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Das deutſche Lied
ſeiner hiſtoriſchen Entwicklung
dargeſtellt
von
Auguſt Reißmann.
Mit Muſikbeilagen:
33 Lieder aus dem 15. 16. 17. und 18. Jahrhundert.
Caſſel,
Verlag von Oswald Bertram.
1861.
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Einleitung
Erſtes Buch.
Die Ausbildung der Form.
Erſtes Kapitel. Der Minneſang und der Meiſterſang .
Zweites Kapitel. Der Volksgeſang
Drittes Kapitel. Das Kunſtlied
a Zweites Buch.
Der unendliche Inhalt eee eine 8 1 51 N
der Form a
Erſtes Kapitel. Das deutſche Lied unter dem Einfluß der
„Arie“ in Oratorium und Oper.
Zweites Kapitel. Das volksthümliche Lied
Drittes Kapitel. Die neue lyriſche Dichtung erfordert pe An⸗
ſchluß an das Wort
Viertes Kapitel. Die neue Lyrik verleitet zu bange Erwei⸗
terung. En
Fünftes Kapitel. Das deutſche Lied in höchſter Blüte
Sechſtes Kapitel. Einſeitige Be 5 Erweiterung des
Liedes 5 .
Siebentes Kapitel. Der noble Bänkeljang .
Drittes Sud).
Das deutſche Lied in ae weitern e
Beziehungen
Erſtes Kapitel. Die Gewalt des wage ergreift us das
Epiſche !
Zweites Kapitel. Einfluß des Liedes u die don Bocal⸗
formen
Drittes Kapitel. Einfluß des Liedes ns 7 Entwicklung EN In⸗
ſtrumentalmuſik. F
Notenbeilagen.
Seite
Das Recht der Ueberſetzung in eine fremde Sprache hat ſich der Verfaſſer
vorbehalten.
A. Reißmann.
Einleitung.
Das deutſche Lied führt uns nicht weiter zurück in die frühen
Zeiten germaniſcher Geſchichte, als bis in die Periode, in welcher
das Chriſtenthum den Völkern deutſcher Zunge verkündet wurde,
und auch die Zeit noch, welche daſſelbe bedurfte, um ſich dem Volks—
geiſte zu aſſimiliren, wird uns nur vorübergehend beſchäftigen.
Wohl regt ſich die Sangesluſt überall mit den erſten Spuren
der Kultur, und daß die deutſchen Stämme früh, ſchon in der
Zeit der Berührung mit den Römern Geſang liebten und übten,
wird uns durch glaubwürdige Zeugen beſtätigt, aber Lieder in
unſerm Sinne hatten ſie wohl nicht. Durch Tacitus erfahren
wir, daß ſie in eigenthümlichen Geſängen die Stammesgottheiten
des Volkes — Tuiſto, den Erdgeborenen und deſſen Sohn
Mannus feierten, und in ihren Schlachtgeſängen einen Gott, den
der Römer Herkules nennt, als tapferſten Helden prieſen. Er
bezeugt ferner, daß das Andenken des Armin ius in Liedern
fortlebte, und gedenkt des wildfröhlichen Geſanges, den die alten
Deutſchen bei ihren Gelagen während der Nacht vor einer Schlacht
ertönen ließen. Daß von dieſen Geſängen nichts erweislich auf
uns gekommen iſt, darf nicht befremden. Sie lebten nur in der
Tradition fort und in Folge der gänzlichen Umgeſtaltung germani—
ſchen Geiſtes und germaniſcher Sitte mußten fie nothwendig
abblühen.
Die Kunſt hat dieſen Verluſt gewiß weniger zu beklagen als
die Kulturgeſchichte. Die Römer wenigſtens zeigen ſich von germani—
ſchem Geſange nicht ſehr erbaut. Der Kaiſer Julian nennt ihre
Gedichte bäuriſch und vergleicht ihren Geſang mit dem Geſchrei
1
Reißmann, deutſches Lied.
REN ee.
wilder Vögel und in ähnlichem Sinne urtheilt Tacitus. Venan—
tius Fortunatus geht ſogar ſo weit, den Deutſchen die Fähig—
keit abzuſprechen, zwiſchen Schwanengeſang und Gänſegeſchrei einen
Unterſchied zu machen und Ammianus Marcellinus bezeichnet
ihren Geſang mit stridere — ziſchen — knarren — pfeifen.
Wir haben wenig Grund, an der Wahrhaftigkeit dieſer Zeug—
niße zu zweifeln. Die alten Germanen liebten Jagd und Krieg
über alles und die friedlicheren Beſchäftigungen, welche allein die
Kultur befördern, waren ihnen fremd. Dem entſprachen die In—
ſtrumente, mit denen ſie ihren Geſang begleiteten. Venantius
Fortunatus erwähnt zwar der Harfe — Cithera — als Beglei—
tungsinſtrument, doch hatte dies wohl wenig mit unſerm gleich—
namigen Juſtrument gemein, und bei den öffentlichen Gelagen und
gottesdienſtlichen Feierlichkeiten verwendeten ſie nur die ſchallver—
ſtärkenden Inſtrumente.
Eine bedeutſame Wendung trat ſchon in den erſten Jahr—
hunderten nach Chriſtus ein, zumeiſt herbeigeführt durch den Verkehr
mit andern Völkern, in welchen die germaniſchen Stämme durch
ihre Kriege, wie durch die Völkerwanderung gebracht wurden.
Neben einer größeren Bildung blühte namentlich der Volksgeſang
jetzt mächtig empor und das Chriſtenthum fand eine Menge Lieder
und Geſänge vor.
Wie ſehr aber auch jetzt noch dieſer altgermaniſche Geſang
von dem verſchieden ſein mußte, den die römiſche Kirche bereits mit
jo glänzendem Erfolge auszubilden begonnen hatte, geht namentlich
daraus hervor, daß es den deutſchen Kehlen ſo unendlich ſchwer
wurde, den römiſchen Geſang zu erlernen, und daß Jahrhunderte
vergingen, ehe er ihnen nur einigermaßen geläufig wurde. Der
gregorianiſche Geſang, aus welchem ſich die europäiſch-abendländiſche
Muſik entwickelte, iſt ſo durchaus ſelbſtändiges Produkt chriſtlichen
Empfindens und Denkens, daß er wenig mit der hebräiſchen und
noch weniger mit der griechiſchen oder der altgermaniſchen Geſangs—
weiſe gemein haben konnte. Die Kunſt der Innerlichkeit — und
vor allem der Geſang — konnte nur dann erſt zur Blüthe gelangen,
als das Chriſtenthum die Welt der Innerlichkeit erſchloß. Daß
auch die Melodie des alt- und mittelhochdeutſchen Gedichts nur eine
gefteigerte Sprachmelodie, ein ſtark durchſchlagender Buchſtabenreim
iſt, ohne die unterſcheidbaren Intervalle, wie ſie der gregorianiſche
a
Geſang ausbildete, wird uns ebenſo indirect wenigſtens, durch über-
lieferte Zeugniße, wie durch die erhaltenen Dichtungen beſtätigt.
Nur durch eine energiſch ausgebildete Sprachmelodie wird eine ſo
durchbildete Verskunſt, wie die alt- und mittelhochdeutſche ermög⸗
licht, und wir werden ſpäter einſehen, daß dieſe Verskunſt geradezu
verwildern mußte, um der ſelbſtändigen Geſangesweiſe Raum für
ihre Entwickelung zu gewähren. Wie emſig das Syſtem der Vers -
und Wortbetonung ausgebildet wurde, beweiſt die, wahrſcheinlich
von Hrabanus Maurus zuerſt verſuchte, und von feinen
Schülern Otfried, Williram und Notker erweiterte genaue
Bezeichnung derſelben.
Eine nur einigermaßen ſelbſtändige Melodie mit unterſcheid—
baren Intervallen würde eher zur Erfindung der Singnote gedrängt
haben, wie wir dies in der Entwickelung des gregorianiſchen Geſanges
ſehen. Und wenn die erſte Strophe der Heidelberger Handſchrift
des Otfriedſchen Gedichts mit Singnoten verſehen iſt, ſo beſtätigt
das nur die oben ausgeſprochene Anſicht über den Unterſchied
zwiſchen gregorianiſcher und altgermaniſcher Geſangsweiſe. Die
Singnoten bezeichnen die kirchliche, und die daneben ſtreng durch—
geführte Versbetonung die volksmäßige Weiſe. So wird auch
erklärlich, daß die Bezeichnung für den Vortrag Singen und
Sagen bis tief in das dreizehnte Jahrhundert hinein eng ver—
bunden iſt, daß beide dieſelbe Thätigkeit bezeichnen und die Dichter
häufig nur des Sagens Erwähnung thun, wo entſchieden auch
geſungen wurde. Mit der, durch die chriſtliche Kirche ange—
bahnten und weiter gebildeten Selbſtändigkeit der Melodie beginnen
ſich auch dieſe beiden Begriffe zu ſcheiden und treten einander
endlich gegenüber; ſagen iſt dann gleichbedeutend mit leſen
oder ſprechen.
Dieſe weſentliche Verſchiedenheit germaniſchen Geſanges von
dem chriſtlichen — dem gregorianiſchen einer- und die Unbeholfen-
heit und Ungefügigkeit germaniſcher Kehlen andrerſeits mochte auch
mehr, als jede andere Rückſicht oder Abſicht, die Ausſchließung
oder Beſchränkung auf einen ſo geringen Antheil am gottesdienſtlichen
Geſange, wie er dem Laien innerhalb der chriſtlichen Kirche gewährt
wurde, nothwendig machen; und vielleicht darf man auch dieſem,
ohne fürchten zu müſſen, eine heilige Sache zu profaniren, eine
viel weniger gottesdienſtliche, als rein praktiſche Bedeutung beilegen.
1 *
.
Die chriſtliche Kirche verfuhr in den erſten Jahrhunderten ganz
bewußt umbildend und neugeſtaltend, und wir dürfen annehmen,
daß es auch in ihrer Abſicht lag, die Germanen zum Geſange
heran zu bilden. Und war es ihre Abſicht nicht, ſo hat ſie es
wenigſtens erreicht, durch die beſondere Art der erſten Einrichtung
des Kirchengeſanges. Obgleich ſchon die erſten Bisthümer zu Mainz,
Worms, Speier, Straßburg und Cöln verſuchten, die neue Geſangs—
weiſe zu verbreiten, und obgleich den Miſſionaren, namentlich ſeit
Gregor II., welcher 715 den päpſtlichen Stuhl beſtieg, die Pflege
deſſelben zur Pflicht gemacht war, ſo konnte er doch weniger feſten
Boden gewinnen als das Chriſtenthum ſelbſt, und ſchon früh
mußten die Frauen, und ſpäter auch die Männer vom Kirchen—
geſange ausgeſchloſſen werden. Die Maſſe der Laien betheiligte ſich
am gottesdienſtlichen Geſange jetzt nur durch die Rufe: „Kyrie
eleison“ — „Christe eleison“ und „Hallelujah“, und als fie
auf dem Endvocal „a“, dem fie ſpäter auch noch e und u und i
beigeſellten, ihre Stimme in wirklichem Geſange ausſchallen ließen,
ſo war das eben wohl zunächſt nichts weiter, als was die
geiſtlichen Sänger ſelbſt lernen und üben mußten — ein, ſpäter
„Solmiſiren“ genanntes Schuleſingen. Daß dieſe ſogenannten
Jubeltöne — longus sonus jubilationis — wirklich der Ausdruck
froher Begeiſtrung und ſprachloſen Entzückens geworden ſind, iſt
unzweifelhaft, aber von vorn herein konnten ſie es kaum ſein.
Jahrhunderte vergingen noch, ehe das religiöſe Empfinden des
Volkes ſtark genug wurde, ſich in dieſem Sinne künſtleriſch ſchaffend
zu erweiſen. Dieſe Jubili bildeten ſich zu abgeſchloſſenen Melodien
aus, und auf ſie iſt der Urſprung unſeres Liedes zurück zu führen.
Sie müſſen in kurzer Zeit ſchon eine bedeutende Erweiterung erfah—
ren haben, denn Ausgang des neunten Jahrhunderts waren ſie
ſchon ſo ſelbſtändig herausgebildet, daß ſie ſich von den geſammten
übrigen gottesdienſtlichen Geſängen durch ihre größere Mannich—
faltigkeit weſentlich unterſchieden — und daß man ihnen endlich
beſondere Texte unterlegte.
Notker der Aeltere — genannt Balbulus — war, wenn
auch nicht Erfinder, doch neben den St. Galliſchen Mönchen Rat—
pert und Tutilo der eifrigſte Verbreiter dieſer neuen Weiſe des
Kirchengeſanges. Er ſelbſt ſagt: daß er ſchon in ſeiner Jugend
auf ein Mittel geſonnen habe, die langgedehnten Jubili dem
SI
Gedächtniß haltbarer zu machen, und daß er endlich durch ein Anti-
phonar, das ihm ein Prieſter aus Gimedia zuführte, und in wel—
chem die Jubili mit Strophen, aber nicht fehlerfreien, verſehen
waren, auf die Idee gebracht wurde: andere, in derſelben Weiſe
aufzuſetzen. Sie verbreiteten ſich raſch und wurden, von den Päp—
ſten ſanctionirt, unter die Cultusgeſänge aufgenommen, und einige
haben ſich bis heute in der katholiſchen Kirche erhalten, wie die
Frohnleichnams-Sequenz: „Lauda Sion“ oder die Sequenz: de
septem doloribus Mariae virginis: „Stabat mater dolorosa.“ Sie
waren Anfangs meiſt unmetriſch, wenigſtens war der Rhythmus
nur ſchwach zu erkennen (erjt ſpäter, mit der immer wachſenden
Herrſchaft des Reims, wurden ſie metriſch) und, wie das der Cultus
erforderte, in lateiniſcher Sprache abgefaßt.
Bald jedoch wurde auch das Bedürfniß nach deutſchen Texten
für die Jubeltöne rege und der uns erhaltene Geſang auf den
Apoſtel Petrus: „Unsar trohtin hät farsalt“ verdankt ihm feine
Entſtehung. Er hält, abweichend von den lateiniſchen Sequenzen
eine Strophenart feſt, hat alſo Liedform — während die übrigen
Texte der Jubili verſchiedene Strophenarten miſchen — allein die
Melodie macht ihn zu einem ſogenannten „Leich“ die eigentlich
urſprüngliche Form der Sequenz. Jede Strophe hat ihre beſon—
dere Melodie, mit Ausnahme des „Kyrie eleiſon“ und „Chriſte
eleiſon.“ Und wenn es überhaupt eines Beweiſes dafür bedürfte,
daß die ſtrophiſche Abtheilung das Volksmäßige iſt, ſo liefert
ihn die Geſchichte in der eigenthümlichen Weiterbildung dieſer beiden
Formen.
Schon Notker Labeo ( 1022) unterſchied lied unde leicha
— und in dieſer feſten Abgrenzung wurden beide Formen weiter
gebildet. Das Lied hielt eine Strophenart feſt, der Leich
miſcht oft die verſchiedenſten und faßt ſie zu einem einheitlichen
Gedicht zuſammen. Jene Form findet eine immer wachſendere Aus—
bildung, namentlich im Volksgeſange, während dieſe nur einige
Jahrhunderte hindurch vorherrſchend im Kunſtgeſange und dann
auch eine Zeitlang als Tanzform (Reihen) auch im Volks—
geſange vorübergehende Pflege findet und endlich abblüht und ver—
ſchwindet. |
Die Melodien dieſer Sequenzen gehören, wie bereits erwähnt,
der gregorianiſchen Geſaͤngsweiſe an, jenem cantus choralis, der
BE: rn
in feiner einfachen Erhabenheit und Großartigkeit ſo recht geeignet
iſt religiöſer Volksgeſang zu ſein. Ihr eigentlicher Urſprung unter-
ſcheidet ſie weſentlich von allen anderen Geſängen des Cultus —
den liturgiſchen Geſängen und den Hymnen. In dieſen war die
Melodie das Untergeordnete, der Text das Beſtimmende und
Maßgebende, dem ſich die Melodie anſchließen mußte. Bei den
Proſen und Sequenzen verhält es ſich gerade umgekehrt. Die
Melodie iſt unmittelbarer Ausfluß des erwachenden religiöſen Ge—
fühls, dem der Text erſt in feſtem Anſchluß an jene eine begriff—
liche Faſſung zu geben trachtet. Das einzig formelle Band ſind
für die Melodien nur die Regeln des gregorianiſchen Kirchen—
geſanges. Dieſer unterſcheidet ſich weſentlich von dem unſrigen
— aus dem Volksgeſange gebildeten. Auch ihm liegt die diato—
niſche Tonleiter zu Grunde, aber indem er ſeine Tonleitern ohne
die, durch die Verſetzungszeichen — # und b. — erzeugten Halb-
töne, die man noch nicht kannte, conſtruirt, wird jede von der
andern verſchieden. Das moderne Tonſyſtem gleicht, mit Hülfe
dieſer Halbtöne, die Intervalle aus, jo daß die Cdur-Tonleiter
ganz dieſelben Fortſchreitungen zeigt, wie die G-, D- und jede
andere Dur-, und die Amoll- wie jede andere Molltonleiter.
Wir beſitzen demnach nur eine Normaltonleiter und zwei Klang-
geſchlechter: Dur und Moll. Das gregorianiſche Syſtem kennt
dieſe Ausgleichung nicht. Indem es ſeine verſchiedenen Tonleitern
nur aus den Normaltönen bildet, erhält es ſo viel verſchiedene
Tonleitern, als es eben Normaltöne hat. Denn die Tonleiter,
welche nach dieſem Syſtem auf D. erbaut iſt, heißt:
D. F. F. G. A. H. C. PD.
zeigt alſo die Halbtöne von der dritten zur vierten (E — F.) und
von der ſechsten zur ſiebenten Stufe (II — C.), die aber, welche
mit E. beginnt:
f H. F. G. A. H. C, D. E.
zeigt ſie von der erſten zur zweiten (E — F.) und von der fünften
zur ſechsten Stufe (II — C.). Dieſe Tonleitern unterſcheiden ſich in
mindeſtens einem Verhältniß, und dieſe eigenthümliche Conſtruction
jeder einzelnen giebt ihr auch einen, von dem der andern abweichen—
den Character und bedingt zunächſt jene eigenthümliche Melodie—
führung, die uns in ihrer Fremdartigkeit To wunderbar anmuthet.
1
So konnte keine, nach dem Syſtem der Octavengattung abgefaßte
Melodie den, für unfre Melodiebildung meiſt jo unerläßlichen Unter—
halbton von der ſiebenten zur achten Stufe haben, als da, wo
es die ſtreng befolgte Geſangsregel geſtattete — in der joniſchen
und lydiſchen — (von C. und F.) und dies verleiht den Melodien
das eigenthümlich Schwebende, bei aller Inbrunſt doch unbefriedigt
Sehnſüchtige ihrer Wirkung. Dem entſprechend iſt auch die eigen—
thümliche Behandlung der großen Terz im Gegenſatz zur kleinen
und zur Quint und Quart. Die große Terz durfte im alten
Syſtem nicht zur eigentlichen Bedeutung gelangen. Sie ſchließt
ſich in ihrer Klangwirkung eng der Dominantbewegung an,
ja vollendete dieſe eigentlich erſt, während die kleine, die Mollterz,
ſich enger dem Princip der Ruhe, des Inſichverharrens, der Tonika
anſchließt und das Letztere entſpricht dem Muſikempfinden jener Zeit
mehr als jenes.
Es dürfte hier ſchon nothwendig werden, auf dieſe ganze
Eigenthümlichkeit des Tonmaterials ſpecieller einzugehen, weil ſich
hieraus die Bedeutung des gregorianiſchen Syſtems am Sicherſten
erkennen läßt und weil wir für unſere Hauptaufgabe, die hiſtoriſche
Entwickelung des modernen, auf jener Eigenthümlichkeit beruhenden
Tonſyſtems, einen ſichern Ausgangspunkt gewinnen.
Das Grundelement der modernen Muſik iſt der Accord. Er
entſteht aus der gleichzeitigen Verbindung von drei oder mehr terzen—
weis aufgebauten Tönen. Zwei Terzintervalle zu einem Intervall
vereinigt nennen wir Quint. Das, mit ſich ſelbſt einheitliche
Ausgangsintervall Prime — und inſofern es im Dreiklang das Terz -
und Quintiutervall beſtimmt, Grundton. Dieſer iſt im Dreiklang
das Moment des Beharrens. *) Die Quint erſcheint als ſein
Gegenſatz, als Moment ſtetiger Bewegung. Treten beide zu einer
Klangwirkung zuſammen, ſo muß dieſe eine zwieſpältige werden, in—
dem ein Moment das andre aufzuheben trachtet, und ſo wird die
Sehnſucht nach einem Dritten rege, das jenen Zwieſpalt aufhebt.
Dies dritte, einigende Moment, iſt die Terz und in ihrem Hinzutritt
*) Die erſte Anregung zu derartigen Unterſuchungen gab wohl der berühmte
Philoſoph Herbart. Eine ebenſo tiefſinnige, wie erſchöpfende Begrün⸗
dung des modernen Touſyſtems lieferte Moritz Hauptmann in ſei⸗
nem Werke: Die Natur der Harmonik und Metrik. Leipzig 1853.
u
gewinnt der Dreiklang erſt einheitliche Wirkung. Das Quintintervall
iſt in Dur und Moll gleich, natürlich auch die Quintwirkung; die
Vermittelung jedoch iſt eine verſchiedene. In Dur erfolgt ſie durch
eine große, in Moll durch eine kleine Terz; und das erklärt den
Unterſchied ihrer Klangwirkung. Die Durterz liegt dem Moment der
Bewegung — der Quint näher, — e iſt eine große, e—g
aber nur eine kleine Terz, ſie hebt daher jenen Zwieſpalt ener⸗
giſch, mit feſtem, ſicherm Anſchluß an die Quint auf; von jener
Sehnſucht nach Erfüllung bleibt keine Spur mehr zurück und der
Durdreiklang iſt deshalb der volle und gedrungene Ausdruck that—
kräftiger Befriedigung. Die Mollterz ſchmiegt ſich weich und gedrückt
an den Grundton; ſie iſt nicht vermögend, jenen Zwieſpalt aufzu⸗
heben, es bleibt noch ein gut Theil Sehnſucht nach Durbefriedigung
zurück. In ihrem engern Anſchluß an die Quint, das Moment
der Bewegung erhält die Durterz zeugende Kraft. Dies Moment
wird ſo vorherrſchend, daß der Durdreiklang, in andere Beziehung
geſetzt, neue Harmonieen nach ſich zieht. Die Mollterz liegt dem
Moment der Ruhe, dem Grundton näher; das der Bewegung tritt
zurück und der Molldreiklang nimmt an der Bewegung nur noch
Theil, er regt ſie nicht an. Die zeugende Kraft erweiſt ſich zu—
nächſt in der Bildung der Tonart. Jeder Durdreiklang kann ein
Erzeugtes und ein Erzeugendes ſein. Im erſtern Falle iſt er
toniſcher, im letzten Dominantdreiklang. Der Dreiklang o— e—g
iſt toniſcher Dreiklang in der Vorausſetzung des Dreiklangs auf
ſeiner Quint — des Dominantdreiklangs g —-h -d; als Dominant⸗
dreiklang erzeugt er ſeinen toniſchen Dreiklang k— a — e und auf
dieſer Erſcheinung, der Folge von Dominant und Tonika, beruht
der ganze harmoniſche Geſtaltungsprozeß. Es erfolgt die Bildung
des Ober- und Unterdominant-Dreiklangs:
„„
f—a—c—e—g—h—d
als die Angelpunkte der Tonart. Die Bildung der Molltonart
erfolgt in anderer Weiſe. Der Molldreiklang iſt nicht erzeugend,
er kann nicht Dominant ſein. Um toniſcher Dreiklang zu werden,
leiht er ſich den Durdominant-Dreiklang, und der Dreiklang auf
ſeiner Unterdominant iſt eine Nachbildung der Accordfolge in Dur:
A
— as — e — es — g—h—d
.
Auf dieſer Beſchränkung des Molldreiklangs beruht das Ver—
ſchwommene der Molltonart. Der Durdreiklang nimmt in ſeiner
dreifachen Stellung als toniſcher, Dominant- und Unter
dominant» Dreiflang auch verſchiedenes Klanggepräge an. Der Moll—
dreiklang entbehrt dieſer Färbungen, er iſt immer gleich. Die Moll—
tonart gewinnt daher einen Aufſchwung nur durch die Ausweichung
nach Dur, und ſie erlangt ihren ewig gleichmäßigen Charakter erſt
wieder durch den Dominant- Accord der Durtonart, der ſie zurück—
leitet. Dies führt uns auf den innern Zuſammenhang von Moll
und Dur. Die Terzenreihe macht ihn anſchaulich:
ET DEE 35
a—c—e— g—h—d—f—a—c
Die weitere Verfolgung des Verfahrens, das Tonmaterial aus
ſich ſelbſt zu entwickeln, führt zu neuen Dur- und Molltonarten.
Der Durdreiklang kann toniſcher, Dominant-- und Unter-
Dominant-Dreiffang ſein, und jede dieſer Beziehungen hat noth-
wendig zwei andere zur Folge. Wird der Dominant-Dreiklang der
Cdur⸗Tonart toniſcher Dreiklang, fo iſt natürlich der Dreiklang
o— eg nicht mehr toniſcher, ſondern Unterdominant-Dreiklang,
und durch den neuen Dominant⸗Dreiklang d — fis —a iſt eine neue
Tonart characteriſirt: die Gdur-Tonart. Ihr Dominant-Dreiklang
als toniſcher geſetzt, erfordert einen neuen Dominant-Dreiklang
a — cis — e und er führt eine neue Tonart ein: D dur. Auf dieſem
Wege ergeben ſich, im Quintenzirkel, ſämmtliche Kreuz-Tonarten.
Das andere Verfahren, den toniſchen Dreiklang als Dominant -
Dreiklang geſetzt, führt im Quartenzirkel den B-Tonarten zu.
Dieſe doppelte Erweiterung des Tonartenſyſtems erzielt, als von
zwei einander entgegengeſetzten Vorausſetzungen ausgehend, auch
doppelte, einander entgegengeſetzte Klangwirkung. Das Moment
der Bewegung, die Dominant, als das der Ruhe, Tonika
geſetzt, erzielt eine Erhöhung und Steigerung, und umgekehrt,
das Moment der Ruhe als das der Bewegung geſetzt, erzeugt eine
Verſenkung der Grundſtimmung.
So erweiſt ſich das moderne Tonſyſtem mehr als harmoniſch,
das gregorianiſche als melodiſch-conſtruirt. Auch die Dominant-
bewegung zeigt ſich im altkirchlichen, dem gregorianiſchen Geſange
Zar
melodiſch wirkſam, zunächſt in der Bildung der Tonleiter in
Tetrachorden:
2 FT ET RR
die Fs Ane
— — —
Bedeutſamer noch tritt die Dominantbewegung in der beſon—
dern Führung der Tonleiter, und der auf ſie baſirten Melodien —
als authentiſche und plagaliſche auf. Früh ſchon ſuchte
man innerhalb der einen Tonart eine reichere Charakteriſtik durch
Verſetzung der Tetrachorde zu gewinnen. Die Tonleiter vom Grund—
ton bis zur Octave geführt (wie oben) nannte man authentiſch;
(vom griechiſchen auderrng, ächt oder ſelbſtändig, weil vom heil.
Ambroſius herſtammend); von Quint zu Quint geführt
S
à he d e fg 2
hieß fie plagaliſch (von zrAeyıog hergeleitet oder entlehnt). So
erweiterte ſich der Kreis der Tonarten auf 14, die indeß ſich auf
12 reduziren, weil die mit k beginnende Tonleiter durch die, von
der allgemeinen Regel abweichende Bildung der Tetrachorde — das
eine zeigt nur Ganztöne
232 RE TIEREN
fg ach Gch ef
ſo wohl authentiſch wie plagaliſch ſich als wenig brauchbar erwies.
Dieſe beſondere Führung der Tonleiter mußte die Strenge und den
typiſchen Character der alten Melodie bedeutſam mildern und ſie
dem modernen Tonſyſtem näher führen, und ſchon Karl der Große
ſah ſich genöthigt durch kaiſerliches Mandat zu erklären: „octo
toni sufficere videntur.“ Durch die kontrapunctiſchen Arbeiten der
nachfolgenden Jahrhunderte wurde der geſammte Prozeß bedeutend
aufgehalten — ſie hielten ſich ſtreng innerhalb des urſprünglichen
Syſtems — allein in der Praxis mußte ſich namentlich in den
plagaliſch geführten Melodien die Nothwendigkeit der Ausgleichung
durch die Verſetzungszeichen herausſtellen, und als endlich im Volks—
geſange die große Terz vorherrſchend wurde, ſtarb das alte Syſtem
ab und an ſeine Stelle trat das neue unſer modernes. Es
wird Hauptaufgabe unſerer Darſtellung ſein, dieſen geſammten
Entwickelungsgang nachzuweiſen.
Ungleich ſchwieriger, wenn nicht geradezu unmöglich, dürfte es
ſein, in den Sequenzen-Melodien ein beſtimmtes rhythmiſches Geſetz
*
Be
zu erkennen. Der gregorianiſche Geſang ging wieder zurück auf
den einfachſten, aus Hebung und Senkung gebildeten Rhythmus,
weil dieſer, auf den Accent baſirend, der einzig volksmäßige Ge—
meindegeſang iſt. Er bewegt ſich in Tönen von gleichem Werth,
mit Ausnahme des vorletzten Tons der Zeile, der gewöhnlich doppelt
ſo lang wurde. In den Sequenzen-Melodien machte ſich früh
eine größere Mannichfaltigkeit geltend und vielleicht könnte man dieſe
auf dieſelbe Luſt, einen feſtſtehenden Geſang zu verſchnörkeln, zurück—
führen, die heut noch im Volk lebt und namentlich im Choral—
geſange ſich geſchäftigt erzeigt. Ihnen fehlte ja ſelbſt das formale
Band der Sprache; ſie wurden, wie bereits angeführt, zunächſt ohne
Text erfunden und konnten zu einer viel reicheren Melismatik
gelangen, als jene gregorianiſchen Hymnen. Streift man dieſe ab,
ſo bleiben ähnliche Melodien, wie die des Hymnus zurück. Daß
das Volk in dieſer ſchaffenden Thätigkeit durch die reich ausgebildete
Sprachmetrik ſeines alten Volksliedes vielfach geleitet wurde, darf
man ſicher annehmen. So iſt wohl die, bis ins fünfzehnte Jahr—
hundert allgemein als Regel geltende Verlängerung des erſten Tons
jedes Liedes, auf daſſelbe rhythmiſche Gefühl zurückzuführen, das ſie
drängte, der erſten Silbe, gleichviel ob kurz oder lang — mit
wenig Ausnahmen — den Hoch- oder Hauptton zu geben, eben
ſo wie anzunehmen iſt, daß die, im alt- und mittelhochdeutſchen
häufig vorkommende Silbenverſchleifung
* 5 A
swie er kleidete sine man
auf die Triole — und auf den ſpäter fo eigenthümlich wirkenden
Wechſel der Dreitheiligkeit mit der Zweitheiligkeit geführt haben
mochte. Wir gehen auf Einzelnes ſpäter noch näher ein.
Die Nothwendigkeit, dieſes Verfahren unter ein beſtimmtes
Geſetz zu bringen, ſtellte ſich erſt mit dem Beginn der Mehrſtim—
migkeit heraus. Als zwei oder mehr Stimmen zu gleicher Zeit
ſangen, wurde es nothwendig, die Dauer jedes einzelnen Tons
beſtimmt zu fixiren. Faſt zu derſelben Zeit mit der Harmonik
beginnt daher die Feſtſtellung einer Menſuraltheorie. Freilich ver—
lor auch ſie ſich, wie jene, in unfruchtbarer Speculation, fand
aber im Volksgeſange gleichfalls ſich wieder. Dieſer fand den Weg
zu ſo herrlicher Entfaltung, daß er im Reformationszeitalter dem
Kirchengeſange die Elemente ſeiner Verjüngung zurück geben und
| RS
eine ganz neue, unſere moderne Muſik erzeugen konnte. Ehe indeß
das Volkslied dieſe Blüthe erreichte, erfuhr der gregorianiſche
Geſang bereits eine, mehr kunſtmäßige Umbildung im Minne⸗
geſange, wie im Meiſtergeſange, und da beide nicht ohne
directen Einfluß auch auf den Volksgeſang geworden ſind — und
im Grunde genommen einige Verwandtſchaft der Beſtrebung zeigen,
ſo müſſen wir beide etwas näher betrachten, wenn auch beide eine
poſitiv bedeutende Melodie nicht erzeuget haben.
Erſtes Buch.
Die Ausbildung der orm.
Erſtes Rapitel.
Der Minnefang und der Meiſterſang.
a. Der Minneſang.
Mancherlei Umſtände mußten zuſammen wirken, dieſe erſte Frucht,
welche das Chriſtenthum auf dem Gebiete der deutſchen Kunſt empor
trieb, zur Reife zu bringen. Die veränderte Stellung, in die jetzt
das Einzelindividuum tritt, mußte nothwendig von folgenſchwerer
Einwirkung auf die Entwickelung derjenigen Künſte werden, welche
für den individuellen Ausdruck fo ausſchließlich geeignet find: Dicht-
kunſt und Muſik.
Das iſt einer der Hauptvorzüge der chriſtlichen Religion vor
allen andern, daß ſie das Recht der Innerlichkeit gewährleiſtet.
Wenn der Einzelne ſich bisher nur als Theil der Geſammtheit
empfinden lernte, ſo beginnt er jetzt ſich als Individuum zu
fühlen; es entfalten ſich die ſubjektiven Mächte ſeines Innern
une früh ſchon wagt der deutſche Geiſt im Kampf gegen die Hie—
rarchie, welche ihm die kaum empfundene Freiheit des Subjekts zu
rauben trachtet, ſeine Individualität geltend zu machen und wird
dadurch zu immer energiſcherer Einkehr in ſein Inneres gedrängt.
Sollte dieſer neue Inhalt, den das Subjekt gewinnt, ſich nicht
in objektloſen Träumereien und geſtaltloſen Schemen verlieren, ſo
mußte er an der Bruſt des allgemeinen Lebens genährt und mit
en
ihm in andauernd unterhaltene Beziehung treten, und jo war es
wiederum nothwendige Bedingung, daß gerade jene Zeit der Ent—
faltung deutſcher Individualität von gewaltigen Ideen und Ereig—
niſſen bewegt wurde.
Die Kreuzzüge ſind ſo tief in das Leben der Völker eingreifende
Erſcheinungen, daß ſie die Phantaſie poetiſch ſtimmen, die dich—
teriſche Begeiſterung mächtig anregen mußten und der, durch ſie
herbeigeführte Verkehr mit den Völkern der verſchiedenſten Sitten
und Eigenthümlichkeiten, mit unterſchiedener Lebensweiſe und Bil—
dung, vor allem auch der ſpecielle Austauſch der Erzeugniſſe der
Phantaſie, der Künſte und Wiſſenſchaften wirkten befruchtend und
nährend auf das erweckte innere Leben ein. So werden auch der
deutſchen epiſchen Dichtung eine Menge Stoffe zugeführt, die ſie
vorher nimmer gekannt und jene lyriſche Selbſtbeſchaulichkeit erzeugt
Formen und Töne, wie ſie die ganze reiche Vergangenheit nicht
gehabt haben konnte. Im ganzen Geiſte der Zeit aber iſt es begrün⸗
det, daß die erſte Phaſe des lyriſchen Geſanges eine ritterliche,
oder wie ſie bezeichnend heißt, eine höfiſche iſt.
Der Stand der Ritter, der ſchon vor den Kreuzzügen ſich
aus den edelbürtigen und vollfreien Leuten gebildet, und begünſtigt
durch die kriegeriſche Zeit zu feſter Abgeſchloſſenheit und zu bedeu—
tenden Privilegien gelangt war, ſondert ſich bald von den andern
Ständen ab und errang namentlich in Nordfrankreich, und der
Provenge früh große Selbſtändigkeit. Ganz beſonders aber verlieh
der erſte Kreuzzug ihm einen ſolchen Glanz, daß der provencalifche
bald tonangebend für die übrige Ritterſchaft wurde.
Wie nun mittlerweile in der chriſtlichen Kirche Maria, die
Mutter Jeſu, der Mittelpunkt der geſammten Gottesverehrung
geworden war, wie der geſammte Cultus in einen Mariencultus
aufzugehen begann, ſo wurden die Frauen Mittelpunkt des beleb—
teren und feiner geſitteten geſelligen Verkehrs, und Dichtkunſt und
Tonkunſt, wie das geſammte Leben, begaben ſich in den Dienſt der
Frauen, und ſo treibt jene Zeit herauf, die wir, allerdings ſehr
einſeitig, die Zeit der Minneſinger nennen. Nicht Minne allein,
ſondern die geſammten Ereigniſſe des Lebens und der Welt geben
ihnen Stoff für ihre Dichtung, die ſomit nach paſſender Bezeich—
nung auf Gottesdienſt, Frauendienſt und Herrendienſt
gerichtet iſt.
— 15 — m
In welcher Ausdehnung die erblühende deutſche Lyrik, was
Vers und Reim und ſtrophiſches Gebäude anbetrifft, von der
romaniſchen beeinflußt ward, kann hier nicht weiter unterſucht
werden.
Eine Vergleichung der wenigen erhaltenen Melodien indeß
zeigt die deutſchen als durchaus ſelbſtändige Produkte deutſcher
Sangesluſt; denn auch jene Weiſe des Kirchengeſanges, als deſſen
Umbildung ſie erſcheinen, hat ſich der deutſche Geiſt bereits in
unabläſſiger Arbeit angeeignet, ſo daß ſie ſchon als ſein eigenſtes
Produkt gelten müſſen. 5
Die Melodien der Lieder der ältern Minneſinger ſcheinen noch
eine Miſchgattung jener, mehr volksmäßigen, aus den Sprachaccenten
gebildeten älteren und der neuen, mehr rein muſikaliſchen gregoria-
niſchen Kirchengeſangsweiſe geweſen zu ſein. Die Dichtung ſchloß
ſich im Beginn dieſer Periode entſchieden dem Volksmäßigen an
und die Gedichte des 12. Jahrhunderts von dem Kürenberger,
Meinloh von Sevelingen, Dietmar von Eiſt u. A. zeigen
in Wort und Weiſe eine viel innigere Verſchmelzung, als die ſpäteren
Lieder, die unter dem entſchiedenen Einfluß der romaniſchen Lyrik
am Ende des 12. Jahrhunderts entſtanden und bei Heinrich von
Veldecke, Friedrich von Haufen, Heinrich von Mo—
rungen u. A. ſchon eine Mannichfaltigkeit der Form und Gewandheit
der Sprache zeigen, welchen die muſikaliſche Darſtellung nicht mehr
zu folgen vermochte. Die große Innigkeit und Gemüthstiefe der
ritterlichen Sänger konnte in der Melodie kaum eine Steigerung
finden, und für das formell kunſtreiche der neuen Liederpoeſie fehlten
dem Geſange eigentlich die Darſtellungsmittel noch gänzlich, und
der Minneſang bedurfte ihrer auch wohl noch nicht. Jene Gemüths—
fülle, welche im Worte nicht vollſtändig zur Erſcheinung kommt,
und die rechtes Objekt für muſikaliſche Darſtellung iſt, war bei dem
Minneſinger wohl noch wenig vorhanden. Die ganze Empfin⸗
dung kommt in den klangvollen, feinfinnig abgeſtuften Accenten und
dem wunderbar mannichfaltigen und feſtgeſchloſſenen Versbau ſo
vollſtändig zum Ausdruck, daß der Melodie wenig Raum bleibt
für ihre eigene Darſtellung, und daß wir ſelbſt mit unſeren
reichen muſikaliſchen Mitteln kaum im Stande ſein würden, den
Ausdruck der Lieder eines Heinrich von Morungen z. B. zu
ſteigern.
. — 16 —
Dieſe kunſtvolle Behandlung der Liedform wird aber erſt im
dreizehnten Jahrhundert entſchieden eine regelmäßige, wie nament⸗
lich aus der ſtreng durchgeführten Dreitheiligkeit der Strophe zu
erſehen iſt. Die Lieder, urſprünglich einſtrophig, zeigen jetzt meh-
rere Strophen, deren jede in drei Theile, nämlich in zwei, die
Stollen genannt, den Aufgeſang ausmachen, und metriſch
gleichgebaut find, zerfällt, während der dritte Theil, der Abgeſang,
ein eigenes Metrum behauptet. Innerhalb dieſes Geſetzes, von dem
ſich natürlich auch Ausnahmen finden, entwickelten die Dichter eine
große Freiheit und Mannichfaltigkeit.
Für die muſikaliſche Geſtaltung konnte das indeß jetzt noch nur
von geringer Bedeutung werden. Freilich erfolgte dieſe Darſtellung
nach muſikaliſchen Principien des Reims und der Accentuation, aber
um ſie auch ſpecifiſch muſikaliſch zu vollenden, mußten jene andern
Mächte muſikaliſcher Darſtellung, die Harmonie und der ſelb—
ſtändige muſikaliſche Rhythmus, ſich bedeutſamer heraus-
bilden — und beide waren dem Minneſang noch unbekannt. Jene
freie, feinere und belebtere ſtrophiſche Gliederung durch überſchlagende
und künſtlich verſchlungene Reime, die das Kunſtlied vom Volks-
lied unterſcheidet, das meiſt Zeile für Zeile reimt und mit jedem
Reimpaar auch den Gedanken abſchließt, iſt muſikaliſch wirkſam
nur herzuſtellen, wenn die durch Reime gebundenen Zeilen auch
harmoniſch und rhythmiſch in Wechſelwirkung gebracht werden. Die
rein melodiſche Geſangsweiſe vermag dies nur ſehr beſchränkt und
nur dann, wenn ſie ſich auf dem Grunde jener Anſchauungsweiſe
erhebt, die das geſammte Tonmaterial aus den beiden gegenwir—
kenden Maſſen — Tonika und Dominant — erſtehen läßt,
und dieſe war ja jener Zeit noch ziemlich fremd. Das Tonſyſtem
war noch ein rein melodiſches, die Harmonik ward erſt von den
gelehrten Muſikern der Kirche und der Klöſter noch unvollkommen
geübt, und zwar nicht nach dem natürlichen Princip der Accord—
verwandtſchaft, was für den Bau des Liedes das einzig zweckmäßige
iſt, ſondern nach dem melodiſchen des gregorianiſchen Cantus
choralis.
Der muſikaliſche Rhythmus endlich vermag nur dann den Bau
des Liedes gleichſam zu vollenden, wenn er ſich über das Princip
des Wortaccents erhebt und mehrere Versfüße derartig zuſam—
menfaßt, daß er aus den accentuierten Worten des Verſes eines
ER ee
hervorhebt und es, während die übrigen ſich nach ihm abſtufen,
zum Exponenten einer ganzen Reihe macht, wodurch dann die
ſtrophiſche Gliederung vollendet iſt. Jahrhunderte vergingen, ehe
er hierzu gelangte. Der muſikaliſche Rhythmus dieſer ganzen Periode
bis ins Reformationszeitalter hinein, iſt eine, mehr außerhalb des
Tonmaterials liegende Schätzung der Noten und erfolgt nach immer
verwickelteren Theoremen.
So lange beide genannte muſikaliſche Mächte in ihrer inner-
ſten Weſenheit noch den Erfindern der Melodien verſchloſſen blieben,
konnte die muſikaliſche Darſtellung nirgend über jene bloße Luſt am
Geſange zu einem, nur einigermaßen ſelbſtändigen Erguß der
Stimmung kommen. Die Melodien der Minneſinger unterſcheiden
ſich von der wahrſcheinlichen Weiſe der vorchriſtlichen einerſeits nur
in der, durch die unterſcheidbaren Intervalle hervorgerufenen, geho—
beneren Wirkung, andrerſeits, jo lange ſie ſich noch dem Sprach-
rhythmus anſchmiegen und einzelne bedeutſame Worte durch län—
geres Verweilen auszeichnen, durch eine größere Beſtimmtheit und
Deutlichkeit des Vortrags. Mit der Verfeinerung der ſprachlichen
Metrik mußte indeß auch dieſer Vorzug ſchwinden. Die Melodie
konnte nun nicht mehr folgen. Text und Melodie fallen ausein-
ander, was die Verwilderung des Versbaus nothwendig zur Folge
hat und ſo gewinnt die muſikaliſche Darſtellung Raum und Zeit
für ihre ſelbſtändige Entfaltung. So lange dieſe ſich dem beengenden
Einfluß des Sprachmetrums unterwarf, war ihre ſelbſtändige Aus—
bildung nicht möglich. Erſt als Sprache und Vers zu todten For—
men verknöcherten und endlich verwilderten, begann eine neue Phaſe
des Geſanges und erſt nachdem die Muſik, durch Jahrhunderte
lange, ſorgſame Pflege großjährig geworden war, finden wir ſie
mit der, inzwiſchen auch wieder herrlich aufgeblühten Sprache, mit
einer lebendig umgeſtalteten Verskunſt verbunden. So bezeichnet
denn das Minnelied, muſikaliſch betrachtet, nur einen bedeutſamen
Fortſchritt zur Freiheit der melodiſchen Entfaltung.
Wol liegt auch ihm noch jenes Geſetz der Octavengattung zu
Grunde, das in den Sequenzen ſich geſtaltend erweiſt, aber die
Melodien ſind, wenn nicht ſo großartig wie die Sequenzen-Melodien,
doch freier, menſchlich inniger. Nirgend begegnen wir jener ängſt—
lichen Scheu vor der großen Terz, welche die Melodien des gre—
gorianiſchen Kirchengeſanges auszeichnet, und ſchon macht ſich in
2
Reißmann, deutſches Lied.
IE er
ihnen, nicht mehr nur in einzelnen Schritten, ſondern im Ganzen,
in der Markierung der Stollen und des Abgeſanges die Quintbewe—
gung geltend, und ſie weiſen ſo auf die eigentliche Macht jenes
Geſetzes in der Harmonie hin, das die Harmoniker vergebens
ſuchten, und das zu finden dem Inſtinkt des Volkes vorbehalten
war. Wie wenig gleichwohl die Minneſinger die wirklich geſtaltende
Macht des Geſanges kannten, wird noch theils durch die große
Gleichmäßigkeit ihrer Melodien, theils dadurch bewieſen, daß ſie
nicht nur epiſche, ſondern auch didaktiſche Gedichte ebenſo ſangen,
wie die lyriſchen Lieder.
Auf die bereits genannten mittelhochdeutſchen Lyriker, die für
den Frühling des Minneſanges gelten können, folgen die vollendeten
Meiſter Reinmar der Alte, Hartmann von Aue, Walther
von der Vogelweide, Wolfram von Eſchenbach, Gott—
fried von Straßburg und Neidhart von Rauenthal.
Würdig ſchließt ſich ihnen, Anderer zu geſchweigen, der jüngere
Ulrich von Lichtenſtein an. Dagegen leitet Heinrich von
Meißen oder Frauenlob (1 1318) zu den bürgerlichen Meiſter⸗
ſingern hinüber. Auch die wenigen Edlen, die zu Ausgang des
Mittelalters als Lyriker zu nennen find, wie Hugo von Mont-
fort (um 1400) und Oswald von Wolkenſtein ( 1445)
lehnen ſich mehr an das Volksmäßige, als an die alte Hofkunſt an.
Mit dem Verfall des deutſchen Reiches, der Thronbeſteigung
Rudolfs von Habsburg, erloſch auch der Glanz des alten Ritter—
thums; es ward wieder, was es einſt geweſen, ein Reiterſtand,
dem nichts ferner liegen konnte, als die Pflege der Dichtkunſt.
Das Emporblühen der Städte ließ dann auch mehr und mehr
den Adel gegen den Bürgerſtand, den die politiſchen Verhältniſſe
begünſtigten, in den Hintergrund treten, und die Pflege der Dicht—
kunſt ging, dem entſprechend, in die Hände der Bürger über und
ſo erſcheint das Lied in ſeiner zweiten, gleichfalls mehr kunſtmäßigen
Phaſe, als Meiſterlied, im ſogenannten Meiſtergeſange.
b. Der Meiſtergeſang.
Viel weniger noch als der Minneſang, konnte der Meiſter—
geſang eine höhere, als formale Bedeutung für das Muſikaliſche
gewinnen. Den ehrſamen Handwerksmeiſtern fehlten ja alle die
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Vorzüge der ritterlichen Sänger, welche den Minneſang zu einer
ſo bedeutſamen Erſcheinung machten: die feine Bildung und die
erhöhte Lebensſtellung, die eine weite und freie Weltanſchauung
ermöglichte. Praktiſch verſtändig, trieben die Meiſterſänger die Kunſt
des Geſanges handwerksmäßig, wie ihr bürgerliches Gewerbe und
engten ſie, treu dem Geiſte der Zeit, zunftmäßig in förmlichen
Schulen ein. Auch giebt ihnen nicht mehr das Leben und die
Liebe, oder Sage und Geſchichte, ſondern die Bibel Stoffe für ihre
Dichtung und die Form der Darſtellung wird nicht mehr, wie in
der Blüthe, ja ſelbſt noch zu allermeiſt im Verfall der höfiſchen
Dichtung von dem, durch den Stoff beherrſchten, dichteriſchen Gefühl,
ſondern durch ſtarre, auf dem Wege einſeitiger Abſtraction aus
den vorhandenen Dichtungen gezogenen Regeln bedingt. Wie aber
die Meiſterſänger ſelbſt ihren Urſprung von dem gottbegeiſterten
Sänger David ableiteten, ſo iſt auch ihre Geſangsweiſe dem, vom
jüdiſchen Synagogen-Geſange abgeleiteten und von der chriſtlichen
Kirche weitergebildeten, pſalmodierenden Geſange des Liturgen näher
verwandt, als dem mehr volksmäßigen der Sequenzen.
Obgleich in mehreren Liedern der Meiſterſänger der Urſprung
der eigentlichen Singſchulen viel weiter zurückverlegt wird, ſo dürfte
doch die erſte derartige Verbindung bürgerlicher Sänger die ſein,
welche Frauenlob in Mainz um ſich verſammelte. Eigentliche
Verbreitung fanden dieſe Schulen erſt ſeit Mitte des vierzehnten
Jahrhunderts und zwar mehr in den ſüdlichen, als in den nörd—
lichen Gauen Deutſchlands.
Nach Wagenſeil's, in ſeiner, einem größern Werke: De
civitate Noriberg. Altdorf 1697, angehängten Schrift: „Von der
Meiſterſinger holdſeliger Kunſt,“ war zu Nürnberg „die hohe
Schul“ und zu Mainz der eigentliche Sammelplatz.
Ueber die Einrichtung der Schule und der Zunft erhalten wir
gleichfalls in jenem Buche genügenden Aufſchluß.
Die Vorſchriften, welche die Meiſter bei dem Geſange beobach-
ten mußten, waren in der ſogenannten Tabulatur zuſammen⸗
gefaßt. Wer dieſe noch nicht vollſtändig inne hatte, war „Schüler“;
Schulfreund aber derjenige, welcher ſie vollſtändig wußte. Ein
Sänger war, wer fünf bis ſechs Töne (Melodien) ſingen konnte
und wer nach einem gegebenen „Ton“ ein Lied verfertigte, ein
„Dichter“; Meiſter endlich wurde, wer einen neuen Ton
2
„
erfand. Sämmtliche Mitglieder der Zunftgenoſſenſchaft hießen Ge—
ſellſchafter. Ihre Zuſammenkünfte hielten ſie gewöhnlich an
Sonn- und Feiertagen und fie begannen mit dem ſogenannten
„Freiſingen“, bei welchem die „Merker“, diejenigen, welche
auf die Fehler aufmerken mußten, noch nicht thätig waren. Erſt
bei dem ſogenannten Hauptſingen wurde „gemerkt“ und je
nach dem Urtheil dieſer Richter erfolgte Belohnung oder Beſtrafung.
Das Richteramt war den Merkern ſehr erleichtert durch eine ziem—
lich genaue Ausführung alles deſſen, was als Fehler galt. Ihr
Hauptaugenmerk hatten ſie auf die Reinheit des Reims und auf
die Silbenzählung zu richten; das Geſetz der Silbenmeſſung und
Betonung iſt den Meiſterſängern ſchon faſt ganz abhanden gekommen.
Fehler waren: wenn in zwei oder mehr Reimen die gleichen
Worte oder Silben gebraucht wurden; wenn abgeleitete Worte mit
dem Stammwort, oder wenn die Vocale ü und i reimten; ferner
Reimwörter von gleicher Schreibart, aber verſchiedener Ausſprache;
ebenſo die, um des Reims zuſammengezogenen Wörter. Zu mer—
ken war ferner, daß in einem Reim oder Vers nicht mehr als
13 Silben ſeien, „weil man's ſonſt in einem Athem nicht machen
könne“ ſonderlich, wenn eine zierliche Blum im Reimen ſoll gehört
werden.
Neben ſolchen Beſtimmungen über Reim und Silbenzählung
hatten ſie deren für die eigentliche Technik des Geſanges.
Der Meiſter wurde geſtraft, wenn er zu hoch oder zu niedrig
ſang, oder wenn er die Rede in ſeinen Geſang vermiſchte, oder
wenn er einen, von einem berühmten Meiſter erfundenen „Ton“
veränderte, oder wenn der Ton nicht rein, ohne Vorklang intoniert
wurde und nicht jeder Reim ſeine „Paus“ hatte, ſondern „zwey
oder drey ungebührlich herausgeſchrien wurden.“
Im Allgemeinen hält der Meiſtergeſang an der Dreitheiligkeit
des Liedes, das jetzt „Bar“ heißt, wie wir ſie bereits bei den ritter—
lichen Sängern fanden, feſt. Ein Bar hat, wie dort verſchiedene
Geſätze, zwei Stollen mit gleicher Melodie und einen Abgeſang,
dem indeß auch ein dritter Stoll folgen konnte. Innerhalb dieſer
Form aber entwickelten ſie eine viel reichere Zuſammenſtellung von
Strophenarten, als die Minneſinger. Wagenſeil kennt Strophen
von 22 — 34 Reimzeilen, ja es hat deren bis 122 gegeben. Einer
ſo ungebührlichen Erweiterung der Strophe gegenüber konnten die
weiteren Künſteleien und Verſuche Ordnung, Zufammenhang und
Leben in dieſe Strophenungethüme zu bringen, durch die Waiſen
(Verſe, die nicht durch Reime verbunden ſind, alſo leer ſtehen),
oder die Körner (ungebundene Verſe, die durch gebundene getrennt,
unter einander reimen), oder durch die Pauſen (einfilbige Worte,
die am Anfange oder am Ende, ſelten in der Mitte des Geſätzes
ſtehen, und gleichfalls unter einander reimen), oder durch die
Schlagreime (zweijilbige allein ſtehende Worte), kein rechtes
Gegengewicht gewähren.
So war der Kunſtgeſang jetzt ein, nach feſtſtehenden Vor—
ſchriften handwerksmäßig betriebenes Geſchäft geworden, und die mei—
ſten „Töne“ waren ſogenannte „Meiſterſtücke“, die ihrem Verfaſſer
Sitz und Stimme innnerhalb der Zunft erwarben, bei denen die
Meiſter vor allem auch darauf zu achten hatten, daß ſie nicht ſo weit,
als vier Silben ſich erſtrecken, einen andern Ton berührten. Des—
wegen und weil endlich die Stoffe ihrer Dichtungen nicht nur jedes
lyriſchen Aufſchwungs, ſondern auch jeder lyriſchen Gefühlsregung
entbehrten, ſo erregen die Melodien derſelben unſer Intereſſe in
noch weit geringerem Maße als die der Minneſinger. Dennoch
bezeichnen ſie einen Fortſchritt über jene hinaus.
Zunächſt iſt es die vollſtändige Emancipation der Melodie von
dem Sprachrhythmus, die wir für jetzt als nothwendig bezeichnen
mußten, und die der Meiſtergeſang erreicht. Wie einſt die Sequen—
zen⸗Melodien find auch die meiſten Melodien der Meiſterſänger
zuerſt erfunden. Erſt nachdem der „Ton“ von den Richtern für
fehlerfrei erklärt worden war, und wenn er in Gegenwart von
zwei Gevattern ſeinen „ehrlichen und nicht verächtlichen,“ aber meiſt
ſehr wunderlichen Namen, wie die Beerweiß, die Jung frau—
weiß, die Schneckenweiß, die ſchwarz Tintenweiß, die
Schreibpapierweiß, die kurtz Affenweiß, die abgeſchieden
Vielfraßweiß, die geſtraiffte Saffran-Blümleinweiß,
Cupididi's-Handbogenweiß, Clius-Poſaunenweiß,
die treu Pelicanweiß, die Kälberweiß, die traurige
Semmelweiß, Orphei ſehnliche Klagweiß, die fröliche
Studentenweiß, die verſchalkte Fuchsweiß, die Fett—
dachsweiß, der verwirrte Thon, der kurtze Thon, der
lange Thon, der überzarte Thon u. ſ. w., erhalten hatte,
wurde dem Erfinder aufgegeben, über eine beſtimmte Materie den
*
e
Text dazu zu verfertigen. Beide, Text und Melodie, haben daher
noch weit weniger Beziehung zu einander, wie im Minneſange.
Der höfiſchen Dichtung war die Melodie immerhin einigermaßen
Nothwendigkeit, weil ihr Inhalt ein muſikaliſcher iſt, und wenn die
muſikaliſche Darftellung nirgends über den bloßen Verſuch hinaus—
kommt, dieſen erſchöpfend darzuſtellen, ſo hat das ſeinen Grund darin,
daß das nach Darſtellung ringende Gefühl noch nicht ſtark und unmit—
telbar genug war, die Geſangstechnik vollſtändig zu beherrſchen und
wo es nöthig war, zu erweitern. Die Stoffe der Meiſterſänger
ſind durchweg unmuſikaliſch. Was ſie überhaupt auszuſprechen haben,
legt der Text auch ohne die Melodie vollſtändig dar, und dieſe iſt
nur das Produkt der rein beziehungsloſen Luſt am Geſange, und
durch äußere Umſtände ſo eingeengt, daß ſie nirgends auch nur den
Verſuch machen konnte, das im Text etwa nur angedeutete, weiter
auszuführen. Aber indem dieſer das Metrum, Quantitierung wie
Accentuierung, aufgiebt, förderte die Melodie die muſikaliſche Rhythmik
dadurch, daß ſie das Ungelenke der Rhythmik des Minneliedes verliert.
Poſitiv bedeutſam wird der Meiſterſang für den Bau des
Volksliedes durch die ſorgfältigere Ausbildung des Reims und die
peinlich genaue Silbenzählung, und wir haben keinen Grund anzu—
nehmen, daß dieſe Beſtrebungen ganz ohne Einfluß auf den Volks—
geſang geblieben ſein ſollten. Zum Mindeſten wurde es dieſem
nach dem Vorgange der Minne- und Meiſterſänger leichter gemacht,
für ſein erregtes, nach Offenbarung drängendes Gemüth den rechten
Ausdruck, für das wunderbar gehobene Leben der Phantaſie die
rechte Darſtellungsform zu finden. Es dürfte auch nicht ſchwer
ſein, zu erweiſen, daß Minne- und Meiſterlieder den Weg in das
Volk fanden, namentlich dürften die Volkslieder von künſtlicherem
Bau meiſt alle auf dieſen Urſprung zurückzuführen ſein.
Der einzelne Meiſterſänger konnte, der äußern wie der innern
Verhältniſſe der Zunft halber zu einer, die andern Meiſter weit
überragenden Bedeutung nicht gelangen. Bemerkenswerth ſind im
vierzehnten Jahrhundert: Heinrich von Müglein und Suchen—
ſinn, im fünfzehnten Muſcatblüt und Michael Beheim,
und im ſechzehnten Adam Puſchmann. Hans Sachs gehört
nur äußerlich noch dem Meiſterſange an.
Zweites Napitel.
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Dieſe neue Phaſe des Geſanges, als deren köſtlichſte Frucht
jetzt das, die ganze Muſik umgeſtaltende Volkslied erſcheint, beginnt
ſchon mit dem zwölften Jahrhundert. Eigentlich können als die
erſten Volkslieder der neuen Geſangesweiſe ſchon die Sequenzen—
melodien gelten, allein wir glaubten, und gewiß mit Recht, in
ihnen mehr Variationen der Kirchen-Hymnen zu erkennen. Wirt
lich ſelbſtändige Melodien, die, als echtes Produkt des ſchaffenden
Volksgeiſtes, ein Theil deſſelben ſind, konnten erſt zu jener Zeit
emportreiben, als dieſer ſich immer kühner und mächtiger entwickelte,
als er nicht länger ſeine heiligſten Intereſſen, ſeine Gottesverehrung
den Händen einer, ihm im Ganzen noch immer fremd gegenüber—
ſtehenden Prieſterkaſte einzig und allein überlaſſen mochte. Erſt als
er anfing wieder mündig zu werden, verſuchte er ſelbſt in begeifter-
ten Liedern auszutönen, was ihn jetzt mächtig bewegt und weil ihm
die Kirche dies noch immer verſagt, ſo gaben ihm Wallfahrten und
Bittgänge, Kirchweihen und Jahresfeſte der Schutzheiligen, neben
den mancherlei Volksfeſten erwünſchte Gelegenheit, ſeinen Schaffens—
drang zu bethätigen. So entſteht ſchon in der Mitte des zwölften
Jahrhunderts das echt deutſche öſterliche Matutin: „Chriſtus iſt
uferſtanden,“ das ſpäter Luther umarbeitete.
Die, von den Minneſingern mit jo ſchwärmeriſcher Begei—
ſterung gepflegte Frauenverehrung fand auch im Volke ihren Aus-
druck; wird aber hier zum „Mariencultus“, dem wir eine Menge
der reizendſten „Marienlieder“ verdanken. Auch geiſtliche Schlacht—
lieder entſtanden, von denen das bekannteſte das 1278 in der
Schlacht zwiſchen König Rudolf und Ottokar von Böhmen vom
deutſchen Heere geſungene:
„San Marei Muoter und Mait
All unſre not ſei dir geclait.“
Beſonders bedeutſam wurde das vierzehnte Jahrhundert für die
Verbreitung des Volksgeſanges durch die eigenthümliche Erſcheinung
der Gelßelbrüder oder Flagellanten, die, nach den vergan—
.
genen Peſt- und Hungerjahren unter dem Geſange deutſcher Lieder
durch Süd- und Weſt-Deutſchland zogen. Aus der Beſchreibung
der großen Geißelfahrt im Jahre 1349 erfahren wir, daß ſie deutſche
geiſtliche Lieder ſangen und damit im Volke den größten Anklang fanden.
Daß aber auch das weltliche Lied immer entſchiedener auf—
blühte, verbürgt die Limburger Chronik, die eine ganze Reihe von
Liedern namhaft macht, die man „ſange und pfiffe in allen dieſſen
Landen.“ Leider ſind uns nur wenige derſelben, und dieſe auch
nur in Bruchſtücken erhalten. Ihre Melodien mögen vielleicht
noch im Volke fortleben, wenn auch umgeſtaltet, indeß haben wir
hierfür weder eine Gewähr, noch irgend welchen Fingerzeig ſie her—
auszufinden. |
Wohl ſuchte die Kirche dem anwachſenden Strome der Begei—
ſterung überall da, wo ſie konnte, einen Damm entgegen zu ſetzen,
und noch das Concil zu Conſtanz erließ an Jacobus de Miſa, der,
wie mehrere andere Geiſtliche, deutſchen Geſang beim Gottesdienſt
einzuführen verſuchte, deshalb ein ernſtliches Verwarnungsſchreiben,
weil, „wenn den Laien verboten iſt zu predigen und die Schrift zu
erklären, ihnen noch mehr verboten iſt, in öffentlicher Gemeine zu
ſingen.“
Aber dieſe ganze Bewegung ließ ſich nicht mehr hemmen, und
als endlich der lang vorbereitete große geiſtige Kampf mit der römi⸗
ſchen Hierarchie, den das ſechzehnte Jahrhundert ſo ſiegreich zu Ende
führte, zu offenem Ausbruch kam, da brach auch, als eine der
bedeutſamſten Streitmächte das deutſche Lied in tauſend Stimmen
und Zungen hervor. |
Ein Geiſt der Gemeinſamkeit, wie er ſpäter nur vorübergehend
in ſchweren Zeiten der Noth und deutſcher Schmach ſich zeigte,
erfaßte das deutſche Volk, und das deutſche Lied ward der bered—
teſte Verkünder und zugleich der wirkſamſte Förderer desſelben.
Nicht mehr der einzelne herrſchende Stand, ſondern jeder hat
ſein Lied, das begeiſtert austönt, was in ihm lebt, was er empfin—
det, wenn auch jetzt noch vorherrſchend die „fahrenden Leute“,
Reiter, Studenten und Jäger, überhaupt alle die, an denen das
Leben in den mannichfachſten Geſtalten vorübergeht, Lieder erfinden
und weiter verbreiten. An dem großen Kampfe für die heiligſten
Intereſſen der Menſchheit iſt jeder Einzelne gleich ſtark betheiligt,
und jeder wird zur Einkehr in ſein Inneres gedrängt; es beginnt
das Subjekt ſich heraus zu kehren und das Volkslied wird jetzt
vorherrſchend lyriſch.
Was der Einzelne empfindet, ſtrömt aus im Moment des
Entſtehens. Die Wonnen des Maien, der Liebe Luſt und Leid,
die Freuden des Weins und der Handthierung finden unmittelbaren
Ausdruck im Volksliede. Es entſtehen neben den Liebes liedern,
Trink⸗ und Tanzlieder, Wander- und Kinderlieder und
Kinderſprüche und Reiter-, Studenten- und Jäger⸗
lieder.
Ihre große Verbreitung verdanken ſie der Allgemeinheit
ihres Inhalts ebenſo, wie der knappen Form, in welcher
ſie ihn darſtellen.
Das Volkslied geht nirgends über jene Innerlichkeit hinaus,
die überall vorhanden iſt, und hebt daher auch nur jene Momente
hervor, die in innerm Zuſammenhange ſtehen, unbekümmert darum,
auch einen äußern herzuſtellen. Doch gilt dies nur vom Text, nicht
auch von der Melodie, welche überall meiſt ſo formell abgerundet,
als wahr iſt. Daher überragt die muſikaliſche Geſtaltung des
Volksliedes die ſprachliche faſt durchweg und oft fo ſehr, daß dieſe
erſt durch jene Bedeutung erlangt und verſtändlich wird. In vielen
Fällen wird der ſprachliche Ausdruck dem muſikaliſchen geradezu
dienſtbar gemacht. Es werden ganz bedeutungsloſe Worte wieder—
holt, und zwar nicht etwa als Flickworte, um ein metriſches Maaß
herzuſtellen, ſondern um die muſikaliſche Form zu vollenden und dem
muſikaliſchen Ausdruck genügend Raum zu verſchaffen. Oft unterbricht
das Volkslied die ſprachliche Darſtellung durch Wiederholung einer
Silbe oder durch Einſchiebung irgend eines beliebigen Wortes, wie:
Dort oben auf dem Berge, dölpel, dölpel, dölpel,
Da ſteht ein hohes Haus.
oder:
Frau ich bin euch von hertzen hold, o mein, o mein!
Ich thet euch gerne, was ich ſolt, o mein, o mein!
Oder es nimmt die wunderlichſten Silbencombinationen, wie:
„viderallala, vivallera“
„juchhei! fackelorum, dideldorum, fackelorum deidchen“
auf, um des Herzens Luſt und Sehnen recht ausſchallen zu können.
Am Entſchiedenſten tritt das Streben nach Geſchloſſenheit der
muſikaliſchen Form in dem Refrain hervor.
.
Dieſer hat meiſt mit der ſprachlichen Darſtellung ſo wenig
gemein, daß man ihn von ihr lostrennen muß, um dieſe unzer—
ſtückt zu erhalten. Er zeigt ſich ſchon früh und zwar wol von
dem Reſponſorien-Geſange der Kirche angeregt. Wie hier der
Kirchenchor dem Liturgen mit mehr ſentenzenhaften Geſängen ant—
wortet, ſo das Volk dem Vorſänger, zunächſt durch Wiederholung
der letzten Worte oder der Schlußzeile, bis ſich dann jene, durch
das ganze Lied verwebten feſtſtehenden Formeln herausbildeten, in
denen die Grundſtimmung zu einer kurzen Sentenz zuſammengefaßt
iſt, und die dem eigentlichen Liede dann ſelbſtändig gegenüber
treten. Daß es in den erſten Jahrhunderten des Volksgeſanges,
nach Einführung des Chriſtenthums, jene kirchlichen Rufe: „Kyrie“
und „Chriſte eleiſon“ ſind, welche als feſtſtehende Refrain's benutzt
wurden, iſt bereits erwähnt worden; das ſpätere Volkslied entwickelt
darin eine große Mannichfaltigkeit. Weil ihm namentlich in den
erzählenden Liedern der kurzathmige Bau der Strophen einen zu
engen Rahmen gewährt für den Erguß der Stimmung, ſo erweitert
es denſelben durch Einſchiebung ſolcher refrainartiger Sätze, und es
iſt nie in Verlegenheit ſie aufzufinden. Die Natur iſt mit dem
Gemüth des Volkes eng verbunden und ſo ſtehen „Lindenzweig und
Roſenblümlein,“ „Sonnen- und Mondenſchein“ ungeſucht für das
Fehlende ein und das Volkslied verwendet ſie in ſorgloſer Naivetät.
Durch ſolche Refrains wird aber namentlich in den erzählenden
Liedern, auch bei anſcheinend willkürlicher Erzählung, die eigentliche
Grundſtimmung fortwährend durchklingend erhalten. Die meiſten
dieſer Lieder wurden von Geſellſchaften verfaßt und wurde das
eine oder andere von „Einem“ geſungen, „der auch dabei
geweſen,“ ſo war das Lied doch längſt vom Volke empfangen,
und dies wartete gewiſſermaßen nur auf den Ausdruck, und gar
bald wurde das Lied dann überall „zu Stadt und Land gepfiffen
und geſungen.“
Solch glänzender raſcher Erfolg iſt ohne die geſchloſſene Form
des Muſikaliſchen im Volksliede kaum denkbar. Die Melodie nur
iſt im Stande, alle die Mächte, die im Innern des Volkes weben
und ſchaffen, jo zum unmittelbaren Ausdruck zu bringen, daß fie
zündend und zeugend ſich blitzſchnell ausbreiten und unantaſtbares
Eigenthum ganzer Nationen werden.
Woher hat aber das Volkslied dieſe knappe Form?
ei
Die Antwort iſt leicht gefunden. Das Volk überläßt ſich ohne
alle Reflexion ſeinem Gefühlsdrange und die urſprüngliche Kraft
ſeiner Empfindung beherrſcht die Darſtellung ſo vollſtändig, daß ſie
unbewußt genau den einzelnen Strömungen des Gemüths folgt,
und überall da ſich hebt oder ſenkt, wo die Wellen und Wogen des
Gemüths ſich heben oder ſenken. Jeder einzelne Ton des Volks—
liedes iſt unmittelbares Ergebniß innerer Bewegung und der geſammte
Gang der Melodie bezeichnet ganz genau den Verlauf der Stim-
mung, der es ſeine Entſtehung verdankt. Und das iſts, was der
Melodie des Volksliedes die ungeheure Bedeutung giebt, gegenüber
der, des Minne- und Meiſtergeſanges.
Die Begeiſterung, aus welcher das Minnelied hervorging, war
noch viel zu künſtlich erzeugt und zu objektlos und verſchwommen,
um zu zwingendem, muſikaliſchem Ausdruck gelangen zu können; und
dem Meiſtergeſange war Begeiſterung von Haus aus fremd, ebenſo
wie ſie dem kirchlichen Kunſtgeſange unter der ſchweren Arbeit, das
herbeigeſchaffte Material zu ordnen, verloren gegangen war. Das
Volkslied dagegen treibt hervor aus dem, an dem lebendigen, con—
creten Inhalt des Lebens genährten Innern des Volksgeiſtes. Das
Volk ſingt nur, wenn ſein Herz voll iſt, ſei es von Freude oder
Leid, von Hoffen, Sehnen oder Bangen, und ſingt auch von nichts
anderem, als von dem, was ſein Herz bewegt; dann aber muß es
auch ſingen, und dieſe zwingende Nothwendigkeit prägt ſich dem
Volksliede auf als Energie des Ausdrucks.
Dies zeigt ſich zunächſt in einer prägnanten Unterſtützung des
Reims und der Strophenbildung.
Der Reim entſpringt aus dem künſtleriſchen Triebe nach Begren-
zung, er ſchließt die rhythmiſche Verszeile ab und ſetzt ſie zugleich
mit einer oder mehreren anderen in ſymmetriſche Wechſelbeziehung,
die beim Volksliede um ſo entſcheidender wird, als hier in der
Regel gleichartige Verſe und zwar ununterbrochen gereimt werden,
und als mit dem Verſe auch meiſt der Gedanke abſchließt. Dieſe
ſymmetriſche Anordnung wird durch die Volksmelodie eigentlich erſt
vollendet. Sie drängt mit der größten Entſchiedenheit nach den
Reimſchlüſſen und macht dadurch erſt die Reimzeile zu einem Gliede,
und ſo wie es dem ganzen Gefüge der Melodie der Minne- und
Meiſterlieder wenig Eintrag thun würde, wenn man ſie über ihre,
urch den Schluß der Zeile und den Reim bedingten Ruhepunkte
hinaus verlängerte, oder fie früher abbräche, oder nach auderer
Richtung führte, ſo gewaltſam würde ein ſolches Verfahren am
Volksliede ſein, und es würde die Melodie in ihrem eigenſten Orga—
nismus vernichten. Hierin zu meiſt liegt der Grund der blitzſchnellen
Verbreitung derſelben; deshalb ſetzen ſie ſich ſo plötzlich in den
Ohren und Herzen des ganzen Volkes feſt. Zwar werden je nach
der Eigenthümlichkeit verſchiedener Gaue oder nach dem Bedürfniſſe
einzelner Sänger Varianten nöthig, aber dieſe erfolgen dann unter
denſelben Vorausſetzungen und treffen nie das ganze Gefüge, ſo daß
ſie immer nur als Varianten gelten können.
Hiermit im engſten Bunde ſteht jene Eigenthümlichkeit des
Volksliedes, welche ihm ſeine große kunſtgeſchichtliche Bedeutung
giebt, ſo daß wir unſere ganze Entwickelung der moder—
nen Muſik auf daſſelbe zurückführen müſſen.
Das Volkslied beginnt aus einem neuen, aus jenem Tonſyſtem
heraus zu ſchaffen, welches erſt wirklich die Mittel und die Möglich—
keit bietet, die Tonkunſt zur Kunſt der Innerlichkeit heraus zu
bilden, auf deſſen Grunde die Vocalmuſik ſchöner und herrlicher
und zugleich eine neue, die Inſtrumentalmuſik empor blüht. Das
Volkslied mußte in dem Beſtreben, die ſtrophiſche Gliederung durch
die Melodie zu vollenden, auf jene Wechſelwirkung von Tonika und
Dominant geführt werden, weil nur durch ſie die Correſpondenz
der Reime und jene ſtrophiſche Gliederung ermöglicht wird.
Wir ſahen, wie ſchon Minne- und Meiſtergeſang bemüht
ſind, das alte Syſtem der Kirchentonarten zu verlaſſen, und ein
neues, zweckentſprechenderes zu finden. Allein das eigentlich Trei—
bende und Geſtaltende desſelben blieb beiden noch verſchloſſen.
Das Syſtem der alten Kirchentonarten, das ſich auf dem
Grunde des gregorianiſchen Kirchengeſanges durch den Fleiß von
Jahrhunderten zu einem ſtolzen, in ſich gefeſteten Bau erhebt, iſt
ſtarr und entwickelungsunfähig, wie der Katholicismus, der es erzeugt.
Jede der acht (oder zwölf) Tonarten deſſelben erhält dadurch,
daß die nur ihr eigenen Intervallenverhältniſſe nicht verändert
werden durften, wie durch den, hierin bedingten, jeder einzelnen
eigenthümlichen Modulationsgang und die von den andern abweichen—
den Schlußformeln typiſches Gepräge. Wohl hatte ſie in der authen—
tiſchen oder plagaliſchen Behandlung der Tonleiter, oder in der,
ſpäter ſo häufigen Verſetzung nach dem Genus molle oder der
3
Unterquint die Mittel für eine mannichfachere Darſtellung, doch
nicht für ein tieferes Erfaſſen, höchſtens nur für eine beſtimmtere
Färbung der Grundſtimmung. Die mittelalterliche Tonkunſt fand
in dieſem Syſtem den vollſtändig ausreichenden Apparat für ihre
Zwecke. Im Dienſte der Kirche ſtehend, iſt ſie Stimme des geoffen—
barten Wortes Gottes und ſeines, als Dank oder Bitte, Jubel
oder Klage austönenden Wiederhalls im Gemüth. Namentlich
war die ſpäter erfolgte harmoniſche Conſtruction ganz geeignet,
die geheimnißvolle Pracht des katholiſchen Cultus zu erhöhen. Aber
für die Darſtellung des bewegten Inhalts, welcher im Volke
lebendig wird, war ſie durchaus ungenügend. Der ganze For—
mationsprozeß geht inmitten des mathematiſch-conſtruierten eng
geſchloſſenen Syſtems der Kirchentöne vor ſich. Er iſt kein natür—
lich freier, ſondern er unterliegt all' den Beſchränkungen des
Syſtems. Es mußten ſich nothwendiger Weiſe ausſchließlich Drei—
klangsharmonien bilden und dieſe ordnen ſich nicht nach den Geſetzen
ihrer eigenen Wahlverwandtſchaft, ſondern nach dem Bedürfniß
der einzelnen Tonarten, in dem Beſtreben, dieſe zu characteri—
ſtiſchen Grundformen heraus zu bilden. So mußte dem alten
Syſteme nothwendig die Bedeutung jenes Accordes verſchloſſen
bleiben, der erſt das geſammte harmoniſche Material in Fluß bringt,
und ihm das Maſſige ſeiner urſprünglichen Erſcheinungsform nimmt:
der Septimen- und namentlich der Dominantjfeptimen-
accord. Das alte Syſtem konnte ihn nur in einer Tonart, in
der joniſchen verwenden; das neue Syſtem, unſer modernes, wurde
entſchieden darauf geführt, ihn zum bewegenden Princip zu erheben.
Die Mehrdeutigkeit des einen Tons oder Accordes, die wir im Ein—
gange näher betrachteten, drängte auf Bildung eines neuen Accordes,
der jene Vieldeutigkeiten aufhebt, welcher die Bedeutung des Drei—
klangs entſcheidet, ihn als Tonika, Dominant oder Unter-
dominant ſetzt. Der Septimenaccord iſt die Verbindung
von drei Terzen zu einer Harmonie. Unſre Tonreihe zeigt ſieben
ſolcher Septimenaccorde:
1 3 5 7
ES BEN EN RR
e—e— g—h—d—f—aı— c—e—g
Ir EN ᷣ
2 1 6
Es dürfte kaum zweifelhaft fein, welcher von den angeführten
der geſuchte iſt. Als vermittelndes, die Dreiklangsharmonien beſtim⸗
mendes Moment iſt ihm die große Terz, die Bedingung zeugender
Kraft, unabweislich Bedürfniß. Keiner der unter 2, 4, 5 und 7
angegebenen Septimenaccorde kann demnach der geſuchte ſein. Das
ſchreiend Disharmoniſche der großen Septime (e —h und f—e)
in den unter 1 und 6 gewonnenen Septaccorden, das ſeinen Grund
in der annähernden Gleichheit mit der Octave und dem ſtarken
Gegenſatze zur Prim hat, macht auch dieſe Accorde unfähig, jenes
Vermittelnde zu ſein, und ſo bleibt nur ein Septimenaccord, der,
auf der Dominant erbaute, gZ—h— d—f übrig. Er hebt die
Mehrdeutigkeit der Dreiklangsharmonien auf und tritt vermittelnd
zwiſchen dieſelben, kann alſo weder Erſtes noch Letztes ſein. Er
bedarf zu ſeiner Vorbereitung eines Dreiklangs und muß nothwendig
wieder zu einem Dreiklang, dem toniſchen, führen. Den Drang
nach dieſem offenbart jeder einzelne Ton, ſo daß jeder nach einem
beſtimmten Intervalle des toniſchen Dreiklangs fortſchreitet. Jetzt
kommt der einzelne Ton nicht mehr, nur in ſeinem Verhalten zu
andern, mit ihm zugleich erklingenden Tönen, als Glied eines har—
moniſchen Gebildes, ſondern auch in ſeiner Stellung zu den voran—
gegangenen und nachfolgenden, als Glied einer Tonreihe in Betracht.
So gewinnt das geſammte Tonmaterial erſt die Möglichkeit,
das Leben der Phantaſie und des Gemüths, ſtetig entwickelt oder
ſprungweis unvermittelt, wie es fein Zuſtand erheiſcht, zu offenbaren.
Dieſer Prozeß erfolgt indeß natürlich nicht plötzlich. Lange klingt
durch das Volkslied noch das alte Syſtem hindurch, aber meiſt auch
überall die Punkte bezeichnend, von denen aus es erſchüttert
werden ſollte. ö
Manches mögen nach dieſer Seite auch die Setzer verſchuldet
haben, denn Sänger und Setzer waren noch geſchieden. Jener
erfand die Melodie, und dieſer contrapunctierte ſie. Viele Lieder
aus dieſer Periode zeigen zwar ſchon einen feinen, inſtinctiven
Sinn für die harmoniſche Beziehung, und die meiſten mögen auch
mehrſtimmig geſungen worden ſein — der verſchiedene Umfang der
Stimmen ſchon macht in den meiſten Fällen mindeſtens eine Zwei—
ſtimmigkeit nothwendig, und einzelne Lieder tragen auch die Bezeich—
nung: „die andere, oder auch anderen Stimmen findet man;“ —
doch ſind die harmoniſchen Behandlungen der Melodien, die auf uns
.
gekommen ſind, meiſt von geſchulten und gelehrten Contrapunctiſten.
Dieſe, als ſie merkten, wie groß die Kluft zwiſchen ihren Arbeiten
und dem Bedürfniß des Lebens geworden war, griffen begierig nach
der Volksmelodie, um ſie auszufüllen. So wurden Volksmelodien
für die contrapunctiſchen Kirchenmuſiken, an Stelle des gregoriani—
ſchen Hymnus als cantus firmus verwendet und ſpäter in ihrer
urſprünglichen Geſtalt als Volkslieder mehrſtimmig geſetzt.
Wie es nun hierbei oft mag hergegangen ſein, das beweiſt die
„Notenbeilage No. 1.“ mitgetheilte Bearbeitung des Volksliedes:
„Nun laube, Liedlein laube.“ Da der weltliche Text nicht aufzu—
finden war, ſo folgt das Lied in der, in Valentin Trillers:
„Ein ſchleſiſch ſingbüchlein“ enthaltenen geiſtlichen Umdichtung.
Die Melodie, nach Weiſe der damaligen Zeit, im Tenor zeigt
die Cdur⸗Tonart ſo vollſtändig ausgeprägt, daß fie gar nicht zu
verkennen iſt. Der Setzer drängt ſie in die joniſche Tonart und
zwar vorwiegend und mit dem Schluß in der Verſetzung, und nicht
immer mag bei derartigen Bearbeitungen die Melodie noch ſo
glimpflich behandelt worden ſein, wie hier.
Ueberhaupt iſt ſehr zu beklagen, daß wir die Volksmelodien
aus jener Zeit meiſt nur in ſolchen Bearbeitungen kennen. Die
Flugblätter enthalten mit wenig Ausnahmen nur die Texte; die
Melodie konnte als bekannt vorausgeſetzt werden. Auch die geiſt—
lichen Umdichtungen, wie:
„Gaſſenhawer⸗, Reuter- und Bergliedlein“ von Heinrich
Knauſt, und „Nye chriſtlicke Geſengen unde Lieder up
allerley ardt Melodien ꝛc.“ von Veſpaſius (beide 1571)
ſetzen die Melodien als bekannt voraus.
So dürften die Sammlungen von Georg Forſter
„Ein Außbund guter alter und neuer Teutſcher Liedlein“
1539 begonnen und in fünf Theilen und mehreren Ausgaben fort—
geſetzt und die von Joh. Ott veranſtaltete Sammlung
„Hundert und fünfftzehn guter neuer Liedlein ꝛc.“ Nürnberg
1544.
immer noch die bedeutendſten und reichhaltigſten Quellen für die
Volksmelodie ſein. Jene Sammlung Forſters hat bei ihren
mehr als vierthalb hundert Liedern vor der Ott' chen den Vorzug
einer großen Mannichfaltigkeit, dieſe dagegen den einer ſorgfältigeren
Auswahl. Forſter giebt auch ſehr derbe Lieder, Joh. Ott nur
.
ausgewählt ſinnige. Eine geringe Ausbeute für unſern Zweck boten
Valentin Triller's ſchon erwähntes
„Schleſiſch ſingebüchlein.“ Breslau 1555.
und die
„Souter Liedkens,“ welche in vier Heften in Antwerpen bei
Tielmann Suſato von 1551 — 56 erſchienen, von denen
„Het ierſte muſyck boexken,“ wie 8
„Het derde“
Bergreihen und Tanzmelodien enthält.,
Alle dieſe Sammlungen weiſen eine nicht geringe Anzahl
Volksmelodien auf, die noch innerhalb des alten Syſtems erfunden
ſind. Das Volk übte und hörte ja zunächſt nichts anderes, als die
Weiſen dieſes Syſtems, und dies mußte ihm nothwendig in einem
gewiſſen Grade geläufig werden. So kommt denn auch das neue
nicht plötzlich, das Volk mußte es erſt ſuchen, und ein ſolches Suchen
zeigen faſt alle derartigen Melodien.
No. 2. der Notenbeilage gehört zu dieſen. Auch ihr ſcheint der
urſprüngliche weltliche Text verloren gegangen zu ſein, weshalb wir
ſie mit der Umdichtung nach: „Ein ſchleſiſch ſingebüchlein“ geben.
Der erſte Theil und auch der Schluß des Ganzen prägt ziem—
lich entſchieden die, nach der Oberquart verſetzte doriſche Tonart
aus, obgleich man auch ihn ſchon, mit nicht großen Schwierigkeiten,
zweiſtimmig in Four in plagaliſcher Führung von Dominant zu
Dominant, behandeln könnte. Der zweite Theil moduliert ganz ent—
ſchieden nach der Unterdominant Bdur und es iſt dies nicht etwa
die verſetzte lydiſche, ſondern ganz beſtimmt ausgeprägt unſere
moderne Tonart und der ganze weitere Gang der Melodie wird ſich
fließend harmoniſch auch nur in Four darſtellen laſſen. Dabei
darf es nicht befremden, daß dann das Ganze auf der Dominant,
und die Melodie auf der Secunde g, der, im Gefühl des dichten—
den Volks liegenden Fdur-Tonart, ſchließt. Wir begegnen dieſer
Vertauſchung des toniſchen Schluſſes mit dem Dominantſchluß,
wodurch in der Melodie an die Stelle des Grundtons am Schluß
die Secunde tritt, in vielen Volksliedern und einer, nicht geringen
Anzahl von Kunſtliedern, bis auf die neueſte Zeit, und nicht nur
da, wo, wie in der Proportio oder dem Nachtanz der Tanz—
lieder, der eigentliche Schluß dem Ganzen erſt angehängt wird,
ſondern in einer Menge von Liedern, die in dieſer Weiſe ganz
ſelbſtändig abſchließen; denn gerade dieſer Schluß iſt ein ganz wirk—
ſames Mittel für die Darſtellung der lyriſchen Unendlichkeit und
dem Volksgemüth mußte er um ſo geläufiger werden, als jene
Dominantbewegung in ihm erſt lebendig zu werden beginnt.
In dem Anlehnen an das moderne Syſtem beruht auch die
größere Freiheit und Beſtimmtheit, welche den zweiten Theil des
in Rede ſtehenden Liedes von dem erſten auszeichnet. In ihm iſt
melodiſcher Zug und Fluß, während der erſte mehr ein träges,
müßiges Fortſchreiten von einem Intervall zum andern zeigt.
Wären die Kirchentonarten einer Entwickelung fähig geweſen,
ſo mußte dieſe auf dem Wege gefunden werden, welchen das unter
No. 3. der Notenbeilage mitgetheilte Lied, das wir der Lieder—
ſammlung von Georg Forſter (Theil I. No. 130.) entneh⸗
men, einſchlägt. Dieſe Melodie bewegt ſich ganz innerhalb des
alten Syſtems, aber mit einer Freiheit und Gelenkigkeit, welche
dieſem ſonſt fremd iſt. Jede Reimzeile wird durch die Melodie in
zwei Hälften getheilt, die ſich gegenſeitig ergänzen und deren jede
beſonders dadurch energiſch zuſammengehalten wird, daß ſie in der
Synkope he Tact 2. 2 — Daft
einen Mittelpunkt erhält, und indem nun jede dieſer Halbzeilen ener-
giſch nach dieſen Punkten hindrängt und durch die Macht des Rhyth⸗
mus die Halbzeilen zu Ganzzeilen und dieſe wiederum zu Halb- und
Ganzſtrophen zuſammengefaßt werden, ſtellt ſich hier ſchon die Lied—
form in ihren Grundzügen feſt. Die ſorgliche Herausbil-
dung kleiner Glieder und ihre ſymmetriſche An- und
Unterordnung iſt das Weſentlichſte dieſer Form.
Vollſtändig konnte dies freilich erſt, wie dies ſchon öfter ausge—
ſprochen wurde, durch die Einwirkung jener Dominantwirkung erfol-
gen. Des, nicht nur in den Liedern, ſondern auch in den Kirchen-
hymnen jener Zeit ſo häufigen Ueberganges aus dem zwei- in den
dreitheiligen Rhythmus, wie am Schluſſe des genannten Liedes,
gedenken wir noch ſpäter. ö
Am früheſten gelangen zu einer gewiſſen Formvollendung die
Lieder, welche unmittelbar am geſunden, kräftig pulſierenden Leben
erzeugt ſind, die eine gewiſſe Gluth der Sinnlichkeit zeigen.
Reißmann, deutſches Lied.
2
Oben an ſtehen die Liebeslieder.
Sie, als der unmittelbarſte Ausdruck des erregten Gemüths,
ſind früh ſchon von einer bezaubernden Anmuth der Form und von
gewinnender Wahrheit des Ausdrucks.
Das nächſte Lied der Notenbeilage No. 4. iſt der Sammlung
von Joh. Ott entnommen.
Wir haben verſucht, den Modulationsgang an den Schluß—
fällen der Reimzeilen in kleinen Noten anzugeben, und es wird
keines weitern Nachweiſes bedürfen, wie die Angelpunkte dieſes
reizenden Liedes nun Tonika, Dominant und Unterdomi—
nant ſind, und wie die erſten vier Strophen nur dadurch zu einem
einheitlich geſchloſſenen erſten Theile werden, daß die erſte Zeile
nach der Dominant moduliert und die zweite nach der Tonika zurück—
geht, wie ferner in derſelben Weiſe die nächſten vier Zeilen zu
einem zweiten, und die letzten endlich zu einem dritten Theil heraus—
gebildet werden.
Nach Art der damaligen Empfindungsweiſe, die ſich an gewiſſen
Worten feſthält, werden auch hier einzelne beſonders hervorgehoben,
jo, was wir ſchon früher erwähnten, das erſte Wort und, eine
Reminiſcenz an die Kirche, die vorletzten Sylben der bemerkens—
werthen Schlußreime und in reizenden Melismen ſingt ſich wiederum
über einzelnen Silben die ganze Wonne der Empfindung aus. Ein
bedeutſamer Fortſchritt in der Conſtruction dieſes Liedes gegen die
früher mitgetheilten liegt auch in der theilweiſen Wiederholung des
erſten Theils am Schluſſe des Ganzen. Es iſt dies keine Armuth der
Erfindung, ſondern die nothwendige Conſequenz der Formvollendung.
Noch bedeutſamer tritt dieſer Fortſchritt an dem fünften Liede
der Notenbeilage hervor. Hier correſpondieren die erſte und dritte
und zweite und vierte, die letzte von je zweien ihrer Stellung zum
Ganzen nach umgebildet, und die getreue Wiederholung der dritten
und vierten Zeile am Schluß vollendet die in architectoniſcher
Geſchloſſenheit ſymmetriſche Anordnung der Form, und fie iſt maß—
gebend geworden und geblieben für alle Jahrhunderte.
Bei den mehrſtimmigen Bearbeitungen dieſer Lieder muß die
tiefe Lage des Alts befremden. Allein ſie iſt in der damaligen
Beſetzung der einzeluen Stimmen begründet. Georg Forſter
giebt uns hierüber in den Verschen, die er den einzelnen Stimm—
heften ſeiner Sammlung vordruckt, Aufſchluß.
2
Das Titelblatt des Discant-Heftes trägt folgenden Vers:
Ir Kneblein und ir Maidlein rein,
Euer ſtimmlein ſchallen alſo fein,
Den Discant lernet unbeſchwert,
Kein andre ſtimm euch zugehört.
Das Titelblatt des Alt-Heftes folgenden:
Der Alt gehört den Junggeſellen zu,
Die lauffen auff und ab on ruh,
Alſo iſt auch des Altes weiß,
Drumb lernet mich mit allem fleiß.
Das Tenor-Heft trägt folgenden Vers:
Mein art und weiß in mittelmaß,
Gen andre ſtimmen iſt mein ſtraß,
Die haben acht auff meine ſtimm,
Den Mennern ich für andern zimm.
Das Baß-Heft endlich:
Mein ampte iſt im niedern ſtat,
Drumb wer ein bſtanden Alter hat,
Und brommet wie ein rauher ber,
Der komm zu meiner Stimme her.
Demgemäß wurden die Singchöre damals anders beſetzt als
jetzt, und es wird nöthig ſein, bei Ausführung derartiger Lieder im
Chor darauf zu achten. N
Gleich vollendet, wie das beſprochene Lied iſt No. 6. der Noten-
beilage. Wir haben nur nöthig auf die wundervolle, ſequenzen—
artige Führung des „o mein! o mein!“ gegenüber dem eigentlichen
Liede und dem Refrain, hinzuweiſen. Die eigentlichen Liedzeilen
und der Refrain ergänzen ſich ebenſo gegenſeitig, wie das „o mein,
o mein!“ und in der Verknüpfung dieſer drei beſtimmt herausgebil⸗
deten Partien erhalten wir ein wunderbar belebtes Versgefüge.
Eine ebenſo frühe Vollendung der Form, wie das Liebeslied,
ſcheint auch das Jägerlied gewonnen zu haben, und dabei ſteht
dieſes an Innigkeit und Wahrheit des Ausdrucks nicht nach, es iſt
ja meiſt eben auch Liebeslied.
Obgleich dieſe Volksmelodien ſämmtlich eine gewiſſe Uniformität
des Ausdrucks zeigen, ſo machen ſich doch jetzt ſchon charakteriſtiſche
Unterſchiede gelten. So entzückt das Jägerlied durch die Sinnigkeit
und den friſchen, fröhlichen Zug, der wie Waldluft das ganze durch—
weht, und jetzt ſchon vermeinen wir Hornſignale in ihm zu vernehmen,
3 *
u.
wie in No. 7. der Notenbeilage, der Joh. Ott'ſchen Sammlung
entlehnt, das ganz auf die Naturharmonie baſirt iſt, und faſt durchweg
zu den Schlußfällen der Reimzeilen die, den Waldhornen eigene Phraſe
—— 41
. und,
verwendet, und klingt das Melisma im dritten und vierten Tact
des zweiten Theils, auf „Haiden“ nicht wie das Locken des Wildes
im Walde?
In dieſem Liede begegnen wir auch jenem eigenthümlichen
Wechſel des zwei- mit dem dreitheiligen Rhythmus, der im
Volksliede, was ſchon früher bemerkt wurde, nicht ſelten iſt,
und überhaupt die Muſik des Mittelalters auszeichnet. Auch in
den Kirchenhymnen geht der zweitheilige Tact häufig in den drei—
theiligen über. Daß die zweitheilig rhythmiſierten Tänze und Tanz—
lieder meiſt mit einem Nachtanz Proportio — im drei—
theiligen Rhythmus enden, hat wol einen mehr äußeren Grund,
von dem wir noch ſpäter reden. Das, was ſo in den Hymnen,
vielen Liedern und Tänzen an größern Partien oder einzelnen Theilen
zur Erſcheinung kommt, finden wir bei einzelnen Liedern in ziemlich
ſtetigem Wechſel auf einzelne Liedzeilen oder Tacte beſchränkt. So
gehören in dem Liede No. 8. der Notenbeilage die Zeilen mit weib—
licher Endung dem zwei- und die mit männlicher Endung dem
dreitheiligen Tact an, und es iſt dies ein Beweis, wie mächtig
noch die Erinnerung an die Gewalt des Sprachmetrum's im Volke
ſich ſchaffend erweiſt. Noch wunderbarer iſt der Rhythmus in dem
Liede No. 9. der Notenbeilage, faſt bis zur Unordnung mannich—
faltig, aber dennoch mit feinem Sinne geregelt. Wiederum ſind es
die männlichen und weiblichen Reime, die rhythmiſch unterſchieden
werden; jede einzelne Tacteinheit iſt vollſtändig beſtimmt ausge—
prägt, und alle werden durch die im Großen geſtaltende Kraft des
Rhythmus zuſammengehalten, aber innerhalb desſelben entwickelt
ſich faſt jede in characteriſtiſcher Selbſtändigkeit, eine Erſcheinung,
der wir noch in unſerer, an anderweitigen Darſtellungsmitteln ſo
reichen Zeit begegnen.
Unter dem gleichen Geſichtspunkte ſind auch die beiden Tacte
in dem oben erwähnten Jägerliede zu betrachten, in denen das
2
Arſprüngliche Metrum verkürzt wird, Tact 4. und 17., und gerade
dieſe metriſche Verkürzung iſt, als beſchleunigter und doch gewichtiger
Schluß der Verszeile von großer Wirkung.
Dieſelbe Abrundung der Form bei großer Innigkeit und Wahr—
heit des Ausdrucks findet man auch in den Liedern der Natur,
welche die Wonnen des Maien und des Sommers beſingen und vor
allem in den Abſchieds- und Wanderliedern lebt eine ſo
tiefe und zarte Wehmuth, daß ſie nur ſelten im Kunſtliede erreicht
wurde (Notenbeilage No. 10. und 11.). Namentlich iſt das letztere
in ſeiner reichen Melismatik, mit welchen es einzelne Worte aus—
ſchmückt, eine Perle unter den Volksliedern, was das Reformatious—
zeitalter recht wol fühlte, indem es die Melodie zur Kirchenweiſe
machte.
Derber im Ausdruck und weniger durchbildet in der Form ſind
die naiven und ſchalkhaften Lieder, wie No. 12. 13. 14. und 15.
der Notenbeilage und von ihnen ſind wieder die erſten drei noch von
eigenthümlich ſüßer Klangwirkung, während das letzte ſchon mehr
nach Inhalt und Form wie ein geſungener Spruch erſcheint, eine
ergötzliche Parodie der Litanei. In dieſer Weiſe wurden Sprüche
vielfach contrapunctiert. Am häufigſten der: |
Wenn man thut zuſammen klauben
Sechs Poeten mit ihren Dauben,
Sechs Organiſten mit ihren Mucken,
Sechs Componiſten mit ihren Stucken,
Und thut ſie ſetzen auf einen Karren,
So fährt anderthalb Dutzend Narren.
Nun bricht der Karren,
So fallen die Narren.
Und ob wol iſt zerbrochen der Karren,
So bleiben doch achtzehn großer Narren.
Die ganze Derbheit des deutſchen Naturells, die meiſt mit der
Gemüthstiefe gepaart iſt, klingt aus den Landsknechts- und Rei—
terliedern und den Wein- und Schmauſeliedern, und
zwar meiſt ſo, daß die Poeſie nur zu häufig vollſtändig in den
Hintergrund tritt. In ihnen gilt es ja meiſt nicht mehr, auszu—
ſprechen, was das Herz bewegt, ſondern nur einen Tummelplatz
für die ungezügelteſte Laune zu gewinnen. Die Vorgänge des niedern
Lebens werden beſungen und mit einer Treue dargeſtellt, die häufig
an Brutalität grenzt und die Muſik nimmt willig und mit großer
*
*
1
Entſchiedenheit an dieſer Darſtellung den ausgedehnteſten Antheil“
So klingt durch das Lied „von der Jagd“, das Georg For—
ſter in „der andre Theil friſcher Liedlein“ (No. 31.) mittheilt,
das „uff wuff“ wie Büchſenknall und Jägerruf und namentlich im
zweiten Theil ſcheint die ganze Meute losgelaſſen zu ſein. In
einem andern Liede: „Presulem sanctissimum veneremur gaudea-
mus, wollen nach ganß gan, holla reyo,“ wiederum eine luſtige
Parodie der kirchlichen Intonationen wird das „Gik gak“ der Gänſe
nachgeahmt. |
Bis zu wahrhaft draſtiſcher Wirkung kommen die eigentlichen
Martins- und Schmauſelieder und einige Stellen aus einem
derſelben (No. 7. aus dem zweiten Theil von G. Forſters: Auß—
bund kurzweiliger friſcher Liedlein) mögen Notenbeilage No. 16.
einen Platz finden, und ſie ſind noch lange nicht die tollſten. In
dieſen Liedern wird es am Erſten und Entſchiedenſten klar, wie
ſehr die Tonkunſt ſich bereits von der kirchlichen Weiſe emancipiert,
ſo daß ſie ſchon die Mittel beſitzt, dieſe zu perſiflieren.
Ueberboten werden dieſe Lieder noch durch einige Landsknechts—
lieder, wie in dem: „Es ging ein Lanzknecht über Feld“ mit dem
Refrain:
„Heine gut Heinrich, ſpecian, encian, loröl, rübenkraut,
tanzapfen, hippebrom, ochſenkolben,
dockenbreite Blätter, die ſein innen hol.“
und die naive Schelmerei kommt zu Sprachübungen, wie:
„Es hidri hut gut ſchedri ſcheffer — valdridum —
vor dem ſchaldridum holz
hudri hut der lemmer.
Die ſpätere Zeit, etwa ſeit der Mitte des ſechzehnten Jahr—
hunderts bildete gerade dieſe Seite der muſikaliſchen Lyrik mit Vor—
liebe aus und führte namentlich hierdurch mit den Verfall des Volks—
liedes herbei.
In den ſchweren Zeiten, die über Deutſchland hereinbrachen,
flüchtete ſich die Poeſie auf das religiöſe Gebiet und das welt—
liche Lied wurde mit hineingezogen in das wüſte Treiben der
Zeit. Jene wunderbaren Erzeugniſſe des deutſchen Volksgeiſtes ver—
ſtummten unter dem Kriegslärm und wir werden ſpäter ſehen, wie
ſelbſt das weltliche Kunſtlied von der Landsknechtslaune beherrſcht
wird.
Auf die Weiterbildung der Liedform, und wahrſcheinlich auch
auf den Verfall des alten Volksliedes waren namentlich das epiſche
Volkslied, das Tanzlied, der Marſch und das religiöſe Volks—
lied, der Choral von großem Einfluß.
Die epiſche Poeſie iſt im Volke nicht abgeblüht. Zwar ſind
es nicht mehr die Heldenthaten des Volkes oder einzelner hervor—
ragender Männer der Vergangenheit, die beſungen werden, ſondern
es find erträumte oder wirklich erlebte Ereigniſſe, die in Reim und
Ton dargeſtellt werden. Die Lyrik des deutſchen Volkes iſt ebenſo
bedeutend, daß ſie ſich perſonificieren, daß ſie ſich zu beſtimmten
objektiven Vorgängen verdichten, daß ſie ſich epiſch ausbreiten muß.
Der Hintergrund des jetzigen epiſchen Volksliedes iſt aber nicht mehr
die Geſchichte der Welt oder des einzelnen Volkes, ſondern die
Geſchichte des Herzens, in der Regel zweier, „die nicht zuſammen
kommen können,“ oder, die bei einander waren und die ein herbes
Geſchick trennte. Für dieſe Lieder wird der muſikaliſche Vortrag von
entſcheidender Bedeutung. Die Erzählung iſt ſelten ruhig und gleich—
mäßig. Das Volkslied ſcizziert meiſt nur und hält ſich bei Neben-
ſächlichem oft ungebührlich lange auf, über das Thatſächliche leichter
hinweggehend, weil ihm eben die Darſtellung der Stimmung näher
liegt, als die der Thatſachen, durch welche dieſe hervorgerufen wird.
Hier nun iſt es mehr als in andern Liedern Aufgabe der Muſik,
zu vermitteln, Lücken und Gedankenſprünge auszufüllen, indem es
die einzelnen Momente der Erzählung heraushebt und die, nur
äußerlich anklingenden einheitlich zuſammenfaßt. Dies und der
erzählende Ton führt das epiſche Lied früh zu knapper, innerlich
und äußerlich abgerundeter Form der Melodie, ohne jene Ausſchrei—
tungen, welche das lyriſche Lied ſich oft erlaubt, und in denen
freilich auch ein Hauptgrund der berückenden Wirkung desſelben
liegt. Die Melodien der epiſchen Lieder ſchmiegen ſich bald ſo eng
dem Wortrhythmus wieder an, daß fie ſämmtlich ein ziemlich unter-
ſchiedloſes Gepräge erhalten, ohne jenen eigenthümlichen Balladenton
zu finden, dem wir bei den ſpätern Meiſtern des Kunſtliedes begegnen.
Nächſtdem ſind es die Tanzlieder, in denen das Formelle
früh zu einer gewiſſermaßen typiſchen Selbſtändigkeit gelangt.
Sie wurden zum Tanze geſungen, und mußten ſich daher eng
dem Tanzrhythmus anſchmiegen, und dieſer ſuchte, weil er die
Tanzſchritte regelt, früh eine gewiſſe Gleichmäßigkeit zu erlangen.
”
N u
Der Tanz durchmißt gegebenen Raum in beſtimmter Zeit,
und dieſe iſt bis auf die einzelnen Tanzſchritte geregelt und je nach
der Anzahl derſelben, ob zwei oder drei oder auch mehr Schritte,
bei Rundtänzen eine Umdrehung oder bei Reihentänzen einen beſtimm⸗
ten Abſchnitt bilden, wird der Rhythmus der begleitenden Muſik
beſtimmt. Ausſchreitungen oder Formerweiterungen ſind hier der
Muſik noch weniger geſtattet, als im epiſchen Liede, und die Tänze
ſind darum auch die erſten ſelbſtändigen Inſtrumentalformen geworden,
und das Tanzlied zählt mit zu den erſten vollendeteren Vocalformen.
Das unter No. 17. der Notenbeilage mitgetheilte Lied iſt jener oben
genannten Antwerpener Liederſammlung und zwar aus:
„Het derde muſyck boexken“
das nur Tanzmelodien, die ſich wenig von einander unterſcheiden,
enthält, entnommen. Die Melodie liegt auch hier im Tenor. Der
gewöhnlicheren Form des echt deutſchen Tanzliedes gedenken wir
etwas ſpecieller im folgenden Kapitel.
Aehnlich wie mit dem Tanzliede verhält es ſich mit den
Marſchliedern, die ja unter ähnlichen Vorausſetzungen entſtehen.
Die Marſch form wurde in den Kriegsjahren, namentlich wohl im
dreißigjährigen Kriege ausgebildet und das Marſchlied mußte ſich
ihr fügen. Bei der großen Tonarmuth der damaligen Militairmuſik
konnten dieſe Lieder nur noch rhythmiſch bedeutſam werden. Nament⸗
lich gilt dies von den, auf „Signale“ und „Trommelſtückchen“
gedichteten Liedern. Die Melodie des unter No. 18. der Notenbeilage
mitgetheilten „Soldatenliedes“ aus dem dreißigjährigen Kriege,
einem Flugblatt vom Jahre 1641, das wir der Güte des Herrn
O. Opel verdanken, in deſſen mit Herrn Dr. Cohn gemeinſchaft—
lich herausgegebenen Werke:
„Deutſchland im dreißigjährigen Kriege.“
Eine Sammlung von Liedern, Gedichten, Reimen und
Sprüchen, neu zuſammengeſtellt u. ſ. w. Halle, Waiſenhaus⸗
Buchhandlung. 1861.
der vollſtändige Text abgedruckt iſt, entnommen, iſt unſtreitig
urſprünglich ein Horn- oder Trompetenſignal.
Von tieferer Bedeutung für die Weiterbildung der Liedmelodie
wurde jene Form, welche ſich auf dem Grunde der proteſtanti—
ſchen Lebensanſchauung zumeiſt aus dem Volksliede entwickelte, der
Choral.
’
ee
Lange vor der Reformation ſchon ſuchte der deutſche Geſang
in der Kirche einzudringen, wenn auch mit geringem Erfolge. Hun⸗
dert Jahre früher hatten die Huſſiten ſchon einen bedeutſamen Fort-
ſchritt zur Verdrängung des lateiniſchen Kirchengeſanges gethan,
indem ſie einen Gemeindegeſang in der Landesſprache einführten.
Es entſtand eine ganze Sammlung böhmiſcher Lieder, welche auch
1531 zu Jung⸗Bunzel in deutſcher, durch Michael Weiß beſorg—
ter Ueberſetzung erſchienen und mehrere derſelben, namentlich ihre
Melodien fanden unter den Proteſtanten außerordentlichen Beifall
und einzelne haben ſich bis heute im proteſtantiſchen Gemeindegeſange
erhalten, wie: „Der Tag vertreibt die finſtre Nacht“ und „Nun laßt
uns den Leib begraben.“ Doch in eigentlichem Sinne durchgreifend,
und auch die katholiſche Kirche gewinnend, ſollte erſt die Refor—
mation Luthers werden. Ein Gemeindelied hatte der alte katholiſche
Kirchengeſang nicht, weil er für das Volksbewußtſein keine Aus—
drucksmittel beſaß. Der natürliche Trieb des Volksgeiſtes hatte dieſe
bereits gefunden im Volksliede, und dies eignet ſich der Proteſtan—
tismus an, es in ſeiner Weiſe umgeſtaltend. Wie in ihm das
Göttliche in das Menſchliche tritt, ſo wird die Mannichfaltigkeit
des Letzteren gebunden, es wird ihm eine ernſtere Haltung aufge—
nöthigt. Das proteſtantiſche Gemeindelied, der Choral, folgt daher,
gleichfalls Strophen mit klingendem Schluß bildend, dem Princip
des Reims, wie das Volkslied, aber er ſtellt es muſikaliſch mit dem,
nur intenſiv unterſcheidenden Accent, einer ruhigern Melodie—
entfaltung, gedrängt metriſcher Einheit und mit dem Harmoniereich—
thum des alten Hymnus dar. In dieſer Weiſe bildet der Prote-
ſtantismus die Hymnen und Volkslieder um, dichtet neue Lieder und
erfindet neue Melodien.
Die Melodien des alten Hymnus fügten ſich dieſem Umgeſtal—
tungsprozeß natürlich am willigſten; ſie waren in dem, für den
Gemeindegeſang einzig möglichen accentuierenden Rhythmus erfunden,
während das Volkslied einen mehr bunten, verſchiedenartig gemeſſenen
Rhythmus entgegen brachte, welcher ihm erſt abgeſtreift werden
mußte, um religiöſes Gemeindelied werden zu können. Hiermit
verfuhr indeß dies ganze Jahrhundert noch ziemlich ſorglos. Viele
Lieder wurden nur geiſtlich umgedichtet und mit dem neuen Text
ging die Melodie ziemlich unverändert in den Kirchengeſang über.
Luthers: „Die evangeliſch-teutſche Meß“ (1526) nennt als
.
Melodien geiſtlicher Lieder folgende weltliche: „Wach auf mein's
Herzens Schöne,“ „Roſina, wo war dein Geſtalt?“ „Es geht ein
friſcher Sommer daher“ und Wackernagel: „Das deutſche
Kirchenlied“ zählt 39 weltliche Lieder auf, die geiſtlich umgedichtet
wurden.
Für die Umbildung im Sinne unſers, nur accentuierenden
Chorals waren mancherlei Umſtände mitwirkend thätig. Zunächſt
der rein praktiſche, daß der nur accentuierende Rhythmus, weil er
der natürlichſte iſt, für den Maſſengeſang ungeſchulter Sänger der
einzig durchführbare und auch der einzig würdige iſt. Der gemiſchte
Rhythmus der Volksmelodie iſt viel zu bewegt und ſinnlich reizvoll,
als daß er zum Ausdruck religiöſen Gemeingefühls geeignet wäre.
Von größter Bedeutung aber wurde es, daß auch in den mehr—
ſtimmigen Bearbeitungen der Choralſätze die Melodie aus dem
Tenor in die Oberſtimme übergieng, ſo wie, daß durch die
ganze Bildung jener Zeit wiederum ein größeres Intereſſe für rhyth—
miſches Gleichmaß der Verszeilen und der ſtrophiſchen Gliederung
angebahnt wurde. Jenes wurde durch den Antheil bedingt, den die
Gemeine am Kirchengeſange jetzt nimmt. Damit ſie in den Geſang
einſtimmen konnte, mußte die Melodie in diejenige Stimme gelegt
werden, in der ſie am Bedeutſamſten heraustritt, in die Oberſtimme.
Dadurch gelangt ſie in ein anderes Verhältniß zur Harmonie. Es
wird jener Geſchäftigkeit der Setzer, die Melodie unter einem ver—
kräuſelten Contrapunct zu verbergen, Schranken geſetzt, die Har—
monie ſchmiegt ſich ihr bald mehr homophon, nur accordiſch aus—
geprägt, an, und nimmt dadurch erſt entſcheidenden Antheil an der
Herausbildung des Versgebäudes. Auf die Melodiebildung wurden
die metriſchen Verſuche dieſes Jahrhunderts direct von weſentlichem
Einfluß. Sie begannen mit Nachahmung claſſiſcher Metra. Das
metriſche Abſingen lateiniſcher Geſänge gehörte zu Schulübungen
bis in das ſiebenzehnte Jahrhundert und bereits um den Anfang
des ſechzehnten, oder auch noch früher erſchien ein Werk:
„Melopdieen oder vierſtimmige Harmonien über 22 Geſchlech—
ter heroiſcher, elegiſcher und lyriſcher Maaße, jo wie kirch—
licher Hymnen.“
und um das Jahr 1534 gaben Ludwig Senfl und vier Jahre
ſpäter Benediet Ducis jeder ein ähnliches Werk heraus.
3
Das Wort gelangt wieder zu größerer Bedeutung, und wenn
auch alle dieſe Arbeiten zunächſt keinen directen Bezug auf das
Volkslied haben, ſo konnten ſie doch nicht ohne Einfluß auf die
Weiterbildung desſelben bleiben. Mit den Produkten der neuen
Principien überkam das Volk dieſe ſelbſt, und wenn ſie ihm auch
nicht bewußt wurden, auf ſeine ſchöpferiſche Thätigkeit konnte der
Einfluß nicht ausbleiben, um ſo mehr, als die neue Weiſe in den
Cantoreien und Kirchenchören eifrig gepflegt wurde. So verliert
das Volkslied allmälig ſeine tonreiche Melismatik und hiermit freilich
auch viel von ſeinem Zauber, aber es gewinnt Relallece Form und
prägnanteren Ausdruck.
Wohl unterſcheiden ſich auch in den früheren Jahrhunderten
die Wanderlieder von den Wein- und Handwerksliedern und ſchon
in den Jägerliedern entdeckten wir Züge einer eigenthümlicheren
Charakteriſtik, allein fie haben doch alle mehr einen uniformen Ver⸗
lauf; aus allen ſpricht das den verſchiedenen Stämmen gemeinſame
unbeirrte Naturgefühl.
Jetzt beginnen die Volkslieder ſich nicht nur nach Gauen und
Waſſerſcheiden zu charakteriſieren, ſondern Beruf und Handthierung
klingen in das Lied mit hinein, geben ihm einen ſpecifiſchen Charak—
ter und dieſe neue Phaſe bildet ſomit den naturgemäßen Uebergang
zum Kunſtliede. Formell ſchließt hiermit der Entwickelungsgang des
Liedes eigentlich ab. |
Die Angelpuncte der modernen Tonart, Tonika, Dominant
und Unterdominant, bilden jetzt die Grundlage des Liedes.
Jene ſchon oft erwähnte Dominantwirkung erlangt die Bedeutung
von Hebung und Senkung, und indem die Melodie dieſe Angel
puncte an die Reimſchlüſſe verlegt, und in der Regel direct, ohne
die Umſchweife melismatiſcher Phraſen auf dieſe Puncte losgeht,
beherrſcht jene harmoniſche Wechſelwirkung die ganze Liedgeſtaltung.
Der Rhythmus ſchließt ſich zwar eng an das Sprachmetrum, allein
da dies ſehr einfach iſt, Jamben und Trochäen, ſeltener Dactylen
und in den einfachſten Zuſammenſetzungen erſcheint, ſo vermag der
unendlich reichere muſikaliſche Rhythmus ſich in feiner ganzen Man-
nichfaltigkeit bei der Darſtellung jener Metra zu entfalten. Dies ge—
ſchieht weniger in den Liedern, welche durch ganz Deutſchland geſungen
wurden, wie: „Es liegt ein Schloß in Oeſterreich,“ „O Straß—
burg,“ „Es ritten drei Reiter zum Thore hinaus,“ „Es ſtand eine
N re
Lind’ im tiefen Thal,“ „Es waren einmal zwei Knaben,“ „Ich
ſtand auf hohem Berge,“ als in den Liedern einzelner Gaue und
denen der einzelnen Stände, in denen eine große Mannichfaltigkeit
des muſikaliſchen Rhythmus herrſcht. So ſind die norddeutſchen
Lieder im Allgemeinen mannichfaltiger rhythmiſiert, als die ſüddeut—
ſchen, wo die Luſt am bloßen Geſange, die ſich am Deutlichſten in
dem „Jodler“ der Schweizer und Tyroler oder dem ſogenannten
„Juchzer“ der Baiern ausſpricht, eine reichere Rhythmik nicht auf—
kommen läßt, während die mehr praktiſch verſtändige Richtung des
Nordens einer ſolchen geradezu förderlich iſt. |
Auch nach den Ständen und den beſondern Begebenheiten,
unter deren Einfluß die Volkslieder entſtehen, geordnet, zeigen ſie
eine weſentliche Verſchiedenheit des Rhythmus.
Die Jäger-, Schiffer- und Schäferlieder find meiſt im 9 Tact,
die Handwerksburſchenlieder im ½ Tact und die Scheidelieder im
% ee Se und Die eigenthümliche Darſtellung dieſer Tactart
durch N 4 N 2 z. B. giebt ihr einen ganz beſonders wehmüthigen
Charakter.
Daß' in den Soldatenliedern die Melodie häufig von ganz
äußern Umſtänden abhängig erſcheint, wurde bereits angeführt.
Hiermit verliert die Volksmelodie ſchon ihren eigentlichen Boden.
Jetzt iſt es nicht mehr das unbeirrte Naturgefühl, was dichtet und
ſingt, und dies dürfte auch auf den Hauptgrund führen, weshalb
in einzelnen Gauen des deutſchen Vaterlandes das eigentliche Volks—
lied früher abblühte, als in andern. In den Theilen Thüringens
und Sachſens, in denen die Cantoreien, welche den Kunſtgeſang
pflegten, in Blüthe ſtanden, oder in denen, wo, wie an den zahl
reichen deutſchen Höfen in Theater und in den fürſtlichen Kapellen
Oper und Inſtrumentalmuſik Verbreitung fanden, ſtarb das Volks—
lied früher ab und wurde durch das ſogenannte volksthümliche Lied
verdrängt (von welchem ein ſpäteres Kapitel handelt), als im Süden
Deutſchlands, und im Weſten und Oſten, in Schleſien, in den
Rheinprovinzen und den Gebirgsgegenden Mittel-Deutſchlands, in
denen der Kunſtgeſang nie ſo in Blüthe ſtand, wie dort.
Eine der intereſſanteſten Arbeiten wäre, die Volksmelodien
nach den verſchiedenen Gegenden zu ordnen und zu charalteriſieren;
eine Arbeit, die indeß einer Monographie des Volksliedes anheim
A VRR
fallen muß und dieſe wird erſt dann unternommen werden können,
wenn wir aus allen Gegenden Deutſchlands Sammlungen von
bewährten Kennern beſitzen, wie die von
Hoffmann von Fallersleben und Ernſt Richter:
„Schleſiſche Volkslieder (Leipzig, Breitkopf und Härtel)“
und die von N
J. G. Meinert: „Alte deutſche Volkslieder in der Mund—
art des Kuhländchens Wien 1817.“
Von ganz beſonderem Intereſſe müßte dann die Vergleichung
der, nach den verſchiedenen Gegenden ſich anders geſtaltenden Melo—
dien derſelben Texte fein. Erk giebt in feiner Sammlung: „Deut—
ſcher Liederhort“ (Berlin 1856) unter No. 23. p. 73. zwei Melodien
zu „Meiſter Müller thut mal ſehen,“ die wir beide unter No. 19.
und 20. mittheilen, weil ſie, wie es uns ſcheint, den waghalſigen,
leicht „aufbegehreriſchen“ Schleſier, mit ſeiner immer geſchäftigen,
unternehmenden und etwas derben Gemüthlichkeit, gegenüber dem
Franken und Thüringer, mit der ruhigen Sinnigkeit vortrefflich
charakteriſieren.
Driltes Kapitel.
Die n en nat le end.
Im Gegenſatz zum Volksliede iſt das Kunſtlied der, mit Bewußt—
ſein und nach beſtimmten Geſetzen geordnete Erguß der Stimmung.
Das Volkslied, als unmittelbarer Ausfluß deſſen, was das Herz
bewegt, iſt weder im Stoff, noch in der Weiſe ſeiner Darſtellung
wähleriſch. Es iſt ihm nur um den vollen, wahren Ausdruck zu
thun. Was das Herz erfüllt, ſtrömt aus im Geſange und zwar
Zug um Zug, ohne eine andere Anordnung als die, vom Inſtinkt
vorgezeichnete und wenn ſie dennoch der, von uns als künſtleriſche
Nothwendigkeit erkannten Ordnung des Tonmaterials vollſtändig
entſpricht, ſo iſt das nicht beabſichtigt, ſondern hat ſeinen Grund
vielmehr nur darin, daß jene Anordnung des Tonmaterials natürlich
und menſchlich anſprechend, daß ſie überhaupt die einzig mögliche
„
iſt. Dabei bleibt das Volkslied natürlich nur auf der Oberfläche
des Empfindens haften und es iſt dies eine nothwendige Bedingung
ſeiner Exiſtenz, denn ſo nur kann es als der Ausdruck einer Geſammt⸗
heit gelten. |
Das Kunſtlied verſucht eine ſchärfere Sichtung des Stoffes,
es zerlegt die Empfindung in ihre zarteren Beſtandtheile, rundet ſie
künſtleriſch ab und ſchafft ſich für ihre Darſtellung eine freiere und
durchdachtere Technik. Der Geiſt des echten Künſtlers empfindet
nichts anderes, als der echte Geiſt des Volkes, aber er empfindet
tiefer, er empfindet geläutert und verklärt, und weil er ſich durch
energiſche Studien eingelebt hat in die geheimnißvolle Macht ſeines
Darſtellungsmaterials, ſo iſt er im Stande, die Empfindung in
ihren feinſten Verſchlingungen zu verfolgen, die Stimmung auch in
den, von dem Gemüth des Volkes unbeachteten, weil ungekannten
Einzelzügen zum Ausdruck zu bringen. Wie das Künſtlergemüth
ein veredeltes, reicheres Volksgemüth iſt, ſo iſt das Kunſtlied ein
veredeltes und darum reicheres Volkslied.
In dieſem Sinne nun werden die Volkslieder zunächſt von
den Tonmeiſtern zu Kunſtliedern verarbeitet.
Wir hatten bereits Gelegenheit auszuſprechen, daß die Melodie
nur die Umriſſe der Stimmung zu zeichnen vermag, und daß erſt
die hinzutretende Harmonie die Darſtellung vollendet. Wol giebt
es einzelne Melodien, in denen die Harmonie ſo beſtimmt ausgeprägt
iſt, daß man fie zu vernehmen vermeint, wie in vielen Jäger-
Schiffer- und Hirtenliedern, und namentlich die Lieder, denen das
moderne Syſtem zu Grunde liegt, mögen wohl meiſt mehrſtimmig
geſungen worden ſein, aber jene künſtleriſche Erweiterung wurde
doch immer erſt von der Hand des Künſtlers durch die contra—
punctiſche Bearbeitung hinzugefügt.
Wir begegnen hier nun zunächſt jenen Meiſtern, die ſich auf
dem Gebiete der Kirchenmuſik, der eigentlichen Kunſtmuſik mit
großem Erfolge bewegten, wie Ludwig Senfl, Melchior Frank,
Leo Haßler, Benedict Ducis, Orlandus Laſſus, dann
aber auch ſolchen, die ſonſt nicht weiter genannt werden, wie
Georgius Botſch, Matthias Eckel, Matthias Greiter,
G. Othmayer und Andere.
Die meiſten dieſer Bearbeitungen entſprechen nun allerdings
nur jenem, mehr äußeren Bedürfniß einer mehrſtimmigen Darſtellung.
Er, en
Die Melodie iſt ebenſo nur contrapunctiert, wie bisher und auch
noch eine Zeitlang fernerhin der katholiſche Kirchenhymnus und
zwar meiſt mit eben ſo wenig Rückſicht auf den ſpeciellen Gehalt
der Melodie, wie dort. Die Bearbeitungen der Melodien, welche
die Notenbeilage enthält, trifft dieſer Vorwurf nicht. Wenn ſie
auch nicht immer ihre Begleitungsmotive der Melodie entlehnen, ſo
ſind ſie doch ſämmtlich im Geiſte derſelben, aus der urſprünglichen
Stimmung heraus erfunden, und das gilt nicht nur von denen,
deren Setzer Meiſter, wie Senfl, Iſaak oder Haßler ſind,
auch die Bearbeitungen von Othma yer ſind vortrefflich in dieſem
Sinne gehalten und das Lied: „O lieber Hans“ dürfte kaum anders
zu bearbeiten ſein. In allen ſpricht ſich ſchon ein Erfaſſen und
Nachempfinden deſſen aus, was im Volksliede lebt.
Von eigenthümlicher Art ſind die Bearbeitungen Melchior
Frank's. Dieſer Meiſter, der auf dem Gebiete des religiöſen
Kunſtgeſanges ſo Vortreffliches leiſtete, war in der Bearbeitung von
Volksliedern nicht glücklich, weil ihm jenes naive Verhalten gegen
die Melodie mangelt, das wir an den anderen Setzern bemerken,
und das hier zur nothwendigen Bedingung wird. Bei ihm macht
ſich ſchon der Einfluß der Italiener geltend und in dem Beſtreben,
gebührlichen Effect zu erreichen, wird auch die Melodie angetaſtet,
von dem Contrapuncto colorato erfaßt und verkräuſelt und ſo ent—
ſtehen Gebilde, welche die Volksmelodie nur noch in Umriſſen zeigen.
Dies iſt mit den meiſten Bearbeitungen in den „Muſikaliſchen
Bergkreihen“ von Frank der Fall und die, Notenbeilage No. 21.,
verzeichnete Melodie iſt bei weitem noch nicht die bunteſt colorierte.
Aus den contrapunctiſchen Bearbeitungen der
Volkslieder erwuchs das ſelbſtändig erfundene Kunſt—
lied. Durch ſie war eigentlich die Erfindung in den Meiſtern erſt
angeregt und genährt worden und dieſe hatten zugleich eine Herr—
ſchaft über das neue Material erlangt, die überhaupt Erfindung
erſt möglich macht. Jetzt bleiben auch Sänger, der Erfinder der
Melodie, und Setzer, der contrapunctierende Meiſter, nicht mehr
geſchieden, die Meiſter erfinden ihre Melodien ſelber, und dieſe
veränderte Thätigkeit hat nothwendiger Weiſe eine Veränderung des
Produkts im Gefolge. Der Meiſter erfindet ſeine Melodien ſchon
nicht mehr unbeirrt, ſondern mit Rückſicht auf Harmonie. Dieſe
erſteht zu gleicher Zeit mit jener, ſo daß zunächſt beide abgeſchwächt
N
erſcheinen müſſen, gegen jene Bearbeitungen von Volksliedern, in
welchen die Melodie der ungeſchmälerte Ausdruck der Empfindung
iſt, und die Harmonie wiederum ihre ganze Macht entfaltet, um
jene zu unterſtützen und zu heben. Und als, wiederum eine noth—
wendige Folge dieſer veränderten Thätigkeit, die Meiſter immer
größere Sorgfalt auf die Ausbreitung der Melodie verwenden,
blüht die Harmonie immer mehr ab bis ſie ſelbſt im Kunſtliede
auf den einfachſten harmoniſchen Apparat, Tonika und Domi—
nant zuſammengedrängt iſt.
Das unſtreitig Bedeutendſte leiſtete zunächſt: Hans Leo
Haßler, ein Schüler des Giovanni Gabrieli, des berühmten
Stifters der venetianiſchen Schule. Er iſt im Jahre 1564 zu
Nürnberg geboren und ums Jahr 1585 treffen wir ihn in Augs-
burg als Organiſt bei dem Grafen Octavian Fugger, 1602
am Hofe Kaiſer Rudolph's II., der ihn ſpäter in den Adel—
ſtand erhob. Er ſtarb als churſächſiſcher Hoforganiſt auf einer
Reiſe zu Frankfurt a. M. 1612.
Von ſeinen, nicht zahlreichen Werken, heben wir namentlich
ein Heft mehrſtimmiger Lieder 1601 unter dem Titel: „Luſtgärt⸗
lein“, in Nürnberg erſchienen, hervor. Das bekannte Lied aus
dieſer Sammlung: „Mein G'müth iſt mir verwirret“ darf als der
Gipfelpunet der geſammten Schöpfungen auf dem Gebiete dieſer
Form in dieſem Zeitraum angeſehen werden. Die Stimmung iſt
dem Volksliede außerordentlich treu abgelauſcht, aber ſie erſcheint
hier in viel conciſerer Form und in feinerer Interpretation des
Textes, wie dort. Was wir früher als nothwendig eintreffend bereits
vorausſagten, daß die Melodie, wenn ſie ſich erſt zu einer gewiſſen
Selbſtändigkeit herausgebildet hat, nothwendiger Weiſe wieder enger
an den Text ſich anſchließt, iſt nun bereits eingetreten. Melodie
und Harmonie ſchmiegen ſich eng an das Wort und wie wunderbar
innerlich der muſikaliſche Rhythmus den ſprachlichen unterſtützt und
ergänzt, leuchtet von ſelbſt ein. Wie trefflich der Meiſter den
Volkston getroffen hatte, wird dadurch bewieſen, daß das Lied faſt
unverändert mit dem geiſtlichen Text: „Herzlich thut mich verlangen“
den Weg in die Kirche fand und Gemeindelied wurde, und als
ſolches bearbeitete es H. Schein 1627 choralmäßig.
An der ungleich größeren Menge der, auf dem Gebiete des Liedes
gleichzeitig thätigen Meiſter, können wir vorübergehen. Scandelli,
.
Soon de Vento, Regnart, Lechner und Andere, welche
fleißig: „Neue teutſche Lieder“ veröffentlichten, ſchrieben dieſelben
meiſt „nach Art der Madrigalen, Vilanellen und Canzonen,“ ita—
lieniſcher Liedgattungen und wenn es ihnen auch mit dieſer Bezeich—
nung nicht immer Ernſt iſt, ſo iſt doch außer Zweifel, daß ſie für
jene Gattungen viel größeres Verſtändniß beſaßen, als für unſer
Volkslied und aus dieſem heraus war nur das deutſche Kunſtlied zu
ſchaffen.
Auch dem großen Meiſter Orlandus Laſſus, der ſich dem
deutſchen Liede mit großem Fleiße zuwendete, war es nicht beſchie—
den, jene natürliche Form des Liedes zu finden. Seine Lieder ſind
alle im Motetten- und Hymnenſtyl geſchrieben.
Obgleich daſſelbe von Eccard gilt, jo iſt er doch auch bedeut—
ſam für das Lied geworden.
Johannes Eccard, 1553 in Mühlhauſen in Thüringen gebo—
ren, erhielt früh durch Joachim aus Burgk, Cantor und Orga—
niſt zu St. Blaſien in Mühlhauſen, einem bedeutenden Förderer
des evangeliſchen Kirchengeſanges, den erſten Unterricht in der Muſik.
In den Jahren 1571 — 74 ſtudierte er unter Orlandus Laſſus
in München und gieng dann wiederum nach ſeiner Vaterſtadt zurück,
woſelbſt auch ſein erſtes Werk gedruckt wurde. Er arbeitete hier
mit Joachim aus Burgk an der Compoſition Helmboldt'ſcher chriſt—
licher Lieder und folgte dann einem Rufe nach Königsberg in die
Dienſte des Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg, des
Verwalters des Herzogthums Preußen. Im Jahre 1608 wurde er
Kapellmeiſter in Berlin und ſtarb daſelbſt 1611.
Johann Eccard ſollte eine kunſtgeſchichtliche Bedeutung
erlangen, wie kein anderer ſeiner Zeitgenoſſen, indem er Gemeine—
ſang und Kivchengeſang jo künſtleriſch zu verſchmelzen wußte, daß
beide ſich gegenſeitig ergänzten. In der Melodie ließ er die Stimme
der Kirche ertönen und die kunſtvoll interpretierenden Unterſtimmen
repräſentieren die Gemeinde, die ſich ſchon in die Wunder des gött—
lichen geoffenbarten Wortes zu vertiefen beginnt. In dieſen Bear-
beitungen iſt ihm daher das einzelne Wort ſo bedeutend, daß er
fort und fort bemüht iſt, es zur Geltung zu bringen, und zwar
in echt proteſtantiſchem Geiſte, der ja dem Worte eine ſo große
Geltung beilegt. Die beſondere Weiſe nun, in welcher dies unſer
Meiſter thut, findet in den engen Schranken des Liedes nicht Raum.
4
Reißmann, deutſches Lied.
„
Selbſt ſeine ſogenannten „Feſtlieder“ jind motetten- oder
hymnenartig geſchrieben, etwa mit Ausnahme des Feſtliedes auf
Mariä Verkündigung: „Freu' dich du werthe Chriſtenheit,“ das
mehr in Choralweiſe gehalten iſt. Die Gliederung durch die, im
Reim verbundenen Verszeilen iſt meiſt nicht beobachtet, eine
Stimme führt zum mindeſten über den nöthigen Ruhoͤpunct an den
Endreimen hinaus. Auch das weltliche Lied behandelt er motetten—
haft, ja oft nach Art der Cantate. Er zerlegt den Text in ſeine
verſchiedenen Strophen und behandelt jede einzelne in beſondern
Muſikſätzen. So iſt jede der drei Strophen des Liedes: „Hört ich
ein Kuckuk fingen‘ ſelbſtändig behandelt, die erſte und dritte fünf-,
die zweite vierſtimmig, ebenſo jede der vier Strophen des Liedes:
„Unſre lieben Hühnerchen,“ das in vier ſelbſtändige Sätze, von
denen zwei fünf-, einer vier- und einer dreiſtimmig iſt, zerfällt.
Jeder einzelne Satz nun wird von ihm ebenſo interpretiert, wie feine
geiſtlichen Texte. Wie namentlich in ſeinen Choralbearbeitungen
faſt jedes einzelne Wort in den verſchiedenen Stimmen zur Geltung
gelangt, ſo wird der Text hier meiſt ebenſo nur wiederholt, um
durch eine veränderte Declamation, durch Hervorheben eines bis—
her vernachläſſigten Wortes ihm eine neue Seite abzugewinnen.
Daß dieſe Richtung von entſcheidendem Einfluß für die Weiter—
entwicklung des Liedes werden mußte, iſt außer Zweifel. Die Form
war ja im Großen und Ganzen feſtgeſtellt, es galt alſo dem Inhalt
etwas näher zu kommen und dafür war unſer Meiſter erfolgreich thätig;
nur nach ſolchen Vorarbeiten konnte das geſungene Lied zum treffenden,
die lyriſchen Pointen unmittelbar erfaſſenden Ausdruck gelangen.
Von directem Einfluß auf die Fortbildung des Liedes iſt:
Melchior Frank. Er iſt zu Zittau um das Jahr 1580
geboren, bildete ſich zu Nürnberg und ſtarb zu Coburg am 1. Juni
1639 als Kapellmeiſter des Herzogs Johann Caſimir von Sachſen—
Coburg. Frank war einer der produktivſten Meiſter dieſes ganzen
Jahrhunderts und zwar gehört er zu den allſeitig thätigen. Er
ſchrieb nicht nur im Geiſte Eccards Motetten und Kirchen—
lieder — mehrere Choralmelodien, wie: „Jeruſalem, du hochgebaute
Stadt,“ „Der Bräutigam wird bald rufen“ und „Ein Würmlein
bin ich arm“ find von ihm erfunden — ſondern er war auch für die
Erweiterung des Kunſtliedes und für Verbreitung des Volksliedes
unermüdlich thätig.
— . —
Seine eigentlichen Lieder, die er unter den verſchiedenſten
Titeln: „Teutſche Geſänge und Tänze,“ „Liebliche amoro—
ſiſche Geſänge,“ „Muſikaliſche Convivien,“ „Hochzeitsgeſänge,“
„Chriſtlich muſikaliſche gratulatoria“ in den Jahren 1605 — 1606,
1610, 1614, 1621 und 1623 herausgab, trifft derſelbe Vorwurf,
den wir ſchon oben bei den „Bergkreihen“ ausſprachen, und der
auch für die, von ihm 1603 herausgegebenen „Reiterliedlein“ gilt:
der Mangel einer ſtetig entwickelten Melodie. Die Luſt zu colorieren
ergreift auch die Melodie und ſo geht ihre eigentliche Bedeutung
für das mehrſtimmige Lied verloren. Dieſer Einfluß italieniſcher
Geſangsweiſe ſollte ſich erſt in Prätorius und Schein zu
einer wirklichen Neugeſtaltung der Melodie herausbilden. Doch
wirkte Frank auf andere Weiſe hierzu thatkräftig mit durch ſeine
Tanzlieder.
Mit dem Frank'ſchen Tanzliede kommt ein Element in
das Lied, das bisher eigentlich noch nicht, oder doch nur in Andeu—
tungen vorhanden iſt, die kurze me lodiſche Phraſe, die für
den lyriſchen Ausdruck ſo weſentlich iſt, weil ſie die Empfin—
dung auf ihre Pointen zurückführt und die, in ſequen—
zenartiger Weiſe wiederholt und weitergeführt, für
die vollendete Form bedeutungsvoll wird.
Die Tanzlieder von Valentin Haußmann zerlegen ſich in
kurze Abſchnitte, die eigentlich nur äußerlich correſpondieren, ſo daß
weder die Lied⸗ noch die Tanzform beſonders bedeutſam aus-
geprägt iſt. So wie der einzelne Tanz ſich aus der Wiederholung
des oder ſelbſt der einzelnen Pas zuſammenſetzt, ſo natürlich auch
die denſelben begleitende und regelnde Muſik, aus einzelnen rhyth—
miſch gleichartigen Motiven, und Melchior Frank wandte dieſe
Weiſe der Conſtruction auch auf das Tanzlied an. Im Tanzliede
Notenbeilage No. 22. iſt durch energiſche Herausbildung kleinerer
Motive und durch ihre Verarbeitung eine weit größere, innere und
äußere Einheit neben mannichfaltiger Charakteriſtik erreicht. Zum
Verſtändniß des Ganzen mag noch erwähnt ſein, daß dem eigent—
lichen Tanzliede ein einfaches Lied von ſechs Strophen vorausgeht,
welches erzählt, daß dem Componiſten Frau Muſika erſchienen ſei,
und ihn aufgefordert habe, ihr einen ſchönen Tanz zu componieren,
um den Kranz zu verdienen. Dieſe Weiſe fand bald eifrige Nach⸗
4 *
ns.
ahmer und gerade fie wurde auf die Weiterentwickelung des Liedes
von weſentlichem Einfluß.
Hier möge auch noch der Eigenthümlichkeit der Tanz lieben
und Tänze jener Zeit gedacht werden, daß die meiſten, welche in
einem zweitheiligen Tacte beginnen, einen Nachtanz, Proportio, im
dreitheiligen Tact haben. Es hat dies wohl ſeinen Grund in der
äußern Einrichtung des Tanzes. Wahrſcheinlich ſind die zweitheiligen
Tänze Reihen-, die dreitheiligen Rundtänze; und es iſt dann anzu⸗
nehmen, daß die Reihentänze immer mit einem Rundtanze endeten.
Außer den genannten Meiſtern, die formell und ideell das
Lied förderten, haben wir noch derer Erwähnung zu thun, die für
Verbreitung dieſer Form eifrig thätig waren.
Oben an steht Valentin Haußmann, Nathsherr und Orga-
niſt zu Gerbſtädt. Seine zahlreichen Lieder und Tänze, zum Theil
eigene Erfindung, zum Theil Bearbeitungen von Volksliedern,
haben eine große Verbreitung gefunden. Sie erſchienen nicht nur
in mehreren Auflagen, ſondern wurden auch in Auszügen, in Zu—
ſammenſtellungen der beliebteſten der einzelnen Hefte herausgegeben.
Die Behandlung der Liedform iſt eine, auch für jene Zeit nur
zierlich dilettantiſche, und dieſem Umſtande verdanken fie wohl auch
ihre große Verbreitung.
Einen mindeſtens ebenſo großen Kreis von Verehrern muß
Johann Jeep's: „Studenten-Gärtlein“ (1607) gefunden haben,
von dem der Verfaſſer in der 1613 veranſtalteten Ausgabe ſelbſt
ſagt, „daß dem Typographen die Exemplare vielmals zerrinnen
wollten.“
Den Liedern Haußmauns gegenüber find fie noch ärmer
an Erfindung und ihnen ſcheint wiederum eine gewiſſe Derbheit in
Stimmung und Ausdruck den größeren Erfolg geſichert zu haben.
Denn daß ſie den Grundzug des geſammten Muſiktreibens dieſer
ganzen Periode bildete, das beweiſen außer den „Quodlibets“ auch
noch eine Sammlung, die 1609 erſchien und gleichfalls große Ver—
breitung fand: „Muſikaliſcher Zeitvertreiber. Allerley ſeltſame
lecherliche Vapores- und Humores-, Schlaftrunksboſſen-, Quod—
libet-, Judenſchul- und andere kurzweilige Liedlein.“ Nürnberg
bei Paul Kauffmann. Durch die ganze Sammlung geht die Lands—
knechtslaune hindurch, nur nicht die des frommen. Gleich im erſten
Liede iſt die Nachahmung des Katzengeſchreis, im zweiten der Tumult
Zi
eines Marktes Hauptmoment der Darftellung ; dem fünften gilt das:
„Ey wußta hotta guter drey geul, womit die Pferde angetrieben
werden, als Refrain. Die Weinlieder haben wenigſtens bei aller
Derbheit noch den Vorzug, daß ſie eine gewiſſe Geſchloſſenheit der
Form zeigen.
Bezeichnender aber, als alles dies, für die ganze Richtung des
Muſiktreibens ſind die Quodlibets. Sie ſind allerdings wohl
zunächſt nothwendige Folge der geſammten Muſikpraxis der dama—
ligen Zeit.
Das Volkslied hat dieſem einen ganz neuen Ausgangspunkt
gegeben; es war für die Tonkunſt zum befruchtenden Keim gewor—
den, und nachdem die Künſtler durch die contrapunktiſche Behand—
lung der Volksweiſe gelernt hatten ſelbſt Lieder zu erfinden, war es
natürlich, daß man auch anderweitig mit ihr experimentierte. So
draſtiſche Wirkung aber, wie eine geſchickte Zuſammenſtellung ein—
zelner Phraſen des Volksliedes hervorbrachte, entſprach ſo recht dem
deutſchen Charakter jener Zeit und ſo wurde die Form des Quod—
libets gar bald der Ausdruck der tollſten Laune und des zügel—
loſen Uebermuths. Sie erſchienen in großer Anzahl und die
beiten Namen finden wir unter ihren Verfaſſern, wie: Orlandus
Laſſus, Leo Häßler, Johann Eccard, Melchior Frank,
Georg Forſter.
In einem Eccard ' ſchen Quodlibet beginnt der Tenor: „Keſſel,
Multer binden, Pfannen flicken, Keſſel, Ein alter Mann, der
nahm ein junge Frau“ und ſofort fällt der Alt ein: „Nun wollt
ihr hören neue Mähr, Zu meiner Königinn“ und der Baß zugleich:
„Ich will zu land ausreiten — Es iſt ein Seuſack kommen.“ Ein
Viertel ſpäter tritt dann der erſte Diskant hinzu mit der Melodie:
„Warum ſollt' ich nit fröhlich ſein?“ ferner der zweite Diskant
mit: „Der Müller auf der Obermühl — Die hat ob ihm ein Grauen“
und endlich tritt auch der zweite Tenor hinzu: „Es hatt ein Schwab
ein Töchterlein, und haben guten Muth,“ und nun geht es in
immer tolleren Zuſammenſtellungen fort, bis endlich ſich alle Stim⸗
men in dem Refrain vereinigen: „Trinkgar aus, noch muß er
unſer Schwager ſein, wiſch einmal herumb, ich bitt dich all mein
lebtag drumb,“ welcher ein beliebter Schluß für derartige Quodlibets
geweſen zu ſein ſcheint, da er uns öfter begegnet. a
.
Gegen dieſe ganze Richtung nun begann der Einfluß Italiens
eine wohlthätige Reaction auszuüben.
Der Grundzug des deutſchen Geſanges, dem Wort eine über—
wiegende Herrſchaft einzuräumen, wurde ſowol durch jene künſt—
leriſchen, als auch durch dieſe mehr volksmäßigen Beſtrebungen
einſeitig ausgebildet. Das Hauptaugenmerk der deutſchen Meiſter
des Kirchengeſanges war auf Verſtändlichkeit des Wortes gerichtet,
ihr wurde gar bald alles Uebrige untergeordnet, und im welt—
lichen Geſange war das Burleske, Derbe, vorwiegend geworden;
was wiederum mehr durch Sprechen, als durch Singen erreicht
werden konnte. So gerieth gar bald die geſammte Vocalmuſik in
Gefahr, auf dem halben Wege zu herrlicher Entfaltung ſtehen zu
bleiben und am Ende gar abzublühen.
Da kam von Italien her der neue Anſtoß zu einer raſchen
Weiterentwickelung. Dort hatte ſich neben dem Kirchengeſange in
den Madrigalen, Vilanellen und Canzonen gleichfalls ein eigenthüm—
licher Volksgeſang gebildet, aus dem wiederum in raſcher Ent—
wickelung der Sologeſang ſich herausbildete und bald war die,
dem Italiener eigene, rein beziehungsloſe Luſt am Geſange in
einer Weiſe erwacht, daß ſie alle Arten und Formen des
Geſanges in ihren Strudel hineinzog. Es entſtanden die drama—
tiſchen Formen, die Anfänge des Oratoriums und der Oper und
das Kirchenconcert, und, was uns hier zunächſt beſchäftigt: die
Melodie gelangt jetzt zu jener eigenthümlichen Süße,
die für den lyriſchen wahren Ausdruck nothwendig
Bedingung iſt.
Die neue italieniſche Weiſe mußte den deutſchen Meiſtern um
ſo mehr imponieren, als ſie mit der erwähnten deutſchen in ſo
directem Widerſpruch ſtand, und der wohl erſte Vermittler dieſes
Einfluſſes, Michael Prätorius, in Creuzberg an der Werra in
Thüringen am 15. Februar 1571 geboren und 1621 am ſelben
Datum geſtorben, iſt von der neuen Weiſe ſo entzückt, daß er
meint: „in der beweglichen anmuthigen Art der Concerte ſei die
Tonkunſt ſo hoch gebracht, daß man ſich billig zum höchſten darüber
zu verwundern habe.“ Er verwirft die geſammten Produkte
ſeiner ſo reichen bisherigen Thätigkeit und verſpricht Neues und
Beſſeres zu leiſten. Das hat er redlich gethan. Fort und fort
iſt er von jetzt bemüht, jenes mehr ſinnlich reizvolle italieniſche
Element der deutſchen Tonkunſt zu vermitteln. Allein ſeine Werke
haben weniger ſüdliche Gluth der Empfindung, als vielmehr die
dadurch bedingte ſinnliche Klangwirkung. Mit feinem Ohr und
Auge begabt, weiß er dieſe den Italienern abzulauſchen und auf
deutſches Gebiet zu verpflanzen, und wie viel er auf die getreue
Ausführung rechnet, und wie er fort und fort bemüht iſt, durch
die eigenthümliche Zuſammenſetzung und Gruppierung der Singchöre
zu neuen Klangeffekten zu gelangen, das beweiſt ſein theoretiſch
bedeutendſtes Werk: „Syntagma Musicum,“ in welchem er ganz
genaue Vorſchriften in Bezug hierauf giebt.
Er ſcheint auch der Erſte zu ſein, der mit durchgreifendem
Erfolge in Deutſchland ſchon das Inſtrumentale dem Vocalen ent—
gegen zu ſetzen verſuchte. Inſtrumentaleinleitungen finden wir bedeu—
tend früher; faſt jede Liederſammlung mit der Bezeichnung: „auch
auf allerley Inſtrument zu gebrauchen,“ bringt einige „Intraten,“
die jedoch meiſt wenig Bezug auf die einzelnen Lieder gehabt haben
mögen. Von jetzt an werden die Vocalſätze durch ein Präludium
eingeleitet, durch Ritornelle unterbrochen und durch Nachſpiele
geſchloſſen. Dieſe Neugeſtaltung iſt von jo großer Wichtigkeit, daß
wir einen Augenblick dabei verweilen müſſen.
Die Inſtrumentalmuſik konnte ſich nothwendiger Weiſe erſt
entwickeln, nachdem das Vocale bedeutungsvoll geworden war. Die
Vocalmuſik, als die natürlichere, zunächſt liegende, ruft jene
erſt hervor und giebt ihr den Auſtoß zur Entwickelung. Daher
ſtehen die erſten Inſtrumente früh nur im Dienſte des Vocalen,
um dieſem den Ton anzugeben und den Sänger immer in demſelben
zu erhalten, oder ſie dienen eben nur als Begleitung und Unter—
ſtützung deſſeldñen, wie wol in allen Ländern bis ins ſechzehnte
Jahrhundert hinein.
Mit dem Ausgange dieſes Jahrhunderts aber beginnt das
Inſtrumentale bereits ſich in bedeutender Weiſe zu erweitern, aller—
dings zunächſt mehr nach der Breite. Die ganze Bewegung iſt
mehr von der Luſt am Klange geleitet und das Beſtreben, ein
Inſtrumentalcolorit herzuſtellen, gegenüber dem Vocalen, führte
nicht nur zu Verbeſſerungen der vorhandenen, ſondern auch zur
Erfindung neuer Inſtrumente, und das ſiebenzehnte Jahrhundert
zeigt ſchon einen erſtaunlich großen Reichthum von Inſtrumenten
aller Art.
.
Michael Prätorius führt in ſeinem bereits genannten
Werke: Syntagma Musicum (Tomus secundus. De Organographia)
außer den verſchiedenen Arten Orgeln (Orgel pneumaticum, Posi-
tivum, Organum portatile und Regal) und außer der allgemein
bekannten und beliebten Laute und dem Clavicembel eine Menge
Blas-, Schlag- und Streich inſtrumente auf, wie die
Tuba (Trombone), die Schäfer-, Quer- und andere Pfeiffen,
die Schalmein, Bombarten, die Cornetten (Zinden),
Krummhörner (Cornamuse) und neben Pauken, Glocken,
Glöckchen und Cymbeln, Röllchen, Harfe, Theorbe und
Lyra, die Viol da Gamba und die Violine (Rebeckchen, Fides,
Fidicula, Violadi braccio). Dieſem Reichthum der Inſtrumente
entſprechend, war auch die Zuſammenſetzung und die Menge der
Muſikchöre. Wie an den Kirchen und Schulen Cantoreien
errichtet waren, welche den Geſang pflegten, ſo errichtete bald jede
einigermaßen bedeutende Stadt ihre Stadtpfeifferei, die ſich mit der
Pflege der Inſtrumentalmuſik ausſchließlich beſchäftigte und an den
zahlreichen Höfen der deutſchen Fürſten wurden ſolche Kapellen mit
ganz beſonderem Aufwande unterhalten. Mit der wachſenden und
in dieſen Chören geförderten Technik der In ſtrumente und der
geſteigerten Virtuoſität der Muſiker, mußte ſich dieſen die Noth⸗
wendigkeit aufdrängen, über das Vocale hinauszugehen. Die In-
ſtrumentiſten verſuchen natürlich Anfangs ganz beſcheiden, durch
„Arppeggi und Paſſaggi,“ den einen oder den andern Tact, oder
auch eine ganze Phraſe, zu colorieren; ſpäter variiert das einzelne
Inſtrument die ganze Melodie. Auf dieſem Wege mußte das
Inſtrumentale zur Erkenntniß des eignen Inhalts gelangen, und
mit welchen Eifer dies jetzt ſchon ausgebildet wird, davon geben
die Introductionen und Ritornelle, in welchen die Inſtru—
mentalmuſik das Vocale ſchon zu ergänzen ſucht, den ſchlagendſten
Beweis. Und das iſt ja zunächſt die Bedeutung des Inſtrumen—
talen, daß es das auszuſprechen verſucht, was das Vocale noch
unausgeſprochen gelaſſen, was es zum Mindeſten nicht erſchöpfend
ausgeſprochen hat. Jenes geheime Walten und Weben des Geiſtes
kommt feſſellos und ohne Reſt nur im Inſtrumentalen zur Erſchei—
nung. Der Conſonant der Sprache, und ſei es auch der geſungenen,
iſt ja ſchon eine Hemmungsform und im Begrifflichen, an das
die Sprache das Leben des Geiſtes veräußern muß, tritt dieſer
un A
gewiſſermaßen aus ſich ſelbſt heraus in eine Welt, die er ſich geſchaf—
fen, in die Welt der Begriffe, die ihn aber nimmer ganz und ohne
Reſt aufnehmen kann. Die Muſik dagegen, und namentlich die In—
ſtrumentalmuſik, giebt dies Leben der Phantaſie und des Geiſtes
ganz unmittelbar, weſen- und gegenſtandlos im Ton und darum
in ſeiner ganzen Fülle und Urſprünglichkeit.
War dieſe Erkenntniß auch bis in das ſiebenzehnte Jahrhundert,
bis auf Gluck, Händel und Bach nur als dunkle Ahnung vor—
handen und waren alle Verſuche, das Inſtrumentale und die Beſon—
derheit ſeines Ausdrucks in ein Verhältniß zum Vocalen zu bringen,
mehr rein techniſcher Art, ſo trugen ſie doch viel zur Erweiterung
und naturgemäßen Entwickelung des Liedes bei. Schon das eigen—
thümliche, ſo hundertfach gemiſchte Klangcolorit mußte ganz beſon—
ders befruchtend auf die Phantaſie der Tondichter wirken. So viel-
fach auch die Vocalcomponiſten ihre Stimmen zu miſchen verſuchten,
ſo reiche Farbentöne, wie die Inſtrumentaliſten brachten ſie doch nicht
hervor, und gerade die Eigenthümlichkeit des damaligen Orcheſters,
daß ſeine Hauptſtütze meiſt die Inſtrumente mit Tenorlage: Gam-
ben und Krummhörner waren, mußte dieſem einen eigenthüm⸗
lich ſaftigen Charakter geben, den wir gar bald auch in der Melodie⸗
bildung dieſes Zeitraums wahrnehmen. |
Direct ift der Einfluß der italieniſchen Geſangsweiſe auf die
deutſche durchaus nicht ſo bedeutend geworden, als er meiſt dar—
geſtellt wird. Wahrhaft neugeſtaltend wirkte er nur auf die Melodie⸗
bildung. Die Harmonik und Metrik war längſt auch im deut—
ſchen Volksliede auf jenen einfachen und natürlichen Formationsprozeß
zurückgegangen, welcher die geſammte moderne Tonkunſt herauftrieb.
Die Chromatik, welche das alte kirchliche Tonſyſtem beſeitigte
und die Rhythmik, die in feſtem Anſchluß an das Wort deſſen
Bedeutung hob und ſeine Verſtändlichkeit förderte und welche den
künſtlichen, viel öfter überkünſtelten und darum verwirrenden contra⸗
punctiſchen Arbeiten ein Ziel ſetzte, waren längſt auch im deutſchen
Volksliede und durch daſſelbe ſchon in der deutſchen Kunſtmnuſik
herrſchend geworden. Den Italienern bleibt höchſtens das Verdienſt,
daß ſie die Principien dieſer neuen Muſikpraxis zuerſt ausſprachen
und zum Syſtem zu erheben ſuchten, und früher zu entwickelten
Soloformen kamen, als die Deutſchen.
we
Der Solo geſang beginnt eigentlich erſt mit dem Hinzutritt
der Inſtrumente aus dem mehrſtimmigen Geſange ſich zu ent
wickeln. Diejenigen mehrſtimmigen Geſänge des ſechzehnten Jahr—
hunderts, welche auch „auf allerlei Inſtrument zu gebrauchen,“
waren auch, wie das häufig auf den Titelblättern der Stimmbücher
angeführt iſt, derartig auszuführen, daß nur eine Stimme
geſungen, die übrigen von Inſtrumenten erſetzt wurden. Mit
der wachſenden Verbreitung, welche die Laute als begleiten—
des Inſtrument gewinnt, mehren ſich natürliche derartige Behand—
lungen der mehrſtimmigen Geſänge. Die Laute dürfte unſerer
Guitarre am nächſten kommen, nur war ſie größer und mit einem
mehr runden, ſchildkrötenartigen Corpus, und längerem und breite—
rem Halſe verſehen und der Kopf oder Kragen, in welchem die
Wirbel gingen, war rückwärts gebogen. Sie hatte Anfangs nach
Prätorius fünf, ſpäter ſechs doppelſaitige Chöre und Ernſt
Gottlieb Baron handelt in ſeiner „Hiſtoriſch-theoretiſchen und
practiſchen Unterſuchung des Juſtruments der Lauten (Nürnberg,
bei Johann Friedrich Rüdiger 1727)“ von einer elfchörigen Laute.
Dies Inſtrument erlangte für jene Zeit gar bald dieſelbe Bedeu⸗
tung, welche heute das Pianoforte für uns hat. Doch ſcheinen
nirgends eigene Compoſitionen für daſſelbe gedruckt worden zu ſein.
Die Lauteniſten ſetzten die mehrſtimmigen Geſänge und Tänze:
Galliarden, Sarabanden, Paſſamezze u. ſ. w. für ihr Inſtrument,
zu welchem Behufe ſie ſich eine eigene Zeichenſchrift, die ſogenannte
Lautentabulatur, erfunden hatten. Es war das Inſtrument wol
auch das geeignetſte, den Geſang der Melodie durch Uebernahme
der Unterſtimmen zu unterſtützen, und es trug gewiß viel dazu bei,
die Luſt am Einzelgeſange zu erhöhen und zu verbreiten.
Mehrfach wird uns die große Bedeutung der Laute für die
geſammte Muſikpraxis beſtätigt. Prätorius, am angegebenen
Orte, nennt ſie ein „Ornament-Inſtrument, damit man andere
Muſikam gleichſam ſchmücket und auszieret und würzen kann,“ und
Baron, der als Belag hierfür eine Anzahl Begleitungsfiguren,
die auch heute noch üblich find, mittheilt, beruft ſich auf Beſar—
dardo, der die Laute „Principem quasi et Reginam Musicorum
Instrumentorum omnium“ nennt.
Von dieſer Lautenpraxis ging die Reform des geſammten Muſik—
treibens in Italien aus. In Florenz, im Hauſe des Grafen Gio—
— 1% ruel
vanni Bardi de Vernio beſchäftigte fich eine Geſellſchaft von Künſt—
lern und Gelehrten ernſtlich mit der Wiedererweckung der alten
geſungenen Tragödie der Griechen, und weil man zu der Ueber—
zeugung gelangte, daß der declamatoriſche Geſang Hauptſache darin
geweſen ſei, ſo vereinigte ſich jener Kreis ſofort zu thatſächlicher
Oppoſition gegen das bisherige Muſiktreiben. Man machte ganz
richtig geltend, daß der mehrſtimmige, beſonders der contra—
punctiſch-verkünſtelte Geſang jener Zeit die Verſtändlichkeit des
Wortes beeinträchtigt, namentlich wenn die Melodie im Tenor oder
einer anderen Mittelſtimme liegt, und daß es unſtatthaft ſei,
irgend eine Stimme aus einem mehrſtimmigen Satze heraus-
zunehmen und zu ſingen, während die übrigen Stimmen durch
die Laute oder einige andere Inſtrumente erſetzt würden. Vin—
cenzo Galilei, Mitglied der Geſellſchaft, ſchrieb hierüber 1581
eine beſondere Abhandlung, und er und ſeine Freunde componierten
eine Menge Geſangſtücke für eine Singſtimme mit Inſtrumental⸗
begleitung, bei denen namentlich die declamatoriſche Seite des Vor—
trags berückſichtigt wurde. Dieſe Verſuche fanden bald allgemeinen
Beifall, der namentlich durch die 5 des ae
Sängers Caccini gefördert wurde.
Es kann uns hier nicht weiter beſchäftigen, wie aus dieſen
Anfängen und Verſuchen das muſikaliſche Drama ſich entwickelte.
Für unſern Gegenſtand iſt es zunächſt wichtig zu erfahren, daß
jetzt jene doppelte Weiſe der Interpretation des Textes, einmal durch
die zum Recitativ geſteigerte Sprachmelodie, das anderemal durch
die in feſten Formen ſich darſtellende Muſikgeſtaltung gefunden iſt,
und wir werden jetzt nur nachzuweiſen haben, in wie weit dieſe
neuen Principien bedeutungsvoll für die Weiterbildung der Liedform
geworden ſind. Hier begegnen wir wieder der eigenthümlichen Erſchei—
nung, daß das, was in Italien begonnen worden, in Deutjchland
erſt zur herrlichſten Entfaltung kommen ſollte. Die rein beziehungs⸗
loſe Luſt am Geſange, die durch den vorherrſchenden Vocalismus
der Sprache erhöht, jetzt mit Macht in Italien hervorbricht, führte
gar bald von dem eingeſchlagenen Wege ab, und jene principielle
Verachtung des Geſanges, aus welcher die ganze Bewegung hervor—
gieng, wich bald der alles überwuchernden Luſt am Geſange. Das
Recitativ blühte faſt ganz ab und der Sologeſang wird zur Can—
tilene, mit abwechſelnden Fiorituren und Coloraturen; das Wort
2
aber tritt bald fo zurück, daß der Text nur noch ein dürftiges Gerüft
iſt, über welches der ausführende Sänger ſeinen Bau aufführt.
Deutſchland dagegen bildet beide Geſangesweiſen mit großer Sorgfalt
aus und zwar unter fortwährend gegenſeitiger Einwirkung, ſo daß das
Recitativ durch den Einfluß der Cantilene zu klangvoller abge—
ſtuften Accenten und dieſes wiederum durch jenes zu größerer Energie
und Wahrheit des Ausdrucks gelangte. Wir werden im Verlaufe
der Darſtellung noch oft Gelegenheit haben, die ungeheure Bedeu—
tung dieſes ganzen Prozeſſes für die Fortbildung des Liedes an—
erkennen zu müſſen. Das Urſprüngliche jener Beſtrebungen aber
iſt es nicht, was den Deutſchen Prätorius und Heinrich Schütz
zunächſt imponiert. Jene declamatoriſche Seite des Geſanges war
ihnen ja gar nicht mehr ſo neu. Der deutſche und namentlich der
weltliche Geſang konnte ſich nie vollſtändig vom formellen Bande
der Sprache loslöſen und wir fanden ſelbſt im Volksliede Wort⸗
accent und Sprachrhythmus melodiegeſtaltend wirkſam, und ſahen,
wie das geſammte Muſikempfinden faſt einſeitig der Bedeutung des
Wortes die eigentlich muſikaliſche Geſtaltung zu opfern begann.
Das, den deutſchen Meiſter neue, war die eigenthümliche Süße, die
reizvolle Eindringlichkeit, mit welcher ſich der italieniſche Geſang
jetzt ausbreitet. „Die bewegliche, anmuthige Art der Concerte“
findet Prätorius ſo nachahmungswürdig, und Schütz iſt ſo
bemüht „gebührlichen Effect zu machen,“ daß er auch da, wo er
es nicht ausdrücklich vorzeichnet, dem Accompagniſten oder einer
Viola erlaubt, „unter dem Haufen Arpeggi und zierliche Paſſaggi“
anzubringen.
Alle dieſe neuen Elemente konnten ſich um ſo leichter auch
dem deutſchen Liede vermitteln, als auch in der Dichtkunſt faſt um
die oben bezeichnete Zeit ſich wiederum das Beſtreben nach glatteren
Formen, einer reineren und verfeinertern Sprache und einem
geregelteren Versbau geltend machte. Dieſe war überall zur Meiſter—
ſingerei und Pritſchenmeiſterei herabgeſunken. In der Geſellſchaft
ſtanden die Poeten mit dem Bettler auf ziemlich derſelben Linie und
galten in der öffentlichen Meinung eben ſo wenig höher als Gaukler
und Schauſpieler. |
Die Gelehrten, wo ſie ſich mit Poefie beſchäftigten, thaten
das in der Sprache der Römer, und der Adel, der noch nicht ganz
verbauert war, huldigte der franzöſiſchen Sprache. Die wenigen
PS
Erzeugniſſe der deutſchen Poeſie zeigten daher ein lächerliches Sprach-
gemiſch. Seit Luthers Tode war nicht nur wiederum ein Stillſtand,
ſondern ein Rückgang in der Sprachreinigung eingetreten. Die
Gelehrten hatten ſich mit beſonderer Vorliebe dem claſſiſchen Alter—
thum zugewendet und lateiniſche Sprache und lateiniſcher Satz und
Periodenbau begannen wiederum die Herrſchaft zu erlangen. Die
allgemeine Zerrüttung des öffentlichen Lebens aber war wenig geeignet,
fördernd auf die Entwickelung der deutſchen Sprache einzuwirken.
So lag der deutſche Geiſt in Feſſeln, und die deutſche Dicht—
kunſt war mit Beginn des 17ten Jahrhunderts ſchon im tiefſten
Verfall. Da traten vaterländiſch geſinnte Männer zuſammen und
verbanden ſich zu Sprachgeſellſchaften. Die erſte und auch wohl
bedeutſamſte, der ſogenannte „Palmenorden“ oder die frucht—
bringende Geſellſchaft, wurde 1617 vom Fürſt Ludwig von
Anhalt zu Cöthen geſtiftet. Der Zweck dieſer Geſellſchaft, welche
den „in allen Theilen nutzbaren Palmbaum“ mit der Devife:
„Alles zum Nutzen“ zum Sinnbilde hatte, war: „Die hochgeehrte
deutſche Sprache in ihrem gründlichen Weſen und rechten Verſtande
ohne Einmiſchung fremder, ausländiſcher Flickwörter aufs zier- und
deutlichſte, ſowohl im Reden, Schreiben, als in Gedichten zu
erhalten.“ Demgemäß ging das Hauptbeſtreben des Bundes zunächſt
dahin, die deutſche Dichtung wieder zu Anſehen zu bringen. Nur
Männer der höhern Stände und Gelehrte fanden Aufnahme und
die deutſche Literatur trat wieder unter den Schutz der Mächtigen
und Einflußreichen. Die fruchtbringende Geſellſchaft verbreitete ſich
bald über ganz Deutſchland und es entſtanden nach ihrem Muſter
neue, wie „die deutſch geſinnte Genoſſenſchaft,“ 1643
durch Ph. v. Zeſen in Hamburg geſtiftet, welche beſonders gegen
alle Fremdwörter erbitterte Fehde führte; „der pegneſiſche Blu—
menorden“ oder „die Geſellſchaft der Pegnitzſchäfer,“
geſtiftet 1644 zu Nürnberg durch Klai und Harsdörfer und
der 1656 gegründete „Schwanenorden an der Elbe.“
Jede dieſer Geſellſchaften trug das Ihre dazu bei, daß deutſche
Sprache und deutſche Poeſie wieder auf den Weg geleitet wurden,
auf welchem ſie zu ſo herrlicher Entfaltung gelangen und auf dem
auch das lyriſche Lied in einem zweiten Frühling emporblühen ſollte.
Der merkenswertheſte und namentlich für die deutſche Dicht—
kunſt einflußreichſte „gekrönte“ Poet des Palmenordens iſt Martin
Wa Mel
Opitz, 1597 am 23. Debr. zu Bunzlau in Schleſien geboren und
im Jahre 1628 durch den Kaiſer Ferdinand I. unter dem Namen
„von Boberfeld“ in den Adelſtand erhoben. Als Dichter wird
er von vielen Zeitgenoſſen bedeutend überragt, wie von Paul
Flemming (geb. 1609, geſt. 1640) und Andreas Gry⸗
phius (1616 geb. und 1664 geſt.). Allein eine ungleich höhere
Bedeutung, als jeder der genannten, erlangt Martin Opitz von
Boberfeld durch ſein Buch: „Die deutſche Poeterei“ (Brieg
1624). Indem er der noch immer zu Recht beſtehenden Tabulatur
der Meiſterſänger eine Poetik gegenüber ſtellte, deren Grundlage
die erſten lateiniſchen Aeſthetiker Hieronymus Vida und Jul.
Cäſar Scaliger waren, und die als oberſten Grundſatz geltend
machte, daß in deutſchen Verſen nicht nur die Silben gezählt, ſon—
dern daß nach dem Accent die Länge und Kürze beobachtet werden
müſſe, wurde er Muſter und Vorbild für die Form der deutſchen
Poeſie. Ueber dieſe kamen er und ſeine unmittelbaren Schüler indeß
nicht hinaus zu einem wirklich bedeutſamen Inhalt. Die Deviſe des
Palmenordens: „Alles zum Nutzen“ wurde auch die Richtſchnur
für die Poeſien der Dichter dieſer ſogenannten erſten ſchleſiſchen
Dichterſchule. Wie die Philoſophie, ſo ſollte auch die Poeſie
lehren und nützen, „nur mit dem Unterſchiede, daß ſie lehre und
nütze, indem ſie ergötze.“ Und dieſer Grundſatz, der über hundert
Jahre ſich in Geltung erhielt, verbannte natürlich alles Muſikaliſche
gar bald aus der Poeſie, und auch der Schwulſt der zweiten ſchleſi—
ſchen Dichterſchule, eines Chriſtian Hofmann von Hof—
mannswaldau (1618 zu Breslau geboren und geſtorben 1679)
und Daniel Caspar von Lohenſtein (1635 zu Nimptſch in
Schleſien geboren und zu Breslau 1683 als kaiſerlicher Rath und
Syndikus der Stadt Breslau geſtorben) vermochten dem Lied einen
wahrhaft muſikaliſchen Inhalt, der zu beſonderer Darſtellung hin—
gedrängt hätte, nicht einzuflößen. Einer ſolchen wäre allerdings
auch die geſammte Kunſtpraxis der damaligen Zeit kaum fähig
geweſen. Ihre nächſte Aufgabe war, alle die genannten fremden
Elemente erſt zu verarbeiten, und aus der innigen Verſchmelzung
der alten Weiſe mit der neuen, konnnte erſt das geſungene Lied in
neuer und ſchönerer Geſtalt hervorgehen.
In wie weit dieſer Verſchmelzungsprozeß ſich in Michael Präto—
rius vollzog, wurde bereits erörtert. Bedeutſamer wurde er ſchon in:
„
a Ne
Heinrich Schütz. Er ift am 11. Oetbr. 1585 zu Köſtritz
bei Gera geboren. In Italien ſelbſt hatte er unter dem eifrigſten und
genialſten Träger der neuen Richtung, unter Johannes Gabrieli,
ſich die neue Weiſe des Geſanges angeeignet und ſeine ungleich
größere Begabung als die des Prätorius ließ ihn zu bedeu—
tenderen Erfolgen gelangen als dieſen. Bei ihm verſchmolz ſich
wirklich die Macht der deutſchen Harmonik und Metrik mit der
ſüßen Melodik Italiens und dieſe ließ ſchon den ſtarren Contrapunkt
in Fluß gerathen. Direct bedeutungsvoll für das Lied iſt er indeß
eben ſo wenig geworden wie Prätorius. Seine Hauptthätigkeit
beſchränkte ſich auf die Weiterbildung und Verbreitung des geiſt—
lichen Concerts.
Erſt durch
Johaun Hermann Schein gewinnt die italieniſche Geſangs⸗
weiſe entſcheidenden Einfluß auf die Weiterentwickelung des Liedes,
und zwar nicht nur in äußerlicher, ſinnlich reizvoller Weiſe, ſondern
in der, welche wir als künſtleriſche Nothwendigkeit erkannten.
Schein iſt der Sohn eines Pfarrers zu Grünhayn im Meißen⸗
ſchen, am 20. Januar 1586 geboren. Nach dem früh erfolgten
Tode ſeines Vaters kam er 1599 als Discantiſt in die Hofkapelle
nach Dresden und blieb in derſelben bis zum Jahre 1603, in
welchem er als Alumnus in Pforta, der ſächſiſchen Fürſtenſchule,
eintrat. Später bezog er die Univerſität Leipzig um Philologie und
Theologie zu ſtudieren. Doch ſcheint er dieſe Laufbahn bald verlaſſen
zu haben. Schon im Anfange des zweiten Decennium des ſieben⸗
zehnten Jahrhunderts gehörte er zu den geachtetſten Tonkünſtlern,
und die 1609 und 1612 zu Leipzig veröffentlichten fünfſtimmigen
Lieder und vierſtimmigen Concerte wurden raſch bekannt und beliebt.
Im Jahre 1613 berief ihn der Herzog Johann Ernſt als Kapell—
meiſter nach Weimar und zwei Jahre ſpäter wurde er an Seth
Cal viſius Stelle Cantor an der Thomasſchule zu Leipzig, wo er
1630 ſtarb. Sein Leben war reich an herben Schickſalen. Zwei
Gattinnen und fünf Töchter und zwei Söhne geleitete er innerhalb
dreizehn Jahren zu Grabe und immer waren es Dicht- und Ton⸗
kunſt, die ihm ſo herbe Verluſte ertragen halfen. Jedem dieſer
Dahingeſchiedenen dichtete er ein eigenes Kürbis und erfand eine
eigene Melodie dazu. |
Auch ſeine Hauptthätigkeit erſtreckte ſich über das Gebiet der
kirchlichen Kunſt. Er componierte gleichfalls geiſtliche Concerte und
Choräle, aber auch dem weltlichen Liede wandte er, wenn auch
nicht ausgebreitete, doch ſorgſame Pflege zu. Seine:
„Musica boscareccia,“ oder: „Waldliederlein auff Italie⸗
niſche Villanelliſche Invention.“ Beides für ſich allein mit
lebendigen Stimmen oder in ein Clavicembel, Spinet, Tiorba,
Lauten, wie auff muſikaliſchen Inſtrumenten anmutig und
lieblich zu ſpielen fingirt und componirt.
erſchien in drei Theilen (1621 — 28) und die beiden Lieder der
Notenbeilage No. 23. und 24.: „O Sternenäugelein“ und „Mit
freuden, mit ſcherzen“ mögen den Beweis liefern, daß jene Bezeich—
nung „auf italieniſche Villanelliſche Invention“ nicht in der Weiſe
zu nehmen iſt, als habe der Meiſter die Vilanellen nachahmen
wollen. Das Schein'ſche Lied iſt Volkslied, unter dem entjchie-
denen Einfluß jener italieniſchen Geſangsweiſe, die wir oben näher
zu characteriſieren verſuchten, hervortreibend. Obgleich die Melodie
im erſten der beiden genannten Lieder durchweg ſyllabiſch dem
Text ſich anſchließt, iſt ſie doch von einer großen Beweglichkeit und
Süße und der ſüßliche, häufig alberne Text erlangt durch ſie erſt
Bedeutung und Gewicht. Dadurch, daß die Unterſtimmen den
tändelnden Sprachrhythmus muſikaliſch ganz anders darſtellen, als
die Oberſtimme, kommt eine eigenthümliche Bewegung in das
Ganze, die im Text nicht vorhanden iſt. In beiden Liedern
begegnen wir wieder jenem Beſtreben, die Pointen der lyriſchen
Stimmung in melodiſchen Motiven beſtimmten Ausdruck zu geben,
aus deren ſequenzenartigem Ineinanderweben ſich die Geſammtſtim—
mung am Sicherſten ergiebt, und dem wir ſchon in einigen Volks—
liedern und im Frank' ſchen Tanzliede begegneten. Die Melodie
des erſten Liedes: „O Sternenäugelein“ beſteht, die Theilſchlüſſe
abgerechnet, aus zwei Motiven.
Durch harmoniſch oder melodiſch veränderte Wendungen wird
ferner das Versgebäude ſinnig erweitert, ſeine kurzathmige Con—
ſtruction, ohne ſie zu zerreißen, gewichtiger herausgebildet. Die
erſte und zweite Verszeile correſpondieren harmoniſch mit ein—
ander, aber ſie ergänzen ſich zugleich in ihrer eigenthümlichen
Melodieführung zur Langzeile (wenn wir uns dieſes Ausdrucks hier
bedienen dürfen). Die dritte und vierte correſpondieren, die
ST, Ra
folgenden beiden werden wieder muſikaliſch zuſammengezogen; die
nächſten drei Zeilen correſpondieren wiederum und die folgende und
die letzte werden ganz ſelbſtändig erweitert, ebenſo wie die vorletzte
und die Correſpondenz wird harmoniſch vermittelt (moll, D moll,
Ddur, C- und Gl dur).
Nicht feiner in der Versgliederung, aber noch überſichtlicher
und der Stimmung und dem Text noch näher angepaßt, iſt das
folgende Lied: „Mit freuden, mit ſcherzen.“ Die erſten vier
Strophen des erſten Theils ſind Sequenzen, ebenſo wie die erſten
vier der zweiten und die Schlußzeile des Ganzen iſt eine Sequenz
zur Schlußzeile des erſten Theiles. Dies gilt aber nur von der
Melodie. Die Harmonie folgt nur im Großen und Ganzen die—
ſem Princip; ſie interpretiert vielmehr die Melodie in einzelnen
feinen Abweichungen von dem urſprünglich ſequenzenmäßigen Fort—
gange derſelben.
So dürfen wir die Lieder Schein's als einen bedeutenden
Fortſchritt auf dem Gebiete dieſer Form bezeichnen — und in der
Bildung der Melodie iſt er eigentlich wol auch nur noch von
einem Meiſter dieſes Jahrhunderts erreicht worden, von Johann
Georg Ahle. Die harmoniſche Behandlung dagegen entſpricht
noch zu wenig der melodiſchen Freiheit und Süße. Hiermit ſteht
er noch zu tief in den alten Anſchauungen, und die Falso bordone,
die Sextengänge, die er ziemlich häufig anwendet, ſind nur ein
nothdürftiges Aequivalent für die fehlende Geſchmeidigkeit der Har-
monie. Und das iſt es, was die Wirkung ſeiner Lieder ungemein
beeinträchtigt, daß er nicht die feiner freien und leichten Melodie—
bildung entſprechende Weiſe der Harmonie fand. Dieſe ſollte erſt
von ſeinen Nachfolgern gefunden werden. Sie löſten allerdings
ihre Aufgabe zunächſt in der bequemſten Weiſe, indem ſie den
harmoniſchen Apparat bis auf ſeine nothwendigſten Beſtandtheile
Tonika und Dominant reducierten.
Hierzu wirkte namentlich die Erfindung des ſogenannten
„Generalbaſſes,“ des bezifferten Baſſes mit, die gleichfalls
von Italien ausgieng. Als man hier in der einſtimmigen Behand-
lung des Geſanges die eigentlich höchſte Aufgabe deſſelben zu begrei—
fen begann, war man doch andrerſeits wieder viel zu tief harmoniſch
gebildet und verwöhnt, um die Harmonie entbehren zu können. Aber
man bedurfte ihrer nicht mehr in der kunſtvollen Stimmverflechtung,
5
Reißmann, deutſches Lied.
in der fie meiſt bisher aufgetreten war, dieſe war der neuen Anz
ſchauung entſchieden entgegen, ſondern nur als begleitenden Accord,
und bald wurde auch nur neben der Melodie die Grundlage der—
ſelben im Grundbaß, oder wie er ſpäter hieß, Generalbaß bei—
gegeben und die Accorde wurden durch Ziffern angedeutet (Via dana
ſelbſt nimmt das Verdienſt für ſich in Anſpruch, dies Verfahren
zuerſt angewandt zu haben [1607], ob mit Recht, iſt noch unent⸗
ſchieden). | | 2 ya
Wir ſehen auch den Baß der Lieder von Schein beziffert,
für den Fall, daß ſie von einer Stimme zur Laute, Theorbe oder
dem Clavicembel ausgeführt würden. | |
Der nächſte, der auf dieſem Wege fortſchreitet, ift
Heinrich Albert. Er wurde 1604 am 28. Juni in Lohenſtein im
Voigtlande geboren und war Anfangs beſtimmt, die Rechte zu
ſtudieren, zu welchem Behufe er die Univerſität Leipzig bezog. Allein
früh ſchon hatte ſich in ihm die Neigung zur Muſik gezeigt und er
ergab ſich ihr endlich ganz und gieng nach Dresden, um ſich weiter
auszubilden. Im Jahre 1626 weilte er in Königsberg und erhielt
1631 die ſehr einträgliche Stelle eines Organiſten an der Domkirche
daſelbſt. Hier fand er in dem „Königsberger Dichterbunde“ ein
reiches Feld für ſeine Thätigkeit.
Nach dem Vorgange des Palmenordens hatten ſich, wie ſchon
erwähnt, in mehreren Städten bereits ähnliche Geſellſchaften con-
ſtituiert, und in Preußen, namentlich in Danzig und Thorn, war
die Anregung hierzu von Opitz ſelbſt ausgegangen. Die höchſte
Blüthe erreichte wol der „Königsberger Dichterbund,“ deſſen
Meiſter Simon Dach zu Albert gar bald in das innigſte
Freundſchaftsverhältniß trat, und an ihn und den Bund knüpft
ſich nun faſt ausſchließlich ſeine künſtleriſche Thätigkeit. Er verſah
die Lieder Dach's und der anderen Freunde aus dem Dichterbunde
(Robert Roberthin und Valentin Thilo) mit Melodien,
und ſie müſſen einen großen Erfolg gehabt haben, da die Sammlung
dieſer Lieder: „Arien etlicher theils geiſtlicher, theils weltlicher zur
Andacht, guter Sitten ꝛc. dienender Reime“ (1640 — 50), außer
der „Kürbishütte“ in acht Theilen und mehreren Auflagen erſcheinen
konnte. Außer einigen belebten und friſchen Naturliedern tragen
faſt alle Lieder dieſes Bundes, mit Ausnahme der geiſtlichen, jene
Deviſe des Palmenordens: „Alles zum Nutzen“ zu ſtark aufgeprägt,
um wirklich poetiſch beveutfam zu ſein, und Dichtung und Muſik
ſind beide faſt ganz Gelegenheitsarbeit geworden. Beide ſind dem
Dichter und dem Tonſetzer ſchon ſo perſönlich nahe gerückt, daß
jeder Anſtoß willkommen iſt, jede äußere Begebenheit Anregung
für eine Dichtung wird. Das perſönliche Gefühlsleben
beginnt jetzt, gegenüber dem allgemeinen der Maſſen,
aus dem auch das Kunſtlied bisher noch emportreibt,
ſich ſchon entſchieden geltend zu machen.
Simon Dach beſang den Ruhm und die Huld des großen
Churfürſten und ſeines Stammes bei allen möglichen Ereigniſſen
des churfürſtlichen Hauſes und in Albert's Arien finden wir:
„Die Rede einer verſtorbenen Jungfrau aus dem Grabe“ — die
Muſik zu Ehren Martin Opitz von Boberfeld, als er nach
Königsberg kam, ferner eine Muſik: „Als die hochlöbl. Crohnen
Polen und Schweden nach abgelauffenem ſechsjährigen Stillſtande
in Preußen ſich wieder zum Kriege rüſteten,“ und ſpäter eine andere:
„Da durch Gottes Gnade zwiſchen höchſt-höchſt vermeldeten beiden
löbl. Crohnen der 26 jährige Stillſtand geſchloſſen worden.“ Auch:
„Daß Ihre Churfürſtliche Durchl. zu Brandenburg dem bürger—
lichen Scheibenſchießen zu Kneiphofen gnädigſt beigewohnt und König
worden“ wurde in Wort und Ton gefeiert, ebenſo wie die wichtigen
Ereigniſſe im Leben, Taufe, Hochzeit und Begräbniß ausgezeichnet
wurden und zwar letztere ſogar: „In der Perſon des Herrn Wit—
bers“ (Theil VI. 8.). Auch die ſogenannte „Kürbishütte“ ver⸗
dankt dieſer ganzen Richtung ihre Eutſtehung.
Albert erzählt in der Vorrede ſelbſt hierüber: daß in ſeinem
Garten, den er ſich nahe bei Königsberg gekauft, die Freunde aus
dem Dichterbunde oft verſammelt waren und daß er in die Kürbiſſe
einer Kürbishütte ihre Namen mit einem, an ihre Sterblichkeit
erinnernden Verſe eingrub. Roberthin, dem das ſehr gut gefiel,
forderte ihn auf, die Verſe zu mehrerer Erinnerung in Melodien
zu bringen; Albert that dies, und unter der Kürbishütte wurden
ſie dann auch ausgeführt. Später veröffentlichte ſie der Meiſter
unter dem angegebenen Titel.
In Albert's Liedern ſind Melodie und Harmonie mehr
durchgebildet, freilich namentlich auf Koſten der letztern. Wir
begegnen meiſt nur dem einfachſten harmoniſchen Apparat, über
dem ſich die Melodie zwar ungezwungen, aber doch nicht mit der
5 *
1
Innigkeit erhebt, wie bei Schein, und durchaus auch nicht mit
dem feinen Strophenbau. Albert wird der Vater des foge>
nannten volksthümlichen Liedes, das ſich mit einer gewiſſen
derben Wahrheit und in compacter Gedrungenheit aus dem Volks—
liede entwickelt, aber meiſt ohne deſſen eigenthümlich berückenden
Zauber des Klanges und ohne die Innigkeit der Empfindung.
Das Lied: „Biſtu von der Erde“ zeigt ſchon eine ſelbſtändigere
Geſtaltung des Inſtrumentalen.
Das Clavicin oder Clavicembalum beginnt jetzt als Begleitungs—
inſtrument herrſchend zu werden. So unvollkommen es auch immer
noch war, da namentlich die beſondern Taſten für die chromatiſchen
Töne noch fehlten, dieſe vielmehr an die diatoniſchen derartig
gebunden waren, daß eis auf der (Seite gebildet wurde, jo bot
es doch ſchon mancherlei Vortheil dar, von denen hauptſächlich der
ins Gewicht fiel und die Verbreitung des Clavicembalum oder
Inſtruments, wie es bald ausſchließlich genannt wurde, beför—
derte, daß es einen weit mannichfacheren und reicheren Gebrauch
zuließ, als die Laute und doch auch ſo bequem für den Einzeln—
geſang zu beſchaffen war, als jene.
Albert ſchreibt vorzugsweiſe ſeine Begleitungen für dies
Inſtrument und die Weiſe des ſelbſtändigen Gebrauchs des Inſtru—
mentalen den Schluß einer Phraſe als Echo nachzuahmen, hat ſich
lange, nicht nur im Geſange bis auf Jo hann Seb. Bach, der
mehrere Echo-Arien ſchrieb, ſondern auch in der Claviermuſik,
z. B. bei Couperin erhalten.
Die Declamation iſt bei unſerm Meiſter faſt durchweg treu
und fein, oft recitativiſch genau und die äußere Conſtruction dem
Sprachlichen eng angeſchloſſen. Bei ihm macht ſich die Dominant-
bewegung ſchon ganz entſchieden in Bildung des Ganz- und
Halbſchluſſes geltend. Im „Vorjahrsliedchen“ bewegt ſich
der Vorderſatz: „Die Luſt hat mich bezwungen, zu fahren in den
Wald,“ von Tonika zu Dominante e—g (Halbſchluß), und der
Nachſatz: „wo durch der Vögel Zungen die ganze Luft erſchallt“
macht den Weg zurück (Ganzſchluß). Im zweiten Liedchen wird
aber jede Verszeile, welche einen Gedanken beendet, durch einen
Ganz-, und die, deren Gedanke in der nächſten Zeile noch weiter
fortgeführt wird, vermittelſt eines Halbſchluſſes abgeſchloſſen. Hein—
rich Albert war auch der Dichter und Componiſt einiger Choräle.
Ba
So iſt die Choralmelodie: „Gott des Himmels und der Erden“
von ihm.
Einem ganz gleichen Beſtreben begegnen wir bei zwei ſeiner
Zeitgenoſſen: Johann Stobäus und Andreas Hammer—
ſchmidt. Johann Stobäus wurde 1580 zu Graudenz geboren.
Er genoß den Unterricht von Johann Eccard und wurde ſpäter
deſſen Gehülfe. Im Jahre 1601 wurde er Cantor zu Kneiphof
und kam von da im Jahre 1627 als Kapellmeiſter nach Königs—
berg, in welcher Stellung er bis an ſeinen Tod (1646) verblieb.
Er gehörte gleichfalls dem Königsberger Dichterbunde an und wenn
in ſeinen Liedern auch der Einfluß ſeines großen Meiſters dem
italieniſchen bedeutend das Gegengewicht hält, ganz entziehen
konnte er ſich ihm nicht. Und weil ihm gerade die eigentliche
Cantabilität abgeht und er mehr die declamatoriſche Seite berück—
ſichtigt, ſo ſind ſeine Lieder meiſt trockner als die der andern
Zeitgenoſſen von gleichem Streben. Aus ſeinem bekannten Hoch—
zeitsliede: „Vormals in der Faſten Zeiten,“ klingen ſchon die Weiſen
des: „Schleswig-Holſtein meerumſchlungen“ oder „Auf Matroſen,
die Anker gelichtet“ heraus. Größere Bedeutung hatte er auf dem
Gebiete der Kirchenmuſik, in feinen Chorälen und motettenhaften
„Feſtliedern.“
Andreas Hammerſchmidt iſt 1611 zu Brix in Böhmen
geboren. Sein Lehrer in der Tonkunſt war der Cantor zu Schau—
dau, Stephan Otto, ein nicht weiter erwähnter Muſiker. Im Jahre
1634 wurde unſer Meiſter Organiſt an der Peterskirche zu Freiberg,
kam dann in gleicher Eigenſchaft 1639 an die Johanniskirche zu
Zittau in der Oberlauſitz und ſtarb daſelbſt am 29. Octbr. 1675.
So einfach das Leben dieſes Mannes verlief, ſo bedeutungsvoll
ſollte es für die Kunſt, namentlich für die kirchliche werden, und
obgleich der Meiſter wohl nie über die Grenzen ſeines engern
Vaterlandes hinausgekommen ſein mag, ſo war er doch mit den
berühmteſten Männern ſeiner Zeit in freundſchaftlichem Verkehr,
und ſelbſt hochberühmt. Hauptſächlich war er für das geiſtliche
Concert thätig, welches er wieder durch Einflechtung und energiſche
Ausbildung der Choralweiſe der Gemeine näher brachte. Allein
auch auf weltlichem Gebiete begegnen wir ihm in Tafelmuſiken und
weltlichen Liedern. Die, in der Beilage mitgetheilten Lieder ſind
aus feinen 1642 erſchienenen: „Weltliche Oden oder Liebes-
3 < 8
geſänge, mit einer und zwei Stimmen zu fingen beneben einer
Violine und einem Baß, Viola da gamba, Diorba etc. dem gün⸗
ſtigen Liebhaber zu gefallen auf eine ſonderliche Invention com-
ponirt.“ In der Vorrede zu dieſem Werke giebt er Anweiſung über
die Ausführung der Lieder (für welche jetzt der Name O de gebräuch—
lich wird, der ſich bis in das achtzehnte Jahrhundert erhält).
Er ſagt:
„Sind dieſe Weltlichen Oden alſo gerichtet, daß ſie einer
nicht allein fingen, ſondern auch bemeldete Bäſſe von dem⸗
ſelben zugleich können geſpielt werden, da man aber abſon⸗
derlichen eine Viola da gamba, ſowol auch Corpus nebenſt
der Violina dabei haben kann, werden ſie verhoffentlich
beſſer gefallen.“
Hieraus, wie aus ſeinen „Oden“ ergiebt ſich, daß er ganz in
der neuen Kunſtanſchauung wurzelte. Obgleich er nie in Italien
geweſen iſt, ſo iſt ihm doch der italieniſche Einfluß vermittelt. Das
beweiſt gleich das erſte der mitgetheilten Lieder. Der Refrain
„Fa, la, la,“ war in den italieniſchen Tanzliedern, Frottole, fo
gebräuchlich, daß man dieſe nach ihm faſt ausſchließlich „Falala's“
nannte.
Doch iſt in der etwas derben, volksthümlichen Melodieführung
und in der ganzen Conſtruction, die ſich wiederum, wie bei Albert
und Stobäus auf die Dominantbewegung gründet, das urdeutſche
Element vorherrſchend. Die erſte Verszeile des erſten Liedes wird
durch den Halbſchluß Vorderſatz der zweiten, beide alſo werden
wieder zur Langzeile verbunden; die vierte und fünfte werden ganz
feinſinnig in ſchwebender Weiſe in Correſpondenz verſetzt; der Halb—
ſchluß a — e ſteht nur in weiterem Verhältniß zum Ganzſchluß g — e,
zur Unterdominant der Haupttonart, und die beiden Schlußzeilen
ſind in ihrer ſequenzenmäßigen Führung der Melodie und Harmonie
verbunden, und da die fünfte und ſiebente und die ſechste und
achte Strophe harmoniſch in Beziehung ſtehen, ſo darf man dieſen
zweiten Theil, als ein fein gegliedertes Ganze, als den Nachſatz
zum erſten betrachten.
Eine eben ſolche Gliederung zeigt das zweite der in der Beilage
mitgetheilten Lieder, wie alle übrigen der angeführten Sammlung.
So zeigt ſich überall das Beſtreben, die Form feiner und
durchdachter herauszubilden. Für den Ausdruck wurde natürlich
— min x
noch wenig gethan, und es lag das in der ganzen Entwickelung.
Das Inſtrumentale war ja kaum erſt aufgegangen; es bedurfte
noch eines ganzen Jahrhunderts, ehe es zu einer einigermaßen
genügenden Selbſtändigkeit gelangte, und erſt dann konnte auch das
Vocale die Mittel für den individuellen, ſubjektiven Ausdruck
gewinnen. Wir werden deshalb auch bald ſehen, wie das Lied ſich
nach und nach der Behandlung durch die Meiſter entzieht; wie dieſe
das fortwährend im Wachſen begriffene Material an den größeren
Formen, der Oper, dem Oratorium, dem Concert, der
Cantate und an den Inſtrumentalformen zu verarbeiten
verſuchen, und erſt zum Liede wieder zurückkehren, als jene Arbeiten
ſo weit herausgebildet ſind, daß ſie ſelbſt des lyriſchen Ausdrucks
nicht entbehren können.
Neben jenem Königsberger Dichterbunde war ebenfalls als
eine Nachahmung des „Palmenordens“ in Wedel an der Elbe
nahe bei Hamburg, hervorgerufen durch den wohl fruchtbarſten
Dichter der älteren ſchleſiſchen Dichterſchule, durch Johann Riſt,
Mitglied der fruchtbringenden Geſellſchaft unter dem Namen „der
Rüſtige,“ 1660 ein neuer Dichterorden, der Elbſchwanenorden,
entſtanden. Außer ſeinem Stifter hat indeß keiner der Dichter
irgend welche Bedeutung erlangt, und auch Riſt kann uns hier
nur ſo weit beſchäftigen, als er mehrere Tonſetzer gewann, die
ſeine Lieder mit Melodien verſahen. Dieſe ſind:
Peter Meier, Hamburger Rathsmuſikus;
Jakob Kortkamp, Organiſt an der St. Gertrudenkirche zu
Hamburg;
Heinrich Pape, Organiſt zu Altona;
Thomas Selle, Stadtcantor und Muſikdirector zu Hamburg;
Siegmund Gottlieb Stade, Organiſt an der St. Lo⸗
renzerkirche in Nürnberg; |
Jakob Prätorius, Organiſt an St. Jakob und St. Ger⸗
trud zu Hamburg;
Heinrich Scheidemann, Organiſt an der St. Katharinen
kirche zu Hamburg;
Martin Colerus, Kapellmeiſter zu Hamburg;
Michael Jakobi, Cantor zu Kiel und
Johann Schop, von denen uns nur die letzten beiden inter—
eſſieren, da beide zu weltlichen Liedern Riſt's Melodien erfanden.
„
Johann Schop :ijt wahrſcheinlich in Hamburg geboren und
hat wohl auch ſein Leben dort beſchloſſen. Riſt führt ihn 1641
als Hamburger Kapellmeiſter und Mattheſon 1654 als Raths⸗
muſikanten zu Hamburg an. Neumark nennt ihn „den welt⸗
berühmten Geigenkünſtler.“ Er lieferte für zwei Liederſammlungen
Johann Riſt's die Melodien zu: „Die himmliſchen Lieder“
und für die „Hausmuſik.“ Die himmliſchen Lieder ſind nach
Choralweiſe erfunden und von ihnen haben ſich achtzehn in kirchlichem
Gebrauch erhalten, darunter folgende bekannte Melodien:
„Werde munter mein Gemüthe.“
„Ermuntre dich mein ſchwacher Geiſt.“
„O Ewigkeit du Donnerwort.“
„O Traurigkeit, o Herzeleid.“
„Sollt ich meinem Gott nicht ſingen?“
„Jeſu, du mein liebſtes Leben.“
Weniger glücklich iſt er in Behandlung der weltlichen Lieder
der „Hausmuſik.“ Außer Liedern der Liebe enthält dieſe Samm⸗
lung Lieder auf alle möglichen Verhältniſſe des Lebens, und der
eigenthümlich geſchraubte Inhalt der Lieder, der nicht ſelten ſich
in platte Reimereien verliert, verleitete ihn zu manchen Wunderlich-
keiten auch in der Melodie, die durch den italieniſchen Einfluß,
dem er in den 1644 gefertigten „dreißig Concerten“ den ſchuldigen
Tribut zahlt, weſentlich erhöht werden. Die meiſten ſind eben
nach Concertweiſe duettenmäßig behandelt und die Chromatik in
Melodie und Harmonie läßt dieſe nirgend ſo in Fluß kommen, wie
bei den vorhergenannten Meiſtern — bei Schein, Albrecht
und Hammerſchmidt.
Hiermit aber beginnt wieder eine neue Phaſe des Liedes, es
wird zur Arie erweitert und wir betrachten ſie in zwei Meiſtern,
welche die urſprüngliche Form nur ſoweit erweitern, daß dieſe noch
zu erkennen iſt:
bei Adam Krieger und Johann Georg Ahle.
Das ganze Muſiktreiben dieſes Jahrhunderts drängte zu dieſer
Erweiterung. Die, durch die dramatiſchen Formen bedingte Aus-
bildung des Recitativs mußte auf eine Form führen, welche als
die nothwendige Folge deſſelben erſcheint. Das Recitativ iſt ja
eigentlich keine ſelbſtändige Form, ſondern eben nur Vorbereitung.
Die verſchiedenen Affecte, die in ihm zum Ausdruck kommen und
r
nach einem gemeinſchaftlichen Erguß ringen, müſſen dieſen in einer
feſteren Form finden. Als nächſte erſcheint die Arie, und dieſe
konnte folgerichtig nur vom Liede ausgehen. Beide Formen
haben denſelben Boden, die lyriſche Stimmung: das Lied in ihrer
Iſolierung, die Arie in Beziehung gebracht mit Situation und
Außenwelt. Wenn demnach die Rückkehr zum Liede nach dieſen
dramatiſchen Verſuchen eine Nothwendigkeit war deshalb, weil dieſes
nur der Ausgangspunkt der Arie ſein kann, ſo war ſie es auch,
weil das Lied (und ſeine andere Form der Choral) außer
dem Tanz die einzigen gefeſteten Formen waren, die überhaupt
Ordnung in die mit Eifer herbeigeſchaffte, aber ziemlich ordnungs—
loſe Maſſe dramatiſch-muſikaliſcher Mittel zu bringen vermochte.
Wie das Concert meiſt geiſtlicher Art war, ſo ſcheinen auch
die erſten „Arien“ geiſtliche geweſen zu ſein, und zwar die, welche
Johann Rudolph Ahle, geboren in der Reichsſtadt Mühlhauſen
in Thüringen am 24. Debr. 1625 und geſtorben 1673 daſelbſt als
Organiſt an der Hauptkirche zu St. Blaſien und Rathsherr, in
den Jahren 1660 und 1662 unter dem Titel: „Vier Zehn neuer
geiſtlicher Arien“ herausgab. Es ſind dies ſchon wirkliche Arien,
nicht, wie bei Albrecht, der ſeine Lieder auch Arien nennt, ein—
fache, ſondern wirklich erweiterte Lieder, wenn auch die Liedform noch
ſo entſchieden hervortritt, daß die meiſten Gemeindelieder werden
konnten.
Viel bedeutender war die Erweiterung des weltlichen Liedes,
namentlich durch Adam Krieger, „Churfürſtl. Durchl. zu Sachſen
wohlbeſtallt geweſener Cammer- und Hoff-Muſicus,“ deſſen „Nene
Arien“ ſich alle durch eine ſo breite Anlage auszeichnen, daß man
ſie kaum noch der Liedform beizählen darf. Die Stimmung drängt
hier ſchon gewaltſam über die engen Grenzen des Liedes hinaus
und die häufige Wiederholung der einzelnen Phraſen bewirkt hier
nicht mehr eine feinere Gliederung, ſondern eine Steigerung des
energiſchen Ausdrucks. Während das Lied in lyriſcher Beſchaulich—
keit ſich nach innen wendet, treibt die Arie ſchon jetzt mehr drama⸗
tiſch nach außen. Die Lieder von Johann Georg Ahle, dem
Sohne und Nachfolger Johann Rudolph Ahle's ſind bewun-
derungswürdige Ausnahmen. Sie ragen eigentlich nach Form und
Inhalt ſo weit hinein in die ſpätere Zeit der vollkommenern Lied—
geſtaltung und ſind ſo durchaus lyriſch und innig gehalten, daß
Ye A
man ſich verwundern muß, ihnen hier zu begegnen, wenn man
nicht bedenkt, daß ſie aus dem kräftigenden Born der Volksmuſik
geſchöpft und durch eine reiche Kunſtbildung abgeklärt ſind. Wäre
der hier eingeſchlagene Weg verfolgt worden, würden wir früher
die Blüthe unſeres deutſchen Liedes geſehen haben. Aber das große
Heer der Tonkünſtler folgte gar bald dem allgemeinen Zuge der
Zeit und dieſer war nicht mehr auf die Weiterbildung des Liedes,
ſondern auf die Pflege der dramatiſchen Formen gerichtet. >
Lied bleibt über ein halbes Jahrhundert faſt unbeachtet.
Schon 1698 ſchreibt Reinhard Keiſer in der Vorrede
ſeiner, im genannten Jahre in Hamburg erſchienenen „Gemüths-
Ergötzung:“
„Es haben dieſelben (die Cantaten) in Teutſchland ſo ſehr
das Bürgerrecht gewonnen, daß ſie die alten Bürger, nehm—
lich die ehemaligen teutſchen Lieder, gar ausgetrieben haben.
— Es iſt aber die Erfindung derſelben von der Oper her—⸗
gekommen.“
An dieſer ganzen Richtung hatte indeß auch die Trivialität
der Texte einen nicht geringen Antheil. Das Recitativ iſt die
eigentliche Form für geſungene Proſa und auch für die Arie in der
bereits characteriſierten italieniſchen Weiſe war kein Text zu pro—
ſaiſch, um nicht aus ihm noch irgend ein Gefühlsmoment für ein
muſikaliſches Motiv, das dann zur Arie verarbeitet wurde, heraus—
zuklügeln. Der Text war damals wenig mehr als bloßes Formen-
gerüſt für den muſikaliſchen Bau. Man vergleiche nur die Texte
von Keiſer's Cantaten aus der oben erwähnten Gemüths⸗
Ergötzung:
„Die, bis an den Tod geliebte Iris.“
„Der unvermuthlich vergnügte Phileus.“
„Der vergnügte Amyntus.“
„Die verliebte Diana.“
„Die raſende Eiferſucht.“
Doch auch dieſe Zeit ſollte einflußreich für die Entwickelung
des Liedes werden. Durch die verſchiedenſten Experimente gewann
ſie ein unendlich erweitertes Darſtellungsmaterial und lernte an
den größeren dramatiſchen Formen, es auch dem individuellen Aus—
druck dienſtbar zu machen. Dadurch aber wurde die Blüthe des lyri—
ſchen Liedes erſt möglich. Als die Poeſie ſich wieder erhob und
en
die Dichter wirklich empfundene Lieder fangen, da hatte mittlerweile
auch die Muſik, durch jene Arbeit auf andern Gebieten, alle die
Mittel und die Möglichkeit gewonnen, den Poeten in ihrer Weiſe
folgen zu können.
Somit wären wir an einem bedeutſamen Wendepunkte in der
Entwicklung des deutſchen Liedes angekommen und es dürfte daher
angemeſſen erſcheinen, noch einmal den bereits durchlaufenen Weg
zu überblicken, weil ſich dadurch die neue Zeit, der wir uns jetzt
nähern, klarer darlegen wird. 1
Unſer deutſches Lied, das ſeinen Stoff aus den innerſten
Tiefen der Menſchenbruſt heraufholt, konnte erſt dann emporblühen,
als dieſe Tiefen aufgeſchloſſen wurden, als der Menſch durch das
Chriſtenthum zum Bewußtſein der Schätze kommt, welche ſein
Inneres birgt. Indem es ihn dann dräugt, dieſelben im Geſange
zu Tage zu fördern, ſucht er nach einem eigenen Darſtellungs—
material und er ſchafft ſich eine eigene Technik für die Bearbeitung
desſelben. Die Anleitung hierzu wird dem deutſchen Geiſte in den
ſogenannten „Jubeltönen“ durch die Kirche, und unter ihrem Ein⸗
fluß arbeitet die entfeſſelte Innerlichkeit rüſtig an ihrer künſtleriſchen
Darſtellung weiter. Dieſe ſcheidet ſich bald nach zwei Seiten; in
die künſtleriſche einer- und die volksmäßige andrerſeits. Die kunſt⸗
mäßige nimmt die überkommenen künſtleriſchen Formen aus der
Vergangenheit in die Gegenwart herüber, ſucht ſie dem neuen
Geifte anzupaſſen und kommt dadurch zu neuen Formgebilden. Im
Minneſange und im Meiſterſange vollendet ſich dieſe erſte
Phaſe des deutſchen Liedes. Allein in beiden iſt die Macht der
Innerlichkeit noch nicht gewaltig genug, um die wirklich natürlich
rechte Form für die muſikaliſche Darſtellung zu finden; der geſammte
Gefühlsinhalt kommt in der Sprachmelodie noch ſo vollſtändig zur
Erſcheinung, daß er keiner andern bedarf. Daher ſind die Lieder
der Minneſinger wol ſprachlich, aber nicht muſikaliſch bedeutſame
neue Schöpfungen, und ihre Melodien und noch mehr die der
Meiſterſänger ſind nach 15 und Vermögen umgeftaltete
Sequenzen - Melodien.
Daneben iſt der Volksgeiſt unabläßig in gleicher Richtung
thätig. Das Chriſtenthum hat ſeine Sangesluſt mächtig angeregt
und für den großen Reichthum ſeiner Innerlichkeit erweiſt ſich bald
ſowol die alte volksmäßige, wie auch die neue kirchliche Geſangs—
SER» una
weiſe unzulänglich und daher drängt es ihn, neues Material für
die Darſtellung der Strömungen ſeines Innern zu ſuchen und es
nach neuen Principien zu ordnen. So gewinnt er die rechte Form
des geſungenen Liedes im Volksliede und in ihm zugleich die Grund—
lage für die weitere Kunſtentwicklung. Das Volkslied hat nur
den einen Factor, die Macht der Innerlichkeit, und es iſt der
wahrſte und treuſte Ausdruck derſelben. Was die Sprache nur in
mehreren Strophen darzuſtellen vermag, das faßt die Melodie in
einer zuſammen zu ſchlagendem und gewinnendem Ausdruck. Dadurch
zwingt es den Kunſtgeſang, der ſich in unfruchtbarer Spekulation
verloren, umzukehren und ſich der Natur wieder zu zuwenden. Indem
die Künſtler das Volkslied aufnehmen und contrapunktieren, wird
dies hinübergeführt auf das Kunſtgebiet, und erzeugt dort eine neue
Kunſtmuſik. Es giebt den Künſtlern Anregung und Anleitung neue
Lieder zu erfinden und fo entſteht die rechte Form des Kunjt-
liedes, welches das mit Bewußtſein ausführt, was das Volk nach
dem Inſtinkt vollbringt, und welches darum tiefer und erſchöpfender
den Inhalt darzuſtellen vermag, als jenes. Aber auch jetzt noch,
obgleich vom einzelnen Künſtler geſchaffen, iſt das Kunſtlied noch
das Lied der Maſſen ohne eigentlich individuelle Züge. Der Künſt⸗
ler lebt noch viel zu ſehr in den Anſchauungen ſeines ganzen
Volkes, um individuell empfinden zu können und das geſammte
Darſtellungsmaterial iſt auch noch nicht verfeinert genug, um
Träger individueller Empfindung zu werden. Das Hauptbeſtreben
iſt daher auch jetzt immer noch mehr auf die Form und auf die
verfeinerte Darſtellung deſſen, was im Volksgemüth ſich lebendig
ſchaffend erweiſt, gerichtet und an der beſonderen Weiſe, in welcher
ſich dies im Kunſtliede darſtellt, haben Individualität und äußere
Einflüſſe wol Antheil, nicht aber auch am eigentlichen Inhalt.
Ehe das Einzelſubjekt ſich in ſeiner lyriſchen Iſolierung empfinden
lernte, mußten erſt gottbegabte Männer die Leiden und Freuden
der geſammten Menſchheit austönen und dieſe Periode beginnt, als
die dramatiſchen Arbeiten das Lied verdrängten und die Ausbildung
der ſelbſtändigen Inſtrumentalformen mit Eifer begonnen wurde.
Zweites Buch.
Der unendliche Inhalt bedingt eine grosse
Mannich faltigkeit der Form.
Bisher beſchäftigte uns vorherrſchend die Form des Liedes,
und der Inhalt nur im Allgemeinen, ſoweit er die Form in ihrer
typiſchen Geſtalt bedingt. Jetzt tritt das umgekehrte Verhalten ein.
Wir werden uns hauptſächlich mit dem Inhalt des Liedes beſchäf—
tigen und der Form nur ſoweit gedenken, als fie durch jenen modi=
ficiert wird.
Die vergangene Periode ſtellt die Form in ihrer typiſchen Con⸗
ſtruction feſt und zwar allgemein faßbar und menſchlich anſprechend.
Jetzt nähern wir uns der Zeit, in welcher der Inhalt ſubjektives
Gepräge annimmt und die Formen dem individuellem Ausdruck
dienſtbar werden. Dieſe geſtalten ſich daher mannichfaltiger und
abweichend von jener typiſchen Conſtruction. Die Dehnbarkeit der
muſikaliſchen Formen iſt eine faſt unbegrenzte, ſo daß ſie der fein
zugeſpitzteſten Individualität immer noch Raum gewährt für ihre
Darſtellung. Wir werden jetzt an einer großen, unzählbaren Maſſe
von unterſchiedenen Liedformen vorübergeführt werden, die alle auf
jene einfache, aus Tonika und Dominant conſtruierte, ſtrophiſch
gegliederte urſprüngliche Form zurückweiſen und werden gewahren
müſſen, daß die ſogenannten Lieder und Geſänge, die ein ſolches
Rückführen nicht geſtatten, verworrene Gebilde einer unklaren Phan—
tafie oder unkünſtleriſche Produkte ſubjektiver Willkür find. |
Das deutſche Lied erhob alsbald wieder ſeine Schwingen, als
jene Bedingungen erfüllt waren, die ſeine Weiterentwicklung voraus—
ſetzte. Namentlich im Gefolge der Oper, des Oratoriums und der
ee -
Cantate hatte ſich die Inſtrumentalmuſik bis zu großer Bedeutung
erhoben. Durch ihren Einfluß war auch der bisher immer noch
ſchwerfällige Apparat der Vokalmuſik geſchmeidiger und fügſamer
und dadurch fähiger geworden, ſelbſt dem ſubjektiven Ausdruck dienſt—
bar zu ſein und nachdem in der Poeſie das lyriſche Lied wieder
eingehende Pflege findet, wenden ſich auch die deutſchen Componiſten
mit Eifer ihm wieder zu, freilich erſt allmälig. Johann
Friedrich Gräfe, der 1737 eine: |
„Sammlung verſchiedener und auserleſener Oden, zu wel-
chen von den berühmten Meiſtern in der Muſik eigene
Melodeyen verfertigt worden“
herausgab, klagt in der Vorrede zum vierten Theil, welcher 1743
erſchien: b
„Ich wollte den Liebhabern der Muſik gern etwas Gutes
mittheilen und ſuchte daher unſere größten Meiſter in
Deutſchland durch unabläßiges Bitten zu einem Beitrage zu
bewegen. Einige davon waren gleich willfährig; andere aber
glaubten, dergleichen Arbeiten wären theils zu klein, theils
zu beſchwerlich oder wol gar ihnen unanſtändig, wenn ſie
als deutſche Componiſten durch deutſche Sachen, und nicht
vielmehr durch italieniſche Stücke ſich bekannt machen ſollten.
Ich überlaſſe dieſe ihrem deutſchen Gewiſſen.“
Doch ſcheint bald ein Umſchwung in dieſer Geſinnung der
deutſchen Componiſten und des deutſchen Publikums eingetreten zu
ſein. Marpurg zählt in ſeinen: „Kritiſchen Briefen“ (Band J.)
39 Sammlungen von Oden auf, die bis zum Jahre 1761 erſchie—
nen waren, und Telemann in der Zuſchrift an Scheibe, womit
er dieſem feine: „Vierundzwanzig Oden“ Hamburg 1741, widmet,
ſagt ausdrücklich:
„Als Ew. Hochedelgebohren mir unlängſt in meinem Tus-
culo die Ehre Dero Beſuches gönnten, und die Rede unter
anderm auf die itzo in Deutſchland nicht wenig belieb—
ten Oden fiel u. |. w.“
Daß auch die Componiſten und Aeſth etiker jetzt ſchon dieſe
leine Form zum Gegenſtande äſthetiſcher Unterſuchungen machten,
davon haben wir ebenfalls Zeugniſſe. Marpurg giebt in dem
angezogenen Werke bei Gelegenheit der Beſprechung jener Oden—
Sammlungen viel ſchätzbare Winke. So hält er ſchon dafür, das
N
Lied müſſe „feine Züge“ haben und in mehreren Briefen ſpricht
er ausdrücklich über die Metra der Oden. Auch die Vorrede der,
von dem Berliner Buchdrucker Birnſtiel 1761 veranſtalteten
Oden-Sammlung ſpricht ſich ziemlich weitläufig und eingehend
über die Beſchaffenheit der Odencompoſition aus.“) Als
Hauptgrundſatz wird hier feſtgeſtellt, „daß die Odencompoſition,
welche nicht muſikaliſch weitläufig ausgearbeitet, ſondern nur mit
einer einzigen kurzen Melodie verſehen werden ſoll, die auf alle
Strophen paſſen muß, was nicht ſo leicht iſt, ohne Abſehen
auf die Worte, ſchön ſein, und alle muſikaliſche Vollkommenheit
haben muß, deren nur ein kleines characteriſirtes muſikaliſches
Stück, z. E. eine Bourree, Gavotte, Menuet, Gique u. ſ. w. fähig
iſt.“ Ferner wird von der Melodie verlangt, daß ſie deutlich
ſei. „Deßwegen muß ſie ihre größeren und kleineren Abſchnitte,
Eintheilungen und Untereintheilungen haben. Deren ſind vornehm—
lich dreierley, als: die kleinſten Einſchnitte, die mittleren Ein—
ſchnitte und die größten.“ Und nun werden dieſe Einſchnitte oder
eigentlich die Ruhepunkte der einzelnen Theile mit der, der dama—
ligen Zeit eignen Luſt am Schematiſieren, weitläufig entwickelt, und
zwar nicht aus muſikaliſchen Geſichtspunkten, ſondern mit Rückſicht
auf den Text und ſeine Interpunktion. Weiterhin wird auch der
modulatoriſchen Symmetrie und Eurythmie gedacht und wenn auch
hier manches Treffende geſagt wird, den eigentlichen Punkt, jene
modulatoriſche Verſchränkung, welche die Correſpondenz der Reim
paare erhöht, findet der Verfaſſer nicht. Endlich verlangt er von
der Melodie, „daß ſie an manchen Orten mehr ſprechend als
ſingend, und daß ſie nicht mit Figuren überladen ſei.“
Dieſe letzte Forderung war allerdings eine ſehr zeitgemäße,
denn die Melodien der meiſten Lieder ſind ſo entſtellt von Figuren,
Vorſchlägen, Trillern und Mordenten, daß es nicht immer leicht iſt,
den eigentlichen Grundgedanken herauszufinden. Der Verfaſſer hat
vollſtändig Recht, wenn er meint, daß dieſe Art nur eine Nach—
ahmung der Arie aus der Oper ſei. Die Hauptthätigkeit derer,
welche ſich jetzt auch mit dem Liede beſchäftigten, war auf Concert
und Bühne gerichtet und die ſpeciellen Anforderungen, welche dieſe
*) Es iſt bereits erwähnt, daß jene Zeit unter „Ode“ immer das Lied
verſteht.
Bet
beiden Felder der Thätigkeit an die Componiſten machten, waren
dem eigentlichen Liede wenig günſtig.
Dies iſt die erſte Phaſe des deutſchen Liedes, nach ſeiner
Wiederbelebung.
Erſtes Napitel.
Das deutſche Lied unter dem Einfluß der „Arie“
in Oratorium und Oper.
Die Arie war, wenn auch nicht direct aus dem Liede hervor—
gegangen, doch in ihrer gegenwärtigen Geſtalt durch dasſelbe weſent—
lich beſtimmt worden. Sie, als der Erguß der nicht mehr iſolierten,
ſondern in Beziehung mit anderen ſtehenden und darum gehobeneren
und erweiterten Stimmung, von der ruhigſten Entfaltung bis zum
raſendſten Affect geſteigert, muß ſich natürlich in demſelben Maße
erweitern und über die Liedform hinausgehen, in dem das darzu—
ſtellende Gefühlsobjekt ein weiteres, bedeutenderes wird, und das
Darſtellungsobjekt des Liedes überragt. Gluck, Händel und Bach
hatten dieſe Erweiterung auf dem allein künſtleriſchen Wege gefunden:
in der breiteren Anlage und dem größeren Reichthum der Harmonien,
die ſie nicht nur vorübergehend berühren, ſondern zu ſelbſtändigen
Tonarten und dadurch zu Nebenpartien ausbildeten, und indem ſie
dieſe, durch die Macht eines im Großen geſtaltenden Rhythmus
gruppieren, wird die Arienform wirklicher Träger der gehobenen
lyriſchen Stimmung. Die Coloratur und die melodiſchen Manieren
ſind ihnen nur Hilfsmittel, die lebendige Wirkung der breiten
Melodien zu erhöhen. Den Italienern dagegen iſt der reichfigurierte
Geſang Hauptſache. In ihm ſahen ſie das Hauptmittel, theatra—
liſche Wirkung zu erzielen und namentlich im Contraſt mit der
weichen, ſchmelzenden Cantilene. Alles was die ausſchließliche Wir—
kung dieſer beiden Factoren aufhält, Rhythmus, Harmonie und
die Begleitung werden bis auf das geringſte Maß in ihren Arien
reduciert.
4
-
tn
Durch Graun und Haſſe hatte dieſe Richtung namentlich in
Deutſchland Eingang gefunden. Auch im Liede ſehen wir beide
Richtungen einflußreich wirkſam. Graun, Telemann, Doles,
Benda und Quantz ſtehen unter dem Einfluß jener Weiſe
Italiens, Marpurg und die Schüler Joh. Seb. Bachs: Agri—
cola, Nichelmann und Phil. Em. Bach unter dem Einfluß
deutſcher Weiſe.
Von jener Richtung hat nur Graun auch Bedeutung für
das Lied gewinnen können. Telemann, Doles, Benda und
Quantz kommen in ihren Liedern nirgends über den italieniſchen
Mechanismus hinaus und namentlich dem Leipziger Thomascantor
Doles ſind die Schnörkeleien ſo zur handwerksmäßigen Routine
geworden, daß er fie ſelbſt in den Melodien der Gellert—
ſchen Oden, die ſonſt faſt choralmäßig gehalten ſind, maſſenhaft
anwendet.
Carl Heinrich Graun iſt 1701 geboren und erhielt ſeine
erſte Bildung auf der Kreuzſchule in Dresden. Er war ein ſehr
geſchätzter Sänger und ging 1725 an Haſſe's Stelle als Tenoriſt
nach Braunſchweig. Später wurde er zugleich Vice-Kapellmeiſter
und folgte endlich dem Rufe Friedrich II. als Kapellmeiſter nach
Berlin, in welcher Stellung er bis zu ſeinem 1759 erfolgten Tode
verblieb. Hier ſchrieb er außer eine Menge Opern ſein Oratorium
„Der Tod Jeſu“ nach dem Ramler'ſchen Text und eine große
Anzahl Lieder, darunter das allgemein bekannte, volksthümlich
gewordene Klopſtock'ſche „Auferſtehn, ja auferſtehn wirft du mein
Staub nach kurzer Ruh.“ Außer mehreren Sammlungen eigener
Lieder ſteuerte er faſt zu jeder der Berliner und Leipziger Oden-
Sammlungen einige Lieder bei und die Marpurg ' ſchen periodi—
ſchen Muſikzeitſchriften: „Die hiſtoriſch kritiſchen Beiträge“ wie
„Die kritiſchen Briefe“ bringen gleichfalls eine nicht geringe Anzahl
Graun ' ſcher Lieder.
Die Lieder Grauns verrathen ihre Abſtammung von der
Opernarie weniger dadurch, daß ſie mit den Schnörkeleien derſelben
überladen ſind, als durch ihre ganze Anlage. Dieſe iſt durchaus
derartig, daß die Liedform eigentlich nirgends prägnant hervortritt.
Wir erkannten als ihr characteriſtiſches Merkmal die energiſche
Ausbildung der Verszeilen und deren Verknüpfung unter einander
im Reim und der muſikaliſchen Correſpondenz, und von dem iſt im
Reißmann, deutſches Lied.
we
Graun'ſchen Liede meiſt eben ſo wenig zu fpüren, wie in den
Liedern von gleicher Abſtammung. Wir haben nirgends das Gefühl
einer Nothwendigkeit jener Gliederung und der dadurch erforderten
Versſchlüſſe. Die Melodie iſt ohne jeden ſelbſtändigen Zug. Sie
ſchmiegt ſich treu dem Sprachmetrum und der harmoniſchen Grund—
lage an und man könnte ſie beliebig erweitern oder verengen ohne
den Bau des Ganzen zu zerſtören. Sie iſt eben nur aus Trüm⸗
mern der zerbrochenen Opernarie zuſammengeſetzt.
Sonderbarer Weiſe begegnen wir auch hier zuerſt wieder im
Kunſtliede jenen, durch rhythmiſche Rückung (Synkopation) ver⸗
ſchärften Accenten, und der Verlegung des muſikaliſchen Accents
auf eine ſonſt tonloſe Silbe, die beide im Volksliede von ſo unnach—
ahmlich lebendiger Wirkung ſind, und die es auch im Kunſtliede
bleiben, wenn dies einen wirklich fein gegliederten und in ſich abge—
ſchloſſenen und gefeſteten Verlauf nimmt. Im Graun'ſchen Liede
und vielen Liedern ſeiner Zeitgenoſſen iſt eine derartige Behandlung
des Accents mehr Reminiſcenz an den Bühnenſtyl mit ſeinen ſcharfen
Accenten und beeinträchtigt den lyriſchen Charakter des Liedes
weſentlich.
Einen mehr lyriſchen Verlauf nehmen die meiſten Lieder einer
in mehreren Fortſetzungen ſeit 1736 in Leipzig erſchienenen Samm—
lung: „Sperontes ſingender Muſe an der Pleiße in zweimal
50 Oden, der neueſten und beſten muſikaliſchen Stücke, mit den
dazugehörigen Melodien zu beliebter Clavier-Uebung und Gemüths—
ergötzung“ und wir können durchaus nicht dem Urtheil Mar—
purgs, des ſonſt ſo unterrichteten Mannes beiſtimmen, der die
Sammlung als von „einem Stallbuben herrührend“ bezeichnet.
Es iſt richtig, einzelne Lieder ſind in der Lanzknechtsweiſe des
15. Jahrhunderts gehalten und die ganze Sammlung durchzieht ein
etwas gequälter und geſuchter Ton der Fröhlichkeit; auch ſind die
meiſten Lieder, weil ihre proſaiſchen Texte eine andere Behandlung
nicht ermöglichten, nach Tanzweiſe (Polonaiſe, Menuet, Bour—
ree u. ſ. w.) gehalten und die ſogenannten Murkys, Stücke,
in denen der Baß fortwährend nur mit Grundton und Octave
baer e
wechſelt 33 mußten einem theoretiſchen Schriftſteller
u Ar a 7
= 5
wie Marpurg allerdings ein Gräuel ſein, aber bei dem allen
ana BERNER
klingt doch eine gewiſſe volksmäßige Innigkeit durch die meiften,
ſo daß wir viele für Volkslieder halten möchten, und an Abrundung
und Fluß ſtehen dieſe den Kunſterzeugniſſen der ganzen Periode
nicht nach. |
Der Einfluß der deutſchen Arie zeigt ſich am Entſchieden—
ſten bei
Chriſt oph Nichelmaun. Er iſt zu Treuenbriezen 1717
am 13. Auguſt geboren. Sein Vater, ein Tuchmacher, gab dem
Andrängen eines Verwandten, der das muſikaliſche Talent in dem
Sohne entdeckt hatte, nach und ließ ihn für die Muſik erziehen.
1730 kam er nach Leipzig und genoß als Thomasſchüler den Unter⸗
richt Johann Sebaſtian Bachs, der ihn ins Alumnat aufge—
nommen hatte und ihm auch anderweitig in der Muſik Anweiſung
ertheilte.
Hier machte er ſeine erſten Verſuche in der Compoſition. Da
er ſich ſpäter von der dramatiſchen Muſik ganz befonders angezogen
fühlte, ſo ging er 1733 nach Hamburg. Er fand hier an den
Directoren der Oper, an Keiſer, Telemann und Mattheſon,
Gönner und Freunde und unter ihrer Anleitung ſtudierte er die
dramatiſche Muſik. Später gieng er wieder nach Berlin zurück und
folgte dann dem Reichsgrafen von Barfus auf ſeine Güter nach
Preußen. Doch ſchon 1739 finden wir ihn wiederum in Berlin.
Da er hier indeß nicht den gewünſchten Wirkungskreis fand, ſo
entſchloß er ſich nach England oder Frankreich zu gehen. Er wandte
ſich zunächſt nach Hamburg, wurde aber von hier durch Friedrich
den Großen zurückberufen und trat 1745 in die Dienſte dieſes
Monarchen, als Königl. Preußiſcher Kammermuſikus, als welcher
er 1761 ſtarb. a
Auch er lieferte faſt zu jeder damals erſcheinenden Oden—
Sammlung einige Beiträge. Eine ſelbſtändige Sammlung iſt unſers
Wiſſens von ihm nicht erſchienen. Wie tief der Meiſter ſchon das
Weſen und die Bedeutung der Melodie erkannte, hat er in einem
beſonderen werthvollen Werke als Beitrag zu dem Streit, der ſeiner
Zeit über die franzöſiſche und italieniſche Muſik geführt wurde,
dargethan. Es erſchien unter dem Titel:
Die Melodie nach ihrem Weſen ſowohl, als nach ihren
Eigenſchaften, mit dem Motto: Ars, cum a natura pro-
fecta sit, nisi natura moveat ac delectet, nihil sane egisse
6*
a. A
videtur. Cie. de Orat. lib. 3. cap. 50. Danzig bei Joh.
Chriſtian Schuſter 1755, 4. 175 Seiten nebſt 22 Kupfer⸗
tafeln. .
Johann Friedrich Agricola, am 4. Januar 1720 in
Dobitzſchen im Altenburgiſchen geboren, hatte wie Nichelmann
das Glück, in Leipzig, wohin er 1738 gieng, um auf der daſigen
Univerſität ſeine Studien zu vollenden, den Unterricht Joh. Seb.
Bach's zu genießen. Hier ſcheint er denn auch früh den Ent—
ſchluß gefaßt zu haben, ſich ganz der Tonkunſt zuzuwenden und
ſchon im Jahre 1741 finden wir ihn in Berlin mit der Compo⸗
ſition von Arien und Cantaten beſchäftigt, wobei ihm Händel,
Graun, Haſſe und Telemann als Muſter dienten. 1750
brachte er ein Singſpiel „il Filosofo convinto in amore“ in Pots⸗
dam vor dem König, dem großen Friedrich, zur Aufführung und
dies und einige Arien im ernſten Styl ſetzten ihn bei dem Könige
in ſolche Gunſt, daß dieſer ihn 1751 zum Hofcomponiſten ernannte.
Als ſolcher ſchrieb er noch das Intermezzo: la Ricamatrice und
1753 die Oper Metaſtaſio's: Cleofide. Nach dem Tode Graun's
wurde er an deſſen Stelle 1759 Hofkapellmeiſter. Er ſtarb am
12. November 1774. A ge
Auch er veröffentlichte eine nicht unbedeutende Anzahl von
Liedern in den genannten Oden-Sammlungen und den periodiſchen
Schriften Marpurg's und dieſe geben Zeugniß, daß auch bei
ihm der Einfluß der deutſchen Meiſter Gluck, Händel und Bach
ſtärker war als der der italieniſchen, welchem er ſich nicht ganz
verſchloß.
Friedrich Wilhelm Marpurg endlich, geboren 1718 zu
Seehauſen in der Altmark, vervollſtändigt das Kleeblatt der Künſt—
ler, die im Norden Deutſchlands das deutſche Lied, gegenüber dem
Andrange der verflachenden Einflüſſe des Auslandes zu erhalten
wußten. Obgleich ſeiner Lebensſtellung nach Dilettant, er lebte
ſeit 1763 als Königl. Lotterie -Director in Berlin, war er, wie
einſt Mattheſon, doch ein Künſtler in der wahren Bedeutung
des Worts. Eine tiefe Erkenntniß des Weſens der Tonkunſt, unter—
ſtützt durch ſcharfen Verſtand und außerordentliche allſeitige Bildung
neben einem energiſchen Streben nach Klarheit und Wahrheit in
allen Materien der Kunſtwiſſenſchaft und Kunſtübung, machten ihn
zu einem der erſten und bedeutendſten Theoretiker aller Länder und
en oo
aller Zeiten. Seine Lehrbücher und hiſtoriſch-kritiſchen Beiträge
für Tonkunſt und Aeſthetik ſind heute noch Fundgruben für die
geſammte Muſikwiſſenſchaft. Daneben war er unabläßig praktiſch
ſelbſtſchaffend thätig und eine Menge Lieder, in derſelben Weiſe
veröffentlicht, wie die von Nichelmann und Agricola, ſind
Zeugniſſe einer feinſinnig geſtaltenden Hand.
Was die Lieder dieſer drei Meiſter vor denen der Zeitgenoſſen
auszeichnet, iſt, daß ſie wiederum jene Energie und Conſequenz der
Melodiebildung zeigen, welche wir am Vollsliede und den Kunſt⸗
liedern der erſten Periode wahrnehmen und die wir an jenen
vermißten. Wie dort, ſo drängt hier wiederum die Melodie nach
beſtimmten Ruhepunkten und gewinnt dadurch wieder die feine,
architectoniſche Gliederung, die wir als charakteriſtiſches Merkmal
der Liedform erkannten. Zwar ſuchen wir auch hier noch vergebens
die reizenden und feinſinnigen Versverſchränkungen, durch welche
Schein und Hammerſchmidt ihre Lieder meiſterlich abrunden,
aber dieſer Mangel wird durch eine freiere harmoniſche Behandlung
erſetzt. Dahin gieng überhaupt das Streben dieſer ganzen Periode,
ſeit dem Eintritt des Volksliedes in die Kunſtgeſchichte, die Har—
monie in Fluß zu bringen. Indem ſich die einzelnen Accorde auf—
löſen in ein ſinnig verſchlungenes Stimmgewebe, treten ſie heraus
aus ihrer, mehr maſſigen, und darum elementaren, materiellen
Exiſtenz, ſie werden vergeiſtigt und gewinnen die Hauptbedingung
für die Darſtellung lyriſcher Stimmung. Dieſer Prozeß vollendete
ſich in Johann Sebaſtian Bach und wir ſehen ſeine Schüler
in ſeinem Geiſte thätig. Jenes Mißverhältniß zwiſchen Melodie
und Harmonie in den Liedern von Schein und Hammerſchmidt,
das Albert und ſeine Zeitgenoſſen nur dadurch zu umgehen ver—
mochten, daß ſie den harmoniſchen Apparat auf das geringſte Maß
reducierten, iſt hier vollſtändig ausgeglichen ohne den Reichthum
der Harmonie nur irgend zu beeinträchtigen. Melodie und Har—
monie erſcheinen beide gleich ſelbſtändig und reich, aber beide
ergänzen und durchdringen ſich zu einheitlicher Geſammtwirkung.
Die Clavierbegleitung in den Liedern der Vorgänger iſt immer noch
nur ein nothdürftiges Aequivalent für die fehlenden Unterſtimmen,
die Harmonie meiſt in Grundaccorden darſtellend. Jetzt erhebt ſie
ſich zu einer gewiſſen Selbſtändigkeit, daß gar bald Klagen über
eine zu reiche Behandlung des Inſtrumentalen dem Vocalen gegen—
an.
über, laut werden. Nur ſo indeß vermochte fie an der Darftellung
der lyriſchen Stimmung Antheil zu nehmen.
Philipp Emanuel Bach, der zweite Sohn des großen
Joh. Seb. Bach, 1714 geboren, den wir als vierten der Meiſter
nannten, welche ſich mehr deutſchen Einflüſſen hingaben, hat eine
eigentliche Bedeutung für das Lied nicht gewinnen können, weil
ihm die Tiefe und Macht der Innerlichkeit fehlte. Sein verſtändig
praktiſcher Sinn richtete ſich auch bei dem Liede mehr auf ein Zer—
ſetzen der Stimmung und auf die Darſtellung der einzelnen Züge
derſelben mit den vorhandenen Mitteln, ſo daß wir ihn den Vater
des durchcomponierten Liedes nennen würden, wenn überhaupt die
lyriſchen Momente bei ihm zu unmittelbarer Erſcheinung kämen.
So wird er weniger durch ſeine Arbeiten auf dieſem ſpeciellen
Gebiet, als vielmehr durch ſein geſammtes Wirken einflußreich auch
auf die Weiterentwickelung des Liedes. Er verſuchte wohl zuerſt die
Kunſt wieder mit dem Leben in intimere Beziehung zu ſetzen, alſo,
daß im Kunſtwerk zugleich ein Bedürfniß des Lebens Befriedigung
erhält. Vollſtändig, ohne den Werth des Kunſtwerks zu verringern,
gelang dies erſt jenem Meiſter, der ſich gern einen Schüler
Ph. E. Bach's nennt, Joſeph Haydn. Doch half jener in
dieſem Streben die neue Kunſtepoche und mit ihr die Zeit des volks—
thümlichen Liedes vorbereiten.
Die Spuren der Wirkſamkeit der im Eingange genannten
Künſtler, deren Hauptſitz Berlin war, ziehen ſich noch weit ins
neunzehnte Jahrhundert hinein und wir werden ihnen in den ſpätern
Berliner Liedercomponiſten: Friedrich Reichardt, Carl Fried—
rich Zelter, Bernhard Klein, Louis Berger und Wil—
helm Taubert wieder begegnen.
Mittlerweile war auch in jenem großen Meiſter, der fern von
ſeinem Vaterlande deutſchen Sang und deutſches Lied im fremden
Lande mit gottbegeiſtertem Muthe und hoher Kraft pflegte, in
Georg Friedrich Händel jenes volksthümliche Element lebendig
geworden, welche das Kunſtlied zwar lange Zeit wiederum in ſeiner
Entfaltung aufhielt, aber ſeine Bedeutung nur um ſo tiefgreifender
hinſtellte.
Im Süden Deutſchlands iſt es, wie bereits erwähnt, Joſeph
Haydn, mit dem dieſe neue Epoche nicht nur des Liedes, ſondern
der Muſik überhaupt beginnt und es ift intereffant und lehrreich
zugleich, zu beobachten, wie von jetzt ab der tiefgreifende Unter—
ſchied zwiſchen Nord- und Süddeutſchland in Sitte, Verfaſſung
und Lebensanſchauung auch in der Tonkunſt immer fühlbarer wird.
Sitte und Leben nehmen jetzt einen bedeutenden Antheil an der
Weiterentwicklung der Tonkunſt, und je nach der Verſchiedenheit
dieſer Mächte geſtalten ſich auch der Gang und die Produkte der
Kunſtentwicklung verſchieden. Jetzt gelingt es nur noch den großen
Meiſtern, den ſüddeutſchen Haydn, Mozart, Beethoven und
Schubert und den norddeutſchen Bach, Händel, Mendelsſohn
und Schumann ſich von den Banden ſolch endlicher Beziehung
zu löſen und beide Richtungen zu vereinigen; die kleinen Meiſter
gehören immer einer Schule an, entweder der ſüddeutſchen —
Wiener, oder der norddeutſchen — Berliner.
Mit dem Eindringen des Volksliedes mußte die Objektivität
und Naivetät des alten Kunſtwerks nach und nach ſchwinden, aber
die endliche Perſönlichkeit des Künſtlers, das Leben mit ſeinen
mannichfachen Einflüſſen, der Wechſel der Jahreszeiten, klimatiſche
oder geographiſche Beſonderheiten, Nationaltypus, Naturell, Charak—
ter und Temperament, ſie haben bis auf Joſ. Haydn nur wenig
Antheil am geſammten künſtleriſchen Schaffen. Mit dieſem Meiſter
werden ſie ſo entſchieden einflußreich, daß ſie eine Zeit lang faſt
die einzigen Factoren künſtleriſcher Erregung ſind und zumeiſt unter
dieſen Einflüſſen treibt auch die neue Phaſe des Liedes als volks—
thümliches Lied herauf.
Zweites Napitel.
Das volksthümliche Lied.
Ueber die beſondere Weiſe des volksthümlichen Liedes giebt uns
der Vorbericht der, 1785 erſchienenen
„Lieder im Volkston bey dem Clavier zu ſingen von J. A. P.
Schulz, Capellmeiſter Sr. Königl. Hoheit des ha
Heinrich von Preußen.“
den beſten Aufſchluß.
Sa
Der Autor jagt darin:
„In allen dieſen Liedern iſt und bleibt mein Beſtreben,
mehr volksmäßig als kunſt mäßig zu ſingen, nehmlich ſo,
daß auch ungeübte Liebhaber des Geſanges, ſo bald es ihnen
nicht ganz und gar an Stimme fehlt, ſolche leicht nach—
ſingen und auswendig behalten können. Zu dem Ende habe
ich nur ſolche Texte aus unſern beſten Liederdichtern gewählt,
die mir zu dieſem Volksgeſange gemacht zu ſein ſchienen,
und mich in den Melodien ſelbſt der höchſten Simplicität
und Faßlichkeit befliſſen, ja auf alle Weiſe den Schein
des Bekannten darein zu bringen geſucht, weil ich aus
Erfahrung weiß, wie ſehr dieſer Schein dem Volksliede zu
ſeiner ſchnellen Empfehlung dienlich, ja nothwendig iſt. In
dieſem Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimniß
des Volkstons; nur muß man ihn mit dem Bekannten ſelbſt
nicht verwechſeln. Dieſes erweckt in allen Künſten Ueber⸗
druß; jener hingegen hat in der Theorie des Volksliedes
als ein Mittel, es dem Ohre lebendig und ſchnell faßlich
zu machen, Ort und Stelle, und wird von dem Compo⸗
niſten oft mit Mühe, oft vergebens geſucht. Denn nur
durch eine frappante Aehnlichkeit des muſikaliſchen mit dem
poetiſchen Ton des Liedes, durch eine Melodie, deren
Fortſchreitung ſich nie über den Gang des Textes erhebt,
noch unter ihn ſinkt, die wie ein Kleid dem Körper, ſich
der Declamation und dem Metro der Worte anſchmiegt,
die außerdem in ſehr ſangbaren Intervallen, in einem,
allen Stimmen angemeſſenen Umfang und in den aller—
leichteſten Modulationen fortfließt und endlich durch die
höchſte Vollkommenheit der Verhältniſſe aller ihrer Theile,
wodurch eigentlich der Melodie diejenige Rundung gegeben
wird, die jedem Kunſtwerk aus dem Gebiete des Klei—
nen ſo unentbehrlich iſt, erhält das Lied den Schein,
von welchem hier die Rede iſt, den Schein des Ungeſuch—
ten, des Kunſtloſen, des Bekannten, mit einem Wort
des Volkstons, wodurch es ſich dem Ohr ſo ſchnell und
unaufhörlich zurückkehrend einprägt. Und das iſt doch
der Endzweck des Liedercomponiſten, wenn er ſeinem ein—
zig rechtmäßigen Vorſatz bey dieſer Compoſitionsgattung,
— 89 —
gute Liedertexte allgemein bekannt zu machen, li blei⸗
ben will.“
Dieſe ganze neue und eigenthümliche Phaſe des Liedes, als
ſolche kennzeichnet fie ſchon der Schulz' ſche Vorbericht, wird zunächſt
und allermeiſt durch die veränderte Stellung, in welche Muſik und
Dichtkunſt mittlerweile zum Leben getreten ſind, bedingt.
Mit der wachſenden Herrſchaft, welche das Kunſtlied und die
Muſik überhaupt im Volke gewinnt, mußte das eigentliche Volks—
lied nothwendiger Weiſe nach und nach abſterben. Wol waren
ſchon die äußeren Verhältniſſe, die politiſche und ſociale Lage des
deutſchen Volkes im ſechzehnten, ſiebenzehnten und achtzehnten Jahr—
hundert wenig geeignet, die künſtleriſche Schaffenskraft im Volke zu
erhalten und zu nähren. Die Stürme des dreißigjährigen Krieges
und die durch ſie herbeigeführte Verwilderung deutſcher Sitte und
deutſchen Lebens ließen das Volkslied allmälig verſtummen und
unter dem Drucke der folgenden Zeit, der, herbeigeführt durch innere
Zerrüttung und die Macht- und Energieeloſigkeit der deutſchen
Regierungen, auf allen Ständen laſtete, vermochte es ſich nicht
wieder zu erholen. Als die höheren Stände endlich wieder tiefere
Bildung anſtrebten und erlangten, war die Kluft, welche ſie von
den niedern trennte, viel zu groß geworden, als daß ſie einen
fördernden Einfluß auf den Schaffenstrieb des Volkes hätten aus—
üben können. Doch alles dies wäre wohl kaum im Stande geweſen,
den Volksgeſang in ſeiner urſprünglichen Weiſe ſo vollſtändig zu
ertödten, wie es geſchah. Sehen wir ihn doch in jener Zeit ſelbſt
luſtig emporblühen, in welcher er von den Geiſtlichen mit Bann
und harten Kirchenſtrafen und vom Kaiſer mit Poen an Leib und
Leben bedroht war. Das Volk erfand und ſang ſeine
Lieder ſo lange, als ihm der Kunſtgeſang noch fremd
gegenüberſtand. Nachdem dieſer ſich aber nach Anlei—
tung des Volksgeſanges aus Elementen desſelben
verjüngt und in dieſer neuen Geſtalt rege Theilnahme
und Selbſtbethätigung im Volke fand, mußte das
Volkslied nothwendig abblühen. So lange der Kunft-
geſang das Bedürfniß des Volkes unberückſichtigt ließ, fand der
Schaffenstrieb im Volke in der unbezwinglichen Luſt am Geſange
fortwährend erneuerte Anregung ſelbſt zu dichten und Sangweiſen
zu erfinden. Nachdem aber die Künſtler ſich eifrig dem Volksliede
.
zuwandten und in fortwährend erneuerten Arbeiten dieſem die, ihm
urſprünglich fremden künſtleriſchen Elemente zu vermitteln ſuch—
ten, um ſo das Kunſtlied zu finden, das auch dem Bedürfniß des
Volkes entſprach, hatte das Volk nicht mehr nöthig, ſelbſt für
Befriedigung ſeiner Sangesluſt zu ſorgen. Es griff jetzt nur auf,
was ihm fertig dargeboten wurde, und eignete es ſich um ſo
begieriger an, je mehr eignen Empfindens es ihm entgegen brachte.
Das geſammte Muſiktreiben des ſechzehnten Jahrhunderts ſchon
erwies ſich dieſem Bedürfniß außerordentlich günſtig.
Waren vor der Reformation Singchöre, die Currenden, meiſt
nur an den gelehrten und den Kloſterſchulen eingerichtet, ſo wurde
durch die veränderte Bedeutung, die der Kirchengeſang erhielt, die
Errichtung ſolcher Chöre an allen Kirchen nöthig, und am Ausgang
des ſechzehnten Jahrhunderts ſchon dürften nur wenige Städte mit
ſelbſtändiger Kirchenverfaſſung zu finden fein, die nicht ihre Sing—
chöre, Cantoreyen oder Adjuvantenchöre hatten, und daß in ihnen
auch das weltliche Lied nicht ausgeſchloſſen war, beweiſen die hand—
ſchriftlichen Nachträge zu den gedruckten Motetten- und Choralſamm⸗
lungen aus jener Zeit. Auch haben die bereits beſprochenen „Quod—
libets“ in dieſen Cantoreyen ihren Boden. Ein Biograph des
alten Seb. Bach erzählt, daß lange Zeit ſeine Vorfahren, eine
beträchtliche Anzahl Thüringiſcher Cantoren dieſes Namens, alljährlich
an einem beſtimmten Tage zuſammenkamen und bei dieſer Gelegen—
heit faſt ausſchließlich Quodlibets aus dem Stegreif ſangen. Auch
die ſogenannten Adjuvantenſchmauſe, die alljährlich etwa nach Art
der Stiftungsfeſte unſerer Geſangvereine gefeiert und heute noch
von einzelnen Cantoreyen Thüringens zu wahren Volksfeſten erwei—
tert werden, wie die Hochzeits- und Kindtauffeſte, zu welchen dieſe
Chöre zugezogen wurden, förderten die Uebung des weltlichen
Geſanges. Neben dieſen Chören fand das weltliche Lied außer—
ordentliche Pflege und Uebung ſchon in Haus und Familie. Wie
bereits früher angeführt wurde, waren die mehrſtimmigen Lieder—
ſammlungen, die in dieſem und dem erſten Viertel des nächſten
Jahrhunderts in großer Menge erſchienen, weit verbreitet und nach
einer Notiz Dehn's (Cäcilia, Bd. 25. Heft 99.) wird in der
Lebensbeſchreibung von Jodocus Willichins, welcher 1552
ſtarb (Beckmanni notitia univ. Frankf.), erzählt, daß er in Frank—
furt a. O. ein philologiſch-muſikaliſches Kränzchen geſtiftet habe;
A N de
ein ſogenanntes Wanderkränzchen, weil die Geſellſchaft kein beſtimm—
tes Verſammlungslokal hatte, ſondern ſich reihum bei einem der
Mitglieder verſammelte. Der jedesmalige Wirth der Geſellſchaft
trug ein Kränzchen, das er dann dem nächſten Wirth aufſetzte.
Eine noch größere Verbreitung gewannen dieſe Lieder, als ſich
aus der Lautenpraxis eine leichtere Ausführung entwickelte, ſo daß
ſie auch der einzelne Sänger in einſamer Zurückgezogenheit genießen
konnte. Er ſang die ihm bequemſte Stimme und erſetzte die übrigen
durch dies klangreiche Inſtrument. Es bedurfte hierzu keiner beſon—
deren Umſchreibung oder Unterweiſung, denn einen beſonderen
Inſtrumentalſtyl kannte dieſe Zeit noch nicht und die meiſten mehr—
ſtimmigen Geſänge waren, wie früher ſchon bemerkt wurde, nach
ihren Aufſchriften: „für die Inſtrument dienſtlich.“ Doch finden wir
auch eine Menge Kunſtlieder oder kunſtmäßig bearbeiteter Volks—
lieder in beſonderen Lautenbüchern und mit beſonderen Tonzeichen,
(Lauten-Tabulaturen) für dies Inſtrument übertragen.
Von noch größerer Bedeutung für die Weiterverbreitung des
Kunſtliedes wurde endlich der letzte entſcheidende Schritt, den die
Künſtler thaten, als fie das einſtimmige Lied zu cultivieren begannen.
Jetzt wurde die Melodie die Hauptſache und ſie iſt das leicht faß—
lichſte muſikaliſche Darſtellungsmittel, dem Volksgemüth leicht zu—
gänglich und bleibt am Sicherſten dort haften. |
Auch die Inſtrumentalmuſik, die mittlerweile zu einer gewiſſen
Selbſtändigkeit und zu großer Verbreitung gelangt war, konnte nicht
ohne Einfluß auf die neue Liedgeſtaltung bleiben.
Noch zur Zeit der Reformation waren feſt organiſierte Muſik⸗
chöre nur an den Höfen der Fürſten und in den freien Reichs- und
Hanſa⸗- oder in den reicheren Handelsſtädten zu finden. Allein mit
der wachſenden Macht, mit welcher die Muſik in die verſchiedenſten
Lebensverhältniſſe ganzer Gemeinden wie des Einzelnen eingriff,
wurde das Bedürfniß nach ſolchen Chören überall rege, und fo
hatte gar bald auch die kleinſte Stadt ihre „Stadtpfeifferei,“ mit
einem „Stadtpfeiffer“ an der Spitze und einer Anzahl von „Ge—
hülfen und Lehrlingen,“ die öffentliche und Privatfeſte verſchönern
mußten; denen in ihrer Beſtallung zur Pflicht gemacht war, in den
Kirchen und vor der Tafel, „allerunterthänigſt,“ „unterthänig“
oder „unterdienſtlich“ aufzuwarten. Von dieſen Chören wurde nur
Kunſtmuſik, wenn auch in der weiteften Bedeutung des Wortes,
„„
oft freilich hart an der Grenze, ausgeführt. Wie viel auch ſie zur
Ausbildung der neuen Phaſe des Liedes als volksthümliches Lied
beitrugen, wird uns bei Betrachtung einzelner, volksthümlicher
Lieder klar werden.
Von directem Einfluß auf dieſe ganze Umgeſtaltung wurde
ferner die Ausbildung und ungeheure Verbreitung, welche die drama—
tiſche Muſik als Oper Anfangs in Privat-, ſpäter in ,
Aufführungen fand.
Hervorgerufen durch die mehrjährigen Beſtrebungen 88 auf
die Wiederbelebung der alten Tragödie bedachten Vereins, erfolgte
zu Florenz im Jahre 1600 die erſte Aufführung eines durchweg
geſungenen Schauſpiels und bald wurden auch in anderen Ländern,
namentlich die öffentlichen Feſte mit ſolchen Aufführungen prächtiger
und glanzvoller ausgeſtattet; in Deutſchland bis in das letzte Vier—
tel dieſes Jahrhunderts, wenn auch häufig, doch immer nur ver—
einzelt, bis 1678 die erſte ſtehende Opernbühne in Hamburg
errichtet wurde. Dem Beiſpiele Hamburgs folgten bald andere
Städte, die Wanderbühnen vermehrten ſich und bald beherrſchten
die Oper und die ihr verwandten „geiſtlichen Concerte“ das geſammte
öffentliche Muſiktreiben und zwar, wie aus einzelnen Berichten aus
jener Zeit hervorgeht, unter dem ungetheilteſten Beifall der Nation.
Von welch tiefgreifendem Einfluſſe dieſe neue Muſikgattung im
nächſten Jahrhundert ſchon wurde, und nicht nur auf die Form—
vollendung des Liedes, wie das erſte Kapitel dieſes zweiten Buches
ausführt, ſondern auf die ganze Muſik dieſer Periode, erſehen wir
aus den mancherlei Klagen, die hierüber laut wurden. Bei der
Anzeige der: „Geiſtlichen, moraliſchen und weltlichen Oden,“ im
Verlage von G. A. Langen's Buchdruckerei in Berlin, ſagt der
Berichterſtatter der Bibliothek der ſchönen Wiſſenſchaften und freyen
Künſte (Leipzig. Joh. Fr. Dyk. 1758. Band 3. p. 190.):
„Die Melodien unterſcheiden ſich insbeſondere durch einen
natürlichen und fließenden Geſang, in welchem Stücke ſie
die meiſten Oden übertreffen, mit welchen Deutſchland über—
ſchwemmt wird, und von welchen man oft nicht weiß, ob
ſie zum Singen oder zum Spielen, oder vielmehr zu keinem
von beyden geſchickt ſind. Es hat jemand ſolche Oden
damit vertheidigen wollen, daß ſie die Stelle kleiner Clavier—
ſtücke vertreten ſollten, wir wiſſen aber nicht, warum ſich
ie We
die kleinen Clavierſtücke ſollten vertreten laſſen, da fie fich
ganz füglich ſelbſt vertreten können. Es iſt ſchlimm
genug, daß ſich die größeren Clavierſtücke ſo oft
durch Opernarien müſſen verdrängen laſſen,
die man mit Gewalt auf den Flügel zwingt, ob
ſie gleich darauf mehrentheils ſo leer klingen
müſſen, als ſie mit den dazugehörigen Stimmen
angenehm ſind.“ | |
Wie wenig ſo verſtändige Zurechtweiſungen auch in ihrer
häufigen Wiederholung fruchteten, iſt bekannt. Die Opern-Melodien
gewannen von Jahr zu Jahr in allen Arrangements immer größere
Beliebtheit und Verbreitung und als den Dichtern und Componiſten
gelang, das Liederſpiel für eine Zeit wenigſtens einzubürgern und
als die dramatiſche Muſik in den glatten und knappen Formen des
Liedes ein mehr volksmäßiges Gepräge gewann, da holte ſich das
Volk am Liebſten ſeine Lieder von der öffentlichen Schaubühne, ja
es machte an die Dichter und Componiſten geradezu die Anforde—
rung, daß ſie bei ihren dramatiſchen Erzeugniſſen möglichſt treu für
Befriedung ſeiner Sangesluſt ſorgten.
Entſcheidender und nachhaltiger als alle genannten Umſtände
mußte endlich der Geſangunterricht in den Volksſchulen
auf die Umgeſtaltung des Volksgeſanges werden. Daß der Geſang
eine der weſentlichſten Disciplinen in den erſten Volksſchulen war,
iſt wohl außer allem Zweifel. Von Mönchen und Geiſtlichen
geſtiftet und Jahrhunderte lang von ihnen überwacht, boten die
Volksſchulen die beſte Pflanzjtätte für den Kirchengeſang, und eine
Thierſage: „Der Wolf in der Schule“ von einem unbekannten
Dichter des dreizehnten Jahrhunderts, beſtätigt, daß „Leſen und
Singen“ die Hauptgegenſtände des Unterrichts geweſen ſind.
Wie früh indeß auch der weltliche Geſang in den Volksſchulen
Eingang fand, dürfte ſchwer zu beſtimmen ſein. Jedenfalls nicht
vor, vielleicht lange nach dem vierzehnten Jahrhundert, dem Jahr—
hundert der Städteerhebung. Erſt als die Städte der Geiſtlichkeit
das alleinige Patronat über die Volksſchulen ſtreitig machten und
zur Theilnahme an der Leitung des Schulweſens gelangten, dürfte
auch die Pflege des weltlichen Liedes begonnen haben, dem ſich die
Geiſtlichkeit zu keiner Zeit ſehr zugethan erwies. Daß es indeß
auch jetzt noch weniger das Volkslied, ſondern vielmehr „die guido—
niſche Solmiſation,“ „der Figuralgeſang“ und „„die jetzige italie—
niſche Art und Manier im Singen“ waren, die dort gepflegt wur⸗
den, beweiſen die Anweiſungen zur Singekunſt für Schulen, die
„der lieben Jugend zum Beſten“ oder „vor diejenigen Knaben, ſo
noch jung und zu keinem Latein gewehnet, verfertigt,“ vom Beginn
des ſiebenzehnten Jahrhunderts in beträchtlicher Anzahl erſchienen.
Eigentliche Schul- oder Jugendlieder mögen erſt lange nachher,
vielleicht kurz vor der beginnenden Blüthe des volksthümlichen Liedes
gedichtet worden ſein. So fand der Kunſtgeſang ausſchließlich
eifrige Pflege auch in den Schulen und der Jugend ſchon gieng die
naive Luſt am Schaffen, die das Volk einſt hatte, und welche die
Meiſter dieſer Jahrhunderte in der vollſtändigen Beherrſchung der
Kunſtmittel erſt wieder erlangten, ſchon früh und meiſt für immer
verloren. Sie wuchs unter und mit dem Kunſtgeſange auf, und es
löſten ſich nach und nach alle Beziehungen zum urſprünglichen
Volksgeſange. Die ſich allmälig ausbreitende allgemeine Mufik-
bildung drängt auch ihn in die knappen, feſten Formen des kunſt—
mäßigen Geſanges. Die reiche Melismatik der alten Volksmelodie
weicht einem mehr ſyllabiſchen Geſange und an die Stelle der
alten, mannichfach zuſammengeſetzten und gegliederten Rhythmik
tritt die neue gleichmäßigere, dem einfachen Sprachmetrum enger
auſchließende. Nur eine kleine Zahl der alten Volksgeſänge erhielt
ſich unter diefem Umgeſtaltungsprozeß und wurde mit hinüber
gerettet in die neue Zeit; der ungleich größere Theil erwies ſich ihm
ſpröde und ungefügig und mußte abſterben. Auch für die Lieder
des Volkes wird jetzt eine mehr kunſtmäßige Form nothwendig, und
aus dieſem Bedürfniß heraus entſtand das volksthümliche Lied.
Es ſteht ſonach in der Mitte zwiſchen dem eigentlichen Volks—
liede und dem Kunſtliede. Von dieſem hat es die abgerundete,
glatte Form, von jenem die Allgemeinheit, die leichte Faßbarkeit
und Verſtändlichkeit ſeines Inhalts.
Alle Lieder, die jetzt noch im Volke entſtehen, auch wenn ſie
nicht von Künſtlern oder dem muſikaliſch höher gebildeten Dilet—
tantismus ausgehen, ſind dennoch immer ein Produkt der Muſik—
entwicklung. Schule und Leben haben dem Einzelnen aus dem
Volke, in dem ſich der alte Schaffeusdrang regt, den, wenn auch
dürftigſten doch ausreichenden Apparat für muſikaliſche Darſtellung
2 —— un mn
zugeführt; er ſucht und findet daher keinen andern. Das Volkslied
mußte auch dieſen erſt erfinden und die Naivetät, die Urſprünglich—
keit und Macht der Empfindung und der Reichthum des Volks⸗
gemüths läßt ihn zu einer ſo üppigen Fülle der mannichfachſten
Geſtaltung anwachſen, wie ihn das, jetzt im Volke noch entſtehende
volksthümliche Lied nimmer haben konnte, und wie er noch mannich—
faltiger und reicher nur unter der Hand des Künſtlers anwuchs.
Denn auch er geht zunächſt von jenem einfachſten harmoniſchen
Geſtaltungsprozeß, der Wechſelwirkung von Tonika und Dominant
und der entſprechenden Bewegung nach der Unterdominant aus,
aber er bleibt hierbei nicht ſtehen. Löſt er ſich ganz von ihm los,
ſo verliert er den Zuſammenhang mit dem Volksgemüth und wird
unverſtändlich und im glücklichſten Falle zur Carricatur. Er muß
an ihm feſthalten, aber in der beſonderen Weiſe, in welcher er ihn
melodiſch und rhythmiſch darſtellt, in der Beſonderheit der
Wege, welche er einſchlägt, um zu jenen Angelpunkten der geſamm—
ten Conſtruction zu gelangen, beruht die Beſonderheit ſeines Wir—
kens. Wenn er hier ſich eigenthümlich erweiſt, bringt er einen,
bisher unausgeſprochenen Theil des Volksgemüths zur Darſtellung,
und wird dadurch volksthümlich in der höchſten Bedeutung des
Worts.
Hiernach ſcheiden ſich die volksthümlichen Lieder in drei
Gruppen:
in ſolche, die ohngeachtet ihrer allgemein faßbaren Form
dennoch einen beſonderen Inhalt in beſonderer Weiſe dar—
ſtellen;
in ſolche, die nur die Allgemeinheit des Volksgemüths zum
Inhalt haben und endlich
in ſolche, die nur der abſichtsloſen Luſt am Geſange Befrie—
digung gewähren.
Wir beginnen mit den Liedern der zweiten Gattung, weil ſie
ſich am innigſten an das Volkslied anſchließen. An ſie wird ſich
dann leicht die erſtere, ihrer näheren Verwandtſchaft mit dem Kunſt⸗
liede wegen, anreihen laſſen.
Die dritte Gattung wird uns weniger beſchäftigen, weil ſie
geringe Bedeutung hat und weil wir in dem Kapitel: „Noble
Bänkelſänger“ ſpecieller ihrer gedenken müſſen.
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Die Hauptvertreter jener zweiten Gattung des volksthümlichen
Liedes ſind:
Johann Adam Hiller, a
Johann Abraham Peter Schulz,
Peter von Winter,
Joſeph Weigl,
Anſelm Bernhard Weber,
Johann Andrée,
Friedrich Heinrich Himmel,
Hans Georg Nägeli,
Conradin Kreutzer,
Friedrich Schneider;
und in einzelnen Liedern:
Carl Heinrich Graun,
Joſeph Gersbach,
Guſtav Reichardt,
Chriſtian Gottlob Neefe,
Auguſt Pohlenz,
Friedrich Burchard Beneken,
Friedrich Silcher,
Albert Methfeſſel und
August Neithardt.
Der Bildungs- und Lebensgang Johaun Adam Hiller's
führte ihn früh auf jene, bereits characteriſierte und im Volke
ſchon außerordentlich lebendige, volksthümliche Weiſe der Lied—
compoſition und machte ſie zur Grundlage ſeines geſammten künſt—
leriſchen Wirkens. Er iſt am 25. December 1728 zu Wendiſch—
Oſſig, einem Dorfe in der Oberlauſitz, geboren, und ſeine Erziehung
zur Muſik entſpricht ganz der Art und Weiſe ſeiner Zeit, die wir
oben darzuſtellen verſuchten. In ſeinem ſechsten Lebensjahre verlor
er ſeinen Vater, der Schullehrer in dem genannten Orte war, und
ſein Nachfolger im Amte unterrichtete den, nun in noch drückendere
Armuth verſetzten Knaben in den Anfangsgründen des Clavier- und
Violinſpiels. Seine gute Sopranſtimme verſchaffte ihm Aufnahme
in das mit dem Gymnaſium in Görlitz verbundene Singechor und
hiermit zugleich die Gelegenheit zur Vorbereitung für die Univer—
ſität. Daneben war er eifrig bemüht, ſich auf mehreren Inſtru—
menten zunft- und handwerksmäßig nach der Weiſe ſeiner Zeit zu
—
9
unterrichten und in dem neu errichteten Collegium musicum ſpielte
er den Baß, machte auch ohne Kenntniß der Setzkunſt ſchon
Verſuche in der Compoſition. Seine große Armuth zwang ihn
mehrmals als Schreiber Dienſte zu ſuchen und eine Stelle an der
Kreuzſchule in Dresden anzunehmen, ehe er 1751 die Univerſität
bezog, um ſich zum Juriſten auszubilden.
In Dresden wurde Homilius ſein Lehrer auf dem Clavier
und im Generalbaſſe. Einflußreicher noch als dieſer Unterricht
wurde für ihn das Studium der Werke jener beiden Meiſter, welche
damals das ganze öffentliche Muſiktreiben beherrſchten, Haſſe und
Graun. Mit einem ſeine Geſundheit zerſtörenden Eifer wandte
er ſich ihm zu und ihm verdankt er zumeiſt die Kenntniß der wir—
kungsreichen Mittel, welche ſeine Popularität begründen. Auch in
Leipzig, wo in dem Verkehr mit Gottſched und Gellert das
volksthümliche Element in ihm erneute Nahrung erhielt, trieb er
jetzt noch Muſik nur zur Erholung und als Broderwerb. Ein
kurzer Aufenthalt im Hauſe des ſächſiſchen Miniſters Grafen Brühl
als Informator des jungen Grafen wurde entſcheidend für ſein
ferneres Leben. Das Unglück, welches der bald darauf ausbrechende
ſiebenjährige Krieg über dies Haus brachte, verdüſterte ſeinen Sinn,
ſo daß er ſich Jahre lang am Rande des Grabes glaubte. Er
lebte, nachdem er 1760 ſeine Stellung und Penſion aufgegeben,
in ſtiller Zurückgezogenheit mit Ueberſetzungen beſchäftigt, bis er die
Direction des in Leipzig nach dem Kriege errichteten wöchentlichen
Concerts übernahm. Hier war er namentlich für Förderung des Ge—
ſanges thätig und zwei ſeiner Schülerinnen: Coronna Schröter
und Gertrud Schmähling, die nachmalige Mara, erwarben
ſich europäiſchen Ruf. Wichtiger indeß iſt, daß er jetzt auch jene
Werke ſchrieb, welche ſeine Bedeutung für die Kunſtgeſchichte und
ſpeciell für das Lied entſchieden. Der Director des Leipziger
Theaters Koch verlangte Operetten nach der damaligen, in Frank—
reich beliebten Weiſe des Vaudeville, und Felix Weiſe, der
bekannte Verfaſſer des „Kinderfreundes“ und unſer Hiller ent—
ſprachen dieſem Verlangen. Jener lieferte die Texte und Hiller
componierte ſie und zwar dem Bedürfniß der Sänger, die nur
Liederartiges ausführen konnten, nicht weniger entſprechend, als dem
des Publikums, das nur derartiges wünſchte. Das erſte Stück
dieſer Art war „Die verwandelten Weiber“ und das Lied: „Ohne
Reißmann, deutſches Lied. 7
„
8
Lieb und ohne Wein“ wurde, wol das erſte derartige volksthümliche
Lied, bald ein Lieblingslied des deutſchen Volkes. Dieſem Lieder—
ſpiel folgten bald: „Der luſtige Schuſter,“ „Lottchen am Hofe“
und „Die Liebe auf dem Lande.“ Den durchgreifendſten Erfolg
errang indeß: „Die Jagd“ und das Lied Röſen's aus dieſem
Singſpiel: „Als ich auf meiner Bleiche“ hat nicht nur dieſe
Operette, ſondern vielleicht die ganze Gattung lange überlebt.
Wir würden auf Wiederholungen geführt werden, wollten wir
die Weiſe Hiller's näher ausführen. Sie entſpricht ſo vollſtändig
der des volksthümlichen Liedes im Allgemeinen, daß nur in wenigen
Andeutungen darauf zurückzuweiſen iſt. Das ganze Muſikempfinden
Hiller's iſt von vornherein mit jenen knappſten Ausdrucksmitteln
ſo eng verwachſen, daß er unwillkürlich nach ihnen greift und ſeine
geſammten Lebensſchickſale waren nicht geeignet, ihn darüber hinaus—
zuführen. Er ſingt ſeine Melodien aus dem beſchränkteſten har—
moniſchen Material, Tonika und Dominante heraus und in feſtem
Anſchluß an das Sprachmetrum. Aber, indem er dieſe beiden
Angelpunkte der Tonart in immer intereſſantem Wechſel, oft in
zierlicher Verſchlingung einführt und ſie meiſt durch die leicht und
ſicher geführte Melodie zu Zielpunkten macht, verfällt er eigentlich
nirgend jenem Bänkelſängerton, der ſpäter ſich aus dieſer Geſangs—
weiſe entwickelte. Seine Lieder behalten, trotz ihrer großen Dürf—
tigkeit, doch immer ein gewiſſes künſtleriſches Gepräge. Ein
tieferes Erfaſſen feiner Texte war auch kaum möglich. Da, wo er
es verſucht, wie z. B. in einigen der: „Sammlung der Lieder aus
dem Kinderfreunde,“ Leipzig 1782., konnte es nur in der, auf
Aeußerlichkeiten ausgehenden Weiſe Graun's geſchehen. Dieſer
Eigenthümlichkeit ſeines Weſens entſpricht auch ſeine Stellung zur
geſammten übrigen Kunſt und zu deren Erzeugniſſen. Im Jahre
1771 hatte er in Leipzig eine Geſangſchule für Knaben und Mäd—
chen errichtet, mit der er 1775 das Concert ſpirituell gründete und
die Concerte im Gewandhauſe 1781 eröffnete. Hier, wie in den
Aufführungen, die er in Berlin 1786 und in Breslau 1787 ver—
anſtaltete, wie ſpäter von 1789 an in feiner Stellung als Thomas—
cantor ſind es neben dem „Tod Jeſu“ von Graun, die Händel—
ſchen Oratorien, denen er ſich mit beſonderem Eifer zuwandte,
Bach und Gluck entſchieden vernachläſſigend. Beide imponierten
ihm wol durch die Größe ihrer Erſcheinung, aber er fühlte viel zu
— ce
ur u
ö
wenig Verwandtes mit ihnen in ſich, um ſie auf ſein Programm
zu nehmen, und daß er ſpäter die beiden Haydn lieb gewann und
ſchon in den, „von 1766 — 70 von ihm herausgegebenen wöchent—
lichen Nachrichten“, dem aufſteigenden leuchtenden Geſtirn Mo—
zart mit Intereſſe folgt, dürfte auf die gleichen Urſachen zurück—
zuführen ſein. Er ſtarb am 16. Juni 1804, und wie groß ſeine
Verdienſte um Leipzigs öffentliches Muſikleben ſein mußten, bewies
die allgemeine und tiefe Trauer über ſeinen Tod. Ein bleibendes
Denkmal in der Kunſtgeſchichte ſetzte er ſich mehr als durch ſeine
Werke in der Wiedererweckung der Händel'ſchen Oratorien in
Deutſchland durch jene oben erwähnten Aufführungen.
Hiller wurde durch Naturell, Bildungs- und Lebensgang
auf das volksthümliche Lied geführt; ſein unmittelbarer Nachfolger
auf dieſem Gebiete:
Johann Abraham Peter Schulz, wandte ſich ihm zu
mit Abſicht und Bewußtſein, wie wir aus dem mitgetheilten Vor—
bericht erſahen.
Er iſt am 30. März 1747 zu Lüneburg geboren. Sein Vater
hatte ihn für den geiſtlichen Stand beſtimmt und ſo wurde es ihm
unendlich ſchwer, von dieſem die Erlaubniß zu erwirken, ſich der
geliebten Kunſt widmen zu dürfen. 1762 durfte er nach Berlin
gehen, um bei Kirnberger, dem damals berühmten Lehrer des
Contrapunktes Muſik zu ſtudieren. Sechs Jahre blieb er hier und
genoß nicht nur den Unterricht, ſondern nahm auch an den theo—
retiſchen Unterſuchungen ſeines Meiſters regen und ſelbſtthätigen
Antheil, und legte ſo den Grund zu einer tiefen, weitumfaſſenden
Gelehrſamkeit.
Nicht minder wichtig wurden die nächſtfolgenden fünf Jahre
für ſeine künftige Stellung innerhalb der Kunſt. Im Jahre 1768
bot ſich ihm die Gelegenheit, im Gefolge der polniſchen Fürſtin
Sapieha eine Reiſe durch Frankreich und Italien, und ſpäter durch
Polen und Oſtpreußen zu machen und dieſe Reiſe, von welcher er
erſt 1773 wieder nach Berlin zurückkehrte, gewährte ihm einen
weiten Blick in die Muſikzuſtände dieſer Länder. Bei feiner Rück⸗
kehr waren Kirnberger und Sulzer mit der Herausgabe der
„Theorie der ſchönen Künſte“ beſchäftigt und Schulz übernahm
die Ausarbeitung der noch fehlenden muſikaliſchen Artikel. Daneben
componierte er noch unter dem Einfluſſe Kirnbergers Motetten,
7 *.
— 100 —
Chorgeſänge, deutſche Lieder und Clavierſtücke. 1776 übernahm
er die Direction des neu errichteten Orcheſters am franzöſiſchen
Theater in Berlin und gieng, in Folge der Auflöſung desſelben,
1780 als Kapellmeiſter des Prinzen Heinrich nach Rheinsberg.
Hier ſchrieb er neben den oben angeführten Liedern und Geſängen
mehrere Werke für die Bühne, wie: die Chöre und Geſänge zu
Racine's Athalia (1785), das Melodram „Minona“ oder „Die
Angelſachſen“ (1786) und zwei franzöſiſche Opern.
Sein entſchiedener Hang zum Volksthümlichen ſpricht ſich in
allen dieſen größeren Werken aus. Nach dieſer Seite entwickelte
ſich die Individualität des Künſtlers indeß vollſtändig erſt in Kopen—
hagen, wohin er 1787, einem ehrenvollen Rufe folgend, als Hof—
kapellmeiſter gieng. Durch die Schrift: „Ueber Bildung des Volkes
und über Einführung der Muſik in die däniſchen Schulen“, ver—
ſchaffte er zunächſt feinen Ideen über die Muſik als Bildungsmittel
Eingang und nun war er eifrig bemüht, volksbildende Muſik zu
ſchreiben. Seine Opern, wie „Aline“ und ſeine Oratorien:
„Johannes und Maria“ und „Chriſti Tod,“ wie ſein Singſpiel:
„Das Erndtefeſt“ ſind alle in dieſem Sinne geſchrieben, und in
dem gleichen Streben veröffentlichte er mehrere Schriften für das
Volk, wie auch für die Kunſtverwandten.
Es iſt anzunehmen, daß Schulz durch die gleichen Beſtrebungen
einer Anzahl Männer in Deutſchland, die ſich um den Berliner
Buchhäudler Friedrich Nikolai, den Herausgeber der „Allge—
meinen deutſchen Bibliothek“ ſchaarten, um Aufklärung und das
Princip des Gemein-Nützlichen zu verbreiten, angeregt worden war.
Daß er aber nicht, wie dieſe, lächerlich und philiſterhaft wurde,
dankt er ſeiner reichen Muſikbildung und ſeiner wirklich poetiſchen
Natur. Wir kommen ſpäter auf die Beſtrebungen dieſer Männer
zurück.
1795 mußte Schulz, in Folge ſeiner bedeutend angegriffenen
Geſundheit, ſeinen Abſchied nehmen; er kehrte nach Deutſchland
zurück und ſtarb am 10. Juni 1800 zu Schwedt.
Mit jedem der beiden Meiſter des volksthümlichen Liedes,
Hiller und Schulz, beginnt eine eigeuthümliche Richtung
desſelben.
Hiller wurde auf das volksthümliche Lied durch ſeine durch—
aus nur dilettantiſche Muſikbildung, geführt, während Schulz
— 11 —
gerade durch feine tiefe und umfaſſende Muſikbildung befähigt wurde,
das Bedürfniß des Volkes zu erkennen und ihm zu dienen. Jener
konnte, dieſer wollte nichts anderes, als volksthümlich ſchreiben,
und jedem der beiden Sänger des volksthümlichen Liedes haben ſich
eine große Menge Nachfolger angeſchloſſen, die alle die gleichen
Ausgangspunkte haben.
Schulz wollte, wie er ſelbſt ſagt, durch ſeine Melodien gute
Liedertexte allgemein bekannt machen, und ſah hierin den Endzweck
des Liedercomponiſten. Es kann hier um ſo weniger der Ort ſein,
die Einſeitigkeit eines ſolchen Standpunkts darzulegen, gls dieſe durch
die ganze bisher und weiter verfolgte Entwicklung des Liedes von
ſelbſt klar heraustreten dürfte. Für ſeine Zeit war er indeß ein
ganz berechtigter und nothwendiger. Nachdem die deutſche Lieder—
dichtung faſt durch zwei Jahrhunderte hindurch in tändelnde und
ſpielende Reimerei ausgeartet war, erhoben ſie in den ſiebenziger
und achtziger Jahren die Dichter des Göttinger Hainbundes: Boie,
Bürger, Claudius, Hölty, Miller, Overbeck, die beiden
Stolberge, Voß u. A., nicht nur zu größerer poetiſchen Bedeu—
tung, ſondern gaben ihr auch erſt wieder die Möglichkeit einer
allgemeinen und weiten Verbreitung. Aus dieſem Dichterkreiſe
giengen Lieder hervor, die, weil ſie ſich an das Volkslied anlehnten
und es nachzuahmen trachteten, der weiteſten Verbreitung werth
waren. In den höhern Ständen wurde dieſe durch die, ſeit 1770
erſcheinenden Muſen-Almanache ermöglicht, in den niedern aber
waren die Lieder erfolgreich nur mit der Melodie zu verbreiten.
Daher dichteten die Poeten ihre, als fliegendes Blatt „gedruckt in
dieſem Jahr“ zu verbreitenden Lieder nach Volksweiſen, oder ſie
trugen möglichſt Sorge für die muſikaliſche Compoſition. In dieſem
Sinne nun wirkte Schulz treuer und nachhaltiger, als irgend ein
anderer. Eine Menge ſeiner Lieder, wie: „Blühe liebes Veil—
chen,“ „Seht den Himmel wie heiter,“ „Süße heilige Natur,“
„Warum ſind der Thränen,“ „Hurre, hurre, hurre!“ „Klipp
und klapp,“ „O der ſchöne Maienmond,“ „Der Mond iſt aufge—
gangen,“ „Wonne ſchwebt, lächelt überall,“ „Herr Bachus iſt ein
braver Mann,“ „Mädel ſchau mir ins Geſicht,“ „Ich will einſt
bei Ja und Nein,“ ſind lauge Jahre in allen Gauen Deutſchlands
und in allen Kreiſen der Geſellſchaft geſungen worden, und noch
heute ſind viele der erſtgenannten Lieblingsgeſänge der Jugend; das
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aber iſt bezeichnender, als alles andere für ihre eigenthümliche
Stellung. Der Jugend imponiert nur, was friſch und lebensfähig
iſt, wie ſie ſelber, und friſch und lebensfähig ſind die Lieder
Schulz's fait alle. Vom Hiller'ſchen volksthümlichen Liede
unterſcheiden ſie ſich melodiſch und rhythmiſch. Schulz ſingt
ſeine Lieder aus demſelben einfachſten harmoniſchen Apparat heraus,
aber weil ihm dieſer ungleich geläufiger iſt, als er Hiller ſein
konnte, erheben ſich ſeine Melodien ſchwunghafter, freier und unbe—
engter von der harmoniſchen Unterlage, als die Hiller's, und
nach dem Maße ſeiner bedeutenderen Bildung erweiterten ſich ihm
auch die rhythmiſchen Darſtellungsmittel des Sprachmetrums, dem er
mit ungleich größerer Treue nachgeht, als Hiller. Bei dieſem iſt
der Rhythmus nicht ſelten ein monotones Geklingel, bei jenem faſt
immer ein feinſinnig gegliedertes Gefüge. Das, was in die Ohren
des Volkes geht, hatte Schulz dem Volksliede außerordentlich treu
abgelauſcht; mehr freilich auch nicht, das beweiſen ſeine Melodien
zu Bürger's „Molly-Liedern“ oder die Compoſitionen von
Hölty's „Schwermuthsvoll und dumpfig hallt Geläute“ und
mehreren Liedern der Stolberge, die alle ſchon mehr ſubjek—
tives Gepräge haben, wofür Schulz keine Ausdrucksmittel mehr
beſaß.
Der Hiller'ſchen Weiſe ſchloſſen ſich am innigſten Fer di—
nand Kauer und Wenzel Müller an. Beide wandten ihre
Hauptthätigkeit dem Wiener Volkstheater zu, wodurch ihre eigen—
thümliche Richtung von vorn herein beſtimmt wurde.
Ferdinand Kauer wurde 1751 zu Klein-Taya in Mähren
geboren und ſtarb in größter Dürftigkeit 1831 in Wien. Sein
„Donauweibchen“ mit dem: „In meinem Schlößchen iſts gar
fein“ gehört zu den weitverbreitetſten Volksſtücken in Deutſchland.
Größeren Erfolg errang noch Wenzel Müller, geboren am
26. Septbr. 1767 zu Türnau in Mähren und geſtorben am
3. Auguſt 1835 zu Wien. Seine, mit dem Volksdichter Ferdi—
nand Raimund verfertigten Liederſpiele: „Der Alpenkönig und
Menſchenfeind,“ „Der Verſchwender,“ „Der Bauer als Millionär“
und die von Pirinet gedichteten: „Die Schweſtern von Prag“
und „Das neue Sonntagskind“ erfreuen ſich noch heute der Gunſt
des Publikums, wenn auch die Lieder daraus: „Die Katze läßt das
Mauſen nicht,“ „Ich bin der Schneider Kakadu,“ „Brüderlein
— 103 —
fein! Mußt ja nicht ſo böſe ſein!“ „So mancher ſteigt herum,“
„Da ſtreiten ſich die Leut' herum,“ „Ach die Welt iſt gar ſo
freundlich,!“ „Ach wenn ich nur kein Mädchen wär,“ „So leb'
denn wohl du ſtilles Haus“ und „Wer niemals einen Rauſch
gehabt“ nicht mehr ſo lebendig im Volke fortleben, wie ſonſt. Der
muſikaliſche Bildungsgang der beiden genannten Volkstondichter ent—
ſpricht ganz dem unſers Hiller. Allein ihm führte das Studium
Graun's und Haſſe's noch mancherlei andere künſtleriſche
Mittel zu, die jenen beiden wol ewig fremd blieben und die ernſte
Beſchäftigung mit den Werken der echten Kunſt, zu welcher ihn
feine öffentliche Thätigkeit in Leipzig veranlaßte, hielt ihn immer
über dem Niveau der bloßen Bänkelſängerei, unter welches jene
beiden oft herabſanken. Die eigentliche Oper war Wenzel Müller
ſo fremd, daß er ſeine Stellung als Director der Prager Oper,
die er im Jahre 1808 antrat, 1813 wieder aufgab, um zurück
nach Wien an die Leopoldſtadt, ſeine eigentliche Sphäre, zu gehen.
Weniger durch Naturell und Bildung, als durch Laune oder
äußere Einflüſſe angeregt, cultivierten noch zwei dramatiſche Ton—
dichter in einzelnen Werken das volksthümliche Element: Peter
von Winter und Joſeph Weigl.
Peter von Winter wurde 1754 geboren und bildete ſich
früh zum trefflichen Violinſpieler aus. Seine contrapunktiſchen
Studien waren und blieben ſehr dürftig. Als er ſpäter unter
Salieri ernſtlich die Tonſetzkunſt ſtudierte, führte ihn dieſer bald
in die italieniſche Weiſe der dramatiſchen Muſik ein, und ihr iſt er
vorwiegend treu geblieben, ſelbſt in dem „Unterbrochenen Opfer—
feſt,“ welches namentlich in einzelnen melodiſchen Phraſen, wie:
„Wenn mir dein Auge ſtrahlet,“ „Ich war, wenn ich erwachte“
und „Im Arm der Liebe ruht ſich's gut“ das meiſte Volksthümliche
enthält. a
Auch Joſeph Weigl war ein Schüler Salieri's, doch
ſcheinen bei ihm die deutſchen Einflüſſe entſcheidender und nach—
haltiger geweſen zu fein, als die italieniſchen. Das eine Werk zum
mindeſten, und zwar das einzige, wodurch er ſich zum volksthüm—
lichen Tondichter machte: „Die Schweizerfamilie“ und namentlich
das Duett: „Setz dich liebe Emmeline“ und die Arie (volksthüm—
liches Lied): „Wer hörte wohl jemals mich klagen?“ find unmittel-
barer aus dem geſaͤmmten Volksempfinden herausgeſungen. Jene
— 104 —
Winter 'ſchen volksthümliche Geſänge find daher auch mehr in
Clavierarrangements verbreitet geweſen, während die Weigl's
fleißig geſungen wurden. Weigl wurde am 28. März 1766 zu
Eiſenſtadt in Ungarn geboren. Anfangs für das Studium der
Jurisprudenz beſtimmt, widmete er ſich ſpäter ganz der Tonkunſt
und wandte ſeine Thätigkeit gleichfalls vorherrſchend der Bühne zu.
Eine große Menge von Opern, Operetten und Balletten, Oratorien
und Cantaten, neben einigen Kirchenwerken und kleineren Ton—
ſtücken ſind Zeugniſſe ſeines geſchäftigen Fleißes, doch errang keines
dieſer Werke auch nur noch die Bedeutung der „Schweizerfamilie.“
Er ſtarb am 3. Februar 1843 zu Wien.
Bereits früher wurde darauf hingewieſen, daß das volks-
thümliche Lied der geſammten Muſikentwicklung folgt, daß es
ſich aus ihren Elementen fortwährend zu erneuen ſucht. Der erite,
in dem dies in der durch Hiller eingeſchlagenen Richtung ent—
ſchiedener zu Tage tritt, iſt
Friedrich Heinrich Himmel, 1765 zu Treuenbrietzen im
Brandenburgiſchen geboren. Auch er trieb Muſik Anfangs nur
dilettantiſch in ſeinen Erholungsſtunden und erſt durch den König
Friedrich Wilhelm II. wurde er bewogen, das Studium der Gottes—
gelahrtheit, für welches er ſich entſchieden, aufzugeben und unter
Naumann, dem ſeiner Zeit hochberühmten Operncomponiſten in
Dresden, Muſik zu ſtudieren. Naumann dürfte der letzte ent—
ſchiedene Vertreter jener ſogenannten „galanten Schreibart“ ſein,
die durch Prätorius und Schütz in Deutſchland eingeführt
wurde und hier bald derartig das Bürgerrecht erlangte, daß jeder
ſtrebende Muſiker, wollte er irgendwie zu Bedeutung gelangen, die
galante Schreibart in Italien ſelbſt erlernen mußte. Auch Nau—
mann hatte ſie dort gelernt und geübt, aber zu einer Zeit, in
welcher durch ſie ſchon die Macht der urſprünglichen italieniſchen
Cantilene gebrochen und die Melodie in ſaftloſen Schnörkeln und
Verbrämungen untergangen war. So übte ſie Naumann und
überlieferte er ſie ſeinem Schüler und in dieſem trieb ſie eine neue
Weiſe des volksthümlichen Liedes. Das im Ganzen feſte Gefüge
des Hiller 'ſchen Liedes wird aufgelöſt und mit jenem neuen frem—
den Element verſetzt. In jenem ſind noch Melodie und Harmonie
ziemlich eng verbunden und darum ſchwer zu trennen, in dieſem
fallen beide ſchon auseinander. Die Melodie tritt ſo dominierend
—
— IM
auf, daß die Harmonie nichts weiter als dürftige Unterlage bildet,
und ſie ſelbſt ihren eigentlichen Charakter und feſte Conſtruction
verliert. Auch die Hiller'ſche Melodie erfaßt Text und Stimmung
eigentlich wenig und nur ganz oberflächlich, aber in dem ſichern
Anſchluß an das Wort und das Sprachmetrum, bei einheitlichem
Zuge der Melodie, bildet ſich dieſer doch ein ganz beſtimmter
Charakter an. Davon iſt jetzt kaum noch die leiſeſte Spur. Alle
Melodien dieſer Richtung haben faſt unterſchiedloſes Gepräge, daß
man ſie beliebig verwechſeln könnte. Sie ſetzen ſich nur aus ein—
zelnen Phraſen zuſammen, höchſtens mit Berückſichtigung der Reim—
zeilen. Es gilt dies noch weniger von den Liedern aus Himmel's
„Fanchon“: „Es kann ja nicht immer ſo bleiben“ und „Die Welt
iſt nichts, als ein Orcheſter,“ die noch der Hiller'ſchen Weiſe
entſprechen. Aber ſchon: „An Alexis ſend ich dich“ ſteht ſo hart
an der Grenze, daß es mehr jener letztern Gattung des volks—
thümlichen Liedes angehören dürfte.
Mit den Geſängen aus Tiedge's „Urania,“ welche der
Königl. Preuß. Hofkapellmeiſter und Kammercompoſiteur in der
Vorrede für ſein liebſtes Werk erklärt, beginnt die höhere Cultur
des volksthümlichen Liedes unter empfindſamen Schreibern, gebildeten
Schneidergeſellen und gefühlvollen, nicht mehr zu jungen und
guitarreſpielenden Jungfrauen. Die Melodie des: „Mir auch war
ein Leben aufgegangen“ wurde der Typus für eine unendliche
Reihe volksthümlicher Lieder, die ſich in jenen Kreiſen bis in die
jüngſte Zeit erhalten haben, während ſie in den höhern gar bald
von anderen verdrängt wurden. Wir kommen, wie ſchon bemerkt
auf dieſe Erſcheinungen ſpäter noch zurück.
Poſitiv Bedeutenderes lieferte jene zweite Reihe, die ſich an
J. A. P. Schulz anſchließt. Die Sänger jener Gruppe find vor-
wiegend dilettantiſch, dieſe mehr handwerksmäßig, aber tüchtig
durchgebildete Muſiker. |
Wir nennen zuerſt
Bernhard Auſelm Weber, zu Mannheim 1766 geboren.
Auch er war urſprünglich für den geiſtlichen Stand beſtimmt, folgte
aber ſeinem natürlichen Drange und wurde Muſiker. Durch ener—
giſche Studien unter Abt Vogler's Leitung, wie durch das eigne
tudium der Händel' ſchen und Gluck'ſchen Opern bildete er
ſich zu einem echt deutſchen Meiſter volksthümlicher Muſik. Seine
— WW —
Muſik zu den Schiller’fchen Dramen, die er meift für die Ber—
liner Bühne ſchrieb, iſt weder tief noch originell, aber echt deutſch,
und ſein: „Mit dem Pfeil und Bogen“ könnte auch von J. A. P.
Schulz componiert ſein.
Ganz im ſelben Geiſte find mehrere feiner Geſänge mit
Pianofortebegleitung erfunden, ebenſo die melodramatiſche Bear—
beitung von Schiller's: „Gang zum Eiſenhammer.“ Er ſtarb
am 23. März 1821 als Königl. Kapellmeiſter in Berlin.
Treuer noch und erfolgreicher war nach derſelben Richtung
Hans Georg Nägeli, ein geborner Schweizer, thätig.
Im Jahre 1793 gründete er eine Muſikalienhandlung in Zürich
und von dieſer Zeit an war er mit regem Eifer bemüht, volksthüm—
lichen Geſang zu verbreiten. Von ſeinen eigenen Liedern hat
namentlich das Lied: „Freut euch des Lebens“ die weiteſte Ver—
breitung gefunden. Größere Verdienſte um die Verbreitung dieſer
Liedgattung erwarb er ſich durch ſeine Beſtrebungen um Organi—
ſation der Männergeſangvereine in der Schweiz, jener Vereine, die
auch bald in dem geſammten übrigen Deutſchland die Pflege des
volksthümlichen Liedes übernehmen ſollten.
Wir haben bereits eines philologiſch-muſikaliſchen Kränzchens
in Frankfurt gedacht, und G. W. Fink giebt in der Leipziger
Allgemeinen Muſik-Zeitung (1832. No. 43.) von einem Männer-
geſangvereine Nachricht, der 1673 in Greiffenberg in Hinter:
pommern in Blüthe ſtand. Doch erſt mit der wachſenden Ver—
allgemeinerung der Muſikbildung ſcheinen dieſe Vereine zu größerer
Bedeutung für die öffentliche Muſikübung gelangt zu ſein.
In Marpurg's hiſtoriſch-kritiſchen Beiträgen finden wir
Notizen über mehrere Muſik-Geſellſchaften Berlins, wie über die
Academie, welche ſich bei dem königl. Kammermuſikus Janitſch
aller Freitage verſammelte. Die Aſſemblee fand alle Montage
bei dem Königl. Kammermuſikus Schale jtatt. Beide ſcheinen
indeß vorwiegend die Inſtrumentalmuſik gepflegt zu haben. Vocal—
Muſik wurde auch in dem, bei dem Königl. Kammermuſikus
Agricola, Sonnabend ſtattfindenden Concert geübt. Größere
Bedeutung ſcheint indeß erſt die ſogenannte Muſik übende Ge—
ſellſchaft, welche, durch den Kammermuſikus Sack angeregt,
1749 ins Leben trat, gewonnen zu haben. Oben genannte Blätter
geben Nachricht von einer öffentlichen Aufführung von Graun's
*
— 107 —
„Tod Jeſu,“ welche dieſe Geſellſchaft im Dom veranſtaltete. Aus—
ſchließlich Geſang, und zwar Anfangs Geſang ohne Inſtrumental—
begleitung übte der, von dem Königl. Kammermuſikus Carl Faſch
im Jahre 1789 gegründete Dilettantenverein, der bis zum Jahre
1792 ſchon eine ſolche Ausdehnung gewonnen hatte, daß ihm ein
Saal in dem Academie-Gebäude eingeräumt wurde und die Geſell—
ſchaft ſich als Berliner Singacademie conſtituierte. Nach
ihrem Muſter verbreiteten ſich bald über ganz Deutſchland ähnliche
Vereine, und ſie haben für Verbreitung einer tieferen muſikaliſchen
Bildung unendlich viel gewirkt. Seit faſt hundert Jahren vermitteln
ſie dem größern Publikum die Bekanntſchaft mit den bedeutendſten
und großartigſten Werken aller Länder und aller Zeiten und zwar
nachhaltiger und durchgreifender, als dies alle die, von der Laune
Einzelner abhängigen Inſtitute je thun konnten. Die rege Theil—
nahme, die in allen Streifen ſich ihnen zuwandte und fortwährend
im Wachſen iſt, iſt das beſte Zeugniß für ihre Nothwendigkeit in
dem geſammten Kunſtleben der Nation.
Neben dieſen Vereinen nun, die ſich vorherrſchend mit den
höchſten Erzeugniſſen der Kunſt beſchäftigten, entſtanden bald jene,
welche die, mehr auf behagliche Ausſchmückung, auf den Comfort
des Lebens berechneten Kunſterzeugniſſe cultivierten. Die Männer-
geſangvereine nahmen früh ſchon einen mehr geſelligen Charak—
ter an, die Schweizer-Vereine weniger noch, als die nord—
deutſchen.
Die ſchweizeriſchen Männergeſangvereine giengen aus dem
unmittelbaren Bedürfniß des Volkes hervor. Bereits am Anfange
dieſes Jahrhunderts war es üblich, daß die, zur Landsgemeinde
ziehenden Appenzeller bei ihrer Ankunft auf dem Landsgemeindeplatz
als Gruß ein altes ſchweizeriſches Lied ſangen. Es bildeten ſich
meiſt kurz vor dem Tage, dem letzten Sonntage im April, an
welchem die Landsgemeinde ſtattfand, einzelne Geſellſchaften, welche
ſich zu dem angegebenen Zweck Lieder einübten, und nach beendeter
Landsgemeinde wieder auseinander giengen bis der Pfarrer Weis—
haupt in Wald auf den Gedanken kam, die einzelnen Geſellſchaften
zur gemeinſchaftlichen Ausführung ein und desſelben Liedes zuſam—
men zu faſſen. Der Gedanke fand großen Anklang, und bald gab
die Landsgemeinde nicht mehr genügende Gelegenheit für Bethäti—
gung der Geſangesluſt; es wurde die Feier von Sängerfeſten
— 108 —
beſchloſſen und 1818 damit in Appenzell begonnen. Dies gab den
äußern Anſtoß, daß ſich die einzelnen Sängergeſellſchaften zu feſten
Vereinen verbanden. Anfangs war es der ein-, höchſtens der
zweiſtimmige Geſang, der in den erſten Süngergeſellſchaften zur
Landsgemeinde geübt wurde, bis Nägeli ums Jahr 1810 den
vierſtimmigen Männergeſang einzubürgern begann, wie wenig zum
Vortheil der Vereine ſelbſt, werden wir ſpäter einſehen lernen.
Die Geſchichte der norddeutſchen en
vereine iſt weſentlich verſchieden von jener.
Hier gab Carl Friedrich Zelter, der Nachfolger von
Faſch als Director der Singacademie, den erſten Anſtoß. Einzelne
Mitglieder der Singacademie verſammelten ſich zeitweilig zur Aus—
führung von Männergeſängen, und bei Gelegenheit eines Abſchieds—
mahles, das dieſe einem ſcheidenden Freunde gaben, kam Zelter,
der Freund Göthe's, auf die Idee, eine Liedertafel, nach Art
von König Arthur's Tafelrunde, zu gründen und ſchon im Decem—
ber 1808 wurde ſie ausgeführt; Zelter wurde Meiſter, der
Dichter Bornemann Tafelmeiſter.
Aus einem Briefe Zelters an Göthe erſehen wir, daß die
Geſellſchaft aus 25 Mitgliedern beſtand, die ſich monatlich einmal
bei einem Abendmahl von zwei Gerichten verſammelten und an
gefälligen, deutſchen Geſängen vergnügten.
Die Mitglieder mußten entweder Dichter, Sänger oder Com—
poniſten ſein, und alles „was ſie auf die Tafel brachten,“ mußte
eben geſungen werden. Das Neueſte machte in der Regel den
Anfang und Dichter und Componiſten konnten verlangen, daß das
Lied ſo oft wiederholt wurde, bis ſie glaubten, daß es gut vorge—
tragen und verſtanden war. Erlangte es Beifall, ſo gieng eine
Büchſe herum, in welche Jeder nach dem Grade ſeines Beifalls
einen oder mehrere Groſchen warf, die dann an der Tafel aus—
gezählt wurden. Fand ſich darin ſo viel, daß eine ſilberne Medaille,
einen Thaler an Werth, bezahlt werden konnte, ſo wurde ſie dem
Verfaſſer des Liedes vom Meiſter überreicht. Hatte ein Mitglied
zwölf ſolcher Medaillen errungen, ſo erhielt er eine goldene Medaille,
25 Thaler an Werth und wurde auf Koſten der Geſellſchaft
bewirthet.
Die Einrichtung dieſer Liedertafel zeigt kaum eine Spur von
Aehnlichkeit mit jenen ſchweizeriſchen Männergeſangvereinen. Die
2
— 109 —
Berliner Liedertafel war eine Vereinigung von Männern der Kunſt,
die im geſellſchaftlichen Verkehr Anregung und Genuß ſuchten;
die Schweizer-Vereine beſtanden ausſchließlich aus Männern des
Volkes und der niedern Stände, die im Geſange das einigende
Band ſahen, und ſeine befruchtende Macht, wenn auch nicht gleich
erkannten, doch ahnten. Dort machte nur künſtleriſche Befähigung,
hier einzig die Luft zum Geſange beitrittsfähig. Nach dem Muſter
der Zelter’fchen Liedertafel entſtanden ähnliche in Frankfurt a. O.
und in Leipzig, beide unter denſelben Beſchränkungen.
Die Freiheitskriege und ihre nächſten Folgen brachten auch
hier eine Umgeſtaltung hervor. Die Zelter'ſche Liedertafel durfte
die urſprüngliche Zahl ihrer Mitglieder nicht überſchreiten und ſo
wurde 1819 am 24. April durch Ludwig Berger und Bern—
hard Klein die jüngere Liedertafel gegründet, die jene
Abgeſchloſſenheit aufgab, und die Hauptbedingung der Mitgliedſchaft
nur in der Geſangesfähigkeit ſah. Ihr folgten raſch ähnliche
Vereine in Königsberg, Breslau, Magdeburg, Deſſau,
Hamburg und andern Städten, und gegenwärtig ſind Lieder—
tafeln, Männergeſangvereine und Liederkränze über ganz Deutſch—
land verbreitet. |
Dieſe Vereine konnten und mußten das volksthümliche Lied
pflegen und dies würde dadurch zu neuer Blüte, vielleicht ver—
gleichbar der, in welcher das Volkslied einſt ſtand, emporgetrieben
ſein, wenn ſie ihren urſprünglichen, jenen ſchweizeriſchen Charakter
bewahrt hätten; wenn nicht die Bemühungen Nägeli's, den vier—
ſtimmigen Geſang zum Hauptgegenſtand des Intereſſes und der
Pflege in den Männergeſangvereinen zu machen, ſolch durchgreifen—
den Erfolg gehabt hätte. Der vier- und gar mehrſtimmige Män—
nergeſang iſt unnatürlich und darum höchſt verderblich geworden.
Die Natur ſcheidet den geſammten Geſangchor in zwei Haupt-
partien, in Frauen- oder Knaben und in Männerſtimmen,
und jede derſelben wiederum in zwei Stimmgattungen, jene in
Sopran und Alt, dieſe in Tenor und Baß. Dieſer natür—
lichen Scheidung nach kann es nur einen zweiſtimmigen Frauen-
und einen zweiſtimmigen Männerchor geben. Nun lehrt allerdings
die Erfahrung, daß häufiger faſt noch in beiden Chören Stimmen
vorhanden ſind, welche nur durch die ſorgfältigſten Studien zu
einer oder der andern jener Normalklaſſen erzogen werden können,
— 110 —
aus dieſen würde ſich für jeden der beiden Chöre eine dritte Stimme
ergeben, die nach Umfang und Klangfarbe vermittelnd zwiſchen
beide tritt. Dieſe Anſicht, die auch bei den alten Italienern, den
feinen Kennern der Menſchenſtimme ihre Beſtätigung findet, war
in der Zelter'ſchen Liedertafel, ja ſelbſt bei Nägeli noch vor—
herrſchend. Die meiſten uns bekannten Männerlieder, welche aus
jener hervorgiengen, ſind ein- oder zweiſtimmige Sololieder mit
Chor, und dieſer tritt in der Regel nur dreiſtimmig auf.
Auch die bedeutendſten Lieder für Männerchor der neueren
Zeit, wie die von Mendelsſohn, ſind vorherrſchend dreiſtimmig
behandelt. Zur ausſchließlichen Herrſchaft gelangte die Vierſtimmig—
keit erſt durch die jüngere Berliner Liedertafel, als ſich dem Män—
geſange ſo bedeutende Talente, wie Bernhard Klein, Louis
Berger und ſpäter Carl Löwe zuwandten. Namentlich des
erſteren: „Acht Hefte Hymnen, Pſalmen und Motetten“ bildeten
durch mehrere Decennien hindurch die Grundlage der Uebungs—
programme der geſammten norddeutſchen Liedertafeln und erzeugten
eine ganz eigenthümliche Literatur auf dieſem Gebiete. Bedeutenden
Antheil an dieſen Erfolgen haben die verwandten Beſtrebungen
Carl Maria von Weber's auf demſelben Gebiete ebenſo, wie
auf dem der dramatiſchen Muſik, der Oper. Als Klein ſich dem
Männergeſange zuwandte, war es jenem Meiſter ſchon gelungen,
von der Bühne herab durch den „Freiſchütz“ und die Muſik und
die Geſänge zur „Prezioſa“ dem berückenden Zauber des Klang-
colorits und der unter ſeiner Herrſchaft einzig und allein erfundenen
Melodie Eingang zu verſchaffen und ſie volksthümlich zu machen.
Auch in ſeinen Liedern der Freiheitskriege, in den Liedern aus
Körner's „Leier und Schwerdt“ iſt es nicht die Macht der tief
empfundenen, aus dem innerſten Volksgemüth heraustreibenden
Melodie, welche ihnen eine ſo weite Verbreitung und auch ſicher
einen ſo bedeutenden Antheil an dem großen Freiheitskampfe
gewährte, als vielmehr das glanzvolle, das Ohr ſo anziehende und
berückende Klangcolorit. In ganz ähnlicher Weiſe erfaßte Bern—
hard Klein das, bei aller Gewalt doch ſo eigenthümlich weiche
Klanggepräge des Männerchors und formte aus ihm echt künſt—
leriſche Gebilde. Wie Weber in den weiteren, ſo fand Klein in
den engeren Kreiſen der Männergeſangvereine damit den fruchtbar—
ſten Boden, und wie jener den Anſtoß zur Veräußerlichung der
— m —
dramatiſchen Muſik gab, fo dieſer zur Vergröberung des Männer—
liedes. Die reiche Begabung Kleins und ſein ernſter, dem Höch—
ſten zugewendeter Sinn, führte ihn auf die polyphone Schreibart,
und dieſe erhält das Kunſtwerk immer noch auf echt künſtleriſcher
Höhe und verhilft zu jener Meiſterſchaft der Melodiebildung, die
ihn auch auf dem Gebiete des Kunſtliedes Bedeutung erlangen ließ
und ihm die Erfindung des volksthümlichen Liedes: „Treue Liebe
bis zum Grabe“ möglich machte. In ſeinen, auf gleichem Gebiet
in gleicher Richtung thätigen Zeitgenoſſen indeß, bei Friedrich
Schneider und Conradin Kreutzer geſtaltet ſich das Ver—
hältniß des Liedes für Männerchor, das ſie mit großem Fleiße
anbauen, zum Kunſtgeſange und zum Volksliede weſentlich anders.
Johann Chriftian Friedrich Schneider wurde zu
Waltersdorf bei Zittau am 3. Januar 1786 geboren.
Seine erſte muſikaliſche Bildung erhielt er von ſeinem Vater,
welcher Organiſt in genanntem Orte, und eifrig für Ausbreitung
der Muſikbildung bemüht war. Da der Sohn ſtudieren ſollte,
bezog er 1794 das Gymnaſium in Zittau, und hier, wie auch
Anfangs noch in Leipzig, wohin er 1805 gieng um ſeine Studien
auf der Univerſität zu abſolvieren, übte er Muſik zwar fleißig,
aber immer noch nicht ausſchließlich, bis er 1806 Geſanglehrer an
der Rathsfreiſchule wurde. Von dieſer Zeit an finden wir ihn
ausſchließlich auf dem Gebiete der Tonkunſt, als Componiſten, Vir—
tuoſen, Theoretiker, Lehrer und Dirigenten thätig. 1807 wurde er
Organiſt an der Univerſitätskirche, 1810 Muſikdirector bei der
Seconda'ſchen Schauſpielergeſellſchaft und 1817 am neu eröffneten
ſtädtiſchen Theater in Leipzig. Im Mai 1821 folgte er einem
Rufe als Kapellmeiſter an das Hoftheater in Deſſau, in welcher
Stellung er bis an ſeinen 1853 am 23. November erfolgten
Tod blieb.
Seine Bedeutung für die Kunſtentwicklung im Allgemeinen,
wie namentlich auf dem Gebiete des Oratoriums, auf dem er mit
großer Vorliebe thätig war, kann uns hier nicht weiter beſchäftigen.
Ein eigenthümlich geſchäftiges Naturell, das ihn drängte, in allen
von ſeiner Zeit vorherrſchend gepflegten Formen nach Erfolgen
zu ringen, führte ihn auch dem Männerchor zu. Den äußern
Anſtoß hierzu mag zuerſt die 1815 errichtete Leipziger Liedertafel
gegeben haben, für welche er mehrere Geſellſchaftslieder, nach der
— 112 —
Weiſe jener Zelter' ſchen componierte. Später ſuchte er in jenem,
durch Bernhard Klein angeſchlagenen Ton zu ſingen, was ihm
übrigens nur in einigen Schulliedern, wie in dem: „Wie lieblich
ſchallt, durch Buſch und Wald,“ das von der Schule aus auch ins
Volk drang, gelungen iſt. Auch er pflegt noch mit Vorliebe die
polyphone Schreibweiſe, aber viel weniger aus innerm Drange, als
aus handwerksmäßiger Gewohnheit, und ſeine Melodik iſt reizlos,
nur formell anſprechend durch ihre Glätte. Seine Männerquartette
und Chöre halfen ſo namentlich jene Zeit mit vorbereiten, die ſich
nur mit dem Reiz der Mehrſtimmigkeit begnügte, auf alles Uebrige
Verzicht leiſtend. Die Melodien Schneider's, wolgebildet aber
reizlos, haben viel zur Ertödtung des Sinns für eine inhaltreiche
Melodik beigetragen. An ihnen zu allermeiſt gewöhnte ſich das Ohr
darauf zu verzichten und ſich durch den Reiz unterſchiedener Klang—
effekte den Mangel erſetzen zu laſſen. Die geſammte Männerlieder—
literatur ſchlägt jetzt mit wenig Ausnahmen jene Richtung ein,
welche das Lied für Männerchor als geſungene Inſtrumentalmuſik
erſcheinen läßt, und die leider bis heute die herrſchende geblie—
ben iſt.
Conradin Krentzer iſt zuerſt ausſchließlich in dieſer Rich—
tung für den Männergeſang thätig. Er iſt am 22. Novbr. 1782
in Mößkirch im Großherzogthum Baden geboren, und bildete ſich
früh zum Muſiker. Durch eine raſtloſe Thätigkeit als Virtuos auf
dem Clavier und auf der Clarinette, und als gewandter Dirigent
wie auch als Componiſt hatte er ſich eine große Routine ange—
eignet, die ihn bald zu einem vom großen Publikum geſchätzten
Muſiker machte. Mit entſchiedener Vorliebe wandte er ſich der
Vocalcompoſition zu und eignete ſich begierig jene zerriſſene, aus
einzelnen klangreichen Phraſen zuſammengeſetzte italieniſche Melodie
an, die namentlich durch Roſſini in Deutſchland ſich einbürgerte
und die Kreutzer durch die Kunſtmittel, welche ihm ſeine deutſche
Bildung zugeführt hatte, aufzuputzen ſuchte. Von ſeinen zahlreichen
dramatiſchen Werken vermochte ſich nur „Das Nachtlager von
Granada“ dauernden Erfolg zu erringen. Für den Männergeſang
indeß wurde ſein Wirken in obigem Sinne entſcheidend. Keins
ſeiner Lieder, auch nicht die volksthümlich gewordenen: „Was
ſchimmert dort auf dem Berge ſo ſchön“ und: „Das iſt der Tag
des Herrn“ entſprechen den Anforderungen, welche wir aus der
— 15 —
gefunden künſtleriſchen Entwicklung herzuleiten verſuchten. Von
jener machtvollen, innerlich und äußerlich concentrierten Melodik,
die in ihren Ausgangs- ſchon ihre Gipfel- und Endpunkte mit
nothwendiger Conſequenz bezeichnet und erkennen läßt, und die für
das Lied überhaupt, und namentlich für das volksthümliche Lied
unbedingt Nothwendigkeit iſt, finden wir keine Spur mehr. Die
Melodien Kreutzer's ſind phraſenhaft zerſtückelt und nur ſinnlich
wirkſam und die Harmonik und Rhythmik ſeiner Lieder folgt dem
gleichen Zuge. Dieſe iſt ſo bunt als möglich und nirgends von
der geſtaltenden Kraft, wie ſie ſelbſt im volksthümlichen Liede noch
lebt und jene verläßt vielfach, auch in den einfachſten Liedern den
urſprünglichen natürlichen Gang, ſie folgt überall nur dem Beſtreben,
klangreich, ſinnlich reizvoll zu ſein. Hierauf einzig und allein beruht
die ſcheinbare Volksthümlichkeit dieſer Lieder. Das Volk hatte
bereits ſchon aufgegeben, jene höheren Mächte muſikaliſcher Dar-
ſtellung zu fordern; es begnügte ſich mit dem ſinnlichen Klange.
Es ergötzt ſich am Genuſſe dieſer klangvollen Lieder, aber ſie ſelbſt
zu ſingen vermag es ſchon nicht mehr. Darum darf man die
Männergeſangvereine, nachdem ſie dieſem Zuge einſeitig folgten,
nicht mehr als Pflanzſtätten des volksthümlichen Geſanges betrachten.
Sie fröhnen ſelbſt nicht mehr der ganz allgemeinen Geſan ges-,
ſondern der noch niedrigern Klanges luſt.
Zwei Künſtler noch verſuchten dem Männergeſange eine andere
Richtung zu geben, indem ſie aus echt deutſchem Gemüth und in
feſtem Anſchluß an das Kunſtlied heraus volksthümlich ſangen:
Carl Löwe und Felix Mendelsſohn- Bartholdy, aber
erfolglos. Jener ſchrieb ſogar zwei Oratorien: „Die eherne
Schlange“ und: „Die Apoſtel zu Philippi,“ um dem Männer:
geſange eine mehr künſtleriſche Grundlage zu geben, und ſie gehören
zu dem beſten, was er überhaupt geſchrieben und ſind von entſchieden
volksthümlichem Gepräge; aber, obgleich noch unter den Lebenden,
iſt ſein Name längſt verſchollen in jenen Vereinen. Daß Men-
delsſohn nicht ein gleiches Geſchick traf, verdankt er zwei Liedern,
von denen ſpäter die Rede iſt.
Die Männergeſangvereine wurden jetzt die rechte Heimath des
Dilettantismus, aber nicht jenes durchaus ehrenwerthen, der, als
nothwendiges Produkt einer geſunden Kunſtentwicklung, tief im
Herzen des Volkes wurzelt, weil er ſich mit liebevoller Hingebung
8
Reißmann, deutſches Lied.
Bl,
in energiſcher, folgerichtiger Kunſtübung die volksthümlichen muſi⸗
kaliſchen Darſtellungsmittel anzueignen ſtrebt, ſondern jenes Dilet—
tantismus, der nur im müßiggängeriſchen Naſchen Befriedigung
findet. Alles, was nur irgendwie auf den anderen Gebieten der
Tonkunſt im Volk Glück macht: Inſtrumentalſachen, wie die Ouver—
ture zur Zauberflöte, Polka's und Walzer, ja Opern, Enſemble—
ſätze und Finale's werden für Männerchor arrangiert und die
Tenöre übernehmen ganz ernſthaft die Ausführung der Frauen—
partien, ungeniert durch den Blödſinn, der in ſolchem Verfahren
liegt. Die Literatur des Männergeſanges kommt faſt ausſchließlich
in die Hände jenes Mufikpr: letariats, das weder an der Kunſt
noch an dem Volksgeſange groß gezogen, vom Kunſtgeſange einige
Phraſen und nicht einmal die klangvollſten, aber immer die bedeu—
tungsloſeſten entlehnt, und hiermit den geſammten Bedarf der
Männergeſangvereine beſtreitet. Der letzte Reſt künſtleriſcher Ge—
ſtaltung mußte ſchwinden, als in den „Burſchen- und Geſellen—
fahrten,“ „Der Mordgrundbruck“ und den verwandten Erzeugniſſen
Auguſt Schäffers und Max Kunz's jene mittelalterliche
Lanzkunechtslaune herrſchend wurde, die in ihrer neuen Auflage
geradezu widerwärtig iſt, weil ſie überall da raffiniert roh werden
mußte, wo jene noch naturwüchſig realiſtiſch derb iſt. Vergebens
waren Friedrich Silcher, Ludwig Erk und Wilhelm
Greef bemüht, das Volkslied wieder einzubürgern. Die Männer—
geſangvereine verfolgten jene Richtung mit einem Eifer, daß ihnen
Conradin Kreutzer und Carl Zöllner mit ihren Phraſen
und Inſtrumentaleffecten gar bald zu Claſſikern wurden und daß
nur an hohen Sonn- und Feſttagen der Liedertafeln auch einige
der überſchwenglich ſentimentalen Lieder von Jul. Otto, Abt,
Becker und Möhring, oder gar eins der geſunderen von Reißi—
ger, Heinrich Marſchner und Ferdinand Hiller ihre
Programme ziert. Wol regte ſich auch in dieſen Vereinen noch ab
und zu das Verlangen nach wirklichem Geſange, allein dieſem konnte
der vierſtimmige Männerchor nur in jener polyphonen Weiſe Bern—
hard Klein's und Mendelsſohn's Rechnung tragen; ihr
aber waren jene Vereine längſt entfremdet und ſo entſtand das
ſchmachvollſte Erzeugniß dieſer ganzen Richtung, das Lied mit
Brummſtimmen. Während eine Stimme, in der Regel der erſte
Tenor oder ein Baryton, eine immer im echten Bänkelſängerſtyl
— 15 —
gehaltene Melodie ausführt, erniedrigen ſich die andern zur Aus—
führung einer halbſtummen Begleitung, in einer Weiſe, welche die
allgemeinſten Regeln des Anſtandes verbieten. Es iſt dies allerdings
die letzte Conſequenz der ganzen Richtung. Weiter ſind die Experi—
mente mit dem rein ſinnlichen Material kaum zu treiben; wenn es
nicht etwa noch einer unternimmt, auch der Soloſtimme das Wort
zu entziehen und ein Lied ganz brummen zu laſſen“ Wol mögen
einzelne Vereine ſich frei erhalten haben von dieſem unſaubern
Treiben, aber die höchſte Miſſion der Männergeſangvereine, die
Pflege des volksthümlichen Liedes, hat wol keiner ganz erreicht.
Was will es denn bedeuten, daß ein Verein, der Kölner, auch den
Engländern die Luſt am Männerchorklange bereiten konnte? Daß
einzelne Vereine auf Geſangfeſten und bei Wettgeſängen Preiſe
errangen? Das konnte doch nimmer mehr ihr Zweck ſein. Und
bedeutendere, höhere Erfolge haben ſie wol nirgend erlangt. Das
Volk iſt mehr verſtummt, als es früher war. Es ergötzt ſich an
dem Stimmklang der Männerchöre vielleicht mehr als an jedem
andern, aber das iſt auch alles. Kann ja doch der Geſangvereiner
ſeine Stimme kaum anderswo, als im Vereine ſingen, da ſelten
ſelbſt der Tenor eine einigermaßen einheitliche Melodie hat. Wenn
das Volk ſingen will, ſo iſt es immer noch auf jene Lieder ange—
wieſen, die ihm die Schule zugeführt, oder es holt ſie ſich auf dem
noch immer offenen Markte der Gemeinheit. Nur einige wenige
Lieder ſind durch die Männerchöre volksthümlich geworden, und ſie
gehören jener Richtung an, die wir als die einzig künſtleriſch mög—
liche bezeichneten. Ehe wir uns ihnen zuwenden, möchten wir noch
mit einigen Worten auf den großen Nachtheil hinweiſen, den die
Männergeſangvereine nothwendig für unſere weitere Entwicklung
haben müſſen. Mehr noch, als die ungenügende und meiſt ver—
kehrte Geſangsbildung unſerer Jugend in den Schulen, tragen die
Männergeſangvereine zu dem immer fühlbarer werdenden Mangel
an Tenorſängern bei.
Es iſt wahr, viele Stimmen werden in der Schule durch
ungeſchickte, plan- und gewiſſenloſe Behandlung für immer ruiniert,
aber was dieſe dann noch verſchont ließ, geht ſicher in den Männer—
geſangvereinen zu Grunde.
Die durch die Zuſammenſetzung des Männerchors bedingte
Scheidung des Tenors macht die Theilung ſeines ohnehin nicht
8 *
— 16 —
bedeutenden Umfangs nöthig. Die höhere Hälfte fällt dem erſten,
die tiefere dem zweiten Tenor zu. Die Töne des Stimmbruchs
werden ſomit zur Grenze für beide Stimmen und die dadurch ver—
urſachte häufige Verwendung derſelben muß ungeſchulte Stimmen
früh ruinieren, um ſo eher, als ihnen der Gebrauch des ganzen
Umfangs, der ihnen die nöthigen Ruhepunkte böte, verſagt iſt.
Dazu kommt ' noch, daß die Beſchränkung auf einen ſo geringen
Umfang ermüdend und abſpannend auch auf geſchulte Sänger wirkt,
und daß die den Geſang begleitenden geſelligen Freuden der Stimme
nichts weniger als förderlich ſind.
Von wirklich volksthümlichen Liedern, die eine Seite des allge—
meinen Volksempfindens in noch künſtleriſcher Form darſtellen, und
die zum Theil durch jene Vereine weitere Verbreitung fanden
tragen wir noch nach: Graun's „Auferſtehen, ja auferſtehen“;
„Wie fie fo ſanft ruhn“ von Friedrich Burchard Beneken
(geb. am 13. Auguſt 1760, geſt. am 22. Septr. 1822 als Paſtor
zu Wülfingshauſen bei Hannover); „Der alte Barbaroſſa“ von
Joſeph Gersbach (geb. am 22. Decbr. 1787 zu Säckingen bei
Mannheim, geſt. am 3. Decbr. 1830 als Muſiklehrer des Schul—
lehrer-Seminars in Carlsruhe); „Die Loreley“ von Friedrich
Silcher (geb. zu Schnaith bei Schorndorf im Würtembergiſchen
am 27. Juni 1789 und geſt. am 26. Auguſt 1860 als Univerſitäts⸗
muſikdirector in Tübingen); und wol auch noch: „Auf Matroſen,
die Anker gelichtet“ von Auguſt Pohlenz (zu Saalgaſt 1795
geboren und am 10. März 1843 als Muſikdirector in Leipzig
geſtorben). Ferner: G. Reichardt's (geb. bei Demmin in Vor—
pommern am 13. Novbr. 1797): „Was iſt des Deutſchen Vater—
land?“ „Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben?“ von
Auguſt Neithardt; und „Wer iſt der Ritter hochgeehrt?“ und
„Im Herbſt da muß man trinken“ von Heinrich Marſchner
(geb. zu Zittau am 16. Auguſt 1795).
Das höchſte Intereſſe gewährt jene Gruppe von Künſtlern,
die einen bisher unausgeſprochenen Theil deutſchen Gemüths in
echter Kunſtform zur Erſcheinung brachten. Es ſind dies nur
Meiſter der Kunſt in der höchſten Bedeutung des Worts.
Den Reigen eröffnet:
Georg Friedrich Händel, geboren am 23. Februar 1685
in Halle an der Saale. Erzogen in und durch die Zeit, in welche
— 117 —
noch der alt italieniſche Geſang mit all ſeiner geheimnißvollen
Pracht hineinragte, während der proteſtantiſch innige Kirchengeſang
ſchon in herrlichſter Blüthe ſtand und die köſtlichſten Früchte in
Seb. Bach treiben ſollte, und in welcher bereits das Volkslied
auch die weltliche Muſik hervortrieb, ſollten ſich alle dieſe Elemente
in ihm vermitteln. pr
Nachdem er als Knabe ſchon durch die Energie feines Charak—
ters ſeinem Vater, der ſich dem Muſiktreiben widerſetzte, die Erlaub—
niß, der göttlichen Kunſt ſich widmen zu dürfen, abgenöthigt hatte,
bildete er ſich unter Friedrich Wilhelm Zachau, Organiſt an
der Marktkirche in Halle, einem tüchtigen Contrapunktiſten, zu
einem ſo bedeutenden Clavierſpieler, daß er, ein Knabe noch, am
Hofe des prachtliebenden Churfürſten Friedrich III. (als König von
Preußen Friedrich J.) allgemeines Aufſehen erregte. Daneben
ſtudierte er fleißig den Contrapunkt und ſchrieb bereits von ſeinem
zehnten Jahre an für jeden Sonntag ein kleines Kirchenſtück. In
Hamburg, wohin er ſich 1703 wandte, um an der neu errichteten
Opernbühne mitzuwirken, und ſpäter während ſeines Aufenthalts in
Italien von 1709 — 10 ſtudierte er den Theaterſtyl feiner Zeit mit
ſolchem Erfolge, daß er mit feinen Opern nicht nur in Hamburg,
ſondern auch in Italien und ſpäter in England, wohin er Ende
des Jahres 1710 gieng, die größten Triumphe feierte. Seine
kunſtgeſchichtliche Bedeutung ſollte er indeß erſt in England erreichen.
Nachdem er von dieſem erſten Beſuch Englands wieder in ſeine
Stellung als Kapellmeiſter der Oper in Hannover zurückgekehrt
war, gieng er 1712 im December wiederum nach dieſem Lande,
um es, einige Reiſen abgerechnet, nicht wieder zu verlaſſen.
Auch jetzt noch iſt er faſt ausſchließlich für die Bühne thätig.
Im Jahre 1720 war ihm die Direction der neugegründeten Aca—
demie übertragen worden, und bis zum Jahre 1729 hatte er für
dieſelbe zehn Opern componiert. Da wurde ſie die Urſache Jahre
langer Sorgen und Kränkungen.
In einem Streit zwiſchen ihm und dem Caſtraten Seneſino
trat der Adel, als Gründer der Academie, auf Seite des Sängers
und ſo erfolgte der Rücktritt Händel's und die Auflöſung der
Academie. Zwar ſetzte er ſeine Opernaufführungen zuerſt auf dem
Haymarkettheater und ſpäter auf Lincolns-Innfield fort, allein auch
ſie mußte er, mit dem Verluſte ſeines Vermögens, aufgeben.
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Und nun trat jener Wendepunkt ein, der ihn zu einem der
größten Meiſter der Tonkunſt machte. Das Opernweſen war ihm
ſo verleidet worden, daß er ſich jetzt jener Form zuwandte, welche
ſeiner genialen Kraft den rechten Schaffenskreis gewährte und die
er darum zur herrlichen Vollendung führte, dem Oratorium.
Schon 1720 hatte er ein Oratorium: „Eſther“ componiert und
1733: „Athalia,“ aber ſie ſind noch vorherrſchend im Theaterſtyl
geſchrieben und auf Darſtellung im Koſtüm berechnet. Erſt als der
Londoner Biſchof Dr. Gibſon ſich derartigen Aufführungen wider-
ſetzte, wurde Händel auf die Form geführt, welche, ohne die
Hebel äußerer Darſtellung, nur durch die Macht der Poeſie und
Muſik dramatiſche Stoffe darſtellt. Das „Alexanderfeſt“ (1735)
ſteht auf der Grenzſcheide der alten und neuen Wirkſamkeit,
„Iſrael in Aegypten“ (1738), „Meſſias“ (1741), „Samſon“
(1742), „Judas Maccabäus“ (1746) und „Joſua“ (1747)
bekunden ſeine höchſte Meiſterſchaft.
Das, was dieſen Werken ihre ewig hohe Bedeutung gewähr—
leiſtet, iſt das echt volksthümliche Element, das in ihnen ſo mächtig
wirkſam iſt. Als er ſich dieſen Stoffen zuwendete, die ſich ſo
gewaltig auf dem Grunde des Volksbewußtſeins erheben, da regte
ſein Genius, der lange unter den unwürdigeren Arbeiten der
früheren Jahre gefeſſelt ſchlummerte, mächtig die Schwingen, und
der Meiſter wird der Verkündiger der Wunderthaten des Reiches
Gottes. Nichts anderes, als die Größe und Tiefe ſeines proteſtan—
tiſchen Bewußtſeins und die Gewalt ſeiner Stoffe drängten ihn auf
das Gebiet der volksthümlichen Muſik und die ganze Summe ſeiner
reichen Bildung befähigte ihn, dies in einer Weiſe anzubauen, die
von keinem Meiſter außer ihm wieder erreicht worden iſt. Auch bei
dem Aufwande der höchſten künſtleriſchen Mittel bleibt er volks—
thümlich überſichtlich und leicht faßlich. Im feſten Anſchluß an die
allgemein gültigen Geſetze der Melodik, Metrik und Harmonik ent—
wirft er uns die reich ausgeführteſten Bilder aus der heiligen
Geſchichte, in ſolcher Lebendigkeit, daß ſie uns auch ohne äußere
Darſtellung leibhaftig gegenwärtig werden, und zugleich in ſolchem
Reichthum und mit ſolcher Gewalt, daß wir uns in ſie zu vertiefen
vermögen. So wird ſein Streben nicht nur im großen Ganzen
populär — wie mächtig die Aufführung ſeiner Oratorien den Sinn
für volksthümliche Muſik weckte, iſt bereits angedeutet worden —
a
ſondern auch in Deutſchland, nicht nur in England, gehen einzelne
ſeiner liedmäßigen Chöre ins Volk. Der Chor aus „Judas Macca—
bäus,“ den der Meiſter ſelbſt wol beſonders liebte, da er ihn auch
dem „Joſua“ einverleibte, iſt in ſeiner urſprünglichen Geſtalt, wie
in mancherlei Arrangements, in unſern volksthümlichen Inſtituten
weit verbreitet. Lange Zeit ſchrieb man ihm auch die engliſche
Volkshymne: „God save the king,“ die mit deutſchem Texte auch
in mehreren deutſchen Ländern, wie Preußen, Weimar, Hannover
und Braunſchweig zur Volkshymne geworden iſt, zu, bis die
neueren Forſchungen ergaben, daß dieſe ein Jakobitiſcher Geſang
und von Harry Carey gedichtet und in Muſik geſetzt iſt.
Zunächſt weniger aus künſtleriſcher Nothwendigkeit, als viel—
mehr auch durch ſeinen Bildungs- und Lebensgang wurde jener
erſte große Meiſter des Südens der volksthümlichen Weiſe zuge—
führt:
Joſeph Haydn. Er iſt der Aelteſte von zwanzig Geſchwi—
ſtern, in Rohrau, einem Dorfe Nieder-Oeſterreichs am 31. März
1732, alſo in einer Zeit, in welcher die junge Kunſt bereits viel—
fach in Wechſelbezüge zum Leben getreten war, geboren. Auch im
elterlichen Hauſe unſers Haydn wurde ſie fleißig geübt. Der
Vater hatte auf der Wanderſchaft Gelegenheit gehabt, die Harfe zu
erlernen und er übte ſie auch ſpäter fort und begleitete oft den
Geſang ſeiner Frau. An dieſer Hausmuſik betheiligte ſich denn
auch früh ſchon der kleine Joſeph, natürlich in ſeiner Weiſe.
Einſt beſuchte die Familie ein Verwandter, der Schulrector aus
Haimburg, und zu Ehren des geiſtlichen Herrn Vetters wurde auch
Hausmuſik gemacht, an der ſich der kleine Joſeph derartig bethei—
ligte, daß er mit einem Stocke auf dem linken Arm ſtrich, als ob
er die Violine ſpielte. Er that dies mit ſo feinem Gefühl für
Tact, daß er die ganze Aufmerkſamkeit des Schullehrers erregte,
und daß dieſer den Eltern rieth, den Sohn nach Haimburg zu
ſchicken, damit er die Kunſt gründlich erlerne, die ihn gleichfalls zu
einem „geiſtlichen Herrn“ machen müſſe. Die Eltern giengen,
Angeſichts dieſer großen Zukunft, freudig auf den Vorſchlag ein,
und der kleine Haydn kam im ſechſten Jahre zu dem geiſtlichen
Vetter nach Haimburg. Drei Jahre blieb er hier und lernte
etwas Leſen, Schreiben und Singen und übte faſt alle Blasinſtru—
mente. Dann verſchaffte ihm ſeine ſchöne Sopranſtimme Aufnahme
1a
im Kapellhauſe der Stephanskirche und hier blieb er bis in ſein
ſiebzehntes Jahr und erhielt neben einem dürftigen Unterricht im
Latein eine gründliche Ausbildung auf verſchiedenen Inſtrumenten.
In der Compoſition wurde er indeß wenig unterrichtet; er variierte
auf Anrathen des Hofkapellmeiſter Reutter fleißig die Kirchen—
geſänge, bei deren Ausführung er mitwirkte. Nebenbei ſtudierte er
Mattheſon's „vollkommenen Kapellmeiſter“ und namentlich den
„Gradus ad Parnassum“ von Fux mit vielem Fleiß und ſeltener
Ausdauer, und dieſem Studium verdankt er wol zumeiſt und aus—
ſchließlich ſeine Gewandtheit in den contrapunktiſchen Formen. Als
ſeine Stimme mutierte, mußte er das Kapellhaus verlaſſen, und
nun beginnt eigentlich die rechte Vorbereitung für ſeine große
Miſſion: dem Leben in ſeinen mannichfachſten Erſchei—
nungen Einfluß auf die Geſtaltung des Kunſtwerks
und den Gang der Kunſtgeſchichte zu verſchaffen, um ſo
dieſes in ein genau beſtimmtes Verhältniß zu jenem zu ſetzen.
Das Kunſtwerk iſt nach wie vor ſich ſelbſt Zweck und der Künſtler
ſchafft auch jetzt noch, zunächſt nur getrieben und getragen von
der, ihn erfüllenden und nach Offenbarung drängenden Idee; aber
indem er dieſelbe äußerlich Geſtalt werden läßt, entſpricht er zu—
gleich den Anforderungen und Bedürfniſſen des Lebens.
Dieſe Richtung giebt Haydn dem Kunſtwerk. Seine Indivi—
dualität iſt faſt ausſchließlich am Leben groß gezogen. Als er das
Kapellhaus verlaſſen mußte, war er in fo hülfloſer Lage, daß er,
um feinen Lebensunterhalt zu erwerben, genöthigt war, in Straßen—
orcheſtern bei Ständchen und andern Gelegenheitsmuſiken mitzu—
wirken, oder wie er es nennt „gaſſatim zu gehn.“ Hier lernte er
nicht nur die Bedürfniſſe des Volkes kennen, ſondern ſeinem Genius
erſchloß ſich auch der poetiſche, echt künſtleriſche Gehalt des Volks—
lebens. Er gewinnt dadurch eine weſentlich andere Stellung zu
dieſem, als jeder feiner Vorgänger. Hiller und feine unmittel-
baren Nachfolger ebenſo, wie J. A. P. Schulz, und die, in
ſeinem Sinne ſchaffenden Tondichter eignen ſich, jene inſtinctiv,
dieſe mit Bewußtſein das an, was im Volke bereits klingt, und
faſſen es höchſtens umbildend zu mehr künſtleriſchen Tonbildern zu—
ſammen. Händel und Haydn dagegen laſſen das Leben ſelbſt
an ihrer Phantaſie vorübergehen, jener das längſt vergangene,
nur in Sage und Geſchichte wieder erweckte, dieſer das gegenwärtige,
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ſich fort und fort erneuende, damit es dort Tonbilder erwecke, wie
ſie im Volk ſich nimmer erzeugen. Einmal nimmt Händel auch
eine Volksweiſe auf, er verwendet den Geſang der Pifferari zur
Synfonie pastorale des „Meſſias.“ Von Haydn wüßten wir kein
derartiges Beiſpiel anzugeben, aber alle ſeine Werke ſind dem Leben
unmittelbar entſproſſen. Selbſt in ſeine Meſſen, die urſprünglich
wol die geringſte Beziehung mit dieſem haben, ragt es hinein. In
dem „Agnus dei“ der Meſſe „In tempore belli,“ die er 1796
ſchrieb, als die Franzoſen in Steyermark waren, ſetzte er die Ein—
gangsworte: „Agnus dei, qui tollis peccata mundi“ mit Beglei—
tung der Pauken, „als hörte man den Feind ſchon in der Ferne
kommen,“ und in einer, 1801 componierten ſchrieb er das: „Qui
tollis peccata mundi“ nach der Melodie des Duetts aus der
Schöpfung: „Der thauende Morgen,“ weil die ſchwachen Sterb—
lichen doch meiſtens nur gegen die Mäßigkeit und Keuſchheit
ſündigen.
Dieſe ganze Richtung iſt dem vocalen Kunſtwerk weniger
günſtig, als dem inſtrumentalen. Daher konnte auch Haydn ſeine
Hauptbedeutung nur auf dieſem, nicht auch auf jenem gewinnen.
In ſeiner Stellung als Fürſtl. Eſterhazy'ſcher Kapellmeiſter, die er
1760 annahm, nachdem er eine ähnliche beim Grafen Morzin auf
gegeben hatte, und in welcher er bis an den Tod des Fürſten (1790)
verblieb, erwarb er ſich jene feinſinnige Erkenntniß der Ausdrucks—
fähigkeit des Inſtrumentalen, gewann er jene Herrſchaft über das
Orcheſter, die ihn befähigte, aus dem eigenſten Organismus deſſelben
heraus zu erfinden. Wie Händel der populärſte Oratorien -, ſo
wurde Haydn der populärſte Inſtrumentalcomponiſt in England.
Wie jener, wurde auch er während ſeines erſten Aufenthalts
dort (1790) und noch mehr während des zweiten (1794/5) mit
Ehren aller Art überhäuft. Auch er hat zwei Oratorien geſchrieben:
„Die Schöpfung“ und die „Jahreszeiten,“ die früher in Deutjch-
land eine faſt noch größere Verbreitung fanden, als die Hän del—
ſchen, aber mit dieſen nicht auf gleiche Stufe zu ſetzen ſind. Für
das Vocale fehlte ihm die Tiefe und Macht der Innigkeit eines
Bach oder Händel. Er iſt überall, auch wenn er ſeinem Gott
dient, ebenſo nur äußerlich angeregt, als wenn er die bunte Luſt
von Wald und Feld verkündet. Nur die Liebe zu feinem Kaiſer—
hauſe vermochte in ihm jenen tief innigen und echt volksthümlichen
— 12 —
Geſang: „Gott erhalte Franz den Kaiſer“ zu erwecken. Er war
ſo ganz das Kind ſeines Landes, und dem väterlichen Herrſcher—
thron Oeſterreichs in ſo treuer Liebe ergeben, daß die glänzendſten
Anerbietungen des Königs von England und der enthuſiaſtiſche Bei—
fall, der ihm in dieſem Lande wurde, ihn nicht ſeinem Vaterlande
entfremden konnten. Er kehrte zurück in ſeine beſcheidenen Verhält—
niſſe, um wieder ganz Oeſterreicher ſein zu können. Aus dieſer
Geſinnung heraus ſang er jenes Lied. Lange Zeit hindurch konnte
Italien es dem Meiſter ſtreitig machen und es bedurfte erſt einer
„Beweisführung, daß Joſeph Haydn (und nicht Niccolo
Zingarelli) der Tonſetzer des allgemein beliebten öſterreichiſchen
Volks- und Feſtgeſanges ſei!“ von Anton Schmid (Wien,
Rohrmann 1847), um die Autorſchaft Haydn's unanfechtbar feſt—
zuſtellen. Wie hätte es auch einem Italiener gelingen ſollen, ſo
echt deutſcher, kindlicher Weihe voll, dies Lied zu ſingen. Das
vermochte nur Haydn, der ſeinem Gott, ſeinem Kaiſer, ſeinem
Volk und ſeiner Kunſt in gleich treuer Ergebenheit zu dienen emſig
bemüht war. Seinen Liedern mit Clavierbegleitung, wie den mehr—
ſtimmigen Geſängen, liegen meiſt volksthümliche Geſangsphraſen,
vielfach inſtrumental zerſetzt, zu Grunde, und ſie konnten weder
für den volksthümlichen noch für den Kunſtgeſang von größerer
Bedeutung werden. In ſeinem Kaiſerliede dagegen ſingt er eine
ganz ſpecielle Seite des Volksgemüths in echt künſtleriſcher Form
aus. So wenig nun auch dies Lied eine Vergleichung mit jenem
Händel'ſchen herausfordert, ſo ſehr dürfte es doch intereſſieren,
zu beobachten, wie verſchieden beide Meiſter ihre im Grunde
gleichen Aufgaben löſen. Händel beſingt ſeinen Helden in einem
ebenfo melismatiſch-melodiſch wie rhythmiſch und harmoniſch reich
und glänzend ausgeſtatteten Liedſatze; Haydn betet für ſeinen Kai—
ſer in der einfach herzlichſten Weiſe, und Choral und weltliches
Lied verſchmilzt er zum Ausdruck volksthümlicher Frömmigkeit. Der
Meiſter hatte für dies Lied auch eine ganz beſondere Vorliebe vor
allen anderen bedeutenderen Schöpfungen. In dem Edur-Quartett
macht er es zur Grundlage reizender Variationen, und als er im
Jahre 1808 mit dem Leopolds-Orden geſchmückt zu werden erwar—
tete, und ſich kindlich darauf freute, wußte er dem Landesvater
nichts zu ſagen, als: wie lieb ihm dies Lied unter allen ſeinen
Werken noch ſei. In ſeinen letzten Tagen ſpielte er es faſt täglich,
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kurz vor feinem Tode, am 26. Mai dreimal hinter einander mit
einem Ausdrucke, der ihn ſelbſt verwunderte. Am 31. Mai 1809
entſchlummerte er in gänzlicher Entkräftung.
Eine ganz andere Seite des Volksgemüths brachte der Meiſter,
der, ein Zeitgenoſſe Haydu's, die tiefgreifendſte Bedeutung nicht
nur für die Kunſt, ſondern auch für die volksthümliche Muſik
gewinnen ſollte, in echt künſtleriſcher Weiſe zur Erſcheinung:
Johann Chryſoſtomus Wolfgang Amadeus Mozart,
1756 am 27. Januar zu Salzburg geboren. Wie Händel bil—
dete auch er ſich früh zum Virtuoſen aus und erlangte als ſolcher
ſchon als Knabe auf ſeinen Kunſtreiſen, die er mit ſeinem Vater
Leopold Mozart, Vice-Kapellmeiſter des Erzbiſchofs von Salz—
burg, ein nicht nur muſikaliſch, ſondern auch wiſſenſchaftlich und
geſellſchaftlich hochgebildeter Mann, und feiner, gleichfalls veich-
begabten Schweſter Maria Anna unternahm, einen europäiſchen
Ruf. Daneben regte ſich bei ihm gleichfalls früh der Trieb, ſelbſt
zu ſchaffen. Seine Biographen erzählen, daß er ſchon in ſeinem
dritten Jahre Stunden lang am Claviere ſaß, um die conſonierenden
Zuſammenklänge aufzufinden, und entzückt war, wenn er Terzen
und Sexten aufgefunden hatte. Von ſeinem fünften Jahre an
erfand er ſchon, immer noch am Clavier, kleine Stücke, die dann der
Vater zu Papier bringen mußte, und jetzt war die Luſt an der
Muſik ſchon ſo ſtark in ihm, daß er über ihr die kindlichen Spiele
verſäumte, ja daß fie, ſollten fie ihn erfreuen, mit Muſik verbun⸗
den ſein mußten. Der Vater nun leitete den genialen Knaben
früh nach jener Richtung auf jene Kunſtgebiete, auf welcher er
ſeine große kunſtgeſchichtliche Bedeutung gewinnen ſollte, wol nicht
nur aus dem Grunde, weil er dieſe von vorn herein erkannte,
ſondern auch hauptſächlich deshalb, weil er glänzende Erfolge erwar—
tete und vorausſah. Das Virtuoſenthum ſtand ſchon in voller
Blüte und verſprach goldene Frucht, und die Oper fand bereits
in allen Kreiſen enthuſiaſtiſchen und lohnenden Beifall. Auf dieſe
beiden Kunſtgebiete führte der Vater ſeinen Sohn hinüber. Zwar
mußte dieſer auch früh ſchon energiſche contrapunktiſche Studien
machen und Meſſen und Kirchencompoſitionen ſchreiben, aber wol
mehr, um in der Weiſe der damaligen Zeit zünftig zu erſcheinen.
Früh war der Vater bemüht ihm den Auftrag, eine Oper zu
ſchreiben, zu verſchaffen, und die im Winter 1767 unternommene
Reife nach Wien wurde nach dieſer Seite auch erfolgreich. Der
nunmehr zwölfjährige Knabe erhielt vom Kaiſer Joſeph den Auf—
trag, eine komiſche Oper: „da finta semplice“ zu componieren, die
auch Haſſe's, des ſeiner Zeit berühmteſten, jetzt längſt ver—
geſſenen Operncomponiſten und Metaſtaſio's, des Dichters, Bei-
fall erhielt, aber nicht zur Aufführung gelangte. Eine andere
deutſche Operette (nach dem Franzöſiſchen „Bastien et Bastienne “)
wurde auf dem Geſellſchaftstheater eines Freundes, des Dr. Meß—
mer, aufgeführt. Vorwiegend der oben angeführte Grund bewog
den Vater wol auch, mit unſerm Wolfgang Ende des Jahres
1769 nach Italien zu gehen, dem Lande, in welchem die Oper faſt
ausſchließlich das geſammte Muſiktreiben beherrſchte, und das, wie
wir bereits früher erwähnten, einen bedeutenden Einfluß auch auf
die deutſche Muſik ausübte. Der junge Künſtler fand auch hier den
ergiebigſten Boden. Nachdem ſeine erſte Oper, die er für Mailand
ſchrieb, 1771 mit allgemeinem Beifall in Scene gegangen war,
wurden ihm Aufträge von allen Seiten, die er faſt durchgehends
unter dem größten Beifall ausführte, und dieſe Thätigkeit mußte
von der entſcheidenſten Bedeutung für ſeine geſammte Entwicklung
werden. Die Italiener verlangten ja damals ſchon nichts weiter,
als einen, durch ſeine Klangſchönheit berückenden Geſang, der den
dramatiſchen Anforderungen höchſtens in dem größeren oder gerin—
geren Grade der Leidenſchaftlichkeit oder Sentimentalität gerecht
wird. Höheren Anforderungen vermochte wol auch der Knabe, trotz
ſeiner Genialität und frühreifen Meiſterſchaft, noch nicht zu genügen.
Seine contrapunktiſche Fertigkeit durfte er in ſeinem für die Kai—
ſerin Maria Thereſia (1770) geſchriebenen Te deum oder in der
von dem Churfürſten von Baiern beſtellten Motette bekunden, aber
in der italieniſchen Oper war hierzu keine Gelegenheit. Hier mußte
er ſich auf all das beſchränken, was Wirkung machte und die
Maſſen ergriff, und daneben hatte er noch die ſpeciellen Fähig—
keiten der Darſteller zu berückſichtigen. Dadurch lernte er alle
Mächte muſikaliſch-dramatiſcher Darſtellung kennen und. ſein außer—
ordentlich feingebildetes Ohr erſchloß ihm die feinſten Abſtufungen
derſelben, und als er ſie ſich ſo zu unumſchränkter Herrſchaft zu
eigen gemacht, erhob er ſie durch ſeine deutſche Contrapunktik zu
echt künſtleriſchen Darſtellungsmitteln, in den Dienſt der Idee.
Alle genannten Arbeiten waren bis zum Jahre 1780 ebenſo nur
— 125 —
Vorarbeiten, wie die contrapunktiſchen Studien des Vaterhauſes
und die meiſten Inſtrumentalcompoſitionen dieſer Zeit. Erſt mit
dieſem Jahre gewinnt er jene Meiſterſchaft in Verwendung des
muſikaliſchen Darſtellungsmaterials, die allein es ihm möglich
machte, durch ſeine überquellende Innigkeit den geſammten Forma—
lismus der Oper und der Inſtrumentalmuſik zu einem lebendigen
Organismus zu beſeelen. Wir haben an einem andern Orte nach—
zuweiſen verſucht, wie Haydn die Selbſtändigkeit der Inſtrumental—
muſik formell feſtſtellt, indem er jedem einzelnen Inſtrument ſeine
eigenſten Naturlaute ablauſcht und ſo das Orcheſter ſeine eigene
Mutterſprache reden lehrt, und wie erſt Mozart die Inſtrumente
ſich ihm unterthänig macht, um ihnen ſeine reiche und weiche
Innerlichkeit einzuflößen, daß ſie, ein jedes nach ſeinem Vermögen,
ſeine Sprache reden. Hier kann uns dieſer Gegenſtand nicht weiter
beſchäftigen. Die Thätigkeit des Meiſters auf dem Gebiete der
Oper erfordert unſer Intereſſe ausſchließlich, weil er hier für die
volksthümliche Muſik eine noch tiefergehende Bedeutung gewinnt,
als ſelbſt Händel in ſeinen Oratorien.
Die Gluck'ſche heroiſche Oper vermochte andauernd nur bei
jenem gebildeten Publikum Intereſſe zu finden, das in ihr die
Wiedererweckung der antiken Tragödie, als der höchſten Kunſtform
begrüßte. Schon die Stoffe, einer dem deutſchen Volke fremden
Welt entnommen, liegen dem deutſchen Empfinden viel zu fern,
und die Gluck'ſche Weiſe der Behandlung, die ſich ihnen rigo—
riſtiſch-peinlich anſchließt, war nicht geeignet, ſie ihm näher zu
führen. Die Mozart' ſche romantiſche Oper findet ihre Stoffe
in allen Zeiten und Ländern, wo Menſchen menſchlich empfinden.
Sie greift hinein in das volle Leben und ſtellt dies dar, nicht in
abſtracten Formen, ſondern wie es ſich in der Wirklichkeit in nie
endendem Wechſel, in fortwährend veränderter Geſtalt aufs Neue
erzeugt. Die romantiſche Oper hat daher nicht abſtracte Gebilde,
ſondern Menſchen, in denen warmes Blut pulſiert, Menſchen, wie
ſie Zeit und Umſtände erzeugen, darzuſtellen, und die Tonkunſt
unterſtützt ſie hierin mit ihrem eigenſten Vermögen. Dadurch wird
die Oper echt volksthümlich, nicht in jenem Sinne wie bei Hiller
und ſeinen Nachahmern bis auf die neueſte Zeit, durch jene ange—
nehmen, leicht verſtändlichen und faßbaren Geſangsphraſen, die
längſt ſchon im Volke tauſendfach moderiert erklingen, ſondern in
&
e
dem viel höheren, einzig künſtleriſchen, in welchem das Händel—
ſche und Haydn'ſche Kunſtwerk populär wurde, durch die hohe
Meiſterſchaft der Darſtellung eines wirklich poſitiv neuen Inhalts. In
Mozart's letzten ſieben Opern gewinnt ein bisher nur noch ganz
oberflächlich im Volksliede ausgeſprochener Theil des Volksempfindens
Form und Klang. Die gährenden, das ganze Leben bewegenden
Leidenſchaften und Witz und Humor fanden weder in dem
Bach-Händel'ſchen, noch im Gluck'ſchen Kunſtwerk eine Stelle,
und in Haydn's Orcheſterwerken werden ſie erſt äußerlich lebendig.
In Mozart's Opern dagegen ſind ſie die wahrhaft innerlich
bewegenden Mächte, und weil er ſie mit aller Gluth ſeiner reichen
Innerlichkeit wirken läßt, überall gehalten und getragen von ſeiner
Meiſterſchaft in der Formgeſtaltung, wird er populär in der höchſten
und edelſten Bedeutung. Er zeigt nirgends das Beſtreben volks—
thümlich zu ſein, ſondern immer nur, ſeinen genialen Intentionen
die höchſte Kunſtform zu geben, und indem er ſich hierbei den
allgemein gültigen Geſetzen des muſikaliſchen Geſammtorganismus
unterwirft, gewinnt er jene vollſtändige Durchdringung von Form
und Inhalt, durch welche allein das Kunſtwerk die Möglichkeit
gewinnt, von einer Geſammtheit in ſeiner Wirkung gefaßt, in ſeinen
Schönheiten erkannt, populär in dem edelſten Sinne des Worts
zu werden. Und ſo will es auch bei Mozart weniger bedeuten,
daß der größte Theil ſeiner Opernſätze in allen möglichen Arran—
gements tief ins Volk gedrungen iſt. Von weit höherer Bedeutung
wurde ſeine Oper, daß ſie als Ganzes, als untrennbares Kunſtwerk
dort feſten Boden gewann, als Volksoper im höchſten Sinne
wol der bedeutſamſte Factor für die geſammte Umgeſtaltung der
volksthümlichen Muſik wurde. Denn in allen Beſtrebungen auf
dieſem Gebiete ſeit Mozart begegnen wir, von J. A. P. Schulz
bis herab zu den Bänkelſängern, ſeinen Einflüſſen ebenſo, wie ſie
bald nach ſeinem am 5. Decbr. 1791 erfolgten Tode auf dem Kunſt—
gebiete ſich geltend machten.
Der nächſte Meiſter, der in ähnlicher Weiſe thätig iſt und
Bedeutung für die volksthümliche Muſik gewinnt:
Carl Maria von Weber wurde zu Eutin am 18. Decbr.
1786 geboren. Wie Mozart wandte auch er ſich früh der drama—
tiſchen Compoſition zu. Sein Vater ſorgte für die ſorgfältigſte
Erziehung und der Knabe hatte Anfangs größere Neigung zur
— 127 —
Malerei, als zur Tonkunſt. Er malte nicht nur in Paſtell und
Oel, ſondern verſuchte ſich auch mit der Radiernadel. Indeß gewann
doch die Liebe zur Muſik die Oberhand. Er bildete ſich zum
Pianoforte-Virtuoſen aus und ſchrieb als Knabe ſchon außer
Clavierſonaten, Variationen, Violintrio's und Liedern auch eine
große Meſſe und eine Oper, die indeß ein Raub der Flammen
wurde. Im Jahre 1800 ſchon brachte er die Oper: „Das Wald—
mädchen“ und ſpäter in Salzburg: „Peter Schmoll und ſeine
Nachbarn“ zur Aufführung. Für Weber mußte dieſer eigenthüm—
liche Bildungsgang noch bedeutſamer werden, als früher für Mo—
zart. Er hatte ja noch weniger, wie einſt der frühreife Knabe
Mozart, genügende Einſicht in die Beſonderheit der muſikaliſch—
dramatiſchen Darſtellungsmittel. Seine Technik war weit weniger
durchbildet als die des genialen Knaben, und während ſich dieſer
überall noch von der unbeſtimmten, naiven Luſt am Schaffen leiten
läßt, will der kaum fünfzehnjährige Knabe Weber ſchon Erfolge
erreichen. So wird er früh darauf geführt, ſich die mehr äußer—
lich wirkenden Darſtellungsmittel anzueignen, und weder ſeine eigne
Individualität noch auch der Unterricht des ſeiner Zeit hoch—
berühmten Orgelvirtuoſen und Contrapunktiſten Abt Vogler ver—
mochten ihn darüber hinauszuführen. Die ſinnlich reizvolle Seite
des geſammten Darſtellungsmaterials gewinnt bei ihm derartig das
Uebergewicht, daß das Bedürfniß künſtleriſcher Geſtaltung immer
mehr verloren geht, und für die Oper nicht mehr die dramatiſche
Entwicklung, ſondern die dramatiſche Wirkung das Hauptziel wird.
In dieſem Streben wird Weber der volksthümlichſte Meiſter ſeiner
Zeit, der Sänger der Freiheitskriege, des deutſchen Patriotismus,
der ſeit mehreren Jahrhunderten wieder zum erſten Male ſich
glänzend bethätigte.
Seit fünf Jahrhunderten war Deutſchland politiſch zerſplittert,
und den Beſtrebungen deutſcher Gelehrten, Dichter und Künſtler war
es nur gelungen, die Idee von einem gemeinſamen deutſchen Vater—
lande wach zu erhalten. Die deutſchen Fürſten hatten wenig Ver—
anlafjung daran zu erinnern, da fie die höchſte Macht und Unab—
hängigkeit ihres eigenen Hauſes zu erlangen ſtrebten. Hierzu kam
noch die Erbunterthänigkeit des Landmanns und die Ohnmacht des
allein belaſteten Bürgers, gegenüber dem durch die großen Privi—
legien ſtark gewordenen Adel, welches alles zuſammengenommen
—
einen deutſchen Patriotismus nicht aufkommen ließ. Daher darf es
auch nicht verwundern, daß die Franzoſen, welche die Unterthänig—
keit des Landmanns brachen, dem Adel den größten und wichtig—
ſten Theil der Privilegien raubten und ihn ebenſo beſteuerten, wie
die übrigen Unterthanen, ſich bald die Sympathie des deutſchen
Volkes erwarben, und Außerordentliches mußte erſt geſchehen, ehe
der deutſche Patriotismus in heiligem Zorn aufloderte. Die über—
müthigen Sieger von Jena und Auſterlitz mußten Schmach über
Schmach auf das deutſche Volk häufen; die deutſchen Gelehrten
mußten die alten Heldenſagen aus dem Staube der Bibliotheken
aufſpähen und in den urſprünglichen Quellen der Geſchichte das
deutſche Vaterland in altem Glanze zeigen und Fichte feine berühm—
ten Reden an das deutſche Volk in Berlin mitten unter den Feinden
halten, und als dann Ernſt Moritz Arndt mit glühenden Wor—
ten den Kaiſer Napoleon als den Erzfeind des deutſchen Volkes
darſtellte, da erwachte endlich der alte deutſche Geiſt wieder in
einem flammenden, alles Undeutſche verzehrenden, opferfreudigen
Patriotismus. Alles andere vergeſſend einten ſich die Patrioten
aller deutſchen Stämme in dem einen Beſtreben, die fremden Unter—
drücker aus dem Lande hinauszutreiben, und zum erſten Male ſeit
vielen Jahrhunderten wirkte ein echt deutſcher Geiſt geſtaltend auf
das fernere Geſchick des eigenen Vaterlandes. Aus dieſem Geiſte
heraus dichteten Ernſt Moritz Arndt, Max von Schenken—
dorf, Friedrich Rückert und Theodor Körner ihre Lieder
und ſang Carl Maria von Weber ſeine Weiſen. Eine Menge
Lieder jener Zeit, wie Fouqué's: „Friſch auf zum fröhlichen
Jagen“ oder Hiemer's: „Schön iſt's unter freiem Himmel“
ſind alten Volksmelodien angepaßt, oder ihre Melodien ſind dem
volksthümlichen Liede nachgebildet. Ganz neu und eigenthümlich,
aus dem neuen Geiſte heraus ſang Weber ſeine Weiſen zu Kör—
ners: „Leyer und Schwerdt.“ Die träumeriſche Innigkeit der
alten Volksmelodie wußte er mit dem ganzen Glanz der neuen,
mächtig nach außen drängenden, nach Thaten durſtigen Stimmung
zu verſchmelzen. Wir begegnen in dieſen Liedern nirgend einer tief
innerlichen oder ſonderlich ſchön geformten Melodie, aber in allen
lebt jenes Arndt' ſche:
„Laßt brauſen, was nur brauſen kann,
In hellen lichten Flammen!“
we 1
Sie find alle harmoniſch glänzend ausgeſtattet, und das berühmte
Lied: „Lützows wilde Jagd“ ſcheint wie für Horne und Trompeten
geſchrieben zu ſein. Vorherrſchend dieſelbe Eigenthümlichkeit zeigen
noch die volksthümlich gewordenen „Chöre und Soloſätze“ der
„Precioſa“ und des „Freiſchütz,“ die der Meiſter, welcher 1817
Königl. Sächſiſcher Kapellmeiſter geworden war, bezeichnend genug
für Berlin ſchrieb, woſelbſt ſie auch, Precioſa 1820 und der
Freiſchütz 1821, zuerſt zur Aufführung kamen.
Wol begegnen wir hier überall feſter gefügten und ſelbſtän—
diger geführten Melodien, aber auch ſie ſind nur durch das eigen—
thümlich berückende Colorit, welches der Meiſter mit großer Virtuo—
ſität behandelt, bedeutſam und volksthümlich geworden.
Weber ſtarb in der Nacht vom 6. zum 7. Juni 1826 in
London, wohin er gegangen war um ſeinen, für dieſe Stadt
geſchriebenen „Oberon“ zu dirigieren.
Die Kunſtgeſchichte wird ihm keine ſo hohe Stellung einräumen
können, weil er auf dem Gebiete des Dramatiſchen, dem er ſich
mit vieler Vorliebe zuwandte, in derſelben einſeitig effectuierenden
Richtung thätig war und dadurch den Verfall des muſikaliſchen
Drama's vorbereiten half. Aber für die Geſchichte des volfsthüm-
lichen Liedes wird er in dieſem Streben bedeutungsvoll bleiben für
alle Zeiten, indem er einen durchaus weſentlichen Zug des deutſchen
Gemüthslebens zur Erſcheinung brachte. Daß er auch hier nächſte
Veranlaſſung wurde zu jener Verirrung des Männergeſanges, welche
wir bereits charakteriſierten, iſt viel weniger ſeine Schuld, als die
ſeiner talent⸗ und einſichtsloſen Nachahmer. Seine Bedeutung für
das Kunſtlied wird uns noch ſpäter beſchäftigen.
In derſelben ſüßharmoniſchen Weiſe, aber viel mehr nach in-
nen bewegt, ſingt ein Zeitgenoſſe, der alle die angegebenen Elemente
nur innerlich in ſich verarbeitet hat, ſeine Lieder: Franz Schubert,
und ebenſo weiterhin deſſen Nachfolger: Felix Mendelsſohn⸗
Bartholdy.
In den Liedern Schubert's: „Das Waſſer rauſcht, das
Waſſer ſchwoll,“ „Das Wandern iſt des Müllers Luſt,“ „Du
ſchönes Fiſchermädchen,“ „Ich ſchnitt es gern in alle Rinden ein,“
„Ueber allen Wipfeln iſt Ruh,“ „Ich hört ein Bächlein rauſchen,“
und in Mendelsſohn's: „Wer hat dich du ſchöner Wald,“ und
„Es iſt beſtimmt in Gottes Rath,“ hat das Kunſtlied bei allem
Reißmann, deutſches Lied. 9
— 130 —
Reichthum ſeiner Erſcheinungsform wieder die alte Naivetät des
urſprünglichen Volksliedes gewonnen. Dieſen beiden Meiſtern iſt
das geſammte reiche Darſtellungsmaterial für die tiefgehendſte, ſub—
jektivſte Charakteriſtik ſo geläufig geworden, wie einſt dem dichtenden
Volke ſeine beſcheideneren Mittel, und wie dieſes vom Inſtinkt, ſo
werden jene durch ihre hohe Künſtlerſchaft auf die objektive, plaſtiſch
heraustretende, allgemein verſtändliche Form des Liedes geführt.
Was ſie im Liede austönen, iſt ihr eigenſtes, reinſtes und reichſtes
Empfinden; aber die faßliche Art der Darſtellung macht es zum
Eigenthum der ganzen Nation. Wir können uns hier den ſpeciellen
Nachweis erſparen, da wir auf beide großen Meiſter des Liedes in
einem ſpätern Kapitel ausführlich zurückkommen müſſen. Ebenſo
dürfte es hier genügen, auf jene früher und noch gleichzeitig thätige
Berliner Künſtlergruppe hinzuweiſen — auf Friedrich Reichardt,
Carl Friedrich Zelter, Bernhard Klein und Ludwig
Berger — die, ohne eine ſpecielle Seite des Volksempfindens
darzulegen, dennoch in einzelnen Liedern im beſten Sinne populär
werden, indem ſie ſich feſter an das Wort auſchließen und die
Sprachmelodie zur ſelbſtändigen Melodie erweitern und erheben.
Wir müſſen auch ihnen, weil mit dieſem Streben eigentlich die
Blüte des Kunſtliedes beginnt, ein beſonderes Kapitel widmen.
So hätten wir nur noch mit wenigen Worten der Lieder zu
gedenken, die wir unter den Begriff „Bänkelſängerlieder“ faſſen,
und deren Bedeutung wir nur gering anzuſchlagen vermögen.
Ihre Blüte beginnt eigentlich mit jener Zeit, als die Poeten
— namentlich die Dichter des Göttinger Hainbundes — nach dem
Muſter des Volksliedes Lieder dichteten und bemüht waren, dieſe
mit ſingbaren und gefälligen Melodien unter das Volk zu bringen,
namentlich aber unter den Beſtrebungen der bereits erwähnten Par—
tei der Volksaufklärung trieb das Bänkelſängerlied üppig empor.
Die Lieder, welche von ihnen ausgiengen, wie der ungleich größte
Theil der im Jahre 1799 unter dem Titel:
„Miloheimiſches Liederbuch von 518 luſtigen und ernſt—
haften Geſängen über alle Dinge in der Welt und alle
Umſtände des menſchlichen Lebens, die man beſingen kann.
Geſammelt für Freunde erlaubter Fröhlichkeit und ächter
Tugend, die den Kopf nicht hängt, von Rudolph Zacha—
rias Becker.“
*
erſchienenen Liederſammlung, konnten kaum anders als in der
Bänkelſängerweiſe geſungen werden. Die Stoffe und ihre Darſtel—
lung entbehren meiſt ſo vollſtändig all und jeder Poeſie, daß ſie
ſelbſt nicht einmal jene einfachſten volksmäßigen Liedphraſen in der
ſchaffenden Phantaſie zu erwecken vermochten, ſondern daß dieſe
ganz abſichts- und planlos beliebige Inſtrumental- und Vocal—
phraſen nothdürftig an einander reiht, nach Anleitung des ſprachlich
Formellen, und das iſt das charakteriſtiſche dieſer ganzen Gattung.
Während das volksthümliche Lied auf ſeiner unterſten Stufe fünft-
leriſcher Geſtaltung, bei Wenzel Müller und Knauer, immer
noch einheitlichen Zug und wirklich vocalmelodiſches Gefüge zeigt,
iſt bei den Bänkelſängern kaum noch eine Spur hiervon vorhanden.
Landläufige Phraſen, aus allen Gebieten der Kunſtmuſik zuſammen⸗
geleſen, werden aufgegriffen, wie und wo ſie ſich zeigen, unbeküm—
mert um Text und Stimmung, nur⸗ der gedanken- und abſichts⸗
loſeſten Luſt am Geſange zu Liebe. Für jene Zeit indeß waren
auch dieſe Lieder faſt nothwendig. Die wenigen Volkslieder, welche
ſich in die neue Zeit herübergerettet, und die von Dichtern und
Tonſetzern geſchaffenen echt volksthümlichen Lieder waren kaum im
Stande, die neu erwachte Sangesluſt zu ſättigen und ſo fand der
Dilettantismus tauſendfach Anregung in jenem angegebenen Sinne,
Lieblingstexte mit Melodien zu verſehen, die dann bei ihrer Leicht-
faßlichkeit und weil fie in der Regel aus Modephraſen zuſammen⸗
geſetzt waren, ſich blitzſchnell weiter verbreiteten. Ja dieſe Weiſe
fand gar bald eine ſolche Verbreitung, namentlich in der ſchlappen
Zeit der Reſtauration, daß ihr, wie wir ſahen, ſelbſt Künſtler von
einiger Begabung, wie Himmel, ſich zuwandten. Eine etwas
verbeſſerte erneuerte Auflage erlebte ſie innerhalb der letzten zwan⸗
zig Jahre, die wir gleichfalls, ihrer tiefern Beziehung zur Blüte
des Kunſtliedes und zum modernen Muſiktreiben und Muſikempfin⸗
den wegen, in einem beſondern Abſchnitte etwas ſpecieller behan—
deln müſſen. .
Indem wir uns jetzt wieder zunächſt ausſchließlich dem Kunſt—
liede zuwenden, werden wir auch erkennen lernen, wie weit das
volksthümliche Lied einflußreich auf die Weiterentwicklung des Kunſt—
liedes geworden iſt.
Freunde des volksthümlichen Geſanges, welche einen ſpeciellen
Nachweis aller dieſer Lieder ſuchen, verweiſen wir auf Hoffmann
5
von Fallersleben's: „Unſere volksthümlichen Lieder,“ zuerſt
im erſten Heft des ſechsſten Bandes des Weimariſchen Jahrbuchs
für deutſche Sprache, Literatur und Kunſt, herausgegeben von
Hoffmann von Fallersleben und Oscar Schade, und
ſpäter, vielfach vermehrt, als beſonderes Buch gedruckt.
Drittes Rapitel.
Die neue lyriſche Dichtung erfordert feſten Auſchluß
an das Wort.
8
Bei dem Volksliede bis in das ſechzehnte Jahrhundert hinein
wird das einzelne Wort ſchon entſchieden einflußreich auf die Beſon—
dersgeſtaltung der Melodie. Da beide, Text und Melodie, faſt
immer gleichzeitig entſtehen, ſo ergänzen ſie ſich gegenſeitig und
wenn im Allgemeinen auch die muſikaliſche Darſtellung die ſprach—
liche meiſt bedeutend überragt, ſo wird doch in vielen Liedern der
Gang der Melodie durch einzelne, beſonders bedeutſame Worte
geradezu beſtimmt. Im Kunſtliede muß dies Verhältniß zwiſchen
Wort und Ton noch inniger werden. Die Stimmung hat im Text
ſchon einen viel beſtimmtern Ausdruck gewonnen, als im Volksliede,
und die Melodie wird daher durch den innigſten Anſchluß an ihn
erſt Allgemeinverſtändlichkeit und Ausdrucksfähigkeit erlangen. Allein
ſchon im erſten Jahrhundert des werdenden Kunſtliedes begann
dieſer Einfluß des Textes ſich allmälig zu verlieren. Verſchiedene
Umſtände trugen hierzu bei. Hauptſächlich wol der, daß jenes
Verfahren, nach welchem die eine Melodie zu mehreren Texten
benutzt wurde, das uns ſchon im Volksgeſange früherer Jahrhun—
derte begegnete, immer allgemeiner wurde, namentlich ſeit dem es
im Kirchengeſange faſt ausſchließlich Anwendung fand. Man ver—
langte bald von der Melodie nichts weiter, als Uebereinſtimmung
mit Versmaß und Strophenbau des Textes, kaum noch mit der
Grundſtimmung. Für das weltliche Lied konnte auch die Melodie
jetzt kaum höhere Bedeutung haben, denn Sprache und Verskunſt
— 133 —
erhoben ſich nur allmälig aus ihrer Verwilderung, ohne ſchon wieder
zu einem wirklichen Gefühlsinhalt zu gelangen. Dieſer war einem
tändelnden, geiſt- und gemüthloſen Spiel mit Empfindungen gewichen,
und er fand ſich erſt ſpät, als Sprache und Verskunſt längſt in
größerer Reinheit ſich erhoben hatten, wieder.
Wir haben in einem vorhergehenden Kapitel geſehen, wie die
Tondichter dieſe Zeit melodiſcher Selbſtändigkeit benutzten, um die
Form muſikaliſch feiner und freier herauszubilden und ihr die ver—
ſchiedenen anderweitigen eindringenden fremden Elemente zu ver—
mitteln.
Die letzte Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts führte nun jene
Wendung auf dem Gebiete der lyriſchen Dichtung herbei, durch
welche ein innigeres Verhältniß der Muſik zur Dichtkunſt nicht nur
möglich, ſondern für beide ſogar nothwendig wurde. Zwar iſt
ſchon bei Hiller und Schulz ein ſolches vorhanden, aber es iſt
doch mehr äußerlich. Ihre Melodien ſchließen ſich dem Text knapp
an, ohne ihm durch eine feinere Interpretation näher zu kommen.
Die wenigſten lyriſchen Lieder jener Zeit bedurften auch einer
ſolchen, und alle Verſuche jener Meiſter, ſie, wo es ihnen nöthig
erſchien, auszuführen, ſcheiterten an der Unzulänglichkeit ihrer
Mittel.
Erſt als die geſammte Dichtung wieder beginnt die verborgen—
ſten Mächte des bewegten und erregten Innern zu entſchleiern,
werden auch die Tonkünſtler gedrängt, die geſammten muſikaliſchen
Ausdrucksmittel ſich anzueignen und ſie zur Darſtellung des neuen
Inhalts zu verwenden. Das geſungene Lied wird jetzt der Aus-
druck zweier individuell Empfindender und wir werden uns nun
auch mit dem Dichter ſpecieller beſchäftigen müſſen, um nachweiſen
zu können, wie die Individualität des Tondichters ſich an der des
Poeten entzündet; wie beide in inniger Verſchmelzung zur Erſchei⸗
nung kommen.
Die neue Periode der Eutwicklung des lyriſchen Liedes beginnt
für die Dichtkunſt eigentlich ſchon mit Johann Chriſtian Gün—
ther (1693 — 1723), doch ſcheint feine Wirkſamkeit ſelbſt für die
Poeſie nicht erfolgreich geweſen zu ſein. Für die Tonkunſt und die
Entfaltung des geſungenen Liedes gewann er nur äußere Bedeutung,
indem er die Luſt am Liede nährte. Der rein ideelle Gehalt ſeiner
Lieder kommt muſikaliſch noch vollſtändig in der Weiſe des No. 29.
— 134 —
der Notenbeilage mitgetheilten Liedes aus: „Sperontes ſingender
Muſe an der Pleiße“ zur Erſcheinung. Die größte Zahl ſeiner
Lieder findet man auch in der genannten Sammlung mit Muſik
verſehen.
Wenig bedeutender muſikaliſch ſind die lyriſchen Lieder der
nachfolgenden Dichter: Friedrich von Hagedorn (1708 — 5,
Chriſt. Fürchtegott Gellert (1715 — 69), Magnus Gott—
fried Lichtwer (1719 — 83), Fr. W. Zachariä (1726 - 77),
Gottl. Con rad Pfeffel (1736 — 1809) und ſelbſt Fried rich
Gottlieb Klopſtock (1724 — 1803), ebenſo wenig wie die
Anakreontiker: J. W. Gleim (1719 — 1803), Peter Uz
(1720 — 96), Ewald Chriſt. Kleiſt (1715 — 59), Carl
Wilh. Ramler (1725 — 98) und J. Georg Jacobi (1740 —
1814) vermochten dem Liede einen eigentlich muſikaliſch bedeutſamen
Inhalt zuzuführen. Ihre „Oden“ ſind noch vollſtändig in der
Weiſe der Liederſammlungen des vorigen Jahrhunderts, mit den
Mitteln eines Graun, Benda, Nichelmann, Agricola und
Marpurg, oder eines Hiller und Schulz muſikaliſch darzu—
ſtellen. Zwar regten die Lieder des bedeutendſten der genannten
Lyriker, Klopſtock's, den großen Tonmeifter Chriſtoph von
Gluck zu von der gewöhnlichen Praxis abweichenden Verſuchen,
ſie muſikaliſch darzuſtellen, an, und unzweifelhaft wirkte dieſer hier-
durch, wie überhaupt durch ſeine geſammte künſtleriſche Thätigkeit
der letzten Decennien ſeines Lebens fördernd auch auf Weiterent—
wicklung des Liedes, allein directen Einfluß konnte er nicht gewin—
nen. Er ſah in Klopſtock viel weniger den Lyriker, als den
wiedererſtandenen Barden. Seine Biographen erzählen, daß er nur
ungern die Muſik zu dieſen Liedern niederſchrieb. Am liebſten
improviſierte er fie am Clavier. Mit wenigen, nur ihm verſtänd—
lichen Zeichen markierte er ſich die Accente der Textesworte und
ſang die Lieder dann mit freier Declamation nach Art des gemeſſe—
nen Recitativs zu einer, meiſt aus vollen gehaltenen Accorden
beſtehenden Clavierbegleitung. Dieſen Urſprung haben unſtreitig
auch die uns erhaltenen Compoſitionen der ſechs Klopſtock'ſchen
Oden: „Vaterlandslied,“ „Wir und Sie,“ „Schlachtgeſang,“
„Der Jüngling,“ „Die Sommernacht“ und „Die frühen Gräber.“
Daß ſelbſt ein ſo reich begabter und durchbildeter Meiſter wie
Gluck auf dieſem Wege die neue, durch den neuen poetiſchen
Bu:
Inhalt gebotene Form des Liedes nicht finden konnte, iſt unzweifel—
haft. Die Gluck' ſchen Lieder find kaum Illuſtrationen der einzelnen
Strophen, ſie ſind eigentlich nur aus potenzierten Hauptaccenten,
die ſich auf dem Grunde eines mehr pſalmodierend einförmigen
Geſauges Hangvoller herausheben, zuſammengeſetzt. Schon fein
unmittelbarſter Nachfolger in dieſer Richtung, obgleich dem Meiſter
ſonſt untergeordnet, Friedrich Reichardt, verſtand beſſer das
neue Element auch im feſten Anſchluß an die alte vollendete Form
einzuführen. Daß aber einzelne Klopſtock' ſche Oden einen bedeu—
tenderen muſikaliſchen Inhalt dem Tondichter entgegen brachten, als
Gluck in ſeiner Declamation zur Erſcheinung bringt, das zeigte
fünfzig Jahr ſpäter Franz Schubert.
Größeren Einfluß gewann das muſikaliſche Element in der
Poeſie indeß erſt durch die Dichter des Göttinger Hainbundes.
Nach ſeiner mehr volksmäßigen Richtung betrachteten wir dieſen
ſchon im vorigen Kapitel. Er ſollte auch für die Entwicklung des
Kunſtliedes einflußreich werden.
Nicht alle Lieder von Gottfr. Aug. Bürger (1748 — 94),
Ludwig Heinrich Chriſtoph Hölty (1748 — 76), deu beiden
Grafen zu Stolberg Chriſtian (1748 — 1821) und Fr. Leo⸗
pold (1750 — 1819) und Johann Heinrich Voß (1751 —
1826) boten, wie die von Matth. Claudius (1740 — 1815),
nur Raum für eine volksmäßige Melodie in der Weiſe von J. A. P.
Schulz. Namentlich einige Lieder von Bürger und Hölty ſind
mit einem jo bedeutenden Gefühlsinhalt erfüllt, daß nur die ſüßeren
und innigeren Weiſen der ſpätern Meiſter ihn muſikaliſch darzu⸗
ſtellen vermochten und zwar nicht ohne die ausgebreitetſte Betheili—
gung der Inſtrumental⸗, namentlich der Clavierbegleitung. Das
fühlten ſchon die Tondichter jener Zeit, und bei Hiller, mehr noch
bei Schulz verſucht hin und wieder die Clavierbegleitung dem
Text ſelbſtändig näher zu kommen. Allein es geſchieht dies meiſt
auf Koſten der Melodie, die in ſolchem Falle immer nackt rezitierend
oder inhaltslos phrajenhaft wird. Die Begleitung ſelbſt aber kommt
nirgends über jene Situationsmalerei hinaus, die im Lied der
„Spinnerin“ das Schnurren des Spinnrades, oder in dem Hölty—
Schulz' ſchen: „Schwer und dumpfig hallt Geläute“ die dumpfen
Schläge der Glocken nachzuahmen verſucht.
— 3 —
Erſt als durch Wolfgang von Göthe (1749 — 1832) das
unbeirrte Naturgefühl in der geſammten deutſchen Dichtung und
namentlich im lyriſchen Liede ausſchließlich die Herrſchaft erlangt,
beginnt für das geſungene Lied die neue Periode, in welcher
Melodie und Begleitung die geheimſten und feinſten Züge des
menſchlich empfindenden Herzens darlegen. So wird der größte
deutſche Dichter auch der Schöpfer des modernen geſungenen
Liedes.
Zwei Tondichter ſind es zunächſt, die ſich faſt ausſchließlich
dem Göthe'ſchen Liede zumvenden: Johann Friedrich Reichardt
und Carl Friedrich Zelter.
Reichardt wurde am 25. November 1751 zu Königsberg in
Preußen geboren. Früh erwählte er die Tonkunſt zu ſeinem Lebens⸗
beruf und erlangte namentlich als Geiger eine ſolche Bedeutung,
daß ihn, nach ſeinem erſten öffentlichen Auftreten in Berlin 1775
der König Friedrich II. an Stelle des verſtorbenen Graun zu
ſeinem Hofkapellmeiſter ernannte. In dieſer Stellung verblieb er
indeß nur bis zum Jahre 1794, in welchem ihn der Nachfolger
des großen Preußenkönigs, Friedrich Wilhelm II. verabſchiedete.
Reichardt lebte jetzt ohne beſtimmten Wirkungskreis längere Zeit
in Stockholm und Hamburg und kaufte ſich ſpäter in Holſtein ein
Landgut, mußte aber vor dem eindringenden Feinde bald auch von
hier flüchten und gieng nach Danzig. Später ernannte ihn der
König zum Inſpector der Saline in Halle und Reichardt lebte
in Giebichenſtein, bis er 1806 durch das Vordringen der Franzoſen
wieder zur Flucht genöthigt wurde. Er lebte jetzt ein ganzes Jahr
abwechſelnd in Danzig, Königsberg und Memel. Nach dem Tilſiter
Frieden gieng er wieder zurück nach Halle, da aber mittlerweile die
Stelle als Salinendirector aufgehoben war, wandte er ſich nach
Kaſſel, und bewarb ſich um die daſige Hofkapellmeiſterſtelle, die er
auch erhielt. Er mußte indeß auch dieſe Stelle, nicht ohne eignes
Verſchulden wieder aufgeben und gieng nach Wien. Unterhand—
lungen, welche er mit der dortigen Theaterdirection pflog, führten
zu keinem Ziel, und ſo ſiedelte er wiederum nach Giebichenſtein
über, wo er am 27. Juni 1814 ſtarb.
Reichardt war der erſte, der für das von ihm in Berlin
errichtete „Concert ſpirituel“ den Zuhörern die gedruckten Texte der
Vocalcompoſitionen in die Hände gab, und er lieferte ſchon hierdurch
— 137 —
den Beweis, wie tief er die Bedeutung des Wortes für den Geſang
erkannt hatte. Das Weſen des Wortaccents ſcheint ihm Gluck
erſchloſſen zu haben.
Mit regem Eifer wahrte er die Intereſſen dieſes Meiſters,
gegenüber der Berliner Kritik, die dem Componiſten der Iphigenien
und des Orpheus hartnäckig die gebührende Anerkennung verſagte
und ihn ausnahmslos geringſchätzig behandelte. In dem perſön—
lichen Verkehr, den Reichardt mit Gluck während eines Aufent-
halts in Wien pflog, ſcheint ihm namentlich die Anregung geworden
zu fein, die Gluck' ſchen Principien ausgebreiteter auf die Liedform
anzuwenden, als jener Meiſter ſelbſt, und er erreichte größere
Erfolge damit als Gluck, weil er ſich dabei mit vieler Vorliebe
zugleich an das Volksthümliche anlehnte. Wiederholt weiſt er in
ſeinen zahlreichen theoretiſchen Schriften auf die große kunſtgeſchicht—
liche Bedeutung des Volksliedes hin, und ihm ſelbſt ſchwebte es bei
ſeinen Liedſchöpfungen als Muſter vor. Doch eine rechte Ber-
ſchmelzung der Gluck' ſchen mit der Volksweiſe erreichte er nur
in wenigen. Volksthümlich Empfundenes und nach Gluck' ſchem
Princip Erfundenes ſteht meiſt unvermittelt neben einander. Es
gilt dies weniger von den Melodien zu Klopſtock's Oden. Sie
ſind nur in der Form volksthümlich, der eigentliche Geſang erhebt
ſich nirgend über eine trocken reizloſe Declamation der Textesworte.
Dagegen bot die Göthe' ſche Lyrik ein unendlich weiteres Feld für
Experimente im oben angegebenen Sinne. Das Göthe’fche Lied
quillt ſo unmittelbar aus dem unendlich reichen und tiefbewegten
Innern des Dichters heraus, daß in den Worten ſelbſt ſchon eine
bezaubernde Sprachmelodie liegt, welcher der Componiſt nur nachzu—
gehen braucht, um einen reizenden Geſang zu erfinden. Es iſt mit
den farbigſten Bildern ſo mannichfaltig belebt; jeder Gedanke hat
ſo beſtimmt faßbare Geſtalt gewonnen, daß die erhöhte Sprach—
melodie gleichſam nur den Untergrund bildet, auf welchem das
Ganze eingewebt iſt. Freilich hat die Tonkunſt mit dieſer Melodie
noch wenig für die Darſtellung des, das Gedicht erzeugenden Ge—
fühlsobjekts gethan, und wir werden bei den ſpätern Meiſtern des
Liedes ſehen, welch andere Mittel ſie noch aufbieten mußten, um
den Liederfrühling auch muſikaliſch emportreiben zu laſſen, den der
Altmeiſter der lyriſchen Dichtung in der Poeſie heraufgezaubert
hatte. Doch bei dem Stande des geſungenen Liedes zu Reichardt's
*
— 138 —
Zeit war ſeine Weiſe doch immer ein bedeutſamer Fortſchritt. Sie
bezeichnete den Weg, den die Tondichter einzuſchlagen hatten, um
zu jenem Liederfrühling zu gelangen. In einzelnen Liedern, wie in
den naiven: „Sah ein Knab ein Röslein ſtehen,“ oder „Die
Trommel gerührt,“ ja ſelbſt noch in dem andern Liede Clärchens:
„Freudvoll und leidvoll“ hat auch Reichardt die Verſchmelzung
von Volksweiſe und Sprachaccent ſo vollſtändig erreicht, daß dieſe
von ſpäteren begabteren Tondichtern nicht übertroffen worden ſind.
Allein in den meiſten erreichte er ſie nicht, weil er die Volksweiſe
doch nicht vollſtändig erkannte. Er bleibt meiſt an der tönenden
Geſangsphraſe haften, ohne zum rechten Bewußtſein des Gefühls—
inhalts, noch zur Erkenntniß der wahrhaft plaſtiſch heraustretenden
und durchbildeten Form, in welcher dieſer äußere Geſtalt gewinnt,
zu gelangen. Er adoptiert daher ebenſo Phraſen des Bänkelſänger—
liedes, wie des eigentlichen Volksliedes. Namentlich gilt dies von
ſeinen Melodien zu Liedern der Romantiker, wie zu Tieck's: „Im
Windsgeräuſch,“ vor allem aber von den Melodien zu den Iyrifchen
Gedichten Schiller's. Ihnen mangelt die tiefe Innerlichkeit
Göthe's. Schiller's Poeſie iſt mehr Gedankenpoeſie. Daher
fehlt den Liedern auch die bezaubernde Sprachmelodie und Reichardt
ſchwankt in feinen Melodien zwiſchen dem, doch meiſt noblen Bänkel—
ſängerton und einem, durch die Gluck' ſchen Principien herbei—
geführten, nicht ſelten phraſenhaften Bühnenpathos. Intimer geſtal⸗
tet ſich das Verhältniß zwiſchen Melodie und Text und Stimmung
ſchon in den Liedern von
Carl Friedrich Zelter. Er iſt in Berlin am 11. Decbr.
1758 geboren. Auch er gehört jenem Kreiſe von Dilettanten an,
die ſich durch echt künſtleriſches Streben mannichfache Verdienſte
um die Kunſtentwicklung erwarben. Dem Willen ſeines Vaters gemäß
ergriff er den Beruf deſſelben und wurde ein tüchtiger ehrenfeſter
Mauermeiſter. Daneben genoß er das Glück einer ſorgfältigen
Erziehung. Auch die Muſik blieb davon nicht ausgeſchloſſen. Doch
zeigte der Knabe wenig Drang zu dieſer Kunſt, bis er im achtzehn—
ten Jahre mit ſolcher Heftigkeit in ihm erwachte, daß der Jüngling
ſich ihm ganz zu widmen trachtete. Allein dem widerſetzte ſich der
Vater mit aller Entſchiedenheit, und weil der Sohn nicht hoffen
durfte den Widerſtand des Vaters je zu beſiegen, ſo warf er ſich
mit um ſo größerem Eifer auf Erlernung ſeines Handwerks, um
*
Bin ee
möglichſt früh zu der Selbſtändigkeit zu gelangen, die ihm auch die
Möglichkeit verſchaffte, ſich mit ſeiner geliebten Kunſt zu beſchäftigen.
Schon im 25. Jahre konnte er ſich in feiner Vaterſtadt als Meiſter
etablieren und nun trieb er ſo fleißig neben ſeinem eigentlichen
Beruf Muſik, daß er nicht nur eine locale Bedeutung für Berlin,
ſondern eine allgemeine für die Kunſtgeſchichte gewann. Nach dem
Tode des Stifters und Dirigenten der Singakademie, Faſch, mit
dem er eng befreundet war, übernahm er die Leitung derſelben.
1809 ertheilte ihm der König das Prädikat eines Profeſſor der
Tonkunſt und er wurde als ſolcher zugleich unter die Mitglieder
der Akademie für Kunſt und Wiſſenſchaft aufgenommen. Die letz⸗
ten Jahre ſeines Lebens widmete er ausſchließlich der Tonkunſt.
Er ſtarb allgemein verehrt am 15. Mai 1832.
Einzelner Lieder Zelter's mußten wir bereits im vorigen
Kapitel Erwähnung thun. Hier wird uns namentlich ſeine Stel—
lung zu den Liedern Göthe's, mit dem er innig befreundet war,
beſchäftigen. Zelter überragt in feinen Liedcompoſitionen Rei—
chardt nach allen Seiten. Zunächſt begegnen wir bei ihm wieder
einer größeren formellen Abrundung wie bei Reichardt. Er hat
dem Volksliede nicht nur einzelne klangvolle Phraſen, ſondern das
feſte Formgefüge abgelernt. Das ſtrophiſche Gebäude bildet er auch
muſikaliſch ſorgfältig und zu gewiſſer Selbſtändigkeit aus. Dadurch
kommt in das Ganze ein einheitlicher Zug der Stimmung, der dem
Liede von Reichardt nur zu oft fehlt. Dem entſprechend ſind
auch ſeine Melodien geformt. Wortaccent und Volksliedweiſe durch—
dringen ſich ſchon jo, daß die Melodie innig und doch charakteriſtiſch
und leichtfaßlich ſich dem Text anſchmiegt und die Bedeutung einer
wirklichen Interpretation deſſelben gewinnt. Die Volksliedweiſe
läßt die Grundſtimmung mehr allgemein ausklingen und erſt in
der Aufnahme der Sprachaccente erlangt ſie faſt begreifliche
Beſtimmtheit. ei.
Durch eine reichere Harmonik und gewähltere Clavierbegleitung
verleiht Zelter ſeinen Melodien ferner ſchon etwas von jener
Süße, welche das Lied in ſeiner Blüte auszeichnet. Reichardt
wählt ſeine Begleitungsfiguren mehr in dem Beſtreben, die har—
moniſche Grundlage claviermäßig aufzulöſen — Zelter erfindet ſchon
charakteriſtiſche, der Stimmung entſprungene Motive, aus deren
dialektiſcher Entwicklung ſich dieſe dann von ſelbſt ergiebt. So ſteht
en
Zelter den Meiſtern, welche das Lied zu höchſter Blüthe brachten,
näher als Reichardt.
Zwei Meiſter des Liedes ſind demnächſt zu nennen, die den
Beſtrebungen der vorhergenannten ſich anſchloſſen, und von denen
je einer nach einer beſtimmten Seite wiederum einen Schritt weiter
zur vollkommenen Kunſtgeſtalt des Liedes that: Ludwig Berger
und Bernhard Klein:
Berger iſt gleichfalls in Berlin, am 18. April. 4777, geboren.
Die Amtsverhältniſſe ſeines Vaters machten früh ſeine Ueberſiedlung
nach Templin und ſpäter nach Frankfurt a. O. nothwendig und in
dieſen beiden Orten verlebte TLudwig Berger feine Knaben- und
Jünglingszeit, bis er nach Berlin zurückgieng, um ſich ganz der
Tonkunſt zu widmen. 1801 wandte er ſich nach Dresden, um den
Unterricht des damals berühmten Componiſten und Capellmeiſter
Naumann zu genießen. Allein der ſo plötzlich erfolgte Tod deſ—
ſelben vereitelte die Ausführung dieſes Plans. Nachdem Berger
ſich längere Zeit vergeblich bemüht hatte, eine Anſtellung in Dres—
den zu gewinnen, gieng er wieder zurück nach Berlin. Im Jahre
1804 veranlaßte ihn Clementi, mit ihm die Reife nach Peters-
burg zu machen und Berger gieng um ſo williger darauf ein,
als ihm Clementi Unterricht in dem Clavierſpiel und ſeinen Rath
in der Compoſition zuſagte. Sechs Jahr blieb Berger in Peters-
burg und gieng dann über Stockholm nach London, woſelbſt er bis
1815 verweilte. In dieſem Jahre kehrte er wieder nach Berlin zurück
und lebte hier bis an ſeinen am 16. Febr. 1839 erfolgten Tod.
Die wenigen veröffentlichten Werke laſſen in ihm ein ſeltenes
Talent erkennen. Seine Lieder ſind denen Reichardt's näher
verwandt als denen Zelter's. Wie jener berückſichtigt er vorwiegend
die Declamation, ſo daß die größte Anzahl der Lieder nur in der
harmoniſchen Grundlage und der Clavierbegleitung die Liedform
beſtimmt ausgeprägt zeigen, die Melodie hingegen ſich meiſt in
Phraſen des gebundenen Recitativs auflöſt. Doch unterſcheidet ſich
ſeine Weiſe der Accentuation von der Reichardt's namentlich
dadurch, daß er die Accente nicht melodiſch, ſondern harmoniſch
klangvoller herausbildet. Ludwig Berger war zugleich ein
geſchätzter Claviervirtuos, und wie ſeit Mozart das Clavier die
ganze Entwicklung der Tonkunſt überhaupt beherrſcht, ſo macht es
jetzt einen bedeutenden Einfluß auch auf die Weiterbildung des Lie—
A
des geltend. Bei Berger freilich noch nicht in der Weiſe, daß
es das inſtrumental auszuführen trachtet, was im Vocalen noch
unausgeſprochen zurückgeblieben iſt, ſondern durchaus mehr äußer—
lich durch den Klang des Inſtruments den Geſang unterſtützend.
Höchſtens verſucht er jene Situationsmalerei, der wir ſchon früher
begegnen. Seine Melodien entbehren in ihrer recitativiſchen Füh—
rung jener Weichheit und Innigkeit, die dem lyriſchen Ausdruck die
Süße verleiht, und ſo ſucht er die letztere durch das Inſtrumental—
colorit zu erreichen. Er wählt ſeine Harmonien und die beſondere
Weiſe ihrer Darſtellung nur in dem Beſtreben, jenen berückenden
Klang zu erzielen, den ſonſt die Innigkeit und Weichheit der Melo—
die und der ihr abgelauſchten Harmonie dem Volksliede und dem
ſpäteren Kunſtliede geben. Die Stimmung klingt nur inſtrumental
aus und zwar auch nicht ſeeliſch belebt, ſondern nur äußerlich
erregt. Mit einzelnen Liedern, wie dem „Nachtlied“ aus „Die
ſchöne Müllerin“ (Op. 11.), tritt er allerdings von alle den bisher
genannten den ſpätern Meiſtern des Liedes am nächſten. Allein
daß auch dieſe höchſtens als Vorboten des neuen Frühlings gelten
können, wird uns noch klarer werden, wenn wir Schubert's
„Die ſchöne Müllerin“ einer ſpecielleren Betrachtung unterziehen.
Der vierte Berliner Künſtler endlich, dem wir in verwandten
Streben begegnen: |
Bernhard Klein, iſt zu Köln 1794 geboren und genoß
Anfangs einen nicht ſehr umfaſſenden Unterricht in der Muſik. Im
Jahre 1812 fand er Gelegenheit nach Paris gehen und dort den
Unterricht Cherubini's genießen zu können. Vielfach bereichert
an Erfahrungen und Kenntniſſen übernahm er nach ſeiner Rückkehr
die Oberleitung der muſikaliſchen Aufführungen im Dome und des
damit verbundenen Inſtituts. 1819 gieng er auf Koſten des
Miniſteriums nach Berlin, um die dortigen Muſikinſtitute kennen
zu lernen und kehrte dann als ordinierter Dom-Capellmeiſter nach
Cöln zurück. Allein der Aufenthalt in Berlin hatte eine ſolche
Vorliebe für dieſe Stadt in ihm geweckt, daß er ſich um eine Stelle
bei der dort neu gegründeten Organiſtenſchule bewarb. Man über⸗
trug ihm Generalbaß und Contrapunkt zu lehren und zugleich die
Stelle als Muſikdirector und Geſanglehrer an der Univerſität.
In dieſen Kreiſen wirkte er mit Eifer und Erfolg bis an ſeinen
1832 am 9. September erfolgten Tod.
Sa.
Mit beſonderer Vorliebe hatte Klein ſich auch den dramatiſchen
Formen zugewendet und zwei ſeiner Oratorien: „Jephtha“ und
„David“ haben auch in weiteren Kreiſen Anerkennung gefunden.
Ueber ſeine Stellung zum Liede hatten wir ſchon mehrmals
Gelegenheit, uns auszuſprechen. Dadurch, daß er die Melodien mehr
formell abgerundet wie im Volksliede herausbildet, ſchließt er ſich
inniger an Zelter an; aber er überragt ihn, indem er ihnen ein
glänzenderes Kolorit verleiht, und zwar nicht wie Berger inſtru—
mental, ſondern wirklich vocal durch ein Anbilden des Männerchor—
klanges. Sie erhalten dadurch ſchon eine Anmuth und Süße, die
faſt die mangelnde Innigkeit und Innerlichkeit zu erſetzen im Stande
iſt. Namentlich vermeint man aus einzelnen ſeiner Göthe-Lieder
ſchon eigenes und perſönliches Selbſtempfinden herausklingen zu
hören. Doch ſcheint dies nur ſo. In dieſen Berliner Künſtlern
lebte das nur vereinzelt, was vereint zuſammen wirken mußte,
um die Göthe'ſche und die moderne Lyrik überhaupt auch mufi-
kaliſch wieder gebähren zu können. Die Innigkeit des Volks—
liedes mußte ſich mit der Verſtändlichkeit und Prä—
ciſion des Wortausdrucks und mit dem ganzen Reich—
thum und dem berückenden Zauber des Vocalen wie
des Inſtrumentalen zu untrennbarer Einheit ver—
ſchmelzen und in dem einen Meiſter ſich ſchaffend
erzeigen; ſo nur konnte der neue Liederfrühling auch muſikaliſch
herauftreiben. Aunähernd verſuchten dieſe Verſchmelzung zwei
Meiſter, denen wir hier noch einige Worte widmen, obgleich beide,
weder hierdurch noch anderweitig, Bedeutung für die weitere Ent—
faltung des deutſchen Liedes gewinnen konnten:
Louis Spohr und Heinrich Marſchner.
Spohr, am 4. April 1783 in Braunſchweig geboren, bil
dete ſich früh zum Geigenvirtuos aus und erlangte als ſolcher
Weltruf und hiſtoriſche Bedeutung. Daneben ſtudierte er fleißig
ſchon früh die Compoſition und erlangte auch hierin, weniger noch
durch feine wirklich poſitiv bedeutenden Leiſtungen, als vielmehr
durch ſeinen außerordentlichen Fleiß und ſeine Allſeitigkeit, und
allerdings auch durch einen Zug ſeiner Individualität, der ihn
namentlich für unſern Gegenſtand intereſſant macht, und von dem
wir daher noch reden, Bedeutung. Er war wol auf allen Gebieten
der muſikaliſchen Compoſition thätig. Von ſeinen Opern hat nur
a
„Jeſſonda“ ein tiefer gehendes Intereſſe erregt; feine übrigen zahl—
reichen Werke, ſeine Oratorien, Symfonien, Quartette u. ſ. w.
haben ihn eigentlich alle, mit Ausnahme einiger Violinconcerte und
Etüden überlebt. Nach ſeiner ganzen Eigenthümlichkeit war er
vielleicht ſchon berufen, jene Verſchmelzung, die das Lied erforderte,
zu vollenden, und weil er dies verkannte, konnte er überhaupt nur
untergeordnete Bedeutung als ſchaffender Tonkünſtler erlangen.
Auch er begann früh ſich dem weltlichen und geiſtlichen Oratorium
zuzuneigen, obgleich er eine durchaus wenig dramatiſch angelegte
Natur iſt, und vielmehr zu lyriſcher Selbſtbeſchaulichkeit, als zu
energiſcher Objektivierung ſeines Innern an großen Bildern geneigt
iſt. Dies war ein ungewöhnlich reiches und vielleicht wäre in ihm
die Blüte des Liedes früher heraufgetrieben, wenn er nicht über
dem vergeblichen Beſtreben, feine Individualität an größern Ereig-
niſſen und Vorgängen zuſammen zu halten und fie in größere For—
men zu gießen verſäumt hätte, ſich überhaupt die Kunſt der plaſti—
ſchen Formgebung anzueignen. Wie er jede einzelne Scene der
Oper oder des Oratoriums in einzelne Gefühlsergüſſe aufzulöſen
gezwungen iſt, ſo ſelbſt ſeine Lieder. Die urſprünglich gefeſtete
Liedform iſt ſelten oder nie bei ihm herausgebildet. Er geht mit
dem ernſten Willen an ſeine Texte, ihren Inhalt muſikaliſch voll—
ſtändig zu erſchöpfen und erreicht dies auch meiſt im ſichern An—
ſchluß an das Wort und durch feinſinnige Verwendung all' der
genannten Ausdrucksmittel; aber er vereinzelt alles und die Macht
ſeiner Empfindung iſt nicht ſtark genug, die einzelnen feinen Züge
einheitlich zum Ganzen zuſammenzufaſſen. So nähert ſich ſeine
Liedgeſtaltung jener Form, die, freilich von andern Vorausſetzungen
ausgehend, von den Meiſtern des dramatiſchen Styls verſucht wurde
und die als ſceniſche Erweiterung des Liedes die letzte Vorbereitung
des neuen Liederfrühlings iſt. Spohr ſtarb am 22. Octbr. 1859.
Eine ähnliche Stellung wie Spohr nimmt, wie ſchon ange—
deutet, Heinrich Marſchuer dem Liede gegenüber ein. 8
Er iſt im Jahre 1795 zu Zittau geboren und war Anfangs
für das Studium der Jurisprudenz beſtimmt. Allein nachdem er
1813 die Univerſität bezogen hatte, wurde er ihr untreu und wid—
mete ſich ganz der Tonkunſt. 1816 gieng er nach Wien und nahm
ſpäter eine Muſiklehrerſtelle in Preßburg an. 1822 finden wir ihn
in Dresden, woſelbſt eine Oper von ihm aufgeführt wurde, und
— 144 —
im nächſten Jahre erhielt er hier eine Muſikdirectorſtelle. 1826
gieng er nach Leipzig und 1830 als Hofkapellmeiſter nach Hannover,
woſelbſt er noch rüſtig ſchaffend thätig iſt. Bei ungleich größerer
dramatiſcher Begabung fehlt ihm die Feinheit, Tiefe und Innigkeit
der Empfindung, die Spohr in ſo hohem Maße beſaß, und hierin
vor allem liegt wol der Grund, daß Marſchner nicht wie Spohr
zu einem eignen Styl gelangte. Eine große Anzahl ſeiner Lieder
ſingt er ganz in der Weiſe des volksthümlichen Liedes, häufig mit
modernen Elementen, ſogar des noblen Bänkelſanges verſetzt,
andere wieder in Spohr'ſcher Weile faſt ſceniſch erweitert.
So bedeutſam die Beſtrebungen Beider an ſich ſind, von
Einfluß find fie nicht geworden. Die muſikaliſchen Darftellungs-
mittel für die neue Lyrik waren durch jene Berliner Künſtler mit
großer Beſtimmtheit bezeichnet, und nachdem die Meiſter des Drama-
tiſchen: Mozart und Beethoven die erſchöpfende Darſtellung
der neuen Lyrik in der ſceniſch erweiterten Liedform verſucht hatten,
bedurfte es keiner weiteren Anleitung, daß auch der volle Ausdruck
in der knappen Form des Liedes gefunden wurde.
Viertes Rapitel.
Die neue Lyrik verleitet zu ſceuiſcher Erweiterung
des Liedes.
Wenn die ganze Weiſe der Berliner Liedercomponiſten ſchon
an ſich noch äußerſt wenig der neuen, durch Göthe gewordenen
lyriſchen Dichtung entſprach, ſo konnte ſie noch weniger jenen drei
großen Meiſtern genügen, in deren Phantaſie jede äußere Anregung
gewaltige und mächtige Tonbilder erzeugte, die zu den Texten ihrer
Vocalwerke von vorn herein in ein anderes Verhältniß traten.
Jene Berliner Künſtlergruppe iſt von ihren Liedertexten nur ganz
oberflächlich angeregt, und namentlich aus den Liedern Göthe's
hören ſie wenig mehr heraus, als was bereits in der Sprachmelodie
ſingt und klingt. Ein echter Tondichter darf dabei nicht ſtehen
— 1 —
bleiben. Er nimmt den Text vollſtändig in ſich auf, läßt dann die,
dadurch ſeinem Gefühl vermittelte Stimmung in ſeiner Phantaſie
Geſtalt gewinnen, und bringt dies Geſtaltgewordene durch eigene
Mittel in eigener Weiſe in Melodie und Begleitung zu äußerer
Erſcheinung. Hierbei darf er ſich aber weder des phonetiſch-muſi—
kaliſchen Elements der Sprache, jener Sprachmelodie, entäußern,
noch darf er das dadurch bedingte Formgerüſt zerbrechen; denn mit
dem Begrifflichen der Sprache verliert die Muſik die Beſtimmtheit
des Ausdrucks, mit der Form die tiefere Beziehung zum Text, und
in den meiſten Fällen ſelbſt die Möglichkeit des Ausdrucks.
Nur durch die innigſte Verbindung von Sprache und Muſik,
wenn jene muſikaliſchen Tonbilder ſich nach Anordnung und unter
dem entſchiedenſten Einfluß des Textes darſtellen, gewinnt der Geiſt
den höchſten menſchlichen Ausdruck.
Mozart war der Erſte, welcher dem Göthe'ſchen Liede
gegenüber dieſe Stellung einnimmt. Einem Künſtler von ſeiner
Größe und dem abſolut-muſikaliſchen Gefühlsinhalt, wie er ihn
beſaß, konnte die bloße, auch noch ſo klangvolle Notierung der
Sprachaccente nimmer genügen. Wie alles, was ſein immer nach
außen offener Geiſt aufnimmt, ſo ſetzen ſich auch jene Texte ſofort
in muſikaliſche Bilder um, und dieſe bringt er nicht in die der
lyriſchen Stimmung, ſondern feiner Stellung zur Kunſt im Allge-
meinen entſprechenden Formen.
Mit ſeinem unmittelbaren Vorgänger und Zeitgenoſſen Joſeph
Haydn war die Tonkunſt erſt in ein näheres und beſtimmtes Ver-
hältniß zum Leben getreten, ſo daß dies auf den Gang ihrer
Geſchichte von Einfluß wird, und wie dieſer hatten auch Mozart
und der dritte Zeitgenoſſe und Nachfolger, Ludwig van Beetho—
ven, die große Miſſion, dies Verhältniß zu beſtimmen und in
allen Conſequenzen zu verfolgen. Der eine faßte das Leben, wie es
in bunten Geſtalten in Wald und Feld in der realen Welt ſich
entwickelte, der andere, wie es ſich im Getriebe der gährenden
Leidenſchaften und der dritte endlich, wie es der äußern Erfchei-
nungsformen blos, als gigantiſches Phantaſiebild ſich geſtaltet. Jene
lyriſche Selbſtbeſchaulichkeit, wie ſie das Lied erfordert, mußte ihnen
in ſolchem Beſtreben immer fern bleiben.
Haydn's Lieder ſind, bis auf jenes Kaiſerlied, deſſen wir
ſchon gedachten, ohne Ausnahme in jenem volksthümlichen Inſtru⸗
Reißmann, deutſches Lied. 10
— 146 —
mentalſtyl geſchrieben, den zu finden und zu vollenden ſeine künſt⸗
leriſche Aufgabe wurde.
Mozart's Individualität war ſo reich und innig, daß er
eine Menge muſikaliſcher Darſtellungsmittel für die lyriſche Iſo—
lierung herbeiſchaffte, aber ohne die rechte Form für das Lied ſelbſt
zu finden. Er ſollte die individuellen Mächte des Lebens entfeſſeln,
nicht wie ſie ſich in einem Einzelnen, ſondern in der geſammten
Menſchheit wirkſam erweiſen. Daher ſingt er ſeine Lieder innig,
aber entweder in der Weiſe des volksthümlichen Liedes, oder, wo
ſich ihm ein tieferer ideeller Inhalt aufdrängt, ſceniſch erweitert,
wie „Das Veilchen“ von Göthe.
Das Gedicht iſt muſikaliſch entſchieden ebenſo lied- oder höch—
ſtens romanzenmäßig zu behandeln, wie Göthe's „Fiſcher“ oder
„Haidenröslein.“ Mozart wählt weder die eine, noch die andere
Form. In jeder derſelben war die Darſtellung der Grundſtimmung
Hauptbedingung und die Einzelzüge des Gedichts durften nur ſo
weit berückſichtigt werden, als ſie im Stande ſind, die Grund—
ſtimmung zu erhöhen und zu befeſtigen. In Mozart wird jeder
einzelne Zug mit gewiſſer Selbſtändigkeit lebendig, und ſo ſtellt er
ihn auch muſikaliſch dar. Er ſcheidet im Geſang ſchon den Ton
der ruhig fortlaufenden Erzählung von dem der herbſüßen Worte
des redend eingeführten Veilchens und läßt dann das ganze Ereig—
niß an uns vorübergehen. Wir ſehen mit dem Componiſten das
Veilchen „in ſich gebückt“ vor uns ſtehen und die Schäferin (im
ſonnenhellen D dur) „mit leichtem Schritt und munterm Sinn“
daher kommen; fühlen die ſtille Sehnſucht des Veilchens, ſehen es
„ſinken“ und „ſterben“ und empfinden, wie es ſich freut, daß es
durch ſie, zu ihren Füßen ſtirbt, und wir rechten dann mit dem
Componiſten nicht, daß er dem Gedicht willkürlich einen Anhang
giebt, um dem Veilchen ſeine ganze Theilnahme auszudrücken, ganz
beſonders aber um die Grundſtimmung am Schluß charakteriſtiſch
ausklingen zu laſſen. Der Meiſter fühlte wol, daß in dieſer
Behandlung, wie in jedem, noch ſo complicierten Kunſtwerk die
Grundſtimmung aus allen Einzelheiten ſich ergiebt, aber nicht mit
der zwingenden Nothwendigkeit, wie beim lyriſchen Liede, in welchem
ſie alle andern Momente der Darſtellung beherrſcht. Die urſprüng—
liche Liedform iſt nur noch in dem Einfluß, den fie überhaupt auf
derartige erweiterte Formen ausübt, zu erkennen. Reim und
— 1471 —
Strophenbau finden nicht weiter Berückſichtigung, als die, im
Uebrigen von beiden unabhängige muſikaliſche Conſtruction es geftat-
tet. Von entſcheidendem Einfluß auf die Weiterbildung des Liedes
wird dieſe Behandlung ganz beſonders dadurch, daß die harmoniſche
Grundlage ſich nach den ungleich größern Dimenſionen des Ganzen
bedeutend erweitert. Bisher bietet jener einfachſte, natürliche Har—
moniſationsprozeß das ausreichende Material für die Liedgeſtaltung.
Die Haupttonart, als Träger der Grundſtimmung, wird am Ent⸗
ſchiedenſten feſtgehalten. Ein reicherer Inhalt erfordert dann wol
auch die Ausprägung der Dominant⸗ oder Unterdominant- Zonart
und weiterhin ſogar die der Ober- und Untermediante zu gewiſſer
Selbſtändigkeit. So entſtehen innerhalb der Form einzelne Partien,
die ſich gewiſſermaßen ſelbſtändig zu Theilen abrunden, aber nur
wie die Stollen der älteren Liedform. Sie werden, wie wir an
mehreren Liedern nachwieſen, durch harmoniſche Verſchränkung oder
ſequenzenmäßig zu einem ſtrophiſchen Versgefüge zuſammengefaßt.
Die ſceniſche Erweiterung des Liedes verläßt dieſe Geſtaltung. Das
Beſtreben, die einzelnen, im Text angeregten Tonbilder zu mög⸗
lichſt charakteriſtiſchen Gruppen herauszubilden, macht die Einführung
ſelbſt leiterfremder Tonarten und ihre ſelbſtändige Ausprägung
nöthig. Das „Veilchen“ von Mozart zeigt nicht nur die Haupt—
tonart Gdur und die Dominant J dur vollſtändig ausgeprägt,
ſondern auch die G moll, die Es dur- und B dur-Tonart erlangen
die Bedeutung ſelbſtändiger Tonarten. Dadurch aber wird die
ſtrophiſche Gliederung unmöglich gemacht. Das bedeutendere Mate⸗
rial fügt ſich ihr nicht mehr; die einzelnen Partien treten nur noch
harmoniſch in Beziehung, und die, im Großen geſtaltende Macht
des Rhythmus faßt ſie einheitlich zuſammen. So entſteht eine
neue Form des Liedes, in welcher der ganze poetiſche Inhalt des
Gedichts ſich vollſtändig und rückhaltslos ausſpricht, doch nicht mit
der Schlagfertigkeit des urſprünglichen Liedes. Allein der Weg
hierzu wird dadurch ſo genau bezeichnet, daß der eigentliche Meiſter
des Liedes, Schubert, den letzten Schritt thun konnte, um den
reichen Inhalt auch in echter Liedweiſe darzuſtellen. Indem
er wieder zurückgeht auf jene urſprüngliche knappe,
ſtrophiſch-gegliederte und künſtlich ineinander gefügte
Liedform, innerhalb derſelben aber den ganzen Har—
moniereichthum des ſceniſch erweiterten Liedes ver—
10 *
—
— 148 —
wendet, erwächſt jenes kleine Kunſtwerk, in welchem
die zarteſten und die ſtärkſten Regungen des Innern
ganz und energiſch wirkſam in die äußere Erſcheinung
treten. Jener Meiſter hält feſt an dem urſprünglichen Formgerüſt
und indem er die Haupttonart beſtimmt ausprägt, gelangte er zu
der Einheit der Stimmung, welche für das lyriſche Lied Haupt⸗
bedingung iſt; allein zur weitern Darſtellung beider, zwiſchen die
Angelpunkte der Form, gleichſam auf dem Wege zu ihnen, nimmt
er jenes fremde Material des ſceniſchen Liedes mit auf und erreicht
dadurch die Möglichkeit, die Stimmung bis in die feinſten Ver—
ſchlingungen verfolgen zu können.
Weniger noch, als Mozart, war es ſeinem großen Nachfol—
ger auch auf dieſem Gebiete,
Ludwig vau Beethoven, vergönnt, die neue Form zu
finden. Er hatte ſich gewöhnt, alles in ſeinen weiteſten Beziehungen
zu faſſen, in ſeinen größten Dimenſionen anzuſchauen, und wie
ihm die lyriſchen Ergüſſe der Meſſe in ſeiner Missa solemnis zu
dramatiſchen Gebilden ſich perſonificieren, wie er den echt bürger—
lichen Stoff ſeiner Oper: „Leonore“ durch die Größe feiner An—
ſchauung zu heroiſcher Macht ſteigert, ſo erweitert er das Lied, das
ihm einen ungewöhnlichen Gefühlsinhalt bietet, noch energiſcher als
Mozart.
Beethoven wurde am 17. Decbr. 1770 in Bonn geboren.
Sein Vater, Tenoriſt an der churfürſtlichen Kapelle, war ein Mann
von rohen Sitten und tyranniſchem Charakter und mißhandelte den
Sohn nicht ſelten bei geringfügigen Kleinigkeiten. So bildete ſich
in dieſem früh jenes trotzige Selbſtgefühl und jener energiſche Trieb
laſtende Schranken zu durchbrechen, der ihn zwar in der Welt früh
vereinſamen ließ, aber um ſo heimiſcher innerhalb ſeiner Kunſt
machte.
Neben einer leidlichen Schulbildung erhielt der Knabe auch
Unterricht in der Muſik; anfangs von ſeinem Vater. Später wur⸗
den der Muſikdirector Pfeiffer und die Hoforganiſten van der
Eden und Neefe ſeine Lehrer. Schon im Jahre 1785 wurde er
Drganift an der churfürſtlichen Kapelle und bei feiner erſten An—
weſenheit in Wien im Winter des Jahres 1786 erregte er die Auf—
merkſamkeit Mozart's in ſo hohem Grade, daß dieſer in die
prophetiſchen Worte ausbrach: „Auf den gebt Acht, der wird ein—
— 1 —ͤ—
mal in der Welt von ſich reden machen.“ 1792 gieng er aber—
mals nach Wien, um bei Joſeph Haydn, der auf dem Gipfel
ſeines Ruhmes ſtand, ſich weiter auszubilden. Mit allem Eifer
begann er unter der Leitung dieſes Meiſters Contrapunkt und Gene—
ralbaß zu ſtudieren, allein er verließ ihn bald, weil ihm ſein
Unterricht nicht gewiſſenhaft genug erſchien. Er wählte nun den,
ſeiner Zeit wol bedeutendſten Contrapunktiſten und erfahrenen
Lehrer Albrechtsberger, und holte durch energiſche Studien
nach, was er früher hierin verſäumt hatte. Mit dem Jahre 1795
beginnt ſeine öffentliche Thätigkeit. In Wien hatte er viel früher
durch feine genialen Improviſationen allgemeines Auffehen erregt
und ſich zum Liebling der Ariſtokratie gemacht. In dem oben
genannten Jahre veröffentlichte er ſein erſtes Werk; die drei Haydn
gewidmeten Trio's für Clavier, Violine und Violoncell, und von
nun an ſchuf er eine faſt ununterbrochene Reihe von Meiſterwerken
in der verhältnißmäßig kurzen Zeit von dreißig Jahren und unter
der, freilich vielfach ſelbſt verſchuldeten Miſere des gemeinen Lebens,
die vielleicht noch empfindlicher auf ihm laſtete, als auf Mozart.
Sein großes und durchaus begründetes künſtleriſches Selbſtgefühl,
das ihn, freilich erfolglos, ſeine einzige Liebe in den höchſten ariſto—
kratiſchen Kreiſen ſuchen ließ, und ſeine Ungefügigkeit ſich den
Formen der äußern Welt anzubequemen, bereiteten ihm manchen
empfindlichen Zuſammenſtoß mit ihr. Es bildeten ſich jene Ecken
und Schrullen aus, die den perſönlichen Verkehr mit ihm ungeheuer
erſchwerten und ihn den Menſchen immer mehr entfremdeten.
Beſchleunigt wurde dies noch durch jenes ſchrecklichſte der Leiden,
die einen Muſiker treffen können, daß er taub wurde. Schon in
ſeinem dreißigſten Jahre wurde er von einem Gehörleiden heim—
geſucht, das ſpäter in faſt völlige Taubheit übergieng. So ver—
ringerte ſich der Kreis ſeiner nähern Umgebung und auch unter den
wenigen, die zu dieſem gehörten, waren nicht alle von Verehrung
und Liebe gegen ihn erfüllt. Es iſt hinlänglich bekannt, daß
namentlich ſeine Brüder Johann und Carl nicht eben brüderlich
an ihm handelten, und daß beſonders der Sohn des letzteren, für
den er nach des Vaters frühem Tode väterlich zu ſorgen bemüht war,
im Verein mit der unwürdigen Mutter ihm großes Herzeleid bereitete.
Im Jahre 1809 war er geneigt, einem Rufe zu folgen, den
der König von Weſtphalen an ihn ergehen ließ. Allein ſeine hoch—
— 150 —
geſtellten Gönner und Freunde, der Erzherzog Rudolph und die
Fürſten Kinsky und Lobkowitz, wußten ihn Oeſterreich zu erhalten,
indem ſie ihm einen Jahrgehalt von 4000 Gulden ausſetzten.
Durch die bekannten öſterreichiſchen Finanzmaßregeln wurde dieſe
Summe indeß 1811 ſchon bis auf ein Fünftel reduciert. Beethoven
ſtarb am 26. März 1827.
Wir haben ſeine Stellung zum Liede und zum Vocalen über—
haupt ſchon annähernd bezeichnet. Mit jenen Improviſationen,
durch die er ſo großes Aufſehen erregte, iſt die Richtung beſtimmt,
welche ſein wunderbarer Genius einſchlagen ſollte. Nicht eigentlich
das Vocale, ſondern das Inſtrumentale iſt das Feld feiner welt—
hiſtoriſchen Thätigkeit geworden. Er ſollte die Grenzen der Inſtru—
mentalmuſik beſtimmen; durch ewig muſtergiltige Kunſtwerke dar—
thun, welchen Autheil die Inſtrumentalmuſik an der künſtleriſchen
Darſtellung des wunderbaren Waltens des Weltgeiſtes nicht nur
im Großen und Ganzen, ſondern auch in ſeiner Erſcheinung im
Einzelnen nimmt. Daher bildet ſich bei ihm eine Größe und Weite
der Anſchauung, die ſich nimmer in den knappen Rahmen der Lied—
form bannen läßt. Noch weniger als Mozart iſt er im Stande,
die einzelne lyriſche Stimmung an ſich zum Darſtellungsobjekt zu
machen. Wo ſich ihm eine ſolche aufdrängt, verfolgt er ſie wie
in ſeinen Inſtrumentalwerken in allen ihren weiteren Beziehungen.
Dieſer Grundzug ſeiner Individualität hindert ſelbſt da, wo er
keine Gelegenheit zu ſolcher Ausbreitung findet, in den Liedern, die
er ſtrophiſch behandelt, den echt lyriſchen Erguß der Stimmung.
Die einzelnen Züge, in welche Mozart dieſe auflöſt, ſind alle
ſo weich und ſüßinnig gehalten, daß man jeden für ein lyriſches
Lied halten könnte, wenn ſie nicht ſo beſtimmt unter einander in
Beziehung gebracht wären. Die Innigkeit iſt ja ſo der Grundzug
ſeines Weſens, daß er ſie ſelbſt ſeinen Inſtrumentalwerken aufprägt.
Beethoven geht auch in ſeinen Strophenliedern mehr dem Gedan—
ken, der ſich im Text ausſpricht, als der ihm zu Grunde liegenden
Empfindung nach, wie in den „Sechs deutſchen Gedichten“ aus
Reißig's „Blümchen der Einſamkeit“ oder in den „Acht Liedern,
Op. 52.“ und ſelbſt in den „Sechs geiſtlichen Liedern Gellert's,
Op. 48.“ Sie ſind alle, etwa mit Ausnahme von Göthe's Mai—
lied: „Wie herrlich leuchtet mir die Natur“ und: „Die ſtille Nacht
umdunkelt“ mehr gedacht als empfunden. An Wohllaut und Süße
— . —
ſtehen ſie tief unter den lyriſchen Liedern, die er in den Andaute's
und Adagio's ſeiner Symfonien, Sonaten, Quartetten und Trio's
ausſingt, wie er überhaupt durch ſeine Inſtrumentalwerke einen
ungleich größeren Einfluß auf die Vollendung der Liedgeſtaltung
in Franz Schubert gewann, als durch ſeine Vocalwerke. Das
Wort legte ihm überall Feſſeln an, die er vergeblich zu ſprengen
trachtet. Es erweckt nicht wie bei Mozart und bei den Meiſtern
des lyriſchen Liedes ſüße wunderſame Melodien in feiner Phantafie,
ſondern bannt dieſe vielmehr in den Zauberkreis des Gedankens,
aus dem er nicht wieder herauskommt. Die Melodien dieſer Lieder
ſind eng mit dem Wort verknüpft, aber nicht als erhöhte Sprach—
melodie und noch weniger als unmittelbarer Erguß der im Wort
ſich äußernden Stimmung, ſondern vielmehr als verſuchte Ver—
körperung des Gedankens, der im Text ſich ausſpricht. Daher ſind
die Inſtrumentalmelodien Beethoven's viel inniger und weicher
als dieſe Vocalmelodien. Jene ſind, als unmittelbarer Ausdruck
ſeines Innern, wahr und tief empfunden; dieſe der Situation
angepaßt, mehr gedacht und erfunden. Demſelben Beſtreben, dem
Gedankeninhalt näher zu kommen als dem Gefühlsinhalt, erwächſt
die eigenthümliche Behandlung der Clärchen-Lieder aus „Egmont.“
Das Lied hat im Schauſpiel eine mehr decorative Bedeutung. Es
nimmt ſelten und auch dann nur ſehr geringen Antheil an der
Motivierung des beſonderen Ganges der Handlung und iſt daher
muſikaliſch nur als einfach lyriſches Lied, mit Berückſichtigung der
Situation, durch die es bedingt wird, zu faſſen. Das „Trommel—
liedchen“ entſpricht noch dieſer Anſchauung, allein das zweite Lied:
„Freudvoll und leidvoll“ wird durch die Muſik von Beethoven
vollſtändig aus dem urſprünglich engen Rahmen herausgedrängt.
Harmoniſch hält ſich der Meiſter noch ganz innerhalb der durch die
Form geſetzten Schranken. Zwar vertauſcht er ſchon in der zweiten
Verszeile die Haupttonart Adım mit der nur entfernt verwandten
Amoll⸗Tonart und prägt in der dritten Verszeile die, nur mit dieſer
in näherer Beziehung ſtehende Cdur-Tonart aus; allein er thut
dies in der Weiſe, die wir früher ſchon als nothwendige Bedingung
für die Weiterentwicklung des Liedes erkannten. Jede der drei
Verszeilen findet harmoniſch ihren Gipfelpunkt in der Dominant⸗
tonart Edur; in dem aber jede einen andern Weg einſchlägt, um zu
dieſem zu gelangen, wird die Grundſtimmung nicht aufgegeben,
u
ſondern nur innerlich vertieft. Allein mit der recitativiſchen Behand-
lung der Strophe: „himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt“
iſt die lyriſche Stimmung unterbrochen und der leidenſchaftlich ſich
ausbreitende und durch die Wiederholung der Textesworte ſich fort
und fort ſteigernde Schluß macht das Ganze zu einem Hymnus an
die Liebe und nicht zu dem „Eya popeya,“ mit dem Clärchen ihr
Herz in Ruhe ſingen möchte.
Ganz inſtrumental gedacht, wie die Adagio's ſeiner Orcheſter—
werke, iſt die Muſik Beethoven's zu den „Sechs Liedern von
Göthe, Op. 75.“ Der große Bilderreichthum, in welchem der
Dichter die Grundſtimmung äußere Geſtalt gewinnen läßt, kann
leicht einen erfindungsreichen Tondichter zu ſceniſcher Erweiterung
verleiten. Allein die ſtrophiſche Gliederung iſt gerade in dieſen
Liedern ſo innig mit der Grundſtimmung verwachſen, ſie iſt ein ſo
bedeutſames Darſtellungsmittel derſelben geworden, daß ſie auch der
Phantaſie des Tondichters als formelles Band gelten muß. Aus
Rhythmus, Reim und Versgefüge klingt uns jetzt wieder jene
wunderſame Sprachmelodie entgegen, welche bei allem Bilderreich—
thum die Grundſtimmung fortwährend durchtönen läßt und der die
Tondichter ſeit Beginn der neuen Epochen ſo eifrig nachhorchen, die
ſie dem Liede abzulauſchen bemüht waren. Auch unſer Meiſter
beachtet das ſtrophiſche Gebäude, wenngleich er bei ſeiner eigen—
thümlichen Stellung zum Vocalen wenig thut, um es auch muſi—
kaliſch bedeutſamer und feiner herauszubilden. Er erfindet ſeine
Melodien zu dieſen Liedern gleichfalls weniger unter der Herrſchaft
jener Sprachmelodie oder der Empfindung, aus welcher ſie ent—
ſpringt, als vielmehr des Gedankens, der dem Ganzen zu Grunde
liegt, aber er ſchließt ſie ziemlich eng an die Textesworte an. Die
Erweiterung des Liedes erfolgt hier nur inſtrumental.
Die Melodie der erſten Strophe gilt für alle übrigen, aber die
Clavierbegleitung wird bei der Wiederholung, und zwar nicht ſelten,
nur nach inſtrumentalem Bedürfniß variirt. Es würde zum min—
deſten nicht leicht ſein, überall aus dem Text die Nothwendigkeit
der veränderten Clavierbegleitung in den verſchiedenen Strophen
nachzuweiſen. Der eigentliche Liedſatz wird ebenſo inſtrumental
verarbeitet, wie der Hauptgedanke im Adagio der Sonate und
Symfjonie Dadurch gewinnt die Clavierbegleitung eine Bedeu—
tung für die geſammte Liedgeſtalt, die ſie bisher ſelbſt bei Mozart
— 153 —
noch nicht hat. Bis auf J. A. Hiller und J. A. P. Schulz
dient ſie nur dem Geſange als Unterſtützung, indem ſie die harmo—
niſche Grundlage in der beſondern Behandlungsweiſe des Claviers
darſtellt. Dieſe beiden Meiſter verſuchten ſie dadurch charakteriſti—
ſcher zu geſtalten, daß fie Localtöne aufnahmen, um die Situation,
der das Lied ſeine Entſtehung verdankt, näher zu bezeichnen und
dadurch der Stimmung ſchon einen beſtimmteren Ausdruck zu geben.
Den Berliner Künſtlern Zelter, Berger und Klein gelang es
ſchon in dem Motiv, aus dem ſie ihre Clavierbegleitungen dialectiſch
entwickeln, die Grundſtimmung auch ideell mit den reichern Mitteln
des Inſtrumentalen darzuſtellen. Wie Beethoven endlich im All—
gemeinen die Ausdrucksfähigkeit des Inſtrumentalen feſtſtellte, ſo
auch dem Vocalen gegenüber. Wol nur einmal in ſeiner „Ade—
laide“ iſt jene Situationsmalerei vorwiegend. Das ſüßlich-ſenti—
mentale Gedicht Matthiſon's bot in ſeiner markloſen Verſchwom⸗
menheit für eine ſceniſche Erweiterung keine andre Möglichkeit, als
die einzelnen Bilder des feinen und correcten Landſchaftgemäldes,
das der Dichter vor uns ausbreitet, muſikaliſch nachzubilden. Wie
ſehr unterſcheidet ſich indeß auch dieſe Malerei von der früher und
ſpäter ausgeführten!
Die Vorgänger Beethoven's kommen wenig über das
Beſtreben hinaus, ihre Motive aus den Naturlauten zuſammen zu
ſetzen; das was in der Natur wirklich klingt, ihr abzulauſchen und
künſtleriſch zu verarbeiten. Unſer Meiſter nimmt eine ganz andere
Stellung zur Natur ein. Ihm hat die Materie überall nur ſo
weit Bedeutung, als ſie Träger einer Idee iſt; und ſo hörte er
auch in dem Klingen und Singen in Flur und Wald mehr als
alle andern; er fühlte den poetiſchen Inhalt heraus, und dieſen
ſuchte er muſikaliſch zu verdichten. Als er das ausgeführteſte
muſikaliſche Landſchaftsgemälde, die Paſtoralſymfonie ſchrieb, da
war bereits jenes furchtbare Ereigniß eingetreten, das ihn verein—
ſamen ließ inmitten der ländlichen Luſt und Fröhlichkeit. Da konnte
er ſchon die Natur nicht mehr copieren; die Stimmen des Waldes
wie des Feldes waren für ihn ſchon längſt verſtummt; ſie lebten
nur in ſeiner Phantaſie noch fort. So iſt „das liebliche Zauberlicht,
das durch wankende Blütenzweige zittert,“ über die beſonders reich
ausgeführte Clavierbegleitung der „Adelaide“ ausgegoſſen und das
„Säuſeln der Silberglöckchen,“ das „Rauſchen der Wellen“ und
— 154 —
das „Flöten der Nachtigallen“ haben an der Beſondersgeſtaltung
der Begleitung entſchieden Antheil, aber nirgends mit der Abſicht—
lichkeit einer nur äußern Copie. Sie ſind nur Farbenpunkte in
dem Tongemälde, welches das Gedicht an dem innern Ohr des
Meiſters vorüberführt, und alle dieſe einzelnen feinen Züge werden
durch die Gewalt der Grundſtimmung zuſammengehalten. In der
Muſik zu den Göthe'ſchen Liedern iſt ſelbſt von dieſer Situations—
malerei kaum noch eine Spur, obgleich auch ſie noch Gelegenheit
hierzu boten. In der erſten Strophe faßt Beethoven den ideellen
Gehalt des ganzen Liedes in einen muſikaliſchen Gedanken zuſammen
und mit ſchwelgeriſcher Luft an dem Reichthum feiner inſtrumentalen
Mittel vertieft er ſich in dieſen und giebt ihm mit jeder neuen
Strophe inſtrumental eine neue Deutung, wie in dem Liede: „Kennſt
du das Land?“ oder: „Was zieht mir das Herz ſo, was zieht
mich hinaus?“ Hier wird das Inſtrumentale das wirkſamſte
Mittel für die Darſtellung der lyriſchen Stimmung. Allein es
ſteht nur in der erſten Strophe noch in einem richtigen Verhältniſſe
zum Vocalen; in den andern gewinnt es eine Ausdehnung, daß der
Geſang vollſtändig überwuchert und nicht ſelten in ſeiner Wirkung
gehemmt wird. Auch hierin ſollten erſt Schubert, Mendels—
ſohn und Schumann das rechte Verhältniß herſtellen, ſo daß
Vocales und Inſtrumentales ſich mit ihren reichſten Mitteln gegen—
ſeitig ergänzend zu gemeinſamer Wirkung eng verknüpfen. Einen
bedeutſamen Schritt auf dieſer Bahn thut der Meiſter noch ſelbſt
in dem Liederkreis: „An die ferne Geliebte, Op. 98.“ Ganz ent—
ſprechend ſeiner beſonderen Weiſe des lyriſchen Ausdrucks, faßt er
die ſechs lyriſchen Ergüſſe zu einem einheitlichen Ganzen zuſammen.
Die Sechs Lieder von Al. Jeitteles ſind nur durch die Situation,
der ſie ihre Entſtehung verdanken, verbunden. Beethoven leitet
den einen Erguß der lyriſchen Stimmung in den andern hinüber,
ſo daß er nicht mehr iſoliert daſteht, daß alle ſich zu einem einheit—
lichen Zuge vereinen. Allein dieſe Ueberleitung erfolgt vorwiegend
inſtrumental, nachdem vocal in jedem einzelnen Liede die Stimmung
ziemlich ſelbſtändig ausgeprägt iſt. Zwar iſt auch hier noch das
Inſtrumentale ganz in der früher angedeuteten Weiſe vorherrſchend;
die Stimmung wird in No. 1. 2. 4. und 6. nur durch die Klavier:
begleitung von Strophe zu Strophe weiter und tiefer gefaßt; allein
die Melodie iſt doch echt vocal erfunden, innig und tief empfunden.
— 153 —
In No. 3. und noch mehr in 5. iſt aber der inſtrumentale Aus—
druck mit dem vocalen ſo eng verbunden, daß man beide, wenn ſie
nicht noch in ſceniſcher Weitſchweifigkeit ſich ausbreiteten, für
Schubert'ſche Lieder halten könnte. Melodie und Clavierbeglei—
tuͤng nehmen beide mit ihrem eigenſten Vermögen an der Darſtellung
der Stimmung Antheil, ohne daß ſie ſich in ihrer Wirkung beein—
trächtigen, ſondern vielmehr gegenſeitig ergänzen und unterſtützen,
und das iſt die höchſte künſtleriſche Liedgeſtaltung.
Endlich müſſen wir hier noch jenes Meiſters gedenken, der
weniger durch ſeine Liedſchöpfungen, als durch ſein geſammtes
künſtleriſches Wirken die Blüte des deutſchen Liedes zeitigen half:
Carl Maria von Weber. Jener eigenthümliche Zug
ſeiner Individualität, der ihn volksthümlich in der höhern Bedeu—
tung dieſes Wortes machte, ſollte auch einflußreich auf die Vol—
lendung der Kunſtform des Liedes werden. Noch fehlte dieſem der
berückende Zauber des Klanges, der ſo recht geeignet iſt, die ganze
Süße der lyriſchen Empfindung auszutönen. Bei Mozart fanden
wir bereits die Anfänge hierzu, allein noch zu vereinzelt, in den
weich vermittelnden harmoniſchen Uebergängen. In dem Vocalen
Beethoven's tritt dies neue Element entſchieden wieder mehr
zurück; es weicht einer gewiſſen Kälte und Starrheit des muſikali⸗
ſchen Gedankens. Weber's Individualität und Bildungsgang
ließen ihn ſeine Haupterfolge in der künſtleriſchen Verwendung des
mehr ſinnlich- reizvoll wirkenden, als echt kunſtmäßig geformten
Darſtellungsmaterials ſuchen und erreichen. Er hat ſich in allen
Formen des Liedes, von der mehr volksmäßigen bis zur ſceniſch
erweiterten verſucht. Außer jenen, im zweiten Kapitel dieſes Buches
genannten, haben indeß nur wenige, wie: „Schlaf Herzensſöhnchen,“
„Vöglein einſam in dem Bauer“ und ein reizendes Wiegenlied:
„Wenn's Kindlein ſüßen Schlummers Ruh“ weitere Verbreitung
gefunden. Auch ihm war es nicht vergönnt, den nicht gerade
überreichen Schatz ſeiner Innerlichkeit mit weiſer Sparſamkeit
energiſch zuſammenhalten und überall vollwichtig ausgeprägt zu
Tage fördern zu können. Früh trat er auf die öffentliche Schau—
bühne, um auf die Maſſen zu wirken, und ſo mußte er ſich vor
allem die muſikaliſch wirkſamen Mittel aneignen. Es bildet ſich
bei ihm vorwiegend der Sinn für Klangcolorit und Klangſchönheit
aus und drängt das Bedürfniß nach pſychologiſcher Entwicklung in
— 156 —
künſtleriſcher Form immer mehr zurück. Damit konnte er nur
indirect Einfluß auf die Weiterbildung des Liedes gewinnen. Jener
Sinn für die formvollendete pſychologiſche Entwicklung gilt dieſem
als erſte Bedingung und iſt nur in den ſeltenſten Fällen durch
jenen für Klangfarbe einigermaßen zu erſetzen. So vermochte
Weber ſelbſt in keinem der volksthümlichen Lieder ein wirklich
bedeutendes, muſtergiltiges Kunſtwerk zu ſchaffen; aber in dem
neuen Element der ſinnlichen Klangwirkung, das er dem Liede
zuführt, erfüllte er die letzte der Bedingungen, unter denen die
Blüte des Liedes herauftreiben ſollte. Mit dem Abſterben des
alten Volksliedes war auch die ſinnliche Gluth erloſchen, die dem
Liede ſeine zündende und zeugende Macht verleiht. In Weber
erwachte ſie wieder, allerdings zunächſt nur in der mehr äußern
Weiſe nervenreizender Klangwirkung, weil ihm die andern höhern
Darſtellungsmittel der lyriſchen Stimmung nicht ſo geläufig waren.
Sein genialer Zeitgenoſſe, Franz Schubert, eignet ſich auch dies
neue Element an und erhob es durch ſeine Meiſterſchaft in der
Beherrſchung des geſammten Ausdrucksmaterials zu phyſiſcher Bedeu—
tung, und in ihm und ſeinen unmittelbaren Nachfolgern Felix
Mendelsſohn-Bartholdy und Robert Schumann erreicht
das Lied die Höhe ſeiner Kunſtgeſtalt.
Fünftes Napitel.
Das deutſche Lied in höchſter Blüte.
Nur einer Innerlichkeit, die ſo reich und ſo tief angelegt war,
wie die eines Mozart oder Beethoven, und die weder durch
äußere Verhältniſſe, noch durch das Bewußtſein einer höhern
Miſſion oder den ungeſtümen Drang: durch Löſung der höchſten
künſtleriſchen Aufgaben äußere Erfolge zu erreichen an der, in
lyriſcher Beſchaulichkeit erfolgenden Concentration aller im Innern
waltenden ſubjektiven Mächte gehindert wurde, war es beſchieden,
das Lied zu erfinden, das die Bedingungen höchſter Vollendung,
— WM —
die wir an den vorhergenannten Meiſtern vereinzelt e einheit⸗
lich zuſammenfaßt.
In Franz Schubert iſt nur dieſe Jitetlichkett ſchaffend,
und der geſammte Gang ſeines Lebens wie ſeiner Kunſtbildung
führte ſie zu herrlicher Entfaltung. Er wurde am 31. Januar 1797
in Wien geboren und hatte, wie mehrere unſerer großen Meiſter,
das Glück einer Familie anzugehören, in welcher Muſik fleißig
geübt wurde. Sein Vater, Lehrer an der Pfarrſchule zu Lichtenthal,
einer Vorſtadt Wiens, ertheilte ihm früh, unterſtützt durch den
ältern Bruder Ignaz, Unterricht in der Muſik. Später wurde
er dem regens chori Holzer übergeben, und als ihm 1808 ſeine
ausgezeichnet ſchöne Stimme Aufnahme in das k. k. Convict ver-
ſchaffte, wurden der Hoforganiſt Ruziczka und der Hofkapell—
meiſter Salieri, der ſeiner Zeit berühmte Rival Mozart's,
ſeine Lehrer. Mehr als dieſem Unterricht verdankt er unſtreitig den
praktiſchen Uebungen, an denen er vor und während ſeines Auf—
enthalts im Convict, hier und im elterlichen Hauſe ſelbſtthätigen
Antheil nahm. Schon als Knabe von elf Jahren wirkte er als
Soliſt im Geſange und auf der Violine auf dem Chor der Lichten—
thaler Pfarrkirche mit. Nachdem er Sängerknabe der k. k. Hof⸗
kapelle geworden war, fand er auch Aufnahme in dem, aus Zög—
lingen des Convicts gebildeten Orcheſter. Hier wurden die Sym⸗
fonien von Haydn, Mozart und Beethoven fleißig geübt
und erfüllten den Knaben ſchon mit Staunen und Entzücken. Da⸗
neben war er bei den im elterlichen Haufe faſt täglich ſtattfindenden
Uebungen im Quartettſpielen als Bratſchiſt eifrig thätig. Auch auf
dem Programm dieſer Uebungen nahmen die Quartetten jener drei
genannten Meiſter eine bevorzugte Stelle ein und an ihnen nament-
lich lernte Schubert die meiſterliche Handhabung der Technik und
erhielt durch ſie erneuerten Anſtoß zu eigenem Schaffen. Dieſe
Uebungen boten ihm zugleich Gelegenheit, ſeine eigenen Schöpfungen,
mit denen er früh begann, auszuführen und deren Wirkung zu
beurtheilen. Das aber war für eine Individualität wie die ſeine,
welche, um einen durchaus ſelbſtändigen Gefühlsinhalt zur Dar-
ſtellung zu bringen, ſich eine eigne, von der bisherigen bedeutend
abweichende Technik ſchaffen mußte, die beſte Schule. Am lebendig
gewordenen Kunſtwerk ſtudierte er die vorhandenen Ausdrucksmittel,
und da Produktion und Reproduktion Hand in Hand giengen,
— 158 —
wuchſen ſie ihm gewiſſermaßen geiſtig an, daß er ſie faſt inſtinkt⸗
mäßig überall im treuſten Anſchluß an ſein Empfinden verwenden
lernte. Daher erſcheint bei ihm wieder das Lied, obgleich in höch—
ſter Formvollendung, doch, wie einſt das Volkslied, als ein Pro—
dukt der naiven Luft am Schaffen. Er lebte ſich in die Tonſprache
des Herzens ſo hinein, daß ſie ihm geläufiger wurde, wie ſeine
Mutterſprache und ihm ungeſucht immer neue Combinationen zu
verfeinertem und doch überzeugendem Ausdruck darbot. Dieſer
ganzen Richtung ſeiner Individualität, der liebevollen Hingabe an
ein ſüß⸗ſchwelgeriſches Muſikempfinden und der abſichtsloſen Ent⸗
äußerung deſſelben entſpricht ſeine äußere Stellung zum geſammten
Muſiktreiben ſeiner Zeit ebenſo, wie der einfache Verlauf ſeines
Lebens.
Im Jahre 1813 verließ er, da ſeine Stimme mutierte, das
Convict und lebte im Elternhauſe ganz ſeiner Kunſt, bis er, um
der Conſcription zu entgehen, Schulgehülfe ſeines Vaters wurde.
Drei Jahre lebte er fo in getheilter Thätigkeit. Wenn auch wider⸗
ſtrebend, erfüllte er doch die Pflichten ſeines neuen Amtes mit Eifer
und Pünktlichkeit, vernachläſſigte dabei aber auch ſeine geliebte Kunſt
nicht. Er ſchrieb während dieſer Zeit eine Menge von Vocal- und
Inſtrumentalwerken aller Art, und darunter einige ſeiner bedeutend—
ſten Lieder. Im Jahre 1815 ſchon entſtanden die Oſſiaus-Geſänge:
„Kolma's Klage,“ „Loda's Geſpenſt,“ „Shilric und Vinvela,“
„Das Mädchen Inistore,“ ferner „Hectors Abſchied,“ „Des Mäd—
chens Klage“ und „Clärchens Lied.“ Das Jahr 1816 brachte von
Liedern: „Der Tod Oscars,“ „Der König von Thule,“ „Schwager
Kronos,“ „Kennſt du das Land?“ „Haideröslein“ und „Jägers
Abendlied,“ „Der Wanderer“ und die Ballade: „Ritter Toggen—
burg“. Aus dem Jahre 1817 ſtammen die Lieder: „Das Lob der
Thränen,“ „Gretchens Gebet“ aus Fauſt, „Antigone und Oedi—
pus,“ „Hänflings Liebeswerben.“ Daß ihm bei dieſer raſtloſen
Thätigkeit ſein Amt eine Laſt wurde, die er bemüht war ſo früh
als möglich wieder abzuwälzen, iſt leicht erklärlich. Im Jahre
1816 bewarb er ſich vergeblich um eine Muſikdirectorſtelle in
Laimbach. Im Sommer des Jahres 1818 folgte er dem Grafen
Joſef Eſterhazy auf deſſen Gut Zeléz in Ungarn, kehrte indeß bald
wieder nach Wien zurück. Jetzt erregten namentlich ſeine Lieder
ſchon in einzelnen kunſtliebenden Kreiſen Aufſehen, und Männer
— 19 —
von Rang und Bildung folgten feinen Leiſtungen mit Theilnahme.
1820 erhielt er den Auftrag für das Kärnthnerthor-Theater eine
kleine Oper: „Die Zwillingsbrüder“ in Muſik zu ſetzen. Er ent—
ledigte ſich deſſelben ohne irgend welchen Erfolg. Größern Beifall
erhielt ſeine Muſik zu dem Melodram: „Die Zauberharfe,“ die in
demſelben Jahre im Theater an der Wien zur Aufführung gelangte.
In dieſem Jahre war auch das erſte Werk Schubert's: „Der
Erlkönig“ gedruckt worden. Vergeblich hatten ſich der kunſtſinnige
Dr. Ignaz von Sonnleithner, Advokat, Profeſſor und kaiſer—
licher Rath in Wien, und ein anderer Freund Schubert's:
Joſef Hüttenbrenner bemüht, einen Verleger für einige der
zahlreichen Werke des jungen Meiſters zu ſuchen. Diabelli und
Haslinger lehnten die Herausgabe ſelbſt bei Verzichtleiſtung auf
das Honorar ab und ſo entſchloſſen ſich die Freunde, den „Erl—
könig“ auf eigene Koſten drucken zu laſſen. Er erſchien im Februar
1821 und der Erfolg war ein ſo günſtiger, daß in gleicher Weiſe
noch elf Hefte für eigene Rechnung geſtochen werden konnten. Erſt
dann kaufte Diabelli dem Componiſten die Platten und das
Verlagsrecht für ein außerordentlich billiges Honorar ab. Eben ſo
wenig wie Mozart verſtand Schubert ſeine Arbeiten ſo auszu—
nutzen, daß ſie ihm auch nur eine beſcheidene Exiſtenz zu ſichern
im Stande geweſen wären. 1826 bewarb er ſich um die zweite
Hofkapellmeiſterſtelle an der Wiener Oper gleichfalls vergeblich.
Sie wurde an Weigl vergeben und ſo lebte der geniale Meiſter in
den einfachſten Verhältniſſen nicht ſelten von Verlegenheiten drücken
der Art heimgeſucht, bis ihn ein früher Tod am 29. Novpbr. 1828
der Kunſt entriß.
Jene anſpruchsloſe Beſcheidenheit, die ihren reichſten Lohn
nur innerhalb der Kunſt findet, war auch der Grundzug ſeines
Charakters. Selbſt jener Anerkennung in den engern Kreiſen der
Freunde und Gönner, die für viele Künſtler nothwendiges Lebens—
element iſt, bedurfte er nicht. Er ſang ſeine Lieder wie einſt das
Volk, weil er ſingen mußte, unbekümmert um ihre Erfolge. Und
ſo ſtand er eigentlich inmitten ſeiner Zeit ebenſo vereinſamt da,
wie einſt Johann Sebaſtian Bach. Das deutſche Volk, durch
die kurze Zeit des Handelns in den Freiheitskriegen übermüdet und
in größere Schlaffheit zurückverſunken, ergötzte ſich luſt- und zer—
ſtreuungsſüchtig an den ſaftloſen aber ſüßen Tändeleien der Italiener;
_.
an dem genialen Brillantfeuerwerk Roſſini's. Langſam nur
erweiterte ſich der verhältnißmäßig kleine Kreis derer, die an der
leidenſchaftlichen Gluth Mozart's ihre Phantaſie entzündeten oder
denen die Macht der Beethoven' ſchen Tonbilder imponierte. Für
die ſinnige Thätigkeit Schubert's hatten nur wenige Sinn und
Verſtändniß. Jahre vergiengen noch, ehe die Nation erkennen lernte,
was ihr der beſcheidene, ſocial faſt verkommene Meiſter geweſen.
Aber gerade dieſe ſtille Abgeſchloſſenheit, in welcher er der ruhe-
und raſtloſen Welt gegenüber verharrte, war nothwenig ſeine Indi—
vidualität zur Reife zu bringen. Immer energiſcher wurde er zur
Einkehr in ſein Inneres gedrängt und ſo nur ward es ihm möglich,
in einem an Jahren kurzen Leben eine ſo große Zahl vollendeter
Werke zu ſchaffen; ſo nur konnte er finden, was bedeutende Meiſter
vor ihm vergeblich ſuchten: den rechten muſikaliſchen Ausdruck für
die neue Lyrik.
Die innigſte Verwandtſchaft in der beſondern Weiſe des Schaf—
fens zeigt Schubert mit dem größten deutſchen lyriſchen Dichter,
Göthe. Auch er ſang ſeine Lieder wie einſt das Volk. Ungeſucht
und ungerufen ſtellten ſie ſich bei ihm ein. Sie ſind ebenſo unmit⸗
telbar empfangen, wie die Volkslieder. „Alle meine Gedichte,“
jagt er ſelbſt, „ſind Gelegenheitsgedichte; fie find durch die Wirk—
lichkeit angeregt und haben da ihren Grund und Boden.“ Das
gilt indeß nur ſehr beſchränkt auch für den Tondichter. Es iſt für
ihn nicht abſolut nothwendig, auf einer Grundlage wirklicher Zu—
ſtände und Erlebniſſe ſeine Werke aufzubauen. Er entzündet viel-
mehr ſeine Phantaſie an den Erlebniſſen und dem Seelenzuſtande
des Dichters, indem er ſich in ſie hineindenkt und ſie ſich ſo erſt
zu eigen macht. Auch der Altmeiſter der deutſchen Dichtung,
Göthe, ließ alle ſeine Seelenerfahrungen völlig reifen, ehe er ſie
in Reime ergoß. Die Ereigniſſe, welche die lyriſche Stimmung
und der Drang nach ihrer Entäußerung in ihm weckten, mußten
erſt in eine gewiſſe Entfernung treten, damit er ſie als etwas
Fremdes objektiv betrachten lernte und zu freier Bewältigung geſchickt
wurde, und dieſer Standpunkt entſpricht dem des Tondichters
vollkommen. Ihm iſt dieſe objektive Anſchauung von urſprünglich
fremden Erlebniſſen um ſo mehr Nothwendigkeit, weil die beſondere
Natur ſeines Darſtellungsmaterials im entgegengeſetzten Falle leicht
zu ſubjektiver Willkür und zu ſelig-ſchwelgender, objektloſer Ver—
— 16 —
ſchwommenheit führt. Für den lyriſchen Tondichter wird erſt durch
Schubert dieſer Standpunkt vollſtändig fixiert. Jene Berliner
Künſtler blieben an der Oberfläche des dichteriſchen Kunſtwerks
haften, ohne in ſeine poetiſchen Tiefen einzudringen, ohne es aus
ihrem eignen Geiſte heraus neu zu ſchaffen. Die großen Meiſter
Mozart und Beethoven faßten es dagegen in zu weiten Dimen—
ſionen und verloren die Prägnanz des lyriſchen Ausdrucks. In
Franz Schubert weckt das lyriſche Gedicht ſofort den beſtimmten
Gefühlszug, dem es entſprungen iſt, in ſeinem ganzen Reichthum,
aber auch in energiſcher Abgrenzung und in der objektiven Faſſung
des Dichters. An ſeiner Hand lebt er die Seelenerfahrungen
deſſelben ſtetig entwickelt durch und ſie kryſtalliſieren ſich ihm Zug
um Zug in klingenden Tonformen. Die urſprüngliche Empfindung
beherrſcht die Darſtellung ſo vollſtändig, daß Melodie, Harmonie
und Rhythmus ſich leicht und willig ihm fügen und zu wirklichen
Trägern der lyriſchen Stimmung werden. Dieſe drei Mächte der
muſikaliſchen Darſtellung erleiden ſomit jetzt eine weſentliche Umge—
ſtaltung. Die Melodie Schubert's bildet die Sprachaccente viel
treuer und ſorgſamer nach, als die jener Berliner Künſtler, ja
ſelbſt als die Gluck's. Sie ſchließt ſich oft fo eng an's Wort,
daß ſie mit ihm zu untrennbarer Einheit verwächſt. Die Sprach—
melodie iſt in ihr ſo vollſtändig aufgegangen, daß ſelbſt unweſent—
liche Aenderungen im Text kaum unternommen werden können, ohne
ihr Gewalt anzuthun. Viele Lieder der öſterreichiſchen Dichter
Vogl, Seidl, Levitſchnigg und Tſchabuſchnigg würden
durch ſolche gelegentliche Textänderungen nur gewinnen. Allein
durch die Schubert' ſche Melodie find fie meiſt unmöglich gemacht.
Dabei erhebt dieſe ſich zu einer Macht ſelbſtändigen Ausdrucks, die
uns nur im alten Volksliede begegnet. Der Meiſter bildet ihr
jenes reizende harmoniſche Klangcolorit an, das Weber der Melodie
bereits wieder gewonnen hatte, und weil er ſie an das urſprüng—
liche, bei ihm aber harmoniſch viel reicher ausgebildete Formgerüſt
knüpft und in einheitlichem, aber fein gegliedertem Zuge entfaltet,
erlangt ſie die alte Gluth der Empfindung neben höchſter Verſtänd—
lichkeit.
Zu welch großem Reichthum ihm das harmoniſche Material
anwächſt, iſt ſchon flüchtig angedeutet worden. Die Melodie beſchreibt
in ihren Wellenlinien eigentlich nur den Gang, den die Empfindung
11
Reißmann, deutſches Lied.
— 162 —
nimmt; die Harmonie erſt kann als ihre eigentliche Verkörperung
gelten. Die Melodie dient demnach mehr dem präciſen, leicht
faßbaren und erregenden, die Harmonie dem wahren und vollen,
dem vollſtändig erſchöpfenden Ausdruck. Zwar iſt den Schubert—
ſchen Melodien ihre harmoniſche Abſtammung ſo ſicher aufgeprägt,
daß die Accorde überall hindurchklingen, daß ſie ſich aus den
einzelnen Melodietönen wie von ſelbſt zuſammenſetzen, wenn man
einigermaßen aufmerkſam in ſie hinein lauſcht; aber das volle Bild
giebt immer erſt die hinzutretende vollſtändig ausgeprägte Dar-
monie. Dieſe nun erfaßt Schubert tiefer als jeder ſeiner Vor—
gänger, ſo tief wie Seb. Bach. Doch iſt die Harmonik beider
weſentlich verſchieden. Bach gelangt zu ſeinem wunderbaren har—
moniſchen Reichthum mehr auf melodiſchem Wege. Indem er in
jeder einzelnen Stimme die Melodie mit rückſichtsloſer Conſequenz
verfolgt, kommt er zu immer neuen harmoniſchen Combinationen.
Es liegt im Weſen des Liedes, daß bei ihm die Harmonie mehr
ſelbſtändig auftritt, daß die Melodie ihre Harmonie gleichſam mit
auf die Welt bringt, und in dieſer Beſonderheit liegt der Grund,
daß Schubert für den mehrſtimmigen Geſang weniger Bedeutung
erlangen konnte, als für den einſtimmigen. An dem formalen
Bande jenes urſprünglichen harmoniſchen Formengerüſtes wagt
Schubert die kühnſten und weiteſten Modulationen und zwar nie
aus eitler Luſt an Klangeffecten noch viel weniger in dem Beſtreben,
zu experimentieren oder wol gar aus thörichter Originalitätsſucht,
ſondern, wie wir ſpäter nachweiſen werden, immer aus innerer
Nothwendigkeit. Wir hatten ſchon Gelegenheit, es auszuſprechen,
die Tiefe und Fülle der natürlich vermittelten Harmonik namentlich
bedingt die Tiefe und Macht des lyriſchen Ausdrucks. Einen
beſondern Reiz gewinnt ſie endlich noch durch die beſondere Weiſe,
in welcher ſie Schubert in der Clavierbegleitung darſtellt. Nur
in einigen wenigen, wie in dem Göthe' ſchen: „Meeresſtille“
oder dem „Haideröslein,“ giebt ſie nur accordiſch die Grundlage.
In der Regel wird ſie aufgelöſt und zu einem feinen Gewebe ver—
flochten. In einem beſtimmten Motiv wird die Grundſtimmung
auf ihren ſchlagendſten Ausdruck reduciert zuſammengefaßt und
dann zu einer Begleitung entwickelt, die nicht nur den Geſang
unterſtützt, ſondern die ſelbſtändig mit ihrem eigenſten Vermögen
ſich an der Darſtellung der ganzen Stimmung betheiligt.
rn
Dieſem großen melodiſchen und harmoniſchen Reichthum gegen-
über iſt die Rhythmik in den Liedern Schubert's nicht immer
entſprechend mannichfaltig genug ausgeführt. Jenes ſüße Verſenken
in den Zauber des Harmoniſchen und Melodiſchen nimmt den
Meiſter oft ſo gefangen, daß er darüber die Monotonie des Rhyth—
mus überſieht. Häufiger allerdings ſtellt er den, nur intenſiv
unterſcheidenden Sprachrhythmus, muſikaliſch auch extenſiv in Quan-
titätsmeſſung außerordentlich fein abgeſtuft dar. Durch längeres
Verweilen auf dem einen bedeutſamen Wort unterbricht er den
ruhigen Gang des Metrums, und bringt durch die feinſinnigſte
Abſtufung und Gruppierung der Accente ein ſo wunderbar rhyth—
miſches Spiel, ein ſo mannichfaltig zuſammengeſetztes Versgefüge
hervor, das nur dem des Volksliedes in ſeiner Blüte vergleichbar
iſt. Das waren die Bedingungen, unter denen zunächſt das
Göthe' ſche Lied muſikaliſch wieder geboren werden konnte. Die
formelle Abrundung deſſelben zügelt die reiche Phantaſie Schubert's,
ſo daß er nirgends zu jenen harmoniſchen und melodiſchen Aus—
ſchreitungen, die er, wenn auch ſelten, andern Dichtern gegenüber
wagt, ſich verleitet fühlt. Er geht zunächſt von jener einfachſten
Liedconſtruction aus: „Der Fiſcher“ und „Nähe der Geliebten“
aus Op. 5., „Das Haidenröslein“ und „Jägers Abendlied“ aus
Op. 3., ferner „Wanderers Nachtlied,“ das erſte aus Op. 4. wie
das zweite aus Op. 96.: „Das Lied des Harfner,“ aus „Wilhelm
Meiſter“ (Op. 12.): „An die Thüren will ich ſchleichen,“ wie das
Lied an Mignon aus Op. 19.: „Ueber Thal und Fluß getragen“
zeigen jenes einfachſte Formengerüſt, das ſich nur aus Tonika,
Dominant und Unterdominant zuſammenſetzt und zu ſeiner Bildung
nur ſparſam einen oder den andern leitereigenen Accord hinzunimmt.
Zugleich wird es wieder wie einſt beim Volksliede und dem Kunſt—
liede bis Schein und Hammerſchmidt eine wirklich muſika—
liche Reproduction des ſtrophiſchen Versgebäudes, in dem es die
Reimſchlüſſe auch harmoniſch zu Zielpunkten macht und ſie durch
die harmoniſche Wechſelwirkung unter einander verſchränkt. Es
wird keines weitern Hinweiſes bedürfen, wie einfach und meiſterlich
zugleich in den genannten Liedern das ſtrophiſche Gebäude harmo—
niſch nachgebildet iſt. In dieſen Liedern iſt es vor allem die Melo—
die, welche den ganzen Zauber der Worte zu einheitlichem Zuge
zuſammenfaßt. Die fein und frei in den klangvollſten Intervallen
18°
— 164 —
ſich bewegende Declamation in „Das Waſſer rauſcht“ und „Ueber
allen Gipfeln iſt Ruh“ wird durch reizende Melismen und Vor—
halte nur noch reizender gemacht. Aus der Melodie des „Ich
denke dein“ klingt die Harmonie in den arpeggierenden Figuren ſo
vernehmbar hindurch, daß man faſt die Clavierbegleitung entbehren
könnte. Eine feinſinnige Behandlung erfährt hier, wie faſt immer,
bei Schubert die Sequenz. Sie iſt ſelten oder nie harmoniſch
und melodiſch zugleich. Das harmoniſche Material iſt bei ihm von
ſo beſtimmter Farbe, daß ihm eine bloße Transpoſition nach einer
fremden Tonart faſt unmöglich wird, daß die neue Tonart auch -
eine oft ſehr weſentliche Veränderung der Melodie herbeiführt, und
gerade aus dieſer Eigenthümlichkeit weiß der Meiſter, wie wir noch
ſpeciell nachweiſen, für die vocale nicht nur inſtrumentale Ver—
tiefung der lyriſchen Stimmung den größten Vortheil zu ziehen.
Daß der Meiſter auf kleinem Rahmen auch einen großen
Reichthum von Rhythmen zu entwickeln vermochte, beweiſt nament-
lich das andere Nachtlied: „Der du von dem Himmel biſt,“ in
welchem das Metrum faſt in jeder Strophe eine andere, muſika—
liſche Darſtellung findet. Namentlich der melodiſch und rhythmiſch
breite Schluß macht das Lied zu einem der ſüßeſten und innigſten
Gebete, die je aus eines Menſchen Bruſt gedrungen. Einen
beſondern Antheil an der Darlegung der Stimmung nimmt die
Clavierbegleitung eigentlich noch in keinem der genannten Lieder.
Es iſt nicht zu verkennen, daß dem Tondichter bei der Wahl des
Begleitungsmotivs zum „Fiſcher“ das Wogen des Waſſers vor—
ſchwebte, und daß in beiden Nachtliedern die Gebetsſtimmung auch
die Weiſe der Clavierbegleitung erzeugt hat, aber ſie ſind doch zu
wenig charakteriſtiſch, um als wirklich beabſichtigt zu erſcheinen.
Am meiſten könnte man dies noch von der Begleitung zu „Jägers
Abendlied“ vermuthen. Die chromatiſchen Durchgangstöne charakte—
riſieren vortrefflich die Grundſtimmung um ſo mehr, als dies
Motiv auch harmoniſch am Schluß in die Erſcheinung tritt.
Eine charakteriſtiſche harmoniſche Erweiterung begegnet uns
in dem wunderbar ſchönen Liede der Mignon aus Op. 62.: „So
laßt mich ſcheinen, bis ich werde.“ Das Lied iſt ganz treu zwei—
theilig conſtruiert und jeder einzelne Theil ſymmetriſch heraus—
gebildet. Allein der zweite Theil verläßt den urſprünglich harmoni—
ſchen Apparat, „er öffnet“ in dem ſonnenklaren Dome „den
— 165 —
friſchen Blick“ und faßt in dem dadurch bedingten H moll der näch-
ſten Verszeile und dem plötzlichen Wiedereintritt der Haupttonart
Hour die ſüße Herbigkeit der Grundſtimmung zu ſchlagendem Aus—
druck zuſammen. Die zweite Strophe führt, in feinſinnigem Anſchluß
an das Wort, ſogar die Modulation an derſelben Stelle nach D moll
und der Ausdruck wird durch die veränderte Bedeutung, in welcher
H moll zu D moll tritt, entſchieden vertieft. Schubert hat viel
reicher und tiefer gefaßte Lieder geſchrieben, aber wenige nur, die,
weil zu gleich ſchlagendem Ausdruck concentriert, gleich mächtig
unſer ganzes inneres Sein gefangen nehmen. In wenigen nur
dürfte auch die Clavierbegleitung ſich ſo eng der Stimmung anſchmie—
gen, wie gerade in dieſem Liede. Obgleich außerordentlich einfach,
iſt ſie doch hochbedeutſam, weil ſie in ihrer Gedrängtheit und innern
Sättigung eine himmliſche Verklärung über das Ganze ausbreitet.
Eine bedeutſame Formerweiterung hat der Dichter in dem
Liede: „Gretchen am Spinnrade“ aus „Fauſt“ ſelbſt genau vor—
gezeichnet. Durch die mehrmalige Wiederkehr der erſten Strophe
werden die einzelnen vorangegangenen einheitlich zuſammengefaßt
und für die muſikaliſche Behandlung wird die Rondeauform noth—
wendig. Sonach ſcheidet ſich das Lied in beſtimmt heraustretende
Theile, von denen jeder die DPmoll-Tonart doch harmoniſch in
anderer Weiſe darſtellt. Der erſte Theil ſtützt ſich im Anfange
mehr auf die Paralleltonart Four, obgleich er fie erſt nach längern
Umſchweifen ziemlich am Ende beſtimmt erreicht. Auch der zweite
weiſt beſtimmt auf Fdur hin, aber er erreicht es früher und erhebt
ſich dann viel leidenſchaftlicher in einem raſchen und reichen
Wechſel auch entfernter und leiterfremden Tonarten bis zur Do—
minant. Der dritte Theil beginnt wieder wie jeder der beiden
vorigen, allein der Anfang feiner zweiten Hälfte ſchon leitet ſofort
in die durchaus in weiterem Grade verwandte Es dur-Tonart über
und ſteigert in harmoniſchen Sequenzen den Ausdruck noch ener-
giſcher als der vorige Theil und zwar bis zur Dominant und
gelangt durch ſie zur Haupttonart zurück. Durch dieſe weite und
in der lyriſchen Stimmung durchaus bedingte Conſtruction werden
Textwiederholungen, die der practiſche aber gewiß nicht künſtleriſche
Zug unſerer Zeit ſo arg verpönt, geradezu nothwendig. Der
muſikaliſch-lyriſche Ausdruck ſoll nicht blos fragmentariſch bleiben;
er muß zur Plaſtik des abgeſchloſſenen, weit und ſorgfältig aus-
— 166 —
geführten großen Ganzen zu gelangen trachten. In dieſem Streben
aber wird die Muſik vielfach durch einen zu knappen Text eingeengt
und in ſolchen Fällen werden verſtändig eingeführte Textwieder⸗
holungen abſolut nothwendig.
Auch die Clavierbegleitung nimmt in dem bezeichneten Liede
in charakteriſtiſcher Weiſe an der Darſtellung Antheil. Das Beglei—
tungsmotiv iſt dem Summen des Spinnrades abgelaufcht und
ununterbrochen folgt es bald verengt, bald erweitert den feinern
Nüancen der Stimmung, bis es in immer heftigerer Bewegung bei
dem „und ach, ſein Kuß!“ plötzlich abreißt und ſtill ſteht, wie das
Fädchen des Spinnrades. Langſam ſetzt es ſich wie das Rädchen
wieder in Bewegung; ſteigert ſich nochmals allmälig zu großer Haſt,
um ebenſo wieder zurück zu gehen und im leiſeſten Pianissimo die
ganze Stimmung verklingen zu laſſen. Es iſt dies eine Situations—
malerei, die vortrefflich geeignet iſt, das Stimmungsbildchen zu
vollenden.
Noch feiner und freier in der Conſtruction iſt Schäfer's
„Klagelied“ (aus Op. 3.). Im vorigen Liede iſt die Haupttonart
vorwiegend. Dem einzelnen Theile liegt immer die Dmoll-Tonart
zu Grunde. Die erſte Strophe des letztern Liedes gehört der
Omoll-, die zweite der parallelen Es dur, die dritte der As dur—
und die vierte der As moll-Tonart an. Die fünfte und ſechste
Strophe führen die Stimmung wieder auf den Ausgangspunkt zu=
rück, die fünfte mit der Muſik der zweiten, die ſechste mit der
Muſik der erſten Strophe. Dieſe harmoniſche Erweiterung wird
aber zugleich inſtrumental ausgeführt, in dem die Clavierbegleitung
die harmoniſche Grundlage des erſten Verſes in Accorden darſtellt,
in der zweiten Strophe aber in Achtel- und in der dritten in
Sechszehntheilfiguren auflöſt. Dennoch iſt dieſe ganze Bear—
beitung keine ſceniſche Erweiterung im Sinne Mozart's oder
Beethoven's. Schon der oben geſchilderte eigenthümliche Gang
der Conſtruction weiſt auf einen viel engern lyriſchen Zuſammen—
hang hin als die einzelnen Partien des zur Scene erweiterten Liedes
zeigen. Vor allem aber iſt es die Melodie, die ihren lyriſchen
Charakter nirgends verliert. Die Melodie der erſten Strophe
klingt durch die der zweiten, und dieſe wiederum durch die der dritten
noch ſo vernehmlich hindurch, daß die zweite eben nur als ihre
Uebertragung in die Es dur- und die dritte als Uebertragung in die
— 167 —
As dur⸗Tonart erſcheint; und in demſelben Verhältniß ſteht die
vierte Strophe zu den vorhergehenden. Das iſt eine wirklich
vocale, nicht mehr nur inſtrumentale Erweiterung der
Stimmung, und in dieſer Weiſe hat das ſogenannte
durchcomponierte Lied immer größere Bedeutung als
das nur ſtrophiſche, in welchem die Melodie der einen
Strophe unverändert für alle übrigen gilt. Auch
Strophenlieder werden von unſerm Meiſter vocal umgeſtaltet, wie
das Harfnerlied: „An die Thüren will ich ſchleichen“ (aus Op. 12.).
Die erſte Strophe iſt jo fein herausgebildet und ſequenzenartig
aufgebaut und die Verszeilen ſind harmoniſch ſo meiſterlich ver—
ſchränkt, wie nur im Volkslied in ſeiner Blütezeit. Die zweite
Strophe iſt eine getreue Wiederholung der erſten, allein die Decla—
mation der erſten Zeile erfordert eine veränderte Melodie.
Die Conſtruction des Liedes: „Der Muſenſohn“ (aus Op. 87.)
wird dadurch merkwürdig, daß immer eine Strophe in der Haupt⸗
tonart — dur — und die andere in der der Obermediante
— Hour — ſteht. Die Vertiefung erfolgt hier harmoniſch. Die
Dominant wäre zu matt geweſen; daher war die Obermediant die
nächſt entſprechende, und, weil fie der Haupttonart den Charakter
der Molltonart verleiht, wirkſamer als die Dominant. Die Moll-⸗
tonart hat ihre nächſte Bewegung nicht nach der Dominant, ſon—
dern nach der Obermediante, und indem die Durtonart dieſen
Weg macht, nimmt ſie ſelbſt Mollbedeutung an. Minder Bedeu—
tendes ſchuf der Meiſter in der Muſik zu Göthe's antikiſierenden
Gedichten: „An Schwager Kronos,“ „Grenzen der Menſchheit,“
„Prometheus“ und „Ganymed.“ Hier vermochte er dem Dichter
nicht zu folgen und ſo behandelt er dieſe Dichtungen ganz wie die
glühenden tief innerlichen lyriſchen Lieder.
Gleich die Clavierbegleitung zu „Schwager Kronos“ paßt viel
beſſer zu No. 14. der „Müllerlieder,“ mit welchem ſie verwandt iſt
und die Hornfanfare am Schluß findet ebenfalls in „Die Poſt“
(Nr. 13. der „Winterreiſe“) eine viel entſprechendere Stelle. Das
gegen war die Individualität Schubert's wie der große Reich—
thum ſeiner Darſtellungsmittel ganz geeignet, dem Altmeiſter der
deutſchen Dichtung in den Suleika-Liedern nach dem Orient zu
folgen, um ſeinen Duft wie ſeine Schwüle auch muſikaliſch dar—
zuſtellen; ebenſo wie ſie ihn mit Walter Scott (Op. 52.) den
1
„Ritt in's romantiſche Land“ unternehmen läßt und an der Hand
Oſſian's (Schubert's nachgelaſſene Dichtungen, Lief. 1 — 5.)
nach dem fernen Nebelland, dem unwirthlichen Caledonien, führt,
daß er die Wunder der Sage und der Natur dieſes Landes vor
unſern Augen ausbreite.
In Suleika's erſtem Geſange (Op. 14.): „Was bedeutet
die Bewegung?“ iſt es namentlich das reizende Wechſelſpiel zwiſchen
H moll und U dur, das auf der Dominant ihren Stützpunkt findet,
in welchem die ſehnſüchtig-heiße Stimmung pointirt zum Ausdruck
kommt. Die Conſtruction entſpricht ganz den bisher gemachten
Andeutungen. Bis zum Schluß ſchwelgt die Clavierbegleitung in
der duftigſten Situations- und Detailmalerei. Am Schluß wendet
ſie ſich ausſchließlich nach innen, die ganze Außenwelt ſchweigt
vor dem ſüßeſten Gedanken und ſo tönt jetzt nur, feinſinnig auf
der Dominant, das wunderbar gehobene Leben, das im Innern
erwacht iſt, auch in der Begleitung aus. In Suleika's zwei—
tem Geſange (Op. 31.): „Ach um deine feuchten Schwingen,“ ver—
binden ſich die wahrhaft berückende Melodie, die zwar weiten aber
auch außerordentlich weich vermittelten Ausweichungen und die durch—
ſichtige, luftige Begleitung um die ganze Gluth der Stimmung
auszutönen.
Weniger glücklich iſt Schubert auch in Behandlung der—
jenigen Göthe'ſchen Lieder geweſen, in denen die ſtrophiſche Abthei—
lung nicht feſtgehalten iſt, wie: „Raſtloſe Liebe“ und „Erſter
Verluſt“ aus Op. 5. Im erſten Liede beſonders hemmt ihn die
große und reizende Mannichfaltigkeit des Rhythmus und namentlich
von der Stelle an, mit welcher der Dichter den aus einem Dacty—
lus und einem Trochäus gebildeten adoniſchen Vers — — — —
feſtzuhalten beginnt, iſt der Componiſt ziemlich rathlos und mehr—
mals genöthigt, den Trochäus in einen Fuß zuſammenzuziehen:
„fliehen“ und „ziehen“ in „flieh'n“ und „zieh'n“ zu verwandeln,
an anderer Stelle wiederum ein „O“ einzuſchieben: „O Liebe biſt
du!“ um die rhythmiſche Monotonie aufzuheben.
Nicht viel beſſer geſtaltet ſich das Verhältniß unſers Meiſters
zu den lyriſchen Liedern des andern bedeutendſten deutſchen Dichters:
Friedrich von Schiller. Die Individualität dieſes Dichters
war der eigentlichen Lyrik, dem muſikaliſchen Liede wenig günſtig.
Die Fähigkeit der unmittelbaren Formgebung des ebenſo unmittelbar
— 169 —
Empfundenen beſaß er in zu geringem Grade, um wirklich lyriſche
Lieder zu erfinden. Er ſucht zu allem, was ihn feſſelt, die Ideen,
und vertraut dieſe dann in bildlicher Anſchauung dem Gedicht.
Seine Lieder ſind vorwiegend didactiſch gehalten und darum für
Muſik wenig günſtig. Wol einmal nur iſt es ihm gelungen, das
Fluthen ſeines Innern in ſeiner ganzen Unmittelbarkeit zu faſſen,
in dem Liede Thekla's aus Wallenſtein: „Der Eichwald brauſt, die
Wolken ziehn,“ und dies hat denn auch in Schubert ein wunderbar
ſchönes Tonſtück heraufgezaubert („Des Mädchens Klage“ Op. 58.).
Schon das kurze aber harmoniſch reiche Vorſpiel mit ſeinen herben
Vorhalten läßt uns den großen Schmerz des, unter den harten
Schlägen noch zuckenden aber ſtill reſignierenden Herzens der
Tochter Wallenſteins, dieſes lieblichſten Gebildes der Phantaſie des
Dichters, empfinden; und wie mächtig ergreifend erhebt ſich über
der, mit dem feinſten Inſtinkt zwar einfachen aber doch höchſt
eigenthümlich gewählten harmoniſchen Grundlage die Melodie! Wie
fein iſt die Declamation und doch auch wiederum wie klangvoll
melismatiſch herausgebildet! Zu welch wunderbarer, herbſüßer Wir—
kung legen ſich der Dominantaccord der Cmoll- und der der Es dur⸗
Tonart neben einander, und wenn ſich dann vom 9. Tact an die
Melodie jo mächtig ſteigert und im 11. Tact der verminderte Sept⸗
accord nach dem Sextaccord » wendet, da iſt es, als ob das Herz
8
zerſpringen möchte vor Liebesweh und Liebespein, und wir fühlen
die ganze Schwere der Reſignation, mit der in Melodie und Har-
monie die Stimmung wieder herabſinkt in das düſtere in ſich ver—
harrende moll. An einem andern Gedicht Schiller's „Nacht
und Träume“ (Op. 43.) erſetzt er, ſo weit dies überhaupt möglich
iſt, die fehlende lyriſche Stimmung durch ein eigenthümlich ſüßes
Klangcolorit. In melodiſchem Fluß erhebt ſich die Muſik nur noch
etwa in „Thekla.“ In allen übrigen kommt ſie über eine hin und
wieder ſelbſt an den Bänkelſang erinnernde Phraſeologie nirgends
hinaus. „Hektors Abſchied“ und „Emma“ ſind ſprechende
Beweiſe dafür.
Um ſo bedeutendere Schöpfungen weckten in ihm die letzten vollen,
vernehmbaren Klänge der eigentlichen Romantik die Lieder Wilhelm
Müller's, des Dichters, mit dem Schubert nächſt Göthe die
meiſte Verwandtſchaft hat. Auch die Lyrik Müller's it naiv und
— 170 —
unmittelbar wie das Volkslied; nicht ſo tief und reich, wie die des
Altmeiſters der Dichtkunſt, aber ebenſo ſangbar und ungekünſtelt,
ſie iſt wahr im Gefühl und poetiſch in der Anſchauung. Der
Liedercyklus: „Die ſchöne Müllerin“ Op. 25. und der andere:
„Die Winterreiſe“ Op. 89., beide nach Dichtungen von Wilhelm
Müller, zählen zu den genialſten Schöpfungen Schubert's.
Der Cyklus: „Die ſchöne Müllerin“ beſteht urſprünglich, den
Prolog und Epilog mitgerechnet, aus 25 Liedern. Schubert hat
deren nur 20 in Muſik geſetzt; „Das Mühlenleben,“ „Erſter
Schmerz“ und „Letzter Schmerz,“ wie der Prolog und der Epilog
fehlen bei ihm. Beethoven hatte mit dieſer Gattung den Anfang
gemacht und wir ſahen, wie er nur innerlich verbundene Gedichte
auch äußerlich, ganz treu ſeiner ganzen Kunſtanſchauung, verbindet.
Die einzelnen Müllerlieder ſind unter einander, wir möchten ſagen,
zu einer Novelle verbunden, und eine Behandlung im Sinne
Beethoven's wäre hier eher gerechtfertigt geweſen. Allein eine
ſolche konnte weder in der Abſicht, noch, wie wir bei der Betrach—
tung des Meiſters als Balladencomponiſt deutlicher erkennen werden,
in ſeiner beſonderen Befähigung liegen. Er hatte nur Sinn und Auge
und nur die Mittel für die lyriſche Beſchaulichkeit, und wenn den—
noch durch ſeine Lieder-Cyklen ein gewiſſer einheitlicher Zug hin—
durchgeht, ſo iſt das weniger beabſichtigt, als vielmehr unwillkürlich
herbeigeführt. Dem Meiſter lag es gewiß fern, einen epiſchen
Zuſammenhang herzuſtellen, wie das ſpäter mehrfach wieder von
Schumann verſucht wurde; er iſt vielmehr nur darauf bedacht,
die einzelne Stimmung vollſtändig zu erſchöpfen; aber dieſe haar—
ſcharfe Charakteriſtik ſtellt ganz abſichtslos in ihrer ſtetigen Ent—
wicklung einen, wenn auch nicht eben epiſchen, doch logiſchen Zu—
ſammenhang her. Wir leben mit dem Müller das ganze Ereigniß
in ſeinen einzelnen Stationen durch und ſtimmen am Schluß tief—
bewegt in „Des Baches Wiegenlied“ mit ein.
Der großen Mannichfaltigkeit des Inhalts und Verſchiedenheit
der Situation entſpricht zunächſt wieder die große Verſchiedenheit
und Mannichfaltigkeit der Formen unter ſich. Vom einfachen
Strophenliede volksmäßig naiv gehalten, wie: „Das Wandern iſt
des Müllers Luſt“ und „Gute Ruh!“ oder mehr kunſtmäßig
erwogen, wie: „Ich ſchnitt es gern in alle Rinden ein“ und
„War es alſo gemeint?“ bis zu jenem, ſich fort und fort inſtru—
1
mental wie vocal vertiefenden durchcomponierten Liede ſind alle die,
im Vorigen beſprochenen Formen meiſterlich herausgebildet; ſelbſt
da, wo der Declamation zu Liebe einzelne Stellen rhythmiſch bedeut⸗
ſam herausgehoben, oder recitativiſch behandelt werden, wie in
No. 5. „Der Feierabend“:
„Und der Meiſter ſpricht zu Allen:
Euer Werk hat mir gefallen;
Und das liebe Mädchen ſagt
Allen eine gute Nacht.“
oder in No. 6. „Der Neugierige“:
„Ja, heißt das eine Wörtchen.“
hält ſich auch dieſe Darſtellung immer an dem formalen Bande, ſo
daß die Form nicht verletzt oder carriciert, ſondern nur freier herans-
gebildet wird. Auf die einzelnen Lieder ſpecieller einzugehen, dürfte
nach allem bisher Erörterten überflüſſig erſcheinen, und ſo beſchrän—
ken wir uns darauf, die bedeutſamſten Züge der einzelnen Lieder
hervorzuheben.
Zunächſt iſt es im hohen Grade intereſſant, wie fein und
charakteriſtiſch Schubert ſchon in der Begleitung Situation und
Stimmung äußerlich und innerlich concentriert ausprägt. Jenes
Begleitungsmotiv, das dem Rauſchen des Waſſers abgelauſcht iſt,
wird auch Begleitungsmotiv für mehrere Müllerlieder, natürlich in
ſinniger Umgeſtaltung. In innigſter Verwandtſchaft ſteht das
Begleitungsmotiv jener Romanze: „Der Fiſcher“ und das des
erſten Müllerliedes: „Das Wandern.“ Jenes tritt mehr accordiſch,
nur die Mittelſtimmen arpeggierend, und in der im Clavierſatz
gewöhnlichen Lage des gemiſchten Chors auf: die Begleitung ſoll
den ſüßen Sirenengeſang andeuten, der aus den Waſſern ertönt.
Das Begleitungsmotiv des Müllerliedes arpeggiert den ganzen
Accord nur in der tiefern, der Tenorlage des Inſtruments und
gewinnt dadurch jenen unternehmenden, zwar innerlich geſättigten,
aber mächtig nach außen drängenden Charakter, der ſo vortrefflich
der Stimmung entſpricht. Im zweiten Müllerliede: „Ich hört ein
Bächlein rauſchen“ wird es tonreicher und lebendiger durch die
Auflöſung in Sechszehntheil-Triolen und iſt vielmehr geeignet, an
das luſtig rauſchende Bächlein zu erinnern; die Lage, in der es
auftritt, iſt wieder die des gemiſchten Chors, denn „es ſingen wol
die Nixen tief unten ihren Reih'n“ und die Syncopen im Baß
— 172 —
vollenden das Bild des wunderbaren Wellenſpiels. Im vierten
Müllerliede: „Dankſagung an den Bach“ hat es von feinem Ton-
reichthum nur ſoviel behalten, als nöthig, um den urſprünglichen
Charakter nicht ganz einzubüßen; wendet ſich aber jetzt vielmehr
nach innen, wie es die Seligkeit der Stimmung erfordert. In den
folgenden Liedern entwickelt unſer Meiſter eine große Mannichfaltig—
keit in den Begleitungsformen, bis er in No. 11.: „Mein!“
„Bächlein, laß dein Rauſchen ſein!“ wiederum auf jenes erſte
zurückkommt, aber ſo vollſtändig überfluthend, daß der Geſang mit
hingeriſſen wird, ſich an ſeiner Darſtellung zu betheiligen. Voll—
ſtändig erkennbar erſcheint es dann erſt wieder im vorletzten, No. 19.:
„Wo ein treues Herze“ aber wie vortrefflich der Situation ange—
paßt. Das Bächlein rauſcht nicht mehr ſo munter und die Nixen
ſingen auch nicht mehr ſo ſüß, wie im zweiten Liede. Im letzten
endlich: „Des Baches Wiegenlied“ erinnert es mehr an No. 4,
aber es iſt der tragiſchen Situation entſprechend ruhiger geworden
und harmoniſch vertieft.
Auch harmoniſch bieten dieſe Lieder wiederum eine Menge von
intereſſanten Einzelheiten. Im Allgemeinen iſt die harmoniſche
Grundlage die einfachſte. Keins dieſer Lieder gab Gelegenheit zur
Entfaltung eines größern Harmoniereichthums, und wir wiſſen, daß
der Meiſter nie mit feinen Mitteln prahlt. Dem „Morgengruß:“
„Guten Morgen ſchöne Müllerin“ fehlt ſelbſt die Modulation
nach der Oberdominant. Wo dieſe auftritt, erſcheint ſie im ſoge—
nannten Halbſchluß, und jede fremde Tonart, die eingeführt iſt,
weiſt immer auf Cdur zurück. No. 16.: „Die liebe Farbe“ ruht
dagegen wiederum ganz auf der Dominant, die bald für Dur, bald
für Moll gilt, daß in dem Wechſel von Udur und H moll die
Stimmung ganz vortrefflich ausklingt.
Auch im nächſten Liede: „Die böſe Farbe“ entfaltet ſich
dieſer Wechſel von Dur und Moll zu treuſtem Ausdruck der halb
leidenſchaftlichen, halb fentimentalen Stimmung.
Ein beſonders bemerkenswerthes rhythmiſches Gebäude zeigt
No. 7.: „Ungeduld.“ Das Metrum iſt bis zur Schlußzeile ganz
treu nachgebildet, allein in der beſondern Gruppierung der Accente,
aus dem Widerſpruch, in dem ſich der logiſche mit dem harmoniſch
bedingten Accent oft befindet, erhebt ſich ein reizvolles rhythmiſches
— 173 —
Spiel und der gewichtvolle, die natürliche rhythmiſche Anordnung
wieder herſtellende Refrain iſt dann von großer Wirkung.
Jener zweite Liedercyklus, deſſen wir bereits erwähnten, iſt
nur eine Abtheilung eines noch umfaſſenderen größeren, aus drei
Abtheilungen beſtehenden, gleichfalls von Wilhelm Müller
gedichteten Cyklus, unter dem Namen: „Reiſelieder“ bekannt.
Schubert componierte nur die zweite Abtheilung: „Winterreiſe“
und die einzelnen Lieder gehören zu den vollendetſten Kunſtſchöpfungen.
Er ſchrieb ſie in der Zeit ſeiner höchſten Reife, und wir fanden
ihn noch wenige Tage vor ſeinem frühen Tode mit der Correktur
beſchäftigt. Er hat die kurze Zeit ſeines Lebens ſo treu und fleißig
gearbeitet, daß er auf dieſem Gebiete die höchſte Meiſterſchaft
erlangen mußte. Die Lieder der Winterreife werden ewig Muſter⸗
gültigkeit behalten. Sie find ebenfo vollendet in der Form, als
rückhaltslos erſchöpfend im Ausdruck. In den meiſten der bereits
beſprochenen Lieder macht ſich häufig noch eine Weitſchweifigkeit des
Ausdrucks geltend, die ihn zu formellen Ausſchreitungen zwingt.
Er hält ſich bei den einzelnen Zügen noch mit ſolcher Vorliebe auf,
daß es ihm oft nur durch die complicierte Form möglich iſt, die
verſchiedenen Nüancen der Stimmung zu einheitlichem Ausdruck zu
bringen. Erſt in den Liedern der „Winterreiſe“ gewinnt er jene
höchſte Form des lyriſchen Ausdrucks, die alle Einzelzüge der Stim—
mung auf ihre Pointen zurückführt, und in einheitlicher, einfach
gegliederter Form Geſtalt werden läßt. Immer ſeltener wird jetzt
die Einführung fremder Tonarten in ſelbſtändiger Ausprägung; ſie
werden vielmehr in dem Beſtreben herbeigezogen, die Haupttonart
reicher auszuſtatten und dadurch die Grundſtimmung zu vertiefen.
Faſt jedes einzelne Lied der Winterreiſe giebt einen Belag hierzu;
ganz beſonders aber No. 4.: „Erſtarrung,“ in dem nur die nächſt⸗
verwandten Tonarten, Cmoll, Es dur, Gmoll und As dur, aber
in fortwährendem Wechſel von Accorden und accordähnlichen Gebil—
den, beſtimmter ausgeprägt find. In No. 10.: „Raſt“ und No. 15.:
„Die Krähe“ iſt in derſelben Weiſe nur die Haupttonart wirklich
herrſchend, und die der Molltonart eigene Erhebung nach der
Obermediante tritt auch nur ganz vorübergehend ein. Das iſt jene
Liedgeſtaltung, die erſt den knappſten und doch reichſten Ausdruck
ö vermittelt. Eine wunderbare harmoniſche Conſtruction zeigen noch
No. 16.: „Letzte Hoffnung“ und No. 24.; „Der Leiermann.“ Wir
— 174 —
haben ſchon vielfach erfahren, welch wunderbare Wirkung Schu—
bert aus jenem nebelhaften myſtiſchen Wechſelſpiel von Dur und
Moll erreicht. Das Vorſpiel ebenſo wie der Anfang des genannten
Liedes laſſen es vollſtändig unbeſtimmt, ob das Lied der Es dur- oder
der Esmoll-Tonart angehört. Nun endet zwar die erſte Zeile
mit einem Schluß in Es dur, und die nächſte ſetzt ſich auf deren
Obermediante feſt, allein die nächſte ſchon wendet ſich zu einem
Halbſchluß, der viel nähere Verwandtſchaft mit Es moll als mit
Es dur hat, und der nächſte Theil prägt auch Es moll ganz beſtimmt
aus. Der Schluß erfolgt zwar in Es dur, aber nimmt immer noch
wieder Bezug auf den vorhergehenden Mollcharakter. Das letzte
Lied: „Der Leiermann“ iſt noch merkwürdiger in ſeiner harmoni—
ſchen Conſtruction. Das ganze Lied erhebt ſich über einem Orgel—
punkt. Der Baß hält unverändert Grundton und Quint des
Amoll-Dreiklangs feſt, und in der Singſtimme und den obern
Stimmen der Begleitung wechſeln der Amoll-Dreiklang und der
Dominantaccord mit einander ab. Dieſer Harmoniearmuth gegen—
über erlangt natürlich die Melodie eine größere Selbſtändigkeit und
es iſt bewunderungswürdig, wie mannichfaltig und charakteriſtiſch
zugleich Schubert die wenigen Töne, welche ihm jene beiden
Harmonien boten, verwendet. Wir kommen hier auf eine neue
Eigenthümlichkeit, die alle Melodien dieſer Lieder auszeichnet, daß
ſie ſich viel ſelbſtändiger, von der Harmonie unabhängiger geſtalten,
als dies in den meiſten frühern Liedern der Fall iſt. In dieſen
entſtehen Harmonie und Melodie meiſt ſo gleichzeitig, daß die eine
in der andern die Bedingung ihrer Exiſtenz findet. Mit der
ſteigenden Meiſterſchaft in der Beherrſchung des Materials werden
ihm beide zu beſondern Mächten des muſikaliſchen Ausdrucks. Jede
folgt ihrem eignen Zuge mit einer Conſequenz, wie wir ſie in
höherm Maße nur noch bei Joh. Seb. Bach finden. Beide
bedingen ſich nicht mehr nur, ſondern ſie ergänzen ſich jetzt. Faſt
in jeder dieſer Melodien begegnen wir einzelnen Tönen, die der
urſprünglichen harmoniſchen Grundlage nicht angehören, die aber
auch nicht als Durchgangs- oder Vorhaltstöne gefaßt werden können,
und die wir deshalb harmoniefreie Töne nennen möchten, weil ſie
eben nur der conſequenten Verfolgung des melodiſchen Zuges ihre
Exiſtenz verdanken. Gleich das erſte Lied der Winterreiſe erlangt 6
durch ſie ſeine wehmüthig ſüße Innigkeit. Dem gleichen Zuge folgt
— 175 —
die Harmonik dieſer Lieder. Wenn ſie auch in den frühern nur
ſelten in ihrer rein materiellen Erſcheinung als Accord, ſondern
vorherrſchend in reizenden Arpeggien, in harmoniſcher Figuration
verwendet wird, ſo iſt das mehr eine äußere Verfeinerung, von der
die Grundharmonie nicht berührt wird. In dem neuen Liede wird
dieſe ſchon viel feiner und freier, wir möchten ſagen, flüſſiger,
und indem ſie nicht nur harmoniſch, ſondern auch melodiſch figuriert
wird und oft dem ſelbſtändigen Zuge einer ihrer Stimmen folgt,
gelangt ſie zu Accordgebilden, die ſich auf jenen urſprünglichen
Formationsprozeß nicht mehr direct zurückführen laſſen. Dadurch
wird auch die Clavierbegleitung zu einer viel bedeutſamern SGelb-
ſtändigkeit geführt, als fie bisher erreichen konnte. In No. 1.:
„Gute Nacht,“ No. A: „Erſtarrung,“ No. 5.: „Der Linden⸗
baum,“ No. 6.: „Waſſerfluth,“ No. 9.: „Irrlicht,“ No. 11.:
„Frühlingstraum,“ No. 14.: „Der greiſe Kopf,“ No. 15: „Die
Krähe,“ No. 16.: „Letzte Hoffnung,“ No. 17.: „Im Dorfe,“
No. 18.: „Der ſtürmiſche Morgen,“ No. 19.: „Täuſchung,“
No. 20.: „Der Wegweiſer,“ No. 21.: „Das Wirthshaus“ und
No. 22.: „Muth“ der „Winterreiſe“ folgt ſie ganz bewußt ihrem
eignen Zuge in ſelbſtändiger Führung, in charakteriſtiſchen Vor-,
Zwiſchen⸗ und Nachſpielen mit ihren eigenſten Mitteln ſich an der
Darſtellung des poetiſchen Inhalts zu betheiligen. Detailmalereien,
wie „die Nachahmung der Klänge des Poſthorns“ in No. 13.,
„das Rauſchen der Zweige“ in No. 5., „das Flackern der Irr-
lichter“ in No. 9. und „das Krähen der Hähne“ in No. 11.
werden immer häufiger, aber treten noch weniger mit der Abſicht—
lichkeit bloßer Situationsmalerei auf, als früher. In dem Beglei⸗
tungsmotiv, das unter ihrem beſtimmten Einfluß entſteht, beherrſcht
ſie dort häufig die Stimmung vollſtändig. Die Clavierbegleitung
der Lieder der Winterreiſe verſucht eine möglichſt erſchöpfende Dar—
ſtellung des ganzen Stimmungsbildchens und jene localen Töne und
Farben finden nur jo weit Berückſichtigung, als fie in die Phan⸗
taſie des Tondichters hineinragen. So werden Melodie und Har—
monie zu zwei ganz ſelbſtändigen Mächten herausgebildet, und in
ihrem Zuſammenwirken kommt der ganze poetiſche Gehalt zu voll—
ſtändig erſchöpfendem Ausdruck. Dem größeren Reichthum der
inſtrumentalen Geſtaltung gegenüber erhebt ſich die Melodie immer
bedeutsamer und ſelbſtändiger durch eine klangvolle Melismatik
— 176 —
herausgebildet. Recitativiſche Gebilde, welche früher die Conſtruction
der Form häufig zeitweiſe aufheben, werden dieſer jetzt feſt einge⸗
fügt, indem ſie die Clavierbegleitung, wie in dem Liede No. 7.:
„Auf dem Fluſſe“ energiſch weiterführt. Hiermit hat Schubert
zugleich den Weg bezeichnet, auf dem die muſikaliſche Wiedergeburt
der Lieder Heinrich Heine's, des größten lyriſchen Dichters
nach Göthe, gefunden werden konnte.
Heine's erſtes Auftreten erfolgte erſt kurz vor dem Tode
Franz Schubert's, und ſo war es dieſem nur vergönnt, mit
wenigen Liedern der neuen Aera, die auch für die muſikaliſche Dar-
ſtellung mit dieſem Dichter beginnt, Plan und Ziel beſtimmt vor⸗
zuzeichnen. Dieſe Lieder wurden erſt nach feinem Tode in der Lieder⸗
ſammlung: „Schwanengeſang“ veröffentlicht. Es iſt dies kein
Liedercyklus in dem früher erörterten Sinne, ſondern nur eine vom
Verleger zuſammengeſtellte Sammlung von Liedern aus dem Nach—
laſſe Franz Schubert's.
Die Heine ' ſche Lyrik iſt noch pointenreicher als die Göthe—
ſche. Sie faßt die Stimmung noch präciſer in noch kleinerem
Rahmen zuſammen und das Wort wird daher bei ihm von ungleich
größerer Wichtigkeit als bei Göthe und natürlich auch bedeutſamer
für den Tondichter. Mit größerer Treue noch als in allen früheren
Liedern geht ihm denn auch Schubert nach, und ſo bildet ſich
der mehr rezitierende Liedſtyl, wie ihn, zwar ſehr weich melodiſch
abgerundet, ſchon: „Am Meer“ („Das Meer erglänzte weit hin—
aus“), vollſtändig ausgeprägt aber: „Die Stadt“ („Am fernen
Horizonte“) und „Der Doppelgänger“ („Still iſt die Nacht“)
zeigen. Die Stimmung muſikaliſch einheitlich zuſammen zu faſſen
fällt dann der Clavierbegleitung anheim. Wie das Wort ſich jeder
weiteren Ausführung enthält und nur die Hauptmomente andeu—
tungsweiſe heraushebt, ſo bezeichnet auch der Geſang nur die ein—
zelnen Farbenpunkte, die dann die Clavierbegleitung einheitlich zu—
ſammenfaßt. Wir werden erfahren müſſen, wie auf dieſem Wege
ſpäter die Clavierbegleitung ein großes Uebergewicht über den
Geſang erlangt. Bei Schubert iſt das noch nicht der Fall. Die
bevorzugtere Stellung der Clavierbegleitung erhöht bei ihm zugleich
die Wirkung des Geſanges. Ein Muſter dieſer Behandlung iſt
das bereits genannte: „Der Doppelgänger.“ „Die Stadt“ liefert
den Beweis, daß dem Meiſter auch die Poeſie des einen Accordes,
— 177 —
die ſich in Beethoven oft ſo wunderbar treibend darſtellt,
erſchloſſen war; der Mittelſatz dieſes Liedes: „Ein feuchter Wind—
zug“ ruht auf dem verminderten Quint-Sext-Accord a — es
— fis. Wir werden bei der ſpeciellern Betrachtung des Verhält—
niſſes der nachfolgenden Meiſter des Liedes: Mendelsſohn
und Schumann zu Heine auf dieſe Lieder noch zurückkommen
müſſen.
Von größeren Cyklen hätten wir nur noch die, als die fünf
erſten Lieferungen der „Nachgelaſſenen muſikaliſchen Dichtungen“
Franz Schubert's veröffentlichten, „Oſſians Geſänge“ und die
als Op. 52. gedruckten „Sieben Geſänge“ aus W. Scott's „Fräu—
lein vom See“ zu erwähnen. Nur zwei jener Geſänge Oſſian's:
„Das Mädchen von Inistore“ und „Oſſian's Lied nach dem
Falle Nathos“ haben Liedform. Alle übrigen find mehr epiſch aus-
gebreitet im Balladenton gehalten. Und da auch jene beiden Lieder
formell nichts bemerkenswerthes Neues bieten, ſo dürfen wir den
ganzen Cyklus in das erſte Kapitel des nächſten Buches verweiſen,
um jo mehr, als wir dort das Wirken des Tonkünſtlers einer
ſpeciellen Betrachtung unterziehen, der auch die Geſänge Oſſian 's
zuerſt componierte: Johann Rudolph Zumſteeg.
Die Geſänge Walter Scott's gehören noch ganz ei
erſten Periode an, in der ihm die muſikaliſchen Mächte der Dar-
ſtellung in ihrer Selbſtändigkeit noch nicht aufgegangen waren und
ſo verſenkt er ſich noch mit ſchwelgeriſcher Luſt in den füß um—
ſtrickenden, aber unbeſtimmten Zauber der harmoniſchen und melo—
diſchen Klangwirkung und den monoton prägnanten Rhythmus um
Luft und Duft der mittelalterlichen Romantik heraufzubeſchwören,
und Hörnerklang und Sporen- und Schwertergeklirr bilden weſent—
liche Momente in dem reizenden Bilde. Die „Hymne an die
Jungfrau“ hat faſt volksthümliche Bedeutung erlangt. Nicht weniger
verdienen es „Ellen's zweiter“ und „Norman's Geſang.“
Räthſelhaft erſcheint es, daß Schubert ſich von den Liedern des
Dichters, der ſich wie er gern in die geheimnißvollen Tiefen der
Natur und die Zeit der mittelalterlichen Romantik verſenkt, Lud⸗
wig Uhland's jo wenig angezogen fühlt. Das vollſtändigſte Ver-
zeichniß ſeiner Lieder weiſt nur ein Lied von Ludwig Uhland:
„Die linden Lüfte ſind erwacht“ auf. Imponierte ihm der Adel,
die Hoheit und Energie des Gedankens ſo ſehr, daß er unterließ ſie
Reißmann, deutſches Lied. 12
— 178 —
mit ſeinen Arabesken zu umranken oder ſcheute er ſich, den gefeſte—
ten Bau aus ſeinen Fugen zu treiben; ein Zug, der ſich in
ſeinen Balladen, wie wir ſpäter ſehen werden, vielfach geltend macht.
Auch von Friedrich Rückert und Aug. Graf von Platen-
Hallermünde, dieſen beiden großen Verskünſtlern, hat er nur
wenig Lieder componiert; von jenem fünf, von dieſem nur zwei,
vielleicht aus demſelben Grunde. Die „Vier Gedichte von Rückert
und Graf Platen Op. 59.” beſtätigen dieſe Vermuthung. Schu-
bert hatte noch nicht die Präciſion des Ausdrucks gefunden, die
bei allem Reichthum doch, wie in der „Winterreiſe“ und dem
„Schwanengeſang“ die engſte Geſchloſſenheit der Form möglich
machte. Er erſchöpft auch den Ausdruck in dieſen Lieder vollſtän⸗
dig, aber mehr ſtoßweiſe, in einzelnen Interjektionen. So bedeu—
tend ſie an ſich immer ſind, darf man ſie doch nur mehr als
Experimente betrachten, und fie werden dadurch mehr hiſtoriſch
merkwürdig. Es wird dies noch klarer bei der eingehenden Be—
trachtung der muſikaliſchen Wiederdichtung, namentlich Rückert—
ſcher Lieder, durch Robert Schumann werden. Eine große
Anzahl von Liedertexten lieferten ihm endlich die öſterreichiſchen Dich—
ter: Johann Nepomuk Vogl, Johann Gabriel Seidl,
Ritter von Levitſchnigg, Tſchabuſchnigg, Leutner und
Mayrhofer, wol nicht weil er mehr Verwandtes als den allge—
meinen landsmänniſchen Zug mit ihnen verſpürte, ſondern weil ſie
ſeiner Individualität die wenigſten Schranken ſetzten. Ihnen gegen—
über nimmt er faſt einzig die Stellung des Inſtrumentalcomponiſten
ein. In den meiſten muß er ſich mit der flüchtigen Andeutung der
Stimmung begnügen, die er dann ſelbſtändig mit der bekannten
Meiſterſchaft ausbildet, und fo macht er das Ganze erſt bedeu—
tungsvoll. Jutimer konnte ſich ſein Verhältniß ſchon zu den Dich—
tungen Ludwig Rellſtab's, deren im „Schwanengeſang“ meh—
rere enthalten ſind, darunter das bekannte, weit verbreitete Ständ—
chen: „Leiſe flehen meine Lieder,“ geſtalten, wenn ſie auch eben
ſo wenig wie einzelne Lieder von Schlegel: „Das Lob der
Thränen“ und die „Roſe“ oder Shakeſpeare's „Ständchen“
einen beſondern Inhalt darboten, oder einen neuen Zug ſeiner Indi—
vidualität erweckten und ihn zu neuen Formen anregten.
Seine Hauptbedeutung knüpft ſich an Göthe und Heine.
An der Phantaſie Göthe's entzündete er ſeine eigne, daß aus ihr
EVEN U EEE 8
— 179 —
der neue Liederfrühling auch muſikaliſch hervortrieb, und an den
Liedern Heine's zeigte er dann, wie er nochmals zu neuer Blüte
gelangen konnte. Zwiſchen beide tritt vermittelnd Wilhelm
Müller. So dürfen wir auch an den Liedern von Klopſtock,
Hölty und Claudius vorübergehen. Was irgend muſikaliſch in
ihnen iſt, erlangt durch Schubert in der Weiſe der Lieder der
erſten Periode äußere Darſtellung.
Auch ſein Verhältniß zum mehrſtimmigen Geſange wurde ſchon
flüchtig bezeichnet. Er konnte hier nicht ſo hohe Bedeutung gewinnen,
wie im einſtimmigen Liede. Die Gewalt der Polyphonie, die allein
zu künſtleriſchen Erfolgen führt, erſchloß ſich ihm erſt in den letzten
Jahren ſeines Lebens. Er wirkt in den mehrſtimmigen Geſängen
vorwiegend homophon durch die Macht des Klanges. Daher auch
ſeine Vorliebe für den Männergeſang. Selbſt die Oberſtimme iſt
viel weniger melodiſch ausgeſtattet, als in ſeinen einſtimmigen
Liedern. Sie verbindet ſich vielmehr mit den Unterſtimmen zur klang⸗
vollen Ausprägung der wunderbaren Harmonie und einzelne Män—
nerchorlieder, wie „Mondenſchein“ Op. 102., „Im Walde“ und
„Nachtmuſik“ Op. 156. überragen alles, was in dieſer Richtung je
geſchrieben worden iſt.
Es iſt charakteriſtiſch und lehrreich zugleich, daß dieſer ganze
Prozeß, der im Norden Deutſchlands in jenen Berliner Künſtlern
beginnt, im Süden, und zwar in einem heißblütigen Kinde deſſelben
ſich vollzieht. Ein Sohn des Nordens ſollte ihm wieder eine neue
Richtung geben:
Felix Mendelsſohu-Bartholdy. Er wurde in Ham⸗
burg am 3. Februar 1809 geboren. Sein Vater Abraham
Mendelsſohn, der Sohn des berühmten Philoſophen Moſes
Mendelsſohn, war ein ſehr vermögender, aber auch feingebil—
deter und kunſtliebender Mann, und ſo erhielten ſeine Kinder eine
ſorgfältige Erziehung. Namentlich überwachte die Mutter, eine
geborne Bartholdy, die Entwicklung unſers Felix mit großer
Sorgfalt, und da ſie in ihm, wie in der etwas ältern Schweſter
Fanny die herrliche Begabung für die Kunſt entdeckte, wurden
dieſe bald ihr Stolz, wenngleich ſie auch die beiden andern Geſchwiſter
mit gleicher Liebe umfaßte.
Das bedeutſamſte Ereigniß aus der früheſten Jugendzeit Men—
delsſohn's iſt die Ueberſiedelung ſeiner ganzen Familie nach
*
— Mu —
Berlin. Hier, in der Metropole des Nordens, gepflegt von den
bedeutendſten Kräften derſelben entwickelten ſich die Anlagen des
Knaben ſo ſtaunenerregend, daß man vielfach verſucht ward, ihn
mit Mozart zu vergleichen. Seine muſikaliſche Bildung leitete
namentlich Zelter, der Director der Berliner Singacademie und
Louis Berger; beide, wie wir ſahen, auch auf dem Gebiete des
Liedes ſchöpferiſch thätig.
Bereits im achten Jahre gehörte Mendelsſohn zu den fer—
tigen Clavierſpielern der Reſidenz, und als ihn Zelter im Novem—
ber 1821 bei Göthe einführte, erregte er deſſen Intereſſe in hohem
Grade und Göthe verfolgte von nun an mit großer Aufmerkſamkeit
die weitere Entwicklung des genialen Knaben. Dieſe war eine
raſche und glänzende. Unter der Leitung Zelter's und Ludwig
Berger's ſchrieb er eine nicht geringe Zahl von Tonſtücken aller
Art. Daneben aber verſäumte er auch nicht die wiſſenſchaftlichen
Studien. Als Knabe bereits hatte er unter Leitung ſeines Haus—
lehrers Heyſe Andria von Terenz überſetzt, und 1827 bezog er,
um ſeine klaſſiſche Bildung zu vollenden, die Univerſität, obgleich
er ſich ſchon für die Künſtlerlaufbahn entſchieden hatte. Noch im
Jahre 1825 ſcheinen in ihm Zweifel in Bezug auf feinen künſt⸗
leriſchen Beruf aufgeſtiegen zu ſein, zu deren Löſung er ſeine erſte
Reiſe nach Paris unternahm. Er ſpielte hier vor Cherubini
ſein Amoll-Quartett, und das Urtheil dieſes Meiſters ſcheint ent—
ſcheidend für ihn geworden zu ſein; er verfolgte von nun an ener—
giſcher ſeine Künſtlerlaufbahn als früher. Unter der Leitung von
Ignaz Moſcheles, eines der bedeutendſten Clavierſpieler und
geſchätzten Componiſten, der nach langem Aufenthalt in England
1824 nach Berlin gekommen war, bildete ſich auch Mendelsſohn
zu einem der bedeutendſten Claviervirtuoſen aus, und Lehrer und
Schüler umſchloß bald das innigſte Freundſchaftsband. Moſche—
les veranlaßte ihn auch zu der erſten Reiſe nach London, und mit
ihr, die im Frühjahr 1829 erfolgte, beginnt ſeine eigentlich öffent—
liche Laufbahn.
In England fand er als Claviervirtuos, namentlich aber als
Componiſt enthuſiaſtiſchen Beifall. Außer mehreren Opern, darunter
„Die Hochzeit des Gamacho,“ mehreren Quartetten und Sonaten,
zwei Symfonien, Clavierſtücken und zwei Heften Liedern hatte er
bereits die beiden Ouverturen zum „Sommernachtstraum“ und
— mM —
„Meeresſtille und glückliche Fahrt“ componiert, und die Ouverture
zum „Sommernachtstraum“ wurde während ſeiner erſten Anweſen—
heit in London zweimal unter ſtürmiſchem Beifall aufgeführt. Nach
einem längeren Aufenthalt in London machte er noch mit Moſche—
les eine Reiſe nach Schottland und ſie regte wol ſchon die Idee
zur „Hebriden-Ouverture“ in ihm an. Im Mai 1830 kehrte er
nach Deutſchland zurück, verweilte einige Zeit in Weimar im Hauſe
Göthe's und gieng dann nach einem längeren Aufenthalt in
München nach Italien. In Rom, wo er mehrere Monate ver—
weilte, componierte er „Die erſte Walpurgisnacht,“ gieng dann
nach Neapel und durch die Schweiz nach Paris, woſelbſt er im
Februar 1852 aulaugte. Auch hier brachte er feine „Sommer—
nachtstraum⸗Ouverture“ zur Aufführung und reiſte dann zu neuen
Triumphen wieder nach London. Im Juni deſſelben Jahres finden
wir ihn wieder in Berlin, wo durch den Tod Zelter's die
Stelle des Directors der Singacademie frei geworden war. Men-
delsſohn bewarb ſich, jedoch ohne Erfolg, um dieſe Stellung.
Sie wurde an Rungenhagen vergeben. Der Sommer des
nächſten Jahres erſt brachte ihm einen beſtimmten Wirkungskreis.
Nach einem abermaligen Aufenthalt in London wurde er zur Lei—
tung des großen rheiniſchen Muſikfeſtes nach Düſſeldorf berufen,
was weiter zur Folge hatte, daß man ihm den, für ihn eigens
gegründeten Poſten eines ſtädtiſcheu Muſikdirectors übertrug, den er
auf drei Jahre annahm. Hier konnte ſeine Thätigkeit eine außer⸗
ordentlich ſegensreiche werden. Im Frühjahr 1834 hatte er im
Verein mit dem, auch als dramatiſchen Schriftſteller thätigen
Dichter Immermann und dem bekannten Schriftſteller von
Uechtritz die Leitung des Düſſeldorfer Stadttheaters übernommen,
und da man nicht materiellen Gewinn erzielen wollte, ſo konnte
dies Theater eine Muſteranſtalt werden. Allein früh ſchon ent—
ſtanden Zwiſtigkeiten zwiſchen Immermann und Mendelsſohn,
die ſchließlich den vollſtändigen Bruch herbeiführten. Mendels—
ſohn gab die Leitung der Oper auf und auch das frühere intime
Verhältniß zu Immermann war geſtört. Zwar ſchloß er ſich
jetzt um ſo inniger dem ihm von Italien her bekannten Kreiſe der
Maler an, allein jene Mißhelligkeiten mochten ihm doch den
Aufenthalt in Düſſeldorf verleidet haben, und ſo ließ er ſich um
ſo bereitwilliger auf Unterhaͤndlungen mit Leipzig ein, das ihn zu
— 182 —
gewinnen ſuchte. Zwar ſchlug er den ihm von der Stadt ange—
botenen Lehrſtuhl für Muſik, der für ihn gegründet werden ſollte,
aus, nahm aber die Leitung der Gewandhausconcerte, die man ihm
übertrug, bereitwillig an. Leipzig wurde ihm nun eine neue Hei—
math, und ſeine Verdienſte um das muſikaliſche Leben dieſer Stadt
ſind heute noch dort in lebendigem Andenken. Durch ſeine prak—
tiſche Wirkſamkeit als Dirigent und Claviervirtuos weckte er hier
ein ſo reiches muſikaliſches Leben, wie es dieſe Stadt wol nimmer
vorher kannte, und dabei gab er ihr durch die Werke, die er von
hier aus veröffentlichte und die den Kreis der Mendelsſohnianer in
ſteigender Progreſſion erweiterten, eine Bedeutung, die ſie gleichfalls
noch nie gehabt hatte. Er fühlte ſich aber auch hier ſo heimiſch,
daß ihn nur ein ehrenvoller Ruf des geiſtvollen und kunſtſinnigen
Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. auf kurze Zeit beſtimmen
konnte, Leipzig mit Berlin zu vertauſchen. Nachdem ihn 1836
ſchon die Leipziger Univerſität zum Doctor der Philoſophie creiert,
ernannte ihn der König von Sachſen 1841 zu ſeinem Kapellmeiſter,
und faſt gleichzeitig ergieng auch an ihn der Ruf des Königs von
Preußen, der ihn gleichfalls, mit einem bedeutenden Gehalt, zu
ſeinem Kapellmeiſter ernannte. Mendelsſohn folgte dieſem
Rufe und dieſer neuen Stellung verdanken wir einige der bedeutend—
ſten Werke, indem der König die Idee in ihm anregte, die antike
Tragödie mit Muſik in Scene zu ſetzen. Die Ouverture, Chöre
und Melodrama's zur „Antigone“ ſchrieb Mendelsſohn auf
den beſondern Wunſch des Königs. Ebenſo die Muſik zu Raci—
ne's „Athalie“ und die noch fehlenden Sätze der Muſik zu
Shakeſpeare's „Sommernachtstraum.“
Allein Berlin vermochte ihn auf die Dauer nicht zu feſſeln,
da er wol den Wirkungskreis nicht fand, den er ſuchte. Zwar
ernannte ihn der König 1843 zu feinem Generalmuſikdirector und
in der Leitung des Domchors wie der Symfonie-Soirsen eröffnete
ſich ihm auch eine praktiſche Thätigkeit; allein ſchon im November
1844 erbat er ſeinen Abſchied und gieng zunächſt nach Frankfurt
und im Auguſt des Jahres 1845 in ſeine alte Stellung nach Leip—
zig zurück. Hier war mittlerweile das Conſervatorium für Muſik
ins Leben gerufen worden, und auch ihm wandte er ſeine Thätig—
keit mit allem Eifer zu, leider nur wenig Jahre noch. Bereits im
Jahre 1846, nach ſeiner Rückkehr aus England, wohin er aber—
— 15 —
mals gereiſt war, um auf dem Muſikfeſt in Birmingham ſeinen
„Elias“ aufzuführen, begann er zu kränkeln, ſo daß er vielfach in
ſeiner Thätigkeit gehindert wurde. Zwar iſt er im April 1847 wie—
der in England, um ſeinen „Elias“ in der Exeterhall zu dirigieren,
und am 11. Mai führte er im philharmoniſchen Concert feine
Muſik zum „Sommernachtstraum“ auf und ſpielte Beethoven's
G dur-Concert, aber das war auch ſeine letzte öffentliche Thätigkeit.
Jenes traurige Ereigniß, der Tod ſeiner geliebten, ihm ſo innig
nahen kunſtverwandten Schweſter Fanny beſchleunigte auch ſei—
nen Tod.
In der Schweiz, in dem reizend gelegenen Interlaken, wohin
er ſich mit ſeiner Familie zurückzog, ſuchte er Stärkung für ſeinen
müden Geiſt. Er fand ſie ſo weit, daß er ſich wieder lebhaft mit
größern Werken beſchäftigte. Er arbeitet wieder an einem neuen
Oratorium „Chriſtus“ und an einer Oper „Loreley,“ zu der ihm
Geibel den Text geſchrieben hatte, doch ſollten beide Werke
unvollendet bleiben.
Erheitert und geſtärkt kehrte er zwar nach Leipzig zurück, allein
ein vorübergehender Beſuch in Berlin ſcheint ihm den Verluſt
der geliebten Schweſter ſo lebendig vor die Seele geführt zu
haben, daß die kaum vernarbte Wunde wieder aufbrach und kurze
Zeit nach ſeiner Rückkehr nach Leipzig ereilte ihn der Tod am
3. Novbr. 1847. Die Trauer um ihn in ganz Deutſchland und
dem verwandten England war aufrichtig und groß und namentlich
Leipzig erwies ihm königliche Ehren. Dies verlor in ihm zugleich
den raſtlos für ſeinen Ruf und ſein öffentliches Leben thätigen
Bürger.
Wol ſchwerlich dürfte es außer ihm noch einen Meiſter geben,
deſſen Individualität ſo ungetrübt, ſo ganz ohne Reſt in ſeinen
Werken zur Erſcheinung käme, wie bei ihm. Jedes einzelne iſt ihr
ſo treuer Abdruck, daß ſie alle unverkennbare Familienähnlichkeit
haben. Dieſe Individualität iſt keine außergewöhnlich reich- und
tiefangelegte, aber ſie iſt ungewöhnlich durchbildet, harmoniſch abge—
rundet und geklärt. Und weil ſie eben eine ganz beſtimmte, wir
möchten ſagen einſeitig ausgeprägte iſt, nimmt Mendelsſohn eine
ganz andere Stellung dem Dichter gegenüber ein, als Schubert.
Während dieſer der Phantaſie des Dichters die unbeſchränkteſte
Einwirkung auf ſeine eigene geſtattet, daß ſie dort neue, ihr unge—
2
wöhnliche Bilder erzeugt, wird die Phantaſie Mendelsſohn's
von der des Dichters nur erregt, und während Schubert ſeine
eigene Individualität mit der des Dichters befruchtet, um ſie reicher
und glänzender, doppelgeſtaltig und von doppeltem Gehalt dann in
die Erſcheinung treten zu laſſen, empfindet Mendelsſohn die
Individualität des Dichters nur in dem beſchränkten Rahmen ſeiner
eignen und zieht ſie in ſeine eigne hinein, um ſie dieſer anzupaſſen.
So ſehen wir in Schubert ganz beſtimmte Dichterindividualitäten
muſikaliſch lebendig werden: Göthe, Oſſian, Walter Scott,
Wilhelm Müller und Heinrich Heine — Mendelsſohn
ſetzt nur einzelne Lieder muſikaliſch um, und wie Schubert in
erſter Reihe nach Wahrheit und intenſivem Reichthum des Aus-
drucks ringt, erwachſen ihm immer neue Mittel der Darſtellung
und neue Formen, und nicht immer gelingt es ihm, die Plaſtik der
Formgebung zu finden. Mendelsſohn ſtellt die Schönheit
des Ausdrucks immer über die Wahrheit deſſelben. In dem
Streben nach Schönheit der Darſtellung kommt das künſtleriſche
Schaffen häufig in Conflict und die Gewalt des Ausdrucks wird
nothwendig ſoweit abgeſchwächt werden müſſen, als es die Schönheit
der Form verlangt. In ſolche Conflicte iſt Mendelsſohn wol
nie gerathen. Seine Erziehung war von früheſter Jugend an auf
jene harmoniſche Durchbildung gerichtet, die derartige Conflicte
von vornherein ausſchließt. Er hat das Bewußtſein einer beſtimm⸗
ten ideal-ſchönen Form, in die er ſeine Individualität gießt, und
dieſe zu finden konnte ihm nicht ſchwer fallen. Durch eine ſtrenge
Schule und einen unermüdlichen Fleiß hatte er ſich das geſammte
Darſtellungsmaterial angeeignet, aber er verwendet es nur, ſoweit es
ſeiner abgeklärten Individualität zuſagt, nirgends in der rückſichts—
loſen Weiſe eines Beethoven, Schubert oder Schumann.
In den Liedern namentlich macht ſich der Einfluß der Berliner
Schule geltend. Seine Lehrer Zelter und Berger ſuchten auch
den neuen lhriſchen Ausdruck mehr nur im formellen Anſchluß an
den Text zu erreichen. Mendelsſohn folgt dieſem Zuge, aber
nicht ſo einſeitig wie dieſe beiden Künſtler. Er öffnet ſeine ungleich
leichter entzündbare Phantaſie und fein raſcher erregtes Innere auch
fremden Einflüſſen. Er ſucht Bach und Händel, Mozart,
Beethoven, Weber und Schubert ſeiner Individualität zu
vermitteln, ſo weit ſie eben Raum darin finden, und auch jener
— 15 —
andere Zug, nach welchem er die Traumwelt, aus der das inſtru—
mentale Kunſtwerk Schubert's ſtammt, mit Elfen und Kobolden
bevölkert und ſie in die Erſcheinungsform der realen Welt erhebt,
bleibt nicht ohne Einfluß auf ſeine Liedgeſtaltung. Daher haben die
Lieder der Periode, in welcher die Vermittelung jener verſchiedenen
Einflüſſe noch nicht erfolgt iſt, kein eigentlich individuelles Gepräge.
Jetzt, nachdem ſich uns die Individualität Mendelsſohn's voll—
ſtändig erkennbar offenbart hat, wird es auch nicht ſchwer, ſie aus
den Liedern Op. 8. und 9. zu fühlen, allein ohne dieſe Kenntniß
des ganzen Mendelsſohn würde es doch kaum möglich werden,
weil das Fremde, Angelernte das Eigene überwiegt und unvermittelt
neben dieſem ſteht. Erſt nachdem ſie inſtrumental, in der Ouver⸗
ture zum „Sommernachtstraum“ und mehr noch in dem erſten
Heft „Lieder ohne Worte“ beſtimmte Richtung gewonnen hat,
beginnt ſie auch vocal ſich ſelbſtändiger zu geſtalten. Schon in dem
Liederheft Op. 19. iſt ſie, wenn auch noch weitſchweifig und um—
ſtändlich, doch feſt und ſicher erkennbar. Ulrich von Lichten—
ſtein, der letzten Minneſinger einer, trägt im „Frühlingslied“
(Jo. 1.) ganz dieſelbe Phyſiognomie, wie Heinrich Heine, der
letzte Romantiker im „Gruß“ (No. 5.), denn keiner trägt ſeine
eigene, ſondern die Mendelsſohn's. In Heine's „Neue
Liebe“ (No. 4.) hört und fühlt der Meiſter, wiederum treu feiner
Individualität, auch nur den romantiſchen Spuk heraus, ohne ſeine
eigentliche dichteriſch pſychologiſche Bedeutung nur entfernt auch
muſikaliſch anzudeuten. „Das erſte Veilchen“ (No. 2.) iſt am
Wenigſten mendelsſohniſch, dagegen vom Einfluß Mozart's ſtark
berührt. Am Beſtimmteſten ſpricht ſich ſeine Individualität in dem
„Winterlied“ (No. 3.) und dem „Reiſelied“ (No. 6.) aus. Mit
dieſen beiden Liedern iſt eigentlich der Kreis von harmoniſchen und
melodiſchen Wendungen ſchon beſtimmt, aus dem der Meiſter nur
ſelten herausgedrängt wird und innerhalb deſſen Grenzen er eine
große Mannichfaltigkeit entwickelt. Denn das iſt eine Eigenthüm⸗
lichkeit, die ſich von jetzt ab immer entſchiedener geltend macht: der
Kreis ſeiner Ausdrucksmittel wird eher verengt als erweitert, aber
in der beſondern Darſtellung und Gruppierung derſelben iſt er
unerſchöpflich. Wie Schubert durch den wahrhaft verſchwen—
deriſchen Reichthum feiner Mittel imponiert, intereſſiert Mendels—
ſohn durch die weiſeſte Sparſamkeit, die doch auch nie zu jener
— 16 —
falten Berechnung der Berliner Künſtler wird. Seine Lieder find
daher weniger mächtig ergreifend, als anziehend und feſſelnd, und
gerade damit kam er dem Bedürfniß ſeiner Zeit in der edelſten
echt künſtleriſchen Weiſe entgegen. Schon das nächſte Liederheft
Op. 34. enthält die Lieder, die ihn zum Liebling eines großen
Theils der Nation machten: „Leucht't heller als die Sonne,“ „Auf
Flügeln des Geſanges,“ „Es brechen im ſchallenden Reigen“ und
„Ringsum erſchallt in Flur und Wald.“ Wer wollte verkennen,
daß dieſe Lieder alle im Sinn und Geiſte der größten Meiſter
empfunden ſind, daß aber der Ausdruck auf jenes Maß zurück—
geführt und abgeſchwächt iſt, das ihnen die weiteſte Verbreitung
ſichert. Mendelsſohn fühlte, daß ſein Sehnen, Wünſchen und
Hoffen das einer ganzen großen Geſammtheit iſt, und ſo empfand
er keinen Drang darüber hinauszugehen; es in weniger leicht faß—
lichen, aber mehr vertieften Formen auszutönen. Seine Melodien
und Harmonien, ſeine Rhythmen wie ſeine Clavierbegleitungen ver—
leugnen ſelten ihre immer gleiche Abſtammung; aber immer weiß er
ſie auch in neuer Geſtaltung vorzuführen. Sie erſcheinen uns als
alte liebe Bekannte, die in ihrer neuen Gewandung und ihrer
immer erneuten Jugendfriſche nur um ſo willkommener werden.
Daß Mendelsſohn in dieſem Streben große Bedeutung weniger
für die Kunſt, als für die Culturgeſchichte ſeiner Zeit gewann,
leuchtet von ſelbſt ein. Mit dieſer vermittelnden Thätigkeit führte
er die heiligen Gefühlsſtrömungen der größten Meiſter ſicherer und
ſchneller in die weiteſten Kreiſe der Geſellſchaft, als dies auf andere
Weiſe geſchehen wäre. Eine eigentliche Entwicklung konnte er aber
allerdings bei dieſer Richtung nicht haben. Nachdem er den for—
mellen Ausdruck gefunden, galt es nur, dieſen der jeweiligen Auf—
gabe gemäß umzugeſtalten. Etwas poſitiv Neues bringt daher keins
der nächſten Hefte, dagegen wieder einige Lieder, in denen die
liebenswürdige Perſönlichkeit des Tondichters in ihrer ganzen herz—
gewinnenden Anmuth ſich ausſpricht. Das nächſte Heft (Op. 47.)
ſchon enthält jenes Lied, das einen Grundzug des deutſchen Gemüths
ſo trefflich austönte, daß es in allen Schichten und Kreiſen des
deutſchen Volks ſich mit gleicher Schnelligkeit feſtſetzte, das Volks—
lied: „Es iſt beſtimmt in Gottes Rath“ und wo hätten das reizend
naive Wiegenlied: „Schlummre und träume von kommender Zeit“
und das ſtillſelige Frühlingslied: „Durch den Wald, den dunkeln,
1
geht holde Frühlingsmorgenſtunde“ deſſelben, oder das, mit den
prächtigſten Farben und der ganzen Gluth des Südens gezeichnete
Venetianiſche Gondellied: „Wenn durch die Piazetta die Abendluft
weht“ des nächſtfolgenden Hefts (Op. 57.) je ihre Wirkung verfehlt?
In wem erwecken nicht die beiden herrlichſten Lieder des nächſten
Hefts (Op. 71.), Klingemann's Frühlingslied: „Der Frühling
naht mit Brauſen“ und das Eichendorff'ſche Nachtlied: „Ver—
gangen iſt der lichte Tage,“ Empfindungen der ernſteſten und heilig⸗
ſten Art?
Die Lyrik Mendelsſohn's iſt ſo, obgleich ſubjektiv in hohem
Grade, doch eine Maſſenlyrik geworden und dadurch brachte er,
und das iſt vielleicht ſein Hauptverdienſt, den mehrſtimmigen
Liedergeſang wiederum zu hoher Blüte. Ueber ſein Verhältniß
zum Männergeſang haben wir uns hinreichend ausgeſprochen. Den
gemiſchten Geſangchören liegt die Gefahr, in einem unkünſtleriſchen
Treiben ſich zu verlieren, weit weniger nahe, als den Männer⸗
chören. Sie haben von jeher ſeit ihrer Verallgemeinerung ſich mit
beſonderer Vorliebe der Pflege der höchſten Kunſtgattungen zuge⸗
wendet, und diejenigen, welche vorwiegend die Hausmuſik pflegen,
fanden in den Frauen das läuternde Element. Die Achtung vor
den Frauen, die noch immer ein Grundzug des deutſchen Charakters
iſt, und ihr natürlicher Tact waren bisher immer noch im Stande,
die Laune der Männer zu zügeln, daß ſie in ihrer Gegenwart
nicht gleich zügellos ausbrach, wie nur zu häufig in den Männer⸗
chören. Seit Joſ. Haydn ſeine Quartetten und Mozart ſeine
Canons für dieſe Kreiſe ſchrieben, wandte ſich ihm allerdings lange
Zeit kein Meiſter von Bedeutung zu. Von Beethoven wären
r „Meeresſtille und glückliche Fahrt,“ das „Bundeslied“ und
as „Opferlied“ zu nennen, und Carl Maria von Weber
und Franz Schubert fühlten ſich vom Männerchorklange mehr
angezogen. Aber dieſer Zweig der Geſangsliteratur war doch immer
in Händen von tüchtigen Muſikern, wie Gottfried Weber,
nd Romberg, C. nee A. F. Annacker und
F. W. Berner.
Mendelsſohn führt auch auf dies Gebiet in ſeinen: „Vier—
ſtimmigen Liedern im Freien zu fingen‘ alle die, in feiner Indivi—
dualität abgeklärten Elemente des Mufikempfindens ſeiner Zeit hin⸗
über, und ſie trugen dort faſt noch herrlicher und raſcher Frucht,
— 18 —
als feine einſtimmigen Lieder. Dieſer vierſtimmige Liedergeſang iſt
ſo recht Mendelsſohn's eigenſtes Lebenselement geworden. Er
ſtellt nirgends Anforderungen, die außerhalb der Individualität des
liebenswürdigen Künſtlers lagen. Die ſubjektive Vertiefung wie die
Verdichtung zu großen und weit angelegten Tonbildern iſt dem
Chorgeſange eben jo fremd als unſerm Tondichter. Pſpychologiſch
ſubtile Feinheiten der Empfindung finden nur ſo weit auch hier
Berückſichtigung, als ſie ſich noch in Chorweiſe darſtellen und dem
Geſammtempfinden vermitteln laſſen — und gerade hierin liegt
Mendelsſohn's unübertroffene Meiſterſchaft. Sein Empfinden
iſt das Geſammtempfinden ſeiner Zeit, aber in feinſter und freieſter
Durchbildung. Dabei gab ihm der vierſtimmige Chorſatz die beſte
Gelegenheit, die an Bach und Händel geſchulte Chortechnik zu
verwenden, und daß und wie Mendelsſohn dies thut, macht
ſeine Chorlieder für alle Zeit zu Muſtern dieſer Gattung. Der
polyphone Begleitungsſtyl, den Schubert dem Liede gewonnen hat,
erlangt im Chorliede jetzt höchſte Bedeutung und der feinſinnig
geſtaltenden Hand Mendelsſohn's eröffnet ſich ein weites Feld
für ſeine, im Kleinen fo reizende, ordnende Thätigkeit. Der Chor-
geſang bietet ihm immer neue Wege, ſein beſcheidenes Material
anders zu geſtalten, ſeine Melodien ausdrucksvoller in einander zu
fügen, ſeine Harmonien klangvoller auszuprägen und ſeine Rhythmen
und das Versgefüge beſtimmter herauszubilden, und er gelangt
dadurch zu einer Mannichfaltigkeit des Ausdrucks, die er in keiner
andern Gattung der Tondichtung erreichte.
So erſcheint das Mendelsſohn'ſche Lied durchaus als ein
Fortſchritt in der Entwicklung des Liedes, der indeß mehr practiſch
als künſtleriſch bedeutſam iſt. Das Lied Mendelsſohn's iſt
knapper in der Form, aber es erreicht dieſe nur in der Schwächung
des Ausdrucks, und das war mehr für die Verbreitung, als für
die künſtleriſche Weiterbildung des Liedes eine Nothwendigkeit.
Größere Bedeutung erlangte auch für das Lied derjenige Meiſter,
welcher jene knappe Liedform fand, ohne den Geſammtausdruck ab—
zuſchwächen: ö
Robert Schumann. Dieſer wunderbarſte der neuern Ton—
dichter iſt am 7. Juli 1810 zu Zwickau in Sachſen geboren. Sein
Vater, ein angeſehener und wohlhabender Buchhändler im genann—
ten Orte, ſcheint ihn für das Studium der Rechtswiſſenſchaft
=— WM —=
beſtimmt zu haben, und ließ ihn deshalb nicht nur das Gymnaſium
der Vaterſtadt beſuchen, ſondern ſorgte auch für Förderung einer
umfaſſenden Bildung anderweitig. Dazu gehörte auch der Unterricht
im Clavierſpiel und der junge Schüler entwickelte namentlich in die—
ſer Disciplin ſchon früh eine eigenthümliche Thätigkeit. Sein unge-
wöhnliches muſikaliſches Talent entfaltete ſich zu immer größerer
Bedeutung und früh ſchon iſt er mit Compoſitionsverſuchen beſchäf⸗
tigt. Doch der Plan, die Künſtlerlaufbahn zu verfolgen, ſcheint
erſt in Heidelberg, wohin er im Jahre 1830 gieng, um ſeinen
akademiſchen Curſus zu abſolvieren, namentlich durch den Verkehr
mit Thibaut, einem ſeiner akademiſchen Lehrer und eifrigen Pfle—
ger der altitalieniſchen Kirchenmuſik geweckt worden zu ſein und
kam erſt in Leipzig, ſeinem ſpätern Aufenthaltsort, zur Reife und
Ausführung. Das geſchah zu einer Zeit, als das Virtuoſenthum
in vollſter Blüte ſtand, und ſo war es wol natürlich, daß auch er
dieſem allgemeinen Zuge folgte. Allein der ungeſtüme Eifer, mit
dem er ſich den techniſchen Studien zuwandte, ſcheint ihm eine
Lähmung des einen Fingers zugezogen zu haben, und dadurch wurde
er an der Verfolgung ſeines urſprünglichen Planes gehindert. Um
ſo größeren Fleiß verwandte er auf die Compoſition. Neben ernſtern
Studien, die er unter Leitung des damals in Leipzig thätigen
Muſikdirector Dorn vornahm, componierte er fleißig und ſchon um
das Jahr 1832 erſchienen feine erſten Clavierwerke: „Die Variatio⸗
nen“ über den Namen „Abegg“ und „Die Papillons.“ Es iſt
in der Richtung der ganzen Zeit ebenſo, wie in der Individualität
Schumanns ſelbſt tief begründet, daß er ſich Anfangs ausſchließ—
lich mit Clavierwerken beſchäftigte. Erſt nachdem er hierin eine große
Macht des Ausdrucks erlangt, und nachdem ſeine reiche Innerlich—
keit in der Liebe zu der genialen Künſtlerin Klara Wieck, ſeine
nachmalige Frau, einen erhöhten Aufſchwung genommen, wendet er
ſich auch dem Vocalen zu und ſo erſchien als Op. 24. das erſte
Liederheft, der Liederkreis von Heine.
Mittlerweile waren ſeine Kunſtprincipien, zum Theil neu, zum
Theil noch unausgeſprochen, ſo mächtig in ihm geworden, daß es
ihn drängte, auch dieſen Anerkennung zu verſchaffen. Schubert
und Mendelsſohn, wie ſpäter Chopin galten der geſammten
Fachkritik immer noch nur als liebenswürdige Specialitäten und
nicht als die nothwendige Conſequenz der geſammten muſikaliſchen
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Entwicklung. Um dies zu vermitteln, um die Anerkennung der
Nothwendigkeit jener Meiſter in der Entwicklung ſeit Bach herbei—
zuführen und das Princip dieſer Entwicklung feſtzuſtellen, gründete
Schumann mit gleichgeſinnten und gleichſtrebenden Tonkünſtlern
die „Neue Zeitſchrift für Muſik,“ deren erſter Jahrgang 1834
erſchien. Welch großen Einfluß auf den Gang der Entwicklung der
Kunſt er dadurch gewann, kann uns hier nicht weiter beſchäftigen.
Seine Hauptthätigkeit blieb indeß nach wie vor die Compoſition.
Im Jahre 1841 ſchrieb er ſeine erſte Symfonie und nun folgen
ſeine muſikaliſchen eee in faſt unheimlich geſtagenter
Progreſſion. |
Auch als Lehrer war er an dem in Leipzig errichteten Conſer⸗
vatorium der Muſik thätig, bis er 1845 nach Dresden überſiedelte.
Um das Jahr 1850 folgte er einem Rufe als ſtädtiſcher Muſik⸗
director nach Düſſeldorf und war auch in dieſer Stellung raſtlos
thätig, bis 1853 jenes ſchreckliche Ereigniß eintrat, das ſeinen Geiſt
umnachtete und ihn noch lebend ſeiner Familie und ſeiner Kunſt
entriß. Die bangen Hoffnungen ſeiner zahlreichen Freunde wurden
nicht erfüllt: der Irrſinn, der ſo früh eine reiche und geſegnete
Thätigkeit hemmte, verließ ihn nicht wieder bis an Kut, am
29. Juli 1856 erfolgten Tod.
In Robert Schumann begegnen wir wieder einer ſolge⸗
richtigen conſequenten Entwicklung. Mendelsſohn läßt eine
ſolche eigentlich ganz vermiſſen, und Schubert gewinnt ſie nur in
ſeinen Dichtern und der eigenthümlichen Stellung, die er ihnen
gegenüber einnimmt. Dieſe letztere geſtaltet ſich wiederum bei
Schumann anders als in Schubert.
Schumann's Entwicklung nimmt vom Clavier ihren Aus⸗
gang und ſchon in ſeinen Compoſitionsverſuchen der früheſten
Jugend macht ſich die Richtung geltend, welche der Meiſter einſchlug.
Schon früh verſuchte er Scenen des Kinderlebens auf dem Piano
in freien Phantaſien darzuſtellen, und dieſer Zug, die Muſik zum
Träger ſeiner Innerlichkeit zu machen, iſt die Grundlage ſeiner
geſammten Wirkßzmkeit geworden.“) Alles, was ihn irgendwie
) Es ſei uns erlaubt, einiges aus der Charakteriſtik Schumann's, die
wir bereits früher (Von Bach bis Wagner. Zur Geſchichte der
Muſik. Berlin bei Guttentag. 1861.) verſuchten, hier herüber zu
nehmen.
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anregt, ſucht er in ſich muſikaliſch zu verarbeiten, für den Ausdruck
der Tonſprache zuzurichten, und dabei geht ihm faſt jenes andere
Ausdrucksmittel, die Wortſprache, verloren. Inmitten jenes regen
Lebens, das er namentlich in Leipzig hervorrief, war er eigentlich
ſchon ein einſamer, wortkarger Träumer, der ſtundenlang dem
bunteſten Treiben anſcheinend theilnahmlos gegenüberſtand, und erſt
eine muſikaliſche Kundmachung verrieth, wie ihm von alle dem
nichts entgangen, wie jeder einzelne Zug ſchaffend und bildend ſich
ſeinem Geiſte aufgeprägt hatte. Das Inſtrumentale fügt ſich ſolchem
Zuge natürlich am Erfolgreichſten und daher erſtreckt ſich Schu—
mann's Thätigkeit zunächſt ausſchließlich auf die Claviercompoſition.
Er ſchafft wieder unter dem Einfluß eines ganz beſtimmten Objekts,
aber in anderer Weiſe, wie jeder der vorhergehenden Tondichter.
Während bei Beethoven und dann bei Mendelsſohn die
reale Welt und ihre Darſtellungsobjekte nach ihrer begrifflichen
Seite vielfach in die künſtleriſche Darſtellung hineinragen, iſt dies
bei Schumann immer ſeltener der Fall. Seine wunderbar reiche
Phantaſie umrankt das urſprüngliche poetiſche Bild mit einer ſo
überaus reichen Fülle von Arabesken, daß dies meiſt ſchließlich ganz
verloren geht, daß man immer weniger leicht den eigentlichen Aus—
gangspunkt erkennen kann. Solch äußere Situationsmalerei, die
wir noch häufig bei Schubert und Mendelsſohn finden und
die noch ein Hauptzug in den Papillons iſt, verſchwindet gar bald
gänzlich. Schon ſein „Carneval“ iſt ohne jede Beziehung zur
realen Wirklichkeit, ein zwar geſtaltreiches, aber durchaus phantaſti—
ſches Bild, und endlich verlieren auch ſeine Objekte, dieſe Bilder
ſelbſt ſchon ihre Beziehung zur äußern Welt. In den „Davids—
bündlertänzen“ iſt es eben nur ein geträumter Kampf, in den
„Kinderſcenen,“ die, in der Erinnerung heraufbeſchworene Kinder—
welt, in der „Kreisleriana“ ein phantaſtiſch aufgeputzter Lebenslauf
und in den „Phantaſieſtücken“ ſind es förmliche Viſionen, welche
die Phantaſie des Tondichters erfüllen und in ihr zu Tonbildern
ſich verdichten. Schumann tritt dadurch in viel nähere Ver—
wandtſchaft zu Schubert als zu Mendelsſohn. Er faßt wie
jener das geheime Weben der Phantaſie nach ihrem innerſten
Weſen, aber mit noch größerer Sorgfalt und Emſigkeit die einzelnen
Regungen und Verſchlingungen deſſelben verfolgend. Und während
Mendelsſohn nur nöthig hatte, die Schubert'ſche Technik in
feiner Weiſe umzugeſtalten, war die geſammte Technik, und zwar
ſowol die der Compoſition wie die des Claviers nicht zureichend,
um ſeine Tonbilder darzuſtellen, er mußte beide umgeſtalten, mußte
ſich eine neue Technik ſchaffen. Jenes Beſtreben, feinen Dar—
ſtellungsobjekten die Beziehung zur realen Welt zu nehmen, hat
nothwendig zur Folge, daß er ſich von vorn herein mehr dem
polyphonen, als dem homophonen Styl zuwendet. Der polyphone
Styl erſt nimmt dem Darſtellungsmaterial das Stoffliche ſeiner
Exiſtenz, drückt der Materie den Stempel des Geiſtes auf, und wo
Schumann mehr in Accorden ſchreibt, da geſchieht dies in fo
eigenthümlichen, meiſt weiten Tonlagen, daß ſie wiederum dadurch
das Derbſinnliche ihrer materiellen Erſcheinung verlieren, daß ſie
in die geiſtigere, ideale Sphäre der Polyphonie erhoben werden.
Dieſe Eigenthümlichkeit ſeiner Individualität erklärt auch die
freie Behandlung der Harmonie und des Rhythmus. Wir werden
hier ganz bedeutenden Abweichungen von der Weiſe aller vorher—
gehenden Tonkünſtler begegnen. Man hat ihm namentlich in
Beziehung hierauf häufig ein Haſchen nach Originalität vorgeworfen
und gewiß immer mit Unrecht. Eine Individualität wie die ſeine,
originell und mit ſo durchaus neuen und ſelbſtändigen Kunſtprincipien,
hat nicht nach Originalität, ſondern nur nach faßbarer Darſtellung
zu ringen, und nicht jene, ſondern dieſe macht ihm Noth. Wir
möchten daher an Schumann nichts „geſucht,“ ſondern nur
manches für „nicht gefunden“ erklären. Eben weil ſeine Technik
eine weſentlich andere als die hergebrachte ſein mußte, und weil ſie
ſich auch nicht ſo natürlich aus jener entwickeln ließ, blieb ſie oft
hinter ſeinen Intentionen zurück, und er fand bei der eigenthüm—
lichen Haſt ſeines Schaffens nicht immer die entſprechende Ver—
mittelung. Zu alle dem kommt noch, daß, wenn man auch einer—
ſeits gerade in den kleineren Formen die größte formelle Abrundung
mit allem Recht fordern muß, doch auch wiederum gerade in ihnen
die ſubjektivſte Freiheit herrſchen darf. Wenn nur die Perſönlichkeit
des Tondichters eine bedeutende, anziehende iſt, ſo verſenken wir
uns gern in dieſelbe mit all' den Schrullen und Unebenheiten. Wie
viel aber in der Schumann'ſchen Perſönlichkeit allgemein Menſch—
liches lebt und ſchafft, das beweiſt er zuerſt ſchlagend in ſeinen Liedern.
Hier gewinnt er wieder, wie Schubert, eine ganz beſtimmte
Stellung zu ſeinen Dichtern, ſo daß durch ihn gewiſſe Dichter—
—
individualitäten muſikaliſch wiedergeboren werden. Wie Schu—
bert dem größten Dichter der alten Lyrik, Göthe, ſich zunächſt
anſchließt, ſo Schumann dem größten der neuen: Heinrich
Heine, und in dieſer Stellung zu ihren Dichtern liegt zugleich
ein tief greifender Unterſchied beider ſo eng verwandten Künſtler—
naturen.
Nach der einen Seite ſollte ſchon Franz Schubert die
Eigenthümlichkeit Hein e' ſcher Lyrik darſtellen, in dem mehr reci—
tierten Liede. Die ganze Tragik der Grundſtimmung kommt darin
zu ergreifendem Ausdruck. Allein dieſe Tragik iſt ja doch nur die
eine Seite der Heine 'ſchen Lyrik, die andere bleibt von dieſem
Liedſthl unberührt. Mendelsſohn konnte ihr ebenfalls nicht
näher kommen, er gewann auch hier nur formelle Bedeutung. Erſt
Schumann erfaßte den ganzen Heine, indem er ſich wie dieſer
über die Wogen ſeines Gefühls ſtellt, ſie beherrſcht und ſich von
ihrer Macht befreit, und dadurch den Standpunkt gewinnt, den
die Romantiker einſeitig genug den ironiſchen nennen.
Heinrich Heine bezeichnet nicht nur die Vollendung, ſondern
zugleich die Auflöſung der Romantik. Die romantiſche Schule, die
in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts etwa entſtand,
hatte Anfangs ſich die Aufgabe geſtellt, alle Erſcheinungen der
Kunſt und Wiſſenſchaft durch die Poeſie dem Leben zu vermitteln,
ſo daß gewiſſermaßen das geſammte Gebiet des Geiſtes wie des
Lebens in der Poeſie ihren Brennpunkt finden ſollte; allein
nur zu bald verlor ſie dies reelle Princip und verlief ſich in
das Phantaſtiſche. Sie erbaute ſich mit phantaſtiſcher Willkür
eine eigene Welt, die in ihrem directen Widerſpruch mit der
realen Welt nur aus verſchwommenen Nebelbildern zuſammen⸗
geſetzt fein konnte und nothwendig zur Carricatur werden mußte.
Die Romantiker hatten die ganze Welt für eitel erklärt und
zu einem Spiel des ſouverainen Ichs gemacht; Heine zog die
letzte Conſequenz, indem er dieſes Ich ſelbſt für eitel erklärte
und es mit der ganzen Schärfe ſeiner Skepſis zerſetzte, und
er vollbrachte dadurch zugleich die Auflöſung der Romantik:
„Mit der Zauberruthe der Romantik hob er noch einmal ihre
goldenen Schätze, um ſie dann mit kühnem Spott in die Lüfte zu
ſtreuen.“ Den ganzen erborgten Apparat der Romantik: Feen
und Nixen, Geſpenſter und, marmorblaſſe Leichen, Todtenhemd
Reißmann, deutſches Lied. 13
a
und Sarg beſchwört er noch einmal herauf, um ſie dann unerbittlich
über Bord zu werfen.
So erklingen die Saiten ſeines Herzens in Accorden und
Melodien, ſo voll und ſo weich, wie vor ihm nur bei einem, bei
Göthe; aber fie erklingen meiſt erſchütternder nur deshalb, weil
ſie ſelten ſo rein geſtimmt ſind, wie bei jenem. In Schubert
nun wird nur jene tiefinnige, weihevolle Liebesandacht der Heine—
ſchen Lyrik muſikaliſch lebendig, nicht auch ihre ſkeptiſche Ver—
wüſtung. Schubert nimmt Heine gegenüber noch ganz den
keuſchen Standpunkt ein, wie Göthe und Wilhelm Müller
gegenüber. Er vertieft ſich in die Heine'ſche Lyrik noch mit dem—
ſelben Ernſt, wie in die Göthe'ſche, und die größere Kürze und
Prägnanz jener veranlaßt ihn nur die Form noch entſchiedener
und ſchlagfertiger zuſammen zu halten und innerhalb derſelben dem
Wortausdruck mit größerer Sorgfalt nachzutrachten. Schubert
ſteht zu ſehr unter der Herrſchaft ſeines eigenen überfluthenden
Empfindens, als daß er jenen ſogenannten ironiſchen Standpunkt
hätte finden können. Schumann's ganzer Bildungsgang führte
ihn unmittelbar darauf hin. Dieſer wird von vorn herein in und
durch die Romantik beſtimmt, und in der kritiſchen, wie in der
ſelbſtſchöpferiſchen Thätigkeit Schumann's iſt der Einfluß nament-
lich E. T. A. Hoffmann's unverkennbar. Eins der bedeutend—
ſten Clavierwerke: „Die Kreisleriana“ weiſt direct darauf hin.
Wir finden ihn viele Jahre ausſchließlich mit Clavierwerken beſchäf—
tigt und ernſtlich bemüht, beſtimmte Tonbilder zu entwerfen und
auszuführen, die Anfangs nur noch im Zuſammenhange mit der
realen Welt ſtehen, ihn nach und nach aber immer mehr verlieren.
Selbſt diejenigen, die dieſen Zuſammenhang noch zeigen, wie die
„Papillons“ und „Kinderſcenen“ mußte er in ſeiner Phantaſie erſt
wieder mit Hülfe des Gedankens reconſtruieren, um ſie dann erſt
ſeinem Empfinden zu vermitteln.
Dieſe Weiſe der Production entſpricht aber der der Romantiker
vollſtändig. Daher wurde es Schumann auch nicht ſchwer, Heine
gegenüber den richtigen Standpunkt einzunehmen. Von Schubert
eignet er ſich zunächſt jenen recitierenden Liedſthl an, und zwar ſo
energiſch ausgebildet, daß ſich dieſe von allen übrigen ſeiner Lieder
weſentlich unterſcheiden. Er führt ihn zugleich bedeutſam über
Schubert hinaus. Bei jenem iſt die, Clavierbegleitung nothwendig,
— 195 —
um die ſtrophiſche Liedform herauszubilden. Schumann dagegen
ſtuft die Accente melodiſch ab, daß die einzelne Strophe nicht ſo wol
durch einen beſtimmt melodiſchen Zug, ſondern eben vielmehr nur
durch die melodiſch abgeſtuften Accente nach den Reimſchlüſſen hin—
drängt. Es gilt dies noch weniger von dem erſten Cyklus Heine—
ſcher Lieder, den Robert Schumann veröffentlichte, Op. 24.:
„Liederkreis von Heinrich Heine,“ und ebenſo von denen, welche
der folgende Liederkreis: „Myrthen“ Op. 25. enthält. Die Lieder
des erſten Cyklus: „Morgen ſteh' ich auf und frage,“ „Es treibt
mich hin,“ „Ich wandelte unter den Bäumen,“ „Lieb Liebchen,
leg's Händchen,“ „Schöne Wiege meiner Leiden,“ „Warte, warte
wilder Schiffsmann,“ „Berg und Burgen ſchau'n herunter,“
„Anfangs wollt' ich faſt verzagen“ und „Mit Myrthen und Roſen“
ſprechen das allerdings meiſt ſchon krankhafte Gefühl noch mit dem
ganzen magiſchen Zauber der Sprache ſeines tief erregten Herzens
aus, ohne all und jeden Nebengedanken. Sie boten wenig Ver—
anlaſſung zu einer von jener Weiſe Schubert's weſentlich
abweichenden Behandlung, und Schumann hat auch einzelne, wie:
„Schöne Wiege meiner Leiden“ und „Mit Myrthen und Roſen“
viel inniger und melodiſch weicher gehalten, als ſelbſt Schubert
ſeine mehrfach erwähnten Lieder Heine's. Weniger noch bieten
die in der nächſten Sammlung Op. 25. veröffentlichten Lieder des
genannten Dichters formell oder ideell etwas Abweichendes. Die
Lieder: „Die Lotosblume ängſtigt,“ „Was will die einſame Thräne“
und „Du biſt wie eine Blume“ ſind mit all' der tiefen weihevollen
Andacht geſungen, deren bisher nur Schubert fähig war, und ſie
gehören in ihrer berückenden Wahrheit und Weichheit der Stimmung
zu dem Vollendetſten, was im Liedfache je geleiſtet worden iſt und
ſind längſt die Lieblinge des deutſchen Volkes geworden. In einigen
andern Liedern aus Op. 25. macht ſich entſchieden ſchon ein Suchen
nach dem neuen Standpunkt geltend, ſie ſind aber unfertig und
ſchwanken zwiſchen dem Ton der Ballade und dem der lyriſchen
Stimmung, wie: „Es treibt mich hin, es treibt mich her“ und
das Lied: „Lieb Liebchen, leg's Händchen auf's Herze mein“ wird
dadurch faſt komiſch blaſiert. Vollſtändig gewinnt Schumann den
neuen, jenen ironiſchen Standpunkt, von welchem aus er auch die
tragiſche Gewalt der Stimmung erfaßt, erſt mit dem Liedercyklus
von H. Heine Op. 48.: „Dichterliebe.“ Der Cyklus iſt Frau
ö 13 *
— 196 —
Wilhelmine Schröder-Devrient gewidmet, ein fehr beachteng-
werther Umſtand für jeden, der da weiß, wie unübertroffen dieſe
berühmte Sängerin im Vortrage des mehr recitierenden Liedes
daſteht, und es iſt bekannt, daß ſie namentlich mit dem Liede: „Ich
grolle nicht“ ungeheure Erfolge errang.
Das melodiſche Gefüge der Lieder dieſer Sammlung erſt ent-
ſpricht ganz der Weiſe, die wir bereits zu charakteriſieren verſuchten.
Jedes einzelne bietet eine ſo ſorgfältige Declamation, wie ſie wol
noch nie, weder vor noch nach Schumann verſucht worden iſt,
doch nicht recitativiſch, wie vorherrſchend noch bei Schubert,
ſondern in einem durchaus gefeſtigten ſtrophiſchen Versgebäude.
Die einzelnen Accente ſind ſo fein abgeſtuft, daß ſie ſich zwar nicht
zu melodiſchem Schwunge erheben, aber doch in ihrer Gegenwirkung
ſich zu feſten Formen zuſammenfügen. Eine andere Behandlung
laſſen die Worte hier auch kaum zu. Sie deuten ja den ganzen
Reichthum der Empfindung nur ganz oberflächlich an, ohne ihn,
wie bei Göthe, auch weiter auszuführen. Dieſe Ausführung über—
nimmt naturgemäß und erfolgreich die Clavierbegleitung. Man hat
dem Meiſter dieſe Behandlung vielfach zum Vorwurf gemacht, und
doch iſt fie für das Heine’jche Lied die einzig richtige; daran aber,
daß ſeine talentloſen Nachahmer kritik- und gedankenlos dieſe nur
für das Heine ' ſche Lied nothwendige Weiſe für die ganze Gattung
wählten, iſt er ohne Schuld.
Die Lieder Heinrich Heine's beginnen meiſt ſo mitten aus
der Stimmung heraus empfunden, daß ein ausgeführtes Vorſpiel
nothwendig wird, um die Vorausſetzungen, welche der Dichter ver—
ſchweigt, zum Mindeſten anzudeuten, wenn es nicht dem Tondichter
zweckmäßiger erſcheint, auch hier dem Poeten zu folgen, und wie in
den Liedern: „Im wunderſchönen Monat Mai,“ „Ich will meine
Seele tauchen,“ „Das iſt ein Flöten und Geigen“ und „Am
leuchtenden Sommermorgen“ mit Accorden zu beginnen, die, weil
ſie in dem urſprünglichen Harmoniſationsprozeß keine Accordreihe
beginnen, ſondern zu ihrer Vorausſetzung andere haben, uns eben—
falls ſofort mitten hinein in die Stimmung verſetzen.
Ferner eröffnet der Dichter in der Schlußpointe meiſt ſo weite
Perſpectiven, daß der Tondichter, der dem Poeten vollſtändig nach—
zuempfinden trachtet, zu weit ausgeführten Nachſpielen gedrängt
wird. Solche Lieder ſind in dem angegebenen Cyklus: „Ich will
— 11 —
meine Seele tauchen,“ „Im Rhein, im heiligen Strome,“ „Und
wüßtens die Blumen, die kleinen,“ „Das iſt ein Flöten und Geigen,“
„Hör' ich ein Liedchen klingen,“ „Ein Jüngling liebt ein Mäd—
chen,“ „Am leuchtenden Sommermorgen,“ „Aus alten Mährchen
winkt es“ und „Die alten böſen Lieder,“ und in dieſen Nachſpielen
ganz beſonders, mehr noch als in den Vorſpielen entfaltet Schu—
mann eine ſolche Meiſterſchaft des Ausdrucks, er verſenkt ſich ſo
liebevoll hingebend in die Intentionen des Dichters, daß dieſe uns
dadurch erſt lebendig gegenwärtig werden. Das iſt nun allerdings
auch vorwiegend inſtrumentale Vertiefung des lyriſchen Ausdrucks,
aber ſie iſt doch ganz anderer Art und von andern Vorausſetzungen
ausgehend, wie bei Beethoven. Dieſer Meiſter ſucht für einen
bereits vocal gewonnenen und vollſtändig ausgeſprochenen Gefühls—
inhalt auch einen immer reicher ausgeſtatteten inſtrumentalen Aus-
druck. Das Heine 'ſche Lied iſt vocal gar nicht vollſtändig zu
erſchöpfen, und ſo ſucht Schumann das vocal nur angedeutete,
inſtrumental ſelbſtändig auszuführen. Die Clavierbegleitung erlangt
allerdings gegen die Singſtimme ein Uebergewicht, welches ſie bei
Schubert nicht hat. Während ſich bei ihm eine ſelbſtändig heraus—
gebildete Melodie mit einer möglichſt ſelbſtändig geführten Clavier⸗
begleitung zu gemeinſamen Ausdruck verbinden, iſt das Vocale in
den genannten Liedern Schumann's gewiſſermaßen nur das Gerippe,
dem erſt die Clavierbegleitung Leben einhaucht. Im Allgemeinen
wird nur in jener Weiſe Schubert's die höchſte Liedgeſtalt erreicht
werden, allein dieſe Heine'ſchen Lieder machen in ihrer Aus⸗
nahmeſtellung die veränderte Weiſe Schumann's nothwendig.
Dabei wird das Vocale hier noch nicht durch die reiche inſtrumentale
Ausführung überwuchert, fondern nur bedeutſamer hervorgehoben.
Da es zu einem feſten Versgefüge zuſammengefaßt iſt, ſo tritt es
der Begleitung gegenüber, die in durchſichtigem Figurenwerk auf
gelöſt wird, augenfällig plaſtiſch heraus. Iſt dies Versgefüge
weniger gedrängt herausgebildet, wie in dem erſchütternden Liede:
„Ich grolle nicht,“ giebt auch die Begleitung ihre Sonderſtellung
auf und unterſtützt die zu ergreifender Gewalt herausgebildeten
Accente durch eine gewaltige, zu heroiſcher Schlagkraft aufgelöſte
Harmonik. In allen übrigen Liedern gelangt ſie zu einer großen
Selbſtändigkeit; in einzelnen, wie in dem: „Das iſt ein Flöten und
Geigen“ derartig, daß ſie auch losgetrennt vom Geſange ſelbſtredend
a en
iſt, und wir meinen mit vollem Recht. Auch die weichſte und
innigſte Melodie, wenn überhaupt eine ſolche zu den Worten zu
finden war, würde nimmer das, was ſich hinter ihnen verbirgt,
haben wiedergeben können, weil das überhaupt vocal unmöglich iſt.
Daher ſingt Schumann ſeine Melodie in der angegebenen Weiſe
und die Clavierbegleitung übernimmt die Darſtellung des Bildes
von dem Hochzeitsreigen, das in der Phantaſie des Dichters lebendig
wurde und das Gedicht erzeugte. |
Ehe Schumann zu dieſem erſchöpfenden muſikaliſchen Aus⸗
druck Heine 'ſcher Lyrik gelangt, verſuchte er die muſikaliſche
Wiedergeburt beſtimmter hervorragender Dichterindividualitäten, wie
Juſtinus Kerner, Friedrich Rückert, Joſeph Freiherr
von Eichendorff, Adalbert von Chamiſſo, Emanuel
Geibel, Robert Reinick, Lord Byron, Robert Burns
und ſogar Wolfgang von Göthe.
Obwol Juſtinus Kerner dem Genius Schumann's viel
Verwandtes entgegen bringt — der tiefe Schmerzenszug, wie die unend—
liche Sehnſucht nach einem Ueberirdiſchen in den Liedern Kerner's
ſind Schumann ſo nahe verwandt, daß er für beide den treffend—
ſten muſikaliſchen Ausdruck fand — ſo vermochten ſie doch keinen
eigenen Liedſtyl in ihm zu erzeugen, weil die Individualität des
Dichters ſelbſt nach dieſen Seiten nicht entſchieden ausgeprägt iſt.
Naturfriſche, lebenswahre Empfindung in echt volksthümliche For—
men gegoſſen, wechſelt bei ihm mit nebelhafter, magiſcher Ver—
ſchwommenheit an jenen erborgten, mit romantiſchem Raffinement
zugerichteten Apparat veräußert, und von beiden wird auch Schu—
mann ſo feſtgehalten, daß er nirgends über ſie hinaus zur Ver—
mittelung kommen konnte.
In jener „Liederreihe“ von Juſt. Kerner Op. 35. ſteht
auch bei Schumann volksthümlich wahr Empfundenes neben
romantiſchem Raffinement, und wie er der geſammten Dichter—
perſönlichkeit keine beſtimmte Phyſiognomie verleihen konnte, ſo
brachte er es ſelbſt in den einzelnen Liedern nur in No. 4.: „Erſtes
Grün“ und No. 9.: „Stille Liebe“ zu einem wirklich einheitlichen
Stimmungsbildchen.
Nur wenig günſtiger geſtaltet ſich ſein Verhältniß zu Fried—
rich Rückert. Zwar bilden bei ihm „Natur und Liebe den
— 199 —
ſichtbaren Faden, an dem die Perlen einer reinen Lebensweisheit,
eines tiefen Gemüths und hoher Gedanken an einander gereiht
werden,“ allein „ſeine Muſe ſammelt Blumen, Blüten und Früchte
in Deutſchland, Italien, Griechenland, Arabien, Perſien und
Indien; er ſingt vom ſtillen häuslichen Kreiſe, von Erde und Him—
mel, von den zarteſten Rührungen, von den dunkelſten Geheim—
niſſen des Herzens, vom Sturme der Leidenſchaften und von der
Begeiſtrung für Freiheit und Vaterland; bald ſüß und tändelnd,
bald ernſt und donnernd, bald in freier Form des Volksliedes, bald
in den kunſtreichſten Rhythmen; jetzt ergriffen vom Hochgefühl des
Erhabenſten, dann kindliche Mährchen erzählend, nun die ſchwierig—
ſten Stoffe durchführend, dann in flüchtigen Scherzen reimend;“
und in dieſe Maſſe von Formen und Tönen vermochte er nur
durch die Meiſterſchaft, mit der er Sprache und Verskunſt beherrſchte,
einen gewiſſen einheitlichen Zug zu bringen. Dieſer aber genierte
Schumann augenſcheinlich. Nur wo ihm, wie bei Heine, in
dem knappſten Rahmen ein bedeutender Inhalt dargeboten wird,
vermag er auch das ſprachliche Versgefüge ſicher und feſt auszu—
prägen; und hinter Rückert's Verskunſt verbirgt ſich nicht ſelten
der Mangel an Inhalt und warmen Gefühl. So vermochte Schu—
mann dieſem Dichter ebenſo wie Juſtinus Kerner gegenüber
einen ſichern Standpunkt nicht zu gewinnen. Einzelne Lieder,
namentlich die in Op. 25. veröffentlichten, ſingt er mit der ganzen
Weiche und Süße und dem großen Reichthum ſeiner eigenen Inner—
lichkeit. Oben an ſteht das weit verbreitete: „Du meine Seele,“
das Schumann's Ruf in der Oeffentlichkeit eigentlich erſt feſt
begründete. In den „Zwölf Gedichten aus Rückert's Liebes—
frühling,“ die er, ein charakteriſtiſches Zeichen, mit ſeiner Gattin
Clara vereint, herausgab, hindert der große Wortreichthum und
die Breite und Behaglichkeit, die den Dichter wenig über eine
anmuthige und beſchauliche Reflexion hinauskommen läßt, den melo—
diſchen Schwung und die rhythmiſche Feſtigung derartig, daß uns
die Stimmung faſt durchweg nur forciert und ſtoßweiſe in einzelnen
Zügen vermittelt wird. Gewiß wurde dieſer Bund des in ſeinen
Beſtrebungen und Zielen ſich gegenſeitig ergänzenden Künſtlerpaares
in der Abſicht geſchloſſen, in der gemeinſamen muſikaliſchen Wieder—
geburt des „Liebesfrühlings“ den Grundcharakter der Rückert—
ſchen Lyrik um ſo ſicherer muſikaliſch zu erfaſſen; und daß es nicht
RT a re
gelang, verſchuldet wol nur der Dichter, der ſich und fein Wirken
ſo vortrefflich in dem Verſe charakteriſiert:
„Geiſt genug und Gefühl in hundert einzelnen Liedern
Streu' ich wie Duft im Wind, oder wie Perlen im Gras,
Hätt' ich in einem Gebild' es vereinigen können, ich wär' ein
Ganzer Dichter, ich bin jetzt ein zerſplitterter nur.“
Erſt zu Joſeph Freiherr von Eichendorff tritt Schu—
mann wieder in ein beſtimmtes Verhältniß. Die einſeitige Rich
tung dieſes Dichters, der aus der ſeligen Verſchollenheit der
romantiſchen Welt heraus ſeine Lieder improviſiert, mußte auf
unſern Meiſter eine ganz beſondere Anziehungskraft ausüben, weniger
weil ſie ihm nahe verwandt war, ſondern weil ſie ſeiner Phantaſie
einen reichen Stoff zu muſikaliſcher Verarbeitung zuführte. In den
Liedern Eichendorff's kommt nie ein beſtimmtes einzelnes Gefühl
unmittelbar zur Geltung, ſondern er veräußert es an den ganzen
Apparat der neuen Romantiker. Waldesluft und Waldeinſamkeit,
rauſchende Wipfel und die heimliche Pracht der Myrthenbäume, die
phantaſtiſche Nacht und die funkelnden Sterne und der wunderſame
Märchenklang, der Wald und Flur erfüllt, werden ihm zu Trägern
ſeiner Empfindung, und für dieſe hat Schumann einen wahrhaft
luxuriöſen Reichthum von Farben und Tönen. Er läßt ſich ſo
gern durch dieſe poetiſche Zauberwelt anregen und in ſeinem
Beſtreben, das urſprüngliche Bild mit den reichſten Arabesken zu
umranken, es in der Phantaſie vollſtändig aufzulöſen, wird er der
rechte muſikaliſche Interpret der Lieder jener romantiſchen Ber:
ſchollenheit. Die Clavierbegleitung wird jetzt faſt noch reicher
bedacht, als in den Liedern der Hein e' ſchen Liederkreiſe. Sie löſt
die harmoniſche Grundlage, die an ſich ſchon aus weicheren, weniger
diſſonierenden Accorden zuſammengeſetzt iſt, in viel klangvoller aus—
geweitetes Figurenwerk auf, oder ſtellt ſie in mehr rhythmiſch belebter
Weiſe mit feinſinniger Verwendung der Synkope dar, und leitet
namentlich hierdurch die Einführung jener harmoniefreien Töne,
die wir zuerſt bei Schubert fanden und die die Stimmen zu einem
beſtrickenden Gewebe verflechten, ein. Die Melodie hingegen wird
in einzelnen Liedern ſchon bedenklich vernachläſſigt. Sie nimmt
zwar etwas von dem weichen Klange der Clavierbegleitung an, und
wird dadurch inniger als die der Heine 'ſchen Lieder; allein der
Mangel eines beſtimmten Gefühlsobjekts im Text erſchwert unſerm
— 201 —
Meiſter die energiſche Herausbildung des Versgebäudes, und die
Melodie verliert ſich nicht ſelten in ein irres Umhertappen, dem
kaum noch die Declamation als Leiter dient. Nur in vier Liedern
des: „Liederkreis von Joſeph Freiherrn von Eichendorff
Op. 39.,“ in No. 2. Intermezzo: „Dein Bildniß wunderſelig,“
No. 4. Die Stille: „Es weiß und räth' es doch keiner,“ und
No. 12. Frühlingsnacht: „Ueberm Garten durch die Lüfte,“ ganz
beſonders aber No. 9. Wehmuth: „Ich kann wohl manchmal
ſingen,“ das den ſchönſten Liedern Schubert's an die Seite zu
ſtellen iſt, wird die Liedform auch in der Melodie beſtimmt aus-
geprägt, und ſie haben daher auch die weiteſte Verbreitung gefun—
den. In einigen andern, wie in No. 5. Mondnacht: „Es war,
als hätte der Himmel,“ No. 8. In der Fremde: „Ich hör' die
Bächlein rauſchen“ und No. 11. Im Walde: „Es zog eine
Hochzeit den Berg entlang“ faßt der Meiſter, wie Schubert im
„Leiermann“ die Stimmung in einer beſtimmten Geſangsphraſe
zuſammen, ſo daß eine oder zwei Verszeilen gewiſſermaßen eine
Strophe bilden und dieſe Weiſe iſt der Eichendorff'ſchen Lyrik
durchaus entſprechend: die Clavierbegleitung vermag ihrem eigent⸗
lichen Zuge vollſtändig erſchöpfend ungehindert zu folgen, und das
Vocale kommt, wenn auch beſchränkt, zu ſeinem Recht. In den
übrigen, namentlich in No. 2.: „Schöne Fremde“ bildet der Geſang
nur gewiſſermaßen die nothdürftig erklärende Unterſchrift zu dem
Bilde und ſeinen einzelnen Zügen, welches die Clavierbegleitung
ausführt.
Erſt in dem folgenden Cyklus: „Frauenliebe und Leben
Op. 42.“ hat unſer Meiſter wieder rein menſchliches Empfinden in
Liedern auszutönen, und alle Factoren des muſikaliſchen Ausdrucks,
Melodie, Harmonie und Rhythmus, gewinnen jetzt wieder gleiche
Bedeutung. Der Dichter Adalbert von Chamiſſo verſetzt ſich
zwar in eine, ihm urſprünglich fremde Welt, allein er thut dies
mit all' der liebenswürdigen Innigkeit und Zartheit ſeines Naturells,
und jo dichtet er mitten heraus aus dem Bereiche ihres Gefühls-
lebens.
Dieſer Standpunkt entſpricht dem des Tondichters vollſtändig
und vor Schumann fanden ſich ſchon bedeutende Meiſter, wie
Carl Löwe, angeregt, dieſen Liedercyklus zu componieren. Doch
erſt dieſem jüngſten Liederſänger war es vergönnt, ihn vollſtändig
„ al
erſchöpfend muſikaliſch wieder zu dichten. Sein Empfinden war jo
keuſch und innig wie das eines reinen Frauenherzens, und die
Tonſprache war ihm längſt ſo geläufig geworden, daß er jetzt un
die Plaſtik der Formgebung wieder gewinnt.
Schumann faßt den Liedercyklus, wie Beethoven ſeinen
„Liederkreis an die ferne Geliebte“ als ein Ganzes, ohne die ein—
zelnen Lieder, wie dieſer, auch äußerlich in Zuſammenhang zu
bringen. Nur am Schluß läßt er als Nachſpiel noch einmal den
erſten Geſang inſtrumental erklingen, und wie wir meinen mit
größerer Nothwendigkeit als Beethoven, der in das letzte Lied
ſeines Cyklus die Melodie des erſten mit aufnimmt. Nachdem dem
Frauenherzen „der letzte Schmerz gethan“ und es ſich „in ſein
Inneres ſtill zurückzieht,“ das „ſein verlornes Glück und ſeine
Welt“ nun einſchließt, war es eine feinſinnige Idee, ganz unſeres
Meiſters würdig, uns einen Blick in dies Herz zu eröffnen, indem
er in der Clavierbegleitung noch einmal jene erſte Weiſe des begin—
nenden Glücks ausklingen läßt. Viel feiner noch iſt aber die pſycho—
logiſche Entwicklung des Ganzen, durch welche die einzelnen Lieder
unter ſich verbunden ſind. Hauptträger der Stimmung wird jetzt
wieder die Singſtimme, als das befähigtſte Organ des Herzens
Luſt und Sehnen unmittelbar auszutönen; Strophe und Versbau
finden auch in der Melodie ihre muſikaliſche Darſtellung, und zwar
nicht nur durch die feine Abſtufung der declamatoriſchen Accente,
ſondern in wirklich melodiſcher Gliederung. Selbſt in den beiden
Nummern, in welchen der Geſang in treuem Anſchluß an Stim—
mung und Situation mehr declamatoriſch wird, iſt der melodiſche
Zug noch ſo ſtark, daß er mit innerer Nothwendigkeit und großer
Energie nach den Reimſchlüſſen drängt, und ſo das ſtrophiſche
Gebäude auch muſikaliſch darſtellen hilft. Und wie feinſinnig iſt
das Verhältniß zwiſchen Geſang und Begleitung abgemeſſen! Die
Begleitung erlangt hier nirgend ein Uebergewicht, wie noch häufig
in den früheren Liedern Schumann's, und auch jener Situations—
malerei begegnen wir nur einmal in dem lieblichen Brautliede:
„Helft mir ihr Schweſtern freundlich mich ſchmücken,“ in welchem
das Nachſpiel den Anfang der Melodie, zu einem Hochzeitsmarſch
umgeſtaltet, wiederholt. Im Uebrigen folgt die Clavierbegleitung
nur dem tief innerlichen Zuge der einzelnen Lieder, und zwar mit
jener keuſchen Rückhaltung, die ihr innerſtes Weſen nie ganz
Fe . ee
herauskehrt und die wir in gleicher Weife nur bei Seb. Bach
finden. Sie namentlich führt jetzt Schumann auf jene harmonie-
freien Töne und zu der Auflöſung ſelbſt der Grundharmonien in
melodiſchem Fluß, der wir auch bei Schubert begegnen. Wir
haben ſchon darauf hingewieſen, wie Schumann ſelten den voll
ausgeprägten Accord als ſolchen verwendet; wie er ihm mindeſtens
durch eine eigenthümliche Lage das materiell Maſſige ſeiner Exiſtenz
abſtreift. So behandelt zeigen ihn namentlich die beiden bereits
erwähnten, mehr recitierenden Lieder No. 6. und 8. des Lieder-
cyklus: „Frauen-Liebe und Leben,“ in denen die Begleitung zu dem
ſüßen Geſange nur die harmoniſche Grundlage giebt. Vorwiegend
löſt er weiterhin den Accord in ein reich figuriertes Figurenwerk
auf, und die romantiſche Unendlichkeit der lyriſchen Stimmung, der
unbegrenzte Drang des Herzens, der das Volkslied häufig auf den
Schluß in der Secunde mit der harmoniſchen Grundlage der Domi—
nant führt und die Schubert zu der mehr plagaliſchen Conſtruction
der Harmonie, die in der Dominant Ausgangs- und Endpunkt
findet, drängt, wird bei Schumann ſo mächtig, daß er den
Dreiklang häufig in der unbeſtimmteſten Geſtalt als Quartſextaccord
verwendet, ſelten, wie am Anfange des „Brautliedes“ des in
Reden ſtehenden Cyklus, mit leichter Berührung des Grundtons;
ja daß er mit ihm und ſelbſt mit dem durchaus nach Befriedigung
im Dreiklang verlangenden Dominantaccord einzelne Lieder abſchließt.
Allein auch dieſe Behandlung des Accordes iſt ihm für Lieder, wie
die des genannten Cyklus, noch zu derbrealiſtiſch. Zu jener Auf:
löſung der harmoniſchen Grundlage bot nur ein Lied Gelegenheit,
das „Wiegenlied“ No. 7. Der intenſive Gefühlsreichthum aller
übrigen verlangt zu ſeiner Darſtellung einen in ſich geſättigten
Farbenton, den nur die Fülle des harmoniſchen Materials gewinnen
läßt, und dieſe ſucht Schumann nicht durch weite Modulationen
zu erreichen, ſondern durch jene harmoniefreien Töne. Wie Schu-
bert in den Liedern der Winterreiſe hält er ſich vorwiegend nur
innerhalb der einfachſten harmoniſchen Conſtruction, aber dieſe
ſelbſt erleidet eine ſo bedeutſame Vertiefung, wie weder bei Schu—
bert, noch bei einem der Nachgeborenen.
Schubert wird durch melodiſchen Zug der einzelnen Stimme
auf eigenthümliche Accordgebilde geführt; Schumann durch den
melodiſchen Zug, der die ganze Harmonie erfaßt. Noch das erſte
— 204 — 1
Lied in „Frauen-Liebe und Leben“ ſtellt den harmoniſchen Fluß
durch Vorhalte- und Durchgangstöne her. Aber vom zweiten Liede
an ſtoßen wir auf Accordgebilde, die auch der pfiffigſte Theoretiker
nimmer aus den, auch noch jo demokratiſchen Satzungen der Tabu—
latur ableiten könnte. Sie ſitzen ſo tief im Gefühl, daß ſie auf
gewöhnlichem Wege nicht entſtehen, und deshalb keiner Rechtferti—
gung bedürfen, noch viel weniger zu kategoriſieren ſind. Nur die
letzten beiden Lieder ſind wieder einfach harmoniſiert. Das Wiegen—
lied erforderte eine arpeggierte Begleitung und ihr wäre jener Har—
moniereichthum nicht förderlich geworden. Im letzten Liede aber iſt
die Stimmung ſo herabgedrückt, daß ſie nur in der ruhigſten
Entfaltung der Harmonie entſprechenden Ausdruck finden konnte.
Wie Mendelsſohn der Meiſter der Conſonanz, ſo iſt
Schumann der Meiſter der Diſſonanz geworden, natürlich nicht
in dem Sinne, in welchem man noch immer die letztere meint faſſen
zu müſſen. Nur ſelten führt er ſie um ihrer ſelbſt willen ein, um,
wie in dem Heine 'ſchen Liede: „Ich grolle nicht,“ in ſchreienden
Disharmonien die ganze Tragik der Stimmung auszutönen; ſie
wird ihm vielmehr zum ſicherſten Mittel, die Harmonie in Fluß zu
bringen, und durch Abſchwächung ihrer mehr ſinnlichen Wirkung
dem Ausdruck jenes myſtiſche Helldunkel zu verleihen, das ſeiner
keuſchen Zurückhaltung ſo vollſtändig entſpricht. Das iſt wol das
bedeutſamſte und am meiſten charakteriſtiſche Moment ſeines Kunſt—
ſtyls, und er hatte es zu großer techniſcher Meiſterſchaft ausgebildet,
ſo daß er auch der derbrealiſtiſchen Anſchauungsweiſe von Robert
Burns und Robert Reinick ein höheres Relief zu geben ver—
mochte, ohne ſie von ihrem urſprünglichen Boden loszulöſen.
Namentlich zu dem größten lyriſchen Dichter Schottlands, zu
Robert Burns fühlt ſich Schumann ſehr hingezogen, wenn er
ihm auch nicht ein ſo eingehendes Studium widmete, wie ſeinen
andern Lieblingsdichtern. Ein ſolches war ja auch kaum nöthig.
Die ganze Empfindung tritt bei dem ſchottiſchen Dichter jo klar und
realiſtiſch wahr heraus, daß es nirgend nothwendig erſcheint, ſich
in ſie zu vertiefen. Wie bei allen Volksdichtern galt es auch hier
nur, den eigenthümlichen Ton zu treffen, und das gelang unſerm
Meiſter weniger in den Bearbeitungen der Lieder des ſchottiſchen
Volksdichters für eine Singſtimme mit Clavierbegleitung, als in
den „Liedern für gemiſchten Chor Op. 55.“ In jener verſucht die
— 205 —
Clavierbegleitung vielfach einzelne Züge des Textes ſchärfer zu
faſſen und das Lied tritt dann in der Regel aus dem, immer
meiſterlich angeſchlagenen Volkston heraus. Wol nur zwei: Hoch—
ländiſches Wiegenlied: „Schlafe ſüßer kleiner Donald“ aus Op. 25.,
namentlich aber: „Dem rothen Röslein gleicht mein Lieb“ aus
Op. 27., deſſen Begleitung ganz dem mehrſtimmigen Chorſatz ent-
ſpricht, halten den Volkston vollſtändig feſt. Doch auch ſie werden
noch durch: „Das Hochlandmädchen,“ „Mich zieht es nach dem
Dörfchen hin“ und „Hochlandburſch“ aus Op. 55., „Fünf Lieder
für gemiſchten Chor,“ übertroffen. Einfachere und reizendere Melo—
dien wie dieſe beiden hat wol Schumann nicht wieder geſchrieben,
und ſelten nur noch war es ihm vergönnt, jene eigenthümliche
Technik zu ſo berückender Wirkung mit dem Chorklange zu ver—
binden.
Aehnlich wie zu Robert Burns geſtaltet ſich Schumann's
Verhältniß zu Robert Reinick. Da, wo er dieſem Dichter nur
die Grundſtimmung ablauſcht und dieſe, unbekümmert um die
Details derſelben, ausſingt, wie in dem vielgeſungenen: „O Son-
nenſchein“ und dem lieblichen „Ständchen“ aus Op. 36. verkörpert
er ſeine eigene Individualität in echt volksthümlichen Gebilden. In
den andern Liedern dieſes Cyklus wird er ſkizzenhaft und maniriert,
weil er viel in den Dichter hineinzuklügeln verſucht, was nicht in
ihm liegt. Die wolthuende Unſchuld des Dichters wird affectiert
und über den friſchen Liederborn wirft die Reflexion ihre Schatten.
Ein natürliches inſtinctives Gefühl von der Unhaltbarkeit und
Erfolgloſigkeit dieſer Stellung des Tonkünſtlers dem Dichter gegen-
über ſcheint Schumann abgehalten zu haben, zwei Dichtern näher
zu treten, deren lyriſche Dichtungen eine immerhin bedeutende
Menge muſikaliſcher Momente bieten: Emanuel Geibel und
Eduard Mörike.
So unbefangen mit der Weihe Anakreon's „Wein und
Liebe“ zu beſingen wie Geibel, vermochte Schumann nicht.
Die Anſchauung dieſes Dichters iſt ihm zu oberflächlich, ſeine
Poeſie zu wenig originell und zu gedankenarm, und von dem Ver—
ſuche einer Vertiefung in feinem Sinne mochte ihn die Formvollen—
dung des Geibel'ſchen Gedichts zurückhalten. Wo er ſich ihm
zuwandte, wie in Op. 29., thut er es wol mehr in dem ſüßen
Drange nach gewohnter Thätigkeit und weil ihm gerade dieſe
Ze 1
Gedichte die beſte Gelegenheit darboten, die Situationsmalerei auch
an der Technik des mehrſtimmigen Geſanges zu verſuchen, ebenſo
wie ihm die drei Gedichte Geibel's des folgenden Werkes Op. 30.
als Brücke, die ihn zum Balladenſtyl führten, dienten; weshalb
wir ihrer noch im dritten Buch gedenken müſſen.
Eduard Mörike, derjenige der ſchwäbiſchen Dichterſchule,
der noch die meiſten fremden Elemente in ſich aufgenommen hat,
zeigt noch weniger innere Einheit und feſten Standpunkt, als Ju-
ſtinus Kerner, und wenn auch Schumann durch die zarte und
weiche echt volksthümliche Gemüthstiefe des Dichters angezogen
worden ſein mag, ſo konnte ihm dieſer doch keine höhere Anregung
geben. In dem reizenden Liede von Mörike: „Ach wenn's nur
der König auch wüßt'“ aus Op. 64., das die weiteſte Verbreitung
verdient, ſpricht ſich ebenſo wie in: „Früh wenn die Hähne krähn“
nur Schumann's eigene Individualität aus, ohne jeden Zuſatz
von der des Dichters.
Eine eigenthümliche, und wie wir meinen, nicht eben glückliche
Stellung nimmt Schumann den lyriſchen Gedichten Göthe's
gegenüber ein. Wir hatten ſchon mehrfach Gelegenheit, auf den
tiefgreifenden Unterſchied der Lyrik Göthe's von der durch Heine
angeregten hinzuweiſen, und fanden, daß das Lied Göthe's dem
nachdichtenden Tonkünſtler weniger Raum für Entfaltung ſeiner
eigenen Individualität gewährt, als das Lied Heine's und ſeiner
zahlreichen Nachfolger. Weil jenes die Stimmung viel unmittel—⸗
barer erfaßt und in einem größeren Reichthum von Bildern ver—
äußert, ſo hat der Tondichter vollauf zu thun, um ſie alle nachzu—
empfinden und einheitlich zuſammenzufaſſen. In vielen Fällen
ſahen wir, mußte er das ſpecielle Verfolgen der Stimmung in ihren
Einzelzügen aufgeben und im ſtrophiſch componierten Liede ſich mit
Darſtellung der Grundſtimmung begnügen, oder er mußte die ein—
zelnen Bilder in größern Gruppen darſtellen und dieſe dann ein—
heitlich zuſammenfaſſen, wie wir es an Schubert nachzuweiſen
verſuchten.
Schumann verläßt dieſen einzig berechtigten Standpunkt, er
verſucht jene, nur ihm eigenthümliche Weiſe, in der er namentlich
Heine und Eichendorff muſikaliſch umdichtete, auch an Göthe,
und löſt die göttliche Ruhe des Gedichts auf in romantiſche Zer—
riſſenheit und verzerrt ſeine klaſſiſche Formſchönheit.
3
Schon in den Gedichten aus dem „Weſtöſtlichen Divan“ in
Op. 25. macht ſich dieſer Standpunkt empfindlich geltend, allein
hier ſind es immer noch die größern Bilder, die den Tondichter
gefangen nehmen und ihm die Ruhe für plaſtiſche Formgebung
rauben. Aber in Op. 98.: „Lieder und Geſänge aus Wil—
helm Meiſter“ kommt er ſelbſt nicht mehr zu gefeſtigten einzelnen
Bildern. Faſt jedes Wort erweckt in ihm die Luſt zu illuſtrieren
und zu interpretieren, und er gelangt in dieſem Beſtreben zu
wunderbar ſchönen Einzelheiten, aber die Plaſtik der Formgebung
geht verloren. Seine Phantaſie brauſt in heiligen Strömen einher,
aber er findet nicht mehr die Zauberformel, um ſie zu bannen.
Der Meiſter iſt auf dem Standpunkt angekommen, auf welchem er
ſeine Technik nicht mehr beherrſcht. Phantaſie und Technik ſtreiten
vielmehr um die Herrſchaft, und immer ſeltener werden die vollen—
deteren Kunſtwerke, die aus dieſem Streit hervorgehen. Für das
Lied beginnt dieſe neue Phaſe in der Entwicklung Schumann's
ſchon mit dem „Lieder-Album für die Jugend Op. 79.“ In jenen.
Göthe'ſchen Liedern erreicht ſie ihren Höhepunkt. Die Luſt an
ungewöhnlichen Combinationen führt den Meiſter auf eine Menge
von rhythmiſchen, harmoniſchen und melodiſchen Gebilden, die für
den Muſiker eine Fülle von Anregung enthalten; er operiert auf die
feinſinnigſte Weiſe mit dem Stimmklange, bald im gemiſchten, bald
im mehrſtimmigen Frauen- oder Männerchor, aber er kommt nur
noch höchſt ſelten über intereſſante Einzelheiten hinaus. Was er
jetzt noch ſchafft, hat wenig poſitive Bedeutung mehr für die Ent-
wicklung des Liedes, es wirkt nur mehr anregend, freilich wie wir
bald ſehen werden nicht überall zum Segen. Im mehrſtimmigen
Geſange, den er jetzt mit Vorliebe cultiviert, hat der Meiſter über—
haupt weniger Bedeutung erlangen können, als auf den übrigen
Gebieten, über welche ſich ſeine Thätigkeit erſtreckte, weil ihm wie
Schubert nicht die Stimmen als einzelne Perſönlichkeiten aufge
gangen ſind; weil er ſie wie dieſer mehr als Geſammtheit faßt und
ſich von dem Chorklang gefangen nehmen läßt. Die Melodie der
Oberſtimme ſelbſt folgt häufig nicht ihrem eigenen Zuge, ſondern
verläßt ihn, um die Harmonie, oft auch nur einen Accord klang—
voller auszuprägen. Jeder mehrſtimmige Satz von Op. 91. an
giebt Belege hierzu. Während er früher die Melodie, wie in
No. 1. Op. 55., durch Octavenunterſtellung im Tenor noch bedeu—
a
tungsvoller heraushebt, verliert ſie jetzt immer mehr von ihrer
Bedeutung und Eindringlichkeit. Das aber nur iſt die höchſte
Chorgeſtaltung, wenn jede einzelne Stimme in ſelbſtändigem Zuge
ihre Individualität wahrt und dennoch alle zu einheitlicher Wirkung
zuſammengefaßt ſind, wie im Chorliede von Mendelsſohn.
In Schumann ſelber blühte ſo der Liederfrühling ab, nach—
dem er diejenigen Keime, die Schubert gelegt hatte, ohne ſie
ſelbſt emportreiben zu ſehen, zur üppigſten Blüte und zu reifer
Frucht gezeitigt hatte. Aber auch er legte neue Keime. Werden
ſie uns einen neuen Liederfrühling erblühen laſſen? In ſeinen
und Schubert's Zeitgenoſſen und unmittelbaren Nachfolgern, die
wir im nächſten Kapitel betrachten, dürfte nur ein Nachſommer
angebrochen ſein.
Sechſtes Napitel.
Einſeitige Beſtrebungen für Erweiterung des Liedes.
Mit Schubert ſchon beginnt das Lied das ganze Muſik—
treiben und Muſikempfinden der Gegenwart zu beherrſchen. Wol
pflegen die drei größten Meiſter des Liedes, Schubert, Men—
delsſohn und Schumann, auch die größeren Formen der In—
ſtrumental⸗ wie der Vocalmuſik, denn eine wahrhaft bedeutende
Perſönlichkeit kann nimmer in grübleriſcher Selbſtbeſchaulichkeit
verharren, und ſo fühlten ſich auch jene Meiſter gedrängt, aus ihr
herauszutreten, ihre Individualität in größeren Tonbildern zuſammen
zu faſſen und mit der äußern Welt in Beziehung zu ſetzen; allein
ſo viel Neues und Vortreffliches ſie auch hierin leiſteten, ſo muß
doch bezweifelt werden, ob ihre Produktionen auf inſtrumentalem
Gebiet oder auf dem des muſikaliſchen Drama's einen Fortſchritt
über die ältern Meiſter hinaus bezeugen.
Das moderne „Lied“ iſt eine wirklich poſitiv neue Kunſt—
ſchöpfung, und dieſer Umſtand ſchon läßt die ungeheure Ver—
breitung, die es jetzt findet, erklärlich erſcheinen. Die Luſt am
=
Liede erwachte im Volke mit ſolcher Gewalt, daß ſelbſt auf dem
Gebiete der Poeſie die Lyrik alle übrigen Gattungen der Dichtkunſt
zurückdrängte. Auch die deutſchen Tonkünſtler wandten ſich ihr mit
immer größerem Eifer zu, und wir werden einzelnen begegnen, die
faſt ausſchließlich auf dem Gebiete des Liedes thätig ſind oder doch
nur hier Erfolge erzielen.
Im großen Ganzen erſcheint allerdings ideell wie formell in
jenen drei Meiſtern die Entwicklung des geſungenen Liedes abge—
ſchloſſen und zwar viel entſchiedener als die größern Formen; ſoll
das Lied nicht in ſubjektiver Willkür verloren gehen, wird es ſich
immer in den, durch jene Meiſter geſetzten Schranken halten müſſen;
allein innerhalb derſelben iſt dem Subjekt noch große Freiheit der
Bewegung möglich, und je nach der Individualität des Dichters
und des nachdichtenden Tonkünſtlers wird auch das Lied immer
wieder neu ſich geſtalten.
Dieſe Letztern ſcheiden ſich jetzt entſchieden in zwei Richtungen:
in jene, die mehr in Mendelsſohn'ſchem Streben nur ihre
eigne Individualität in möglichſter Klarheit auszutönen trachten, und
in jene, die an Schubert-Schumann anknüpfend, dem Dichter
näher zu treten verſuchen. Beide erreichen dies hauptſächlich
dadurch, daß ſie eine Seite der Technik der genannten Meiſter
beſonders ausbilden; nur wenige verſuchen auch für einen beſtimmten
Zug ihrer Individualität eine beſondere Technik ſich zu ſchaffen.
Zu jener erſten Reihe gehört zunächſt:
Carl Friedrich Curſchmaun. Er iſt 1805 am 21. Juni
in Berlin geboren. Sein Vater, ein vermögender Kaufmann,
hatte ihn für das Studium der Rechtsgelehrtheit beſtimmt. Allein
dabei trieb er mit großem Eifer auch Muſik und beſchloß endlich,
ſich ihr ganz zu widmen. Er gieng nach Caſſel, ſtudierte bei
Spohr und Hauptmann Compoſition und componierte ſchon
fleißig, unter anderm auch eine kleine Oper. Nach ſeiner 1829
erfolgten Rückkehr nach Berlin war er faſt ausſchließlich nur auf
dem Gebiete der Liedcompoſition thätig und zwar mit großen äußern
Erfolgen. Doch iſt ſeine Bedeutung mehr nur eine zeitliche und
ſelbſt locale geblieben. Vielleicht hätte ſich ſein nicht unbedeutendes
Talent noch zu größerer Bedeutung entfaltet, wenn ihn nicht ein
früher Tod, er ſtarb am 24. Auguſt 1841, hinweggerafft hätte.
14
Reißmann, deutſches Lied.
ee
Obgleich er hauptſächlich in Caſſel feine muſikaliſche Bildung
ſich aneignete, ſo macht ſich doch auch bei ihm früh jener Berliner
Einfluß geltend, der, ſeitdem er in Marpurg, Nichelmann und
Agricola eine beſtimmte Richtung gewann, ſich fortwährend erhält
und dem ſich ſelbſt ein Meiſter wie Mendelsſohn nicht entziehen
konnte. Dieſer Einfluß entwickelt ſich in dem immer praktiſcher ſich
geſtaltenden Zuge, das Lied mehr ſangbar als tiefeingehend zu con—
ſtruieren, und erlangt in Curſchmann das Uebergewicht, weil
dieſer ſelbſt ein geſchmackvoller Sänger war. Vor der Ausartung
in den Bänkelſang bewahrte ihn feine tiefere Kenntnig der Harmo⸗
nik, doch iſt dieſe wiederum nicht durchbildet genug, um in mehr
als intereſſantern Einzelzügen dem melodiſchen Ausdruck eine tiefer—
gehende Bedeutung zu geben. Curſchmann bildet ſo nur die
eine mehr ſentimentale und die ihr verwandte naive Seite vor—
wiegend dem Liede an, und hat deshalb nur einige Wiegenlieder
von bleibenderem Werthe ſchaffen können. Jene naive Seite wurde
viel feiner und charakteriſtiſcher von dem Berliner Meiſter ausge-
bildet, der namentlich mit ſeinen „Kinderliedern“ dem naiven
Genre eine wirklich künſtleriſche Bedeutung gab: Wilhelm Tau—
bert. Im Jahre 1811 in Berlin geboren, gewann er auch dort
ſeine muſikaliſche Bildung. Sein Talent entwickelte ſich frühzeitig,
ſo daß ſich der General von Witzleben bewogen fühlte, ihn auf
ſeine Koſten für die Kunſt erziehen zu laſſen. Ludwig Berger
und Bernhard Klein wurden ſeine Lehrer, und unter ihrer
Leitung bildete er ſich zu einem ebenſo bedeutenden Claviervirtuoſen,
als geſchmackvollen Tonkünſtler aus. Seit einer langen Reihe von
Jahren Hofkapellmeiſter an der Berliner Oper, iſt er in allen
Gattungen der Compoſition thätig, allein jener reflectierende Zug,
das Erbtheil ſeiner Vaterſtadt und ſeiner früheſten Bildung, ließ
ihn bis jetzt nur in jener bereits bezeichneten Liedgattung größere
und weitere Erfolge erreichen. In einer kleinern Zahl ſeiner
übrigen Lieder vermochte er, wie in dem reizenden „Tröſtliche Ver—
heißung“ aus Op. 22., oder in einzelnen Liedern in ſchleſiſcher
Mundart, alle ſich ihm mächtig aufdrängenden fremden Elemente
der Muſikentwicklung ſo ſeiner eignen Individualität einzuverleiben,
daß ſie ſich mit dieſer einheitlich verſchmelzen. In ſeinen Kinder—
liedern kommt ſie ungetrübt zur Erſcheinung. Der Meiſter nennt
die Lieder „Klänge aus der Kinderwelt“ und bezeichnet dadurch den
— 1 —
veränderten Standpunkt, den er in dieſer Thätigkeit Schumann
gegenüber einnimmt. Während dieſer ſeine Kunſtbildung zu ver—
geſſen trachtet, um ganz Kind zu werden, und aus der kind—
lichen Anſchauung heraus feine „Kinderſcenen“ darzuſtellen, recon—
ſtruiert Taubert mit Hülfe ſeiner reichen Kunſtbildung die Kinder—
welt, um ihr ihre Klänge abzulauſchen. Das iſt die letzte und
höchſte Conſequenz jener Berliner Richtung. Dieſe hört aber damit
zugleich auf locale Richtung zu ſein. An wem könnten alle die
lieblichen Genrebildchen vom „Reiterliedchen“ bis zu dem: „Patſch
in's Händchen“ vorübergehen, ohne ihm die glücklichen Tage ſeiner
Kindheit zurückzurufen.
Auch jene andere Richtung, die in formaler Abrundung mehr
die Gefühlsſeite berückſichtigt, hat in Berlin noch einige bedeutende
Vertreter gefunden; wir nennen den um das öffentliche Muſikleben
dieſer Stadt, wie auch durch ſeine geſammte Wirkſamkeit um die
Verbreitung der bedeutendſten Werke des volksthümlichen wie des
Kunſtgeſanges hochverdienten Muſikdirector, Profeſſor Julius
Stern; den ebenſo fein wie allſeitig muſikaliſch gebildeten Kapell⸗
meiſter Heinrich Dorn, der indeß ſeiner größern dramatiſchen
Begabung wegen, wie Heinrich Marſchner, das Lied mehr
ſceniſch zu erweitern trachtet, wie den ſtrebſamen und gleich fein
gebildeten Muſikdirector Hermann Krigar, in welchem in letz—
terer Zeit mehr Schumann 'ſche Einflüſſe ſich geltend machen,
weshalb wir ihm noch einmal begegnen.
Als Ausläufer des Schubert'ſchen Liedes muß auch das
Lied von Carl Löwe gelten. Allein weil dieſer Meiſter erſt in
der Ballade ſeine Hauptbedeutung gewinnt, genügt es ihn hier zu
nennen. Das erſte Kapitel des nächſten Buches wird uns Veran—
laſſung geben, auch ſeiner Lieder etwas ſpecieller zu gedenken.
Nur wenige Lieder C. G. Reißiger's gehören gleichfalls
hierher. Die Summe der Erzeugniſſe Reißiger's ſteht in gar
keinem Verhältniß zu ſeiner natürlichen Begabung; und weil er bei
der Unmaſſe ſeiner Lieder und bei ſeinem Beſtreben nach Erfolgen
vorwiegend die Phraſe pflegen mußte, und zwar häufig auch die
inſtrumentale, nicht nur die vocale, ſo müſſen wir ihn mit der bei
weitem größern Zahl ſeiner beliebten Lieder in das nächſte Kapitel
verweiſen.
14 *
a
Auch die Lieder des ſchwediſchen Componiſten A. F. Lind⸗
blad (1804 geboren), ſind hier zu erwähnen. Seit dem vorigen
Jahrhundert hat Schweden die Leitung ſeiner bedeutendſten Kunſt⸗
inſtitute deutſchen Meiſtern übertragen. So eigenthümlich und
reich entwickelt das Volkslied ſchon früh bei den Schweden erſcheint,
ſo ſpät erſt finden wir Anfänge der Kunſtmuſik bei ihnen und ſie
wurden meiſt von Deutſchland aus gepflegt und weitergebildet. Auch
die Lieder Lindblad's verdanken ihre weite Verbreitung bei uns ihrer
Familienähnlichkeit mit den Liedern Schubert's, die allerdings auch
größer iſt, als die der oben genannten. Dabei tragen ſie auch das
nationale Gepräge: die ſtille Sehnſucht nach dem mildern freund-
lichen Himmel des Südens, die den Nordländer ſo häufig von
Alters her nach dem Süden trieb und die in allen ſchwediſchen
Volksliedern lebt, klingt auch durch alle Lieder Lindblad's
hindurch.
Ein anderer Skandinavier, der Däne Niels Wilhelm
Gade, am 22. October 1817 zu Kopenhagen geboren, hat für das
Lied keine Bedeutung gewinnen können, obgleich auch er eine
Anzahl Lieder veröffentlichte. Zwar lebte er lange Zeit in Deutſch—
land und leitete in den Jahren 1845 bis 48 eines der erſten Muſik⸗
inſtitute Deutſchlands, die Gewandhausconcerte in Leipzig, allein
von deutſcher Muſik iſt ihm kaum die Technik vollſtändig vermittelt
worden. Seine Hauptſtärke ruht im nordiſchen Colorit, und hier—
mit konnte er wol inſtrumental in einigen Orcheſterwerken ein
vorübergehendes Intereſſe erregen, nicht aber auch vocal, namentlich
im Liede Bedeutung gewinnen.
Auch Moritz Hauptmann und Ferdinand Hiller
ſollten ihre kunſtgeſchichtliche Bedeutung auf andern Gebieten, als
auf dem des Liedes, das ſie gleichfalls, dem allgemeinen Zuge der
Zeit folgend, fleißig anbauten, erringen.
Hanuptmaun wurde am 13. October 1792 in Dresden
geboren und wählte erſt in ſeinem achtzehnten Jahre die Muſik zu
ſeinem Lebensberuf, nachdem vorher ſeine Studien vorwiegend
darauf gerichtet waren, ihn für den Beruf ſeines Vaters, eines
Oberlandbaumeiſters zu erziehen. In den Jahren 1811 und 12
genoß er den Unterricht von Spohr in Caſſel, und nachdem er
dann ein Jahr lang als Violiniſt der Dresdener Hofkapelle angehört
hatte, gieng er auf Reiſen. Von 1815 bis 1820 lebte er im
—- . —-
Haufe eines ruſſiſchen Grafen, kehrte dann nach Dresden zurück
und ein Jahr ſpäter trat er als Violiniſt in die Hofkapelle zu
Caſſel. Hier blieb er bis zum Jahre 1842, in welchem er Cantor
und Muſikdirector an der Thomas- und Nikolaikirche in Leipzig
wurde und als ſolcher die Leitung des berühmten Thomanerchors
übernahm. In dieſer Stellung wirkt er noch und auch das Leipzi—
ger Conſervatorium zählt ihn zu ſeinen Stützen. So Tüchtiges er
auch in der Compoſition leiſtete, ſeine eigentliche unvergängliche
kunſthiſtoriſche Bedeutung ſollte er erſt dann gewinnen, als er die
Richtung entſchiedener verfolgte, die wol namentlich jene, der Kunſt
ferner liegenden Studien feiner Kindheit und Jünglingsjahre feinem,
Geiſte gegeben hatten, als er ſich der Theorie zuwandte. Sein
ſchon erwähntes Werk: „Die Natur der Harmonik und Metrik“
wird nicht nur ſeine Compoſitionen, ſondern vorausſichtlich auch die
meiſten theoretiſchen Werke der Gegenwart überleben.
Ferdinand Hiller iſt der Sohn eines begüterten Kauf⸗
manns und in Frankfurt am Main am 24. October 1811 geboren.
Da ſich ſeine Begabung für die Tonkunſt früh entwickelte, ſorgte
der Vater auch früh für eine entſprechende Erziehung und als
Hiller in das Jünglingsalter trat, wurde er dem ſeiner Zeit
bedeutendſten Claviervirtuoſen, dem weimariſchen Hofkapellmeiſter
Hummel, zur weitern Ausbildung übergeben. Der zweijährige
Aufenthalt in Weimar wurde auch durch das geiſtig rege Leben,
das damals in den um Göthe verſammelten Kreiſen, zu denen
auch Hiller Zutritt hatte, herrſchte, einflußreich auf ſeine ganze
Richtung. Von Weimar gieng er nach Wien und dann in ſeine
Heimath zurück, woſelbſt er, mit Studien und Compoſitionen beſchäf⸗
tigt, bis 1828 blieb, in welchem Jahre er nach Paris gieng. Erſt
1836 kehrte er von hier wieder in ſeine Heimath zurück und leitete
hier einen Winter hindurch den Cäcilienverein. Im Sommer des
nächſten Jahres unternahm er eine Reiſe nach Italien. Eine Oper,
die er während dieſes erſten Aufenthalts in Italien auf dem Mai⸗
länder Scalatheater aufführte, hatte nur geringen Erfolg. Dagegen
fand ſein Oratorium: „Die Zerſtörung von Jeruſalem,“ das er
nach ſeiner Rückkehr in Leipzig aufführte, allgemeinen Beifall. Ein
zweiter Aufenthalt in Italien dauerte bis 1842, in welchem er
nach Leipzig gieng, um die Direction der Gewandhausconcerte zu
übernehmen. Das Jahr darauf verlebte er wieder in ſeiner Heimath,
— 1 —
nur mit der Compoſition beſchäftigt. Eine große, auch practiſche
Thätigkeit entwickelte er erſt wieder in Dresden, wo er ſich im fol—
genden Jahre anſiedelte. 1847 gieng er als ſtädtiſcher Muſik⸗
director nach Düſſeldorf und 1850 in gleicher Eigenſchaft nach
Köln und hier iſt er auch als Director der daſigen Muſikſchule noch
jetzt vielſeitig und raſtlos thätig.
In einem ſo eigenthümlich bewegten Leben konnte das Lied,
das nur in ſtiller Zurückgezogenheit gedeiht, keine neuen Blüten
treiben. Ferdinand Hiller geht daher auch in dieſer Form
mehr betretene Wege und zwar folgt er nur der Bahn der großen
Meiſter. Dagegen ſcheint er nach einem höhern Ziel zu ſtreben,
das auch wir für die Aufgabe der nächſten Zukunft halten: die, im
Kleinen gewonnenen feinern Ausdrucksmittel auch auf die größern
Inſtrumental-⸗ und Vocalformen überzutragen. So intereſſant und
bedeutſam zugleich es ſein müßte, zu unterſuchen, welche Wege der
Meiſter eingeſchlagen und welche Erfolge er bisher erreichte, müſſen
wir uns hier doch verſagen, ſpecieller darauf einzugehen; es genüge
die Notiz, daß Hiller ſich jetzt ganz der Pflege des Oratorienſtyls
zugewendet hat.
Jene zweite Reihe, die ſich ausſchließlich dem Schubert—
Schumann'ſchen Liedſtyl anſchließt, eröffnet:
Robert Franz. Er iſt am 28. Juni 1815 zu Halle an
der Saale geboren. Auch er fand bei ſeinen Eltern den entſchie—
denſten Widerſpruch, als er Luſt zeigte ſich der Tonkunſt zu
widmen und erſt im zwanzigſten Lebensjahre durfte er ſeinen Lieb—
lingswunſch ausführen und die Muſik zum Lebensberuf erwählen.
Im Jahre 1835 gieng er nach Deſſau, um unter dem in jener
Zeit als Theoretiker und Componiſt hochberühmten Hofkapellmeiſter
Friedrich Schneider ſeine Studien zu machen. Nach zwei
Jahren hatte er ſeinen Curſus abſolviert und ging nach ſeiner
Vaterſtadt zurück, ohne recht zu wiſſen, was er mit den erworbenen
Kenntniſſen und Kunſtfertigkeiten beginnnen ſollte. Erſt das Stu—
dium der Werke Joh. Seb. Bach's und Franz Schubert's,
dem er ſich jetzt mit großem Eifer unterzog, und die Anregungen
mehrerer Freunde von Geſchmack und kritiſchem Scharfblick, nament—
lich aber das Auftreten der damals ſogenannten romantiſchen Schule,
die kritiſche wie die producierende Thätigkeit Mendelsſohn's und
„„
Schumann's wieſen ihn auf die Bahn, auf der er überhaupt
etwas zu leiſten im Stande war.
In einem Zeitraum von etwa zwanzig Jahren hat Franz
gegen dreißig Liederhefte veröffentlicht, außerdem nur noch in vierſtim—
miger Bearbeitung ein Kyrie, einen Pſalm und ein Heft Lieder für
gemiſchten, ein anderes für Männerchor. *) Einige feiner Freunde,
die ſich gewöhnt haben, alles an ihm aus höhern Geſichtspunkten
zu betrachten, erblickten in dieſer Einſeitigkeit nur eine weiſe und
verdienſtliche Zurückhaltung; andere wiederum giengen ſogar ſo weit,
das Unvermögen Franz's, ſich an größeren Formen auch nur
zu verſuchen, der ganzen Zeit aufbürden zu wollen. So liebens—
würdig eine ſolche Pietät iſt, ſo haltlos und gefährlich iſt ſie in
ihren Conſequenzen. Der wahrhaft bedeutende Künſtler ſtrebt nach
dem Höchſten bis an ſein Lebensende und wenn er es auch nimmer
erreichte. Das war auch die künſtleriſche Haus- und Lebensregel
eines Schubert, Schumann und Mendelsſohn, und am
Ende dürften doch auch ihre großen Inſtrumental- und Vocalwerke
die geſammten Lyriker der Neuzeit, die im Liede ihre höchſte Auf—
gabe ſehen, überdauern.
Ein ſo einſeitiges Zurückziehen innerhalb einer an ſich beſchränk—
ten Form kann nimmer erfolgreich für dieſe ſelbſt werden. Schu—
bert, Mendelsſohn und Schumann wären wol nie zur
Vollendung der Liedform, zu rückhaltsloſer Darſtellung des lyriſchen
Ausdrucks gelangt, wenn ſie nicht unabläſſig auch bemüht waren,
die Einzelempfindung in Beziehung geſetzt zu ganzem Lebenszuge
auszuweiten, ihre Technik an den ausgebreitetſten Formen zu ver—
ſuchen und zu bilden. Wir haben es wiederholt ausgeſprochen und
die ganze Entwicklungsgeſchichte des Liedes beweiſt es bis zur
Evidenz: daß der Künſtler, will er nicht den Zuſammenhang mit
dem allgemeinen Empfinden mit dem Volksgemüth verlieren, ſich nie
von den urſprünglichen natürlichen Geſetzen, denen das Darſtellungs—
material folgt, von der „Natur der Harmonik und Metrik“ los-
löſen darf. Alle großen Meiſter ſeit der Blüte des Volksliedes,
von Bach bis auf Schumann, hielten an der urſprünglichen For—
mation des Tonmaterials feſt, und nur in der beſonderen Umge—
*) Dieſe ausſchließliche Thätigkeit auf dem Gebiete des Liedes dürfte eine
eingehendere Betrachtung derſelben hinreichend rechtfertigen.
— 216 —
ſtaltung deſſelben fanden ſie die Mittel, ihrer Individualität faßbar
äußere Geſtalt zu geben. Franz hat dieſen einzig berechtigten
Standpunkt früh verloren oder vielleicht nie gewonnen. Wir geben
gern zu, daß die Anweiſung feines Lehrers Friedrich Schnei—
der, dem der Organismus der Tonſprache ſich ſchon zum Mechanis—
mus verknöchert hatte, wenig geeignet war, ihm dieſen zu vermitteln;
allein daß er ihn nicht ſelbſt fand, daß er durch die Meiſter, deren
Studium er zu ſeiner Lebensaufgabe machte, nicht darauf geführt
wurde, daß er ſelbſt nicht im Stande war, jenen überkommenen
Mechanismus zum Organismus, in welchem ſeine Individualität
ſich vollſtändig ausſprach, umzubilden, vielmehr genöthigt war, ſich
von der Technik jener Meiſter das Entſprechende anzueignen, iſt
doch eine Schwäche ſeiner Individualität, die keine andere Bezeich-
nung zuläßt. Und hierin wol auch einzig und allein dürfte der
Grund jener verdienſtlichen Zurückhaltung Franz's, die ihn allen
anderen Formen fern hielt, zu ſuchen ſein. Mit einer Anzahl
Vocabeln und Redewendungen des pointierten lyriſchen Ausdrucks,
die er jenen Meiſtern ablernte und die er nach ihrer Anleitung auch
vielfach erweitert und vermehrt und meiſt höchſt intereſſant umge⸗
ſtaltet, iſt wol die Form des Liedes zu füllen, nimmer aber auch
nur die kleinſte muſikaliſch ſelbſtändig herauszubilden. Denn die
Aneinanderreihung von paſſenden Accorden und melodiſchen oder
rhythmiſchen Phraſen giebt noch keine künſtleriſch durchbildete Form.
Auch die Entwicklung individueller Formen iſt nicht Zufälligkeiten
unterworfen, ſondern auch ſie beruht auf der Gegenwirkung der
einzelnen Theile. Die Schönheit der Form verlangt nicht mathe—
matiſche Regelmäßigkeit, aber alle einzelnen Theile müſſen auf ein—
ander bezogen werden. Davon kann im Franz' chen Liede kaum
mehr die Rede ſein, weil ihm die Grundbedingung der Möglichkeit
einer ſolchen Geſtaltung, die natürliche harmoniſche Conſtruction
fehlt. Wir ſahen bei Schubert und Schumann, daß ſie auch
bei ihren kühnſten Modulationen ſich immer an dieſem formellen
Bande halten, daß es neben harmoniſcher Vertiefung ihr Haupt—
beſtreben iſt, mit Hülfe der Dominantwirkung die Form feſtzuſtellen.
Solchem Streben begegnen wir bei Franz nur höchſt ſelten. Er
weicht dieſer Conſtruction vielmehr gefliſſentlich aus, weil er eben
intereſſant modulieren muß, viel ſeltener weil der Textausdruck eine
ungewöhnliche Modulation erfordert. Freilich ſchreibt Franz keine
— 21 —
Lieder, er ſchreibt „Geſänge,“ allein das rechtfertigt ihn wol
nicht. So lange er ſeinen „Geſängen“ noch Liedertexte zu
Grunde legt, in denen die ſtrophiſche Gliederung vom Dichter ſorg—
fältig herausgebildet iſt, muß es als eine große, unkünſtleriſche
Willkür gelten, ſich ſo vollſtändig von ihr zu emancipieren, wie er
dies meiſtens thut. Es würden ſich kaum ein Dutzend ſeiner
„Geſänge“ herausfinden laſſen, die auch nur den Verſuch jener
Reimverſchlingungen zeigen, welche die Liedform auch muſikaliſch
künſtleriſch herausbilden und in ihnen copiert er dann Franz
Schubert, wie in: „Der junge Tag erwacht“ aus Op. 7., oder
er ſchnürt damit den eigentlich poetiſchen Inhalt ſo feſt ein, daß
man kaum noch etwas davon gewahr wird, wie in „Die blauen
Frühlingsaugen“ und „Die letzte Roſe“ aus Op. 20., oder er
ſingt dieſe in luſtiger Bänkelſängerweiſe aus, wie in „Willkommen
mein Wald“ aus Op. 21. Wilder noch wird die Form, ſowie
er auf die Sequenz geführt wird. Da er nirgend das Bedürfniß
hat, die ſtrophiſche Gliederung auch muſikaliſch darzuſtellen, ſo
dient die Sequenz bei ihm nur als Lückenbüßer, um ihm einige
Tacte weiter zu helfen. Die Sequenzen fügen ſich bei ihm nicht
in einander, wie Glieder eines organiſchen Körpers, ſondern er
reiht ſie an einander wie die Perlen einer Perlenſchnur. Er erfin⸗
det irgend eine harmoniſche oder melodiſche Phraſe und verſetzt ſie
ſo lange in andere Tonarten, bis er eine andere findet, mit der er
ſich in gleicher Weiſe weiter hilft, wenn er nicht mittlerweile ſo
weit gekommen iſt, abſchließen zu können. „Da die Kunde kam“
aus Op. 7. iſt aus vielen andern ein ſprechender Beleg. Das
Verwunderlichſte aber leiſtet Franz nach dieſer Seite in Nr. 6.:
„Ja, du biſt elend“ deſſelben Hefts. Das ganze drei Seiten lange
Lied beſteht factiſch nur aus den drei Anfangstacten, die, mit
unweſentlichen Veränderungen um einen halben Ton höher trans⸗
poniert, ſich fortwährend wiederholen. Für gewiſſe Leute, die das
Mechaniſche eines ſolchen Verfahrens nicht kennen, mag es von
überraſchender Wahrheit ſein, aber künſtleriſch iſt es ganz ſicher
nicht, vielmehr naturaliſtiſch roh. Die Wirkung mit der rohen
Materie iſt aber nirgend widerwärtiger als im Liede. Franz
bildet das harmoniſche Motiv und feine Behandlung Franz Schu—
bert's „Gruppe aus dem Tartarus“ nach, aber dort haben beide
eine ganz andere Bedeutung, was uns im erſten Kapitel des nächſten
_— a —
Buches klar werden wird. Um wie viel treuer in der Auffaſſung
und künſtleriſcher in der Darſtellung iſt Schumann's Behandlung
des, in der Stimmung verwandten Liedes: „Ich grolle nicht!“
Wir zweifeln nicht daran, daß man auch dieſe Franz’fche Com⸗
poſition aus höhern Geſichtspunkten betrachten wird, um ihr einen
Grad von Berechtigung zu geben, aber ſo lange man nicht nach—
weiſt, daß es nur eine Jahrhunderte andauernde Caprice der
lyriſchen Dichter und nicht äſthetiſche Nothwendigkeit iſt, das,
ſtrophiſche Versgebäude energiſch herauszubilden, ſo lange werden
wir auch dem Tondichter das Recht beſtreiten müſſen, ſich gleich—
gültig gegen Strophe und Versbau zu verhalten oder wol gar
beide willkürlich zu zertrümmern. Daß aber Tiefe der Auffaſſung
und künſtleriſche Vollendung der Form ſich vereinigen laſſen, das
haben Schubert und Schumann evident nachgewieſen und wir
ſind in vollem Recht, den Standpunkt, von welchem aus die Tiefe
der Auffaſſung nur durch Formverwilderung erreicht werden kann,
als einen dilettantiſchen zu bezeichnen. — So wenig Franz die
künſtleriſche Ausbildung der Form des Liedes zu fördern im Stande
war, fo gewiß hat er den Inrifchen Ausdruck bereichert. Wir
haben bereits erwähnt, daß er bei ſeiner einſeitigen Richtung
eine nicht geringe Zahl harmoniſcher Vocabeln und Redewendungen
fand, er vermochte nur nicht, ſie dem geſammten muſikaliſchen
Sprachorganismus einzuverleiben, weil er jene andern beiden
Mächte des muſikaliſchen Ausdrucks, Melodie und Rhyth—
mus, zu ſehr vernachläſſigt. Franz hat nur Sinn für das
harmoniſche Klangcolorit und der Mangel melodiſcher Zeichnung
wird bei ihm um ſo fühlbarer, als er überall nach großem har—
moniſchem Farbenreichthum trachtet. Er überſieht vollſtändig, daß
die melodiſche Zeichnung ein nicht weniger nothwendiger Factor des
künſtleriſchen und ganz beſonders des lyriſchen Ausdrucks iſt, als
die Harmonie, und daß nur aus der vollſtändigen Durchdringung
von Melodie, Harmonie und Rhythmus die lyriſchen Formen in
höchſter Kunſtgeſtalt hervorgehen. Es iſt dies wol der empfind—
lichſte Mangel in Franz's natürlicher Begabung, den er, nament—
lich in den erſten Liederheften, noch häufig durch harmoniſche Fein⸗
heiten zu überdecken weiß. So lange der harmoniſche Apparat für
den Componiſten noch den Reiz einer gewiſſen Urſprünglichkeit hatte,
geht dieſer auch in die Melodie über und vermittelt dort den
— 9 —
fehlenden organiſchen Zuſammenhang, wie namentlich in einzelnen
„Schilfliedern“ Op. 2. Allein auch dieſer mußte ſich verlieren,
als Franz nur durch die ausgeſuchteſten techniſchen Kuunſtgriffe ſei—
nen harmoniſchen Apparat noch zu erweitern im Stande iſt. Jetzt
fühlt auch er das Bedürfniß nach melodiſcher Geſtaltung, doch kann
er es kaum anders als durch Anleihen, die er nicht nur bei Schu—
bert, Mendelsſohn und Schumann, ſondern auch beim
volksthümlichen Liede contrahiert, befriedigen.
Seine rhythmiſche Geſtaltung aber erliegt ganz dem dürftig
puriſtiſchen Zuge unſerer Zeit. Hier kommt er nirgends über die
trockenſte Darſtellung des Sprachmetrums hinaus; jene Schubert—
ſche Monotonie einzelner Lieder iſt bei ihm zur Permanenz erklärt.
Franz hat die rhythmiſche Declamation, welche Schumann mit
dem feinſten Verſtändniß in ſeinem Cyklus „Dichterliebe“ anwendet,
für ſeine ganze Liedgeſtaltung adoptiert, aber er macht nirgend auch
nur den Verſuch, das rhythmiſche Versgefüge fo feinfinnig heraus—
zubilden, wie jener Meiſter, und weiß noch weniger durch ſeine Clavier—
begleitung dies äußere Gerippe zu beleben. Dieſe erhebt ſich über—
haupt nur in einzelnen Fällen, in den Verſuchen von Situations-
malereien über die intereſſante, aber doch im Allgemeinen in einem
ſehr beſchränkten Kreiſe von Figuren ſich bewegende Darſtellung
der harmoniſchen Grundlage. Selbſt die Zbwiſchenſpiele, mit
denen er die Declamation unterbricht, ſind vielmehr das unmit—
telbare Product der dialectiſchen Entwicklung des Begleitungs—
motivs, als das einer verſuchten feinern Interpretation des Tex⸗
tes und der Stimmung, und jene Weiſe Schumann's, die
Melodie nicht beſtimmt abzuſchließen und die Stimmung nur in-
ſtrumental zu Ende zu führen, die wir in der romantiſchen
Unendlichkeit einzelner Gedichte begründet fanden, wird bei Franz
zur Manier. ö
Nach alledem dürfte Franz viel eher Bedeutung für die geſammte
kunſtgeſchichtliche, als für die weitere Entwicklung des Liedes
gewinnen. Seine Geſänge ſind Experimente, welche den harmoni—
ſchen Apparat derartig erweiterten, daß er ſpätern Meiſtern,
denen auch die rhythmiſche und melodiſche Geſtaltung wiederum
geläufig iſt, vielfach Stoff auch für größere Formen geben kann.
Von ſeinen eignen Geſängen dürften ein länger andauerndes
Intereſſe nur einzelne farblos-naive oder fentimentale, wie „Ihr
*
Auge“ aus Op. 1., das Rückert'ſche „Ständchen“ aus Op. 7.,
„Mei Mutter mag mi net“ aus Op. 17., oder „Die Lotosblume“
aus Op. 3., „Die Waſſerfahrt“ aus Op. 9., und das „Ständ—
chen“ aus Op. 17., mit der, der Henſelt' ſchen „Vögleinetüde“
ziemlich treu nachgebildeten Clavierbegleitung, oder das freilich ſehr
triviale „Volker ſpielt auf“ aus Op. 27. und das Heft Lieder für
gemiſchten Chor gewinnen können. Der Chorklang und die aus
dem Studium Bach's gewonnene Chortechnik gaben auch Franz
die Mittel an die Hand, ſeine Schwächen zu verdecken, ſo daß
dieſe Chorlieder entſchieden das Beſte ſind, was er geſchrieben.
Stimmungen, die darüber hinaus weiſen, wie „Winternacht,“
oder „Verlaß mich nicht“ aus Op. 21. werden unter der Hand
Franz's abentheuerlich-grotesque, und können nur Kreiſe in—
tereſſieren, denen dies als ein Symptom durchbrechender Genia—
lität gilt. F
Aus dem Leben Robert Franz's haben wir noch nachzu—
tragen, daß er ſeit ſeiner Rückkehr von Deſſau ſeine Vaterſtadt
Halle, einige Reiſen abgerechnet, nicht wieder verlaſſen hat; daß er
von dem, vor einigen Jahren verſtorbenen Univerſitätsmuſikdirector
Dr. Naue noch bei deſſen Lebzeiten einzelne Amtsverrichtungen
übernahm und gegenwärtig als Drganift, Univerſitätsmuſikdirector
und Leiter mehrerer Concertinſtitute in ſeiner Vaterſtadt thätig iſt.
In Anerkennung der Verdienſte, die er ſich hierdurch erworben,
erlangte er im Juni 1861 von der philoſophiſchen Facultät der
Univerſität, an welcher er thätig iſt, die Doctorwürde.
Als letzte Conſequenz der Beſtrebungen Robert Franz's
auf dem Gebiete des Liedes erſcheinen die Lieder von Franz
Liſzt. Dieſer, nach vielen Seiten merkwürdigſte Künſtler der
neuern Zeit, dem man auch vom gegneriſchen Standpunkt Bewun—
derung zu zollen genöthigt iſt, wurde am 22. October 1811 in
Raiding bei Oedenburg an der ungariſchen Grenze geboren. Sein
Vater, ein Rechnungsbeamter des Fürſten Eſterhazy, ſorgte früh
auch für Ausbildung feines eminenten muſikaliſchen Talents und im
neunten Jahre bereits wurde er als Wunderkind auf dem Piano
angeſtaunt. Um dem genialen Knaben günftigere Gelegenheit zu
ſeiner Ausbildung zu geben, ſiedelte der Vater mit ihm nach Wien
über und Carl Czerny und Salieri wurden jetzt ſeine Lehrer.
Auch in Wien erregte er die ungeheuerſte Senſation durch ſein
eminentes Spiel, ebenſo wie in Paris, wohin der Vater 1823 mit
ihm gieng. Es kann nicht unſere Abſicht ſein, den genialen Vir—
tuoſen auf ſeinen Triumphzügen, die er durch Deutſchland, Eng—
land, Frankreich, Italien, Rußland, Spanien, die Türkei und
Amerika hielt, zu begleiten oder die königlichen Ehren, die man ihm
überall erwies, aufzuzählen.
Die Zeit liegt ja noch nicht ſo weit hinter uns, daß nicht
der größte Theil der Mitlebenden Zeuge davon geweſen wäre.
Auch ſeine unerreichte Meiſterſchaft als Claviervirtuoſe, wie der
Einfluß, den er durch die Umgeſtaltung der Claviertechnik auf die
geſammte Kunſtentwicklung gewann, können uns hier nicht beſchäf—
tigen. Und ſo erwähnen wir nur noch, daß er ſeit dem Jahre 1848
als Großherzogl. Weimariſcher Hofkapellmeiſter in Weimar ſeinen blei—
benden Wohnſitz nahm. Mit dieſer Zeit beginnt auch eine durchaus
neue Periode für ſeine künſtleriſche Thätigkeit. Durch Wort, Schrift
und That propagandiert er Berlioz und Wagner, und nament⸗
lich der Letztere hätte wol nimmer ohne die energiſche Verwendung
Liſzt's ſolch bedeutende Erfolge errungen. Daneben entwickelt er
aber auch eine große Thätigkeit, den neuen, der neuen Zeit ent—
ſprechenden Kunſtſtyl zu finden, und zwar ganz bedeutſam abweichend
von dem leitenden Princip Wagner's. Während dieſer nur im
muſikaliſchen Drama die Aufgabe und das Heil der nächſten Zukunft
ſieht, verbreitet ſich die Thätigkeit Liſzt's gerade über die von
Wagner Preis gegebenen Gebiete; er ſchreibt Symphoniſche
Dichtungen für Orcheſter, eine Sonate, ein Clavierconcert, große
Feſtmeſſen und Pſalme, er überarbeitet ältere Lieder und com>
poniert neue hinzu. Selbſtverſtändlich beſchäftigen uns hier nur
die letzteren.
Wir bezeichneten unſern Standpunkt ihnen gegenüber ſchon
flüchtig. Uns erſcheint das Li ſzt' che Lied und wol nicht unge—
rechtfertigt als die letzte Conſequenz des Liedes von Robert
Franz. Wenn auch Franz nichts thut, um die dichteriſche Form
harmoniſch, melodiſch und rhythmiſch herauszubilden, ſo reſpectiert er
ſie doch immer noch äußerlich durch die Einheit der Tonart und des
Rhythmus; die Strophe iſt ihm immer noch ein, wenn auch nur
äußeres formelles Band. Liſzt thut den letzten Schritt: er opfert
dem ſpeciellen, dem Wortausdruck auch die dichteriſche Form, und
wir möchten, trotzdem daß dieſe Behandlung im diametralen Gegen—
— M—.
jat zu unſerer Anſchauungsweiſe ſteht, dennoch dem Liſzt'ſchen
Standpunkt dem Franz' ſchen gegenüber den Vorzug geben. Soll
das Lied wie geſungene Proſa behandelt werden, dann aber auch
ganz und entſchieden. Dies Franz'ſche juste milieu, dies Lieb-
äugeln auf der einen Seite mit Joh. Seb. Bach, auf der andern
mit Richard Wagner iſt auch in der Kunſt der unbehaglichſte,
unfruchtbarſte Standpunkt. So großes Intereſſe auch Liſzt am
Franz'ſchen Liede nimmt, weil es die natürliche Form negiert, ſo
konnte er doch nicht bei ihm ſtehen bleiben. Seine nimmer raſtende
geiſtige Regſamkeit, ſeine ungeheure Energie führten ihn weit über
dieſelbe hinaus, und nur, wie wir meinen, deshalb zu vollſtän—
diger Formverwilderung, weil er die Grundbedingung alles künſt—
leriſchen Schaffens mißachtet. Liſzt hat eine ſo reiche Phantaſie,
er iſt der leidenſchaftlichſten wie der zarteſten Empfindung ſo fähig
und mächtig, wie nur irgend einer der gottbegnadetſten Sänger,
aber ihm fehlt die Fähigkeit der plaſtiſchen Formgebung. Er ver⸗
fügt über einen großen Reichthum von Mitteln des muſikaliſchen
Ausdrucks, aber er hat ſie ſich durch ſeine beiſpiellos vielſeitige
praktiſche Thätigkeit, durch feine geniale Reproduction der Meiſter—
werke aller Jahrhunderte, wie durch eigenes Experimentieren ange—
eignet, und ſie ſind auch ihm nur Vocabeln oder höchſtens Rede—
wendungen geblieben; der Organismus der Sprache hat ſich auch
ihm nicht erſchloſſen. Daher vermag er den poetiſchen Inhalt
nur in ſeinen Einzelzügen uns zu vermitteln, und er muß die
dichteriſche Form vollſtändig zerſchlagen. Wir halten das namentlich
dem Göthe'ſchen und Schiller' ſchen Liede gegenüber für eine
arge Verſündigung, aber dieſe Behandlung intereſſiert uns, weil ſich
eine bedeutende Perſönlichkeit in ihr kund thut, und ſie ergreift
uns wie der ungeſtüme Drang eines mächtig erregten Menſchen
uns ergreift, dem das Beſtreben nach Mittheilung und die Empfin—
dung der Ungefügigkeit ſeiner Ausdrucksmittel jede Fiber und Faſer
in Bewegung ſetzt und dem das Ringen nach dem rechten Ausdruck
die Bruſt zerſprengen möchte.
Wir haben keinen Grund zu fürchten, daß dieſer Liedſtyl
Liſzt's ſich verallgemeinern wird. Wer ihn auch nur copie—
ren wollte, ohne ihn zu carricieren, müßte eben Liſzt ſein,
und Erſcheinungen wie er ſind ſeltener noch als wie die
Kometen.
— 23 —
Noch wären eine kleine Zahl jüngerer Künſtler zu nennen, die
ſich Schumann's Liedſtyl anſchließen. Wir gedenken ihrer pafjen-
der am Schluſſe dieſes Buches und wenden uns zu einer Reihe
von Liedercomponiſten, welche die Kehrſeite der bisher beſprochenen
Richtung bilden.
Siebentes apitel.
Der noble Bänkelſang.
Während ſo eine große Reihe der beſten Geiſter der Nation
in unabläſſigem Ringen bemüht waren, das deutſche Lied, dies wol
köſtlichſte und ausſchließliche Eigenthum des deutſchen Volks, auf die
höchſte Stufe der Vollendung zu führen, ruhte auch jene hand—
werksmäßige Geſchäftigkeit nicht, die nur für den offnen Markt des
Tages arbeitet und nur darauf bedacht iſt, eine recht ausgebreitete
Kundſchaft zu gewinnen. Wie der Geſchäftsmann ſich den Wünſchen
und Bedürfniſſen feines Publikums fügt, wie der Fußbekleidungs—
künſtler die Natur des Hühnerauges, der maitre tailleur die Ana⸗
tomie des menſchlichen Körpers ſtudiert, ſo merkte dieſe dem Markt⸗
publikum ſein jeweiliges Bedürfniß ab, um ihren Produkten den
höchſt möglichſten Cours zu geben. Das deutſche Lied wird als
ein neu aufgelegtes, als nobles Bänkelſängerlied ein vielbegehrter
Handelsartikel.
Wir ſahen das alte Bänkelſängerlied immer noch als eine
beſondere Gattung des volksthümlichen Liedes aus dem eigentlichen
Volksliede ſich entwickeln. Der immer mächtiger ſich ausbreitenden
allgemeinen Muſikbildung mußte das Volkslied in feiner urſprüng—
lichen Geſtalt weichen und ſich zum volksthümlichen Liede umgeſtalten
und endlich nach dem Grade der Muſikbildung und des künſtleri⸗
ſchen Werths der eindringenden fremden Elemente zum Bänkel⸗
ſängerliede werden. Wir hatten aber auch Gelegenheit, die praktiſche
Bedeutung des alten Bänkelſängerliedes kennen zu lernen, die keine
geringere war, als der neuen, aus ihrer Verwilderung ſich allmälig
erholenden Poeſie die weiteſte Verbreitung zu ermöglichen.
—
Das neue Bänkelſängerlied hat weder eine jo ehrliche Abſtam—
mung noch auch ein ſo begründetes Recht ſeiner Exiſtenz. Es iſt
durch Speculation auf das niedrigſte Bedürfniß und Empfängniß⸗
vermögen der Maſſen hervorgerufen, und verunglimpft die Dichtung
nur, indem ſie derſelben Verbreitung verſchafft. Von der Zeit an,
als die bedeutendſten Tondichter ſich der lyriſchen Poeſie zuwandten,
um ihr in der, dem Volke noch leichter zugänglichen muſikaliſchen
Umdichtung Eingang und bleibenden Sitz im Herzen und Gemüth
des Volkes zu verſchaffen, hat das Bänkelſängerlied den Rechtstitel
für ſeine Exiſtenz verloren, und wir betrachten es nur in ſeinem
weitern Verlauf, weil der Hiſtoriker auch die krankhaften Erſchei—
nungen ſeiner Zeit nicht aus dem Auge verlieren darf, damit er
ihre Gemeingefährlichkeit nachweiſen kann.
Der erſte Liederſänger, der ſeine, nicht gewöhnliche Begabung
und Bildung an die Genußſucht der großen Menge veräußert, iſt:
Carl Gottlieb Reißiger. Er iſt am 31. Januar 1798
zu Belzig bei Wittenberg geboren und erhielt von ſeinem Vater,
einem tüchtigen, muſikverſtändigen Cantor, einen gründlichen Unter—
richt auch in der Muſik. Nachdem er 1811 als Alumnus Auf-
nahme in die Thomasſchule in Leipzig gefunden hatte, erregte ſein
Muſiktalent die Aufmerkſamkeit des bekannten, damaligen Thomas⸗
cantor Schicht, und es wurde ihm deſſen ſpecieller Unterricht zu
Theil. Er bildete ſich jo zu einem fertigen Clavier- und Orgel—
ſpieler und geſchmackvollen Sänger aus. Erſt nachdem er die
Univerſität bezogen hatte, um Theologie zu ſtudieren, begann er
(1820) unter Schicht gründliche Studien im Generalbaß zu machen,
und nun reifte auch der Entſchluß gar bald in ihm, ſich ganz der
Kunſt zu widmen. Er gieng, unterſtützt durch vermögende Gönner,
1821 nach Wien, um dort ſeine Studien fortzuſetzen, von da 1822
nach München und im nächſten Jahre nach Berlin. Ob und welche
Studien er machte, erfahren wir nicht, dagegen daß er unabläſſig
mit der Compoſition von Werken aller Art beſchäftigt iſt. Der
Aufenthalt in Berlin verſchaffte ihm die Unterſtützung des Königs
von Preußen zu einer Reiſe nach Italien und Frankreich, die er
im Juli 1824 antrat. 1825 kehrte er nach Berlin zurück und
folgte im nächſten Jahre einem Rufe als Muſikdirector an die
Oper nach Dresden. Schon 1827 erfolgte ſeine Ernennung zum
Kapellmeiſter und als ſolcher iſt er am 7. Novbr. 1859 geſtorben.
— 25 —
Reißiger war wol der begabteſte und gebildetſte der Reihe
Liederſänger, die wir mit ihm beginnen. Mit einer bedeutenden
wiſſenſchaftlichen Bildung verband er eine nicht gewöhnliche mufi-
kaliſche. Seine Tüchtigkeit als Dirigent, wie ſeine Fertigkeit im
Partiturſpiel ſind wol hinlänglich anerkannt. Dabei beſaß er eine,
wenn auch nicht tiefe, doch ungemein elaſtiſche Empfindung und
hatte eine große Formgewandheit im Ausdruck, ſo daß er bei
größerem Ernſt und einer weiſen Zurückhaltung ſich eine Achtung
gebietende Stellung in der Kunſtgeſchichte ſicher errungen hätte.
Allein für eine ſo geſchäftige Thätigkeit, wie er ſie innerhalb dreißig
Jahren entwickelte, waren ſein Talent und ſeine techniſche Bildung
gleich unzulänglich. Er ſchrieb nicht nur eine Anzahl Opern,
Melodramen, Meſſen, Symfonien und Ouverturen, ſondern auch
eine bedeutende Menge Quartetten und Trio's in allen Zuſammen—
ſetzungen, Sonaten und Rondo's und veröffentlichte einige fünfzig
Liederhefte.
Nur einer genialen Kraft wäre es bei ſolcher Produktion mög—
lich geweſen, ſich auf künſtleriſcher Höhe zu halten, und Reißi—
ger war eben nur ein beſcheidenes Talent. Er mußte daher häufig
unter das Niveau der gewöhnlichſten Kapellmeiſterroutine hinab—
ſinken und zwar weniger noch in ſeinen Inſtrumental- und größe—
ren Vocalwerken als im Liede. Dort hilft ihm die Technik, die
für dieſe Formen von den großen Meiſtern bereits geſchaffen
war, oft über die gefährlichſten Klippen hinweg. Die Themen
ſeiner Inſtrumentalwerke find meiſt die allergewöhnlichſten italieni⸗
ſchen Geſangsphraſen, aber er weiß ſie durch ſeine, den großen
Meiſtern abgelernte Technik ſo effectvoll zu verarbeiten, daß man
vorübergehend ihre Abſtammung vergißt. Die Technik des Liedſtyls
aber, die er in gleicher Weiſe ſich hätte aneignen können, war
kaum erſt gefunden und gewann unter den Muſikern langſamer noch
Beachtung, als bei dem Dilettantismus. Auch verſprach ſie im
gegenwärtigen Moment noch geringe Erfolge. Eine eigene Technik
ſich zu ſchaffen, fühlte er wenig Drang und ſo griff er nach der
nächſten, der Form des Bänkelſängerliedes. Wahrſcheinlich hatte
er ſich durch die Erfolge, die Himmel in Berlin damit errang,
imponieren laſſen. Vor dem Liede von Himmel hat das Lied
Reißiger's den Vorzug einer größern Einheit. Jener flickt die
Fetzen von Inſtrumental⸗ und Vocalphraſen, wie ſie ihm gerade
Reißmann, deutſches Lied. 15
„
unter die Finger kommen, im bunteſten Gemiſch an einander.
Reißiger kommt nirgends über die gehaltloſe Phraſeologie hinaus,
ſeine Melodie iſt nirgends mehr als rhythmiſch-melodiſches Geklingel,
aber ſein natürliches Formentalent giebt ihr doch, auch wenn er ſie
aus Inſtrumental- und Vocalphraſen zuſammenſetzt, einen durchaus
einheitlichen Zug. Wir merken an ihnen wieder die Nothwendigkeit
der Reimſchlüſſe. Dabei verſäumt er auch nicht die günſtigen Gelegen—
heiten, der Melodie durch eine außergewöhnliche harmoniſche Wen-
dung ein größeres Intereſſe zu geben und hierauf dürfte ſich wol
der ganze Einfluß, den Schubert auf Reißiger endlich doch
noch gewann, beſchränken. Ueberhaupt eignet er ſich den fremden
Ausdruck weniger bewußt an; dieſer vermittelt ſich vielmehr unwill⸗
kürlich ſeiner, ſolchen Eindrücken immer offnen Individualität und
meiſt eben ſo abſichtslos verwendet er ihn wieder als ſeinen eignen.
Dieſer ganzen Eigenthümlichkeit nach konnte er auch nicht die weite
Verbreitung finden, die jeder ſeiner Nachfolger auf dieſem Gebiete
fand. Er war immer noch zu klaſſiſch formkalt.
Von ſeinen weit verbreitetſten Liedern nennen wir: „Geibels
Zigeunerbub im Norden“ und das humoriſtiſche: „Als Noah aus
dem Kaſten war.“ Sie ſind zugleich diejenigen, welche ſein Schaffen
am Treffendſten charakteriſieren. Die luſtigſte Bänkelſängerweiſe
erſcheint in einem ehrbaren harmoniſchen Gewande.
Einen Schritt weiter auf dieſer Bahn geht:
Heinrich Proch; am 22. Juli 1809 zu Wien geboren, war
er Anfangs für die Jurisprudenz beſtimmt; er beſchäftigte ſich aber
nebenbei auch fleißig mit Muſik und namentlich bildete er ſich zu
einem tüchtigen Violinſpieler aus, ſo daß er 1834 eine Stelle in
der k. k. Hofkapelle erhielt, nachdem er bereits auch ſeine juriſtiſchen
Studien abſolviert hatte. So viel uns bekannt, iſt er ſeit einigen
Jahren auch zum Kapellmeiſter avanciert.
Als Liedercomponiſt gehörte ihm einſt ein außerordentlich großes
Publikum, heut' hat ihn bereits das Geſchick der dienſtwilligen
Lakaien der Mode ereilt, er iſt verſchollen und nur einzelne ſeiner
Weiſen leben noch auf Tanzböden, in Straßenorcheſtern oder im
Leierkaſten fort; und dennoch gehört das Proch' ſche Lied ſchon
dem noblen Bänkelſange an. Wir wiſſen nicht, wie viel innerer
Drang, wie viel Speculation ihn dazu führte, ein Mann des Volks
zu werden; aber als er es wurde, konnte er es ſchon nicht mehr
— MM —
mit den Mitteln Himmel's, ſelbſt nicht mit denen Reißiger's
werden. Joſef Lanner und Johann Strauß hatten zunächſt
in Wien in ihren rhythmiſch wie melodiſch und harmoniſch viel
reicher ausgeſtatteten Tänzen der Volksmuſik eine veränderte Stellung
gegeben und ſie auf eine höhere Stufe gehoben. Ein Tanz von
Strauß oder Lanner iſt viel feiner rhythmiſiert und harmoni—
ſiert, und von ungleich größerer melodiſcher Eindringlichkeit, als
ein Lied von Himmel oder Reißiger; er rundet ſich formell
viel künſtleriſcher ab und enthüllt dem Wiener namentlich wirklich
einen beſtimmten und bedeutſamen Zug ſeines Lebens. Dieſer
Strauß-Lanner' ſche Tanz beſtimmte auch gar bald im übrigen
Deutſchland die Richtung dieſer Art Volksmuſik und unter das
Niveau derſelben durfte natürlich auch das mit ihr rivaliſierende
Lied nicht herabſinken. Das iſt der Standpunkt des Liedes von
Proch. Der Strauß-Lanner 'ſche Walzer bildet feine Grund—
lage. Er bietet ihm Rhythmus, Harmonie und im Grunde auch
die Melodie und beſtimmt ſo vorwiegend ſeinen Charakter, daß
er durch alle laut und vernehmlich hindurchklingt. Dabei iſt aber
auch das Lied Schubert's nicht ſpurlos an Proch vorüber—
gegangen; auch von ihm handelt er Gedanken und Wendungen ein
und macht ſie nach ſeinem Geſchmack zurecht. Wie Schubert
ſchreibt auch Proch vorwiegend in der Form des durchcomponierten
Liedes, folgt indeß auch hierbei mehr Strauß-Lanner, die
ihre Walzer ähnlich aneinander reihen, als Schubert. Zudem
hatte das Lied von Schubert ja bereits ſein Publikum, und es
war ein großer Vortheil, wenn auch dieſes gewonnen wurde. Das
Publikum, welches Proch im Auge hatte, liebt es ja auch, ſich in
Gegenſätzen zu bewegen und ſein Lied wurde gerade dadurch ſo
angenehm, daß es immer zu rechter Zeit aus dem einen Ton in
den andern fiel. Jetzt die thränenreichſte Sentimentalität und
wenn dieſe dem Publikum unbequem werden konnte, in demſelben
Athemzuge der freudigſte Aufſchwung in Tanzweiſe. Auch tragiſche
und leidenſchaftliche Stimmungen hat Proch hin und wieder, daß
er uns oft ernſtlich bange macht. Aber er meint es nie ſo ernſt—
haft, durch alle die düſtern und ſchwarzen Nebel bricht ſieghaft die
helle Sonne: Strauß-Lanner hindurch. Das Lied Proch's
gehörte namentlich dieſer groben Contraſte wegen mehr dem Süden
und den untern Ständen an; erſt:
N 15 .
— 228 —
Friedrich Kücken machte es im Norden cour- und ſalons⸗
fähig. Zu Bleckede im Lüneburgiſchen 1810 geboren, lebte er
längere Zeit in Berlin, ſpäter in der Schweiz, in Paris, Ham—
burg und ſeit 1851 als Kapellmeiſter in Stuttgart. Er hat zwar
auch zwei Opern und einige Clavierpiegen geſchrieben, doch nur
durch ſeine Lieder iſt er eine Tagesberühmtheit geworden.
Auch dieſem Liederſänger iſt wol die eigenthümliche Stellung
der Muſik dem Text gegenüber nie auch nur annäherungsweiſe
klar geworden. Wie ſeinem Vorgänger Heinrich Proch iſt ihm
die nächſte Aufgabe angenehm zu rühren, in anſcheinend natür—
licher Weiſe zu unterhalten, und dies zu erreichen iſt die Tanz—
weiſe immer das geeignetſte Mittel. Tritt dieſe nun auch eigentlich
nirgends bei Kücken mit der Abſichtlichkeit wie bei Proch auf,
ſo bildet ſie doch ſo unverkennbar die Grundlage ſeiner Lied—
ſchöpfungen, daß viele der weitverbreitetſten ohne jegliche Umge—
ſtaltung zu Tänzen und Märſchen verwendet werden konnten.
Allein bei dem Norddeutſchen iſt der Tanz an ſich kein ſo weſent—
liches Lebenselement als bei dem Süddeutſchen, und der Componiſt,
der auf die norddeutſche Durchſchnittsbildung der Maſſen ſpeculiert,
mußte auch der Tanzweiſe eine höhere Bedeutung verleihen, wollte
er durch ſie Erfolge erreichen. Das hat Kücken ganz vortrefflich
verſtanden. Er hat in der pfiffigſten Weiſe den Walzer-Galopp⸗
und Polonaiſenſtyl zum Liedſtyl umgewandelt und da er in der
Wahl feiner Texte ziemlich vorſichtig iſt und ſich meiſt auf die—
jenigen beſchränkt, deren äſthetiſche wie ſittliche Grundlage eine
ſolche Behandlung nicht gerade als große Verſündigung erſcheinen
läßt, ſo hat er mit dieſen Liedern auch in den gebildeteren Kreiſen
Eingang gefunden, denen Proch mehr fern bleiben mußte und die
ſich ſelbſt mit größerer Hingebung den Meiſtern des Liedes zu—
neigten. „Ach wenn du wärſt mein eigen,“ „O wär' ich doch des
Mondes Licht,“ „Was lauſcht herein zum Fenſterlein,“ „Die
Blumen und die Sterne,“ „Ich will vor deiner Thüre ſtehn“
und eine Menge andere ſeiner Liedertexte rechtfertigen zur Noth
noch dieſe Behandlung, ja man konnte, wie im „Mauriſchen Ständ—
chen,“ ſogar das Beſtreben nach „Auffaſſung“ finden, und nach—
dem die gute Geſellſchaft erſt ſo lobenswerthe Eigenſchaften an ihrem
Lieblinge entdeckte und als dieſer ſogar im „ Mädchen von Juda“
eine claſſiſch-gelehrte Amtsmiene zeigte, verzieh ſie ihm auch ſeine
früheren und ſpäteren Unarten, mit der er z. B. die Heine'ſche
Tragödie: „Entflieh' mit mir und ſei mein Weib,“ zur ergötzlichen
Poſſe umſtempelt, oder in ſeinen Duetten den zarten Duft
Geibel'ſcher Gedichte abſtreift. Allein die fo errungene Gunſt
hat nun einmal keinen Beſtand. Auch Kücken's Stern iſt, wie
es ſcheint, im Erlöſchen. Der gebildetere Theil der Geſellſchaft hat
ſich ihm wol ſchon längſt ab- und jenen Meiſteru zugewendet, die
mit Auffaſſung nicht nur coquettieren, ſondern welche den Dichter
wirklich muſikaliſch neugeſtalten und die allein wahrer Bildung wür—
dig und förderlich ſind. Mit den mehrſtimmigen Liedern und.
Motetten, die Kücken jetzt mit Vorliebe pflegt, wird er ſeine
frühere Stellung vorausſichtlich auch nicht wieder gewinnen, weil ſie
nur um ſo viel höher ſtehen wie die einſtimmigen Lieder, als es
ihm gelingt, Mendelsſohn zu copieren. In den niedern Kreiſen,
in den Kreiſen jener Durchſchnittsbildung, macht ihm aber ſeit
Jahren ſchon Franz Abt gefährliche Coucurrenz.
Abt iſt 1819 zu Eilenburg in der preußiſchen Provinz Sach—
ſen geboren. Nachdem er mehrere Jahre in Zürich als Muſik—
director gewirkt hatte, wurde er an des verſtorbenen Kapellmeiſter
Müller Stelle als Herzoglicher Hofkapellmeiſter nach Braunſchweig
berufen und iſt als ſolcher dort noch thätig.
Die Lieder von Franz Abt laſſen ſich nicht ſo leicht kate—
gorifieren, als die der beiden vorgenannten Liederſänger, weil er
zeitweiſe eine Spur von Entwicklung zeigt. Nur der durch alle
hindurch klingende Ton einer überſchwenglichen, aber dennoch bru—
talen Sentimentalität giebt ihnen Familienähnlichkeit und bezeichnet
zugleich die Liedertafeln als ihre Geburtsſtätte und rechte Heimath.
„Wenn die Schwalben heimwärts ziehn“ und „Ob ich dich
liebe?“ ſind die zwei ſaftigſten Früchte dieſer ganzen Richtung und
begründeten daher naturgemäß ſeinen Ruf. Alles was ſich von
moderner Muſikbildung in den Männergeſangvereinen ablagerte,
Juſtrumental- und Vocalphraſen, Opern-, Tanz- und Volksmelo—
dien, hat ſich auch Abt angeeignet und er verarbeitet alles in der,
der Richtung jener Vereine entſprechenden Weiſe. Allein ſeitdem
er ein berühmter Mann geworden, ſcheint die ganze Verantwort—
lichkeit ſeiner Stellung als ſolcher der Oeffentlichkeit gegenüber
manchmal ſchwer auf ihm zu laſten und ihn zu verzweifelten An—
läufen, ſeinen bedeutenden Ruf nachträglich durch ernſte Arbeit zu
— 230 —
verdienen, anzureizen. Einem ſolchen Moment ſcheint z. B. Op. 60.
feine Entſtehung verdanken zu müſſen. Hier begegnen wir ernſten
Verſuchen, eine volksthümlich anſtändige Melodie zu erfinden, ſie
harmoniſch bedeutſamer auszuſtatten und die Clavierbegleitung ver-
ſteigt ſich in dem Beſtreben ſorgfältigerer Ausbildung bis zur
Situationsmalerei (wie in No. 2. „Haidevögelein“); ja bei einigen
Liedern aus Op. 71. ſcheint es ſogar, als ob Abt eben ein
Mendelsſohn'ſches Liederheft durchblättert hätte, und etwas
davon ſei ihm an den Fingern ſitzen geblieben. Allein weder ihm
noch ſeinem Publikum iſt recht wol dabei, und ſo kommt er denn
gar bald wieder in ſein eigentliches Fahrwaſſer hinein.
Selbſt ſo vorübergehende Gemüthswallungen hat der letzte
dieſer Gruppe, hat Ferdinand Gumbert wol nie. Dieſer
jüngſte und reinſte Repräſentant des noblen Bänkelſanges wurde
1818 in Berlin geboren. Erſt nach dem erfolgten Tode ſeines
Vaters durfte er dem Comtoir entſagen und ſich ganz der Muſik
widmen. Zwei Jahre verfolgte er den Plan, ſich zum Opernſänger
zu bilden, dann gab er ihn auf und widmete ſeine Thätigkeit
ganz der Compoſition, wie nur in ſeinem, nicht auch zum nur
geringſten Vortheil der Kunſt, zeigt der flüchtigſte Blick auf ſeine
zahlreichen Werke.
Außer zwei Operetten und einigen unbedeutenden Clavierſachen
hat er nur Lieder geſchrieben, und dieſe beanſpruchen unſer Intereſſe
nur deshalb, weil uns aus ihnen das, ein ehrliches Muſikanten—
gemüth wahrhaft erhebende Grablied des modernen Bänkelſanges
entgegen klingt. Will man nicht am geſunden Sinne auch der
Maſſen ganz verzweifeln, ſo muß man ſich der Hoffnung hingeben,
daß ſolche Plattheiten bald kein Publikum mehr haben werden. Zu
überbieten ſind ſie aber nun vollends gar nicht. Gumbert iſt ſo
hart an der Grenze des Miſerablen angekommen, daß ein Weiter—
vorgehen undenkbar iſt. Proch, Kücken und Abt verwerthen in
ihren Liedern doch noch die beſſern Elemente einer immer noch nicht
ganz verkommenen Volksmuſik und ſie ſind dabei auch beſtrebt, ſich
einige Errungenſchaften der künſtleriſchen Entwicklung anzueignen,
um ihren Produkten einen größern Werth zu geben. Gumbert
zehrt nur von dem unſaubern Bodenſatz der an ſich ſchon ver—
ſumpften italieniſchen Phraſe. Jene laſſen ſich immer noch von
einem gewiſſen Reſpekt vor dem Text und ſeinem Inhalt leiten;
— 221 —
für Gum bert iſt der Text nur der Puppenkörper, dem er. feine
Melodielappen anhängt. Eine italieniſche Cantilene und jene „kou—
liſſenreißeriſchen Abgänge“ der großen Oper, das ſind die einzigen
Ingredienzien ſeiner Lieder; Rhythmus, Harmonie und Clavier—
begleitung ſind für ihn nur vorhanden, um ſie zu ignorieren.
Freilich müßte man das Publikum, dem ſolche Erzeugniſſe der
niedrigſten Speculation geboten werden dürfen mehr bejammern
als den Componiſten, der ſie zu bieten wagt. Allein das Publikum,
iſt eben ſo urtheilslos, als es leicht zu verführen iſt. Redet man
ihm nicht heute noch, nachdem der deutſche Geſang ſo herrliche
Blüten und Früchte getrieben hat, daß wir nach dieſer Seite das
beneivetjte Volk der Erde find, vor, nur im italieniſchen Geſange
liege Wahrheit und das Heil der Kunſt? Darf man ſich wundern,
wenn es beide dort ſucht und ſchließlich auch findet? Bei alle
dem haben jene italieniſchen Geſangsphraſen in der Oper immer
noch einen Schein von dramatiſcher Wahrheit, und dieſer iſt's wol
auch und nicht nur die rein finnliche Klangwirkung, was der ganzen
Richtung auch bei unſerm gebildetern deutſchen Publikum Eingang
verſchaffte. Auch dieſen Schein der Wahrheit verliert jene Phraſe
am Gumbert'ſchen Liede, es bleibt nur die grobſinnlichſte Wir—
kung mit dem Klange.
Dieſe ganze Richtung hat namentlich deshalb eifrige Verfechter
gefunden, weil ſie anſcheinend dem Liede zu größerer Popularität
verhilft. Wir ſind der Meinung, daß das, was eine weite Ver—
breitung findet, noch lange nicht populär iſt. Die Popularität der
Tonkunſt iſt doch gewiß keine andere, als die der übrigen Künſte,
und beſteht demnach nur darin: daß das Kunftwerk die Möglichkeit
in ſich ſchließt, von einer Geſammtheit in ſeiner Wirkung gefaßt,
in ſeiner Schönheit erkannt zu werden. Dieſe Möglichkeit erlangt
das muſikaliſche Kunſtwerk nur im Anſchluß an die allgemein gül—
tigen Geſetze des muſikaliſchen Geſammtorganismus, in der voll—
ſtändigſten Durchdringung von Form und Inhalt. Indem das
Einzelſubjekt jenem Organismus ſich unterordnet, ſo daß alles
ſubjektiv Willkürliche ſich ausſcheidet und das blos ſubjektiv Wahre
nur Bedeutung in ſeinem Verhältniß zum allgemein Wahren findet,
gewinnt das Kunſtwerk allgemein faßbare Darſtellung, ſpricht es
ſich ſelber aus in höchſter Popularität. Dieſe, und eine andere
kann es ſelbſtverſtändlich gar nicht geben, errangen auch im Liede
— 232 —
nur Künſtler von höchſter Meiſterſchaft, wie Schubert und Men—
delsſohn und eine Menge Lieder von Schumann würden ſie
längſt erreicht haben, wenn unſere Lehrer und öffentlichen Inſtitute
mehr bemüht wären, ihre unvergänglichen und faßlichen Schön—
heiten der größeren Menge zu entfalten, ihren echt deutſchen volks—
thümlichen Inhalt dem Volksgemüth zu vermitteln. Jene andere
vermeintliche Popularität, welche in der Regel der ſogenannten
gelehrten, ſchwer verſtäudlichen Muſik entgegen geſetzt wird, iſt
nicht nur ein gefährlicher Feind der Kunſt, ſondern auch der kunſt—
bedürftigen Menſchheit. Sie huldigt einem in der Kunſt höchſt
verwerflichen Nützlichkeitsprincip und ſucht die Verſtändlichkeit des
Kunſtwerks nicht in der vollſtändigen Harmonie von Stoff und
Inhalt, ſondern in der Uebereinſtimmung derſelben mit dem niedrig⸗
ſten Geiſtesvermögen des Kunſtgenuß-Suchenden. Sie fragt nicht
nach den Anforderungen der Kunſt, ſondern nur nach dem Bedürf—
niß der Mode und des Geſchmacks. Sie ſtrebt nirgends mehr zu
ſein, als ein Lohnlakai der Zeit, und darum iſt dieſe ſogenannte
Popularität ein ſo gefährlicher Feind des Volks. Weil ſie das
Kunſtwerk nur für das Gedächtniß conſtruiert, daß es dieſem mög⸗
lichſt bald ſchon nach dem einmaligen Anhören ganz oder ſtückweis
angehöre, iſt fie auf jene inhaltsloſe Phraſe hingewieſen, die ent—
nervend wie Fuſel auf das Gemüth wirkt; die wie ſchillernde
Seifenblaſen auf Augenblicke ergötzt, aber nichts zurückläßt, als
einen wäſſrigen Niederſchlag. Wie das Lied in ſeiner höchſten
Vollendung als ein befruchtender Thau ſich in das Gemüth ſetzt,
um dort wunderherrliche Frucht zu treiben, ſo iſt das Bänkelſänger—
lied nur Selbſtbefleckung des nach Kunſtgenuß verlangenden Geiſtes
geworden und nur geeignet, ſein geſammtes Vermögen abzu—
ſtumpfen.
Noch ließen ſich einige Vertreter des modernen Bänkelſanges
namhaft machen, allein ſie haben ſelbſt auf dieſem Gebiete nicht
die Bedeutung der Vorgenannten erreichen können; ſie ſchließen ſich
dieſen vielmehr ſo eng an, daß ſie nur als deren treue Copien zu
betrachten ſind. Wir wenden uns daher viel zweckmäßiger am
Schluſſe dieſes Buches, an das vorletzte Kapitel anknüpfend, einer
erfreulichern Erſcheinung, jener Gruppe jüngerer Künſtler zu, die
— 233 —
uns berufen zu ſein ſcheinen, das deutſche Lied zu derjenigen Vol—
lendung zu führen, die es überhaupt noch erreichen kann. Es iſt
wahr, die wunderbaren Schöpfungen Mendelsſohn's und Schu—
mann's auf dem Gebiete des Liedes und der verwandten kleinern
Inſtrumentalformen verlockten eine große Anzahl jüngere und ſelbſt
bedeutende Talente zu gleicher Thätigkeit und dennoch darf man
nicht behaupten, daß ſeit jenen Meiſtern ein bemerkenswerther Fort—
ſchritt erzielt worden ſei, ja daß ſelbſt aus der allgemeinen Lieder—
fluth, deren Waſſer bisher höher giengen als zu irgend welchen
Zeiten, ſich mehr als ein Bruchtheil auf das trockne Land gerettet
hat. Wir möchten dieſe Erſcheinung aus dem beſondern Zuge der
ganzen Zeit erklären. Das, was den jungen Gemüthern an Men—
delsſohn und Schumann imponierte, die geniale und neue
Art des Ausdrucks, verwirrte ſie zugleich. Mit der jugendlichen
Haſt des ſtürmiſchen Enthuſiasmus für die neue Richtung ſuchten
ſie ſich ſo ſchnell als möglich nur die Beſonderheit der Technik
derſelben anzueignen, um in demſelben Geiſte ſchreiben zu können.
Sie hatten dabei aber überſehen, daß dieſe Technik auf keinem
außerhalb der Entwicklung ſtehenden neuen Organismus beruht,
ſondern nur im Zuſammenhange mit der alten urſprünglichen Bedeu—
tung gewinnt. Sie überſahen, daß ſelbſt Schumann die alte
Technik ſich aneignet, um ſie dem Ausdruck ſeiner Individualität
entſprechend umzugeſtalten, und mußten deshalb empfindlich genug
erfahren, daß der alte Satz, nach welchem nur die vollſtändige Beherr—
ſchung des Handwerks zur Künſtlerſchaft und zu individuellen Formen
führt, noch zu Recht beſteht. Wir fürchten nicht, mißverſtanden
zu werden, wenn wir nur von der größern Berückſichtigung des
Formellen in unſrer Kunſt neue Erfolge für die nächſte Zukunft
erwarten. Das vorliegende Buch dürfte den Beweis liefern, daß
wir in der Form keinen verknöcherten Schematismus, ſondern den
lebendigen Organismus ſehen, der ſich auch dem individuellen Aus—
druck leicht und willig anſchmiegt. Weil unſere Zeit nach dem fein
zugeſpitzteſten individuellen Ausdruck ringt, iſt ihr, will ſie ſich
nicht in ſubjektive Willkür verlieren, formale Feſtigung nöthiger,
als jeder früheren. Und ſo ſprechen wir es denn unumwunden
aus, daß wir den Beſtrebungen einiger jüngerer Berliner Künſtler,
die ſchon auf eine energiſchere Herausbildung der Form zurück—
gegangen ſind, mit großem Intereſſe folgen. Von Hermann
— 1 —
Krigar erwähnten wir bereits, daß er ſein formales Geſchick jetzt
im Geiſte Schumann's zu verwerthen trachtet. Georg Vier—
ling ſtählt feine Technik wie Robert Ra decke, Richard
Würſt, C. Lührs, H. Bellermann und Martin Blum⸗
ner auch an der Bewältigung größerer Inſtrumental- und Vocal⸗
formen, und dies Beſtreben kann nicht ohne den ſegensreichſten
Einfluß auf ihre Thätigkeit im Liede bleiben. Auch in jenen
unmittelbaren Erben Schumann's, in Theodor Kirchner,
Woldemar Bargiel, Johannes Brahms und Ludwig
Meinardus ſcheint die formale Läuterung ſich zu vollenden,
ſo daß wir ganz beſonders von ihnen vielleicht in nächſter
Zukunft ſchon auch die Entwicklung des Liedes fördernde Beiträge
erwarten dürfen. An C. G. P. Grädener bedauern wir nur,
daß er in ſeinen Produktionen zu ſparſam iſt, um die bedeutende
Stellung zu gewinnen, die er namentlich als Liedercomponiſt ein⸗
nehmen könnte. 1 |
So dürfen wir wol getroſten Muthes der Zukunft harren.
Es wird keiner gutgemeinten aber dilettantiſchen „Hausmuſik“
bedürfen, um das deutſche Lied vor der Verwilderung, zu der es
ebenſo ein ernſter künſtleriſcher Sinn, wie Leichtſinn und Frivolität
führen möchten, zu bewahren. ö
Drittes Buch.
Nas deutſche Lied in feinen weitern kunſt⸗
geſchichtlichen Beziehungen,
Nachdem wir die Entwicklungsgeſchichte des eigentlichen Liedes
im vorigen Kapitel bis auf unſere Tage verfolgt haben, könnten
wir recht wol unſre Aufgabe für beendet anjehen. Allein die
Formen der Romanze und Ballade ſind mit dem Liede, aus dem
ſie hervortreiben, ſo eng verwandt, und beide haben gleichfalls eine
ſo große kunſtgeſchichtliche Bedeutung gewonnen, daß der Nachweis
ihres hiſtoriſchen Entwicklungsganges unzweifelhaft noch einen Theil
der Aufgabe vorliegenden Buches bilden muß. Als natürliche
Folge des ſo gewonnenen weitern Geſichtskreiſes wird ſich dann die
Betrachtung des Einfluſſes, den das Lied auf den geſammten Gang
der Muſikgeſchichte ſeit ſeinem erſten ſelbſtändigen Auftreten gewon⸗
nen hat, von ſelbſt herausſtellen, und wir verſuchen den ſpeciellen
Nachweis um ſo lieber als gegen eine hierauf bezügliche Aeußerung
des Verfaſſers in ſeinem Buche: „Von Bach bis Wagner,“
von verſchiedenen Seiten Zweifel erhoben worden ſind. Vielleicht
gelingt es, ſie zu zerſtreuen und das deutſche Lied als den Haupt⸗
factor der geſammten modernen Muſik erkennen zu laſſen; und
dann würden ſich neue Ziele und neue Bahnen für die weitere
Entwicklung unſerer Kunſt von ſelbſt ergeben.
— 236 —
Erſtes Napitel.
Die Gewalt des Lyriſchen ergreift auch das Epiſche.
Die erſten und älteſten Volkslieder find die Epen. Das Volk
vermag ſich urſprünglich nur als Geſammtheit, wie ſie ſich im
Mythos in Sage und Geſchichte ihm darſtellt, anzuſchauen. Erſt
mit dem Fortſchritt, den die Individualität zur Freiheit macht,
beginnt die lyriſche Dichtung, in welcher das Einzelſubjekt ſich ſelbſt
zur Vorausſetzung nimmt und welche die Darſtellung feiner Inner-
lichkeit zum letzten Ziele hat, ſo daß die vorhandene Welt nur ſoweit
berückſichtigt wird, als ſie hineinragt in den momentanen Prozeß
der individuellen Erregung und unbedingt in ihm aufgeht. Die
Lyrik fällt ſo urſprünglich mit der epiſchen Poeſie zuſammen, ſie iſt
in ihr verhüllt. Erſt indem das nationale Epos ſelbſt an Leben—
digkeit verliert, tritt ſie mit größerer Selbſtändigkeit auf. Das
Epos felbfibleibt natürlich hiervon nicht unberührt, und unter dem
entſchiedenen Einfluß der Lyrik bildet ſich aus dem Epos jene Form,
welche die Vermittlung zwiſchen beiden herſtellt, die den Uebergang
von dem Epos zur Lyrik bildet — die epiſch-lyriſche Form der Bal-
lade (und der Romanze), welche es noch mit einem objektiv Gege—
benen, mit einem realen Stoff, einem äußerlich Geſchehenen zu
thun hat. Wir begegneten dieſer Form ſchon im vierzehnten Jahr—
hundert, namentlich in den Liebesliedern. Das ſüßeſte der menſch—
lichen Gefühle wird dem Volke am Leichteſten zu einer Geſchichte,
und es ſtrömt daſſelbe gern in der lyriſchen Verarbeitung eines
epiſchen Stoffs aus.
Auch die Melodie dieſer Balladen hatte, fanden wir früher
ſchon, einen abweichenden Charakter, und daß ſie alle vorzugsweiſe
nur geſungen wurden, iſt wol unzweifelhaft. Es liegt in ihrem
ganzen Weſen, daß ſie lieber gehört, als geleſen ſein wollen, und
vielleicht dürfte auch der Name auf dieſe Eigenthümlichkeit ſich zurück—
führen laſſen. Bei den Schotten und Britten bezeichnet im Volks—
geſang der Name ballad das aus den germaniſchen Heldenliedern
vererbte Lied. Daß die italieniſche Ballata ein kurzes, rein lyri—
ſches Tanzlied war, darf als bekannt vorausgeſetzt werden.
— 237 —
In der alten deutſchen Volksballade fand der Refrain eine
große Berückſichtigung, und namentlich ihm gegenüber machte ſich
der Balladenton muſikaliſch ganz beſonders geltend. Der Refrain,
als Träger der lyriſchen Pointe, hielt ſich durchaus mehr in
ſelbſtändig freier Liedform, während die eigentliche Erzählung in
dem mehr recitierenden Ton des Rhapſoden vorgetragen wurde.
Sie lebte auch in den nächſten Jahrhunderten noch nur im
Volksgeſange weiter fort und zwar vorwiegend in der muſikaliſchen
Behandlung der Romanze, die „mehr auf lyriſche Weiſen und
Versmaße ausgeht und durch die Einheit des Gedankens auf dieſelbe
Geſchloſſenheit der äußern Geſtaltung angewieſen iſt, welche die
Einheit der Empfindung bei der Ballade erfordert.“ Der Refrain
ſchwindet daher allmälig und mit ihm natürlich auch die zwiegeftal-
tige Weiſe der Melodie. Dieſe wird um ſo viel der des lyriſchen
Liedes näher verwandt, als die Form der Romanze der Liedform
ſich nähert. Auch die künſtleriſche Darſtellung der Romanze in der
neuern Zeit iſt dieſer Weiſe gefolgt, doch mit größerer Berück—
ſichtigung der ſchärfern Accente der Ballade.
Die eigentliche Ballade erlangt ihre muſikaliſche Bedeutung
erſt unter der Hand der Künſtler wieder.
Weder Poeten noch Componiſten fühlten bis Ausgang des
vorigen Jahrhunderts Veranlaſſung, ſich an dieſer Form zu ver—
ſuchen, nur im Volksgeſange fand ſie ſpärliche Pflege. Erſt
Gottfried Auguſt Bürger, innig vertraut mit der ſchottiſchen
und engliſchen Balladenpoeſie, führte in Deutſchland auch eine neue
Zeit für die Pflege der Ballade herauf, und nachdem ſie Göthe,
Schiller und Uhland zur höchſten Meiſterſchaft herausgebildet,
wenden ſich ihr bis auf den heutigen Tag die beſten Dichter der
Nation mit Vorliebe zu. Die Tondichter hatten ſich ja bereits
wieder gewöhnt und verſucht, den Spuren der Poeſie emſiger zu
folgen als bisher, und ſo erlangt die Ballade bald auch muſikaliſch
ihre neue künſtleriſche Geſtalt.
Der erſte in dieſem Sinne thätige Meiſter der Ballade iſt:
Johann Rudolph Zumſteeg. Er ward zu Sachſenflur
im Schöpfergrunde im ehemaligen Ritter-Canton-Odenwald am
10. Januar 1760 geboren. Sein Vater, Kammerlakai bei dem
Herzog Carl von Würtemberg, verſchaffte ſeinem Sohne die Auf—
nahme in die damalige militgiriſche Schule auf der Solitüde bei
1 MW
Stuttgart, in der bekanntlich Unterricht in mehreren Wiſſenſchaften
und Künſten ertheilt, und die ſpäter auch zur Akademie erhoben
wurde. Zumſteeg ſollte Anfangs Bildhauer werden; allein da
ſich ſein muſikaliſches Talent früh und vielverſprechend entwickelte,
ſo trug man auch früh Sorge für die Ausbildung deſſelben, und
dazu bot die Herzogliche Hofkapelle, die zu den beſten ihrer Zeit
gehörte, vollauf Gelegenheit. Er wählte das Violoncell zu ſeinem
Hauptinſtrument und erlangte auf demſelben eine bedeutende Fertig⸗
keit. Namentlich aber erregte er durch den tiefen und innigen
Ausdruck in ſeinem Spiel die größte Aufmerkſamkeit, und dieſer
Umſtand wol wurde Veranlaſſung, daß er auch zum ſelbſtſchaffenden
Tonkünſtler ausgebildet werden ſollte und dem Unterricht des Kapell⸗
meiſter Poli übergeben wurde. Mehr als dieſem verdankt er
indeß dem eignen Studium der theoretiſchen Werke Mattheſon's,
Marpurg's und d' Alembert's und indirect wenigſtens dem
innigen Freundſchaftsverhältniß, in welchem er zu Schiller ſtand.
Dieſer übertrug ihm gern die Compoſition ſeiner Lieder, und zu
einer großen Zahl der im Muſenalmanach veröffentlichten lieferte
Zumſteeg die Muſik. Daneben erſtreckte ſich ſeine Thätigkeit
über alle Zweige der muſikaliſchen Compoſition. Er ſchrieb neben
Liedern und Balladen Inſtrumentalſätze, Cantaten, Singſpiele und
mehrere Opern und alle dieſe Werke fanden ſeiner Zeit faſt ſämmt⸗
lich die günſtigſte Aufnahme. 1792 wurde er an Poli's Stelle
zum Herzogl. Kapellmeiſter und Director der Oper ernannt. Allein
ſchon 1802 am 27. Januar ſtarb er in Folge eines Schlagfluſſes.
Zumſteeg gehörte einer Zeit an, in der Poeſie und Ton⸗
kunſt auf eine bisher ungekannte Höhe der Entwicklung geführt
werden ſollten. Göthe und Schiller ſtanden bereits im Zenith
ihrer gemeinſamen Thätigkeit; auf der andern Seite hatte Haydn
ſchon ſeinen beſtimmenden Einfluß auf die Umgeſtaltung der Muſik
gewonnen, Mozart's geniales Wirken fällt ganz in die Lebenszeit
Zumſteeg's und auch von Beethoven's erſtem Auftreten konnte
er Zeuge ſein. Eigentlich ſelbſtſchöpferiſche Fähigkeiten, vermöge
derer er an jener Neugeſtaltung ſich hätte betheiligen können, beſaß
er wol nicht, denn auch jenes Auffinden der Balladenform, wodurch
er einzig kunſtgeſchichtliche Bedeutung gewonnen hat, iſt mehr das
Produkt eines verſtändigen Calcüls, als genialer Inſpiration, oder
auch nur natürlichen Inſtinkts. Er hatte ſich eine bedeutende Bil—
— 239 —
dung angeeignet; mit Eifer und Ausdauer ſtudierte er die alten
Meiſter und als Mozart mit ſeinen unvergänglichen Werken ans
Licht trat, war Zumſteeg einer der erſten, die ſich unter den Ein—
fluß dieſes neuen Geſtirns ſtellten. Namentlich die größern Balladen
zeitigten unter den milden und doch ſo glänzenden Strahlen dieſer
neuen Sonne, und gerade dieſer Standpunkt war vielleicht der
geeignetſte, jene neue, dem Bedürfniß und den Mitteln ſeiner Zeit
entſprechende Form zu finden.
Wir werden hier die Eintheilung der epiſch— lhriſchen Dichtung
in Romanze, Mähre oder Rhapfodie und Ballade feſthalten
müſſen, weil fie die Beſonderheit der muſikaliſchen Behandlungsweiſe
beſtimmt.
Die Romanze ſteht der eigentlichen Lyrik am nächſten, indem
bei ihr das Intereſſe weniger auf der That als ſolcher, ſondern
vielmehr auf deren ethiſcher Grundlage beruht. Sie iſt daher mehr
auf lyriſche Weiſen und die Geſchloſſenheit der äußern Geſtal⸗
tung des Liedes angewieſen. Wir fanden bereits, daß namentlich
dieſe Form im Volksgeſange beſondere Pflege erfährt, und auch
Schubert behandelte ſie ſo durchaus liedmäßig, daß wir ſie
der Entwicklung des Liedes einreihen konnten, wie: „Sah ein
Knab ein Röslein ſtehn“ und „Das Waſſer rauſcht, das en
ſchwoll.“
Die Mähre oder Rhapfodie 19 5980 erfordert, / wie
Theodor Echtermeyer in einer, dieſem Gegenſtand gewidmeten
Abhandlung ſehr treffend ſagt, den klaren und ruhigen Fluß der
epiſchen Darſtellung; ſie muß die That und deren Motive auseinander⸗
legen und die Charaktere ſich plaſtiſch und objektiv entfalten laſſen.
Die Mähre iſt deshalb nicht einmal an eine ſtreng einheitliche
Umrahmung gebunden, ſondern kann ihren Stoff ſo vertheilen,
daß in einer zuſammenhängenden Reihe von Dichtungen die That
mit ihren Motiven, ihrem Verlauf, ihren Folgen ſich expliciert,
oder der Charakter des Helden von verſchiedenen Seiten in mannich⸗
faltigen Situationen und Conflicten ſich darſtellt. Die Mannich—
faltigkeit der Formen und die größere Freiheit, die ſie geſtattet, da
ſelbſt die metriſchen und proſodiſchen Mittel nur ſo weit zu beachten
ſind, um die Darſtellung von der Proſa zu unterſcheiden, hat ihr
zu eben ſo großer Verbreitung und eifriger Pflege von Seiten der
Tonkünſtler verholfen, wie der Romanze, und vielfach ſind reine
— 240 —
Balladen von den Componiſten in der Weiſe der Rhapſodie behan-
delt worden.
Von der Ballade ſagt ſchon Göthe: „Der Ballade kommt
eine myſteriöſe Behandlung zu, durch welche das Gemüth und die
Phantaſie des Leſers in diejenige ahnungsvolle Stimmung verſetzt
wird, wie ſie ſich, der Welt des Wunderbaren und den gewaltigen
Naturkräften gegenüber, im ſchwächeren Menſchen nothwendig ent—
falten muß.“ Sie hat daher auch wieder nach großer Geſchloſſen—
heit der Form zu ringen und Rhythmus und Vers ſind ganz
genau zu beobachten und ſorgfältiger herauszubilden. Obgleich
ſie die eigentlich muſikaliſche der genannten Formen iſt, ſo kam ſie
doch erſt ſpäter zu einer gewiſſen Vollendung, und die neueſte Zeit
vernachläſſigt ſie ſchon wieder augenſcheinlich, aus Gründen, die
uns noch ſpeciell beſchäftigen.
Auch Zumſteeg hat ſich vorwiegend der Romanzenform und
der Form der Rhapſodie zugewendet. Die muſikaliſche Behandlung
der Ballade konnte nur das wirklich ſelbſtſchöpferiſche Genie finden,
und ein ſolches war Zumſteeg nicht. Die Form der Romanze
dagegen ſtand längſt im Volksgeſange in Blüte und für jene rhapſo—
diſche Behandlung des epiſch-lyriſchen Gedichts gaben der neue
Inſtrumentalſtyl, die ſceniſche Erweiterung des Liedes durch Mozart
und die noch immer ſehr beliebte Cantatenform die nöthige An—
leitung.
Die Lieder von Zumſteeg bieten kaum noch ein hiſtoriſches
Intereſſe. Es fehlt dem Meiſter nicht an techniſchem Geſchick, noch
weniger an Mitteln des Ausdrucks; jenes war an den beſten
Meiſtern geſchult und dieſe hatte er ſich mit feinſinniger Erkenntniß
des Zeitgemäßen zu in nicht geringem Grade überzeugender Gewalt
angeeignet. Allein die Macht der Empfindung fehlte ihm, die allein
im Stande iſt, die Liedform energiſch auszubilden. Er verräth oft
ein feines Verſtändniß für das Detail der Stimmung, aber in dem
Beſtreben, dieſem nachzugehen, verliert er den Zuſammenhang.
Daher fand er auch für die epiſch-lyriſche Dichtung nicht den
neuen, eigentlich epiſchen Ton, ſondern er trägt vielmehr nur die
in andern analogen Formen durch die größten Meiſter gewonnenen
Mittel und Behandlungsweiſen auf dieſe neue Form über.
Jener allgemeine Zug der Zeit, der Haydn, und noch ent—
ſchiedener Mozart und Beethoven zu ſceniſcher Erweiterung
— MR —
des Liedes drängt, ergreift auch die epiſch-lyriſche Form. Wie
Mozart das Lied meiſt dramatiſch faßt, jo dramatiſiert Zumſteeg
die Romanze, indem er die Handlung und die Charaktere, die der
Romanze nur als Träger der Idee, als ihre objektive Grundlage
dienen, und die in der muſikaliſchen Form der Romanze eigentlich
gar nicht weiter berückſichtigt werden konnten, entſchieden in das
Bereich der muſikaliſchen Darſtellung zieht. Der volksthümliche
Romanzenſtyl bildet ſo beſtimmt die Grundlage ſeines Beſtrebens,
daß er in den weit ausgeführteſten Balladen, wie in „Ritter Toggen—
burg,“ „Die Büßende,“ „Die Entführung,“ „Leonore,“ „Des
Pfarrers Tochter von Taubenhayn,“ fortwährend auf ihn zurück—
kommt. Wir wüßten nur eine Romanze: „Una: Bleich flimmert
in ſtürmender Nacht“ zu nennen, in welcher die urſprüngliche
Romanzenform beſtimmt ausgeprägt feſtgehalten wird. Schon in
„Robert und Käthe“ wird der Romanzenton unterbrochen, und ſie
leitet zu jener Form hinüber, welche Zumſteeg mit großem Fleiße
und unter dem ungetheilten Beifall ſeiner Zeitgenoſſen ausbildete.
Er folgt der ſtetig fortſchreitenden Handlung in dem Beſtreben, mit
einem großen Aufwande von Mitteln ſie auch muſikaliſch darzu⸗
ſtellen und zu entwickeln. Es iſt das unleugbar der richtige Stand—
punkt, und daß Zumſteeg dennoch den rechten Balladenton nicht
fand, verſchuldet nur der Mangel eines wirklich ſelbſtſchöpferiſchen
Funkens. Die muſikaliſche Behandlung der Ballade muß die Hand—
lung und die einzelnen Charaktere entſchieden berückſichtigen, aber
dieſe darf ihre urſprüngliche Bedeutung als epiſch-lyriſches Gedicht
nicht verlieren; ſie darf dabei den Romanzencharakter nicht aufgeben,
ſie muß ihn vielmehr zum Balladenton umwandeln. Der Ballade
von Zumſteeg fehlt jener einheitliche Zug, welchen das alte Volks-
lied im Refrain herzuſtellen weiß, und den Löwe dadurch erreichte,
daß er eine beſtimmte, mehr rhetoriſche Geſangsphraſe erfindet, die
er mit den, nur durch die weitere Entwicklung gebotenen Modifi⸗
cationen durchweg feſthält und nach ihr die Bedeutſamkeit und Aus⸗
führung der einzelnen lyriſchen Partien beſtimmt.
Die Ausführung der einzelnen Details der Ballade iſt bei
Zumſteeg meiſt ſehr handgreiflich. Der Ton der Erzählung iſt
dem Parlando⸗Geſang der Cantate nachgebildet und modificiert ſich
überall nach der beſondern Situation. „Ritter Toggenburg“ z. B.
beginnt mit einem mehr arien- als romanzenhaften Erguß der
Reißmann, deutſches Lied. 16
Stimmung der Geliebten des Ritters und dann erſt kommt der
Componiſt in den eigentlichen Erzählerton. Dieſer aber wechſelt
mit jeder neuen Vorſtellung, die im Erzähler aufſteigt, mit jeder
neuen Situation, in welche die Handlung tritt. Daß ſich der Ritter
„blutend losreißt,“ daß er die Geliebte „ſtürmiſch in die Arme preßt,“
„ſich auf ſein Roß ſchwingt und zu ſeinen Mannen im Schweizer
Lande ſchickt, um mit ihnen, das Kreuz auf der Bruſt nach dem
heilgen Lande zu wallen,“ wird uns auch in der declamierenden
Melodie ziemlich draſtiſch vor Augen geführt. In einer beſtimmt
ausgeprägten Marſchmelodie erfahren wir dann, daß „durch der
Helden Arm große Thaten geſchehen;“ „daß des Toggenburgers
Name den Muſelmann ſchreckt, doch das Herz von ſeinem Grame nicht
geneſen kann,“ erforderte wieder eine Modification des Marſches
und des dadurch bedingten Erzählertons, und in dieſer auch durch
die Melodie die Handlung bis in das Kleinſte verfolgenden Weiſe
geht es weiter, bis der Componiſt wieder den einfachen urſprüng—
lichen Romanzenton gefunden hat. Die letzten fünf Strophen behan—
delt er ganz in dem volksthümlichen Romanzenſtyl. Die eine Weiſe
der erſten dieſer fünf Strophen gilt für alle übrigen.
In andern größeren Balladen, wie in: „Die Büßende,“
namentlich aber in: „Des Pfarrers Tochter von Taubenhayn“
wechſelt ſogar häufig die eigentlich dramatiſche Entfaltung der Hand—
lung mit einer mehr romanzenhaften Darſtellung derſelben, und
wenn dies auch meiſt nur in Folge einer feinſinnigen Erkenntniß
und Auffaſſung der beſtimmten Situation geſchieht, ſo fehlt doch
die eigentliche Verſchmelzung der mehr dramatiſchen Ausführung
mit dem Romanzencharakter, aus welcher heraus nur die eigentliche
Balladenmelodie hervortreiben konnte. Innerhalb der Romanze
ſelbſt mußte jene dramatiſche Entfaltung der Handlung vorgehen;
es mußte eine Romanzenmelodie gefunden werden, die den Grund—
charakter der Ballade entſchieden ausſpricht und zugleich der Aus—
breitung der Handlung leicht zu folgen im Stande iſt. Dieſe
fand Zumſteeg nicht. Er war ein weit weniger ſchöpferiſches,
als mehr geiſtvoll combinierendes Talent und einem ſolchen war die
Erfindung dieſer neuen Weiſe nicht beſchieden.
Daher konnten ſie auch die beiden Berliner Meiſter,
Friedrich Reichardt und C. F. Zelter, die gleichfalls darnach
ſuchten, nicht finden. Beide nahmen ja ſelbſt dem Liede gegenüber
— 243 —
nur den praktiſch verſtändigen Standpunkt ein, der ſie nicht viel
über eine klangvolle Notierung der Sprachaccente hinauskommen
ließ. Dem entſprechend bilden fie auch für die epiſch-lyriſche
Dichtung nur die volksthümliche Romanzenweiſe weiter aus. Weder
für Reichardt noch für Zelter hat die Handlung ein beſonderes
Intereſſe. Sie erfinden für die erſte Strophe eine Melodie und
dieſe erleidet für die übrigen Strophen höchſtens eine, durch die
veränderte Declamation bedingte, an ſich unweſentliche Modification.
Nur Reichardt verſucht hin und wieder ein ſpecielleres
Herausbilden einzelner Züge, wie in ſeinem „Alpenjäger;“ allein
in dieſer Vereinzelung erſcheint es faſt weniger gerechtfertigt als
die Weiſe Zelter's, der ſelbſt eine fo geſtaltenreiche Ballade, wie
die von Göthe: „Der Todtentanz“ ganz wie eine Romanze behan—
delt. Beide Meiſter halten zu einſeitig nur die Anſchauung feſt,
daß die Ballade geſungen werden müſſe. Ihr Beſtreben iſt deshalb
nur darauf gerichtet, eine ſangbare Melodie zu finden, die zu gleicher
Zeit dem rhetoriſchen Charakter der ganzen Gattung entſpricht.
Namentlich den Romanzen Schiller's gegenüber iſt dieſer Stand—
punkt wol auch der einzig richtige. Der Stoff, das Factiſche iſt
ihnen durchaus Nebenſache; das wahre Intereſſe beruht mehr auf
ihrem ſittlichen Gehalt und deſſen äſthetiſcher Belebung. Die Muſe
Schiller's hat den Stoffen all' das der Muſik Zugängliche
abgeſtreift, und ſie in die Sphäre der Gedankenideale erhoben,
wohin die Muſik nicht zu folgen vermag.
Mit dieſer einſeitigen Auffaſſung konnten jene Meiſter zwar
die entſprechende muſikaliſche Behandlung der Ballade nicht finden,
aber ſie bezeichneten doch den Weg, der darauf hinführte, viel
präciſer als Zumſteeg. Der mehr rhetoriſche Vortragston und
das ſangbare Rondo der Romanze treten nicht mehr, wie bei Zum—
ſteeg, nur neben einander, ſondern ſie durchdringen ſich jetzt ſchon
ſo, daß aus der Zelter-Reichardt'ſchen Romanze ſich von
ſelbſt jene Balladenmelodie ablöſte, welche bei der tiefeingehendſten
Charakteriſtik der einzelnen Momente der Handlung doch die Grund—
ſtimmung fortwährend anklingend erhält.
Einen noch bedeutſameren Schritt weiter auf dieſer Bahn geht
Franz Schubert. Er behandelt die Romanze zwar ganz lied—
mäßig, aber er bildet ihr zugleich ein Element an, welches ihr bei
Zumſteeg ebenſo, wie bei Reichardt und Zeiter fehlt: jenen
16 *
er
Zug warmen pulfierenden Lebens, der die Göthe'ſche Ballade
durchdringt, jene Schauer des Geiſtes, die er, erfüllt von dunklen
Seelenregungen, von Furcht und Wolbehagen, gegenüber der ihm
fremd und geheimnißvoll dämoniſch entgegentretenden Natur empfin⸗
det und die wir als charakteriſtiſches Merkmal der Ballade erkannten.
Außer den früher genannten iſt es namentlich Göthe's: „König
in Thule,“ welche dies neue Element in beſtimmteſter Faſſung zeigt.
Auch jener Zumſteeg' ſchen Auffaſſung des lyriſch-epiſchen
Gedichts wendet ſich Schubert zu, und er weiß durch einen unend—
lich größern Reichthum von Darſtellungsmitteln und durch ein viel
feineres und doch gewaltigeres Herausbilden der einzelnen Momente
die Schwäche der Form zu überdecken, ohne dieſe ſelbſt zu beſei—
tigen. |
Eine große Anzahl feiner Lieder drängten ihn ſchon, wollte er
den lyriſchen Inhalt vollſtändig erſchöpfen, zu faſt epiſcher Aus⸗
breitung. Er bringt nicht nur durch Situationsmalerei die lyriſche
Empfindung in Beziehung zur Außenwelt, und verbindet einzelne,
wie in ſeinen Liedercyklen, unter einander zum ganzen Lebenszuge,
ſondern er weitet einige ſo vollſtändig aus, daß ſie einen faſt
epiſchen Verlauf nehmen. „Der Kampf“ und die „Gruppe aus
dem Tartarus“ von Schiller, vor allem aber: „Oſſians Geſänge“
ſind im Grunde lyriſche Ergüſſe, aber das ihnen zu Grunde
liegende gewaltige Factum ragt ſo bedeutend in die Darſtellung
hinein, daß ſie weit aus dem engen Rahmen des Liedes heraus
gedrängt werden.
Namentlich dürften „Oſſiaus Geſänge“ dieſe Auffaſſung voll—
ſtändig rechtfertigen. Die ganze verklungene Herrlichkeit ſeiner
Vorfahren beſchwört der greiſe blinde Dichter in ſeiner Phantaſie
in einzelnen Bildern wieder herauf. Die Nacht bevölkert er mit
den Gebilden ſeiner Phantaſie. Ihre Nebel werden ihm zu Helden—
geſtalten und in dem Spielen des Windes mit der Klette hört er
den leichten Tritt eines Geiſtes. Loda's Geſpenſt erſcheint und
Shilric und Vinvela träumen noch einmal den Traum ihrer Liebe.
So drängt ſich Bild auf Bild, aber keines derſelben iſt objektiv
feſter gefaßt, und alle ſind nur durch die Grundſtimmung des
Dichters, aus der ſie hervortreiben, unter einander verbunden.
Daher findet auch jene rhapſodiſche Weiſe der muſikaliſchen Behand—
lung des epiſch-lyriſchen Gedichts, die Zumſteeg anregte, einzig
künſtleriſche Anwendung, und wir haben wol nicht weiter noth—
wendig näher zu erörtern, um wie viel bedeutſamer Schubert
dieſe Form faßt, als Zumſteeg; wie er überall nur aus dem
Innerſten des Dichters heraus ſchafft, wo ſich Zumſteeg nur
äußerlich dieſem anbequemt, und wie Schubert das Gedicht für
alle Zeiten muſikaliſch wiederdichtet, während Zumſteeg ihm nur
ein, der Mode unterworfenes muſikaliſches Gewand umhängen
konnte.
Doch vermochte auch Schubert den letzten Schritt zur voll—
ſtändigen Ausbildung der Balladenform nicht zu thun. Er überſah,
daß ihm der „Erlkönig,“ „Der Sänger,“ „Der Taucher“ wie
„Die Bürgſchaft“ nicht nur einzelne Bilder, ſondern eine wirklich
fortlaufende, ſtetig ſich ausbreitende Erzählung entgegenbrachten,
und daß die einzelnen Bilder unter ſich dadurch in Zuſammenhang
geſetzt werden. Er meißelt dieſe einzelnen Bilder ſo meiſterhaft
heraus und hebt die lyriſchen Momente mit ſo ergreifender Wahr—
heit hervor, daß er hierin wol nimmer zu übertreffen ſein dürfte;
aber für die eigentliche epiſche Erzählung findet er eben ſo wenig
den rechten Ton, wie Zumſteeg, Reichardt oder Zelter, ſo
daß die Muſik nicht ſelten den einfachen und natürlichen Gang der
Erzählung aufhält und ſchließlich langweilt. Noch der „Erlkönig“
läßt eine ſolche Behandlung weniger unangemeſſen erſcheinen, weil
er mit den „Geſängen Oſſian's“ ſehr nahe verwandt iſt; die
Gewalt des Dämoniſchen, die in der Behandlung von Schubert
liegt, läßt das fehlende Element weniger vermiſſen. Daß aber
auch dieſe Ballade mit einem weit geringeren Aufwande von Mitteln
und vielleicht noch ergreifender in der ſchon näher bezeichneten neuen
Balladenform zu behandeln iſt, bewies
Johaun Carl Gottfried Löwe, der Schöpfer des eigent—
lichen muſikaliſchen Balladenſtyls. Er iſt am 30. November 1796
in Löbejün in der preußiſchen Provinz Sachſen geboren. Seinen
erſten Unterricht erhielt er von ſeinem Vater, dem Cantor ſeines
Geburtsſtädtchens, und unter deſſen Leitung entwickelte fi) das
Talent des Knaben frühzeitig. Im zehnten Jahre gieng er nach
Köthen, um die dortige Schule zu beſuchen, und bezog, nachdem er
hier die oberſte Klaſſe erreicht hatte, das Gymnaſium des Waiſen⸗
hauſes in Halle. Hier wurde er an den ſeiner Zeit hochberühmten
Univerſitäts⸗Muſikdirector Türk gewieſen und dieſer nahm ſich
des Knaben, überraſcht von feinem wunderbaren Talent, ernſtlich
an. Er unterrichtete ihn nicht nur im Geſange und in der Theorie,
ſondern zog ihn auch in die engern Zirkel feiner praktiſchen Thätig⸗
keit, und nahm ihn ſchließlich, nachdem die Regierung dem hoff—
nungsvollen Knaben eine bedeutende Unterſtützung zugeſagt hatte,
in ſein Haus auf. Durch den 1813 erfolgten Tod Türk's wurde
Löwe wieder veranlaßt, nach dem Gymnaſium zurückzugehen und
hier trieb er wieder ſeine wiſſenſchaftlichen Studien ſo fleißig, daß
er 1817 die Univerſität beziehen konnte, um ſich dem Studium der
Theologie zu widmen. Daneben beſchäftigte er ſich eifrig mit Muſik
und die Balladen: „Treuröschen,“ „Wallhaide,“ „Erlkönig“ und
andere ſtammen aus dieſer Zeit. Nach Beendigung ſeiner Studien
lebte er eine Zeitlang in Dresden oder auf kleinern Reiſen und
folgte dann, indem er ſeine theologiſche Laufbahn aufgab, einem
Rufe nach Stettin als Cantor an St. Jacob und Lehrer am Gym—
naſium. Ein Jahr darauf wurde er ſchon zum Muſikdirector
ernannt und zugleich mit der Leitung des Muſikunterrichts am
Stettiner Schullehrer-Seminar betraut, und in dieſen Stellungen
iſt er jetzt noch unausgeſetzt thätig. Außer ſeinen Balladen, auf
denen ſeine kunſtgeſchichtliche Bedeutung ruht, ſchrieb er mehrere
Oratorien, darunter die beiden erwähnten für Männerchor, Opern,
Symfonien; viele Werke für Clavier und für Kammermuſik und
Lieder für eine Singſtimme und Chorlieder.
Es iſt gewiß eine ebenſo intereſſante als wunderbare Erſchei—
ſcheinung, daß faſt zu derſelben Zeit, in welcher ein Jüngling im
Süden Deutſchlands an den unvergänglichen Werken der größten
Meiſter ſeine Phantaſie und ſein Gemüth entzündet und inſtinktiv
die rechte Form des lyriſchen Liedes findet, im Herzen Deutſch—
lands ein anderer Jünger der Kunſt auf demſelben Wege zu dem
rechten Balladenton gelangt. Denn eben ſo wenig wie Schubert
durch den Unterricht ſeiner Lehrer für ſeine Miſſion direct vor—
bereitet wurde, eben ſo wenig war wol die Unterweiſung Türk's
geeignet, in Löwe den rechten Balladenton zu wecken. Dieſer war
wol überhaupt auch auf dem Wege der Reflexion noch weniger zu
finden, als das lyriſche Lied. Jener epiſche Erzählerton, den
Löwe fand, konnte ſich nur als gewiſſermaßen geiſtiger Nieder—
ſchlag einer Summe von, in practiſcher Kunſtübung gewonnener
Erfahrung in dem Gemüth abſetzen, alſo daß er dann inſtinctiv
— 247 —
gefunden auch unbewußt naiv in die Erſcheinung treten konnte.
Es gehörte dazu weder eine große Meiſterſchaft in Beherrſchung des
Materials, noch auch eine ſehr feinſinnige Erkenntniß deſſelben und
zu beiden iſt auch unſer Balladenmeiſter wol nie gelangt. Von
ſeinen zahlreichen andern Werken haben nur wenige noch dauernde
Anerkennung gefunden, und auch ſeine Balladen haben gegenwärtig
meiſt deshalb ein allgemeineres Intereſſe, das ſie doch in ſo hohem
Grade beanſpruchen, ſchon eingebüßt, weil ſie nicht in allen ihren
Einzelheiten gleich vollendet ſind; weil nicht ſelten der ungetrübte
Genuß wunderbarer Schönheiten durch Trivialitäten und Gemein—
plätze verkümmert wird. Neben Unvergänglichem und für alle Zeit
Muſtergiltigem ſteht auch in den meiſten ſeiner Balladen Vergäng—
liches, der Zeit und Mode Angehöriges, und das iſt's wol zu
allermeiſt, was das Intereſſe an dieſen Werken erkalten ließ. Aber
ſelbſt wenn ſie, was wol nicht zu fürchten iſt, dadurch dem Unter—
gange verfallen wären, das große Verdienſt, die Balladenform
geſchaffen zu haben, wird die Kunſtgeſchichte verzeichnen und den
Meiſter einreihen in die Zahl der wirklich neu ſchaffenden Künſtler.
Denn die Ballade von Löwe iſt eine wirklich neue Schöpfung.
Das Volkslied und nach ſeinem Muſter Reichardt und Zelter
berückſichtigen die Handlung wenig oder gar nicht und Zumſteeg
und Schubert verlieren in dem Streben auch dieſe muſikaliſch
zu entwickeln, den einheitlichen Ton der Erzählung. Erſt Löwe
vereinigte beides, und zwar in ſo einfach natürlicher Weiſe, daß
man kaum begreift, wie Schubert vergeblich darnach ſuchen
konnte. Löwe faßt nur jenen mehr volksmäßigen Romanzenton,
der in der volksthümlichen Form zu einem ganzen Versgebäude
ausgeweitet iſt, in eine, höchſtens zwei Zeilen zuſammen, und
gewinnt dadurch den wirklich entſprechenden Ton für die ſich epiſch
ausbreitende Erzählung. Dieſe mehr rhetoriſche, aber vollſtändig
in ſich abgeſchloſſene Geſangsphraſe bildet den Grundton, der nach
dem Verlauf der Handlung ſowol melodiſch, wie harmoniſch und
rhythmiſch modificiert, die Bedeutſamkeit wie die Ausführung der
einzeln heraustretenden Partien beſtimmt, und wie der Refrain im
Volksliede, oder bezeichnender noch, wie der Grundton der Sprach—
melodie die Erzählung, ſo hier die ganze Ballade durchzieht.
Dabei eröffnet dieſe Behandlungsweiſe der Clavierbegleitung den
weiten Spielraum, den fie für dieſe Form beanſprucht. Für die
= BR
Romanze iſt, ihrer nähern Verwandtſchaft mit dem Liede wegen,
der vocale Ausdruck meiſt noch hinreichend; die Clavierbegleitung
dient daher mehr nur zu ſeiner Unterſtützung. Der Rhapſodie wie
der eigentlichen Ballade gilt die Darſtellung des Factums als
Hauptziel, und dies auch muſikaliſch zu erreichen, iſt die inſtrumen—
tale Begleitung vielmehr geeignet, als das Vocale. Die Clavier—
begleitung gewinnt daher ſchon bei Zum ſteeg größere Bedeutung;
allein erſt nachdem der vocale Ausdruck durch Löwe feſte Balladen⸗
form erhalten hat, vermochte auch die Clavierbegleitung mit all'
ihren Mitteln an der Darſtellung der factiſchen Grundlage der
Ballade ſich zu betheiligen.
Das ſind die Principien der neuen Form und überall, wo
Löwe nur ſie zu den leitenden ſeines künſtleriſchen Schaffens macht,
erreicht er die bedeutendſten Erfolge. Wir nennen hier nament⸗
lich die Balladen von Göthe, Uhland und die nordiſchen von
Herder.
Die einfache metriſche Form der Balladen von Uhland in
ihrer mehr rhapſodiſchen Geſtaltung fügte ſich dieſer Behandlungs—
weiſe am Leichteſten. Das ſtrophiſche Versgefüge iſt ſo überſichtlich
und einfach, daß es auch in dieſer neuen erweiterten muſikaliſchen
Darſtellung meiſt noch ausgeprägt erhalten werden kann, und weil
faſt jede Zeile zugleich einen Gedanken abſchließt, ſo iſt es nicht
Ing, jene rhetoriſche Geſangsphraſe zu finden, die ſich jeder
einzelnen Zeile eng anſchließt und nach dem veränderten Inhalt
derſelben modificieren läßt. Die Muſik zu: „Der Wirthin Töchter⸗
lein“ beruht nur auf der, zur erſten Zeile erfundenen Melodie und
ihrer, im Geiſte der ganzen Erzählung gehaltenen Clavierbegleitung;
nur da, wo uns die tragiſche Scene näher rückt und ſich in einem
echt dramatiſchen Dialog entwickelt, treten fremde Elemente hinzu,
die aber immer auf jene urſprüngliche Melodie zurückweiſen und
zurückkehren.
Faſt noch einfacher in der Conception und überſichtlicher in der
Ausführung iſt „Der Abſchied: Was klinget und ſinget die
Straßen herauf“ und doch in welchem Bilderreichthum entwickelt
ſich das Ganze. Der Meiſter reſpectiert den ſtrophiſchen Bau ſo
vollſtändig, wie nur im einfachſten Liede. Auch hier iſt die Muſik
der erſten Zeile die Grundlage des Ganzen, des Vocalen wie des
Inſtrumentalen; allein um das Versgebäude herauszubilden, erhält
8
ſie immer einen Gegenſatz, ſo daß aus Strophe und Antiſtrophe
ſich ein Versgefüge bildet, und in der feinſinnigen Weiſe, wie er
die Antiſtrophe verändert, erwachſen ihm die Mittel für die feinſte
Charakteriſtik.
Jeder einzelne Zug des reizenden Bildes wird uns zu eignem
Erleben nahe gerückt, und doch tritt keiner aus dem beſchränkten
Rahmen heraus. Sang und Klang der das Geleit gebenden
frohen Schaar bilden den Grundton, der ſelbſt ſchon durch die
eingewebten und beſtimmt heraustretenden Figuren und Bildchen
modificiert wird. Aus weiter Ferne naht die jauchzende Schaar,
und immer lauter wird Sang und Klang, bis ſie faſt verſtummen,
als die Erzählung des Burſchen gedenkt, der ſtill und bleich in ihrer
Mitte geht; aber bald erhebt ſich der Jubel wieder zu größerem
Uebermuth geſteigert, bis die luſtige Schaar an das allerletzte Haus
gelangt iſt, in dem ein Mädchen ſtill weinet und zu dem der bleiche
ſcheidende Burſch die Augen aufſchlägt, um ſie in tiefem Schmerz,
die Hand aufs Herz gelegt, wieder zu ſenken. Auf kurze Zeit
zurückgedrängt erhebt ſich der übermüthige Jubel der Geleitenden
von Neuem und verſtummt wieder vor den tiefen Schmerzen des
ſcheidenden Jünglings, und nochmals ausbrechend wird er dann
von der wehmüthigen Klage des weinenden Mädcheus zurück—
gedrängt und klingt bald nur wie aus weiter Ferne noch herein.
Ihnen nächſtverwandt ſind die nordiſchen Balladen, die dieſen
Namen erſt verdienen, weil „ſie den Naturgeiſt, der ſich in der
Mythe entfaltet, zur Grundlage ihres Begriffs haben.“ Die elemen-
tariſchen Mächte der Natur, die ſich zu Elfen, Nixen und Kobolden
verkörpern, das Wunderbare und Dämoniſche bildet einen weſent—
lichen Beſtandtheil dieſer Balladen, und das iſt das rechte Darſtel—
lungsobjekt für die Inſtrumentalmuſik, weshalb die Clavierbegleitung
jetzt zu viel größerer Bedeutung gelangt, als in jenen. Hiermit
geht allmälig die architectoniſche Geſchloſſenheit der Form verloren
und weicht einer nur mehr ſymmetriſchen Anordnung.
Dies iſt ſchon bei der däniſchen Ballade „Elvershöh“ der
Fall. Die muſikaliſche Behandlung läßt eine ganz beſtimmte, im
Großen ausgeführte Gliederung erkennen. Die erſten zwei Strophen
bilden gewiſſermaßen den Prolog, und dann erſt beginnt die eigent-
liche Ballade, die ſich wiederum in zwei, ganz beſtimmt gegen
einander abgegrenzte Theile ſcheidet. Ein dem Prolog entſprechen—
— 250 —
der Epilog ſchließt dann das Ganze. Im übrigen bietet die
Behandlung nichts abweichend Bemerkenswerthes. Nur die Clavier—
begleitung wird reicher in dem Beſtreben, den Tanz und das
geſchäftige, dem Menſchen nicht immer freundliche Treiben der
Elfen darzuſtellen. Noch mehr gilt dies von der Ballade: „Herr
Oluf.“ Zum Verſtändniß der eigenthümlichen Clavierbegleitung
fügt der Componiſt die Notiz bei: „Wer mit den Elfen tanzte,
wurde von einer ſolchen Luſt ergriffen, daß er nicht eher aufhörte
zu tanzen, bis er todt darniederfiel.“ Es hätte ihrer kaum bedurft,
um die Intention des Componiſten zu errathen. Die Clavier—
begleitung führt als Vor- und Zwiſchenſpiel und zur Begleitung
des Geſanges einen luftigen und beſtrickenden Reigen aus, der
kaum eine andere Deutung zuläßt, nur zeitweiſe unterbrochen durch
die Schauer und Schrecken in Herrn Oluf's Gemüth, und durch
die kräftigern Accente der Erzählung. Im Geſang wechſelt jener
einförmige Balladenton mit dem echt charakteriſtiſch dramatiſch gehal—
tenen Dialog ab, und nachdem der ganze Spuk zerſtoben iſt, ſchlägt
auch die Erzählung einen andern Ton an. Die Wechſelreden der
Mutter mit Oluf erheben ſich wieder zu dramatiſcher Lebendigkeit,
ebenſo wie der Schluß, der, ganz der Situation entſprechend, ein
wunderbares Gemiſch von feſtlicher und ergreifend tragiſcher Stim—
mung zeigt.
In der Darſtellung des Gegenſatzes „zwiſchen dem freien
Bewußtſein und der überwältigenden Phautaſie, wie des Ueber—
ganges von einer gewiſſen Luſt, die den Beginn jedes Schauers,
der allmälig an uns herankommt, zu begleiten pflegt, zum endlichen
Gipfel der Angſt, von den ſüßen Verheißungen der Elfen zu ihren
erſtickenden Drohungen“ — beruht ein großer Theil der Meiſter—
ſchaft Löwe''s in Behandlung der Ballade. Ein noch ſchlagen—
deres Beiſpiel als jene beiden Balladen liefert „Der Erlkönig“
von Göthe.
Die bewegenden Momente dieſes Gedichts ſind, nach Echter—
meyer (deſſen erſchöpfender, ſeiner in den ſpätern Auflagen von
Robert Heinrich Hiecke verbeſſerten und vermehrten Auswahl
deutſcher Gedichte [Halle, Verlag der Buchhandlung des Waiſen—
hauſes] vorgedruckten Abhandlung über: „Unſre Balladen- und
Romanzen-Poeſie“ wir mehrfach hier benutzen konnten), das noch
unentwickelte Bewußtſein des Kindes, welches der durch die Nacht
— 251 —
und ihre Phantasmagorien aufgeregten Einbildung erliegt und die
klare Erkenntniß des Vaters, die ſich gegen den Trug behauptet,
durch die zunehmende Angſt und den Tod des Kindes zuletzt aber
ſelbſt mit in das Grauſen hineingezogen wird.
Der durchaus dramatiſch gehaltene Dialog zwiſchen dem Vater
und zwiſchen dem Erlkönig mit dem Kinde find demnach die Haupt-
momente für die muſikaliſche Behandlung und hieraus ſchon ergiebt
ſich, wie wenig jene romanzenhafte Behandlung, die dies Gedicht
durch Friedrich Reichardt erfuhr, gerechtfertigt erſcheint. Allein
auch die Weiſe, welche wir äſthetiſch wie hiſtoriſch begründet fan—
den, war hier nicht durchaus anwendbar. Das ganze Ereigniß
entwickelt ſich eben vorwiegend dramatiſch und für jene epiſche, rheto—
riſche Melodie der Erzählung war wenig Raum. Daher nähert
ſich auch die muſikaliſche Behandlung dieſer Ballade, die ſie durch
Löwe erfuhr, mehr als jede andere, wenn auch nur äußerlich,
der Schubert'ſchen. Allein beide find doch auch wieder weſent—
lich unterſchieden. Löwe weiß zunächſt einen einheitlichen Balladen—
ton durch die Clavierbegleitung herzuſtellen. Bei ihm wie bei
Schubert verſucht dieſe die Darſtellung des dämoniſchen Grund—
tons, der durch das Ganze hindurchklingt — daß Schubert nur
den Hufſchlag des daher brauſenden Pferdes habe darſtellen wollen, iſt
wol eine Annahme, mit der man ſich ſelbſt am Dichter verſündigt —
aber bei Schubert wird er überall, wo er dem dramatiſch heraus—
tretenden Detail nachgeht, vollſtändig aufgehoben, während ihm
Löwe nur die einzelnen Figuren ſo einwebt, daß ſie ſich von ſei—
nem nirgends ganz verwiſchten Untergrunde immer deutlich abheben.
Dabei klingt durch jede einzelne melodiſche Phraſe von Löwe's
„Erlkönig“ jener eigenthümliche Balladenton hindurch, den zu
finden er berufen war; jede einzelne iſt in ſich ganz feſt abge—
ſchloſſen und ſpricht ſich in ſolcher Beſtimmtheit aus, daß ſie wol
nach der Situation ſich verändern, aber nicht eigentlich ſteigern
ließen. Erlkönig, Vater und Kind ſingen jeder ſeine eigene, aber
immer dieſelbe Weiſe, nur nach der um Weniges veränderten
Situation modificiert und wie mächtig ergreifend wird der ganze
Dialog. Die Melodien Schubert's zu ſeinem „Erlkönig“ ſind
alle mehr lyriſch empfunden und ſtreben nach einem in ſich geſchloſ—
ſenen feſt ausgebildeten ſtrophiſchen Versgefüge. Daher ſind bei ihm
Erzählung und Dialog und die beſondere Ausdrucksweiſe der han—
— 22 —
delnden Perſonen nicht jo charakteriſtiſch unterſchieden wie bei
Löwe; er muß, um den Ausdruck zu ſteigern, zu den äußern
Mitteln der Transpoſition greifen, und um die dramatiſche Wir—
kung zu erhöhen, jene, durch ſchneidende Diſſonanzen verſchärfte
Accente einführen, welche die einzelnen Gruppen aus dem Rahmen
des ganzen Bildes herausdrängen und ſo die Einheit deſſelben
ſtören. Der „Erlkönig“ von Schubert iſt vielmehr eine, über
ihren urſprünglichen Grenzen ziemlich gewaltſam erweiterte Romanze,
als eine Ballade.
Ein Muſter einfachſter und doch wunderbar ergreifender Geſtal—
tung iſt wieder die „Walpurgisnacht“ von W. Alexis. Der
Dialog zwiſchen Mutter und Kind, in welchem ſich die ganze
factiſche Grundlage der Ballade darſtellt, entfaltet ſich bis kurz vor
dem Schluß an einer einzigen Geſangsphraſe, die bei dem Kinde
meiſt in Moll, bei der Mutter vorwiegend in Dur auftritt, und
harmoniſch wie melodiſch, in bald höherer bald tieferer Lage der
Situation folgt. Dieſe wird zuſammenhängend durch die Clavier—
begleitung in einem reichbelebten Bilde dargeſtellt.
Wie vortrefflich dieſe ganze Weiſe der Behandlung namentlich
auch für die einheitliche muſikaliſche Geſtaltung derjenigen Balladen
iſt, die in Stimmung und Situation häufig wechſeln, beweiſt der
Meiſter in ſeiner vortrefflichen Behandlung der altſchottiſchen Ballade:
„Der Mutter Geiſt.“ Bis zu dem Beginn der eigentlichen Kata—
ſtrophe hält die Erzählung an jenem einfachſten Balladenton feſt,
ſo daß noch das ſtrophiſche Versgefüge ausgeprägt iſt, und es wird
keines Hinweiſes bedürfen, wie fein der Meiſter durch veränderte
Wendungen der Reimſchlüſſe auch hier zu charakteriſieren verſteht.
Als aber die eigentliche Scene uns näher rückt und gegenwärtig
wird, ändert ſich auch der Ton der Erzählung, er wird einförmiger
und düſterer, und die eigentliche Handlung wird in die Clavier
begleitung verlegt, die ganz naturgemäß dadurch wiederum din
Uebergewicht über den Geſang gewinnt, bis dieſer ſich eben ſo
gewaltig emporhebt, wie „das Gebein der Mutter aus dem Grab—
gewölbe.“ Geſang und Begleitung führen nun in immer geſteiger—
ter gegenſeitiger Einwirkung die Erzählung weiter, bis ſie zu jenem
dramatiſchen Dialog gelangt iſt, für deſſen Darſtellung der Meiſter
eine ſo große Befähigung bekundet und der ſich in der bereits
charakteriſierten Weiſe entfaltet.
— 253 —
Auch dem anwachſenden Bilder- und Geſtaltenreichthum gegen—
über verliert Löwe eigentlich nie ſeine meiſterlich geſtaltende Kraft,
mit der er eine Situation aus der andern entwickelt und die ver—
ſchiedenſten einheitlich zuſammenfaßt; nur die Sorgfalt in Auswahl
der Mittel geht mit dem wachſenden, nothwendiger werdenden
größern Aufwande derſelben verloren. N
In dem Beſtreben, bei der eingehendſten Charakteriſtik den
Zuſammenhang nicht zu verlieren, entſchlüpft dem Componiſten |
manche Trivialität; mancher Gemeinplatz muß eine entſtandene
Lücke ausfüllen, und wir wiederholen, nur hierin möchten wir, zur
Ehre des deutſchen Publikums, den Grund ſuchen, daß Löwe's
Name ſchon wie aus fernen Zeiten nur noch herüberklingt, daß nur
wenige unter uns noch wiſſen, wie er und vor allem ſeine Balladen
noch der unmittelbaren Gegenwart angehören. „Goldſchmids Töch—
terlein,“ „Die nächtliche Heerſchau,.“ „Die Braut von Corinth,“
„Mahadoeh,“ „Heinrich der Vogler,“ „Die Glocken zu Speier,“
„Jungfräulein Annika,“ „Der Mohrenfürſt“ und die große Zahl
der Legenden ſind vortrefflich in ihrer Anlage und die Ausführung
der meiſten einzelnen Bilder iſt von überraſchender Wahrheit, aber
ſie erfolgt nicht ſelten ohne bewußte Kritik und ſorgfältige Wahl
der Mittel. Selbſt anſcheinend ſpröde Stoffe, wie: „Der große
Chriſtoph,“ „Das Milchmädchen,“ „Des fremden Kindes heilger
Chriſt,“ „Landgraf Ludwig,“ „Der Graf von Habsburg,“ „Die
Einladung“ und die polniſchen Balladen weiß Löwe mit dem
ganzen Reichthum ſeiner volksthümlichen Melodik der muſikaliſchen
Behandlung gefügig zu machen, aber gerade hier verläßt ihn gar
oft ſein kritiſches Bewußtſein, und er hält für volksthümlich, was
doch nicht ſelten nur im beſten Sinne trivial iſt. „Der Blumen
Rache,“ „Die Reigerbaize“ und „Der Edelfalk“ können kaum
mehr, als durch ihre Formvollendung Intereſſe erregen; der Meiſter
iſt mit ihnen auf jenem Standpunkt angelangt, auf welchem die
Technik den mangelnden Inhalt verdecken muß.
In unverkürzter Größe kommt dagegen feine wunderbare Geſtal⸗
tungskraft in jenen Balladen zur Geltung, welche auch den Dichter
durch die Fülle der Ereigniſſe zu beſtimmter Abgrenzung der einzelnen
Züge in Abtheilungen nöthigten. Schon in dem, in Balladeuform
gehaltenen Liederkreis „Der Bergmann,“ mehr aber noch in „Eſther“
ſind die einzelnen lyriſchen Ergüſſe in ſo weiten Dimenſionen gefaßt,
— 254 —
daß fie wahrhaft epiſch ſich ausbreiten. Die epiſche Balladen—
melodie tritt hier an die Stelle der lyriſchen, und der Meiſter
operiert ganz ſo mit ihr, wie der Lyriker mit dieſer. Indem er ſie
nicht aphoriſtiſch, wie in der eigentlichen Ballade behandelt, ſondern
ſie zu wirklich feſten Gefügen in einander arbeitet wie der Lyriker,
erwachſen ihm formelle Gebilde wie dieſem, die ihren bedeutenderen
Inhalt ebenſo prägnant ausſprechen wie das Lied, aber in wahr-
haft epiſcher Breite.
Die Ballade „Gregor am Stein“ wird in dieſer Faſſung zu
einem wirklichen muſikaliſchen Epos. Mit einem ſeltenen Reichthum
von Farben und Geſtalten rollt der geniale Meiſter fünf Bilder
vor unſern Augen auf, die uns Zeit und Raum gewähren, uns in
ſie zu vertiefen, und die den ganzen tragiſchen Verlauf der Hand—
lung uns wie eigen Erlebtes nahe legen. Dieſe Form der Ballade
imponierte dem Meiſter, zu welchem wir uns jetzt wenden, ſo, daß
er ihrer Weiterentwicklung ſich mit allem Eifer zuwandte: Robert
Schumann, der letzte bedeutende Meiſter der Ballade pflegte in
ſeinen letzten Lebensjahren gerade dieſe Form mit aller Energie und
der genialen Kraft ſeines Geiſtes.
Mendelsſohn hat ſich nur in der Romanze verſucht, und
auch dieſe faßt er ſo durchaus volksthümlich ſangbar, daß er die
Darſtellung der factiſchen Grundlage derſelben durch die inſtrumen—
tale Begleitung ganz aufgiebt; er behandelt die drei Romanzen,
aus denen ſich die Heine 'ſche Tragödie: „Entflieh mit mir und
ſei mein Weib“ zuſammenſetzt, in Chorweiſe. Auch die „Wal—
purgisnacht“ wird man kaum unter die Balladen rechnen können,
obgleich ſie Mendelsſohn als ſolche bezeichnet. Das Gedicht
nach Göthe's eigenen Worten hochſymboliſch intentioniert behandelt
eine Epiſode aus jener phantaſtiſch belebten Welt, in welcher ſich
Mendelſohn's Genius mit beſonderer Vorliebe bewegt, die
er mit Elfen und Kobolden bevölkert, um ſie in die Erſcheinungs—
form der realen Welt zu erheben, und wie er in dieſe gern die
lebloſe Natur hineinzuziehen trachtet, um ihr die Bedingungen
wahrhaft leiblicher Exiſtenz zu geben, das beweiſen vor allem die
Ouverture, das Tenorſolo und der Frauenchor dieſes Werkes.
In jener wird der Uebergang vom Winter zum Frühling, von
den Launen des April zum ſonnenhellen Mai dargeſtellt; dieſer
lacht uns in dem Tenorſolo und dem Frauenchor entgegen, und
— 25 —
das wunderbar phantaſtiſche Spiel erreicht in dem Chor: „Kommt
mit Zacken, kommt mit Gabeln“ ſeinen Höhenpunkt. Wir möchten
dies ganze Werk eher ein „dramatiſches Fragment,“ nach Art der
Expoſitionsſcene, als eine Ballade nennen.
Schum aun erſt ſollte auch der Ballade wieder neue Elemente
zuführen. Seine eigne Individualität wie der Gang ſeiner Ent—
wicklung wieſen ihn direct auf dieſes Gebiet und ließen ihn bedeut—
ſame Erfolge erreichen. Wir erkannten es als den leitenden Grund—
zug ſeiner Individualität, daß er ſich gern durch äußere beſtimmte
Vorgänge anregen läßt, daß er ſie zum Darſtellungsobjekt ſeiner
Schöpfungen macht. Seine Inſtrumentalcompoſitionen baſieren auf
ſolchen Vorgängen, und in ſeinen Liedern zieht er, ſo weit dies
nur die lyriſche Stimmung zuläßt, Situation und äußere Umgebung
in die Darſtellung mit hinein. Damit hat er aber zugleich den
einzig möglichen Standpunkt für die Schöpfung der Ballade gewon⸗
nen. Auch ihr gilt die Darſtellung des, ihr zu Grunde liegenden
Factums als Hauptziel. Die beſondere Weiſe, in der ſich Schu—
mann zu jenen Vorgängen verhält, bedingt einzig und allein die,
von der Löwe 'ſchen abweichende Geſtaltung dieſer Form bei
Schumann. Als er auf die Ballade geführt wird, haben für
ihn jene äußern Vorgänge nur noch die Bedeutung der Anregung,
und er arbeitet ſie in ſeiner Phantaſie ſo vollſtändig um, daß ſie
ihre Beziehungen zur Außenwelt faſt vollſtändig verlieren. Daher
treten ſie auch in feinen Balladen nirgends mit der Abſichtlichkeit
auf, wie bei Löwe, und noch weniger ſo beſtimmt faßbar heraus—
gebildet, und es wird ihm leichter, die einzelnen Züge unter ſich
zu verbinden. Darin aber beruht der Hauptvorzug der Ballade
von Schumann, vor der von Löwe, daß ſie nirgend ſchwache
Stellen wahrnehmen läßt; daß ſie in einem Zuge ſich entwickelt
und immer aus demſelben edlen Material geformt iſt. Gemeinplätze
und Trivialitäten gab es in Schumann's Phantaſie, woher ſeine
Ballade einzig und allein ſtammt, nicht, und noch weniger konnten
ſie einen Platz in ſeinem eng geſchloſſenen Kunſtwerk finden. Von
dieſem Standpunkt aus iſt es erklärlich, daß er vorwiegend der
Romanzenform ſich zuneigt und der aus ihr heraustreibenden Bal—
ladenform, die wir bei Löwe zuletzt betrachteten. Der Romanze
gilt die Idee höher, als ihr Träger, das Factum, und für Schu—
mann hat gleichfalls der Vorgang nur Bedeutung, ſo weit ſich in
— Be
ihm eine Idee, der er muſikaliſch umbildend nachzugehen im Stande
iſt, ausſpricht. Freilich kann dieſer Vorgang bei ihm nie ſo in
den Hintergrund treten wie bisher, und ſo gewinnt die Romanze
eine weit reicher ausgeführte Geſtaltung als früher. Auch in der
engſten Faſſung verſucht die Clavierbegleitung jene factiſche Grund—
lage darzuſtellen, wie in den Romanzen in Heine's „Tragödie“
und der „Soldatenbraut“ in Op. 64. oder „Loreley“ in Op. 54.,
„Abends am Strand“ in Op. 45. und vor allem „Der arme
Peter“ aus Op. 53. Selbſt da, wo er ſie mehr volksthümlich
auffaßt, wie in den mehrſtimmigen Behandlungen Op. 69. und 91.
entbehrt er nicht gern die Clavierbegleitung. Er ſchließt ſich ziem-
lich eng an den Balladenſtyl Löwe's an, indem er auch für die
eigentliche Romanze ſelbſt die rhetoriſche Geſangsphraſe verwendet,
und faßt dieſe auch in ſeinen eigentlichen Balladen zu enger
geſchloſſenem Versgefüge zuſammen. So gewinnt er keinen eigent⸗
lich neuen Balladenſtyl, aber er bildet Romanze und Ballade ſo
in einander, daß in dem neuen, dadurch entſtehenden Kunſtwerk
der poetiſche Inhalt und die factiſche Grundlage gleich bedeutſam
zur Erſcheinung kommen. Daß er dieſe neue Weiſe zuerſt an
Geibel verſuchte, wurde bereits erwähnt. „Der Knabe mit dem
Wunderhorn,“ „Der Page“ und vor allem „Der Hidalgo“
(Op. 30.) ſind ſchon faſt balladenmäßig conſtruiert, nur die Melo⸗
dien haben noch durchaus liedmäßigen Gang. Das nächſte Heft
Op. 31. ſchon bringt drei Balladen: „Die Löwenbraut,“ „Die
Kartenlegerin“ und „Die rothe Hanne,“ von denen namentlich
die erſte breit angelegt und doch in raſcher Entwicklung und in die
einzelnen Details tief eingehend den ganzen Verlauf der Begebenheit
vorführt.
Zu den bedeutendſten Balladen gehört ferner: „Die beiden
Grenadiere“ aus Op. 49. Neben einer raſchen und energiſchen
Entwicklung zeichnet ſie eine große Ruhe aus, die der Meiſter nicht
immer in ſolchen Fällen zu bewahren im Stande iſt. Daſſelbe
gilt auch von „Blondels Lied“ deſſelben Hefts. In der Ballade:
„Belſatzar“ Op. 57. dagegen verliert der Meiſter über dem Detail
den Zuſammenhang, und weil er dennoch bei den einzelnen Zügen
nicht ſo eingehend verweilt wie Löwe, erreicht er keinen eigent⸗
lichen Totaleindruck. Die übrigen Balladen bieten nichts bemerkens—
werthes Abweichendes, und ſo hätten wir nur noch mit einigen
— 257 —
Worten jener Bearbeitungen einzelner Balladen zu gedenken, die
wir ſchon früher erwähuten. Einer eingehenderen Betrachtung
werden wir uns enthalten müſſen, weil ſie in dieſer neuen Form
eben ſo wenig mehr unter den Begriff Ballade fallen, als: „Die
Walpurgisnacht.“ Die Löwe'ſche Erweiterung zur muſikaliſchen
Epopöe läßt noch vollſtändig ſchon äußerlich, auch wenn um den
Eindruck zu erhöhen der Chorgeſang mit in die Darſtellung hinein—
gezogen wird, den Zuſammenhang mit dem Liede erkennen. Indem
aber Schumann die einzelnen Charaktere perſonificiert und ſie,
und gewiſſermaßen auch die Handlung dadurch ſinnlich in die
Erſcheinung treten läßt, verliert die Ballade allen Zuſammenhang
mit dem Liede; ſie tritt in den Kreis der epiſch-dramatiſchen
Formen, die außerhalb der Grenzen unſerer Aufgabe liegen. Nur
vermögen wir auch hier die ernſtlichſten Zweifel nicht zu unter—
drücken: ob es gerathen iſt, den gefeſteten Bau namentlich der
Uhland 'ſchen Ballade aus ihren Fugen zu treiben, und ob es
künſtleriſch gerechtfertigt erſcheint, ein epiſch-lyriſches Gedicht ohne
Weiteres wie ein epiſch-dramatiſches zu behandeln, oder für eine
derartige Behandlung umzuarbeiten. Die Schumann' ſchen Bear—
beitungen dürften wol kaum geeignet ſein, dieſe Zweifel zu heben;
trotzdem, oder vielleicht weil fie jo vortrefflich in einzelnen Par—
tien ſind.
Auch jene melodramatiſche Behandlung der Ballade, die Schu—
mann in Op. 122. verſucht, ſcheint uns künſtleriſch nicht gerecht—
fertigt. Die Muſik zum Melodrama iſt dem Gedicht immer mehr
nur äußerlich angehängt und daher nur im Drama verwendbar,
an Stellen, wo die Handlung äußerlich ſtill ſteht; wo ſich, wie in
der Kerkerſcene des „Fidelio“ hinter einem ganz gleichgültigen
Dialog mächtige Gefühlsſtrömungen verbergen, die dann die Muſik
zu enthüllen übernimmt. Eine ſolche Veranlaſſung bietet aber die
Ballade nie, und ſo haben jene Bearbeitungen auch nur die Bedeu⸗
tung von Experimenten, die unſer volles Intereſſe beanſpruchen,
ohne daß ſie als neue Formen der Nachahmung zu empfehlen ſind.
Reißmann, deutſches Lied. 17
— 258 —
Zweites Kapitel.
Einfluß des Liedes auf die übrigen Vocalformen.
Die große Bedeutung des Volksliedes für die geſammte hiſto—
riſche Entwicklung der Tonkunſt fanden wir darin, daß es dieſer
dasjenige Element zuführt, in welchem allein das thätige Motiv
aller geſchichtlichen Entwicklung liegt und welches dieſe Kunſt
erſt zur Kunſt der Innerlichkeit macht: die freie Entfaltung des
Subjekts.
Das Syſtem der Kirchentöne bot keinen Raum für den Erguß
einer individuellen Empfindung. Es erbaut ſich auf der diatoniſchen
Tonleiter in dem Beſtreben, einen, im Verhältniß zu dem poetiſchen
Darſtellungsobjekt rohen und mangelhaften Stoff zu erweitern und
zu vermehren, und ihm die erſte Bedingung künſtleriſcher Geſtal—
tung — Symmetrie — aufzunöthigen. Nachdem die Mehrſtimmig⸗
keit ſeit dem ſiebenten Jahrhundert von den päpſtlichen Sängern
als Schmuck der alten gregorianiſchen Hymnen geübt worden war,
bemächtigte ſich des ſo gewonnenen neuen Materials der ſpekulie⸗
rende Verſtand der in disciplinariſcher Zucht und Ertödtung der
Weltluſt lebenden Mönche, um es in ein beſtimmtes Syſtem zu
bringen. Ohne Rückſicht auf menſchliches Bedürfniß, nur um die
geheimnißvolle Pracht des katholiſchen Kultus zu erhöhen, tragen
ſie das Material zu einem ſtolzen, aber von der Menge unver—
ſtandenen Bau zuſammen. In klangreicher, aber geſtaltloſer Ton—
fülle tritt er dem Zuhörer entgegen, und weil die Spekulation ſtreng
an dem formalen Bande des typiſch conſtruierten gregorianiſchen
cantus choralis feſthält, erhebt ſich das großartige Gebäude in
typiſchen Formen, in denen der Geiſt der Kirche, nicht aber auch
das individuelle Volksgemüth austönen konnte. Als dies zu einem
üppig hervorquellenden Inhalt gelangt, durchbricht es die engen
Schranken des alten Syſtems und ſchafft ſich ein neues, unſer
modernes, das einfach aus Tonika und Dominant conſtruiert das
geſammte Tonmaterial nach den natürlichen Geſetzen der eignen
Wahlverwandtſchaft ordnet und Ton, Accord und Tonart in ſo
mannichfache Wechſelbezüge ſetzt, daß es das ganze Leben des Geiſtes
— 259 —
ſtetig entwickelt zu offenbaren vermag. Es erhebt jene andern
beiden Factoren des muſikaliſchen Kunſtwerks, den Rhythmus, der
im alten Syſtem wenig mehr als ein mechaniſches Mittel iſt,
Ordnung in die ſchwerfälligen harmoniſchen Maſſen zu bringen,
und die Melodie, welche den alten Contrapunktiſten im Eifer für
ihre contrapunktiſchen Arbeiten verloren gegangen war, zu wirklichen
Mächten des muſikaliſchen Ausdrucks.
Der Rhythmus der altkirchlichen Tonkunſt iſt nur Schätzung
der Töne nach ſehr complicierten Verhältniſſen. Er iſt mehr Bro-
duct äußerer als innerer Nothwendigkeit. Als zwei oder mehr ab—
weichend geführte Stimmen ſich einheitlich verbanden, wurde es
nöthig, die Dauer jedes einzelnen Tons beſtimmt zu fixieren, und
ſo beginnt faſt gleichzeitig mit der Ausbildung der Harmonik auch
die Feſtſtellung einer Menſuraltheorie. Einer Rhythmik in unſerm
Sinne war das alte Syſtem auch kaum bedürftig. Ihm galt als
Hauptbedingung die Tonart harmoniſch ſo glanz- und klangvoll,
als nur irgend möglich herauszubilden, und alles Uebrige, Tempo⸗
und Tactweſen, dienten dem gleichen Beſtreben. Ein eigentlich
rhythmiſches Princip fehlt ihm und daher verwickelte ſich die Men-
ſuraltheorie, die Theorie des Werthes der Noten und des Zeit—
maßes, derartig in Spitzfindigkeiten, daß es eines beſonderen
Studiums bedarf, um oft die einfachſten Stellen zu entziffern.
Auch hier ſollte das Volkslied erſt Licht verbreiten, indem es das
Weſen des Rhythmus darlegte. Die modernen Tonarten ſind keine
Typen und ſie bedürfen daher des Rhythmus nicht nur als einer
ordnenden, ſondern als einer wirklich beſeelenden Macht, die das
Kunſtwerk zu einem lebendig gegliederten Organismus herausbildet.
Hierzu gab das Volkslied den Anſtoß, indem es den Rhythmus ein—
fach aus Hebung und Senkung conſtruierte und zugleich den Künſt⸗
lern Anleitung giebt, mit Hülfe jener Menſuraltheorie eine Menge
charakteriſtiſcher Metra zuſammenzuſetzen und ſie noch mannich⸗
faltiger darzuſtellen.
Neben dieſer rhythmiſchen und harmoniſchen Umgeſtaltung,
welche das Volkslied bewirkte, lenkte es endlich auch die Aufmerk⸗
ſamkeit der Tonſetzer auf jene dritte Macht muſikaliſchen Aus—
drucks, der ſie bisher die geringſte Aufmerkſamkeit geſchenkt hatten:
die Melodie. Eine Melodie zu erfinden, daran hatte wol noch
keiner jener gelehrten Contrapunktiſten gedacht. Die Melodien des
477
m 0
altkirchlichen Geſanges, die gregorianiſchen Hymnen und ihre mehr
volksmäßige und von der Kirche ſanctionierte Umgeſtaltung, die
Proſen und Sequenzen mit dem Schmucke ihrer contrapunktiſchen
Kunſt auszuſtatten, darin ſahen ſie einzig und allein ihre Lebens—
aufgabe. Erſt nachdem an die Stelle jenes cantus choralis die
Volksmelodie getreten iſt, nachdem ſie von den Setzern fleißig
contrapunktiert werden, kommt jenes melodiſche Element entſchieden
zur Geltung und dieſe gefammte Geſtaltung wird von entſcheidendem
Einfluß auf die Weiterbildung des Vocalen überhaupt. Wie das
Volkslied auf den Boden proteſtantiſcher Lebensanſchauung verſetzt,
dort eine neue Form, den Choral, erzeugt, haben wir bereits
erörtert. Directen Einfluß gewinnt das Lied auch auf die Mo—
tette.
Schon früh, mit der ſteigenden Ausbildung der Mehrſtimmig—
keit, war dieſe Form neben dem Hymnus zu einer gewiſſen Selb—
ſtändigkeit gelangt. Wie dieſem liegt auch der Motette ein cantus
firmus zu Grunde, aber die Begleitungsſtimmen ſtreben in ihr nach
größerer Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit. Durch die Mehr-
ſtimmigkeit des Hymnus wird der Grundton des cantus firmus
nur klangvoller dargeſtellt; die Begleitungsſtimmen vereinigen ſich
mit dem cantus firmus, um dieſem eine majeſtätiſchere Haltung
zu geben. Die Begleitungsſtimmen der Motette dagegen umſchrei—
ben ihn ſchon in freier und ſelbſtändiger Führung. Beide For—
men werden gleichmäßig innerhalb der Kirche von den nächſten
Jahrhunderten weitergebildet und zwar in rechter Würdigung
ihrer eigentlichen Bedeutung. Im Hymnus ergießt ſich das, durch
das Bewußtſein des Göttlichen gehobene religiöſe Gefühl; der
Motette liegt meiſt ein bibliſcher Text zu Grunde, den die Beglei—
tungsſtimmen in freier Führung und je nach ihrem Vermögen ſchon
zu interpretieren verſuchen. Die proteſtantiſche Kirche nimmt beide
Formen in ihren Kultus herüber, aber indem ſie ſich auf dem
Grunde der neuen Anſchauung erheben, gelangen ſie zu höherer,
zu perſönlicher Wahrheit. Der Hymnus wird durch die Verſchmel—
zung mit dem Volksliede zum Choral umgeſtaltet, und die
Motette als die, dem Proteſtantismus entſprechendſte Form mit
großer Sorgfalt durch mehrere Jahrhunderte hindurch ausgebildet.
Wie der Proteſtantismus, ſo giebt auch die Motette dem Bibelwort
eine große Bedeutung.
— 261 —
J. Walther in ſeinem muſikaliſchen Lexikon leitet Motette
von möt — das Wort — eigentlich Bibelwort, Spruch — her,
und daß die deutſchen Componiſten ſie häufiger mit Mutette bezeich—
nen, dürfte auf dieſelbe Ableitung zurückzuführen ſein. Denn die
auf das Wort gerichtete Sorgfalt machte eine häufiger veränderte
Compoſitionsweiſe nothwendig und mutare, von dem Mutette offen-
bar herzuleiten iſt, heißt verändern. Für dieſe Form wird das
Lied ganz beſonders einflußreich. Zu erſter Blüte gelangt ſie in
jenen Meiſtern, welche die Volksweiſe häufig contrapunktieren, in
Ludwig Senfl, Melchior Frank, Leo Haßler, Benedict
Ducis und Orlan dus Laſſus, und durch fie werden ihr
Elemente zugeführt, die ihr früher fehlten. Wie bei jenen Bear-
beitungen der Volkslieder, entfalten ſich auch in der Motette jetzt
die Begleitungsſtimmen in mehr melodiſchem Fluße und melodiſcher
Abrundung, und die ſtrophiſche Gliederung der Volksweiſe macht
ſich ſchon in den Begleitungsſtimmen geltend. Das Begleitungs—
motiv wird, nach Anleitung jener Bearbeitungen, liedmäßig erfunden,
und dadurch erſt gewinnt die Motette individuell wahren Ausdruck.
Die Einführung von Tönen verſchiedener Dauer erfolgt nun nicht
mehr willkürlich oder durch die Harmonie bedingt, ſondern nach
rhythmiſchem Princip, um ein beſtimmtes Metrum darzuſtellen, ſo
daß ſich jetzt in den Begleitungsſtimmen ſchon jenes rhythmiſche
Element geltend macht, das nicht nur im Großen und Ganzen,
ſondern auch in kleinern Verhältniſſen gliedert und ebenmäßig
anordnet und das wir in beſtimmter Ausprägung nur im Volksliede
fanden.
In dieſer neuen Geſtalt nun fand auch dieſe Form den größten
Beifall, und ein Zeitgenoſſe von Orlandus Laſſus ſchreibt der
Motette dieſes Meiſters: „Schmecket und ſehet, wie freundlich der
Herr iſt“ in frommer Einfalt die Kraft zu, den Aufruhr der
Natur zu bewältigen, finſtre Wolken zu verſcheuchen und die Sonne
hervorzulocken.
Johannes Eccard, dem wol bedeutendſten Meiſter ſeiner
Zeit, iſt die neue Behandlung dieſer Form ſchon ſo geläufig
geworden, daß ihm die eigentliche Liedform darüber verloren geht;
daß er feine Lieder motettenhaft behandelt und feine Motetten Feſt—
lieder nennt. Aus dieſer gegenſeitigen Einwirkung von Lied und
Motette entwickelte ſich wiederum eine dritte Form, die allerdings
Ba 0
als geiſtliches Concert in Italien zuerſt gefunden wurde, aber in
Deutſchland, namentlich als Cantate, zu künſtleriſcher Ausbildung
gelangte. Auch jene Reform in Italien, durch welche das geſammte
Muſiktreiben eine Umgeſtaltung erfuhr, gieng vom Liedſtyl aus.
Man eiferte gegen die mehrſtimmige Behandlung und gegen das
Verfahren, aus einem mehrſtimmigen Kunſtwerk eine einzelne
Stimme nur ſingend vorzutragen und die andere als Begleitung
auf der Laute oder durch andere Inſtrumente auszuführen. Der
Einzelgeſang, ſo ſchloß man ganz richtig, verlangt eine eigenthüm—
liche Behandlung und eine durch ihn beherrſchte Begleitung. Dabei
wandte ſich der Eifer der Neuerer auch gegen den Geſang an ſich
indem ſie ihm nur ſo weit Berechtigung zugeſtehen wollten, als er
die Verſtändlichkeit des Worts zu erhöhen im Stande iſt, und in
dem Streben, ihre Principien ſofort auf das Kunſtwerk über zu tra—
gen, gelangt auch jene andere Geſangsweiſe, die recitativiſche, zu
beſonderer Pflege. — Hiermit aber waren die erſten Bedingungen
für die dramatiſche Muſik gewonnen und dieſe beginnt zunächſt in
Italien als muſikaliſches Drama und als geiſtliches Concert das
öffentliche Muſikleben und Muſiktreiben zu beherrſchen.
In Deutſchland mußten dieſe Formen um ſo eingehendere
Pflege finden, als der Gang, den die Entwicklung der Muſik hier
nimmt, ganz bewußt auf die jenen Formen zu Grunde liegende
Erkenntniß von der Nothwendigkeit der doppelten Stellung des
Geſanges als zum Recitativ geſteigerte Sprache und als plaſtiſch
herausgebildete klingende Tonformen hindrängte. Die Meiſter des
Liedes jener Periode: Johann Hermann Schein und An—
dreas Hammerſchmidt ſind es wiederum, welche die Form des
geiſtlichen Concerts in echt deutſcher Weiſe ausbilden. Michael
Prätorius und Heinrich Schütz, welche ſie in Deutſchland
einbürgerten, ſtehen beide noch ganz unter dem Einfluß Italiens,
und wo ſich der letztere ihm zu entziehen trachtet, wie in ſeiner
Auferſtehungsmuſik, wendet er ſich der uralten kirchlichen Weiſe zu
und ſucht dieſe mit der neuen zu verbinden. Unwillkürlich prägt
ſich allen ſeinen Schöpfungen die neue Weiſe, die er ſelbſt treffend
als eine „die alte ernſte Weiſe hintanſetzende, den Ohren der
Gegenwart mit gefälligem Kitzel ſchmeichelnde“ bezeichnet, auf,
ſelbſt da, wo er ſich abſichtlich dem ſtrengen alten Styl widmet.
Wie Schein und Hammerſchmidt dieſes ſinnliche Element
— Ku —
dem Liede vermittelten, um ihm in der ſüßen Melodik eine der
erſten Bedingungen des lyriſchen Ausdrucks zu geben, verſuchten
wir ſchon im erſten Buche nachzuweiſen. Beide trugen das ſo berei—
cherte Lied auf die Solo- und Chorſätze ihrer geiſtlichen Concerte
über und reihten dieſe dadurch erſt der hiſtoriſchen Entwicklung ein
und legten die Keime zur Blüte der höchſten muſikaliſch-drama—
tiſchen Formen: der Cantate und des Oratoriums. Welchen
Einfluß die Liedform auf die Ausbildung der Arie gewinnt und wie
ſie zuletzt ſelbſt arienhaft erweitert und von der einſtimmigen Cantate
zeitweiſe verdrängt wird, iſt gleichfalls im erſten Buche ſchon nach—
gewieſen, und ſo hätten wir hier nur noch zu unterſuchen, welchen
Antheil das Lied an der ſchöpferiſchen Thätigkeit der Meiſter des
muſikaliſchen Drama überhaupt nimmt.
Direct ſcheint ein ſolcher bei Joh. Sebaſtian Bach nicht
vorhanden zu ſein, und doch iſt er nicht hinwegzuläugnen. Ohne
den Einfluß des deutſchen und namentlich des Volksliedes wäre er
wol nimmer der erſte und wunderbarſte Lyriker geworden. Nicht nur
in ſeiner Umgeſtaltung als Choral, ſondern in ſeiner urſprünglichen
Geſtalt als lebendiger Erguß des Volksempfindens, ſetzte es ſich in
ſeinem Gemüth und ſeiner Phantaſie feſt und trieb dort ſeine
herrliche Kunſt empor. Daß die alten Volksweiſen in ſeiner
Familie nicht erſtorben waren, wird uns in jener Mittheilung ſeiner
Biographen beſtätigt, nach welcher die Mitglieder ſeiner Familie,
eine beträchtliche Anzahl Cantoren Thüringens, ſich alljährlich ein—
mal an einem beſtimmten Tage verſammelten und bei dieſer Gelegen—
heit ſich namentlich an der Improviſation von Quodlibets ergötzten,
und dieſe ſetzten ſich ausſchließlich aus Volksliedern zuſammen.
Wir haben ferner allen Grund anzunehmen, daß Bach ſich in
ſeiner Jugend den Einflüſſen ſeiner heimathlichen Umgebungen nicht
entzog, daß dieſe vielmehr bleibenden Antheil an ſeiner ſpätern, ſo
ſtaunenerregenden Wirkſamkeit gewannen. Und er war in jenem
Theile Deutſchlands geboren, in welchem der Liederquell im Volk
noch lange nicht verſiegt war, und in jenem kleinen Strich Landes,
in dem alter Sang und alte Sitte noch mit am Längſten ſich,
gegenüber der alles ebnenden Kultur, erhalten haben, verlebte er
den größten Theil der für derartige Eindrücke ſo empfänglichen
Jugendzeit. Heute noch aber lebt es in der Tradition fort, daß er,
bereits in Amt und Würden, von Weimar und Arnſtadt aus
— 264 —
häufig Ausflüge nach der Ruhl machte, um ſich an den Volks—
geſängen und den Volkstänzen zu ergötzen, durch ſie ſeine Phantaſie
befruchten zu laſſen. Während er ſo fort und fort bemüht iſt, den
Zuſammenhang mit dem Volksgemüth zu erhalten, eignet er ſich
zugleich die contrapunktiſchen Formen zu nie gekannter Meiſterſchaft
an. Nicht ſeine Individualität an ſich, ſondern wie ſie ſich unter
dem Einfluß der höchſten und heiligſten Ideen geſtaltet, ſollte er
austönen, und dazu waren die contrapunktiſchen Formen die einzig
geeigneten. Die ſtrengeren Formen des mehrfachen Contrapunkts
waren in Deutſchland ganz entſchieden durch die neue Muſikpraxis
ſchon zurückgedrängt worden, und wenn ſich ihnen auch einzelne
Meiſter zuwandten, ſo geſchah es noch vorwiegend nach dem alten
Syſtem. Sie erfanden ihre Themen nach dem Geſetz der Octaven—
gattung und richteten ihren Contrapunkt und die ganze Verar—
beitung darnach ein. Die Thematik Joh. Seb. Bach's baſiert
ſo entſchieden auf dem Volksliede, daß man dieſes durch viele ſeiner
Fugenthemen noch hindurchklingen hört, und dem entſprechend
geſtaltet ſich die ganze dialectiſche Entwicklung. Führer und Gefährte
erſcheinen bei ihm immer wie zwei im Reim verbundene Liedzeilen
und die einzelnen Wiederſchläge ſtehen in dem Verhältniß wie die
Stollen der alten Liedform. Ganz in demſelben Verhältniß erſcheint
bei ihm die Dreitheiligkeit ſeiner Arien und ſeiner Clavierſtücke.
Dadurch erſt wurde der Mechanismus der alten Formen zum leben-
digen Organismus. Jetzt erſt durchdringt das neue Princip, das
ſich im Volkslied ſchaffend erweiſt, alle Formen und Gebiete der
Muſikpraxis und ſo vollendet ſich in Bach die alte Kunſt und
treibt zugleich als neue hervor. Das Volkslied führt ihn aus der
Schule der Niederländer, Italiener und Franzoſen zurück zu ſich
ſelbſt, und der ſtarre Formalismus wird belebt durch die natürlichen
Ergüſſe des Gemüthes zu einem lebendig pulſierenden Organismus.
Joh. Seb. Bach ſelbſt ſchrieb keine Lieder, ſeine Miſſion war
eine höhere, aber das Lied war lebendig ſchaffend in ihm, und
ſeine Lehre und ſein Geiſt trieb in ſeinen unmittelbaren Schülern
ſchon, in Agricola und Nichelmann und zum Theil in
Ph. Em. Bach auch die neue Form des ſelbſtändigen Liedes
hervor.
Was Händel dem Volksliede verdankt, und wie bedeutungs—
voll er für die volksthümliche Verbreitung der Tonkunſt geworden
— 265 —
iſt, mußte bereits im vorigen Buche angedeutet werden. Weniger
noch als bei Seb. Bach iſt ein directer Einfluß des Volksliedes
bei Händel bemerkbar. Er überkam vielmehr das, was im Volks—
liede lebte und ſchon in ſeiner Zeit ſich mächtig wirkſam erwies,
mit den andern Elementen, die in ihm zur Vermittlung kommen
ſollten, und ſo ſchrieb auch er keine Lieder, aber er wurde der
volksthümlichſte Componiſt zweier Völker. Bei Chriſtoph von
Gluck dagegen erlangt das Lied directen Einfluß, weniger ideell als
formell. Von dem poetiſchen Inhalt, von dem eigenthümlichen
Zauber, der in dem deutſchen Liede lebte, iſt wenig auf Gluck
übergegangen; der heroiſchen Oper, wie er ſie ſchuf, wäre er auch
wenig angemeſſen geweſen. Die Figuren der Gluck'ſchen Oper
ſind allgemeine Typen, die eine individuelle Charakterzeichnung, wie
ſie in der Idee des Liedes liegt, von vorn herein ausſchließen.
Dagegen wurde das Lied dem Meiſter formell zu einer dramatiſchen
Macht. Sein Hauptbeſtreben iſt dahin gerichtet, den Formalismus
der alten Oper zu beleben, ihren umſtäudlichen und weitſchweifigen
Schematismus zu beſeitigen. Er ſcheidet nicht nur alles aus, was
den präciſen Gang der Handlung aufhält, ſondern verſucht ihn
durch ſeine Muſik zu unterſtützen und zu beſchleunigen, und iſt
deshalb auf den knappſten muſikaliſchen Ausdruck beſchränkt. Hierzu
erwies ſich die Liedform ganz geeignet und Gluck wendet fie
namentlich in ſeinen Chören häufig an. Beſonders die Chöre der
beiden Iphigenien ſind faſt nur liedförmig behandelt, und mehrere
der ſchönſten Arien der Iphigenie halten ſich in der knappen Form
des Liedes.
Faſt zu derſelben Zeit trieb zugleich das Lied eine eigenthüm⸗
liche Gattung der Oper, das Sing- oder Liederſpiel in Johann
Adam Hiller herauf, das wir gleichfalls ſchon im vorigen Buche
in ſeinen Beziehungen zum Liede und zum Dramatiſchen ebenſo
wie in ſeiner Entwicklung zu betrachten Gelegenheit hatten.
Auch an den gleichzeitigen Beſtrebungen Joſeph Haydn's
hat das Lied einen nicht geringen Antheil; allein dieſes Meiſters
große Bedeutung liegt überhaupt im Inſtrumentalen, weniger im
Vocalen. Er hat nur ein einziges Lied mit aller Innigkeit zu
fingen vermocht, fein Kaiſerlied. Die große Zahl feiner Vocal—
werke iſt inſtrumental gedacht und ausgeführt, weshalb wir ſeine
Beziehungen zum Liede paſſender im nächſten Kapitel betrachten.
— 266 —
Auch die Stellung, welche Mozart und Beethoven dem
Liede gegenüber einnehmen, konnten wir ſchon bezeichnen. Mozart
ſchrieb eine große Zahl volksthümlich gehaltener Lieder, aber nur
in ſeinen Opern ſollte er populär im edelſten Sinne werden, weil
er nur hier in den volksthümlichſten Formen einen durchaus neuen,
noch unausgeſprochenen Inhalt zur Erſcheinung bringt. Wie Gluck
geht auch er häufig in ſeinen Opern auf die einfachſte Liedform
zurück, aber nicht wie jener aus verſtändig praktiſchen Rückſichten,
ſondern aus tief innerſtem Bedürfniß. Bei Mozart ſteht die
Tiefe und Innigkeit immer über der Prägnanz des Ausdrucks, und
wo er die Liedform in ſeinen Opern verwendet, da iſt ſie durch
den innern, nicht wie bei Gluck durch den äußern Gang der
Handlung bedingt; da ringt er nach dem innigſten, nicht nur dem
ſchlagendſten Ausdruck, und das iſt es vor allem, was die Oper
Mozart's zur romantiſchen Oper macht, in welcher lebendig
empfindende, leidenſchaftlich bewegte und ſelbſtbewußt handelnde
Perſonen agieren und nicht abſtracte Gebilde, denen der Verſtand
das Weſen ihrer endlichen Exiſtenz abgeſtreift hat, um ſie zu typi—
ſchen Erſcheinungen zu erheben.
Noch mehr als bei Haydn überwiegt bei Beethoven die
inſtrumentale Bedeutung ſeine vocale. Im vorigen Buche ſchon
erkannten wir, wie er ſelbſt das Lied inſtrumental empfindet und
vorwiegend inſtrumental ausführt, und dort ſchon fand die Andeu—
tung ihren Platz, daß er ſeine Inſtrumente viel innigere Lieder
fingen läßt, als die Menſchenſtimme. Im nächſten Kapitel erſt
werden wir Gelegenheit haben, dieſe Erſcheinung etwas ſpecieller
zu betrachten. Aber gerade in dieſem Streben wird Beethoven
der Meiſter der „Scene,“ und dieſe Meiſterſchaft gab ihm die
Möglichkeit, den einfach lyriſchen Stoff ſeiner Oper „Leonore“
(Fidelio) zu tragiſcher Gewalt zu ſteigern, die lyriſchen Ergüſſe der
Meſſe in epiſch-dramatiſchen Gebilden zuſammen zu faſſen. Nur
in Beethoven noch wird der Einfluß des Liedes auf die größern
Vocalformen fördernd. Seit dem wirkt das Lied mehr zer—
ſetzend auf dieſe ein.
Es beginnt den Gang der weitern Entwicklung der Muſik ſo
vollſtändig und einſeitig zu beherrſchen, daß dem Detailausdruck
Form und Totaleindruck geopfert werden.
— 267 —
Schon in den dramatiſchen Werken von Louis Spohr und
Carl Maria von Weber macht ſich dieſer Zug der Zeit empfind—
lich geltend. Spohr brachte es auch in ſeinen dramatiſchen Wer—
ken nur in den fugierten Sätzen über jene verſuchte ſceniſche Erwei—
terung, die bei ihm mehr als Auflöſung des Liedes erſcheint,
hinaus zu wirklich dramatiſch entwickelten und gefeſteten Formen.
Eine Menge charakteriſtiſcher Einzelheiten beanſpruchen unſer In—
tereſſe in hohem Grade, aber ſie ſind nicht im Stande, uns den
dramatiſchen Verlauf als ſolchen nahe zu legen. Mit Weber aber
gewinnt dieſer Zug der Zeit eine Richtung, durch welche der Stand—
punkt des Dramatiſchen ein ganz anderer wird.
Als Hauptaufgabe der Muſik galt auch dem Drama gegen—
über bisher immer noch die Darſtellung der pſychologiſchen Pro—
zeſſe, auf denen die Handlung beruht. Die Muſik ſoll den ganzen
innern Gang der Handlung von der leiſeſten Regung bis zum
offnen Ausbruch in die That darlegen, ſie ſoll uns einen Einblick
gewähren in die geheime Werkſtatt, in welcher alle die Fäden der
Handlung zuſammenlaufen; ſie ſoll uns mit hinein ziehen, daß wir
als ſelbſtbetheiligt den ganzen Gang der Handlung mit durchleben.
So faßten namentlich Mozart und Beethoven das Weſen der
dramatiſchen Muſik und Schubert, Mendelsſohn und Schu—
mann ſchließen ſich dieſer Auffaſſung an. Sie cultivieren mit großer
Sorgfalt die kleineren Formen des Liedes und der liedmäßigen Sätze
um ihre erregte Innerlichkeit in einzelnen Zügen zu objektivieren und
zu dem ſubjektiv wahren Ausdruck zu gelangen und erſt, nachdem
ſie hierin einen großen Grad der Meiſterſchaft erreicht haben, ver—
ſuchen ſie ſich an den größern Formen der Symfonie, des Ora—
toriums und der Oper, und daß ihr Wirken hier nicht mit gleich
großen Erfolgen gekrönt war, liegt wol nur in der Neuheit ihres
Standpunktes. In dem Beſtreben nach dem lyriſch fein zugeſpitz—
teſten Ausdruck hat ſich ihr Geſichts- und Gefühlskreis verengt
und es wird ihnen ſchwer, jenen erhöhten Standpunkt zu gewinnen,
von dem aus ſie ihr eignes Empfinden in den weiteſten Beziehungen
anzuſchauen und dann zu plaſtiſchen größern Bildern zu verdichten
und künſtleriſch zu verkörpern im Stande ſind.
Mendelsſohn ſuchte und fand ein Compromiß, in dem
er den neuen Gefühlsinhalt ſo weit abſchwächte, daß ſich ihm
der alte Formalismus anbequemte und indem er ſeine großen
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Stoffe, feinen „Paulus“ und „Elias,“ wie die antike Tragödie
und fein Opernfragment nicht in ihrer eignen objektiven Größe an—
zuſchauen trachtet, ſondern ſie vielmehr in ſeine eigene Indivi—
dualität hinein zieht, um ſie dieſer anzupaſſen und dann, nach dem
beſchränkten Rahmen derſelben verkleinert, äußere Form gewinnen
läßt, entſpricht er dem Zuge ſeiner Zeit in der edelſten Weiſe.
Für die antike Tragödie iſt dieſe Anſchauungsweiſe noch zu recht—
fertigen. Soll dieſelbe eine Muſik erhalten, ſo kann es kaum eine
andere als die, jene Stoffe dem modernen Bewußtſein vermittelnde
Mendelsſohn's ſein. Allein daß Mendelsſohn in ſeinen
Oratorien nur in einzelnen Fällen und zwar durch einen Händel—
Bach' ſchen Formalismus nur über den Liedſtyl hinaus gelangt,
konnte wol periodiſch intereſſieren, nicht aber auch hiſtoriſch Bedeu—⸗
tung gewinnen.
Von ungleich größerem Intereſſe iſt auch nach dieſer Seite
Schubert. Sein Liedſtyl iſt an ſich ſchon mehr geeignet, größern
Formen vermittelt zu werden, weil er überhaupt zu viel brei—
tern Dimenſionen ſich ausweitet, als der Liedſthl Mendelſohn's.
Aber dieſe Erweiterung iſt nicht die Folge einer erhobeneren An—
ſchauung, ſondern vielmehr nur der ſchwelgeriſchen Luſt, mit wel—
cher der Meiſter die eine Stimmung feſthält und verfolgt. Auch
in ſeinen größern Vocalſachen leitet ihn das Streben jeden der
einzelnen Züge ſelbſtändig bis in die feinſten Nüancen zu erſchöpfen;
dieſe ſtehen daher meiſt unvermittelt neben einander, während der
eine auf den andern bezogen ſein müßte, ſo daß einer aus dem
andern hervorgeht, oder daß ſie ſich als directe Gegenſätze einander
gegenüber ſtellen.
Saft daſſelbe gilt von Schumann. Seit Beethoven hatte
ſich wol kein ihm ebenbürtiger Meiſter der Bühne zugewendet, aber
auch keiner ſollte ſo tief empfinden wie gerade er, daß die lhriſche
Iſolierung nicht im Stande iſt, die dramatiſchen Bedingungen ganz
zu erfüllen. Das Drama verlangt individuell gezeichnete Perſonen,
und ſie ſo hinzuſtellen, das vermochte Schumann, wie kein
anderer ſeit Beethoven, aber er vermochte ſie nicht zu perſoni—
ficieren. Wir leben die ethiſche Grundlage ſeiner Genoveva, die
pſychologiſchen Prozeſſe mit durch, aber mehr als vereinzelte Aus—
brüche, ohne die Feſtigung zum Individuum, zum Charakter. Die
Perſonen ſind uns nur in dem, was ſie empfinden, gegenwärtig,
ı
nicht auch leibhaftig in ihrer leiblichen Weſenheit, und das iſt für
das muſikaliſche Drama nicht weniger Bedingung, als die feine und
erſchöpfende pſychologiſche Darſtellung der einzelnen Stimmung.
Ungleich günſtiger geſtaltet ſich dies Verhältniß Schumann's
jenen Werken gegenüber, in denen er in epiſch-lyriſcher Weiſe
größere Stoffe behandelt, wie in: „Das Paradies und die Peri.“
Eine wirkliche Perſonificierung der einzelnen Träger der Handlung
iſt hier weniger nöthig, da ſich faſt jeder einzelne in meiſt auf ſich
bezogenen Gefühlsergüſſen ergeht, und wie Schumann dieſen
recht wol eine epiſche Breite verleihen konnte, zeigte er uns ſchon
in ſeinen Balladen. Daher möchten wir dies Werk als das größte
und erſte Produkt der neuen, in ihrem Gange durch die Lyrik
beſtimmten Zeit bezeichnen.
Eine weſentlich andere Bedeutung gewinnt die neue Lyrik für
das dramatiſche Kunſtwerk, wie es Carl Maria von Weber,
Giacamo Meyerbeer und Richard Wagner ſchufen. Bei
Weber wird ſie ganz beſtimmt durch jenes eigenthümliche Element
bedingt, welches er dem Liede wieder zuführte: den ſüßen Zauber
des Klanges. Wie ſein Lied, ſo iſt auch ſeine dramatiſche Muſik
das Produkt der Luſt am Klangcolorit. Die Stellung der Muſik
zum Drama wird dadurch weſentlich verändert; jetzt iſt nicht mehr die
dramatiſche Entwicklung, ſondern die dramatiſche Wirkung Hauptziel.
Die Muſik zur Oper wird jetzt mehr decorativ. Sie vermag uns
vollſtändig über den eigentlichen Boden des muſikaliſchen Drama's
zu orientieren; ſie verſetzt uns mitten hinein in die Zeit der
Begebenheit, ſo weit ſie ein beſtimmtes und beſtimmbares Gepräge
hat, in dem ſie den Geiſt der Zeit in ſeinem innerſten Weſen
erfaßt; ſie nimmt durch die Verwendung von Localtönen direct
Bezug auf den Ort der Handlung, aber ſie läßt die eigentliche
dramatiſche Entwicklung vermiſſen. Das Dämoniſch-Phantaſtiſche
und der ſüße Duft von Flur und Wald, dieſe Grundelemente des
„Freiſchütz“ werden durch die Muſik ebenſo, wie die anmuthige
Atmoſphäre der Feenwelt des „Oberon“ und der Zauber mittel—
alterlicher Romantik der „Euryanthe“ viel treuer und überzeugender
dargeſtellt, als dies die raffinierteſte Decorationskunſt im Stande
iſt. Aber die einzelnen Figuren, die Träger der Handlung, löſen
ſich von dieſem Untergrunde nicht ab und noch weniger verſucht ſie
die Muſik zu individualiſieren. Nur im Colorit iſt Max der
— 270 =
weichherzige Jägerburſche, Agathe die ſehnſüchtig verlangende,
mondſcheinſelige Waldblume und Aennchen die reizendſte aller
Soubretten. Wo aber, wie in der „Euryanthe,“ eine präcifere
Charakterzeichnung nothwendig wird, da verläßt den Meiſter auch
das Colorit und er vermag nur noch abentheuerlich aufgeputzte
Bühnenhelden hinzuzeichnen, wie: „Hüon und Scherismin“ oder
wol gar Carricaturen, wie: „Lyſiart und Eglantine.“ Am Empfind⸗
lichſten wird dieſer Mangel einer wirklichen Charakterzeichnung in
den Enſemble's und Finale's.
In ihnen werden Perſonen mit den verſchiedenſten Intereſſen
und Neigungen, die ſonſt einander fremd und feindlich gegenüber
ſtehen, die ſich in ihren Plänen und Handlungen gegenſeitig kreuzen,
auf einen Punkt getrieben, auf welchem ſie ſich zu einer gewiſſen
Gemeinſamkeit der Empfindung und ſelbſt der Handlung genöthigt
ſehen. Mozart und Beethoven ſtellten ihre Perſonen ſo ſcharf
individuell gezeichnet hin, daß, wenn ſie in ſolchen Punkten zuſam—
mentreffen, ſich die Grundſtimmung in einem wunderbar belebten
dramatiſchen Wechſelſpiel aus den heterogenſten Elementen zuſammen—
fetzt. Wir erinnern nur an die Finale's im Don Juan, in denen
ſelbſt die Poſſen Leporello's die tragiſche Gewalt der Grundſtimmung
erhöhen. Die Enſembleſätze und Finale's bei Weber haben kaum
eine höhere Bedeutung als die: mehrſtimmiger Geſänge.
Wir müſſen auch die Oper von Meyerbeer hier erwähnen,
obgleich ſie wenig Beziehung zum Liede zu haben ſcheint. Allein
ſie folgt ja gleichfalls der, durch das Lied angeregten einſeitigen
Richtung nach directer Wirkung auf die Maſſen durch das ſinnliche
Material und Meyerbeer geht hier noch einen bedeutſamen Schritt
weiter als Weber. Dieſer iſt echt deutſch und nur der deutſchen
Muſik lauſcht er ihre wirkſamen Mittel ab, Meyerbeer iſt Kos—
mopolit, er eignet ſich alles an, was Erfolge verſpricht, vom ein—
fachen Liede bis zu den complicierten contrapunktiſchen Formen und
den weiten und groß angelegten Finale's, vorherrſchend in dem
Streben, die Maſſen zu ergreifen und zu bewegen, weniger die
Handlung auch muſikaliſch dramatiſch zu entwickeln.
Wagner thut nach dieſer Richtung wol den letzten Schritt,
und ſo müſſen wir auch ſeiner hier noch mit einigen Worten
gedenken. So ſehr auch ſeine Anhänger das Gegentheil verſichern:
in dem Streben, das muſikaliſche Drama nur für die äußere
— 271 —
Schauſtellung zu ſchaffen, iſt auch er dem Banne der großen fran—
zöſiſchen Oper, gegen welche er ſich urſprünglich auflehnt, verfallen.
Noch mehr wie Meyerbeer iſt er auf die bloße Wirkung
durch das ſinnliche Material verwieſen, weil er Melodie und
Rhythmus vollſtändig dem Wortausdruck opfert. Er beſchränkt ſich
nur auf jene, die Sprachaccente höchſtens bis zum Necitativ ſtei—
gernde Weiſe des Geſanges und das Wort erfährt allerdings
dadurch eine Steigerung und Bedeutſamkeit, welche die bloße Reci—
tation ihr nicht geben kann, allein die ganze Muſik iſt dem Drama
doch auch nur äußerlich angehängt, wie dem Melodrama. Größere
Bedeutung kann ſie in ſolcher Beſchränkung auf ihr niedrigſtes
Ausdrucksvermögen nicht erreichen.
Auch Liſzt hat ſeinem Liederſtyl eine objektive Faſſung in
ſymfoniſchen Dichtungen und in Meſſen und Pſalmen zu geben
verſucht. Jener gedenken wir noch im nächſten Kapitel; dieſe, die
Meſſen und Pſalmen, entſprechen ganz dem bezeichneten Stand-
punkte. Ueberall begegnet uns ein feines Denken und Empfinden,
das nach ungewöhnlichem Ausdruck ringt, ohne dieſen anders, als
durch die vollſtändigſte Auflöſung des geſammten künſtleriſchen
Organismus erreichen zu können. Liſzt wird in ſeinen Meſſen
ſogar auf contrapunktiſche Formen geführt und er hat dadurch
ſelbſt jene Contrapunktiſten und Theoretiker gewonnen, welche überall
nur das Handwerk verehren. Wir ſind der Meinung, daß die
canoniſchen Formen von der freien Nachahmung bis zu der ſtreng—
ſten Muſterfuge nur Bedeutung gewinnen in ihrer, durch Jahr—
hunderte herausgebildeten Geſtalt. Nur indem Thema und Gefährte
ſich in einander fügen wie bei Bach, als im Reim verbundene
Verszeilen, und die dialektiſche Entwicklung dieſem Zuge folgt,
erlangt die Fuge die Bedeutung der höchſten künſtleriſchen Form.
Irgend ein Thema im Quinten- oder Quartenzirkel, oder in andern
Intervallenverhältniſſen willkürlich oder nach außerhalb des natür—
lichen Materials liegenden Principien einer Idee an die verſchiedenen
Stimmen zu vertheilen, entſpricht doch dem Weſen dieſer Formen
nur ganz oberflächlich, kaum ganz handwerksmäßig.
Während ſo dieſe Reihe ſchaffender Künſtler ſich dem allge—
meinen, durch die Lyrik beſtimmten Zuge der Zeit einſeitig hingab
und das Kunſtwerk ſeiner Auflöſung zuführte, berückſichtigten dieſen
eine andere Reihe viel zu wenig, um das Kunſtwerk vor Ver—
— 272 —
knöcherung in todtem Schematismus zu bewahren. In dem Ora⸗
torium von Carl Löwe hat er zu einem verwunderlichen Gemiſch
von Stylen aller Länder und Zeiten geführt. Altkirchlich behan—
delte Choräle und Hymnen ſtehen neben im modernſten Opernſtyl
gehaltenen Arien, und feſt gefügte zunft- und handwerksgerechte
Fugen neben den leicht und loſeſt geführten polyphonen Chören.
Adolf Bernhard Marx hat in ſeinem Oratorium „Moſe“
wol das äußerlich formvollendetſte Kunſtwerk der neuern Zeit
geſchaffen; allein ſeine Formen ſind das Produkt feinſinniger Speku⸗
lation, nicht die Kryſtalliſation eines von innen heraustreibenden
poetiſchen Inhalts, weil er ſich doch wol zu ſpröde der, durch
Schubert, Mendelsſohn und Schumann beſtimmten Rich-
tung der modernen Muſik gegenüberſtellte. Auch eine ganze Reihe
jüngerer Künſtler, wie: H. Bellermann, Martin Blum⸗
ner, Hermann Küſter oder Carl Reinthaler hat ſich mit
zu großer Vorliebe rückwärts nach Bach und Händel gewandt,
oder doch beide in der Neugeſtaltung durch Mendelsſohn zu
Vorbildern erwählt, um ein Kunſtwerk zu ſchaffen, das den Anfor-
derungen der Zeit ebenſo entſpricht, wie denen der Kunſt.
Die Richtung der Muſik der neuen Zeit iſt durch die moderne
Lyrik beſtimmt, und der Künſtler muß ihr zunächſt nachgehen und
ſie ſich zu eigen machen und dann werden ihm Händel und
Bach die Wege erſchließen, und zwar neue Wege, wie er ſein ſub—
jektives Empfinden, in ewig muſtergiltige Formen gegoſſen, objektiv
darzuſtellen vermag, in einem Kunſtwerk, das ſich ſelbſt ausſpricht
in höchſter Klarheit und Verſtändlichkeit, alſo daß das, was der
Tondichter erſt nur als ſein eigenſtes Empfinden beſaß, nun Eigen—
thum einer ganzen Geſammtheit, eines ganzen Volkes wird.
Schumann hat auch hier namentlich in ſeinem bedeutendſten
Werk: „Das Paradies und die Peri“ den Weg vorgezeichnet; von
allen Lebenden dürfte gegenwärtig Ferdinand Hiller denſelben
am Entſchiedenſten bewußt verfolgen. Und das ſcheint unſere
nächſte Aufgabe zu ſein: nicht den lyriſchen Ausdruck bis in das
Unbeſtimmte zu vermehren und zu erweitern, ſondern die unendlich
angewachſenen Ausdrucksmittel den größern Formen zu vermitteln,
um ſo auch das neue dramatiſche Kunſtwerk erſtehen zu ſehen.
— 273 —
Drittes Napitel.
Einfluß des Liedes auf die Entwicklung der Inſtru⸗
mentalmuſik.
Die erſten naturaliſtiſchen Anfänge der Inſtrumentalmuſik laſſen
ſich wol ziemlich auf das gleiche Bedürfniß, dem die Vocalmuſik
ihre Entſtehung verdankt, zurückführen. Es iſt weder künſtleriſches
Bewußtſein, noch Zufall, noch ein Act äußerer zwingender Noth—
wendigkeit, welche dem Jäger ſein Horn, dem Schäfer die Schal—
mei, dem Kriegsmann Trommel und Trompete zuweiſen, und
das Syſtrum der Aegypter, die Pauken und Cymbeln der Juden
und alle die Klang und Schall verſtärkenden Inſtrumente der ver—
ſchiedenen Völker entſprechen ganz genau dem größern oder geringern
Reichthum ihrer Innerlichkeit und dem Grade, in welchem er ihnen
zum Bewußtſein gelangt iſt.
Es liegt zugleich in der Natur der Sache begründet, daß dieſe
Anfänge der Inſtrumentalmuſik mit denen der Vocalmuſik nicht
zuſammenfallen können. Der Geſangton iſt das unmittelbare Pro—
dukt innerer Organbewegung. Ein phyſiologiſcher Mechanismus
befähigt uns, innere Zuſtände und Veränderungen im Leben unſeres
Geiſtes durch Töne auszudrücken und hierzu bedarf es keiner
weitern Vorbereitung. Der Grad der innern Erregung allein
beſtimmt die Thätigkeit der mit ihrer Entäußerung betrauten
Organe, und der Geſangton iſt deshalb das unmittelbare Ergebniß
innerer Zuſtände. Die gehobenere Stimmung erhöht die Spannung
der Stimmbänder und dadurch in demſelben Verhältniß den Geſang—
ton; im Schmerz find die Kräfte der Seele gehemmt und gebun-
den, die Spannung der Stimmbänder vermindert ſich und der
Geſang tritt in die tiefern Lagen. Der Rhythmus aber hält glei—
chen Schritt mit den vorwärts treibenden und rückhaltenden Puls—
ſchlägen des Herzens.
Die Anfänge der Inſtrumentalmuſik ſetzen ſchon eine gewiſſe
Ausbildung der Mechanik voraus und ſie beginnt allerdings früh,
weil ſich dem Menſchen die Nothwendigkeit derſelben früh aufdrängt,
Reißmann, deutſches Lied. 18
— 274 —
wol aber nicht früher als die Regungen zum Gebrauch des eignen
Stimmorgans. 17
Andrerſeits iſt es in der Natur der Inſtrumentalmuſik begrün⸗
det, daß die meiſten vorchriſtlichen Völker ſich mit einem oder
einigen Inſtrumenten begnügen und daß auch das Chriſtenthum erſt
die Vocalmuſik zu einer gewiſſen Vollendung führt, ehe die ſelb—
ſtändige Ausbildung der Inſtrumentalmuſik beginnt. Die Vocal—
muſik ſchafft im Anſchluß an einen Text, der in der Realität der
Begriffswelt feinen concreten Inhalt hat. Die Inſtrumentalmuſik
entbehrt jeder begrifflichen Beſtimmtheit. Nur in vereinzelten Fällen
vermag fie annähernd durch Nachahmung des Tons hörbarer Gegen:
ſtände, oder indem ſie durch die beſtimmten Formen des Tanzes
oder des Marſches, des Liedes oder des Chorals an gewiſſe Vor—
gänge erinnert, eine ſolche zu erreichen. Die Inſtrumentalmuſik
bedarf daher, um ſelbſtändig verſtändlich zu werden, eines größern
Aufwandes von Mitteln und feſter gefügter Formen, als die Vocal—
muſik.
Zu dieſem größern Reichthum ſuchte ſie folgerichtig erſt dann
zu gelangen, als die vocalen Ausdrucksmittel für die mit Macht
ſich entfaltende Innerlichkeit nicht mehr ausreichend ſind, als die
Individualität nach einer freiern, ungebundenern Bewegung trachtet,
wie die iſt, welche ihr das Vocale gewährte. Denn im Wort tritt
der Geiſt gewiſſermaßen aus ſich heraus in die Begriffswelt, und
erſt die Inſtrumentalmuſik führt ihn wieder zurück zu ſich ſelbſt.
In der Vocalmuſik ſpricht ſich daher zwar der Geiſt in höchſter
Beſtimmtheit aus, aber nicht unbedingt und rückhaltslos. Wie
treu und emſig auch der Geſang dem Wort, ſeinem Ausdruck und
der Sprachmelodie nachgeht, immer bleibt ein Reſt unausgeſprochen
zurück, den nur die Juſtrumentalmuſik vollſtäudig darzulegen vermag.
Der größere Reichthum, zu welchem fo das Material anwächſt,
erfordert natürlich auch bedeutſamere techniſche Mittel und Fertig:
keiten, um es in feſten Formen in einander zu fügen, und daher
war wiederum nothwendig, daß die Tonkünſtler erſt dieſe Technik
an den Vocalformen ſich aneigneten, die im Text ſchon ein formales
Band und die nöthige Anleitung milbrachten, auch die muſikaliſche
Form zu finden.
Bis ins ſechzehnte Jahrhundert hinein dient fo das Inſtru—
mentale dem Vocalen nur zur Begleitung, und zwar bis in das
— 275 —
vierzehnte Jahrhundert noch nur in ſehr beſchränkter Weiſe, und
wenn von dieſer Zeit an die Begleitung durch die Inſtrumente auch
noch nicht dem Geſange eigenthümlich gegenüber tritt, ſo beginnt
ſie doch allmälig ihres größeren Klangreichthums ſich bewußt zu
werden. Die Luſt am Colorit läßt immer mehr Inſtrumente
erfinden und fie in immer mannichfaltigerer Weiſe zuſammen ſetzen,
ſo daß das ſechzehnte Jahrhundert bereits faſt alle Inſtrumente
kannte, die wir heute auf ſo ausgedehnte und mannichfaltige Art
benutzen. Bei den einfach mehrſtimmigen Geſängen begnügte man
ſich, jeder Stimme ein beſonderes Inſtrument zur Unterſtützung
beizugeſellen. Mit größerer Sorgfalt verfuhr man ſchon bei der
Begleitung vollſtimmiger Chöre, die einander gegenüber geſtellt
waren. Die Luſt an Experimenten mit dem Klange hatte auch
das Vocale ergriffen und mit dem Ende dieſes Jahrhunderts wurden
Vocalcompoſitionen für vier, ſechs und mehr Chöre allgemein.
Hier nun verſuchte man den einzelnen Chören ein beſtimmtes Colorit
dadurch zu geben, daß man jedem einzelnen Chor gleichartige In—
ſtrumente zugeſellte und ihn durch den beſondern Klang der metallnen
oder hölzernen Pfeife, der geſtrichenen oder geriſſenen Saite vor
den übrigen auszeichnete. Mit ſolchen Experimenten wurde die
Erkenntniß des beſondern Inhalts der Inſtrumentalmuſik angebahnt.
Man fühlte, welch ungleich erweiterte Mittel für den individuellen
Ausdruck die Inſtrumentalmuſik ſchon in dem erhöhten Klangreich—
thum darbot, und es fehlte nur noch das Bewußtſein und die
Erkenntniß der erhöhten Spielfülle der einzelnen Inſtrumente.
Dieſe wurde namentlich in den Inſtrumentalchören, die in den
verſchiedenſten Zuſammenſetzungen die Feſtlichkeiten der Höfe wie
der Städte prachtvoller ausſtatten halfen, gefördert. Hier machte
ſich gar bald bei den einzelnen Inſtrumentiſten der Trieb zur
Erweiterung und zur virtuoſen Ausbildung des Inſtrumentenſpiels
geltend. Die Geiger und Bläſer merkten gar bald, wie wenig die
Vocalwerke, auf welche ſie immer noch einzig angewieſen waren,
für eine inſtrumentale Ausführung ſich eigneten, wie wenig der
Vocalſatz der Technik ihrer Inſtrumente entſprach. Es war eines
der beliebteſten Experimente jener Zeit, mehrſtrophige Lieder derartig
auszuführen, daß die einzelnen Strophen verſchiedenartig durch die
Inſtrumente unterſtützt, einzelne auch a capella ganz ohne Beglei-
tung geſungen wurden und daß dazwiſchen auch die Inſtrumente
1
— 276 —
allein die Ausführung des ganzen Vocalſatzes übernahmen. Hierbei
namentlich mußte ſich den Inſtrumentaliſten die Ueberzeugung auf—
drängen, daß ſchon die abweichende Technik ihrer Inſtrumente wie
die Beſonderheit des Klangcolorits eine abweichende Behandlung
des Inſtrumentalen nothwendig mache, daß der Vocalſatz nicht ohne
Weiteres auch für Inſtrumente dienlich ſei, ſondern daß er vielmehr
auch in feiner einfachſten und urſprünglichen Geſtalt nothwendig
inſtrumental umgeſtaltet werden müſſe. Damit beginnt die Aus—
bildung der ſelbſtändigen Inſtrumentalmuſik. Indem die einzelnen
Inſtrumente in eigener Weiſe das Vocale darzuſtellen verſuchen,
gelangen ſie zu dem großen Reichthum ihrer Mittel, der ſie befähigte,
das weiter auszuführen, was im Vocalen nur angedeutet iſt.
Zunächſt ſind fie nur bemüht, die harmoniſche Grundlage des
Vocalſatzes aufzulockern und die Melodie zu variieren, und zwar
vorerſt am Choral und dem Liede mit ſolchem Eifer, daß
gar bald die Poſauniſten neben Pfeifern, Fiedlern und Lauten—
ſchlägern zu den reſpectablen Mitgliedern fürſtlicher Kapellen gehör—
ten. Vor dem dreißigjährigen Kriege ſchon ſind es namentlich die
Trompeter und Paukenſchläger, die große Fertigkeit auf ihren
Inſtrumenten entwickelten, und gar bald eine eigene Zunft bilden
konnten. Noch weit ins achtzehnte Jahrhundert hinein wurden
die ſogenannten „Trompeter- und Paukerſtückchen“ einflußreich auf
die Compoſition.
Eine größere Selbſtändigkeit erlangten die Inſtrumente in den
Intraten, ſpäter Symfonien genannt, mit welchen ſie den Vocalſatz
einleiten, den Ritornellen, mit denen ſie ihn unterbrechen, und dem
Poſtludio, mit welchem ſie ihn abſchloſſen. Größere ſelbſtändige
Inſtrumentalformen wurden erſt, nachdem die Oper, die Paſſionen
und die geiſtlichen Concerte eine ſolche Ausdehnung gewonnen hatten,
daß ſie auch bedeutendere Einleitungsſätze erforderten, zu ſchaffen
verſucht. Dieſe Symfonien oder, wie ſie ſpäter genannt wurden,
Ouverturen ſind wol die erſten größern Orcheſterformen geworden.
Jedenfalls früher als ſie konnten die, für das Clavier und die
Orgel berechneten Formen zu künſtleriſcher Ausbildung gelangen.
So unvollkommen auch das Clavier noch war, ſo erwies es ſich
doch dem beliebten „Diminuieren“ und „Colorieren“ viel günſtiger
noch, als die Laute, weshalb es dieſe auch gar bald verdrängte.
Für die Orgelmuſik wurde der Choral, für die Claviermuſik das
2 ee
Lied und der Tanz die Baſis. Für beide Inſtrumente beſchränkte
ſich die Ausſchmückung Aufangs meiſt nur auf die Singmanieren,
auf die verſchiedenen Arten des Vorſchlags, des Mordent und
Triller. Bei Frescobaldi in ſeinen 1637 erſchienenen Clavier—
werken finden wir ſchon Figurationen, die indeß mehr auf die Ton—
leiter gegründet ſind, als auf den Accord. Bedeutend freier geſtaltet
ſich ſchon die Claviercompoſition fünfzig Jahre ſpäter bei Couperin.
Er giebt meiſt ſchon die urſprüngliche Liedmelodie auf und verſucht
eine Inſtrumentalmelodie claviermäßig zu verarbeiten. Die meiſten
Clavierſtücke ſeiner 1713 erſchienenen: Pieces de Clavecin ſind
Lieder ohne Worte mit Variationen oder Rondeau's, in welchen
dem durchaus liedmäßigen Hauptſatz mehrere Nebenſätze, zu jener
Zeit Couplets genannt, entgegen treten. Neben den ſtreng canoni—
ſchen Formen wurden auch dieſe jetzt fleißig weitergebildet, und ſie
und die ſtrengen Formen des Tanzes bereiteten die größern Orcheſter—
formen vor, aus ihnen entwickelte ſich der neue Orcheſterſtyl.
Johann Sebaſtian Bach ſteht auch hier wiederum auf
der Grenze, wo das Alte vom Neuen ſich ſcheidet. Er ſchließt
auch inſtrumental jenes in ſich ab und in ihm beginnt zugleich die
neue Richtung ſchon herrliche Früchte zu tragen. Mit ſeinen
Orgelcompoſitionen und ſeinen ſtrengen Clavierfugen hat er das
höchſte geleiſtet, was die alte Kunſt überhaupt inſtrumental nur zu
leiſten im Stande war und ſie ſind auch nicht überboten worden.
Wie überhaupt vor Bach, ſo fügt ſich auch hier noch das Inſtru—
mentale mehr den Geſetzen des Vocalen. Bach führt das Inſtru—
mentale ſchon ſelbſtändig, aber meiſt in den ſtrengern Formen des
Vocalen. In der freiern Verwendung des Materials, die wir in
den Präludien vieler Orgelfugen, in ſeinen Toccaten, Phantaſien
und Concerten finden, und in ſeinen Suiten bereitet ſich jene Weiſe
vor, die von den ſpätern Meiſtern in ein Syſtem gebracht, der
ganzen weitern inſtrumentalen Entwicklung zu Grunde liegt.
Wie bedeutſam auch in die Inſtrumentalcompoſitionen Bach's
die Macht des alten Volksgeſanges hineinragt, beweiſt der flüch—
tigſte Blick auf ſeine geſammte inſtrumentale Wirkſamkeit.
Die Inſtrumentalmuſik bedurfte jetzt eines ſolchen Einfluſſes
eigentlich auch viel mehr als die Vocalmuſik, um ideell wie for—
mell ſich raſcher entfalten zu können. So lange fie ihren Reich—
thum von Mitteln, ihre große Spiel- und Klangfülle nicht in
— 278 —
feſten Formen gruppiert, iſt fie nur ein ſinniges Spiel der Phan—
taſie, und dieſe Feſtigung ihr zu geben waren Lied und Tanz vor—
trefflich geeignet, weil ſie die individuellſten und doch auch energiſch
geſchloſſenſten Formen ſind. Die freien Inſtrumentalformen Bach's,
mit denen er die neue Zeit einleitet, laſſen dies formelle Element
allerdings noch vielfach vermiſſen und deshalb ſollte er auch den
eigentlichen Orcheſterſthl nur ideell anregen, nicht auch formell
begründen. Aber gerade in den ſtrengern Formen iſt die Liedweiſe
unverkennbar. Eine große Anzahl Themen des „Wohltemperier—
ten Claviers“ ſind im reizendſten Ton des Volksliedes geſungen
und die Präludien laſſen in ihren Conturen die innigſten Volks—
weiſen erkennen. Einen bedeutenden formellen Anſtoß zur Auffindung
des neuen Inſtrumentalſtyls gab er endlich mit ſeinen Suiten.
Der Tanz ſollte überhaupt für die ganze Inſtrumentalmuſik
eine faſt noch größere Bedeutung erlangen wie das Lied. Nament—
lich unter dem Einfluſſe dieſer Form bildet ſich der Orcheſterſtyl.
Es iſt dies Moment bisher nur wenig berückſichtigt worden
und doch gewinnt damit die Inſtrumentalmuſik zumeiſt die Grund—
bedingung ihres innern Organismus — den Rhythmus. Was in
der Vocalmuſik vornehmlich dadurch herbeigeführt wurde, daß in
der Poeſie an Stelle der Quantitätsmeſſung die Accentuation tritt,
jene ebenmäßige An- und Unterordnung der einzelnen Theile zu
ſymmetriſchem Ganzen, das gewinnt die Inſtrumentalmuſik meiſt
durch den Tanz. |
Der Tanz durchmißt gegebenen Raum in gegebener Zeit und
dieſe findet ihre genaueſte Beſtimmung bis auf die einzelne Schritt—
bewegung in der Tanzmuſik. Wie nun die verſchiedenen Tänze aus
der verſchiedenen Zuſammenſetzung von Tanzſchritten beſtehen, ſo
die begleitende Muſik aus zwei oder mehrtactigen Rhythmen. Der
Walzer z. B. iſt ein Tanz, der von zwei Perſonen ausgeführt
wird, die ſich auf einem kleinen Kreiſe mittelſt zweimal drei gleich—
mäßiger Schritte einmal drehen; dieſer Tanz hat demnach drei—
theiligen Tact und zweitactige Rhythmen. Eine andere Darſtel—
lung des dreitheiligen Tacts bringt die Menuett, eine andere die
Polonaiſe. Die, dem Tanz verwandten Marſchformen geben äußern
Anſtoß zur Ausbildung des zwei- und viertheiligen Tacts. Wie
nun in den charakteriſtiſchen, ſinnigen Tänzen früherer Jahr—
hunderte ſich die Tanzfiguren zu großen Einheiten anordnen und
dieſe ſich wiederum nach beſtimmten Ideen in Reihen- und Rund—
tänzen gruppieren, ſo iſt auch die Inſtrumentalmuſik gezwungen,
dieſen Organismus aufzunehmen und hierdurch namentlich gewinnt
die Inſtrumentalmuſik die Möglichkeit einer ſelbſtändigen Ent—
wicklung.
Auch bei den Vocalformen ſtellte ſich das Princip des Rhyth—
mus namentlich im Liede als ein beſonders treibendes dar. Allein
ſeine Wirkſamkeit wird doch vielfältig durch das Wort paraliſiert;
ſeine ordnende Kraft zeigt ſich erſt unumſchränkt geſtaltend in der
Inſtrumentalmuſik. Dieſe bedarf einer ſolchen ordnenden Macht;
ohne ſie iſt ſie im beſten Falle nur ein ſinnig belebtes Tonſpiel.
Weil ihr die Prägnanz des Ausdrucks der Vocalmuſik fehlt, bedarf
ſie eines größern Aufwandes von Mitteln, um ſich verſtändlich
zu machen, und dieſe erfordern dann nicht mehr architectoniſche
Verſchlingung, ſondern nach geordneten Maßverhältniſſen erfolgende
Anordnung der einzelnen Glieder zu größern Partien.
Der unendlich erweiterte Reichthum, unter welchem ſich jetzt
das ganze Material darſtellt, dieſer unerſchöpfliche Quell der lieb—
lichſten und charaktervollſten Melodien, dieſe Unendlichkeit harmoni⸗
ſcher Entfaltung und die gewaltige Breite, in der ſich alles zuſam—
men zu fügen trachtet, erfordert eine ganz andere Gruppierung als
das Vocale. Wenn für dieſen die Stetigkeit innerer organiſcher
Entwicklung als oberſter Grundſatz feſtzuſetzen iſt, ſo führt die
Inſtrumentalmuſik ganz bedeutſame Abweichungen herbei. Sie
erfordert mit Nothwendigkeit die Einführung gewiſſer ſelbſtändiger
Partien, welche zunächſt in keinem Zuſammenhange innerer Noth-
wendigkeit zum Hauptgedanken ſtehen, die vielmehr als ſein directer
Gegenſatz gelten müſſen und nur herbeigezogen wurden, um den
Hauptgedanken in ein neues Licht zu ſetzen und ihn dadurch ver—
ſtändlicher zu machen, theils auch um Ruhepunkte, oder auch um
Keime für eine neue Entwicklung zu gewinnen. Ja die Wirkung
durch Contraſte, die in dem Vocalen zu den ſeltenſten Ausnahmen
gehören dürfte, wird für das Inſtrumentale unerläßlich Bedürfniß.
Alle die Gegenſätze nun werden zu allermeiſt durch die Kraft des
Rhythmus in lebendiger Einheit zuſammen gefaßt, alſo, daß das
Contraſtierende und das Fremde mit dem organiſch Werdenden ſich
zu einem einzigen Bilde vereinigt und doch jedes einzelne Glied
in freieſter Entfaltung ſelbſtändig Exiſtenz gewinnt.
— 280 —
Die Tanzformen ſind deshalb auch die erſten ſelbſtändigen
Inſtrumentalformen geworden; an ihnen erſt entfaltete ſich die
Macht des im Großen anordnenden Rhythmus, unter deren weſent—
lichem Einfluß dann jene Inſtrumentaleinleitungen zu Ouverturen,
die Suiten zu Sonaten und Symfonien ſich erweitern konnten.
Händel und Bach pflegten beide auch die Formen des
Tanzes. Händel prägt, ſeiner Individualität entſprechend, das
Charakteriſtiſche derſelben, den Rhythmus, viel entſchiedener aus,
als Bach, dem auch dieſe Formen mehr Gefäß ſind, in das er
ſein reiches Volksgemüth ergießt. Seine Sarabanden und Gavotten,
Couranden und Allemanden ſind Bilder aus ſeiner Vergangenheit,
find Scenen aus der Ruhl.
Auch die Liedform tritt in ſeinen freiern Clavierſtücken ſchon
nicht mehr, wie noch bei Frescobaldi und Couperin, als
ſolche auf, ſondern vielmehr nur in dem, ſie bewegenden Princip.
Bach ſollte daher den Orcheſterſtyl nur ideell, nicht auch formell
begründen.
Für die ſelbſtändige Ausbildung der Ouverture wird zunächſt
auch Gluck bedeutſam; allein das eigentlich geſtaltende Princip des
Orcheſterſtyhls, die Wirkung durch den Contraſt, ſcheint ihm nur
einmal annähernd in der Ouverture zur „Iphigenie in Aulis“
aufgegangen zu ſein. Auch ſeine Inſtrumentalwerke wurzeln noch
zu ſehr in der alten Anſchauung. Er verwendet vorwiegend nur
ein Motiv und zwar in der Weiſe der Contrapunktiſten durch Ver—
ſetzung in eine andere Tonart. Das alte Syſtem aber war ja
ſchon für den Ausdruck des modernen Empfindens im Geſange nicht
mehr geeignet, dem inſtrumentalen Ausdruck mußte es geradezu
hinderlich werden. Das Princip des Contraſtes iſt daher immer
noch nur äußerlich vorhanden, ſowol in den Tänzen, wie in den
Ouverturen und Symfonien, mit welchen die Componiſten ihre
größern Vocalwerke einleiteten; es macht ſich nur in der Reihenfolge
der verſchiedenen Sätze, nicht auch an einem einzelnen geltend.
Erſt als jenes im Volksliede lebendig gewordene und von Joh.
Seb. Bach auch dem Inſtrumentalſtyl gewonnene Princip der
Dominantwirkung die geſammte muſikaliſche Geſtaltung zu beherr—
ſchen beginnt und namentlich ſich für die Darſtellung jenes Con—
traſtes ſo außerordentlich wirkſam erweiſt, entwickelt ſich aus dieſem
heraus der einzelne Satz des inſtrumentalen Kunſtwerks. Die erſten
—
Verſuche erſcheinen ſchon in einem Sohne und Schüler Joh. Seb.
Bach's, in Philipp Emanuel Bach; durchgreifenden Erfolg
gewann erſt Joſeph Haydn.
Der ganze erſte Satz der neuen Symfonie wie der Sonate
und der verwandten Formen iſt eigentlich nur eine Darſtellung
jenes urſprünglichen Prozeſſes, dem auch das moderne Lied ſeine
Entſtehung verdankt, natürlich in dem ungleich bedeutſamern Inhalt
entſprechenden Dimenſionen erweitert; und er zeigt ſich nicht nur
im Großen, in den einzelnen Theilen, ſondern im Kleinen, in den
Motiven geſtaltend.
Das erſte Hauptmotiv prägt die Tonika, das zweite in Dur
die Dominante, in Moll dem entſprechend die Obermediante aus;
aber beide Motive ſtehen nicht im Verhältniß von Strophe und
Antiſtrophe, ſondern wie Satz und Gegenſatz und aus der gegen—
ſeitigen Einwirkung baut ſich der ganze erſte Inſtrumentalſatz der
neuen Symfonie auf. Zeigt ſich hier nur das Princip des
Liedes, ſo tritt dieſes ſelbſt in der Regel ſchon im nächſten Satze,
ſeltener erſt im dritten, ganz beſtimmt hervor. Das Adagio oder
Andante der neuen Symfonie iſt nicht, wie in der alten, ein
Fugenſatz oder alter Hymnus, ſondern ein variiertes oder, wie
namentlich bei Beethoven, feenifch erweitertes Inſtrumentallied.
Haydn und auch Mozart bedurften für dieſen Satz gleichfalls
noch das Princip des Contraſtes, das ſie indeß in anderer Weiſe
faſſen, als im erſten Satze. Hier iſt es nicht die Dominant-
bewegung in ihrer wunderbaren Wirkung, als vielmehr die Wechſel—
beziehung zwiſchen Dur und Moll, die ſie mehr liedmäßig und in
Variationen als Maggiore und Minore darſtellen. Beethoven
bedurfte deſſen ſchon nicht mehr; er ſingt ſeine Adagio's ganz in der
Weiſe des ſceniſch erweiterten Liedes, die wir bereits bei ihm kennen
lernten und dies wird dadurch oft bis zu hymniſcher Ausbreitung
geſteigert.
Während ſo dieſe beiden Sätze ihre Abſtammung vom Liede
nicht verleugnen, gehört der dritte dem Tanz an. Haydn und
Mozart pflegten mit beſonderer Vorliebe die Menuett als dritten
Symfonie⸗ und Sonatenſatz; Beethoven erhob auch ihn als
Scherzo in eine höhere geiſtigere Sphäre.
Als letzten Satz endlich erwies ſich jene, gleichfalls aus dem
Liede entwickelte Rondoform, die wir ſchon bei Couperin fanden
u
und die neben der Variation ganz beſondere Pflege fand, am geeig-
netſten, und Mozart und Beethoven gaben ihr durch die
großartigſte Anlage, durch mächtige Themen und entſprechende breite
Ausführung die Gewalt und Bedeutung von dramatiſchen Finale's.
Es kann nicht unſre Abſicht ſein, die hiſtoriſche Entwicklung
dieſer Formen weiter zu verfolgen. Nur der Einfluß, den das
Lied auf ihre fernere Pflege äußert, intereſſiert uns hier. |
Bei Weber ſchon hindert er wiederum die orcheſtrale, über⸗
baupf inſtrumentale Geſtaltung. Jener eigenthümliche Zug der
Individualität dieſes Meiſters, der durch die einſeitig lyriſche Rich—
tung, welche die Muſikentwicklung jetzt bereits einſchlägt, geweckt,
die ſinnlich reizvolle Seite des muſikaliſchen Darſtellungsmaterials in
den Vordergrund drängt und der ſchon den Vocalſatz vollſtändig
beherrſcht, konnte erſt inſtrumental ſeine ganze Bedeutung gewinnen.
Das Orcheſter erſt bietet den reichſten Vorrath von Farbentönen,
durch deren verſchiedenartige Miſchung ſich eine große Mannich—
faltigkeit des Klangcolorits herſtellen läßt und dies verſtand Weber
fo meiſterlich, daß er namentlich dadurch ſeinen Platz in der Kunſt—
geſchichte gewann. Seine feine und originelle Inſtrumentation iſt
ſein weſentlichſter Vorzug. Doch auch das Bedenkliche und Ver—
derbliche dieſer Richtung, der Mangel einer organiſchen Entwicklung
wird inſtrumental weit fühlbarer, als vocal; der Junſtrumentalſtyl
verliert ja ſeine Grundbedingung. Die Ouverturen von Weber
ſind die reizendſten Potpourri's, die überhaupt zuſammengeſtellt
werden können, aber ſie ſind keine eigentlichen Orcheſterformen, noch
weniger Orcheſterprologe im Sinne Gluck's, Mozart's oder
Beethoven's. Die einzelnen Hauptmomente der Oper ſind zwar
in der Ouverture zu einem Satze verbunden, aber nicht zu einem
organiſch ſich entwickelnden Orcheſterſatz, und nur die reizvolle
Süße der einzelnen Partien und die wahrhaft berückende Inſtru—
mentation vermögen hier dieſe Mängel der Conſtruction zu verdecken.
In Weber's übrigen Inſtrumentalwerken, ſeinen Symfonien,
Trios, Sonaten und Coneerten treten fie indeß jo eutſchieden herz
vor, daß dieſe nur in ihren einzelnen Partien, nicht in ihrer
Geſammtheit zu intereſſieren vermögen.
Eine ganz neue Gattung Inſtrumentalwerke treibt dieſe Rich—
tung in dem erſten bedeutenden Vertreter der neuen muſikaliſchen
Lyrik, in Franz Schubert hervor. Die Tiefe und Innigkeit
— 283 —
ſeines Gemüths, die üppige Fülle ſeiner Empfindung drängten ihn
ſchon in feinen Vocalwerken zu der ausgedehnteſten Verwendung
des Inſtrumentalen, in welchem das geheime Weben und Walten
des Geiſtes viel erſchöpfender und unmittelbarer äußere Darſtellung
gewinnt, als im Vocalen. Dabei entwickelte ſich manch ein Zug in
ſeinem Innern, manch ein Bild in ſeiner Phantaſie, für welche
das Wort des Dichters kein entſprechendes Ausdrucksmittel mehr
iſt, und ſo wird auch Schubert zur Inſtrumentalmuſik ganz
naturgemäß hinüber geführt. Hier ſollte er nun zunächſt den
Beweis liefern, daß die lyriſche Beſchaulichkeit nicht geeignet iſt,
große und weit angelegte Inſtrumentalformen zu ſchaffen, daß die
geſammte Innerlichkeit vielmehr ſich an entſprechenden objektiven
Bildern, die ſie der Phantaſie vorüberführt, concentrieren muß.
Schubert's größere Inſtrumentalwerke, feine bekannte Sym—
fonie, das Quintett, die Trio's und die Sonaten für Clavier ſetzen
ſich aus einer Menge wunderbar empfundener und ausgeführter
Züge zuſammen, aber ohne die nothwendige orcheſtrale Faſſung und
Gruppierung zum geſchloſſenen Ganzen. Die einzelnen Gefühls—⸗
ergüſſe find an einander gereiht ohne jene Gegenwirkung auf ein-
ander, die allein das inſtrumentale Kunſtwerk plaſtiſch heraus—
treten läßt. |
Dagegen ſchuf er in feinen Variationen, Impromptu's, den
Polonaiſen, Märſchen und Walzern jene kleinen lyriſchen Inſtru⸗
mentalformen, welche ſeit dem durch Chopin, Mendelsſohn,
Schumann und eine ganze Reihe jüngerer Künſtler mit großer
Sorgfalt gepflegt wurden. Die Formen an ſich ſind allerdings
nicht neu. Seit Bach waren alle Meiſter des großen Inſtru—
mentalſtyls auch für ihre Ausbildung bemüht. Allein ſie erſcheinen
doch immer mehr als in der Entwicklung zurückgebliebene Bruch-
ſtücke größerer Werke, oder haben nur formell Bedeutung. Selbſt
die „Bagatellen“ von Beethoven, welche den neuen Schubert—
ſchen lyriſchen Inſtrumentalformen am nächſten ſtehen, enthalten
durchweg Keime für größere Orcheſterformen, die der Meiſter in
ihrer Entfaltung ſelbſt zu hindern für nothwendig erachtete.
Mit Schubert beginnt daher erſt die neue Phaſe und eigent—
lich kunſthiſtoriſche Bedeutung dieſer Formen, indem er ihnen einen
lyriſchen, nur auf ſich bezogenen Inhalt einflößte. Sie ſind die
eigentlich inſtrumentale Ergänzung der Liedform geworden. Bei
— 284 —
Schubert haftet ihnen noch eine eigenthümliche Weitſchweifigkeit
an. Im Liede hielt das Wort die Phantaſie des Meiſters noch in
engern Schranken; in dieſen inſtrumentalen Formen bewegt ſie ſich
feſſellos und frei und in einem wahrhaft ſchwelgeriſchen Spiel mit
reizenden Melodien, Harmonien und berückenden Klangwirkungen
bringt er den einen Zug ſeiner erregten Innerlichkeit, ihn bis in
die feinſten Nuancen verfolgend, zur Erſcheinung.
Chopin folgte dieſem Ausdruck, ihn noch ſubjektiver zuſpitzend,
und Mendelsſohn und Schumann führten auch ihn auf ſeine
Pointen zurück. ö
Mendelsſohn's genialer Sinn für Formvollendung leitete
ihn direct auf den Urſprung dieſer ganzen Gattung, auf die Form
des Liedes hin. Man hat ſeine „Lieder ohne Worte“ vielfach zum
Gegenſtande des Angriffs gemacht, und gewiß ſehr ungerechtfertigt.
Schon die geniale Weiſe, mit der Mendelsſohn die eigenthüm—
liche Aufgabe löſte, hätte alle Kritik zum Schweigen bringen müſſen,
auch wenn die ganze muſikaliſche Entwicklung nicht mit ſolcher Ent—
ſchiedenheit auf dieſe neue Phaſe des Liedes hindrängte. In ihr,
wie namentlich auch in der ganzen Individualität des Meiſters aber
iſt ſie tief begründet. Die muſikaliſche Form des Liedes hat eine
ſo beſtimmte Feſtigung gewonnen, daß ſie des Textes nicht noth—
wendig mehr bedarf und wie berechtigt dieſer Standpunkt iſt, wird
unwiderleglich durch die Thatſache bewieſen, daß gerade dieſe „Lieder
ohne Worte“ Mendelsſohn's kunſt- und culturgeſchichtliche
Bedeutung am feſteſten begründeten.
Schumann's Genius iſt Anfangs faſt ausſchließlich in die—
ſen kleinern Formen thätig. Sie wurden die Grundlage ſeiner
ganzen kunſtſchöpferiſchen Wirkſamkeit. Er führt ihnen aber einen
ganz neuen Inhalt zu, indem er wieder unter dem entſchiedenen
Einfluß eines beſtimmten Darſtellungsobjekts erfindet. Wir glauben
die Schubert' ſche Clavierpiege ganz richtig als Ergänzung feines
Liedes zu bezeichnen; ſie hat jenen Gefühlsüberſchuß zu ſeinem
Darſtellungsobjekt, der im Liede nicht zur Erſcheinung kommen kann.
Noch tiefer wurzelt auch nach dieſer Seite Mendelsſohn im
urſprünglichen Liede. Schumann's Clavierſtücke ſind durch dieſe
Richtung nur angeregt; ſie haben eine directe Beziehung zum Liede
nicht mehr. Sie ſind „Phantaſieſtücke“ und ſtehen daher erſt voll—
ſtändig auf dem Boden, aus dem das inſtrumentale Kunſtwerk
— 285 —
überhaupt heraustreibt. An einer Erſcheinung oder einem beſtimm⸗
ten Vorgange des äußern Lebens entzündet er ſeine Phantaſie, oder
beſtimmte Ideen erzeugen in ihr Tonbilder, die nur inſtrumental
äußere Geſtalt gewinnen können.
Dieſe kleinen Clavierformen Schumann's haben daher auch
viel nähere Beziehungen zu dem großen inſtrumentalen Kunſtwerk
als zum Liede ſelbſt. Sie entſprechen ziemlich treu dem zweiten
Theil des erſten Symfonieſatzes, in dem das leichte freiere Spiel
mit dem oder den Motiven des Hauptſatzes beginnt. Auch ſie
haben zu ihrer Grundlage ein Motiv, meiſt eine ſogenannte Cla—
vierfigur aus deren dialectiſcher Entwicklung, die aber unter gleich—
zeitiger Herrſchaft jenes Phantaſiebildes erfolgt, das Tonbild—
chen hervorgeht.
Somit hatte Schumann von vornherein viel entſchiedener
von dem inſtrumentalen Gebiete Beſitz ergriffen als Schubert
und Mendelsſohn, und er vermittelt ihm die neue Lyrik mit
weit durchgreifenderem Erfolge als jene; zugleich zeichnete er auch
hier wieder den Weg vor, auf welchem die neue Weiſe zum neuen
größern und ausgeführten inſtrumentalen Kunſtwerk führen muß.
Die beiden Clavierſonaten Op. 11 und 22. haben denſelben Hinter—
grund, wie die Charakter- und Phantafieftüde. Jene erſte fismoll >
Sonate hat den gleichen Boden mit den Davidsbündlertänzen, und
vergebens verſucht hier noch Schumann die ſtürmiſche Haſt und
die zarte Innigkeit ſeines Weſens, die noch ſehr unvermittelt in
ſeiner eignen Innerlichkeit nebeneinander liegen, zum größern Ton—
bilde zuſammenzufügen.
Das erſte Inſtrumentalwerk, in welchem dieſe ganze neue
Richtung objektive Haltung gewinnt, iſt die Symfonie in B dur.
Mit ihm iſt der Fortſchritt des orcheſtralen Kunſtwerks von dem
nur ſchwelgeriſch erregten Spiel der Phantaſie, in welchem noch
die Orcheſterwerke Schubert's und Mendelsſohn's wurzeln,
zu wirklichen, aus ihrer Unbeſtimmtheit heraustretenden Bildern
entſchieden. Namentlich hat der Meiſter jene Macht des Rhythmus
wieder gewonnen, oder doch zum mindeſten ganz entſchieden den
Weg hierzu bezeichnet, welche auch den ungleich größern Reichthum
von feinern Zügen, in dem ſich jetzt das neue orcheſtrale Kunſt—
werk darlegt, einheitlich zuſammenfaßt. Das iſt ja der Haupt-
mangel des Schubert'ſchen Orcheſterſtyls, daß ihm jene, im
— Mi —
Großen anordnende Macht des Rhythmus fehlt, weshalb ſich nicht
ſelten früh ſchon eine, die andern wunderbaren Schönheiten beein⸗
trächtigende Monotie einſtellt. Schumann fühlte dieſen Mangel,
und er würde bei ihm um ſo empfindlicher geworden ſein, weil er
ſeine größern Orcheſterwerke noch feiner im Detail zeichnet, als
Schubert. Daher verwendet er früh auf die rhythmiſche Seite
eine große Sorgfalt; freilich nur erſt mehr äußerlich. Er legt
ſeine Themen meiſt ſchon ſo mannichfach rhythmiſiert an, daß ſie
ſchon unſer Intereſſe in hohem Grade erregen, aber auch zugleich
die rhythmiſche Anordnung im großen Ganzen unendlich erſchweren.
Um fie herzuſtellen und doch auch die rhythmiſche Mannichfaltigkeit
zu ſteigern, wird Schumann häufig auf äußere Hülfsmittel
gewieſen. Die rhythmiſchen Verrückungen, die Synkopen werden
bei ihm faſt permanent und jene vollſtändige Auflöſung des Rhyth⸗
mus, die namentlich bei Beethoven das Orcheſter oft in einen
wilden Taumel gerathen läßt, wie jener plötzliche Uebergang aus
dem einen Rhythmus in den andern, der bei Beethoven nur
innerlich motiviert erſcheint, werden bei Schumann zur äußern
Nothwendigkeit. Trotzdem iſt Schumann's Weife der rhythmi⸗
ſchen Behandlung ein Fortſchritt und jene Symfonie, wie die in
dur, die Quartetten für Streichinſtrumente, das Quartett und
Quintett für Piano und Streichinſtrumente, das Clavierconcert, die
Ouverture zur Genoveva und zu Manfred, beweiſen, daß er es
recht wol verſtand, das bunteſte rhythmiſche Wechſelſpiel mit Meiſter—
hand zuſammen zu faſſen. In vielen dagegen, namentlich in der
dritten und vierten Symfonie läßt es die ruheloſe Haſt der Rhyth—
mik zu keinem wahren Genuß der melodiſch und harmoniſch ſo feſt
und ſicher ausgebildeten und jo ſchön und wahr empfundenen Ton—
bilder gelangen.
Jene größeren Inſtrumentalwerke und die bereits früher erwähn⸗
ten Vocalwerke des Meiſters reihen ſich dem Bedeutendſten an, was
je geleiſtet worden iſt und weil ſie durchaus auf dem Boden der
neuen Kunſtanſchauung ſtehen, werden ſie erſt als die Markſteine
der neuen Zeit gelten. Was Beethoven durch ſeine letzten
Werke anregte, hat Schumann mit durchgreifendem Erfolge groß
und herrlich auszuführen begonnen. Er knüpft nicht an dieſen,
ſondern ganz naturgemäß an den Meiſter an, welcher der Tonkunſt
erſt die Mittel und Formen für den Ausdruck der iſolierten Einzel—
empfindung zuführte: an Franz Schubert. Aber in dem Streben,
ſeiner Empfindung wie ſeiner Phantaſie früh einen conereten Hinter—
grund zu geben, fand er den eigentlichen Inſtrumentalſtyl der
neuen Richtung. Er ſpitzt den ſubjektiven Ausdruck immer feiner
zu; aber er iſt auch zugleich unabläſſig bemüht, ihn in feſte, allge—
mein faßbare Formen zu gießen. An jenen individuellen Clavier⸗
formen erprobt und ſtählt er die Kraft ſeines Ausdrucks, ehe er
ihr in feinen beiden Sonaten Op. 11. und 22. eine objektive
Faſſung zu geben verſucht. Dann erſt führt er mit Op. 24. ihm
auch das Wort zu und weitet den lyriſchen Ausdruck mit Op. 30.
und 31. epiſch aus. In dem ernſten Streben nach Formvollendung
vernachläſſigt er auch die feſtſtehenden contrapunktiſchen Formen
nicht; die Gigue und Fughette aus Op. 32., die Sechs Fugen
Op. 60. und die Vier Fugen Op. 72. find nichts anderes, als die
wolgelungenſten Verſuche, dem modernen Inhalt die höchſte künſt—
leriſche Form zu geben.
Daher bedarf der Meiſter auch keines Programms, als er in
ſeiner Phautaſie Tonbilder hervorruft, die er dem Orcheſter in den
weiteſten und reich ausgeführteſten Formen anvertrauen muß.
Seine Phantaſie iſt bereits ſo geſchult, daß ſie formell zu erfinden
im Stande iſt; daß jene Bilder ſich ſofort in Muſik umſetzen; daß
der Meiſter, um ſie ſeiner muſikaliſchen Anſchauung zu vermit—
teln, nicht erſt nöthig hat, ſie in Worte zu faſſen. Doch auch
der Hörer bedarf keines Programms. Wie die Phantaſie unſeres
Meiſters, iſt auch ſeine Technik geſchult. Dieſe hat er ſich zum
großen Theil erſt ſelbſt geſchaffen, oder doch ſo umgeſtaltet, daß ſie
wie ſein eigen erſcheint. Jeder einzelne Zug ſeiner großen Inſtru—
mentalſchöpfungen ſpricht ſich daher ſelbſt aus in höchſter Beftimmt-
heit und Deutlichkeit und nur als er auf jenem Standpunkt ange⸗
kommen iſt, auf dem ſeine Technik in ein Mißverhältniß zu ſeinem
Inhalt tritt, als die Beſonderheiten derſelben zu Abſonderlichkeiten
werden und ſeine Phantaſie zu beherrſchen beginnen, verliert er ſich
auch inſtrumental in intereſſanten, ergreifenden und feſſelnden, aber
nicht mehr einheitlich zuſammen gehaltenen Einzelheiten. In allen
größern Orcheſterwerken aber erweiſt ſich die Erkenntniß ſchaffend,
daß in der wachſenden Vertiefung und Erweiterung des Inhalts
die Nothwendigkeit einer organiſchen Gliederung immer entſchiedener
in den Vordergrund tritt. Der Meiſter entwickelt ſie alle, wie
— Bu >
ſeine großen Vorgänger, aus unſcheinbaren Themen, aus Motiven,
in die er die Grundgedanken ſeines Idealbildes zuſammenfaßt und
durch deren organiſche Entwicklung führt er uns dann in die geheime
Werkſtatt ſeines Geiſtes und enthüllt uns allmälig alle die Gedanken
und Empfindungen, die ihn während des Schaffens bewegten, ent—
ſchleiert uns, was ſeine Phantaſie, ſeinen Geiſt erfüllte; und weil
er ſich überall an dem Bande der Naturgeſetze hält, dieſe nirgends
„negiert oder überſpringt,“ ſondern nur wiederum tiefer faßt als
jeder Vorgänger, wird es nicht leicht, aber doch möglich, ihm zu
folgen ohne Programm. Das aber ſcheint uns die einzig mögliche
Weiſe des Inſtrumentalſtyls zu ſein, und daß die neue Zeit des
Programms bedurfte, um ihm einen neuen Inhalt zuzuführen und
die Möglichkeit des Verſtändniſſes zu erreichen, dürfte ein Beweis
ſein, daß ſie überhaupt den Inſtrumentalſtyl ſelbſt verloren hat.
Die ſymfoniſchen Dichtungen von Franz Liſzt find in der
That auch viel eher verſuchte orcheſtrale Uebertragungen ſeines Lied—
ſtyls, als wirklich inſtrumentale Kunſtwerke und bedürfen darum
des Programms. Sie wurzeln allerdings ihrer Idee nach durchaus
in der Entwicklung der Richtung unſerer Zeit: ſie ſind Produkte
des energiſchen Strebens, der Inſtrumentalmuſik nicht den höchſt—
möglichen, ſondern vielmehr begrifflichen Ausdruck zu geben, wie
ihn die Vocalmuſik hat. Doch können wir nie auch nur die Noth—
wendigkeit eines ſolchen Verfahrens zugeſtehen. „Dieſes beſtimmte
Ergreifen des Programms, die Vereinigung von Bewußtem und
Unbewußtem,“ was die Inſtrumentalmuſik für unſere Zeit und die
Zukunft lebendig erhalten ſoll, iſt ja eigentlich Aufgabe der Vocal—
muſik, namentlich in ihrer Verbindung mit der Inſtrumentalmuſik,
wol nimmer aber der reinen Inſtrumentalmuſik. Warum alſo
inſtrumental verſuchen, was vocal künſtleriſch und erfolgreich auszu—
führen iſt? Im vocalen Kunſtwerk ſind Programm (der Text)
und Muſik untrennbar zu gemeinſamer Wirkung verſchmolzen; im
inſtrumentalen nicht; entweder die Muſik iſt dem Programm oder
das Programm der Muſik angehängt, und eins von beiden dann
ſicher überflüſſig.: Zu dem beruht es wol auf arger Selbſt—
täuſchung, wenn die Anhänger der Programmmuſik in der rhapſo—
diſchen Weiſe des neuen Styls den geſuchten Ausdruck wirklich
erkennen. Die Inſtrumentalmuſik hat zunächſt keine ſo beſtimmte
Formen, wie die Vocalmuſik, weil ſie kein dichteriſches Versgefüge
— 289 —
zu reſpectieren hat; aber ſie muß doch viel entſchiedener noch nach
formeller Feſtigung ringen, weil ſie nur ſo die Möglichkeit eines
beſtimmten Ausdrucks gewinnt. Der einzelne Ton tritt erſt durch
die Verbindung mehrerer zum Accord oder zur melodiſchen oder
rhythmiſchen Phraſe aus der Unbeſtimmtheit des Ausdrucks heraus;
nur in ſeinem Verhältniß und in Beziehung gebracht zu andern,
erlangt er eine gewiſſe ausdrucksvolle Beſtimmtheit. Die einzelnen
Motive oder Phraſen erlangen ebenfalls wiederum nur dadurch
ſpecifiſches Gepräge, daß ſie in engſte Beziehung zu einander
geſetzt werden und je feſter und künſtlicher ſich dieſe einzelnen Glieder
des Kunſtwerks in einander fügen, um ſo beſtimmter muß der Aus—
druck des Ganzen werden, fo daß er in den typiſchen Formen des
Marſches oder des Tanzes oder des Chorals und in den canoniſchen
Formen faſt begriffliche Beſtimmtheit erlangt. Indem die Pro—
grammmuſik dieſe natürliche Formation aufgiebt, verliert ſie die
eigentliche Grundbedingung der Ausdrucksfähigkeit des Inſtrumen—
talen; ſie kann eben nur Gruppen zu zeichnen verſuchen, welche zu
ihrer Verſtändlichkeit der Unterſchrift bedürfen.
So müſſen wir auch auf dem Gebiete der Inſtrumentalmuſik
Schumann als denjenigen bezeichnen, der den Inſtrumentalſtyl
der neuen Richtung fand, in welchem die ſubjektiven Mächte des
Individuums größere Freiheit für ihre Entfaltung gewinnen und
dennoch objektive Faſſung finden. Das aber iſt die Aufgabe der
Muſikentwicklung ſeit Bach und ſie wird es ſein bis auf alle Zeit;
und ſchon hat ein jüngerer Nachwuchs die Erbſchaft jenes letzt—
heimgegangenen Meiſters angetreten. Außer dem größten Theil der
bereits früher angeführten jüngeren Künſtler dürften noch Joachim
Raff, Selmar Bagge, Robert Volkmann, Friedrich
Kiel, Carl Reinecke, Normann, Bernsdorf und Jad—
daſſohn zu nennen ſein, die in dieſem Sinne nach ſubjektiver
Freiheit und dennoch allgemein faßbarer Geſtaltung in überlieferten
Formen ringen, und nur von dieſer künſtleriſchen Thätigkeit erwarten
wir für die Zukunft neue Kunſtſchöpfungen.
Die Kunſt ſchafft nach Geſetzen der Nothwendigkeit und Zweck—
mäßigkeit und erzeugt daher für gleiche Zwecke auch gleiche Formen,
aber nicht als Schablonen, ſondern immer als der lebendige Orga—
nismus, der ſich den größeren oder geringeren Dimenſionen des
Inhalts genau anſchließt, um ihn fo in ideeler Plaſtification darzu⸗
Reißmann, deutſches Lied. 19
Be; une
ſtellen. Dieſer Organismus iſt zu allen Zeiten derſelbe und ſelbſt
wenn er ſich in typiſchen Formen kryſtalliſiert, wie im Liede oder
Choral und in einzelnen Inſtrumentalformen, verhärtet er nicht
zur Schablone, ſondern er läßt eine ſolch ausgebreitete Vielgeſtaltig—
keit zu, wie ſie der Inhalt eben verlangt. Lied, Choral, Hymnus,
Canon und Fuge des fünfzehnten Jahrhunderts unterſcheiden ſich
weſentlich von den gleichen Formen des neunzehnten und doch lebt
in allen derſelbe Organismus. So wie es nun gewagt erſcheint,
von überwundenem Standpunkt zu ſprechen, ſo thöricht iſt es, an
hergebrachten Formen feſtzuhalten, weil ſie durch eine lange Lebens—
dauer ſanctioniert find. Mit der Neugeſtaltung, welche das Bewußt—
ſein eines Volkes erleidet, muß ſich nothwendiger Weiſe auch der
Ausdruck desſelben, ſeine Kunſt anders geſtalten. Jede Neugeſtal—
tung hat aber im Alten ihren Boden und wie das neue Volks—
bewußtſein ſelbſt nur als Produkt vergangener Zeit erſcheint, ſo
wird auch das Kunſtwerk nach Form und Inhalt ſich vergangenen
Perioden anſchließen. Und das iſt die Bedeutung des alten Kunſt—
werks. Nicht daß man es als muſtergiltig kopiere, oder aber als
überwunden ignoriere, ſondern daß es hineinrage in die neue Zeit
und dieſe an ihm erſtarke und tüchtig werde, neue unvergängliche
Kunſtwerke zu ſchaffen. Die Kunſtlehre aber muß hierzu die Wege
bahnen, indem ſie das Verſtändniß der Vergangenheit erſchließt,
die Gegenwart begreifen lehrt und dadurch die Zukunft vor—
bereiten hilft.
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> 8 OO) ον do do DD de d — — — — — — — — —
SUB SED
Inhalt.
Nun lobet mit Geſangen . . Volkslied.
Ganz ſchwarz heßlich jetzt lang ar
So wünſch ich ir ein gute nacht . „
Mein freud allein in aller welt .. „
Ich ſtund an einem Morgen. . „
Frau, ich bin euch von Herzen hold! „
Es jagt ein jeger geſchwinde . „
Wo ſoll ich mich hinkeren? . . „
Entlaubet iſt der walde ;
Wol auf, gut g'ſell, von binnen. . „
Insbrukk ich muß dich laſſen. . „
Ich ſol und muß ein bulen haben . „
O lieber Hans, verſorg' dein Gans.
Dort oben auf dem berge ;
Ein abt den wöll wir weihen. . „
Der müller auf der obermül
Goods werden al van groter famen
Ihr lieben Soldaten tret all heran .,
. u. 20. Meiſter Müller thut mal 8 =
Selig ift der Tag.
So ſing' und ſpring.
O Sternenäugelein!
Mit Freuden, mit ſcherzen.
Die Luſt hat mich bezwungen..
Biſt du von der Erde.
Ei wohlan! ſo hab' ich doch.
Will ſie nicht, ſo mag ſie's laſſen.
Holde Phyllis, deine Liebe .
Ja, liebſter Damon, ich bin S
Willſt du dieſen Raub nicht ſtrafen. .
Du Echo meiner Klagen. r
Das Ende vieler dunklen Tage.
— WW
M. Fraul.
J. H. egen.
5. Albert. e
A. Hammerſchmllbt.
77
C. H. Graun.
J. F. Agricola.
F. W. Marpurg.
Chr. Nichelmann.
—
DISCANT =
neson ne ee
(Melodie) 5
lo ⸗ bet mit ge = gen * Her⸗
BASS
\
= in
— ER 1
| fan = gen — zur Höl -le ganz ver-dammt.
Ganz ſchwarz heß - lich jetzt lang ſich hat mein ar =
Rechtſam ein bild, das in dem koth ge = le = gen
iſt —— viel tag
delt gar. Wie wol mich
und jar.
got viel ſchh) — — — — ner hat denn al -le
thier ge ⸗ zie ⸗ ret hat doch mich "ganz in = ner⸗
essen
lich die ſchlang mit ih- rem ſtich jo ſchwarz und heß - lich
un — — for — mie —
So wünſch ich ir — — — ein gu — — — — te
So ich ir lieb — — — erſt recht — — — — be
= |
— Seren
er . —
nacht, zu hun⸗dert tau — ſend ft — — — — — —
tracht, iſt all mein leid — verſchwun — — — — — —
—
55
den.
— — 2 1 — — — t
2 0 Wenn ich ſie ſeh er = freu 2 e
e
„
—— —— 2 — —
ſich hat mir mein Herz — be — ſeſ - ſen. Drumb ich in
2
— — ver⸗geſ — fan.
Reißmann, deutſches Lied. b
M 4
b Peer 2
Pers retrEe ns:
Mein freu' — — al ⸗ lein in al — — — — — ler
Mein Herz — — hat ſich zu dir — — — — — ge-
„55
7
welt mein troſt in al⸗len tun — — — — — — 11
ſtellt mit lieb und treu verbun — — — — — — den.
— 9 —-1-9 —
— 2 2 2 “=
2 8 N Sb
Durch dich — ich mit lie — bes-kraft ſchwerlich — —
— — ge - ſtellt in ar- ger liſt gez — — — lich
= === Pe e
iſt mein Herz in rech⸗ter leb — — — — 5 pflicht.
M 5.
Ich ſtund an - nem mor⸗gen heim⸗lich an. — ei⸗ nem ort
—
ä
da het — ich — mich ver — bor-gen ich hö — ret kleg⸗
Ferse
— li-de wort von ei- nem freuslein was hübſch — und ſein
von ei- nem freu⸗lein was hübſch und fen hübſch und — —
— — — fiin. Er 7 7 zu ſei — nem bu * len
SER SsFez—s
es muß ge- ſchie — — — den ſein.
M 6.
|
= er eur 8 3 vier m =.
1 ap ee = — e— Ze —
e 5 as —t = 2
Frau ich bin euch von Her — zen — hold! O mein, o
= zu, oo
mein. Ich thet euch 18 0 was ich — ſolt'. O mein, o
—
re = 122.
|
mein! wenn ir's von mir an⸗ 205 men wolt. men,
—ç — PER REN
> Dr Ten | == een
3 8 72 .
1 Seren 5
mein! Bin ich doch dein möchts möglich ſein ich geb' mich
dir in's herz hin⸗ ein.
Es 15 ein je = ger ge- ſchwin— —
Mit ſei - ner ſchnel - len win — —
W.
0 = ben vor dem holz 9 Auf ei⸗ ner wei — ten
er ein wild was ſtolz —
feiner win⸗zken bei — — den hetzt — er hin — ten
35355 EEE En
ar Mr ge ee wen: 2
. e N
10 Vom g'ſpür will ich nit ſchei — den, der—fel — big
14. — ..
* —
KR
je — ger ſprach
NMS.
FFF.
Wo ſol ich u mich Fr: fe= ren? ich tum-mes brü⸗der - 1
Wie fol ich mich er - ne-ren? mein gut iſt viel zu klein.
So ich ein we- ſen han jo muß ich bald da -von; was
— — — — ——-—
ich heu'r fol ver - ze - ren das hab' ich fernt ver- tan.
ee
Ent = lau- bet ift der wal-de gen die -ſen win —
Be = rau⸗ bet wirt ich bal- de meins liebs das macht —
ER > 0 daß ich die ſchön' muß mei — den die
rer
— — — Ser go ä —
mir ge⸗fal — len tut bringt mir mann'gfaltig lei- den macht
TTT
mir ein ſchwe — — — — ren mußt,
10.
ers
Wol auf gut g'ſell von hin- nen mein's bleib iſt hie nit me!
Der mai der tut uns bringen die veiel und grü-nen klee.
E
Vorm wald da hört man fin - gen der klei - nen vög- lein g'ſang.
55
Sie ſin⸗ gen mit hel⸗ ler ſtim — me den ganzen
— —
ſom — mer lang.
M 11.
s ee
Ins brukk ich muß dich las- fen ich far da-hin mein ſtra⸗
ES ee
Ben in frem-de land da - hin. Mein freud iſt mir ge- nom
— —
= men die 19 nit weiß be- kom- men wo
Pe en
N — lend bin — wo ich im >
F
ö — lend bin.
Ne 12
—
= | 2
Ich ſol und muß ein bu-len ha- ben drab — — dirn⸗
l = 2 e een ae
1 N - TE ER rer — = 3
— — — ee —
— — 2 2 f 7 ner ae
28
— — lein drab! Und ſolt ihn aus der er = de gra ⸗ ben
—
— J —
25...
* r
drab — — dirn — — lein drab!
u
M 13.
GEH HEHE
O — lie⸗ 2 5 Hans ver- jorg’ 9 gans Me fie fein
Du — weißt ir weiß daß fie ir ſpeiß zu kei⸗ ner
e en SE.
gib ir volauf daß
hun : 1 lei — — u
zeit — kann mei — — den.
1 — nit lauf in frem⸗de heu z jer 8 ie
er
sec — —— 1 ‚133
Are IE
N Il frei iſt ſorg — da — bei der wolf möcht ſie
Dort o- ben auf dem ber E ge bbl⸗ pel, döl = pel
Seesen.
4 essen
döl= pel, döl⸗pel ber = u da ſteht ein ho- hes haus da
22
ſteht ein ho- hes haus da ſteht ein ho-hes haus da ſteht ein ho-hes haus.
Ein abt den wöll wir wei-hen iſt auß der ma- ßen gut —
ein klo-ſter wöll wir bau -en — liegt jo in gro- ßer
ar = mut
dar = in = nen wont ma = ni = cher brut= der
sus. par gelt un ſer or den re gie ei) nme
—— ler die- fer welt.
M 16.
a)
DISCANT.
ALT. |
Der mül⸗ler auf der o⸗ ber⸗ mül der
| hat ein fei = fte gans! gans! gans! gans! die hat ein fei- ſten
rot ML an
3 fen = wei=de = li= chen a = =
6
) druß⸗la druß⸗la druß⸗ la druß⸗la druß la
DISCANT. 3
——
ALT. - — —
= 8 E RR
|
| ruß ⸗ la druß- la druß — la druß⸗la
F
TENOR.
„„ . .
szene —
gik gak gik gak.
N
| gik gak gik gak.
M 17.
Den lofſanc der drie Kinderen in den vierighen ouen.
Nac een danſlieken: Conſt ic die Maneſchyn bedecken.
SUPERIUS ges Sse
— — =; — —
TENOR
(Melodie.)
Goods wer=- den al van gro = ter fa = men ghe⸗
Goods en -ghe = len danct hem te = fa - men ghi
BASS. Fi 5 = ——
Reißmann, deutſches Lied. c
Ge — be — ne — dyt den
| be—ne — dyt den Heer al — tyt. \
he — me — len mit groot io — lyt.
Heer: Ver heft hem
een
| chey—den ſoe gheeft hen lof end eer.
. Ferm.
NM 18.
Soldatenlied.
.
— —
—
Ihr lie —ben Sol⸗da⸗ten tret all heran woshel Ein Ganß wir
*
wol⸗len ſin⸗ gen an wo» bel wo = he! wo = he!
Aid
NM 19.
Des Müllers Töchterlein.
Aus Schleſien.
| Seen
ſche- hen; denn das Rad das bleibt ganz ſtil -
fie = hen als wenn es wollt' zu Grun - de ge- hen.
NM 20.
Aus dem Odenwald, aus Franken und Thüringen.
Mei- ſter Mül⸗ler thut — mal je — hen, was in
— — —
ji — ner Müh⸗le iſt ge — ſche — hen; denn das
N Rad das le on r K ganz =: le de hen, als wenn es
wollt zu Grun — de ge — hen.
W 21.
ER Frank.
Se — — — lig iſt — der tag der mir dein
88
lieb ver kün — — digt
c*
Free
hat der lieb Gott hat ge — hol fen mir Herz al — ler»
— — 0 —e— ne > 2 u an — —
N =
= 55.
lieb — — — — — — — ſte — zu dir Herz al —
Se =.
— ler— lieb — ſte zu dir.
M 22.
Melchior Frank. 1603.
| So fing’ und ſpring — — — — So fing’ und
ſpring ſo ſing' und ſpring wer ſin — — gen
| kann mich kommt das Tan — zen ſo ſehr an mit der Herz—
6 II . —
| liebſten mein doch fol es genzlich ſein mit der herzlieb — ſten
| mein doch ſol es genz'lich ſein doch fol es genz-lich fein!
e |
ie
| So mach' ich um den Kranz ſo mach' ieh um den Kranz
dir ſchönes Lieb — — — — ein ſchö — nen Tanz.
ei. ie
— ee
dir ſchönes Lieb ein ſchö — nen Tanz. Re sol fingt
Seren
| all — — — — re sol fing all — She re sol ſingt
Ser
= De
—
7 — nach mit vollem Sprung als in der Wag
35 2 +
— =
Wer nicht ein tänz — lein
|
| wer nicht ein tänz — lein
Rue
SS
thut mit der Lieb — ften ſein, der troll ſich bald von
zur >= si
du a— ber Mu = fil du a — ber Mu⸗
e
— — — — H— — bei mir!
222 ũ² ß Aue
ae
Reißmann, deutſches Lied. d
| Du a ber Mu⸗ſik halt bei mir!
.
— K ̃˙h— 5 — ——
|
ee
N 23.
Johann Hermann Schein. 1628.
a)
SOPRANI. 1
1. O Ster⸗nen⸗äu⸗ ge = lein! O Seidenhä- re-
Sopran?) HDM r
| 2. O grü — ne Wäl⸗der⸗lein! O Myr — tenfträude -
BASS. IE = en Sasse:
Ber een nr —.
3. O wah — re Lieb und Treu! O fal — ſche Heuche—
5553 = — „ .
| 1. lein! 2 No⸗ jen = wän=ge = lein! O O No-fe 1 ae ⸗ge⸗
. . — ͤ — —
85 * —— *
2. lein! O küh — le Brün-ne⸗lein! Kryſtall — ne Bä— des
3. lei! 8 . — nung Si⸗ gerheit! O Fure Furcht Schwere Ale thig⸗
EN -
52555
| 1. lein! Co- ral⸗ len — lip⸗ pe- lein! O Ho- nig-wän⸗ge⸗
|
F
| Tem:
| Zus me,
| 2. lein! O grü-ne Wie — je — lein! O ſchöne Blü — — me —
a 3
2
rss —
3. keit! O ſü - ße Luſt — und Freud'! O Angſt und Her — — ze —
. 1. lein! lein! O — Per = Ien = mut⸗ ter= öh . 1
SCH | BER? SEE Ara TREE: DEE ee 55
8 EE
| 2. lein! lein! Fel ⸗ſen⸗kluft o Berg und
Be;
JJC!!! T
3. leid! leid! O Mu⸗ſic ed =» ler Freu -den =
1. lein! O el ⸗ fen ⸗ bei⸗ nern Sl =- je - lein! O Pomme⸗
ö . ! E- do treuer Wieder- ball! O
F FFF
Ir Mt Te
3. Schall! O Seufzer, Heu-len, Her-zens⸗knall! O
d *
een T ee er
| 6 . rs
En BE EEE Ber wer Zee — nn
. ran⸗zen - brü = ſte⸗ lein! bisher an euch iſt al = les
|
eos. hr
Eee =
| 2. Pan, Schiffer und Schiffe - rin ſeht doch wie ich — ſo e- lend
| = Sn Sa
U . — — — en
8. 5 ben = o bitt ⸗ rer Todt! Ach wechſelt um es iſt als
en = z == 5 „„
1. fein! 15 5 das ſteinern sek - lein! Wie daß du
könnet ihr — doch al- le ſehn ein liebend Herz zu
3. Noth. Wie
FETT BE a Ser Le Der ..
Sees.
1.188 "teil das Le — ben mein!
ee 5533 IP
55 — Ten eu
1 a bel. ſet wer da hel — fen kann!
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3. 3. Trüm — — D — — — mern — „ hen
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M 24.
50
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* JJ ĩ] ¶ũ r ͤ .).), FE a U u ee
—T—r ern
| 1. Mit — Freu — den — mit — jherzen mit —
|
5— —
| 2. Frau — Ve — ne — re la⸗chet ihr —
3. Was wolt ich lang ſor⸗gen was
SOPRAN ı
A5 ö
| 1. if — ſen — mit — Herzen, mit Klin — gen — mit —
| Ar |
— — —.BZH2ꝛ—— — . — — - — ——
| zen Serze 2 Zu: zu ===
dom j m um mus
| 2. Söh — ne — lein — ma⸗chet mir — lieb — li — che
|
ee
1. fingen mit — tan — zen — und — fpringen will ich — den — Tag —
|
2. Poſſen mit — ſei — nen — Ge — ſchoſſen heut bin — ich — un —
3. ſcheeren was — die — net — zu — Ehren! ja was — wir — be —
— zer Zee —
3. geh — 0 ee — li — mit
c u. en 2
...
S 55
| 1. lie = bet ſich herz — lich er — gie-bet in Eh — ren — z'er —
352588
2. rin⸗gen die Pi — ken zu ſchwingen, der Fil — 1 * zu —
5 . S ee
3. ſcherzen mit Küf = fen mit her⸗zen mit klin- gen mit
kr men.
ee er
2. Eh- ren nad) 85 . gehren 75 ich — mein Fleiß
ur Fe gen mit tan — — zen mit ſpringen laßt uns den Tag
M 25%),
Heinrich Albert.
Vorjahrs-Liedchen.
Simon Dach. 8
Sing- | — BP
ae Bee
| 1. Die Luſt hat mich be- zwun - ger zu
2 hr eie hn tei Sor - gen, und
Clavicym- |
bel. | ® Er 4
o
Pianoforte.)
2. lobt die Güt' und Macht des Schöpfers, von dem Morgen bis
| 1. fah = ven in den Wald, wo durch der Vö-gel Zun-gen die
*) Im Original iſt eben ſo wie bei den folgenden Liedern bis Nr. 31. die Clavierbegleitung
nur durch den bezifferten Baß angegeben.
gan = ze Luft er ⸗ſchallt.
1
2. in die ſpä — te Nacht.
5
zer. SEE EIER —— a > .
eee
1. Biſt du von der Er- de Ro- ſa- bel- la o ⸗der nicht?
2. Wer nur Ur⸗theil fel = len und von Schönheit rich-ten kann,
| 3. Ve⸗ nus wil tu wiſ⸗ ſen ob ein Ta- del ſei an bir,
1. Kann denn die Ge- ber -de und jo ſchö- ner
2. ſchau -e Ro⸗ ja = bellen him-mels- wer - then
3. die = ſes kannt du ſchlie-ßen aus der Ro - ja =
1. Au = gen Licht und die Sterb-Tich= keit auch rei- chen
|
|
2. Zie - rath an. Leb⸗te Pa- ris noch, er würde
| 3. bel = len Bier. Zeu⸗xis hett' aus ih- ren Gaben
|
Bere ee
1. glaub' ich was man jagt: daß den Ju- pi⸗ ter in
| 2. nicht nach Sparta ziehn, ſon⸗dern hin mit die ⸗ſer
| 3. ganz dein Bild ge- macht und von zehn nicht dürften
| | !
1
TE TR. BET ERCEER. am
nn
| Echo
ern
| x glei = chen Men — — — — ſchen⸗ lie = be plagt.
2. Bür⸗de auf — — — — fein Tro⸗ja fliehn.
* 3. ha- ben dei — — — — nes Lei- bes Pracht.
Reißmann, deutſches Lied. K
nn:
M 27,
Andreas Hammerſchmidt. 1642.
a)
— U —
U
Ei wol an fo hab' ich doch ei ⸗ nen
ge = übt iſt mir
ne Fill ſin ⸗ gen
ma rill rüh⸗ men
Wo⸗ rin ich war un
Co = ri = don mag ſei
Lu ⸗ ci dor die A
* IN N
|
|
5, | Chlo- ris, die du mich ge -bracht tau- ſeud
Tag und Nacht mir gleich ge- macht, du ſolt
5 Weil mir auf jo har - tes Joch Glükk und
2 5 Weg todt-blaſ - fe Trau⸗ rig⸗ keit von Me⸗
Es bricht an die gu - te Zeit; brin ⸗get
3 Das was mich vorhin betrübt brin- get
fri⸗ſchen Mut
De = nus gut,
lan = ho = lei,
mich vor = bei,
mir jetzt Luſt;
nun be⸗wußt;
durch den Wald;
wohl = ge = ftalt
- mal in Pein
den⸗ noch fein
„„ a ee!
1. weil mein mi = des Hof = fen fom=met zum gewünſchten Ziel.
2. al = len Lie ⸗ bes- wel- len an den Port der Sicher = heit.
3. gleich mir je = Bo win - det Ve- nus ei- nen Myrthenkranz.) Fa
4. Chlo- ris nur ſoll blei- ben mein erwünſchtes Ei-gen-thum.
5. von mir hoch - ge = prie- ſen Chlo-ris ſchön-ſte Damen⸗luſt.
| 1. Will fie nicht ſo mag ſie's laſ- fen, Cyn⸗thi⸗ e die Stolze die,
2. Vor⸗hin thet ich wie fie the- te, Lieb iſt Ge- gen- lie- be werth;
| 3. Meintfie wol mich zu be = trü=ben, mit dem was nur iſt einScheind
(ee
|
2 De; „„
1. was be⸗trüb' ich mich um fie? Eins iſt mir ihr Hold u. Haſ⸗ſeu.
| 2. jetz-und weil fie ſich ver⸗-kehrt bin auch ich auf an⸗der Ste⸗te.
3. Nein will ſie mir gut nicht ſein je kann ich auch fie nicht lie-ben.
==
8
| 1—3. Cyn
thi⸗ e
froh!
Br
|
ich bin
froh!
Sperontes ſingender Muſe an der Pleiße.
M 29.
Aus:
| 3 er
| 1. J Hol — de Phyl⸗ lis
1 O — er ⸗ milk
2. Nicht — die Schön⸗-heit
| Sind — der Zun⸗ der
3.17 — ver = eh = re
| Was — dein Scher⸗zen,
ö 25 [Nehmt ihr Stun-⸗den,
I Da — ich mei ⸗ ner
2
|
rn —
mich ganz
mer = hin
dein rei
mich dir
mich ſo
be = reits —
Er - folg —
lis gnug —
ne
dei — ner
das — Ber ⸗ lan = gen
mit — Ent » zük⸗ ken
1742.
Wan⸗gen,
Küſ — ſen, Drücken
nehmt doch Flü⸗sgel
Treu — e Sie⸗gel
be = zau —
und im —
zend An —
ſo treu —
ver = liebt —
vor Luft —
der Zei —
be ⸗ wäh —
—
bernd froh.
mer
ge — ſicht.
ver —
ge — macht.
Ir
ten
ren
an.
er ai
14% jo; Flößt — der — Nec tar dei = ner
2. pflicht. Nein! — dein — red ⸗ lich treu ⸗ es
3. bracht. Und — be — kla ge je = de
4. kann. Hand — und — Her = ze ſtimmt zu⸗
1
— —
| “ i e ee pen mei - ner e jſeolch u ſal
N Her⸗ze das = ich Left dar -auf — ver⸗
3. Stunde a: = 0 5 o — der un — muths⸗
4. ſammen - ſer Wün - [hen ü — be-
ee Zee
2 .
| = TR, EEE 5
23232...
2
ich nicht
ein! Him — mel laß die rei — nen
r I
— —— — en
Biere
u 4
1. Klippen lie — ber todt — als un — treu ſein.
| 2. ſchrieben daß — mich nun — nichts wei — ter rührt.
| 3. Munde Ro — fen ſehn — und bre — chen ſoll.
N 4. Flammen e — wig un — zer- tren — net fein.
M 30.
Carl Heinrich Graun. 1753.
Rührend. Friedrich v. Hagedorn.
1 I — z x Sm — ̃ —
ws Eee Baer
2 =:
| 1. Ja lieb = fter Da — mon ich bin — ü ber⸗
2. Als ich die Hand — jüngſt, die dein — Au ⸗ ge
3. Ich floh und wein — te warf am — Bach mich
| 4.Komm,treufter Da — mon, den ich — mir er⸗
N —— - 9
| 1. wun⸗den. Ich — fühl, ich — fühl' es was mein Herz em -
| 2. ded=te, für — MWi- Big — fort riß: Him⸗mel! was er
| 3. nie= der. Ein — hef- tig — Feu ⸗ er lö s ſte mi-me —
4. wäh⸗ le. Auf — mei- nen — Lip - pen ſchwebt mir ſchon die —
— .-i
Bee
| |
E 85
u
SS
| 1. pfunden. Mich — zwingt die Dau — er dei ⸗ ner ſtar⸗ ken
2. weck te dein — ſchö - nes Au — ge naß von ſtil⸗ len
| 3. Öliesder. Ab — € = wig wer — den die - je Flammen
4. See⸗le um — durch die dei — nen un ter tau⸗ ſend
1. Lie — be daß ich dich fie = be.
| 2. Schmer = zen, in mei = nen Herz zen.
| 3. wäh — ren, die mich ver- zeh⸗ ren.
| 4.8 — ſen, in dich zu flie - Ben.
ASt:
Johann Friedrich Agricola. 1753.
FFT
II 3 — Bene
As => Ps
ai Willſt du die — ſen Raub — nicht ſtra — ſen
1
2. Schla — fe, gött — li - de — Be- lin — de,
3. Dann wirft du — vom Traum er- wa — chen,
5 — 5
2 S een
— m —
1. o, — ſo wa — che, Schä — fe — rin.
2. bis — mein Kuß dich träu — men — heißt,
3. macht ihr Schat — ten mich — ent — zückt,
1. A — ber wenn — ich ſtraf — — bar bin
2. daß — du mir — ge = neig — — ter jeift.
3. wirft — du ja — gen: wie — — be glückt
1. mag dein — ſchö- nes Au — ge — ſchla - fen.
3. wird mich — erſt die fe — be — ma = chen.
|
| 2. als ich — dich am Ta — ge — fin ⸗ de.
Reißmann, deutſches Lied. f
= Mn
M 32.
Friedrich Wilhelm Marpurg. 1756.
Am Clavier.
Bewegend. BEN Zacharia
—
ae:
1. Du E — cho mei — ner Kla — gen mein
2. Nun kommt nach trü — ben Ta — gen die
—
1 — ser Ze en >
De. SS =:
| 1. treu — es Sai — — ten = jpiel
2. ne der Sor— gen =. — * Ge⸗ 1 mir 3 te
eee =
* .
ten und helft — mir Leid — be ſtrei - ten Doch
=
— —-:
ee ee
Br er rl re
nein! laßt mir — mein Leid — und mei — ne Trau— rig⸗
|
Eu
N 33.
Chriſtoph Nichelmann.
F. W. Zachariä.
. See a
| a er Zar ag —
| 1. Das En — de vie -ler dunk — len Ta — ge — die
i 2. Ein Lei — den, das man un — ter- drük — fe, — ver-
| 3. Jetzt, da — die Thorsten mich — ver -laſ — ſen, — die
4. Der Schlaf wird mich vor- ü — ber ge — hen, — der
| 5. Ich fleh' — ihn an mir zu — er = ſchei — nen, — doch
| 6. Schonfiegt — der Tag mit hel — lem Strah - le: — Wo
|
„treu — e Nacht — bricht — ſchon her - ein!
1
| 2. meh — ret den — ge — hei — men Schmerz.
3. die — ſen trü — ben — Tag — um - ſchwärmt,
4. oft — den Rük — ken — mir — ge = wandt;
5. er — iſt wie — ein — fal — ſcher Freund!
| 6. bift — du hol — der — Gott — der Ruh?
| EINER Bu NER LEN
| 1.Br - hül — le dich — — mein
| 2. Und je — de Thrä— — ne
| 3. will ich — dem Schmerz — mich
| 4. wenn noch — von auf — — ge⸗
| 6. Es kommt ein Glück — — nur
| 5. Er kommt und drückt N
| 1. Geift — und kla - ge viel-leiht— iſt die — ſe
2. die — er ⸗ſtik - ket gräbt blu — tig ſich — in
| 3. ü — ber= dal = fen der min— der wird — wenn
4. hell — ten Hö- hen das Mor — gen - roth — mich
| 5. zu — den Sei» nen und flieht — ein -Au — ge
6. er — ſten ma ⸗ le ein Au — ge vol — ler
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1. Stunde dein, viel-leicht iſt die — ſe Stunde dein.
2. un — fer Herz, gräbt blu — tig ſich — in un -ſer Herz.
3. er — ſich härmt, der min- der wird — wenn er ſich härmt.
4. wei⸗ nend fand, das Mor-gen- roth — mich wei⸗nend fand.
5. wel- ches weint, und flieht ein Au — ge, welches weint.
6. Thränen zu, ein Au- ge vol — ler Thränen zu.
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