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Full text of "Reden und Aufsätze"

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QEP: ^HAtSAma 



BOUGHT WITH THE INCOME 
FROM THE 

SAGE ENDOWMENT FUND 

THE GIFT OF 

flettrg W. Sage 

1891 



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5474 



CORNELL UNIVERSITY LIBRARY 




3 1924 092 348 584 




Cornell University 
Library 



The original of tiiis book is in 
tine Cornell University Library. 

There are no known copyright restrictions in 
the United States on the use of the text. 



http://www.archive.org/details/cu31924092348584 



ADOLF HARNACK 
REDEN UND AUFSATZE 

ERSTER BAND 



REDEN UND AUFSlTZE 



VON 



ADOLF HARNACK 



EESTER BAND 



— a®c>- 



aiESZEN 

J. eio;ker'sohe veelaqsbtjchhandlung 

(ALFBED tOPELMANN) 

1904. 

T 



Druok von C. &. Roder in Leipzig. 



MEINEM SCHWA&ER UND FREIINDE 
HANS DELBRtJCK 



VORWORT 



In diesen beiden Banden habe icb solclie „Redeii und 
Aufsatze" gesammelt, die sich. an einen weiteren Leserkreis 
■wenden. Sie stammen aus einem Zeitraum von mekr als 
zwanzig Jakren. Obschon ici jetzt dieses und jenes Thema 
etwas anders behandeln wiirde, glanbte ich. docli die ein- 
zelnen Stiicke unverandert in der Grestalt aufnehmen zu 
sollen, in welcber sie nrspriinglicli erscMenen siad, da mir 
kein einziges in seinen Grand gedanken fremd geworden ist. 
Die „Ileden" des ersten Bandes sind so geordnet, dafi sie 
einen Gang durch. die Kircliengeschiehte darstellen; die 
des zweiten Bandes beziehen sicb vorneTimlich auf wichtige 
kirclilicbe Probleme der Gegenwart. Einen Aufsatz — 
den ersten des zweiten Bandes — , der nur in englischer 
IJbersetzTing erscMenen ist, babe icb in dieser Spracbe aufs 
nene zum Abdruck gebracht, da icb das deutsche Manu- 
skript nicbt mebr besitze und eine Riickiibersetzung sieb 
nicbt empfabl. Fortlassen wollte icb das Stiick aber nicbt, 
da es die "Wendung, welcbe die Gescbicbte der Erforscbung 
des TJrcbristentnms um das Jabr 1885 genommen bat, 
widerspiegelt. 

Berlin, im September 1903 

ADOLF HARNACK. 



INHALTSVERZEICHNIS DES ERSTEN BANDES 



EESTE ABTEILUNG: EBDEN 

Seite 

I. Legenden als GeschiclitsqueUeii (1890) .... . 1 

n. Sokrates und die alte Kirche (1900). . . 27 

m. Augustins Konfessionen (1887) ... .49 

- IV. Das Monehtum, seine Ideale UDd seine GeschicMe (1880) 81 
^ V. Martin Luther, in seiner Bedeutung fiii- die Geschichte 

der Wissenschaft und der Bildung (1883) . . . 141 

- VI. Philipp MelancMlion (1897) 171 

Vn. August Neander (1889) . . 193 

ZWEITE ABTEILUNG: AUESATZB 

I. Das apostoEselie Glaubensbekenntnis, ein geschichtliclier Be- 

richt nebst einer Einleitung und einem Nachwort (1892) 219 
n. Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Zum Kampf 

um das Apostolikum (1892) . . 265 

in. Als die Zeit erfflUet war. Der HeUand (1899/1900) . 299 
IV. tJber die jiingsten Entdeckungen auf dem Gebiete der 

altesten Kirchengeschichte (1898) . . 313 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
^m ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^ 



REDEN: I 
LEGENDEN ALS GESCHICHTSQUELLEN 



Vortrag 

gehialten am 4. II. 1890 in der Neuen Kirclie zu Berlin. Erschienen 

im Druck in: PreuB. Jahrbiiclier, Band 65 (1890) Heft 3. 



Luther hat als Student auf der Bibliothek zu Erfurt 
zum erstenmal eine Bibel gefunden und mit freudigem Er- 
staunen das unbekannte Buck aufgeschlagen. — Nach 
seinem Gesprach mit dem Kardinal Cajetan in Augsburg 
ist dieser in die "Worte ausgebrochen: „ich will nicht weiter 
mit dieser Bestie reden; denn sie hat tiefe Augen und 
wundersame Spekulationen im Kopfe". — Auf der Wart- 
burg hat Luther das Tintenfafi nach dem Teufel, der ihn 
bedrangte, geworfen, sodaC der Fleck noch heute zu sehen 
ist: "Wer unter uns kennt diese Erzahlungen iiber Luther 
nicht und halt sie nicht hoch? Ahnliche Geschichten, 
Legenden, sind uns von vielen grofien Personen beiichtet, 
und dariiber hinaus wunderbare Ereignisse. Die Wunden- 
male des h. Franziskus, das Rosenwunder der h. Elisabeth, 
der Kaiser Karl im Untersberg, der Kaiser Friedrich im 
Kyffhauser, die reiche Kaiserlegende des Mittelalters iiber- 
haupt. Dann wiederum unvergeBliche Worte, wie jenes 
unerschiitterhche Gahleis: „Und sie bewegt sich doch", oder 
jenes ruhrende des greisen Evangehsten Johannes, unab- 
lassig wiederholt: „Kindlein, liebet euch untereinander", 
oder jenes verzweifelte Bekenntnis Julians des Abtriinnigen, 
als er die Todeswunde empfing: „Du hast gesiegt, Gahlaer". 

Von alien diesen Erzahlungen und vielen ah n lichen 
wissen wir heute, dai3 sie nicht tatsacMiche Wahrheit 
wiedergeben oder mindestens nicht bewiesen werden konnen. 
Und doch erzahlen wir sie weiter, nicht nur den Kindern, 
sondem auch den Erwachsenen, und halten es fur schlimmer, 
sie nicht zu kennen als manche Ziige beglaubigter Ge- 
schichte. Lassen sie sich malerisch darsteUen, so begliick- 

1* 



4 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

■wiinschen wir den Kiinstler, der sicL. solche Stoffe gewahlt 
hat. Man kann nichts Schoneres seten als die "Wunder 
des h. Franziskus, gemalt von Griotto, und man kann nicMs 
Eindmcksvolleres und Grewaltigeres in sich. atifnelimen, als 
die Propketen und Sibyllen Mickel Angelos in der Sixtina 
— und dock sind diese Sibyllen nur Grestalten der Legends, 
und die Wunder des Eranziskus Stlicke einer GrescMchte, 
die sick niemals begeben kat. 

Ick meine, es verloknt sick wokl der Muke, eiae 
fliicktige Stunde dem Nackdenken dariiber zu widmen, was 
denn eigentiick Legenden sind, warum sie uns teuer sind 
und ob sie uns teuer bleiben diirfen. Wir leben in einem 
Zeitalter, das vielleickt nickt geringeren Selbsttausckungen 
ausgesetzt ist, als die vergangenen, aber dock ernstkafter 
als die nieisten der friikeren sick bemiikt, der wirkkcken 
Gesckickte ins Auge zu seken. Wir sind angstkck besorgt, 
uns vor Tausckungen zu sickem. Wenn wir manckes von 
dem verloren kaben, was den frukeren Grescklecktern als 
unantastbar und kerrkck gait, so woUen wir wenigstens 
den kerben Trost bekalten, dafiir die Wakrkeit zu besitzen. 
Was soUen nun nock die Legenden? Sind sie nickt das 
Uberbleibsel einer Epocke, die anders empfand und anders 
urteiLte als wir? Konnen sie uns denn iiberkaupt irgend 
etwas lekren? oder kaben sie nickt vielmekr die Menscken 
stets in die Irre gefiikrt und kalten sie nock keute mit 
Tausckungen kin? 

GrewiB — die Legende ist in vieler Hinsickt die 
sckUmmste, nie rastende Eeindin der wirklicken Gresckickte. 
Man kann sie der Scklingpflanze vergleicken, die aufwackst, 
wo nur immer Gresckickte aufwackst. East gleickzeitig 
mit dem groBen Ereignis und mit dem groBen Mann strebt 
auck die Legende auf. Je groCer jene werden, um so 
starker wuckert auck sie. Sie umrankt und umklammert 
elementare Ereignisse ebenso wie gewaltige Taten, das 
Eaktum ebenso wie die Person. Sie sendet ihre Ranken 



Legenden als Gre3oliiohtsc[uellen. 5 

von Baum zu Baum; je hoher der Stamm, um so dicMer 
und fester umzielit sie iJin. Zuletzt ist der ganze Wald 
in ein G-e-wiiT von Ranken und Laub gescMungen. Ein 
Stamm nach dem andern ist ausgesogen und verdorrt: 
nicht mehr die natiirliolie Mannigfaltigkeit der verschie- 
denen Baume stellt sich dem Beschauer dar; uberall er- 
scteiat das eiaformige Laub der ScMingpflanze ; nur das 
unbedeutende Grestriipp am niederen Waldboden bleibt 
verscbont. 

Das ist das Bild, welcbes die von der Legende um- 
sponnene Gescbicbte bietet. Bedarf es Beweise? Was baben 
die Grriecben, was die Romer von ihrer altesten Grescbicbte 
gewuCt? So gut wie nichts mebr, weil die Legende alles 
iiberwucbert batte. Was Livixis von der altesten Gescbicbte 
Roms bericbtet, ist mannigfaltig genug; aber fast nicbts 
bait vor der KJritik Sticb. Man wendet ein, das lage zu 
weit zuriick; denn es fiibre in das Kindesalter der europa- 
iscben MenscKbeit. Nun wobl, blicken wir auf das Mittel- 
alter! Was bat man im Mittelalter von der altesten Ge- 
scbicbte des Cbristentums gewuJJt, von der Gescbicbte 
Jesu Cbristi, von dem apostobscben Zeitalter, von den 
Cbristenverfolgungen, von der Entstebung der katbo- 
liscben Kircbe und dem Ursprung des Papsttums, von 
dem groCen Umscbwung unter Konstantin und der Ent- 
stebung der Staatskircbe? Icb sage nicbt zu viel, wenn 
icb bebaupte, daB man weniger als nicbts gewuUt bat; 
denn nur nebelbafte und unsicbere Erinnerungen an die 
Wirklicbkeit waren vorbanden, wabrend ein ungebeures 
Gestriipp fortwucbernder Legenden alles iiberzog. Die Le- 
gende berrscbte damals ebenso im Abendland, wie im 
Morgenland. Volkstiimlicb und nationalkircbbcb verscbie- 
den war sie ausgepragt; in ibren Grundziigen war sie die- 
selbe. In dem weiten Gebiete der romiscben Kircbe zeigte 
sie sicb in wesentlich einformiger Gestalt. Man erzablte 
sie in Spanien ebenso wie in England, auf SiziUen nicbt 



5 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

anders als in Schweden; denn was man erzahlte, war die 
legendarisclie Uberlieferung der romischen Kirche. Noch. 
schlimmer herrschte sie bei den Christen des Orients. "Wie 
die heiCe "Wiistensonne im Hochsommer alles Grriinende ver- 
zehrt, so erscheint z. B. in der koptisclien Klrclie alle wirk- 
liche Erinnerung ausgebrannt durch. die Grlut der Martyrer- 
und Heiligen-Legenden. 

Lassen Sie mich. das mittelalterlicbe Geschicbtsbild in 
wenigen Stricben zeicbnen. Es gebort ja leider zum ge- 
ringsten Teile der Vergangenbeit an: die katboliscbe Kircbe 
bait nocb beute das meiste aufrecbt. Und viele von den 
Legenden, die sie erzablt, gleicben nicbt einmal der Scbling- 
pflanze, die wenigstens naturwiichsig anfstrebt; sie gleicben 
vielmebr der weiBgrauen Tiincbe, mit der ein Barbar die 
berrlicben Ereskogemalde in dem Kreuzgang einer Eircbe 
bedeckt. Scbon bier begegnet uns ein bedeutungsvoller 
Unterscbied zwiscben Legende und Legende, d. b. zwiscben 
der naiven und der tendenziosen Legende. 

Wobl wurden die Evangelien und die Apostelgescbicbte 
im Mittelalter fort und fort gelesen; aber viel lebbafter be- 
scbaftigten die Pbantasie die unzabligen Legenden, die von 
Jesus Cbristus, der Jungfrau Maria und den Aposteln er- 
zablt und wie das EvangeHum geglaubt wurden. Joacbim 
und Anna die Eltem der Maria, Maria als Nonne im Tempel 
erzogen, Jesus Cbristus als Eand die staunenswertesten 
Wunder verricbtend: man bat umfangreicbe Biicber aus 
ibnen zusamm engestellt , daU er als zartes Eand aus Lebm 
Vogel bildete und sie dann fliegen lieC und vieles abnlicbe. 
Dann Marias Grescbicbte als ParaUele zur Gescbicbte Cbristi, 
durcbgefiibrt bis zur Himmelfabrt. Die Apostel samtbcb 
nacb strenger Moncbsregel lebend, die Wirksamkeit jedes 
einzelnen eine Kette erstaunlicber Wunder; in Jerusalem 
balten sie ein Konzil ab und verteilen die Welt unter sicb; 
dann zieben sie binaus, ein jeder zu den ibm bestimmten 
Volkern; scbon nacb einem Menscbenalter ist das Cbristen- 



Legenden als Q-esohiohtsquellen. 7 

tTim in der ganzen Welt verkiindet worden. Nach England 
geht Joseph von Arimathia als Missionar, nach Frankreich 
jener Dionysins, den Panlus zu Athen bekehrt hatte. Als 
Oberbischof waltet iiber dem ganzen Abendlande der Apostel 
Petrus. Ihn hat Christns zum Papst eingesetzt; er nahm 
daher seinen Sitz in Eom und hat dort 25 Jahre als Bischof 
gewirkt. Von Rom ans hat er Bistiimer in Italien, Spanien, 
Frankreich und Deutschland gegriindet, indem er seine 
Schiller ordinierte und als Bischofe iiberall hinsandte, z. B. 
auch nach Koln, Trier und Mainz. Dann kamen die Ver- 
folgungszeiten. Fast jeder romische Kaiser, von Nero bis 
Konstantin, wurde als wiitender, furchtbarer Christenver- 
folger dargesteUt. Dreihundert Jahre lang sind fort und 
fort Strome von Blut geflossen; aUe romischen Bischofe z. B. 
sind Martyrer geworden. Dann auf einmal, ohne Vorbe- 
reitung, der herrlichste Umschwung! Die Sonne strahlt auf 
iiber dem Leichenfeld : Grott erweckt Konstantin den Q-roiJen. 
Dieses auserwahlte Riistzeug rottet das Heidentum aus und 
setzt die Kirche auf den Thron. Schon beim Antritt seiner 
Herrschaft laBt er sich vom romischen Bischof Sylvester 
taufen und schenkt diesem dafiir Italien und die Inseln 
d. h. nicht -weniger als aUe Inseln, die es auf der Erde gibt. 
Er selbst verlaBt Rom und schlagt seinen Herrschersitz in 
Konstantinopel auf; denn es ziemte ihm nicht, neben dem 
Statthalter Christi in derselben Stadt zu regieren. Dieser 
bleibt in Rom und iibertragt spater die romische Kaiserkrone 
kraffc eigener MachtvoUkom m enheit auf Karl den Grofien. 
In alien diesen Legenden und hundert ahnhchen, "welche die 
Geschichtsbetrachtung und Politik des Mittelalters bestimmt 
haben, ist Naives und Tendenzioses wundersam gemischt. 
Aber immer starker iiberwog das tendenziose Element. Wie 
vieles, was sich auf den romischen Bischof bezieht, ist Ten- 
denzlegende! Nachdem im 8. Jahrhundert die Geschichte 
von der Schenkung Konstantins erfunden worden war, 
folgte im. 9. Jahrhundert die verhangnisvoUste Legenden- 



8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

bildung, die in der Kirclie je vorgekommen ist und welclie 
das Andenken an die 'wahre Grescliiclite fast vollig austilgte. 
In einer gefalscMen Briefsammlung wnrden jedem der altesten 
romischen Biscliofe von Petrus bis zixm 4. Jahrlmndert Briefe 
beigelegt, und jeder spricbt in ihnen wie ein Papst des 
9. Jakrhunderts. Da man diese Briefe fiir echt nabm, so 
erloscb das Andenken an die -wirkliclie G-eschiclite; es ist 
zu den Zeiten des lieiligen Petrus und seiner nacbsten 
Nacbfolger in Rom und in der Kircbe alles genau so ge- 
"wesen, wie es beute dort ist. Diese Annahme, die sicb wie 
ein LeiclientucL. auf die wirklicbe Gresducbte legte, war 
die notwendige Folge der Legendenbildung, und sie setzte 
sich. mit erstaunliclier Schnelligkeit durch. Seitdem sab 
man die Yergangenbeit der Ejsrcbe wesentlicb nur als den 
Reflex ibrer Gegenwart. 

Die Legende bat bier ibr Werk wirklicb vollbracbt. Es 
bandelte sicb im Mittelalter nicbt nur um einzebie unricbtige 
legendariscbe Ziige an dem Grescbicbtsbilde der Yergangen- 
beit; nein — dieses Bild selbst wurde ganz und gar durcb 
ein anderes ersetzt. AUein nicbt nur im Altertum und im 
Mittelalter ist das gescbeben. Wenn wir beute unsere groiJen 
Historiker, welcbe die neueste Gescbicbte scbreiben, be- 
fragen, welcbes der scbwierigste Teil ibrer Aufgabe sei, so 
antworten sie uns einmiitig, der Kampf wider die Legende. 
Sie reden von einer fridericianiscben , einer napoleoniscben, 
einer koburgiscben Legende, und wiederum von einer Le- 
gende des Liberalismus, der Konservativen usw. Eine jede 
politiscbe und kircblicbe Partei bat ibre Legenden, Tind 
diese Legenden, sagen sie, lasten mit Zentnerscbwere auf 
der Erkenntnis der Grescbicbte. Sollen wir diese Legenden, 
nur well sie keine Wunder und Zeicben entbalten, von den 
alten Legenden unterscbeiden? Ein durcbscblagender Grund 
laCt sicb nicbt linden. Kernige Zusammenfassungen zu 
unwirMicben Anekdoten und wiederum pure tendenziose 
Erfindungen scblimmster Art finden sicb bier wie dort. Die 



Legenden als Gesohiclitsquellen. 9 

Unterscliiede kommen lediglich durch. die Coulissen der Zeit 
und der aUgeraeinen Kultur zustande. Aber wo hort die 
GescMclite auf, und wo fangt die Legende an, wenn wir 
dem "Worte die weiteste Bedeiitung geben? Die Frage 
scheint keine ganz einfaclie zu sein; denn wir seken Manner 
von erprobter Wahrbeitsliebe heftig iiber sie streiten. Der 
eine schreibt ein GescMchtswerk nnd meint in allem der 
Wahrbeit die Ebxe gegeben zu baben. Aber ein anderer 
tritt auf und erklart diese Darstellung fiir legendariscb. 
Gregen ein katboliscbes GrescMchtswerk iiber die Reformation, 
das vor zwei Jabrzebnten erscbienen ist, erboben sicb ein- 
bellig die protestantiscben Gelebrten und bezeicbneten die 
Darstellung als Tendenzlegende. Das ist sie aucb. Dennocb 
kann man dem Verfasser kaum irgendwo nacbweisen, daC 
er dem gefolgt sei, was man im gemeinen Sinn „ Legenden" 
nennt. Er scbrieb seine Gescbicbte groBtenteils aus Quellen- 
stellen zusammen, und docb soil sie Legende sein? Bei 
dieser paradoxen Bebauptung konnen wir ankniipfen. Wir 
miissen ims fragen: "Was ist denn eigentbcb Legende? 
Tiber ibren Unwert und ibxen "Wert vermogen wir nur zu 
urteilen, wenn wir ibre Natur kennen gelernt baben. Was 
ist Legende? Nim, daiJ sie und die ibr verwandte „Sage" 
etwas anderes ist als ein Mytbus oder als ein Marcben, ist 
uns unmittelbar deutlicb, wenn aucb nicbt wenige Sagen 
aus Legenden und Mytben gemiscbt sind. Der Mytbus 
stammt aus der religiosen JSTaturbetracbtung vergangener 
Zeiten: der Kampf des Zeus mit den Titanen ist ein Mytbus. 
Das Marcten nimmt seiae Stoffe, wo es sie findet und will 
ledigbcb unterbalten. Das Reicb des Marcbens ist die 
scbrankenlose, unermeBlicbe Pbantasie. Was aber will die 
Legende? Unser Spracbgebraucb scbeint auf den ersten 
Blick keine einfacbe Antwort zuzulassen. Er nennt Wunder- 
gescbicbten Legenden; er nennt Gescbicbten , die an sicb 
wabr sein konnten, es aber nicbt sind, aucb Legenden; er 
nennt fromme Erzablungen so, und andererseits bezeicbnet 



10 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

er umfassende GescMcMsdarstelluiigen unter Umstanden als 
legendarisch. Wo ist Mer ein Gremeinsames? Ein Gemein- 
sames ist dennocli vorhandeii, und man kann es mit ein em 
Worte ausdriicken: die Legende will die GrescMcMe charak- 
terisieren. Die Legende — im weitesten Sinn des "Wortes 
— ist Beurteilung der Greschiclite in der Form der Gre- 
schiclitserzahlung. In den Mitteln fiir solche Beurteilung 
ist sie nicht wahlerisch.. Sie beurteilt die Greschichte erst- 
lich, indem sie in einem ungelieuren wunderbaren Ereignis 
den ganzen Eindruck derselben zusammenfaCt: Konstantin 
der Grofle hat am hellichten Tage ein Kreu^eszeichen am 
Him m el geschaut mit der Aufschrift: „In diesem Zeichen 
wirst du siegen". So vollzog sich. in ilim und im Reiche 
der plotzliclie grofie Umsckwung. Die Legende beurteilt 
die Geschickte zweitens aber, indem sie in einer scblagen- 
den Anekdote, in einem kraftigen Wort den Wert und die 
ganze Bedeutung einer Person zum Ausdruck zu bringen 
sucbt. Wir erinnern uns an das Galilei in den Mund ge- 
legte Wort: „Und sie bewegt sicb doch.", und an viele 
ahnlicbe. Die Legende beurteilt die Gescbiclite endlicb 
durcb Auswahl und Gruppierung der Tatsachen, die sie 
erzablt. Sie braucht nichts binzuzufugen, und sie vermag 
doch dui'ch. das, was sie erzablt und was sie verscbweigt, 
ein solcbes BiLd von der Gescbichte zu scbaiFen, wie sie es 
wiinscbt. Uberall ist ihr Abseben darauf gericbtet, ein be- 
stimmtes Urteil liber die Geschicbte geltend zu macben 
und wirksam einzupragen. Dieses Urteil, projiziert in die 
Geschicbte, ist die Legende. 

In dem Moment, wo wir dies erkannt baben, offnet 
sicb uns die weiteste Perspektive. Wir alle leben in der 
Legende, d. h. in Urteilen iiber die Geschicbte. Somit leben 
wir in einer doppelten Geschicbte: in der Geschicbte der 
Tatsachen, die mit elementarer Macht uns bestimmen, und 
in der Geschicbte der Gedanken iiber die Tatsachen. An 
jener Geschicbte vermogen wir nichts zu andern, wenn sie 



Legenden als GesohioMsquellen. H 

sich einmal vollzogen hat; an dieser Geschichte arbeiten 
wir unanfliorlich selbst mit. Wenn eine Hungersnot oder 
Krankheit oder eine wirtschaftliclie Krisis iiber ein Land 
kommt, wenn eine Nation eine Mederlage im Krieg er- 
leidet, wenn furclitbare Ifatur-Ereignisse ganze Stadte zer- 
storen, so sind das Tatsacken, deren Folgen kein Beteiligter 
auszuweichen vermag. Er mag iiber sie denken nnd nr- 
teilen wie er will: er kann sicb der elementaren G-ewalt 
dieser Yorgange zunacbst nicht entzieben. Dentscbland ist 
durch den dreifiigjahrigen Krieg verwiistet, PreuCen ist 
dnrch. die Mederlage bei Jena gebeugt, die Franzosen sind 
bei Sedan geschlagen worden — das sind Ereignisse, deren 
natiirlicbe Eolgen besteben bleiben, mag man sie nun gelten 
lassen oder nicht, sie offen bekennen oder vertuschen. Allein 
rnir ihre natiirhchen Eolgen bleiben bestehen; aber sie haben 
noch andere Eolgen; denn sie treifen, indem sie den Men- 
schen treffen, nicht Holz nnd Stein, sondern den lebendigen 
Greist. Ans der Art aber, wie der lebendige Geist sie anf- 
fai]t, entsteht eine neue, zweite G-eschichte. Bleiben wir 
bei dem Beispiel der Niederlage von Jena. Alles kam dar- 
auf an, wie man damals diese Mederlage deutete, als zu- 
faUiges Ereignis oder als notwendiges G-eschick oder als 
verdiente Strafe, als den Anfang des Endes oder als die 
letzte forchtbare Mahnung an das Vaterland, in einmiitiger 
Kraft sich zu erheben. Die Tatsache selbst ist stunmi und 
bmtal; aber der Geist deutet die Tatsache, nnd je nach 
dem Ansfall dieser Deutung bUdet er eine nene Geschichte. 
So wichtig nnd entscheidend ist diese Deutung, daiJ erst 
dann alles verloren ist, wenn sie falsch ist, wahrend noch 
alles znriickgewonnen werden kann, wenn sie richtig ist. 
In der Tat: die Deutung ist oftmals in der Geschichte viel 
wichtiger geworden als die Sache selbst. DalJ der Papst 
am "Weihnachtsfest des Jahres 800 dem Konig Karl die 
romische Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt hat, war fak- 
tisch bei dem ganzen Vorgang nicht das wichtigste und 



12 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

hatte zunachst auch keine besonderen Wirkungen; aber 
daB man nacbmals diese Kronung als Verleihung der Krone 
' durcli den Papst dentete — diese Legende hat unermeCliclie 
Folgen gebabt. Der Grlaube an die Verleihung hat in der 
Greschichte dieselbe Kraft und Bedeutung gewonnen, als 
ware sie wirklich geschehen. Durch die Deutung konnen 
die natiirlichen Folgen eines Ereignisses geradezu um- 
gebogen und in ihr Gregenteil verwandelt werden. Wer 
auJJeres Leiden, Kummer und ISTot sich als Mahnungen oder 
Priifungen deutet, der vermag Trauben von den Domen 
und Feigen von den Disteln zu sarameln. Und was von 
dem Leben des einzelnen gilt, das gilt auch von dem Leben 
ganzer Volker. Mit den natiirlichen Folgen der Tatsachen 
miissen wir aUe fertig werden; aber der Streit hebt an, wo 
es sich um die Beuxteilung der Tatsachen handelt. Schon 
ein Weiser des griechischen Altertums hat gesagt: „Nicht 
die Tatsachen erschiittern die Menschen, sondern das, was 
sie liber die Tatsachen denken, das erschiittert sie." 

Aber gehen wir nicht zu weit, wenn wir alles das, 
was man iiber die Tatsachen denkt und urteilt, also die 
ganze Geschichtsbetrachtung, in die Legende hineinziehen? 
1st es wirMich Legende, wenn ich sage, die Niederlage bei 
Jena sei ein heilsames Strafgericht iiber PreuJJen gewesen? 
1st es eine Legende, wenn man Luther den Reformator der 
Christenheit nennt? 1st jedes Urteil iiber die Geschichte 
Legende? Nun an dem Worte hegt es nicht, und wer es 
vermeiden wiU, mag es lassen. Der Sprachgebrauch nennt 
auch nicht alle Urteile iiber die G-eschichte Legenden. Das 
zutrelfende geschichthche Urteil, wenn es nicht in eine 
poetische Form gekleidet wird, nennen wir nicht so. Aber 
im letzten Grunde ist kein. Unterschied. Denn auch das 
zutreffendste Urteil iiber die Geschichte laCt sich nicht 
rund und auBerhch beweisen. Niemand bestreitet, dafi 
Luther im Jahre 1517 die Thesen angeschlagen, dafi er 
im Jahre 1521 vor Kaiser und Reich zu "Worms gestanden 



Legenden als Gesohiohtsquellen. 13 

hat; aber daB er der Reformator der Kirche gewesen ist, 
bestreitet die MehrzaM der Christen aufs heftigste. Es 
mnU sich also rait diesem Satze ganz anders verbalten als 
mit jenen, und es verhalt sicb anders. Jene driicken die 
eiafacbe Anerkennung einer Tatsacbe aus; dieser stammt 
aus dem Eindruck, dem Anteil und der Uberzeugung. 

In -welclieia Lichte erscheint uns nun die Legende; 
sie, die uns im Eingang unserer Betrachtungen als die ge- 
fahrlicbste Feiadin der Greschiclite entgegengetreten ist? 
Hier offenbart sie sich. vielmehr als eine zweite Greschiclite, 
wichtiger als die erste, und als unsere Geschichte, d. h. 
als die Geschichte, die der Geist kraft seiner Ereiheit her- 
vorruft. Dieselbe Macht scheint hier zugleich zu zerstoren 
und zu bauen. Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Pro- 
blem eiagehen, zuvor die Naturgeschichte der Legende im 
engeren Sinne des Wortes naher betrachten. Aus ihr wird 
sich ergeben, daC die wahre Legende die Wahrheit und 
die falsche Legende die Liige ist; und daC die wahre 
Legende der Sonne gleicht, welche mit derselben Kraft das 
Blatt welken macht und die Erucht reift. 

Statt eiae trockene tJbersicht zu geben, in wie ver- 
schiedener und mannigfaltiger Weise die Legende arbeitet, 
"woUen wir uns erne Reihe der bekanntesten Legenden 
naher ansehen, um aus ihnen zu lernen. "Wir fassen zu- 
erst die Gruppe von Legenden ins Auge, die sich auf eia- 
zelne hervon-agende Personen beziehen. "Was die Legende 
hier bezweckt, ist umnittelbar deutlich. Sie will die seelische 
Empfindung fixieren, die der Eindruck der Person hervor- 
gerufen hat. Sie will die geistige Bedeutung und den 
Wert einer groiJen PersonUchkeit in einem Ausdruck zu- 
sammenfassen. Die wirkhche Geschichte ist selten so freund- 
lich, dafi sie uns den bedeutenden Mann auf dem Hohe- 
punkt seiaer Entwickelung sozusagen rein darsteUt. Luther 
in "Worms — das ist ein geschichthches Bild, welches an 
und fur sich stark genug ist, um jede Legende iiberfliissig 



14 Erster Band, erste Abteilung. Beden: I. 

zu inaclien. Aber wie selten liefert Tins die Greschiclite 
solche Bilder! Da Mlft dann die Legende nach. Und nun 
gar, wo es sicli um feine seelische Eindrucke handelt! Das 
Beste am Menschen, sagt Groethe, ist gestaltlos! Wie soil 
die reine Gesehiclitserzalilung das Grestaltlose -wiedergeben ? 
Sie kann es nicht; aber die Legende vermag es. Als Attila 
vor Rom lag und der Stadt Verderben drohte, da zog der 
romisclie Biscbof Leo I., umgeben von seiaen Priestern, 
Mnaus zum Hunnen-Konig, um ihn zu bescbworen, von 
der Belagerung abzidassen. Wakrend er zu Attila redete, 
sab. dieser die Apostelfiirsten Petrus und Paulus mit ge- 
ziickten Scbwertem neben dem Papste stehen. Ln Tief- 
sten erscbreckt gab der Barbar den Befehl zum Riickzug. 
Das ist gewiC eine Legende; aber wer die wundersam ge- 
waltige Personlicbkeit Leos des G-roCen kennt, der weiJ3, 
dafi diese Legende eine wahre Legende ist. McKt in dem 
gemeinen niederen Sinne; aber sie bringt in unubertreff- 
Kcher Weise zxun Ausdruck, daU die ganze Kraft Leos des 
GrroCen der Gredanke gewesen ist, den er zeitlebens, wie 
kein anderer romischer Biscbof, geltend gemacht bat: icb 
bin der Nackfolger des beiligen Petrus. Was er an Maje- 
stat und imponierender Wiirde besaC, das fiolJ ibm aus 
dieser felsenfesten IJberzeugung. Zugleicb zeigt die Legende 
das moraliscbe Ubergewicht der romiscb-cbristlicben Kul- 
tur liber einen Barbarenkonig. — Man erzablt, daB der 
gewaltigste Papst des 16. Jabrbunderts, Sistus V., an dem 
Tage, da er zum Papst gewahlt wurde, die Kriicken, deren 
er sicb bisber bediente, von sicb geworfen babe und frei 
gegangen sei. Das ist eine Legende. Aber sie zeigt, durcb 
welcbe Eigenscbaften damals nacb der Volksmeinung die 
dreifacbe Krone gewonnen wurde, und sie bringt in vor- 
ziiglicber Weise den Kontrast zum Ausdruck zwiscben dem 
Kardinal und dem Papst. Als Kardinal war Sixtus scbmieg- 
sam, zuriickbaltend, vorsicbtig, als Papst selbstandig und 
energiscb. — Eine sebr alte tiberbeferung bericbtet, der 



Legenden als &esohichtsquellen. 15 

Apostel Petrus sei in der Nacht vor seiner Hiariclitung 
im Q-efangnis von Fiu-cht und Kleinmut iiberfallen worden 
und sei deshalb geflolien. Da sei ihm auf der Fluclit plotz- 
lich. Chiistus erschienen und habe auf die erstaunte Frage 
des Petrus: „Herr, wobin gebst du?" geantwortet „nach 
Rom, um mich. abermals kreuzigen zu lassen" ; bescMmt 
sei Petrus in das Grefangnis zuriickgekebrt. GewiB eine 
Legende; aber sie ist scbon im 2. Jabrbundert in Rom er- 
zablt worden, wo man docb sonst den Petrus nur verberr- 
licbte; sie pragt also den Eindruck aus, dafi Petrus bis zu 
seinem Tode den leicbtbeweglicben, vordrangenden aber 
nicbt standbaften Cbarakter bewabrt bat, den wir aus der 
evangeliscben Greschicbte kennen. — ■ Die Meisten, die von 
dem groBen Kircbenvater Augustia gebort baben, kennen 
den Wablsprucb, der ibm in den Mund gelegt wird: „In 
notwendigen Dingen Einbeit, in zweifelbaften Ereibeit, in 
alien Dingen Liebe." "Wir wissen jetzt, daB dieser Sprucb 
nicbt von Augustin berrubrt, sondern aus viel spaterer Zeit 
stammt. Allein es ist nocb nicbt gelungen, kiirzer tind 
besser den Mensoben und den Tbeologen Augustin zu cba- 
rakterisieren als durcb diesen legendariscben Satz. — Dem 
beiCbliitigen afrikaniscben Kircbenvater Tertullian wird das 
"Wort in den Mund gelegt: „ Credo, quia absurdum" (Icb 
glaube der cbristlicben Lehre, weil sie absurd ist). Nie- 
mand vermag diese scblimme Paradoxie in den Werken 
Tertullians nacbzuweisen ; aber sie cbarakterisiert den Tbeo- 
logen, der trotzig der Vernunft der Gebildeten den Eebde- 
bandscbub binwarf. — Kaiser Konstantin der GrroCe soil 
auf dem Totenbett die Taufe mit den "Worten begebrt 
baben: „Es scbwinde nun alle Zweideutigkeit." Es ist 
ganz unglaubbcb, daC er das wirkbcb gesagt bat. Allein 
diese Legende bringt in uniibertrefflicber Weise zum Aus- 
druck, dafi das bisberige Verbalten Konstantins gegeniiber 
dem Cbristentum und dem Heidentum nocb nicbt ein 
vollig entscbiedenes gewesen ist. — Lutber, erzablt die 



16 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

Legende, hat mit dem leibhaftigeii Teufel zu kampfen ge- 
habt. Aber was damit gemeint ist, sagt uns der DicMer 
■aniibertrefflicli : 

„Er trug den Kampf in breiter Brust verhullt, 
Der jetzt der Erde halben Kreis erfilllt; 
Sein G-eist war zweier Zeiten Schlaclitgebiet : 
Mich wundert's niolit, dafi er Damonen sieht." 

Das alles sind Legenden im engsten Sinn des "Wortes; 
aber das eben Ausgefiihrte gilt auch dort, wo es sicb. nm 
groCe gescMcbtliclie Urteile iiber eine Personlichkeit ban- 
delt, die im niederen Sinn nnricbtig, in einem boteren ricbtig 
sind. "Wir feiem Gustav Adolf als einen deutscben Helden. 
Mcbts ist leicbter zn beweisen, als daB er Dentscbland soviel 
rauben woUte, als er bekommen konnte, daC er keine 
deutscbe, sondern scbwediscbe PoHtik getrieben bat. Mit 
Hobn weisen daber die Katboliken auf diesen angebUoben 
deutscben Helden, den wir riibmen. Allein Grustav Adolf 
rettete den Protestantismus, wenn er aucb Deutsobland zer- 
fleiscben balf. Die Rettung des Protestantismus war aber 
mittelbar aucb die Rettung Deutscblands , ja die einzige 
Rettung; denn ein spaniscb-babsburgiscbes katboliscbes 
Dentscbland ware kein Dentscbland mebr gewesen. So mag 
man mit gutem Grewissen die Legende fortpflanaen , dafi 
G-ustav Adolf ein deutscber Held gewesen ist. 

Indem die Legende ibre Helden cbarakterisiert, ver- 
starkt sie oftmals das in ungescbicbtlicber Weise, was ilmen 
eigentiimb'cb gewesen ist. Die Legende liebt die tjbertrei- 
bung. Allein das ist docb nicbt einfacb als Unwabrhaftig- 
keit zu beurteilen. Sie will dorcb AVort und Scbilderung 
denselben Eindruck bervorrufen, den einst die Person selbst 
gemacbt bat. Aber welches Wort ist dazu fahig? So bleibt 
ibr nichts iibrig, als die iiberheferten Ziige zu verstarken. 
Sie tut das oft in sebr kindlicher Weise, und an der Art 
der Verstarkung kann man feststellen, aus welchen Kreisen 
die Legende stammt. Anders erzahlen die GTermanen ibre 



Legenden als Geschiohtsquellen. 17 

Heldengeschichten und anders die Romanen. Anders kaben 
die Morgenlander uns die Heiligen- und Martyrergescliickten 
iiberliefert und anders die Abendlander. Die frankiscken. 
Heiligenlegenden des friiken Mittelalters zeicknen sick durck 
gemiitvolle Sckilderung und individueRe Zeicknung aus; 
die Martyrergesckickten der Orientalen sind starr und 
einformig. Aber Eiaes konnen die Biograpken gerade keut- 
zutage von der Legende lernen, daC as nickt Aufgabe der 
G-esckicktssckreibung ist, das Kleinkcke und ErbarmUcke, 
was in jedem Mensckenleben vorkanden ist, der Nackwelt 
zu iiberliefern. Eine groBe Personkckkeit, welcke der G-e- 
sckickte angekort, gekort ikr dock nur in dem an, was sie 
ikr bedeutet. Das bringt die Legende uniibertreffkck zum 
Ausdruck. Dagegen sind unsere pkotograpkiscken Bio- 
grapkien ein wakrer Unfug. "Wir kaben nickt nur das 
Reckt, sondern die Pflickt, das Andenken an eine groCe 
Personkckkeit, die in der Gresckickte etwas geleistet kat und 
fortwirkend leistet, rein zu erkalten. Was gekt es uns an, 
was sie sonst nock gewesen ist, wenn sie nur das wirkkck 
gewesen ist, weskalb wir sie feiern. Allerdings soweit wie 
die Legende gekt, kann der Historiker nickt geken. Die 
Legende bildet den Helden zum Typus aus, fordert vom 
Himmel die sckonsten Sterne fiir ikn und laBt ikn kaufig 
nickt einmal sterben. Sie kann sick nickt davon iiberzeugen, 
daC auck gewaltige G-eister dem allgemeinen Mensckenlose 
unterkegen. Daker lebt Kaiser Karl im Untersberg, Kaiser 
Friedrick im Kyffkauser, und der Grabkiigel des Evange- 
Jisten Jokannes in Epkesus kebt und senkt sick mit den 
Atemziigen des Scklummernden. Aber sie gonnt auck den 
vollkommenen Bosewicktern die Ruke des Todes nickt. 
Daker ist Nero nickt gestorben, sondern aufbekalten zum 
Gerickt. In dieser Art der Betracktung zeigt sick eine 
bemerkenswerte tlbereinstimmung in der Legendenbildung 
aller Zeiten und Volker. Indem die Legende, wie der 
Propket, die Personen deutet und wagt, wird sie zum Welt- 

Harnack, Keden und Aufsatze. I. 2 



18 Erster Band, erste Abteilung. Keden: I. 

gericlxt und teilt Belolinungeii und Strafen aus. "Was ist 
Dantes gottliche Komodie anderes als das Grericht eines 
Proplieten iiber die Weltgeschiclite in der Form derLegende? 
Hierbei zeigt es sich, daC die Phantasie nicM unerscliopf- 
lich. ist. Es gibt im groBen wie im Meinen flattemde Le- 
genden, die entweder von mekreren Personen gleichformig 
erzahlt werden oder so lange unruhig umlierscliweifen, bis 
sie den ricbtigen Platz gefnnden baben. Sie alie kennen 
bundert Beispiele fur jene wandernden Anekdoten, die lange 
Zeit Timgeben, bald dieses, bald jenes Haupt kronen und 
den Erzabler oft in Verlegenbeit bringen, wenn er sie z. B. 
vom alten Bliicher bericbtet und ihm dann entgegengebalten 
wird: ganz ricbtig; aber es war der alte Wrangel. Was 
bier im kleinen tagtaglicb begegnet, wiederholt sicb auch 
im groBen, und man kann daraus nur den ScbluB zieben, 
daB jede Anekdote, jede Legende von Hecbts wegen dem 
gebort, auf den sie am besten pafit. Aber wir macben aucb 
die Beobacbtung, daU mancbe Legenden sicb ganzbcb ab- 
losen von ibrem urspriingbcben Tub aber, dieser in voile 
Vergessenbeit gerat, die Legende aber, an sicb vielleicbt 
diirftig und nucbtern, von einem Poeten aufgegi-iffen und 
mit bedeutendem Inbalt erfiillt wird. Hier erbalt die Le- 
gende ein eigentiimlicbes rein poetiscbes Leben. So sind 
die Legenden von den groBen Magiern, vom Faust, vom 
ewigen Juden u. a. allmabHcb entstanden. Aus barten 
Kieseln bat der Stabl des Dicbters Funken gescblagen und 
die Legende zum aUgemein Menscblicben ausgestaltet. Diese 
Gedicbte sind der bocbste Triumpb der Legende, das Siegel 
der Wabrbeit auf den Sprucb: „Was sicb nie und nirgends 
bat begeben, das allein veraltet nie" ; aber andererseits bat 
in dieser Form die Legende jeden Zusammenbang mit der 
Gescbicbte aufgegeben und sicb zu einer neuen Spbare 
emporgescbwungen. 

Wir baben bisber nur von Legenden gebandelt, die 
sicb auf Personen bezieben. Das ist aucb das eigentlicbe 



Legenden als Gesohichtsquellen. 19 

Reich der Legende. Allein es gibt solclie, welche den Gang 
der geschiditliclien Entwickelung zu ihrem Inhalte haben, 
icli mochte sie kult-ai'gescliic]itliche Legenden nennen. Auch 
sie sind keineswegs zu veracMen. Die Legende schlagt 
Briicken iiber Abgrlinde, iiber geschicbtliche Partien, die 
dem Historilver noch. dunkel sind. Sie verbindet Zeitalter 
nnd getrennte Entwickelungen nnd weist einen einheitlichen 
G-ang der Geschichte nach, wo der Gescbichtssckreiber es 
nicbt vermag. Aber wie viel wertvolle Fingerzeige gibt 
sie ikm docK! Wie oft hat sie wirkhch geschichthche Er- 
innerungen anfbewahi-t! Sie alle kennen jene Sagen von 
Kadmus und anderen, die aus Phonizien und dem Orient 
nach Griechenland gekommen sind und dort die Kultur 
begriindet haben! Von Jugend auf haben wir gehort, daC 
der fromme Aeneas aus Troja fliichtend iiber Karthago 
nach Italien gekommen ist; wir kennen die Geschichten 
von Alba Longa, Romulus und Remus und von der Griin- 
dung Roms. Welche Miihe hat man sich im Mittelalter 
gegeben, die Franken mit den Trojanern in Verbindung 
zu brrngen oder deutsche Fvirstenfamilien auf die Heroen 
der romischen Geschichte zuriickzufiihren. Diese Legenden 
waren auch dann schon wertvoU, wenn sie nichts anderes 
waren als der lebhafte Ausdruck fur die Einsicht, dali aUe 
Kultur Uberheferung ist, daC hier nichts wild wachst, 
sondern dafi sich Glied an Glied reiht. AUein sehr viele 
dieser Legenden enthalten weit mehr. Sie geben wirklich 
bestimmte Fingerzeige, wie Eines aus dem Anderen ge- 
worden ist. Vor allem ist es die religiose Uberheferung 
der Nationen, welche diese Art von Geschichtsbetrachtung 
nicht entbehren kann. Das zeigt sich sogar bei den poly- 
theistischen V5lkern, aber in ungleich kraftigerer Weise bei 
den monotheistischen. Die Uberzeugung, daiJ ein Gott sei 
und daC dieser Gott die Geschichte leitet, fordert eine ein- 
heitliche Betrachtung der Weltgeschichte ; ja man kann 
geradezu sagen, daC wir an eine Weltgeschichte glauben 



20 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

und eine einlieitliclLe Weltgesckiclite zu schreiben versuchen, 
ist eine Folge des Monotlieismus. Zu den altesten Welt- 
gescldclitssclireibern gelioren die alttestamentlichen Pro- 
pheten. Aber wabrend ibr Ange gen Himmel scbaute, 
sobrieb ilire Feder kindlicbe Ziige. In all den groCen ge- 
scbicbtlicben Konzeptionen religioser Art von den Grescbicbts- 
bildern der altesten jiidiscben Propbeten ab bis zu jenem 
„teste David cum Sibylla" steckt mebr Vernunft, als die 
Scbulweisbeit sicb traumen laBt. Sie sind als gescbicbt- 
bcbe Bericbte kindbcb und unwabr, aber gewaltig und 
wabrbaftig als Ausdruck des Urteils iiber den Gang der 
Gescbicbte und als Anweisung, wie man sicb zu ibr zu 
steUen bat. Hier oifenbart sicb die Legende in ibrer ganzen 
Macbt; denn indem sie die GrescMcbte deutet und durcb 
erscbiitternde Propbeten diese Deutung den Zeitgenossen 
einpragt, wird sie selbst ein wirksames Element in der Gre- 
scbicbte, wirft sie sicb dem Strom des gemeinen Gescbebens 
entgegen, sucbt ibn aufzubalten oder in neue Babnen zu 
leiten. Der Propbet, der die Mederlage Israels als Ziicb- 
tigung deutet, der sicb Assur oder Babel entgegenstemmt, 
well er an ibren definitiven Sieg trotz des Augenscbeins 
nicbt glaubt, ermutigt und rettet durcb seine paradoxe Ge- 
scbicbtsdeutung sein Volk. Er bricbt die Gewalt der Ge- 
scbicbte durcb die Macbt der Legende. Man sagt -wobl, 
solcbe Gescbicbts deutung sei subjektiv. Als ob es iiberbaupt 
eine lebrreicbe Gescbicbtsscbreibung geben konnte, die nicbt 
subjektiv ware! Nui- dem sebenden Auge und dem ur- 
teQenden Geiste erscblieCt sicb die Gescbicbte. Nur darum 
kann es sicb bandeln, dafl der Geist das Wabrbaftige und 
die Kraft erkennt, und dafi er die Tatsacben nicbt meistert. 
Neuere deutscbe Gescbicbte vom preuBiscben Standpunkt 
zu scbreiben, das ist die wabre Gescbicbte Deutscblands ; 
Kircbengescbicbte vom Standpunkt der Reformation zu 
scbreiben, das ist die wabre Kircbengescbicbte. Hier wie 
dort ist man subjektiv und bat den Vorwurf zu gewartigen, 



Legenden als Gresohiohtsquellen. 21 

daC man Legenden bilde. Allein man schreibt die wahre 
Legende, wenn man die ricMig erkannten Tatsachen nacli 
MaBgabe ihrer Kxafte gruppiert. 

Aber nun die Kehi-seite zu dem Bilde! Die Legende 
tritt auoh in den Dienst der Unwahxlieit und Schwache 
statt in den Dienst der Wabrbeit und Kxaft. Die unge- 
beuere Maebt, welcbe der Menscb besitzt, aus dem natiir- 
licben Gescbeben, indem er es deutet, eine zweite Gescbicbte 
zu macben — diese Macbt wird ibm aucb zum Unbeil. 
Das ist der Jammer der Legende, von dem wir im Eingang 
gesprocben baben, die Grescbicbtsliige, welcbe den Tatsacben 
ibi- MaSi nimmt, sie erstickt oder falscbt. Den Tatsacben 
ibr MaJ3 nimmt — nun an dieser Art LegendenbUdung 
sind -wir alle jeden Augenblick beteiligt. Je nacb der 
Stimmung, in der uns eine Tatsacbe trifft, beute so und 
morgen so, beurteilen wir sie anders. Wir tauscben mit 
unsern Freunden dieses Urteil aus oder scbreiben es nieder, 
und die Legende ist fertig. Heute scbreiben wir, daB die 
"Welt immer scblecbter wird, und vielleicbt scbreiben wir 
morgen, daB sie besser wird. Heute tadeln wir die Politik, 
und morgen vielleicbt loben wir sie. Uberall trifft die Tat- 
sacbe, indem sie auf Menscben ti'ifft, auf Stimmungen. 
Stimmungen aber sind ein unreiner Spiegel. Sie werfen 
das Bild verzerrt zurlick. So wird den Tatsacben das Mafl 
genommen, und es entsteben Legenden. Das ist die baufigste, 
tausendfacb sicb tagbcb wiederbolende Form, der Legenden- 
bildung. Sie ist darum die lastigste, aber nicbt die scblimmste. 

Ersticken und Falscben, das sind die beiden Arten, 
in denen die wabrbaft unbeilvoUe Legende ibr "Werk treibt, 
durch welcbe sie den Ernst und die GroCe der Gesobicbte 
auszutilgen versucbt. Sie erstickt die Personen und die 
Tatsacben. Braucbt es Beweise dafiir? Sind wir nicbt 
aucb von dieser Legendenbildung immerfort umgeben? 
Mcbts liegt uns alien naber, als das naive Vorurteil, es 
macbe sicb aUes von selbst, oder die Losung lautet: „so ist 



22 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I. 

es immer gewesen", und jede Partei, jede Denkweise sucht 
sich in der Vergangenlieit wiederzufinden. Weil man fiiMt, 
welcli eine Macht die GreschicMe ist, und weiL es unbequem 
ist, eiae ITeuerung verteidigen zu miissen, so sucht jeder 
sich. selbst mit der Vergangenheit zu decken. Das grotes- 
keste Beispiel liefert freilich auch hier die romische Kirche. 
Sie behauptet es als ein Glaubenssatz, so wie sie heute sei, 
sei sie schon vor 1800 Jahren gewesen; in ihrer Lehre, 
ihrer Verfassung, ihren Ordnungen habe sich wesentlich 
nichts verandert. "Wir Protestanten weisen diese Tendenz- 
legende, welche alle Tatsachen der Kirchengeschichte er- 
stickt, weit von uns; aber machen wir es in Kirche und 
Staat denn wesenthch anders? Am Ende siad wir nur 
Dilettanten und sie sind Virtuosen in ein und derselben 
bosen Sache. Man werfe einen Bhck auf unsere offent- 
lichen Blatter, auf die G-eschichtsschreibung unserer Zei- 
tungen! Die Parteilegende regiert — jene Legende, kraft 
welcher jede Partei, wie sie heute ist, sich mit ihrer klas- 
sischen Zeit einfach identifiziert, die Q-eschichte fiir sich in 
Anspruch nimmt und die Tatsachen erstickt! Und wie be- 
handelt die gemeine Legende den wahrhaft groBen Mann, 
den Grenius? So lange er lebt, wirkt und daher unbequem 
ist, ist sie unablassig bemiiht, ihn auf das gemeine Niveau 
herabzuziehen , hundert Greschichten iiber ihn zu erfinden, 
damit sie dem grofien Haufen das befriedigende BewuBtsein 
verschaffe: er ist doch ganz so wie wir. Wed die Menge 
das ewig Grestrige liebt, sucht sie jedes gewaltige Heute zu 
ersticken. Und doch ist auch das noch nicht die schlimmste 
Porm der Legendenbildung. Wo es sich um das Ersticken 
handelt, da wirkt noch unbewufiter Trieb mit. Aber es 
gibt eine bewufite Legendenbildung der Liige, die wissend 
und schauend die Greschichte falscht und die Tatsachen in 
ihr Gregenteil zu verwandeln sucht. Auf alien Blattern der 
Greschichte sind seiche bewufite Liigenlegenden zu finden, 
und sie haben unsaghches Unhed angerichtet. Ich erinnere 



Legendeu als Geschichtsquellen. 23 

roich. einmal das Wort gelesen zu haben: „inan muB den 
Tatsachen die Zahne ausbreclien", und eia anderes: „man. 
mufi die GrescMcMe durct das Dogma iiberwinden". Hier 
haben Sie die Arznei und das farchtbare Grift der Legende 
in Eins, je nach. der Deutung dieser Worte. Die Axznei — 
denn gewiC, es gibt nicbts Grrofleres und Segensreicberes 
als die IJberwindung des gemeinen Greschehens durcb die 
wahrbaftige Deutung desselben, durcb die Freibeit des 
Geistes, durcb die KJraft des Grottvertrauens. Das Grift; 
denn wenn jenes "Wort besagen soil, man miisse die G-e- 
scbicbte ersticken und falscben durcb raffinierte Tendenz- 
dicbtungen, dann wird die Legende zur Mutter der Liige. 
In diesem Sinn gilt das Urteil: die wabre Legende ist in 
der Grescbicbte die Wabrbeit und die falscbe Legende ist 
die Liige. 

Darf icb nun zusammenfassen, was wir aus dieser tJber- 
sicbt Tiber die Naturgescbicbte der Legende lernen konnen? 
Die Frage, die wir stellen miissen, lautet: Sind Legenden 
Gescbicbtsquellen? Wir antworten: Nein: sie sind es zu- 
nacbst in keinem Sinn; denn da sie samtlicb, die wabren 
und die falscben, aus dem Eindruck und dem Urteil ge- 
flossen sind, so bieten sie keine Grewabr dafiir, dafi die Tat- 
sacben ricbtig wiedergegeben sind. Mit der Feststellung 
der Tatsacben bat es aber der Historiker vor allem zu tun. 
Die Wabrbeit der Tatsacben zu ermitteln, ist seine beibgste 
Pflicbt. Webe dem Grescbicbtsscbreiber, der diese Aufgabe 
gering acbtet oder falscbt! Es gibt bier keine Ent- 
scbuldigung: er ist ein Verrater seines beibgen Berufs. Wer 
die Tatsacben ermitteln will, muB bei den Listitutionen 
einsetzen; sie sind das Riickgrat der Grescbicbte. Hier sind 
Tauscbungen am wenigsten zu erwarten. Erst wenn aus 
dem tatsacbbeben Material die Kette der Erscbeinungen 
bergestellt ist, darf sicb der Historiker nacb den Stunmungs- 
bericbten und Legenden umseben. Selbst die Stimmungs- 
bericbte von Augenzeugen sind scblecbte Quellen; denn die 



24 Erster Band, erste Abteilung. Koden: I. 

Legenden bilden sich oft im Augenblick. Dafi es nicht 
schwer ist, z. B. aus Stimmungsbericliteii der Eeformatoren 
ein verach-tliches Urteil iiber die Eeformation abzuleiten, 
ist uns jiingst gezeigt -worden. Und wie baben die Roman- 
tiker die Gescbicbte iibermalt, weil sie mit Vorliebe Legen- 
den iirer Darstellung zu Grunde legten! So sind die eiast 
vielbewunderten MrcbenTiistoriscben Darstellungen des groISen 
Eomantikers Cbateatibriand nicMs anderes als Legenden 
ans Legenden. Aber wenn die Kette der Erscbeinungen 
sicber bergestellt ist, dann bat der Gescbicbtsscbreiber nicbt 
mir das Reebt, sondern die Pflicbt, die Legenden kritiscb 
zti benntzen; denn wenn er das personlicbe Element in der 
Gescbicbte scbatzen und znr Darstellung bringen will, so 
muB er nacb ihnen greifen. Die gewaltige Personlicbkeit 
spiegelt sieb niemals vollkonimen in den Tatsacben; sie 
spiegelt sicb nur in den Kopfen und Herzen derer, die sie 
entziindet und entflammt bat. Darf icb gleicb das Hocbste 
zura Beweise anfubren? "Wie unvollkonunen ware unsere 
Kenntnis von Jesus Cbristus, wenn wir nur seine Worte 
batten und nur seine auCere Gescbicbte kennten! Erst da- 
durcb, daC wir die Legende von ibm besitzen — das Wort 
bier im weitesten Sinn — d. b. den Eindxuck, den er auf 
seine Jiinger gemacbt, leucbtet uns das ganze Bild seiner 
Herrbcbkeit auf. Icb recline bierzu aucb alles das, was 
scbon in altester Zeit von eigentbcben Legenden liber ibn 
erzablt worden ist. Wir miiben uns ab, festzusteUen, was 
bier tatsacbbcb ist und was nicbt, und miissen uns abmiiben, 
sonst waren wir Mietlinge. Aber bocb iiber jeder Frage 
und aller Kritik stebt die Tatsacbe, die sicb fast in jeder 
Legende iiber ibn spiegelt, daB er die bocbste Gewalt be- 
sessen bat, die iiberbaupt besessen werden kann, die Gewalt 
■iiber sicb selber, und daC er durcb Demut und Liebe die 
Herzen bezwungen bat. Was bier im GroBen gilt, das gilt 
aucb un Kleineren. Die Tatsacben allein bringen uns nie 
einer entscbwundenen Person naber. Aus dem Eindrack, 



Legenden als Geschichtsquellen. 25 

den sie auf die Gremiiter hinterlassen , wird sie selbst er- 
kannt und geliebt: so entzundet sicli eine Packel an der 
anderen. Mclit nur fiir die Zeit, aus welcher sie stammen, 
sondern auch fiir die Person und das Ereignis, von welclien 
sie Zeugnis ablegen, konnen die Legenden somit vom hoch- 
■stenWerte werden. Die Greschich.tssclireibung des 18. Jakr- 
bunderts ist darnm so diirftig und ungeniigend gewesen, 
■weil sie die Bedentung der Legende verkannt hat. Die 
Kritik allein vermag so wenig Geschichte zu schreiben wie 
die Romantik. 

Aber, was wir bente fordern miissen, ist, daC iiberall 
■wo die Legende sicb als tatsacblicbe Grescbicbte gibt, dieser 
Scbein zerstort wird. "Wir leben in einem Zeitalter, das 
den licbten Nebel nicbt mebr vertragt, in welcbem Gre- 
scbicbte nnd Legende — das Wort im engeren Sinn ge- 
nommen — vermiscbt werden. Es ist freilicb leicbter, oder 
es scbeint docb so, an Zweck und Ziel, EIraft und HeiT- 
licbkeit der Gescbicbte zu glauben, wenn scbone Legenden 
sie durcbzieben. Es ist leicbter auf die gottlicbe Leitung 
der Grescbicbte zu vertrauen, wenn man den Finger Grottes 
sicbtbar scbaut. Und gewifi soil man scbonend verfabren, 
wo eine Legende den Halt bildet fiir eine sittbcbe Erkennt- 
nis, eingedenk des tiefen Sprucbes: „Krafte und Kriicken 
kommen aus einer Hand." Aber immer gebt die Walirbeit 
liber alles, und scblieiJliob ist in der wirklicben Grescbicbte 
Erbebung und Kraft genug zu finden, wabrend man nicbt 
ungestraft unter den Palmen der erfundenen Legenden 
wandelt. 

Hier liegt eine Aufgabe, welcbe den beutigen und den 
zukiinftigen Historikern gestellt ist. Aber wenn es wirklicb 
eine doppelte Grescbicbte gibt, eine Grescbicbte der Tatsacben 
und eine Gescbicbte der Gedanken liber die Tatsacben, so 
ist es offenbar, dafi wir aUe an dieser zweiten Gescbicbte 
mitarbeiten. Wie groC ist die Verantwortung, die wir da- 
mit tragen! Wie wir urteilen und was wir sprecben, das 



26 Erster Sand, erste Abteilung. Eeden: I. 

schlagt sich. nieder. Ein Sandkom kommt zum anderen, 
und so bilden sich. Uberlieferungen, 5ifentliche Meinungen, 
die selbst wieder zu Elementen der Geschiclite -werden. 
Deshalb miissen wir RecbeiisclLaft geben iiber jedes ■unniitze 
Wort, well auch die lumutzeii Worte nicht niiwirksani 
sind. Es gilt, die Zunge im Zamn zu balten, der falschen 
Legende kraftig entgegenzutreten und mitzuarbeiten an der 
TJberlieferung der Wahrbeit und der Kraft, an der IJber- 
lieferung der -wabren Legende! 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^ 



REDEN: II 
SOKRATES UND DIE ALTE KIRCHE 



Eektoratsrede 

gehalten in der Aula der KOnigliclien ]?riedricli-'Willielms-Universitat 
in Berlin am 15. Oktober 1900. 



Die akademisclie Sitte weist den Rektor an, das neue 
StTidienjahr mit der Betrachtung eines wissenscliaftliclLen 
Problems von allgemeiner Bedeutung zu eroffnen. Indem 
ich dieser Sitte folge, lade icli Sie ein, sich. mit mix in ein 
entferntes Zeitalter zu begeben. Fiircliten Sie aber nicht, 
daC icli Sie aus dem hellen Tag, der uns strahlt, in ein 
unfreundliclies Dunkel fiihre. Nur die Grescliiclite, die nocb 
nicht vergangen ist, die ein Teil unserer Gregenwart ist 
und bleibt, hat Anspruch darauf, von alien gekannt zu 
werden, und fiir eine Episode aus dieser Geschiclite erbitte 
icli mir Ihxe TeiLnalune. 

Wie sich die christKclie Religion und die grieckLsclLe 
PhilosopMe, oder daJJ icb besser sage: die griechische 
Kultur, gefunden und mit welclien Augen sie sich be- 
trachtet haben in dem Momente, als eine der anderen zu- 
erst auf leuchtete , wie sie dann ilire Schatze verghchen 
haben und Einiges nun in doppeltem Lichte strahlte, 
Anderes aber erlosch — das ist ein Schauspiel, das zuriick- 
zurufen der Betrachtende nie miide werden kann. Aber 
nicht nur wie ein Schauspiel steht es vor seinen Augen. 
Die Werte, die ihn bewegen in Gefiihl und Tat, in der 
tiefsten Empfindung und in der hochsten Anspannung des 
Eigenlebens, und wiederum in Eamilie und Beruf, in Kirche 
und Staat — aUe die Werte, die den eigentlichen Sinn des 
Lebens ausmachen, sind gepragt worden in jenem wider- 
spruchsvollen Bunde, der in dem zweiten und dritten Jahr- 
hundert zwischen Grriechentum und Christentum geschlossen 
worden ist. 



30 Erster Band, erate Abteilung. Eeden: II. 

In der Tat eine concordia discors, denn von beiden 
Seiten empfand man Gemeinsames und bemerkte doch 
Trennendes. Das Gemeinsame waren Giiter, aus dem 
Trennenden entwickelten sich. Aufgaben: so sind die 
Spannungen niclit minder wirksam nnd segensreich. ge- 
worden als der doppelt versicberte Besitz. 

Dort wie bier aber war es je eine PersonbcKkeit, in 
der alles Hobe zusammengefaCt, begriindet und verwirkbcbt 
erscbien. Fiir das Cbristentnm ist das obne weiteres klar: 
in der Person Obristi wurde das neue Leben mit alien 
seiaen Giitern angescbaut. Aber aneb das Griecbentnm, 
sofern es sicb als Erbebung iiber das sinnlicbe Leben, als 
ideale Weltanscbauimg und ernste SittHebkeit darstellte, 
besaJ] einen fiibrenden Heros. War er aucb nicbt so aus- 
scbbeBlicb der riibrer wie Jesus Cbristus, so war er docb 
die GroBe, vor der bald jeder Griecbe sicb beugte und die 
er als den Begriinder eines boberen Lebens verebrte — 
Sokrates. Jesus Cbristus und Sokrates: die beiden Namen 
bezeicbnen die bocbsten Erinnerungen, welcbe die Menscb- 
beit besitzt. Zwar war es Sokrates nicbt bescbieden, wie 
Pbilo, Josepbus und Virgil, eine Stelle unter den Kircben- 
vatern zu erbalten, aber etwas viel Grofieres bat die Ge- 
scbicbte ibm gespendet. Sie bat seinen Namen, wenn aucb 
in weitem Abstande, mit dem Jesu Cbristi verbunden. 
Vom zweiten Jabrbundert ab stebt diese Verbindung vor 
den Augen der empfindenden und denkenden Menscbieit 
als Konsonanz und als Dissonanz, vor allem als ein wunder- 
volles Problem, an dem sicb jedes Jabrbundert bat ver- 
suchen miissen. Denn es gibt Probleme in der Gescbicbte, 
die niemals erledigt werden und die jede Generation neu 
anfassen muB. Zugleicb aber laBt sicb bier mit Handen 
greifen, dafi es in der Gescbicbte der Gedanken die Per- 
sonen sind, welcbe die Gescbicbte macben. Gewifi, sie 
kamen, well die Zeit erfiillt war, aber die "Weisbeit, welcbe 
lebrt, daU sie kommen mufiten, stebt auf der Hobe der 



Sokrates und die alte Kirche. 31 

Einsicht, daU iiberhaupt alles so gekommen ist, wie es 
kommen muCte. 

Christus und Sokrates — unter diesem Titel kann man 
ein groiJes Stiick der Geistes- nnd Religionsgeschiclite von 
zwei Jahi-tausenden besclireiben. Wie ernsthaffc hat sicli 
noch das vorige Jahxhundert um dies Problem bemubt — 
seine Dichter, seine PhiLosophen nnd seine Aufklarer! 
Hamanns Tiefsinn, Mendelssobns und Eberbards 
klare Verstandigkeit, Matthias Claudius' beweghohe 
Mitempfindung, Wielands weltmannischer Bhck, Klop- 
stocks Begeisterung haben sich an dem Probleme ver- 
sucht. Einst war Portias, der Gattin des Pilatus, Traum, 
in welchem ihr Sokrates erschien, aUen gebildeten Deutschen 
bekannt, und der Dichter des Messias ist um dieser er- 
greifenden Episode wiLlen aufs hochste gepriesen worden. 
Aber auch noch in unserem Jahrhundert, in welchem "Welt- 
anschauung, Wissenschaft und Dichtung immer mehr aus- 
einandergetreten sind und der Poet, ja selbst der Philosoph, 
selten mehr um die hochste Palme ringt, ist das Problem 
nicht ganz vergessen. Man braucht auch kein Prophet zu 
sein, um verkundigen zu diirfen, daC es uns in den 
nachsten Jahrzehnten wieder mit ganzer Macht beschafti- 
gen wird. 

Aber nicht die lange Kette jener Bemiihungen gedenke 
ich Hmen vorzufuhren, sondern, zum Anfang zuriickkehrend, 
mochte ich Ihre Teilnahme fur die Erage erwecken, wie 
von den Christen im vorkonstantinischen Zeitalter Sokrates 
empfunden und betrachtet worden ist. 

Darf ich Sie zunachst an einige Hauptzuge des groBen 
Philosophen erinnern? Bei Grriechen und Eomern lebte er 
fort ausschlieBhch in dem Bilde, welches Plato von ihm 
gezeichnet hatte. Dieses Bild hatte nicht nur seine Ver- 
klarung und Weihe, sondern auch seinen wesentlichen In- 
halt durch den Tod empfangen. Sieht man von diesem 
ab, so erscheint Sokrates als ein Sophist im hoheren Sinn 



32 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II. 

des Worts, der es verstand, seine Gregner mit Lhren eigenen 
"Waifen zu schlagen. Wie sie beseitigte er die objektive 
Spekulation ; wie sie hatte er mir fiir das Individuum in 
seinem intellektuellen und moralisclien Znstande Inter- 
esse; wie sie lehnte er es ab, aus der Sitte und Uberliefe- 
rung die Entscheidung iiber das PflichtmaBige zu treffen; 
endlicli wie bei ilinen fiihrte auch. bei Sokrates die ver- 
niinftige IJberlegung noch. nicbt zu einem systematischen 
und gescklossenen Wissen, sondern das begrifflicke Denken 
war ihm nur ein Prinzip von Fall zu Fall. Aber freilicb, 
an einem entscheidenden Punkte unterschied er sicb von 
den Sopbisten: die vemiinftige IJberlegung fiilirte ibn nicM 
auf den jedesmaligen eigenen Vorteil des Individuums, 
sondern letztlicb auf etwas Allgemeines , Bleibendes, eine 
Art von kategoriscbem Imperativ. In diesem Sinn schloU 
sich dock bei ikm das Denken zu einer Einkeit, einer Art 
von Weltansckauung zusammen, deren Ausgangspunkt das 
Innenleben war und die von einem idealen und ethiscken 
Gredanken bekerrsckt wurde. Aber wie wenig war diese 
Lehre an und fiir sick nock imstande, wie ein Evangelium 
zu wirken und epockemackend einzugreifen ! Das wesent- 
licke Element fiigte Sokrates ikr erst durck seinen Tod 
kinzu. Der Kerker und der Sckierlingsbecker sind die 
eigentkcken Mittel seiner Pkilosopkie gewesen; denn durck 
sie kob er seine Lekre aus dem Grebiet der dialektiscken 
Kunst und bloBer Worte auf die Hoke der Tat und verkek 
dem ideeUen Gledanken scklecktkin Autoritat und Objek- 
tivitat. So ist es von Plato, so von den Tausenden nack 
ikm empfunden worden. In die grieckiscke "Welt, in diese 
keitere Welt der Sinnenfreudigkeit und des G-enusses, kat 
Sokrates die G-ewiJJkeit und den Ernst eines k5keren Lebens 
gebrackt — der sterbende Sokrates, nickt der lebxende, oder 
der lekrende nur insofern, als er in der Todesstun.de lekrte. 
Die Anklage, um deren wiken er verurteilt worden 
war, erkielt kierdurck einen ganz neuen Sinn. Verurteilt 



Sotrates und die alto Kirohe. 33 

worden war er, well er neue Gotter lelirte und well er die 
Jugend zum Ungehorsam gegen die Eltern und Staats- 
gesetze verfulrrte: das behauptete die demokratisclie Re- 
aktion, deren politisclies Opfer er geworden war. Seine 
ScKiiler nnd Verelirer muBten nmgekehrt ilberzeugt sein, 
daC eben das das Gerechte und Grute sei, um dessen willen 
man ilin verurteilt hatte. Eine vollstandige Umwertung 
der Werte war damit gegeben: unbekiimmert um den Staat, 
um Sitte und Gewobnlieit sicli lediglich von personlicher 
IJberzeugung und freier Selbstentscheidung leiten zu lassen, 
der sittlichen Priifung nacli den hochsten Mafisttiben und 
der innern Stimme allein zu folgen, das ist das Grute. Und 
noch. etwas, ■ — • Leiden, Entbekrung, Verfolgung, der Tod 
sind keino tJbel, sondern konnen in Quellen der Kraft ver- 
wandelt werden; das irdiscbe Leben ist der Griiter hoclistes 
nicbt, denn es bat ein lioberes Leben in sicL. und iiber 
sicK; endlicb, selbst die Staatsgotter , die olympiscben 
G-otter alle, verblassen an Macbt und Autoritat vor dem 
Gott, der tief das Innerste erregt. Das sind die Empfin- 
dungen und tJberzeugungen, die Sokrates durcli seinen 
Tod in der AntUie entbunden bat und die die Grundpfeiler 
einer neuen Weltanschauung in Griecbenland geworden sind. 
Es bedarf nicbt vieler "Worte, damit man erkenne, wie 
Terwandt das alles die Christen beriihren muBte. Je ein- 
facher und reiner sie ihren eigenen Besitz empfanden, um 
so deuthcher mufite ihnen die tJbereinstimmung sein. Aber 
andererseits — wie groB war doch wiederum der Unter- 
schied! Dieser Sokrates verlegte alle hoheren Giiter in das 
Gebiet der Erkenntnis; sie, die Christen, aber waren an- 
gewiesen, alle menschliche Erkenntnis miBtrauisch zu be- 
trachten. Er rief zum Wissen, sie aber zum Glauben. Er 
lieU die Gotter gelten; sie aber betrachteten sie als Damonen. 
Er zeigte den Weg zur Selbsterlosung; sie kannten einen 
Erloser und hofften auf ihn. "Wie konnen so viele Gegen- 
satze bestehen bei soviel Gemeinschaft? 

ilarnaok, Beden und Aufsatzo. L " 



34 Erster Band, erste Abteilung. Keden: II. 

Ein Jahrliuiidert lang horen wir in christlichen KJrei- 
sen nichts von Sokrates, nicht einmal den Namen. Paulus 
schweigt liber ihn, obscton er von griecliischer PhilosopMe 
nicht ganz nnberTilirt geblieben ist. Anch. im Grefangnis 
erinnert er sich. nicbt an den verbafteten Pbilosopben. 
Mcbt einmal die Legende hat es gewagt, dem Apostel ein 
Urteil liber Sokrates in den Mund zn legen, obschon sie 
ihn mit Seneca zusammenbringt. jjWenn nnsere Bekenner 
etwas Todliches trinken, wird es ihnen nicht schaden", be- 
zengen die Christen; aber Sokrates erwahnen sie nicht. 
Erst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts wu'd sein 
Name in iinseren Quellen zum erstenmal genannt, und 
von nun an verschwindet er nicht mehr. 

Es sind die christhchen Apologeten gewesen, die ihn 
anfgenommen haben, jene Manner, die das Christentum 
auf den Boden der griechischen Philosophie, ja liberhanpt 
des Griechentnms , hiniiber pflanzten. Und — - daB ich es 
gleich sage — der erste, der dies mit nngemeiner Energie 
getan hat, ist zugleich derjenige, der Christus nnd Sokrates 
einander am nachsten geriickt hat, der Apologet Justin. 
Um das Jahr 150 hat er eine umfangreiche Verteidigungs- 
schrift fiir das Christentum an die Kaiser Antoninus Pius 
und Marc Aurel, an den Senat und das ganze romische 
Volk gerichtet. In dieser Schriffc streift er nicht nur So- 
krates und seine Lehre, sondern die Beziehung auf sie bildet 
vom ersten bis zum letzten Blatt ein Hauptmittel der 
Verteidigung und des Beweises. Er weiC, daB seine kaiser- 
hchen Adressaten Sokrates iiber alles schatzen; deshalb 
hat er seine Schrift durchflochten mit platonischen Zitaten 
und mit Anspielungen auf die letzten Reden des Philo- 
sophen. Aber er selbst ist als Christ ein Verehrer des 
Sokrates gebUeben, und darum argumentiert er zuversicht- 
lich und unbefangen von ilun aus fiir die Christen und 
fiir Christus. Wir Chiisten aUe erleiden heute das, was 
Sokrates erlitten hat, weil wir wie er denken und hand ein; 



Sokrates und die alte Kirche. 35 

wir sind mit ihm -ungereclit verurteilt; wir sind mit iTim 
im Kerker; -wir werden mit ihin getotet und — wir sind 
mit ihm nnverwundbar; denn Anytus und Meletus konnen 
uns -wolil toten, aber schaden konnen sie uns nicht. Das 
ist keine Rhetorik, das ist auch niclit zufallige tJberein- 
stimmung, nein — Justin ist tief davon durcMrungen, 
daC sick in der VerurteUung der Christen die Verurteilung 
des Sokrates wirklicli fortsetze. Diese tJberzeugung muC 
er beweisen, und er beweist sie; denn so lauten seine 
Worte: „Als Sokrates die Menschen von den Damonen ab- 
zuwenden versuchte, da haben es diese dahin gebracht, 
daiJ er als eiti Gottesleugner und Frevler sterben mufite; 
denn sie KeUen die Bekauptung verbreiten, er fiihre neue 
Grottheiten ein. Dasselbe tun sie heute uns gegeniiber; 
denn nicht nur bei den G-riecken hat der Logos die falsche 
Religion durch Sokrates widerlegt, sondern auch bei den 
Barbaren ist dies gesckeken. Dort aber ist er personlich 
erschienen und kat als Jesus Ckristus die Damonen liber- 
wunden." Und an einer anderen Stelle: „Alle die mit dem 
Logos gelebt kaben, die waren Ckristen, wenn sie auck als 
Gottesleugner galten, wie unter den G-riecken Sokrates." 
Und an einer dritten: „Unter alien Pkilosopken ist So- 
krates der beste gewesen; denn er kat Homer und die 
G-otter der Dickter versckmakt, dagegen die Menscken an- 
gewiesen, den unbekannten G-ott mittelst des Logos zu 
sucken und zu erkennen; er selbst kat Ckristus zum 
Tail erkannt; denn Ckristus ist die personkcke Ersckeinung 
des Logos, der jedem Menscken inne woknt." 

Sokrates und Ckristus gekoren also zusammen und 
werden von Justin der grieckiscken Rekgion entgegen- 
gesetzt. Sie gekoren aber zusammen, well ein und der- 
selbe Logos in Beiden gewaltet kat. 

Enger kann man die Verbindung nickt fassen; aber 
Justin ist dabei nickt bknd gegeniiber dem Unterschied. 
Dieser Unterschied ist ihm ein gewaltiger; denn, so fiikrt 



3(5 Erster Band, erste Abteilung. Seden: II. 

er aus: Sokrates war nur ein Werkzeug des Logos, in 
Cliristus aber ist dieser selbst erschienen; weiter, Sokrates 
hat die AValixlieit niclit vollstandig iind rein erkannt, denn 
er besafl niclit den ganzen Logos; endlicli „dem. Sokrates 
hat niemand solchen Grlauben geschenkt, daB er fiir seine 
Lehre gestorben ware, fiir Christus aber gehen nicht nur 
Philosophen, sondern anch Handwerker und ganz unge- 
bildete Leute in den Tod". Diese letzte Wendung ist ganz 
besonders lelirreich: Justin vermeidet es, die so nahe lie- 
gende Parallele zwischen dem Tod des Sokrates und dem 
Tod Ghristi zu ziehen. Dagegen stellt er das Verhalten 
der Jiinger Beider in einen Gegensatz und erschlieCt aus 
ihm die einzigartige Kraft der Predigt Jesu. 

In Hinsicht auf Reinheit, Universalitat, FaClichkeit 
und tJberzeugungski'aft also steht dem Justin das Christen- 
tum hoch Tiber der sokratischen Lehre; aber kein Zweifel 
— Sokrates und seine Philosophie gehoren auf die Seite 
der Wahi'heit und nicht auf die Seite des Lrrtums, darum 
zu Christus und nicht zum Heidentum. Ahnlich wie Justin 
haben auch die iibrigen griechischen Apologeten geurteilt, 
die etwas spater geschrieben haben. Sie streifen die Person 
des Sokrates zwar nur, und er steht ihnen nicht im Mittel- 
punkt des Interesses, aber sie verehren ihn. Tatian schildert 
das ganze Griechentum mitsamt seinen Philosophen in den 
diistersten Farben, aber Sokrates nimmt er aus: „Es gibt 
nur einen Sokrates." Athenagoras stellt wie Justin die 
Christen mit dem athenischen Philosophen zusammen: „Wie 
dieser durch die offentliche Meinung nichts von seiner Vor- 
trelflichkeit einbiiBen konnte, so vermag auch uns Christen 
die grundlose Verleumdung in Bezug auf die Reinheit 
unseres Lebens nicht zu schaden. " Der Philosoph ApoUonius 
erinnert seine Richter, die romischen Senatoren, an die be- 
riihmte Stelle aus Plato, wo dieser von dem wahrhaft Gre- 
rechten weissagt, er werde gegeifielt, gefoltert, geblendet 
und zuletzt aufgepfahlt werden. Dann fahrt er fort: „So 



Sokrates nnd die alte Kirche. 37 

wie die athenisdien Anklager iiber Sokrates ein ungerecli- 
tes Todesurteil abgegeben liaben, so liaben die Gottlosen 
auch. iiber unseren Meister und Erloser das Verdammunss- 
urteH gefallt; denn die G-erechten sind den Gottlosen stets 
verhaJBt." Nur einen alten griechisohen Apologeten gibt 
es, der tier eine Ausnahme maeht und Sokrates einfacli in 
das blinde Heidentum. einrecbnet. Es ist gewiU nicht zu- 
fallig, dafi dieser Eine zugleich. ein Biscbof gewesen ist — 
TlieopliilTis von Antiochien. Er stoiJt sicli daran, dafi So- 
krates, wie die IJberlieferung sagt, bei dem Hunde und der 
Platane zu schworen pflegte, und scMofi daraus, dafi er 
nichts von der Wakrheit erkannt babe, und dafi daber auch 
sein Tod sinn- und zwecklos gewesen sei. Jene Schwiire 
des Sokrates mufiten freilicb seinen christlichen Verebrern 
sebr unangenebm und bedenklich sein, aber sie wuCten 
sicb mit ibnen abzufinden. Lediglicb um die Atbener und 
ibren Glauben zu verspotten, meinten sie, babe Sokrates 
solcbe Scbwurformebi gebraucbt. So gewifi waren sie, dafi 
der Mann, der, wie die cbxistbcben Bekenner, fiir seine 
Lebre gestorben war, unmoglicb im Gotzendienst stecken 
geblieben sei. 

Er war flir seiue Lehre gestorben und die Christen 
starben fiir ibre Lehre — diese tjbereinstimmung hat selbst 
die gebildeten Gegner des Christentums stutzig gemacht, 
und noch andere Verwandtschaften fielen ibnen auf. Celsus, 
der alteste und tiichtigste Uterarische Bestreiter des Christen- 
tums, hat in der Einleitung zu seiner Schrift die gefahr- 
dete Lage der Christen mit der des Sokrates verglichen. 
Leider kennen wir an dieser Stelle den Wortlaut seiner 
Ausfiihrungen nicht mehr und wissen daher nicbt, wie er 
sicb aus dem fiir seinen eigenen Standpunkt todlichen Ver- 
gleich herausgezogen hat. Eben derselbe Celsus behauptet 
auch, dafi die Christen das Gebot, nicht Boses mit Bosem 
zu vergelten, einer Anweisung des Sokrates entnommen 
batten, und dafi auch ibre Unterscheidung einer mensch- 



38 Erster Band, erste Abteilung, Eeden: II. 

lidien und einer gottlichen Weislieit dieser Quelle ent- 
stamme. Der Heide Caeilius rat den Christen, wenn sie 
denn durchaus philosophieren wollten, Sokrates nachzu- 
ahmen nnd jene Zuriickhaltung in Bezug aiif die himm- 
lischen Dinge zu liben, der er sich befleiBigt habe. Lucian, 
der Spotter, bebauptet, die Cbristen batten einen ibrer ber- 
vorragenden Lebrer „den neuen Sokrates" genannt. Gralen 
gestebt einzelnen Christen zu, daU sie wie wabre Philo- 
sopben, also wie Sokrates, die sinnbchen Geniisse und den 
Tod verachten. Umgekebrt sucht Marc Aurel zu zeigen, 
dafi die Ubereinstinunung des Sokrates und der Christen 
in der Todesbereitscbaft nur eine scheinbare sei; denn 
jene sei selbstbewuCt und vol! keuscben Ernstes gewesen, 
diese aber unbesonnen und prablsiicbtig. Man erkennt 
deutlicb — auch fiir die G-egner lag bier ein Problem. 
Mcht nur die Christen nabmen Sokrates fiir sicb in An- 
spruch; auoh ibre Feinde fanden bier Ubereinstimmungen, 
die sie in Verwunderung setzten und fiir die sie nach Er- 
klarungen suchen niufiten. Qegenseitig bezichtigte man 
sicb des Plagiats: Sokrates bat die beibge Scbrift gepliin- 
dert; nein — Christus oder die Cbristen baben die grie- 
ehisohe Philosopbie bestohlen. So sebr empfand man das 
Gemeinsame, und so unfahig war man, es zu erklaren! 

Aber — kann man eiawenden — ist bier nicht alles 
beriiber und biniiber nur dialektiscb-apologetiscbe Kunst 
gewesen? "War es den cbristlicben Pbilosophen wirkbcb 
Ernst mit ibrer Verebrung des Sokrates? Bei Justin kann 
dariiber kein Zweifel sein und ebensowenig bei dei: Gruppe 
von Theologen, die sicb unmittelbar ibm anscblieUt, den 
alexandriuiscben cbristlicben Gelehrten. Clemens, Origenes 
und ibre Schiiler baben mit der gleichen Hocbacbtung von 
Sokrates gesprocben, wenn sie fiir Christen und wenn sie 
fur das groCe PubUkum geschrieben baben. ■ Der Ausdruck 
„Hochacbtung" ist noch viel zu schwach; Sokrates war 
ibnen ein Zeuge der Wabrheit, ja der Zeuge innerhalb der 



Sokrates viud die alte Kirche. 39 

griechischen Geschictte. Noch mehr: Clemens AlexancLrinus 
hat die ganze Geschichte der griecliischen Philosophie von 
Sokrates ab nicht im Kontraste zum Christentum betrachtet, 
sondern als Vorhalle desselben wie das alte Testament, und 
aucb Origenes und seine Schiiler beurteilten sie ahnlich. 
Wie war ilinen das moglicb, da sie dock iiberzeugte kircb- 
licbe Christen waren und der Bedeutung der Person Christi 
nichts abzogen? Nun, mogbch, ja selbstverstandlich war es 
ihnen, weil sie in der christhchen Religion nicht eine 
Religion sahen, sei es auch die wahre, sondern weil sie sie 
als die Religion erkannten, auf welche die rehgiose Anlage 
aUer Menschen hinweise und die sich in der Menschheits- 
geschichte vorbereitet habe. Diese Erkenntnis machte sie 
nicht tolerant, sondern wahrhaft Hberal, d. h. sie wufiten 
das G-ute, wo immer es sich zeigte, zu finden und zu 
schatzen und brachten es mit der christhchen Predigt in 
Verbindung. DaJJ die Tugenden der Heiden nur glanzende 
Laster, ihre Erkenntnisse samt nnd senders Irrtiimer seien — 
von diesem triiben Gedanken waren sie noch weit entfernt. 
Freihch entfernten sie sich auch von jener Auffassung des 
Bosen und der Siinde, welche Paulus verkiindigt hatte; 
aber man kann nicht sagen, daiJ sie die einzige ist, die sich 
mit dem Evangelium vereinigen laCt. 

Wie sehr Clemens nnd Origenes Sokrates geschatzt 
haben, erkennen wir am besten an der voUkommenen Un- 
befangenheit, mit der sie seine Ausspriiche als anerkannte 
Wahrheiten zitieren; ja Clemens verbindet sie sogar mit 
Bibelspriichen. Origenes tut das nicht mehr; die Bibel 
steht ihm zu hoch, aber Sokrates ist auch ihm iiber jeder 
Kritik erhaben. „Er hat", sagt er, „im Grefangnis mit voU- 
kommener Fnrchtlosigkeit und mit aller Seelenruhe so viele 
und so erhabene Gredanken ausgesprochen, dafl ihm kaum 
die zu folgen vermochten, die voUstandig gefaiJt waren 
und von keiner drohenden Gefahr beangstigt wurden." 
Nur einmal erscheint seine unbedingte Verehrung er- 



40 Erster Band, erste Abteilung. Eedcn: II. 

scL-iittert, wo er sicli erinnern miiC, daC Sokrates doch. 
auch den Gotzen geopfert hat. Aber mit Clemens ist er 
der IJberzeugung, dafi das Damoninm des Sokrates kein 
boser Greist gewesen ist, sondern ein G-eist des Schutzes nnd 
der Wakrheit. Das ist die starkste Probe ihres Glaubens 
an den Philosoplien ; denn es war fur jeden Gliristen ein 
hartes Stiick, dieses Damonium anzuerkennen. Scbon der 
bloBe IsTame muBte abscbrecken. Am lekrreicbsten aber 
ist es, zu sehen, wie Origenes in seinem groBen "Werke 
gegen Gelsus den IJbereinstimmungen zwischen Sokrates 
einerseits und Ckristus und den Christen andererseits nacb- 
gebt. Tausend Jahre spater haben die Schiiler des beiligen 
Tranziskus .,Conformitates" zwiseben ibrem Meister und Je- 
sus aufgesucbt und zusammengestellt. Dasselbe bat bereits 
Origenes getan; nur einige seien angefiilu't: Jesus ist 
eines scbmablicben Todes gestorben, Sokrates aucb; Jesus 
bat gelebit, den Tod nicbt fiir ein Ungiiick zu acbten und 
ibm gegeniiber fai'cbtlos zu bleiben, Sokrates aucb; Jesus 
hat die Siinder zu sicb gerufen, Sola'ates bat den Phadon 
aus einem scblechten Hause berausgenommen und ihn der 
Philosophie zugefiihi-t; von Jesus werden bochst wunderbare 
und anscheinend unglaubwiirdige Gescbicliten berichtet, von 
Sokrates auch; Jesu Spriicbe und Gleichnisse bediirfen der 
allegoriscben Erklarung, Sokrates' Mythenerzablungen eben- 
falls ; aus Jesu Verkundigung endbch haben sicb verscbiedene 
Sekten und Schulen entwickelt, nicht anders aus der Lehre 
des Sokrates. 

Diese Hochschatzung des atbenischen Pbilosophen bat 
Origenes auf seine Schiiler iibertragen. In der Lobrede, 
die Gregorius Thaumattrrgus seinem Meister gehalten bat, 
weiC er ibm kein hoberes Lob zu spenden als in den 
Worten: „Wie Solcrates bat mich Origenes geziigelt und 
geleitet." Ebenderselbe Gregorius bezeichnet das sokratische 
Wort „Erkenne dicb selbst" als das Gebot der tiefsten Weis- 
beit. Ein anderer clrristlicher PhUosopb, Methodius, eignet 



Sokrates und dio alte Kirche. 41 

sich. die Auffassung vollkommen an, die Sokrates liber den 
Tod ausgesproclien hat. In die Weltclironik des Eusebius 
ist Sokrates als der „Pliilosophos kathartikos", der Philosoph. 
„ der Reinigung" , anfgenommen, der durch. „den "Walinsinn" 
der Athener den Tod erlitten bat. Damit erschien das 
christlicbe Urteil liber Sokrates fiir alle kommenden Zeiten 
in einem mafigebenden Werke festgelegt. Aber aticb mitten 
im bewegten Leben und in der Todesstunde haben christ- 
liche Martyrer des 3. Jabrhnnderts nocb immer des Sokrates 
gedacbt und sich. auf ihn berufen, so Pionius und Phileas. 
„Ich op fere nieht; denn ich wache eifersiichtig liber meine 
Seele. Mcht nur wir Christen tun so, sondern auch Heiden; 
nimm Dir den Sokrates als Beispiel: da er zum Tode ge- 
flihrt wurde und seine Gattin und Kinder neben ihm standen, 
kehrte er nicht um, sondern nahm bereitwUlig den Tod 
auf sich." Aus dem ganzen Grebiet des Griechentums ist 
mir in der Zeit vor Konstantin neben Theophilus von 
Antiochien, den ich bereits erwahnt habe, nur noch ein 
Christ bekannt, der sich abschatzig liber Sokrates geauBert 
hat. Dieser Eine — es ist der Verfasser der clementinischen 
Homilien, und er beschuldigt Sokrates grober Unsittlichkeit 
— ist aber nur seiner Sprache nach ein Grieche; in Wahr- 
heit ist er ein jiidisch-syrischer Christ. Der griechische 
Geist lieB sich seinen Sokrates nicht rauben, auch dann 
nicht, als er sich dem Evangehum unterworfen hatte. 

Aber wer kann behaupten, dalJ sich diese Verbindung 
der Lehre des Sokrates und Christi auf eine vollstandige 
und tiefe Einsicht in die Eigentumlichkeit Beider griindete? 
Man darf wohl sagen: sie kam zu frlih, und sie floi] mehr 
aus der sitthchen Stimmung, dem WHlen und der Yer- 
ehrung als aus gesicherter Erkenntnis. Tat man nicht 
Beiden Gewalt an, indem man sie einander so nahe riickte, 
und sab man nicht wesenthche Gedanken des Christentums 
preis, wenn man hier nur Ubereinstimmungen' sehen -wollte? 
Die abendlandischen Theologen sind es gewesen, die dies 



42 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II. 

erkannt haben, die Lateiner, die durcli kein urspriingliclies 
Band mit Soki-ates und dem Grriechentum verbunden waren. 
Sie haben den Unterscbied und Gegensatz zum Ausdruck 
gebracbt. Aber indem sie das taten, wurden sie in der 
Negative ungerecbt; denn eine relative und wabrbaft ge- 
scbicbtlicbe Betracbtung gab es uberbaupt nocb nicbt. 
Doch baben es nur zwei unter ibnen, Minucius Felix und 
ISTovatian, iiber sicb gebracbt, den groflen PbiLosopben als 
verfiibrten und verfubrenden Irrgeist, ja als „attiscben 
Scbalksnarren" einfacb beiseite zu scbieben. Die beiden 
einfluCreicbsten abendlandiscben Apologeten, Tertullian und 
Lactantius, baben ein widersprucbsvolles Bild des Sokrates 
entworfen, in welcbem aber die ungiinstigen Ziige weit 
iiberwiegen. 

Tertulban raumt in seiner groBen Verteidigungsscbrift 
fiir das Cbristentum ein, daJJ Sokrates die falscben Grotter 
verworfen babe und daB er desbalb verurteilt worden sei. 
Daber laCt er ibm den Titel des Weisesten der Grriecben. 
„Er erkannte etwas von der Wabrbeit", sagt er, „und era 
gewisser Anbaucb derselben hat ibn den Gottern Trotz 
bieten lassen." „In ibm ist die Wabrbeit im voraus ver- 
dammt worden, und sein Tod ist das grofie Beispiel, daC 
sie zu alien Zeiten den Menscben verbaUt gewesen ist." 
Aucb die Scbwurformeln des Sokrates „beim Hunde und 
dem Holze'" will Tertullian so deuten, dafi die Gotzen da- 
dm'cb verspottet werden sollten. In alien diesen Urteilen, 
nur nicbt in dem letzten, stimmt Lactantius mit ibm iiber- 
ein; er recbnet es aber Sokrates auBerdem nocb. zu bob.em 
Lobe, dafi er sicb fur das Nicbt-Wissen entscbieden und 
die ganze Pbilosopbie in Etbik verwandelt babe. Aber 
damit ist aucb das Lob des PbUosopben bei beiden Apolo- 
geten erscbopft, und tiefe Scbatten verdunkeln es: dieser 
Sokrates ist docb ein falscher, ja letztlicb ein unsittHcber 
Pbilosopb gewesen; den cbristlicben Haretikern, nicbt der 
Kircbe, bat er Stoff fiir ibre Lebren gegeben; er bat die 



Sokrates und die alte Kirohe. 43 

Wakrheit nicht besessen, sondern sie nui gesucht, ja niclit 
einmal ernsthaft — mit dem Wunsche sie zu finden — 
gesucht; von einem bosen Damon hat er sicb leiten lassen; 
die Jugend hat er zn abscheuUchen Lastern verfiihrt, die 
"Weibergemeinschaft hat er empfohlen; im Grunde war er 
irrehgios, denn er verkiindete, daC das, was iiber uns ist, 
nns nichts angehe, und endlich — auch jenen Anhauch 
von "Wahrheit, der ihn die falschen Grotter verachten lehrte, 
hat er in der Todesstunde eingebiiJJt; denn er heC dem 
Askulap einen Hahn schlachten! 

In dem letzten Urteil haben Tertullian und Lactantius 
die heiligste Erinnerung der Antike, gleichsam ihr Evan- 
gelium, anzutasten gewagt — den sterbenden Sokrates. Die 
Seelenstarke , die er in der Todesstunde bewiesen, seine 
letzten iieden, das Zeugnis, das er in Wort und Tat fiir 
den Adel und die. Unsterbhchkeit der Seele abgelegt, hatten 
ihn zum HeHigen des Altertums gemacht. Alles iibrige 
von ihm und seiner Lehre war verblaCt und vergessen; 
niemand achtete darauf; um so heller erstrahlte der Kon- 
fessor und der Martyrer. Diesen wagte Tertullian anzu- 
greifen und in den Staub zu ziehen, und weshalb? Weil 
er in der Todesstunde befohlen hatte, dem Askulap einen 
Hahn zu schlachten! Alle griechischen Apologeten sind 
schweigend iiber diesen dunklen und peinhchen Punkt hin- 
weggegangen; aber auch Tertulhan selbst hat gefiihlt, daC 
er die wundervolle Grofie des sterbenden Sokrates nicht 
durch den einen Hinweis auf das Hahnenopfer nieder- 
reiUen konne. WoUte er das Evangelium der Antike ver- 
nichten in der IJberzeugung, daC nicht wahrhaft groC, nicht 
rein und heilig gewesen sein konne, wer der Offenbarung 
entbehrte und den Damonen noch geopfert hat, so mufite 
er Zug um Zug all das Herrhche vernichten, was Plato im 
Phadon und sonst von dem sterbenden Soki'ates berichtet 
hatte. Lange ist er selbst vor dieser furchtbaren Aufgabe 
zuriickgeschreckt; erst in einem seiner letzten Werke hat 



44 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II. 

er sie vollzogen. Die grofie Unters-aclmng iiber das Wesen. 
und die Unsterblichkeit der Seele, die wissenschaftlich. be- 
deutendste Arbeit, die wir aus seiner Feder besitzen, notigte 
ibn, sieh. mit Sokrates auseinanderzusetzen. Wer iiber dieses 
Theraa scbrieb, muCte zu Plato's Pbadon Stellung nebmen, 
das war selbstverstandlich ; aber Tertidlian mufite das erst 
recbt, da er im Grrunde dasselbe iiber die UnsterblicKkeit 
der Seele zu sagen batte, was der sterbende Sokrates ge- 
lehrt. Wie wird er ibn also ins TJnrecbt setzen konnen? 
Horen wir seine Ausfiibrungen ; mit Bedacbt sind sie bereits 
im Prologe entwickelt, eroffnen also das Work: 

„Im Kerker des Soki-ates wurde iiber den Znstand der 
Seele verbandelt. "Wenn auch anf den Ort nicbts ankommt, 
so ist mir docb allem zuvor zweifelbaft, ob die Zeit fiir den, 
der bier Belelirungen erteilt hat, eine gelegene war. Denn 
was soUte wohl die Seele des Sokrates in j-enem Augenblick 
nocb mit Evidenz erkannt baben, da das beilige Scbiiflein 
scbon vom Lande abgestoiien, der Scbierlingsbecher bereits 
getrunken und die Seele, wenn es nacb der Ordnnng dor 
IsTatur ging, durcli die Niibe des Todes notwendig in eine 
gewisse Erregnng versetzt war? Wie belter nnd rubig sie 
audi gewesen sein mag, wie wenig sie sicb aucb unter die 
v.-eicben Grefiible der Natur beugen lieB, sie war docb in 
Unrube durcb die Anstrengung, nicbt unrubig zu werden, 
sie war in ibrer Standbaftigkeit erscbiittert durcb die krampf- 
bafte Niederzwingung der Schwacbe. AVeiter, wofiir wird 
ein zu Unrecbt Verurteilter sonst nocb Sinn baben als 
Trostgrlinde aufzusucben in Bezug auf die UnbUl? Zumal 
der Pliilosopb, dieses vom Ruhm lebende Gescbopf! So 
gratuUerte sicb denn Sokrates selbst zu seinem Tode, well 
es besser sei, ungerecbt als gerecbt verurteiit zu werden, 
und, um seinen Anklagern ibren Triumpb zu rauben, de- 
monstrierte er die Unsterbbcbkeit der Seele. Also stammte 
die ganze damabge "Weisbeit des Solcrates aus den An- 



Sokrates und die alte Kirche. 45 

strengungen eines tendenziosen G-leichmuts , nicht aus der 
Zuversicht der erlebten AVahrlieit. Denn wer kann die 
Valu'heit inne werden olme Grott? wer G-ott erkennen oline " 
Cliristus? wer Cluistum finden oline den lieiligen G-eist? 
Naher liegt es gewiC, bei Solcrates einen ganz anderen G-eist 
anzunehmen; denn man sagt ja, daC ilin von Kindheit an 
ein Damon begleitet habe. Indes, -wenn selbst dieser So- 
krates, den der pytbische Damon als den Weisesten be- 
zeichnet, die Unsterblichkeit der Seele bezeugt bat, urn wie 
viel mebr G-ewicbt bat das Zeugnis der cbristbcben Weis- 
teit, bei deren Anbauch die ganze Macbt der Damonen 
znriickweicbt! Sie ist die "Weisbeit aus der Scbule des 
Himmels; sie leugnet kiibn die Grotter dieser Welt; sie 
erweist sicb nicbt als zweidentig durcb den Befebl, dem 
Asknlap einen Habn zu opfern; sie fiibrt keine nenen 
Damonen ein; sie verflibrt die Jugend nicbt, sondern lebrt 
sie alles, was keuscb und ziicbtig ist. Weil sie so ist, 
darxim bat sie die nngerecbte Verurteilung nicbt blofi von 
seiten einer Stadt, sondern des ganzen Erdkreises fiir die 
Wabrbeit zu ertragen, fiir die Wabrbeit, die um so ver- 
baflter ist, je vollkommener sie erscbeint. Sie scbliirft aucb 
nicbt den Tod in beiterem Feierkleid aus einem Becber, 
sondern mufi ilin nebst aUen Erfindungen der Grausamkeit 
am Kreuz und auf dem Scbeiterbaufen dui'cbkosten, und 
sie stellt in dem viel finstereren Kerker dieser Welt ibre 
Untersucbungen iiber die Seele mit ibren Pbadonen nacb 
den Anweisungen G-ottes an. Der wabre Lebrmeister der 
Seele ist ibr Scbopfer. Von ibm allein soUst du lernen, 
und wenn nicbt von ibm, dann von keinem anderen; denn 
wer kann entbiillen, was er bedeckt bat? Dort soil man 
fragen, wo man, aucb obne Antwort zu erbalten, am 
sicbersten gebt. Es ist besser, etwas durcb Gott nicbt zu 
wissen, weil er es nicbt geoffenbart bat, als durcb einen 
Menscben zu wissen, weil er iiber wertlose Mutmafiungen 
docb nicbt binauskommt. '■ 



46 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II. 

„Wehe, wehe, du hast sie zerstort, die sclione "Welt" 
— so muB man ausrufen. Und mit "welclien Mitteln zer- 
■ stort! Wie kreuzt sich in diesen Ausfohrungen die IJber- 
zengung von der unerreichten Hohe des Evangeliums mit 
abschetdiclier Sophistik! Hat Tertnllian selbst an diese 
pfaffisclien Ausfukrungen geglaubt, war es ihm Ernst mit 
dieser Kritik des sterbenden Sokrates? Ja und nein! Ernst 
war es ilim mit seiner Theorie, mit dem Glauben, dafi 
die Wahrbeit ansscMiefilicb in der bibliscben Offenbarung 
zu finden sei; aber er hat wider sein Wissen und sein G-e- 
wissen gezeugt, wenn er dieser Theorie zuliebe die Tat- 
sachen beugte und den Sokrates in den Staub zog. LaCt 
sich doch unschwer bemerken, daU bei Tertullian hinter der 
ungerechten Verurteilung noch immer eine scheue An- 
erkennung uniiberwindhch raht. Der Mann, der einst das 
herrhche Biichlein „De testimonio animae naturahter 
Christianae" geschrieben hat, vermochte es doch nicht iiber 
sich zu bringen, dem Sokrates zum zweitenmal den Schier- 
hngsbecher zu reichen. Ein Funke griechischer Auffassung 
lebte auch noch in ihm, jener IJberzeugung von der Ein- 
heit der geistigen und der religiosen Funktion. Aber — 
wenn bereits Sokrates fiir die "Wahrheit gestorben war, was 
bheb fiir Jesus Christus iibrig? Mit Recht empfand Ter- 
tuUian, dafi hier etwas viel Hoheres in die G-eschichte ein- 
getreten sei, aber er vermochte dieser Empfindung nur auf 
Kosten des Sokrates Ausdruek zu geben. 

Doch — den letzten Schritt hat erst Augustin getan, 
und zwar durch seine furchtbare Theorie, dafi alle Tugen- 
den der Heiden nm- glanzende Laster gewesen seien. Erst 
diese Lehre tauchte alles in dunkle ISTacht, was das Alter- 
tum Erhabenes und Grrofies hervorgebracht hat. Aber — 
wie so oft in der Greschichte — eben wenn eine einseitige 
Betrachtung bis zur letzten Spitze durchgefuhrt ist, stellt 
sich der Umschlag und der Fortschritt in der Methode der 
Erkenntnis ein. Man kann die augustinische Theorie auch 



Sokrates und die alte Kirohe. 47 

als den Anfang der Einsiclit fassen, daC Religion etwas 
Anderes ist als ein Wissen, daC griechisclie Philosophie und 
Ckristentum zwei spezifiscli verscMedene Grofien sind, dafi 
daher jede fiir sich zu betrachten und nach. verscliiedenen 
MaCstaben zu wiii-digen ist. Das ist der voile Gegensatz 
zu der Meinung der griechisclien Apologeten, beide geborten 
einfach zusammen und die eine lieBe sich. aus der anderen 
deuten und erklaren. "Wohl gibt es eine letzte Betrachtung, 
nach. welcher diese Auffassung ein Recht hat, aber zunachst 
bildete sie ein starkes Hemmnis fiir das Verstandnis beider 
GrroJJen. Der, welcher sie auseinander gerissen hat, hat 
damit, ohne es zu wissen und zu woUen, der Erkenntnis 
einen Dienst geleistet. Auf dem abendlandischen Boden, 
nicht auf dem griechischen, ist, freilich erst nach Greneratio- 
nen, die zutreffendere Erkenntnis des Christentums und 
auch des Sokrates erwachsen, und heute wissen wir besser, 
als es irgend jemand im zweiten Jahrhundert gewuBt hat, 
was sie trennt und was sie verbindet. Wir nehmen Christus 
nicht mehr fiir die Philosophie in Anspruch und Sokiates 
nicht mehr fiir das Christentum; wir erkennen, daiJ an die 
Hohe des Evangeliums nichts heranreicht; aber doch be- 
zeugen wir mit Justin, daU auch in Sokrates der Logos 
gewaltet hat. 

Ich bin am Schlusse, aber ein Doppeltes mochte ich 
Ihnen, meine Herren Kommilitonen , noch ans Herz legen: 
erstlich, was Sie auch studieren mogen, vernachlassigen Sie 
die Greschichte nicht, die grofie Q-eschichte und die Ihrer 
Wissenschaffc. Grlauben Sie nicht, daC Sie Erkenntnisse 
einsammeln konnen, ohne sich mit den Personhchkeiten 
innerlich zu beriihren, denen man sie verdankt, und ohne 
den Weg zu kennen, auf dem sie gefunden worden sind. 
Keine hohere wissenschafthche Erkenntnis ist eine bloBe 
Tatsache; eine jede ist einmal erlebt worden, und an dem 
Erlebnis haftet ibr Bildungswert. Wer sich damit be- 



48 Erster Baud, erste Abteilung. Keden: II. 



to 



gnugfc, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem 
Gartner, der seinen Grarten mit abgesclinittenen Blumen 
bepflanzt. Sodann aber — erkennen Sie an der GescbicMe 
des Sokrates, was den watrbaft groCen Mann macbt und 
was von ibm bleibt. Hur der Teii seiner Pbilosopbie ist 
geblieben, den er durcb die Tat besiegelt bat, alles andere 
ist vergessen. Aucb an Sie stellt die "Wissenscbaft, zu der 
Sio berufen sind, nicbt nur die Anforderung zu forscben 
tind zu lernen, sondern lebendige Zeugen des Wabren und 
Guten zu werden, Manner, die da bereit sind, um dieser 
Giiter willen jedes Opfer zu bringen. Der Dienst der 
Wabrbeit ist Gottesdienst, und in diesem Sinne sollen Sie 
ibn treiben. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG "m 



REDEN: III 
AUGUSTINS KONFESSIONEN 



Vortrag 

erschienen in 3. Aufl. 1903 bei der J. Eicker'sohen VerlagsbuoKhandliang 
(Alfred Topelmann) in Giessen. 



In der Zeit vom Tode Konstantins bis zur Plunderung 
Roms dm-ch die Vandalen (c. 340 — 450) ist das geistige 
Kapital zusanunengebracht worden, in welcliem sich. die 
IJberlieferung des Altertums an das Mittelalter darstellt. 

Mag man auf die Religion und Tbeologie, auf die 
Wissenschaft und Politik, mag man auf die leitenden Ideen 
der mittelalterlichen Menscben iiberbaTipt blicken — iiberall 
gewabrt man die voILkommene Abbangigkeit von den Er- 
kenntnissen, welcbe in jenem Jabrhundert der Volkerwande- 
rung Yon den Kircbenvatern zusammengestellt worden sind. 

Diese Erkenntnisse selbst tragen freilicb nicbt den 
Stempel friscber Produktion; sie sind vielmebr ledigKcb 
eine Auswabl ans einer ungleicb reioberen Fiille von Ideen 
Tind lebendigen Ki-aften. 

Nacbdem die Kircbe im Reicbe Konstantins zum Siege 
gekommen, sucbten ibre Fiibrer sicb des allgemeinen gei- 
stigen Lebens zn bemacbtigen und alles der Herrscbaft der 
Earcbe und ibres G-eistes zu nnterwerfen. Die groBe Auf- 
gabe, langst scbon in Angriff genonunen, das Cbristentum 
mit dem Reicbe und der antiken Kultur zu verscbmelzen, 
wurde mit erstaunlicber ScbneUigkeit zu Ende gefiibrt. 
Jetzt erst wurde der Bund zwiscben der cbristlicben Reli- 
gion und der antiken Pbilosopbie festgescblossen. Griinstige 
Bedingungen ermogbcbten nocb einmal einen regen Aus- 
tauscb zwiscben Abendland und Morgenland, zwiscben Ro- 
miscbem und Grriecbiscbem. Die lateiniscbe Kircbe wurde 
mit dem Kapitale griecbiscber Wissenscbaft ausgestattet, 

unmittelbar bevor die groBe Scbeidung zwiscben dem Osten 

4* 



52 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

und Westen eintrat. Es ist, als ob man das drohende Ver- 
hangnis, die hereinbrechende Nacbt der Barbarei, geabnt 
hatte. In Eile wurde der feste Ban der Kirclie fertig ge- 
zimmert. In die Dogmatik zog man hinein, was man aus 
der griechiscben Pbilosophie brauchen zu konnen meinte; 
alles librige wurde als gefahrlicb oder als baretiscb zuriick- 
gesteUt und so allmablicb beseitigt. Die Verfassung der 
Kircbe erganzte man aus den erprobten Formen der Reicbs- 
verfassung; in der kircblicben Recbtsbildung folgte man 
dem romischen Recbt. Die Grottesdienstordnnng wurde 
revidiert und weiter ausgefiibrt: was an den alten beid- 
niscben Mysterien imponierend und ehrwiirdig erscbien, batte 
man scbon langst nacbgeabmt; nun wurde alles nocb prunk- 
voUer. Es bUdete sich jenes feierlicbe G-eprange, die wunder- 
bare Vereinigung erbabener Gedanken mit zeremoniosen 
Formen, welcbe den katboliscben Grottesdienst nocb beute 
so eindrucksvoU macbt. Aucb die Kunst wurde nicbt ver- 
gessen: wenige, aber bocbst bedeutende und bildungsfabige 
Motive wurden der tjberlieferung entnommen und mit dem 
Scbimmer des Heiligen liberkleidet. Selbst der literariscbe 
Bildungsstoff, die Unterbaltungslektiire, wurde fiir die kom- 
menden Jabrbunderte zubereitet. Die alten beidniscben 
Fabeln, Heroengescbicbten und Novellen wurden gesicbtet 
und in cbristlicbe Heiligengescbicbten umgewandelt. Uber- 
aU wurde bier das asketische Ideal der Kircbe zugrunde ge- 
legt. Aber der Kontrast zu dem bunten und siindigen Leben, 
in welcbem man dieses Ideal erproben lieC, gab den alten 
Grescbicbten in der neuen Form einen besonderen Reiz. 

So macbte man alles, was man der Antike entnabm, 
ncbristlicb". Es erbielt durcb die Verbindung mit dem 
Heiligen die Gewabr der Dauer. Der Rest der alten Kultur, 
auf diese Weise der Kircbe einverleibt, war nun fabig, den 
kommenden Stiirmen zu trotzen und kommenden ISTationen 
zu dienen. 

Allein es war wirklicb nur ein Rest, eine diirffcige Aus- 



Augustins Konfessionen. 53 

wahl aus dem Bestande einer untergehenden Welt, durch 
die Autoritat des Heiligen geschiitzt, zwar nicht ohne innere 
Einheit, aber zunachst ohne Triebkraft und fortschreitende 
Bewegung. 

Das Abendland ist im Mittelalter mehr als sieben Jahr- 
hunderte lang — von dem Urwiichsigen abgeseben, was die 
Germanen hinzubrachten — • auf diesen Besitz beschrankt 
geblieben; aber daneben hatte es doch einen Schatz von 
nnvergleicbliclier Fiille, einen Mann, der am SchlnJJ der 
alten Zeit gelebt und sein Leben iiber die folgenden Jahx- 
bunderte ausgescbiittet bat — Atigustin. 

Zwiscben Paulus, dem Apostel, nnd Lutber, dem Re- 
formator, bat die cbristlicbe Earcbe niemanden besessen, 
der sicb mit Augustin messen konnte, nnd an nmfassender 
Wirkung kommt ibm kein anderer gleicb. Wenn wir mit 
Recbt im Mittelalter und beute nocb den Geist des Abend- 
lands von dem Geist des Morgenlands unterscbeiden und 
an jenem Leben und Bewegung, die Spannungen macbtiger 
Krafte, wertvoUe Probleme und groCe Ziele bemerken, so 
verdankt die Kircbe des Abendlandes diese ibre Eigenart 
nicbt zum mindesten dem einen Mann, Augustin. Er ist 
mit der Kircbe, weleber er gedient bat, durcb die Jabr- 
bunderte gescbritten. Ibn findet man wieder in den grofien 
Tbeologen des Mittelalters bis zu dem groCten bin, Tbomas 
von Aquino. Sein Geist waltet in den Erommen und in 
den Mystikern des Mittelalters, in dem beiligen Bernbard 
nicbt minder als in Tbomas a Kempis. Er beseelt die kircb- 
Ucben Reformer des Mittelalters, die Reformer der karolin- 
giscben Epocbe ebenso wie einen Wiclif, Hus, Wesel und 
Wessel, und andererseits ist es docb derselbe Mann, der 
bocbstrebenden Papsten das Ideal eines Gottesstaates zur 
Verwirklicbung auf Erden vorgezeicbnet bat. 

Docb das alles mag uns beutzutage ziemlicb fremd 
sein: unsere Kultur ist, sagt man, aus der Renaissance und 
der Reformation geboren. Nun denn — Augustins Geist 



54 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

hat Tiber den Anfangen beider gewaltet. Petrarca und die 
groCen Meister der Renaissance haben sich. an Angustin ge- 
bildet, nnd Luther ist ohne ibn nicht zu verstehen: Augustin, 
der Vater des romiscben Katbolizismns , ist zugleich der 
einzige Kirchenvater, von dem Lntber wirldich. gelernt hat 
und den die Humanisten wie einen Heros verehrten. 

Aber Augustin steht uns noch viel naher. Die reli- 
giose Sprache, welche wir sprechen, die uns vertraut ist aus 
den Liedern, Gebeten und Erbauungsbuchern, tragt den 
Stempel seines Greistes. Wir reden, ohne es zu wissen, noch 
mit seinen Worten, und die tiefsten Empiindungen aus- 
zusprechen, der Dialektik des Herzens Worte zu verleihen, 
hat er zuerst gelehrt. Ich meine hier nicht, was man die 
Sprache Zions nennt — auch an dieser ist er beteiligt, aber 
in geringem MaBe. Nein, die Sprache der schlichten Erom- 
migkeit und des gewaltigen christlichen Pathos, und wieder- 
um die Sprache unserer Psychologen und Padagogen ist 
noch eben von ihm beeinflufit. Hunderte von groJlen Mei- 
stern sind uns seitdem geschenkt worden; sie haben unsere 
Gedanken bestimmt, unsere Empiindungen erwarmt, unsere 
Sprache berei chert; aber keiner hat ihn verdrangt. 

Endlich — die Hauptsache — wie er das Wesen der 
Religion und die tiefsten Probleme des Sittlichen beschrieben 
hat, darin finden wir so viel treffende Beobachtung und 
Wahrheit, daJJ wir ihn noch immer als unseren Lehrer zu 
verehren haben, und das Gredachtnis an ihn vermag bis zu 
einem gewissen Grade auch heute noch Protestanten und 
Katholiken zu einigen. 

Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, Ihnen ein 
Bild von der Wirksamkeit und dem EinfluU dieses Mannes 
zu entwerfen; schildern mochte ich ihn vielmehr lediglich 
nach dem Werke, in welchem er sich selbst geschildert 
hat, nach seinen Konfessionen, dem eigentiimhchsten Buche 
aus der grofien Anzahl von Schriften, die er uns hinter- 
lassen hat. 



Aug-ustins Konfessionen. 55 

Augustin hat dieses "Werk in reifen Jakren — er zahlte 
damals sechsiiiidvierzig — geschrieben; zwolf Jahre waren 
bereits verflossen seit seiner Taufe in Mailand. Er war 
schon seit langerer Zeit Bischof von Hippo in ISTordafrika, 
als er sich. getrieben fiihlte, in der Form einer BeicMe vor 
Gott, sich tind der Welt Rechenschaft zn geben von seinem 
Leben bis zu seiner Taufe, damit, wie er sagt, „Gott ge- 
priesen wiirde". „Er hat uns geschajffen, wir aber hatten 
uns zugrunde gerichtet; der uns aber geschaffen, hat uns 
auch neu geschaffen." „Ich erzahle es dem Menschenge- 
schlecht, ein wie unbedeutender Teil desselben meine Schrift 
auch lesen "wird, damit ich und jeder, der dieses liest, daran 
denke, aus wie groiJer Tiefe man zu Gott rufen miisse." 
Am Ende seines Lebens, dreiUig Jahre spater, hat er auf 
dieses Werk zuriickgebhckt. Er nennt es dasjenige seiner 
Biicher, welches am liebsten und am meisten gelesen werde. 
Er tadelt selbst einige Ausfiihrungen in ihm; aber als 
G-anzes hat er es auch angesichts des Todes als ein Zeug- 
nis der Wahrheit bezeichnet. Es sollte eben nicht Dichtung 
und Wahrheit enthalten, sondern offen und ohne Hehl 
wollte er in dem Buche zeigen, wie er gewesen. 

Die Bedeutung der Konfessionen ist ebenso grofi nach 
seiten der Form, wie nach seiten des Inhalts. Vor allem 
sind sie eine literarische Tat gewesen. Kein Dichter, kein 
Philosoph hat vor ihm das unternommen, was er hier ge- 
leistet hat, und, darf ich gleich hinzufugen, fast ein Jahr- 
tausend muCte vergehen, bis wieder ahnhches geleistet 
worden ist. Erst die Poeten der Renaissance, die sich an 
ihm gebildet, haben an ihm den Mut gewonnen, sich selbst 
zu schildern und ihr Ich der Welt zu bieten. Denn was 
enthalten die Konfessionen Augustins? ein Seelengemalde, 
nicht psychologische Abhandlungen liber Verstand, Wille 
und Gefiihl im Menschen, nicht abstrakte Untersuchungen 
Tiber die Seele, nicht oberflachhches Rasonnement und mora- 
lisierende Selbstbespiegelung wie die Tagebuchblatter Marc 



56 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: HI. 

Aurels, sondem die genaueste Schilderung eines bestimmteii 
Mensclieii, eines Individnums ia seiaer Entwickelung von 
der Kindheit bis znm Mannesalter in alien seinen Trieben, 
Q-efiihlen, Zielen nnd Imingen, ein Seelengemalde, mit eiiier 
ausbiindigen Knnst der Beobaclitnng gezeiclinet, -welclie 
die gewohnliclien Hiilsen und Schablonen der Psychologie 
beiseite laCt nnd der Methode des Physiologen und Arztes 
folgt. 

Die Beobacbtung ist die Starke Angnstias. "Weil er be- 
obacbtet, darum interessiert ihn alles, was die ziinftigen 
Philosopben beiseite gelassen. Er scMldert das Kind in 
der Wiege, die Unarten des SaugHngs, nnd er reflektiert 
iiber die „kindliche Unscbnld". Er beobachtet die Anfange 
des Sprechens, und zeigt, wie die Sprache sich. langsam aus 
dem Nacbalmiungstriebe bildet. Er stebt bei den Spielen 
der Kinder und siebt in dem Kind den Erwactsenen, in 
dem Erwacbsenen das Kind. Er bort voll TeiLaahme die 
ersten Senfeer des Knaben, der lemen mtiC. Er begleitet 
ibn, wie er binaustritt in die Scbule und damit hinein- 
gestoJJen wird in den Strom der menscblicben Gesellscbaft. 
Er beobacbtet die berrscbende Erziebungsmetbode , wie sie 
auf Furcbt und Ebrgeiz rubt. Er bemitleidet die Jugend 
der toten und unwabren Stoffe wegen, die sie lemen mnB. 
Er meint, daU man nur lernen soil, was wahr ist, und daC 
Grammatik besser sei als Mytbologie, Pbysik besser als 
luftige Spekulation. Dann beobacbtet er das geschaftige 
Treiben der Erwacbsenen: „die Possen der Kinder nennt 
man bei Erwacbsenen G-escbafte". Er beurteilt die G-esell- 
scbaft; er findet, daC ein jeder in ibr nacb Giitem strebt 
und daC Bosbeit fiir niemanden eia Zweck ist; aber er 
findet andererseits, dafi der, welcber seia Herz nicbt auf 
das Gute ricbtet, von Stufe zu Stufe zu nicbtigeren G-iitem 
binabsinkt, und daC man eiuen um so grolJeren Widerwillen 
gegen das Gute und Heilige empfindet, je langer man es 
entbebrt. Er beobacbtet den Reiz und die Ansteckungs- 



Augustins Konfessionen. 57 

kraft des gesellschaftlichen Bosen: „0 Freundschaft, arger 
als die groBte Feindschaft, unergriindliclie Seelenverfiilirung! 
BloC well es lieifit: ,Komni, tun wir dies' — und man 
schamt sich, niclit nnvei'schamt zu sein." Er deakt die 
Abhangigkeit des Einzelnen von dem Urteil der anderen 
auf: jeder glaubt zu schieben und wird nur immer tiefer 
hinabgestoBen. Er faCt den Einzelnen iiberhaupt niclit als 
ein freies, sein selbst machtiges Individuum, sondern als ein 
Q-lied in einer ungeheuren Verkettung: wir tragen die Kette 
unserer SterblicKkeit und sind an die Gesellschaft gekettet. 
Er beobachtet den vergniigten Bettler und sinnt iiber ibn 
nacb; er gibt eine kostliclie Scbilderung von dem Ansehen 
und der Hoblheit eines beriilimten Lebrers. Er scbildert die 
Professoren und die Studenten, den geschaftigen , tandeln- 
den und reizvollen Verkebr zwischen befreundeten Berufs- 
genossen; nirgend-wo entgeht ihm das Charakteristiscbe. 
Aber iiber das AUes: er beobacbtet die gebeimsten Re- 
gun gen seines eigenen Herzens; er folgt dem zarten "Weben 
und dem macbtigen Wogen seiner Gefiihle. Er kennt 
alle Ausfliicbte und Schlichwege, auf welcben der Menscb 
seinem G-ott und seiner bochsten Bestimmung zu entflieben 
strebt. 

IJberscblagt man, was und wie damals sonst gescbrieben 
"worden ist, so wird man von staunender Bewunderung er- 
griffen angesicbts dieser Dicbtung der Wabrbeit, dieser 
literariscben Tat, die nicbt ihresgleichen hat. Wobl baben 
Anregungen nicbt gefeblt. In der Scbule der Neuplatoniker 
hatte Augustin gelernt, die oden Steppen aristoteliscber 
und stoiscber Psycbologie zu flieben und auf Gremiit und 
Obarakter, Trieb und Will en zu achten. Dazu — ein 
groBer Lebrer, sein Lebrer, Ambrosius von Mailand, batte 
ibn in eine neue Welt der Empfindung und Beobacbtung 
eingefiilirt. Aber seine Konfessionen sind doch ganz sein 
Eigentum. Kein Vorganger bedrobt die Originalitat dieses 
Unternebmens. Wobl bat man gesagt, daB dem Werke 



58 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

ein patliologisclier Zug anJiafte: er habe in dem tranen- 
feuchten Buche sein Herz zux Schaubiilme gemacht. Es 
ist lich-tig, daB er in manchen Ausfiihrangen uns iiberspannt 
und Tingesund, sogar nnwahx ersclieint; allein bedenkt man, 
daB er im Zeitalter eines tiefgesunkenen Geschmacks und 
einer verlogenen Rlietorik; geschrieben kat, so darf man 
sich. biLlig dariiber wundern, daB er sich. so machtig iiber 
die Unsitten der Zeit erboben hat. 

Wie das Unternebmen Augustins nen gewesen ist, so 
war auch die Ausfiihrung iind die Spracbe neu. NicM nnr 
die Kraft seiner Beobacbtung ist bewunderungswiirdig, 
sondern ebensosebr die Kraft seiner Darstellung. In der 
Spracbe der Konfessionen tritt nns eine nnerscbopflieb. 
reicbe Individuabtat entgegen, welcbe zugleicb den macb- 
tigen Tiieb und die Fabigkeit besitzt, das zu sagen, was 
sie empiindet. Groetbe lafit seinen Tasso das schmerzbcbe 
und stolze AYort sprecben: „Und wenn der Menscb in seiaer 
Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie icb leide." 
Das gilt aucb von Augustin. Aber nicbt nur von seinem 
Leiden vermocbte er zu sprecben, sondern ibm war es ge- 
geben, jeder Bewegung seines Herzens in Worten zu folgen 
und vor allem dem frommen Gemiite, dem Verkebre mit 
Gott, Spracbe zu verleiben. Von der Macbt der Siinde 
und der Sebgkeit des Herzens, welcbes Gott anbangt, bat 
er so reden konnen, daB aucb beute nocb jedes zarte Ge- 
miit diese Spracbe versteben mufi. So baben vor ibm nur 
die Sanger der Psalmen und Paulus geredet; bei ibnen ist 
Augustin, der Scbuler der Rbetoren, in die Scbule ge- 
gangen. So ist die Spracbe der Konfessionen entstanden. 
Es ist nicbt scbwer, sie in ibre Bestandteile zu zerlegen, 
das bibliscbe und das rbetoriscb-antike Element in ibr zu 
unterscbeiden, aucb mancbes Gesucbte und Altertumelnde 
— firostige Wortspiele und Redekiinsteleien — im einzebien 
nacbzuweisen. Allein das, was uns jetzt fremd, bie und 
da sogar peinlicb beriibrt, wird reicblicb aufgewogen durcb 



Augustins Konfes3ionen. 59 

die hochsten Vorziige. Bewundernswert ist vor allem die 
BenutzTing von Spruchen und Begrift'en der heiligen Schrift. 
Durch don Zusammenhang, in die er sie zu stellen weiB, 
veiieiht er dem nnsciieinbarsten Wort etwas Frappierendes 
Oder Erschiitterndes. In der groCen schriftstellerisch.en 
Kunst, einem allgemein bekannten Spruch. die wirksamste 
Fassung zu geben, hat ika kein anderer erreicM. Wunder- 
bar ist aucli sein Vermogen in kurzen Sentenzen und Anti- 
thesen, in pragnanten Satzen und neuen Begriffsbildungen 
die Ersclieinungen des Lebens und die Ratsel der Seele 
zusammenzufassen. Vieles ist aus den Konfessionen in die 
Sprache der abendlandiscben Volker iibergegangen. Vieles 
brauclien wir oder finden es bei unseren groCen Dicbtern, 
z. B. bei Lessing und G-oetbe, wieder, olme des Urbebers 
zu gedenken. „Die stummen Schwatzer", „die siegreiche 
GrescKwatzigkeit", „die betrogenen Betriiger", „die ver- 
fiilirten Verflihrer", „der hoffnungsvolle junge Mann", „die 
Kette unserer Sterblicbkeit", „die reicbe Armut", „der 
scbmacbvolle Rubra", „das verbaCte Greleier", „Leben 
meines Lebens" und viele abnlicbe Bildungen sind von 
Augustin gepragt worden oder geben auf ibn zuriick. 
Aber wertvoller sind seine psycbologiscben Beschi'eibungen 
und seine Sentenzen: „Das war mein Leben — war's ein 
Leben?" — ^Icb wurde mir selbst eine groCe Frage" — • 
„Ein tiefer Abgrund ist der Menscb" — „Das "Woblbefinden 
ist das Merkmal unserer geheimnisvollen Einbeit" — nEin 
jeder hat nur sein Ich" — „Jeder ungeordnete Geist ist 
sich selbst zur Strafe" — „l:fach unwandelbarem Gresetz 
folgt auf jede unerlaubte Begierde die Verblendung" — 
„Es handelt niemand gut wider seinen Willen, mag auch 
was er tut gut sein". Das sind Einzelbeiten; man konnte 
lange mit der Anfiihrung solcher fortfahren. Aber viel 
groCer ist er nocb in den zusammenhangenden Be- 
scbreibungen. Ein Beispiel unter hunderten: er scbildert 
sich, wie er sich zu einem kraftigen christlichen Leben er- 



60 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

heben will, aber von Weltlust und Gewohnlieit zuriick- 
gehalten wird: 

„So lag die Last der Welt sanft auf mir wie atif einem 
Traumenden, und die G-edanken, in denen sich meia Sinnen 
Dir, mein G-ott, zuwandte, gliclien dem Bemiilien derer, 
die sich aus dem Schlafe erkeben woUen, aber von der 
Tiefe des Schlummers iiberwaltigt, immer wieder zuriick- 
sinken. Und -wenn Du mir zuriefst: Stehe auf, der du 
schlafst, so, wuCte ich Dir keine andere Antwort zu geben, 
als die saumigen und traumenden Worte: Gleich, gleich, 
laB mich. nur noch ein wenig traumen. Doch das ,G-leich, 
gleich' nahm kein Ende, und das ,Nur noch ein wenig' 
zog sich in die Lange." 

Soviel Kunst er auch aufgewendet hat — er hat die 
Einheitlichkeit seiner Sprache nicht zerstort; sie ist doch 
aus einem GuB, weil beherrscht von einer geschlossenen 
Personlichkeit. Eine Person tritt uns in ihr entgegen, und 
wir fiihlen, dalJ diese Person liberall viel reicher ist als ihr 
Wort. Das ist der Schliissel zum Verstandnis der fort- 
dauernden Wirksamkeit Augustins. Leben entziindet sich 
nur an Leben; ein Liebender entflammt den anderen — 
das hat er selbst gesagt, und wir diirfen es auf ihn an- 
wenden. Er war viel groBer als seine Schriften; denn er 
verstand es, durch seine Schriften die Menschen in sein 
Leben hineinzuziehen. Und bei aller Weichheit der Em- 
pfindung, dem Schmelzen im G-efiihl und der Lyrik der 
Sprache ist doch eine erhabene Ruhe iiber das ganze Werk 
ausgebreitet. Das Motto des Buches: „Du, Herr, hast uns 
auf Dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis 
es Ruhe iindet in Dir", ist auch das Siegel des Buches 
Tind der Grundton in seiner Sprache. Keine Angst und 
keine Bitterkeit stort mehr den Leser, obgleich es eine 
Geschichte der Not und inneren Sorge ist, die es scMldert. 
„Die Eurcht ist das Bose", sagt Augustin einmal; er aber 
redet mit dem groflen G-ott wie mit einem Freunde ohne 



Augustins Konfessionen. 61 

Furcht. Problematisches an dem Laufe der Welt, an dem 
Menschen, an sich selber erblickt er noch iiberall; aber die 
Probleme bedriicken ilm nicbt niehr; denn er vertraut, dafi 
Q-ott in seiner Weisheit alles geordnet hat. Wolken des 
Scbmerzes und der Tranen umgeben ihn nocb; aber seine 
G-rundstimmung ist frei. So darf man den Eindruck, 
welclien das Bncb liinterlaCt, mit dem Eindruck vergleicben, 
den wir erlialten, wenn nacli einem dunklen Regentage 
die Sonne zuletztnocb siegt und ein milder Strabl das be- 
feucbtete Land verklart. 

Aber die -wunderbare Eorm und der Zauber der Spracbe 
des Bucbes sind docb nicht das wichtigste. Der Inbalt ist 
es, die Grescbiclite, die es uns erzablt. Auf auCere Tatsacben 
gesehen ist das Bucb allerdings arm. Es scbildert das Leben 
eines Grelebrten, der unter Verhaltnissen , wie sie fiir jene 
Zeit normal waren, aufgewacbsen ist, der mit widrigem Gre- 
scbick und auCerer Not nicbt zu kampfen gebabt hat, der 
die mannigfaltige "Weisheit seiner Zeit aufnimmt, einen 
offentlichen Beruf ergreift, um schbefilich skeptiscb und 
unbefriedigt sich einem heihgen Leben der Entsagung, der 
theologischen Wissenschaft und — der festen Autoritat der 
Kirche hinzugeben. Das war ein Entwicklungsgang , wie 
ihn nicht wenige Zeitgenossen Augustins durchgemacht 
haben. Erommigkeit und ernster -wissenschaftlicher Sinn 
fanden damals iiberhaupt keinen anderen Ausweg. Diirch 
diese Auffassung der Geschichte Augustins ist ein -weitver- 
breitetes Vorurteil beseitigt, an dem er selbst freilich nicht 
ganz unschuldig ist. In weiten KJreisen herrscht die Vor- 
stellung, die Konfessionen schilderten uns einen verlorenen 
Sohn, einen Mann, der nach einem wilden, ausschweifenden 
Leben plotzUch in sich geht und BuBe tut, oder sie zeich- 
neten uns das Bild eines Heiden, der nach einem Laster- 
leben plotzlich von der Wahrheit der christlichen ReHgion 
ergriffen wird. Nichts ist unrichtiger als diese Vorstellung. 
Die Konfessionen schildern uns vielmehr einen Mann, der 



62 Erster Band, erste Abteiliang. Eeden: III. 

von Jugend auf von einer treuen Mutter chxistlicli d. h. 
katholisch. erzogen ist, der aber zugleicli von Jugend auf 
durch. seinen Vater und durch. den Bildungsgang , in den 
er Mneingestellt ist, die Richtung auf die lioclisten welt- 
liclien Ziele empfangen hat. Sie scKildern uns einen Mann, 
dena sich. der Name Christi von Kind auf unauslosclilicli 
eingepragt hat, der aber, sobald er zu selbstandigem Denken 
erwacht ist, stets von dem Motive beseelt gewesen ist, die 
"Wabrbeit zu sucben. Er wird in diesem Streben, wie wir 
Alle, niedergebalten, durcb Ebrgeiz, Weltsinn und Sinnbcb- 
keit; aber er kampft imablassig wider sie an; er gewinnt 
endlicb den Sieg liber sicb selber, aber er bringt zugleicb 
dabei sein freies Streben der Autoritat der Kircbe zum 
Opfer, weil er in der Verkiindigung dieser Elircbe die Kraft 
erfabren bat, mit der Welt zu brecben und Grott anzubangen. 
In seinem auJJeren Leben stellt sicb das als ein Brucb mit 
seiner Vergangenbeit dar, und so bat er es selbst gescbil- 
dert: er siebt nur einen Kontrast zwiscben dem Einst und 
dem Jetzt. Aber in seinem inneren Leben erscbeint uns 
trotz seiner eigenen Darstellung alles in verstandlicber Ent- 
wickelung. Wir versteben aber aucb, daU er selbst nicbt 
anders iiber sicb urteilen konnte; denn niemand, der von 
innerer Unrube zur Rube, von der Knecbtscbaft der Welt 
zur Ereibeit in Gott und zur Herrscbaft iiber sicb selbst 
gelangt ist, wird riickwarts scbauend die Pfade, die er ge- 
wandelt, den Weg der Wabrbeit nennen konnen. Aber die 
Mit- und ISTacbwelt darf anders urteilen, und in diesem Fall 
ist es ibr besonders leicbt gemacbt; denn der Mann, der 
bier zu uns spricbt, mufi in seinem Bucbe wider seinen 
WiHen Zeugnis davon ablegen, daU er vor seiner Bekebrung 
unablassig nacb Wabrbeit und nacb sittlicber Kraft gestrebt 
bat, und andererseits zeigen die zablreicben Scbriften, die 
er unmittelbar nacb dem Brucbe gescbrieben bat, dafl dieser 
keineswegs so voUkommen war, wie ibn die Konfessionen 
darstellen. Sie sind zwolf Jabre nacb dem groCen Um- 



Augustins Konfessionen. 63 

schwung gesckrieben. Vieles von dem, was erst walu'end 
dieser Zeit in Angustin znr Reife gekommen ist, hat er 
unbewTifit in den Moment des IJmscliwungs versetzt. Da- 
mals war er noch. kein kirchlicher Theologe, vielmekr lebte 
er trotz der EntscMossenlieit, sicli der Earcke zu nnter- 
werfen, noch. ganz tmd gar in den philosophischen Pro- 
blemen. Der groCe Bruch bezog sich ledighch auf den 
anCeren Beruf und auf die geschlechthche Entsagung, nicht 
auf den bisherigen Kreis seiner Interessen. So ist es nicht 
schwer, Augustin aus Augustin zu widerlegen und zu 
zeigen, daU er in den Konfessionen sehr vieles antizipiert 
hat. Aber im letzten Grrunde hatte er ein Recht dazu; 
denn sein Leben hatte wirMich nur zwei Perioden — die 
eine, die er mit den Worten schildert: „In der Zerstreuung 
zerfiel ich stiickweise und verier mich selbst in das Viele", 
und die andere, in welcher er Kraft und Einheit seines 
"Wesens in G-ott gefunden hat. 

Die Schilderung jener ersten Periode Hegt in seinen 
Konfessionen vor. Man hat sie vielfach mit den Konfes- 
sions Rousseaus und mit Hamanns Bekenntnissen ver- 
ghchen; allein diese sind anderer Art. Ich wiiUte die Kon- 
fessionen trotz der durchgreifendsten Verschiedenheiten 
doch mit keinem anderen Werke zusammenzustellen als 
mit Groethes Eaust. In den Konfessionen tritt uns ein 
lebendiger Eaust entgegen, der freUich einen anderen Aus- 
gang nimmt als der Eaust der Dichtung. Aber beide sind 
doch in vieler Hinsicht wahlverwandt. Alle die schmerz- 
hchen Bekenntnisse aus den ersten Szenen des Eaust von 
dem „IIabe nun — ach — PMlosophie" an bis zu dem 
EntschluC des Selbstmordes : „Ja kehre nur der holden 
Erdensonne entschlossen deinen Riicken zu" — man findet 
sie in den Konfessionen wieder. Herzbewegend ruft 
Augustin immer wieder aus: „0 Wahrheit, "Wahrheit, wie 
innig seufzt das Mark meiner Seele nach dir." "Wie oft 
klagt er, daC er trotz des „Durchaus Studierens mit heiflem 



64 Erster Band, erste Abteilung. Eedeu: III. 

Bemiilieii" nicM Miiger geworden sei als wie zuvor. Wie 
oft bemitleidet er seine Schiiler, daiJ er, ein trunkener 
Lehrer, ilineii den "Wein des Irrtums gereicht habe. Wie 
schmerzlich. kommt auch. iiber seine Lippen das Bekenntnis: 
„Und sehe, daC wir nichts wissen konnen, das will mir 
scMer das Herz verbrennen." „Es mocbte kein Hund so 
langer leben", sagt Faust, und Augustin beneidet mit dem 
grimmigsten ISTeide einen verlumpten, aber frohliclien Bettler. 
Auch er ergibt sich der Magie, „ob ihm durcb G-eistes Kraft 
und Mund nicht mancb' Greheimnis wiirde kund", und auch 
in seiner Seele steigt verlockend die dunkle Trage auf: 
„AVie, wenn der Tod mit der Empfindung zugleich alle 
Sorgen beschnitte und hinwegnehme?" 

Aber selbst der Ausgang, den Goethe seiner Dichtung 
gegeben, die Art der Befreiung, ist nicht ganz ohne G-leich- 
nis. Faust wird durch die himmlische Liebe erlost: 

Steigt hinan zu hohrem Kreise, 
Wacliset immer unvermerkt, 
"Wie nach ewig reiner Weise 
Gottes Gegenwart verstarkt! 
Denn das ist der Geister Nahrung, 
Die im freisten Ather Tvaltet, 
Ewgen Liebens Offenbarung, 
Die zur Seligkeit entfaltet. 

Und: 

Wie strack mit eignem kraftgen Triebe 
Der Stamm sioh in die Lttfte tragt, 
So ist es die allmaolit'ge Liebe, 
Die alles bildet, alles begt. 

Das ist ganz im Sinne Augustins, und auf augusti- 
nischer Anschauung ruht iiberhaupt letztUch der G-edanken- 
inhalt der wunderbaren SchluCszene des zweiten Tails des 
Faust, obgleich sich Goethe dessen nicht bewuCt gewesen 
ist; denn G-oethe hat Augustin selbst schwerlich gekannt, 
sondern beriihrte sich mit ihm nur darch Vermittelungen. 
DaC in dieser Welt der Irrung und des Scheins die Liebe, 



Augustins Konfeasionen. 65 

die gottliclie Liebe, allein Kraft und Wahrheit ist, daJJ sie 
allein, indem sie bindet, befreit und beseligi — das ist der 
positive Grrundgedanke der Konfessionen und der meisten 
Scliriften, die Augustin spater geschrieben hat. Die G-e- 
rechtigkeit, die vor Gott gilt, ist die Liebe, mit der uns 
G-ott erflillt, und darum ist die anfangende Liebe (Ge- 
rechtigkeit) die anfangende SeKgkeit, die wachsende Liebe 
die wachsende Seligkeit, die vollendete Liebe die vollendete 
Seligkeit. Das ist die Erkenntnis, zu welcher der ringende 
Philosoph gelangt ist, nachdem er sonst nirgends Ruhe 
und Frieden gefunden hat. 

Dennoch liegt eine gewaltige Kluft zwischen dem Faust 
der Dichtung und diesem -wahrhaftigen Faust. Jener steht 
in all seinen Kampfen mit festem Fufi auf dieser Erde. 
Der Gott, der ihn dem Teufel zeitweilig liberlassen, ist nicht 
das Gut, um dessen Besitz er ringt; der innere Kampf mit 
der eigenen Not und Siinde ist kaum angedeutet. Fiir 
Augustin dagegen ist der Kampf um die "Wahrheit der 
Kampf um ein iiberwelthches Gut, um das Heilige und Gute 
— der Kampf um Gott. Darum hat auch der Schlufi des 
Faust etwas Befremdliches ; man ist auf diese "Wendung 
keineswegs gefaiSt. Bei Augustin ergibt sich der SchluC 
mit einer inneren Notwendigkeit. Seine Lrrwege erweisen 
sich wirklich als der Weg, auf dem er gerade zu diesem 
Ziele, zu der Besehgung durch die gottUche Liebe, gefiihrt 
worden ist. 

Lassen Sie mich diese Wege mit einigen Strichen zeich- 
nen. Sie sind auch deshalb interessant, weil sie fur die 
Zeit Augustins typisch sind. Mit alien groiJen geistigen 
Machten des Zeitalters ist er in die innigste Verbindung ge- 
treten. Sein Ich war wirklich erweitert zum Ich der da- 
maligen Welt, und darum zeigt uns sein individueller Ent- 
wickelungsgang, wie jene "Welt damals allmahhch aus dem 
Heidentum und der PhUosophie zur katholischen Kirche 
iibergegangen ist. 

Ha mack, Reden und Aufsatza. I. o 



66 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

Zti Thagaste, einer Landstadt Nordafrikas, geboren 
zeigte Augustin als Knabe nicht glanzende, aber gute An- 
lagen. Naclidem er in der Sclmle seiner Vaterstadt xmd zu 
Madaiira gebildet war, brachte sein Vater miihsani die Mittel 
auf , um iim in Karthago studieren zu lassen. Der Vater 
war ein biirgerlicli recMscliaffener, aber schwaclier und in 
seinem Privatleben nicbt vorwurfsfreier Mann, der fiir den 
Solin kein hoheres Ziel kannte, als eine glanzende Lanf babn. 
Er war nocb Heide, aber die Mutter Augustins war Christin. 
Dieses Verbaltnis war in der Mitte des 4. Jabrbunderts 
baufig: die Frauen verbreiteten in der Familie das Cbristen- 
tiim. Seiner Mutter bat Augustin in den Konfessionen, aber 
aucb sonst in seinen Scbriften, ein scbones Denkmal gesetzt. 
Er erzablt, wie sie ibn beten gelebrt babe, und mit Leiden- 
scbaft ergriff das Kind die mutterbcben Lebren: oft babe 
icb Gott innig gebeten, daB icb in der Scbule keine Scblage 
bekomme. Er erinnert sicb nocb als Mann, wie er als fieber- 
kranker Knabe sturmiscb die Taufe begebrt babe, und Eines 
ist ibm von der Kinderzeit ber unausloscbbcb auf alien 
seinen AVegen geblieben — die Yerebrung Cbristi. Immer 
wieder bericbtet er in den Konfessionen, daiJ ibn alle Weis- 
beit von vornberein unbefriedigt gelassen babe, die nicbt 
mit dem Namen Cbristi irgendwie verkniipft war. So sind 
die Jugenderinnerungen dem Manne von bocbster Bedeu- 
tung geworden. Faust sagt: 

Sonst stilrzte sich der Himmelsliebe KuB 

Auf micli herab in emster Sabbatbstille ; 

Da klang so abnungsvoll des Grlockentones Fiille, 

TJnd ein Gebet war briinstiger Gennfl. 

Wie oft, wie wunderbar variiert klingt derselbe Gedanke 
in Augustins Konfessionen wieder! 

Bis zum siebzebnten Jabre iiberwogen Pbantasie und 
jugendlicbe Lust in dem Knaben. Er batte anfangs wenig 
G-escbmack am Lernen, obgleicb er aUes mit Leicbtigkeit 
iiberwand; er batte nur Lust zu Spiel und Scberzen mit 



Augustins Konfessionen. 67 

den Freunden. Friilizeitig geriet er auch zum Kummer der 
Mutter in die Sunden der Jugend, die weder der Vater 
nock die Gesellscliaft als Siinden beurteilte. Da, in Kar- 
thago, fiel ihm eiae Sckrift Ciceros, der Hortensius, in die 
Hand, nnd von diesem Moment reclmet er selbst den An- 
fang eines neuen hoheren Strebens. "Wir besitzen diese 
Scbrift Ciceros nicht mekr, aber wir konnen nns den 
Geist derselben nacli den iibrigen "Werken des Mannes 
dentlich macben. Ein hober sittlicber Schwung, ein ernstes 
Interesse an der Wabrheitserkenntnis , aber anf unsicberer 
Grrundlage, mebr anregend als festigend, wobl geeignet, 
ein jugendlicbes Gemiit von dem boblen nnd wilden studen- 
tiscben Treiben znr Einkebr nnd zur Betracbtung der bocb- 
sten Fragen zu bewegen. Das leistete das Bucb dem 
Angustia wirkbcb; er trennte sicb nun von den gnten 
Kameraden, um mit aller Hingebung die Wabrbeit zu er- 
forscben. AUein von seiner sinnlicben Lust trennte ibn 
das Bucb nicbt, und bald sab er sicb einer Belebnmg ent- 
wacbsen, die seinen Verstand nicbt befriedigte, sein religi- 
oses Gemiit leer liefi nnd ibm die Kraft der Selbstbe- 
berrscbung nicbt verlieb. Er hatte Cicero, den Pbilosopben 
und Morabsten, kennen gelernt und war nicbt besser ge- 
worden als wie zuvor. Aber was Cicero ibm geleistet, den 
IJbergang aus einem nicbtigen und tandelnden Leben zu 
emster Selbstpriifung und zur Erforscbung der Wabrbeit, 
das baben Morabsten wie Cicero der damabgen Welt iiber- 
baupt geleistet. Augustin ist docb von Cicero viel starker 
und viel dauernder abbangig gebbeben, als er dies in den 
Konfessionen wabr baben will. Die frubesten Scbriften, 
die er als katboMscber Cbrist gescbrieben, beweisen es. 

Er wandte sicb nun dem Manicbaismus zu. Die ma- 
nicbaiscbe Weisbeit iibte damals auf tiefere Gemiiter eiae 
groBe Anziebung aus. Wer einen Eindruck von dem In- 
balt der beibgen Scbriften gewonnen batte, aber docb die 
kircblicbe Erklarung derselben fiir unricbtig Melt und 

5* 



()8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: in. 

namentlich. iiber die AnstoiJe nicKt hinwegkommeii konnte, 
welclie das alte Testament bot, wer in der freien Forschung 
nicM bevormundet sein woUte, wev zu erkennen suchte, 
was die Welt im Innersten zusammenhalt, wer aus den 
physikalischen Elementen aucb den Bau der geistigen Welt 
und das Problem des Bosen zn begreifen strebte, der wurde 
damals Manicbaer. Dazu batte sicb diese Sekte teils aus 
Not, teils aus innerem Triebe mit Gebeimnissen umgeben, 
wie unsere Ereimaurer, und sie bildete zugleicb in der G-e- 
sellscbaft einen festen gebeimen Ring. Endlicb trugen 
ihre Mitglieder einen emsten Lebenswandel zur Scbau, und 
indem man stufenweise zu immer engeren und boberen 
Kreisen aufstieg, sab man sicb am Ziele in einer GreseU- 
scbaft von Heibgen und Erlosern. In diese G-emeinscbaft 
trat Augustin ein und bat ibr neun Jabre (bis zu seinem 
28. Lebensjabr) angebort. DaiJ sie Cbristus eine bobe SteUe 
anwies, dabei aber docb eine verniinftige Losung der Welt- 
ratsel ibren Jiingern zusicberte, zog Augustin zu ibr bin. 
HeiUbungrig stiirzte er sicb auf diese geistige Nabrung. 
Die Ansicbt, daB das Bose wie das Grute pbysikaUscbe Po- 
tenzen seien, daC der Kampf in der Menscbenbrust nur 
die Eortsetzung des groJJen Kampfes zwiscben Licbt und 
Einsternis, Sonne und Nebel in der Natur sei, erscbien ibm 
tief und befriedigend. Statt seicbter morabscber Lebren 
trat ibm bier eine tiefsinnige Metapbysik entgegen. AUein 
sebon nacb Verlauf weniger Jabre — er batte unterdessen 
ein Lebramt in Kartbago angetreten — wurde er skeptiscb. 
Zuerst erwies sicb ibm die astrologiscbe Weisbeit, mit der 
er es aucb versucbt batte, als Scbwindel. Dann war es 
das Studium des Aristoteles, welcbes ibn in Bezug auf die 
manicbaiscbe Pbysik erniicbterte. Sein klarer Verstand 
fing an einzuseben, daC die ganze manicbaiscbe Weisbeit 
auf pbysikabscber Mytbologie berube. Die angeborene 
Ricbtung seines G-eistes auf das Empiriscbe und Reale ge- 
wann den Sieg, nacbdem ibr Aristoteles, der groBe Natur- 



Augustins Koufessionen. 69 

forscher und Logiker des Altertmns, zu Hilfe gekonunen 
war. Er hat den Augustin, v?-ie viele vor ihm und nach 
ihm, zu niichtemem Denken zuriickgefuhrt. Die maniclia- 
ischen Fabeln offenbarten sich ihin nun als die schlimmsten 
Fabeln, weil ihnen schlechterdings nichts in der Welt des 
Wirklicben entspricht. Er aber suchte nach dem Wirk- 
lichen und hielt vor seinen Bundesbriidern mit seinen auf- 
steigenden Zweifeln nicht zuriick. Damals lebte in Rom 
ein hochberiihrnter manichaischer Lehrer, Faustus. Mit 
ihm vertrosteten ihn die Freunde, wenn sie die Zweifel- 
fragen, die er ihnen vor hielt, nicht zu losen vermochten: 
„Faustus wird sie losen; Faustus wird kommen und alles 
erklaren" — so hieJJ es. Und Augustin MeH sich lange 
vertrosten. Endlich kam Faustus wirklich. Es ist der 
einzige Abschnitt in den Koufessionen, iiber dem ein Hauch 
von Humor Kegt, die Schilderung des hochgepriesenen 
Faustus, des vollkommenen Salonprofessors, der aber doch 
ehrHch genug war, schliefilich unter vier Augen die eigene 
Unwissenheit einzugestehen. Seitdem war Augustin mit 
dem Manichaismus innerlich fertig. 

Aber was nun? Aristo teles war wohl ein Befreier, 
aber kein Lehrer in den Fragen, auf die Augustin Ant- 
wort suchte. Jetzt naherte er sich wieder der Kirche. 
Aber sie verbot die freie Forschung; sie hielt die Fabeln 
des alten Testaments aufrecht; sie lehrte, wie Augustin 
meinte, einen Grott mit Augen und Ohren und machte ihn 
zum Schopfer des Bosen. Sie konnte unmoglich die Wahr- 
heit besitzen. Also gibt es iiberhaupt keine Wahrheit; 
man mud an allem zweifeln. Diese Stimmung beherrschte 
jetzt seine Seele, und er nahrte sie durch Lektiire der 
Schriften skeptischer Philosophen. Er suchte nach einer 
fertigen Wahrheit und wollte doch den rastlosen Trieb nach 
Wahrheit nicht ersticken. Kein Wunder, daC er in den 
Skeptizismus geriet; er fuhlte sich im tiefsten arm und 
haltlos. Dazu kam, dafi er langst an sich die Anforde- 



70 Erster Band, erste Abteilung. Keden: HI. 

rungen gestellt hatte, alles Unsittliche abzutun und sicli 
in voller Selbstbeherrsclmng zusammeiizTifasseii. Das ge- 
lang ibm in vieler Hinsiclit, wie er selbst widerwillig be- 
zengen muB: den gewobnlicben Tandeleien und Eitelkeiten, 
den Theatem und Spielen, hatte er Valet gesagt und war 
ein gewissenhafter Lekrer. Aber um Ruhm und Ehxe bei 
den Menscben war es ibm nocb zu tun, und vor allem ver- 
mochte er sich aus einem Verbaltnisse nicht zu befreien, 
Welches er selbst bereits als ein unsittliches beurteilte, ob- 
gleich es die Sitte der Zeit nicht wider sich hatte. Er 
aber empfand von diesem einen Punkte her einen tiefen 
RiB und eiae Spaltung in seinem Wesen. Er sah sich 
von dem Gruten und Heihgen, von Gott, entfemt; er sah 
sich mit der "Welt und der Sinnlichkeit veriiochten, die 
er doch fliehen woUte, und — wie er spater bekennt — 
er wollte sich nicht heUen lassen, weiL ihm seine KJrank- 
heit heb war. Indessen — reine sitthche Empfindung 
und Forciertes lagen schon damals in ihm, wie in seinen 
emsten Zeitgenossen, dicht beieinander. Eia heOiges Leben 
schien ihm ledighch das Leben vollkonunenster Entsagung 
zu seia; ein solches zu fiihren, dazu fehlte ihm aber noch 
die Kraft. 

In diesen Noten ujid in der Stimmung des Skeptikers 
verheB er Karthago, um ia Rom als Lehrer der Ehetorik 
zu wirken. Die karthagioiensischen Studenten hatten ibm 
durch ihr ungebundenes "Wesen die Heimat verleidet. Aber 
auch in Rom machte er mit seiaen Zuhorem schlimme 
Erfahrungen, und so nahm er schon nach wenigen Monaten 
eine offentliche Professur in Mailand an. Die Manichaer, 
mit denen er noch immer Beziehungen unterhielt, da „sich 
ja doch nichts Besseres bisher gefunden hatte", hatten ihm 
durch ihre Empfehlungen bei dem eiafluUreichen Symmachus 
die AnsteUung verschafPt. 

Hier ia Mailand nun hat sich der Umschwung lang- 
sam, aber in wunderbar durchsichtiger "Weise und ia dra- 



Aug-ustins Konfessionen. 71 

matischer Folgerichtigkeit vollzogen. DaC man nur durch. 
ernste unablassige Ai-beit an sicli selber ein festes Verr 
haltnis zu den hochsten Fragen gewinnen konne, wurde 
Augustin immer Marer, und dafi der Mensch sittliche Kraft 
gewinnt, wenn er sich einer ihn liberragenden Personlich- 
keit frei hingibt, das durfte er erfahren. In Mailand trat 
der Biscbof Ambrosius Augustin entgegen. Bisher war 
ih.m noch kein katholiscber Obrist begegnet, der ibm ini- 
poniert batte, jetzt lernte er einen solchen kennen. "War 
es aucb zuerst die giitige Gesinnung und die auBerordent- 
licbe Rednergabe des Ambrosius, die ihn fesselten, so zog 
ihn doch bald auch der Inhalt der Predigten des Bischofs 
an. Er selbst sagt in den Konfessionen, daU der hochste 
Dienst, den Ambrosius ihm geleistet, die Wegraumung der 
AnstoBe, die das alte Testament bot, gewesen sei. Gewifi 
bat die griechiscbe Kunst der Exegese, -welche Ambrosius 
iibte, eine starke Anaiehung auf Augustin wie auf alle 
Grebildeten der Zeit ausgeiibt. Allein das Imponierendste 
an Ambrosius war die Personlichkeit, die hinter dem Wort 
stand. Augustin brach jetzt auch auCerlich mit dem Mani- 
chaismus. Wenn irgendwo die Wahrheit ist, so ist sie bei 
der Kirche: dieses Eingestandnis notigte ihm die Autori- 
tat des groBen Bischofs ab. Das Bild Christi, welches ihm 
zuerst die Mutter gezeigt, stieg wieder vor seiner Seele auf, 
und er lieC es nicbt mehr. 

Aber Ambrosius hatte keine Zeit, sich um den Zweifler, 
der doch gerne geglaubt hatte, zu kiimmern, und noch 
war ein fundamentaler AnstoB der Kirchenlehre nicht be- 
seitigt. Augustin vermochte sich nicht zu denken, daC es 
ein wirksames geistiges Wesen geben konne ohne materieUe 
Grundlage. Der geistige Grottesbegriff und die ideaUstische 
Weltanschauung schienen ihm unbeweisbar, unmoglich. Aber 
indem er hier vergeblich nach GewiGheit rang, war die 
Verzweiflung dariiber, daC er noch immer nicht von Welt 
und Sinnlichkeit loskommen und sich selbst beherrschen 



72 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

konnte, viel groJJer. Furckt vor dem Richter und Todes- 
furclit lagen iiber seiner Seele. Er leclizte nach einer 
Kraft; sclioii liatte er alles fiir sie hingegeben , Ebre und 
Beruf, ja selbst das Opfer des Verstandes gebracbt. Aber 
dem Schlafenden gleich, der sich aufzurichten strebt, sank 
er immer wieder zuriick. Die verscbiedensten Entschliisse 
krenzten sich. in seiner Seele; mit gleicbgestimmten Eretin- 
den und Scbiilern wiegt er sicb in den Plan, sict aus der 
"Welt zuriickzuzieben und in der StHle gemeinsam der 
eigenen Ausbildung und der Erforscbung der Wabrbeit zu 
leben. Aber nocb war es ein unkraftiger EntscbluC; nocb 
verbinderten Weib und Beruf die Ausfiibrung. Im Grrunde 
sucbte er in seinen tbeoretiscben und praktiscben Zweifeln 
bereits nur Eines, den Verkebr mit dem lebendigen Grott, 
der von der Siinde befreit; aber er erscbien ibm nicbt und 
er fand ibn nicbt. 

Da kam ibm von unerwarteter Seite Hilfe. Er las 
Scbriften aus der Scbule der Neuplatoniker. In dem Neu- 
platonismus bat die griecbiscbe Pbilosopbie ibr letztes "Wort 
gesprocben und ibr Testament gemacbt. Einem Sterbenden 
gleicb, der sicb mit den Dingen dieser Welt nur nocb not- 
gedrungen gefaiJt, bat sie alle ibre Gredanken auf das 
Hocbste und Heibge, auf Gott, gerichtet. Alles Erbabene 
und Edle, was sie im Laufe einer langen Arbeit erworben, 
hat sie zusammengefaBt in ein kiihnes idealistiscbes System 
und in eine Anweisung zum seHgen Leben. Im Neuplato- 
nismus lehrte die griecbische Pbilosopbie, daJJ man der 
Autoritiit der Offenbarung folgen miisse, und daC es nur 
eine Reabtat gebe, Gott, nur eine Aufgabe, zu ibm aufzu- 
steigen; sie lehrte, dafi das Bose nicbts anderes sei als die 
Entfemung von Grott, daB die sinnlicbe Welt nur Scbein 
und Grleicbnis sei, daC man zu Grott nur gelangen konne 
durcb Selbstzucbt und Entbaltung, durch aufsteigende Be- 
tracbtung von niederen zu immer boheren Spharen, scKbeJ]- 
bcb durcb einen unbescbreiblichen ExzeB, die Ekstase, in 



Augustins Konfessionen. 73 

welclier Gott selbst die Seele erfaCt und ikr sein Licht 
leucliteii laCt: 

Alles VergJLngliclie ist nur ein Gleiohnis, 
Das Unzulangliche, Her wird's Ereignis, 
Bas Unbesohreibliche, hier ist's getan. 

Diese Schlufiworte des Faust sind echt neuplatonisch. 
Die neuplatonisclie PMlosophie hatte mehr mid mekr die 
helle Wissenschaft abgedankt; sie hatte sich der Offen- 
baning in die Axme geworfen, um die Menschen liber sich 
selber zu erheben. Sie, die letzte Hervorbringung des stolzen 
griechischen Greistes, verschmahte selbst christhche Sehriften 
nicht, um aus ihnen zu lernen. Das Johannesevangehum 
wurde ia neuplatonischen Eieiseii gelesen und hochgeschatzt. 
In diese Philosophie vertiefte sich nun Augustia; sie loste 
ihni die theoretischen Ratsel und Zweifel; sie hat ihn aus 
dem Skeptizismus herausgefiihrt und fur immer gewonnen. 
Die Realitat geistiger GroCen, der geistige Grottesbegriff, 
wurde ihm nun zur GewiBheit. Die scharfe Kritik, die 
er sonst an die theoretischen Grundlagen philosophischer 
Systeme gelegt hatte — hier versagte sie ihm. Der Skep- 
tizismus hatte sein Auge stumpf gemacht oder viehnehr — 
er suchte vor allem nach einer Anweisung zum seUgen 
Leben und nach einer Autoritat, die ihm den lebendigen 
Gott verbiirgte. "Was er suchte trug er in die neue Philo- 
sophie hiniiber; denn das heihge Wesen, dem er sich zu 
eigen geben und dessen Nahe er fiihlen wollte, bot ihm der 
Neuplatonismus nicht so, wis es vor seiner Seele stand. 
Den Unterschied hat auch er nicht verkannt; aber in seinem 
tiefsten Grande hat er ihn nicht, auch spater nicht, durch- 
schaut. DaiJ es eiae Philosophie gebe, an die er das an- 
kniipfen konnte, was seine Seele begehrte, war ihm vor 
aUem wichtig. Der Neuplatonismus ist fur ihn, wie fur 
viele vor ihm und nach ihm, der "Weg zur Kirche geworden; 
durch ihn gewann er Vertrauen zu den Grundgedanken 
der damaligen kirchlichen Theologie. Es ist merkwurdig. 



74 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

wie rasch, .wie unvermerkt er vom Neuplatonismus zur An- 
erkemrang der ganzen heiligen Schxift und der katholisclien 
Kirclieiilehre libergegangen ist, oder vielmehr: der Neu- 
platonismus erschien ihin einfacli als wahr, aber nicM als 
die vollstandige "Wakrlieit. Es feMte ilim vor allem ein 
Moment, die Anerkennung der Erlosimg durch. den mensch- 
gewordenen Grott, und damit der recMe Weg zur Wahr- 
heit. Sie sckauen, sagt er, das gelobte Land, wie Moses; 
aber sie wissen nicbt, wie man in dasselbe Mneinkommt 
und es bewolmt. Er glaubte es jetzt zu wissen: durch. die 
Unterwerfung des Verstandes unter Christus. Aber Christus 
ist nur dort wo die Kirohe ist, das hatte er an Ambrosius 
gelernt. Man mufl also glauben, glauben, was die Kirche 
glaubt. Augustin laCt uns in den Konfessionen dariiber 
nicht im Zweifel, daC der EntscMuB, sick der Autoritat zu 
unterwerfen, die Bedingung ist fiir den Besitz der Wahrkeit. 
Er entschloC sick; so wurde er katkokscker Ckrist. Wunder- 
bar sind bei diesem innem tjbergang die Ursacken ver- 
kettet, der Neuplatonismus, der fortwirkende Eiadruck der 
Person Ckristi, der durck die Lektiire pauliniscker Briefe 
sick ikm verstarkte, und die imponierende Autoritat der 
Kirche. 

Er war jetzt katkokscker Ckrist nach Einsickt und 
Wnie; aber er selbst besckreibt seinen damaligen Zustand 
mit den Worten: „So katte ick die kostbare Perle gefunden, 
aber ick trug nock immer Bedenken, alles zu verkaufen, 
was ick besaJJ; ick katte Lust an dem Gresetze Grottes nack 
dem inwendigen Menscken; aber ick sak ein anderes Gesetz 
in meiaen Grkedern." Keine Tkeorie, keine Lekre konnte 
ihm hier helfen. Nur iiberwaltigende personHche Eindriicke 
konnten ikn bezwingen und fortreiBen. Und diese kamen. 
Zuerst war es die Kunde von einem kockberukmten keid- 
niscken Redner in Rom, der plotzHck eine glanzende Lauf- 
bakn preisgegeben und sick offentlich als katkokscker Ckrist 
bekannt katte; sie ersckiitterte ikn aufs tiefste. Dann — 



Augustins Konfessionen. 75 

wenige Tage darauf — erzahlte ihm ein Landsmann , der 
ihn besuchte, was sich. jiingst in Trier zugetragen hatte. 
Ein paar junge kaiserlicKe Beamte seien in den G-arten an 
der Stadtmauer spazieren gegangen und dort auf die Hiitte 
eines Einsiedlers gestoCen. In der Hiitte fanden sie ein 
Bucli, das Leben des groBen Monchsvaters Antonius. Einer 
von ihnen begann es zn lesen, und das Buch iibte auf sie 
einen solcben Zauber aus, daC sie sofort beschlossen, alles 
zu verlassen und es dem Antonius nachzutun. Mit 
flammender Begeisterung berichtete der ErzaKler von diesem 
plotzlichen Umscbwung; er war selbst zugegen gewesen 
und hat ihn mitangesehen. Er bemerkte es nicht, Avelchen 
Eindruck seine Erzahlung auf den Horer machte. Ein 
furchtbarer Kampf entspann sich in Augustins Brust: 
„"Wohin lassen wir es mit uns selber kommen? "Was ist 
das? Ungelehrte stehen auf und reiCen das Himmeb-eich 
an sich, und wir mit unserer herzlosen G-elehrsamlceit walzen 
uns in Eleisch und Blut herum!" Im "Widerstreit seiner 
Grefiihle, seiner selbst nicht mehr machtig, stiirzte er in den 
G-arten. Der Gedanke an das, was er preisgeben sollte, 
rang in ihm mit der Macht eines neuen Lebens. Er brach 
zusammen und erwachte erst wieder, als er im Nachbar- 
haus eine Kinderstinune , wahrscheinlich im Spiel, die 
Worte immer wiederholen horte: „Mmm und lies, nimm 
und hes." Er eilte in das Haus zuriick und schlug, sich 
an die Geschichte des Antonius erinnernd, die heilige Schrift 
auf. Sein BUck fiel auf die SteUe im Eomerbrief: „Mcht 
in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, 
nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn 
Jesum Christum, und wartet des Leibes, doch also, daC er 
nicht geil werde." „Ich wollte nicht weiter lesen; es war 
auch nicht no tig; denn beim Schlusse dieses Spruches stromte 
in mein Herz sofort das Licht ruhiger Sicherheit ein und 
alle Finsternisse der Unentschlossenheit verschwanden." 
Er brach in diesem Momente mit seiner Vergangenheit; er 



76 Erster Band, erate Abteiluiig. Keden; HI. 

fiihlte die Kraft in sich, die siiadige Gewohnlieit preiszu- 
geben und im Bunde mit seinem Gott ein neues heiliges 
Leben zu fiihren. Er gelobte das, und bat das Grelobnis 
gebalten. 

Ein Beweis, daC es ein innerer Umscbwnng war, den 
er hier erlebt bat, liegt in der Tatsacbe, daB er zwar fortab 
auf Weib und offentlicben Beruf als auf ein IJbel ver- 
zicbtete, aber keineswegs sofort seine Studien und den 
KJreis seiner Interessen anderte. Er zog viekaekr mit den 
Freunden und der Mutter auf ein nabe bei Mailand ge- 
legenes Landgut, um dort ungestort der Pbilosopbie und 
einer gebaltvollen Greselligkeit zu leben und seine pMlo- 
sopbiscben Spekulationen, wie er sie bisber scbon betrieben, 
fortzusetzen. Nicbt der beilige Antonius wurde sein und 
seiner Freunde Vorbild, sondern die Gremeinscbaft der 
Weisen, wie sie Cicero, Plotin und Porpbyrius als Ideal 
vorgescbwebt batte. Keine vordringUcbe Kircbendogmatik 
storte nocb die pbilosopbiscben Dialoge der Freunde; aber 
beberrscbt war ilir G-emut von der GewiCbeit des leben- 
digen Gottes, und statt der Unsicberbeiten iiber den Aus- 
gangspunkt und das Ziel aller Wabrbeitserkenntnis lebten 
sie jetzt in der Sicberbeit, welcbe die Offenbarung Gottes 
in Cbristo und die Autoritat der Kircbe boten. Die Frage, 
ob scbon das Forscben nacb Wabrbeit gliicklicb mache 
oder erst der Besitz der Wabrbeit, wurde von Augustin 
im Kreise der Freunde aufgeworfen und in letzterem Sinne 
entscbieden. Rastlos woUte er weiter forscben, aber die 
letzte und bocbste Wabrbeit sucbte er nicbt mebr, sondern 
war sicb bewuflt, sie in der Unterwerfung unter die Autori- 
tat Gottes, wie die Kircbe sie verkiindigt, gefunden zu 
baben. 

Icb babe nacb den Konfessionen zu erzablen versucbt 
und nur zum ScbluC ibre DarsteUung aus den zuverlas- 
sigeren Quellen, den Scbriften, die Augustin gleicb nacb 
dem Umscbwung geschrieben, bericbtigt. Sie werden das 



Augustins Konfessionen. 77 

Problem, welch.es dieser Lebensgang bietet, wohl empfunden 
baben. Einerseits eine Entwickelung aus dem Innem heraus 
durcb imablassige Arbeit, ein Aufsteigen von einem ge- 
bundenen und zerspaltenen Leben zur Freibeit und Kraft 
in Grott, andererseits die Entwickelung zum Autoritats- 
glauben, das Ausruben in der Autoritat der Kircbe und 
die moncbiscbe Auffassung der Ebe und des Berufs. Auch 
wenn man die Zeitverhaltnisse in Anschlag bringt, wie 
groB scbeiat nock immer das Problem, daC dieser reicbe 
und rastlose Geist zu personlicber cbristlicber Frommigkeit 
emporstrebt, sie aber erst erlangt, nacbdem er sicb der 
Autoritat der Eorcbe unterworfen bat! 

Beides ist seitdem untrennbar in Augustins Leben und 
Denken verbunden gewesen. Einerseits kiindet er nun in 
einer neuen Weise — aber im Sinne der Kircbe — von 
Gott und den gottlicben Dingen. Aus der innersten Er- 
fabrung beraus zeugt er von Siinde und Scbuld, von BuBe 
und Grlauben, von G-ottes Kraft und Grottesbebe. An die 
Stelle einer blassen Moral setzt er die lebendige Frommig- 
keit, das Leben in Q-ott durcb Christus. Zu diesem Leben 
ruft er den Einzelnen auf ; er zeigt ihm, wie arm und elend 
er bei allem Wissen und bei aller Tugend sei, solange er 
von der Liebe Grottes nicbt ergriffen ist. Er zeigt ibm, 
daB der natiirbche Menscb von der Selbstsucbt beberrscbt 
ist, daB die Selbstsucbt Unfreibeit und Scbuld ist, und dafl 
jeder von Natur ein Grbed ist in einer ungebeuren Ver- 
kettung der Siinde. Er lebrt ibn aber aucb, daB Grott 
groBer ist als unser Herz, daB die in Cbristus offenbarte 
Liebe Gottes macbtiger ist als die Triebe der Natur, und 
daB die Freibeit die sebge Notwendigkeit des Guten ist. 
Wo nur immer in dem folgenden Jabrtausend und weiter 
der Kampf wider eine mecbanische Frommigkeit, wider 
Selbstgerecbtigkeit und stumpfe Moral unternommen wird, 
da ist es sein Geist gewesen, der fortgewirkt bat. Allein 
andererseits bat es niemand vor Augustin gegeben, der in 



78 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III. 

SO entscMossener und unverhiiHter Weise die Christenlieit 
aiif die Autoritat der Kirche gestellt und die lebendige Au- 
toritat geheiligter Personen, welche gleichartiges Leben er- 
zeugen, mit der Autoritat der Institutionen verwechselt hat. 

Was sich in seinen Erfahrungen und in seinem Lebens- 
gang untrennbar verkettet hatte, hat durch ihn genau so 
fortgewirkt auf die Kirche: seine Bedeutung fiir die Aus- 
bndung des katholischen Kirchentums und fur die Herr- 
schaft der Kirche ist nicht geringer als seine kritische Be- 
deutung und als die KJraft, die ihm veriiehen war, in- 
dividuelle Frommigkeit und personhches Christentum zu 
erwecken. 

Die Losung dieses Problems will ich nicht beruhren; 
es mag geniigen, daran zu erinnern, daC dasselbe im Grunde 
keineswegs erstaunlich ist. Rehgion und Autoritatsglaube, 
so verschieden sie sind, sind durch eine sehr schmale 
Grrenze getrennt, und wo der Grlaube vor allem als ein 
Wissen vorgestellt wird, da schwindet diese Grrenze voUig. 
Hier hat Luther eingesetzt und den Christen auf einen 
Grrund zu stellen unternommen, auf dem er die Autoritat 
von Institutionen und die Moncherei als Triibungen des 
Grlaubens betrachten mtiiJ. 

Aber jede Zeit hat von Grott ihren Inhalt empfangen 
und jeder Geist sein MaC. Seine Schranken sind auch 
seine Starke und die Bedingungen seiner wirksamen KJraft. 
Innerhalb seiner Schranken hat sich Augustin in den drei- 
undvierzig Jahren, die er als kathoHscher Christ verbracht 
hat, zu einer Persordichkeit entwickelt, deren Hoheit und 
Demut uns ergreift. Ein Strom von "Wahrhaftigkeit, Giite 
und Wohlwollen und wiederum von lebendigen Anschau- 
ungen und tiefen Gedanken geht durch seine Schriften, 
durch die er der groBe Lehrer des Abendlandes geworden 
ist. Wohl ist er Hberboten worden durch die Reformation, 
die er doch mit hervorgerufen hat, und die Grundziige 
seiner rehgiosen "Weltanschauung haben vor den Erkennt- 



Augustins Konfessionen. 79 

nissen, die wir seit Leibniz erworben haben, nicht Stand 
lialten konnen. Der romiscbe Katholizisinus bat seinen 
fortwirkenden EinfluC im Tridentinum, im Kampf gegen 
den Jansenismus nnd im Vaticanum zu ersticken unter- 
nommen. Aber er ist docb kein Toter: was er der Kircbe 
Cbristi gewesen ist, wird nicht untergeben, und er wird 
aiicb der romischen Kircbe keine Rube lassen. 

Es sind zu Ostern des Jabxes 1887 genau 1500 Jabre 
gewesen, seitdem sicb Augustin zu MaUand durct die Taufe 
in den Dienst der Kircbe gestellt bat. Niemand bat den 
Tag gefeiert; man bat dem Lebrer der Kircbe audi keine 
Denkmaler gesetzt. Aber er besitzt das erbabenste Denk- 
mal: auf den Blattern der Greschicbte des Abendlandes 
von den Tagen der Volkerwanderung an bis auf unsere 
Tage stebt unausloscblicb sein Name gescbrieben. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
"m ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^ 



REDEN: IV 

DAS MONCHTUM 

SEINE IDEALE UND SEINE GESCHICHTE 



Eine kirchenhistoriscKe Vorlesung 

erschienen in 6. Aufl. 1903 bei der J. Eioker'schen Verlagsbuclilian.d- 

lung (Alfred TOpelmaim) in Giessen. 



Die christliclien Konfessionen, so verschieden sie unter- 
einander sein mogen, stimmen in der Grundforderung iiber- 
ein, daC sich. der Grlaube darstellen miisse in einem christ- 
liclien Leben, dafi das Christentum nur dort zu seinem Rechte 
komme, wo es ein eigentiimliclies Leben erzeuge. Wahrhaft 
cbristliclies Leben ist das gemeinsame Ideal der Cbristen- 
heit. Aber wie soU es geartet sein? Hier scheiden sich 
die Wege. DaC es unter uns verschiedene Konfessionen 
gibt, ist im letzten G-runde bedingt sowoM durch die Ver- 
scbiedenbeit des Grlanbens, als auch. des Lebensideals, welches 
der Grlaube vorhalt. AUe iibrigen Unterschiede sind religios 
betrachtet nnwesentliche oder erbalten docb von hier aus 
erst ihr Gewicht und ihre Bedeutung. Mcht theologischer 
Zank oder priesterliche Herrschsucht oder nationale Gegen- 
satze haben aUein die Spaltung der Kirche herbeigefiihrt — 
sie waren an ihr beteiligt und konservieren sie heute noch — , 
sondern die verschiedene Beantwortung der Lebensfrage 
nach dem Ideal des Lebens hat getrennt und der Trennung 
Dauer gegeben. Es ist in den Verhaltnissen ganzer Gruppen 
nicht anders wie in den der Einzelnen. Nicht theoretische 
Meinungen, sondern Gesinnungen und "Willensrichtungen 
scheiden und vereinen. 

Fragen wir nun die romisch- oder die griechisch-katho- 
lische Earche, worin besteht das voUkommenste christliche 
Leben, so antworten sie beide: in dem Dienste Gottes unter 
Verzicht auf alle Giiter des Lebens, auf Eigentum, Ehe, 
personlichen "Willen und personliche Ehre, kurz in der reli- 
giosen Weltflucht, in dem Monchtum. Der wahre Monch ist 



84 Erster Band, erste AbteiluBg. Eeden: IV. 

der wahre, voUkommenste Ckrist. Das Monchtum ist also 
nicht eine mekr oder weniger zufallige Ersclieiinaiig in den 
katholisclien Kirchen neben anderen, sondem, wie die Kirclien 
heute sind nnd wie sie schon seit Jahrhunderten das Evan- 
gelium verstanden haben, ist as eine in ikrem "Wesen be- 
griindete Institution: es ist das ckristliche Leben. Wir 
werden deshalb erwarten diirfen, daJ3 in den Idealen des 
Monchtums sicb aucb die Ideale der Kirclie, in der G-e- 
scMcbte des MoncMums sicb die G-eschichte der Kircbe 
darstellen werden. 

Aber kann das MoncMnni iiberlianpt wechselnde Ideale, 
kann es eine GrescMchte baben? Ist es nicht verurteilt, in 
groBartiger Einformigkeit tausendfacber Wiederbolung durcb 
die G-eschicbte zn schreiten? Welch' einer Veranderung sind 
die Ideale der Armut, der Ehelosigkeit, der entschlossenen 
Weltflucht fahig? "Welch' eine Geschichte konnen die er- 
leben oder herbeifiihren, welche mit der Welt anch ihren 
wechselnden G-estalten, d. h. ihrer Greschichte, den Riicken 
gekehrt? Ist nicht Weltentsagung zugleich Verzicht auf 
alle Entwickelnng und aUe Greschichte? Oder, wenn sie 
das in Wirkhchkeit nicht gewesen ist, ist nicht eine Gre- 
schichte der Ideale des Monchtums schon ein Protest gegen 
den Gredanken des Monchtums iiberhaupt? Es scheint so, 
und vieUeicht scheint es nicht bloU so. Aber das lehrt die 
Greschichte des Abendlandes auch dem fliichtigsten Be- 
obachter: das Monchtum hat seine Greschichte gehabt, nicht 
nur eine aufiere, sondem auch eine innere, voll von ere- 
waltigsten Veranderungen und gewaltigsten Wirkungen. 
Welch' eine Kluft trennt den schweigsamen BiiiSer der 
WHste, der ein Menschenleben hindurch in keines Menschen 
Auge geblickt hat, von dem Monche, der einer Welt Befehle 
gab! Und dazwischen die Hunderte von Grestalten, eigen- 
tiiinlich und verschieden, und doch Monche, aUe begeistert 
und beherrscht von der Idee, der Welt zu entsagen. Aber 
noch mehr: aUe Eegungen des Gl-emiites, die leidenschaft- 



Das MOnolitum. 85 

lichsten und die zartesten, kommen uns aus jener Welt der 
Weltentsagung entgegen. Kunst, Poesie und Wissenschaft 
haben dort ilire Pflege gefunden, ja die Anfange der Zivi- 
lisation unseres Vaterlandes sind ein Kapitel aus der Ge- 
schichte des Monclitums. Hat das Moncktum dieses alles 
nur leisten konnen, indem es seine Ideale verlieiJ, oder 
lassen seine eigensten Ideale solcke "Wirkungen zu? Setzt 
die Weltentsagung eine zweite Welt und eine zweite Ge- 
schichte, der gemeinen ahnlich, nur reiner und groJJer, oder 
muC sie die Welt zur Wiiste werden lassen? 1st das das 
wahre Monchtum, welches in der Welt den Tempel Grottes 
sieht und auch. in der scli-weigsamen Natur entziickt das 
Weken gottlichen Greistes vernimmt, oder ist das das wahre 
Monchtum, welches behauptet, die Welt mitsamt ihrer Natur 
und ihrer Greschichte sei des Teufels? Beide Losungen 
tonen zu uns heriiber aus dem Reiche der Weltentsagung: 
welche von ihnen ist authentisch und hat das geschicht- 
Kche Recht for sich? In dem Monchtum ist das Individuum 
gerettet worden aus den Banden der Gresellschaft und der 
gemeinen Gewohnheit, ist befreit und erhoben worden zu 
edler Selbstandigkeit und Menschlichkeit, und in demselben 
Monchtum ist ps geknechtet worden in Engherzigkeit, geist- 
loser Ode und sklavischer Abhangigkeit. Hat das urspriing- 
liche Ideal dieses verschuldet oder jenes hervorgebracht? 

Solche und ahnhche Fragen tauchen hier auf. Der 
evangeUsche Christ hat nicht bloC ein historisches Interesse 
an ihrer richtigen Beantwortung. Ist es ihm auch gewiB, 
daU die christliche VoUkommenheit nicht in den Formen des 
Monchtums zu suchen ist, so hat er es doch zu priifen und 
seine Lichtgestalt festzusteUen. Nur dann ist es in Wahr- 
heit liberwunden, wenn dem Besten, was es hat, ein Besseres 
iibergeordnet werden kann. Wer es abschatzig beiseite 
schiebt, kennt es nicht. Wer es kennt, der wird bekennen, 
wieviel von ihm zu lernen ist. Ja er wird hier nicht nur wie 
von einem Gegner, er wird wie von einem Freunde lernen 



86 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

konnen, unbescliadet seines evangeliscLen Standpunktes, 
vielmehr zu Nutz desselben. Suclien wir uns durcli einen 
geschichtlichen Uberblick liber das Moncbtum zu orientieren. 



I. 

Das Moncbtum ist nicht so alt wie die Kircbe. Aller- 
dings bat die Kircbe des 4. Jahrbunderts, in welcber es sicb 
ausbildete, wesentlicb abnlicbe Institutionen scbon im apo- 
stoliscben Zeitalter zu finden gemeint; aber die Vorbilder 
dort, auf welcbe man sicb berufen bat und nocb beruft, ge- 
boren zum groCten Teile der Legende an. Dennocb ist die 
alte Kircbe mit ibrem Urteile nicbt ganz im Unrecbte. Der 
Gedanke, sicb zu separieren, gescblossene Vereinigungen 
innerbalb der G-emeinde zu bilden und besondere Weltent- 
sagung zu iiben, konnte freibcb den Einzebien in den ersten 
Jabrzebnten des Bestebens der Kircbe gar nicbt kommen. 
Aber diejenigen, welcbe sicb von dem Greiste Grottes ge- 
trieben fiiblten, ibr ganzes Leben der Verkiindigung des 
Evangeliums zu widmen, baben in der Regel alle ibre Habe 
dabingegeben und sind in freiwiUiger Armut als Apostel und 
Evangelisten Cbristi von einer Stadt zur andejren gewandert. 
Andere baben sicb, auf Vermogen und Ebe verzicbtend, 
ganz in den Dienst der Armen und HUfsbediirftigen der 
Gremeinde begeben. Dieser apostoliscben Manner bat man 
sicb, als das Moncbtum nacb seinem Ursprunge im aposto- 
bscben Zeitalter sucbte, bin und bar wieder erinnert. Ferner 
aber — aUe Cbristen, soweit sie es ernst nabmen, standen 
gleicbmaJJig unter dem Eindrucke, daJ3 der Welt und ibrer 
Grescbicbte nur nocb eine kurze Spanne Zeit gelassen sei, 
daB ibr Ende bevorstebe. Wo diese Hoffnung aber lebendig 
ist, da kann das irdiscbe Leben, wie es gelebt wird, einen 
selbstandigen Wert nicbt mebi- bebaupten, so gewissenbaft 
man es aucb mit den Berufspflicbten nebmen mag. Der 
Apostel Paulus bat unter besonderen Verbaltnissen diese 



Das MOnchtum. 87 

wiederholt und nachdriicklich seinen Gremeinden eingescharft. 
Man hat ihn deshalb evangelischerseits wider Moncherei und 
alles weltfliichtige Christentum angerufen, auf die Grund- 
satze christlicter Freiheit verweisend, die er verkiindet hat. 
Aber man soil dabei nicht vergessen, dafi auch er in Bezug 
auf die irdischen Griiter das Urteil geteilt hat, es sei dem 
Christen zutraglicher, sie preiszugeben, und daJ3 wir so auch 
im Evangelium lesen. Damit ist das, was sich als Monch- 
tum ausgebUdet hat, dennoch nicht im voraus geboten noch 
empfohlen. Jesus Christus hat nicht als ein neues, pein- 
hches G-esetz schwere Lasten auferlegt, noch weniger in der 
Askese als solcher — er selbst lebte nicht als Asket — eine 
HeUigung gesehen, sondern eine voUkommene Einfalt und 
Reinheit der Gresinnung und eiae Ungeteiltheit des Herzens 
hat er vorgesteUt, die in Verzicht und Triibsal, im Besitz 
und Gebrauch irdischer Griiter, wandellos dieselbe bleiben 
soU. Das Einfachste und Schwerste im Gresetz, die Liebe 
Grottes und des Nachsten, hat er an die Spitze gesteUt und 
aller zeremoniosen Heihgkeit und raffinierten Moral ent- 
gegengesetzt. Geboten hat er, daB ein jeghcher sein Kreuz, 
d. h. die Leiden, die Grott geschickt hat, auf sich nehmen 
und ihm nachfolgen soUe. In der Nachfolge Jesu, in welcher 
sich das Trachten nach dem Reiche Grottes und seiner Gre- 
rechtigkeit verwirklicht, liegt die Entaufierung von allem, 
was hemmend und hinderhch ist, beschlossen. Das Monch- 
tum hat aber nachmals versucht, der entscheidenden evan- 
gelischenEorderung: „Enthalte dich" so gerecht zu werden, 
dafi es den Umfang des Verzichtes ohne Riicksicht auf die 
individuelle Beschaffenheit und den Beruf des Einzelnen 
bestimmte. 

Als das EvangeMum im ersten Jahrhundert und im An- 
fang des zweiten seine Mission in der griechisch-romischen 
Welt aufnahm, da wurde es ergriffen von den Empfang- 
lichen als die Botschaft „von der Enthaltsamkeit und der 
Auferstehung". Diese gewahrte die befreiende Hoffnung, 



S8 Erster Band, erste Abteilung. Reden: lY. 

und jene forderte die Loslosung von der Welt der Sinn- 
lictkeit und Siinde. Die ersten Christen salien in dem 
Heidentiun, seinem Grotzendienst, seinem offentlichen Leben, 
auch. in seinem Staate, das Reich, des Satan in Wirklichkeit 
aufgerichtet und forderten daher Verneinung dieser Welt; 
aber far ihre Auffassung waren es nicht unvereinbare Gregen- 
satze, daC die Erde G-ottes sei, von ihm geleitet und be- 
herrscht werde, und daC sie doch zugleich in satanischer 
Verwiistung liege. Welter: sie wuCten sich als Biirger einer 
znkiinffcigen Welt, deren Eintritt ta Balde bevorstehe. Wer 
das glaubt, der kann aUes gering achten, was um ihn ist, 
ohne in die Stimmung zu geraten, die man die pessimistische 
nennt, und die im besten FaUe die Stimmung des gekrankten 
und leidensmuden Heros ist. Er wird die Freude am „Leben" 
behalten; denn er wiinscht nichts sehnlicher als zu leben, 
und er wird selbst dem Tode sich gerne darbieten, der ilm 
zum Leben fiihrt. Dort ist kein Raum fiir den Verzicht 
auf die Freude, wo der Griaube lebendig ist, dafi Q-ott die 
Welt geschaffen hat und regiert, wo man der Zuversicht 
lebt, daJB kein Sperling vom Dacha fallt ohne den himm- 
lischen Vater. Es ist richtig, daU die Phantasie damals aufs 
lebhafteste bewegt worden ist von dem Q-edanken, daC der 
gegenwartige Weltlauf dem Grerichte verfalle, well aUes ver- 
giftet und des Unterganges wert sei; aber man wuUte diese 
Welt doch auch als die Statte des Reiehes Grottes, die man 
der Verklarung fiir wiirdig erachtete. Das Ohristentum 
mixBte den Kampf aufnehmen mit der groben und der feinen 
Sinnlichkeit der Heidenwelt und es erschopfte, wie man 
richtig gesagt hat, seine ganze Energie in der Predigt der 
grofien Botschaffc: „Ihr seid keine Tiere, sondern unsterbKche 
Seelen, nicht die Sklaven des Fleisohes und der Materie, 
sondern die Herren eures Fleisches, Diener aUein des leben- 
digen Grottes." Jedes Kulturideal muB zuriicktreten, bis 
diese Botschaft geglaubt wird. Besser, der Mensch erachtet 
die Ehe, Essen und Trinken, ja, sein menschhches Teil an 



Das Mbnchtum. 89 

sich fiir unreiii, als dafi er diese Dinge wirklicli unrein 
macht durch. sinnliche Verwilderung. Kein neues Prinzip 
vermag sich in dieser "Welt der Tragheit und G-ewolinlieit 
durclizusetzen, das nicht die sclmeidendste Kritik an dem 
Zustande der G-egenwart iibt und hochgespannte Forderungen 
stellt. Das alteste Christentum stellte solclie Forderungen; 
aber bald erhob sich. die Frage, wie sie theoretisch zu be- 
griinden seien und in welchem Umfang sie gelten soUen. 



n. 

Bereits am Anfang des zweiten Jahrhunderts drangte 
sich eine bunte Menge Suchender und Grlaubiger an die 
christhchen Gremeinden heran. Unter ihnen gab es Manner 
— man nennt sie herkommlich Grnostiker — , die genahrt 
und verwirrt waren durch alte und neueste Mysterienweis- 
heit, zugleich aber ergriffen von der evangehschen Botschaft 
und der Reinheit des christlichen Lebens. Sie suchten zu 
bestinmien, worin das Wesen der christlichen Religion als 
einer Erkenntnis Grottes und der "Welt bestehe, und sie 
meinten den wahren, der Menge unbekannten Sinn des 
Evangeliums ergriindet zu haben: Gott als den Herrn und 
den Schopfer der Geister, aber ihm von Ewigkeit gegen- 
iiberstehend das Reich der Materie, der sinnhchen EndUch- 
keit, welches als seiches bose ist; der menschliche Geist ein 
Lichtfunke Gottes, aber schmachvoU gefangen von seiner 
Feindin, der Sinnenwelt; die Erlosung durch Christus eine 
Entkorperung des Geistes, die "Wiederherstellung der reinen 
Geistigkeit; darum die sitthche Aufgabe: voUkommene 
Askese, Flucht aus der damonischen Natur, Einswerden mit 
dem UrqueU des Geistes durch Erkenntnis und "Wissen. 
In dem Kampf mit dieser Lehre, welche die griechische 
war, sich aber als die christhche zu legitimieren versuchte, 
und im Kampfe mit der marcionitischen, die in ihren prak- 
tischen Anweisungen sich mit der gnostischen beriihrte, 



90 Erster Band, erste Abteilung. Beden: IV. 

erlebte die Kiiche ihre erste gewaltige Krisis in der Gre- 
schiclite. Sie hat sie iiberwundeii; sie hat die scheinbar so 
verlockende Begriindung ihrer eigenen Kritik an der Schlech- 
tigkeit der gegenwartigen Welt als eine ihr fremde, als eine 
falsche abgewiesen. Sie erkannte in jenen Thesen damo- 
nische, d. h. heidnische Anschanungen wieder und beurteilte 
das gnostische Christentum mitsamt seiner Askese und der 
hoben Botschaft von der Herrlichkeit und Wiirde des G-eistes 
als ein verweltlicbtes. Auch von einem angeblicb boheren 
Grebeimcbristentum fur die „G-eistigen" woUte sie nicbts 
wissen; der gnostiscben Unterscbeidung eines zwiefacben 
cbristlicben Ideals gegeniiber bestand sie noch, wenn aucb 
nicbt mit Sicberbeit, auf der Forderung einer einbeitlicben 
und allgemein zuganglicben cbristbcben Lebensordnung. 
Seit dem Ende des zweiten Jabrbunderts war es fiir immer 
in der Kircbe festgestellt, daC der Grlaube an jenen prin- 
zipieUen Dualismus zwiscben Gott und Welt, G-eist und 
Natur unvereinbar sei mit dem Cbristentum, unvereinbar 
mit ibm darum aucb jede Askese, die sicb auf jenen Dua- 
lismus stiitzt. Wobl fubr man fort, zu lebren, daB der 
gegenwiirtige Weltlauf und die zukiinftige Zeit in einem 
Kontraste steben, daC die Erde unter die Herrscbaft der 
Damonen geraten sei. Aber Gott selbst bat sie dabin- 
gegeben und dem Teufel iiberantwortet. Er wird aber seine 
Allmacbt in dem G-ericbte erweisen und zeigt sie scbon 
jetzt in dem Siege seiner Glaubigen iiber die Damonen. 
Die Welt ist des Herrn, nur verwaltet wird sie zeitweilig 
von den bosen Engeln; die Welt ist gut, aber die Lebens- 
weise der Welt ist scblecbt. So iiberwand man den tbeo- 
retiscben Duabsmus, indem man ibn in der „Tbeologie'' 
ablebnte und das Bose aus der im Plane Gottes notwen- 
digen Ereibeit der Kreatur zu versteben sucbte. Docb der 
Eeind, der bier lauert, kann wobl gescblagen, aber nicbt 
vemicbtet werden. Er fand seine gebeimen Bundesgenossen 
selbst in mancben maBgebenden Tbeologen, die den Dua- 



Das MOnchtum. 91 

lismus in sub tiler Weise mit dem Glauben an Gott, den 
allmachtigen Schopfer, zu vereinigen verstanden. Unter 
den verschiedensten Masken und Gestalten ist er je nnd je 
wieder aufgetreten in der Geschiclite des Christentums ; aber 
er liat sich verkleiden miissen. Als Feind in offener Feld- 
schlacht war er gerichtet. 

Da zog eine zweite Krisis herauf fiir die Kirche, nnd 
noch war die erste nicM am Ende. Seit der Mitte des 
zweiten Jahrhunderts begannen sich die Bedingungfen der 
aufieren Lage fiir die Christenlieit immer metr zu andern. 
In wenigen kleinen Gemeinden war sie bisher iiber das 
romische Reich, zerstrent gewesen. Diese waren nur mit 
den notwendigsten Formen politischer Art ausgestattet, so 
wenige und so lockere, als deren ein auf iiberirdisclie Hoff- 
nungen, strenge Disziplin und BruderHebe begriindeter, 
religioser Bund bedurfte. Aber es wurde anders. Die 
Kirche sab. Massen bei sich einziehen, die einer nachtrag- 
Kchen Zucht — der Erziehung und der Nachsicht — ■ ebenso 
bedurften wie einer poKtischen Leitung. Die Aussicht auf 
das nahe Weltende beherrschte nicht mehr wie friiher alle 
Gemiiter. An die SteUe urspriinglicher Begeisterung trat 
mehr und mehr niichterne Uberzeugung, wohl auch nur 
theoretisches Fiirwahrhalten und gehorsame Anerkennung. 
Viele wurden nicht Christen, sondern sie waren es und 
darum blieben sie es. Sie waren zu stark vom Christentum 
beruhrt, um es zu lassen, und zu wenig, um Christen zu 
sein. Der rein religiose Enthusiasmus verblafite, die Ideale 
erhielten eine neue Form, und die Selbstandigkeit und Ver- 
antwortlichkeit der Einzelnen wurde schwacher. Die 
„Priester und Konige Gottes" begehrten nach Priestern und 
begannen sich mit den Konigen der Erde abzufinden. Die, 
welche sich einst des Besitzes des Geistes geriihmt hatten, 
suchten diesen Geist, den sie nun nicht mehr so lebendig 
spiirten, in Glaubensformeln und in heihgen Biichern, in 
Mysterien und in Kirchenordnungen zu erkennen. Dazu: 



92 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

die Unterschiede ia der sozialen Lage der „Bru.der" maditen 
sich. geltend. In alien BerufsMassen fanden sich bereits 
Christen, im Kaiserpalast, unter den Beamten, in den Stuben 
der Handwerker und in den Salen der Grelehrten, unter 
Freien und Unfreien. Sollten diese alle in ihrem Berufe 
belassen werden, sollte die Kircte den entscheidenden 
Schritt in die Welt hinein tun, auf ilu-e Verhaltnisse ein- 
gehen, ihren Formen sich. anschmiegen, ihre Ordnungen 
soweit irgend moglich anerkennen, ihre Bediirfnisse be- 
friedigen, oder sollte sie bleiben, was sie anfangs gewesen, 
eine G-emeinde religios Begeisterter, getrennt und gesehie- 
den von der "Welt, nur durch eine direkte Mission auf sie 
wirkend? Die Kirche sah sich seit der zweiten Halfte des 
zweiten Jahrhunderts vor das Dilenuna gestellt, entweder 
durch wirklichen Eintritt in die romische Gresellschaft eine 
Weltmission im groCen zu beginnen, freilich unter Verzicht 
auf ihre ursprlingliche Ausstattung und KJraffc, oder aber 
diese zu behalten, die urspriinglichen Lebensformen zu be- 
wahren, aber eine kleine, geringe Sekte zu bleiben, von 
Tausenden kaum Einem verstandKch, nicht imstande, Ifa- 
tionen zu retten und zu erziehen. Um diese Frage handelte 
es sich — ■ das diirfen wir heute feststellen, so -wenig es da- 
mals klar erkannt werden konnte — , es war eine gewaltige 
Krisis, und nicht die schlechtesten Christen riefen der Kirche 
ein Halt zu. Damals zum erstenmale wurden Stimmen in 
der Kirche laut, welche die Bischofe und ihre Herden vor 
der fortschreitenden Verweltlichung warnten, welche den 
Weltchristen jene bekannten Satze von der Nachfolge 
Christi in ihrem wortlichen Ernste entgegenhielten und eine 
Umkehr zur urspriinglichen Einfachheit und Reinheit ver- 
langten. Damals erhob sich noch einmal laut und ein- 
dringlich der Ruf , das Leben auf G-rund der Hoffnung zu 
gestalten, daC der Herr demnachst wiederkomme. Es gab 
Gemeinden, die gefuhrt von ihren Bischofen, in die Wiiste 
zogen; es gab G-emeinden, die alles verkauften, was sie be- 



Das MonoMum. 93 

safien, um frei von alien Henunnissen dem kommenden 
Christus entgegenznzielien ; es gab Stimmen, die verkiindig- 
ten, die Christen soUten den breiten Weg verlassen und 
den sckmalen Weg und die enge Pforte aufsuchen. Die 
Kirche selbst entschied sich anders, mehr von den Verhalt- 
nissen getrieben als nacb einem freien Entschlufi. Sie zog 
ein durch. das offene Tor in den Weltstaat, um sich fur 
eine lange Dauer dort einzurichten , um ihn auf seinen 
Strafien zu christianisieren, ibm die "Worte des Evangehums 
zu bringen, aber ihm alles zu lassen auBer seinen Gottern. 
Und sie selbst stattete sich aus mit all den Giitern, die sie 
von ihm nehmen konnte, ohne das elastische Gefiige zu 
sprengen, in welchem sie sich nun einrichtete. Mit seiner 
Philosophie schuf sie ihre neue christliche Theologie, seine 
Verfassung beutete sie aus, um sich selbst die festesten 
Formen zu geben, seine Rechtsordnungen, Handel und Ver- 
kehr, Kunst und Handwerk nahm sie in ihren Dienst, selbst 
von seinen Kulten wuUte sie zu lernen. So finden wir die 
Kirche um die Mitte des dritten Jahrhunderts, ausgeriistet 
mit all den Machtmitteln, die der Staat und seine Kultur 
ihr bieten konnten, eingehend auf alle Verhaltnisse des 
Lebens, zu alien Konzessionen bereit, die nicht das Be- 
kenntnis des Glaubens betrafen. In dieser Ausstattung hat 
sie eine "Weltmission im groCen StUe unternommen und 
durchgefuhrt. Und jene Altglaubigen und Ernsteren, die 
gegen diese Weltkirche protestierten im Namen des Evan- 
geliums, die ihrem Gott eine heUige Gemeinde sammeln 
wollten ohne Riicksicht auf Zahl und Umstande? Sie ver- 
mochten sich nicht mehr in der groCen Kirche zu halten, 
und, indem die Mehrzahl von ihnen, um ihren strengeren 
Forderungen eine Grundlage zu geben, sich auf eine neue 
endgiiltige Offenbarung Gottes, die in Phrygien stattgefun- 
den haben sollte, berief , beschleunigte sie den Bruch. Sie 
schieden aus und wurden ausgeschieden. Aber, wie es zu 
geschehen pflegt, sie waren in dem Kampf selbst enger und 



94 Erster Band, ersto Abteilung. Keden: IV. 

kleinsinniger geworden. Hatte in fruieren Zeiten hohe 
Begeisterung strenge Lebensformen wie von selbst hervor- 
gerufen, so sollten nun diese, punktlioli bemessen, jenes ur- 
spriingliche Leben konservieren und erzeugen. Sie wurden 
gesetzlich. in ih.rer Lebensordnung, die doch nur um wenige 
G-rade strenger war als die ihrer G-egner, und hoclimutig 
im Besitze des reinen Christentums , wie sie sagten. Das 
Christentum der Weltkirchenleute veracbteten sie als halb- 
schlacbtiges, gemodeltes und ungeistliches Christentum. 
Man hat in dieser „Sekte" der „Montanisten" im Reiche 
und in der ihr verwandten, alteren und schrofferen der 
„Enkratiten" mit ihrer Weltscheue, ihren strengeren Fasten- 
und Q-ebetsordnungen, ihrem MiBtrauen gegen das geist- 
liche Amt, gegen kirchenpolitische Ordnung, gegen jeden 
Besitz, selbst gegen die Ehe, den Vorlaufer des spateren 
Monchtums erkennen wollen — nicht mit Unrecht, wenn 
man auf die Motive beider Bewegungen sieht, aber sonst 
sind sie doch noch sehr verschieden. Das Monchtum setzt 
die relative Berechtigung der Weltkirche voraus, jene Mon- 
tanisten bestritten jede Berechtigung. Die Auskunft einer 
doppelten Sittlichkeit in der Kirche, war sie gleich schon 
im Anzuge, beherrschte am Anfang des dritten Jahrhun- 
derts noch nicht die gesamte Auffassung vom christlichen 
Leben; eben die Ausscheidung des Montanismus aus der 
Kirche beweist dies. Allerdings schatzte die Kirche ihre 
„Bekenner", ihre „Jungfrauen", ihre Ehelosen, ilire Grott 
dienenden Witwen, wenn sie ihrer Gemeinschaft treu bheben, 
um so hoher, je haufiger sie die Erfahrung machen muBte, 
daC sie gegen die „grofie G-emeinschaft" miCtrauisch wurden. 
Aber jene geistUchen Aristokraten waren noch ebensowenig 
Monche wie die Montanisten. Dazu — das Monchtum er- 
hob eine Lebensweise zum Prinzip, die in erster Linie nicht 
an der Aussicht auf die bevorstehende Offenbarung des 
Reiches Ghristi, sondern an dem Gedanken des ungestorten 
G-enusses G-ottes im Diesseits und der Unsterbhchkeit im 



Das MOnchtum. 95 

Jenseits orientiert war. Das Monchtum mulJte sicli zur 
Weltflucht aufraffen, die Montanisten brauchten das nicht 
erst ausdriicklich zu fiielieii, was ihre enthusiastisclie Hoff- 
nung als ein bereits Abgetanes erblicken woUte. 



III. 
Aber kehren wir zur Kirche des dritten Jahrhunderts 
zuriick. Wohl batten jene Eiferer ein Recbt zur Kritik an 
ibr; denn die grofien Grefabren, die sie beim Einzug der 
Kircbe in den Weltstaat kommen saben, stellten sicb wirk- 
licb ein. Jenes Wort des Apostels: „Den Juden ein Jude, 
den Grriechen ein Grriecbe": es war docb ein gefabrlicbes 
Motto. Wir sind durcb eine Jabrhunderte alte Uberliefe- 
rung gewobnt, die Verweltlicbung der Kirche erst von der 
Zeit ab zu datieren, wo sie unter Konstantin Reicbskircbe 
zu werden begann. Diese IJberHeferung ist falsch. Die 
Kircbe in der Mitte des dritten Jabrbunderts war bereits 
in bobem Grade verweltbcbt. Nicbt als ob sie die liber- 
lieferten Glaubenssatze verleugnet und ibre Eigenart preis- 
gegeben batte, aber ibre Anspriicbe an das cbristlicbe 
Leben batte sie in bedenklicber "Weise berabgesetzt und die 
Kulturausstattung, mit der sie sicb bereicbert, war ibr zum 
innerbcben Scbaden geworden. Zwar war sie auCerlich 
fester und gescblossener denn je gefiigt — ein Staat im 
Staate war sie geworden; aber das starke Band, das sie 
verband, war nicbt mebr religiose Hoffnung und Bruder- 
liebe, sondern eine bierarcbiscbe Ordnung, welcbe die 
cbristlicbe Miindigkeit und Freikeit, damit aber aucb den 
Brudersinn zu erdriicken drobte. Ibre Grlaubenslebre riva- 
Ksierte bereits mit den bewunderten Systemen der Pbilo- 
sopben, aber zu tief batte sie sicb selbst mit ibnen ein- 
gelassen, ibre Ziele waren ibr verriickt, ibre Metbode gestort 
worden. Namentbch jenes letzte nacbgeborene System 
griecbiscber Weisbeit, der Neuplatonismus , batte entscbei- 



96 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

dend auf sie eingewirkt. Durch das, was sie von ihm ent- 
lehnte, sucMe sie den Ausfall zu decken, den sie bei dem 
Verluste oder der Umsetzung ihrer rein religiosen Ideale 
friihe schon erlitten hatte. Aber der iiberweltliche Gott, 
den jener lehrte, war nicM der Gott des Evangeliums, nnd 
die Erlosiing ans dem Sinnlichen, die er verhiefi, war von 
der nrsprunglichen christlichen Heilshoffnnng sehr verschie- 
den. Docli die Theologen, die ilin studierten oder be- 
kampften, lebten sich. in jene Begriffswelt ein nnd nnmerk- 
lich verschob sicli ilire eigene. Weiter: die Tendenz, sich. 
dem Staate anzuschmiegen , wnrde inuner offenkundiger: 
woM wollte man ibn stiitzen, aber man begehrte anch 
Stiitze von ibm, man tat mehr, als man tun durfte, um 
ilm zu gewinnen. Endlich: die Kirche konnte auck die 
bereits herabgestimmten Anspriiche an das sittliche Leben 
des Einzebien nicht raehr durokfiiliren; sie muUte sick oft 
genug mit einem Minimum, mit dem auCerlichen Gekorsam 
gegeniiber ikren Reckts- und Kultusordnungen begniigen. 
— Dagegen — das Eine katte sie erreickt, daiJ so leickt 
kein Ckrist ikren Anspruck, die ckristkcke Gresellsckaft zu 
sein, antastete, den Glauben katte sie begriindet, dafi ikr 
gegkederter Verband mit seinen Bisckofen, seinen G-naden- 
spendungen, seinen keHigen Biickern, seinem Kultus die 
autkentiscke, unverfalsckte Stiftung Ckristi und der Apostel 
sei, auJJer welcker es kein Heil gebe. Das war die ckrist- 
kcke Kircke an der Wende des dritten Jakrkunderts zum 
vierten. So war sie geworden, nickt okne ikre Sckuld. 
Aber das soil gesagt werden: es ist leickt, diese Kircke an 
der apostokscken Zeit oder an einem selbstgezeickneten 
ckristkcken Urbilde zu messen und sie grober Verweltlickung 
zu zeiken, aber es ist ungereckt, die gesckicktkcken Be- 
dingungen auCer ackt zu lassen, unter denen sie gestanden 
kat. Was sie in sick gerettet kat, ist dock nickt nur ein 
tJberbleibsel gewesen, welckes sie eben nickt verkeren 
konnte, oder ein Rest, der der Erkaltung nickt wert war, 



Das MOnohtum. 97 

sondem es war das alte Evangelium, freilich in die Hiillen 
und Binden der Zeit gewickelt und okae den kraftigen An- 
spruch, das ganze Leben von innen heraus zu bestimmen. 
Aber diese Kircbe war nicht mehr imstande, alien 
Gemiitern, die zn ihr kamen, Frieden zu geben, sie vor 
der "Welt zn bergen. Den Gottesfrieden etnes jenseitigen 
Lebens konnte sie zusicbern, den Frieden in den Stiirmen 
des Diesseits konnte sie nicbt gewabren. Da begann die 
grofie Bewegung. Asketen, auch Einsamlebende , bat es 
scbon friiher in der groCen Kircbe gegeben, ebenso wie 
von Ort zn Ort pUgernde, nictts besitzende Evangelisten. 
Im Laufe des dritten Jahrbunderts mogen einzelne Welt- 
miide bereits liinansgeflohen sein in die Wiiste, ja bin und 
her mogen sie sick bereits zn gemeinsamem Leben ver- 
einigt baben. Ibre Zabl wucbs beim Anbrncb des neuen 
Jabrbunderts. Sie floben nicbt nur die Welt, sondern die 
Welt in der Kircbe; aber sie floben desbalb nicbt aus der 
Kircbe. Anf Ebre und Vermogen, Weib nnd Kind ver- 
zicbteten sie, um Lust und Siinde zu flieben, um sick dem 
GrenuiJ der Anscbauung Gottes binzugeben und das Leben 
in Todesbereitscbaft zu weiben. Lebrte docb aucb die 
berrschende Tbeologie, daJ3 das Ideal ohristlicben Lebens 
in jener Sterbensiibung und wiederum in jenem Gottes- 
staunen bestebe, da der Menscb seiner Existenz vergiCt, 
sein korperlicbes Dasein bis zur Grenze des Todes ertotet, 
um ganz aufzugeben in der Beschauung des Himmliscben 
und Ewigen. Das war die allgemeine Tbeorie der Weisen. 
Sie nabmen es ernst mit ibr. Aber weiter: keine Zeit ist 
vielleicbt mebr von dem Gedanken durcbdrungen gewesen, 
dafi der Weltzeitlauf altere, dabinsinke, dafi es sicb nicbt 
mebr lobne, zu leben. Eine groBe Epocbe in der Ge- 
scbiebte der Menscbbeit ging wirklicb zu Grabe. Das 
romiscbe Reicb, die alte Welt, scbickte sicb an, zu sterben, 
und furcbtbar waren die Todeskiimpfe. Aufrubr, Blutver- 
giefien, Armut und Seucben im Innern, von aufien von 

Harnaek, Reden nnd Aufsatze. I. 



98 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

alien Seiten bedrangt durch. Barbarenhorden. "Was hatte 
man ihnen entgegenzustellen ? Nicht melir die Macht eines 
seiner selbst maclitigen Staates und die Kraft eiaes ein- 
heitliclien nnd erprobten Bildungsideals , nein — ein aus- 
einanderfallendes Reich, kaum noch. zusammengehalten 
durch eine sinkende und zersetzte Kultur, eine Kultur, die 
hobl und unwahr geworden war, in der kaum einer ein 
gutes Grewissen, eiaen freien, natiirKchen Sinn, eine reine 
Hand sick bewakren konnte. ISTirgendwo aber muBte man 
die innere Unwahxkeit aller Verkaltnisse mekr empfinden, 
als an den Mittelpunkten der Kultur, vor allem in Alexan- 
drian. 1st es da wunderbar, daU gerade dort, in Unter- 
agypten, das Eremitenleben, das Moncktum seinen Ursprung 
genonamen kat? Die langste und reickste Qesckickte aller 
Volker, welcke die G-esckickte kennt, kat das agyptiscke 
Volk gekabt. Auck nock unter der Herrsckaft von Frem- 
den und unter dem Sckwerte des romiscken Eroberers war 
Agypten das Land der Arbeit, war seine Stadt die Hock- 
sckule der Bildung geblieben. Aber nun scklug der Nation 
die Stunde. Damals kat das Moncktum als eine gewaltige 
Bewegung dort seinen Ursprung genommen; nickt Adel 
spater treffen wir es auck an der Ostkiiste des Mittelmeeres 
und an den Ufern des Eupkrat. Man kat in neuester Zeit 
den Ursprung aus speziiisck keidniscken Einfliissen auf das 
Ckristentum in Agypten erklaren woUen, aber man ist 
nickt kinreickend bekutsam dabei verfakren, so dankens- 
wert es war, dafi die alteren analogen Ersckeinungen auf 
dem Boden der agyptiscken Rekgion aufgewiesen worden 
sind. Die Einfiiisse von aufien ker sind kier nickt starker, 
wakxsckeinkck sogar sckwacker gewesen, als auf irgend 
einem anderen Grebiete des ckristkcken Lebens und Denkens. 
Auf jeder Stufe ikrer Entwickelung kat auck die ckrist- 
licke Mensckkeit das Lebensideal abstrakiert und als das 
kockste proklamiert, welckes ikr die E"ot vorsckrieb. Hier 
aber traf die soziale, die politiscke, die rekgiose Not zu- 



Das MOnohtum. 99 

sammen mit einem langst aufgestellten christliclien Ideal, 
"welches bald fiir das apostolische gait. 

Es sind jedoch. sekr verschiedene Bedingungen und 
demgemaC auch verschiedene Vorstufen gewesen, welche 
der Aiisbildung des Monchtums vorangingen. "War es auch 
vor alien Dingen der der Kirche aus den Heiden eingeborene 
asketische Trieb, den Geist zu befreien von den vielen 
Tyrannen, den groben und den feinen Egoismus zu iiber- 
winden iind die arme Seele zu G-ott zu fiihren, so spielte 
doch andererseits auch ein asketisches Ideal hinein, welches 
jenem Triebe mehr entgegengesetzt als verwandt war. In 
der alexandrinischen Katechetenschule, welche im dritten 
Jahrhundert die hohe Schule der kirchlichen Theologie 
iiberhaupt gewesen ist, sind die Grundgedanken aus den 
Systemen der ideahstischen, griechischen Moralisten seit 
Sokrates samtlich aufgenommen und bearbeitet worden. 
Diese aber hatten den sokratischen Spruch: „Erkenne dich 
selbst" langst schon in mannigfaltige Regeln fiir die rechte 
Lebenskunst verwandelt. Die allermeisten von diesen Regeln 
lenkten den wahren jjWeisen" ab von der Geschaftigkeit 
im Dienste des taglichen Lebens und von „dem lastigen 
Auftreten in der Offenthchkeit". Sie besagten, daC es fiir 
den Geist „nichts Eigentiimlicheres und Angemesseneres 
geben konne als die Sorge fiir sich selbst, indem er nicht 
nach auCen bhckt, sich nicht mit fremden Dingen befaBt, 
sondem innerhch in sich gekehrt sein eigenes Wesen an 
sich selber zuriickgibt und so die Gerechtigkeit ausiibt". 
Hier lehrte man, daB der Weise, der keines Dinges mehr 
bediirfe, der Gottheit am nachsten sei, weiL er namlich in 
dem Besitze seines reichen Ichs und in der ruhigen Be- 
trachtung der "Welt des hochsten Gutes teilhaftig sei, dort 
kiindete man, daiJ der Geist, der sich vom Sinnlichen be- 
freit habe und in steter Betrachtung der ewigen Ideen lebe, 
schheClich auch der Anschauung des Unsichtbaren ge- 
wiirdigt und selbst vergStthcht werde. Diese Weltflucht 

7* 



J^OO Erster Band, erste Abteilung. Keden: IV. 

ist es gewesen, welclie auch. die kircMiclien Philosoplieii 
Alexandriens iiire Schiiler gelehrt haben, vor alien anderen 
Origenes. Man braucht mir den Panegyricus des G-regorius 
Thamnaturgus auf seinen groBen Lehrer zu lesen, um zu 
erkennen, wo die Vorbilder fiir diese weltMclitige Lebens- 
weisbeit, welcbe an den Theologen geriihnit wird, zu sucben 
sind. Niemand kann leugnen, daC diese Art Weltflucbt 
eine speziiische Verweltlicbung des Cbristentums in sicb 
scblieBt, nnd daU der selbstgeniigsame Weise so ziemlicb 
das Gregenteil von der armen Seele ist. Aber niemand 
kann aucb verkennen, dafi beide Formen konkret in einer 
unendlicben Mannigfaltigkeit sicb darstellen nnd in dieser 
Mannigfaltigkeit aucb ineinander iibergeben konnten. Und 
in diesem Sinne ist nanaentlicb Origenes selbst docb zu den 
wirklicben Vatern des cbristlicben Moncbtums zu recbnen. 
Es ist ja aucb scbon bei ibm nicbt so, daiJ er lediglicb 
das stoiscbe oder neuplatoniscbe Ideal in seiner Etbik zum 
Ausdruck gebracbt und in seinem Leben verwirklicbt batte, 
vielmebr kreuzen sicb bei ibm aUe etbiscben Ricbtlinien 
der Vergangenbeit, aucb die cbristbcben. Das eben ist die 
weltgescbicbtlicbe Stellung der agyptiscben Tbeologen, die 
samtbcb Vorlaufer oder Scbiiler des Origenes gewesen sind, 
dafi sie wie auf dem Grebiete der Dogmatik, so auf dem 
der Disziplinierung des cbristbcben Lebens den mannig- 
faltigen Ertrag der bisberigen Erkenntnisformen und prak- 
tiscben Regeln vereinigt und unter den Scbutz der Offen- 
barung gestellt baben. Darum sind sie aucb die Vater 
aUer der Parteien in der griecbiscben Kircbe geworden, 
welcbe nacbmals bervorgetreten sind und sicb bekampft 
baben. Wie Origenes mit gleicbem Recbte fiir den Aria- 
nismus und fiir die Ortbodoxie angerufen werden konnte, 
so kann er aucb mit demselben Recbte fiir die besondere 
Verweltlicbung der Tbeologie der Kircbe wie fiir die mon- 
cbiscben Neigungen erst der Tbeologen, dann aucb der 
Laien, verantwortlicb gemacbt werden. Es ist derselbe. 



Das MSnohtum. 101 

Mann gewesen, der einen dauernden Frieden des Christen- 
tums mit dem Staate auf Erden als wiinschenswert be- 
zeiclmet und vorausgesagt hat und der zugleich. im Schatten 
des allgemeinen Friedens die Klosterzelle des fronunen, in 
sich gekekrten Monclisgelehrten erblicken wollte. Wer aber 
nickt fromm und gelehrt war, der hatte docb sclion an 
seinem GManben einen Gregenstand der Beschaxdiclikeit von 
nnerschopflichem Inhalt. Also ricktet sick die Forderung 
in "Wakrkeit an alle Ckristen. Aber es kat dock fast zwei 
Mensckenalter gedauert, bis in der immer trager werdenden 
Ckristenkeit diese Gedanken durckscklugen, und niemals 
sind sie fiir die Massen die entsckeidendsten gewesen. 
Moncksvereine, wie sie jener Sckiiler des Origenes, Hierakas, 
nack dem Muster, welckes Origenes aufgestellt kat, bildete, 
waren selten. ITot und Uberdrufi am gemeinen Leben ent- 
fesselten in elementarer Weise die Bewegung, und die Kircke 
Konstantins trieb die, welcke der Rekgion leben wollten, 
in die Einsamkeit und in die "Wuste. 

Am SckluC der vierziger Jakre des vierten Jakrkunderts 
wurde die Bewegung bereits macktig. Sckon damals muiJ 
es Eremiten zu Tausenden gegeben kaben. Die Anfange 
des eigentkcken Moncktums, wie jeder groCen gesckickt- 
licken Ersckeinung, sind von Sagen umflossen, und nickt 
mekr ist es mogUck, Dicktung und "Wakrkeit sicker zu 
sckeiden. Das Andenken angebkcker Stifter kat nur die 
Legende bewakrt. Aber ein Doppeltes wissen wir und das 
geniigt, um die Bewegung im groCen zu kennen und ricktig 
zu beurteilen. Wir kennen das urspriingkcke Ideal, und 
wir konnen den Umfang der Weltfluckt ermessen. Das 
urspriingkcke Ideal war: der reinen Ansckauung Grottes 
teilkaftig zu werden, das Mittel: absoluter Verzickt auf alle 
Griiter des Lebens, dazu gekorte auck die kirckkcke G-e- 
meinsckaft. Man flok nickt nur die "Welt in jedem Sinne 
dieses Wortes, man flok auck die "Weltkircke. Mckt als 
ob man ihre Lehren fur unzureickend, ikre Ordnungen fiir 



102 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

unangemessen, ihre G-nadenspenduiigen fiir gleiohgiiltig 
Melt; aber man Melt iMen Boden fiir gefahrlich. und man 
zweifelte mcht, aUe sakramentalen Griiter durcli Askese und 
stetige Betrachtung des Heiligen sich zu ersetzen. 

Und die Weltkirche selbst, wie stellte sie sich. zu dieser 
Bewegung? Ertrug sie es, dafi iMe Glieder es wagten, sich. 
von iMer direkten Leitung zu emanzipieren, einen Weg der 
Heiligung einzuscMagen, den sie nicM iiberwacMe? Duldete 
sie es, daC iMeSolme auf iMe Lebensordnungen den Scbatten 
eines VerdacMes fallen KeCen, wenn sie sie auch. nicM an- 
tasteten? Sie bat keinen Augenblick gezweifelt, sie konnte 
mcht zweifeln. Sie hat das Einzige getan, was iM zu ihrem 
Schutze iibrig blieb, indem sie ausdriicklich die Bewegung 
billigte, ja ihr das Zeugnis gab, dafi sie das Urbild cMist- 
lichen Lebens verwirkliche. Die Not, sich im Strudel des 
Lebens zu verHeren, der UberdruB an dem leeren, gemeinen 
Leben, die Aussicht auf ein bohes Gut hatte die Menschen 
Mnausgetrieben ; die Kirche machte aus der Not recht eigent- 
lich eine Tugend. Sie konnte mcht anders; denn sie selbst 
hatte, je tiefer sie sich in Welt, Staat und Kultur ver- 
strickte, um so lauter und eindringhcher das gepredigt, was 
das Monchtum nun durchfiihrte. 

Es ist eine der frappantesten gescMchthchen Beobach- 
tungen, dafi die Kirche gerade in der Zeit, wo sie immer 
mehr sich als Rechtsinstitut und Sakramentsanstalt ausbil- 
dete, ein cMistliches Lebensideal entwarf, welches nicht in 
iM, sondern nur neben lM verwirklicM werden konnte. Je 
meM sie sich mit der Welt einlieJS, um so hoher, um so 
iibermenschlicher scMaubte sie lM Ideal. Sie selbst lehrte, 
dafi der hochste Zweck des Evangehums die Anschauung 
Gottes sei, und sie selbst wufite keinen sichereren Weg zu 
dieser Anschauung als die Weltflucht. Indessen, diese Ge- 
dankenreihe stellt sich in ihr nur als die disparate Er- 
ganzung zu der moralisierenden Verflachung des CMisten- 
tums dar, der sie sich Mngegeben. War ihr Absehen fak- 



Das Monchtum. 103 

tisch darauf gericMet, ihren diirftigen sittlichen Regeln und 
ihxen Kultussatzungen alles unterzuordnen, so reagierte docli 
ihre eigene Theologie dagegen. Das Monclituin lieC es bei 
der „Theologie" nicM sein Bewenden haben. Es machte 
mit dem Gredanken Ernst, dafi das Christentum Eeligion sei 
und Hingabe des Lebens von dem Individuum fordere. Es 
ist aber ein Beweis fiir die auBerordentlicbe Macht, mit der 
sich. die Kirclie bereits in den Gemiitern der Menschen fest- 
gesetzt batte, dafi das Moncbtimi bei seinem Auftreten es 
nicbt mehr, wie jene Montanisten, gewagt hat, an der 
Eirche Kritik zu iiben, ihren Weg als einen Abweg zu be- 
zeichnen. Uberschlagt man, welch' eine Begeisterung, welch' 
ein Fanatismus sich rasch in den Monchskolonien ausbildete, 
so kann man nur staunen, wie sparlich und unwirksam An- 
griffe auf die Kirche gewesen sind, wenn sie auch nicht 
ganz gefehlt haben. Kaum Einer hat eine Reform der gan- 
zen Christenheit verlangt. Die Bewegung konnte eine Re- 
volution fiir die AVeltkirche werden und sie hat in Wahi-- 
heit ihre Bahnen nicht gestort. Zwar faCte man ein schwe- 
res MiBtrauen gegen das kirchliche Amt; wie viele sind ent- 
flohen, als man es ihnen auferlegen wollte! Aber die Ehr- 
furcht vor demselben schwand nicht; man fiirchtete nor 
seine G-efahren. AUerdings trat hie und da eine Spannung 
ein zwischen GeistHchen und Monchen; man verachtete 
wohl auch die Personen dort, aber nicht mehr. 



IV. 
Doch greifen wir nicht vor. Tausende waren hinaus 
gezogen, und der Ruf der Heihgkeit, WeltiiberdruB und 
Arbeitsscheu lockte Tausende nach. Der Motive zum Monchs- 
leben gab es viele, namentlich seit der Aufrichtung der 
christhchen Staatskirche, seitdem der wahren oder gemachten 
Begeisterung kein Martyrium mehr winkte. Schon imi die 
Mitte des vierten Jahxhunderts war es eine bunte Gesell- 



104 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

schaft in der Einsamkeit. Die einen waren hinausgezogen, 
-am. wirklich BuBe zu tun und Heilige zu werden, die andern, 
um dafiir zu gelten. Die einen flolien die Gesellschaft und 
ihre Laster, die andern den Beruf und seine Arbeit. Die 
einen waren einfaltigen Herzens und von unbeugsamem 
Willen, die andern waren krank vom Rausche des Lebens. 
Dort wollte man reich werden an Erkenntnis und wabrer 
Freude, der „PMlosopliie" leben in stillem, geistigem Gre- 
nuG, bier wollte man sicb arm macben, leibbcb und geistig, 
und veracbtete Vernunft und Wissenscbaft. Ergreifende 
Bekenntnisse sind auf uns gekommen; aber lauter ertonen 
die lOagen iiber die Versucbungen der "Welt und die An- 
laufe der Sinnbcbkeit als iiber die Selbstsucbt des Herzens. 
Und neben den scbweigsamen BiiJJer tritt bald der zucbt- 
lose Scbwarmer. Die Zucbtlosigkeit bedurfte einer Fessel, 
die Gregensatze forderten eine Organisation. Sie ist friibe 
eingetreten. Man tat sicb zusammen zu gemeinsamem Le- 
ben. Wir finden zwei Formen desselben: Eremitenkolonien 
und wirkbcbe Kloster. Es wurden Ordnungen aufgesteUt, 
zum Ted sebr barte. Sie zeigen uns nicbt nur den Ernst 
der Askese, sondern aucb scbon grobe Ausscbreitungen, die 
zu bestrafen waren. Dabei wurde bie und da in den Moncbs- 
kolonien ein Fanatismus wacb, der alles MaC iiberscbritt. 
Wir treffen scbon friibe auf Fanatiker, die den rasenden 
Derwiscben gleicben, von denen uns die Orient-Reisenden 
beute nocb erzablen. Aber aucb unter den wabrbaften 
Monchen bemerken wir scbon im vierten Jabrbundert die 
wichtigsten Unterscbiede. Zwar die Grrundregeln: aus- 
scbbefilicbes Leben mit Grott, Armut und Keuscbbeit, wozu 
bei den klosterbcben Einsiedlern nocb der Geborsam trat, 
sind bei aUen die gleicben. Aber wie verscbieden gestalte- 
ten sie sicb in "WirMicbkeit! Lassen Sie micb nur eins 
nennen. Die einen, voll Dank, einer verbildeten, unwabren 
Kultur entronnen zu sein, entdecken in der Einsamkeit, 
was sie nie gekannt — die Natur. Mit ibr leben sie sicb 



Das MOnohtum. 105 

ein, ihre Schonheit suchen sie auf und preisen sie. "Wir 
haben von Einsiedlern des vierten Jahrhunderts IsTatur- 
schilderungen, wie sie das Altertum selten liervorgebracht 
hat. Wie froMiche Kinder woUten sie ihrem Grott leben in 
seinem Grarten. In dem Garten erblicken sie den Baum 
der Erkenntnis, — nicht melrr ist es verboten, seine Friichte 
zn brechen — , und so wird ibnen die Einsamkeit zum 
Paradies ; kein Fluch. liegt auf Direr Arbeit, denn Erkennen 
ist Seligkeit. Aber die andern — sie verstanden Askese 
anders. Nicbt die Kultur, audi die Natur ist zu fLieben, 
nicM nur die gesellschaftlichen Ordnungen, sondern der 
Mensch. Alles, was AnlaJJ zur Siinde werden kann — und 
was kann nicht Anlafi werden — , ist abzutun, alle Freude, 
alles "Wissen, aller Mensclienadel. Was war die Folge? 
Der eine hungerte sich aus bis zum Tode, der andere scbweifte 
umber, dem Tiere der Wiiste gleich, ein dritter warf sicb 
in die Siimpfe des Nils und lieJJ sicb von den Insekten 
peiuigen, ein vierter braclite halbnackt, Wind und Wetter 
preisgegeben , Jahre hindurch scbweigsam auf einer Saule 
Mil. So sollte das Fleiscb gedampft und gekreuzigt werden; 
so wollte man den Frieden der Seele in der Kontemplation 
Gottes erzwingen: Rein sein und Scbweigen. Aber sie 
selbst muiJten gesteben, daC die Empiindung des Frieden 5 
nur selten und nur auf Minuten iiber sie kam. Dafiir aber 
kamen fiircbterlicbe Pbantasien, die sich zu konkreter 
WirMichkeit ausgestalteten. Und die Zeitgenossen nahmen 
ihre Schilderungen begierig auf. Die alternde Welt ent- 
ziickte sich an dem Eaffinement der Entsagung und an 
den wilden Traumen in der Wiiste hausender Monche. 
Was man selbst zu leisten weder den Mut noch den WiUen 
hatte, wollte man doch in der Vorstellung genieUen. FeuiUe- 
tonisten im Monchsgewande formten Romane und Novellen 
aus den wirkHchen und ertraumten Erlebnissen schweigen- 
der BiiCer. Eine neue Liter aturgattung seltsamster Art 
begann: die Monchsbelletristik , und Jahrhunderte haben 



106 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

sich an ihr erbaut. Auch. eine "Weise, wie die Weltkirche 
die Taten jenes grausigen Heroismus, den ihre Unterlassun- 
gen immer wieder hervorriefen, quittierte! 

Welclie von den beiden, hier nur im Schema gezeich- 
neten Arten dieses Monchtums hat aber die Folgerichtigkeit 
auf griechisch-christhchem Boden fiir sich? Welches Ideal 
war unter den geschichtlich-rehgiosen Verhaltnissen das au- 
thentische? Das jener natur- und gottesfrohen Briider, die 
in stiller Abgeschiedenheit der Erkenntnis Grottes und der 
Welt lebten, oder das jener heroischen BiiBer? Es ist nicht 
bUhge Konsequenzmacherei, wenn man behauptet: nur das 
letztere. Hat man doch in Bezug auf das erstere sofort 
auf den Zusammenhang aufmerksam zu machen, in welchem 
es mit dem antiken Ideale des Weisen steht. Aber das 
geniigt noch nicht: versetzen wir uns in den geschichtlichen 
Zusammenhang. Das hochste Ideal kann, so lautete die 
allgemeine Ansicht der Zeit, nur aufierhalb der Welt ver- 
wirklicht werden, aufierhalb jedes Berufs: in der Askese 
liegt es selbst beschlossen. Sie ist zwar Mittel zum Zweck, 
aber zugleich auch Selbstzweck; denn sie enthalt in sich 
die Gewahr, daU der Biifiende zur Anschauung Gottes ge- 
langt. Sind diese Satze richtig, dann ist aUes Halbheit, 
was den Kampf bis aufs auCerste hindert; dann muB nicht 
nur die Kultur, es muG die Natur, es mufi die Geschichte, 
es muC schhefilich jede zweckvolle sitthche Betatigung als 
eiti Unvollkommenes , Storendes, beseitigt werden; dann 
gilt es den grandiosen Versuch wagen, sich vom Natur- 
boden, vom Kidturboden, ja von der Welt des Sozial-Sitt- 
lichen zu befreien, um den reinen religiosen Menschen in 
sich auf diese Weise rein zu gestalten. Hiermit haben 
wir das eigentliche Geheimnis, aber auch die Schranke der 
alten griechischen Anschauung vom Christentum beriihrt. 
Auch der Weltkirche schwebte als hochstes Ideal ein reli- 
gioses Leben vor, das den Menschen schon hier auf Erden 
Tiber alle Bedingungen seiner Existenz, also auch iiber die 



Das MOnchtum. 107 

geschiehtliclieii und sozial-sittlichen, hinausfiihrt. Niclit 
als ob diese gleichgiiltig waren, oder als ob ilir Gegenteil 
ebenso Recbt hatte, nein! Aber das Christentum batte 
bisher kein neues sittliches Leben in der Gemeinschafts- 
form verwirklichen konnen, und die sittlichen MaCstabe 
des antiken Lebens -waren abgeniitzt, an sich. unbraucbbar 
oder nicht mebr zu finden. Es war nur folgerecbt, dafi 
darum die Ernsteren, die doch keine Reformatoren waren, 
die sittlichen Ordnungen, verwildert wie sie waren, als 
Schranken empfanden, Schranken, im Grunde nicht bessere 
wie die elementaren Bedingungen des Menschendaseins. 
Darum wird ein christHches Ideal entworfen, welches an- 
geblich rein rehgios ist — ich mochte sagen „iibersittlich". 
Nicht auf dem Boden geschichtlich gegebener sozialer Ord- 
nungen und sittlich zweckvoUer Lebensbetatigung soU. der 
christliche G-laube zu seinem wahren Eechte kommen, 
sondern auf dem Boden der Verneinung aUes Menschhchen, 
d. h. der aufiersten Askese. So soil der zukiinftige Anteil 
an der gottlichen Natiu: antizipiert werden. Das ist der 
Hochflug des griechischen Christentums auch heute noch, 
soweit es nicht versteinert oder durch abendlandische Ein- 
fliisse in eine andere Richtung gewiesen ist — man kann 
ihm die Sympathie nicht versagen, wenn man das tiefhe- 
gende Niveau der gemeinen sogenannten christhchen Sitt- 
lichkeit beachtet, iiber das er sich erheben will, da ihm ein 
anderes nicht erscheint — ; aber es ist ein Flug wie ins 
Unendliche, so ins Leere. Denn was gewahren wir nun? 
Auf der einen Seite eine Weltkirche, unterworfen dem 
Staat und bis zur Identitat verkniipft mit dem Volkstum, 
ganz wesentlich eine Kultusanstalt mit sparhchstem Einfluil 
auf das sitthche Leben ihrer Glieder, keine selbstandigen 
Aufgaben mehr verfolgend. Auf der anderen Seite ein 
Monchtum ohne geschichtliche Ziele, darum auch ohne jede 
geschichthche Entwickelung. Es ist heute, von einigen 
neuem, vielleicht zukunftsreichen Erscheinungen abgesehen, 



108 Erstor Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

wesentlict dasselbe, wie es zur Zeit der altesten byzanti- 
nischen Kaiser gewesen. Selbst die auBeren Regeln haben 
sicli kaum geandert. Zwar jene extremen SaulenlieLligen 
sind nicht duxcligedrungen — solche Formen konnen nicht 
siegen — , aber ihre Sache siegte uiid daria sind sie durch- 
gedrungen, daC noch. immer die auBerste Askese fiir die 
beste gilt, vor allem aber darin, dafi das griechische Monch- 
tum sieh selten zu zweckvoller Arbeit im Dienste der Kircke 
und Mensckkeit entscklossen kat. Die grieckiscken Moncke, 
naturkck gibt es ekrwurdige Ausnakmen, leben nock keute 
wie vor tausend Jakren „in stiller Besckaulickteit nnd 
seliger Ignoranz". Arbeit wird nur gerade so viel geleistet, 
als zum Leben notwendig ist; aber nock immer muJJ dem 
gelekrten Monck der ungelekrte ein stiller Vorwurf sein, 
der J^atiirsckeue dem ISratnrfrendigen , nock immer laixC 
dem arbeitenden Eremiten das Qewissen scklagen, wenn 
er den Brnder siekt, der nickt arbeitet, auck nickt denkt, 
auck nickt sprickt, sondern in einsamer Besckaunng und 
Selbstpeinigung erwartet, dafi ikm endkck der sekge Lickt- 
glanz Grottes ersckeine. Und wie im fiinften Jakrkundert 
bestekt die Spannung fort zwiscken Klosterbriidern und 
Weltgeistlickkeit. Zwar werden die kokeren Kleriker ans 
der Zakl der Klostergeistlicken genommen — das Monck- 
tum kat selbst Kaiser und Hof zeitweikg oder dauernd 
einen kaJJkcken Anstrick geben konnen — , aber das andert 
nickts an den Beziekungen. Es stekt neben der Kircke, 
nickt in der Kircke, und es kann nickt anders sein; denn 
was soUte es der Kircke leisten, die selbst auf jede eigen- 
tiimlicke Aufgabe verzicktet? Das einzige, woran es leben- 
digen Anteil nimmt, ist das Interesse am Kultus der Kircke ; 
es malt Heikgenbilder , malt wokl auck Biicker ab. Aber 
aiick vom Kultus darf es sick emanzipieren ; die Kircke 
duldet nickt bloC den Eremiten, der sick jakrelang von 
ikrer G-emeinsckaft fernkalt, sie bewundert ikn. Sie mnC 
ikn bewundern; denn er verwirklickt das ikr selbst uner- 



Das MOnchtum. 109 

reichbare Ideal. Ihx Ideal — dalJ ich so sage: ihr hoheres 
Ideal, denn nun hat sie ein doppeltes ansgebildet: das der 
Askese und das des Knltus. Wem die Gabe oder die Kraft 
nicht verliehen ist, durcb Askese zum Anteil an Gott zu 
gelangen, der kann diesen Anteil anch erreicben, indem er 
sicb im Gottesdienst durch die beiligen Mysterien fiillen 
lafit. Heilsgemifi ge-wabrt auch der Kultus, wenn man ihn 
pietatsvoU mitmacbt und die kirchlichen Pflichten erfiillt. 
Das Moncbtum bat diese Tbeorie nicbt angetastet, sondern 
nnterstiitzt. Indirekt kam sie ibm ja zu gute. 

Zeitweilig bat das Moncbtum sicb der "Weltkrrcbe ge- 
nabert, und aucb diese bat versucbt, es in ihren Dienst zu 
nebmen. Zeitweibg ist der Versucb aucb gegliickt. Die 
groJJen Kircbensynoden des fiinften bis siebenten Jabrbun- 
derts wissen davon zu erzablen. Die Dogmatik, welcbe 
sicb dort durcbsetzte, entstammte zum Teil moncbiscber 
Pbantasie und ist aucb durcb Moncbsargumente und Moncbs- 
fauste verteidigt worden. Aber die Biscbofe wurden bebut- 
samer und scbeuten sicb, den Fanatismus der Moncbe auf- 
zurufen; denn jedesmal, wo die Weltfliicbtigen in den 
Streit der Parteien eragriffen, entstand folgerecbt sine Re- 
volution, KJrieg und Totscblag. Darum, nacbdem sie aucb 
nocb moncbiscb - frommelnde Imperatoren kompromittiert 
und bald darauf die Ideale despotiscber Reformkaiser ge- 
stiirzt batten, Hefi man sie beiseite. Sie batten aucb nicbts 
mebr zu tun. Seit dem Ende des neunten Jabrbunderts 
baben sie selten mebr eine Rolle in der Gescbicbte gespielt. 
Weil sie gesiegt batten, wurden sie aucb der Welt und 
Weltkircbe gegeniiber eine konservative Macbt. Wunder- 
bar! die Weltfliicbtigen scbiitzen nun in ibrer Passivitat 
Kultus und nationale Sitte! Ibr Fanatismus erwacbt, wo 
diese angetastet werden. Hier weiC das Moncbtum sicb 
aucb im Bunde mit den Massen. Sonst geben Moncbtum 
und Weltkircbe nebeneinander ber, oder vielmebr, wo jenes 
dieser die Hand reicbt, da steUt es sicb aucb bedingungs- 



110 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

los dem Staate zur Verfugung. Der Monch-Bischof ist wie 
im byzantinisclien so im tiirkischen Reich vielfach. noch. — 
doch sind allmahliche Besserungen unverkennbar — ein 
Sclierge, wohl auch ein Steuerbeamter des Staates. Mit 
ikm im Bunde beutet er das cbristliche Volk aus: er ge- 
nieCt die Eliren der bohen Beamten, aber nimmt aucb an 
der Korruption nnd den tmberecbenbaren Greschicken der- 
selben Anteil. So bat sicb jener Hocbflug des Ideals ge- 
racbt. Man wollte durcb den G-lauben alle natiirlicben 
Bedingungen aufbeben, man vermaB sicb, aucb die sitt- 
licben Giiter dabinten lassen zu diirfen — und mit ge- 
brocbener Kraft langte man am Boden an. Eine verstaat- 
licbte, verweltbcbte Kircbe, ein gescbicbtloses Moncbtum 
•unfrucbtbarer Askese, zaber Hiiter der nationalen nnd 
kircbbcben Gebrecben, war das Eesultat. Die griecbiscbe 
Kircbe bebauptet die Pole der Askese und der kultiscb- 
kircblicben Pflicbtleistung. Das eigentlicbe Grebiet, das 
durcb den Grlauben zu regelnde sittbcbe Berufsleben, fallt 
auCerbalb ibrer direkten Beobacbtung. Es wird dem Staat 
und dem Volkstum iiberlassen; es ist ja Welt. Jene baben 
es nicbt scbwer gebabt, auf diesem Wege allmabbcb die 
gesamte Kircbe mit Bescblag zu belegen und zum Mittel 
flir ibre Zwecke berabzusetzen. Eben weil das Ideal des 
Moncbtums und der Weltkircbe im Kampf mit dem Welt- 
staate im acbten und neunten Jabrbundert siegreicb bbeb, 
eben darum unterlagen Moncbtum und Kircbe faktiscb und 
deiinitiv dem Staate. Auf der Flucbt vor dem Sinnlicben 
bat er sie eingebolt, ibr seine Bebandlung des Sittbcben 
aufgedrungen , aber ibren Kultus sicb angeeignet. Der 
byzantiniscbe Staat erweist sicb so nocb immer als eine 
Abart des antiken. Aber das Eine war erreicbt, daC, wo 
der Staat in offentbcbem Recbt und im offentbcben Leben 
ausdrdcklicb cbristbcbe Gredanken als mafigebende auf- 
steUte, er sie in moncbiscber Fassung aufnabm. Das by- 
zantiniscbe Gesetzbucb — aucb unsere sozial-sittlicben An- 



Das Mbnchtum. Ill 

scha-Qungen haben sicli von den Harten desselben nocli 

niclit befreit — ist z. T. ein seltsames Gremisch romischer, 

nnbarmlierziger Klugbeit und monchisclier Weltbeurteilung. 

Das ist die Geschichte des Monclitums im Morgenlande. 

Immer wieder mag man sich erinnern, daC es aucb heute 

noch das Komplement zur verweltlichten Kircbe ist, daC es 

axTcli hente nocli einzelne ans dem gemeinen Treiben rettet, 

Heilige in sich birgt iind das ode Kirchentum anklagt; 

aber das lekrt diese Greschichte , dafi in der abgestuften 

Reihe menscKlicher Ideale auf dem Grunde des Evangeliums 

das Ideal der Bescbauliclikeit und Weltflucht zur Rettung 

der Seele niclit das letzte nnd bochste sein kann, daB die 

blofi leidende Tapferkeit scblieUlich unterliegt, daB die Welt 

ihre Ideale in der Kirche anfricbtet, wenn der Christ sein 

eigenes auBerhalb der "Welt verwirklichen -will. "Wohl gibt 

es Zeiten, wo das MaB der Ungerechtigkeit, welches auf 

den Handelnden fallt, ein unertraglich groBes ist, und 

immer wird es Individuen geben, die so zart besaitet sind, 

daB sie ihr bestes Teil in die Einsamkeit tragen miissen, 

nm es zu bewahren; aber wo der Notstand zur hochsten 

Tugend gestempelt wird, da werden hohe Griiter entwertet, 

und schlieBlich verhert man auch den Preis, um den man 

die dahingegeben. Haben wir es doch in unsern Tagen 

erlebt, daB aus dem SchoBe der Kirche Rufilands eine 

Personlichkeit wie die des Grrafen Tolstoi hervorgetreten ist 

— ein Laie, aber als Schriftsteller doch der echte griechische 

Monch, dem keine andere Moghchkeit einer Reform der 

Kirche vorschwebt, als die eines radikalen Bruchs mit der 

Kultur und der Greschichte, und dem alles Sitthche befleckt 

erscheint — selbst die Ehe — , sofern es mit dem Sinn- 

Uchen im Zusammenhang steht. Welch' ein furchtbarer 

Feind der griechischen Kirche einst der Manichaismus ge- 

wesen ist, lernt man an den Schriften dieses wunderbaren 

Mannes abschatzen! Je ernster es der griechische Monch 

mit seinem Christentum nimmt, desto hilf loser steht er 



112 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

der finsteren Anscliauung gegeniiber, dafi die Welt ver- 
teufelt sei, und schlieClich mulJ der Moncli sich wieder zur 
Autoritat der Weltkirciie fliicMen, um. nicht dem Mani- 
chaismus zu verfallen. 



V. 

Wie ganz anders ist docli die Entwickelung des Moncli- 
tums im Abendland verlaufen! Ein Blick auf seine Ge- 
scMchte dort geniigt, um gleich die wesentliclieii Unter- 
schiede zu entdecken. Erstlicli — dort hat das MoncMiim 
eine wirkliclie Greschichte gehabt, iind zweitens — dort hat 
das Monchtum Greschichte gemacht, Kirchen- und "Welt- 
geschichte. Es steht nicht nur neben der Kirche und ver- 
zehrt sich in stiller Askese und mystischer Spekulation, 
nein — es steht mitten inne in der Kirche, ja es ist neben 
dem Papsttum auf aUen Gebieten der machtigste Faktor 
der abendlandisch-katholischen Kirchengeschichte gewesen. 
Man kann das orientalische Monchtum beschreiben vom 
vierten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag und braucht 
doch nur wenige Namen zu nennen; es hat scharf um- 
rissene Individualitaten nur selten hervorgebracht. Die 
Geschichte des occidentalischen Monchtums ist eine Gre- 
schichte der Personen und Charaktere. 

Der romische Katholizismus zeigt uns in seiner Ent- 
wickelung eine fortgesetzte Kette von lebendigen Reformen, 
und jede dieser Reformen ist bedingt durch eine neue 
Stufe der Entwickelung des Monchtums. Die Stiftung des 
Benediktinerordens im 6. Jahrhundert, die kluniazensische 
Reform im 11., das Auftreten der Bettelorden im 13., die 
Stiftung der Gesellschaft Jesu im 16. Jahrhundert, sie sind 
die vier groBen Marksteine in der Geschichte des abend- 
landischen Katholizismus. Immer ist es das Monchtiun 
gewesen, welches die sinkende Kirche gerettet, die ver- 
weltlichte befreit, die angegriffene verteidigt hat. Es hat 



Das MOnoMum. 113 

die erkaltenden Herzen erwarmt, die widerspenstigen Greister 
geziigelt, die der Kirche entfremdeten Volker wiederge- 
wonnen. Dieser Hinweis alleia lehrt, daC wir in dem 
Monchtum des Abendlandes eiaen Kirchen- und Ktdtur- 
faktor ersten Ranges zn erkennen haben. Wie ist es zu 
eiaem solchen geworden? 

VerhaltnismaCig spat und langsam ist das Monchtum 
aus dem Morgenland in das Abendland gedrungen; denn 
weder die Natur noch. die Kultur waren ibm Mer gunstig. 
Wahrend es um die Mitte des vierten Jakrhunderts scbon 
weit im Orient verbreitet war und, wie wir bestimmt an- 
nekmen diirfen, in mancben Gegenden unabhangig von 
agyptiscben Einfliissen entstanden ist, bat es im Occident 
erst am Ende jenes Jabrbunderts festen Fufi gefafit, ja es 
ist recbt eigentbcb aus dem Orient importiert worden. Im 
Abendlande sind diejenigen Tbeologen seine ersten Be- 
wunderer gewesen, welcbe Agypten und Syrien bereist 
batten und mit den „GI-riecben" in engster Verbindung 
standen, wie RufLa und Hieronymus. Kloster bliibten auf, 
namentbcb in SiidgalHen; aber unter orientabscbem EinfluB. 
Und es bat das Moncbtum gleicb anfangs entscbiedenen 
"Widersprucb in der Kircbe des Westens gefunden, wabrend 
wir von einem solcben ira Osten nur sebx weruges ver- 
nebmen. Man muB die Scbriften des Sulpicius Severus (um 
400) lesen, um zu erkennen, unter welcben Angriffen sicb in 
G-aUien und Spanien das Moncbtum damals durcbgesetzt 
bat. Es feblte nicbt viel, so batten die verweltbcbten Bi- 
scbofe die Moncbe wie Manicbaer bebandelt. Indessen, der 
Widersprucb verbaRte docb rascb; aucb im Abendlande 
kam bald die berrscbende Stimmung dem Moncbtume ent- 
gegen, und bald war der einst verlasterte Name des recbt- 
scbaffenen Heiligen, Martin von Tours, bocbgefeiert. Nocb 
bevor der gx'oJJe Augustin fur das neue Leben eingetreten, 
batte es sicb eingebiirgert; unter den Sturmen der Volker- 
wanderung setzte es sicb fest. Das moncbiscbe Ideal war 

Harnaok, Eeden und Aufsatze. I. 8 



114 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

ztinaclist in seinen Grrundziigeii dort und hier das gleiche, 
und ist es durch. ein Jahrtausend hindurcL. geblieben: die 
Versenkung in Grott, die strenge Askese. Famentlich war 
es die Virginitat, die auch. kier als die wertvollste Voraus- 
setzung eines gottgeweihten Lebens gait; erscMen sie dock 
mancken geradezu als die Quintessenz ckristlicker SittHck- 
keit. Die agyptiscken Anackoreten galten auck dem Abend- 
lande alle Zeit als die Vater und Vorbilder des wakren 
ckristlicken Lebens — es gelang dock nickt, ikre Taten 
durck die des keil. Martin zu verdunkeln — , und die Er- 
zaklungen von iknen kaben viele Mensckenalter kindurck 
eine stille Mission getrieben in Italien, G-alHen, Grermanien, 
ja bis jenseits des Kanals in England und auf der griinen 
Insel. Und dock waren die Eaktoren bereits im fiinften 
Jakrkundert vorkanden, die dem Moncktum des Abend- 
landes eine so ganz andere Bedeutung, eine Gresckickte, 
g"eben sollten. Darauf sei nur im Voriibergeken kingewiesen, 
dafi sckon die klimatiscken Bedingungen des Abendlandes 
dem Moncktum teilweise eine andere Lebensweise diktieren 
muCten als im Orient — „edacitas in Grraecis gula est, in 
Grallis natura", kat einer der altesten Patrone des abend- 
landiscken Moncktums bemerkt. Indessen kiervon abgeseken 
— sckon seit den Tagen TertuUians, seit dem Ende des 
zweiten Jakrkunderts , katte die innere Entwickelung des 
Ckristentums im Abendland eine andere Eicktung einge- 
scklagen als im Morgenland. Mckt nur traten die prak- 
tisck-religiosen Fragen, die nack der Bufie, der Siindenver- 
gebung, dem Kirckenwesen in den Vordergrund, sondern 
man keferte auck die alten Hoffnungen auf das kerrlicke 
Weltreick Ckristi nickt so rasck der blassen tkeologiscken 
Spekulation des Orients aus. Man nakm an der letzteren 
nur von feme teil. In den sogenannten ckikastiscken Yor- 
steUungen bewakrte sick die abendlandiscke Kircke den 
Bkok fiir das, was die Earcke Jesu Okristi sein soil, und 
diese Vorstellungen muBten um so wertvoller werden, je 



Das Monchtum. 115 

mekr man im G-egensatz zu den Montanisten das „Phan- 
tastisclie" abgestreift hatte und die Aussiclit auf iiberzeit- 
liche Erfullung der Hoffnungen von selbst verblaCt war. 
Aucb das abendlandische Monchtum bat im Unterscbied 
von dem morgenlandiscben ein apokalyptiscb-cbiliastiscbes 
Element bewabrt, welches freiUch oft lange Zeit latent ge- 
bbeben ist, aber in kritiscben Momenten immer wieder ber- 
vortrat. Die kircblicben Tendenzen des abendlandiscben 
Christentnms hat der heilige Augustin zu einer neuen cbrist- 
lichen Welt- und Lebensanschanung zusammengeschlossen. 
Die in der Kircbe gegenwartige Grnade Grottes zur Gerechtig- 
keit und die Kirche selbst sind seine Zentralbegriffe. Die 
Kirche, zunachst als G-emeinde des Glaubigen, dann aber 
auch als sichtbare Anstalt, ist das Reich der Gerechtigkeit 
nnd des sittUch G-uten — das Reich G-ottes. Beim Zerfall 
des antiken Staats im Abendlande, beim Auftauchen neuer 
halb-heidnischer Staaten entwarf er das groCartige Pro- 
gramm einer zukiinftigen G-eschichte der Kirche. Sie hat 
die Menschheit mit KJraften des G-uten, mit der wahreu 
Grerechtigkeit zu erfullen; sie hat als die sichtbare Er- 
scheinung des Reiches Gottes die Reiche der "Welt und den 
Weltstaat sich dienstbar zu machen, die Nationen zu leiten 
nnd zu erziehen. Nur dort kommt das Christentum zu 
seinem Rechte, wo es ein Reich des sittHch G-uten auf 
Erden schafft, erne iiberirdische Liebesverbriiderung der 
Menschheit. Nur dort kommt es darum zu seinem Rechte, 
wo es herrscht; es herrscht aber nicht anders, als indem 
die heilige katholische Kirche herrscht. G-eistHche Welt- 
herrschaft, ein G-ottesstaat der G-erechtigkeit auf Erden, 
ist deshalb ein christliches Ideal, ein Ideal fiir den Ein- 
zelnen und fiir das G-anze der Kirche. Die alten apokalyp- 
tischen Aussichten, die praktischen Tendenzen des Abend- 
landes, aber auch die griechischen Spekulationen sind von 
Augustin in eine wunderbare Beziehung gesetzt; sie sollen 
sich gegenseitig zwar nicht korrigieren, aber begrenzen. 



116 Erster Band, erste Abteilung, Beden: IV. 

Das christliche Heil ersclieint gleichsam in doppelter Ge- 
stalt: es ist ewige selige Anschauung Gottes im Diesseits 
wie im Jenseits; aber es ist zugleich in jenem ein welt- 
beherrschendes Reich gottlicher Gaben und sittlicber Kxafte. 
Diese Satze lauteten anders als die miihsam gebUdeten 
Dogmen griechisch-christliclier Spekulation. Sie wiesen der 
Kirche eine selbstandige Aufgabe an neben dem Staate 
und fur den Staat. Sie sollte Gott dienen nnd der "Welt. 
Diese Aufgabe war ein Problem, der Losung wert und 
bediirftig. Das griecMsclie Ideal gibt sicb nur darin als 
ein Problem, dafi seine Verwirklicliung nur annabernd 
moglicb ist; an sich ist es eindeutig. Fiir jene Auffassung 
aber wurde jede Aufgabe zugleich zur Frage, die man in 
dem MaBe erst stellen lernte, als man wirklicli in ilir ar- 
beitete. Das Einzelne in dem Ganzen der cbristlichen An- 
schauung, so bestimmt es ins Auge gefaCt werden konnte, 
offenbarte sein Wesen und erhielt seinen Wert doch erst 
in den Beziehungen auf anderes, in die es zu stellen war. 
Wie verhalt sich der Dienst fur die Welt zu dem Dienste 
Gottes; in welche Beziehung ist das SittUche zu dem Reh- 
giosen zu setzen? Die Entdecbung war wieder gemacht^ 
daB es schon auf dieser Erde wahre Giiter gebe, dafi alles, 
was aus Gottes Hand hervorgegangen sei, gut sei, und daJJ 
der Mensch seine Seligkeit nur in der Hingebung seines 
WiUens an Gott finde. In dieser Hingebung des Herzens 
und Willens durch Glaube und Liebe, welche allein die in 
den Sakramenten gespendete, gottliche Gnade bewirkt, wird 
der Mensch ein rechtschaffener, erhalt er Freiheit und Ge- 
rechtigkeit, das heiCt die sitthche Vollkommenheit. Diese 
VolLkommenheit ist zwar ein hochstes Gut, aber sie ist doch 
nicht das hochste. Denn die Aussicht gilt noch, daJ3 der 
Mensch zu Gott erhoben, eiae SeHgkeit geniefien soil, deren. 
Art und Wert durch keiae Erfahrung des diesseitigen 
Lebens im voraus deutlich festgesteUt werden kann. Sie 
besteht in dem Schauen Gottes, ja in dem Sein wie Gott., 



Das Manchtuai. 117 

Aber wie verhalt sich dieses religiose Ziel zu dem sittliclien 
einer vollkommenen Gerechtigkeit im diesseitigen Reiche 
Gottes? Man kann behaupten, daC dieses jenem unterge- 
ordnet sei und doch praktisch ganz anders verfakren. So 
scheiat es bei Augustia, und die Kirche auf ihrer Bahn 
zur Weltherrschaft ist ibm gefolgt. Sie hat faktisch 
fort und fort, indem sie sich. selbst mit dem Reiche 
Christi zu identifizieren begann, die Sorge fiii" ihre eigene 
Erhaltung und Herrschaft in den Vordergrund geschoben 
und die Volker gelehrt, daB sie die hochsten Giiter bei 
ihr zu suchen und zu finden haben. Im BewuCtsein, die 
gottliche Gnade zur Gerechtigkeit allein zu verwalten 
und auszuteilen, hat sie im Prinzip niemanden mehr dul- 
den konnen, der in Tugendleistung und Askese seine 
Seligkeit auf eigenem Wege finden woUte. Im Interesse 
der aUeinwirkenden Gnade Gottes, welches mit dem 
Interesse der Kirche zusammentrifft, hat sie schon im 
fiinften Jahrhundert den "Wert einer kii'chlich nicht be- 
vormundeten Askese auch fur den kathoKschen Christen 
in Abrede gestellt. Aber iiber Schwankungen ist sie hier 
nicht hinausgekommen, da sie niemals geleugnet hat, daC 
die Kirche nicht die Seligkeit garantiere, und dalJ letzt- 
lich der EiozeLne allein und ohne den Schutz der Kirche 
vor seinem Gott stehen werde. Dem Schwanken dariiber, 
wie weit der einzelne Christ selbstandig zu lassen sei 
— eine Frage, die fiir die Stellung des Monchtums in 
der abendlandischen Kirche von entscheidender Bedeutung 
sein muCte — entspricht die Unsicherheit in der Schatzung 
der biirgerhchen Rechtsordnungen und aRer pohtischen 
Formen. Die Kirche ist das Reich der Gerechtigkeit und 
Liebe: aufier ihr gibt es nur Unrecht und HaC. Wie aber 
steht es dann mit den Staaten? Sind sie und ihre Rechts- 
ordnungen in ihrer Selbstandigkeit doch eigentiimhche 
Werte, oder werden sie solche nur, indem sie sich der 
Kirche unterordnen oder konnen sie endlich Werte iiber- 



118 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

haupt nicht werden? Hat die Kirche zu herrschen neben 
dem Staate oder iiber und in den Staaten in recMliclien 
Formen, oder soil sie herrschen, indem sie alle Recbtsord- 
nnngen unnotig macbt? Noch waren diese Fragen nicbt 
Mar erkannt, aber man lebte in ibnen. Die Gescbicbte des 
abendlandiscben Katbolizismus ist die Greschichte jener Ideen, 
bis sie durcb die groCen Papste des Mittelalters im Sinne 
einer "Weltherrschaft der Kircbe verwirHicht wurden. 

Wie muBte sicb das Moncbtum zu ibnen verbalten? Die 
Antwort ist nicbt scbwer. Entweder es mufite den Versucb 
macben, sicb mit der Kircbe abznfinden und in griecbiscber 
Weise die bloCe Vorbereitung auf das Jenseits neben der 
Kircbe fortzusetzen , oder aber es mnBte seine Askese sicb 
bescbranken lassen durcb den boberen Zweck, mitzuarbeiten 
an der groiJen Anfgabe, die Menscbbeit durcb das Evan- 
gebum umzubilden und das Eeicb Cbristi auf Erden in der 
Kircbe zu bauen. Jenes bat nicbt aufgebort, dieses ist ein- 
getreten. Das abendlandiscbe Moncbtum bat teilgenonimen 
an der Losung der kircbbcben Aufgabe; aber, indem es 
sein urspriingHcbes Ideal des bescbaulicben Lebens nicbt 
opfern wollte, wurden aucb ibm die Ideale zu Problemen, 
und indem es an den Zielen der Kircbe teHnabm, aber 
ibren Weg nicbt immer mitgeben konnte, erlebte es eine 
eigentiimlicbe Grescbicbte. Sucben wir uns die Stadien 
dieser Grescbicbte in Kiirze zu vergegenwartigen. 



VI. 
Die erste neue Stufe seiner Entwickelung bat das Moncb- 
tum im secbsten Jahrbundert in Itaben gefanden. Es ist 
der beibge Benedikt von Nursia gewesen, der ibm eine neue 
Regel gegeben und es zu geordneter Tatigkeit und erspriefi- 
bcbem Wirken befabigt bat. Erst muCte es selbst reorga- 
nisiert sein, ebe es nacbdriickKcb eingreifen konnte. Auf 
den Inbalt geseben, war die Regel allerdings keineswegs 



Das MOnchtum. 119 

neu. Aber es gab im Abendland am Anfang des sechsten 
Jalirhunderts hochst verschiedene und z. T. hochst bedenk- 
liclie Formen von „Monchtuin". In der Reduktion dieser 
Formen auf die zweckmaCigste besteht das Verdienst Bene- 
dikts, und noch grolJer als das Verdienst war der Erfolg. 
Der strenge Gehorsam, zu welchem die Monche verbunden 
warden, der geordnete ZusammenscMufi , die Opposition 
gegen die vagierenden und nicMsnutzigen Monche, die feste 
Regelung des taglichen Lebens und die strenge Pflicht zur 
Arbeit, zunachst zum Ackerbau, sind beacttenswert. Die 
Forderungen des G-eliorsams und der Arbeit treifen wir zwar 
scbon in orientalischen Regeln, sie treten aucb in der neuen 
Bestimmung zunachst noch nicbt an die Spitze, aber sie sind 
doch in der Folgezeit vor allem wicbtig geworden. Und 
welcbe Veranderungen bracbten sie bervor! Aus den roben, 
zum Ten bereits zersprengten und zerriitteten Moncbs- 
kolonien entstanden gesetzlicbe Yerbande mit einer Kraft 
der Arbeit, die ein Feld der Tatigkeit sucben muCte. Jener 
groCe Biscbof auf dem Stuble Petri, Qregor I., selbst M5ncb 
von Kopf und Herzen, bat diese neue Macbt in seinen Dienst 
genommen und fur die Kircbe verwertet. Scbon vorber batte 
der ostgotiscbe Minister Cassiodorius, nacbdem er sicb eines 
langen Lebens miide in das Kloster zuriickgezogen, aucb 
wissenscbaftbcbe Bescbaftigung in den Klosterplan auf- 
genommen; er selbst batte damit begonnen, tbeologiscbe und 
gescbicbtUcbe Handbiicber fiir die Kloster zu verfassen. Vom 
siebenten Jabrbundert ab treffen wir Briider vom Orden des 
bl. Benedikt weitbin im Abendlande. Sie roden "Walder aus, 
sie scbaffen Wiisteneien zu Ackerland, sie studieren mit 
bosem oder mit gutem G-ewissen die Gresange beidniscber 
Poeten und die Scbriftwerke der Gescbicbtsscbreiber und 
Pbilosopben. Kloster und Klosterscbulen erbliiben, und eine 
jede Ansiedelung ist zugleicb ein Mittelpunkt des religiosen 
Lebens und der Bildung im Lande. Mit Hilfe dieser 
Sebaren bat der romiscbe Biscbof das Cbristentum und 



120 Erster Baud, erste Abteilung. Eeden: IV. 

einen Rest der alten Kultur dem Abendlande bringen oder 
ertalten koanen; durch sie hat er die neuen genaanisclieii 
Staaten zu roiniscli-germanischen umgeformt. Der romisclie 
Bisch-of — denn weder hatte Beneditt eine solch.e Tatigkeit 
des Ordens ins Auge gefaJJt, noeli ergab sie sich von selbst 
ans seiner Regel, noch. wnrde sie von seinen Jiingem be- 
wuBt als eine Aufgabe vorgestellt. Auf dieser ersten Stnfe 
seben -wir viebnehx da* Moncbtnm ganz im Dienste und 
unter der Leitung grofier romiscber Biscbofe und romiscber 
Legaten, wie des beibgen Bonifazius. Die Romanisierung 
der von Lhrem TJrsprunge ber verstaatbcbten frankiscben 
Kircbe, das wicbtigste Ereignis der Epocbe, und die Ver- 
draagung aller nicbt nacb der Regel Benedikts geleiteten 
Kloster ist dem Orden nux gelungen, indem er sicb dem von 
Rom aus geleiteten Kircbenwesen unterstellte. „Die !Mit- 
teilung und das Wirkenlassen seiaes geistigen Besitzes lag 
auBerbalb des Zweckes des Ordens, wenn aucb viele Ordens- 
briider als ilissionare mit groBem Segen tatig waren, wenn 
aucb viele andere Gelebrsamkeit auUerbalb ibrer Kloster ver- 
breiteten und wenn aucb einzelne sicb des armen Volkes 
erbarmten und es in seiner Spracbe scbriftbcb und miind- 
bcb belebxten, ermabnten, erscbiitterten und trosteten." 

Indessen — und diese Erscbeinung wiederbolt sicb nun 
immer wieder in der Grescbicbte des Abendlandes — je mebr 
das Moncbtum sicb braucben lieC von der "Kircbe und an 
ibren Aufgaben teUnabm, desto mebr verweltbcbte es selbst 
und wurde zu einem Institut der Kircbe. Dies muJJten 
emste Moncbe, die ibx Leben Gott allein geweibt batten, 
am starksten empfinden. Es bbeb ibnen nicbts iibrig, als 
entweder docb auf die Weltaufgabe zu verzicbten, sicb 
wiederum ganz auf die strengste Askese zuriickzuzieben, 
oder dem Orden selbst einscbneidende Reformen zu pre- 
digen, um dann zu versucben, die Kanoniker, den verwelt- 
liebten Episkopalklerus, zu reorganisieren. Es ist aber fiir 
-das Abendland cbarakteristiscb, daB die Moncbe, welcbe mit 



Das Menolatum. 121 

riicksicMsloser Entschiedenheit zur griecliischen Askese zu- 
riickkelireii, sich. bei ihr auf die Dauer nicht beruhigen, 
sondern nach langerer oder kiirzerer Zeit sich aus freien 
Stiicken dem Gredanken einer Reform des Ordens, aber auch 
der Weltkirche zTiwenden; so vor allem der hi. Benedikt 
von Aniane. Dooh die Reformversuche des achten und 
neimten Jahrhunderts fruchteten nichts. Die Kloster ge- 
rieten immer mehr in Abhangigkeit nicht nnr von den 
Bischofen der Kii'che, sondern anch von den GroBen des 
Landes. Die Abte wurden inimer mehr, was sie schon seit 
lange gewesen — Vornehme des Hofes; es waren bald nur 
Zeremonien, durch die sich Monche und Weltkleriker nnter- 
schieden. Im zehnten Jahrhundert schien das Monchtnm 
seine Rolle im Abendland nahezu ausgespielt zu haben, es 
schien — von einigen KLostern, namentlich ISTonnenklostern, 
abgesehen — der Grefahr erlegen zu sein, die im Orient in 
dieser Weise liberhaupt nicht auftauchen konnte: es war 
selbst Welt geworden, gemeine Welt, nm keines Haares- 
breite iiber sie erhaben. Papsttum, Elirche, Monchtum 
schienen im zehnten Jahrhundert gleichmaCig verfaUen. 



VII. 
Und doch hatte bereits eine zweite Bewegung in der 
Kirche, eine zweite Erhebung des Monchtums begonnen. 
Sie ging diesmal von Frankreich aus. Das Kloster von 
Clugny, gestiftet schon im zehnten Jahrhundert, ist der Sitz 
der groCen Reform der Karche geworden, welche das Abend- 
land im elften Jahrhundert erlebt hat. Unternommen von 
Monchen, wurde sie zuerst von frommen und klugen Fiirsten 
und Bischofen unterstiitzt gegeniiber dem verweltlichten 
Papsttum, bis sie jener groiJe Hildebrand aufgriff und sie 
als Kardinal und Nachfolger Petri den Fiirsten und der 
verweltlichten Greistlichkeit entgegensetzte. Was das Abend- 
land in ihr erhielt, war eine wirkliche Reformation der 



122 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

Kirche, nur keine evangelische , sondern eine katholische. 
Was waren die Ziele dieser neuen Bewegung? Zunaclist 
Wiederherstellung der alten Zucht, der waliren. Weltent- 
sagung imd Frommigkeit in den Klostern selbst, sodann 
aber erstens moncliische Regulierung der gesamten Welt- 
geistlichkeit, und zweitens Herrschaft der monchisch. regu- 
lierten Greistliclikeit iiber die Laienwelt, iiber die Fiirsten 
und Nationen. Die groBe Reform der Monclie von Clngny 
und ibres gewaltigen Papstes stellt sicb zunacbst dar als 
der wirksame Versucb, das Leben der gesamten Greistlicb- 
keit nacb moncbiscben Ordnungen zu regehi. In ibr erbebt 
das abendlandiscbe Moncbtum zum ersten Male den ent- 
scbiedenen Ansprucb, sicb als die cbristlicbe Lebensordnung 
aller miindigen Glaubigen durcbzusetzen und zur Aner- 
kennung zu bringen. Darum mufi das Moncbtum im Abend- 
lande auf seinen Babnen immer wieder mit der Weltkircbe 
zusammentreffen , weil es nicht aufboren kann, selbst An- 
spriicbe an die ganze Cbristenbeit zu stellen und der Kircbe 
zu dienen. Die cbi'istlicbe Freibeit, welcbe es erstrebt, ist 
ibm bei allem Scbwanken nicbt nur eine Freibeit des Ein- 
zelnen von der Welt, sondern die Freibeit der Cbristenbeit 
zum Dienste Grottes in der Welt. Wir Evangebscbe konnen 
aucb beute nocb jenen groBen Versucb mit Sympatbie be- 
urteilen ; denn in ibm kommt das BewuBtsein zxmx Ausdruck, 
daB es innerbalb der Earche nur ein Lebensideal und nur 
eine SittHcbkeit geben konne, daB zu dieser darum aUe 
miindigen Cbristen verpfbcbtet seien. Ist das Moncbtum 
wirklicb die bocbste Form des Cbristentums, so gilt es, die 
miindigen Bekenner desselben nacb der moncbiscben Regel 
zu disziplinieren , die un miindigen — und das sind nacb 
mittelalterlicber Auffassung alle Laien — mindestens zum 
Greborsam zu bewegen. Diese Gredanken beberrscbten Clugny 
und seinen groBen Papst. Daber die strenge Einfiibrung 
des Zobbats beim Klerus, daber der Kampf gegen die Ver- 
weltUcbung der Geistbcben, vor aUem gegen die Simonie, 



Das MOnohtum. 123 

daher die monchisclie Zucht der Priester. Und die politische 
Weltherrscliaft? Man konnte sie von diesem Standpunkte 
als ein Surrogat ansehen, solange nnd weil die allgemeine 
wahrhafte Ckristianisierung sich nicht durclisetzte. Aber 
kier beginnen auch. die Differenzen zwischen dem Monch- 
tnm und der reformierten Weltkirche. Man kann die Ideen 
Gregors und seiner ernsten Freunde so darstellen, daC sie 
nur um eine Nuance verschieden scbeinen, und doch fiibxte 
diese Nuance zu einem entgegengesetzten Programm. Grleich 
anfangs wurden Stimmen laut, selbst unter den unbedingten 
Verehrern des Papstes, die da meinten, man solle sich. be- 
gniigen mit der Reform der Sitten und der Pflege der 
Frommigkeit; der Kirche kame es nicM zu, nach. der Weise 
und mit den Mitteln der Staaten zu herrschen. Sie ver- 
langten wahrhaftige Riickkelir zum apostolischen Leben, 
Wiederherstellung der Urgestalt der Earclie. Es ist nicht 
richtig, diese Bestrebungen des Monchtums so aufzufassen, 
als bezeicbneten sie den Riickschritt auf die Stufe der grie- 
chischen Kircbe und fielen damit aus dem Rahmen des 
abendlandischen Katholizismus her aus; nein — jene Monche 
batten ein positives Programm vor Augen: chxistliches Leben 
der gesamten Christenheit. Aber indem ihnen aus alter 
Uberlieferung eine liberirdische Neu- und Reichsgestaltung 
derselben vorschwebte, die auf Erden zu verwirklichen sie 
nich.t verzichteten , faCten sie ein schwer iiberwindliches 
Mifitrauen gegen das Surrogat, welches der romische Bischof 
anbot und anstrebte. In diesem Mifitrauen war der Ab- 
scheu enthalten gegeniiber allem in der Kirche, was an 
staatliche und rechtliche Ordnungen erinnerte. Der Wider- 
wiUe gegen offentUche Rechtsordnungen und gegen den 
Staat ist fiir das abendlandische Monchtum ebenso charak- 
teristisch, als es oflfenbar ist, warum den griechischen As- 
keten dieser Widerwille noch fehlt. Aber im elften Jahr- 
hundert war die Devotion gegen die Kirche und ihren 
Lenker zu machtig, als dafi es zu Konflikten zwischen dem 



124 Erster Band, ersto Abteilung. Eedeii: IV. 

reformierten E^erus und dem Monclituin kommen konnte. 
In dem Bufisakrament besafi die Kirche das starkste Mittel, 
Tim aucL. das Monclitum an sicK zu fesseln. Mit beflecktem 
Gewissen und gebroctenen Mutes baben sich. mancbe den 
Planen des groBen Moncbspapstes gebeugt. Und gerade die 
bolte er aus der Stille des Klosters hervor, die am liebsten 
ibr ganzes Leben Grott geweibt batten. Er wuUte es, dafi 
nur der Moncb die Welt bezwingen belfen wiirde, der sie 
fliebt und sie los sein will. Die Weltflucbt im Dienste der 
weltbeberrsobenden Kircbe: das ist die erstaunlicbe Aufgabe, 
die Gregor fiir andertbalb Jakrbunderte gelost bat. Aber 
seine und der reformierten Biscbofe Ziele waren bei aller 
Politik dock aucb geistlicke. ISTur als solcbe baben sie die 
Massen iimgestimmt und entflammt, entiiammt zum Kampf 
gegen den verweltbcbten Klerus in Oberitalien, gegen 
simonistiscbe Fiirsten in ganz Eirropa. Ein neuer Entbusias- 
mus rebgioser Art bewegte die Volker des Abendlandes, 
namentbcb die romaniscben. Die Begeisterung der Kreuz- 
ziige ist die unmittelbare Erucbt der moncbiscben Reform- 
bewegung des elften Jabrbunderts. Der religiose Auf- 
scbwung, welcben Europa erbalten, stellt sicb am lebendig- 
sten in ibnen dar. Die Herrscbaft der Kircbe soil auf 
Erden durcbgefiibrt werden. Es sind die Ideen des welt- 
berrscbenden Moncbs von Clugny, welcbe den Kreuzfabrern 
vorangeben. Und aus dem bedigen Lande, von den beibgen 
Statten bracbten sie eine neue oder docb bisber nur selten 
geiibte Form der cbristHcben Erommigkeit zuriick — das 
sicb Versenken ia die Leiden und den Leidenswea: Cbristi. 
Die negative Askese erbielt eine positive Form und ein 
neues positives Ziel: Eins zu werden mit dem Erloser in 
inniger Liebe und in volLkommener Naebabmung. Ein per- 
sonHcbes Element, vom Herzen zum Herzen wirkend, begann 
das reiz- und zieUose Bemuben der SelbstentauBerung zu 
beleben und die scblummernde Subjektivitat zu erwecken. 
Aucb dem Monobtum verlieb es, wenn aucb zunacbst nur 



Das MOnclitum. 125 

in einzelnen wenigen Individuen, einen innerlichen Auf- 
sciiwung. Die grofle Anzahl von nenen Orden, welche 
gleichzeitig gestiftet wurden, namentlich in Frankreich, 
legen von dem allgemeinen Aufschwunge Zeugnis ab. Da- 
mals entstanden die Orden der Karthauser, Cistercienser, 
Pramonstratenser, Karmeliter und viele andere. Aber ihr 
zahlreicbes Anftreten beweist nur, dafi das Monchttim sick 
im Bnnde mit der Weltkirclie immer wieder selbst verlor. 
Jeder neixe Orden snclite dasselbe auf seine erste Strenge 
zuriicfczufdhren und aus der Verweltliclinng herauszureiJBen; 
aber indem er der Weltkircbe sich. nnterwirft, wird er rasch 
von ihr mit Beschlag belegt und abgenutzt. Es ist ein 
Beweis fiir die Illusionen, in denen man sich. bewegte, daC 
die Orden, die zur Wiederherstellung des urspriinglichen 
Monchtums gestiftet sind, gleich bei ihrer Stiftung die 
Unterwiirfigkeit gegen die Bischofe ausdriicklich in ihr Pro- 
gramm aufgenommen und auf die Losung eigentiimlicher 
Aufgaben innerhalb der Kirche und fur die Kirche, so auf 
die Seelsorge, von vornherein Verzicht geleistet haben. Im 
zwolften Jahrhundert ist die Anhanglichkeit der Christen- 
heit und so auch des Monchtums an die Kirche noch eine 
vollig naive, der Widerspruch zwischen der wirklichen Ge- 
stalt der weltherrschenden Kirche und dem Evangehxim, 
das sie predigt, wird zwar empfunden, aber immer wieder 
zuriickgedrangt, die Kritik an den Anspriichen und an der 
Verfassung der Kirche ist noch eine unwirksame. Man 
braucht nur den E'amen eines Mannes, den Bernhards von 
Clairvaux, zu nennen, um wie in einem Bilde alles GrroJJe 
was diese zweite monchische Reform der Kirche hervor- 
gebracht hat, aber auch ihre Schranken und Illusionen, zu 
erbHcken. Derselbe Monch, der in der Stille seiner Kloster- 
zelle eine neue Sprache der Anbetung redet, seine Seele 
ganz dem „Brautigam" weiht, die Weltflucht der Ohristen- 
heit predigt, dem Papste zuruffc, dalJ er auf dem Stuhle 
Petri zum Dienste, nicht zur Herrschaft berufen sei, ist 



126 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

doch. zugieich. in alien hierarcMsclien Vorurteilen seiner 
Zeit befangen und leitet selbst die Politik der weltherrschen- 
den Kirche. Aber eben deswegen hat das MoncMum der 
Kircbe in jenem Zeitalter so GrroCes leisten konnen, weU 
es mit ilir ging. Eine Reform in der Kirche hat es her- 
vorgerufen; aber diese Reform schlug schlieUlich zur Be- 
festigung der Weltmacht der Kirche nnd damit zu ihrer 
Verweltlichung aus. Das war das frappante und doch so 
verstandliche Endergebnis. Das Gebiet, auf welchem sich 
die Weltkirche und das Monchtum immer wieder traf, war 
die Bekampfung aller Anspriiche der Laien, insonderheit 
der Fiirsten, an die Kirche. Das abendlandische Monchtum 
empfand dies als „Befreiung von der Welt" und stellte sich 
deshalb der Kirche ia diesem Kampfe zu Diensten. ISTur 
wenn man dies beachtet, versteht man es, wie derselbe 
Mann in jener Zeit aufrichtiger Monch und Kirchenfurst 
zugieich sein konnte, wie er iiber die letzten Ziele jener 
Bekampfung des Staates sich selbst und andere tauschen 
oder im Unklaren halten konnte. 



VIII. 

Eine neue Zeit kam herauf , der die alten Auffassungen 
nicht mehr gewachsen waren. Die Kirche war zu pohtischer 
Weltherrschaft gelangt; sie hatte das Kaisertum und die 
alten Staatsordnungen bezwungen oder war doch dem 
Siege nahe. Die Ziele und Ergebnisse der ungeheueren 
Anstrengungen der Kirche im elften und zwolften Jahr- 
hundert waren offenbar geworden. Aber nun regte es sich 
in der Laienwelt und bei den Nationen. Sie strebten hin- 
aus aus der hierarchischen Bevormundung. In sozialen 
Bewegungen, in rehgioser Sektirerei, in frommen Ver- 
einigungen, die in der offizieUen Frommigkeit kein Greniige 
fanden, in dem Verlangen der Nationen und Fiirsten, ihre 



Das MOnohtum. 127 

Angelegenheiten selbstandig zu ordnen, kiindigte sicli eine 
neue Zeit an. Ein JahrKundert hindurch. hat die Welt- 
kirche es vermoclit, die Wogen derselben zuriickzudammen. 
Eine neue Erliebung in dem Monchtnm liat sie dabei 
nnterstiitzt. Sie ist bezeichnet durch die Stiffcung der 
Bettelorden. 

Die G-estalt des liebevoUsten und liebenswiirdigsten 
aller Moncbe, des wundersamen Heiligen von Assisi, strahlt 
in der GreschiclLte des Mittelalters leuchtend hervor. Dock 
wir fragen hier nicht, wie ist er gewesen, sondern was 
hat er beabsichtigt, indem er sich in den Dienst Grottes 
■and seiner Briider begab. Zunachst: er woUte das Leben 
der Apostel erneuern, in der Nachfolge ihres armen Lebens 
und in der Predigt des Evangehums. Diese Predigt sollte 
BuCe schaffen in der Christenheit und sie wirklich zn dem 
machen, was sie auf Grrund des Besitzes der heil. Sakra- 
mente schon war. Eine G-emeinschaft von Briidern sollte 
sich bilden, die, wie die Apostel, nichts besitzen sollte als 
BnCe, Grlauben und Liebe, die keinen anderen Zweck haben 
sollte, als zn dienen und Seelen zu gewinnen. Mit klaren 
"Worten hat es der heil. Franziskus nicht gesagt, wie weit 
sich dieser Bund erstrecken sollte. Er war kein Politiker 
und hat sich selbst nicht ins Regiment gesetzt. Aber was 
hatten die durch die BuCpredigt der armen Briider wirk- 
lich Grewonnenen selbst anders werden konnen, als wieder- 
um dienende und predigendreisende Briider? Fiir diese hat 
der Heihge selbst bestimmte und feste Regeln aufgestellt. 
Weder die Einzelnen, noch auch der Verband, der sich zu 
wahrhaft christHchem Leben zusammentat, soil irgend 
welches Vermogen besitzen. „Grehe hin und verkaufe alles." 
Leben in Grott, Leiden mit seinem Sohne, Liebe zu seinen 
Menschen und Kreaturen, Dienstleistung bis zur Aufopfe- 
rung des eigenen Lebens, der Reichtum der Seele, die nur 
ihren Heiland besitzt: das war das Evangelium des heil. 
Franziskus. Hat je ein Mensch in seinem Leben das ver- 



128 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: rV. 

wirklicM, was er gepredigt, so hat es Franziskus getan. 
Unci — das ist das Charakteristische dieser abendlandischeii 
Bewegung — die verscliarfte Askese, eine Religion des 
Herzens und Willens, trieb auch. diesmal ihre Jiinger niclit 
in die Ode und Einsamkeit Mnaus, sondern umgekekrt: 
die ChristenJieit, die Welt, sollte fiir dieses neue "and doch. 
alte Christentum der Bufle, Entsagung und Liebe gewonnen 
werden. Die christliclie "Welt — dieser Begriif katte an 
dem Anfang des 13. Jakrliunderts einen ganz anderen 
Umfang, als im secksten nnd elften. Mckt nur weil der 
geograpkiscke Horizont sick fiir das Abendland erweitert 
katte, sondern in hokerem Grade, weil die kleinen Leute 
und der gemeine Mann nun zu ikr gerecknet werden muBten. 
Das abendlandiscke Monchtum war bis zum Scklusse des 
zwoLften Jakrkunderts auck nock ganz wesentkck eine 
aristokratiscke Institution gewesen. Den Reckten der 
Kloster entsprack in den meisten EaUen die koke Abstam- 
mung ilirer Insassen. Die Klostersckulen waren in der 
Regel nur fiir den Adel vorkanden. Dem groben und ge- 
meinen Volk bkeb das Kloster so fremd, wie das Herren- 
sckloJJ. Es gab keine volkstiimlicken Orden und wenige 
volkstumlicke Moncke. Der keU. Eranziskus kat die Mauern 
der adeKgen Klosterburgen nickt niedergerissen , sondern 
neben ihnen Hiitten erricktet fiir Arme und Reicke. So 
kat er das EvangeHum dem Volke zuriickgegeben, das bis- 
ker nur den Priester und das Sakrament besaiJ. Aber der 
Heilige von Assisi ist der unterwiirfigste Sokn der Kircke 
und des Papstes gewesen. Im Dienste der Kircke kat er 
gearbeitet. So kat er zuerst dem Moncktum — denn zu 
einem Moncktum wurde seine Stiftung wider seinen Willen 
— eigentiimkcke Aufgaben fiir die ganze Ckristenkeit zu- 
gewiesen, aber im Sckofie der Kircke; denn Sorge fiir die 
Kircke ist Sorge fiir das Heil. Clugny und seiae Moncke 
katten es mit ikrer Reform auf die Geistkckkeit abgeseken; 
der keil. Eranziskus kannte keine Untersckiede. Okne 



Das MOnclitum. 129 

tJbertreibung darf man sagen: nicht einen neuen Monchs- 
orden hat er stiffcen woUen — die Welt wollte er nm- 
wandeln; ein schoner Garten soUte sis werden, besiedelt 
von gottinnigen, ckristusnacliahinenden, bediirfnislosen 
Menschen. Die Liebe hat ihm den weitesten Horizont ge- 
geben; seine Phantasie verwilderte weder, noch verodete 
sie unter der harten Askese; sein WiUe, der Kirche und 
Christenlieit zu dienen, blieb bis zuletzt stark und kraftig, 
obschon er mit Schmerzen selien muiJte, wie die Kirche 
ihm seine Schopfung korrigierte und einengte. Hundert- 
tausende stromten herzu. Aber was waren Tausende, "wo 
es MiHionen gait? Das Auffcauchen der sogenannten Ter- 
tiarierbriiderschaft neben dem eigenthchen Monchsorden ist 
einerseits freilich schon ein Beweis dafur, daJ3 sich dies 
Evangelium nicht ohne Kompromisse in der menschhchen 
Gesellschaft diirchfuhren laCt, andererseits aber doch ein 
leuchtendes Zeichen der tiefen Wirkung der franziskanischen 
Predigt. Die Tertiarier verblieben im weltlichen Beruf, 
in der Ehe und im Besitz ; aber sie paCten sich dem monch- 
ischen Leben so viel als moglich an, hielten sich von dem 
offentUchen Leben, seinen Aufgaben und Pflichten zuriick, 
und widmeten sich, soweit sie es vermochten, der Askese 
und from men "Werken. Diese Institution, die sich ohne 
einen „Stifter" gebildet hat, ist ein schlagender Beweis fur 
den universalen Charakter der franziskanischen Bewegung. 
Sekten waren hier vorangegangen; diese Briiderschaffc aber 
blieb der Kirche treu. Ja, das Interesse der Laien an dem 
Leben und den Sakramenten der Kirche wurde hier er- 
weckt; der Gedanke wurde hier leise wirksam, dafi der der 
Kirche aufrichtig gehorsame und innerhch from me Laie der 
hochsten Griiter teilhaftig wird, welche sie vermitteln kann. 
Die Auffassung von einer doppelten, ihrem "Werte nach 
verschiedenen Sittlichkeit konnte sich von hier aus in die 
andere ertraglichere einer nur der Art nach verschiedenen 
wandeln. Das tatige christliche Leben kann dem beschau- 

H am a ok, Redeu und Anlsatza. I. 9 



130 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

liclien gleicliwertig seiu; dieses ist nur der dixektere "Weg 
zum Heile. 

Eine in der Hingabe der Seele an Christus nen ge- 
stinunte Frommigkeit ging von Assisi aus nnd bemacMigte 
sicli der Kirclie. Es war die religiose Individnalitat und 
Freiheit, die erweckt worden war; das Christentum als die 
Religion der Armut und Liebe soUte zu seinem RecMe 
kommen gegeniiber der Verkummerung in Moral und Po- 
litik. Die sclionsten mittelalterliclien Kircliengesange , die 
gewaltigsten Predigten stammen aus dam Franziskaner- 
orden und dem ilrm verwandten der Dominikaner. Aber 
aucb der Kunst und der Wissenschaft gaben sie einen 
neuen Aufscbwung. Alle die bedeutenden Scholastiker des 
dreizebnten Jakrhunderts , ein Thomas von Aquino, Bona- 
ventura, Albertus sind BetteLnoncbe gewesen. Die berr- 
lichsten G-emalde der alten italieniscben Schule sind von 
dem neuen G-eiste inspiriert, dem Greiste der Versenkung in 
das Leiden Cbristi, einer seligen Traurigkeit und einer welt- 
erbabenen Kraft. Ein Dante, eia G-iotto und wiederum ein 
Tauler und Bertbold von Regensburg, sie alle lebten mit 
ihrem christlicben Fiiblen, Denken und Scbaffen in den 
religiosen Ideen der Bettelorden. Aber was mebr sagen 
will — jene Moncbe stiegen berab zu dem Volke und zu 
den Einzelnen. Fiir ihre Leiden batten sie ein Auge, fiir 
ibre Klagen ein Obr. Sie lebten mit dem Volke, sie pre- 
digten ibm in seiner Spracbe und bracbten ibm verstand- 
licben Trost. Das, was Sakrament und Kultus bisber nicbt 
scbaffen konnten, Heilsgewifibeit, wollte die Mystik der 
Orden erzeugen; aber nicbt auCerbalb der kircblicben Grna- 
denstatten. Das Auge sollte es lernen, den Heiland zu 
seben, die Seele soUte durcb sinnlicbe Eindrucke seiner 
Gegenwart zum Frieden kommen. Aber die „Tbeologie", 
die bier entstand, kiindete aucb von der religiosen Freiheit 
und SeHgkeit der iiber die Welt erbabenen, ihres Gottes 
gewissen Seele. Sie bat in diesem G-edanken die evange- 



Das MOnchtum. 131 

lische Reformation wenn auch nicht begonnen, so ihr dock 
den Weg gebaKnt. 

Mit Hilfe der Bettelorden, die sie sich dienstbar 
machte, hat sich die Kirche im dreizeknten Jakrhundert 
auf der Hoke ikrer Herrsckaft erkalten konnen. Sie kat 
die Gremiiter ihrer Q-laubigen wiedergewonnen, aber zugleick 
ikren eigenen Besitz an den Giitern der Welt, an Wissen- 
sckaft, Knnst und Reckt, dnrck die Tatigkeit der Moncke 
znm Vollbestand gebrackt und geordnet. Damals ist das 
kanoniscke Recktsbuck abgescklossen worden, welckes alle 
Verkaltnisse des Lebens vom Standpunkt der kircklicken 
Weltkerrsckaft und einer im Dienste der Klrcke stekenden 
Askese regelt. Es gilt keute in den zivilisierten Staaten 
nickt mekr, aber seine Ansckauungen wirken nock nack. 
In viel kokerem Mafie ist die PMlosopkie und Tkeologie, 
auck die soziale Poktik, nock keute von der Denkweise 
abkangig, welcke im dreizeknten Jakrkundert in den 
Bettelorden zu der virtuosen Ausgestaltung groCer scko- 
lastiscker Systeme gefiikrt kat. Durck die Bettelmoncke 
gelang es der Kir eke ferner, der sektireriscken Bewegungen 
Herr zu werden, welcke die Laienwelt ergriifen katten. 
Sie kaben die ketzeriscken, aber auck die freigeistigen und 
evangekscken Vereinigungen des dreizeknten Jakrkunderts 
mit Zorneseifer iiberwunden. So mackten sie auck kier 
gemeinsame Sacke mit der weltkerrsckenden Kircke, der 
Kircke der PoUtik und des Sckwertes; ja sie wurden ge- 
radezu die begunstigste papstkcke Geistlickkeit dem Welt- 
klerus gegeniiber. Die Papste statteten sie mit den reicksten 
Privilegien aus; sie dui-ften iiberall in die regeknaiJige 
Kirckenleitung und Seelsorge eingreifen. In den Bettel- 
orden sckuf sick der romiscke Papst ein Werkzeug, um 
die Landeskircken fester an seinen Stukl zu kniipfen und 
die Selbstandigkeit der Bisckofe zu brecken. So kaben sie 
an der Romanisierung der katkokscken Kircke in Euxopa 
den groIJten Anteil gekabt und auck die alteren Stiftungen, 

9* 



2^32 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

die aus der Benediktinerregel hervorgegangen waren, viel- 
fach beeinflufit. Aber so rasch. wie rnir irgend ein anderer 
Orden vor ilinen sind auch. sie verweltlicM. Der Bund mit 
der Weltkirche war aucli dieses Mai dem MoncMume tod- 
lich.. Er war gleicb anfangs — Franziskus hatte sich. wie 
in ein Verliangnis fiigen miissen — ein aufierordentlicb 
fester gewesen, um so akuter war der Verfall. Was sie 
liber die "Welt erheben sollte, die Armut, wurde zuin AnlaC 
spezifischer VerweltUcliung fur die, welche es mit ikr nicht 
mehr ernst nakmen. Sie sahen sich. angewiesen, auf die 
Roheit, den Aberglauben und die Tragheit der Massen zu 
spekulieren, und wurden selbst roh, aberglaubisch und trage 
wie diese. 

Indessen das hohe Ideal, welches der heU. Franziskus 
der Christenheit vorgehalten hatte, hat dock nicM unter- 
gehen konnen, ohne zuvor den von ikm gestifteten Orden 
und die Kirche auf das tiefste zu erregen. Als eine Partei 
im Orden auf Milderungen der strengen Armutsregel drang, 
da erhob sich eine andere, dem Meister treu, zum Schutze 
derselben. Als die Papste fiir jene eintraten, da wandten 
die Eiferer ihre Kritik gegen das Papsttum und die welt- 
herrschende Kirche. Klagen iiber die Verderbtkeit der 
Kirche aus der Mitte des Monchtums waren schon seit lange 
vereinzelt laut geworden; aber sie waren immer wieder 
verhaUt. Der Kampf der Kirche gegen die Staaten und 
ihre Anspriiche hatte das Monchtum bisher stets verlockt, 
in dem Programm der Kirche den Anfang zur Verwirk- 
hchung seines eigenen zu erkennen. Jetzt aber erhob sich 
der Gedanke, der im Monchtume immer geschlununert hatte 
und immer wieder unterdriickt worden war. Der Bund 
mit der Kirche und dem Papsttum wurde zerrissen. Die 
uralten apokalyptisehen Ideen tauchten auf; die Papstkirche 
erschien als das Babel, als das Reich des Widei'christs, die 
das wahre Christentum, das Christentum der Entsagung 
und Armut, verfalscht hat. Die ganze Geschichte der 



Das MOnchtum. 133 

Kirclie erschien plotzlicli in dem Lichte eines ungelieuren 
Abfalls, der Papst mcht mehr als der Nachfolger Petri, 
sondem als der Erbe Konstantins. Es Avar aussiclitslos, 
die Kirclie zur Umkehr zu bewegen. Nur eine neue Offen- 
barung des Geistes konnte retten, tind so blickte man hin- 
aus auf ein kiinftiges ewiges EvangeKum christlicher Voll- 
kommenbeit. Die Kircbe bat mit alien Mitteln diese ge- 
fabrlicbe Bewegung nnterdriickt. Sie erklarte es fiir Ketzerei, 
was die Eranziskaner iiber die Armut Christi und der 
Apostel lebrten, nnd verlangte Unterwerfung. Ein er- 
bitterter Kampf war die Folge. Die Cbristenlieit sab ein 
neues Scbauspiel: die weltberrscbende Kircbe im Streite 
mit einer aggressiv gewordenen "Weltilucbt. Mit dem Mute 
von Mannern, die alles geopfert batten, predigten die Spi- 
ritualen dem Papst und den Biscbofen die Armut und be- 
siegelten ibre Predigt auf dem Scbeiterbaufen. Siegreicb 
und unverandert ging am Ende des vierzebnten Jabrbun- 
derts die Weltkircbe aus dem Kampfe mit der Armut ber- 
vor. So war docb nocb einmal am Scblusse des Mittelalters 
der scblummernde, aber immer wieder verdeckte prinzipielle 
Gegensatz zwiscben den Zielen der Kircbe und den Zielen 
des Moncbtums in einer furcbtbaren Krisis zu Tage ge- 
treten. Aber dieses war unterlegen. Die Stiftung der 
Bettelorden war der letzte groCartige Versucb des Moncb- 
tums im Mittelalter gewesen, sich und seine Ideale in der 
ganzen Kircbe durcbzusetzen und docb mit der Grescbicbte 
und der Verfassung dieser Kircbe nicbt zu brecben. Aber 
die Entwickelung des Franziskanerordens wurde eine zwie- 
spaltige. Die eine Ricbtung gab ibr urspriinglicbes Ideal 
gleicb anfangs auf, ordnete sicb der Kircbe vollig unter 
und verweltbcbte sofort, die andere sucbte ibr Ideal zu be- 
baupten, verscbarfte es, stellte es der Kircbe selbst entgegen 
und erscbopfte sicb in scbwarmeriscben Bewegungen, bis 
sie unterging. Die Tragik dieser Entwickelung erscheint 
voUendet, vielleicbt auch aufgeboben, wenn wir gewabren, 



134 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: rV. 

daU Einzelne aus dem von der Kirclie sich emanzipierenden 
Orden Rettung beim Staate sucMen und im. Gregensatz zu 
den niclit mekr oder rnir teilweise anerkannten Ajispriiclien 
der Kirclie nun die Selbstandigkeit des Staates nnd seiner 
Ordniingen verteidigten. Franziskaner haben im vierzehnten 
JatrlLundert die staufiscbe Staatslehre wissenscKaftlicK be- 
griindet. Das abendlandiscbe Moncbtum, das lebrt dieser 
erstaunlicbe Umscbwung, vermag eben aiif die Dauer nicht 
obne engen AnscbluC an die Macbte der Gresellscbaft zn 
existieren. Es sucbt selbst den Staat anf, wenn iini die 
Kircbe versagt ist. Docb diese Bewegung war nur eine 
voriibergebende. Im fiinfeebnten Jabrbundert ist es toten- 
stille in dem der Kircbe voDig unterworfenen Orden; die 
unkraftigen Reformversucbe erzeugten kein neues Leben. 
Im Zeitalter der Renaissance scbien das Moncbtum sicb 
selbst — wenige ebrenvolle Ausnabmen abgerecbnet — zur 
Faullieit und Mcbtsnutzigkeit zu verdammen. Und docb 
war die neue Kultur, deren Trager freilicb oftmals ibren 
ganzen Spott Hber das unwissende, knecbtiscb-demiitige 
und beucbleriscbe Moncbsvolk ausscbiitteten, den asketi- 
scben Idealen nicbt durcbaus feindbcb. Das Bild des 
Weisen und Frommen taucbte viebnebr wleder auf, der 
sicb dem GTenufi stiller Bescbauung des Himmels, aber aucb 
der Welt in iiiedbcber Abgescbiedenbeit vom Larm des 
Tages bingibt, der nicbts bedarf, well, er im Greiste aUes 
besitzt. Man macbte sogar den Yersucb, dieses Ideal wieder 
in den berkommbcben Formen des Klosterlebens zu ver- 
wirklicben, und er ist nicbt liberaU feblgescblagen. Aber 
nur einzelnen Individuen gelang es, die Moncbsregel mit 
dem Studium Ciceros oder Platos zu vereinen und beiden 
zu geniigen. Der weltkundige Gelebrte, der fiir stoiscben 
G-leicbmut oder fiir franziskaniscbe Bediirfnislosigkeit am 
Scbreibtiscb sicb begeisterte, war nicbts weniger als ein 
Moncb, und die Kircbe bbeb trotz aller klassiscben und er- 
baubcben Abbandlungen wie sie war. Das arme VoLk 



Das MOnchtum. 135 

suchte wie in den Tagen, bevor ihm Franziskus den Weg 
gewiesen, die Sicherstellung seiner Seligkeit in frommen 
und enthusiastisclien Vereinen aller Art, die zeitweilig der 
Kirche von Futzen, doch. eiae standige Gefahr fiir sie 
"waren. 



IX. 

Was blieb noch. iibrig? Welche neue Form des Monch.- 
tums war nach. alien diesen Versuchen noch iibrig? Keine 
mehr oder viebnehr noch. eine, die in Wahrheit keine mehr 
ist und doch das letzte nnd in gewissem Sinn auch das 
authentische Wort des abendlandischen Monchtums ge- 
■worden ist. Moglich bheb das Verhaltnis von Askese und 
kirchlicher Dienstleistung von vornherein umzukehren, das, 
was dem Monchtum im Abendlande immer vorgeschwebt 
hatte, aber stets nur mit Zaudern ergriffen worden war, 
nun als das selbstgewollte hochste Ziel sofort ins Auge zu 
fassen; moglich bheb, statt eines Asketenvereins mit kirch- 
licher Tendenz eine Kompagnie zu griinden, die keinen 
anderen Zweck verfolgen sollte, als die Herrschaft der Kirche 
zu stiitzen und auszubreiten. Der Ruhm, diese Moglichkeit 
erkannt, die Weisung der Greschichte verstanden zu haben, 
gebiihrt dem Spanier Ignaz von Loyola. Seine Schopfung, 
der Jesuitenorden, die er der Reformation entgegenstellte, 
ist kein Monchtum mehr im altesten Sinne des Worts, ja 
sie erscheint geradezu als ein Protest gegen das Monchtum 
eiues Antonius oder Franziskus. Wohl ist der Jesuitenorden 
ausgestattet mit all den Regeln der alter en Orden; aber 
in ihm ist das oberstes Prinzip, was die firiiheren unsicher 
als ein Ziel mit ins Auge gefaCt hatten oder sich von den 
Verhaltnissen widerwilhg aufdrangen hefien. Im Jesuiten- 
orden ist alle Askese, alle Weltflucht nur Mittel zum 
Zweck. Die Loslosung von der Welt reicht gerade so weit, 
als eiae solche forderlich ist, um die Welt zu beherrschen. 



136 Brster Band, erste Abteilung. Eedeu: IV. 

politiscli durch die Kirclie zu beherrsclieii; denn der ausge- 
sprochene Zweck ist die Weltherrschaft der Kirche. Reli- 
giose Phantasie, Bildimg und Unbildung, Glanz und Armut, 
Politik und Einfalt — alles verwertet dieser Orden zur 
Erreicliuiig des einen Zweckes, dem er sich. geweiht hat. 
In ihm hat die abendlandisch-katholische Kirche das Monch- 
tum gleichsam neutralisiert und hat ilim eine Wendung 
gegeben, durch welche es ihre Ziele voUig zu den seinigen 
gemacht hat. Und doch ist auch dieser Orden nicht das 
Werk eines kliigelnden, berechnenden Verstandes allein. 
Wie er entstanden ist, war er das Produkt einer hohen 
Begeisterung, aber einer Begeisterung aus der Kirche her- 
aus, die jede evangehsche Reformation bereits von sich ge- 
wiesen, die sich entschlossen hatte, sich in der G-estalt fiir 
immer zu behaupten, die ihr Weltweisheit und Pohtik auf 
dem Wege einer langen G-eschichte gegeben hatten. 

Der Jesuitenorden ist andererseits das letzte und authen- 
tische Wort des abendlandischen Monchtums. Seine Ent- 
stehung aber auch seine Art liegen durchaus auf der Linie, 
welche wir von Benedikt zu den Cluniacensern, von diesen 
zu den Bettelorden verfolgt haben. Er hat die Probleme 
gelost, welche jene nicht zu losen vermochten, und die 
Ziele erreicht, denen sie zustrebten. Eine neugestimmte 
Frommigkeit hat er erzeugt, hat fur sie eigentiimliche Aus- 
dracksformen und eine Methode der Aneignung geschaffen, 
hat sich mit ihr an die ganze kathoHsche Christenheit ge- 
wandt und ist durchgedrungen. Er hat die Laien fiir die 
Earche zu interessieren verstanden und ihnen in seiner 
Mystik das zuganglich gemacht, was ihnen bisher versagt 
gewesen war. Er hat das gesamte Leben der Kirche auf 
alien G-ebieten durchdrungen und die G-laubigen dem Papste 
zu EiiUen gelegt. Aber der Orden hat nicht nur fort und 
fort selbstandige Aufgaben verfolgt im Dienste der Kirche 
sondern er hat sich auch allezeit in einer gewissen Unab- 
hangigkeit von ihr zu halten verstanden. Wie er die Poli- 



Das MOnohtum. 137 

tik der Papste nach dem Programm des Papsttums nicht 
selten korrigiert hat, so beherrscht er heute mit seinem 
Cliristentlun, seinem phantastiscli-sinnlichen Ktdtus, seiner 
politischen Moral die Kirche. Nie ist er totes Werkzeug 
in der Hand der Kirche geworden, auch ist er nicht in 
Weise der friiheren Orden zu einem unbedeutenden Dasein 
herabgesunken. Dieser Orden hat sich nicht in ein In- 
stitut der Kirche gewandelt, sondern die Kirche ist nnter 
die Herrschaft der Jesuiten geraten. Das Monchtum hat 
wirkHch liber die Weltkirche des Abendlandes den Sieg 
davongetragen. 

Das Monchtum hat gesiegt — aber welch ein Monch- 
tum? Mcht das des heil. Franziskus, sondern ein solches, 
welches zuvor das Programm der "Weltkirche zu seinem 
eigenen gemacht und damit sein "Wesen entleert und preis- 
gegeben hat. Askese und "Weltentsagung sind hier zu 
Formen und Mitteln der PoKtik geworden; sinnhche Mystik 
und Diplomatic sind an die Stelle einfaltiger Frommigkeit 
und sittKcher Zucht getreten. MaterieU vermag dieses 
Monchtum seine Echtheit nur noch an der Antithese gegen 
die Staaten und ihre Kulturentwickelung, sowie an der 
G-eringschatzung des Wertes des Individuums zu legiti- 
mieren. Unter der Herrschaft des Jesuitenordens ist die 
Kirche ganz spezifisch und definitiv verwelthcht; sie setzt 
der Welt, der G-eschichte und Bildung, ihren welthchen 
Besitzstand, das Vermachtnis des Mittelalters , entgegen. 
Das Bewufitsein ihrer „Uberwindlichkeit" starkt sie heute 
wesentlich an dem Gegensatze zur Kultur der Renaissance 
und Reformation; aber sie schopft ihre Kraft aus den Gre- 
brechen und Mangeln jener Kultur und den MiUgriffen 
ihrer Protektoren. LaiJt man die negative Stellung der 
Kirche zum modernen Staat als Ausdruek ihrer welt- 
fliichtigen Gesinnung gelten, so hat das Monchtum in der 
Tat in ihr gesiegt; sieht man aber in der Art, wie die 
Kirche heute diese Stellung behauptet, eine wesentliche 



138 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV. 

Verweltliclmng, so ist eben das jestdtische Monchtum fur 
diese verantwortlich zu maclien. Die anderen Orden kominen. 
als geschicMlicte Faktoren kaum mehr in Betrackt. Der 
Jesuitenorden kat die alteren und die jiingeren fast samt- 
kck beeinflufit. Mogen sie nun zu orientaliscker Sckweig- 
samkeit zuriickgekekrt seia, wie die Trappisten, mogen 
einige von iknen, in "Weise der alten agyptiscken Moncke, 
selbst die kircklicke Wissensckaft mit MiBtrauen betrackten 
und Avider sie eifern, mogen sie ikr zwiscken Welt und 
Askese geteiltes Dasein fortsetzen und in sozialer Hilf- 
leistung und Rettung Einzekier auck nock Bedeutendes 
wirken — ein kirckengesckicktkcker Faktor sind sie nickt 
mekr. Sie sind abgelost worden von den Jesuiten und — 
von den Kongregationen , jenen elastiscken und sckmieg- 
samen Sckopfungen, in denen sick der deist des Jesuiten- 
ordens mit den Bediirfnissen und Institutionen der mo- 
demen Gresellsckaft verbunden kat. Die im Sinne der 
Gesellsckaft Jesu geleiteten Kongregationen und die in 
eben diesem Sinne arbeitenden unzakkgeu „freien" katko- 
kscken Vereine, die weltlick und geistlick, frei und ge- 
bunden sein konnen, je nack Bedarf, sie siad in Wakrkeit 
das moderne katkoKscke Moncktum. 

In der Kii'cke des Abendlandes, die sick sittkcke und 
poHtiscke Ziele gesteckt kat, kat das urspriingkcke Monck- 
tum und seine Ideale auf die Dauer nur einen gebrockenen 
Erfolg gekabt. Sofern es sick entscklossen kat, an der 
Weltaufgabe der Kircke Teil zu nekmen, kat es sick in die 
kirckkcke Kompagnie lunwandeln miissen, die ikre Freikeit 
von der Welt in der weltkcken, politiscken Reaktion gegen 
die Kultur und die Gresckickte bekundet und deskalb die 
Verweltlickung der Kircke zum AbsckluB gebrackt kat. 
Das morgenlandiscke Moncktum kat sick seiae Selbstandig- 
keit erkalten, aber es ist verodet, das abendlandiscke ist 
wirksam gebkeben, aber es ist entleert. Dort sckeiterte es, 
weil es die sittkcken Aufgaben far die Welt miCackten zu 



Das MOnohtum. 139 

diirfen meinte, Mer unterlag es, weil es sich einer Kirclie 
unterordnete, welch.e Religion und Sittlictkeit in den Dienst 
der Politik gestellt hat. Dort wie hier ist es aber die 
Kirclie selbst gewesen, welclie das Monchtum hervorgebracht 
und ihrn seine Ideale vorgezeiclinet bat. Darum ist aucb 
im Morgenland wie un Abendland, allerdings nacb langem 
Scbwanken nnd nacb scb-weren KJrisen, das Moncbtmn 
scblieiJlicb zum Hiiter der kircblicben Grewobnbeit und 
zum Wacbter des kircblicben Empirismus geworden. Seine 
urspriingbcben Ziele sind somit in ihr GTegenteil umge- 
scblagen. 

"Wobl kann das Monchtum noch heute ein^elnen "Welt- 
miiden Frieden geben; aber die Geschichte weist iiber das- 
selbe hinaus auf die Predigt Luthers, daB der Mensch die 
Nachfolge Christi beginnt, der in seinem Beruf und Stand 
durch G-lauben und dienende Liebe mitarbeitet am Reiche 
Grottes. Aucb dieses Ideal fallt nicbt einfacb zusammen 
mit dem Inbalt der evangebscben Botscbaft; aber es gibt 
die Ricbtung an, in welcber der Christ sich zu bewegen 
bat und steUt ihn gegen Selbsttauscbung und Unwahrbeit 
sicber. Es ist, wie alle Ideale, aufgericbtet worden, indem 
man einen unertraglicben Notstand zu heben bemiibt war, 
und es ist bald verwelthcht und verfalscht worden wie 
jene. Aber wenn es nicbt mehr sein will, als das Ein- 
gestandnis, dafi an die Yollkommenheit des Lebens, welcbe 
in dem Evangelium vorgestellt ist, Niemand binanreicht, 
und wenn es der Ausdruck dafiir ist, dail der Christ in 
jeder Lage der gottlicben Hilfe und G-nade vertrauen darf, 
so wird es die EJraft des Schwacben sein und kann aucb 
zum Eriedenszeicben werden im Streite der Konfessionen. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
9^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG 2^ 



REDEN: V 

MARTIN LUTHER 

IN SEINER BEDEUTUNG FUR DIE GESCHICHTE 

DER WISSENSCHAFT UND DER BILDUNG 



Rede 

tei der Feier zum yierhundertjalirigeii G-edaclitiiis der Geburt Martin 

Luthers, gehalten in der Aula der Grossherzoglioh-Hessisclien Ludwigs- 

TJniversitat in Giessen am 10. November 1883. 



Einmiitig haben wir uns in diesen hohen Ra-umen ver- 
sammelt, den vierlmndertjahrigen Greburtstag des deutschen 
Ref ormators , Dr. Martin Lntbers, festlich zu begehen. 

In der Greschicbte unseres G-escbleciites baben die Er- 
eignisse — gemeinsames Aufstreben nnd gemeinsamer Nie- 
dergang — weit baufiger Epocbe gemacbt als die Personen; 
aber daC mit Lntbers Wirken eine neue Stufe der Ent- 
wicklung begonnen bat, ist zweifellos. 

"Wenig zablreicb sind die Greister, welcbe den Hoben 
nnd den Niederen, den G-ebildeten und den Ungebildeten 
zngleicb neuen Sinn nnd neues Leben erweckt baben; aber 
nocb beute zebxen wir Dentscbe, so verscbieden wir sind, 
allznnial von den Griitern, die nns Lutber gebracbt bat. 

Unsere Alma mater aber scbant in einem zweifacben 
Sinne, als dentscbe nnd als bessiscbe Universitat, dankbar 
anf zn dem Manne, dessen Name beute auf aller Lippen 
ist. Als dentscbe Universitat: denn das berrbcbe Erbe 
einer reicben und edlen BOdung, welcbes zu scbiitzen wir 
mitberufen sind, tragt unverwiscbbar den Stempel seiaes 
G-eistes. Als bessiscbe Universitat: denn diese, von einem 
bocbberzigen Eiirsten gegriindet, ist die erste protestantiscbe 
Hocbscbule Dentscblands gewesen, die erste Hocbscbule, 
die gestiftet ist obne papstlicbe Privilegien in dem freien 
Greiste Lntbers. Und wenn beute die Scbranken langst 
gefallen siud, welcbe die dentscben Universitaten nacb der 
Reformation getrennt bielten, wenn derselbe Geist mutiger 
Forscbung auf alien eine Statte gefunden bat, so ist das 
aucb eine Folge der "Wirksamkeit des Mannes, der unsere 



144 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

Nation befreit liat, indem er ihxe Entwicklung in neue 
Bahnen lenkte. 

Unsere ISTation — denn fiir die gesamte Nation nehmen 
wir ilin in Anspnicli und die gesamte Nation fiir ilin. In 
jenen herrlichen Tagen, da er die Greister erweckte und 
„es eine Lust war zu leben", da war das ganze deutsche 
Volk, Adel, Biirger nnd Bauer, von ihm gewonnen. Aber 
auch heute noch ist Luthers Bedeutung nicht zu ermessen 
an dem Bestande und Umfang der Kircben, die sicb mit 
seinem Namen scbmiicken; nein — iiberall tritt sie uns 
entgegen, wo wir die Eigenart und Grofle der idealen Griiter 
scbatzen wollen, die wir als Christen und als Deutsche be- 
sitzen. Wir reden mit seinen Worten, wir urteilen nach 
seinen MaJJstaben und wir finden die Macht seines Q-eistes 
in unseren Yorziigen und in unseren Eeblern wieder. 

Aber weiter: fast jede Partei unter uns bat ibren 
Luther und meiut den wabren zu haben. Die Verebrung 
fiir Luther vereinigt mebr als die Halfte unserer Nation, 
und die Auffassung Luthers trennt sie. Von Luthers Namen 
lafit so leicht kein Deutscher. Ein unvergleichlicber Mann 
ist er alien, ob man ihm nun aufpaCt, um ihn anzugreifen, 
oder ob man ihn riihmt und hoch preist. 

Trotzdem — wer kennt ihn selbst und wen verlangt 
es, ihn wirklich zu kennen? Man will ihn verehren, wie 
man ibn sich wiinscht, als den Trager der eigenen Ideale; 
aber im geheimen argwohnt man, daJB er doch gsmz anders 
gewesen sei. Sein Charakter imponiert alien, seine tJber- 
zeugungen laiJt man dahingesteUt sein oder verarbeitet sie zu 
kursfahiger Miinze. Ist er so groiJ, daJJ er uns unbequem 
ist? oder sind wir innerlich doch so weit von ibTn entfernt, 
daJJ ein Bediirfnis nach naherer Bekanntschaft nicht mehr 
aufkommt? Ist er zu schneidig fiir unsere MUde, zu be- 
wegt fiir unsem Grleichmut, zu iiberzeugt fiir unsere Zuriick- 
haltung, zu altertiimlich fur uns Moderne? Wie war er 
wirklich, der wundersame Mann, der gewaltig wie ein Heros 



Martin Luther. 145 

und einfaltig wie ein Kind gewesen ist? ohne Klugheit ein 
Weiser, ohne Politik ein Staatsmann, ohne Kunst ein Kiinst- 
ler, inmitten der Welt ein weltfreier Mann, in kraftiger 
Sinnlichkeit nnd doch rein, rechthaberisch nngerecht und 
doch stets von der Sache getragen, der Antoritaten spottend 
und an die Autoritat gebunden, die Vernunffc verlasternd 
und befreiend! 

Nur ein Meister vermag hier Antwort zu geben und 
gleichsam die ganze Sum me der Existenz Luthers zu ziehen. 
Ihr Redner muB sich die Aufgabe beschranken. "Welche 
Bedeutung Luther in der Geschichte unserer Bildung und 
Wissenschaft gehabt hat, und welcher Wert den reforma- 
torischen Ideen hier zukommt, das mochte er Ihnen, so gut 
er es vermag, in Kiirze vortragen. 

Aber gerade diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierig- 
keit. Luther hat nichts entdeckt, was der Entdeckung des 
Ejreislaufs des Blutes oder des Gravitationsgesetzes oder 
ernes neuen Weltsystems ahnhch ware. Auch seine histo- 
rische und philosophische Gelehrsamkeit erhob sich nicht 
Tiber das Durchschnitthche. Ferner: wir besitzen kein hte- 
rarisches Werk von ihm, von dem man sagen konnte: das 
ist's — das ist der ganze Luther. Die gotthche Komodie 
ist uns Dante, der Faust ist uns in gewissem Sinne der 
ganze Goethe: nichts dergleichen besitzen wir von Luther. 
Das Werk, welches noch am meisten die ganze Tiefe und 
den Reichtum seines Geistes abstrahlt, ist sine IJbersetzung : 
die Ubersetzung der Bibel. 

Dennoch ware es moghch, eine ansehnhche Summe 
von einzelnen wichtigen Erkenntnissen Luthers auf ver- 
schiedenen Gebieten der Wissenschaft zusammenzusteUen, 
und verbramt mit einer Reihe von Zitaten, in welchen 
Luther der freien Forschung das Wort redet und einen 
griindlichen TJnterricht verlangt, lieBe sich vielleicht ein 
eindrucksvolles Bild erzielen. Aber ich miiCte furchten, 
daC der Eeformator selbst es nicht als das seinige aner- 

H am a ok, Redea und Aufaatze. I. 10 



;146 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

kennen wiirde. Ein solcher Luther ware ihrn, um mit ihm 
selber zu reden, mir ein „gemalter". Nein — von welcher 
Seite man aucli immer seine gewaltige Personlichkeit in 
ihren "Wirkungen ins Auge fassen wUl, man wird ihr nie- 
mals gerecht werden, wenn man nicht von LutKer, dem 
kirchliclien Reformator, ausgeht. Denn er war im voUsten 
Sinne eine monarchische ISTatur. Was er getan und ge- 
leistet hat, das ist bei ilim aus dem religiosen Leben heraus- 
geboren. Das war das Geheimnis und die Starke seines 
Lebens, dafi er nahezu niemals aus dem Klreise heraus- 
getreten ist, der ibm als kircMicliem Reformator vorgezeich- 
net war. Freunde und Gegner haben ihn zum National- 
helden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer 
neuen Kirclie machen woUen. Er ist das alles nicht ge- 
wesen, und er hat alien diesen Versuchen Widerstand 
geleistet. Mit dem Instinkte des Genius fiihlte er die Be- 
schrankung, die ihm jede dieser Tatigkeiten in ihrer Be- 
sonderung aufgenotigt hatte. Er hatte GroBeres zu tun. 

Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschhchen 
Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit der Gewissen 
— sie war das einzig Treibende in seinem Leben. Alles 
iibrige, was er geleistet hat, es ist ihm zugefallen. Es war 
nicht direkt beabsichtigt ; eben darum verkiindete er es, 
wenn er darauf gefiihrt wurde, mit derselben Kraft, mit 
der er das Evangelium predigte. So bHeb er der bahn- 
brechende Reformator, weil er sich seiner Grenzen, der 
Fortifikationslinie seines Daseins und seines Berufs, bewuBt 
gebheben ist. 

Damit ist's schon gesagt, in welchem Sinne wir Luthers 
Bedeutung fiir die Wissenschaft zu wiirdigen haben. Sie 
kann in der Hauptsache nur eine indirekte gewesen sein. 
Aber dieses Indirekte ist nicht das Geringere, sondern das 
GroBere. Denn nicht der ist der GroBere, der einzelnes 
Neue — sei es auch das Gewaltigste — entdeckt, sondern 
der ist es, welcher die Gesinnungen der Menschen zur Er-^ 



Martin Luther. 147 

kenntnis der Wahrheit reinigt und die Hemmnisse wegraumt, 
welche die Vergangenheit von Jahrhunderten als elementare 
Last auf die Bahnen der Zukunft lagert. 

Werfen wir einen Blick auf die geistigen Zustande 
beim Ausgang des 15. Jahxliunderts. Vielleicht hat das 
Abendland niemals starker unter der Last der Vergangen- 
heit getragen als in der Epoche, welche dem Auftreten 
Luthers unmittelbar vorherging. Die Kirche war noch 
immer die alles beherrschende Grrundlage der allgemeinen 
Ordnung. In ihrem groBen Gefiige allein waren die idealen 
Griiter, die Gesetze, Erkenntnisse und Gewohnheiten der 
Menschen festgestellt. Die groCte und humanste Idee, 
welche das Mittelalter hervorgebracht, die Idee des Papst- 
tums, beherrschte noch immer die Gemiiter. Sie war durch 
eigene Schuld der Papste kompromittiert und tief er- 
schiittert worden; aber sie war eigentlich nirgendwo ent- 
wurzelt. An der Geschichtsbetrachtung der Zeit laCt sich 
das am besten studieren. Noch immer gait die Erde als 
das Jammertal, dessen Regierung dem Papste und dem 
Kaiser anvertraut sei, bis die Stunde des Gerichtes schliige. 
Die literarischen Widersacher der Papste im 14. Jahrhundert 
hatten versucht, den Bann dieser Auffassung zu sprengen. 
Aber was sie ihr entgegenzusetzen wufiten, war teils von 
ihr selbst erborgt, teils vage und wirkungslos. Im 15. Jahr- 
hundert, nachdem das Papsttum siegreich aus dem Kampfe 
mit den konziliaren Ideen hervorgegangen, beherrscht die 
papsthche Legende, wie sie durch den siebenten Gregor 
begriindet, durch den dritten Innocenz ausgebaut worden 
ist, wiederum die Publizistik. Wohl fiihlte man ihren Druck; 
die Politik der Fiirsten hatte sich auch lange schon ihrem 
Banne entwunden; aber die Erkenntnis fand keinen Aus- 
weg. Sie begann, um die Geschichte zu verstehen, regel- 
mafiig bei dem Siindenfall; sie war den kirchUchen Fabeln 
gegeniiber fast voUig wehrlos und sie endete konsequent 
mit dem Rechte des Papstes iiber die Welt — andernfalls 

10* 



]^4.8 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

mit leeren AusfliicKten und luftigen Sophismen. Helle Kopfe 
deckten zwar dies und jenes Einzelne auf ; aber das anderte 
nichts an dem Granzen. 

Und nun das dogmatische System. Seit mehr als 
tausend Jakren hatte sich an demselben wenig geandert. 
Wie die Vater der alten Kirche, vor allem Augustia, das 
groCe G-efiige konzipiert und geziimnert batten, so war es 
seblieben : das neue Testament mit dem Testament der Antike 
seltsam und, wie es scbien, untrennbar verbunden. Wohl 
batte auf diesem G-runde eine stete Bewegung im Mittel- 
alter stattgefunden. Die von den Papsten geleitete Ent- 
wicklung der Kircbe batte sicb den Bediirfnissen und 
Stimmungen der Menscben jabrbundertelang anzuscbmiegen 
verstanden. Aber seit andertbalb Jabrbunderten scbien das 
System seine Elastizitat erscbopft zu baben: es konnte sicb 
weder erweiten nocb entlasten. In dem Momente begannen 
aucb der Zweifel und das MiCtrauen zu erstarken. Von 
sebr verscbiedenen Seiten kamen die Einwiirfe. Aber, ge- 
nau betracbtet, bezogen sie sicb immer nur auf Einzelnes, 
und wo sie an den Fundamenten riittelten, da steRten sie 
sofort nicbt nur die Kircbe, sondern die G-esellscbaft, das 
ganze sozial-poHtiscbe System, in Frage. WirMicbe Revo- 
lutionen stiegen drauend auf aus den verscbiedenen Scbicbten 
der Gesellscbaft. Aber das Program m derselben war in den 
positiven Zielen so unklar und undurcbfiibrbar, wie in den 
negativen radikal. Scbwarmeriscbe Frommigkeit batte es 
diktiert. Sie wollte auf den Triimmem der alten Ordnungen 
era Paradies, ein Traumreicb, griinden und recbnete auf 
bimmbscbe Hilfe. Eine neu gestimmte Rebgiositat kiindigte 
sicb in wilden Bewegungen und in den stillen Kreisen rmter 
den Laien an. Sie fiiblte sicb von der alten Kircbe ab- 
gestoCen und docb wiederum angezogen. Grlaubenssebn- 
siicbtiger als die Generation, welcbe seit der Eekonstruktion 
des Papsttums im 15. Jabrbundert in Deutscbland aufwucbs, 
ist kaum je eine andere gewesen. Die rubelose Frommig- 



Martin Luther. 149 

keit, das unbefriedigte Suchen, die neuen Formen — Heilige, 
Wunder, Bruderscliafteii nnd genossenscliaftliche Kulte, 
kuhne Kritik und rasches Erschlaffen — sie erinnern leb- 
haft an jene groCe Epoche des Altertums, als die Volker 
an den Kiisten des Mittelmeeres unter der Regierung der 
Antonine und ihrer Nachfolger sich anschickten, die alten 
Grotter mit dem Grott der Erlosung zu vertanschen. Hier 
■wie dort hocliste Steigerung und Umformung des tJber- 
lieferten, aber noch kein Durchbruch und kein UmscMag. 
Die Wissenschaft. Sie stand augenscbeinlich unter dem 
Prinzipate der Theologie, die Theologie aber auf der Au- 
toritat der Kirche. Die Menschheit war seit einem Jalir- 
tausend in der Erkenntnis niclit vorwarts gekommen. Sie 
liatte sich geiibt zu distinguieren und zu deduzieren. Sie 
lebte in kiinstlerisclien Idealen und Illusionen. Aber kaum 
irgendwo hatte sie siob weiter bewegt. "Was sie in den 
letzten Jahrhunderten gelernt hatte, das hatte sie alles ein- 
gebaut und eingesponnen in eine kunstvolle Mythologie 
von Begriffen. Keine Betrachtung ist kurzsichtiger und 
unrichtiger als die, fiir diesen Zustand priesterliche Herrsch- 
sucht oder die besondere Borniertheit der Theologen ver- 
antwortlich zu machen. Man muil sich nur erinnern, welche 
Aufgabe die untergehende Antike der Wissenschaft gesetzt 
hatte. Die Theologie soUte der AbschluC und die Krone 
des gesamten Welterkennens sein; die Philosophie aber 
sollte einerseits die Einleitung zur Theologie bUden, anderer- 
seits ihr die Beweise liefern. Beide soUten iiber diese Welt 
des Sinnlichen hinausstreben, hinter ihrem Schein das wahre 
Sein aufsuchen. Erkenntnis und Andacht zugleich sollten 
diesem wahxen Sein gelten, dem die Objekte der rehgiosen 
Dogmen einzughedem seien. Daneben gab es nur eine for- 
male Schulung. So war es im Ausgang des Altertums von 
den Neuplatonikern verstanden worden, und diese Erbschaft 
hat die mittelalterhche Wissenschaft angetreten. Die Theo- 
logie entbehrte auf diese Weise ernes ihx eigentiim lichen 



J50 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

G-ebietes. Sie soUte Fundament und Spitze des G-anzen 
sein. Aber diese Erhebung war faktisch. eine scbwere Be- 
eintrachtigung, nicht nur fiir die Weltwissenschaffc, sondern 
nicM weniger fiir die Theologie. Jener Prinzipat beschwerte 
sie mit einem immensen Stoff, verwickelte sie in alle denk- 
baren Fragen und tausekte sie iiber ihre wirklichen Auf- 
gaben. Und in Wahrkeit war der Prinzipat der Tkeologie 
dock nur sckeinbar. Sie selbst wurde, wie alles andere im 
Mittelalter, regiert durck die weltbekerrsckende Kircke und 
die weltfliicktige Metapkysik. Jede Welterkenntnis , die 
sick kier nickt einfiigen liefl, brackte Tkeologie und Pkilo- 
sopkie zugleick zu Fall. Jeder Versuck muCte Verdackt 
eiTegen, in welckem man es wagte, die Welt als etwas 
Selbstandiges zu nekmen. Man katte kein gutes G-ewissen 
mekr, sobald man das sinnlick Erkennbare der tkeologiscken 
Beleucktung entriickte. Okne diese war ja die Welt des 
Teufels, waren alle ikre Stimmen Sirenenstim m en, war ikre 
Sckonkeit ein Fallstrick, war die Wissensckaft von ikr 
Sckwarzkunst und Magie. Selbst nock ein Petrarca kat 
sick sckwere Vorwiirfe gemackt und sick sckleunigst in die 
Confessiones des kl. Augustinus vertieft, als er einmal ent- 
ziickt der kerrlicken Natur der Riviera ins Angesickt ge- 
seken. Die Weltfliicktigkeit als die G-rundstimmung des 
mittelalterlicken Menscken kemmte alle Wissensckaft. Wo 
keine Naturfreudigkeit ist, da ist auck keine Naturerkennt- 
nis. So war ein Fortsckritt nack keiner Seite moglick. 

Aber die Kritik des Verstandes wurde dock immer 
macktiger. Im Unvermogen, die kerrsckenden Vorstellungen 
zu sprengen, geriet man auf die Tkeorie von der doppelten 
Wakrkeit, Sie ist das SckluCwort des Mittelalters. Man 
bekauptete, eine andere Wakrkeit gelte fiir die Tkeologie, 
eine andere fiir die Pkilosopkie. Es war der Protest eines 
formal gesckulten Denkens wider die Irrationaktaten des 
kircklicken Dogmas. Aber man tastete dasselbe dock nickt 
-an; man stellte es um so entscklossener unter den Sckutz 



Martin Luther. 151 

der heiligen Autoritat der Kirche. In dieser unertraglichen 
Losung des 14. Jahrhunderts zeigt sich der Bann der Uber- 
lieferung am starksten. Die Kritik arbeitete mit bundert 
MacMen im Bunde; in den Augen Unzahliger war die 
ganze Scbolastik bereits diskreditiert: iiberall Empfindung 
der Enge und des Drucks. Indessen schien das groCe Ge- 
bilde der Vergangenheit fiir ewige Dauer bestimmt zu sein 
und allem Widerspruch zu trotzen. 

Aber schien es wirklich so? Haben wir nicht iiber- 
sehen, daC bereits seit mehr als einem Jahxhundert, vor- 
nehmlich in Italien, sick eine neue Bildung, die Bildung 
der Renaissance, entfaltet hatte? ISToch jiingst hat ein geist- 
voller Sckriftsteller geurteilt: „Die italieniscke Renaissance 
barg in sich alle die positiven Grewalten, welcken man die 
moderne Knltur verdankt." Gewifi — man wird zugestehen 
miissen, daB ohne die Renaissance das Mittelalter schwer- 
lich. gesprengt worden ware. Unser moderner Staat, die 
Entwicklung von freien und eigenartigen Individuen, die 
Entzifferung der Vergangenheit, die Entdeckung der Welt 
und des Menschen, die Ausgleichung der Stande, die Aus- 
bildung einer hoheren Form der Geselligkeit, die aidJere 
und innere Verfeinerung des Lebens, vor allem aber die 
Fahigkeit, das Konkrete iiberhaupt wieder sehen und in 
kunstlerischer Form zur Darstellung bringen zu konnen, 
das alles verdanken wir hauptsachlich der Renaissance. 
Aber war das alles und war dies alles sichergestellt? Schon 
die Geschichte der Renaissance vermag uns eines Besseren 
zu belehren. Bereits vor der brutalen Hispanisierung Italiens 
und vor der Epoche der Kontrareformation war die Re- 
naissance im Medergang. Woher dieser Medergang? Nun 
— die Wiedererweckung der Antike, der Riickgang auf das 
Altertum ist der Kernpunkt im geistigen Leben der Re- 
naissance. Hier lag ihre Schonheit und Starke, hier lag 
aber auch ihre Schwache und Schranke. Die Antike fuhrte 
die Humanisten aus der Welt des Mittelalters heraus; aber 



152 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V. 

festen Halt und neue Ordmingen vermoclite sie ilmen nicht 
zu geben. Sie befreite das Leben und Denken von der 
kirchliclien Bevormundung; aber Freiheit von der philoso- 
pbisclien und theologiscben hat sie nur in eirdgen Geistem 
erzeugt, die weder die acMungswertesten nocb die einfluB- 
reichsten waren. Die geistige Luft, in der die Humanisten 
atmeten, der Boden, auf den sie den neuen Betrieb der 
"Wissenscliaft stellten, war der Platonismus mit seiner 
Mystik, seiner Naturspekulation und Theologie. Die neue 
Bildung hat im einzelnen tausend Bande gesprengt und 
dauernde Grrundlagen gelegt; aber als Weltanschauung hat 
sie ihren Jiingern keine andere Wahl gelassen als die 
zwischen Frivolitat und Mystik. Die Philosophie, fiir welche 
man sich in den G-arten der Mediceer begeisterte, war die 
platonische. Die Formeln der alten Wissenschaft waren in 
ihrer Hohlheit erkannt: das entziickte Auge sah gleichsam 
zmn ersten Male die Welt und blickte den Dingen freudig 
und kiihn entgegen. Aber sobald man die Summe zog, 
blieben die Erkenntnisse von demselben Kchten Nebel um- 
flossen, in welchem das lebensmiide Altertum dieselben ge- 
schaut hatte. 

Die Renaissance hat weder den Weg zu einer neuen 
kraftigen SittHchkeit gefunden, noch die Grenzlinien ent- 
deckt, welche Glauben und Wissen, Qeist und Natur, 
Schonheit und Wahrheit scheiden. Ihr Lebensideal war ein 
kiinstlerisches ; eben darum blieb sie unsicher, wo sie sich 
liber das Einzelne zu erheben strebte. Aber eben darum 
ist die Kirche des Mittelalters imstande gewesen, sie zu 
ertragen. Diese Kirche iiberwindet jede Bedrohung, die 
aus der Indifferenz oder Frivolitat, aus dem Asthetischen 
Oder Mystischen entspringt. So streng abstoCend sich die 
alte Bildung der Kirche und die neue der Renaissance ent- 
gegenstanden — ein geheimer Zug der Wahlverwandtschaft 
war in einer Hinsicht doch vorhanden, eine Wahlverwandt- 
schaft auf wirkhcher Verwandtschaft beruhend; denn das 



Martin Luther. 153 

Grebaude der Kiixhe war selbst mit den Mitteln der Antike 
gebaut worden, und die geheimsten und zartesten Regungen 
dort verleugneten ibren Ursprung nicht. Die Renaissance 
und der Humanismns sind des Mittelalters nicbt macbtig 
geworden, weil sie es lediglicb mit dem Altertum bekampf- 
ten. Mocbte aucb eine feme Znkunft den Uberwundenen 
geboren: zunacbst blieb die Kircbe mit den kiimmerlicben 
nnd verzerrten Resten des Altertums Siegerin. Ja sie 
wurde der Zuflucbtsort fiir viele, als die neue Zeit ein un- 
erbittlicbes Dilemma aufnotigte und die Barbarei neben die 
Freiheit zu stellen scbien. 

Da wurde in der Zelle eines deutseben Klosters ein 
Seelenkampf siegreicb ausgekampft, dessen Folgen unermeC- 
licbe werden sollten. Innere Unruhe, die Sorge um sein Heil, 
trieben Martin Luther in das Kloster. Fromm werden 
und genug tun -wollte er, damit er einen gnadigen Gott 
kriege. „Ist je ein Monch gen Himmel kommen durcb 
Moncberei", durfte er spater sagen, „so wollte icb aucb 
bineingekommen sein." Aber indem er alle die Mittel be- 
nutzte, welcbe die mittelalterlicbe Kircbe ibm bot, wucbsen 
seine Anfecbtungen und Qualen. Er batte das BewuCtsein 
mit alien Macbten der Finsternis zu ringen. Wenn ibn 
nacbmals auf der Hobe seines Wirkens KJieinmut iiberfiel, 
so bedurfte es nur der Erinnerung an jene klosterlicben 
Scbrecknisse, um ibn wieder zu festigen. In dem Systeme 
von Sakramenten und Verpflicbtungen, dem er sieb unter- 
warf, fand er die GewiCbeit des Friedens nicbt, die er 
sucbte. Er wollte sein Leben fiir Zeit und Ewigkeit auf 
einen Fels griinden; aber alle Stiitzen, die man ibm anpries, 
zerbracben unter seinen Handen und der Boden wankte 
unter seinen FiiUen. Nun — er glaubte mit sich und seiner 
Siinde allein zu kampfen; aber in "Wabrbeit rang er zu- 
gleicb mit der Macbt einer tausendjabrigen Uberbeferung, 
mit ibren Idealen des Heiligen, mit ibrer Scbatzung der 
Giiter, mit ibren Qualen und Trostungen. 



154 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

„Er trug den Kampf in breiter Brust verhlillt, 
„D6r jetzt der Erde halben Kreis erfilllt; 
„Sein Geist war zweier Zeiten Schlaohtgebiet, 
„Mioh. wundert's niobt, dafi er Damonen sielit.'' 

In solcher Not ging es iiini am Neuen Testamente auf, 
was das "Wesen und die Kraft der christKchen Religion sei. 
Aus einem weitschiclitigen Systeme von BiiBungen und 
Trostungen, von strengen Satzungen und unsicheren Gnaden 
fiikrte er sie heraus zu energischer Konzentrierung. Der 
lebendige Grott — niclit die pliilosopliisclie oder mystische 
Abstraktion — , der offenbare, der gewisse, der jedem 
Christen erreiclibare, gnadige Grott. Unwandelbares Ver- 
trauen des Herzens auf ihn, der sicli in Clnristus zu un- 
serem Vater gegeben hat, personliche Griaubenszuversicht : 
das wurde rhm die ganze Summe der Religion. Tiber alias 
Sorgen und Gramen, iiber alle Kiinste der Askese, iiber aUe 
Vorschriften der Theologie hinweg wagte er es Gott selbst 
zu ergreifen, und in dieser Tat seines Glaubens gewann 
sein ganzes Wesen selbstandige Festigkeit. „Mit unsrer 
Macht ist nichts getan." Er kannte jetzt die Macht, die 
unserem Leben Halt und Frieden verleiht, und wuBte sich 
fur immer in ihr geborgen. Glauben — das hiefi ihm nun 
nicht mehr das gehorsame Fiirwahrhalten kirchhcher Dogmen, 
kein Meinen und kein Tun, sondern die personliche und 
stetige Hingabe des Herzens an Gott, welche den ganzen 
Menschen umschafft. Das war sein Bekenntnis vom Glauben : 
ein lebendig, geschaftig, tatig Ding sei derselbe, eine gewisse 
Zuversicht, die da frohlich und lustig macht gegen Gott und 
alle Kreaturen, und die da immer bereit ist, Jedermann zu 
dienen und aUerlei zu leiden. Unser Leben ist trotz aller 
tjbel, trotz aUer Siinde geborgen in Gott, wenn wir ihm 
nui- herzlich vertrauen wollen: das wurde der Grundge- 
danke seines Lebens. In diesem hat er den anderen mit 
gleicher GewiCheit erkannt und erlebt, den Gedanken von 
der Freiheit eines Christenmenschen. Diese Freiheit war 



Martin Luther. 155 

iliin nicM eine leere Emanzipation oder der Freibrief fiir 
jegliche Subjektivitat, sondern Freiheit war ihm die Herr- 
schaft iiber die Welt in der GewiCheit, dafi, wenn Gott fiir 
Tins ist, niemand wider iins sein kann; frei von alien menscli- 
lichen Gresetzen war ihm die Seele, die in der Liebe Grottes 
ihr hochstes Gesetz und das Motiv ihres Lebens erkannt 
hatte. 

WoM hat er von den alten Mystikern gelernt; aber er 
hat gefunden, was sie suchten. Sie blieben stecken in er- 
habenen Gefiihlen und brachten es nicht zur dauernden 
Empfindung des Friedens. Er drang durch zu einer aktiven 
Frommigkeit und zu sehger GewiBheit. Er hat das Recht 
des Individuums zunachst fiir sich selber erkampft; die 
Freiheit des Gewissens hat er erlebt. Aber das freie Ge- 
wissen war ihm das innerlich gebundene, und das Recht 
des Individuums verstand er als die heilige Pflicht, es 
mutig auf Gott zu wagen und dem ISTachsten selbstandig 
und selbstlos in Liebe zu dienen. 

So wurde er der Anfechtungen quitt. Aber was er 
gefunden, das steUte sich ihm nicht als neue Lehre dar; 
im Gegenteil: er glaubte jetzt nur die alte Wahxheit er- 
kannt zu haben, die eine iible Praxis und eine falsche Ge- 
lehrsamkeit verdeckt gehalten hatten. Seine Pietat gegen 
die alte Kirche behauptete sich zunachst unerschiittert: so 
bHeb er denn auch weiterhin noch ein Monch, und nur an 
der steigenden Freudigkeit, mit welcher er den neuen Lehr- 
beruf in Wittenberg versah und sich in mancherlei Ge- 
schaften seiaes Ordens bewegte, zeigte es sich, daU er ein 
Anderer geworden. Wahrhch! dieser Eeformator ist das 
Gegenbild zu alien leichtfertigen und vermessenen Reformern. 
Durch schwere Erfahrungen ist er erst in der Position fest 
geworden und hat an einen Angriff auf das Bestehende 
durchaus nicht gedacht. Aber eben die Position macht den 
wahren Reformator. Er bedarf einer personlichen Idee, die 
zunachst ihn selbst volHg erfafit und bemeistert. Aber er 



156 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

bedarf noch melir. Er bedarf vor allem der unimttelbaren 
Einsicht in das, was den Ban der Gesellschaft zusammen- 
halt. Er nrniJ die neue Stiitze immer scbon in Bereitschaffc 
haben, wenn er die morsche, alte wegnimmt. Sonst ist der 
erste Angriff entweder der Beginn eines allgemeinen Zu- 
sammenbruclies , oder der kiihne Neuerer wird selbst bei 
seite geschleudert. l^vrn — das ist das GrroBartige an 
Lntlier, in welcber Umsiclit und Stetigkeit er vorgeschritten 
ist aus der Peripherie bis ins Zentrum. In einer bewun- 
derungswiirdigen Folgerichtigkeit entwickelte sick sein An- 
griff auf das kerrsckende System in den seeks Jakren von 
1517 — 23. Das war keine kluge Berecknung; es war die 
segensreicke Folge der Pietat, mit welcker er selbst an dem 
Uberkeferten king. Ikm waren die alten Hiillen teuer; er 
kat sie sick selbst Stiick fiir Stiick vom Leibe reiCen miissen, 
er kat mit sckweren, inneren Kampfen, mit seinem Herz- 
blnte, jeden Protest und Angriff bezaklt. Man kat ikm 
nickt mit Unreckt Unsickerkeiten und Sckwankungen in 
seinem Auftreten bis 1521 vorgeworfen, namentlick in seinem 
Verkaltnis zum Papst. Aber man kat dabei nickt bedackt, 
wie ekrenvoll fiir ikn dieses Sckwanken gewesen ist, und 
wie der Erfolg der Reformation davon abking, daC er sick 
nickt liberstiirzte. 

Erst als er die ganze Verwirrung der G-ewissen em- 
pfunden katte, erst als er die babyloniscke Grefangensckaft 
erkannt katte, in welcke das Evangelium und das deutscke 
Volk durck das Papsttum gefukrt worden war, erst dann 
brack in ikm mit dem keiligen Zorn der Furor teutonicus 
los und entlud sick in furcktbaren Scklagen. Wie besckeiden, 
aus dem nacksten Kreise seines Berufes keraus, katte er 
angefangen. Die Aufnakme des Tkesenstreites mit Tetzel 
war seine Pflickt als Wittenberger Seelsorger und Professor 
gewesen. Zur BuCe kat er sein "Volk da gerufen und die 
Kraft des Evangekums der Elraft der Ablasse entgegen- 
gestellt. Dann aber katten ikn, wie er selbst angibt, die 



Martin Luther. 157 

Gegner beriihint gemacht und zugleich immer weiter ge- 
trieben. Sie scUugen in die Kohlen: diese sprangen umher 
und ziindeten. Sie suchten zu loschen, nnd sie zeigten 
Luther damit den Umfang des Brandes. Er hat sich nicht 
zum Reformator aufgeworfen — wer darf das? — , sondern 
dieser Beruf ist ihm aufgezwungen worden. Aber an jenem 
weltgeschichthchen Tage zu Worms, da er vor Kaiser und 
Reich gestanden, da hat er das Szepter des Reformators 
erhalten und genommen. Jenes beriihrnte „Ich kann nicht 
anders" war das innerste G-estandnis seiner Seele. Das Ge- 
waltige und Grute tut nur, wer nicht anders kann. Den 
Schrecknissen, die jeder Umsturz zur Folge hat, vermag 
nur der ins Auge zu sehen, dem wider das G-ewissen zu 
handeln der hochste Schrecken ist. 

Aber die ernsten Folgen des Protestes zeigten sich 
nicht gleich anfangs. Ein G-eistesfriihling zog iiber die 
deutschen Lande. Was sich nach Ereiheit und Aufkla- 
rung sehnte, das begriifite begeistert den Reformator. Zu 
Niirnberg protestierten die Stande des deutschen Volkes 
einmiitig wider das alte System. Die verschiedenen un- 
kraftigen Versuche zur Reform der Kirche, der G-esellschaft, 
der Wissenschaft, sie schossen gleichsam zusammen und 
schienen nun einen KJrystaUisationspunkt gefunden zu haben. 
Aber bald wurden auch alle selbstsiichtigen Begehrungen 
und Wiinsche der Menschen entbunden. Jeder Stand — 
Eiirsten, Magistrate, Adel, Biirger und Bauer — hofffce bei 
der ungeheuren Bewegung zu gewinnen. Das jjEvangelium" 
drohte das Schlagwort zu werden fur alle denkbaren Erei- 
heiten, von der Ereiheit eines Christenmenschen bis herab 
zur wilden Ereibeuterei. Ernste Manner, die zuerst ge- 
wonnen gewesen, wandten jetzt der neuen Sache emport 
wieder den Riicken. Denn mit der Entwurzelung der alten 
VorsteUung von der Kirche war aUes ins Schwanken ge- 
raten. Hat Kopernikus das alte ptolemaische Weltsystem 
gestiirzt: der Umsturz des Kirchensystems war zunachst 



158 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

von ungleich bedeutenderen Folgen. Er griff in alle Ver- 
haltnisse der Gesellscliaft, des Staates, der praktiscten 
"Weltanschauung, des Kiiltus und der Sitte ein. Die Kirche 
niclit mehr nnfehlbar, ein Gebaude, an dem auch Irrtum 
"and Slinde gezimmert — welche Autoritat sollte nocli gelten, 
wenn die Saule der Wahrlieit zusammenbrach? Alle Ord- 
nnngen des Glaubens und Lebens gerieten in Verwirrung. 
Die Fundamente der Gesellscbaffc scbienen zu wanken. 

Aber Luther kannte einen festen Boden, auf den er 
sich und sein Volk stellen woUte, das Wort Grottes, und er 
wulJte von einer Kraft, machtiger im Bauen als im Nieder- 
reifien, der lebendige Grlaube. „Staunenswei-t", hat ein 
groBer Historiker gesagt, „ist der Ernst, die Tiefe, die 
Wahrhaftigkeit des Greistes, der in sich gerungen, bis er 
jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr erfiillte; 
staunenswiirdiger , daB er angesichts der ungeheuren Be- 
wegung, die sich auf ihn berief , auch nicht einen Augen- 
blick irre geworden ist." Luther ist kein eitler Volksmann 
geworden, als die Wogen einer allgemeinen Begeisterung 
ihn erhoben, und er hat nicht verzagt, als er sein Schiff 
durch wilde Wellen steuern muCte. Er fiihrte nicht seine 
Sache; das Seelenheil der ganzen IsTation trug er auf dem 
Grewissen. Diese Verantwortung — wer von uns kann sie 
nachempfinden? — erhob ihn iiber alle Bedenken; sie stahlte 
seinen Mut und sie legte ihm die neue Sprache des Zorns 
und der Liebe, trotziger Mannlichkeit und kraftvoUer Sim- 
plizitat auf die Lippen. An seiner Person lag ihm nichts. 
Wohl "wuBte er sich als ein auserwahltes Riistzeug: „Mar- 
tinus Luther im Himmel, auf Erden und in der HoUe wohl- 
bekannt" — aber von jedem selbstischen Literesse war er 
frei. „Gott kann zehn Doktor Martinus' schaffen, wo der 
einige alte ersoffe": in diesem Vertrauen auf seine Sache 
war er taglich bereit zu sterben. 

Diese Sache war ihm ganz und gar das Wort Gottes, 
das Evangelium. Mochten Andere hunderte von ISTebenab- 



Martin Luther. 159 

sichten haben, reine und unreine, er kannte nur diesen 
einzigen Leitstern. Keine Menschensatzungen soUten mekr 
gelten, sondern nur das Wort Gottes. GewiC, es war die 
segensreicliste Entlastung, es war ein ungeheurer Fortschritt. 
Er bedeutete DicM nur den Brucb mit der Kirche des 
Mittelalters , sondern in AVabrbeit aucb die Auseinander- 
setzung ncdt der Kircbe des Altertums, mit dem Katholizis- 
mus, der sicb in die Triimmer der Antike eingebaut batte. 
Wie die Humanisten den Riickgang auf das klassiscbe Al- 
tertum lebrten, auf die Quellen aller Bildung, so verklindete 
Lutber den Riickgang auf das Evangebum, auf die Quelle 
der Rebgion. Was cbristlicb ist, das soUte nun nicbt mebr 
zweifelbaft sein. Keine priesterlicbe Grebeimwissenscbaft, 
kein wiistes Gremenge von Satzungen unter dem Schutze 
des Heiligen — nein jeder Laie, jeder scblicbte Cbrist soUte 
in den Stand gesetzt sein, zu priifen und zu erkennen, 
was cbristlicber Grlaube ist. Das Wort Grottes nacb dem 
reinen Verstande. In dieser Tbese war die unbefangene 
Ermittelung des wirklicben Wortsinnes der beil. Scbrift 
gefordert. Jede willkiirlicbe Auslegung nacb MaCgabe von 
Autoritaten war abgesobnitten. Lutber bat, soweit er zu 
seben vermocbte, mit dieser Forderung Ernst gemacbt. 
Er konnte freilicb nicbt abnen, wie weit sie fiibren wiirde. 
Aber seine metbodiscben Grrundsatze vom „DoUmetscben", 
sein Respekt vor den Spracben baben die Scbriftwissen- 
scbaft begrvindet. 

Docb das ist nur die eine Seite der Sacbe. Sie barg 
in sicb ein scbweres Problem; denn — was ist die Bibel? 
ist sie nicbt selbst ein Stiick der kircblicben IJberlieferung? 
deckt sie sicb so einfacb mit dem Evangebum Cbristi? war 
es iiberbaupt moglicb, dies kompbzierte Bucb, so wie es 
ist, zur unmittelbaren Kicbtscbnur des Glaubens und Lebens 
zu erbeben? Was beiJ sicb nicbt aus der Bibel erweisen? 
berief sicb nicbt aucb die berrscbende Kircbe fiir Glauben 
und Leben auf die Bibel? 



160 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: T. 

GrewiC! Aber hier traten fur Luther zwei maCgebende 
G-edanken ein. Er bat sie nicbt in systematiscber Klarbeit 
durcbgedacbt, aber in lebendiger Uberzeugung gehandhabt. 
Er bat den einen in entscbeidenden Momenten seines Le- 
bens aus den Augen verloren, aber er bat sicb docb immer 
wieder auf ibn besonnen. 

Das eine war die Erkenntnis, daC der cbristlicbe Grlaube 
ausscblieClicb an Gott und an die Person Christi gebunden 
sei, und dafi daber nicbt der Bucbstabe der Scbrift ver- 
pflicbte, sondern allein das Evangelium, welcbes sie entbalt. 
Das andere war die G-ewiBbeit, dafi alle selbsterwablten 
Formen der Frommigkeit vom Ubel seien, dafi die Bewab- 
rung der Religion daber in den grofien Ordnungen des 
menscblicben Lebens, in Ebe, Eamilie, Staat und Beruf, 
erfolgen miisse. Eben weU er davon durcbdrungen war, 
dafi kein Menscb um Gottes willen etwas tun konne und 
diirfe, eben weil er das ganze Verbaltnis des Menscben zu 
Gott nicbt auf ein Tun und nicbt auf ein "Wissen, sondern 
lediglicb auf die glaubige Gesinnung griindete, so erkannte 
er keine Ubungen als wertvolle mebi- an, die angeblicb in 
besonderem Sinne nG-ottesdienst" sein soUten. Es gibt nur 
einen direkten G-ottesdienst: das ist die kraftige Zuversicbt 
auf Gott; sonst gilt die ausnabmslose Regel, dafi man G-ott 
in der Nacbstenliebe zu dienen babe. "Weder mystiscbe 
Kontemplation nocb asketiscbe Lebensfiibrung liegen in 
dem Evangelium bescblossen. 

Es ist ausdriicldicli zu konstatieren , dafi diese beiden 
Grundgedanken sicb fiii' Lutber aus dem Religionsbegriff 
ergaben, wie er ibn erfafit batte. Die Ereiheit vom G-esetz 
des Buebstabens und das Recbt der natiirlicben Lebens- 
ordnungen — sie waren fur Om keine selbstandigen Ideale. 
Aber sie fielen ibm zu, indem er das EvangeUum durcb- 
dacbte, verkiindete und anwandte. Die "Wirkungen waren 
unermefiUcbe; denn es war nun mit einem Scblage die 
Rebgion aus der Verkuppelimg mit allem ibr Fremden 



Martin Luther. 161 

befreit und zugleich das selbstandige Recht der naturlichen 
Lebensgebiete — dariiin aucb der Wissenschaft von ihnen 
— anerkannt. 

Die Religionslebre soil nun nicbts anderes mehr sein 
als die Darlegung des Evangebums , wie es die cbristUcbe 
Gemeinde erzengt hat nnd zusammenbalt. Ibre Q-ewifibeit 
soil nicbt mebr beruben auf einer aufieren Autoritat, aber 
ancb nicbt auf pbUosopbiscben Erwagungen. Die Pbiloso- 
pbie ist nicbt mebr die gefiircbtete Dieneriu der Tbeologie, 
sondern ibre Bemiibungen sind unabbangig von jeder tbeo- 
logiscben Bevormundung. Uber dem groiJen Gebilde, wel- 
cbes wir Mitt«lalter nennen, liber diesem Chaos unselb- 
standiger und in sicb verscblungener Gestaltungen, schwebte 
der Greist des Grlaubens, der seine eigene Natur und darum 
seine Scbranken erkannt batte. Unter seinem Wehen rang 
sicb alles, was ein Recht auf freie Greltung batte, zu selb- 
standiger Entfaltung empor. Vor Luther hat kein Anderer 
so klar und entschieden die groBen Gebiete des Lebens ge- 
trennt. Wunderbar! dieser Mann wollte die Welt nichts 
Anderes lebren als was das Wesen der Religion sei; aber 
indem er ein Grebiet in seiner Eigentiimli chkeit erkannte, 
kamen alle anderen zu ibxem Rechte. 

Der Staat — nicbt mebr ein fatales Grebilde aus Zwang 
und Not, bestimmt sicb an die Kirche anzulebnen, sondern 
die souverane Ordnung des offentUchen gemeinscbaftHcben 
Lebens ; das Recht — nicbt mebr ein undefinierbares Mittel- 
ding zwiscben der Macht des Starkeren und der Tugend 
des Christen, sondern die selbstandige, von der Obrigkeit 
gehiitete Norm des Verkehrs; die Ehe — nicbt mehr eine 
Art von kircblicher Konzession an die Schwacben, sondern 
die gottgewollte, aber von jeder kircblichen Bevormundung 
freie Verbiadung der Greschlechter, die Scbule der bochsten 
Sittlicbkeit; die Armenpflege und Liebestatigkeit — nicbt 
mehr ein tendenzioses Getriebe zur Versicberung der eigenen 
Sebgkeit, sondern der freie Dienst am Nachsten, der in der 

Harnaek, Eeden und Aufsatze. I. 11 



162 Erster Band, erste Abteilung. Eeden; V. 

wirkliclieii Hilfleistung seinen letzten Zweck und semen 
einzigen Lolin sielit. Aber iiber das AHes: der biirgerKclie 
Beruf, die scKliclite Tatigkeit in Haus und Hof, in G-eschaffc 
und Amt — • nicht mehr die mifitrauisch. beurteilte, weil 
vom Himmel abziehende Bescbaftigung, sondem der recbte 
geistlicbe Stand, die Spbare, in welcber sicb die Gresinnung 
und der Cbarakter zu bewabren bat. 

Nun — alle diese tjberzeugungen sind bente Gremein- 
gut bei uns geworden; aber nur zu baufig wird es ver- 
gessen, durcb wen sie zu kraftigem Leben geweckt worden 
sind. Wir bebaupten sie beute unabbangig von jedem 
reHgiosen G-lauben, und es scbeint vielleicbt den Meisten 
unter uns, dafi sie desselben vollig entbebren konnten. Ja 
in Hinbbck auf die irrationalen Formen des Kircbenglaubens, 
welcbe Lutber nicbt aufgegeben bat, stellt sicb wobl, bald 
mebr bald minder deutlicb formuliert, das UrteiL bei Vielen 
ein, die Reformation an und fiir sicb sei eine Reaktion ge- 
wesen, die mebr gescbadet als geniitzt babe; der Fortscbritt 
sei neben ibr und unabbangig von ibr durcb eine Eeibe 
giinstiger Konjunkturen entstanden. Ein Moderner bat 
das jiingst also ausgedriickt: „Eine Vergleichung zwiscben 
dem alten und dem neuen Kircbenglauben zeigt keinen 
Xulturgewinn. In der romiscben Kircbe war der Begriff 
der Wabrbeit verloren gegangen und im Protestantismus 
nicbt wieder entdeckt worden. Die Grrundlage der alten 
Kircbe bHeb in ibrem Kerne unberubrt. Das luftige Gre- 
baude des Aberglaubens ward nicbt zerstort, viebnebr durcb 
den Bibelglauben nocb mebr befestigt. Die Vernunft bat 
an dem Werke der Reformation ebensowenig Anteil als 
die Freibeit." 

Dies Urteil ist von jedem Standpunkt aus irrig; denn 
daC durcb die Reformation das Grebiet des Aberglaubens 
mindestens eingescbrankt worden ist, ist uniraglicb. Docb 
dies nur nebenbei. Vor allem sind hier die eigentiunlicben 
Bedingungen verkannt, an welcbe jeder entscbeidende Fort- 



Martin Luther. 163 

schritt der Menschheit gebunden ist. Zerstorung des Aber- 
glaubens fiir sich allein — so notwendig dieselbe ist — 
vermag weder in die Tiefe noch in die Breite zu wirken, 
Es bedarf eines durchschlagenden neuen Ideals praktisclier 
Lebensgestaltung, welches an das Vorhandene ankniipft um 
es umzubilden, es bedarf einer Erhohung der sittlichen 
Kraft nnd des G-efiiMs der VerantwortUchkeit, um die Er- 
schiitterungen, die jeder Fortsckritt mit sich bringt, zu 
iiberwinden; und es bedarf endHch einer Personlicbkeit, die 
in der Sache aufgeht und sie auf diese Weise in die Welt 
wirksam einfuhrt. Man kann unbedenklicb zugeben, daC 
Luther in mehr als einer Hinsicht eine mittelalterhohe Er- 
scheinung gewesen ist, man muC sogar behaupten, daB sein 
Auftreten das Absterben gewisser mittelalterhcher Ideen 
verzogert hat — aber was will das sagen? "Wenn alles 
verderbhch ist, was unsern G-eist befreit, ohne uns die 
Herrschaft iiber uns selbst zu geben, so ist nichts segens- 
reicher und fordersamer — auch fiir die Befreiung des 
Greistes — als die Kraftigung seiner sittlichen Natur und 
die Versicherung seines Adels. Das aber hat die Reforma- 
tion geleistet. Sie hat vor allem die Q-eister erst fahig ge- 
macht, die Erkenntnisse, welche die Zukunft bringen sollte, 
zu ertragen, ohne die Herrschaft iiber sich selbst zu ver- 
lieren; denn sie hat ihnen eine unerschiitterliche Stellung 
iiber der Welt angewiesen. Nun nehme man auch alles 
zusammen, was man zum NachteQe der Reformation an- 
fiihren muC, die harten Ungerechtigkeiten, die neuen Irr- 
tiimer, die teilweisen Ruckschritte, die unsaghchen Erbarm- 
lichkeiten in der Durchfiihrung — das alles verschwindet 
gegeniiber dem, was wir ihr schuldig sind, und zwar wir 
alle, nicht nur die evangehschen Deutschen. Darf ich es 
mit den Worten Goethes sagen: „Wir wissen gar nicht, 
was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles 
zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln 
geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsen- 

11* 



1 64 Erster Band, erste Abteilung. Eeden : V. 

den Kultur fahig geworden, zur Quelle ztiriickzukeliren und 
das Christentum in seiner Reinlieit zu fassen. Wix haben 
wieder den Mut, mit festen FiiiJen auf Grottes Erde zu 
stelien nnd uns in unserer gottbegabten Menschennatur zu 
fiihlen." 

GewiC, bier liegt es, und bier liegt zugleicb die epocbe- 
macbende Bedeutung Lutbers fiir die Wissenscbaft. Lutber 
bat nicbt nur angefangen, die Erkenntnis der "Wabrbeit 
vom Macbtsprucb der tJberlieferung zu befreien und damit 
eine reine Betracbtung der Gescbicbte zu ermogbcben, son- 
dern er bat die Freibeit und VerantwortlicKkeit des Ar- 
beitenden verkiindet. Er bat die Arbeitsgebiete getrennt 
und sie eben dadurcb einzeln in ein belles Licbt treten 
lassen. Er bat ferner das selbstandige Recbt jeder Berufs- 
arbeit, und so aucb der wissenscbaftbcben, geltend gemacbt. 
Aber liber das alles: er bat dem wissenscbaftlicben Arbeiter 
eine GrewiBbeit seines G-ott gescbenkten, personlicben Wertes 
und damit einen unverwiistlicben Ideabsmus eingebaucbt, 
der ibn wappnet gegen die Erscbiitterungen des Selbst- 
bewuCtseins, die eine Eolge aller empiriscben Erkenntnis 
und aller Mystik sind. 

Demgegeniiber kann man wolil dreist bebaupten, daC 
dies abes aucb obne Lutber von unserem Gescblecbt, oder 
gar von uns selbst, errungen worden ware; aber eine solcbe 
Bebauptung ware zum mindesten eine voUig undiskutierbare 
Tbese, eine gescbicbtlicbe KannegieBerei. ISTur das Ge- 
wordene, nicbt „was geworden ware", vermogen wir zu 
erkennen. Geworden aber ist infolge der Reformation, 
nicbt infolge der Renaissance oder der wiedertauferiscben 
Mystik, jene iinbefangene , niicbterne und gottvertrauende 
Gesitmung und Stimmung, die uns den klaren Bbck fiir 
die Dinge dieser Welt erst ermoglicbt und uns erlaubt bat, 
dieselben mutig und freudig zu erfassen. Lutber bat die 
Wissenscbaft befreit, indem er den Cbiisten wieder gezeigt 
bat, der an dem Evangelium erwachsene Glaube trage 



Martin Luther. 165 

seine Zuversicht in sich selber; er bediirfe weder noch 
dulde er auJJere Autoritaten und philosophisclie Umdeu- 
tungen. Die Renaissance hatte — zum Teil wider ihren 
"Willen — fiir das alte System gearbeitet. Was man 
„Lutliers Lehre" nennt, siebt ihm auCerlich recht ahnlich. 
Achtet man aber auf die Absichten und scblieBlicb auch 
auf den Erfolg — die Absichten kommen in Betracbt, nnd 
ungebrocbene Erfolge gibt es in der Geschicbte nicbt — , 
so ist das "Walten eines neuen Geistes unverkennbar. 

Aber die Enge und Unvernunft des tbeologischen Sy- 
stems, welches die lutherische Orthodoxie aufgerichtet hat! 
Nun zunachst bei Luther selbst herrscht die Kraft und Form 
einer unmittelbaren IJberzeugung. Das Systematische tritt 
zuriick, und wo er systematisiert, ist's nicht zum Vorteil 
seiner Sache. Erst hinter den hellen und lebendigen tjber- 
zeugungen ruht bei ihm wie bei alien energischen, groB- 
tatigen und fortschreitenden Naturen ein geheimnisvoUer 
Griaube, der den kleingesinnten und auf sich selbst be- 
schrankten Menschen ein Argernis, den riickschreitenden 
und schwachen eine Gefahr und den verstandigen ein Ratsel 
ist. Sie selbst haben freilich allzumal keine Ratsel, noch 
weniger sind sie seiche. 

Das Glaubenssystem, welches sich auf Luthers Predigt 
auferbaute, muCte unter den Zeitumstanden schnell ge- 
zimmert werden. Noch war der Horizont der Menschen 
ein eng begrenzter, ihre Vorstellungen vielfach mittelalter- 
Kche. Man hatte ein Volk in Kirche, Schule und Haus zu 
erziehen. Man hatte ein neues Kirchenwesen zu griinden. 
Man hatte die Sturmer und Dranger abzuwehren. Welche 
Aufgaben! DaB die neue Idee, welche in die Erscheinung 
trat, wii'khch im Laufe von kaum zwei Menschenaltern 
einen Leib erhielt, daB iiberhaupt Formen auf alien G-e- 
bieten des Lebens gefunden wurden, daB in diesen Formen 
wirklich auch die Sache, der evangehsche Glaube, zum Aus- 
druck gekommen ist — wahrhch nur im VerdruB iiber die 



166 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V. 

seltsame Zumutuiig, das altprotestantische Glaubenssystem 
fiir das reine Evangelium zu nehmen, kann man dieses 
System selbst anMagen und fiir unwert lialten. Auf seinem. 
Boden hat doch im 17. Jakrhundert nicht nur ein Paul 
Gerliardt mit seiner lebendigen Frommigkeit, sondern 
audi ein Keppler gestanden. Sie fiihlten sich durcli das- 
selbe niclit beengt, sondern erweitet und bestimmt. "Was 
wir heute als Last empfinden, das war es damals noch. niclit. 

Aber die heftigen theologisclien Streitigkeiten und die 
traurigen Spaltungen, welche sicb so scbneU bei den Pro- 
testanten einstellten! Aucli sie lassen ein giinstigeres Ur- 
teil zu. Sie waren eiue Folge des Zusammenbrucbs der 
auCeren Autoritaten; sie waren aber zugleich eine Folge 
der neuen protestantisclien Gewissenhaftigkeit in Grlaubens- 
sacben. Man muC sie zusammenhalten mit der Bereit- 
scbaft der Gegner, um Dogmen zu markten und zu ban- 
deln. Luther und seine Schuler zeigten keine Toleranz. 
„Unsere Liebe ist bereit, fiir jedermann in den Tod zu 
gehen; aber unser Grlaube ist uns unantastbar wie unser 
Augapfel." Nun in der Tat, es gibt nichts Intoleranteres 
als die Wahrheit; sie kennt keine Konzessionen. So lag 
auch damals der Fehler nicht in dem Mangel der Toleranz, 
sondern in der Beschranktheit der Erkenntnis. Daher, als 
Luther zu Marburg Zwingli die Bruderhand verweigerte, 
da handelte er in Kraft der hochsten Gewissenhaftigkeit. 
Wir konnen seine Auffassung als eiae urtiimliche beklagen, 
aber wir miissen die Festigkeit seines Charakters bewundem. 

Seitdem sind Spaltungen auf Spaltungen erfolgt. Aber 
trotz aUes Jammers, den sie angerichtet, trotz aUer Ver- 
kummerungen, die sie verursacht, trotz aUer tJbel, die sie 
liber unser Vaterland gebracht haben — die Protestanten 
tauschen nicht mit der scheinbaren Einheit und Geschlossen- 
heit der Gegner; denn sie achten die Voraussetzung dieser 
Eiaheit nicht fiir eia Gut, sondern fur ein Ubel. Wohl 
wissen wir, was die Reformation uns Deutschen gekostet 



Martin Luther. 167 

hat und noch. immer kostet. Sie hat unsere politische 
Einigung um Jahrhunderte verzogert; sie hat uns den 
dreifiigjahrigen Krieg gebracht; sie hat es uns erschwert, 
der Kirche des Mittelalters , ja anch der alten Kirche, ge- 
recht zu werden — man bricht nicht mit der Geschichte 
ohne sie zu verdunkeln — ; sie hat uns in eine konfessio- 
nelle Spaltung gefiihrt, die noch eben fiir unsere Weiter- 
entwieklung verhangnisvoU ist. Aber sie hat zugleich alles 
das begriindet, was wir heute als unsere Eigenart und 
GrroJJe schatzen diirfen. Wir sind nicht dazu verurteilt, 
die Reformation lediglich so zu riihmen und zu verteidigen, 
dafi wir an ihre Anfange erinnern. Durch Martin Luther 
ist die Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet 
worden. Neue Faktoren sind eingetreten; aber der Grrund 
ist im 16. Jahrhundert gelegt worden. Und die Segnungen 
der Reformation haben sich iiber alle Deutschen erstreckt, 
auch iiber die romischen; ja der Katholizismus selbst hat 
sich bei uns ihren Einwirkungen nicht entziehen konnen. 
Er hat nicht nur ehrwiirdigere Priester und einen reineren 
Kultus, sondern geradezu eine and ere Gestalt, eine andere 
Tiefe und einen hoheren Ernst erhalten als in den roma- 
nischen Landern. Man kann es jenseits der Alpen von 
kompetenter Seite nicht selten horen: „die Deutschen sind 
alle Haretiker". "Was anders soli' damit gesagt sein, als 
daU sich bei uns in Sachen der Rehgion das BewuBtsein 
einer personhchen Verantwortlichkeit ausgebildet hat, wie 
es die romanischen Volker in diesem GTrade nicht zu kennen 
scheinen? 

Aber wir wollen uns nicht selbst bespiegeln. Auch 
bei xms im Lande der Reformation, sind Passivitat und 
Stumpfheit die eigenthchen Feinde. Wir haben die theo- 
logischen Formeln der Vergangenheit beiseite legen miissen ; 
aber was haben so viele unter uns — die Frage ist heute 
wohl erlaubt — an ihre Stelle gesetzt? Eine durchweg 
relative Weltanschauung und eine historische Stimmung. 



]^68 Erster Band, erste Abteilung. Keden: V. 

Reichen sie wirklich. aus, damit wir das Hochste leisten? 
1st der Standpunkt wohlwollender Indifferenz, anf welchem 
der religiose Griaube harmlos wird, der erhabenste, der uns 
alles GrroJJe und Edle verburgt und nur die alten Schatten 
verscheucht? Anders tat sich. dariiber jiingst ein nicht be- 
fangener Schriffcsteller, Renan, in offentlicher Rede ge- 
auBert: „Es ist", sagt er, „vielfacli den heute widerlegten 
Grlaubensformeln zu verdanken, wenn noch. ein Rest von 
Tugend in uns iibrig ist. Wir leben von einem Schatten, 
von dem Duft einer leeren Flasche; nacli uns wird man 
leben vom Schatten des Schattens, und oft bin ich bange, 
daJJ man doch zu wenig daran haben werde." 

Ein mutiges, aber ein trauriges Bekenntnis! Sind audi 
wir schon so weit? Ist mit der Widerlegung der theo- 
logischen Grlaubensformeln der Vergangenheit das Evan- 
gelium selbst widerlegt und abdekretiert? Haben wir es 
nicht mehr notig? oder brauchen wir es nicht mehr wie 
je in Hinbhck auf unsere fortschi-eitende Naturerkenntnis, 
in Hinblick auf die geistige Beschrankung, welche uns 
unsere Arbeitsteilung auferlegt, in Hinbhck auf unsere ver- 
odete Greselhgkeit und auf die stets zunehmende und leider 
notwendige Mechanisierung unseres offenthchen Lebens? 

Wir brauchen es und dankbar wollen wir es halten. 
Zu iiberwundenen Stufen geistiger Entwicklung konnen 
wir aherdings nicht mehr zuriickkehren. Aber Luther hat 
uns kein Rehgionssystem fertig gezimmert — Systeme ent- 
.stehen und vergehen — , sondern er hat uns auf einem 
festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir 
soUen uns auf dem Grunde des EvangeUums stets aufs 
neue reformieren und wider Gesinnungslosigkeit und Macht- 
spriiche mutig allzeit protestieren. Auf dem Grunde des 
Evangeliums, denn — n^iag die geistige Kultur nur immer 
fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitem wie 
er wih, liber die Hoheit und sitthche Kultur des Christen- 
tums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet, 



Martin Luther. 169 

wird er nicht hinauskommen." "Wohl miissen wir die alten 
Baume niederscUagen, wenn sie iiberstainmig und morsch 
geworden sind; aber wir rotten nicht den alten Wald aus, 
sondern wir suchen ilin eben dadiu'ch frisch und kraftig 
zu erhalten. 

Die Znkunft nnserer Nation und schlieBlicli auch. aller 
unserer Arbeit hangt davon ab, daJJ wir die Antriebe zur 
Indifferenz und Stumpfbeit, aber aucb zu Riickscliritt 
und Obskurantismus iiberwinden und uns zu einem freien 
Ckristentum der Gresinnung und der Tat emporringen. Den 
Weg zu diesem Ziele aber bat uns nacb einer langen Nacbt 
der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen diirfen: 
Er war die Reformation. "Was in ibr GrroCes, Grewaltiges, 
fiir alle Zeiten Dauerndes und Vorbildlicbes enthalten war, 
das ist einzig gegeben und verkorpert gewesen in seiner 
Person, in der Person des Wittenberger Professors Dr. 
Martin Luther. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG S^ 



REDEN: YI 
PHILIPP MELANCHTHON 



Rede 

bei der Feier zum vierkundertjakrigen G-edachtnis der G-eburt. Plailipp 

Melanohthon's gehalten in der Aula der KOnigliclxen. Friedrich-Wilhelms- 

TJniversitat in Berlin am 16. Februar 1897. 



Unsere Hoclischule entschlieCt sicli selten dazu, die 
stille Arbeit in den Horsalen zu unterbrechen nnd die 
Kommilitonen in diesen festlichen Raum zu laden. Der 
Gescbichte der "Wissenschaft und unserer Grescliiclite ist er 
geweiht, nnd nur das, was fiir sie bedeutungsvoll ist, kann 
hier eine Feier beanspruclien. So beweist Uinen bereits 
nnsere Ernleidung, daiJ auch. die Universitat den Mann, 
dessen Andenken hente alle Protestanten einigt, dankbar 
verehrt nnd sich. seiner nniversalen Bedeutung fiir die 
Wissenschaft nnd Bildung wohl bewufit ist. Hier bei nns 
ist jiingst seine Stellung sowohl in der Geschichte der 
G-eisteswissenschaften als des gelebi'ten Unterrichts be- 
stimmt worden, und unserer Hochschule gebort der Ge- 
lekrte an, der unermiidlicli tatig ist, verborgene Schriften 
und Briefe des grofien Mannes ans LicM zu zieben. Nicbt 
mit leeren Handen kommen wir zum Feste. 

Philipp Melancbthon, der Professor zu Wittenberg, 
war kein Prophet und Heros wie Luther, kein kiihner 
Denker wie Servetus oder Sebastian Franck, kein Ent- 
decker und kein Erfinder. Aber alle die Krafte und Tugen- 
den, die in diesen Raumen am hochsten geschatzt werden, 
haben ihn ausgezeichnet — das unermiidliche wissenschaft- 
liche Streben, die ausgebreitetsten Kenntnisse, die Erfurcht 
vor der Wahrheit, der zuversichtliche Grlaube an die sitti- 
gende Macht der Bildung und, nicht zum letzten, eine un- 
vergleichliche Lehrgabe. Indem er dies alles mit der 
hochsten Pflichttreue ausbUdete, mit nnsaglichem FleiiJe 
befestigte und in den Dienst eines fortschreitenden Zeit- 



174 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VI. 

alters stellte, wurde er der Lehrer des Protestantismus und 
der Lehrer Deutsehlands. Auch. Martin Lutlier ist ein 
deutsclier Professor gewesen; aber er stand zugleich. in 
einem KoKeren Beruf, und so tollkiilin wird niemand tmter 
Tins sein, ihn als vorbildliclien Kollegen in. Anspruch. zu 
nehmen. PhilippMelanchthon aber hat zeitlebens nichts 
anderes sein wollen als der unsrige, ist der unsrige gebKeben 
— auCerhalb der Universitat gab es fiir ihn kein Leben — 
und hat in diesem Beruf alle seine KJrafte entwickelt. Er 
hat den Typus des deutschen Professors geschaffen; er hat 
dem Vaterland einen neuen fiihrenden Stand erweckt, den 
ehrenfesten und erleuchteten, nicht priesterUchen Stand des 
akademisch gebUdeten Beamten und des hoheren Lehrers. 
Er hat dadurch den Grrund zur Grofie protestantischer GTe- 
merawesen gelegt. Dieser bescheidene Professor, der sich 
nie als Prometheus empfand, auBer wenn er seine Fesseln 
in eiaer barbarischen Umgebung beklagte, ferrate doch 
Mensehen nach seinem Bilde; aber wahrend wir heute 
staunend und dantbar die Friichte seiner Arbeit iiber- 
schauen, beschloB er sein groCes Tagewerk, ohne zu ahnen, 
was er der Welt geleistet hatte. „Wir haben beide ausge- 
halten in der Niedrigkeit des Schullebens", ruft er kurz 
vor seiaem Tode seinem Herzenfreunde Camerarius zu, 
„und an unserem Ort getan, was wir konnten. Einigen 
hat doch wohl unsere Arbeit geniitzt, Schaden hat sie ge- 
wiB — das darf ich hoffen — niemandem gebracht." 

So spricht der Mann, dessen Lebensarbeit sich an Um- 
fang nur mit der von Leibniz und Kant vergleichen 
laflt, dessen EinfluB aber, dank der geschichtlichen Stelle, 
an der er gestanden, die Wirksamkeit jener beiden Manner 
doch noch weit iibertroifen hat. Er hat die deutsche Bildung 
von der priesterKchen Bevormundung befreit und von der 
klerikalen Stufe zunachst auf die philosophisch-theologische 
gehoben — das war der notwendige Durchgangspunkt, um 
eine gediegene LaienbUdung vorzubereiten, die doch den 



Philipp Melanchthon. 175 

Zusammenkang mit der Religion und der G-escMclite nicht 
verlieren soUte. Sein christlicher Humanismus ist Klammer 
und Briicke zugleicli gewesen. "Wenn wir heute fragen, 
wem es unsere Nation hauptsachlicli zu verdanken hat, dafi 
ans der Reformation nicht ein Bruch in ihrer Religions- 
nnd Knlturgeschichte entstanden ist, so miissen wir ant- 
worten: nachst dem Reformator selbst, nnserem Melanch- 
tlion. Ja, wir diirfen noch mehr sagen — Luther ware 
wahrscheinlich ohne diesen Mitarbeiter nicht imstande ge- 
wesen, jene Vermittelung des Neuen mit dem Alten durch- 
zufuhren, die alleia das Wachstum und die Zukunft eiaer 
liber den ganzen Umfang des geistigen Lebens sich er- 
streckenden Bewegung sicher stellte. 

Neben dem Propheten muB der Padagog stehen. Gre- 
wiC, Luther war selbst Padagog — ein Bhck auf seinen 
Katechismus beweist das. Aber auch seine Padagogie hat 
etwas Heroisches. Ein Grrundgedanke erfiillte seine Seele; 
das Ziel hatte er im Auge, nicht den "Weg. Die Klein- 
arbeit, die langsame, geduldige Erziehung zum Sitthchen 
auf alien den unzahligen Linien, auf denen sich das mensch- 
liche Leben bewegt, war nicht seine Sache. Hier tritt der 
Freund ein; er erzieht das gegenwartige Geschlecht. 0ft- 
mals scheint er herabzustimmen, zu hemmen, Altes und 
Neues zu mischen — Kraft, Reiz und Schmelz des frischen 
Greistes scheinen verschwunden, sind wirklich oftmals ver- 
schwunden. Aber wer darf klagen! Vielleicht gibt es im 
Leben des Einzelnen stiirmische Erweckungen, die nach- 
haltig sind; im Leben der Volker sind die Ekstasen, auch 
wenn sie ein wahrhafter Prophet erweckt hat, nur fliichtige, 
ja bedenkliche Erscheinungen. Das Bessere wachst nur 
langsam, und weder der Lehrende noch die Lernenden 
bieten der "Welt ein entziickendes oder aufregendes Schau- 
spiel. Aber die Geschichte urteUt schheUhch gerecht: ein 
jedes Kind weifi heute zu erzahlen, daU unser Vaterland 
zwei Reformatoren besessen hat, nicht mehr und nicht 



176 Erster Band, erste Atteilung. Eeden: YI. 

weniger — Luther und Melanclitlioii. Trotz des ungehenren 
Abstandes ist der Padagog dem Propheten unter dem 
Namen „Reformator" beigesellt worden. Die Geschiclite 
hat keinen mhinvollereii Kranz zu verleihen! — 

Der stille Grelehi-te, dem alles Stiirraen und Drangen 
zuwider war, hat doch einst selbst zwei Sturm- und Drang- 
perioden erlebt, bis er die Eigenai-t und die Grenzen seiner 
Anlage und Bildung erkannte. Aber er ist den Idealen, 
die ihm jede dieser Perioden geschenkt hat, nicht untreu 
geworden — ihrer Bewahrung und Vermittelung hat er 
sein Leben geweiht. 

G-eboren zu Bretten in Baden, dort wo der frankische 
und der allemannische Staimn sich verschmelzen, ist er, 
der GroBneffe Reuchlins, aufgewachsen imter einem 
milden Himmelsstrich und edlen hochstrebenden Menschen. 
Zeitlebens hat er dort seine Heimat gesehen und sich an 
der Elbe im Exil gefiihlt. Eriihreif, mit vierzehn Jahren 
Heidelberger Baccalaureus, mit siebzehn Tubinger Magister, 
unter dem Prinzipate der neuen Philologie in alle Wissen- 
schaften zugleieh eindiingend, erwarb er sich durch seinen 
eisemen FleiXJ und sein ungemeines Eormtalent das be- 
wundernde Lob des Erasmus. „At deum immortalem", 
ruft dieser aus, „quam non spem de se praebet paene puer 
Philippus Melanchthon, utraque htteratura paene ex aequo 
suscipiendus ! quod inventionis acumen! quae sermonis puritas 
et elegantia! quanta reconditarum rerum memorial quam 
varia lectio, quam verecundae regiaeque prorsus indolis 
festivitas!" Die Bekampfung der Scholastik und die Her- 
stellung der wahren Philosophie, d. h. des echten Aristo- 
teles, waren sein Ziel, und voll jugendhchen Frohmutes 
stellte er sich in die Reihe der kecken Geister, die der alten 
Welt den KJrieg erklart hatten. Es waren die Friihlings- 
tage jener klassischen, in Wahrheit romantischen Bewegung, 
denen doch kein Sommer gefolgt ist. Der herrhche, aber 
in seiner Isolierung undurchfiihrbare Gedanke des Erasmus, 



Philipp Melanchthon. 177 

die Kirche und die Gresellschaft durch. die Wissenschaft zu 
reformieren, und die schimmernde Hoffnung, durcli die Form 
jede Schwierigkeit des Denkens und Lebens zu iiberwinden, 
begeisterten die Gemiiter. Zuversichtlicher und riicksichts- 
loser bat kaum einer diesen Gedanken geltend gemacht als 
der jugendlicbe Melancbtbon in seiner Rede: „De corrigen- 
dis adolescentiae studiis", mit der er im August 1518 sein 
Lebramt an der Universitat Wittenberg antrat: Alles was 
bisber auf den Universitaten nacb der alten Metbode ge- 
trieben worden ist, ist nur Dunkelwerk und Possen gewesen ; 
eine radikale Reform ist notwendig. "Wie sie mit den 
Mitteln der griecbiscben Spracbe, des wabren Aristoteles 
und mit Hilfe reiner Ausdrucksformen durcbzufubren ist, 
"werde er zeigen. So dozierte mit dem Eifer des Stiirmers 
und Drangers, aber aucb auf dem Grrunde anerkannter 
Leistungen der junge Professor, und weU man aucb in 
Wittenberg der Scbolastik den Krieg erklart batte, ziindete 
sein Wort. 

Aber Melancbtbon batte sicb nocb nicbt selbst ge- 
funden, als er so spracb. Beriickt von dem neuen Greist 
und nocb webrlos gegen den Zauber blendender Rbetorik 
bat er die gediegenen und maCvoUen Krafte seiner Eigen- 
art nocb nicbt erkannt. Durcbscblagender Beweis bierfiir 
ist, dafi der kiibne Humanist im Laufe weniger Monate in 
Wittenberg eine vollkommene Umstimmung erlebte. Dafi 
das originale, bibliscbe Cbristentum etwas anderes sei als 
die scbolastiscbe Kircbenlebre, wufite er bereits, als er nacb 
Wittenberg kam. In dieser tJberzeugung lag das Band, 
das ibn und die Humanisten mit Lutber verband, der im 
Jabr zuvor mit seinen Tbesen Deutscbland erweckt batte. 
Aber was nun folgte, war docb ganz unerwartet: Lutbers 
Personlicbkeit und Kraft bemacbtigte sicb nicbt nur voU- 
kommen des neuen KoUegen, sondern sie bestimmten ibn 
aucb dazu, alle seine friiberen Ideale, den ganzen bisberigen 
Inbalt seines Lebens zunacbst preiszugeben. Wie der Mami 

Harnaok, Reden uud Anfsatze. I. 12 



178 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VI. 

im Gleichms, der alle seine Habe verkaufte, Tim die eine 
kostliche Perle zu kaxifen, so gab Melanchtlioii znnaclist 
alias dahin, iind wie er bister in Erasmus gelebt hatte, 
so stellte er sicli nun mit Leib und Seele in den Dienst 
Lutbers. Doch man darf das personliclie Element nicbt 
iibertreiben. Wer kann leugnen, daC es der christlicbe 
Glaube, wie Lutber ibn verkiindete, gewesen ist, der seine 
Seele wirklicb erfaBte! Ibn bat er ergriffen und bis zu 
seinem Tode als die Kraft seines inneren Lebens festge- 
balten. Die schJicbten Worte in seinem Testament: „Ago 
gratias reverendo domino Doctori Lutbero, quia ab eo evan- 
gelium didici", lebren bier mebr als bundert Beweise. „Icb 
babe von ibm das Evangebum gelernt" — ' das ist das 
grolJe unerscbiitterlicbe Erlebnis, das ibn fortan trotz aller 
Spannungen und Tauscbungen an die Sacbe der Reforma- 
tion imd Wittenbergs gekettet bat. 

Dennocb aber sind wir iiberrascbt, in welcbem Mafie 
er in den ersten Jabren seiner Wittenberger Wirksamkeit 
Lutber gleicbsam aufgesogen bat. Die Stelle, wo sein 
FuB bleiben wird, bat er zwar gefunden, aber nocb immer 
ist er nicbt er selbst. Denn nun ist er drei Jabre lang 
Stiirmer und Dranger in der reformatoriscben Bewegung: 
Die Scbulpbilosopbie ist Abgotterei, die pbilosopbiscbe Etbik 
Widercbristentum ; Griecbenland lebrt nur beidniscbe Werke 
und verdirbt die Jiinglinge; Paulus, niemand anders als 
Paulus, soil in der Kircbe und in der Wissenscbaft gelteru 
Der Humanist wandelt sicb in den Tbeologen, aber der 
Rbetor drobt zu bleiben. In diesem Sinne bat der jugend- 
licbe Lutberaner gescbrieben. Im beiCen Kampfe wider 
ein absterbendes Zeitalter vermag das aufstrebende nur Kon- 
traste zu erkennen und verkennt die Nuance; die erniicb- 
temdfe Erfabrung bleibt aber nicbt aus, daU man nicbt 
ungestraft die Krafte der Vergangenbeit preisgibt. 

Docb aus jener lutberiscben Sturm- und Drangperiode 
Melancbtbons besitzen wir ein Werk von unvergang- 



Philipp Melanchthoii. 179 

licher Bedeutung. An diesem Werke hat die Rlietorik 
keinen Anteil, die loci communes, die erste evangelische 
Dogmatik (1521). In diesem Buche haben die reformato- 
rischen Q-edanken Luthers ihre zusammenhangende Dar- 
stellnng gefanden. Zum ersten Male in der abendlandischen 
Kirche wird die christliclie Religion nicht besckrieben im 
Scliema eines Grott- Welt-Dramas nnd einer heiligen Physik, 
sondern als die Erweckung nnd der ProzeC eines nenen 
inneren Lebens. Die Form der loci hemmt zwar die auBere 
Ansbildnng eines straffen Zusammenhangs, aber im Grunde 
ist alles eiaheitHcli gedacht. Lntber selbst hat dieses Werk 
als ein kanonisches bezeichnet; es ermoglichte erst den vollen 
IJberblick iiber seia Gedankengefiige. Uber seine Gedanken 
— derm es ist vielleicht beispiellos in der G-eschichte, daC 
ein Mann von den Fahigkeiten Melanchthons sich ganz 
nnd gar znm Organon eines anderen gemacht hat. Indem 
ihn Luthers Personlichkeit iiberwaltigt hatte, scheint alles 
Eigene zerschmolzen. Nur die Form, diese klare, natiirhch 
flieCende Darstellung, gehort dem groCen Schiiler an; sonst 
ist alles iibemommen, das Evangelium Luthers mit seinen 
Konsequenzen nach riickwarts und vorwarts, mit seinem 
Tiefsinn und seinem dunklen Hintergrund, in welchen die 
Antike, der Humanismus und die Freiheit zu versinken 
drohten. 

Aber die Riistung des Gewaltigen, der seiner eigenen 
Logik folgte, konnte nicht die Riistung des Professors 
bleiben. Als die Schwarmgeister in Wittenberg erschienen, 
da zeigte es sich, daB der Professor dies Schwert nicht zu 
fiihren verstand, dafi vielmehr der ungestiime Held die Bil- 
dung und den Zusammenhang mit der Greschichte schiitzte. 
Seitdem, d. h. seit den Jahren 1522 und 1523, bemerkt 
man, wie Melanchthon unsicher wird, ob man mit Paulus 
und der Theologie allein die Ohristenheit bauen konne. Zu 
seinem Schauder erbhckt er unter den Kraften, die die 
Reformation in den Gemiitem entfesselt hat, auch die KJraft 

12* 



130 Erster Band, erste Abteiluag. Eeden: VI. 

der Barbarei, die sich mit dem G-lauben zu decken sucht, 
Tind sieht eine „duinmere und gottlosere Sophistik" und 
eine Zuchtlosigkeit der entfesselten Massen heraufsteigen. 
Diese Erfahrung — und sie wiederliolte sich. taglich — hat 
einen Dmck auf sein Wesen ausgeiibt, der niemals ge- 
schwunden ist. Auch Luther hat zurnend die kontraren 
Folgen der Reformation empfunden, aber er wufite, daU 
er mit seinem Grott im Bunde war; der Lauf der Welt 
kiimmerte ihn wenig. Grriff er einmal in denselben ein, so 
traf er den Nagel auf den Kopf und zeigte, daU er auch 
der Bildung und der Wissenschaft ihr Recht gab. Melanch- 
thon aber war es nicht gegeben, auf dieser Hohe zu atmen 
und das Sorgen zu lassen. Allein eben aus dieser uner- 
miidhchen Sorge gestaltete sich der ihm eigentiimliche Be- 
ruf des Reformators; in ihr fand er sich selber; denn die 
Sorge spornte seine Gewissenhaftigkeit, zunachst fiir seine 
Studenten, dann fiir die reformatorische Wissenschaft, dann 
fiir den ganzen Umfang der Reformation im deutschen 
Vaterland. Seit dem Jahre 1524/25 etwa ist die Entwick- 
lung des Mannes vollendet. Mit dem Entwurf der Visi- 
tationsartikel betritt er dann die Linie, die er nicht mehr 
verlassen sollte. DreiunddreiCig Jahre hat er nun gearbeitet 
als der groCe, universale Lehi-er des Protestantismus. Welche 
Ziele ihm dabei vorschwebten und welche Mittel er in Wirk- 
samkeit setzte — sowohl in seiner kirchUchen wie in seiner 
wissenschaftlichen Tatigkeit; denn beides geht immer Hand 
in Hand — , das lassen Sie mich mit wenigen Strichen an- 
geben. 

Im Vordergrund steht auch ihTn das reine Evangehum, 
das erneuerte Christentum mit seiner Grlaubensgewifiheit 
und Innerlichkeit, deshalb auch Recht und Pflicht des Ein- 
zelnen, dasselbe ohne priesterliche Bevormundung sich an- 
zueignen. Wie Luther ist er davon durchdrungen, dafi dies 
die eigenthche Aufgabe des Zeitalters ist, und in Luther 
verehrt er den Eiihrer und Propheten. Aber daneben ist 



Philipp Melanohtlion. 181 

er ztLniekgekelirt zu seiner ersten Liebe, zTim Ideale seiner 
Jngend, und ist iiberzeugt, dafi das klassische Altertum 
nnersetzliche Griiter erarbeitet liat, namlicli eine wohlge- 
ftigte, naturliche nnd wissenschaftliche Erkenntnis Gottes 
und des Menschen, feste sittlicbe Richtlinien und eine 
sicbere Metbode, die Wabrbeit zu ergriinden und darzu- 
stellen. Darf dieser berrlicbe Ertrag nicbt preisgegeben 
werden, weil er allein vor der Barbarei und Sittenlosigkeit 
scbiitzt, so gilt es, die Sacbe des erneuerten Cbristentums 
mit ibm zu verbinden. Das neu gewonnene innere Ver- 
baltnis zu dem Unsicbtbaren soil seine Ausgestaltung in 
der Welt des Denkens und Handelns mit Hi If p. der Krafte 
empfangen, die die Mensobbeit in ibrer klassiscben Zeit 
erarbeitet bat. , Sapiens et eloquens pietas" — in dieser 
Losung scblieCen sicb alle Ideale zusanunen. Aus der 
Frommigkeit im Bunde mit den Spracben und "Wissen- 
scbaften soil sicb ein Strom von sittigenden Wirkungen 
iiber das ganze Leben und Tiber alle Gemeinscbaftsformen 
ergieUen. Der Bund aber zwiscben dem cbristbcben Grlauben 
und der Klassizitat ist so gedacht, daC diese einerseits die 
Grrundlage abgibt, sofern sie die Freibeit und die natiirlicbe 
Anlage des Menscben zum Sittlicben nacbweist, andererseits 
die Ausgestaltung der Grlaubenserfabrung in alien em- 
piriscben Beziebungen des Lebens iibernimmt. 

Die Aufgabe, die Melancbtbon aus dieser Erkenntnis 
erwucbs, war eine tbeoretiscbe und praktiscbe zugleicb. 
Als tbeoretiscbe erganzte sie die Aufgabe Lutbers, muiJte 
aber aucb in Konflikt mit ibr geraten. Melancbtbon wollte 
das Leben verbessern, Lutber es neu begriinden. Lutber 
scbien den Grlauben allein zuzulassen und alle iibrigen 
Krafte abscbatzig zu beseitigen. Wer ibn predigen und 
scbreiben borte, konnte wobl meinen er woUe ein ent- 
scbeidendes inneres Ergebnis — einen Grott haben — allein 
gelten lassen und aus diesem Kapitale alles, aucb aUe Sitt- 
licbkeit, alle Bildung und alle Erziebung bestreiten. DaB 



182 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI. 

gerade er den friscliereii und tieferen Blick auch fiir die 
Selbstandigkeit des naturlichen Lebens besaC, dafi er viel 
sicherer als irgend ein Anderer das Heilige iind das Profane 
unterschied, dafi seine liarte Lehre vom gebnndenen WUlen 
endlicli einmal den reizenden Schleier zerriiJ, der aus 
ReKgion und fragwiirdiger PMlosophie gewoben war, das 
ahnte niemand. "Was MelancMhon hier als G-efahr empfand, 
was jeder gebildete Zeitgenosse so empfinden mtdSte, war 
die Bedroliung des sittliclien Lebens und einer fortschreiten- 
den EntwicMung. Die dogmengeschichtliclien, augustini- 
schen HuUen, von denen Luther seiae tieferen Anschau- 
ungen nicht zu befreien vermoclite, liefien diese "Wirkung 
in der Tat befiirchten, und wenn kleinere Greister aniingen, 
auf ikren Instrumenten die Tone Luthers nachzuspielen, 
welch, eine barbarische Musik mufite da entstehen! 

Niemand hat das tiefer gefuhlt, als der zartsinnige, 
sittUch rein empfindende Melanohthon, und so bemiihte er 
sich, vorsichtig, priifend, riicksichtsvoU die G-edanken 
Luthers zu bearbeiten, zu beschneiden und zu erganzen. 
Ein sauxes, muhsames Tagewerk, das ihm Memand recht 
dankte und das doch ganz unerlaiJlich war, wenn das 
gegenwartige Geschlecht erzogen werden sollte. Welch 
eine Sum me von EleiC, welch eine Umsicht bezeugen die 
immer wieder aufs neue durchgefeilten dogmatischen Ar- 
beiten Malanchthons! Neben der angstUchen Sorge, durch 
keine Paradoxie zu blenden, durch keinen padagogischen 
MiCgriff zu verwirren, jede Uberstiirzung zu vermeiden, 
neben mancher schuhneisterlichen TriviaKtat — wieviel 
originale und treffliche G-rifte! Wie gliicklich ist der Ge- 
danke, den gefahrdeten Zusamm enhang der Religion mit 
der Sittlichkeit unter dem Titel „der neue Gehorsam" sicher 
zu stellen, und wie ist Melanchthon seinem Ziele, eine 
kraftige evangelische Moral theoretisch zu begriinden, ge- 
recht geworden durch seine herrliehen Ausfiihrungen iiber 
die evangelische Vollkommenheit, die er der monchischen 



Philipp Melanohthon. 183 

VoUkommeiilieit entgegensetzte! Grewifi — er hat die Schul- 
gestalt der evangelischen Dogmatik begriindet und damit 
manche frische Erkenntnis beseitigt und der Sach.e selbst 
schwere Fesseln angelegt. Aber er hatte doch nicM die 
WaM zwischen freieren und gebundeneren Auffassungen 
und wahlte die gebundeneren, sondern er hat eine Schul- 
gestalt iiberhaupt erst schaffen miissen. Wer wirken will, 
mnfi formulieren und gestalten konnen; Grestaltungen aber 
improvisiert man nicht, sondern muJJ ihre Grrundhnien dem 
Schatze des Erarbeiteten entnehmen. Und wer die EinbuCe 
beklagt, die der G-edanke in der Fessel des Schulbuchs er- 
leidet, der soli sich fragen, wie lange sich ein Gredanke rein 
erhalten wird, der gestaltlos wie ein Glockenton durch die 
Lufte dxingt. 

Die groCe Aufgabe, das erneuerte Christentum zu 
lehren, und im Zusammenhang mit der Bildung des Zeit- 
alters zu halten, hat Melanchthon seit dem Jahre 1525 unter 
den Augen Luthers getrieben und dann noch 14 Jahre 
fortgesetzt. 

Die theologische Arbeit war ihm im G-runde kein 
inneres Bediirfnis; er trieb sie unter dem kategorischen 
Imperativ der Pflicht; nur systematisch-padagogische Form- 
gebung reizte ihn hier; sonst entsprachen seiner Neigung 
immer mehr die gewohnten philologischen Studien. Hat 
je einer unter der theologischen Aufgabe geseufzt, so war 
er es; aber er wufite, daC ihm niemand die Arbeit abnehmen 
konnte, darum blieb er bis zuletzt auf dem Posten. Ge- 
spannt fragt man, wie sich nun das personliche Verhaltnis 
zu Luther gestaltete. Eine herzhche Vertrauhchkeit, wenn 
sie je bestanden hat, verschwand bald; aber ein gegenseitiges 
Vertrauen behauptete sich trotz aller Verschiedenheiten der 
Charaktere, der Stimmungen und der Arbeit. „Ich bin 
dazu geboren", erklart Luther, „dalJ ich mit Rotten und 
Teufeln muB kriegen, darum meine Biicher viel kriegerisch 
sind. Ich bin der grobe Waldrechter, der Bahn brechen 



184 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI. 

muC. Aber Magister Philipp fahrt sauberlicli stille daher, 
saet und begieUt mit Lust, nacbdem ibm Gott gegeben 
seine Gaben reichlicb". Nicbt mit Unrecht sagt man, daJJ 
Melancbthon an Lutber zu tragen batte — imperatoriscbe 
Gewalt in oft scbroffen, riicksicbtslosen Formen — , aber 
die Gegenrecbnung zeigt, daB in Wabrbeit Lutber der ge- 
duldigere seiu muBte. Mit welcber beroiscben Langmut bat 
er dem Freunde das Kleinbcbe, Angstbcbe und Empfind- 
b'cbe nacbgeseben! "Wie bat er ibn immer wieder aus der 
Sorge und Furcbt auf jene Hobe erboben, von der allein 
eine solcbe Bewegung geleitet werden konnte! Wie bat 
er an dem Genossen jene ibm so antipatbiscbe erasmiscbe 
Weise ertragen im Vertrauen auf die Ubereinstimmung ia 
dem Kerne der IJberzeugungen! Mit welcber Einsicbt und 
GroJJmut bat er endbcb Melancbtbon auf seinem Gebiete 
scbalten lassen, dem der Padagogie und KircbenpoHtik, 
und ist selbst dann nicbt an ibm irre geworden, wo er 
alien Grund batte, ibm in die Wiirfel zu greifen. Li 
jenen Jabren — - aucb der Augsburger Reicbstag faUt in 
diese Zeit — , in denen Melancbtbon es fast mn jeden Preis 
versucbte, die Einbeit der Kircbenlebre und Verfassung 
festzubalten und die Reformation auf die Stufe eines blofien 
Kampfes gegen MiCbraucbe berabzudriicken — in jenen 
Jabren bat Lutber das voile Zutrauen zu Melancbtbon be- 
wabrt, daC er die Sacbe selbst trotz aUer Politik und Pada- 
gogik docb nicbt preisgeben werde. Nicbt immer bat 
Melancbthon diesem Zutrauen entsprocben. Es kamen 
Momente — sowobl bei Lutbers Lebzeiten als zur Zeit des 
Scbmalkaldiscben Krieges und des Interims — , in denen 
Melancbtbon die Probe nicbt bestanden bat. Nicbt sicb 
selbst ist er dabei untreu geworden, wobl aber der Aufgabe, 
die ibm, wollend und nicbt woUend, zugefaUen war, der 
Hiiter des lutberiscben Erbes und die Saule der Kircbe 
Lutbers zu sein. Dort in Augsbiu-g, wo er in der Formulie- 
rung der evangebscben Glaubensartikel bereits bis an die 



Philipp Melanohthon. 185 

auCerste Grenze der Konzessionen gegangen war, droMe er 
in den Verhandlungen, die ihnen folgten, jeden Halt zu 
verlieren. Doch hat er sich in der ausgezeiclineten Apologia 
des Augsburger Bekenntnisses wieder gefunden. Aber mit 
voller Kraft drangte sich in und nach dem ungliicMichen 
Verlauf des Schmalkaldischen Krieges alles in ibm hervor, 
was er seit Jahren zuriickgedrangt hatte, seine Antipathie 
gegen die G-ewaltsamkeiten eines Bruches der Geschichte, 
seine Hochschatzung iiberlieferter Formen, die trauten 
Kindererinnerungen an die alte Kixche, dazu personliche 
Bitterkeit und Kleinmut. Nicht Melanchthon, sondern die 
engen Kopfe, wie Flacius, und neben ihnen — Moritz von 
Sachsen haben damals den Protestantismus gerettet. Aber 
mit der Rettung war es nicht getan. Wieder gait es zu 
bauen und zu pflegen, ein evangelisches Kirchentum und 
eine evangeKsche "Wissenschaft auszugestalten, weit genug, 
um den Strom der Greschichte in dieses Bett zu leiten. 
Auf Melanchthon allein fiel wiederum diese Aufgabe, und 
in schwerem Konflikt mit seinen Neigungen, fast mochte 
ich sagen, mit seinen tJberzeugungen , kampfend fiir sein 
Ideal, aber zugleich blutend fiir manche Lehren, die nicht 
die seinigen waren, ist er auch nach der Wiederherstellung 
des Protestantismus rastlos tatig gewesen, die Kirche nait 
der Wissenschaft zu bauen, Luthers Autoritat und Luthers 
Lehre als die gegebene Grundlage anzuerkennen und sie 
doch nach seiner wissenschafthchen Einsicht und nach den 
Bediirfnissen der gelauterten Frommigkeit zu erweitern 
und zu erweichen. Die Seelenqualen des Vermittlers haben 
ihn nie verlassen, und die Angriffe nicht nur des theolo- 
gischen Fanatismus, sondern auch ehrhcher sproder tJber- 
zeugungen drangen immer drohender auf ihn ein. Aber 
er lieC das Steuer nicht aus der Hand, das er gefafit hatte, 
und er warf nichts iiber Bord, um sein Schiff zu erleichtern; 
denn er meinte, daU die Zukunft kein Stiick entbehren 
konne. So ist er in seiner Weise fest geblieben in dem 



186 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI. 

Streit der Epigonen. Mit den Worten: „Du wirst der 
Sunde abscheiden, du wirst von allem Kummer frei werden 
und von der fanatisclien Wnt der Theologen", sah er dem 
Tode als einer Erlosung entgegen. Im G-edacMnis seiner 
Kirche war sein Andenken zunachst gefahrdet, und fast 
jahrliundertelang ist sein Name im lutherischen Protestan- 
tismus niclit ohne MiUtrauen genannt worden, aber sein 
Werk blieb besteben. Bereits die Konkordienformel bedentet 
bei allem Argwobn gegen Melancbtbon docb eine Absage 
an das strengste und engste Lutbertum im Sinne Melancb- 
tbons. Bald aber entstanden in Deutscbland viele Karcben, 
die sicb reformiert nannten, in Wabrbeit jedocb melancb- 
tboniscb waren, und in ibnen entwickelte sicb der Geist 
der Unionsgesinnung, aus welcbem der groJJe Fortscbritt 
im inneren Leben des Protestantismus bervorgeben soUte. 
Lutbers Glaubenskraft ist Kleinod und Ziel des Protestan- 
tismus gebbeben, er selbst der Heros eponymos, aber seine 
Tbeologie ist in seiner Kircbe nicbt kanoniscb geworden, 
und das war gut. Melancbtbon ist als Person in der Kirche 
zuruckgetreten, aber entscbeidende Riobtbnien, die er der 
neuen Tbeologie gegeben bat, sind gebbeben, und das war 
aucb gut. Er bat den Protestantismus fiir die Wissen- 
scbaft und die Wissenscbaft fiir den Protestantismus ge- 
rettet — in Verkettungen, die beute nicbt mebr in voller 
Geltung steben, die aber in ibrer Zeit Kircbe und Bildung 
zusammengebalten baben. — 

Das kircbbcb-tbeologiscbe Lebenswerk Melancbtbons 
babe icb skizziert, aucb mit seinen peinbcben Eindriicken 
und docb — ein groCes segensreicbes Werk! Vergessen wir 
dabei nicbt, unter welcben Verbaltnissen er gearbeitet bat! 
Die Scbwierigkeiten der inneren Lage sind scbon berubi-t 
worden, die auCeren waren scbrecklicb. Aucb beute erfabi't 
jeder scbweres Leid, der von Innen an der rebgiosen Frage 
riibrt, aber damals erfohr man nocb bucbstablicb, daB die 
Welt voU Teufel war, wenn man kircblicbe Verbaltnisse 



Philipp Melanohthon. 187 

antastete; denn vom Mittelalter her umstanden noch furcht- 
bare Wacliter die Religion, Gefangnis, Sohlage, Folter — 
der Tod. Unter dem Schirm seiner Landesherrn, der 
erlauohten Fiirsten, und nnter dem Schild des Helden, der 
alle scMtzte, der die ganze Bewegung trug — aucli als er 
nicht mehr unter den Lebenden weilte — , hat Melanohthon 
sein Werk voUendet, er hat die Lehre begriindet und die 
Earche gebaut. — 

Aber blicken wii- nun von seiner dogmatischen und 
kirchlichen Tatigkeit auf die allgemein wissenschaftHche. 
Mit reiner Bewunderung konnen wir zu ihm aufschauen. 
Hier war er ganz in seinem Elemente und hat dem christ- 
lichen Humanismus einen weiten und festen Bau aufge- 
riehtet, in welchem die Wissenschaft und ihre Jiinger mehr 
als anderthalb Jahrhunderte gewohnt haben. Hier hat er 
sich auch des allgemeinen Vertrauens erfreut durch die 
Lauterkeit seiner Gresinnung, die Selbstlosigkeit und Un- 
bestechlichkeit seiner Ratschlage und eine von niemandem 
erreichte didaktische Sachkenntnis. Jener Bau war kein 
Neubau im vollen Sinne des Worts. Vergleichen wir ihn 
mit dem des 13. und des 18. Jahrhunderts , so steht er 
jenem viel naher als diesem. Koch immer ist Wissenschaft 
nicht Forschung, sondern Lehre, noch immer fiihrt die 
Theologie das Szepter iiber alle Wissenschaffcen , noch im- 
mer gilt die durchsichtige Form fast soviel wie die Sache. 
Aber der Bau umfaCte die alten Elemente in gereinigter 
G-estalt und enthielt auch wesentliche neue Elemente des 
Fortschritts : nicht nur die Kenntnis des Grriechischen, die 
die unerlaUliche Vorbedingung jeder wissenschaftlichen 
Vertiefung war, sondern iiberhaupt die Aufforderung, die 
Uberlieferung so kennen zu lemen, daU man iiberall auf 
die Originale zuriickging. 

In erster Linie hat Melanohthon fiir den ganzen Kreis 
der Wissenschaft gearbeitet durch seine Lehrbiicher. Nicht 
nur Grrammatiken hat er herausgegeben, sondern Kompen- 



188 Erster Band, erste Atteilung. Keden: VI. 

dien der Rhetorik, der Dialektik, der Physik, der Psyclio- 
logie Tind der Ethik, dazu auch einen ziemlich ausfuhrliclieii 
Leitfaden der Greschichte; ja er ist einer der ersten gewesen, 
der regelmaJJig Vorlesungen iiber Greschiclite gehalten hat. 
Alle diese Lehrbiiclier dienten dem akademischen Unterriclit. 
Als uniibertroffene Muster von Klarheit, Ordnung und ele- 
ganter Angemessenbeit des Vortrages werden sie von einem 
Meister der Greschicbte der Pbilosopbie geriHimt, nnd 
treffend fiigt derselbe hinzu, Melanchthon habe durcb sie 
die pbilosophiscben "Wissensckaften von der Kasuistik des 
scholastischen Denkens befreit, den ins MaBlose getriebenen 
Distinktionen der Begriffe, der verkiinstelten Spracbe nnd 
dem gan^en Staube des Mittelalters. Dabei liielt er aber 
zugleich den Humanisten gegeniiber die logische Grriindlicb- 
keit im Vortrag aufrecbt. In der Tat — die Befreiung 
von der Kasuistik, wie in der tteoretischen Philosophie, 
so vor allem in der Ethik, war der groUte Fortschritt in 
diesem akademiscben Unterricbt. Er war die Vorbereitung 
und IJberleitung zu einer einbeitlichen Erkenntnis der 
Natur und des Geistes, wie sie einem spateren Zeitalter 
aufgeben sollte. Aber aucb die Zuriickdrangung der Bild- 
licbkeit des Vorstellens einerseits und der Kampf gegen 
die Begriffsmytbologien andererseits erboben die enzyklo- 
padischen Arbeiten Melancbtbons iiber die Stufe einer in 
den Formen steckengebbebenen Pbilosopbie. "Was er in 
seine Lebrbiicber schrieb, das trug er in lebendiger Rede 
vom Katheder berab vor, immer unverdrossen, mocbten es 
viele bunderte Zuborer sein oder kaum ein Dutzend. Nocb 
in dem Jabre seines Todes las er gleicbzeitig secbs Vor- 
lesungen, liber die griecbiscbe Grrammatik, iiber Euripides, 
iiber den Romerbrief, iiber Dialektik, iiber Ethik und iiber 
G-eschichte. Alle Studenten sollten diese Vorlesungen horen, 
vor allem aber die Theologen; denn — davon war Melanch- 
thon durchdrungen — eine ungelehrte, unwissenschafthche 
Theologie ist eine „Ilias malorum" 



Philipp Melanohthon. 189 

Aber der groCe Lehrer, unter dessen Handen alles 
didaktisch wurde, die Religion nicht weniger als die Poesie, 
lehrte mcM nur, sondem er bildete. Me ist der Beruf des 
Q-elehrten, des Professors, idealer und groCer gefaJJt, nie 
■niirdiger verwirHiclit worden, und darum sammelte er nicht 
nnr Zuhorer, sondern erzog sicli ScMler. DaiJ der Lehr- 
beruf eine sittliche Gremeinschaft der Strebenden hervor- 
rufen miisse, daC der Grelehrte deia Grelehrten wie ein 
Freund gegeniiberstehe, daU eine Gremeinscliaft aller Lehren- 
den im Dienste der Wissenschaft kein bloBer Traum sei, 
sondern ein erreichbares Ideal, das war ilim gewifi. In 
diesem Sinn hat er gewirkt und seine ScKiiler sowoM wie 
jeden Gelekrten als Freund an sicb gezogen, im personlicben 
Verkehx — nicbts ging ihm iiber eine docta et arnica con- 
fabulatio — und in einem unermeBbch reicben Briefwecbsel. 
Viele tausende von Briefen sind beute bekannt, und noch 
immer steigt die Zabl. Soweit es an ibm lag, blieb Me- 
lancbtbon mit jedem Schiiler in Zusammenbang, beantwor- 
tete jede Frage, nabm an den Lebensscbicksalen der jungen 
Freunde teiL und leitete aus der Feme von seinem Schreib- 
tiscb um Mitternacbt ibre Seliritte. Die Folge war, dafi 
er die Universitaten und gelebrten Scbulen besetzte, nicbt 
nur im evangeliscben Deutscbland, sondern aucb in Scbott- 
land und England, in Polen und Ungarn. Ibn fragten 
die Fiirsten, ibn die Magistrate, wenn es gait, tiicbtige 
Lebrer zu gewinnen; sie wuCten, daC er niemals etwas fiir 
sicb begebrte und nur der Sacbe diente. So empfing der 
Protestantismus einen einbeitlicben Lebrerstand neben einer 
einbeitbcben Bildung. Jenes bobe Grut des Mittelalters, 
welcbes durcb die Reformation in Frage gesteUt war, die 
Einbeit der Kultur — es bbeb dem Abendland erbalten, 
soweit die Spaltung der Rebgion und die immer kompb- 
zierter werdenden Bedingungen der auBeren und inneren 
Lage es zubeUen. Der eine Melancbtbon bat im 16. Jabr- 
bundert das geleistet, was im 12. und 13. die stolze Reibe 



190 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI. 

groUer Lehrer vom Lombarden bis zu Duns Scotus geleistet 
hat. Aber dort war schliefilich. alles moncMcli orientiert; 
auf allem weltliclieii Handeln lag der Bann der Kirclie; 
hier dagegen waren Grottesdienst Tiiid weltlicter Beruf in 
dem Element des Ethiscken versohnt; neue Anfgaben 
waren der sittHcben Lebensbewegung gestellt. 

Docb nocb. habe icb das letzte Verdienst MelancMhons 
um die hohere Bildung nicbt genannt. Zwar war er zum 
Herrscber nicht veranlagt, aber er war ein vorziigliclier 
Organisator. Nicbt nur die Universitat Wittenberg hat 
erst er nach iinvolLkoinmenen Anfangen wirklich eingerich- 
tet nnd bheb zeitlebens ihr Haupt nnd ihre Seele, auch 
die knrsachsische Schnlordnimg hat er entworfen. Beide 
Lehrplane wurden vorbildlich fiir einen stets wachsenden 
Kreis von protestantischen Universitaten nnd gelehrten 
Schnlen. Solche in alien G-ebieten unseres Vaterlandes 
einzurichten, den Verhaltnissen anzupassen nnd sie zu be- 
raten, ist er rastlos tatig gewesen. Bis zur Stiftung der 
Universitat Halle, d. h. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts 
ist seiue Organisation des gelehrten Unterrichts in Deutsch- 
land maCgebend gebheben. Hier sind die GTenerationen 
gebUdet worden, die sich durch den dreiCigjahrigen KJrieg 
nicht niederwerfen liefien. Vor aUem aber die evangelischen 
theologischen Fakultaten sind sein Werk. Dankbar bhcken 
sie an dem heutigen Tage zn rhm auf xmd geloben, das 
ihnen anvertraute Gut zu bewahren und ihre Arbeit unter 
das schone Bekenntnis zn steUen, das er abgelegt hat: 
„Ich bin mir bewufit, mit meiner ganzen theologischen 
Arbeit nie einen anderen Zweck verfolgt zu haben, als 
das Leben zu berichtigen nnd zu veredlen." — 

So lehrend und bauend, sittigend nnd erziehend, hat 
er ein groCes, einheithches Lebenswerk geleistet. Anders 
als es sich der friihreife Jiingling gedacht, hatte sich die 
Aufgabe gestaltet, und ia Stunden des Verdmsses nnd des 
theologischen Haders hatte er den Eiudruck, aus seinen 



Philipp Melanchthon. 191 

eigentliclieii Balinen geworfen zu sein. In Wahrlieit hat 
er sie nicht verlassen und alles das entwickelt, was in seiner 
Natur angelegt war, vmd was das grofie Erlebnis des Zeit- 
alters, die Eeformation, in eirier solcten Natur zn entziinden 
vermoclite. — 

Der heutige Tag regt aufs neue in uns die Frage an, 
welche innere Wahrheit und welches Eecht dem Ideale des 
christKchen Humanismus zukommt. Heriiber und hiniiber 
wogt der Streit der Meinungen. Soviel aber ist gewiU, dafl 
Christentum und Antike nicht wie zufallig von Epigonen 
zusammengeschweiiJt sind, sondern daC bei allem Gegen- 
satz auch ein wirklicher, uralter Zusammenhang besteht. 
QewiB ist auch, daB unsere Kultur und Gesittung trotz 
der Umwakung unserer "Weltanschauung solcher Manner 
bedarf, die im Qeiste Melanchthons zu wirken vermogen. 
Fiir einen bloBen Klassizismus ist ebensowenig E-aum und 
Verstandnis mehr in unserem Zeitalter vorhanden, wie fiir 
eine Theologie, die sich gegen die fortschreitenden Er- 
kenntnisse absperren zu konnen meint. Aber der christ- 
liche Humanismus Melanchthons, bereichert und vertieft, 
ist auch heute noch die Kraft unseres hoheren Lebens, 
und sein Schwert wird noch immer aufbhtzen, wo es gilt, 
das Erbe der Greschichte zu verteidigen, den Adel des 
Geistes zu schiitzen und die Eeinheit der Seele. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^ 



REDEN: VII 
AUGUST NEANDER 



Rede 

bei der Feier zum hundertjahrigen Gtedaclitnis der Geburt August 

Neanders gehalten in der Aula der KOniglichen Friedrich -Willielms- 

Universitat in Berlin am 17. Januar 1889. 



Die theologisclie Fakultat hat Sie eingeladen, mit ikr 
das Andenken August Neanders festlicL. zu begehen. 
Sie feiert in ihin den Kirchenliistoriker, mit welcliem, 
wie sein groCer Rivale, Ferdinand Christian Baur, be- 
zeugt, eine neue Epochs der kirchlichen Geschichtsschreibung 
begonnen hat. Sie verehrt in ihm den beruhmtesten und 
gehebtesten Lehrer, den sie neb en Schleiermacher in 
ihxer Mitte besessen hat. Die Aufgabe, sein Lebensbild 
und seine Bedeutung zu schUdern, hatte ich gerne Be- 
rufeneren iiberlassen. "Weilen doch in unserer Mitte solche, 
die zu seinen FiiOen gesessen haben und denen das Herz 
aufgeht, wenn sein Name genannt wird; erfreuen wir uns 
doch noch der Gegenwart des greisen Kirchenhistorikers, 
der eine uniibertreffliche Charakteristik seines Zeitgenossen 
Neanders geschrieben hat, Karl Hase. Aber auf den Lehr- 
stuhl berufen, den Neander einst schmiickte und den er zu 
einem Katheder des protestantisohen Deutschlands , ja der 
protestantischen Welt erhoben hat, durfte ich mich der 
Aufgabe nicht entziehen, am heutigen Tage einen beschei- 
denen Kranz zu den FiiBen des groBen Vorgangers nieder- 
zulegen. Mag der Abstand der Zeiten, mag das Fehlen 
personlicher Erinnerungen dem Bilde den sonnenhaften 
Grlanz versagen, in welchem nur personliche Schiiler es zu 
schauen vermogen, so gelingt es vieUeicht dem spater Gle- 
borenen besser, das Bleibende von dem Verganglichen zu 
scheiden. 

Ware Neander freilich nur eia. Virtuose gewesen, wie 
sie am Anfange unseres Jahrhunderts auf alien Gebieten 

13* 



J^gg Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

der Wissenschaft neben den walirhaft groCen und fiihren- 
den Geistern zahlreich waren und in anregender aber un- 
geziigelter Eigenart den Charakter jener merkwiirdigen 
Epocbe mitbestimmt haben, so wiirden wir beute seiner 
nicbt feierlich und dankbar gedenken; denn die Nacbwelt 
flicbt dem Virtuosen keine Kranze. Aber inmitten jener 
Grruppe von enthusiastischen Greistern und beweglicben Ta- 
lenten ragt er liervor durch die Lauterkeit seiner G-esinnung, 
durcb die eindringende und sanfte Gewalt, mit der er eine 
neue Betrachtung der Kirchengeschichte durchgesetzt hat, 
und — nicht zuletzt — durch einen wahrhaft bewunderungs- 
wiirdigen FleiB. Und doch ist damit fiir alle, die ihn ge- 
kannt haben, noch nicht das Hochste gesagt. Was sie an 
ihm verehxten, wodurch er sie innerlich bezwang und sich 
zu eigen machte, das war seine christliche Personlichkeit, 
seine Demut und Einfalt, seine Selbstverleugnung und 
Liebe, der christliche Glaube, in welchem der Gelehrte eben- 
so aufging wie der Mensch. Man kann von Neander dem 
Kirchenhistoriker nicht sprechen, ohne von Neander dem 
Christen zu reden. Und man darf auch an dieser Stelle 
sein Andenken nicht beleben, ohne das Herz dieses Mannes 
zu riihrnen, das unbegrenzte Wohlwollen, das nicht nur 
iiberfioJ] in Gaben der Barmherzigkeit, sondern das sich vor 
allem in edelster Freundschaft oiFenbarte. „Der Drang 
geistiger und gemiitKcher Mitteilung war die Seele seines 
Lebens." 

Als Sohn eines jiidischen Elramers gewohnlichen Schlags 
ist David Mendel — denn das war sein urspriinglicher 
Name — , das jiingste von sechs Geschwistern, in Gottingen 
geboren. Fiir seine Erziehung war es entscheidend, daC 
die Mutter bald das Haus des unwiirdigen Gatten verlieC 
und mit den Kindern nach Hamburg zog. Sie war eine 
fromme, achtungswerte Frau, hatte verwandtschaftliche Be- 
ziehungen zu guten jiidischen Famihen, so zu Mendelssohn 
und Stieghtz, und lebte fiir ihre Kinder. In Hamburg ist 



August Neander. 197 

der Knabe aufgewachsen. Die Mutter machte es uiiter 
Opfern moglich, ihii in das Johanneum zu scMcken, dessen 
Direktor Griirlitt sicli bald fiir den nngewQhnlichen Zog- 
ling interessierte. Denn -ungewohnlicli war er. Korper, 
Haltung und Kleidung waren vernachlassigt und wiesen 
ibn in die Klasse jener armen Judenjungen, deren Anblick 
ein mit Verdrufi gepaartes Mitleid erregt. Aber der Greist, 
der in dieser wenig angemessenen Behausung lebte, ent- 
ging dem scharfen Auge des Direktors nicbt und scblielJ- 
lich triumphierte er auch iiber die Spottlust der Mitschuler. 
Scbon hier beginnt die Parallele zu den Vatern und Asketen 
der alten Kircbe, die sich jedem aufdrangt, der ISTeanders 
Eigenart und Entwickelungsgang iiberscliaut. Zeitlebens 
ist er in kiimmerliclier Hiille geblieben. Seine Unbeholfen- 
heit und Unmiindigkeit im weltKchen Lebensverkehr sind 
in dieser Stadt spricbwortlich. geworden. Er blieb in den 
auCeren Dingen wie ein Kind, durch. und durch abhangig 
und der Bevormundung bediirftig. Aber audi dort, wo er 
es vermooht hatte, sick iiber diese Unbebolfeidieit zu er- 
heben, scheint er mit BewuiJtsein die Grleicligultigkeit gegen 
alles AuCere festgehalten zu baben. Sie bildete gleicbsam 
einen Schutzwall seines Daseins, um sick ungestorter und 
volliger seinem Berufe binzugeben. So bat er sick aucb 
niemals entscblieCen konnen, in die Eke zu treten. Er 
blieb ein Monck, alien Aveltlicken Glesckaften abgewandt, 
aber rastlos arbeitend und Seelen werbend. 

Ostern 1805 ging er, im Grrieckischen und Lateiniscken 
der Erste, vom Jokanneum zum akademiscken Grymnasium 
iiber. Die Rede, die er nack Anordnung des Direktors 
iiber das Tkema: „De Judaeis optima conditione in civi- 
tatem recipiendis", also iiber die Judenemanzipation, kielt, 
atmet den Greist Moses Mendelssokns und des 18. Jakr- 
kunderts. Vielleickt aber darf man annekmen, daC sie mekr 
den Gesinnungen des Direktors entsprack, der sie auck mit 
Anmerkungen zum Druck befordert kat, als seinen eigenen. 



198 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

Sie mach.te iibrigens einen gewaltigen Eindruck. Niemand 
iatte das von dem sonst so schiiclitenien uiid in seinem 
Auftreten nngeschickten Jiingling erwartet. 

Aber mochte er auch voriibergeliend von den pldloso- 
pbisclien nnd biirgerliclien Idealen der Aufklarungszeit be- 
riihrt gewesen sein — scbon war ilini ein anderer Stern 
aufgegangen, Plato, nnd wakrend er sicK ihm mit Be- 
geisterung Mngab, fiibrte ilun das akademiscbe Gymnasium 
zwei Freunde zu, Varnhagen von Ense nnd Wilhelm 
Neumann, altere Studenten, die bereits mit Obamisso 
einen MusenabnanacK herausgegeben batten. Sie geborten 
der selbstbe-wTiCt imd kiibn aufstrebenden romantiscben 
Scbnle an nnd waren durcb die innigste Freundscbaft mit- 
einander vereinigt. In diesen Bund, der sich das Zeicben 
des Nordsterns als Symbol erwablt batte, trat David Mendel, 
nnd er entscbied fiir sein Leben. Die Freunde fiibrten ibn 
in die Scbriften Scblegels, Tiecks und Ficbtes, in 
den Zaubergarten der Romantik, ein, und er lebrte sie den 
Plato. Aus der engen Scbulstube und der "Welt niicbterner 
und spieBbiirgerlicber Ideale, aus einem gedriickten nnd 
kiimmerlicben Dasein, sab sicb der Jungbng plotzlicb in 
die Spbare iiberscbwengbcber Herrlicbkeiten und edelster 
Gefuble versetzt. Das Wunderland, welcbes Plato und die 
Neuplatoniker entdeckt, welcbes die Mystiker gescbaut, Jakob 
B5bme gebeimnisvoU bescbrieben, tat sicb ibm auf. Hand 
in Hand mit den gleicbgestimmten Freunden bestieg er 
jenen Nacben, dem der Fabrmann feblt, aber dessen Segel 
beseelt sein sollen, um binauszufabren ins Weite, um das 
Universum zu gewinnen, um — icb rede in seinen "Worten 
— aus der VieUieit und Entzweiung die Einbeit wieder- 
zufinden, die feste klare Kindlicbkeit, den absoluten Cba- 
rakter der Vergottlicbung. In diesem Sturm und Drang, 
in dem seine Seele scbwelgte, war ibm die Freundscbaft 
der Freunde nicbt nur Mittel und Hilfe. Ibm offenbarte 
sicb vielmebr in der Freundscbaft die bocbste Metapbysik 



August Neander. 199 

selbst. Liebe, Universum, Q-ottlieit, Einheit, Bruderscliaft, 
das Gute, — er lebte in einer Sphare, wo jede Vertauschung 
dieser Begriffe erlaubt, ja geboten war. Eine Reihe von 
Briefen an Cbamisso aus jener Epoche, wenn auch etwas 
spater beginnend, sind uns anfbewahrt. Sie sprecben die 
Spracbe des Schwarmers. Ein brausender "Wein schaumt 
in diesen Becbern. Doch ist die Kraft der Phantasie ge- 
ringer als der Scbwung und die Spekulation. Mancbes ist 
aucb nur nacbgeabmt. Platoniscbe, Bobmescbe, ScbeUing- 
scbe und vor allem aucb Scbleiermacberscbe Gedanken 
klingen in den Briefen des siebzebnjabrigen Jiinglings an, 
die der bocbbegliickte Freund „g6ttlicbe" nennt. Aber bei 
allem IJbersturzten, Unklaren und Rbetoriscben fehlt der 
tiefe und ernste sittUcbe Ton nicbt, den die Produktionen 
gleicbgestimmter Freunde damals nicbt selten vermissen 
lieCen. So kiindigte sicb die zukiinftige Eigenart Neanders 
scbon bier an. „Beten und arbeiten: ja das mag der Grund- 
ton der Musik unseres Bundes sein", scbreibt er Cbamisso im 
April 1806. Von Plato spricbt er in den Briefen und nennt 
ibn „den vorcbristlicben Cbristen". Und wir lesen ferner 
dort die "Worte: „Heiliger Heiland, du allein kannst uns ja 
mit diesem profanen Gescblecbt versobnen, fiir das Du . . . 
obne daC es dies verdient, lebtest, bttest, starbst. Du 
liebtest die Profanen, und wir konnen sie nur bassen, ver- 
achten!" 

„Heiliger Heiland" — Sie werden erstaimen, diesen 
Ausruf in den Worten eines Juden zu finden. Aber er war 
es bereits nicbt mebr. Scbon im Februar 1806 batte er 
sicb taufen lassen. Man darf wobl sagen, daiJ Plato, wie 
er ibn verstand, d. b. der Neuplatonismus , Plutarcb und 
Scbleiermacbers Reden iiber die Religion, verklart durcb 
den Bund der Freundscbaft, ibn zu diesem Scbritte gefubrt 
baben. "Wenige Tage vor seiner Taufe scbreibt l^eumann 
an Cbamisso: „Wir baben unter unseren Mitstudierenden 
einen trefflicben Jiingling kennen gelernt .... Plato ist 



200 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

sein Idol und sein immerwahrendes Feldgeschrei. Es sitzt 
Tag und NacM iiber ihin, und es mag wenige geben, die 
ihn so ganz und so in aller Heiligkeit in sich. aufnehmen. 
Es ist wunderbar, wie er dies alles so ganz ohne fremden 
Einflufl geworden ist, bloC durcli Betracbtung seiner selbst 
und redliches, reines Studium. Ohne von der romantischen- 
Poesie viel zu kennen, hat er sie sich selbst konstruiei-t 
und die Keime dazu in Plato aufgefunden. Auf die Welt 
um sich herum, hat er mit tiefer Verachtung blicken ge- 
lernt." 

Wie fur die Kirchenvater Justin und Augustin, so war 
auch fiii- Johann August Wilhelm Neander — denn 
diese Namen erwahlte er sich nun — der Platonismus die 
Briicke zum Christentum geworden. Es war kein Ubertritt 
aus Konvenienz. Aber wie Neander niemals ein Jude ini 
Sinne des Talmud gewesen ist, sondern vielmehr im Sinne 
Philos, so trat er auch nicht zu irgend einem dogmatischen 
christlichen Bekenntnis iiber. Wir besitzen noch den Auf- 
satz, welchen er dem Pastor einreichte, der ihn taufte. 
Hier ist das Christentum dialektisch-romantisch als die ab- 
solute Wahrheit aus den Entwickelungsstufen der Religion 
konstruiert. Neben Schleiermaeherschen Elementen tritt 
ein Bohme-ScheUingsches deuthch hervor. Als das spezi- 
fisch Christliche gilt das Verschmelzen mit dem UnendHchen, 
die Liebe als die Identitat aller Gregensatze, und der dem 
irdischen Staate gegeniibergestellte Verein der Seelen zur 
Anschauung des Unendlichen, die Earche, deren erste Keime 
Neander in dem Freundschaftsbunde der Pythagoreer finden 
will. Doch fehlte ein kraftiges Pathos fiir die Person 
Christi schon damals nicht. Aus der Grruppe der „Virtuosen 
der Religion" tritt der Erloser deuthch hervor. 

Ostern 1806 verlieC Neander Hamburg, um Jurisprudenz 
zu studieren. Allein auf der Reise zur Universitat wurde 
es ihm klar, daC er Theologe werden miisse. Er ging nach 
Halle, um den Mann zu horen, der die Gebildeten unter 



August Neander. 201 

den Verachtern wieder zur Versohnung mit der E-eligion 
fiiliren woUte, Schleiermacher, um „nic]it bloC ein 
stummes Mitglied des heiligen Bundes zu bleiben, sondern 
in die Reihe derer zu treten, welche das Christentum mit 
der Freiheit des Maren BewuCtseins aussprechen und tatig 
in dem inneren Leben der Kirche wirken". 

ScMeiermacliers Vortrage liber Kirchengeschichte mach- 
ten anf den jungen Studenten den tiefsten Eindruck. Aber 
bald notigten ihn die politiscben Verhaltnisse , Halle mit 
Grottingen zu vertauschen. Dort wurde er, Tag und Nacbt 
rastlos arbeitend, Mittelpunkt und Haupt eines Kreises von 
Freunden, denen er Plato und Schleiermaclier interpretierte. 
Ungern weilte er in Gottingen, welches er Philistropolis 
nannte. Allein der Aufenthalt daselbst war doch hochst 
wicMig. Hier lernte er in Planck den gelehrtesten 
Earcbenliistoriker jener Zeit kennen. Unzweifelbaft hat ihn 
dieser ausgezeichnete Mann zu piinktUchem und nuchternem 
Quellenstudium angeleitet. Der Greist der G-eschichts- 
forschung, das Charisma der Gottinger Hochschule, berlihrte 
den strebsamen Jiingling und fiihrte ihn zur Earchenge- 
schichte. Obgleich andere Bahnen einschlagend als Planck, 
hat Neander zeitlebens fur den „teuersten und innigst- 
verehrten Lelu^er" die Gefiihle des Dankes gehegt. Nach- 
mals als Planck sein fiinfzigjahriges Jubilaum feierte, wid- 
mete ihm Neander einen Band seiner Earchengeschichte 
und begleitete die Widmung mit folgenden pietatsvoUen 
Worten: 

„Wenn Sie auch mit vielem in diesem Werke nicht 
zufrieden sind, so werden Sie doch in dem Streben nach 
wohlwollender Gerechtigkeit den Schuler nicht verkennen, 
der von dem grofien Meister selbst, dem er so vieles ver- 
dankt, zuerst gelernt hat, dem suum cuique in der Auf- 
fassung der Geschichte nachzustreben. Und Sie werden am 
besten mit Ihrer, von dem Geiste der Liebe verklarten, nun 
durch ein halbes Jahrhundert erprobten Gerechtigkeit auch 



202 Erster Band, erste Abteilung. Keden: VII. 

jeden Ihrer Sckiiler, der in ernster Gresinnung arbeitet, auf 
seinem Standpunkt anzuerkennen wissen. Daher recline ich. 
getrost mit einer von dankbarer Liebe und Verehrung dar- 
gereichten Grabe auf Ihre NachsicM. Grott sei gepriesen, 
daU er Sie nns zum Lehrer gegeben und Sie uns so lange 
erhalten bat." 

"Wie sticbt dieses berrliche Zeugnis ab von dem boch- 
miitigen Tone, in welclieni scbon damals das neue Tbeo- 
logengescblecbt von den Mannern spracb, die es Rationa- 
listen nannte! 

Bereits wuchs aber Neander in der Beurteilung der 
Kircbenvater und des alten Dogmas iiber seinen Lebrer 
Planck binaus. Wir baben dafiir ein sebr kostbares Zeug- 
nis in einem seiner Glottinger Briefe. Er spricbt sicb un- 
befriedigt liber Plancks Bebandlung der Dogmengescbicbte 
des 5. Jabrbunderts aus. In dieser sei so vieles, was die 
Leute veranlasse, nur auf, „die auBeren Grimassen" zu 
seben und dann „das beillose Spiel" zu beweinen. Man 
miisse vielmebr die Streitenden selbst betracbten, und man 
konne speziell Augustin nicbt versteben, wenn man nicht 
einsebe, daB seine Tbeorie auf dem Boden des reHgiosen 
Gefiibls entstanden, dann auf das Gebiet des Verstandes 
verpflanzt sei, wesbalb sie leicbt miCverstanden werden 
konne. Das ist scbon der ganze spatere Neander! 

In den Ferien des Jabres 1807 traf Neander in Han- 
nover mit einem Professor Prick, in Hamburg mitMattbias 
Claudius zusammen. Durcb diese Manner, welcbe dem 
pbilosopbiscb-romantiscbem Greiste nicbt buldigten, sondern 
auf ein bibliscbes Cbristentum drangen, wurde er zum 
Nacbdenken dariiber gebracbt, ob Scbleiermacber, ScbeUing 
und Ficbte wirMich die klassiscben Interpreten des Evan- 
geliums seien. Seitdem trat die romantiscbe Pbilosopbie 
fiir ibn in den Hintergrund. Er wandte sicb ganz dem 
Studium des Neuen Testamentes und der Kircbenvater zu. 
Das Historisebe und Bucbstablicbe wurde ibmvonWicbtigkeit 



August Neander. 203 

gegeniiber pMosophisclien Umdeutungen. Die Person Ohristi 
als des gottliclien Erlosers ward ihm zum Mittelpunkt seines 
inneren Lebens nnd seiner geschichtlichen BetracMung. 
Er wuCte sicli als ein neuer Mensch, „mit jener frischen 
Innigkeit wis Einzelne in den ersten Jahrhunderten, denen 
das Ohristentum nicht angeboren war, sondern die es gegen 
widerstrebende Verhaltnisse ergriffen haben wie einen Ranb". 
Tiber das glanzende Examen, welches er im Herbst 1809 
in Hamburg ablegte, bericbtet ein Augenzeuge: jjNeanders 
Erscbeinung, den Examinatoren sicberlich eine Raritat 
eigener Art, wenn nicbt ein geisterartiges "Wesen aus 
fremden Regionen, setzte die samtlichen Herren sehr bald 
in Verwunderung nnd Erstaunen ... So oft sie ihn nur 
eben anriilirten, trat ein Strom tiefer und gelehrter Be- 
merkungen nnd gewissermaUen — interessanter Abband- 
lungen hervor, der fast kein Ende nebmen zu konnen 
scbien." Nacb kurzer Kandidatenzeit ging Neander trotz 
aller Bedenken der Seinigen nacb Heidelberg und babUi- 
tierte sicb dort als Privatdozent. Durcb die Berufung De 
Wettes und Marbeinekes nacb Berlin war in Heidelberg 
Platz fiir einen tiicbtigen Dozenten gescbaffen. Mit einer 
Abhandlung iiber Clemens Alexandrinus erwarb er sicb im 
Jabre 1811 die venia docendi. Die Tbesen, iiber welcbe 
er disputierte, sind bochst interessant, denn sie zeigen scbon 
einen neuen Greist der Grescbicbtsbetracbtung. War bisber 
von protestantiscben Kircbenbistorikern Bonifatius als ein 
berecbnender Romling hingesteUt worden, so lautete Mean- 
ders 1. Tbese: Die sind im Irrtum, welcbe die Taten des 
Apostels der Deutscben, Bonifatius, aus Ebrgeiz ableiten. 
Die 2. trat fiir die wesentlicbe Ecbtbeit der Ignatiusbriefe 
ein, und icb vermute, aucb bierin wird ihm scblieUlieb die 
KJritik Recbt geben. In der 10. warf er dem 18. Jakrbundert 
den Febdebandscbuh bin, indem er unter Berufung auf 
einen Aussprucb des Aristoteles in Abrede stellte, daC es 
„natiirlicbe Religion" gebe. 



204 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

Seines Bleibens in Heidelberg war nicht lange. Im 
Jahre 1812 gab er die kirchenhistorisclLe MonograpMe ber- 
aus: „Uber den Kaiser Jubanus und sein Zeitalter. Ein 
historiscbes Gemalde", nnd bereits im folgenden Jabre, 
im Jabre des Freibeitskrieges , wurde er an nnsere neu- 
gegriindete Universitat berufen. Hier wirkten Scbleier- 
macber, De Wette und Marbeineke. Diese jiiagste 
Faknltat gab der G-esamtentwickelung der tbeologiscben 
Fakultaten eine neue Ricbtung. ¥eander, der nnsere Hocb- 
scbule nicbt mebr verlassen bat, wnrde bald neben Scbleier- 
macber, von dem er sicb iibrigens im Laufe der Jabre 
immer mebr entfernte, der einilnBreicbste Lebrer. Nicbt 
erst ein spater Rubm bat sein Grrab bescbattet; i bm ist 
vielmebr die Liebe nnd Verebrung seiner Scbiiler nnd die 
Anerkennung seiner Zeitgenossen im bocbsten MaCe zu teil 
geworden. AVeil er nicbts anderes war und seia woRte 
als ein akademiscber Lebrer, diesen Beruf aber im bocbsten 
Sinne faflte und seinen Studenten seui ganzes Herz ent- 
gegenbracbte, so ist er aucb yon der akademiscben Jugend 
ergriffen und gleicbsam aufgesogen worden. "Weil er es 
nie vergaC, wie viel sein eigenes Leben der Freundscbaft 
verdankte, ist er nie miide geworden, sicb die Jugend zu 
Freunden zu macben — nicbt durcb kraftlose Floskeln, 
sondern indem er Herz und Hand ibnen bingab. Dabei 
spracb er iiber die Erfabrungen des inneren Lebens nicbt 
viel mit ibnen. Unnotigen Bekenntrdssen, wie sie von 
pietistiscb gescbulten Studenten scbnellfertig ausgesprocben 
warden, setzte er nicbt selten eia scbonendes Scbweigen 
entgegen. Aber jedermann fiiblte, was die Seele seines 
Lebens war. 

Eine Reibe kircbenbistoriscber Monograpbien begriin- 
dete neben den Vorlesungen seinen Eubm. Ln Jabre 1813 
erscbien die Monograpbie iiber den b. Bernbard, 1818 die 
iiber die gnostiscben Systeme, 1822 die iiber Cbiysostomus 
und seia Zeitalter, 1825 die iiber TertuUian, 1832 die iiber 



August Neauder. 205 

das apostolisclie Zeitalter, 1837 die iiber das Leben Jesu. 
Dazwisclieii veroffentlichte er Denkwiirdiglceiten aus der 
GreschicMe des kircMichen Lebens, sowie kiirzere Studien 
und Portrats aus alien Zeitaltern der Kirchengeschichte, 
z. T. vorgetragen in der Akademie der Wissenschaffcen und 
bis in die letzte Lebenszeit fortgesetzt. In diesen Schriften 
offnete er viele Tiiren, die bisher verschlossen -waren. Im 
Jaha-e 1826 aber erschien der erste Band seines Haupt- 
■werks, der „Allgemeinen Greschiclite der christliclien Reli- 
gion und Kirche", die im Laufe von 19 Jahren in 10 Ab- 
teilungen bis Bonifatius VIII. gelangte und seit 1842 ia 
neuer umgearbeiteter Auflage ausgegeben wurde. Den 
SchluC des Mittelalters und die neue Zeit hinzuzufiigen, 
ist Neander nicbt mehr vergonnt gewesen. Scbon im Jahre 
1847 war zu anderen Leiden, die ibn qualten, ein schweres 
Augeniibel binzugetreten. Er wurde im Lesen und Schrei- 
ben behindert. An dem 11. Bande seiner Kircbengeschichte 
arbeitend, die Schilderung der Grottesfreunde diktierend, ist 
er fast mit der Feder in der Hand am 14. Juli 1850 hin- 
ubergescblununert. „Ich bin miide, icb will nun scblafen 
geben. Gute N"acht", waren die letzten Worte, mit denen 
er sein groCes Tagewerk bescMoB. Die Universitat und die 
Stadt feierten den Entschlafenen mit den hocbsten Ehren. 
Die Studenten trauerten um ihn wie um einen Vater, und 
liberaR in protestantiscben Landen, wobin die Kunde seines 
Todes drang, gab sicb ungeheuchelter Scbmerz kund. Sein 
Berufsleben, gesegnet durch den Erfolg, daB er xucbt nur 
fur die Wissenscbaft gewirkt, sondern christbcbes Leben 
entziindet bat, war reicb durcb die Teilnabme an groCen 
Entwickelungen, ist aber aufierlicb still und gerauschlos 
verlaufen. Icb muJB darauf verzicbten, es Ibnen zu scbil- 
dern, zumal da Meanders tbeologiscber und historiscber 
Standpunkt seit dem Jabre 1813 wesentlicb unverandert 
geblieben ist. Aber einiges Wichtige seiner weiteren Er- 
lebnisse wird zur Spracbe kommen, wenn wir uns die Erage 



206 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VII. 

beantworten: Worin lag Neanders Bedeutung als Kirclieii- 
liistoriker? 

Die Antwort kann nicht zweifelliaft sein. Neander 
hat lebendiges Interesse mid Lust an der Kirchengeschiclite 
erweckt, well er sie mit dem Auge des dankbaren Freundes 
betrachtete. Neander hat das QueUenstudium der Kirchen- 
geschichte belebt, weil er ein grofies Ziel dieses Studiums 
kannte — den geistigen Verkehr mit bohen Abnen. N"ean- 
der bat die Kircbengescbicbte der Tbeologie zuriickgegeben, 
weil er den Pulsschlag ckristlicben Empfindens und Lebens 
aucb unter fremden und sproden Hiillen zu entdecken ver- 
stand. 

In diesen Satzen ist der Versucb gemacbt, das bobe 
Verdienst der Neanderscben Gescbicbtsscbreibung aufzu- 
weisen und docb ibre Scbranke nicbt auJJer acbt zu lassen. 
Wenn die Kircbengescliicbte eine bistoriscbe Disziplin im 
strengen Sinn sein und docb der Tbeologie geboren soil, 
so gab es vor dem Beginn des 19. Jabrbunderts eine solcbe 
Kircbengescbicbte bei uns nocb nicbt. Die Disziplin batte 
freilicb scbon groBe Wandelungen durcbgemacbt. Eir Be- 
trieb war im 16. und 17. Jabrbundert neben bocbst dankens- 
werten Materialsammlungen iiber eine polemiscb-konfessio- 
nelle Bebandlung nicbt binausgekommen. Soweit sicb die 
Tbeologen iiberbaupt um sie kiimmerten — berufsmafiige 
Kircbenbistoriker gab es an den tbeologiscben Fakultaten 
nicbt — , setzten sie dieselbe nacb ibrer Dogmatik zurecbt. 
Wie das lutberiscbe Kircbenrecbt nur eine scbwacbliche, 
notdiirftig retoucbierte Kopie des katboliscben war, so war 
aucb die lutberiscbe Betracbtung der Kircbengescbicbte 
nur ein mit den notigsten Korrekturen versebener Ab- 
klatscb der katboliscben. Selbst der Freimut der Magde- 
burger Zenturien wurde nicbt mebr erreicbt. Aber wie die 
zweite Halfte des 17. Jabrbunderts auf alien Grebieten Epocbe 
gemacbt bat, sofern nacb der triiben Periode der mittel- 
alterlicben Eeaktionen die G-edanken der Renaissance und 



August Neander. 207 

Reformation, freilich zunachst in ungescliickten und ver^ 
kiimmerten Formen, wieder wirksam zu werden begannen, 
so datiert auch. die Kirchengeschichte vom Ausgang des 
17. Jahrhnnderts eine neue Epoche. 

Der G-ieCener Professor Grottfried Arnold hat in 
seiner „Unparteiischen Kirclien- und Ketzerhistorie" 1699 
mit der alten konfessionellen Grescliiclitsschreibung ge- 
broclien; ja in scharfstem Gregensatz zu ihr bat er in dem 
Kirchenwesen, einscMieClich dem lutheriscben, die Verwelt- 
lichung des Christentums erkannt, das Dogma nicbt an- 
getastet, aber der Grleichgiiltigkeit preisgegeben und dagegen 
in den Unterdriickten , in den Moncben und Asketen, in 
den frommen Schismatikern und Ketzern die wahren Chri- 
sten gesehen. Eine ungeheuere Wandelung! nicht die Folge 
geschichthcher Einsicht, sondern religioser Stimmung, ge- 
waltsam durchgefiihrt wie jedes Vorurteil, aber doch be- 
herrscht durch die richtige Erkenntnis, daC der Glaube des 
Herzens und das christliche Leben den Ausschlag zu geben 
babe in der Frage der ChristHchkeit iiberhaupt. Neander 
hat von Arnold in dieser Hinsicht viel gelernt; aber zu- 
nachst wurde Arnolds Werk in einer ganz andern Richtung 
wirksam; denn es kam dem Geiste des 18. Jahrhunderts 
entgegen, und bald eignete man sich nur seinen negativen 
Teil an. 

Das philosophische Zeitalter ubernahm von Arnold die 
G-leichgiiltigkeit gegen die G-eschichte und verwandelte sie 
in Abneigung. Gegen nichts ist man stronger als gegen 
eben abgelegte Irrtiimer, und wie groU war damals die 
Last der Geschichte, die man abwalzte! Aus dem Mangel 
an innerem Interesse an der Geschichte, ja aus dem Ab- 
scheu vor derselben ist die Kritik geboren. Es muC nicht 
immer so sein, aber damals war es so. Irre ich nicht, so 
hat auch auf die deutsche Kirchengeschichtsschreibung 
G-ibbons groiJes "Werk „Geschichte des Sinkens und Falls 
des romischen Reichs" einen hochst bedeutenden EinfluJl. 



208 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

am Ende des 18. Jahrhunderts ausgeiibt. Man bewundert 
dieses Werk nacli Eorm und Inhalt und wird doch sagen 
miissen, daU es sicli niclit lolint, Greschiclite zu studieren, 
wenrL sie nichts anderes bereitet als ein buntes Schauspiel 
oder einen nur diarcli Spott und IJberniut zu bewaltigenden 
YerdruB. Im Geiste und mit dem Talente Gibbons ist 
die Spittlersclie Kirchengesckichte gesckrieben. Man ver- 
verdankt diesem Bucbe vieles, was nicht veralten kann. 
Man verdankt ihm und gleicbartigen anderen die Einsicht, 
daC eine unmoglicbe Gescbiclite beschreiben woUen, niclit 
Geschichtssctreibung ist, daJJ die Kirchen- und Dogmen- 
geschicbte jeglicben Zeitalters den aUgemeinen Regeln der 
Historik unterliegt. Das baben wir vom 18. Jabrhundert 
gelernt, und das wollen wir nicbt vergessen! Aber wie 
kiimmerlich ist andererseits eine Geschicbtsschreibung, die 
sicb in den Geist der Zeit, die sie bescbreibt, schlecbter- 
dings nicbt zu finden vermag, die in Atbanasius nur einen 
Pfaffen, in Augustin nur einen Betbruder zweifelbafter Ver- 
gangenbeit, in dem b. Bernbard nur einen berrscbsiicbtigen 
Schwarmer erkennt, die in Altertum und Mittelalter eigent- 
bcb nur unbegreiflicbe Torbeiten oder nocb scblimmere 
Bosbeiten erblickt! AUein es ware docb boebst ungerecbt, 
wollten wir es bei dieser Cbarakteristik belassen. Die 
Kircbenbistoriker des 18. Jahrbunderts baben sicb, nacbdem 
sie sicb sozusagen von den ersten Eolgen des grofien Um- 
sebwungs erbolt batten, docb sofort an die Arbeit gemacbt, 
die Gescbicbte wirklicb zu versteben. Es ist aucb nicbt 
ricbtig, dafi sie sicb lediglicb mit einem auCerbcben Prag- 
matismus begniigt baben. Sie baben vielmebr riistig damit 
begonnen, die inneren Eaden aufzudecken, die Abhangig- 
keit der Kircbengescbicbte von der Weltgescbicbte, deren 
Teil sie ist, nacbzuweisen und die Entwickelung und Ver- 
anderungen der Institutionen zu bescbreiben. Neben anderen 
ist bier vor aUem der scbon erwabnte Gottinger Planck 
zu nennen. Allein unleugbar bleibt docb, daJJ das wabxe Ver- 



Atigust Neauder. 209 

standnis ferner Zeiten und ferner Menschen jenen Mannern 
verscMossen bKeb, daiJ sie die Elastizitat der Nachempfin- 
dung vermissen lassen, daC ilmen, mit wenigeii Ausnahmen, 
als Historikern die Liebe felilte, und dalJ sie das Ganze auf 
einen kiimmerlicheii Ansdruck brachten, well ilir eigener 
Horizont beschrankt, ihr Anschauungsvermogen fiir das 
Einzelne diirftig gewesen ist, und weil sie dem geschicht- 
liclien Christentum entfremdet waren. 

Das war die Lage der KirchengescMclitsschreibung, 
die Neander vorfand. Den friscben und neuen Zug, den 
er bereits in seiner ersten Monograpbie iiber Julian be- 
kundete — dort nach Verstandnis zu sucben, wo die 
anderen bereits aburteilten — , hat er nicht als der Erste 
aufgebracbt. Auf dem Gebiete der Literaturgescbichte, der 
Volker- und RecbtsgescMcbte war dieser Zug vielmebr 
scbon lebendig. Herder, den Romantikern und ihren ge- 
lebrten Scbiilern verdanken wir ibn. Aber Neander bat 
ibn, von Scbleiermacher angeregt, zuerst auf die liircben- 
geschichte iibertragen und mit ibm das freudigste und ernst- 
bafteste Quellenstudium ; denn beides ist Hand in Hand 
gegangen. So bat er als ein Jiinger Cbristi und der 
Romantiker das kircbenbistoriscbe Studium belebt, indem 
ibm in alien Zeiten wertvolle Erscbeinungen entgegen- 
traten, deren Bekanntscbaft sicb lobnte, indem er das 
Evangelium als einen Sauerteig erkannte, der die Welt 
durcbdrungen babe, und indem er demgemaiJ den clirist- 
licben Geist in alien Jabrhunderten zu entdecken verstand; 
z. T. dort, wo ibn bisber niemand gesucbt hatte. Die 
zarteste romantiscbe und cbiistlicbe Empfindung verband 
er dabei mit einem eisernen, keiueswegs romantiscben Eleifi. 
In jedes Jabrbundert trat er ein, aber in keines scbloC er 
sicb eiu, und durcb kein einziges wolite er sicb reicbere 
Anscbauungen verengen lassen. Mit welcher Umsicbt bat 
er geforscbt, wie Vieles bat er erzablt, was niemand vor 
ibm erwabnt battel wie wuUte er die religiosen und sitt- 

H am a ok, Reden und Aufsatze. I. -'-^ 



210 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VII. 

liclien Elemente in ihrer Verkniipfcuig zu wiirdigen! wie ver- 
stand er es, aus dem Vielerlei die Hauptsaclie herausztLfinden! 
So arbeitete er mit an einer neuen Betrachtung der Dinge. 

G-estatten sie mir hier eine Parallele. Sie schlagt frei- 
lich. sehr zu gunsten des deutscten und des protestan- 
tischen Geistes aus; aber sie ist gegen den Vorwurf des 
ChaTiviuismus, hoife ich, gedeckt: 

Aucb die KircbengeschiclitssclireibTing in Frantreicb 
ist naob dem Zeitalter Voltaires am Anfang des 19. Jakr- 
hunderts in eine neue Epoche getreten. Aucli hier ist das 
Neue ans der Roman tik geboren, und Kraft der Anschau- 
ung, Freude und Anempfindung an die Vergangenheit losten 
das Zeitalter des Ubermuts und des Spotts, wie in Deutsch- 
land, ab. Aber wer ist der Mann gewesen, der seine Lands- 
leute dort zur Kirchengeschicbte zuruckgefiihrt bat? Ein 
Gelebrter, so emst und so treu wie Neander? Keineswegs, 
sondern ein zweifelhafter Cbarakter, ein Mann, der niemals 
mit voller Hingabe an die Sacbe gearbeitet und es im 
Grunde mit keiner "Wahrheit ganz ernst genommen bat, der 
von seiner Bekebrung spricbt, weil ibm der astbetiscbe 
Reiz dieser Empfindung anziehend war, und der das katbo- 
bscbe Christentum fiir wabr und jede Legende far wirklich 
erklarte, weil er sie schon und erbaben fand — Chateau- 
briand. Es ist unerfreulicb, die Namen Cbateaubriands 
und Neanders nebeneinander zu nennen • — Zacbarias 
Werner oder Brentano ware die ricbtige Parallele, wenn 
man von der unvergleichlicben Bedeutung absiebt, die 
Chateaubriand far die Entwicklung der franzosisclien 
Literatur gehabt hat — ; aber ia ihren Wirkungen sind sie 
in hohem MaCe vergleichbar. Die vollig romanhaften, 
selbst die Verklarung des Absurden nicht scheuenden kirchen- 
historischen Darstellungen Cbateaubriands haben fiir Frank- 
reich dieselbe Bedeutung gehabt, wie die ernsten Mono- 
graphien Neanders fiir Deutschland. Aus ihnen hat sich 
die franzosische Kirchengescbichtsschi-eibung im 19. Jahr- 



August Neander. 211 

liundert entwickelt, und es ist nicht scliwer, selbst bei 
Renaii die Eimvirkungen Chateaubriands nachzuweisen. 
Aber wie im Katholizismus und in Frankreich De 
Maistre neben Chateaubriand gestanden bat, so bezeich.net 
auch bei uns Neander nur die eine Linie, die aus dem 
18. Jahrhundert hinausfuhrte. Man darf von Neanders 
Bedeutimg nicht sprechen, ohne Kegels und des groCen 
Kirctenhistorikers Baurs zu gedenken. Man darf das mn 
so weniger, als Neander selbst ihrer nur allzuviel gedacht 
hat. Das Zeitalter der Aufklarung ist auf dem Gebiete 
der Geschichtsschreibung bekanntlich nicht nur durch die 
Romantiker im Sinne Schleiermachers und Neanders iiber- 
wunden worden, sondern vor allem durch Hegel. Er und 
seine Schiiler haben gelehrt, die Gesohichte als die Ent- 
wicklung des Greistes zu verstehen, jede einzelne Phase in 
ihr als notwendig zu begreifen und hinter dem Indivi- 
dueUen das Allgemeine zu ermitteln. Urspriinglich war 
Neander selbst von dieser spekulativen Betrachtung nicht 
unberiihrt; ja die Aufgabe der genetischen Entwicklung, 
die er sich geschichtKchen Problemen gegeniiber stets ge- 
stellt hat, und die Freigebigkeit, mit welcher er noch in seinen 
spatesten Schriften den Begriff des geschichtlichen Gesetzes 
ausgespielt hat, beweisen, dafi er sich dem EinfluiJ Hegels 
nicht hat entziehen konnen. Allein, so Treffliches er in 
ungesuchter geschichtlicher Dialektik geleistet, seine Starke 
lag nicht in dieser Betrachtung. Sie lag in dem Streben, 
das Individuelle geschichtlicher Erscheinungen griindlich 
zu fassen und es erbaulich wirken zu lassen. So trat er 
in einen von Jahr zu Jahr scharfer werdenden Gegensatz 
zu Hegel, Strauss und Baur, deren wissenschaftliche 
Methode allerdings Bedenken genug bot. Wenn Neanders 
Geschichtsschreibung die Zusammenhange in der Entwick- 
lung nicht iiberall zu fassen und den Wert des Politischen, 
Nationalen und der Institutionen nicht geniigend zu wiir- 
digen verstand, so nahm sich bei den Hegelianern die 

14* 



212 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

absolut gewordene Theorie die groCten Freiheiten. Ifean- 
der verwisclite den Gang der Entwicldung — man brauclit 
nur die unzweckmafiige Anlage seiner Kirclien- und Dog- 
mengeschiclite einzusehen — , aber die absoluten G-eister 
losten die gescliichtliclien Individuen von jeder Realitat 
ab, die nicM zur Idee ilires Tragers passte. Indessen laCt 
sich niclit leugnen, dafi Baur in seiner Art, die Dinge zu 
betrachten, vollkommener war als Neander in der ihm 
eigentiimlichen. Denn Baur brachte es zur Darstellung 
eines groBartigen geschichtlichen Prozesses; Neander aber 
gab seinen Individuen nicht die feste, umrissene Cliarak- 
teristik, die man vom Biographen erwarten darf. Sie 
gleichen Sternen, die, von demselben lichten Nebel um- 
flossen, schwer zu unterscheiden sind. Er ■wiirdigte sie 
eigentlich nur in einer Richtung: wie weit die Frommig- 
keit, die ihn selbst belebte, in ihnen ausgepragt war, und 
weit, innig und liebevoll angelegt, zeigte er ein erstaun- 
Hclies und wohltuendes Vermogen, frommen Sinn unter 
fremden Hiillen aufzuspiiren. Er sagt nichfcs Unrichtiges 
liber die Personen; aber er sagt nicht alles. Die Ecken 
und Kanten hat er haufig abgeschliffen, die Verbindung 
mit der Zeitgeschichte verkaant, den Lokalton nicht ge- 
troffen. Daher ermangelu seine geschichtlichen Darstel- 
lungen, besonders die spateren, der Erische ; sie haben etwas 
lyrisch Monotones. Doch wie konnte das anders sein bei 
einem Manne, der das oifentliche Leben nur aus Biichern 
kannte und der vor der Natur die Augen schloiJ? Neander 
selbst gestand offen, dafi er fiir ihre Schonheit und Mannig- 
faltigkeit keinen Sinn besitze. 

Aber eine noch empfindhchere Schranke darf hier nicht 
unberiihrt bleiben. Baur und Hase, Neanders Mitstreiter 
gegen den Rationalismus auf dem Gebiete der Kirchenge- 
schichte, haben ihre neue Betrachtung der Dinge eingefiihrt, 
ohne die kritischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts 
preiszugeben. Von ISTeander lafit sich nicht das Gleiche 



August Neander. 213 

sagen. Er blieb zeitlebens, wie manche andere Romantiker,. 
in Bezug auf die -wichtigsten kritischen Tragen in einer 
nnbestimmten Mitte stehen. Mit Recht wollte er die Q-e- 
schichte nicht durch. die Brille einer pMlosopMschen oder 
dogmatischen Schule seben. Mit Freimut erklarte er nn- 
zweideutig immer wieder, der protestantische Theologe 
diirfe sidi seine Forschung durch. irgendwelcbe Bekenntnis- 
formebi so wenig einschranken lassen wie durch Macbt- 
spriicbe der Philosophie. Allein es gibt fur den Kirchen- 
bistoriker Fragen — und sie sind die entscbeidenden — , 
in denen nur ein Entweder — Oder gUt, wo jede Vermit- 
telung Unklarbeit ist und Unbeil scbafft. In diesen Fragen 
bat Neander niemals eine feste Stellung gewinnen konnen. 
Er wollte nicbt mit der Kritik gehen, ja nicht einmal so 
weit wie Scbleiermacher, und er wollte docb andererseits 
den Entscbiedenen , Hengstenberg und seiner Partei, 
keineswegs recht geben. "Wo er daber auf die evangebscbe 
G-escbicbte, auf die Frage des "Wunders und des Suprana- 
turalen zu sprecben kommt, da ist es peinlicb ibm zu fol- 
gen. Er mochte der entscbiedenen Fragestellung entrianen 
und kann sie docb nicbt vermeiden. Er mochte das Herz 
sprecben lassen und fiiblt docb sebr wobl, daJJ bier der 
kritiscbe Verstand das Wort bat. Er kapitubert mit Beiden 
und macbt es Keinem recbt. Am starksten tritt dieses 
Schwanken in seinem Werke iiber das Leben Jesu bervor. 
Man erfabrt bier vielfacb nur, wie Neander sicb die Dinge 
zurecbt gelegt bat. Und was die Folge jeder Scbwacbe ist, 
die gereizte Stimmung, das stellte sicb aucb bei ibm ein. 
„Die Vermittler sind nicbt immer die Q-erecbten", hat er 
selbst einmal gesagt. Er wurde in steigendem MaUe er- 
bittert und ungerecbt gegen Hegel und seine Scbule. Hier 
verbefi den sonst so liebevollen Mann die Liebe und den 
sonst so geiibten Historiker die Fabigkeit, das Berecbtigte 
und Grute aucb in fremder Erscbeinung berauszuiinden. 
Seia BHck in die durch die Hegelsche Pbilosopbie be- 



214 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

herrscMe G-egenwart wurde triibe, und da er auch im 18. 
Jahrliundert melir Schatten als Licht erblickte, so erschie- 
nen ilim die wenigen Jahre um 1813 wie ein fliichtiger 
Sonnenblick zwiscben Nebelziigen. Er scbaute dann woM 
aus auf ein Wunder, auf eine neue Grottestat, die eine 
bessere, bohere EntwicMung der Kircbe scbaffen werde. 
Allein man darf bier nicbt vergessen, dafi Neander in der 
Hegelschen Auffassung des Cbristentums die vollige Ver- 
kebrung desselben erkannte. Und er batte nicbt so Unrecbt. 
Indem das Cbristentum bier lediglicb als Grbed des ge- 
scbicbtlicben Prozesses betracbtet wurde, ging, nm von 
anderem zu scbweigen, die Eigenart und speziiiscbe Be- 
deutung der Person Cbi-isti verloren. Unzweifelhaft ver- 
teidigte also Neander als Cbrist und als Historiker gegen 
Hegel, StrauU und Baur ein bocbst wertvolles Gut. Selbst 
Vatke bat von der „beiligen Harte" Neanders gesprocben, 
und in der Tat erinnert seine erbitterte Polemik gegen die 
Hegelianer an die Polemik des b. Bernbard gegen Abalard. 
Aber ISTeander fand fiir das, was er woUte, keinen Idaren 
und uberzeugungskraftigen Ausdruck. Er stand zwiscben 
zwei Feuern, und er batte dabei selbst das Gefiibl, nicbt 
geniigend gedeckt zu sein. Die Hegebaner wiesen die 
Scbwacben seiner G-escMcbtsscbreibung nacb, und Heng- 
stenbergs Evangeliscbe Eorcbenzeitung begann ibn als 
Halbglaubigen zu denunzieren. Aber was uns mit dem 
Manne bier versobnt, ist die Beobacbtung, daU er sicb 
durcb seinen G-egensatz gegen die Linke nie dazu bestim- 
men beC, ein Eingreifen von auBen in den Gang der tbeo- 
logiscben Entwicklung gutzubeifien. Er kiindigte im 
Jabre 1830 seinem KoUegen Hengstenberg die Mtarbei- 
terscbaft an der Evangebscben Kircbenzeitung , als diese 
die Hallescben Professoren G-esenius und Wegscbeider 
bei dem Ministerium auf Grund von nacbgescbriebenen 
Kollegienbeffcen angeklagt batte. „G-ebt Gesenius, so gebe 
icb aucb", rief er aus. Er warnte, vom Ministerium zu 



August Neander. 215 

einem Grutacliten aufgefordert, davor, StrauB' Leben Jesu 
zu verbieten. „Hier kann alles iitir als willklirlicher Macht- 
sprucli erscbeinen", scbreibt er dem Minister, „wenn nicht 
die Griinde durcb Griinde wider legt werden." Er blieb 
zeitlebens unerscbiitterlich bei dera scbonen Bekenntnis: 
„Der Kampf zwiscben Irrtum und Wakrheit in der Theo- 
logie liegt fern von dem Bereicbe jeder aulJerlicben 
Macbt" . . . „Denken wir uns", sagt er, „es Avare einem 
einseitigen blinden Eifer gelungen, die Scbule eines Origenes 
ganz zu unterdriicken, so -ware der ganze naturgemalJe 
EntwicklungsprozeC der christKcben Lebre mit einem 
Male gehemmt worden." „Leicbt", fahrt er fort, „ergibt 
sich die Anwendung dieses Beispiels auf die geistigen Er- 
scbeinungen unserer Zeit*)." 

Aber nocb ein Anderes ist bier zu nennen, was uns 

*) Noch seien hier z-wei bemerkenswerte TJrteile Neanders auge- 
flihrt. Im Jahre 1830 solirieb er: „Existiert die theologisohe Fakultat 
als Teil eiuer Universitat , so folgt anch daraus sohou von selbst, daG 
die Theologie als Wissenschaft hier derselben Freiheit ihrer Entwick- 
lung wie alle andereu Wissenschaften genieCen muG; denn die wissen- 
schaftliclie Eutwicklung laBt sicli ja nicht so abgrenzen, daC sie in 
einem Gebiet besclirankt, in alien ubrigeu frei sei, da die verscbiedenen 
Gebiete des "Wissens miteinander in Bertihrung kommen, und bei jener 
partiellen Besohrankung ein Widerstreit im Innern der so bescbrankten 
"Wissenschaft entstehen mtiSte, der, wenn er nicht durch die "Wissen- 
schaft selbst gescblichtet wird, fiir die Atifrichtigkeit der "fjberzeugung 
nicht anders als die gefahrlichsten Folgen haben kOnnte. So -w-Urde 
der Gegensatz einer theologischen und philosophischen "Wahrheit sich 
bilden, welcher im Mittelalter und in den Zeiten nachst vor der Eefor- 
mation die Larve eines im Verborgenen schleichenden IJnglaubens -wurde 
.... Es bliebe also in diesem Ealle nichts anderes iibrig, als daC die 
theologisohe Fakultat aufhOrte, ein integrierender Teil der Universitaten 
zu sein, und daB geistliohe Seminarien gestiftet wiirden, um die Theo- 
logie nach einer unabanderlichen , auBerlioh gegebenen Lehrnorm vor- 
zutragen, und auch alle anderen von der Theologie unzertrennlichen 
■vvissenschaftlichen Elemente in so bestimmter Zusammensetzung mitzu- 
teilen, daC sie nichts mit jener Lehrnorm Streitendes enthalten oder 
anregen kOnnten. Aber gesetzt, auch dies lieBe sich auf einmal reali- 



216 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

den Mann bewundernngswiirdig macht. Das ist die Klar- 
heit, mit der er die Schranke seiner Natnr und Bildnng 
erkannt, und die Offenheit, mit der er sie bezeiclinet hat. 
Er sclireibt in der Vorrede zum „Leben Jesu", er werde es 
keiner Partei recht maclien, auch den Mannern der Evan- 
geliscken Kirchenzeitung nicbt; denn er erkenne das Eecht 
der Kritik an, und er babe keinen starken Grlauben gegen- 
liber den Wundererzablungen. „Ich bin von Anfang an 
in meiner religiosen Entwicklung zu sebr durcb den Bil- 
dungsgang dieser Zeit affizieft worden." Eine Eigenart, 
die so klar liber sicb selbst sieht, ist in sick auch berech- 



sieren, Tvurden nicht die aus solohen Seminarien hervorgelieiideii Tlieo- 
logen dooh. naclilier von den vorhandenen Elementen der wissenschaft- 
liehen GeistesbildiTng feindlich berilhrt werden, und muCte ilinen nicht 
der unerwartete Kampf, zu dem sie nicht gertistet waren, desto gefahr- 
liolier werden? Und wie kOnnten sie durch. die Macht des Evangelinms 
auf ihre Zeit recht einwirken, wenn sie niclit das geistige Leben der- 
selben nach seinen mannigfachen Elementen aus eigener Ansohauung 
vmA Erfabrung kennen gelemt batten?" Und gegen Hengstenberg im 
Eebruar 1836: ,,Da icb soeben das Yorwort zur Evang. Kircbenzeitung 
vom Monat Januar gelesen babe und darans ersebe, wie bier von dem 
Standpunkt einer alleinsoligmacbenden Dogmatik alien verschiedenen 
eigentumlicben tbeologischen Eiclitungen MaB und Ziel gesetzt werden 
soil, so fulile icb micb gedrvingen, festbaltend an dem einen Grunde, 
der Cbristus ist, vor dem sicb beugen muC jedes Knie, aufs neue in 
dem Geiste der Liebe und der Freibeit, der von Ibm konimt, zu pro- 
testieren gegen Jedes Papsttnm, welcber Art es sein niBge, das die 
Geister, die Gott gescbaffeu bat in unendlicber Mannigfaltigkeit zu 
seiner Verberrlicbung und deren Leitung Er sicb vorbebalt, am Gangel- 
bande fubren zu k5nnen meint, und gegen jedes von solcbem Papsttnm 
zurecbt gemacbte Prokrustesbett. Leicbt ist es, konsequent zu sein, 
wenn man scbnell abscbliefit und fertig ist, scbwer, "wenn man das Ge- 
wissen der Wahrbeit immer offen bait nacb alien Seiten und im sauren 
Kampfe mit sicb selbst sicb gedrungen fuhlt, innner mebr inne zu 
werden, daG all unser Wisseu Stuckwerk ist und bleibt. Wir kannen 
nicbt umbin, zu wamen vor jener Konsequenz in der Bescbranktbeit, 
welcbe so leicbt mit anmaBendem Absprecben oder Geistestragheit 
sicb paart.'' [Neander meint im letzten Satze nicbt Hengstenberg selbst, 
sondern einen groSen Teil der Anbanger desselben.] 



August Neander. 217 

tigt; ja die Kraft ihrer Wirksamkeit hangt wahrscheinlich 
aucL. von dieser Mischung des Gegensatzlichen ab. Wir 
konneiL die Parteien von rechts nnd links verstehen, die, 
als der Kampf der Prinzipien sicli verscharfte, iiber Nean- 
der hinwegschritten ; aber wir miissen anch den Mann ver- 
stehen, der, seiner Anlage nnd Bildung gemafi, sich zn 
entscliiedener Stellungnahme nicht drangen lieB. Als Schii- 
ler der Romantiker wollte er das Hocbste, was er besaC, 
gleichsam gestaltlos besitzen: ,.pectus est qnod theologum 
facit." Als Christ suchte er nach einem Ausdruck fiir 
das lebendige Christen turn, der von den Erwagungen des 
Verstandes nnberiihrt bliebe. Er vermochte nicht, ihn zu 
gewinnen, weil er in sein Christentum Uberliefemngen 
hineinzog, die sich gegen die Kritilc nicht absperren lassen. 
Aber was ihm vorschwebte, war doch ein Richtiges. 

Sein EinfluiJ auf die Folgezeit ist ein doppelter ge- 
wesen. Einerseits hat er, wie ich es zn schildern versucht 
habe, das kirchenhistorische Studium neu belebt, Seelen fiir 
das Evangelium gewonnen nnd in seiner Person ein hohes 
Vorbild der Frommigkeit und des EleiCes gegeben. An- 
dererseits ist die Influenz seiner Eigenart auf seine Schiiler 
und auf den Grang der Entwicklung der kirchlichen Dinge 
nicht durchweg giinstig gewesen. Die Entstehung eines 
Virtuosentums , hinter dem sich Dilettantismus und Un- 
sicherheit verbargen, hat er nicht kraftig genug abgewehrt*). 

*) Neander liat die Notwendigkeit und den Wert kirchlicher Ge- 
sbaltungen verkannt, aber auch niemals darnach getraclitet, direkten 
EinfluC auf die Entwicklung der kirchliclien Dinge zu gewinnen. Bei 
seinen SoliUlern wurde das z. T. anders; sie wollten, resp, sie muBten 
Stellung nehmen zu den neuen Pragen der Gestaltung der Kirche. Aber 
durcli die Pektoraltheologie ungenugend fiir dieselben vorbereitet, haben 
sie vielfacb gefabrliche und unsicbere Wege eingesohlagen , sich ledig- 
licb auf ibr eigenes cbristliobes und kirobliohes Gefubl verlassend. Man 
siebt leicbt, daB Neander bieran keine Scbuld tragt — er stellte uberall 
die bOcbsten wissenschaftliohen Auforderungen — ; aber er ist doob 
durcb seine Eigenart als Kircbenhistoriker mit daran scbuld gewesen. 



218 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII. 

Dem Aufkommen einer Richtung, welche die Probleme 
verschleierte und den Gregensatzen die Spitze abbrach., hat 
er wider seinen Willen Vorscbub geleistet. Was bei ibm 
individuell bereclitigt war, war es bei vielen seiner Schiiler 
nicbt mehr. Eine grofie AnzaM mag das selbst gefiihlt 
haben. Sie zog sicb in den sicberen Hafen zuriick, als in 
den fiinfziger Jahren das eintrat, was wir alle kennen. 
Man kann diesen Riickzug wohl versteben; denn der Sub- 
jektivismus, dem Neander das "Wort redete, ist in der Gre- 
staltung des Kircbenwesens nicbt unbedenkbcb. Wenn der 
strenge Symbolzwang nicbt mebr aufrechtzuerbalten ist, 
so ist es vielleicbt nocb gefabrbcher, ein enges Bekenntnis 
sebwacbbcb und unsicber zu bandbaben ; denn unter solcben 
Umstanden ist die Kircbe der theologiscben Willkiir irgend 
eines einfliiBreicben Mannes von bnks oder recbts preisge- 
geben, der es verstebt, zeitweibg die Herrscbaft zu ge- 
winnen und seine Tbeologie gleichsam zum Symbol zu er- 
beben. Diese Qefabr aber drobte bei der Haltung, die 
Neander eingenommen und vielen seiner Scbiiler "iiberliefert 
bat. Allein so lange wir kein festes und weites Bekennt- 
nis besitzen, das strong gebandbabt werden kann — der 
Versucb von ISTitzscb und anderen, ein solcbes auf der 
Generalsynode 1846 zu scbaffen, ist bekanntbcb gescbeitert, 
— so lange miissen wir den Grefabren mit Greduld und 
Weislieit zu begegnen sucben, die mit dem gegenwartigen 
Zustande verkniipft sind. Wie aber aucb die Dinge sicb 
weiter gestalten mogen — jede Idi-cblicbe Partei und jede 
Ricbtung der protestantiscben Tbeologie wird das Andenken 
des Mannes in hoben Ebren balten, den wir beute feiern, 
well er keiner Partei dienen woUte, sondern der Earche 
Jesu Cbristi. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
^ ERSTER BAND ■ ZWEITE ABTEILUNG ^ 



AUFSATZE: I 

DAS APOSTOLISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS 

EESr G-ESCHICHTLIOHEE BERICHT NEBST EINER 
EINLEITUNa UND EINEM NACHWORT. 



Dem Aufsatz liber das apostoKsclie G-laubensbekenntnis 
stelle ich. den Artikel ans der Zeitschrift .,Die Christliclie 
Welt", 1892, No. 32 v. 18. August voran, der mir heftige 
Angriffe zuzog und mich. notigte, in einer kurzen Dar- 
stellung einen gescMch-tlichen Bericlit liber die Entsteliung 
des Grlaubensbekenntnisses zu geben. Dieser erschien 
wenige "Wocben spater bei A. Haack (Berlin NW, Doro- 
theenstrafie 55). Er ist Mer mit unbedeutenden Yerande- 
rungen nack der 26. Auflage (1892) abgedruckt. Alle 
Auflagen trugen den Vermerk, den ich. auch. jetzt wieder- 
hole: Auf Mitteilung zaHreicber Belege zu den nachfolgen- 
den Ausfilhrungen habe icb verzicbten miissen. Die Vor- 
fiihrung des gesamten Materials wiirde viele Bogen er- 
fordert haben. 



In Saclieii des Apostolikums. 

Vor emigea Wochen kam zu Professor Harnack in Berlin eine 
Abordnung Studierender mit der Frage, ob er ihnen raten kOnne, mit 
andem preufiischen Studenten der Theologie in AnlaB des Falls Scbrempf 
eine Petition an den Evangeliscben Oberkircbenrat zu ricbten uni Ent- 
femtmg des sogenannten Apostolikums aus der Verpflicbtungsformel 
der Geistlicben und aus dem gottesdienstlichen Q-ebraucb. Professor 
Harnack hat hierauf in seinem KoUeg iiber neueste Kircbengesobiobte 
geantwortet und den Inbalt dieser Antwort in folgenden Satzen den 
Fragestellern zugehen lassen. [Anmerkung des Herausgebers, D. Eade.] 

Antwort aiif die Frage, ob dem Unterzeichneten 
eine Eingabe an den Evangelischen Oberkircbenrat 
nm Abs chaff ung des Apostolikums seitens der Theo- 
logie-Stndierenden ratsam erscheint. 

1. Icb teile mit den Fragestellern die Ansicbt, daB es 
der evangeHscben Kirche zienien wurde, an die Stelle des 
Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu 
setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden 
Zeit gewormene Verstandnis des Evangebums deutlicber und 
sicberer ausdriickte und zugleicb die Anstofie beseitigte, die 
jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und auf- 
ricbtigen Cbristen, Laien und Geistlicben, bietet. 

2. Icb balte mit den Fragestellern den Fall Scbrempf 
fur einen gegebnen, ja gebotnen Anlafi, die Frage nacb 
der G-eltung und dem G-ebraucb des Apostobkums in den 
evangebscben Kircben wieder anzuregen und sicb durcb 
die voraussicbtlicbe Erfolglosigkeit in der Gregenwart von 



222 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

solcher Anregung niclit abschrecken zu lassen. Ich bin der 
Meinung, dafi die Generalsynoden der evangelischen Kircheii 
keine ernstere und brennendere Aiofgabe haben als die, die 
Bekenntnisfrage freimiitig zu erwagen. 

3. Bei solclien Bemiibungen ist aber nicbt die Parole 
auszugeben: „Das Apostolikum soil abgescbafft -werden"; 
denn eine solcbe Parole wiirde zur Waffe in der Hand der 
Gregner des Christentums werden, wiirde dem bohen reli- 
giosen Werte und dem ebrwiirdigen Alter des ApostoK- 
ktuns gegeniiber eine Ungerecbtigkeit sein, wiirde ferner 
eine Vergewaltigung der evangeliscben Cbristen bedeuten, 
die ibren Grlauben voU und obne AnstoB im Apostolikum 
ausgedriickt finden, und wiirde endlicb der Art nicbt ent- 
sprecben, in der sicb die Kircben der Reformation zu den 
Glaubenszeugnissen der Vergangenbeit gestellt baben und 
so lange stellen miissen, bis sie die Kraft zu einer neuen 
reformatoriscben Tat oder eine neue reformatoriscbe Per- 
sonlicbkeit erbalten. 

4. Daber kann zur Zeit jeglicbe Bemiibung nur darauf 
ausgeben, entweder das Apostolilcum aus dem liturgiscben 
Gebraucb zu entfernen, oder docb den Gremeinden die Mog- 
licbkeit zu gewabren, es nicbt zu braucben, oder es durcb 
eine andre evangeliscbe Glaubensformel zu ersetzen. 

5. Diese Bemiibungen werden aber nur dann eine ge- 
wisse Aussicbt auf Erfolg erlangen, wenn man das kurze 
Glaubensbekenntnis, das man an Stelle des oder neben dem 
Apostobkum wiinscbt, wirklicb zu formuberen und zu pro- 
duzieren vermag, und wenn es an Grestalt und Kraft dem 
alten iiberlegen ist. In den Eircben darf man — in nocb 
boberm MaUe als im Staatsleben — nur negieren, indem 
man baut. Jede andre Tatigkeit ist von tJbel; bloiJe 
Wiinscbe aber nacb einem neuen Bekenntnis tun es nicbt, 
so wobl gemeint und so ernst gefaCt sie aucb sein mogen. 

6. Die Anerkennung des Apostobkums in seiner wort- 
licben Fassung ist nicbt die Probe cbristlicber und theolo- 



Das apostolische Glaubensbekemitnis. 223 

gischer Reife; im Gregenteil wird ein gereifter, an dem Ver- 
standnis des Evangeliums und an der KircLengescMchte 
gebildeter Christ AnstoJJ an mehreren Satzen des Apostoli- 
kums nehmen miissen. AUein umgekehrt darf man auch 
von dem gereiften nnd gebildeten Theologen erwarten, dafi 
er soviel geschichtliclien Sinn besitzt, um sich von dem 
hohen "Wert und dem grolJen "Wakrheitsgehalte des Apostoli- 
kums zn iiberzengen nnd eine positive Stellung zu seinem 
Grmndgedanken zu gewinnen, die es ihm. ermogliclit, ein 
altes Zeugnis seines eignen Grlanbens in dem Apostolikum 
zu erkennen. 

7. Auf alle einzelnen Satze des Symbols in ihrer wort- 
licben Fassung laJJt sich diese positive Stellung allerdings 
nicht ausdehnen. Aber Mer darf die dreifache Erwagung 
eintreten, daJJ a) die evangelische Kirche selbst nicht bei 
alien Satzen des Symbols die urspriingliche wortliche Fas- 
sung aufrecht erhalt („Gremeinschaft der Heiligen"); b) dafi 
ein Satz der Lehre des Paulus widerspricht („Auferstehung 
des Fleisches") und daher auch nach den Grundsatzen der 
evangelischen Kirche in seiner wortlichen Fassung nicht 
aufrecht erhalten werden darf; und dafi c) alle Einzeltat- 
sachen, zu denen der Christ sich bekennt, nicht als nackte 
Tatsachen, sondern um der unsichtbaren Beziehungen und 
Werte willen, die der Grlaube an ihnen wahrnimmt, Satze 
des Glaubensbekenntnisses sind. 

8. Diese Erwagungen reichen gegeniiber einem Satze 
des Apostolikums allerdings noch nicht aus („Empfangen 
vom heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria"), 
denn hier wird als Tatsaohe etwas behauptet, was vielen 
glaubigen Christen unglaublich ist, und was eine in der 
Kontinuitat der sonstigen kirchlichen Umdeutungen he- 
gende Umdeutung deshalb nicht zulafit, well man es in 
sein Gegenteil umdeuten miiCte. Hier hegt also ein wirk- 
Notstand vor fiir jeden aufrichtigen Christen, der dies Sym- 
bol als Ausdruck seines Glaubens brauchen soU und sich 



224 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

docli nicht von der Wahrheit jenes Satzes -iiberzeugen kann. 
Als die einfacliste Losung erscheint die, daJJ solohe, die 
jenen Satz nicht anerkennen, niclit Gleistliclie werden und 
bleiben, und dafi auck die Laien, die in derselben Lage 
sind, sick von der Kircke, die jenes Symbol aufreckt er- 
kalt, zuriickzieben sollen. In der Tat kann man denen, die 
sick in ikrem Gewissen gezwungen seken, so zu kandeln, 
nur ernstkck zureden, nickt wider ikr Grewissen zn tun, denn 
wider das Gewissen zn kandeln ist der kockste Sckrecken. 
AUein es stekt nickt so, dafi die Gewissenkaftigkeit solcker 
Manner allgemeines Gesetz werden mkfite. "Wenn um eines 
einzelnen Satzes willen, der mindestens nickt im Zentrum 
des Ckristentums stekt, die Takigkeit, die Gemeinde, in die 
man kineingeboren ist, zu erbauen und an ikrem innern 
Leben teUzunekmen, aufgekoben sein sollte, so konnte eine 
religiose Gemeinde iiberkaupt nickt besteken. Denn wie 
ware es moglick, Institutionen der Lekre und des Kultus 
zu sckaffen, die in jedem Stiick die Uberzeugung aller 
wiedergeben und niemandem zum Anstofi gereicken, und 
wie ist es denkbar, dafi diese Institutionen sofort jeder — 
sei es auck erprobten — Wandlung des ckristkcken Ver- 
standnisses folgen? Es ist also nickt Gewissenlosigkeit, 
sondern eine kaltbare und sittkck zu recktfertigende Po- 
sition, die der einnimmt, der in der Kircke, sei es auck 
als Lekrer, bleibt, der an jenem Stiick und an aknlicken 
Anstofi nimmt. 

Aber dieses Bleiben ist freikck nur dann sittlick ge- 
recktfertigt, wenn der betreffende Tkeologe a) mit dem 
Grundgedanken seiner Kircke ubereinstimmt; b) dort wo er 
auf das Verstandnis ■ — sei es auck das gegneriscke — reck- 
nenkann, von seiner abweickenden Meinung keinHekl mackt; 
iind c) in den Grenzen, die ikm durck seinen Beruf ge- 
geben sind, fiir die Absckaifung des Notstandes wirkt. In 
einem solcken belindet er sick wirklick; darum — wie er 
eiaerseits nickt verpflicktet ist, seine I&aft seiner Kircke, 



Das apostolische Glaubeiisbekeuntnis. 225 

die keine Gesetzeskirche ist, deshalb zu entziehen, so ist er 
andrerseits verpflichtet, an seinem Teil an der Hebung des 
Notstandes zu arbeiten. Nur so bewahrt er sich. ein gutes 
(xewissen. Die Art der Arbeit Avird aber je nach. Beruf 
und Fabigkeit eine verscbiedne sein. Das Recht und die 
ungemeine Kraft, die eine offentliche Agitation verlangt, 
werden wohl die wenigsten, wenn sie sicb priifen, in sicb 
finden. Aucb baben laute Agitationen oft den entgegen- 
gesetzten Erfolg. 

9. Die Frage, ob zukiinftige Greistlicbe, die zirr Zeit 
nocb Studenten der Tbeologie sind, in Hinblick auf ibi'e 
Znkunft berecbtigt sind, in eine Bewegung far Abscbaffung 
des Apostolikums einzutreten, vermag icb nur zu verneinen 
und zwar aus folgenden Grriinden: 

a) weil die Parole „ Abscbaffung des Apostolikums" 
iiberbaupt eine falscbe ist (s. oben); 

b) weil, aucb wenn man die Aufgabe in den G-renzen 
bait, die oben gezeicbnet sind, m. E. Studierende in solcben 
Fragen, wie die vorliegende ist, iiberbaupt nicbt offentKcb 
ein UrteU abgeben soUen; 

c) weil die Bebandlung dieser besondern Frage eine 
cbristbcbe und wissenscbaftlicbe Reife voraussetzt, die die 
Studierenden bocbstens am Ende ibrer Studienzeit erwerben 
konnen, eine Agitation aber unfeblbar aucb die jungen und 
jiingsten Studierenden mitergreifen, so zu einem bocbst 
bedenklicben und unerfreulicben Scbauspiel werden, viele 
Grewissen nur verwirren und nicbt wenigen sebr bald eine 
peinlicbe Rene eintragen wiirde (siebe aucb insbesondere 
nocb das unter No. 5 bemerkte). 

Indem icb die Absicbt und den Wunscb, aus denen 
die Frage bervorgegangen ist, ebre, vermag icb den Frage- 
stellern scblieJJlicb zwei Winke zu geben, durcb deren Be- 
folgung sie angemessener und sicberer das erreicben wer- 
den, was sie wiinschen: 

Harnack, Reden und Aufsatze. I. 15 



226 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

Erstlich, fleifiiges Studium der DogmengescMchte und 
Symbolik, damit ein wirkliclies Verstandnis, wie fiir den ur- 
spriingliclien Sinn der Bekenntnisse, so fiir die GTeschiclite 
der Wandlung ihres Verstandnisses — oft bis zu eineni 
ganz neuen Sinn — erworben werde, nnd damit man sich. 
ancli in scKeinbar oder wirklicli fremde Anschauungen zu 
iinden lerne und ihnen den Wahrbeitsgelialt abzugewinnen 
verstehe. 

Sodann, Festigkeit in den auf der Universitat etwa 
gewonnenen, von der sogenannten oder wirkKchen Tradi- 
tion abweicbenden religiosen Uberzeugungen, damit bei dem 
Eintritt ins Amt nicbt in kurzer Zeit das wieder wegge- 
spiilt oder mit gebroebenem Grewissen beiseite geschoben 
wird, wovon man sich. doch. einst iiberzeugt hatte. Agita- 
tionen tun es nickt, am wenigsten wenn sie von noch. nicht 
geniigend reifen Personen ausgehen. "Wenn aber alle als 
Manner im kirchlicben Amt die Ideale treu und fest balten, 
die sie als Jiinglinge erworben baben, dann kommt gewiB 
eine goldne Zeit fur die Kircbe Jesu, und aucb die Not- 
stande, die jetzt ertragen werden miissen, werden aufboren. 

Anbang. Der wesentlicbe Inbalt des Apostolikums 
bestebt in den Bekenntnissen, daJJ in der cbiistlicben Re- 
ligion die Gliter „beilige Earcbe", „Vergebung der Siinden", 
,ewiges Leben" gescbenkt sind, daB der Besitz dieser Griiter 
dem Glauben an Grott, den aUmachtigen Schopfer, an seinen- 
Sohn Jesus Christus und an den beiligen Greist zugesagt 
ist, und daC sie durcb Jesus Christus unsern Herrn ge- 
wonnen sind. Dieser Inhalt ist evangelisch. 



I. 

"WeiiB. man den Wortlaut des apostolisclien Symbols 
zuriickverfolgt aus unseren Katechismen und Drucken zu 
den altesten Drucken und aus ilinen zu den Handschriften 
und zu den "Werken der spateren Kirchenvater, so gelangt 
man etwa bis um das Jahr 500. Mcbt nur laJJt sich. der 
heute bei den Protestanten und Katholiken gebrauchte 
"Wortlaut niclit welter zuriickverfolgen, sondern es sprechen 
auch starke Grriinde dafur, daC er vor dem Ende des 5. Jahr- 
hunderts so niclit existiert hat. Wir treffen aber diese 
Form des Symbols um diese Zeit in der sudgallischen 
KircKe an, und nur in ihr. Daraus folgt: das aposto- 
lisclie Grlaubensbekenntnis in seiner lieutigen Form ist das 
Taufsymbol der siidgalLisclien Kirclie seit der Mitte be- 
ziehungsweise seit der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts. 

Von SiidgaUien zog das Symbol in das Frankenreich. ein 
und hat sich mit der Ausdehnung dieses Reiches verbreitet. 

Durch die Beziehungen der Karohnger zu Rom kam 
es in die Welthauptstadt — wenigstens ist es uns nicht 
bekannt, dafi dies friiher geschehen ist, — wurde dort 
rezipiert, und nun verbreitete es Rom iu alien Landern 
des Abendlandes, so daiJ man es seit dem 9. oder 10. Jahr- 
hundert auch das neuromische Symbol nennen kann: das 
„neur6mische", well es, wie sich zeigen wird, auch ein alt- 
romisches Symbol gegeben hat. 

Das Symbol gibt sich aber mindestens von der an- 
gegebenen Zeit ab keineswegs als ein provinzialkirchhches, 
vielmehr fordert es die hochste Autoritat, indem es im 
strengsten Sinne des Worts „apostohsch" d. h. von den 
Aposteln verfaUt seiu will. Diese Vorstellung war damals 

15* 



228 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

SO ausgepragt, daJJ jeder der zwolf Apostel einea Satz bei- 
gesteuert habe. So oder aTinlicli lautete die allgemeine 
tiberlieferung: „Ajn zehnten Tage nach. der Bammelfalirt, 
als die Jiinger aus Furclit vor den Juden versammelt 
waren, sandte der Herr den versprochenen Troster (den 
heiligen Geist). Sie -wnrden durcli sein Kormnen entziindet 
wie ein gliihendes Eisen, mit der Kenntnis aller Spraclien 
erfiillt und verfaCten das Symbol. Petms sprach : „Icli 
glaube an Grott, den allmachtigen Vater, den Sctopfer 
Himmels und der Erde", Andreas sprach: „TJnd an Jesus 
Ohi'istus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn", Jako- 
bus sprach.: „Der empfangen ist vom heiligen Greist, ge- 
boren aus Maria der Jungfrau", Johannes sprach: „Gre]itten 
unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben", 
Thomas sprach: „Niedergefahren in die Unterwelt, am 
dritten Tage auferstanden von den Toten", Jakobus sprach: 
„Aufgefahren gen Himmel, sitzt zur Rechten Grottes des 
allmachtigen Vaters", Philippus sprach: ,,Von dannen wird 
er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten", 
Bartholomaus sprach: ,,Ich glaube an den heiligen Greist", 
Matthaus sprach: ,,Eine heihge, katholisohe Kirche, Gre- 
meinschaft der Heihgen", Simon sprach: ,,Sundenver- 
gebung", Thaddaus sprach: ,,Auferstehung des Fleisches", 
Matthias sprach: ,,E'wiges Leben"." 

Diese Auffassung vom Ursprung des Symbols hat 
meines Wissens ungebrochen und von niemandem ange- 
tastet im ganzen Mittelalter und im gesamten Grebiet der 
romischen Kirche geherrscht; nur die Grriechen erklarten, 
dafi sie von einem apostolischen Symbol nichts wiiCten. 
Man kann sich vorstellen, welche Autoritat ein Bekenntnis 
besitzen muBte, das man sich so entstanden dachte! Un- 
bedenkhch wurde es der heiligen Schrift gleichgestellt. Es 
erschien daher als ein furchtbarer Schlag, der den christ- 
lichen Grlauben zu vernichten drohte, als Laurentius 
Yalla kurz vor der Reformation gegen die Uberlieferung 



Das apostolisclie Glaubensbekemitnis. 229 

aufteat und aucli Erasmus Zweifel auCerte. In der ganzen 
Geschichte des Symbols hat es keinen kritischeren Moment 
gegeben. "War docli die ganze abendlandische Christenheit, 
Greistliclie iind Laien, unterrichtet worden, das Symbol sei 
von den Apostela in der angegebenen Weise verfafit, nnd 
nun soUte sich die Kircbe die Jalirhnnderte hindurcli ge- 
irrt baben! "Welcbe bedenldicbe, scbwer zu ertragende 
Erscbiitterung des Grlanbens ! Die Pariser Tbeologiscbe 
Fakultat zensurierte die Zweifel des Erasmus. Sie berief 
sich. auf die Tradition, die Erasmus nicht zu kennen 
scheine : »Haec nescientia impietati deserviens scandalose 
proponitur«, rief sie dem Gelehrten zu. Aber auch Pro- 
testanten traten zuerst fiir die Wahrheit der bedrohten 
tJberlieferung ein. Allein bald anderte sich das Urteil in 
ihren Reihen, und sie gaben, dem erdriickenden gescliicht- 
Hohen Beweise folgend , mutig die tJberlieferung preis. 
Zogernd folgten die Katholiken. Der Catechismus Romanus 
halt die Abfassung des Symbols durch die Apostel fest, 
jedoch behauptet er nicht melir sicher, daiJ jeder Apostel 
einen Satz beigesteuert habe. In den evangehschen Kirchen; 
gilt das Symbol nicht mehr um seines Ursprungs willen 
fiir heihg, und doch sind sie nicht zusammengebrochen. 
Sie haben diese Erschiitterung iiberstanden, wie so manche 
andere, aus einer geforderten Erkenntnis der Geschichte 
stammende, die sie genotigt hat, sich von der Form auf 
die Sache, von der auJJeren Autoritat auf den Inhalt, von 
dem Buchstaben auf den Geist zui'iickzuziehen. 

n. 

Aber wie ist ein provinzialkirchliches, gaUisches Symbol 
— als ein solches erkannten wir das Apostolikum — zu 
der Ehre der Legende gekommen, es sei Satz fiir Satz von 
den Apostela verfaUt, so daiJ es sich, mit dieser tJberliefe- 
rung ausgestattet, in der ganzen romischen Kirche duxch- 
gesetzt hat? Diese Tatsache ware schlechthin unerklarlich, 



230 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

ware jene Legende niclit frtiJier schon von einem anderen 
bedeutenderen Symbole ausgesagt und spater auf das gal- 
lische Bekenntnis libertragen worden. 

In der Zeit zwischen ca. 250 nnd ca. 460 (und noch. 

dariiber hinaus) batte die romische Kirche im gottesdienst- 

licben Grebraucb ein Symbol, das sie in bocbsten Etren 

bielt, zu dem sie keine Zusatze duldete, das sie direkt von 

den zwolf Aposteln in der Fassung, in der sie es besaC, 

ableitete, von dem sie annahm, Petrus habe es nach Rom 

gebracht. Dieses Symbol liegt uns in eiaer Anzahl von 

Texten vor, so daJB -wir es mit fast vollkommener Sicberheit 

so wiederzugeben vermogen, wie es einst gelautet hat, namhcli: 

„Icli glaube an Grott den Vater, Allmacbtigen, imd an 

Christns Jesus seinen eingeborenen Sobn, unseren Herm, 

der geboren ist aus heiligem Geist und Maria der Jung- 

frau, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben 

ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, auf- 

gefahren in die Himmel, sich setzend zur RecMen des 

Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und 

Tote, und an heiligen GTeist, beilige Kirche, Vergebung 

der Siinden, Pleisches Auferstehung. " 

Rufinus und Ambrosius (am Ende des 4. Jahrhunderts) 

erzahlen ujis, daB dieses Symbol von den Aposteln verfaJBt 

sei, ja man darf daraus, daJB es Ambrosius bereits in zwolf 

Satze eingeteUt wissen will, vieUeicht schlieUen, daC die 

Sage, jeder Apostel hatte ein einzelnes Glied als seinen 

Beitrag zum Symbol beigesteuert, schon damals bekannt 

gewesen ist. Indes Rufinus, der etwas spater geschrieben 

hat, kennt sie noch nicht, sondern weiB nur von der ge- 

meinsamen Abfassung des Symbols durch die Apostel bald 

nach Piingsten, bevor sie sich trennten, um die Weltmission 

zu beginnen. Doch kommt auf diesen Punkt, ob jeder 

Apostel einen bestimmten Satz beigesteuert habe oder ob 

sie in anderer Weise als an der gemeinsamen Abfassung 

beteiligt vorgestellt wurden, wenig an. Die gemeinsame Ab- 



Das apostolisolie Glaubansbekenntnis. 231 

fassung durch. die Apostel stand fest, und zwar „auf Grund 
einer alten Tradition", wie Rniinus sagt. Jedenfalls schon 
im Anfang des 4. Jahrimnderts , wahrscheinlich. bereits im 
dritten, war der Grlaube an sie in Rom herrschend. Die 
Folge -war, dafi man mit angstlicher Sorgfalt liber jedem 
Worte des Symbols wachte. „ Wenn schon den Schriften eines 
Apostels", scbreibt Ambrosins, „nichts entzogen und nicMs 
hinzTigefiigt -werden darf , so diirfen wir dem Symbol, das 
"wir als von den Aposteln liberliefert nnd verfajjt empfangen 
haben, nichts entziehen nnd nichts hinzufugen. Das aber 
ist das Symbol, welches die romische Kirche besitzt, wo der 
erste der Apostel, Petrus, gesessen hat und wohin er „die 
allgemeine Formel" (communem sententiam) gebracht hat." 
Allein diese Vorstellung der romischen Kirche von 
ihrem Taufbekenntnis kann nicht so alt sein wie das Tauf- 
bekenntnis selbst. Es geht das schlagend aus der Tat- 
sache hervor, daC die anderen abendlandischen Kirchen 
(vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zui^ 9. u. langer) Tauf- 
bekenntnisse besessen haben, die sich zwar samtlich als 
Tochter des alten romischen erweisen, aber von demselben 
durch mehr oder weniger zahlreiche Zusatze unterscheiden. 
Wir kennen jetzt eine sehr groCe Anzahl von alten Tauf- 
bekenntnissen des Abendlandes, z. B. karthaginiensisch- 
afrikanische, ravennatische, mailandische , aquilejensische, 
sardinische, spanische, gaUische, irische usw. Sie aUe er- 
weisen sich ohne Ausnahme als aus dem alten romischen 
Symbol geflossen; aber kaum ein einziges gibt dieses 
Symbol worthch genau wieder, sondern sie gestatten sich 
Modifikationen , UmsteUungen und oft sehr belangreiche 
Zusatze (Weglassungen sind wenigstens nicht mit voller 
Sicherheit zu konstatieren). Diese Ereiheiten waren un- 
denkbar, wenn jene Kirchen, als sie das Symbol von Rom 
empfingen, bereits die Legende mitempfangen hatten, dafi 
das Symbol worthch von den Aposteln verfaUt und daB 
deshalb seia Wortlaut heilig sei. "Wie hatte z. B. die 



232 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

afrikanische Kirche den 3. Artikel so fassen konnen: » Credo 
remissionem peccatorum, resurrectionem carnis et vitam 
aetemam per sanctam ecclesiani« („Icli glaube Siindenver- 
gebung, Fleischesaufersteliung und ewiges Leben durcli 
die lieilige Kirche"), wenn ihr ein anderer Wortlaut als 
apostolisch zugegangen ware? Wie lieCen sicb die zahl- 
reicben Zusatze erklaren, wenn jene Kircben das Symbol 
so betracbtet batten wie Ambrosius, d. h. als apostoliscb 
und daber in seinem Wortgefiige unverletzlicb? 

Die Vorstellung vom strikt apostoliscben Ursprung des 
Taufbekenntnisses ist somit eine Neuerung in Rom ge- 
wesen, die nacb der Zeit fallt, da von Rom aus das Evan- 
gelium und mit ibm aucb das Symbol in die Provinzen 
getragen worden ist. Das lebren uns die provinzialkircb- 
licben Taufbekenntnisse. Sie lebren uns aber ferner, dafi 
in alien Provinzen der Kircbe des Abendlandes eine ge- 
wisse Freibeit der Symbolbildung Jabxbunderte bindurcb 
geberrscbt bat. Das romiscbe Bekenntnis war iiberall die 
Grrundlage. Aber auf dieser Grundlage bauten die ein- 
zelnen Kircben ibre Taufbekenntnisse nacb ibren Bedlirf- 
nissen selbstandig und frei aus. So finden wir z. B. in 
der Kircbe zu AquUeja gleicb im ersten Artikel als Zusatz 
zu „Gott den aUmachtigen Vater" die Worte „den unsicbt- 
baren und leidensunfahigen" usw. Wir lernen liier die 
Bedeutung Roms fiir die Kircbe des Abendlandes aufs 
neue ermessen. Das Symbol der Stadt Rom beberrscbt die 
gesamte Symbolbildung. Aber nocb waltete auBerbalb 
Roms kein angstlicber Zwang des Bucbstabens. Wabrend 
die romiscbe Kircbe in ibren Grenzen den Wortlaut ihxes 
Taufbekenntnisses skrupulos bewabrte und zm- Sicher- 
steUung desselben die Legende von dem apostoliscben Ur- 
sprung des Symbols erzeugte, beU sie es gescbeben, daiJ 
in den Provimiialldrcben iiberaU geandert wurde. Wie sie 
das ertragen hat, wissen wir nicbt. Aber das wissen wir, 
daJJ zuerst Rom aus einem Griaubenszeugnis der Kirche ein 



Das apostolische Glautensbekenntnis. 233 

strenges Gesetz gemacht und die gefalschte Legende vom 
apostolischen Ursprung aufgebracM hat. 

Aber noch etwas anderes lernen wir durch eine Ver- 
gleicliung der provinzialkLrchliclien Symbole mit dem alten 
romischen. Man kann auf direktem Wege das Alter dieses 
Symbols bochstens bis in die zweite Halfte des 3. Jahr- 
hunderts zuriickfuhren. Aber die Tatsache, daC sicb alle 
abendlandischen Provinzialsymbole als Abwandelungen des 
romisclien erweisen, verlangt, daU wir nocb nm ein Jahr- 
bnndert hinaufsteigen. Hatte die afrikaniscbe Kirche be- 
reits zur Zeit Tertullian's (um d. J. 200) ein festes Tauf- 
bekenntnis nnd war dasselbe, wie nicbt zweifelbaft, eine 
Tocbterrezension des romischen, so muB dieses selbst be- 
reits um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden sein. 
Dieses Ergebnis, welcbes durcb die anCeren Zeugnisse ge- 
wonnen ist, wird aber bestatigt durcb eine genaue Unter- 
sucbung des Inbalts des altromiscben Symbols. Diese 
Untersucbung macbt es iiberaus wabrscbeinbcb , daiJ das 
Symbol um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden ist, 
wie sie es andererseits widerrat, betracbtlicb bober mit der 
Abfassungszeit binaufzugeben. Man darf es als ein ge- 
sicbertes Ergebnis der Forscbung bezeicbnen: das alte 
romiscbe Symbol, dessen Wortlaut wir oben mitgeteilt 
baben, ist um die Mitte des 2. Jabrbunderts entstanden. 
Es ist in Rom selbst abgefaCt worden (wenn es aus der 
orientaliscben Kircbe nacb Rom gebracbt worden ware, 
miifiten sicb sicberere Spuren desselben im Orient finden, 
als wir kennen; es ist nicbt einmal das gewiC, daB 
es ein abnlicbes oder iiberbanpt ein ausgefubrtes und 
fixiertes Taufbekenntnis im 2. Jabrbundert im Orient ge- 
geben bat; doch waren die orientabscben Grlaubensregeln 
besonders die cbristologiscben dem romiscben Symbol sebr 
verwandt) und bat dort zunacbst nicbt als „apostobscb" 
im strengen Sinn gegolten. Die Legende des apostobscben 
Ursprungs ist vielmehr erst in der Folgezeit, etwa zwiscben 



234 Er3ter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

den Jahren 250 und 330, in Rom aufgekommen , nachdem 
sich. das Symbol schon in die abendlandisclien Provinzen 
verbreitet batte. Erwacbsen ist sie aus der alteren An- 
nabme, daC die kircblicbe Lebrfcradition iiberbaupt und 
die Grundeinricbtungen der Kircbe auf die Apostel zuriick- 
geben. Docb dacbte man sicb nrsprunglicb diese tJber- 
lieferung als eine freiere. Ob nicbt aber scbon Irenaus 
ein engeres Verbaltnis zwischen den Apostebi und dem 
Taufbekenntnis angenommen bat, ist nocb zu nntersucben. 

m. 

Die Verbindung dessen, was wir im ersten Abscbnitt 
dargelegt baben, mit dem im. zweiten Ausgefiibrten ist nun 
mogbcb. Das „apostobscbe Grlaubensbekenntnis " , welcbes 
wir jetzt braucben und "welcbes wir als das siidgalliscbe 
Symbol der 2. Halfte des 5. Jabrb. erkannt baben, ist eine 
der Tocbterrezensionen des alten romiscben. Es unter- 
scbeidet sicb von ibm — von kleineren stilistiscben Diffe- 
renzen abgeseben — durcb folgende wicbtigere Zusatze 
bez. Erweiterungen: 1. Scbopfer Himmels und der Erde. 
2. Empfangen vom beibgen Greist, geboren aus der Jung- 
frau Maria (fiir: „ geboren aus beibgem Gleist und Maria 
der Jungfrau"). 3. Grebtten. 4. Grestorben. 5. Mederge- 
fabren in die Unterwelt. 6. Katbobscb (als Zusatz zu 
„beibge Kircbe"). 7. G-emeinscbaft der Heibgen. 8. Ewiges 
Leben. Von alien diesen Zusatzen, die wir unten naber 
betracbten werden, bis auf einen (Oommunio sanctorum) 
gilt, daB sie sicb in anderen Taufsymbolen und in der 
kircblicben Uberbeferung — das eine Stiick bier, das an- 
dere dort — bereits lange vor dem Jabre 500 finden, nur 
nicbt in dieser Zusammenstellung. Aber die Erage ist 
nocb nicbt beantwortet, wie es gescbeben konnte, daC die 
romiscbe Kircbe ibr altes Symbol, das sie nacbweisbar bis 
ins 5. Jabrbundert und dariiber binaus iiber alles bocb- 
scbatzte und an dem sie nicbt die geringste Veranderuno- 



Das apostolisclie G-lanbensbekenntnis. 235 

zulieC, im 8. oder 9. (10?) Jalu-hundert docli preisgegeben 
tind mit dem Tochtersymbol , dem ^allischen, vertauscht 
hat? Das Dunkel, das iiber dieser Vertauschung liegt, ist 
nocb nicM vollig gelichtet, aber doch wesentlicb erhellt. 
Seit dem letzten Drittel des 5. Jabrbunderts zogen ariani- 
scbe Christen in Scharen in Eom sin, und bald warden 
sie die Beberrscber Italiens nnd seiner Stadt. Im GTegen- 
satz zn diesen arianiscben Christen, den Ostgoten, wird 
sich die romische Kircbe entschlossen baben, ihr nraltes 
Symbol bei der Tanfe anfzugeben und dafiir das nicanische 
(konstantinopoHtaniscbe) Symbol zu braucben, um schon 
bei dieser beUigen Handlung ihre abweisende SteUung ge- 
geniiber dem Arianismus zum Ausdruck zu bringen. Das 
altromische Symbol ist namhch, wie man sich leicht iiber- 
zeugen kann, dem G-egensatz zwischen Orthodoxie und 
Arianismus gegeniiber neutral. Auch ein Arianer kann es 
bekennen; denn er leugnet nicht, dafi Christus der einge- 
borene Sohn G-ottes ist, sondern behauptet es und ebenso 
alle Tatsachen, die im Symbol zusammengestellt sind. Um 
also die orthodoxe nicanische Lehre bei der Taufe zu be- 
kennen und sich auf diese Weise bestimmt gegen die aria- 
niscben Ostgoten (spater gegen die gieichfalls arianiscben 
Langobarden) abzugrenzen, hat die romische Ku'che seit 
dem Ausgang des 5. Jabrhunderts ihr altes Symbol im 
hturgischen Grebrauch allmahbch fallen gelassen. Indessen 
ist es mogbch, daC der Gregensatz gegen den Arianismus 
bei dieser Vertauschung keine RoUe gespielt hat, sondern 
Rom im 6. Jabrhundert zum Symbol von Konstantinopel 
ubergegangen ist (resp. erst am Ende des 6. Jabrh.), well 
es in dieser Zeit iiberhaupt in starke Abhangigkeit von 
demi byzantinischen Reiche geriet. Ob die Vertauschung 
Kampfe gekostet und wie sie sich voUzogen hat, wissen 
wir nicht; nur die Tatsache selbst ist uns bekannt. Aber 
nachdem das alte romische Symbol einmal aus dem htur- 
gischen G-ebrauch entfernt war, scheint es iu Rom selbst 



236 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

allmalilich in Vergessenheit geraten zu sein. Etwa zwei 
bis drei Jahrliunderte hindurcli gebraucMe Rom bei der 
Taufe das Symbol von Konstantinopel. Das ist eine lange 
Zeit, und sie geniigt, um es zu erklaren, daC das Symbol 
mekr und mebr aus dem Gedacbtnis entscbwand; denn da- 
mals bebauptete sicb im kirchliclien Leben nur, was in 
dem Gottesdienste gebrancht wurde. Die Hturgischen 
Handsckriften waren die Trager der gottesdienstUchen 
Tind kirchlicben Tradition. Immerhin aber bleibt es eine 
sebr bemerkenswerte Tatsacbe, daC selbst eine so exor- 
bitante Legende, wie die von dem Ursprung des Symbols, 
es auf die Dauer nicht zu scbiitzen und vor dem Unter- 
gang zu bewabren vermocbt hat. ISTur in verborgenen 
Winkeln der tJberlieferung ist das alte romische Symbol 
im 17. Jahrbundert und in unserer Zeit wieder aufge- 
funden worden; in der groCen Tradition der Kircbe ist es 
fast spurlos verscbwunden, vor allem in Rom selbst. 

Mit der zweiten Halfte des 8. Jahrbunderts anderten 
sicb in Rom die Verbaltnisse. Das Band mit Konstanti- 
nopel war gelockert, ja fast zerrissen. Der Arianismus war 
im Aussterben. Eine Grefabr von dieser Seite her war 
nicht mehr zu befiirchten, der Grebrauch eines gegen die 
Arianer gerichteten Symbols daher nicht mehr gefordert. 
Dagegen war Rom und seine Kirche in sehr enge Bezieh- 
ungen zu den Franken getreten. Sie waren schon seit 
Jahrhunderten katholisch und wurden unter Karl dem Gro- 
fien die Herren von Rom. Der Papst und seine Kirche 
gerieten in voile Abhangigkeit von dem groBen franki- 
schen Konige. Damals oder etwas spater muB die zweite 
Vertauschung in der romischen Kirche stattgefunden ha- 
ben. Sie heB das konstantinopolitanische Symbol bei der 
Taufe fallen und kehrte zu einem kiirzeren Taufbekennt- 
nis zuriick. Aber nicht zu ihrem alten — dieses war ihr 
entschwunden — sondern zu dem gallischen, welches nun 
das frankische geworden war. Sie rezipierte dieses Sym- 



Das apostolisclie Grlaubensbekenntnis. 237 

bol. Nun aber geschah das Paradoxeste: sie iibertrug 
jetzt die Legends von dem strikten apostolischen Ursprnng 
des Tauf bekenntnisses , die sich. doch auf das altromische 
Symbol bezogen hatte nnd bei Ambrosius, Rufin u. a. zu 
lesen stand, ohne "Weiteres anf das Tochtersymbol, von dem 
sie nie gegolten hatte nnd welches anch eine neue Ver- 
teilnng der Artikel anf je einen der zwolf Apostel erheischte, 
"well es mehr G-lieder zahlte als das altromische. 

Welch ein wunderbarer Q-ang der G-eschichte! Die 
romische Earche tragt ihr altes Symbol nach GaUien. 
Dort wird es im Lauf der Zeiten vermehrt. Unterdessen 
bildet die romische Kirche die Legende von dem strikt 
apostolischen Ursprung ihres unveranderten Symbols aus. 
Dann laJJt sie es unter dem Drnck anfierer Verhaltnisse doch 
fallen, und es verschwindet. Unterdessen dringt das Toch- 
tersymbol von Grallien ins Prankenreich und erobert sich 
dort den entscheidenden Platz. Das Frankenreich wird zum 
Weltreich, macht sich zum Herrn von Rom. Rom erhalt 
von dorther sein eigenes Symbol, aber in erweiterter Gre- 
stalt, znriick, es nimmt das Greschenk an, verleiht der neuen 
Form romische Autoritat und kront die Tochter mit der 
Krone der Mutter, indem es die Legende von dem strikt 
apostolischen Ursprung auf sie iibertragt. Das Interessan- 
teste an diesen geschichtlichen Prozessen ist die Bedeutung 
des Frankenreichs fiir die romische Kirche der Karolinger- 
zeit. So gewaltig, so schlagend tritt sie vielleicht an kei- 
nem anderen Punkte hervor. Das Reich Karls des Grro- 
Ben hat Rom sein Symbol gegeben. Ja es hat damals Rom 
und durch Rom der abendlandischen Christenheit noch ein 
zweites Symbol geschenkt, das sog. athanasianische. Zwei 
von den sog. okumenischen Symbolen sind galhsch, resp. 
frankisch. Aber man darf vielleicht annehmen — direkt 
wissen wir freilich dariiber nichts — , dafi die romische 
Kirche Umstande gemacht hatte, das frankische Symbol 
als Taufsymbol zu rezipieren, wenn sie es nicht als einen 



238 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

alten Bekannten erkannt hatte. Es ist doch wahrschein- 
licli, daC in Eom noch. soviel geschiclitliclie Uberlieferung 
vorhanden war, daJ3 man durch das frankisclie Bekenntnis 
an das eigene alte, einst so Kochgeehrte erinnert wurde. 
Die Differenzen iibersali man oder Melt sie nicht fur erheb- 
lich. So wachte an dem neuen Symbol die Legende, die 
das alte umstrablt hatte, wieder auf und wurde wiederum 
und fiir lange Zeit eine Macht in ^der Earcbe, bis sie im 
Zeitalter der Renaissance tmd Reformation gestiirzt wnrde. 

IV. 

Man sollte erwarten, daB der "Wortlaut des Symbols 
nach der neuen Rezeption mit peinlichster Treue im Mittel- 
alter bebutet worden ist. Im allgemeinen ist das auch der 
FaU gewesen. Docb fehlen Schwankungen nicbt ganz zum 
Beweise, daC etue lebendige Kircbe nicbt am Bucbstaben 
kleben kann, wenn sie ein besseres Wort weiB oder dem 
Bucbstaben einen sicberen Sinn nicbt abzugewinnen vermag. 
So ist in einigen mittelalterlicben Formeln das „nieder- 
gefabren in die Unterwelt" weggelassen. Ferner bat das 
Nebeneinander der beiden Grbeder „beilige Earcbe" und 
„Gemeinscbaft der Grlaubigen" dem Verstandnis Scbwierig- 
keiten bereitet. Daher flieUen beide in einigen Formeln in 
eins zusfmmen oder das zweite Glied erbalt Zusatze. Statt 
jjKirche" findet sicb das Wort „Cbristenbeit"; ja in einigen 
Formeln ist das Wort „katboliscb" weggelassen oder dafiir 
„christlicb", bezw. „glaubig" gestellt. Diese Anderung ist 
desbalb wicbtig, weil Lutber und die lutberiscbe Kircbe sie 
rezipiert baben. Sie baben in dem deutscben Symbol „Eine 
beilige cbristlicbe Kircbe" fiir „Sanctam ecclesiam catboli- 
cam" gesetzt. Zusatze zu dem Symbol linden sicb in 
manchen mittelalterlicben Formeln, teils aus dem Constan- 
tinopobtanum genommene, teils frei binzugefugte. „Beson- 
ders macbt sicb das Bediirfnis geltend, was in der alten 
Kircbe nur ganz vereinzelt auftritt, das Leben Obristi auf 



Das apostolisohe Glaubensbekenntnis. 239 

Erden in historisclien Ziigen auszufiihren. " Nachdem Bern- 
hard von Olairvaux und Franziskus von Assisi die Ziige 
des geschichtlichen Chiistns m seiner Demut und Armut, 
Liebe und Leiden vor die Seele gestellt hatten, ist es wohl 
verstandlich, daU die wenigen Tatsachen, die im Symbol 
verzeicbnet sind, nicht mehr genligten. Wie weit aber das 
Bestreben, den geschicbtlichen Christus in jenen Ziigen im 
Symbol anzuschauen, auf die Erklarung resp. audi die Ge- 
staltung des Symbols selbst im Mittelalter eingewirkt hat, 
verlangt noch eine Untersuehnng. 

Luther, der das Symbol aufs hochste schatzte, hat 
doch an zwei Satzen leisen Anstofi genommen. Es ist 
charakteristisch, wie er sich dariiber im G-rofien Katechismus 
ausgesprochen hat. Zu „Sanctorum communionem" bemerkt 
er: „Aber recht deutsch zu reden, soUt es heiCen eine Gre- 
meine der Heiligen, das ist, eine Gremeine, darin eitel 
Heihge sind, oder noch klarlicher eine heihge Gemeine 
[beides heifit es aber nicht]. Das rede ich darum, daiJ man 
die "Worte: Gemeinschaffc der Heiligen, verstehe, -weil es 
so in die Gewohnheit eiugerissen ist, daC schwerlich wieder 
heraus zu reiCen ist, und muB bald Ketzerei sein, wo man 
ein Wort andert" („et statim haeresim esse oporteat, ubi 
verbulum ahquod immutatum fuerit"). Und zur „Auf- 
erstehung des Fleisches" sagt er: „Dafi aber hie stehet 
Auferstehung des Fleisches ist auch nicht wohl deutsch 
geredt [aber der Originaltext bietet denselben AnstoB; die 
tJbersetzung tragt keine Schuld]. Denn wo wir Deutschen 
Fleisch horen, denken wir nicht welter denn an die Scharren 
[Metzgerbank]. Auf recht deutsch aber wiirden wir also 
reden: Auferstehung des Leibes oder Leichnams; doch liegt 
nicht groBe Macht dran, so man nur die Worte recht versteht." 

V. 

In dem vorstehenden ist der Versuch gemacht, den 
TJrsprung und die Grundziige der auBeren Geschichte des 



240 Erster Band, zweite Abteilung. Aiifsatze: I. 

Apostolikums bis zur Reformation darzulegen. SieM man 
von den acht Zusatzen, die oben angegeben sind, und von 
der lutheriscken Vertauschung des „Kat]iolisc]i" in „Christ- 
lich" ab, so darf man sagen, daC das Symbol aus der nach- 
apostolisch.en Zeit stammt und zwar aus der Hanptkirclie 
des Abendlandes, Rom. Wer es dort verfaJJt hat, ist un- 
bekannt. Der Zweck, nm dessen wUlen es aufgestellt 
worden ist, lafit sich aus seinem G-ebraucbe mit Siclierlieit 
feststellen : es ist aus der missionierenden und Icatechetisclien 
Funktion der Kirche hervorgegangen und war urspriinglicli 
lediglick Taufsymbol („Ter mergitamur, amplius aliquid 
respondentes quam dominus in evangelic determinavit", 
d. h. „dreimal werden wir untergetaucht und erwidern 
[dem, der die Handlung an uns vollzieht] dabei einige 
"Worte melii- als der Herr im Evangelium [s. den Taufbefehl] 
angeordnet bat"). Die Meinung alterer und neuerer G-e- 
lehrter, daC das Symbol der allmahlich entstandene Meder- 
sclilag aus Grlaubensregeln ist, die gegen die Gnostiker auf- 
gestellt wurden, dafl es also aus der Polemik stammt, laBt 
sich nicbt lialten; vielmebr gilt das Umgekehrte : die ver- 
schiedenen antignostiscben Glaubensregeln setzen ein kurzes, 
festes, formuliertes Bekenntnis voraus, und das ist im 
2. Jahrhundert eben das romische Symbol gewesen. Es 
stammt aus der Zeit vor dem brennenden Kampf mit der 
Haresie oder nimmt docb auf diesen Kampf keine Riicksiclit. 
Ein so altes Symbol, -welches nur um etwa zwei 
Menschenalter von der apostolischen Zeit entfernt liegt, und 
direkt oder indirekt die Wurzel aller Symbole der Christen- 
heit geworden ist, verlangt, daiJ man seinen ursprlinglichen 
Sinn im ganzen und in den einzelnen Teilen, sowie sein 
Verhaltnis zur altesten Verkiindigung des Evangeliums 
sorgfaltig feststellt. Kann ihm auch nach den allgemein 
anerkannten G-rundsatzen der evangelischen Kirchen keine 
selbstandige Autoritat zukommen, geschweige eine unfehlbare, 
riihrt es ferner trotz seines hohen Alters aus einer Zeit her. 



Das apostolisohe Grlaubenstiekenntuis. 241 

aus der sekr vieles stammt, was die Reformationskirclien ab- 
gelehnt haben, so verdient docli die Frage: Was wollte das 
Symbol bekennen und sagen? die genaueste Untersuchung. 

Auf den ersten Blick scheiat diese Frage iiberaus leicbt 
beantwortet werden zu konnen. Ein grofler Teil seiner 
Satze laCt sich wortHch aus der nocb alteren ckristlichen 
Verkiindigung belegen, und als G-anzes scbeint das Be- 
kenntnis so durchsiclitig und einfach, daC es keiner Er- 
klarung zu bediirfen scheint. AUein sieht man naher zu 
und vergleicbt man die christliche Theologie der Zeit, aus 
der es stammt, so stellt sich manches in anderem Lichte dar. 

Das Symbol ist die erweiterte Taufformel: das muJB 
man fur seine Erklarung festhalten. DemgemaU ist es 
dreigKederig wie jene. Die ZerteHung in zwolf Abschnitte 
ist offenbar eine spatere kunstHche Operation, gegen die 
sicbi das ganze Grefiige des Bekenntnisses straubt. Die 
Erweiterung ist so erfolgt, daJJ die drei Grlieder der Tauf- 
formel „Vater, Sobn und beiliger Geist" naher bestimmt 
wurden. Die ckristliclie Gremeinde hatte das Bediirfnis, sie 
deutlicb zu beschreiben, um zu bekennen, was sie an ihnen 
und durch. den Grlauben an sie besitzt. 

Ein voiles, durcli keinen anderen Ausdruck zu er- 
setzendes Zeugnis des Grlaubens ist der Satz des ersten 
Artikels: „Icli glaube an Grott, den Vater, AUmacbtigen" 
{oder vieUeicbt: „Gott den aUmachtigen Vater"). Zwar 
wenn man die gleichzeitigen kirchlichen Schriften unter- 
sucbt, findet man in ihnen das voile evangeliscbe Ver- 
standnis des Vaternamens nicbt mebr: ibre Verfasser denken 
in der Eegel nur an Grott als den Yater der "Welt, wenn 
sie ibn Vater nennen. Aucb ist der Ausdruck selbst in 
ihnen nicht eben haufig; gewohnlich wird Gott „der Herr" 
(Despot) genannt oder „der Schopfer". Um so willkom- 
mener ist es, daU er sich in dem Symbol findet. Hat ihn 
der Verfasser selbst auch wahrscheinHch nicht nachMatth. 11, 
25 ff., E,6m. 8, 15 und wie Luther gedeutet, so tritt er doch 

Harnaok, Reden und Aufsatze. I. 16 



242 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

einer solchen Deutung niclit in den Weg. In der alten 
Kirche verlor sie sich. freilicli bald. Bei den ErMarungen 
des Vater-Unsers blitzt sie Mer nnd dort auf (so bei Ter- 
tullian und Origenes), aber bei der Erklarung der Grlaubens- 
regeln sucM man sie fast iiberall vergebens. 

Ebenso einfach und gewaltig, evangelisch iind aposto- 
lisch ist die Erweiterung des zweiten Grliedes „Christus 
Jesus, Grottes eingeborener Sobn, unser Herr" Die beiden 
entscbeidenden Pradikate fur Jesus Christus, die alle evan- 
geliscten Aussagen liber ihn einscblieBen , sind bier zu- 
sammengestellt. Aiis alien Bezeichnungen, die sicb in der 
christbcben Predigt der alteren Zeit finden, sind die beiden 
umfassendsten ausgewahlt (ob die Voranstellung des 
„Christus" vor „Jesus" nocb eine Erinnerung daran ent- 
balt, dafi Cbristus = Messias ist, laJJt sicb nicbt sagen). 
Der Zusatz jjeingeboren" findet sicb im Neuen Testament 
nur im Jobannes-Evangelium ; aber die Sacbe baben aueb 
Mattbaus und Lukas (s. 11, 27 f. bez. 10, 22 f.), und sie 
wird iiberbaupt einliellig von der altesten Gremeinde bezeugt: 
Jesus Cbristus ist nicbt nur ein Sobn Grottes, sondern er 
ist „der Sobn", also der einige Sobn. Das Wort „Herr" 
ist in dem pragnanten Sinne zu fassen, den die alte Zeit 
mit ihm verband. Lutber, der im groCen Katecbismus die 
ganze Auslegung des 2. Artikels in die Auslegung des 
AVortes „Herr" bineingezogen bat (vgl. iibrigens aucb das 
„sei mein Herr" im kleinen Katecbismus), bat damit nicbt 
nur katecbetiscb den ricbtigen G-riff getan, sondern er bat 
aucb den Sinn des Grlaubensbekenntnisses in seiner Weise 
wiederbergestellt: „Das sei nun die Summa dieses Artikels, 
daU das "Wortlein ,Herr' aufs einfaltigste so Adel beiUe als 
ein Erloser, das ist, der uns vom Teufel zu Grott, vom Tod 
zum Leben, von Siinde zur Grerecbtigkeit bracbt bat und 
dabei erbalt." Aber nocb ist eine Erlauterung zu dem 
Bekenntnis „ eingeborener Sobn" notig. In der Zeit nacb 
dem IsTicanum wird bei diesen "Worten in der Kirche durch- 



Das apostolisolie Q-laubensbekenntnis. 243 

weg an die vorzeitliche , ewige Sohnscliaft Christi gedacht 
tmd jede andere Auslegung gilt als Haresie. So hat auch 
Luther die "Worte erklart: „walirliaf tiger Grott, vom Vater 
in Ewigkeit geboren." Allein diese Fassung verlangt, auf 
das Symbol iibertragen, eine Umdeutung desselben. Es 
laCt sicli nicht nachweisen, dafi um die Mitte des 2. Jahr- 
liunderts der Begriff „eingeborener Sohn" in diesem Sinne 
verstanden worden ist; vielmebr laiJt es sich geschiclitlicli 
zeigen, daiJ er nicht so verstanden worden ist. Wo Jesus 
Christus „Solin" heiCt, wo ein „geboren sein" von ihm 
ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichthchen 
Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der ge- 
schichthche Jesus Christus ist der Sohn. Erst spekulierende 
christHche Apologeten und die gnostischen Theologen haben 
das "Wort anders verstanden und in ihm das Verhaltnis 
des vorgeschiohthchen Christus zu Gott ausgedruckt ge- 
funden. Spater noch wurde die ganze Zweinaturenlehre in 
die Worte hineingelegt: „der eingeborene Sohn" bedeute 
die gottliche Natur und erst in dem, was folgt, werde die 
menscMiche IsTatur bekannt. Es dauerte aber langere Zeit, 
bis sich diese Auslegung in der Kirche durchsetzte, um dann 
die allgemeine zu werden und die altere zu verdrangen. 
Wer also die „ ewige Sohnschaft" in das altromische Sym- 
bol hineinlegt, der gibt ihm einen anderen Sinn als der ur- 
spriinghche lautete. Aber zum Haretiker ist trotzdem nach 
dem 3. Jahrhundert jeder gestempelt worden, der damals 
noch bei dem urspriinglichen Sinn des Symbols stehen 
blieb und sich weigerte, die neue Deutung anzuerkennen. 

Das Taufbekenntnis hat sich mit dem Zeugnis von 
Christus als des eingeborenen Sohnes und unseres Herrn 
nicht begniigt, sondern es hat noch fiinf (sechs) Satze hin- 
zugefugt : 

„Der geboren ist aus heiligem Greist und Maria der 
Jungfrau, 

der unter Pontius Pi^latus gekretizigt und begraben ist, 

16* 



244 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

am dritten Tage auferstanden von den Toten, 

aufgefahren in die Himmel, 

sich setzend zur RecKten des Vaters, woher er kommt 
zu ricliten Lebendige nnd Tote." 

Was soUten diese Satze besagen? Man bat gemeint, 
sie seien nm der alttestamentlichen Weissagung willen aus- 
driicklicb bervorgehoben, um die Erfullung derselben aus- 
zusprecben, so wie der Apostel Paulus im ersten Korintber- 
brief scbxeibt (15, 3f.): „Icb babe eucb zuvorderst gegeben, 
welcbes icb aucb empfangen babe, dafi Cbristus gestorben 
sei fiir unsere Siinden, nacb der Scbrift, und dafi er be- 
graben sei nnd daC er auferstanden sei am dritten Tage, 
nacb der Scbrift." AHeiti wenn das die Absicbt des Ver- 
fassers gewesen ware, so batte sie Marer bervortreten 
miissen; in Wabrbeit ist sie durcb nicbts angedentet. 
Andere baben gemeiat, daC der Verfasser die wicbtigsten 
einzelnen Heilstatsacben babe bervorbeben wollen. Diese 
Anffassung kommt dem Ricbtigen naber; aber sie ist in 
dieser Form docb nicbt baltbar; denn sie scbiebt etwas ein, 
was der alten Zeit fern lag. Ibr war Jesus Cbristus der 
Erloser und sein gauzes Tun ein erlosendes; aber die Zu- 
sammenstellung einer besonderen Reibe von einzelnen Heils- 
tatsacben, jede fur sicb ein besonderes Grut einscblieUend, 
lag ibr fern. Stiinde an dieser Stelle in dem Symbol etwa 
nur „der gekreuzigt ist um unserer Siinden willen und am 
dritten Tage auferwecket ist" und sonst nicbts weiteres, so 
ware freUicb gewiJJ, dafi das Symbol diese Ereignisse als 
Heilstatsacben babe bervorbeben wollen (wie Paulus), aber 
angesicbts der ganzen Reihe laCt sicb nicbts anderes be- 
baupten, als daJ3 das Symbol einen gescbicbtlicben Bericbt 
von dem Herrn, dem Sobne G-ottes, bat geben wollen. Die 
Haupttatsacben seiner G-eschicbte, einer G-escbicbte, die ibn 
von alien anderen unterscbeidet, sollten bekannt werden. 
Was er ist, bezeugt der Eingang: „der eingeborene Sobn 
G-ottes und unser Herr"; seine G-escbicbte — es ist die 



Das apostolisclie G-laubensbekenntnis. 245 

Geschichte des Erlosers — soUte in den Zusatzen aus- 
gesagt werden. 

Die Auswahl dieser Zusatze deckt sich. wesentlich mit 
der urspriinglichen Verkiindigung des Evangeliums, aber 
doch nicht mehr voUkommen. Stiinden allein die Worte 
in dem Symbol: „der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und 
begraben ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, 
sitzet zur RecMen des Yaters, woher er kommt zu ricMen 
Lebendige und Tote", so ware kein Unterschied vorhanden. 
Aber daU der Satz: „der geboren ist aus beiligem Geist und 
Maria der Jungfrau", nicht der urspriinglichen Verkiin- 
digung des Evangeliums angehort, ist eine der sichersten 
geschicMliclien Erkenntnisse; denn 1. er fehlt in aUen 
Briefen des Apostels Paulus und iiberhaupt in alien Briefen 
des Neuen Testaments, 2. weder in dem Evangelium des 
Markus ist er zu finden, noch. sicker in dem des Johannes, 
3. er fehlte auch in der Vorlage und gemeinsamen Quelle 
des Matthaus- und Lukas-Evangeliums, 4. die Genealogien 
Jesu, -welche diese beiden Evangehen enthalten, fiihren auf 
Joseph und nicht auf Maria, 5. alle vier Evangehen be- 
zeugen es — zwei unmittelbar, zwei mittelbar — , dafi die 
urspriinghche Verkiindigung von Jesus Christus mit seiner 
Taufe begonnen hat. So gewiB es ist, daJJ die GTeburt 
Jesu aus dem heiligen Greist und der Jungfrau Maria be- 
reits in der Mitte des 2. Jahxhunderts, ja wahrscheinlich 
schon nicht lange nach dem Anfang desselben, ein festes 
Stiick der MrcMichen Uberheferung bildete, so gewiJJ ist es, 
daB sie in der altesten Verkiindigung keine Stelle gehabt 
hat. Diese begann mit Jesus Christus, dem Sohn Davids 
nach dem Eleisch, dem Sohn Grottes nach dem Greist (s. 
E,6m. 1, 3f.), bez. mit der Taufe Christi durch Johannes 
und der Herabkunft des Greistes auf ihn. DaC in dem 
apostolischen Symbolum die Davidssohnschaft, die Taufe 
und die Herabkunft des Greistes auf Jesum weggelassen 
und dafiir die Geburt aus dem heiligen Greist und der 



246 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

Jangfrau eingesetzt ist, ist also gegeniiber der altesten 
Verkiindigung eine Neuerung, die da zeigt, daJJ das Syrabol 
nicht der altesten Zeit angehort, so wenig wie die Evan- 
gelien des Matthaus und Lukas die alteste Stufe der evan- 
geKschen Greschiclite darstellen. Die Kirche hat dann welter, 
schon bald nach der Zeit der Abfassung unseres Symbols, 
verlangt, daC man das Pradikat „Jungfran" bei Maria von 
der bleibenden Jungfrauschaft verstebe. In den evangeU- 
schen Kircben aber ist dieses Verstandnis zuriickgewiesen 
worden. — Mcht ebenso wicbtig, aueh. nicht sicher zu 
fassen, aber doch nicht zn libergehen, ist noch eine Ab- 
weichung von der altesten Predigt: es ist die besondere 
Hervorhebung der Himmelfahrt. In der altesten Verkiin- 
digung hat diese kein besonderes Glied gebildet; aber es ist 
auch nicht ganz sicher, ob das Symbol sie so fassen, oder 
ob es nicht mit den drei Worten „auferstanden, aufgefahren, 
sich setzend" einen einzigen Akt beschreiben woUte. In 
dem ersten Korintherbrief (15, 3f.), in den Briefen des 
Clemens, Ignatius und Polykarp, im Hirten des Hermas 
wird die Himmelfahrt iiberhaupt nicht erwahnt; aber sie 
fehlt auch in den drei ersten Evangehen. Was wir jetzt 
dort lesen, sind spatere Zusatze, wie die Textgeschichte 
beweist. In einigen der altesten Zeugnisse wird die Auf- 
erstehung mit dem sich Setzen zur Rechten Grottes in eins 
zusammengefaUt, ohne Erwahnung einer Himmelfahrt; im 
Barnabasbrief sind Auferstehung und Himmelfahrt auf einen 
Tag verlegt; nur die Apostelgeschichte berichtet im Neuen 
Testament, daC 40 Tage dazwischen gelegen batten. Andere 
alte Zeugnisse erzahlen wieder anders und setzen gar 18 
Monate dazwischen. Aus diesem Schwanken, welches lange 
gedauert hat, geht hervor, daC die alteste Verkiindigung 
eine einzige Tatsache mit verscliiedenen Worten beschrieben 
hat und daC die Differenzierung zu mehreren Akten einer 
spateren Zeit angehort. Eine solche Differenzierung ist 
aber nicht unbedenHich; denn sie legt es nahe, jedem 



Das apostolisohe Glaubensbekenntnis. 247 

Stiicke eine besondere Bedeutung fiir sich zu geben und 
damit das Grewicht des entsdieidenden Stiicks zu schwachen. 
Andererseits — das „ATiferstandeii von den Toten" ver- 
langte allerdings einen Zusatz; denn nicht an einfache 
Wiederbelebung soUte geglaubt werden, sondern an eine 
Erbohung znr Macht nnd Herrscbaft im Himmel und auf 
Erden. Eben dieses driickte die alteste Verkiindigung ent- 
weder dnrcb die Himmelfabrt oder durcb das Sitzen zur 
Rechten G-ottes aus. 

Das dritte Grlied der Taufformel: „Ich glanbe an den 
beiligen Geist" ist nicbt, wie die beiden vorigen, personUch, 
sondern sacblicb erganzt (durch die drei Stiicke: „Heibge 
EJirche, Vergebung der Siinden, Eleiscbes Anferstebung"). 
BDiernach scbeint es, als sei in dem Symbol der beUige 
G-eist selbst nicht als Person anfgefaJJt, sondern als Kraft 
und Gabe. Dem ist -wirklicb so. Man kann nicbt nach- 
weisen, daC nm die Mitte des 2. Jabrbunderts der beibge 
Geist als Person geglaubt worden ist. Diese Vorstellung 
ist vielmebr eine bedeutend spatere, die nocb um die Mitte 
des 4. Jabrbunderts den meisten Cbristen nnbekannt ge- 
wesen ist, sich dann aber im Zusammenhang mit der 
nicanischen Orthodosie eingebiirgert bat. Entstanden ist sie 
ans der wissenschaftlichen griechiscben Theologie; denn es 
laCt sich nicht nacbweisen, daB die (scheinbare oder wirk- 
liche) Personifikation des beiHgen Geistes im Jobannes- 
EvangeKum als „des Trosters" bier eingewirkt hat. "Wer 
also in das Symbol die Lehre von drei Personen der Gott- 
heit einfiihrt, der erklart das Symbol wider seinen ur- 
spriinglichen Sinn nnd deutet es um. Eine solche Um- 
deutung ist allerdings seit dem Ende des 4. Jahrhtmderts 
von alien Christen verlangt worden, woUten sie sich nicht 
dem Vorwnrf nnd den Strafen der Haresie aussetzen. 

Als Gabe ist der heUige Geist in dem Symbol gemeint, 
aber als eine Gabe, in der gottliches Leben den Glaubigen 
dargeboten wird; denn der Geist Gottes ist Gott selbst (in 



248 Erster Band, zweite Abteiking. Aufsatze: I. 

diesem Sinn ist an der PersonlicKkeit nicM gezweifelt 
worden). Hinzugefiigt — aber sie sind nnr eine Explikation 
der einen Grabe — werden drei Griiter, und hier gibt das 
Bekenntnis die apostolisclie Predigt vollkonmien wieder: 
„h.eilige Eirclae, Vergebung der Siinden und Fleisches Auf- 
erstehung" . AHes, was der Glaube an Jesus Cluistus ent- 
halt und scliafft, ist in diesen Worten entbalten: Die von 
Christus erloste, mit dem heiligen G-eist begabte und darum 
heilige Gemeinde, die ihr Burgerrecbt im Himmel bat, aber 
scbon bier auf Erden den beiligen Geist besitzt, die Er- 
neuerung des Einzelnen dui-ch die Vergebung der Siinden, 
und die Auferstebung von den Toten. So gewiC aber diese 
drei Stiicke den ganzen Inbalt der evangeliscben Giiter in 
sicb begreifen, so gewiU ist die Fassung des letzten Stlicks 
nicbt paulinisch und nickt johanneiscb. Paulus scbreibt 
(I. Kor. 15, 50): „Davon sage icb aber, liebe Briider, dafi 
Fleisck und Blut nickt konnen das Reicb Gottes ererben; 
aucb wird das Verweslicke nicbt erben das Unverweslicbe'", 
und im Jobannes-Evangelium stebt gescbrieben (6, 63): 
„Der Geist ist es, der da lebendig macbt, das Eleisck ist 
kein niitze". In der Fassung der Auferstebung und des 
ewigen Lebens als ,, Auferstebung des Fleiscbes" ist mitbin 
die nacbapostobscbe Kircbe iiber die Linie binausgegangen, 
die in der gemeinsamen altesten Verkiindigung gegeben 
war. Wobl ist scbwerbcb daran zu zweifebi, dafi von der 
friibesten Zeit ber einige Cbristen die Auferstebung des 
Fleiscbes gepredigt baben, aber eine aUgemeine Lebre war 
sie nicbt. Aucb bieten viele Zeugnisse der alteren Zeit 
statt Auferstebung des Fleiscbes „ Auferstebung" oder 
„ewiges Leben". Andererseits bestand die Kircbe, als sie 
bald in den Kampf mit dem Gnostizismus eintreten muCte, 
auf der Auferstebung des Fleiscbes, um nicbt die Aufer- 
stebung iiberbaupt zu verUeren. Aber so verstandlicb das 
ist — in dem damabgen Kampfe scbeint keine andere 
Formel ausgereicbt zu baben — , so kann die Anerkennung 



Das apostolische Glaubensbekenntnis. 249 

dessen, daJJ sick die Kirche damals in einem Notstand be- 
fand, das Recht der Formel nicht schiitzen. 

"Wir haben bisher den Wortlaut des altromischen Sym- 
bols betrachtet nnd von den aclit Znsatzen des gallisclien, 
nenromischen Sjmibols (unseres jetzigen Apostolikums) ab- 
geselien, die wir oben bezeichnet haben. Piinf von ilinen 
verlangen keine Besprechung; denn sie sind scMecbterdings 
nicMs anderes als Explikationen. DaU „gelitten" zu „ge- 
kreuzigt", ngestorben" vor „begraben", „ewiges Leben" 
nach Fleisctes Auferstehung" gestellt ist, daC Gott der all- 
machtige Vater ausdriicklicli als „Scli6pfer Himmels und 
der Erde" bezeichnet, daJJ endlich. fiir „geboren aus hedigem 
Greist und Maria der Jungfrau" gesagt wird, „empfangen 
vom heiligen Greist, geboren aus der Jungfrau Maria" andert 
an dem sacMichen Inbalt und dem Sinn des alten Symbols 
gar nicMs. Man konnte hocbstens sagen, daC das letzte Stiick 
eine Ausmalung darstellt, die das alte Symbol in berechtigter 
Scheu vermieden liabe. Anders steht es mit den drei nocL. 
iibrigen Zusatzen, namlicb mit „niedergefahren zur HoUe", 
„katholisch.e (Kirche)" und „Gremeinscliaft der Heiligen". 

Das »descendit ad inferna« (inferos) kommt meines 
Wissens zuerst im Taufsymbol der Kirche von Aquileja, 
dann, auCer in den galhschen Symbolen, auch in dem iii- 
schen usw. vor. Im Orient erscheint es zuerst in der Formel 
der 4. Synode von Sirmium (i. J. 359). Das lucanische und 
konstantinopolitanische Symbol bieten es nicht. Aber in 
Schriften des 2. Jahrhunderts , und zwar bei kirchhchen 
Schriftstellern und Haretikern, findet sich bereits der Ge- 
danke, daB Christus — vor i>iTn Johannes der Taufer, nach 
ihm die Apostel — in die Unterwelt hinabgestiegen sei und 
dort gepredigt habe. Ob die Stelle I. Petri 3, 19 fiir aUe 
diese Erzahlungen den Ausgangspunkt gebildet hat, wissen 
wir nicht. Seitdem das Stiick in den Symbolen auftaucht, 
d. h. seit der 2. Halfte des 4. Jahrhunderts, wird es auch 
in den Auslegungen miterklart. Aber die Erklarungen 



250 Erater Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

lauten verschieden. An die „H6lle" liat im Altertum 
meines Wissens kaum einer gedaelit, sondern an die Unter- 
welt, den Hades, das Reich, der Toten. Die einen fassen 
die Worte lediglich als Erganzimg zu ^begraben" und 
iinden nur den Sinn in ibnen, daiJ der Herr wirklicli an 
den Ort der Toten gekonunen ist. Die anderen folgen dem 
1. Petrusbrief und sprecben von einer Predigt Cbxisti in 
der Unterwelt nnd der Herausfiibrruig der alttestamentlicben 
Gerecbten ans dem Hades. Die Erklarnng, die Lutber in 
einer Predigt vorgetragen nnd die Konkordienformel vor- 
gescbrieben bat („Wir glauben einfaltig, dafi die ganze 
Person, Qott nnd Menscb, nacb dem Begrabnis znr Holle 
gefabren, den Teufel iiberwnnden, der Hollen Q-ewalt zer- 
storet und dem Teufel alle seine Macbt genommen babe"), 
iindet sicb bei den alten Erblarern nicbt, ja sie wird fast 
von alien streng ausgescblossen. Als selbstandiges, ebenbiir- 
tiges Grbed neben den anderen zu steben, dazn ist der Satz 
zu scbwacb, und darum feblte er mit Recbt in den Symbolen 
der Earcbe vor Konstantin, mag man nun diese oder jene 
Erklarung oder die seltsame TJmdeutung Lntbers bevorzugen. 
Der Zusatz „katbobscb" zur „beiligen Kircbe" ist in 
den evangebscben Kircben getilgt und durcb jjCbristlicb" 
ersetzt worden. "Wir baben es daber eigentlicb nicbt notig, 
auf ibn einzugeben. AUein da er im lateiniscben Text 
(s. z. B. Lutbers groBen und kleinen Katecbismus) steben 
gebbeben ist, so verlangt er docb ein kurzes "Wort. Die 
Bezeicbnung der Ejrcbe als „katbobscb" ist in der kircb- 
bcben Literatru: sebr alt, mindestens so alt wie das alt- 
romiscbe Symbol, und zwar findet sie sicb zuerst im Orient. 
Sie bedeutete urspriingbcb nicbts anderes als die „allgemeine" 
Kircbe, die ganze Cbristenbeit , die unter dem Himmel ist 
und die Grott berufen bat. An die verfaCte sicbtbare Kircbe 
ist nocb nicbt gedacbt. Hatte das "Wort also bereits in 
dem altromiscben Symbol Aufnabme gefunden, so ware es 
dort in diesem Sinne zu deuten. Allein seit dem Uber- 



Das apostolisohe Q-laubensbekenntnis, 251 

gang des 2. zum 3. Jahrhundert bekam das Wort nocli 
einen Nebensinn, der dann allmahlich im Abendlande zxna 
ebenbiirtigen Sinn wurde. Es bezeiclinete die sichtbare, in 
bestimmten Ordnungen verfafite, um die Apostelgemeinden, 
vor allem nm Rom sich gruppierende ortbodoxe Kirche im 
Unterscliied von den baretischen Gremeinschaften. Es ist 
namentlich. Afrika (und in Afrika Cyprian) gewesen, das 
den Begriff in dieser Richtung ausgebildet bat. Wir sind 
deshalb verpflicMet , die Bezeichnung, nacbdem sie in die 
lateiniscben Symbole vom 3. Jabrbundert a^ aufgenommen 
wnrde (beimiscb wurde sie in den Symbolen erst im 5. Jabr- 
bundert), dort aucb in dem angegebenen Sinne zu versteben, 
also aucb in unserem Apostolikum. Dann aber ist offenbar, 
dafi die Kircbe der Reformation die so zu deutende Bezeicb- 
nung nicbt steben lassen konnte. Sie muCte sie umdeuten 
oder entfernen. Jenes ist in Bezug auf den lateiniscben Text 
gescbeben — Lutber kebrt aber mit dieser Umdeutung 
zum altesten Sinn des Wortes wieder zuriick, iiber den 
Symbolsinn binwegscbreitend — , dieses in Bezug auf den 
deutscben Text. 

Am dunkelsten ist die Entstebung und der urspriing- 
bcbe Sinn des Zusatzes „Gemeiiiscbaft der Heiligen". Man 
bat versucbt, diesen Begriff in Verbindung zu setzen mit 
dem Stuck „N'iedergefabren zur HoUe". Dort soil die 
bimmliscbe Gemeinscbaft der Heiligen, bier die der alt- 
testamentbcben Grerecbten, die aus dem Hades ausgefiibrt 
seien, gemeint sein. Aber diese Verbindung ist kiinstlicb 
und, -wenn sie je wiiMicb stattgefunden, spat. Man muJJ 
das Glied fiir sicb betracbten. Auf griecbiscbem Boden 
kommt es als Grbed im Symbol iiberbaupt nicbt vor (genau 
in das Griecbiscbe iibersetzt, wiirde der Ausdruck „AnteLl 
am Heibgen" d. b. am Kultus, vor allem am beiligen Abend- 
mabl, bedeuten). Es ist als Symbolglied eine rein lateini- 
scbe Bildung, und zwar begegnet der Begriff in der kirch- 
licben lateiniscben Literatur nicbt vor Augustin und dem 



252 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

donatistisclieii Streit (in den Symbolen ist er auch. damals 
noch nicM zu iinden). Hier aber war er ein Hauptbegriff, 
der umstritten wurde: Augustin und seine Gregner fassen 
ihn als „die Gemeinscliaft der wahrbaft Heiligen (Glaubigen) 
aiif Erden"; aber beide bestimmen das Verbaltnis der em- 
pirisclien katholiscben Kircbe zu ibm anders. (Augustin im 
Sinne der wesentlicben Identitat). Hiernach sollte man er- 
warten, dafi der Begriff dort, wo er zuerst in den Sym- 
bolen auftaucbt, ebenfalls als eine nabere Erklarung zu 
„heilige katholiscbe Earcbe", als „die Gremeinschaft der 
Heiligen, welcbe die katbobscbe Kircbe ist", verstanden 
werden wltrde. Es lage dann bier der seltene Eall vor, 
daB das Taufbekenntnis infolge einer kircblicben Streitig- 
keit einen Zusatz erbalten batte. AUein die altesten Sym- 
bolerklarungen deuten den Ausdruck, nacbdem er in die 
gaUiscben Symbole gekommen war, nicbt im augustiniscben, 
antidonatistiscben Sinne, sondern fassen ibn als „Gemein- 
scbaft mit den vollendeten Heibgen" (oder: der voUendeten 
Heiligen). Ja man muB vielleicbt nocb um einen Scbritt 
weiter geben. Wabrscbeiabcb nicbt nur die aiteste Aits- 
legung des Symbols, in der der Ausdruck vorkommt, ist 
die des Galliers Eaustus von Reji, sondern er bietet liber- 
baupt eines der altesten Zeugnisse fiir die Existenz des 
Grliedes „Communionem sanctorum" in einem Symbol. AVie 
aber bat Eaustus die Worte erklart? Er scbreibt: „WLr 
wollen zur ,Gremeinscbaft der Heibgen' iibergeben. Dieser 
Ausdruck widerlegt diejenigen, welcbe lasterlicb bebaupten, 
daC man die Ascbe der Heibgen und Ereunde Gottes nicbt 
in Ebren balten diirfe, welcbe nicbt glauben, daB das rulini- 
reicbe Gedacbtnis der seUgen Martyrer durcb die Verebrung 
ibrer beibgen Statten zu feiern sei. Solcbe Leute baben 
unredbcb gegen das Symbol gebandelt und Cbristo bei der 
Taufe gelogen und baben durcb diesen Unglauben mitten 
im ScboB des Lebens dem Tode Raum gegeben" („Ut 
transeamus ad , Sanctorum Communionem'. Illos bic sen- 



Das apostolische Q-laubensbekenntnis. 253 

tentia ista confudit, qui Sanctorum et Amicorum Dei cineres 
non in lionore debere esse blasphemant, qui beatorum mar- 
tyrum gloriosam memoriam sacrorum reverentia monumen- 
torum colendam esse non credunt. In Symbolmn prae- 
varicati sunt, et Chxisto in fonte mentiti sunt, et per banc 
infidelitatem in medio sinu vitae locum morti aperuerunt"). 
Faustus beziebt also die Worte auf die Anhanger des Vi- 
gilantius, auf die Gregner des Heiligenkultus. Er weiC es 
nicbt anders, als daC der Ausdruck im Symbol die nHei- 
ligen" (im pragnanten, katboliscben Sinn des Wortes) bedeu- 
tet, und dafi er den Heiligenkult entbalt und schiitzt. Fau- 
stus' Symbol aber ist, wie bemerkt, eines der altesten Sym- 
bole, welches wir kennen, das die "Worte „Sanctorum com- 
munionem" entbalt. Darauf bin und in Erwagung, daC 
die Worte zuerst in Siidgallien (in der zweiten Halfte des 
5. Jabrbunderts) im Symbol auftaucben, daC aber Vigilantius 
in der ersten Halfte desselben Jabrbunderts in der Nabe, 
namlicb in Barcelona, wirkte und Anbanger fand, wixd 
man es nicbt fiir unwabrscbeirdicb halten konnen, dafi die 
fragbcben Worte wirkbcb „Gremeinscbaft mit den Mar- 
tyrem und den besonders Heiligen" bedeuten sollten. Sie 
■waren in diesem Falle ursprunglicb keine Explikation des 
Ausdruckes „beilige, katboliscbe Eircbe", sondern eine Fort- 
setzung desselben. Sicber ist jedocb dieses Verstandnis der 
Worte nicbt; ist aber der urspriinglicbe Sinn der ange- 
gebene, dann war es fiir die Kircben der Reformation not- 
wendig, ibn umzudeuten. Diese Umdeutung konnte um so 
leicbter gescbeben, als man eine passende und wertvoUe 
Auslegung, die allerdings im Symbol nicbt die urspriing- 
licbe ist, bei Augustin fand. Sie war aucb wabrend des 
ganzen Mittelalters nie vergessen worden. 

Wer von der Lektiire der apostoliscben Vater und der 
Apologeten an das altromiscbe Taufbekenntnis berantritt, 
der muiJ mit dankbarer Bewunderung die Grlaubenstat der 



254 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

romischen Kirclie in diesem Tauf bekenntnis erkennen. TJber- 
scMagt man, welclie fremde und seltsame Gedanten sclion 
damals an das Evangelium herangerlickt wtirden, wie diirf- 
tig hauiig die Betrachtung desselben war, wie der Oliilias- 
mus und die Apokalyptik einerseits, der Nomismus nnd die 
griechische Philosophie andererseits das Evangelium zu um- 
stricken droMen, so ersclieint das altromisclie Symbol doppelt 
groC und ebrwiirdig. Was ilim den hoclisten und bleibenden 
AVert verleiht, das ist, neben dem Bekenntnis zu Grott 
als dem allmaclitigen Vater, das Bekenntnis zu Jesus 
Christus, dem eingeborenen Sobn Grottes unserm Herrn, 
und das Zeugnis, dafi durch. ikn die heilige Christenheit, 
Vergebung der Siinden und ewiges Leben geworden sind. 
Allein man vermiBt den Hinweis auf seine Predigt, auf die 
Ziige des Heilandes der Armen und Kranken, der Zollner 
und Sunder, auf die Personlichkeit, wie sie in den Evan- 
gelien leuchtet. Das Symbol entbalt eigentlicli nur tJber- 
scliriften. In diesen Sinne ist es unvoUkommen ; denn kein 
Bekenntnis ist vollkommen, das nicbt den Heiland vor die 
Augen malt und dem Herzen einpragt. 



ISTacliwort (1892). 

Erneute beftige Angriife auf meinen theologisclieu 
Standpunkt und raeiae Person haben mich. veranlaBt, vor- 
stehenden gescMolitlicben Bericbt zu veroffentlichen. Die 
Ergebnisse desselben sind zum kleinsten Teil Priichte meiner 
Eorschung. Sie sind die Resultate einer langen Arbeit der 
protestantiscben Wissenscbaft, an der icb mich seit 20 Jabren 
aueh beteiligt babe (s. meinen Artikel „Apostoliscbes Symbol" 
in Herzogs Eeal-Encyklop. 2. Auil. 1877 und meiae Ab- 
handlung »Vetustissimum ecelesiae Romanae symbolum e 
scriptis virorum Cbristianorum qui I. et II. p. Cbx. n. saeculo 
vixerunt illustratum« in Gebbardts Ausgabe der Apostol. 
Vater I, 2 1878, vgl. aucb mein Lebrbuch der Dogmen- 



Das apostolische G-laubensbekeniitnis. 255 

geschichte). Was ich liier vorgetragen, habe ich in den 
G-rundzligen ebenso seit der angegebenen Zeit auf den 
Universitaten Leipzig, GieCen und Marburg gelehxt, nnd 
es steht in meinen Schriften zu lesen. Es ist aber kein 
Jahr vergangen, in dem ich nicM meine Studien iiber den 
groJJen Gregenstand fortgesetzt hatte. Weitere Belehrung 
Oder Bericktignng, wenn sie von Sacliverstandigen kommt, 
will ich. gern empfangen. 

Die erneuten Angriffe auf mich sind die Folge eines 
Artikels gewesen, den ich in der „Christlichen Welt" No. 34 
d. J. verolfentlicht habe. Im Laufe des Sommersemesters 
wurde ich durch die Anfrage aus einem mir personHch 
ganz unbekannten Kreise von Studierenden iiberrascht, ob 
sie zusammen mit Komimlitonen anderer Hochschulen eine 
Petition wegen Abschaffang des Apostolikums an den Ober- 
kirchenrat richten soUten. Es war der nFall Schrempf", 
der die Gremiiter der Jugend machtig erregt hatte. Da ich 
in der Vorlesung iiber Kirchengeschichte des 19. Jahr- 
hunderts die Bewegungen iiber das Bekenntnis (PreuCische 
Greneralsynode von 1846) demnachst zu besprechen und zu 
beurteilen hatte, so beschlofl ich einen Teil der Stunde vor- 
wegzunehmen, den Studierenden in der Vorlesung ausfiihr- 
lich zu antworten und den Fragestellern, um MiiJverstand- 
nisse zu vermeiden, die Hauptpunkte meiner Antwort schrift- 
hch zu geben. Es gelang mir, die keimende Agitation zu 
unterdriicken ; aber damit iibernahm ich selbst eine einzu- 
losende Verpflichtung. An eine Veroffenthchung meiner 
Antwort an die Studenten habe ich urspriinglich doch nieht 
gedacht. Aber welch ein Heer von Entstellungen und Ver- 
leumdungen ware iiber die Vorlesung in die Welt gesetzt 
worden, wenn die Veroffenthchung durch den Druck unter- 
bheben ware! Was mir da bevorstand, wuUte ich aus 
meiner hiesigen vierjahrigen Erfahrung, und es kiindigte 
sich auch jetzt wieder an. 

Von dem, was ich geschrieben habe, habe ich nichts 



256 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

zuriickzunehmen und habe auch. eine Verteidigung niclit 
notig. Ich hoffe, daC, wer guten Willens ist, mein Recht 
und meine PilicM, den Studierenden so zu antworten, wie 
ich geantwortet liabe, auf G-rund vorstehenden Bericlits 
anerkennen wird; gegen den bosen Willen sind wir alle 
macbtlos. Auf die Proteste, Sclimahungen, UnterscMebungen 
nnd Entstellungen werde ich. so wenig antwor^on, wie vor 
vier Jahren. Es ist nicht meines Amtes, die Frage zu er- 
wagen, ob ein seiches Treiben, wie es jetzt wieder, wie 
auf Kommando, entfesselt ist, in der evangelischen Kirche 
geduldet werden darf. 

Nur auf zwei sachliche Vorhaltungen muC ich zum 
SchluC eingehen. Die Protestanten-Vereins-Korrespondenz 
No. 36 preist mir ihren eigenen Standpunkt an und rat mir, 
mich von meiner „Vermittelungstheologie" auf denselben 
zurliclczuziehen ; dann seien alle Notstande und Kollisionen 
mit einem Schlage beseitigt, in denen das GTewissen zu 
brechen drohe. Sie laBt dabei deutlich genug durchblicken, 
dafi sie mich fiir minder gewissenhaft halt als ihre Freunde. 
Aber welches ist der Standpunkt der Protestanten-Vereins- 
Korrespondenz ? Man soil sich der IJberzeugung hingeben, 
daJJ alle kirchlich theologischen Bekenntnisse der Vergangen- 
heit keinen dogmatisch bindenden Charakter mehr bean- 
spruchen konnen: „Es sind denkwiirdige Dokumente einer 
vergangenen Epoche der Kirche." Aber so betrachtet sie 
die evangehsche Kirche doch noch nicht, wenn sie an ihre 
Pfarrer die Eorderung stellt, das apostolische Grlaubensbe- 
kenntnis am Sonntag vorzulesen und wenn sie von alien 
ihren Grliedern verlangt, daC sie sich bei der Taufe und der 
Konfirmation zu ihm bekennen. Sie sollen also zu diesem 
Bekenntnis innerlich Stellung nehmen, eine Stellung, die 
iiber das „ denkwiirdige Dokumente - einer vergangenen 
Epoche" hinausfiihrt. Ich verstehe nicht, wie die Protest.- 
Ver.-Korresp. um diesen Tatbestand herumkommt, bescheide 
mich aber. Zwischen dem „dogmatisch bindenden Charakter" 



Das apostolische Glaubensbekenntnis. 257 

iind den „denk-wurdigen Dokumenten einer vergangenen 
Epoche" liegt doch noch etwas dazwisclieii, und man kann 
es sehr kurz sagen, nm was es sicli dabei handelt — nm 
die Person Ckristi. In einer Zeitschrift stand neulich 
tingefahr folgendes zu lesen: Die „Mstorische Spezialitat" 
der Person Christi sei nicht die Hanptsaclie im Ckristen- 
tum, Avie die RitscMsclie Theologie annekme. Ich bin dem 
Verf. fiir diesen allerdings nicht schonen Ausdrnck dank- 
bar; denn er bezeichnet genan das, was uns von manclien 
Freunden der Protest.-Ver.-Korresp. trennt. Uns ist die 
„liistorisclie Spezialitat" der Person Christi, klar nnd sicher 
erkannt, so wichtig wie seine Lehre; denn einem Christen- 
txim ohne Christus fehlt die Kraft. In dieser Uberzeugung 
wiinschen wir ein freies, aber deutliches Bekenntnis und 
ertragen die Unvollkommenheiten der alten Bekenntnisse. 
Aber wir halten nns fiir verpflichtet, aufdiese Unvollkommen- 
heiten hinznweisen, darauf zn dringen, daC nicht gerade 
sie for das Wesenthche erklart werden und ihre Fortbildung 
vorznbereiten. Die Differenz zwischen den alten Bekennt- 
nissen nnd der geschichtlichen Betrachtung unserer Zeit 
■empfinden wir so stark wie die Prexinde der Protest.-Ver.- 
Korresp., aber wir empfinden ihn als eiaen Notstand. Wer 
seine Kirche lieb hat, der kann ihn ertragen; aber er weifi 
anch, daC der Notstand damit nicht gehoben ist, daU man 
die alten Bekenntnisse als „denkwurdige Doknmente einer 
vergangenen Epoche" betrachtet, sondern daB man zugleich 
das alte Evangelium in den neuen Eormen unserer Erkennt- 
nis so fest und sicher zu fassen vermag, wie die alte Kirche 
und die Reformationszeit es in ihren Eormen verstanden 
haben. AndernfaHs wird das allein iibrig bleiben, was ein 
frivoler Englander neulich im Gregensatz zu dem gleichfaUs 
von ihm verachteten kircMichen Christentum „Amateur- 
Christentum" genannt hat. Ich bin weit entfernt, iiber 
ein solches zu richten, aber die gegebenen Kirchen kann 
man mit ihm nicht weiter bauen. 

Ham a ok, Heden und Aufaatze. I. 17 



258 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

Die andere Vorhaltnng, die mir zuteil geworden ist, 
stammt von dem Vorstand der evangeliscli-lutherisclieii 
Konferenz in der preufiischen Landeskirclie und den Vor- 
sitzenden der lutherisclien Vereine in den Provinzen. Die- 
ser Vorstand liat es fiir notig gehalten, eine Erklarung 
■wider micL. zu veroffentlichen. Icli lasse die zaMreichen 
Fakrlassigkeiten in dem Referate iiber das, was ich. ge- 
schrieben habe — kein Satz ist riclitig wiedergegeben — 
beiseite nnd halte mich. an den Schlufi der Erklarung; er 
lautet: „DaC der Sobn Gottes „empfangen ist von dem 
heiligen Geiste, geboren von der Jungfrau Maria", das ist 
das Fundament des Christentums ; es ist der Eckstein, an 
■welckem alle Weisheit dieser Welt zerschellen wird." Ich- 
erwidere: Wenn das der Fall ware, stande es schlimm um 
Markus, schlimm um Paulus, sclilimm um Johannes, schlimm 
um das Christentmn. Diese Behauptung, wenn sie wort- 
lich so genommen wird, wie sie lautet, widerspricht dem 
Urchristentum und verwirrt den Grlauben. DaiJ Jesus 
Christus der Sohn Grottes ist oder — der Ausdruck stammt 
erst aus der griechischen Theologie, der Gedanke ist evan- 
gelisch — der Gottmensch, in dem Gott erkannt und 
ergriffen wird : das ist Fundament und Eckstein des 
Christentums. Aber dieser Glaube ist nnabhangig von den 
beiden widerspruchsvoUen Erzahlungen iiber die wunder- 
bare Entstehung Jesu, sonst hatten ihn alle die Vielen 
nicht besitzen konnen, die von dieser Entstehung nichts 
gewuCt haben. Ich will mich hier einmal auf eine Anto- 
ritat beziehen, auf einen Mann, dessen Ifame in alien 
Kreisen der evangelischen Theologie, auch bei den Kon- 
servativen, den besten Klang besitzt und der sein ganzes 
Leben der Erforschnng des Neuen Testaments gewidmet 
hat, den Oberkonsistoriabat H. A. W. Meyer in Hannover: 
Er hat in seinem Kommentar zum Lukas - EvangeHum 
(5. Aufl. 1867 S. 254) Kap. 1, 5—38 geschrieben: „Mit 
Recht haben Markus und Johannes diese Wunder der 



Das apostolisolie Grlaubensbekemitnis. 259 

Vorgeschiclite aus dem Kreise der evangelisclieii Greschichte, 
die erst mit dem Auftritt des Taufers anhob, ausgescMossen, 
wie sich denn Jesus selbst nirgends, auch im vertrauten 
Kreise nicht, darauf bezieht, der Unglaube der eigenen 
Briider aber Job. 7, 5, ja selbst das Benebmen der Maria 
Mark. 3, 21 ff. unvereinbar damit ist." Und gegen Pbi- 
lippi bemerkt derselbe Grelebrte (Kommentar z. Mattb. 
5. Aufl. 1864 S. 61): „Es ist eia gefahrbcbes, aber tinricb- 
tiges DiLeinina, daC die Idee des Gottmenscben mit der 
jungfraiilicbeii Q-eburt stebe und faUe." "Wobl wissen wir, 
daU viele Cbristen. so denken wie Pbilippi. "Wir ebren 
aucb diese G-estalt ihres Glaubens, lebren sie die zukiinf- 
tigen Pfarrer versteben und woUen sie niemandem nebmen, 
dem damit das Cbristentum genommen wird. Aber man 
darf das nicbt in der Kircbe als Haupt- und Fundamental- 
artikel des Grlaubens aufricbten, was nicbt zum Inbalt des 
Evangebums Cbristi gebort, im besten FaUe eine Erklarung 
und Hilfslinie, fur viele in unseren Tagen aber ein Stein 
des AnstoCes und ein Mittel der Entfremdung vom Evan- 
gelium ist. Darum miissen wir darauf binarbeiten, daU 
eine Zeit konune, in der diese AnstoBe und abnbcbe be- 
stimmter und sicberer iiberwunden werden, als es jetzt 
mogbcb ist. Dazu gebort aber aucb, dafi die Grewissen 
nicbt mit Eormebi bescbwert werden, die nicbt den Heils- 
glauben entbalten, aucb wenn sie wortbcb der Bibel oder 
der altesten Verkiindigung entsprecben; denn diese siad 
docb selbst von den verganglicben Ziigen ibrer Zeit nicbt 
frei. ifacb den Meinungen des Tages soil das Evangebum 
nicbt gemodelt werden, und so toricbt oder frivol ist 
wobl niemand, dafi er erwartet, der scbmale "Weg werde 
zum breiten werden, wenn man nur jene AnstoBe beseitigt. 
Aber mancber Stein, der in alteren Zeiten hat mittragen 
belfen, ist im "Wecbsel der Zeit zum Stein geworden, der 
im Wege Hegt. Es ist das Vorrecbt und die beibge Pflicbt 
evangebscber Tbeologen, unbekummert um G-unst oder 

17* 



260 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

Ungimst, an der reinen Erkenntnis des EvangeKums zu 
arbeiten und offen zu erMaren, was nacli ihrer TJberzeu- 
gung der Wahrheit entspriclit und was nicM. Bare Pflioht 
ist es audi, im Namen der zalilreiclieii GrKeder der evan- 
gelischen Kirclie zu sprechen, die aufriclitige Christen sind 
und sich durch manclie Satze des Apostolikums , wenn sie 
sie als ihren Glauben bekennen sollen, in ihrem Grewissen 
bedrlickt fuilen. Mehr als ein Weg ist moglicli, um den 
Notstand, der ftii raanclien Christen besteht, zu heben, 
und die Liebe und der gemeinsame Grlaube werden den 
rechten Weg in der evangelischen Kirche gewiU finden. 
Einen hat die PreuBische Generalsynode im Jahre 1846 
vergeblich betreten; ein anderer ist von manchen evange- 
Kschen Landeskirchen schon gefunden: der fakultative litur- 
gische Grebrauch des Apostolikums. Evangelische Theologen 
warten ihres Amtes, wenn sie auf diese und ahnliche Wege 
hinweisen und dabei die verschiedenen Richtungen in der 
Kirche zu gegenseitigem Verstandnis anleiten, damit die 
eine die Last der anderen tragen lerne. „Nuii sucht man 
nicht mehr an den Haushaltern, denn daC sie treu erfunden 
werden. " 



Zusatze. 

Zu S. 227 Absatz 1. Kattenbuscli, Das apostolische 
Symbolum, 2. Bd. (1900), hat gegen diese Feststellungen 
allerlei Zweifel aufgebraclit, auf die ich hier nicht einzu- 
geheii vermag. Auch. mag es bier auf sicb berulien bleiben, 
in welcbem Verbaltnis das siidgalliscbe Symbol zu einem 
sehr verwandten Symbol steht, welches uns aus eiaer Kirche 
in Dacien (Anfang des 5. Jahrhunderts) iiberliefert ist. 

Zu S. 233. Kattenbusch u. a. glauben zeigen zu 
konnen, daB das Symbol um d. J. 100 oder bald nachher 
entstanden ist. Ihre Beweise haben mich aber nicht iiber- 
zeugt. 

Zu S. 233. Am energischsten hat Loofs (Symbolik 
Bd. I, 1902, S. 6 ff.) die Ansicht verfochten, daC der Orient 
ein uraltes Taufsymbol besessen hat, dem gegeniiber das 
altromische Symbol sekundar ist. Ich bleibe bei der im 
Text vorgetragenen Ansicht. 

Zu S. 238 f. Sehr bemerkenswert ist, daJ3 Luther in 
sein „Taufbuchlein" (1523. 1526. Erlanger Ausgabe Bd. 22, 
S. 162. 293) nicht das Apostolische Grlaubensbekenntnis auf- 
genommen hat, sondem erne verkiirzte Form desselben, die 
aus dem fruhen Mittelalter stammt: „Glaubst du an Grott, 
den allmachtigen Vater, Schopfer Himmels und der Erden? 
Griaubst du an Jesum Christ, seinen einigen Sohn, unsern 
Herrn, geboren und gehtten? Griaubst du an den heiligen 
Geist, eine heihge christKche Kirche, Gremeine der Heihgen, 
Vergebung der Siinden, Auferstehung des Meisches und 
nach dem Tod eia ewiges Leben?" 



262 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

Zu S. 245. Hinzuzufugen ist, daC viele sehr alteZeugen 
Lxik. 3, 22 (Erzahlung der Taufe Jesu) folgenden "Wortlaut 
bieten: „Du bist mein Solm; ich. habe dich. heute gezeugt." 
Also leitete man die Sohnschaft Jesu von der Herabkunft 
des G-eistes auf ilji ab, betracbtete sie mitMn nicht als 
eine pbysiscbe. — Das Mcaniscbe Symbolum enthalt die 
G-ebiirt aus der Jungfrau nicbt. 

Zu S. 246 Z. 6f. Allerdiags bieten nocb die Scbmal- 
kaldiscben Artikel (lat. Text) „Maria sancta semper virgo". 

Zu S. 248 Z. 10 f. „Auferstebung von den Toten" statt 
„Auferstebung des Fleiscbes" findet sicb ia Symbolen und 
Grlaubensregeln baufig. 

Zu S. 249 Z. 20fE'. Ricbtig Hutber zu I. Petr. 3, 19 (ia 
Meyers Kommentar zum Neuen Testament XII. Abt. 3. Aufl. 
S. 177): „Diese StelLe sagt nicbts iiber die Esistenz Cbristi 
zwiscben seinem Tode und seiner Auferstebung aus . . . Zu 
bemerken ist nocb, daC -weder die Lebre der Form. Concord., 
nocb aucb die Lebren der KatboMken von dem limbus 
patrum und dem Purgatorium in dieser Stelle irgend eiaen 
Grrund baben." Die „H6Uenfabrt", von der das Symbol 
spricbt, entbebrt der bibbscben Begriindung. 

Zu S. 254 Z. 8ff. "Was icb bier zusammengefaCt babe, 
entspricbt wesentbcb der Fassung Lutbers in seinem Tauf- 
biicbleia (s. oben), obne daU icb an Lutber gedacbt batte. 
— Zeigt man den Gegnem, dafl nicbt alle Satze des Sym- 
bols bibbscb begriindet sind, so erwidern sie: ,aber es ist 
das uralte Bekenntnis der ganzen Cbristenlieit. " Weist 
man ibnen nacb, daU es das nicbt ist, so entgegnen sie: 
„aber es ist bibliscb begriindet". DaB der Wortlaut — 
um diesen bandelt es sicb — nicbt durcbweg sicber aus 
der Bibel begriindet werden kann, ist scbwer zu bestreiten. 
Aber selbst wenn das mogbcb ware, ware nocb nicbts ent- 
scbieden. Denn ein Grlaubenssatz ist nocb nicbt desbalb 
eia Grlaubenssatz in der evangeliscben Elircbe, weil es irgend 
eine SteUe in der Bibel gibt, mit der man ibn belegen 



Das apostolisclae Grlaubensbekenntnis. 263 

kann, sondern Grlaubenssatz ist nur, was zum Inhalt des 
Evangelituns gehort. 

Zu S. 256 Z. 8 ff. Man hat, ohne daJl icli AnlaC dazu 
gegeben hatte, diese "Worte so verstanden, als bezeichnete 
ich jeden Angriff auf mich. als ein ^Treiben". Das ist mir 
natiirlicb. nicM in den Sinn gekommen. Ernstliche sacli- 
liche Vorhaltnngen ehre ich. und verstehe, daiJ sie gekom- 
men sind. DaU aber ein nTreiben" mit Schmahungen, 
Unterschiebungen und Entstellungen wider mich entfesselt 
ist, nnd daC daneben nur sehr wenige ruhige und besonnene 
Gregner aufgetreten sind, Hegt am Tage. 

Zu S. 259 Z. 19. Aus den "Worten meiner Erklarung 
in der ^Christhchen Welt" (oben S. 222 £): „Die Anerken- 
nung des Apostolikums in seiner wortHchen Fassung ist 
nicht die Probe christlicher und theologischer Reife; im 
G-egenteil wird ein gereifter, an dem Verstandnis des Evan- 
geliums und an der Kirchengeschichte gebildeter Christ 
AnstoB an mehreren Satzen des Apostolikums nehmen 
miissen", hat man AnmaCung, Beleidigung des Pastoren- 
standes und der Grlaubigen und aUes mogliche Schlimme 
herausgelesen. Demgegeniiber bemerke ich um des Eriedens 
willen, 1. daJB mir jede Absicht einer Beleidigung volHg 
fern gelegen hat, 2. dafl nach dem deutschen Sprach- 
gebrauch -wird miissen" nicht die absolute Notwendigkeit 
bezeichnet, sondern die sichere Erwartung des Eintritts 
ernes Zustandes, 3. daC ich nicht von gebildeten Christen 
schlechtweg, sondern von „an der Kirchengeschichte ge- 
bildeten Christen" gesprochen habe, 4. daU, soviel ich aus 
den Kundgebungen meiner Gregner ersehen kann, auch in 
ihren Reihen AnstoC am Yv'ortlaut und urspriinglichen Sinn 
des Apostolikums nicht ganz fehlt, mogen sie sich auch 
durch Erklarungen d. h. Umdeutungen iiber diesen AnstoC 
tauschen. 

Zu S. 260 Z. 124^. Die Preufiische Generalsynode im 
Jahre 1846 beschloC, das Apostolikum aus der Ordinations- 



264 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I. 

formel wegzulassen , well es teils zu viel, teils zu wenig 
enthalte. Sie nakm dafiir eine neue, dem ApostoKkuin nur 
zum Teil nachgebildete, in manclier Hinsicht treffliche For- 
mel an, in der die Gebnrt aus der Jtmgfrau, die Himmel- 
fakrt und die Anferstehung des Fleisches feMten, weil man 
sie niclit zu den Hauptstiicken des G-laubens reclinete. 



ADOLF HARNACK . KEDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG ^^ 



AUFSATZE: II 

ANTWORT AUF DIE STREITSCHRITP 

D. CREMERS: 
ZUM KAMPF UM DAS APOSTOLIKUM 



Erschienen als Nr. 3 der „Heft6 zur Cliristliclien Welt" 1892 bei Fr. Wilh. 
Gninow in Leipzig, jetzt "bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tubingen. 



D. Oremer hat eine „Streitschrift" wider mich. ausgehen 
lassen, die ich. sowohl um des Autors als um der Sache 
willen nicht imbeaiitwortet lassen darf. Fiir die Art lond 
den Ton seiner Polemik bin ich. ihm zu Dank verpflichtet. 

Mein G-egner hat die Freundlichkeit gehabt, das kleine 
Schriffcchen, das ich unter dem Titel „Das ApostoHsche 
Glaubensbekenntnis" habe ausgehen lassen, sehr genau zu 
priifen. Er hat infolge dieser Priifung eine Reihe von 
Ausstellungen im einzelnen erhoben, und or hat sodann 
geglaubt, eine prinzipieUe Ausfiihrung in Bezug auf die 
Person Jesu Christi mir entgegenhalten zu miissen. Ein 
Nachwort beschliefit seine Schriffc. Es erscheint schicMich, 
die Replik diesen Vorhaltungen gemalJ einzurichten. AUein 
ich muU — wenn ich so verfahre • — allerdings den Ein- 
wand meines Gregners befiirchten, daB ich die letzten Ab- 
sichten seiner Erwiderung verkannt hatte. Er hat namhch — 
vom Nachwort abgesehen — seine Streitschrift in drei 
Telle geteilt und jedem dieser Telle in gesperrter Schrift 
einen Satz vorangestellt, der das Thema fiir das Folgende 
enthalten soil. Die Satze lauten: 

1. In dem gegenwartigen Streite um das apostolische 
Griaubensbekenntnis handelt es sich weder um neue Ergeb- 
nisse, noch iiberhaupt um Ergebnisse historischer Forschung 
(S. 3); 

2. Denn die Erage nach der Person Christi oder die 
Frage, wer und was Jesus ist, kann nimmermehr auf dem 
"Wage und mit den Mitteln historischer Forschung ent- 
schieden werden (S. 32); 



268 Ei-ster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

3. 1st das die eigentliclie Frage, wer und was Christus 
sei, so riclitet sich. nach. ihxer Entscheidung auch die Kritik 
des Symbols (S. 41). 

Diese Satze besagen teils sehx viel mehi-, toils weniger, 
als die ibnen folgenden Ausfiikrungen enthalten. Ich be- 
finde mich daber der Streitscbrift gegeniiber in einer 
sebwierigen Lage: soil icb jene Satze, die icb teils fur 
irrig, teils fiir balbwabr balte, priifen, oder vielmebx die 
Ausfiibrungen, die sie angeblicb begriinden? In dem erstem 
Falle feblen mir in der Scbrift meines Gregners z. T. die 
Anbaltspunkte und Grrundlagen, in dem andern muB icb, 
wie bemerkt, die Erwiderung befiircbten, die letzten Ab- 
sicbten seiner Entgegnung verkannt zu baben. In diesem 
Dilemma meine icb mieb docb vor allem an die direkten 
Ausfiibrungen gegen micb und nicbt an die tJberscbriften 
balten zu miissen. Icb bin dann wenigstens ge"wiC, keine 
Nyktomacbie aufzufubren. Am ScbluB werde icb ver- 
sucben, aucb auf jene weittragenden Uberscbriften in mog- 
licbster Kiirze einzugeben. 



1. Die einzelnen Einwiirfe D. Cremers. 

In dem ersten Telle der Streitscbrift (S. 3 — 32) kon- 
statiert D. Cremer, daiJ meine Forscbungen den bisber ge- 
wonnenen Ergebnissen in Bezug auf das ApostoHkum 
nicbts wesentHcb neues binzugefiigt batten, und bemerkt 
dann, dafi icb „unbescbadet der Korrektbeit mancbes batte 
anders formuberen diirfen'' und in mancbem irrige An- 
sicbten vertrete. Sebe icb recbt, so beziebt sicb sein Tadel, 
aucb Kleinigkeiten mit eingerecbnet, auf elf Punkte. G-erne 
■wiirde icb dieses oder jenes, was icb gescbrieben babe, be- 
ricbtigen. Allein icb mufi nacb sorgfaltiger Priifung alLes 
das, was icb ausgefiibrt babe, und was D. Cremer bean- 
standet, aufrecbt erbalten, und zwar bis aufs Wort. Der 



Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 269 

Leser moge entschuldigen , wenn einige scheinbare oder 
wirkliclie Qmsquilieii dabei mat imterlaufen: ich. babe diese 
Punkte nicht zur Diskussion gestellt. 

1. D. Cremer beanstandet meinen Satz: „daC die ro- 
misclie Eaxche zur Sicberstellung des Wortlauts ibres Be- 
kenntnisses die Legende von dem apostoliscben Ursprung 
des Symbols erzeugt babe." Statt „erzeiigt'' will er „ge- 
pflegt" gesetzt wissen; „deiiii Legenden werden nicbt ab- 
sicbtsvoll erzeugt." Demgegeniiber bemerke icb, 1. dafi 
ich von „absicbtsvoll" nicbt geredet babe, und 2. dafi wir 
von der Zeit und den Umstanden der BUdung jener Le- 
gende nicbts wissen, also avLcb nicbt wissen, wieviel Instinkt 
und wieviel bewuCte Absicbt bier gewaltet bat. Das Wort 
„gepflegt" wird sicb aber niemand bier so leicbt aneignen 
wollen; denn man kann docb nur pflegen, was scbon vor- 
banden ist. Dafi die romiscbe Gemeinde die Legende vom 
apostoliscben Ursprung des Symbols von auswarts erhalten 
bat, ist nicbt anzunebmen und nimmt, soviel icb sebe, aucb 
D. Cremer nicbt an. Endlicb der Satz: „ Legenden werden 
nicbt absicbtsvoU erzeugt-', ist in dieser Allgemeinbeit nicbt 
aufrecbt zu erbalten. Oder sind aUe Legenden, die die 
romiscbe Kircbe zu ibrer eignen und des Papstes Verberr- 
licbung erdicbtet bat, ledigbcb Produkte der absicbtslos 
waltenden Pbantasie? 

2. „Aufierdem — beifit es S. 4 — batte aucb nicbt 
libergangen werden sollen, dafi neben dieser Legende aucb 
ricbtigere VorsteUungen sogar bei denselben Scbriftstellern 
sicb finden, wie z. B. bei Augustin im Eingang seiner Rede 
liber das Symbol an die Katecbumenen: 3>Diese Worte, die 
ibr gebort babt, finden sicb in den li. Scbriffcen verstreut 
und sind von dortber gesammelt und zu einer Einbeit ver- 
bunden.s" Diesen mir woblbekannten Satz konnte ich 
nicbt anfiihren; denn 1. enthalt er kein romisches Zeugnis, 
sondern ein aufierromisches , 2. stammt er aus so spater 
Zeit, dafi er fiir die geschicbthcbe Erage obne Belang ist. 



270 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

3. ist er nicM als Korrektur der Legend e vom apostoliseheii 
Ursprtmg des Symbols gemeint, und 4. enthalt er den 
scMimmsten Mstorisclien VerstoB; denn dafi die einzelnen 
Satze des Apostolitams -wirklicli aus den heiligen Schriffcenj 
d. h.. aus dem ISTeuen Testament zusammengeklaubt seien 
Tind so der Vorgang der Entstehung des Symbols gedactt 
warden miisse, ist docb — wenn man seine Ursprungszeit 
bedentt — ziemlicb das Yerkehrteste, was sich. Mer sagen 
lafit. Wie D. Cremer diese Ansicbt als „riclitigere" Vor- 
stellung bezeiclmen kann, ist mir unverstandlich, nnd ich. 
wiirde daber bier gern an einen lapsus calami glauben^ 
kame D. Cremer nicM S. 15 auf Augustias „Zeugnis" 
wieder zuriick. 

3. Seite 4 beifit es weiter: „Ferner diirfte aucb der 
Satz eine andre Fassung erbeiscben: »Man darf es als 
gesicbertes Ergebnis der Eorscbting bezeicbnen: das alte 
romiscbe Symbol ist um die Mitte des zweiten Jabrbimderts 
entstanden.« Dieses »entstanden« gebt iiber das Mafi der 
zulassigen Genauigkeit in der Eormuberung der Ergebnisse 
wissenscbaftbcber Forscbung binaus. IJber den Zeitpnnkt 
der Entstebung dieser Formel vermogen wir bislang nicbts 
zu sagen." D. Cremer bernft sicb nun auf Irenaus-Poly- 
karp und auf meinen Artikel nApostobscbes Symbolum" 
iu der Eealenzyklopadie , um die Moglicbkeit, daC das 
Symbol bereits um das Ende des ersten Jabrbunderts ent- 
standen sei, offen zu balten. 

Um ganz abstrakte Mogbcbkeiten streite icb nicbt; 
aucb gesicberte Ergebnisse bistoriscber Eorscbung sind 
gegeniiber nMoglicbkeiten" webrlos. Von dieser Erkenntnis 
bin icb tief durcbdrungen und rarmie daber meinem Gregner 
bereitwiUig ein, daU die Abfassung des Apostolikums in 
seiner altromiseben G-estalt um das Ende des ersten Jabr- 
bunderts nicbt unmogHcb ist. Aber icb ziebe desbalb 
meine Bebauptung von dem gesicberten Ergebnis der For- 
scbung — daU das Symbol um die Mitte oder ktirz vor der 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 271 

Mitte des zweiten Jahrhunderts*) entstanden ist — nicht 
zuriick. In Kiirze dafiir den Beweis zu liefern, ist nicht 
leicM; denn dii-ekte auBere Zeiignisse fehlen, und innere 
Griinde stehen bei vielen nicM hoch. im Kurse. Auch. 
haben die schlagendsten unter ihnen nur fiir den voile 
Beweiskraft, der das Gresamtbild geschiclitliclier Anschauung 
anerkennt, aus dem sie stammen. Wie konnte ich aber 
ein solctes Mer entwickeln und beweisen? Dennoch "werde 
ich. es versnchen, einen Teil der Beobachtungen zusammen- 
zusteUen, die hier in Betracht kommen, und von denen 
ich annehmen darf, daU auch solche Gelehrte sie anerkennen 
werden, die liber die Entwicklung des nachapostohschen 
Zeitalters anders denken als ich. Was den terminus ad 
qnem betrifffc, der iibrigens zurzeit nicht zur Frage steht, 
so mag der Hinweis geniigen, daC das Symbol nicht aus 
der Zeit des brennenden Kampfes mit dem Grnostizismus 
stammen kann. Eine Kirche, die im Streit auf Leben und 
Tod mit Marcioniten und Valentiniauern stand, kann diese 
Formel nicht geschaffen haben. Also ist sie, da sie nicht 
junger (etwa erst aus der Zeit um das Jahr 200) sein kann, 
alter. Um wieviel alter? D. Cremer hatte Anhaltspunkte 
fur die Beantwortung dieser Frage gewinnen konnen, wenn 
er meine Abhandlung iiber das alteste Symbol der romi- 
schen Kirche in meiner Ausgabe der Schriften der aposto- 
lischen Vater (1878) nicht entweder ignoriert oder fiir un- 
wert gehalten hatte. Er bemerkt — auch die meisten 
meiner andern Gregner betonen diesen Satz — , daiJ meine 
Forschungen denen von Caspari und v. Zezschwitz 
nichts "wesentKch Neues hinzugefiigt hatten. Ich bin dem- 
gegeniiber in der peinlichen Lage, darauf hinweisen zu 
miissen, daU jene beiden hochst verdienten Gelehrten iiber 
das Verhaltnis des Symbols zum zweiten Jahrhundert der 
christhchen Kirche ganz ungentigend orientieren, und daB 



*) So habe ich mioli ausgedrtiokt (S. 233). 



272 Erster Band, zweite Abteiluug. Aufsatze: II. 

die oben zitierte Abliandlung allein dariiber ausfiilirliclier, 
freilicli immer noch. nicht ausfiilniicli genug, belehrt. Der 
terminus a quo bestimmt sich. auf Grrund folgender Er- 
wagungen : 

a) Der Hirte des Hermas eroffnete seine Mandate, in- 
dem er als erstes Grebot lediglich. den Glauben an den 
einen Grott einscharft. Dieses Argument beweist an sich 
allerdings niclits, weil zu viel; denn der ScMuB: also exi- 
stierte damals die dreigliedrige Taufformel noch nicht, ware 
irrig. Hermas selbst zeigt an andern Stellen, daC er den 
Vater, den heiligen G-eist als den ewigen Sohn, und den 
adoptierten Sohn (den Menschen Jesus Christus) unter- 
scheidet. Aber eben diese Unterscheidung macht es im 
hochsten Grade unwahrscheinhch, dafi ihm das romische 
Symbol mit seiner scharfen Unterscheidung des einzigen 
Gottes Sohnes und des heiligen Geistes schon vorgelegen 
hat. Ich wenigstens vermag beides sohlechterdings nicht 
vermittelt zu denken. Hatte aber Hermas ferner so schreiben 
konnen, wie er im ersten Mandat geschrieben hat, wenn 
das Verstandnis der Taufformel durch die Ausfiihrung in 
dem Symbol schon sichergestellt gewesen ware?*) Ich muB 
es demgemaC fur ganz unwahrscheinhch halten, daJ3 zur 
Zeit des Hirten das romische Symbol im Gebrauch der 
Eorche vorhanden war. 

b) Nicht nur die abendlandischen Valentinianer , die 
sich an die kirchhchen Glaubensregeln moghchst anschlossen, 
lehrten in ihren Formeln, daC Christus „durch" (nicht „aus") 
Maria geboren sei (s. Iren. I, 7, 2 und Tertull. de came 20), 
sondern auch Justin braucht sehr hauiig jene Praposition. 
Die Zeit kann also nicht weit hinter der Mitte des zweiten 
Jahrhunderts zuriicMiegen, in der in der romischen Kirche 
jenes „aus" noch nicht festgestellt war. 

*) Dahingestellt lasse ich es, ob die Darlegungen in dem ftlnften 
Gleiclinis sich mit der symholisciien G-eltung des Satzes von der Jung- 
frauengeburt vertragen. 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 273 

c) Das romische Symbol erwahnt die Taufe Jesu durcli 
Johannes resp. die Herabkunft des heiligen G-eistes bei der 
Taufe nicbt. DaU dieses Stuck urspriinglicb als hocbst 
wichtig gegolten, ja die Aussagen iiber Ckristus eroffnet 
hat, ist bekannt. Noch Ignatius hat es ad Smyrn. 1 und 
ad Ephes. 18 aufgenommen.*) 

d) Der Ausdruck „seinen eingeborenen Sohn" im 
Symbol weist auf das vierte Evangelium zuriick; wenigstens 
ist uns eine andre Quelle nicht bekannt. 

e) Die scharfe Unterscheidung der Q-lieder „aufer- 
standen", „aufgefahren" und „sitzend" spricht fur das 
zweite Jahrhundert (s. dariiber unten). 

f) Die Weglassung der chiliastischen Hoffnung, die 
doch Justin zur voUen Orthodoxie rechnet, fallt stark ins 
Grewicht. 

Diese Argumente mogen geniigen. Ich berufe mich 
nicht auf den Gresamtcharakter des Symbols (z. B. in seinem 
Verhaltnis zu den „Lehren des Herrn durch Vermittelung 
der zwolf Apostel"), um zu zeigen, daC das ganze Unter- 
nehmen im ersten Jahrhundert hoohst auffallend ist und 
dafi es bereits kathohsche Art an sich tragt; denn dieser 
ISTachweis kann in Kiirze nicht gefiihrt werden. Mcht nur 
fallt die Beweislast dem zu, der das Symbol vor c. 140 an- 
setzt, sondern man darf auch sagen: der Beweis ist nicht 
gefiihrt worden und kann nicht gefiihrt werden. Die Be- 
rufung auf Irenaus-Polykarp verschlagt nicht; denn dafi 
Polykarp ein formuliertes Symbol besessen und dem Irenaus 
liberliefert hat, davon wissen wir schlechterdings nichts. 
Auf die sichere und einheitliche Eormulierung aber kommt 
es an; dafi einzelne Satze sehr friihe feste Tormen erhalten 
haben, z. B. der „gekreuzigt unter Pontius Pilatus", darauf 
habe ich selbst mehr als einmal hingewiesen; aber damit 



') Auch das PeMen. des „IIerodes" neben Pontius Pilatvis, den 
-altere Pormeln "bieten, verdient Erwahnung. 

Harnaok, Eeden und Aufsatze. I. 1° 



274 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

ist weder die Existenz des romischen Symbols noch. eines 
andern iiira gleichartigen angedentet, geschweige sicher- 
gestellt. 

4. D. Cremer maclit mir einen Vorwurf daraus (S. 7), 
daC icli in meiner Schiift die Satze, die ich. vor sechzehn 
Jahren in meinem Artikel „Apostolisches Symbolum" iiber 
den Archetypus der orientalischen Symbole niedergeschrieben, 
nicbt wiederbolt babe. Er selbst eignet sie sicli an und 
bemerkt, es sei nicht bekannt geworden, dafi irgend ein 
Grrond von irgend jemandem geltend gemacbt worden sei, 
der meine friibern Ausfiibrungen zu entkraften geeignet 
ware. Letzteres ist ricbtig; aber icb selbst babe meine 
Studien fortgesetzt und erkannt, dafi ein orientabscber 
Symbol- Arcbetypus fiir die Mitte, ja nocb fiir die zweite 
Halfte des zweiten Jabrhunderts nicbt erreicbbar ist. Ein- 
zelne gemeinsame Formeln und ein Kerygma von Jesus 
Cbristus, dessen Satze zum TeU, aber nur zum Teil stebend 
waren, lassen sicb bis ins zweite Jabi'bundert binauffiibren, 
aber aucb nicbt mebr — vor allem kein gescblossenes Sym- 
bol. Darum babe icb von dem orientabscben Arcbetypus 
abseben miissen. Er ist mir eine Fata Morgana geworden. 
"Will D. Cremer sicb dieses Arcbetypus mit gescbicbtlicben 
Nacbweisen annebmen, so werde icb ihm gem Rede und 
Antwort steben. Nur kommen wir dabei nicbt weiter, 
wenn wir nicbt zwiscben fliissigem Kerygma, festem Sym- 
bol und fliissigen (antignostiscben) Glaubensregeln unter- 
scbeiden. 

5. Seite 9ff. scbreibt D. Cremer: „Aucb dies diirfte 
nicbt unter den Titel eines Ergebnisses bistoriscber Eor- 
scbung befafit werden diirfen [sic], dafi in dem Symbol der 
heilige Geist nicbt als Person, sondern als Kraft und G-abe 
aufgefafit sei." Meinem Satze, man konne nicbt nacb- 
weisen, dafi um die Mitte des zweiten Jabrbunderts der 
beilige Geist als Person geglaubt worden sei, bait T>. Cremer 
entgegen, 1. dafi das Symbol „den unwandelbaren Inlialt 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 275 

der apostolischen Verkiindigung im Lapidarstil monumen- 
taler Form hat bewahxen wollen, es also gar nicht darauf 
ankomme, welclies MaC von Verstandnis die alte Kirclie 
ihrerseits damit verbunden babe", 2. dafi Johaimes, Paulus 
und iiberbaupt die apostolisclie Verkundigung sick den 
keiligen Geist nicht nur als nnpersonbcke Kraft gedacht 
haben: der.Begriff der Personlichkeit fehlte, aber nickt die 
Sacke. Ich vermag in beiden Entgegnungen nur ein Aus- 
weicken der bestimmten Fragestellung gegeniiber zu er- 
kennen. "Was sick Paulus oder Jokannes gedackt kaben, 
gekort mindestens so lange nickt kierker, als das Symbol 
selbst eine Antwort gibt. Diese ist aber in der einfacken 
Zusammenordnung „keiliger GTeist", „keilige Kircke", „Sun- 
denvergebung" , „Fleisckesauferstekung" deutkck genug, 
und sie wird durck den dogmengescMcktlicken Befund in 
Bezug auf das zweite Jakrkundert bestarkt. Zwei Hypo- 
stasen der Grottkeit, nickt drei, sind bekannt. Selbst nock 
der romiscke Presbyter Hippolyt am Anfang des dritten 
Jakrkunderts untersckeidet ausdriickkck zwei gottkcke Per- 
sonen und drei gottlicke Okonomien. Wenn aber D. Cremer 
S. 10 die montanistiscken Streitigkeiten streift, um das 
Dogma von den drei Personen der Gottkeit fiir jene Zeit 
zu retten, so lafit sick aus den eckten Spriicken Montans 
und seiner Propketirmen leickter abnekmen, daU sie nur 
eine gottkcke Hypostase anerkannt kaben als zwei oder 
gar drei. Die Untersckeidung von Kraft und Hypostase 
war iibrigens, wie die Gnostiker und namentlick Justin 
(Dial. 128) beweisen, jener Zeit nickt fremd. Justin aber 
kat nirgendwo in seinem weitsckicktigen Dialog Gelegen- 
keit genommen, die personlicke Selbstandigkeit des Geistes 
zu bekaupten, wie er die des Logos bekauptet kat. Der 
keikge Geist ist ikm einfack „der propketiscke Geist". 
"Wenn endkck D. Cremer in meiner tjbersetzung „und an 
keiligen Geist" den Artikel vermilJt, so kabe ick natiirkck 
nickts dagegen, ikn in der tJbersetzung einzusckalten, vor- 

18* 



276 Erstsr Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

ausgesetzt, daB man iim auch noch vor „Keilige Kixcke" 
usw. einschaltet. Die Trennung und die verschiedene Be- 
handhing der vier Grlieder des dritten Artikels ist, wis audi 
D. Cremer einraumt, viel spater erfolgt, namlich erst, nach.- 
dem das Dogma von der Trinitat ansgearbeitet war. 

6. Seite 13 wird es mir als eine — allerdings dankbar 
zu verzeiclmende — Inkonsequenz vorgebalten, daC icb. bei 
der Erklarung des Wortes „Vater'" im ersten Artikel auf 
das apostoKsclie Verstandnis zuriickgelie, wahrend ich sonst 
diese Art Erklarung als unhistoriscb verwerfe und auch. 
hier bemerke, daU der Verfasser des Symbols den Ausdruck 
„Vater" wahrscbeinlicli nicht nacb Matth. 11, 25 ff. und 
Rom. 8, 15 gedeutet habe. Aber eben nur „walu:sclieinlich." 
nickt. Nacb dem, was ich in meiner lateiniscben Abhand- 
lung liber den Ausdruck im rdmiscben Symbol (1. c. S. 134) 
ausgefiihrt babe, muB es offen bleiben, ob nicbt doch. das 
"Wort jjVater" noch evangebscli verstanden ist. Eben des- 
halb babe icb bier auf das alteste Verstandnis Riicksicbt 
genommen, um nicbt parteiiscb zu erscbeinen, sondern dem 
Symbol alles zu lassen, was ibm gescbicbtlicb irgend ge- 
biibren konnte. Das Ausrufongszeicben aber, das mein 
Gegner zu meinem Ausdruck: „Der Verfasser des Symbols" 
gemacbt bat, will icb beber nicbt versteben; denn daB das 
Sjnnbol offenbart oder durcb Inspiration als Zeugnis des 
beiligen GTeistes in der alten K"ircbe gebeinmisvoU ent- 
standen sei, kann D. Cremer nicbt meinen. 

7. Dem, was icb liber „G-emeuiscbaft der Heibgen'' 
ausgefiibrt babe, batte D. Cremer eine „vorsicbtigere Fas- 
sung" gewiinscbt (S. 13). Icb glaube. den Tatbestand kor- 
rekt zum Ausdruck gebracbt zu baben. Icb babe 1. be- 
merkt, dafi die Entstehung und der urspriingbcbe Sinn 
jenes Zusatzes am dunkelsten ist, 2. gesagt, daC der Aus- 
druck zuerst im donatistiscben Streit und bei Augustin sicb 
fande, und dafi man demgemaC erwarten miisse, er bedeute 
auch im Symbol dasselbe wie dort, namlicb eine nabere 



Antwort auf die Streitsohi-ift Cremers. 277 

Erklarung zu „lieilige katholische Kirche", 3. darauf hin- 
gewiesen, daC der Ausdruck im Symbol erst in spaterer 
Zeit (und zwar in Grallien) vorkomme und dort durcli den 
altesten Zeugen als „Gremeinscliaft mit den voUendeten 
Heiligen" erklart werde. DemgemaiJ habe ich. es fiir „sehr 
-wahrsclieinlich" gehalten, dafi die "Worte im gallischen Sym- 
bol wirklieh „Gremeinscliaft mit den Martyrern und den 
besonders HeLUgen" bedeuten soUten (gegen Vigilantius) 
tmd urspriinglicli keine Explikation des Ansdrucks „heilige 
katholische Earche", sondern eine Fortsetzung desselben 
waren. Auf die mir woUbekannte Auslegung des Nicetas 
von Romatiana bin ich. nicht eingegangen, weil ich weder 
uber die Zeit noch liber den Ort dieses Bischofs ein Urteil 
besaC. Aber auch die Tatsache, daC die Gegner der Heiligen- 
verehrung z. Z. des Faustus von Eeji die Worte in ihrem 
Symbol gehabt haben, glaubte ich nicht erwalinen zu 
durfen, da sie fiir die Frage nach dem urspriinglichen Sinn 
im Symbol gieichgidltig ist; denn Faustus hat die Vereh- 
rung der HeUigen und Reliquien jedenfalls lediglich ein- 
getragen. 

D. Cremer meint nun, die Worte konnten (muBtenJ^ 
biblisch verstanden werden, „und darum bedarf es nicht 
einer Umdeutung, um sie in dem Symbol belassen zu konnen^ 
sondern nur desjenigen Verstandnisses, das fur alle Aus- 
sagen desselben nach Augustins oben angefiihrtem Aus- 
spruch liber die Entstehung und den Willen des Symbols 
mafigebend ist, namlich die uns die neutestamentlichen 
Schriften an die Hand geben". Diese Worte bezeichnen 
sehr deutlich den prinzipiell verschiednen Standpunkt, den 
mein Gegner und ich. behaupten, erstlich, sofern er sich 
hier auf Augustins Meinung beruft und sie fiir maCgebend 
halt (s. oben S. 269 f), das Symbol sei ein Exzerpt aus neu- 
testamentlichen Schriften, zweitens sofern er demgemaJJ den 
Versuch einer historischen Erklarung der einzelnen Satze 
des Symbols aus ihrer Zeit fiir iiberfllissig, ja im G-runde 



278 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

for unstatthaft halt. Die Konsequenzen seines Verfahrens 
sind uniiberselibar: selbst zugestanden , das Apostolikum 
■ware — auch. noch in seinen jiingsten Bestandteilen — ein 
Exzerpt aus dem Feuen Testament, diirfte man es deshalb 
nacb den Grlaubensiiberzeugungen der neutestamentlichen 
Schriftsteller erklaren? Die FormeLi der Semiarianer waren 
auch. Exzerpte aus dem Weuen Testament: diirfen wir sie 
deshalb nacb dem Neuen Testament auslegen, oder sind wir 
nicht viebnehr verpflicbtet, wenn wir die Dogmengeschicbte 
nicbt iiberhaupt sprengen -wollen, sie naeb der Theologie 
des vierten Jahrbunderts zu verstehen? Die abstrakte Aus- 
legung des Apostolikums nach MaUgabe der neutestament- 
lichen Schriften ist lediglicb ein Rest der altkirchlicben 
Vorstellung, dieses Symbol stamme von den Aposteln. Man 
sagt das nicbt mebr, aber man verfabrt so; denn durch 
den Hinweis, das Symbol sei ein Exzerpt aus apostobschen 
Schriften, ist augenscbeinlich das Recht, bei seiner Er- 
klarung von der Kirchengeschichte abzusehen, noch langst 
nicht erwiesen. 

8. Den eben gewonnenen Grrundsatz, das Apostolikum 
ist nach den neutestamentlichen Schriften za erklaren, 
■wendet D. Cremer nun sofort auf die sogenannte HoUen- 
fahrt an. „Die alte Kirche hat mit der Aufnahme dieses 
Zusatzes nichts andres getan als einer im Neuen Testa- 
ment bezeugten Tatsache einen Ausdruck gegeben, der in 
seiner objektiven, rein geschichtlichen Fassung ebensosehr 
dem energischen WiUen der romischen Kirche entspricht 
[aber aus dieser Kirche stammt der Zusatz nicht], aUe lehr- 
haft gehaltenen antiharetischen (theologischen) Zusatze aus- 
zuschlieCen, als in seinem Lapidarstil alien iibrigen Aus- 
sagen volLkommen ebenbiirtig ist." 

Ich hatte gehofft, daJJ D. Cremer wenigstens an diesem 
exponierten Punkte einer geschichtlichen Betrachtung Raum 
geben wUrde; aber auch, hier ist sie ausgetilgt. ErstUch. be- 
zeugt das IsTeue Testament mindestens eine vor der Wieder- 



Antwort auf die Streitschrift Oremers. 279 

erweckung Cliristi gescheliene HoUenfahrt nirgends; zwei- 
tens — selbst diese „Tatsaclie" vorausgesetzt — vermag 
auch D. Cremer iiber sie nur zu sagen, daB der Zusatz „iii 
seinem Lapidarstil alien iibrigen Aussagen volLkommen eben- 
biirtig ist". Ja wenn es nur anf den Lapidarstil ankame — 
dafi die Tatsache selbst alien iibrigen Aussagen ebenbiirtig 
ist, scbeint auch. D. Cremer bier nicbt behaupten zu wollen. 
Was geht uns dann aber die Grleichheit des Lapidarstils 
an! D. Cremer fabrt fort: „Was die alte Kircbe sich. bei 
dieser Aussage gedacht hat, ob sie mehr an Eph. 4, 8 — 10; 
Koloss. 2, 15 (?) oder wie Rufmus daneben auch an 1. Petr. 
3, 19 f.; 4, 6 gedacht hat, interessiert die Dogmenge- 
schichte, uns aber insoweit, als wir bei jedem Punkte des 
Bekenntnisses unterscheiden miissen zwischen der damit 
beabsichtigten Reproduktion apostolischer Bezeugung von 
Tatsacben und tatsachlichem Sachverhalt einerseits und 
dem in der damaligen Christenheit vorhandnen Verstand- 
nis andrerseits." Also die nackte Tatsache soil damals, als 
der Zusatz entstand, und jetzt gelten, sie soU fiir den 
Grlauben malJgebend sein — dazu eine Tatsache, die jeder 
anders versteht! Und warum soU sie maCgebend sein? Hatte 
wohl irgend ein evangelischer Christ sie fiir eine maC- 
gebende „HeLlstatsache" gehalten, wenn es nicht eiaigen 
Bischofen vor fiinfzehnhundert Jahren gefallen hatte, sie 
in ihr Taufsymbol au&unehmen? Nein — diese „ Tat- 
sache" wird ledigKch (und dies in evangelischen Kirchen!) 
deshalb fiir maJJgebend gehalten, weil sie im ApostoHkum 
steht, wobei jeder allerdings auch von Kirchen wegen die 
Freiheit hat, iiber sie zu denken, wie er wiU! Ist dies evan- 
gelischer Griaube und nicht vielmehr der purste Formel- 
glaube, iiber den wir uns sehr erhaben diinken, wenn wir 
z. B. liber die griechische Kirche mit ihrem traditionellen 
Grlaubensrituabsmus urteilen? Photius wird gescholten, well 
er den Abendlandem nicht nur das filioque vorwarf, sondern 
es ihnen als die groBere Haresie anrechnete, daU sie am 



280 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

heiligen Symbol eine Veranderung vorgenommen hatten: 
sind wir denn in den evangelisclien Kirchen tansend Jahre 
spater, trotzdem uns Luther wieder gelehrt, was Grlaube sei, 
wirldich weiter gekommen? 

9. D. Cremer liat sub 7 und 8 die Notwendigkeit einer 
Umdeutnng des symboliscben Ausdrucks abgelehnt: niclits 
sei umzudetiten; denn aus dem ISTeuen Testament empfange 
alles seine recbte Deutung. Aber wie steht es mit der 
„Auferste]iung des Fleisches"? Hier raumt D. Cremer ein: 
„Der Ausdruck als soleher deckt sick nickt bloC entschieden 
nickt mit der apostolischen, speziell Paulinischen Verkiin- 
digung, sondern steht rein formell betrachtet im Wider- 
spruch mit derselben. Die Abweichung dieses Artikels 
von dem apostolischen Zeugnis notigt zu der Frage, ob 
die Kirche sich dadurch in Widerspruch hat setzen woUen 
mit der apostoHschen Predigt, oder ob sie unbewufit sich 
in solchem "Widerspruch befunden hat." Soweit ist aUes 
korrekt, und ich freue mich, daB D. Cremer den Tatbe- 
stand so bestimmt zum Ausdruck gebracht hat. Er er- 
klart nun die fraghchen Worte fiir einen „ungeschickten 
Ausdruck" dessen, was unabweisbarer Bestandteil der 
apostolischen Verkiindigung ist; sachlich liege kein AVider- 
spruch vor. Im wesenthchen bin. ich hier mit ihm einig, 
wenn auch nicht ganz (im zweiten Jahrliundert legte man 
wixklich auf die Auferstehung des Fleisches, der Knochen 
und Haut das grofite Gewicht). Doch das mag auf sich 
beruhen. Nur zieht D. Cremer die Konsequenz nicht, die 
er selbst aufgedeckt hat, daB der Ausdruck entweder timzu- 
deuten oder zu tilgen ist.*) Allerdings verwahrt er sich 



*) D. Cremer schreibt: „Die Angabe [Hamaoks] , daB viele Zeug- 
nisse der altern Zeit statt Auferstehung des Fleisolies „AiTferstehung" 
oder „ewiges Leben" bieten, ist nicbt korrekt." Aber diese Angabe ist 
ganz korrekt. D. Cremer hat wohl an Symbole gedacht und dort die 
fraglichen "Worte nicht haufig gefunden; ich aber sprach von „Zeugnisseu". 
Nach dem Zusammenhang meiner Worte muBte es deutlich sein, daB 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 281 

hier auch nicht ausdriioklich gegen den Gedanken einer 
Umdeutung wie zu 7 imd 8. Also gibt er an diesem 
Punkte docli einen gewissen Mangel des Symbols zu. 

10. Das von mir liber die Himmelfabrt Ausgefiihrte 
bestreitet D. Cremer S. 18 — 22. Er schreibt: „Niclit ein 
Ergebnis Mstorischer Forscbung, sondern prinzipieller Eii- 
tik ist es, daB die Differenzierung zu mekreren Akten 
( Auferweckung , Himmelfahrt, Sitzen zur Rechten) einer 
spateren Zeit angebort. Mit den neutestamentHchen Schrif- 
ten — und dies ist bier die Hauptsacbe — stebt sie keines- 
"wegs in Widerspruch." 

DaB die Himmelfabrt mit den neutestamentbcben Sebrif- 
ten „in "Widersprucb" stebe, babe icb nicbt bebauptet; aucb 
die prinzipielle Kritik ware bier sebr am Platze; aber icb 
babe sie nicbt angewendet. Was icb bebauptet babe, bat 
D. Cremer nicbt erscbiittert, namlicb daC die Himmelfahrt 
in der altesten Verkiindigung kein besondres Gbed gebiJdet 
bat, und dafi es sicb auf gescbicbtbcbem Wege wabrscbein- 
Hcb macben laJBt, daU sie nicbt zxir urspriinglicben Ver- 
kiindigung geborte.*) Icb babe micb dafiir erstlicb auf 
das Eeblen derselben in den drei ersten Evangelien, in dem 
ersten Korintberbrief, in den Briefen des Klemens, Ignatius 
und Polykarp und im Hirten des Hermas berufen. Hier 
beanstandet D. Cremer, dafi icb die Himmelfabrt aucb im 
Lukasevangelium vermisse. Er scbreibt: „DaJJ aucb der 
Scbliifi des Lukasevangeliums ein spaterer Zusatz sei, bat 
bis jetzt die Textgescbicbte nicbt bewiesen [babe icb aucb 
nie bebauptet]. Icb vermute, dafi Hamack etwas andres 



diese Zeugnisse nicht in Symbolen, sondern in den altesten Schriften 
zu suohen sind. 

*) loh habe micli ilbrigens so behutsam wie moglich ausgedruokt 
und die ErOrtertmg dieses Punktes mit den "Worten (s. oben S. 246) be- 
gonnen: „MclLt sicher zu fassen, aber dooh. nicht zu ilbergehen ist 
noch eine Abweichung von der altesten Predigt, es ist die besondre 
Hervorhebung der Himmelfahrt.'' 



282 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

im Sinne hat als textgescMclitliclie Forscliung, namlicli 
Quellenforscliuiig. Oder sollte es sich um eine neue, bisher 
niclit bekannt gegebene Entdeckung auf dem Gebiete der 
TextgescMcbte bandeln?" Um eine alte Erkenntnis bandelt 
es sich., die D. Cremer wohl inir augenbKckhch entfallen 
ist. Ein BKck auf eine kritische Ausgabe des Neuen Testa- 
ments, anf Tisohendorfs Octava oder auf "Westcotts und 
Horts Edition, wird ihn daran erinnern, dafi die Worte in 
Lnkas 24, 51 : xal dvstpEpsto eiq oupavo'v — das einzige Zeug- 
rds der Himmelfahrt in diesem Evangelium — in den Ans- 
gaben als spaterer Zusatz getUgt sind. Sie sind zwar re- 
lativ gut bezeugt und jedenfalls sehr alt, aber da Sinaiticus 
(erste Hand), viele lateinische Zeugen und Augustin sie 
nicht bieten, so ist kein VerlaJJ auf sie. In Bezug auf 
Paulus (1. Kor. 15) bemerkt D. Cremer: „DaJJ Paulus den, 
der auferstanden und den Jiingern erschienen ist, als den 
nunmehr zur Rechten Gottes Erhohten weiB, schheBt die 
Entriickung des durch die Auferstehung in das Leben und 
zu den Seinen Zuriickgekehrten ein, und daC diese Ent- 
riickung identisch sein soil mit der Auferstehung, ist nicht 
Ergebnis historischer Forschung, sondern eine Hypothese, 
welche in prinzipieller Beurteilung und Kritik der Tat- 
sachen der Greschichte Jesu ihre Wurzel hat." Durch diese 
Bemerkung wird die Streitfrage verschoben: nicht darum 
handelt es sich, was sich Paulus implicite ober explicite ge- 
dacht, sondern darum, ob er die Himmelfahrt neben der Auf- 
erstehung besonders erwahnt hat. Das hat er nicht getan, 
und deshalb ist es eine einfache Eintragung, wenn man be- 
hauptet, er miisse um eine leibliche Himmelfahrt (um diese 
handelt es sich, nicht um irgend eine „ Entriickung") ge- 
wuBt und diese fur eine „HeLlstatsache" gehalten haben. 
Zweitens hatte ich mich auf das Zeugnis des Barnabas- 
briefes berufen, der Auferstehung und Himmelfahrt auf 
einen Tag verlegt. D. Cremer erwidert: jjWenn dies un- 
zweifelhaft die Meinung der Stelle 15, 9 ware, so wiirde 



Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 283 

es eine absolut vereinzelte Annahme des Verfassers sein, 
gegen die geltend gemacM werden mufi, daC nirgends im 
kirchliclieii Altertum der Sonntag zugleicli als Feier der 
Himmelfakrt erscheint. GescMchtlichen Wert hat diese 
Notiz eben wegen ihrer Verbindung mit der Sonntagsfeier 
niclit einmal als tJberbleibsel einer abweichenden Tradition. " 
Demgegeniiber bemerke ich: 1. D. Cremer bat nicht ange- 
geben, wie man die Stelle im Barnabasbrief anders ver- 
steben kann; 2. vereinzelt ist die Nachricht nicht (s. jetzt 
auch das Petrusevangelium ; noch anderes kommt in Be- 
tracM), aber die Angabe der Apostelgeschichte , Jesus sei 
vierzig Tage nach der Auferstehung gen Himmel gefahren, 
ist vereinzelt; 3. daU im Altertum nirgends der Sonntag 
als Festtag der Himmelfahrt erscheint, ware nur dann ein 
nennenswertes Argument, wenn es in der altern Zeit iiber- 
haupt einen Festtag der Himmelfahrt gegeben hatte. Granz 
besonders verachtlich behandelt D. Cremer meinen Hinweis 
darauf, daC in alten Zeugnissen achtzehn Monate zwischen 
Auferstehung und Himmelfahrt gelegt werden. Er nennt 
ihn „eine Mitteilung, die wie nur eine die Unkundigen zu 
verbliiffen imstande ist"; denn ich hatte „es unterlassen, 
dasjenige mitzuteilen, was den Wert dieser Notiz zur Ge- 
nlige charakterisiert , namlich daC sie gnostischen Kreisen 
entstammt und mit gnostischen Spekulationen iiber Aonen- 
reihen zusammenhangt (Iren. I, 8, 2; 30, 14)"- Allein dem- 
gegeniiber ist zu sagen: 1. Dafi die Angabe mit Speku- 
lationen iiber Aonenreihen zusammenhangt, ist nicht er- 
wiesen; 2. geschichtliche Nachrichten sind damit noch 
nicht als fiir die groBe Kirche unerheblich diskreditiert, 
daB wir sie in gnostischen EJreisen antreffen, am wenigsten, 
wenn diese KJreise valentinianische waren; 3. daC diese 
Nachricht gnostischen Kreisen entstammt, ist ungewifi, ja 
unwahrscheinlich: sie findet sich namhch keineswegs nur 
dort, wo D. Cremer sie angetroffen hat, namlich bei dem 
Valentinschiiler Ptolemaus und den Ophiten, sondern auch 



284 Erster Band, z-weite Abteilung. Aufsatze: 11. 

in der „Himmelfahrt des Jesajas" (und hoclist walir- 
scheinlich bei dem Valentinscliuler Herakleon). Alles, was 
~D. Cremer sonst noch beibringt, um die Himmelfalirt als 
einen -urspriingliclieii Bestandteil der altesten Verkiindigiing 
zu erweisen, sind verstandige Erwagiangen dartiber, dafi 
eine leibbaftige Auferstehung eine Himmelfalirt fordere, 
und daC diese deshalb von Anfang an ein besondres Stiick 
des Glaubens gebildet liaben miisse; aber D. Cremer ersetzt 
damit nur das fehlende geschichtliche Zeugnis : Auferstehixag 
und ErhoKung sind in der altesten einhelligen Verkiindigung 
nachweisbar , nicbt aber Auferstehung und Himmelfalirt. 
Die "Wolke von Zeugen aus dem ISTeuen Testament, die 
mein G-egner S. 21 f. glaubt anfuhren zu diirfen, bitte icli 
genau zu priifen; man wird linden, daU sie fiir die von mil' 
scbarf gestellte Frage belanglos sind. Es bleibt also dabei, 
daU man aus bistoriscben Griinden sich genotigt siebt, zu 
erklaren: Die Himmelfahrt bat niebt wie der Kreuzestod 
und die Auferstehung von Anfang an ein besondres Stiick 
in der Verkiindigung von Gbristus gebildet, so gewilJ man 
von Anfang an von einer Erbobung oder von einer Riick- 
kebr Christi zum Vater gesprochen bat. 

11. Icb komme schlieUlicb zu dem Hauptstiick, der 
Geburt aus der Jungfrau. Die Art, wie D. Gremer bier 
die Kontroverse gefulirt bat, kann icb nur tief bedauern. 
ErstHcb will er audi bier eine historiscb-kritische Eraee 
liberbaupt niebt wabi'nebmen und bat fiir das Gewissen 
des Historikers keine N"acbempfindung, zweitens spielt er 
die ganze Frage sofort auf das Gebiet der Gbristologie und 
zwar der Praexistenz liber. Icb bin diese Weise der Pole- 
mik von der grofien Zabl meiner Gegner ber gewobnt; 
aber es befremdet micb, aucb D. Cremer in ibren Reiben 
zu seben. Icb batte micb zu ibm eines Bessern verseben; 
denn diese Verscbiebung der einfacben Eragestellung ist 
bistorisch und theologisch betracbtet verwerflicb. Histo- 
riscb aber ist sie doppelt verwerflicb; denn noch ist das 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 285 

Urteil nicht widerlegt, daJJ die Vorstellung von der person- 
lichen Praexistenz Christi und die Vorstellung der Ent- 
steliung des GottessoKns aus wunderbarer Einwirkung des 
teiligen G-eistes axif eine Jungfrau nrspriinglich. zwei ver- 
scMedene, sich widersprechende "Uberzeugungen oder sicli 
widersprechende Versnche sind, das wunderbare Wesen 
Jesu zu entsclileiern. Nachtraglich kann man ja wohl 
durcli dogmatisclie Kunst beide Ansckaunngen miteia- 
ander vereiaigen, wie sie in der Tat bald vereinigt worden 
sind; aber wie sie urspriinglich versckieden sind, so sind 
sie es anck in der Sacke. Wer an der Praexistenz Ckristi 
festkalt, der kann nickt glauben, dajj der Sokn G-ottes 
dni'ck das Wirken des keiligen Geistes in der Jnngfrau 
erst geworden sei, und wer an dieses Gewordensein durck 
den keiligen Geist glaubt, der gibt damit die Praexistenz 
in realistisckem Sinne preis. Aber auck wenn es anders 
ware — und gesckicktkck ist es ja anders geworden — , 
wo liegt das Reckt, das Dogma von der Jungfrauenge- 
burt so zu verteidigen, dafi man zur Verteidigung der Pra- 
existenz liber gekt? Ick vermag kierin nur die Verkiillung 
einer Sckwacke zu seken. Um das pkysiologiscke Wunder 
der Jungfrauengeburt kandelt es sick beim Wortlaut des 
Apostokkums, xind zuniickst um nickts andres. Mit jenem 
Wunder wird eine gesckicktlicke Tatsacke bekauptet, und 
solcke Tatsacken unterliegen der gesckicktlicken Kritik. 
Ick versteke es daker nickt, wie D. Cremer sagen kann, 
die Frage sei keine kistoriscke Frage. In "Wakrkeit kann 
auck er nickt umkin, nackdem er eine langere dogmatiscke 
Digression gemackt kat, auf die Frage als auf eine kisto- 
riscke einzugeken. Die fiinf Griinde, die ick beigebrackt 
kabe, vermag er nickt zu entkraften; denn die aUgemeine 
Bemerkung: „die Menge der Griinde stekt in der Regel 
in umgekekrtem Verkaltnis zu ikrer Beweiskraft," ware 
eine sonderbare Entkraftung. D. Cremer ziekt sick viel- 
mekr darauf zuriick, daB das „empfangen vom keiligen 



286 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

Geist, geboren von der Jungfrau Maria" sachJich begriindet 
sei, und dafi die Frage, aus welcher Quelle die beiden 
EvangeHen dies geseh.6pft baben, fiir die Sache niclits 
austrage. Wenn er sicb gegeniiber einer erzahlten ge- 
schicbtlichen Tatsacbe und nocb dazu einer wunderbaren 
imd nocb dazu einer solcben, deren Quelle man nicbt 
kennt — icb glaube sie aUerdings zu kennen: Jesaj. 7, 
14 — , wixklicb damit berubigt, daU sie „sacblicb" be- 
griindet sei, und sie desbalb fiir zuverlassig binnimmt, so 
laJJt sicb dazu nicbts bemerken. Docb bleibt aucb auf 
diesem Standpunkte die Erage eine bistoriscbe; D. Cremer 
lost nur die bistoriscbe Erage durcb eine dogmatiscbe 
Erwagung, die ibm so sicber ist wie ein bistoriscbes Zeug- 
nis, ja sicberer als ein solcbes. Auf diesem Wege vermag 
icb ibm nicbt zu folgen.*) Hier entbiiUt sicb ein Gegen- 
satz des Grlaubens, der Metbode und der Kritik, der eine 
genauere Darlegung erbeiscbt. Icb versucbe sie im fol- 

*) In welchem MaBe D. Cremer der bestimmten Frage, die Jung- 
franengeburt betreffend, ausgewichen ist, zeigt f olgender Satz auf S. 29 : 
„Sollte aber ein Ausdruck in Hamacks jilngster Schrift, was ioh. nicbt 
annebme, dabin zu versteben sein, daB der Satz sempfangen vom 
beiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria« in der Ve^kundig^^ng 
Jesu selbst nicbt zu iinden sei, so miifiten zunacbst "Worte wie Job. 8, 
58; 16,28; 17, 5 aus der Welt gescbafft werden, ebe diese Bebauptung 
aufrecbt erbalten werden kOnnte.'' AUein an den drei Stellen, die 
D. Cremer bier aufgefubrt bat, ist von der Jungfrauengeburt scbleobter- 
dings nicbt die Eede. Die erste lautet: „Ebe denn Abrabam ward, bin 
icb"; die zweite: „Icb bin vom Vater ausgegangen und gekommen in 
die Welt," und die dritte: „ Vater, verklare miob bei dir selbst mit der 
Klarbeit, die icb bei dir batte, ebe die Welt war." Man kann sicb 
glaubig zu dem Inhalte dieser Stellen bekennen und docb die Geburt 
aus der Jungfrau, die sie nicbt entbalten, dabingestellt sein lassen. 
Von der Geburt obne Zutun eines Mannes spricbt Jobannes iibrigens 
an einer Stelle wirklicb — D. Cremer bat diese Stelle auffallenderweise 
nicbt angefilbrt. Hier faJ3t der Evangelist eine solcbe Geburt als ein 
Bild und bebauptet, alle Gottes-Kinder seien so geboren (1, 13): „nicbt 
von dem Gebliit, nocb von dem Willen des Fleisobes, nocb von dem 
Willen eines Mannes, sondern von Gott." 



Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 287 

genden zu geben, nacMem icli im vorstehenden alle Ein- 
wurfe widerlegt zu haben glaube, die D. Cremer gegen 
meine Atisfuhrangen im einzelnen gerichtet hat. 



2. Die prinzipiellen Satze D. Cremers. 

Alle Nebenfragen inogeii hier beiseite bleiben. Ich 
halte mich an die drei Satze D. Cremers, die ich oben auf- 
gefiibrt babe, und die er selbst als den entscbeidenden In- 
balt seiner Schrift bervorgeboben bat. Icb wUl dabei das 
MaC der Ubereinstimmung, das zwiscben uns bestebt, be- 
zeicbnen; denn sonst ist jeder Kampf frucbtlos. 

1. Der erste Satz lautete: „In dem gegenwartigen 
Streite um das apostoHscbe G-laubensbekenntnis bandelt es 
sicb weder um neue Ergebnisse, nocb iiberbaupt um Ergeb- 
nisse bistoriscber Forschung." 

Dafi es sicb nicbt um neue Ergebnisse bandelt, babe 
icb selbst von Anfang an ausgesprocben , und es mogen 
daber aucb bier meine Arbeiten iiber das apostoHscbe Symbol 
im zweiten Jabrbundert beiseite bleiben. Andre mogen 
dariiber urteilen, ob sie Wertvolles entbalten. Aber um so 
bestimmter muB icb es aussprecben: es bandelt sicb bei 
dem Streite um Ergebnisse bistoriscber Eorscbung. Der 
Streit ist auf ein andres Grebiet biniibergespielt worden, 
well man es iiberbaupt nicbt zugeben wiU, daU die ge- 
scbicbtbcbe Erkenntnis in der Rebgion — aucb zu ibrer 
Bericbtigung — eine Rolle spielt, und es docb aucb nicbt 
offen in Abrede stellen darf. Hier liegt die ganze Scbwierig- 
keit unsrer gegenwartigen Situation. Bis zum acbtzebnten 
Jabrbundert begriindete man die Religion aus der Uberliefe- 
rung ; im acbtzebnten aus der Vernunft, in der ersten Halffce 
des neunaebnten aus der Spekulation — die Grescbicbte spielte 
bier Hberall letztlich nur die RoUe der Magd; denn immer 



288 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

kannte man holiere Instanzen, vor denen sie zuriickzutreteii 
habe. Was ein Kardinal oifen auszusprechen den Mut 
hatte: „Man muB die Q-esckiclite durch das Dogma anf- 
heben," das war und ist for Tausende die selbstverstand- 
liche EicMscliDiu' ibres Verfahrens. Aber langsam bat sich 
die Frage: „Was ist gescbicbtlicbe Wirklicbkeit gewesen?" 
und die Einsicbt, daB diese Frage nur mit gescbicbtlichen 
Mitteln zu beantworten ist, Bahn gebrocben. Nnn kann 
man sie nicbt mebr totschlagen. So wenig die Metbode 
reiner Erkenntnis der Natur durch Naturpbilosopbie ersetzt 
werden kann, so wenig kann die Einsicbt, daB die Ge- 
scbicbte der gescbicbtbcben Erkenntnis gebort, mebr ge- 
raubt werden. Die Rebgion, sofern sie mit einer G-escbicbte 
in der "Welt steht, macbt davon keine Ausnabme. Darum 
sind Satze wie die: „geb6rte die Himmelfabrt Jesu der 
urspriingbcben cbristbcben Verkiindigung an?", „wie sind 
die Zeugnisse fiir sie bescbaffen?", „auf welcben Grundlagen 
rubt die IJberlieferung, daB Jesus nicbt Josepbs Sobn ge- 
wesen sei," unzweifelbaft bistoriscbe Fragen, die nur auf 
bistoriscbem "Wege gelost werden konnen. Sagt die ge- 
scbicbtbcbe Untersucbung — vorausgesetzt , daB sie sicb 
nicbt irrt — , daB die Zeugnisse unsicber und unzureicbend 
sind, so kann keine Kunst, keine Pbilosopbie, keine Dogmatik 
sie sicber und zureicbend macben; denn die Fabigkeit ist 
keinem Menscben geschenkt, eine Tatsacbenfrage a priori 
zu entscbeiden. Der romiscbe StuM bat sicb zwar aucb 
diese Fabigkeit angemaBt; aber er bat sicb iiberbaupt ins 
Ubermenscbbcbe gestellt. Jene Fragen aber sind die eigent- 
licben Hauptfragen in dem gegenwartigen Streit. Also 
bandelt es sicb bei ibnen um bistoriscbe Fragen und bei 
ibrer Beantwortung um Ergebnisse bistoriscber Forscbung. 
Jede andre Antwort ist unstattbaft. Icb kann aucb nicbt 
linden, daB D. Cremer wirkbcb Ernst damit macbt, jene 
Fragen aus der Gescbicbte auszuweisen; denn tate er das, 
so miiBte er aucb von den bibliscben Zeugnissen abseben 



Antwort auf die Streitschrift Oremers. 289 

Tind, wie gewisse Hegelianer, die Fakta einfach konstruieren. 
Dazu hat er wolil einen scMchternen Ansatz bei der Jung- 
frauengebvu-t gemacbt; aber auch niclit mehr. Also soil 
letztHch doch. das geschicbtliche Zeugnis gelten, d. li. die 
Greschiclite, und die Frage ist nur die, ob das Zetignis 
voUgUtig ist Oder nicht. Dafi aber geschiclitliclie Zeugnisse 
nur nach. einer Methode gepriift -werden konnen, und daC 
eine Kritik, die ia der Mitte anbebt oder plotzlicb Halt 
maclit, eine Kritik unter der Eiitik ist, wird D. Cremer 
gewiB selbst bekennen. 

Seiaem ersten Satze stelle icb daber den Satz gegen- 
iiber: In dem gegenwartigen Streit um das apostoliscbe 
Glaubensbekenntnis bandelt as sicb um das Eecbt der ge- 
scbichtlichen Forscbung, in der Eircbe zugelassen und ge- 
bort zu -werden. Wird dieses Recbt negiert, so wird das 
Recbt der Reformation negiert; denn diese, die aus dem 
Grlauben und der Kritik an der TJberlieferung geboren ist, 
ware in diesem Fall eine beklagenswerte Revolution ge- 
wesen.*) 

2. Der Streit ist wider meine Absicbt auf das Grebiet 
des Glaubens biniibergespielt word en, und icb folge dem. 
Der zweite Satz D. Cremers lautet: „Denn die Frage nacb 
der Person Cbristi oder die Frage, wer und was Jesus ist, 
kann nimmermebr auf dem Wege und mit den Mitteln 
bistoriscber Forscbung entscbieden werden." 

Diesen Satz muB icb zu den gefabrlicben, balbwabren 
Satzen recbnen, vor denen man siob biiten sollte. So wie 

*) In den neutestamentlichen Einleitungen , in den Kommentaren 
zu Matthaus und Lukas und in dem „Leben Jesu'' ist die Gesoliiclitlich.- 
keit der Erzahlung von der Jungfrauengeburt unzahlig oft in den 
letzten fiinfzig Jaliren bestritten worden, und es gab nicht mehr AnlaB 
zu einer kirchlichen Erregung. Wenn dieselbe ErzahJung aber in An- 
knilpfung an das Apostolikum bestritten wird, erbebt sich ein Sturm. 
Wie soil man die Tatsacbe deuten? Soil es eine doppelte Wahrheit 
geben? oder soil man in der evangeliscben TCirche die gesobiclitliche 
Erkenntnis verbiillen? 

Harnack, Keden and Aufsatze. I. 19 



290 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

er lautet und in alien seinen Konsequenzen durclidaclit, 
kann ihn nur entweder der Schwarmgeist oder der Katlio- 
Hk oder ein spekulativer Religionsphilosopli (Hegelscher 
Fiirbung) vertreten. Der Schwarmgeist braucM die Ge- 
schiclite nicht; denn er scliopffc alles aus innerer Offen- 
barung. Der Katliolik kann sie entbekren, denn er bait 
sicb an das Cbristusbild , welches die Kircbe iim zeigt, 
iind vertraut darauf, daC die Autoritat der Kircbe die 
Wahrbeit des BUdes garantiere. Der spektdative Rebgions- 
pbilosopb endlicb kann die Grescbicbte dabinten lassen, denn 
wenn er die Mogbcbkeit und ITotwendigkeit der Idee der 
Grottmenscbbeit konstruiert bat, ist er berubigt. Aber wir 
evangeliscbe Christen braucben die Gescbichte; denn wir 
wollen keinen andern Christus, nnd kein andrer kann uns 
belfen, als der wirkbche, geschichtliche Christus, dessen 
Wort wir noch eben vernehmen, und dessen Ziige wir in 
nnser Herz aufnehmen konnen. Wir haben ihn kennen 
nnd heben gelernt aus der Verkiindigung unsrer Kircbe; 
aber wenn wir nun zur Miindigkeit erwachen — wem wird 
die Frage erspart: WeiJJt du auch, an wen du glaubst? 
und kannst du davon iiberzeugt sein, daC er so ist, wie 
du ihn glaubst? Es gibt viele lautere und treue Christen, 
die nie zu dieser Frage kommen: sie haben durch Christus 
den Zugang zu ihreni Gott gefunden und wissen sich ge- 
borgen. Aber wie stebt es mit den andern? Diirfen wir 
ihnen die Frage abschneiden? und haben wir einen andern 
Weg, auf den wir sie weisen konnen, als den: Forschet 
seinem Selbstzeugnis nacb und priifet, was seine Zeugen 
von ibm gesagt und welcbe Wirkungen sie von ibm er- 
fabren haben; euer Streben, den wirkbchen Christus zu er- 
fassen, ist recht und gut; erstickt es nicht durch irgend- 
welche Beruhigungen und Beschwichtigungen, die ihre 
Kraft doch bald wieder verberen. 

Und so sollen sie Chiistus als ihren Herrn finden? 
Nein, gewiU nicht. Hier weiB ich mich mit meinem Gegner 



Antwort auf die Streitsohrift Cremers. 291 

einig, wenn er sagt: „Nicht der Mstorisclien Forschung 
kommt es zu, das letzte Wort iiber Christus zu spreclieii." 
Nur -wiirde ioh mich anders ausdriicken. NicKt um das 
letzte Wort handelt es sich, sondern um ein gane neues 
Wort. Innerhalb der gescMclitKchen Frage kann nur die 
geschichtliclie Untersucliung AnfschluB geben: versagt sie, 
so versagt bier iiberbaupt alles. Aber dafi dieser Christus, 
wie ilm die Geschicbte vorsteUt, als mein Herr und Erloser 
geglaubt und ergriffen wird, das bringt gewiJJ keine ge- 
scMcbtKcbe Erkenntnis zuwege, sondern bier gilt, was 
Lutber im Eingang der Erklarung des dritten Artikels 
gesagt bat, und was der Apostel nocb kiirzer zusammen- 
gefaUt bat: „Niemand kann Jesum einen Herrn beiCen 
obne durcb den beibgen Geist." Ein Cbristenmenscb ist 
ein Menscb, der die Erfabrung gemacbt bat: „An mir imd 
meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Cbristus mir 
gegeben, das ist der Liebe wert." Diese Erfabrung liegt 
iiber aUem Zwang, den gescbicbtbcbe Erkenntnis ausiibt. 
Aber, wie unsre Bekenntnisscbriften sagen, der beilige 
Greist wirkt durcb das Wort, d. b. durcb die Predigt von 
Cbristus. Nun ist's gewiJJ mit diesem Wort so berrlicb 
bestellt, daJ3 scbon ein Strabl aus ibm einen Menscben er- 
greifen und aus der Zerstreuung und dem selbstiscben 
Wesen zur Umkebr und zu Grott fiibren kann. Aber die 
cbristlicbe Gremeinscbaffc kann auf die Dauer nur besteben 
und gesund bleiben, wenn das Wort lauter und rein ge- 
predigt wird. Lauter und rein — es gab eine Zeit, in der 
diese Forderung erfiillt scbien, wenn man Bibelstellen zu- 
sammensteUte und sie nacb der analogia fidei erklarte. 
Heute ist es nicbt mebr so. Wir baben gelernt, was G-e- 
scbicbte ist und gescbicbtbcbe Zeugnisse. Desbalb bat die 
Forderung, daB man auf festem Boden steben miisse, einen 
andern Sinn als fruber. Wir denken beute bei planter und 
rein" aucb, ja in erster linie, an „gescbicbtbcb zuverlassig" ; 
sonst ist uns alles dabin. Damit sind wir wieder bei der 

19* 



292 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

GreschicMe und der reinen Erkenntnis der GescMclite; wir 
werden sie nicM los, und sie laCt uns niclit los; denn wir 
wollen nicM von unsern Gedanken oder von falscten Tat- 
sachen leben, sondern von dem, was gewiiJ ist. Das ist 
der Grrnnd, warum wir geschiclitliclie Kjitit iiben — auch. 
aus einem entsclieidenden Interesse des Grlaubens geschielit 
es. D. Prank freilich. meint, „wir scMelten angstlich. hin- 
liber auf den wirklichen oder vermeintliclien Wahrbeits- 
besitz der natiirlicben Erkenntnis". "Wir scbielen nicbt 
bloB Mniiber, sofern er ein wirkliober ist, sondern wir fassen 
ihn fest ins Auge, weil wir gewiC sind, daJ3 alle Wakrbeit, 
aucb die „natiirliche", von dem Grott der Wahrbeit stanunt 
nnd keine Wahrbeit nngestraft iiberbort wii'd. Auf die 
merkwiirdige Vorbaltung D. Cramers aber, der „Historizis- 
mus" sei nur eine andre Form der romiscben Metbode, die 
alle diejenigen, die der wissenscbaftbcben Forschung nicbt 
zu folgen und sie nicbt zu kontroUieren vermogen, zur 
fides implicita verdamme und nur der geistigen Aristokratie 
eine fides expbcita ermogbcbe; das Cbristentum sei aber 
keine Rebgion fur die Aristokratie der Tbeologen, und die 
Frage: was diinket eucb um Cbristo? konne von jedem, 
der nur guten Willens ist, entscbieden werden — ■ erwidere 
icb, daB D. Cremer auf keine "Weise den Unterscbied ver- 
scbiedener Stufen cbristbcber Erkenntnis aus der "Welt 
scbaffen kann, daJJ er aber bier ganz Disparates in eins 
gesetzt bat. Ware die cbi-istbcbe Rebgion nicbts andres 
als G-laube an eine gescbicbtHcbe Person, so batte er 
freibcb recbt: der vollkommene Historiker ware der voll- 
kommene Cbrist; aber sie ist Rebgion. Sie bat es desbalb 
letztbcb mit nicbts andrem zu tun, als daC die Seele ibren 
G-ott finde und ibn balte. Das Wort: „Du Herr bast uns 
auf dicb bin gescbaffen, und unser Herz ist unrubig, bis 
es Rube findet in dir", gilt von alien Menscben. Findet 
ein Menscb durcb ein Wort, das ibm in die Seele fallt, 
den lebendigen Gott, erlebt er in sicb durcb die Gnade 



Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 293 

Grottes, wie sie in der christliclien GemeinscHaft verkiindigt 
wird, jene Umkehr, die ihn ans der Schuld und dem elen- 
den Treiben der Welt herausfiilirt, und halt er sich nun 
zu Gott als seinem Vater nnd dem Fels seines Lebens, so 
ist er ein Christ, mag seine Kenntnis von Ckristus noch. 
so unvoltkommen sein. Ein Religionslehrer in "Worten 
wird er vieUeicht nicht sein konnen trotz seiner fides ex- 
pKcita; aber sein Leben wird eine deutliche nnd kraftige 
Predigt sein. In Summa: der Unterschied von fides ex- 
plicita nnd impKcita wird, auf die Religionslehre gesehen, 
immer bestehen bleiben; aber im evangelisctien Sinn hat 
anch das kananaische Weib nicht die fides implieita, son- 
dern den rechten Grlauben besessen. Aber nur der „Histori- 
zismns" schiitzt unsre Kirche davor, daC ihr Glaube nicht 
von Schlinggewachsen iiberwachert wird ; der einzelne 
Christ, anf den verschiednen Stufen der Erkenntnis nnd 
Bildung, kann auch nnter dem Schutt von hundert falschen 
IJberlieferungen nnd Lehren, die er fiir wahr halt, ein 
freies Grotteskind werden nnd bleiben, wie er umgekehrt, 
ohne Verstandnis fiir den ganzen Reichtum religioser Er- 
kenntnis, von einem Worte Gottes zn leben vermag. Dem 
zweiten Satze D. Cremers stelle ich daher den Satz gegen- 
iiber: Die Erage, wer nnd was Jesus ist, kann — wenn 
die Jdrchliche Uberlieferung liber ihn an irgend einem 
Punkte erschiittert ist — nur auf dem Wege und mit den 
Mitteln historischer Eorschung festgestellt werden; aber die 
tjberzeugung, daiJ dieser geschichtliche Jesus der Erloser 
nnd der Herr ist, folgt nicht aus der geschichthchen Er- 
kenntnis, sondern ans der Siinden- und Gotteserkenntnis, 
wenn ihr Jesus Christus verkiindigt wird. 

3. Der dritte Satz D. Cremers lautete: „Ist das die 
eigentHche Erage, wer nnd was Christus sei, so richtet 
sich nach ihrer Entscheidung auch die Kritik des Symbols." 

In diesem Satz, der das Ergebnis aus den beiden ersten 
zieht, wird das Symbol, das doch eine historische Urkunde 



294 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: H. 

ist, aus aller Zeit herausgehoben. Es soil als ein Bekenntnis 
betraclitet werden, das voUstandig und rein verkiindigt, 
was das Evangelium sagt, einerlei, ob das wirMicli mit 
dem bistorisclien Befunde des Symbols stimmt. DalJ ich. 
ein solches Verfahren geschiclitlicli nicKt fiir statthaffc halte, 
habe icb bereits ausgefdhrt. Unter dieser Bedingung konnte 
man sicb auch auf das Tridentinum verpflicbten lassen. 
Aber diese Seite der Sacbe mag hier auf sick beniken; ick 
gebe sogar zu, daiJ, solange wir nicbt ein kurzes evan- 
geHsckes Bekenntnis baben, es — innerbalb des praktiscken 
Grebraucbs — angezeigt ist, Lutber zu folgen und das 
Symbol evangeksck zu versteben. Aber T>. Cremer mackt 
von dieser kircbengesckicktlicken Erlaubnis einen sekr weit- 
gekenden G-ebrauck, indem er die Praexistenz Christi als 
den Hauptinkalt des Symbols ersckeinen laCt, und indem 
er andrerseits den Gegnern ein bereits formukertes Symbol 
untersckiebt, um mit der triumpbierenden Frage zu enden: 
„"Wird man dann nock wagen zu bekennen: ick glaube an 
eine Vergebung der Sunden und ein ewiges Leben?" Uber 
jenes nock ein kurzes Wort; iiber das erfundene Symbol 
mockte ick sckweigen, da dieses Symbol nickt meines ist. 
Die Praexistenz — ick erklare zunackst offen, daJJ es 
mir sckwer wird, dariiber zu sckreiben, zumal in einer 
Streitsckrift. Einen Spruck, wie den: „SeHg sind di<e reines 
Herzens sind; denn sie werden Gott sckauen" zu bedenken, 
ist mekr wert als alle tkeologiscken Erwagungen iiber die 
Praexistenz. Auck kat Jesus Ckristus nickt das Grekeimnis 
seiner Person in den Mittelpunkt des Evangekums gestellt, 
sondern Gott den Vater und sick selbst, wie er mensck- 
kckem Auge und Okr imd mensckkckem Sinn zugangHck 
war. Und die Seligkeit kat er denen zugesprocken, die 
den Willen seines Vaters im Himmel tun, nackdem sie den 
Vater am Sokne erkannt kaben. Dennock bin ick weit 
entfernt, gering von den Gedanken zu denken, die in der 
Vorstellung von der ^Praexistenz" einen Ausdruck gefunden 



Antwort auf die Streitsolirift Cremers. 295 

haben. Sie fiihren bis in das innerste Heiligtuiii der Reli- 
gion binein. 

Es handelt sich bier aber nicbt um eia bistorisches 
Urteil — mit der gemeinen Gescbicbte bat die Frage gar 
nicbts !zu tun — , aucb nicbt nm ein Urteil aus der Region 
des Verstandes, sondern um ein Urteil des G-laubens nnd 
um ein Zengnis aus der Welt des innern Lebens. Schon 
das Bekenntnis „Cbristus meia Herr" ist ein solcbes. Man 
soil es nicbt anders auf die Lippen nebmen, als indem 
man die Scbauer der Majestat Gottes und den Reicbtum 
seiner Liebe empfindet, sonst ist's eine lose Rede und eine 
klingende Scbelle. Icb fiible eruen beifien Scbmerz, indem 
icb in Zeitungsinseraten und Massenkundgebungen die tief- 
sten und bocbsten Bekenntnisse des cbristlicben Glaubens 
zornig oder kaltbliitig ausgesprocben lese; denn dadurcb 
werden sie profaniert: wieviel wirkbcbes cbristlicbes Leben 
und wabrbaftiger Reicbtum in Gott stebt denn b inter dieser 
Bewegung der Lippen? Sind die alle, die jetzt laut be- 
kennen: „ wabrbaftiger Gott vom Vater ia Ewigkeit geboren 
und aucb wabrbaftiger Menscb von der Jungfrau Maria 
geboren", innerbcb berecbtigt, ibren Namen unter dies Be- 
kenntnis zu setzen? Icb babe Manner gekannt und kenne 
sie nocb, die es durften, aucb in Zeitungen durften; denn 
ibr ganzes Leben war erfiillt von diesem Glauben. Aber 
sollten ibrer so viele sein? Ware ein demiitiges Bekenntnis, 
das wirkbcb Ausdruck des eignen innern Lebens ist, nicbt 
mebr, wenn es gilt Unglauben, vermeintlicben oder wirk- 
licben, zuriickzuweisen? Icb glaube bierin mit D. Cremer 
nacb dem, was er S. 39 gescbrieben bat, einig zu sein. 
Zur Sacbe aber mag mit der Zuruckbaltung, die ein solcbes 
Wort fordert, folgendes gesagt sein: Wer an einen person- 
licben Gott glaubt und in ibm lebt, der stellt nicbt nur 
die Gescbicbte des eignen Lebens, sondern aucb das Stiick 
Menscbb.eitsgescbicbte, das er kennt, unter dieses Licbt und 
scbaut sie unter dem Gesicbtspunkte der Ewigkeit an. Er 



296 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

bekennt mit dem Psalmisten: „Deme Augen sahen mich, 
da ich. noch. unbereitet war," und er versteht, was der 
Apostel meint, wenn er spriclit: „Von ihra und durch ilm 
und zu ilini sind alle Dinge." "Wer aber Gott als seinen 
Vater in Christus gefunden hat und darum Christus als 
den Herrn bekennt, der ist gewiiJ, dafi Mer das Grebeunnis 
entscHeiert ist, das wix an unsrer eignen Seele als Bestim- 
mung ahnen, daC wir nicht in die Zeit geboren, sondern 
in die Ewigkeit: wir soUen das werden, was er war und 
ist, ein Menscb der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott 
ist. Der Glaube an Jesus Christus kann nicht der rechte 
sein, der nicht im Fortgang seiner Erkenntnis auf diese 
Erkenntnis, die iiber aller „natiirhchen" Geschichte liegt, 
gefuhrt wird und sie als ein teures Gut festhalt. Aber 
wie unfahig sind Verstand und Phantasie, dies Geheimnis 
zu fassen! Wie verschiedenartig haben es schon die alte- 
sten Zeugen beschrieben, von jenem "Wort aus dem ersten 
Petrusbrief an: „Der zuvor versehen ist, ehe der Welt 
Grund gelegt ward," bis zu dem Johanneischen : „Im An- 
fang war das Wort!" Nicht auf die Eassung kommt es 
an, sondern auf die Ehrfurcht, mit der man das Geheimnis 
der Person Christi umfaCt und das eigne Leben unter den 
Geist Christi beugt. Er ist der Sohn Gottes, und wir 
kennen ihn nur als den zu uns Gekommenen, der nicht 
von uns ist, obschon er unser Bruder ist. Nicht die Natur 
bindet oder trennt unter geistigen Wesen, sondern das, was 
wir den innern Menschen nennen. In der Natur ist er 
uns gleich; aber der Christus „nach dem Geist" ist ein 
andrer als wir: unser Herr. Mehr vermag ich nicht zu 
sagen; denn wer ohne Erfahrung oder Empfindung hier 
etwas sagen woUte, wird zum Sophisten; ich wiU aber 
gerne jedem lauschen, der mit Erfahrung und Empfindung 
hier mehr zu sagen versteht. Nur dafi er uns nicht mit 
einer Formel binde und meine, er habe das Ratsel gelost 
nnd den absoluten Ausdruck gefunden. Es ist nicht notig, 



Antwort auf die Streitschrift Cremers. 297 

es ist niclit moglich, daU das "Wahre, von dem unsre Seele 
lebt, sicli in einer Formel verkorpere; schon gernig, wenn 
es nns innerlicli ergreiffc und dauernd fiir die Ewigkeit 
stimmt. Wenn eine einzige Siinde ein ganzes, reiches, 
imposantes Leben zu zertriinimern vermag, nnd umgekehrt 
ein StraM Gottes ein armes nnd gebrochenes Leben er- 
traglich. macben, ja in Freude verwandeln kann, so ist es 
gewiiJ, daC das Gute, trotz allem Scbein, der dagegen 
spricbt, die Herzen und damit die "Welt regiert, nnd daiJ 
das Bose das einzige tJbel ist. Jenes Griite aber ist nicbt 
eine Abstraktion, sondern ist nur als personlicbes Leben 
nnd personlicher Wille vorbanden. Wir abnen es in vielen 
Menscben; aber aufgegangen ist es nns als eine nnd als 
nnsre Wirldicbkeit in Jesus Cbristus. Eben darum stellen 
wir ibn auf die Seite Grottes und nicbt auf die Seite der 
Welt. Dort seben wir ibn steben, wo Gott das Weltall 
anfgericbtet und die Menscbbeit gescbaffen bat, um das 
Eeicb der Geister zu sicb zu fiibren. 

Wem die Herrlicbkeit des cbristlicben Glaubens nicbt 
aufgegangen ist, der bait das fiir eine Torbeit, und icb 
farcbte, aucb mancbe von denen balten es fiir eine Torbeit, 
die, wo sie ibre dogmatiscbe Formel nicbt vernebmen, 
nicbts boren, als Nein oder eine grundlose Rede. Hat docb 
nocb neulicb ein bervorragender ortbodoxer Tbeologe das 
iibermiitige Wort wider uns ausgesprocben, unser cbrist- 
licber Glaube berube auf einer „ Suggestion", da wir den 
breiten scbolastiscben Untergrund verwerfen, den er teils 
■iibemommen, teils mit vieler Kunst und Miibe sicb selbst 
gezinunert bat. Wir lassen uns das bose Wort gefallen, wie 
aucb das andre vom „Historizismus". Solange sie uns nicbt 
versteben, miCversteben sie uns immer nocb am wenigsten, 
wenn sie uns mit Historizismus und Suggestion scbelten. 



Icb bin zu Ende — man kann in der Religion nicbt 
alles sagen; denn sie ist ein Leben, und ein gutes Stuck 



298 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II. 

dieses unsers Innenlebens ist uns selber ein Greheimnis. 
Ausspreclieii sollen ■wir nur, was den andern zugute kommt; 
das Tiefste mussen wir fiii" uns behalten; aber Grott gebe, 
daC es auf das, was wir tun, wie der mUde Schein einer 
verborgnen Sonne seinen Grlanz breite. Was wir sagen 
konnen, das wechselt mit den Zeitaltern in seinen Formen, 
wenn auch. der Gelialt derselbe bleibt. "Wir sind eben jetzt 
wieder in einer Krisis; umso angstliclier klammern sicK 
viele der Besten an die Formeln. Diese Formeln mogen 
bleiben, solange nocb. ein Tropfen Leben in ihnen ist; aber 
das intellektualistische Zeitalter der Religion wird docL. 
abgelost werden durcb ein andres, das freier sein, aber es 
dem einzelnen sehwerer machen wird, dem Ernst der Reli- 
gion zu entiiieKen. Unterdessen haben wir Theologen die 
Aufgabe, den cbristlicben Glauben sowohl in seinen alten 
Formen zu deuten und verstandlich. zu macben, als den 
gebieteriscben Winken der Greschichte zu folgen und in 
neuer Weise alte Wahrheit zu lebxen. In der Bemubung 
um jene Aufgabe weiC ich mich mit meinem Gregner in 
mancber Hinsicbt einig, wabrend ich zugleicb, wie er, 
scbmerzlicb den Verzicbt empiinde, zu voller Einigkeit zu 
gelangen. In solchen Stunden, wo mir die Verschiedenbeit 
der religiosen Erkenntnisse und der kircblichen Ajrbeit^ das 
Heer der MiBverstandnisse und das Heer widerstreitender 
Gredanken auf die Seele fallt, troste icb micb mit den tief- 
empfundnen Versen eines Mannes, der es achtzig Jahre 
ausgebalten bat und nicbt stumpf, matt oder erbittert ge- 
worden ist: 

Zielm wir nun die acMzig Jahr 

Durch. des Lebens Milhen, 

Mussen auch im Silberhaar 

Unsre Pfltlgo ziehen. 

Fiihrt doch durch des Lebens Tor 

Traun, so manche Gleise, 

Ziehn wir einst im Engelcbor 

Gebt's nach einer Weise. 



ADOLF HARNACK • EEDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND . ZWEITE ABTEILUNG ^m 



AUFSATZE: III 
ALS DIE ZEIT ERFULLET WAR. 

DER HEILAND 



ErschieueiL in der: „Clmstliclien "Welt" 1899 :N'r. 51 und 1900 Nr. 2. 



Als die Zeit erfiillet war. 

„Dieser Tag tat der ganzen Welt ein andres Aussehen 
gegeben; sie ware dem Untergang verf alien, wenn nicht 
in dem mm Gebornen fur aUe Menschen ein gemeinsames 
Gliick anfgestrahlt ware." 

„E,iclitig urteilt, wer in diesem Grebnrtstag den Anfang 
des Lebens nnd aller Lebenskrafte fiir sich. erkennt; mm 
endlich. ist die Zeit vorbei, da man es bereuen muCte, ge- 
boren zn sein." 

„Von keinem andern Tage empfangt der etnzelne und 
die Q-esamtheit soviel Griites als von diesem alien gleicb 
gliicldichen Greburtstage." 

„Unmoglich ist es, in gebiilirender "Weise Dank zu. 
sagen fiir die so groBen "WoMtaten, welcbe dieser Tag ge- 
bracM bat." 

„Die Vorsekung, die iiber aUem im Leben waltet, bat 
diesen Mann zum Heile der Menscben mit solcben Graben 
erfiillt, daC sie ibn uns und den kommenden G-escblecbtern 
als Heiland gesandt bat; aller Febde wird er ein Ende 
macben imd alles berrlicb ansgestalten." 

„In seiner Erscheinung sind die Hof&iungen der Vor- 
fabren erfiillt; er bat nicbt nur die friibern Wobltater der 
Menscbbeit samtbcb iibertroffen, sondern es ist aucb un- 
moglicb, daC je ein GrroCerer kame." 

„Der Geburtstag des Grottes bat fiir die Welt die an 
ihn sich kniipfenden Freiidenbotscbaffcen [EvangeUen] ber- 
aufgefiibrt." 



302 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IH. 

„Von seiner Greburt mufi eine neue Zeitreclmuiag be- 
ginnen. " 

Von wem wird hier gesproclien? Wer ist der Welt- 
lieiland, der hier begriifit iind gefeiert wird? Der romische 
Kaiser! "Wo ist so von ibm geredet worden? In der Pro- 
vinz Asien! Und wann hat man ihn so verherrKcht? Um 
das Jahr 9 vor Christi Geburt! 

Wem sind bei diesen Woirten nicht nnsre alten Weih- 
nachtsspriiche nnd -lieder eingefallen? „Das ewge licht 
geht da herein, gibt der Welt einen nenen Scheia;' „Ich 
lag in schweren Banden, du kommst und machst mich 
los;" „Was der alten Vater Schar hochste Lust und Sehn- 
sucht war." Und weiter: „Siehe ich verkiindige euch groCe 
Freude, die aUem Volke widerfahren wird." „Wir singen 
dir, Immanuel, du Friedefiirst" usw. Die oben mitgeteilten 
Satze klingen wie Reminiszenzen aus ihn en, und doch sind 
sie lange vor ihnen, lange vor unsern EvangeHen, ja noch 
vor Christi G-eburt geschrieben. 

DaC unter dem Kaiser Augustus in der Provinz Klein- 
asien der JuHanische Kalender eingefiihrt, und daU dieses 
Ereignis durch Tafeln mit Inschriften, die in den Stadten 
aufgesteUt wurden, verkiindigt worden ist, wuJJte man seit 
langerer Zeit. Reste solcher, von dem asiatischen Landtage 
gesetzter Inschriften kannte man aus Apamea, Eumenea 
und Dorylaum, aber sie waren triimmerhaft. Nun ist von der 
deutschen Expedition eine fast vollstandig erhaltene grie- 
chische Inschrift (84 Zeilen lang) in Priene entdeckt worden, 
und Mommsen und von Wilamowitz-MoUendorff haben sie in 
den MitteUungen des Kaiserhch Deutschen Archaologischen 
Instituts (Athenische Abteilung) Bd. 23, Heft 3, Seite 275 
bis 293 herausgegeben und bearbeitet. Die Inschrift zer- 
faUt in zwei Teile. Der erste enthalt den Antrag des 
Statthalters an den Landtag Asiens wegen der Kalender- 
veranderung, der zweite den BeschluJl des Landtags: der 
Jahresanfang und der Antrittstag fur samtliche Magistrate 



Als die Zeit erfiillet war. 303 

soil auf den 23. September verlegt werden, den Geburtstag 
des Kaisers Augustus. Mommsen hat gezeigt, daU die In- 
schrift zwischen die Jakre 11 und 2 vor Christi Geburt, 
vahrsclieiTilicli aber ia das Jakr 9 faUt. Dieser Inschrift 
sind die oben iibersetzten Stiicke entnormnen. Wilamowitz 
bat natiirlicb die Bedeutung, die sie fiir die Q-eschicbte der 
religiosen Spracbe und tnsbesondre fur die AusbOdung der 
christliclien Sprache baben, sofort erkannt. Er bat dazu 
eine andre Inscbrift (aus Halikarnafi) vergHcben, die sicb 
jetzt im Britiscben Museum befindet (So. 994). Sie lautet: 

„Da die ewige und unsterbKcbe Natur des Alls [die 
Grottbeit] den Menscben das bocbste G-ut zu ibren iiber- 
scbwanglicben Wobltaten bescberte, bat sie, damit tinser 
Leben gliicMicb werde, den Oasar Augustus uns gebracbt, 
der der Vater seines Vaterlandes, der gottbcben Roma, ist, 
der vaterlicbe Zeus aber und Heiland des ganzen Menscben- 
gescblecbts, dessen Vorsebung die Gebete aller nicbt nur 
erfuUt, sondern aucb iibertroifen bat. Denn es erfreuen 
sicb Land und Meer des Friedens; die Stadte blubn in 
woblgeordnetem Zustande, in Eintracbt und in Reicbtum; 
jeglicbes Grute ist in HuUe und Fiille vorbanden . . . Usw." 

Der Weltbeiland, der Kaiser, bat der Welt den Frieden 
gebracbt und fiibrt das goldne Zeitalter berauf ! Wilamo- 
witz meint, niemand diirfe diese Rebgion in ibrer Auf- 
ricbtigkeit bezweifeln: 

„Wenn der Kaiser selbst den Grlauben ausgesprocben 
bat: ,Gottes Gnade wird micb iu die bimmliscbe Glorie 
binauffubren" (Sueton, Augustus 71), so batten die dank- 
baren Asiaten diesen Glauben scbon jetzt." 

Ob die Aufricbtigkeit wirkbeb so unzweifelbaffc ist, 
mag dabingestellt bleiben; aber unzweifelbaft richtig ist es, 
wenn Wilamowitz fortfabrt: 

jj Tm Hintergrunde dieser ReHgiositat stebt die stoiscbe 
„Vorsebung", die der Welt den Heiland sendet, den man 
als „vaterlicben Zeus" bezeicbnet, weU er in Rom „Vater 



304 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III. 

des Vaterlands" heiUt. "Wenn vor seinem Erscliemeii die 
Mensclieii im Chaos der Revolutioii*) nur wiinscliteii, niclit 
geboren zu sein, so ist es jetzt eine Freude, zu leben. Und 
mit der Freudenbotscliaft, den ^Evangelien" , hat der Tag 
begonnen, wo der "Welt der Heiland geboren ward. DaB 
diese Anschauung und dieser Ansdruck griechisch ist, daC 
gerade Asien mn Christi G-eburt in diesem Grlauben lebte, 
diirfte keine geringe Bedeutnng haben." 

In der Tat — diese Inschrift ist fiir die Geschichte 
des nChristentums" nngleich wichtiger als die meisten christ- 
hchen Insehriften. Sie lehrt nns anfs neue und eindnicks- 
voller als irgend ein friiheres Dokument, welchen Umfang 
wir dem Satze „Als die Zeit erfiillet war" zn geben haben. 
Als der Apostel Paulus seine groJJe Mission in Asien unter- 
nahm, da konnte man schon seit fast zwei Menschenaltern 
auf den Marktplatzen aUer bedeutendern Stadte Asiens diese 
Inschrift lesen von dem Weltheiland, der erschienen sei, der 
die sehnsiichtigen Wiinsehe aller erfiiUe, der dem Menschen- 
geschlecht den Frieden bringe, ja das Leben erst lebens- 
wert mache. Wenn wir nachmals diese Sprache als christ- 
liche lesen und heute nux als christliche empfinden, so irren 
wir uns: sie ist von den Grriechen gepragt und zuerst auf 
den Casar Augustus gemiinzt worden. Das Ohristentum 
hat sie einfach ubernommen und auf Jesus Christus iiber- 
tragen. Das konnte geschehen und das durfte geschehen; 
denn die rehgiose Sehnsucht hatte hier eine Tiefe, die 
rehgiose Hoffnung einen Umfang, die rehgiose Sprache eine 
Kraft gewonnen, die sie zum Ausdruck einer geistigen 
Weltrehgion fahig machten. 

Aber aUes dies war angeschlossen an den Kaiserkultus ; 
er gab den Worten doch ein eudamonistisch-pohtisches G-e- 

*) Ob nur an das Chaos der Eevolution zu denken ist? Ob sioli 
niclit in dem Gestandnis „nun braucbt man es niobt mehr zu bereuen, 
geboren zu sein", ein tiefer Pessimismus in Bezug auf das Leben iiber- 
baupt ausspricbt? 



Als die Zeit erfiillet war. 305 

prage und liefi den Missionaren, die vom Alten Testament 
und vom Evangelium her kamen, diese Religion als eine 
Spottgeburt erscheinen. Paulus hat darum nirgendwo an 
den Kaiserkult angekniipft, so veiiockend as sein mochte, 
von ihm auszugehen, sondern an „den unbekannten G-ott". 
Er hat auch jene religiose Sprache des Kaiserkultns, so 
zweckmalJig es scheinen konnte, sie als G-efaB fur die 
Predigt von Jesus Christus zu gebrauchen, noch nicht be- 
ntitzt. Erst in den Pastoralbriefen, bei Lukas und bei Jo- 
hannes zeigt sich eine Annaherung an sie. Dann gewinnt 
sie die Oberhand. Aber indem man sie annahm, weil sie 
in so majestatischen Hymnen den "WeltheUand feierte, be- 
kampfte man um so naehdriickhcher den Kaiserkultns selbst. 
Man nahm ihm die Waffen "weg; man bekampfte ibn mit 
den eigenen Waffen. Der Kampf des Christentums gegen 
das Heidentum war im zweiten Jahrhundert ein Kampf 
gegen die Religion des Kaiser-Heilands. AJle iibrigen Reh- 
gionen kamen als Eeinde eigenthch gar nicht in Betracht, 
und wenn der Apokalyptiker Johannes an die Gremeinde 
von Pergamum schreibt: „Ich weiC, "wo du wohnst — wo 
der Thron des Satans ist", so meint er den Kaiserkult, der 
in jener Stadt seinen Hauptsitz hatte. Nur ein Apologet 
des zweiten Jahrhunderts, der Bischof Mehto in der klein- 
asiatischen Stadt Sardes, hat sich (in einer hochst bedenk- 
hchen Ausfuhrung, die uns Eusebius in seiner Kirchen- 
geschichte mit Beifall aufbewahrt hat) dazu verleiten lassen, 
die Verkiindigung vom Weltheiland Augustus, die auch er 
in Sardes auf einer Prun kins chrif t gelesen haben wird, 
friedHch mit der Predigt von Jesus Christus zu verbinden 
und von der Milchschwesterschaft des Kaiserreichs und des 
Christentums zu sprechen. Er hat mit Hilfe jener Inschrift, 
oder einer ahnlichen, das Thema „ Augustus — Jesus Chri- 
stus", das Lukas angeschlagen hatte, in einer Weise aus- 
gefuhrt, die dieser weit von sich gewiesen hatte: die "Welt 
hat nach diesem Bischofe zwei Heilande, die gleichzeitig 

Harnack, Eeden und Aufsatze. I. ^^ 



306 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III. 

erschienen sind, den Augustus und den Christus! Zum 
Gliick sind iTim wenige Christen damals nocli in dieser 
Richtung gefolgt. 

Aber die Spraclie des Kaiserkidtus ist die ckristliclie 
geworden. Wir beklagen das nicht; sonst miiCten wir sie 
heute abstreifen; aber wir haben keine bessere. Oder ist's 
moglicli, liberall zu der schlichten Spraclie zuriickzukehren, 
die Christus selbst gesprochen hat? Vielleicht ist das 
kommenden Greschlechtem beschieden. Einstweilen lemen 
wir, jedem das Seine zu geben, und erkennen immer mehr, 
in welchem MaJJe die G-efaUe vorbereitet waren, um das 
Evangelium aufzunehmen. Aber noch mehr: das Evan- 
gehum selbst steUt gleichsam nur einen neuen, entscheiden- 
den Kraftpunkt dar. Das meiste von dem, was wir sonst 
noch der Originahtat des Christentums zuschreiben, lag 
langst teils im Judentum, teUs in der emsten reKgiosen 
Arbeit der Grriechen fertig vor und wurde von der Kraft 
des Evangehums einfach in Beschlag genommen. So ent- 
stand das .Christentum". 



Der Heiland. 

In dem Meinen Aufsatz „Als die Zeit erfiillet war" 
(Ohristl. "Welt 1899 Nr. 51) tabe ich auf Grund einer neu- 
entdeckten Inschriffc vom Jahr 9 vor Chxisti Geburt gezeigt, 
daC unsre religiose Spraehe in Bezug auf Jesus Christus 
Lhre Vorbereitung auch. an der reUgiosen Spraclie der Grie- 
chen gebabt hat. Genauer nocb. muJB man sagen, daiJ die 
Ckristenlieit seit dem Ausgang des ersten Jahrliunderts 
besonders solcbe Begriffe und "Worte bevorzugte, die ihr 
sowoUl von dem Alten Testament als von den Griecben 
identisch geboten wurden. Es ist namlich. eine der wicbtig- 
sten rebgionsgescbicbtlicben Erkenntnisse, daC sicb im Zeit- 
alter der Entstebung des Cbristentums anf der jiidiscben 
nnd auf der griecbiscben Linie zablreicbe religiose Begriffe 
und Ausdriicke finden, die sicb decken und also einfacb 
ineinander iibergeben konnten. Diese merkwiirdige Er- 
scbeinung ist zum Teil dadurcb bedingt gewesen, daC das 
Griecbentum seit den Tagen Alexanders des GrolJen auf 
das Judentum eingewirkt bat, nnd daB in bescbeidenen 
Grenzen aucb das Umgekebrte der FaU gewesen ist. Aber 
ein anderer Teil der Erscbeinungen laJJt sicb so nicbt er- 
klaren; vielmebr bat die inner e Entwicklung der Religion 
dort und bier dieselben Empfindungen, Erkenntnisse und 
Ausdriicke bervorgerufen. Die wicbtige Aufgabe, alle diese 
Begriffe nnd Worte zusammenzusteUen, um sie eiubeitlicb 
zu iiberscbauen, ist bisber nocb nicbt in Angriff genommen, 
gescbweige gelost. TJnd docb wird man erst dann ein 

20* 



308 Erster Band, zweite Abteilung. Aufgatze: IH. 

siclieres Urteil liber die Originalitat nnd iiber die Anpas- 
sungskraft des Evangeliums gewinnen konnen. 

Der ProzeC aber, wie die altesten Christen Schritt fiir 
Schxitt die religiose Spraclie der G-riecben aufgenommen 
haben, laCt sich ia seiaen friiliesteii Stadien schon im Neuen 
Testamente verfolgen, wenn man die alteren Schriften darin 
mit den jiingeren vergleicbt. Durcbweg erkennt man, daC 
Markus, Mattbaus und Paulus am wenigsten von der reli- 
giosen Spracbe der Griecben beeinfluCt waren, wabrend 
Lnkas, Jobannes nnd namentlicb der Verfasser der Pastoral- 
briefe nnd des 2. Petrusbriefs viel starker von ibr abbangig 
sind. Es ist ein neuer Beweis fiir die wunderbare Origi- 
nabtat und Kraft des Paulus, daC er, obgleicb er Jabr- 
zebnte unter den Grriecben wirkte, docb aus ibrer rebgiosen 
Spracbe so wenig aufgenommen bat. Umgekebrt bat Lukas 
den Versucb gemacbt, die ibm scbon in festen Spracb- 
formen iiberbeferte evangeliscbe Gescbicbte mit scbonender 
Hand spracblieb zu korrigieren und der Empiindung, der 
Begriffswelt und dem Verstandnis der Griecben naber zu 
bringen. Darauf ist man langst aufmerksam geworden; 
in neuester Zeit aber bat namentbcb Professor Nor den in 
seinem scbonen Bucbe iiber die „antike Kunstprosa" eine 
Reibe vortreffbcber Beobacbtungen iiber diesen Punkt an- 
gesteUt. Von ganz besonderem Interesse ist iibrigens in 
dieser Ricbtung die dem Lukas eigentiimbcbe Vorgescbicbte 
Jesu (Luk. 1 u. 2). Unzweifelbaffc bat er bier eiae juden- 
cbristbcbe Quelle benutzt — es gibt kaum einen groCeren 
Abscbnitt im Neuen Testament, der uns so „alttestament- 
licb" in seiner Spracbe anmutet wie jene Kapitel — , aber 
er bat es verstanden, obne das Spracbkolorit zu verwiscben, 
so nacbzuerzablen, daC jene Verkiindigungs- und Geburts- 
gescbicbten grade aucb den ecbten Griecben besonders 
verstandbcb und erbaubcb sein mufiten. 

Im folgenden wiU ich an einem Beispiele zeigen, wie 
ein Wort sicb eingebiirgert bat, das fiir uns beute zum 



Der Hailand. 309 

eisernen Bestande der christliclien Spraclie gehort, aber 
■ursprunglich. in ikr gefeUt hat — das Wort Heiland fiir 
Jestis Christus. 

In den Evangelien des Markus und Matthaus sucM 
man es vergebens: weder im Munde Jesu noch in den Be- 
ricMen der Evangelisten kommt es vor. Freilicli, wenn 
Jesns dem Taufer Johannes anf dessen Frage, ob er der 
Messias sei, antworten lafit: „Die Blinden sehen usw.," so 
ist keine Bezeichnung fiir ihn zutreffender als die des 
„Heilandes". Alleia das Wort ist nicht gebraucht. Das 
ist nm so bemerkenswerter, als die griechische Ubersetzung 
des Alten Testaments die Bezeichnung „Heiland" (fiir Gott 
selbst) wohl kennt; erinnert sei nnr an die beruhmte Stelle 
im Hiob: „Ich weiiJ, daB mein Erloser lebt." Aber unter 
den vielen Bezeichnnngen des zukiinftigen Messias im 
Judentum fehlt die Bezeichnung ^Henand". Darum ist sie 
auch nicht in die urspriinghche evangelische Verkiindigung 
gekommen. 

Dagegen war bei den Griechen das Wort „Heiland" 
eine sehr haufige Bezeichnung der Gotter. Urspriinglich 
bedeutete es „Nothelfer" in den vielen kleinen und groJJen 
Kalamitaten des Lebens. Die Dioskuren waren die „Hei- 
lande" der Schiffer, der NU war der nHeiland" Agyptens; 
auch Feldherrn wurden mit dem Ehrentitel „Heiland" ge- 
ehrt. In dem MaBe aber als sich die Religion erweiterte 
und vertiefte, bekam auch das Attribut „Heiland" fiir die 
Gottheit eine weitere xmd tiefere Bedeutung: der Mensch 
bedarf des Heilands iiberhaupt. Gottes hochste Kraft ist, 
daC er Heiland ist; die gottliche Vorsehung ist die des 
nHenandes". So bekam die uralte Formel „Zeus der Hei- 
land", „Gott der Heiland", einen neuen umfassenden Sinn, 
und als der irdische Gott, der Kaiser, neben den Zeus trat, 
wurde auch er als Heiland, ja als Weltheiland, gefeiert. 

Grund genug fiir Paulus, die Formeln „Gott der Hei- 
land", „Christus der Heiland" beiseite zu lassen. Sie war 



310 Erster Band, z-weite Abteilung. Aufsatze: HI. 

ihin wohl nicht bezeiclmend genug. Nur z-weimal in seinen 
eciten Brief en hat er das Wort jjHeiland" fiir Christns 
gebrauckt, aber niclit als Name: Epheser 5, 23 und Pbi- 
lipper 3, 20. Die erstere Stella diirfen wir beiseite lassen 
— die Anslegung ist strittig — ; an der zweiten schreibt 
er: „Unser Staatswesen ist im Himmel, von dannen wir 
auch. den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten." Der 
Q-egensatz ist klar: „Unser Staatswesen ist niclit das ro- 
misclie Reich mit seinem Kaiser -Heiland." Weit entfernt 
also, daiJ man aus unserer Stelle entnehmen diirffce, dem 
Apostel sei der Ausdruck nHeiland" fiir Christus gelaufig 
gewesen, folgt vielmehr umgekehrt aus ihr, daB er nur um 
des G-egensatzes wiUen zu ihm gegrifFen hat. 

Aber nicht lange nach der Zeit des Paulus wurde es 
anders. Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe *) be- 
zeichnen den Umschwung, und zwar nehmen sie sowohl 
die antike (und zugleich alttestamentliche) Formel „G-ott 
der Heiland" auf, als sie auch die neue Formel „ Christus 
der Heiland", „ Christus, der Herr und Heiland" bilden. 
Lukas bietet bereits in seiner Vorgeschichte Jesu beide; er 
laflt Elisabeth (1, 47) „Gott mein Heiland" aufjubeln, und 
er hat den Satz an den Anfang der heUigen Greschichte ge- 
stellt (2, 11): „Euch ist heute der Heiland geboren." Der 
ganze Vers ist in alien seinen Worten so gestaltet, daC er 
Juden und Griechen gleich heimisch lautete — das Neue 
war, dafl „ Christus der Herr ia der Stadt Davids" dieser 
Heiland ist, dessen Erohbotschaft „allem Volke" gilt. Auch 
in der Apostelgeschichte hat Lukas noch zweimal (5, 31; 
13, 23) von dem gesprochen, „den Gott zum Eiirsten und 
Heiland" erhoben hat, oder von dem ^Heiland Jesus". 

In den Pastoralbriefen , so kurz sie sind, wird G-ott 
selbst nicht weniger als sechsmal „Gott der Heiland" ge- 



*) Diese Briefe kannen niclit von Panlus gesclirieben sein; dooh 
liegen ihnen hochst wahrsolieinlicli Paulinisclie Briefzettel zu G-ruude. 



Der Heiland. 311 

nannt, Christ-as aber heifit viermal „unser Heiland". Eine 
Stelle ist ganz besonders merkwiirdig ; denn sie lautet mit 
antiker Feierlichkeit: „"Wir erwarten die herrliche Zukunft 
Tinseres groBen G-ottes iind Heilandes Ckristus Jesus." 
Akolich. heiUt es im 2. Petrusbrief: „Unser Grott und Hei- 
land Jesus Ckristus." Dieser spate Brief ist desbalb in der 
GescbiclLte der ckristKclien Spracbe wicbtig, weil er zeigt, 
dai5 aucb der Ausdruck „Unser Herr und Heiland Jesus 
Cbristus" bereits formeDiaft geworden ist. Er kommt in 
dem kleinen Briefe nicbt weniger als viermal vor. Seitdem 
ist diese Zusammenstellung eine besonders bevorzugte in 
der Christenlieit geworden. 

Johannes aber ist es gewesen, der die Bezeichnung 
nWeltbeiland", die in der Antike auch schon bekannt war 
(fiir den Kaiser), auf Cbristus iibertragen bat. Nur zwei- 
mal findet sicb bei ibm das Wort ^Heiland", aber beide 
Male mit dem Zusatz „der "Welt". „lsricht mebr um deiner 
E,ede willen," erklaren die Samariter dem Weibe, „glauben 
wir; denn wir baben nun selbst gebort und wissen, daC 
dieser wakrbaftig der Heiland der "Welt ist" (Job. 4, 42). 
Und 1. Job. 4, 14 beiUt es: „Wir bezeugen, dafi der Vater 
den Sobn gesandt bat als Heiland der Welt." 

Jesus Ckristus trat dem Kaiser, dem Weltbeiland 
(auck „Sck6pfer und Heiland" wird Hadrian genannt), 
gegeniiber, und es erfullte sick das Wort: „Wenn ein 
starker Gewappneter seinen Palast bewakrt, so bleibt das 
Seine mit Frieden. Wenn aber ein Starkerer Hber ibn 
kommt und iiberwindet ikn, so nimmt er ikm seinen Har- 
niscb, darauf er sick verKeJJ." Der Harnisck war die 
Heilandswiirde. 



ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE 
S^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG S^ 



AUFSATZE: IV 

UBER DIE JtJNGSTEN ENTDECKUNGEN 

AUF DEM GEBIETE DER ALTESTEN 

KIRCHENGESCHICHTE 



Erschienen in: „PreuB. JahrMcter, Band 92 (1898), Heft 2". 



Ein Konig fragte einst' einen seiner Grelehrten: „Was 
gibt es Neues in Ihrer Wissenscliaft?" iind erhielt darauf 
dieGegenfrage: „KennenMajestat schondas Alte?" Die Ant- 
wort war nicht hoflicli, aber richtig; denn von dem Alten 
ist in der Wissenscliaft immer mekr zu erzahlen, als von 
dem Neuen. "Wer niir dieses kennt, weiB wenig; wer aber 
in dem Alten lebt, brancht sich nicht heiBbungrig auf das 
Neue zn stiixzen: denn er ■weLB, daC er Jenes nicbt auslernt. 
Aucb vermag nur, wer das bereits Erarbeitete beberrscht, 
Neuentdecktes wirldicb zu wiirdigen. Thm werden die 
neuen Funde wie friscbe Pflanzen in seinen Garten ge- 
setzt; der Nenigkeitsjager bebandelt sie wie abgescbnittene 
Blumen, die heute gefaUen nnd morgen scbon welk sind. 

Aber die Ermittelung nener Tatsachen ist docb wie 
in alien empiriscben Wissenscbaften, so ancb in der Ge- 
schicbtsforscbung eine wesentUcbe Bedingang ibres Fort- 
scbritts, ja die wicbtigste. Zwar mag man dariiber streiten, 
ob nicbt an diesem Fortscbritt die geniale Kraft, die Dinge 
nen nnd ricbtiger zu seben, einen groCeren Anteil bat. 
Docb der Streit ist muUig; denn nocb immer bat in den 
Wissenscbaften die zutreffendere Beurteilung und die Ent- 
deckung von Tatsacben in einer gebeimnisvollen Wecbsel- 
wirkung gestanden. Es ist nicbt zufaUig, dafi das „pbilo- 
sophiscbe" Zeitalter der Gescbicbtsscbreibung so arm gewesen 
ist in bezug auf die Erbebung neuer gescbicbtbcber Tat- 
sacben. Wer den Gescbicbtsverlauf von vornberein fertig 
im Kopfe bat, dem liegt an der Ermittelung der Tatsacben 
wenig. Nur wer entscblossen ist, sicb von ibnen leiten zu 



316 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: rV. 

lassen, der findet neue, mag audi manclier blinden Henne 
ein Korn bescliert werden. — 

Das Studium der altesten Kirchen- und christliclieii 
Literaturgeschiclite hat in imserm Jahrhundert einen macli- 
tigen Aufschwimg genommen. In der ganz besonderen 
Stellung dieser G-eschiclite liegt es begriindet, daJB jeder 
Aufschwung der GrescMclitswissenscliaft ilir vor allem zu 
gut kommt. Laufen Mer docli geschiclitliclie Interesseu 
von eminenter Bedeutung zusammen. Wie bat sicb die 
ckristlicbe Religion von ihren ersten palastinensiscben An- 
fangen zu dem maebtigen Organismus entwickelt, der als ka- 
tbobscbe Klrcbe bereits im dritten und vierten Jabrbundert 
vor uns stebt und das romiscbe Reich dann in sicb auf- 
genommen hat? Wie hat sich die griechische und ronaiscbe 
Kultur und Literatur in die christhcb - griechische und 
cbristbch - romiscbe verwandelt und in dieser rorm ihxe 
letzte Ausgestaltung empfangen? Wie beschaffen ist das 
rebgiose, pobtische und ■wissenscbaftbche Kapital — die 
Giiter und die Ideale — gewesen, welches die alte Kixche 
den jungen romanischen und germanischen Nationen iiber- 
mittelt hat, aus -welcbem sich alles das entwickelte, was 
wir Kultur des Mittelalters nennen? Wie ist es zu ver- 
steben, daC die beiden groCen kathohscben Kirchen das 
Zeitalter der Kircbenvater noch immer als ibre klassische 
Zeit verebren, was schatzen sie an ihm, inwiefern ist die 
Art und Kraft ihrer Frommigkeit von ibm abhangig? 
Welche starken Interessen verbinden auch noch den Pro- 
testantismus mit einem ganz bestimmten BUde der altesten 
Kirche? 

Der Schliissel zu diesen groCen Problemen liegt in der 
Erforschung der alten Kirchengeschichte. Daber lafit sie 
den nicht mehr los, der sicb ibr einmal ergeben hat. Wer 
bier arbeitet, deckt nicht nur eine langst begrabene Ver- 
gangenheit auf, sondern arbeitet an der Aufbellung einer 
Grescbichte, deren Hervorbringungen unter uns noch lebendig 



■fiber die iUngsten Entdookungen. 317 

sind. Darin liegt der Reiz und die Gefahr. Der Kirohen- 
historiker wird zum Kirchenpolitiker, er mag woUen oder 
nicht; denn mag er selbst auch. nock so uninteressant seia 
— den Ergebnissen seiner Arbeiten kann er das ^AktueUe" 
nicM abstreifen. 

Doch soil dieser G-edanke hier nictt weiter verfolgt 
werden. Aucb der Versuchung will ich. widerstehen, zu 
scMldern, welche Fortscbritte die Gescbicbtsschreibung der 
alten Kircbe in der Neuzeit gemacbt bat und wie vieles 
ibr nocb zu tun iibrig ist. Dagegen mocbte icb die Auf- 
merksamkeit auf zwei erfreulicbe Tatsacben lenken, die in 
engstem Zusammenbang mit dem Fortscbritt der kircben- 
gescbicbtbcben Forscbung steben. 

Die QueUen und Urkunden der Gescbicbte zu sammeln 
und in zuverlassiger Gestalt allgemein zugangKcb zu macben, 
ist die grundlegende Voraussetzung fiir alles Studium. Das 
baben scbon die Gelebrten des siebzebnten Jabrbunderts ge- 
■WTiCt und baben darnacb gebandelt. Ibre Arbeit ist in unserem 
Jabrbundert wieder aufgenommen "worden. Die „Monumenta 
Germaniae", das „Corpus Inscriptionum Graecarum", das 
J, Corpus Inscriptionum Latinarum", auf dessen Grunde 
Mommsen die romische Verfassungsgescbicbte scbaffen 
konnte, sind die vornebmsten Zeugen fiir diese Tatigkeit. 
Aber aucb der alten Kircbengescbicbte werden jetzt Samm- 
lungen von abnlicber Bedeutung gescbenkt. Seit dreiUig Jab- 
ren arbeitet die "Wiener Akademie der Wissenscbaffcen an der 
Herausgabe der lateiniscben Kircbenvater, und jiingstbat sicb 
die Berliner Akademie entscblossen, alLe griecbiscben Quellen 
und Urkunden des Cbristentums von dem apostoliscben Zeit- 
alter bis zum Anfang des vierten Jabrbunderts zu sammeln 
und berauszugeben. Die Mittel zur Durcbfiibrung dieses 
groBen Untemebmens, welcbes etwa fiirifzig Bande um- 
fassen wird, flieCen aus einer Stiftung, welcbe im Jabre 1894 
zu gunsten der Akademie erricbtet worden ist — der Heck- 
mann-Wentzel-Stif tung. Der bocbberzigen Frau, welcbe 



318 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

erkannte, daiJ auch die "Wissenscliaft den GrroBbetrieb be- 
darf, luid die ikr in unbescbranktem Vertrauen die Mittel 
dargeboten bat, sei aucb an dieser Stelle der warmste Dank 
gesagt. Scbon baben sicb Kenner der alten Ejrcben- nnd 
cbristlicben Literaturgescbicbte zusammengetan, um das 
Werk wiirdig auszufiiiren, und wir diirfen boffen, daU nocb 
vor Ablauf eines Menscbenalters samtbcbe Urkunden und 
Quellen des altesten Cbxistentums in zweckentsprecbenden ■ 
Ausgaben vorliegen werden. 

Vielleicbt batte die alte Kircbengescbicbte nicbt das 
QMck gebabt, aus den reioben Mitteln der Stiftnng bedacbt 
zu werden, wenn nicbt die zaMreicben neuen Entdeckungen, 
die in den letzten 25 Jabren gemacbt worden sind, in den 
weitesten KJreisen die Erkenntnis erweckt batten, daB bier 
ein groBes, z. T. neues Arbeitsfeld vorbegt, und daB es 
gilt, das Neue zu sammeln und mit dem Alten zu verbinden. 
Einige dieser Entdeckungen baben aucb das groCere ge- 
bUdete Publikum ujid die Tageszeitungen bescbaftigt; aber 
wenige werden eine VorsteUung davon besitzen, in welcbem, 
Umfange sicb unsere Kenntnis der altesten Kircbenge- 
scbicbte seit 1873 — dieses Jabr sei als Grrenze gewablt — 
vermebrt bat. Icb versucbe es im folgenden, eine Uber- 
sicbt iiber diesen Zuwacbs zu geben und die neuen Funde 
kurz zu cbarakterisieren. Die Ubersicbt wird lebren, daiJ 
wir mit wertvoUen Entdeckungen auf dem Gebiete der al- 
testen Kircbengescbicbte geradezu iiber scbiittet worden sind, 
und daC die Forscber Mube baben, alles das Neue aufzu- 
nebmen, was ibnen Jabr um Jabr bescbeert wird. 



1. Die Epocbe, der unsere drei ersten Evangeben an- 
geboren, ist in der G-escbicbte der cbristlicben Literatur 
die palaontologiscbe. Von Jesus Cbristus selbst bat man 
zwei Menscbenalter spater nicbts Zuverlassiges mebr zu er- 



tlber die jungsten Entdeckungen. 319 

zahlen gewuUt. Was nicht bis daliin iiber ihn aufgezeiclmet 
■worden ist, hat als geschichtliche Urkunde keinen oder 
einen sekr geringen Wert. Um so wichtiger ist es, die 
authentisclie Grestalt unserer Evangelien festzustellen, deren 
Text im zweiten Jatrliundert noch mannigfaltige Ver- 
anderimgen erfahren hat. Unsere altesten griecMschen 
Hands ckriften aber siad niclit alter als das vierte Jahr- 
hundert. Um die Liicke auszufiilleii, die zwischen den Ur- 
exemplaren und diesen Handsctriften Mafft, besafien wir 
zwar an den alten tJbersetzungen imd an Zitaten des 
zweiten und dritten Jabrhunderts eine Reihe von Hilfs- 
mitteln; aber sie reicbten docb nicbt aus, um auch mir die 
wicbtigsten Probleme in bezug auf die ursprunglicbe Text- 
gestalt der Evangelien sicber zu entscbeiden. Jetzt sind 
diese HOfsmittel durcb zwei bedentende Entdeckungen in 
•willkommenster Weise vermebrt worden: die eine kam aus 
Armenien, die andere vom Berge Sinai. 

Die Kunde, daJJ ungefabr um das Jabr 170 ein aus 
Syrien stammender Griecbe, namens Tatian, aus unseren 
vier Evangelien eine Evangehenbarmonie, d. b. eine evan- 
geliscbe Scbrift, zusammengesteUt bat, ist in der Kircbe 
nie untergegangen; aber die Scbrift selbst besaC man nicbt. 
Da wurde nacbgewiesen, daU ein in armeniscber tJber- 
setzung existierender Kommentar des Syrers Epbraem zu 
den Evangelien zu seiner Q-rundlage nicbt unsere vier 
Evangelien, sondem eben jenes Werk des Tatian babe. 
Aus diesem Kommentar belJ sicb also — wenn aucb nicbt 
vollkommen, so docb brucbstiickweise — der Evangebentext 
ermitteln, wie er dem Tatian um das Jabr 170 vorgelegen 
hat. Freihcb muBte man das Armenische erst in das 
Syrische zuriickiibersetzen und dann auf den griechischen 
Urtext scblieJJen. Dieses Verfabren macbte es an vielen 
Stellen unmogUch, die Details des Urtextes zu ermitteln; 
aber dennoch ist der Ertrag der neuen Entdeckung ein 
sebr bedeutender gewesen. An zablreichen und zwar her- 



320 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

vorragend wich.tigeii Stellen konnen wir jetzt mit Be- 
stimmtlieit sagen: so lautete in der Zeit Mark Aurels der 
evangelische Text, den Tatian gelesen hat. Aber noch 
wertvoller war der Fund, den wir einer gelehrten schottisclien 
Dame, Mrs. Lewis, verdanken. Sie fand im Jahre 1892 
in dem Kloster der heiligen Katharina anf dem Berge Sinai 
— dort, wo einst Tischendorf den berukmten griecMsclien 
Bibelkodex entdeckt hat — eine um das Jahr 400 her- 
gestellte syrische Handschrift, welche die vier Evangelien 
enthalt und aus einem griechischen Original iibersetzt ist, 
das schwerlich jiinger ist als das zweite Jahrhundert. Da 
der Text fast vollstandig erhalten ist, so ist dieser Syrus 
Sinaiticus einer der wichtigsten, ja hochst wahrscheinhch 
iiberhanpt der wichtigste Zeuge fur unsere Evangelien, 
und Merx hat recht getan, ihn in einer genauen deutschen 
Ubersetzung weitesten Kreisen zuganglich zu machen.*) 
Wer die Evangelien in dieser Glestalt liest, hat sie so vor 
sich, wie sie Christen vor 1700 Jahren gelesen haben. Be- 
merkenswert ist, daU der Text des Tatian mit diesem Text 
aufs Innigste verwandt ist, und daB beide Texte die wesent- 
liche Unversehrtheit unserer Evangehen seit der Zeit Mark 
Aurels beweisen. Allerdings bezeugen sie auch, dafi unsere 
altesten griechischen Texte des vierten Jahrhunderts in 
Einzelheiten nicht das unbedingte Vertrauen verdienen, das 
man ihnen als den altesten Originalzeugen noch immer 
schenkt. An einigen wichtigen evangehschen Stellen, in 
denen der authentische Text zweifelhaft ist, bringt auch 
der neue Zeuge keine Entscheidung. So bietet er am SchluiJ 
der Q-enealogie Jesu (Matth. 1, 16) die merkwiirdige Fassung: 
„ Jakob erzeugte den Joseph, Joseph, dem Maria, die Jung- 
frau, verlobt war, erzeugte Jesum, der Messias genannt 
wird." DaB das nicht das Urspriingliche ist, sondern be- 



*) Merx, Die vier kanonisohen Evangelien nacli ihrem altesten 
bekannten Texte. Berlin, Georg Reimer. 1897. 



tjber die jttngsten Entdeckimgen. 321 

reits eine Korrektur, ist sehr wahxsclieinlicli; aber der 
widerspruchsvolle Test letrt, dalJ hier eine Stelle vorliegt, 
deren -uxspriingliclie Fassung sehr bald einen AnstoJB ge- 
boten bat. 

Ein qualendes Ratsel der Evangelienforsdiung bietet 
der ScMuB des Markusevangeliums. DaB Markus selbst die 
Scblufiverse 9 — 20 nicht geschrieben hat, steht fest — denn 
sie fehlen in den besten Handschxiften, auch in dem Syrus 
SinaiticTis — , dafi er sein Evangelium nicht mit Kapitel 16, 
8 geschlossen hat, ist sehr wahrscheinlich. Wer hat den 
echten SchlulJ weggeschnitten und den neuen hinzugefiigt? 
"Warxmi, -wann und wo ist es geschehen? Auf diese Fragen 
Hefi sich bisher aus auCeren und inneren Griinden ant- 
worten, dafi die Manipulation bereits im Anfange des 
zweiten Jahrhunderts vorgenommen sein mufi, dafi sie nach 
Kleinasien weist und dafi vermutlich die Absicht, statt 
galilaischer Erscheinungen des Auferstandenen jerusale- 
mische zu setzen, das Motiv des Eingriffs gewesen ist. 
ifun wurde vor ein paar Jahren eine armenische Bibel- 
handschrift gefunden, in welcher das Markusevangelium 
auch mit Kapitel 16, 8 schliefit. Dann aber folgt eine 
neue TJberschrift, als beginne ein neues Evangehum; sie 
lautet „Von dem Presbyter Ariston", und nun liest man 
die Verse 9 — 20. Diesen Ariston (Aiistion) kennen wir als 
einen Herrnschiiler, der lange — wahrscheinlich in EHein- 
asien — gelebt hat und am Anfang des zweiten Jahr- 
hunderts von dem phiygischen Bischof Papias zusammen 
mit dem Presbyter Johannes als eine Autoritat fiir die 
evangehsche Greschichte genannt wird. Der unechte Markus- 
schlufi hat also in dieser armenischen Handschrift eine 
historische Etikette erhalten, gegen deren Richtigkeit sich 
nichts Stichhaltiges einwenden lafit, und die es gestattet, 
die Mutmafiungen sicherer auszusprechen, die man iiber 
den Ursprung des merkwurdigen Schlusses gehegt hat. 

Ein Forscher, Resch, hat es sich zur Lebensaufgabe 

Harnack, Keden und Aufsatze. I. 21 



322 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

gesetzt, aus der tJberlieferung der JaKrliuiiderte Spriiche 
Jesu zu sammeln, die niclit in unserem Evangelium stehen. 
Mit dem hoclisteii FleiGe hat er in den Bibliotheken ge- 
sucht Tind gesammelt und ein stattliclies Material zusammen- 
gebracht. Probehaltig in dem Sinne, daU wirklicli zuver- 
lassige Herrnworte gewonnen waren, ist fast nichts; doch 
ein halbes Dutzend oder ein Dutzend mag immerhin gelten. 
Aber auch. nur ein Wort ist ein Glewinn, welclies die auf- 
opfemdste Arbeit lohnt, und manclie niclit authentische 
Spriiche sind aus dem Gleiste Jesu oder aus der Liebe zu 
ilim geboren, groB gedacbt und zart empfunden. Die um- 
fangreiche Sammlung, die Resell vorgelegt bat, ist doch 
ein eigentumliches Denkmal der Qeschichte Jesu in der 
Kirche, und die Tatsache, dai3 sich in den Spriichen dog- 
matische Ausfiihrungen so gut wie gar nicht finden, ist 
ein schoner Beweis dafiir, daC die Legende in der Regel 
die Eigenart der Rede Jesu festgehalten und ihn selbst 
nicht in die dogmatischen Kampfe herabgezogen hat. 

Aber nicht nur die Bibhotheken haben hier Material 
gehefert. In einer groiJen Sammlung von agyptischen Pa- 
pyrus, die nach Wien gekommen ist, fand Bickell einen 
Fetzen, nicht groBer als eine halbe Visitenkarte ; aber er 
enthielt enggeschriebene kostbare Worte. Das Gresprach 
Jesu mit Petrus, in welchem diesem seine Verleugnung vor- 
hergesagt wird (Mark. 14, 26 — 30), ist auf ibm verzeichnet, 
und zwar in einer kiirzeren und altertiimKcheren Form, 
als in unseren Evangehen. Der Papyrus stammt aus dem 
zweiten oder dritten Jahrhundert, und es ist schwer glaub- 
hch, daC man eine bloBe Verkiirzung des Markustextes an- 
zunehmen hat; vielmehr liegt hier wohl die alteste Fassung 
vor, in welcher diese G-eschichte aufgezeichnet worden ist. 
Jiingst aber ist in Agypten von Grenfell und Hunt ein 
zweiter, groJJerer Papyrus mit Herrnworten gefunden worden. 
Zwar die erste Nachricht, dafi damit das Bruchstiick einer 
Quehe unserer Evangehen entdeckt worden sei, bestatigte 



tjber die jiiiigsten Entdeckungen. 323 

sich nicM: der Inlialt der Spriiche zeigte, daU sie einer se- 
kimdareii Tradition entstammen; aber es ist dock etwas ganz 
Neues, was uns hier geschenkt -worden ist — das Fragment 
einer Sammlung von SprHchen Jesu aus dem zweiten oder 
dritten Jahrliiindert, in der oline Zusammenhang Spruch 
an Spruch (ein jeder eingefiihrt durch. „Jesns spriclit") ge- 
gereiht war. Unter ihnen decken sich. einige fast ganz mit 
den kanonischen Spriichen; andere aber sind neu, und 
wenn sie anch nicht znverlassig sind, so sind sie doch 
ernsthaft imd tief nnd zeigen, wie sich die altesten Christen 
das Selbstzetignis und die sittlichen Grebote Christi ver- 
deutlicht und eingepragt haben. 

Die Kritik konnte es wahrscheinlich machen, daB diese 
Spriiche samtlich oder zu einem Teile einem sehr alten 
EvangeKum entstammen, dem Agypterevangehum , das im 
zweiten und dritten Jahrhundert ein gewisses Ansehen ge- 
nossen hat, jetzt aber bis auf wenige Bruchstiicke verloren 
ist. Die Hoffnung, daB es in Agypten wieder aufgefunden 
werden wird, ist nicht aufzugeben. Unterdessen haben wir 
von dort im Jahxe 1892 ein groBes, zusammenhangendes 
Bruchstiick einer anderen alten, fiir immer verloren ge- 
glaubten EvangeKenschrift erhalten, die der ersten Halfte 
des zweiten Jahrhunderts angehort — des Petrusevan- 
geliums. Dieser Fund — wir verdanken ihn Bouriant — 
war ein wirkhches Ereignis auf dem G-ebiete der urchrist- 
hchen Literatur. Denn seit dem dritten Jahrhundert hat 
die abendlandische Kirche auBer jungen und geschichthch 
wertlosen apokryphen „Evangelien" nichts Neues mehr zur 
Kenntnis bekommen, was sich auf die Leidens- und Aui- 
erstehungsgeschichte Jesu bezieht. Das uns geschenkte 
Bruchstiick des Petrusevangeliums enthalt aber in zu- 
sammenhangender Darstellung einen Bericht iiber dieso 
Vorgange. Es ist den meisten Lesern bekannt; denn es 
ist seiner Zeit iiberall iiber den Inhalt berichtet worden. 
Das PetrusevangeKum, wenn es auch unseren Evangehen 

21* 



324 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

gegeniiber in manclier Hinsiclit sekundar ist , erzahlt 
doch noch. die GrescMchte Jesu ganz in ikrem Stile und 
darf dalier zur ckristlichen Urliteratur gereclinet warden. 
Aiich. ist es keineswegs wakrsclieialicli, daC es ledigKch 
eine NacherzaKlung oder ein Anszug ist, vielmehr muJJ es 
als ein selbstandiger, spaterer Zweig der alten EvangeKen- 
literatnr betrachtet werden und zeigt sieb in eiazelnen 
Ziigen ibnen ebenbiirtig. Leider bricbt es gerade dort ab, 
wo wir berecbtigt sind, die wicbtigsten Anfschliisse von 
ibm zu erwarten; denn es stebt fest, daU es keine Er- 
scbeianngen Jesu in Jerusalem erzablt bat, sondern nur 
von solcben in G-ablaa wuCte. Aber eben dort, wo der 
Bericbt uber die erste Erscbeinung — und zwar vor Petrus 
und einigen anderen Jiingern — beginnt, bat ein neidiscbes 
Grescbick uns die Eortsetzung vorentbalten. 

Nicbts ist in der urcbristbcben tlberbeferung, und da- 
ber aucb in den kanoniscben Evangelien, so abweicbend 
erzablt als die Erscbeinungen Jesu nacb der Konstatierung 
des leeren Grrabes. Ort, Zeit, Personen, Zabl der Erscbei- 
nungen — aUes ist verscbieden, und daber ist das, was 
wirkbcb gescbeben ist, und wie es gescbeben ist, sicber 
iiberbaupt niobt mebr zu ermitteln. Zu den bisber be- 
kannten Bericbten bat Karl Scbmidt jiingst in einer 
alten koptiscben Handscbrift einen neuen gefunden, der 
wabrscbeiolicb der ersten Halfte des zweiten Jabrbunderts 
angebort und scbon desbalb zur Urliteratur gerecbnet 
werden muB, weil er sicb an keines der kanoniscben Evan- 
gelien bindet und die Jiinger in der ersten Person er- 
zablen laBt. Er ist dem unecbten ScbluB des Markus am 
meisten verwandt; aber er lafit den Herrn zuerst den 
Frauen erscbeiaen und erzablt aucb, Petrus babe seine 
Finger in die Nagelmale Jesu gelegt, Tbomas in den 
Lanzensticb an der Seite. So scbwankend waren nocb 
diese Bericbte. Erst nacb der Kanonisierung der vier 
Evangelien ist der FluB der Legendenbildung zum Steben 



trber die jiingsteu Entdeckungen. 325 

gekommen. Dieselbe Handschrift, in welcher Sclimidt diese 
neue Relation der Ersclieinungen Jesu ermittelt hat, ent- 
halt auch einen unbekannten Parallelbericht zu der Ge- 
sdiicMe von dem gefangenen Petrus (Apostelgesch. 12). 
Das filhrt uns zu dem apostolischen und nachapostolisclien 
Zeitalter Mniiber. 

2. Fiir das Zeitalter der Apostel itn engeren Siane 
des "Wortes liaben wir neue Quellen nicM erlialten, wolil 
aber fiir die Zeit von ca. 90 — 160 n. Ckr., und auBerdem 
ist unser Schatz von altesten, noch dem zweiten Jahrbundert 
(oder dem Anfang des dritten) angeborenden Apostel- 
Legenden sebr bedeutend vermehrt worden. Diese Legen- 
den aber sind fiir die Kenntnis der Interessen der Zeit, in 
der sie verfaUt sind, eine Quelle ersten Ranges. 

An der Spitze der Entdeckungen steht der Eund des 
griecbisclien Erzbischofs Bryennios. In einer Konstanti- 
nopolitaner Handschrift (sie befindet sich jetzt in Jerusalem) 
des elften Jahrhunderts fand er eine bisher ganz unbe- 
kannte altchristhche Schrift und zwei andere, die nur zum 
Teil bekannt waren. Jene, „Die Lehre der zwolf Apostel", 
in der ersten Halfte des zweiten Jahrhimderts verfaJJt, 
stellt eine Art von Katechismus dar; aber nicht einen 
Katechismus der Lehre, sondem ein kurzes Handbuch fiir 
das christliche Leben in seinen privaten, sozialen und kul- 
tischen Beziehungen. Eben die Absicht des Verfassers, alles 
Besondere zu vermeiden und nur die groBen Grrundziige der 
christKchen Lebenspraxis in Eorm von Normen zusammen- 
zufassen, gibt dem Biichlein einen einzigartigen Wert als 
historischer Quelle; zugleich aber erwies es sich als die 
"Wurzel einer weit verzweigten pseudapostolischen kirchen- 
rechthchen Literatur, die bis in das Mittelalter hineinreicht. 
Schon der Entdecker selbst konnte dies an zwei groJJen 
Beispielen schlagend nachweisen; von Grebhardt gelang 
es, das Bruchstiick einer lateinischen tjbersetzung aufzu- 
finden, und seitdem sind zaUreiche Umformungen und Be- 



326 Erster Band, zweite Abteiluug. Aufsatze: IV. 

arbeitungen der Meinen Schrift ans Licht getreten. Fur 
viele Probleme der GrescMclite der Mrchliohen Gresetzgebung 
hat dieser Fund den ScMiissel geboten, und nocb ist aiigen- 
scbeinlich seine Bedeutung nicht erschopft. — Die beiden 
Schriften, die erst durcb Bryennios vollstandig bekannt 
geworden sind, bieten aucli ein besonderes Interesse. Das 
alteste und vornekmste Schreiben einer cbristlichen Gremeinde 
an eine andere, der Brief der Gremeinde von Rom an die 
Korintber aus der Endzeit Domitians, war nocb vor drei- 
undzwanzig Jahren nur unvollstandig bekannt. Nur eine 
einzige Handscbrift, und zwar eine Bibelbandschrift, bot 
es, aber der SchluB fehlte. Bryennios entdeckte es zuerst 
vollstandig in jenem Manuskript, welcbes die Apostellebre 
enthalt; bald darauf wurde es in der Bibliotbek des ver- 
storbenen Pariser Gelebrten Mohl syriscb gefuuden, und 
endlicb zog es Morin aus einer belgiscben Handscbrift 
lateiniscb ans Licbt. Der nun erst bekannt gewordene 
ScUuiJ ist desbalb so wicbtig, wed er zeigt, daU das groBe 
sonntaglicbe Kircbengebet, wie es beute nocb in den moisten 
Kircben im Grebraucb ist, in seinen Grrundziigen, ja aucb 
in gewissen Detads, bereits am Ende des ersten Jabrbunderts 
entworfen war. Das andere Scbreiben aber — man zitiert 
es gewobnlicb als zweiten Brief des Clemens — , welcbes 
ebenfalls nun erst vollstandig ans Licbt trat, ist die alteste 
cbristHcbe Predigt, die wir besitzen. Es lebrt uns, wie 
man bald nacb der Mitte des zweiten Jabrbunderts in Rom 
im Sonntagsgottesdienst gepredigt bat, und ist das wicbtigste 
Dokument, um festzustellen , mit welcben Mitteln die Gre- 
meinde von ihren berufenen Grcistlicben damals erbaut 
worden ist. 

Diese drei Scbriftstiicke, die beiden Clemensbriefe und 
die „ Apostellebre", baben ein paar Jabrbunderte bindurcb 
in einigen Kircbenprovinzen beim ISTeuen Testamente ge- 
standen. Die Grescbicbte desselben und seiner bestimmten 
Umgrenzung und Uniformierung ist in den letzten zwei 



■fiber die jungsten Entdeoknngen. 327 

Jalirzelinten besonders eifrig studiert worden, und dabei 
sind viele neue Tatsachen ans Licht getreten. Mommsen 
fand in einer engliscliGn und einer Sanktgallener Handsckriffc 
ein Verzeichnis der Sckriften des neuen Testaments, wie 
dasselbe um die Mitte des 4. Jahrbunderts , kurz vor 
dem AbschlnJJ durcli Hieronymus und Augustin, im Abend- 
land gelesen wurde. De Boor konnte in einem byzanti- 
niscben, in England befindbchen Kodex ein paar neue 
Fragmente aus der Schrift des Papias naobweisen. Diese 
bis auf Heine, aber bocbst wertvoUe Brucbstiicke verlorene 
Scbrift entbielt die alteste Auslegung der Evangeben und 
ist fiir die EntstebungsgescMcbte des Neuen Testaments 
und fiir die Jobannes-Frage von besonderer Bedeutung. 
Durcb eines der von De Boor entdeckten Fragmente ist 
es deutUcb geworden, dafi sie nicbt scbon der Zeit Hadri- 
ans, sondern der der Antonine angebort. Vor allem aber 
sind zwei Scbriftstiicke entdeckt worden, die man bisber 
fast nur dem Namen nocb gekannt batte und die docb 
einst in mebreren Landeskircben ein bobes, fast kanoniscbes 
Anseben genossen baben — die „Apokalypse des Petrus' 
und „die Akten des Paulus". 

Die apokalyptiscbe Literatur der alten Earcbe verdient 
eine besondere Aufmerksamkeit; denn nicbt nur verbindet 
sie das Obristentum mit seinen jiidiscben TJrspriingen — 
die meisten Apokalypsen sind jiidiscb und von den Ckristen 
einfacb iibernommen — , sondern es treten aucb in ibr 
Stimmungen und Tendenzen deutbcb bervor, die weitver- 
breitet waren, aber in der offentlicben Lebre zuriickgedrangt 
und zuletzt durcb sie nabezu ausgetilgt -worden sind. Es 
ist daber wobl begreiflicb, daiJ ein engbscber Gelebrter, 
James, es sicb zur Lebensaufgabe gesetzt bat, alle Reste 
jener Literatur aufzuspiiren und zu sammeln. Durcb seine 
Bemiibungen und die Anderer ist unsere Kenntnis dieser 
Apokalypsen sebr vermebrt worden. Namentbch aus slavi- 
scber und aus agyptiscber Uberbeferung baben wir N"eues 



328 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

erhalten: in A VTimim in Agypten wurde von Bonriant 
ein groCes Bruclistuck der alten Henoch-Apokalypse 
grieclxiscli gefiinden, jenes Oifenbarungsbuclies, welctes im 
Judasbrief als eine Autoritat zitiert wird; ein anderes 
HenodLbuch. ist in altslaviscber Spraebe entdeckt und von 
Bonwetseh mitgeteilt worden; ans derselben tJberlieferung 
stanunt ein neues Barucbbuch; die alte, besonders "wertvolle 
Elias-Apokalypse ist koptisch aufgefunden nnd wird — 
vielleicbt zusammen mit einem Fragment einer Sopbonias- 
Apokalypse — demnacbst von Steindorff veroffentKcbt 
werden; das Brucbstiick einer interessanten Moses-Apoka- 
lypse bat Karl Scbmidt berausgegeben. Aber am wicbtig- 
sten war die Anffindung eines groCen Fragments der Petrus- 
Apokalypse; es wnrde in einem Grrabe in Akbmim entdeckt, 
und zwar in derselben Handscbrift, die das Petrusevangelimn 
(s. o.) entbalt. Die Petrusapokalypse, die freilicb ebenso- 
wenig von dem Apostel berrubrt, wie das Evangebnm, ist 
ein nraltes cbristbcbes Bucb, welcbes in Rom und Agypten 
zeitweibg ein abniicbes Anseben genoB wie die Jobannes- 
Apokalypse, aber inbaltlicb tief unter ibr stebt. Der Ver- 
fasser erzablt, wie er in den Himmel nnd in die Holle ge- 
fiibrt worden ist, um die Sebgkeit der Grerecbten und die 
Qualen der Siinder zu scbauen. Von diesem Bucbe lauft 
eine feste Kette der TJberbeferung bis zu Dantes groBem 
"Werk; aber sie steigt nocb binter der Petrus-Apokalypse 
weit binauf; denn das Tbema der Scbilderung der Unter- 
welt mit ibren Strafen ist scbon in vorcbristbcber Zeit 
den Grriecben, ja den Babyloniern bekannt gewesen. 

Mit der Entdeckung der „Akten des Paulus", die von 
der kanoniscben Apostelgescbicbte ganz verscbieden sind, 
bat es eine eigentiimliche Bewandtnis. Von diesem Werk, 
welcbes seit dem Anfang des 3. Jabrbunderts zitiert wird, 
war bis vor kurzem nur der Umfang bekannt, dazu ein 
paar kleine unbedeutende Fragmente. Nur vermuten konnte 
naan, daC zabbreicbe Paulus -Legenden, die seit Alters 



tjber die jtlngsten Entdeckungen. 329 

in der Earche mnliefen, ihre Wurzel an diesem Buche 
haben, bez. zu Dim gehoren. In den alten armenischen 
Bibebi steht nnn neben den zwei bekannten Briefen 
des Paulns an die Koriather nock ein dritter als Antwort 
anf ein, ebenfalls in das armenische Neue Testament auf- 
genommenes Scbreiben der Korintber an den Apostel. 
Beide Briefe sind durcb ein Meiaes Erzablungsstiick mit- 
einander verbunden. Der Briefwecbsel ist jedenfalls nn- 
ecbt; aber als die Tatsache seiner Existenz — nnd zwar 
in Bibeln! — im 17. Jahrhundert den abendlandiscben 
G-elekrten bekannt wurde, muCte sie notwendig Anfseben 
erregen. Mocbte der Brief des Panlus nnn ecbt oder un- 
ecbt seia — in beiden Fallen war die Sacbe beunmliigend. 
Ist er ecbt, wie konnte er in alien nicbt armeniscben Bibeln 
feblen; ist er nnecbt, wie konnte es Grott zulassen, dalJ ein 
falscber Paulnsbrief in Bibeln Aufnabme gefimden bat! 
Der gelebrte Berbner Bibbotbekar La Croze vermutete 
scbarfsinnig, der falscbe Briefwecbsel babe urspriingbcb 
in den verlorenen „Akten des Panlus" gestanden nnd sei 
von dort zn den Armeniern gelangt. Aber man beacbtete 
diese Hypotbese kanm. Da wurde in unseren Tagen nacb- 
gewiesen, daiJ ancb die alte syriscbe Kircbe im 4. und 
5. Jabrbundert den Briefwecbsel in ibrem ISTeuen Testament 
gebabt bat; ihr berubmtester Exeget, Epbraem, bat ibn in 
seinem grofien Konmientar zu den pauliniscben Briefen 
mit ansgelegt. Die armeniscbe Kircbe stand nun nicbt 
mebr aUein; aucb die syriscbe bat diese Korrespondenz 
einst nnter ibren beiligen Sebriften besessen; sie bat sicb 
nur friiber als jene davon iiberzeugt, dafi sie nnecbt sei, 
und sie wieder ausgescbieden. Kanm war diese Tatsacbe 
bekannt geworden, die die Annabme zerstorte, die Korre- 
spondenz sei ein Erzeugnis der armeniscben Kircbe, da 
pubbzierten die beiden franzosiscben Grelebrten Carriere 
und Berger eine alte lateiniscbe Ubersetzung derselben. 
Sie batte sicb in einer Bibelbandscbrift des 10. Jabr- 



330 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

hunderts in Mailand gefunden, und bald darauf gelang es 
Bratke, ein zweites Exemplar in einer Bibel zu Laon 
nachzuweisen. Also in Armenien, in Syrien und in den 
Sprengeln von MaUand und Laon war der falsche Ko- 
rintherbrief des Paulus nachgewiesen, aber nirgendwo auf 
griechiscliem Grebiet! Trotzdem nahm Zabn die Hypotbese 
La Crozes wieder auf, daiJ die Korrespondenz aus den 
griechiscb-geschriebenen „Akten des Paulus" stamme, und 
er hat Recbt bebalten; denn vor wenigen Monaten wies 
Karl Scbmidt nacb, dafi ein groBes Konvolut von kop- 
tischen Papyrus-Fragmenten aus Agypten, das nacb Hei- 
delberg gekommen war, Reste der verlorenen Paulusakten 
entbalte — er entdeckte die Unterscbrift „Akten des Pau- 
lus" — , und mitten unter diesen Bruchstiicken fand sicb 
als ein Bestandteil derselben die falscbe Korrespondenz 
des Paulus mit den Korinthern! 

Damit war festgesteUt, dafi die Falscbung nicbt jiinger 
ist als die Zeit Mark Aurels; denn spater kann man die 
„Akten des Paulus" nicbt ansetzen. Der Briefwecbsel bat 
durcb diese Datierung einen boben Wert erbalten; denn er 
zeigt nun, wie man sicb in der Cbristenbeit den Apostel 
Paulus bundert Jabi'e nacb seinem Tode gedacbt bat. Er 
ist bier als der Bekampfer des Glnostizismus vorgestelLt, 
des scblimmsten inneren Feindes, den die sicb zum. Katbo- 
bzismus entwickelnde Earcbe des zweiten Jabrbunderts be- 
sessen bat. Aber nocb ein Anderes baben wir durcb 
Scbmidts Entdeckung gelernt, nambcb, dafi eine Reibe 
von Pauluslegenden , die in zablreicben Verbreitungen und 
Verastelungen in der alten Kircbe und im Mittelalter be- 
kannt waren, ebenfalls aus den „ Paulusakten stammen und 
somit scbon dem zweiten Jabrbundert angeboren. Das 
gilt vor allem von jener anmutig erzablten NoveUe „ Pau- 
lus und Tbekla", die, langst bekannt, docb als ein Ratsel 
vor uns stand; denn aucb sie ist jetzt von Scbmidt als 
ein Bestandteil der alten „Paulusakten" nacbgewiesen. Ibr 



tjber die jiingsten Entdeckuiigen. 331 

Verfasser, ein Meinasiatischer Presbyter, war ein Fabulist, 
der unbekummert um gescMchtliche Wahrbeit, aber nicbt 
obne Talent, Paulusgeschicbten einfacb erfunden bat, um 
den Apostel zu verberrlicben und zeitgenossiscbe Gregner 
zu bekampfen. Den Rabmen seiner Erzablungen entnabm 
er teUs den neutestamentlicben Scbriffcen, teils der Zeitge- 
scbicbte, obne sicb um Anacbronismen und andere Ver- 
stoJJe Sorge zu macben. Namentlicb den vornebmen cbrist- 
licben Frauen sucbte er zu gefallen, indem er ibren Anteil 
an der Ausbreitung des Evangeliums, der ja wirkbcb nicbt 
gering gewesen ist, steigerte und sie in die innigsten per- 
sonlicben Beziebungen zu dem groCen Heidenapostel setzte. 
Fiir das Ideal der Virginitat scbwarmte er, wie spater der 
cbristlicbe NoveUist Hieronymus, und er weiB aucb scbon 
wie dieser, den platoniscben Beziebungen Reiz und Farbe 
zu geben. Neben der KJreuzigung des Fleiscbes bildete 
die leibHcbe Auferstebung eines seiner Haupttbemata; in 
den Darstellungsmitteln zeigt er sicb gewandt und viel- 
seitig: bald lai5t er Briefe scbreiben, bald legt er Novellen 
ein, bald versucbt er Sprucbreden, wie sie Jesus gebalten, 
zu kopieren und zeigt uns den groCen Apostel auf alien 
Hauptplatzen seiner Wirksamkeit, in Ikonium, Epbesus, 
Pbilippi, Korintb, Rom. Aucb mit dem Kaiser Nero fiibrt 
er ibn personbcb zusammen und scbildert zuletzt mit den 
lebbaftesten Farben die Umstande seines Martyrertodes. 
Wie merkwiirdig, daU scbon bundert Jabre nacb dem 
Tode des Paulus eine erbaulicbe noveUistiscbe Biograpbie 
von einem Geistbcben gescbrieben worden ist und in der 
Cbristenbeit solcben Anklang gefunden bat, daB das Bucb 
fast in das Neue Testament gekommen ware! Zum Grliick 
ist das nicbt gescbeben; ja sein Verfasser bat, wie uns 
Tertullian bericbtet, sein kubnes "Wagnis mit Absetzung 
biiUen miissen. Aber diese Exekution ist nicbt iiberall in 
der Kircbe bekannt geworden. So bat z. B. die agyptiscbe 
bis zum Anfang des vierten Jabrbunderts das weltlicb-geist- 



332 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

liclie Fabelbucli als ernsthafte G-escMclitserzahlung hochge- 
talten, ja ■wahrsch.eiiilicli sogar in Grottesdiensten lesen lassen. 
Die „AMen des Paulus" sind nicht die einzige apokryphe 
Apostelgeschiclite, die wir erhalten haben, wenn auch. die 
wicbtigste. Abgeseben von jiingeren Stoilen, die nns Bonnet 
zuganglicb gemacbt hat, verdanken wir Lip sins alte „Petnis- 
akten" aus einer Handschriffc in Yercelli nnd James ein gro- 
Bes Bmcbstiick von „ Jobannesakten", die er in einem Wiener 
Kodex gefunden bat. Wabrend die ersteren gut katboliscb 
sind, wenn sie aucb mancbes Befremdbcbe entbalten, und 
sicb als die Wurzel der zabkeicben Petruslegenden erwiesen 
baben, deren letzte Quelle wir friiber nicbt kannten, geboren 
die Jobannesakten, wie es scbeint, der gnostiscb-cbristlicben 
Literatur an. Aber aucb sie baben auf die Zeicbnung des 
kircbbcben Bildes der Apostel, speziell des Jobannes, einen 
bedeutenden EinfluC ausgeiibt. Vieles Extreme, was man 
bei den gemeinen Cbristen nicbt fur passend bielt, ertrug 
man nicbt nur in der Vorstellung von den Aposteln, sondem 
bob es geflissentlicb bervor, um ibre XJbermenscHicbkeit 
ins Licbt zu setzen. Eiae Weltveracbtung z. B., die bei 
einem gewobnbcben Cbristen als Veracbtung des Scbopfer- 
Grottes ausgelegt wird, ist bei einem Apostel nur ein Beweis 
seiner Welterbabenbeit, und ein asketiscber Rigorismus, auf 
den die Strafe der Exkommunikation gesetzt war, gilt bei 
Jobannes, Pbibppus oder Thomas als Zeugnis ibrer Tugend- 
strenge. — Zur Vermebrung unserer Kenntnis der „apo- 
kryphen" Stoffe gehort aucb eine deutlicbere Einsicht in 
die Entstebxmgs- und Verbreitungsgescbicbte der Legende 
von dem Briefwecbsel Jesu mit dem Konig Abgar von 
Edessa. Bekanntlich wissen unsere Evangelien nicbts da- 
von, daiJ Jesus etwas Scbxiffchcbes verfaBt hat; das Einzige, 
was er gescbrieben bat, bat er in den Sand gescbrieben 
(Gescbicbte von der Ehebrecberin). Aucb die alte kirchhcbe 
und baretische Tradition ist bier in der Legendenbildung 
sehr zuriickbaltend gewesen. Nur die Kirche von Edessa 



tjber die jiingsten Entdeckungen. 333 

in Syrien hat sehr bald, nachdem das Christen turn dort 
feste Wurzeln geschiagen hatte (um das Jahr 200) und 
selbst in das Konigshaiis gedrungen war, einen Brief des 
Konigs Abgar an Jesus — er moge zu ihm nach Edessa 
kommen und ihn heilen — und ein Antwortschreiben Jesu 
erfunden. Diese, iibrigens harmlose und in schKchten Wor- 
ten konzipierte Falschung ist der Keimpunkt fiir eine ganze 
Reihe von bunten Legenden geworden, die ihren Weg in 
alle Kirchen gefunden haben. Ganzhch aufgehellt ist noch 
langst nicht alles; aber die Forschung ist doch ein gutes 
Stiick vorwarts gekommen auf G-rund neuer Texte, die ihr 
zugefiihrt worden sind. 

3. In den Johannesakten haben wir, wie oben mit- 
geteilt, ein Bruchstiick aus der alten gnostischen Literatur 
erhalten. Diese Literatur, die im zweiten Jahrhundert sehr 
reichhaltig gewesen ist, ist fast nur in abgerissenen Frag- 
menten auf uns gekommen; denn die Earche hat die "Werke 
ihrer Feinde vernichten miissen. Den Untergang beklagen 
wir nicht nur darum, weil sich Schriften von groJJem 
wissenschaffchchen Wert und von hoher philosophisch- 
poetischer Kraft unter ihnen befunden haben, sondern vor 
allem darum, weil wir die Entstehung der kathoHschen 
Kirche des dritten Jahrhunderts nur in dem Mafie wirkhch 
durchschauen konnen, als wir uns eiue voile Einsicht in 
jene Literatur zu verschaffen vermogen; denn die katho- 
hsche Kirche, von innen betrachtet, ist nichts anderes als 
die gnostische G-egenkirche , die aber doch nicht wenig 
„Grnostisches" hat aufnehmen mussen. Um so dankbarer 
sind wu' Karl Schmidt, der uns nicht nur mit der IJber- 
setzung von zwei groBen gnostischen Originalwerken be- 
schenkt hat, die koptisch erhalten sind, sondern der auch 
jiingst aus Agypten weitere gnostische Schriften nach 
Berlin gebracht hat, von denen eine sicher nicht junger 
ist als die Zeit Mark Aurels und von L-enaus in seinem 
groCen Werk, in welchem er die Systeme der Haretiker 



33^ Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

darsteRt und widerlegt, benutzt worden ist. Unsere Kennt- 
nis des Gnostizismus hat durcli diese Funde die bedeu- 
tendste Forderung erfahren, und auch. der Znsammenliang 
und G-egensatz, der zwisclien Gnostizismus und Feuplatonis- 
mus besteht, hat ein uberraschendes Licbt empfangen und 
kann jetzt sicberer bestimmt -werden. 

4. Dem Teil der altebristlichen Literatur, welcber aus 
dem feindliclien Verbaltnis des romiscben Staats und der 
Gesellscbaft zum Cbristentum entsprungen ist, wird aucb 
von Nicbt-Tbeologen ein besonderes Interesse entgegen- 
gebracbt. In den letzten Jabren sind wir bier besonders 
reicblicb bescbenkt worden. Mcbt nur baben die Bollan- 
disten ibre seit mebr als zwei Jabrbunderten betriebene 
Arbeit, alles, was sicb auf Martyrer und Heilige beziebt, 
zu sanuneln, fortgesetzt, und uns Jabr um Jabr aucb Neues 
gebracbt, sondern man bat aucb begonnen, die in syiiscber, 
armeniscber und koptiscber Spracbe erbaltenen Martyrer- 
und Heiligenleben berauszugeben und die alten Kircben- 
kalender der Forscbung zugangbcb zu macben. Diese 
Studien sind scbon so weit gedieben, daB es mit Hilfe eines 
alten syriscben Kalenders (die Handscbrift stammt aus dem 
Anfang des funften Jabrbunderts) gebngen konnte, als die 
Wurzel der meisten Kircbenkalender einen arianiscben Ka- 
lender der Diozese Nikomedien aus der Zeit Konstantins 
zu ermitteba. Dieser fuCt bocbstwabrscbeinlicb auf den 
martyrologiscben Sammlungen des Kirchenbistorikers Euse- 
bius, die leider gr5Btenteils untergegangen sind. Dock ist 
seiae tJbersicbt iiber die palastinensiscben Martyrer zur 
Zeit Dioklatiens in zwei von ibm selbst verfaBten Gestalten, 
einer kiirzeren und einer lang-eren, die nur syriscb auf uns 
gekommen ist, erbalten. Mit Hilfe der letzteren konnte 
Violet eine Reibe bisber unbekannter oder wenig beacb- 
teter griecbiscber Martyrien auf Eusebius zuriickfubren und 
damit ibre Ecbtbeit erweisen. 

Unter den neuen Texten von Martyrerakten, die uns 



tiber die jtingsteii Entdeckungen. 335 

geschGnkt worden sind, sind namentlicli fiinf hervorzuheben. 
Aube fand in einer Pariser Handsckrift das Martyrium 
des Karpus, Papylus und der Agathonike, welches Eusebius 
in der Kirchengescliiclite zitiert hat. Es beleucMet die 
Verfolgung unter Mark Ani'el in Kleinasien und ist aus- 
gezeiclmet durch viele charakteristische Einzelziige, die fiir 
die Eigenart des asiatischen Christentnms wichtig sind. 
Eine zweite Martyrerakte, die Eusebius zitiert hat und die 
man bisher verloren glaubte, gab Conybeare aus dem 
Armenischen heraus, das Martyrium des Apollonius in Rom 
und bald fand sich auch ein griechischer Text. Dieses 
Schriftstiick ist teils der interessanten juristischen Eragen 
wegen, die es anregt, wichtig geworden, teils um der aus- 
fiihrHchen Reden willen, die Apollonius vor den Richtern 
gehalten hat. Das Martyrium fallt in die Zeit des Commo- 
dus. Ferner wurde die alteste nordafrikanische Martyrer- 
akte entdeckt, der ProzeC der Martyrer von Scili im Jahre 
181, authentisch naeh den Grerichtsakten aufgezeichnet und 
neben der lateinischen Bibeliibersetzung wohl das alteste 
Denkmal des Christentums in lateinischer Sprache. Auch 
eine griechische Rezension dieses Martyriums ist in einer 
Jerusalemer Handschrift gefunden worden und in derselben 
Handschrift eine solche des beriihmten Prozesses der Per- 
petua und Felicitas — die Aufzeichnung ihrer Leiden, 
Visionen und Gresprache ist eine der -n^ichtigsten QueUen 
fiir die alteste G-eschichte des Christentums in Karthago. 
In einer Venetianer Handschrift fand von Grebhardt die 
umfangreichste Martyrerakte, die wir fiir die Zeit des De- 
cius besitzen, die Greschichte des Pionius, ausgezeichnet 
durch die FiiUe konkreter Ziige, und Bonwetsch gab ein 
ganz einzigartiges Aktenstiick heraus, das Testament der 
vierzig Martyrer von Sebaste, und zeigte, dafl es echt und 
zuverlassig sei. 

Aber diese Funde, so willkommen sie waren, sind doch 
iiberstrahlt worden durch eine Entdeckung, die sich auch 



336 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

die kiihnste Phantasie niclit traumen lassen konnte. Wir 
wufiten aus den Kirclienvatern, daB zur Zeit der grau- 
samen Verfolgung des Decius viele Christen dem sicheren 
Tode dadurcli entronnen sind, daU sie sich fiir Greld von 
den Magistraten Bescheinigungen (libelli) ausstellen lielJen, 
sie batten geopfert, wakrend sie in "Wahrheit nicht geopfert 
batten. Die Kircbe beurteilte das als Liige und Verleugnnng, 
und nacb Ablauf der Verfolgung wurden diese nngliick- 
licben Leute teils exkommuniziert, teils mit barten Strafen 
belegt. DaC die Denkmaler ibrer Scbande, jene „Hbelli", 
bis auf unsere Zeit kommen wiirden — wer konnte daran 
denken! Und docb ist es gescbeben. Zwei dieser unscbein- 
baren Zettel baben sicb in dem alles konservierenden agjTp- 
tiscben Sande erbalten. Den ersten fand Krebs in einem 
Haufen von Papyrus, die nacb Berbn gekommen sind, den 
anderen Wessely in der Sammlung der Papyrus des Erz- 
berzogs Rainer. „Icb, Diogenes, babe stets geopfert und 
Spenden getan und in Eurer (der Beamten) Gregenwart 
von dem Opferfleiscb gegessen, und icb bitte Eucb, es mir 
zu bescbeinigen." Und nun folgt die Bescbeinigung des 
Beamten. "Wer vermag obne innere Bewegung diese Zettel 
beute zu lesen und die E'ot, den Jammer und die Seelen- 
qualen zu ermessen, unter denen die Cbristen damals zu- 
sammengebrocben sind! 

Dem triiben Bilde mag ein erbebendes folgen. Eusebius 
in seiner Kircbengescbicbte erzablt uns, dafi die ersten 
bterariscben Verteidiger des Cbristentums gegeniiber der 
beidniscben "Welt und dem romiscben Staat zwei Grriecben, 
Quadratus und Aristides, gewesen seien. Er bat ibre 
Scbutzscbriften fiir das Cbristentum, die er in die Zeit Hadrians 
setzt, nocb gekannt; uns aber galten sie bis vor kurzem 
als spurlos verloren. Da taucbte zuerst in einer armeniscben 
Handscbrift ein Brucbstiick auf, welcbes sicb als der An- 
fang der Apologie des Aristides gab. Hervorragende Ge- 
lebrte bielten es fiir unecbt, andere aber fiir ecbt. Der 



"LTber die jungsteu Entdeokungen. 337 

Streit lieJB sich. niclit entscheiden, bis Harris im Katharinen- 
Kloster auf dem Sinai die ganze Apologie in syrischer 
Ubersetzimg fand. An der Echtheit zweifelte mit Reoht 
niemand, so deutlich trug sie den Stempel des zweiten 
Jahrhunderts, und auch das armenisclie Fragment war ge- 
recMfertigt; denn wirklich bot der Syrer das betreffende 
Stuck fast gleicblautend. Die Entdeckung dieser Apologie 
■war ein Ennd ersten Ranges; denn sie ist alter als die des 
Justin; sie enthalt eine breite Schilderung des Lebens oder 
docb der Normen der Cbristenlieit um die Mitte des zweiten 
Jahrhunderts und sie erweiterte unsere Kenntnis der Apo- 
logetik der altesten Theologen sebr bedeutend ; denn Aristides 
unterscbeidet sicb in wesentlicben Stlicken von der apolo- 
getiscben Metbode seiner Nacbfolger. Eine sebr merk- 
wiirdige iiberlieferungsgescbiobtlicbe Tatsache trat aber 
gleicb nacb der Entdeckung zu tage. Man erinnerte sicb, 
Vieles, was die Aristides-Apologie bot, schon anderswo ge- 
lesen zu baben, und wies nacb, daB in eine der verbreitet- 
sten Legenden des friiben Mittelalters, die griecbiscb nieder- 
gescbrieben, aber in ein Dutzend von Spracben iibersetzt 
ist, in die Legende von Barlaam und Josapbat, ein groBer 
Teil der Rede des Aristides Aufnabme gefunden bat. Der 
Legendenscbreiber, der iibrigens auf der beriibmten Buddba- 
Legende fuBt, bat es sicb leicbt gemacht und statt eine 
Verteidigungsrede fiir das Cbristentum selbst zu verfassen, 
die Apologie des Aristides Kapitel fiir Kapitel gepliindert. 
So besaB man in jener erbaulicben Novelle bereits den 
groBten Teil der alten Scbrift, obne es zu abnen! — Aus 
dem Werke eines anderen Apologeten, der ein sebr frucbt- 
barer kircblicber Scbrifts teller gewesen ist, Melito Biscbof 
von Sardes (um 170), entdeckte der Kardinal Pitra ein 
BrucbstUck in einer venetianiscben Handschrift, und 
Mercati fand dasselbe Stiick in einer Mailander. Es 
bandelt sicb um die Scbrift iiber die Taufe, den alte- 
sten Traktat, der in der Kircbe iiber dies Sakrament ge- 

Harnack, Reden und Aufsatze. I. 22 



338 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

sckrieben worden ist, und der bisher fiir spurlos verschwun- 
den gait. 

Auf die zahlreichen christliclieii Inschriffcenfunde ist 
Mer nicht einzugehen, teUs weil das auf ein anderes Grebiet 
fukren -wiirde, teils weil fast alleliterar-historischuiibedeiiteiid 
sind. Auf altchristlicliem Gebiete spielen die Inschxiften 
niclit die hervorragende Rolle, die ilineii fiir die Profan- 
gescbiclite zukommt. Aber einige Ausnahmen sind dock 
vorhanden. So war es keine geringe Freude, als Ramsay 
in HieropoHs in Pkrygien das Grrabmal des Abercins fand, 
dessen poetisclie Inscbrift handscliriftlicli lange bekannt 
Tind liocliberiilimt war. Nun konnte man die Verse von 
dem freilicL. niclit voUkommen erhaltenen Steine selbst ab- 
lesen. Ob sie der Zeit um 200 angekoren, dariiber entstand 
keia Streit; aber eine lebbafte Kontroverse entspann sich, 
ob sie iiberliaupt cliristliclL, und wenn cbristlicli, ob ka- 
tbolisck Oder gnostiscli seien. Die Bezweiflung des christ- 
licken Cbarakters — weil in der Insclirift von der reinen 
Jungfrau, von Brot, Wein und Fisob die Rede — wurde 
zuerst wie ein Attentat auf das Heilige und zugleich. als 
absurd angesehen. Allein, wenn auch die Verteidiger die 
cbristHche Herkunft der Verse wakrscbeinlicb maclien 
konnten — die Annahme, daC Fremdes hier eingemiscbt 
sei, lieiJ sich. nicht leicht widerlegen. Zur Zeit ist ein 
Waffenstillstand eingetreten, und man muB abwarten, ob 
neue Momente geltend gemacht werden, welche die Frage 
entscheiden. 

In einem anderen Fall konnte die Literaturgeschichte 
der Inschi-iftenforschung zu Hilfe kommen. Eine oster- 
reichische wissenschaftliche Expedition fand in Arykanda 
in Lycien eine Inschrift, lateinisch und griechisch, die in 
ihrer ersten Halfte ein stark verstiimmeltes Fragment eines 
Reskripts des Kaisers Maximinus Daza, in der zweiten die 
Petition einiger Stadte bringt, der Kaiser moge gestatten, 
die Christen aus ihrem Weichbilde auszuweisen. Das Re- 



titer die jungsten Entdeokungen. 339 

skript enthalt die Grewalirmig der Bitte. Man erinnerte 
sich, dafi Eusebius in seiner Kirchengeschichte erzaUt, der 
Kaiser habe selbst solche Petitionen der Stadte veranlaCt, 
Tind daU er Proben derselben, sowie der kaiserlichen Ant- 
worten mitteilt. Eine Vergleichung mit der neuentdeckten 
Inschrift ergab sofort, daB Eusebius so zuverlassig bericlitet 
hat, daB man die Liicken der Inschrift aus seinem Texte, 
in das Lateinische zuriickiibersetzt, erganzen konnte ! Solche 
Ealle sind gewiiJ selten; aber sie sind besonders erfreulich, 
da sie die Zuverlassigkeit des Eusebius, und damit des 
wichtigsten Zeugen, den wir flir die alte Kirchengeschichte 
besitzen, beweisen. 

5. Dem Umfange nach am bedeutendsten sind die 
Entdeckungen, welche sich auf die Werke der Kirchenvater 
des dritten und des anfangenden vierten Jahrhunderts be- 
ziehen. Den systematischen und unermiidhchen Nach- 
forschungen von Achelis und Bonwetsch gelang es, die 
groBtenteils nur in Eragmenten erhaltenen Werke des ersten 
wissenschafthchen Theologen der romischen Kirche, Hippolyt, 
aus mehr als zwanzig Bibliotheken zu sammeln. Dabei 
konnte sein Kommentar zum Propheten Daniel, der friiher 
ganz iinbekannt war, aus einer slavischen Ubersetzung und 
aus groiJen griechischen Bruchstiicken vom Athos und 
aus Chalkis vollstandig wiederhergesteUt werden. Dieser 
Kommentar enthalt viele Beziehungen auf die Zeitgeschichte 
(Zeit des Kaisers Septimius Severus) und ist daher als ge- 
schichtliche Quelle von hohem Werte. Auch von dem 
Werke des Gegners Hippolyts, des romischen Presbyters 
Cajus, der gegen die Offenbarung Johannes' geschrieben, 
haben sich in einem spateren syrischen Werke Fragmente 
gefunden, die G-wynn publiziert hat — scharfe Angriffe 
auf die Grlaubwiirdigkeit des Buchs. 

Die Werke der grofien alexandrinischen Grelehrtenschule, 
die mit den Arbeiten des Clemens Alexandrinus am Ende 
des 2. Jahrhunderts beginnt, sind von der griechischen 

22* 



340 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

Kirclie nur zum kleinsten Telle konservlert worden, well 
sle haretlscli ersclilenen, z. T. aucli well ihr Umfang den 
Absckrelbem zu vlel Miilie mackte. Die Fragmente aus 
verlorenen Schrlften des Clemens hat Zahn mlt groBer 
Umslcht gesammelt und wenlg BeacMetes oder Ver- 
gesssnes ans Llckt gezogen. Fiir Orlgenes nnd seine 
Schiiler hat namentUck der Kardlnal Pltra vlel getan und 
zaklreicke exegetlscke Fragmente, besonders aus romiscken 
Blbliotkeken , veroffentllckt. Tkm folgt jetzt Kloster- 
mann, der die Reste der alttestamentllcken Kommentare 
des Orlgenes sanunelt und uns berelts mlt wlcktlgen Ent- 
deckungen besckenkt kat. Das wlssensckaftllcke Hauptwerk 
des Orlgenes 1st seine groBe textkritlscke Ausgabe des 
Alten Testaments In seeks Kolumnen gewesen. In die 
erste stellte er den kebralscken Text, in die zweite den- 
selben Text mlt grleckiscken Buckstaben gesckrleben, in 
die drltte bis seckste vier versckiedene griechiscke Uber- 
setzungen. Dieses Werk, welckes In die Blbkotkek von 
Casarea in Palastlna gekommen 1st, ist als Ganzes wakr- 
sckei nl ick nie abgesckrieben worden, aber zaklreicke Gre- 
lekrte Im 3. und 4. Jakrkunderte kaben es elngeseken und 
Lesarten von dort ubernommen. IsTur nack den Be- 
sckrelbungen konnten wir uns bis vor kurzem ein Blld 
von dleser Leistung eines staunenswerten FleiCes macken. 
Da entdeckte Mercati in der Blbkotkek zu MaHand ein 
Bruckstiick desselben — einige Psalmen, deren secksfacker 
Text nebenelnander in Kolumnen ganz so gesckrieben 1st, 
wie das von Orlgenes erzaklt wird. Nun slnd wir Im- 
stande, an dleser Absckrlft wirkkck in die alttestamentkcke 
Arbeit des groBen Grelekrten klneinzusckauen, und eben 
kommt uns die Kunde, daB von der Groltz auf dem Atkos 
elne Handsckrlft gefunden kat, die uns die Bemiikungen 
des Orlgenes um den Text des iSTeuen Testaments in einem 
neuen Lickte zelgt. Unter den Sckiilem des Origenes siad 
es namentkck Dlonysius der OroBe, G-regorlus Tkauma- 



titer die iiingsten Entdeokiingen. 341 

turgiis und Pierius, fiir die wir neues Material, tails in 
griechisclier Sprache, teils in syrischen und armenischen 
tJbersetzungen erhalten haben. Sehr willkommen ist es 
auch, dafl die Bischofe, die unmittelbar vor Athanasius 
die alexandriaische Kirche regiert haben, in ein lielleres 
Liclit treten. Zwar ist unsere Kenntnis der inneren Zn- 
stande in Alexandrien vor Ansbruch des groiJen arianischen 
Kampfes noch immer sehr gering; aber wir wissen doch 
jetzt — dank Pitra u. A. — mehr von Alexander von 
Alexandrien, dem Vorganger des Athanasius, als vor 
zwanzig Jahren, und von dessen Vorganger, Petrus, hat 
jiingst Karl Schmidt Schriften, bez. Bruchstiicke v6n 
solchen, in koptischer Sprache entdeckt, die neue Auf- 
schliisse versprechen. 

Petrus, der Bischof, war ein Gegner des Origenes; 
mit Sorge betrachtete er den Einflufi der origenistischen 
Theologie in der Kirche und suchte sie zu bekampfen. 
Einen anderen Q-egner, den Zeitgenossen des Petrus, Metho- 
dius, Bischof von Olympia, kannten wir friiher schon aus 
einigen Schriften; aber Bonwetsch hat uns aus slavischen 
TJbersetzungen bisher unbekannte Werke dieses Mannes 
zuganglich gemacht und ihn und seine Arbeit erst in das 
voile Licht geriickt. "Wir haben diesen Methodius nun als 
einen hervorragenden und einfluGreichen theologischen 
Schi-iftsteller kennen gelernt, der den Platoniker Origenes 
auch mit den Waffen Platos zu bekampfen suchte. Aber 
Origenes hatte um d. J. 300 nicht nur Anhanger und 
Gregner, sondem auch glanzende hterarische Verteidiger. 
Die bedeutendsten unter ihnen waren Pamphilus und Eusebius. 
Jener, ein reicher Mann, legte in Casarea eine groBe Bi- 
bliothek an; sie war in erster Linie dazu bestimmt, alles 
das zu konservieren, was Origenes geschrieben hat, aber 
Pamphilus sammelte auch alle Schriften, die fiir die Bibel- 
erklarung irgend welchen Nutzen versprachen. Dieser 
Bibliothek, die untergegangen ist, nach^uspiiren und solcho 



342 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

Handscliriften, namentlicli BibeLhandselirifteii, zu bestinunen 
und zu sammeln, die sich. als Abscliriften von Codices der 
casareensischen BibKothek erweisen, hat man in den letzten 
Jahren mit Gliick versucM. Die Sacbe ist von grofier 
Wichtigkeit; denn von jeder Handsckriffc, die sich. anf jene 
Bibliothek zuriickfuliren laCt, gilt, daU sie auf einem Texte 
des dritten Jahrhunderts benilit; aber auch. die ortliche Fest- 
stellung ist fiir viele textgescMcktliclie Fragen wertvoll. 

In Bezug auf das Werk eines weiteren Zeitgenossen 
des Petrus und Methodius hat Caspari eine erfreuliche 
Entdeckung gemacht. Wir kannten langst die in griechi- 
scher Sprache verfaCten Dialoge eines gewissen Adamantius 
gegen die Marcioniten und andere Haretiker und schatzten 
sie als eine wertvolle Quelle; aber die Datierung war 
schwierig: einerseits zeigten sie Merkmale, die auf eine 
Abfassung vor der Zeit des nicanischen KonzUs hinwiesen, 
andererseits fanden sich nachnicanische dogmatische Stich- 
worte in ihnen. Da entdeckte Caspari in der Bibliothek 
zu Schlettstadt eine um d. J. 400 von Ruiin angefertigte 
lateinische IJbersetzung dieser Dialoge, und sie zeigte, daC 
die griechischen Handschriften samtlich interpoliert sind; 
denn in dieser Ubersetzung fehlten jene nicanischen Stich- 
worte. IsTun war eine sichere Datierung moglich. 

Auf dem Gebiete der altlateinischen christlichen Lite- 
ratur sind die Entdeckungen langst iricht so zahlreich ge- 
wesen, wie auf dem der griechischen; aber es hat ja auch 
nur wenige lateinische christhche Schriftsteller im zweiten 
und dritten Jahrhundert gegeben. Fiir den einfluBreichsten 
unter ihnen — seine "Werke haben im Abendland ein Jahr- 
hundert lang dicht bei dem Neuen Testamente gestanden — , 
Cyprian, den ersten groBen Hierarchen, verdanken wir 
Mommsen einen wertvoUen Fund. Dieseiben Handschriften, 
in denen er ein Verzeichnis der h. Schriften fand (s. o.), 
enthalten auch eine ausfiihrhche Liste der Werke und 
Briefe Cyprians, mit Angaben iiber den Umfang jedes 



tjber die jlingsten Entdeokungen. 343 

einzelnen Stiicks. Da diese Liste der Mitte des 4. Jahr- 
Imnderts angehort, also nur ein Jalarliundert nach Cyprians 
Tode medergesclirieben ist, so ist sie ein sehr willkommenes 
HiKsmittel, una eine Einsicht in die Gescliichte der Samm- 
Iting Tind Verbreitung der Cyprianischen Scliriften zu ge- 
winnen. Neue Traktate dieses Bischofs oder solche, die 
Tinter seinem Namen gehen, sind nicht aufgetauckt; aber 
die Forschung hat sich in den letzten Jahren eigentlich 
zum erstenmal der Grruppe der pseudo cyprianischen 
Schriften zugewandt, sie gleichsam erst entdeckt nnd in 
ihnen wertvoUe Quellen fiir die Kirchengeschichte des 
dritten Jahrhunderts erkannt. Eine wirkhche Bereicherung 
nnserer Kenntnisse haben ferner die Nachforschungen ge- 
bracht, die HauUleiter iiber den verlorenen Kommentar zur 
Johannes-Apokalypse des altesten lateinischen Exegeten, 
Viktorin von Pettau (um das Jahr 300), angestellt hat, 
nnd ganz neue Aufschliisse iiber die alteste Mrchenrecht- 
liche Literatur auf dem Boden der lateinischen Kirche 
verspricht ein Fund Haula's. Er entdeckte in einem 
Veroneser Pahmpseste jene pseudapostolische Didaskaha 
in lateinischer Ubersetzung, die neben der „Apostellehre" 
eine Wurzel des altesten Kirchenrechts ist, und die 
man bisher nur als Eigentum der griechischen und syri- 
sehen Kirche gekannt hat. Da auch die „AposteUehre" 
einst lateinisch existiert hat, dann aber, wie die Didaskaha, 
fast spurlos verschwunden ist, so kommt man auf die Ver- 
mutung, daB das alteste griechische Kirchenrecht auf 
abendlandischem Boden zeitweilig eine bisher noch ganz 
unbekannte Q-eschichte erlebt hat, dafi es aber bald von 
anderen Rechtsordnungen verdrangt worden, also iiber bloCe 
Ansatze nicht hinausgekommen ist. — 



344 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

Hiermit lioffe ich eine wesentlich voUstandige IJber- 
sicht liber die Funde der letzten 25 Jahre gegeben zu 
haben; geschwiegen liabe ich von alien solcben Entdeck- 
ungen, in denen es sicL. nur um neue Handsckriften be- 
kannter Stiicke kandelt , obgleick einige von ihnen der 
Forscliung sehr wicktig geworden sind. Wie reick ist z. B. 
jetzt nnsere Kenntnis jener ui'ckristkcken romiscken Sckrift, 
die den Titel „Der Hirte" fukrt nnd einst von Grieoken, 
Lateinern und Abessyniern mit gleicker Verekrung gelesen 
worden ist! Neben etwa zwei Dutzend lateiniscken Hand- 
sckriften ist nock jiingst auf einem uralten agjrptiscken 
Papyrus ein Bruckstiick ans Lickt getreten. In welckem 
Umfange kat der grolle Forscker Caspar! die Gresckickte 
des abendlandiscken Taufsymbols, des sogenannten Sym- 
bolum Apostolicum , bereickern konnen, wie viele neue 
Texte kat er geboten! Wie zakkreick sind die Falle, in 
denen wir alteste Sckriften, die in der Originalspracke 
untergegangen, aber in Ubersetzungen erkalten sind, brnck- 
stiickweise nun wieder im. Original erkalten kaben! So be- 
saBen wir von den zwei, fiir die Gesckickte der Askese 
kockst wicktigen pseudoklementiniscken Briefen liber die 
Jungfraukckkeit nur die syriscke Ubersetzung. Cotterill 
konnte nackweisen, daJS die Halfte des Textes im Original 
in Zitaten eines spaten grieckiscken Monckes zu finden ist. 
— Dock sckon zu lange kabe ick die Greduld des Lesers in 
Anspruck genonunen; es mag gestattet sein, zum SckluC 
einige allgemeine Erwagungen anzukniipfen. Es sind etwa 
fiinfzig literariscke Funde, die uns die letzten 25 Jakre 
gebrackt kaben. Wer kat sie entdeckt? wie ist es dabei 
zugegangen? Ist es nickt moglick, aus der Beantwortung 
dieser Fragen etwas fiir die Zukunft zu lernen? 

An den Entdeckungen sind ungefakr ein kalbes Hun- 
dert G-elekrte beteiligt. Sie verteilen sick auf aUe Nationen, 
Armenier, Belgier, Deutscke, Englander, Franzosen, Grie- 
cken, Itakener und Russen. Aber den Deutscken und 



t^ber die jllngsten Entdeokungen. 345 

Englandern gebiihrt das groCte Verdienst. Das entspricht 
der Tatsache, daB die patristischen Studien bei ilinen am 
meisten bliilien und in festen Formen gepiiegt werden. 
"Wir Deutsche haben aber alle Krafte anzuspannen, dafi 
uns die Englander nicbt den Rang ablanfen: sie verfiigen 
liber grofiere Mittel, konnen jnnge Grelelirte auf Jalire in 
die Feme schicken und bei der Sache balten, wakrend sie 
bei nns in der Kegel gezwungen sind, nacb kurzem wissen- 
scliaftliclien Dienst einen praktiscben oder den Lehrberuf 
zu ergi'eifen. Berufsarbeiter fiir den wissenscliaftlicben 
GroCbetrieb , die ikr Leben einer wissenscbaftlichen Auf- 
gabe widmen und fiir sie jeder Zeit Reisen machen kon- 
nen, sind uns notig, Gelehrte, die nickt gezwungen sind, 
Vorlesungen iiber Dinge, die sie scbleclit verstehen, zu 
halten, weil die Spezialwissenscbaft, die sie in der StiUe 
bearbeiten und die sie kennen, fiir den Unterricbt unge- 
eignet ist und sie nicbt ernabrt. In jenem Jahrbundert, 
in welchem auf historischem Grebiet aucb im groBen ge- 
arbeitet worden ist, dem siebzebnten, gab es bereits Be- 
rufsarbeiter, die sich ganz ibrer Spezialaufgabe -widmen 
konnten und sich in die Hande arbeiteten, das waren die 
Mitgheder der klosterhchen Kongregationen. 

So sind die groBen wissenschaftlichen Sammelwerke 
entstanden, die wir bewundern. Fine ahnliche Einrichtung 
haben auch wir heute notig, und unsere Akademien miissen 
die Mittelpunkte werden, um die sich nichtlehrende G-e- 
lehrte, die groCe wissenschaftliche Aufgaben verfolgen, 
scharen. An den Uriiversitaten muB der Unterricht re- 
gieren; sie werden hoffenthch immer zugleich der For- 
schung dienen, aber sie konnen keinen G-elehrten brauchen, 
der nicht lehrt. Wir aber haben auch seiche Gelehrte notig, 
die nicht lehren, weO. das, was sie arbeiten, teils fiir den 
Unterricht zu speziell ist, teils noch nicht reif genug. Das 
SpeziaHstentum , iiber welches an unseren Universitaten 
nicht ohne Grand geklagt wird, und dessen schadliche 



346 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

Folgen sich bis in die Organisation des lioheren Priifungs- 
wesens erstrecken, ist eine Folge des Ubelstandes , daC bei 
nns jeder Gelelirter des Brotes wegen an die Universitat 
geben rniuS, wenn er sein Leben der Wissenschaft weihen 
will. GewiC haben unsere XJniversitaten dadarch viel ge- 
"wonnen; aber nachgerade hat sicb die wissenschaftliclie 
Arbeit so spezialisiert, dafi die XJniversitaten sie niclit mehr 
allein zn umspannen vermogen, obne ikre oberste Aufgabe 
zu scbadigen. Der Staat wird somit in der Pflege der 
Wissenscliaften und der XJniversitaten einen gewaltigen 
Scbritt vorwarts tun, wenn er neben diesen ein zweites 
Zentrum fiir jene sebafft und den Akademien die Mittel 
gewahrt, einen Stab von Grelebrten dauernd um sich. zu 
sanuneln, die, materiell sicher gestellt, ihr ganzes Leben 
und ihre ganze Kraft einer groBen Spezialaufgabe weihen 
konnen. Mit Zuversicht blicken wir auf das preuBische 
Unterrichtsministerium , welches, verstandnisvoU und tat- 
kraftig , stets den neuen Bediirfnissen der Wissenschaft 
entgegengekonunen ist und aueh hier berechtigte Forde- 
rungen gewiC erfiillen wird. 

In dem Kreise akademischer Adjunkten mag der For- 
scher seine Stelle finden, der auf den europaischen Biblio- 
theken die Triimmer der koptischen Literatur aufsucht und 
wieder erweckt; hier mag ein Kenner des Armenischen die 
Schatze dieser Literatur zusammentragen; hier mogen andere 
sich zu lexikaUschen Arbeiten vereinigen und die Reste einer 
untergegangenen oder untergehenden Sprache und eines 
versinkenden Volkstums sammeln; hier mogen wieder andere 
ein groBes historisches Regestenwerk unternehmen, — alles 
Aufgaben, die mit dem Lehrberuf nichts zu tun haben, 
oder vielmehr, die durch den Lehrberuf gestort werden 
und ihn storen. Das aber ist sicher nicht zu befvirchten, 
daB die XJniversitaten gute Lehrer verlieren oder gar an 
ihrem wissenschafthchen Charakter Schaden leiden werden. 
"WeC das Herz voll ist, dem geht der Mund Tiber! Wer 



trber die iilng;sten Entdeckungeu. 347 

von einer hohen Saclie innerlicli erfiillt ist und ilire bildende 
Kraft schatzt, der wird sie auch. lekren wollen und Schiiler 
"werben nnd deshalb an die Universitaten geben! Wir woRen 
diese nur vor den „MniJ-Dozenten" nnd die nur zum 
Forschen berufenen Grelekrten vor dem Vorlesungszwang 
scbiitzen. Dafi die groCen und vielseitigen Forscber die 
Lebrer unserer Jngend sind — dieses heriiicbe deutscbe 
Ideal wird nns ai\cb in Zukunft bleiben. Und umgekebrt, 
"wir -wollen keine berufsmaJJigen Entdecker oder gar „Scbatz- 
graber" in der "Wissenscbaft; denn solcbe Leute sind vom 
TJbel. Aber was wir braucben, sind metbodiscb arbeitende 
Gelehrte, die in einer bistoriscb-pbilologiscben Spezialwissen- 
scbaft allmabliob den ganzen Bestand der QneUen, wie er 
auf den europaischen Bibliotbeken zerstreut begt, kennen 
lernen nnd anf planvoll unternonunenen B,eisen aufarbeiten. 
Wie sind denn die reicben Entdeckungen auf dem G-e- 
biete der alten Kircbengescbicbte bisber zustande ge- 
konunen? Abgeseben von einigen woblvorbereiteten Unter- 
nebmungen, wie sie Acbelis und Bonwetscb fiir Hippolj^t, 
Caspari fur die Symbole, die BoUandisten und Ebr- 
bard fiir die bagiograpbiscbe Literatur unternommen baben, 
und wie sie jetzt von Soden fiir den Text des Neuen 
Testaments ausfiibren laCt, ist uns das Meiste durcb mebr 
oder weniger zufallige Umstande gescbenkt worden. Gre- 
wiC leitete fast aUe Entdecker ein bestimmtes wissenscbaft- 
licbes Interesse — es sind Wenige darunter, die niobt im 
ScbweiBe ibres Angesiobts gearbeitet baben, und wir Kircben- 
bistoriker diirfen auf unsere Entdecker stok sein — , aber 
vereinzelt und zusammenbanglos wird uns das Meiste ge- 
bracbt, und fast nirgendwo konnen wir sicber sein, daiJ 
alles das wirkJiob untersucbt worden ist, was an einem be- 
stimmten Ort, in eiaer bestimmten Bibliotbek, zu unter- 
sucben ware. Nocb unmer lassen sicb sogar in gescbriebenen 
oder aucb gedruckten Katalogen Entdeckungen macben — 
V. G-ebbardt bat uns das gezeigt! — , und so oft man 



348 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV. 

planvoUe Untersuchungen angestellt hat, sind sie aucli be- 
lohnt worden. 

Freilich, das geographiscte G-ebiet, auf welchem man 
fiir die alte Eorclien- und christlicke Literaturgeschichte zu 
sammeln hat, ist ein ungeheuer weites. Ihre Denkmaler 
sind in griechischer, lateinischer, syrischer, koptischer, abes- 
sjmischer, armenischer , slavischer und arabischer Sprache 
erhalten. Die Fundorte der Entdeckungen der letzten fiinf- 
undzwanzig Jahre sind oben zum Teil angegeben worden: 
von Etschmiadzin, Jerusalem und Patmos bis nach Madrid, 
und vom Sinai bis nach Moskau und Petersburg und 
wiederum nach England und Irland muB der Forscher 
wandern. Dazwischen liegen die groUen Bibliotheken Euro- 
pas, die noch immer ungehobene Schatze bergen, und auch 
ein Schlettstadt und ahnhche Stadtchen besitzen historische 
Unika. Doch das Land unserer Hoffnung ist Agypten! 
GewiB haben wir vom Athos, aus EQeinasien und Armenien 
noch manches zu erwarten; aber die altesten und kost- 
barsten Schatze sind aus Agypten gekommen, und Alles 
spricht dafiir, daU wir bisher nicht mehr als die ersten 
Proben von dem erhalten haben, was der agyptische Boden 
uns aufbewahrt hat. Aber wer in Agypten suchen will, 
der muB zuerst nach Paris, London und Wien gehen, wo 
noch viele Hunderte, ja Tausende unentzifferter Papyrus 
liegen. Wie konnen die an die SchoUe gebundenen Uni- 
versitatslehrer diese und ahnliche Schatze aufsuchen und 
einsammeln? Was sie vermogen, ist, Untersuchungen vor- 
zubereiten und sie methodisch ins Werk zu setzen. Aber 
auch diese Tatigkeit hat eine naheliegende Grenze. Ihr um- 
fassendes Lehramt erlaubt ihnen nicht, sich einseitig einem 
Zweige der Wissenschaft und einer Gruppe von Denk- 
malern zu widmen. Die Starke aber des G-elehrten, der 
forscht und sucht, ist die entschlossenste Einseitigkeit und 
Beschrankung, nicht auf zwanzig Monate, sondern auf eben- 
soviel Jahre, und nicht mit miihsam abgewonnenen Mitteln, 



tyber die jilngsten Entdeckungen. 349 

sondern auf gesicherter materieller Grundlage. Wenn uns 
planlose Forschungen soviel beschert haben, was werden 
uns metliodisch gefiihrte bringen! Eine fragmentarisch er- 
haltene Literatur fragmentarisch bearbeiten — nur Unbe- 
friedigendes kann dabei herauskommen, ja Vergeudung der 
sparlichen Krafte! Aber lohnen die Ausgaben den Auf- 
wand? Nun, es handelt sich um die alte Kirchengeschiclite, 
d. h. um eine Greschichte, welche die Volker Europas ge- 
meinsam erlebt haben, und in der der wichtigste Teil der 
Griiter beschlossen Hegt, die sie gemeinsam besitzen. Aber 
von diesem erhabenen Thema abgesehen — alle Geschichte, 
die sich zwischen dem Euphrat und dem atlantischen Ozean 
abgespielt hat, ist unsere Greschichte; wir vermogen aber 
unsere eigene Existenz nur dadurch zu vertiefen und zu 
erweitern, daiJ wir unter den Helden der Greschichte leben 
und ihre Kampfe und ihre GrroCe nachempfinden. 



Verlagsbericht 

der 

J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung 

(Alfred TOpelmann) 
No. 1. Qiessen Oktober 1903. 

JOieser er^te Bericht miifasst in der JSanptsache unsre Vei'lagstiitigkeit tvUhrend 
des laiifendeii rTahres. Uaran scJiHessen sicli noch einige wej-tvolle IVei'Ice aiis den 
letzten J^aJireu. 

Die kicnftigeu Nnmuicrti erscheinen in zwangloser Folge; alle Interessenten erhalien 
sie auf ihren Wunsch kostenlos. 

yede grossere Buchhandliing kann die kier genannten Werke zumeist audi zttr 
Ansicht vorlegen. 

Das Inhaltsverzeichnis befindet sick auf Seite 24. 

Soehen gelangen zur Ausgabe: 

Adolf Harnack, Reden und Aufsatze 

2 Bde- gr. 8" auf starkem holzfreiem Papier (X, 349 und VIII, 379 S.) 

M. 10. — ; in Leinen geb. M. 12. — 

In dieser Sammlung seiner „Reden und Aufsatze'' wendet sich Harnack an 
eincn weiteren Leserkreis als den seiner Fachgenossen. Die aufgenommenen Stucke 
umspannen einen Zeitraum von flber zwanzig Jahren ; obschon der Verfasser dieses oder 
jenes Thema heute etwas anders behandeln wiirde, hat er den einzelnen Stucken doch ilire 
urspriingliche Gestalt gelassen, da ihra kein einziges in seinen Grundgedanken fremd 
geworden ist. Die „Reden" des ersten Bandes sind so geordnet, dafi sie einen Gang 
durch die Kirchengeschichte darstellen; die des zweilen Bandes beziehen sich vornehmlich 
auf wichtige kirchliche Probleme der Gegenwart. 

Mit giitiger Zustimmung des Herrn Verfassers drucken wir hier einen Aufsatz 
des zweiten Bandes ab und hoffen, den Empfangern unsers Berichts damit eine will- 
kommene Gabe zu bieten. 

Einige Bemerkungen 
zur Geschichte der Entstehung des Neuen Testaments. 

Die Geschichte der Entstehung des Neuen Testaments ist im letzten Jahrhundert 
mit erstaunlichem Flei6 und ausgezeichnetem Erfolg untersucht worden; aber es sind 
einige Fragen ubrig geblieben, und zwar sehr wichtige. Sie sind ubrig gebheben, well 
das, woran man sich gewohnt hat, als das selbstverstandliche erscheint, und daher die 
Untersuchung nicht herausfordert. Drei solche Fragen will ich hier aufwerfen, urn sie 
dem Nachdenken zu empfehlen, und ich will versuchen, ihrer Losung naher zu kommen. 



I. Warum haben wir im Neuen Testament vier Evangelien und nicht eines? 

Die Antwort: ,,Es ist ein unerklarhcher Zufall", genilgt nicht; denn der Gottes- 

dienst, die Katechese usw. verlangten ein Evangelium. So war es in der altesten 



Zeit — die Jadenchristen hatten ein Evangelium (das Hebraerevangelium), ebenso die 
Marcioniten, die Agypter etc-, — und so ist es audi in der mittleren und neueren Zeit; 
denn man macht fiir den Unterricht und die evangelische Uberlieferung aus den vier 
Evangelien noch jetzt kiinstlich ein einziges. 

Auch die Antwort ist ungenugend, man habe die vier Evangelien zusammen- 
gestellt, um verschiedenen theologischen Standpunkten gerecht zu warden und sie zu 
vermitteln; denn die drei ersten Evangelien sind in bezug aufihren theologischen Stand- 
punkt nur wenig verschieden. Aber auch das vierte Evangelium kann jener alten Zeit 
nicht so verschieden erschienen sein, wie uns. Man bemerkte wohl einen Unterschied 
der Stufe — eine kleine Partei hat auch sachliche bedeutende Unterschiede erkannt, 
— aber nicht dogmatische Verschiedenheiten. 

Sind aber die beiden versuchten Antworten ungenugend, so bleibt nur noch eine 
Qbrig, namlich dafe die vier Evangelien zusammengestellt wurden, um sie in eines zu 
verarbeiten, daft aber dann rasch Verhaltnisse eintraten, welche eine solche einheitliche 
Verarbeitung unratsam machten und hemmten, 

Beweise : 

1. Dafi ein einheitliches Evangelium zu besitzen, stets das letzte Ziel sein mufite, 
liegt in der Natur der Sache (s. oben). 

2. Unser i. und 3. Evangelium setzen sicher, unser 2. und 4. Evangelium setzen 
hochst wahrscheinlich bereits ktirzere Evangelien voraus, aus denen sie zusammen- 
gearbeitet worden sind. Sie sind selbst schon Evangelienharmonien. 

3. Dieser Prozefe, nus mehreren Evangelien eines zu machen^ hat sich auch fort- 
gesetzt, als unsere Evangelien bereits nebeneinander standen. Justin hat um das Jahr 
1 50 wahrscheinlich eine Harmonic aus mehreren Evangelien beniltzt, unter denen sich 
unsere befanden, und von Tatian wissen wir gewife, dafi er aus unseren 4 Evangelien 
eine Harmonie, ein ,,Diatessaron'', verfertigt hat. Dieses Diatessaron ist bis zum An- 
fang des 5 ■ Jahrhunderts das Evangelium der syrischen Kirche und ihrer Tochter- 
kirchen gewesen. 

4. Den hemmenden Faktor, der es verhinderte, dafe sich das Diatessaron oder 
ein ahnliches Buch in den Kirchen durchsetzte, kOnnen wir sicher angeben, — es ist 
der Gnostizismus. Er notigte die Kirchen, ihre Urkunden nicht weiter mehr zu ver- 
andern, um moglichst authentische Urkunden zu bew^ahren. Diese Riicksicht wurde 
starker als das praktische Bediirfnis, ein einheitliches Evangelium zu besitzen, und 
hemmte so den Prozefi; aus den vier Evangelien eines zu machen. Indem diese Absicht 
durchkreuzt wurde, blieb die Kirche in bezug auf das praktische Bediirfnis in einer 
unvollkommenen und schwierigen Situation stecken, — sie mufete fortan das Evangelium 
aus 4 Biichern lesen — , aber die Hemmung gewahrte der Folgezeit den grofeen Vorteil, 
dafe sie das Evangelium in einer relativ ursprunghcheren Gestalt erhielt und dauernd 
bewahrte. Unsere Kenntnis von Jesus Christus und seinem Evangelium ware eine sehr 
viel unsicherere geworden, wenn wir statt der 4 Evangelien ein Diatessaron erhalten 
hatten. Dem Gnostizismus gegenuber wurde der Buchstabe der 4 Evangelien geheiligt 
und damit bewahrt. 



NB. Wanim um das Jahr 120 — 130 (iim diese Zeit handelt es sicli) geradc 
diese 4 Evangelien, und nicht 3 oder 5 oder anderc in Kleiiiasien 7Aisammengcstellt 
worden sind, um sie einheitlich zu bearbeiteii, das entzieht sich unsrer Kenntnis ganz. 
Im besten Fall kann man darUbei- einige Vermutimgcii aulstcllen. Dafi abcr in Klein- 
asien die Zusammenstellung erfolgt ist, lafit sich sehr wahrsclieinlich machen. 



II. Wie konnten apostolische Briefe, namentlich Paulusbriefe, mit gleicher Wilr.de 
und gleicliem Ansehen neben die Evangelien gestellt werden ? 

Diese Tatsache, die Avir im Neuen Testamente voUzogen sehen, ist vielleicht 
das Paradoxeste, was die Sammlung bjetet:. Briefe, zum Teil ganz individuellen Inhalts, 
stehen mit gleichem Ansehen neben dem Herrnwort ! ! Wie ist die Tatsache zu er- 
klaren? Aus der inneren Geschichte der grof3en Kirche ist sie imerkliirbar. Die 
Antwort, der Apostolos sei den Evangelien beigegeben worden, wie die Propheten 
den BQchern Mosis, erklart den Ursprung der Zusammenstellung nicht; denn die;se 
Vergleichung ist erst gemacht worden, nachdem Evangelien und Briefe bereits zusammen- 
gestellt waren. Nur das Eine lafit sich sagen — und das ist nicht unwichtig — : 
Briefe von Aposteln {aber auch von anderen Geistestragern) sind friihe gesammelt und 
in den Gemeindegottesdiensten verlesen worden, nicht nur einmal, sondern wiederholt 
und regelmalsig. Dadurch kamen sie 5rtlich und auch der Bedeutung nach in die 
Nahe der Evangelien. Aber da6 sie ihnen gleichgestellt und kanonisch wurden, ist 
damit doch nicht erklart. 

Der Ursprung der Verbindung ist dort zu suchen, wo Paulus ein ahnliches 
Ansehen genoi3 und geniefien mufite, wie Jesus Christus selbst, also bei den Gnostikern 
und vor allem bei den Marcioniten, Ihnen war Paulus der authentische Interpret 
Christi und zugleich der Reformator gegentiber einer ,Judaistischen" Fassung des 
Christentums, welche Marcion sogar den Uraposteln vorwarf. Bei Marcion finden wir 
auch wirklich zuerst, dafi er das Evangelium und Paulus-Briefe verbunden und diesen 
dasselbe Ansehen gegeben hat wie jenem. Ftir mehrere gnostische Vereine diirfen 
wir vermuten, dafi sie dasselbe getan haben. Auch ihnen war Paulus der Interpret 
Christi und der Reformator. 

Aber wie? sollen wir annehmen, dafi die groBe Kirche dem Marcion und den 
Gnostikern, ihren Todfeinden, gefolgt ist, und ihre Ansicht und Ordnung nachgeahmt 
hat? Gewifi nicht! Die Sache machte sich vielmehr ganz von selbst. Die grofie Kirche 
konnte den Paulus nicht niedriger schatzen als es Marcion und die Gnostiker taten; 
damit hatte sie ihn denselben ausgehefert, Allmahhch, aber sicher mufiten die pauli- 
nischen Briefe dieselbe Schatzung in der groilen Kirche gewinnen wie in den haretischen. 
Ohne merklich zu werden, konnte sich diese Wandlung vollziehen; denn die Paulus- 
Briefe wurden ja (s. oben) in dem Gottesdienst der grofien Kirche gelesen. Natiirlich 
suchte diese aber Briefe urapostolischer Manner den Paulus - Briefen hinzuzufugen. 

Ein schOnes aufieres Zeugnis des Prozesses, der sich zwischen 1 60 und 190 
voUzogen haben mu6, besitzen wir noch in den Akten der Martyrer von Scili, die aus 
dem Jahre 181 stammen. Auf die Frage des Prokonsuls: ,,Quae sunt res in capsa 
vestra," antwortet Speratus: „Libri et epistulae Pauli viri iusti." Die „Biicher" sind 
das Alte Testament und die Evangelien. Die Paulus-Briefe werden bereits neben ihnen 
genannt, aber doch noch von ihnen unterschieden. So hatte man um das Jahr 1 60 
noch nicht, und um das Jahr 200 nicht mehr gesprochen. 



Verlagsbericht der J. Richer' schen Verlagsbuchhandlitng in Giesseu No. 



III. Wie ist es gekommen, dafi die Kirchen ein einheitliches Neues Testament 
erhalten haben? 

Bei Beantwortung dieser Frage miifi man eine Unterscheidung machen. Dafi 
die Sammlung von 27 Schriften, wie wir sie jetzt besitzen, zuerst in Agypten (Alexan- 
drian) zustande gekommen ist, und sich im Laufe des 4. und 5- Jahrhunderts — be- 
sonders durch die Autoritat des Athanasius — in den anderen orientalischen Kirchen 
und im Abendland durchgesetzt hat, steht fest. Aber schon vor dieser Zeit, narahch 
in der 2, Halfte des 3. Jahrhunderts, batten fast alle Kirchen einen gemeinsamen 
Grundstock des Neuen Testaments, namhch eine Sammlung von 20 bez, 22 Schriften 
(es fehlten II. und III. Job., II. Petrus, Jakobus, Hebraerbrief, bez. auch Apokalypse 
und Judas). Wie ist dieser Grundstock entstanden? Er weist eine ganz bestimmte 
Struktur auf, namlich in der Mitte stehen die Apostelgeschichte und, mit ihr verbunden, 
Schriften der Urapostel; den rechten Flugel bilden die Evangelien und den linken die 
Paulus-Briefe. 

Fragt man, wo dieses Neue Testament entstanden ist, so scheiden die syrische, 
die alexandrinische, die gallische und die nordafrikanische Kirche aus; denn es ist 
nachweisbar, dafe sie diese Sammlung spater erhalten haben, bez. von anderen Kirchen 
abhangig waren. Es bleiben nur die kleinasiatische und die romische Kirche iibrig. 
Die Sammlung, wie sie nicht ein formloses Aggregat darstellt, sondern einen deutiichen 
Plan zeigt, kann nicht zufallig und an mehreren Orten zugleich entstanden sein, sondern 
mu6 einen bestimmten Ursprung haben. Dann aber ist es hOchst wahrscheinlich, dafi 
sie in Rom entstanden ist (vielleicht unter Teilnahme kleinasiatischer BischOfe). 

In Rom namlich sind: I. nachweisbar die beiden anderen apostolisch-katho- 
lischen Mafistabe um dieselbe Zeit entstanden, die apostolisch-katholische Glaubens- 
regel und die Auffassung vom apostolischen Amte der BischOfe. Mit diesen beiden 
Mafistaben ist die apostolisch-katholische Schriftensammlung aufs nachste verwandt. 

2. In Rom ist zuerst die Sammlung von 22 Schriften sicher nachweisbar. Es 
entspricht aber auch dem Charakter der rOmischen Kirche, solche formale Ordnungen 
und Gesetze aufzustellen ; denn das Charisma dieser Kirche ist stets — und auch im 
Altertum — nicht die Theologie gewesen, sondern die Ordnung und das Gesetz. Im 
Kampf gegen den Gnostizismus hat Rom die Grenzen und Ordnungen des Christlichen 
festgestellt, und von Rom aus sind diese Mafestabe in den Jahren 190 — 250 auch zu 
den anderen Kirchen gekommen und von ihnen adoptiert worden. 



Dies sind die drei Fragen, welche ich vorlegen und dem Nachdenken iibergeben 
wo lite. Die LOsungen , welche ich versucht habe, halte ich nicht fur wissenschaft- 
lich bewiesen, aber fiir sehr wahrscheinlich. Nicht erwahnt habe ich die wichtigste 
Frage, wie es uberhaupt zu einem Neuen Testamente gekommen ist? Bedenkt man, 
dafi weder Christus noch die Apostel etwas Ahnliches angeordnet haben ( — wie 
anders steht es im Islam! man denke an den Koran! — ), und dafi die Kirche ja be- 
reits eine umfangreiche „littera scripta'' in dem Alten Testamente besafi, so erscheint 
die SchOpfung des Neuen Testaments als ein grofies Problem, zugleich aber auch als 
eine grofie Tat der Freiheit und der Selbstandigkeit der Kirche. Ohne Beziehung 
freilich auf den Gegensatz, die haretischen Bewegungen, wird man die Entstehung des 
Neuen Testaments nicht erklaren konnen. 



DallCr, Walter, Lic.theol., Privatdozent an der Universitat Marburg, 

Der Apostolos der Syrer in der Zeit von der Mitte des 
vierten Jahrhunderts bis zur Spaltung der syrischen Kirche. 

Gr. 8» (IV u. 80 S.) M. 1.80 

Nicht nur das Bewufitsein, eine in der Tat vorhandene Lflcke mit einer aus- 
fuhrlichen, alles umfassenden Untersuchung des Problems auszufUUen, zu dessen LOsung 
zwar schon hin und wieder Beitrage geboten worden sind, hat den Verfasser bestimmt, 
gerade diese Epoche der syrischen Kanonsgeschichte einer genauern Betrachtung zu 
unterziehen, vielmehr sind verschiedene Umstande geeignet, das Interesse in besonderm 
Ma&e zu wecken. 

Einmal ist die bezeichnete Periode die Blutezeit syrisch-theologischer Gelehr- 
samkeit gewesen, deren dominierender Einflufi weit uber die Grenzen des Vaterlandes 
hinaus verspurt wurde. Auf das geistige Leben hat Syrien niemals vorher oder nachher 
so gewirkt, wie in dem Jahrhundert von etwa 350 — 450. 

Sodann stehen wir vor dem Faktum, dafi zu Anfang der Epoche die Bildimg 
des Kanons im griechischen Westen und im Siiden bei den Nachbarn der Syrer so 
gut wie abgeschlossen ist. Allenfalls werden dort noch Zweifel uber die Berechtigung 
der Johannesapokalypse laut, die ilbrigen 26 BQcher haben Heimatrecht im Kanon er- 
worben. Ganz anders steht es mit den Kirchen Syriens. Hier ist noch vieles im 
Flufi. Nur der Kern des Neuen Testaments hat sich allgemeine Gehung erworben. 
Um das Jahr 450 sind die syrischen Christen lange nicht so weit wie ihre westlichen 
Glaubensbruder etwa 100 Jahre fruher. 

Die Anlage der Schrift erhellt aus dem hierunter im Umrifi mitgeteilten In halt s- 
verzeichnis: 

Einleitung: Die Aufgabe. — Die Quellen. — Abhandlung: a) Apostelgeschichten. 
b) Paulusbriefe. c) Katholische Briefe. d) Apokalypsen. — Zusammenfassung der 
Resultate und abschliefiende Betrachtung. — Anhang: A. Harnacks Hypothese uber 
Diodor von Tarsus. 

BUgge, Chr. A., Dr. theol. in Christiania, Die Haupt - Parabeln 

JeSU. Mit einer Einleitung uber die Methode der Parabel-Aus- 

legung. n. Halfte. Gr. 8». (VIII u. S. 241-502.) M. 5.60 

Dasselbe. Vollstandig. Gr. 8". (VIII u. 502 S.) M. 11.- 

Inhalt: Vorwort. — Methode. I. Das Problem. 2. Versuch einer LOsung. — 
I. Teil. Die Parabeln von den Geheimnissen des Reiches Gottes. i. Abschnitt. Aus- 
legung der Parabeln von den Geheimnissen des Himmelreichs. 2. Abschnitt. Die 
Geheimnisparabeln und die Reichgottes-Idee. — 11. Teil. Die spateren Reichsparabeln 
bei Matthaus. — III. Teil. Die Individual-Parabeln bei Lucas. — Stellenregister. — Namen- 
register. — Sachregister. — Literatur zur Parabel-Auslegung. 

Mit dieser II. Halfte ist das Buggesche Parabelwerk, dessen I. Halfte wir dem 
gelehrten Publikum im Mai d. J. vorlegen konnten, abgeschlossen. 

Verlagsberickt der J. Ricker' schen Verlagsbuckhandlung in Giessen No. i. 5 



Auch dieses Buch scheint uns, um H. Holtzmanns a. a. O. und bei anderer Ge- 
legenheit (Theolog. Literaturzeitung 1 903, 13, Sp. 369) gebrauchte Worte hier einmal 
anzu"wenden, „der jetzt eben machtig emporstrebenden religionsgeschichtlichen Er- 
forschung der neutestamentlichen Ideenwelt abermals kraftigen Vorschub zu leisten". 
Denn „gerade im selbstandigen und fruchtbaren Verwerten des jiidischen Volksbodens 
zur Deutung und Auslegung der Lehre Jesu liegt die Bedeutung dieses Buches, und 
zwar sieht man hier einmal die Wirkung, auch fur die gelehrteste Forschung, mit 
ilberraschender Deutlichkeit. Mit viel Geist und gro6er Gelehrsamkeit hatte seinerzeit 
JtjLicHER die Gleichnisse Jesu von griechischen Voraussetzungen aus nach einer 
aristotelischen Formel als erweiterte ,Metaphern' unter radikaler Verwerfung alles 
jAllegorischen' einseitig gedeutet, mit viel alten Annahmen heilsam aufraumend; aber 
dem tiefer Grabenden viel Bedenken verursachend. Nun zeigt Bugge, im ganzen wohl 
unvpiderleglich , da6 der geschichtliche Jesus eben — kein Aristoteliker war, sondern 
vom jiidischen Volksboden aus in der jiidischen Spruchweisheit (Maschal) lediglich Ver- 
anlassung zur Verbindung von Metapher und AUegorie fand, und dafi auch dieS; und 
nur dies, zu seiner geschichtlich gegebenen Lehrgestalt trefflich stimmt. So wird nun 
auch die gelehrte Theologie hier viel Anregung zu immer weiterem Fragen, Lernen 
und Lehren finden." [Wiss. Beil, d. Leipz. Ztg. 1903, 63, S. 255 f.] 



The Expository Times vol. XIV, No. 12, S. 549 f. (September 1903): 

"The first volume of a he'w and most important work on the Parables of our 
Lord has just been published. The author ist Dr. Chr. A. Bugge, who, since the 
lamented death of Professor Petersen, is generally recognized as the ablest of Norwegian 
theologians. The present work, however (Die Haupt-Parabeln Jesu), will once for 

all establish his reputation, and will have to be taken account of by all subsequent 
workers in this department. In his Preface Dr. Bugge easily disposes of the objection 
that we have already a superfluity of books on the Parables, and in particular that 
the great work of Julicher leaves no room and no need for further labours of the 
kind. We are sure that many of our readers will feel, with Dr. Bugge, that, greatly 
as they admire Julicher, there are very serious objections to be taken to his essentially 
one-sided conception of the Parable, as well as to the grounds on which he accepts 
or rejects the genuinesses of whole sections of the Gospels. In fact, the great value 
of Bugge's Introduction consists in the way in which he rescues its real meaning for 
the term 'Parable'. Julicher has built up his conception of the Parable under the 
influence of Greek rather than Jewish rhetoricians, whereas it is becoming increasingly 
clear that it is only an intimate acquaintance with contemporary Jewish currents of 
ideas and methods of teaching that will enable us to understand Jesus as a teacher. 
We commend to the careful attention of our readers all that Dr. Bugge has to say 
on Metaphor, Allegory, Paradox, etc., for we are persuaded that he is entirely on the 
right lines. When he comes to the treatment of the individual Parables, he wastes 
no words and does not load his pages with quotations and refutations of other com- 
mentators. At the same time, nothing of importance from this point of view is left 
out, and at the close of each Parable some typical illustrations are given of its treatment 
by the great exegetes of the Church in days gone by." 



LI rCWS, Paul, D., ord. Professor der praktischen Theologie an 

der Universitat GieBen, Die Predigt im 19. Jahrhuodert. 

Kritische Bemerkungen und praktische Winke. [Vortrage der 
theologischen Konferenz zii GieBen, 19. Folge.] Gr. 8". (2 Bll. 
u- 59 S.) M. I.— 

Der Verfasser beschrankt sich in seinem kurzen Referat darauf, uns die Ent- 
wicklung der Predigt im Laufe des 19. Jahrhunderts unter einem einzigen Gesichts- 
punkt darzustellen , der, weil sich jene mehr oder weniger bestimmt darin spiegelt, 
besonders interessant ist. Dieser Gesichtspunkt ist der Gegenstand der Predigt. Es 
ist auch nicht zwecklos, ihn zu verfolgen, weil sich aus seiner Geschichte allerlei Be- 
herzigenswertes fur die Predigt der Zukunft lernen lafit. HSren wir den Verfasser am 
Schlusse seines Referates selbst, welcher Art es sei: 

„Wir wissen, dafi das Evangehum, an sich so einfach und so schlicht, ins Leben 
umgesetzt, in tausend Strahlen sich bricht, dafi es jedem Menschen, jedem Geschlecht 
etwas Besonderes zu sagen hat, immer neu erfafit und errungen sein -svill. Die Predigt, 
als persOnliche Bezeugung des EvangeHums, soil Helfersdienste tun — sie wird es 
nur kOnnen, wenn sie neben dem AUgemeinen, Zentralen auch das Einzelne und 
Spezielle zu seinem Rechte kommen la6t. Wir haben lebendiger erkannt, dafi jede 
Gemeinde ihre Individualitat hat und dais jeder gerade in ihrer Weise das Evangelium 
mu6 verkundigt werden. ... Es liegt viel Wahres in dem Lofflerschen Worte, dafi 
jede Predigt eine Gelegenheitsrede sein soil; das gilt es anzuerkennen, auch wenn das 
Wort aus der Feder eines Rationalisten kommt. 

Es ware tOricht zu fordern: Nun predigt nur nach speziellen Themen! Das kann, 
wie ailes, geistlos. Ode, weil nachgeahmt, und mechanisch geschehen, und dann wirds 
ohne Segen sein. Nie werden, nie durfen zentrale Gegenstande ganz verschwinden. 
Sie haben ihr bleibendes Recht. Aber das lafit sich mit Schleiermacher als Ziel auf- 
stellen, dafi jede wirkungsvolle Predigt aus einer Synthese von Prediger, Text und 
Gemeinde entstehen soil. Die PersOnlichkeit wird dabei immer das Bestimmende sein. 
Ihre Macht hegt im vOUigen Ernst, der nicht in steifer Feierlichkeit, sondern in reiner 
Sachlichkeit besteht, der man es abfuhlt, dafi die Wahrheit die beherrschende Macht 
fiber sie geworden ist." 

BlD3.Cn, Rud., D., Konsistorialrat und Dekan in Dotzheim, UflSer 
Volk und die Bibel. Ein Nachwort zum Bibel- und Babelstreit. 
[Vortrage der theologischen Konferenz zu GieBen, 20. Folge.] 
Gr. 8" (39 S.) M. -.60 

Leitsatze: i) Der Bibel- und Babelstreit erinnert unsere Kirche wieder an 
ihre Pilicht, unserm Volke die Bibel zu voUerer Aneignung zu bringen. 2) Die 
Schwierigkdten der Erfullung dieser Pflicht liegen in dem notwendigerweise kritischen 
Betriebe der theologischen Wissensehaft , in den praktisch kirchlichen Riicksichten, die 
das geistliche Amt bewegen, und in dem Nachwirken fruherer Entwicklungen im Leben 
unsrer Gemeinden. 3) Die durch diese Pflicht gestellte Aufgabe besteht darin, dafi 
unsre Gemeinden in der Bibel Gottes Wort besser unterscheiden, erkennen und Keben 
lernen. 4) Die Wege zur Erfullung dieser Aufgabe sind in der Theologie das Fest- 

Verlagsberickt der J. Ricker'scheti Verlagsbuckhandtnng in Ciessen No. i. 7 



halten an der Bibel als der wichtigsten Urkunde der Offenbarung und an Jesu als dem 
Christ; in Aex Predigt die Darbietung der Einheit 2i!«(/ Mannigfaltigkeit des Evangeliums; 
im Unterricht das Hervorkehren des ReligiOsen und Bleibenden vor dem Geschicht- 
lichen und Zufalligen; in der kirchlichen Gemeinschaft das Festhalten an der Einigkeit 
im Geist durch das Band des Friedens. 

HerZOg, Johannes, Pfarrer in Gerlingen, Der Bcgriff dcr Bc- 
kehrung im Lichte der heiligen Schrift, der Kirchengeschichte und 
der Forderungen des heutigen Lebens. Gr.S". (VIII u. 120 S.) M. 2. — 

Inhaltsiibersicht: Leitsatze. — Einleitung. — I. Der biblische Stoff. l) Die 
aus dem AT. zu entnehmenden Grundlinien. 2) Das Neue Testament. — II. Die 
kirchengeschichtlichen Beispiele. l) Augustin. 2) Franz von Assisi. 3) Luther. 
4) Francke. S) Moser. 6) Wesley. 7) Finney. — III. Das Problem der Bekehrung 
im Lichte der Forderungen der Gegenwart. Querschnitt durch die heutige Situation, 
l) Die Noiwendigkiit der Bekehrung. 2) Der Umfang des Begriifs. 3) Der Volhug 
der Bekehrung. 4) Die Mdglichkdt und Durchfflhrbarkeit der Bekehrung. — Schlufi. 

Aus dem Vorworte: 

„Das Absehen des Verfassers ist hauptsachlich darauf gerichtet, Klarheit in dii 
Frage zu bringen, ob dieses Datum des innern Lebens vorbehaltlich seiner mannig- 
fachen individuellen Modifikationen und psych ologischen Vermittlungen eine solche 
innere Tatsache darstelle, "welche nicht in diesen Vermittlungen und Entwicklungen 
restlos aufgeht, sondern den Einschlag der g6ttlichen Kraftwirkung bekundet. Dafi 
nun die Zeugnisse der Schrift, die Bildergalerie der kirchengeschichtlichen Zeugen, 
die Forderungen der Gegen"wart iibereinstimmend auf die Wichtigkeit und Unentbehr- 
lichkeit dieses supi^naturalen Koeffizienten hin^veisen, dafi mit andern Worten die 
Bekehrung ein gOttlich - menschliches Geschehen sei, ist, kurz gesagt, das Ergebnis 
dieser Untersuchung. Es kommt tiberein mit der merkwiirdigen Gleichung, die der 
Apostel Paulus voUzogen hat (Eph. I, 19. 20) zwischen der Gottestat in Christus und 
der Gotteswirkung in den Glaubigen, und mit dem Paradoxon des tiefsinnigen Hamann: 
,Alle Wunder der heiligen Schrift geschehen in unserer Seele'." 

Der Inhalt dieses Aufsatzes kam nur teilweise zum Vortrag bei der am 5. Juni 
stattgefundenen Zusammenkunft der „Freunde der christlichen Welt aus SOddeutschland 
und der Schweiz" in Heppenheim a. B. Er fand dort in seinem Grundgedanken so 
lebhafte Zustimmung und wurde von Rade als eine so reife, vollkommene Frucht um- 
fassenden Studiums und tiefen Nachdenkens bezeichnet, dafi wir hoffen dtirfen, mit 
seiner Drucklegung nicht nur den HOrern einen Dienst zu erweisen, sondern jedem — 
stehe er auf dem sogenannten altglaubigen oder modernem Standpunkte — , dem es 
darum zu tun ist, filr die Forderungen der Gegenwart, so vielgestaltig und verwickelt 
sie sein mOgen, eine solide Grundlage und richtige Norm zu gewinnen, auf der und 
nach der die Verkfindigung des Evangeliums zu operieren hat. 

JflStrOW, Morris, jr., Dr. phil.. Professor der semitischen Sprachen 

an der Universitat zu Philadelphia, Die Religion Babyloniens 

und Assyriens. Vom Verfasser voUstandig durchgesehene und 
durch Um- und Uberarbeitung auf den neuesten Stand der Forschung 
gebrachte deutsche Ubersetzung. Vierte und fiinfte Lieferung. 
Gr. 8° (S. 225—304 u. 305—384) je M. r.50 

Abgescblossen in etwa 10 Lieferungen zum Preise von je M. 1.50, die ins- 
gesamt uber 50 Druckbogen umfassen werden. 



Der Subskriptlonsprels eriischt mit der Ausgabe der letzten Lleferung; als- 
dann trift eine bedeutende Erhohung des Preises furs vollsfandige Werk cin. 

Unsere Abonnenten wurden beim Erscheinen der 3. Lieferung von dem rwischen 
dem Verfasser und der Verlagsbuchhandlung erwogenen Plan unterrichtet, das Ver- 
standnis des Textes zu unterstfltzen durch die Herausgabe von getreuen Abbildungen 
der wichtigsten Denkmalei- der habylonisch-assyrischen Kultur, die 

durch die in jOngster Zeit mit so grofiem Eifer betriebenen Graburgsarbeiten wieder 
zu Tage geferdert worden sind. 

Die Auiwahl der Abbildungen sollte gam in den Hdnden des Verfassers liegen, 
um den Subskribenten dadurch den Erwerb einer der wi^senscliaftlichen Durcharbeitung 
des Textes wilrdig sich anreihenden Sammlung von lUustrationen zu sichern. 

Schon heute nach Ablauf eines Vierteljahrs liOnnen wir zu unserer Freude mit- 
teilen, dafi die Herstellung der nach dem Abschlusse des Werlcs auszugebenden Ab- 
bildungen durch die auf unsre Umfrage bei den Abonnenten zahlreich eingegangenen 
Subskriptionen gesichert ist. Jene werden den Bestellern also, wie angekOndigt, zu mafiigem 
Preise geliefert und kOnnen zu demselben auch von alien (ibrigen bezogen werden, die 
sich bis zum Erscheinen der letzten Textlieferung als Abnehmer gemeldet haben. Spdter 
werden sie nicht mehr filr sich allein, sondern nur noch mit dem Textbande tusamnten 
kauflich sein. Deshalb seien alle, die sich bisher noch ablehnend verhalten haben, in 
ihrem eigenen Interesse gebeten, sich vor dem genannten Zeitpunkt schlussig zu machen, 
um der dargebotenen Vergunstigung noch teilhaftig werden zu kOnnen. Der 4. Lieferung 
haben wir nochmals eine Bestellkarte zur gefl. Benutzung beigegeben. 

Religionsgeschichtliche Versuche und Vor- 

arbciten, herausgegeben von Albrecht Dieterich in 

Heidelberg und Richard Wiinsch in GieBen. Gr. 8". I. Band 
(ca. 15 Bogen) ca. M. 5.60; 11. Band i. Heft (i Bl. u. 32 S ) M.— .75, 
2. Heft (IV u. 73 S.) M. 1.80. 

Vorbemerkung der Herausgeber; 

Wir ilbergeben eine Reihe religionsgeschichtlicher Versuche und Vorarbeiten 
gesammelt der Offentlichkeit, well wir hoffen, so die Publikation kleinerer wissenschaft- 
licher Untersuchungen berechtigter und wirksamer zu machen, die vereinzelt leicht un- 
beachtet bleiben wurden. Eine abgeschlossene Gruppe von Arbeiten liegt uns vor, die 
im Laufe der Jahre 1903 u. 19O4 in drei Banden erscheinen soUen, 

Alle sind, bis auf eine kleinere Abhandlung aus einem uns ferner liegenden 
Gebiete, um deren Aufnahme in unsere Sammlung wir ersucht wurden, in Giefien ent- 
standene Untersuchungen, die im Friihjahr 1903, als Professor Dieterich Giefien ver- 
liefi, teils abgeschlossen vorlagen, teils dem Abschlusse nahe waren. Damals mufiten 
wir den Plan, Giefiener philologische Arbeiten uberhaupt gemeinsam zu publizieren, 
aufgeben und entschlossen uns, nur diese religionsgeschichtlichen Versuche zu- 
sammenzufassen , die vor andern der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung erwOnscht 
waren. Ob wir fortfahren werden, weitere Versuche und Vorarbeiten anzuschliefien, 
wird davon abhangen, ob uns kflnftig religionsgeschichtliche Abhandlungen, deren Druck 
wQnschenswert erscheint, zur Verfugung stehen. 

Verlagsbericht der J, Richer' schen Verlagsbiichhandlung in Giessen No. u. 9 



Es braucht kaum ausdrucklich gesagt zu werden, da6 die Herausgeber nur fur 
die Druckwurdigkeit der Arbeiten im ganzen, dafi die Verfasser far alles einzelne die 
' Verantwortung tragen. 

Noch iin Herbst erscheinen : 

I. Band: HCpdillg, Hugo, Dr. phil., Assistant a. d. GroBh. 
Universitats-Bibliothek in GieBen, Attis, Seine Mythcn Und 
sein Kult. Or. 8". (ca. 15 Bogen) Etwa M. 5.60 

A. DiETERicH hat am Ende seines Vortrags uber den Ursprung des Sarapis 
(Verhandlungen der 44. Philol. -Vers, zu Dresden 1897) darauf hingewiesen, da6 
die nachste wichtige Vorarbeit flir die dringend nOtige Geschichte des Synkretis- 
mus der antiken Religionen die grilndliche Sammlung der Urkunden der einzelnen 
Kulte, die fiir den Synkretismus in Betracht kommen, sein miisse. Vorbildlich 
ist dabei das groiaartige Quellenwerk iiber den Mithraskult von Franz Cumont. 
Die vorliegende Schrift bietet eine Sammlung der literarischen und inschriftlichen 
Quellen des Attiskults. Daran schliefien sich einige Kapitel iiber Mythus und 
Verehrung dieses Gottes und iiber die Geschichte der phrygischen Religion 
ilberhaupt, die neben dem Mithrasdienst am langsten und kraftigsten dem Vor- 
dringen und Siege des Christentums Widerstand geleistet hat. 

II. Band I. Heft: GreSSmaiin, Hugo, Lie. theoi.; Dr. phil, 

Privatdozent der Theologie an der Universitat Kiel, Musik 

und Musikinstrumente im Alten Testament. Eine reii- 

gionsgeschichtliche Studie. Gr. 8*^- (i Bl. u. 32 S.) M. — .75 

Aus den einleitenden Worten des Verfassers: 
tJber die Musik der Hebraer erfahren wir aus dem A. T. leider nur sehr wenig. 
Wir mussen daher zufrieden sein, wenn wir die paar zufallig uns uberlieferten 
Notizen zu einem mosaikartigen Bilde zusammenfiigen kOnnen. Denn mit leb- 
haften Farben zu malen, mussen wir uns gemafi der Natur unserer Quellen ver- 
sagen. Mitunter wird es von Nutzen sein, auf verw^andte Erscheinungen anderer 
V6lker, vornehmlich der Griechen, das Augenmerk zu richten. Gar manches, 
was uns bei den Israeliten fremd und unverstandlich anmutet, weil die Literatur 
zu klein ist und die Nachrichten zu diirftig sind, mrd von dorther sein Licht 
empfangen. Wir diirfen dies unbedenklich tun, ohne fiirchten zu miissen, dafi 
wir die Originalitat des jiidischen Volkes beeintrachtigen. Denn von einer 
solchen wissen "wir auf diesem Gebiete schlechterdings nichts, wie ja iiberhaupt 
die Kunst auf palastinischem Boden keine eigenartige Entwicklung gefunden hat. 
Israel ist nie ein magister artium geworden, seine welthistorische Gr66e ruht 
einzig und allein auf seiner Religion und Moral. Auf diesem einen Gebiet hat 
es Grofies und Selbstandiges geleistet. Aber seine Musikinstrumente sind wie 
seine ganze Kultur zweifellos eine Entlehnung. 

II. Band 2. Heft: Ruhl, Ludwig, Dr. phil. in Giefien, De 

mortuorum iudicio. Gr. 8". (IV u. 73 s.) M. 1.80 

Die antiken Zeugnisse iiber die Vorstellung von einem Gericht, das in der 
Unterwelt iiber die Seelen der Verstorbenen gehalten wird, sind aus der Literatur 
und den Denkmalern in dieser Arbeit gesammelt, und es wird der Versuch gemacht, 
den historischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Dokumenten klarzulegen. 
Kap. I behandelt den griechischen , Kap. II den rOmischen Anschauungskreis ; 
ein angefQgter Exkurs zeigt, welche Rolle die Vorstellung von einem Buche 
des Gerichts im Altertum gespielt hat. 

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tJader, Karl, Dr.phU., GroBh. Hofbibliothek-Sekretar in Darmstadt, 
Turin- und Glockenbiichlein. Eine Wanderung durch deutsche 
Glocken- und WSchterstuben. Gr. 8^- Etwa 15 Bogen mit 20 Ab- 
bildungen. Titelblatt und Einband sowie der sonstige Buchschmuck 
von Bernhard ]Venig. Etwa M. 3.60; schOn geb. etwa M. 4.50 

Was wir dann finden, sagt uns der Titelzusatz in denWorten: eine Wanderung 
durch deutsche Glocken- und Wachterstuben. In der Tat fuhrt der Verfasser den 
Leser an, um und in die gewaltigen Turmbauten, und er rechnet gewifi nicht mit Un- 
recht auf zahlreiche Beteiligung bei dieser geistigen Turmbesteigung, bei der den Inter- 
essen des wissenschaftlichen Forschers ebenso Rechnung getragen wird, wie denen 
derjenigen Leser, die sich aus Neugier, aber mit offenem Sinn und Gemtlt anschliefien. 
Der Verfasser hat sich die Aufgabe gestellt, in popularer Form alles fur die weiten 
Schichten der Gebildeten Wissenswerte von Kirchen- und Domturmen und ihren ehernen 
Bewohnern, den Glocken, zu bringen, und was er bietet, ist in der Art der 
Zusammenstellung sicherlich neu. Besonders beachtet wurden auch die Sagen, die 
die gewaltigen Bauwerke und die Glocken umweben, was als Beitrag zur Volkskunde 
gerade in unsern Tagen willkommen sein wird. Neu sind auch die Abbildungen von 
Glocken, die in der vortrefflichen Otteschen Glockenkunde nur genannt und besprochen, 
aber nicht anschaulich dargestellt sind. 

Bader erlautert uns den Turm als Ganzes und erklart seine Teile; er fuhrt uns 
in sein Inneres, zeigt uns die Glocken und stellt uns den Wachtern vor. Er fiihrt 
uns schliefiUch in schwindelnde' HOhe zur hOchsten Turmspitze und erzahit da manch 
artig StQcklein. MOchte er, da er vieles bringt, manchem etwas Wertvolles bringen, 
dem Architekten, dem Kulturhistoriker , dem Glockengiefier, dem Geistlichen einerlei 
welcher Konfession, jedem endlich, der sich einen Sinn fur die gewaltigen Denkmaler 
der Vergangenheit am und im Kirchturm in Erz und Stein bewahrt hat. 

Mutter und Kind. Wie man helkle Gegenstande mit Kindern 
behandeln kann. Nellie schriebs hollandisch, J. Grimm hat 
es verdeutscht. 8" (42 S.) Hilbsch gebunden M. —.75 

Professor Dr. Georg Sticker, dem Verfasser des schon in 2. vermehrter Auf- 
lage (1903) bei uns erschienenen Buches: Gesundheit und Erziehung (s. S. 15), 
hat das Manuskript des Schriftchens vorgelegen; er schrieb uns daruber: 

„Mich dQnkt, dafi das Buchlein wohl wert ist, verbreitet zu werden. Es wird 
jeden, der filr den Gegenstand ein Herz hat, ergreifen und zu innigem Nachdenken 
und emster Nutzanwendung anregen. Viele werden wohl beim Lesen hier und da 
stutzen und sich fragen: Mufi man in der Befriedigung der kindlichen Neugier so weit 
gehen, wie es der Verfasser tut? Und sicher werden die Eltern, denen das moralische 
Ubergevidcht Ober ihre Kinder abgeht, lieber dem Zufall die Aufklarung der Kinder 
flberlassen. Aber die Eltern, die ihre Pflicht als naturliche BeschUtzer und Berater 
ihrer Kinder ernst nehmen, werden einsehen, dafi gegenuber der unbarmherzigen Neu- 
gier der kleinen Frager kein Mittel ehrlicher und unschadlicher ist als das, welches 
der Verfasser darlegt." 

Verlagslferickt der J. Richer' schen Verlagsbuckhandl-ung in Giessen No. /. | 1 



Voranzeige. Im Fruhjahr igo^ erscheint: 

Paulus 

Sein Leben und Wirken 

geschildert von 

Prof. Lie. Dr. Carl Clemen in Bonn a/Rh. 

2 Teile. Etwa 40 Bogen gr. 8". 

Mit einer Karte der Missionsreisen des Apostels. 



Ein dem heutigen Stande der wissenschaftlichen Forschung entsprechendes Leben 
des Apostels wird allerseits als dringendes Bedurfnis empfunden, haben wir doch in 
Deutschland seit Hausrath kein wissenschaftliches Leben des Paulus mehr bekommen. 
Die Verlagsbuchhandlung hofft deshalb mit dem unter der Presse befindlichen Werke 
der berechtigten Forderung nach einer neuen Darstellung des Lebens und Wirkens 
jener gewaltigen PersOnlichkeit Genuge zu Icisten. 

Das Buch zeriallt in einen untersuchenden und einen darstellenden Teil, zwischen 
denen eine vOllige Trenniuig konsequent durchgefuhrt ist. Im ersten Teile behandelt 
Clemen alle Fragen, die erOrtert sein miissen, bevor eine zusammenhangende Dar- 
stellung gegeben "werden kann. Im zweiten Teile gibt der Verfasser sodann die in sich 
geschlossene Darstellung. Sie ist unbeschadet ihres wissenschaftlichen Gehaltes so 
geschrieben, dafi sie auch die weitern Kreise der gebildeten Laien anzuziehen vermag. 

hn Fruhjahr und Sommer igoj sind erschienen: 

BdUITlflnn, Eberhard, Lie. theol., Pastor in PlOn, Der Aufbau 
der AmOSreden. Gr. 8» (X u. 69 S.) [Beihefte z. Zeitschr. f. d. 
alttest. Wiss. VII.] M. 2.40 

Ein wertvoUer Beitrag zu den jetzt eifrig gepflegten „Studien zur hebraischm 
Meirik'\ stark beeinflufit durch die „Untersuchungen zum Buch Amos" von M. LOhr 
(Giefien 1901, M. 2. 50) und das epochemachende Werk von Sievers (Leipzig 1901). 

L>UQQ6, Karl, D., ord. Prof. d. Theologie an der Universitat Marburg, 

Das Alte Testament und die Ausgrabungen. Ein Beitrag 

zum Streit um Babel und Bibel. 2. Auflage mit vielen Anmerkungen 
und einem Vorworte statt des Nachworts. Gr. 8" (52 S.) M. —.90 

„Es ist selbstverstandlich, dafi Budde [in der 2. Aufl.], 'was die Zwischenzeit 
an Wertvollem beigesteuert, oder was man gegen seine Ausfiihrungen eingewendet 
hat, in zahlreichen Anmerkungen sorgfaltig berQcksichtigt hat'. — Doch wichtiger als 



diese vielen Anmerkungen erscheint uns das Vorwort, das aus dem Eindruck heraus 
geschrieben ist, 'dafi die flberwaltigende Melirheit audi der Gebildeten in unserm 
evangelischen Voike die Verbalinspiration fiir die verpflichtende Lehre ihrer Kirche 
halten und ihr gegenflber ein bOses Gewissen haben, wenn sie an diesem Satze irre 
geworden sind'. Das letztere kommt aber daher, dafi die Verbalinspiration mit dem 
religiOsen Begriff der gCttlichen Offenbarung vereinerleit wird. Dem gegenOber zeigt 
Budde, dafi die symbolischen BQcher der lutherischen Kirche von der Verbalinspiration 
nichts wissen und dafi der Glaube der Babylonier an die Offenbarung ihrer Gotter 
gerade die Unentbehrlichkeit des Offenbarungsglaubens fflr jede Religion beweist. Ihn 
ablehnen, heifit Gott leugnen. . ." [Kirchenbl. f. d. reform. Schweiz i8. Jahrg. No. 29.] 

UibellUS, Otto, Dr.phil, in Grofilichterfelde, DaS VatcrUDSer. 

Umrisse zu einer Geschichte des Gebets in der alten und mittleren 
Kirche. Gr. 8". (XII u. i8o S.) M. 4.80 

Unter dem Haupttitel sind hier drei Studien zusammengefafit. Die erste ist den 
„Vorstellungen vom Gebet in der atten griechischen Kirche" gewidmet; die zweite bietet 
„£><> Auffasstivg des V. U. bei griechischen Schriftsteilern" und endlich die dritte, die 
den praktischen Geistlichen am moisten interessieren wird, stellt „das Verh'dltnis von 
Luthers Vaterumererkldrung im kleinen Katechismus zu den althochdeutschen Auslegungen 
des g. — //. Jahrhunderts" dar. Recht wertvoll ist der Anhang, der ungedruckte Vater- 
unsererklartmgen aus dem ausgehenden Mittelalter bietet. 

=^^ Ausfuhrlicher Prospekt steht zu Diensten, ^^=^ 

UlctiriCrij Gustav, Lie. Dr., Pastor an der Heilandskirche in 
Berlin, Die Oestorianische Taufliturgie ins Deutsche tibersetzt 
und unter Verwertung der neusten handschriftlichen Funde histo- 
risch-kritisch erforscht. Gr. 8"- (XXXI u. 103 S.) M. 4.- 

Die nestorianische Taufliturgie ist das alteste Kindertaufritual der Cbristen- 

heit, fast ein yahrtausend alter als die altesten Parallekrscheinungen des Abendlandes. 
In den Expository Times vol. XIV No. I2 (Sept. 1903) besprochen. 

UlCXXriCllj Gustav, Lie. Dr., Pastor a# der Heilandskirche in 

Berlin, Die neustcD Angriffe auf die religiosen und sittlichen 
Vorstellungen des Alten Testamenfes. Ein Vortrag aus dem 

Kampfe urn Babel und Bibel. Gr. 8°. (24 S.) M. —.50 

Sacbsisches Kircben- und Scbulblatt 1903 No. 37 (Beilage); 

,,Ein sehr guter Vortrag, dessen leitender Gedanke ist: Der Widerspruch von 
Glauben und Wissen mag in der Welt im grossen bestehen, in der Welt im kleinen, 
d. h. in einer einzelnen Menschenbrust, ist er beim geringsten Mafie von Aufrichtigkeit 
undenkbar oder doch wenigstens unhaltbar." 

nflrnflCK, AdoU, D., ord. Professor der Kirchengeschichte an der 
Universitat Berlin, AugUStinS KonfeSSionen. 3- Auflage. Gr. 8" 
(32 S.) M. —.60 

Das Monchtuni, seine Ideale und seine Geschichte. 6. Auflage. 

Gr. 8"- (64 S.) M. I.30 

Verlagsbericht der y. Richer' schen Verlagsbuchhandlung in Giessen No. j. 13 



KattenbUSCh, Ferdinand, D., ord. Professor der Theologie an 

der Universitat GieSen, Vofl Schleiermacher zu Ritschl. Zur 

Orientierung uber die Dogmatik des 19. Jahrhunderts. 3. vielfach 
veranderte Auflage mit einem Nachtrag ilber die neueste Entwick- 
lung. Gr. 80. (88 S.) M. 1.75 

Der Verfasser hat sich, nachdem er anfanglich geschwankt, ob er den vor 12 Jahren 
gehaltenen Vortrag, wenn er ihn jetzt noch einmal ausgehen liefie, nicht vOUig um- 
gestalten sollte, doch aus gewichtigen Grunden zur Beibehaltung der ursprflnglichen Form 
entschlossen. — In einem Nachtrag deutet K. an, wie er die letzten Bewegungen auf 
dem Gebiete der systematischen Theologie, die neue ,,religionsgeschichtIiche" Richtung 
(Troeltsch) als Historiker ansieht. 

LlUZbSrSkl, Mark, Dr. phil, Privatdozent an der Universitat Kiel, 

Ephemeris fiir semitische Epigraphik. II. Band 1. Heft. Mit 

einer Schrifttafel und 6 Abbildungen im Text. Gr. 8". (S. i — 124) 

M. 5.- 

Mehrei-e Hefte von etwa 2^ Bogen Umfang bilden einen Band; Frets dessMen ca. 75 Mark. 

Inhalt: Semitische Kosenamen. — Altnordarabisches. — PhOnizische Inschriften. 
Punische Inschriften. — Neupunische Inschriften. — Hebraische Inschriften. — Nabataische 
Inschriften. — Palmyrenische Inschriften. — Griechische und lateinische Inschriften. 
Siidarabische Inschriften. — Archaologische Arbeiten und Funde. — Miszellen. — 
Berichte und Besprechungen. 

Frith er erschien: 

Erster Band. Mit 49 Abbildungen. 1900—1902. 
Preis: 15 Mark (aacb in 3 in sicb abgescblossenen Heften zu je 5 Mark). 

«>?. 

Was die „Ephemeris'' zu Anfang ihres Erscheinens versprochen, hat sie vollauf 
gehalten, dessen sind der erfreulich wachsende Stamm fester Abnehmer und die des 
Lobes vollen Anzeigen von berufener Seite beredte Zeugen : „Diese sorgfdltige Bearbeitung 
des gesamten neuen Inschriftenniatertals aits dem semitischen Orient ist nicht zu entbehren.*' 

(Deutsche Litteraturzeitung 1902 Sp. 88.) 

Noldeke, O , Pastor in Mechtshausen, Die kirchliche Beerdigung 

der Selbstmorder. Mit einem Vorworte von Professor D. O. B a u m - 
garten in Kiel. Gr. 8". (80 S.) M. 1.40 

Die Schrift zeichnet sich aus durch eine Fiille statistischer, sitten- und kirchen- 
geschichtlicher Notizen, durch ruhige Objektivitat, vor aUem aber durch eine konsequente 
evangelische Wertung des Begrabniswesens als eines Dienstes an den Hinterbliebenen. 
Die Schluilthese : Kirchliche Beerdigung aller SelbstmSrder ! im Verein mit einer nOchternen 
Einschrankung der unwahren Grab- bezw. Lobreden w^rde den Geistlichen aus einem 
Konflikt humaner und kirchlicher Pflichten befreien, in dem unser christlicher Charakter 
zumeist verkannt "wird. 

14 



rCaDOOy, Francis G., Professor an der Harvard-Universitat in 
Cambridge, JesUS Christus Und die SOziale Frage. Autorisierte 
Ubersetzung von E. Mullenhoff. Gr. 8". (3 BIL u. 328 S.) 

Geh. M. 5.-; geb. M. 6.- 
Zurcherische Preitagszeitung 1903 No. 31: 
,/Denn wo das Strenge mit dem Zarten, wo Starkes sich und Mildes paarten, 
da gibt es einen guten Klang," — singt Schiller. Solch einen guten Klang hOrt man 
audi aus dem vorliegenden Werk Peabodys heraus, insofern sich in seinem Geiste der 
praktisch-nuchterne Sinn des Amerikaners mit dem idealen Schwung des Germanen 
gepaart hat. Auf dieser Verbindung beruht der eigentumhche Reiz des Buches. Ob 
ein nationalOkonomischer Fachmann die darin entwickelten Gedanken als originale er- 
kennen wird , kann ich sicher nicht ermessen , wer sich hingegen von Peabody in 
dieses Gebiet erst einfuhren lallt, der fuhlt sich bestandig und fruchtbar angeregt. Der 
Verfasser beginnt mit einem geschichtlichen tJberblick fiber die verschiedenen Wege, 
auf denen bis dahin versucht worden ist, die soziale Frage nach Mafigabe des Evangeliums 
zu lOsen, und ubt an diesen Versuchen ehrerbietige und aufrichtige Kritik. Hieran 
schliefet sich, ausfuhrlich aber nicht weitlaufig, die eigene Behandlung des Problems, 
und zwar so, dafe nacheinander Jesu Lehre von der Familie, iiber die Reichen, iiber 
die Fursorge fur die Armen und iiber die industrielle Ordnung dargestellt wird. Dabei 
ist Peabody hauptsachlich bemiiht, dem Leser einzupragen, "wie Jesus diese Verhaltnisse 
von oben her betrachtet, mit einem ^veiten Blick, der nicht bei der momentanen Notlage 
haften bleibt, wie er desgleichen die Menschen zu einer nicht durch Gesetze und Regain 
erzwungenen, sondern aus dem Innern quellenden Wirksamkeit anleitet und alle Krafte 
fur die heilige Genossenschafl des Reiches Gottes in Anspruch nimmt. Von den Er- 
gebnissen, zu denen der Verfasser gelangt, nenne ich nur das eine praktische Haupt- 
ergebnis: er flofit uns Mut und HofFnung ein; er erweckt in uns die begrandete tjber- 
zeugung, dafe weder das Evangelium abdanken, noch auch die Entwicklung der sozialen 
und industriellen Verhaltnisse stillgestellt werden mu6. Peabody zeigt uns, dafi man sich 
kuhn in den Strom des modernen Lebens hineinwerfen und gerade als treuer jQnger 
Christi sich darin am besten uber Wasser halten kann. — Dem Buch ist ein sehr 
wertvoUes Literaturverzeichnis beigegeben." 

PreUSChen, Erwin, Uc. Dr., in Darmstadt, Monchtum und 

Sarapiskult. Eine religionsgeschichtliche Abhandlung. 2. vielfach 
berichtigte Ausgabe. Gr. 8". (IV u. 68 S.) M. 1.40 

Dieser feinsinnigen Abhandlung, deren gelehrter Apparat in 1 29 Anmerkungen 
hinter den Text verwiesen ist, liegt eine schon von sachkundigster Seite willkommen 
geheifiene Programmabhandlung von 1899 zugrunde, die inzwischen mannigfache Be- 
richtigungen und Ervveiterungen erfahren hat. 

Sticker, Georg, Dr. med., a. o. Prof, der inneren Medizin an der 
Universitat Giei3en. GcSUndheit Und Erzichung. Eine Vorschule 
der Ehe. Zweite vermehrte Auflage. Gr. 8«. (2 Bll. u. 275 S.) 

Sch5n gebunden M. 5. — 

Akademische Monatsblatter 15. Jahrgang (1903) No. 9; 

Dafi ein Buch, welches nicht der Unterhaltung gewidmet ist, sondern ernste 

Fragen der Erziehungslehre und der Moral ernst behandelt und dem Zeitgeist keinerlei 

Konressionen macht, schon nach 2 Jahren eine neue Auflage nOtig hat, spricht nicht 

nur fur die Vortrefflichkeit des Buches an sich, sondern auch filr die Wichtigkeit und 

Verla^sbericht der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandbmg in Giessen No. i. IS 



die Anziehungskraft des in ihm behandelten Themas. Der Verfasser, Professor der 
Medizin, dabei auch ein tiichtiger Padagoge, geht von dem Grundsatz aus, da6 nur in 
einem gesunden KOrper eine kraftvoUe Seele webe; es komme darum weniger darauf 
an, das Leben und die Gesimdheit der Kinder zu behuten, als dafiJr zu sorgen, da6 
keine kranken Kinder mehr auf die Welt kommen. Von den Eltern hange es ab, ob 
ihre Kinder gesund und schOn, weise und gut, ob sie BlQten der Menschheit oder ihr 
Abschaum sein "werden. Jenes wird nur dann der Fall sein, wenn die Menschheit als 
Ganzes und der Einzelne im besonderen mit aller Kraft den drei schlimmsten Feinden, 
von denen das kommende Leben im Keime verdorben wird, entgegen tritt. Es sind 
dies die Schwindsucht, die Lustseuche und der Alkohol, in dem Buche als Weingeist 
bezeichnet. Diese drei Geifeein der Menschheit, deren entsetzhche Folgen ausfuhrlich 
geschildert werden, kOnnen nur dann verschw^inden, wenn die zukunftigen Eltern in 
Reinlichkeit, in Mafiigkeit und Keuschheit erzogen werden, Tugenden, die von den 
meisten Frauen noch geiibt werden, unter der Mannerwelt dagegen vielfach vemach- 
lassigt w^erden. Soil die Menschheit wieder regeneriert werden, so mufi jedes Kind 
in diesen Grundtugenden erzogen w^erden. Obgleich der Verfasser zunachst als Leibes- 
arzt gesprochen hat, so lafit er sich, da nach Diderots Ausspruch alles die Gesundheits- 
lehre Angehende auch die Sittenlehre angeht, schliefilich auch den Vorwurf eines 
Moralpredigers gefallen. Denn so beschrankt ist sein Standpunkt nicht, da6 ihm Leben 
und Gesundheit die einzigen Guter fur das menschliche Dasein waren; sie sind ihm 
nur die Grundlage, auf der „die ubersinnlichen Fruchte des Geistes und der Sitte, der 
Wissenschaft, Kunst und Religion sich voU entwickeln kOnnen". 

Dem Ergebnis seiner auf zwingende Logik und eine Fiille von Erfahrungstat- 
sachen gestutzten Untersuchungen wird man fast durchweg beitreten, die wohlmeinende 
Absicht, die Freimiitigkeit und den sittlichen Ernst des Autors unter alien Umstanden 
anerkennen mQssen. 

Die gro6e Bedeutsamkeit des Baches far die heranreifende Jugend braucht nicht 
langer dargelegt zu werden. „Gesundheit", so heifet es in den Einleitungsworten^ „ist 
eine Tugend . . VoUendete Tugend ist nur da, wo voUendete Einsicht besteht." 
Mangelnde Einsicht ist aber in vielen Fallen die Schuld, dafi ein junges Menschenleben 
von der Pest des Alkoholismus und Syphilismus ergriffen und an Leib und Seele zu- 
grunde gerichtet wird. Stickers Buch aber ist zweifellos geeignet, manchem Jungling 
in den gefahrlichen Jahren ein sorgsamer Ratgeber zu sein und ihn vor Abwegen zu 
behuten — ihm und seinen spateren Kindern zum Heil und zum Segen. 

Zeitschrift fiir d. alttestamentliche Wissen- 
schaft, herausgegeben von D. Bernhard Stade, Geh. Kirchen- 
rat u. Professor der Theologie zu Giefien. 23. Jahrgang 1903- Preis 
des Jahrgangs von zwei Heften 10 Mark. 

Inhalt des I. Heftes: 

Bender, Das Lied Exodus 15. , Klostermann, Onomasticum Marchalianum. 

Zillessen, Die crux temporum in d. griech. i Preuschen, Doeg als Inkubant. 



tjbersetzungen des Jesaja (c. 40 — 66) und 

ihren Zeugen. 
Mittwoch, Aus einer arab. Obersetzung und 

Erklarung der Psalmen. 
Zillessen, Berichtigungen zu Mandelkerns 

kleiner Konkordanz. 
V. Gall, Nachtrag dazu. 

Matthes, Der Siihnegedanke bei d. Siindopfern. 
Matthes, Miszellen. 
Nestle, Miszellen. 



16 



Schill, Genesis 2,3. 

V. Gall, Eine Spur von Regenzauber. 

Meissner, Zu Jos. 7, 21. 

Stade, Streiflichter auf die Entstehung der 

jetzigen Gestalt d. alttestam. Propheten- 

schriften. 
Stade, Der My thus vom Paradies Gn. 2. 3 

und die Zeit seiner Einwanderung in 

Israel. 
Bibliographie. 



Inlialt des 
Liebmann, Der Text zu Jesaja 24—27. 
Eppenstein, Ein Fragment aus dem Psalmen- 

kommentar des Tanhum aus Jerusalem. 
Krauss, Die Legende des KOnigs Manasse. 
Nestle, Miszellen. 
V. Gall, Ein neuer hebraischer Text der 

Zehn Gebote und des Schma'. 



Die voUstandigen Jahrgange 
Reihe noch samtlich geliefert 
Jahrgange hangt vom Vorrat ab. 



2. Heftes:] 

Lambert^ Berichtigungen zur kleinen (und 
grofien) Konkordanz von Mandelkern. 

V. Gall, I. Nachti-ag. 

Nestle, II. Nachtrag. 

Algyogyi-Hirsch , Ober das angebliche Vor- 
kommen des biblischen Gottesnamens ni,T 
in altbabylonischen Inschriften. 
[ Bibliographie. 

1—22 kOnnen in geschlossener 
werden; die Einzelabgabe fruherer 



Zeitschrift fur d. neutestamentliche Wissen- 
schaft und die Kunde des Urchristentums, 

herausgegeben von Dr. Erwifl PreUSChen in Darmstadt. 4. Jahr- 
gang 1903, Heft 1 — 3. Preis des Jahrgangs von vier Heften 10 Mark. 



Inhalt: 



. Heft: 



Usener, Geburt und Kindheit Christi. 
Corssen, Die Urgestalt der Paulusakten. 
Schwartz, Zu Eusebius Kirchengeschichte. 
Preuscken, Bibelzitate bei Origenes. 
Schjott, Eine religionsphilosophische Stelle 

bei Paulus (Rem I, 18 — 20). 
Butler, An Hippolytus Fragment and a word 

on the Tractatus Origenis. 
Preuscken, Miszellen. 

2. Heft: 
Bugge, Das Gesetz und Christus nach der An- 

schauung der altesten Christengemeinde. 
Kattenbusch, Der Martyrertitel. 
Soltau, Die Herkunft der Reden in der 

Apostelgeschichte. 
Corssen, Zur Chronologie des Irenaeus. 
Vischer, Die Zahl 666 Ape 13, 18. 

Miszellen : 
Nestle, Eine lateinische Evangelienhand- 

schrift des X. Jahrhunderts. 



Linder, 0. Holtzmann und A' Goetz, Zur 

Salbung Jesu in Bethanien. 
Forster, Nochmals Jesu Geburt in einer 

HOhle. 
Nestle, Zur Genealogie in Lukas 3. 
Suhbach, „Die SchlQssel des Himmelreichs"- 

3. Heft: 
Deissmann, IXa<mipioc i),aiTCTipiov. 
5i:/-a<r,4,Af.i.,DieMallerinnunginAlexandrien. 
Hauschildt, UpeaPu-uepoi in Agypten im 

I. — 3. Jahrhundert n. Chr. 
Rodenbusch, Die Komposition von Lukas 16. 
Nestle, Neue Lesai'ten zu den Evangelien. 

Miszellen : 
Corssen, ZurVerstandigung fiber Apok 13, 18. 
Hoss, Tm den Reiseplanen des Apostels 

Paulus in Kor. I und II. 
Nestle, Ein Andreasbrief im N. T. 
Nestle, Sykophantin im biblischen Griechisch. 
Nestle,'DeT siilaeGeruch alsErweisd. Geistes. 



Die Zeitschrift erscheint jahrHch in vier Heften in der Starke 
von je etwa 6Bogen, die im Februar, Mai, August und November 
ausgegeben werden. Die Jahrgange I bis III kCnnen zum Preise von 
je 10 Mark nachbezogen werden. 



Verlagsbsricht der J. Richer' scken Verlagshuchhandlung in Giessen No. i. 



17 



Biicher aus den letzten Jahren: 



Das spatere Judentum als Vorstufe des Christentums 

1900. von Prof. D. W. Baldensperger in Giefien. M. — .60. 



Die Religion des Volkes Israel 

bis zur Verbannung 

von Prof. D. Karl Budde in Marburg. 

Geh. M. 5.—. 1900. Geb. M. 6.—. 



Der Kanon des Alten Testamentes. 

Ein Abrifi 
1900. von Prof. D. Karl Budde in Marburg. M. 1.40. 



Die Ebed-Jahwe-Lieder 

und die Bedeutung des Knechtes Jahwe's (in Jes. 40 — 55) 
1900. von Prof D. Karl Budde in Marburg. M. 1.50. 



Das Christentum als Religion des Fortschritts. 

Zwei Abhandlungen : 
„Das soziale Programm des Apostels Paulus" — ^Die Inspiration der heiligen Schrift". 
1900. Von Dr. theol. Chr. A. Bugge in Christiania. M. 1.40. 



Einleitung in das Buch Jesaia. 

Von Prof. D. T. K. Cheyne in Oxford. 

Deutsche Ubersetzuog von Lie. Dr. Julius Bohmer. 

Geh. M. 12.—. 1897. Geb. M. 13. 50. 



Das religiose Leben der Juden 

nach dem Exil 

von Prof D. T. K. Cheyne in Oxford. 

Deutsche Ubersetzung von Pfarrer H. Stocks. 

Geh. M. 5 — . 1899. Geb. M. 6.20. 



Niedergefahren zu den Toten. 

Ein Beitrag zur M^iirdigung des Apostolikums 
1900. von Prof. Lie, Dr. Carl Clemen in Bonn. M. v- 



18 



Die sprachliche Erforschung der griechischen Bibel 

ihr gegenwartiger Stand und ihre Aufgaben 
von Prof. D. G. A. Deissmann in Heidelberg. M. — .80. 



Zur Geschichte des Gottesdienstes 

und der gottesdienstlichen Handlungen in Hessen 

von Lie. theol. Wilhelm Diehl, Dr. phil. 
Cell. M. 5. — . 1899. Geb. M. 6. 



Zur Geschichte der Konfirmation. 

Beitrage aus der hessischen Kirchengeschichte 

von Lie. theol. 'Willielni Diehl, Dr. phil. 
Geh. M. 2.bo. 1897. Geb. M. 3.50. 



Die Bedeutung der beiden Definitorialordnungen 

von 1628 und 1743 

filr die Geschichte des Darmstadter Definitoriums 

1900. von Lie. theol. 'Wilhelm Diehl, Dr. phil. M. 1.60. 



Eine jakobitische Einleitung in den Psalter 

in Verbindung mit zwei Homilien aus dem grofien Psalmenkommentar des Daniel von Salah 

zum ersten Male herausgegeben, iibersetzt und bearbeitet von 

Pfarrer Lie. Dr. G. Diettrich in Berlin (frQher London). 

Grofi-Oktav. 1901. M. 6.50. 

Iso'dadh's Stellung in der Auslegungsgeschichte 

des Alten Testamentes an seinen Kommentaren zu Hosea, Joel, Jona, Sacharja 9 — 14 

und einigen angehangten Psalmen veranschauhcht von 

Pfarrer Lie. Dr. G. Diettrich in Berlin (fruher London). 

Grofi-Oktav. 1902. M. 7.50. 



Das Leben Jesu bei Paulus 

1900. von Dr. Richard Drescher, Pfarrer. M. 1.80. 



Die Anschauungen Luthers vom Beruf. 

Ein Beitrag zur Ethik Luthers 
1900. von Prof. Lie. Karl Eger in Friedberg. M. 3.60. 



Luthers Auslegung des Alten Testaments 

nach ihren Grundsatzen und ihrem Charakter untersucht an der Hand seiner Predigten 

fiber das I. und 2. Buch Mose (1524 FF.) 
I goo. von Prof Lie. Karl Eger in Friedberg. M. 1.40. 



Vertagsbericht der J. Richer' icken Verlagi-buchhandhmg in Giessen No, 1. |9 



Festgruss Bernhard Stade 

zur Feier seiner 25 jahrigen Wirksamkeit als Professor dargebracht 
1900. von seinen Schulern. M. lO,- 



Die Rechtslage des deutschen Protestantismus 

1800 und 1900 
1900. von Pfarrer Erich Foerster in Frankfurt a: M. M. — .80. 



Die Datierung der Psalmen Salomos 

Ein Beitrag zur judischen Geschichte 
1896. von Pfarrer W. Franfcenfaerg, Lie. theol. M. 3.20. 



Schleiermachers Religionsbegriff und religiose Stellung 

zur Zeit der ersten Ausgabe der Reden (1799 — 1806). 

1901. Von Lie. Emil Fuchs in Giessen. M. z.- 



Die Herrlichkeit Gottcs. 

Eine bibliseh-theologisehe Untersuchung, ausgedehnt uber 
das Alte Testament, die Targume, Apokryphen, Apokalypsen und das Neue Testament 

von Lie. theol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil. 
Grofi-Oktav. 1900. M. 3.20. 



Zusammensetzung und Herkunft der Bileamperikope 

in Num. 22 — 24 
1900. von Lie. tlieol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil. M. 1.50. 



Altisraelitische Kultstatten 

von 
Lie. theol. Aug. Freiherrn von Gall, Dr. phil. M. 



Das Christentum Cyprians. 

Eine historisch-kritische Untersuchung 
1896. von Pfarrer Lie. K. G. Goetz, Priv.-Doz. in Basel. M. 3.60. 



Der asthetische Genuss 



von 



Prof. Dr. Karl Groos in Giefien. 
Geh. M. 4.80. 1902. Geb. M. 6.- 



20 



Die religiosen und philosophischen 
Grundanschauungen der Inder. 

Aus den Sanskritqucllen vom vOlkergeschichtl. Standpiinkte des Cliristentiims aiis 

dargestellt und beurteilt 

'902. von Pfarrer Julius Happcl in Hcubach. M. lo — 

Schriften von Adolf Harnack. 

Martin Luther 

in seiner Bedeutung fur die Geschichte der Wissenscliaft 
3. Aul'lage. und der Bildung. M. — .60. 



Sokrates und die alte Kirche. 

igoi. Rektoratsrede. M. — .50. 



Die Aufgabe der theologischen Fakultaten 

I. — 3. Auflage. und die allgemeine Religionsgeschichte. M. — .50. 

Synopse der drei ersten kanonischen Evangelien 

mit Parallelen aus dem Johannes-Evangelium 

von Reinold Heineke. 

Geh. M. 3.—. 3 Teile. Geb. M. z|.so. 



Religionsgeschichtliche Vortrage 

von Prof. D. Oscar Holtzmann in Giefien. 
Geh. M. 3.—. 1902. Geb. M. 4.— 

Das Messiasbewusstsein Jesu 

und seine neueste Bestreitung 
1902. von Prof. D. Oscar Holtzmann in Giefien. M. — .50. 

Die judische Schriftgelehrsamkeit zur Zeit Jesu 

von 
iqoi. Prof. D. Oscar Holtzmann in Gieiaen. M. — .70. 



1900. 



Luthers religioses Interesse 
an seiner Lehre von der Realprasenz. 

Eine historisch-dogmatische Studie 
von Oberlehrer Lie. Karl Jager in Friedberg. M. 2. — . 



Verlagsbericht der jf. Bicker' scheu Virtagshuchhandlung in Giessen No. 1. 21 



Kultus- und Geschichtsreligion 

(Pelagianisraus und Augustinismus). 

Ein Beitrag- zur religiosen Psychologie und Volkskunde 

igo'- von Lie. Johannes Jiingst, Pfarrer. M. 1.60. 

Ausgewahlte christliche Reden 

von Sofen Kierkegaard. 

Ubersetzt von Julie von Reincke. 
Geh. IVI. 3. — . IVIit einem Bilde Kierkegaards und seines Vaters. Geb. IM. '\. — . 



Zwei ethisch-religiose Abhandlungen 

von 

Soren Kierkegaard. 

I. Darf ein Mensch sich filr die Wahrheit toten lassen? 

2. Uber den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel. 

1901. Ubersetzt von Julie von Reincke. M. 7.60. 



Joh. Fr. Herbart 

Sein Leben und seine Philosophic 

dargestellt von 
Priv.-Doz. Dr. Walter Kinkel in Giefien. 
Geh. M. 3.—. 1903. Geb. M. 4.- 



Die neuen Funde auf dem Gcbiete der altesten 
Kirchengeschichte (1889— 1898) 

von Prof. D. Gustav Krtiger in Giegen. M. — .60. 



Wilhelm von St. Thierry 

ein Reprasentant der mittelalterlichen FrSmmigkeit 

von Lie. Hermann Kutter. M. 4.50. 



Clemens Alexandrinus und das neue Testament 

1897. von Lie. Hermann Kutter. M. 3.60. 



Untersuchungen zum Buch Amos 

von 
D. Dr. Max Lohr, Prof. i. Breslau. M. 2.50. 



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Der deutsche Protestantismus 
und die Heidenmission im J 9. Jahrhundert 

von Prof. D. Karl Mirbt in Marburg. M. 1.20. 



Abendstunden. 

Religiose Betrachtungen 

von Prof. Fr. G. Peabody in Cambridge. 

DeiUsch von E MuUcuhoff, mit eiuem Vorvvort von Prof. D. O. Baumgarten in Kiel. 

Gro(3-Oktav. 1902. Geb. M. 2.50. 

Antilegomena. 

Die Reste der auGerkanonischen Evangelien 
und urchrisdichen Uberlieferungen 

herausgegeben und ubersetzt 
■901. von Lie. Dr. Erwin Preoschen. M. 3. — . 

Die apokryphen gnostischen Adamschriften 

aus dem Armenischen ubersetzt und untersuclit 
1900. von Lie. Dr. Erwin Preuschen. M. 2.50. 

Palladius und Rufinus. 

Ein Beitrag zur Ouellenkunde des altesten MOnchtums. 

Texte und Untersuchungcn 
1897. von Lie. Dr. Erwin Preuschen. M. 12. - 

Religion und Moral 

Streitsatze fiir Theologen 
■898. von Priv.-Doz. D.Martin Rade in Marburg. M. —.bo 

Konnte Jesus irren? 

1896. von Prof. Dr. Paul SciiwarUkopff in Wernigerode. M. i. — . 

Ausgewahlte akademische Reden und Abhandlungen 

von Prof. D. Bernhard Stade in Giefien. 
Geh. M. 6.— . 1899. Geb. M. 7.25. 

Die Entstehung des Volkes Israel 

1899. von Prof. D. Bernhard Stade in Giefien. M. — .bo. 

Verlagsbericht der y. Ricker'scken Verla^sbuckhandlung iti. Giessen No. /. 23 



The Composition and historical Value of Ezra-Nehemiah 



by Dr. Charles C. Toffey in New Haven. 



M. 2.40. 



Amos und Hosea. 

Ein Kapitel aus der Geschichte der israelitischen Religion 
von Prof. Dr. J, J. P. Valeton jr. in Utrecht. 

Deutsche Ubersetzung von Fr. K. Echt ernach t. 



M. 3.60. 



Die Bildersprache Jesu 

in ilirer Bedeutung fur die Erforschung seines inneren Lebens 
1900. von Lie. Dr. Heinrich Weinel, Priv.-Doz. in Bonn. IVI. 1.20. 

Die Idee des Reiches Gottes in der Theologie 



1900. 



von Prof. D. Johannes Weiss in Marburg. 
Oktav. 



M. 3.- 



Die Flugschrift „Onus ecclesiae" (1519) 

mit einem Anhang iiber sozial- und kirchenpolitische Prophetien 
1 901. von Dr. phil. Heinrich Werner. M. 2. 



Inhaltsverzeichiiis. 



Badevf Turm- und GloclcenbiJchlein 1 1 

Jiauevt Der Apostolos der Syrer 5 

Tiautnann, Auf ban der Amosreden . 1 2 
Budde, Das AT. und die Ausgrabungen. 

2. Aufl. I 2 

Buygef Die Haupt-Parabeln Jesu 5 

Clemeuf Paulus. Sein Leben und Wirken 12 

IHbeliiiSf Das Vaterunser 13 

Diettj-ich, Die nestorianische Taufliturgie 1 3 



— Die neusten Angriffe 

Drews, Die Predigt im 19. Jahrhundert 
Eibaeli, Unser Volk und die Bibel 
Gfessmann, Musik und iVIusikinstrumente 

im AT. . 
Tlamackf Act., Reden und Aufsatze 
— • Das IVIOnchtum, 6. Aufl. 

— Augustins Konfessionen, 3. Aufl. 
Hepding, Attis, seine Mythen und sein 

Kult 
Jlerzog, Der Begriif ^er Bekehrung 



JcmUowjr., M. Die Religion Babyloniens 

und Assyriens. Deutsche Ausgabe 
Kattenbuscli, Von Schleiermacher zu 

Ritschl. 3. Aufl. . 
JAdzharski, Ephemeris fiir semitische 

Epigraphik. II. Band i . Heft 
'Sellie, Mutter und Kind .... 
NUtdekSf Die kirchliche Beerdigung der 

Selbstmorder ... 
Peahody, Jesus Christus und die soziale 

Frage .... 
Preuschen, Monchtum und Sarapiskult. 

2. Ausg. . . 

Huhl, De mortuorum iudicio 
Siickerf Gesundheit u. Erziehung. 2. Aufl. 
Versuche und Vorarbeiten , religions- 

geschichtliclie 

Zeitschrift f. d. alttestamentliche Wissen- 

schaft . . .... 

Zeitschrift f.d. neutestamentlicheWissen- 

schaft . 



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14 
II 

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Verlagsbericht der J. Ricker'schen Verlagsbuchhandlung in Giessen No. /. 



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