Skip to main content

Full text of "Dante's Beatrice im Leben und in der Dichtung"

See other formats


Google 



This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct 

to make the world's books discoverablc online. 

It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject 

to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books 

are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover. 

Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the 

publisher to a library and finally to you. 

Usage guidelines 

Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the 
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to 
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying. 
We also ask that you: 

+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for 
personal, non-commercial purposes. 

+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc 
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the 
use of public domain materials for these purposes and may be able to help. 

+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind 
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it. 

+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just 
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other 
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of 
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner 
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe. 

Äbout Google Book Search 

Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs 
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web 

at |http : //books . google . com/| 



Google 



IJber dieses Buch 

Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im 
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde. 
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch, 
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann 
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles 
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist. 

Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin- 
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat. 

Nu tzungsrichtlinien 

Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse 
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese 
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch 
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen. 
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien: 

+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese 
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden. 

+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen 
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen 
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen 
unter Umständen helfen. 

+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über 
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht. 

+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein, 
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA 
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist 
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig 
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der 
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben. 

Über Google Buchsuche 

Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google 
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen. 
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .corül durchsuchen. 






• LORR'Hrne« 




<g •7r6cvTa •*jD el» <& 



'W/i 







■- v*^ 














-^ 






'-«st 






'V«!4K,-, 



s.. 



\ 



V 



4 

\ 



1 



Dantes Beatriee 



— -»^ »te * .^%^^^ 



im Leben und in der Dichtung, 



Von 



Oskar Bulle 

Dr. phil. 




BERLIN. 
Verlag von Paul Hüttig. 

1890. 



Alle Rechte vorbehalten. 



h 



« 



Meiner üeben Frau Elisal 



Florenz, am Ostersonntag 1890. 



Der Verfasser. 



Das Ewig -Weibliche 
Zieht uns hinan! 

(Goethe. „Faust" IL Theil.J 



Tu m'hai di servo tratto a libertate. 

(Dante, „II Paradiso** XXXI, 85.) 



\ 



INHALT. 



Seito 

EmleituDg 1 

I. Beatrice Portinari 12 

IL „La Vita nuova^ von Dante 30 

m. Die Gedichte der „Vita nuova^ M 

rV. Der Prosa -Text der „Vita nuova" 92 

V. Die „Herrin" im „Convito" von Dante; 110 

YI. Die Beatrice der „Divina Commedia'' HS 



■«•. 



1 



EINLEITUNG. 

— vv/Wv/^ 

i-Jie schöne, griechische Anschauung , dass die den 
Künstler begeisternde Muse weiblichen Geschlechtes sei, 
findet weder bei den modernen Dichtem noch bei den 
beutigen Kritikern mehr eine starke Anhängerschaft. Der 
Glaube an die Zaubermacht des „Ewig- Weiblichen" ist in 
demselben Maasse geschwunden, als man der Frau eine 
selbständige, von der des Mannes losgetrennte Stellung 
und eine Bedeutung eingeräumt hat, die nicht in der Be- 
ziehung zu dem Herrn der Schöpfung, in dem stillen, fast 
mystischen Einfluss auf sein Herz und seine Seele und in 
der schönen, harmonischen Ergänzung beider Geschlechter 
ihre Wurzeln hat, sondern dem zarten Weibe den für sie 
mmatOrUchen selbstthätigen Antheil am Kampf um's Da- 
sein aufdrängen will. Der Cultus des Weibes hat dadurch 
anstatt an Stärke und an Verbreiterung und an Intensität 
za gewinnen, nur die Erhabenheit und mit ihr den poetischen 
Beiz emgebüsst, die ihm in früheren Zeiten eigen waren. 
Denn wie Antäus verlässt die Frau, die sich emancipiren 
will von den natürlichen Lebensbedingungen ihres Ge- 
schlechtes, den Boden, aus dem es äUein Kraft und ewige 
Jugend saugen konnte, und für die zarten und stillen 

1 



Künste, mit denen früher die Tochter Eva's zu siegen 
wnsste, sucht sie Waffen einzutauschen, die schweren und 
in ihren Händen so zweischneidig wirkenden Eampfesmittel 
des Mannes. 0, wenn die Frauen unserer heutigen Tage 
doch sich inuner der grossen und bedeutungsvollen Siege 
erinnern wollten, die ihre Schwestern in früheren Zeiten, 
nicht etwa durch das Streben einer stolzen Emancipation 
vom Manne, nein, durch ihre zarte und stille und de- 
müthige Einwirkung auf ihn, für unsere Cultur, für unser 
ganzes Geistesleben, für die Fortentwicklung der Mensch- 
heit davongetragen haben! 

Yon einem dieser grossen Siege will ich in dem Nach- 
folgenden handeln. Yon der grossen Bedeutung nämlieh, 
die im Mittelalter ein zartes Weib f(ir das innere Leben 
des grössten Dichters, des Vollenders dieser Epoche, 
gewann, von der Begeisterung, mit der ihr Bild ihn er- 
füllte, von der veredelnden, läuternden, zum Himmd 
hinführenden Macht, mit der die Erinnerung an sie sich 
in ihm zu den höchsten poetischen Empfindungen umsetzte, 
von dem grossen, harmonischen Grundgedanken, mit dem 
ihr mildes Wesen sein dichterisches Lebenswerk erfüllte. 
Von der Beatrice Dante's will ich handeln. 

Es wird ein klares Licht auf die skeptische Auffassung 
werfen, mit der im Allgemeinen unsere Zeit einen solchen 
Sieg des „Ewig-Weiblichen" betrachtet, wenn ich vorerst 
kurz untersuche, wie sich die moderne Litteratur und 
Kritik ihm gegenüber verhält, und zwar wird es genügend 
sein, wenn ich, da es sich doch um Italiens grossen Dichter 
handelt, lediglich auf die moderne italienische Kritik 
eingehe. 

Die heutige italienische Litteratur hat eine eigenthüm- 
liche und werthvolle Bewegung durch die Begeisterung 



empfangen, mit der sie zu dem Studimn Dante's zmUck- 
gekehrt ist. Die mehr oder weniger intensive Be- 
schäftigung der Italiener mit ihrem grossen Dichter ging 
stets Hand in Hand mit dem Erstarken oder mit dem 
Niedersinken des NationalgefEkhls in ihrer Brust, und schon 
die zahlenmässige Yergleichung der Dante-Ausgaben und 
der Dante-Gommentare, wie sie in den einzeben Jahr- 
hmiderten bisher erschienen sind, liefert uns von jener 
Beschäftigung gleichsam eine Intensitäts-Curve, deren He- 
bungen und Senkungen dem Anwachsen und Abschwellen 
des politischen Selbstgefühls in dieser Zeit entsprechen. 
Noch mehr wird diese Uebereinstimmung uns deutlich, 
wenn wir die Art und Weise, oder sagen wir viehnehr 
den Geist näher betrachten, in denen die Studien über 
Dante in den einzelnen Perioden betrieben worden sind. 
Wirkliches Eindringen in den Geist des Dichters, echte 
Begeisterung för seine patriotische oder auch för seine 
supranaturalistische Poesie, empfänglicher Sinn fÖr das 
wirklich Erhabene und Grosse in derselben und entschie- 
denes Betonen des Wesentlichen in ihr wechseln mit einer 
fast verknöcherten Dante -Philologie, mit abstrusen und 
kleinlichen Düfteleien über die dunkelen Stellen der Ge- 
sänge, mit haarsträubenden Wortklaubereien und lang- 
weiligen Scholienfehden und mit geistesverwfirenden Ge- 
heimnisskrämereien ab, und auch diese Abwechselungen 
geschehen in grossen Intervallen und fast gruppenweise, 
80 dass man meist über einen Dante -Commentar, schon 
ohne ihn zu kennen, ein richtiges Urtheü fällen kann, 
wenn man nur weiss, aus welcher Erklärungsperiode oder 
auch, was damit identisch ist, aus welcher politischen Zeit 
er stammt. In unserem Jahrhundert ist, wie schon gesagt, 
mcht nur die Beschäftigung mit Dante wieder allgemeiner 



geworden, so dass die italienische Litterator jetzt auf einem 
der Cnlminationspunkte jener Intensitats-Curve angelangt 
ist, sondern es hat sich auch wieder ein frischer Zug, ein 
neuer Schwung in der Auffassung der Dante'schen Dich- 
tungen fühlbar gemacht, der wie ein erquickender Hauch, 
wie ein Athemzug der Befreiung auf die gesammte übrige 
moderne Litteratur Italiens eingewirkt hat, und vor dem 
der philisterhafte, trockene und lehrhafte Geist, mit wel- 
chem man in den beiden Jahrhunderten vorher Dante las 
oder yiehnehr nicht las, sondern nur erklärte, sich in sein 
Nichts auflöste. Wie in keinem anderen Lande in diesem 
Maasse, ist in Italien die Einheitsbewegung, die zur Be- 
gründung des neuen nationalen Königreiches ftkhrte, wäh- 
rend des ganzen Jahrhunderts von der Litteratur entfacht, 
gepflegt und getragen worden ; nirgends lässt sich so deut- 
lich wie hier die schöne und ideale Einheit verfolgen, in 
welcher bei jedem frisch auf- und vorwärts strebenden 
Yolke die litterarischen und die politischen Strömungen 
nothwendig zusanunenlaufen. Und eine wirklich von grossen 
Gesichtspunkten ausgehende und auf einheitlichen, be- 
stimmten Grundideen beruhende G^chichte der italienischen 
Einheitsbewegung, die bis jetzt noch von Niemandem ge- 
schrieben worden ist, müsste nicht nur ihr Hauptaugen- 
merk auf jene, die politischen Bewegungen begleitenden 
litterarischen Strömungen richten, sondern sie dfirfte auch 
nicht Dante's vergessen und seines Einflusses auf das 
moderne Italien. Fürwahr, es ist, als sei er aus seinem 
Grabe angestanden, der grosse Florentiner, aus dem stillen 
Grabe dort neben der Kirche der Frati Minori in Ravenna) 
und habe mit seiner Donnerstimme seinen Landsleuten, 
die ihn und seine grossen Ziele vergessen hatten, jene 
glühenden Worte abermals zugerufen, die er einst über 



die Zerfleischung seines Vaterlandes durch die fremden 
Eroberer gedichtet hatte (Purgatorio Yt): 

Italien, Sclavin, Schmerzens Herberg' nur, 
Du lenkerloses Schiff im Zeitensturme, 
Nicht Herrin, sondern aller Fremden Hur*! 

Die Schmach, die schon der Dichter so tief empfunden, 
brannte jetzt auch in den Herzen der Epigonen, und nichts 
war natürlicher, als dass diese nun auf den Dichter zurück- 
griffen, dem jene Worte aus voller Seele gedrungen waren. 
Es ist nicht zu verkennen, dass die Dante-Erweckung in 
unserem Jahrhundert in Italien zunächst von patriotischem 
Gesichtspunkte aus stattfand und zunächst auch lediglich 
patriotische Ziele hatte, aber einmal aus seinem Schlummer 
erwacht, nahm der grosse Sänger nun auch sofort die 
eigentliche litterarische Aufmerksamkeit seines Volkes 
wieder in Anspruch, die auf ihn durch die patriotischen 
Chöre in Alfieri's Dramen damals genügend vorbereitet 
worden war. Und reiner und immer reiner, erhabener 
und leuchtender als je zuvor prägte sich Dante's grosse 
Dichtergestalt von Neuem in die Seele des italienischen 
Volkes ein. Man kann sagen, dass niemals zuvor so viel 
gearbeitet worden ist, um in das Verständniss der Worte 
des Dichters einzudringen, dass niemals zuvor von allen 
Seiten her mit solcher Begeisterung, wie heute, die Ge- 
sänge und auch die Lieder und die prosaischen Werke 
Dante's gelesen, durchforscht und erläutert wurden, und 
dass auch wirklich besser, wie wohl je zuvor der Dichter 
verstanden wurde und verstanden wird. Trotz des über- 
trieben philologischen Zuges, der heutzutage überall, und 
am meisten leider in Deutschland, die Litteraturforschung 
durchdringt, hat sich die moderne italienische Dante- 



I 



Wissenschaft im Ganzen von Kleinigkeitskrämerei mid 
Pedanterie frei gehalten. Einzelne Auswüchse nach dieser 
Seite hin, die besonders in den letzten Jahren hervor- 
wucherten, sind bis jetzt noch von geringer Bedeutung 
geblieben gegenüber dem freiheitlichen und grossen Geist, 
mit dem man den Dichter liest und auffasst, mit dem man 
seine Werke der modernen Anschauungsweise näher zu 
bringen und ihren Inhalt mit derselben in Beziehung zu 
setzen sucht, mit dem man überhaupt in ihm nicht zu- 
nächst den oft dunkelen, mystischen und kabalistischen 
Theologen und Philosophen, den echten Sohn seiner Zeit, 
sieht, sondern vor Allem den Propheten und gottbegeisterten 
Sänger, den Dichter, der alle Höhen und Tiefen des Lebens 
und des menschlichen Herzens durchforscht hat, den grossen 
Schöpfer und Meister der Volkssprache, in der er so ge- 
waltig und so tief zugleich zu reden wusste. 

Wenn es so in der That eine Freude ist, die heutigen 
gebildeten Italiener ihren Dante lesen oder recitiren zu 
hören und ihr feines, neuerwachtes Verständniss seiner 
Gesänge zu beobachten, oder die Schriften durchzusehen, 
die so zahlreich, wie nie zuvor, über den Dichter und 
seine Werke von ihnen geschrieben und im Volke ver- 
breitet werden, so muss man sich daneben um so mehr 
wundem, eine Frage immer wieder erörtert und als offene 
betrachtet zu sehen, die, meines Erachtens, von vorneherein 
für Jeden, der sich in Dante's Wesen und Dichtung und 
in den Charakter seines Zeitalters, des dreizehnten Jahr- 
hunderts, mit Verständniss vertieft hat, schon gelöst sein 
müsste. Es ist dies die Frage nach dem Einflüsse, welchen 
das weibliche Ideal Dante's, Beatrice, seine Führerin durch 
die Stemensphären des Paradieses, auf seine Dichtungen 
und überhaupt auf seine ganze Anschauungsweise ge- 



Wonnen hat. Dieser Einfloss dürfte überhaupt nicht in 
Zweifel gezogen werden, wenn man sich an Dante's eigenes 
Zeugniss, an den grossen Zusammenhang, der in seinen 
Werken, und zwar nicht allein in der „Gröttlichen Komödie^, 
zu finden ist, und an den hohen Cultus des Weibes im 
christlichen Mittelalter streng halten, wenn man nicht 
immer wieder die sogenannten realistischen Ideen unserer 
Zeit von der Stellung der Frau auch auf Bante's Wesen 
übertragen und wenn man sich nicht so sehr vor dem 
romantischen Schimmer einer weiblichen Muse, die den 
Dichter zu seinem Lebenswerke begeistert hat, fürchten 
wollte. In keiner Frage ist von der neueren Dante- 
forschung mehr gedüftelt, allegorisirt und symbolisirt worden, 
als in der von dem Yerhältniss des Dichters zu seiner 
Beatrice, und in keiner anderen Erörterung sind die modernen 
Dante-Erklärer zu dem trockenen Tone der Commentatoren 
aus dürftiger Zeit zurückgekehrt, ausgenommen in dieser 
einzigen über die Beatrice Portinari. Sie, die holdselige 
Jugendgeliebte Dante's, darf nicht gelebt haben, so meint 
man heute. Und wenn wirklich einer Beatrice Portinari, 
die mit Dante aufwuchs, nach unzweifelhaften historischen 
Zeugnissen die Existenz nicht abzustreiten ist, so darf die^ 
selbe wenigstens nicht die Greliebte des Dichters und am 
allerwenigsten sein poetisches Ideal, das Urbild der Beatrice 
ans der „Göttlichen Komödie" gewesen sein. Es ist eines 
80 grossen Dichters nicht würdig, von einem Mädchen, 
von einem Weibe, und wäre es noch so edel, begeistert 
zu sein. „Was redet man immer von einem Weibe, die 
Dante begeisterte I" schreibt Griosuö Carducci, der nicht 
nur ein grosser Dichter, sondern auch ein grosser Dante- 
Kenner genannt wird. „Die grossen Dichter schöpfen ihre 
Begeisterung aus ihrer eigenen Seele, aus der liebe fOr 



8 



das Yaterland, aus der Yerehrung Gottes, und die Beatricen 
machen nicht sie, sondern sie machen die Beatricen. 
Ausserdem ist es nicht gut, dass die Erbkrankheit der 
Sentimentalität sich zum Schaden der wahren und er- 
habenen Kunst noch weiter verbreite. Es besteht nicht 
der geringste Zweifel daran, dass die Beatrice der „Gött- 
lichen Komödie" die Theologie, die heilige Wissenschaft, 
den Glauben bedeutet; will man sie auf die Proportionen 
eines Bräutchens, das zufällig vor 600 Jahren lebte, zurtLck- 
fllhren und zurückschrauben, so läuft man Gefahr, sich an 
Dante, am Mittelalter und an der Herbheit des toskanischen 
Charakters zu versündigen". Carducci hat mit dieser 
Aeusserung, meines Erachtens, nur in dem einen Punkte 
Recht, dass es nicht gut sei, an diese Frage mit einer 
gewissen Sentimentalität heranzutreten und der Verbreitung 
dieser Erbkrankheit auf diese Weise Vorschub zu leisten. 
Er stürzt sich aber dabei in den Widerspruch, dass er, 
an dem begeisternden Einflüsse jenes „Bräutchens" auf 
den Dichter zweifelnd, diesen selbst zum Vertreter einer 
mehr als krankhaften Sentimentalität macht, denn dann 
würde ja Dante in seinen Jugendliedem und in dem ver- 
bindenden Texte, den er ihnen in der Schrift „La vita 
nuova" giebt, von einem Luftgebilde phantasiren, dem er 
seine heissesten Liebesschwüre und seine Thränen und das 
Gelübde, es dereinst im Liede zu verherrlichen, widmet und 
das uns an „die zukünftige Geliebte" erinnern könnte, von 
der Klopstock und Hölty in ihrer Jugend „sentimentalisch** 
sangen. Nein! Es war wirklich die heissgeliebte Beatrice 
Portinari, deren Bild den Dichter auf seinem Lebensweg 
begleitete, die er, nachdem sie ihm schon Mh durch den 
Tod geraubt worden, in seiner glühenden Phantasie mit 
dem höchsten Schmuck, den er sich vorstellen konnte, mit 



der Strahlenglorie der heiligen Wissenschaft, bekleidete, 
und zu deren Cultus er aus allen Verwirrungen und Ver- 
irrungen des Lebens wie ein Geretteter am Ende seiner 
Laufbahn und seiner Wirksamkeit zurückkehrte. Es ist 
ein echtes Zeichen unserer Zeit, dass sie nicht begreifen 
kann und nicht begreifen will, dass ein grosser Dichter 
ein weibliches Ideal im Herzen getragen und es verherr- 
lichend über alle anderen Ideale gestellt hat. Das „ewig 
Weibliche, das uns hinanzieht^ ist eben auch für Dante eine 
Thatsache, nicht nur ein dichterischer Traum gewesen; er 
empfand die läuternde Wirkung desselben an seinem Wesen, 
das so leidenschaftlich, so zornig, so unfrei war, und ftlr 
das er Bettung und Heil nur in der gänzlichen Hingabe 
an das weibliche Ideal ersah. Die Stellung und Be- 
deutung des Weibes war in jener Zeit, die wir so glor- 
reich überwunden zu haben meinen, eine erhabenere und 
höhere als heute : die Frau galt dem Manne als die Ver- 
mittlerin des Heils, und die hohe Ausbildung des Madonnen- 
kultus geschah nur auf der Grundlage dieser Geltung. Der 
tiefe Gegensatz, welcher oft zwischen der Verachtung und 
Vernachlässigung der ungeliebten Ehegattin und der schwär- 
merischen Erhöhung der ideal geliebten „Herrin" dabei 
zur Erscheinung kommt und der ja leider auch in Dante's 
Leben eine gewisse Bolle spielt, beweist eben auch nur 
die Bedeutung des Cultus der „Madonna", der „geliebten 
Frau", der „süssen holden Herrin", die wirklich das Herz 
des Mannes gefangen hält, während die „Andere", d. h. 
die Ehefrau, so oft. nur aus äusseren und materiellen 
Gründen an seine Seite gekettet worden ist. Es ist deshalb 
wohl richtig, zu sagen, dass im Mittelalter zwar der Ehe- 
begriff weniger ideal, als heute aufgefasst wurde — woftlr 
gerade im „Leben Dante's" von Boccaccio ein so derber 



10 



Beweis uns vorliegt — dass aber dagegen die Werth- 
schätznng des wirklich geliebten Weibes als idealer Gehülfin 
des Mannes, als Heilsvermittlerin und Erlöserin, um so höher 
und reiner dastand. Und zu dieser fast supranaturalistisch 
zu nennenden Werthschätzung der „Herrin" liefert Bante's 
Leben und Dichten einen bedeutungsvollen Beitrag, den 
alle Commentatoren des Dichters, die ihn von modernen 
Gresichtspunkten aus betrachten, nicht wegzuleugnen im 
Stande sind. Wie in so vielen anderen Beziehungen ist 
auch in diesem Punkte Dante der Vollender, der Interpret 
des Mittelalters und seine Dichtung der Culminationspunkt 
der Anschauungen desselben. Sein Lebenswerk ist der 
Verherrlichung der „geliebten Herrin" gewidmet, und man 
kann es ohne ihre Gestalt nicht in seiner Gesammtheit 
verstehen. Deshalb bildet die Ableugnung des Beatrice- 
Cultus, der Zweifel an der wirklichen Liebe des Dichters 
zu einem realen Weibe, das sich Beatrice nannte, und die 
Lostrennung seiner Jugendliebe oder wenigstens seiner 
Jugendgedichte von seinem grossen späteren Werke, der 
„Göttlichen Komödie" för mich stets einen Beweis, dass 
man den Dichter doch nicht recht verstanden hat, wenn man 
vielleicht auch in die Einzelheiten seiner Dichtungen vor- 
trefflich eingedrungen ist. Ich will es nicht leugnen, dass 
viele dunkle und scheinbar unerklärliche Stellen seiner 
Jugendgedichte die Versuchung, die Textschwierigkeiten 
durch allegorische Deutungen zu überwinden, nahe legen, 
aber ich glaube auch, dass man in dieser Hinsicht in der 
Auffindung solcher Schwierigkeiten und in einer gewissen 
Greheimnisskrämerei oft zu weit gegangen ist, und dass 
Vieles sich natürlich löst, wenn man es natürlich betrachtet. 
Es ist mir aus allen diesen Gründen als eine angenehme 
Aufgabe erschienen, einmal das Verhältniss Dante's zu 



11 



Beatrice einer zusammenhängenden Prüfung zu unterziehen 
und dabei, ausgehend von der Jugendschrift Dante's, „La 
vita nuova", in welcher er seine liebe zu Beatrice in 
Versen und in Prosa schildert, die Umgestaltung dieses 
ersten Gegenstandes seiner Liebe zu einem hohen Lebens- 
ideale im Einzelnen zu verfolgen. 



H^^ 



I 



L 
BEATBICE PORTINAEI. 

Der erste Dante -Biograph, der bekanntlich kein Ge- 
ringerer war, als Giovanni Boccaccio, erzählt uns 
Folgendes von dem jungen Dante*): 

„Die Studien verlangen gewöhnlich Einsamkeit und 
Freiheit von Sorgen, und am meisten die speculativen, 
denen sich, wie wir gesehen haben, unser Dante gänzlich 
hingab. Anstatt solche Abgezogenheit und Ruhe gemessen 
zu können, hatte aber Dante, beinahe vom Beginn seines 
Lebens an bis zu seinem Tode, mit einer heftigen und 
peinigenden Liebesleidenschaft, mit einem Eheweibe, mit 
Familien- und politischen Sorgen, mit Verbannung und 
Armuth zu kämpfen, ganz abgesehen von anderen kleinen 
Leiden, die jene grösseren immer nach sich ziehen. Die 
letzteren glaube ich, entsprechend ihrer Bedeutung, im 
Einzelnen hier erzählen zu müssen. 

In der Zeit, in welcher der milde Himmel die Erde 
in ihren Brautschmuck kleidet, und bunte Blumen, die aus 
üppigem Grün hervorleuchten, ihr besonderen Heiz ver- 
leihen, pflegten früher in unserer Stadt oder auch bei den 
Landleuten in ihren Ansiedelungen frohe Feste, sei es in 



*) flVita di Dante* di Giovanni Boccaccio. 



13 



den einzelnen Familien, sei es auch in grösseren Yereini- 
gangen, gefeiert zu werden. Aas diesem Grande hatte 
unter Anderen aach Folco Portinari, ein in jenen Zeiten 
anter seinen Mitbürgern sehr angesehener Mann, am ersten 
Mai seine Nachbarn in der Rande in sein Haas za einem 
Feste eingeladen; anter diesen befand sich der schon er- 
wähnte Allighieri, welcher den kleinen Dante, der noch 
in seinem nennten Lebensjahre stand, bei sich hatte, wie 
es ja so za geschehen pflegt, dass die Kinder, besonders 
zu festlichen Grelegenheiten, ihren Eltern nachlanfen. Der 
Knabe mischte sich dort fröhlich anter die andern Knaben 
and Mädchen, von denen im Hanse des Festgebers eine 
grosse Anzahl vorhanden war, and gab sich mit ihnen, 
nachdem er seinem jagendlichen Alter entsprechend be- 
wirthet worden war, fröhlichen Spielen hin. Unter dem 
Schwann der Kinder befemd sich eine Tochter des oben 
erwähnten Folco, mit Namen Bice (so nannte sie der 
Yater stets, anstatt mit ihrem eigentlichen Namen Bea- 
trice); diese war damals angefähr acht Jahre alt and 
war ihrem Alter entsprechend sehr lieblich and schön, 
dazu reizend and gefällig in ihrem ganzen Aaftreten and 
hatte in ihrem Wesen, wie in ihrem Sprechen eine gewisse 
Würde and Bescheidenheit, wie sie sonst Kindern nicht 
eigen za sein pflegen, Ansserdem waren ihre Gesichtszüge 
zart and äusserst regelmässig, and in denselben prägte 
sich, abgesehen von grosser Schönheit, eine so würdevolle 
Anmath aas, dass sie von vielen för ein kleiner Engel 
gehalten worde. Diese also trat so, wie ich sie geschildert 
habe and vielleicht noch schöner während jenes Festes 
Tor die Angen nnseres Dante and machte damals einen 
solchen Eindrack aaf ihn, wenngleich er sie wohl, wie ich 
glaube, nicht znm ersten Male sah, dass er sich in sie 



14 



yerliebte und trotz seines jugendlichen Alters mit solcher 
Lebhaftigkeit sich ihr Bild in sein Herz einprägte, dass 
es von jenem Tage an, so lange er lebte, nicht meder 
daraus verschwand. Welcher Art diese liebe war, die 
dort so plötzlich in ihm erwachte, lässt sich nicht sa^en; 
aber, möge nun die Uebereinstimmung der Anlagen und 
der Temperamente oder der besondere Einfluss des Him- 
mels, der dabei wirksam war, oder auch die Festesstim- 
mung dazu beigetragen haben, die ja, wie wir wissen, 
durch die Yereinigung des Zaubers der Musik, der allge- 
meinen Heiterkeit und des (jenusses guter Speisen und 
feuriger Weine nicht nur die Gemttther reifer Mämier, son- 
dern besonders die Einderherzen freudig und guter Dinge 
und fiCbr liebliche Eindrflcke empfänglich macht: sicher ist es, 
dass Dante damals, also schon in seinem Eindesalter, der 
glühendsten Liebesleidenschaft unterworfen ward, und 
ohne mich weiter auf eine Erklärung dieser jugendlichen 
Eindrücke einzulassen, fQge ich hinzu, dass mit dem 
wachsenden Alter diese Liebesfiammen in ihm immer 
brennender wurden, so dass er in keiner anderen Sache, 
ausser in ihrem Anblick, mehr Yergnügen noch Buhe 
noch Erholung fand, und dass er deshalb, alle anderen 
Beschäftigungen bei Seite lassend, nur immer au£3 Eifrigste 
die Orte au&uchte, wo er sie sehen zu können hofite, als 
ob er aus ihrem Antlitz und aus ihren Blicken sein Heil 
und seinen einzigen Trost schöpfen könnte. 

0, Thorheit der Verliebten! Wer, ausser ihnen, 
bildet je sich ein, durch Yermehrung des Brennstoffes das 
Feuer ersticken zu können! Alle die mannigfaltigen Gre- 
danken und Seufrer und Thränen und heftigen Leiden- 
schaftsausbrüche, die um dieser Liebe willen ihn bestürmten 
und beunruhigten, hat er selbst zum Theil dargestellt in 



15 



seiner ^Yita nuova^, und deshalb will ich mir nicht weiter 
Mühe geben, sie zu erzählen. Einen Punkt nur möchte 
ich nicht unerwähnt lassen, nämlich den, dass, wie er 
selbst schreibt und wie auch andere, denen seine Leiden- 
schaft bekannt war, urtheilen, jene Liebe die ehrbarste 
war, und dass bei derselben nie, weder durch einen Blick, 
noch durch ein Wort noch durch eine Gebärde, ein sinn- 
liches Gelüste, sei es im Liebenden, sei es im geliebten 
Gegenstande, zum Ausdrucke kam; wahrlich ein nicht 
geringes Wunder für unsere Zeit, welche ehrbare Freuden 
nicht kennt und in der die Gewohnheit herrscht, die Ge- 
liebte, bevor man sich entschliesst, sie zu lieben, als 
Gegenstand einer zügellosen Begierde zu betrachten, so 
dass es heute zu den wunderbaren und seltenen Dingen 
gehört, wenn Jemand in anderer Weise liebt. — Wenn 
die Liebe ihn schon so sehr und so lange am Essen, am 
Schlafe und an jeder anderen Erholung hinderte, darf man 
dami nicht um so mehr annehmen, dass sie auch seinen 
auf das Höchste gerichteten Studien und seinem Geiste 
entgegengewirkt habe? Sicher ist das nicht wenig der 
Fall gewesen; und wenn viele glauben, dass die Liebe im 
Gegentheil seinen Geist gefördert habe, indem sie ihm den 
Antrieb gegeben, seine LiebesgeftQile und seine heftigen 
Empfindungen in anmuthiger Weise in der florentinischen 
Volkssprache und in den Gedichten auszudrücken, die er 
einst zum Lobe der geliebten Herrin sang, so stimme ich 
d^n nicht zu, es müsste denn sein, dass die Kunst, die 
Gefühle anmuthig wiederzugeben, schon das höchste Ziel 
aller Wissenschaft sei, was doch nicht der Fall ist.^ 

Soweit folgen wir dem grossen Certaldesen in seinen 
Betrachtungen über Dante's Jugendliebe. Der Pessimismus, 
der am Schlüsse dieser Darstellung hinsichtlich des Ein- 



16 



flusses des Beatrice-Caltus auf Dante's geistige Entwickelong 
zum Ausdruck kommt, und der sich noch drastischer in 
dem weiteren Verlaufe seiner Erzählung, bei der Be- 
trachtung des Ehelebens Dante's zeigt, steht einigermassen 
im Widerspruch mit der begeisterten und reizenden 
Schilderung, die er einige Zeilen vorher von der Anmuth 
und der Schönheit der jungen Beatrice entwirft; und es 
ist dabei bezeichnend für die neueren Gegner der „echten" 
Beatrice, dass sie sich gerne auf Boccaccio' s Meinung 
über den hindernden Einfluss einer so ungestümen und 
alle geistigen Kräfte des Dichters in Anspruch nehmenden 
Leidenschaft berufen, um daraus eine Stütze fOr ihre Ver- 
neinung der Realität einer solchen Liebe zu gewinnen, 
während sie nach der anderen Seite hin die Thatsachen, 
von denen Boccaccio berichtet, in Zweifel ziehen. Auf jeden 
Fall ist schon aus dem inneren Grunde, dass der erste 
Biograph die nicht gerade förderliche Einwirkung einer 
heftigen Jugendliebe auf die geistige Entwicklung des 
Dichters constatiren muss, die er doch in seiner Be- 
geisterung für semen Helden sonst lieber übergangen haben 
würde, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die von ihm 
erzählte Greschichte dieser Leidenschaft gewonnen. Und 
diese Wahrscheinlichkeit wird durch äussere Gründe nicht 
unwesentlich verstärkt. Zunächst ist festzuhalten, dass 
Boccaccio sein Leben Dante's nicht allzu spät nach dem 
Tode des grossen Dichters verfEisste und dass er, während 
er es niederschrieb, ia Florenz, also an der Stätte jener 
Jugendliebe lebte. Wenn es auch nicht feststeht , ob die 
Abfassungszeit dieser kleinen Schrift wirklich schon in das 
Jahr 1351, also nur dreissig Jahre nach dem Tode Dante's 
fällt, wie Manche annehmen, so hat sie Boccaccio doch 
sicheilich früher niedergeschrieben, als seinen leider un- 



17 



vollendeten Commentar zu der „Göttlichen Komödie**, der 
in seine letzten Lebensjahre Mt und der ihm als Grund- 
lage fdr seine Yorlesungen über Dante's grosses Gedicht 
diente. Es ist im (xegentheil anzunehmen, dass gerade 
seine Biographie Dante's und die begeisterten, von heiligem 
Feuer der Entrüstung durchglühten Worte, welche er in 
derselben an das undankbare Florenz richtet, das seinen 
grössten Sohn nicht achte und nicht würdige und seine Ge- 
beine in fremder Erde yermodem lasse, erst den Anstoss 
zu jener schönen Petition der Bürger von Florenz an die 
Signoria gaben, in welcher die Prioren und der Bannerträger 
der Republik gebeten werden, einem wisssenskundigen 
Manne die Erklärung der Dante'schen Dichtung als Amt 
zu übertragen. Diese Petition stammt aus dem August 
des Jahres 1373, und der Entschluss der Prioren, jenes 
Amt dem Certaldesen zu übertragen, folgt ihr im December 
desselben Jahres. Sicherlich fällt also die Abfassungs- 
zeit der Dante-Biographie des Boccaccio nicht später, als 
höchstens ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des 
Dichters, in eine Periode, in der man in Florenz bereits 
auf's Eifrigste begonnen hatte, sich mit den Dichtungen 
und infolgedessen auch wohl mit dem Leben des grossen 
Verbannten zu beschäftigen, in der seinen Kindern bereits 
die väterlichen Güter zurückgegeben worden waren und 
in der man damit umging, nicht nur seine Gebeine von 
den Eavennesem zurückzufordern, sondern auch ihm ein 
würdiges Grabdenkmal zu setzen. 

Ist es nicht wahrscheinlich, dass in einer solchen Zeit 
dem Biographen authentisches Material von allen Seiten 
reichlich zufloss? Authentisch deshalb, weil einerseits die 
Lebenszeit des Dichters noch nicht zu weit zurücklag und 
-weil andererseits die allgemeine Aufraerksamkeit die Er- 

2 



18 



Zählungen, auf denen er in seiner Darstellung fiisste, noch 
genügend controliren konnte. Zwar sehen wir es an unseren 
heutigen Biographien bedeutender Männer, wie rasch oft 
die Fabelbildung stattfindet, und auf dieser Beobachtung 
fassen auch die Gegner der „echten" Beatrice, indem sie 
annehmen, dass die Florentiner und die Gewährsmänner 
Boccaccio's, weil sie infolge der missyerstandenen Lektüre 
der Dante'schen „Vita nuova" und der falschen Deutung 
der Führerin des Dichters im Paradiese einer realen 
Beatrice bedurften, eine Tochter des Folco Portinari, die 
zufällig in Dante's Jugendzeit ebenfalls jung war und 
wenige Häuser von seinem Yaterhause entfernt aufwuchs, 
und zufällig auch den Namen Beatrice trug, zum heiss- 
geliebten Ideal des Dichters stempelten. Aber auch Fabeln 
entstehen nur auf Grund von Thatsachen, und die allge- 
meinen Andeutungen Dante's in seiner „Tita nuova" 
sowohl über den Gegenstand seiner Liebe als auch über 
Beatricen's Umgebung, ihren Wohnort, ihre Lebens- 
umstände und ihr Hinscheiden würden noch nicht genug 
Thatsachen liefern, um auf Grund von ihnen eine Fabel- 
bildung von der Bestimmtheit, mit der sie bei Boccaccio 
auftritt, wahrscheinlich zu machen. Die Anhänger dieser 
Annahme von einer im Volke allmählich ausgebildeten 
Mythe über die sonst so bedeutungslose Beatrice Portinari 
klammem sich in der That nur an die Gemeinsamkeit des 
Namens sowohl der „Herrin" der „Vita nuova" als auch 
des Töchterleins des Portinari. Ist das wirklich genug, 
um eine Fabelbildung möglich erscheinen zu lassen? 
Fragen wir uns doch, wie sich eine solche Mythe bildet? 
Es ist nicht anzunehmen, dass man später mit einem Male, 
etwa durch die „Göttliche Komödie", auch in Florenz wieder 
auf Dante aufinerksam zu werden begann, und dass die 



19 



Florentiner nun auch seine Jugendschrift, die „Vita nuoya**, 
und seine Jugendgedichte erst wieder „vornahmen", wie 
mr heute sagen würden, d. h. sie gleichsam aus ihren 
Büchern wieder heraussuchten und von Neuem zu lesen 
begannen. Nein, der Dichter ist schon wegen der be- 
deutenden politischen Bolle, die er bis zum Jahre seiner 
Verhamiung (1300) in seiner Yaterstadt spielte, immer 
bekannt genug gehUeben, und auch seine dichterische 
Bedeutung war schon vor der Abfassung der „Grött- 
lichen Komödie", wie es scheint, in ganz Italien, folglich 
auch in Florenz, gewürdigt.*) Es ist deshalb wahrscheinlich, 
dass seine Figur, so charakteristisch überhaupt, wie je 
eine, sowohl unter seinen Zeitgenossen als auch unter 
seinen Epigonen wenn nicht gerade populär, so doch 
allgemein bemerkt war. Und von einem solchen be- 
deutungsvollen Manne wurde sicher schon viel gefabelt, 
auch als er noch nicht der unsterbliche Dichter war. Die 
Fabelbildung über ihn begann also früher, als ihre eifrigen 
Verfechter annehmen, und daraus folgt, dass sie nicht so 
vollständig blos auf einem Nichts, oder aJlerhöchstens 
auf einer Uebereinstimmung von Namen, beruhen konnte. 
Zudem waren die Familien, aus denen Dante und Beatrice 
Portinari stammten, höchst bekannt und angesehen in 
Florenz, und dieser Umstand macht es nicht nur nach 
der einen Seite hin sehr wahrscheinlich, dass ein 
Liebesverhältniss zwischen den beiden Kindern dieser vor- 
nehmen Häuser auch in der Oeffentlichkeit bemerkt und 



*) Ein Lied aus der «Vita nnova** (die Canzone: «Doxme, oh'avete 
InteUetto d'amore") findet sicli sohon abschriftlich in einem Memorial- 
buch des Notars Pietro Allegranza in Bologna, welches aus dem Jahre 
1292 stammt. Ein Beweis, dass schon damals die Jugendgedichte Dante's, 
«nch ausserhalb Florenz, bekannt waren. 

2* 



20 



besprochen wurde, sosdem er widerstreitet auch nach der 
anderen Seite der Annahme, dass später ohne jeden Grund 
ein solches Liebesverhältniss erfanden werden konnte« Die 
Kinder und Eindeskinder der Generation, welche Dante 
und Beatrice in ihren Jugendjahren sah, sprachen an der 
Hand der Gedichte der „Vitanuoya" und des „Canzoniere*' 
die Kunde von dem idealen liebesverhältniss weiter^ 
die ihnen ihre Väter überliefert hatten, und bei diesem 
Weitersprechen mag es zu mancher ausschmückenden Fabel- 
bildung gekommen sein, aber unmöglich erfänden sie erst^ 
die Epigonen, den gesammten Inhalt jener Kunde. Und 
ebenso hinfällig, wie jene Annahme, dass die Nachkommen 
Dante's liebe zu einer bestimmten Beatrice Portinari blos 
yermuthet hätten, erweist sich meines Erachtens der andere 
Vorwurf, den man der Darstellung Boccaccio's macht, dass 
sie nämlich zu novellistisch gehalten sei, um Ansprach auf 
historische Glaubwürdigkeit machen zu können. Der Ver- 
fasser des „Decamerone" war allerdings ein grosser Novellist,, 
aber dass er es immer und bei jeder Gelegenheit und in 
allen seinen Schriften gewesen sei, wird Niemand, der die 
letzteren in ihrer Gesammtheit überblickt, behaupten woUen. 
Und ich meine, dass doch auch schon die kurze Zeit, die 
bei Abfassung seiner Dante -Biographie seit dem Tode 
Dante's verflossen war und die allgemeine Aufinerksamkeit, 
die damals die Florentiner dem Leben ihres grossen Dichters 
zu schenken fortfahren, ihn verhindert haben müsst^i, 
seiner novellistischen Laune die Zügel schiessen zu lassen^ 
auch wenn er wirklich in sich den Antrieb dazu gefühlt 
hätte. Aber der ganze Ton seiner Darstellung macht 
überhaupt nicht den Emdruck, als ob er sich irgendwie 
im Ungewissen üher die zu berichtenden Ereignisse aus 
dem Lehen seines Helden gefohlt und darum das Be- 



21 



dürfiiiss empfunden habe, etwaige Lücken dnrch phantasie- 
Tolle Einflechtungen auszufüllen. Die Beschreibung von 
dem Frühlingsfeste in dem Hause Portinari und selbst die 
Schilderungen der schönen und anmuthreich^ jungen 
Beatrice sind einfacher und weniger ausfOhrlich gehalten, 
als man es von einem Kovellisten, der über einen so ge» 
waltigen Eeichthum blühender Phantasie gebot, eigentlich 
erwarten sollte, und die nachfolgenden Abschweifungen in 
pessimistische Reflexionen über den schädlichen Einfluss 
der Liebesleidenschaft auf den Geist des Dichters müssten 
uns darüber belehren, dass der Grundzug dieser Dante^ 
Biographie ein durchaus anderer, als der novellistische ist. 
Auf jeden Fall betrachtete Boccaccio, wie ich schon oben 
andeutete, die Liebe Dante's zu Beatrice nicht als einen 
Glanzpunkt im Leben des Dichters, sondern als ein sehr 
störendes Ereigniss, wie er sie ja auch auf gleiche Stufe 
mit dem Exil und der Armuth stellt. Wozu hätte also der 
Biograph dieses Hemmniss, das sich dem Dichter auf seinem 
Lebenswege und in seinem Schaffensdrange entgegenstellte, 
und ihn, wie Boccaccio meint, nicht im Greringstcn innerlich 
nützte, erst erfinden oder auch nur noch besonders novel- 
listisch ausschmücken sollen? Und warum hätte er dann 
später zu betonen nöthig gehabt, dass die verklärte Beatrice, 
die im zweiten Gesang des „Inferno^ vom Dichter als 
Retterin begrüsst wird, diese selbe Beatrice Portinari ist, 
von der schon in der „Vita nuova" gesungen worden war?*) 
Würde dadurch die Novelle nicht allzu weit fortgesponnen 
worden sein? Nein, für Boccaccio stand sicher ebenso wie 
für alle seine Zeitgenossen die Liebe Dante's zu Beatrice 



1) Siehe: U Comento di Messer Giovanni Boceacol topra la Oommedla 
dl Pante Alighieri, Lezione ottava. 



22 



Portinari fest, und weder die Fabelbildung noch die novel- 
listische Kunst des Certaldesen hat zu dem Glauben an 
dieses, an sich so einfiache Faktum erst etwas Wesent- 
liches beizutragen nöthig gehabt. 

Das Zeugniss des Boccaccio ist das älteste und, wie 
es den Anschein hat, auch das grundlegende für die 
historische Beatrice gewesen, und deshalb haben alle 
Zweifler an der Echtheit der letzteren ihre Angriffe zu- 
nächst gegen die Dante-Biographie des Certaldesen ge- 
richtet. Mit den anderen Commentatoren oder Historikern 
aus derselben oder aus wenig späterer Zeit, die alle überein- 
stimmend von einer historischen Beatrice reden, hat man 
rascher aufräumen zu können gemeint, indem man einfach, 
in Bausch und Bogen, sagte, dass sie ihre, die Beatrice 
betreffenden Angaben aus Boccaccio's Schriften geschöpft 
hätten. Aber ich meine doch, dass man bei dieser Kritik 
etwas vorsichtiger und eingehender verfahren sollte. Wenn 
auch Boccacdo's Bericht vielleicht diesen Auslegern zu 
Grunde lag, so darf man doch ebenso wenig von dem 
Verfasser des „Ottimo",*) als von einem Benvenuto da 
Imola und einem Landino annehmen, dass sie ohne die 
prilfende Gewissenhaftigkeit, die sie sonst auszeichnet, gerade 
an diesen Bericht herangetreten seien. Und von Lionardo 
Bruni, der ja ebenfalls noch zu diesen frühesten Auslegern 
gehört, wissen wir es sogar aus seinen eigenen Worten,**) 
dass er die Angaben Boccaccio's mit sehr kritischem Blicke 
betrachten zu mtlssen glaubte; gleichwohl hat auch er an 



*) unter dem Namen: der nOttimo*^ oder auch der «Baono*^ geht 
einer der frühesten Dante-Oommentare, dessen Verfasser nicht bekannt ist. 

**) VergL die Vorrede zu der Ausgabe der »Vita nuoya' von Pletro 
Fratioelll, dem hochyerdlenten nnd trotzdem ylelgescholtenen Dante- 
Herausgeber. Florenz. Barbara. 18G1. 



23 



der Wirklichkeit eines liebesyerhältnisses Dante's zu 
Beatrice Portinari feilgehalten und erzählt dasselbe mit 
ein£EU2hen, mm möchte sagen mit dürren Worten, fast 
ganz ia derselben Weise, wie es schon Boccaccio in 
mcherer Sprache berichtet hatte. 

Als erster unter den Zweiflern ist wohl Mario Filelfo,*) 
ein Quattrocentist, nnd als leidenschaftlichster und zugleich 
am meisten allegorisirender Biscioni,**) der im 18. Jahr- 
hundert lebte, zu nennen. Der Letztere brachte den 
(später zu erörternden) Gedanken auf, der in unserem 
Jahrhundert soviel Anklang findet, dass nämlich die 
Beatrice der „Vita nuova" eine dichterische Allegorie der 
irdischen Weisheit sei, wie die Beatrice des Paradieses die 
himmlische darstelle. Diese froheren, ebengenannten Ausleger 
konnten nach einer Seite hin radikaler vorgehen, als es ihren 
gleichgesinnten Nachfolgern in unserem Jahrhundert möglich 
ist, sie konnten nämhch neben der Eealität eines Liebes- 
verhältnisses zwischen Dante und seiner Jugendgenossin 
Beatrice zugleich auch die Existenz einer Beatrice aus dem 
Hause Portinari kühn bestreiten, da damals ein anderes 
historisches Zeugniss als die oben erwähnten, einen Zweifel 
allerdings offen lassenden Angaben Boccacdo's und seiner 
mimittelbaren Nachfolger nicht vorlag. Heute ist uns 
wenigstens die Beatrice Portinari gerettet, und die Zweifler 
in unserem Jahrhundert sind deshalb mit ihren Yer- 
muthungen und Bedenken lediglich auf die Liebe Dante's 
zu ihr beschränkt. Es ist nämlich jetzt das Testament 
des Folco Portinari aufgefunden, und in ihm steht deutlich 
zu lesen, dass dieser sehr angesehene und reiche Mann 



*) «Vita Dantls Alighieri« a. J. Mario Philelpho. 
**) Vorwort zu der florentlniBOhen Ausgabe von 1728 der «Prose 
dl Dante*, heranagegeben Ton Gt. Tartlnl nnd S. Franohl. 



24 



unter Anderem auch seiner Tochter Bice, die an einen 
gewissen Simon Bardi verheirathet war, eine bestimmte 
Summe yennacht*) Aus demselben Document ersehen 
wir auch noch, dass Folco ausser Beatricen noch fünf 
Söhne und vier Töchter hatte, was mit der Bemerkung 
Boccacdo's von dem kinderreichen Hause der Portinari 
übereinstimmt. Ausserdem lässt uns das Testament einen 
Blick auf die Wohlhabenheit und Wohlthätigkeit des Folco 
thun, der das Spital von St. Maria Nuova in Florenz be- 
gründete und reich dotirte, und daneben allen damals in 
dieser Stadt bestehenden Wohlthätigkeitsanstalten und 
geistlichen Stiftungen Zuwendungen machte. In St. Maria 
Nuova befindet sich heute noch das Marmorrelief der 
Monna Tessa, der Dienerin des Portinarischen Hauses, 
welche durch ihre edle Liebesthätigkeit dieses Hospital 
mit einrichten half, und unsere Phantasie wird sich gerne 
ausmalen, wie die holde anmuthige Bice unter der Führung 
eines edlen und fi^eigebigen Vaters, unter dem Schatze 
einer hauswirthschaffelichen Mutter und einer fi-ommen, 
mildthätigen Gehülfin und im Kreise ihrer Geschwister jfröh- 
lich und fromm aufwuchs. DerReichthum des väterlichen 
Hauses mochte ihr ja eine Bildung ermöglicht haben, die sie 
befähigte, Dante's kunstvoll verschlungenen Keime, wenn 
sie ihr wirklich gewidmet waren und zu Ohren kamen, zu 
würdigen und zu verstehen. 

Der Umstand, dass Bice von den f&nf Schwestern die 
einzige ist, die als verheirathet genannt wird, könnte uns 
die Yermuthung nahelegen, dass sie die älteste unter ihnen 



*) Das Testament ist veröffentlicht von Richa, «Kotizie istoriehe 
delle chiese florentine" (vol. VIII, pag. 229) und die betreffende SteUe in 
ihm lautet: „ItemD. Bici filie sue etnsori de Simonis de Bardis rellqnit 
Hb. 60 ad floren/* 



25 



war. Ueber ihr Geburtsjahr fehlen uns historisch be- 
glaubigte Daten; ans Boccaccio's Angabe können wir 
schliessen, dass sie ein Jahr später als Dante, also im 
Jahre 1266 geboren worden ist. Zur Zeit als das Testa- 
ment ihres Vaters abgefasst wurde (im Jahre 1287) war 
sie also eine noch sehr junge Ehefrau. Als ihr Todes- 
jahr giebt Boccaccio in seinem Commentar das Jahr 1290 
an, doch fusst er bei dieser Angabe augenscheinlich allein 
auf der Bemerkung, die hierüber sich in Dante's „Vita 
nuova^ findet. 

Von dem Ehegemahle Beatricen's, dem Simon Bardi, 
wissen wir nur, dass er aus einer sehr reichen Bankiers- 
familie stammte und als eines der Häupter der Guelfen- 
partei im Jahre 1300 von Dante, der damals „Prior" der 
Republik war, wegen Erregung öffentlicher Unruhen in 
eine Geldstrafe genommen wurde. Könnte diese politische 
Gegnerschaft des Liebenden und des Gemahls vielleicht 
nicht schon die letzten Lebensjahre Beatricen's getrübt 
haben? War eine solche Gregnerschaft vielleicht auch, 
wemi man einen Schluss von den politischen Gesinnungen 
des Bardi auf die seines Schwiegervaters Portinari machen 
darf, die Ursache, dass Dante die Bice nicht zum Weibe 
begehrte oder viehnehr nicht zum Weibe bekam? Könnte 
sich nicht seit jenem Frühlingsfeste eine auf politischen 
Gegensätzen beruhende Spannung zwischen den Alighieri 
und den Portinari ausgebildet haben, welche das viele 
Liebesklagen Dante's erklärlich machte? Doch das sind 
Fragen, die durch das wenige, was wir über die histo- 
rische Beatrice Portinari wissen, nicht beantwortet werden 
können, und mit ihr haben wir uns zunächst allein zu 
beschäftigen. 

Wie also in neuerer Zeit die Existenz einer Beatrice 



26 



Portinari bestimmt beglaubigt ist, ohne dass wir freilich 
wesentUch Neues dadurch ttber sie erfahren hätten, so hat 
man jetzt auch ein Zeugniss aufgefunden, welches, wenn 
es gleich einen so sicheren Werth wie das Testament des 
Folco Portinari nicht besitzt, auch die Liebe Dante's zu 
ihr bestätigt. Dieses Zeugniss stammt nämlich von dem 
ältesten Sohn Dante's, Pietro, der einen Commentar zu 
seines Vaters grosser Dichtung yerÜEtsst hat, und ^wnrde in 
jüngster Zeit in einer Ausgabe dieses Commentars, welche 
sich unter den sogenannten Ashbumianischen Codices in der 
laurentiamschen Bibliothek in Florenz befindet, entdeckt.*) 
Pietro sagt deutlich, dass sein Yater, der Dichter Dante, 
Bewerber (procus) um die durch Sitten und Schönheit 
ausgezeichnete Beatrice aus dem Hause Portinari gewesen 
sei, dass er zu ihrem Lobe viele Gedichte yerfasst habe 
und dass er sie nach ihrem Tode, um ihren Ruhm zu 
erhöhen, in seiner grossen Dichtung durch die Allegorie 
der Theologie auf das Höchste yerherrlicht habe. Es er- 
scheint diese Anmerkung des eigenen Sohnes Dante's bei 
dem ersten Anblick gewiss sehr bedeutungsvoll, besonders 
da der Commentar Pietro's zu den frühesten gehört und 
höchst wahrscheinlich nur wenige Jahre nach dem Tode 
des Vaters yerfasst worden ist; bei genauerem Zusehen **) 



*) Die stelle lautet : „Qnaedam domlna nomine beatrix insigne vald» 
moribns et pnlcritndine tempore auctoris ylgult in civltate florentiae nata 
de domo quorundam oiTlum florentinornm qui dicuntor portlnaril. de 
que dantes auotor proous fait. et in ejus laudem multas fecit cantilenas. 
qua mortua, ut ejus nomen (in) famam levaret, in hoc suo poemate sub 
allegorla et typo tbeologlae eam ut plurlmum aodpere yolult. (Cod. 
Asbb. 841. C. 16 1.) 

**) Es fehlt Eudem diese Anmerkung Pietro's in der gleichseitigen 
italienischen Bedaction seines Oommentars, die sich ebenfalls unter den 
Ashbumianischen Manuscripten befindet (s. Quadro de' 185 Cod. Lauren- 
ziani della Dlvlna Commedia yon Annibale Tanneron). 



27 



aber finden wir, dass es im Grande auch nicht mehr Werth 
beansprachen kann als die Angaben Boccacdo's oder die 
des „Ottimo", und dass Jeder, der diese bezweifelt, mit 
demselben Rechte auch hinter den Ausspruch des Hetro 
ein Fragezeichen machen darf. Denn der Sohn Dante's 
wusste höchst wahrscheinlich über seinen Yater hinsichtlich 
der Beatrice-Angelegenheit auch nichts Authentischeres, als 
jene Erklärer, da ja die Familie des Dichters demselben 
nicht in's Exil gefolgt war und, wie es scheint, ausser 
jedem Zusammenhang mit ihm lebte. 

Wie sollte es überhaupt je möglich sein, von der 
Liebe Dante's zu Beatrice ein wirklich „historisches** 
Zeugniss aufzufinden? Die ganze Art des Verhältnisses 
des Dichters zu dem holden Töchterlein des Nachbarhauses 
wird uns bei näherer Betrachtung überzeugen, dass etwas 
„SchrifUiches** dabei nicht gewechselt wurde. Blicke und 
Grflsse sind bis heute noch niemals petrefaktisch geworden, 
so dass man sie in irgend einem verstaubten Winkel noch 
an&ufinden hoffen könnte, und die glühenden Liebesgedichte 
des jungen Dante kamen der anmuthigen Beatrice auf 
jeden Fall auch nur zu Ohren, nicht vor die Augen. Selbst 
wenn es das Glück noch wollte, dass man Manuscripte 
Ton Dante auffände — bis jetzt kennt man ja nicht eine 
einzige Zeile von seiner eigenen Hand — , selbst wenn 
man die Sonette der „Vita nuova" in der allerersten 
Niederschrift entdeckte, würde die Frage damit ihrer 
„historischen** Lösung sicher um keinen Schritt näher ge- 
rückt werden. Liebesverhältnisse wollen eben nicht vom 
historischen Standpunkt aus betrachtet werden; sie ver- 
langen einen feineren Sinn als den pragmatischen, sie 
nehmen nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz, 
das „gentil core**, an das Dante so oft appellirt, in An- 



28 



sprach, um begriflPen, verstaiiden und geglaubt zu werden, 
und sie zerstäuben und verfliegen vor der PrOfiing aaf 
ihren historischen Inhalt hin nur allzuoft me eine zart- 
organisirte und feinduftende Blüthe bei der rauhen Be- 
rührung einer plumpen Menschenhand. Lassen wir des- 
halb den Zweiflern die Bedenken, die sie gegen die 
historische Wahrheit der Erzählung Boccaccio's und der 
Anmerkungen der ersten Ausleger erheben! Wir können 
ebensowenig, wie sie die ünglaubwQrdigkeit jener Angaben 
wirklich beweisen können, so unsererseits die Glaub- 
würdigkeit derselben mit mathematischer oder auch nur 
mit historischer Sicherheit proklanüren, und die Ent- 
scheidung aller ferneren Fragen über Dante's Yerhältniss 
zu Beatrice hängt deshalb weniger von historischen und 
philologischen als von ästhetischen Erwägungen ab. Ge- 
wonnen scheint mir zunächst das zu sein, dass auf 
historischem Boden die Bejahung der Realität jenes Yer- 
hältnisses gegen ihre Yemeinung mit gleichen Wa£fen 
streiten darf. Es lässt sich historisch nichts Bestimmtes 
und Gültiges gegen diese liebe yorbringen, vielmehr ist 
der Gegenstand derselben wenigstens in seiner Existenz 
bestätigt worden. Beatrice Portinari hat gelebt! 
Sie wuchs auf in dem reichen Hause ihres freigebigen, 
edlen und hochangesehenen Vaters, sie war jung in der 
Zeit, in der auch den Dichter noch Jugend und holde 
Lebensfreude schmückten; sie ward dann das Eheweib 
eines reichen und wie es scheint bedeutenden Mannes. 
Das ist es, was historisch von ihr feststeht. Und soll sich 
wirklich unsere Phantasie versagen, ihr Bild sich nun auch 
weiter auszumalen mit den Farben, die Boccaccio's Er- 
zählung uns liefert? Sie sich als das liebliche Eiud mit 
anmuthsreichem und doch schon so würdigem und ernstem 



29 



Wesen vorzustellen, das am Maifest mit dem Dichter- 
knaben harmlos spielt und dabei in sein Herz den Funken 
mrfb, aus dem später eine so mächtige Flamme werden 
sollte, oder in ihr nachher die schöne, sittsame Jungfrau 
zu sehen, nach der sich aller Augen wenden, wenn sie 
über die Strasse schreitet und die den Dichteijtkngling, in 
dessen Auge schon der Strahl des ungestümen Genius 
leuchtet, nrit verstohlenem Grusse beglückt? — Doch mit 
dem letzten amnuthigen Bilde haben wir schon die Grenzen 
des Berichtes von Boccaccio übersehritten und sind zu dem^ 
was uns Dante selbst von seiner „Herrin^ singt und sagt, 
fibergegangen. Ihm sei deshalb jetzt zunächst das Wort 
gegönnt! 



n 



IL 
LA VITA NÜOVA" VON DANTE. 



Die schon öfter erwähnte Jngendschrift Dante's, in 
welcher er von seiner Liebe zu der „holden Herrin'' 
Beatrice erzählt und die den Titel „La Tita nuoya^ trägt, 
ist bekanntlich eine Sammlung von Sonetten, Balladen nnd 
Canzonen, die durch einen verbindenden Prosa-Text in 
einen gewissen inneren Znsammenhang gebracht worden 
sind, und denen der Dichter mehr oder wem'ger pedantische 
Erläatenmgen nach Art von Scholien hinzngef&igt hat Die 
Zeit, in der diese Sammlnng von Dante veranstaltet worden 
ist, steht nicht fest; nach Boccacdo's Zengniss vereinigte 
er, „noch während seine Thränen nm die gestorbene 
Beatrice flössen, ungefähr in seinem sechsnndzwanzigsten 
Jahre, in einem kleinen Bande, betitelt „Vita Nuova** ge- 
wisse kleine Dichtungen, besonders Sonette und Ganzonen, 
die in verschiedenen Zeiten vorher von ihm verfasst worden 
waren/ Danach wäre also das Jahr 1291 oder 1292 als 
Abfiassnngszeit anzunehmen, da Beatrice, allerdings nur 
nach Dante's eigenem, in der Vita nuova vorliegenden 
Zeugnisse, im Oktober des Jahres 1290 gestorben ist 
Manche neuere Forscher und Kritiker meinen daraus, dass 
in der „Vita nuova" einmal von Pilgern die Rede ist, die 
durch Florenz wallten, schliessen zu können, dass dieselben 
im Jubiläums- Jahr 1300 nach Bom zogen und dass deshalb 



31 



das Schriftchen nicht vor diesem Jahre yerflEisst sein könnte. 
Auch noch einige andere inneren GrOnde, die aber ebenso 
wie der ebengenannte, nur auf Yermnthungen beruhen, 
werden gegen eine fiiüiere Entstehungszeit der Sammlung 
als vor dem Jahre 1300 geltend gemacht. Auf jeden 
Fall stimmen aber alle, auch Boccaccio's Angaben darin 
überein, dass der verbindende Prosa-Text aus ganz anderer 
Zeit stanunt als die Gedichte selbst und dass er, nicht 
wie diese nach und nach und bei yerschiedenen Gelegen- 
heiten, sondern auf einmal, in zusammenhängender Con- 
ception und von einem durchgehenden Gesichtspunkte aus 
geschrieben worden ist. 

Dieser letztere Umstand ist meines Erachtens bisher 
von den Erklärem und Kritikern noch nicht genug ge- 
würdigt worden, wenigstens von denen nicht, die in dem 
ungeheuren Wald der Litteratur über Dante einen be- 
deutungsvollen Platz einnehmen; und doch ist er sehr 
wichtig für die Entscheidung der heutzutage mehr als je- 
mals diskutirten Frage, ob Dante mit der Beatrice der 
„Vita nuova", mit der „holden Herrin** seiner Gedichte 
undder „gentilissimadonna" des Prosa-Textes, wirklich die 
Beatrice Portinari im Auge gehabt, ob er überhaupt eine 
wirkliche Jugendliebe habe besingen und erzäMen wollen, 
oder ob nicht vielmehr das Ganze nur eine kühne und 
streng durchgeführte Allegorie irgendwelcher Art sei? 
Jrgendwelcher Art, sage ich, denn über die Bedeutung der 
AQegorie sind die Vemeiner der wirklichen Liebe des Dichters 
zu Beatrice Portinari durchaus nicht einig, wenn sie auch 
in der Negation an und für sich fest beieinander stehen.*) 

*) Von den bedeutenderen Vertretern dieser verneinenden Ansicht 
nenne ich nur: 1. Bossetti, der in seinen Schriften: ,Commento di 
Dante**; ,Spirito antipapale* nnd „Amor platonloo*^ (passim), in der 



32 



Dass jene Frage überhaupt aufgeworfen worden und sich 
mit so grosser Hartnäckigkeit in der Dante -litteratar 
behaupten konnte, erklärt sich aus den fielen dunkelen 
oder wenigstens in ihrem Sinne zweideutigen Stellen, 
welche weniger in den Gedichten, als Yiehnehr in dem 
Prosa -Texte sich vorfinden und welche seit Jahr- 
hunderten zu gewissen mehr oder weniger accentuirten 
kritischen Streitigkeiten geführt haben. Diese letzteren 
nahmen stets um so grössere Heftigkeit an, je mehr 
die peinliche Wortklauberei, die man nur allzuoft mit dem 
Namen schar&inniger Philologie schmückte, sich einmischte, 
wozu es freilich in der kleinen Schrift eben&Us nicht 
an Handhaben fehlt. Heute ist man in dieser Hinsicht 
im Allgemeinen etwas freier geworden und legt die wenigen 
Stellen, deren Worterklänmg Schwierigkeiten bietet oder 
zu textlichen Goi\jekturen Veranlassung giebt, als gering- 
werthiger ungelöst zur Seite, um sich daför desto mehr 
in den Inhalt des (Ganzen zu vertiefen und hier eine ge- 
wisse Uebereinstimmung und eine in aUen Theilen har- 
monisch sich ineinanderftlgende Anschauung von dem, was 
Dante eigentlich hat ausdrücken wollen, zu erzielen. Aber 
man hat sich trotz der lobenswerthen Berücksichtigung 
des ganzen Entwicklungsganges des Dichters und der Zeit, 
in der er lebte und dichtete, dabei noch nicht soweit frei 
gemacht, dass man es wagte, den Dichter, dem man doch 
im Uebrigen von Seiten der Kritik im Verlauf der sechs 



Beatrio« eine Allegorie der kalserllohen Monarchie tm4 der ghlbelUnl* 
sollen Idee findet. 2. Perez, der in Ihr (In seinem Bmche: La Beatrice 
svelsta, Palermo 1865) die Symbollsimng der «Intelllgenca attlTa*^ er- 
bliokt, nnd 8. Bartoli, der (in seiner höchst werthyoUen Storla deUa 
Letteratara ItaÜana, Band IV nnd V) In ihr nur das allgemeine weibliche 
Ideal, welches den Dichtem des ^dolee stil mioyo* der damaligen Zeit 
▼orsohwebte, wiedererkennt. 



33 



JahrlMuiderte so manche Gewalt angethan hat, auch eines 
Widerspraches in seinen Jahrzehnte aoseinaaderliegendeA 
Worten Air fähig zuhalten oder in diesem Falle anzunehmeo, 
dass er sich i& der Zeit, die zwischen der Ab&ssuikg 
seiner Gredichte und der Niederschrift des diesen Ge- 
dichten später beigegebenen Prosa-Textes liegt, in seinen 
Ansehauungen etwas yer&ndert haben könne. Mit einem 
Worte: man hat es auch heute noch nicht angegeben, 
den Dichter der liebesglühenden Sonette an die ,yholde 
Herrin^ auf die Worte festzunageln, die er, vielleicht ein 
ganzes Jahrzehnt später, als der Philosophie Beflissener diesen 
Jugendgedichten hinzugef&gt hat Man hält immer noch 
an der Meinung fest, dass die Gedichte und der ihnen 
vorgesetzte oder angehängte Text ein homogenes, wenn 
auch nicht gerade sehr harmonisches Ganze seien, welches 
man nicht wieder in seine ursprünglichen Bestandtbeüe 
zerlegen dürfe, ohne sich einer Sünde gegen den Genius 
oder wenigstens gegen die Absichten des grossen Dichters 
schuldig zu machen. Aber würde es denn wirklich eine 
Sünde sein? Hat nicht Daate selbst, wie wir aus einer 
Aeusserung des Boccaccio wissen^ sich später seiner 
Jugendreimereien geschämt, weü er sie nicht fikr würdig 
seines Geistes oder viehnehr nicht würdig seiner philoso^ 
phischen Studien hielt? Und beging er damit nicht 
gleichsam selbst eine Sünde gegen »ch, indem er eine 
untergeordnete und mtlhsam erworbene Frucht seines 
geistigen Strebens d^ schönen, reinen und unmittelbar aus 
der Tiefe seines reichen Gemüths emporgetriebenen Blüthe 
vorzog? Wäre es daher nicht an der Zeit, diese seine 
Sünde durch verständnissvolles und feinsinniges Betrachten 
jener Blüthe, wie sie abgesondert von der späteren Um- 
hüllimg sieh uns darstellt, wieder gutzumachen? 

3 



34 



Es ist kein Zweifel, dass Dante nach dem Tode der 
Beatrice Portinari, oder sagen wir zunächst allgemeiner^ 
nach der Jngendperiode, in der er f&r ein hohes Fraaen- 
ideal dichterisch schwärmte, sich mit dem ganzen Eifer seiner 
leddenschafilichen Natur anf das Stadium der Wissenschaf ben 
warf, die man heute mit Moralphilosophie hezeichnen könnte, 
und dass das letzte Jahrzehnt seines Florentiner Aufent- 
halts von diesem Studium ebensosehr wie von den Partei- 
kämpfen und dem Streben nach politischer Bedeutung in 
Anspruch genommen wurde. In dieser Zeit musste noth- 
wendigerweise das Andenken Beatricen's in seiner Seele, 
wenn nicht ganz in den Hintergrund treten, so doch 
mindestens verblassen, und zugleich musste ihm seine neue 
Lebensrichtung auf wissenschaftliche und politische Ziele 
als ein bedeutender Fortschritt gegenüber der eben über- 
wundenen schwärmerischen, dem Gultus eines zuweüen 
überspannt aufgefassten Liebesideals gewidmeten Periode 
erscheinen. In dieser Zeit ist es höchst wahrschein- 
lich auch gewesen, dass er die moralphilosophischen 
Lehrgedichte in Canzonen-Form schrieb, die er später in 
semem „Convito" (Gastmahl) ungefähr in derselben Weise 
zu interpretiren begann, wie er seine Jugendgedichte durch 
den Prosa-Text der „Vita nuova" mterpretirt hatte. Wie 
die ganze neue Lebensrichtung, so erschien ihm jetzt wohl 
auch die neue Eichtung, die sein Dichten gewonnen hatte, 
bei Weitem werthvoUer als die früheren Versuche in dem 
Tone des „dolce stil nuovo", wie ja überhaupt die Er£Edimng^ 
lehrt, dass die Verfasser von Lehrgedichten ihre Erzeug- 
nisse als die Quintessenz aller Poesie hinstellen. Und in 
dieser Zeit mag es deshalb auch gewesen sein, dass sick 
Dante seiner jugendlichen Liebesgedichte zu schämen be- 
gann. Nun war es ja aber in jener Zeit für emen lyrischen 



35 



Dichter nicht so leicht möglich wie hente, seine Gredichte, 
deren er sich zu schämen begonnen hat, wieder ans dem 
Bachhandel zurückzuziehen, denn dieselben lagerten damals 
nicht als Erebsbest&nde in dem Magazin eines Verlegers, 
sondern waren schon längst dem Verkehr von Mond zu 
Monde oder der Yerbreitong durch freundschaftliche Ab- 
schriften übergeben worden, wenn sie wie die Dante'schen • 
nur einigermassen Au&ehen gemacht und GeMen gefunden 
hatten. Das einzige Mittel, welches Dante zur YerfOgung 
stand, um den Eiadruck seiner Lieder nach der Bichtnng 
hin abzuschwächen und zu beemflussen, die er später fbr 
eine besso'e und höhere hielt, war das, welches er auch 
wirklich anwendete, dass er selbst nämlich diesen liedem 
einen Commentar auf ihrem Gang in der Welt nachschickte, 
der sie in einem neuen und scheinbar höheren Sinn aus- 
legte und ihre alte, naive, ungekünstelte Bedeutung durch 
tinige allegorisn^nde Zugaben überdeckte. 

Eme solche nachträgliche Umdeutung der Jugend-Sonette 
konnte um so eher stattfinden, als dieselben, wie gesagt, 
in der Weise des „dolce stil nuovo*' geschrieben waren, das 
heisst in der ceremoniellen Form, welche der gekünstelten 
Sprache der Höfe, und dem überfein ausgeklügelten Liebes- 
codex der Troubadour-Poesie entsprach und weniger auf 
eine concreto Bestimmtheit des Inhalts als auf ein zierliches 
Faogballspiel mit einem oft recht dürftigen Gjedanken 
hinzielte. Dass das dichterische Genie und die natürliche 
Leidenschaftlichkeit Dante's diese Form mit einem tieferen 
und leuchtenderem Inhalte erftkllt hatte, als ihn die meisten 
seiner Zeit^ und Eunstgenossen in ihren gleichartigen 
Poesien geben konnten, ändert nichts an dem etwas 
aUgememen Charakter der Sonette, der von vorneherein 
ebenso verschiedene Deutungen und besonders nachträg- 

3* 



36 



liehe Allegorisiningen zoliess, wie die gesammte Troa« 
badour-Poesie. Bestisunte Thatsachen aas der Herrin 
privatem Leben in einem solchen Liebesgedichte azizE- 
fohren, yrfSücde damals als eine Entweihmig des hohen Ideals, 
als eine Herabziehung desselben in d^ Staub des alltäg* 
liehen Lebens angesehen worden sein, wie es ja auch heute 
noch nicht als besonders rücksichtsToll nnd nachalmiens« 
werth gilt. Die „Herrin^ jener Liebessänger musste über 
dem Leben schweben, musste mehr eine Tochter des 
Himmels als ein Kind der Erde sein und dnrfibe niemals 
in allzu nahe Berührung mit ihrem knechtisch und häufig 
unglücklich schmachtenden Anbeter treten, sondern ihn 
hödistens eines Gmsses oder eines ihre himmlische Ab- 
stammung verrathenden W(»rtes würdigen. Wenn der An- 
beter Yon ihr sprach, geschah es immer im demüth^ten 
Tone; jedes Glück, das er durch ihren Gruss, durch ihre 
Bede und überhaupt durch ihre Nähe genoss, war ihm 
schier gleichbedeutend mit dem Heile des Himmels, und 
ihr ganzer Einfluss auf ihn war eher ein mystischer, täa 
ein natürlicher zu nennen. Deshalb finden wir auch so 
oft in der Liebespoesie dieser Zeit, dass sich der S&i^er 
scheut, den Namen seiner Herrin zu nenn^ dass er ihn 
mit dem Schleier des Geheimnisses umkleidet oder ihn 
unter Allegorien und Wortspielen verbirgt, als hätte er 
Angst, ihn zu profaniren, als flQrchtete er, dass er schon 
durch Kundmachung dieses Namens nicht nur sein Ver* 
hähniss zu der Herrin^ sondern auch diese selbst ihres 
romantischen, hohen, himmlische Zaubers berauben könnte. 
So trugen auch die Jugendsonette Dante's alle Elemente 
in sich, welche eine spätere Interpretation von Seiten des 
Dichters geradezu herausforderten, nachdem er die Jugend- 
Ikhe Schwärmerei-Periode überwunden zu hab^ meinte. 



37 



Vielleicht flfalte er selbst, dass diese Gedichte einen zu 
aUgemein^ Charakter tragen nnd also einer Erklftmng 
bedurften; vielleicht wollte er sie Missdeutnngen zu Un- 
gunsten der Beatrice, der Frau des Simon Bardi (mag 
dieselbe nnn damals wirklich schon gestorben gewesen 
sein, oder nicht) nicht länger ausgesetzt wissen; vi^eicht 
beabsichtigte er aoch, den Bann der vagen Schwärmerei 
för die „Herrin**, dem er selbst in der Jugendperiode ver- 
fallen gewes^ war, durch eine concretere Deutung öff^tlich 
zu bredien. Schon der Titel des Buches „La vita nuova^ 
deutet auf die letztere Absicht hin, denn derselbe ist nicht 
so zu verstehen, als hätte Dante damit ein „neues Leben**, 
eine Umw&lzung seines Inneren verursacht durch die Macht 
der Liebe, andeuten wollen, sondern ist mit „mein Jugend- 
leben** zu übersetzen, wie der sonstige Gebrauch des 
Wortes „nuovo** bei Dante, wenn es sich vom Leben oder 
v(»n Alter handelt, und zahhreiche andere ähnliche Aus- 
dmcksweisen bei zeitgenössischen Schrütstellem beweisen.*) 
Auf jeden Fall bedeutete sein Prosa-Text in seinen eigenen 
Augen einen inneren Fortschritt gegenüber den jugend- 
hcfaen Beimereien; die besonnenere Betrachtung seines 
Liebesverhältnisses zu der „Herrin** war an die Stelle der 
ersten Leidenschaft, die sich in Seu£sem, Thränen und 
Klagen erschöpft hatte, getreten; die zeitliche Entfernung 
von der Liebes- und ThrSnenperiode Hess ihn diese I'eriode 
selbst und damit auch die Herrin in einem anderen Lichte 



*) Im Oonvito (Tratt. I Oap. 1) sagt Dante ausdrücklich, dass der 
liüuilt seines Büoldelns „Vita nnoTa" aas der Zelt Tor seiner ,»gloyen- 
tode" stsmmte. Die «Gloyentade* beginnt aber nach den Auselnander- 
setEnngen in demselben Gonyito nach dem fänfandzwanzlgsten Lebens- 
jahre nnd endigt mit dem vierzigsten, w&hrend die frühere Jagend 
(i'etä pxlma) die „adolescenia* genannt wird. 



38 



erscheinen. Sollten da sich nicht Widersprüche zwischen 
den Gedichten und ihrer Interpretation nothwendig zeigen 
müssen? 

Und sollten nicht viele der jetzt immer wieder von 
den Zweiflern an der „Echtheit" der Beatrice vorgetragenen 
Bedenken sich beseitigen lassen, wenn man nur beide Be- 
standtheile des Buches gehörig auseinander hält? Es muss 
Jedem, der jene Bedenken einer Durchsicht und Prüfimg 
unterzieht, von vorneherein au£^en, dass sie sich zum 
grössten Theil gegen Stellen des Prosa-Textes richten und 
dass die Gedichte selbst nicht gerade bedeutende und viele 
Schwierigkeiten för die Erklärung bieten, wenn man sie, 
ohne zunächst Bezug auf ihre in den Erläuterungen an- 
gegebenen Entstehungsgründe zu nehmen, Uest Manche 
der Sonette würden ihrem ganzen Inhalte nach uns höchst 
einfach und durchsichtig erscheinen, wenn wir uns nicht 
durch die Beziehung, die Dante ihnen zu irgend einer 
Person oder irgend einem Vorkommnisse seines liebes- 
romanes giebt, in ihrer Deutung beeinflussen Uessen und 
dadurch gleichsam das Geheimniss erst in sie hinein trügen. 
Manche ändere haben einen höchst harmlosen und dabei 
in seiner künstlerischen Einfachheit sehr schönen Sinn, 
wenn man sie, ganz abgesondert von ihrer Stellung zu 
den im Buche geschilderten Ereignissen, gleichsam als 
einfache Ausdrücke eines liebenden Herzens für sich be- 
trachtet, und verlieren nur in dem Zusammenhang, in den 
sie der Dichter später selbst stellte, ihre künstlerische 
Einheit und Geschlossenheit, um die Schollen, die Daate 
den Gedichten angehängt hat, bekümmert sich vernünftiger- 
weise heute fast kein Kritiker mehr, da sie, als seien sie för 
einen Schüler geschrieben, der an den Gedichten Rhetorik 
Studiren solle, lediglich aus pedautischen Distinctionen be- 



39 



stehen und den Eindnick des Ganzen wie eine schöne 
Blüthe zerblättem; warorn also lässt man sich fbr die Er- 
klänmg der Gedichte so sehr und so vollständig von dem 
Inhalt jener Yorbemerkongen beeinflussen? Gerade das 
Stilgefühl und eine rein ästhetische Betrachtung der 
Dante'schen Jugend -Gedichte, zu der unter Anderen 
Caxducd*) und Bartoli**) schon so werthvolle Beiträge 
geliefert haben, müssten zu einer strengeren Scheidung 
des Prosa-Textes und der Gedichte in der „Vita nuova** 
f&diren, da wahrscheinlich die letzteren nicht nach ihrer Ent- 
stehungszeit geordnet vorliegen, sondern ihre jedesmalige 
Stellung in dem Büchlein der Gedankenfolge des Prosa- 
Textes verdanken. Es scheinen darin verschiedene Stil- 
X)erioden unteremander gewürfelt zu sein, und vielleicht 
würde eine genaue Prüfung der Sonette nach diesem Ge- 
sichtspunkte hin auf ihr stilistisches und auf ihr chrono- 
logisches Yerh&ltniss zu einander soweit Licht werfen, dass 
man daraus auch auf ihre inhaltliche Bedeutung Schlüsse 
ziehen könnte. 

Femer ist das Yerhältniss der vier Canzonen und der 
einen Ballade, die Dante neben fünfundzwanzig Sonetten 
und einer Stanze in seinem Büchlein angebracht hat, ein 
so merkwürdiges gegenüber den Sonetten, dass man es 
ebenfalls einer genaueren Untersuchung unterziehen müsste, 
um sich besonders die Frage zu beantworten, ob es nicht 
wahrscheinlich sei, dass auch diese langen (Gedichte in 
Canzonen- und Balladenform erst später, vielleicht zugleich 
mit dem Prosa-Text, entstanden und also gleichsam als 
Eindringlinge in die Schaar der Jugendgedichte in Sonett- 



*) Siehe: DeUe Blxne dl Dante. Disoono di Giosnö Oardacoi in 
„Baate e il sae seeolo", Firenze 1866. 

**> Siehe: Bartoli, Storia deUa Letteratnra italiana. toL IV. 



40 



finni za betrachten smen. Diese Frage wird uns iiafae 
gelegt, wenn wir erwägen, dass laektens derOedatike der 
Canzonen schon in den Sonetten auftritt und dass die Art, 
wie dieser Gedanke in den ersteren aosgeftüirt ist, wie 
eine Yerbreitenmg, nm nicht zn sagen YerwAsserung er- 
scheint gegentlber der kOnstlerischen Pragmmz, mit der er 
in den letssteren znp Ausdruck kommt Ebenso wie die 
moralphilosopbischen Oanzonen, die zum „ConTito'' dieVer* 
anlassnng gaben, gegenüber den Jngendsonetten durchaus 
keinen dichterischen Fortschritt Dante's bedeuten, so 
sdir auch in ihnen andere Seiten seines gütigen Wesens 
yertieft erscheinen mögen im Yerhiltniss zn der Sohw&m^^i 
der Jugendperiode, ebenso stehen anch die Oanzonen der 
„Yita nnova*' an kflnstlerischer Bedentong weit hinter den 
Sonetten zurück und dürften nicht mit amen in eine mid 
dieselbe Eubrik gestellt werden. Ihre stilistisdie und for- 
malistische Yerschiedenheit von den Sonetten würde ^aber, 
wdl sie, wie gesagt, an eine spätere Entstehungszeit denken 
lassen, auch die Yermuthung nahe legen, dass Dante sie 
den Sonetten später mit dem ProsarTexte ans ein^u ganz 
bestimmten, auf eine Umdeutong der Sonette hinzielenden 
Grunde bdgefilgt habe, und anch sie würden daim mit 
dazu beitragen können, diese Umdeutung und die dgent- 
liche, ursprüngliche Bedeutung der Sonette in dnem 
klareren Lichte, als es der bisherigen Kritik m^Uch war^ 
zn erkennen. 

Schliesslich muss auch noch der Umstand, dass Dante 
nicht alle seine zum Lob der Beatrice gesungaien Sonette 
in die „Yita nuova" angenommen hat, ims nachdenklich 
machen über den eigentlichen Zweck der letzteren Samm- 
lung. In seinem „Liederbuche* (n Canzoniere) finden sich 
noch sechs Sonette und mehrere Canzonen nnd Balladen, 



41 



die «Ugemem als za der ^Yita nnova" gehörig betrachtet 
werden, weil sie In ihrem Inhalte auf eine irdische „Herrin" 
md einige davon ganz deutlich auf Beatrice hinzielen, und 
auch die BOgenannten „canzoni pietrose*'*) in demselben 
Liederbvehe stehen wc^ unmittelbar dadurch in Yer- 
bmdimg mit dem Inhalte der „Yita nuova", dass das 
MüUkJiea „mit dem steinemen Herz**, die in ihnen be- 
8«igen wird, die „donna gentile*' ist, welche den Dichter 
dnrdi ihren Liebreiz eine Zeit lang in seiner Trauer um 
Be&üioe störte. (Siehe Seite 83.) Warum, so müssen 
mr ms frag^ hat Dante gerade diese Beatrice-Sonette 
flidit in die Sammlung der „Vita nuova^ aufgenommen, 
obg^ei(^ sie alle, wie ihr Inhalt es höchst wahrsdbeinüdi 
macht, schon vor der Abfassung derselben entstanden 
waren und obgleich einige davon an Schönheit und an- 
mntMger Fassung den Sonetten in der „Yita nuova^ 
doFchaufi nicht nachstehen? Yon den Canzonen und 
Balladen und von den „canzoni pietrose*' würde es ^ch 
raM&ren lassen; sie fallen schon in die Zeit seiner Be- 
schAfiiga&g mit der Philosophie und sind vielleicht nicht 
vor der Ab&ssung der „Vita nuo\a" geschrieben; aber 
das Weglassen der Sonette bleibt uns unerklärlich, wenn 
wir nicht annehmen wollen, dass sie sich in den Zhi- 
Banuneiihang des Prosa-Textes nicht gut einfügen wollten, 
äass Dante überhaupt diesem sich nicht den Dichtungen, 
sondern die Dichtungen sich ihm anschmiegen lassen Hess, 
und dass der Inhalt beider Bestandtheile in der „Vita 
nnova^ sich überhaupt nicht so gut deckt, als es auf dem 
ersten Blicke erscheinen könnte. Dante selbst sagt in der 



*) Siehe: de Chiara: La „pietra** dl Dante e la „Donna gentile". 
OMerta, 1888. 



42 



Einleitnng zu der ,,Yita nuoya*', dass er die Worte, welche 
er unter der Bubrik: „Indpit vita nova^ in seinem 6e- 
dächtniss haften fönde, in diesem Schriftchen anbringen 
wollte, „wenn nicht alle, so doch ihrem Inhalte nach/ 
Unter den „Worten", die „in das Buch des (xedächtmsses 
geschrieben" sind, versteht er augenscheinlich die Jugend- 
gedichte, nicht die Jugendeindrücke im Allgemeinen. 
Warum lässt er von ihnen einen Theil weg? Bios etwa, 
weil ihrer zu viele vorlagen? Das wäre nicht gut denkbar, 
denn ihre AnzaM ist gar nicht so gross. Und wenn unter 
diesen „Worten" wirklich die Jugenderinnenmgen im All- 
gemeinen zu verstehen wären, warum bringt er von diesen 
nur diejenigen vor, welche auf sein LiebesverhSltniss zu 
Beatrice ein so eigenthtkmliches, symbolisches und fast 
mystisches licht werfen? Warum verschweigt er z. B. 
alle BerOhmngen mit Beatrice in dem Zeitraum von seinem 
neunten bis zu seinem achtzehnten Jahre, die doch wohl 
stattgefunden haben? Warum geht er so weiüäuftdg auf 
seine Visionen und Träume ein, warum beschäftigt er sich 
so gern mit allegorischen Grübeleien über den Namen der 
„Herrin" und über die Neunzahl, die in ihrem Verkehre 
eine gewisse Bolle spielt, warum nehmen die anderen 
Frauensgestalten, die vorübergehend sein Herz beschäftigen, 
einen so unverhältnissmässig breiten Baum ein, dass das 
Bild der Beatrice hinter den ihrigen zuweilen fest ver- 
schwindet? Und warum — das ist die Frage, zu der wir 
zurückkehren müssen — werden die Anlässe nicht er- 
wähnt, die ihm zu den Beatrice-Sonetten des „Canzoniere" 
den Stoff boten? Warum sind mit jenen Anlässen diese 
Sonette aus der „Tita nuova" verbannt geblieben? 

Doch alle diese Fragen sollen uns jetzt nur dazu 
dienen, auf eine besondere Absicht, die den Dichter bei 



43 



der spateren Emschaltong eines Prosa-Textes zwischen 
seine Jngendgedichte geleitet haben mnss, anfinerksam zu 
machen. An ihre Beantwortung und an eine Elarstellnng 
jener Absicht können wir ans erst wagen, wenn wir so- 
wohl die Gedichte, als auch den Prosa-Text nfiher be- 
trachtet haben werden. Vorläufig galt es, die gesonderte 
Betrachtung beider Bestandtheile der ,,Yita nuova^ zu 
rechtfertigen und auf ihre Scheidung, als auf ein kritisches 
HtÜ&mittel hinzuweisen, das uns ermöglicht, dem Yielfietch 
dmüden Sinn dieses Schriftchens näher zu kommen und 
besonders auch die Oestalt der Beatrice reiner und un- 
verhfillter vor uns erscheinen zu lassen. 



nL 

DIE GEDICHTE DEE „VITA NÜOVA". 

Wie ich in dem Torigen Abschnitte schon auseinaDder- 
gesetzt habe, müsste es die erste Angabe der litteraxischen 
Dante-Eritik sein, die Untersuchungen, welche Carducci 
und Bartoli über den Stil der Dante'schen Jugendgedichte 
anzustellen begonnen haben, exakt weiter zu führen, um 
auf diesem Wege zu einem gewissen Grade von Klarheit 
über ihre Entstehungszeit und über ihr Yerhältniss zu 
einander zu gelangen. Die von dem Dichter selbst in 
seiner „Vita nuova" aagegebene Reihenfolge der Lieder 
hat auf jeden Fall kerne besondere Bedeutung für ihre 
Chronologie, und über die Entstehungszeit der Gedichte 
des Canzoniere haben wir ja nicht einmal diese Handhabe. 
Es ist deshalb, da in einer für deutsche Leser berechnete 
Abhandlung nicht gut auf stilistische Eigenthümlichkeiten 
des italienischen Textes jener Gedichte eingegangen werden 
kann und überhaupt diese Untersuchungen von den Fach- 
gelehrten noch nicht weit genug gefördert worden sind, 
um sie schon verwerthen zu können, bis jetzt nur möglich 
durch Betrachtung des Inhalts jener Gedichte zu einer 
gewissen Gruppirung derselben zu gelangen und auf diesem 
Wege em Urtheil über ihre Zusammengehörigkeit und 
dadurch annähernd auch über die Zeit, in der sie ent- 



r 



45 



standen sind, za gewinmen. Ich habe mir, um anf diesem 
Wege mit meinen Lesern YOfschreiten za können, die Mfihe 
genommen, die Gedichte der »Yita nnova** imd die anf die 
„Henin^ bezfti^chen Lieder des „Canzoniere^ in's Deutsche 
za übersetzen md wmle sie in dem Fdgendea znaächst 
nach ifarun Inhalte gmppirt Torlegen, mn alsdann an sie 
eine Bes^Hrechimg des Prosa-Textes anznschKessen, in welcher 
ich auf die Stellung der Lieder in ihm zu reden konunen 
werde. Wer die gedrungene, beziehungB* und büderrdche 
Sprache Dante's kennt, wird die Schwierigkeiten einer ge- 
reimten und in ähnlichem Yersmaasse gehaltenen Ueber- 
setzung der Lieder zu würdigen wissen. Zudem durfte es 
mir bei meiner Wiedergabe derselben im Deutschen erst 
in zweker linie auf die Hervorbringung eines kOnsÜenscheii 
Eindrocks ankonmien; in erster Linie sollte ja die Ueber- 
tragung dem kritischen Zwecke dieser vorliegenden Ab- 
handlung erläuternd zur Seite stehen, und darum musste 
ich dem Original möglichst getreu in Bildern und Ausdrücken 
folgen und möglichst vermeiden, mich nach anderen, dem 
deutschen Ohre geläufigeren Wendungen des Stils umzu- 
sehen. Natürlich war es auch durchaus unmöglich, die feinen 
StQverschiedenheiten, die sich bei den einzeben Liedern 
Bante's herausfühlen lassen, bei der Uebersetznng zur 
Oeltong zu bringen. Wir bleiben bei unserer Betrachtung 
anf den Inhalt allein beschränkt. 

Ich beginne mit den Sonetten, in welchen der Dichter 
von Begegnungen spricht, die er mit Amor selbst hat, und 
^ dabei vorausschicken, dass die Gestalt des Liebes- 
gottes bei den lyrischen Dichtem des dreizehnten Jahr- 
hunderts durchaus des graziösen und schalkhaften Zuges 
entbehrt, der den aUmäehtigen Oötterknaben in der 
griechischea und römischen Poesie und dann unter der 



46 



Einwii^aDg derselbeii in der Litteratnr der Renaissance- 
zeit schmückt Der Amor Dante's ist, ebenso wie der des 
Gino da Pistoja, des Guido Gninicelli, des Guido Gavalcanti 
und anderer seiner dichterischen Zeitgenossen, mehr eine 
schwermüthige and schwerftllige, ans philosophischen Alle- 
gorien geborene Erscheinnng, die nns an die steüQ^ezmch- 
neten Figuren der Malerei jener Zeit erinnern könnte. Es 
liegt etwas Mystisches in diesem Amor, aber zugleich auch 
etwas Inniges: die Einwirkung des Christenthums auf die 
Ausbildung auch dieser heidnisch mythologischen (Gestalt 
lässt sich nicht verkennen. 

Die Art, wie Amor mit dem Menschen in Berührung 
tritt, wird zunächst, ganz in derselben Weise, wie es der 
bolognesische Dichter Guido Guinicelli in einer grossen 
Canzone schon vor Daate gethan hatte, folgendermaassen 
erklärt: 

1. SONETT. 

Dass Amor und ein liebend Herz verbunden 
In Eins stets sind, wie schon ein Weiser kündet, 
Ist klar. So eng verknüpft sind sie erfunden, 
Wie sich Yemunft mit den Gedanken bindet 

Denn die Natur, in ihren Liebesstunden, 
Hat Amor'n, unserm Herrn, ein Heim gegründet 
Im Menscheuherz. Dort ruht er, schlafnmwunden, 
Bis eine holde Weckerin sich findet: 

Die Schönheit eines edlen Weibes rühret 

Das Aug* so stark, dass dieser Eindruck dringt 

Bis tief in's Herz und dort den Schläfer weckt, 

Der nun aus seinen Träumen aufgeschreckt 
Im Herzen seine Wunderthat voUbringt. — 
Und gleicher Weis' die Frau die Liebe spüret 



47 



Nach dieser, allgemeine Betrachtungen über das Wesen 
und das Wirken Amors enthaltenden Dichtung, wird das 
folgende Sonett ana dem „Canzoniere" einzuschalten sein, 
in welchem der Dichter andeutet, dass auch er jene Macht 
der Liebe schon seit frühester Jugend empfunden habe und 
in welchem er dann diese Macht im Allgemeinen schildert. 

2. SONETT. 

Genoss' ist Amor mir seit manchen Jahren: 
Seit ich den Frühling sah zum neunten Mall 
Und wie er spornt und zügelt, wie er Qual 
Und Freud' in's^Herze giesst, hab' ich erfahren. 

Nicht Klugheit half, nicht Kraft, mich zu bewahren 
Vor ihm; wie Jene, die des Wetters Strahl 
Erhoffen abzuzieh'n von seiner Wahl 
Durch Glockenläuten, könnt' die Mfih' ich sparen. 

Denn auf dem Platz, den er zum Kampfe nahm, 
Musst' stets der freie Will' besiegt sich geben, 
Und rasch wurd' stets die Ueberlegung lahm. 

Was sonst begehrenswerth erschien im Leben, 
Versank, wenu er mich anzutreiben kam. 
Und wurde matt vor neu erwachtem Streben. 

Von persönlichen Begegnungen mit Amor wird zu- 
nächst in folgenden beiden Sonetten berichtet: 

3. SONETT. 

Die edlen Herzeo, die der Lieb' ergeben, 
Bitt' grüssend ich, zu deuten mir den Sinn 
Dess', was ich zu erzfthlen Willens bin. 
Ich bitt' bei Amor's, ihres Meisters, Leben! 



48 



Ein Drittheü ¥oe der Zeit war schon dahin, 
In der die Sterne leuchtend droben schweben, 
AJb plötzlich ich empfuid ein inneres Beben, 
Weü Amor selbst leibhaftig mir erschien. 

Er hielt in seiner Band mein Herii und heiter 
Sebant* anf die Herrin er, die schlonunemd ruhte 
In seinem Arm, gehflllt in leichte Kleider. 

Sie weckt er dann, zu Grauenvollem leider: 
Denn essen toh des Herzens heissem Blute 
Musst' sie — dann schritt er weinend weiter. 



4. SONETT. 

Als ebegestem ich die Strasse ritt, 
Der Heise made, die ich unternommen 
Nur ungern, sah ich plötzlich Amor kommen; 
Im Pilgerkleid' er seines Weges schritt; 

Sein ganzes Wesen schien mir so beklommea 
Wie Jemand's, der Erniedrigung erlitt; 
Ein tiefer Seu&er seinem Mund entglitt; 
Den Blick er senkte, wie von Scham benommen. 

Als er mich sah, rief er bei Namen mich 

Und sagt': „Ich komm' aus jener fernen Gegend, 

Woselbst Dein Herz auf mein Geheiss yerweüte. 

Jetzt wünscht' ich, dass zu neuer Freud' es eilte 1'* 
So grosse Gunst von ihm im Herz bewegend, 
Gewahrt' ich nicht, wie er entfernte sich. 

Was das erste dieser beiden Sonette betrifit^ so scheinen 
mehrere von den „edlen, der Liebe ergebenen Herzen'^, 
welche Dante aufforderte, ihm den Sinn de& erzählten 
Traumes zu denten, wirklich sich bewogen' gefbhlt zu 



49 



haben, za antworten und eine dichterische Auslegung zu 
geben. Wenigstens finden sich unter den Gedichten des 
Cino da Pistoja*) und des Gruido Cavalcanti**) je ein 
Sonett, in welchem die Dante'sche Vision gedeutet wird; 
und zwar erklärt der erste Dichter das Schlafen der Herrin 
und das Essen vom Herzen des Dichters damit, dass natur- 
gemäss Dante gewünscht habe, Amor möge seiner Herrin 
im Traume von seiner Liebesgluth mittheilen, und dass 
ans diesem Wunsche die Vision geboren worden sei. Das 
Weinen Amor's beim Weggehen deute an, dass aus dieser 
liebe beiden Weh' erwachsen werde. Cavalcanti spricht 
dagegen von einer Todessehnsucht der Herrin, die nur 
durch den Crenuss des Herzblutes des Dichters durch 
Amor's Vermittlung gestiUt worden sei. Wir müssen be- 
denken, dass diese Antworten der Dichterfreunde Dante's 
höchst wahrscheinlich nach dem Bekanntwerden des Buches 
„la Vita nuova", und nicht schon sogleich nach der Ab- 
fassung des Sonettes gedichtet worden sind, dass also beide 
in ihren Deutungen durch den Tod Beatricens, durch die 
späteren Klagelieder Dante's und durch seinen Prosa-Text 
beeinflusst sein mögen. In diesem Falle würden dann 
diese Antworten auf den späteren Verlauf des Liebesver- 
hältnisses zwischen Dante und Beatrice einiges Licht 
werfen, und wir werden deshalb später noch einmal auf 
sie zurückkehren. Jetzt sei nur noch beiläufig gesagt, 
dass auch die Antwort eines dritten zeitgenössischen 
Dichters, des Dante da Maiano***) auf dieses Sonett er- 
halten ist, dass aber diese dritte Antwort nur eine Samm- 
lung von Schmähungen gegen den Dichter darstellt und 



*) Birne dl Cino d» Pistoja. ed Bindl e Fanfani. Pistoia, 1878. 
**) Birne dl Gaido Cavalcanti. ed Amone, Firenze 1881. 
***) Dante da Maiano, Bayenna, David 1882. 

4 






50 



mit dem Rathe schliesst, der florentmische Trämner und 
Visionär möge in ein Narrenhaas gehen. — Wir selbst 
müssen vorläufig den Inhalt dieses Sonetts ohne jede 
specieliere Deutung einfach als das annehmen, als was er 
sich uns bei dem ersten Anblick darstellt, als eine Vision 
nämlich, in welcher der Dichter eine enge Beziehung 
zwischen seiner „Herrin'' und sich durch Amor's Macht 
hergestellt sieht. Auch über das zweite Sonett, in welchem 
Amor dem Dichter als Pilger begegnet, enthalten wir uns 
vorläufig jeder weiteren Vermuthung, da der Inhalt des- 
selben, dass nämlich Amor den Dichter von einer früheren, 
nun machtlos gewordenen Liebe zu einer anderen, „zu 
neuer Frefüde**, führen möchte, an sich klar ist. Von 
einem solchen Liebeswechsel spricht auch die einzige 
Ballade der „Vita nuova'', die uns zugleich zeigt, dass 
der Dichter die andere Liebe als eine Treulosigkeit der 
„Herrin'' gegenüber auffasst Es lautet dieses Lied: 

1. BALLADE. 

Ich will mein Lied, dass du zu Amor gehst, 
Damit er dich zur Herrin mein begleite 
Und sds mein Meister Aufiiahm' dem bereite, 
Was du in tiefer Ehrfurcht von ihr flehst. 

Zwar ist dein Gang, o Lied, schon so bescheiden, 

Dass du wohl überall 

Auch ohn' Geleit kannst wagen hinzugehen. 

Doch Amor ist, mn Straucheln zu vermeiden 

Ein Schutz in jedem Falll 

Drum bitt' ich dich, um Hülf ihn anzuflehen. 

Und wenn die Herrin, die dich jetzt soll sehen, 

Mir wirklich ahhold ist, wie ich vermuthe. 

Und seine Hülf dir dann nicht kommt zu Gute, 

So kommt es leicht, dass du beschämet stehst. 



51 



Mit süssem Laut, wenn da dann bei ihr bist, 

Sollst da ihr dieses sagen, 

Nachdem du um Verlaub sie erst gebeten: 

„0, Herrin, wenn es Euch gefällig ist 

Lasst mich zurücke tragen 

Verzeihung dem, der mich hiess vor Euch treten. 

Wenn seine Blick* nach andren Frauen spähten, 

Wisst, Amor, der mir folget, hat's gefüget, 

Dass er die Welt mit solchem Schein betraget. 

Sein Herze, glaubt mir, hält an Eurem festl^ 

Und sag* ihr: „Herrini stets hat nur geschlagen 

Sein Herz für Euch. Das Streben 

Sein ganzes Wesen Eurem Dienst zu weih'n 

Hat er von Jugend auf in sich getragen." 

Und wenn in Zweifel schweben 

Du sie bemerkst, lass Amor'n Zeuge seinl 

Am Schlüsse dann flicht noch die Bitte ein. 

Mir zu yerzeih'n, wenn ich ihr lästig bin. 

Befiehlt sie^s, schreit' ich gern zum Tode hin. 

Damit die Treue mein ein Zeugniss lässt. 

Bitt' Amor, der des Mitleids Fülle hegt. 

Eh' du von dannen gehst, 

Bitt' ihn, vor ihr nun meiner zu gedenken : 

„Ich bitt' beim Wohllaut, der sich in mir regt, 

Dass du zur Seite stehst 

Dem Knechte dein, um ihren Sinn zu lenken 

Zur Milde, sie beschwörest auch, zu schenken: 

Ihm ihr Verzeih'n und holden Seelenfrieden!^ 

So tummle dich, mein Lied, damit beschieden 

Dir Ehre sei und du umsonst nicht fleh'st. 

Dass der Dichter mit seiner Hinneigung zu anderen 
Frauen „die Welt nur mit einem Scheine betrogen" habe, 
ist wohl mehr als nur eine dichterische Phrase oder eine 

4* 



52 



nachträgliche Entschuldigung. Wir finden Beispiele eines 
ähnlichen Verhaltens in überaus vielen Liebesverhältmssen 
der damaligen Zeit. Die Verehrung der „Herrin" er- 
forderte es, dass die Liebe des Anbeters sich nicht offen 
zeigte, dass sie auf alle mögliche Weise Versteckens spielte 
und dass sie die scheinbare Hinneigung zu anderen Frauen 
gleichsam als Schild benutzte, um der Welt sich nicht zu 
offenbaren. In der deutschen Litteratur giebt uns bekannt- 
lich der um dieselbe Zeit wie Dante lebende Ulrich . Ton 
Liechtenstein das deutlichste Bild einer auf diese Weise 
bis zur Ueberspanntheit getriebenen „höfischen" Liebes- 
bewerbung. 

Wir können sogleich die beiden folgenden Klagelieder 
um den Tod eines jungen Mädchens, die sich in der 
„Vita nuova" finden, hier anfügen, weil auch sie das Be- 
schäftigtsein des Dichters durch andere Frauen ülustriren 
und der Welt gegenüber vielleicht ein Ablenken der Auf- 
merksamkeit von seiner Liebe zu der Herrin bezwecken 
sollten. Diese Klagelieder lauten folgendermaassen: 

5. SONETT. 

Weint Liebende, weil Amor selber weinet, 
Und höret, was die Thränen ihm entzwang: 
Auch er vernahm der Frauen Klaggesang, 
Die trauernd sich um einen Sarg geeinet 

Als jüngst der schnöde Tod die Geissei schwang 
Traf er ein Mägdlein schön. Vernichtet scheinet 
Nun Alles, was man lobenswerth gemeinet 
An ihr, nur nicht des guten Rufes Klang. 

Nun hört, was Amor that, um sie zu ehren: 

Ich sah leibhaftig ihn am Sarge stehen 

Der süssen Blume, die der Tod sich pflückte; 



r 



53 



Und oft sein Aug* hinauf zum Himmel blickte, 
Als könnt' er dort die firomme Seele seh'n, 
Die ihres holden Leib's nun muss entbehren. 



6. SONETT. 

0, schnöder Tod, der Mitleid nie gekannt, 

Von jeher: Vater unseres Weh'sl genannt, 

0, Richter, streng nnd unbesiegt. 

So herben Schmerz hast du nns zugefügt, 

Dass tiefe Trauer auf mir liegt, 

Und Lust, dich arg zu schmähen, ist mir entbrannt 

Um dich zu schildern, wie du hast verbannt 

Jedwede Milde, mach' ich jetzt bekannt 

Dein Thun, in dem das Unrecht tiberwiegt. 

Zwar lebet Niemand, dem's verborgen liegt, 

Doch Jeder, der sich Amor's Zwange fügt. 

Sei kfinftig zornig gegen dich gewandt 1 

Die Erde hast von Anmuth du entleeret 
Und von der Tugend, die die Frauen schmückt. 
Im ersten Jugendreiz hast du gepflückt 
Der Blumen eine, die sich selbst geehret. 

Nichts mehr sag' ich von ihr, die uns entrückt, 
Als was ihr eignes holdes Wesen lehret: 
Dass, wer dereinst des ew'gen Heils entbehret, 
Durch ihre Näh' nie wieder wird beglückt. 

Es würde einer unbefangenen Betrachtung nahe liegen, 
diese beiden Sonette als auf den Tod der „Herrin", also 
Beatricen's selbst, hindeutend anzusehen, wenn sie sich 
nicht in ihrem Stile und in ihrem ganzen Tone von 
den ELagegesängen auf Beatrice, die wir später betrachten 



54 



werden, aUznsehr unterschieden. Es liegt über ihn^i 
eher der Schleier einer stillen Wehmath gebreitet, als 
dass sich der heftig vordringende Schmerz in ihnen 
ausdrückte, der jene anderen Klagen kennzeichnet. 
Aach tragen die Anklagen gegen den Tod den Stempel 
des Gremachten and Künstlichen und sind weit von den 
dringlichen Worten verschieden, mit denen der Dichter 
später den Tod anruft, dass er ihn von seinen Qualen er- 
löse. Schliesslich muss auch der Umstand, dass Dante in 
diesen beiden Klageliedern nie von der Verstorbenen als 
von seiner „Herrin** spricht, was er sicher, wie die anderen 
Lieder uns zeigen, gethan haben würde, wenn es Beatrice 
gewesen wäre, uns davon überzeugen, dass die „gentil 
donna**, an deren Bahre er diesmal trauerte, nicht die 
Geliebte des Dichters war. 

Die einzige schwierige Stelle in diesen beiden Ge- 
dichten, die nämlich, dass Amor selbst am Sarge des 
jungen Mädchens steht und den Blick zum Himmel 
richtend, dort ihre Seele erblickt, haben Manche dadurch 
erklärt, dass sie annahmen, unter Amor sei hier Beatrice 
zu verstehen, wobei sie sich auf eins der beiden Sonette 
der »Vita nuova**, in denen der Name Beatricen's genannt 
wird, berufen; in diesem Sonette legt Amor der holden 
Beatrice seinen eigenen Namen bei, „weil sie ihm so 
gleiche**. Nur später in den Trauerliedem erwähnt Dante 
nochmals den Namen Beatrice als den seiner Herrin, und 
auch unter den Sonetten des „Ganzoniere** befindet sich 
nur ein einziges, welches die „Bice** als Dante's Herrin 
erwähnt Da wir nunmehr zu den Gedichten, die sich 
ausdrücklich mit der „Herrin** beschäftigen, übergehen, 
seien diese beiden Sonette, die uns Beatricen's Namen 
überliefern, hier vorangestellt: 



55 

7. SONETT. 

Ein Liebesahnen spflrt' ich jüngst sich regen 
Im Herzen mein, aus dem es lang yerbannt, 
Und Amor sah' ich kommen mir entgegen, 
So fröhlich, dass ich kaum ihn hätt' erkannt. 

Er sprach: ,,Heat' gilt es Ehre einzulegen 1** 
Ein Lächeln hielt dabei den Mund umspannt. 
Nur wenig könnt' ich Zwiesprach' mit ihm pflegen, 
Da sah ich, nach der andren Seit' gewandt, 

Die Vanna und die Bice sich mir nahen. 

Wie holde Wunder kamen sie daher 

Die Herrinnen; und Amor hört' ich sagen: 

„Den Namen „Primavera*' mOsst' empfahen 

Die Erste und die And're, die so sehr 

Mir ähnelt, müsst den Namen „Amor** tragen. 



8. SONETT.*) 

0, Guido, wenn es doch ein Zaub'rer machte, 
Dass ich mit dir und Lapo würd' verschlagen 
Aufs weite Meer, von einem Schiff getragen 
Das, uns gehorchend, allen Winden lachte; 

Dass Wetterlaun' und Stürme, wild ent£Eichte, 
Uns niemals störten oder Hessen zagen, 
Nein, dass in uns mit wachsendem Behagen 
Der Wunsch, stets so vereint zu sein, erwachte. 

Die Vanna und die Bice müsste dann 
Mit Jener, die die Nummer Dreissig führt. 
An uns're Seit' der gute Zaub'rer setzen. 



*) Ans dem «Ganzoniere*. 



Ö6 



Gespräch' von Liebe mttssten uns ergetzen; 
Den Holden müsste sein das Herz gerührt, 
Wie uns auch sicher Freud' dann hielf im Bann! 

Die „Vanna** und die „Bice" in dem ersten Sonette 
sind die beiden Freundinnen Giovanna und Beatrice. 
„Frühling^ (Priniayera) soll die erstere heissen, und 
„Liebe^ die letztere: eine zartere Anspielung auf die 
Anmuth der ersteren und auf die Hoheit der letzteren 
konnte wahrlich der Dichter nicht ersinnen; und ich 
dächte, dass sonst in diesem Sonette Alles klar sei« Auch 
in dem anderen liede kann eine nnfoefongene Betrachtung 
keine besonderen Geheimnisse und Anspielungen finden. 
Wiederum finden wir hier Beatrice und Giovanna zu- 
sammen genannt, diesmal noch eine dritte mit ihnen, 
deren Name von Dante an der dreissigsten Stelle in einem 
dichterischen Yerzeichniss der schönsten Frauen von Florenz 
genannt worden war. Der in dem Eingange dieses So- 
nettes genannte Guido ist Dante's „bester Freund", der 
Dichter Guido Cavalcanti, dem Dante seine „^^^ nuova'^ 
widmete, und der jene Giovanna, die er unter dem Namen 
„Primavera" besang, anbetete. Der dritte, Lapo, ist Lapo 
Gianni, ebenfalls einer der Dichter des „dolce stil nnovo'^. 
Warum die „Herrinnen" der drei Dichterfireunde nicht 
auch Freundinnen gewesen sein könnten, ist mir nicht be- 
greiflich, und ich sehe in dem Gredichte selbst keinen 
Grund, welcher diese Träumerei zu einer allegorischen 
Spielerei umstempeln müsste. 

Dass die „Herrin" Dante's wirklich Beatrice hiess, 
darüber lassen also die eben angeführten Gedichte keinen 
Zweifel. Sehen wir nun zunächt zu, in welcher Weise 
der Dichter diese seine holde Herrin feiert und welche 



57 



Eigenschaften ihn besonders an ihr i^ntzücken. Ein ganzer 
Kranz von Sonetten und Canzonen, die ihr Lob besingen, 
findet sich in der „Vita nuova" und im „Canzoniere**, nnd 
ich stelle sie im Folgenden ihrem Inhalte nach gruppen- 
weise zusammen: 

9. SONETT. 

Weil Amor vohnt in meiner Herrin Blicken 
Wird, was ihr Aug* berflhrt, von ihr verklärt, 
Und wenn sie kommt, sich Jeder nach ihr kehrt, 
Und wen sie grüsst, dess' Herz bebt vor Entzücken; 

Doch Seufzer auch muss er zum Himmel schicken. 
Weil er vor ihr erst fühlt, was ihn entehrt, 
Und ihre Näh' dem Zorn und Hochmuth wehrt 
— O, helft mir, Frauen, würdig sie zu schmücken! — 

Es spürt in sich ein neues süsses Leben 

Wer ihre Stimme hört; gebenedeit 

Ist der, den sie zum ersten Mal erblickt; 

Und wen ein Lächeln gar von ihr beglückt. 
Der fühlt sich wie durch Zauberskraft gefeit, 
Von der er sich nicht Rechenschaft kann geben. 



10. SONETT.*) 

Am jüngsten Allerheil'gentag sah wallen 
Ich vor mir hin der Frauen holde Schaar; 
Und Eine kam, als Erste fast von Allen, 
Der Amor sichtbar beigesellet war. 

Aus ihrem Aug' sah funkelnd niederfEdlen 
Ich auf mich Geistesblitze hell und klar, 



*) Atu dem nCanzoniere*. 



■^ 



58 



Und ganz verzückt stand ich: denn zu umwallen 
Schien Himmelsglanz ihr AntlitE wunderbar. 

Wer ihres Grusses werth, dem wurd' gespendet 
Von ihr dann wahres Heil: durch ihrer Blicke 
Gewalt wird's jedem Herzen zugewendet! 

Ich weiss es nun: sie ward vom Weltgeschicke 
Vom Himmel nieder uns zum Wohl gesendet; 
Wer mit ihr geht, hat Theil am ew'gen Glücket 



11. SONETT. 

Seht meine Herrin bei den Frauen steh'n! 
Leibhaftig scheint in ihr das Heil zu leben 1 
Ihr And'ren, die ihr neben ihr dürft geh'n, 
Dankt Gott, dass solche Gnad' er euch gegeben! 

Ihr lasset ihrer Schönheit Macht erseh'n 
Weil Neid in euch nicht wagt das Haupt zu heben, 
und weil ihr Alles tragt von ihr zum Leh^ 
Wenn Anmuth, Lieb' und Glaube euch umschweben. 

Erhöhet wird von ihres Auges Schein 

Ein jedes Ding: nicht nur ihr eignes Wesen, 

Nein, auch die Tugenden der and'ren Frauen. 

Und so voll Anmuth ist ihr ganzes Sein, 
Dass, wer es zur Betrachtung sich erlesen. 
Nicht ohne Liebesseu&er es kann schauen. 



12. SONETT. 

0, so Tiel Liebreiz, so viel Würde zeiget 
Die Herrin mein, wenn holden Gruss sie spendet, 
Dass jede Zung' sogleich ihr Plaudern endet 
Und jedes Aug* sich scheu zu Boden neiget. 



59 



Wie oft sie auch ihr Lob yernimint, sie schweiget 
Und geht, voll Demuth, still in sich gewendet 
Des Wog's, als wäre uns in ihr gesendet 
Ein Wunder, das vom Himmel niedersteiget. 

Und wer sie anschaut, fühlet ihren Blick 
So süss und huldvoll sich in's Herze dringen, 
Dass nur, wer es erfährt, es kann verstehen. 

Von ihren Lippen scheinen auszugehen 

Der Liebe Geister, die in's Herz sich schwingen, 

Das seu&end nun erkennt sein wahres Glück. 



2. BALLADE.*) 

„Ich kam, ein niegeschautes, schönes Kind 
Um Euch von meiner Heimath Kund' zu geben 
Und von dem Glanz und Reiz, die sie umschweben. 

Vom Himmel stamm' ich und dorthin zurücke 
Kehr' einst ich, holden Engeln zum Gefallen. 
Wer mich erschaut und spürt nicht Liebesglücke, 
Der fühlet niemals Lieb' im Herzen wallen. 
Denn keinen Reiz versagt' mir Gk>tt von allen, 
Als er gewollt, dass ich in dieses Leben 
Hemiederstieg, als euch ich ward gegeben. 

Die Sterne einst in meine Augen gössen 
Ihr ew'ges Licht und ihre Wundermacht; 
Und meine Schönheit, weil sie dort entsprossen, 
Durchstrahlt wie Himmelsglanz die Erdennacht, 
Und zum Yerständniss wird sie nur gebracht 
Dem Menschen, der sich Amoren hingegeben, 
Und von ihm läutern lässt sein irdisch Streben.** 



*) Ans dem „Ganzoniere'*. 



60 



£b stehen diese Worte klar ro lesen 
Im Antlits eines Engels, der erschien 
Jflngst unter uns. Sein Anblick ist gewesen 
Mir tödlich fast; so sehr ward ich durch ihn 
Verwundet, dass ich nicht mehr konnte flieh'n. 
In seine Augen schau' ich nun mit Beben 
Und friste weinend, unruhyoll mein Leben. 



1. CANZONE. 

Ihr Frauen, die auf Lieb ihr euch verstehet, 
Ich will mit Euch von meiner Herrin reden; 
Nicht weil ich glaube, dass ich je ihr Lob 
Erschöpfen könne, nein, nur weil sich leichter 
Mein Geist schon fühlet, wenn er an sie denkt. 
0, glaubt, so oft ich ihren Werth erwäge, 
Macht wundersOss sich Amor in mir geltend. 
So dass, wenn ich den Muth dazu nur fände. 
Durch den Bericht allein es mir gelingen würde, 
Auch Lieb in allen anderen zu wecken. 
Doch will ich nicht in hohem Schwünge reden, 
Der leicht mich kläglich scheitern lassen könnte, 
Nein, wie es ihrer zarten, holden Anmuth 
Entspricht, will ich nur leichthin von ihr plaudern 
Mit euch, o Frau'n und Mädchen, die auch ihr 
Der Liebe Kraft verspürtet; euch allein 
Kann dieses Lied ich recht und würdig weih'n. 

Ein Engel rief die hohe Himmelskraft 
Mit diesen Worten an: „0, Herr, ein Wunder 
Sieht man auf Erden jetzt leibhaftig wandehi; 
Aus einer Seele stammt es, deren Tugend 
Bis hier herauf in unseren Himmel leuchtet ; 
Nicht mehr vollkommen scheint er nun zu sein. 
Da sie ihm fehlet Herr! führ* sie uns znl^ 



61 



Und alle Engel stimmen bittend ein, 
Nur der des Mitleids fähret uns're Sache, 
So dass am Ende Gott, der meine Herrin 
Schon längst gekannt, sich sdso lässt yemehmen: 
„0, meine Lieben, wollet euch gedulden 
In Frieden, dass, so lang es mir gefällt, 
Sie, die ihr so erhofit, noch drunten wandelt. 
Wo 'Emer lebt, dem Furcht, sie ku verlieren, 
Schon jetzt das Herz besehleicht; derselbe ist's. 
Der in der Hölle rufen wird: Ich schaute, 
Ihr Armen, einst der himmlischen Vertraute!*'*) 

Im höchsten Himmel ist die Herrin mein 
Ersehnt; lernt hieraus ihren Werth erkennen! 
Und jede Frau, die edel will erscheinen, 
Such' darum ihren Umgang. Doch wem niedrig 
Das Herze schlägt, der möge ihr nicht nah'n. 
Weil all sein Denken vor ihr schwinden muss, 
Von Amor's Zorn berührt; denn wer sie schauet 
Muss edel werden oder muss vergeh'n. 
Wer würdig ihres Anblicks ist, erfähret 
Gar bald an sich die Wirkung ihrer Tugend, 
Dieweil ihr Gruss schon ihn mit Heil erfüllet, 
Ihm Demuth auch verleiht und alles Unrecht, 
Das er erlitten, ihn vergessen lässt 
Und so hat Gott die Heilskraft ihr erhöht, 
Dass Keiner, der sie sprach, verloren geht. 

Von ihr sagt Amor: „Wie könnt' es gescheh'n 
Dass Sterbliches so schön und rein erschien?^ 
Und sie betrachtend schwört er bei sich selbst, 
Gott hab' hier wirklich Neues schaffen wollen. 



I 



I 



*) Hier solioii finden wir den Hinweis anf Dante's spätere «Höllen- 
fahrt^. IMese Ganzone scheint also nicht sehr frühen ürprongs an sein, 
uid ihre Abfassung f&Ut vielleicht mit dem des Prosa-Textes seitlioh 
nuimmen. 



62 



Seht sie mit jener Perlenfarb' gezieret 

Im rechten Maass, die schönen Frauen eigen 1 

Und seht, wie Alles, was Natur ersann 

An Schönheit und an Gut' ihr ward verliehen! 

Aus ihren Blicken, wenn sie leuchtend schweifen, 

Entspringen Liebesgeister, rasch entflammt. 

Die in die Augen Jedes, der sie siehet. 

Sich bohren und zum Herzen siegreich dringen. 

In ihr Gesicht, das Keiner unbeweget 

Betrachtet, hat sich Amor eingepräget. 

Mein Lied, ich weiss, du wirst Tor viele Frauen, 
Nun plaudernd treten, wenn ich dich entlassen, 
Drum mahn' ich dich, dieweil ich dich erzogen 
Als Amor's zartes, liebenswürd'ges Kind, 
Dass du, wohin du kommst, bescheiden bittest: 
„0, weiset mir den Weg! Ich bin gesendet 
Zu Jener, der zu Ehren ich geschmückt." 
Doch geh' nicht hin, wo niedre Denkungsart 
Zu Hause oder bleib' nicht lang* dort rasten. 
Befleiss'ge dich, wenn dir es möglich ist, 
Nur edlen Frau'n und Männern dich zu zeigen, 
Dass diese dich zum Ziele rasch geleiten. 
Und wenn du Amor findest dort bei ihr. 
Empfiehl mich ihm, ich mach' zur Pflicht es dir! 

Es ist, me wir aus diesen Liedern sehen, nicht blos 
die äussere Schönheit, die „Perlenfarbe" der Haut (d. h. 
die von den südlichen Yölkem so hoch geschätzte mor- 
bidezza des Teint's), das schöne, leuchtende Auge, der 
amnuthige Gang, welche Dante an seiner „Herrin'^ zu 
preisen findet, sondern besonders die „Tugenden" ihres 
Wesens, ihr bescheidenes, sittsames Benehmen, ihre echte 
Demuth und Sanftmuth, ihre Milde und jungfiräuliche Er- 



63 



habenheit. Nach echt homerischer Weise schildert er sie 
mit Vorliebe durch Erzählung des Eindrucks, den sie bei 
den Anderen hervorruft: wie ihre Schönheit die aller ihrer 
GefiQirtinnen überstrahlt, wie diese ihre Anmuth nur von 
ihr gehehen zu haben scheinen und dann besonders, wie 
ihr tagendreiches Wesen auf Jeden, der ihr naht, eine 
bezähmende, versöhnende, verklärende Kraft ausübt. Die 
Heilswirkung ihres Wesens, das Beglückende ihres Grusses, 
vor dem sich Jeder scheu zu Boden neigt und jeder böse 
Gedanke sich verkriecht, das Beseligende ihrer Anrede 
nnd die Zauberkraft ihres Blickes, die gleichsam Alles, 
was von ihm getroffen wird, verschönt und veredelt, das 
ist es, was sie ftlr den Dichter zu dem vom Himmel 
herabgestiegenen Wunder macht, und das ist es auch, 
worin der oft übertriebene, aber dabei doch immer er- 
haben und ideal bleibende Cultus der „Herrin", das heisst 
des geliebten Weibes, zum dichterischen Ausdrucke kommt. 
Das Weib ist dem Anbeter ein edleres und höheres Ge- 
schöpf, ragt über das Irdische hinaus, hat schon sicht- 
baren Theil am Ewigen und wird auf diese Weise ihm 
schon zur Heilsbringerin. Hier schon beginnt also die Er- 
höhung der irdischen Geliebten zu dem himmlischen, über- 
sinnlichen Ideal, hier schon beginnt die Transubstanziation 
der Beatrice, die in der Führerin durch das Paradies 
ihren Gipfelpunkt erreicht, hier schon ist die Geliebte 
eigentlich der himmlische Engel, der nur ftlr kurze Zeit 
auf die Erde gekommen ist nnd von seinen seligen Ge- 
nossen mit Schmerzen zurückersehnt wird. Aber trotzdem 
ist hieraus nicht der Beweis zu schöpfen, dass diese Ge- 
liebte überhaupt nie irdische Realität gehabt habe, sondern 
nur ein dichterisches und religiöses Ideal gewesen sei. 
Nein, der bis zur Ueberspanntheit getriebene Cultus des 



64 



geliebten Weibes, der „Herrin", im ganzen Mittelalter 
zeigt uns deutlich, dass diese Glorificirong des geliebten 
Gegenstandes einen reellen Untergrund hatte, und dass die 
tiefen, fast mystischen religiösen Empfindungen, die aus 
dem Ghristenthum geschöpft waren und an ihm sich weiter- 
nährten, und ebenso der romantische Zug, von dem die 
edlen Geister jener Zeit angehaucht waren, nothwendiger- 
weise eine derartige Erhebung der menschlichen und 
irdischen Beziehungen in das Gebiet des christlichen Ideals 
zur Folge haben mussten. Man hat an diesen Verherr- 
lichungen der „Beatrice**, an ihrer Eriiöhung zur Tochter 
und zum Engel des Himmels, in neuerer Zeit vielAnstoss 
genommen, weil man jenen Cultus fEkr sentimental, ftkr 
schwächlich, flir unwürdig des grossen Dichters hält, aber 
den Zweiflern ist es bis jetzt doch noch nicht gelungen 
und wird es nicht gelingen, die „Herrin** in glaubwfirdiger 
Weise zu einer Allegorie umzudeuten. Die „Weisheit", 
der „thätige Verstand", die „Wiss^schaft" und was man 
sonst fEkr Begriffe bei dieser Gelegenheit substituirt hat, 
erftülen alle ihren Zweck nicht; man muss zu dem Weibe 
zurückkehren und zwar, wie es die Hmweise auf die. 
irdischen Gaben, wie Schönheit, Anmuth deutlich machen, 
zu dem irdischen, zu dem realen Weibe, zu der „echten" 
Beatrice. 

Und noch besser wird uns diese Nothwendigkeit 
klar, wenn wir das subjective Verhalten Dante's dieser 
seiner „Herrin" gegenüber betrachten, wenn wir also seine 
Liebeslust und sein Liebesleid, wie es sich in seinen 
Liedern ausdrückt, auf uns einwirken lassen. Zum 
fireudigen Au^auchzen war die Seele Dante's nicht ge- 
schaffen, deshalb sind der Lieder von Liebeslust nur 
wenige, es lässt sich eigentlich nur ein einziges anfülnren; 



65 



dafür ist um so grösser die AnzaM der Liebesklagen. Das 
einzige fröhliche LiebesUed ist das folgende: 

STANZA. 

Von Amor'B Fesseln schon so lang umwanden 
Bin ich und so sein Herrscherthum gewöhnt, 
Dass, wie ich einst in seinem Joch gestöhnt, 
Nun ich durch ihn die wahre Freud' gefunden. 
Und wenn er meine Kraft oft unterbunden, 
Mit meiner Ohnmacht oft mein Werk gekrönt. 
So ist doch er's auch, der mich dann yersöhnt 
Und milde heilet alle meine Wunden; 
Der mir jetzt einflösst neuen Lebensmuth, 
Dass in mir alle Geister frisch sich regen 
Und ihr, in der mein Heil beruht, 
Der holden Herrin, fliegen froh entgegen. 
Sobald sie ihren Blick nur zu mir wendet. 
0, welches Glück ward mir gespendet! 

Von Liebesklagen sind eine ganze Anzahl von Sonetten 
erftült: 

13. SONETT. 

Ihr, die ihr Amor's Pfad beschreitet. 

Merkt auf jetzt und entscheidet. 

Ob tiefrer Schmerz zu finden, als der meine! 

Ich bitte, dass ihr hörend mich begleitet. 

Dann euch bereitet, 

Zu schau'n die Leiden, die ich in mir eine. 

Es schuf mir Amor — nicht etwa verleitet 

Durch meinen Werth, der solchem widerstreitet — 

Nein, weil er edel ist, so süss und feine 

Das Leben, dass gar Mancher mich beneidet', 

Sich sagend: „Gott! welch' gross Verdienst bekleidet 

WohlJenen, dass so fröhl'chen Sinns er scheine?^ 

6 



^ 



66 



Jetzt hat mich all' die Zayersicht yerlassen, 
Die aus dem grossen Liebesschatze kam; 
Ich stehe arm da, und den Gram 
Kann ich mit Mühe nur in Worte fassen; 

So arm, dass ich mir die zum Beispiel nahm, 
Die, weil sie äuss're Schande hassen. 
In ihrem Elend doch sich heiter blicken lassen. 
Auch meinen Schmerz terberge ich aus Scham. 



14. SONETT.*) 

0, süsse Lieder, die ihr einstens sänget 
Von meiner Herrin, aller Frauen Zier, 
Zu euch tritt dieses neue Lied allhier, 
Damit ihr's als Genossen froh empfanget. 

Doch nehmt's nur an, wenn in ihm leuchtend pranget 

Der echten Wahrheit Sinn; es sei dafür 

Euch Amor Bürge, dessen Hülfe ihr 

Es dankt, wenn ihr der Frauen Sinn bezwanget. 

Und wenn des neuen Liedes Klang euch findet 
Bereit, zur Herrin hin aufs Neu' zu wallen, 
0, flieget schnell und tretet vor sie hin. 

Sagt ihr: „0, Herrin, neige dich uns allen I 
Von Jenem kommen wir, den Angst umwindet 
Weil hoffiiungslos nach Euch sich sehnt sein Sinn.^ 



8. BALLADE.*) 

Im EQeide eines kund'gen Boten schreite, 

Ballade mein, den Weg und zög're nicht, 

Zu treten vor der Herrin Angesicht. 

Sag' ihr, wie scheu ich jetzt durch's Leben gleite. 



*) Ans dem «Canzoniere''. 



67 



Erzählen sollst du, wie die Augen mein, 
Durch die Begierd', ihr Engelsbild zu seh'n, 
Sich einst zu hellem Glanz entzündet hatten, 
Und wie sie jetzt, in wahrer Todespein, 
Beraubet ihres Anblicks müssen steh'n, 
So dass nun Dulderkronen sie umschatten. 
Und sie umsonst im Ausschau'n sich ermatten 
Nach ihrer Freud'. 0, sterben werd' ich müssen 
Wenn sie mit ihrem Trost nicht will versüssen 
Mein Leben 1 — Diese Bitt' ihr unterbreite. 



15. SONETT. 

Wie seltsam doch, so muss ich oft mir sagen. 
Hat Amor mich mit seiner Huld bedacht I 
Ich kann mich drob des Mitleids nicht entschlagen. 
Denn Keinem hat er jemals Heil gebracht. 

Zum Band des Todes fühl' ich mich getragen. 
Wenn auf mich einstürmt plötzlich seine Macht; 
Ein einziger Geist bleibt dann in mir mit Zagen 
Lebendig noch, den Ihr in mir entfacht. 

■ 

Mir selbst zu helfen, streb' ich dann vergebens, 
Und halb schon todt, Ton aller Kraft; verlassen 
Such' ich Genesung nur in Eurem Blick, 

In Eurer Näh' nur Rettung meines Lebens 1 

Doch seh' ich Euch, kann sich mein Herz nicht fassen 

Und alles Leben weicht aus mir zurück. 



16. SONETT. 

Von Lieb' erfüllt sind alle die Gedanken 
In meiner Brust, doch smd sie so verschieden, 
Dass Einer wünscht, ich hätt' die Lieb' gemieden, 
Ein And'rer räth, ich soll in ihr nicht wanken, 

5* 



68 



Ein Dritter idll mich an die Hoffiiung schmieden. 
Ein Vierter roft die Thrftnen in die Schranken. 
In einem Punkt nur schweigt ihr lautes Zanken: 
Dass Mitleid heischend ich wohl fände Frieden. 

Noch weiss ich nicht, wohin ich mich soll neigen t 
Ich möchte reden, doch die Worte fehlen 
In diesem Wirrsal, das die LieV geschaffen. 

So muss ich denn mich wohl zusammenraffen 
und mich dem Mitleid, meinem Feind, empfehlen, 
Dass er die Liebesqualen bring' zum Schweigen. 

Können wohl diese Lieder, das freudige sowohl, wie 
die klagenden, auf ein blosses Ideal bezogen werden? 
Müssen sie nicht eine wirkliche Greliebte de» Dichters zum 
Gregenstand haben? Besonders das letzte, in welchem der 
Dichter, da er der Liebe seiner „Herrin" nicht theilhaftig 
werden kann, wenigstens um ihr Mitleid, das er doch 
eigentlich entwürdigend findet und hasst und „seinen Feind'^ 
nennt, verzweifelnd fleht? Und müssen nicht die beiden 
folgenden, die ebenfalls in das Gebiet der Liebesklagen 
gehören, durchaus mit einem bestimmten Yorüall, wie. er in 
der vagen Beziehung zu einem Ideal nicht statthaben 
könnte, in Verbindung gebracht werden? 

17. Sonett. 

Ihr habt gespottet mit den and'ren Frauen 
Des Anblickes mein und nicht den Grund bedacht. 
Der stets aus mir den stummen Tr&umer macht, 
So oft Ihr Eure Schönheit mich lasst schauen. 

Wenn Ihr ihn kenntet, würden rasch entfacht 
In Euch das Mitleid sein und das Vertrauen: 
In Eurer Näh' schwingt zu den seFgen Auen 
Des höchsten Glücks die Lieb' sich aus der Nacht 



69 



In der sie lag, und mit Gewalt verstören 
Und tödten will sie meine Lebensgeister, 
Die fdrchtsam flieh'n, um ihr den Platz zu lassen; 

Bann scheint ein ander Sein mich zu umfassen, 
Doch bleib' ich noch so weit der Sinne Meister 
Um der Vertriebenen Weheruf zu hören.*) 



18. SONETT. 

Was ich sonst fohl' und denk' erstirbt in mir 
So oft ich Euch, o holde Freude, sehe; 
Und Amor ruft: „Wenn noch zu leben dir 
Ist lieb, so flieh' aus deiner Herrin Nähel^ 

Es schwindet meiner Wangen rothe Zier, 

Und ohne Stütze laum ich aufrecht stehe, 

Und in der Sinne Trunkenheit ist mir 

Als hört' ich selbst die Steine schrei'n: „Vergehe!^ 

Es macht sich, wer in solcher Pein mich sieht 
Und mich nicht tröstet, einer Sünde schuldig; 
Ein Blick des Mitleids würd' mir schon genügen. 

Das jetzt vor Eurem scharfen Spotte flieht. 
Es fleht darum mein brechend Aug* geduldig,. 
Es fleht die Qual in meinen blassen Zügen. 

Und wie der scharfe Spott der „Herrin", der die 
Hofhung, wenigstens von ihr mit mitleidigen Augen be- 
trachtet zu werden, ia ihm vernichtete, nur mit grosser 
Schwierigkeit und Eünstlichkeit allegorisch würde gedeutet 
^werden können, so wüsste ich auch nicht, was man, wenn 



*) Den Wehemf der vertriebenen Lebensgeister, die sich bekUgen 
dass ile hei dem Kshen der «Herrin* stets entfliehen müssen. 



70 



man nur an das „Ideal^ denkt, aus dem Inhalte der 
folgenden Sonette machen wollte, die geschrieben sein 
müssen, als die „Herrin'' ein grosser Schmerz betroffen 
hatte. Die beiden ersten derselben, die eine Art von Duett 
zwischen klagenden Frauen und dem Dichter darstellen, 
sind in ßßr „Vita nuova'', die beiden letzten in deni 
„Canzoniere" enthalten. Die vier Sonette lauten: 

19. SONETT. 

Ihr scheint mir so bedrückt und senkt zur Erde 
Die Augen, die Ton Gram umflort 0, sagt, 
Wo kommt ihr her, ihr Frauen, dass ihr tragt 
So tiefen Schmerz in Miene und Geberde? 

Schon ahnet mir, was ich erfahren werde: 

Dass uns're Herrin, weil sie schier verzagt, 

Jetzt ihres Aug's Bewohner, Amor, plagt 

Mit salz'gem Nasi. — Verzeiht mir die Beschwerde, 

Doch lasst mich nicht im Ungewissen steh'n; 
Und saht ihr wirklich sie in grossem Leide, 
So sprecht Ton ihr mir, wie es ihr mag geh'n. 

Ihr weint? 0, zögert nicht mit dem Bescheide, 
Denn schon, dass ich euch so verwirrt muss seh'n, 
Macht, dass ich selbst die Thränen kaum vermeide. 



20. SONETT. 

Bist du's, der uns vertraulich oft gestanden 
Die stille Lieb' zu uns'rer Herrin? — NeinI 
Die Stimme würde zwar dieselbe sein. 
Doch kam dein frühres Aussehn dir abhanden. 



71 



Und warum liegst da so in Schmerzen's Banden, 
Dass and'ren selbst du flössest Mitleid ein? 
Hat ihrer Thr&nen Anblick solche Pein 
In dir erweckt, dass wir dich trostlos fanden? 

O lass uns jetzo weinend weiter gehen. 
Uns jetzt zu trösten, wäre Sund sogar, 
Nachdem wir sie in ihrem Leid' gesehen; 

Denn so erbarmenswerth ihr Anblick war, 
Dass wer noch länger wollte bei ihr stehen 
Bald selbst Tor Leid würd' sein des Lebens bar. 



2L SONETT. 

Wo kommt ihr her, in Trauer so versenkt? 

O, seid so gfltig, mir es rasch eu sagen. 

Denn nicht kann ich der Bangniss mich entschlagen, 

Dass meiner Herrin Weh euch so gekränkt. 

So schnell nicht, edle Frauen, Ton mir lenkt 
Den Schritt; o, bleibet, wollet Rechnung tragen 
Der Bangniss mein, und hört mein hastig Fragen 
Nach ihr, der Herrini auch selbst, wenn ihr denkt, 

Dass eure Kunde unheilvoll mir klingt! 

So sehr hat Amor mich des Halts beraubet, 

Dass er mich jetzt dem Ende nahe bringt. 

0, seht mich an: ein Stamm, vom. Sturm entlaubet. 
Bin ich und aller Muth sich mir entschwingt, 
Wenn ihr nicht Trost zu spenden können glaubet. 



72 



22. SONETT. 

Ihr Frauen, die ihr TraaermieDen traget, 
Wer ist sie, die der Schmerz so ganz besiegt? 
Ist*s Jene etwa, die im Herz mir liegt? 
0, wenn es wahr, ich bitt' euch, dass ihr's saget. 

Wie scheint ihr ganzes Wesen so verzaget 
Und so entstellt der Zauber, der umschmiegt 
Ihr Antlitz und der Schönheit Quell versiegt, 
Dass man sie kaum sich so zu denken, waget. 

„Kannst uns're Herrin du nicht wiederfinden 
In dem entstellten Bild, uns wundert's nicht, 
Da uns auch schon der Glaub' begann zu schwinden. 

Doch sieh der holden Augen Wunderlicht, 
Sie mögen dir, dass sie es ist, verkünden; 
Nun still, damit das Herz nicht ganz dir bricht."*) 

An diesem Orte ist jetzt eine Canzone einzuschalten, 
die auf die nachfolgenden Elagesonette um den Tod der 
Herrin vorbereitet. Der Inhalt der Canzone, eine schreckliche 
Vision, in der der Dichter Beatrice todt und von Engeln zum 
Himmel getragen sieht, ist gleichsam schon durch den der 
ersten Canzone der „Vita nuova" (siehe Seite 60) vorbe- 
reitet, da dort die Engel den Herrn anflehen, ihnen die 
Beatrice als Genossin zuzufilbren. Auf jeden Fall ist auch 
die Vision ein Ausfluss oder wenigstens ein dichterischer 
Ausdruck von Befürchtungen, die der Dichter um das 
Leben der „Herrin" damals hegen musste und auf die auch 
Guido Cavalcanti in dem (Seite 49) erwähnten Antworts- 



**) Auch in diesem Sonette ist die Duett-Form wieder anfgenommen, 
die im 19. und 20. Sonette herrscht. Es scheinen also diese drei Lieder 
nnd dem Inhalte nach ja auch das vierte (21. Sonett), in derselben Zeit 
entstanden zu sein. 



73 



sonett anzuspielen scl^eint, wenn er sagt, dass Beatrice 
den Tod begehrte (la vostra donna chedea la morte) und 
nur durch den Genuss von des Dichters Herz, d. h. durch 
seine Liebe noch gerettet worden sei, aber nicht für 
immer, so dass Amor doch später weinend davongehen 
musste. Sollte Beatrice länger leidend gewesen sein? 
Sollte vielleicht gar die Liebe zu Dante — die für sie 
keine schuldlose gewesen sein wtirde, da sie ja Eheweib 
des Simon Bardi war — ihr Ende beschleunigt haben? 
Eine SteUe des Prosa-Textes wird uns Veranlassung geben, 
nochmals auf diese Fragen und Yermuthungen zurückzu- 
kommen; jetzt WoUen wir zunächst das Gedicht reden 
lassen: 

2. CANZONE. 

, Ein sanftes, gutes Mädchen, jung an Jahren, 
Mit irdischer Schönheit reich genug bedacht, 
Befand sich just bei mir, als plötzlich ich 
Mit Sehnsucht nach dem Tod als Retter rief. 
Und da sie meine trüben Augen sah 
Und meine Frevelsworte hörte, brach 
Sie voller Angst in heftiges Weinen aus. 
Die and'ren Frauen, schnell herbeigerufen 
Von ihr, die sich um mich so ängstlich sorgte, 
Befahlen ihr zu geh'n und traten dann 
An's Bett, um meiner Leiden Grund zu hören. 
Es sagt' die Eine: „Böse Träume sind'sl^ 
Die Andre: „Ei, was willst du so dich sorgen!^ 
Doch mich verliess erst meines Schreckens Wahn 
Als ich rief meiner Herrin Namen an. 

So schmerzensvoU war meiner Stimme Laut, 
Gebrochen auch durch Thränen und durch Seufiser, 
Dass nur mein eig'nes Herz den Namen hörte. 



74 



Doch fohlt' ich mich schon dadurch so beschämt,'*') 
Dass kaum zu Jenen ich nun wenden konnte 
Mein Antlitz, wie doch Amor mir's befaM. 
Und so war Aber dieses ausgegossen 
Des Schrecken's Blässe, dass die Frau'n sogleich 
An meinen Tod zu denken nun begannen. 
„Lasst uns ihn trösten 1^ sagte ängstlich drum 
Die Eine zu der Andern; dann sie frugen: 
„Was sahst du, dass dich alle Kraft yerlassen?" 
Und als ich mich etwas gestärket spürte, 
Begann ich: „Hört, was mich so schwer berührtet 

Als ich mein kläglich Leben übersann 
. Und seiner kurzen Dauer dann gedachte, 
Hub Amor auch zu weinen an im Herzen, 
Wo er seit lange sich ein Heim begründet. 
Und so ward meine SeeP dadurch verwirrt, 
Dass plötzlich sie mit Seufzen zu sich sagte: 
Auch meine Herrin wird einst sterben müssen I 
Bestürzung fasste mich ob dieses Wortes 
Und Scham zugleich, dass solches ich gedacht. 
Und so geschwächt gleich fühlten sich in mir 
Die Lebensgeister, dass sie in der Irre 
Nun schweiften, und mit wüstem Fieberwahn 
Das klare Denken schrecklich sich vermischte: 
Ich schaute vieler Frau'n verzerrte Mienen, 
Die meinen Tod mir anzukünd'gen schienen. 

Dann sah ich viele grauenvolle Dinge 
Im wirren Traume, der mich hielt befangen: 
Ich fand an unbekannter Stätte mich. 
Wo manche Frauen einzeln geh'n ich sah. 



*) Dass er nämlich den Namen seiner „Herrin", wenn anch nnr so 
leise, dass es allein sein eigenes Herz hörte, in Gegenwart der Frauen 
ansgemfen hatte. Yergl. Seite 86. 



75 



Thefls weinend, theils mit lautem Wehrof klagend, 
Und alle glüh'nde Schmerzensblicke werfend. 
Dann schien es mir, als wenn sich nach und nach 
Verdunkelte die Sonn' und Sterne kämen,' 
Und Sonn' und Sterne sah ich Thränen weinen. 
Und Vögel sah ich aus den Lflften fallen 
Zur Erde nieder und die Erde bebte; 
Und dann erschien ein bleicher, müder Mann 
Der zu mir sagte: Wie? Dir ward nicht Kunde 
Dass deine schöne Herrin starb zur Stunde? 

Ich hob die Augen, die in Thränen schwammen 

Und meint' zu sehen einen Manna-Regen, 

Doch waren's Engel, die zum Himmel stiegen; 

Ein Wölkchen 'trugen sie vor sich dahin 

Und alle sangen laut ihr: Hosiannaht 

(Hätt' mehr ich hören können, würd' ich's künden.) 

Es sprach dann Amor: „Da dir's nicht zu hehlen. 

So komm', die Herrin aufgebahrt zu seh'nl" 

Und jenes Traumgesicht führt' mich nun hin. 

Wo ich im Todesschlaf sie liegen sah., 

Kaum hatt' ich sie so recht betrachtet, deckten 

Die Frauen sie mit einem Schleier zu. 

Im Tod' noch war ihr so Tiel Mild' beschieden, 

Als wollte sagen sie: Ich bin der Frieden I 

Auch ich wurd' durch den Schmerz zur Mild' geläutert, 

Die mir in ihr so ausgeprägt erschienen, 

So dass ich rief: „0, Tod! du bist mir lieb 

Geworden, wirklich theuer wardst du mir, 

Seitdem in meiner Herrin du jetzt wohnest. 

Nun lass die Gnade dein auch mich verspüren I 

Sieh', wie ich sehnsuchtsvoll jetzt zu dir sage: 

Gehören will ich zu den Deinen, Treue 

Dir leisten! so komm' du und nimm mich hin!" 



76 



Dann ging ich weg, in Schmerzen ganz versunken, 
Und als ich mich darauf allein befand 
Sagt' ich, den Blick hinauf zum Himmel richtend: 
„Bei dir war* meine SeeF befreit Ton Kummer!^ 
Djum wecktet ihr mich aus dem irren Schlummer. 

An diese Vision, die, auch wenn der Dichter sie nicht 
wirklich erlebte, ein trefflicher dichterischer Ausdruck fOr 
seine Befürchtungen um der Herrin Leben sind, und die 
abermals den läuternden Zauber ihrer Milde auf sein Gre- 
müth mit bewegenden Worten verkünden, schliessen sich 
inhaltlich nun die Elageüeder an, die der Dichter über 
den Tod seiner Herrin sang. Es gehören zu denselben 
auch drei Canzonen aus dem „Canzoniere^, die ich aber, 
da sie den Inhalt der beiden Canzonen der „Vita nucva" 
nur varüren, nicht anführen will. Auch scheint die eine 
derselben wegen einer in ihr enthaltenen schwer zu deutenden 
Stelle eher sich auf die Herrin des Convito als auf die 
eben gestorbene Beatrice zu beziehen. Die in der „Vita 
nuova" enthaltenen Klagelieder sind die folgenden: 

23. SONETT. 

Kommt, edle Herzen, meiner Seu&er Grund 
Zu hören, wenn euch Mitgef[ihl beseelet: 
0, hätt' ich nicht zu sagen, was mich quälet, 
Sie wenigstens, ich war' schon todt zur Stund'. 

Die Augen sind so ganz von Thränen wund, 
Die unfreiwillig flössen, ungezahlet. 
Um meine Herrin, dass dem Herz nun fehlet 
Des bitt'ren Nasses trostesreicher Bund. 

Drum kann ich jetzt mit Seufzen nur noch klagen 

Um meine edle Herrin, die hinauf 

Zum Himmel, weU sie ihn verdient, gegangen. 



77 



Die Freud' am Leben geb' ich gänzlich auf, 
Seitdem mit ihr mein Heil ward fortgetragen 
Und Alles, was der armen Seel' Verlangen. 



24. SONETT. 

Ach, müde und geschwächt sind meine Augen, 
Weil ich so viel geseufset und geklagt 
Und sorgenvoll mein armes Herz geplagt; 
Nun wollen sie nicht mehr zum Sehen taugen. 

Sie sind zwei Flämmchen, die nur Nahrung saugen 
Aus Thränen noch; sie flackern nur verzagt. 
Und auch die Dulderkron' ward nicht versagt 
Von Amor meinet rothgeweinten Augen.*) 

Und so muss sich mein armes Herze winden 

In Seufzern und in Sorgen mancherlei, 

Dass Amor auch vor Schmerz zu sterben glaubt. 

Ein einziger Trost steht in dem Schmerz mir bei : 
Der Name meiner Herrin wird nie schwinden 
In mir, wenngleich der Tod sie mir geraubt. 

Das folgende, innige Klagelied scheint bei Anlass eines 
Pilgerzuges,**) den der Dichter durch Florenz wallen sah, 
gesungen zu sein: 



*) Die dnrcb's Weinen gerötheten Augenlider nennt Dante auch 
an anderen Orten «die M&r^erkrone Amor's'*. Vergl. die 8. BaUade. 

**) Jedoch kann man nPUger*^ (peregrlnl) auch In der aUgemelneren 
Bedeatnng dieses Wortes als Fremde, Wallende, Durchreisende auffassen, 
ohne den Begriff der religiösen WaUfahrt damit m Terblnden. und da 
Dante In seiner Scholle zu diesem Sonett diese weitere Bedeutimg be- 
sonders betont, lässt sich also ans dieser BteUe kaum die auf Seite 80 
erwähnte chronologische Folgerung ziehen. 



78 

25. SONETT. 

Ihr Pilger, die so ernst des Wog's ihr schreitet, 
YieUeicht gedenkend eurer fernen Lieben, 
Ward ihr, wie euch es in's Gesicht geschrieben. 
Aus weiter Fremde her zu uns geleitet, 

Dass ihr das Weh nicht kennt, das jetzt gebreitet 
Liegt über dieser Stadt? Dass trocken blieben 
Die Augen euch? Und könnt euch nie betrüben 
Der Schmerz, der uns so heftig jetzt bestreitet? 

4 

0, wenn ihr hören wolltet meine Klagen 
Ihr würdet, wie mein Herze sicher glaubt. 
Dann weinend eures Weges weiter wallen. 

Es ward die Beatrice uns geraubt! 

Und das, was ich von ihr euch könnte sagen, 

Würd' heisse Thränen wecken in euch allen. 

Am Jahrestage des Todes der „Herrin**, also auf jeden 
Fall später, als alle bisher angeführten Gedichte, ist dann 
das folgende Klagelied gedichtet, dass sich in dem Aus- 
drucke des Schmerzes schon mehr gekünstelt, als die vor- 
hergehenden zeigt: 

26. SONETT. 

Erster Anfang. 

Ich musst' aufs Neu' der Herrin heut^ gedenken. 
Der frommen, die Gott zu sich hat gerufen. 
Damit sie dort, an seines Thrones Stufen 
Ihr Aug* in das Maria's könnt' versenken. 



79 

Zweiter Anfang. 

Ich musst' aufs Neu' der Herrin heut' gedenken. 
Der Lieblichen, um die jetzt Amor weinet; 
Just in der Zeit war's da ihr euch vereinet, 
Den Blick auf meiner Hände Werk zu lenken."') 

Erwacht ist Amor — stets galt ihr sein Denken! — 
Aufs Neu' im H6rz, das jetzt so arm erscheinet, 
Und wecket alle Seu&er, weil er meinet 
Dass es nicht Zeit, sie länger zu beschränken. 

Sie fliehen jammernd nun aus meiner Brust 
Und in den Thränen sie Grenossen finden 
Zu künden meines Herzens schweren Gram; 

Und die am schmerzlichsten sich mir entwinden, 

Sie rufen: „Du, der Seele reinste Lust, 

Ein Jahr ist's heut, dass Gott dich zu sich nahm." 

Zu den Elageliedem, die augenscheinlich in froherer 
Zeit, vielleicht sofort nach dem Tode der Herrin geschrieben 
sind, wenn Dante damals überhaupt schon Canzonen dichtete, 
gehören dann noch die beiden folgenden: . 

3. CANZONE. 

Es leiden meine Augen von den Thränen 

Die ohne End' mein Herzenskummer weckt, 

Und aller Glanz in ihnen längst erlosch, 

So dass ich jetzt, um meinen Schmerz zu künden, 

Der langsam mich dem Tod' entgegenfahrt, 

Nur noch die lauten Seu&er übrig habe. 



**) Dieses ist die einzige Stelle in allen Gedichten, die man ohne 
Zuhülfenahme des Prosa -Textes nicht wfLrde deuten können. In dem 
letzteren erzählt Dante, dass er gerade Engelsflgnren auf ein Blatt 
zeichnete, als einige vornehme M&nner hinter ihn traten imd ihm bei 
seiner Besoh&ftigmig zusahen. Siehe Seite 10. 



80 



Und da ich daran denke, dass ich oft 
Von meiner Henin, während noch hinieden 
Sie wandelte, mit euch, ihr gaten Frauen, 
Mich unterhielt, will ich auch heute reden 
Nur zu den sanften, edlen Frauenherzen; 
Und Beu&end kOnd' ich ihnen Trauermär': 
Der Himmel w&hlte Bie zu seiner Zier 
Und liess mich schmerzerfüllt mit Amor hier. 

Ja, Beatrice ging hinauf zum Himmel, 

In's Friedensreich, mit Engeln dort zu wohnen 

Wie einst sie, edle Frauen, wohnf mit euch. 

Nicht tfick'scher Nord, noch heisse Sonne rissen, 

Mit Krankheit sie bestOrmend, sie von uns 

Wie and're Sterbliche, nein, ihre Gate 

Und ihre grosse Sanftmuth trugen hin 

Zum Himmel ihrer Tugenden OerOcht 

Und priesen so vor Gott, dem Herrn, sie an, 

Dass ihn nun rasch ein sflss Verlangen fasste. 

So holdes Wesen zu sich hin zu rufen; 

Und er befahl, dass sie zum Himmel stiege, 

Weü er erkannt, dass dieses ird'sche Leben 

Nicht würdig sei, sie länger zu umgeben. 

Den holden Leib verliess drum ihre Seele 
Die, gleich wie er, mit Anmuth war geschmückt. 
Und schwang sich ruhmvoll auf zu besserer Stätte. 
Wer, daran denkend, Thränen nicht vergiesset. 
Der hat ein steinern Herz und niedem Sinn, 
Die unzugänglich zarterem Elmpfinden. 
Ein ftlhUos Herz hat niemals zum Genossen 
So hohen Sinn, dass gern er von ihr träumet. 
Und darum auch bleibt meinem Schmerz es fremd. 
Doch dem, der einmal nur sie recht betrachtet, 
Und recht verstanden ihres Tod's Bedeutung, 
Der kann die Trauer nicht im Herzen bannen; 



81 



Mit mir wird er jetzt seu&en, mit mir weinen 
und jedes Trost's die SeeP beraubet meinen. 

In tiefe Angst versetzt fühlt meine Seele 

Sich durch die Seufzer, die sich alsbald regen, 

So oft mein Denken vor die düst're hin 

Das Büd der Holden rückt, die ich geliebt. 

und oft des Tod's gedenkend, steigt in mir 

Ein süss Verlangen auf nach seiner Hand, 

Das meine Mien' mit Heiterkeit dann krönet. 

Denn so viel Leiden stürmen auf mich ein 

Von allen Seiten, wenn ich an sie denke, 

Dass ganz von Schmerz durchschauert ich mich fühle, 

und vor den Leuten dann mich Scham beschleicht. 

Dann wein' ich einsam, rufe einsam klagend 

Nach Beatrice: „Bist du mir gestorben?" 

Dies rufend hab' ich oft mir Trost erworben. 

Die Thränen und die Seu&er stiller Angst 
Yerstören mir mein einsam klagend Herz. 
Säh's Jemand, würd' er Mitleid mit mir fühlen. 
Doch keine Zunge würde künden können. 
Wie elend jetzt mein ganzes Leben ward. 
Nachdem die Herrin ging zum neuen Leben. 
Und darum, edle Frauen, wenn ich's auch 
Versucht', könnt' ich nicht schildern, was ich leide. 
Es quält sich hart mein arg zerrüttet Sein, 
und oft will mir es scheinen, als ob Jeder 
Mir sagen müsste: „Dich geb' ich verloren!" 
Wenn meine schon erstorb'nen Zug* er schaut. 
Doch meine Herrin wird mich ganz versteh'n 
Und ihren Dank hoff ich dereinst zu seh'n. 

So mach' dich, Leidenslied, nun weinend auf 
Und tritt vor jene Frau'n und Mädchen hin, 

6 



^ 



82 



Zu denen deine Schwestern 
Einst Mhliche Kund' zu bringen war'n gewöhnt; 
XM sei, Kind der herbsten Traurigkeit, 
Im Schmerze ihnen beizusteh'n bereit 



4. CANZONE. 

Wie oft, ach! muss ich trauernd mich erinnern, 

Dass niemals ich sie wiedersehen werde. 

Die holde Herrin, der mein Sehnen gilt. 

Und auf mein Herz häuft dann so schwere Leiden 

Das Denken, das dem Schmerz sich hingegeben, 

Dass ich mir sage: „Warum lebst du noch, 

0, Seele mein, wenn schon die and'ren Qualen 

Der Zeit dir zu ertragen dünkt so hart. 

Wenn sie mit Schwermuth schon dich ganz umstricken? 

Dann ruf ich oft den Tod als Schmerzensstiller, 

Als süssen sanften Ruhebringer her 

Und sag* mit Sehnsucht: „KommM nach dir ich schmachte, 

Und, wen du rufst, mit Neid ich ihn betrachte.^ 

Es lässt in meinen Seu&em sich vernehmen 
Ein Ton des Bittens, der allüberall 
Jetzt Umfrag' nach dem Tod' hält und ihn ruft. 
Auf ihn nur richten meine Wünsche sich, 
Seitdem mit Grausamkeit er meine Herrin 
Aus uns'rer Mitte allzigäh' entfQhrte, 
So dass die Wonne ihrer ird'schen Reize, 
Nachdem sie sich entzogen uns'ren Blicken, 
Zu jener geist'gen Schönheit sich verklärte, 
Die durch den Himmel Liebesglanz verbreitet 
Und Engel jetzt durch ihre Näh' entzückt. 
Und deren Seele auch, die hohe, feine 
Zum Staunen bringt. So edel ist die Reine! 



83 



Nach dieser etwas erkünstelten Poesie der Canzonen, 
die, wie gesagt, vielleicht ans späterer Zeit, ans der Zeit 
nämlich des Prosa-Textes stammt, gelangen wir zn einer 
liebes-Episode, die in dem Dichter die heilige Erinnerung 
an die dahingeschiedene „Herrin^ eine Zeit lang auszu- 
löschen drohte und einen Kampf in seiner Seele hervorrief, 
dessen Schilderung auf jeden Fall den Stempel der Realität 
an sich trägt Sie wird uns in den folgenden vier Sonetten 
erzählt: 

27. SONETT. 

Ich sah das tie&te Mitleid ausgepräget 
In Eurem Wesen, stets wenn Euer Blick 
Mich Annen tra;^ um den ein hart Greschick 
So oft der Schwermuth schwarzen Schleier leget. 

Auch ward ich inne, dass ihr Theilnahm' heget 
An meines Lebens arg verstörtem Glück; 
Und voller Scham zog ich mich dann zurück 
um zu verhehlen, was mich so beweget. 

Denn Euer Anblick weckt aufs Neu' die Thränen 
In meinem Aug*, und doch möcht' ich nicht zeigen 
Den Anderen mein so zerrüttet Sein. 

Dabei sag' ich jedoch im Herzen mein: 

„Zu ihr vielleicht will Amor jetzt sich neigen, 

Der mir entfacht mein erstes herbes Sehnen." 



28. SONETT. 

Des Mitleids Ausdruck und die Färb' der Liebe 
Sah nie in einem Frauenanüitz ich 
So wunderbar, wie in dem Euren sich 
Vermischen. Wenn ich vor Euch stehen bliebe 

6* 



1 



84 



Mit meinen Thränen und mich nicht vertriebe 
Die Scham aus Eurer Nähe, sicherlich 
Spr&ng' mir das Herz noch, da ich so um mich 
Euch trauern seh'n muss. — Und dabei verschiebe 

Ich doch mit Absicht oft das Weitergehen 
Wenn ich Euch seh', denn meine Augen trachten 
Sich mit den Euren weinend zu vereinen; 

Und so wächst immer mehr ihr stilles Schmachten, 
Dass sie jetzt stets mit Sehnsucht nach Euch seh'n 
Und endlich wohl vergessen gar zu weinen. 



29. SONETT. 

Von Euch erzählt ein freundlicher Gedanken, 
Der häufig bei mir einkehrt; und so schön 
Weiss er der Lieb' mit Gründen beizustehen, 
Dass er bereits mein Herz gebracht zimi Wanken. 

Drum spricht die Seele jetzt zum Herz : „umranken 
Will Jener uns mit Trost den Sinn? Lasst seh'n. 
Wer ist's, und welche Kraft mag ihn erhöh'n, 
Dass er das and're Denken hält in Schranken?^ 

ünd's Herz erwiedert: „Warum so besorgt 

Bist, Seele, du? Ein neuer Liebesgeist 

Ist's wohl, der seine Wünsche mir will sagen. 

Und der die Erafb, die er an mir erweist. 

Sich aus dem Auge der Gütigen erborgt, 

Die so viel Antheil nimmt an uns'ren Plagen." 



85 



30. SONETT. 

„0, meme Augen, euer bitt'res Weinen 
In dieser Schmenenszeit hat jetzt entfacht 
In jener And'ren, wie durch Wunder's Macht, 
So grosses Mitleid, dass es fast will scheinen. 

Als wolltet ihr, da ihr es seht, der Einen 
Vergessen nun! Wer hätte je gedacht, 
Dass ihr mich fast zum Treuebruch gebracht 
An ihr, der vielbeweinten Holden, Beinen? 

Nein! Eure Eitelkeit hat mich erschreckt. 
So dass mit Furcht ich vor dem Antlitz stehe 
Der And'ren, das euch oft geÜEuigen nahm, 

und dass ich jetzt mit Seu&en zu euch flehe: 

Vergesset nie der Herrin, bis euch deckt 

Der eVge Schlaf!^ So spricht mein Herz mit Gram. 

Der Dichter ist siegreich aus diesem seinem Herzens- 
kampfe hervorgegangen und hat seinen Augen verboten, 
femer nach jener „gentil donna^, die durch ihr mitleidiges 
Wesen ihn gerührt und eine neue Neigung in ihm ent&cht 
hatte, hinzuschauen. Das Bild Beatricen's überstrahlt in 
ihm nun femer alles andere irdische Denken und Fühlen 
und lenkt seinen Sinn auf den Himmel, auf das Paradies, 
in dem die „Herrin^ jetzt wohnt. Ob aus dem Gredanken 
an die in den Himmel entrückte „Herrin" auch der Plan, 
eine dichterische Wanderung durch das Inferno und durch 
das Purgatorio bis zu ihrer himmlischen Wohnung vorzu- 
nehmen, jetzt schon entsprang? Wer könnte das je mit 
Bestimmtheit sagen! Aber das schöne Sonett, mit dem 
die Jugendgedichte und die „Vita nuova" bedeutungsvoll 



^ 



86 

abschliessen, lässt uns wenigstens yermathen, dass es der 
Fall war. Es lautet: 

81. SONETT. 

Hoch über dieses Weltalls letzte Sphäre 
Sich meines Herzens stilles Sehnen schwingt; 
Ein neues Denken, das mich jetzt durchdringt, 
Trägt es empor aus dieser Erdenschwere. 

Und dort, wohin es strebt, sieht es von Ehre 
und Stndilenglanze eine Frau umringt, 
In seliger Verklärung! Von ihr bringt 
Die Eund' es mir zurück. Doch ich entbehre 

Zunächst noch des Verständnisses, so fein 

Und zart spricht es zum Herz, dem kummerreichen, 

Aus dem es vordem aufgestiegen war. 

Doch deut' ich recht, o liebe Frau'n, die Zeichen, 

So musste es wohl Beatrice sein. 

Die es dort sah so hold und wunderbar. 

Damit ist unser Gang durch die Gedichtsammlung be- 
endet. Betrachten wir noch einmal kurz und im Zusammen- 
hange das Bild der Beatrice, der „Herrin", der zu Ehren 
Dante diese Lieder sang, so müssen wir uns zunächst 
sagen, dass in den letzteren nicht das geringste Dunkele 
oder Schwerverständliche, welches uns Veranlassung geben 
könnte, in ihnen Allegorien zu sehen, gefunden werden 
kann. Das persönliche Verhältniss, in welches sich Dante 
zu Amor setzt, kann nicht überraschen, wenn wir die 
Zeit, in der die Gedichte entstanden, und die Redeweise 
der Liebesdichter in ihr, uns stets gegenwärtig halten. In 
Italien war die Poesie in der Volkssprache (la poesia 
Yolgare) zu Dante's Zeiten noch sehr jung, gleichsam eben 



87 



im Entstehen, und Dante, der in der „Vita nuova"*) sich 
wegen des Gebrauches des „volgare" in seinen Gedichten 
erst noch besonders rechtfertigen zu müssen glaubt und 
dabei auch seine Personification der Liebe in der Gestalt 
Amor's geschickt erklärt und vertheidigt, ist neben seinen 
schon genannten Dichterfreunden als der Begründer oder 
wenigstens als der erste bedeutende Vertreter des „dolce 
Stil nuovo" anzusehen. Er sagt, dass weder in der pro- 
vengaüschen noch in der italienischen Sprache etwas Ge- 
reimtes früher zu finden sei, als etwa 150 Jahre vor 
seiner Zeit, und er hat Recht damit, wenn auch nicht so 
ganz mit dem Vordersatze zu dieser Behauptung^ dass 
nämlich das Reimen (dire per rima) im Volgare dasselbe 
sei, wie das Versemachen (dire per versi) im Lateinischen. 
Wir sehen aus dieser Aeusserung, dass Dante selbst die 
italienischen Liebesdichter aus der damaligen Zeit mit den 
proven^alischen vergleicht, und in der That haben ja die 
ersteren aus der Provence und aus Sicilien die Anregungen 
und mit ihnen die Conventionellen Formen des Liebescodex 
überkommen. Warum man also an die Gedichte der 
italienischen Dichter des „dolce stil nuovo", und mit ihnen 
an die Jugendsonette Dante's, einen anderen Maassstab 
legen will, als an die Lieder der proven^alischen Trou- 
badoure, ist mir nicht recht verständlich. Gewiss haben 
auch diese letzteren den Geliebten zuweilen den Mantel 
der Allegorie umgelegt oder auch zuweilen unter der „Herrin" 
blos das allgemeine weibliche Ideal, das ihnen vorschwebte, 
besungen, aber man kann doch deshalb nicht behaupten, 
dass in ihrer Poesie der Cultus der „Herrin" blos auf 
einer allgemeinen Vorstellung begründet gewesen sei. Im 



*) Siehe ^La vlta nuoyo* dl Dante. Oap. XXV. 



88 



Gegentheil, dieser Coltos fand in der An&ngszeit in einem 
sehr realen nnd wenig platonischen Liebesdienste seine 
ersten Grundlagen nnd war anch später, als er anf dem 
Höhepunkt seiner Entwicklung stand, in den einzelnen 
Fällen meistens nicht vom Boden der Wirklichkeit so los- 
gelöst, dass man in ihm eine nur poetische Eichtung erkennen 
müsste. Auch die Poesie schwebt nie gänzlich in den 
Lüften, und selbst die sentimentalsten und verschwommensten 
Kichtungen in ihr haben einer Erscheinung des thatsäch- 
lichen, socialen Lebens entsprochen oder dieselbe wenigstens 
heryorgerufen. So ist es ein Trugschluss aus der Stimmung 
der Dante'schen Jugendsonette, aus ihrem Zusammenhange 
mit der Minne-Poesie der provengalischen Dichter und aus 
dem hohen Stil, in dem sie gesungen sind, schon im All- 
gemeinen die Folgerung herleiten zu wollen, sie seien zu 
Ehren des Weibes, nicht eines Weibes gedichtet worden, 
sie seien nur dem damals in der Mode stehenden Gultus 
der „Herrin^, nicht der Liebe zu einer bestimmten Beatrice 
entsprungen. Und dieser Trugschluss wird noch ersicht- 
licher, wenn wir imBesonderenauf denlnhalt dieser Liederein- 
gehen. Sollen wirklich die vielen kleinenZüge, die der Dichter 
von seiner Liebe und von seiner Greliebten berichtet, so 
spurlos in dem grossen, allgemeinen Cultus der „Herrin^ 
untergehen? Dass der Knabe schon mit neun Jahren die 
Allgewalt der Liebe empfunden, dass er später die Ge- 
liebte mit den Frauen zur Kirche wallen oder an der 
Hand der Freundin daher kommen sieht, dass er sie er- 
zürnt weiss über seine Hinneigung zu anderen Frauen, 
und, um sich zu rechtfertigen, seine schöne Ballade vor 
sie hintreten lässt, dass er, als sie von emem herben 
Schmerze betroffen, mit ihr trauert, dass ihr Spott zu 
seinen Ohren, gedrungen ist und ihr Gruss ihn hold beglückt 



89 



hat — sind das wklich Ereignisse, die man von .einer 
allegorischen Geliebten erzShlt? Und die Yorahnung ihres 
Todes, die ihn selbst auf das Krankenlager nnd in Fieber- 
walm wirft, ihr Sterben dann, das ihn nöthigt, seinen 
Schmerz fem von der Gesellschaft der Menschen auszu- 
weinen und ihm Todesgedanken eingiebt, sind das so all- 
gemeine Züge? Man hat gesagt, dass Dante in dem Lob 
der Herrin zu conventionell gewesen sei; aber giebt er 
nicht eigentlich seiner Herrin ein ganz bestimmtes Ge- 
präge? Sind es nicht vor AUem die Milde, die Güte und 
Sanftmuth, die ihn an ihr entzücken und die ihm die 
„Holde" als einen Engel des Himmels erscheinen und in 
ihr die HeilvermitÜerin erblicken lassen? Wo sind der 
Stolz, der Geistesreichthum, der Witz, die scherzende 
Plauderlust, die sonst die Liebesdichter jener Zeit als 
Eigenschaften ihrer Herrinnen rühmen, in diesem Gemälde 
geblieben? In der That, die Beatrice tritt uns in diesen 
Gedichten genugsam individualisirt und charakterisirt ent- 
gegen, um den Gedanken, dass sie ein allgemeines Ideal 
sei, weit wegzuweisen. Sie ist das schöne, holde und gute 
Mädchen, das schmollen und zürnen und wohl auch spotten 
kann, in deren Wesen aber die Milde vorwiegt. Und als 
ein solches anmuthiges Geschöpf mag uns Beatrice vor den 
Augen stehen bleiben. 

Man hat ausserdem noch so viele Yermuthungen über 
die andern Frauen, die in den Gedichten erwShnt werden, 
angestellt Man fragt sich, wer waren die anderen Ge- 
liebten, zu denen sich der Dichter eingestandenermaassen 
hinneigte, wer waren die Frauen, die weinend von Beatrice 
zurückkehrten, als sie sich in herber Trauer befand, wer 
war das kleine gute Mädchen, das bei dem Dichter war, 
als er seine schreckliche Yision von dem nahen Ende 



90 



Beatricens hatte, wer war endlich die ,,geiitil doima^^ an 
der seine Augen Grefallen fanden, w&hrend er noch mn 
die gestorbene „Herrin" trauerte? Ich möchte dagegen 
fragen: würde es nur irgend etwas zu dem Yerständniss 
der Dichtungen oder auch zur Aufklärung der wahren 
Sachlage hinsichtlich der Liebe Dante's zu Beatrice bei- 
tragen, wenn wir die Namen dieser Frauen oder ihrer 
näheren Beziehungen zum Dichter kennten? Ist uns nicht, 
auch ohne dass uns jene Fragen alle gelöst wurden, 'der 
Inhalt und im Ganzen auch der Zusammenhang der Ge- 
dichte und dessen, was sie berichten, klar geworden? Wir 
wissen, dass es der Cultus der „Herrin" erforderte, dass 
der Anbeter seine Liebe verschleierte und womöglich sogar 
durch erheuchelte Hinneigung zu andern Frauen yerhOllte; 
wir erfahren auch zum Beweis daf&r (aus der 2. Canzone), 
dass der Dichter vor Scham vergehen zu müssen glaubt, 
als er im Schrecken des Traumes in Gegenwart anderer 
Frauen den Namen seiner Herrin ausrief und hierdurch 
seine Liebe bekannte; erfordert es also zum Yerständniss 
der 1. Ballade noch mehr? Und die anderen Frauen, die mit 
der Beatrice weinten, können es nicht Freundinnen oder 
Verwandte gewesen sein? Warum soll man sich also erst 
den Kopf darüber zerbrechen, wie es ein Ausleger gethan 
hat, ob es Dienerinnen Beatricens oder Pförtnerinnen ihres 
Vaterhauses gewesen sein könnten? Und ähnlich verhält 
es sich mit den Fragen nach der „gentil donna", die seine 
Gedanken zeitweilig von der verstorbenen Beatrice ablenkte. 
Die nähere Bestimmung ihrer Persönlichkeit würde durch- 
aus nichts zum Verständniss der auf sie bezüglichen Sonette 
beitragen. 

Im Ganzen — damit können wir diese Betrachtung 
schliessen — zeigen uns die Jugendgedichte ein reeUes 



r 



91 



und „echtes*' laebesverhältniss des Dichters zu Beatrice. 
Sie zeigen uns femer schon, wie Beatrice, nach ihrem 
Dahinscheiden, das hohe Ideal f&r ihn zu werden beginnt, 
das, selbst in dem Himmel wohnend, ihn mit Sehnsnchts- 
banden dahin zieht. Und sie lassen xxna yermuthen, dass 
schon damals in dem Dichter der Gedanke erwachte, sie 
im seligen Beiche an&usnchen, dass also der Plan seines 
grossen Gedichtes, oder viehnehr der Zielpunkt desselben, 
die dichterische Yerherrlichmig des Paradieses, damals ihm 
Yorznschweben begann. 

Mit dem Berichte Boccaccio's widerspricht sich der 
Inhalt der Gedichte in keinem Punkte. Die Schwierigkeiten, 
die man in der Deutung der „Yita nuova" gefunden hat, 
müssen also in dem anderen Bestandtheile dieses Schrift- 
chens, in dem Prosa-Texte liegen, und zu seiner Betrach- 
tang woUen wir uns deshalb jetzt wenden. 



IV. 
DER PROSA-TEXT DER „VITA NUOVA". 

Der Prosa-Text der „Yita nuova" entMlt theils in 
forüanfender ErzäMnng den Bericht des Dichters über die 
Entstehung und den Yerlanf seiner liebe za Beatrice, 
theils in episodenhaften, oft mit jenem Berichte nur in 
lockerem Zusammenhange stehenden Erklärungen die Dar* 
stellimg der speciellen Anlässe zn den Gedichten. Die 
letztere Darstellmig umschreibt zuweilen nur den Inhalt 
des nachfolgenden Gedichtes. Der bedeutendste unter den 
neueren literarhistorikem, welche die „Echtheit" Beatricen's 
festhalten, Alessandro d'Anoona,*) theilt den ganzen Text 
in flQnf Abschnitte ein, von welchen der erste, der in den 
Zeitraum von 1274—87 ffiOlen würde (Capp. I— XVn 
der gewöhnlichen Ausgaben), die Jugendliebe und die 
Gedichte auf die körperliche Schönheit Beatricen's um- 
&8Sten. (Nach meiner Numerirung der (Gedichte: die 
Sonette 2, 13, 5, 6, 4, die Ballade 1, die Sonette 16, 17, 
18, 15.) Die zweite Abtheilung (1287—1290;' Capp. 
XYm— XXVH) enthielte dann das Lob der geistigen 
Schönheit Beatricens (Canzone 1, Sonette 1, 9, 19, 20, 
Canzone 2, Sonette 7, 12, 11, Stanza). Die dritte Ab- 



*) «La Tito ntioya« dl Dsnte, ed. da A. d'A. Pisa, 1884. 



93 



theüung (1290—1291; Capp. XXVEI— XXXIV) wäre dem 
Tode Beatricens gewidmet (Canzone 3, Sonett 23, Can- 
zone 4, Sonett 26). Die vierte Abtheilmig (1291—93; 
Capp. XXXV— XXXYin) behandelten die Liebe zu der 
„donna gentile*', deren mitleidsvoller Anblick den Dichter 
beinahe von seiner Trauer um Beatrice abgebracht hätte. 
(Sonette 27, 28, 30, 29) und die fünfte Abtheüung (1294; 
Capp. XXXIX— XLD) schilderte die Rückkehr zur Trauer 
am die „Henin*' und zum Cültns der dahingeschiedenen 
Beatrice (Sonette 24, 25, 31). Da ich die Lieder nach 
ihrem Inhalte zusammengestellt hatte, zeigt uns die vor- 
stehende Uebersicht über ihre Beihenfolge innerhalb des 
sie begleitenden Prosa-Textes, dass sie inhaltlich m der 
Dante'schen Anordnung bunt durcheinandergewürfelt sind, 
und daraus geht hervor, dass auch die Eintheflungen 
d'Ancona's kaum festzuhalten sind. Meine Zusammenstellung 
dem Inhalte nach macht allerdings durchaus keine Ansprüche 
darauf, zugleich auch über die Entstehungszeit der Gedichte 
zu entscheiden; im Gegentheil, es ist anzunehmen, dass 
manche der letzteren, obgleich sie inhaltlich sehr ver- 
schieden sind, in einer und derselben Periode gedichtet 
worden sind« Aber es beweist uns doch die inhaltliche Ver- 
schiedenheit derselben, dass im Grossen und Ganzen auch der 
begleitende Text Dante's keinen besonderen chronologischen 
Werth hat, unddass nicht einmal eine besondere chronologische 
Absicht ihm zu Grunde liegt. Abgesehen von demEingange, in 
welchem das erste Zusammentreffen des neui^ährigen Dichter- 
knaben mit der noch nicht einmal so alten Beatrice, ent- 
sprechend dem Berichte von Boccaccio, geschildert wird und 
abgesehen von den Schlusskapiteln, in welchen die Trauer 
um Beatrice, die diese Trauer unterbrechende Liebes- 
Episode mit der „donna gentile^ und das Wieder-Aufiraffen 



94 



des Dichters zu dem alleinigen Ooltus der dahingeschiedenmi 
„Herrin*^ erzählt wird, scheint mir die Erzählong durch- 
aus nicht chronologisch fortzuschreiten und noch weniger 
glaube ich, dass sich ihr solche Gfesichtspunkte, wie sie 
d'Ancona für die ersten seiner Abtheilungen angestellt 
hat, also Schilderung der körperlichen, dann Lob der 
geistigen Schönheit, zuschreiben lassen« Weder der Prosa- 
Text noch die Gedichte erlauben diese Eintheilung. Ebenso 
wüsste ich nidit, auf welche Weise die zeitliche Eintheilung 
dieser ersten Partien in eine solche, die in die Jahre von 
1274 — ^87 und in eine zweite, die in die Jahre von 
12S7 — 90 fallen würde, ans der Schrift selbst zu be- 
gründen wären. Im Gegentheil, mir macht es den Eindruck, 
als ob Dante schon mit dem zweiten Kapitel, in welchem 
er erzählt, dass neun Jahre nach jener ersten Begegnung 
beim Kinderspiel, gerade um die neunte Stunde des Tages 
ihm die „gentiliRsima** in Begleitung zweier älteren Frauen 
begegnet sei und ihn holdselig gegrfisst habe, sogleich den 
Weg der geordnet fortschreitenden Erzählung yeriassen 
habe. Es kommt hier gewiss die Neun-Zahl, die in dem 
ganzen LiebesyerhMtniss eine grosse Eolle spielt und über 
die er später deshalb (Cap. TTXTX) symboUsirende Be- 
trachtungen anstellt, sogleich auch in ihrer Symbolik zur Gel- 
tung, und zwar in der Weise, dass der Dichter, weil er diese 
Zahl als bedeutungsvoll und glücklich für sich und seine 
„Herrin^ betrachtete, das zweite frohe und epochemachende 
Ereigniss in seinem Liebesleben, den Gruss der Holden, 
mit tieferer Absicht, aber ohne eigentlich thatsächliche 
Berechtigung in die neunte Stunde und neun Jahre nach 
dem ersten Begegniss verlegt, das ja ebenfalls auch neun 
Jahre nach seinem Eintritt in's Leben stattgefunden hatte. 
Man hat sich viel den Kopf darüber zerbrochen, warum 



95 



Dante die Zwischenzeit zwischen dem ersten Erwachen der 
Liebe in ihm mid dem ersten Gruss der Jmigfran gänzlich 
fibergangen habe, und man hat dabei, wie bei der Er- 
örterung Tieler anderer Schwierigkeiten der ,,Yita nuova", 
meines Erachtens übersehen, dass er auch in dem Prosa- 
Texte der Schrift doch wohl nicht historisch seine Liebe 
erzählen, sondern nur, möge seine Absicht dabei gewesen 
sein, welche es wolle, eine Erläuterung seiner Gedichte 
geben wollte. Deshalb scheint mir auch jenes Datum des 
ersten Grosses nicht historisch zu sein. Dante spricht 
im Anschluss an diesen Gruss von der Vision, in der er 
die „Herrin" auf Amor's Geheiss von seinem Herzen essen 
sah; er will also mit jener Zeitangabe blos sagen, dass durch 
diese Vision, oder nehmen wir getrost an, durch das erste Ge- 
didit, welches er über eine angeblich im Traume erlebte 
Begegnung mit Amor und mit Beatrice schrieb, das Liebes- 
leben in bewusster Weise in ihm dichterischen Ausdruck 
zu finden begann, und dass das nicht früher als beim Ein- 
tritt in's Jünglingsalter stattgefunden hat. Und in derselben 
Weise glaube ich mir auch, fortschreitend im Prosa-Texte, 
seine anderen Bemerkungen zu seinen Gedichten erklären 
zu müssen. Die meisten dieser Bemerkungen mögen auf 
thatsächlichen Erlebnissen beruhen, aber die letzteren 
brauchen deshalb durchaus nicht in streng chronologischer 
Reihenfolge vorgetragen zu sein. Das logische Band, welches 
die Berichte über sie und damit zugleich die Gedichte 
verknüpft, muss nothwendigerweise für den Dichter, der 
seinen Liebesroman nicht erzählt sondern nur bespricht 
und über ihn reflectirt, ein anderes, ein tieferes, ein 
symbolischeres gewesen sein, als es etwa fOr den Auto- 
biographen, der die Ereignisse seines Lebens in die richtige 
Reihenfolge zu stellen sich bemüht, sein würde. 



»_, 






**• •. 



• • # # i* • *•, 

• # 



# * 



* • • * 



96 



Sehen wir zunächst zu, weldie neuen Momente uns der 
Prosa-Text für das n&here Yerstftndniss der G^edichte bietet, 
80 finden wir, dass wir im (ranzen unsere früheren, ans 
dem Inhalt der G^edichte allein entspringenden Ansichten in 
nnr wenig Punkten zu ändern haben: Dante spricht gleich 
im Beginn seiner Erzählung davon, dass er den Namen 
seiner Herrin verschwiegen (Cap. 3) und „durch Monate, 
ja Jahre hindurch" einer anderen Schönen den Hof ge- 
macht habe, um die Aufinerksamkeit der Welt von seiner 
liebe zu Beatrice abzulenken (Cap. 4 u. 6). Als diese 
Dame, die er seinen „schermo", seinen Schutz, oder auch 
seine „difesa", seine Yertheidigung, nennt, einmal fCkr längere 
Zeit verreiste, will er, da er ihr zu Ehren überhaupt ver- 
schiedene Gedichte gemacht hatte, das Klage-Sonett 13 in 
die Welt geschickt haben. Kurz darauf wandte er sich 
aber von diesem ersten „schermo** ab und einem zweiten zu 
und motivirt diesen Liebeswechsel durch das Sonett 3. 
Sein Yerhältniss zu dieser zweiten vorgeschützten Geliebten 
würd aber bald so sehr in der ganzen Stadt beisprochen 
(Cap. 10: troppa gente ne ragionava oltra li termini de 
la cortesia), dass Beatrice ihm den Gruss verweigert, und 
Amor ihm, als er sich hierüber ganz dem heftigsten 
Schmerz überlässt, anräth, das Vorschützen einer anderen 
liebe überhaupt au&ugeben und sich mit einem offenen 
Bekenntniss an die „Herrin" zu wenden. Dante lässt 
darauf seine schöne Ballade (1) vor die Beatrice treten 
und beginnt nun auch in seiner Dichtung alldn von der 
„Herrin" zu handeln. Die folgenden Lieder sind dann 
eigentlich ohne jeden inneren Zusammenhang in den Prosa- 
Text eingeschaltet, der sich meistens blos auf Erläuterung 
durch Umschreibung des Inhalts einlässt und hinsichtlich 
ihrer Reihenfolge mehr innere (vergleiche Cap. 17) als 



97 



äussere Gründe angiebt Von Thatsachen er£aliren wir 

zunächst noch (Cap. 18), dass die Gelegenheit für Beatrice 

über den Anbeter vor anderen Frauen zu spotten (Sonette 

17 und 18) durch ein Fest gegeben wurde, an dem die 

^Herrin" als Gast, der Dichter als Zuschauer theilnahmen, 

und bei dem der letztere sich durch seine Verwirrung und 

sein ängstliches Betragen, beide hervorgerufen durch die 

Nähe der Herrin, Allen bemerklich machte. Femer wird 

uns erzählt (Cap. 21), dass der grosse Schmerz, welcher 

Beatrice betroffen hatte, (Sonette 19 und 20, vergleiche 

auch 21 und 22) durch den Tod ihres Vaters verursacht 

worden war, der in der ganzen Stadt grosse Aufregung 

hervorrief.*) Dann berichtet uns der Dichter (Cap. 22), 

dass er jene Vision, welche ihm das Ende Beatricen's 

vorhersagte, gehabt habe während er an einer schweren 

Krankheit damiederlag. Von der Stanza (Seite 65) giebt er 

an (Cap. 27), dass sie der Anfang emer Canzone sei, die 

er eben zur Schilderung seines Glücksgeftlhls zu schreiben 

begonnen habe, als er die Nachricht von dem Tode der 

^holden Herrin^ erhielt, und das Elagesonett 23, sowie 

die Canzone 4 hat er (Cap. 32) im Auftrage eines nahen 

Verwandten der „Herrin^ (tanto distretto di sanguinitade 

con questa gloriosa), der zugleich sein zweitbester Freund 

war, geschrieben. Am Jahrestag des Todes der Beatrice 

war er alsdann eben damit beschäftigt, einen Engel auf 

ein Blatt zu zeichnen, als mehrere Männer hinter ihn 

traten und sein Werk anschauten (Cap. 34). Hieraus 



*) Msnclie Ausleger haben angenommen, dass dieser TodesfaU In 
das Jahr 1387 falle (so auch d'Anoona, der hierauf seine obenerwähnte 
Eintheilnng mit begründet), weil das Testament des Folco Portlnari (s. 
Seite 34) aus diesem Jahre stammt. Aber ein Testament kann Ja auch 
längere Zeit vor dem Tode yerfasst worden sein. 



- - - V ;J - j ^ ■* . 



98 



erklärt sich die einzige dunkele Stelle in den Gedichten, 
die 8te und 4te Zeile des Sonettes 26, welch letzteres Lied 
er dann nach dem Weggehen der Zuschauer in dem Ge- 
danken an die „Herrin" sang. Die 4 Sonette (27, 28, 29, 
30), welche das Yerhöltniss zur „donna gentile" behandeln^ 
werden im Prosa-Texte im Allgemeinen nicht abweichend 
von dem Sinne erläutert, den die einfache Betrachtung 
ihres Inhalts ergiebt; die „Gütige" ist ein junges, schönes 
Mädchen, ^auf das der Dichter zum ersten Male aufinerksam 
wird (Cap. 35), als sie, aus dem Fenster schauend, ihn 
mitleidsvoll betrachtet, und die ihn dann, besonders durch 
die Perlenfarbe ihrer Haut, stets an Beatrice erinnert, so 
oft er ihr begegnet (Cap. 36). Nur die Stellung dieser 
Sonette gegenüber den Klageliedern ist etwas verschieden, 
von der Anordnung, in der ich sie, ihrem Inhalt ent- 
sprechend, aufgef&hrt habe, indem der Prosa-Text die 
Liebes-Episode, die sie behandeln, noch vor dem Klage- 
Sonett (24) und dem sogenannten Pilger-Sonett (25) ein- 
schiebt. Das Schluss-Sonett (31) wurde, wie der Prosa- 
Text angiebt, von dem Dichter geschrieben, als zwei edle 
Frauen ihn baten, ihnen seine Liebeslieder zu übersenden. 
Er übersandte ihnen nun auch dieses abschliessende Ge- 
dicht und fügt, in Prosa, die folgenden bezeichnenden 
Worte hinzu, mit denen die „Vita nuova" endigt: „Nach 
Beendigung dieses Sonettes hatte ich eine wunderbare 
Vision, in der ich Dinge sah, welche in nur den Vorsatz 
weckten, die Holdselige nie wieder zu besingen, bis ich 
nicht in würdigerer Weise von ihr reden könnte. Und 
um dahin zu gelangen, spare ich jetzt keine Mühe, wie sie 
am besten wissen wird. Dann, wenn Er, durch den alle 
Dinge leben, mir das Leben noch emige Jahre gestattet, 
hoffe ich von ihr singen und sagen zu können, was nie 






. 1- 



* fc. - « 



99 



jemals von einem anderen Weibe geredet worden. Und 
danach möge Er, der Herr des Erbarmens, meine Seele 
dahinfahren lassen, dass sie die Herrlichkeit ihrer Herrin, 
der holdseligen Beatrice, schaue, welche verklärt jetzt vor 
dem Angesicht Dessen steht, qni est per omnia saecnla 
benedictus. Amen.^ 

Das Bild von Beatrice und von dem Yerhältniss des 
Dichters zu ihr wird also, wenigstens hinsichtlich der 
äusseren Begebnisse, auch durch den Prosa-Text nicht 
wesentlich verändert Aber trotzdem bieten die ganze 
Darstellungsweise dieses Textes und auch einige besondere, 
theilweise unerklärbare Stellen Schwierigkeiten dar, auf die 
wir noch kurz eingehen müssen, weil sie den Anlass zu 
den Zweifeln an der „Echtheit" der Beatrice gegeben haben. 
Was die Darstellungsweise anbetrifft, so ist sie eigentlich, 
trotz der Prosa-Form ebenso poetisch, wie die der Lieder, 
ja sie übertrifft den einfachen poetischen Ausdruck der- 
selben noch durch viele symbolisirende und allegorisirende 
Andeutungen, welche uns erkennen lassen, dass aus dem 
Dichter schon der Philosoph zu werden beginnt Die 
Bezeichnung der Liebesgewalt durch die Gestalt Amor's 
ist in ihr durchweg, wie in den Gedichten, festgehalten, 
und die Visionen, welche erzählt werden, sind noch mehr, 
als in jenen, mit den glühendsten Farben der Phantasie 
ausgeschmückt Amor selbst und dann auch die Geliebte 
werden mit reichen, farbigen oder auch weissen, leuchtenden 
Gewändern umhüllt geschildert, die lobenden und rühmenden 
Attribute der „Herrin^ finden sich noch reichlicher angehäuft 
und die Beschreibung des eigenen inneren Zustandes ent- 
behrt nicht eines phantastischen fast ekstatischen Zuges. 
Dazu kommt, dass der Dichter sich ersichtlich bemüht, die 
Veränderungen die in ihm durch die Macht der Liebe 



7* 






100 



hervorgerufen werden: die Angstzostände, die er bei dem 
Anblick und bei dem Nahen der Herrin durchlebt, die 
wunderbare Heilswirkung, die ihr Gross auf ihn ausübt,*) 
die ekstatische Freude, in die er geräth, wenn er den 
Eindruck, den sie auf Andere macht, beobachtet und der 
Schmerz, den sein Herz bei ihren Thränen oder gar nach 
ihrem Tode fCÜilt, sich durch Betrachtungen klar zn 
machen, die, bei aller Unbestimmtheit und bei häufiger 
Verschwommenheit, eine phüosophirende, phychologisirende 
Tendenz deutlich verrathen. Auch die häufigen, in den 
Text eingestreuten lateinischen Sätze, - der merkwürdige 
Umstand, dass Amor (Cap. 11.) nicht nur lateinisch, 
sondern auch in der Ausdrucksweise der scholastischen 
Philosophie mit dem Dichter redet, und die Beziehung auf 
die grosse philosophische Richtung des Realismus**) bei 
der Betrachtung über das Wesen der Liebe (Cap. 12), 
geben der ganzen Darstellungsweise ein bestimmtes Ge- 
präge. Der Stil entspricht vollständig diesem Gepräge. 
Es sind der Satzbau und die Wortgefüge des jungen 
Mannes, der eben im Begriff ist an den Brüsten der 
lateinisch redenden, scholastischen Moralphilosophie geistige 
Nahrung zu gewinnen und dem auch beim Schreiben der 
Volkssprache, die er ja fOr die Prosa-Darstellung erst zu 
schaffen berufen war, das lateinische Wortgetön der 
philosophischen Schulen noch in die Ohren klingt Andrer- 
seits ist dieser Stil von der Sprache der Gedichte, durch 
deren Abfassung ihm das Sprechen im Volgare schon ge- 
läufiger geworden war, nicht wenig beeinflusst. 

Und diesem Ton, wie er durch die Gedanken und die 



*) S. hierüber besonders Cap. 10 der «^i^ nnova*^. 
**) Bealismus im Qegensatz zu Nominallsmns in der scbolasUsohen 
Philosophie. 



- V ^ » t » «^ ' ^ 



101 



Worte im Ganzen hindurch klingt, entsprechen auch die 
sogenannten dunkelen Stellen, an denen sich alle Ausleger 
bisher vergeblich gemüht haben. Es sind dies, ausser der 
Lücke zYdschen dem neunten und achtzehnten Jahre, von 
der ich schon geredet habe, besonders die Stellen, in 
welchen Dante auf die innere, symbolische Bedeutung der 
Neunzahl (Cap. 29), die in seinem Yerhältniss zu Beatrice 
eine so grosse Rolle spielt, und auf den Sinn, der sich 
unter dem Namen „Beatrice" (Cap. 24) verbirgt, zu reden 
konunt. Die letztere symbolische Betrachtung wird noch 
durch den dunkelen Sinn der Worte erhöht, mit denen 
Dante im ersten Capitel uns seine „Herrin^ gleichsam 
vorstellt. Er sagt daselbst: „vor meinen Augen erschien 
zum ersten Mal die ruhmreiche Herrin meiner Seele, die 
von Yielen, welche sie nur so zu benennen wussten, 
Beatrice genaimt wurde" (a H mici occhi apparve prima 
la gloriosa donna de la mia mente, la quäl fu da molti 
chiamata Beatrice, li quali non sapeano che si chiamare). 
Ich will mich nicht auf eine Berichterstattung über die 
mancherlei Yermuthungen und Vorschläge, die die Aus- 
leger zu den undeutlichen Worten: „li quali non sapeano 
che si chiamare'^ in grosser Fülle gemacht haben, einlassen, 
sondern nur anführen, dass der einfachste Sinn derselben 
wohl der ist, den ich in meiner Uebersetzung angegeben 
habe und der darauf hinweisen würde, dass den Anderen, 
nach Dante's Meinung, ihr andrer Name: „Herrin", den 
sie f&r ihn fCLhrt, nicht bekannt ist. Doch auch wenn 
diese Deutung grammatikahsche Bedenken hat, ist man 
nach meiner Meinung nicht berechtigt, aus dieser Stelle 
und aus dem tieferen Sinn, den Dante dem Namen Beatrice 
später beilegt, indem er ihn mit den Namen Amors 
identifizirt, schon den Schluss zu ziehen, dass Dante den 



102 



Namen Beatrice überhaupt nur allegorisch aufgefasst und 
ihn deshalb nur einer idealen ^Herrin" beigelegt haben 
könne *) Und ebensowenig darf man auch aus der 
symbolischen Bedeutung, die der Dichter der Neunzahl 
beimisst (Cap. 29) und die ihn selbst, wie wir frtüier 
(Seite 94) gesehen haben, zu chronologischen Angaben ver- 
anlasste, die vielleicht nicht dem historischen Sachverhalt 
entsprechen, sogleich folgern wollen, dass nun auch alles 
Uebrige, was er von seiner liebe erzaMt, symbolische und 
allegorische Bedeutung habe. Hier macht sich die Kritik 
einer falschen Uebertreibung der Genauigkeit schuldig, 
weil sie weniger den Ton des Ganzen als vielmehr nur 
eine kleine Stelle in's Auge fasst und von ihr aus zu 
allgemeinen Schlüssen fortschreitet. Aehnlich verhält es 
sich mit einer dritten der berühmten dunkelen Stellen der 
„Vita nuova", mit dem Grunde nämlich, den Dante unter 
anderen für sein Schweigen unmittelbar nach dem Tode 
der „Herrin** angiebt. Er sagt (Cap. 28), dass es für ihn 
nicht geziemend sei über ihr Hinscheiden sich ausführlich 
auszulassen, „deshalb, weil ich, wenn ich darüber reden 
wollte, über mich selbst lobende Worte sagen müsste, 
was doch dem, der Solches thut, im Allgemeinen zum 
Tadel gereicht" (per quelle che, trattando, converrebbe 
esser me laudatore di me medesimo, la qual cosa h al 
postutto biasimevole a chi lo fae). Diese SteUe ist von 
dem Litterarhistoriker Bartoli einfach als unerklärbar be- 
zeichnet worden, falls man an dem realen Liebesverhältnisse 



*) Man yergleiche über die in Jener Zeit so beliebte, nachträgliche 
allegorische Deutung yon Namen besonders die Auslegung, die Boccaccio 
dem Namen des Dichters als dem des «aebenden* (Dante) zu Theil wer- 
den lässt. «Seqm al nome eo eifetto'' (dem Namen folgte die That) sagt 
Boccaccio. Siehe: «Vita di Dante" di Gt. Boccaccio Cap. L 



103 



des Dichters zu der irdischen Beatrice festhalten wolle* 
Ich würde, wie ich schon oben betonte, im Allgemeinen 
einige nnerklärbare Textstellen eines Schriftstellers, von 
dem eigenhändige Manuskripte nicht vorliegen, noch nicht 
fCLr einen Gmnd halten, an dem deutlichen Sinn seiner 
ganzen Darstellung zu zweifeln, und deshalb auch leichten 
Herzens eine solche Stelle völlig unerklärt ruhen lassen, 
wenn ich nicht gerade einige Yermuthungen hiusichüich ihrer 
Deutungen vorzubringen hätte. Die Yermuthungen, die ich 
über den wahrscheinlichen Sinn dieser Stelle hege, sind 
aber die folgenden: Wir haben schon aus dem Antwort- 
Sonett Gavalcanti's (s. Seite 49) gesehen, dass Beatrice 
sich nach dem Tode sehnte und dass sie in Folge dessen 
von Amor mit des Dichters heissem Herzblute gespeist 
wurde; sollte das nicht darauf hindeuten können, dass 
auch Beatrice des Dichters Liebe erwiederte? Ihr holder 
Gruss, ihr Zürnen, als sie von der Hinneigung des Dichters 
zu anderen Frauen hört, und selbst ihr feiner Spott, als 
sie ihn bei dem Feste in ihrer Gegenwart eine so traurige 
Rolle spielen sieht, würden Zeichen ihrer Liebe sein. Femer 
können wir vielleicht annehmen, dass die Holde leidend 
war, denn ihres Gesichtes Blässe wird von dem Dichter 
zweimal erwähnt, auch scheinen seine in der Vision der 
Canzone 2 ausgedrückten Ahnungen von ihrem nahen Ende 
darauf hinzudeuten. Wie nun, wenn die „Herrin", da sie 
eines Anderen Frau war und zwar die Frau eines Mannes, 
der der politische Gegner und folglich wohl auch der 
persönliche Feind ihres Anbeters war, unter diesem Zwiespalt 
der liebe und ehelichen Pflicht gelitten und sich in ihm 
verzehrt hätte? Vielleicht hatte sie den Dante ebenfalls 
von Jugend auf geliebt; vielleicht hatten nur äussere 
Gründe, etwa politische Gegnerschaft der Portinari und 



104 



der Allighieri, yerhindert, dass sie auch seine „Haus- 
herrin" geworden war. Wenigstens sagt Pietro in seinem 
Commentar (s. Seite 26), dass sein Yater einst procus d. h. 
Freier, Bewerber der Beatrice Portinari gewesen s^. Viel- 
leicht hat auch gerade der Umstand, dass sie nicht sein 
Weih geworden war, seiner liehe zu ihr den idealen, 
schmerzensreichen, poetischen oder sagen wir ruhig, über- 
spannten Zug verUehen, der in dem Cultos der „Herrin*^ 
und in der Yergöttlichung des geliebten Gregenstandes 
seinen Gipfelpunkt erreichte. Und .wenn wir annehmen, 
dass auch Beatrice den Dichter liebte — Bartoli zweifelt 
allerdings daran, dass sie überhaupt nur um seine 
Schwärmerei fttr sie wusste, — und dass sie sich in dieser 
hofbiungslosen Liebe schliesslich verzehrte, liegt es dann 
so fem, auch anzunehmen, dass kurz vor ihrem Ende sie 
dem Dichter diese ihre Liebe noch einmal oder yiel- 
mehr das erste Mal zu erkennen gab? Es ist gewiss sehr 
auffallend, dass das einzige fröhliche Liebesüed, welches 
der Dichter sang, jene eine Stanza der unvollendet ge- 
bliebenen Canzone (s. Seite 97), diese Strophe, in welcher 
sein Herz auj^auchzt über die beseligende Macht Amors, 
unmittelbar vor den Worten eingeschaltet ist, die ihren 
Tod vermelden. Wäre es nicht möghch dies so zu er- 
klären, dass sie, kurz vor ihrem Hinscheiden, dem Dichter, 
und sei es auch nur durch ein Zeichen, ihre stille, sie ver- 
zehrende Neigung kund gethan und dass dieser darüber seine 
Freude in jener schönen Stanza ausgedrückt habe? Der 
Prosa -Text hat in der Erläuterung zu dieser Stanza 
(Cap. 27) die Worte: „und da ich mir überlegte, dass ich 
nichts von dem gesagt habe, wie er (nämlich Amor) in 
der gegenwärtigen Zeit in mir wirkte (quelle, che al 
presente tempo adoperava in me), schien nur in meiner 



105 



Darlegung etwas zu fehlen und deshalb nahm ich mir vor 
davon m singen, wie ich fOr seine Wirkmig empfänglich 
war und wie seine Macht in mir wirkte. Und da ich das 
in dem bescheidenen Baume eines Sonettes nicht aus- 
drücken zu können glaubte, begann ich eine Canzone,^ 
von der leider nur die erste Stanza fertig wurde. Diese 
Worte würden jener Vermuthung nicht widersprechen, und 
die im folgenden Kapitel stehende Aeusserung, dass er 
von ihrem Hinscheiden nicht sprechen könne, ohne ein 
Lobredner auf sich selbst zu werden, würden dann den Sinn 
haben, dass der Dichter wohl wusste, wie Beatrice gestorben 
war, nämlich mit dem Gedanken an ihn im Herzen, das 
vielleicht um dieser Liebe willen so früh gebrochen war, 
und vielleicht mit seinem Namen auf den Lippen. 

Ich will diese Erklärung, wie gesagt, nur als Ver- 
muthung hinstellen. Beweise sind ja auf diesem Gebiete 
überhaupt nicht möglich. Auf jeden Fall ist sie, soweit ich 
die Dante -Litteratur übersehen kann, gänzlich neu, und 
vielleicht hilft sie ein wenig, auch andere Schwierigkeiten*) 
zu erklären und besonders den logischen Faden klarer zu 
erkennen, der den Prosa-Text der „Vita nuova" durchzieht. 

Diesen rothen Faden sehe ich, wenn ich alles bisher 
über den Prosa-Text Vorgebrachte zusammenfasse, in dem 
Gedanken des Dichters, seine „Herrin", die frühverstorbene 
Beatrice auch wissenschaftlich auf dasselbe hohe Piedestal 



*) Eine der anderen Schwierigkeiten, auf die ich nicht eingehe, 
weü loh ffir sie in der That keine wahrscheinliche Erklärung finde, liegt 
In einer BteUe des SO. Capitel der n^ta nnova", in der Erw&hnnng 
nämlich eines «Briefes an die Fürsten der Erde* (a 11 prlndpl de la 
terra), den Dante nach dem Tode der Beatrice geschrieben haben wiU, 
nm ihnen den Zustand der „verwaisten imd aller Würde beraubten 
Stadt' SU achildem. Auf diese Stelle besonders hat Bossettl (s. An- 
merkmig Seite 81) seine Vermuthnng, dass Beatrioe die Persontfication 
einer politischen Idee sei, begründet. 



106 



zu rücken, auf welches er sie schon durch seine Jugend- 
sonette, also dichterisch, gestellt hatte. Wissenschaftlich 
sage ich; aher ich fiasse dabei natürlich dieses Wort nnr 
ih dem Sinne auf, in dem es Dante damals ansah. Er 
hatte sich nach dem jähen Abbruch seines Liebeslebens 
mit aller Kraft seiner leidenschafUichen Natur auf die 
sogenannte „Wissenschaft" der damaligen Zeit, nämlich 
auf das Studium der scholastischen Philosophie ge- 
worfen; er suchte dieses Studium infolgedessen auch ftr 
seine Poesie, und zwar nicht nur für die moralphilosophische 
und didaktische, die er damals pflegte, sondern auch ^ 
die Liebesreimereien seiner Jugend fruchtbar zu machen 
und er kehrte deshalb mit einer nachträglichen Erklärong 
zu diesen zurück und hüllte sie in den Prosa-Text, dessen 
Inhalt und Ausdruck von seinen philosophischen Studien 
durchweg beeinflusst sind. Keineswegs aber wollte er damit 
das Bild der wirklichen „Herrin", die einst nicht nur ftr 
sein Herz, sondern f&r alle Welt, in Fleisch und Blut lebte, 
verdunkeln oder seine Realität durch aUegorische Hüllen 
noch nachträglich verdecken; im Gegentheil, er hoffte es 
durch die philosophirende Besprechung zu vertiefen, wollte 
dadurch seine Farben leuchtender, ausdrucksvoller ge- 
stalten und es fOr immer dem Bereiche des Vergänglichen, 
des Irdischen entziehen. Dante hat sich mit dem Prosa- 
Texte auf die zweite und in seinen Augen höhere Stafe 
der Verherrlichung seiner „gentilissima donna" geschwungen, 
während er durch die Jugendgedichte nur die erste, weniger 
ruhmwürdige erstiegen zu haben meinte. Aber damit ist 
nicht gesagt, und er selbst hat uns sicher nicht so glauben 
machen wollen, dass der ganze Untergrund dieser Ver- 
herrlichung nur ein idealer gewesen sei und dass das Bild 
der „Herrin" nur „innere Realität" (realtä interiore), wie 



107 



Bartoli sich ansdrückt, das heisst nur Wirklichkeit in 
seinem Herzen und in seiner Phantasie, gehabt habe. 
Nein, die „äussere Realität" muss ebenso vorhanden ge- 
wesen sein, wenn wir nicht den grossen Dichter als 
angesteckt und durch und durch durchseucht von der mit 
Recht von den heutigen Eritikem so gefllrchteten 
Sentimentalität hinstellen wollen. Warum soll dieser echte 
Sohn seiner Zeit nicht iasoweit Realist gewesen sein können, 
dass er die Anregung zu seinem hohen und immer höher 
und erhabener sich gestaltenden Cultns der „Herrin" von 
einer anmuthigen und schönen, milden und herzensguten 
„sposina", die ihn in seiner Jugend begeisterte, hätte em- 
pfangen können? War seine Natur nicht leidenschaftlich 
genug, um eine solche Anregung, auch wenn dieselbe vielleicht 
unbedeutender war, als er sie uns schildert, willig entgegen- 
zunehmen, festzuhalten und in grossartiger, erhabener 
Weise in sich weiter zu entwickeln. Und bedarf es nicht 
stets selbst fllr den grössten Dichter einer wirklichen und 
realen Anregung zu all seinem Denken und Dichte? 
Freilich, ein Anderer als Dante hätte eine solche in sich 
verkflmmem lassen; nur der Dichter konnte 6ie zur voUen 
Blüthe, zu voUer Wirksamkeit und Entfaltung bringen. 
Es wäre thöricht, zu behaupten, dass die Liebe zu Beatrice 
Portinari den Florentiner erst zum Dichter gemacht habe. 
Dichter' werden geboren! Aber es wäre ebenso thöricht, 
zu sagen, dass Dante ohne die Beatrice Portinari so ge- 
sungen und so gedichtet hätte, wie er es gethan hat. 
Dichter wollen von Aussen angeregt seinl Und dass nun 
aus dem Dichteijüngling, der seine ersten Kämpfe ge- 
kämpft hat, der eifrige, in die Wissenschaft eindringende 
junge Mann wurde, der das Ideal jener ersten Kämpfe 
auch auf dem zweiten, ernsteren Schlachtfelde und später 



108 



durch sein ganzes Leben hindurch festhielt, das ist meines 
Erachtens der Beweis, dass Dante wirklich ein grosser und 
zugleich wirklich ein realistischer Dichter war. 

Also auch der Prosa-Text zerstört, trotz aller seiner 
Schwierigkeiten, dieThatsache der ersten, süssen, schmerzens- 
reichen Liebe Dante's zu Beatrice Portinari nicht, im 
Gegentheil er verleiht ihr ein höheres, eigenartigeres Relief. 
Wir haben gesehen, dass derselbe auf jeden Fall als ein 
von den Gedichten selbst sich scharf abscheidender Be- 
standtheil der »Tita nuova*' angesehen werden muss, dass 
er später, im Beginn der philosophischen Periode Dante's 
und vielleicht auch in einer anderen Dichtungsperiode, die 
wir die der Canzonen nennen können, geschrieben worden 
ist, dass in ihm überall ein philosophirender und psycholo- 
gisirender Grundgedanke durchleuchtet und dass er deshalb 
auch nicht als chronologisch geordnete Erzählung, son- 
dern mehr als eine Betrachtung aufgefasst werden muss. 
Er beleuchtet den Inhalt der Gedichte deshalb auch nnr 
in wenigen Punkten mit dem Lichte der Thatsächlichkeit, 
aber er ninmit auch nichts von ihm hinweg und entstellt 
ihn nicht. Wir erkennen in ihm den Ausdruck einer mit 
sich selbst ringenden Seele, die wissenschaftliche An- 
regungen und dichterische Erinnerungen zu einem homogenen 
Ganzen verschmelzen möchte, die das Bild der Herrin von 
allen irdischen Schlacken befreien und es aus dem Schatten 
der Yergänglichkeit in das heUe Licht eines höheren Lebens 
rücken möchte. Dieses höhere Leben begann Dante in 
der Zeit, als er den Prosa-Text schrieb, in der Philosophie 
zu suchen, und deshalb vermischt sich schon in dieser 
Schrift die Gestalt der „Herrin", die bereits an idealem 
Gehalt so viel gewonnen hat, vielfach mit dem wissen- 
schaftlichen Ideal selbst, das ihm nun vorzuschweben be- 



109 



gann, wie sie nach der anderen Seite hin noch vollständig 
in dem realen Untergrund des einstigen Liebesverhältnisses 
wurzelt. Es stellt also der Inhält des Prosa-Textes ein 
Uebergangsstadium dar von der lebenden Beatrice, der 
Eeatrice der Jagendgedichte, zu der verklärten „Herrin^, 
die ihre Yerklänmg freilich vor der Hand nnr in dem 
Himmel der Wissenschaft finden sollte. Die lebhafte Ein- 
bildungskraft jener Zeit, die ja in Dante besonders glQhend 
lebte, glaubte an die Realität der Abstraktionen, der 
^nomina". Der Dichter glaubte deshalb auch an die Realität 
der Wissenschaft als Göttin, als „Herrin^, und wie er seine 
Beatrice, in der Vorahnung eines höheren Stadiums, schon 
bei den Engeln des Himmels erblickt hatte, so trat sie ihm 
jetzt, in diesem Uebergangsstadium seiner inneren Ent* 
Wicklung, auch in den Gfewändem der Göttin der Wissen- 
schaft, der Philosophie, vorabergehend entgegen. Yor- 
übergehend sage ich, weil es nur wenige Eigenschaften der 
«Herrin" seiner Jugend sind, die er auf das wissenschaft- 
liche Ideal, auf die „Herrin*^ des „Ck>nvito*^ überträgt und 
weil er der Abstraktion bald müde wird, um sich von ibr 
alsdann zu der lebensvolleren Beatrice des Paradieses zurück- 
zuiivenden. Es ist bezeichnend, dass Dante den „Ck)nvito", 
d. h. die Paraphrase seiner moralphilosophischen Canzonen, 
unvollendet gelassen hat, bezeichnend fOr die Enttäuschung, 
die er in der sogenannten Wissenschaft bald genug fand. 
Sie konnte die Gestalt seiner Beatrice nicht mit dem 
lebenswarmen Blute erftülen, das ihr der christliche Glaube 
später in seiner grossen Dichtung verHeh. Und auch wir 
brauchen uns deshalb mit der Herrin des „Convito" nur 
kurz zu beschäftigen. 



V. 

4 

DIE „HEBKEN« IM „CONVITO" VON DANTE. 

Es war eine psychologische Nothwendigkeit, dass nach 
dem Prosa-Text der „Vita nuoya^ der Geist Dante's die 
Betrachtungen über seine moralphilosophischen Canzonen 
hervorbrachte, die im „Convito" niedergelegt sind. Cs 
steht fest, dass die einleitende Abhandlung dieses Buches 
und der vierte Traktat viel später geschrieben sind, als 
der zweite und dritte Traktat, welche die Erläuterungea 
enthalten zu den beiden Ganzonen (Voi che, intendendo, 11 
terzo ciel movete etc. und Amor che nella mente mi 
ragiona etc.), die den Canzonen der „Vita nuova" und des 
„Liederbuches" inhaltlich, wie hinsichtlich der Ausdrucks- 
weise am nächsten stehen. Diese Erläuterungen werden 
kaum drei Jahre nach dem Prosa-Texte der „Vita nuova" 
geschrieben worden sein. Und gleichwohl ist die „Herrin*' 
des „CSonvito" ausgesprochenermassen nicht Beatrice, son- 
dern die Philosophie, ja, was das Merkwürdige dabei ist^ 
der Uebergang zu dieser supranaturalistischen Liebe scheint 
auf den ersten Anblick hin nicht durch Beatrice, sondern 
durch die „donna gentile** der „Vita nuova", durch jene 
„Gütige" und „Mitleidsvolle" vermittelt zu sein, deren 
Dante in den Sonetten 27^ 28, 29 und 30 der „Vita nuova'^ 
gedenkt. Dieser Umstand hat den Auslegern stets die 
grösste Mühe verursacht. Um die Schwierigkeiten, die da- 



111 



bei in Betracht kommen, in's rechte Licht zu stellen und 
zugleich das Material zu gewinnen, sie zu erklären, gebe 
ich zunächst die entscheidenden Stellen aus dem „Gonvito", 
in denen Dante von jener Vermittelung handelt, in lieber- 
Setzung: 

1. „Nach dem Hinscheiden jener holdseligen Beatrice^ 
welche im Himmel mit den Engeln und auf Erden in 
meiner Seele lebt, hatte die Yenus zweimal den Ereis 
durchlaufen, der sie je nach den verschiedenen Zeiten als 
Morgenstern oder als Abendstem erscheinen lässt, als jenes 
gütige Weib (gentil donna), deren ich am Ende der „Vita 
nuova" Erwähnung that, zum ersten Male, in der Begleitung 
Amor's, meinen Augen erschien und einigermassen Besitz 
von meiner Seele nahm.'' (Er schildert nun den Kampf,, 
den er in seinem Innern wegen dieser Liebe auskämpfen 
muss, da die „ruhmwürdige Beatrice noch die Festung 
(la röcca) seiner Seele besetzt hält", und fährt dann fort:) 
„Denn die Eine ward durch die Augen unterstützt, die sie 
immer betrachteten, die Andere aber durch die Erinnerung 
von der anderen Seite her, und die Unterstützung, die die 
Erste fand, wuchs immer mehr, so dass die Andere nichts 
ausrichten konnte gegen Jene, die es verhinderte, dass ich 
mich zu der Erinnerung zurückwandte. Dieser Kampf 
schien mir so wundersam und zugleich so hart, dass ich 
ihn nicht länger ertragen konnte; und gleichsam hülfe> 
rufend wandte ich mich nach jener Seite, von der der 
Sieg des neuen Gedankenlebens ausging, welches mich 
ganz beherrschte, da seine Macht aus dem Himmel stammt,. 
und begann zu dichten: Yoi che, intendendo, il terzo ciel 
movete etc."*) 



*) S. .n GonTito* dl Dante. Tratt ü, Cap. 2. 



112 



2. „Als die erste Freade meiner Seele dahingeschieden 
war, deren ich früher gedachte, blieb ich das Ziel so 
grosser Traurigkeit, dass es keinen Trost mehr für mich 
gab. Nach einiger Zeit jedoch suchte mein Geist in seinem 
Trostbedflr&iss nach den Mittehi, die dieTraurigen anzuwenden 
pflegen, um sich zu beruhigen, und ich begann jenes von 
Wenigen gekannte Buch des Boetius zu lesen, durch dessen 
Niederschrift er sich, als er in traurigen Umständen und 
in Gefangenschaft war, einst getröstet hatte. Und da ich 
hörte, dass Cicero ein anderes Buch geschrieben habe, in 
welchem er, von der Freundschaft handelnd, an Lelius, 
einen ausgezeichneten Mann, Trostesworte über den Tod 
seines Freundes Scipio gerichtet hätte, begann ich auch 
dieses zu lesen. Und obgleich es mir anfangs Mühe 
machte, in den Sinn dieser Bücher einzudringen, gelang es 
mir doch schliesslich soweit, als es meine Schulung und 
mein schwacher Geist erlaubten; dieser Geist hatte mir 
aber viele jener Dinge, gleichsam im Traum, schon vorher 
enthüllt, wie man in der „Vita nuova*' lesen kann. Und 
wie es manchmal zu geschehen pflegt, dass ein Mensch, 
der Silber sucht, Gold findet, welches ihm eine dunkle 
Fügung wohl auf Geheiss Gottes zuschickt, so fand auch 
ich, der ich nur Trost gesucht hatte, nicht nur meine 
Thränen gestillt, sondern gewann auch Gefallen an den 
Schriftstellern, an den Wissenschaften und an den Büchern 
und erkannte bei ihrer Betrachtung, dass die Philosophie 
die „Herrin" dieser Schriftsteller, dieser Wissenschaften 
nnd dieser Bücher, das höchste aller Dinge sei. Ich stellte 
mir sie vor wie ein gütiges Weib (donna gentile) und 
konnte sie mir nur in mitleidsvoller Haltung denken, so 
dass mein wahrheitsdürstender Sinn sie bewunderte und 
ich ihn kaum abhalten konnte, sich ihr ganz zuzuwenden. 



113 



Und diese Betrachtang wuchs inuner mehr in mir, und 
ich machte mich daran, diese „Herrin" dort au&usuchen, 
wo sie sich in wahrer Gestalt zeigte, nämlich in den 
Schulen der Theologen und hei den Disputationen der 
Philosophieheflissenen, so dass ich in der kurzen Zeit von 
etwa dreissig Monaten so von ihrem Zauher erftült ward, 
dass die Liehe zu ihr jeden anderen Gedanken in mir 
zerstörte und verscheuchte, und dass ich mich von der 
£Irinnerung an die erste Liehe hinweg ganz in die Macht 
dieser anderen geführt fühlte .... Und, wie schon ge- 
sagt, diese „Herrin'^ ist die Tochter Gottes, die Königin 
des Alls, die edle und schöne Philosophie . . ,*^*) 

3. „Wie die Betrachtung des vorigen Traktates lehrt, 
leitete meine zweite Liehe ihren Ursprung aus dem mit- 
leidsvollen Gehahrein eines Weihes her, und diese Liehe 
fand mein ganzes Wesen hereit, sie mit Leidenschaft in 
sich au&unehmen, und entzündete sich aus einem kleinen 
Funken zu grosser Flamme."**) 

Diese Stellen, die entscheidend sind für die Be- 
urtheilung des Verhältnisses der „Herrin" im „Convito" 
und in den um diese Schrift sich gruppirenden. Canzonen, 
hahen den Auslegern deshalh soviel zu schaffen gemacht, 
weil die „donna gentile" der „Vita nuova" und nicht die 
Beatrice den Dichter zu dem Cultus der neuen „Herrin", der 
Philosophie geführt zu hahen scheint, und weil man in ihnen so- 
gar eine Identifizirung der Philosophie mit der „donna gentile" 
zu entdecken glaubte. Dass für die letztere Annahme kein 
Grund vorliegt, lehrt der einfache Wortlaut, und auch die 
erstere Vermuthung scheint mir unbegründet. Denn wir 



♦) S. loc. dt Tratt. n, Cap. 18. 
♦♦) 8. loc. dt. Tratt m, Cap. 1. 

8 



114 



mflssen uns bei der Betrachtung dieser Stellen immer 
gegenwörtig halten, dass Dante die Yemiittlung zwischen der 
„ersten liebe*', die immer die der „Vita nnoya'', also die 
zur Beatrice bleibt, und zwischen der zweiten zur Philosophie 
weniger der Person der „donna gentile^ zuschreibt, als 
dem inneren Kampfe, den ihr Eindruck in ihm ent£achte. 
Die Aeusserung in der dritten von mir übersetzten Stelle, 
dass die „zweite Liebe" ihren Ursprung von dem miüeids- 
vollen Gebahren eines Weibes herleitet, hat man so deuten 
zu müssen geglaubt, als ob dieser zweiten Liebe Gregen- 
stand auch dieses Weib selbst, also die „donna gentile^ 
gewesen sei, aber der ganze Zusaounenhang der Periode 
lehrt, dass es die Liebe zu der Philosophie ist, die durch 
das miÜeidsYoUe Gebahren (dalla misericordiosa sembianza) 
jenes Weibes nur yermittelt, also nur aus dem Kampf, den 
sie in des Dichter's Seele warf, geboren ist. Und im 
Uebrigen widerstreitet nichts in den citirten Stellen meiner 
Annahme^ 

Und auch die Betrachtung des „Gonvito" im Ganzen 
widerstreitet nicht der Ansicht, dass die „donna gentile" als 
persönliches Zwischenglied aus dem Ueb^gang von der Liebe 
zu Beatrice zu der Liebe zur Philosophie ganz auszuscheiden 
ist, und dass nur diese beiden letzteren hohen Frauen» 
gestalten fftr unsere Betrachtung übrig bleiben. Ob zwischen 
ihnen em Gemeinsames, eine Verwandtschaft zu entdecken 
ist, das ist die Frage, die uns beschäftigen muss. Wie 
das Ideal der Beatrice, der ;,geliebten*' Herrin sich in das 
Ideal der Wissenschaft, der „bewunderten" Herrin um-^ 
wandeln konnte, muss uns als Zielpunkt der Erörterung 
vorschweben. 

Ich habe es schon in der [Besprechung des Prosa- 
Textes der „Vita nuova" betont, dass derselbe gegenüber 



115 



den Gedichten eine höhere Stufe der Betrachtang der 
^Henin^ vorstellt, und Dante sagt es im „(Donvito** aos- 
drOckhch, dass er in jener Schrift schon vorahnend die 
Weisheit niedergelegt habe, die er durch das Stadium der 
lateinischen Philosopheil sich später ans zweiter Hand erwarb. 
Dort hatte ihn sein Geist allein auf die höhere Stufe geführt, 
sein wissensdurst'ger Geist, der zur Zeit der Abfassung des 
Prosa-Textes schon in die „grammatica" und auch in die 
Anfangsgründe der scholastischen Philosophie eingedrungen 
gewesen sein musste, wenn er auch erst später seine Weide 
an den Schriften der römischen Philosophen und in den 
Schulen der Theologen und in den Disputationen der 
Philosophiebeflissenen suchte und fand. Hat ihm nun 
wirklich das spätere angestrengte Studium der Wiss^- 
schaften abermals eine Bereicherung hinsichtiüdi seines 
Coltus der „Herrin'^ eingetragen? Auf jeden Fall hat das 
weibliche Ideal dabei an Abstraktion gewonnen, ob es aber 
dabei nicht an Lebensfiüle verloren hat? Ich glaube diese 
Fragen lassen sich nur entscheiden, wenn wir das weib- 
liche Ideal nicht in semer Objektivität betrachten, sondern 
ledigUch das subjektive Verhalten des Dichters ihm gegen- 
über in's Auge fassen. Und von diesem Standpunkte aus- 
gehend, müssen wir entschieden bejahen, dass Dante eine 
Bereicherung seiner inneren Anschauungen durch die Er- 
hebung des weiblichen Ideals in die reinen, wenn auch 
abstrakten Regionen der Wissenschaft gewonnen hat. Denn 
wenn auch zunächst vielleicht die Intensität seines Fühlens für 
die „Herrin" dadurch gemindert worden ist, dass er sie sich 
nicht mehr als die „Holdselige*^ dachte, die droben bei den 
flngeln schwebt und die Heilswohlthaten für ihn vorbereitet, 
so erweiterten sich doch die allgemeinen Beziehungen, in die 
er sie mit seinem eigenen Leben und mit dem Leben und 

8* 



116 



dem Treiben der Welt setzen mosste; und die Bückkehr zu 
dem ersten Ideal, die sich später, nachdem er die 
Philosophie wie einen Irrtham von sich abgeschüttelt hatte, 
vollzog, &nd ihn fester, geläuterter und reicher vor. Deshalb 
ist die „Herrin" des „Convito", wenn die Hinneigung zu 
ihr auch eine Abirrung von dem ersten Liebesideal be- 
deutet, wenn Dante auch immer wieder betont, dass düe 
Liebe zu ihr die „erste Liebe" in ihm getödtet oder ver- 
scheucht habe, doch auch als in Gremeinschaft stehend mit 
der „Herrin" der „Vita nuova" und mit der „Führerin'' 
in der „Göttlichen Komödie" au&ufa£sen. Denn in ihrem 
Cultus kommt das Gefühl der Sehnsucht nach einem hohen, 
himmlischen Weibe, an das er sich anlehnen, das ihn mit 
Frieden erfüllen, seine Seele läutern und emporziehen 
kann, zum Ausdrucke in einer Lebensperiode, in welcher er 
die irdische Geliebte verloren hatte und für die gänzliche 
Hingabe an die himmlische Beatrice noch nicht gereift und 
klar genug geworden war. Die Philosophie ist die Lücken- 
büsserin für um geworden, und es ist bezeichnend, dass 
er auch ihrer abstrakten Gestalt mit aller Leidenschaft- 
lichkeit seiner Seele den wannen Hauch der Weiblichkeit 
einzuflössen, die Gabe, Liebe zu erwecken und zu er- 
wiedem, zu verleihen und die verklärte Schönheit seiner 
ersten Geliebten anzudichten versucht. Bezeichnend ist es 
und zugleich ergreifend, diesen unruhigen, .von politischen 
Leidenschaften hin- und hergeworfenen, zom- und hass- 
erfüllten, alle Tiefen und Höhen des menschlichen Fühlens 
durchmessenden und von keiner menschlichen Schwäche 
verschont gebliebenen Mann in allen seinem Denken und 
Dichten, auch wenn es auf das Erfassen einer abstrakten 
Wissensfülle gerichtet ist, nach dem* weiblichen Ideal sich 
sehnen und hinaufschauen zu sehen, von dem er Erlösung 



117 



und Euhe und Frieden erhofft. Man soll nicht sagen, 
dass es nur die Mode der Zeit war, welche ihn auch die 
Wissenschaft als „Herrin** und „Geliebte" verherrlichen 
Hess. Nein! es lag nothwendig in seinem Wesen be- 
gründet, dass er nach dem Verluste des weiblichen, seine 
echt männliche Natur so schön ergänzenden Ideals auf 
Erden dasselbe dort aufsuchte, wohin ihn zunächst sein 
Streben und sein Denken führte, in den Regionen der 
Wissenschaft. In diesem Sinne ist die „Herrin" des „Con- 
vito" die Weiterentwicklung der „Herrin" der „Vita nuova"; 
die Philosophie wird die Schwester der Beatrice Portmari, 
wenn auch mit kälteren, blutleereren, abstracteren Zügen, 
so doch nach anderer Richtung hin erhabener und reicher 
ausgestattet als sie. Und lange Zeit duldet's ja den leiden- 
schaftlichen Dichter auch nicht im Dienste dieser marmor- 
gleichen, zweiten„Herrin" — der „Convito" bleibt unvollendet, 
nicht nur weil das Leben des Dichters jetzt zu einer unruh- 
vollen, bitteren Wanderschaft wird, sondern besonders 
auch weil die lebenslosen Formen der abstrakten Wissen- 
schaft sein Wesen nicht auszufüllen vermochten — und 
er kehrt zurück zu der milden und holdseligen Frau, 
die um einst auf Erden durch ihren Gruss beglückte und 
die er nun in ihrer himmlischen Wohnstatte aufzusuchen 
unternimmt. 



VI. 
DIE BEATMCE DER „DIVINA COMMEDIA". 

Im „Convito** verliert sich der Dichter in die ab- 
strakten Gefilde des Denkens, nnd das Bild seiner „Herrin^ 
gestaltet sich deshalb zu der idealen Göttin um, die keine 
Berührung mehr mit dem Boden hat, auf dem die irdische 
Liebe gedeiht. Die LeidenschafUichkeit des heissblütigen 
Florentiners hat yergebüch gesucht, auch dieser Göttin 
warmes, menschliches Leben und das innige Fühlen ein- 
zuhauchen, das das weibliche Ideal seiner Jugendzeit so 
ganz und so schön durchströmt hatte. Vergeblich! demi 
unter den Definitionen und kleinlichen philosophischen 
Haarspaltereien der scholastischen Philosophie, in der er 
ein Jahrzehnt das Heil und den Frieden för seine Ton 
Leidenschaften durchstflrmte Seele suchte, verflüchtete sich 
alles Concreto, welches dieser Gestalt noch aus dem Gnltns 
der Beatrice her anhaftete, in den sie ja als Nachfolgerin 
eingetreten war; und die grosse Leere, die sie im Herzen 
des Dichters zurückgelassen haben musste, trieb diesen aus 
den Disputationen der Philosophie in die Schulen der 
Theologen. Es war gegen das Ende des ersten Dezennium^ 
des neuen Jahrhunderts, als Dante in Paris Theologie 
studirte und sich in die Systeme des Bernhard von Qairvaux 
und des Thomas von Aquino vertiefte. Diese Jahre um- 



119 



fassen die Periode seiner Eückkehr zu dem Cultos der 
Beatrice. War er ihr, der Jugendgeliebten, wohl über^ 
haupt je ganz untreu geworden? Wir haben aus dem 
letzten Sonett der „Vita nuova** gesehen, dass der 
dichterische Vorsatz, sie in ihrer himmlischen Wohnung 
außsusuchen, schon damals, also am Ende seiner Jugendzeit, 
in ihm lebendig geworden war; wir haben die herzlichen 
Worte kennen gelernt, die er ihr im „Convito" widmet 
trotz der Versicherung, die „zweite Liebe" zur Philosophie 
habe die erste zu Beatrice ganz aus seinem Herzen ver- 
scheucht; wir haben auch den inneren Zusammenhang 
beobachtet, in dem die „Herrin** des „Convito** trotz ihrer 
lebensleeren Schattengestalt mit der echt menschlichen 
.„Herrin** der Jugendperiode steht. Geht nicht aus diesem 
Allen hervor, dass es im Grunde auch nur Beatrice war, 
deren vergötüichtes, über die Vergänglichkeit hinaus- 
gehobenes Wesen der Dichter mit dem Mantel der Wissen- 
schaft zu umhüUen bestrebt war? Vergeblich, wie gesa^ 
war dieses sein Streben gewesen! Dem echten Sohne 
seiner Zeit, der sich mit dem ganzen Gredank^ninhalte der- 
selben seine reiche Seele anzufallen im Begriff stand, musste 
die Philosophie schliesslich als das erscheinen, was sie für 
die ganze Epoche war, als die Magd jener höheren WeiS'* 
heit, die den Himmel und die Erde mit ihrem Glänze 
erf&Ute, als die Magd der Theologie; und sobald sich der 
Dichter, der zugleich ein schar&inniger Denker war und 
besonders ein feines, nat&rliches Gefühl, eine ausgeprägte 
Indovinationsgabe gegenüber dem Gedankeninhalt seiner 
Zeit in sich trug, in die Theologie, wie sie damals vor- 
getragen wurde, vertiefte, musste sein ganzes inneres Leben 
bedeutend an concretem Gehalte gewkmen und auf den 
£oden der Wirklichkeit zurückkehren, den es durch das 



120 



Studium der Philosophie zuweilen zu verlassen in Grefahr 
gerathen war. Auch das politische Denken, das damals 
einen so gewichtigen Theil des inneren Leben Dante's 
ausmachte und ihm seine Schrift „De Monarchia" eingab, 
hat mitgeholfen, diese Rückkehr aus den Abstraktionen 
der Philosophie zu beschleunigen. Yor Allem aber war 
es der grosse Plan seines unsterblichen Liedes, das alle 
diese Yorbereitungsjahre hindurch in seiner Seele schon in 
immer klarer und bestimmter werdenden Tönen voraus^ 
erklang, welcher ihn mit elementer Grundgewalt nöthigte, 
der Philosophie wieder den Rücken zu wenden. Das 
poetische Empfinden hatte sich nur zwangsweise mit dem 
abstrakten Denken vereinigt; jetzt brach es mit einer Kraft, 
die sich in der Knechtschaft verstärkt hatte, durch alle 
wissenschaftlichen Hüllen wieder an die Oberfläche hin- 
durch und nahm aufs Neue Besitz von dem ganzen Wesen 
des Dichters. Wie es sich aber in der Zwischenzeit, 
gleichsam schlummernd, von der „ersten Liebe'* des 
Dichters genährt und aus ihrem in der Erinnerung fort- 
dauernden Zauber die Kraft zu neuen und grossen künf- 
tigen Thaten gesaugt hatte, so trat jetzt auch, nachdem 
es erwacht war, die Gestalt der „Herrin" in erneuter und 
reicherer Schönheit, und doch mit dem ganzen Reiz der ersten 
Erscheinung in der Jugend geschmückt, in den Mittelpunkt 
dieses Empfindens, und die grosse Dichtung entsprang in 
der mit diesem Empfinden angefQllten Seele des Anbeters. 
Die „Divina Commedia'' ist in der That das höchste und 
gewaltigste Triumphüed, das je in der Welt zur Yerherrlichung 
des siegenden Zaubers eines Weibes gesungen worden ist. 
Im Mittelpunkte seines Grundplanes steht die nun zu 
himmlischer Schönheit und Würde verklärte JugendgeUebte 
des Dichters; sie wird, mit überirdischer Kraft und engeis- 



121 



gleicher Milde ausgestattet, die Erlöserin des in dem 
„finsteren grossen Wald" des irdischen Lebens verirrten, 
von den Ungeheuern des weltlichen Ehrgeizes, des falschen 
StQlzes und des blinden Hasses verfolgten Dichters, sie 
schickt ihm den Führer durch die niederen und unter- 
irdischen Regionen zu, sie zieht ihn dann zu sich hinauf 
in die Stemengefilde der Seligen und sie zeigt ihm, indem 
sie sich selbst mit Gottes Wesen in einen aus der Feme 
der paradiesischen Kreise her ihm entgegenleuchtenden 
Punkt verschmilzt, die wahre Freiheit, die sein unruhiges, 
verstörtes Sein gewinnen kann. Um diesen Triumphgesang 
anstimmen zu können, musste freilich eine Yerirrung des 
Dichters vorhergegangen sem; die zeitweilige Hinneigung 
zu der kalten Göttin der abstrakten Yemunft, zu der 
Philosophie, musste ihm erst die Augen geöffiiet haben 
für die Schönheit und die wahre Herrlichkeit des einzigen 
vreiblichen Ideals. In diesem Sinne steht also die „Herrin^ 
des „Convito*^ auch in einer gewissen Yerknüpfdng mit 
der „Herrin" der „Divina Commedia"; und darüber gar, 
dass die Beatrice des letzteren Gedichtes dieselbe Beatrice 
ist, welche Dante in seiner Jugend besang, kann nicht der 
geringste Zweifel obwalten. 

Dante hatte sich in dem „wilden Wald, so rauh und 
dicht verwachsen'' verirrt und sich von den falschen 
Bildern betrügen lassen, die das Leben und die eigene 
unfreie Seele ihm vorgespiegelt hatten. Der Parder, der 
Löwe und der gierige Wolf, die Symbole des Ehrgeizes, 
des Stolzes und des Hasses, bedrohen ihn und setzen ihn 
in Furcht, als ihm der grosse Schatten Yirgils erscheint 
und sich ihm als Führer anbietet.*) Und er, der Führer 



*) S. »Divinft Oommedi** Inferno. Caat 1. 



122 



durch die niederen Regionen, ist ihm durch Beatrice ge- 
sandt worden. Yirgil's eigene Worte Aber den Zweck 
seiner Sendung sind die folgenden: 

Damit da nun von dieser Furcht dich lösest, 
Sag* ich, warum ich kam und was ich hörte 
Als ich zuerst mich Aber dich betrflbet 
Ich war bei Jenen, die in Zweifel schweben, 
Und sieh', da rief ein Weib mich, schön und s^g, 
So dass ich selbst sie bat, mir za befehlen. 
Es glänzten ihre Augen mehr als Sterne, 
und sie begann zu sagen, sanft und leise 
Mit eines Engels Stimm' in ihren Worten: 
„0, du, des Mantuaners holde Seele, 
„Dess Nachruhm immer in der Welt noch währet, 
„Und ferner währen wird, so lang die Welt steht 1 
„Mein Freund, der nie des GlUckes Freund gewesen, 
„Ist so am wüsten Abhang in dem Weg 
„Qehindert, dass er sich vor Furcht gewendet; 
„und hat, besorg' ich, sich bereits yerirret, 
„Weil ich zu spät mich ihm zur Hülf erhoben, 
„Nach dem, was in dem Himmel ich yemommen. 
„Wohlauf geh' und mit deiner schmucken Hede 
„Und Allem, was ihm zum Entrinnen nothig, 
„Steh' so ihm bei, dass ich getröstet werde. 
„Beatrix bin ich, die dich sendet, konunend 
„Von einem Ort, nach dem ich heim mich sehne, 
„Mich trieb die Liebe, die dies Wort mir eingab.^) 

Warum sendet Beatrice dem Dichter gerade den 
Yirgil als Führer? so fragen wir uns zunächst. Die Ant- 
wort geben uns die Worte, mit denen Dante den Schattoi 



*) 8. «Dlvlna Commedla", Inferno. Gant. II. 49—72. Ich oitire 
die SteUen ans der , Göttlichen Komödie*^ in der üebersetEnng Ton 
Philalethes. Leipzig 1868. 



123 



des römischen Dichters anredet, als er in dem dmikelen 
Walde ihn erblickt: 

Bist du es selbst, Virgil, du reiche Quelle 
Drauss sich der Strom der Rede voll ergiesset?*) 

Und später nennt er ihn: „die Ehre mid die Leuchte 
aller andren Dichter." Virgil war der Lieblingsdichter 
Dante's, wie des ganzen Mittelalters; Dante meint aus 
ihm die Eraft seiner Sprache, den „hello stile'^ geschöpft 
zu haben, glaubt ihm alle dichterische Kunst yerdanken zu 
müssen, erblickt in ihm den erhabensten Vertreter aller 
Poesie. Virgil ist also för Dante die Personifiliation der 
Kunst, der Dichtung, und wie schön ist es gedacht, dass 
er auch diese, seine Führerinnen auf dem rauhen Pfiad 
durch die niederen Regionen, der Vermittlung der gütigen 
„Herrin" zu verdanken vorgiebt. Liegt nicht in diesem 
Zuge eine klare Hindeutung auf die Inspiration durch 
Beatrice, auf die, in den Augen der modernen Kritiker 
80 schreckliche Meinung, dass es der Cnltus der „Herrin", 
der Gedanke an das weibliche Ideal war, welche in dem 
Dichter alle schlummernden Kräfte weckte? 

Und wie hoch schlägt Dante die Liebesthat an, die 
er auch in dieser Hinsicht durch die gütige „Herrin" 
erfuhr! Lassen wir ihn selbst reden, um sein Herz, das 
so voll von Dank und Enthusiasmus über diese erste 
Aeusserung der Heilswirkung seiner „Herrin" auf ihn war, 
recht zu erkennen: Beatrice giebt, auf eine Frage Virgil^s 
hin, über den Grund Auskunft, der sie veranlasste, vom 
Himmel herabzukommen und ihrem Geliebten zunächst, 
bis sie selbst seine Führung übernehmen kann, die Kunst 



*) Siehe: Loc. dt. Cant. n, 79—80. 



124 



als BegLeiterin zn bestellen. Lade, die ^Feindin aller 
Härte" (auch eine der hinunlischen Frauengestalten 
Dante's), hatte ihr erzählt, dass Dante, „der sie so liebet, 
dass er durch sie trat ans des Pöbels Schaaren*', auf 
Erden von Angst und Todesfurcht bedrängt ist. Sie fthrt 
dann fort: 

So rasch ist Niemand auf der Welt gewesen, 
Gewinn zu machen, Schaden zu vermeiden, 
Als ich, nachdem ich solches Wort vernommen, 
Hemiederstieg von meinem sel'gen Sitze.*) 

Und Dante bricht, als er diesen Bericht Yirgil's über seine 
Sendung zu ihm und über diese milde That seiner »Her- 
rin" vernommen, in die folgenden rührenden Worte aus: 

Wie Blümchen sich, gebeuget ui^d geschlossen 
Vom Nachtfrost, wemi die Sonne sie versilbert, 
Nun all' eröffiaet auf dem Stengel heben. 
Ward jetzt mir der erschlafiEte Muth erneuet.**) 

Und „durch das Herz rann ihm so edle Kühnheit", dass 
er sich freudig aufrnacht, mit Yirgil den Grang durch die 
Hölle anzutreten. 

„0, wohl barmherzig sie, die mir geholfen!''***) 

ruft er m dem Gedanken an die Geliebte aus, die ihn 
durch diese Sendung der Kunst zu ihm wieder zu einem 
Freigesinnten gemacht hat. 

Wie stellte sich der Dichter seine „Herrin" vor? 
Das ist die nächste Frage, die bei diesen Worten aus dem 



*) siehe: loc. dt. n, 109—118. 
*•) Siehe: loo. dt H, 126—180« 
***) Siehe: loo. dt. n, 188. 



125 



Eingang des grossen Liedes sich in uns regt. Beatrice ist von 
^dem Orte, nach dem sie heim sich sehnet", zu Yirgil 
herabgekommen, also aus dem Himmel, wohin sie nach 
ihrem irdischen Tod gestiegen war; „ihre Augen glänzen 
mehr als Sterne" und „eines Engels Stimme" klingt aus 
ihren Worten. Auch ihre Macht ist überirdisch, beinahe 
göttlich. Darum braucht sie auch nicht Furcht zu hegen, 
in die Yorhölle, wo sie den heidnischen Dichter au&uchte, 
herabzusteigen. Sie selbst sagt von sich auf die Frage 
Virgil's hin: 

Warum hierherzukommen ich nicht fürchte? 
Zu fürchten hat allein man jene Dinge, 
Die Macht besitzen, Schaden zuzufügen, 
Nicht alles üebrige — es ist nicht furchtbar. 
Durch Gottes Gnade bin ich so geartet, 
Dass Euer Elend nimmer mich mag rühren, 
Noch dieses Brandes Flamme mich ergreifet.*) 

Beatrice ist also schon hier der wirkliche Engel, derselbe 
Engel, in den sie sich nach Abstreifang ihrer irdischen 
Hülle verwandelte; sie ist die in den Himmel gehobene 
Beatrice Portinari, die Jugendgeliebte des Dichters, und 
nicht etwa das vage weibliche Ideal, das Dante, nach der 
Meinung mancher Ausleger, den Anschauungen seiner Zeit 
gemäss mit Engelsgewändem umkleidet habe, nachdem er 
sie ans dem Beiche der Wissenschaft in den Himmel 
versetzt hätte. 

Nach dieser Erfüllung ihrer ersten Aufgabe, dem 
Jugendgeliebten für seine Wanderung durch die Hölle und 
das Fegefeuer die Kunst, die Poesie zur Begleiterin zu 
geben, verschwindet Beatrice für fast zwei Dritttheile der 



•) siehe: loo. oit. n, 87—98. 



n 



126 



^Göttlichen Komödie** ans unseren Angen und stellt sich 
erst wieder persönlich bei dem Dichter ein, als er ihrer 
znr Wanderung dnrch das Paradies als Führerin bedarf. 
Aber auch inmitten der Schrecken der Hölle vergisst er 
ihrer nicht, sondern erinnert sich der seligen Freuden, die 
ihm durch sie später noch beschieden sein werden. 

„Wenn du dort stehst vor ihrem holden Strahle, 
„Die mit den schönen Angen Alles schauet, 
„Wird klar durch sie dir deines Lebens Beisel*) 

sagt Yirgil zu ihm^ als er ihn mit Fragen plagt, und 

Was ihr von meinem Lauf erzählet, bemerk* ich 
Mit anderm Spruch, es zur Erläut'rung wahrend, 
Bis ich ein Weib, das dies versteht, erschaue.**) 

entgegnet er selbst auf die Bemerkungen Brunetto Latini's^ 
die ihm dieser über seine Verbannung und seine irdische 
Laufbahn macht. Der Gedanke, dass er mit der „Herrin*' 
einst nicht nur zum ewigen Frieden gelangen, sondern aus 
ihren Augen auch die Deutung der Räthsel lesen werde,, 
welche ihm sein eigenes, unruhiges und unfreies Wesen 
und seine Tielbewegte und vielgestörte Lebensbahn stell- 
ten, leuchtet aus diesen Worten heraus. Wie ein Strabl 
der Morgenröthe des künftigen, seligen Lebens dringt in 
seine Höllenfahrt die Liebe, die die „Herrin" ihm bewies, 
herein; aufwärts steigt er, immer aufwärts und ihr ent- 
gegen, wie in der Dichtung so auch auf seiner Lebens- 
bahn. Und als er verzagen will auf dem Weg, als er 
sich fOrchtet, im Fegefeuer dem Führer durch die Flammen- 
mauer zu folgen und das Gef&hl seiner Schwäche imd 



*) siehe: loc. olt. X, 130-182. 
**) Siehe: loo. cit. XV, 88—90. 



127 



seiner Menschlichkeit ihn so ergreift, dass er muthlos und 
kraftlos wird, 

Wie Jener ist, der in das Grah gelegt wird^) 

braucht ihm Yirgil nur zuzurufen: 

Mein Sohn, sieh, zwischen 
Beatrix ist und dir nur diese Mauer**) 

nm ihn wieder an&chnellen zu lassen, denn der Name der 
Oeliebten wirkt wie Zauberkraft auf ihn ein: 

Wie Pyramus bei Thisbe's Namen aufschlug 
Das Aug*, und nah' dem Tod schon, auf sie blickte, 
Damals als roth die Maulbeer' ist geworden, 
So wandt', als sich erweicht mein harter Wille, 
Ich mich zum weisen Hort, den Namen hörend, 
Der immerdar im Geiste mir emporquillt.***) 

Er dringt nun durch die Flammenmauer hindurch und 
nähert sich dem irdischen Paradiese, als ein süsses, noch 
nie gehörtes Tönen, das an sein Ohr dringt, das Nahen 
der „Herrin" ankündigt. Ich will die Hauptstellen des 
Gesanges t), in dem diese erste Begegnung des Dichters 
mit der „Führerin" in den seligen Regionen stattfindet, 
hier anfCkhren, weil sie wichtig fOr das Yerständniss des 
Wesens der verklärten Beatrice sind: 

Oft sah ich wohl beim Anbeginn des Tages 
Die Morgenseite rosig ganz gefärbet. 
Und schöne Heitre sonst den Himmel schmücken. 
Und überschattet so aufgeh'n das Antlitz 



*) Pnrgatorio XXVn, 16. 
**) Idem, XXVH, 86. 
*••) Siehe: Purgatorlo XXVH, 87-40. 
t) Der drelssigste Gesuig dei Porgatorio. 



128 



Der Sonne, dass, gesänftiget durch Dünste, 
Es lange Zieit das Ang* ertragen konnte, 
Also Yon einer Blumenwolk* umgeben, 
Die sich emporhob aus den Engelshänden 
Und dann zurückfiel innerhalb und draussen, 
Bekränzt mit Oellaub auf dem weissen Schleier, 
Erschien ein Weib mir unter grünem Mantel, 
Gekleidet in lebendiger Flamme Farben. 
Und meine Seele, die so viele Jahre 
Schon war yerblieben, ohne dass von Schrecken 
In ihrer Gegenwart durchbebt sie worden. 
Nicht Eenntniss irgend durch das Aug* erlangend. 
Nur durch geheime Kraft, die von ihr ausging, 
Emp&nd die grosse Macht der alten Liebe. 
Sobald in's Antlitz mich getroffen hatte 
« Die hohe Kraft, die einst schon mich durchbohret. 
Eh' noch ich aus der Kindheit war getreten. 
Wandt' ich zur Linken mich mit jener Demuth, 
Mit der das Kindlein sich zur Mutter flüchtet, 
Wenn es sich fürchtet, oder wenn's betrübt ist. 
Um zu Virgil zu sprechen 

Allein Yirgil ist plötzlich verschwunden und als darüber 
der Dichter Thränen vergiesst, hört er mit folgenden Worten 
«ich anreden: 

„Dante, ob auch Yirgil von dannen gehe, 

„Nicht weine, weine noch nicht, denn zu weinen 

„Ziemt's dir", sprach sie, „von anderm Schwert vennmdet!'' 

Es ist die Stinune der Herrin, die also spricht. Das 
einzige Mal in der ganzen „Göttlichen Komödie^ nennt 
der Dichter hier seinen Namen, „der ans Nothwendigkeit 
hier wird verzeichnet." Nicht mit allgemeinen Um- 
schreibungen konnte die „Herrin" den Anbeter anreden, 
jnit dem Namen ruft sie ihn vertranlich, der vielleicht 



129 



einst auch ihrem Ohre süss klang. „Ich erblickte*', fi^hrt 
Dante fort 

Das Weib jetzt, das mir erst verschleiert nnter 
Dem Festgepräng' der Engel war erschienen, 
Jenseits des Bach's nach mir das Auge richtend; 
Obgleich der Schleier, von dem Haupt ihr wallend, 
Der mit Minerva's Laube war umkreiset, 
Sie noch nicht offenbar mir liess erscheinen. 
Und königlich, annoch mit strenger Haltung, 
Fuhr jetzt sie fort gleich Jenem, der da redet, 
Allein die glühnd'sten Worte noch zurückhält: 
„Schau mich recht an, ich bin, ich bin Beatrix. 
„Wie hältst du's werth, den Berg nun zu ersteigen? 
„Wusstest du nicht, dass hier der Mensch ist glücklich?** 

Kajm in lieblicheren, rührenderen Worten die erste Be- 
gegnung zweier Liebenden, die sich nach langer Trennung 
^edersehen, ausgedrückt werden, als in den beiden vor- 
letzten Versen es geschieht. Wie eindringlich und frende- 
YoU nach langem Trennungsleide klingt die Wiederholung : 
„ich bin, ich bin Beatrix!** (ben son, ben son Beatrice 1) 
Und wie ergreifend und packend schildert nun der Dichter 
in den folgenden Versen die tiefe Bewegung, die ihn bei 
ihrem Wiedersehen ergreift: 

* Gleichwie der Schnee langlun auf Wälschlands Rückgrat 
Gefrieret zwischen den lebend'gen Stänunen, 
Wenn ihn Slavonien's Wind anhaucht und härtet. 
Doch dann zergehend in sich selbst versickert, 
Sobald's vom Land weht, das des Schatten's haar wird, 
Dem Feuer, das die Kerze schmelzet, ähnlich. 
Also war sonder Thränen ich noch Seu&er, 
Eh' jene sangen 



180 



Doch als ich aus den sflasen Melodieen 

Ihr Mitleid wahrnahm, mehr, als wenn gesaget 

Sie h&tten: „Weih, warum flm so erschfltteml'' 

Da ward der Frost, der mir um's Herz sich drängte, 

Zu Hauch und Wasser und entlud sich angstvoll 

Durch Aug* und Mund und zugleich aus meinem Busen. 

Spricht so einDichter, der sein blosses weibüdies „Ideal*^ 
verwirklicht erschaut? Nein, es sind die Worte des 
Liebenden, der die Geliebte wiedersieht, und „Barbaren" 
sind, nach Balbo's*) treffendem Ausdruck, diejenigen, 
welche nach dem Lesen dieses Gesanges noch an eine 
blosse Allegorisimng glanben. 

Doch Beatrice hat strengere Worte auf den Lippen, 
die sie in der ersten Frende des Wiedersehens zunächst 
noch zur&ckgehalten hatte. Der Geliebte tritt mit gleichem 
Maasse „von Schuld und Schmerz" belastet nach seiner 
Erdenwanderung, nach der langen Trennung von ihr, jetzt 
wieder vor sie hin. Er hat sich nicht stets rein gehalten; 
er war verirrt gewesen, versenkt in das wüste Treiben der 
Welt, hin- und hergepeitscht von seinen Leidenschaften 
und er hatte anch oft genng das reine Bild der „Herrin** 
in seinem Herzen verhüllen lassen durch sündige Nei- 
gungen und niedere Triebe. Sie wendet sich jetzt an die 
Engel und enthüllt vor ihnen sein Wesen: „Seht ihn," so 
sagt sie, „es 

Ward dieser so in seinem Jugendleben"*^) 

Befähiget, dass jede rechte Sitte 

Sich wunderbar in ihm bewähret hätte; 



*) Cesare Balbo ,La Vita dl Dante*. Torlno 1889. 
**) Phllalethes übersetst hier: ,ln selDem neuen Leben,* aber der 
Text hat: «neUa Bua Tita nncya*. und der fiHim ist hier derselbe wie la 
dem Titel der Jngendschrift. 



131 

Doch um so schlimmer wird das Land und wilder 
Durch schlechten Samen und des Anbaues Mangel, 
Je mehr's an guter Bodenkraft besitzet. 
Aufrecht hielt ihn mein Antlitz eine Weile, 
Und ihm die jugendlichen Augen zeigend 
Führt' ich mit mir ihn in gerader Richtung. 
Sobald ich, auf des zweiten Alter's Schwelle 
Gelanget, Leben jetzt gewechselt hatte, 
Entzog er mir sich und ergab sich Andern. 
Als ich Yom Fleisch zum Qeist emporgestiegen. 
Und Schönheit mir und Tugend war gewachsen. 
Ward ich ihm minder angenehm und theuer, 
Und seinen Schritt wandt' er durch irre Pfade, 
Die falschen Bilder eines Gut's verfolgend. 
Die das Versprochne nimmermehr erfüllen. 
Nichts half s, Eingebungen ihm zu erflehen, 
Mit denen ich zurück ihn rief in Träumen, 
Und sonst, so wenig achtet' er auf solche. 
So tief sank er hinab, dass alle Mittel 
Zu seinem Heil schon unzureichend waren, 
Als nur, ihm das verlorne Volk zu zeigen. 

Die ganze Manneszeit des Dichters ist in diesen Worten 
charakterisirt, diese seine Lebens-Periode, in der er, an- 
fangs „die falschen Bilder eines Gutes verfolgend'', d. h. 
eich in philosophische Gedankengespinnste vertiefend, sich 
von dem Treiben der Welt verleiten liess, den PM zum 
Himmel, dem ihm in der Jugendperiode die Tugend der 
GreHebten schon gezeigt hatte, zu verlassen, und „seineSchritte 
durch irre Pfade gewandt^ hatte. Kann es eine bessere 
und wahrere Beichte geben, als sie der Dichter hier vor 
uns ablegt? Aber auch von Beatricens früherem Leben 
giebt uns diese Stelle ein schönes und klares Zeugniss. „Als 
ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen**, sagt sie von 

9* 



132 



sich selbst. Wtkrde so eine allegorische GrestaLt, ein Ideal, 
das jederzeit blos in der Phantasie des Dichters gelebt 
hätte, von sich reden können? 

Diese Anklage Dante's von Seiten der verklärten 
Herrin wird dann in dem folgenden Gresange'*') fortgesetzt, 
aber nur zu dem Zwecke, um dem Sünder, sobald er reuig 
seine Schuld bekannt haben werde, die Absolution zu er- 
theflen; denn mit seiner Schuld beladen kami er nicht den 
Strom überschreiten, der ihn noch vom Paradiese trennt, 
und am wenigsten die Wiedertaufe in diesem Flusse em- 
pfangen, die nachher Beatrice selbst an ihm vollzieht. Auch 
aus diesem zweiten Bekenntniss ist es interessant, einige 
Stellen besonders zu betrachten. 

Nachdem Dante auf die Frage Beatricens ein reuiges 
„Ja** als Eingeständniss seiner Schuld hervorgepresst, fragt 
sie ihn, warum er sich eigentlich in seinem nachfolgenden 
Leben so von ihr abgewandt habe? 

In deinem Sehnen 
Nach mir, das dich em Gut zu lieben lehrte, 
Darüber man nicht Höh'res kann erstreben, 
Was fand'st für vorgezog'ne Gräben oder 
Für Ketten du, die dich der Hofi&iung, vorwärts 
Zu dringen, also nur berauben durften? 
Und welch' erleichternd Wesen, welcher Vortheil 
Hat auf der Stirn der Andern sich gezeiget, 
Dass du zu ihnen hinzuwandeln brauchtest? 

Und hierauf antwortet der Dichter so einfach und doch so 
vielbedeutsam: 

Meine Schritte wandten 

Mit falscher Lust die gegenwärtigen Dinge, 

Sobald sich euer Antlitz mir verborgen. 



*) Dem Slsten des Pnrgatorlo. 



133 



Welch' ein weiter und tiefer Sinn liegt in diesem Be- 
kenntnisse! Wir sehen hier die ganze Faust-Natur Dante's 
In ihm enthüllt, die ihn stürmisch und unaufhaltsam vor- 
Tvärts trieb zu immer neuen Zielen, politischen, mssen- 
schaftlichen und irdischen, zu immer neuen Genüssen, zu 
immer neuen Enttäuschungen. Die „Anderen", von denen 
Beatrice spricht, sind nicht allein die anderen irdischen 
Frauen, zu denen Dante's sinnliche Natur vorüber- 
gehend hinneigte, die Gemma Donati, die Gentucca 
und die Ungenannten, die sonst Antheil an seinem 
irdischen Treiben hatten; es sind auch die anderen Ziele 
und Strebungen seines Lebens, die ihn von dem Heilsp&de 
abweichen Hessen. 

Wohl solltest du dich bei dem ersten Streiche 
Der trügerischen Dinge aufwärts schwingen, 
]&Gr nach, die nicht zu solchen mehr gehörte. 
Nicht durfte dir die Flügel abwärts drücken, 
Mehr Schläge zu erwarten, sei's ein Mägdlein, 
Sei's and'rer Tand vergänglichen Gebrauches. 

fährt Beatrice, sanft tadelnd, fort. Sehen wir hier nicht 
den Faust des 13. Jahrhunderts, der immer tiefer versinkt 
in das irdische Treiben, gerade weil seine Sehnsucht nach 
dem unbekannten „Gute" immer mehr in's Ungemessene 
wächst? Aber auch dieser Faust fand ja sein Gretchen 
wieder dort im Himmel, dem Vergänglichen entrückt, ge- 
läutert von aller Erdenlast, verklärt und dazu umge- 
schaffen, dass sie auch ihn mit sich hinanziehe. Mich hat 
es jedesmal wunderbar, wie eine hehre dichterische Offen- 
barung, berührt, wenn ich bei der Lektüre dieserGesänge inne 
wurde, dass eine merkwürdige innere Aehnlichkeit zwischen 
diesem Eintritt Dante's in den Himmel und dem Eintritt 



134 



des Ooethe'schen Faust (am Scfaluss des zweiten Theiles) 
in denselben besteht. 

Sieh, wie er jedem Erdenbande 
Der alten Hiüle sich entraflt, 
Und aas ätherischem Gewände 
Hervortritt erste Jagendkraft! 
Yergömie mir ihn zn belehren 1 
Noch blendet ihn der nene Tag. 

sagt das verklärte Gretchen zor Mater gloriosa. Und auch 
Beatrice sieht in Dante die „erste Jugendkraft^ ans der 
verdeckenden Hülle hervortreten, schafft ihren Greliebten 
wiederum zn dem reinen, schwärmerischen, emporstrebenden 
Jüngling, der in ihrer reinen Weiblichkeit sein Ideal £Etnd 
nnd durch die Macht ihrer Tugend sich damals schon aus 
dem Erdengetriebe dem Himmel näher geführt s^nbte. 
Und wie die Mater gloriosa zu Gretchen sagt: 

Komm! hebe dich cn hohem Sphären! 
Wenn er dich ahnet, folgt er nach. 

so findet auch Beatrice die mahnende, mitleidsvolle Stimme, 
die ihr zuruft: 

Kehr*, o Beatrix, kehr die heil'gen Aagen 

nach deinem Treuen, 

Der dich zu sehn, so viel den Schritt bewegt hat. 
Aus Gnaden gieb die Gnad' uns, dass du deinen 
Mund ihm entschleierst, so dass er erkenne 
Die zweite Schönheit, die du hältst verborgen. 

Diese „zweite Schönheit^ besteht darin, dass sie hinfort 
an ihrem Sänger nicht nur ihr Herz, ihre Milde, ihre 
Beilskraft kund thut, wie bisher, sondern dass sie nun auch 
„ihren Mund vor ihm entschleiert^, das heisst auch sein 
Yerständniss der göttlichen Dinge durch ihre Belehrung 



135 



nährt, dass sie also auch ihren hohen, übernatürlichen 
Intellekt, eben die „zweite Schönheit**, zeigt. Es ist das- 
selbe, was Gretchen sagt: „Vergönne mir ihn zn belehren.** 

Mit diesem Amt, das Beatrice auf sich genonmien, 
tritt sie mm in die dritte Phase der Fortentwicklung ihres 
Wesens. Ans der irdischen, holden und schönen Frau, 
die durch ihr ganzes Sein in dem Jtkngling eine Ahnung 
des Ueberirdischen weckte, weil das Ewig-Weibliche in 
ihr zum wahren Ausdruck gekonunen war, hatte sich nach 
dem irdischen Sterben der milde Engel entfaltet, der den 
Verirrten zu sich hinanzog, ihn seiner SQnden-Last ent- 
ledigte und die Thore des Hinunels vor ihm öffnete. Jetzt 
tkbemimmt sie nun als höchstes Amt die Führerschaft des 
Oeliebten durch die heiligen und wundersamen Kreise des 
Paradieses. 

Der dritte Theil der „DivinaCommedia**, das „Paradiso**, 
ist seiner ganzen Anlage und seiner ganzen Ausfbhrung 
nach ein Lehrgedicht, in dem freilich auch die wunder- 
TOllsten, echt poetischen SteUen hier und da sich zeigen; 
488 ist eben, obgleich es jenen didaktischen Charakter an 
sich trSgt, das Werk des grössten Dichters des Mittel- 
idters, und seine elementare dichtmsche Gabe konnte sich 
auch in der Behandlung eines abstrakten Stoffes nidit ver- 
leugnen. Es ist zugleich der vollständige Ausdruck der 
mystischen christlichen Lehrmeinungen, wie sie das^Mittel- 
alter auf Grund der Apokalypse so gern ausbildete. Von 
diesen beiden Charakterzügen des ganzen Gesanges über 
die himmlische Herrlichkeit wurd natürlich audi die Gestalt 
der Beatrice, die ndtten in ihr steht und grossen Theil an 
ihr hat, mit berührt, aber man muss sich, meines Er- 
achtens, hüten, sie aus diesem Grunde lediglich als allego- 
rische Person, lediglich als die Personifikation der Theologie, 



136 



der supranataralistischen Wissenschaft und Weisheit oder 
als Symhol des Glanhens hinzustellen. Nein, sie trägt die 
Spnren ihres realistischen Ursprungs seihst in diesen 
Sphären noch an sich, natürlich stets nur soweit, als es nach 
der ganzen Ausdrucksweise im Gedichte, die durdiaus eine 
mystisdie ist und nur selten zur Erde zurückkehrt, möglich 
ist. Beatrice hleiht auch im Paradiese das, was sie im 
ganzen Lehen und im ganzen Dichten Dante's war: seme 
Führerin. Dass sie dieses Amt jetzt nur als Belehrerin 
(als dottoressa, wie ein feinsinniger italienischer Schrift- 
steller*) sagt) ausüben kann, liegt im Wesen des Lehr- 
gedichts, nicht eigentlich in dem ihrigen begründet. Im 
Gegentheil, man soll sich hüten, die Attribute, von denen 
sie umgeben ist, als nothwendig mit ihrem „neuen" Wesen 
zusammenhängend zu betrachten, denn ihr Wesen ist auch 
im Paradiese nicht ein gänzlich neues geworden. Die sieben 
Candelaber, die vierundzwanzig Aeltesten, die vier Thiere, der 
Wagen, der Greif, die sieben heiligen Frauen und wie der 
allegorische Apparat sonst heissen mag, von dem umgeben 
Beatrice auftritt, gehören nicht ihr speziell zu, sondern sind 
Theile der grossen Gemeinschaft, von der sie selbst nur ein 
Theil ist. Wäre sie wirklich lediglich die Verkörperung der 
Theologie, so würde sie über diesem Apparate stehen, ihn 
symbohsch umfassen, nicht ein Theil desselben sein. Und 
man nehme doch diese allegorischen Prunkstücke aus ihrer 
Nähe hinweg, man entkleide sie ihrer symbolischen Hüllen: 
des weissen Schleiers, der Krone aus Olivenlaub, des 
grünen Mantels, des brennendrothen Kleides; immer wird 
sie doch noch genug Weibliches an sich tragen, inmier 
wird noch aus ihren Worten, mit denen sie die Fragen 



*) Mario Baplsardl: «La Beatrice di Dante." Florenz. 1877. 



137 



ihres ydssbegierigen Schützlings beantwortet, das edle, jetzt 
freilich nur noch durch die höchsten Dinge bewegte Frauen- 
herz hervorleuchten. Die Allwissenheit, die sie über diese 
Dinge entfaltet, hat ihr den Namen der Theologie, der 
hinunÜBchen Weisheit eingetragen; aber mich dünkt, dass 
diese Eigenschaft mehr aus ihrem verklärten Wesen, das 
sich ganz in Gott, in die Anschauung des Höchsten ver- 
senkt hat, entspringt, als aus einem besonderen, allegorischen 
Charakter, den ihr der Dichter habe verleihen woUen. 
Sie überträgt dem Geliebten diese ihre hinmilische Wunder- 
kraft des Wissens von den höchsten Dingen, wie sie ihm 
vorher schon ihre Heilskraft und ihre Sündlosigkeit durch 
die Wiedertaufe übertragen hatte, und dadurch, dass der 
Dichter auf diese Weise vollständig Eins wird mit ihrem 
beseligenden und schauenden Wesen, ist es ihm möglich 
aus emem Himmelskreise in den anderen emporzusteigen, 
die tellurischen und siderischen Erscheinungen zu ver- 
stehen, in die Mysterien des Gelübdes, der ewigen Ge- 
rechtigkeit, des Kreuzestodes Christi, der Unsterbhchkeit 
und anderer höchster Dinge einzudringen. Nur seine 
TöUige Eingabe an sie, wie vorher seine völlige Hingabe 
an Yirgil, das Urbild der Kunst und Poesie, heiligt ihn 
zum Weiterschreiten in dem unendlichen Meer von Licht, 
von Harmonieen und von Wohlgerüchen, in das sie ihn 
einftüart. Und diese Hingabe, diese gleichsam in's 
Himmlische verklärte erdentstammte Liebe, bleibt, je weiter 
sie vordringen, das einzige Menschliche, das einzige Reale 
in ihrem gegenseitigen Yerhältniss. Je mehr der Dichter 
sich in ihr Wesen vertieft, desto mehr muss er sie be- 
wundem, weü es ihn immer näher zu dem Anschauen des 
Höchsten fükhrt. Deshalb auch erscheint sie ihm mit jedem 
Schritt verschönter, verklärter, erhabener: in ihr spiegelt 



138 



sich die sie mngebende und sich immer steigernde Herr- 
lichkeit. Zuletzt, als sie an dem himmlischen Sitze an- 
kommen, den Beatrice vor ihrer Sendung zu Dante ein- 
genommen und auf den sie sich nun meder niederlässt, 
„im dritten Umkreis, auf jenen Thron, den ihr Verdienst 
ihr anmes,^ yerlässt sie Dante und üherantwortet ihn der 
Führung des heiligen Bernhard. 

Und mit aufs Neu entzündetem Verlangen 
Wandt ich mich um, nach Dingen meine Herrin 
Zu fragen, drob mein Geist im Zweifel schwebte. 
Auf eines sdelt' ich und erlangt' ein andres. 
Ich glaubte sie zu sehn^ allein ein Greis stand 
Vor mir, gleich dem ruhmvollen Volk gekleidet; 
Verbreitet war auf Augen ihm und Wangen 
Wohlwollende Freud', und da stand er, wie's einem 
Liebreichen Vater ziemt, mit frommem Gruss. 
Und : „Wo ist sie?" sprach ich mit schnellen Worten. *) 

Warum, wenn sie wirklich die Verkörperung der 
Theologie ist, hat nicht sie ihn bis zum höchsten Punkte 
weitergeführt? Sie istebennicht lediglich die Theologie; sie 
ist ein Engel, allwissend geworden durch die Anschauung 
des Höchsten, und sitzt, wie der Dichter dann im folgenden 
Gesänge**) schaut, neben Rahel auf den Stufen des Thrones 
der Himmelskönigin, sich in ihrem Licht verschönend. 
Und von dort aus — es ist das ein so treffender, rea- 
listischer Zug — wirft sie dem Dichter, der wie sie sich 
nun an dem Anblick der höchsten Frau, „der Wonne 
aller Heiligen^ weiden und seines heiligen Führers wunder- 
bar schönem Lobgesang auf die Himmelsherrin lauschen 



*) Psradlso XXXI, 55—64. 
**) Dem 32. des „Paradies". 



139 



darf^ „aas der*Feme noch lächelnd einen Blick zu." Ihr 
Amt ist YoUhracht. Aus den Irrthfimem des Lebens hat 
sie den (reliehten, nachdem sie ihn zuerst durch die Kunst 
zu dem Gange durch das Schreckensreich gestärkt hatte, 
zu sich in den Himmel gezogen und ihn die Herrlichkeiten 
desselben schauen lassen. 

Und in der Ausübung dieses Amtes haben wir sie 
nun bis zu diesem Punkte der seligsten Erfüllung be- 
gleitet. Das anmuthige und schon so wunderreiche Kind, 
die den ersten Liebesfunken in die glühende Seele des 
Dichterknaben wft, die holdselige und tugendreiche Jung- 
frau, die zum ersten Male die Ahnung einer höheren 
Macht, wie die der Liebe es ist, in seinem Gemüthe rege 
macht, die in irdischer Schönheit prangende Frau, die ihn 
zur ersten Entfaltung der wunderbaren, ihm innewohnenden 
Grottesgabe des Gesanges bewegt, die zum himmlischen 
Engel verklärte früh Dahingeschiedene, die ihn aus der 
Unruhe und den Leidenschaften zu sich hinanzieht, ihn 
läutert und freimacht und dami die Herrlichkeiten Crottes 
schauen lässt, sind sie nicht eine einzige, reale Person 
wenigstens für die Seele des Dichters gewesen? 

0, Herrin, in der meine Hoffiiung lebet. 
Die du geduldet hast, dass in der Hölle 
Zorückblieb deine Spur ob meines Heiles, 
Von jenen Dingen all', die ich gesehen, 
Durch deine Macht und deine Gut' erkenn' ich 
Die Kraft und Gnade, die sie mir gewähret. 
Du zogst mich aus der Knechtschaft in 

die Freiheit 
Durch alle jene Weg*, in allen Weisen, 
Die Solches zu bewirken Macht besassen. 
In mir bewahre deine reichen Gaben, 



140 



Dass meine Seele, die du hast geheilet, 
Dir wohlgefällig von dem Leib sich lösel"') 

so singt der Dichter von ihr am Schlüsse seines grossen, 
seines hohen Liedes, dessen Mittelpunkt sie ist. Und in 
der That, wir würden Barbaren sein, wenn wir die innere 
Wahrheit dieser Worte bezweifeln wollten. Nicht der in 
seiner Zeit conventionelle Coltos der „Herrin" allein konnte 
dem grossen Sänger solchen Ausdruck wahrhaft verklärter 
Liebe in den Mund legen: dazu bedurfte es mehr; es be- 
durfte wirklich der Liebesthat eines edlen Weibes, die er 
einst in seinem Leben an sich erfahren und deren Er-, 
innerung er durch alle Stürme und Verirrungen des letz- 
teren hindurch in sich heilig gehegt, mit seiner ganzen 
Leidenschaftlichkeit weiter entwickelt und in die poetische 
grosse That umgesetzt hat, die ihn unsterblich macht; 
dazu bedurfte es sodann des gläubigen Sinnes, der die 
beseligende und befreiende Wirkung der wahren Liebe in 
sich empfunden hatte und in dem Weibe eine der Offen- 
barungen des Göttlichen sah; dazu bedurfte es endlich der 
feinsinnigen Emp^glichkeit fOr die grosse und ewige Ein- 
wirkung der liebenden Frau auf unsere wahre Cultur und 
auf die ganze Fortentwicklung der Menschheit nach dem 
Höheren hin, jener Empfindung, der auch unser grosser 
Dichter Ausdruck gab, als er sein gewaltigstes Werk mit 
den Worten schloss: 

Das Ewig -Weibliche 
Zieht uns hinan! 



*) Parsdlso XXXI, 79—90. 




W. Moeser Hofbachdrnekerei, Berlin S.