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Full text of "Das Anjekind Eine Erzählung"

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The Project Gutenberg EBook of Das Anjekind, by Waldemar Bonsels

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almost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away or
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Title: Das Anjekind
       Eine Erzählung

Author: Waldemar Bonsels

Release Date: November 9, 2010 [EBook #34265]

Language: German


*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ANJEKIND ***




Produced by Norbert H. Langkau, Peter Simon and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net








  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
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  ]




                   Die erste Auflage dieses Buches ist
                     im Jahre 1913 erschienen. Alle
                    Rechte vorbehalten. Copyright by
                     Schuster & Loeffler, Berlin 1913




                            Waldemar Bonsels

                              Das Anjekind

                             Eine Erzählung

                       Elfte bis fünfundzwanzigste
                                 Auflage

                     Verlegt bei Schuster & Loeffler
                             Berlin und Leipzig
                                  1918




                                  Druck
                             der Spamerschen
                         Buchdruckerei in Leipzig




Erstes Kapitel


Es soll damit begonnen werden, die Geschichte von Anjes Vater zu
erzählen, deren grausames Ende den am Leben gebrochenen Mann veranlaßte,
das einsame Moorland aufzusuchen, das Anjes Heimat geworden ist.

Nicht weit von der Stelle entfernt, wo der Gurdelbach aus der Einöde
tritt und sein ruhiges Wasser, das in den dunklen Moorgründen, die es
durchfließt, wie von Trauer und Schwermut erfüllt worden ist, liegt das
Dorf Gorching. Gegen Norden erstreckt sich weit jene Moorlandschaft, die
die Einöde genannt wird und die als unzugängig und verwildert gilt. In
Gorching war Anjes Vater, der Jakob Vinzenz Gerom hieß, trotz seiner
Jugend einer der angesehensten Bauern. Nicht allein sein Hof war einer
der einträglichsten, sondern seine alteingesessene Familie war geachtet
und reich. Er hatte das Anwesen früh und allein geerbt und gut
bewirtschaftet, so daß er als wohlbestellt und glücklich von manchem
beneidet worden wäre, wenn nicht ein schwermütiger Hang zum Grübeln sein
Leben verdunkelt hätte, wie auch eine Unduldsamkeit fast jeder
Menschengemeinschaft, die in furchtbaren Jähzorn ausarten konnte. Da die
Ausbrüche solcher Wesensart den schlichten Naturen seiner Umgebung
unvoraussehbar erschienen, wurde er mehr und mehr gemieden, und es
verbreiteten sich Meinungen über die Beschaffenheit seiner Seele, die
dazu angetan waren, ihm mehr und mehr das Vertrauen seiner Mitbewohner
zu entziehen. Das altbewährte Gesinde und die Tagelöhner seines Hofes,
worunter manche ihn schon als Kind gekannt hatten, teilten diese
Abneigung der Nachbarn nicht, wohl aber übertrug die Zurückhaltung der
Dorfbewohner sich langsam auch auf sie.

Im Anwesen Vinzenz Geroms ging es ruhiger zu, als auf den anderen Höfen,
nicht nur, daß er ein umsichtiger und geschickter Mann war, auch seine
Gehilfen in den Scheunen und auf den Äckern dienten ihm in einer Art
andächtiger Scheu und viel ergebener, als es der Fall gewesen wäre,
wenn Gerom auch nur einige jener argen Charakterzüge gehabt hätte, die
ihm nachgesagt wurden, denn die Vorbedingung zu einer Ergebenheit, die
den Dienenden nicht entwürdigen soll, ist die Gerechtigkeit des Herrn.

Gerom war fünfunddreißig Jahre alt, als die dänische Malerin Angelika
Lett nach Gorching kam. Ein städtischer Reisewagen hielt unter der
großen Linde, die vor dem einzigen Gasthaus des Dorfes stand, und die
ermüdeten Pferde tauchten ihre dunklen Mäuler bedächtig und gierig in
das klare Quellwasser des Steinbeckens im Lindenschatten. Man nahm die
Fremde befangen und zurückhaltend auf, sie mietete zwei helle Zimmer im
Gasthof, und der Kutscher und der Hausknecht schleppten ihr zahlreiches
und buntes Gepäck in die Hausdiele. Es war nicht ein einziger größerer
Koffer darunter, sondern es bestand aus lauter kleineren Päckchen und
Schachteln, die, vom Kreisrund bis zu unförmigen kleinen Ballen, alle
Formen aufzuweisen hatten, die irgend denkbar waren. Die junge Dame
stand auf den Steinstufen, überzählte alles sorgfältig und lachte den
Dorfkindern zu, die, die Morgensonne im hellen Haar und die erstaunten
Seelchen auf den offenen Lippen, einen schweigsamen Halbkreis unter der
Linde bildeten.

Es hätte wohl niemand von dieser Fremden gesagt, daß sie schön sei, aber
ihre Erscheinung gehörte zu jenen seltsamen Frauenwundern, bei denen
diese so wichtige und entscheidende Frage durch ein unbestimmbares Etwas
aufgehoben wird. Man könnte es vielleicht einen so getreulichen Abglanz
ihrer Seele in allem Körperlichen ihres Wesens nennen, daß darüber jede
besondere Wertung einzelner Züge oder Bewegungen aufgehoben zu sein
schien. Man müßte es der Wärme des Lichts vergleichen oder der
heimlichen Wohltat des Windes, bei welchen niemand der äußeren
Wahrzeichen bedarf, um die himmlische Zugehörigkeit ihrer Wesen zu
verspüren.

Angelika war klein von Figur und nach dem Urteil der meisten etwa
dreißig Jahre alt. Sie hob das Mißtrauen und die Besorgnisse der
Dorfbewohner, die den Besuch Fremder nicht gewohnt waren, durch große
Sicherheit ihres Auftretens und durch eine Selbständigkeit ihrer
Handlungsweise auf, die bei aller Zurückhaltung etwas Wohltuendes
hatte. Kaspar und Friedel Lindner, die beiden Knaben eines Tagelöhners,
wurden ihre Freunde und trugen ihr ihre Staffelei und den Farbenkasten
ins Moorgelände. Sie schleppten das leichte Gerüst zu zweien wie eine
kleine Trittleiter, und ihre braunen nackten Beinchen stießen
abwechselnd an das blanke Holz des schönen Kastens mit seinen blinkenden
Schlössern. Angelikas Sommerhut, groß wie ein Schirm, warf seinen runden
Schatten voraus, und lange Zeit waren Kaspar und Friedel durch dieses
Amt die berühmtesten Knaben in Gorching.

Eines Morgens schickte das junge Mädchen die Knaben bei einem Hof
außerhalb des Dorfes mit dem Malgerät ins Gasthaus zurück und blieb vor
den Ringmauern und dem hohen Tor der Einfahrt stehen. War sie denn hier
noch niemals vorübergekommen, daß sie diese Schönheit nicht früher
gesehn hatte? Sie schaute die Birkenallee zurück, die schlecht gepflegte
Landstraße zog sich unruhig und doch friedlich über die kaum merklichen
Hügel des Geländes dahin, und an ihrem Ende sah man den Turm der
Gorchinger Kirche. Die Straße war bewachsen, und nur die beiden Furten,
die von den Rädern der Wagen stammten, gaben ihr ihr melancholisches
Gepräge, jenen seltenen Reiz des Berührbaren im Unberührten, und
zugleich jene Zeitlosigkeit, die nur solchen Menschenwerken anhaftet,
die ihr Wesen durch die Jahrhunderte nicht verändern. Der lichte
Birkenschatten verschleierte den stillen Zug der Furchen in diesem Bild.

Angelika betrachtete nun die Einfahrt zu jenem Hof, bei dem sie
haltgemacht hatte, genauer. Die Jahre hatten das glorreiche Werk ihres
Ausgleichs nahezu vollendet und den Steinen der Ringmauern jene Farben
und jenes Schimmern verliehen, die nur sie geben können. Hin und wieder
brach aus der grünen Gartenwelt, die die Mauer verbarg, ein Rankennetz
von wildem Wein durch einen Spalt, oder über ihre Ziegelborde leuchteten
die weißen Teller des blühenden Holunders aus dunklen Kuppeln über das
Erdgrau dieser ehrwürdigen Wälle. Einzelne große Tannen wirkten beinahe
ganz schwarz; zur Rechten, wo die Mauer nach hinten einbog, lag unter
Weiden ein großer Teich.

Angelika trat langsam durch den Torbogen in den inneren Hof ein, an
dessen Ende das große Bauernhaus lag, das den Eindruck eines alten
Herrenhauses machte; es war einstöckig und mit Ziegeln gedeckt, die
Terrasse war zur Rechten und zur Linken von Akazien umstanden, und auf
dem großen, wohlgepflegten Rasenplatz saßen weiße Tauben in der Sonne.
Die Wirtschaftsgebäude und Scheunen zur Linken waren schneeweiß getüncht
und mit Stroh gedeckt, sie zogen sich, wie es Angelika erschien, noch
weit zur Seite hin, wie es zur Rechten der dunkle Garten tat, der durch
einen Bretterzaun vom Hofplatz getrennt war.

Das Wohnhaus fesselte die junge Malerin am meisten; es war von jener
schlichten Schönheit, die nur die edle Einfalt der Zweckmäßigkeit und
die Menschenerfahrung der Jahrhunderte geben können. Aus seinem Bereich
schien alle Willkür des vergänglichen Zeitgeschmacks verbannt, streng
und erhaben stand es in seiner freien Klarheit auf dem Erdgrund, und
eine unbestimmbare Traurigkeit ging von ihm aus.

Aus einer der Scheunenausfahrten wurde ein Landwagen geschafft, der
nicht eben sonderlich vornehm, aber von großer Gediegenheit zu sein
schien, die Knechte wuschen mit Schwämmen die gelben Räder, und ein
Bursche führte die Pferde hinter dem Stall hervor. Ein wenig beiseit
stand ein großer, ernster Mann, der schweigsam ihrem Treiben zusah, sein
dunkles Haupt- und Barthaar wirkte beinahe ganz schwarz, seine
aufmerksamen Augen hatten bei ihrer verschonten Klarheit etwas
grüblerisch Benommenes, man war versucht, es träumerisch zu nennen, wenn
solch ein Wort nicht allem an der starken und trotzigen Erscheinung
widersprochen hätte.

Es war Vinzenz Gerom, der dort auf seinem Hof stand, und an diesem
Morgen lernte Angelika ihn kennen.

Er soll auf sie zugetreten sein, als er sie erblickt hatte, mit einer
ganz eigenen Bestimmtheit. Er ergriff ihre Hand zur Begrüßung, ohne zu
lächeln, mit einem harten, beinahe verstockten Griff, und hielt sie
fest. Die Leute, die ihn heimlich beobachteten, sollen den Eindruck
gehabt haben, als sei Angelika eine alte Bekannte von ihm, aber es ist
nicht der Fall gewesen, obgleich auch sein tiefes Aufatmen etwas von der
Befreitheit nach einer langen Erwartung der Trennung gehabt haben mag.
Sie lächelte neugierig und befangen, aber ohne Herablassung über diesen
jungen Landmann, dessen hilflose Gastfreundlichkeit sie fesselte, und so
war Gerom der erste in Gorching, der Angelika von einer neuen Seite
kennenlernte, denn sie begegnete ihm mit einem kindlichen Frohsinn, der
die Strenge ihres klugen Verhaltens in Arglosigkeit und Lieblichkeit
verkehrte.

Es geschah dann, daß Angelika einige Tage nach dieser Begegnung in das
Landhaus Geroms einzog, der ihr die Zimmer des rechten Flügels
einräumte, drei hohe, altmodisch hergerichtete Räume, in deren erstem
ein dunkler Kamin aus blinkenden Kacheln stand. Die Fenster lagen tief
und teilweise verhüllt von grünen Ranken, die nun mit geheimnisvollem
Flüstern das Licht und die Stimmen des großen Sommers einließen.

Es ging scheinbar eine entscheidende Wandlung im Wesen Vinzenz Geroms
vor sich, im Grunde entfalteten sich nur die verborgenen Kräfte seiner
Seele unter dem wehmütigen und kindhaften Lächeln des Mädchens, das in
seinem Hause und Herzen zu Gast gekommen war. Angelikas Lächeln, von dem
es erschien, als bräche es durch heiße Schleier einer verborgenen
Traurigkeit, hatte jene überwindende Forderung des Frauenwesens, der
das Gemüt des Mannes in Verlangen oder in Taten zu folgen gezwungen ist.
In solchem Frauenlächeln naht den Sinnen die Anklage der
Menschenunschuld, die um der Liebe willen zerstört zu werden scheint,
und die auch immer zerstört wird, wenn die Liebe nicht darüber wacht,
darum ist es, als ob dieses wehmütige Lächeln einer gefährdeten Unschuld
Liebe heraufbeschwöre, wie eine edle Handlung die Ergriffenheit der
Barmherzigen.

Nach außen hin erschien Gerom beinahe finsterer und verschlossener als
zuvor, vielleicht weil er wußte, daß man ihm sein Handeln übel nachsah,
und weil er fühlte, daß er es vor anderen so wenig zu erklären oder zu
rechtfertigen in der Lage war, wie anfänglich vor sich selbst. Angelika
wurde seine Schutzbefohlene. Oft erschien es ihm kaum ausdenkbar, daß
sie den Ansturm des Lebens ohne seine Hilfe jemals hatte bestehn können.
Er sprach mit niemandem über sie und duldete kaum, daß in seiner
Gegenwart ein Wort über sie fiel.

Die hilflose Art, in der der einsame und einfache Mann seine zärtliche
Neigung kundtat oder verbarg, nahm auch den Gleichmütigsten die Kraft
zum Spott. Es war, als hütete er an der Schwelle der Erdennacht ein
Licht, das ihm der Vater im Himmel zum Herzen seines Menschendaseins
gesandt hatte. Sein Handeln war von jener Scheu, wie nur die Regungen
einer großen Liebe sie kennen, und von der Zartheit, die dem Mann so
wohl ansteht, der seiner Kraft so gewiß ist, daß er sie nicht durch
Rauheit zu erweisen wünscht. Oft sah man die Beiden an ruhigen und
klaren Abenden nebeneinander durch die Felder gehn, deren Ähren hoch
standen und das braune Gold wiegten, das die herabgesunkene Sonne im
Westen über dem Land zurückgelassen hatte. Nein, es war kein Zweifel, er
hatte seinen Arm schützend um sie gelegt, und ihr blonder Kopf ruhte an
seiner Schulter. Sie erschien klein in ihrem einfachen weißen Kleid,
hilflos und traurig, bis plötzlich ihr Lachen weich und wie aus voller,
tiefer Freude kommend erscholl. So war es schwer zu wissen, was beiden
geschah, aber da die Menschen selten mehr in andere zu legen verstehn,
als ihr eigenes Gemüt enthält, so entstanden böse und häßliche Gerüchte
neben Erstaunen oder Rührung.

Als schon der Sommer zur Neige ging, kamen Gerom eines Abends durch den
Großknecht Gerüchte zu Ohren, die ihn erbleichen ließen. Er ging vom
Hofe fort, ohne seinen Hut, so wie er stand, wortlos hinaus auf die
Landstraße, bis er den Pfarrhof von Gorching erreicht hatte, wo er
kundtat, daß er sich mit Angelika Lett zu vermählen gedächte, und darum
bat, daß dies den Ortsbewohnern bekanntgegeben würde.

Dies hat sich so zugetragen, wie es berichtet wird, und es ist allen
unbegreiflich und geheimnisvoll erschienen, denn Vinzenz Gerom war ein
einfacher Mann, und obgleich sein Geschlecht alteingesessen war und
hohes Ansehen genoß, war doch der Unterschied der beiden Liebenden in
Stand und Lebensgewohnheiten sehr groß, und von der Fremden wußte
niemand mehr als ihren Namen. Nur eins ist sicher, und es wird vielen
eine vollgültige Erklärung sein, Vinzenz Gerom war ein eigenwilliger und
selbständiger Charakter und ein Mann von Gefühlskräften und natürlicher
Klugheit. Alles übrige bleibt zwischen zwei Menschen eine Frage der
Lebensbetrachtung und der äußeren Verhältnisse, Gebiete, auf welchen
Charaktere sich leicht einander fügen lernen, und es unterliegt keinem
Zweifel, daß Angelika mit der weisen Anmut ihres Anspruchs die heimliche
Erzieherin ihres Freundes gewesen ist. Es gelang ihr mühelos, dem
stolzen Mann ihre Wünsche und Hoffnungen als seinen eigenen Anspruch
hinzustellen und sein Herz ohne Falsch mit Behutsamkeit in die
Bewußtseinswelt seines Werts zu heben.

Es war sicher, irgend etwas behielt Angelikas Wesen für sich, es war
eine verborgene Welt des Empfindens und der Gedanken, die sie nicht
teilen wollte oder konnte. Aber es erschien Gerom nicht als ein Recht,
das ihm vorenthalten wurde, weil Angelikas traurige Versunkenheit, mit
der sie seine schüchternen Fragen zuweilen abwehrte, ihm heilig war. Wie
leicht lassen sich die Geheimnisse einer klugen und verschwiegenen Frau
der Wesensart ihres Geschlechts als Tugend zurechnen, wenn das Vertrauen
einer großen Liebe alles kleine Forschen verhindert.

So war es gewiß keine ernstliche Sorge, die zuweilen Geroms Stirn
umwölkte, sondern eine heimliche Angst, die aus dem Dunkel der
Vergangenheit Angelikas emporstieg. Er fühlte, daß niemals etwas
geschehn sein konnte, was den Wert des Mädchens herabgesetzt hatte,
aber ihm war oft, als seien jene Geschehnisse um so gefahrvoller und
furchterregender, je mehr sie den Wert dieser jungen Frau erhöht haben
mochten. Wie viele Untugenden, die ihr Freude bereitet hätten, wäre er
nicht willens gewesen, ihr zu vergeben; er fürchtete vielmehr, daß es
eine große Tugend sein könnte, die ihr Leid gebracht hatte.

Zu den äußeren Anlässen solcher Besorgnisse gehörten die Briefe, die
Angelika absandte und empfing, allerdings selten erhielt und selten
abschickte. Oft vergingen Monate, und Gerom litt mit ihr unter der
aufreibenden Qual ihrer Erwartung, über die niemand sprach. Die
schmerzliche Erlösung, die endlich ein kurzer Brief brachte, zerteilte
Geroms dunkles Herzensreich in zwei Teile, er schritt umher wie ein
fröhlicher Kranker. Aber er fragte niemals, denn er konnte sich nicht so
tief entwürdigen, etwas in Angelikas Leben für schöner und größer zu
halten, als das, was sie ihm gab.

An einem klaren Abend des Spätsommers wurde Angelika von einem
Dorfjungen in den Gorchinger Rasthof geholt, es sei ein Fremder
angekommen. Die junge Frau ging sogleich mit starren Augen und
hängendem Köpfchen in einem eigenartigen Schritt, der ganz neu an ihr
erschien, der etwas vom Traumwandeln hatte und zugleich etwas gewaltsam
Unbekümmertes. Sie verabschiedete sich von niemand, Gerom war zu Pferd
auf den Feldern.

Was geschehn ist, weiß niemand, es blieb allen in Gorching verborgen.
Man hörte heftige und verhaltene Worte in dem Zimmer des fremden Mannes,
unterdrücktes Schluchzen und auch einmal ein leidenschaftliches Wimmern,
das die Magd für heimliches Lachen hielt. Angelika kam spät zurück, sie
war über die Landstraße gelaufen, klein und weiß, durch die
hereinbrechende Nacht, zwischen den beiden weißlichen Meeren dahin, die
der Abendnebel auf den Wiesen bildete. Der Großknecht ließ sie ein,
während die Hunde wie toll an ihren Ketten rissen und die Stille weit
umher mit ihrem wütenden Bellen erfüllten.

Mit dem Kommen des fremden Mannes, der Angelika kein Fremder war,
erschien ihr die Sicherheit und Ordnung der Welt zerstört, wenn sie
nicht alles diesen Händen anvertraute, die sie einst erhoben und
erniedrigt hatten, geschlagen und geliebkost, entwürdigt und geheilt.
Sie schlief in der Nacht nicht, mit wehmütigem Lächeln gedachte sie der
Freiheit, die sie in diesen Sommermonaten zu erringen geglaubt hatte. Es
gibt einen Zustand erschöpfter Leidenskraft, der wie Gelassenheit und
Ruhe erscheinen kann, es ist der Zeitpunkt, an dem die Kräfte des Lebens
und die Kräfte des Todes einander die Wage halten, über den Trümmern des
eigenen Willens.

Am Morgen sah Gerom sie in unruhvoller Besorgnis lange an. »Du bist
blaß, Angelika, du bist sehr blaß«, sagte er. Er ritt gleich darauf
schweigend fort. So weiß er es, dachte sie. Gegen Mittag kam der Bote
aus dem Gasthof.

Ich will versuchen zu warten, dachte Angelika, vielleicht ist am Abend
der ganze Tag vergangen und ich bin nicht zu ihm hinübergegangen. Gerom
kam nicht. Sie saß im Schatten der Holunderbank am Teich und sah die
Sonne hinter die Pappeln sinken, von Ast zu Ast schien sie
niederzuklimmen, und als sie sich rötlich färbte, weinte die junge Frau
vor Schwäche und Angst und Liebesleid und lief nach Gorching hinüber,
quer über die gemähten Roggenfelder, wie ein verlassenes Kind.

Unterwegs blieb sie einmal stehn, ballte ihre kleine, feste Hand und
schüttelte die Faust nach Geroms Hof hinüber. »Du kannst nicht helfen«,
schrie sie laut. »Du bist ein Schwächling bei all deiner Kraft, deiner
Güte ...« Sie ließ sich nieder und weinte. Bestaubt und todmüde, mit
entstelltem Angesicht, langte sie im Gasthof an.

Nun paßten sie zueinander, der Fremde und Angelika, die nun, wie er,
verwildert und bleich zu den Ausgestoßenen der Irdischen zu gehören
schien. Es war unfaßlich, wie rasch die Nähe dieses Mannes ihr ganzes
Wesen verändert zu haben schien, im Grunde hatte er es nur gelöst,
soviel ist gewiß, denn es war sein Eigentum. Ihr Gesicht wirkte geradezu
häßlich für alle Augen, die sie früher gesehen hatten. Aber es war eine
eigenartige Häßlichkeit, eine Häßlichkeit von göttlichem Ursprung, der
schützende Erdenmantel über den himmlischen Geheimnissen des Lebendigen.

Sie fand ihn nicht zornig und hart wie gestern, sondern traurig,
vielleicht kniete sie deshalb vor ihm, während sie sprach. Wenn er sich
zu ihr niederbeugte, wenn seine Lider sich senkten, sah man, wie schön
sein blasses Gesicht war, das im Unbelebten der Tagesstunden ermattet
und kränklich aussah. Ihre Haare vermischten sich, ihre feuchten Hände
und ihr Atem voll Glut und Unfrieden.

»Ach,« antwortete er ihrem Geständnis mit seinem klugen und traurigen
Lächeln, »ein Kind trägst du von ihm, von ihm trägst du ein Kind,
Anje ...«

»Wenn ich ein Kind von dir geboren hätte,« sagte sie fest, »so würde ich
um des Kindes willen die Kraft gehabt haben, bei Gerom zu bleiben. Ich
wäre nicht über die Felder gelaufen ...«

Er sah sie an, vielleicht verstand er sie nicht gleich, aber dann
drückte er sie so an sich, daß sie leise aufschrie.

Sie fragte aber doch: »Liebster, und daß es nun so ist, ich meine, daß
ich sein Kind trage, quält dich das nicht? Gerom würde dich töten, wenn
du nur deine Hand auf meine Haare legtest.«

»Ihm gehören auch nicht einmal diese Haare«, sagte er liebevoll und
sicher, und strich sie ihr von den Schläfen, legte sie hart an das
ungeduldige Köpfchen, so daß er es ganz in seinen beiden Händen hielt,
und betrachtete so ihr Gesicht.

»Ich komme niemals, niemals von dir frei, Anje.«

»Ich hätte so gern gelebt«, sagte sie deutlich.

Es mußte wohl der Gedanke an die Hoffnungen seines eigenen Lebens sein,
der ihm plötzlich die Stirn umwölkte. Er ließ sie los. Seine Augen
fragten sie etwas, es mußte eine Frage sein, deren Bedeutung oft
zwischen ihnen gebrannt hatte, denn sie verstand ihn und rief
schmerzvoll:

»Ich weiß es nicht, ich weiß nicht, wie es werden soll! Ich kann meinen
armen Leib von dir fortschleppen, aber ich kann meine Seele nicht von
deiner reißen.« Und darauf legte sie ihm plötzlich die Hände auf die
Schultern, sah ihn heiß und mit ihrem ganzen Blut und Wesen an und
fragte mit einem schrecklichen und süßen Lächeln: »Nicht wahr, ich töte
dich, nicht wahr? Sag', wodurch töte ich dich, sag' es mir doch ...«

Und so sagte sie es ihm, indem sie ihn so fragte.

Nach einer Weile wurde die Türklinke niedergedrückt und, da die Tür
verschlossen war, wurde es eine kleine Weile still. In diesem kurzen
Augenblick sah Anje ihren Geliebten an, es war ihr Abschied von ihm. Er
fühlte es, ohne es zu wissen. Dann erschütterte ein furchtbares Krachen
die abendliche Stille des Hauses, und Anje fing ganz heimlich und
kindlich zu lachen an.

Erst als Gerom im Zimmer stand, erhob sich der Fremde langsam.

»Ich hätte Ihnen auch geöffnet«, sagte er gelassen, aber so kalt, daß
die Herausforderung in seinen Worten deutlich seine tiefe Anteilnahme
verriet, die er nicht verbergen wollte. Gerom stand dicht an der Tür,
als ob er den Ausgang decken wollte, und der starke Mann zitterte, wie
ein Baum, dessen Wurzeln von eisernen Äxten zerschnitten werden. Jetzt,
da der Fremde sprach, wandte er sich ihm zu und von Angelika ab, die
ruhig, mit herabhängenden Armen, dastand. Sie war ihm unaussprechlich
hilflos erschienen, er empfand die große Stille ihrer Seele nicht, deren
Armut und Gerechtigkeit sich irdisch nicht mehr erweisen wollte noch
konnte. Als ihr Geliebter sich erhob und vor Gerom stand, zitterte sie
vor Freude in dem Bewußtsein, daß die Kraft seines Wesens bis an die
Pforten eines ewigen Reichs triumphieren würde. Und nun mochte kommen
was wollte.

Gerom sprach nicht. In Angelikas Herzen wuchs eine Angst empor, die ihr
alles zu verdunkeln drohte. Der kleine niedrige Raum lag im Abendlicht,
Gerom schien nicht hineinzupassen, er sah wie ein Riese aus und erschien
ihr um so furchtbarer, als sie den Ausdruck seines Gesichts nicht
unterscheiden konnte.

»Wenn Sie mit mir sprechen wollen ...« sagte der Fremde. Es erschien,
als dächte er an ganz andere Dinge. Angelika wußte, wer der Stärkere
war.

Da sagte Gerom mit dunkler Stimme zu ihr:

»Steh auf! Geh heim! Geh gleich heim!«

Obgleich sie seine Stimme nicht erkannte, antwortete sie ihm beinahe in
gewohnter Weise:

»So -- --, so Gerom, kann ich doch nicht gehn.«

Er stöhnte dumpf auf. Wenn es nur hell gewesen wäre. Sie sah fragend zu
ihrem Geliebten hinüber. Er nickte:

»Ja, geh heim.« Und dann sagte er zu Gerom:

»Wir wollen hinausgehn, wir können ja draußen reden, wenn Sie wollen.«
Er schritt ruhig voran, und der andere folgte ihm wie ein breiter,
bedrohlicher Schatten.

Angelika langte in Geroms Hof an, als es längst Nacht war. Eine alte
Magd war vor dem Kamin eingeschlafen, in dem in diesen Spätsommernächten
schon Holzscheite glommen. Sie hockte als ein lebloses Kleiderbündel im
Winkel, die welke Wange unter dem grauen Haar, an einen Holzpfosten des
Geländers gelehnt und notdürftig auf ihren Arm gestützt.

Angelika stand vor ihr und sah die kleinen lebhaften Flämmchen an, die
über die verglimmenden Scheite huschten. Sie sprangen unversehens auf
und erloschen wieder, waren von bläulicher Färbung und von einer
kränklichen Hast. Ihr Widerschein spiegelte sich in den Kacheln und gab
dem Raum sein dürftiges, unruhiges Licht. Die sinkende Mondsichel stand
draußen über den Moorgründen der Haide, über der Einöde mit ihrem
verschwiegenen Gurdelbach. Man sah sein fahles Licht durch die
bewegungslosen Vorhänge der Fenster scheinen, an denen die traurige
Nacht vorüberzog. So war das Licht im Zimmer unbestimmbar und voller
Ungewißheit, die stummen Gegenstände wirkten bedeutungsvoll und
lebendig.

Die junge Frau erkannte den Rahmen des Bildes, das Geroms Vater
darstellte; sie glaubte die heimliche Qual der Augen zu erkennen,
diesen düsteren und trotzigen Drang nach dem Licht der Erkenntnis, der
auch Geroms Blicke bezeichnete. Die Standuhr tickte nicht, es mußte
vergessen worden sein, sie aufzuziehen.

Der Mond draußen verlor langsam seinen Schein, der Morgen kündigte sich
an, das Feuer im Kamin war nun völlig erloschen, und die Alte war auf
den Teppich niedergesunken, auf dem sie ruhig schlief. Man hörte ihre
Atemzüge nicht, und draußen und drinnen war es totenstill, da die
Geschöpfe der Nacht zur Ruhe gegangen waren und die Vögel noch
schliefen. Dann kam ein unhörbarer Wind auf, der das herannahende Licht
ankündigte. Die Stimmen der Wasservögel aus dem Moor wurden laut, und
die Blätter bewegten sich neben dem Fenster. Es rieselte hoch oben in
der Spitze einer Pappel, als ob es regnete, und das Zimmer wurde grau.

Dies ist Angelikas Lebensnacht und ihr Daseinsmorgen gewesen, der ihr
den Geschmack des Abschieds von irdischem Sein und Gut in die Seele
trug, sie verharrte in tiefem Schweigen, dachte keine Gedanken und
empfand keine Gefühle. Sie empfand nur ihr armes, abgekehrtes
Menschenwesen und den gewaltigen Gang des lebendigen Lebens, das an ihr
dahinzog wie lautloser Wind an einem Stein.

Dann kamen Schritte heran, sie klangen erst gedämpft und fern und dann
immer eindringlicher in der blauen Luft der Dämmerung draußen; nun
tönten sie schwer unter ihren Fenstern, und ein gebeugter Schatten
schleppte sich vorüber, glitt auch über sie hin und wurde ihr zur großen
dunklen Gestalt, als nun die Tür sich öffnete. Sie wußte noch, daß ein
Hund draußen vor seiner Hütte sich erhoben haben mußte, denn sie entsann
sich deutlich beim Beginn des Kommenden des Klirrens einer Kette.

Es war Gerom. Eigentlich wußte sie alles, schon ehe sie ihn recht sah,
denn seine Tat begleitete ihn wie eine drückende Finsternis. Er sprach
nicht, er ging schwer und scheinbar sehr ermattet auf und nieder, wobei
er schaukelte und bald den Kopf hängen ließ, bald nickte, oder die Arme
schwenkte, aber nicht im Takt seiner Schritte.

Endlich blieb er dicht vor Angelika stehn, so dicht, daß sie
zurückgetreten wäre, wenn sie es gekonnt hätte. Da nun das blasse
Morgenlicht in sein Gesicht fiel, sah sie, wie entstellt es war, und
empfand nichts mehr als eine furchtbare Angst.

»Gerom!,« schrie sie auf und sank nieder, »erbarme dich, tu mir kein
Leid, um des Heilands willen, Gerom, tu mir kein Leid!«

Und während sie schrie und flehte, und während ihre Hände krampfhaft am
groben Tuch seines Rocks tasteten und griffen, war ihr, als verhöhnte
irgend etwas im Grund ihrer Seele sie selbst und ihr armseliges Tun.
Dabei kam ihr deutlich zum Bewußtsein, wie naß sein Gewand war.

Es schien, als ob Geroms Gedanken erst durch ihren Jammer zu dem geführt
wurden, was sie befürchtete. Ich werde sie schlagen, dachte er, ich
werde sie so schlagen, als wollte ich mit der Faust bis ans Herz
dringen.

»O, höre mich an, sieh mich an, Gerom, ich habe nicht gewußt, was ich
getan hab'.«

Gott weiß es, warum sie es getan hat, dachte er. Sie ist ein Weib, Gott
weiß es ...

Und dann atmete er tief auf und sagte mit schweren Lippen:
»Draußen ...«, stockte wieder und faltete dann seine großen Hände.

»Was willst du tun,« schrie die junge Frau mit lautem Weinen auf, »was
soll ich tun?!«

»Du,« sagte er rasch, »du -- bist ja ein Kind ... geh hinaus, glätte
sein Haar, wasch ihm das Blut aus seinen Augen und leg seine Hände
zusammen ...«

Nun war es, als habe er jenen Faustschlag, der bis an ihr Herz dringen
sollte, mit seiner ganzen Kraft geführt, Angelika sank ohne ein Wort zu
Boden und blieb still liegen. Eine ihrer kleinen weißen Hände lag
gekrümmt mit dem Rücken nach unten an seinem Stiefel.

Gerom sah auf sie nieder und hob sie nach einer Weile behutsam und
vorsichtig auf. Er ging so zart dabei zu Werke, als stünde ihm die ganze
Fülle seiner Liebe zu Gebote, und sein Gesicht war voller Rührung. Als
er sie hinaustrug, sagte er zu ihr, als verstünde sie ihn: »Ja, er ist
tot. Er hat mich, grade so wie du, um sein Leben angefleht. -- Ich
werde dir kein Leid antun, du Kleine. Ach Ihr ... könnt nicht leben und
könnt nicht sterben.«




Zweites Kapitel


Ungefähr sechs Jahre nach diesen Ereignissen wurde Vinzenz Gerom aus
seiner Kerkerhaft entlassen. Angelika war gestorben, irgendwo in einer
jener kleinen Provinzstädte, wie sie in solcher Verlassenheit und Stille
nur Dänemark aufzuweisen hat. Sie hatte ein Mädchen geboren, das auf den
Namen Angelika Gerom getauft worden war.

Vinzenz Gerom kam eines Tages, es war an einem Sonntag und die Glocken
läuteten, zu Fuß nach Gorching zurück. Er würde wohl von niemandem
erkannt worden sein, wenn man ihn nicht auf seinem Hof erblickt hätte.
Sein Haar war ergraut, und er trug einen langen blauen Mantel, der seine
Gestalt, die gebeugt einherschritt, seltsam entstellte und ihm den
Anschein eines weltabgekehrten Sonderlings verlieh. Nur sein Schritt
hatte an Festigkeit nicht verloren, und seine Augen, in ihrer
versonnenen Glut, waren ungebrochen und ungetrübt.

Er bekümmerte sich wenig um die Wirtschaftsberichte, die ihm von seinen
Verwandten vorgelegt wurden; der Hof war schlecht bestellt worden,
soviel war gewiß. Er hatte Angelikas Tod im dritten Jahre seiner
Einkerkerung erfahren, aber keine Erlaubnis erhalten, die Tote noch
einmal zu sehn. Nun gab man ihm auf dem Amt in Gorching einen Brief von
seiner verstorbenen Frau, den er stumm nahm und lange nicht aufbrach. Es
schien, als gewänne sein Wunsch Gewalt in ihm, diese Zeilen zu
vernichten, ohne daß er seinem Herzen die letzten irdischen Grüße der
Frau vergönnte, die er geliebt und getötet hatte. Der Gedanke an sein
Kind, von dessen Dasein er wußte, veranlaßte ihn endlich, das Schreiben
zu lesen.

Es mußte in den letzten Lebensstunden der jungen Frau verfaßt worden
sein, denn die Schriftzüge waren unsicher, und sie hatte keinen Wert auf
Sorgfalt gelegt. Sie hatte einen beliebigen kleinen Zettel für diese
Worte genommen; einen Augenblick überkam Gerom eine Regung von Erbarmen,
und zugleich wurde ihm schmerzlich klar, daß dies der erste und
zugleich der letzte Brief war, den er von seinem Weibe erhalten hatte.
Der Brief enthielt folgende Worte:

                An Vinzenz Gerom.

  Ich muß sterben. Ich kann nicht mehr darüber sprechen, was du
  mir in meinem Leben gewesen bist, vielleicht würde ich auch nicht
  das Richtige sagen können, es sollen meine Hoffnungen und meine
  ungewisse Angst mit mir in der Nacht vergehen, die über mich
  hereinbricht. Ich danke dir für die Lebensbarmherzigkeit, die ich
  für kurze Zeit in deiner geduldigen Liebe gefunden habe, ich danke
  dir für Anje, mein Kind, oh ich möchte dir danken ohne Ende. Ich
  will, daß du sie nach meinem Tode und nach deiner Gefangenschaft zu
  dir nimmst, höre mich an, ich will es. Ich fürchte nicht um sie, und
  weder dein Zorn noch deine Bitterkeit schrecken mich ab, mein Kind
  in deine Hände zu befehlen, denn ich weiß, daß du einmal in deinem
  Leben Verlangen nach einem Menschen tragen wirst, dem du verzeihen
  kannst, was die Menschen dir zugefügt haben.
                                                       Angelika.

Nachdem der verlassene Mann diese Worte gelesen hatte, sank ihm das
Haupt auf die Brust, und der Zettel fiel ihm aus der herabhängenden
Hand, ihm ward langsam in aufdämmernden Gewißheiten mehr und mehr zu
Sinn, als sei Angelika niemals sein Eigentum gewesen. Seine von
Bitternis gehüteten Träume hatten sich in der Hoffnung gewiegt, daß
jener verhängnisvolle Vorfall, der ihn um sein irdisches Glück gebracht
hatte, eine Irrung des Herzens dieser seltsamen Frau gewesen war. Er
hatte sich wieder und wieder klar gemacht, daß im Grunde ihre Liebe ihm
gehören müsse, denn er konnte nicht glauben, daß die zärtlichen Gebärden
einer so stürmischen Hingabe, wie sie Angelika in seinen Armen geschehn
war, der Erinnerung und der Trauer um Vergangenes angehören sollten.
Aber nun fühlte er, daß aus diesen Zeilen weder Liebe noch Leidenschaft
sprachen, denn beide fassen ihr Wesen nicht in solche Worte des Danks,
hinter denen sich das eigne Leid verbirgt; und wie konnte eine Mutter
ihrem Manne für ein Kind danken, da es doch sein Kind war? So schloß sie
ihn mit diesen Abschiedsworten zuletzt noch aus jener Gemeinschaft aus,
die ihn allein hätte versöhnen können, und sie verwandelte sein
Zugehörigkeitsgefühl der Bitterkeit in das Entsetzen der Verlassenheit.

Ich bin in Wahrheit ein Mörder, dachte er. Bisher habe ich geglaubt, ein
gewalttätiger Hüter meines Rechts gewesen zu sein, aber nun hat diese
Tote mir durch ihr Vermächtnis den Frieden meines Daseins zertrümmert.
Was soll ich ihrem Kinde verzeihn? Nur den Unedlen ist es eine
Genugtuung, vergeben zu können.

So beschloß Gerom, den Wunsch der Toten nicht zu erfüllen, und sein Kind
in der Fremde heranwachsen zu lassen; aber seine Liebe war stärker als
sein Entschluß. Er empfand in der Qual seines Zwiespalts dunkel, daß
irgendwo eine Gerechtigkeit in jener Vergebung leuchten müsse, die
Angelika gemeint hatte, der einfältige Ausgleich zum Bestand, der in den
großen Absichten der Natur verborgen ist. Als er endlich den Brief
verfaßte, der sein Kind zu ihm rufen sollte, zitterten seine Hände und
seine Lippen, und die neue Demütigung, die seine Liebe ihm auferlegte,
überwältigte ihn zu Tränen, die über sein unbewegliches Gesicht in den
ergrauten Bart tropften.

                   *       *       *       *       *

Als die kleine Anje anlangte, nahm Gerom sie zwischen seine großen Hände
und hielt sie von sich ab, um sie zu betrachten. Er war nicht froh und
nicht traurig, sein Gemüt schien kaum bewegt. Vergrämt forschte er in
dem blassen Kindergesicht und strich endlich zögernd über das helle
Haar. Da legte das von der weiten Reise ermüdete und geängstigte Kind
hilfesuchend seinen Arm um den rauhen Hals des Vaters und schmiegte die
Wange an seine Schulter. --

Gerom verkaufte seinen Hof und sein Land und erwarb an Stelle seines
reichen und erträglichen Besitzes einen großen Landstrich der Einöde,
den die Gemeinde ihm ohne Bedenken abtrat. Dort ließ er in den dichten
Niederungen des Sumpflands auf einer Hebung des Lands, die der Wald
getrocknet hatte, ein grobes Blockhaus errichten, versah sich mit allem,
was ein Einsiedlerleben möglich machte, nahm eines Tages sein Kind an
die Hand und schritt langsam und feierlich durch das Frühlingsland
seiner neuen Heimat entgegen. Nur Hirte begleitete die beiden, das war
ein großer, häßlicher Hund mit gelbem Zottelhaar und einer schwarzen
Schnauze, zu dessen Pflege niemals etwas unternommen worden war. Sein
Kopf hatte eine überraschende Ähnlichkeit mit dem eines Affen, und seine
hellbraunen Augen, die einen warmen Goldglanz ausstrahlten, lagen tief
unter den Stirnfalten und waren das Gutmütigste der Welt.

Wie Anje in der Einöde heranwuchs, wußte sich niemand recht zu erklären,
hätte die alte Onne, die am Waldrand des Moors lebte, sich nicht
zuweilen des Kindes angenommen, so wäre die kleine Menschenblüte
vielleicht in der rauhen Traurigkeit verkümmert, in die Gerom sein
düsteres Dasein hüllte. Er mied die Menschen in einem Haß, den Jahr um
Jahr seine Einsamkeit in ihm befestigte, man ließ ihn in Furcht und
Mitleid gewähren und vergaß ihn langsam. Als einmal um des Kindes willen
zu ihm gesandt wurde, kam der alte Lehrer am Abend, vor Schrecken
zitternd, aus dem Moor zurück, es seien dort draußen Wunder geschehen,
das Land blühte, aber Gerom sei ein Tier geworden. Anje habe er nicht zu
Gesicht bekommen, aber der Alte habe gedroht, Gorching in Brand zu
stecken, wenn man ihm sein Kind nähme.

Die alte Onne wohnte am Moorrand in einer Torfhütte. In vergangenen
Zeiten hatte sie den Fuhrleuten, die von der Dachenau hinüber ins
Gorchinger Land wollten, das Mittagessen bereitet. Sie bewahrte
Speisevorräte und Getränke in ihrem Keller, es gab Unterkunft bei ihr,
wenn es sein mußte, und jedenfalls immer Rast. Ihr kleines Haus lag zwei
Stunden von Gorching entfernt am Rand der Einöde und war so von Weiden,
Birken und Kiefern verborgen im Dickicht, daß es im Sommer niemand fand,
der nicht darum wußte, nur der blaue Rauch, der vom Holzdach aufstieg,
verriet es zuweilen.

Wie alt Onne war, wußte niemand, sie hatte längst die Jahre erreicht,
nach denen man nicht mehr fragt. In solch hohem Alter tritt bisweilen
ein Zustand ein, der vom Tod nicht mehr erreichbar erscheint, es gibt
Menschen, die der Tod vergißt. Die Urenkel sehen solch ein Väterchen
oder Mütterlein laufen und wissen, daß schon ihre Eltern sie nicht
anders gekannt haben. Sie können nicht sterben, gut, so leben sie denn,
und bisweilen mit unverständlicher Geistesfrische und wie in einer neuen
Jugend der Seele.

Wenn man Onne auf einem Moorpfad begegnete, ohne sie zu kennen, konnte
man lange darüber in Zweifel sein, was man vor sich hatte, etwas
Unförmiges in grauer und brauner Tönung, in Farben, die sich der
Umgebung angepaßt hatten, nahte sich in holperigen Sprüngen, übereifrig
und doch langsam. Endlich erkannte man mühsam einen weißen Scheitel,
unter dem eine lange braune Nase herabhing, die Schultern und die
Krümmung des Rückens überragten ihn, und die Knie der Schreitenden
schienen ihn bald rechts, bald links beinahe zu berühren.

Die Alte ging einmal in der Woche nach Gorching, wo sie Waldbeeren oder
Pilze verkaufte, Holz oder Torf. Sie bediente sich eines kleinen Wagens,
der ursprünglich ein Kinderwagen gewesen sein mochte, und dessen vier
Räder alle von verschiedener Größe waren, es schien so, als habe sich
der Wagen im Lauf der Jahre den Bewegungen seiner Besitzerin angepaßt.

Die Landleute nannten Onne »die Sackziege«. Wenn im Abendrot gegen den
Horizont die merkwürdig ruhlos bewegte Masse der Alten und ihres Wagens
sich aus dem Dorf bewegte, um langsam im Dunst der feuchten Niederungen
zu entschwinden, so wußte man, daß es ein Freitag gewesen war.

Onne war es übrigens, die Gerom mit allem versah, dessen er an
Lebensmitteln aus Gorching bedurfte, und so kam es, daß sie Anje kennen
lernte. Die alte Frau war keineswegs lächerlich oder einfältig, wie
diejenigen sie schelten mochten, die sie nur vom Schauen her kannten
oder nach den Lästerungen ihrer Gegner. Denn Onne hatte in der Tat
Freunde und Feinde, deren Regungen für und gegen sie, sich bis zur Liebe
oder bis zum Haß gesteigert hatten; danach ist die Bedeutsamkeit eines
Menschen sicherer einzuschätzen, als nach kleinen Einzelzügen oder aus
guten oder schlechten Eigenschaften. So gehörte sie auch durchaus nicht
zu jener Sorte alter Waldweiblein, die sich durch Hexensprüche oder
Wahrsagen beim Gesindel der Menschen in Respekt halten, sondern wenn
einmal ein Mensch zu ihr kam, um ihre Hilfe zu erbitten, so war es eher
dann, wenn er sein Schicksal verwinden, als wenn er es erfahren wollte.
So war die Scheu, die man vor ihr empfand, und die Achtung, die sie bei
manchen auslöste, nicht eine Folge der Urteilslosigkeit ihrer Umgebung,
sondern sie kamen, wie alle wahrhaft geheimnisvollen Einwirkungen, aus
dem Wert ihres Herzens.

Obgleich man sie selten mit einem andern Menschen zusammen sah, als mit
Gerom, und obgleich sie schweigsam und spöttisch war, ging ihr Einfluß
weit, und es galt als ein Zeichen besonderer Bekräftigung, wenn einer
Meinung hinzugefügt wurde: Onne hat es gesagt. So hieß es, der letzte
Pfarrer von Gorching habe ihretwegen sein Amt niederlegen müssen,
niemand wußte recht, weshalb eigentlich, aber jeder glaubte es. Er war
ein junger lebensfroher Mann gewesen, der diesen Schicksalsschlag nicht
allzu hart genommen und der Einsamkeit des Landes ohne Schmerz entsagt
hatte. Es war ihm ein böser Zufall mit einer Bauerntochter geschehn, der
ihm nicht verziehen wurde, obgleich sein Weib fast immer krank war. Aber
manche wunderten sich sehr, als er am Tage seiner Abreise mit
bittersüßem Lächeln dem Ortsvorsteher zum Abschied sagte: »Unter Euch
Gerechten gibt es nur drei Weltbürger, die hausen im Moor.« Da der
Ortsvorsteher zwar ein reicher Bauer war, aber sonst alle Eigenschaften
hatte, die die Obrigkeit der Dörfer zuweilen auszeichnet, so dachte er
für die Zukunft nicht sonderlich achtungsvoll über solche Leute, wie
etwa der Pfarrer sie unter »Weltbürgern« verstanden haben mochte.

Onne sagte zu Gerom: »Der Pfarrer hätte bleiben sollen, er war ein guter
Mensch, aber wie soll man einen Fuchs festhalten, wenn er mit dem
Schwanz voranläuft?«

Es war übrigens ungemein schwer, Onne zu verstehen, man brauchte sehr
lange dazu, bis man es gelernt hatte, und da dann noch die Schwierigkeit
hinzukam, das Verstandene auch begreifen zu müssen, so gehörten nur sehr
wenige in Gorching oder im Dachenauischen zu diesen Erwählten. Sie
sprudelte ihre Worte zunächst heraus, schien sie dann wieder einzufangen
und begann eine Weile mit ihren Kiefern darauf zu kauen, dann zischte
sie sie durch eine große Zahnlücke nach links, dort mußte man aufpassen,
denn nun waren sie am verständlichsten.

Niemand hatte es besser gelernt, als Anje, das Kind. Onne hatte ihr
wunderbarerweise vom ersten Augenblick an Vertrauen eingeflößt, und die
Zuneigung war im Laufe der Jahre zu einer großen Liebe geworden. Onne
verstand das einsame und scheinbar verwilderte Kind, dem niemand Liebe
erwies, denn Gerom verbarg sein Herz bis zur Schwermut. Onne wußte, daß
Menschen von selbständigen Kräften der Empfindung sich in ihrer Jugend
nicht durch Beständigkeit oder Gleichmaß der Herzensregungen
auszeichnen. Sie verstand Anjes Wildheit und die an Trauer grenzende
Weichheit, mit der sie abwechselte, und liebte an dem kleinen Mädchen
den hilflosen Unbestand der Empfänglichen.

Sie hatte zuweilen den Versuch gemacht, Anje mit unter Menschen zu
nehmen, aber Gerom wollte es nicht, und als sie das Kind einmal heimlich
zu überreden trachtete, stieß sie auf Widerstand. Da ergab sich die
kluge alte Frau und überließ Anje dem Walten der großen Wälder, dem
beständigen Wechsel der Jahreszeiten, dem geduldigen Land und den
himmlischen Botschaften des Windes.




Drittes Kapitel


Wenn Hirte, der große gelbe Hund, durch die veränderten
Lebensbedingungen auch gezwungen war, einen guten Teil seiner
Erfahrungen als überflüssig zu betrachten, so gab er deshalb seinen
Eifer nicht auf, den Ansprüchen gerecht zu werden, die man an ihn
stellte. Er hatte bald herausgebracht, daß es im Grunde Anje war, die
seiner bedurfte, und da dieser Hinweis auf seine Verpflichtungen mit
seiner Neigung zusammenfiel, ergab er sich Anje mit der ganzen
Ausschließlichkeit seines Wesens. Er schlief an ihrem Lager, wo immer
das Kind sich zur Ruhe niederlegte, erwachte mit jedem Seufzer, der der
kleinen von Träumen bedrängten Brust entwich, und horchte auf das Ticken
des Regens, oder das Rascheln der nächtlichen Tiere im Laub. Schon ein
Nachtfalter, der sich am Glas der Scheiben stieß, weckte ihn auf. Wenn
Anje sich im Schlaf bewegte oder sich auf die andere Seite bettete,
benutzte er die Gelegenheit, sich selbst ein wenig zu regen oder zu
gähnen, was bisweilen notwendig war, aber er würde es nicht gewagt
haben, wenn seine kleine Herrin ruhig schlief.

Des Morgens begegneten Anjes erwachende Augen dem braunen Goldglanz der
seinen, er saß in respektvoller Entfernung auf dem Boden, hatte sein
Maul etwas geöffnet, und seine Brauen bewegten sich erwartungsvoll und
freundlich. Überhaupt war Hirtes Heiterkeit von großer Beständigkeit,
immer lag sein Frohsinn im glücklichen Streit mit der Schwermut seiner
tierhaften Befangenheit.

Die kleine Anje nahm, wie alles, was ihr begegnete, so auch Hirtes
ergebene Liebe wie ein selbstverständliches Gut entgegen. Die Sonne über
dem Bach und über den vielerlei Pflanzen des Waldes und des Moors, die
Lieder der Vögel und der Schimmer des Mondes hinter dem Laubdach der
Bäume, waren so schlicht und wahr ihr Eigentum, wie das Leben ihrer
kleinen braunen Hände und das göttliche Geschick ihrer Augen. Sie nahm
die Güter der Erde an, wie nur Kinder sie nehmen können, und ihr
irdischer und himmlischer Gott, der Herr über alles, was sie umgab, war
ihr Vater. Sie kannte keinen Zweifel an seiner Macht und an seiner Güte
und liebte ihn in der schrankenlosen Hingabe, wie sie entstehn kann,
wenn ein junges Gemüt Stunde für Stunde eine Liebe empfindet, in deren
herbe Verschlossenheit kein Schrecknis des Alltags fällt, die
unberührbar und unerwiesen bleibt, die keine Beweise zu liefern scheint,
als einzig den verschwiegenen Gram ihrer irdischen Gebundenheit, in
einem heiligen Abstand.

Denn Geroms Herz war wahrhaft gebrochen, und er hatte die Kraft zur
Hingabe für seine Erdenzeit verloren. So entströmte ihm scheinbar die
Fülle seiner Liebeskraft in heimatloser Allmacht, denn so wenig er in
der Lage war, ein zweites Mal zu vertraun, so wenig konnte er seine
Kraft zu jener Gemeinschaft verleugnen, die die Liebe in die Welt
bringt.

Es war wunderbar genug, daß Anje ihn nicht fürchtete, denn sein Gesicht
verfinstere sich um so mehr, je mehr sie ihm ihre Liebe zeigte oder
darbot. Aber der Eifer der kleinen Anje ermüdete darüber nicht, ihre
Zärtlichkeit wuchs, und ihr kindliches Tun nahm überhand an demütiger
Weisheit der Liebe. Einmal legte er Anje seine Hand aufs Haar, in einer
Müdigkeit ohne Gedanken, aber er erschrak darüber, wie furchtbar die
Wirkung war. Das kleine Mädchen erschauerte und sank mit Zittern an
seinen Knien nieder, die blasse Wange gegen seinen groben Stiefel
gepreßt, wagte nicht sich zu rühren und sagte kein Wort. Es war, als
verginge sie in einer Ohnmacht, ihr Glück ertragen zu können. Gerom
erbebte und brüllte fast:

»Steh auf! Was ist geschehen?! Steh auf!«

Sie erhob sich und lächelte, ihre Lippen waren beinahe weiß. Sie
verstand den Zorn ihres Vaters und begriff, daß es erschüttern mußte, so
viel gegeben zu haben, wie er es getan hatte. Gerom ging mit großen
Schritten hinaus.

Er würde wohl auf seine finstre und überlegene Art gelächelt haben, wenn
Onne ihm erzählt hätte, Anje sei das eigenwilligste und trotzigste Kind,
daß sich denken ließe. Aber die Alte hütete sich wohl, auch wollte Gerom
von niemandem etwas über sein Kind hören. Sie begriff das Verlangen nach
Liebe, das in dem kleinen Herzen Anjes brannte, und schirmte es heimlich
auf ihre Art.

Einmal hatte Anje die Nacht in Onnes Hütte zugebracht, wie es oft
geschah, aber diesmal mußte Gerom es ein erstes Mal gewahr geworden
sein. Da Onne es mit dem Schlafen wie ihre Hühner hielt, sich mit der
Sonne niederlegte und sich im ersten Morgengrauen erhob, so ließ sie das
Kind noch ruhen, als das Licht sie aufweckte. Da sah sie nach etwa einer
Stunde beim Beerensuchen Gerom durch den Wald kommen, er brach im Lauf
durch das Unterholz in der Richtung auf ihre Hütte zu, wie ein Bär
stürmte er dahin, er schnitt die Wege ab und achtete nicht darauf, daß
das Buschwerk sein graues Haar verwüstete, und seine Blicke waren vor
Angst erstarrt. Als er Onne entdeckte, hielt er plötzlich inne, ging
langsam, strich über seine Schläfen, und die Alte sah ihn in seinen Bart
lächeln, als er bei ihr war, wie sie ihn nie hatte lächeln sehn.

»Was ist geschehn?«, fragte sie. Die rote Morgensonne schien durch die
betauten Büsche in den Wald, und es tropfte von den Blättern.

»Was soll geschehn sein?«, fragte Gerom düster und schaute auf das
dichte Moos des Waldbodens, er atmete schwer, aber er stellte die Frage
nicht, die sein Gemüt zerdrückte. Onnes welkes, altes Herz wärmte sich
in der Glut dieser Liebe, denn obgleich sie längst begriffen hatte, was
Gerom in den Wald trieb, sagte sie ihm noch nicht, wo sein Kind war. Als
er es erfuhr, brummte er wie nebenhin: »Anje ... mag sie schlafen, wo
sie will.« Aber von dieser Stunde an war Onne niemals wieder in
Besorgnis, die Liebe des kleinen Mädchens zu ihrem Vater möchte sich
jemals in Bitterkeit verkehren.

Aber so sicherlich für gewöhnlich die Neigung eines jungen Gemüts in
Zärtlichkeit aufblüht, so eigenartig war es, daß Anjes Verlangen danach
sich nicht auf Hirte übertrug. Eigentlich hatte Hirte es beinahe
schlecht bei ihr, wenn er auch unter keiner Bosheit oder Willkür zu
leiden hatte, aber sein deutlich zur Schau getragenes Begehr nach
sinnfälligen Beweisen von Gunst fand keine Beachtung. Anje streichelte
ihn sehr selten, und nur dann, wenn er sich irgendwie verdient gemacht
hatte, oder wenn sie an alles andere und nur nicht an ihn dachte. Das
mußte ertragen werden, aber daß er schwer daran trug, sah man seinen
Augen an, wenn sie sich von untenher zu Anje emporrichteten, den Wulst
der Brauen ein wenig mithoben und sich in ihrer schweigsamen Sprache um
den Willen der gebannten Seele mühten. Nur wenn sie miteinander einen
schmalen Waldpfad beschritten, rieb er zuweilen seinen Kopf an Anjes
braunem Knie, das wurde aber in der Hauptsache nur deshalb geduldet,
weil es verständlich war, daß gern beide den Pfad benutzen, und weil
Hirte nicht voranlaufen sollte und nicht hinterhertrotten mochte.

Eine Aufgabe, die Hirte sehr wichtig einschätzte und der er mit großer
Gewissenhaftigkeit oblag, war das Bewachen der Kleider beim Baden im
Gurdelbach. In solchen Augenblicken erschien ihm der Sinn seines Daseins
erfüllt, er wurde vor Ernst beinahe traurig und fast hochmütig vor
Stolz. Um Hirtes Wesensart ganz würdigen zu können, mußte man ihn an
diesem Posten gesehen haben, dessen Bedeutung ihm in keiner Weise
dadurch geschmälert wurde, daß Anjes ganze Kleidung aus einem grauen
Leinenkittel und einem Gürtel bestand und daß niemals jemand den Wald
betrat. Aber in solchen Augenblicken war das Kittelchen in Hirtes Augen
so gut wie ein Purpurmantel, und hinter jedem Busch vermutete er
Landstreicher oder Straßenräuber.

Wenn alles still blieb, blinzelte er durch das Schilf nach Anjes gelbem
Haar und horchte auf das heitere Plätschern des Wassers. Man mußte beim
Lauschen den Kopf schräg halten und wenn möglich für kurz die Blicke in
eine andere Richtung schicken, damit einem nichts entging. Der Kittel
war noch da.

Dann, wenn Anje ihr Bad beendet hatte und im Gras in der Sonne lag,
durfte Hirte baden. Er ging ein wenig abseits ins Wasser, weil dort die
Frösche noch nicht aufgestört waren, und man beobachten konnte, wie sie
mit einem langen Satz flüchteten. Dies tat Hirte wohl, weil es seine
Autorität erwies und ihn belustigte. Es erschien ihm außerordentlich
erstaunlich, daß man diese Tiere immer erst dann erblickte, wenn es zu
spät war, sie zu erwischen, und daß man sie niemals im Wasser
wiederfand. Allerdings machte Hirte nur noch scheinbar den Versuch, sie
zu schnappen, es hatte seinen Grund darin, daß es ihm vor Jahren einmal
gelungen war.

Dann kam die Stunde im Ufergrün, wo sie nebeneinander in der Sonne
trocknen mußten. Es war herrlich, mit müden und glücklichen Blicken das
Schilf im sanften Wind bewegt zu sehn und das Blinken der Sonne vom
Wasser her mit in seine Träume zu nehmen. Alles verwandelte sich in ein
warmes Glück, das in goldgrünem Schimmer über die Erde zog. Der Himmel
kam herab, und der Boden wurde leicht, wie auch der Körper und die
Gedanken. Alle Gestalten verwandelten sich zu lichten Dingen und kehrten
frei in die Geheimnisse des Bluts ein, dessen Pochen zu verstummen
schien. Die Regungen der Luft wurden vernehmlich, wie ein Brausen aus
der Höhe, die Stimmen der Insekten und das Flüstern der Blätter ließen
sich verstehn, und das Licht schien zu erklingen. --

Je mehr Anje heranwuchs, um so weiter dehnte sie langsam ihre Streifzüge
in die Wildnis der Einöde aus. Ein Weg scheint kleiner zu werden, je
länger man ihn kennt, und Anjes Mut wuchs mit ihrer Selbständigkeit und
ihrer Kraft, auch war Verlaß auf Hirte, der immer dabei sein wollte,
wenn eine Entdeckungsfahrt unternommen wurde. Anje kannte nun die fahlen
Birkenbestände im Sumpfland, unter denen die Farne zwischen gestürzten
Stämmen im Modergrund wuchsen, sie kannte die schwarzen Seen im
Moorland, die in der leblosen Ebene lagen, und an deren toten Ufern
nichts grünte als ein scharfes Gras und im Hochsommer gelbe oder
violette Blumen, deren gedrängte Blüten an einem saftigen Stengel saßen,
und die vereinzelt, wie Wahrzeichen der Gefahr, im Sumpfboden hockten.
Gegen Osten zogen sich mit Weiden bestandene Gründe hin, deren Ende
niemand zu kennen schien, und gegen Süden der schwarze Tannenwald,
dessen Bäume so dicht standen, daß kein Sonnenstrahl bis auf den braunen
Nadelteppich fand. Nur die Abendsonne schien spät durch die hängenden
Zweige hinein, zwischen die Stämme am Boden und trug himmlische Wunder
voll dunkler Glut in seine Totenstille. --

Einmal war Anje mit Hirte in diesem Wald so weit vorgedrungen, daß sie
an der Landstraße anlangte, die ihn durchschnitt. Es war die alte
Heerstraße, die von der Dachenau hinüber ins Gorchinger Land führte. Ein
schmaler Graben trennte ihre Wagenspuren vom Tannenwald, an dessen Rand
sich im Schutz der tiefen Zweige Anje und Hirte ein Versteck bereitet
hatten, von dem aus sie den Gang der Welt und den Verlauf des großen
Lebens beobachteten und Erfahrungen von Bedeutung sammelten.

Die Landstraße war vernachlässigt und wurde fast niemals mehr benutzt,
sie war bewachsen, und nur ihre zwei Furchen von den Rädern der Wagen
kennzeichneten ihre fast vergessene Bestimmung. Es kamen sehr selten
Gefährte vorüber und nur hier und da ein Landmann oder ein
Wanderbursche, vielleicht der Flurschütze oder sein Gehilfe oder ein
Tagelöhner, der sein Kalb auf den Gorchinger Markt trieb, aber diese
Ereignisse waren für Anje von großer Bedeutung. Mit Herzklopfen sah sie
schon von fern, im Dämmerlicht der Straßenbirken, ein bewegliches
Pünktchen nahn und in den Tannenwald kommen, und ihr Herz schlug hart
und langsam, wenn endlich ein Mensch daherkam und vorüberzog. Sie
verdankte ihrem geduldigen Eifer eine wichtige Errungenschaft ihrer
Kindertage, es war die Kunst des Singens. Eines Morgens war ein Wagen
dahergekommen, den sie schon von weitem knarren hörten, und sie hatten
laufen müssen, Hirte und sie, um rechtzeitig bei ihrem Versteck mit ihm
zusammenzutreffen. Es war ein schwerer Wagen, der von zwei gefleckten
Pferden gezogen wurde und mit grauem Tuch überspannt war. Der Fuhrmann
schritt nebenher, er hatte seine gelbe Peitsche geschultert und sang.
Die kleine Anje sah mit großen Augen durch die Tannennadeln und zitterte
vor Glück. Die mächtige Männerstimme scholl laut und traurig durch den
Morgen, es war Anje, als wäre alles Vertraute umher plötzlich verändert,
der Himmel, die grünen Tannenwipfel darin, ihre eigenen Hände und Hirtes
freundlicher Blick. Sie wußte nicht, wie ihr geschah, und gab sich
hilflos den Segnungen der feierlichen Kraft hin, die ihr Herz bestürmte.
Sie versuchte zu verstehn, was der fremde Mann sang, eine beklemmend
traurige Erinnerung an ihre frühste Kindheit stieg dunkel, mit lichten
Gestalten, aus ihrer Seele empor.

»Hirte,« sagte sie, »hörst du?«

Hirte veränderte die Stellung seiner Ohren und sah Anje an.

Sie schüttelte den Kopf und schob ihn fort, da er die Befangenheit
seiner Herrin zu benutzen suchte, um seine schwarze Schnauze in ihre
Hand zu bohren. Da verstand er, daß Großes vor sich ging, und saß still
und aufrecht.

Der Gesang verhallte in der Ferne, und als der Morgen wieder still war
und nur die Häher riefen und aus der Birkenniederung der Kuckuck,
versuchte Anje zu singen.

Hirte sprang auf und geriet in Verlegenheit, aber er mußte sich nun im
Laufe der kommenden Zeit bemühn, eine Stellung zu diesen seltsamen,
langgezogenen Tönen zu finden, die ohne Sinn der Worte und von
bedeutungsvollen Bewegungen der Hände begleitet, aus der Schattenwildnis
der Einöde zum Himmel emporklangen. Anje sang mit tiefer Kinderstimme,
wie das Wasser durch den Moorgrund zog und wie die Pflanzen sich gegen
das Licht drängten, sie erlöste die Klage der Stummen um sich her,
lernte vom Wind und vom Regen und legte in die wortlose Klage ihres
Liedes den Sinn der geduldigen Natur auf ihre Art. Sie bildete die Worte
für ihre Lieder selbst, und es klang aus der feuchten Kühle in den
Sonnenschein hinaus, ausklingend auf »öh« und »euh« in unbegreiflich
inbrünstiger Schwermut. Sie rief den Abend herbei und begrüßte die
dahinziehenden Wolken, sie beantwortete die verschleierten Stimmen aus
den Nebelgründen und dankte dem Mond.

Bald gab es in Gorching ein neues Wunder des Moors, das man
abergläubisch mit den Geheimnissen der schaffenden Natur verband, und
das als das Wahrzeichen für die Erfüllung von Hoffnungen oder für das
Eintreffen von Befürchtungen galt: »Das Anjekind singt im Moor.«




Viertes Kapitel


Anjes Leben war glücklich. Sie bewegte sich unter den vielerlei
Lebewesen der Moorebene und des Waldes wie unter wohlwollenden
Gefährten, sie kannte die Pflanzen und wußte, wann ihre Knospen
aufbrachen, ob sie des Nachts ihre Kelche schlossen und welcherlei
Insekten sie besuchten. Sie fühlte den Regen kommen, bevor noch die
Kühle oder der Schatten ihn verrieten, und sah am Zug der Wolken, ob der
Wind wechseln und woher er kommen würde. Die Tiere und die Wolkenbilder
am Horizont verrieten ihr die Ereignisse der Natur, von den Bienen
erfuhr sie die Stunde, in der ein Unwetter hereinbrechen würde, und die
Vögel warnten sie im Walddunkel, wenn sie schlief. Sie wußte, ob der
Laut, den ein Tier gab, Freude, Schmerz oder Angst verriet, ob die
Geschöpfe der Fluren einander warnten oder lockten, ihre Gewohnheiten
verkündeten ihr die Anzeichen der Tagesstunden, bis spät in die Nacht
hinein.

Anje hörte an den Regungen der Kreaturen, wann die Sonne unterging. Sie
lag mit geschlossenen Augen am Wasserrand des Moorsees, das Gesicht in
den Händen und die Hände im Gras. Sie wußte, daß die Sonne im Westen
schon tief stand, und lauschte. Dann fühlte sie die unhörbaren
Bewegungen, in denen das Wasser, Tiere, Pflanzen und Wind wie mit leisem
Aufseufzen sich der Nacht ergaben, wenn der Rand des glühenden
Sonnenballs versank.

Da ihre Sinne Gemeinschaft mit den Sinnen der Lebendigen der Natur
hatten, so wertete sie die Wohltaten ihres freien Tags nach den
Ansprüchen ihrer stummen Lebensgefährten. Hirte hörte sie seltsame Dinge
sagen, und es wurde ihm mancherlei erklärt, von dem er, bei all seiner
Bescheidenheit, eine überlegene Meinung bewahrte. Anje erzählte ihm vom
klugen Licht, das alle Wege fand, und vom Wasser, das niemand verändern
könnte, die Luft ängstigte sich vor den Wetterwolken und sprang in den
Wald, und der Himmel war bald nah, bald fern.

Anje hatte große Furcht vor allen Geräuschen, die nicht dem
selbsttätigen Leben der Geschöpfe entsprangen, die Stille der Natur war
das Element ihres Friedens, in ihr atmete und ruhte ihre kleine Seele.
Als sie einst zum erstenmal hörte, wie ihr Vater einen Ast zersägte,
weinte sie mit dem schreienden Baum. Erst viel später begriff sie die
scheinbaren Grausamkeiten, die sich mit der Erhaltung des Lebens
verbinden. Sie hatte lange den Marder gehaßt, der die Nester der Vögel
zerstörte und ihre Brut vertilgte, bis sie einst im Hochwald eine vom
Sturm gefällte Buche fand, in deren Stamm ein Marderpaar sein Heim in
einem verlassenen Eichhornbau errichtet hatte. Dort beobachtete sie, wie
der Marder seinen Jungen, die vor Furcht und Hunger jämmerlich klagten,
Nahrung brachte, und sie sah, daß es ein nackter Vogel war, den er ihnen
zutrug. Da begriff Anje zum erstenmal, daß die Natur des Mitleids und
der Hilfe des Menschen nicht bedurfte, was man ihr hinzuzufügen glaubte,
nahm man ihr gewiß an anderer Stelle. Anje empfand sich als zu klein, um
zu wissen, was zu tun notwendig war, dessen war nur ihr Vater mächtig.

Aber sie herrschte im Wald und war ihrer Kräfte froh, die mit ihrer
Andacht wuchsen. Sie beobachtete die Ranken der Schlinggewächse, wie sie
sich geduldig drehten und im Wachsen nach einem Halt tasteten. Darüber
erkannte sie, daß ihre eigenen Augen wohlgeschickter waren, aber sie
half den Pflanzen nicht, sondern ließ ihnen ihr Wesen. Die Bäume, die
großen und kleinen, blieben ihr Leben lang an dem Ort stehen, der sie
hervorgebracht hatte, immer traf der Westwind die gleichen Blätter
zuerst, und immer dieselben Äste empfingen im Wipfel die Morgenglut.
Anje aber konnte schreiten, wohin sie wollte, sie konnte den Schein der
Sonne empfangen oder sich im Schatten bergen. Im heimlichen Glück ihrer
Kräfte versank ihr Blick oft im Gedanken an die Geduld der Bäume, die
schön und erhaben waren und denen nichts mangelte. Sie versuchte wohl
eine Weile wie ein Baum zu leben, stellte sich klein und feierlich
zwischen die großen Freunde und bildete mit ihnen den Wald. Aber sie
vergaß ihre ernsten Pflichten schon bei einem Schmetterling oder bei
irgendeinem Gedanken, der herangaukelte, wie jener.

Zu ihrer größten Freude gehörte es, auf den Moorwiesen der Arbeit der
Insekten zuzuschaun, dem Eifer der Bienen, dem Spiel der Schmetterlinge
oder den Beschäftigungen der Käfer. Sie machte mit ihnen den sonnigen
Weg von einer Blume zur anderen und bebte vor Glück, wenn sie mit einer
Biene ein rotes oder blaues Blumenhaus betrat. Das farbige Licht der
duftenden Halle schlug auch über ihr zusammen, sie begriff die
Seligkeit, so licht zu hausen. Die kleineren Blumen neigten sich an
ihren Stielen, wenn ein geflügeltes Tier ankam, und so verband sich oft
ein gelindes Schaukeln mit ihrem sorglosen Tun. Trafen sich zwei in der
gleichen Blüte, so ließen sie einander vorüber, ohne sich zu stören, das
kam, weil der Reichtum an Blumen unermeßlich war.

Die kleine Anje liebte den Ausblick in das ebene Land. In der Weite
erhoben sich die Kuppeln der Bäume vereinzelt oder in Gruppen, die das
Blau der Ferne geheimnisvoll zusammenschloß und verkleinerte. Das bunte
Bild des Landes unter dem Himmelsblau weitete ihr Herz in unsagbaren
Ahnungen von zukünftigem Geschehn. Gegen Süden verschloß das schwarze
Band des Föhrenwaldes die Welt. Dorthin zogen am Abend die Krähen,
deren Flug man am längsten mit den Blicken folgen konnte.

Am meisten aber liebte Anje den Wind, der vom kaum vernehmbaren Flüstern
bis zur brausenden Musik anwachsen konnte, und der ihr das Leben der
Natur verherrlichte. Sie kannte seine Stimme in der Ebene und eilte über
das Feld seinem freien Singen entgegen, das ihre Arme in sinnloser
Freude emporriß. Er beherrschte den Himmel und lenkte den Gang der
Wolkenzüge, die er in grauen Massen über die Erde dahintrieb oder der
Sonne entgegen, in deren Wärme die weißen im Blau zergingen. Er bediente
sich der Baumkronen, um sein Brausen, das bis zum donnernden Getöse
anschwellen konnte, vernehmen zu lassen, und diesem Anschwellen lauschte
ihr Blut mit jauchzendem Erbeben. Wenn er sich zu seiner Gewalt erhob,
so befreite er die Sinne von den Gedanken und beflügelte die Seele, die
sich ihm vertraute, wie das Laub des Erdbodens oder wie der Staub der
Wege. Der Wind rief die Ahnung von einer Vollendung wach, die in keiner
Stille zu finden war.

Er drang wie das Licht überall hin, und niemand entging seinen
Berührungen, die Leben weckten. Er konnte klagen und Trauer verbreiten,
bald schmeichelte er, bald drohte er, es war um so seltsamer, als man
seine Kraft kannte, und man verstand ihn nur, wenn man bedachte, daß er
ein Kind war. Oft kam er im Dunkeln der Sommernacht ins Zimmer, man
fühlte ihn auf der warmen Stirn, und er brachte den Schlaf, wenn er die
Augenlider berührte, weil darüber das Blut kühl und glücklich wurde.

Oft zog Anje im Traum mit ihm hinaus, sie kühlten das Wasser für den
Morgen, schaukelten die Zweige der Büsche und kamen aus dem Wald in die
Ebene. Dort zogen sie unter den Sternen hin über die Moorseen, im
Dunkeln. Nach solcher Fahrt blieb ihr die Erinnerung zurück, als ob sie
den Wind erblickt hätte, den noch niemand gesehen hatte, aber sie wurde
sich keiner Einsamkeit bewußt.




Fünftes Kapitel


Als Anje so groß geworden war, daß Hirtes Schnauze bis an ihre Schulter
reichte, wenn sie nebeneinander im Ginster saßen, nahm die alte Onne
sich ihrer auf etwas veränderte Art an, denn Gerom ließ sein Kind tun,
was es wollte, er beschäftigte es niemals und lehnte, wo immer es war,
ihre Hilfe mit einer barschen Herablassung ab: was denn solch ein zartes
Ding rechtes tun könne, und ob man glaube, er würde nicht selbst mit
seiner Arbeit fertig. Diese Nichtachtung war nur ein Mantel, unter dem
er seinen Wunsch verbarg, Anje ungehindert von Tageslasten und
Menschenpflicht heranwachsen zu sehen. Sie war keineswegs schwach und
hilflos, wie er sie nannte, sondern, obgleich von zarten Gliedern, ein
gesundes Kind von blühender Kraft, aber Gerom verachtete die Menschen
und ihr Handeln, das er betört und armselig nannte, und gönnte ihnen in
ihrem Tun nicht die kleinste Gemeinsamkeit mit seinem Kind. Zwar
hinderte er Anje nicht daran, wenn sie Neigung zeigte, sich hier oder
dort zu beschäftigen, aber sie tat es selten und nur dann, wenn sie
dadurch in der Nähe ihres Vaters verweilen konnte.

Gerom lebte der Vorstellung, daß alles Bewußtsein des Bösen und jede
Macht der Finsternis erst durch Menschengeselligkeit in die Welt
getragen würde. Als Onne ihm einmal die Zuneigung ihres alten Herzens in
Bewunderung für sein ernstes Leben darbrachte, antwortete er ihr ruhig:
»Es ist leicht gut zu sein, wenn man allein ist, die Natur nimmt uns an,
so wie wir sind.«

Onne schaute vor sich hin, ihre grauweißen Haarsträhnen zogen sich arm
an den faltigen Schläfen hin und an den hohlen Wangen nieder, die die
Farbe welken Laubs hatten und unzählige Fältchen und Risse.

»Gerom,« sagte sie, »das ist wohl wahr, aber wer die Kraft hat, die
Natur zu ertragen, dem kommt keine Gefahr mehr von den Menschen.«

Gerom sah sie an. »Mütterchen ...« sagte er langsam, aber dann erschrak
er über den weichen Klang seiner Stimme und schwieg, und da Onne sich
darauf verstand, woher ein Wort kam und wieviel es bedeutete, begnügte
sie sich mit dieser Antwort und dachte in ihrem Sinn: Mit Gerom läßt
sich leben.

In diesem Herbst kam Anje häufiger zu Onne als sonst, und eines Abends,
als sie schon die Holzläden der Fenster geschlossen hatten und ein
Scheitfeuer auf dem Herd angezündet worden war, ging Onne an ihre Truhe.

Die kleine Anje wußte, daß dieser Kasten mit seinem groben Schnitzwerk
und seinem Schlüssel, dessen Bart fast so groß war wie ihre Hand, die
unerhörtesten Schätze enthielt, und ihre Augen wurden still und groß in
der Erwartung, was Onne tun wollte. Die Alte hob mit Mühe den schweren
Deckel und lehnte ihn an die Wand. Nun hielt das plumpe Holzungeheuer
seinen Rachen geöffnet, und Anje kam ein Zittern an, vor Scheu und
Begierde sah sie nichts als ein buntes Durcheinander, das vor ihren
Augen flimmerte.

Draußen rüttelte der Herbstwind in den Bäumen, die Tannen sausten und
das Laubwerk rauschte; hin und wieder schlug der Laden mit leisem
Klappern an, und Hirte, der am Feuer saß, bewegte unablässig die Ohren,
und seine Augen waren voll Besorgnis. Der Raum war nur durch das
Herdfeuer erhellt, und im Spiel der Flammen erschien es zuweilen so, als
bewegte sich alles in ihm.

»Onne,« flüsterte die kleine Anje; ihr war, als müßte sie Einhalt
gebieten, was konnte nicht geschehn, wenn man sich so tief in die Truhe
wagte, als es die Alte tat, die ihre beiden Hände bis auf den Grund der
Schätze hinabgewühlt hatte. Da bog sich Onnes braunes Gesicht über den
Truhenrand nach ihr zurück, und sie sah, daß es unter den grauen
Strähnen lächelte.

Das Kind atmete auf. Den vergangenen Morgen über hatte sie der Alten
beim Ausbessern der Hüttenwand geholfen, so gut sie konnte, es mußten
Risse verstopft werden, und hier und da sollte ein Nagel eingeschlagen
werden, der ein morsches Brett halten mußte. Am Mittag hatte sie es
ihrem Vater erzählt, der dann schweigend ein paar Bretter auf seine
Schulter geladen, die große Säge über den Arm gehängt und den Hammer in
die Tasche geschoben hatte. So machten sie sich auf den Weg zu Onne.

»Gib her,« sagte er, als er sah, daß Anje die Nägel trug, und nahm sie
ihr ab.

Dann war ein gewichtigtes Hämmern und Sägen angegangen, Anje saß vor
Stolz glühend neben der Alten am Grabenhang und fühlte, wie groß und
stark ihr Vater war. Onne blinzelte in den Abendschein hinaus, und ihre
winzigen Äuglein leuchteten vor Zuversicht, nun mochte der Winter
kommen. Anje war später bei ihr geblieben, weil man nicht so rasch, und
vor allem schwer allein, mit dieser Freude fertig werden konnte. Es
mußte alles im einzelnen nachgeprüft und bewundert werden, wie die
Bretter paßten und schlossen und wie sorgfältig die langen Nägel
umgeschlagen waren. Als Gerom am Abend heimschritt, wandte er sich,
einen Augenblick zögernd, nach seinem Kind um, aber als er zwei eifrige
Angesichter, ein welkes und ein blühendes, in frohem Staunen vor einer
kleinen Falltür am Hühnerstall sah, die er dort angebracht hatte,
begriff er und ging fort. --

Und nun, bei diesem verheißungsvollen Lächeln der Alten über den
Truhenschätzen, war es Anje plötzlich, als ob etwas geschehen sollte,
das in einem Zusammenhang mit der Freude dieses Tages stand. Onne holte
aus dem Grund der Truhe ein Buch hervor, verstaute und verschloß alles
wieder sorgfältig und reichte das rötliche Ding von verblaßtem Glanz dem
Kinde zum Geschenk.

»Hier steht es,« sagte Onne, nahm es zurück, blätterte und versuchte
dabei, ihrer Hornbrille Halt zu verschaffen, »hör zu, wie ich es lese:
>Um das weiße Schloß flogen in der Abendsonne die Schwalben, es lag auf
ebenem Gefilde, frei im weiten Land ...<« Sie stockte und gab ihren
Gläsern Schuld. »Ich kann es nicht mehr recht herausbringen, aber du
sollst sehn, du wirst es lernen.«

Und zum nächtlichen Erbrausen des rauhen Waldes, der den Wind von der
Ebene her mit Gesang in seine Fittiche nahm, erblühte der kleinen Anje
an ihrem geschützten Platz am alten Feuer das Wunder, daß das Licht der
Menschengedanken in gebrechlichen Hüllen bewahrt werden konnte.

Aber Anje hat niemals lesen gelernt. Sie hütete das kleine rötliche Buch
wie einen heiligen Schrein, der Reichtümer enthielt, aber sie trug kein
Verlangen danach, diese Schätze zu heben. Nur die Anfangszeilen des
Buchs, die ihr Onne gesagt hatte, blieben in ihrer Erinnerung bewahrt,
und ihr einfacher Inhalt beflügelte ihre Träume über die Herrlichkeiten
der fremden Welt.

Es war zu Anfang des Buchs ein Bild eingefügt, auf dem unter einem
grünen Eichbaum mit braunem Stamm ein verwundeter Mann am Wege lag. Er
war nach den Gewohnheiten einer vergangenen Zeit gekleidet, mit einer
schmalen gelblichen Hose, die seine Beine seltsam lang erscheinen ließ,
und die sehr hoch hinaufreichte, bis an ein kurzes Jäckchen von grellem
Blau. Seine weißen Hände waren sehr schlank, und sein Gesicht war zur
Rechten und Linken von einem Streifen Bart eingerahmt, der von den
Schläfen ein wenig an der Wange entlang niederwuchs. Aus seiner Brust
rieselte in einer sorgfältigen Zickzacklinie ein Bächlein
himbeerfarbenen Bluts, färbte das Gras und verrann auf dem Fußweg, an
dessen Ende, am Horizont, klein, mit erhobenen Armen und weit
gespreizten Beinen zwei Männer davonliefen.

Dieses Bild beschäftigte das Gemüt des Kindes ohne Unterlaß. Sie begriff
nicht, was die Menschen veranlaßt haben konnte, jenem Fremden die Brust
zu verletzen, so daß ihm sein Blut verrann und daß seine großen Augen
sich schließen mußten vor Schmerz oder Schwäche. Auch war niemand zu
sehn, der ihm hätte helfen können, und der große Eichbaum stand ruhig da
im Tageslicht.

Sie zerdrückte eine späte Beere auf ihrer Hand, um den roten Saft auf
der Haut fließen zu sehn, aber er lief in einer graden Linie nieder und
tropfte ins Gras, es mußte wohl nur das Blut aus dem Herzen sein, das
solch gezackte Wege beschrieb. Da verletzte sie ihren Arm mit einem
Dorn, aber das Wunder des Bildes erfüllte sich nicht an ihr. Die
steigenden warmen Tropfen und ihr schmaler Weg zur Erde nieder,
versenkten sie in tiefe Nachdenklichkeit.

Hirte hatte herausgebracht, daß Anje ein Buch besaß, und er betrachtete
von der Seite her das bunte Bild darin. Er unternahm den Versuch, mit
Hilfe seiner schwarzen Nase zu begreifen, was seinen Augen verschlossen
blieb; aber Anje hielt das Buch hoch. --

Langsam lichtete sich nun der Wald, und von Nacht zu Nacht schienen die
Sternbilder heller ins Moorland nieder. Anje lag am Waldrand und
schickte ihre Gedanken zu ihnen hinauf, es gab keine Hingabe von
größerem Frieden als die an die Sterne. Im Bereich ihres erhabenen
Lichts erschien es Anje, als würden die lebendigen Wesen der
Erdoberfläche einander gleich, und ihre Schicksale unterschieden sich
nicht mehr voneinander. Langsam glitt ihr Empfinden in ein Himmelsland
von grenzenloser Ausdehnung hinüber, und sie mußte singen. In der
Ergriffenheit ihrer Sinne war ihr dann oft, als müßte in der
Menschenbrust verborgen ein Heil von unnennbarer Art wohnen.

Sie trat still aus ihrer Tannenfinsternis in die weite Nacht hinaus,
beschritt das Moor bis an einen der schwarzen Tümpel und sah die Nacht
im Wasser an. Andächtig reckte sie sich vor, bis sie neben den Sternen
am Rand des Wasserspiegels ihr Angesicht sah.

                   *       *       *       *       *

Im Winter schlief ihr Herz. Wenn der Schnee das Land bedeckte und die
Bäume und Pflanzen in seine reine Kühle bettete, sah sie im
wohlbestellten Haus ihres Vaters das Feuer im Kamin an, das ihr den
Sommer in ihre Erinnerung rief. Wohl kannte sie die Freude, in die
frische Klarheit eines Wintertags hinauszuschreiten, die Spuren der
Tiere im Schnee zu suchen, und die Ruhe des schlafenden Waldes als Glück
zu empfinden, aber ihr Lebensteil war nur der Sommer. Sie fühlte sich im
Winter verlassen und wünschte sich, schlafen zu können, wie es Tiere und
Pflanzen taten. Die Traulichkeit des gesicherten Wohnraums ängstigte
sie, und oft, wenn sie des Abends von Onnes Haus heimkehrte und den
rötlichen Lichtschein des Fensters durch den bläulichen Schnee schimmern
sah, war ihr zumut, als müßte sie umkehren, um den Tieren der
verlassenen Wildnis nah zu sein, und doch tat sie nichts zu deren Schutz
oder Ernährung. Gerom wunderte sich zuweilen im stillen darüber, wenn er
von seiner harten Holzarbeit im Winterwald ein erfrorenes oder
hungerndes Tier mitbrachte und Anje sah es nicht an.

Aber mit dem Föhn erwachte Anjes Blut in einem seligen Fieber, die
Stimme des Wassers gewann Gewalt über sie, und sie lauschte ruhlos auf
den Wind. Mit den ersten Weidenkätzchen war sie von Geroms Hof
verschwunden, oft fand er im Wald sein Kind wie ein fremdes Wesen. Sie
weckt die Blumen, dachte er, weckt die Vögel.

»Was tust du, Anje?«, fragte er sie einmal, als er sie im Weidengebüsch
am Moorrand traf.

»Was ich tue?«, fragte sie langsam, hob ihre strahlenden Augen zu den
seinen empor und sah ihn an. Ihr Gesicht war ernst, und sie lächelte
kaum, aber es war Gerom ums Herz, als ergriffe sie mit ihren beiden
Armen den großen Frühling und schüttete ihn über sein Haupt.

Rasch schritt er hinweg, und sein Fuß stampfte schwer im feuchten Grund.
Er riß ein paar blühende Weidenzweige ab und nahm sie mit. Was frag ich
auch -- im Frühling, dachte er, von uneingestandener Beglückung bis auf
den Grund seines Herzens bewegt.




Sechstes Kapitel


Wenn im Sommerwind der Wald erbrauste, erhob sich Hirte, rückte den
plumpen Kopf vor und knurrte. Seine Augen suchten im Unsicheren der
bewegten Gründe, und oft drängte er sich an Anje und verriet Furcht. Das
Mädchen wußte, daß der Wald von unsichtbaren Gestalten bevölkert war und
verstand Hirtes Angst. Wie viele Menschen, die unter der Willkür
erzittern, die in den Unbilden der Witterung lauert, und die zugleich in
ihrem Unterhalt von der Gnade der Natur abhängen, glaubte auch Anje
daran, daß die geheimnisvollen Mächte der Natur in unsichtbaren
Gestalten einhergingen. Im ruhigen Sonnenschein hielten sie sich
verborgen, aber sie erwachten und erhoben sich mit dem Sturm, mit der
Dämmerung und mit dem Nebel. Sie waren je nach ihrer Art und Berufung
dem Menschen freundlich oder feindlich gesinnt, und man tat gut daran,
sie nicht zu erzürnen. Sie rächten ihren Unwillen an allen Wesen, die in
ihre Gewalt gerieten, oder sie befreiten die Bedrängten, nach ihrem
Willen. Es gab Orte, die deutlich von ihrem Aufenthalt Zeugnis ablegten,
und wer klug war, vermied es sorgsam, sie zu betreten. Sie hetzten das
Wild, das ihre Heimstätten entweiht hatte, in die Schlingen der
Wilderer, scheuchten die Sumpfvögel in verhängnisvollen Augenblicken aus
ihren Schlupfwinkeln auf, so daß sie sich durch ihr Geschrei den Jägern
verrieten, oder sie lockten Fremde durch ihre Nachtlichter vom Wege ab
in die Wirrnis des Dickichts oder ins Moor.

Anjes Augen hatten sich an das geheimnisvolle Wesen dieser Lichter
gewöhnt, die von den Nachtgeistern plötzlich in ein Stückchen moderndes
Holz oder in ein Glühwürmchen verwandelt werden konnten. Sie wußte, daß
dieser tote Glanz ungewohnte Augen über seine Nähe oder Entfernung
täuschen konnte, sie hatte erfahren, daß solch ein Lichtlein den Blicken
oft als Schein in weiter Ferne am Waldsaum oder im Sumpfgrund erscheinen
konnte, während es doch in Wahrheit dicht vor den getäuschten Blicken
totenstill in einem Busch hing.

Aber sie selbst fürchtete die Geister der unberührten Natur nicht, da
sie ihr Reich kannte und nach ihrem Willen lebte, sie hatte ihre
heimlichen Mittel gegen ihre Willkür und erkennbare Wahrzeichen ihres
Schutzes, zu denen das Feuer gehörte. Oft blieb sie nachts am Rand des
Tannenwalds, im weißlichen Birkenhain oder in den Weiden der
Niederungen. An solchen Orten hatte sie kleine Feuerplätze errichtet,
dürres Holz angesammelt, oder im Dickicht eine Laubwand gegen den
Nachtwind oder gegen den Mondschein geflochten, denn der Mond durfte
Schlafenden nicht auf ihre Lider scheinen, weil sie sonst am kommenden
Tage Träumen nachhingen und die Welt ihrer Vorstellungen sich mit der
Wirklichkeit vermischte.

Wenn sie dort in der hereinbrechenden Nacht ihr Feuer hütete, hörte sie
die Stimmen der Tiere, die des Nachts leben, sie wechselten mit dem Gang
der Stunden und verstummten gegen Mitternacht. Dann kam die ruhigste
Stunde und endlich langsam das Licht. Dieser Wechsel der Nacht zum
Morgen hatte die größte Gewalt über Anjes Seele, es gab nichts für sie
in der Welt, was sie andächtiger stimmte, und er erfüllte ihr Wesen mit
einer feierlichen Traurigkeit. Ihr war zu Mut, als müßte ihr Herz in
zwei Teile zerbrechen, als hinge es dem Scheidenden nach und verlangte
zugleich mit derselben Stärke des Bluts nach dem Kommenden. Sie wurde
sich in solcher Stunde dessen bewußt, daß sie als Mensch allein ihr
irdisches Leben verbrachte, und hätte darüber in Tränen ausbrechen
können, wie erfüllt von Herrlichkeit dieses Leben war. Nur in dieser
Ergriffenheit überkam sie zuweilen auch der Gedanke an den Tod ihres
Leibes. Sie legte ihre harte kleine Hand, die vom Tau kalt war, auf die
Stelle ihrer Brust, unter der ihr Herz klopfte, und versuchte zu
begreifen, daß der Augenblick kommen sollte, an dem dies Pochen endete,
und an dem nur andere noch diese Glieder, die Hand und Füße, die ihr
gehörten, bewegen und betasten konnten. Der Gedanke, daß ihr Leib dann
dem Willen anderer überliefert sein sollte, füllte sie mit Schrecken,
sie beschloß, im Wald zu sterben, in unauffindbaren Gründen des
Dickichts unter Ranken und braunem Laub.

Nach solchen Gedanken konnte sie den Tau von ihren Augenlidern
streifen, so still hatte sie dagesessen und so erstarrt hatten ihre
Blicke auf einem einzigen Punkt am Boden geruht. Oft war es ein
Tannenzapfen gewesen oder ein Farrenbüschel, und wenn sie am Tag, mitten
im Sonnenschein, ihre Augen schloß, erschien ihr dieser Gegenstand so
deutlich, daß sie glaubte ihn greifen zu können. Er trug noch die Spuren
ihrer Gedanken wie ein dämmriges Kleid und legte seine Schleier über das
tiefe Grau ihrer Augen. --

Es war noch früh, als Anje an einem Sommermorgen durch die nassen
Waldfarren den Niederungen des Gurdelbachs zuschritt, um zu baden. Als
sie in das Bereich des Schilfes trat, mußte sie vorsichtiger gehen, von
den grünen Halmen erhoben sich träge große Libellen mit schwarzblauen
Flügeln, es war so still in der Sonne, daß man das Rascheln ihrer Flügel
hören konnte. Wo der Birkenhain bis an das Ufer trat, machte der Fluß
eine scharfe Wendung, die Böschung war unterspült und der helle
Kiesgrund leuchtete durch das klare Wasser. Anje schlug einen losen
Knoten in ihr gelbes Haar, warf ihren grauen Kittel ab, der nur bis an
die Knie reichte, und trat langsam, Schritt für Schritt in die kühle
Flut. Eine Schlange wurde durch Anjes Kommen im Moordunkel der Böschung
aufgeschreckt, anfangs versuchte sie den überhängenden Uferrand zu
erreichen, kehrte dann aber um und schwamm über den Fluß. Die Strömung
trieb sie ein wenig ab, ihre gelassenen Bewegungen im Wasser zogen die
Blicke an, Anje betrachtete das Tier aufmerksam und ohne Furcht, bis es
ihren Augen entschwunden war. Dann ließ sie sich langsam rücklings
niedersinken, als vertraute sie sich den Armen Gottes an. Das Wasser
schlug für einen Augenblick über ihr zusammen, und als sie wieder
emportauchte und es aus ihren Haaren schüttelte, erschien ihr die Welt
zu einer neuen Klarheit wiedergeboren, der blaue Himmel strahlte bis an
den Grund ihres eilenden Herzens, der Wald schimmerte in Sonnenruhe, und
jede neue Welle trug eine Fülle von Frische und Licht. Die Berührungen
des Windes erweckten im Blut die fröhlichen Gewißheiten einer
Geborgenheit im lebendigen Erdengut.

Als das Mädchen sich nach einer Weile erhob und ins flachere Wasser
trat, um ihr Haar zum Trocknen der Sonne hinzuhalten, sah sie einen
Menschen zwischen den Birken stehn. Er war noch etwa zwanzig Schritte
vom Ufer entfernt, die Farrenkräuter und das Schilf verdeckten ihn ihren
Blicken bis an seine Knie. Seine Hände waren etwas erhoben, er schien
wie erstarrt, der Ausdruck seines jungen Gesichts war von qualvoller
Spannung, von der sich schüchtern der Glanz eines großen Entzückens
abhob.

Nun, da er sich von Anje entdeckt sah, verwandelte sich der Ausdruck
seines Gesichts in Unsicherheit und Befangenheit, er hob den Arm und
rief etwas. Es klang wie eine Bitte um Verzeihung, Anje verstand ihn
nicht, sie empfand auch nicht, daß alles am Gebaren dieses Fremden davon
sprach, daß er nicht zu glauben wagte, was sich seinen Blicken darbot.
Er starrte das Mädchen immer noch voll Angst und Hoffnung an und begriff
diese Ruhe ohne Scheu nicht, in der sie ihn mit unverwandtem Blick
beobachtete. Es erschien ihm, als habe er ein Tier des Waldes
aufgestört, das zwischen Schreck und Furcht verharrte, um im nächsten
Augenblick in blinder Flucht durch die Büsche zu brechen.

Aber es geschah etwas ganz anderes, als er sich einen Schritt näher
wagte, gewahrte er, wie das Mädchen sich ohne ein Wort der Abwehr und
ohne eine Gebärde der Furcht langsam niederbückte. Dann sah er ihren
Körper in einer Bewegung von herrlicher Freiheit jählings erhoben,
gestrafft und vorgebeugt, und ein großer Kieselstein prallte dicht neben
ihm mit lautem Schall an den Stamm einer Birke. Und ehe er sich recht
besann und die Gesinnung ermaß, die hinter dieser Haltung sein möchte,
traf ein zweiter, faustgroßer Stein seine Schulter. Es war ihm, als wäre
der furchtbare Schmerz, der ihn fast niederwarf, aus einem blitzenden
Sprühn, aus goldenem Licht eines beschützten Hauptes und aus silbernem
Glitzern eines gepanzerten Körpers zu ihm gesandt worden, er schrie laut
auf und taumelte ein paar Schritte voran. Er verstand seine eigenen
Worte nicht, die Wut und Begierde und tödlichen Schreck verrieten. »Wer
macht so grobe Scherze, die das Leben gefährden«, schrie er. Er begriff
nicht, daß die festen Züge vor ihm weder Scham noch Furcht verrieten und
auch nicht einen Schein jener Besorgnis, die er erwartete und die ihn
ermutigt hätte. Im Gesichte des Mädchens las er einzig den Wunsch, mit
dem Stein zu treffen, den sie gelassen, beinahe behaglich, in ihrer
braunen Hand wog.

Dieser Stein traf ihn im Winkel seines Auges, zwischen der Schläfe und
dem Backenknochen. Er sank lautlos, ohne noch eine Bewegung zu machen,
mit dem Gesicht in die Farrenkräuter.

Anje ging langsam, aber ohne Zögern, durch das Schilf auf den Gefallenen
zu. An ihrem Körper rann das Wasser glitzernd nieder und blinkte auf in
dieser Halbsonne, wie sie unter dem Laub der Birken herrscht. Die
Schattenschleier gaben dem Licht einen unwirklichen Schein, Anjes nasses
Haar lag wie Gold auf ihrer Schulter. Diese Goldlichter huschten über
ihren ganzen Körper hin und hüllten ihn ein.

Der Fremde lag totenstill im Farren. Eine kleine Spinne kroch hastig
über seine Schulter, und die Hand lag breit gespreizt auf einem
Moospolster. Anje sah nun, daß er ein Gewehr trug und einen Hirschfänger
am Gürtel. Um das Gesicht zu sehn, mußte sie seinen Kopf wenden, und sie
tat es vorsichtig und neugierig. Die Wunde entstellte sein Gesicht, das
ihr ebenmäßig, aber wesenlos erschien, sie ließ seine Haare beinahe
verächtlich los, als der erloschene Blick aus den halbgeschlossenen
Augen ihr begegnete. Da sie Blut von der Schläfe rinnen sah,
durchsuchte sie seine Taschen nach einem Tuch, und als sie es gefunden
hatte, verband sie den Besinnungslosen mit Sorgfalt, wie sie es bei
ihrem Vater gesehn, wenn seine rauhe Arbeit ihm Schaden getan hatte.
Dann holte sie ihren Kittel, bekleidete sich und trat gelassen den
Heimweg an.

                   *       *       *       *       *

So kam Anje in Fridlins Leben. Er drängte sich ihr mit dem gedankenlosen
Eigensinn seiner Jugend seit diesem Tage auf und vergaß sie um so
weniger, als er nicht begriff, wie leicht er ihr verzeihen konnte. In
der Försterei, in der er bedienstet war, erhielt er damals bald
Auskunft, der Förster selbst lachte belustigt, aber ein wenig
verächtlich, und nahm sich später den jungen Menschen für ein besonderes
Gespräch beiseite, und die Mitteilungen, die dabei gemacht worden sind,
mußten sehr ernster Natur gewesen sein, denn sie stimmten Fridlin für
lange Zeit nachdenklich.

In der Küche wußten die Mägde später weit besser Bescheid, der junge
Mann hörte mißmutig zu, aber er konnte sich nichts entgehen lassen,
obgleich er die Torheiten verachtete, die über Gerom und sein Kind im
Lande in Umlauf waren.

»Was wollt ihr denn,« sagte er mürrisch, »sie wird ein Mädchen sein, wie
alle anderen.«

Fridlin lehnte im Türrahmen, im grünen Lindenlicht, das durch den Hof
auf die sauberen Geräte der Küche sank und auf die nackten Arme der
hantierenden Frauen.

»Du mußt es ja erfahren haben,« gab die junge Magd zur Antwort und sah
Fridlin besorgt und aufmerksam an, »geh nicht mehr hin, so viel sag'
ich.« Und sie lachte und sah auf die Beule in seinem Gesicht, die ihn
entstellte.

Was er beim Förster, seinem Dienstherrn, gehört hatte, war ihm
bedeutungsvoller. Gerom wilderte. Er stand schon seit lange im Verdacht,
und wenn Fridlin bisher nicht darüber unterrichtet worden war, so war es
mit Vorbedacht unterblieben, da der Alte den unbesonnenen Eifer des
Burschen mißachtete. Er kannte Gerom und wußte, daß mit ihm nicht zu
scherzen war, daß er niemand fürchtete und daß ihm sein eigenes Leben
gering galt. Er selbst hatte bisher kaum mehr getan, als dieses Gelüste
des verwilderten Mannes, wie Gerom ihm erschien, nach Möglichkeit in
Grenzen zu halten, denn er wußte wohl, daß Gerom kein Gewerbe aus seinem
Raube machte, sondern daß er um der Gefahr und Freiheit willen jagte,
die die Jagd, wie sonst kaum etwas, mit sich bringt.

Es kam hinzu, daß Gerom den Wildbestand nicht unvernünftig gefährdete,
sondern sinnvoll und mit dem Anstand des gerechten Weidmanns vorging; so
viel ließ sich leicht feststellen. Und deshalb liebte der Förster, der
ein guter Jäger war, Gerom mit Bewunderung und Neid verbunden. Gerom war
ihm an Geduld überlegen und nicht weniger in seinen Kenntnissen der
Waldwelt, und da alle Gewerbe, deren ursprüngliche Ausübung sich mit den
Darbietungen der Natur verbindet, Edelmut und Großzügigkeit bewahren, so
duldete der Förster Geroms Treiben, beinahe ohne daß dieser Schritt
gegen sein Pflichtbewußtsein ihn im Gewissen bedrängte. Es kam jenes
Gefühl hinzu, das alle Herzen im Lande bewegte, soweit Gerom und sein
Schicksal bekannt waren, daß dem Manne vom Leben bitteres Unrecht
geschehen sei und daß er freiwillig eine Strafe, über die menschliche
Gerechtigkeit hinaus, zu verbüßen schien.




Siebentes Kapitel


Es war an einem Herbstmorgen, als der Pfarrer von Gorching ins Moorland
hinabschritt, um die Leute dort zu besuchen, die zu seiner Gemeinde
gehörten. »Meine drei Heiden«, sagte er. Er kannte Geroms Geschichte,
und ihm war viel Widerspruchsvolles über Anje zu Ohren gekommen. Es ging
ihm, wie es Leuten seiner Art und seines Berufs leicht zu ergehen
pflegt, er vermutete hinter unverständlichen Dingen das Wirken des
Bösen, und seine Meinung war, daß das Gute und das klar Verständliche
immer das gleiche sein müßten und Hand in Hand gingen. Er selber schien
einen Teil dieser einfachen Erkenntnis darzustellen, denn seinem
schlichten Sinn ordnete sich die Welt nur in solchen Begriffen, die er
mit seinen Handlungen in Einklang zu bringen vermochte. Dabei war er ein
Mann von Klugheit und Nachdenklichkeit und glücklich genug, für die
erste dieser Eigenschaften nicht zu viele Gedanken und für die zweite
nicht zuviel Verstand zu besitzen. Das mochte ein Grund dafür gewesen
sein, daß er sich geduldig in das vergessene Dorf Gorching senden ließ.
Man hatte ihn auf seinem städtischen Posten nicht brauchen können, weil
er nicht in der Lage gewesen war, den Menschen gegenüber jene Strenge
aufzubringen, die als heilsam gilt.

Auf seinem einsamen Weg in die Einöde gestand er sich ein, daß es eine
heimliche Scheu gewesen war, die ihn bisher davon abgehalten hatte,
Gerom zu besuchen, aber je länger er in Gorching weilte, um so mehr
empfand er, daß eine bedeutungsvolle Einwirkung aus dem Moorland her auf
den Gemütern lastete. Ihm war es oft erschienen, als erhöbe sich mit dem
Dunst der Abende aus dem Sumpf der Einöde auf grauen Schwingen das
Gespenst des Aberglaubens und schliche in die Hütten und Herzen seiner
Menschen. Je mehr man es ihm zu verbergen trachtete, um so mehr
beschäftigte es ihn. Was hatte mit dem Seufzer eines Verscheidenden, an
dessen Schmerzensbett er gesessen, das Anjekind zu tun? Und was hatte
Elsbetha bei der alten Onne zu schaffen, als ihr Mißgeschick widerfuhr
und sich in Gorching niemand ihrer annahm? Seinen Fragen wich man aus,
und seine Ermahnungen stießen auf einen Trotz, aus dessen Grund die
verschwiegene Überlegenheit der Verstocktheit sah.

Da es ein Freitag war, an dem er sich auf den Weg gemacht hatte, so kam
es, daß er nach einer guten Weile der alten Onne begegnete, die hinter
ihrem Wagen her nach Gorching humpelte. Er redete sie an, und ihm wurde
über ihrem Anblick heiter zumut, aber er verstand ihre kargen Antworten
kaum. Als er nach Gerom fragte, lachte sie ihn an, drückte sich noch
mehr zusammen, als die Jahre sie ohnehin eingepreßt hatten, und öffnete
ihren Mund, so daß ihr einer schöner Zahn, auf den sie sehr stolz war,
aus den dunklen Landschaften ihrer Kiefern funkelte. Er solle nicht
gehn, so viel ließ sich verstehn. Da der junge Pfarrer merkte, daß sie
wohl begriff, was er selbst sagte, begleitete er sie ein Stückchen Wegs
zurück, wobei er hilfsbereit ihren Wagen ergriff, um ihn zu schieben;
aber Onne brauchte den Wagen als Stütze, und er mußte ihn ihr
zurückgeben. Dabei dachte er, nicht eben gesicherter in seinen
Absichten: So kann es uns bei den Wohltaten ergehen, die wir zu erweisen
glauben.

Aber dann sprach er liebevoll und mit großem Ernst zu ihr; die heimliche
Beschämung, die er empfand, wenn er ihr eingeschrumpftes Gesicht sah,
das kaum noch einem Menschenantlitz glich, ließ sich durch den
beglückenden Eifer seiner Überzeugung verdrängen. Dann wieder mußte er
sich sagen: Ist sie dem Vater im Himmel nicht näher als du?

Nun blieb sie stehn und antwortete ihm etwas, der Pfarrer beugte sich zu
ihr nieder, denn es verlangte ihn sehr danach zu wissen, welchen
Widerhall seine wohlmeinenden Worte in ihr weckten. Es war ihr wichtig,
sich verständlich zu machen, so viel war sicher. Nach langer Mühe hatte
er sie verstanden. Ob er Pilze brauchen könnte ...

Die Birken warfen schon ihr empfindsames Laub ab, es sank durch den
Sonnenschein in die Gräben nieder, die sich nach dem letzten Regen zu
beiden Seiten der Straße gebildet hatten, spiegelte sich im Fallen und
ruhte im unbewegten Schwarz des Wassers vom Sommerwind aus. Das Moorland
wurde immer öder, als nun der Pfarrer weiterschritt, die Steppen hatten
sich gelbbraun gefärbt, von einem warmen Kupferton untermischt, gegen
den die weißen Birkenstämme schimmerten. Mit niedrigem Gebüsch, das im
Dunst lag, begann in der Ferne das verwilderte Waldland der Einöde. Die
Welt erschien unermeßlich groß und verlassen.

Es begegnete ihm niemand mehr. Ratlos stand er endlich vor der
Sumpfwildnis der Einöde, nirgends war ein Pfad zu sehen, das Buschwerk,
die Erlen und Birken standen im seichten Wasser, das Schilf sirrte leise
im Wind, und mit jedem Schritt wurde das Dickicht undurchdringlicher. Er
erblickte Schlingpflanzen, die er niemals gesehn hatte, und im
Moorwasser blühten immer noch kleine weiße Blumen mit zarten Stielen.
Umgesunkene Stämme vermoderten zu warmem Schutt, der glomm und duftete,
und nichts rührte sich als der Luftzug über dem Wasser. Wild und traurig
hauchte es ihm entgegen und wies ihn ab; er atmete auf, als er nach
einer Weile wieder auf dem gesicherten Boden der Landstraße in der Sonne
stand.

Um seiner Erleichterung willen befiel ihn ein Gefühl von Beschämung, er
begriff nicht, daß die Atemzüge der unberührten Natur ihm Entsetzen
einzuflößen vermochten. Als er wohl eine halbe Stunde lang am Moorrande
der Einöde dahingeschritten war, erspähte er eine Lichtung jenseits des
kleinen Bachs, der träge am Rand seiner Straße floß, und er sah in einem
Weidengebüsch drei behauene Fichtenbalken, die eine Brücke bildeten.
Jenseits lief eine schmale Wagenspur durch das Gras, und ein wenig
weiter war deutlich ein Waldpfad erkenntlich. Der Pfarrer erinnerte sich
Onnes Gefährts, diesen Weg mußte sie gekommen sein, und er beschloß ihm
nachzugehn.

Die Sonne, die nun verhangen war, hatte ihren Höhepunkt am Himmel
erreicht, so daß es gegen Mittag sein mochte. Geroms Ansiedlung lag eine
Stunde vom Weg entfernt, und der Pfarrer hoffte, sie in diesem Zeitraum
erreichen zu können. Der Waldpfad wand sich durch Dickicht und über
Sümpfe dahin, zuweilen hart am Rand eines Flusses durchs Schilf, dies
mußte der Gurdelbach sein. Onnes Behausung lag schon hinter ihm, sie war
ihm entgangen, wie den meisten, die das Moor betraten, ehe der Herbst es
gelichtet hatte.

Dem Schreitenden war zumut, als dränge er mehr und mehr in die Bereiche
einer ganz neuen Welt vor. So mag es von Ursprung her auf der Erde
gewesen sein, dachte er. Es bedrängte ihn eine Scheu, die ihm zuweilen
den freien Atem benahm, und er fürchtete sich vor dem Geräusch seiner
Schritte. Der Weg führte über eine morsche Holzbrücke, die ohne Geländer
und grob gefügt war, jenseits in einen Tannenwald. Im roten Dämmerlicht
zwischen den alten Stämmen, die sehr dicht standen, vernahm er auf dem
Nadelteppich den Klang seines Fußes nicht mehr. Es war totenstill umher,
auf dem Boden wuchs kein Hälmchen, alles schien in der Grabesruhe
erstorben zu sein, die herrschte. Hier und dort hatte ein scharlachrot
leuchtender Pilz sich aus dem Nadelteppich erhoben. Es kam ein
Birkenwald, dessen weißliches Moderlicht unwirklich glomm nach der
dunklen Versunkenheit der Tannennacht. Ihm kam dieser Schein wie jenes
tote Leuchten vor, das er aus seiner Knabenzeit kannte, wenn er, lange
im Sonnenschein liegend, die Augen geschlossen hatte und sie dann
öffnete. Der Boden war hügelig und voller Sumpflöcher, weiße Stämme, die
umgesunken waren, faulten im Grund, der fahle Silberhauch dieser
Waldferne betörte das Auge, er wirkte bald nah, bald unerreichbar fern.

Da lauschte er beklommen auf, die Einöde erklang. Er begriff nicht, was
ihm zu Ohren drang, und ein jähes Entsetzen ließ sein Blut stocken; er
griff an sein Herz, und ein Zittern kam ihn an. Es tönte melancholisch
und in wortlosen, beinahe tierhaften Klagelauten auf und schloß weich
und trauervoll in einem langgezogenen, unaussprechlich holden Versinken
der Klänge in Wind und Weite und Dämmergrün.

»Was ist das, was ich höre?« stammelte er und fühlte, daß seine Lippen
kalt und leblos wurden. Er verstand nicht, was ihn an diesen gesungenen
Tönen so mächtig ergriff, diese Klage kam fremdartig heran, menschlich
und doch wie aus Bereichen des Unbewußten, aus dunkler Ferne und doch
vertraut.

Da sah er am Ufer des Gurdelbachs ein Mädchen sitzen, sie war es, die
gesungen hatte, ein unscheinbares Geschöpf, beinahe noch ein Kind, mit
hellem Haar und in einem grauen Kittel. Als er auf sie zutrat, sah sie
ihn an, ohne mehr zu rühren als den Kopf, den sie ihm langsam zuwandte.

Anje Gerom konnte es nicht sein. Er stand noch im Bann des seltsamen
Singsangs, den er eben gehört hatte, und sein Blut gaukelte ihm törichte
Bilder vor. Anje Gerom ist ein großes Mädchen im weißen Gewand, mit
langem Blondhaar und einem feierlichen Schritt, dachte er. Sie ist
schlank und würdig, die Rehe flüchten nicht, wenn sie einherschreitet,
und ihre milden Augen streun Frieden aus, wie der Mai Blumen. Jedoch
dies dort ist eine kleine Wildkatze, sie schaut mich an, als dächte sie
an ihre Krallen, und sie ist häßlich, weiß Gott, recht häßlich ist sie.
Ihre tiefe Stimme klang ihm im Blut nach. Es ist das Kind eines
Torfstechers, dachte er unsicher, und plötzlich zog es ihm durch den
Sinn: die Sonne scheint, sei gepriesen, Vater im Himmel.

Er trat auf das Kind zu.

»Ich möchte das Haus Vinzenz Geroms finden, wer bist du, Kind? Sieh mich
an.«

Das Gesicht des Mädchens, das nun nah vor ihm am Hang kauerte, blieb
ruhig und unberührt. Was konnte dem Pfarrer daran gelegen sein, es zu
würdigen? Menschen, deren Einfluß wahrhaft bedeutungsvoll werden kann,
fallen uns für gewöhnlich nicht sonderlich auf, weil die Gebärde der
ruhenden Kraft in den meisten Fällen arglos ist.

»Ich möchte Geroms Haus finden,« begann er etwas unsicher von neuem,
»kannst du mich führen?«

Das Mädchen betrachtete ihn eine Weile stumm und sagte dann einfach:
»Ja.«

Er setzte sich ihr gegenüber, kaum daß er es gewollt hatte, nun war es
geschehn und mochte so bleiben. Das Wasser zog mit leisem Rauschen
dahin, es flimmerte durch das Schilf, das sich nicht bewegte, die Bäume
standen auf stillem Grund, ließen den Duft des Waldes aus und den
gedämpften Sonnenschein ein. Das Mädchen ließ sein Handeln zu und
betrachtete ihn ohne Neugierde, wie es ihm schien, und ohne Scheu; aber
alles umher, wie auch sie selbst, ließ ihn eigenartig allein. Er sah
sich um, als suchte er nach irgendeinem Beistand, endlich fragte er sie,
wer sie sei, und sie antwortete ihm:

»Ich bin Anje, Geroms Kind.«

Ihr gelbes Haar war heller als der feine Ton ihres Gesichts, es wirkte
fast grell und schien ein wenig rauh, obgleich es im Licht glänzte, man
hätte mit der Hand darüber hinfahren müssen, um es zu prüfen. Ihre
Stirn war niedrig und die Augen lagen etwas schräg, als hätten die
zarten Backenknochen, die deutlich sichtbar waren, sie in den äußeren
Winkeln um ein kleines emporgedrängt. Was machte ihr Gesicht so rührend
hilflos? Sicher nicht der breite Mund oder die kindliche Nase, die
beinahe etwas frech wirkte, nein, es waren die Linien ihrer Wangen und
das kleine Kinn.

Eigentlich ist sie häßlich, sagte sich der Pfarrer finster, aber man muß
trachten, ihr Liebes zu erweisen, sie wird dankbar dafür sein. Der
zierliche Körper ...

Er hielt in seiner Betrachtung jählings inne, verwirrte sich und
stammelte in großem Ungeschick, es wäre Zeit, es sei gut, gleich
aufzubrechen, denn der Weg wäre recht lang. Dabei verfiel er in einen
derben und väterlichen Ton, dessen er sich zugleich schämte.

Es blieb feierlich still im Wald, Anje hatte ihre Haltung geändert, er
sah ihre bloßen Füße im Moos. Er selbst war aufgestanden und hatte sich
an den Stamm einer Birke gelehnt. Mit gerunzelter Stirn, und scheinbar
ernst mit sich selbst beschäftigt, sah er forschend in die Waldferne,
aber seine große Hand verwirrte sich an seiner Halsbinde und an seiner
Stirn.

»So komm denn nun ...«, sagte er streng.

Ein kleiner Ast fiel aus dem Baum nieder, unter dem die beiden warteten,
er sank auf eine bemooste Stelle des Waldbodens, um dort für immer
liegenzubleiben, geduldig zog das Wasser seinen Weg und die Sonne sah es
an.

Es war dem jungen Pfarrer von nun an, als führte ein fremder Wille ihn
geheimnisvoll durch ein unbekanntes Reich. Er entsann sich später der
Ereignisse, die nun eintraten, wie man an die unbegreifliche Klarheit
eines Traumbilds zurückdenkt, und doch ist alles einfach und
verständlich gewesen; sein Gang durch die Schwüle des Walddickichts, der
Ruf der Sumpfvögel und Anjes weicher Tritt. Er hatte sich über ihren
Eifer gefreut und über die besonnene Sicherheit ihres Tuns. Sie ging
immer vor ihm her und sprach nicht, bald sah er ihre Gestalt in den
gelbgrünen Rutennetzen der Weidenbüsche, dann glitt sie zwischen dunklen
Stämmen dahin, unverständlich hell in der Schattendämmerung des großen
Walddoms, den Glanz des gedämpften Sonnenscheins in ihren Haaren. Aber
mehr und mehr war ihm, als gelte es, Unnennbares zu verstehen und dem
Herzen zuzuführen, ein quälendes Unbehagen in seiner Brust nahm
überhand, und ihm erschien es, als kämpfte sein Herz in ziellosem
Drängen vor unsichtbaren Hindernissen um verlorene Rechte.

»Führst du mich zu deinem Vater?«, fragte er einmal beinahe bescheiden,
sie gingen nun schon viel länger als eine Stunde. Sie sah sich um, blieb
stehn und ließ ihre Augen in seinen ruhn, ein lebendiges Rätsel tat sich
ihm stumm in unschuldigem Glanz auf.

»Nun?«, fragte er überfreundlich und griff fast täppisch zu, »wollen wir
Hand in Hand gehen?« Sie war ihm schon wieder um vieles voraus. »An
diesem schönen Tag ...«, fügte er noch hinzu, und fast wäre er über eine
der Baumwurzeln gestolpert, die wie Schlangenleiber aus dem weichen
Boden quollen und in die Farne krochen. Nein, dazu war sie schon viel zu
groß. Als er nach einer Weile auf besserem Boden ein wenig aufatmete,
ging er ernstlich mit sich zu Rate, auf welche Art für die Erziehung
dieses Mädchens etwas getan werden könnte.

Aber als im Sumpfgelände, nach einer langen, vielfach verschlungenen
Bahn, sein Fuß in den feuchten Boden einsank und er, mit beiden Armen
die Zweige der Lärchen und das Buschwerk zerteilend, mühsam durch das
schilfartige Gras dahintappte, war Anje plötzlich verschwunden. Er rief
laut ihren Namen, aber er erhielt keine Antwort und fand sich nicht mehr
zurecht.

Erst am Mittag des kommenden Tages gelang es ihm, sich mit großer Mühe
und zu Tode erschöpft nach Gorching zurückzufinden; die Nacht, die er in
Angst und Unfrieden allein in der Wildnis verbringen mußte, ließ einen
Schatten ihrer Finsternis in seinem Gemüt zurück. Erst viel später in
seinem Leben, als längst das Anjekind nicht mehr sang, lernte er ein
karges Lächeln bei der Erinnerung an diese Begegnung, aber dieses
Lächeln war von jener Wehmut, mit der die Natur die Menschen trösten
kann, deren Gemüt sie den Ausweg zu Klarheit und Vollendung
verschließt.




Achtes Kapitel


Eines Nachts erwachte Anje und sah im Mondlicht ihren Vater aus der
Haustüre treten und den Himmel mustern. Er trug eine Jagdbüchse in der
hängenden Hand und ein Gewand, das ihn verjüngte und zugleich
entstellte. Hirte versuchte sich anzuschließen, aber er wurde
gleichgültig zurückgewiesen. Gerom schritt durch die Tannenbestände, am
Holzschuppen vorüber, den Niederungen des Gurdelbachs zu. Nur Anje
kannte, außer ihm, diesen Pfad, der für andere unzugänglich war, denn er
führte durch Sümpfe am Ufer eines Altwassers hin, man mußte über
gesunkene Baumstämme klettern und genau wissen über welche, da manche
von ihnen nachgaben und sanken.

Anje kannte keine Furcht um ihren Vater, aber sie schaute nachdenklich
in das Mondlicht hinaus, das ruhig, wie Schnee, auf dem niedrigen
Teerdach des Holzschuppens lag. Im Wald schimmerte es zwischen den
hohen Stämmen und wandelte ihre Größe in machtvolle Bedeutung um. In
blaugrauen Kuppeln schimmerte die feuchte Ferne, und ein Geruch von Teer
und Fäulnis schaukelte bald wärmer, bald kühler durch die Monddämmerung
heran. Ab und zu fiel ein Tropfen in das welke Bodenlaub.

Anje dachte an die große Welt, die außerhalb ihrer Stille im Wald, in
den Fernen war. »Um das weiße Schloß flogen in der Abendsonne die
Schwalben, es lag auf ebenem Gefilde, frei im weiten Land ...« Ihre
Gedanken beschäftigten sich ohne Verlangen mit den Dingen, die es außer
ihrer Waldheimat geben mußte, sie fühlte sich glücklich in der
Gewißheit, daß der Wandel der Menschen auf Erden reich und mannigfach
war. Sie holte ihr Buch herbei und ließ den Mond in seine Seiten
scheinen, ihre Augen ruhten ernst auf den Zeilen, die die unbekannten
Güter bargen und bewahrten; geheimnisvoll schwieg das Buch, wie draußen
der Wald.

Am Tage war Fridlin bei ihrem Vater gewesen. Sie hatte in den
vergangenen Wochen den jungen Mann oft im Walde getroffen, aber niemals
mit ihm gesprochen, obgleich sie fühlte, daß er es wollte. Er störte
sie und raubte ihr ihre Ruhe, aber sie verriet ihn nicht an ihren Vater.
Nun war er gekommen. Anfänglich klang nur seine Stimme, aufgeregt und
abgerissen, als müßte er um jedes Wort kämpfen, dann sprach ihr Vater,
und Fridlin schwieg, eingeschüchtert durch die derbe, harte Antwort. Sie
sah ihn hinausstürmen durch den Wald und wußte, daß er nicht wieder zu
ihrem Vater kommen würde.

Am Abend sah ihr Vater sie an. Alle Freude umnachtete sich ihr in der
Traurigkeit, die ihr in einem raschen Blick begegnete. In diesem Blick,
den Gerom nicht hatte sehen lassen wollen, kam die erste Ahnung des
Abschieds zu ihr in einer Bedrängnis von unendlicher Hoffnungslosigkeit.
Ihr war zum erstenmal in ihrem Leben, als ob es Gewalten auf der Erde
gäbe, denen keine Menschenkraft gewachsen ist, und sie mußte an den Tod
denken. Und doch lag im Gesicht ihres Vaters der Schein einer heimlichen
Gewißheit. Er sprach nicht mit ihr, obgleich sie es erwartet hatte, aber
da ihr gleichgültig war, was Fridlin gewollt haben konnte, wenn er nur
ihrem Vater kein Leid zugetragen hatte, fragte sie nicht und gab sich
zufrieden. Sie empfand, daß jene Traurigkeit, die aus seinen Augen ihr
Herz überströmt hatte, nicht durch Geschehnisse über ihn gekommen war,
die Menschen ändern können, sondern daß sie ein Teil des Lebens war und
auch ihrer wartete. Dem Ereignis des Tages aber galt das heimliche
Lächeln.

Da hörte sie aus der Nachtferne vom Weidensumpf her einen Schuß fallen
und gleich darauf einen zweiten. Es wehte sacht unter den Sternen her,
als atmete der Wald im Schlaf, dann vernahm sie Tritte im Laub, die der
Schreitende zu dämpfen suchte. Anje maß gelassen die Entfernung und die
Richtung und trat langsam aus dem Mondlicht ins Zimmer zurück. Sie
kannte die Schritte und Bewegungen des Herannahenden nicht, der noch
verborgen war.

Nach einer Weile trat Fridlin aus dem Wald in den Mondschein hinaus.

»Anje,« rief er, »Anje Gerom, hör mich an!«

Hirte schlug an und arbeitete aufgeregt an der Tür. Mit einem trotzigen
Ruck griff Fridlin an den Hirschfänger.

»Anje,« rief er, »hör mich! Bist du im Haus, Anje?«

Er sprach mit heißer Stimme, die voller Verzweiflung erklang, es blieb
ganz ruhig umher und im Haus, bis sich draußen die rauhe Stimme wieder
erhob, bald verwundert, bald böse und wild. Es kam keine Antwort, denn
Anje war an die Tür hinuntergeschlichen, um Hirte zu beruhigen, sie saß
neben ihm im dunklen Haus auf der Schwelle zu Geroms Wohnraum und
streichelte den gelben Kopf des Hundes.

»Du mußt still sein, Hirte, der Mann vor dem Haus wird uns nichts Böses
zufügen, er geht bald wieder fort.«

Sie hielt ihre Hand in einen schmalen Streifen Mondlicht, der durch ein
kleines Fenster über der Tür in die Hausdiele sank. Hirte knurrte und
sah Anje nicht an, es war seine Meinung, daß sie von diesen Dingen nicht
soviel verstand wie er, und gegen Wachsamkeit sollte man besser nicht
einschreiten.

Da die Fenster ihres Schlafraums und auch ihre Tür offen standen, hörte
sie immer noch die Stimme vor dem Haus. Wenn es eine Weile still
geblieben war, so glaubte sie, der Fremde sei fort, aber immer begann
sein Rufen von neuem, langsam stieg in Anjes Herzen Angst um ihn empor,
denn ihr Vater konnte zurückkommen. Da entschloß sie sich endlich, es
ihm zu sagen, öffnete die Tür und zog sie vorsichtig hinter sich zu,
damit Hirte im Haus blieb.

Fridlin trat vor ihr zurück, wie vor einer Erscheinung, Schritt für
Schritt und mit entsetzten Augen. Es war, als ertrüge er nach so langem
Harren die Erfüllung seines Verlangens nicht mehr, er hielt seine Hand
ausgestreckt von sich ab und wankte.

»Geh fort, eh mein Vater zurückkommt«, sagte Anje.

Er war auf seine Knie niedergesunken in das Gras, im Schatten, und
bewegte sich, als ob er mit jemandem kämpfte, aber nun sprang er
plötzlich auf und stürmte auf Anje zu, wie ein Geblendeter gegen einen
Lichtschein.

»Bist du es -- oh, du bist es wirklich? Hörst du, daß du mit mir kommen
sollst!? Du hast mich mit dem Stein verwundet ...«

»Nein«, sagte Anje, »ich bleibe hier.«

»Ach mein Herz!« rief er. Seine Stimme überschlug sich, so wild
bedrängte sein Schmerz ihn, er schlug mit der Faust an seine Brust, daß
es dröhnte. Er war voll Ungeschick und konnte seine Sinne nicht
meistern, denn die Ruhlosigkeit der vergangenen Wochen hatte ihn
verwirrt und entkräftet. »Weißt du denn nicht,« keuchte er und
schüttelte seine Fäuste, »weißt du nicht, was hier brennt? Wie ich dich
gesucht habe! Wo ist dein Herz!? Ich rufe im Wald und das Echo klingt,
aber du ...«

Er vermochte nicht weiterzusprechen, eine große Mutlosigkeit dämpfte den
Zorn seiner Verzweiflung nieder, hilflos hob er den Blick und sah empor,
gegen ihren ruhigen Sinn fand er keine Waffen. Sie stand da in ihrem
grauen Kittel gegen die dunkle Wand der Nacht, und der Mond glänzte in
ihrem Haar. Ein kindliches Bedauern war der einzige Ausdruck, der
verriet, daß sie ihn hörte, aber er gab keine Gewißheit ihrer Teilnahme.
Ein Schwindel seiner Ohnmacht überwältigte Fridlin, und er schlug die
Hände vor sein Gesicht.

»So ist es Gerom, dein Vater ...«, schrie er plötzlich heiser und reckte
sich auf, mit schwerem Atem, aber Anje war fort, und das Haus lag ruhig
im Mondschein.

Sie saß wieder im Dunkeln der Hausdiele neben Hirte, lehnte sich gegen
ihre Gewohnheit an ihn, und hörte ihr Herz pochen. Eine feindliche
Unruhe peinigte ihr Gemüt, in ratlosem Unfrieden sah sie das Licht vom
Mond, und ihre Gedanken vermochten nicht mehr, als mit dem Klopfen
ihres Herzens immer den gleichen Weg der dumpfen Angst zu machen, den
das Herz eilte.

Fridlin hatte sich draußen abgekehrt, einen Augenblick starrte er
vorgebeugt in jene Richtung hinüber, in der die Schüsse gefallen waren,
er kämpfte mit sich um einen Entschluß, aber es schien ihm keine
Befreiung aus der Tat zu kommen, die er plante. Düster wandte er sich um
und schritt fort, durch die Hoffnungslosigkeit niedergebeugt, die die
Stürme des Verlangens so schnell in eine öde Ruhe verwandeln kann.

Er begriff nicht, daß sein Leben nun mit dem herannahenden Tag beginnen
sollte, wie es mit dieser Nacht geendet hatte. »Das Anjekind hat ihm
gesungen«, sagten sie. Er lächelte und schöpfte mit der Hand die Tropfen
von den Blättern, um seine Stirn zu kühlen, sein Büchsenlauf streifte
das Laub und verfing sich im Geäst. Der Mond verschleierte sich, und die
dunkle Waldstille füllte sich mit drohenden Gestalten.

In seiner Ratlosigkeit war Fridlin zum Pfarrer gegangen, dort hoffte er
sicher zu sein, daß das angstvolle und mitleidige Lächeln ihn nicht
peinigen würde, dem sein Gesicht begegnete, wo immer er sich zeigte,
aber er war ohne Trost fortgeeilt, und die Unsicherheit des Pfarrers
kränkte seinen Stolz. Er entsann sich kaum noch, was ihn dorthin
getrieben hatte, vielleicht nur sein Wunsch, einen Menschen zu finden,
der unbefangen mit ihm besprach, ob Gerom ihm sein Kind geben würde, und
wie man es anstellen sollte, sich beiden auf rechtliche Art zu nähern.
Aber der Pfarrer wich ihm aus, er lenkte das Gespräch ab, als
befürchtete er, daß es galt, ihn selbst zu erforschen, denn er gedachte
seines eigenen Mißgeschicks in der Einöde. Endlich riet er Fridlin, sich
Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, die nicht von Vernunft geleitet und
nicht redlich seien.

Der Morgen nahte über der Ebene. Fridlin hatte den Waldrand erreicht und
sah den Nebel gegen Osten in einem Lichtschein schwimmen, der nicht mehr
vom Mond kam. Dies war die dritte Nacht, die er nicht schlief; was
Wunder, daß der Förster ihn mißbilligend ansah und kein freundliches
Wort mehr fand. Zu Anfang hatte er ihn grob gewarnt: »Laß gehn, was
nicht dein ist. Glaub mir, Bursche, der Wald läßt sich das Herz nicht
verwunden, er gibt zögernd her, was sein ist, und niemand beraubt ihn
ungestraft. Unsereins muß wissen, was recht ist, sonst taugt er nicht
zum Weidwerk.« Das war noch wohlgemeint gewesen und hatte fast Trost
gespendet, man fühlte den Ernst hindurch, an dem man teilhaben sollte,
aber seit kurzem lächelte der Alte höhnisch unter seinem Bart, kaum
merklich, und wandte sich verächtlich ab, statt zu sprechen. Nur einmal
hatte er zur Abendstunde noch gleichmütig gemeint: »Fridlin, es gibt
Wälder mit mehr Sonne, als sie der Einödwald hat; tu dich um, euch
Jungen ist die Welt nach außen hin weit und nach innen eng. Geh, rat ich
dir.«

Fridlin hatte sich am Waldrand auf einen gesunkenen Föhrenstamm gesetzt.
»Das geht nicht mehr,« antwortete er laut der Stimme seiner Erinnerung,
»wohin ich mich schlage, Förster, ich muß durch die Einöde gehn, um Anje
zu Gesicht zu bekommen. Soll ich hier zugrunde gehn, so mag es geschehn,
draußen sterb' ich gewißlich dahin.« --

Er erschrak furchtbar, als sich neben ihm eine Gestalt erhob, sie stand
feierlich im Grund und reckte den Arm aus. Es war eine entlaubte Weide,
die in der Nebeldämmerung stand. Es erschien Fridlin, als käme das Licht
sprungweise und heimtückisch. Ihn fror, aber er verharrte in seiner
hockenden Stellung im Morgendunst und fühlte seine Augenlider naß und
kalt werden. Nach einer Weile ertrug er es nicht mehr, dem Walddunkel
seinen Rücken zuzukehren, es beschlich und belauerte ihn in der
Dämmerung.

»Ich werde krank«, sagte er, lächelte bescheiden und atmete tief auf.

Ein Wasserhuhn schnarrte bekümmert im Schilf, die Sonne hob sich langsam
und rot in den Schleiern der Nebel, und ringsumher begann ein eifriges
Tropfenticken. Da erhob sich Fridlin und sah sich um, er wußte nur
ungewiß, wo er sich befand, die ebene Landschaft hatte nur geringe
Merkmale, nach denen man sich richten konnte.

Nach einer Weile stieß er auf die alte Dachenauische Fahrstraße nach
Gorching und traf Onne unter den Tannen; sie musterte ihn aufmerksam,
gedankenlos blieb er neben ihr stehn.

Ja, es sei wahr, antwortete er auf ihre Frage, der Dienst ließe ihm
wenig Ruhe. Onne sagte:

»In den Dachenauer Wäldern gibt es genug zu beachten, was tust du nachts
in der Einöde? Drüben gibt es Nacht genug, verstehst du?«

Fridlin verstand. Er wurde zornig und sagte erbost:

»Gesindel gibt es überall.«

Onne nickte vor sich hin, als ob diese Tatsache ihr zu denken gäbe, dann
meinte sie freundlich:

»O der Grünschnabel, wie er das Herz versteckt, und es bricht ihm doch
so jammervoll aus den Augen. Du«, fuhr sie plötzlich in verändertem Tone
fort, »hör auf mich, und bleib mir in der Dachenau. Aus deinem Gesicht
spricht nichts Gutes mehr ...« Sie kam ihm ganz nah und sah ihm,
gebückt, unter seine Augen; aus ihrem roten Kopftuch schaute das winzige
braune Gesicht in tausend Fältchen hervor, und das Lebenslicht ihrer
Augen schien alt und still.

Fridlin war zu unglücklich, um zornig bleiben zu können. Erstaunt
blickte er auf die Alte nieder, die ihn einschüchterte, er hatte immer
nur gleichgültige Worte mit ihr gewechselt, was wußte sie denn, und was
wollte sie von ihm? Aber als der Ausdruck ihres Gesichts sich langsam in
ein Lächeln verkehrte, das nicht spöttisch oder boshaft war, packte es
ihn plötzlich angesichts dieser alten befreiten Frau, die den
Bedrängnissen des Lebens für immer enthoben war.

»Du solltest nicht schelten«, sagte er hilflos und lehnte sich an einen
Baumstamm. Seine Übermüdung und seine Verzweiflung überwältigten ihn,
und er fing an zu weinen, ohne daß sein Gesicht sich bewegte, seine
Hände hingen herab.

»Setz dich nieder ins Gras, Fridlin«, sagte Onne, als merkte sie nichts.
Wer keine Tränen weinen kann, der fühlt sie oft bei anderen kommen, ehe
sie das Auge benetzen. Sie sprach nicht über das, was Fridlin bewegte,
sondern hockte sich neben den jungen Menschen auf den Waldboden und
sprach von den Wäldern und von den Wanderburschen, die durchs Land
zogen.

Onne wußte längst, um was es sich handelte, aber sie wußte auch, daß man
seine Tränen zuweilen bei einem Menschen weinen muß, der sie nicht
sieht. Fridlin war ihr lieb. Zu Anfang hatte sie geglaubt, er spüre
Gerom nach, aber dann hatte sie bald herausgebracht, daß das Anjekind
schuld an diesem Unfrieden war. Da Anje nicht mit ihr über solche Dinge
sprach, mußte sie selbst sehn, was sich anspann und wie es auslief. Das
Mißgeschick des Pfarrers hatte sie erst in Gorching erfahren, in dem
Aberglauben, dem er hatte begegnen wollen, war seine Gemeinde durch sein
Erlebnis aufs neue bestärkt worden. Nun sagte sie unvermittelt zu
Fridlin:

»Schlag dir das Anjekind aus dem Sinn.«

Fridlin fuhr erschrocken auf, denn die Stimme knarrte fast böse, und ihm
war eben noch zu Sinn gewesen, als ob sie ihn tröstete. Sein Trotz
erstickte ihm, als er Onne ansah, er fragte sie nur schüchtern, ob Anje
mit ihr über ihn gesprochen hätte. Onnes welke Hand mit den dünnen
braunen Fingern wischte seine Worte aus der Morgenluft, sie blinzelte in
die rote Sonne hinein.

»Söhnchen,« sagte sie, »mein Söhnchen, heb dir dein Leben auf. Was soll
denn das Anjekind gesagt haben? Was uns keine Antwort gibt, wird darüber
nicht häßlich, sieh um dich, wer antwortet dir? Was ich sagen kann,
verstehst du nicht, was du verstehst, willst du nicht hören. Ihr
Menschen wandert auf Wegen, wohin die Stimme des Anjekinds nicht kommt.«

Aus ihrem zerfallenen Antlitz brach ein Glanz von Genügen, so daß es
war, als müsse die Natur umher erschüttert aufhorchen, um zu erforschen,
was diese Augen in ihr gesehn hatten. Fridlin starrte mit bitterem Mund
auf seine Hände.

Nach einer Weile musterte Onne, sich nähernd, sein mageres Gesicht, das
unter ermüdeten Zügen eine entschlossene Wildheit hatte. Sie kannte
diesen beinahe verschlafenen Zug um die Augen herum und das leicht
getrübte Blau der Augen selbst, deren Blicke solange anteillos
erscheinen konnten, bis jählings die aufflammende Leidenschaft sie
weckte. Onne wußte wohl, wie leer das Herz und wie taub das Blut hinter
den klaren wohlbestellten Augen sein kann, deren sauberen Blick die
meisten Menschen lieben.

»Alle geben denselben Ratschlag«, sagte Fridlin dumpf. »Meint ihr denn,
ich sei ohne Vernunft? Aber was hilft mir eure Einsicht.«

Onne blinzelte hinüber, es schien, als wünschte sich Fridlin nicht
einmal, daß man ihm Glauben schenken möchte, er sprach seine Worte
leblos in den ungewissen Wind. Da verstand sie, daß es zu spät für
Ratschläge war.

»Anjekind ...«, sagte sie, legte ihre welken Hände ineinander und sah in
die lautlose Natur, als habe sie sich an ihre Herrlichkeit gewandt.

Fridlin litt nach einer Weile unter Onnes Schweigen; als er forschend
auf sie hinblickte, von der Stille geängstigt, erschien sie ihm
greisenhafter als zuvor und abgekehrt von allem, was sie zusammengeführt
hatte.

»Wie meintest du deine Worte, Mütterchen?«, fragte er unruhig. »Hat es
mit Geroms Kind eine Bewandtnis, die unselig macht?«

Aber Onne antwortete ihm nicht mehr, ihr Gesicht war nicht zu
erforschen, erloschen neigte es sich zu Boden, und der Morgenwind und
das Licht, die ihr Spiel in den Büschen trieben, lockten sein Herz, um
es aufs neue seinem Ungemach zu überlassen.




Neuntes Kapitel


Am neuen Tag weckten die rötlichen Strahlen der Sonne Anje, sie schlug
ihre Augen auf, ohne sich zu regen, sie war in einem einzigen Augenblick
wach und sich ihres Daseins ohne Benommenheit bewußt, aber sie rührte
sich nicht, sondern blieb still so liegen, wie sie erwacht war, die eine
Hand auf ihrem Herzen und die andere unter dem Kopf. Der Morgen zog in
ihre Augen ein, mit dem kühlen Wind von den beschienenen Waldwipfeln und
der Frische der Wiesen. Das rote Licht an der Wand rührte sich still,
wie es draußen die Zweige der Bäume vor ihrem geöffneten Fenster taten,
und Hirte schlief an der Türschwelle.

Anje dachte an das traurige Gesicht Fridlins. Nicht an ihn selbst, und
kaum an das, was ihn um ihretwillen bewegen mochte, noch was seine
Ansprüche vor ihr sein könnten, sondern sie sah nur das bleiche,
abgemagerte Angesicht eines Menschen vor sich und dachte tief betroffen
und bekümmert darüber nach, daß in der Welt Kräfte herrschen müßten, die
solche Entstellung in die Züge der Menschen bringen konnten.

Es drängte sie, bald hinauszukommen in ihr vertrautes Land, fast empfand
sie eine Befürchtung, dort möchte sich mancherlei verändert haben. Hirte
erwachte durch ihre rasche Bewegung, erhob sich vorsichtig und reckte
sich, wobei er Anje ansah.

»Hirte, bleib hier«, sagte sie und schritt eilig die Treppe nieder.
Unten stand die Stubentür weit geöffnet, und die Sonne schien ins Haus.
Gerom war fort, er mußte nur ganz kurze Zeit geschlafen haben, denn er
kam von seinen nächtlichen Streifzügen für gewöhnlich erst in der
Morgendämmerung heim. Er hatte Anje Milch neben das große Brot auf den
Küchentisch gestellt und einige rotwangige Sommeräpfel, die noch naß vom
Tau waren. Anje trank nur die Milch, ihre Augen trennten sich nicht vom
Sonnenglanz, die Äpfel nahm sie nicht, aber sie legte sie beiseite,
damit ihr Vater nicht glauben möchte, sie habe seine Gabe verschmäht,
wenn er am Mittag vor ihr zurückkehrte.

Die Frische des Sommermorgens legte sich kühl auf Anjes Augen und Hände,
sie belebte das Blut, das vom gesunden Schlaf noch müde war und vertrieb
die bösen Gedanken. Im Gebüsch sang mit feiner Stimme eine Meise ihr
helles Lied, Anje blieb stehn, sah empor zu dem kleinen Tier und atmete
mit ihm die herrliche Luft und die unendliche Fülle des Lichts ein.

Als sie wieder dahinschritt, legten die Tropfen von den Gräsern sich auf
ihre nackten Füße und der Tau der Sträucher badete ihre Stirn, die
Pflanzen gaben ihr von der Überfülle ihrer Frische, stumm und freigebig,
aus ihrem lebendigen Glück. Als das Buschwerk sich lichtete und die
großen Stämme sich vom stillen Grund erhoben, breitete Anje ihre Arme
aus und rief die Bäume. Es kam sie im Dahinschreiten ein Taumeln an,
ihre junge Kraft wiegte und trug sie, so daß sie dahinzog wie die Vögel
durch die Luft oder wie die Fische durch ihr klares Wasser. Sie preßte
ihre Hände auf die Stelle ihrer Brust, unter der ihr Herz schlug, und
neigte sich, wie durch die Fülle des Lichts trunken gemacht, gegen die
strahlende Morgensonne, wie sie es von den Zweigen und Blumen im ersten
Wind gesehen hatte, der sich erhob, wenn die Sonne aufging. Das Lächeln,
das ihr kindliches Angesicht verklärte, war von unaussprechlicher
Traurigkeit, wie das Übermaß der Freude sie der Seele gibt.

Hier wuchs im Walde dichtes Moos, auf dessen dunkelgrünem Teppich die
Füße lautlos schritten und sanft gebettet wurden, und über ihr regten
sich die Wipfel unvernehmbar, die Blätter berührten einander oben in
ihrer freien Höhe, von der sie das Land überschauten.

Als Anje an die Moortümpel der Altwasser kam, sah sie im Sumpf eine
Giftschlange, die sich behaglich aus ihrem feuchten Versteck zu einem
beschienenen Erdflecken wand, der schon von der Sonne erwärmt worden
war. Das Mädchen verharrte lautlos auf ihrem Stand, in ihre hellen Augen
kam ein kaltes Licht, und ihr Gesicht zeichnete sich nun durch
entschlossene Härte aus. Dabei beobachtete sie die gelassenen Windungen
des gefährlichen Tiers mit gespannter Aufmerksamkeit. Es war seltsam
ergreifend zu betrachten, wie der nachgeschobene Teil des biegsamen
Körpers genau den Weg des vorangeglittenen Teils einhielt, so daß er wie
auf seiner eigenen Spur verschwand und so, daß seine Bewegungen in der
reglosen Umgebung kaum auffielen. Als das schön gezeichnete Tier den Ort
gewählt hatte, der ihm willkommen war, rollte es sich gemächlich langsam
zusammen. Der böse Kopf mit der spielenden Zunge hob sich blinzelnd
gegen das warme Licht, als prüfe es seine goldene Wohltat in feinem
Genuß, und dann ruhte ein rundes, zackig geschmücktes Ornament am Boden,
kaum von der Erdfarbe unterschieden und im Spiel des Sonnenlichts
geschützt.

Mit dem Ausdruck einer koboldhaften Bosheit im Gesicht zog Anje sich
langsam in den Schatten zurück, umschlich einen Schlehnbusch, um zur
Böschung des Wassers zu gelangen, und löste vorsichtig zwei Steine aus
dem Ufergrund. Dann warf sie ihren Kittel ab und wickelte ihn plump und
fest um ihre linke Hand, preßte damit den einen Stein an ihre Brust und
hob den anderen mit der rechten. So schlich sie langsam wieder hinzu und
faßte ihre Gegnerin fest ins Auge, es funkelte böse aus den grauen
Lichtgründen unter den feinen Brauen. Als sie so dicht herangelangt war,
daß nur noch drei Schritte sie von der Schlange trennten, wandte das
Tier mit einer kaum merkbaren Bewegung das platte Köpfchen und sah Anje
an. Die winzigen Äuglein waren von überraschender Wachheit, aufmerksam
und wild, wie auch die Augen ihrer Gegnerin. Es war ein Augenblick voll
mächtiger Anspannung und Anje wußte, daß sie nun keine Bewegung mehr
machen durfte. Aber sie fürchtete sich nicht, sondern ihre Sorge war
nur, die Feindin möchte ihr entgehen, so empfand sie auch ihren
ungeschützten Körper nur als von jeder Hemmung befreit und glühte vor
Gier, den tödlichen Wurf zu tun. Leise wog sie den Stein, aber ohne zu
zielen, denn sie wußte gut, daß die Augen ihrem Arm nur Dienste
leisteten und daß die geschwungene Hand ihr eigenes Geschick hatte.

Ihr Stein traf das gedämpfte, zackige Bunt in der Mitte, und nach dem
dumpfen Aufschlag begann ein lautloses Wälzen in einem rasch und
schmerzhaft gewundenen Knäuel. Das tödlich verwundete Tier bewegte sich
nicht mehr vom Fleck, es erschien, als suchte es in Todeswindungen einen
Weg zu sich selbst, als trachtete es sterbensgierig danach sich in den
Abgrund seiner eigenen Schmerzen zu wühlen.

Anje war einen Schritt näher getreten, hatte ihren Kittel fortgeworfen
und sich auf die Zehen erhoben. Unter den gewölbten Brauen senkten sich
ihre hellen Augenlider und ließen den Blick durch einen winzigen Spalt
zu der sterbenden Gegnerin nieder. Dabei hielt sie die Arme starr an den
Körper gepreßt, nur die bewegten Finger schienen, weit abgespreizt,
entfliehen zu wollen, und verrieten ihre innere Erregtheit. Sie drückte
ihre Knie dabei fest aneinander und ihre Lippen spielten im grausigen
und süßen Takt einer Sinnenfreude, die an der Grenze der Bewußtlosigkeit
flackerte.

Der Morgensonnenschein, bewegt durch die Blätter der Zweige, in denen er
einen Teil seines goldenen Glanzes hängen ließ, spielte in fühllosem
Frohsinn auf Anjes schimmernden Schultern und über den letzten Regungen
der sterbenden Schlange. Da rief ein Häher im nahen Busch und schoß mit
wenig Flügelschlägen über das Wasser des Gurdelbachs in die Birken. Anje
fuhr empor, wie aus dem Bann eines heißen Traums erwacht und ihre
erschrockenen Augen folgten dem Vogel. Sie atmete tief auf und lächelte
hilflos.

Da sah sie drüben am Ufer, dicht vor einer Krümmung des Bachs, Onne
unter den Bäumen, ihr rotes Kopftuch bewegte sich nahe über dem Boden
langsam voran. Anjes Angesicht hellte sich auf, sie schlüpfte rasch in
ihren Kittel, hob die Hände an den Mund und mit ihrer seltsam tiefen
Kinderstimme begann sie ihr Lied an den Morgenwind:

  Du kommst über die Wiesen
  zu mir in mein Haar,
  Der Tau fällt nieder;
  nun kommt die Sonne!

Drüben richtete Onne sich mühsam auf, sie suchte mit einer Hand Halt an
einem Baum und schützte mit der anderen ihre alten Augen. Ihr welkes
Gesicht erstrahlte, aber ehe sie noch eine Antwort geben konnte,
rauschte das Bachwasser sprühend auf, so daß der Sonnenschein über der
Flut, wie in hellem Schrecken, glitzernd emporsprang, und Anje stand vor
ihr und lachte glücklich.




Zehntes Kapitel


Der Herbst kam langsam über die Landschaften der Einöde wie ein
schwermütiger Entschluß Gottes, aber es gab noch sommerlich durchwärmte
Tage von großer Klarheit und in den Gründen des Einödmoors zögerte der
Sommer mit seinem Abschied.

Die alte Onne saß eines Tages in der Morgensonne am Ufer des Gurdelbachs
gegen einen Birkenstamm gestützt im Todesschatten ihrer versunkenen
Zeit, den Bedrängnissen des irdischen Lebens entrückt. Sie lächelte vor
sich hin und die unbekümmerte Natur nahm die neue Ruhe geduldig an.
Onnes Gesicht war nun ganz zusammengesunken, es sah über dem an die
Brust gezogenen Arm den Erdboden an, dem es glich, und die andere
herabhängende Hand berührte das Waldlaub. An diesem Platz am Bach, nahe
der Landstraße, hatte ihr Leben sich beschlossen, das vor langer Zeit
in anderen Gegenden begonnen hatte, und das sie unter Menschenangst und
-hoffnung in die Verlassenheit der Alternden geleitet hatte, bis in den
Frieden des Alters. Wie ein Wunder leuchtete über der verbrauchten Hülle
ihres Geistes ein zufriedenes Lächeln, als sei ihr mit ihrer Trennung
vom irdischen Gut die Erfüllung einer großen Pflicht gelungen.

Anje schlief an diesem Morgen noch in Onnes Hütte im Laub am Herd, und
Hirte ging durch die Büsche vor dem Haus und betrachtete die Beeren der
Ebereschen, die wie ein roter Schatten rings um die Stämme herum auf dem
Boden lagen. Hirte war sichtlich gealtert, sein Gang hatte bisweilen
etwas Schleppendes, und er schlief in den Morgenstunden nicht mehr
recht, wie es alten Leuten oft geht, die des Morgens immer zuerst auf
den Plätzen umhergehen oder vor den Häusern in der Frühsonne sitzen.

Der Blätterfall beschäftigte ihn, die welken Sommergäste kamen
unauffällig von ihren hohen Sitzen herab, schaukelten rötlich oder gelb
durch die stille Luft, aber am Boden ließen sich keine Bewegungen mehr
feststellen, so aufmerksam man ihren letzten Weg auch bis zu Ende
verfolgte. Hirte konnte sich nicht mehr entschließen, sie auf ihrem Weg
zu fangen, wie er es in seiner Jugend getan hatte, er sah ihnen zu und
dachte darüber nach, daß es in jedem Jahr das gleiche Schauspiel gab. Er
sah in den Wald hinein, soweit er es noch konnte, aber im Nebel ließ
sich wenig erkennen, man mußte abwarten, bis das Licht an Kraft
zugenommen hatte.

Er wußte, daß Onne am Abend nicht nach Hause gekommen war, aber irgend
etwas beunruhigte ihn mehr und mehr; hätte Anje nicht so fest
geschlafen, würde er seinem Gelüste nachgekommen sein, seiner seltsamen
Traurigkeit in leisem Heulen Ausdruck zu geben.

Er ging an die Tür der Hütte und sah vorsichtig von der Schwelle aus
hinein. Etwas Sonnenrot drang in den Raum und legte sich feierlich auf
die verräucherten Gesimse, so daß die beiden Kupferkessel ein stilles
Glühn begannen. Anje schlief immer noch. Ihr Haar lag hell im braunen
Laub und die eine Hand ruhte auf ihrem Herzen, die andere lag unter
ihrer heißen Wange, und das Gesicht sah ernst und beschäftigt aus. Hirte
begriff, wie wichtig der Schlaf war, hielt den Kopf schräg und dachte an
Anje. Schließlich war sie alles, was er hatte. Andere Hunde lebten in
Dörfern, begleiteten Reiter oder bewachten Fuhrwerke, zwischen den
Rädern oder vom Bock aus. Nicht daß Hirte den Wunsch nach Anschluß an
seinesgleichen gehabt hätte, aber man sah doch allerlei und verglich die
Pflichten. Je länger er Anje betrachtete, um so freundlicher erschien
ihm sein Geschick, das Überfluß an Glücksgütern hatte, und er wedelte in
Gedanken und ging wieder hinaus, es mußte abgewartet werden, ob Anje
bald erwachte.

Draußen befiel ihn wieder diese seltsame Beunruhigung, es drängte ihn in
den Wald, er wußte nicht wohin. Er ließ den Morgenwind um seine schwarze
Nase streifen und atmete die Luft stoßweise ein. Ohne es recht zu
wollen, brach er in langgezogenes Heulen aus, in dem er seine eigene
Stimme kaum wiedererkannte. Als er sich umwandte, stand Anje in der Tür,
in der Morgensonne, rieb sich die Augen und griff dann mit beiden Händen
in ihr Haar, ihr Körper atmete Kraft und Frische aus, und ihre grauen
Augen leuchteten wie aus eigenen Lichtgründen.

Sie schritt rasch zum Brunnen und der Klang des hölzernen
Pumpenschwengels vermischte sich mit dem Sprudeln des fallenden Wassers.
Hirte war es gewohnt, daß er nicht beachtet wurde, und schaute andächtig
zu, wie Anje sich wusch, aber die heimliche Besorgnis quälte ihn und er
ging mit sich zu Rate, ob er nicht Anje aufmerksam machen müsse, daß ein
Geheimnis den Wald erfüllte.

Da Anje gewohnt war, beim Erwachen Onne nicht mehr vorzufinden, bemerkte
sie erst am Herd, daß die Alte die Nacht nicht in der Hütte zugebracht
hatte, sie sah nachdenklich hinaus und dann haftete ihr Blick am Boden.
Die Nächte waren kühl und lang. Besorgt betrachtete sie den Hund und
entsann sich seiner Stimme, die sie geweckt hatte. Sie legte ihr blondes
Haar rasch zusammen, teilte ihr Brot mit Hirte, und gleich darauf gingen
beide miteinander durch das nasse Gras, bis die Waldschatten sie
aufnahmen. Das leere Haus blieb still zurück, und die Morgenluft drang
durch die offene Tür in den Raum, in dem das vergessene Feuer langsam
erlosch. --

Als Anje die alte Onne in ihrer eingesunkenen Lage am Bach fand, wagte
sie nicht, sich ihr zu nähern, ihr war, als ob ein kühler Windzug ihre
Stirn streifte, und aus dieser Ruhe sah es sie wie mit dunklen Augen an.
Sie umschlang einen Baumstamm mit dem Arm und beugte sich in einem
Zustand von unbeschreiblicher Angst vor. Sie wollte rufen, aber ihre
Stimme war lautlos geworden. Hirte stand zitternd neben ihr und sog die
Luft mit kläglichem Winseln ein. Aber ihre Liebe trieb sie hinzu, sie
schlich bebend heran, langsam und Schritt für Schritt; ihre Bedrängnis
war so groß, daß es ihr erschien, als klänge die Luft in einem
schmerzenden Sausen. Endlich war sie ganz nah bei der Ruhenden angelangt
und legte atemlos die Spitzen ihrer Finger auf Onnes Hand. Die welken
Finger im Laub rückten ein wenig beiseit und waren so kalt wie das
Tauwasser der Pflanzen, die geöffneten Augen hatten kein Licht mehr.

Da löste sich Anjes Stimme zu einem Klagegeschrei, das den ganzen Wald
erfüllte. Hirte sprang auf und verkroch sich winselnd im Gebüsch. Anje
wurde von einem Entsetzen gerüttelt, das nicht seinesgleichen unter den
Gefühlen der Menschen hat, sie entäußerte sich ihres ganzen Selbst in
dieser Klage, die kaum etwas Menschliches hatte und die Hilflosigkeit
der Verdammten zum Himmel emportrug. Die leere Finsternis des Todes
überströmte und begrub ihre Sinne und das Bewußtsein jener furchtbaren
Menschenohnmacht, die die Glaubenden befällt, wenn Gottes Angesicht sich
abwendet, und die nur starke Naturen in ihrer höllischen Bedrohung
kennen.

Endlich richtete sie sich wie aus einer Betäubung auf, und der ganze
Wald war tot. Ein furchtbares Schweigen umfing sie, und ihr war, als
hätten alle Lebendigen des Waldes ihre Sinne verloren, die den ihren
geglichen hatten. Mit herabhängenden Armen stand Anje verlassen da und
weinte laut. Sie sah durch den Flor ihrer Tränen auf Onne herab, und die
entwürdigende Qual einer tiefen Schuld zerriß ihr Gemüt immer aufs neue.

So fand ihr Vater sie endlich, eingeschlafen, den Kopf in den Schoß der
toten Onne gebettet und den Arm um ihren Hals geschlungen, er hob sie
wortlos auf und trug sie heim, als gäbe es keine andere Heilung.

                   *       *       *       *       *

Nun war es nacht, als Anje auf ihrem Bett erwachte, und der Mond schien
ins Zimmer, sie erhob sich und ging durch das stille Haus. Ihr Vater
war fort, in seiner Stube lag auf dem Bett Onne aufgebahrt und hielt in
den zusammengelegten Händen kleine Blumen, die emporstanden, als ob sie
eingepflanzt seien. Die Fenster waren weit geöffnet und draußen zog die
Nacht vorüber.

Anje setzte sich auf einen Stuhl neben das Totenbett. Der Mond schien
auf Onnes geschlossene Lider, die sehr tief in das Gesicht eingesunken
waren. Jetzt war es wieder Nacht, und nachts gab es für Anje keine
fremden Menschen. Sie ahnte, wie die Erde sich unaufhörlich bewegte,
entgegen dem Stern Merkur, den Onne ihr gezeigt hatte, und dachte:

Du, andere, ich, mit euch allen mache ich die herrliche Reise, Tag und
Nacht, Nacht und Tag.




Elftes Kapitel


Am Tage darauf ging Gerom morgens nach Gorching. Dieser schwere Weg, den
er seit vielen Jahren nicht mehr gemacht hatte, war seine letzte
Darbietung an Onne, er machte ihn ihr zulieb, und deshalb brachte er es
über sich. Aber je weiter er in der leblosen Morgensonne dahinschritt,
die rötlich und ohne Glanz im Himmelsdunst hing, um so mehr erkannte er,
daß Onne ihr letzter Weg leichter gewesen sein mochte, als ihm der seine
war.

Das kahle Land beängstigte sein Gemüt, es gab ihn preis, er vermißte das
Dach der Bäume über seinem Haupt, das er eine vergessene Zahl von Jahren
als Schutz über sich gewußt hatte, und die Windstimmen der Büsche und
Pflanzen. Mit derben Schritten ging er, wie zu einem Angriff gerüstet,
dahin, den Ansiedlungen der Menschen entgegen. Seine Lippen verzog ein
höhnisches Lächeln, und sein versunkener Blick war scheu und zornig. Er
schritt immer hart an den Straßenbirken dahin und berührte die eine oder
andere mit seiner Hand, als ob er sie befragte. Einmal fand er Onnes
Wagenspuren im feuchten Erdreich am Grabenhang und lächelte spärlich. Es
begegnete ihm niemand, bis er vor seinem Hof anlangte. Für einen
Augenblick erschien ihm sein Leben, von jenem Tag an, an welchem er
Angelika vor seinem Hause angetroffen hatte, bis zu dieser Stunde, wie
ein eilender Traum, so flüchtig dahingegangen, daß nur weniges sich dem
Gedächtnis eingeprägt hatte, aber alsdann begannen die Dinge, die er
erblickte, zu ihm zu reden.

Die graue Mauer war hier und da ausgebessert worden, und es war eine
Scheune hinzugekommen, auch sie war weiß getüncht, wie die übrigen
Wirtschaftsgebäude, und mit Stroh gedeckt. Das Wohnhaus erschien ihm
kleiner, als er es in der Erinnerung bewahrt hatte, die Akazien der
Einfahrt, die Treppe und die bewachsene Hauswand nötigten ihm ein
fragendes Lächeln ab, sie erschienen ihm sinnlos geziert, aufgeputzt für
vergängliche Menschlein. Nur die schwarzen Tannen aus dem Garten, die
gealterten Wahrzeichen der Ansiedlung, sahen ihn ehrfurchtgebietend an,
und in der Spitze der Pappel bewegten sich die Blätter, in ihnen erhob
sich der Morgenwind vor Tagesgraun.

Gerom sah das Fenster an, aus dem sich einst Angelika gebeugt hatte, um
ihn zu begrüßen, wenn er von den Feldern heimkehrte. Auf dem Gesimse
standen Blumentöpfe mit leuchtenden Blüten, und die Vorhänge hinter
ihnen zeigten einen knappen, lächerlichen Schwung. Ein junger Bauer in
wohlbestelltem Gewand trat nach einer Weile aus einem der
Wirtschaftsgebäude, er pfiff und sah zum Dach hinauf. Als er den
merkwürdig gekleideten Fremden am Tor der Einfahrt erblickte, musterte
er ihn erstaunt und schien zu schwanken, ob er ihn nach seinem Begehr
fragen sollte, aber er schritt weiter, deutlich erfreut über die
Beachtung, die seine Habe bei anderen fand. Als er um die Hausecke
verschwunden war, ließ ein Schwarm weißer Tauben sich auf dem Rasenrund
der Einfahrt nieder.

Im Weiterschreiten wurde Gerom weicher ums Herz, denn es gesellte sich
seinen Empfindungen die Erhobenheit hinzu, die Menschen bewegt, die
sich auf der Reise befinden. Angelika begleitete ihn. Ich wünsche, daß
Gott dich möchte in Frieden halten nach der Unruhe deines Lebens, dachte
er. Die weiten Felder wechselten, zumeist waren sie schon gemäht, nur
die Wiesen erschienen noch lebensvoll in ihrem satten Grün. Es begann
sich mehr und mehr zu trüben, bis ein milder Regen niederging. Das
Erdland, das den letzten Sommer, seine Erinnerungen und seine Toten
trug, rauschte geheimnisvoll unter den Berührungen der Wolken. Gerom
betrachtete den genäßten Staub der Straße, und der Gedanke überwältigte
ihn, daß Angelikas Füße diesen Weg einst betreten hatten. Einmal war sie
ihn gegangen, um in sein Leben zu finden, ein anderes Mal, um großen
Schmerz hineinzutragen.

Als Gerom die breite gepflasterte Straße mitten durch Gorching ging, zur
Rechten und Linken die Häuser und vor sich den spitzen Turm der Kirche,
wußte er unter den Menschen plötzlich wieder, daß er ein Mörder war. Er
schritt düster dahin bis zum Pfarrhof und begrüßte niemanden, seine
Fäuste zitterten unter seinem Zorn und er machte ungelenke Schritte,
aber da erschien ihm, wie vor seinen Augen, der Frühlingswald am
Gurdelbach, und die Weiden blühten. Mitten darin stand sein Kind und bog
die Zweige zur Seite, um in sein Gesicht sehn zu können. Er fühlte ihr
Lächeln wie wärmendes Licht nahen, und ein inniger Glaube verwandelte
sein Herz bis zur Glückseligkeit, er erhob sein Haupt und seine Augen
befreiten Sinns, und aller Groll wich von ihm.

                   *       *       *       *       *

Onne wurde nun in die Erde des Gorchinger Friedhofs gebettet. Ein Kreuz
auf ihrem Grabhügel, dessen Balken in der Mitte durch ein hölzernes
Kreisrund verbunden waren, trug nach Geroms Willen die Worte eines
Liedes, das er aus seiner Jugend in der Erinnerung hatte:

  Von dem Baum, der sich entlaubt,
  tropft ein Blatt auch auf dein Haupt.
  Laß die Hand und halte still,
  laß es liegen, wie es will.

Gerom und sein Kind waren nicht zur Bestattung nach Gorching gekommen.
Das Wunderspiel von Furcht und Hoffnung verwob die Ausgeschiedenen aufs
neue in seine Dämmerwelt. Es erschien den meisten der Anwesenden, als
könnte diese Bestattung nicht verlaufen wie jede andere; mit der alten
Frau wurde ihnen viel mehr zu Grabe getragen als die irdischen Überreste
einer Verschiedenen, diese späte Tat des Todes verwirrte ihre Gemüter,
als sei ein Teil des Waldes dahingesunken, oder eine Kluft in ihre
Weltbetrachtung gerissen worden. Als nach einer Weile Fridlin erschien
und in den Gruppen umhersuchte, als handelte es sich nicht um ein
feierliches Begebnis, sondern um ein ratloses Verhandeln über ein
verlorenes Gut, war der Rest der unsicheren Andacht zerstört.

Das ausgezehrte Gesicht Fridlins war von Schmerzen entstellt, er warf
sich endlich nieder und rief Onne am offenen Grab mit verwirrten Worten
an.

»Wie hast du es gemeint,« rief er unter Schluchzen, »was hast du im Wald
von Anje gehört?«

Er sprach noch mancherlei Dinge, die trotz ihrer Unverständlichkeit
einschüchternd wirkten, weil man sie mit seinem Leidenseindruck in
Zusammenhang brachte, und weil sie durch seine Verzweiflung einen
schaurigen Sinn bekamen, den keine Klarheit ihnen hätte verleihen
können. Niemand begriff, daß der junge Mann sich in Hoffnungslosigkeit
und Herzensangst in ihre Mitte gedrängt hatte, weil er unbewußt Hilfe
von den Menschen erhoffte. Vielleicht mochte hierin der Grund zu finden
sein, daß er sich plötzlich in maßlosem Zorn gegen die Nächststehenden
wandte und in Schmähungen ausbrach. Als man ihn ergriff und fortführte,
wurde er still und ließ mit sich geschehn, was man wollte. --

Als Gerom am Abend zur Ruhe gehn wollte, trat Anje vor ihn hin und
fragte ihn schüchtern:

»Gehst du heute nacht in den Wald?«

Gerom sah erstaunt auf und bejahte ihre Frage zögernd.

»Warum willst du es wissen?« antwortete er ihr.

Anje strich sich ihr Haar gelassen über die Schulter, vom Herd her fiel
ein milder Feuerschein über ihre Gestalt, ihr ruhiges Gesicht glühte im
dämmrigen Rot. Geroms Stirn verfinsterte sich, er stand schwer und alt
im Schatten an der Tür, und sein grauer, verwilderter Bart bedeckte
seine Brust bis zur Hälfte. Er forschte in diesen Zügen, deren reines
Licht von so großer Unschuld erstrahlte, daß ihn eine glückhafte
Schwäche befiel, die das Herz eigensinnig zu unerreichbaren Gütern
überredete. Er fühlte sich schuldig, weil er ihr kein Trostwort gesagt
hatte wegen Onnes Tod, aber er brachte dererlei nicht über sich; war es
nicht Tröstung genug, daß sie beide den gleichen Schmerz ertragen
mußten? Aber vielleicht verlangte es sie nach einem Beweis seiner
Teilnahme.

Deshalb sagte er nun:

»Onne ist gestorben ...«, er stockte und fuhr fort: »so sollte es
geschehn.«

Anje sah auf.

»Fürchte dich im Wald,« sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehn, »ich
habe Angst, weil niemand gegen den Tod einen Schutz hat.«

Überrascht tat Gerom einen Schritt auf sie zu, dann besann er sich und
sagte ruhig:

»Anje, der Tod ist eine Pflicht des Menschen, wer ihn fürchtet, versteht
das Leben nicht.«

»In das Leben kommt die Angst«, sagte Anje und legte die Hände unter
ihrem Gesicht zusammen, wobei sie die Arme an die Brust drückte, und mit
zitternder Stimme fügte sie in ihrer kindlichen Weisheit hinzu: »Du
bist der Vater, was soll ich ohne dich tun? Ich kann auch die Pflicht
ohne dich nicht tun.«

Gerom wandte sich ab und stieß mit dem Fuß an die Holzscheite am Herd,
um sie zusammenzuschichten. Es verlangte ihn inbrünstig danach, Anje
einen Beweis seiner Liebe zu geben, aber schon sein Wunsch beschämte
ihn. Am späten Abend, als die Nacht herabsank, dachte er an ihre Worte
und den einfachen Sinn. Es kam ihm darüber zum Bewußtsein, daß Anje auf
diese Art noch niemals zu ihm gesprochen hatte, und darüber erkannte er,
wie reich Onne gewesen war. Wie oft mochte ihr sein Kind vieles
dargebracht haben, was das Herz bewegte. Nun kam Anje zu ihm, weil die
alte Frau gestorben war. Außer den Darbietungen der Seele gab es für ihn
keine Gaben, deren Wert er achtete, und er segnete die Tote. Im farbigen
Licht des Herbstwalds sah er wieder Anje und Onne vor der Holzwand ihrer
Hütte stehn, nachdem er Ausbesserungen daran vorgenommen hatte, auch
erschienen sie ihm beim Beerensuchen unter den Tannen, Onnes rotes
Kopftuch leuchtete neben dem hellen Haar des Kindes, beide schritten
gebückt durch das braune und grünliche Dämmerlicht der großen Bäume.

Seine Gedanken raubten ihm den Schlaf. Über dem einsamen Haus und seinen
Menschen herrschte die traurige Ratlosigkeit in allen Räumen, die der
Tod nach seinen unbeschreiblichen Besuchen zurückläßt. So erhob sich
Gerom unruhig in der Nacht und erstieg die Treppe zu Anjes Schlafkammer.
Auf halbem Wege glaubte er Schritte zu hören, die zu verstummen
schienen, sobald die seinen erklangen. Es war ganz dunkel im Haus, nur
durch das kleine bläuliche Rechteck eines Fensters sah er zwei Sterne,
einen größeren, der lebhaft flimmerte, und einen kleinen neben ihm, der
friedsam glühte. Er begegnete Anje auf der Treppe.

»Ich kann nicht einschlafen«, sagte sie.

»Wohin willst du denn gehn?«, fragte Gerom befangen, denn es beschämte
ihn, daß er seinem Wunsch nachgegeben hatte, in das schlafende Gesicht
seines Kindes schaun zu wollen, aber es hatte ihn übermächtig gepackt,
als wälzte sich die Last seiner langen Einsamkeit zur Stunde wie in
Bergen auf seine Brust. Er hatte an Anjes Angesicht gedacht, an die
warme Stille ihrer Schläfen, an die gesenkten Augenlider, die am
hellsten waren, und an das unschuldige Glück ihres schlafenden Mundes.
Heiß und bitter ward er sich bewußt: Ich hab sonst nichts.

Nun hörte er aus der Dunkelheit über sich die Stimme antworten:

»Ich wollte zu dir.«

Da schritt er hinauf und umarmte Anje. Sie legte ihre Arme um seinen
Hals und hängte sich daran. Keiner von ihnen sprach im dunklen Haus.
Dann nahm Gerom ihre Hände:

»Du sollst des Todes wegen nicht traurig sein«, sagte er mit bebender
Stimme.

Er fühlte, wie Anje eifrig den Kopf schüttelte, und er empfand ihr
Lächeln, obgleich er es nicht sah, aber er war dieses Lächelns so gewiß,
daß er später in seiner Erinnerung den Eindruck hatte, als sei es in
diesen Augenblicken hell gewesen. --

So war nun Onne im Tode gelungen, was sie in ihrem Leben nicht zuwege
gebracht hatte. Vielleicht war auch Angelikas Wunsch durch Geroms Gang
in ihr Bereich mächtig geworden, denn das Glühn der Liebeswünsche, die
Tote mitnehmen, vereint sich im Unvergänglichen zu Licht, das wieder auf
die Erde sinkt und niemals seinen Platz verfehlen wird.




Zwölftes Kapitel


Ein Herbstmorgen dämmerte herauf, Gerom kniete auf dem schmalen Pfad
einer Waldlichtung zwischen Himbeersträuchern, mit einem erlegten
Rehbock beschäftigt. Das Tier blutete aus dem Maul, und der leblose Kopf
mit den gebrochenen Augen schlenkerte hin und her unter den Hantierungen
des Jägers und verstreute die Blutstropfen. Die vom Nebel dämmrige
Morgenluft befeuchtete die Büsche und das Gras, Geroms grauer Bart war
so naß wie seine Hände und das Fell des Rehs. Eine feine Wolke dampfte
an der Stelle empor, wo die beiden in der kühlen Morgenluft weilten, und
Geroms Gesicht hatte einen düsteren Ausdruck von Entschlossenheit, der
es stark und schön erscheinen ließ. Im Gebüsch kam ein Vogel an; er ließ
sich nieder, flog aber sogleich wieder davon, als habe das tote Waldtier
ihn erschreckt, das Reis der Himbeere schwankte leicht von seiner
Berührung, und ins Gras fielen Tropfen.

Als Gerom von seiner Hantierung einen Augenblick aufschaute, sah er auf
dem Pfad im Morgennebel Fridlin stehn.

So ungewiß die Umrisse dieser Gestalt sich aus dem grauen Dunst hoben,
so wenig ließ seine Haltung einen Zweifel über die Absichten zu, die ihn
an seinem Platz hielten. Gerom drehte sich langsam herum, ohne sich von
den Knien zu erheben, und wandte sich Fridlin voll zu, wobei er die
blutige Hand an die Stirn hob, um den Blick zu sichern. Seine Ruhe und
die Vorsicht seiner Bewegung erinnerte an ein Raubtier, das über seiner
Beute den Feind prüft, und das im Bewußtsein seines Rechtes oder seiner
Kraft handelt, nur seine Augen sahen besorgt und zornig drein, wie wohl
einer dreinschaun mag, der gefahrbringende Befugnisse in der Verwaltung
eines Unmündigen vermutet.

So geschah es, daß es eine Weile totenstill in der Waldlichtung blieb,
die nach Osten geöffnet war, so daß man den herannahenden Morgen im
weißen Licht über der Ebene im Nebel schimmern sah. Gerom machte eine
unwirsche Bewegung mit der Hand: »Geh deiner Wege«, sagte er barsch,
aber noch ehe er Fridlins Antwort recht verstanden hatte, empfand er aus
dem Ton seiner Stimme, daß ihm Gefahr drohte, und er reckte sich
ingrimmig auf, zog den Nacken ein, und seine Hände ballten sich zu
Fäusten, deren eine das blutige Messer hielt, er blieb aber noch auf den
Knien am Boden. Fridlin sagte beinahe leise, aber böse und entschieden:

»Laß den Bock und die Büchse, wo sie liegen, und geh du.«

Gerom verstand nur so viel, daß dieser Bursche, der Anje nachstellte und
dem er sein Haus verwiesen hatte, ihm kraft seines Amtes zu drohn wagte.
Ein geduldetes Unrecht verwandelt sich im Bewußtsein bald in ein Recht,
so daß Gerom um so heißer in Zorn geriet, als er sich in einem längst
erwiesenen Anspruch beeinträchtigt sah und kein Schuldbewußtsein
empfand. Fridlin war um einige große Schritte näher getreten, nun
erkannte Gerom den Haß, der das Gesicht seines Gegners entstellte. Ach,
du bist es, dachte er, als sähe er einen ganz neuen Menschen vor sich.

Darüber schwand seine Sorge, da es galt sich zu bewähren, er lachte aber
nur herausfordernd auf, wandte sich ab und beugte sich wieder über das
erbeutete Tier. Da erklang Fridlins Stimme in tödlicher Gereiztheit und
fast geschluchzt:

»Du kannst von deiner Gewohnheit zu morden nicht lassen, Alter, aber
jetzt ist es genug. Deine Waffe und das Wild sind mein, dafür behalt
deine Schande und dein Kind, das aus ihr gekommen ist, und dein Leben,
wenn du magst.«

»Leg dein Spielzeug fort, Bursche«, antwortete Gerom langsam, aber mit
ruhiger Stimme, die die dunkle Ahnung von einer nahenden Wandlung
bewegte. Aber diese Betroffenheit war nur von kurzer Dauer, es befiel
ihn darüber ein Grimm, der wie mit roten Nebeln seine Blicke
verschleierte.

»Glaubst du, junger Hund, ich fürchtete dich?« fragte er und erhob sich
wie ein Bär vom Grund; im Gesträuch, dicht neben ihm, lehnte seine
Jagdbüchse. Er machte den Schritt dorthin in einem ungelenken Satz und
in halb gebückter Haltung, in scheinbarer Unsicherheit, und sein rasch
und plump bewegter Körper bot auf diese Art ein schwer zu sicherndes
Ziel für den Gegner. Mit grimmigem Aufschrei ergriff er wie mit einem
Schlag seine Büchse, als ob er sie mit der Hand zerschmettern wollte.
Die mit großer Gewandtheit gepaarte Wildheit dieser Bewegung schüchterte
selbst Fridlin ein, obgleich es in seinem Willen lag, daß Gerom sich
seiner Waffe bemächtigen sollte.

Als jener nun in gebückter Haltung herumschnellte, feuerte Fridlin von
seinem ruhigen und aufrechten Stand aus seine Waffe ab, die mit einer
Kugel geladen war, und durchschoß Geroms Brust. Der alte Mann sank mit
einer täppischen Bewegung zu Boden, wobei er das Gewehr fahren lassen
mußte, um seinen Körper zu stützen, und der Ausdruck seines Gesichts war
darüber einen Augenblick voll Verlegenheit, als schämte er sich und als
unterdrückte er ein eiliges Wort der Erklärung. Aber dann riß ihn ein
wütender Lebenswille zusammen, und er raffte sich steil auf die Knie
empor, ließ sein Blut aus dem Mund rinnen, wie es wollte, und hob die
Jagdbüchse gegen Fridlin.

Der junge Mensch war mit zwei raschen Schritten hinzugesprungen und
stand nun dicht vor dem tödlich verwundeten Mann. Zwei weitaufgerissene
blaue Augen, aus denen eine unwirkliche Lebenshelligkeit flackerte,
bemächtigten sich seiner in furchtbarer Anklage. Das Blut, das aus den
Mundwinkeln troff, entfärbte sich in dem grauen Bart, zog dunkle
Rinnsale herein und klebte die Haare an das Tuch des Rocks, dabei sank
der große Kopf herab und arbeitete sich, nach rechts und links wankend,
mühselig wieder empor, wobei Gerom das Blut zu schlucken sich bemühte.
Als er nach einer krampfhaften Bemühung Halt gewann, richtete er die
Büchse ohne Schwanken auf Fridlin, ließ sie aber plötzlich mit einem
schweren Lächeln sinken und schüttelte den Kopf. Er hatte neben dem
jungen Menschen, der bewegungslos dastand und sein Teil zu erwarten
schien, die Waldferne im Nebel gesehn, die sich unter den Bäumen im
Morgenwind gelichtet hatte. Es strahlte ihm friedsam auf diesem Wege
entgegen, ein freundlicher Schein von Genügen und geduldigem Glück, und
was den Rest seines Lebens hindurch seine Stillung gewesen war, überwand
ihn in diesem furchtbaren Augenblick zu einem guten Beschluß.

»Armer Hund«, sagte er mit einem Gurgeln in der ersterbenden Stimme zu
Fridlin, ließ die Jagdbüchse ins Gras fallen und ergab sich seinem
Schicksal, indem er sich sinken ließ und sich beinahe demütig an den
Erdboden drückte. Er legte die große Hand, die einst Angelika geschirmt
und getragen hatte, die später ihren Geliebten erwürgt und die viel
später auf Anjes Haar geruht hatte, auf die Wunde seiner lebendigen
Brust und ließ den Tod herannahn, wie er wollte.

Fridlin beugte sich in fassungslosem Entsetzen vor. Nun, da Gerom dem
Tod sein Recht ließ, begriff er, daß er ihn heraufbeschworen hatte und
daß er selbst lebte. Seinem zerstörten Gemüt drängte sich ungewollt der
Wunsch auf, von seiner Verpflichtung zu reden, es klang närrisch und
armselig, als er zu stammeln begann: »Du hättest das Wild lassen sollen,
Alter ...« Er verstummte und schluchzte trocken auf. Mit seiner
Erkenntnis, daß nun in dieser Waldlichtung ein anderer seine Herrschaft
angetreten hatte, überflutete das würgende Graun vor diesem Allmächtigen
seinen Geist; mit einem Aufschrei aus dem Grund seiner armen gequälten
Seele sprang er auf und lief davon, ohne zu erkennen, daß er es tat,
ohne zu wissen, wohin es ihn trieb. Unter den Bäumen, an die er stieß,
schrie er: »Das Anjekind ist an dem Unheil schuld, das Anjekind ...«

Gerom vernahm nichts von diesen Worten, er wurde sich nach einer Weile,
bevor seine Sinne sich ganz umdunkelten, dessen bewußt, daß er nun
allein war, und daß er nicht mehr die Kräfte hatte, um sich
heimschleppen zu können. Seine Brust war durchschossen, ihm war, als
drängte die Morgenluft bis in die Kammern seines Herzens, erkühlend,
ausleerend. Seine Gedanken reihten sich um das Letzte, was er erblickte,
das war ein merkwürdig großer Zweig, der sich über seinen Augen im
weißlichen All gemächlich hin und her bewegte. In diesem weißlichen
Licht des Alls schwebte auch er selber, und sein Körper wurde ihm
leicht, als ob nun die Erde, die er im verschlossenen Gemüt auf seine
Art ertragen hatte, begänne ihn zu tragen. Seine erleichterten Gedanken
zogen ruhig durch sein Leben, dessen große Ereignisse sie zu verschmähn
schienen, wie auch das Durchlittene, das sein Dasein reich gemacht
hatte, so daß es war, als ob ein guter Geist ihm den Abschied vom
irdischen Dasein leicht machen wollte, dessen Inhalt die Schmerzen sind
und nicht das Genossene. Wie dunkle Felsen liegen sie im durchmessenen
Tal. Aber der befreiende Strom, der dem Sterbenden durch die Sinne zog,
setzte sich aus lichten Gestalten zusammen, die mit wunschlosem Lächeln
herangaukelten. Er erblickte den Fluß mit seinem Holzsteg, an dem er als
Knabe gefischt hatte, und die grüne Schilfwand des Ufers wurde vom
Wasser bestrichen, das die langen Gräser am Grund ins Schwanken brachte,
so daß es aussah, als schwämmen sie wehmütig gegen die Strömung. Er sah
ein Bildnis in nüchternen Farben, eine Mutter Gottes mit einem Kinde
darstellend, das an der Wand seines Kerkers gehangen hatte, und an
dessen Holzrahmen von unbekannter Hand Buchstaben in ein kleines Herz
eingezeichnet waren. Angelika ordnete Blumen in ein gläsernes Gefäß ein,
für dessen Gebrauch als Blumenbehälter man die Stiele kurz schneiden
mußte, sie lächelte auf ihre geheimnisvolle Art, die ins Unerreichbare
hinüberführte. Er sah dabei ununterbrochen, wie sich das dunkle Grau des
Zweiges über ihm im weißlichen All bewegte, und unterschied die Blätter
und verfolgte ihre geduldigen und langsamen Bewegungen in der nebligen
Morgenluft.

Plötzlich dachte er an Anje, das Kind, und begann sich auf dem Boden hin
und her zu werfen, so daß das Blut aus seiner Brust das niedergedrückte
Gras seines kalten Betts färbte. Seine Bewegungen waren nur noch schwach
und langsam, nur ihre weit ausholende Geste, wie er die Arme warf und
wie ihm die Stirn an den Boden schlug, verrieten seine innere Bewegung
und die Größe seiner Angst. Zuletzt tauchte aus den finsteren Wolken,
die sich über ihn dahinwälzten, wie eine beleuchtete Insel aus schwarzer
Meerfläche, das Bewußtsein auf, daß er Anje auf der Treppe begegnet war
und daß sie an seinem Hals gehangen hatte.

Nun war ihm, als käme Anje aus dem dämmrigen Braun und Grün der
Waldferne dahergeschritten, und sie legte ihre Hände auf seine Stirn. Es
war der Morgenwind, der es tat. Anje beugte sich über ihn und lächelte
froh, dies war die Sonne, die den Nebel aus der Lichtung vertrieben
hatte und strahlend in den frischen Wald schien. Anje legte Geroms Haupt
zurecht, daß es Ruhe haben sollte, und preßte dann ihre Hand fest auf
sein Herz, damit es nun stillstehen sollte. Es war der Tod, der es tat.




Dreizehntes Kapitel


Anje schritt in der Frische des Herbstmorgens, an jenem Tage, dessen
Beginn Geroms Augen noch empfunden hatten, durch den Wald. Sie wählte
den Weg, der im Schilf des Gurdelbachs entlang in die Weiden führte,
bald an Tannen vorüber, bald am Altwasser dahin.

Ein Zweig mit roten Beeren hing in der Morgensonne über dem Wasser, das
Leuchten der herrlichen Farbe im Sonnenschein zog Anjes Blick an, sie
blieb stehn und betrachtete die begrünten Ufer, über deren Pflanzen die
unschuldige Müdigkeit des Herbstes lag. Hier, im Frischen, schien der
Sommer noch nicht verdrängt, und doch kündigte der Wandel der Zeit sich
an, man fühlte ihn an der Art des Lichts, am Geruch der Luft und an
dieser glückvollen Müdigkeit, in der die Pflanzen, die ihr Wachstum
längst beendet hatten, sich neigten über das dahinziehende Wasser. Die
Bäume und Büsche bildeten hier eine natürliche Laube, die über dem Bach
gegen die Sonne geöffnet war, so daß Anje in der Walddämmerung stand und
dies strahlende bunte Blätterhaus mit seinem glitzernden Boden
bewunderte. Ihr Glück war so groß, als sähe sie dies alles zum ersten
Mal, vielleicht war es das herrliche Rot der kleinen Beeren über der
Flut, das ihr das Bild der Natur so wunderbar erneuerte. Es schien, als
läge über den Pflanzen am Ufer die Erinnerung an das leidenschaftliche
Blühn des Frühlings, an die Gestilltheit und Fülle des warmen Sommers,
und ein Abglanz des Friedens, der ihrer im nahenden Winter harrte, und
die kleine Anje begriff über ihrer Freude an beidem, am Sein und Ruhn,
daß das Leben und der Tod nur Zeichen einer beständigen Herrlichkeit
sein mußten, die höher als ihr Erkennen war. Sie hatte einst durch Onne
vom Dasein Gottes erfahren, als vom Schöpfer der Welt und als vom
Herzschlag der lebendigen Natur.

Sein Dasein war ihr selbstverständlich erschienen, wie das Dasein ihres
leiblichen Vaters, ihr Herz kannte noch keinen Zweifel, weil es keine
Schuld kannte, und weil sie der Schöpferkraft Gottes auch ihr Dasein
verdankte, so wie es war. Ihr Vertrauen zu Gott zeigte sich in der
Dankbarkeit, in der sie seine Welt bewohnte, und ihr Glaube erwies sich
in ihrer Freude daran.

Als die alte Onne, bekümmert durch ihre Lebensmüdigkeit, Anje einmal von
der Schuld der Menschheit gegen Gott gesprochen hatte, war aus Anjes
Kindermund die seltsame Antwort gekommen:

»So wird Gott die Schuld gutmachen.«

Aus den Augen der alten Frau brach ein Leuchten, dem plötzlich Tränen
folgten, die es verlöschten, aber unverwandt blieben die Augen auf Anjes
Angesicht haften, wie im Bann einer wunderbaren Erscheinung, und mit
bebender Stimme rief Onne:

»Er ist gekommen und hat es getan!«

»Warum weinst du?« fragte Anje.

Da sagte Onne: »Oh, du gesegnetes Kind.«

Mit der Erinnerung an diese Worte der alten Frau kam Anje der Gedanke an
die Nacht, die für Onne unaufhörlich herrschte. Sie schritt langsam
weiter durch das Schilf, das flüsterte, wenn sie es berührte, und oft
glänzte ein Sonnenblick durch das bunte Laub nieder, in ihren blonden
Haaren auf. Anje gab ihrer plötzlichen Traurigkeit nach und weinte, ohne
ihr Gesicht zu verhüllen, sie schämte sich ihrer Tränen nicht vor der
Erde, die die Wiege des Todes und des Lebens zugleich ist. Dem Mädchen
war zumut, als wäre es mit einem heimlichen, wohltuenden Stolz
verbunden, zu wissen, wie schwer die Erde oft zu ertragen ist.

                   *       *       *       *       *

Fridlin verbrachte diesen Tag ruhlos im Wald. Ohne Nahrung und zu Tode
ermüdet, schweifte er in der Einöde umher, bald dieser, bald jener
seiner planlosen Eingebungen gehorchend, aber ohne zu einem vernünftigen
Entschluß kommen zu können, bis ihn im Dickicht ein Schlaf überwältigte,
der einer Ohnmacht gleichkam. Im Traum führte er seine Absichten aus,
bald die eine, bald die andere, er stand vor dem Förster und beichtete
ihm das Geschehene, sorgsam bemüht, Gerom ins Unrecht zu setzen und den
Zwang von Pflicht und Selbsterhaltung darzustellen, der ihn getrieben
hatte zu töten. Gegen dieses Lächeln des Försters, das ihn als Antwort
traf, mußte es doch einen Einwand geben; woher wollte jener wissen oder
erweisen, was zu dieser Tat geführt hatte? Dann wieder suchte er im Wald
Anje, die er nun vom Zwang des väterlichen Willens befreit glaubte, und
fand sie im Grund jener aus Grün und Braun gewebten Tiefe der Waldferne
allein. Er eilte auf sie zu, und seine frohe Gewißheit, ihr nicht nur
alles erklären zu können, sondern auch ihre verzeihende und tröstende
Liebe zu finden, beflügelte seine Schritte. Aber die unhaltbare Ferne
entrückte ihm und mit ihr Anje, wie einst in Wirklichkeit, wenn er
hoffte, sie erreicht zu haben. Ihre Spur blieb im Licht und in der
Stille auf wunderbare Art zurück, zugleich ungreifbar und klar
geschieden, überall dem Vertrauten zugehörig und doch fremd, wie eine
Spur im Schnee.

Im Verlauf seines tiefen und doch ruhlosen Schlafs nahm es an finstern
Mächten zu, die ihn mehr und mehr zu bedrängen begannen. Sie waren ohne
greifbare Gestalt und nahten in gewaltigen Ballen heran, die sich
geräuschlos in furchtbarer Allmacht über ihn dahinwälzten. Es gab kein
Entrinnen, da die herannahenden Nächte, die kreisenden schwarzen Wolken
vergleichbar waren und das ganze All umfaßten, doch Raum auf seiner
Brust fanden, der sie zu entwachsen schienen und die sie zugleich
begruben. Als er von seinem eigenen Stöhnen erwachte, war es Nacht, er
riß die Augen auf und starrte um sich, ohne sich zurechtfinden zu
können. Seinen verfinsterten Sinnen war anfänglich nicht mehr erkennbar,
als daß jene düsteren Ballen, die ihn begruben, sich über ihm, in einem
merkwürdig weißen Licht verschwimmend, still angesammelt hatten. Es
waren die Baumkronen, unter denen er geschlafen hatte, im schrägen Licht
des Mondes, der aufgegangen war.

Er sprang jählings empor und stürmte mit vorgereckten Armen zwischen den
schwarzen Stämmen dahin, als gälte es, der Gefangenschaft der Bäume zu
entrinnen, einem unsicheren Lichtschein entgegen, der schwach in der
Ferne glomm. Dort flimmerte das ungewisse Himmelslicht an den Erlbüschen
und Weiden, an deren Wurzeln es sich in Wasserlachen spiegelte, im
Schwarzen und totenstill. Diese Ruhe lockte Fridlins fieberndes Blut,
sie versprach ihm Kühle und das Ende seiner Qual, die er kaum noch
erkannte, deren Wesen er in den Zerrüttungen seiner Sinne ahnte, wie
Schlafende eine herannahende Gefahr im Traum. Scheinbar schüchtern und
zweifelnd trat er bedächtig hinzu und sah das schwarze Wasser an. Sein
Spiegelbild bewegte sich darin, er fuhr voll Entsetzen zurück und reckte
die Hände nach unten hin gegen den morastigen Hauch aus, der dem
Moorwasser entströmte und dem tausendjährigen Schlamm.

In der kahlen Gabelung eines Weidenstumpfs über dem feuchten Grund
hockte ein graues Tier mit dem Gesicht eines kleinen alten Menschen. Es
war weich und farblos, mit breiten Schultern, in denen der Kopf
sanftmütig schaukelte. Das Gesicht lächelte mit matten Augen und
freundlich, und die Hände hingen schwächlich an den halb erhobenen Armen
nieder. Fridlin kannte dies Fabelwesen, das er zu erblicken glaubte, aus
seiner Kinderzeit her und wußte, daß es beim Herannahen bedrängter
Menschen für gewöhnlich flüchtete, um sich abwartend in die Gabelung
einer anderen Weide zu setzen. Es drückte die Köpfe ertrinkender
Menschen nieder, die in den Sumpf geraten waren.

Im Grunde zog es den Verlorenen in seiner Schreckensnacht zu einer
anderen Stätte hin, es war eine schmerzvolle Sucht, die als drängendes
Unterbewußtsein von Augenblick zu Augenblick an Macht über ihn gewann.
Als er diesem Drang endlich nachgab, lichteten sich die Verfinsterungen
seines Gemüts ein wenig, als ob sich mit seinem Gehorsam gegen dieses
Verlangen eine Erleichterung seiner Sinne verbände. Er fand die
Waldlichtung in kurzer Zeit, in der Geroms Leiche im Mondschein lag.
Dort erkannte er beim zögernden Hinzuschleichen zuerst nur eine dunkle,
unförmige Masse am Boden zwischen den Himbeersträuchern und versuchte
auf den Zehenspitzen und mit stockendem Atem, hinter den Büschen
stehend, die Formen des Körpers zu unterscheiden. Seine Vorsicht hatte
etwas sonderbar Kleinliches, er vermied die nassen Zweige und achtete
sorgsam darauf, kein Geräusch hervorzurufen.

Neben dem Toten, mitten im vollen Mond, saß das Anjekind mit gefalteten
Händen.

So hell das sinkende Gestirn immer noch schien, gab das nächtliche Licht
ihrer Gestalt doch etwas Unwirkliches, sie erschien in ihrer geraden
stillen Haltung wie eine zur Hälfte versunkene Statue, besonders weil
der Mond von hinten her auf ihren Körper schien und das eintönige dunkle
Grau ihrer Erscheinung in hellere Umrisse legte. Da ihr Haar gelöst war,
sah ihr Haupt in dieser Beleuchtung ungewöhnlich groß aus, es ruhte fast
unförmig, wie ein Tierkopf, auf den schmalen, lieblichen Schultern. Von
ihnen abwärts sanken die Linien der hängenden Arme gerade nieder, von
bleichem Licht eingerahmt, regungslos und doch von eindringlicher
Lebendigkeit. Fridlin erkannte lange nicht, worauf ihre Blicke gerichtet
waren, bis er, erstarrend vor Entsetzen, gewahr wurde, daß sie ihn
ansah.

Ihn befiel der Zweifel, ob er jemals von diesem Wesen etwas gewollt
hatte, das dort hockte und ihn mit seinen Blicken beherrschte. Was war
von ihr seiner armen Menschenhoffnung verbunden gewesen? Im Fieber
durchmaß sein Geist die Wegstrecke seines Lebens, die von der ersten
Begegnung im Sommergrün am Gurdelbach bis zu diesem nächtlichen
Waldplatz führte. Seine Sinne trieben ihn durch ein Chaos von unklaren
Vorstellungen dahin, wie aufgescheuchte Vögel durch staubigen Wind
getrieben werden, der ein herannahendes Ungewitter verkündet. Mit einer
übergroßen Ermüdung zugleich befiel ihn eine Kindertraurigkeit, so daß
er hätte still und in Rührung über sich selbst vor sich hinweinen
können. Er sagte laut:

»Ich bin unschuldig.«

Da erhob Anje sich rasch, es erschien deutlich so, als ob sie es in
einem fröhlichen Eifer täte; jetzt war sie es wieder selbst, wie ehedem,
Fridlin erkannte sie besser, als sie nun auf ihn zukam und mit der Hand
die Zweige der Sträucher zur Seite bog. Sie legte ihm den Arm um den
Nacken, so daß er im höchsten Erstaunen seinen Kopf etwas zurückbiegen
mußte, um sie ansehen zu können. Sein Mund öffnete sich etwas, und seine
aufgerissenen Augen starrten in Anjes bleiches Gesicht. Sie schmiegte
ihren Körper leicht an den seinen, so daß ihn ein rätselhafter Schauer
für einen Augenblick aus seinem Erstaunen zog, er empfand die weiche
Schmiegsamkeit dieses Körpers und einen Hauch, dem Geruch welkender
Blumen vergleichbar, der aus ihrem offenen Haar stieg. Dann sah er
ihren Mund, der mit geöffneten Lippen in einer wehmütigen Verzerrung
lächelte, und begriff, wie durch einen lauten Zuruf gewarnt, seinen Tod.

In der jähen abwehrenden Bewegung, die er mit einem leidenschaftlichen
Ruck machte, traf es ihn. Er sah noch, daß Anjes Kopf durch sein
Aufschrecken zurückgeworfen wurde und hatte die Empfindung, als hätte
ihre kleine Faust fest und aufgeregt in der Nähe des Herzens gegen seine
Brust geschlagen. Erst beim nächsten Atemzug begriff er, was ihm
geschehen war und sah hinab: merkwürdig plump und unwirklich hockte der
Griff des Jagdmessers ihm aufrecht am Rock, und nun ergriff es eisig das
Herz seines Lebens, zog ihn in einen süßlichen Taumel von Ohnmacht
hinein und schmerzvoll zu Boden nieder. Er starb rasch, weil sein Herz
durchstochen war, und unter Anjes Augen, einen betroffenen Widerspruch
und eine Frage in seinem übermüdeten Gesicht, ohne die Qual des Todes im
Bewußtsein gekostet zu haben. --

Der Mond sank tiefer herab, und die Waldungen der Einöde umdunkelten
sich mehr und mehr. Der Wind trieb nasse Nebelschwaden aus den Gründen
der Sümpfe in die Lichtung, jene Dünste, die den beklemmenden Geruch
wie von Teer und alter Erdnässe mit sich bringen, wie sie dem späten
Herbstland entsteigen. Nur die schweren Umrisse der Baumgruppen, die den
Augen am nächsten waren, blieben noch eine Weile kenntlich, während
schon nach einer kleinen Entfernung die fahlen Nachtschleier alles in
der einförmigen Ebene in eine unerforschliche Ausgeglichenheit betteten.
Die kreisende Erde setzte unermüdlich ihre Reise fort, mit den toten,
den lebendigen und den heraufdrängenden Wesen der Natur.




Vierzehntes Kapitel


Zwei Tage nach diesen Ereignissen erhielt das Forsthaus der Dachenau
einen ungewöhnlichen Besuch; es war Hirte, der in einem traurigen
Zustand vor der Gartentür anlangte und hineinzukommen versuchte. Die
Jagdhunde des Försters erschwerten ihm sein Vorhaben nach Kräften und im
besten Glauben, ihren Verpflichtungen nachzukommen, so daß Hirte
gezwungen war, sich bis zur Ankunft eines Menschen im Gebüsch zu
verbergen, wo er sich in das welke Laub legte und wartete. Er leckte den
weißen Reif von den braunen, gekrümmten Blättern, weil er durstig war,
und zitterte vor Hunger und Kälte, denn in dieser Nacht waren die ersten
Fröste niedergegangen, und schon den ganzen Morgen über rauschte, wie
ein bunter Regen, überall das Laubwerk zu Boden.

Als der Förster erschien, wagte Hirte sich aus seinem Versteck hervor,
und wie er es erhofft hatte, wurden die beiden Jagdhunde sogleich
zurückgerufen, als sie ihn durch ihren Zorn verrieten. Der Förster trat
hinzu und zog die Brauen hoch, als seine Blicke über den armen Hirte
hinglitten, dessen Zustand bejammernswert war. Er schien sich kaum auf
den Beinen halten zu können, und sein nasses ruppiges Fell sah aus, als
ob es zerfetzt und durchlöchert wäre. Aber Hirte schämte sich seines
Zustands nicht, er nahm auch keine Nahrung an, obgleich er so von
Kräften war, daß ihm das Laufen Mühe machte. Er war glücklich, einen
Menschen gefunden zu haben, und mit seinen nachdenklichen Augen, die nie
anders als traurig dreinschauen konnten, lief er ein Stückchen in den
Wald, kehrte um, suchte die Blicke des Försters und verschwand wieder im
Wald.

Da nahm der alte Mann mit ernstem Gesicht seine Jagdbüchse über die
Schulter, schloß seine eigenen Hunde im Hofe an und folgte Hirte. Auf
dem langen Weg, der bald durch unsicheres Gelände, bald durch Wald und
Erlendickicht führte, überkam den Förster eine immer größere Besorgnis,
die sich langsam zur Angst steigerte, je unermüdlicher Hirte zur Eile
anzutreiben schien. Das häßliche Tier, dessen Eifer mit seiner letzten
Körperkraft rang, rührte ihn so tief, daß er mit einer ganz ungewohnten
Bewegung kämpfte. Als der Hund wieder bei ihm anlangte, beugte er sich
nieder und klopfte liebevoll den mageren Rücken und streichelte den
unschönen Kopf, der seine Gedanken nicht verraten konnte und unter dem
ein Herz aus verborgenen Gründen her ein unerforschbares Liebeslicht in
die matten Augen schickte. Sie hatten nun die alte Landstraße längst
überschritten.

»Hirte,« sagte er, »Hirte, was ist denn geschehen?«

Das Tier entzog sich seiner Liebkosung ohne Erkenntlichkeit und eilte
wieder voraus. Oft, wenn ein Hindernis dem Alten den Weg erschwerte,
stand Hirte drüben und sah aufmerksam zu. Er bändigte seine Ungeduld,
und es erschien fast, als riete er zur Vorsicht.

Der Förster wußte, daß Fridlin nun schon die zweite Nacht nicht in die
Dachenau zurückgekehrt war, und wenn er nicht erbittert auf den jungen
Menschen gewesen wäre, so hätte er sicher Nachforschungen anstellen
lassen. Vor ihm verschwand Hirte in einer Lichtung zwischen
Himbeerbüschen und kam nicht mehr zurück. Der Alte schüttelte den Kopf
und stolperte eilig über den unebenen Grund voran, dieser Ort lag wohl
eine Stunde von Geroms Blockhaus entfernt. Da sah er die großen, dunklen
Flecke durch das Gezweig, zwei, drei, und zwischen ihnen bewegte sich
der braune Hirte, um sich dann niederzulegen.

Der alte Mann reckte die Arme gegen das Bild aus, das sich ihm darbot.
»In meinen alten Tagen soll ich es sehen ...«, stammelte er und stand
still da, als wäre die unbeschreibliche Erstarrung auch über ihn
gekommen, die über den stillen Menschen vor ihm lag. Aus einem Busch,
dicht zu seiner Seite, sahen ihn trüb und hell die gebrochenen Augen
seines jungen Gehilfen aus einem weißen Gesicht an. Der Kopf war
zurückgeworfen und hatte keinen Halt, er hing leblos nieder, mit Reif
auf der Stirn, und diese ihres Lebens beraubten Augen spiegelten den
großen leeren Himmel, der sich grau und kalt, wie eine letzte Hoffnung,
über der verlassenen Erde ausspannte. Aus der Brust des Toten starrte
der Knauf eines Jagdmessers, der aus Hirschhorn geschnitzt war, und
rätselhaft zärtlich ruhte die erkaltete Hand daneben, wie die blutlosen
Hände der Märtyrer in Verzücktheit das erleuchtete Herz der Brust zu
schützen scheinen.

Dem Toten gegenüber erkannte er die derbe Gestalt des Einsiedlers Gerom
an dem großen grauen Bart, der die halbe Brust verdeckte. Auch Gerom war
tot, seine Augen waren geschlossen, und der Reif der Nacht glitzerte auf
den Lidern, wie er auf den Halmen und Steinen umher und auf den welken
Blättern glitzerte. An seine Seite geschmiegt lag sein Kind. Anjes Arm
war von unten her um den Hals ihres Vaters geschlungen, so daß sein
Haupt an ihrer Schulter ruhte, und sie hatte ihre Wange an seine
gepreßt. In einer Gebärde von Frömmigkeit, die hilflos und
unaussprechlich liebreich war, war ihr nur dürftig bekleideter Körper an
den seinen angedrückt, sie deckte ihn spärlich mit ihren zarten
Gliedern, und der Ausdruck ihres Gesichts war von abweisender
Bitterkeit.

Da sah der Förster, der sich bisher nicht zu rühren gewagt hatte, daß
ein kaum spürbarer, feiner Hauch aus ihrem Mund in die kalte Morgenluft
emporstieg, und von wilder Freude und Angst emporgerissen, stieß er
einen rauhen Schrei aus, der so unbeherrscht war wie sein jäher Sprung
zu den Beiden hinüber.

»Kleine!« rief er. »Anje! Anjekind!«

Sie rührte sich nicht. Es erschien ihm nur, als ob ihr Arm, der den
Vater hielt, eine schwache Regung zeigte, in der er sich fester um den
erstarrten Hals legte. Da warf der Zitternde seinen groben Rock ab, riß
sein Tuch vom Hals und hob das Mädchen behutsam vom nassen Boden auf. Er
schien alles andere um sich her vergessen zu haben, und das Grauen, das
von den Toten ausging, berührte ihn nicht mehr, vor Freude bebend hüllte
er Anje in das derbe Tuch seines Rocks. Wie kühl und leicht ihr
schlanker Körper war. Seine Augen gingen ihm vor Erbarmen über, als er
die erstarrten Glieder des Kindes an ihren leblosen Körper legte. So hob
er sie auf seine Arme und eilte mit großen Schritten davon, seine Last
so fest an sich pressend, wie ihre zarte Gestalt es ihm zu erlauben
schien, und den warmen Hauch seines Mundes auf dem nassen bleichen
Angesicht an seiner Brust.

So sah er im Davoneilen nicht, daß Hirte sich erhob und Miene machte,
ihm zu folgen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Er machte ein paar
Schritte, zögerte und sah den Beiden nach, die bald zwischen den
Baumstämmen verschwunden waren. Die braunen Augen unter den Stirnfalten
sahen Anje nach, solange er noch eine Bewegung in der Ferne wahrnahm,
dann kehrte er um, legte sich neben Gerom auf den Boden, den großen Kopf
auf den Vorderfüßen, und schloß die Augen.

                   *       *       *       *       *

Anje hatte von aller Fürsorge der erschütterten Menschen, die sie in ihr
Haus aufnahmen, nichts empfunden. Die beiden kalten Nächte und ein
langer, grauer Tag, die sie wie in einem Zustand der Betäubung mit ihren
Schmerzen zugebracht hatte, waren stärker gewesen als der ohnmächtige
Widerstand ihrer Seele, die keine andere menschliche Zuflucht kannte als
das Herz ihres Vaters. --

Nun erwachte sie in der ruhigen Nacht und schlug ihre Augen auf. Sie
erblickte ein großes, fremdes Zimmer, das in sanftem Licht erglänzte,
aber sie erkannte nicht, daß es Licht vom Mond war. Sie lag in einem
breiten Bett, dessen Leinen duftete, und man hatte ihr ein weißes Kleid
angezogen, das ihr kühl und schwer erschien, aber so rein wie Schnee.
Alles umher, wie auch der Atem ihrer Brust, war unendlich leicht und
frei, sie glaubte zu träumen und versuchte sich zu besinnen. Aber durch
ihr Gemüt zog nur der geheimnisvolle Beginn ihres kleinen Buchs, als
erinnerte ihre Hoffnung sich. »Um das weiße Schloß flogen in der
Abendsonne die Schwalben, es lag auf ebenem Gefilde, frei im weiten
Land ...«

Durch das unverhangene Fenster sank der Mondschein so hell in den
stillen Raum, daß Anje an der Wand zwei Bilder erkannte, die Begebnisse
auf der Jagd darstellten, eilende Menschen, gefleckte Hunde und einen
sinkenden Hirsch, der am Rande des Wassers in die Knie gebrochen war.
Dazwischen hing das Bildwerk eines Mannes, der mit ausgebreiteten Armen
an zwei Balken schwebte, die ein Kreuz bildeten, sein Kopf hing zwischen
den Schultern herab und trug einen rauhen Kranz, der seine Stirn
verwundet hatte. Anje versuchte sich aufzurichten, aber auch so erkannte
sie mit Erschrecken, daß die Hände und Füße des Mannes mit Nägeln an das
Holz geschlagen waren. Das Blut troff dunkel daran nieder, und sein
gemarterter Leib wand sich, wie in großen Schmerzen, zur Seite.

Anje begriff nicht, was dies Bildnis großer Menschengrausamkeit in
diesem Raum bedeuten sollte, ein kaltes Entsetzen schüttelte sie
barmherzig in ihr Fieber zurück, aus dem sie kaum erwacht war, und die
aus einem finsteren Reich auftauchende Ahnung an eine große Traurigkeit,
die sie nicht hatte ertragen können. Ihre Sinne versanken aufs neue in
die Dämmerung des Schlafs, und lautlos brach die gnädige Nacht über sie
herein.

Aber es träumte sie, daß die Tür sich öffnete und Onne über die Schwelle
trat, um sie zu fragen, ob sie in den Wald zurückwollte. Sie sprang
jubelnd auf, und der Sonnenschein begegnete ihnen, das Glitzern des
Morgens an den Pflanzen und das Rauschen der Bäume im Wind. Mit seligem
Eifer eilte sie voran, der blaue Himmel erstrahlte im grünen
Waldfrieden, und das Wasser des Gurdelbachs zog, bald feierlich, bald
leise plätschernd, über dunklen Grund. Am Ufer schaukelte das Schilf,
von dessen geneigten Blättern die Libellen sich in die durchschienene
Luft erhoben, und der Kuckuck rief aus den Birkengründen. Sie trug
wieder ihren grauen Kittel, und die warme Herrlichkeit ihrer
Kinderfreiheit umfing sie.

Aber da sank, wie eine uralte Erinnerung der Erde, die Liebesangst in
ihr Herz, sie wandte sich an Onne und fragte schüchtern:

»Führst du mich zum Vater?«

Onne erhob ihren Stock und neigte sich ein wenig vor, und auch Anje
senkte den Kopf und lauschte, denn sie fühlte, daß etwas geschehen
sollte. Da vernahm sie aus der Ferne die Axtschläge ihres Vaters im
Wald, und warf jauchzend ihre Arme empor. Sie stürmte ihrem Vater durch
die grüne Sonnenherrlichkeit entgegen.

Als die besorgten Menschen mit dem hereinbrechenden Tag in das Zimmer
kamen, in welchem Anje schlief, war das Kind gestorben. Auf seinem
Angesicht lag ein Lächeln von solcher Glückseligkeit, daß alle, die es
sahen, hinausgingen und weinten.

                                 _Ende_




        Im Verlag von Schuster & Loeffler in Berlin erschien von

                            Waldemar Bonsels:

                             _Die Biene Maja_
                           _und ihre Abenteuer_


                          Ein Roman für Kinder
                           Neunzigste Auflage
                    Preis M. 3.-- brosch., M. 4.50 geb.


                            _Urteil der Presse:_

Wir haben seit den Meistern deutscher Märchenkunst kaum wieder ein Buch
empfangen, das die große Aufgabe eines Kinderbuchs bewältigt, den Alten
eine Quelle des Humors zu sein und den Kindern eine Welt tiefen Ernstes
und unschuldiger Freude. Aus diesem Buch strahlt das Herz eines
Dichters, der sich in seiner Beschränkung als Meister erweist, dem sein
Los in diesem Werk wahrhaft aufs Liebliche gefallen ist. Gebt dieses
Buch euren Kindern, es ist ein herrliches Buch.

                                            _Die deutsche Frau, Berlin._

                   *       *       *       *       *

                            Waldemar Bonsels:

                              _Himmelsvolk_


                  Ein Buch von Blumen, Tieren und Gott
                           Siebzigste Auflage
                   Preis M. 3.50 brosch., M. 5.-- geb.


                          _Urteil der Presse:_

Wie Waldemar Bonsels erzählt, das muß man selbst genießen, selbst mit
durchleben, muß bewundern, wie dieses Dichterauge Erde und Gestirne,
Wolken und Wasser, Pflanze, Tier und Mensch mit einem Blick durchdringt,
der den Grund aller Dinge, allen Erlebens, aller Seelen sieht, muß
dieses völlige Einssein mit Gott, diese Helligkeit, Güte und Liebe
miterleben, die das Buch füllt, und die den durchziehen wird, der das
Buch liest. -- Am Ende dieses Buches stehen die Worte eines Sehers: »Wir
müssen alle das Lächeln wieder lernen, das unseren kurzen Lebenstagen
und ihrem vergänglichen Werk und Schmerz gilt. Wir sind alle aus der
Freude geboren und kehren zu ihr zurück.«

                                  _Frankfurter Zeitung, Frankfurt a. M._

                   *       *       *       *       *

                 Im gleichen Verlag erschien ferner von

                           Waldemar Bonsels:

                               _Wartalun_


                Eine Schloßgeschichte -- Siebzehnte Auflage
                   Preis M. 5.-- brosch., M. 6.50 geb.


                           _Urteil der Presse:_

Unter Waldemar Bonsels' immer kunstreichen Romanen ist »Wartalun« ein
herrlich großes Lebensgemälde voll hinreißender Schönheit und voll
tiefster, formzeugender Anschauung des Ewig-Menschlichen.

                                   _Hessische Landeszeitung, Darmstadt._

                   *       *       *       *       *

                            Waldemar Bonsels:

                           _Der tiefste Traum_


                   Eine Erzählung -- Siebzehnte Auflage
                   Preis M. 3.-- brosch., M. 4.50 geb.


                           _Urteil der Presse:_

Ein Stimmungszauber geht von dem Buche aus, der die Sinne mit lockender
Gewalt zur innigsten Anteilnahme zwingt. Der eigenartige Zauber liegt
auf der rein menschlichen Seite des tiefen Problems, und die ganze
Entwicklung der beiden Charaktere ist einzig darauf gerichtet, alles in
eine ungemein vertiefte und goldgeklärte Harmonie ausklingen zu lassen.

                                        _Generalanzeiger für Elberfeld._

                   *       *       *       *       *

                            Waldemar Bonsels:

                         _Die Heimat des Todes_


                       Empfindsame Kriegsberichte
                             Neunte Auflage
                   Preis M. 3.-- brosch., M. 4.50 geb.


                           _Urteil der Presse:_

Das Buch schrieb ein Dichter, der damit unseren betrübten Tagen ein so
schönes Licht entzündete, daß man an Gleichnisse und Seligpreisungen der
Heiligen Schrift gemahnt wird. »Die Heimat des Todes« könnte wohl zu den
wenigen Schriften zählen, die in späteren Zeiten eine Spur von dem
tieferen Wesen unserer Kämpfe und Leiden zu tragen bestimmt sind. Denn
das Buch schrieb ein Dichter, dem die Gabe verliehen ist, in das
Zwielicht unserer persönlichen Anteilnahme mit einem Strahl ewigen
Lichts zu leuchten.

                                           _Die Rheinlande, Düsseldorf._

                   *       *       *       *       *

        Im Verlag von Rütten & Loening, Frankfurt a. M., erschien
                               ferner von

                            Waldemar Bonsels:

                              _Indienfahrt_


                            Dreißigstes Tausend
                    Preis M. 5.-- brosch., M. 7.-- geb.


                           _Urteile der Presse:_

Ich gestehe offen, daß mir noch niemals ein so formvollendetes,
künstlerisch durchdachtes und von Schönheit überquellendes Buch unter
die Augen gekommen ist.

                                                       _Der Bund, Bern._

Waldemar Bonsels' Buch ist nicht nur das schönste, das ich je über
Indien gelesen habe, auch ohne Rücksicht auf den Gegenstand muß ich es
zu den wenigen großen Kunstwerken der Literatur der Gegenwart zählen,
die an sich vollkommen sind. In meiner tiefen Ergriffenheit möchte ich
auf dieses Buch alle die Lobsprüche häufen, wie sie schlagwortartig bei
Anerkennungen wiederkehren. Nach Jahren erst hat Bonsels seine reichen,
in der Zeit kaum bemessenen Eindrücke gestaltet, ein großes Kunstwerk
entstand, von wundervollem Aufbau der sich entschleiernden Wunder
Indiens. Ich kannte diesen großen Dichter kaum, auf den das deutsche
Volk gerade inmitten seiner heldenhaften Not stolz sein darf und von dem
es Außerordentliches für die Befreiung seiner seelischen Zukunft
erwartet.

                                                    _Die Hilfe, Berlin._

                   *       *       *       *       *

                            Waldemar Bonsels:

                             _Menschenwege_


                   Aus den Notizen eines Vagabunden
                           Achtzehntes Tausend
                    Preis M. 5.-- brosch., M. 7.-- geb.


                          _Urteil der Presse:_

Der Dichter stellt in diesem Buch die natürliche Freiheit eines von
jedem Stand und jedem gesellschaftlichen Zwang befreiten Menschen gegen
die ganze Befangenheit der Gesellschaft. Der Vagabund ist ein
Landstreicher aus freiem Willen, er will durch nichts gelten als durch
die Kraft eines echten Gemütes, und er sucht Gott im Menschen. Dieser
Vagabund ist die Verkörperung der Sehnsucht der neuen Jugend. Wie alle
Werke von Waldemar Bonsels ist auch dieses neueste ein Meisterwerk
künstlerischer Form, in einer Sprache geschrieben, deren kraftvolle
Schönheit jeder Regung der Seele folgt, und die durch den
unerschöpflichen Reichtum der Bilder die Landschaften seiner Gedanken
mit der Anmut und Lieblichkeit, mit dem Ernst und der Macht einer
wahrhaft sittlichen Forderung erfüllt.

                                                _Hannoverscher Courier._




                   *       *       *       *       *

  [  Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
     jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte
     Zeile steht.

  stand Hirte drüben und sah aufmerksam zu Er bändigte seine Ungeduld,
  stand Hirte drüben und sah aufmerksam zu. Er bändigte seine Ungeduld,

  »Steh auf! Geh heim! Geh gleich heim«
  »Steh auf! Geh heim! Geh gleich heim!«

  er es erfuhr, brummte er wie nebenhin: »Anje .. mag sie schlafen, wo
  er es erfuhr, brummte er wie nebenhin: »Anje ... mag sie schlafen, wo

  Natur verherrlichte. Sie kannte seine Stimme in der Ebene und ilte über
  Natur verherrlichte. Sie kannte seine Stimme in der Ebene und eilte über

  das Feld seinem freien Singen entgegen, dase eihre Arme in sinnloser
  das Feld seinem freien Singen entgegen, das ihre Arme in sinnloser

  Freude emporriß. Er beherrscht den Himmel und lenkte den Gang der
  Freude emporriß. Er beherrschte den Himmel und lenkte den Gang der

  Friedlin lehnte im Türrahmen, im grünen Lindenlicht, das durch den Hof
  Fridlin lehnte im Türrahmen, im grünen Lindenlicht, das durch den Hof

  Ein Schwindel seiner Ohnmacht überwältigte Friedlin, und er schlug die
  Ein Schwindel seiner Ohnmacht überwältigte Fridlin, und er schlug die

  Anje war einen Schrit näher getreten, hatte ihren Kittel fortgeworfen
  Anje war einen Schritt näher getreten, hatte ihren Kittel fortgeworfen

  der verdammten zum Himmel emportrug. Die leere Finsternis des Todes
  der Verdammten zum Himmel emportrug. Die leere Finsternis des Todes

  Da sagte Onne: »Oh, du gesegenetes Kind.«
  Da sagte Onne: »Oh, du gesegnetes Kind.«
  ]






End of the Project Gutenberg EBook of Das Anjekind, by Waldemar Bonsels

*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS ANJEKIND ***

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opportunities to fix the problem.

1.F.4.  Except for the limited right of replacement or refund set forth
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.

1.F.5.  Some states do not allow disclaimers of certain implied
warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
the applicable state law.  The invalidity or unenforceability of any
provision of this agreement shall not void the remaining provisions.

1.F.6.  INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
with this agreement, and any volunteers associated with the production,
promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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