Google
This is a digital copy of a book that was prcscrvod for gcncrations on library shclvcs bcforc it was carcfully scannod by Google as pari of a projcct
to make the world's books discoverablc online.
It has survived long enough for the Copyright to expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subject
to Copyright or whose legal Copyright term has expired. Whether a book is in the public domain may vary country to country. Public domain books
are our gateways to the past, representing a wealth of history, cultuie and knowledge that's often difficult to discover.
Marks, notations and other maiginalia present in the original volume will appear in this flle - a reminder of this book's long journcy from the
publisher to a library and finally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries to digitize public domain materials and make them widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their custodians. Nevertheless, this work is expensive, so in order to keep providing this resource, we have taken Steps to
prcvcnt abuse by commcrcial parties, including placing technical restrictions on automatcd qucrying.
We also ask that you:
+ Make non-commercial use ofthefiles We designed Google Book Search for use by individuals, and we request that you use these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from automated querying Do not send aulomated queries of any sort to Google's System: If you are conducting research on machinc
translation, optical character recognition or other areas where access to a laige amount of text is helpful, please contact us. We encouragc the
use of public domain materials for these purposes and may be able to help.
+ Maintain attributionTht GoogX'S "watermark" you see on each flle is essential for informingpcoplcabout this projcct andhclping them lind
additional materials through Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember that you are lesponsible for ensuring that what you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a book is in the public domain for users in the United States, that the work is also in the public domain for users in other
countries. Whether a book is still in Copyright varies from country to country, and we can'l offer guidance on whether any speciflc use of
any speciflc book is allowed. Please do not assume that a book's appearance in Google Book Search mcans it can bc used in any manner
anywhere in the world. Copyright infringement liabili^ can be quite severe.
Äbout Google Book Search
Google's mission is to organizc the world's Information and to make it univcrsally accessible and uscful. Google Book Search hclps rcadcrs
discover the world's books while hclping authors and publishers reach new audiences. You can search through the füll icxi of ihis book on the web
at |http : //books . google . com/|
Google
IJber dieses Buch
Dies ist ein digitales Exemplar eines Buches, das seit Generationen in den Realen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Bücher dieser Welt online verfugbar gemacht werden sollen, sorgfältig gescannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich ist, kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheit und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren, Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Originalband enthalten sind, finden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tzungsrichtlinien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in partnerschaftlicher Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. Öffentlich zugängliche Bücher gehören der Öffentlichkeit, und wir sind nur ihre Hüter. Nie htsdesto trotz ist diese
Arbeit kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu veihindem. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sie diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Text in großen Mengen
nützlich ist, wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-MarkenelementenDas "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei finden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu finden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich ist, auch fiir Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus, dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechtsverletzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser We lt zu entdecken, und unterstützt Au toren und Verleger dabei, neue Zielgruppcn zu erreichen.
Den gesamten Buchtext können Sie im Internet unter |http: //books . google .corül durchsuchen.
• LORR'Hrne«
<g •7r6cvTa •*jD el» <&
'W/i
■- v*^
-^
'-«st
'V«!4K,-,
s..
\
V
4
\
1
Dantes Beatriee
— -»^ »te * .^%^^^
im Leben und in der Dichtung,
Von
Oskar Bulle
Dr. phil.
BERLIN.
Verlag von Paul Hüttig.
1890.
Alle Rechte vorbehalten.
h
«
Meiner üeben Frau Elisal
Florenz, am Ostersonntag 1890.
Der Verfasser.
Das Ewig -Weibliche
Zieht uns hinan!
(Goethe. „Faust" IL Theil.J
Tu m'hai di servo tratto a libertate.
(Dante, „II Paradiso** XXXI, 85.)
\
INHALT.
Seito
EmleituDg 1
I. Beatrice Portinari 12
IL „La Vita nuova^ von Dante 30
m. Die Gedichte der „Vita nuova^ M
rV. Der Prosa -Text der „Vita nuova" 92
V. Die „Herrin" im „Convito" von Dante; 110
YI. Die Beatrice der „Divina Commedia'' HS
■«•.
1
EINLEITUNG.
— vv/Wv/^
i-Jie schöne, griechische Anschauung , dass die den
Künstler begeisternde Muse weiblichen Geschlechtes sei,
findet weder bei den modernen Dichtem noch bei den
beutigen Kritikern mehr eine starke Anhängerschaft. Der
Glaube an die Zaubermacht des „Ewig- Weiblichen" ist in
demselben Maasse geschwunden, als man der Frau eine
selbständige, von der des Mannes losgetrennte Stellung
und eine Bedeutung eingeräumt hat, die nicht in der Be-
ziehung zu dem Herrn der Schöpfung, in dem stillen, fast
mystischen Einfluss auf sein Herz und seine Seele und in
der schönen, harmonischen Ergänzung beider Geschlechter
ihre Wurzeln hat, sondern dem zarten Weibe den für sie
mmatOrUchen selbstthätigen Antheil am Kampf um's Da-
sein aufdrängen will. Der Cultus des Weibes hat dadurch
anstatt an Stärke und an Verbreiterung und an Intensität
za gewinnen, nur die Erhabenheit und mit ihr den poetischen
Beiz emgebüsst, die ihm in früheren Zeiten eigen waren.
Denn wie Antäus verlässt die Frau, die sich emancipiren
will von den natürlichen Lebensbedingungen ihres Ge-
schlechtes, den Boden, aus dem es äUein Kraft und ewige
Jugend saugen konnte, und für die zarten und stillen
1
Künste, mit denen früher die Tochter Eva's zu siegen
wnsste, sucht sie Waffen einzutauschen, die schweren und
in ihren Händen so zweischneidig wirkenden Eampfesmittel
des Mannes. 0, wenn die Frauen unserer heutigen Tage
doch sich inuner der grossen und bedeutungsvollen Siege
erinnern wollten, die ihre Schwestern in früheren Zeiten,
nicht etwa durch das Streben einer stolzen Emancipation
vom Manne, nein, durch ihre zarte und stille und de-
müthige Einwirkung auf ihn, für unsere Cultur, für unser
ganzes Geistesleben, für die Fortentwicklung der Mensch-
heit davongetragen haben!
Yon einem dieser grossen Siege will ich in dem Nach-
folgenden handeln. Yon der grossen Bedeutung nämlieh,
die im Mittelalter ein zartes Weib f(ir das innere Leben
des grössten Dichters, des Vollenders dieser Epoche,
gewann, von der Begeisterung, mit der ihr Bild ihn er-
füllte, von der veredelnden, läuternden, zum Himmd
hinführenden Macht, mit der die Erinnerung an sie sich
in ihm zu den höchsten poetischen Empfindungen umsetzte,
von dem grossen, harmonischen Grundgedanken, mit dem
ihr mildes Wesen sein dichterisches Lebenswerk erfüllte.
Von der Beatrice Dante's will ich handeln.
Es wird ein klares Licht auf die skeptische Auffassung
werfen, mit der im Allgemeinen unsere Zeit einen solchen
Sieg des „Ewig-Weiblichen" betrachtet, wenn ich vorerst
kurz untersuche, wie sich die moderne Litteratur und
Kritik ihm gegenüber verhält, und zwar wird es genügend
sein, wenn ich, da es sich doch um Italiens grossen Dichter
handelt, lediglich auf die moderne italienische Kritik
eingehe.
Die heutige italienische Litteratur hat eine eigenthüm-
liche und werthvolle Bewegung durch die Begeisterung
empfangen, mit der sie zu dem Studimn Dante's zmUck-
gekehrt ist. Die mehr oder weniger intensive Be-
schäftigung der Italiener mit ihrem grossen Dichter ging
stets Hand in Hand mit dem Erstarken oder mit dem
Niedersinken des NationalgefEkhls in ihrer Brust, und schon
die zahlenmässige Yergleichung der Dante-Ausgaben und
der Dante-Gommentare, wie sie in den einzeben Jahr-
hmiderten bisher erschienen sind, liefert uns von jener
Beschäftigung gleichsam eine Intensitäts-Curve, deren He-
bungen und Senkungen dem Anwachsen und Abschwellen
des politischen Selbstgefühls in dieser Zeit entsprechen.
Noch mehr wird diese Uebereinstimmung uns deutlich,
wenn wir die Art und Weise, oder sagen wir viehnehr
den Geist näher betrachten, in denen die Studien über
Dante in den einzelnen Perioden betrieben worden sind.
Wirkliches Eindringen in den Geist des Dichters, echte
Begeisterung för seine patriotische oder auch för seine
supranaturalistische Poesie, empfänglicher Sinn fÖr das
wirklich Erhabene und Grosse in derselben und entschie-
denes Betonen des Wesentlichen in ihr wechseln mit einer
fast verknöcherten Dante -Philologie, mit abstrusen und
kleinlichen Düfteleien über die dunkelen Stellen der Ge-
sänge, mit haarsträubenden Wortklaubereien und lang-
weiligen Scholienfehden und mit geistesverwfirenden Ge-
heimnisskrämereien ab, und auch diese Abwechselungen
geschehen in grossen Intervallen und fast gruppenweise,
80 dass man meist über einen Dante -Commentar, schon
ohne ihn zu kennen, ein richtiges Urtheü fällen kann,
wenn man nur weiss, aus welcher Erklärungsperiode oder
auch, was damit identisch ist, aus welcher politischen Zeit
er stammt. In unserem Jahrhundert ist, wie schon gesagt,
mcht nur die Beschäftigung mit Dante wieder allgemeiner
geworden, so dass die italienische Litterator jetzt auf einem
der Cnlminationspunkte jener Intensitats-Curve angelangt
ist, sondern es hat sich auch wieder ein frischer Zug, ein
neuer Schwung in der Auffassung der Dante'schen Dich-
tungen fühlbar gemacht, der wie ein erquickender Hauch,
wie ein Athemzug der Befreiung auf die gesammte übrige
moderne Litteratur Italiens eingewirkt hat, und vor dem
der philisterhafte, trockene und lehrhafte Geist, mit wel-
chem man in den beiden Jahrhunderten vorher Dante las
oder yiehnehr nicht las, sondern nur erklärte, sich in sein
Nichts auflöste. Wie in keinem anderen Lande in diesem
Maasse, ist in Italien die Einheitsbewegung, die zur Be-
gründung des neuen nationalen Königreiches ftkhrte, wäh-
rend des ganzen Jahrhunderts von der Litteratur entfacht,
gepflegt und getragen worden ; nirgends lässt sich so deut-
lich wie hier die schöne und ideale Einheit verfolgen, in
welcher bei jedem frisch auf- und vorwärts strebenden
Yolke die litterarischen und die politischen Strömungen
nothwendig zusanunenlaufen. Und eine wirklich von grossen
Gesichtspunkten ausgehende und auf einheitlichen, be-
stimmten Grundideen beruhende G^chichte der italienischen
Einheitsbewegung, die bis jetzt noch von Niemandem ge-
schrieben worden ist, müsste nicht nur ihr Hauptaugen-
merk auf jene, die politischen Bewegungen begleitenden
litterarischen Strömungen richten, sondern sie dfirfte auch
nicht Dante's vergessen und seines Einflusses auf das
moderne Italien. Fürwahr, es ist, als sei er aus seinem
Grabe angestanden, der grosse Florentiner, aus dem stillen
Grabe dort neben der Kirche der Frati Minori in Ravenna)
und habe mit seiner Donnerstimme seinen Landsleuten,
die ihn und seine grossen Ziele vergessen hatten, jene
glühenden Worte abermals zugerufen, die er einst über
die Zerfleischung seines Vaterlandes durch die fremden
Eroberer gedichtet hatte (Purgatorio Yt):
Italien, Sclavin, Schmerzens Herberg' nur,
Du lenkerloses Schiff im Zeitensturme,
Nicht Herrin, sondern aller Fremden Hur*!
Die Schmach, die schon der Dichter so tief empfunden,
brannte jetzt auch in den Herzen der Epigonen, und nichts
war natürlicher, als dass diese nun auf den Dichter zurück-
griffen, dem jene Worte aus voller Seele gedrungen waren.
Es ist nicht zu verkennen, dass die Dante-Erweckung in
unserem Jahrhundert in Italien zunächst von patriotischem
Gesichtspunkte aus stattfand und zunächst auch lediglich
patriotische Ziele hatte, aber einmal aus seinem Schlummer
erwacht, nahm der grosse Sänger nun auch sofort die
eigentliche litterarische Aufmerksamkeit seines Volkes
wieder in Anspruch, die auf ihn durch die patriotischen
Chöre in Alfieri's Dramen damals genügend vorbereitet
worden war. Und reiner und immer reiner, erhabener
und leuchtender als je zuvor prägte sich Dante's grosse
Dichtergestalt von Neuem in die Seele des italienischen
Volkes ein. Man kann sagen, dass niemals zuvor so viel
gearbeitet worden ist, um in das Verständniss der Worte
des Dichters einzudringen, dass niemals zuvor von allen
Seiten her mit solcher Begeisterung, wie heute, die Ge-
sänge und auch die Lieder und die prosaischen Werke
Dante's gelesen, durchforscht und erläutert wurden, und
dass auch wirklich besser, wie wohl je zuvor der Dichter
verstanden wurde und verstanden wird. Trotz des über-
trieben philologischen Zuges, der heutzutage überall, und
am meisten leider in Deutschland, die Litteraturforschung
durchdringt, hat sich die moderne italienische Dante-
I
Wissenschaft im Ganzen von Kleinigkeitskrämerei mid
Pedanterie frei gehalten. Einzelne Auswüchse nach dieser
Seite hin, die besonders in den letzten Jahren hervor-
wucherten, sind bis jetzt noch von geringer Bedeutung
geblieben gegenüber dem freiheitlichen und grossen Geist,
mit dem man den Dichter liest und auffasst, mit dem man
seine Werke der modernen Anschauungsweise näher zu
bringen und ihren Inhalt mit derselben in Beziehung zu
setzen sucht, mit dem man überhaupt in ihm nicht zu-
nächst den oft dunkelen, mystischen und kabalistischen
Theologen und Philosophen, den echten Sohn seiner Zeit,
sieht, sondern vor Allem den Propheten und gottbegeisterten
Sänger, den Dichter, der alle Höhen und Tiefen des Lebens
und des menschlichen Herzens durchforscht hat, den grossen
Schöpfer und Meister der Volkssprache, in der er so ge-
waltig und so tief zugleich zu reden wusste.
Wenn es so in der That eine Freude ist, die heutigen
gebildeten Italiener ihren Dante lesen oder recitiren zu
hören und ihr feines, neuerwachtes Verständniss seiner
Gesänge zu beobachten, oder die Schriften durchzusehen,
die so zahlreich, wie nie zuvor, über den Dichter und
seine Werke von ihnen geschrieben und im Volke ver-
breitet werden, so muss man sich daneben um so mehr
wundem, eine Frage immer wieder erörtert und als offene
betrachtet zu sehen, die, meines Erachtens, von vorneherein
für Jeden, der sich in Dante's Wesen und Dichtung und
in den Charakter seines Zeitalters, des dreizehnten Jahr-
hunderts, mit Verständniss vertieft hat, schon gelöst sein
müsste. Es ist dies die Frage nach dem Einflüsse, welchen
das weibliche Ideal Dante's, Beatrice, seine Führerin durch
die Stemensphären des Paradieses, auf seine Dichtungen
und überhaupt auf seine ganze Anschauungsweise ge-
Wonnen hat. Dieser Einfloss dürfte überhaupt nicht in
Zweifel gezogen werden, wenn man sich an Dante's eigenes
Zeugniss, an den grossen Zusammenhang, der in seinen
Werken, und zwar nicht allein in der „Gröttlichen Komödie^,
zu finden ist, und an den hohen Cultus des Weibes im
christlichen Mittelalter streng halten, wenn man nicht
immer wieder die sogenannten realistischen Ideen unserer
Zeit von der Stellung der Frau auch auf Bante's Wesen
übertragen und wenn man sich nicht so sehr vor dem
romantischen Schimmer einer weiblichen Muse, die den
Dichter zu seinem Lebenswerke begeistert hat, fürchten
wollte. In keiner Frage ist von der neueren Dante-
forschung mehr gedüftelt, allegorisirt und symbolisirt worden,
als in der von dem Yerhältniss des Dichters zu seiner
Beatrice, und in keiner anderen Erörterung sind die modernen
Dante-Erklärer zu dem trockenen Tone der Commentatoren
aus dürftiger Zeit zurückgekehrt, ausgenommen in dieser
einzigen über die Beatrice Portinari. Sie, die holdselige
Jugendgeliebte Dante's, darf nicht gelebt haben, so meint
man heute. Und wenn wirklich einer Beatrice Portinari,
die mit Dante aufwuchs, nach unzweifelhaften historischen
Zeugnissen die Existenz nicht abzustreiten ist, so darf die^
selbe wenigstens nicht die Greliebte des Dichters und am
allerwenigsten sein poetisches Ideal, das Urbild der Beatrice
ans der „Göttlichen Komödie" gewesen sein. Es ist eines
80 grossen Dichters nicht würdig, von einem Mädchen,
von einem Weibe, und wäre es noch so edel, begeistert
zu sein. „Was redet man immer von einem Weibe, die
Dante begeisterte I" schreibt Griosuö Carducci, der nicht
nur ein grosser Dichter, sondern auch ein grosser Dante-
Kenner genannt wird. „Die grossen Dichter schöpfen ihre
Begeisterung aus ihrer eigenen Seele, aus der liebe fOr
8
das Yaterland, aus der Yerehrung Gottes, und die Beatricen
machen nicht sie, sondern sie machen die Beatricen.
Ausserdem ist es nicht gut, dass die Erbkrankheit der
Sentimentalität sich zum Schaden der wahren und er-
habenen Kunst noch weiter verbreite. Es besteht nicht
der geringste Zweifel daran, dass die Beatrice der „Gött-
lichen Komödie" die Theologie, die heilige Wissenschaft,
den Glauben bedeutet; will man sie auf die Proportionen
eines Bräutchens, das zufällig vor 600 Jahren lebte, zurtLck-
fllhren und zurückschrauben, so läuft man Gefahr, sich an
Dante, am Mittelalter und an der Herbheit des toskanischen
Charakters zu versündigen". Carducci hat mit dieser
Aeusserung, meines Erachtens, nur in dem einen Punkte
Recht, dass es nicht gut sei, an diese Frage mit einer
gewissen Sentimentalität heranzutreten und der Verbreitung
dieser Erbkrankheit auf diese Weise Vorschub zu leisten.
Er stürzt sich aber dabei in den Widerspruch, dass er,
an dem begeisternden Einflüsse jenes „Bräutchens" auf
den Dichter zweifelnd, diesen selbst zum Vertreter einer
mehr als krankhaften Sentimentalität macht, denn dann
würde ja Dante in seinen Jugendliedem und in dem ver-
bindenden Texte, den er ihnen in der Schrift „La vita
nuova" giebt, von einem Luftgebilde phantasiren, dem er
seine heissesten Liebesschwüre und seine Thränen und das
Gelübde, es dereinst im Liede zu verherrlichen, widmet und
das uns an „die zukünftige Geliebte" erinnern könnte, von
der Klopstock und Hölty in ihrer Jugend „sentimentalisch**
sangen. Nein! Es war wirklich die heissgeliebte Beatrice
Portinari, deren Bild den Dichter auf seinem Lebensweg
begleitete, die er, nachdem sie ihm schon Mh durch den
Tod geraubt worden, in seiner glühenden Phantasie mit
dem höchsten Schmuck, den er sich vorstellen konnte, mit
der Strahlenglorie der heiligen Wissenschaft, bekleidete,
und zu deren Cultus er aus allen Verwirrungen und Ver-
irrungen des Lebens wie ein Geretteter am Ende seiner
Laufbahn und seiner Wirksamkeit zurückkehrte. Es ist
ein echtes Zeichen unserer Zeit, dass sie nicht begreifen
kann und nicht begreifen will, dass ein grosser Dichter
ein weibliches Ideal im Herzen getragen und es verherr-
lichend über alle anderen Ideale gestellt hat. Das „ewig
Weibliche, das uns hinanzieht^ ist eben auch für Dante eine
Thatsache, nicht nur ein dichterischer Traum gewesen; er
empfand die läuternde Wirkung desselben an seinem Wesen,
das so leidenschaftlich, so zornig, so unfrei war, und ftlr
das er Bettung und Heil nur in der gänzlichen Hingabe
an das weibliche Ideal ersah. Die Stellung und Be-
deutung des Weibes war in jener Zeit, die wir so glor-
reich überwunden zu haben meinen, eine erhabenere und
höhere als heute : die Frau galt dem Manne als die Ver-
mittlerin des Heils, und die hohe Ausbildung des Madonnen-
kultus geschah nur auf der Grundlage dieser Geltung. Der
tiefe Gegensatz, welcher oft zwischen der Verachtung und
Vernachlässigung der ungeliebten Ehegattin und der schwär-
merischen Erhöhung der ideal geliebten „Herrin" dabei
zur Erscheinung kommt und der ja leider auch in Dante's
Leben eine gewisse Bolle spielt, beweist eben auch nur
die Bedeutung des Cultus der „Madonna", der „geliebten
Frau", der „süssen holden Herrin", die wirklich das Herz
des Mannes gefangen hält, während die „Andere", d. h.
die Ehefrau, so oft. nur aus äusseren und materiellen
Gründen an seine Seite gekettet worden ist. Es ist deshalb
wohl richtig, zu sagen, dass im Mittelalter zwar der Ehe-
begriff weniger ideal, als heute aufgefasst wurde — woftlr
gerade im „Leben Dante's" von Boccaccio ein so derber
10
Beweis uns vorliegt — dass aber dagegen die Werth-
schätznng des wirklich geliebten Weibes als idealer Gehülfin
des Mannes, als Heilsvermittlerin und Erlöserin, um so höher
und reiner dastand. Und zu dieser fast supranaturalistisch
zu nennenden Werthschätzung der „Herrin" liefert Bante's
Leben und Dichten einen bedeutungsvollen Beitrag, den
alle Commentatoren des Dichters, die ihn von modernen
Gresichtspunkten aus betrachten, nicht wegzuleugnen im
Stande sind. Wie in so vielen anderen Beziehungen ist
auch in diesem Punkte Dante der Vollender, der Interpret
des Mittelalters und seine Dichtung der Culminationspunkt
der Anschauungen desselben. Sein Lebenswerk ist der
Verherrlichung der „geliebten Herrin" gewidmet, und man
kann es ohne ihre Gestalt nicht in seiner Gesammtheit
verstehen. Deshalb bildet die Ableugnung des Beatrice-
Cultus, der Zweifel an der wirklichen Liebe des Dichters
zu einem realen Weibe, das sich Beatrice nannte, und die
Lostrennung seiner Jugendliebe oder wenigstens seiner
Jugendgedichte von seinem grossen späteren Werke, der
„Göttlichen Komödie" för mich stets einen Beweis, dass
man den Dichter doch nicht recht verstanden hat, wenn man
vielleicht auch in die Einzelheiten seiner Dichtungen vor-
trefflich eingedrungen ist. Ich will es nicht leugnen, dass
viele dunkle und scheinbar unerklärliche Stellen seiner
Jugendgedichte die Versuchung, die Textschwierigkeiten
durch allegorische Deutungen zu überwinden, nahe legen,
aber ich glaube auch, dass man in dieser Hinsicht in der
Auffindung solcher Schwierigkeiten und in einer gewissen
Greheimnisskrämerei oft zu weit gegangen ist, und dass
Vieles sich natürlich löst, wenn man es natürlich betrachtet.
Es ist mir aus allen diesen Gründen als eine angenehme
Aufgabe erschienen, einmal das Verhältniss Dante's zu
11
Beatrice einer zusammenhängenden Prüfung zu unterziehen
und dabei, ausgehend von der Jugendschrift Dante's, „La
vita nuova", in welcher er seine liebe zu Beatrice in
Versen und in Prosa schildert, die Umgestaltung dieses
ersten Gegenstandes seiner Liebe zu einem hohen Lebens-
ideale im Einzelnen zu verfolgen.
H^^
I
L
BEATBICE PORTINAEI.
Der erste Dante -Biograph, der bekanntlich kein Ge-
ringerer war, als Giovanni Boccaccio, erzählt uns
Folgendes von dem jungen Dante*):
„Die Studien verlangen gewöhnlich Einsamkeit und
Freiheit von Sorgen, und am meisten die speculativen,
denen sich, wie wir gesehen haben, unser Dante gänzlich
hingab. Anstatt solche Abgezogenheit und Ruhe gemessen
zu können, hatte aber Dante, beinahe vom Beginn seines
Lebens an bis zu seinem Tode, mit einer heftigen und
peinigenden Liebesleidenschaft, mit einem Eheweibe, mit
Familien- und politischen Sorgen, mit Verbannung und
Armuth zu kämpfen, ganz abgesehen von anderen kleinen
Leiden, die jene grösseren immer nach sich ziehen. Die
letzteren glaube ich, entsprechend ihrer Bedeutung, im
Einzelnen hier erzählen zu müssen.
In der Zeit, in welcher der milde Himmel die Erde
in ihren Brautschmuck kleidet, und bunte Blumen, die aus
üppigem Grün hervorleuchten, ihr besonderen Heiz ver-
leihen, pflegten früher in unserer Stadt oder auch bei den
Landleuten in ihren Ansiedelungen frohe Feste, sei es in
*) flVita di Dante* di Giovanni Boccaccio.
13
den einzelnen Familien, sei es auch in grösseren Yereini-
gangen, gefeiert zu werden. Aas diesem Grande hatte
unter Anderen aach Folco Portinari, ein in jenen Zeiten
anter seinen Mitbürgern sehr angesehener Mann, am ersten
Mai seine Nachbarn in der Rande in sein Haas za einem
Feste eingeladen; anter diesen befand sich der schon er-
wähnte Allighieri, welcher den kleinen Dante, der noch
in seinem nennten Lebensjahre stand, bei sich hatte, wie
es ja so za geschehen pflegt, dass die Kinder, besonders
zu festlichen Grelegenheiten, ihren Eltern nachlanfen. Der
Knabe mischte sich dort fröhlich anter die andern Knaben
and Mädchen, von denen im Hanse des Festgebers eine
grosse Anzahl vorhanden war, and gab sich mit ihnen,
nachdem er seinem jagendlichen Alter entsprechend be-
wirthet worden war, fröhlichen Spielen hin. Unter dem
Schwann der Kinder befemd sich eine Tochter des oben
erwähnten Folco, mit Namen Bice (so nannte sie der
Yater stets, anstatt mit ihrem eigentlichen Namen Bea-
trice); diese war damals angefähr acht Jahre alt and
war ihrem Alter entsprechend sehr lieblich and schön,
dazu reizend and gefällig in ihrem ganzen Aaftreten and
hatte in ihrem Wesen, wie in ihrem Sprechen eine gewisse
Würde and Bescheidenheit, wie sie sonst Kindern nicht
eigen za sein pflegen, Ansserdem waren ihre Gesichtszüge
zart and äusserst regelmässig, and in denselben prägte
sich, abgesehen von grosser Schönheit, eine so würdevolle
Anmath aas, dass sie von vielen för ein kleiner Engel
gehalten worde. Diese also trat so, wie ich sie geschildert
habe and vielleicht noch schöner während jenes Festes
Tor die Angen nnseres Dante and machte damals einen
solchen Eindrack aaf ihn, wenngleich er sie wohl, wie ich
glaube, nicht znm ersten Male sah, dass er sich in sie
14
yerliebte und trotz seines jugendlichen Alters mit solcher
Lebhaftigkeit sich ihr Bild in sein Herz einprägte, dass
es von jenem Tage an, so lange er lebte, nicht meder
daraus verschwand. Welcher Art diese liebe war, die
dort so plötzlich in ihm erwachte, lässt sich nicht sa^en;
aber, möge nun die Uebereinstimmung der Anlagen und
der Temperamente oder der besondere Einfluss des Him-
mels, der dabei wirksam war, oder auch die Festesstim-
mung dazu beigetragen haben, die ja, wie wir wissen,
durch die Yereinigung des Zaubers der Musik, der allge-
meinen Heiterkeit und des (jenusses guter Speisen und
feuriger Weine nicht nur die Gemttther reifer Mämier, son-
dern besonders die Einderherzen freudig und guter Dinge
und fiCbr liebliche Eindrflcke empfänglich macht: sicher ist es,
dass Dante damals, also schon in seinem Eindesalter, der
glühendsten Liebesleidenschaft unterworfen ward, und
ohne mich weiter auf eine Erklärung dieser jugendlichen
Eindrücke einzulassen, fQge ich hinzu, dass mit dem
wachsenden Alter diese Liebesfiammen in ihm immer
brennender wurden, so dass er in keiner anderen Sache,
ausser in ihrem Anblick, mehr Yergnügen noch Buhe
noch Erholung fand, und dass er deshalb, alle anderen
Beschäftigungen bei Seite lassend, nur immer au£3 Eifrigste
die Orte au&uchte, wo er sie sehen zu können hofite, als
ob er aus ihrem Antlitz und aus ihren Blicken sein Heil
und seinen einzigen Trost schöpfen könnte.
0, Thorheit der Verliebten! Wer, ausser ihnen,
bildet je sich ein, durch Yermehrung des Brennstoffes das
Feuer ersticken zu können! Alle die mannigfaltigen Gre-
danken und Seufrer und Thränen und heftigen Leiden-
schaftsausbrüche, die um dieser Liebe willen ihn bestürmten
und beunruhigten, hat er selbst zum Theil dargestellt in
15
seiner ^Yita nuova^, und deshalb will ich mir nicht weiter
Mühe geben, sie zu erzählen. Einen Punkt nur möchte
ich nicht unerwähnt lassen, nämlich den, dass, wie er
selbst schreibt und wie auch andere, denen seine Leiden-
schaft bekannt war, urtheilen, jene Liebe die ehrbarste
war, und dass bei derselben nie, weder durch einen Blick,
noch durch ein Wort noch durch eine Gebärde, ein sinn-
liches Gelüste, sei es im Liebenden, sei es im geliebten
Gegenstande, zum Ausdrucke kam; wahrlich ein nicht
geringes Wunder für unsere Zeit, welche ehrbare Freuden
nicht kennt und in der die Gewohnheit herrscht, die Ge-
liebte, bevor man sich entschliesst, sie zu lieben, als
Gegenstand einer zügellosen Begierde zu betrachten, so
dass es heute zu den wunderbaren und seltenen Dingen
gehört, wenn Jemand in anderer Weise liebt. — Wenn
die Liebe ihn schon so sehr und so lange am Essen, am
Schlafe und an jeder anderen Erholung hinderte, darf man
dami nicht um so mehr annehmen, dass sie auch seinen
auf das Höchste gerichteten Studien und seinem Geiste
entgegengewirkt habe? Sicher ist das nicht wenig der
Fall gewesen; und wenn viele glauben, dass die Liebe im
Gegentheil seinen Geist gefördert habe, indem sie ihm den
Antrieb gegeben, seine LiebesgeftQile und seine heftigen
Empfindungen in anmuthiger Weise in der florentinischen
Volkssprache und in den Gedichten auszudrücken, die er
einst zum Lobe der geliebten Herrin sang, so stimme ich
d^n nicht zu, es müsste denn sein, dass die Kunst, die
Gefühle anmuthig wiederzugeben, schon das höchste Ziel
aller Wissenschaft sei, was doch nicht der Fall ist.^
Soweit folgen wir dem grossen Certaldesen in seinen
Betrachtungen über Dante's Jugendliebe. Der Pessimismus,
der am Schlüsse dieser Darstellung hinsichtlich des Ein-
16
flusses des Beatrice-Caltus auf Dante's geistige Entwickelong
zum Ausdruck kommt, und der sich noch drastischer in
dem weiteren Verlaufe seiner Erzählung, bei der Be-
trachtung des Ehelebens Dante's zeigt, steht einigermassen
im Widerspruch mit der begeisterten und reizenden
Schilderung, die er einige Zeilen vorher von der Anmuth
und der Schönheit der jungen Beatrice entwirft; und es
ist dabei bezeichnend für die neueren Gegner der „echten"
Beatrice, dass sie sich gerne auf Boccaccio' s Meinung
über den hindernden Einfluss einer so ungestümen und
alle geistigen Kräfte des Dichters in Anspruch nehmenden
Leidenschaft berufen, um daraus eine Stütze fOr ihre Ver-
neinung der Realität einer solchen Liebe zu gewinnen,
während sie nach der anderen Seite hin die Thatsachen,
von denen Boccaccio berichtet, in Zweifel ziehen. Auf jeden
Fall ist schon aus dem inneren Grunde, dass der erste
Biograph die nicht gerade förderliche Einwirkung einer
heftigen Jugendliebe auf die geistige Entwicklung des
Dichters constatiren muss, die er doch in seiner Be-
geisterung für semen Helden sonst lieber übergangen haben
würde, eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die von ihm
erzählte Greschichte dieser Leidenschaft gewonnen. Und
diese Wahrscheinlichkeit wird durch äussere Gründe nicht
unwesentlich verstärkt. Zunächst ist festzuhalten, dass
Boccaccio sein Leben Dante's nicht allzu spät nach dem
Tode des grossen Dichters verfEisste und dass er, während
er es niederschrieb, ia Florenz, also an der Stätte jener
Jugendliebe lebte. Wenn es auch nicht feststeht , ob die
Abfassungszeit dieser kleinen Schrift wirklich schon in das
Jahr 1351, also nur dreissig Jahre nach dem Tode Dante's
fällt, wie Manche annehmen, so hat sie Boccaccio doch
sicheilich früher niedergeschrieben, als seinen leider un-
17
vollendeten Commentar zu der „Göttlichen Komödie**, der
in seine letzten Lebensjahre Mt und der ihm als Grund-
lage fdr seine Yorlesungen über Dante's grosses Gedicht
diente. Es ist im (xegentheil anzunehmen, dass gerade
seine Biographie Dante's und die begeisterten, von heiligem
Feuer der Entrüstung durchglühten Worte, welche er in
derselben an das undankbare Florenz richtet, das seinen
grössten Sohn nicht achte und nicht würdige und seine Ge-
beine in fremder Erde yermodem lasse, erst den Anstoss
zu jener schönen Petition der Bürger von Florenz an die
Signoria gaben, in welcher die Prioren und der Bannerträger
der Republik gebeten werden, einem wisssenskundigen
Manne die Erklärung der Dante'schen Dichtung als Amt
zu übertragen. Diese Petition stammt aus dem August
des Jahres 1373, und der Entschluss der Prioren, jenes
Amt dem Certaldesen zu übertragen, folgt ihr im December
desselben Jahres. Sicherlich fällt also die Abfassungs-
zeit der Dante-Biographie des Boccaccio nicht später, als
höchstens ein halbes Jahrhundert nach dem Tode des
Dichters, in eine Periode, in der man in Florenz bereits
auf's Eifrigste begonnen hatte, sich mit den Dichtungen
und infolgedessen auch wohl mit dem Leben des grossen
Verbannten zu beschäftigen, in der seinen Kindern bereits
die väterlichen Güter zurückgegeben worden waren und
in der man damit umging, nicht nur seine Gebeine von
den Eavennesem zurückzufordern, sondern auch ihm ein
würdiges Grabdenkmal zu setzen.
Ist es nicht wahrscheinlich, dass in einer solchen Zeit
dem Biographen authentisches Material von allen Seiten
reichlich zufloss? Authentisch deshalb, weil einerseits die
Lebenszeit des Dichters noch nicht zu weit zurücklag und
-weil andererseits die allgemeine Aufraerksamkeit die Er-
2
18
Zählungen, auf denen er in seiner Darstellung fiisste, noch
genügend controliren konnte. Zwar sehen wir es an unseren
heutigen Biographien bedeutender Männer, wie rasch oft
die Fabelbildung stattfindet, und auf dieser Beobachtung
fassen auch die Gegner der „echten" Beatrice, indem sie
annehmen, dass die Florentiner und die Gewährsmänner
Boccaccio's, weil sie infolge der missyerstandenen Lektüre
der Dante'schen „Vita nuova" und der falschen Deutung
der Führerin des Dichters im Paradiese einer realen
Beatrice bedurften, eine Tochter des Folco Portinari, die
zufällig in Dante's Jugendzeit ebenfalls jung war und
wenige Häuser von seinem Yaterhause entfernt aufwuchs,
und zufällig auch den Namen Beatrice trug, zum heiss-
geliebten Ideal des Dichters stempelten. Aber auch Fabeln
entstehen nur auf Grund von Thatsachen, und die allge-
meinen Andeutungen Dante's in seiner „Tita nuova"
sowohl über den Gegenstand seiner Liebe als auch über
Beatricen's Umgebung, ihren Wohnort, ihre Lebens-
umstände und ihr Hinscheiden würden noch nicht genug
Thatsachen liefern, um auf Grund von ihnen eine Fabel-
bildung von der Bestimmtheit, mit der sie bei Boccaccio
auftritt, wahrscheinlich zu machen. Die Anhänger dieser
Annahme von einer im Volke allmählich ausgebildeten
Mythe über die sonst so bedeutungslose Beatrice Portinari
klammem sich in der That nur an die Gemeinsamkeit des
Namens sowohl der „Herrin" der „Vita nuova" als auch
des Töchterleins des Portinari. Ist das wirklich genug,
um eine Fabelbildung möglich erscheinen zu lassen?
Fragen wir uns doch, wie sich eine solche Mythe bildet?
Es ist nicht anzunehmen, dass man später mit einem Male,
etwa durch die „Göttliche Komödie", auch in Florenz wieder
auf Dante aufinerksam zu werden begann, und dass die
19
Florentiner nun auch seine Jugendschrift, die „Vita nuoya**,
und seine Jugendgedichte erst wieder „vornahmen", wie
mr heute sagen würden, d. h. sie gleichsam aus ihren
Büchern wieder heraussuchten und von Neuem zu lesen
begannen. Nein, der Dichter ist schon wegen der be-
deutenden politischen Bolle, die er bis zum Jahre seiner
Verhamiung (1300) in seiner Yaterstadt spielte, immer
bekannt genug gehUeben, und auch seine dichterische
Bedeutung war schon vor der Abfassung der „Grött-
lichen Komödie", wie es scheint, in ganz Italien, folglich
auch in Florenz, gewürdigt.*) Es ist deshalb wahrscheinlich,
dass seine Figur, so charakteristisch überhaupt, wie je
eine, sowohl unter seinen Zeitgenossen als auch unter
seinen Epigonen wenn nicht gerade populär, so doch
allgemein bemerkt war. Und von einem solchen be-
deutungsvollen Manne wurde sicher schon viel gefabelt,
auch als er noch nicht der unsterbliche Dichter war. Die
Fabelbildung über ihn begann also früher, als ihre eifrigen
Verfechter annehmen, und daraus folgt, dass sie nicht so
vollständig blos auf einem Nichts, oder aJlerhöchstens
auf einer Uebereinstimmung von Namen, beruhen konnte.
Zudem waren die Familien, aus denen Dante und Beatrice
Portinari stammten, höchst bekannt und angesehen in
Florenz, und dieser Umstand macht es nicht nur nach
der einen Seite hin sehr wahrscheinlich, dass ein
Liebesverhältniss zwischen den beiden Kindern dieser vor-
nehmen Häuser auch in der Oeffentlichkeit bemerkt und
*) Ein Lied aus der «Vita nnova** (die Canzone: «Doxme, oh'avete
InteUetto d'amore") findet sicli sohon abschriftlich in einem Memorial-
buch des Notars Pietro Allegranza in Bologna, welches aus dem Jahre
1292 stammt. Ein Beweis, dass schon damals die Jugendgedichte Dante's,
«nch ausserhalb Florenz, bekannt waren.
2*
20
besprochen wurde, sosdem er widerstreitet auch nach der
anderen Seite der Annahme, dass später ohne jeden Grund
ein solches Liebesverhältniss erfanden werden konnte« Die
Kinder und Eindeskinder der Generation, welche Dante
und Beatrice in ihren Jugendjahren sah, sprachen an der
Hand der Gedichte der „Vitanuoya" und des „Canzoniere*'
die Kunde von dem idealen liebesverhältniss weiter^
die ihnen ihre Väter überliefert hatten, und bei diesem
Weitersprechen mag es zu mancher ausschmückenden Fabel-
bildung gekommen sein, aber unmöglich erfänden sie erst^
die Epigonen, den gesammten Inhalt jener Kunde. Und
ebenso hinfällig, wie jene Annahme, dass die Nachkommen
Dante's liebe zu einer bestimmten Beatrice Portinari blos
yermuthet hätten, erweist sich meines Erachtens der andere
Vorwurf, den man der Darstellung Boccaccio's macht, dass
sie nämlich zu novellistisch gehalten sei, um Ansprach auf
historische Glaubwürdigkeit machen zu können. Der Ver-
fasser des „Decamerone" war allerdings ein grosser Novellist,,
aber dass er es immer und bei jeder Gelegenheit und in
allen seinen Schriften gewesen sei, wird Niemand, der die
letzteren in ihrer Gesammtheit überblickt, behaupten woUen.
Und ich meine, dass doch auch schon die kurze Zeit, die
bei Abfassung seiner Dante -Biographie seit dem Tode
Dante's verflossen war und die allgemeine Aufinerksamkeit,
die damals die Florentiner dem Leben ihres grossen Dichters
zu schenken fortfahren, ihn verhindert haben müsst^i,
seiner novellistischen Laune die Zügel schiessen zu lassen^
auch wenn er wirklich in sich den Antrieb dazu gefühlt
hätte. Aber der ganze Ton seiner Darstellung macht
überhaupt nicht den Emdruck, als ob er sich irgendwie
im Ungewissen üher die zu berichtenden Ereignisse aus
dem Lehen seines Helden gefohlt und darum das Be-
21
dürfiiiss empfunden habe, etwaige Lücken dnrch phantasie-
Tolle Einflechtungen auszufüllen. Die Beschreibung von
dem Frühlingsfeste in dem Hause Portinari und selbst die
Schilderungen der schönen und anmuthreich^ jungen
Beatrice sind einfacher und weniger ausfOhrlich gehalten,
als man es von einem Kovellisten, der über einen so ge»
waltigen Eeichthum blühender Phantasie gebot, eigentlich
erwarten sollte, und die nachfolgenden Abschweifungen in
pessimistische Reflexionen über den schädlichen Einfluss
der Liebesleidenschaft auf den Geist des Dichters müssten
uns darüber belehren, dass der Grundzug dieser Dante^
Biographie ein durchaus anderer, als der novellistische ist.
Auf jeden Fall betrachtete Boccaccio, wie ich schon oben
andeutete, die Liebe Dante's zu Beatrice nicht als einen
Glanzpunkt im Leben des Dichters, sondern als ein sehr
störendes Ereigniss, wie er sie ja auch auf gleiche Stufe
mit dem Exil und der Armuth stellt. Wozu hätte also der
Biograph dieses Hemmniss, das sich dem Dichter auf seinem
Lebenswege und in seinem Schaffensdrange entgegenstellte,
und ihn, wie Boccaccio meint, nicht im Greringstcn innerlich
nützte, erst erfinden oder auch nur noch besonders novel-
listisch ausschmücken sollen? Und warum hätte er dann
später zu betonen nöthig gehabt, dass die verklärte Beatrice,
die im zweiten Gesang des „Inferno^ vom Dichter als
Retterin begrüsst wird, diese selbe Beatrice Portinari ist,
von der schon in der „Vita nuova" gesungen worden war?*)
Würde dadurch die Novelle nicht allzu weit fortgesponnen
worden sein? Nein, für Boccaccio stand sicher ebenso wie
für alle seine Zeitgenossen die Liebe Dante's zu Beatrice
1) Siehe: U Comento di Messer Giovanni Boceacol topra la Oommedla
dl Pante Alighieri, Lezione ottava.
22
Portinari fest, und weder die Fabelbildung noch die novel-
listische Kunst des Certaldesen hat zu dem Glauben an
dieses, an sich so einfiache Faktum erst etwas Wesent-
liches beizutragen nöthig gehabt.
Das Zeugniss des Boccaccio ist das älteste und, wie
es den Anschein hat, auch das grundlegende für die
historische Beatrice gewesen, und deshalb haben alle
Zweifler an der Echtheit der letzteren ihre Angriffe zu-
nächst gegen die Dante-Biographie des Certaldesen ge-
richtet. Mit den anderen Commentatoren oder Historikern
aus derselben oder aus wenig späterer Zeit, die alle überein-
stimmend von einer historischen Beatrice reden, hat man
rascher aufräumen zu können gemeint, indem man einfach,
in Bausch und Bogen, sagte, dass sie ihre, die Beatrice
betreffenden Angaben aus Boccaccio's Schriften geschöpft
hätten. Aber ich meine doch, dass man bei dieser Kritik
etwas vorsichtiger und eingehender verfahren sollte. Wenn
auch Boccacdo's Bericht vielleicht diesen Auslegern zu
Grunde lag, so darf man doch ebenso wenig von dem
Verfasser des „Ottimo",*) als von einem Benvenuto da
Imola und einem Landino annehmen, dass sie ohne die
prilfende Gewissenhaftigkeit, die sie sonst auszeichnet, gerade
an diesen Bericht herangetreten seien. Und von Lionardo
Bruni, der ja ebenfalls noch zu diesen frühesten Auslegern
gehört, wissen wir es sogar aus seinen eigenen Worten,**)
dass er die Angaben Boccaccio's mit sehr kritischem Blicke
betrachten zu mtlssen glaubte; gleichwohl hat auch er an
*) unter dem Namen: der nOttimo*^ oder auch der «Baono*^ geht
einer der frühesten Dante-Oommentare, dessen Verfasser nicht bekannt ist.
**) VergL die Vorrede zu der Ausgabe der »Vita nuoya' von Pletro
Fratioelll, dem hochyerdlenten nnd trotzdem ylelgescholtenen Dante-
Herausgeber. Florenz. Barbara. 18G1.
23
der Wirklichkeit eines liebesyerhältnisses Dante's zu
Beatrice Portinari feilgehalten und erzählt dasselbe mit
ein£EU2hen, mm möchte sagen mit dürren Worten, fast
ganz ia derselben Weise, wie es schon Boccaccio in
mcherer Sprache berichtet hatte.
Als erster unter den Zweiflern ist wohl Mario Filelfo,*)
ein Quattrocentist, nnd als leidenschaftlichster und zugleich
am meisten allegorisirender Biscioni,**) der im 18. Jahr-
hundert lebte, zu nennen. Der Letztere brachte den
(später zu erörternden) Gedanken auf, der in unserem
Jahrhundert soviel Anklang findet, dass nämlich die
Beatrice der „Vita nuova" eine dichterische Allegorie der
irdischen Weisheit sei, wie die Beatrice des Paradieses die
himmlische darstelle. Diese froheren, ebengenannten Ausleger
konnten nach einer Seite hin radikaler vorgehen, als es ihren
gleichgesinnten Nachfolgern in unserem Jahrhundert möglich
ist, sie konnten nämhch neben der Eealität eines Liebes-
verhältnisses zwischen Dante und seiner Jugendgenossin
Beatrice zugleich auch die Existenz einer Beatrice aus dem
Hause Portinari kühn bestreiten, da damals ein anderes
historisches Zeugniss als die oben erwähnten, einen Zweifel
allerdings offen lassenden Angaben Boccacdo's und seiner
mimittelbaren Nachfolger nicht vorlag. Heute ist uns
wenigstens die Beatrice Portinari gerettet, und die Zweifler
in unserem Jahrhundert sind deshalb mit ihren Yer-
muthungen und Bedenken lediglich auf die Liebe Dante's
zu ihr beschränkt. Es ist nämlich jetzt das Testament
des Folco Portinari aufgefunden, und in ihm steht deutlich
zu lesen, dass dieser sehr angesehene und reiche Mann
*) «Vita Dantls Alighieri« a. J. Mario Philelpho.
**) Vorwort zu der florentlniBOhen Ausgabe von 1728 der «Prose
dl Dante*, heranagegeben Ton Gt. Tartlnl nnd S. Franohl.
24
unter Anderem auch seiner Tochter Bice, die an einen
gewissen Simon Bardi verheirathet war, eine bestimmte
Summe yennacht*) Aus demselben Document ersehen
wir auch noch, dass Folco ausser Beatricen noch fünf
Söhne und vier Töchter hatte, was mit der Bemerkung
Boccacdo's von dem kinderreichen Hause der Portinari
übereinstimmt. Ausserdem lässt uns das Testament einen
Blick auf die Wohlhabenheit und Wohlthätigkeit des Folco
thun, der das Spital von St. Maria Nuova in Florenz be-
gründete und reich dotirte, und daneben allen damals in
dieser Stadt bestehenden Wohlthätigkeitsanstalten und
geistlichen Stiftungen Zuwendungen machte. In St. Maria
Nuova befindet sich heute noch das Marmorrelief der
Monna Tessa, der Dienerin des Portinarischen Hauses,
welche durch ihre edle Liebesthätigkeit dieses Hospital
mit einrichten half, und unsere Phantasie wird sich gerne
ausmalen, wie die holde anmuthige Bice unter der Führung
eines edlen und fi^eigebigen Vaters, unter dem Schatze
einer hauswirthschaffelichen Mutter und einer fi-ommen,
mildthätigen Gehülfin und im Kreise ihrer Geschwister jfröh-
lich und fromm aufwuchs. DerReichthum des väterlichen
Hauses mochte ihr ja eine Bildung ermöglicht haben, die sie
befähigte, Dante's kunstvoll verschlungenen Keime, wenn
sie ihr wirklich gewidmet waren und zu Ohren kamen, zu
würdigen und zu verstehen.
Der Umstand, dass Bice von den f&nf Schwestern die
einzige ist, die als verheirathet genannt wird, könnte uns
die Yermuthung nahelegen, dass sie die älteste unter ihnen
*) Das Testament ist veröffentlicht von Richa, «Kotizie istoriehe
delle chiese florentine" (vol. VIII, pag. 229) und die betreffende SteUe in
ihm lautet: „ItemD. Bici filie sue etnsori de Simonis de Bardis rellqnit
Hb. 60 ad floren/*
25
war. Ueber ihr Geburtsjahr fehlen uns historisch be-
glaubigte Daten; ans Boccaccio's Angabe können wir
schliessen, dass sie ein Jahr später als Dante, also im
Jahre 1266 geboren worden ist. Zur Zeit als das Testa-
ment ihres Vaters abgefasst wurde (im Jahre 1287) war
sie also eine noch sehr junge Ehefrau. Als ihr Todes-
jahr giebt Boccaccio in seinem Commentar das Jahr 1290
an, doch fusst er bei dieser Angabe augenscheinlich allein
auf der Bemerkung, die hierüber sich in Dante's „Vita
nuova^ findet.
Von dem Ehegemahle Beatricen's, dem Simon Bardi,
wissen wir nur, dass er aus einer sehr reichen Bankiers-
familie stammte und als eines der Häupter der Guelfen-
partei im Jahre 1300 von Dante, der damals „Prior" der
Republik war, wegen Erregung öffentlicher Unruhen in
eine Geldstrafe genommen wurde. Könnte diese politische
Gegnerschaft des Liebenden und des Gemahls vielleicht
nicht schon die letzten Lebensjahre Beatricen's getrübt
haben? War eine solche Gregnerschaft vielleicht auch,
wemi man einen Schluss von den politischen Gesinnungen
des Bardi auf die seines Schwiegervaters Portinari machen
darf, die Ursache, dass Dante die Bice nicht zum Weibe
begehrte oder viehnehr nicht zum Weibe bekam? Könnte
sich nicht seit jenem Frühlingsfeste eine auf politischen
Gegensätzen beruhende Spannung zwischen den Alighieri
und den Portinari ausgebildet haben, welche das viele
Liebesklagen Dante's erklärlich machte? Doch das sind
Fragen, die durch das wenige, was wir über die histo-
rische Beatrice Portinari wissen, nicht beantwortet werden
können, und mit ihr haben wir uns zunächst allein zu
beschäftigen.
Wie also in neuerer Zeit die Existenz einer Beatrice
26
Portinari bestimmt beglaubigt ist, ohne dass wir freilich
wesentUch Neues dadurch ttber sie erfahren hätten, so hat
man jetzt auch ein Zeugniss aufgefunden, welches, wenn
es gleich einen so sicheren Werth wie das Testament des
Folco Portinari nicht besitzt, auch die Liebe Dante's zu
ihr bestätigt. Dieses Zeugniss stammt nämlich von dem
ältesten Sohn Dante's, Pietro, der einen Commentar zu
seines Vaters grosser Dichtung yerÜEtsst hat, und ^wnrde in
jüngster Zeit in einer Ausgabe dieses Commentars, welche
sich unter den sogenannten Ashbumianischen Codices in der
laurentiamschen Bibliothek in Florenz befindet, entdeckt.*)
Pietro sagt deutlich, dass sein Yater, der Dichter Dante,
Bewerber (procus) um die durch Sitten und Schönheit
ausgezeichnete Beatrice aus dem Hause Portinari gewesen
sei, dass er zu ihrem Lobe viele Gedichte yerfasst habe
und dass er sie nach ihrem Tode, um ihren Ruhm zu
erhöhen, in seiner grossen Dichtung durch die Allegorie
der Theologie auf das Höchste yerherrlicht habe. Es er-
scheint diese Anmerkung des eigenen Sohnes Dante's bei
dem ersten Anblick gewiss sehr bedeutungsvoll, besonders
da der Commentar Pietro's zu den frühesten gehört und
höchst wahrscheinlich nur wenige Jahre nach dem Tode
des Vaters yerfasst worden ist; bei genauerem Zusehen **)
*) Die stelle lautet : „Qnaedam domlna nomine beatrix insigne vald»
moribns et pnlcritndine tempore auctoris ylgult in civltate florentiae nata
de domo quorundam oiTlum florentinornm qui dicuntor portlnaril. de
que dantes auotor proous fait. et in ejus laudem multas fecit cantilenas.
qua mortua, ut ejus nomen (in) famam levaret, in hoc suo poemate sub
allegorla et typo tbeologlae eam ut plurlmum aodpere yolult. (Cod.
Asbb. 841. C. 16 1.)
**) Es fehlt Eudem diese Anmerkung Pietro's in der gleichseitigen
italienischen Bedaction seines Oommentars, die sich ebenfalls unter den
Ashbumianischen Manuscripten befindet (s. Quadro de' 185 Cod. Lauren-
ziani della Dlvlna Commedia yon Annibale Tanneron).
27
aber finden wir, dass es im Grande auch nicht mehr Werth
beansprachen kann als die Angaben Boccacdo's oder die
des „Ottimo", und dass Jeder, der diese bezweifelt, mit
demselben Rechte auch hinter den Ausspruch des Hetro
ein Fragezeichen machen darf. Denn der Sohn Dante's
wusste höchst wahrscheinlich über seinen Yater hinsichtlich
der Beatrice-Angelegenheit auch nichts Authentischeres, als
jene Erklärer, da ja die Familie des Dichters demselben
nicht in's Exil gefolgt war und, wie es scheint, ausser
jedem Zusammenhang mit ihm lebte.
Wie sollte es überhaupt je möglich sein, von der
Liebe Dante's zu Beatrice ein wirklich „historisches**
Zeugniss aufzufinden? Die ganze Art des Verhältnisses
des Dichters zu dem holden Töchterlein des Nachbarhauses
wird uns bei näherer Betrachtung überzeugen, dass etwas
„SchrifUiches** dabei nicht gewechselt wurde. Blicke und
Grflsse sind bis heute noch niemals petrefaktisch geworden,
so dass man sie in irgend einem verstaubten Winkel noch
an&ufinden hoffen könnte, und die glühenden Liebesgedichte
des jungen Dante kamen der anmuthigen Beatrice auf
jeden Fall auch nur zu Ohren, nicht vor die Augen. Selbst
wenn es das Glück noch wollte, dass man Manuscripte
Ton Dante auffände — bis jetzt kennt man ja nicht eine
einzige Zeile von seiner eigenen Hand — , selbst wenn
man die Sonette der „Vita nuova" in der allerersten
Niederschrift entdeckte, würde die Frage damit ihrer
„historischen** Lösung sicher um keinen Schritt näher ge-
rückt werden. Liebesverhältnisse wollen eben nicht vom
historischen Standpunkt aus betrachtet werden; sie ver-
langen einen feineren Sinn als den pragmatischen, sie
nehmen nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz,
das „gentil core**, an das Dante so oft appellirt, in An-
28
sprach, um begriflPen, verstaiiden und geglaubt zu werden,
und sie zerstäuben und verfliegen vor der PrOfiing aaf
ihren historischen Inhalt hin nur allzuoft me eine zart-
organisirte und feinduftende Blüthe bei der rauhen Be-
rührung einer plumpen Menschenhand. Lassen wir des-
halb den Zweiflern die Bedenken, die sie gegen die
historische Wahrheit der Erzählung Boccaccio's und der
Anmerkungen der ersten Ausleger erheben! Wir können
ebensowenig, wie sie die ünglaubwQrdigkeit jener Angaben
wirklich beweisen können, so unsererseits die Glaub-
würdigkeit derselben mit mathematischer oder auch nur
mit historischer Sicherheit proklanüren, und die Ent-
scheidung aller ferneren Fragen über Dante's Yerhältniss
zu Beatrice hängt deshalb weniger von historischen und
philologischen als von ästhetischen Erwägungen ab. Ge-
wonnen scheint mir zunächst das zu sein, dass auf
historischem Boden die Bejahung der Realität jenes Yer-
hältnisses gegen ihre Yemeinung mit gleichen Wa£fen
streiten darf. Es lässt sich historisch nichts Bestimmtes
und Gültiges gegen diese liebe yorbringen, vielmehr ist
der Gegenstand derselben wenigstens in seiner Existenz
bestätigt worden. Beatrice Portinari hat gelebt!
Sie wuchs auf in dem reichen Hause ihres freigebigen,
edlen und hochangesehenen Vaters, sie war jung in der
Zeit, in der auch den Dichter noch Jugend und holde
Lebensfreude schmückten; sie ward dann das Eheweib
eines reichen und wie es scheint bedeutenden Mannes.
Das ist es, was historisch von ihr feststeht. Und soll sich
wirklich unsere Phantasie versagen, ihr Bild sich nun auch
weiter auszumalen mit den Farben, die Boccaccio's Er-
zählung uns liefert? Sie sich als das liebliche Eiud mit
anmuthsreichem und doch schon so würdigem und ernstem
29
Wesen vorzustellen, das am Maifest mit dem Dichter-
knaben harmlos spielt und dabei in sein Herz den Funken
mrfb, aus dem später eine so mächtige Flamme werden
sollte, oder in ihr nachher die schöne, sittsame Jungfrau
zu sehen, nach der sich aller Augen wenden, wenn sie
über die Strasse schreitet und die den Dichteijtkngling, in
dessen Auge schon der Strahl des ungestümen Genius
leuchtet, nrit verstohlenem Grusse beglückt? — Doch mit
dem letzten amnuthigen Bilde haben wir schon die Grenzen
des Berichtes von Boccaccio übersehritten und sind zu dem^
was uns Dante selbst von seiner „Herrin^ singt und sagt,
fibergegangen. Ihm sei deshalb jetzt zunächst das Wort
gegönnt!
n
IL
LA VITA NÜOVA" VON DANTE.
Die schon öfter erwähnte Jngendschrift Dante's, in
welcher er von seiner Liebe zu der „holden Herrin''
Beatrice erzählt und die den Titel „La Tita nuoya^ trägt,
ist bekanntlich eine Sammlung von Sonetten, Balladen nnd
Canzonen, die durch einen verbindenden Prosa-Text in
einen gewissen inneren Znsammenhang gebracht worden
sind, und denen der Dichter mehr oder wem'ger pedantische
Erläatenmgen nach Art von Scholien hinzngef&igt hat Die
Zeit, in der diese Sammlnng von Dante veranstaltet worden
ist, steht nicht fest; nach Boccacdo's Zengniss vereinigte
er, „noch während seine Thränen nm die gestorbene
Beatrice flössen, ungefähr in seinem sechsnndzwanzigsten
Jahre, in einem kleinen Bande, betitelt „Vita Nuova** ge-
wisse kleine Dichtungen, besonders Sonette und Ganzonen,
die in verschiedenen Zeiten vorher von ihm verfasst worden
waren/ Danach wäre also das Jahr 1291 oder 1292 als
Abfiassnngszeit anzunehmen, da Beatrice, allerdings nur
nach Dante's eigenem, in der Vita nuova vorliegenden
Zeugnisse, im Oktober des Jahres 1290 gestorben ist
Manche neuere Forscher und Kritiker meinen daraus, dass
in der „Vita nuova" einmal von Pilgern die Rede ist, die
durch Florenz wallten, schliessen zu können, dass dieselben
im Jubiläums- Jahr 1300 nach Bom zogen und dass deshalb
31
das Schriftchen nicht vor diesem Jahre yerflEisst sein könnte.
Auch noch einige andere inneren GrOnde, die aber ebenso
wie der ebengenannte, nur auf Yermnthungen beruhen,
werden gegen eine fiiüiere Entstehungszeit der Sammlung
als vor dem Jahre 1300 geltend gemacht. Auf jeden
Fall stimmen aber alle, auch Boccaccio's Angaben darin
überein, dass der verbindende Prosa-Text aus ganz anderer
Zeit stanunt als die Gedichte selbst und dass er, nicht
wie diese nach und nach und bei yerschiedenen Gelegen-
heiten, sondern auf einmal, in zusammenhängender Con-
ception und von einem durchgehenden Gesichtspunkte aus
geschrieben worden ist.
Dieser letztere Umstand ist meines Erachtens bisher
von den Erklärem und Kritikern noch nicht genug ge-
würdigt worden, wenigstens von denen nicht, die in dem
ungeheuren Wald der Litteratur über Dante einen be-
deutungsvollen Platz einnehmen; und doch ist er sehr
wichtig für die Entscheidung der heutzutage mehr als je-
mals diskutirten Frage, ob Dante mit der Beatrice der
„Vita nuova", mit der „holden Herrin** seiner Gedichte
undder „gentilissimadonna" des Prosa-Textes, wirklich die
Beatrice Portinari im Auge gehabt, ob er überhaupt eine
wirkliche Jugendliebe habe besingen und erzäMen wollen,
oder ob nicht vielmehr das Ganze nur eine kühne und
streng durchgeführte Allegorie irgendwelcher Art sei?
Jrgendwelcher Art, sage ich, denn über die Bedeutung der
AQegorie sind die Vemeiner der wirklichen Liebe des Dichters
zu Beatrice Portinari durchaus nicht einig, wenn sie auch
in der Negation an und für sich fest beieinander stehen.*)
*) Von den bedeutenderen Vertretern dieser verneinenden Ansicht
nenne ich nur: 1. Bossetti, der in seinen Schriften: ,Commento di
Dante**; ,Spirito antipapale* nnd „Amor platonloo*^ (passim), in der
32
Dass jene Frage überhaupt aufgeworfen worden und sich
mit so grosser Hartnäckigkeit in der Dante -litteratar
behaupten konnte, erklärt sich aus den fielen dunkelen
oder wenigstens in ihrem Sinne zweideutigen Stellen,
welche weniger in den Gedichten, als Yiehnehr in dem
Prosa -Texte sich vorfinden und welche seit Jahr-
hunderten zu gewissen mehr oder weniger accentuirten
kritischen Streitigkeiten geführt haben. Diese letzteren
nahmen stets um so grössere Heftigkeit an, je mehr
die peinliche Wortklauberei, die man nur allzuoft mit dem
Namen schar&inniger Philologie schmückte, sich einmischte,
wozu es freilich in der kleinen Schrift eben&Us nicht
an Handhaben fehlt. Heute ist man in dieser Hinsicht
im Allgemeinen etwas freier geworden und legt die wenigen
Stellen, deren Worterklänmg Schwierigkeiten bietet oder
zu textlichen Goi\jekturen Veranlassung giebt, als gering-
werthiger ungelöst zur Seite, um sich daför desto mehr
in den Inhalt des (Ganzen zu vertiefen und hier eine ge-
wisse Uebereinstimmung und eine in aUen Theilen har-
monisch sich ineinanderftlgende Anschauung von dem, was
Dante eigentlich hat ausdrücken wollen, zu erzielen. Aber
man hat sich trotz der lobenswerthen Berücksichtigung
des ganzen Entwicklungsganges des Dichters und der Zeit,
in der er lebte und dichtete, dabei noch nicht soweit frei
gemacht, dass man es wagte, den Dichter, dem man doch
im Uebrigen von Seiten der Kritik im Verlauf der sechs
Beatrio« eine Allegorie der kalserllohen Monarchie tm4 der ghlbelUnl*
sollen Idee findet. 2. Perez, der in Ihr (In seinem Bmche: La Beatrice
svelsta, Palermo 1865) die Symbollsimng der «Intelllgenca attlTa*^ er-
bliokt, nnd 8. Bartoli, der (in seiner höchst werthyoUen Storla deUa
Letteratara ItaÜana, Band IV nnd V) In ihr nur das allgemeine weibliche
Ideal, welches den Dichtem des ^dolee stil mioyo* der damaligen Zeit
▼orsohwebte, wiedererkennt.
33
JahrlMuiderte so manche Gewalt angethan hat, auch eines
Widerspraches in seinen Jahrzehnte aoseinaaderliegendeA
Worten Air fähig zuhalten oder in diesem Falle anzunehmeo,
dass er sich i& der Zeit, die zwischen der Ab&ssuikg
seiner Gredichte und der Niederschrift des diesen Ge-
dichten später beigegebenen Prosa-Textes liegt, in seinen
Ansehauungen etwas yer&ndert haben könne. Mit einem
Worte: man hat es auch heute noch nicht angegeben,
den Dichter der liebesglühenden Sonette an die ,yholde
Herrin^ auf die Worte festzunageln, die er, vielleicht ein
ganzes Jahrzehnt später, als der Philosophie Beflissener diesen
Jugendgedichten hinzugef> hat Man hält immer noch
an der Meinung fest, dass die Gedichte und der ihnen
vorgesetzte oder angehängte Text ein homogenes, wenn
auch nicht gerade sehr harmonisches Ganze seien, welches
man nicht wieder in seine ursprünglichen Bestandtbeüe
zerlegen dürfe, ohne sich einer Sünde gegen den Genius
oder wenigstens gegen die Absichten des grossen Dichters
schuldig zu machen. Aber würde es denn wirklich eine
Sünde sein? Hat nicht Daate selbst, wie wir aus einer
Aeusserung des Boccaccio wissen^ sich später seiner
Jugendreimereien geschämt, weü er sie nicht fikr würdig
seines Geistes oder viehnehr nicht würdig seiner philoso^
phischen Studien hielt? Und beging er damit nicht
gleichsam selbst eine Sünde gegen »ch, indem er eine
untergeordnete und mtlhsam erworbene Frucht seines
geistigen Strebens d^ schönen, reinen und unmittelbar aus
der Tiefe seines reichen Gemüths emporgetriebenen Blüthe
vorzog? Wäre es daher nicht an der Zeit, diese seine
Sünde durch verständnissvolles und feinsinniges Betrachten
jener Blüthe, wie sie abgesondert von der späteren Um-
hüllimg sieh uns darstellt, wieder gutzumachen?
3
34
Es ist kein Zweifel, dass Dante nach dem Tode der
Beatrice Portinari, oder sagen wir zunächst allgemeiner^
nach der Jngendperiode, in der er f&r ein hohes Fraaen-
ideal dichterisch schwärmte, sich mit dem ganzen Eifer seiner
leddenschafilichen Natur anf das Stadium der Wissenschaf ben
warf, die man heute mit Moralphilosophie hezeichnen könnte,
und dass das letzte Jahrzehnt seines Florentiner Aufent-
halts von diesem Studium ebensosehr wie von den Partei-
kämpfen und dem Streben nach politischer Bedeutung in
Anspruch genommen wurde. In dieser Zeit musste noth-
wendigerweise das Andenken Beatricen's in seiner Seele,
wenn nicht ganz in den Hintergrund treten, so doch
mindestens verblassen, und zugleich musste ihm seine neue
Lebensrichtung auf wissenschaftliche und politische Ziele
als ein bedeutender Fortschritt gegenüber der eben über-
wundenen schwärmerischen, dem Gultus eines zuweüen
überspannt aufgefassten Liebesideals gewidmeten Periode
erscheinen. In dieser Zeit ist es höchst wahrschein-
lich auch gewesen, dass er die moralphilosophischen
Lehrgedichte in Canzonen-Form schrieb, die er später in
semem „Convito" (Gastmahl) ungefähr in derselben Weise
zu interpretiren begann, wie er seine Jugendgedichte durch
den Prosa-Text der „Vita nuova" mterpretirt hatte. Wie
die ganze neue Lebensrichtung, so erschien ihm jetzt wohl
auch die neue Eichtung, die sein Dichten gewonnen hatte,
bei Weitem werthvoUer als die früheren Versuche in dem
Tone des „dolce stil nuovo", wie ja überhaupt die Er£Edimng^
lehrt, dass die Verfasser von Lehrgedichten ihre Erzeug-
nisse als die Quintessenz aller Poesie hinstellen. Und in
dieser Zeit mag es deshalb auch gewesen sein, dass sick
Dante seiner jugendlichen Liebesgedichte zu schämen be-
gann. Nun war es ja aber in jener Zeit für emen lyrischen
35
Dichter nicht so leicht möglich wie hente, seine Gredichte,
deren er sich zu schämen begonnen hat, wieder ans dem
Bachhandel zurückzuziehen, denn dieselben lagerten damals
nicht als Erebsbest&nde in dem Magazin eines Verlegers,
sondern waren schon längst dem Verkehr von Mond zu
Monde oder der Yerbreitong durch freundschaftliche Ab-
schriften übergeben worden, wenn sie wie die Dante'schen •
nur einigermassen Au&ehen gemacht und GeMen gefunden
hatten. Das einzige Mittel, welches Dante zur YerfOgung
stand, um den Eiadruck seiner Lieder nach der Bichtnng
hin abzuschwächen und zu beemflussen, die er später fbr
eine besso'e und höhere hielt, war das, welches er auch
wirklich anwendete, dass er selbst nämlich diesen liedem
einen Commentar auf ihrem Gang in der Welt nachschickte,
der sie in einem neuen und scheinbar höheren Sinn aus-
legte und ihre alte, naive, ungekünstelte Bedeutung durch
tinige allegorisn^nde Zugaben überdeckte.
Eme solche nachträgliche Umdeutung der Jugend-Sonette
konnte um so eher stattfinden, als dieselben, wie gesagt,
in der Weise des „dolce stil nuovo*' geschrieben waren, das
heisst in der ceremoniellen Form, welche der gekünstelten
Sprache der Höfe, und dem überfein ausgeklügelten Liebes-
codex der Troubadour-Poesie entsprach und weniger auf
eine concreto Bestimmtheit des Inhalts als auf ein zierliches
Faogballspiel mit einem oft recht dürftigen Gjedanken
hinzielte. Dass das dichterische Genie und die natürliche
Leidenschaftlichkeit Dante's diese Form mit einem tieferen
und leuchtenderem Inhalte erftkllt hatte, als ihn die meisten
seiner Zeit^ und Eunstgenossen in ihren gleichartigen
Poesien geben konnten, ändert nichts an dem etwas
aUgememen Charakter der Sonette, der von vorneherein
ebenso verschiedene Deutungen und besonders nachträg-
3*
36
liehe Allegorisiningen zoliess, wie die gesammte Troa«
badour-Poesie. Bestisunte Thatsachen aas der Herrin
privatem Leben in einem solchen Liebesgedichte azizE-
fohren, yrfSücde damals als eine Entweihmig des hohen Ideals,
als eine Herabziehung desselben in d^ Staub des alltäg*
liehen Lebens angesehen worden sein, wie es ja auch heute
noch nicht als besonders rücksichtsToll nnd nachalmiens«
werth gilt. Die „Herrin^ jener Liebessänger musste über
dem Leben schweben, musste mehr eine Tochter des
Himmels als ein Kind der Erde sein und dnrfibe niemals
in allzu nahe Berührung mit ihrem knechtisch und häufig
unglücklich schmachtenden Anbeter treten, sondern ihn
hödistens eines Gmsses oder eines ihre himmlische Ab-
stammung verrathenden W(»rtes würdigen. Wenn der An-
beter Yon ihr sprach, geschah es immer im demüth^ten
Tone; jedes Glück, das er durch ihren Gruss, durch ihre
Bede und überhaupt durch ihre Nähe genoss, war ihm
schier gleichbedeutend mit dem Heile des Himmels, und
ihr ganzer Einfluss auf ihn war eher ein mystischer, täa
ein natürlicher zu nennen. Deshalb finden wir auch so
oft in der Liebespoesie dieser Zeit, dass sich der S&i^er
scheut, den Namen seiner Herrin zu nenn^ dass er ihn
mit dem Schleier des Geheimnisses umkleidet oder ihn
unter Allegorien und Wortspielen verbirgt, als hätte er
Angst, ihn zu profaniren, als flQrchtete er, dass er schon
durch Kundmachung dieses Namens nicht nur sein Ver*
hähniss zu der Herrin^ sondern auch diese selbst ihres
romantischen, hohen, himmlische Zaubers berauben könnte.
So trugen auch die Jugendsonette Dante's alle Elemente
in sich, welche eine spätere Interpretation von Seiten des
Dichters geradezu herausforderten, nachdem er die Jugend-
Ikhe Schwärmerei-Periode überwunden zu hab^ meinte.
37
Vielleicht flfalte er selbst, dass diese Gedichte einen zu
aUgemein^ Charakter tragen nnd also einer Erklftmng
bedurften; vielleicht wollte er sie Missdeutnngen zu Un-
gunsten der Beatrice, der Frau des Simon Bardi (mag
dieselbe nnn damals wirklich schon gestorben gewesen
sein, oder nicht) nicht länger ausgesetzt wissen; vi^eicht
beabsichtigte er aoch, den Bann der vagen Schwärmerei
för die „Herrin**, dem er selbst in der Jugendperiode ver-
fallen gewes^ war, durch eine concretere Deutung öff^tlich
zu bredien. Schon der Titel des Buches „La vita nuova^
deutet auf die letztere Absicht hin, denn derselbe ist nicht
so zu verstehen, als hätte Dante damit ein „neues Leben**,
eine Umw&lzung seines Inneren verursacht durch die Macht
der Liebe, andeuten wollen, sondern ist mit „mein Jugend-
leben** zu übersetzen, wie der sonstige Gebrauch des
Wortes „nuovo** bei Dante, wenn es sich vom Leben oder
v(»n Alter handelt, und zahhreiche andere ähnliche Aus-
dmcksweisen bei zeitgenössischen Schrütstellem beweisen.*)
Auf jeden Fall bedeutete sein Prosa-Text in seinen eigenen
Augen einen inneren Fortschritt gegenüber den jugend-
hcfaen Beimereien; die besonnenere Betrachtung seines
Liebesverhältnisses zu der „Herrin** war an die Stelle der
ersten Leidenschaft, die sich in Seu£sem, Thränen und
Klagen erschöpft hatte, getreten; die zeitliche Entfernung
von der Liebes- und ThrSnenperiode Hess ihn diese I'eriode
selbst und damit auch die Herrin in einem anderen Lichte
*) Im Oonvito (Tratt. I Oap. 1) sagt Dante ausdrücklich, dass der
liüuilt seines Büoldelns „Vita nnoTa" aas der Zelt Tor seiner ,»gloyen-
tode" stsmmte. Die «Gloyentade* beginnt aber nach den Auselnander-
setEnngen in demselben Gonyito nach dem fänfandzwanzlgsten Lebens-
jahre nnd endigt mit dem vierzigsten, w&hrend die frühere Jagend
(i'etä pxlma) die „adolescenia* genannt wird.
38
erscheinen. Sollten da sich nicht Widersprüche zwischen
den Gedichten und ihrer Interpretation nothwendig zeigen
müssen?
Und sollten nicht viele der jetzt immer wieder von
den Zweiflern an der „Echtheit" der Beatrice vorgetragenen
Bedenken sich beseitigen lassen, wenn man nur beide Be-
standtheile des Buches gehörig auseinander hält? Es muss
Jedem, der jene Bedenken einer Durchsicht und Prüfimg
unterzieht, von vorneherein au£^en, dass sie sich zum
grössten Theil gegen Stellen des Prosa-Textes richten und
dass die Gedichte selbst nicht gerade bedeutende und viele
Schwierigkeiten för die Erklärung bieten, wenn man sie,
ohne zunächst Bezug auf ihre in den Erläuterungen an-
gegebenen Entstehungsgründe zu nehmen, Uest Manche
der Sonette würden ihrem ganzen Inhalte nach uns höchst
einfach und durchsichtig erscheinen, wenn wir uns nicht
durch die Beziehung, die Dante ihnen zu irgend einer
Person oder irgend einem Vorkommnisse seines liebes-
romanes giebt, in ihrer Deutung beeinflussen Uessen und
dadurch gleichsam das Geheimniss erst in sie hinein trügen.
Manche ändere haben einen höchst harmlosen und dabei
in seiner künstlerischen Einfachheit sehr schönen Sinn,
wenn man sie, ganz abgesondert von ihrer Stellung zu
den im Buche geschilderten Ereignissen, gleichsam als
einfache Ausdrücke eines liebenden Herzens für sich be-
trachtet, und verlieren nur in dem Zusammenhang, in den
sie der Dichter später selbst stellte, ihre künstlerische
Einheit und Geschlossenheit, um die Schollen, die Daate
den Gedichten angehängt hat, bekümmert sich vernünftiger-
weise heute fast kein Kritiker mehr, da sie, als seien sie för
einen Schüler geschrieben, der an den Gedichten Rhetorik
Studiren solle, lediglich aus pedautischen Distinctionen be-
39
stehen und den Eindnick des Ganzen wie eine schöne
Blüthe zerblättem; warorn also lässt man sich fbr die Er-
klänmg der Gedichte so sehr und so vollständig von dem
Inhalt jener Yorbemerkongen beeinflussen? Gerade das
Stilgefühl und eine rein ästhetische Betrachtung der
Dante'schen Jugend -Gedichte, zu der unter Anderen
Caxducd*) und Bartoli**) schon so werthvolle Beiträge
geliefert haben, müssten zu einer strengeren Scheidung
des Prosa-Textes und der Gedichte in der „Vita nuova**
f&diren, da wahrscheinlich die letzteren nicht nach ihrer Ent-
stehungszeit geordnet vorliegen, sondern ihre jedesmalige
Stellung in dem Büchlein der Gedankenfolge des Prosa-
Textes verdanken. Es scheinen darin verschiedene Stil-
X)erioden unteremander gewürfelt zu sein, und vielleicht
würde eine genaue Prüfung der Sonette nach diesem Ge-
sichtspunkte hin auf ihr stilistisches und auf ihr chrono-
logisches Yerh<niss zu einander soweit Licht werfen, dass
man daraus auch auf ihre inhaltliche Bedeutung Schlüsse
ziehen könnte.
Femer ist das Yerhältniss der vier Canzonen und der
einen Ballade, die Dante neben fünfundzwanzig Sonetten
und einer Stanze in seinem Büchlein angebracht hat, ein
so merkwürdiges gegenüber den Sonetten, dass man es
ebenfalls einer genaueren Untersuchung unterziehen müsste,
um sich besonders die Frage zu beantworten, ob es nicht
wahrscheinlich sei, dass auch diese langen (Gedichte in
Canzonen- und Balladenform erst später, vielleicht zugleich
mit dem Prosa-Text, entstanden und also gleichsam als
Eindringlinge in die Schaar der Jugendgedichte in Sonett-
*) Siehe: DeUe Blxne dl Dante. Disoono di Giosnö Oardacoi in
„Baate e il sae seeolo", Firenze 1866.
**> Siehe: Bartoli, Storia deUa Letteratnra italiana. toL IV.
40
finni za betrachten smen. Diese Frage wird uns iiafae
gelegt, wenn wir erwägen, dass laektens derOedatike der
Canzonen schon in den Sonetten auftritt und dass die Art,
wie dieser Gedanke in den ersteren aosgeftüirt ist, wie
eine Yerbreitenmg, nm nicht zn sagen YerwAsserung er-
scheint gegentlber der kOnstlerischen Pragmmz, mit der er
in den letssteren znp Ausdruck kommt Ebenso wie die
moralphilosopbischen Oanzonen, die zum „ConTito'' dieVer*
anlassnng gaben, gegenüber den Jngendsonetten durchaus
keinen dichterischen Fortschritt Dante's bedeuten, so
sdir auch in ihnen andere Seiten seines gütigen Wesens
yertieft erscheinen mögen im Yerhiltniss zn der Sohw&m^^i
der Jugendperiode, ebenso stehen anch die Oanzonen der
„Yita nnova*' an kflnstlerischer Bedentong weit hinter den
Sonetten zurück und dürften nicht mit amen in eine mid
dieselbe Eubrik gestellt werden. Ihre stilistisdie und for-
malistische Yerschiedenheit von den Sonetten würde ^aber,
wdl sie, wie gesagt, an eine spätere Entstehungszeit denken
lassen, auch die Yermuthung nahe legen, dass Dante sie
den Sonetten später mit dem ProsarTexte ans ein^u ganz
bestimmten, auf eine Umdeutong der Sonette hinzielenden
Grunde bdgefilgt habe, und anch sie würden daim mit
dazu beitragen können, diese Umdeutung und die dgent-
liche, ursprüngliche Bedeutung der Sonette in dnem
klareren Lichte, als es der bisherigen Kritik m^Uch war^
zn erkennen.
Schliesslich muss auch noch der Umstand, dass Dante
nicht alle seine zum Lob der Beatrice gesungaien Sonette
in die „Yita nuova" angenommen hat, ims nachdenklich
machen über den eigentlichen Zweck der letzteren Samm-
lung. In seinem „Liederbuche* (n Canzoniere) finden sich
noch sechs Sonette und mehrere Canzonen nnd Balladen,
41
die «Ugemem als za der ^Yita nnova" gehörig betrachtet
werden, weil sie In ihrem Inhalte auf eine irdische „Herrin"
md einige davon ganz deutlich auf Beatrice hinzielen, und
auch die BOgenannten „canzoni pietrose*'*) in demselben
Liederbvehe stehen wc^ unmittelbar dadurch in Yer-
bmdimg mit dem Inhalte der „Yita nuova", dass das
MüUkJiea „mit dem steinemen Herz**, die in ihnen be-
8«igen wird, die „donna gentile*' ist, welche den Dichter
dnrdi ihren Liebreiz eine Zeit lang in seiner Trauer um
Be&üioe störte. (Siehe Seite 83.) Warum, so müssen
mr ms frag^ hat Dante gerade diese Beatrice-Sonette
flidit in die Sammlung der „Vita nuova^ aufgenommen,
obg^ei(^ sie alle, wie ihr Inhalt es höchst wahrsdbeinüdi
macht, schon vor der Abfassung derselben entstanden
waren und obgleich einige davon an Schönheit und an-
mntMger Fassung den Sonetten in der „Yita nuova^
doFchaufi nicht nachstehen? Yon den Canzonen und
Balladen und von den „canzoni pietrose*' würde es ^ch
raM&ren lassen; sie fallen schon in die Zeit seiner Be-
schAfiiga&g mit der Philosophie und sind vielleicht nicht
vor der Ab&ssung der „Vita nuo\a" geschrieben; aber
das Weglassen der Sonette bleibt uns unerklärlich, wenn
wir nicht annehmen wollen, dass sie sich in den Zhi-
Banuneiihang des Prosa-Textes nicht gut einfügen wollten,
äass Dante überhaupt diesem sich nicht den Dichtungen,
sondern die Dichtungen sich ihm anschmiegen lassen Hess,
und dass der Inhalt beider Bestandtheile in der „Vita
nnova^ sich überhaupt nicht so gut deckt, als es auf dem
ersten Blicke erscheinen könnte. Dante selbst sagt in der
*) Siehe: de Chiara: La „pietra** dl Dante e la „Donna gentile".
OMerta, 1888.
42
Einleitnng zu der ,,Yita nuoya*', dass er die Worte, welche
er unter der Bubrik: „Indpit vita nova^ in seinem 6e-
dächtniss haften fönde, in diesem Schriftchen anbringen
wollte, „wenn nicht alle, so doch ihrem Inhalte nach/
Unter den „Worten", die „in das Buch des (xedächtmsses
geschrieben" sind, versteht er augenscheinlich die Jugend-
gedichte, nicht die Jugendeindrücke im Allgemeinen.
Warum lässt er von ihnen einen Theil weg? Bios etwa,
weil ihrer zu viele vorlagen? Das wäre nicht gut denkbar,
denn ihre AnzaM ist gar nicht so gross. Und wenn unter
diesen „Worten" wirklich die Jugenderinnenmgen im All-
gemeinen zu verstehen wären, warum bringt er von diesen
nur diejenigen vor, welche auf sein LiebesverhSltniss zu
Beatrice ein so eigenthtkmliches, symbolisches und fast
mystisches licht werfen? Warum verschweigt er z. B.
alle BerOhmngen mit Beatrice in dem Zeitraum von seinem
neunten bis zu seinem achtzehnten Jahre, die doch wohl
stattgefunden haben? Warum geht er so weiüäuftdg auf
seine Visionen und Träume ein, warum beschäftigt er sich
so gern mit allegorischen Grübeleien über den Namen der
„Herrin" und über die Neunzahl, die in ihrem Verkehre
eine gewisse Bolle spielt, warum nehmen die anderen
Frauensgestalten, die vorübergehend sein Herz beschäftigen,
einen so unverhältnissmässig breiten Baum ein, dass das
Bild der Beatrice hinter den ihrigen zuweilen fest ver-
schwindet? Und warum — das ist die Frage, zu der wir
zurückkehren müssen — werden die Anlässe nicht er-
wähnt, die ihm zu den Beatrice-Sonetten des „Canzoniere"
den Stoff boten? Warum sind mit jenen Anlässen diese
Sonette aus der „Tita nuova" verbannt geblieben?
Doch alle diese Fragen sollen uns jetzt nur dazu
dienen, auf eine besondere Absicht, die den Dichter bei
43
der spateren Emschaltong eines Prosa-Textes zwischen
seine Jngendgedichte geleitet haben mnss, anfinerksam zu
machen. An ihre Beantwortung und an eine Elarstellnng
jener Absicht können wir ans erst wagen, wenn wir so-
wohl die Gedichte, als auch den Prosa-Text nfiher be-
trachtet haben werden. Vorläufig galt es, die gesonderte
Betrachtung beider Bestandtheile der ,,Yita nuova^ zu
rechtfertigen und auf ihre Scheidung, als auf ein kritisches
HtÜ&mittel hinzuweisen, das uns ermöglicht, dem Yielfietch
dmüden Sinn dieses Schriftchens näher zu kommen und
besonders auch die Oestalt der Beatrice reiner und un-
verhfillter vor uns erscheinen zu lassen.
nL
DIE GEDICHTE DEE „VITA NÜOVA".
Wie ich in dem Torigen Abschnitte schon auseinaDder-
gesetzt habe, müsste es die erste Angabe der litteraxischen
Dante-Eritik sein, die Untersuchungen, welche Carducci
und Bartoli über den Stil der Dante'schen Jugendgedichte
anzustellen begonnen haben, exakt weiter zu führen, um
auf diesem Wege zu einem gewissen Grade von Klarheit
über ihre Entstehungszeit und über ihr Yerhältniss zu
einander zu gelangen. Die von dem Dichter selbst in
seiner „Vita nuova" aagegebene Reihenfolge der Lieder
hat auf jeden Fall kerne besondere Bedeutung für ihre
Chronologie, und über die Entstehungszeit der Gedichte
des Canzoniere haben wir ja nicht einmal diese Handhabe.
Es ist deshalb, da in einer für deutsche Leser berechnete
Abhandlung nicht gut auf stilistische Eigenthümlichkeiten
des italienischen Textes jener Gedichte eingegangen werden
kann und überhaupt diese Untersuchungen von den Fach-
gelehrten noch nicht weit genug gefördert worden sind,
um sie schon verwerthen zu können, bis jetzt nur möglich
durch Betrachtung des Inhalts jener Gedichte zu einer
gewissen Gruppirung derselben zu gelangen und auf diesem
Wege em Urtheil über ihre Zusammengehörigkeit und
dadurch annähernd auch über die Zeit, in der sie ent-
r
45
standen sind, za gewinmen. Ich habe mir, um anf diesem
Wege mit meinen Lesern YOfschreiten za können, die Mfihe
genommen, die Gedichte der »Yita nnova** imd die anf die
„Henin^ bezfti^chen Lieder des „Canzoniere^ in's Deutsche
za übersetzen md wmle sie in dem Fdgendea znaächst
nach ifarun Inhalte gmppirt Torlegen, mn alsdann an sie
eine Bes^Hrechimg des Prosa-Textes anznschKessen, in welcher
ich auf die Stellung der Lieder in ihm zu reden konunen
werde. Wer die gedrungene, beziehungB* und büderrdche
Sprache Dante's kennt, wird die Schwierigkeiten einer ge-
reimten und in ähnlichem Yersmaasse gehaltenen Ueber-
setzung der Lieder zu würdigen wissen. Zudem durfte es
mir bei meiner Wiedergabe derselben im Deutschen erst
in zweker linie auf die Hervorbringung eines kOnsÜenscheii
Eindrocks ankonmien; in erster Linie sollte ja die Ueber-
tragung dem kritischen Zwecke dieser vorliegenden Ab-
handlung erläuternd zur Seite stehen, und darum musste
ich dem Original möglichst getreu in Bildern und Ausdrücken
folgen und möglichst vermeiden, mich nach anderen, dem
deutschen Ohre geläufigeren Wendungen des Stils umzu-
sehen. Natürlich war es auch durchaus unmöglich, die feinen
StQverschiedenheiten, die sich bei den einzeben Liedern
Bante's herausfühlen lassen, bei der Uebersetznng zur
Oeltong zu bringen. Wir bleiben bei unserer Betrachtung
anf den Inhalt allein beschränkt.
Ich beginne mit den Sonetten, in welchen der Dichter
von Begegnungen spricht, die er mit Amor selbst hat, und
^ dabei vorausschicken, dass die Gestalt des Liebes-
gottes bei den lyrischen Dichtem des dreizehnten Jahr-
hunderts durchaus des graziösen und schalkhaften Zuges
entbehrt, der den aUmäehtigen Oötterknaben in der
griechischea und römischen Poesie und dann unter der
46
Einwii^aDg derselbeii in der Litteratnr der Renaissance-
zeit schmückt Der Amor Dante's ist, ebenso wie der des
Gino da Pistoja, des Guido Gninicelli, des Guido Gavalcanti
und anderer seiner dichterischen Zeitgenossen, mehr eine
schwermüthige and schwerftllige, ans philosophischen Alle-
gorien geborene Erscheinnng, die nns an die steüQ^ezmch-
neten Figuren der Malerei jener Zeit erinnern könnte. Es
liegt etwas Mystisches in diesem Amor, aber zugleich auch
etwas Inniges: die Einwirkung des Christenthums auf die
Ausbildung auch dieser heidnisch mythologischen (Gestalt
lässt sich nicht verkennen.
Die Art, wie Amor mit dem Menschen in Berührung
tritt, wird zunächst, ganz in derselben Weise, wie es der
bolognesische Dichter Guido Guinicelli in einer grossen
Canzone schon vor Daate gethan hatte, folgendermaassen
erklärt:
1. SONETT.
Dass Amor und ein liebend Herz verbunden
In Eins stets sind, wie schon ein Weiser kündet,
Ist klar. So eng verknüpft sind sie erfunden,
Wie sich Yemunft mit den Gedanken bindet
Denn die Natur, in ihren Liebesstunden,
Hat Amor'n, unserm Herrn, ein Heim gegründet
Im Menscheuherz. Dort ruht er, schlafnmwunden,
Bis eine holde Weckerin sich findet:
Die Schönheit eines edlen Weibes rühret
Das Aug* so stark, dass dieser Eindruck dringt
Bis tief in's Herz und dort den Schläfer weckt,
Der nun aus seinen Träumen aufgeschreckt
Im Herzen seine Wunderthat voUbringt. —
Und gleicher Weis' die Frau die Liebe spüret
47
Nach dieser, allgemeine Betrachtungen über das Wesen
und das Wirken Amors enthaltenden Dichtung, wird das
folgende Sonett ana dem „Canzoniere" einzuschalten sein,
in welchem der Dichter andeutet, dass auch er jene Macht
der Liebe schon seit frühester Jugend empfunden habe und
in welchem er dann diese Macht im Allgemeinen schildert.
2. SONETT.
Genoss' ist Amor mir seit manchen Jahren:
Seit ich den Frühling sah zum neunten Mall
Und wie er spornt und zügelt, wie er Qual
Und Freud' in's^Herze giesst, hab' ich erfahren.
Nicht Klugheit half, nicht Kraft, mich zu bewahren
Vor ihm; wie Jene, die des Wetters Strahl
Erhoffen abzuzieh'n von seiner Wahl
Durch Glockenläuten, könnt' die Mfih' ich sparen.
Denn auf dem Platz, den er zum Kampfe nahm,
Musst' stets der freie Will' besiegt sich geben,
Und rasch wurd' stets die Ueberlegung lahm.
Was sonst begehrenswerth erschien im Leben,
Versank, wenu er mich anzutreiben kam.
Und wurde matt vor neu erwachtem Streben.
Von persönlichen Begegnungen mit Amor wird zu-
nächst in folgenden beiden Sonetten berichtet:
3. SONETT.
Die edlen Herzeo, die der Lieb' ergeben,
Bitt' grüssend ich, zu deuten mir den Sinn
Dess', was ich zu erzfthlen Willens bin.
Ich bitt' bei Amor's, ihres Meisters, Leben!
48
Ein Drittheü ¥oe der Zeit war schon dahin,
In der die Sterne leuchtend droben schweben,
AJb plötzlich ich empfuid ein inneres Beben,
Weü Amor selbst leibhaftig mir erschien.
Er hielt in seiner Band mein Herii und heiter
Sebant* anf die Herrin er, die schlonunemd ruhte
In seinem Arm, gehflllt in leichte Kleider.
Sie weckt er dann, zu Grauenvollem leider:
Denn essen toh des Herzens heissem Blute
Musst' sie — dann schritt er weinend weiter.
4. SONETT.
Als ebegestem ich die Strasse ritt,
Der Heise made, die ich unternommen
Nur ungern, sah ich plötzlich Amor kommen;
Im Pilgerkleid' er seines Weges schritt;
Sein ganzes Wesen schien mir so beklommea
Wie Jemand's, der Erniedrigung erlitt;
Ein tiefer Seu&er seinem Mund entglitt;
Den Blick er senkte, wie von Scham benommen.
Als er mich sah, rief er bei Namen mich
Und sagt': „Ich komm' aus jener fernen Gegend,
Woselbst Dein Herz auf mein Geheiss yerweüte.
Jetzt wünscht' ich, dass zu neuer Freud' es eilte 1'*
So grosse Gunst von ihm im Herz bewegend,
Gewahrt' ich nicht, wie er entfernte sich.
Was das erste dieser beiden Sonette betrifit^ so scheinen
mehrere von den „edlen, der Liebe ergebenen Herzen'^,
welche Dante aufforderte, ihm den Sinn de& erzählten
Traumes zu denten, wirklich sich bewogen' gefbhlt zu
49
haben, za antworten und eine dichterische Auslegung zu
geben. Wenigstens finden sich unter den Gedichten des
Cino da Pistoja*) und des Gruido Cavalcanti**) je ein
Sonett, in welchem die Dante'sche Vision gedeutet wird;
und zwar erklärt der erste Dichter das Schlafen der Herrin
und das Essen vom Herzen des Dichters damit, dass natur-
gemäss Dante gewünscht habe, Amor möge seiner Herrin
im Traume von seiner Liebesgluth mittheilen, und dass
ans diesem Wunsche die Vision geboren worden sei. Das
Weinen Amor's beim Weggehen deute an, dass aus dieser
liebe beiden Weh' erwachsen werde. Cavalcanti spricht
dagegen von einer Todessehnsucht der Herrin, die nur
durch den Crenuss des Herzblutes des Dichters durch
Amor's Vermittlung gestiUt worden sei. Wir müssen be-
denken, dass diese Antworten der Dichterfreunde Dante's
höchst wahrscheinlich nach dem Bekanntwerden des Buches
„la Vita nuova", und nicht schon sogleich nach der Ab-
fassung des Sonettes gedichtet worden sind, dass also beide
in ihren Deutungen durch den Tod Beatricens, durch die
späteren Klagelieder Dante's und durch seinen Prosa-Text
beeinflusst sein mögen. In diesem Falle würden dann
diese Antworten auf den späteren Verlauf des Liebesver-
hältnisses zwischen Dante und Beatrice einiges Licht
werfen, und wir werden deshalb später noch einmal auf
sie zurückkehren. Jetzt sei nur noch beiläufig gesagt,
dass auch die Antwort eines dritten zeitgenössischen
Dichters, des Dante da Maiano***) auf dieses Sonett er-
halten ist, dass aber diese dritte Antwort nur eine Samm-
lung von Schmähungen gegen den Dichter darstellt und
*) Birne dl Cino d» Pistoja. ed Bindl e Fanfani. Pistoia, 1878.
**) Birne dl Gaido Cavalcanti. ed Amone, Firenze 1881.
***) Dante da Maiano, Bayenna, David 1882.
4
50
mit dem Rathe schliesst, der florentmische Trämner und
Visionär möge in ein Narrenhaas gehen. — Wir selbst
müssen vorläufig den Inhalt dieses Sonetts ohne jede
specieliere Deutung einfach als das annehmen, als was er
sich uns bei dem ersten Anblick darstellt, als eine Vision
nämlich, in welcher der Dichter eine enge Beziehung
zwischen seiner „Herrin'' und sich durch Amor's Macht
hergestellt sieht. Auch über das zweite Sonett, in welchem
Amor dem Dichter als Pilger begegnet, enthalten wir uns
vorläufig jeder weiteren Vermuthung, da der Inhalt des-
selben, dass nämlich Amor den Dichter von einer früheren,
nun machtlos gewordenen Liebe zu einer anderen, „zu
neuer Frefüde**, führen möchte, an sich klar ist. Von
einem solchen Liebeswechsel spricht auch die einzige
Ballade der „Vita nuova'', die uns zugleich zeigt, dass
der Dichter die andere Liebe als eine Treulosigkeit der
„Herrin'' gegenüber auffasst Es lautet dieses Lied:
1. BALLADE.
Ich will mein Lied, dass du zu Amor gehst,
Damit er dich zur Herrin mein begleite
Und sds mein Meister Aufiiahm' dem bereite,
Was du in tiefer Ehrfurcht von ihr flehst.
Zwar ist dein Gang, o Lied, schon so bescheiden,
Dass du wohl überall
Auch ohn' Geleit kannst wagen hinzugehen.
Doch Amor ist, mn Straucheln zu vermeiden
Ein Schutz in jedem Falll
Drum bitt' ich dich, um Hülf ihn anzuflehen.
Und wenn die Herrin, die dich jetzt soll sehen,
Mir wirklich ahhold ist, wie ich vermuthe.
Und seine Hülf dir dann nicht kommt zu Gute,
So kommt es leicht, dass du beschämet stehst.
51
Mit süssem Laut, wenn da dann bei ihr bist,
Sollst da ihr dieses sagen,
Nachdem du um Verlaub sie erst gebeten:
„0, Herrin, wenn es Euch gefällig ist
Lasst mich zurücke tragen
Verzeihung dem, der mich hiess vor Euch treten.
Wenn seine Blick* nach andren Frauen spähten,
Wisst, Amor, der mir folget, hat's gefüget,
Dass er die Welt mit solchem Schein betraget.
Sein Herze, glaubt mir, hält an Eurem festl^
Und sag* ihr: „Herrini stets hat nur geschlagen
Sein Herz für Euch. Das Streben
Sein ganzes Wesen Eurem Dienst zu weih'n
Hat er von Jugend auf in sich getragen."
Und wenn in Zweifel schweben
Du sie bemerkst, lass Amor'n Zeuge seinl
Am Schlüsse dann flicht noch die Bitte ein.
Mir zu yerzeih'n, wenn ich ihr lästig bin.
Befiehlt sie^s, schreit' ich gern zum Tode hin.
Damit die Treue mein ein Zeugniss lässt.
Bitt' Amor, der des Mitleids Fülle hegt.
Eh' du von dannen gehst,
Bitt' ihn, vor ihr nun meiner zu gedenken :
„Ich bitt' beim Wohllaut, der sich in mir regt,
Dass du zur Seite stehst
Dem Knechte dein, um ihren Sinn zu lenken
Zur Milde, sie beschwörest auch, zu schenken:
Ihm ihr Verzeih'n und holden Seelenfrieden!^
So tummle dich, mein Lied, damit beschieden
Dir Ehre sei und du umsonst nicht fleh'st.
Dass der Dichter mit seiner Hinneigung zu anderen
Frauen „die Welt nur mit einem Scheine betrogen" habe,
ist wohl mehr als nur eine dichterische Phrase oder eine
4*
52
nachträgliche Entschuldigung. Wir finden Beispiele eines
ähnlichen Verhaltens in überaus vielen Liebesverhältmssen
der damaligen Zeit. Die Verehrung der „Herrin" er-
forderte es, dass die Liebe des Anbeters sich nicht offen
zeigte, dass sie auf alle mögliche Weise Versteckens spielte
und dass sie die scheinbare Hinneigung zu anderen Frauen
gleichsam als Schild benutzte, um der Welt sich nicht zu
offenbaren. In der deutschen Litteratur giebt uns bekannt-
lich der um dieselbe Zeit wie Dante lebende Ulrich . Ton
Liechtenstein das deutlichste Bild einer auf diese Weise
bis zur Ueberspanntheit getriebenen „höfischen" Liebes-
bewerbung.
Wir können sogleich die beiden folgenden Klagelieder
um den Tod eines jungen Mädchens, die sich in der
„Vita nuova" finden, hier anfügen, weil auch sie das Be-
schäftigtsein des Dichters durch andere Frauen ülustriren
und der Welt gegenüber vielleicht ein Ablenken der Auf-
merksamkeit von seiner Liebe zu der Herrin bezwecken
sollten. Diese Klagelieder lauten folgendermaassen:
5. SONETT.
Weint Liebende, weil Amor selber weinet,
Und höret, was die Thränen ihm entzwang:
Auch er vernahm der Frauen Klaggesang,
Die trauernd sich um einen Sarg geeinet
Als jüngst der schnöde Tod die Geissei schwang
Traf er ein Mägdlein schön. Vernichtet scheinet
Nun Alles, was man lobenswerth gemeinet
An ihr, nur nicht des guten Rufes Klang.
Nun hört, was Amor that, um sie zu ehren:
Ich sah leibhaftig ihn am Sarge stehen
Der süssen Blume, die der Tod sich pflückte;
r
53
Und oft sein Aug* hinauf zum Himmel blickte,
Als könnt' er dort die firomme Seele seh'n,
Die ihres holden Leib's nun muss entbehren.
6. SONETT.
0, schnöder Tod, der Mitleid nie gekannt,
Von jeher: Vater unseres Weh'sl genannt,
0, Richter, streng nnd unbesiegt.
So herben Schmerz hast du nns zugefügt,
Dass tiefe Trauer auf mir liegt,
Und Lust, dich arg zu schmähen, ist mir entbrannt
Um dich zu schildern, wie du hast verbannt
Jedwede Milde, mach' ich jetzt bekannt
Dein Thun, in dem das Unrecht tiberwiegt.
Zwar lebet Niemand, dem's verborgen liegt,
Doch Jeder, der sich Amor's Zwange fügt.
Sei kfinftig zornig gegen dich gewandt 1
Die Erde hast von Anmuth du entleeret
Und von der Tugend, die die Frauen schmückt.
Im ersten Jugendreiz hast du gepflückt
Der Blumen eine, die sich selbst geehret.
Nichts mehr sag' ich von ihr, die uns entrückt,
Als was ihr eignes holdes Wesen lehret:
Dass, wer dereinst des ew'gen Heils entbehret,
Durch ihre Näh' nie wieder wird beglückt.
Es würde einer unbefangenen Betrachtung nahe liegen,
diese beiden Sonette als auf den Tod der „Herrin", also
Beatricen's selbst, hindeutend anzusehen, wenn sie sich
nicht in ihrem Stile und in ihrem ganzen Tone von
den ELagegesängen auf Beatrice, die wir später betrachten
54
werden, aUznsehr unterschieden. Es liegt über ihn^i
eher der Schleier einer stillen Wehmath gebreitet, als
dass sich der heftig vordringende Schmerz in ihnen
ausdrückte, der jene anderen Klagen kennzeichnet.
Aach tragen die Anklagen gegen den Tod den Stempel
des Gremachten and Künstlichen und sind weit von den
dringlichen Worten verschieden, mit denen der Dichter
später den Tod anruft, dass er ihn von seinen Qualen er-
löse. Schliesslich muss auch der Umstand, dass Dante in
diesen beiden Klageliedern nie von der Verstorbenen als
von seiner „Herrin** spricht, was er sicher, wie die anderen
Lieder uns zeigen, gethan haben würde, wenn es Beatrice
gewesen wäre, uns davon überzeugen, dass die „gentil
donna**, an deren Bahre er diesmal trauerte, nicht die
Geliebte des Dichters war.
Die einzige schwierige Stelle in diesen beiden Ge-
dichten, die nämlich, dass Amor selbst am Sarge des
jungen Mädchens steht und den Blick zum Himmel
richtend, dort ihre Seele erblickt, haben Manche dadurch
erklärt, dass sie annahmen, unter Amor sei hier Beatrice
zu verstehen, wobei sie sich auf eins der beiden Sonette
der »Vita nuova**, in denen der Name Beatricen's genannt
wird, berufen; in diesem Sonette legt Amor der holden
Beatrice seinen eigenen Namen bei, „weil sie ihm so
gleiche**. Nur später in den Trauerliedem erwähnt Dante
nochmals den Namen Beatrice als den seiner Herrin, und
auch unter den Sonetten des „Ganzoniere** befindet sich
nur ein einziges, welches die „Bice** als Dante's Herrin
erwähnt Da wir nunmehr zu den Gedichten, die sich
ausdrücklich mit der „Herrin** beschäftigen, übergehen,
seien diese beiden Sonette, die uns Beatricen's Namen
überliefern, hier vorangestellt:
55
7. SONETT.
Ein Liebesahnen spflrt' ich jüngst sich regen
Im Herzen mein, aus dem es lang yerbannt,
Und Amor sah' ich kommen mir entgegen,
So fröhlich, dass ich kaum ihn hätt' erkannt.
Er sprach: ,,Heat' gilt es Ehre einzulegen 1**
Ein Lächeln hielt dabei den Mund umspannt.
Nur wenig könnt' ich Zwiesprach' mit ihm pflegen,
Da sah ich, nach der andren Seit' gewandt,
Die Vanna und die Bice sich mir nahen.
Wie holde Wunder kamen sie daher
Die Herrinnen; und Amor hört' ich sagen:
„Den Namen „Primavera*' mOsst' empfahen
Die Erste und die And're, die so sehr
Mir ähnelt, müsst den Namen „Amor** tragen.
8. SONETT.*)
0, Guido, wenn es doch ein Zaub'rer machte,
Dass ich mit dir und Lapo würd' verschlagen
Aufs weite Meer, von einem Schiff getragen
Das, uns gehorchend, allen Winden lachte;
Dass Wetterlaun' und Stürme, wild ent£Eichte,
Uns niemals störten oder Hessen zagen,
Nein, dass in uns mit wachsendem Behagen
Der Wunsch, stets so vereint zu sein, erwachte.
Die Vanna und die Bice müsste dann
Mit Jener, die die Nummer Dreissig führt.
An uns're Seit' der gute Zaub'rer setzen.
*) Ans dem «Ganzoniere*.
Ö6
Gespräch' von Liebe mttssten uns ergetzen;
Den Holden müsste sein das Herz gerührt,
Wie uns auch sicher Freud' dann hielf im Bann!
Die „Vanna** und die „Bice" in dem ersten Sonette
sind die beiden Freundinnen Giovanna und Beatrice.
„Frühling^ (Priniayera) soll die erstere heissen, und
„Liebe^ die letztere: eine zartere Anspielung auf die
Anmuth der ersteren und auf die Hoheit der letzteren
konnte wahrlich der Dichter nicht ersinnen; und ich
dächte, dass sonst in diesem Sonette Alles klar sei« Auch
in dem anderen liede kann eine nnfoefongene Betrachtung
keine besonderen Geheimnisse und Anspielungen finden.
Wiederum finden wir hier Beatrice und Giovanna zu-
sammen genannt, diesmal noch eine dritte mit ihnen,
deren Name von Dante an der dreissigsten Stelle in einem
dichterischen Yerzeichniss der schönsten Frauen von Florenz
genannt worden war. Der in dem Eingange dieses So-
nettes genannte Guido ist Dante's „bester Freund", der
Dichter Guido Cavalcanti, dem Dante seine „^^^ nuova'^
widmete, und der jene Giovanna, die er unter dem Namen
„Primavera" besang, anbetete. Der dritte, Lapo, ist Lapo
Gianni, ebenfalls einer der Dichter des „dolce stil nnovo'^.
Warum die „Herrinnen" der drei Dichterfireunde nicht
auch Freundinnen gewesen sein könnten, ist mir nicht be-
greiflich, und ich sehe in dem Gredichte selbst keinen
Grund, welcher diese Träumerei zu einer allegorischen
Spielerei umstempeln müsste.
Dass die „Herrin" Dante's wirklich Beatrice hiess,
darüber lassen also die eben angeführten Gedichte keinen
Zweifel. Sehen wir nun zunächt zu, in welcher Weise
der Dichter diese seine holde Herrin feiert und welche
57
Eigenschaften ihn besonders an ihr i^ntzücken. Ein ganzer
Kranz von Sonetten und Canzonen, die ihr Lob besingen,
findet sich in der „Vita nuova" und im „Canzoniere**, nnd
ich stelle sie im Folgenden ihrem Inhalte nach gruppen-
weise zusammen:
9. SONETT.
Weil Amor vohnt in meiner Herrin Blicken
Wird, was ihr Aug* berflhrt, von ihr verklärt,
Und wenn sie kommt, sich Jeder nach ihr kehrt,
Und wen sie grüsst, dess' Herz bebt vor Entzücken;
Doch Seufzer auch muss er zum Himmel schicken.
Weil er vor ihr erst fühlt, was ihn entehrt,
Und ihre Näh' dem Zorn und Hochmuth wehrt
— O, helft mir, Frauen, würdig sie zu schmücken! —
Es spürt in sich ein neues süsses Leben
Wer ihre Stimme hört; gebenedeit
Ist der, den sie zum ersten Mal erblickt;
Und wen ein Lächeln gar von ihr beglückt.
Der fühlt sich wie durch Zauberskraft gefeit,
Von der er sich nicht Rechenschaft kann geben.
10. SONETT.*)
Am jüngsten Allerheil'gentag sah wallen
Ich vor mir hin der Frauen holde Schaar;
Und Eine kam, als Erste fast von Allen,
Der Amor sichtbar beigesellet war.
Aus ihrem Aug' sah funkelnd niederfEdlen
Ich auf mich Geistesblitze hell und klar,
*) Atu dem nCanzoniere*.
■^
58
Und ganz verzückt stand ich: denn zu umwallen
Schien Himmelsglanz ihr AntlitE wunderbar.
Wer ihres Grusses werth, dem wurd' gespendet
Von ihr dann wahres Heil: durch ihrer Blicke
Gewalt wird's jedem Herzen zugewendet!
Ich weiss es nun: sie ward vom Weltgeschicke
Vom Himmel nieder uns zum Wohl gesendet;
Wer mit ihr geht, hat Theil am ew'gen Glücket
11. SONETT.
Seht meine Herrin bei den Frauen steh'n!
Leibhaftig scheint in ihr das Heil zu leben 1
Ihr And'ren, die ihr neben ihr dürft geh'n,
Dankt Gott, dass solche Gnad' er euch gegeben!
Ihr lasset ihrer Schönheit Macht erseh'n
Weil Neid in euch nicht wagt das Haupt zu heben,
und weil ihr Alles tragt von ihr zum Leh^
Wenn Anmuth, Lieb' und Glaube euch umschweben.
Erhöhet wird von ihres Auges Schein
Ein jedes Ding: nicht nur ihr eignes Wesen,
Nein, auch die Tugenden der and'ren Frauen.
Und so voll Anmuth ist ihr ganzes Sein,
Dass, wer es zur Betrachtung sich erlesen.
Nicht ohne Liebesseu&er es kann schauen.
12. SONETT.
0, so Tiel Liebreiz, so viel Würde zeiget
Die Herrin mein, wenn holden Gruss sie spendet,
Dass jede Zung' sogleich ihr Plaudern endet
Und jedes Aug* sich scheu zu Boden neiget.
59
Wie oft sie auch ihr Lob yernimint, sie schweiget
Und geht, voll Demuth, still in sich gewendet
Des Wog's, als wäre uns in ihr gesendet
Ein Wunder, das vom Himmel niedersteiget.
Und wer sie anschaut, fühlet ihren Blick
So süss und huldvoll sich in's Herze dringen,
Dass nur, wer es erfährt, es kann verstehen.
Von ihren Lippen scheinen auszugehen
Der Liebe Geister, die in's Herz sich schwingen,
Das seu&end nun erkennt sein wahres Glück.
2. BALLADE.*)
„Ich kam, ein niegeschautes, schönes Kind
Um Euch von meiner Heimath Kund' zu geben
Und von dem Glanz und Reiz, die sie umschweben.
Vom Himmel stamm' ich und dorthin zurücke
Kehr' einst ich, holden Engeln zum Gefallen.
Wer mich erschaut und spürt nicht Liebesglücke,
Der fühlet niemals Lieb' im Herzen wallen.
Denn keinen Reiz versagt' mir Gk>tt von allen,
Als er gewollt, dass ich in dieses Leben
Hemiederstieg, als euch ich ward gegeben.
Die Sterne einst in meine Augen gössen
Ihr ew'ges Licht und ihre Wundermacht;
Und meine Schönheit, weil sie dort entsprossen,
Durchstrahlt wie Himmelsglanz die Erdennacht,
Und zum Yerständniss wird sie nur gebracht
Dem Menschen, der sich Amoren hingegeben,
Und von ihm läutern lässt sein irdisch Streben.**
*) Ans dem „Ganzoniere'*.
60
£b stehen diese Worte klar ro lesen
Im Antlits eines Engels, der erschien
Jflngst unter uns. Sein Anblick ist gewesen
Mir tödlich fast; so sehr ward ich durch ihn
Verwundet, dass ich nicht mehr konnte flieh'n.
In seine Augen schau' ich nun mit Beben
Und friste weinend, unruhyoll mein Leben.
1. CANZONE.
Ihr Frauen, die auf Lieb ihr euch verstehet,
Ich will mit Euch von meiner Herrin reden;
Nicht weil ich glaube, dass ich je ihr Lob
Erschöpfen könne, nein, nur weil sich leichter
Mein Geist schon fühlet, wenn er an sie denkt.
0, glaubt, so oft ich ihren Werth erwäge,
Macht wundersOss sich Amor in mir geltend.
So dass, wenn ich den Muth dazu nur fände.
Durch den Bericht allein es mir gelingen würde,
Auch Lieb in allen anderen zu wecken.
Doch will ich nicht in hohem Schwünge reden,
Der leicht mich kläglich scheitern lassen könnte,
Nein, wie es ihrer zarten, holden Anmuth
Entspricht, will ich nur leichthin von ihr plaudern
Mit euch, o Frau'n und Mädchen, die auch ihr
Der Liebe Kraft verspürtet; euch allein
Kann dieses Lied ich recht und würdig weih'n.
Ein Engel rief die hohe Himmelskraft
Mit diesen Worten an: „0, Herr, ein Wunder
Sieht man auf Erden jetzt leibhaftig wandehi;
Aus einer Seele stammt es, deren Tugend
Bis hier herauf in unseren Himmel leuchtet ;
Nicht mehr vollkommen scheint er nun zu sein.
Da sie ihm fehlet Herr! führ* sie uns znl^
61
Und alle Engel stimmen bittend ein,
Nur der des Mitleids fähret uns're Sache,
So dass am Ende Gott, der meine Herrin
Schon längst gekannt, sich sdso lässt yemehmen:
„0, meine Lieben, wollet euch gedulden
In Frieden, dass, so lang es mir gefällt,
Sie, die ihr so erhofit, noch drunten wandelt.
Wo 'Emer lebt, dem Furcht, sie ku verlieren,
Schon jetzt das Herz besehleicht; derselbe ist's.
Der in der Hölle rufen wird: Ich schaute,
Ihr Armen, einst der himmlischen Vertraute!*'*)
Im höchsten Himmel ist die Herrin mein
Ersehnt; lernt hieraus ihren Werth erkennen!
Und jede Frau, die edel will erscheinen,
Such' darum ihren Umgang. Doch wem niedrig
Das Herze schlägt, der möge ihr nicht nah'n.
Weil all sein Denken vor ihr schwinden muss,
Von Amor's Zorn berührt; denn wer sie schauet
Muss edel werden oder muss vergeh'n.
Wer würdig ihres Anblicks ist, erfähret
Gar bald an sich die Wirkung ihrer Tugend,
Dieweil ihr Gruss schon ihn mit Heil erfüllet,
Ihm Demuth auch verleiht und alles Unrecht,
Das er erlitten, ihn vergessen lässt
Und so hat Gott die Heilskraft ihr erhöht,
Dass Keiner, der sie sprach, verloren geht.
Von ihr sagt Amor: „Wie könnt' es gescheh'n
Dass Sterbliches so schön und rein erschien?^
Und sie betrachtend schwört er bei sich selbst,
Gott hab' hier wirklich Neues schaffen wollen.
I
I
*) Hier solioii finden wir den Hinweis anf Dante's spätere «Höllen-
fahrt^. IMese Ganzone scheint also nicht sehr frühen ürprongs an sein,
uid ihre Abfassung f&Ut vielleicht mit dem des Prosa-Textes seitlioh
nuimmen.
62
Seht sie mit jener Perlenfarb' gezieret
Im rechten Maass, die schönen Frauen eigen 1
Und seht, wie Alles, was Natur ersann
An Schönheit und an Gut' ihr ward verliehen!
Aus ihren Blicken, wenn sie leuchtend schweifen,
Entspringen Liebesgeister, rasch entflammt.
Die in die Augen Jedes, der sie siehet.
Sich bohren und zum Herzen siegreich dringen.
In ihr Gesicht, das Keiner unbeweget
Betrachtet, hat sich Amor eingepräget.
Mein Lied, ich weiss, du wirst Tor viele Frauen,
Nun plaudernd treten, wenn ich dich entlassen,
Drum mahn' ich dich, dieweil ich dich erzogen
Als Amor's zartes, liebenswürd'ges Kind,
Dass du, wohin du kommst, bescheiden bittest:
„0, weiset mir den Weg! Ich bin gesendet
Zu Jener, der zu Ehren ich geschmückt."
Doch geh' nicht hin, wo niedre Denkungsart
Zu Hause oder bleib' nicht lang* dort rasten.
Befleiss'ge dich, wenn dir es möglich ist,
Nur edlen Frau'n und Männern dich zu zeigen,
Dass diese dich zum Ziele rasch geleiten.
Und wenn du Amor findest dort bei ihr.
Empfiehl mich ihm, ich mach' zur Pflicht es dir!
Es ist, me wir aus diesen Liedern sehen, nicht blos
die äussere Schönheit, die „Perlenfarbe" der Haut (d. h.
die von den südlichen Yölkem so hoch geschätzte mor-
bidezza des Teint's), das schöne, leuchtende Auge, der
amnuthige Gang, welche Dante an seiner „Herrin'^ zu
preisen findet, sondern besonders die „Tugenden" ihres
Wesens, ihr bescheidenes, sittsames Benehmen, ihre echte
Demuth und Sanftmuth, ihre Milde und jungfiräuliche Er-
63
habenheit. Nach echt homerischer Weise schildert er sie
mit Vorliebe durch Erzählung des Eindrucks, den sie bei
den Anderen hervorruft: wie ihre Schönheit die aller ihrer
GefiQirtinnen überstrahlt, wie diese ihre Anmuth nur von
ihr gehehen zu haben scheinen und dann besonders, wie
ihr tagendreiches Wesen auf Jeden, der ihr naht, eine
bezähmende, versöhnende, verklärende Kraft ausübt. Die
Heilswirkung ihres Wesens, das Beglückende ihres Grusses,
vor dem sich Jeder scheu zu Boden neigt und jeder böse
Gedanke sich verkriecht, das Beseligende ihrer Anrede
nnd die Zauberkraft ihres Blickes, die gleichsam Alles,
was von ihm getroffen wird, verschönt und veredelt, das
ist es, was sie ftlr den Dichter zu dem vom Himmel
herabgestiegenen Wunder macht, und das ist es auch,
worin der oft übertriebene, aber dabei doch immer er-
haben und ideal bleibende Cultus der „Herrin", das heisst
des geliebten Weibes, zum dichterischen Ausdrucke kommt.
Das Weib ist dem Anbeter ein edleres und höheres Ge-
schöpf, ragt über das Irdische hinaus, hat schon sicht-
baren Theil am Ewigen und wird auf diese Weise ihm
schon zur Heilsbringerin. Hier schon beginnt also die Er-
höhung der irdischen Geliebten zu dem himmlischen, über-
sinnlichen Ideal, hier schon beginnt die Transubstanziation
der Beatrice, die in der Führerin durch das Paradies
ihren Gipfelpunkt erreicht, hier schon ist die Geliebte
eigentlich der himmlische Engel, der nur ftlr kurze Zeit
auf die Erde gekommen ist nnd von seinen seligen Ge-
nossen mit Schmerzen zurückersehnt wird. Aber trotzdem
ist hieraus nicht der Beweis zu schöpfen, dass diese Ge-
liebte überhaupt nie irdische Realität gehabt habe, sondern
nur ein dichterisches und religiöses Ideal gewesen sei.
Nein, der bis zur Ueberspanntheit getriebene Cultus des
64
geliebten Weibes, der „Herrin", im ganzen Mittelalter
zeigt uns deutlich, dass diese Glorificirong des geliebten
Gegenstandes einen reellen Untergrund hatte, und dass die
tiefen, fast mystischen religiösen Empfindungen, die aus
dem Ghristenthum geschöpft waren und an ihm sich weiter-
nährten, und ebenso der romantische Zug, von dem die
edlen Geister jener Zeit angehaucht waren, nothwendiger-
weise eine derartige Erhebung der menschlichen und
irdischen Beziehungen in das Gebiet des christlichen Ideals
zur Folge haben mussten. Man hat an diesen Verherr-
lichungen der „Beatrice**, an ihrer Eriiöhung zur Tochter
und zum Engel des Himmels, in neuerer Zeit vielAnstoss
genommen, weil man jenen Cultus fEkr sentimental, ftkr
schwächlich, flir unwürdig des grossen Dichters hält, aber
den Zweiflern ist es bis jetzt doch noch nicht gelungen
und wird es nicht gelingen, die „Herrin** in glaubwfirdiger
Weise zu einer Allegorie umzudeuten. Die „Weisheit",
der „thätige Verstand", die „Wiss^schaft" und was man
sonst fEkr Begriffe bei dieser Gelegenheit substituirt hat,
erftülen alle ihren Zweck nicht; man muss zu dem Weibe
zurückkehren und zwar, wie es die Hmweise auf die.
irdischen Gaben, wie Schönheit, Anmuth deutlich machen,
zu dem irdischen, zu dem realen Weibe, zu der „echten"
Beatrice.
Und noch besser wird uns diese Nothwendigkeit
klar, wenn wir das subjective Verhalten Dante's dieser
seiner „Herrin" gegenüber betrachten, wenn wir also seine
Liebeslust und sein Liebesleid, wie es sich in seinen
Liedern ausdrückt, auf uns einwirken lassen. Zum
fireudigen Au^auchzen war die Seele Dante's nicht ge-
schaffen, deshalb sind der Lieder von Liebeslust nur
wenige, es lässt sich eigentlich nur ein einziges anfülnren;
65
dafür ist um so grösser die AnzaM der Liebesklagen. Das
einzige fröhliche LiebesUed ist das folgende:
STANZA.
Von Amor'B Fesseln schon so lang umwanden
Bin ich und so sein Herrscherthum gewöhnt,
Dass, wie ich einst in seinem Joch gestöhnt,
Nun ich durch ihn die wahre Freud' gefunden.
Und wenn er meine Kraft oft unterbunden,
Mit meiner Ohnmacht oft mein Werk gekrönt.
So ist doch er's auch, der mich dann yersöhnt
Und milde heilet alle meine Wunden;
Der mir jetzt einflösst neuen Lebensmuth,
Dass in mir alle Geister frisch sich regen
Und ihr, in der mein Heil beruht,
Der holden Herrin, fliegen froh entgegen.
Sobald sie ihren Blick nur zu mir wendet.
0, welches Glück ward mir gespendet!
Von Liebesklagen sind eine ganze Anzahl von Sonetten
erftült:
13. SONETT.
Ihr, die ihr Amor's Pfad beschreitet.
Merkt auf jetzt und entscheidet.
Ob tiefrer Schmerz zu finden, als der meine!
Ich bitte, dass ihr hörend mich begleitet.
Dann euch bereitet,
Zu schau'n die Leiden, die ich in mir eine.
Es schuf mir Amor — nicht etwa verleitet
Durch meinen Werth, der solchem widerstreitet —
Nein, weil er edel ist, so süss und feine
Das Leben, dass gar Mancher mich beneidet',
Sich sagend: „Gott! welch' gross Verdienst bekleidet
WohlJenen, dass so fröhl'chen Sinns er scheine?^
6
^
66
Jetzt hat mich all' die Zayersicht yerlassen,
Die aus dem grossen Liebesschatze kam;
Ich stehe arm da, und den Gram
Kann ich mit Mühe nur in Worte fassen;
So arm, dass ich mir die zum Beispiel nahm,
Die, weil sie äuss're Schande hassen.
In ihrem Elend doch sich heiter blicken lassen.
Auch meinen Schmerz terberge ich aus Scham.
14. SONETT.*)
0, süsse Lieder, die ihr einstens sänget
Von meiner Herrin, aller Frauen Zier,
Zu euch tritt dieses neue Lied allhier,
Damit ihr's als Genossen froh empfanget.
Doch nehmt's nur an, wenn in ihm leuchtend pranget
Der echten Wahrheit Sinn; es sei dafür
Euch Amor Bürge, dessen Hülfe ihr
Es dankt, wenn ihr der Frauen Sinn bezwanget.
Und wenn des neuen Liedes Klang euch findet
Bereit, zur Herrin hin aufs Neu' zu wallen,
0, flieget schnell und tretet vor sie hin.
Sagt ihr: „0, Herrin, neige dich uns allen I
Von Jenem kommen wir, den Angst umwindet
Weil hoffiiungslos nach Euch sich sehnt sein Sinn.^
8. BALLADE.*)
Im EQeide eines kund'gen Boten schreite,
Ballade mein, den Weg und zög're nicht,
Zu treten vor der Herrin Angesicht.
Sag' ihr, wie scheu ich jetzt durch's Leben gleite.
*) Ans dem «Canzoniere''.
67
Erzählen sollst du, wie die Augen mein,
Durch die Begierd', ihr Engelsbild zu seh'n,
Sich einst zu hellem Glanz entzündet hatten,
Und wie sie jetzt, in wahrer Todespein,
Beraubet ihres Anblicks müssen steh'n,
So dass nun Dulderkronen sie umschatten.
Und sie umsonst im Ausschau'n sich ermatten
Nach ihrer Freud'. 0, sterben werd' ich müssen
Wenn sie mit ihrem Trost nicht will versüssen
Mein Leben 1 — Diese Bitt' ihr unterbreite.
15. SONETT.
Wie seltsam doch, so muss ich oft mir sagen.
Hat Amor mich mit seiner Huld bedacht I
Ich kann mich drob des Mitleids nicht entschlagen.
Denn Keinem hat er jemals Heil gebracht.
Zum Band des Todes fühl' ich mich getragen.
Wenn auf mich einstürmt plötzlich seine Macht;
Ein einziger Geist bleibt dann in mir mit Zagen
Lebendig noch, den Ihr in mir entfacht.
■
Mir selbst zu helfen, streb' ich dann vergebens,
Und halb schon todt, Ton aller Kraft; verlassen
Such' ich Genesung nur in Eurem Blick,
In Eurer Näh' nur Rettung meines Lebens 1
Doch seh' ich Euch, kann sich mein Herz nicht fassen
Und alles Leben weicht aus mir zurück.
16. SONETT.
Von Lieb' erfüllt sind alle die Gedanken
In meiner Brust, doch smd sie so verschieden,
Dass Einer wünscht, ich hätt' die Lieb' gemieden,
Ein And'rer räth, ich soll in ihr nicht wanken,
5*
68
Ein Dritter idll mich an die Hoffiiung schmieden.
Ein Vierter roft die Thrftnen in die Schranken.
In einem Punkt nur schweigt ihr lautes Zanken:
Dass Mitleid heischend ich wohl fände Frieden.
Noch weiss ich nicht, wohin ich mich soll neigen t
Ich möchte reden, doch die Worte fehlen
In diesem Wirrsal, das die LieV geschaffen.
So muss ich denn mich wohl zusammenraffen
und mich dem Mitleid, meinem Feind, empfehlen,
Dass er die Liebesqualen bring' zum Schweigen.
Können wohl diese Lieder, das freudige sowohl, wie
die klagenden, auf ein blosses Ideal bezogen werden?
Müssen sie nicht eine wirkliche Greliebte de» Dichters zum
Gregenstand haben? Besonders das letzte, in welchem der
Dichter, da er der Liebe seiner „Herrin" nicht theilhaftig
werden kann, wenigstens um ihr Mitleid, das er doch
eigentlich entwürdigend findet und hasst und „seinen Feind'^
nennt, verzweifelnd fleht? Und müssen nicht die beiden
folgenden, die ebenfalls in das Gebiet der Liebesklagen
gehören, durchaus mit einem bestimmten Yorüall, wie. er in
der vagen Beziehung zu einem Ideal nicht statthaben
könnte, in Verbindung gebracht werden?
17. Sonett.
Ihr habt gespottet mit den and'ren Frauen
Des Anblickes mein und nicht den Grund bedacht.
Der stets aus mir den stummen Tr&umer macht,
So oft Ihr Eure Schönheit mich lasst schauen.
Wenn Ihr ihn kenntet, würden rasch entfacht
In Euch das Mitleid sein und das Vertrauen:
In Eurer Näh' schwingt zu den seFgen Auen
Des höchsten Glücks die Lieb' sich aus der Nacht
69
In der sie lag, und mit Gewalt verstören
Und tödten will sie meine Lebensgeister,
Die fdrchtsam flieh'n, um ihr den Platz zu lassen;
Bann scheint ein ander Sein mich zu umfassen,
Doch bleib' ich noch so weit der Sinne Meister
Um der Vertriebenen Weheruf zu hören.*)
18. SONETT.
Was ich sonst fohl' und denk' erstirbt in mir
So oft ich Euch, o holde Freude, sehe;
Und Amor ruft: „Wenn noch zu leben dir
Ist lieb, so flieh' aus deiner Herrin Nähel^
Es schwindet meiner Wangen rothe Zier,
Und ohne Stütze laum ich aufrecht stehe,
Und in der Sinne Trunkenheit ist mir
Als hört' ich selbst die Steine schrei'n: „Vergehe!^
Es macht sich, wer in solcher Pein mich sieht
Und mich nicht tröstet, einer Sünde schuldig;
Ein Blick des Mitleids würd' mir schon genügen.
Das jetzt vor Eurem scharfen Spotte flieht.
Es fleht darum mein brechend Aug* geduldig,.
Es fleht die Qual in meinen blassen Zügen.
Und wie der scharfe Spott der „Herrin", der die
Hofhung, wenigstens von ihr mit mitleidigen Augen be-
trachtet zu werden, ia ihm vernichtete, nur mit grosser
Schwierigkeit und Eünstlichkeit allegorisch würde gedeutet
^werden können, so wüsste ich auch nicht, was man, wenn
*) Den Wehemf der vertriebenen Lebensgeister, die sich bekUgen
dass ile hei dem Kshen der «Herrin* stets entfliehen müssen.
70
man nur an das „Ideal^ denkt, aus dem Inhalte der
folgenden Sonette machen wollte, die geschrieben sein
müssen, als die „Herrin'' ein grosser Schmerz betroffen
hatte. Die beiden ersten derselben, die eine Art von Duett
zwischen klagenden Frauen und dem Dichter darstellen,
sind in ßßr „Vita nuova'', die beiden letzten in deni
„Canzoniere" enthalten. Die vier Sonette lauten:
19. SONETT.
Ihr scheint mir so bedrückt und senkt zur Erde
Die Augen, die Ton Gram umflort 0, sagt,
Wo kommt ihr her, ihr Frauen, dass ihr tragt
So tiefen Schmerz in Miene und Geberde?
Schon ahnet mir, was ich erfahren werde:
Dass uns're Herrin, weil sie schier verzagt,
Jetzt ihres Aug's Bewohner, Amor, plagt
Mit salz'gem Nasi. — Verzeiht mir die Beschwerde,
Doch lasst mich nicht im Ungewissen steh'n;
Und saht ihr wirklich sie in grossem Leide,
So sprecht Ton ihr mir, wie es ihr mag geh'n.
Ihr weint? 0, zögert nicht mit dem Bescheide,
Denn schon, dass ich euch so verwirrt muss seh'n,
Macht, dass ich selbst die Thränen kaum vermeide.
20. SONETT.
Bist du's, der uns vertraulich oft gestanden
Die stille Lieb' zu uns'rer Herrin? — NeinI
Die Stimme würde zwar dieselbe sein.
Doch kam dein frühres Aussehn dir abhanden.
71
Und warum liegst da so in Schmerzen's Banden,
Dass and'ren selbst du flössest Mitleid ein?
Hat ihrer Thr&nen Anblick solche Pein
In dir erweckt, dass wir dich trostlos fanden?
O lass uns jetzo weinend weiter gehen.
Uns jetzt zu trösten, wäre Sund sogar,
Nachdem wir sie in ihrem Leid' gesehen;
Denn so erbarmenswerth ihr Anblick war,
Dass wer noch länger wollte bei ihr stehen
Bald selbst Tor Leid würd' sein des Lebens bar.
2L SONETT.
Wo kommt ihr her, in Trauer so versenkt?
O, seid so gfltig, mir es rasch eu sagen.
Denn nicht kann ich der Bangniss mich entschlagen,
Dass meiner Herrin Weh euch so gekränkt.
So schnell nicht, edle Frauen, Ton mir lenkt
Den Schritt; o, bleibet, wollet Rechnung tragen
Der Bangniss mein, und hört mein hastig Fragen
Nach ihr, der Herrini auch selbst, wenn ihr denkt,
Dass eure Kunde unheilvoll mir klingt!
So sehr hat Amor mich des Halts beraubet,
Dass er mich jetzt dem Ende nahe bringt.
0, seht mich an: ein Stamm, vom. Sturm entlaubet.
Bin ich und aller Muth sich mir entschwingt,
Wenn ihr nicht Trost zu spenden können glaubet.
72
22. SONETT.
Ihr Frauen, die ihr TraaermieDen traget,
Wer ist sie, die der Schmerz so ganz besiegt?
Ist*s Jene etwa, die im Herz mir liegt?
0, wenn es wahr, ich bitt' euch, dass ihr's saget.
Wie scheint ihr ganzes Wesen so verzaget
Und so entstellt der Zauber, der umschmiegt
Ihr Antlitz und der Schönheit Quell versiegt,
Dass man sie kaum sich so zu denken, waget.
„Kannst uns're Herrin du nicht wiederfinden
In dem entstellten Bild, uns wundert's nicht,
Da uns auch schon der Glaub' begann zu schwinden.
Doch sieh der holden Augen Wunderlicht,
Sie mögen dir, dass sie es ist, verkünden;
Nun still, damit das Herz nicht ganz dir bricht."*)
An diesem Orte ist jetzt eine Canzone einzuschalten,
die auf die nachfolgenden Elagesonette um den Tod der
Herrin vorbereitet. Der Inhalt der Canzone, eine schreckliche
Vision, in der der Dichter Beatrice todt und von Engeln zum
Himmel getragen sieht, ist gleichsam schon durch den der
ersten Canzone der „Vita nuova" (siehe Seite 60) vorbe-
reitet, da dort die Engel den Herrn anflehen, ihnen die
Beatrice als Genossin zuzufilbren. Auf jeden Fall ist auch
die Vision ein Ausfluss oder wenigstens ein dichterischer
Ausdruck von Befürchtungen, die der Dichter um das
Leben der „Herrin" damals hegen musste und auf die auch
Guido Cavalcanti in dem (Seite 49) erwähnten Antworts-
**) Auch in diesem Sonette ist die Duett-Form wieder anfgenommen,
die im 19. und 20. Sonette herrscht. Es scheinen also diese drei Lieder
nnd dem Inhalte nach ja auch das vierte (21. Sonett), in derselben Zeit
entstanden zu sein.
73
sonett anzuspielen scl^eint, wenn er sagt, dass Beatrice
den Tod begehrte (la vostra donna chedea la morte) und
nur durch den Genuss von des Dichters Herz, d. h. durch
seine Liebe noch gerettet worden sei, aber nicht für
immer, so dass Amor doch später weinend davongehen
musste. Sollte Beatrice länger leidend gewesen sein?
Sollte vielleicht gar die Liebe zu Dante — die für sie
keine schuldlose gewesen sein wtirde, da sie ja Eheweib
des Simon Bardi war — ihr Ende beschleunigt haben?
Eine SteUe des Prosa-Textes wird uns Veranlassung geben,
nochmals auf diese Fragen und Yermuthungen zurückzu-
kommen; jetzt WoUen wir zunächst das Gedicht reden
lassen:
2. CANZONE.
, Ein sanftes, gutes Mädchen, jung an Jahren,
Mit irdischer Schönheit reich genug bedacht,
Befand sich just bei mir, als plötzlich ich
Mit Sehnsucht nach dem Tod als Retter rief.
Und da sie meine trüben Augen sah
Und meine Frevelsworte hörte, brach
Sie voller Angst in heftiges Weinen aus.
Die and'ren Frauen, schnell herbeigerufen
Von ihr, die sich um mich so ängstlich sorgte,
Befahlen ihr zu geh'n und traten dann
An's Bett, um meiner Leiden Grund zu hören.
Es sagt' die Eine: „Böse Träume sind'sl^
Die Andre: „Ei, was willst du so dich sorgen!^
Doch mich verliess erst meines Schreckens Wahn
Als ich rief meiner Herrin Namen an.
So schmerzensvoU war meiner Stimme Laut,
Gebrochen auch durch Thränen und durch Seufiser,
Dass nur mein eig'nes Herz den Namen hörte.
74
Doch fohlt' ich mich schon dadurch so beschämt,'*')
Dass kaum zu Jenen ich nun wenden konnte
Mein Antlitz, wie doch Amor mir's befaM.
Und so war Aber dieses ausgegossen
Des Schrecken's Blässe, dass die Frau'n sogleich
An meinen Tod zu denken nun begannen.
„Lasst uns ihn trösten 1^ sagte ängstlich drum
Die Eine zu der Andern; dann sie frugen:
„Was sahst du, dass dich alle Kraft yerlassen?"
Und als ich mich etwas gestärket spürte,
Begann ich: „Hört, was mich so schwer berührtet
Als ich mein kläglich Leben übersann
. Und seiner kurzen Dauer dann gedachte,
Hub Amor auch zu weinen an im Herzen,
Wo er seit lange sich ein Heim begründet.
Und so ward meine SeeP dadurch verwirrt,
Dass plötzlich sie mit Seufzen zu sich sagte:
Auch meine Herrin wird einst sterben müssen I
Bestürzung fasste mich ob dieses Wortes
Und Scham zugleich, dass solches ich gedacht.
Und so geschwächt gleich fühlten sich in mir
Die Lebensgeister, dass sie in der Irre
Nun schweiften, und mit wüstem Fieberwahn
Das klare Denken schrecklich sich vermischte:
Ich schaute vieler Frau'n verzerrte Mienen,
Die meinen Tod mir anzukünd'gen schienen.
Dann sah ich viele grauenvolle Dinge
Im wirren Traume, der mich hielt befangen:
Ich fand an unbekannter Stätte mich.
Wo manche Frauen einzeln geh'n ich sah.
*) Dass er nämlich den Namen seiner „Herrin", wenn anch nnr so
leise, dass es allein sein eigenes Herz hörte, in Gegenwart der Frauen
ansgemfen hatte. Yergl. Seite 86.
75
Thefls weinend, theils mit lautem Wehrof klagend,
Und alle glüh'nde Schmerzensblicke werfend.
Dann schien es mir, als wenn sich nach und nach
Verdunkelte die Sonn' und Sterne kämen,'
Und Sonn' und Sterne sah ich Thränen weinen.
Und Vögel sah ich aus den Lflften fallen
Zur Erde nieder und die Erde bebte;
Und dann erschien ein bleicher, müder Mann
Der zu mir sagte: Wie? Dir ward nicht Kunde
Dass deine schöne Herrin starb zur Stunde?
Ich hob die Augen, die in Thränen schwammen
Und meint' zu sehen einen Manna-Regen,
Doch waren's Engel, die zum Himmel stiegen;
Ein Wölkchen 'trugen sie vor sich dahin
Und alle sangen laut ihr: Hosiannaht
(Hätt' mehr ich hören können, würd' ich's künden.)
Es sprach dann Amor: „Da dir's nicht zu hehlen.
So komm', die Herrin aufgebahrt zu seh'nl"
Und jenes Traumgesicht führt' mich nun hin.
Wo ich im Todesschlaf sie liegen sah.,
Kaum hatt' ich sie so recht betrachtet, deckten
Die Frauen sie mit einem Schleier zu.
Im Tod' noch war ihr so Tiel Mild' beschieden,
Als wollte sagen sie: Ich bin der Frieden I
Auch ich wurd' durch den Schmerz zur Mild' geläutert,
Die mir in ihr so ausgeprägt erschienen,
So dass ich rief: „0, Tod! du bist mir lieb
Geworden, wirklich theuer wardst du mir,
Seitdem in meiner Herrin du jetzt wohnest.
Nun lass die Gnade dein auch mich verspüren I
Sieh', wie ich sehnsuchtsvoll jetzt zu dir sage:
Gehören will ich zu den Deinen, Treue
Dir leisten! so komm' du und nimm mich hin!"
76
Dann ging ich weg, in Schmerzen ganz versunken,
Und als ich mich darauf allein befand
Sagt' ich, den Blick hinauf zum Himmel richtend:
„Bei dir war* meine SeeF befreit Ton Kummer!^
Djum wecktet ihr mich aus dem irren Schlummer.
An diese Vision, die, auch wenn der Dichter sie nicht
wirklich erlebte, ein trefflicher dichterischer Ausdruck fOr
seine Befürchtungen um der Herrin Leben sind, und die
abermals den läuternden Zauber ihrer Milde auf sein Gre-
müth mit bewegenden Worten verkünden, schliessen sich
inhaltlich nun die Elageüeder an, die der Dichter über
den Tod seiner Herrin sang. Es gehören zu denselben
auch drei Canzonen aus dem „Canzoniere^, die ich aber,
da sie den Inhalt der beiden Canzonen der „Vita nucva"
nur varüren, nicht anführen will. Auch scheint die eine
derselben wegen einer in ihr enthaltenen schwer zu deutenden
Stelle eher sich auf die Herrin des Convito als auf die
eben gestorbene Beatrice zu beziehen. Die in der „Vita
nuova" enthaltenen Klagelieder sind die folgenden:
23. SONETT.
Kommt, edle Herzen, meiner Seu&er Grund
Zu hören, wenn euch Mitgef[ihl beseelet:
0, hätt' ich nicht zu sagen, was mich quälet,
Sie wenigstens, ich war' schon todt zur Stund'.
Die Augen sind so ganz von Thränen wund,
Die unfreiwillig flössen, ungezahlet.
Um meine Herrin, dass dem Herz nun fehlet
Des bitt'ren Nasses trostesreicher Bund.
Drum kann ich jetzt mit Seufzen nur noch klagen
Um meine edle Herrin, die hinauf
Zum Himmel, weU sie ihn verdient, gegangen.
77
Die Freud' am Leben geb' ich gänzlich auf,
Seitdem mit ihr mein Heil ward fortgetragen
Und Alles, was der armen Seel' Verlangen.
24. SONETT.
Ach, müde und geschwächt sind meine Augen,
Weil ich so viel geseufset und geklagt
Und sorgenvoll mein armes Herz geplagt;
Nun wollen sie nicht mehr zum Sehen taugen.
Sie sind zwei Flämmchen, die nur Nahrung saugen
Aus Thränen noch; sie flackern nur verzagt.
Und auch die Dulderkron' ward nicht versagt
Von Amor meinet rothgeweinten Augen.*)
Und so muss sich mein armes Herze winden
In Seufzern und in Sorgen mancherlei,
Dass Amor auch vor Schmerz zu sterben glaubt.
Ein einziger Trost steht in dem Schmerz mir bei :
Der Name meiner Herrin wird nie schwinden
In mir, wenngleich der Tod sie mir geraubt.
Das folgende, innige Klagelied scheint bei Anlass eines
Pilgerzuges,**) den der Dichter durch Florenz wallen sah,
gesungen zu sein:
*) Die dnrcb's Weinen gerötheten Augenlider nennt Dante auch
an anderen Orten «die M&r^erkrone Amor's'*. Vergl. die 8. BaUade.
**) Jedoch kann man nPUger*^ (peregrlnl) auch In der aUgemelneren
Bedeatnng dieses Wortes als Fremde, Wallende, Durchreisende auffassen,
ohne den Begriff der religiösen WaUfahrt damit m Terblnden. und da
Dante In seiner Scholle zu diesem Sonett diese weitere Bedeutimg be-
sonders betont, lässt sich also ans dieser BteUe kaum die auf Seite 80
erwähnte chronologische Folgerung ziehen.
78
25. SONETT.
Ihr Pilger, die so ernst des Wog's ihr schreitet,
YieUeicht gedenkend eurer fernen Lieben,
Ward ihr, wie euch es in's Gesicht geschrieben.
Aus weiter Fremde her zu uns geleitet,
Dass ihr das Weh nicht kennt, das jetzt gebreitet
Liegt über dieser Stadt? Dass trocken blieben
Die Augen euch? Und könnt euch nie betrüben
Der Schmerz, der uns so heftig jetzt bestreitet?
4
0, wenn ihr hören wolltet meine Klagen
Ihr würdet, wie mein Herze sicher glaubt.
Dann weinend eures Weges weiter wallen.
Es ward die Beatrice uns geraubt!
Und das, was ich von ihr euch könnte sagen,
Würd' heisse Thränen wecken in euch allen.
Am Jahrestage des Todes der „Herrin**, also auf jeden
Fall später, als alle bisher angeführten Gedichte, ist dann
das folgende Klagelied gedichtet, dass sich in dem Aus-
drucke des Schmerzes schon mehr gekünstelt, als die vor-
hergehenden zeigt:
26. SONETT.
Erster Anfang.
Ich musst' aufs Neu' der Herrin heut^ gedenken.
Der frommen, die Gott zu sich hat gerufen.
Damit sie dort, an seines Thrones Stufen
Ihr Aug* in das Maria's könnt' versenken.
79
Zweiter Anfang.
Ich musst' aufs Neu' der Herrin heut' gedenken.
Der Lieblichen, um die jetzt Amor weinet;
Just in der Zeit war's da ihr euch vereinet,
Den Blick auf meiner Hände Werk zu lenken."')
Erwacht ist Amor — stets galt ihr sein Denken! —
Aufs Neu' im H6rz, das jetzt so arm erscheinet,
Und wecket alle Seu&er, weil er meinet
Dass es nicht Zeit, sie länger zu beschränken.
Sie fliehen jammernd nun aus meiner Brust
Und in den Thränen sie Grenossen finden
Zu künden meines Herzens schweren Gram;
Und die am schmerzlichsten sich mir entwinden,
Sie rufen: „Du, der Seele reinste Lust,
Ein Jahr ist's heut, dass Gott dich zu sich nahm."
Zu den Elageliedem, die augenscheinlich in froherer
Zeit, vielleicht sofort nach dem Tode der Herrin geschrieben
sind, wenn Dante damals überhaupt schon Canzonen dichtete,
gehören dann noch die beiden folgenden: .
3. CANZONE.
Es leiden meine Augen von den Thränen
Die ohne End' mein Herzenskummer weckt,
Und aller Glanz in ihnen längst erlosch,
So dass ich jetzt, um meinen Schmerz zu künden,
Der langsam mich dem Tod' entgegenfahrt,
Nur noch die lauten Seu&er übrig habe.
**) Dieses ist die einzige Stelle in allen Gedichten, die man ohne
Zuhülfenahme des Prosa -Textes nicht wfLrde deuten können. In dem
letzteren erzählt Dante, dass er gerade Engelsflgnren auf ein Blatt
zeichnete, als einige vornehme M&nner hinter ihn traten imd ihm bei
seiner Besoh&ftigmig zusahen. Siehe Seite 10.
80
Und da ich daran denke, dass ich oft
Von meiner Henin, während noch hinieden
Sie wandelte, mit euch, ihr gaten Frauen,
Mich unterhielt, will ich auch heute reden
Nur zu den sanften, edlen Frauenherzen;
Und Beu&end kOnd' ich ihnen Trauermär':
Der Himmel w&hlte Bie zu seiner Zier
Und liess mich schmerzerfüllt mit Amor hier.
Ja, Beatrice ging hinauf zum Himmel,
In's Friedensreich, mit Engeln dort zu wohnen
Wie einst sie, edle Frauen, wohnf mit euch.
Nicht tfick'scher Nord, noch heisse Sonne rissen,
Mit Krankheit sie bestOrmend, sie von uns
Wie and're Sterbliche, nein, ihre Gate
Und ihre grosse Sanftmuth trugen hin
Zum Himmel ihrer Tugenden OerOcht
Und priesen so vor Gott, dem Herrn, sie an,
Dass ihn nun rasch ein sflss Verlangen fasste.
So holdes Wesen zu sich hin zu rufen;
Und er befahl, dass sie zum Himmel stiege,
Weü er erkannt, dass dieses ird'sche Leben
Nicht würdig sei, sie länger zu umgeben.
Den holden Leib verliess drum ihre Seele
Die, gleich wie er, mit Anmuth war geschmückt.
Und schwang sich ruhmvoll auf zu besserer Stätte.
Wer, daran denkend, Thränen nicht vergiesset.
Der hat ein steinern Herz und niedem Sinn,
Die unzugänglich zarterem Elmpfinden.
Ein ftlhUos Herz hat niemals zum Genossen
So hohen Sinn, dass gern er von ihr träumet.
Und darum auch bleibt meinem Schmerz es fremd.
Doch dem, der einmal nur sie recht betrachtet,
Und recht verstanden ihres Tod's Bedeutung,
Der kann die Trauer nicht im Herzen bannen;
81
Mit mir wird er jetzt seu&en, mit mir weinen
und jedes Trost's die SeeP beraubet meinen.
In tiefe Angst versetzt fühlt meine Seele
Sich durch die Seufzer, die sich alsbald regen,
So oft mein Denken vor die düst're hin
Das Büd der Holden rückt, die ich geliebt.
und oft des Tod's gedenkend, steigt in mir
Ein süss Verlangen auf nach seiner Hand,
Das meine Mien' mit Heiterkeit dann krönet.
Denn so viel Leiden stürmen auf mich ein
Von allen Seiten, wenn ich an sie denke,
Dass ganz von Schmerz durchschauert ich mich fühle,
und vor den Leuten dann mich Scham beschleicht.
Dann wein' ich einsam, rufe einsam klagend
Nach Beatrice: „Bist du mir gestorben?"
Dies rufend hab' ich oft mir Trost erworben.
Die Thränen und die Seu&er stiller Angst
Yerstören mir mein einsam klagend Herz.
Säh's Jemand, würd' er Mitleid mit mir fühlen.
Doch keine Zunge würde künden können.
Wie elend jetzt mein ganzes Leben ward.
Nachdem die Herrin ging zum neuen Leben.
Und darum, edle Frauen, wenn ich's auch
Versucht', könnt' ich nicht schildern, was ich leide.
Es quält sich hart mein arg zerrüttet Sein,
und oft will mir es scheinen, als ob Jeder
Mir sagen müsste: „Dich geb' ich verloren!"
Wenn meine schon erstorb'nen Zug* er schaut.
Doch meine Herrin wird mich ganz versteh'n
Und ihren Dank hoff ich dereinst zu seh'n.
So mach' dich, Leidenslied, nun weinend auf
Und tritt vor jene Frau'n und Mädchen hin,
6
^
82
Zu denen deine Schwestern
Einst Mhliche Kund' zu bringen war'n gewöhnt;
XM sei, Kind der herbsten Traurigkeit,
Im Schmerze ihnen beizusteh'n bereit
4. CANZONE.
Wie oft, ach! muss ich trauernd mich erinnern,
Dass niemals ich sie wiedersehen werde.
Die holde Herrin, der mein Sehnen gilt.
Und auf mein Herz häuft dann so schwere Leiden
Das Denken, das dem Schmerz sich hingegeben,
Dass ich mir sage: „Warum lebst du noch,
0, Seele mein, wenn schon die and'ren Qualen
Der Zeit dir zu ertragen dünkt so hart.
Wenn sie mit Schwermuth schon dich ganz umstricken?
Dann ruf ich oft den Tod als Schmerzensstiller,
Als süssen sanften Ruhebringer her
Und sag* mit Sehnsucht: „KommM nach dir ich schmachte,
Und, wen du rufst, mit Neid ich ihn betrachte.^
Es lässt in meinen Seu&em sich vernehmen
Ein Ton des Bittens, der allüberall
Jetzt Umfrag' nach dem Tod' hält und ihn ruft.
Auf ihn nur richten meine Wünsche sich,
Seitdem mit Grausamkeit er meine Herrin
Aus uns'rer Mitte allzigäh' entfQhrte,
So dass die Wonne ihrer ird'schen Reize,
Nachdem sie sich entzogen uns'ren Blicken,
Zu jener geist'gen Schönheit sich verklärte,
Die durch den Himmel Liebesglanz verbreitet
Und Engel jetzt durch ihre Näh' entzückt.
Und deren Seele auch, die hohe, feine
Zum Staunen bringt. So edel ist die Reine!
83
Nach dieser etwas erkünstelten Poesie der Canzonen,
die, wie gesagt, vielleicht ans späterer Zeit, ans der Zeit
nämlich des Prosa-Textes stammt, gelangen wir zn einer
liebes-Episode, die in dem Dichter die heilige Erinnerung
an die dahingeschiedene „Herrin^ eine Zeit lang auszu-
löschen drohte und einen Kampf in seiner Seele hervorrief,
dessen Schilderung auf jeden Fall den Stempel der Realität
an sich trägt Sie wird uns in den folgenden vier Sonetten
erzählt:
27. SONETT.
Ich sah das tie&te Mitleid ausgepräget
In Eurem Wesen, stets wenn Euer Blick
Mich Annen tra;^ um den ein hart Greschick
So oft der Schwermuth schwarzen Schleier leget.
Auch ward ich inne, dass ihr Theilnahm' heget
An meines Lebens arg verstörtem Glück;
Und voller Scham zog ich mich dann zurück
um zu verhehlen, was mich so beweget.
Denn Euer Anblick weckt aufs Neu' die Thränen
In meinem Aug*, und doch möcht' ich nicht zeigen
Den Anderen mein so zerrüttet Sein.
Dabei sag' ich jedoch im Herzen mein:
„Zu ihr vielleicht will Amor jetzt sich neigen,
Der mir entfacht mein erstes herbes Sehnen."
28. SONETT.
Des Mitleids Ausdruck und die Färb' der Liebe
Sah nie in einem Frauenanüitz ich
So wunderbar, wie in dem Euren sich
Vermischen. Wenn ich vor Euch stehen bliebe
6*
1
84
Mit meinen Thränen und mich nicht vertriebe
Die Scham aus Eurer Nähe, sicherlich
Spr&ng' mir das Herz noch, da ich so um mich
Euch trauern seh'n muss. — Und dabei verschiebe
Ich doch mit Absicht oft das Weitergehen
Wenn ich Euch seh', denn meine Augen trachten
Sich mit den Euren weinend zu vereinen;
Und so wächst immer mehr ihr stilles Schmachten,
Dass sie jetzt stets mit Sehnsucht nach Euch seh'n
Und endlich wohl vergessen gar zu weinen.
29. SONETT.
Von Euch erzählt ein freundlicher Gedanken,
Der häufig bei mir einkehrt; und so schön
Weiss er der Lieb' mit Gründen beizustehen,
Dass er bereits mein Herz gebracht zimi Wanken.
Drum spricht die Seele jetzt zum Herz : „umranken
Will Jener uns mit Trost den Sinn? Lasst seh'n.
Wer ist's, und welche Kraft mag ihn erhöh'n,
Dass er das and're Denken hält in Schranken?^
ünd's Herz erwiedert: „Warum so besorgt
Bist, Seele, du? Ein neuer Liebesgeist
Ist's wohl, der seine Wünsche mir will sagen.
Und der die Erafb, die er an mir erweist.
Sich aus dem Auge der Gütigen erborgt,
Die so viel Antheil nimmt an uns'ren Plagen."
85
30. SONETT.
„0, meme Augen, euer bitt'res Weinen
In dieser Schmenenszeit hat jetzt entfacht
In jener And'ren, wie durch Wunder's Macht,
So grosses Mitleid, dass es fast will scheinen.
Als wolltet ihr, da ihr es seht, der Einen
Vergessen nun! Wer hätte je gedacht,
Dass ihr mich fast zum Treuebruch gebracht
An ihr, der vielbeweinten Holden, Beinen?
Nein! Eure Eitelkeit hat mich erschreckt.
So dass mit Furcht ich vor dem Antlitz stehe
Der And'ren, das euch oft geÜEuigen nahm,
und dass ich jetzt mit Seu&en zu euch flehe:
Vergesset nie der Herrin, bis euch deckt
Der eVge Schlaf!^ So spricht mein Herz mit Gram.
Der Dichter ist siegreich aus diesem seinem Herzens-
kampfe hervorgegangen und hat seinen Augen verboten,
femer nach jener „gentil donna^, die durch ihr mitleidiges
Wesen ihn gerührt und eine neue Neigung in ihm ent&cht
hatte, hinzuschauen. Das Bild Beatricen's überstrahlt in
ihm nun femer alles andere irdische Denken und Fühlen
und lenkt seinen Sinn auf den Himmel, auf das Paradies,
in dem die „Herrin^ jetzt wohnt. Ob aus dem Gredanken
an die in den Himmel entrückte „Herrin" auch der Plan,
eine dichterische Wanderung durch das Inferno und durch
das Purgatorio bis zu ihrer himmlischen Wohnung vorzu-
nehmen, jetzt schon entsprang? Wer könnte das je mit
Bestimmtheit sagen! Aber das schöne Sonett, mit dem
die Jugendgedichte und die „Vita nuova" bedeutungsvoll
^
86
abschliessen, lässt uns wenigstens yermathen, dass es der
Fall war. Es lautet:
81. SONETT.
Hoch über dieses Weltalls letzte Sphäre
Sich meines Herzens stilles Sehnen schwingt;
Ein neues Denken, das mich jetzt durchdringt,
Trägt es empor aus dieser Erdenschwere.
Und dort, wohin es strebt, sieht es von Ehre
und Stndilenglanze eine Frau umringt,
In seliger Verklärung! Von ihr bringt
Die Eund' es mir zurück. Doch ich entbehre
Zunächst noch des Verständnisses, so fein
Und zart spricht es zum Herz, dem kummerreichen,
Aus dem es vordem aufgestiegen war.
Doch deut' ich recht, o liebe Frau'n, die Zeichen,
So musste es wohl Beatrice sein.
Die es dort sah so hold und wunderbar.
Damit ist unser Gang durch die Gedichtsammlung be-
endet. Betrachten wir noch einmal kurz und im Zusammen-
hange das Bild der Beatrice, der „Herrin", der zu Ehren
Dante diese Lieder sang, so müssen wir uns zunächst
sagen, dass in den letzteren nicht das geringste Dunkele
oder Schwerverständliche, welches uns Veranlassung geben
könnte, in ihnen Allegorien zu sehen, gefunden werden
kann. Das persönliche Verhältniss, in welches sich Dante
zu Amor setzt, kann nicht überraschen, wenn wir die
Zeit, in der die Gedichte entstanden, und die Redeweise
der Liebesdichter in ihr, uns stets gegenwärtig halten. In
Italien war die Poesie in der Volkssprache (la poesia
Yolgare) zu Dante's Zeiten noch sehr jung, gleichsam eben
87
im Entstehen, und Dante, der in der „Vita nuova"*) sich
wegen des Gebrauches des „volgare" in seinen Gedichten
erst noch besonders rechtfertigen zu müssen glaubt und
dabei auch seine Personification der Liebe in der Gestalt
Amor's geschickt erklärt und vertheidigt, ist neben seinen
schon genannten Dichterfreunden als der Begründer oder
wenigstens als der erste bedeutende Vertreter des „dolce
Stil nuovo" anzusehen. Er sagt, dass weder in der pro-
vengaüschen noch in der italienischen Sprache etwas Ge-
reimtes früher zu finden sei, als etwa 150 Jahre vor
seiner Zeit, und er hat Recht damit, wenn auch nicht so
ganz mit dem Vordersatze zu dieser Behauptung^ dass
nämlich das Reimen (dire per rima) im Volgare dasselbe
sei, wie das Versemachen (dire per versi) im Lateinischen.
Wir sehen aus dieser Aeusserung, dass Dante selbst die
italienischen Liebesdichter aus der damaligen Zeit mit den
proven^alischen vergleicht, und in der That haben ja die
ersteren aus der Provence und aus Sicilien die Anregungen
und mit ihnen die Conventionellen Formen des Liebescodex
überkommen. Warum man also an die Gedichte der
italienischen Dichter des „dolce stil nuovo", und mit ihnen
an die Jugendsonette Dante's, einen anderen Maassstab
legen will, als an die Lieder der proven^alischen Trou-
badoure, ist mir nicht recht verständlich. Gewiss haben
auch diese letzteren den Geliebten zuweilen den Mantel
der Allegorie umgelegt oder auch zuweilen unter der „Herrin"
blos das allgemeine weibliche Ideal, das ihnen vorschwebte,
besungen, aber man kann doch deshalb nicht behaupten,
dass in ihrer Poesie der Cultus der „Herrin" blos auf
einer allgemeinen Vorstellung begründet gewesen sei. Im
*) Siehe ^La vlta nuoyo* dl Dante. Oap. XXV.
88
Gegentheil, dieser Coltos fand in der An&ngszeit in einem
sehr realen nnd wenig platonischen Liebesdienste seine
ersten Grundlagen nnd war anch später, als er anf dem
Höhepunkt seiner Entwicklung stand, in den einzelnen
Fällen meistens nicht vom Boden der Wirklichkeit so los-
gelöst, dass man in ihm eine nur poetische Eichtung erkennen
müsste. Auch die Poesie schwebt nie gänzlich in den
Lüften, und selbst die sentimentalsten und verschwommensten
Kichtungen in ihr haben einer Erscheinung des thatsäch-
lichen, socialen Lebens entsprochen oder dieselbe wenigstens
heryorgerufen. So ist es ein Trugschluss aus der Stimmung
der Dante'schen Jugendsonette, aus ihrem Zusammenhange
mit der Minne-Poesie der provengalischen Dichter und aus
dem hohen Stil, in dem sie gesungen sind, schon im All-
gemeinen die Folgerung herleiten zu wollen, sie seien zu
Ehren des Weibes, nicht eines Weibes gedichtet worden,
sie seien nur dem damals in der Mode stehenden Gultus
der „Herrin^, nicht der Liebe zu einer bestimmten Beatrice
entsprungen. Und dieser Trugschluss wird noch ersicht-
licher, wenn wir imBesonderenauf denlnhalt dieser Liederein-
gehen. Sollen wirklich die vielen kleinenZüge, die der Dichter
von seiner Liebe und von seiner Greliebten berichtet, so
spurlos in dem grossen, allgemeinen Cultus der „Herrin^
untergehen? Dass der Knabe schon mit neun Jahren die
Allgewalt der Liebe empfunden, dass er später die Ge-
liebte mit den Frauen zur Kirche wallen oder an der
Hand der Freundin daher kommen sieht, dass er sie er-
zürnt weiss über seine Hinneigung zu anderen Frauen,
und, um sich zu rechtfertigen, seine schöne Ballade vor
sie hintreten lässt, dass er, als sie von emem herben
Schmerze betroffen, mit ihr trauert, dass ihr Spott zu
seinen Ohren, gedrungen ist und ihr Gruss ihn hold beglückt
89
hat — sind das wklich Ereignisse, die man von .einer
allegorischen Geliebten erzShlt? Und die Yorahnung ihres
Todes, die ihn selbst auf das Krankenlager nnd in Fieber-
walm wirft, ihr Sterben dann, das ihn nöthigt, seinen
Schmerz fem von der Gesellschaft der Menschen auszu-
weinen und ihm Todesgedanken eingiebt, sind das so all-
gemeine Züge? Man hat gesagt, dass Dante in dem Lob
der Herrin zu conventionell gewesen sei; aber giebt er
nicht eigentlich seiner Herrin ein ganz bestimmtes Ge-
präge? Sind es nicht vor AUem die Milde, die Güte und
Sanftmuth, die ihn an ihr entzücken und die ihm die
„Holde" als einen Engel des Himmels erscheinen und in
ihr die HeilvermitÜerin erblicken lassen? Wo sind der
Stolz, der Geistesreichthum, der Witz, die scherzende
Plauderlust, die sonst die Liebesdichter jener Zeit als
Eigenschaften ihrer Herrinnen rühmen, in diesem Gemälde
geblieben? In der That, die Beatrice tritt uns in diesen
Gedichten genugsam individualisirt und charakterisirt ent-
gegen, um den Gedanken, dass sie ein allgemeines Ideal
sei, weit wegzuweisen. Sie ist das schöne, holde und gute
Mädchen, das schmollen und zürnen und wohl auch spotten
kann, in deren Wesen aber die Milde vorwiegt. Und als
ein solches anmuthiges Geschöpf mag uns Beatrice vor den
Augen stehen bleiben.
Man hat ausserdem noch so viele Yermuthungen über
die andern Frauen, die in den Gedichten erwShnt werden,
angestellt Man fragt sich, wer waren die anderen Ge-
liebten, zu denen sich der Dichter eingestandenermaassen
hinneigte, wer waren die Frauen, die weinend von Beatrice
zurückkehrten, als sie sich in herber Trauer befand, wer
war das kleine gute Mädchen, das bei dem Dichter war,
als er seine schreckliche Yision von dem nahen Ende
90
Beatricens hatte, wer war endlich die ,,geiitil doima^^ an
der seine Augen Grefallen fanden, w&hrend er noch mn
die gestorbene „Herrin" trauerte? Ich möchte dagegen
fragen: würde es nur irgend etwas zu dem Yerständniss
der Dichtungen oder auch zur Aufklärung der wahren
Sachlage hinsichtlich der Liebe Dante's zu Beatrice bei-
tragen, wenn wir die Namen dieser Frauen oder ihrer
näheren Beziehungen zum Dichter kennten? Ist uns nicht,
auch ohne dass uns jene Fragen alle gelöst wurden, 'der
Inhalt und im Ganzen auch der Zusammenhang der Ge-
dichte und dessen, was sie berichten, klar geworden? Wir
wissen, dass es der Cultus der „Herrin" erforderte, dass
der Anbeter seine Liebe verschleierte und womöglich sogar
durch erheuchelte Hinneigung zu andern Frauen yerhOllte;
wir erfahren auch zum Beweis daf&r (aus der 2. Canzone),
dass der Dichter vor Scham vergehen zu müssen glaubt,
als er im Schrecken des Traumes in Gegenwart anderer
Frauen den Namen seiner Herrin ausrief und hierdurch
seine Liebe bekannte; erfordert es also zum Yerständniss
der 1. Ballade noch mehr? Und die anderen Frauen, die mit
der Beatrice weinten, können es nicht Freundinnen oder
Verwandte gewesen sein? Warum soll man sich also erst
den Kopf darüber zerbrechen, wie es ein Ausleger gethan
hat, ob es Dienerinnen Beatricens oder Pförtnerinnen ihres
Vaterhauses gewesen sein könnten? Und ähnlich verhält
es sich mit den Fragen nach der „gentil donna", die seine
Gedanken zeitweilig von der verstorbenen Beatrice ablenkte.
Die nähere Bestimmung ihrer Persönlichkeit würde durch-
aus nichts zum Verständniss der auf sie bezüglichen Sonette
beitragen.
Im Ganzen — damit können wir diese Betrachtung
schliessen — zeigen uns die Jugendgedichte ein reeUes
r
91
und „echtes*' laebesverhältniss des Dichters zu Beatrice.
Sie zeigen uns femer schon, wie Beatrice, nach ihrem
Dahinscheiden, das hohe Ideal f&r ihn zu werden beginnt,
das, selbst in dem Himmel wohnend, ihn mit Sehnsnchts-
banden dahin zieht. Und sie lassen xxna yermuthen, dass
schon damals in dem Dichter der Gedanke erwachte, sie
im seligen Beiche an&usnchen, dass also der Plan seines
grossen Gedichtes, oder viehnehr der Zielpunkt desselben,
die dichterische Yerherrlichmig des Paradieses, damals ihm
Yorznschweben begann.
Mit dem Berichte Boccaccio's widerspricht sich der
Inhalt der Gedichte in keinem Punkte. Die Schwierigkeiten,
die man in der Deutung der „Yita nuova" gefunden hat,
müssen also in dem anderen Bestandtheile dieses Schrift-
chens, in dem Prosa-Texte liegen, und zu seiner Betrach-
tang woUen wir uns deshalb jetzt wenden.
IV.
DER PROSA-TEXT DER „VITA NUOVA".
Der Prosa-Text der „Yita nuova" entMlt theils in
forüanfender ErzäMnng den Bericht des Dichters über die
Entstehung und den Yerlanf seiner liebe za Beatrice,
theils in episodenhaften, oft mit jenem Berichte nur in
lockerem Zusammenhange stehenden Erklärungen die Dar*
stellimg der speciellen Anlässe zn den Gedichten. Die
letztere Darstellmig umschreibt zuweilen nur den Inhalt
des nachfolgenden Gedichtes. Der bedeutendste unter den
neueren literarhistorikem, welche die „Echtheit" Beatricen's
festhalten, Alessandro d'Anoona,*) theilt den ganzen Text
in flQnf Abschnitte ein, von welchen der erste, der in den
Zeitraum von 1274—87 ffiOlen würde (Capp. I— XVn
der gewöhnlichen Ausgaben), die Jugendliebe und die
Gedichte auf die körperliche Schönheit Beatricen's um-
&8Sten. (Nach meiner Numerirung der (Gedichte: die
Sonette 2, 13, 5, 6, 4, die Ballade 1, die Sonette 16, 17,
18, 15.) Die zweite Abtheilung (1287—1290;' Capp.
XYm— XXVH) enthielte dann das Lob der geistigen
Schönheit Beatricens (Canzone 1, Sonette 1, 9, 19, 20,
Canzone 2, Sonette 7, 12, 11, Stanza). Die dritte Ab-
*) «La Tito ntioya« dl Dsnte, ed. da A. d'A. Pisa, 1884.
93
theüung (1290—1291; Capp. XXVEI— XXXIV) wäre dem
Tode Beatricens gewidmet (Canzone 3, Sonett 23, Can-
zone 4, Sonett 26). Die vierte Abtheilmig (1291—93;
Capp. XXXV— XXXYin) behandelten die Liebe zu der
„donna gentile*', deren mitleidsvoller Anblick den Dichter
beinahe von seiner Trauer um Beatrice abgebracht hätte.
(Sonette 27, 28, 30, 29) und die fünfte Abtheüung (1294;
Capp. XXXIX— XLD) schilderte die Rückkehr zur Trauer
am die „Henin*' und zum Cültns der dahingeschiedenen
Beatrice (Sonette 24, 25, 31). Da ich die Lieder nach
ihrem Inhalte zusammengestellt hatte, zeigt uns die vor-
stehende Uebersicht über ihre Beihenfolge innerhalb des
sie begleitenden Prosa-Textes, dass sie inhaltlich m der
Dante'schen Anordnung bunt durcheinandergewürfelt sind,
und daraus geht hervor, dass auch die Eintheflungen
d'Ancona's kaum festzuhalten sind. Meine Zusammenstellung
dem Inhalte nach macht allerdings durchaus keine Ansprüche
darauf, zugleich auch über die Entstehungszeit der Gedichte
zu entscheiden; im Gegentheil, es ist anzunehmen, dass
manche der letzteren, obgleich sie inhaltlich sehr ver-
schieden sind, in einer und derselben Periode gedichtet
worden sind« Aber es beweist uns doch die inhaltliche Ver-
schiedenheit derselben, dass im Grossen und Ganzen auch der
begleitende Text Dante's keinen besonderen chronologischen
Werth hat, unddass nicht einmal eine besondere chronologische
Absicht ihm zu Grunde liegt. Abgesehen von demEingange, in
welchem das erste Zusammentreffen des neui^ährigen Dichter-
knaben mit der noch nicht einmal so alten Beatrice, ent-
sprechend dem Berichte von Boccaccio, geschildert wird und
abgesehen von den Schlusskapiteln, in welchen die Trauer
um Beatrice, die diese Trauer unterbrechende Liebes-
Episode mit der „donna gentile^ und das Wieder-Aufiraffen
94
des Dichters zu dem alleinigen Ooltus der dahingeschiedenmi
„Herrin*^ erzählt wird, scheint mir die Erzählong durch-
aus nicht chronologisch fortzuschreiten und noch weniger
glaube ich, dass sich ihr solche Gfesichtspunkte, wie sie
d'Ancona für die ersten seiner Abtheilungen angestellt
hat, also Schilderung der körperlichen, dann Lob der
geistigen Schönheit, zuschreiben lassen« Weder der Prosa-
Text noch die Gedichte erlauben diese Eintheilung. Ebenso
wüsste ich nidit, auf welche Weise die zeitliche Eintheilung
dieser ersten Partien in eine solche, die in die Jahre von
1274 — ^87 und in eine zweite, die in die Jahre von
12S7 — 90 fallen würde, ans der Schrift selbst zu be-
gründen wären. Im Gegentheil, mir macht es den Eindruck,
als ob Dante schon mit dem zweiten Kapitel, in welchem
er erzählt, dass neun Jahre nach jener ersten Begegnung
beim Kinderspiel, gerade um die neunte Stunde des Tages
ihm die „gentiliRsima** in Begleitung zweier älteren Frauen
begegnet sei und ihn holdselig gegrfisst habe, sogleich den
Weg der geordnet fortschreitenden Erzählung yeriassen
habe. Es kommt hier gewiss die Neun-Zahl, die in dem
ganzen LiebesyerhMtniss eine grosse Eolle spielt und über
die er später deshalb (Cap. TTXTX) symboUsirende Be-
trachtungen anstellt, sogleich auch in ihrer Symbolik zur Gel-
tung, und zwar in der Weise, dass der Dichter, weil er diese
Zahl als bedeutungsvoll und glücklich für sich und seine
„Herrin^ betrachtete, das zweite frohe und epochemachende
Ereigniss in seinem Liebesleben, den Gruss der Holden,
mit tieferer Absicht, aber ohne eigentlich thatsächliche
Berechtigung in die neunte Stunde und neun Jahre nach
dem ersten Begegniss verlegt, das ja ebenfalls auch neun
Jahre nach seinem Eintritt in's Leben stattgefunden hatte.
Man hat sich viel den Kopf darüber zerbrochen, warum
95
Dante die Zwischenzeit zwischen dem ersten Erwachen der
Liebe in ihm mid dem ersten Gruss der Jmigfran gänzlich
fibergangen habe, und man hat dabei, wie bei der Er-
örterung Tieler anderer Schwierigkeiten der ,,Yita nuova",
meines Erachtens übersehen, dass er auch in dem Prosa-
Texte der Schrift doch wohl nicht historisch seine Liebe
erzählen, sondern nur, möge seine Absicht dabei gewesen
sein, welche es wolle, eine Erläuterung seiner Gedichte
geben wollte. Deshalb scheint mir auch jenes Datum des
ersten Grosses nicht historisch zu sein. Dante spricht
im Anschluss an diesen Gruss von der Vision, in der er
die „Herrin" auf Amor's Geheiss von seinem Herzen essen
sah; er will also mit jener Zeitangabe blos sagen, dass durch
diese Vision, oder nehmen wir getrost an, durch das erste Ge-
didit, welches er über eine angeblich im Traume erlebte
Begegnung mit Amor und mit Beatrice schrieb, das Liebes-
leben in bewusster Weise in ihm dichterischen Ausdruck
zu finden begann, und dass das nicht früher als beim Ein-
tritt in's Jünglingsalter stattgefunden hat. Und in derselben
Weise glaube ich mir auch, fortschreitend im Prosa-Texte,
seine anderen Bemerkungen zu seinen Gedichten erklären
zu müssen. Die meisten dieser Bemerkungen mögen auf
thatsächlichen Erlebnissen beruhen, aber die letzteren
brauchen deshalb durchaus nicht in streng chronologischer
Reihenfolge vorgetragen zu sein. Das logische Band, welches
die Berichte über sie und damit zugleich die Gedichte
verknüpft, muss nothwendigerweise für den Dichter, der
seinen Liebesroman nicht erzählt sondern nur bespricht
und über ihn reflectirt, ein anderes, ein tieferes, ein
symbolischeres gewesen sein, als es etwa fOr den Auto-
biographen, der die Ereignisse seines Lebens in die richtige
Reihenfolge zu stellen sich bemüht, sein würde.
»_,
**• •.
• • # # i* • *•,
• #
# *
* • • *
96
Sehen wir zunächst zu, weldie neuen Momente uns der
Prosa-Text für das n&here Yerstftndniss der G^edichte bietet,
80 finden wir, dass wir im (ranzen unsere früheren, ans
dem Inhalt der G^edichte allein entspringenden Ansichten in
nnr wenig Punkten zu ändern haben: Dante spricht gleich
im Beginn seiner Erzählung davon, dass er den Namen
seiner Herrin verschwiegen (Cap. 3) und „durch Monate,
ja Jahre hindurch" einer anderen Schönen den Hof ge-
macht habe, um die Aufinerksamkeit der Welt von seiner
liebe zu Beatrice abzulenken (Cap. 4 u. 6). Als diese
Dame, die er seinen „schermo", seinen Schutz, oder auch
seine „difesa", seine Yertheidigung, nennt, einmal fCkr längere
Zeit verreiste, will er, da er ihr zu Ehren überhaupt ver-
schiedene Gedichte gemacht hatte, das Klage-Sonett 13 in
die Welt geschickt haben. Kurz darauf wandte er sich
aber von diesem ersten „schermo** ab und einem zweiten zu
und motivirt diesen Liebeswechsel durch das Sonett 3.
Sein Yerhältniss zu dieser zweiten vorgeschützten Geliebten
würd aber bald so sehr in der ganzen Stadt beisprochen
(Cap. 10: troppa gente ne ragionava oltra li termini de
la cortesia), dass Beatrice ihm den Gruss verweigert, und
Amor ihm, als er sich hierüber ganz dem heftigsten
Schmerz überlässt, anräth, das Vorschützen einer anderen
liebe überhaupt au&ugeben und sich mit einem offenen
Bekenntniss an die „Herrin" zu wenden. Dante lässt
darauf seine schöne Ballade (1) vor die Beatrice treten
und beginnt nun auch in seiner Dichtung alldn von der
„Herrin" zu handeln. Die folgenden Lieder sind dann
eigentlich ohne jeden inneren Zusammenhang in den Prosa-
Text eingeschaltet, der sich meistens blos auf Erläuterung
durch Umschreibung des Inhalts einlässt und hinsichtlich
ihrer Reihenfolge mehr innere (vergleiche Cap. 17) als
97
äussere Gründe angiebt Von Thatsachen er£aliren wir
zunächst noch (Cap. 18), dass die Gelegenheit für Beatrice
über den Anbeter vor anderen Frauen zu spotten (Sonette
17 und 18) durch ein Fest gegeben wurde, an dem die
^Herrin" als Gast, der Dichter als Zuschauer theilnahmen,
und bei dem der letztere sich durch seine Verwirrung und
sein ängstliches Betragen, beide hervorgerufen durch die
Nähe der Herrin, Allen bemerklich machte. Femer wird
uns erzählt (Cap. 21), dass der grosse Schmerz, welcher
Beatrice betroffen hatte, (Sonette 19 und 20, vergleiche
auch 21 und 22) durch den Tod ihres Vaters verursacht
worden war, der in der ganzen Stadt grosse Aufregung
hervorrief.*) Dann berichtet uns der Dichter (Cap. 22),
dass er jene Vision, welche ihm das Ende Beatricen's
vorhersagte, gehabt habe während er an einer schweren
Krankheit damiederlag. Von der Stanza (Seite 65) giebt er
an (Cap. 27), dass sie der Anfang emer Canzone sei, die
er eben zur Schilderung seines Glücksgeftlhls zu schreiben
begonnen habe, als er die Nachricht von dem Tode der
^holden Herrin^ erhielt, und das Elagesonett 23, sowie
die Canzone 4 hat er (Cap. 32) im Auftrage eines nahen
Verwandten der „Herrin^ (tanto distretto di sanguinitade
con questa gloriosa), der zugleich sein zweitbester Freund
war, geschrieben. Am Jahrestag des Todes der Beatrice
war er alsdann eben damit beschäftigt, einen Engel auf
ein Blatt zu zeichnen, als mehrere Männer hinter ihn
traten und sein Werk anschauten (Cap. 34). Hieraus
*) Msnclie Ausleger haben angenommen, dass dieser TodesfaU In
das Jahr 1387 falle (so auch d'Anoona, der hierauf seine obenerwähnte
Eintheilnng mit begründet), weil das Testament des Folco Portlnari (s.
Seite 34) aus diesem Jahre stammt. Aber ein Testament kann Ja auch
längere Zeit vor dem Tode yerfasst worden sein.
- - - V ;J - j ^ ■* .
98
erklärt sich die einzige dunkele Stelle in den Gedichten,
die 8te und 4te Zeile des Sonettes 26, welch letzteres Lied
er dann nach dem Weggehen der Zuschauer in dem Ge-
danken an die „Herrin" sang. Die 4 Sonette (27, 28, 29,
30), welche das Yerhöltniss zur „donna gentile" behandeln^
werden im Prosa-Texte im Allgemeinen nicht abweichend
von dem Sinne erläutert, den die einfache Betrachtung
ihres Inhalts ergiebt; die „Gütige" ist ein junges, schönes
Mädchen, ^auf das der Dichter zum ersten Male aufinerksam
wird (Cap. 35), als sie, aus dem Fenster schauend, ihn
mitleidsvoll betrachtet, und die ihn dann, besonders durch
die Perlenfarbe ihrer Haut, stets an Beatrice erinnert, so
oft er ihr begegnet (Cap. 36). Nur die Stellung dieser
Sonette gegenüber den Klageliedern ist etwas verschieden,
von der Anordnung, in der ich sie, ihrem Inhalt ent-
sprechend, aufgef&hrt habe, indem der Prosa-Text die
Liebes-Episode, die sie behandeln, noch vor dem Klage-
Sonett (24) und dem sogenannten Pilger-Sonett (25) ein-
schiebt. Das Schluss-Sonett (31) wurde, wie der Prosa-
Text angiebt, von dem Dichter geschrieben, als zwei edle
Frauen ihn baten, ihnen seine Liebeslieder zu übersenden.
Er übersandte ihnen nun auch dieses abschliessende Ge-
dicht und fügt, in Prosa, die folgenden bezeichnenden
Worte hinzu, mit denen die „Vita nuova" endigt: „Nach
Beendigung dieses Sonettes hatte ich eine wunderbare
Vision, in der ich Dinge sah, welche in nur den Vorsatz
weckten, die Holdselige nie wieder zu besingen, bis ich
nicht in würdigerer Weise von ihr reden könnte. Und
um dahin zu gelangen, spare ich jetzt keine Mühe, wie sie
am besten wissen wird. Dann, wenn Er, durch den alle
Dinge leben, mir das Leben noch emige Jahre gestattet,
hoffe ich von ihr singen und sagen zu können, was nie
. 1-
* fc. - «
99
jemals von einem anderen Weibe geredet worden. Und
danach möge Er, der Herr des Erbarmens, meine Seele
dahinfahren lassen, dass sie die Herrlichkeit ihrer Herrin,
der holdseligen Beatrice, schaue, welche verklärt jetzt vor
dem Angesicht Dessen steht, qni est per omnia saecnla
benedictus. Amen.^
Das Bild von Beatrice und von dem Yerhältniss des
Dichters zu ihr wird also, wenigstens hinsichtlich der
äusseren Begebnisse, auch durch den Prosa-Text nicht
wesentlich verändert Aber trotzdem bieten die ganze
Darstellungsweise dieses Textes und auch einige besondere,
theilweise unerklärbare Stellen Schwierigkeiten dar, auf die
wir noch kurz eingehen müssen, weil sie den Anlass zu
den Zweifeln an der „Echtheit" der Beatrice gegeben haben.
Was die Darstellungsweise anbetrifft, so ist sie eigentlich,
trotz der Prosa-Form ebenso poetisch, wie die der Lieder,
ja sie übertrifft den einfachen poetischen Ausdruck der-
selben noch durch viele symbolisirende und allegorisirende
Andeutungen, welche uns erkennen lassen, dass aus dem
Dichter schon der Philosoph zu werden beginnt Die
Bezeichnung der Liebesgewalt durch die Gestalt Amor's
ist in ihr durchweg, wie in den Gedichten, festgehalten,
und die Visionen, welche erzählt werden, sind noch mehr,
als in jenen, mit den glühendsten Farben der Phantasie
ausgeschmückt Amor selbst und dann auch die Geliebte
werden mit reichen, farbigen oder auch weissen, leuchtenden
Gewändern umhüllt geschildert, die lobenden und rühmenden
Attribute der „Herrin^ finden sich noch reichlicher angehäuft
und die Beschreibung des eigenen inneren Zustandes ent-
behrt nicht eines phantastischen fast ekstatischen Zuges.
Dazu kommt, dass der Dichter sich ersichtlich bemüht, die
Veränderungen die in ihm durch die Macht der Liebe
7*
100
hervorgerufen werden: die Angstzostände, die er bei dem
Anblick und bei dem Nahen der Herrin durchlebt, die
wunderbare Heilswirkung, die ihr Gross auf ihn ausübt,*)
die ekstatische Freude, in die er geräth, wenn er den
Eindruck, den sie auf Andere macht, beobachtet und der
Schmerz, den sein Herz bei ihren Thränen oder gar nach
ihrem Tode fCÜilt, sich durch Betrachtungen klar zn
machen, die, bei aller Unbestimmtheit und bei häufiger
Verschwommenheit, eine phüosophirende, phychologisirende
Tendenz deutlich verrathen. Auch die häufigen, in den
Text eingestreuten lateinischen Sätze, - der merkwürdige
Umstand, dass Amor (Cap. 11.) nicht nur lateinisch,
sondern auch in der Ausdrucksweise der scholastischen
Philosophie mit dem Dichter redet, und die Beziehung auf
die grosse philosophische Richtung des Realismus**) bei
der Betrachtung über das Wesen der Liebe (Cap. 12),
geben der ganzen Darstellungsweise ein bestimmtes Ge-
präge. Der Stil entspricht vollständig diesem Gepräge.
Es sind der Satzbau und die Wortgefüge des jungen
Mannes, der eben im Begriff ist an den Brüsten der
lateinisch redenden, scholastischen Moralphilosophie geistige
Nahrung zu gewinnen und dem auch beim Schreiben der
Volkssprache, die er ja fOr die Prosa-Darstellung erst zu
schaffen berufen war, das lateinische Wortgetön der
philosophischen Schulen noch in die Ohren klingt Andrer-
seits ist dieser Stil von der Sprache der Gedichte, durch
deren Abfassung ihm das Sprechen im Volgare schon ge-
läufiger geworden war, nicht wenig beeinflusst.
Und diesem Ton, wie er durch die Gedanken und die
*) S. hierüber besonders Cap. 10 der «^i^ nnova*^.
**) Bealismus im Qegensatz zu Nominallsmns in der scbolasUsohen
Philosophie.
- V ^ » t » «^ ' ^
101
Worte im Ganzen hindurch klingt, entsprechen auch die
sogenannten dunkelen Stellen, an denen sich alle Ausleger
bisher vergeblich gemüht haben. Es sind dies, ausser der
Lücke zYdschen dem neunten und achtzehnten Jahre, von
der ich schon geredet habe, besonders die Stellen, in
welchen Dante auf die innere, symbolische Bedeutung der
Neunzahl (Cap. 29), die in seinem Yerhältniss zu Beatrice
eine so grosse Rolle spielt, und auf den Sinn, der sich
unter dem Namen „Beatrice" (Cap. 24) verbirgt, zu reden
konunt. Die letztere symbolische Betrachtung wird noch
durch den dunkelen Sinn der Worte erhöht, mit denen
Dante im ersten Capitel uns seine „Herrin^ gleichsam
vorstellt. Er sagt daselbst: „vor meinen Augen erschien
zum ersten Mal die ruhmreiche Herrin meiner Seele, die
von Yielen, welche sie nur so zu benennen wussten,
Beatrice genaimt wurde" (a H mici occhi apparve prima
la gloriosa donna de la mia mente, la quäl fu da molti
chiamata Beatrice, li quali non sapeano che si chiamare).
Ich will mich nicht auf eine Berichterstattung über die
mancherlei Yermuthungen und Vorschläge, die die Aus-
leger zu den undeutlichen Worten: „li quali non sapeano
che si chiamare'^ in grosser Fülle gemacht haben, einlassen,
sondern nur anführen, dass der einfachste Sinn derselben
wohl der ist, den ich in meiner Uebersetzung angegeben
habe und der darauf hinweisen würde, dass den Anderen,
nach Dante's Meinung, ihr andrer Name: „Herrin", den
sie f&r ihn fCLhrt, nicht bekannt ist. Doch auch wenn
diese Deutung grammatikahsche Bedenken hat, ist man
nach meiner Meinung nicht berechtigt, aus dieser Stelle
und aus dem tieferen Sinn, den Dante dem Namen Beatrice
später beilegt, indem er ihn mit den Namen Amors
identifizirt, schon den Schluss zu ziehen, dass Dante den
102
Namen Beatrice überhaupt nur allegorisch aufgefasst und
ihn deshalb nur einer idealen ^Herrin" beigelegt haben
könne *) Und ebensowenig darf man auch aus der
symbolischen Bedeutung, die der Dichter der Neunzahl
beimisst (Cap. 29) und die ihn selbst, wie wir frtüier
(Seite 94) gesehen haben, zu chronologischen Angaben ver-
anlasste, die vielleicht nicht dem historischen Sachverhalt
entsprechen, sogleich folgern wollen, dass nun auch alles
Uebrige, was er von seiner liebe erzaMt, symbolische und
allegorische Bedeutung habe. Hier macht sich die Kritik
einer falschen Uebertreibung der Genauigkeit schuldig,
weil sie weniger den Ton des Ganzen als vielmehr nur
eine kleine Stelle in's Auge fasst und von ihr aus zu
allgemeinen Schlüssen fortschreitet. Aehnlich verhält es
sich mit einer dritten der berühmten dunkelen Stellen der
„Vita nuova", mit dem Grunde nämlich, den Dante unter
anderen für sein Schweigen unmittelbar nach dem Tode
der „Herrin** angiebt. Er sagt (Cap. 28), dass es für ihn
nicht geziemend sei über ihr Hinscheiden sich ausführlich
auszulassen, „deshalb, weil ich, wenn ich darüber reden
wollte, über mich selbst lobende Worte sagen müsste,
was doch dem, der Solches thut, im Allgemeinen zum
Tadel gereicht" (per quelle che, trattando, converrebbe
esser me laudatore di me medesimo, la qual cosa h al
postutto biasimevole a chi lo fae). Diese SteUe ist von
dem Litterarhistoriker Bartoli einfach als unerklärbar be-
zeichnet worden, falls man an dem realen Liebesverhältnisse
*) Man yergleiche über die in Jener Zeit so beliebte, nachträgliche
allegorische Deutung yon Namen besonders die Auslegung, die Boccaccio
dem Namen des Dichters als dem des «aebenden* (Dante) zu Theil wer-
den lässt. «Seqm al nome eo eifetto'' (dem Namen folgte die That) sagt
Boccaccio. Siehe: «Vita di Dante" di Gt. Boccaccio Cap. L
103
des Dichters zu der irdischen Beatrice festhalten wolle*
Ich würde, wie ich schon oben betonte, im Allgemeinen
einige nnerklärbare Textstellen eines Schriftstellers, von
dem eigenhändige Manuskripte nicht vorliegen, noch nicht
fCLr einen Gmnd halten, an dem deutlichen Sinn seiner
ganzen Darstellung zu zweifeln, und deshalb auch leichten
Herzens eine solche Stelle völlig unerklärt ruhen lassen,
wenn ich nicht gerade einige Yermuthungen hiusichüich ihrer
Deutungen vorzubringen hätte. Die Yermuthungen, die ich
über den wahrscheinlichen Sinn dieser Stelle hege, sind
aber die folgenden: Wir haben schon aus dem Antwort-
Sonett Gavalcanti's (s. Seite 49) gesehen, dass Beatrice
sich nach dem Tode sehnte und dass sie in Folge dessen
von Amor mit des Dichters heissem Herzblute gespeist
wurde; sollte das nicht darauf hindeuten können, dass
auch Beatrice des Dichters Liebe erwiederte? Ihr holder
Gruss, ihr Zürnen, als sie von der Hinneigung des Dichters
zu anderen Frauen hört, und selbst ihr feiner Spott, als
sie ihn bei dem Feste in ihrer Gegenwart eine so traurige
Rolle spielen sieht, würden Zeichen ihrer Liebe sein. Femer
können wir vielleicht annehmen, dass die Holde leidend
war, denn ihres Gesichtes Blässe wird von dem Dichter
zweimal erwähnt, auch scheinen seine in der Vision der
Canzone 2 ausgedrückten Ahnungen von ihrem nahen Ende
darauf hinzudeuten. Wie nun, wenn die „Herrin", da sie
eines Anderen Frau war und zwar die Frau eines Mannes,
der der politische Gegner und folglich wohl auch der
persönliche Feind ihres Anbeters war, unter diesem Zwiespalt
der liebe und ehelichen Pflicht gelitten und sich in ihm
verzehrt hätte? Vielleicht hatte sie den Dante ebenfalls
von Jugend auf geliebt; vielleicht hatten nur äussere
Gründe, etwa politische Gegnerschaft der Portinari und
104
der Allighieri, yerhindert, dass sie auch seine „Haus-
herrin" geworden war. Wenigstens sagt Pietro in seinem
Commentar (s. Seite 26), dass sein Yater einst procus d. h.
Freier, Bewerber der Beatrice Portinari gewesen s^. Viel-
leicht hat auch gerade der Umstand, dass sie nicht sein
Weih geworden war, seiner liehe zu ihr den idealen,
schmerzensreichen, poetischen oder sagen wir ruhig, über-
spannten Zug verUehen, der in dem Cultos der „Herrin*^
und in der Yergöttlichung des geliebten Gregenstandes
seinen Gipfelpunkt erreichte. Und .wenn wir annehmen,
dass auch Beatrice den Dichter liebte — Bartoli zweifelt
allerdings daran, dass sie überhaupt nur um seine
Schwärmerei fttr sie wusste, — und dass sie sich in dieser
hofbiungslosen Liebe schliesslich verzehrte, liegt es dann
so fem, auch anzunehmen, dass kurz vor ihrem Ende sie
dem Dichter diese ihre Liebe noch einmal oder yiel-
mehr das erste Mal zu erkennen gab? Es ist gewiss sehr
auffallend, dass das einzige fröhliche Liebesüed, welches
der Dichter sang, jene eine Stanza der unvollendet ge-
bliebenen Canzone (s. Seite 97), diese Strophe, in welcher
sein Herz auj^auchzt über die beseligende Macht Amors,
unmittelbar vor den Worten eingeschaltet ist, die ihren
Tod vermelden. Wäre es nicht möghch dies so zu er-
klären, dass sie, kurz vor ihrem Hinscheiden, dem Dichter,
und sei es auch nur durch ein Zeichen, ihre stille, sie ver-
zehrende Neigung kund gethan und dass dieser darüber seine
Freude in jener schönen Stanza ausgedrückt habe? Der
Prosa -Text hat in der Erläuterung zu dieser Stanza
(Cap. 27) die Worte: „und da ich mir überlegte, dass ich
nichts von dem gesagt habe, wie er (nämlich Amor) in
der gegenwärtigen Zeit in mir wirkte (quelle, che al
presente tempo adoperava in me), schien nur in meiner
105
Darlegung etwas zu fehlen und deshalb nahm ich mir vor
davon m singen, wie ich fOr seine Wirkmig empfänglich
war und wie seine Macht in mir wirkte. Und da ich das
in dem bescheidenen Baume eines Sonettes nicht aus-
drücken zu können glaubte, begann ich eine Canzone,^
von der leider nur die erste Stanza fertig wurde. Diese
Worte würden jener Vermuthung nicht widersprechen, und
die im folgenden Kapitel stehende Aeusserung, dass er
von ihrem Hinscheiden nicht sprechen könne, ohne ein
Lobredner auf sich selbst zu werden, würden dann den Sinn
haben, dass der Dichter wohl wusste, wie Beatrice gestorben
war, nämlich mit dem Gedanken an ihn im Herzen, das
vielleicht um dieser Liebe willen so früh gebrochen war,
und vielleicht mit seinem Namen auf den Lippen.
Ich will diese Erklärung, wie gesagt, nur als Ver-
muthung hinstellen. Beweise sind ja auf diesem Gebiete
überhaupt nicht möglich. Auf jeden Fall ist sie, soweit ich
die Dante -Litteratur übersehen kann, gänzlich neu, und
vielleicht hilft sie ein wenig, auch andere Schwierigkeiten*)
zu erklären und besonders den logischen Faden klarer zu
erkennen, der den Prosa-Text der „Vita nuova" durchzieht.
Diesen rothen Faden sehe ich, wenn ich alles bisher
über den Prosa-Text Vorgebrachte zusammenfasse, in dem
Gedanken des Dichters, seine „Herrin", die frühverstorbene
Beatrice auch wissenschaftlich auf dasselbe hohe Piedestal
*) Eine der anderen Schwierigkeiten, auf die ich nicht eingehe,
weü loh ffir sie in der That keine wahrscheinliche Erklärung finde, liegt
In einer BteUe des SO. Capitel der n^ta nnova", in der Erw&hnnng
nämlich eines «Briefes an die Fürsten der Erde* (a 11 prlndpl de la
terra), den Dante nach dem Tode der Beatrice geschrieben haben wiU,
nm ihnen den Zustand der „verwaisten imd aller Würde beraubten
Stadt' SU achildem. Auf diese Stelle besonders hat Bossettl (s. An-
merkmig Seite 81) seine Vermuthnng, dass Beatrioe die Persontfication
einer politischen Idee sei, begründet.
106
zu rücken, auf welches er sie schon durch seine Jugend-
sonette, also dichterisch, gestellt hatte. Wissenschaftlich
sage ich; aher ich fiasse dabei natürlich dieses Wort nnr
ih dem Sinne auf, in dem es Dante damals ansah. Er
hatte sich nach dem jähen Abbruch seines Liebeslebens
mit aller Kraft seiner leidenschafUichen Natur auf die
sogenannte „Wissenschaft" der damaligen Zeit, nämlich
auf das Studium der scholastischen Philosophie ge-
worfen; er suchte dieses Studium infolgedessen auch ftr
seine Poesie, und zwar nicht nur für die moralphilosophische
und didaktische, die er damals pflegte, sondern auch ^
die Liebesreimereien seiner Jugend fruchtbar zu machen
und er kehrte deshalb mit einer nachträglichen Erklärong
zu diesen zurück und hüllte sie in den Prosa-Text, dessen
Inhalt und Ausdruck von seinen philosophischen Studien
durchweg beeinflusst sind. Keineswegs aber wollte er damit
das Bild der wirklichen „Herrin", die einst nicht nur ftr
sein Herz, sondern f&r alle Welt, in Fleisch und Blut lebte,
verdunkeln oder seine Realität durch aUegorische Hüllen
noch nachträglich verdecken; im Gegentheil, er hoffte es
durch die philosophirende Besprechung zu vertiefen, wollte
dadurch seine Farben leuchtender, ausdrucksvoller ge-
stalten und es fOr immer dem Bereiche des Vergänglichen,
des Irdischen entziehen. Dante hat sich mit dem Prosa-
Texte auf die zweite und in seinen Augen höhere Stafe
der Verherrlichung seiner „gentilissima donna" geschwungen,
während er durch die Jugendgedichte nur die erste, weniger
ruhmwürdige erstiegen zu haben meinte. Aber damit ist
nicht gesagt, und er selbst hat uns sicher nicht so glauben
machen wollen, dass der ganze Untergrund dieser Ver-
herrlichung nur ein idealer gewesen sei und dass das Bild
der „Herrin" nur „innere Realität" (realtä interiore), wie
107
Bartoli sich ansdrückt, das heisst nur Wirklichkeit in
seinem Herzen und in seiner Phantasie, gehabt habe.
Nein, die „äussere Realität" muss ebenso vorhanden ge-
wesen sein, wenn wir nicht den grossen Dichter als
angesteckt und durch und durch durchseucht von der mit
Recht von den heutigen Eritikem so gefllrchteten
Sentimentalität hinstellen wollen. Warum soll dieser echte
Sohn seiner Zeit nicht iasoweit Realist gewesen sein können,
dass er die Anregung zu seinem hohen und immer höher
und erhabener sich gestaltenden Cultns der „Herrin" von
einer anmuthigen und schönen, milden und herzensguten
„sposina", die ihn in seiner Jugend begeisterte, hätte em-
pfangen können? War seine Natur nicht leidenschaftlich
genug, um eine solche Anregung, auch wenn dieselbe vielleicht
unbedeutender war, als er sie uns schildert, willig entgegen-
zunehmen, festzuhalten und in grossartiger, erhabener
Weise in sich weiter zu entwickeln. Und bedarf es nicht
stets selbst fllr den grössten Dichter einer wirklichen und
realen Anregung zu all seinem Denken und Dichte?
Freilich, ein Anderer als Dante hätte eine solche in sich
verkflmmem lassen; nur der Dichter konnte 6ie zur voUen
Blüthe, zu voUer Wirksamkeit und Entfaltung bringen.
Es wäre thöricht, zu behaupten, dass die Liebe zu Beatrice
Portinari den Florentiner erst zum Dichter gemacht habe.
Dichter' werden geboren! Aber es wäre ebenso thöricht,
zu sagen, dass Dante ohne die Beatrice Portinari so ge-
sungen und so gedichtet hätte, wie er es gethan hat.
Dichter wollen von Aussen angeregt seinl Und dass nun
aus dem Dichteijüngling, der seine ersten Kämpfe ge-
kämpft hat, der eifrige, in die Wissenschaft eindringende
junge Mann wurde, der das Ideal jener ersten Kämpfe
auch auf dem zweiten, ernsteren Schlachtfelde und später
108
durch sein ganzes Leben hindurch festhielt, das ist meines
Erachtens der Beweis, dass Dante wirklich ein grosser und
zugleich wirklich ein realistischer Dichter war.
Also auch der Prosa-Text zerstört, trotz aller seiner
Schwierigkeiten, dieThatsache der ersten, süssen, schmerzens-
reichen Liebe Dante's zu Beatrice Portinari nicht, im
Gegentheil er verleiht ihr ein höheres, eigenartigeres Relief.
Wir haben gesehen, dass derselbe auf jeden Fall als ein
von den Gedichten selbst sich scharf abscheidender Be-
standtheil der »Tita nuova*' angesehen werden muss, dass
er später, im Beginn der philosophischen Periode Dante's
und vielleicht auch in einer anderen Dichtungsperiode, die
wir die der Canzonen nennen können, geschrieben worden
ist, dass in ihm überall ein philosophirender und psycholo-
gisirender Grundgedanke durchleuchtet und dass er deshalb
auch nicht als chronologisch geordnete Erzählung, son-
dern mehr als eine Betrachtung aufgefasst werden muss.
Er beleuchtet den Inhalt der Gedichte deshalb auch nnr
in wenigen Punkten mit dem Lichte der Thatsächlichkeit,
aber er ninmit auch nichts von ihm hinweg und entstellt
ihn nicht. Wir erkennen in ihm den Ausdruck einer mit
sich selbst ringenden Seele, die wissenschaftliche An-
regungen und dichterische Erinnerungen zu einem homogenen
Ganzen verschmelzen möchte, die das Bild der Herrin von
allen irdischen Schlacken befreien und es aus dem Schatten
der Yergänglichkeit in das heUe Licht eines höheren Lebens
rücken möchte. Dieses höhere Leben begann Dante in
der Zeit, als er den Prosa-Text schrieb, in der Philosophie
zu suchen, und deshalb vermischt sich schon in dieser
Schrift die Gestalt der „Herrin", die bereits an idealem
Gehalt so viel gewonnen hat, vielfach mit dem wissen-
schaftlichen Ideal selbst, das ihm nun vorzuschweben be-
109
gann, wie sie nach der anderen Seite hin noch vollständig
in dem realen Untergrund des einstigen Liebesverhältnisses
wurzelt. Es stellt also der Inhält des Prosa-Textes ein
Uebergangsstadium dar von der lebenden Beatrice, der
Eeatrice der Jagendgedichte, zu der verklärten „Herrin^,
die ihre Yerklänmg freilich vor der Hand nnr in dem
Himmel der Wissenschaft finden sollte. Die lebhafte Ein-
bildungskraft jener Zeit, die ja in Dante besonders glQhend
lebte, glaubte an die Realität der Abstraktionen, der
^nomina". Der Dichter glaubte deshalb auch an die Realität
der Wissenschaft als Göttin, als „Herrin^, und wie er seine
Beatrice, in der Vorahnung eines höheren Stadiums, schon
bei den Engeln des Himmels erblickt hatte, so trat sie ihm
jetzt, in diesem Uebergangsstadium seiner inneren Ent*
Wicklung, auch in den Gfewändem der Göttin der Wissen-
schaft, der Philosophie, vorabergehend entgegen. Yor-
übergehend sage ich, weil es nur wenige Eigenschaften der
«Herrin" seiner Jugend sind, die er auf das wissenschaft-
liche Ideal, auf die „Herrin*^ des „Ck>nvito*^ überträgt und
weil er der Abstraktion bald müde wird, um sich von ibr
alsdann zu der lebensvolleren Beatrice des Paradieses zurück-
zuiivenden. Es ist bezeichnend, dass Dante den „Ck)nvito",
d. h. die Paraphrase seiner moralphilosophischen Canzonen,
unvollendet gelassen hat, bezeichnend fOr die Enttäuschung,
die er in der sogenannten Wissenschaft bald genug fand.
Sie konnte die Gestalt seiner Beatrice nicht mit dem
lebenswarmen Blute erftülen, das ihr der christliche Glaube
später in seiner grossen Dichtung verHeh. Und auch wir
brauchen uns deshalb mit der Herrin des „Convito" nur
kurz zu beschäftigen.
V.
4
DIE „HEBKEN« IM „CONVITO" VON DANTE.
Es war eine psychologische Nothwendigkeit, dass nach
dem Prosa-Text der „Vita nuoya^ der Geist Dante's die
Betrachtungen über seine moralphilosophischen Canzonen
hervorbrachte, die im „Convito" niedergelegt sind. Cs
steht fest, dass die einleitende Abhandlung dieses Buches
und der vierte Traktat viel später geschrieben sind, als
der zweite und dritte Traktat, welche die Erläuterungea
enthalten zu den beiden Ganzonen (Voi che, intendendo, 11
terzo ciel movete etc. und Amor che nella mente mi
ragiona etc.), die den Canzonen der „Vita nuova" und des
„Liederbuches" inhaltlich, wie hinsichtlich der Ausdrucks-
weise am nächsten stehen. Diese Erläuterungen werden
kaum drei Jahre nach dem Prosa-Texte der „Vita nuova"
geschrieben worden sein. Und gleichwohl ist die „Herrin*'
des „CSonvito" ausgesprochenermassen nicht Beatrice, son-
dern die Philosophie, ja, was das Merkwürdige dabei ist^
der Uebergang zu dieser supranaturalistischen Liebe scheint
auf den ersten Anblick hin nicht durch Beatrice, sondern
durch die „donna gentile** der „Vita nuova", durch jene
„Gütige" und „Mitleidsvolle" vermittelt zu sein, deren
Dante in den Sonetten 27^ 28, 29 und 30 der „Vita nuova'^
gedenkt. Dieser Umstand hat den Auslegern stets die
grösste Mühe verursacht. Um die Schwierigkeiten, die da-
111
bei in Betracht kommen, in's rechte Licht zu stellen und
zugleich das Material zu gewinnen, sie zu erklären, gebe
ich zunächst die entscheidenden Stellen aus dem „Gonvito",
in denen Dante von jener Vermittelung handelt, in lieber-
Setzung:
1. „Nach dem Hinscheiden jener holdseligen Beatrice^
welche im Himmel mit den Engeln und auf Erden in
meiner Seele lebt, hatte die Yenus zweimal den Ereis
durchlaufen, der sie je nach den verschiedenen Zeiten als
Morgenstern oder als Abendstem erscheinen lässt, als jenes
gütige Weib (gentil donna), deren ich am Ende der „Vita
nuova" Erwähnung that, zum ersten Male, in der Begleitung
Amor's, meinen Augen erschien und einigermassen Besitz
von meiner Seele nahm.'' (Er schildert nun den Kampf,,
den er in seinem Innern wegen dieser Liebe auskämpfen
muss, da die „ruhmwürdige Beatrice noch die Festung
(la röcca) seiner Seele besetzt hält", und fährt dann fort:)
„Denn die Eine ward durch die Augen unterstützt, die sie
immer betrachteten, die Andere aber durch die Erinnerung
von der anderen Seite her, und die Unterstützung, die die
Erste fand, wuchs immer mehr, so dass die Andere nichts
ausrichten konnte gegen Jene, die es verhinderte, dass ich
mich zu der Erinnerung zurückwandte. Dieser Kampf
schien mir so wundersam und zugleich so hart, dass ich
ihn nicht länger ertragen konnte; und gleichsam hülfe>
rufend wandte ich mich nach jener Seite, von der der
Sieg des neuen Gedankenlebens ausging, welches mich
ganz beherrschte, da seine Macht aus dem Himmel stammt,.
und begann zu dichten: Yoi che, intendendo, il terzo ciel
movete etc."*)
*) S. .n GonTito* dl Dante. Tratt ü, Cap. 2.
112
2. „Als die erste Freade meiner Seele dahingeschieden
war, deren ich früher gedachte, blieb ich das Ziel so
grosser Traurigkeit, dass es keinen Trost mehr für mich
gab. Nach einiger Zeit jedoch suchte mein Geist in seinem
Trostbedflr&iss nach den Mittehi, die dieTraurigen anzuwenden
pflegen, um sich zu beruhigen, und ich begann jenes von
Wenigen gekannte Buch des Boetius zu lesen, durch dessen
Niederschrift er sich, als er in traurigen Umständen und
in Gefangenschaft war, einst getröstet hatte. Und da ich
hörte, dass Cicero ein anderes Buch geschrieben habe, in
welchem er, von der Freundschaft handelnd, an Lelius,
einen ausgezeichneten Mann, Trostesworte über den Tod
seines Freundes Scipio gerichtet hätte, begann ich auch
dieses zu lesen. Und obgleich es mir anfangs Mühe
machte, in den Sinn dieser Bücher einzudringen, gelang es
mir doch schliesslich soweit, als es meine Schulung und
mein schwacher Geist erlaubten; dieser Geist hatte mir
aber viele jener Dinge, gleichsam im Traum, schon vorher
enthüllt, wie man in der „Vita nuova*' lesen kann. Und
wie es manchmal zu geschehen pflegt, dass ein Mensch,
der Silber sucht, Gold findet, welches ihm eine dunkle
Fügung wohl auf Geheiss Gottes zuschickt, so fand auch
ich, der ich nur Trost gesucht hatte, nicht nur meine
Thränen gestillt, sondern gewann auch Gefallen an den
Schriftstellern, an den Wissenschaften und an den Büchern
und erkannte bei ihrer Betrachtung, dass die Philosophie
die „Herrin" dieser Schriftsteller, dieser Wissenschaften
nnd dieser Bücher, das höchste aller Dinge sei. Ich stellte
mir sie vor wie ein gütiges Weib (donna gentile) und
konnte sie mir nur in mitleidsvoller Haltung denken, so
dass mein wahrheitsdürstender Sinn sie bewunderte und
ich ihn kaum abhalten konnte, sich ihr ganz zuzuwenden.
113
Und diese Betrachtang wuchs inuner mehr in mir, und
ich machte mich daran, diese „Herrin" dort au&usuchen,
wo sie sich in wahrer Gestalt zeigte, nämlich in den
Schulen der Theologen und hei den Disputationen der
Philosophieheflissenen, so dass ich in der kurzen Zeit von
etwa dreissig Monaten so von ihrem Zauher erftült ward,
dass die Liehe zu ihr jeden anderen Gedanken in mir
zerstörte und verscheuchte, und dass ich mich von der
£Irinnerung an die erste Liehe hinweg ganz in die Macht
dieser anderen geführt fühlte .... Und, wie schon ge-
sagt, diese „Herrin'^ ist die Tochter Gottes, die Königin
des Alls, die edle und schöne Philosophie . . ,*^*)
3. „Wie die Betrachtung des vorigen Traktates lehrt,
leitete meine zweite Liehe ihren Ursprung aus dem mit-
leidsvollen Gehahrein eines Weihes her, und diese Liehe
fand mein ganzes Wesen hereit, sie mit Leidenschaft in
sich au&unehmen, und entzündete sich aus einem kleinen
Funken zu grosser Flamme."**)
Diese Stellen, die entscheidend sind für die Be-
urtheilung des Verhältnisses der „Herrin" im „Convito"
und in den um diese Schrift sich gruppirenden. Canzonen,
hahen den Auslegern deshalh soviel zu schaffen gemacht,
weil die „donna gentile" der „Vita nuova" und nicht die
Beatrice den Dichter zu dem Cultus der neuen „Herrin", der
Philosophie geführt zu hahen scheint, und weil man in ihnen so-
gar eine Identifizirung der Philosophie mit der „donna gentile"
zu entdecken glaubte. Dass für die letztere Annahme kein
Grund vorliegt, lehrt der einfache Wortlaut, und auch die
erstere Vermuthung scheint mir unbegründet. Denn wir
♦) S. loc. dt Tratt. n, Cap. 18.
♦♦) 8. loc. dt. Tratt m, Cap. 1.
8
114
mflssen uns bei der Betrachtung dieser Stellen immer
gegenwörtig halten, dass Dante die Yemiittlung zwischen der
„ersten liebe*', die immer die der „Vita nnoya'', also die
zur Beatrice bleibt, und zwischen der zweiten zur Philosophie
weniger der Person der „donna gentile^ zuschreibt, als
dem inneren Kampfe, den ihr Eindruck in ihm ent£achte.
Die Aeusserung in der dritten von mir übersetzten Stelle,
dass die „zweite Liebe" ihren Ursprung von dem miüeids-
vollen Gebahren eines Weibes herleitet, hat man so deuten
zu müssen geglaubt, als ob dieser zweiten Liebe Gregen-
stand auch dieses Weib selbst, also die „donna gentile^
gewesen sei, aber der ganze Zusaounenhang der Periode
lehrt, dass es die Liebe zu der Philosophie ist, die durch
das miÜeidsYoUe Gebahren (dalla misericordiosa sembianza)
jenes Weibes nur yermittelt, also nur aus dem Kampf, den
sie in des Dichter's Seele warf, geboren ist. Und im
Uebrigen widerstreitet nichts in den citirten Stellen meiner
Annahme^
Und auch die Betrachtung des „Gonvito" im Ganzen
widerstreitet nicht der Ansicht, dass die „donna gentile" als
persönliches Zwischenglied aus dem Ueb^gang von der Liebe
zu Beatrice zu der Liebe zur Philosophie ganz auszuscheiden
ist, und dass nur diese beiden letzteren hohen Frauen»
gestalten fftr unsere Betrachtung übrig bleiben. Ob zwischen
ihnen em Gemeinsames, eine Verwandtschaft zu entdecken
ist, das ist die Frage, die uns beschäftigen muss. Wie
das Ideal der Beatrice, der ;,geliebten*' Herrin sich in das
Ideal der Wissenschaft, der „bewunderten" Herrin um-^
wandeln konnte, muss uns als Zielpunkt der Erörterung
vorschweben.
Ich habe es schon in der [Besprechung des Prosa-
Textes der „Vita nuova" betont, dass derselbe gegenüber
115
den Gedichten eine höhere Stufe der Betrachtang der
^Henin^ vorstellt, und Dante sagt es im „(Donvito** aos-
drOckhch, dass er in jener Schrift schon vorahnend die
Weisheit niedergelegt habe, die er durch das Stadium der
lateinischen Philosopheil sich später ans zweiter Hand erwarb.
Dort hatte ihn sein Geist allein auf die höhere Stufe geführt,
sein wissensdurst'ger Geist, der zur Zeit der Abfassung des
Prosa-Textes schon in die „grammatica" und auch in die
Anfangsgründe der scholastischen Philosophie eingedrungen
gewesen sein musste, wenn er auch erst später seine Weide
an den Schriften der römischen Philosophen und in den
Schulen der Theologen und in den Disputationen der
Philosophiebeflissenen suchte und fand. Hat ihm nun
wirklich das spätere angestrengte Studium der Wiss^-
schaften abermals eine Bereicherung hinsichtiüdi seines
Coltus der „Herrin'^ eingetragen? Auf jeden Fall hat das
weibliche Ideal dabei an Abstraktion gewonnen, ob es aber
dabei nicht an Lebensfiüle verloren hat? Ich glaube diese
Fragen lassen sich nur entscheiden, wenn wir das weib-
liche Ideal nicht in semer Objektivität betrachten, sondern
ledigUch das subjektive Verhalten des Dichters ihm gegen-
über in's Auge fassen. Und von diesem Standpunkte aus-
gehend, müssen wir entschieden bejahen, dass Dante eine
Bereicherung seiner inneren Anschauungen durch die Er-
hebung des weiblichen Ideals in die reinen, wenn auch
abstrakten Regionen der Wissenschaft gewonnen hat. Denn
wenn auch zunächst vielleicht die Intensität seines Fühlens für
die „Herrin" dadurch gemindert worden ist, dass er sie sich
nicht mehr als die „Holdselige*^ dachte, die droben bei den
flngeln schwebt und die Heilswohlthaten für ihn vorbereitet,
so erweiterten sich doch die allgemeinen Beziehungen, in die
er sie mit seinem eigenen Leben und mit dem Leben und
8*
116
dem Treiben der Welt setzen mosste; und die Bückkehr zu
dem ersten Ideal, die sich später, nachdem er die
Philosophie wie einen Irrtham von sich abgeschüttelt hatte,
vollzog, &nd ihn fester, geläuterter und reicher vor. Deshalb
ist die „Herrin" des „Convito", wenn die Hinneigung zu
ihr auch eine Abirrung von dem ersten Liebesideal be-
deutet, wenn Dante auch immer wieder betont, dass düe
Liebe zu ihr die „erste Liebe" in ihm getödtet oder ver-
scheucht habe, doch auch als in Gremeinschaft stehend mit
der „Herrin" der „Vita nuova" und mit der „Führerin''
in der „Göttlichen Komödie" au&ufa£sen. Denn in ihrem
Cultus kommt das Gefühl der Sehnsucht nach einem hohen,
himmlischen Weibe, an das er sich anlehnen, das ihn mit
Frieden erfüllen, seine Seele läutern und emporziehen
kann, zum Ausdrucke in einer Lebensperiode, in welcher er
die irdische Geliebte verloren hatte und für die gänzliche
Hingabe an die himmlische Beatrice noch nicht gereift und
klar genug geworden war. Die Philosophie ist die Lücken-
büsserin für um geworden, und es ist bezeichnend, dass
er auch ihrer abstrakten Gestalt mit aller Leidenschaft-
lichkeit seiner Seele den wannen Hauch der Weiblichkeit
einzuflössen, die Gabe, Liebe zu erwecken und zu er-
wiedem, zu verleihen und die verklärte Schönheit seiner
ersten Geliebten anzudichten versucht. Bezeichnend ist es
und zugleich ergreifend, diesen unruhigen, .von politischen
Leidenschaften hin- und hergeworfenen, zom- und hass-
erfüllten, alle Tiefen und Höhen des menschlichen Fühlens
durchmessenden und von keiner menschlichen Schwäche
verschont gebliebenen Mann in allen seinem Denken und
Dichten, auch wenn es auf das Erfassen einer abstrakten
Wissensfülle gerichtet ist, nach dem* weiblichen Ideal sich
sehnen und hinaufschauen zu sehen, von dem er Erlösung
117
und Euhe und Frieden erhofft. Man soll nicht sagen,
dass es nur die Mode der Zeit war, welche ihn auch die
Wissenschaft als „Herrin** und „Geliebte" verherrlichen
Hess. Nein! es lag nothwendig in seinem Wesen be-
gründet, dass er nach dem Verluste des weiblichen, seine
echt männliche Natur so schön ergänzenden Ideals auf
Erden dasselbe dort aufsuchte, wohin ihn zunächst sein
Streben und sein Denken führte, in den Regionen der
Wissenschaft. In diesem Sinne ist die „Herrin" des „Con-
vito" die Weiterentwicklung der „Herrin" der „Vita nuova";
die Philosophie wird die Schwester der Beatrice Portmari,
wenn auch mit kälteren, blutleereren, abstracteren Zügen,
so doch nach anderer Richtung hin erhabener und reicher
ausgestattet als sie. Und lange Zeit duldet's ja den leiden-
schaftlichen Dichter auch nicht im Dienste dieser marmor-
gleichen, zweiten„Herrin" — der „Convito" bleibt unvollendet,
nicht nur weil das Leben des Dichters jetzt zu einer unruh-
vollen, bitteren Wanderschaft wird, sondern besonders
auch weil die lebenslosen Formen der abstrakten Wissen-
schaft sein Wesen nicht auszufüllen vermochten — und
er kehrt zurück zu der milden und holdseligen Frau,
die um einst auf Erden durch ihren Gruss beglückte und
die er nun in ihrer himmlischen Wohnstatte aufzusuchen
unternimmt.
VI.
DIE BEATMCE DER „DIVINA COMMEDIA".
Im „Convito** verliert sich der Dichter in die ab-
strakten Gefilde des Denkens, nnd das Bild seiner „Herrin^
gestaltet sich deshalb zu der idealen Göttin um, die keine
Berührung mehr mit dem Boden hat, auf dem die irdische
Liebe gedeiht. Die LeidenschafUichkeit des heissblütigen
Florentiners hat yergebüch gesucht, auch dieser Göttin
warmes, menschliches Leben und das innige Fühlen ein-
zuhauchen, das das weibliche Ideal seiner Jugendzeit so
ganz und so schön durchströmt hatte. Vergeblich! demi
unter den Definitionen und kleinlichen philosophischen
Haarspaltereien der scholastischen Philosophie, in der er
ein Jahrzehnt das Heil und den Frieden för seine Ton
Leidenschaften durchstflrmte Seele suchte, verflüchtete sich
alles Concreto, welches dieser Gestalt noch aus dem Gnltns
der Beatrice her anhaftete, in den sie ja als Nachfolgerin
eingetreten war; und die grosse Leere, die sie im Herzen
des Dichters zurückgelassen haben musste, trieb diesen aus
den Disputationen der Philosophie in die Schulen der
Theologen. Es war gegen das Ende des ersten Dezennium^
des neuen Jahrhunderts, als Dante in Paris Theologie
studirte und sich in die Systeme des Bernhard von Qairvaux
und des Thomas von Aquino vertiefte. Diese Jahre um-
119
fassen die Periode seiner Eückkehr zu dem Cultos der
Beatrice. War er ihr, der Jugendgeliebten, wohl über^
haupt je ganz untreu geworden? Wir haben aus dem
letzten Sonett der „Vita nuova** gesehen, dass der
dichterische Vorsatz, sie in ihrer himmlischen Wohnung
außsusuchen, schon damals, also am Ende seiner Jugendzeit,
in ihm lebendig geworden war; wir haben die herzlichen
Worte kennen gelernt, die er ihr im „Convito" widmet
trotz der Versicherung, die „zweite Liebe" zur Philosophie
habe die erste zu Beatrice ganz aus seinem Herzen ver-
scheucht; wir haben auch den inneren Zusammenhang
beobachtet, in dem die „Herrin** des „Convito** trotz ihrer
lebensleeren Schattengestalt mit der echt menschlichen
.„Herrin** der Jugendperiode steht. Geht nicht aus diesem
Allen hervor, dass es im Grunde auch nur Beatrice war,
deren vergötüichtes, über die Vergänglichkeit hinaus-
gehobenes Wesen der Dichter mit dem Mantel der Wissen-
schaft zu umhüUen bestrebt war? Vergeblich, wie gesa^
war dieses sein Streben gewesen! Dem echten Sohne
seiner Zeit, der sich mit dem ganzen Gredank^ninhalte der-
selben seine reiche Seele anzufallen im Begriff stand, musste
die Philosophie schliesslich als das erscheinen, was sie für
die ganze Epoche war, als die Magd jener höheren WeiS'*
heit, die den Himmel und die Erde mit ihrem Glänze
erf&Ute, als die Magd der Theologie; und sobald sich der
Dichter, der zugleich ein schar&inniger Denker war und
besonders ein feines, nat&rliches Gefühl, eine ausgeprägte
Indovinationsgabe gegenüber dem Gedankeninhalt seiner
Zeit in sich trug, in die Theologie, wie sie damals vor-
getragen wurde, vertiefte, musste sein ganzes inneres Leben
bedeutend an concretem Gehalte gewkmen und auf den
£oden der Wirklichkeit zurückkehren, den es durch das
120
Studium der Philosophie zuweilen zu verlassen in Grefahr
gerathen war. Auch das politische Denken, das damals
einen so gewichtigen Theil des inneren Leben Dante's
ausmachte und ihm seine Schrift „De Monarchia" eingab,
hat mitgeholfen, diese Rückkehr aus den Abstraktionen
der Philosophie zu beschleunigen. Yor Allem aber war
es der grosse Plan seines unsterblichen Liedes, das alle
diese Yorbereitungsjahre hindurch in seiner Seele schon in
immer klarer und bestimmter werdenden Tönen voraus^
erklang, welcher ihn mit elementer Grundgewalt nöthigte,
der Philosophie wieder den Rücken zu wenden. Das
poetische Empfinden hatte sich nur zwangsweise mit dem
abstrakten Denken vereinigt; jetzt brach es mit einer Kraft,
die sich in der Knechtschaft verstärkt hatte, durch alle
wissenschaftlichen Hüllen wieder an die Oberfläche hin-
durch und nahm aufs Neue Besitz von dem ganzen Wesen
des Dichters. Wie es sich aber in der Zwischenzeit,
gleichsam schlummernd, von der „ersten Liebe'* des
Dichters genährt und aus ihrem in der Erinnerung fort-
dauernden Zauber die Kraft zu neuen und grossen künf-
tigen Thaten gesaugt hatte, so trat jetzt auch, nachdem
es erwacht war, die Gestalt der „Herrin" in erneuter und
reicherer Schönheit, und doch mit dem ganzen Reiz der ersten
Erscheinung in der Jugend geschmückt, in den Mittelpunkt
dieses Empfindens, und die grosse Dichtung entsprang in
der mit diesem Empfinden angefQllten Seele des Anbeters.
Die „Divina Commedia'' ist in der That das höchste und
gewaltigste Triumphüed, das je in der Welt zur Yerherrlichung
des siegenden Zaubers eines Weibes gesungen worden ist.
Im Mittelpunkte seines Grundplanes steht die nun zu
himmlischer Schönheit und Würde verklärte JugendgeUebte
des Dichters; sie wird, mit überirdischer Kraft und engeis-
121
gleicher Milde ausgestattet, die Erlöserin des in dem
„finsteren grossen Wald" des irdischen Lebens verirrten,
von den Ungeheuern des weltlichen Ehrgeizes, des falschen
StQlzes und des blinden Hasses verfolgten Dichters, sie
schickt ihm den Führer durch die niederen und unter-
irdischen Regionen zu, sie zieht ihn dann zu sich hinauf
in die Stemengefilde der Seligen und sie zeigt ihm, indem
sie sich selbst mit Gottes Wesen in einen aus der Feme
der paradiesischen Kreise her ihm entgegenleuchtenden
Punkt verschmilzt, die wahre Freiheit, die sein unruhiges,
verstörtes Sein gewinnen kann. Um diesen Triumphgesang
anstimmen zu können, musste freilich eine Yerirrung des
Dichters vorhergegangen sem; die zeitweilige Hinneigung
zu der kalten Göttin der abstrakten Yemunft, zu der
Philosophie, musste ihm erst die Augen geöffiiet haben
für die Schönheit und die wahre Herrlichkeit des einzigen
vreiblichen Ideals. In diesem Sinne steht also die „Herrin^
des „Convito*^ auch in einer gewissen Yerknüpfdng mit
der „Herrin" der „Divina Commedia"; und darüber gar,
dass die Beatrice des letzteren Gedichtes dieselbe Beatrice
ist, welche Dante in seiner Jugend besang, kann nicht der
geringste Zweifel obwalten.
Dante hatte sich in dem „wilden Wald, so rauh und
dicht verwachsen'' verirrt und sich von den falschen
Bildern betrügen lassen, die das Leben und die eigene
unfreie Seele ihm vorgespiegelt hatten. Der Parder, der
Löwe und der gierige Wolf, die Symbole des Ehrgeizes,
des Stolzes und des Hasses, bedrohen ihn und setzen ihn
in Furcht, als ihm der grosse Schatten Yirgils erscheint
und sich ihm als Führer anbietet.*) Und er, der Führer
*) S. »Divinft Oommedi** Inferno. Caat 1.
122
durch die niederen Regionen, ist ihm durch Beatrice ge-
sandt worden. Yirgil's eigene Worte Aber den Zweck
seiner Sendung sind die folgenden:
Damit da nun von dieser Furcht dich lösest,
Sag* ich, warum ich kam und was ich hörte
Als ich zuerst mich Aber dich betrflbet
Ich war bei Jenen, die in Zweifel schweben,
Und sieh', da rief ein Weib mich, schön und s^g,
So dass ich selbst sie bat, mir za befehlen.
Es glänzten ihre Augen mehr als Sterne,
und sie begann zu sagen, sanft und leise
Mit eines Engels Stimm' in ihren Worten:
„0, du, des Mantuaners holde Seele,
„Dess Nachruhm immer in der Welt noch währet,
„Und ferner währen wird, so lang die Welt steht 1
„Mein Freund, der nie des GlUckes Freund gewesen,
„Ist so am wüsten Abhang in dem Weg
„Qehindert, dass er sich vor Furcht gewendet;
„und hat, besorg' ich, sich bereits yerirret,
„Weil ich zu spät mich ihm zur Hülf erhoben,
„Nach dem, was in dem Himmel ich yemommen.
„Wohlauf geh' und mit deiner schmucken Hede
„Und Allem, was ihm zum Entrinnen nothig,
„Steh' so ihm bei, dass ich getröstet werde.
„Beatrix bin ich, die dich sendet, konunend
„Von einem Ort, nach dem ich heim mich sehne,
„Mich trieb die Liebe, die dies Wort mir eingab.^)
Warum sendet Beatrice dem Dichter gerade den
Yirgil als Führer? so fragen wir uns zunächst. Die Ant-
wort geben uns die Worte, mit denen Dante den Schattoi
*) 8. «Dlvlna Commedla", Inferno. Gant. II. 49—72. Ich oitire
die SteUen ans der , Göttlichen Komödie*^ in der üebersetEnng Ton
Philalethes. Leipzig 1868.
123
des römischen Dichters anredet, als er in dem dmikelen
Walde ihn erblickt:
Bist du es selbst, Virgil, du reiche Quelle
Drauss sich der Strom der Rede voll ergiesset?*)
Und später nennt er ihn: „die Ehre mid die Leuchte
aller andren Dichter." Virgil war der Lieblingsdichter
Dante's, wie des ganzen Mittelalters; Dante meint aus
ihm die Eraft seiner Sprache, den „hello stile'^ geschöpft
zu haben, glaubt ihm alle dichterische Kunst yerdanken zu
müssen, erblickt in ihm den erhabensten Vertreter aller
Poesie. Virgil ist also för Dante die Personifiliation der
Kunst, der Dichtung, und wie schön ist es gedacht, dass
er auch diese, seine Führerinnen auf dem rauhen Pfiad
durch die niederen Regionen, der Vermittlung der gütigen
„Herrin" zu verdanken vorgiebt. Liegt nicht in diesem
Zuge eine klare Hindeutung auf die Inspiration durch
Beatrice, auf die, in den Augen der modernen Kritiker
80 schreckliche Meinung, dass es der Cnltus der „Herrin",
der Gedanke an das weibliche Ideal war, welche in dem
Dichter alle schlummernden Kräfte weckte?
Und wie hoch schlägt Dante die Liebesthat an, die
er auch in dieser Hinsicht durch die gütige „Herrin"
erfuhr! Lassen wir ihn selbst reden, um sein Herz, das
so voll von Dank und Enthusiasmus über diese erste
Aeusserung der Heilswirkung seiner „Herrin" auf ihn war,
recht zu erkennen: Beatrice giebt, auf eine Frage Virgil^s
hin, über den Grund Auskunft, der sie veranlasste, vom
Himmel herabzukommen und ihrem Geliebten zunächst,
bis sie selbst seine Führung übernehmen kann, die Kunst
*) Siehe: Loc. dt. Cant. n, 79—80.
124
als BegLeiterin zn bestellen. Lade, die ^Feindin aller
Härte" (auch eine der hinunlischen Frauengestalten
Dante's), hatte ihr erzählt, dass Dante, „der sie so liebet,
dass er durch sie trat ans des Pöbels Schaaren*', auf
Erden von Angst und Todesfurcht bedrängt ist. Sie fthrt
dann fort:
So rasch ist Niemand auf der Welt gewesen,
Gewinn zu machen, Schaden zu vermeiden,
Als ich, nachdem ich solches Wort vernommen,
Hemiederstieg von meinem sel'gen Sitze.*)
Und Dante bricht, als er diesen Bericht Yirgil's über seine
Sendung zu ihm und über diese milde That seiner »Her-
rin" vernommen, in die folgenden rührenden Worte aus:
Wie Blümchen sich, gebeuget ui^d geschlossen
Vom Nachtfrost, wemi die Sonne sie versilbert,
Nun all' eröffiaet auf dem Stengel heben.
Ward jetzt mir der erschlafiEte Muth erneuet.**)
Und „durch das Herz rann ihm so edle Kühnheit", dass
er sich freudig aufrnacht, mit Yirgil den Grang durch die
Hölle anzutreten.
„0, wohl barmherzig sie, die mir geholfen!''***)
ruft er m dem Gedanken an die Geliebte aus, die ihn
durch diese Sendung der Kunst zu ihm wieder zu einem
Freigesinnten gemacht hat.
Wie stellte sich der Dichter seine „Herrin" vor?
Das ist die nächste Frage, die bei diesen Worten aus dem
*) siehe: loc. dt. n, 109—118.
*•) Siehe: loo. dt H, 126—180«
***) Siehe: loo. dt. n, 188.
125
Eingang des grossen Liedes sich in uns regt. Beatrice ist von
^dem Orte, nach dem sie heim sich sehnet", zu Yirgil
herabgekommen, also aus dem Himmel, wohin sie nach
ihrem irdischen Tod gestiegen war; „ihre Augen glänzen
mehr als Sterne" und „eines Engels Stimme" klingt aus
ihren Worten. Auch ihre Macht ist überirdisch, beinahe
göttlich. Darum braucht sie auch nicht Furcht zu hegen,
in die Yorhölle, wo sie den heidnischen Dichter au&uchte,
herabzusteigen. Sie selbst sagt von sich auf die Frage
Virgil's hin:
Warum hierherzukommen ich nicht fürchte?
Zu fürchten hat allein man jene Dinge,
Die Macht besitzen, Schaden zuzufügen,
Nicht alles üebrige — es ist nicht furchtbar.
Durch Gottes Gnade bin ich so geartet,
Dass Euer Elend nimmer mich mag rühren,
Noch dieses Brandes Flamme mich ergreifet.*)
Beatrice ist also schon hier der wirkliche Engel, derselbe
Engel, in den sie sich nach Abstreifang ihrer irdischen
Hülle verwandelte; sie ist die in den Himmel gehobene
Beatrice Portinari, die Jugendgeliebte des Dichters, und
nicht etwa das vage weibliche Ideal, das Dante, nach der
Meinung mancher Ausleger, den Anschauungen seiner Zeit
gemäss mit Engelsgewändem umkleidet habe, nachdem er
sie ans dem Beiche der Wissenschaft in den Himmel
versetzt hätte.
Nach dieser Erfüllung ihrer ersten Aufgabe, dem
Jugendgeliebten für seine Wanderung durch die Hölle und
das Fegefeuer die Kunst, die Poesie zur Begleiterin zu
geben, verschwindet Beatrice für fast zwei Dritttheile der
•) siehe: loo. oit. n, 87—98.
n
126
^Göttlichen Komödie** ans unseren Angen und stellt sich
erst wieder persönlich bei dem Dichter ein, als er ihrer
znr Wanderung dnrch das Paradies als Führerin bedarf.
Aber auch inmitten der Schrecken der Hölle vergisst er
ihrer nicht, sondern erinnert sich der seligen Freuden, die
ihm durch sie später noch beschieden sein werden.
„Wenn du dort stehst vor ihrem holden Strahle,
„Die mit den schönen Angen Alles schauet,
„Wird klar durch sie dir deines Lebens Beisel*)
sagt Yirgil zu ihm^ als er ihn mit Fragen plagt, und
Was ihr von meinem Lauf erzählet, bemerk* ich
Mit anderm Spruch, es zur Erläut'rung wahrend,
Bis ich ein Weib, das dies versteht, erschaue.**)
entgegnet er selbst auf die Bemerkungen Brunetto Latini's^
die ihm dieser über seine Verbannung und seine irdische
Laufbahn macht. Der Gedanke, dass er mit der „Herrin*'
einst nicht nur zum ewigen Frieden gelangen, sondern aus
ihren Augen auch die Deutung der Räthsel lesen werde,,
welche ihm sein eigenes, unruhiges und unfreies Wesen
und seine Tielbewegte und vielgestörte Lebensbahn stell-
ten, leuchtet aus diesen Worten heraus. Wie ein Strabl
der Morgenröthe des künftigen, seligen Lebens dringt in
seine Höllenfahrt die Liebe, die die „Herrin" ihm bewies,
herein; aufwärts steigt er, immer aufwärts und ihr ent-
gegen, wie in der Dichtung so auch auf seiner Lebens-
bahn. Und als er verzagen will auf dem Weg, als er
sich fOrchtet, im Fegefeuer dem Führer durch die Flammen-
mauer zu folgen und das Gef&hl seiner Schwäche imd
*) siehe: loc. olt. X, 130-182.
**) Siehe: loo. cit. XV, 88—90.
127
seiner Menschlichkeit ihn so ergreift, dass er muthlos und
kraftlos wird,
Wie Jener ist, der in das Grah gelegt wird^)
braucht ihm Yirgil nur zuzurufen:
Mein Sohn, sieh, zwischen
Beatrix ist und dir nur diese Mauer**)
nm ihn wieder an&chnellen zu lassen, denn der Name der
Oeliebten wirkt wie Zauberkraft auf ihn ein:
Wie Pyramus bei Thisbe's Namen aufschlug
Das Aug*, und nah' dem Tod schon, auf sie blickte,
Damals als roth die Maulbeer' ist geworden,
So wandt', als sich erweicht mein harter Wille,
Ich mich zum weisen Hort, den Namen hörend,
Der immerdar im Geiste mir emporquillt.***)
Er dringt nun durch die Flammenmauer hindurch und
nähert sich dem irdischen Paradiese, als ein süsses, noch
nie gehörtes Tönen, das an sein Ohr dringt, das Nahen
der „Herrin" ankündigt. Ich will die Hauptstellen des
Gesanges t), in dem diese erste Begegnung des Dichters
mit der „Führerin" in den seligen Regionen stattfindet,
hier anfCkhren, weil sie wichtig fOr das Yerständniss des
Wesens der verklärten Beatrice sind:
Oft sah ich wohl beim Anbeginn des Tages
Die Morgenseite rosig ganz gefärbet.
Und schöne Heitre sonst den Himmel schmücken.
Und überschattet so aufgeh'n das Antlitz
*) Pnrgatorio XXVn, 16.
**) Idem, XXVH, 86.
*••) Siehe: Purgatorlo XXVH, 87-40.
t) Der drelssigste Gesuig dei Porgatorio.
128
Der Sonne, dass, gesänftiget durch Dünste,
Es lange Zieit das Ang* ertragen konnte,
Also Yon einer Blumenwolk* umgeben,
Die sich emporhob aus den Engelshänden
Und dann zurückfiel innerhalb und draussen,
Bekränzt mit Oellaub auf dem weissen Schleier,
Erschien ein Weib mir unter grünem Mantel,
Gekleidet in lebendiger Flamme Farben.
Und meine Seele, die so viele Jahre
Schon war yerblieben, ohne dass von Schrecken
In ihrer Gegenwart durchbebt sie worden.
Nicht Eenntniss irgend durch das Aug* erlangend.
Nur durch geheime Kraft, die von ihr ausging,
Emp&nd die grosse Macht der alten Liebe.
Sobald in's Antlitz mich getroffen hatte
« Die hohe Kraft, die einst schon mich durchbohret.
Eh' noch ich aus der Kindheit war getreten.
Wandt' ich zur Linken mich mit jener Demuth,
Mit der das Kindlein sich zur Mutter flüchtet,
Wenn es sich fürchtet, oder wenn's betrübt ist.
Um zu Virgil zu sprechen
Allein Yirgil ist plötzlich verschwunden und als darüber
der Dichter Thränen vergiesst, hört er mit folgenden Worten
«ich anreden:
„Dante, ob auch Yirgil von dannen gehe,
„Nicht weine, weine noch nicht, denn zu weinen
„Ziemt's dir", sprach sie, „von anderm Schwert vennmdet!''
Es ist die Stinune der Herrin, die also spricht. Das
einzige Mal in der ganzen „Göttlichen Komödie^ nennt
der Dichter hier seinen Namen, „der ans Nothwendigkeit
hier wird verzeichnet." Nicht mit allgemeinen Um-
schreibungen konnte die „Herrin" den Anbeter anreden,
jnit dem Namen ruft sie ihn vertranlich, der vielleicht
129
einst auch ihrem Ohre süss klang. „Ich erblickte*', fi^hrt
Dante fort
Das Weib jetzt, das mir erst verschleiert nnter
Dem Festgepräng' der Engel war erschienen,
Jenseits des Bach's nach mir das Auge richtend;
Obgleich der Schleier, von dem Haupt ihr wallend,
Der mit Minerva's Laube war umkreiset,
Sie noch nicht offenbar mir liess erscheinen.
Und königlich, annoch mit strenger Haltung,
Fuhr jetzt sie fort gleich Jenem, der da redet,
Allein die glühnd'sten Worte noch zurückhält:
„Schau mich recht an, ich bin, ich bin Beatrix.
„Wie hältst du's werth, den Berg nun zu ersteigen?
„Wusstest du nicht, dass hier der Mensch ist glücklich?**
Kajm in lieblicheren, rührenderen Worten die erste Be-
gegnung zweier Liebenden, die sich nach langer Trennung
^edersehen, ausgedrückt werden, als in den beiden vor-
letzten Versen es geschieht. Wie eindringlich und frende-
YoU nach langem Trennungsleide klingt die Wiederholung :
„ich bin, ich bin Beatrix!** (ben son, ben son Beatrice 1)
Und wie ergreifend und packend schildert nun der Dichter
in den folgenden Versen die tiefe Bewegung, die ihn bei
ihrem Wiedersehen ergreift:
* Gleichwie der Schnee langlun auf Wälschlands Rückgrat
Gefrieret zwischen den lebend'gen Stänunen,
Wenn ihn Slavonien's Wind anhaucht und härtet.
Doch dann zergehend in sich selbst versickert,
Sobald's vom Land weht, das des Schatten's haar wird,
Dem Feuer, das die Kerze schmelzet, ähnlich.
Also war sonder Thränen ich noch Seu&er,
Eh' jene sangen
180
Doch als ich aus den sflasen Melodieen
Ihr Mitleid wahrnahm, mehr, als wenn gesaget
Sie h&tten: „Weih, warum flm so erschfltteml''
Da ward der Frost, der mir um's Herz sich drängte,
Zu Hauch und Wasser und entlud sich angstvoll
Durch Aug* und Mund und zugleich aus meinem Busen.
Spricht so einDichter, der sein blosses weibüdies „Ideal*^
verwirklicht erschaut? Nein, es sind die Worte des
Liebenden, der die Geliebte wiedersieht, und „Barbaren"
sind, nach Balbo's*) treffendem Ausdruck, diejenigen,
welche nach dem Lesen dieses Gesanges noch an eine
blosse Allegorisimng glanben.
Doch Beatrice hat strengere Worte auf den Lippen,
die sie in der ersten Frende des Wiedersehens zunächst
noch zur&ckgehalten hatte. Der Geliebte tritt mit gleichem
Maasse „von Schuld und Schmerz" belastet nach seiner
Erdenwanderung, nach der langen Trennung von ihr, jetzt
wieder vor sie hin. Er hat sich nicht stets rein gehalten;
er war verirrt gewesen, versenkt in das wüste Treiben der
Welt, hin- und hergepeitscht von seinen Leidenschaften
und er hatte anch oft genng das reine Bild der „Herrin**
in seinem Herzen verhüllen lassen durch sündige Nei-
gungen und niedere Triebe. Sie wendet sich jetzt an die
Engel und enthüllt vor ihnen sein Wesen: „Seht ihn," so
sagt sie, „es
Ward dieser so in seinem Jugendleben"*^)
Befähiget, dass jede rechte Sitte
Sich wunderbar in ihm bewähret hätte;
*) Cesare Balbo ,La Vita dl Dante*. Torlno 1889.
**) Phllalethes übersetst hier: ,ln selDem neuen Leben,* aber der
Text hat: «neUa Bua Tita nncya*. und der fiHim ist hier derselbe wie la
dem Titel der Jngendschrift.
131
Doch um so schlimmer wird das Land und wilder
Durch schlechten Samen und des Anbaues Mangel,
Je mehr's an guter Bodenkraft besitzet.
Aufrecht hielt ihn mein Antlitz eine Weile,
Und ihm die jugendlichen Augen zeigend
Führt' ich mit mir ihn in gerader Richtung.
Sobald ich, auf des zweiten Alter's Schwelle
Gelanget, Leben jetzt gewechselt hatte,
Entzog er mir sich und ergab sich Andern.
Als ich Yom Fleisch zum Qeist emporgestiegen.
Und Schönheit mir und Tugend war gewachsen.
Ward ich ihm minder angenehm und theuer,
Und seinen Schritt wandt' er durch irre Pfade,
Die falschen Bilder eines Gut's verfolgend.
Die das Versprochne nimmermehr erfüllen.
Nichts half s, Eingebungen ihm zu erflehen,
Mit denen ich zurück ihn rief in Träumen,
Und sonst, so wenig achtet' er auf solche.
So tief sank er hinab, dass alle Mittel
Zu seinem Heil schon unzureichend waren,
Als nur, ihm das verlorne Volk zu zeigen.
Die ganze Manneszeit des Dichters ist in diesen Worten
charakterisirt, diese seine Lebens-Periode, in der er, an-
fangs „die falschen Bilder eines Gutes verfolgend'', d. h.
eich in philosophische Gedankengespinnste vertiefend, sich
von dem Treiben der Welt verleiten liess, den PM zum
Himmel, dem ihm in der Jugendperiode die Tugend der
GreHebten schon gezeigt hatte, zu verlassen, und „seineSchritte
durch irre Pfade gewandt^ hatte. Kann es eine bessere
und wahrere Beichte geben, als sie der Dichter hier vor
uns ablegt? Aber auch von Beatricens früherem Leben
giebt uns diese Stelle ein schönes und klares Zeugniss. „Als
ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen**, sagt sie von
9*
132
sich selbst. Wtkrde so eine allegorische GrestaLt, ein Ideal,
das jederzeit blos in der Phantasie des Dichters gelebt
hätte, von sich reden können?
Diese Anklage Dante's von Seiten der verklärten
Herrin wird dann in dem folgenden Gresange'*') fortgesetzt,
aber nur zu dem Zwecke, um dem Sünder, sobald er reuig
seine Schuld bekannt haben werde, die Absolution zu er-
theflen; denn mit seiner Schuld beladen kami er nicht den
Strom überschreiten, der ihn noch vom Paradiese trennt,
und am wenigsten die Wiedertaufe in diesem Flusse em-
pfangen, die nachher Beatrice selbst an ihm vollzieht. Auch
aus diesem zweiten Bekenntniss ist es interessant, einige
Stellen besonders zu betrachten.
Nachdem Dante auf die Frage Beatricens ein reuiges
„Ja** als Eingeständniss seiner Schuld hervorgepresst, fragt
sie ihn, warum er sich eigentlich in seinem nachfolgenden
Leben so von ihr abgewandt habe?
In deinem Sehnen
Nach mir, das dich em Gut zu lieben lehrte,
Darüber man nicht Höh'res kann erstreben,
Was fand'st für vorgezog'ne Gräben oder
Für Ketten du, die dich der Hofi&iung, vorwärts
Zu dringen, also nur berauben durften?
Und welch' erleichternd Wesen, welcher Vortheil
Hat auf der Stirn der Andern sich gezeiget,
Dass du zu ihnen hinzuwandeln brauchtest?
Und hierauf antwortet der Dichter so einfach und doch so
vielbedeutsam:
Meine Schritte wandten
Mit falscher Lust die gegenwärtigen Dinge,
Sobald sich euer Antlitz mir verborgen.
*) Dem Slsten des Pnrgatorlo.
133
Welch' ein weiter und tiefer Sinn liegt in diesem Be-
kenntnisse! Wir sehen hier die ganze Faust-Natur Dante's
In ihm enthüllt, die ihn stürmisch und unaufhaltsam vor-
Tvärts trieb zu immer neuen Zielen, politischen, mssen-
schaftlichen und irdischen, zu immer neuen Genüssen, zu
immer neuen Enttäuschungen. Die „Anderen", von denen
Beatrice spricht, sind nicht allein die anderen irdischen
Frauen, zu denen Dante's sinnliche Natur vorüber-
gehend hinneigte, die Gemma Donati, die Gentucca
und die Ungenannten, die sonst Antheil an seinem
irdischen Treiben hatten; es sind auch die anderen Ziele
und Strebungen seines Lebens, die ihn von dem Heilsp&de
abweichen Hessen.
Wohl solltest du dich bei dem ersten Streiche
Der trügerischen Dinge aufwärts schwingen,
]&Gr nach, die nicht zu solchen mehr gehörte.
Nicht durfte dir die Flügel abwärts drücken,
Mehr Schläge zu erwarten, sei's ein Mägdlein,
Sei's and'rer Tand vergänglichen Gebrauches.
fährt Beatrice, sanft tadelnd, fort. Sehen wir hier nicht
den Faust des 13. Jahrhunderts, der immer tiefer versinkt
in das irdische Treiben, gerade weil seine Sehnsucht nach
dem unbekannten „Gute" immer mehr in's Ungemessene
wächst? Aber auch dieser Faust fand ja sein Gretchen
wieder dort im Himmel, dem Vergänglichen entrückt, ge-
läutert von aller Erdenlast, verklärt und dazu umge-
schaffen, dass sie auch ihn mit sich hinanziehe. Mich hat
es jedesmal wunderbar, wie eine hehre dichterische Offen-
barung, berührt, wenn ich bei der Lektüre dieserGesänge inne
wurde, dass eine merkwürdige innere Aehnlichkeit zwischen
diesem Eintritt Dante's in den Himmel und dem Eintritt
134
des Ooethe'schen Faust (am Scfaluss des zweiten Theiles)
in denselben besteht.
Sieh, wie er jedem Erdenbande
Der alten Hiüle sich entraflt,
Und aas ätherischem Gewände
Hervortritt erste Jagendkraft!
Yergömie mir ihn zn belehren 1
Noch blendet ihn der nene Tag.
sagt das verklärte Gretchen zor Mater gloriosa. Und auch
Beatrice sieht in Dante die „erste Jugendkraft^ ans der
verdeckenden Hülle hervortreten, schafft ihren Greliebten
wiederum zn dem reinen, schwärmerischen, emporstrebenden
Jüngling, der in ihrer reinen Weiblichkeit sein Ideal £Etnd
nnd durch die Macht ihrer Tugend sich damals schon aus
dem Erdengetriebe dem Himmel näher geführt s^nbte.
Und wie die Mater gloriosa zu Gretchen sagt:
Komm! hebe dich cn hohem Sphären!
Wenn er dich ahnet, folgt er nach.
so findet auch Beatrice die mahnende, mitleidsvolle Stimme,
die ihr zuruft:
Kehr*, o Beatrix, kehr die heil'gen Aagen
nach deinem Treuen,
Der dich zu sehn, so viel den Schritt bewegt hat.
Aus Gnaden gieb die Gnad' uns, dass du deinen
Mund ihm entschleierst, so dass er erkenne
Die zweite Schönheit, die du hältst verborgen.
Diese „zweite Schönheit^ besteht darin, dass sie hinfort
an ihrem Sänger nicht nur ihr Herz, ihre Milde, ihre
Beilskraft kund thut, wie bisher, sondern dass sie nun auch
„ihren Mund vor ihm entschleiert^, das heisst auch sein
Yerständniss der göttlichen Dinge durch ihre Belehrung
135
nährt, dass sie also auch ihren hohen, übernatürlichen
Intellekt, eben die „zweite Schönheit**, zeigt. Es ist das-
selbe, was Gretchen sagt: „Vergönne mir ihn zn belehren.**
Mit diesem Amt, das Beatrice auf sich genonmien,
tritt sie mm in die dritte Phase der Fortentwicklung ihres
Wesens. Ans der irdischen, holden und schönen Frau,
die durch ihr ganzes Sein in dem Jtkngling eine Ahnung
des Ueberirdischen weckte, weil das Ewig-Weibliche in
ihr zum wahren Ausdruck gekonunen war, hatte sich nach
dem irdischen Sterben der milde Engel entfaltet, der den
Verirrten zu sich hinanzog, ihn seiner SQnden-Last ent-
ledigte und die Thore des Hinunels vor ihm öffnete. Jetzt
tkbemimmt sie nun als höchstes Amt die Führerschaft des
Oeliebten durch die heiligen und wundersamen Kreise des
Paradieses.
Der dritte Theil der „DivinaCommedia**, das „Paradiso**,
ist seiner ganzen Anlage und seiner ganzen Ausfbhrung
nach ein Lehrgedicht, in dem freilich auch die wunder-
TOllsten, echt poetischen SteUen hier und da sich zeigen;
488 ist eben, obgleich es jenen didaktischen Charakter an
sich trSgt, das Werk des grössten Dichters des Mittel-
idters, und seine elementare dichtmsche Gabe konnte sich
auch in der Behandlung eines abstrakten Stoffes nidit ver-
leugnen. Es ist zugleich der vollständige Ausdruck der
mystischen christlichen Lehrmeinungen, wie sie das^Mittel-
alter auf Grund der Apokalypse so gern ausbildete. Von
diesen beiden Charakterzügen des ganzen Gesanges über
die himmlische Herrlichkeit wurd natürlich audi die Gestalt
der Beatrice, die ndtten in ihr steht und grossen Theil an
ihr hat, mit berührt, aber man muss sich, meines Er-
achtens, hüten, sie aus diesem Grunde lediglich als allego-
rische Person, lediglich als die Personifikation der Theologie,
136
der supranataralistischen Wissenschaft und Weisheit oder
als Symhol des Glanhens hinzustellen. Nein, sie trägt die
Spnren ihres realistischen Ursprungs seihst in diesen
Sphären noch an sich, natürlich stets nur soweit, als es nach
der ganzen Ausdrucksweise im Gedichte, die durdiaus eine
mystisdie ist und nur selten zur Erde zurückkehrt, möglich
ist. Beatrice hleiht auch im Paradiese das, was sie im
ganzen Lehen und im ganzen Dichten Dante's war: seme
Führerin. Dass sie dieses Amt jetzt nur als Belehrerin
(als dottoressa, wie ein feinsinniger italienischer Schrift-
steller*) sagt) ausüben kann, liegt im Wesen des Lehr-
gedichts, nicht eigentlich in dem ihrigen begründet. Im
Gegentheil, man soll sich hüten, die Attribute, von denen
sie umgeben ist, als nothwendig mit ihrem „neuen" Wesen
zusammenhängend zu betrachten, denn ihr Wesen ist auch
im Paradiese nicht ein gänzlich neues geworden. Die sieben
Candelaber, die vierundzwanzig Aeltesten, die vier Thiere, der
Wagen, der Greif, die sieben heiligen Frauen und wie der
allegorische Apparat sonst heissen mag, von dem umgeben
Beatrice auftritt, gehören nicht ihr speziell zu, sondern sind
Theile der grossen Gemeinschaft, von der sie selbst nur ein
Theil ist. Wäre sie wirklich lediglich die Verkörperung der
Theologie, so würde sie über diesem Apparate stehen, ihn
symbohsch umfassen, nicht ein Theil desselben sein. Und
man nehme doch diese allegorischen Prunkstücke aus ihrer
Nähe hinweg, man entkleide sie ihrer symbolischen Hüllen:
des weissen Schleiers, der Krone aus Olivenlaub, des
grünen Mantels, des brennendrothen Kleides; immer wird
sie doch noch genug Weibliches an sich tragen, inmier
wird noch aus ihren Worten, mit denen sie die Fragen
*) Mario Baplsardl: «La Beatrice di Dante." Florenz. 1877.
137
ihres ydssbegierigen Schützlings beantwortet, das edle, jetzt
freilich nur noch durch die höchsten Dinge bewegte Frauen-
herz hervorleuchten. Die Allwissenheit, die sie über diese
Dinge entfaltet, hat ihr den Namen der Theologie, der
hinunÜBchen Weisheit eingetragen; aber mich dünkt, dass
diese Eigenschaft mehr aus ihrem verklärten Wesen, das
sich ganz in Gott, in die Anschauung des Höchsten ver-
senkt hat, entspringt, als aus einem besonderen, allegorischen
Charakter, den ihr der Dichter habe verleihen woUen.
Sie überträgt dem Geliebten diese ihre hinmilische Wunder-
kraft des Wissens von den höchsten Dingen, wie sie ihm
vorher schon ihre Heilskraft und ihre Sündlosigkeit durch
die Wiedertaufe übertragen hatte, und dadurch, dass der
Dichter auf diese Weise vollständig Eins wird mit ihrem
beseligenden und schauenden Wesen, ist es ihm möglich
aus emem Himmelskreise in den anderen emporzusteigen,
die tellurischen und siderischen Erscheinungen zu ver-
stehen, in die Mysterien des Gelübdes, der ewigen Ge-
rechtigkeit, des Kreuzestodes Christi, der Unsterbhchkeit
und anderer höchster Dinge einzudringen. Nur seine
TöUige Eingabe an sie, wie vorher seine völlige Hingabe
an Yirgil, das Urbild der Kunst und Poesie, heiligt ihn
zum Weiterschreiten in dem unendlichen Meer von Licht,
von Harmonieen und von Wohlgerüchen, in das sie ihn
einftüart. Und diese Hingabe, diese gleichsam in's
Himmlische verklärte erdentstammte Liebe, bleibt, je weiter
sie vordringen, das einzige Menschliche, das einzige Reale
in ihrem gegenseitigen Yerhältniss. Je mehr der Dichter
sich in ihr Wesen vertieft, desto mehr muss er sie be-
wundem, weü es ihn immer näher zu dem Anschauen des
Höchsten fükhrt. Deshalb auch erscheint sie ihm mit jedem
Schritt verschönter, verklärter, erhabener: in ihr spiegelt
138
sich die sie mngebende und sich immer steigernde Herr-
lichkeit. Zuletzt, als sie an dem himmlischen Sitze an-
kommen, den Beatrice vor ihrer Sendung zu Dante ein-
genommen und auf den sie sich nun meder niederlässt,
„im dritten Umkreis, auf jenen Thron, den ihr Verdienst
ihr anmes,^ yerlässt sie Dante und üherantwortet ihn der
Führung des heiligen Bernhard.
Und mit aufs Neu entzündetem Verlangen
Wandt ich mich um, nach Dingen meine Herrin
Zu fragen, drob mein Geist im Zweifel schwebte.
Auf eines sdelt' ich und erlangt' ein andres.
Ich glaubte sie zu sehn^ allein ein Greis stand
Vor mir, gleich dem ruhmvollen Volk gekleidet;
Verbreitet war auf Augen ihm und Wangen
Wohlwollende Freud', und da stand er, wie's einem
Liebreichen Vater ziemt, mit frommem Gruss.
Und : „Wo ist sie?" sprach ich mit schnellen Worten. *)
Warum, wenn sie wirklich die Verkörperung der
Theologie ist, hat nicht sie ihn bis zum höchsten Punkte
weitergeführt? Sie istebennicht lediglich die Theologie; sie
ist ein Engel, allwissend geworden durch die Anschauung
des Höchsten, und sitzt, wie der Dichter dann im folgenden
Gesänge**) schaut, neben Rahel auf den Stufen des Thrones
der Himmelskönigin, sich in ihrem Licht verschönend.
Und von dort aus — es ist das ein so treffender, rea-
listischer Zug — wirft sie dem Dichter, der wie sie sich
nun an dem Anblick der höchsten Frau, „der Wonne
aller Heiligen^ weiden und seines heiligen Führers wunder-
bar schönem Lobgesang auf die Himmelsherrin lauschen
*) Psradlso XXXI, 55—64.
**) Dem 32. des „Paradies".
139
darf^ „aas der*Feme noch lächelnd einen Blick zu." Ihr
Amt ist YoUhracht. Aus den Irrthfimem des Lebens hat
sie den (reliehten, nachdem sie ihn zuerst durch die Kunst
zu dem Gange durch das Schreckensreich gestärkt hatte,
zu sich in den Himmel gezogen und ihn die Herrlichkeiten
desselben schauen lassen.
Und in der Ausübung dieses Amtes haben wir sie
nun bis zu diesem Punkte der seligsten Erfüllung be-
gleitet. Das anmuthige und schon so wunderreiche Kind,
die den ersten Liebesfunken in die glühende Seele des
Dichterknaben wft, die holdselige und tugendreiche Jung-
frau, die zum ersten Male die Ahnung einer höheren
Macht, wie die der Liebe es ist, in seinem Gemüthe rege
macht, die in irdischer Schönheit prangende Frau, die ihn
zur ersten Entfaltung der wunderbaren, ihm innewohnenden
Grottesgabe des Gesanges bewegt, die zum himmlischen
Engel verklärte früh Dahingeschiedene, die ihn aus der
Unruhe und den Leidenschaften zu sich hinanzieht, ihn
läutert und freimacht und dami die Herrlichkeiten Crottes
schauen lässt, sind sie nicht eine einzige, reale Person
wenigstens für die Seele des Dichters gewesen?
0, Herrin, in der meine Hoffiiung lebet.
Die du geduldet hast, dass in der Hölle
Zorückblieb deine Spur ob meines Heiles,
Von jenen Dingen all', die ich gesehen,
Durch deine Macht und deine Gut' erkenn' ich
Die Kraft und Gnade, die sie mir gewähret.
Du zogst mich aus der Knechtschaft in
die Freiheit
Durch alle jene Weg*, in allen Weisen,
Die Solches zu bewirken Macht besassen.
In mir bewahre deine reichen Gaben,
140
Dass meine Seele, die du hast geheilet,
Dir wohlgefällig von dem Leib sich lösel"')
so singt der Dichter von ihr am Schlüsse seines grossen,
seines hohen Liedes, dessen Mittelpunkt sie ist. Und in
der That, wir würden Barbaren sein, wenn wir die innere
Wahrheit dieser Worte bezweifeln wollten. Nicht der in
seiner Zeit conventionelle Coltos der „Herrin" allein konnte
dem grossen Sänger solchen Ausdruck wahrhaft verklärter
Liebe in den Mund legen: dazu bedurfte es mehr; es be-
durfte wirklich der Liebesthat eines edlen Weibes, die er
einst in seinem Leben an sich erfahren und deren Er-,
innerung er durch alle Stürme und Verirrungen des letz-
teren hindurch in sich heilig gehegt, mit seiner ganzen
Leidenschaftlichkeit weiter entwickelt und in die poetische
grosse That umgesetzt hat, die ihn unsterblich macht;
dazu bedurfte es sodann des gläubigen Sinnes, der die
beseligende und befreiende Wirkung der wahren Liebe in
sich empfunden hatte und in dem Weibe eine der Offen-
barungen des Göttlichen sah; dazu bedurfte es endlich der
feinsinnigen Emp^glichkeit fOr die grosse und ewige Ein-
wirkung der liebenden Frau auf unsere wahre Cultur und
auf die ganze Fortentwicklung der Menschheit nach dem
Höheren hin, jener Empfindung, der auch unser grosser
Dichter Ausdruck gab, als er sein gewaltigstes Werk mit
den Worten schloss:
Das Ewig -Weibliche
Zieht uns hinan!
*) Parsdlso XXXI, 79—90.
W. Moeser Hofbachdrnekerei, Berlin S.