wo der "Welt der Heiland geboren ward. DaB
diese Anschauung und dieser Ansdruck griechisch ist, daC
gerade Asien mn Christi G-eburt in diesem Grlauben lebte,
diirfte keine geringe Bedeutnng haben."
In der Tat — diese Inschrift ist fiir die Geschichte
des nChristentums" nngleich wichtiger als die meisten christ-
hchen Insehriften. Sie lehrt nns anfs neue und eindnicks-
voller als irgend ein friiheres Dokument, welchen Umfang
wir dem Satze „Als die Zeit erfiillet war" zn geben haben.
Als der Apostel Paulus seine groJJe Mission in Asien unter-
nahm, da konnte man schon seit fast zwei Menschenaltern
auf den Marktplatzen aUer bedeutendern Stadte Asiens diese
Inschrift lesen von dem Weltheiland, der erschienen sei, der
die sehnsiichtigen Wiinsehe aller erfiiUe, der dem Menschen-
geschlecht den Frieden bringe, ja das Leben erst lebens-
wert mache. Wenn wir nachmals diese Sprache als christ-
liche lesen und heute nux als christliche empfinden, so irren
wir uns: sie ist von den Grriechen gepragt und zuerst auf
den Casar Augustus gemiinzt worden. Das Ohristentum
hat sie einfach ubernommen und auf Jesus Christus iiber-
tragen. Das konnte geschehen und das durfte geschehen;
denn die rehgiose Sehnsucht hatte hier eine Tiefe, die
rehgiose Hoffnung einen Umfang, die rehgiose Sprache eine
Kraft gewonnen, die sie zum Ausdruck einer geistigen
Weltrehgion fahig machten.
Aber aUes dies war angeschlossen an den Kaiserkultus ;
er gab den Worten doch ein eudamonistisch-pohtisches G-e-
*) Ob nur an das Chaos der Eevolution zu denken ist? Ob sioli
niclit in dem Gestandnis „nun braucbt man es niobt mehr zu bereuen,
geboren zu sein", ein tiefer Pessimismus in Bezug auf das Leben iiber-
baupt ausspricbt?
Als die Zeit erfiillet war. 305
prage und liefi den Missionaren, die vom Alten Testament
und vom Evangelium her kamen, diese Religion als eine
Spottgeburt erscheinen. Paulus hat darum nirgendwo an
den Kaiserkult angekniipft, so veiiockend as sein mochte,
von ihm auszugehen, sondern an „den unbekannten G-ott".
Er hat auch jene religiose Sprache des Kaiserkultns, so
zweckmalJig es scheinen konnte, sie als G-efaB fur die
Predigt von Jesus Christus zu gebrauchen, noch nicht be-
ntitzt. Erst in den Pastoralbriefen, bei Lukas und bei Jo-
hannes zeigt sich eine Annaherung an sie. Dann gewinnt
sie die Oberhand. Aber indem man sie annahm, weil sie
in so majestatischen Hymnen den "WeltheUand feierte, be-
kampfte man um so naehdriickhcher den Kaiserkultns selbst.
Man nahm ihm die Waffen "weg; man bekampfte ibn mit
den eigenen Waffen. Der Kampf des Christentums gegen
das Heidentum war im zweiten Jahrhundert ein Kampf
gegen die Religion des Kaiser-Heilands. AJle iibrigen Reh-
gionen kamen als Eeinde eigenthch gar nicht in Betracht,
und wenn der Apokalyptiker Johannes an die Gremeinde
von Pergamum schreibt: „Ich weiC, "wo du wohnst — wo
der Thron des Satans ist", so meint er den Kaiserkult, der
in jener Stadt seinen Hauptsitz hatte. Nur ein Apologet
des zweiten Jahrhunderts, der Bischof Mehto in der klein-
asiatischen Stadt Sardes, hat sich (in einer hochst bedenk-
hchen Ausfuhrung, die uns Eusebius in seiner Kirchen-
geschichte mit Beifall aufbewahrt hat) dazu verleiten lassen,
die Verkiindigung vom Weltheiland Augustus, die auch er
in Sardes auf einer Prun kins chrif t gelesen haben wird,
friedHch mit der Predigt von Jesus Christus zu verbinden
und von der Milchschwesterschaft des Kaiserreichs und des
Christentums zu sprechen. Er hat mit Hilfe jener Inschrift,
oder einer ahnlichen, das Thema „ Augustus — Jesus Chri-
stus", das Lukas angeschlagen hatte, in einer Weise aus-
gefuhrt, die dieser weit von sich gewiesen hatte: die "Welt
hat nach diesem Bischofe zwei Heilande, die gleichzeitig
Harnack, Eeden und Aufsatze. I. ^^
306 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
erschienen sind, den Augustus und den Christus! Zum
Gliick sind iTim wenige Christen damals nocli in dieser
Richtung gefolgt.
Aber die Spraclie des Kaiserkidtus ist die ckristliclie
geworden. Wir beklagen das nicht; sonst miiCten wir sie
heute abstreifen; aber wir haben keine bessere. Oder ist's
moglicli, liberall zu der schlichten Spraclie zuriickzukehren,
die Christus selbst gesprochen hat? Vielleicht ist das
kommenden Greschlechtem beschieden. Einstweilen lemen
wir, jedem das Seine zu geben, und erkennen immer mehr,
in welchem MaJJe die G-efaUe vorbereitet waren, um das
Evangelium aufzunehmen. Aber noch mehr: das Evan-
gehum selbst steUt gleichsam nur einen neuen, entscheiden-
den Kraftpunkt dar. Das meiste von dem, was wir sonst
noch der Originahtat des Christentums zuschreiben, lag
langst teils im Judentum, teUs in der emsten reKgiosen
Arbeit der Grriechen fertig vor und wurde von der Kraft
des Evangehums einfach in Beschlag genommen. So ent-
stand das .Christentum".
Der Heiland.
In dem Meinen Aufsatz „Als die Zeit erfiillet war"
(Ohristl. "Welt 1899 Nr. 51) tabe ich auf Grund einer neu-
entdeckten Inschriffc vom Jahr 9 vor Chxisti Geburt gezeigt,
daC unsre religiose Spraehe in Bezug auf Jesus Christus
Lhre Vorbereitung auch. an der reUgiosen Spraclie der Grie-
chen gebabt hat. Genauer nocb. muJB man sagen, daiJ die
Ckristenlieit seit dem Ausgang des ersten Jahrliunderts
besonders solcbe Begriffe und "Worte bevorzugte, die ihr
sowoUl von dem Alten Testament als von den Griecben
identisch geboten wurden. Es ist namlich. eine der wicbtig-
sten rebgionsgescbicbtlicben Erkenntnisse, daC sicb im Zeit-
alter der Entstebung des Cbristentums anf der jiidiscben
nnd auf der griecbiscben Linie zablreicbe religiose Begriffe
und Ausdriicke finden, die sicb decken und also einfacb
ineinander iibergeben konnten. Diese merkwiirdige Er-
scbeinung ist zum Teil dadurcb bedingt gewesen, daC das
Griecbentum seit den Tagen Alexanders des GrolJen auf
das Judentum eingewirkt bat, nnd daB in bescbeidenen
Grenzen aucb das Umgekebrte der FaU gewesen ist. Aber
ein anderer Teil der Erscbeinungen laJJt sicb so nicbt er-
klaren; vielmebr bat die inner e Entwicklung der Religion
dort und bier dieselben Empfindungen, Erkenntnisse und
Ausdriicke bervorgerufen. Die wicbtige Aufgabe, alle diese
Begriffe nnd Worte zusammenzusteUen, um sie eiubeitlicb
zu iiberscbauen, ist bisber nocb nicbt in Angriff genommen,
gescbweige gelost. TJnd docb wird man erst dann ein
20*
308 Erster Band, zweite Abteilung. Aufgatze: IH.
siclieres Urteil liber die Originalitat nnd iiber die Anpas-
sungskraft des Evangeliums gewinnen konnen.
Der ProzeC aber, wie die altesten Christen Schritt fiir
Schxitt die religiose Spraclie der G-riecben aufgenommen
haben, laCt sich ia seiaen friiliesteii Stadien schon im Neuen
Testamente verfolgen, wenn man die alteren Schriften darin
mit den jiingeren vergleicbt. Durcbweg erkennt man, daC
Markus, Mattbaus und Paulus am wenigsten von der reli-
giosen Spracbe der Griecben beeinfluCt waren, wabrend
Lnkas, Jobannes nnd namentlicb der Verfasser der Pastoral-
briefe nnd des 2. Petrusbriefs viel starker von ibr abbangig
sind. Es ist ein neuer Beweis fiir die wunderbare Origi-
nabtat und Kraft des Paulus, daC er, obgleicb er Jabr-
zebnte unter den Grriecben wirkte, docb aus ibrer rebgiosen
Spracbe so wenig aufgenommen bat. Umgekebrt bat Lukas
den Versucb gemacbt, die ibm scbon in festen Spracb-
formen iiberbeferte evangeliscbe Gescbicbte mit scbonender
Hand spracblieb zu korrigieren und der Empiindung, der
Begriffswelt und dem Verstandnis der Griecben naber zu
bringen. Darauf ist man langst aufmerksam geworden;
in neuester Zeit aber bat namentbcb Professor Nor den in
seinem scbonen Bucbe iiber die „antike Kunstprosa" eine
Reibe vortreffbcber Beobacbtungen iiber diesen Punkt an-
gesteUt. Von ganz besonderem Interesse ist iibrigens in
dieser Ricbtung die dem Lukas eigentiimbcbe Vorgescbicbte
Jesu (Luk. 1 u. 2). Unzweifelbaffc bat er bier eiae juden-
cbristbcbe Quelle benutzt — es gibt kaum einen groCeren
Abscbnitt im Neuen Testament, der uns so „alttestament-
licb" in seiner Spracbe anmutet wie jene Kapitel — , aber
er bat es verstanden, obne das Spracbkolorit zu verwiscben,
so nacbzuerzablen, daC jene Verkiindigungs- und Geburts-
gescbicbten grade aucb den ecbten Griecben besonders
verstandbcb und erbaubcb sein mufiten.
Im folgenden wiU ich an einem Beispiele zeigen, wie
ein Wort sicb eingebiirgert bat, das fiir uns beute zum
Der Hailand. 309
eisernen Bestande der christliclien Spraclie gehort, aber
■ursprunglich. in ikr gefeUt hat — das Wort Heiland fiir
Jestis Christus.
In den Evangelien des Markus und Matthaus sucM
man es vergebens: weder im Munde Jesu noch in den Be-
ricMen der Evangelisten kommt es vor. Freilicli, wenn
Jesns dem Taufer Johannes anf dessen Frage, ob er der
Messias sei, antworten lafit: „Die Blinden sehen usw.," so
ist keine Bezeichnung fiir ihn zutreffender als die des
„Heilandes". Alleia das Wort ist nicht gebraucht. Das
ist nm so bemerkenswerter, als die griechische Ubersetzung
des Alten Testaments die Bezeichnung „Heiland" (fiir Gott
selbst) wohl kennt; erinnert sei nnr an die beruhmte Stelle
im Hiob: „Ich weiiJ, daB mein Erloser lebt." Aber unter
den vielen Bezeichnnngen des zukiinftigen Messias im
Judentum fehlt die Bezeichnung ^Henand". Darum ist sie
auch nicht in die urspriinghche evangelische Verkiindigung
gekommen.
Dagegen war bei den Griechen das Wort „Heiland"
eine sehr haufige Bezeichnung der Gotter. Urspriinglich
bedeutete es „Nothelfer" in den vielen kleinen und groJJen
Kalamitaten des Lebens. Die Dioskuren waren die „Hei-
lande" der Schiffer, der NU war der nHeiland" Agyptens;
auch Feldherrn wurden mit dem Ehrentitel „Heiland" ge-
ehrt. In dem MaBe aber als sich die Religion erweiterte
und vertiefte, bekam auch das Attribut „Heiland" fiir die
Gottheit eine weitere xmd tiefere Bedeutung: der Mensch
bedarf des Heilands iiberhaupt. Gottes hochste Kraft ist,
daC er Heiland ist; die gottliche Vorsehung ist die des
nHenandes". So bekam die uralte Formel „Zeus der Hei-
land", „Gott der Heiland", einen neuen umfassenden Sinn,
und als der irdische Gott, der Kaiser, neben den Zeus trat,
wurde auch er als Heiland, ja als Weltheiland, gefeiert.
Grund genug fiir Paulus, die Formeln „Gott der Hei-
land", „Christus der Heiland" beiseite zu lassen. Sie war
310 Erster Band, z-weite Abteilung. Aufsatze: HI.
ihin wohl nicht bezeiclmend genug. Nur z-weimal in seinen
eciten Brief en hat er das Wort jjHeiland" fiir Christns
gebrauckt, aber niclit als Name: Epheser 5, 23 und Pbi-
lipper 3, 20. Die erstere Stella diirfen wir beiseite lassen
— die Anslegung ist strittig — ; an der zweiten schreibt
er: „Unser Staatswesen ist im Himmel, von dannen wir
auch. den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten." Der
Q-egensatz ist klar: „Unser Staatswesen ist niclit das ro-
misclie Reich mit seinem Kaiser -Heiland." Weit entfernt
also, daiJ man aus unserer Stelle entnehmen diirffce, dem
Apostel sei der Ausdruck nHeiland" fiir Christus gelaufig
gewesen, folgt vielmehr umgekehrt aus ihr, daB er nur um
des G-egensatzes wiUen zu ihm gegrifFen hat.
Aber nicht lange nach der Zeit des Paulus wurde es
anders. Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe *) be-
zeichnen den Umschwung, und zwar nehmen sie sowohl
die antike (und zugleich alttestamentliche) Formel „G-ott
der Heiland" auf, als sie auch die neue Formel „ Christus
der Heiland", „ Christus, der Herr und Heiland" bilden.
Lukas bietet bereits in seiner Vorgeschichte Jesu beide; er
laflt Elisabeth (1, 47) „Gott mein Heiland" aufjubeln, und
er hat den Satz an den Anfang der heUigen Greschichte ge-
stellt (2, 11): „Euch ist heute der Heiland geboren." Der
ganze Vers ist in alien seinen Worten so gestaltet, daC er
Juden und Griechen gleich heimisch lautete — das Neue
war, dafl „ Christus der Herr ia der Stadt Davids" dieser
Heiland ist, dessen Erohbotschaft „allem Volke" gilt. Auch
in der Apostelgeschichte hat Lukas noch zweimal (5, 31;
13, 23) von dem gesprochen, „den Gott zum Eiirsten und
Heiland" erhoben hat, oder von dem ^Heiland Jesus".
In den Pastoralbriefen , so kurz sie sind, wird G-ott
selbst nicht weniger als sechsmal „Gott der Heiland" ge-
*) Diese Briefe kannen niclit von Panlus gesclirieben sein; dooh
liegen ihnen hochst wahrsolieinlicli Paulinisclie Briefzettel zu G-ruude.
Der Heiland. 311
nannt, Christ-as aber heifit viermal „unser Heiland". Eine
Stelle ist ganz besonders merkwiirdig ; denn sie lautet mit
antiker Feierlichkeit: „"Wir erwarten die herrliche Zukunft
Tinseres groBen G-ottes iind Heilandes Ckristus Jesus."
Akolich. heiUt es im 2. Petrusbrief: „Unser Grott und Hei-
land Jesus Ckristus." Dieser spate Brief ist desbalb in der
GescbiclLte der ckristKclien Spracbe wicbtig, weil er zeigt,
dai5 aucb der Ausdruck „Unser Herr und Heiland Jesus
Cbristus" bereits formeDiaft geworden ist. Er kommt in
dem kleinen Briefe nicbt weniger als viermal vor. Seitdem
ist diese Zusammenstellung eine besonders bevorzugte in
der Christenlieit geworden.
Johannes aber ist es gewesen, der die Bezeichnung
nWeltbeiland", die in der Antike auch schon bekannt war
(fiir den Kaiser), auf Cbristus iibertragen bat. Nur zwei-
mal findet sicb bei ibm das Wort ^Heiland", aber beide
Male mit dem Zusatz „der "Welt". „lsricht mebr um deiner
E,ede willen," erklaren die Samariter dem Weibe, „glauben
wir; denn wir baben nun selbst gebort und wissen, daC
dieser wakrbaftig der Heiland der "Welt ist" (Job. 4, 42).
Und 1. Job. 4, 14 beiUt es: „Wir bezeugen, dafi der Vater
den Sobn gesandt bat als Heiland der Welt."
Jesus Ckristus trat dem Kaiser, dem Weltbeiland
(auck „Sck6pfer und Heiland" wird Hadrian genannt),
gegeniiber, und es erfullte sick das Wort: „Wenn ein
starker Gewappneter seinen Palast bewakrt, so bleibt das
Seine mit Frieden. Wenn aber ein Starkerer Hber ibn
kommt und iiberwindet ikn, so nimmt er ikm seinen Har-
niscb, darauf er sick verKeJJ." Der Harnisck war die
Heilandswiirde.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG S^
AUFSATZE: IV
UBER DIE JtJNGSTEN ENTDECKUNGEN
AUF DEM GEBIETE DER ALTESTEN
KIRCHENGESCHICHTE
Erschienen in: „PreuB. JahrMcter, Band 92 (1898), Heft 2".
Ein Konig fragte einst' einen seiner Grelehrten: „Was
gibt es Neues in Ihrer Wissenscliaft?" iind erhielt darauf
dieGegenfrage: „KennenMajestat schondas Alte?" Die Ant-
wort war nicht hoflicli, aber richtig; denn von dem Alten
ist in der Wissenscliaft immer mekr zu erzahlen, als von
dem Neuen. "Wer niir dieses kennt, weiB wenig; wer aber
in dem Alten lebt, brancht sich nicht heiBbungrig auf das
Neue zn stiixzen: denn er ■weLB, daC er Jenes nicbt auslernt.
Aucb vermag nur, wer das bereits Erarbeitete beberrscht,
Neuentdecktes wirldicb zu wiirdigen. Thm werden die
neuen Funde wie friscbe Pflanzen in seinen Garten ge-
setzt; der Nenigkeitsjager bebandelt sie wie abgescbnittene
Blumen, die heute gefaUen nnd morgen scbon welk sind.
Aber die Ermittelung nener Tatsachen ist docb wie
in alien empiriscben Wissenscbaften, so ancb in der Ge-
schicbtsforscbung eine wesentUcbe Bedingang ibres Fort-
scbritts, ja die wicbtigste. Zwar mag man dariiber streiten,
ob nicbt an diesem Fortscbritt die geniale Kraft, die Dinge
nen nnd ricbtiger zu seben, einen groCeren Anteil bat.
Docb der Streit ist muUig; denn nocb immer bat in den
Wissenscbaften die zutreffendere Beurteilung und die Ent-
deckung von Tatsacben in einer gebeimnisvollen Wecbsel-
wirkung gestanden. Es ist nicbt zufaUig, dafi das „pbilo-
sophiscbe" Zeitalter der Gescbicbtsscbreibung so arm gewesen
ist in bezug auf die Erbebung neuer gescbicbtbcber Tat-
sacben. Wer den Gescbicbtsverlauf von vornberein fertig
im Kopfe bat, dem liegt an der Ermittelung der Tatsacben
wenig. Nur wer entscblossen ist, sicb von ibnen leiten zu
316 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: rV.
lassen, der findet neue, mag audi manclier blinden Henne
ein Korn bescliert werden. —
Das Studium der altesten Kirchen- und christliclieii
Literaturgeschiclite hat in imserm Jahrhundert einen macli-
tigen Aufschwimg genommen. In der ganz besonderen
Stellung dieser G-eschiclite liegt es begriindet, daJB jeder
Aufschwung der GrescMclitswissenscliaft ilir vor allem zu
gut kommt. Laufen Mer docli geschiclitliclie Interesseu
von eminenter Bedeutung zusammen. Wie bat sicb die
ckristlicbe Religion von ihren ersten palastinensiscben An-
fangen zu dem maebtigen Organismus entwickelt, der als ka-
tbobscbe Klrcbe bereits im dritten und vierten Jabrbundert
vor uns stebt und das romiscbe Reich dann in sicb auf-
genommen hat? Wie hat sich die griechische und ronaiscbe
Kultur und Literatur in die christhcb - griechische und
cbristbch - romiscbe verwandelt und in dieser rorm ihxe
letzte Ausgestaltung empfangen? Wie beschaffen ist das
rebgiose, pobtische und ■wissenscbaftbche Kapital — die
Giiter und die Ideale — gewesen, welches die alte Kixche
den jungen romanischen und germanischen Nationen iiber-
mittelt hat, aus -welcbem sich alles das entwickelte, was
wir Kultur des Mittelalters nennen? Wie ist es zu ver-
steben, daC die beiden groCen kathohscben Kirchen das
Zeitalter der Kircbenvater noch immer als ibre klassische
Zeit verebren, was schatzen sie an ihm, inwiefern ist die
Art und Kraft ihrer Frommigkeit von ibm abhangig?
Welche starken Interessen verbinden auch noch den Pro-
testantismus mit einem ganz bestimmten BUde der altesten
Kirche?
Der Schliissel zu diesen groCen Problemen liegt in der
Erforschung der alten Kirchengeschichte. Daber lafit sie
den nicht mehr los, der sicb ibr einmal ergeben hat. Wer
bier arbeitet, deckt nicht nur eine langst begrabene Ver-
gangenheit auf, sondern arbeitet an der Aufbellung einer
Grescbichte, deren Hervorbringungen unter uns noch lebendig
■fiber die iUngsten Entdookungen. 317
sind. Darin liegt der Reiz und die Gefahr. Der Kirohen-
historiker wird zum Kirchenpolitiker, er mag woUen oder
nicht; denn mag er selbst auch. nock so uninteressant seia
— den Ergebnissen seiner Arbeiten kann er das ^AktueUe"
nicM abstreifen.
Doch soil dieser G-edanke hier nictt weiter verfolgt
werden. Aucb der Versuchung will ich. widerstehen, zu
scMldern, welche Fortscbritte die Gescbicbtsschreibung der
alten Kircbe in der Neuzeit gemacbt bat und wie vieles
ibr nocb zu tun iibrig ist. Dagegen mocbte icb die Auf-
merksamkeit auf zwei erfreulicbe Tatsacben lenken, die in
engstem Zusammenbang mit dem Fortscbritt der kircben-
gescbicbtbcben Forscbung steben.
Die QueUen und Urkunden der Gescbicbte zu sammeln
und in zuverlassiger Gestalt allgemein zugangKcb zu macben,
ist die grundlegende Voraussetzung fiir alles Studium. Das
baben scbon die Gelebrten des siebzebnten Jabrbunderts ge-
■WTiCt und baben darnacb gebandelt. Ibre Arbeit ist in unserem
Jabrbundert wieder aufgenommen "worden. Die „Monumenta
Germaniae", das „Corpus Inscriptionum Graecarum", das
J, Corpus Inscriptionum Latinarum", auf dessen Grunde
Mommsen die romische Verfassungsgescbicbte scbaffen
konnte, sind die vornebmsten Zeugen fiir diese Tatigkeit.
Aber aucb der alten Kircbengescbicbte werden jetzt Samm-
lungen von abnlicber Bedeutung gescbenkt. Seit dreiUig Jab-
ren arbeitet die "Wiener Akademie der Wissenscbaffcen an der
Herausgabe der lateiniscben Kircbenvater, und jiingstbat sicb
die Berliner Akademie entscblossen, alLe griecbiscben Quellen
und Urkunden des Cbristentums von dem apostoliscben Zeit-
alter bis zum Anfang des vierten Jabrbunderts zu sammeln
und berauszugeben. Die Mittel zur Durcbfiibrung dieses
groBen Untemebmens, welcbes etwa fiirifzig Bande um-
fassen wird, flieCen aus einer Stiftung, welcbe im Jabre 1894
zu gunsten der Akademie erricbtet worden ist — der Heck-
mann-Wentzel-Stif tung. Der bocbberzigen Frau, welcbe
318 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
erkannte, daiJ auch die "Wissenscliaft den GrroBbetrieb be-
darf, luid die ikr in unbescbranktem Vertrauen die Mittel
dargeboten bat, sei aucb an dieser Stelle der warmste Dank
gesagt. Scbon baben sicb Kenner der alten Ejrcben- nnd
cbristlicben Literaturgescbicbte zusammengetan, um das
Werk wiirdig auszufiiiren, und wir diirfen boffen, daU nocb
vor Ablauf eines Menscbenalters samtbcbe Urkunden und
Quellen des altesten Cbxistentums in zweckentsprecbenden ■
Ausgaben vorliegen werden.
Vielleicbt batte die alte Kircbengescbicbte nicbt das
QMck gebabt, aus den reioben Mitteln der Stiftnng bedacbt
zu werden, wenn nicbt die zaMreicben neuen Entdeckungen,
die in den letzten 25 Jabren gemacbt worden sind, in den
weitesten KJreisen die Erkenntnis erweckt batten, daB bier
ein groBes, z. T. neues Arbeitsfeld vorbegt, und daB es
gilt, das Neue zu sammeln und mit dem Alten zu verbinden.
Einige dieser Entdeckungen baben aucb das groCere ge-
bUdete Publikum ujid die Tageszeitungen bescbaftigt; aber
wenige werden eine VorsteUung davon besitzen, in welcbem,
Umfange sicb unsere Kenntnis der altesten Kircbenge-
scbicbte seit 1873 — dieses Jabr sei als Grrenze gewablt —
vermebrt bat. Icb versucbe es im folgenden, eine Uber-
sicbt iiber diesen Zuwacbs zu geben und die neuen Funde
kurz zu cbarakterisieren. Die Ubersicbt wird lebren, daiJ
wir mit wertvoUen Entdeckungen auf dem Gebiete der al-
testen Kircbengescbicbte geradezu iiber scbiittet worden sind,
und daC die Forscber Mube baben, alles das Neue aufzu-
nebmen, was ibnen Jabr um Jabr bescbeert wird.
1. Die Epocbe, der unsere drei ersten Evangeben an-
geboren, ist in der G-escbicbte der cbristlicben Literatur
die palaontologiscbe. Von Jesus Cbristus selbst bat man
zwei Menscbenalter spater nicbts Zuverlassiges mebr zu er-
tlber die jungsten Entdeckungen. 319
zahlen gewuUt. Was nicht bis daliin iiber ihn aufgezeiclmet
■worden ist, hat als geschichtliche Urkunde keinen oder
einen sekr geringen Wert. Um so wichtiger ist es, die
authentisclie Grestalt unserer Evangelien festzustellen, deren
Text im zweiten Jatrliundert noch mannigfaltige Ver-
anderimgen erfahren hat. Unsere altesten griecMschen
Hands ckriften aber siad niclit alter als das vierte Jahr-
hundert. Um die Liicke auszufiilleii, die zwischen den Ur-
exemplaren und diesen Handsctriften Mafft, besafien wir
zwar an den alten tJbersetzungen imd an Zitaten des
zweiten und dritten Jabrhunderts eine Reihe von Hilfs-
mitteln; aber sie reicbten docb nicbt aus, um auch mir die
wicbtigsten Probleme in bezug auf die ursprunglicbe Text-
gestalt der Evangelien sicber zu entscbeiden. Jetzt sind
diese HOfsmittel durcb zwei bedentende Entdeckungen in
•willkommenster Weise vermebrt worden: die eine kam aus
Armenien, die andere vom Berge Sinai.
Die Kunde, daJJ ungefabr um das Jabr 170 ein aus
Syrien stammender Griecbe, namens Tatian, aus unseren
vier Evangelien eine Evangehenbarmonie, d. b. eine evan-
geliscbe Scbrift, zusammengesteUt bat, ist in der Kircbe
nie untergegangen; aber die Scbrift selbst besaC man nicbt.
Da wurde nacbgewiesen, daU ein in armeniscber tJber-
setzung existierender Kommentar des Syrers Epbraem zu
den Evangelien zu seiner Q-rundlage nicbt unsere vier
Evangelien, sondem eben jenes Werk des Tatian babe.
Aus diesem Kommentar belJ sicb also — wenn aucb nicbt
vollkommen, so docb brucbstiickweise — der Evangebentext
ermitteln, wie er dem Tatian um das Jabr 170 vorgelegen
hat. Freihcb muBte man das Armenische erst in das
Syrische zuriickiibersetzen und dann auf den griechischen
Urtext scblieJJen. Dieses Verfabren macbte es an vielen
Stellen unmogUch, die Details des Urtextes zu ermitteln;
aber dennoch ist der Ertrag der neuen Entdeckung ein
sebr bedeutender gewesen. An zablreichen und zwar her-
320 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
vorragend wich.tigeii Stellen konnen wir jetzt mit Be-
stimmtlieit sagen: so lautete in der Zeit Mark Aurels der
evangelische Text, den Tatian gelesen hat. Aber noch
wertvoller war der Fund, den wir einer gelehrten schottisclien
Dame, Mrs. Lewis, verdanken. Sie fand im Jahre 1892
in dem Kloster der heiligen Katharina anf dem Berge Sinai
— dort, wo einst Tischendorf den berukmten griecMsclien
Bibelkodex entdeckt hat — eine um das Jahr 400 her-
gestellte syrische Handschrift, welche die vier Evangelien
enthalt und aus einem griechischen Original iibersetzt ist,
das schwerlich jiinger ist als das zweite Jahrhundert. Da
der Text fast vollstandig erhalten ist, so ist dieser Syrus
Sinaiticus einer der wichtigsten, ja hochst wahrscheinhch
iiberhanpt der wichtigste Zeuge fur unsere Evangelien,
und Merx hat recht getan, ihn in einer genauen deutschen
Ubersetzung weitesten Kreisen zuganglich zu machen.*)
Wer die Evangelien in dieser Glestalt liest, hat sie so vor
sich, wie sie Christen vor 1700 Jahren gelesen haben. Be-
merkenswert ist, daU der Text des Tatian mit diesem Text
aufs Innigste verwandt ist, und daB beide Texte die wesent-
liche Unversehrtheit unserer Evangehen seit der Zeit Mark
Aurels beweisen. Allerdings bezeugen sie auch, dafi unsere
altesten griechischen Texte des vierten Jahrhunderts in
Einzelheiten nicht das unbedingte Vertrauen verdienen, das
man ihnen als den altesten Originalzeugen noch immer
schenkt. An einigen wichtigen evangehschen Stellen, in
denen der authentische Text zweifelhaft ist, bringt auch
der neue Zeuge keine Entscheidung. So bietet er am SchluiJ
der Q-enealogie Jesu (Matth. 1, 16) die merkwiirdige Fassung:
„ Jakob erzeugte den Joseph, Joseph, dem Maria, die Jung-
frau, verlobt war, erzeugte Jesum, der Messias genannt
wird." DaB das nicht das Urspriingliche ist, sondern be-
*) Merx, Die vier kanonisohen Evangelien nacli ihrem altesten
bekannten Texte. Berlin, Georg Reimer. 1897.
tjber die jttngsten Entdeckimgen. 321
reits eine Korrektur, ist sehr wahxsclieinlicli; aber der
widerspruchsvolle Test letrt, dalJ hier eine Stelle vorliegt,
deren -uxspriingliclie Fassung sehr bald einen AnstoJB ge-
boten bat.
Ein qualendes Ratsel der Evangelienforsdiung bietet
der ScMuB des Markusevangeliums. DaB Markus selbst die
Scblufiverse 9 — 20 nicht geschrieben hat, steht fest — denn
sie fehlen in den besten Handschxiften, auch in dem Syrus
SinaiticTis — , dafi er sein Evangelium nicht mit Kapitel 16,
8 geschlossen hat, ist sehr wahrscheinlich. Wer hat den
echten SchlulJ weggeschnitten und den neuen hinzugefiigt?
"Warxmi, -wann und wo ist es geschehen? Auf diese Fragen
Hefi sich bisher aus auCeren und inneren Griinden ant-
worten, dafi die Manipulation bereits im Anfange des
zweiten Jahrhunderts vorgenommen sein mufi, dafi sie nach
Kleinasien weist und dafi vermutlich die Absicht, statt
galilaischer Erscheinungen des Auferstandenen jerusale-
mische zu setzen, das Motiv des Eingriffs gewesen ist.
ifun wurde vor ein paar Jahren eine armenische Bibel-
handschrift gefunden, in welcher das Markusevangelium
auch mit Kapitel 16, 8 schliefit. Dann aber folgt eine
neue TJberschrift, als beginne ein neues Evangehum; sie
lautet „Von dem Presbyter Ariston", und nun liest man
die Verse 9 — 20. Diesen Ariston (Aiistion) kennen wir als
einen Herrnschiiler, der lange — wahrscheinlich in EHein-
asien — gelebt hat und am Anfang des zweiten Jahr-
hunderts von dem phiygischen Bischof Papias zusammen
mit dem Presbyter Johannes als eine Autoritat fiir die
evangehsche Greschichte genannt wird. Der unechte Markus-
schlufi hat also in dieser armenischen Handschrift eine
historische Etikette erhalten, gegen deren Richtigkeit sich
nichts Stichhaltiges einwenden lafit, und die es gestattet,
die Mutmafiungen sicherer auszusprechen, die man iiber
den Ursprung des merkwurdigen Schlusses gehegt hat.
Ein Forscher, Resch, hat es sich zur Lebensaufgabe
Harnack, Keden und Aufsatze. I. 21
322 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
gesetzt, aus der tJberlieferung der JaKrliuiiderte Spriiche
Jesu zu sammeln, die niclit in unserem Evangelium stehen.
Mit dem hoclisteii FleiGe hat er in den Bibliotheken ge-
sucht Tind gesammelt und ein stattliclies Material zusammen-
gebracht. Probehaltig in dem Sinne, daU wirklicli zuver-
lassige Herrnworte gewonnen waren, ist fast nichts; doch
ein halbes Dutzend oder ein Dutzend mag immerhin gelten.
Aber auch. nur ein Wort ist ein Glewinn, welclies die auf-
opfemdste Arbeit lohnt, und manclie niclit authentische
Spriiche sind aus dem Gleiste Jesu oder aus der Liebe zu
ilim geboren, groB gedacbt und zart empfunden. Die um-
fangreiche Sammlung, die Resell vorgelegt bat, ist doch
ein eigentumliches Denkmal der Qeschichte Jesu in der
Kirche, und die Tatsache, dai3 sich in den Spriichen dog-
matische Ausfiihrungen so gut wie gar nicht finden, ist
ein schoner Beweis dafiir, daC die Legende in der Regel
die Eigenart der Rede Jesu festgehalten und ihn selbst
nicht in die dogmatischen Kampfe herabgezogen hat.
Aber nicht nur die Bibhotheken haben hier Material
gehefert. In einer groiJen Sammlung von agyptischen Pa-
pyrus, die nach Wien gekommen ist, fand Bickell einen
Fetzen, nicht groBer als eine halbe Visitenkarte ; aber er
enthielt enggeschriebene kostbare Worte. Das Gresprach
Jesu mit Petrus, in welchem diesem seine Verleugnung vor-
hergesagt wird (Mark. 14, 26 — 30), ist auf ibm verzeichnet,
und zwar in einer kiirzeren und altertiimKcheren Form,
als in unseren Evangehen. Der Papyrus stammt aus dem
zweiten oder dritten Jahrhundert, und es ist schwer glaub-
hch, daC man eine bloBe Verkiirzung des Markustextes an-
zunehmen hat; vielmehr liegt hier wohl die alteste Fassung
vor, in welcher diese G-eschichte aufgezeichnet worden ist.
Jiingst aber ist in Agypten von Grenfell und Hunt ein
zweiter, groJJerer Papyrus mit Herrnworten gefunden worden.
Zwar die erste Nachricht, dafi damit das Bruchstiick einer
Quehe unserer Evangehen entdeckt worden sei, bestatigte
tjber die jiiiigsten Entdeckungen. 323
sich nicM: der Inlialt der Spriiche zeigte, daU sie einer se-
kimdareii Tradition entstammen; aber es ist dock etwas ganz
Neues, was uns hier geschenkt -worden ist — das Fragment
einer Sammlung von SprHchen Jesu aus dem zweiten oder
dritten Jahrliiindert, in der oline Zusammenhang Spruch
an Spruch (ein jeder eingefiihrt durch. „Jesns spriclit") ge-
gereiht war. Unter ihnen decken sich. einige fast ganz mit
den kanonischen Spriichen; andere aber sind neu, und
wenn sie anch nicht znverlassig sind, so sind sie doch
ernsthaft imd tief nnd zeigen, wie sich die altesten Christen
das Selbstzetignis und die sittlichen Grebote Christi ver-
deutlicht und eingepragt haben.
Die Kritik konnte es wahrscheinlich machen, daB diese
Spriiche samtlich oder zu einem Teile einem sehr alten
EvangeKum entstammen, dem Agypterevangehum , das im
zweiten und dritten Jahrhundert ein gewisses Ansehen ge-
nossen hat, jetzt aber bis auf wenige Bruchstiicke verloren
ist. Die Hoffnung, daB es in Agypten wieder aufgefunden
werden wird, ist nicht aufzugeben. Unterdessen haben wir
von dort im Jahxe 1892 ein groBes, zusammenhangendes
Bruchstiick einer anderen alten, fiir immer verloren ge-
glaubten EvangeKenschrift erhalten, die der ersten Halfte
des zweiten Jahrhunderts angehort — des Petrusevan-
geliums. Dieser Fund — wir verdanken ihn Bouriant —
war ein wirkhches Ereignis auf dem G-ebiete der urchrist-
hchen Literatur. Denn seit dem dritten Jahrhundert hat
die abendlandische Kirche auBer jungen und geschichthch
wertlosen apokryphen „Evangelien" nichts Neues mehr zur
Kenntnis bekommen, was sich auf die Leidens- und Aui-
erstehungsgeschichte Jesu bezieht. Das uns geschenkte
Bruchstiick des Petrusevangeliums enthalt aber in zu-
sammenhangender Darstellung einen Bericht iiber dieso
Vorgange. Es ist den meisten Lesern bekannt; denn es
ist seiner Zeit iiberall iiber den Inhalt berichtet worden.
Das PetrusevangeKum, wenn es auch unseren Evangehen
21*
324 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
gegeniiber in manclier Hinsiclit sekundar ist , erzahlt
doch noch. die GrescMchte Jesu ganz in ikrem Stile und
darf dalier zur ckristlichen Urliteratur gereclinet warden.
Aiich. ist es keineswegs wakrsclieialicli, daC es ledigKch
eine NacherzaKlung oder ein Anszug ist, vielmehr muJJ es
als ein selbstandiger, spaterer Zweig der alten EvangeKen-
literatnr betrachtet werden und zeigt sieb in eiazelnen
Ziigen ibnen ebenbiirtig. Leider bricbt es gerade dort ab,
wo wir berecbtigt sind, die wicbtigsten Anfschliisse von
ibm zu erwarten; denn es stebt fest, daU es keine Er-
scbeianngen Jesu in Jerusalem erzablt bat, sondern nur
von solcben in G-ablaa wuCte. Aber eben dort, wo der
Bericbt uber die erste Erscbeinung — und zwar vor Petrus
und einigen anderen Jiingern — beginnt, bat ein neidiscbes
Grescbick uns die Eortsetzung vorentbalten.
Nicbts ist in der urcbristbcben tlberbeferung, und da-
ber aucb in den kanoniscben Evangelien, so abweicbend
erzablt als die Erscbeinungen Jesu nacb der Konstatierung
des leeren Grrabes. Ort, Zeit, Personen, Zabl der Erscbei-
nungen — aUes ist verscbieden, und daber ist das, was
wirkbcb gescbeben ist, und wie es gescbeben ist, sicber
iiberbaupt niobt mebr zu ermitteln. Zu den bisber be-
kannten Bericbten bat Karl Scbmidt jiingst in einer
alten koptiscben Handscbrift einen neuen gefunden, der
wabrscbeiolicb der ersten Halfte des zweiten Jabrbunderts
angebort und scbon desbalb zur Urliteratur gerecbnet
werden muB, weil er sicb an keines der kanoniscben Evan-
gelien bindet und die Jiinger in der ersten Person er-
zablen laBt. Er ist dem unecbten ScbluB des Markus am
meisten verwandt; aber er lafit den Herrn zuerst den
Frauen erscbeiaen und erzablt aucb, Petrus babe seine
Finger in die Nagelmale Jesu gelegt, Tbomas in den
Lanzensticb an der Seite. So scbwankend waren nocb
diese Bericbte. Erst nacb der Kanonisierung der vier
Evangelien ist der FluB der Legendenbildung zum Steben
trber die jiingsteu Entdeckungen. 325
gekommen. Dieselbe Handschrift, in welcher Sclimidt diese
neue Relation der Ersclieinungen Jesu ermittelt hat, ent-
halt auch einen unbekannten Parallelbericht zu der Ge-
sdiicMe von dem gefangenen Petrus (Apostelgesch. 12).
Das filhrt uns zu dem apostolischen und nachapostolisclien
Zeitalter Mniiber.
2. Fiir das Zeitalter der Apostel itn engeren Siane
des "Wortes liaben wir neue Quellen nicM erlialten, wolil
aber fiir die Zeit von ca. 90 — 160 n. Ckr., und auBerdem
ist unser Schatz von altesten, noch dem zweiten Jahrbundert
(oder dem Anfang des dritten) angeborenden Apostel-
Legenden sebr bedeutend vermehrt worden. Diese Legen-
den aber sind fiir die Kenntnis der Interessen der Zeit, in
der sie verfaUt sind, eine Quelle ersten Ranges.
An der Spitze der Entdeckungen steht der Eund des
griecbisclien Erzbischofs Bryennios. In einer Konstanti-
nopolitaner Handschrift (sie befindet sich jetzt in Jerusalem)
des elften Jahrhunderts fand er eine bisher ganz unbe-
kannte altchristhche Schrift und zwei andere, die nur zum
Teil bekannt waren. Jene, „Die Lehre der zwolf Apostel",
in der ersten Halfte des zweiten Jahrhimderts verfaJJt,
stellt eine Art von Katechismus dar; aber nicht einen
Katechismus der Lehre, sondem ein kurzes Handbuch fiir
das christliche Leben in seinen privaten, sozialen und kul-
tischen Beziehungen. Eben die Absicht des Verfassers, alles
Besondere zu vermeiden und nur die groBen Grrundziige der
christKchen Lebenspraxis in Eorm von Normen zusammen-
zufassen, gibt dem Biichlein einen einzigartigen Wert als
historischer Quelle; zugleich aber erwies es sich als die
"Wurzel einer weit verzweigten pseudapostolischen kirchen-
rechthchen Literatur, die bis in das Mittelalter hineinreicht.
Schon der Entdecker selbst konnte dies an zwei groJJen
Beispielen schlagend nachweisen; von Grebhardt gelang
es, das Bruchstiick einer lateinischen tjbersetzung aufzu-
finden, und seitdem sind zaUreiche Umformungen und Be-
326 Erster Band, zweite Abteiluug. Aufsatze: IV.
arbeitungen der Meinen Schrift ans Licht getreten. Fur
viele Probleme der GrescMclite der Mrchliohen Gresetzgebung
hat dieser Fund den ScMiissel geboten, und nocb ist aiigen-
scbeinlich seine Bedeutung nicht erschopft. — Die beiden
Schriften, die erst durcb Bryennios vollstandig bekannt
geworden sind, bieten aucli ein besonderes Interesse. Das
alteste und vornekmste Schreiben einer cbristlichen Gremeinde
an eine andere, der Brief der Gremeinde von Rom an die
Korintber aus der Endzeit Domitians, war nocb vor drei-
undzwanzig Jahren nur unvollstandig bekannt. Nur eine
einzige Handscbrift, und zwar eine Bibelbandschrift, bot
es, aber der SchluB fehlte. Bryennios entdeckte es zuerst
vollstandig in jenem Manuskript, welcbes die Apostellebre
enthalt; bald darauf wurde es in der Bibliotbek des ver-
storbenen Pariser Gelebrten Mohl syriscb gefuuden, und
endlicb zog es Morin aus einer belgiscben Handscbrift
lateiniscb ans Licbt. Der nun erst bekannt gewordene
ScUuiJ ist desbalb so wicbtig, wed er zeigt, daU das groBe
sonntaglicbe Kircbengebet, wie es beute nocb in den moisten
Kircben im Grebraucb ist, in seinen Grrundziigen, ja aucb
in gewissen Detads, bereits am Ende des ersten Jabrbunderts
entworfen war. Das andere Scbreiben aber — man zitiert
es gewobnlicb als zweiten Brief des Clemens — , welcbes
ebenfalls nun erst vollstandig ans Licbt trat, ist die alteste
cbristHcbe Predigt, die wir besitzen. Es lebrt uns, wie
man bald nacb der Mitte des zweiten Jabrbunderts in Rom
im Sonntagsgottesdienst gepredigt bat, und ist das wicbtigste
Dokument, um festzustellen , mit welcben Mitteln die Gre-
meinde von ihren berufenen Grcistlicben damals erbaut
worden ist.
Diese drei Scbriftstiicke, die beiden Clemensbriefe und
die „ Apostellebre", baben ein paar Jabrbunderte bindurcb
in einigen Kircbenprovinzen beim ISTeuen Testamente ge-
standen. Die Grescbicbte desselben und seiner bestimmten
Umgrenzung und Uniformierung ist in den letzten zwei
■fiber die jungsten Entdeoknngen. 327
Jalirzelinten besonders eifrig studiert worden, und dabei
sind viele neue Tatsachen ans Licht getreten. Mommsen
fand in einer engliscliGn und einer Sanktgallener Handsckriffc
ein Verzeichnis der Sckriften des neuen Testaments, wie
dasselbe um die Mitte des 4. Jahrbunderts , kurz vor
dem AbschlnJJ durcli Hieronymus und Augustin, im Abend-
land gelesen wurde. De Boor konnte in einem byzanti-
niscben, in England befindbchen Kodex ein paar neue
Fragmente aus der Schrift des Papias naobweisen. Diese
bis auf Heine, aber bocbst wertvoUe Brucbstiicke verlorene
Scbrift entbielt die alteste Auslegung der Evangeben und
ist fiir die EntstebungsgescMcbte des Neuen Testaments
und fiir die Jobannes-Frage von besonderer Bedeutung.
Durcb eines der von De Boor entdeckten Fragmente ist
es deutUcb geworden, dafi sie nicbt scbon der Zeit Hadri-
ans, sondern der der Antonine angebort. Vor allem aber
sind zwei Scbriftstiicke entdeckt worden, die man bisber
fast nur dem Namen nocb gekannt batte und die docb
einst in mebreren Landeskircben ein bobes, fast kanoniscbes
Anseben genossen baben — die „Apokalypse des Petrus'
und „die Akten des Paulus".
Die apokalyptiscbe Literatur der alten Earcbe verdient
eine besondere Aufmerksamkeit; denn nicbt nur verbindet
sie das Obristentum mit seinen jiidiscben TJrspriingen —
die meisten Apokalypsen sind jiidiscb und von den Ckristen
einfacb iibernommen — , sondern es treten aucb in ibr
Stimmungen und Tendenzen deutbcb bervor, die weitver-
breitet waren, aber in der offentlicben Lebre zuriickgedrangt
und zuletzt durcb sie nabezu ausgetilgt -worden sind. Es
ist daber wobl begreiflicb, daiJ ein engbscber Gelebrter,
James, es sicb zur Lebensaufgabe gesetzt bat, alle Reste
jener Literatur aufzuspiiren und zu sammeln. Durcb seine
Bemiibungen und die Anderer ist unsere Kenntnis dieser
Apokalypsen sebr vermebrt worden. Namentbch aus slavi-
scber und aus agyptiscber Uberbeferung baben wir N"eues
328 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
erhalten: in A VTimim in Agypten wurde von Bonriant
ein groCes Bruclistuck der alten Henoch-Apokalypse
grieclxiscli gefiinden, jenes Oifenbarungsbuclies, welctes im
Judasbrief als eine Autoritat zitiert wird; ein anderes
HenodLbuch. ist in altslaviscber Spraebe entdeckt und von
Bonwetseh mitgeteilt worden; ans derselben tJberlieferung
stanunt ein neues Barucbbuch; die alte, besonders "wertvolle
Elias-Apokalypse ist koptisch aufgefunden nnd wird —
vielleicbt zusammen mit einem Fragment einer Sopbonias-
Apokalypse — demnacbst von Steindorff veroffentKcbt
werden; das Brucbstiick einer interessanten Moses-Apoka-
lypse bat Karl Scbmidt berausgegeben. Aber am wicbtig-
sten war die Anffindung eines groCen Fragments der Petrus-
Apokalypse; es wnrde in einem Grrabe in Akbmim entdeckt,
und zwar in derselben Handscbrift, die das Petrusevangelimn
(s. o.) entbalt. Die Petrusapokalypse, die freilicb ebenso-
wenig von dem Apostel berrubrt, wie das Evangebnm, ist
ein nraltes cbristbcbes Bucb, welcbes in Rom und Agypten
zeitweibg ein abniicbes Anseben genoB wie die Jobannes-
Apokalypse, aber inbaltlicb tief unter ibr stebt. Der Ver-
fasser erzablt, wie er in den Himmel nnd in die Holle ge-
fiibrt worden ist, um die Sebgkeit der Grerecbten und die
Qualen der Siinder zu scbauen. Von diesem Bucbe lauft
eine feste Kette der TJberbeferung bis zu Dantes groBem
"Werk; aber sie steigt nocb binter der Petrus-Apokalypse
weit binauf; denn das Tbema der Scbilderung der Unter-
welt mit ibren Strafen ist scbon in vorcbristbcber Zeit
den Grriecben, ja den Babyloniern bekannt gewesen.
Mit der Entdeckung der „Akten des Paulus", die von
der kanoniscben Apostelgescbicbte ganz verscbieden sind,
bat es eine eigentiimliche Bewandtnis. Von diesem Werk,
welcbes seit dem Anfang des 3. Jabrbunderts zitiert wird,
war bis vor kurzem nur der Umfang bekannt, dazu ein
paar kleine unbedeutende Fragmente. Nur vermuten konnte
naan, daC zabbreicbe Paulus -Legenden, die seit Alters
tjber die jtlngsten Entdeckungen. 329
in der Earche mnliefen, ihre Wurzel an diesem Buche
haben, bez. zu Dim gehoren. In den alten armenischen
Bibebi steht nnn neben den zwei bekannten Briefen
des Paulns an die Koriather nock ein dritter als Antwort
anf ein, ebenfalls in das armenische Neue Testament auf-
genommenes Scbreiben der Korintber an den Apostel.
Beide Briefe sind durcb ein Meiaes Erzablungsstiick mit-
einander verbunden. Der Briefwecbsel ist jedenfalls nn-
ecbt; aber als die Tatsache seiner Existenz — nnd zwar
in Bibeln! — im 17. Jahrhundert den abendlandiscben
G-elekrten bekannt wurde, muCte sie notwendig Anfseben
erregen. Mocbte der Brief des Panlus nnn ecbt oder un-
ecbt seia — in beiden Fallen war die Sacbe beunmliigend.
Ist er ecbt, wie konnte er in alien nicbt armeniscben Bibeln
feblen; ist er nnecbt, wie konnte es Grott zulassen, dalJ ein
falscber Paulnsbrief in Bibeln Aufnabme gefimden bat!
Der gelebrte Berbner Bibbotbekar La Croze vermutete
scbarfsinnig, der falscbe Briefwecbsel babe urspriingbcb
in den verlorenen „Akten des Panlus" gestanden nnd sei
von dort zn den Armeniern gelangt. Aber man beacbtete
diese Hypotbese kanm. Da wurde in unseren Tagen nacb-
gewiesen, daiJ ancb die alte syriscbe Kircbe im 4. und
5. Jabrbundert den Briefwecbsel in ibrem ISTeuen Testament
gebabt bat; ihr berubmtester Exeget, Epbraem, bat ibn in
seinem grofien Konmientar zu den pauliniscben Briefen
mit ansgelegt. Die armeniscbe Kircbe stand nun nicbt
mebr aUein; aucb die syriscbe bat diese Korrespondenz
einst nnter ibren beiligen Sebriften besessen; sie bat sicb
nur friiber als jene davon iiberzeugt, dafi sie nnecbt sei,
und sie wieder ausgescbieden. Kanm war diese Tatsacbe
bekannt geworden, die die Annabme zerstorte, die Korre-
spondenz sei ein Erzeugnis der armeniscben Kircbe, da
pubbzierten die beiden franzosiscben Grelebrten Carriere
und Berger eine alte lateiniscbe Ubersetzung derselben.
Sie batte sicb in einer Bibelbandscbrift des 10. Jabr-
330 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
hunderts in Mailand gefunden, und bald darauf gelang es
Bratke, ein zweites Exemplar in einer Bibel zu Laon
nachzuweisen. Also in Armenien, in Syrien und in den
Sprengeln von MaUand und Laon war der falsche Ko-
rintherbrief des Paulus nachgewiesen, aber nirgendwo auf
griechiscliem Grebiet! Trotzdem nahm Zabn die Hypotbese
La Crozes wieder auf, daiJ die Korrespondenz aus den
griechiscb-geschriebenen „Akten des Paulus" stamme, und
er hat Recbt bebalten; denn vor wenigen Monaten wies
Karl Scbmidt nacb, dafi ein groBes Konvolut von kop-
tischen Papyrus-Fragmenten aus Agypten, das nacb Hei-
delberg gekommen war, Reste der verlorenen Paulusakten
entbalte — er entdeckte die Unterscbrift „Akten des Pau-
lus" — , und mitten unter diesen Bruchstiicken fand sicb
als ein Bestandteil derselben die falscbe Korrespondenz
des Paulus mit den Korinthern!
Damit war festgesteUt, dafi die Falscbung nicbt jiinger
ist als die Zeit Mark Aurels; denn spater kann man die
„Akten des Paulus" nicbt ansetzen. Der Briefwecbsel bat
durcb diese Datierung einen boben Wert erbalten; denn er
zeigt nun, wie man sicb in der Cbristenbeit den Apostel
Paulus bundert Jabi'e nacb seinem Tode gedacbt bat. Er
ist bier als der Bekampfer des Glnostizismus vorgestelLt,
des scblimmsten inneren Feindes, den die sicb zum. Katbo-
bzismus entwickelnde Earcbe des zweiten Jabrbunderts be-
sessen bat. Aber nocb ein Anderes baben wir durcb
Scbmidts Entdeckung gelernt, nambcb, dafi eine Reibe
von Pauluslegenden , die in zablreicben Verbreitungen und
Verastelungen in der alten Kircbe und im Mittelalter be-
kannt waren, ebenfalls aus den „ Paulusakten stammen und
somit scbon dem zweiten Jabrbundert angeboren. Das
gilt vor allem von jener anmutig erzablten NoveUe „ Pau-
lus und Tbekla", die, langst bekannt, docb als ein Ratsel
vor uns stand; denn aucb sie ist jetzt von Scbmidt als
ein Bestandteil der alten „Paulusakten" nacbgewiesen. Ibr
tjber die jiingsten Entdeckuiigen. 331
Verfasser, ein Meinasiatischer Presbyter, war ein Fabulist,
der unbekummert um gescMchtliche Wahrbeit, aber nicbt
obne Talent, Paulusgeschicbten einfacb erfunden bat, um
den Apostel zu verberrlicben und zeitgenossiscbe Gregner
zu bekampfen. Den Rabmen seiner Erzablungen entnabm
er teUs den neutestamentlicben Scbriffcen, teils der Zeitge-
scbicbte, obne sicb um Anacbronismen und andere Ver-
stoJJe Sorge zu macben. Namentlicb den vornebmen cbrist-
licben Frauen sucbte er zu gefallen, indem er ibren Anteil
an der Ausbreitung des Evangeliums, der ja wirkbcb nicbt
gering gewesen ist, steigerte und sie in die innigsten per-
sonlicben Beziebungen zu dem groCen Heidenapostel setzte.
Fiir das Ideal der Virginitat scbwarmte er, wie spater der
cbristlicbe NoveUist Hieronymus, und er weiB aucb scbon
wie dieser, den platoniscben Beziebungen Reiz und Farbe
zu geben. Neben der KJreuzigung des Fleiscbes bildete
die leibHcbe Auferstebung eines seiner Haupttbemata; in
den Darstellungsmitteln zeigt er sicb gewandt und viel-
seitig: bald lai5t er Briefe scbreiben, bald legt er Novellen
ein, bald versucbt er Sprucbreden, wie sie Jesus gebalten,
zu kopieren und zeigt uns den groCen Apostel auf alien
Hauptplatzen seiner Wirksamkeit, in Ikonium, Epbesus,
Pbilippi, Korintb, Rom. Aucb mit dem Kaiser Nero fiibrt
er ibn personbcb zusammen und scbildert zuletzt mit den
lebbaftesten Farben die Umstande seines Martyrertodes.
Wie merkwiirdig, daU scbon bundert Jabre nacb dem
Tode des Paulus eine erbaulicbe noveUistiscbe Biograpbie
von einem Geistbcben gescbrieben worden ist und in der
Cbristenbeit solcben Anklang gefunden bat, daB das Bucb
fast in das Neue Testament gekommen ware! Zum Grliick
ist das nicbt gescbeben; ja sein Verfasser bat, wie uns
Tertullian bericbtet, sein kubnes "Wagnis mit Absetzung
biiUen miissen. Aber diese Exekution ist nicbt iiberall in
der Kircbe bekannt geworden. So bat z. B. die agyptiscbe
bis zum Anfang des vierten Jabrbunderts das weltlicb-geist-
332 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
liclie Fabelbucli als ernsthafte G-escMclitserzahlung hochge-
talten, ja ■wahrsch.eiiilicli sogar in Grottesdiensten lesen lassen.
Die „AMen des Paulus" sind nicht die einzige apokryphe
Apostelgeschiclite, die wir erhalten haben, wenn auch. die
wicbtigste. Abgeseben von jiingeren Stoilen, die nns Bonnet
zuganglicb gemacbt hat, verdanken wir Lip sins alte „Petnis-
akten" aus einer Handschriffc in Yercelli nnd James ein gro-
Bes Bmcbstiick von „ Jobannesakten", die er in einem Wiener
Kodex gefunden bat. Wabrend die ersteren gut katboliscb
sind, wenn sie aucb mancbes Befremdbcbe entbalten, und
sicb als die Wurzel der zabkeicben Petruslegenden erwiesen
baben, deren letzte Quelle wir friiber nicbt kannten, geboren
die Jobannesakten, wie es scbeint, der gnostiscb-cbristlicben
Literatur an. Aber aucb sie baben auf die Zeicbnung des
kircbbcben Bildes der Apostel, speziell des Jobannes, einen
bedeutenden EinfluC ausgeiibt. Vieles Extreme, was man
bei den gemeinen Cbristen nicbt fur passend bielt, ertrug
man nicbt nur in der Vorstellung von den Aposteln, sondem
bob es geflissentlicb bervor, um ibre XJbermenscHicbkeit
ins Licbt zu setzen. Eiae Weltveracbtung z. B., die bei
einem gewobnbcben Cbristen als Veracbtung des Scbopfer-
Grottes ausgelegt wird, ist bei einem Apostel nur ein Beweis
seiner Welterbabenbeit, und ein asketiscber Rigorismus, auf
den die Strafe der Exkommunikation gesetzt war, gilt bei
Jobannes, Pbibppus oder Thomas als Zeugnis ibrer Tugend-
strenge. — Zur Vermebrung unserer Kenntnis der „apo-
kryphen" Stoffe gehort aucb eine deutlicbere Einsicht in
die Entstebxmgs- und Verbreitungsgescbicbte der Legende
von dem Briefwecbsel Jesu mit dem Konig Abgar von
Edessa. Bekanntlich wissen unsere Evangelien nicbts da-
von, daiJ Jesus etwas Scbxiffchcbes verfaBt hat; das Einzige,
was er gescbrieben bat, bat er in den Sand gescbrieben
(Gescbicbte von der Ehebrecberin). Aucb die alte kirchhcbe
und baretische Tradition ist bier in der Legendenbildung
sehr zuriickbaltend gewesen. Nur die Kirche von Edessa
tjber die jiingsten Entdeckungen. 333
in Syrien hat sehr bald, nachdem das Christen turn dort
feste Wurzeln geschiagen hatte (um das Jahr 200) und
selbst in das Konigshaiis gedrungen war, einen Brief des
Konigs Abgar an Jesus — er moge zu ihm nach Edessa
kommen und ihn heilen — und ein Antwortschreiben Jesu
erfunden. Diese, iibrigens harmlose und in schKchten Wor-
ten konzipierte Falschung ist der Keimpunkt fiir eine ganze
Reihe von bunten Legenden geworden, die ihren Weg in
alle Kirchen gefunden haben. Ganzhch aufgehellt ist noch
langst nicht alles; aber die Forschung ist doch ein gutes
Stiick vorwarts gekommen auf G-rund neuer Texte, die ihr
zugefiihrt worden sind.
3. In den Johannesakten haben wir, wie oben mit-
geteilt, ein Bruchstiick aus der alten gnostischen Literatur
erhalten. Diese Literatur, die im zweiten Jahrhundert sehr
reichhaltig gewesen ist, ist fast nur in abgerissenen Frag-
menten auf uns gekommen; denn die Earche hat die "Werke
ihrer Feinde vernichten miissen. Den Untergang beklagen
wir nicht nur darum, weil sich Schriften von groJJem
wissenschaffchchen Wert und von hoher philosophisch-
poetischer Kraft unter ihnen befunden haben, sondern vor
allem darum, weil wir die Entstehung der kathoHschen
Kirche des dritten Jahrhunderts nur in dem Mafie wirkhch
durchschauen konnen, als wir uns eiue voile Einsicht in
jene Literatur zu verschaffen vermogen; denn die katho-
hsche Kirche, von innen betrachtet, ist nichts anderes als
die gnostische G-egenkirche , die aber doch nicht wenig
„Grnostisches" hat aufnehmen mussen. Um so dankbarer
sind wu' Karl Schmidt, der uns nicht nur mit der IJber-
setzung von zwei groBen gnostischen Originalwerken be-
schenkt hat, die koptisch erhalten sind, sondern der auch
jiingst aus Agypten weitere gnostische Schriften nach
Berlin gebracht hat, von denen eine sicher nicht junger
ist als die Zeit Mark Aurels und von L-enaus in seinem
groCen Werk, in welchem er die Systeme der Haretiker
33^ Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
darsteRt und widerlegt, benutzt worden ist. Unsere Kennt-
nis des Gnostizismus hat durcli diese Funde die bedeu-
tendste Forderung erfahren, und auch. der Znsammenliang
und G-egensatz, der zwisclien Gnostizismus und Feuplatonis-
mus besteht, hat ein uberraschendes Licbt empfangen und
kann jetzt sicberer bestimmt -werden.
4. Dem Teil der altebristlichen Literatur, welcber aus
dem feindliclien Verbaltnis des romiscben Staats und der
Gesellscbaft zum Cbristentum entsprungen ist, wird aucb
von Nicbt-Tbeologen ein besonderes Interesse entgegen-
gebracbt. In den letzten Jabren sind wir bier besonders
reicblicb bescbenkt worden. Mcbt nur baben die Bollan-
disten ibre seit mebr als zwei Jabrbunderten betriebene
Arbeit, alles, was sicb auf Martyrer und Heilige beziebt,
zu sanuneln, fortgesetzt, und uns Jabr um Jabr aucb Neues
gebracbt, sondern man bat aucb begonnen, die in syiiscber,
armeniscber und koptiscber Spracbe erbaltenen Martyrer-
und Heiligenleben berauszugeben und die alten Kircben-
kalender der Forscbung zugangbcb zu macben. Diese
Studien sind scbon so weit gedieben, daB es mit Hilfe eines
alten syriscben Kalenders (die Handscbrift stammt aus dem
Anfang des funften Jabrbunderts) gebngen konnte, als die
Wurzel der meisten Kircbenkalender einen arianiscben Ka-
lender der Diozese Nikomedien aus der Zeit Konstantins
zu ermitteba. Dieser fuCt bocbstwabrscbeinlicb auf den
martyrologiscben Sammlungen des Kirchenbistorikers Euse-
bius, die leider gr5Btenteils untergegangen sind. Dock ist
seiae tJbersicbt iiber die palastinensiscben Martyrer zur
Zeit Dioklatiens in zwei von ibm selbst verfaBten Gestalten,
einer kiirzeren und einer lang-eren, die nur syriscb auf uns
gekommen ist, erbalten. Mit Hilfe der letzteren konnte
Violet eine Reibe bisber unbekannter oder wenig beacb-
teter griecbiscber Martyrien auf Eusebius zuriickfubren und
damit ibre Ecbtbeit erweisen.
Unter den neuen Texten von Martyrerakten, die uns
tiber die jtingsteii Entdeckungen. 335
geschGnkt worden sind, sind namentlicli fiinf hervorzuheben.
Aube fand in einer Pariser Handsckrift das Martyrium
des Karpus, Papylus und der Agathonike, welches Eusebius
in der Kirchengescliiclite zitiert hat. Es beleucMet die
Verfolgung unter Mark Ani'el in Kleinasien und ist aus-
gezeiclmet durch viele charakteristische Einzelziige, die fiir
die Eigenart des asiatischen Christentnms wichtig sind.
Eine zweite Martyrerakte, die Eusebius zitiert hat und die
man bisher verloren glaubte, gab Conybeare aus dem
Armenischen heraus, das Martyrium des Apollonius in Rom
und bald fand sich auch ein griechischer Text. Dieses
Schriftstiick ist teils der interessanten juristischen Eragen
wegen, die es anregt, wichtig geworden, teils um der aus-
fiihrHchen Reden willen, die Apollonius vor den Richtern
gehalten hat. Das Martyrium fallt in die Zeit des Commo-
dus. Ferner wurde die alteste nordafrikanische Martyrer-
akte entdeckt, der ProzeC der Martyrer von Scili im Jahre
181, authentisch naeh den Grerichtsakten aufgezeichnet und
neben der lateinischen Bibeliibersetzung wohl das alteste
Denkmal des Christentums in lateinischer Sprache. Auch
eine griechische Rezension dieses Martyriums ist in einer
Jerusalemer Handschrift gefunden worden und in derselben
Handschrift eine solche des beriihmten Prozesses der Per-
petua und Felicitas — die Aufzeichnung ihrer Leiden,
Visionen und Gresprache ist eine der -n^ichtigsten QueUen
fiir die alteste G-eschichte des Christentums in Karthago.
In einer Venetianer Handschrift fand von Grebhardt die
umfangreichste Martyrerakte, die wir fiir die Zeit des De-
cius besitzen, die Greschichte des Pionius, ausgezeichnet
durch die FiiUe konkreter Ziige, und Bonwetsch gab ein
ganz einzigartiges Aktenstiick heraus, das Testament der
vierzig Martyrer von Sebaste, und zeigte, dafl es echt und
zuverlassig sei.
Aber diese Funde, so willkommen sie waren, sind doch
iiberstrahlt worden durch eine Entdeckung, die sich auch
336 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
die kiihnste Phantasie niclit traumen lassen konnte. Wir
wufiten aus den Kirclienvatern, daB zur Zeit der grau-
samen Verfolgung des Decius viele Christen dem sicheren
Tode dadurcli entronnen sind, daU sie sich fiir Greld von
den Magistraten Bescheinigungen (libelli) ausstellen lielJen,
sie batten geopfert, wakrend sie in "Wahrheit nicht geopfert
batten. Die Kircbe beurteilte das als Liige und Verleugnnng,
und nacb Ablauf der Verfolgung wurden diese nngliick-
licben Leute teils exkommuniziert, teils mit barten Strafen
belegt. DaC die Denkmaler ibrer Scbande, jene „Hbelli",
bis auf unsere Zeit kommen wiirden — wer konnte daran
denken! Und docb ist es gescbeben. Zwei dieser unscbein-
baren Zettel baben sicb in dem alles konservierenden agjTp-
tiscben Sande erbalten. Den ersten fand Krebs in einem
Haufen von Papyrus, die nacb Berbn gekommen sind, den
anderen Wessely in der Sammlung der Papyrus des Erz-
berzogs Rainer. „Icb, Diogenes, babe stets geopfert und
Spenden getan und in Eurer (der Beamten) Gregenwart
von dem Opferfleiscb gegessen, und icb bitte Eucb, es mir
zu bescbeinigen." Und nun folgt die Bescbeinigung des
Beamten. "Wer vermag obne innere Bewegung diese Zettel
beute zu lesen und die E'ot, den Jammer und die Seelen-
qualen zu ermessen, unter denen die Cbristen damals zu-
sammengebrocben sind!
Dem triiben Bilde mag ein erbebendes folgen. Eusebius
in seiner Kircbengescbicbte erzablt uns, dafi die ersten
bterariscben Verteidiger des Cbristentums gegeniiber der
beidniscben "Welt und dem romiscben Staat zwei Grriecben,
Quadratus und Aristides, gewesen seien. Er bat ibre
Scbutzscbriften fiir das Cbristentum, die er in die Zeit Hadrians
setzt, nocb gekannt; uns aber galten sie bis vor kurzem
als spurlos verloren. Da taucbte zuerst in einer armeniscben
Handscbrift ein Brucbstiick auf, welcbes sicb als der An-
fang der Apologie des Aristides gab. Hervorragende Ge-
lebrte bielten es fiir unecbt, andere aber fiir ecbt. Der
"LTber die jungsteu Entdeokungen. 337
Streit lieJB sich. niclit entscheiden, bis Harris im Katharinen-
Kloster auf dem Sinai die ganze Apologie in syrischer
Ubersetzimg fand. An der Echtheit zweifelte mit Reoht
niemand, so deutlich trug sie den Stempel des zweiten
Jahrhunderts, und auch das armenisclie Fragment war ge-
recMfertigt; denn wirklich bot der Syrer das betreffende
Stuck fast gleicblautend. Die Entdeckung dieser Apologie
■war ein Ennd ersten Ranges; denn sie ist alter als die des
Justin; sie enthalt eine breite Schilderung des Lebens oder
docb der Normen der Cbristenlieit um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts und sie erweiterte unsere Kenntnis der Apo-
logetik der altesten Theologen sebr bedeutend ; denn Aristides
unterscbeidet sicb in wesentlicben Stlicken von der apolo-
getiscben Metbode seiner Nacbfolger. Eine sebr merk-
wiirdige iiberlieferungsgescbiobtlicbe Tatsache trat aber
gleicb nacb der Entdeckung zu tage. Man erinnerte sicb,
Vieles, was die Aristides-Apologie bot, schon anderswo ge-
lesen zu baben, und wies nacb, daB in eine der verbreitet-
sten Legenden des friiben Mittelalters, die griecbiscb nieder-
gescbrieben, aber in ein Dutzend von Spracben iibersetzt
ist, in die Legende von Barlaam und Josapbat, ein groBer
Teil der Rede des Aristides Aufnabme gefunden bat. Der
Legendenscbreiber, der iibrigens auf der beriibmten Buddba-
Legende fuBt, bat es sicb leicbt gemacht und statt eine
Verteidigungsrede fiir das Cbristentum selbst zu verfassen,
die Apologie des Aristides Kapitel fiir Kapitel gepliindert.
So besaB man in jener erbaulicben Novelle bereits den
groBten Teil der alten Scbrift, obne es zu abnen! — Aus
dem Werke eines anderen Apologeten, der ein sebr frucbt-
barer kircblicber Scbrifts teller gewesen ist, Melito Biscbof
von Sardes (um 170), entdeckte der Kardinal Pitra ein
BrucbstUck in einer venetianiscben Handschrift, und
Mercati fand dasselbe Stiick in einer Mailander. Es
bandelt sicb um die Scbrift iiber die Taufe, den alte-
sten Traktat, der in der Kircbe iiber dies Sakrament ge-
Harnack, Reden und Aufsatze. I. 22
338 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
sckrieben worden ist, und der bisher fiir spurlos verschwun-
den gait.
Auf die zahlreichen christliclieii Inschriffcenfunde ist
Mer nicht einzugehen, teUs weil das auf ein anderes Grebiet
fukren -wiirde, teils weil fast alleliterar-historischuiibedeiiteiid
sind. Auf altchristlicliem Gebiete spielen die Inschxiften
niclit die hervorragende Rolle, die ilineii fiir die Profan-
gescbiclite zukommt. Aber einige Ausnahmen sind dock
vorhanden. So war es keine geringe Freude, als Ramsay
in HieropoHs in Pkrygien das Grrabmal des Abercins fand,
dessen poetisclie Inscbrift handscliriftlicli lange bekannt
Tind liocliberiilimt war. Nun konnte man die Verse von
dem freilicL. niclit voUkommen erhaltenen Steine selbst ab-
lesen. Ob sie der Zeit um 200 angekoren, dariiber entstand
keia Streit; aber eine lebbafte Kontroverse entspann sich,
ob sie iiberliaupt cliristliclL, und wenn cbristlicli, ob ka-
tbolisck Oder gnostiscli seien. Die Bezweiflung des christ-
licken Cbarakters — weil in der Insclirift von der reinen
Jungfrau, von Brot, Wein und Fisob die Rede — wurde
zuerst wie ein Attentat auf das Heilige und zugleich. als
absurd angesehen. Allein, wenn auch die Verteidiger die
cbristHche Herkunft der Verse wakrscbeinlicb maclien
konnten — die Annahme, daC Fremdes hier eingemiscbt
sei, lieiJ sich. nicht leicht widerlegen. Zur Zeit ist ein
Waffenstillstand eingetreten, und man muB abwarten, ob
neue Momente geltend gemacht werden, welche die Frage
entscheiden.
In einem anderen Fall konnte die Literaturgeschichte
der Inschi-iftenforschung zu Hilfe kommen. Eine oster-
reichische wissenschaftliche Expedition fand in Arykanda
in Lycien eine Inschrift, lateinisch und griechisch, die in
ihrer ersten Halfte ein stark verstiimmeltes Fragment eines
Reskripts des Kaisers Maximinus Daza, in der zweiten die
Petition einiger Stadte bringt, der Kaiser moge gestatten,
die Christen aus ihrem Weichbilde auszuweisen. Das Re-
titer die jungsten Entdeokungen. 339
skript enthalt die Grewalirmig der Bitte. Man erinnerte
sich, dafi Eusebius in seiner Kirchengeschichte erzaUt, der
Kaiser habe selbst solche Petitionen der Stadte veranlaCt,
Tind daU er Proben derselben, sowie der kaiserlichen Ant-
worten mitteilt. Eine Vergleichung mit der neuentdeckten
Inschrift ergab sofort, daB Eusebius so zuverlassig bericlitet
hat, daB man die Liicken der Inschrift aus seinem Texte,
in das Lateinische zuriickiibersetzt, erganzen konnte ! Solche
Ealle sind gewiiJ selten; aber sie sind besonders erfreulich,
da sie die Zuverlassigkeit des Eusebius, und damit des
wichtigsten Zeugen, den wir flir die alte Kirchengeschichte
besitzen, beweisen.
5. Dem Umfange nach am bedeutendsten sind die
Entdeckungen, welche sich auf die Werke der Kirchenvater
des dritten und des anfangenden vierten Jahrhunderts be-
ziehen. Den systematischen und unermiidhchen Nach-
forschungen von Achelis und Bonwetsch gelang es, die
groBtenteils nur in Eragmenten erhaltenen Werke des ersten
wissenschafthchen Theologen der romischen Kirche, Hippolyt,
aus mehr als zwanzig Bibliotheken zu sammeln. Dabei
konnte sein Kommentar zum Propheten Daniel, der friiher
ganz iinbekannt war, aus einer slavischen Ubersetzung und
aus groiJen griechischen Bruchstiicken vom Athos und
aus Chalkis vollstandig wiederhergesteUt werden. Dieser
Kommentar enthalt viele Beziehungen auf die Zeitgeschichte
(Zeit des Kaisers Septimius Severus) und ist daher als ge-
schichtliche Quelle von hohem Werte. Auch von dem
Werke des Gegners Hippolyts, des romischen Presbyters
Cajus, der gegen die Offenbarung Johannes' geschrieben,
haben sich in einem spateren syrischen Werke Fragmente
gefunden, die G-wynn publiziert hat — scharfe Angriffe
auf die Grlaubwiirdigkeit des Buchs.
Die Werke der grofien alexandrinischen Grelehrtenschule,
die mit den Arbeiten des Clemens Alexandrinus am Ende
des 2. Jahrhunderts beginnt, sind von der griechischen
22*
340 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Kirclie nur zum kleinsten Telle konservlert worden, well
sle haretlscli ersclilenen, z. T. aucli well ihr Umfang den
Absckrelbem zu vlel Miilie mackte. Die Fragmente aus
verlorenen Schrlften des Clemens hat Zahn mlt groBer
Umslcht gesammelt und wenlg BeacMetes oder Ver-
gesssnes ans Llckt gezogen. Fiir Orlgenes nnd seine
Schiiler hat namentUck der Kardlnal Pltra vlel getan und
zaklreicke exegetlscke Fragmente, besonders aus romiscken
Blbliotkeken , veroffentllckt. Tkm folgt jetzt Kloster-
mann, der die Reste der alttestamentllcken Kommentare
des Orlgenes sanunelt und uns berelts mlt wlcktlgen Ent-
deckungen besckenkt kat. Das wlssensckaftllcke Hauptwerk
des Orlgenes 1st seine groBe textkritlscke Ausgabe des
Alten Testaments In seeks Kolumnen gewesen. In die
erste stellte er den kebralscken Text, in die zweite den-
selben Text mlt grleckiscken Buckstaben gesckrleben, in
die drltte bis seckste vier versckiedene griechiscke Uber-
setzungen. Dieses Werk, welckes In die Blbkotkek von
Casarea in Palastlna gekommen 1st, ist als Ganzes wakr-
sckei nl ick nie abgesckrieben worden, aber zaklreicke Gre-
lekrte Im 3. und 4. Jakrkunderte kaben es elngeseken und
Lesarten von dort ubernommen. IsTur nack den Be-
sckrelbungen konnten wir uns bis vor kurzem ein Blld
von dleser Leistung eines staunenswerten FleiCes macken.
Da entdeckte Mercati in der Blbkotkek zu MaHand ein
Bruckstiick desselben — einige Psalmen, deren secksfacker
Text nebenelnander in Kolumnen ganz so gesckrieben 1st,
wie das von Orlgenes erzaklt wird. Nun slnd wir Im-
stande, an dleser Absckrlft wirkkck in die alttestamentkcke
Arbeit des groBen Grelekrten klneinzusckauen, und eben
kommt uns die Kunde, daB von der Groltz auf dem Atkos
elne Handsckrlft gefunden kat, die uns die Bemiikungen
des Orlgenes um den Text des iSTeuen Testaments in einem
neuen Lickte zelgt. Unter den Sckiilem des Origenes siad
es namentkck Dlonysius der OroBe, G-regorlus Tkauma-
titer die iiingsten Entdeokiingen. 341
turgiis und Pierius, fiir die wir neues Material, tails in
griechisclier Sprache, teils in syrischen und armenischen
tJbersetzungen erhalten haben. Sehr willkommen ist es
auch, dafl die Bischofe, die unmittelbar vor Athanasius
die alexandriaische Kirche regiert haben, in ein lielleres
Liclit treten. Zwar ist unsere Kenntnis der inneren Zn-
stande in Alexandrien vor Ansbruch des groiJen arianischen
Kampfes noch immer sehr gering; aber wir wissen doch
jetzt — dank Pitra u. A. — mehr von Alexander von
Alexandrien, dem Vorganger des Athanasius, als vor
zwanzig Jahren, und von dessen Vorganger, Petrus, hat
jiingst Karl Schmidt Schriften, bez. Bruchstiicke v6n
solchen, in koptischer Sprache entdeckt, die neue Auf-
schliisse versprechen.
Petrus, der Bischof, war ein Gegner des Origenes;
mit Sorge betrachtete er den Einflufi der origenistischen
Theologie in der Kirche und suchte sie zu bekampfen.
Einen anderen Q-egner, den Zeitgenossen des Petrus, Metho-
dius, Bischof von Olympia, kannten wir friiher schon aus
einigen Schriften; aber Bonwetsch hat uns aus slavischen
TJbersetzungen bisher unbekannte Werke dieses Mannes
zuganglich gemacht und ihn und seine Arbeit erst in das
voile Licht geriickt. "Wir haben diesen Methodius nun als
einen hervorragenden und einfluGreichen theologischen
Schi-iftsteller kennen gelernt, der den Platoniker Origenes
auch mit den Waffen Platos zu bekampfen suchte. Aber
Origenes hatte um d. J. 300 nicht nur Anhanger und
Gregner, sondem auch glanzende hterarische Verteidiger.
Die bedeutendsten unter ihnen waren Pamphilus und Eusebius.
Jener, ein reicher Mann, legte in Casarea eine groBe Bi-
bliothek an; sie war in erster Linie dazu bestimmt, alles
das zu konservieren, was Origenes geschrieben hat, aber
Pamphilus sammelte auch alle Schriften, die fiir die Bibel-
erklarung irgend welchen Nutzen versprachen. Dieser
Bibliothek, die untergegangen ist, nach^uspiiren und solcho
342 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Handscliriften, namentlicli BibeLhandselirifteii, zu bestinunen
und zu sammeln, die sich. als Abscliriften von Codices der
casareensischen BibKothek erweisen, hat man in den letzten
Jahren mit Gliick versucM. Die Sacbe ist von grofier
Wichtigkeit; denn von jeder Handsckriffc, die sich. anf jene
Bibliothek zuriickfuliren laCt, gilt, daU sie auf einem Texte
des dritten Jahrhunderts benilit; aber auch. die ortliche Fest-
stellung ist fiir viele textgescMcktliclie Fragen wertvoll.
In Bezug auf das Werk eines weiteren Zeitgenossen
des Petrus und Methodius hat Caspari eine erfreuliche
Entdeckung gemacht. Wir kannten langst die in griechi-
scher Sprache verfaCten Dialoge eines gewissen Adamantius
gegen die Marcioniten und andere Haretiker und schatzten
sie als eine wertvolle Quelle; aber die Datierung war
schwierig: einerseits zeigten sie Merkmale, die auf eine
Abfassung vor der Zeit des nicanischen KonzUs hinwiesen,
andererseits fanden sich nachnicanische dogmatische Stich-
worte in ihnen. Da entdeckte Caspari in der Bibliothek
zu Schlettstadt eine um d. J. 400 von Ruiin angefertigte
lateinische IJbersetzung dieser Dialoge, und sie zeigte, daC
die griechischen Handschriften samtlich interpoliert sind;
denn in dieser Ubersetzung fehlten jene nicanischen Stich-
worte. IsTun war eine sichere Datierung moglich.
Auf dem Gebiete der altlateinischen christlichen Lite-
ratur sind die Entdeckungen langst iricht so zahlreich ge-
wesen, wie auf dem der griechischen; aber es hat ja auch
nur wenige lateinische christhche Schriftsteller im zweiten
und dritten Jahrhundert gegeben. Fiir den einfluBreichsten
unter ihnen — seine "Werke haben im Abendland ein Jahr-
hundert lang dicht bei dem Neuen Testamente gestanden — ,
Cyprian, den ersten groBen Hierarchen, verdanken wir
Mommsen einen wertvoUen Fund. Dieseiben Handschriften,
in denen er ein Verzeichnis der h. Schriften fand (s. o.),
enthalten auch eine ausfiihrhche Liste der Werke und
Briefe Cyprians, mit Angaben iiber den Umfang jedes
tjber die jlingsten Entdeokungen. 343
einzelnen Stiicks. Da diese Liste der Mitte des 4. Jahr-
Imnderts angehort, also nur ein Jalarliundert nach Cyprians
Tode medergesclirieben ist, so ist sie ein sehr willkommenes
HiKsmittel, una eine Einsicht in die Gescliichte der Samm-
Iting Tind Verbreitung der Cyprianischen Scliriften zu ge-
winnen. Neue Traktate dieses Bischofs oder solche, die
Tinter seinem Namen gehen, sind nicht aufgetauckt; aber
die Forschung hat sich in den letzten Jahren eigentlich
zum erstenmal der Grruppe der pseudo cyprianischen
Schriften zugewandt, sie gleichsam erst entdeckt nnd in
ihnen wertvoUe Quellen fiir die Kirchengeschichte des
dritten Jahrhunderts erkannt. Eine wirkhche Bereicherung
nnserer Kenntnisse haben ferner die Nachforschungen ge-
bracht, die HauUleiter iiber den verlorenen Kommentar zur
Johannes-Apokalypse des altesten lateinischen Exegeten,
Viktorin von Pettau (um das Jahr 300), angestellt hat,
nnd ganz neue Aufschliisse iiber die alteste Mrchenrecht-
liche Literatur auf dem Boden der lateinischen Kirche
verspricht ein Fund Haula's. Er entdeckte in einem
Veroneser Pahmpseste jene pseudapostolische Didaskaha
in lateinischer Ubersetzung, die neben der „Apostellehre"
eine Wurzel des altesten Kirchenrechts ist, und die
man bisher nur als Eigentum der griechischen und syri-
sehen Kirche gekannt hat. Da auch die „AposteUehre"
einst lateinisch existiert hat, dann aber, wie die Didaskaha,
fast spurlos verschwunden ist, so kommt man auf die Ver-
mutung, daB das alteste griechische Kirchenrecht auf
abendlandischem Boden zeitweilig eine bisher noch ganz
unbekannte Q-eschichte erlebt hat, dafi es aber bald von
anderen Rechtsordnungen verdrangt worden, also iiber bloCe
Ansatze nicht hinausgekommen ist. —
344 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Hiermit lioffe ich eine wesentlich voUstandige IJber-
sicht liber die Funde der letzten 25 Jahre gegeben zu
haben; geschwiegen liabe ich von alien solcben Entdeck-
ungen, in denen es sicL. nur um neue Handsckriften be-
kannter Stiicke kandelt , obgleick einige von ihnen der
Forscliung sehr wicktig geworden sind. Wie reick ist z. B.
jetzt nnsere Kenntnis jener ui'ckristkcken romiscken Sckrift,
die den Titel „Der Hirte" fukrt nnd einst von Grieoken,
Lateinern und Abessyniern mit gleicker Verekrung gelesen
worden ist! Neben etwa zwei Dutzend lateiniscken Hand-
sckriften ist nock jiingst auf einem uralten agjrptiscken
Papyrus ein Bruckstiick ans Lickt getreten. In welckem
Umfange kat der grolle Forscker Caspar! die Gresckickte
des abendlandiscken Taufsymbols, des sogenannten Sym-
bolum Apostolicum , bereickern konnen, wie viele neue
Texte kat er geboten! Wie zakkreick sind die Falle, in
denen wir alteste Sckriften, die in der Originalspracke
untergegangen, aber in Ubersetzungen erkalten sind, brnck-
stiickweise nun wieder im. Original erkalten kaben! So be-
saBen wir von den zwei, fiir die Gesckickte der Askese
kockst wicktigen pseudoklementiniscken Briefen liber die
Jungfraukckkeit nur die syriscke Ubersetzung. Cotterill
konnte nackweisen, daJS die Halfte des Textes im Original
in Zitaten eines spaten grieckiscken Monckes zu finden ist.
— Dock sckon zu lange kabe ick die Greduld des Lesers in
Anspruck genonunen; es mag gestattet sein, zum SckluC
einige allgemeine Erwagungen anzukniipfen. Es sind etwa
fiinfzig literariscke Funde, die uns die letzten 25 Jakre
gebrackt kaben. Wer kat sie entdeckt? wie ist es dabei
zugegangen? Ist es nickt moglick, aus der Beantwortung
dieser Fragen etwas fiir die Zukunft zu lernen?
An den Entdeckungen sind ungefakr ein kalbes Hun-
dert G-elekrte beteiligt. Sie verteilen sick auf aUe Nationen,
Armenier, Belgier, Deutscke, Englander, Franzosen, Grie-
cken, Itakener und Russen. Aber den Deutscken und
t^ber die jllngsten Entdeokungen. 345
Englandern gebiihrt das groCte Verdienst. Das entspricht
der Tatsache, daB die patristischen Studien bei ilinen am
meisten bliilien und in festen Formen gepiiegt werden.
"Wir Deutsche haben aber alle Krafte anzuspannen, dafi
uns die Englander nicbt den Rang ablanfen: sie verfiigen
liber grofiere Mittel, konnen jnnge Grelelirte auf Jalire in
die Feme schicken und bei der Sache balten, wakrend sie
bei nns in der Kegel gezwungen sind, nacb kurzem wissen-
scliaftliclien Dienst einen praktiscben oder den Lehrberuf
zu ergi'eifen. Berufsarbeiter fiir den wissenscliaftlicben
GroCbetrieb , die ikr Leben einer wissenscbaftlichen Auf-
gabe widmen und fiir sie jeder Zeit Reisen machen kon-
nen, sind uns notig, Gelehrte, die nickt gezwungen sind,
Vorlesungen iiber Dinge, die sie scbleclit verstehen, zu
halten, weil die Spezialwissenscbaft, die sie in der StiUe
bearbeiten und die sie kennen, fiir den Unterricbt unge-
eignet ist und sie nicbt ernabrt. In jenem Jahrbundert,
in welchem auf historischem Grebiet aucb im groBen ge-
arbeitet worden ist, dem siebzebnten, gab es bereits Be-
rufsarbeiter, die sich ganz ibrer Spezialaufgabe -widmen
konnten und sich in die Hande arbeiteten, das waren die
Mitgheder der klosterhchen Kongregationen.
So sind die groBen wissenschaftlichen Sammelwerke
entstanden, die wir bewundern. Fine ahnliche Einrichtung
haben auch wir heute notig, und unsere Akademien miissen
die Mittelpunkte werden, um die sich nichtlehrende G-e-
lehrte, die groCe wissenschaftliche Aufgaben verfolgen,
scharen. An den Uriiversitaten muB der Unterricht re-
gieren; sie werden hoffenthch immer zugleich der For-
schung dienen, aber sie konnen keinen G-elehrten brauchen,
der nicht lehrt. Wir aber haben auch seiche Gelehrte notig,
die nicht lehren, weO. das, was sie arbeiten, teils fiir den
Unterricht zu speziell ist, teils noch nicht reif genug. Das
SpeziaHstentum , iiber welches an unseren Universitaten
nicht ohne Grand geklagt wird, und dessen schadliche
346 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Folgen sich bis in die Organisation des lioheren Priifungs-
wesens erstrecken, ist eine Folge des Ubelstandes , daC bei
nns jeder Gelelirter des Brotes wegen an die Universitat
geben rniuS, wenn er sein Leben der Wissenschaft weihen
will. GewiC haben unsere XJniversitaten dadarch viel ge-
"wonnen; aber nachgerade hat sicb die wissenschaftliclie
Arbeit so spezialisiert, dafi die XJniversitaten sie niclit mehr
allein zn umspannen vermogen, obne ikre oberste Aufgabe
zu scbadigen. Der Staat wird somit in der Pflege der
Wissenscliaften und der XJniversitaten einen gewaltigen
Scbritt vorwarts tun, wenn er neben diesen ein zweites
Zentrum fiir jene sebafft und den Akademien die Mittel
gewahrt, einen Stab von Grelebrten dauernd um sich. zu
sanuneln, die, materiell sicher gestellt, ihr ganzes Leben
und ihre ganze Kraft einer groBen Spezialaufgabe weihen
konnen. Mit Zuversicht blicken wir auf das preuBische
Unterrichtsministerium , welches, verstandnisvoU und tat-
kraftig , stets den neuen Bediirfnissen der Wissenschaft
entgegengekonunen ist und aueh hier berechtigte Forde-
rungen gewiC erfiillen wird.
In dem Kreise akademischer Adjunkten mag der For-
scher seine Stelle finden, der auf den europaischen Biblio-
theken die Triimmer der koptischen Literatur aufsucht und
wieder erweckt; hier mag ein Kenner des Armenischen die
Schatze dieser Literatur zusammentragen; hier mogen andere
sich zu lexikaUschen Arbeiten vereinigen und die Reste einer
untergegangenen oder untergehenden Sprache und eines
versinkenden Volkstums sammeln; hier mogen wieder andere
ein groBes historisches Regestenwerk unternehmen, — alles
Aufgaben, die mit dem Lehrberuf nichts zu tun haben,
oder vielmehr, die durch den Lehrberuf gestort werden
und ihn storen. Das aber ist sicher nicht zu befvirchten,
daB die XJniversitaten gute Lehrer verlieren oder gar an
ihrem wissenschafthchen Charakter Schaden leiden werden.
"WeC das Herz voll ist, dem geht der Mund Tiber! Wer
trber die iilng;sten Entdeckungeu. 347
von einer hohen Saclie innerlicli erfiillt ist und ilire bildende
Kraft schatzt, der wird sie auch. lekren wollen und Schiiler
"werben nnd deshalb an die Universitaten geben! Wir woRen
diese nur vor den „MniJ-Dozenten" nnd die nur zum
Forschen berufenen Grelekrten vor dem Vorlesungszwang
scbiitzen. Dafi die groCen und vielseitigen Forscber die
Lebrer unserer Jngend sind — dieses heriiicbe deutscbe
Ideal wird nns ai\cb in Zukunft bleiben. Und umgekebrt,
"wir -wollen keine berufsmaJJigen Entdecker oder gar „Scbatz-
graber" in der "Wissenscbaft; denn solcbe Leute sind vom
TJbel. Aber was wir braucben, sind metbodiscb arbeitende
Gelehrte, die in einer bistoriscb-pbilologiscben Spezialwissen-
scbaft allmabliob den ganzen Bestand der QneUen, wie er
auf den europaischen Bibliotbeken zerstreut begt, kennen
lernen nnd anf planvoll unternonunenen B,eisen aufarbeiten.
Wie sind denn die reicben Entdeckungen auf dem G-e-
biete der alten Kircbengescbicbte bisber zustande ge-
konunen? Abgeseben von einigen woblvorbereiteten Unter-
nebmungen, wie sie Acbelis und Bonwetscb fiir Hippolj^t,
Caspari fur die Symbole, die BoUandisten und Ebr-
bard fiir die bagiograpbiscbe Literatur unternommen baben,
und wie sie jetzt von Soden fiir den Text des Neuen
Testaments ausfiibren laCt, ist uns das Meiste durcb mebr
oder weniger zufallige Umstande gescbenkt worden. Gre-
wiC leitete fast aUe Entdecker ein bestimmtes wissenscbaft-
licbes Interesse — es sind Wenige darunter, die niobt im
ScbweiBe ibres Angesiobts gearbeitet baben, und wir Kircben-
bistoriker diirfen auf unsere Entdecker stok sein — , aber
vereinzelt und zusammenbanglos wird uns das Meiste ge-
bracbt, und fast nirgendwo konnen wir sicber sein, daiJ
alles das wirkJiob untersucbt worden ist, was an einem be-
stimmten Ort, in eiaer bestimmten Bibliotbek, zu unter-
sucben ware. Nocb unmer lassen sicb sogar in gescbriebenen
oder aucb gedruckten Katalogen Entdeckungen macben —
V. G-ebbardt bat uns das gezeigt! — , und so oft man
348 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
planvoUe Untersuchungen angestellt hat, sind sie aucli be-
lohnt worden.
Freilich, das geographiscte G-ebiet, auf welchem man
fiir die alte Eorclien- und christlicke Literaturgeschichte zu
sammeln hat, ist ein ungeheuer weites. Ihre Denkmaler
sind in griechischer, lateinischer, syrischer, koptischer, abes-
sjmischer, armenischer , slavischer und arabischer Sprache
erhalten. Die Fundorte der Entdeckungen der letzten fiinf-
undzwanzig Jahre sind oben zum Teil angegeben worden:
von Etschmiadzin, Jerusalem und Patmos bis nach Madrid,
und vom Sinai bis nach Moskau und Petersburg und
wiederum nach England und Irland muB der Forscher
wandern. Dazwischen liegen die groUen Bibliotheken Euro-
pas, die noch immer ungehobene Schatze bergen, und auch
ein Schlettstadt und ahnhche Stadtchen besitzen historische
Unika. Doch das Land unserer Hoffnung ist Agypten!
GewiB haben wir vom Athos, aus EQeinasien und Armenien
noch manches zu erwarten; aber die altesten und kost-
barsten Schatze sind aus Agypten gekommen, und Alles
spricht dafiir, daU wir bisher nicht mehr als die ersten
Proben von dem erhalten haben, was der agyptische Boden
uns aufbewahrt hat. Aber wer in Agypten suchen will,
der muB zuerst nach Paris, London und Wien gehen, wo
noch viele Hunderte, ja Tausende unentzifferter Papyrus
liegen. Wie konnen die an die SchoUe gebundenen Uni-
versitatslehrer diese und ahnliche Schatze aufsuchen und
einsammeln? Was sie vermogen, ist, Untersuchungen vor-
zubereiten und sie methodisch ins Werk zu setzen. Aber
auch diese Tatigkeit hat eine naheliegende Grenze. Ihr um-
fassendes Lehramt erlaubt ihnen nicht, sich einseitig einem
Zweige der Wissenschaft und einer Gruppe von Denk-
malern zu widmen. Die Starke aber des G-elehrten, der
forscht und sucht, ist die entschlossenste Einseitigkeit und
Beschrankung, nicht auf zwanzig Monate, sondern auf eben-
soviel Jahre, und nicht mit miihsam abgewonnenen Mitteln,
tyber die jilngsten Entdeckungen. 349
sondern auf gesicherter materieller Grundlage. Wenn uns
planlose Forschungen soviel beschert haben, was werden
uns metliodisch gefiihrte bringen! Eine fragmentarisch er-
haltene Literatur fragmentarisch bearbeiten — nur Unbe-
friedigendes kann dabei herauskommen, ja Vergeudung der
sparlichen Krafte! Aber lohnen die Ausgaben den Auf-
wand? Nun, es handelt sich um die alte Kirchengeschiclite,
d. h. um eine Greschichte, welche die Volker Europas ge-
meinsam erlebt haben, und in der der wichtigste Teil der
Griiter beschlossen Hegt, die sie gemeinsam besitzen. Aber
von diesem erhabenen Thema abgesehen — alle Geschichte,
die sich zwischen dem Euphrat und dem atlantischen Ozean
abgespielt hat, ist unsere Greschichte; wir vermogen aber
unsere eigene Existenz nur dadurch zu vertiefen und zu
erweitern, daiJ wir unter den Helden der Greschichte leben
und ihre Kampfe und ihre GrroCe nachempfinden.
Verlagsbericht
der
J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung
(Alfred TOpelmann)
No. 1. Qiessen Oktober 1903.
JOieser er^te Bericht miifasst in der JSanptsache unsre Vei'lagstiitigkeit tvUhrend
des laiifendeii rTahres. Uaran scJiHessen sicli noch einige wej-tvolle IVei'Ice aiis den
letzten J^aJireu.
Die kicnftigeu Nnmuicrti erscheinen in zwangloser Folge; alle Interessenten erhalien
sie auf ihren Wunsch kostenlos.
yede grossere Buchhandliing kann die kier genannten Werke zumeist audi zttr
Ansicht vorlegen.
Das Inhaltsverzeichnis befindet sick auf Seite 24.
Soehen gelangen zur Ausgabe:
Adolf Harnack, Reden und Aufsatze
2 Bde- gr. 8" auf starkem holzfreiem Papier (X, 349 und VIII, 379 S.)
M. 10. — ; in Leinen geb. M. 12. —
In dieser Sammlung seiner „Reden und Aufsatze'' wendet sich Harnack an
eincn weiteren Leserkreis als den seiner Fachgenossen. Die aufgenommenen Stucke
umspannen einen Zeitraum von flber zwanzig Jahren ; obschon der Verfasser dieses oder
jenes Thema heute etwas anders behandeln wiirde, hat er den einzelnen Stucken doch ilire
urspriingliche Gestalt gelassen, da ihra kein einziges in seinen Grundgedanken fremd
geworden ist. Die „Reden" des ersten Bandes sind so geordnet, dafi sie einen Gang
durch die Kirchengeschichte darstellen; die des zweilen Bandes beziehen sich vornehmlich
auf wichtige kirchliche Probleme der Gegenwart.
Mit giitiger Zustimmung des Herrn Verfassers drucken wir hier einen Aufsatz
des zweiten Bandes ab und hoffen, den Empfangern unsers Berichts damit eine will-
kommene Gabe zu bieten.
Einige Bemerkungen
zur Geschichte der Entstehung des Neuen Testaments.
Die Geschichte der Entstehung des Neuen Testaments ist im letzten Jahrhundert
mit erstaunlichem Flei6 und ausgezeichnetem Erfolg untersucht worden; aber es sind
einige Fragen ubrig geblieben, und zwar sehr wichtige. Sie sind ubrig gebheben, well
das, woran man sich gewohnt hat, als das selbstverstandliche erscheint, und daher die
Untersuchung nicht herausfordert. Drei solche Fragen will ich hier aufwerfen, urn sie
dem Nachdenken zu empfehlen, und ich will versuchen, ihrer Losung naher zu kommen.
I. Warum haben wir im Neuen Testament vier Evangelien und nicht eines?
Die Antwort: ,,Es ist ein unerklarhcher Zufall", genilgt nicht; denn der Gottes-
dienst, die Katechese usw. verlangten ein Evangelium. So war es in der altesten
Zeit — die Jadenchristen hatten ein Evangelium (das Hebraerevangelium), ebenso die
Marcioniten, die Agypter etc-, — und so ist es audi in der mittleren und neueren Zeit;
denn man macht fiir den Unterricht und die evangelische Uberlieferung aus den vier
Evangelien noch jetzt kiinstlich ein einziges.
Auch die Antwort ist ungenugend, man habe die vier Evangelien zusammen-
gestellt, um verschiedenen theologischen Standpunkten gerecht zu warden und sie zu
vermitteln; denn die drei ersten Evangelien sind in bezug aufihren theologischen Stand-
punkt nur wenig verschieden. Aber auch das vierte Evangelium kann jener alten Zeit
nicht so verschieden erschienen sein, wie uns. Man bemerkte wohl einen Unterschied
der Stufe — eine kleine Partei hat auch sachliche bedeutende Unterschiede erkannt,
— aber nicht dogmatische Verschiedenheiten.
Sind aber die beiden versuchten Antworten ungenugend, so bleibt nur noch eine
Qbrig, namlich dafe die vier Evangelien zusammengestellt wurden, um sie in eines zu
verarbeiten, daft aber dann rasch Verhaltnisse eintraten, welche eine solche einheitliche
Verarbeitung unratsam machten und hemmten,
Beweise :
1. Dafi ein einheitliches Evangelium zu besitzen, stets das letzte Ziel sein mufite,
liegt in der Natur der Sache (s. oben).
2. Unser i. und 3. Evangelium setzen sicher, unser 2. und 4. Evangelium setzen
hochst wahrscheinlich bereits ktirzere Evangelien voraus, aus denen sie zusammen-
gearbeitet worden sind. Sie sind selbst schon Evangelienharmonien.
3. Dieser Prozefe, nus mehreren Evangelien eines zu machen^ hat sich auch fort-
gesetzt, als unsere Evangelien bereits nebeneinander standen. Justin hat um das Jahr
1 50 wahrscheinlich eine Harmonic aus mehreren Evangelien beniltzt, unter denen sich
unsere befanden, und von Tatian wissen wir gewife, dafi er aus unseren 4 Evangelien
eine Harmonie, ein ,,Diatessaron'', verfertigt hat. Dieses Diatessaron ist bis zum An-
fang des 5 ■ Jahrhunderts das Evangelium der syrischen Kirche und ihrer Tochter-
kirchen gewesen.
4. Den hemmenden Faktor, der es verhinderte, dafe sich das Diatessaron oder
ein ahnliches Buch in den Kirchen durchsetzte, kOnnen wir sicher angeben, — es ist
der Gnostizismus. Er notigte die Kirchen, ihre Urkunden nicht weiter mehr zu ver-
andern, um moglichst authentische Urkunden zu bew^ahren. Diese Riicksicht wurde
starker als das praktische Bediirfnis, ein einheitliches Evangelium zu besitzen, und
hemmte so den Prozefi; aus den vier Evangelien eines zu machen. Indem diese Absicht
durchkreuzt wurde, blieb die Kirche in bezug auf das praktische Bediirfnis in einer
unvollkommenen und schwierigen Situation stecken, — sie mufete fortan das Evangelium
aus 4 Biichern lesen — , aber die Hemmung gewahrte der Folgezeit den grofeen Vorteil,
dafe sie das Evangelium in einer relativ ursprunghcheren Gestalt erhielt und dauernd
bewahrte. Unsere Kenntnis von Jesus Christus und seinem Evangelium ware eine sehr
viel unsicherere geworden, wenn wir statt der 4 Evangelien ein Diatessaron erhalten
hatten. Dem Gnostizismus gegenuber wurde der Buchstabe der 4 Evangelien geheiligt
und damit bewahrt.
NB. Wanim um das Jahr 120 — 130 (iim diese Zeit handelt es sicli) geradc
diese 4 Evangelien, und nicht 3 oder 5 oder anderc in Kleiiiasien 7Aisammengcstellt
worden sind, um sie einheitlich zu bearbeiteii, das entzieht sich unsrer Kenntnis ganz.
Im besten Fall kann man darUbei- einige Vermutimgcii aulstcllen. Dafi abcr in Klein-
asien die Zusammenstellung erfolgt ist, lafit sich sehr wahrsclieinlich machen.
II. Wie konnten apostolische Briefe, namentlich Paulusbriefe, mit gleicher Wilr.de
und gleicliem Ansehen neben die Evangelien gestellt werden ?
Diese Tatsache, die Avir im Neuen Testamente voUzogen sehen, ist vielleicht
das Paradoxeste, was die Sammlung bjetet:. Briefe, zum Teil ganz individuellen Inhalts,
stehen mit gleichem Ansehen neben dem Herrnwort ! ! Wie ist die Tatsache zu er-
klaren? Aus der inneren Geschichte der grof3en Kirche ist sie imerkliirbar. Die
Antwort, der Apostolos sei den Evangelien beigegeben worden, wie die Propheten
den BQchern Mosis, erklart den Ursprung der Zusammenstellung nicht; denn die;se
Vergleichung ist erst gemacht worden, nachdem Evangelien und Briefe bereits zusammen-
gestellt waren. Nur das Eine lafit sich sagen — und das ist nicht unwichtig — :
Briefe von Aposteln {aber auch von anderen Geistestragern) sind friihe gesammelt und
in den Gemeindegottesdiensten verlesen worden, nicht nur einmal, sondern wiederholt
und regelmalsig. Dadurch kamen sie 5rtlich und auch der Bedeutung nach in die
Nahe der Evangelien. Aber da6 sie ihnen gleichgestellt und kanonisch wurden, ist
damit doch nicht erklart.
Der Ursprung der Verbindung ist dort zu suchen, wo Paulus ein ahnliches
Ansehen genoi3 und geniefien mufite, wie Jesus Christus selbst, also bei den Gnostikern
und vor allem bei den Marcioniten, Ihnen war Paulus der authentische Interpret
Christi und zugleich der Reformator gegentiber einer ,Judaistischen" Fassung des
Christentums, welche Marcion sogar den Uraposteln vorwarf. Bei Marcion finden wir
auch wirklich zuerst, dafi er das Evangelium und Paulus-Briefe verbunden und diesen
dasselbe Ansehen gegeben hat wie jenem. Ftir mehrere gnostische Vereine diirfen
wir vermuten, dafi sie dasselbe getan haben. Auch ihnen war Paulus der Interpret
Christi und der Reformator.
Aber wie? sollen wir annehmen, dafi die groBe Kirche dem Marcion und den
Gnostikern, ihren Todfeinden, gefolgt ist, und ihre Ansicht und Ordnung nachgeahmt
hat? Gewifi nicht! Die Sache machte sich vielmehr ganz von selbst. Die grofie Kirche
konnte den Paulus nicht niedriger schatzen als es Marcion und die Gnostiker taten;
damit hatte sie ihn denselben ausgehefert, Allmahhch, aber sicher mufiten die pauli-
nischen Briefe dieselbe Schatzung in der groilen Kirche gewinnen wie in den haretischen.
Ohne merklich zu werden, konnte sich diese Wandlung vollziehen; denn die Paulus-
Briefe wurden ja (s. oben) in dem Gottesdienst der grofien Kirche gelesen. Natiirlich
suchte diese aber Briefe urapostolischer Manner den Paulus - Briefen hinzuzufugen.
Ein schOnes aufieres Zeugnis des Prozesses, der sich zwischen 1 60 und 190
voUzogen haben mu6, besitzen wir noch in den Akten der Martyrer von Scili, die aus
dem Jahre 181 stammen. Auf die Frage des Prokonsuls: ,,Quae sunt res in capsa
vestra," antwortet Speratus: „Libri et epistulae Pauli viri iusti." Die „Biicher" sind
das Alte Testament und die Evangelien. Die Paulus-Briefe werden bereits neben ihnen
genannt, aber doch noch von ihnen unterschieden. So hatte man um das Jahr 1 60
noch nicht, und um das Jahr 200 nicht mehr gesprochen.
Verlagsbericht der J. Richer' schen Verlagsbuchhandlitng in Giesseu No.
III. Wie ist es gekommen, dafi die Kirchen ein einheitliches Neues Testament
erhalten haben?
Bei Beantwortung dieser Frage miifi man eine Unterscheidung machen. Dafi
die Sammlung von 27 Schriften, wie wir sie jetzt besitzen, zuerst in Agypten (Alexan-
drian) zustande gekommen ist, und sich im Laufe des 4. und 5- Jahrhunderts — be-
sonders durch die Autoritat des Athanasius — in den anderen orientalischen Kirchen
und im Abendland durchgesetzt hat, steht fest. Aber schon vor dieser Zeit, narahch
in der 2, Halfte des 3. Jahrhunderts, batten fast alle Kirchen einen gemeinsamen
Grundstock des Neuen Testaments, namhch eine Sammlung von 20 bez, 22 Schriften
(es fehlten II. und III. Job., II. Petrus, Jakobus, Hebraerbrief, bez. auch Apokalypse
und Judas). Wie ist dieser Grundstock entstanden? Er weist eine ganz bestimmte
Struktur auf, namlich in der Mitte stehen die Apostelgeschichte und, mit ihr verbunden,
Schriften der Urapostel; den rechten Flugel bilden die Evangelien und den linken die
Paulus-Briefe.
Fragt man, wo dieses Neue Testament entstanden ist, so scheiden die syrische,
die alexandrinische, die gallische und die nordafrikanische Kirche aus; denn es ist
nachweisbar, dafe sie diese Sammlung spater erhalten haben, bez. von anderen Kirchen
abhangig waren. Es bleiben nur die kleinasiatische und die romische Kirche iibrig.
Die Sammlung, wie sie nicht ein formloses Aggregat darstellt, sondern einen deutiichen
Plan zeigt, kann nicht zufallig und an mehreren Orten zugleich entstanden sein, sondern
mu6 einen bestimmten Ursprung haben. Dann aber ist es hOchst wahrscheinlich, dafi
sie in Rom entstanden ist (vielleicht unter Teilnahme kleinasiatischer BischOfe).
In Rom namlich sind: I. nachweisbar die beiden anderen apostolisch-katho-
lischen Mafistabe um dieselbe Zeit entstanden, die apostolisch-katholische Glaubens-
regel und die Auffassung vom apostolischen Amte der BischOfe. Mit diesen beiden
Mafistaben ist die apostolisch-katholische Schriftensammlung aufs nachste verwandt.
2. In Rom ist zuerst die Sammlung von 22 Schriften sicher nachweisbar. Es
entspricht aber auch dem Charakter der rOmischen Kirche, solche formale Ordnungen
und Gesetze aufzustellen ; denn das Charisma dieser Kirche ist stets — und auch im
Altertum — nicht die Theologie gewesen, sondern die Ordnung und das Gesetz. Im
Kampf gegen den Gnostizismus hat Rom die Grenzen und Ordnungen des Christlichen
festgestellt, und von Rom aus sind diese Mafestabe in den Jahren 190 — 250 auch zu
den anderen Kirchen gekommen und von ihnen adoptiert worden.
Dies sind die drei Fragen, welche ich vorlegen und dem Nachdenken iibergeben
wo lite. Die LOsungen , welche ich versucht habe, halte ich nicht fur wissenschaft-
lich bewiesen, aber fiir sehr wahrscheinlich. Nicht erwahnt habe ich die wichtigste
Frage, wie es uberhaupt zu einem Neuen Testamente gekommen ist? Bedenkt man,
dafi weder Christus noch die Apostel etwas Ahnliches angeordnet haben ( — wie
anders steht es im Islam! man denke an den Koran! — ), und dafi die Kirche ja be-
reits eine umfangreiche „littera scripta'' in dem Alten Testamente besafi, so erscheint
die SchOpfung des Neuen Testaments als ein grofies Problem, zugleich aber auch als
eine grofie Tat der Freiheit und der Selbstandigkeit der Kirche. Ohne Beziehung
freilich auf den Gegensatz, die haretischen Bewegungen, wird man die Entstehung des
Neuen Testaments nicht erklaren konnen.
DallCr, Walter, Lic.theol., Privatdozent an der Universitat Marburg,
Der Apostolos der Syrer in der Zeit von der Mitte des
vierten Jahrhunderts bis zur Spaltung der syrischen Kirche.
Gr. 8» (IV u. 80 S.) M. 1.80
Nicht nur das Bewufitsein, eine in der Tat vorhandene Lflcke mit einer aus-
fuhrlichen, alles umfassenden Untersuchung des Problems auszufUUen, zu dessen LOsung
zwar schon hin und wieder Beitrage geboten worden sind, hat den Verfasser bestimmt,
gerade diese Epoche der syrischen Kanonsgeschichte einer genauern Betrachtung zu
unterziehen, vielmehr sind verschiedene Umstande geeignet, das Interesse in besonderm
Ma&e zu wecken.
Einmal ist die bezeichnete Periode die Blutezeit syrisch-theologischer Gelehr-
samkeit gewesen, deren dominierender Einflufi weit uber die Grenzen des Vaterlandes
hinaus verspurt wurde. Auf das geistige Leben hat Syrien niemals vorher oder nachher
so gewirkt, wie in dem Jahrhundert von etwa 350 — 450.
Sodann stehen wir vor dem Faktum, dafi zu Anfang der Epoche die Bildimg
des Kanons im griechischen Westen und im Siiden bei den Nachbarn der Syrer so
gut wie abgeschlossen ist. Allenfalls werden dort noch Zweifel uber die Berechtigung
der Johannesapokalypse laut, die ilbrigen 26 BQcher haben Heimatrecht im Kanon er-
worben. Ganz anders steht es mit den Kirchen Syriens. Hier ist noch vieles im
Flufi. Nur der Kern des Neuen Testaments hat sich allgemeine Gehung erworben.
Um das Jahr 450 sind die syrischen Christen lange nicht so weit wie ihre westlichen
Glaubensbruder etwa 100 Jahre fruher.
Die Anlage der Schrift erhellt aus dem hierunter im Umrifi mitgeteilten In halt s-
verzeichnis:
Einleitung: Die Aufgabe. — Die Quellen. — Abhandlung: a) Apostelgeschichten.
b) Paulusbriefe. c) Katholische Briefe. d) Apokalypsen. — Zusammenfassung der
Resultate und abschliefiende Betrachtung. — Anhang: A. Harnacks Hypothese uber
Diodor von Tarsus.
BUgge, Chr. A., Dr. theol. in Christiania, Die Haupt - Parabeln
JeSU. Mit einer Einleitung uber die Methode der Parabel-Aus-
legung. n. Halfte. Gr. 8». (VIII u. S. 241-502.) M. 5.60
Dasselbe. Vollstandig. Gr. 8". (VIII u. 502 S.) M. 11.-
Inhalt: Vorwort. — Methode. I. Das Problem. 2. Versuch einer LOsung. —
I. Teil. Die Parabeln von den Geheimnissen des Reiches Gottes. i. Abschnitt. Aus-
legung der Parabeln von den Geheimnissen des Himmelreichs. 2. Abschnitt. Die
Geheimnisparabeln und die Reichgottes-Idee. — 11. Teil. Die spateren Reichsparabeln
bei Matthaus. — III. Teil. Die Individual-Parabeln bei Lucas. — Stellenregister. — Namen-
register. — Sachregister. — Literatur zur Parabel-Auslegung.
Mit dieser II. Halfte ist das Buggesche Parabelwerk, dessen I. Halfte wir dem
gelehrten Publikum im Mai d. J. vorlegen konnten, abgeschlossen.
Verlagsberickt der J. Ricker' schen Verlagsbuckhandlung in Giessen No. i. 5
Auch dieses Buch scheint uns, um H. Holtzmanns a. a. O. und bei anderer Ge-
legenheit (Theolog. Literaturzeitung 1 903, 13, Sp. 369) gebrauchte Worte hier einmal
anzu"wenden, „der jetzt eben machtig emporstrebenden religionsgeschichtlichen Er-
forschung der neutestamentlichen Ideenwelt abermals kraftigen Vorschub zu leisten".
Denn „gerade im selbstandigen und fruchtbaren Verwerten des jiidischen Volksbodens
zur Deutung und Auslegung der Lehre Jesu liegt die Bedeutung dieses Buches, und
zwar sieht man hier einmal die Wirkung, auch fur die gelehrteste Forschung, mit
ilberraschender Deutlichkeit. Mit viel Geist und gro6er Gelehrsamkeit hatte seinerzeit
JtjLicHER die Gleichnisse Jesu von griechischen Voraussetzungen aus nach einer
aristotelischen Formel als erweiterte ,Metaphern' unter radikaler Verwerfung alles
jAllegorischen' einseitig gedeutet, mit viel alten Annahmen heilsam aufraumend; aber
dem tiefer Grabenden viel Bedenken verursachend. Nun zeigt Bugge, im ganzen wohl
unvpiderleglich , da6 der geschichtliche Jesus eben — kein Aristoteliker war, sondern
vom jiidischen Volksboden aus in der jiidischen Spruchweisheit (Maschal) lediglich Ver-
anlassung zur Verbindung von Metapher und AUegorie fand, und dafi auch dieS; und
nur dies, zu seiner geschichtlich gegebenen Lehrgestalt trefflich stimmt. So wird nun
auch die gelehrte Theologie hier viel Anregung zu immer weiterem Fragen, Lernen
und Lehren finden." [Wiss. Beil, d. Leipz. Ztg. 1903, 63, S. 255 f.]
The Expository Times vol. XIV, No. 12, S. 549 f. (September 1903):
"The first volume of a he'w and most important work on the Parables of our
Lord has just been published. The author ist Dr. Chr. A. Bugge, who, since the
lamented death of Professor Petersen, is generally recognized as the ablest of Norwegian
theologians. The present work, however (Die Haupt-Parabeln Jesu), will once for
all establish his reputation, and will have to be taken account of by all subsequent
workers in this department. In his Preface Dr. Bugge easily disposes of the objection
that we have already a superfluity of books on the Parables, and in particular that
the great work of Julicher leaves no room and no need for further labours of the
kind. We are sure that many of our readers will feel, with Dr. Bugge, that, greatly
as they admire Julicher, there are very serious objections to be taken to his essentially
one-sided conception of the Parable, as well as to the grounds on which he accepts
or rejects the genuinesses of whole sections of the Gospels. In fact, the great value
of Bugge's Introduction consists in the way in which he rescues its real meaning for
the term 'Parable'. Julicher has built up his conception of the Parable under the
influence of Greek rather than Jewish rhetoricians, whereas it is becoming increasingly
clear that it is only an intimate acquaintance with contemporary Jewish currents of
ideas and methods of teaching that will enable us to understand Jesus as a teacher.
We commend to the careful attention of our readers all that Dr. Bugge has to say
on Metaphor, Allegory, Paradox, etc., for we are persuaded that he is entirely on the
right lines. When he comes to the treatment of the individual Parables, he wastes
no words and does not load his pages with quotations and refutations of other com-
mentators. At the same time, nothing of importance from this point of view is left
out, and at the close of each Parable some typical illustrations are given of its treatment
by the great exegetes of the Church in days gone by."
LI rCWS, Paul, D., ord. Professor der praktischen Theologie an
der Universitat GieBen, Die Predigt im 19. Jahrhuodert.
Kritische Bemerkungen und praktische Winke. [Vortrage der
theologischen Konferenz zii GieBen, 19. Folge.] Gr. 8". (2 Bll.
u- 59 S.) M. I.—
Der Verfasser beschrankt sich in seinem kurzen Referat darauf, uns die Ent-
wicklung der Predigt im Laufe des 19. Jahrhunderts unter einem einzigen Gesichts-
punkt darzustellen , der, weil sich jene mehr oder weniger bestimmt darin spiegelt,
besonders interessant ist. Dieser Gesichtspunkt ist der Gegenstand der Predigt. Es
ist auch nicht zwecklos, ihn zu verfolgen, weil sich aus seiner Geschichte allerlei Be-
herzigenswertes fur die Predigt der Zukunft lernen lafit. HSren wir den Verfasser am
Schlusse seines Referates selbst, welcher Art es sei:
„Wir wissen, dafi das Evangehum, an sich so einfach und so schlicht, ins Leben
umgesetzt, in tausend Strahlen sich bricht, dafi es jedem Menschen, jedem Geschlecht
etwas Besonderes zu sagen hat, immer neu erfafit und errungen sein -svill. Die Predigt,
als persOnliche Bezeugung des EvangeHums, soil Helfersdienste tun — sie wird es
nur kOnnen, wenn sie neben dem AUgemeinen, Zentralen auch das Einzelne und
Spezielle zu seinem Rechte kommen la6t. Wir haben lebendiger erkannt, dafi jede
Gemeinde ihre Individualitat hat und dais jeder gerade in ihrer Weise das Evangelium
mu6 verkundigt werden. ... Es liegt viel Wahres in dem Lofflerschen Worte, dafi
jede Predigt eine Gelegenheitsrede sein soil; das gilt es anzuerkennen, auch wenn das
Wort aus der Feder eines Rationalisten kommt.
Es ware tOricht zu fordern: Nun predigt nur nach speziellen Themen! Das kann,
wie ailes, geistlos. Ode, weil nachgeahmt, und mechanisch geschehen, und dann wirds
ohne Segen sein. Nie werden, nie durfen zentrale Gegenstande ganz verschwinden.
Sie haben ihr bleibendes Recht. Aber das lafit sich mit Schleiermacher als Ziel auf-
stellen, dafi jede wirkungsvolle Predigt aus einer Synthese von Prediger, Text und
Gemeinde entstehen soil. Die PersOnlichkeit wird dabei immer das Bestimmende sein.
Ihre Macht hegt im vOUigen Ernst, der nicht in steifer Feierlichkeit, sondern in reiner
Sachlichkeit besteht, der man es abfuhlt, dafi die Wahrheit die beherrschende Macht
fiber sie geworden ist."
BlD3.Cn, Rud., D., Konsistorialrat und Dekan in Dotzheim, UflSer
Volk und die Bibel. Ein Nachwort zum Bibel- und Babelstreit.
[Vortrage der theologischen Konferenz zu GieBen, 20. Folge.]
Gr. 8" (39 S.) M. -.60
Leitsatze: i) Der Bibel- und Babelstreit erinnert unsere Kirche wieder an
ihre Pilicht, unserm Volke die Bibel zu voUerer Aneignung zu bringen. 2) Die
Schwierigkdten der Erfullung dieser Pflicht liegen in dem notwendigerweise kritischen
Betriebe der theologischen Wissensehaft , in den praktisch kirchlichen Riicksichten, die
das geistliche Amt bewegen, und in dem Nachwirken fruherer Entwicklungen im Leben
unsrer Gemeinden. 3) Die durch diese Pflicht gestellte Aufgabe besteht darin, dafi
unsre Gemeinden in der Bibel Gottes Wort besser unterscheiden, erkennen und Keben
lernen. 4) Die Wege zur Erfullung dieser Aufgabe sind in der Theologie das Fest-
Verlagsberickt der J. Ricker'scheti Verlagsbuckhandtnng in Ciessen No. i. 7
halten an der Bibel als der wichtigsten Urkunde der Offenbarung und an Jesu als dem
Christ; in Aex Predigt die Darbietung der Einheit 2i!«(/ Mannigfaltigkeit des Evangeliums;
im Unterricht das Hervorkehren des ReligiOsen und Bleibenden vor dem Geschicht-
lichen und Zufalligen; in der kirchlichen Gemeinschaft das Festhalten an der Einigkeit
im Geist durch das Band des Friedens.
HerZOg, Johannes, Pfarrer in Gerlingen, Der Bcgriff dcr Bc-
kehrung im Lichte der heiligen Schrift, der Kirchengeschichte und
der Forderungen des heutigen Lebens. Gr.S". (VIII u. 120 S.) M. 2. —
Inhaltsiibersicht: Leitsatze. — Einleitung. — I. Der biblische Stoff. l) Die
aus dem AT. zu entnehmenden Grundlinien. 2) Das Neue Testament. — II. Die
kirchengeschichtlichen Beispiele. l) Augustin. 2) Franz von Assisi. 3) Luther.
4) Francke. S) Moser. 6) Wesley. 7) Finney. — III. Das Problem der Bekehrung
im Lichte der Forderungen der Gegenwart. Querschnitt durch die heutige Situation,
l) Die Noiwendigkiit der Bekehrung. 2) Der Umfang des Begriifs. 3) Der Volhug
der Bekehrung. 4) Die Mdglichkdt und Durchfflhrbarkeit der Bekehrung. — Schlufi.
Aus dem Vorworte:
„Das Absehen des Verfassers ist hauptsachlich darauf gerichtet, Klarheit in dii
Frage zu bringen, ob dieses Datum des innern Lebens vorbehaltlich seiner mannig-
fachen individuellen Modifikationen und psych ologischen Vermittlungen eine solche
innere Tatsache darstelle, "welche nicht in diesen Vermittlungen und Entwicklungen
restlos aufgeht, sondern den Einschlag der g6ttlichen Kraftwirkung bekundet. Dafi
nun die Zeugnisse der Schrift, die Bildergalerie der kirchengeschichtlichen Zeugen,
die Forderungen der Gegen"wart iibereinstimmend auf die Wichtigkeit und Unentbehr-
lichkeit dieses supi^naturalen Koeffizienten hin^veisen, dafi mit andern Worten die
Bekehrung ein gOttlich - menschliches Geschehen sei, ist, kurz gesagt, das Ergebnis
dieser Untersuchung. Es kommt tiberein mit der merkwiirdigen Gleichung, die der
Apostel Paulus voUzogen hat (Eph. I, 19. 20) zwischen der Gottestat in Christus und
der Gotteswirkung in den Glaubigen, und mit dem Paradoxon des tiefsinnigen Hamann:
,Alle Wunder der heiligen Schrift geschehen in unserer Seele'."
Der Inhalt dieses Aufsatzes kam nur teilweise zum Vortrag bei der am 5. Juni
stattgefundenen Zusammenkunft der „Freunde der christlichen Welt aus SOddeutschland
und der Schweiz" in Heppenheim a. B. Er fand dort in seinem Grundgedanken so
lebhafte Zustimmung und wurde von Rade als eine so reife, vollkommene Frucht um-
fassenden Studiums und tiefen Nachdenkens bezeichnet, dafi wir hoffen dtirfen, mit
seiner Drucklegung nicht nur den HOrern einen Dienst zu erweisen, sondern jedem —
stehe er auf dem sogenannten altglaubigen oder modernem Standpunkte — , dem es
darum zu tun ist, filr die Forderungen der Gegenwart, so vielgestaltig und verwickelt
sie sein mOgen, eine solide Grundlage und richtige Norm zu gewinnen, auf der und
nach der die Verkfindigung des Evangeliums zu operieren hat.
JflStrOW, Morris, jr., Dr. phil.. Professor der semitischen Sprachen
an der Universitat zu Philadelphia, Die Religion Babyloniens
und Assyriens. Vom Verfasser voUstandig durchgesehene und
durch Um- und Uberarbeitung auf den neuesten Stand der Forschung
gebrachte deutsche Ubersetzung. Vierte und fiinfte Lieferung.
Gr. 8° (S. 225—304 u. 305—384) je M. r.50
Abgescblossen in etwa 10 Lieferungen zum Preise von je M. 1.50, die ins-
gesamt uber 50 Druckbogen umfassen werden.
Der Subskriptlonsprels eriischt mit der Ausgabe der letzten Lleferung; als-
dann trift eine bedeutende Erhohung des Preises furs vollsfandige Werk cin.
Unsere Abonnenten wurden beim Erscheinen der 3. Lieferung von dem rwischen
dem Verfasser und der Verlagsbuchhandlung erwogenen Plan unterrichtet, das Ver-
standnis des Textes zu unterstfltzen durch die Herausgabe von getreuen Abbildungen
der wichtigsten Denkmalei- der habylonisch-assyrischen Kultur, die
durch die in jOngster Zeit mit so grofiem Eifer betriebenen Graburgsarbeiten wieder
zu Tage geferdert worden sind.
Die Auiwahl der Abbildungen sollte gam in den Hdnden des Verfassers liegen,
um den Subskribenten dadurch den Erwerb einer der wi^senscliaftlichen Durcharbeitung
des Textes wilrdig sich anreihenden Sammlung von lUustrationen zu sichern.
Schon heute nach Ablauf eines Vierteljahrs liOnnen wir zu unserer Freude mit-
teilen, dafi die Herstellung der nach dem Abschlusse des Werlcs auszugebenden Ab-
bildungen durch die auf unsre Umfrage bei den Abonnenten zahlreich eingegangenen
Subskriptionen gesichert ist. Jene werden den Bestellern also, wie angekOndigt, zu mafiigem
Preise geliefert und kOnnen zu demselben auch von alien (ibrigen bezogen werden, die
sich bis zum Erscheinen der letzten Textlieferung als Abnehmer gemeldet haben. Spdter
werden sie nicht mehr filr sich allein, sondern nur noch mit dem Textbande tusamnten
kauflich sein. Deshalb seien alle, die sich bisher noch ablehnend verhalten haben, in
ihrem eigenen Interesse gebeten, sich vor dem genannten Zeitpunkt schlussig zu machen,
um der dargebotenen Vergunstigung noch teilhaftig werden zu kOnnen. Der 4. Lieferung
haben wir nochmals eine Bestellkarte zur gefl. Benutzung beigegeben.
Religionsgeschichtliche Versuche und Vor-
arbciten, herausgegeben von Albrecht Dieterich in
Heidelberg und Richard Wiinsch in GieBen. Gr. 8". I. Band
(ca. 15 Bogen) ca. M. 5.60; 11. Band i. Heft (i Bl. u. 32 S ) M.— .75,
2. Heft (IV u. 73 S.) M. 1.80.
Vorbemerkung der Herausgeber;
Wir ilbergeben eine Reihe religionsgeschichtlicher Versuche und Vorarbeiten
gesammelt der Offentlichkeit, well wir hoffen, so die Publikation kleinerer wissenschaft-
licher Untersuchungen berechtigter und wirksamer zu machen, die vereinzelt leicht un-
beachtet bleiben wurden. Eine abgeschlossene Gruppe von Arbeiten liegt uns vor, die
im Laufe der Jahre 1903 u. 19O4 in drei Banden erscheinen soUen,
Alle sind, bis auf eine kleinere Abhandlung aus einem uns ferner liegenden
Gebiete, um deren Aufnahme in unsere Sammlung wir ersucht wurden, in Giefien ent-
standene Untersuchungen, die im Friihjahr 1903, als Professor Dieterich Giefien ver-
liefi, teils abgeschlossen vorlagen, teils dem Abschlusse nahe waren. Damals mufiten
wir den Plan, Giefiener philologische Arbeiten uberhaupt gemeinsam zu publizieren,
aufgeben und entschlossen uns, nur diese religionsgeschichtlichen Versuche zu-
sammenzufassen , die vor andern der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung erwOnscht
waren. Ob wir fortfahren werden, weitere Versuche und Vorarbeiten anzuschliefien,
wird davon abhangen, ob uns kflnftig religionsgeschichtliche Abhandlungen, deren Druck
wQnschenswert erscheint, zur Verfugung stehen.
Verlagsbericht der J, Richer' schen Verlagsbiichhandlung in Giessen No. u. 9
Es braucht kaum ausdrucklich gesagt zu werden, da6 die Herausgeber nur fur
die Druckwurdigkeit der Arbeiten im ganzen, dafi die Verfasser far alles einzelne die
' Verantwortung tragen.
Noch iin Herbst erscheinen :
I. Band: HCpdillg, Hugo, Dr. phil., Assistant a. d. GroBh.
Universitats-Bibliothek in GieBen, Attis, Seine Mythcn Und
sein Kult. Or. 8". (ca. 15 Bogen) Etwa M. 5.60
A. DiETERicH hat am Ende seines Vortrags uber den Ursprung des Sarapis
(Verhandlungen der 44. Philol. -Vers, zu Dresden 1897) darauf hingewiesen, da6
die nachste wichtige Vorarbeit flir die dringend nOtige Geschichte des Synkretis-
mus der antiken Religionen die grilndliche Sammlung der Urkunden der einzelnen
Kulte, die fiir den Synkretismus in Betracht kommen, sein miisse. Vorbildlich
ist dabei das groiaartige Quellenwerk iiber den Mithraskult von Franz Cumont.
Die vorliegende Schrift bietet eine Sammlung der literarischen und inschriftlichen
Quellen des Attiskults. Daran schliefien sich einige Kapitel iiber Mythus und
Verehrung dieses Gottes und iiber die Geschichte der phrygischen Religion
ilberhaupt, die neben dem Mithrasdienst am langsten und kraftigsten dem Vor-
dringen und Siege des Christentums Widerstand geleistet hat.
II. Band I. Heft: GreSSmaiin, Hugo, Lie. theoi.; Dr. phil,
Privatdozent der Theologie an der Universitat Kiel, Musik
und Musikinstrumente im Alten Testament. Eine reii-
gionsgeschichtliche Studie. Gr. 8*^- (i Bl. u. 32 S.) M. — .75
Aus den einleitenden Worten des Verfassers:
tJber die Musik der Hebraer erfahren wir aus dem A. T. leider nur sehr wenig.
Wir mussen daher zufrieden sein, wenn wir die paar zufallig uns uberlieferten
Notizen zu einem mosaikartigen Bilde zusammenfiigen kOnnen. Denn mit leb-
haften Farben zu malen, mussen wir uns gemafi der Natur unserer Quellen ver-
sagen. Mitunter wird es von Nutzen sein, auf verw^andte Erscheinungen anderer
V6lker, vornehmlich der Griechen, das Augenmerk zu richten. Gar manches,
was uns bei den Israeliten fremd und unverstandlich anmutet, weil die Literatur
zu klein ist und die Nachrichten zu diirftig sind, mrd von dorther sein Licht
empfangen. Wir diirfen dies unbedenklich tun, ohne fiirchten zu miissen, dafi
wir die Originalitat des jiidischen Volkes beeintrachtigen. Denn von einer
solchen wissen "wir auf diesem Gebiete schlechterdings nichts, wie ja iiberhaupt
die Kunst auf palastinischem Boden keine eigenartige Entwicklung gefunden hat.
Israel ist nie ein magister artium geworden, seine welthistorische Gr66e ruht
einzig und allein auf seiner Religion und Moral. Auf diesem einen Gebiet hat
es Grofies und Selbstandiges geleistet. Aber seine Musikinstrumente sind wie
seine ganze Kultur zweifellos eine Entlehnung.
II. Band 2. Heft: Ruhl, Ludwig, Dr. phil. in Giefien, De
mortuorum iudicio. Gr. 8". (IV u. 73 s.) M. 1.80
Die antiken Zeugnisse iiber die Vorstellung von einem Gericht, das in der
Unterwelt iiber die Seelen der Verstorbenen gehalten wird, sind aus der Literatur
und den Denkmalern in dieser Arbeit gesammelt, und es wird der Versuch gemacht,
den historischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Dokumenten klarzulegen.
Kap. I behandelt den griechischen , Kap. II den rOmischen Anschauungskreis ;
ein angefQgter Exkurs zeigt, welche Rolle die Vorstellung von einem Buche
des Gerichts im Altertum gespielt hat.
10
tJader, Karl, Dr.phU., GroBh. Hofbibliothek-Sekretar in Darmstadt,
Turin- und Glockenbiichlein. Eine Wanderung durch deutsche
Glocken- und WSchterstuben. Gr. 8^- Etwa 15 Bogen mit 20 Ab-
bildungen. Titelblatt und Einband sowie der sonstige Buchschmuck
von Bernhard ]Venig. Etwa M. 3.60; schOn geb. etwa M. 4.50
Was wir dann finden, sagt uns der Titelzusatz in denWorten: eine Wanderung
durch deutsche Glocken- und Wachterstuben. In der Tat fuhrt der Verfasser den
Leser an, um und in die gewaltigen Turmbauten, und er rechnet gewifi nicht mit Un-
recht auf zahlreiche Beteiligung bei dieser geistigen Turmbesteigung, bei der den Inter-
essen des wissenschaftlichen Forschers ebenso Rechnung getragen wird, wie denen
derjenigen Leser, die sich aus Neugier, aber mit offenem Sinn und Gemtlt anschliefien.
Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, in popularer Form alles fur die weiten
Schichten der Gebildeten Wissenswerte von Kirchen- und Domturmen und ihren ehernen
Bewohnern, den Glocken, zu bringen, und was er bietet, ist in der Art der
Zusammenstellung sicherlich neu. Besonders beachtet wurden auch die Sagen, die
die gewaltigen Bauwerke und die Glocken umweben, was als Beitrag zur Volkskunde
gerade in unsern Tagen willkommen sein wird. Neu sind auch die Abbildungen von
Glocken, die in der vortrefflichen Otteschen Glockenkunde nur genannt und besprochen,
aber nicht anschaulich dargestellt sind.
Bader erlautert uns den Turm als Ganzes und erklart seine Teile; er fuhrt uns
in sein Inneres, zeigt uns die Glocken und stellt uns den Wachtern vor. Er fiihrt
uns schliefiUch in schwindelnde' HOhe zur hOchsten Turmspitze und erzahit da manch
artig StQcklein. MOchte er, da er vieles bringt, manchem etwas Wertvolles bringen,
dem Architekten, dem Kulturhistoriker , dem Glockengiefier, dem Geistlichen einerlei
welcher Konfession, jedem endlich, der sich einen Sinn fur die gewaltigen Denkmaler
der Vergangenheit am und im Kirchturm in Erz und Stein bewahrt hat.
Mutter und Kind. Wie man helkle Gegenstande mit Kindern
behandeln kann. Nellie schriebs hollandisch, J. Grimm hat
es verdeutscht. 8" (42 S.) Hilbsch gebunden M. —.75
Professor Dr. Georg Sticker, dem Verfasser des schon in 2. vermehrter Auf-
lage (1903) bei uns erschienenen Buches: Gesundheit und Erziehung (s. S. 15),
hat das Manuskript des Schriftchens vorgelegen; er schrieb uns daruber:
„Mich dQnkt, dafi das Buchlein wohl wert ist, verbreitet zu werden. Es wird
jeden, der filr den Gegenstand ein Herz hat, ergreifen und zu innigem Nachdenken
und emster Nutzanwendung anregen. Viele werden wohl beim Lesen hier und da
stutzen und sich fragen: Mufi man in der Befriedigung der kindlichen Neugier so weit
gehen, wie es der Verfasser tut? Und sicher werden die Eltern, denen das moralische
Ubergevidcht Ober ihre Kinder abgeht, lieber dem Zufall die Aufklarung der Kinder
flberlassen. Aber die Eltern, die ihre Pflicht als naturliche BeschUtzer und Berater
ihrer Kinder ernst nehmen, werden einsehen, dafi gegenuber der unbarmherzigen Neu-
gier der kleinen Frager kein Mittel ehrlicher und unschadlicher ist als das, welches
der Verfasser darlegt."
Verlagslferickt der J. Richer' schen Verlagsbuckhandl-ung in Giessen No. /. | 1
Voranzeige. Im Fruhjahr igo^ erscheint:
Paulus
Sein Leben und Wirken
geschildert von
Prof. Lie. Dr. Carl Clemen in Bonn a/Rh.
2 Teile. Etwa 40 Bogen gr. 8".
Mit einer Karte der Missionsreisen des Apostels.
Ein dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Forschung entsprechendes Leben
des Apostels wird allerseits als dringendes Bedurfnis empfunden, haben wir doch in
Deutschland seit Hausrath kein wissenschaftliches Leben des Paulus mehr bekommen.
Die Verlagsbuchhandlung hofft deshalb mit dem unter der Presse befindlichen Werke
der berechtigten Forderung nach einer neuen Darstellung des Lebens und Wirkens
jener gewaltigen PersOnlichkeit Genuge zu Icisten.
Das Buch zeriallt in einen untersuchenden und einen darstellenden Teil, zwischen
denen eine vOllige Trenniuig konsequent durchgefuhrt ist. Im ersten Teile behandelt
Clemen alle Fragen, die erOrtert sein miissen, bevor eine zusammenhangende Dar-
stellung gegeben "werden kann. Im zweiten Teile gibt der Verfasser sodann die in sich
geschlossene Darstellung. Sie ist unbeschadet ihres wissenschaftlichen Gehaltes so
geschrieben, dafi sie auch die weitern Kreise der gebildeten Laien anzuziehen vermag.
hn Fruhjahr und Sommer igoj sind erschienen:
BdUITlflnn, Eberhard, Lie. theol., Pastor in PlOn, Der Aufbau
der AmOSreden. Gr. 8» (X u. 69 S.) [Beihefte z. Zeitschr. f. d.
alttest. Wiss. VII.] M. 2.40
Ein wertvoUer Beitrag zu den jetzt eifrig gepflegten „Studien zur hebraischm
Meirik'\ stark beeinflufit durch die „Untersuchungen zum Buch Amos" von M. LOhr
(Giefien 1901, M. 2. 50) und das epochemachende Werk von Sievers (Leipzig 1901).
L>UQQ6, Karl, D., ord. Prof. d. Theologie an der Universitat Marburg,
Das Alte Testament und die Ausgrabungen. Ein Beitrag
zum Streit um Babel und Bibel. 2. Auflage mit vielen Anmerkungen
und einem Vorworte statt des Nachworts. Gr. 8" (52 S.) M. —.90
„Es ist selbstverstandlich, dafi Budde [in der 2. Aufl.], 'was die Zwischenzeit
an Wertvollem beigesteuert, oder was man gegen seine Ausfiihrungen eingewendet
hat, in zahlreichen Anmerkungen sorgfaltig berQcksichtigt hat'. — Doch wichtiger als
diese vielen Anmerkungen erscheint uns das Vorwort, das aus dem Eindruck heraus
geschrieben ist, 'dafi die flberwaltigende Melirheit audi der Gebildeten in unserm
evangelischen Voike die Verbalinspiration fiir die verpflichtende Lehre ihrer Kirche
halten und ihr gegenflber ein bOses Gewissen haben, wenn sie an diesem Satze irre
geworden sind'. Das letztere kommt aber daher, dafi die Verbalinspiration mit dem
religiOsen Begriff der gCttlichen Offenbarung vereinerleit wird. Dem gegenOber zeigt
Budde, dafi die symbolischen BQcher der lutherischen Kirche von der Verbalinspiration
nichts wissen und dafi der Glaube der Babylonier an die Offenbarung ihrer Gotter
gerade die Unentbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens fflr jede Religion beweist. Ihn
ablehnen, heifit Gott leugnen. . ." [Kirchenbl. f. d. reform. Schweiz i8. Jahrg. No. 29.]
UibellUS, Otto, Dr.phil, in Grofilichterfelde, DaS VatcrUDSer.
Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittleren
Kirche. Gr. 8". (XII u. i8o S.) M. 4.80
Unter dem Haupttitel sind hier drei Studien zusammengefafit. Die erste ist den
„Vorstellungen vom Gebet in der atten griechischen Kirche" gewidmet; die zweite bietet
„£><> Auffasstivg des V. U. bei griechischen Schriftsteilern" und endlich die dritte, die
den praktischen Geistlichen am moisten interessieren wird, stellt „das Verh'dltnis von
Luthers Vaterumererkldrung im kleinen Katechismus zu den althochdeutschen Auslegungen
des g. — //. Jahrhunderts" dar. Recht wertvoll ist der Anhang, der ungedruckte Vater-
unsererklartmgen aus dem ausgehenden Mittelalter bietet.
=^^ Ausfuhrlicher Prospekt steht zu Diensten, ^^=^
UlctiriCrij Gustav, Lie. Dr., Pastor an der Heilandskirche in
Berlin, Die Oestorianische Taufliturgie ins Deutsche tibersetzt
und unter Verwertung der neusten handschriftlichen Funde histo-
risch-kritisch erforscht. Gr. 8"- (XXXI u. 103 S.) M. 4.-
Die nestorianische Taufliturgie ist das alteste Kindertaufritual der Cbristen-
heit, fast ein yahrtausend alter als die altesten Parallekrscheinungen des Abendlandes.
In den Expository Times vol. XIV No. I2 (Sept. 1903) besprochen.
UlCXXriCllj Gustav, Lie. Dr., Pastor a# der Heilandskirche in
Berlin, Die neustcD Angriffe auf die religiosen und sittlichen
Vorstellungen des Alten Testamenfes. Ein Vortrag aus dem
Kampfe urn Babel und Bibel. Gr. 8°. (24 S.) M. —.50
Sacbsisches Kircben- und Scbulblatt 1903 No. 37 (Beilage);
,,Ein sehr guter Vortrag, dessen leitender Gedanke ist: Der Widerspruch von
Glauben und Wissen mag in der Welt im grossen bestehen, in der Welt im kleinen,
d. h. in einer einzelnen Menschenbrust, ist er beim geringsten Mafie von Aufrichtigkeit
undenkbar oder doch wenigstens unhaltbar."
nflrnflCK, AdoU, D., ord. Professor der Kirchengeschichte an der
Universitat Berlin, AugUStinS KonfeSSionen. 3- Auflage. Gr. 8"
(32 S.) M. —.60
Das Monchtuni, seine Ideale und seine Geschichte. 6. Auflage.
Gr. 8"- (64 S.) M. I.30
Verlagsbericht der y. Richer' schen Verlagsbuchhandlung in Giessen No. j. 13
KattenbUSCh, Ferdinand, D., ord. Professor der Theologie an
der Universitat GieSen, Vofl Schleiermacher zu Ritschl. Zur
Orientierung uber die Dogmatik des 19. Jahrhunderts. 3. vielfach
veranderte Auflage mit einem Nachtrag ilber die neueste Entwick-
lung. Gr. 80. (88 S.) M. 1.75
Der Verfasser hat sich, nachdem er anfanglich geschwankt, ob er den vor 12 Jahren
gehaltenen Vortrag, wenn er ihn jetzt noch einmal ausgehen liefie, nicht vOUig um-
gestalten sollte, doch aus gewichtigen Grunden zur Beibehaltung der ursprflnglichen Form
entschlossen. — In einem Nachtrag deutet K. an, wie er die letzten Bewegungen auf
dem Gebiete der systematischen Theologie, die neue ,,religionsgeschichtIiche" Richtung
(Troeltsch) als Historiker ansieht.
LlUZbSrSkl, Mark, Dr. phil, Privatdozent an der Universitat Kiel,
Ephemeris fiir semitische Epigraphik. II. Band 1. Heft. Mit
einer Schrifttafel und 6 Abbildungen im Text. Gr. 8". (S. i — 124)
M. 5.-
Mehrei-e Hefte von etwa 2^ Bogen Umfang bilden einen Band; Frets dessMen ca. 75 Mark.
Inhalt: Semitische Kosenamen. — Altnordarabisches. — PhOnizische Inschriften.
Punische Inschriften. — Neupunische Inschriften. — Hebraische Inschriften. — Nabataische
Inschriften. — Palmyrenische Inschriften. — Griechische und lateinische Inschriften.
Siidarabische Inschriften. — Archaologische Arbeiten und Funde. — Miszellen. —
Berichte und Besprechungen.
Frith er erschien:
Erster Band. Mit 49 Abbildungen. 1900—1902.
Preis: 15 Mark (aacb in 3 in sicb abgescblossenen Heften zu je 5 Mark).
«>?.
Was die „Ephemeris'' zu Anfang ihres Erscheinens versprochen, hat sie vollauf
gehalten, dessen sind der erfreulich wachsende Stamm fester Abnehmer und die des
Lobes vollen Anzeigen von berufener Seite beredte Zeugen : „Diese sorgfdltige Bearbeitung
des gesamten neuen Inschriftenniatertals aits dem semitischen Orient ist nicht zu entbehren.*'
(Deutsche Litteraturzeitung 1902 Sp. 88.)
Noldeke, O , Pastor in Mechtshausen, Die kirchliche Beerdigung
der Selbstmorder. Mit einem Vorworte von Professor D. O. B a u m -
garten in Kiel. Gr. 8". (80 S.) M. 1.40
Die Schrift zeichnet sich aus durch eine Fiille statistischer, sitten- und kirchen-
geschichtlicher Notizen, durch ruhige Objektivitat, vor aUem aber durch eine konsequente
evangelische Wertung des Begrabniswesens als eines Dienstes an den Hinterbliebenen.
Die Schluilthese : Kirchliche Beerdigung aller SelbstmSrder ! im Verein mit einer nOchternen
Einschrankung der unwahren Grab- bezw. Lobreden w^rde den Geistlichen aus einem
Konflikt humaner und kirchlicher Pflichten befreien, in dem unser christlicher Charakter
zumeist verkannt "wird.
14
rCaDOOy, Francis G., Professor an der Harvard-Universitat in
Cambridge, JesUS Christus Und die SOziale Frage. Autorisierte
Ubersetzung von E. Mullenhoff. Gr. 8". (3 BIL u. 328 S.)
Geh. M. 5.-; geb. M. 6.-
Zurcherische Preitagszeitung 1903 No. 31:
,/Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten,
da gibt es einen guten Klang," — singt Schiller. Solch einen guten Klang hOrt man
audi aus dem vorliegenden Werk Peabodys heraus, insofern sich in seinem Geiste der
praktisch-nuchterne Sinn des Amerikaners mit dem idealen Schwung des Germanen
gepaart hat. Auf dieser Verbindung beruht der eigentumhche Reiz des Buches. Ob
ein nationalOkonomischer Fachmann die darin entwickelten Gedanken als originale er-
kennen wird , kann ich sicher nicht ermessen , wer sich hingegen von Peabody in
dieses Gebiet erst einfuhren lallt, der fuhlt sich bestandig und fruchtbar angeregt. Der
Verfasser beginnt mit einem geschichtlichen tJberblick fiber die verschiedenen Wege,
auf denen bis dahin versucht worden ist, die soziale Frage nach Mafigabe des Evangeliums
zu lOsen, und ubt an diesen Versuchen ehrerbietige und aufrichtige Kritik. Hieran
schliefet sich, ausfuhrlich aber nicht weitlaufig, die eigene Behandlung des Problems,
und zwar so, dafe nacheinander Jesu Lehre von der Familie, iiber die Reichen, iiber
die Fursorge fur die Armen und iiber die industrielle Ordnung dargestellt wird. Dabei
ist Peabody hauptsachlich bemiiht, dem Leser einzupragen, "wie Jesus diese Verhaltnisse
von oben her betrachtet, mit einem ^veiten Blick, der nicht bei der momentanen Notlage
haften bleibt, wie er desgleichen die Menschen zu einer nicht durch Gesetze und Regain
erzwungenen, sondern aus dem Innern quellenden Wirksamkeit anleitet und alle Krafte
fur die heilige Genossenschafl des Reiches Gottes in Anspruch nimmt. Von den Er-
gebnissen, zu denen der Verfasser gelangt, nenne ich nur das eine praktische Haupt-
ergebnis: er flofit uns Mut und HofFnung ein; er erweckt in uns die begrandete tjber-
zeugung, dafe weder das Evangelium abdanken, noch auch die Entwicklung der sozialen
und industriellen Verhaltnisse stillgestellt werden mu6. Peabody zeigt uns, dafi man sich
kuhn in den Strom des modernen Lebens hineinwerfen und gerade als treuer jQnger
Christi sich darin am besten uber Wasser halten kann. — Dem Buch ist ein sehr
wertvoUes Literaturverzeichnis beigegeben."
PreUSChen, Erwin, Uc. Dr., in Darmstadt, Monchtum und
Sarapiskult. Eine religionsgeschichtliche Abhandlung. 2. vielfach
berichtigte Ausgabe. Gr. 8". (IV u. 68 S.) M. 1.40
Dieser feinsinnigen Abhandlung, deren gelehrter Apparat in 1 29 Anmerkungen
hinter den Text verwiesen ist, liegt eine schon von sachkundigster Seite willkommen
geheifiene Programmabhandlung von 1899 zugrunde, die inzwischen mannigfache Be-
richtigungen und Ervveiterungen erfahren hat.
Sticker, Georg, Dr. med., a. o. Prof, der inneren Medizin an der
Universitat Giei3en. GcSUndheit Und Erzichung. Eine Vorschule
der Ehe. Zweite vermehrte Auflage. Gr. 8«. (2 Bll. u. 275 S.)
Sch5n gebunden M. 5. —
Akademische Monatsblatter 15. Jahrgang (1903) No. 9;
Dafi ein Buch, welches nicht der Unterhaltung gewidmet ist, sondern ernste
Fragen der Erziehungslehre und der Moral ernst behandelt und dem Zeitgeist keinerlei
Konressionen macht, schon nach 2 Jahren eine neue Auflage nOtig hat, spricht nicht
nur fur die Vortrefflichkeit des Buches an sich, sondern auch filr die Wichtigkeit und
Verla^sbericht der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandbmg in Giessen No. i. IS
die Anziehungskraft des in ihm behandelten Themas. Der Verfasser, Professor der
Medizin, dabei auch ein tiichtiger Padagoge, geht von dem Grundsatz aus, da6 nur in
einem gesunden KOrper eine kraftvoUe Seele webe; es komme darum weniger darauf
an, das Leben und die Gesimdheit der Kinder zu behuten, als dafiJr zu sorgen, da6
keine kranken Kinder mehr auf die Welt kommen. Von den Eltern hange es ab, ob
ihre Kinder gesund und schOn, weise und gut, ob sie BlQten der Menschheit oder ihr
Abschaum sein "werden. Jenes wird nur dann der Fall sein, wenn die Menschheit als
Ganzes und der Einzelne im besonderen mit aller Kraft den drei schlimmsten Feinden,
von denen das kommende Leben im Keime verdorben wird, entgegen tritt. Es sind
dies die Schwindsucht, die Lustseuche und der Alkohol, in dem Buche als Weingeist
bezeichnet. Diese drei Geifeein der Menschheit, deren entsetzhche Folgen ausfuhrlich
geschildert werden, kOnnen nur dann verschw^inden, wenn die zukunftigen Eltern in
Reinlichkeit, in Mafiigkeit und Keuschheit erzogen werden, Tugenden, die von den
meisten Frauen noch geiibt werden, unter der Mannerwelt dagegen vielfach vemach-
lassigt w^erden. Soil die Menschheit wieder regeneriert werden, so mufi jedes Kind
in diesen Grundtugenden erzogen w^erden. Obgleich der Verfasser zunachst als Leibes-
arzt gesprochen hat, so lafit er sich, da nach Diderots Ausspruch alles die Gesundheits-
lehre Angehende auch die Sittenlehre angeht, schliefilich auch den Vorwurf eines
Moralpredigers gefallen. Denn so beschrankt ist sein Standpunkt nicht, da6 ihm Leben
und Gesundheit die einzigen Guter fur das menschliche Dasein waren; sie sind ihm
nur die Grundlage, auf der „die ubersinnlichen Fruchte des Geistes und der Sitte, der
Wissenschaft, Kunst und Religion sich voU entwickeln kOnnen".
Dem Ergebnis seiner auf zwingende Logik und eine Fiille von Erfahrungstat-
sachen gestutzten Untersuchungen wird man fast durchweg beitreten, die wohlmeinende
Absicht, die Freimiitigkeit und den sittlichen Ernst des Autors unter alien Umstanden
anerkennen mQssen.
Die gro6e Bedeutsamkeit des Baches far die heranreifende Jugend braucht nicht
langer dargelegt zu werden. „Gesundheit", so heifet es in den Einleitungsworten^ „ist
eine Tugend . . VoUendete Tugend ist nur da, wo voUendete Einsicht besteht."
Mangelnde Einsicht ist aber in vielen Fallen die Schuld, dafi ein junges Menschenleben
von der Pest des Alkoholismus und Syphilismus ergriffen und an Leib und Seele zu-
grunde gerichtet wird. Stickers Buch aber ist zweifellos geeignet, manchem Jungling
in den gefahrlichen Jahren ein sorgsamer Ratgeber zu sein und ihn vor Abwegen zu
behuten — ihm und seinen spateren Kindern zum Heil und zum Segen.
Zeitschrift fiir d. alttestamentliche Wissen-
schaft, herausgegeben von D. Bernhard Stade, Geh. Kirchen-
rat u. Professor der Theologie zu Giefien. 23. Jahrgang 1903- Preis
des Jahrgangs von zwei Heften 10 Mark.
Inhalt des I. Heftes:
Bender, Das Lied Exodus 15. , Klostermann, Onomasticum Marchalianum.
Zillessen, Die crux temporum in d. griech. i Preuschen, Doeg als Inkubant.
tjbersetzungen des Jesaja (c. 40 — 66) und
ihren Zeugen.
Mittwoch, Aus einer arab. Obersetzung und
Erklarung der Psalmen.
Zillessen, Berichtigungen zu Mandelkerns
kleiner Konkordanz.
V. Gall, Nachtrag dazu.
Matthes, Der Siihnegedanke bei d. Siindopfern.
Matthes, Miszellen.
Nestle, Miszellen.
16
Schill, Genesis 2,3.
V. Gall, Eine Spur von Regenzauber.
Meissner, Zu Jos. 7, 21.
Stade, Streiflichter auf die Entstehung der
jetzigen Gestalt d. alttestam. Propheten-
schriften.
Stade, Der My thus vom Paradies Gn. 2. 3
und die Zeit seiner Einwanderung in
Israel.
Bibliographie.
Inlialt des
Liebmann, Der Text zu Jesaja 24—27.
Eppenstein, Ein Fragment aus dem Psalmen-
kommentar des Tanhum aus Jerusalem.
Krauss, Die Legende des KOnigs Manasse.
Nestle, Miszellen.
V. Gall, Ein neuer hebraischer Text der
Zehn Gebote und des Schma'.
Die voUstandigen Jahrgange
Reihe noch samtlich geliefert
Jahrgange hangt vom Vorrat ab.
2. Heftes:]
Lambert^ Berichtigungen zur kleinen (und
grofien) Konkordanz von Mandelkern.
V. Gall, I. Nachti-ag.
Nestle, II. Nachtrag.
Algyogyi-Hirsch , Ober das angebliche Vor-
kommen des biblischen Gottesnamens ni,T
in altbabylonischen Inschriften.
[ Bibliographie.
1—22 kOnnen in geschlossener
werden; die Einzelabgabe fruherer
Zeitschrift fur d. neutestamentliche Wissen-
schaft und die Kunde des Urchristentums,
herausgegeben von Dr. Erwifl PreUSChen in Darmstadt. 4. Jahr-
gang 1903, Heft 1 — 3. Preis des Jahrgangs von vier Heften 10 Mark.
Inhalt:
. Heft:
Usener, Geburt und Kindheit Christi.
Corssen, Die Urgestalt der Paulusakten.
Schwartz, Zu Eusebius Kirchengeschichte.
Preuscken, Bibelzitate bei Origenes.
Schjott, Eine religionsphilosophische Stelle
bei Paulus (Rem I, 18 — 20).
Butler, An Hippolytus Fragment and a word
on the Tractatus Origenis.
Preuscken, Miszellen.
2. Heft:
Bugge, Das Gesetz und Christus nach der An-
schauung der altesten Christengemeinde.
Kattenbusch, Der Martyrertitel.
Soltau, Die Herkunft der Reden in der
Apostelgeschichte.
Corssen, Zur Chronologie des Irenaeus.
Vischer, Die Zahl 666 Ape 13, 18.
Miszellen :
Nestle, Eine lateinische Evangelienhand-
schrift des X. Jahrhunderts.
Linder, 0. Holtzmann und A' Goetz, Zur
Salbung Jesu in Bethanien.
Forster, Nochmals Jesu Geburt in einer
HOhle.
Nestle, Zur Genealogie in Lukas 3.
Suhbach, „Die SchlQssel des Himmelreichs"-
3. Heft:
Deissmann, IXa<mipioc i),aiTCTipiov.
5i:/-a<r,4,Af.i.,DieMallerinnunginAlexandrien.
Hauschildt, UpeaPu-uepoi in Agypten im
I. — 3. Jahrhundert n. Chr.
Rodenbusch, Die Komposition von Lukas 16.
Nestle, Neue Lesai'ten zu den Evangelien.
Miszellen :
Corssen, ZurVerstandigung fiber Apok 13, 18.
Hoss, Tm den Reiseplanen des Apostels
Paulus in Kor. I und II.
Nestle, Ein Andreasbrief im N. T.
Nestle, Sykophantin im biblischen Griechisch.
Nestle,'DeT siilaeGeruch alsErweisd. Geistes.
Die Zeitschrift erscheint jahrHch in vier Heften in der Starke
von je etwa 6Bogen, die im Februar, Mai, August und November
ausgegeben werden. Die Jahrgange I bis III kCnnen zum Preise von
je 10 Mark nachbezogen werden.
Verlagsbsricht der J. Richer' scken Verlagshuchhandlung in Giessen No. i.
17
Biicher aus den letzten Jahren:
Das spatere Judentum als Vorstufe des Christentums
1900. von Prof. D. W. Baldensperger in Giefien. M. — .60.
Die Religion des Volkes Israel
bis zur Verbannung
von Prof. D. Karl Budde in Marburg.
Geh. M. 5.—. 1900. Geb. M. 6.—.
Der Kanon des Alten Testamentes.
Ein Abrifi
1900. von Prof. D. Karl Budde in Marburg. M. 1.40.
Die Ebed-Jahwe-Lieder
und die Bedeutung des Knechtes Jahwe's (in Jes. 40 — 55)
1900. von Prof D. Karl Budde in Marburg. M. 1.50.
Das Christentum als Religion des Fortschritts.
Zwei Abhandlungen :
„Das soziale Programm des Apostels Paulus" — ^Die Inspiration der heiligen Schrift".
1900. Von Dr. theol. Chr. A. Bugge in Christiania. M. 1.40.
Einleitung in das Buch Jesaia.
Von Prof. D. T. K. Cheyne in Oxford.
Deutsche Ubersetzuog von Lie. Dr. Julius Bohmer.
Geh. M. 12.—. 1897. Geb. M. 13. 50.
Das religiose Leben der Juden
nach dem Exil
von Prof D. T. K. Cheyne in Oxford.
Deutsche Ubersetzung von Pfarrer H. Stocks.
Geh. M. 5 — . 1899. Geb. M. 6.20.
Niedergefahren zu den Toten.
Ein Beitrag zur M^iirdigung des Apostolikums
1900. von Prof. Lie, Dr. Carl Clemen in Bonn. M. v-
18
Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel
ihr gegenwartiger Stand und ihre Aufgaben
von Prof. D. G. A. Deissmann in Heidelberg. M. — .80.
Zur Geschichte des Gottesdienstes
und der gottesdienstlichen Handlungen in Hessen
von Lie. theol. Wilhelm Diehl, Dr. phil.
Cell. M. 5. — . 1899. Geb. M. 6.
Zur Geschichte der Konfirmation.
Beitrage aus der hessischen Kirchengeschichte
von Lie. theol. 'Willielni Diehl, Dr. phil.
Geh. M. 2.bo. 1897. Geb. M. 3.50.
Die Bedeutung der beiden Definitorialordnungen
von 1628 und 1743
filr die Geschichte des Darmstadter Definitoriums
1900. von Lie. theol. 'Wilhelm Diehl, Dr. phil. M. 1.60.
Eine jakobitische Einleitung in den Psalter
in Verbindung mit zwei Homilien aus dem grofien Psalmenkommentar des Daniel von Salah
zum ersten Male herausgegeben, iibersetzt und bearbeitet von
Pfarrer Lie. Dr. G. Diettrich in Berlin (frQher London).
Grofi-Oktav. 1901. M. 6.50.
Iso'dadh's Stellung in der Auslegungsgeschichte
des Alten Testamentes an seinen Kommentaren zu Hosea, Joel, Jona, Sacharja 9 — 14
und einigen angehangten Psalmen veranschauhcht von
Pfarrer Lie. Dr. G. Diettrich in Berlin (fruher London).
Grofi-Oktav. 1902. M. 7.50.
Das Leben Jesu bei Paulus
1900. von Dr. Richard Drescher, Pfarrer. M. 1.80.
Die Anschauungen Luthers vom Beruf.
Ein Beitrag zur Ethik Luthers
1900. von Prof. Lie. Karl Eger in Friedberg. M. 3.60.
Luthers Auslegung des Alten Testaments
nach ihren Grundsatzen und ihrem Charakter untersucht an der Hand seiner Predigten
fiber das I. und 2. Buch Mose (1524 FF.)
I goo. von Prof Lie. Karl Eger in Friedberg. M. 1.40.
Vertagsbericht der J. Richer' icken Verlagi-buchhandhmg in Giessen No, 1. |9
Festgruss Bernhard Stade
zur Feier seiner 25 jahrigen Wirksamkeit als Professor dargebracht
1900. von seinen Schulern. M. lO,-
Die Rechtslage des deutschen Protestantismus
1800 und 1900
1900. von Pfarrer Erich Foerster in Frankfurt a: M. M. — .80.
Die Datierung der Psalmen Salomos
Ein Beitrag zur judischen Geschichte
1896. von Pfarrer W. Franfcenfaerg, Lie. theol. M. 3.20.
Schleiermachers Religionsbegriff und religiose Stellung
zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden (1799 — 1806).
1901. Von Lie. Emil Fuchs in Giessen. M. z.-
Die Herrlichkeit Gottcs.
Eine bibliseh-theologisehe Untersuchung, ausgedehnt uber
das Alte Testament, die Targume, Apokryphen, Apokalypsen und das Neue Testament
von Lie. theol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil.
Grofi-Oktav. 1900. M. 3.20.
Zusammensetzung und Herkunft der Bileamperikope
in Num. 22 — 24
1900. von Lie. tlieol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil. M. 1.50.
Altisraelitische Kultstatten
von
Lie. theol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil. M.
Das Christentum Cyprians.
Eine historisch-kritische Untersuchung
1896. von Pfarrer Lie. K. G. Goetz, Priv.-Doz. in Basel. M. 3.60.
Der asthetische Genuss
von
Prof. Dr. Karl Groos in Giefien.
Geh. M. 4.80. 1902. Geb. M. 6.-
20
Die religiosen und philosophischen
Grundanschauungen der Inder.
Aus den Sanskritqucllen vom vOlkergeschichtl. Standpiinkte des Cliristentiims aiis
dargestellt und beurteilt
'902. von Pfarrer Julius Happcl in Hcubach. M. lo —
Schriften von Adolf Harnack.
Martin Luther
in seiner Bedeutung fur die Geschichte der Wissenscliaft
3. Aul'lage. und der Bildung. M. — .60.
Sokrates und die alte Kirche.
igoi. Rektoratsrede. M. — .50.
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten
I. — 3. Auflage. und die allgemeine Religionsgeschichte. M. — .50.
Synopse der drei ersten kanonischen Evangelien
mit Parallelen aus dem Johannes-Evangelium
von Reinold Heineke.
Geh. M. 3.—. 3 Teile. Geb. M. z|.so.
Religionsgeschichtliche Vortrage
von Prof. D. Oscar Holtzmann in Giefien.
Geh. M. 3.—. 1902. Geb. M. 4.—
Das Messiasbewusstsein Jesu
und seine neueste Bestreitung
1902. von Prof. D. Oscar Holtzmann in Giefien. M. — .50.
Die judische Schriftgelehrsamkeit zur Zeit Jesu
von
iqoi. Prof. D. Oscar Holtzmann in Gieiaen. M. — .70.
1900.
Luthers religioses Interesse
an seiner Lehre von der Realprasenz.
Eine historisch-dogmatische Studie
von Oberlehrer Lie. Karl Jager in Friedberg. M. 2. — .
Verlagsbericht der jf. Bicker' scheu Virtagshuchhandlung in Giessen No. 1. 21
Kultus- und Geschichtsreligion
(Pelagianisraus und Augustinismus).
Ein Beitrag- zur religiosen Psychologie und Volkskunde
igo'- von Lie. Johannes Jiingst, Pfarrer. M. 1.60.
Ausgewahlte christliche Reden
von Sofen Kierkegaard.
Ubersetzt von Julie von Reincke.
Geh. IVI. 3. — . IVIit einem Bilde Kierkegaards und seines Vaters. Geb. IM. '\. — .
Zwei ethisch-religiose Abhandlungen
von
Soren Kierkegaard.
I. Darf ein Mensch sich filr die Wahrheit toten lassen?
2. Uber den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel.
1901. Ubersetzt von Julie von Reincke. M. 7.60.
Joh. Fr. Herbart
Sein Leben und seine Philosophic
dargestellt von
Priv.-Doz. Dr. Walter Kinkel in Giefien.
Geh. M. 3.—. 1903. Geb. M. 4.-
Die neuen Funde auf dem Gcbiete der altesten
Kirchengeschichte (1889— 1898)
von Prof. D. Gustav Krtiger in Giegen. M. — .60.
Wilhelm von St. Thierry
ein Reprasentant der mittelalterlichen FrSmmigkeit
von Lie. Hermann Kutter. M. 4.50.
Clemens Alexandrinus und das neue Testament
1897. von Lie. Hermann Kutter. M. 3.60.
Untersuchungen zum Buch Amos
von
D. Dr. Max Lohr, Prof. i. Breslau. M. 2.50.
22
Der deutsche Protestantismus
und die Heidenmission im J 9. Jahrhundert
von Prof. D. Karl Mirbt in Marburg. M. 1.20.
Abendstunden.
Religiose Betrachtungen
von Prof. Fr. G. Peabody in Cambridge.
DeiUsch von E MuUcuhoff, mit eiuem Vorvvort von Prof. D. O. Baumgarten in Kiel.
Gro(3-Oktav. 1902. Geb. M. 2.50.
Antilegomena.
Die Reste der auGerkanonischen Evangelien
und urchrisdichen Uberlieferungen
herausgegeben und ubersetzt
■901. von Lie. Dr. Erwin Preoschen. M. 3. — .
Die apokryphen gnostischen Adamschriften
aus dem Armenischen ubersetzt und untersuclit
1900. von Lie. Dr. Erwin Preuschen. M. 2.50.
Palladius und Rufinus.
Ein Beitrag zur Ouellenkunde des altesten MOnchtums.
Texte und Untersuchungcn
1897. von Lie. Dr. Erwin Preuschen. M. 12. -
Religion und Moral
Streitsatze fiir Theologen
■898. von Priv.-Doz. D.Martin Rade in Marburg. M. —.bo
Konnte Jesus irren?
1896. von Prof. Dr. Paul SciiwarUkopff in Wernigerode. M. i. — .
Ausgewahlte akademische Reden und Abhandlungen
von Prof. D. Bernhard Stade in Giefien.
Geh. M. 6.— . 1899. Geb. M. 7.25.
Die Entstehung des Volkes Israel
1899. von Prof. D. Bernhard Stade in Giefien. M. — .bo.
Verlagsbericht der y. Ricker'scken Verla^sbuckhandlung iti. Giessen No. /. 23
The Composition and historical Value of Ezra-Nehemiah
by Dr. Charles C. Toffey in New Haven.
M. 2.40.
Amos und Hosea.
Ein Kapitel aus der Geschichte der israelitischen Religion
von Prof. Dr. J, J. P. Valeton jr. in Utrecht.
Deutsche Ubersetzung von Fr. K. Echt ernach t.
M. 3.60.
Die Bildersprache Jesu
in ilirer Bedeutung fur die Erforschung seines inneren Lebens
1900. von Lie. Dr. Heinrich Weinel, Priv.-Doz. in Bonn. IVI. 1.20.
Die Idee des Reiches Gottes in der Theologie
1900.
von Prof. D. Johannes Weiss in Marburg.
Oktav.
M. 3.-
Die Flugschrift „Onus ecclesiae" (1519)
mit einem Anhang iiber sozial- und kirchenpolitische Prophetien
1 901. von Dr. phil. Heinrich Werner. M. 2.
Inhaltsverzeichiiis.
Badevf Turm- und GloclcenbiJchlein 1 1
Jiauevt Der Apostolos der Syrer 5
Tiautnann, Auf ban der Amosreden . 1 2
Budde, Das AT. und die Ausgrabungen.
2. Aufl. I 2
Buygef Die Haupt-Parabeln Jesu 5
Clemeuf Paulus. Sein Leben und Wirken 12
IHbeliiiSf Das Vaterunser 13
Diettj-ich, Die nestorianische Taufliturgie 1 3
— Die neusten Angriffe
Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert
Eibaeli, Unser Volk und die Bibel
Gfessmann, Musik und iVIusikinstrumente
im AT. .
Tlamackf Act., Reden und Aufsatze
— • Das IVIOnchtum, 6. Aufl.
— Augustins Konfessionen, 3. Aufl.
Hepding, Attis, seine Mythen und sein
Kult
Jlerzog, Der Begriif ^er Bekehrung
JcmUowjr., M. Die Religion Babyloniens
und Assyriens. Deutsche Ausgabe
Kattenbuscli, Von Schleiermacher zu
Ritschl. 3. Aufl. .
JAdzharski, Ephemeris fiir semitische
Epigraphik. II. Band i . Heft
'Sellie, Mutter und Kind ....
NUtdekSf Die kirchliche Beerdigung der
Selbstmorder ...
Peahody, Jesus Christus und die soziale
Frage ....
Preuschen, Monchtum und Sarapiskult.
2. Ausg. . .
Huhl, De mortuorum iudicio
Siickerf Gesundheit u. Erziehung. 2. Aufl.
Versuche und Vorarbeiten , religions-
geschichtliclie
Zeitschrift f. d. alttestamentliche Wissen-
schaft . . ....
Zeitschrift f.d. neutestamentlicheWissen-
schaft .
14
14
II
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IS
15
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IS
17
Verlagsbericht der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung in Giessen No. /.
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