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Full text of "Das Leben Jesu"

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Das 


Leb 


e  n    Jesu, 


kritisch    bearbeitet 


von 


Ihr*    David  Friedrich   Stroms, 


Erster     Band. 


Dritte 


mit  RHektieh*  auf  die  Gegenschriften  «erdesserte  Auflage. 

Tübingen, 

Verlag    vonC.    F.    Oslander. 


1  S  38. 


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Druck  der  C.  F.  Ost  an  de  reichen  Buchdruckerei. 


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Vorrede 

mar    dritten    Auflag«. 


In  der  Ausarbeitung  meiner  Streitschriften,  de- 
ren zweiter  Band  die  Einwürfe  der  ausführlicheren 
Gegenschriften  gegen  einzelne  Paukte  meiner  kriti- 
schen Ansicht  von  der  evangelischen  Geschichte  nach 
der  Sachordnung  vornehmen  sollte,  durch  die  Not- 
wendigkeit einer  dritten  Auflage  des  L.  J.  unterbro- 
chen, habe  ich  nun  die  Verhandlung  mit  den  bedeu- 
tenderen Gegnern  in  das  Hauptwerk  selbst  verar- 
beitet, und  dadurch  die  weitere  Fortsetzung  der 
Streitschriften  überflüssig  gemacht. 

Man  wird  finden ,  dafs  ich  es  mit  den  Einwen- 
dungen meiner  Gegner  nicht  leicht  genommen,  son- 
dern midi  von  ihrer  ganzen  Kraft  und  Bedeutung 
habe  durchdringen  lassen,  um  sofort  rücksichtslos 
da  abzuändern ,  wo  sie  mir  Recht  zu  haben  schienen 
wo  ich  aber  meine  frühere  Ansicht  durch  sie  nicht 
erschüttert  fand ,  da  zu  beharren.  Ich  habe  von  al- 
len so  viel  möglich  zu  lernen  gesucht  Wie  viel  ich 
in  dieser  Hinsicht  de  Wetten  verdanke,  habe  ich 
«chon  an  einem  andern  Orte  ausgesprochen.  Nicht 
minder  war  mir  Neander's  tiefer  Gemüthsblick  oft 
behülflich,  die  Einheit  aufzufinden,  die  sich  mir  un- 
ter Gegensätzen  versteckt  hatte;  obwohl  ich  urthei- 
ten  mufs,  dafs  bei  ihm  noch  häufig  umgekehrt  die 


IV  Vorrede  cur  dritten  Auflage. 

Gegensätze  vor  der  Einheit  nicht  zu  ihrem  Rechte 
kommen.  Aber  wie  beschämt  er  mit  seiner  Behut- 
samkeit in  Festhaltung  des  Alten,  mit  seiner  Auf- 
richtigkeit im  Bekenntnis  des  Zweifelhaften,  mit  sei- 
ner selbstverläugnenden  Wahrheitsliebe,  den  unlau- 
tem Eäfer  derjenigen,  die,  wie  Hoffmann,  überall 
weniger  darum  sich  bemüht  zeigen,  dafs  die  Wahr- 
heit ausgemittelt ,  als  dafs  ihr  prahlerisch  gegebenes 
Wort,  dem  Gegner  keinen  Fufs  breit  weichen  zu 
wollen ,  zur  Wahrheit  werde.  Dessenungeachtet  bin 
ich  diesem  kenntnisreichen  und  scharfsinnigen  Geg- 
ner manche  Belehrung ,  besonders  in  der  Kindheits- 
geschichte, schuldig  geworden.  Ebenso  habe  ich  aus 
Kern's  aufgeblasenem  Kathederton  doch  mehrere 
Treffende  herausgehört,  und  von  dem  hohen  Pferde 
T  h  o  \  u  c  k  "scher  Vielseitigkeit  herab ,  trotz  seines  bis- 
weilen unsichern  Trittes,  für  diefs  und  jenes  einen 
richtigeren  Gesichtspunkt  gewonnen.  Auch  T h  ei- 
le '  s  formlose  und  zum  Theil  leidenschaftliche  Schrift 
blieb  nicht  unbenutzt.  Nur  in  dem  O  s  i  a  n  d  e  r  sehen 
Buche  konnte  ich  vor  Qualm  und  Rauch  kein  Licht 
entdecken;  wenigstens  keines,  das  er  nicht  bei  bes- 
seren Vorgängern  angezündet.  Weifse's  Werk 
Aber  die  evangelische  Geschichte,  das  ich  als  eine  in 
mehrfacher  Beziehung  erfreuliche  Erscheinung  be- 
grübe, konnte  für  diesen  ersten  Band  nicht  mehr 
benutzt  werden. 

Die  Veränderungen,  welche  diese  neue  Auflage 
darbietet,  hängen  mehr  oder  weniger  alle  damit  zu- 
sammen,  dafs    ein  erneuertes  Studium  des  vierten 


Vorrede  zur  dritten  Auflage«  V 

Evangeliums  an  der  Hand  von  de  Wette's  Com- 
mealar  und  Neänder's  Leben  Jesu  Christi  mir  die 
früheren  Zweifel  an  der  Aechtheit  und  Glaubwürdig- 
keit dieses  Evangeliums  selbst  wieder  zweifelhaft  ge- 
nacht  hat  Nicht  als  ob  ich  von  semer  Aechtheh 
überzeugt  werden  wäre:  nur  auch  von  seiner  Un~ 
ächtheit  hin  ich  es  nicht  mehr.  Unter  dm  so  eigen* 
thümfich  sich  stolsenden  und  durchkreuzenden  Merk-» 
malen  der  Glaubwürdigkeit  und  des  Unglaubhaften, 
der  N8he  und  Ferne  von  der  Wahrheit,  in  diesem 
merkwürdigsten  Evangelium,  hatte  ich  bei  der  er- 
sten Ausarbeitung  meines  Werkes  mit  einseitig .  po- 
lemischem Eifer  einzig  die,  wie  mir  schien,  vernach- 
Ift&agte,  ungünstige  Seite  hervorgehoben:  unterdes- 
sen ist  auch  die  andere  Seite  allmählig  in  mir  zu  ih- 
rem Rechte  gekommen;  nur  dafs  ich  nicht  im  Stande 
bin,  ihr,  wie  die  jetzigen  Theologen  bis  auf  de 
Wette  fast  alle  thun,  die  entgegengesetzten  Beob- 
achtungen ohne  Weiteres  zum  Opfer  zu  bringen« 
Durch  diese  Stellung  hat  mein  Werk,  wie  es  jetzt 
erscheint,  sowohl  in  Vergleichung  mit  seiner  frühe- 
ren Gestalt,  als  mit  den  von  entgegengesetztem  Ge- 
sichtspunkte ausgehenden  Werken  Anderer,  an  Ein- 
heit verloren:  aber  hoffentlich  an  Wahrheit  gegen 
beide  gewonnen. 

In  Betreff  der  Form  meiner  Schrift  hatte  ich  in 
grober  fleischlicher  Sicherheit  dahingelebt,  weil  die- 
selbe auch  von  übrigens  ungünstigen  Beurtheilern 
gelobt  worden  war:  bis  neuesten«  Ewald,  unter 
vielen  andern  harten  Beschuldigungen,  auch  die  der 


VI  Vorrede  cur  dritten  Auflage. 

Sprachenmengerei  gegen  mein  Werk  erhob.  Ich  gab 
nun  bei  der  Ueberarbeitung  auch  hierauf  Acht,  und 
fand  wirklich,  data  ich  nach  in  dieser  Hinsicht  zu 
sehr  hatte  gehen  lassen;  wefswegen  ich  jetzt  viele 
hundert  Stück  solchen  Unkrautes  ausgejätet,  und  das- 
selbe nur  da  habe  stehen  lassen,  wo  es  der  Kürze 
und  Bestimmtheit  des  Ausdrucks  förderlich,  oder 
auch  zur  Abwechslung  dienlich  schien.  Ich  spreche 
von  Fremdwörtern,  welche  in  den  deutschen  Aus- 
druck zur  Ungebühr  sich  eingeschlichen  haben ;  denn 
darauf,  dafc  ich  meiner  Schrift  häufig  neutestamerit- 
liche  Wörter  und  Sätze  in  der  Ursprache  eingefloch- 
ten, konnte  ich  jene  Rüge  nicht  beziehen,  da  diese 
Art  von  Sprachenmischung  Jedem,  der  über  ein  in 
fremder  Sprache  verfafstes  Werk  schreibt,  erlaubt 
sein  mute. 

Schliesslich  fohle  ich  midi  gedrungen,  dem  mir 
unbekannten  Verfasser  der  Apologie  meiner  Person 
und  meines  Werkes  für  das  Wohlwollen  zu  dan- 
ken, mit  welchem  er  sich  in  meine  Ansichten  und 
Absichteil,  unerachtet  sie  nicht  die  seinigen  sind, 
zu  versetzen  gesucht,  und  für  die  Unbefangenheit 
und  Liberalität,  mit  welcher  er  manche  Bfifsver- 
ständnisse  in  Betreff  derselben  zu  lösen,  manche 
Mißdeutungen  abzuweisen  gewufst  hat. 

Stuttgart,  den  8.  April  1838. 

Der   Verfasser. 


Vorrede 

r    ersten    A  i  f  I  i  g  e. 


Dem  Verfasser  des  Werkes,  dessen  erste 
H&lfte  hiemit  in  die  Hände  des  Publicum*  gelangt, 
schien  es  Zeit  zu  sein,  an  die  Stelle  der  veralteten 
supranaturalen  und  natürlichen  Betrachtungsweise 
der  Geschichte  Jesu  eine  neue  zu  setzen.  Dafs  sie 
veraltet  sei,  wird  in  unsern  Tagen  von  der  zwei- 
ten eher  als  von  der  enteren  Ansicht  zugegeben 
werden.  Denn  wahrend  das  Interesse  an  den  Wun- 
dererklärungen und  dem  Pragmatismus  der  Rationa- 
listen Ifingst  erkaltet  ist,  sind  die  gelesensten  Evan- 
geliencommentare  jetzt  diejenigen,  welche  die  supra- 
naturalistische Auffassung  der  heiligen  Geschichte 
fiir  den  neueren  Geschmack  zuzubereiten  wissen. 
Dennoch  hat  sich  die  orthodoxe  Ansicht  von  dieser 
Geschichte  in  der  That  schon  früher  als  die  ratio- 
nalistische fiberlebt  gehabt,  da  nur,  weil  die  erstere 
der  fortschreitenden  Bildung  nicht  mehr  genfigte, 
die  letztere  ausgebildet  wurde;  die  neueren  Versu- 
che aber,  mit  Hülfe  einer  mystischen  Philosophie 
sich  wieder  in  die  supranaturale  Anschauungsweise 
unserer  Vorfahren  zurückzuversetzen,  verrathen 
schon  durch  die  gesteigerte  Stimmung,  in  welcher 
«e  sich  halten,  dafs  sie  letzte,  verzweifelte  Unter- 


VIII  Vorrede  zur  ersten  Auflage. 

nehmungen  sind,  das  Vergangene  gegenwärtig,  das 
Undenkbare  denkbar  zu  machen. 

Der  neue  Standpunkt,  der  an  die  Stelle  der 
bezeichneten  treten  soll,  ist  der  mythische.  Er  tritt 
in  gegenwärtigem  Buche  nicht  zum  erstenmal  in 
Berührung  mit  der  evangelischen  Geschichte*  Längst 
hat  man  ihn  auf  einzelne  Theile  derselben  ange- 
wendet, und  er  soll  jetzt  nur  an  ihrem  ganzen  Ver- 
laufe durchgeführt  werden.  Das  heifst  keineswegs, 
da£s  die  ganze  Geschichte  Jesu  für  mythisch  aus- 
gegeben werden  soll,  sondern  nur  Alles  in  ihr  kri- 
tisch darauf  angesehen,  ob  es  nicht  Mythisches  an 
sich  habe*  Wenn  die  altkirchliche  Exegese  von 
der  doppelten  Voraussetzung  ausging,  dafs  in  den 
Evangelien  erstlich  Geschichte,  und  zwar  zweitens 
eine  übernatürliche,  enthalten  sei;  wenn  hierauf  der 
Rationalismus  die  zweite  dieser  Voraussetzungen 
wegwarf,  doch  nur  um  desto  fester  an  der  ersten 
zu  halten,  dafs  in  jenen  Büchern  lautere,  wenngleich 
natürliche,  Geschichte  sich  finde:  so  kann  auf  die- 
sem halben  Wege  die  Wissenschaft  nicht  stehen 
bleiben,  sondern  es  mufs  auch  die  andere  Voraus- 
setzung fidlen  gelassen,  und  erst  untersucht  werden, 
ob  und  wie  weit  wir  überhaupt  in  den  Evangelien 
auf  historischem  Grund  und  Boden  stehen.  Dieb 
ist  der  natürliche  Gang  der  Sache,  und  insofern 
die  Erscheinung  eines  Werkes  wie  das  gegenwärtige 
nicht  bloft  gerechtfertigt,  sondern  selbst  nothwendig. 

Damit  ist  freilich  noch  nicht  erwiesen,  dafs 
gerade  der  Verfasser  desselben  Beruf  hatte,  in  die- 


r 


Vorrede  lur  ersten  Auflage.  IX 

ier  Stellung  hervorzutreten.  Dessen  ist  er  sich 
Wttsft  bewölkt,  dafis  Tide  Andere  ein  solches  Werk 
«gleich  gelehrter  auszustatten  im  Stande  gewesen 
viral,  ab  er.  Doch  glaubt  er  andrerseits  wenig- 
en» Eme  Eigenschaft  zu  besitzen,  welche  ihn  Zar 
Uebonahme  dieses  Geschäftes  vor  Andorn  befähigte. 
Den  gelehrtesten  und  scharfsinnigsten  Theologen 
Wut  in  unsrer  Zeit  meistens  noch  das  Grunder- 
ftidernib  -einer  solchen  Arbeit,  ohne  welches  mit 
JÜer  Gelehrsamkeit  auf  kritischem  Gebiete  nichts 
anaoriehteii  ist:  die  innere  Befreiung  des  Gemüths 
nnd  Denkens  von  gewissen  religiösen  und  dogma- 
tischen Voraussetzungen,  und  diese  ist  dem  Ver- 
ftsser  durch  philosophische  Studien  frühe  zu  Theil 
geworden.  Mögen  die  Theologen  diese  Voraus- 
setznngalosigkeit  seines  Werkes  unchristlich  finden: 
er  findet  tlie  gläubigen  Voraussetzung«!  der  ihrigen 
unwissenschaftlich.  So  sehr  in  dieser  Hinsicht  der 
Ton  dieser  Arbeit  gegen  den  andächtig  -  erbauliche« 
oder  mystisch  -  begeisterten  neuerer  Bücher  über 
ihnliche  Gegenstände  absticht:  so  wird  man  doch 
nirgends  den  Ernst  der  Wissenschaft  vermisse», 
oder  Frivolität  finden  können;  dafs  ebenso  die  Be- 
nrtbeilungen  im  wissenschaftlichen  Gebiete  sich  hal- 
te, und  nicht  Ketzereifer  und  Fanatismus  einmi- 
schen mögen,  scheint  eine  billige  Forderung  zu  sein. 
Den  inneren  Kern  des  christlichen  Glaubens 
*efls  der  Verfasser  von  seinen  kritischen  Unter- 
wchangen  völlig  unabhängig.  Christi  übernatürliche 
Geburt,   seine  Wunder,    seine   Auferstehung    und 


* 


X  Vorrede  zur  ersten  Auflage. 

Himmel&hrt,  bleiben  ewige  Wahrheiten,  so    sehr 
ihre  Wirklichkeit  als  historischer  Facta  angezweifelt 
werden  mag.  Nur  die  Gewifsheit  davon  kann,  unse- 
rer Kritik  Ruhe  und  Würde  geben,  und  sie   von 
der  naturalistischen  voriger  Jahrhunderte  unterschei- 
den,  welche  mit  dem  geschichtlichen  Factum  auch 
die  religiöse  Wahrheit  umzustürzen  meinte,  und  da- 
her nothwendig  frivol  sich  verhalten  inufste.    Den 
dogmatischen  Gehalt   des  Lebens  Jesu  wird   eine 
Abhandlung  am  Schlüsse  des  Werkes  als  unversehrt 
aufzeigen:  inzwischen  möge  die  Ruhe  und  Kaltblü- 
tigkeit, Ynit  welcher  im  Verlaufe  desselben  die  Kri- 
tik scheinbar  gefährliche  Operationen  vornimmt,  eben 
nur  aus   der  Sicherheit  der  Ueberzeugung   erklärt 
werden,   dafs   alles  das  den  christlichen   Glauben 
nicht  verletzt    Defswegen  könnten  übrigens   doch* 
durch  Untersuchungen  dieser  Art  Individuen  in  ih- 
rem Glauben  sich  verletzt  finden.    Sollte   diefe  bei 
Theologen   der  Fall  sein,   so  haben  diese  in  ihrer 
Wissenschaft  das  Heilmittel  für  dergleichen  Ver- 
wundungen,  welche  ihnen,    sofern  sie  hinter  der 
Entwicklung  unsrerZeit  nicht  zurückbleiben  wollen, 
unmöglich  zu  ersparen  sind;  für  Nichttheologen  al- 
lerdings ist  die  Sache  noch  nicht  gehörig  vorberei- 
tet, und  defswegen  die  gegenwärtige  Schrift  so  ein- 
gerichtet worden,   dafs  wenigstens  die  Ungelehrten 
unter  denselben  bald  und  oft  zu  merken  bekommen, 
die  Schrift  sei  nicht  für  sie  bestimmt,  und,  lassen 
sie  aus  Fürwitz  oder  Verketzerungssucht  sich  des- 
senungeachtet mit  derselben  ein,  so  tragen  sie  dann 


Vorrede  tur  ersten  Auflage.  XI 

doch,   wie  Schleiermacher  bei  ähnlicher  Gele- 
genheit sagt,  die  Strafe  in  ihrem  Gewissen  mit  sieb) 
iadon  sich  ihnen  das  Gefühl  recht  aufdringt,  dafil 
m  das  nicht  verstehen,  worüber  sie  doch  reden 


Einer  neuen  Ansicht,  die  sich  an  die  Stelle 
reo  Älteren  setzen  will,   gebührt  es,  sich  mit  die- 
sen vollständig  auseinanderzusetzen.    Daher  ist  hier 
der  Weg  zur  mythischen  Ansicht  für  jeden  einzel- 
nen Punkt  durch  die  supranaturalistische  und  ratio- 
nalistische und  deren  beziehungsweise  Widerlegung 
genommen  worden;  so  jedoch,  dafs,  wie  es  der  äch- 
ten Widerlegung  geziemt,  aus  den  bekämpften  An- 
sichten   ihr    Wahres    anerkennend    herausgezogen, 
und    dem    neuen    Standpunkt    einverleibt    wurde« 
Hiedurch  ist  zugleich  der  äufsere  Vortheil  erreicht 
worden,   dafs  das  Werk  nun  als  Repertorium  der 
vornehmsten    Ansichten    und   Verhandlungen    über 
alle  Theile    der  evangelischen   Geschichte    dienen 
kann.    Dabei  ist  jedoch  keineswegs  Vollständigkeit 
der  Literatur  angestrebt,  sondern,  wo  es  sich  thun 
lieb,  an  den  Hauptwerken  der  verschiedenen  Rich- 
tungen festgehalten   worden.    Für  die  rationalisti- 
sche Richtung  bleiben  die  Paulus'schen  Schriften 
cUssisch,  und  sind  daher  vorzugsweise  berücksich- 
tigt; für   die  orthodoxe  war  der  Commentar  von 
Olshausen  besonders  wichtig,  als  der  neueste  und 
beliebteste  Versuch,  die  wundergläubige  Auslegung 
philosophisch  und  modern  zu  machen;  für  eine  kri- 
tische Bearbeitung  des  Lebens  Jesu   aber  sind  die 


XII 


Vorrede  zur  ersten  Auflage. 


Commentare  von  Fritzsche  die  trefflichste  Vor- 
arbeit, indem  sie  neben  der  ungemeinen  philologi- 
schen Gelehrsamkeit  zugleich  diejenige  Unbefangen- 
heit und  wissenschaftliche  Gleichgültigkeit  gegen 
Resultate  und  Consequenzen  zeigen,  welche  die 
erste  Bedingung  eines  Fortschritts  auf  diesem  (Ge- 
biete ist« 

Der  zweite  Band,  welcher  mit  einer  ausfuhr- 
lichen Untersuchung  über  die  Wunder  Jesu  sich 
eröffnen, .  und  das  ganze  Werk  schliefen  wird,,  ist 
bereits  ausgearbeitet,  und  kommt  mit  der  Vollen- 

dieses  ersten  unter  die  Presse. 


Tubingen,  den  24.  Mai  1835. 


Vorrede 

cur    «weiten    A  af  läge, 

»i 

« 

Dieses  Werk  hat  in  der  kurzen  Zeit,  welche 
von  dem  Erscheinen  der  ersten  Auflage  bis  zur  Voll- 
endung der  zweiten  verflossen  ist,  bereits  alle  Haupt- 
epochen der  Aufnahme  und  der  Stellung  des  Publi- 
cum» zu  demselben  erfahren,  welche  ein  Werk  von 
sauer  Art  und  Natur  erfahren  kann. 

Abweichend  von  den  Ansichten  der  Mehrheit 
des  theologischen,  und  ohnehin  des  übrigen  Publi- 
cum, und  zwar  in  einer  Sache,  in  welcher  anderer 
Meinung  zu  sein  für  Gottlosigkeit  zu  gelten  pflegt, 
konnte  es  bei  seinem  ersten  Bekanntwerden  in  den 
unvorbereiteten  Gemüthern  nur  ein  unbestimmtes,  in 
Abscheu  übergehendes  Erstaunen  hervorbringen ;  ein 
Eindruck,  welcher,  durch  eine  Schrift  hervorgeru- 
fen,  nicht  verfehlen  konnte,  bei  Manchen  alsbald 
wieder  in  schriftliche  AeuCserungen  überzugehen. 
Daher  jene  Schmähartikel  in  den  pietistischen  Zeit- 
schriften ,  wie  z.  B.  die  Neujahrs  -  Capuzinade  der 
sogenannten  evangelischen  Kirchenzeitung;  daher*  die 
zahlreichen  Broschüren  von  der  Farbe  derjenigen, 
welche  ich  in  der  Vorrede  zum  zweiten  Bande  der 
eisten  Auflage  [und  im  ersten  Bapde  meiner  Streit- 
schriften], gezeichnet  habe:  deren  ganzen  Inhalt,  ne- 


I 
XIV  Vorrede  zur  zweiten  Auflagt. 

ben  einigen  wenigen  allgemeinen  Bemerkungen  ge- 
gen meine  Auffassungsweise  der  evangelischen  Ge- 
schichte, und  etwa  noch,  wie  bei  Harless,  einer 
Aufzählung  der  befremdlichsten  Resultate,  einzig  der 
mehr  oder  minder  heftige  Abscheu  ihrer  Verfasser 
gegen  meine  Ansichten,  und  wohl  auch  gegen  meinen 
Charakter  und  meine  Person,  ausmacht.  Diese  Art 
von  Entgegnungen  ist  nicht  höher  anzuschlagen ,  als 
jenes  Schreien,  welches  bei  dem  plötzlichen  Fallen 
eines  nahen  Schusses  oft  von  Weibern  zu  vernehmen 
ist:  ein  solcher  Schrei  gilt  nicht  dem  Umstände,  dafs 
der  Schufs  etwa  gefehlt,  oder  ein  falsches  Ziel  ge- 
troffen hat,  sondern  nur  dem,  dafs  überhaupt  ein 
Schufs  gefallen  ist  Wenn  auf  solches  Zeterschreien 
wohl  auch  eine  sorgsame  Obrigkeit  sich  einen  Augen- 
blick bewogen  finden  kann,  gegen  die  Gefahr  jenes 
Schiefsens  Vorkehr  treffen  zu  wollen:  so  tritt  sofort 
etwa  ein  verständiger  und  wohldenkender  Mann  da- 
zwischen mit  der  Belehrung ,  dafs  hier  ein  blinder 
Lärm  obwalte,  und  keine  wirkliche  Gefahr  vorhan- 
den sei»  In  der  letzteren  Weise  verhält  sich,  auf 
demselben  Standpunkte  vorerst  blofs  allgemeiner 
BeurtheSung,  das  Gutachten  Aber  mein  Werk  von 
Neander,  welchem  ich  dafür,  dafs  er  in  meiner 
Sache  seine  vielgeltende  Stimme  auf  so  würdige  Weise 
hat  wollen  vernehmen  lassen,  meinen  Dank  und  meine 
Hochachtung  hiemit  auszudrücken  nicht  .umhin  kann. 
Allmählig  jedoch,  wie  das  Unmittelbare  des  er- 
sten Eindrucks  nach  und  nach  zurücktritt,  kommt  es 
dazu,  dafs  man  von  dem  Einzelnen  eines  derartigen 


Vorrede  zur  tweiten  Auflage.  XV 

Werkes  sich  Rechenschaft  zu  geben,  dessen  einzelne 
Ergebnisse  sammt  den  Bew^pn  zu  untersuchen  be- 
ginnt: und  hier  erst,  scheint  es,  kann  sowohl  das 
Publicum  eine  richtige  Würdigung,  als  der  Verfas- 
ser wirkliche  Belehrung  sich  versprechen.  In  der 
Thai  waren  einige,  auf  dem  Uebergange  von  der  er- 
sten Klasse  in  diese  zweite  gelegene  Abhandlungen 
Aber  meine  Schrift,  wie  die  Recension,  zu  welcher 
rieh  nachher  Herr  Prof.  Weisse  in  Leipzig  bekann- 
te, und  eine  andere  in  den  Pflanzschen  Blattern 
fikr  katholische  Theologie,  fdr  mich  erfreulich;  auch 
den  späteren,  entschieden  zu  dieser  Klasse  zu  zäh- 
lenden Schriften,  gestehe  ich  gerne,  manchfache  Be- 
lehrung zu  verdanken«  Allein  die  hieher  gehörigen 
Verfasser  wenden  sich  vorerst  nur  nach  dem  zu  prü- 
fenden Buche,  nicht  aber  ebenso  nach  der  Sache 
selbst  hin,  welche  dessen  Gegenstand  ist;  sie  fragen 
nur,  wie  ich  die  evangelische  Geschichte  im  Ganzen 
und  im  Einzelnen  behandle,  und  ob  sich  nicht  noch 
immer  Manches  gegen  meine  Ansicht  und  für  die 
kirchliche  sagen  lasse:  keineswegs  aber  schicken  sie 
sich  an,  von  dem  Standpunkt  aus,  welchen  sie  gegen 
mich  verthridigen,  nun  auch  selbstständig  das  Ganze 
der  evangelischen  Geschichte  zu  bearbeiten,  und  zu 
versuchen,  ob  eine  solche  Bearbeitung,  folgerecht 
durchgeführt,  mit  den  Forderungen  der  Wissenschaft 
unserer  Zeit  in  Einklang  gesetzt  werden  könne.  Nun 
ist  es  aber  natürlich,  dafs  sowohl  im  Allgemeinen, 
wenn  man  auf  die  einzelnen  Fälle  der  Anwendung 
sieht  eingeht,  als  auch  auf  jedem  einzelnen  Punkte, 


XVI 


Vorrede  zur  zweiten  Auflage. 


so  lange  man  auf  sein  Verhältnis  zum  Ganzen  keine 
Rücksicht  nimmt,  fast  igptaer,  bald  mit  Wahrheit,  bald 
mit  Schein,  etwas  auch  gegen  die  mythische  und  für 
die  kirchliche  Ansicht  sich  geltend  machen  lifst :  da- 
her denn  in  den  Benrtheilern,  welche  sich  auf  die- 
sen Standpunkt  stellen,  die  Täuschung  eines  unend- 
lichen Besserwissens  und  durchgängigen  Rechthabens 
sich  bildet.  Hieraus  entsteht  leicht  die  eitle  Sucht, 
dem  Gegner  überall  gar  nichts  gelten  zu  lassen; 
diese  Sucht  nimmt  ein  unredliches,  chicanirendes  Ver- 
fahren zu  Hülfe,  und  verbindet  sich,  sofern  man  über- 
diels,  auf  der  breiten  Basis  des  Hergebrachten  und 
unter  dem  siehern  Schirme  der  Kirchen- und  Staats- 
gewalt einem  scheinbar  Vereinzelten  gegenüberzuste- 
hen, sich  wohl  bewufst  ist,  mit  einem  hochmüthigen 
und  selbst  höhnischen  Tone :  wie  alles  diefs  vornehm- 
lich in  den  Schriften  der  Herren  Diaconus  Hoff- 
mann und  Prof.  Dr.  Kern  auch  wohl  noch  Andere 
aufser  mir  widrig  angesprochen  hat.  So  viel  Reiz 
hierin  für  mich  lag,  mit  diesen  Gegnern  sogleich  an 
Ortend  Stelle,  bei  einzelnen  Punkten  dieser  zweiten 
Auflage,  mich  zu  messen:  so  habe  ich  demselben 
doch  widerstehen  müssen,  um  nicht  mein  Werk  theils 
zu  sehr  aufzutreiben,  theils  in  polemische  Beziehun- 
gen auseinanderzureifsen ;  ich  hoffe  aber,  demnächst 
mir  Zeit  verschaffen  zu  können,  um  ihnen  in  einer 
Reihe  besonderer  Schriften  entgegenzutreten. 

Erst  wenn  man  von  der  Richtung  auf  mein  Werk 
sich  wieder  zu  der  Sache  selbst  umwendet,  wenn 
man  versucht,  wie  weit  auf  der  jetzigen  Stufe  der 


i 

i 

i 


I 


Torrede  t or  «weiten  Auflage»  XVI | 

Wissenschaft  and  des  allgemeinen  Bewußtseins^  das 
Leben  Jesu  sich  bearbeiten,  oder  auch  nur  ein  ein-  , 
vhm  Evangelium  sich  behandeln  lasse,  ohne  von 
kä  Ergebnissen  meiner  Forschungen  Gebrauch  zu 
lachen:  erst  dann  kann  ich  —  aber  dann  auch  mit 
Gevri&heit  —  hoffen,  dafs  keineswegs  Alles,  was 
ich  geleistet,  auch  fernerhin  übennüthig  weggewor- 
fen, sondern  gar  mancher  bisher  verworfene  Stein, 
den  ich  zu  Tage  gefördert  oder  gereinigt,  dem 
neuen  Bau  theologischer  Wissenschaft  werde  ein- 
verleibt  werden.  Dann  auch  erst,  wenn  ich  zu 
sehen  bekomme,  wie  Andere  ohne  diese  oder  jene 
von  mir  gebrauchte  Annahme,  oder  mittelst  ande- 
rer, die  sie  an  die  Stelle  der  meinigen  setzen,  sich 
ein  Ganzes  der  Ansicht  über  die  evangelische  Ge- 
schichte zu  bilden  wissen,  werde  ich  auf  thatsäch- 
tiche  Weise  mich  belehrt  finden,  da  und  dort  zu 
weit  gegangen  zu  sein,  oder  nach  dem  Unrechten 
gegriffen  zu  haben.  Auch  aus  dieser  Klasse  von 
Schiften  ist  zu  meiner  besonderen  Freude  in  der 
letzten  Zeh  noch  eine  erschienen,  in  de  Wcttes 
Erklärung  des  Evangeliums  Matthfii;  ein  Werk, 
n  welchem  ich  auf  vielen  Punkten  meine  Bemü- 
hungen von  einem  alten  Meister  biblischer  Kritik 
wf  eine  Weise  gewürdigt  sehe,  die  mich  über  die 
Sprechenden  Urtheile  so  mancher  Andern  trösten 
Una,  welche,  wie  z«  B.  bei  meinem  Herrn  Recen- 
»orten  in  den  Berliner  Jahrbüchern  am  Tage  liegt, 
von  Kritik  entweder  erst  durch  mein  Buch,   oder 

doch  nicht  lange  vorher,   etwas  vernommen  zu  ha- 
lt 


XVJII  Vorrede  zur  zweiten  Auflage. 

heu  scheinen.  Von  Seiten  eines  Werkes,  wie  das 
de  Wettesche,  war  mir  auch  Abweichung  und 
Widerspruch  im  höchsten  Grade  beachtenswerth  9 
und  ich  habe,  so  weit  es  sich  noch  thun  liefs,  und 
ich  einstimmen  konnte,  meine  Arbeit  bereits  in  ei- 
nigen Stücken  nach  seinen  Fingerzeigen  berichtigt» 
Ueberhaupt  habe  ich,  so  wenig  bei  der  kur- 
zen Zwischenzeit  und  meiner  jetzigen,  för  zusam- 
menhängende wissenschaftliche  Studien  ungünstigen, 
äufseren  Stellung  von  dieser  zweiten  Auflage  eine 
eigentliche  Umarbeitung  erwartet  werden  darf,  doch 
das  ganze  Werk  einer  wiederholten  genauen  Durch- 
sicht unterworfen,  und  auf  allen  Punkten  mich  be- 
strebt, was  theils  Einwürfe  der  Gegner,  theils  Mit- 
theilungen der  Freunde,  theils  eigene  weitere  For- 
schung mich  gelehrt,  für  dessen  Verbesserung  zu 
benützen;  bemerklich  gewordene  Lücken  auszufal- 
len, für  unhaltbar  Erkanntes  zurückzunehmen,  be- 
wahrt Gefundenes  dagegen  desto  stärker  zu  bele- 
gen: und  ich  hoffe,  dafs  man  diesen  guten   Willen 

nicht  durchaus  verkennen  werde. 
■» 
Ludwigsborg,  den  23.  Sept.  1836. 


I 


Inhalt  des  ersten  Bandes«, 


Seite 
Einleitung.    Die.  Ausbildung  des  mythischen 

Standpunktes  für  die   evangelische    Ge- 
schichte •       -       -       -       -       -    1— IM 

$.    1.    Nothwendlge  Entstehung  verschiedener  ErklKrungs- 

weisen  heiliger  Geschichten        ....  f 

f.    2.    Verschiedene  Deutungen  der  Gattersägen    hei  den 

Griechen       ......--  $ 

|.    5.    Allegorische  Auslegung  hei  den  Hebräern.    Philo  5 

J.     4.    Die    ai/cgorische    Auslegung    unter    den     Christen. 

Origenes 7 

$.  5*  Uebergang  zur  neueren  Zeit.  Die  Deisten  und  Na- 
turalisten des  17ten  und  igten  Jahrhunderts; 
der  Wolfenhuttelscfae  Fragmentist  12 

V    6.     Die  natürliche  Erklärungsart  der  Rationalisten*.  Eich- 

Hoair.    Paulus       .«••«••19 

<j.    7.     Kaut's  moralische  Interpretation        «.«.-•        29 

$.    8.     Entstehung  der  mythischen  Auffassungsweise  der  heil. 

Geschichte,  zunächst  in  Bezug  auf  das  A.  T.    -        32 

tj.    9.     Die  mythische  Erklärung s weise  in  ihrer  Anwendung 

auf  das  N.  T. 45 


I 


\ 


t 

XX  Inhalt. 

/  Seit« 

£.  10.  Der  Begriff  des  Mythus  in  seiner  Anwendung  auf 
die  beil.  Geschichte  von  den  Theologen  nicfit 
rein  gefasst  .......         4g 

$.  11.  Der  Begriff  det  Mythus  nicht  umfassend  genug  an- 
gewendet --....  M 

$.  12L    Bestreitung  der  mythischen  Ansicht  yon  der  evange 

tischen  Geschickte       r       -       T  $4 

$•  13.    Möglichkeit  von  Mythen   im  N.  T.   nach  äusseret* 

Gründen       -     .    -        -        -        -  .        *       \\ 

$.  14.    Die  Möglichkeit  von  Mythen  im  N.  T.  nach  inneren 

Gründen       -        -        •        -        -        -        -  •  •  ?        86 

$.  $5.    Begriff  und.  Arten  des  evangelischen  Mythus  •         .      113 

f.  16.    Kriterien  des  Unhistorischen  in  der  evangelischen 

Erzählung     ........       \\$ 


Erster  Abschnitt.   Die  Geschichte  der  Ge- 
bart und  Kindheit  Jean      -        -    125— S6ß 

Erstes    Kapitel.     VerkUndigung    und  Ge- 
burt des  Täufers  -        ...    127— 155 

J.  17.    Die  Erzählung  des  Lukas  und  deren  unmittelbare, 
\  supranaturalistische  Auffassung  ....      127 


$.  18.    Difj  natürliche  Deutung  dpr  Erzählung 


139 


§.  19.    Die  mythische  Ansicht  yon  der  Erzählung  auf  ver- 
schiedenen Stufen        ......      |47 

Zweites  Kapitel.  Jesu  Davidische  Abkunft 

nach  zwei    Stammbäumen  -        -    156~18Q 

« 

|*  20.    Die  beiden  Genealogien  Jesu  ohne  Bezug  auf  einan- 
der betrachtet      .        .        .        -        -  •     -        -      Jafij 


Inhalt.  XXI 

Seite 
V>  2t.    Vergletfouug  beider  Genealogien.    Versuche,-  Ihren 

Widerstreit  su  töten  •      167 

V  A    Die  Genealogien  unhistorisclj    -       ?        -        -       -      177 

Drittes  Kapitel.  Verkündigung  der  Km- 
pfängniqs  Jesu;  4?Men  ttbernatttrli- 
che  Erzeugung}  Qeiuch  d^r  Maria 
bei  Elisabet    -  T     .  -       -181- $53 

$.  23.    Abr]as  der  verschiedenen ,  kanonischen  und  apqkry- 

phiechen  Berichte        ......      18t 

§.  24.    Abweichung  der  beiden  kanonischen   Evangelien  in 

Bezug  auf  das  Formelle  der  Verkündigung  186 

y  25.  Inhalt  der  Engelsbotschdft.  Erfüllung  der  Weissa- 
gung des  Jesaias        x  -       *  '  *  *97 

$.  26.    Jesus  durch  den  heiligen  Qeist  erzeugt.    Kritik  der 

orthodoxen  Ansicht  -        -        -        -  .     -      106 

$.  27.  Rückblick  auf  die  Qenealogien                                   -      IM 

%.  28.  Die  natürliche  Erklärung  der  Empfingnissgeschichte      122 

$.  29.  Die  Geschichte  der  Erzeugung  Jesu  als  Mythus 

y.  30;  Verkaltniss  Josephs  tu  Maria.    Brüder  Jesu   • 

V  31-  Besuch  Maria's  bei  £lisa>et                                    *        *** 

Viertes  Kapitel.    Geburt  und  erste  Schick- 
sale  Jesu  -        i       -       -  -    254-341 

f.  32.    Die  Schätzung ^       -       -      254 

» 

f.  33.  Nähere  Umstände  der  Geburt  Jesu,  sammt  der  Be- 
schneidung -       -   •    -       -       -       -      266 

f.  $4.  pie  Magier  und  ihr  Stern ,  die  Flucht  nach  Aegyp- 
ten  und  der  bethlehenritische  Kindermord.  Kri- 
tik der  supranaturalistischen  Ansicht    '     «       -      J79 


>  XXIV  Inhalt. 

Seite 

f.  57«    Der  Wohnsitz  Jesu  in  Hapernaum    «       *       *        •     507 

%  $.58.  Abweichung  der  Evangelisten  in  Bezug  auf  die  Chro- 
nologie des  Lebens  Jesu«  Dauer  seiner  öffentli- 
chen Wirksamkeit 615 

$.  59.  Die  Versuche  einer  chronologischen  Anordnung  der 
einzelnen^Begebenheiten  des  öffentliche^  Lebens 
Jesu     -       -     '  -       •       *       •       -       •       -      520 


Viertes  KapiteL    Jesus  als  Messias  526-584 

$.  60.    Jesus,  o  vto*  Ts  orfywr« -      526 

$.  61.    Jesus  als  o  tiog  rS  toS         - 553 

$.  62.    Jesu  Sendung  und  Vollmacht  y   seine  Präexistena  537 

$.  63«    Wie  bald  Jesus  sich  als  Messias  dargestellt,  und  alt 

solcher  Anerkennung  gefunden  habe  •        -      542 

f.  64«,  Der  messianische  Plan  Jesu,  Schein  einer  politi- 
schen Seite  -     ,  -       -  •      -       -       -      549 

$•  65.    Data  für  einen  rein  geistigen  Bfessiasplan  Jesu       -     652 

$.  66.    Das  Verhaltniss  Jesu  zum  mosaischen  Gesetz  '         •     556 

*  .  *  '  •      • 

$•  67.    Umfang  des  messianischen  Plans  Jesu.    Verhaltniss 

'zu  den  Heiden     -"-"-.       -       .       .      567 

S*  68«    Verhaltniss  des  messianischen  Plans  Jesu  zu  den  Sa- 
maritanern.    Sein  Zusammentreffen  mit  der  sa-  * 
maiischen  Frau    -       -       -       .......      573 

fünftes  Kapitel..  Die  Jünger  Jesu        .  585—633 

$.  69*  Die  Berufung  der  ersten  Begleiter.  Differenz  zwi- 
schen den  beiden  ersten  Evangelien  und  dem 
vierten  -        --        .       -.-        -        -      565 

%.  70.    Der  Fischzug  des  Petrus  -  ,        -        -      596 


1 


I  n  b  *  I  t.  XXV 

Seite 
$.  71     Berufung  des  Matthäus.  .  Gemeinschaft  Jesu  mit  den 

Zöllnern        ••*»«••»      506 

$.  TS.    Die  swttf  Apostel       ..,♦*..     614 


i.  73.    Die  Zwölfe  einsein  betrachtet.    Die  drei  oder  vier 

▼ertrautesten  Jünger  Jesu  •       •       ...     619 


(.  74.    Die  übrigen   von  den  Ztrttlfen    und  die  siebeniig 

Jünger      '     •       •       -  *      *       •       «       •»       ••      638 


Sechste*  WonlteL  Reden  Jesu  in  dm  drei 

-ersten  Evan-gellen  ♦    •    -   -       ♦       •    631  ■  608 

t>  75.    Die  Bergrede     •       *    >  •       •       •     '•       •       •     634 

f  76.    Instruction -der  Zwölfe.  Klage  über  die  galilflschen 

Städte.  Freude  über  die  Berufung  der  Einfältigen     653 

J.  77.    Pie  Parabeln 659 

f.  78.    Vermischt*  Lehr  •  und  Streitreden  Jesu  • '      •     679 

\ 

Siebentes  Kapitel.    Reden  Jesu  Im  vierten 

Evangelium     •••♦-••    699—741 

$.  79.    «Pie  Unterredung  Jesu  mit  Nikodemus      »       •       •     699 

$.  8a    Die  Reden  Jesu  Job.  5-18.  *     710 

$.  81.    Einzelne  dem  vierten  Evangelium  mit  den  Übrigen 

gemeinsame  Aussprüche  Jesu     *       -       •       *     723 

f.  88.    Die  neueren  Verhandlungen  über  die  Glaubwürdig» 

keil  der  johanneischen  Reden.    Resultat  «      730 

Achtes  Kapitel.  Begebenheiten  aus  dem 
öffentlichen  Leben  Jesu  (mit  Ausschluss 
der  Wundergeschichten)     -  748—767 

$»  83.    Vcrgleichung  der  Erzählungsweise  der  verschiede- 
nen Evangelisten  im  Allgemeinen     -  74? 


XXVI 


Inhalt. 


$•  84*    Einsehe  Anekdotengruppen.     Beschuldigung  einet 
bandet  mit  Beelzebul  und  Zeichenforderung 

V  SS«    Bettich  der  Mutter  and  der  Brüder  Jesu  und  die 
teligpreisendf  Friu  -       -       -       -.      ;. 

■ 

§.  86*    Die  Errihlungen  von  Rangstreitigkeiten  unter  den 

Jüngern  und  von  Jetu  Liebe  *u  den  Hindern 

,  -        •  • 

$.  87.    Die  Tempelreinigung       -       *       -       -  •     ,- 


Seite 
751 

757 

761 
767 


f.  |8t    Die  Erzählungen  ron  der  Salbung.  Jesu  durch  ein 

.  Weib  ---         r  -  r         -  r  -775 


wm 


N0WMVMW 


Einleitung« 

He  Ausbildung  des  mythischen  &tandpvnk- 
tes  für  die  evangelische  Geschichte* 


§.   i. 

liomwendige  Entstehung  verschiedener  ErklMrungsweisen 

heiliger  Geschichten. 

We  immer  eine  auf  schriftliche  Denkmale  sich  stützende 
Bdipou  in  weiteren  Hanoi*  und  Zeitgebieten  sich  geltend 
■nebt,  and  ihre  Bekenner  durch  mannigfaltige  und  immer 
hober  steigende  Entwickelungs-  und  Bildungsstufen  beglei- 
tet:  da  tbut  sich  früher  oder  später  eine  Differenz  hervor 
«wischen  demjenigen,  was  jene  alten  Urkunden  bieten, 
and  der  neuen  Bildung  derer,  welche  an  dieselben  als  an 
heilige  B&eher  gewiesen  sind.  Diese  Differenz  kann  bald 
mehr  nur  das  Unwesentliche  und  Formelle  betreffen,  dafs 
Ausdruck  und  Darstellung  in  jenen  Schriften  der  Sache 
unangemessen  gefunden  werden;  bald  aber  tritt  sie  selbst 
an  den  wesentlichen  Inhalt  heran,  und  es  wollen  auch  die 
Ideen  and  Grundansichten  solcher  Bücher  der  fortgesehnt» 
Bildung  nicht  mehr  genügen.  So  lange  diese  Diffe- 
entweder  nicht  so  bedeutend  sind,  oder  nicht  so 
illpmnin  «um  Bewufstsein  kommen ,  um  eine  völlige  Los« 
mgUBg  von  jenen  Urkunden,  als  heiligen,  herbeizufahren : 
solange  mnXs  unter  denen,  welohe  sich  derselben  heller 
oder  dunkler  bewufst  geworden  sind,  ein  Vermittlungs- 
preeeis entstehen  und  sich  erhalten ,  welcher  in  der  Aas- 
legung  jener  Bücher  vor  sich  gehen  wird. 
Das  Lehn  Jesu  ZteAuß.  I.Band.  1 


2  Einleitung.    §.'  1. 

Ein  Hauptbestandteil  aller  Religionsurkunden  ist  bel- 
üge Geschichte;  ein  Geschehen,  in  welchem  das  Göttliche 
unvermittelt  in  das  Menschliche  hereintritt ,  die  Ideen  un- 
mittelbar sich  verkörpert  «eigen  ')•  Wie  aber  Bildung  über* 
haupt  Vermittlung  ist:  so  wird  die  fortschreitende  Bildung 
der  Völker  auch  der  Vermittlungen  immer  deutlicher  sich 
Jbewufst,  welche  die  Idee  so  ihrer  Verwirklichung  bedarf; 
und  so  erscheint  jene  Differenz  der  neuen  Bildung  und  der 
alten  Religionsurkunden  in  Bezog  auf  deren  geschichtarti- 
gen Theil  namentlich  sc*,   dafs  jenes  unmittelbare  Eingrei- 
fen des  Göttlichen  in  das  Menschliche  seine  Wahrschein- 
lichkeit verliert.     Wozu,  da  das  Menschliche  jener  Urkun- 
den ein  Menschliches  der  Vorzeit,    also  ein  relativ  unent- 
wickeltes, nach  Umständen  selbst  rohes  ist,   auch  ein  un- 
behagliches Sichabwenden    von  diesem  insbesondere    sich 
gesellen  kann.    Das  Göttliche  kann  nicht  so  (theils 
überhaupt  unmittelbar,  theils  noch  dazu  roh)  geschehen 
sein;    oder  das  so  Geschehene  kann  nicht  Gött- 
liches gewesen,  sein  —  so  wird  die  Differenz    sich 
aussprechen,  und  wenn  die  Auslegung  dieselbe  zu  vermit- 
teln sucht,  so  wird  sie  dahin  streben,  entweder  das  Gött- 
liche als  nicht  so  Geschehenes  darzustellen,  also  den  alten 
Urkunden  die  historische  Geltung  abzusprechen,  oder  das 
Geschehene  als  so  nicht  Göttliches   aufzuweisen,    also  aus 
jenen  Böchern  den  absoluten  Inhalt  hinwegzuerklären*   In 
beiden  Fällen  kann  die  Auslegung  befangen  oder  unbefan- 
gen zu  Werke  gehen:   befangen,  wenn  sie  gegen  das  Be- 
wußtsein der  Differenz  zwischen  der  neuen  Bildung  und 
der  alten  Urkunde  sich  verblendet,  und  nur  den  Ursprung- 


1)  Ich  nehme  diese  Unmittelbarkeit  und  Vermittlung  in  dem 
Sinne ,  in  welchem  Geor&b  9  über  Mythus  und  Sage ,  S.  78«, 
vom  Wunder  sagt,  es  sei  das  Eintreten  einer  einzelnen  Idee 
in  die  Fr  scheinung,  ohne  Berücksichtigung  des  To- 
talzusacMnen  hangt. 


Einleitung«    §.  %  3 

Beben  Sinn  der  letzteren  su  ermitteln  f  ich  einbildet ;  un- 
befangen, wenn  sie  klar  erkennt  und  offen  eingesteht,  dafs 
tkiaa,  was  jene  alten  Schriftsteller  eraähien,  anders  an- 
rieht, als  diese  selbst  es  angesehen  haben.  Dieser  letztere 
Standpunkt  ist  jedoch  keineswegs  schon  ein  Siehlossagen 
na  den  alten  Religionsschriften,  sondern  es  kann  anch 
Mer  noeh  bei  Festhaltang  des  Wesentlichen  das  Unwesent» 
Gehe  ongescheut  preisgegeben  werden« 

$.  a. 

Verschiedene  Deutungen  der  Göttersagen  bei  den  Griechen. 

Man  kann  nicht  sagen ,  dafs  die  hellenische  Religion 
anf  schriftlichen  Urkunden  beruht  habe ;  aber  sie  hatte  doch 
dergleichen  ä.  B.  in  Homer  und  Hesiod,  und  wie  diese,  so 
hat  mach  ihre  mündliche  Göttersage  bei  fortschreitender 
Bildung  des  griechischen  Volkes  jene  verschiedenen  Deu- 
tungen erfahren  müssen.  Der  ernsten  griechischen  Philo- 
sophie, und  durch  sie  selbst  einzelnen  Dichtern,  ging  früh« 
zeitig  das  Bewnfstsein  auf,  dafs  das  Göttliche  sieh  nicht 
in  solcher  menschlichen  Unmittelbarkeit  und  Roheit  ver- 
wirklichen könne,  wie  die  wilden  Kämpfe;  der  hesiodischen 
Theogonie  und  das  behagliche  Treiben  der  homerischen 
Götter  es  darstellten :  daher  Plato's ,  und  schon  Pindar's, 
Zwist  mit  Homer1)?  daher,  dafs  Anaxagoras,  dem  man 
wohl  anch  die  Erfindung  der  allegorischen  Auslegung  zu« 
sahrieb,  die  homerischen  Gedichte  auf  die  <xq€tt}  una 
iuuuoavvT]  bezog  *)  ;  daß  die  Stoiker  die  hesiodisehe  Theo- 
gonie von  dem  Processe  der  Naturprincipien  verstanden, 
oberste  Einheit  ihnen  das  Göttliche  war  *) ;    womit 


1)  PUto  de  repuhl.  2.  p.  577 1  Steph.  Findar  Nem.  7,  31.  Vgl. 
über  diese  und  das  Folgende  Baur  ,  6vmbolik  und  Mythol.  1, 
S.  343 ff.  und  O. Mülls*,  Frolegojntna  zu  einer  wissenschaft- 
lichen Mythologie,  S.  86  ff.  99  f. 

I)  Diog.  Laert.  L.  2.  c.  3.  No.  7. 

9  Cic.  de  nat.  Dcor.  f ,  10.  15.    Vgl.  Clement,  hom.  6,  1  ff. 


4  Einleitung.    $.  % 

diese  Denker  twar  einen  absolutes  Inhalt,  jeder  nach  «ei- 
ner Weite,  der  eine  einen  physischen,  der  andere  einen 
ethischen,  in  jenen  Darstellungen  fanden,  aber  die  Form 
derselben,  als  einer  eigentlichen  Geschichte,  aufhoben  *)• 

Umgekehrt  war  der  mehr  populären,  sophistisch»  rai- 
sonnirenden  Bildung  Anderer,  wie  ihnen  jeder  göttliche 
Inhalt  überhaupt  sich  verflüchtigt  hatte,  so  auch  in  Besag 
auf  die  Göttergeschichten  sum  Bewufstsein  gekommen,  dafs 
ein  solches  Treiben,  wie  es  hier  den  Göttern  zugeschrie- 
ben wurde ,  kein  göttliches  sei :  sie  liefsen  also  jene  Er- 
■Xhlungen  ewut  als  wirkliche  Geschichte  gelten ;  nur  mach- 
ten sie  mit  Euhemerus  *)  die  Subjecte  derselben  aus  Göt- 
tern su  Menschen,  an  Helden  und  Weisen  der  Voreeit, 
nu  alten  Königen  und  Tyrannen,  welche  durch  Tha- 
ten  der  Kraft  und  Gewalt  sich  göttliche  Ehre  su  Wege 
gebracht    haben  6)  ;     wenn    man    nicht    gar    mit    Poly- 

4)  An  dieser  Hereinzichung  der  griechischen  Allegorie  haben 
sich  mehrere  Gegenschriftsteller ,  wie  Hpmumr  (dss  Leben 

.  Jesu  von  Dn jStrauss ,  geprüft,  S.  58 )>    Lakgb  (über  den  ge- 

schichtlichen Charakter  der  kanonischen  Evangelien ,  insbe- 
sondere der  Kindheitsgeschichte  Jesu ,  mit  Beziehung  auf  das 
L.  J.  von  D.  F.  Strauss ,  S.  1) ,  und  Osiakder  ( Apologie  des 
L*  J«  6cgen  den  neuesten  Versuch ,  es  in  Mythen  aufzulösen, 
S.  10)  gestossen,  und  die  wesentliche  Verschiedenheit  theils 
der  heidnischen  Religionen  von  der  hebräisch  -  christlichen, 
theils  der  Gründe,  welche  auf  der  einen  und  der  andern  Seite 
tu  dem  Auswege  der  Allegorie  führten,  entgegengehalten.  Al- 
lein auf  beiden  Seiten  ist  doch  eine  Religion  und  eine  mit 
ihr  gespannte  Bildung,  die  sich  durch  eine  eigentümliche 
Auslegung  mit  jener  in  Einigkeit  zu  halten  bemüht  ist;  dsss 
die  Spannung  das  einemal  mehr  auf  der  sittlichen,  dastände* 
remal  mehr  auf  der  versündigen  Seite  sich  äussert,  kann 
ebensowenig  die  Vergleichbarkeit  aufheben. 

5)  Diodor.  Sic.  Bibl.  Fragm.  L.  6.    Cic.  de  nat.  Deor.  1,  42. 
<5)  „Diese  Pragmatiker  (sagt  O.  Muu.br  a.  V  O.  S.  97)  schieden 

aas  den  Mythen  das  Wunderbare,  das  Unmögliche,  das  Ffean« 


Einleitung.     $.  $.  § 

*)  n.  A.  die  ganae  (idtterlehre  als  eine  von  den  Grün- 
der Staaten  stur  Bändigung  des  Volks  ersonnene  Fä- 
kal totmehtete. 

Allegorische  Auslegung  bei  den  Hebräern.    Philo. 

Die  Abgeschlossenheit   und  Stabilität  des   hebrttscbea 
TJkmm  uanfste  nwar  bei  ihm  die  Entstehung  ähnlicher  Er- 
aeeimmgctn  einerseits  beschränken ;  andrerseits  aber  male» 
las  diese,  wo  sie  einmal  sieb  neigten ,  nnr  um  so  markir- 
tor  berrortreten ,  je  entschiedener  die  Geltang  der  schrift- 
Religionsurkunden  war,  je  behutsamer  und  knnst- 
aman  also  bei  ihrer  Deutung  verfahren  mubte. 
Daher  entwickelten  sich  selbst  in  Palistina ,  in  der  nach- 
erlhWfctn,  und  noch  mehr  in  der  nachmakkabiischen  Zeit, 
atfaelhlig  manche  Kunstgriffe   in  der  Auslegung  des  alten 
Testeanemts,  durch  welche  es  möglich  wurde,  Anstöße,  die 
in  demselben  fand,  au  beseitigen,  Locken  au  ergln- 
,  nnd  neuere  Ideen  hineinsntragen ;  eine  Auslegungs- 
1  welcher  die  Beispiele  in  den  rabbinischen,  nnd 
einige  selbst  in  den  nentestamentlichen  Schriften   sich  fin- 
den*); aber  sasAmmenhängend ,   namentlich  in  Bezug  auf 
den  historischen  Inhalt  des  A.  T. ,    wurde  eine  solche  In- 
terpretationsmethode erst  an  demjenigen  Orte  ausgebildet, 
entschiedensten  die  jüdische  Bildung,  durch  Beruh- 


tausche ;  das  Uebrige,  so  sehr  es  mit  jenem  verflochten  war, 
blieb  ihnen  als  geschichtlicher  Grund  zurück}  und  diesen 
lageblichen  Ereignissen  legten  sie  nun,  um  sie  zu  verknüpfen, 
Motive  anter,  wie  sie  für  ihre  Zeit  passten."  Genau  das 
Vorbild  für  die  Behandlung  der  biblischen  Geschichte ,  von 
welcher  unten,  §.  6.,  die  Rede  werden  wird. 

f)BUt.  6,  56. 

j)t.D8nm,   die  Hermeneutik  der  aeutestamentlichen 
tUüer,  S.  1*3  ff. 


6  Einleitung.     §.  3» 

rang  namentlich  mit  der  griechischen,  Ober  sich  selbst 
hinausgegangen  war:  in  Alexe ndrien.  Nach  mehreren  Vor» 
gängern  war  es  besonders  Philo,  welcher  die  Ansicht  von 
einem  gemeinen  nnd  einem  tieferen  Sinne  der  heiligen 
Schriften  ausbildete,  von  welchen  er  den  ersteren  zwar 
keineswegs  Oberhaupt  verworfen  wissen  wollte,  sondern 
grofsentheils  beide  nebeneinander  hergehen  lief«,  und  sich 
sogar  gegen  diejenigen  erklärte,  welche  allenthalben,  auch 
ohne  Noth,  den  Wortsinn  einem  höheren  aufopferten:  in 
manchen  Fällen  jedoch  setzte  er  den  buchstäblichen  Sinn 
und  die  geschichtliche  Auffassung  vöjilig  bei  Seite,  and 
lieft  das  Erzählte  nur  als  bildliche  Darstellung  von  Ideen 
gelten ;  so  oft  nämlich  in  der  heiligen  Geschichte  sich  Zöge 
fanden,  weiche  tiottes  unwürdig  zu  sein,  auf  Materialis- 
mus nnd  Anthropomorphismus  in  Bezug  auf  das  göttliche 
Wesen  so  führen ,  oder  sonstige  Widersprüche  zu  enthal- 
ten seidenen  2> 


2)  s.  Gfrörer,  Philo  und  die  alexandrinische  Theosophie,  1.  Tbl» 
S.  84  ff.  95  ff.  DXhkx,  geschichtliche  Darstellung  der  jüdisch* 
alexandrinischen  Religionsphilosophie,  I.  S.  52  ff.  63  ff.  Ueber 
die  mosaischen  Erzählungen,  z.  B.  von  dem  Sechstagewerke,  von 
der  Erschaffung  des  Weibes  aus  der  Ribbe  des  Mannes,  äus- 
sert sich  Philo  in  diesem  Sinne.  To  farov  ln\  T#r«  juvÖäSts  t$h 
sagt  er  von  der  letzteren  Erzählung.  Diess  will  zwar  Hon- 
hunn  (S.  39)  so  deuten,  dass  es  nur  heissen  toll:  blos  wört- 
lich aufgefasst,  hätte  die  Geschichte  Aehnlichkeit  mit 
heidnischen  Mythen;  man  müsse  daher  zu  dieser  Auffassung 
noch  eine  höhere  hinzuthun.  Allein  dass  vielmehr  der  ge- 
schichtliche Sinn  hier  durchaus  verworfen  wird,  sieht  jeder, 
der  sich  die  Mühe  nimmt,  weiter  zu  lesen,  indem  nun  folgt: 
«*5f  yaQ  av  Tta^aSiimro  rt?,  or*  yiywtv  ix  nXevQag  av$(K>s  yovqi  tf 
«uvokos  ur&Q<anot;  (Leg.  alle£.  1.  Opp.  ed.  Mang.  1,  8.  70). 
Dieselbe  Stellung  ist  in  den  Worten   nicht  zu  verkennen: 

Ea/j$e;  7rdru  to  ouo&at>  V$  tjfitfQat;,    $  tta&ole  XQ°y{?>  xoo/jov  ytyovivat 

(-Ebenda s.   S.  44).    —    Vollends  ohne  alle  Einsicht  predigt 
Osuhdbr  (S.  10)  über  diesen  Punkt. 


fiinleitung.     $.4.  7 

Dmtk  eich  neben  dieser  ErkUrungsweise  des  A,  T., 
welehe,  um  die  Reinheit  des  absoluten  Inhalts,  ku  rettQfy 
ucbt  selten  die  Form  des  historischen  Gesehehenseias.auf* 
gas,  siebt  auch  die  entgegengesetzte  (enhemeristiselft)  aas?. 
Ufos,  die  Geschichte  zwar  stehen  an  lassen,  aber  qjte'jm 
«er  geauein-menschlichen  au  entgdttern ,  erkjfirt  sieh  ajU£) 
4a  snpranatnralistuchen  Standpunkte,  welchen  die  Jadeit) 
festgehalten  haben.  Erst  von  den  Christen  ist  aneh 
Art  der  Auslegung  über  die  Bücher  des  A.  T.  Ter-, 
küigt  worden  *). 

s:  4. 

t 
Die  allegorische  Auslegung  unter  den  Christen.     Origenes. 

Des  Christen  der  ersten  Zeit,  welche  vor  der  Fest- 
stellung den  christlichen  Kanon  sich  vorwiegend  noch  des 
A  T.  nie  heiliger  Urkunde  bedienten ,  war  eine  allegori- 
sche Auslegung  desselben  noch  weit  mehr  fiedfirinifs,  da 
sie  entschiedener  als  selbst  die  gebildetsten  Juden  über 
den  A.  T.  liehen  Standpunkt  hinansgeschritten  waren* 
Kein  Wunder,  dafs  man  fast  allgemein  in  der  ersten 
christlichen  Kirche  diese ,  schon  unter  den  Juden  II bliebe,. 
Auslegungsweise  sich  aneignete.  Am  meisten  aber  bildete 
sie  sich  auch  unter  den  Christen  wieder  in  Alexandrien 
aus,  wo  %i»  vornehmlich  an  den  Namen  des  Origenes  ge- 
knüpft erscheint.  Wenn  Origenes  überhaupt  nach  seiner 
anthropologischen  Trichotomie  der  Schrift  einen  dreifachen 
Sinn  anschrieb,   einen   buchstäblichen   als  den  leiblichen. 


S)  Eine  ähnliche  allegorische  Auslegungsweise  auch  bei  andern 
Völkern ,  hei  Fersern ,  Türken ,  weist  Dorm  nach,  S.  126  f.  ; 
vgL  auch  Kamt,  Religion  innerhalb  der  Gränzen  der  hlosen 
Vernunft.  Drittes  Stück,  No.  VI.  üeber  eine  euhemeristisch 
denkende  Secte  bei  den  Indiern  s.  Baur  a.  a.  O.  S.  &22.  Bei- 
derlei Richtungen  unter  den  Muhammedaaern  erwähnt  Tho- 
uks,  die  Glaubwürdigkeit  der  evangeL  Geschichte,  S.  4 ff. 


8  Einleitung.    §.  4. 

einen  moralischen  als  den  psychischen,  und  einen  mysti- 
sfthta  als  den  pneumatischen  *) :  so  Ilfst  er  in  der  Regel 
«war  alle  drei  Arten  des  Sinnes,  wiewohl  mit  verschiede- 
nem Werthe,  nebeneinander  stattfinden;  in  einseinen 
Ffttlefn  aber  soll  die  buchstäbliche  Auffassung  auch  gar 
keinen ,  oder  nur  einen  verkehrten  Sinn  geben,  am 
desto  entschiedener  den  Leser  zur  Entdeckung  des  mysti- 
schen Gehaltes  hinzutreiben.  Von  blofser  Herabsetzung 
des  Wortsinns  neben  dem  tieferen  mag  es  verstanden  wer- 
den, wenn  Origenes  Öfters  erinnert,  der  Zweck  der  bibii« 
sehen  Erzählungen  sei  nicht,  tms  alte  Mähren  zu  berich- 
ten ,  sondern  Lebensregeln  uns  zu  ertheilen  *) ;  wenn,  er 
behauptet,  bei  manchen  Geschichten  würde  die  (blofs) 
buchstäbliche  Auffassung  zum  Ruin  der  christlichen  Reli- 
gion gereichen 3) ;  und  wenn  er  auf  das  Verhältnifs  der* 
buchstäblichen  und  allegorischen  Schriftauslegung  den 
Spruch  bezieht,  dafs  der  Buchstabe  tödte,  der  Geist  aber 
lebendig  mache  ')•  Aber  entschieden  aufgegeben  ist  der 
Wortsinn,  wenn  es  heifst,  dfen  geistigen  Bestandteil  habe 
jeder  Abschnitt  der  Schrift,  den  leibliehen  aber  nicht  je» 
der*);  es  liege  oft  eine  pneumatische  Wahrheit  einer  so- 
matischen Lüge  zum  Grunde  *) ;  die  Schrift  habe  manches 

1)  Homil.  5.  in  Levit.  $.5. 

2)  Homil.  2.  in  Exod.  3:  Nolite  putare,  ut  saepe  jam  diximus, 
veterum  vobis  fabulas  recttari,  sed  docert  vos  per  haeo,  ut 
agnoscatis  ardinem  vitae. 

3)  Homil.  5.  in  Levit*  1 :  Haec  omnia,  nist  aÜo  sensu  acdpta~ 
mus  quam  Uterae  textus  ostendit,  ebstaeuhtm  magis  et  su6- 
nerttonem  ckristianae  religtont,  quam  hortationem  aedifica- 
ticnemque  praestabunt. 

4)  contra  Ceis.  6,  70. 

5)  De  principp.  L.  4*  $.  20 :  naoa  fäv  (y^wpi)  §x*  to  nvev/inrrutor9 
«  näaa  3b  ro  otüpanxov. 

6)  Comm.  in  Joann.  Tom.  *10.  {.  4 1  — -  awtoptvn  noliaxu;  t»  «Zy- 
&5$  nvtvfiaTtxZ  hr  t«J  wafitzxtxM,  «$  5v  «&ra»  rtp,  y«v&t' (Die  fiinf  letz- 
ten Worte  iiberietst  Horaux*>  S.  42:  er  lügt  so  zu  sagen). 


Einleitung,    %  4.  V 

der  Geschichte  eingewebt,  und  derjenige 
sfre  stumpfsinnig  sein ,  der  nicht  tob  selbst  bemerkte, 
tis  Vieles  in  der  Schrift  als  geschehen  dargestellt  siel* 
isk,  was  nieht  wirklieh  sc  sich  ereignet  habe  *)•  Zu  sei» 
sk,  nur  allegorisch  au  verstehenden  Ersihlnngen  rechnete 
tagsses  aniser  denjenigen ,  welche  Gott  so  sehr  an  ver- 
«whliohen  schienen  *) ,  namentlich  auch  solche, '  in  wel- 
sjsj  ton  Personen ,  die  sonst  in  ein  genaues  Verhältnil* 
n  6ott  gesetzt  waren ,  anstdfsige  Handinngen  berichtet 
fwfen*). 

Dseh  nicht  allein  vom  A.  T.  wich  die  christliche  Bii- 
smgsss  Origenes  so  weit  ab,  dals  er,  nm  die  Achtung 
fw  denselben  nicht  aufgeben  au  mflssen ,  gentithige  war, 
satttht  einer  allegorischen  Erklärung  den  dadurch  in  sei* 
■en  Bewufstsein  gesetsten  Widerspruch  au  lösen :  sondern 
tan  im  neuen  Testamente  fand;  er  manches ,  seiner  philo« 
nphisshen  Bildong  so  wenig  Zusagende,  dals  er  su  einem 
Inaliehen  Verfahren  auch  mit  dem  N.  T.  sich  yeranlafst 
fad.   Ist  doch,  dachte  er,   das  N.  T«   Werk   desselben 


7)  De  prineipp.  4,  15  •   evrwyip'tr  7  YVfi  T5  *5°lfa  **  M  f*™f**w, 

nq  fth  faj  dvrmroy  y*r{o9cn,  ntj  9h  öwarror  fthr  yw&tai,  m  pojp  y*y*- 

ryuror.    De  prineipp.  4,  16:  xai  rt  J«*  nltto  UfW\  rar  /oj  narv 

außlütr  faqta  oca  rotovra  Spraptrw  awayayttrf   ytyfttfifaiva  jAr  c5? 

ytyaroroy  «  yeytrrjpdra  8k  xara  Ttpr  2d&v, 

8)  De  prineipp.  4,  16« 

9)  Homil.  6.  in  Genes.  5 :  Quae  nobis  aedifwmtio  erü,  UgentU 
hu,  Abraham,  tantum  patriarchamt,  nou  solum  mentttum  esse 
Atonelech  regt,  sed  et  pudidtiam  conjugis  prodtditse  ?  Quid 
«et  aedificut  tanti  patriarchae  uwor,  $i  putetur  contaminatto- 
riku  expoHta  per  comtiventiam  maritalemf  Haec  Judaeipu- 
fast  (offenbar  —  wie  sehen  aus  der  Beziehung  des  putent  auf 
das  vorangegangene  putetur  erhellt  —  data  tie  to  der  Be- 
fleckung autgesetzt  worden;  nicht,  wie  Homumr,  S.  41.,  es 
dreht,  datt  dergleichen  erbaulich  sei) ,  et  sf  qut  <mm  eis  flmt 
ferse  amici,  mm  ipirttus. 


A 


^ 


10  Einleitung,    f.  4. 

Geistes,  wie  das  mite,  und  dieser  wird  bei  der  Einrichtung 
von  jenem  nicht  anders  als  bei  der  von  diesem  verfahren- 
sein :  dem  buchstäblich  Geschehenen  Niohtgesohebenes  ein- 
anwehen ,  nm  anf  den  geistigen  Sinn  hinzuweisen 10).  Ja' 
selbst  mit  theilweise  fabelhaften  Ers&hlungen  ans  der  pro- 
fanen Geschichte  and  Mythologie  stellt  Origenes  die  evan- 
gelischen Berichte  nicht  undeutlich  susammen  In  der  merk- 
würdigen Stelle,  contra  Celsum  1,  42.,  wo  er  sich  folgen- 
dermaff en  fiufsert :  „Fast  bei  jeder  Geschichte ,  so  wahr 
sie  auch  sein  mag,  ist  es  eine  schwere,  ja  nicht  selten  un- 
lösbare Aufgabe,  sie  als  wirklieh  geschehen  en  erweisen. 
Gesetst  nämlich,  es  läognete  Einer,  dafs  es  einen  troisehen 
Krieg  gegeben  habe,  namentlich  wegen  der  in  seine  Ge- 
schichte verwebten  Unmöglichkeiten,  wie  die  Geburt  des 
Achillens  von  einer  Meergöttin  u.  dgl. :  wie  wollten  wir 
die  Wirklichkeit  desselben  beweisen,  besonders,  gedrängt, 
wie  .wir  wären,  dorch  die  offenbaren  Erdichtungen,  wel- 
che sich  auf  unbekannte  Weise  mit  der  allgemein  ange- 
nommenen Kunde  von  dem  Kampfe  «wischen  Hellenen  und 
Troern  verwoben  haben?  Nor  diefs  bleibt  übrig:  wer  mit 
Verstand  die  Geschichte  studlren,  und  sich  von  Täuschun- 
gen in  derselben  frei  erhalten  will,  der  wird  Überlegen, 
welchem  Theile  derselben  er  ohne  Weiteres  glauben  dürfe, 
welchen  er  dagegen  blos  bildlich  aufzufassen  habe  ttiva 
de  TQonoloyijoeO,  mit  Rücksicht  auf  die  Absicht  der  Refe- 
renten, und  welchem  er  endlich,  als  aus  Menschengefällig- 
keit geschrieben,  gans  mifstrauen  müsse.  Diese  Vorbe- 
merkung wollte  ich,  schliefst  Origenes,  in  Bezug  auf  die 
ganse  in  den  Evangelien  gegebene  Geschichte  Jesu  machen, 


10)  De  prineipp.  4,  16  :  «  pwor  3h  nt(*  rwv  noo  rj*  naqmCa^  Tai  r et, 
to  nrevfta  yxoro/optr ,  &U\  er«  to  ovto  rvyx**oy  *<**  "*<>  *"•  &'<>« 
<9rf,  to  Spotor  neu  htl  rtoy  töayyelfoty  ntnoiiptt  xcu  hii  rä>v  anosokw^ 
m8k  rirwv  TFarrq  ax^aerov  rqv  tgo^Cav  rar  napqvyaofuvw  teara  to  wapa— 
rmor  ijorrw,  /qf  yayev^/tfVwy.    Vgl.  Homü.  6.  in  Esaiam,  No.  4. 


Einleitung,    f.  4.    '  11 

steht  am   am  blindem  and  grandiosem  Glauben  die  Ein- 
uchtsvolleren  aufzufordern,  sondern   am  zu  zeigen,   dafit 
m  Stadium    dieser   Geschichte   Verstand    and    fleifsig* 
Prlfang   nöthig  ist,  and  so  zu  sagen  ein  Eindringen  in 
in  Sinn  der  Schriftsteller,   um  ausfindig  zu  machen,   In 
■sfcher  Absicht  ein  Jedes  von  ihnen  geschrieben  seLw  — 
Im  sieht,  hier  Ist  Origenes  beinahe  über  seinen  sonstigen 
slegerinehen  Standpunkt  hinaus  auf  den  neueren  mythi- 
«uen  übergegangen  n).    Hielt  nun  aber  schon  in  Besag 
ssf  des  A.  T.  den  Origenes  theils  die  eigene  Befangenheit 
in  supranaturajietiscben  Standpunkte,   theils   die  Furcht 
tur  Anetola  in  der  orthodoxen  Kirche,  von  weiterer  Aus- 
eebnnng  dieser  Auffassongsweise  zurück:  so  mufsten  beide 
Grinde   noch  mehr  beim  N.  T.  wirken,   and  die  Proben 
fallen  daher  äufserst  kürglich  aus,   wenn  man  nun  fragt, 
Ton   welchen    Erzählungen   des  N.  T.   Origenes  die  ge- 
sehichtliche  Wirklichkeit  geläugnet  habe,   um  die  gottes- 
vrfirdige  Wahrheit  festzuhalten.    Denn  was  er  im  Verlaufe 
der  angefahrten  Stelle  beispielsweise  anführt :  buchstäblich 
<«sse   sich   unter  Andrem  das  nicht  verstehen,   dafe  der 
Satan  dem  Herrn  auf  einem  Berge  alle  Reiche  der  Welt 
gezeigt  habe,   da  diefs  für  ein  leibliches  Auge  unmöglich 
sei ;  Abb  gibt  eigentlich  keine  allegorische  Erklärung,  son- 
dern nnr  eine  andere  Wendung  des  buchstäblichen  Sinnes, 
welcher,  statt  von  einer  äufseren,  von  der  inneren  Tbat- 
sache  einer  Vision   handeln  soll.    Auch   sonst,   selbst  wo 
eine  lockende  Veranlassung  war,  den  buchstäblichen  Sinn 
gegen  einen  geistigen  aufzuopfern,  wie  a.  B.  bei  der  Ver- 
keilung des  Feigenbaums 12),  geht  Origenes  rieht  frei  mit 
der  Sprache  heraus ;   am  meisten  noch  bei  der  Geschichte 
ven  der  Tempelreinigung,  wo  er  das  Verfahren  Jesu,  buch- 


11)  Diess  hat  such  Mos  asm  bemerkt  in  seiner  Uebertetsung  der 

Schrift  des  Origenes  gegen  CeUus,  S.  94«  Anmerk. 
12)  Comrn.  in  Äfattb,  Tom«  16,  36*. 


IS  Einleitung.    $.  5» 

ttlbttch  gefafst,  als  anmalsend  and  tumultuarisch  bezeich- 
net13). Ausdrücklich  bemerkt  er  flberdiefs,  dafs  des  hi- 
atoritob  Wahren  in  der  Schrift  immer  noch  weit  mehr  aei9 
als  des  biofs  geistig  su  Verstehenden  ")• 

$.    5. 

Uebergang  tur  neueren  Zeit.     Die  DeUten   und  Naturalisten   des 
17tcn  und  18tcn  Jahrhunderts;  der  Wolfenbiittersche 

Fragmentist. 

Hatte  sich  in  der  beschriebenen  Welse  die  eine  der 
Auslegungsarten  entwickelt,  welche,  wie  alle  Reiigions- 
nrkunden  überhaupt,  so  auch  die  hebräischen  nnd  christ- 
lichen ,  in  Bezug  auf  ihren  geschichtlichen  Theil  erfahren 
mufsten ,  diejenige  nämlich ,  welche  das  Göttliche  in  den- 
selben  anerkennt,  aber  das  Ifiugnet,  dafs  es  sich  in  dieser 
unmittelbaren  Weise  geschichtlich  verwirklicht  habe:  so 
bildete  sieh  die  andere  Hauptform  der  Auslegung,  welche 
eher  geneigt  ist ,  den  geschichtlichen  Hergang  zuzogeben, 
nur  aber  denselben  nicht  ab  einen  göttlichen,  sondern  als 
einen  menschlichen  fafst,  zunächst  bei  den  Gegnern  des 
Christen thams,  einem  Celsus,Porphyrius,  Julianus,  ans,  wel- 
che zwar  viele  Erzählungen  der  heiligen  Geschichte  als  blo&e 
Mährchen  verwarfen ,  Manches  jedoch ,  was  von  Moses, 
Jesus  n.  A.  erzählt  ist,  als  geschichtlich  stehen  liefsen, 
nur  dafs  sie  es  meistens  ab  entsprungen  aus  gemeinen 


13)  Comm.  in  Joann.  Tom«  10,  17. 

14)  De  principp.  4,  19:  nolly  ya<>  nhlora  fc  ra  «m»  r*K  e'rofer 
abf»9v6ffra  r»v  n^ofvfav^^rrtay  yvpyär  nrtv^arixwy.  —  Nach  Ori- 
genct  dauerte  in  der  Kirche  die  Allegorie  nur  in  der  Art  fort, 
dass  sie  den  historischen  Sinn  unversehrt  lies«,  und  wo  später 
von  einem  Aufgeben  des  Wortsinnt  die  Rede  ist,  da  ist  nur 
ein  Tropus  oder  Gleichniss  gemeint.  So,  wenn  noch  Nicolaus 
von  Lyra  sagt  (Prolog.  S) :  AHcuH  vero  nm  hob*  ($.  $cr.)  It- 
ieraiem  $m$mm  preprie  loqmemdo,  v.  e.  Jmdic.  9, 8.  (Fabel  voj» 
Dornbusch),  MaUh.  fc  30.  (Mrgert  dich  deine  Band). 


Einleitung.    LI.  t* 

Buweggi  luden ,  und  bewerkstelligt  durch  groben  Betrag 

gottlose  Zauberei,  erklärten» 
Es   ist  übrigens  hier  auf  einen  Unterschied  tu  aeb- 

welcher  zwischen  dem  Eintritte  dieser  Auslegungs- 
in  die  heidnische  nnd  Jidische  Religion  auf  der 
und  in  die  ehristüebe  enf  der  andern  Seite  statt- 
Bei  Hebräern  nnd  Griechen,  deren  Religion  und 
tauige  Literatur  rieb  gleichmäßig  mit  der  Entwicklung 
der  Nation  gebildet  hatte,  trat  die  Differenz,  welche  die 
Quelle  Jener  Auslegungsweisen  Ist,  erst  dann  hervor, 
ab  die  geistige  Bildung  des  Volks  dessen  väterliche  Re- 
figion  m  Überwachsen  anfing,  diese  mitbin  ihrem  Ver- 
lalle entgegenging.  Das  Christenthum  hingegen  trat  in 
eine  Welt  von  bereits  fertiger  Bildung,  welche  ausser- 
halb Palästinas  die  jadisch -hellenistische  und  die  grie- 
chische war,  herein:  und  so  mufste  hier  gleich  Anfangs 
eine  Differen«,    nicht  wie  dort  «wischen  neuer  Bildung 

alter  Religion,  sondern  umgekehrt  «wischen  der 
Religion  und  der  alten  Bildung,  sich  hervorthun* 
Wie  also  im  Heiden-  und  Judenthum  das  Aufkommen 
der  allegorischen  Auslegung  ein  Zeichen  war,  dab  diese 
Religionen  bereits  im  Ableben  begriffen  waren :  so  zeigte 
in  Benag  auf  das  Christenthum  die  Allegorie  eines  Ori- 
genes,  wie  der  Widerspruch  eines  Celsus,  vielmehr  diefs, 
dafs  die  Welt  in  die  neue  Religion  sich  damals  noch 
nicht  gehörig  eingelebt  hatte.  Als  mit  der  Christlani- 
annig  des  römischen  Reichs  nnd  der  Ueberwindung  der 
grofsen  Häresen  das  christliche  Prindp  immer  qpehr  ai- 
ksnherrschend  wurde;  als  die  Schulen  heidnischer  Weis- 
heit «ich  schlofsen,  und  ungebildete  Germanenvöiker  sieh 
dar  Kirche  in  die  Lehre  gaben  f  da  war  die  langen  Jahr» 
hunderte  der  mittleren  Zeit  hinduroh  die  Welt  mit  dem 
Christenthum  nach  Form  und  Inhalt  befriedigt ,  und  ds£ 
her  uueh  Jene  Auffassungsweisen  fast  spurlos  verschwun- 
den,  welche  einen  Zwiespalt  der  Volks«  oder  Weltbtf- 


14  Einleitung.    §.  5. 

dang  mit  der  Religion  cor  Voraussetzung  haben  ')•  In 
die  Gediegenheit  des  Kirohengianbens  brachte  die  Refor- 
mation den  ersteil  Brach;  sie  war  das  erste  Lebeusicei- 


1)  HovnuNif  (S.  47)  hat  sich  sehr  über  den  Sprung  aufgehalten, 
welchen  meine  Genesis  der  mythischen  Auslegung  von    dem 
dritten  in  das  siebzehnte  Jahrhundert  mache,  da  doch,  um  als 
ein  Ergebnis»  der  bisherigen  Entwickelung  des  Christenthunis 
gerechtfertigt  zu  sein,    jene  Auslegung  eine  ununterbrochene 
Reihe  von  Vertretern  durch  alle  Jahrhunderte  der  christlichen 
Kirche  nachzuweisen  im  Stande   sein  müsste.     Allein  diese 
Forderung  ist  eine  wahre  Absurdität,  und  die  Bereitwilligkeit, 
mit  welcher  sie  von  Andern,  wie  z.  B.  von  Osurdbe  (S.  11  f.), 
ihrem  Urheber  nachgeredet  worden  ist ,   zeugt  nur  von  der 
Gedankenlosigkeit,  mit  welcher  der  Eifer  auch  die  schlechte- 
sten Waffen  ungeprüft  sich  anzueignen  eilt.    Meine  historische 
Einleitung  will  von  vorne  herein  nachweisen,  wie  im  Heiden - 
thum,  Judenthum  und  Christenthum  unter  gewissen  Um- 
ständen jedesmal    gewisse   Auslegungsweisen    der   heiligen 
Geschichten  hervorgetreten  seien*    Nun  wirft  man  mir  vor, 
es  sei  eine  unverzeihliche  Lücke  in  diesem  Nachweise,   dass 
ich  keine  derartige  Auslegung  beizubringen  wisse  aus  einem 
so  grossen  Zeiträume  —  ja  wohl!  aber  in  welchem  eingestan 
denermassen  jene  Umstände  fehlen,    durch  die,  meiner 
ausdrücklichen  Erklärung  zufolge,  die  Entstehung  jener  Aus- 
legungsweisen bedingt  ist.     Diese  Umstände  sind:   eine  merk- 
liche  Differenz    zwischen  der  Geistesbildung    der  Bekenner 
einer  Religion  und  demjenigen  Standpunkte,  auf  welchem  ihre 
heil.  Urkunden  verfasst  sind;   über  die  urchristliche  Weltan- 
schauung waren  aber  die  christlichen  Volker  im  Mittelalter 
nicht  hinausgeschritten:   mithin  konnte  nach  meinem  eigenen 
Kanon  während  dieses  Zeitraums  von  jener  Differenz  und  der 
aus  ihr  hervorgehenden  Auslegung  nicht  die  Rede  sein;   und 
mir  vorwerfen,    dass  ich  dieselbe  hier  nicht  nachzuweisen 
wisse,  ist  ebenso  klug,  wie  wenn  man  den  Naturforscher,  der 
etwa  behauptet  hätte,  im  50ten,  60ten  Lebensjahre  des  Men- 
schen müssen  gewisse  Erscheinungen  an  seinem  Organismus 
eintreten,  durch  die  Bemerkung  geschlagen  zu  haben  meinte, 


f 


Einleitung.    $.  &  15 

Bildung,  die,  wie  Verden  im  Heiden*  and  Jn- 
,   so  Duuniur  innerhalb  des  Cbristenthums  weit 
gmmg  erstarkt   und  bot  Selbstständigkeit  berangedieben 
war,  am  eine  Reactien  gegen  ihren  mütterlichen  Boden, 
est  geltende  Religion,    sn    unternehmen.     Sofern   dieae 
tmriion  nur  erat  gegen  die  herraebende  Kirehe  ging,  war 
alt  des  erhabene,  aber  aohnell  abgelaufene,  Schauspiel  der 
lefemation;    in  ihrer  späteren  Riehtang  anf  die   bibli- 
schen Urhonden  hingegen   trat  sie  ennffchst  in  der  Form 
aar  wüsten  ReTotutionsversuche  des   Deismus  auf,    geht 
aber  in  mannigfaltigem  Formenwechsel  bis  auf  die  neueste 
Zeit  herunter. 

Bei  den  englischen  Deuten  und  Naturalisten  im  sieb* 
Bahnten  und  aehtcehnten  Jahrhundert ,  Welche  die  Pole- 
mik der  alten  heidnischen  Gegner  des  Christenthums  nun- 
mafir  im  Schoofse  der  Kirehe  erneuerten,  ging  Bestreitung 
der  Aechtheit  und  Glaubwürdigkeit  der  Bibel  und  Herab- 
würdigung der  darin  ersählten  Thatsaeben  zum  Gemeinen 
bunt  durcheinander.  Während  Toland  *) ,  Bolingbrokb  *) 
a.  A.  die  Bibel  für  eine  Sammlung  unäehter  und  fabel- 
hafter  Bücher  erklärten:    gaben  sich  Andere  alle  Mühe, 


das»  doch  vom  20ten  bis  zum  SOten  Jahre  von  dergleichen 
Erscheinungen  nichts  zu  bemerken  sei.  —  Dass  Übrigens, 
von  einem  höheren  Standpunkte  angesehen ,  die  in  jene  mitt- 
lere Zeit  fallende  Entwicklung  de9  christlichen  Dogma  mit  der 
später  hervorgetretenen  Kritik  Eine  und  ebendieselbe  Reihe 
der  Vermittlung  des  Glaubensinhaltes  mit  dem  Selbstbewusst* 
sein  bildet,  ein  Frocess,  der  nur,  wie  früher  die  positive«  so 
hernach  die s negative  Seite  hervorkehrte,  —  darauf  hat  der 
Rec.  dieser  Schrift  in  den  Jahrbüchern  für  wissenschaftliche 
Kritik  treffend  aufmerksam  gemacht  (In  der  Rec.  der  Schrif- 
ten über  mein  L.  J.,  1837.  Mir*.  No.  42.,  S.  331  f.)« 

2)  In  seinem  Amyntor,  v.  J.  1698,  s.  in  Leujib's  Abriss  asiati- 
scher Schriften,  übersetzt  von  Schmidt,  1,  JhL  S.  83  ff» 

3)  Bei  Lhjuu»,  2.  Tbl  1.  Abth.  S.  198  ff 


MF  Einleitung.    $.  5. 

die  Mbttiehen  Personen  und  Geschichten  Jede»  Schlau 
von  höherem  göttlichem  Lichte  so  berauben.    So  Ist  nach  4 
Morgan  ')  das  Gesets  des  Moses  ein  elendes  System  des  «• 
Aberglaubens  9  der  Blindheit  und  Sclaverei;  die  jfldisehen  n 
Priester  Betrüger;   die  Propheten  Urheber  der  Zerrüttung  ■ 
und  der  Bürgerkriege  in  den  beiden  Königreichen«     Die  m 
jüdische  Religion  kann,  nach  Chubb  *)  unmöglich  eine  von  pk 
Gott  geoffenbarte  sein,  dessen  moralischer  Charakter  in  n 
ihr  nur  entstellt  ist  durch  die  willkürlichen  Gebräuche,  « 
die  sie  ihn  vorschreiben  iüfst,    durch  seine  vorgegebene  t 
Parteilichkeit  für  das  jüdische  Volk ,  und  vor  Allem  durch  „ 
den-  blutigen  Befehl   nur  Ausrottung   der  kanaanitiseben    i 
Völkerschaften*    Auch  gegen  das  N.  T.  wurden  von  diesen    « 
und  andern  Deisten  Streifsüge  unternommen:  die  Denkart    < 
der  Apostel  als  eigennützig  und  gewinnsüchtig  verdüeb-    ■ 
tigt6);   selbst  der  Charakter  Jesu  nicht  geschont7),  und 
namentlich  die  Auferstehung  desselben  gellugnet8).    Das 
unmittelbarste  Einschlagen  des  Göttlichen  in  -das  Mensch- 
liche im  Leben  Jesu ,    seine  Wunder,    machte  besonders 
-Thomas  Woolston  sum  Gegenstand  seiner  Angriffe  *) ,   der 
auch  durch   die  eigentbümllche  Stellung  noch  besonders 
bemerkenswert!)  ist,    welche  er  sich  zwischen  der  alten 
allegorischen  und  der  neuen  naturalistischen  Schrifterklä- 
rung  gibt»    Seine  ganze  Darstellung  nämlich  bewegt  sich 
in  der  Alternative:  wolle  man  die  Wunderersählungen  als 


4)  In  seiner  Schrift :  fhe  moral  philosopher,  1737-,  s.  Lblaxd 
1.  Tbl.  S.  247  ff. 

5)  Posthumous  Works,  2  Voll.  1748,  bei  Lblard  1,  412  f. 

6)  Chubb,  Posth.  W.  1,  102  ff.    Bei  Lblakd  1,  481. 

7)  Ebend.  %,  369.    Bei  Lklahd  1,  425. 

8)  Tfie  resurr&tion  of  Jesus  considered  —  by  a  moral  pbiloso. 
phev.  174£XLituti>  1,  330. 

9)  Six  discourset  on  the  mirscles  of  out  Saviour.  Einicln  her- 
ausgegeben von  *1727  —  1729.  Nebst  xwei  Verthcidigungs- 
schriftea  von  den  JJ.  1729  u.  30. 


Einleitung.     §.  5.  17 

virkliehe  Geschichte  festhalten,  so  verlieren  sie  allen  gtitt- 
mhen  Gehalt,  und  sinken  zu  ungereimten  Streichen ,  eieo- 
tee  Possen  ,  oder  gemeinen  Betrügereien  herunter :  wolle 
MS  daher  das  Göttliche  in  diesen  Ersählungen  nicht  verlie» 
nu,  so  müsse*  man  mit  Aufopferung  ihres  geschichtlichen 
Charakters  sie  nur  als  geschichtartige  Darstellungen  ge- 
säter geistliehen  Wahrheiten  fassen;  wofür  sofort  die 
meteritäten  der  gröfsten  Allegoristen  unter  den  Kirchen- 
vitern,  eines  Origenes,  Augustinus  u.  A.  angeführt  Wer- 
ts: so  jedoch,  dafs  ihnen  Woolston  die  Meinung  unter- 
teilt, als  wollten  sie,  wie  er,  durch  die  allegorische  Er- 
klärung die  buchstäbliche  verdrängen;  während  sie  doch, 
wenige  Beispiele  bei  Origenes  abgerechnet,  beide  Erklä- 
rungen nebeneinander  bestehen  su  lassen  geneigt  sind. 
Die  Darstellungen  Woolston' s  können  Zweifel  übrig  las- 
sen, auf  weiche  der  zwei  von  ihm  einander  gegenüberge- 
stellten Seiten  er  mit  seiner  eignen  Ansicht  gehöre;  be- 
denkt man  die  Thatsache,  dafs  er,  ehe  er  als  Gegner  des 
gewöhnlichen  Christen  thums  hervortrat,  sich  mit  allegori- 
scher Sebrifterklärung  beschäftigte10):  so  könnte  man  diese 
für  seine  eigentliche  Meinung  ansehen;  wogegen  aber  die 
Ansfftkrangen  ober  die*  Ungereimtheit  des  buchstäblichen 
Sinnes  der  Wundergeschichten  mit  solcher  Vorliebe  von 
ihm  gegeben  sind,  und  das  Gänse  mit  ihrem  frivolen  Tone 
io  sehr  färben,  dafs  doch  vermuthet  werden  mufs,  der 
Deist  welle  sich  durch  sein  Dringen  auf  allegorische  Den- 
taug  nur  den  Röcken  sichern  j  um  desto  ungescheuter  ge- 
gen den  buchstäblichen  Sinn  losziehen  su  können. 

Auf  deutsohen  Boden  wurden  diese  Deistiscben  Ein- 
wurfe gegen  die  Bibel  Und  die  Göttlichkeit  ihrer  Geschichte 
hauptsächlich  durch  den  Ungenannten  (Reimarüs)  verpflanst, 
dessen  in  der  Wolfenböttelschen  Bibliothek  aufgefundene 
Fragmente  Lsssiko  seit  dem  Jahr  1774  herauszugeben  an« 


10)  ScmöCKH,  Kirchengesch.  seit  der  Reform.  6.  TM.  S.  191. 
Dom  Lehen  Jesu  3t*  Aufl.  L  Band*  2 


18  Einleitung.    §.  5. 

fing.    Sie  betrafen ,  aofser  Mehreren ,  was  gegen  eine  ge* 
offenbarte  Religion    Oberhaupt  gesagt   war"),   theil*   Abb 
alte  ,2),  theils  das  neue  Testament 13).    In  Besag  auf  jenes 
fand  dieser  Verfasser  die  Männer,  welchen  dasselbe  einen 
unmittelbaren  Umgang  mit  Gott  raschreibt,   so  schlecht, 
dafs  Gett  durch  ein  solches  Verhältnifs,   seine  Wirklieh« 
keit  angenommen,    aufs  Aeufserste  compromittirt  würde; 
die  Ergebnisse  dieses  Umgangs  aber,  die  vorgeblich  göttli- 
chen Lehren  und  Gesetze,  so  crafs  und  verderblich,   dafs 
sie  unmöglich  Gott  zugeschrieben  werden  können;  die  be- 
gleitenden Wunder  endlich  so  ungereimt  und  unglaublich, 
dafs  aus  Allem  zusammengenommen  erhelle,   der  Umgang 
mit  Gott  sei  nur  vorgegeben,  die  Wunder  Blendwerke  ge- 
wesen,  um  gewisse,   den  Herrschern   und  Priestern   vor- 
teilhafte Gesetze  in    Vollzug  zu  setzen.    So   findet  der 
Verf.    an    den   Patriarchen   und   den    ihnen  angeblich  zu 
Theil   gewordenen  göttlichen  Mittheilungen ,   wie    der  an 
Abraham   ergangenen  Aufforderung  zur  Opferung   seines 
Sohnes,  Vieles  auszusetzen ;  ganz  besonders  aber  sucht  er 
in  einem  langen  Abschnitte  den  Moses  mit  aller  Schmach 
eines  Betrügers  zu  beladen,  der  die  schändlichsten  Mittel 
nicht  gescheut  habe ,    um   sich   zum  despotischen  Beherr> 
scher  eines  freien  Volkes  zu  machen.    Zur  Einleitung  die- 
ses Plans  habe  er  Gotteserscheinungen  erdichtet,  und  gött- 


11)  In  Lsssrae's  Beiträgen  zur  Geschichte  und  Literatur,  das 
Fragment  im  dritten  Beitrage,  S.  195  ff. ,  und  im  vierten  Bei- 
trage das  erste  Fragment  S.  265  und  das  zweite  S.  289. 

12)  In  Lsssnrc'g  viertem  Beitrag  das  dritte  und  vierte  Fragment, 
S.  366  u.  384,  und  die  von  Schmidt  1787  herausgegebenen 
übrigen  noch  ungedrucjiten  Werke  des  Wolfenbütteischen 
Fragmentuten. 

13)  In  Lbssino'8  viertem  Bettrag  das  fünfte  Fragment,  über  die 
Auferstehungsgeschichte ,  und  das  Fragment  über  den  Zweck 
Jesu  und  seiner  Jünger,  von  Lksbinc  besonders  herausgege- 
ben 1778. 


Einleitung.    (.0.  19 

Iahe  Befehle  eh  Maßregeln  vorgegeben,  welche,  wie  die 
Entwendung  der  Ger&the  aus  Aegypten  und  die  Ausrottung 
tW  Bewohner  Kanaans ,  sonst  als  Betrag ,  Straßenraub^ 
ii nur  Mifihn  firaitnnmknitj  gebrandmarkt  werden  würden; 
aaa  aber  durch  das  Hinzukommen  der  paar  Worte:  Gent 
h*  es  geengt  —  plötslich  an  gotteswfirdigen  Handlongen 
gutempelt  werden  sollen.  Ebensowenig  vermag  der  Frag» 
nentist  in  der  nentestamentlieben  Geschichte  eine  göttliche 
m  C«^*"-  Der  Plan  Jesu  ist  ihm  ein  politischer;  sein 
Ferhiltnil*  nnm  TSufer  ein  abgeredeter  Handel,  dafs  der 
Eine  den  Andern  dem  Volk  empfehlen  solle ;  Jesu  Tod  ist 
eine  van  ihm  keineswegs  vorausgesehene  Vereitelang  sei- 
ner Abeichten,  ein  Schlag,  den  seine  J Anger  nur  durch 
das  betrügerische  Vorgeben  seiner  Aaferstehnng  und  eine 
schiene  Aendemng  ihres  Lehrsystems  wieder  gat  cu  me* 
eben  wufsten. 

S.    6. 
Die  natürliche  Krktärungsart  der  Rationalisten.  Eichhorn.  Faümjs. 

Während  gegen  die  englischen  Oeisten  von  den  dorti- 
gen nehlrekhen  Apologeten ,  und  gegen  den  Wolfonbttttel* 
schon  Cngenaniiten   von  der  grofsen  Mehrheit  deutscher 
Theologen   die  Realität  der   biblischen   Offenbarung   und 
aas  Göttliche  in  der  israelitischen   und  urchristlichen  Ge* 
•eMchte  im  supranatoralistischen  Sinne  festgehalten  wur- 
de: ergriff  eine  andere  Klasse  von  Theologen  in  Deutsch* 
fand  einen  neuen  Ausweg«   .Wie  nftmlieh  bei  der  eoheme* 
ristischen  Auffassung  der  alten  Götterlehre  der  ewiefache 
Weg  offen  stand  und  auch  eingeschlagen  wurde,  dafs  man 
die  Götter  der  Volksreligion  entweder  als  gute  und  wohl- 
thluge  Menschen  der  Vorzeit,   als  weise  Gesetzgeber  und 
gerechte  Forsten  nahm,  welche  eine  dankbare  Mit-  und 
Nachwelt  mit  dem  Glenne  göttlicher  Würde  umgeben  ha« 
bau  sollte;  oder  aber  in  ihnen  sohlaue  Betrüger  und  grau- 
j  an*  Tyrannen  fand,  welche  sich,  um  das  Volk  sieh  un- 


i 


20  Einleitung.     §.  6. 

terthJinig  zu  machen ,  in  den  Nimbus  der  Göttlichkeit  ge- 
ballt haben :  so  war  auch  bei  der  rein  menschlichen  Auf. 
fassang  der  biblischen  Geschichte  neben  dem  von  den  Dei- 
eten  betretenen  Wege,  die  Subjecte  derselben  fflp  schlechte 
und  betrügerische  Menschen  anzusehen,  immer  noch  der 
andre  übrig ,  jene  Subjecte  zwar  der  anmittelbaren  Gött- 
lichkeit entkleidet  zu  lassen ,  ihnen  aber  dafür  die  reine 
Menschheit  ungeschmälert  zuzugestehen ;  ihre  Thaten  zwar 
nicht  als  Wunder  anzustaunen,  ebensowenig  aber  als 
Blendwerke  zu  verschreien ,  sondern  sie  für  natürliche 
zwar,  ab$r  sittlich  un tadelhafte  Handlungen  zu  erklären. 
Während  der  dem  kirchlichen  Christentum  überhaupt 
feindliche  Naturalismus  zu  jener  ersteren  Auffassungsweise 
geneigt  sein  mufste,  so  war  auf  die  zweite  der  Rationalismus 
angewiesen,  weloher  innerhalb  der  Kirche  verharren  wollte. 
Unmittelbar  gegen  jenen  Naturalismus  ist  diese  An- 
sicht von  Eichhorn  gekehrt  worden  in  einer  ßenrthei- 
lung  des  Wolfenbüttler  Fragmentisten  *)•  Gioe  unmittel- 
bare göttliche  Einwirkung,  wenigstens  in  der  A.  T.  liehen 
Urgeschichte,  nicht  anzuerkennen,  darin  ist  Eichhorn  mit 
dem  Fragmentisten  einverstanden.  Die  mythologischen 
Forschungen  eines  Heyns  hatten  seinen  Gesichtskreis  be- 
reits so  erweitert,  dafs  er  einsah,  wie  eine  solche  Einwir- 
kung  entweder  bei  allen  Völkern  in  ihrer  Urzeit  angenom* 
men,  oder  bei  allen  geläugnet  werden  müsse2).  Bei  allen 
Völkern,    bemerkte  er,    in  Griechenland  wie  im  Orient, 

ward  alles  Unerwartete  und  Unbegriffene  auf  die  Gottheit 

• 

1)  Recension  der  übrigen,  noch  ungedruckten,  Werke  des  Wol- 
fenbüttler Fragmentisten,  in  Eichhorn9«  allgemeiner  Biblio- 
thek, erster  Band  ites  u.  2tes  Stück. 

2)  Gegen  diesen  Satz  und  meine  Billigung  desselben  baben  u.  A. 
Lang*  S.  8  ff.  und  die  evangel.  KZtg.  1836.  Jul.  S.  444  f.  sich 
erklärt.  Vergl.  meine  Gegenbemerkungen  in  den  Streitschrif- 
ten, iter  Bd.  3tcs  Heft.  S.  48  ff. 


Einleitung.    $.  6.  21 

■arflekgeffthrt ;   die  «reisen  Männer  dieser  Völker  lebton 
in»  Ungange  mit  höheren  Wesen.    Während  man 
Darstellung  (so  gibt  Eichhorn  den  Stand  der  Sache 
an)  in  Beeng  auf  die  hebräische  Geschichte  immer 
■«rtüeb  und  buchstäblich  verstand,  pflegte  man  bei  Nicht* 
haVacrn  solche  Erscheinungen  bisher  insgemein  durah  die  % 
fmuaeetsung  eines  Betrugs  und  grober  Lügen ,  oder  ent-° 
und  verdorbener   Sagen,  su   erklären«    Offenbar 
int  Eichhorn,  fordere  die  Gerechtigkeit,  Hebräer' 
Nichtfaebräer  auf  gleiche  Weises  su  behandein,  so  dafs 
entweder  alle  Nationen   während  ihres  Kindheitssu* 
it  den  Hebräern  unter  gleichem  Einflüsse  höherer 
Wesen  stehen  lassen,  oder  einen  solchen  Einflnfs  auf  bei- 
den Seiten  in  Abrede  sieben  müsse«    Denselben  allgemein 
ansonaiimen,  sei  bedenklich  wegen  des  nicht  selten  irrigen 
Inhaltes    der   unter  jenem  Einflpfs  angeblich  geoffenbarten 
fteligioneo ;  wegen  der  Schwierigkeit,  aus  jenem  Zustande 
der  Bevormundung  heraus  das  Erstarken  der  Menschheit 
«er  Selbstständigkeit  su  erklären;   endlich  weil,  Je  heller 
die  Zeiten  und  suverlässiger  die  Nachrichten  werden,  jene 
unmittelbaren  Einflösse    der   Gottheit    immer   mehr    ver- 
sehwinden.   Wenn  somit   die  Einwirkung  höherer  Wesen 
bei  Hebräern  wie  bei   andern  Völkern  geläugnet  werden 
auf«:  so  seheint  sich,  nach  Eichhorn,  suerst  die  Ansieht, 
welche  man  bisher  auf  das  heidnische  Alterthum  anwen- 
dete,  aueh  Ar  die  Urgeschichte   des   hebräischen   Volkes 
darzubieten,  dafs  nämlich  dem  Vorgeben  jener  Offenbaron- 
gen Betrog  und  Löge,  oder  den  Berichten  davon  entstellte 
and  verdorbene  Sagen   zum  Grunde  liegen ;  eine  Ansicht, 
welche  wirklich  der  Fragmentist  gegen  die  A.  T.  liehe  Ge- 
schiente gewendet  hat.    Allein  näher  betrachtet,  sagt  Eich* 
hoxx,  mala  man  vor  einer  solchen  Vorstellung  erschrecken. 
Die  grauten  Männer  der  früheren  Welt ,  die  auf  die  Bil- 
dang  ibret  Zeitgenossen  so  mächtig  nnd  wohlthätig  ge- 
wirkt haben,    sollten  alle  Betrüger  gewesen  sein,    und 


•M^  Einleitung,    §.  6. 

zwar  ohne  dafs   es   von   den   Mitlebenden  bemerkt  wor-     * 
den  wfcre?  u 

Zu  einer  solchen  Mifsdeutung  wird  man  naeh  Eich-  jü 
H*aw  nur  dadurch  verleitet,  dafs  man  es  versäumt,  jene  xi 
alten  Urkunden  im  Geiste  ihrer  Zeit  aufzufassen.  Frei*  ■ 
lieh,  wenn  sie  mit  der  philosophischen  Präcision  unserer  la 
Jetzigen  Schriftsteller  redeten,  so  könnten  wir  nnr  entwe-  n 
der  wirkliche  göttliche  Einwirkung ,  oder  ein  bezügliches 
Vorgeben  einer  solchen  in  Ihnen  finden«  So  aber,  als 
Schriften  aus  einer  unphilosophischen,  kindlichen  Zeit, 
reden  sie  unbefangen  von  göttlicher  Einwirkung  nach  at- 
terthüWlieher  Vorstellungs-  und  Ausdrucksweise:  und  so 
haben  wir  »war  keine  Wunder  anzustaunen,  aber  aucb 
keinen  Betrug  zu  entlarven,  sondern  nur  die  Sprache  der 
Vorzeit  in  unsere  heutige  zu  übersetzen«  So  lange  das 
Menschengeschlecht,  erinnert  Eichhorn,  dem  wahren  Ur- 
sprung der  Dinge  noch  nicht  auf  den  Grund  gekommen 
war,  leitete  es  Alles  von  übernatürlichen  Kräften  oder  der 
Dazwischenkunft  höherer  Wesen  ab;  erhabene  Gedanken, 
grofse  Entschließungen ,  nützliche  Erfindungen  und  Ein- 
richtungen, vorzüglich  auch  lebhafte  Träume,  waren  Ein- 
wirkungen der  Gottheit,  unter  deren  unmittelbarem  Ein- 
flüsse man  zu  stehen  glaubte.  Die  Proben  ausgezeichne- 
ter Kenntnisse  und  Geschicklichkeiten,  mit  welchen  Einer 
das  Volk  in  Erstaunen  setzte,  galten  für  Wunder,  für 
Beweise  übernatürlicher  Kräfte  und  des  besondern  Um- 
gangs mit  höheren  Wesen;  und  nicht  nur  das  Volk  war 
dieser  Meinung,  sondern  auch  jene  ausgezeichneten  Män- 
ner selbst  liefsen  sich  keinen  Zweifel  dagegen  beifallen, 
und  rühmten  sieh  mit  voller  Ueberzeugung  eines  geheimen 
Umgangs  mit  der  Gottheit.  Gegen  den  Versuch,  alle  Er- 
zählungen der  mosaischen  Geschichte  in  natürliche  Ereig- 
nisse aufzulösen,  kann  Niemand  etwas  haben,  bemerkt 
EieuRoaN,  nnd  gibt  damit  die  Vordersätze  des  Wolfenbtttt- 
ler  Fragmentlsten  zu:  aber  daraus  zu  folgern,  dafs  Moses 


Einleitung.     §.6.  23 


an  Betrüger  gewesen ,  diesen  Schiefssat«  des  Fragmen- 
tirten  erklärt  er  fBr  eine  Uebereilung  und  Ungerechtigkeit. 
St Mbn  Eichhorn,  wie  die  Naturalisten,  der  bibliseben 
Gtohiehte  ihren  unmittelbar  göttlichen  Inhalt,  nur  dafs  er 
des  ibernattfrlichen  Sehein,   welcher  dieselbe 'umkleidet,  I 

liefe  mit  jenen  ans  absichtlich  trägerischer  Färbung ,  son- 
dern als  von  selbst  entstanden  durch  die  alterthümüche 
kleuehtung  erklärte.  t 

Nach  diesen  Grundsätzen  suchte  nun  Eichhobh  die  Ge- 
«tuehten  eines  Noah,  Abraham,  Moses,  natürlich  au  er»  ' 

Ulfen»  Im  Liebte  ihrer  Zeit  betrachtet,  sei  die  Berufung 
tm  Letzteren  nichts  Anderes  gewesen,  als  dafs  dieser  Pa- 
trist den  lange  gehegten  Gedanken,  sein  Volk  nu  befreien, 
alt  er  ihm  im  Traume  mit  erneuter  Lebendigkeit  wieder- 
Uiite,  für  eine  göttliche  Eingebung  hielt;  das  Rauchen 
tat  Brennen  des  Sinai  bei  seiner  Gesetzgebung  war  weiter 
nehu  als  ein  Feuer,  welches  er,  nm  der  Einbildungskraft 
•uass  Volkes  so  Hälfe  zu  kommen,  auf  dem  Berge  anzün- 
Aste,  woarit  sraftllig  noch  ein  starkes  Gewitter  uusammeu- 
fcrf;  das  Leuchten  seines  Angesichts  endlieh  war  eine  na- 
türliche Folge  grofser  Erhitzung,  was  mit  dem  Volke  auch 
Moses  selbst ,  weil  er  dessen  wahre  Ursache  nicht  kannte, 
far  etwas  Göttliches  hielt.  —  Sparsamer  war  Eichhorn 
in  Anwendung  dieser  Erklfirungsweise  auf  das  N.  T.,  und 
«  waren  hauptsächlich  nur  einige  Erzählungen  aus  der 
Apostelgeschichte,  welche  er  derselben  zu  unterwerfen  sich 
«Wrte,  wie  das  Pfingstwunder 3) ,  die  Bekehrung  des 
Aprtd*  Paulus*)  und  die  «ahlreichen  Engelerseheinun- 
P» %  Auch  hier  fahrt  er  Alles  auf  die  bildliche  Sprache 
fe  Bibel  zarffck,  in  welcher,  was  z.  B.  den  letzten  Punkt 
tauft,  bald  ein  glückliches  Ungefähr  ein  rettender,   bald 

*)  Eicmiow'g  allgem.  Bibliothek.  i.B.  1,91  ff.  2,  757  ff.  3,225  ff. 
*)Ebend.  6.  Bd.  S.  Iff. 
5)Ü)ond.  3.  Bd.  S.  981  ff. 


24  Einleitung.     §.  6. 

eine  geistige  Freudigkeit  ein  grflfaender,  bald  eine  innere  i 
Beruhigung  ein  tröstender  Engel  genannt  worden  sei.  In  I 
Besag  auf  die  Evangelien  werden  wir  unten  das  Aoffal-  i 
lende  sehen ,  dafs  Eichhorn  theils  die  richtige  Einsicht  in  i 
die  Unzulässigkeit  der  natürlichen  Erklärung  hatte',  theils 
bei  manchen  Erzählungen  selbst  zu  einer  höheren  fortge- 
schritten war. 

Viele  Schriften  in  ähnlichem  Geiste*  erschienen,  welche 
cum  Theil  auch  das  neue  Testament  in  den  Kreis  ihrer 
Erklärungen  sogen  ®) ;  aber  den  vollen  Ruhm  eines  christ- 
lichen Euhemerus  sollte  sich  erst  Dr.  Paulus  erwerben  in 
seinem  von  1800  an  erschienenen  Evangelien  -  Commentare. 
Gleich  In  der  Einleitung  dieses  Werkes  *)  stellt  er  als  die 
erste  Anforderung  an  den  Forscher  der  biblischen  Ge- 
schichte hin ,  su  unterscheiden ,  was  in  derselben  Factum 
und  was  Urtheil  sei  ?  Factum  ist  ihm  dasjenige ,  was  den 
bei  einer  Begebenheit  betheiligten  Personen  als  äufsere  oder 
innere  Erfahrung  gegeben  war;  Urtheil  die  Art,  wie  sie 
oder  die  Erzähler  jene  Erfahrung  deuteten  und  auf  ihre 
vermeintlichen  Ursachen  zurückführten.  Diese  beiden  Be- 
standteile mischen  und  verschlingen  sich  nun  aber  nach 
Paulus  sowohl  in  den  ursprünglich  Betheiligten  als  in  den 
Nacherzähle™  und  Gesohichtsohreibern  leicht  so,  dafs  das 
Urtheil  vom  Factum  nicht  mehr  unterschieden,  und  mit 
eben  der  historischen  Sicherheit  wie  dieses  geglaubt  und 
weiter  erzählt  wird;  eine  Vermengung,  welche  sich  be- 
sonders auch  in  den  geschichtlichen  Büchern  des  N.  T. 
seigt,   da  zur  Zeit  Jesu  noch  immer  die  Neigung  herr- 


6)  Z.  B.  Eck,  Versuch  über  die  Wundergeschichten  des  N.  T. 
1795.  (Vbntüriki)  die  Wunder  des  N.  T.  in  ihrer  wahren 
Gestalt  fdr  achte  Christusverehrer,  1799.  * 

7)  I.  Bd.  S.  5  ff.  Vgl.  das  exegetische  Handbuch  über  die  drei 
ersten  Evangelien  (eine  neue,  verbesserte,  Auflage  des  Com- 
mentars)  1830—33.  1.  Bd.  1.  Abthl.  S.  4 ff. 


Einleitung.    $.  6. 

nsead  f«,   J*»»  auffallende  Erlebnifs  sofort  von 

y  äbenaensehUchen  Ursache  almdeiten.  Die 
lufgabe  des  uragsaafisehen  Historikers,  namentlich  In 
Beug  auf  daa  H.  T.,  ist  daher,  diese  beiden  to  eng  Ter- 
mstenen,  oiid  doch  so  verschiedenartigen  Bestandtheiie 
a Modern,  und  ans  der  Hfllle  von  persönlichen  und  Zelt- 
stangen den  reinen  Rem  des  Factnms  herauszuschälen. 
Im  Verfahren,  welehes  er  hiebe!  zu  Hülfe  cu  nehmen 
kt,  ist,  wo  ihm  keine  reiner  gehaltene  Relation  als  berich- 
tigende Parallele  zu  Gebote  steht,  diefs,  dafs  er  sich  auf 
Jen  Sehauplatu  der  Begebenheiten  ond  in  den  Standpunkt 
tsr  Zeit  möglichst  lebhaft  versetze,  und  von  diesem  aus 
ifc  bcählung  durch  Voraussetzung  erklärender  Nebenum- 
stiooera  ergffnzen  suche,  welche  der  Erzähler  selbst,  in 
«inen  supranaturalistischen  Urtheil  befangen,  oft  nicht 
bjuuI  angedeutet  hat  In  welcher  Weise  diesen  Grund- 
tätuen  zufolge  Paulus  in  seinem  Commentar  und  neuer- 
lich auch  in  seiner  Schrift  über  das  Leben  Jesu  *)  die 
sentettamentliche  Geschichte  behandelt  hat,  ist  bekannt. 
Indem  er  die  historische  Wahrheit  der  Ersählungen  durch- 
aus festhält,  und  einen  engen  chronologischen  und  präg« 
mstitchen  Zusammenhang  in  die  evangelische  Geschichte 
so  Magen  strebt,  entflieht  er  derselben  jeden  unmittelbar 
gättliehen  Geaalt,  und  läugnet  jedes  Übernatürliche  Ein- 
wirken häherer  Kräfte.  Nicht  der  Sohn  Gottes  im  Sinne 
fcr  kirchlichen  Ansicht  ist  ihm  Jesus,  sondern  ein  weiser 
ud  tugendhafter  Mensch,  und  nicht  Wunder  sind  es,  die 
»  vollbringt ,  sondern  Thaten  bald  der  Freundlichkeit  und 
Menschenliebe,  bald  der  ärztlichen  Geschicklichkeit,  bald 
weh  des  Zufalls  und  guten  Glückes  °), 


8)  Heidelberg  1828.  2  Bde.  * 

9)  Wie  sich  unter  den  Vorläufern  von  Paulus  besonders  Bahrdt 
bemerklich  machte  ( durch  seine  Briefe  über  die  Bibel  im 
Volkstone,  seit  1782),  so  fand  er  einen  Nacharbeit»  ähnlicher 


h 


i 


tt  Einleitung.    $.  6. 

Eine    notwendige    Voraussetzung    bei    dieser    Eich«  i 

gozifisch  -  PAULUs'schen    Auffassung     der    biblischen    (je-  i 

schichte  ist,   dafs  die   Urkunden  derselben,    die  A.   und  i 

N.  T.  liehen  Schriften ,   sehr  genau  und  treu ,  also  auch  il 

sehr  bald  nach  den  erzählten  Begebenheiten,  wo  möglich  1 

von  Augenzeugen,  verfällst  sein  müssen«    Denn  soll  sich  in  i 

einer  Erzählung  das  ursprfingliehe  Factum  von  dem  beige-  n 

mischten  Urtheil  sieher  unterscheiden  lassen  x  so  mufs  der  \ 

Bericht  noch  sehr  rein  und  ursprfinglich  sein ;  bei  einem  spfi-  4 

4er  entstandenen,  minder  urkundlichen,   hätte  ich  ja  keine  1 

Bürgschaft,  ob  nicht, auch  das,  was  ich  für  den  thatsächli-  v 

ehen  Kern  halte,  nur  der  Meinung  und  Sage  angehörte?  ,| 

Daher  suchte  Eichhorn   die  Abfassung,   namentlich  auch  | 

der  A.  T.  liehen   Schriften,  so  nahe  als  möglich  Ea  der  4 

Zeit  der  Begebenheiten  hinanzurücken ;    wobei  ihm   und  , 

den  mit  ihm  gleichdenkenden  Theologen  selbst  das  Wider-  i 

natürlichste,    wie  z.  B.   die  Voraussetzung  der  Abfassung  , 
des  Pentateuchs  auf  dem  Zug  durch  die  Wüste 10) ,    nicht 
zu  hart  war.    Doch  erlaubte  sich   der  genannte  Kritiker, 
wenigstens  bei  einigen  Theilen  des  A.  T. ,   wie  z.  ß.  bei 


Art  in  ViwTUJum,  dem  Verfasser  der  natürlichen  Geschichte 
des  grossen  Propheten  von  Nazaret  (seit  1800),  ein  Werk, 
dessen  spätere  Theile  auch  im  Einzelnen  nach  dem  PAULOs'schen 
Commentar  gearbeitet  sind.  Es  ist  schief,  wenn  man  diese 
beiden  Schriften  ohne  Weiteres  mit  dem  Wolfenbüttler  Frag- 
mentisten  zusammenstellt :  sie  gehören  wesentlich  zu  der  Pau- 
urs'schen  Richtung ;  denn  ihre  Tendenz  geht  gleicherweise  da- 
hin, im  Lehen  Jesu  Alles  als  natürlich  darzustellen,  ohne  doch 
seiner  Würde  als  weisen  und  edeln  Mannes  etwas  zu  verge- 
ben; ihr  Romanhaftes  aber  verhält  sich  zu  der  Darstellung 
von  Paulus  nur  als  eine  noch  grössere  Willkür  in  Einschic* 
bling  selbsterdachter  Mittelursachen.  Namentlich  Bahadt  er- 
klärt sich  ausdrücklich  gegen  den  Fragmentisten,  Briefe  u.  s. 
w.  ltes  Bändchen,  I4ter  Brief. 

10)  AUgtm  Biblioth.  Bd.  1.  S.  64. 


Einleitung,    f.  6.  » 

im  Boefae  der  Richter,  die  Bemerkung,  die  in  denselben 
athaiteaen  Berichte  seien  nicht  gleich  Anfangs,  auf  gezeich« 
■c  worden ,  sondern  der  Geschichtsohreiber  habe  seine 
laien  Im  Mebel  der  verflossenen  Zeit  gesehen,  In  welohem 
sie  Weht  so  Riesengestalten  sich  haben  vergröfsern  kön- 
an.  Einer  von  Ihm  selbst  wahrgenommenen,  oder  ihm 
«■gl fem  nahe  gelegenen  Begebenheit  freilich  würde  nur 
avjeaige  flesehiohtschreiber  einen  glänaendern  Anstrich 
ahm,  welcher  geflissentlich  auf  Kosten  der  Wahrheit  nn~ 
erUten  wollte.  Gana  anders,  wenn  eine  Beschichte 
sagst  vergangen  sei«  Da  linde  sich  die  Einbildungskraft 
nebt  «ehr  durch  den  Widerstand  der  festen  Gestalt  hi- 
ttarecher  Wirklichkeit  gehemmt ,  sondern  durch  die  Vor* 
itdhmg,  dafs  in  froheren  Zeiten  Alles  besser  und  gröfser 
gewesen,  ihren  Sehwnng  verstärkt,  nnd  der  Schriftsteller 
werde  zu  hSberen  Ausdrucken  und  einer  verherrlichenden 
Sprache  hingerissen.  Am  wenigsten  sei  diefs  dann  na 
remeiden,  wenn  der  spätere  Concipient  seine  Erefihlung 
am  dem  Munde  der  Vorwelt  niederschreibe,  nnd  die 
abenteuerlichen  Thaten  und  Schicksale  der  Vorfahren, 
weiche  der  Vater  dem  Sohne,  dieser  dem  Enkel,  in  begei- 
sterter Sprache  überliefert,  nnd  Dichter  mit  poetischem 
Sehasaeke  umgeben  hatten,  in  eben  dieser  erhöhten  Aus- 
aruefceweieo  schriftlich  verzeichne  ").  Uebrigens  auch  bei 
tjissoi1  Auslebt  von  einem  Theile  der  A.  T.  lieben  Bücher 
gbebt*  fiicnnoRH  den  historischen  Boden  noch  nicht  an 
vertieren  ,  sondern  getraute  sich  noch  immer ,  Über  Abzog 
aar  mehr  oder  minder  starken  traditionellen  Zuthaten  den 
aatfirüehen  Geschicbtsverlauf  herausbekommen  su  können. 
Doch  bei  Einer  A.  T.  liehen  Ernählung  wenigstens  ist 
dw  Meister  der  natürlichen  Erkiffrungsweise  für  das  A.  T. 
iVer  diene  an  einer  höhern ,  hinausgesehrittaa :  nämlieh 


li)  a.  a.  O.  S.  294.    Vcrgl.  Einleitung  in  das  A.  T.  3ter  Band. 
S.  23  ff.  der  vierten  Ausg. 


ii 


fß  Einleitung.    $.  6. 

bei  dar  Gesohiehte  der  Schöpfung  ^d  des  SöndenfaJU. 
Hatte  er  in  «einer  so  einflebreich  gewordenen  Urge- 
schichte «)  die  entere  Krnfihlnng  gleich  Anfragt  Ar  Poe- 
sie erkl£rt:  so  hotte  er  von  der  letsteren  damals  noeh 
behauptet,  wir  haben  an  ihr  keine  Mythologie,  keine  Al- 
legorie, sondern  wahre  Geschichte,  und  diese  geschicht- 
liche Grundlage  bestimmte  er  nach  Absug  alles  Ueberna- 
tfirliehen  dahin,  dafs  die  menschliche  Natur  in  ihren  ersten 
Anfkngen  durch  den  Gennfs  einer  giftigen  Frucht  «errflttet 
worden  sei  13).  Er  fand  es  »war  an  sich  wolü  möglich, 
und  durch  zahlreiche  Beispiele  aus  der  Profangeschichte 
bestätigt,  dab  an  der  Spitee  rein  historischer  Ersählungen 
eine  mythische  stehen  könnte:  aber  durch  eine  supranatu- 
ralistische Vorstellung  schijag  er  in  Bezug  auf  die  Bibel 
diese  Möglichkeit  wieder  nieder ,  indem  er  es  der  Gottheit 
unwürdig  fand,  in  ein  Buch,  das  so  unläugbare  Spuren 
x  des  Ursprungs  von  ihr  enthalte ,  ein  mythologisches  Frag- 
ment einrücken  eu  lassen*  Später  indessen u)  erklärte 
Eichhorn  selbst ,  dafs  er  nun  über  Genes*  2.  und  3.  in  vie- 
len Stücken  anders  denke ,  indem  et  jetzt  in  jenem  Ab- 
schnitte, statt  historischer  Machrichten  von  einer  Vergif- 
tung, vielmehr  das  mythisch  eingekleidete  Philosophem 
finde,  wie  die  Sehnsucht  nach  einem  besseren  Zustande, 
als  der,  in  welchem  man  sich  befinde,  die  Quelle  alles 
UebeU  in  der  Welt  sei«  So  cog  -Eichhorn  wenigstens  an 
diesem  Punkte  vor ,  lieber  die  Geschichte  aufzugeben ,  um 
die  Idee  festzuhalten,  als  mit  Aufopferung  jedes  höheren 


12)  Zuerst  erschienen  im  vierten  Theil  des  Rcpertoriums  für' 
biblische  und  morgcnländische  Literatur,    später  mit  Anmer- 
kungen herausgegeben  von  Gablir,  von  1790  an. 

13)  Eichhoeji's  Urgeschichte,  herausgegeben  von  Gabler,  3.  Tbl. 
S.  98  ff. 

14)  Allgem.  Biblioth.  l.Bd.  S.989.,  und  Einleitung  in  das  A.T. 
3.  Thl.  S.  82. 


.Einleitung,    S»  »•  29 

Gedankeninhalts  an  der  Geschichte  festzukleben.  Im 
Uebrigen  blieb  er  jedoch  mit  Paulus  u.  A.  dabei,  das 
Wunderbafte  in  der  heiligen  Geschichte  fttr  ein  Gewand 
su  nehmen,  das  man  nur  absieben  dürfe,  um  die  reine 
historische  Gestalt  hervortreten  zu  sehen. 

J.    7. 

Kakt's  moralische  Interpretation, 

Unter  diesen  natürlichen  Auslegungen ,  welche  das 
Eade  des  ISten  Jahrhunderts  in  reicher  Falle  hervor- 
brachte, war  es  ein  merkwürdiges  Zwischenspiel,  mit  Ei- 
nem Male  die  alte  allegorische  Erklärung  der  Kirehenrfi- 
ter  heraufbeschworen  su  sehen  in  Kants  moralischer 
Schriftauslegung.  Ihm,  als  Philosophen,  war  es  nicht, 
wie  den  rationalistischen  Theologen ,  um  eine  Geschichte, 
sondern,  wie  den  Alten,  in  der  geschichtlichen  Hülle  um 
eine  Idee  su  thun,  wenn  er  gleich  diese  Idee  nicht  wie 
jene  als  absolute,  sowohl  theoretische  als  praktische ,  -son- 
dern einseitig  als  praktische,  als  moralisches  Sollen,  und 
dadurch  mit  der  Endlichkeit  behaftet,  auffaßte,  auch  als 
das  diese  Ideen  in  den  biblischen  Text  hineinlegende  Sub- 
jeet  nicht  den  göttlichen  Geist,  sondern  den  des  philoso- 
phischen Schriftauslegers,  oder  in  einer  tieferen  Andeu- 
tung die  moralische  Anlage  in  den  Verfassern  jener  Bü- 
cher selbst,  bestimmte.  Kant  beruft  sich  darauf1),  dafs  es 
mit  allen  alten  und  neuen,  cum  Theil  in  heiligen  Büchern 
abgefaßten,  Glaubensarten  jederzeit  so  sei  gehalten  wor- 
den, dafs  verständige  und  wohldenkende  Volkslehrer  sie 
so  lange  gedeutet  haben ,  bis  sie  dieselben  ihrem  wesentli- 
chen Inhalte  nach  mit  den  allgemeinen  moralischen  Glau- 


\ 


1)  Religion  innerhalb  der  Grämen  der  blossen  Vernunft,  drit- 
tes Stück.  No.  VI :  Der  Kirchenglaube  hat  zu  seinem  höch- 
sten Ansleger  den  reinrn  Religionsglauben. 


30  Einleitung,    $.  7. 

benssätsen  in  Upbereinstimmung   brachten.    So  haben  es  ! 
die  Moralphilosophen  anter  den  Griechen  und  Römern  mit  ! 
Ihrer  fabelhaften  Götterlehre  gemacht ,   daft  sie  den  grob-  ' 
sten  Polytheismus  doch  zuletzi  als  blofse  symbolische  Vor-  J 
Stellung  der  Eigenschaften  des   Einen  göttlichen  Wesens  1 
umzudeuten ,  nnd  den  mancherlei  lasterhaften  Handinngen 
ihrer  Götter,   den  wildesten  Träumereien  ihrer  Diehter,   • 
einen    mystischen   Sinn    unterzulegen   wußten,    um   den   ' 
Volksglauben,    welchen   zu    vertilgen   nicht   ersprießlich   ' 
war,  einer  moralischen  Lehre  nahe  zu  bringen»    Anoh 
das  spätere  Jndenthum ,  und  selbst  das  Christenthuufc,  be- 
stehe ans  solohen   «um  Theil   sehr  gezwungenen  Deutun- 
gen,   äbrigens  zu  unzweifelhaft  guten   und  für  alle  Men- 
sohen  nothwendigen  Zwecken.     Nicht  minder  wissen  die 
Mnhammedaner  den    üppigen  Beschreibungen  ihres  Para- 
dieses  einen  geistigen  Sinn   unterzulegen,     und  dasselbe 
than  die  Inder  mit  ihren  Veda's ,  wenigstens  für  den  auf- 
geklärteren Theil  ihres  Volkes.    Ebenso  müssen  nun  nach 
Kant  die  christliehen  Religionsurkunden  des  A.  n.  N.  T« 
durchgängig  zu  einem  Sinne  gedeutet   werden,  welcher 
mit  den   allgemeinen  praktischen   Gesetzen  einer  reinen 
Vernunftreligion  zusammenstimmt,  und  es  mufs  diese  Deu- 
tung, sollte  sie  auch,   scheinbar  oder  wirklieb,  dem  Texte 
Gewalt  anthnn,  einer  solchen  buchstäblichen  vorgezogen 
werden,  welche,  wie  namentlich  auch  bei  manchen  bibli- 
schen Geschienten  der  Fall  ist,   entweder  schlechterdings 
nichts  für  die  Moralität  in  sich  enthält,  oder  den  morali- 
schen Triebfedern  wohl   gar  entgegenwirkt.    So  werden 
m.  B»  die  racheschnaubenden  Ausdrücke  maneher  Psalmen 
gegen  Feinde  auf  die  Begierden   nnd  Leidenschaften  um- 
gedeutet, welche  wir  allerdings  streben  müssen ,  nachge- 
rade alle  unter  den  Fufs  zu  bringen,  und  das  Wunder- 
rolle,  was  im  N.  T.  von  Jesu  Herabkunft  vom  Himmel, 
seinem  Verhältnifs  zu  Gott  u.  6.  f. ,   gesagt  ist ,    wird  als 
bildliche  Bezeichnung    des  Ideals  der   gottwohlgeftlligen 


Einleitung.    $.7.  M 

Keuschheit  genommen  *>  Dafs  eine  solche  Deutung  mög- 
lich ist,    ohne  eben  immer  wider  den  buchstäblichen  Sinn 

Urkunden  des  Volksglaubens  allzusehr  au  verstofsen, 
nach  Kaut's  tiefer  gebender  Bemerkung  daher, 
wen  lange  vor  diesem  letaleren  die  Anlage  mir  morali- 
ahsn  Religion  in  der  menschlichen  Vernunft  verborgen 
hg,  wovon  zwar  die  ersten  rohen  Aeufsemngen  hlofs  auf 
pttesdienstlichen  Gebrauch  ausgegangen  seien,  und  au 
isseaa  Behufe  selbst  jene  angeblichen  Offenbarungen  ver- 
adslet,  hiedurch  aber  auch  etwas  von  dem  übersinnlichen 
Charakter  ihres  Ursprungs  selbst  in  jene  Dichtungen,  ob- 
wohl uuvorsfitslicb ,  gelegt  haben.  Auch  gegen  den  Vor- 
wurf der  Unredlichkeit  glaubt  Kamt  diese  Auslegungsweise 
durch  die  Bemerkung  schatten  su  können,  dafs  sie  ja  kei- 
neswegs behaupte,  der  Sinn,  welchen  sie  den  heiligen 
Biedern  jetzt  gebe,  sei  von  ihren  Verfassern  auch  durchr- 
as» so  beabsichtigt  worden,  sondern  dieses  lasse  sie  dahin« 
gestellt,  und  spreche  für  sich  nur  die  Möglichkeit  an,  die- 
selben auch  auf  ihre  Art  su  deuten« 

Wenn  Kant  auf  diese  Weise  aus  den  biblischen 
Schriften  auch  ihrem,  geschichtlichen  Theile  nach  mora- 
lische Gedanken  herausaudeuten  suchte,  ja  diese  Gedanv 
ken  seihst  als  die  objective  Grundlage  jener  Geschichten 
anzuerkennen  geneigt  war:  so  nahm  er  doch  einestheila 
diese  Gedanken  nur  aus  sich  und  der  Bildung  seiner  Zeit, 
wefswegen  er  nur  in  seltenen  Fällen  annehmen  konnte, 
sie  haben  wirklich  schon  bei  den  Verfassern  jener  Sehrifc 
ten  cum  Grunde  gelegen ;  anderntheils  unterliefs  er  eben 
delswegen  nachzuweisen ,  wie  sich  jene  Gedanken  au  die- 
sen symbolischen  Darstellungen  verhalten ,  wie  es  komme, 
dafs  jene  in  diesen  sieh  ausgeprägt  haben. 


2)  Zweites  Stück,  erster  Abschnitt,  «  und  h. 


32  Einleitung.    §.  3. 

§.    6.  . 

Entstehung  der  mythischen  Auffassung! weite  der  heiligen  Ge- 
schichte, zunächst  in  Bezug  anf  das  A.  T. 

Bei  einem  so  unhistorfechen  Verfahren  anf  der  einen 
Seite  und  einem  so  anphilosophischen  auf  der  andern 
konnte  am1  so  weniger  stehen  geblieben  werden,  je  mehr 
das  immer  allgemeiner  and  erfolgreicher  betriebene  my- 
thologische Studium  auch  auf  die  Ansicht  von  der  bibli- 
schen Geschichte  einen  Einfluft  Sufserte.  Wenn  schon 
Eichhorn  för  hebräische  und  nichthebräisbhe  Urgeschichte 
gleiche  Behandlung  verlangt  hatte:  so  verschwand  diese 
Gleichheit  immer  mehr,  je  mehr  man  fttr  die  profane  Ur- 
geschichte den  mythischen  Gesichtspunkt  ausbildete,  för 
die  hebräische  aber  bei  der  natürlichen  Erklärung*  weise 
stehen  blieb.  Und  Paulus  konnten  es  doch  nicht  Alle 
nachthun,  welcher  die  Consequens  der  Behandlung  da- 
durch herstellte,  dafs  er,  wie  die  biblischen,  so  auch  die 
eur  Vergleichung  sich  bietenden  griechischen  Sagen  natür- 
lich eu  erklären  sich  geneigt  zeigte:  sondern  man  half 
lieber  auf  der  andern  Seite,  und  fing  an,  auch  manche 
biblische  Erzählungen  als  Mythen  zu  betrachten.  Nach- 
dem schon  Semler  von  einer  Art  von  jüdischer  Mytholo- 
gie gesprochen,  und  die  Erzählungen  von  Simson  und  der 
Esther  geradezu  Mythen  genannt  hatte1);  nachdem  Eich- 
born in  darangegebenen  Weise  vorangegangen  war:  wurde 
sofort  durch  Gabler  "),  Schelling  *)  u.  A.  der  Begriff  des 
Mythus  als  ein  ganz  allgemein,  für  alle  älteste  Geschichte, 
heilige  wie  profane,  gültiger  aufgestellt,  nach  dem  Heyhe'- 


1)  Ausführliche  Erklärung  über  theol.  Gensuren,  Vorrede.  Von 
freier  Untersuchung  des  Kanon,  2,  S.  282.  Nachgewiesen  von 
Tboluck,  S.  14  f. 

2)  In  der  Einleitung  zu  EichroriTs  Urgesch.  2,  S.  481  ff.  (1792). 
5)  Ueber  Mythen,  historische  Sagen  und  Fhilosopheme  der  älte- 
sten Welt.    In  Paulus  Memorabilien  5.  Stück   S.  1  ff.  (1795). 


Einleitung.    §.  8. 


33 


sehen  Grudaatee:   a  mgtkü  omms  priscomm  komimm 
cm*   historia   Um   pkilosophia  procedit'),   und  Bauer 
wagte  es   sogar,   mit  einer  „bebr&ischen  Mythologie  des 
und  neuen  Testaments"  aufzutreten  (1820).     Die  II- 
Gesehichte  aller  Völker ,  meint  Bausr  ,  sei  mythisch : 
sollte  die  hebräische  allein  eine  Ausnahme  machen? 
k  vielmehr  der  Augenschein  der  heiligen  Bücher  neige, 
Mb  auch   sie  mythische  Bestandtheile   enthalten.     Eine 
frifhln^g  nämlich  ist,  wie  Bauer  nach  Gabler  und  Schkl- 
im  a«aÄhrt,  ab  Mythos  erkennbar,  wenn  sie  aus  einer 
Zeit  ttrmmt)  in  der  es  noch  keine  schriftlich  verzeichnete 
Geschichte  gab;  sondern  die  Thatsachen  nur  durch  münd- 
liche Voberiieferung  fortgepflanst  wurden  5) ;   wenn  darin 
sr  eehleehthin  unerfakrbare  Gegenstände,   wie  Ber- 
aten aus  einer  übersinnlichen  Welt,  oder  doch  be- 
niebnngsweise   unerfahrbare ,   bei   welchen   der  Umstände 
wegen    Niemand  Zeuge  sein   konnte,   in  geschichtartiger 
Weise  berichtet  werden;    oder  endlich,   wenn  die  Erzäh- 
lungen ins  Wunderbare  verarbeitet  und  in  einer  symboli- 
schen Sprache  vorgetragen  sind.    Solche  Ersahlungen  nun 
finden  sieh  auch  in  der  Bibel  nicht  wenige  vor,  und  dsfs 
mmn  auf  dieselben  den  Begriff  des  Mythischen  nicht  an- 
wenden wolle,   habe  seinen  Grund  nur  in  falschen  Vor- 
•teüungen  einerseits  von  dem  Wesen  des  Mythus,  andrer- 


4)  Ad  Apollod.  Athen.  Bibüoth.  notae,  p.  5  f. 

5)  Sofern  mündliche  Ueberlieferuag  durch  nur  wenige  Mittel- 
gUeder  mehr  hi«tori«che  Sicherheit  gewähre,  beruft  «ich  für 
die  Glaubwürdigkeit  der  A.  T.  liehen  Urgeschichte  neuesten« 
wieder  Homuim  auf  da«  hohe  Lebensalter  der  frühsten  Men- 
schen, Yermöge  de«sen  Adam  noch  156  Jahre  «ugleich  mit  La- 
mech,  dem  Vater  Noah'«,  gelebt  habe,  Noah  noch  60  Jahre 
-mit  Abraham,  die  300  Jahre  aber  swi«chen  Jakob  und  Mo«e« 

durch  nur  3—4  Generationen  aufgefüllt  gewesen  seien  (S.  54). 
Man  wei««  in  der  That  nicht  recht ,  wie  man  eine  »olehe  Be-  *" 
rufung  eigentlich  zu  nehmen  hat. 
Dom  Leben  Jetm  Sie  Aufl.  f.  Band.  3 


34  Einleitung.    $.  6. 

seit«  von  dem  Charakter  der  biblisdien  Bacher.  In  er- 
sterer  Hinsicht  verwechsle  man  Mythen  mit  Fabeln,  vor- 
sätzlichen Lügen  and  willkürlichen  Erdichtungen ,  statt 
dieselben  als  die  notwendigen  Träger  der  ersten  Regun- 
gen des  menschlichen  Geistes  erkennen  au  lernen;  in  der 
andern  Rücksicht  sei'  es  freilich,  den  Inspirationsbegriff 
vorausgesetst,  unwahrscheinlich,  dafs  Gott  von  Thatsachen 
oder  Ideen  mythische  statt  der  eigentlichen  Darstellungen 
eingegeben  haben  sollte:  allein  die  genauere  Betrachtung 
der  biblischen  Schriften  zeige ,  dafs  der  Begriff  ihrer  In* 
spiration,  weit  entfernt,  ihre  mythische  Auffassung  bu  hin- 
dern, vielmehr  selbst  nur  ein  mythischer  sei  *). 

Dals  man  in  den  ältesten  Denkmalen  der*jfidischen 
und  christlichen  Religion  nicht  ebenso,  wie  in  den  heidni- 
schen Religionen,  Mythen  anerkennen  wolle,  erklärte  Wbo- 
scheider  geradezu  theils  aus  der  Unbekanntschaft  so  Vie- 
ler mit  den  Fortschritten  der  historischen  und  philosophi- 
schen Wissenschaften,  theils  aus  einer  gewissen  Aengst- 
liohkeit,  welche  Dinge,  die  offenbar  dieselben  seien,  doch 
nicht  mit  dem  gleichen  Namen  zu  nennen  wage.  Zugleich 
erklärte  er  es  für  unmöglich,  ohne  Anerkennung  vom  My- 
then in  der  heiligen  Schrift  und  Unterscheidung  ihres 
wahren  Gehalts  von  der  unhistorischen  Form  das  göttliche 
Ansehen  der  Bibel  gegen  die  Einwürfe  und  Spöttereien 
ihrer  Gegner  mit  Erfolg  zu  vertheidigen  7). 

Bestimmte  man  hienaoh  von  Seiten  der  genannten 
Forscher  den  Mythus  im  Allgemeinen  als  Darstellung  ei* 
ner  Begebenheit  oder  eines  Gedankens  in  geschichtlicher, 
aber  durch  die  sinnliche,  phantasiereiche  Denk-  nnd 
Sprechweise  des  Altertbums  bestimmter  Form:  so  unter« 
schied  man  zugleich  verschiedene  Arten   von  Mythen,8). 


6)  Bauer'«  hebr.  Mythol.  1.  Bind.  Einleitung. 

7)  Institutionen  theol.  ehr.  dogm.  §.  42. 

8)  Vgl.  ausser  den  (wt  nannten  noch  Ammow,  Progr,  quo  inquiri- 


Einleitung.    $.  8.  3$ 

Die  einen  seien  historische  Mythen,  d.  h.  Erafthlun- 
gm  wirklicher  Begebenheiten,  nur  gefärbt  durch  die  al* 
tarthumiiche ,  Göttliches  mit  Menschlichem ,  Natürliches 
■tit  Uebernatflriichem  vermengende  Denkart;  es  gebe  aber 
philosophische  Mythen,  oder  solche,  welche  ei* 
blofsenl Gedanken,  ein  Philosophen!  oder  eine  Zeit» 
,  in  Geschichte  einkleiden ;  überdiel*  aber  kennen  beide 
Arten  theils  sieh  mischen,  theils  durch  dichterische  Ueber« 
arbeitong  au  poetischen  Mythen  werden,  bei  welchen 
Unter  der  phantasiereichen  Umhüllung  so  ursprüngliches 
Factum  wie  Idee  beinahe  verschwinden.  Zwischen  diesen 
verschiedenen  Arten  von  Mythen  ist  die  Unterscheidung 
defswegen  schwierig,  weil  auch  diejenigen,  welchen  blo- 
ises  Raisonnement  au  Grunde  liegt,  mit  gleichem  histori- 
schem Ansprüche,  wie  die  auf  geschichtlichem  Grunde 
ruhenden,  auftreten ;  doch  geben  die  genannten  Gelehrten 
auch  für  diese  Unterscheidung  einige  Regeln  an.  Vor  AI« 
lern  müsse  man  darauf  sehen ,  ob  und  was  für  ein  Zweck 
der  Emlhlung  sich  entdecken  lasse.  Wo  gar  kein  Zweck 
sichtbar  sei,  um  dessen  willen  die  Sage  erdichtet  sein 
könnte:  da  werde  Jedermann  den  historischen  Mythus 
finden.  Entsprechen  aber  alle  Hauptamstände  einer  Er» 
nfhlnng  der  Versinnlichung  einer  bestimmten  Wahrheit: 
so  sei  der  Zweck  der  Erzählung  sicher  nur  eben  dieser, 
und  dar  Mythus  somit  ein  philosophischer.  Die  Mischung 
des  historischen  und  philosophischen  Mythus  sei  besonders 
daran  kenntlich,  wenn  sich  das  Bestreben  zeige,  gewisse 
Thatsachen  aus  ihren  Ursachen  abzuleiten.  Dafs  Ge- 
seMehtliehes  sum  Grunde  liege,  lasse  sich  in  manchen 
Fallen  auch  durch  anderweitige  Nachrichten  erweisen: 
bisweilen  stehen  gewisse  Angaben  eines  Mythus  mit  einer 


tur  in  narratiomim  de  vitae  Jesu  Christi  primordiis  fontesetc. 
in  Pott's  und  Rpfbrti's  Sylloge  Comm.  theoi.  No.  5. ,  und 
Cablm>'s  n.  theol,  Journal  5.  Bd.  S.  S5  und  397. 

3* 


36  Einleitung.    §.  8.      \ 

bekannten  wahren  Geschichte  in  genauer  Verbindung; 
oder  trage  er  in  sich  selbst  unverkennbare  Spuren  der 
Wahrscheinlichkeit:  so  dafs  der  Kritiker  zwar  die  Ein- 
kleidung verwerfen,  doch  aber  die  Grandlage  als  ge- 
schichtlich festhalten  könne.  Am  schwersten  fiel  es ,  den 
sogenannten  poetischen  Mythus  zu  unterscheiden,  und 
Bauer  weifs  nur  das  negative  Kriterium  anzugeben:  wenn 
einerseits  die  Erzählung  so  wunderbar  klinge,  dafs  die 
Begebenheit  sich  unmöglich  so  habe  zutragen  können,  an- 
dererseits aber  doch  kein  Zweck  erkennbar  sei,  einen  be- 
stimmten Gedanken  su  versinnlichen :  so  sei  zu  vermuthen, 
dal*  die  ganze  Erzählung  der  Phantasie  eines  Dichters  ih- 
ren Ursprung  zu  danken  habe.  In  Bezug  auf  sämmtliche 
Mythen  macht  besonders  die  ScHELLiNo'sche  Abhandlung 
auf  das  Kunstlose  und  Unbefangene  in  ihrer  Entstehung 
aufmerksam,  indem  sie  theils  von  den  historischen  Mythen 
bemerkt ,  dafs  das  Ungeschichtliche  in  denselben  nicht 
künstliches  Erzeugnifs  absichtlicher  Erdichtung  sei,  son- 
dern sich  \A  Laufe  der  Zeit  und  Ueberüeferung  von  «elbst 
eingeschlichen  habe;  theils  in  Bezug  auf  die  philosophi- 
schen erinnert,  dafs  nicht  allein  zum  Behuf  eines  sinnli- 
chen Volks,  sondern  «lieh  zu  ihrem  eigenen  Behufe  die 
ältesten  Weisen  das  Gewand  der  Geschichte  för  ihre  Ideen 
gewählt  haben,  um  in  Ermangelung  abstraeter  Begriffe 
und  Ausdrücke  das  Dunkle  ihrer  Vorstellung  durch  eine 
sinnliche  Darstellung  aufzuhellen. 

Da  dem  früher  Bemerkten  zufolge  die  natürliche 
Deutung]  namentlich  der  A.  T.  liehen  Geschichte  nur  so 
lange  sich  halten  konnte,  als  die  Urkunden  derselben  für 
£anz  oder  nahezu  gleichzeitig  mit  den  Begebenheiten  gal- 
ten: so  sind  die  Männer,  welche  die  letztere  Meinung  um- 
gertofeen  haben,  Vater  und  de  Wettb,  zugleich  diejeni- 
gen gewesen,  durch  welche  die  mythische  Ansicht  jener 
Geschichte  fester   begründet  worden  ist.     So   wird  nach 

/ 


Einleitung.     §,  S.  37 

ihr  Bemerkung  des  Ersteren»)   der   eigentümliche   Cha- 
rakter  der  Nachrichten   im  Pentateach  erst  dann  begreif- 
lieh,  wenn  man  annimmt,  dafs  dieselben  nicht  von  Augen« 
«engen  herröhren,  sondern  durch  die  Hand  der  Tradition 
kindnrehgegangen  seien.     Dann  nur  fallen  uns  nicht  mehr 
&  deutlichen  Spuren  einer  späteren  Zeit,  nicht  mehr  die 
*a  grofsen  Zahlangaben,  nebst  andern  Unrichtigkeiten  und 
Widersprachen ,   nicht  mehr  das  Helldunkel  auf ,   welches 
iber    manchen   Begebenheiten   schwebt,   nicht   mehr  Vor» 
Stellungen,  wie  die,   dafs  die  Kleider  der  Israeliten  wäh- 
rend des  Zugs  durch  die  Wüste  nicht  veraltet  sein  sollen. 
Namentlich  kann,  nach  Vater,  das  Wunderbare  nnr  danii 
ans  dem  Pentateuch   ohne  Gewalt  gegen   den  ursprüngli- 
chen Sinn   der    Schriftsteller   wegerklärt   werden,   wenn 
man  der  Tradition   einen  greisen  Antheil  an  der  Darstel- 
lung jener  Begebenheiten  susohreibk 

Roch  entschiedener  als  Vater  hat  sich  de  Wette 
gegen  die  natürliche  und  für  die  mythische  Auffassungs- 
weise  gewisser  Theile  des  A«  T.  erklärt.  Um  die  Glaub- 
würdigkeit eines  Berichtes  sn  prüfen,  sagt  er10),  mofs 
man  meierst  die  Tendens  des  Erzählers  untersuchen.  Will 
er  nicht  reine  Geschichte  ersählen,  auf  etwas  Anderes 
wirken,  als  auf  die  historische  Wifsbegierde ,  will  er  er-, 
geinen,  rühren,  eine  philosophische  oder  religiöse  Wahr- 
heit anschaulich  machen :  so  hat  sein  Bericht  keinen  hi- 
storischen Werth.  Selbst  wenn  sich  der  Ersähler  nur 
einer  geschichtlichen  Tendenz  bewufrt  ist,  kann  er  doch 
vielleicht  nicht  auf  dem  historischen  Standpunkte  stehen, 
sondern  ein  poetischer  Ersähler  sein ;  nicht  snbjeetiv , 
ils  Dichter,  wohl  aber  objeetlr,  als  begriffen  in  und  ab- 
hängig von  der  Poesie.    Kennseiehen  davon  ist,    wenn  er 


9)  s.  die  Abhandlung  übet  Moses  und  die  Verfasser  des  PenU 

teuohs  im  Sten  Bande  des  Comm.  über  den  Pent.  S.'ötiOV 
10)  Kritik  der  mosaischen  Geschichte}  S.  Uff. 


39  Einleitung.    §•  8. 

bona  fide  Dinge  erzählt,  welche  durchaas  unmöglich  und 
undenkbar  sind,  welche  nicht  allein  die  Erfahrung,  son- 
dern auch  die  natürlichen  Gesetze  fiberschreiten.  Erzäh- 
langen  dieser  Art  entstehen  namentlich  durch  die  Tradi- 
tion. Die  Tradition,  sagt  de  Wette,  ist  unkritisch  und 
parteiisch,  nicht  von  historischer,  sondern  von  patriotisch« 
poetischer  Tendenz;  die  patriotische  Wißbegierde  aber 
begnügt  sich  mit  Allem,  was  ihrem  Interesse  schmeichelt r 
je  schöner,  ehrenvoller,  wunderbarer,  desto  annehmlicher, 
und  wo  die  Deberlieferung  Lücken  gelassen  hat,  da  tritt 
sogleich  die  Phantasie  mit  ihren  Ergänzungen  ein.  Indem 
nun,  fahr  de  Wette  fort,  ein  guter  Theil  der  A.  T. li- 
ehen Geschichtsbücher  dieses  Gepräge  trägt,  so  hat  man 
(von  Seiten  der  natürlichen  Erklärer)  bisher  geglaubt,  die 
Ausschmückungen  und  Umbildungen  des  geschichtlichen 
Stoffs  von  diesem  trennen,  und  so  doch  noch  jene  Erzäh- 
lungen als  historische  Quelle  benützen  zu  können.  Diefs 
liefse  sich  thun,  wenn  wir  über  dieselbe  Geschichte  neben 
der  wunderhaften  noch  eine  andre,  reingeschichtliche  Re- 
lation besäfsen.  Das  ist  aber  in  Bezug  auf  die  A.  T.  liehe 
Geschichte  nicht  der  Fall,  sondern  wir  finden  uns  ganz 
an  jene  Berichte  gewiesen ,  welche  wir  nicht  für  reinhi- 
storische erkennen  können.  In  diesen  aber  ist  ans  kein 
Kriterium  zur  Unterscheidung  des  Wahren  und  Falschen 
gegeben,  weil  sie  Beides  in  bunter  Vermischung  und  mit 
gleicher  Dignität  enthalten.  Die  ganze  natürliche  Erklä- 
rungsweise ist  nach  de  Wette  im  Allgemeinen  schon 
durch  den  Satz  widerlegt,  daüs  die  einzige  Erkenntnifo- 
quelle  einer  Geschichte  die  Relation  ist,  die  wir  über  die- 
selbe besitzen ,  und  über  die  Relation  der  Historiker  nicht 
hinausgehen  darf.  Diese  berichtet  uns  aber  im  gegenwär- 
tigen Falle  nur  den  übernatürlichen  Hergang  der  Sache, 
welchen  wir  nur  entweder  annehmen  oder  verwerfen  kön- 
nen; im  letzteren  Falle  aber  müssen  wir  uns  bescheiden, 
von  dem  Hergange  gar  nichts  zu  wissen ,   und  dürfen  ans 


Einleitung.    $.  8.  39 

■Mit  erlauberi,  einen  natürlichen  su  erdichten ,  von  wel- 
chen die  Relation  nicht  das  Mindeste  sagt.  Es  ist  also  ") 
ieeonsequent  und  willkürlich,  der  Poesie  nur  die  £inklei- 
A.  T.  lieher  Thatsachen  ansaschreiben ,  die  Facta 
der  Geschichte  retten  su  wollen;  da  vielmehr  mit 
Einseinen  auch  das  Gänse  dem  poetischen  und  my- 
nisehen  Gebiete  verfallt»  So ,  wenn  der  Bund  Gottes  mit 
Abraham  **)  in  dieser  Gestalt  als  Faetnm  aufgegeben,  aber 
dseh  eine  geschichtliche  Grundlage  der  Ersfthlung  festge- 
halten wird ,  nämlich  die ,  es  habe  swar  nicht  ein  objecti« 
ver  Verkehr  Gottes  mit  Abraham  stattgefunden,  wohl  aber 
snbjectiv  im  Gemftthe  des  Mannes  seien  in  der  Vision  oder 
im  natürlichen  Wachen  Gedanken  aufgestiegen,  welche  er 
im  Geiste  der  alten  Welt  auf  Gott  surückgeführt  habe :  se 
riehtet  ds  Wette  an  so  verfahrende  Ausleger  die  Frage, 
'wober  sie  denn  wissen,  dafs  Abraham  aus  sich  selber  diese 
Gedanken  gehabt  habe?  Dnsre  Relation,  bemerkt  er,  lei- 
tet dieselben  von  Gott  ab}  nehmen  wir  dieft  nicht  an,  so 
wiesen  wir  von  solchen  Gedanken  Abrahams  gar  nichts 
mehr,  auch  davon  nicht,  dafs  sie  ihm  natürlich  aufgestie- 
gen. Qeberhaopt  haben  solche  Hoffnungen,  wie  sie  den 
Inhalt  jenes  Bundes  bilden,  Stammvater  eines  Volks  sn 
werden,  weiches  das  Land  Kanaan  besitsen  seilte,  na- 
türlicherweise gar  nicht  in  Abraham  entstehen  kennen; 
wohl  aber  sei  das  natürlich ,  dafs  die  sum  Volke  gewor* 
denen  und  in  den  Besits  des  Landes  gekommenen  Israeli- 
ten jenen  Bund  ihrem  Stammvater  cur  Verherrlichung  an- 
gedichtet haben:  so  dafc  die  natürliche  Erklärnngsweise 
durch  ihre  eigne  Unnatttrliehkeit  immer  wieder  nur  my- 
thischen hinfahre. 

Eichbork  selbst  hat  die  UnsulaTsigkeit  der  natürli- 
chen Erkl&rungsweise ,  welche  er  in  Besag  auf  das  A.  T. 


11)  S.  die  Vorrede;  S.  Ulf 
1«)  S.  59  ff. 


40  Einleitung.     §.  8. 

ausgebildet  hatte,  in  Betreff  der  evangelischen  Geschichte 
eingesehen.  Was  in  diesen  Erzählungen  einen  übernatflp- 
lichen  Anstrich  hat,  bemerkt  er 1S),  das  dürfen  wir  nicht  ver- 
langen, in  ein  natürliches  Ereignifs  umzubilden,  weil  diefs 
ohne  Zwang  nicht  möglich  sei«  Wenn  nämlich  einmal  in 
einer  Erzählung  durch  Zusammenfliefsen  der  Volksdeu- 
tung mit  dem  Factum  etwas  als  übernatürlich  dargestellt 
sei,  so  könne  die  natürliche  Thatsache  nur  dann  noch  ent- 
räthselt  werden ,  wenn  über  denselben  Gegenstand  ein 
zweiter  Bericht  vorhanden  sei,  der  jene  Vermengung  nicht 
enthalte,  wie  über  das  Ende  des  Herodes  Agrlppa  neben 
A.  G.  12,  23.  die  Erzählung  des  Josephns")«  Da  solche 
controürende  Berichte  über  die  Geschichte  Jesu  fehlen: 
so  würde  der  Erklärer  nur  unerweisliche  Hypothesen 
spinnen,  wenn  er  bei  den  wunderhaft  lautendem  Erzäh- 
lungen die  natürliche  Ursache  noch  entdecken  wollte,  wo 
sie  nicht  deutlich  in  der  Erzählung  liegt;  eine  ßemeiv 
kung,  durch  welche,  wie  Eichhorn  erklärt,  viele  soge- 
nannte psychologische  Erklärungen  der  Evangelien  in  ihre 
Nichtigkeit  hinfallen. 

DerselbeUnterschied  der  natürlichen  und  mythischen 
Erkiäruagsart  ist  es ,  welchen  mit  besondrer  Beziehung 
auf  die  Wundergeschichten  Krug  1S)  bezeichnen  wollte, 
wenn  er  eine  physicalische  oder  materiale,  und  eine  gene- 
tische oder  formelle  Art  der  Wundererklärung  unter- 
schied. Jene  untersucht  nach  Käüo:  wie  mag  das  wun- 
dervolle Ereignifs,  welches  hier  erzählt  ist,  nach  allen 
seinen  Umständen  durch  Naturkräfte  und  nach  Naturge- 
setzen möglich  gewesen  sein?  wogegen  diese  fragt:  wie 
mag  die  Erz-ählung  von  diesem  Wunderereigniis  nach 


1 

13)  Einleit.  in  da*  N,  T.  I,  S.  408  ff. 

14)  Antiquit.  19,  8,  2. 

15)  Versuch   über  die  genetische  oder  formelle  ErklSrungStrt 
der  Wunder.    In  Hsnn's  Museum,  I,  3,  S.  395  ff.  (1803). 


Einleitung.    $.  8.  41 


od  nach  entstanden  «ein!  Jene  erklärt  die  natürliche 
Möglichkeit  der  erzählten  Sache  (des  Stoffs  der  Eraäh« 
log),  diese  spürt  dem  Ursprange  des  vorliegenden  Be- 
richts (der  Form  der  Ersafhlnng)  nach«  Die  Versuche 
mä  der  enteren  Erklären  gsart  hält  Krug  ffir  fruchtlos, 
wrii  sie  Erklärungen  ran  Vorschein  bringen,  welche  noch 
vuderbarer  als  das  ra  erklärende  Faotara  seien ;  viel  he- 
Iseneotler  sei  der  andere  Weg,  indem  man  auf  demselben 
m  Rncaltaten  gelange,  weiche  ein  Licht  iber  säuuntlicbe 
Wanderersählungen  verbreiten*  Namentlich  gewähre  er 
dam  Exegeten  den  Vortheil,  dafs  er  bei  Erklärung  seines 
Textes  demselben  nicht  die  mindeste  Gewalt  ansuthun 
brauche ,  sondern  alles  buchstäblich  so  auslegen  könne, 
wie  es  der  alteErsähler  gemeint  habe,  auch  wenn  das  Er- 
sähke  unmöglich  sein  sollte:  wogegen  derjenige,  welcher 
auf  materielle  oder  physicaüsehe  Erklärung  ausgehe,  cu 
hermenentischen  Kunstgriffen  verleitet  werde,  welche  ihm 
den  ursprünglichen  Sinn  der  Erzähler  aus  dem  Gesichte 
rücken,  and  diesen  etwas  ganz  Andres  unterschieben ,  als 
sie  sagen  konnten  oder  wollten* 

Ebenso  empfahl  Gabler  *•)  die  mythische  Ansicht  als 
das  beste  Mittel,  um  den  sur  Mode  gewordenen  gekün- 
stelten ,  angeblich  natürliohen ,  Erklärungen  der  biblischen 
Geschichte   anssuweichen  lT).      Der    natürliche   Erklärer, 

16)  In  der  Abhandlung:  Ist  es  erlaubt,  in  der  Bibel,  und  sogar 
im  N.  T.,  Mythen  anzunehmen?  (aus  Gelegenheit  einer  Recens. 
von  Baux&'s  hebr.  Mythol. )  im  Journal  für  auserlesene  theol. 
Literatur,  2ten  Bandes  ltes  Heft.  S.  43  ff. 

17)  Lächerlich  ist,  wie  Boifmakh  (S.  51  f.  58.)  die  Abkunft  des 
mythischen  Standpunkts  durch  die  Nachweisung  au  ▼eruneh- 
ren  sucht,  dass  die  ersten  Schritte  zu  demselben  den  Exege- 
ten durch  Noth  und  Verlegenheit  abgedrungen  gewesen  seien. 
Was  ist  denn  überhaupt  das  Fortbewegende  im  Leben  wie  in 
der  Wissenschaft,  als  Noth,  Verlegenheit,  Widerspruch,  dass 
auf  einer  niedrigeren  Stufe  kein  Verbleiben  ist,  und  daher  su 
einer  höheren  aufgestiegen  werden  matt?  - 


i%  Einleitung.    §.  8* 

bemerkt  er,  will  gewöhnlich  die  gause  Ersählung  natür- 
lich machen,  and  weil  diefs  nur  selten  gelingen  kann ,  so 
erlaubt  er  sieh  die  gewaltsamsten  Operationen ,  durch 
welche  die  neuere  Exegese  selbst  bei  Laien  in  Übeln  Ruf 
gekommen  .ist.  Auf  dem  mythischen  Standpunkte  hinge- 
gen braucht  man  dergleichen  nicht,  weil  der  größere 
Theil  einer  Eraählung  oft  blofs  zur  mythischen  Darstel- 
lung gehört,  der  factische  Kern  aber  nicht  selten  gann 
klein  ist ,  wenn  man  die  später  dazu  gefügten  wundersa- 
men Hüllen  weggenommen  hat. 

Auch  Horst  konnte  sich  mit  dem  atomistischen  Ver- 
fahren nicht  vereinigen,  welches  aus  wunderhaften  Er- 
sählungen der  Bibel  nur  eineeine  Züge  als  unhistorische 
herausnahm,  und  andere,  natürliche,  an  ibre  Stelle  setzte, 
statt  das  Ganze  solcher  Erzählungen  als  religiös  -  morali- 
schen Mythus,  in  welchem  irgend  eine  Idee  sieh  darstelle, 
zu  erkennen  18). 

Besonders  entschieden  hat  ein  Ungenannter  in  Beb* 
tholdt's  kritischem  Journal  sich  gegen  die  natürliche  Er- 
klärungsweise der  heiligen  Geschichte  und  Ar  die  mythi- 
sche ausgesprochen.     Wesentliche  Gebrechen  der  natürli- 
chen Auslegung,  wie  sie  im  PAULüs'schen  Commentar  cul- 
minire,  sind  nach  diesem  Verfasser  vor  Allem  das  durch* 
aus  unhistorische  Verfahren,  welches  sie  eich  erlaubt,  Ur- 
kunden durch  Vermuthungen   zu   ergänzen,   eigne  Specu- 
lationen  Jftr  gegebenen  Buchstaben  zu   halten;   das  höchst 
gezwungene  und  immer  undankbare  Bemühen,   natürlich 
darzustellen,  was  doch  die  Urkunde  als  etwas  Wanderba- 
res geben  will;   endlich  die  Entleerung  der  biblischen  Ge- 
schichte von   allem  Heiligen  und  Göttlichen,    die  Herab- 
würdigung derselben  zur  eiteln  Unterhaltungslectflre ,   die 
selbst   den  Namen  der  Geschichte  nicht   mehr  verdient. 


18)  Ueber  die  beiden  ersten  Kapitel  des  Lukas,  in  Hamcs's  Mu 
seum  I,  4,  S.  .695*1.. 


) 


Einleitung.    §.  9.  43 

« 

Diese  Mängel  der  natürlichen  Erkltfrungsweise,  wenn  man 
skh  doch   bei  der  supranaturalistischen  auch  nieht  beru- 
higen kann,   Ähren  nach   dem  Verfasser  an  dem  mythi- 
schen Gesichtspunkte,   welcher  das   Material  der  Ersah- 
Jaag  unangefochten  läfst,   und   es  nieht  wagt,   daran  im 
su  deuteln,    dafür,  aber  das  Gänse  nieht  fftr 
Geschichte,   sondern  für  heilige  Sage  nimmt.     Für 
Auflassung  spricht  die  Analogie  mit  dem  gansen  po- 
finschen   und  religiösen  Alterthum,  da  90  manche  Ers&h- 
des  A.  und  M.  T.  den  Mythen  des  profanen  Alter- 
aufs Genaueste  fthnlieh  sehen;   hauptsächlich  aber 
emfs,  dafs  die  nahtlosen ,  sonst  nie  su  lösenden  Schwierig- 
keiten der  heiligen  6esehichte,  in  Bezug  auf  die  Harmonie 
der  Evangelien  and  die  Chronologie,    bei  der  mythischen 
Ansieht  wie  mit  Einem  Schlage  verschwinden 19). 

5.    9. 

Die   mythische   Erklärungsweise   in  ihrer   Anwendung  auf 

da»  N.  T. 

80  war  die  mythische  Auslegungsweise  nicht  allein 
in  das  alte  Testament,  sondern  aueh  in  das  neue  aufge- 
nommen: doeh  nicht  ohne  dafs  man  diesen  Schritt  beson- 
ders so  rechtfertigen  sich  veranlafst  gesehen  hfitte*  Schon 
Gable*  hat  an  dem  PAÜLUS'schen  Commentar  das  ausge- 
ästet, dafs  er  su  Weniges  Ober  den  mythischen  Gesichts- 
punkt gebe,  der  bei  gewissen  N.  T.  liehen  ErsKhlungun.  an- 
genommen werden  müsse.  In  manchen  von  diesen  Ersfth- 
Jsmgen  nftmiieb  finden  sieh  nicht  blofs  unrichtige  Urtheile, 
wie  sie  auch  von  Augenneugen  gefällt  werden  können, 
so  data  sieh  durch  deren  Berichtigung  ein  natürlicher  Her- 
gang gewinnen  liefse:    sondern  nicht  selten    finden  sich 


19)  Die  verschiedenen  Rücksichten,  in  welchen  und  für  welche 
der  Biograph  Jesu  arbeiten  kann.  In  .Bsbtholdt's  krit»  Jour- 
nal, 5.  Bd.  S.  235  ff. 


1 


/ 


44  Einleitung.     §.  9. 

auch  falsche  Thatsachen  and  unmögliche  Erfolge  angege- 
ben ,  welche  von  keinem  Augenzeugen  so  ersählf; ,  sondern 
nur  In  der  Ueberlieferurig  haben  fingirt  werden  können, 
also  mythisch  aafgefafst  werden  müssen  *)• 

Die  Hauptscbwierigkeit,  welche  bei  Uebertragnng  des 
mythischen  Gesichtspunktes  ans  dem  A»  T.  in  das  neue 
cu  beseitigen  war,  ist  diese,  dafs  man  Mythen  nur  in  der, 
fabelhaften  Urseit  nnsres  Geschlechtes  ca  suehen  pflegte, 
in  welcher  überhaupt  noch  keine  Begebenheiten  schriftlich 
verzeichnet  wurden:  wogegen  cur  Zeit  Jesu  das  mythische 
Zeitalter  lange  vorüber ,  und  namentlich  die  jüdische  Na- 
tion längst  eine  schriftstellerische  geworden  war.  Indeb 
schon  Schellimg  (in  der  angeführten  Abhandlung)  hatte 
wenigstens  in  einer  Anmerkung  eingeräumt ,  im  weiteren 
Sinne  könne  auch  diejenige  Geschichte  mythisch  genannt 
werden,  welche  noch  au  einer  Zeit,  da  Alles  längst  schrift- 
lich verzeichnet  zu  werden  pflegte ,  im  Munde  des  Volks 
sich  fortgepflanzt  habe.  Demgemäfs  ist  nach  Bauer2)  im 
N.  T.  zwar  nicht  eine  Reihe  von  Mythen,  eine  total  mythi- 
sche Geschichte  zo  suchen:  doch  aber  können  einzelne 
Mythen  in  demselben  vorkommen ;  sei  es,  data  sie  ans  dem 
A.  T.  in  das  nene  übergetragen ,  oder  dafs  sie  ursprüng- 
lich in  diesem  entstanden  seien.  So  findet  sich  nach  Baue* 
namentlich  in  der  Jugendgeschichte  Jean  Manches,  was 
vom  mythischen  Gesichtspunkte  betrachtet  sein  will.  Wie 
Ton  einem  berühmten  Manne  bald  allerlei  Anekdoten  sich 
bilden,  welohe  unter  einem  wundersüchtigen  Volke  die 
Sage  mit  Wunderdingen  aller  Art  vergröbert:  so  wurde 
Jesu  in  Dunkelheit  verlebte  Jngend,  da  er  später  so  be- 
rühmt, und  endlich  durch  seinen  Tod  noch  mehr  verherr- 
licht war,    mit  den  wunderhaftesten  ESrsählungen  ausge- 


1)  Recent.  von  Paulus  Goaunentar ,   im  neuesten  theol.  Journal. 
7,  4,  395  ff.  (1801). 

2)  Hebräische  Mythologie,  i.  Tbl.  Einl.  §.  5. 


Einleitung.    $-9.  46 

ukmleki.      Wenn  in  dieser  Jagendgeschichte  himmlische 
Wesen  mit  Namen  and  in  Menschengestalt  erscheinen,  die 
Zukunft  verkündigen  n.  dgl. :   so  hsben  wir,  meint  Bauer, 
ose*  wohl  ein  Recht,  hier  einen  Mythus  anzunehmen,  and 
ab  ans  Grnnd  seiner  Entstehung  den  zu  rermuthen ,  dals 
nm  die  groben  Wirkungen  Jesu  aus  Übersinnlichen  Crm- 
eVm  erklJirt,  und  diese  Erklärung  mit  de*  Geschichte  rer- 
nweht  habe.  —  In  gleicher  Beniehung  bemerkte  Gabler*), 
vis  der  Begriff  von  alter  Zeit  ein  relativer  sei:   gegen  die 
nssainche  Religion  gehalten ,   sei  die  christliche  allerdings 
jsag;   doch  aber  an  sich   selber  alt  genug,  nm  die  Urge- 
schichte ihres  Stifters  nn  den  alten  Eeiten  rechnen  su  dür- 
fen.   Dals  es  aber  damals  ober  andere  Gegenstände  bereits 
sehrifntehe  Urkunden  gegeben  habe,  beweise  hier  nichts, 
sobald  es  sich  neigen  Uä9e9   dals  man  eben   über  Jesnm, 
beiosacrn  über  seine  ersten  Lebensumstäode ,  längere  Zeit 
nichts  Schriftliches,  sondern   nur  mtedliche  Ersähiongen 
gehsht  habe ,  welche  leicht  allmählig  ins  Wunderbare  ge- > 
malt,   mit  jüdischen  Zeitideen  versetst,   and  so  so  histori- 
schen Mythen    werden  konnten.      Ueber  manches  Andre 
hatte  sann  nach  Gabler  gar  keine  Ueberlieferung;  man  war 
also  der  eigenen  MnthmaCsnng  fiberlassen ;  man  machte  um 
so  mehr  Schlosse,  je  weniger  Geschichte  man  hatte:    und 
diese  historischen  Conjecturen  und  Raisonnements  im  jü- 
disch-christlichen Gesohmacke  kann  man  die  philosophi- 
schen,  besser:  dogmatischen,  Mythen  der  christlichen  Ur- 
geschichte nennen.    Wenn  auf  diese  Weise,  schliefst  Gas- 
ua,    der  Begriff  des  Mythus  bei  mehreren  Erzählungen 
des  N.  T.  Anwendung  findet:  warum  sollte  man  die  Sache 
nicht  bei*m  rechten  Namen  nennen  dfirfen?   warum,  —  im 
wissenschaftlichen  Verkehre,  versteht  sich,  —  einen  Ans« 


3)  Ist  es  erlaubt ,  in  der  Bibel ,  und  sogar  im  N.  T. ,  Mythen 
aasoaeluaen  ?  Im  Journal  für  auserlesene  theol.  Literatur,  3, 
1,  49  ff. 


46  Einleitung.    §.  9. 

druck  vermeiden,    der  nur  bei  Befangenen  oder  Falschbe-1' 
richteten  Anstofs  erregen  kann?  (l 

Wie  im  Gebiete  des  A.  T.  Eichhorn  an  der  Geschichte  * 
des  Sündenfallea  von  seiner  früheren  natürlichen  Erklärung  *: 
durch  die  Macht  der  Sache  selbst  zur  mythischen  Auffas* »■ 
sung  herübergedrÄngt  wurde:  so  im  N.  T. liehen  Gebiete^ 
Ü8TBRI  in  Besag  auf  die  Versuchungsgeschichte.  Er  hatte  * 
sie  in  einer  froheren  Arbeit  nach  Schleiermachkr  als  eine  <i 
von  Jesu  vorgetragene ,  von  den  Jüngern  aber  mifsverstan-  k 
dene,  Parabel  eufgefafst*);  sah  jedoch  bald  die  Schwierig-  b 
keiten  dieser  Auffassung  ein,  und  indem  er  die  supranato-  t 
ralistische  wie  die  natürliche  Ansicht  der  Erzählung  nach  e! 
ihren  verschiedenen  Schattirungen  noch  weit  melir  hinter  t 
sich  hatte:  so  blieb  ihm  nichts  übrig,  als  den  mythischen  « 
Standpunkt  zu  betreten ;  was  er  denn  auch  in  einer  spfi-  i| 
teren  Abhandlung  auf  sehr  kräftige  Weise  that6).  Wen»  jj 
einmal  eine  Aufregung  der  Gemüther  gegeben  sei,  bemerkte  I 
er  hier,  zumal  eine  religiöse,  und  unter  einem  nick  unpoe-  n 
tischen  Volke:  so  sei  nur  kurze  Zeit  dazu  nöthig,  dafs,  -i 
nicht  etwa  blofs  verborgene  und  geheime,  sondern  selbst  \ 
öffentliche  und  bekannte  Thatsachen  einen  Schein  des  \ 
Wunderbaren  bekommen.  So  sei  denn  in  keiner  Weise  i 
abzusehen,  wie  die  ersten  Christen  aus  den  Juden,  geist-  k 
begabt,  d.  h.  religiös  begeistert,  wie  sie  waren,  und  mit  > 
dem  A.  T.  vertraut,  nioht  sollten  im  Stande  gewesen  sein,  \, 
symbolische  Seenen,  wie  die  Versuehungsgeschichte  und  „ 
andre  N.  T. liehe  Mythen,  zu  erdichten.  Hur  müsse  man  t 
sich  die  Entstehung  derselben  nicht  so  denken,  als  hätte 
sieh  Einer  zu  seinem  Tische  gesetzt,  und  aus  seinem  Kopfe 


4)  Ueber  den  Täufer  Johannes,  die  Taufe  und  Versuchung  « 
Christi,  in  üllmahh's  u.  Umbreit's  theol»  Studien  u.  Kritiken,  i 
2f  3,  S.  456  ff. 

» 

5)  Beitrag  zur  Erklärung  der  Versuehungsgeschichte ,  in  ders.  , 
Zeitschrift,  1832,  4.  Heft. 


Einleitung.    $   9.  47 

eergleielten  ,    wie  Dichtungen,    verfertigt    und    niederge- 
schrieben:  sondern  jene  Erzählungen  hüben,  wie  alle  Sa- 
ge»,  aüanlhlig  anf  eine  nicht  mehr  nachweisbare  Weiee 
neb  gebildet,   allmählig  Coneistena  gewonnen,   und  sieh 
cuslch  in  unaern  schriftliehen  Evangelien  fixirt 

Wie  aber  anf  Seiten  dea  A.  T.  die  mythische  Auf- 
lösung nur  von  denjenigen  festgehalten  werden  konnte, 
«wiche  sogleich  die  Abfaaaang  der  A.T.  liehen  Geschieh  ts- 
aAnaden  doreh  Angensengen  and  Zeitgenossen  bezweifel- 
tes :  so  noch  anf  Seiten  dea  N.  T.  Nor  mittelst  dar  An- 
aahme ,  daiä  durch  die  drei  ersten  Evangelien  sieh  bloft 
ei»  dinner  Faden  des  apostolisch  beglaubigten  Urevange- 
fiamu  hindarcheiehe,  welcher  selbst  im  Matthfiasevange- 
Unm  von  einer  Maase  anapostolischer  ZosStse  umwanden 
aei,  freiste  Eichhorn  viele  ihm  anetöfsige  Erzählungen  aas 
allen  Theilen  dea  Lebens  Jesu  als  unhistorische  Sagen 
aas  dem  Wege  na  rftamen;  wie  anfser  dem  Evangelium 
mfaxtiae  m.  B.  das  Nähere  der  Versachongsgeschtehte, 
mehrere  von  Jesu  verrichtete  Wander,  die  Auferstehung 
der  Beiligen  bei  seinem  Tode,  die  Wache  an  seinem 
Grabe  n.  a.  f.  *).  Besonders  aber  seit  sich  die  Ansicht 
von  dem  Ursprünge  der  drei  ersten  Evangelien  aas  münd- 
licher Tradition  festgestellt  hat9),  sind  in  denselben  im- 
mer aaehr  theils  mythische  Ausschmückungen,  theils  ganee 
Mythen  gefunden  worden  *).  Dagegen  halten  jetat  die 
lÜeten  daa  Johanneische  Evangelium  als  authentisch  und 
damit  nach  als  historisch  saveriftfsig  fest;   nar  wer  mit 


6)  Einleitung  in  das  N.  T.  1,  S.  422  ff.  455  ff 

7)  Besonders  durch  Gissslsr,  Aber  die  Entstehung  und  die 
frühsten  Schicktale  der  schriftlichen  Evangelien. 

8)  S.  den  Anhang  der  ScHULz'schen  Schrift  über  das  Abendmahl, 
and  die  Schriften  von  Smffbrt  und  Schkeckhwbuhobr  Über  den 
Ursprung  Jes  ersten  kanonischen  Evangeliums. 


4B  Einleitung.    $.  10. 

Bketschneider  •)  seine  apostolische  Abfassung  bezweifelt,  ' 
kann  aaeh  in  diesem  Evangelium  dem  mythisehen  file-  ■ 
mente  eine  bedeutende  Stelle  eioriumea.  ■ 

$.    10.  ] 

Der  Begriff  des  Mythus  in  seiner  Anwendung  auf  die  heilige  Ge-  ;i 
schichte  von  den  Theologen  nicht  rein  gefasst. 

Dar .  hiemit  auch  für  die  Ansiebt  von  der  biblischen  \ 
Geschichte  gewonnene  Begriff  des  Mythus  wurde  indessen  i 
noch  geraume  Zeit  weder  selbst  rein  gefafst,  noch  in  ge»  i 
hörigem  Umfang  angewendet. 

Nicht  rein  gefafst.    Mit  der  Unterscheidung  histori-  < 
scher  Mythen   nämlich   von  den  philosophischen  hatte  der 
Begriff  des  Mythus   ein  Merkmal   in   sich  aufgenommen, 
welches  ihn,   so  richtig  an  sich  jene  Unterscheidung  war, 
doch 'leicht  wieder  zu   der  kaum  verlassenen  natürlichen 
Erklärangsweise   hinuntemiehen   konnte.    Auch  bei' m  hi- 
storischen Mythus  entstand  ja  für  den  Kritiker  die  Auf- 
gabe,  ans   der  unhistorischen,    wunderhaften   Ausschmü- 
ckung einen  natürlichen   und  als  geschichtlich  festzuhal- 
tenden Kern  herauszuschälen:    und  durch  den  allerdings 
wesentlichen  Unterschied,  dafs  bei  der  Annahme  eines  hi- 
storischen Mythus  jene  Ausschmückung  nicht,  wie  bei  der 
natürlichen  Erklärungsart ,  aus  dem  Urtheil  der  Betheilig* 
ten  und  der  Erzähler  selbst,  sondern  aus  der  Tradition 
hergeleitet  wurde,  liefs  man  das  Verfahren  nur  wenig  be- 
stimmt werden.    Konnte  dar  Rationalist ,   ohne  seine  t  Me- 
thode wesentlich  zu  verändern,  historische  Mythen  in  der 
Bibel  aufzeigen:    so  war  auch  dem  Supranaturalisten  die 
Annahme  historischer  Mythen,  durch  welche  doch  die  ge- 
schichtliche  Auffassung    der   heiligen   Erzählungen    nicht 
ganz  aufgehoben  wird,  weniger  anstöbig,  als  die  Voraus- 
setzung sogenannter  philosophischer,  bei  welchen  auch  die 


9)  In  den  Probabilien. 


Binleltuag.    f,  lt.  49 

Istafte  historische  Grandlage  au  fallen  scheint    Keift  Wun- 
der daker,  «Ufa  die  Aasleger,  wo  sie  den  mythischen  Ge- 
aeatopanht  in  Anwendung  brachten,    fest  durchaus  nor 
fse  historischen  Mythen  sprachen ;  dafs  Bauer  unter  ei- 
aar  sianalichen  Annahl  von  Mythen,  die  er  ans  dem  N.  T. 
assaaft    macht,    nnr  einen  einaigen  philosophischen  hat; 
md  dala    ein  Gemische  von  mythischer  und  natürlicher 
Uüning  entstand,  welches   noch  widersprechender  ab 
4k  rein  natürliche  Auslegung  war,  deren  Schwierigkeiten 
nan  hatte  entgehen  wollen.    So  glaubte  Bauh1)  die  Er- 
tdtUng   yon  der  Verheißung  Jehora's  an  Abraham  histo« 
rneh  -  mythisch  an  erklären,  wenn  er  als  die  cum  Grande 
fegende  Thatsacbe  die  annahm,    dafs  Abraham  bei  Be- 
ll schlang  des  sternbesäten  Himmels    seine  Hoffnung   auf 
sahlrsiehe  Nachkommenschaft  neubelebt  gefunden  habe;  ein 
Andrer  meinte    den  mythischen  Gesichtspunkt  ancuwen- 
dsn,  wenn  er  von  der  Verkündigung  der  Geburt  des  Täu- 
fers Ewar  alles  Wanderbare  hinwegräumte,  doch  aber  das 
VmsUinmen  des  Zacbarias  als  historische  Grundlage  ste- 
hen lieb*);   ebenso  legt  Krug8),  nachdem  er  kaum  rarst» 
ehert  hatte ,  nicht  die  Materie  der  Geschichte  (natürlich), 
sondern  die  Entstehung  der  Erzählung  (mythisch)   erklä- 
ren an  wollen,  der  Erzählung  von  den  Weisen  aus  Mor* 
fBtümnd  eine  anfällige  Durchreise  orientalischer  Kaufleute 
sum  Grande;  am  schreiendsten  aber  ist  der  Widerspruch, 
wenn  naan  in  einer  Mythologie  des  N.  T.,  wie  die  Bauer'« 
sehe,   ein  solches  Nichtverstehen  dessen,   was  ein  Mythas 
fct,  findet,  daft  s.  B.  bei  den  Eltern  des  Täufers  wirklich 
eine  lange ,    unfruchtbare  Ehe  angenommen ,  die  Engeler- 
ctheiaaiig  bei  Jesu  Geburt  durch  ein  feuriges  Phänomen 


1)  Geschichte  der  hebräischen  Nation,  Thl.  1.  S.  123. 

2)  E.  F.  über  die  zwei  ersten  Kapitel  des  Matthäus  und  Lukas. 
In  Hskkb's  Magazin,  5ten  Bdes.  ltes  Stück.  S.  163. 

3)  In  der  angef.  Abhandlung. 

Da» Lebtn  Jesu  hte  Aufl.  I.Band.  4 


vO  Einleitung.    $.  10. 

erklärt, .  bei  seiner   Taufe    ein   Blitz    and    Donnerschlag,  , 
sammt  .einer  anfällig  übertun  fliegenden  Tanbe ,   vorausge-  , 
setzt,    bei  der  Verklärung  ein  Gewitier  eum  Grande  ge*  , 
legt,  und  die  Engel  im  Grabe  des  Auferstandenen  au  weis-  , 
aen  Leintüchern  gemacht  werden.    'Auch  Kaiser,  weicher, 
über  das  Unnatürliche  so   mancher  natürlichen  Erklärnn» , 
gen  Klage-  führt,  läfs/t  doch  mit  der,  an  sich  nicht  anrieh«  • 
tigeo,  Bemerkung,  es  wäre  einseitig,  alles  Wunderbare  im 
.N.  T.  auf  Eine  und  dieselbe  Weise  zu  erklären ,    die   na* 
.türliche   Auslegung  neben   der   mythischen   in   einem    be-  ( 
denkliohen  Umfange  stehen.     Erkenne  man   nur  an,   dafs 
der  alte  Autor  ein  Wunder  habe  erzählen  wollen,  so   sei 
die  natürliche  Erklärung  oft  gar  wohl  sulfifsig.    Sie   «ei 
bald  eine  physicalisch-historische :    wie  bei  der  Erzählung 
vom  Aussätsigen,   welchem  Jesus  ohne  Zweifel  die  nahe 
Genesung  angesehen   habe;    bald  eine  psychologische:    in- 
dem  bei  manchen  Kranken    der   Ruf  Jesu   und  das   Ver- 
trauen  auf  ihn  das  Meiste  gewirkt  habe;   bald  sei. auch 
.der  Zufall  in  Rechnung  eu  bringen:  indem,  wenn  in  Jesu 
Gegenwart  Scheintodte   von  selbst  wieder  cum  Leben  ka- 
men,  er   als  Ursache   davon  angesehen   worden  sei.    Bei 
andern  Wundergeschichten   übrigens  ist  nach  Kaiser  die 
jnythiscbe  Erklärung  anzuwenden;    nur  dafs  er  auch  hier 
dem  historischen  Mythus  viel  mehr  einräumt,  als  dem  phi- 
losophischen.   Die  meisten  Wunder  des  A.  u.  N.  T.  sind 
nach  Kaiser  wirkliche  Vorfälle,  mythisch  ausgeschmückt, 
wie  die   Ereählung  vom   Stater   im   Fischmaul,  von  der 
Verwandlung   des   Wassers  in    Wein,    welcher  letzteren 
nach  ihm  ursprünglich   wohl    ein  humaner  Sehers  Jean 
cum   Grunde  lag;   Weniges  nur  ist  rein   nach  jüdischen 
Ideen  erdichtet,  wie  Jesu  wundervolle  Geburt,  der  Betbie- 
heinitische  Kindermord  u.  dgi.  ').  . 

Gabler  besonders  machte  auf  den  Mifsgriff  aufmerk* 


4)  Kamir's  biblische  Theologie.  1.  Thl.  S.  194  ff.  (ISIS). 


Einleitung.    J.  10.  *J 

data  man  bisher  manchen  philosophischen  Mythus  als 
lustsrischen  behandelt,  ond  so  Thatsaehen  angenommen 
habe,  welche  niemals  vorgefallen  seien  *).  Zwar  will  er 
nfc  Recht  ebensowenig  lauter  philosophisehe  Mythen  im 
IL  T.  annehmen ,  als  lauter  historische ;  sondern ,  einen 
Mittelweg  einschlagend,  je  nach  Beschaffenheit  des  Inhalts, 
Uli  die  eine«  bald  die  andre  Art.  Man  müsse  sieh  eben- 
«sehr  ror  der  Willkurlichkeit  hüten,  welche  da  blofs 
FlilMopheme  annehme,  wo  wirkliche  Faeta  durchschim* 
■srn,  als  vor  der  entgegengesetzten  Neigung,  Manches 
aaturJieh  und  geschichtlich  au  erklären,  was  doch  nur 
cur  mythischen  Einkleidung  gehöre.  Namentlich,  wenn 
iie  Ableitung  eines  Mythus  aus  einem  Gedanken  sehr 
laicht  und  natürlich  ist.  hingegen  jeder  Versuch,  die  reine 
Thatsaehe  aus  demselben  hervorsusuchen,  und  dadurch  die 
wunderbare  Geschichte  natürlich  au  erklären ,  entweder 
sehr  gekünstelt  ist,  oder  gar  ins  Lächerliche  fällt,  so  ist 
die(s9  nach  Gablsr,  ein  sicherer  Beweis,  dafs  man  hier 
philosophischen,  nicht  einen  historischen  Mythus  su 
hat.  Die  philosophisch- mythische  Deutung,  schliefst 
er,  aal  üherdiefs  in  manchen  Fällen  weit  weniger  anstös- 
eig,  als  die  Behandlung  aus  dem  historisch-mythischen  Ge- 
sichtspunkte ').  —  Bei  dieser  Neigung  Gabler's  sum  phi- 
losophischen Mythus  in  Besng  auf  die  biblische  Gesohichte 
aufs  man  sich  wundern,  wenn  man  sielet,  wie  er  selbst 
£s  concreto  nicht  su  wissen  scheint,  weder  was  ein  histo- 
rischer, noch  was  ein  philosophischer  Mythus  ist.  Wenn 
er  n&ndich  von  den  bisherigen  mythologischen  Erklärern 
das  N.  T.  sagt,  einige  von  ihnen  sehen  in  der  Geschichte 
Jesu  nur  historische  Mythen ,  wie  Dr.  Paulus  ,  andre  lau- 
ter philosophisehe ,   Wie  der  ungenannte  E.  F.  in  Henkb's 


5)  Gablbr's  Journal  für  auserlesene  theol.  Literatur.  2, 1,  S.  46. 

6)  Gabler's  neuestes  theolog,  Journal,   7.  Bd.  S.  83«    vgl.  597 
und  409. 


53  Einleitung.    S«  10. 

Magazin:  so  ist  klar,  dato  er  natürliche  Erklärungen  mit  n 
historisch-mythischer  Auffassung  verwechselt,  denn  in  Paü-  ; 
mjs  Commentar  sind  nur  die  ersteren  eu  finden;  ebenso  ii 
wiederum  historische  Mythen  mit  philosophischen ,  denn  i 
jene  Abhandlung  steht  nach  der  oben  mitgetheilten  Probe  \i 
bo  sehr  nur  auf  dem  historisch -mythischen  Standpunkte,  11 
iah  man  ihre  Erklärungen  sogar  für  natürliche  halten  $ 
könnte.  ii 

In  Besag  auf  die  mosaische  Geschichte  sind  de  Wbt-   a 
tb's  schlagende  Ausfflhrungen  ebenso  gegen  die  Willkür   a 
der  historisch -mythischen,  als  der  natürlichen  Auffassung    4 
der  Erzählungen  gerichtet;   in  Bezug  auf  das  N.  T.  er-    ^ 
klärte  sich  gegen  jeden  Versuch,  in  den  Mythen  desselben    l 
noch  eine  historische  Grundlage  zu  suchen,  am  entschie-    j 
densten  der  Ungenannte  in  Bbrtholdt's  kritischem  Joui>    \ 
nal 7).    Ihm  schien  auch   der  von   Gabler  vorgeschlagene    , 
Mittelweg  zwischen   ausschliefsender  Annahme  von  histo-    , 
rlschen  und  von  philosophischen  Mythen  nicht  anwendbar 
zu  sein,   da  zwar  den  meisten  Nachrichten  des  N.  T.  et- 
was wirklich  Geschehenes  zum  Grunde  liegen  möge,  ohne 
dafs  es  jedoch  jetzt  noch  möglich  wäre,  es  von  der  mythii 
sehen  Beimischung  zu  sondern,   und  zu  entscheiden,    wie 
viel  zu  diesem,   wie  viel  zu  jenem  Bestandtheile    gehöre. 
Ebenso   sprach  Usteri   die  Ansicht   aus,   wie  viel  an  den 
evangelischen   Mythen    geschichtliche   Grundlage    auf   der 
einen,   und  poetische  Symbolik  auf  der  andern  Seite  sei, 
lasse  sich  nicht  mehr  unterscheiden ;  durch  kein  noch  so 
scharfes   kritisches  Messer   lassen  sich  diese   beiden  Ele« 
mente  jetzt  noch  von  einander  sondern ;   höchstens  könne 
es  zu  einer  gewissen  Wahrscheinlichkeit  gebracht  werden, 
daCs  bei  der  einen  Sage  mehr  Historisches  zum  Grunde  liege. 


7)  Ueber  die  verschiedenen  Rücksichten ,  in  welchen  und  für 
welche  der  Biograph  Jcsa  arbeiten  kann.  In  Bbrtholdt's 
krit.  Journal,  5,  S.  235  ff. 


Einleitung.    §.  l(k  M 

mehr  das  Poetische  «ad  Symbolische  vor- 

Nun  hiebe  es  eher  der  Einseitigkeit  derjenigen, 
mit  der  Aussiehang  des  geschichtlichen  Gehsites 
ses  den  mythischen  Erzählungen  der  Schrift  es  allzu 
locht  nehmen ,  offenbar  nur  die  entgegengesetzte  Elnsei* 
ugkeit  gegenübergestellt,  wenn  um  der  erkannten  Schwie- 
rigkeit der  Operation  willen  an  der  Möglichkeit  ihres  Ge- 
legene sm  Jfaraus  verzweifelt,  mitbin  sammtiicbe  in  der 
evangelischen  Geschichte  gefundene  Mythen  wenigstens 
jnseferu  wie  philosophische  behandelt  würden ,  als  jeder 
Versneh,  einen  historischen  Rest  ans  ihnen  an  gewinnen, 
unterbliebe.  Eben  diese  Einseitigkeit  aber  glaubte  man  in 
Kritik  des  Lebens  Jesu  zu  finden :  wefswegen  denn 
Benrtheiler  dieses  Werkes  sich  veranlaßt  fanden, 
wiederholt  auf  die  verschiedenen  Stufen  und  Mischlings» 
rerhfiltnisee  zwischen  dem  Historischen  und  ideellen  auf» 
zu  machen,  in  welchen  der  Mythus  innerhalb 
eigenthümlichen  Gebietes,  der  heidnischen  Religion 
und  Urgeschichte ,  auf  und  absteige ;  eine  Versetzung  mit 
Gencbichtuehem ,  welche  auf  dem  Gebiete  der  christlichen 
Urgeschichte,  den  Zutritt  des  Mythusbegriffs  in  dasselbe 
ab  mdä&ig  vorausgesetzt ,  Jedenfalls  in  noch  weit  stärke- 
rem Grade  stattfinden  müsse.  So  unterscheidet  Ullmann 
zieht  nnr  1)  philosophischen  und  2)  historischen 
Mytiins;  sondern  von  diesem  selbst  wieder,  als  in  wel- 
chem immer  noch  die  freie  Bildung  überwiege,  S)  dje  my- 
thische Gesebiehte,  bei  der  nun  das  historische  Mo- 
ment, wiewohl  immer  noch  in  das  Ideale  hineingebildet, 
das  Uebergewicht  erhatte;  während  wir  4)  bei  der  Ge- 
schichte mit  sagenhaften  Bestandteilen  das 
eigentlich  historische  Gebiet  in  der  Art  betreten,  dafs  sich 
nur  noch  einzelne  Nachklange  aus  dem  mythischen  darin 
vorfinden.  Aach  abgesehen  nun  von  dem  Anstoß  und  der 
Verwirrung,    welche  der  für  ein  ganz  anderes  Religkms- 


54  Einleitung.    §10. 

gebiet  ursprünglich  gestempelte  Ausdruck :  Mythus,  in  sei- 
ner Anwendung  anf  das  christliche  unausbleiblich  mit  sieh 
fahre,  wäre  es  nach  Ullmann,  dem  hierin  unter  Andern 
auch  Br£T6chneider  beistimmt,  sugleich  saohgemäfser,  nur  rfc 
von  evangelischer  Sage  und  von  sagenhaften  Bestand thei*  -p 
len  der  christlichen  Urgeschichte  zu  reden  8).  wtk 

Im  Gegensatae  hiesu  hat  neuestens  George  nicht  nur    <W 
die  Begriffe  von   Mythus  und  Sage  strenger  zu  scheiden,     a 
sondern  auch  den  Evangelien,  statt  des  letztern,  vielmehr     ins 
den  ersteren  anzueignen  gesucht.     Im  Allgemeinen,   kann 
man  sagen,  nennt  er  Mythus  nur  den  bisher  sogenannten 
philosophischen ,  Sage  aber  das ,  was  bis  jetzt  historischer 
Mythus  hiefs;    dabei  aber  hat  er,  indem  er  beide  Begriffe) 
als  Antipodcfh  behandelt,  sie  mit  einer  SchÄrfe  gefafst,  bei 
welcher   wenigstens  der  Begriff  des  Mythus  unstreitig  ge- 
wonnen hat.    Mythus  ist  ihm  die  Bildung  einer  Thatsache 
aus  einer  Idee   heraus:    Sage   umgekehrt  die  Anschauung 
der  Idee  in  und  aus  der  Thatsache.     Ein  Volk,  eine  Reli- 
gionsgemeinschaft,   befindet  sich   in  einem  gewissen   Zu- 
stande,  in  einem  Kreise  von  Einrichtungen,    deren  Geiat 
und  Idee  in   ihm  lebendig  ist.    Es  findet  sieb  getrieben, 
das  Bewtifatsein   seiner   Zustände   durch    die  Vorstellung 
von   ihrem   Ursprünge  zu    vervollständigen.     Aber  dieser 
Ursprung  liegt  im  Dunkel  der  Vergangenheit,  oder  genügt 
durch  seine  Unscheinbarkeit   der  Fülle  der  gegenwärtigen 
Empfindung  und   Idee   nicht.    Daher  wirft  sich  nun  von. 
dem  Lichte   dieser  Idee  aus  auf  die  dunkle  Wand  der 
Vergangenheit   ein  farbiges  Bild   jener  Ursachen    hinan*, 
welches  jedoch  nur  ein  vergröfserter  Reflex  der  gegenwäiv 


8)  Ullmawn,  Recens.  meines  L.  J.,  in  den  theol.  Studien  u.  Kri- 
tiken, 1836,  3,  S.  783  ff.  Vergl.  Müllir's  Recension,  ebenda« 
selbst,  S.  839 ff.;  Tholuck,  Glaubwürdigkeit,  S.  54 ff.;  Brkt- 
schkbidir,  Erklärung  über  die  mythische  Auffassung  des  hi- 
storischen Christus,  Allg.  HZtg.  Juli  18$7,  S«  860  f. 


Einleitung.    $.  10.  *5 

tigea  Wirkungen   ist.    Ist  diefs  die  Entstehung  des  My- 
thos:  so   sind   umgekehrt  der   Sage  die  Thatsaeben  — 
ssr  etwa  in  hie  ond  da  lückenhafter  und  verkarste*,  oder 
«seh  susr  Verherrlichung  der  Helden  in  vergrößerter  6e* 
stak   —   gegeben ;   aber  die  Gesichtspunkte ,   aus  welchen 
ee  Thatsachen  auf anfassen  sind,  die  Ideen,  die  ursprflng- 
I»  in  deusetben  lagen,   sind  in  der  Ueberlieferang  vei- 
«awsmden.    Daher  werden  nnn  neue  Ideen,   ans  dem  je» 
»alligen  Geiste  der  Zeiten,   durch   welche  die  Sage  bin- 
asrehgeht ,  untergelegt ;   wie  s.  B.  die  nachmosalsohe  Pe- 
nsdef  das  jüdischen  Volks,   deren  Idee  in  der  Thal  das 
sMasahlige  siehHinanheben  sunt  reinen  Monotheismus  nad  sor 
Taeekratie  war,  in  der  späteren  Sege  anter  den  entgegen* 
geseesten  Gesichtspunkt  eines  Abfalls  von  der  mosaisebea 
Reugioesrerfassung  gestellt   worden   ist.    Sofern   es  nicht 
fehJea  kann,    dafs    von    einer   so   unhistorischen  Idee   aus 
sieht  sofort   auch  die  überlieferten  Thatsachen  hie  und  da 
—gestaltet,  Lücken  ausgefällt,  bedeutsame  Züge  hinsuge- 
seist  werden  sollten :   so  tritt  hiemit  an  der  Sage  der  My- 
thos wieder  hervor;  sowie,  indem  andrerseits  der  Mythus 
sich  in  dar  Ueberlieferang  fortpflanzt,  und  dadurch  theils 
unbestimmt  and  lückenhaft,  theils  in  einseinen  Zügen,  wie 
b*  ß.  Zahlen,  abertrieben  wird,  der  Mythus  dem  Einflüsse 
der  Sage  verfällt,   —  nnd  so  beide,   in  ihrem  Ursprünge 
wesentlich  verschiedene  Bildungen  sich   krausen  und  mi- 
schen«   Sofern  nan  aber,   wenn  aus  dem  lebendigen  Ein- 
snicke, der  ursprünglichen  Idee  heraus ,    welche  die  erste 
fesselnde  von  ihrem  Stifter  hatte,  dessen  Lebensgeschichte 
siythisch  sich  gebildet  bat,  diese,  obwohl  in  unhistorischer 
Form,  doch  den  wahren  Inhalt  der  Idee  von  Christo  dar- 
stellt;   wenn   hingegen  die  aufserlich  wahren  Thatsachen 
sagenhaft   nicht   nur  verwaschen    und  hie  und  da  vergrös- 
sert,  sondern  auch  in  ein  falsches  Licht  gestellt,  mit  einer 
bischen  Idee  erfällt  wären ,    dann   umgekehrt   der  wahre 
Gehalt  des  Lebens  Jesu  für  uns  verloren  sein  wirde :  so  ist  es 


96  Einleitung,    ft.  IL 

nach  George  für  den  christlichen  Glauben  weit  unver- 
fänglicher, in  den  Evangelien  mythische,  als  sagenhafte 
Bestandtheile  anzuerkennen  *). 

Wir  unsererseits,  am  die  dogmatische  Beziehung  hier 
noch  unbekümmert ,  bleiben  für  jetst ,  in  der  Einleitung 
einfach  darauf  gefafst,  in  der  evangelischen  Geschichte 
möglicherweise  sowohl  mythische  als  sagenhafte  Bestand- 
theile  anzutreffen,  und  nehmen  uns  gleicherweise  Beides 
vor,  in  der  Ausziehung  des  etwanigen  gescbichtlkben  Ge- 
haltes aus  den  für  mythisch  erkannten  Erzählungen  weder 
durch  rohes  und  mechanisches  Abtheilen  uns  auf  gleichen 
Boden  mit  den  natürlichen  Erklärern  zu  begeben,  noch 
durch  Verkennung  jenes  Gehaltes,  wo  er  sich  neigt,  die 
Geschichte  hyperkritisch  aufzulösen. 

$.     11. 

Der  Begriff  des  Mythus  nicht  umfassend  genug  angewendet. 

Aber  nicht  nur  unrichtig  gefafst  wurde  der  Begriff 
des  Mythus  bei  seinem  ersten  Aufkommen  unter  den  Theo- 
logen, 'sondern  auch  auf  die  biblische  Geschichte  nicht 
umfassend  genug  angewendet. 

Wie  Eichhorn  nur  an  der  allerersten  Schwelle  der 
A.  T.  liehen  Urgeschichte  einen  wirklichen  Mythus  aner- 
kannte, alles  Folgende  aber  als  historisch  auf  natürliche 
Weise  erklären  zu  müssen  glaubte;  wie  man  hierauf  eine 
Zeit  lang  zwar  im  A.  T.  mythische  Bestandteile  zugab, 
aber  im  N.  T.  an  nichts  dergleichen  denken  mochte:  so 
mußte,  einmal  in  das  N.  T.  zugelassen,  der  Mythus  auch 
hier  wieder  lange  an  dessen  erster  Schwelle,  der  Kind* 
heitsgeschiohte  Jesu,  stehen  bleiben,  und  jeder  weitere 
Schritt  wurde  ihm  streitig  gemacht.    Ammon  ,   der  unge- 


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9)  Gxorcjs,  Mythus  und  Sage;  Versuch  einer  wissenschaftlichen 
Entwicklung  dieser  Begriffe  und  ihres  Verhältnisses  zum  christ- 
lichen Glauben.  S.  11  ff.  108  ff. 


Einleitung.    $.  11.  91 

B.  F.  in  Henkb's  Magazin ,  Ustbri  und  Andere  *)> 
hten  einen  bedeutenden  Unterschied  geltend  zwischen 
historischen  Werthe  der  Nachrichten  von  Jean  öffent- 
lichem Leben  and  von  seiner  Kindheit.  Die  Geschiente 
dar  lästeren  könne  .  unmöglich  gleichseitig  geschrieben 
nie,  da  damals  noch  Niemand  so  sehr  auf  Jesum  gesch» 
tat  habe  ;  ebensowenig  in  seinen  drei  letzten  Lebensjahren, 
«eil  sie  nicht  den  kämpfenden  und  leidenden,  sondern  den 
fernen  liebten  Jesus  im  Sinne  habe :  also  könne  ihre  Abfassung 
in  die  Tage  nach  seiner  Auferstehung  fallen.  Damals 
liefsen  sieh  keine  sichern  Nachrichten  mehr  über  die 
Kindhnit  Jesu  einsiehen:  denn  die  Apostel  waren  nicht 
selbst  Genossen  derselben  gewesen;  Joseph  lebte  wahr- 
scheinlich nicht  mehr;*  der  Maria,  wenn  sie  nm  die  Zeit 
der  Abfassung  unseres  ersten  und  dritten  Evangeliums 
•och  am  Leben  war,  hatten  sich  doch  indessen  manche 
Osjstinde  in  der  Erinnerung  herrlicher  ausgemalt,  und 
wwrden  noch  mehr  von  denen,  welche  ihre  Er&ftbiungen 
vernahmen,  nach  ihren  Messiasbegriffen  verherrlicht ;  Man« 
eben  bildete  sieh  auch  ohne  historische  Nachrichten  ■  nach 
Zeltbegriffen  und  A.  T.  liehen  Orakeln  (wie  von  der 
eehwanger  werdenden  Jungfrau)  aus«  Durch  alles  dieses 
aber  §oü  nach  jenen  Verfassern  die  Glaubwürdigkeit  der 
Evangelisten  bei  der  folgenden  Geschichte  des  Lebens  Jesu 
nicht  das  Mindeste  verlieren«  Ihr  Zweck  und  ihre  Auf- 
gabe war  blofs,  eine  sichere  Geschichte  der  drei  letnten 
Lebensjahre  Jesu  su  geben,  und  in  dieser  verdienen  sie 
allen  Glauben ,  weil  sie  theils  selbst  gegenwärtig  gewesen 
waren,  theils,  was  sie  schrieben,  aus  dem  Munde  anderer 


1)  S.  Ahmon's,  §.  8.  Anm.  8.  angeführtes  Programm.  Aehnlicfr 
Hass,  Leben  Jesu,  §.  32.  (2te  Aufl.)?  Tuoujcx,  S.  208ff.u, 
Kumt,  die  Ha  uptthat  Sachen  der  evangelischen  Geschichte,  er- 
ster Artikel ,  Tübinger  Zeitschrift  für  Theologie  >  1836 ,  2, 
S.39. 


58  Einleitung.     §.  IL 


2),S.  bei  Küihöl,  Frolegom.  in  Matthaeum,  §.3.  in  Lucam  §.  6. 

3)  z.  B.  Ahmon,  in  der  Diss. :   Ascensus  J.  C.  in  coeluui  histo- 
ria  biblica,  in  seinen  Opuac.  nov. 

4)  In  Bxrthoidt's  krit.  Journ.  5.  Bd.  S.  248. 

5)  Gablbr's  neuestes  theol.  Journal,  Bd.  7.  S.  395. 

6)  Encyclopädie  der  theol.  Wissenschaften,  S.  161. 


bi 


i  i 


glaubwürdiger  Zeagen  wissen  konnten.  —    Diese.  Gränzii- 
nie   «wischen  der  Glaubwürdigkeit   der  evangelischen  (Je-      •* 
schichte   des  öffentlichen  Lebens  Jesu   und  der   Fabelhaf-      f* 
tigkeit  seiner  Jugendgeschichte  wurde  dadurch  noch  schär-     *? 
fer  gesogen ,   dafs  manche  Theologen  geneigt  waren ,   die 
beiden  ersten  Kapitel  des  Matthäus  und  Lukas,  welche  die 
Jugendgeschichte  enthalten ,   als  unächt  und   spätere  Zu-      ■! 
sfitze  eu  verwerfen  2).  !' 

Wie  den  ersten  Anfang,  so  fafsten  aber  bald  einige  k 
Theologen  auch  das  letzte  Ende  der  Lebensgeschichte  Jesu,  ? 
seine  Himmelfahrt ,  mythisch  auf s)  :  so  dafs  dieselbe  nuti  11 
an  ihren  beiden  äufsersten  Rändern  von  kritischen  Zwei-  | 
fein  angefressen  wurde,  während  ihr  eigentlicher  Kern,  i 
die  Periode  von  der  Taufe  bis  cur  Auferstehung ,  immer 
noch  unangetastet  bleiben  sollte;  oder  dafs  man,  wie  ein 
Recensent  von  Greiling's  Leben  Jesu  sich  ausdrückt, 
durch  das  Prachttbor  der  Mythe  in  die  evangelische  Ge- 
schichte hinein,  und  durch  ein  ähnliches  wieder  hinaus- 
fuhr4), für  das  Dazwischenliegende  aber  mit  den  krum- 
men und  mühseligen  Pfaden  der  natürlichen  Erklärung 
sich  begnügte* 

Etwas  mehr  erweitert  findet  sich  die  Anwendung  des 
mythischen  Gesichtspunktes  bei  Gabler  *),  mit  dem  neuer- 
lich wieder  Rosbhkranz6)  übereinstimmt,  wenn  er  den 
Unterschied  zwischen  Wundern,  die  Jesus  that,  und  sol- 
chen, die  an  ihm  vorgingen,,  in  der  Art  geltend  macht, 
dafs  zwar  die  letzteren  mythisch,  die  ersteren  aber  natür- 
lich   erklärt    werden    sollen.      Gleich    nachher     übrigens 


Einleitung.    §.  11.  M 

spricht  Gabler  wieder  so,   ak  ob   er   mit   den  oben  er- 
wähnten Theologen   bloß  die  Wnnder   aus    der  Kindheit 
Jen    mythisch  au  Assen   gesonnen  wäre;    was  eine  Be- 
schränkung des  vorigen  Gesichtspunktes  ist,    da  zwar  alle 
Eiedheitswunder  in  nnsern  Evangelien  an  ihm  vorgegan- 
gene Glicht  von  ihm  gethane)  sind,  dergleichen  aber  auch 
■  seinem  folgenden  Leben  manche  vorkommen.    Ungefähr 
steh  der  GABLsa'sohen  Unterscheidung  von  Wundern  Jesu 
md  an  Jean   scheint   auch  Bauer   in   seiner   hebräischen 
Mythologie  die  Auswahl  dessen  eingerichtet  au  haben,  was 
er  im  H.  T.  mythisch  fassen  «u  dürfen  glaubte,   indem  er 
nur  die  übernatürliche  Empffcngnifs  Jesu  nebst  den  aus- 
serordentlichen Umständen  bei  seiner  Geburt,  die  Scene  bei 
der  Taufe,  die  Verklärung,  den  Engel  in  Gethsemane  und 
die  am  Grabe  mythisch  behandelte;  was  «war  Wunderge- 
schiehten  aus  allen  Theilen  des  Lebens  Jesu,     aber  nur 
selche  sind,  die  an  Jesu  vorgingen,  nicht  von  ihm  verrich- 
tet wurden,  obgleich  auch  jene  nicht  vollständig. 

Kine  in  solcher  Weise  sich  beschränkende  Anwendung 
des  Mythusbegriffs  auf  die  Lebensgeschichte  Jesu  hat  der 
schon  mehrmals  angeführte  Verfasser  der  Abhandlung  über 
die  verschiedenen  Rücksichten,  in  welchen  der  Biograph 
Jesu  arbeiten  kann ,  als  unzulänglich  und  folgewidrig  dar- 
msateifen  sich  bemüht.  Der  gemischte  Gesichtspunkt,  auf 
welchem  die  evangelische  Erzählung  «um  Theil  als  reine 
Gesehiehte,  zum  Theil  als  mythisch  betrachtet  wird,  ver- 
dankt nach  ihm  seinen  Ursprung  solchen  Theologen, 
welche  die  Geschichte  nicht  aufgeben,  und  doch  auch  bei 
ihren  klaren  Resultaten  sich  nicht  beruhigen  mögen,  und 
auf  diesem  Mittelwege  beide  Partelen  vereinigen  zu  können 
meinen :  ein  eitles  Bemühen,  welches  der  strenge  Suprana« 
tumlist  verketzern,  der  Rationalist  verlachen  wird.  Indem 
diene  Vermittler,  bemerkt  der  Verf.,  gerne  begreiflich  ma- 
chen möchten,  was  nur  irgend  möglich  ist,  so  sieben  sie 
steh  alle  die  Vorwürfe  «u,  die  man  der  natürlichen  Erklä- 


4 


M  Einleitung.    $.  11. 

rang  mit  Recht  macht;  indem  sie  aber  auch  noch  der 
Mythe  Raum  geben,  so  trifft  sie  die  Klage  über  Inconse- 
quens  mit  aller  ihrer  Schwere,  der  schlimmste  Vorwurf, 
der  einem  Gelehrten  gemacht  werden  kann*  Ueberdiefs 
sei  das  Verfahren  dieser  Eklektiker  das  allerwillkürlichste, 
da  sie  .meist  nach  subjectiven  Gründen  entscheiden ,  was 
der  Geschichte,  und  was  der  Mythe  angehören  solle;  we- 
nigstens wissen  die  Evangelisten,  die  Logik  und  die  ihr 
angehörige  historische  Kritik  nichts  von  solchen  Unter* 
Scheidungen 7).  Demzufolge  wendet  diese  Abhandlung  den 
Begriff  des  Mythus  auf  den  gansen  Umfang  der  Lebens« 
geschiente  Jesu  an ,  weist  in  allen  Theilen  derselben  my- 
thische Ersählungen  oder  wenigstens  Ausschmückungen 
nach,  und  stellt  nicht  blofs  die  Wunderersählungen  aas 
der  Kindheit  Jesu ,  sondern  auch  die  aus  seinem  öffentli- 
chen Leben ,  und  nicht  blofs  die  an  ihm  vorgegangenen, 
sondern  auch  die  von  ihm  verrichteten  Wunder  unter  die 
Kategorie  des  Mythischen. 

Die  ausgedehnteste  Anwendung  des  Begriffs  von  phi- 
losophischem oder  dogmatischem  Mythus  auf  das  Leben 
Jesu  war  sohon  1799  in  der  anonymen  Schrift  über  Offen- 
barung und  Mythologie  gemacht  worden.  Das  ganse  Le- 
ben Christi,  heilst  es  hier,  was  er  im  Allgemeinen  thon 
sollte  und  wollte,  war  lange  vorher  in  der  Idee  und  An«* 
sohauung  der  Juden  abgezeichnet.  Jesus  als  Individuuni 
war  nicht  so  da,  lebte  nicht  wirklich  so,  wie  er  nach  den 
Erwartungen  jenes  Volkes  gelebt  haben  sollte.  Nicht  ein- 
mal das,  worin  alle  Annalen,  die  seine  Thaten  berichten» 
Übereinstimmen,  ist  durchaus  wirkliche  Thatsache»  Aus 
verschiedenen  Volksbeiträgen  bildete  sich  eine  Volksstimme 
von  seinem  Leben,  und  nach  dieser  erst  sind  die  Evange- 
lien gemacht ').    Freilich  bemerkte  dagegen  ein  Recensent, 

7)  t.  t.  O.  S.  243  f. 

8)  S.  103  f. 


Binlettttvg.    f.  11.  61 

Verfasser  scheine  doch  weniger  Historisches  ejRumtoh* 
■es,  als  den  Erzählungen  wirklich  mm  Grande  liege; 
er  hätte  besser  gethan ,  sieh  durch  nüchterne  Kritik  des 
Kaselnen,  ab  dnrch  einen  allgemeinen  Skepticismus,  leiten 
sa  lasaen  9). 

In  der  That  begegnen  wir  hier  einem  ähnliche«  De> 
Wrmaise  in  der  Anwendung  des  Mythosbegriffs,  wie  wir 
eben  bei  der  Fassung  dieses  Begriffs  mietet  ein  solches  fanden« 
Wie  es  dort  an  viel  war,  in  den  Mythen  des  N.  T.  durch« 
ans  aerf  jede  geschichtliche  Grundlage  au  Vorsichten:  so 
wird  hier  an  weit  gegangen,  wenn  awischen  der  Kind* 
beüsgeschichte  Jesu  und  der  seines  öffentlichen  Lebens 
jeder  Unterschied  in  Beaug  anf  die  Denkbarkeit  von  My« 
tbem  in  denselben  geliugnet  wird.  Siebt  man  auf  die  ttnst 
eere  Möglichkeit,  so  haben  swar  diejenigen ,  weiche  die 
Entstehung  dar  Evangelien  so  nahe  als  möglich  anm  Tode 
Jesu  hinaufrfickeiL,  und  die  Verfasser  derselben  in  mögt 
liehst  unmittelbare  Berührung  mit  den  Hauptpersonen  die* 
ter  Geschichte,  auch  mit  der  Familie  Jesu,  setsen  —  diese 
swar  haben  an  einer  solchen  Unterscheidung,  streng  ge- 
nommen, kein  Recht.  Man  sehe  nur,  wie  Thomtck.  sich 
verwirrt,  indem  er  ausfährt,  von  den  Havptaengen  der 
Kindheit  Jesu  sei,  als  Lukas  mit  Paulus  in  Jerusalem  und 
Cftsarea  sieh  aufgehalten  und  sein  Evangelium  geschrieben 
habe  >  Joseph  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  längst  todi 
gewesen,  und  mildsten  wir  dasselbe  auch  von  Maria  an« 
nehmen,  setat  er  hinzu,  so  blieben  nur  mittelbare  Quellen 
übrig  ,0).  Nun  hat  aber  derselbe  Verfasser  weiter  oben 
rielmehr  wahrscheinlich  au  machen  gesucht,  daft  Maria 
damals  noch  am  Leben ,  und  für  Lukas  —  noch '  mehr 
ohnehin  ffir  Matthäus  —  au  sprechen  gewesen  ">  9  mitbin 

9)  In  Gabler' s   neuestem   theolog.  Journal,    Bd.  6.   4tea  Stück« 
S.  550. 

10)  Tholuck,  S.  208  f. 

11)  Ebendas.  S.  1521 


64  Einleitung.    J.  IS. 

feestrettung  der  mythischen  Ansicht  von  der  evangelischen  ib  ' 

Geschichte.  :$ir  ! 

Durch    den    im   Bisherigen    dargelegten    mythischen  ' 

Gesichtspunkt   für  die  biblische  Geschichte  hatte  man  sich  lm ' 

der  alten  allegorischen  Auslegung  wieder  genähert    Denn  ** 

während  die  natürliche  Erklfirungsweise  der  Rationalisten  ** 

sammt  der   schmähenden   der  Naturalisten  der  Richtung  *toi 

angehört,  welche  mit  Aufopferung  des  göttlichen  Gehaltes  ■■' 

der  heiligen  Geschichte  die  leere  historische  Form  dersel-  ■^ 

ben  festhält:    so  geht  die  mythische  wie  die  allegorische  *■! 

darauf  aus,   lieber  umgekehrt  mit  Aufopferung  der  histo-  p'i 

rischen  Wirklichkeit   des  Erzählten   eine  absolute   Wahr-  *l 

heit  festzuhalten.    Mach   der  den  beiden  letzteren  Erkiä-  ** 

rungsarten  (wie  auch  der  moralischen)   zum  Grunde  lie-  tu 

genden  Ansicht  gibt   der  Geschichtschreiber  «war  etwas  * 

scheinbar  Geschichtliches:    aber   ihm   bewufst  oder  anbe-  Wi 

wufst  *)  hat  ein  höherer  Geist  dieses  Historische  als  blofse  *j 

Hülle  eines  Ideellen,  einer  religiösen  Vorstellung,  suberei-  ^i 
tet,   und  nur  der  wesentliche  Unterschied  findet  zwischen 
den  euletzt  angeführten  Erklärungsweisen  statt,  dafs  nach 
der  allegorischen  dieser  höhere  Geist  unmittelbar  der  gött- 
liche selbst,    nach   der  mythischen  der  Geist  eines  Volks 

oder  einer  Gemeinde  (nach  der  moralischen  in  der  Regel  -i 

der  des  auslegenden  Subjectes)  ist,   und  somit  die  Erzfih-  i 


ii 


1)  Nach  Philo  hat  Moses  seihst  den  tieferen  Sinn  seiner  Schrif- 
ten beabsichtigt,  s.  GfäÖrer,  1,  S.  94.;  auch  nach  Ori&znks 
Comm.  in  Joann.  Tom.  6,  §.  2.  Tom.  10,  f.  4. ,  hat  der  Pro-  ii 

phet  und  Evangelist  ein   gewisses  Bewusttsein   des  "tieferen  ,, 

Sinns  seiner  Worte  und  Erzählungen :  der  mythischen  An- 
sicht zufolge  wird  sich  der  Berichterstatter  der  in  seiner  Er- 
zählung verkörperten  Idee  nicht  rein  als  solcher,  sondern 
nur  in  der  Form  jener  Erzählung  bewusst.  Das  Nähere 
hierüber  unten,  §.  14. 


Einleitung.    5.  12.  ftft 

long  nach  dar  enteren  Ansieht  an«  übernatürlicher  Ringe- 
bang  »ich  herschreibt ,  nach  der  andern  auf  dem  natürli- 
Wege  der  Sagenbildung  eich  entwickelt  hat;  womit 
diefs  uusammenhängt,  dafs  die  allegorische  Auslegung 
(und  die  moralische)  mit  der  ungebundensten  Willkür  je- 
den Gedanken ,  den  sie  för  gotteswürdig  (moralisch)  hält, 
esr  Geschichte  als  Inhalt  unterschieben  kann:  wogegen  die 
nyddsche  durch  die  Rücksicht  auf  die  Angemessenheit  an 
im  Geint  and  die  Vorstellungsweise  eines  Volks  und  einer 
2att  in  Aufsuchung  der  den  Erzählungen  cum  Grunde  lie- 
genden Ideen  gebunden  ist. 

Gegen  diese  neue  Ansicht  von  der  heiligen  Geschichte 
sprachen  sich  übrigens  beide  Parteien,  Orthodoxe,  wie 
Rationalisten,  ans.  Gleich  Anfangs,  so  lange  die  mythische 
Asffusang  noch  innerhalb  der  Grinsen  der  A.  T.Üehen 
Urgeschichte  stand,  hat  sich  von  ersterer  Seite  nament- 
lich Hess  gegen  dieselbe  geäufsert  *)•  So  unglaublich  man 
es  linden  mag,  so  läuft  doch  der  ganne  Inhalt  seiner  mein* 
lieh  umfangreichen  Abhandlung  auf  die  drei  Schlüsse  hin- 
aus ,  welche  jede  weitere  Bemerkung  überflüssig  machen , 
anfaer  der,  dafs  Hess  keineswegs  der  letste  Orthodoxe 
war,  welcher  die  mythische  Brklärungsart  durch  solche 
Waffen  bekämpfen  nu  können  meinte.  1)  Mythen  sind 
uneigentlich  nu  verstehen;  nun  wollen  aber  die  biblischen 
Geschicbtschreiber  eigentlich  verstanden  sein:  folglich  er- 
nihlen  sie  keine  Mythen«  2)  Mythologie  ist  etwas  Heid- 
nisches ;  die  Bibel  ist  ein  christliches  Buch :  also  enthalt 
sie  keine  Mythologie.  Der  dritte  Schlufs  ist  verwickelter, 
und,  wie  sich  unten  Beigen  wird,  auch  mehrsagend:  Wenn 
Usus  in  den  ältesten  biblischen  Büchern,  die  weniger  bi- 
stariseh  verbürgt  sind,    Wunderbares   vorkäme,    in  den 


2)  Gränzbestimmong  dessen,  was  in  der  Bibel  Mythus  u.  s.  f., 
und  was   wirkliche  Geschichte  ist.    In   seiner  Bibliothek  der 
heiligen  Geschichte,  2.  Bd.  S.  155  ff. 
Das  Leben  Jesu  tfe  Au  ff.  L  Band-  5 


-ü~ 


66  Einleitung.    9.  1*. 

späteren  aber  nickt  mehr,  so  könnte  man  das  Wunde»* 
bare  fittr  ein  Kennzeichen  des  Mythischen  halten;  nun  aber 
kommt  daa  Wunderbare  in  den  späteren,  unleugbar  histo- 
rischen Büchern  noch  ebenso  vor,  wie  in  den  frohsten: 
folglich  kann  es  nicht  als  ein  Kriterium  des  Mythischen 
gelten«  Selbst  die  scheelste  natürliche  Erklärung,  wenn 
sie  nur  qoch  etwas  von  Geschichte  stehen  liefe ,  mochte  sie 
euch  jeden  höheren  Inhalt  derselben  vernichten  *  war  die- 
sen Orthodoxen  noch  lieber,  als  die  mythische  Auslegung. 
Das  Schlechteste  von  natürlicher  Deutung  ist  doch  gewifs 
jene  EiCHHORN'sche  Ansicht  von  dem  Baume  der  Erkennt- 
nifs  als  einem  Giftbaume,  indem  hier  die  Erzählung  vom 
Sundenfall  in  dem  Stande  der  tiefsten  Erniedrigung  und 
Entäufserung  von  ihrem  absoluten  Gehalte  erscheint ;  wo- 
gegen desselben  Gelehrten  spätere  mythische  Erklärung  der 
Erzählung  einen  immerhin  würdigen  Gedankeninhalt  in 
derselben  findet  *)•  Dennoch  erklärte  sich  Hess  mit  der 
ersteren  Deutung  weit  mehr  zufrieden,  und  nahm  sie  ge- 
gen die  spätere,  mythische,  in  Schurz*):  —  so  gewifs  ist 
es,  daüa  einem  solchen  Supranaturaliemus  nach  der  Weiss 
der  Kinder  die  farbige  historische  Hülse,  auch  ausgeleiert 
von  jedem  göttlichen  Gehalte ,  doch  immer  noch  weit  lie- 
ber ist,  als  der  reichste  Inhalt,  welchem  man  jenen  bun- 
ten Rock  ausgezogen« 

Später  war  e«  namentlich  dz  W&ttz's  kühne  Durch* 
führung  des  mythischen  Standpunkts  durch  die  mosaischen' 
Bücher,  sein  entschiedenes  Siehlossagen  von  der  Halbheit 
der  sogenannten  historisch -mythischen,  in  der  That  aber 
natürlichen,  Auffassung,  sein  strenges  Verzichtleisten  auf 
jeden  sichern  geschichtlichen  Rest  in  diesen  Erzählungen-* 
was  vielfachen  Widerspruch  hervorrief  6>    Während  die 


5)  s.  e.  §.  6. 

4)  Bibl.  d.  h.  G.  2,  S.  251  f. 

5)  Namentlich  in  den  Schriften :  Mificii,  Apologie  der  geschieht- 


Einleitung.     $.  lt.  K7 

9 

Buna,  wie  Snumu,  die  mythiach*  Auffassong  biblischer 
Erzählungen  überhaupt  verwarfen,  und  auf  Fetthaltung  der 
strenggeechiehtlichen ,  und  zwar  im  aupranaturalistischen 
Sinne,  drangen  •):  wollten  Andere,  wie  Meter,  ven  DK 
Wim  nor  wenigstens  wieder  bis  au  Vater  eingelenkt 
tisn,  dar  doch  noch  den  Versuch  offen  gelassen  habe, 
sanier  mythischen  Einkleidung  eineeine,  wenn  gleich  nur 
vaenuheinliehe,  historische  Data  eu  gewionen.  Wenn  dae 
Saniarbare,  Irrationale  mancher  Geschichten ,  auf  deren 
Mtehtang  wohl  Niemand  verfallen  sein  würde;  die  Un- 
gKenanaTeigheit  and  LflckeohafMgfceit  der  Enfihlung  und 
•ädere  Gründe,  eine  geschichtliche  Grundlage  des  Penta- 
tenehs  nieht  verkennen  lassen :  so  müssen  aueb  bescheidene 
und  behutsame  Versuche  erlaubt  sein ,  diese  Grundlage  für 
den  emselnen  Fall  wenigstens  annähernd  auscumitteln. 
Für  dem  Rückfalle  in  die  Ungereimtheit  natärlioher  ErklfcV 
rar  werdm  hiebei,  wie  Meyer  hofft,  den  historischen  My- 
thiknr  folgende  Vorsichtsmafsregeln  bewahren;  die  aber 
vielmehr  anfs  Heue  zeigen,  wie  schwer  dieser  Rückfall  au 
vermeiden  ist.  1)  Man  sondere  ab,  wasN  sich  als  Charakter 
mythischer  Darstellung  im  Gegensätze  von  historischer  zum 
Vornan  neigt:  das  Außerordentliche,  Wunderbare,  die 
nunitteioare  göttliche  Einwirkung,  auch  die  religiöse  Te* 
lesiogie  des  Emaille».  2)  Man  gehe  vom  Einfacheren  cum 
Verwinkelteren  fort :  man  lege  einen  Fall  «um  Grunde,  wo 

liehen  Auffassung  der  historischen  Bücher  des  AT.,  beson- 
der« des  Pentateachs,  im  Gegensatz  gegen  die  Mos  mythische 
Deutung  des  letztem;  Fsitzschs,  Prüfung  der  Gründe,  mit 
welchen  neuerlich  die  Aechtheit  der  Bücher  Mosis  bestritten 
«erden  ist;  Ksels,  vorurtheilsfreie  Würdigung  der  mosai- 
schem Schriften ;  vergl.  die  Recensionen  von  Stzudbl,  in  Bau« 
«CL'fl  Archiv,  *,  i,  S.  113  ff.  228  ff.  244  ff. 
6)  Mit  Gründen  und  Auskünften,  von  weichen  ich  in  ^neinen 
Streitschriften,  1,  I,  S.  4  f.  30  f.  70.  77.  83-87.,  auch  102  — 
114.,  Frohen  gegeben  Bähe» 


09  Einleitung,    f.  11. 

dieselbe  Thatsaehe  doppelt  erzählt,  und  «wer  in  dem  ei- 
nen Berichte  wunderhaft,  im  andern  natürlich  dargestellt 
ist;  wie  die  Auswahl  der  Aeltesten  dnrch  Moses  4.  Mos. 
11,  16  f.  als  Eingebung  Jehova's,  2.  Mos.  18,  14  ff.  als 
Rath  des  Jethro  gegeben  wird.  Nach  diesem  Maßstäbe 
ziehe  man  sofort  von  den  bekannten  Entschlüssen  des 
Noah,  Abraham,  Moses  u.  A. ,  gleichfalls  die  göttliche 
Anregung  ab  (ein  Verfahren,  welches  der  oben  angeführte 
Tadel  de  Wette's  in  vollem  Mafse  'trifft).  3)  Die  Bona 
Grunde  liegende  Thatsaehe  werde  möglichst  einfach  uad 
allgemein,  ohne  Bestimmung  der  Nebenumstände,  gefafst 
(auch  das  ist  sehen  zu  viel,  wo  gar  keine  Thatsaehe  sum 
Grunde  liegt).  Z,  B.  die  Erzählung  von  der  Sflndfluth  re- 
ducire  man  so:  „Bei  einer  grofsen  Ueberschwemmung  io 
Vorderasien  kamen  viele,  der  Sage  nach  böse  (hiebei  schon 
die  Teleologie  nicht  abgezogen),  Menschen  um;  Noah,  der 
Vater  Sem'*,  ein  gottseliger  Mann  (wie  oben!)  rettete  sieh 
schwimmend".  Die  •  näheren  Umstände  dieser  Rettang 
aber,  die  Beschaffenheit  des  etwaigen  Fahrzeugs  u.  s.  f. 
unterlasse  man  au  bestimmen,  um  nicht  in  WillkärÜcb- 
keiten  au  verfallen«  Ebenso  in  Bezug  auf  die  Gebart 
Isaak's  begnüge  man  sich,  zu  sagen:  »Der  Wunsch  und 
die  Hoffnung  des  begüterten  und  religiösen  Emir's,  Abra- 
ham, von  seiner  Ehefrau,  Sara,  noch  einen  'Leibeserben 
zu  sehen ,  ging  ungewöhnlich  und  för  Andere  unerwaxv 
tet  spät  in  Erfüllung"  (wogegen  wiederum  de  WETTn'a 
Einwendungen  vollkommen  gelten). 

In  ähnlicher  Weise,  nur  noch  ausschließender,  er- 
klärte sich  auch  Eichhorn  in  seiner  Einleitung  in  das  A.  T. 
gegen  den  Standpunkt  von  de  Wette.  So  unangenehm 
es  nämlich  den  Orthodoxen  war,  durch  die  aufkommende 
mythische  Erklärungsweise  in  ihrem  historischen  Glauben 
gestört  zu  werden:  so  waren  doch  die  Rationalisten  nicht 
minder  ungehalten,  dafs  das  verschlungene  Gewebe  ihres 
Pragmatismus  durch  dieselbe  zerrissen,    und  die   Kunst- 


Einleitung.    §.  12.  69 

süsse  ihrer  natürlichen  Auslegung  nun  mit  Einemmale 
fiv  verlorene  Mähe  erklärt  werden  tollten.  Nor  nngern 
lint  Dr.  Paulus  die  Ahnung  an  sich  kommen,  data  mau 
»Besag  auf  seinen  Commentar  vielleicht  ausrufen  werde: 
Wese  alle  die  Mühe,  dergleichen  Legenden  historisch  su 
erklären?  wie  sonderbar,  dals  man  Mythen  wie  Geschichte 
bekaadetii,  wunderbare  Dichtungen  nach  dem  Causaige« 
um  eich  begreiflich  machen  will  7) !  Der  (lullerei  sei- 
sa?  natürlichen  Erklärungen  gegenflber  erscheint  dem 
genannten  Theologen  die  mythische  Auffassungsweise  nur 
»Js  eine  Geistesträgheit,  welche  mit  der  evangelischen  Ge- 
schichte auf  dem  leichtesten  Wege  fertig  su  werden  wün- 
sche, delshalb  alles  Wondersame  und  Schwerverständliche 
durch  das  dunkle  Wort:  Mythus,  auf  die  Seite  schiebe , 
and,  um  sich  der  Mfihe  der  Sonderung  des  Wunderbaren 
rem  Natürlichen,  des  Factums  vom  Urtheil,  su  überhe- 
ben, die  ganze  Erzählung  in  die  camera  obscura  alter 
heiliger  Sage  atirücksteüe  »). 

Mit  noch  stärkerer  Mifsbilligung  hatte  sich  Grsiliko 
gegen  Kaue's  Empfehlung  der  genetischen ,  d,  h.  mythi- 
schen, Wundererklärung  ausgesprochen;  aber  es  war  ihm 
begegnet,  fast  mit  jedem  Streiche,  den  er  auf  diese  fthren 
wollte,  vielmehr  seine  eigene,  natürliche  Auslegungsweise 
so  treffen.  Unter  allen  Versuchen,  meinte  er,  dunkle 
Stellen  des  N.  T.  aufsuklären,  könne  schwerlich  einer 
4er  iehthistorischen  Auslegung ,  der  Ausmittelung  der  ei- 
gentfieheii  Thatsacben  und  ihrer  verständigen  Absicht, 
aaehtheiliger  sein  ( d.  h.  dem  FOrwits  natürlicher  Erklä- 
rer  mehr  Abbruch  thun),  als  der  Versuch,  mit  Hülfe  einer 
dichtenden  Phantasie  (so  verhält  sich  die  des  natürlichen 
JSrhmre»,   wenn  er  Nebenumstände  einschiebt,   von  wel- 


7)  Exegetisches  Handbuch,  1,  *,  S.  1.  71. 
D  i.  i.  O.  S.  4.    Vergl.   gegen  diesen  Torwurf  mtlae  Streit- 
Schriften,  I,  1>  S.  70  f. 


L*  ♦ 


\^ 


7«  Einleitung.     §.  1% 


eben  in  Text  keine  Spar  ist;  der  mythische  Erklärer  ver- 
hält sich  nicht  dichtend,  sondern  nar  Dichtung  erkennend 
nnd  aufdeckend)  der  Geschichtserzählung  aufzuhelfen. 
Eine  solche  unnöthige,  willkürliche  Dichtung  der  Phantsw 
sie  ist  nach  Grkiling  die  genetische  oder  formelle  Erklfi- 
rungsart  der  Wunder  (setzt  man  noch  einen  grübelnden 
Verstand  dazu  ,  so  ist  genau  die  natürliche  Erklärung  ge- 
schildert). Viele  Thatsachen,  die  sioh  als  solche  wohl 
noch  retten  lassen,  heilst  es  weiter,  werden  dadurch  ent- 
weder in  das  Fabelland  gespielt,  oder  an  deren  Stelle 
selbsterfundene  Dichtungen  gesetzt  (mit  Unterschiebung 
solcher  Dichtungen  gibt  sich  nur  etwa  die  historisch  -  my- 
thische Erklärungsweise  ab,  aber  auch  sie  nicht  als  solche, 
sondern  sofern  sie  mit  der  natürlichen  sich  vermischt). 
Namentlich  eine  Erklärung  der  Wunder,  meint  Greilino, 
dürfe  das  Factum  selbst  nicht  verändern,  und  durch  die 
Auflegung  taschenspielerisoh  ein  anderes  unterschieben 
(was  nur  die  natürliche  Erklärung  thut) :  sonst  würde  ja 
das  dem  Verstand  anstöfsige  Object  nicht  erklärt,  sondern 
das  vorausgesetzte  Factum  geläugnet ;  womit  die  Aufgabe 
nicht  gelöst  wäre  (es  ist  falsch,  zu  behaupten,  dafs  ein 
Factum  nur  Erklärung  vorliege;  was  unmittelbar  vorliegt, 
ist  nur  ein  Bericht,  von  welchem  erst  ausgemacht  werden 
mufs,  ob  ihm  ein  Factum  zum  Grunde  liegt,  oder  nicht). 
Statt  dessen  müssen  nach  dem  angeführten  Gelehrten  na* 
mentlioh  die  von  Jesu  verrichteten  Wunder  natürlich,  n&V 
her  psychologisch,  erklärt  werden;  wobei  man  dann 
wenigsten  Ursache  habe,  die  erzählten  Thatsachen  zu 
ändern*  zu  beschneiden,  «dt  Dichtungen  so  lange  zu  v< 
setzen ,  bis  sie  selbst  zur  Dichtung  werden  ( mit  welchem 
Rechte  diefs  der  natürlichen  Erklärungsweise  nachge- 
rühmt wird,  geht  sqhon  aus  dem  Bisherigen  hervor)  9). 
.  Ein    eigenes    Werk    über    die    Unzuläfsigkeit    der 


V)  GnmiK*  ia  Hknhb's  Museum,  1,  4,  S.  621  ff. 


Einleitung,     f.  13.  71 

mythischen  Auffassung  des  Historischen  im  N.  T.  bat 
neucstens  Hstdbnriich  geschrieben»  Er  geht  theUs  die 
tafrerem  Zeugnisse  ober  den  Ursprung  4er  Evangelien 
durch  9  nnd  findet  mit  ihrer  hiedareh  belegten  Ab- 
halft von  Aposteln  «od  Apostelsehttlem  die  Annehme  my« 
ihMeher  Kiessente  in  denselben  an  verträglich;  theils  anter» 
•seht  er  die  Beschaffenheit  ihrer  Darstellungen,  nnd  findet 
diese  dar  Form  nach  so  sehlieht  nnd  einfach ,  and  doch 
•o  tnefthrlieh  nnd  genau,  wie  man  es  nar  von  Augensea« 
gen  oder  solchen,  die  diesen  nahe  standen,  erwarten  kön- 
ne; dem  Inhalt  nach  aber  aneh  diejenigen  Ersählangen, 
welche  einen  wanderhaften  Charakter  haben,  so  gottes« 
wtrdig,  dafs  nur  Wonderscheoe  veranlassen  könne,  an 
ihrer  historischen  Wahrheit  so  sweifeln.  Ob  nämlich 
gleich  Gott  Ar  gewöhnlich  aar  mittelbar  auf  die  Welt 
einwirke 9  so  werde  doch,  meint  Heydknreich,  hiednrch 
nicht  aasgeschlossen,  dafs  er  nicht  bisweilen  ausnahms- 
weise aneh  anmittelbar  auf  dieselbe  sollte  wirken  können, 
sobald  er  es  aar  Erreichung  eines  besondern  Zweckes  nö- 
rhig  finde,  and  es  wird  sofort  an  den  einseinen  göttlichen 
Eigenschaften  der  Reihe  nach  gezeigt,  wie  ihnen  ein  sol- 
che*  Einwirken  nicht  widerspreche,  und  an  den  einseinen 
Wundergesehichcen,  wie  bei  ihnen  gerade  ein  göttliches 
Kingreifen  jedesmal  gann  besonders  schicklich  gewesen  sei. 
Doch  diese  nnd  Ähnliche  Einwendungen  gegen  die 
mythische  Auffassung  evangelischer  Ersihlnngen ,  wie  sie 
samenttteh  in  den  neueren  Evangoliencommentaren,  und 
jetst  in  den  «ahlreichen  Schriften  gegen  meine  Bearbei- 
tung des  Lebens  Jesu ,  vorliegen ,  werden  im  Folgenden 
von  selbst  ihre  Stelle  nnd  ihre  Erledigung  finden. 

§.    13. 

Möglichkeit  von  Mythen  im  N.  T.  nach  äusseren  Gründen. 

Die  Behauptung,  dafs  in  den  biblischen  Büchern  My- 
taea  sich  finden ,  Hüft  freÜioh  dem  Bewnfstsein  des  gtiu- 


71 


Einleitung.     §.   13. 


bigen  Christen  geradezu  entgegen.  Dieser ,  sofern  sein 
Blick  auf  die  christliche  Gemeinschaft  eingeschränkt  ist, 
in  welcher  er  lebt,  weife  gar  nicht  anders,  als  dafr,  was 
deren  heilige  Bücher  ihm  erzählen,  buchstäblich  ao  ge- 
schehen sei ;  es  kommt  ihm  kein  Zweifel ,  stört  ihn  keine 
Reflexion.  Ist  sein  Horizont  bis  dahin  erweitert,  daüs  er 
seine  Religion  neben  andern  erblickt,  und  sie  mit  diesen 
▼ergleicht,  so  gestaltet  sich  sein  Urtheil  dahin  fort:  was 
die  Heiden  von  ihren  Göttern,  die  Muhammedaner  von  ih- 
rem Propheten  erzählen,  sei  freilich  erdichtet;  was  dage- 
gen die  biblischen  Bücher  von  den  Thaten  Gottes,  Christi 
und  der  übrigen  Gottesmänner,  das  sei  wahr.  Diefs  ist 
der  zur  allgemeinen  Vorstellung  auch  in  der  Theologie 
gewordene  Satz,  das  Christenthum  unterscheide  sich  von 
den  heidnischen  Religionen  dadurch,  dafs  es  nicht,  wie 
diese ,  eine  mythische ,  sondern  eine  historische  Reli- 
gion sei« 

So  jedoch ,    ohne   nähere  Bestimmung   und  Begrün- 
dung, ist  dieser  Satz  blofses  Erzeugnifs  der  Befangenheit 
des  Individuums  in  der  ihm  anerzogenen   Glaubensform, 
der  Unfähigkeit,  sich  zu  dieser  in  ein  anderes  als  affirma- 
tives, zu  den  übrigen  in  ein  anderes  als  negatives  Verhält- 
nifs  zu  setzen;   .ein  Vorurtheil   ohne  allen  wissenschaftli- 
chen Werth,  das  sich  bei  der  ersten  Erweiterung  des  ge- 
schichtlichen Blickes  von   selbst  auflöst.    Denn   versetzen 
wir  uns  nun    in   eine   andere  Religionsgemeinschaft:    ao 
meint  der  gläubige  Muhammedaner,   nur  in  seinem  Koran 
Wahres  anzutreffen ,   in  unserer  Bibel  aber  grofsentheila 
Fabelhaftes;   der   heutige  Jude  sieht   nur  im  A.  T.   eine 
wirkliche,  göttliche,  Geschichte,  im  N.  T.  aber  nicht,  und 
eine   ähnliche  Bewandtnifs  hat  es  mit  den  Bekennern  der 
meisten  heidnischen  Religionen  vor  der  Periode  des  Syn- 
kretismus gehabt     Wer  soll  nun  Recht  haben  ?    Alle  zu- 
sammen unmöglich,  da  ihre  Behauptungen  einander  aus- 
•chliefsen.    Aber  welcher  Einzelne!    Jeder  behauptet  es 


Einleitung.    $.  13.  TS 

tw  sieh ;  dl«  Ansprache  sind  gleich :  wm  toll  nun  ent* 
«beiden?  Der  Ursprung  der  einseiften  Religionen?  Jede 
stbreibt  sieh  einen  göttlichen  su :  nicht  nur  die  christliche 
will  ron  Sohne  Gottes,  and  die  jüdische  von  Gott  durch 
Metes;  sondern  such  die  mohammedanische  von  einem 
Propheten  ans  unmittelbarer  göttlicher  Offenbarung  gestif- 
tet sein ,  und  ebenso  führten  die  Griechen  ihre  Colte  auf 
alt  SinsetEong  durch  Götter  zurück. 

„Aber  dieser  göttBche  Ursprung  ist  bei  keiner  so  ur* 
ländlich  belegt  als  bei  der  hebräischen  und  christlichen 
Religion;  während  die  Mythenkreise  bei  Griechen  und 
Romern  aus  Sammlungen  unverbürgter  Sagen  bestehen: 
ist  die  biblische  Geschichte  von  Augenseugen ,  oder  doch 
von  solchen  geschrieben ,  weiche  einerseits  durch  ihr  Ver- 
hältnüs  *u  Augenseugen  in  den  Stand  gesetzt  waren,  die 
Wahrheit  zu  berichten,  und  deren  offenkundige  Recht- 
sebanenheit  andrerseits  an  dem  Vorhandensein  des  guten 
Willens  hiesu  nicht  zweifeln  läfst"  ~  Allerdings  würde 
es  ffir  die  Glaubwürdigkeit  der  biblischen  Geschichte  von 
entscheidendem  Gewichte  sein ,  wenn  es  bewiesen  wäre, 
daCs  sie  von  Augenseugen ,  oder  doch  nahen  Zeitgenossen 
der  Begebenheiten  ,  beschrieben  ist;  denn,  obwohl  auch 
bei  Augenseugen  Irrthümer  und  also  falsche  Berichte  sieh 
einschleichen  können:  so  hat  doch  die  Möglichkeit  ab» 
•  sichtslosen  Irrthums  ( der  absichtliche  Betrug  macht  sich 
ohnehin  leicht  bemerklich)  hier  ungleich  engere  Grannen, 
sb  wo  der  Erzähler  durch  einen  längeren  Zeitraum  von 
den  Begebenheiten  getrennt  ist,  und  seine  Nachrichten  aus 
dem  Munde  Anderer  schöpfen  mufs. 

Doch  diese  angebliche  Augenseugensehaft  oder  Zeit- 
nähe der  biblischen  Schriftsteller  in  Bezug  auf  die  von 
ihnen  erzählten  Begebenheiten  ist  vorerst  gleichfalls  nur 
Vorurtheil,  das  seine  nächste  Veranlassung  in  den  Ueber- 
schriften  hat,  welche  die  biblischen  Bücher  in  unserem 
Kanon  führen.    Da  ist  jenen  Büchern ,   welche  den  Ans* 


74  Einleitung.     J.  13. 

Mag  der  Israeliten  aus  Aegypten  und  ihre  Wundern  ng 
durch  die  Wüste  beschreiben,  der  Name  des  Moses  vorge- 
«etat,  welcher  hiebei  ihr  Führer  war,  also  freilieh,  wenn 
er  nicht  absichtlich  lügen  wollte,  eine  wahre  Gescniehte 
dieser  Begebenheiten  liefern  mufste,  und  wenn  sein  Ver- 
hältaifs  am?  Gottheit,  wie  es  in  diesen  Büchern  beschrie- 
ben wird,  historisch  ist,  wohl  auch  vermöge  desselben  die 
frühere  Geschichte  glaubhaft  wiederzugeben  im  Stande 
war«  -  Ebenso  bei  den  Berichten  über  das  Leben  und  die 
Scbiokaale  Jesu  lauten  swei  Ueberschriften  auf  Matthäus 
tnd  Johannes,  *wei  Männer,  welche  die  öffentliche  Wirk- 
samkeit Jesu,  deren  Augenzeugen  sie  nähern  vom  Anfange 
bis  zum  Ende  gewesen  waren,  aufs  Glaubwürdigste  be* 
schreiben ,  und  theils  vermöge  ihres  vertrauten  Umgangs 
mit  Jesu  und  dessen  Mutter,  theils  vermöge  des  höheren, 
belehrenden  und  erinnernden  Beistandes,  welchen,  dem 
Einen  von  ihnen  sufolge,  Jesus  seinen  Jüngern  verhelften 
haben  soll,  auch  über  die  Begebenheiten  seiner  Jugend, 
vea  welchen  dec.  Andere  einige  berichtet,  Kunde  erhalten 
konnten,  •  \ 

Allein  wie  wenig  auf  die  Ueberschriften  au  gehen  ist, 
welche  alte,  namentlich  heilige,  Schriften  auf  der  Stirne 
tragen,  ist  theils  an  sich  leicht  einzusehen,  theils  in  Be- 
sag auf  die  biblischen  Bücher  längst  erwiesen.  In  den 
angeblichen  Büchern  Mosis  ist  auch  dessen  Tod  und  Be- 
gräbnils gemeldet:  wer  glaubt  heut  au  Tage  noch,  dafs 
diefs  Moses  selbst  auf  prophetische  Weise  im  Voraus  ge- 
sehrieben habe?  Unter  den  Psalmen  tragen  manche  den 
Namen  Davids,  welche  das  Unglück  des  Exils  vorausse- 
tzen, und  Daniel,  einem  Juden  des  babylonischen  Exils, 
werden  Weissagungen  in  den  Mund  gelegt,  die  nicht  vor 
Antiochds  Eptpbanes  geschrieben  sein  können.  Es  ist  ein 
inumstö&liclier  Säte  der  Kritik ,  dal*  die  Ueberschriften 
der  biblischen  Büoher  an  sich  vorerst  nichts,  als  bald  das 
Vorgebe*  das  Verfassers,  bald  aber  auch  nur  die  Meinung 


Einleitung.    $.13.  t5 

des  jüdischen  oder  christlichen  Alterthums,  über  den  Ür* 
sprang  derselben  enthalten-:  Punkte,  von  welchen  der  erste 
nichts  beweisen  kann;  bei  dem  «weiten  aber  Alles  anf  fol- 
gende Stücke  ankommt:  1)  wie  alt  diese  Meinung  sei, 
und  von  was  Ar  Gewährsmännern  sie  aasgehet  und  2) 
wiefern  die  Beschaffenheit  der  in  Frage  stehenden '  Schiff» 
ten  mit  derselben  Abereinstimme?  jenes  die  sogenannten 
anfroren,  dieses  die  inneren  Gründe  f&r  die  Aechtheit  de* 
biblischen  Bücher.  In  Beeng  auf  die  Evangelien  nun, 
mit  welchen  wir  es  hier  allein  su  thnn  haben,  hat  die 
ganse  folgende  Arbeit  keinen  andern  Zweck,  als  im  Ein- 
zelnen die  Glaubwürdigkeit  ihrer  Ernählungen,  und  damit 
auch  die  Wahrscheinlichkeit  oder  Onwahrscheinltehkeif 
ihres  Ursprungs  von  Augenzeugen,  oder  überhaupt  genau* 
Unterrichteten,  aus  inneren  Gründen  su  untersuchen;  die 
leiseren  Zeugnisse  hingegen  mögen  hier  in  der  Einleitung, 
doch  nur  insoweit,  geprüft  werden,  als  ndthig  ist,  um 
einsusehen ,  ob  sie  Ar  sieh  ein  bestimmtes  Ergebnils  lie- 
fern, welches  mit  dem  der  inneren  Gründe  möglicherweise 
in  Streit  gerathen  kdnnte ;  oder  ob  sie,  für  sich  ünnuläng- 
lieh,  die  Entscheidung  der  Untersuchung  nach  inneren 
Gründen  ÜbeeJassen. 

Am  Ende  des  nweiten  Jahrhunderts  n.  CiL  waren, 
wie  wir  aus  den  Schriften  der  drei  Kirehenlehrer,  lf  enäus, 
Riemens  voa  Alexandrian  und  Teitullian  ersehen ,  unsere 
vier  Evangelien  als  Schriften  von  Aposteln  und  Apostel- 
schalem  in  der  rechtgläubigen  Kirche  anerkannt,  und  aus 
der  Mehrsahl  anderer  ahnlichen  Prodncte  als  die  ächten 
Nachrichten  über  Jesum  ausgeschieden.  Das  erste  nach 
der  Ordnung  unseres  Kanon  sollte  von  Matthäus,  der  in 
sämmtlicben  Katalogen  als  einer  der  awölf  Apostel  tor- 
kommt ;  das  vierte  von  Johannes,  dem  Lieblingsjünger  des 
Herrn ;  das  «weite  von  Markus,  dem  Dolmetscher  de»  Pe- 
trus ;  das  dritte  von  Lukas ,  dem  Begleiter  des  PanJtts, 


76  Einleitung.    $.  13. 

verfaXat  sein  ')•  Doch  auch  von  älteren  Schriftstellern 
sind  uns,  theils  in  deren  eigenen  Werken,  theils  in  An- 
führungen anderer,  Zeugnisse  hiefflr  erhalten. 

Auf  das  erste  Evangelium  wird  gewöhnlieh  das  Zeug« 
nib  besogeu,  welches  wir  von  Papias,  Bischof  von  Hiera- 
polis,  haben,  der  "hocavs  (wahrscheinlich  des  Presbyters) 
axH^rjg  gewesen,  nnd  unter  Marc  Aurel  (161  —  180)  Mär- 
tyrer geworden  sein  soll  *) ,  dafs  der  Apostel  Matthäus  ra 
Xoyia  (ra  xvqic&cc)  aufgeschrieben  habe  *).  Auf  die  Wort- 
bedeutung von  kr/icx  dringend,  hat  neuestens  Schleier- 
macher hierunter  nur  eine  Sammlung  der  Reden  Jesu  ver- 
stehen wollen  *} ;  allein ,  wo  Papias  von  Markus  spricht, 
gebraucht  er,  wie  es  scheint,  avvta^iv  vwv  xvquouov  loyuav 
TZOuZu&ai  und  ra  vtio  tCs  Xotgs  ij  kex&ivtct  rj  nQax&hta  ypcr- 
ifetv  als  Wechselbegriffe:  woraus  hervorgehen  wände,  dafs 
auch  jenes  eine  die  Thaten  und  Schicksale  Jesu  mitumfas- 
sende Schrift  bezeichnete  *) ,  und  die  Kirchenväter  Recht 
hätten,  das  Zeugnifs  des  Papias  von  einer  vollständigen 
Evangelienschrift  eu  verstehen  6).  Dieselben  beeogen  nun 
«war  dieses  Zeugnifs  bestimmt  auf  unser  erstes  Evange- 
lium ;  allein  auf  dieses  findet  sich  in  den  Worten  des  apo- 
stolischen Vaters  nicht  nur  keine  Hinweisung,  sondern 
unmittelbar  identisch  mit  demselben  kann  die  Apostel- 
schrift, von  welcher  er  spricht,  sehon  defswegen  nicht 
sein ,  weil  nach  der  Angabe  des  Papias  Matthäus  ißQatdt 
duxXixicp    sohrieb:     und    dafs     unser   griechischer    Mat- 


1)  S.  die  Stellen  bei  di  Witts,  Einleitung  in  d.  N.  T.  $.  76. 

2)  S.  Gusslsr,  K.G.  1,  S.  115  f. 

3)  Euseb.  H.  E.  3,  39. 

4)  Ueber  Papias  Zeugnisse  von  unsern  beiden  ersten  Evangelien, 
in  UllmWs  Studien,  1832,  4,  S-  736  ff.  Ihm  stimmt  Cridri* 
bei,  Einleitung  in  das  N.  T.  1,  S.  91. 

5)  Wie  LBckb  nachgewiesen  hat,  Studien,  1833,  2,  S.  499  f. 
I)  S.  bei  di  Warn,  a.  t.  O.  %.  97. 


Einleitung.    $.  IS.  T7 

tbaos  eine  Ueberfeteong  dieser  hebW&isenen  Urschrift  »ei, 
wird  von  den  Kirchenvätern   bk>»  vornusgesetst ').    Aus- 
sprüche Jesu  nun  und  Erzählungen  aber  denselben ,   weK 
efae    mehr    oder  minder   genan    Abschnitten   in    unserem 
Matthias  entsprechen ,  finden  wir  in  den ,    freilieh  nicht 
darehaas  lebten,  Werken  der  übrigen  apostolischen  Väter 
mehrere  angefahrt :  aber  theils  so,  dafs  sie  auch  ans  münd- 
licher  Ueberiiefernng  geschöpft   sein   können;    theils   so, 
data   die  Verfasser,   wo  sie  sich  auf  schriftliche   Quellen 
berufen ,   diese  nieht  gerade  als  apostolisch  bezeichnen  •). 
Jnetine  des  Märtyrers  (f  166)  Anfahrenden  kommen  nieht 
selten  anch    mit  Stellen  unseres  Matthias  aberein;   doch 
hat  er  «ngleieh  Elemente,   die   sieh   überhaupt  In  unsern 
Evangelien  nicht  so  finden,   und  er  beseichnet  die  Schrif- 
ten, asm  welchen  er  schöpft,  nnr  allgemein  als  anotarjio- 
ytupccrc  %£&  anosoXw,  oder  evctyyefoa,  ohne  näher  die  ein- 
seJnen  Verfasser  namhaft  au  maehen *).     Anch  der   Be- 
atreiter des  Christenthums,  Celsns  (nach  150) ,  spricht  da- 
von, dafs  die  Schüler  Jesu  dessen  Geschichte  beschrieben 
haben "),   und  deutet  auf  unsre  jetaigen  Evangelien  bin, 
wenn  er  von   der  Abweichung  der  Nachrichten  Ober  die 
Zahl  der  Engel  bei  der  Auferstehung  Jesu   spricht11): 
aJbear  eine  bestimmtere  Angabe  einselner  Verfasser  findet 
aieb  auch  bei  ihm',  so  viel  wir  aus  Owgenes  entnehmen 
können,  nicht l2). 


7)  Hieron.  de  vir.  illnstr.  5. 

8)  ds  Wim,  Einl.  in  die  Bibel  A.  o.  N.  T.,  1.  Tbl.,  (Ein!,  in* 
<L  A.  T.)  §.  18. 

9)  »*  Wettk  a.  a.  O.  §.  19,  und  Einl.  in  d.  N.  T.  $.  66f. 

10)  Bei  Origenes,  c.  Cels.  2,  16. 

11)  a.  a.  O.  5,  56. 

12)  Die  Aechtheit  des  Matthäusevangeliums  ist  durch  die  neue- 
ren Angriffe  von  Schul«,  Sibiyirt  und  Schhkckucbuiissii  so 
sehr  erschüttert,  und  durch  die  Verteidigungen  von  Kirn 
und  Olsmausrk  so  wenig  wieder  sicher  gestellt  worden,    dass 


7«  Einleitung,    &.  1& 

Von  demselben  Eipias ,•  welcher  die  Notiz  über  Mal- 
thAns  gibt,  tot  an»  ein  Zeugatfs  darfiber  erhalten ,.  nod 
nvrar  an»  dem  Munde  des  7t QeußvteQog  Johannes,  da£i 
Marko*»  der  nach  1ha  eqprpeviijg  JUtqh  war,  aas  der 
Jjannnerang  an  dessen  LehrvortrÄge  die  Aeden  und  Thaten 
Jesu,  ^nfgeeeiohnet  habe  **).  Daß  dieft  anf  unser  zweites 
üvangeJium  gehe,  setzen  die  Kirehensehriftsteller  «war 
ebenfalls  voraus ;  aber  nicht  nnr  sagt  davon  die  Stelle  des 
fanias  nichts,  sondern  sie  pa&t  aueh  anf  dieses  Eräuge» 
linm  gar  nicht  ")<  Denn  aus  Erinnerungen  an  die  Vor- 
trüge des  Petrus,  also  aus  einer  eigenen,  ursprünglichen 
Quelle,  kann  unser  aweites  Evangelium  schon  defswegen 
nicht  geflossen  sein,  da  es  nachweislieh  aus  dem  ersten 
und  dritten,  sei  es  auch  nur  in  der  Erinnerung,  zusam- 
mengeschrieben ist 15).  Ebensowenig  will  auf  das  in  Rede 
stehende  Evangelium  das  passen ,  was  Papias  weiter  sagt , 
dafis  Maxkua  a  ra$u  gesehrieben  habe.    Denn  eine  fatoche 


Troluck  in  seiner  Glaubwürdigkeit  der  evang.  Geschichte,  wo 
er  die  Aechtheit  aller  übrigen  Evangelien  darzuthun  sucht, 
doch  in  Bezug  auf  den  Matthäus  diesen  Beweis,  alt  zu  weit* 
läuft  ig,  nicht  unternehmen  .mag  (S.  240). 

13)  Euseb.  H.  K.  3,  39. 

14)  Darauf  bat  Schlbibrmachbr  aufmerksam  gemacht  in  der  schon, 
angeführten  Abhandlung,  welchem  Crbdhbr  beistimmt,  Einl.  1, 
S.  123  f. 

15)  Diess  ist  zur  Evidenz  erhoben  durch  Gmksback  in  der  Com- 
mentatio,  qua  Mord  Evangelium  tetum  e  Matthaei  et  Lucae 
commentariis  decerptum  esse  demonstratur.  In  dessen  opus- 
cula  acad.  ed.  Gabler,  Vol.  2.  No.  XXII.  Vgl.  Sauhiek,  über 
die  Quellen  des  Evangeliums  des  Markus,  1825;  Thbilb,  zur 
Biographie  Jesu,  S.  34 f.  Tkolück  widerspricht,  weil  „ein 
Apostelschüler  (dast  der  Verf.  des  zweiten  Evangeliums  ein 
solcher  war ,  diess  soll  ja  vielmehr  erst  bewiesen  werden ! ) 
von  derselben  Berechtigung  wie  Lukas  nicht  so  'ängstlich  aus 
der  Schrift  dieses  seines  Mitgenossen  und  der  des  Matthäus 
Excerpte  gemacht  haben  würde"  u.  s.  w.  (S.  250). 


Einleitung.    }•  1%  V» 

chronologische  Anordnung  kann  er  hiemit  nicht  meinen, 
da  er  dem  Markus  die  strengste  Wahrheitsliebe  Beschreibt, 
welche,  verbunden  mit  dem  Bewufstseln ,  keine  Mittel 
dann  na  haben ,  ihn  von  Jedem*  Versuch ,  eine  Zeltordnung 
b«  Stande  au  bringen,  abhalten  mvfste;  völliges  Verstell« 
ten  aber  auf  chronologischen  Zusammenhang,  was  Paplaa 
allein  Ihm  kann  Beschreiben  wollen,  findet  sieh  im  zwei* 
tan  Evangelium  gans  und  gar  nicht.  —  Was  kann  es  bei 
so  bewandten  Dntstlnden  beweisen,  wenn  in  ähnlicher 
Art,  wie  an  das  erste,  auch  an  unser  b weites  Evange- 
lium Anklinge  bei  den  ältesten  Kirehenschriftstellern  sich 
finden  ? 

Dafs   Lukas,   des  Paulus  Gefthrte,   ein  Evangelium 
geschrieben,    dafür  fehlt  ein  Beleg   von   dem  Alter  und 
Gewichte  des  Paplanisehen  Zeugnisses  für  Matth&ns  und  * 
Markus.     Ein  Zeugnifs  eigentümlicher  Art  aber,   Bwar 
auch  nicht  gerade  dafür,  von  Lukas,  aber  doch  von  einem 
Beitweisen  Begleiter  des  Apostels  Paulus  herzurühren,  hat 
das  dritte  Evangelium  in  der  Apostelgeschichte,  welche  laut 
des  Proentiums  beider  Schriften,  womit  die  übrige  Eigentüm- 
lichkeit derselben  nicht  im  Widerspruche  steht,  von  demael« 
ben   Verfasser  oder  Sammler,    wie   das  Evangelium ,  her- 
rührt   In  der  Apostelgeschichte  nämlich  fafst  in  einigen 
Abschnitten  der  «weiten  Hfilfte  (16,  10  —  17,  20,  5  —  15. 
21,  1  —  17.  27,  1  —  28,   16.)   der  Verfasser  den  Apostel 
Paulas  und  sich  selbst  in  der  ersten  Person   des  Plural 
(.i±rp;rjOafA&  —  nQogHhXrjTai  rfftas  u.  s.  f.)  zusammen ,   wo- 
durch  er   sich   mithin  als   dessen  Begleiter   snv  erkennen 
gibt      Freilich    ist   hiemit    der    bald   schwankende,    bald 
wunderhafte,  oder  gar  ächten  panlinischen  Briefen  wider* 
sprechende    Inhalt   mancher   anderweitigen   Berichte    des 
Buchs  über  den   Apostel  so  schwer  au  vereinigen,  apch 
bleibt  es  so  auffallend ,  warum  der  Verfasser  sieh  weder 
im  Eingänge  der  A.  G.  noch  in  dem  des   Evangeliums  auf 
dieses  Verhültnifs  zu  einem  der  angesehensten  Apostel  be- 


80  Einleitung*    §.  13. 

ruft,  de&  schon  die  Vermuthuog  aufgestellt  worden  ist, 
es  mögen  vielleicht  jene  Stellen,  wo  der  Ersähler  von  sieh 
als  Theilnehmer  an  den  Begebenheiten  spricht,  einer  frem- 
den, von  ihm  nnr  eingeschalteten,  Denkschrift  angehö- 
ren 16>  Doch  auch  d|ase  Auskunft  bei  Seite  gelassen ,  so 
könnte  ja  der  Begleiter  des  Paulus  seine  beiden  Schriften 
möglicherweise  zu  einer  Zeit  und  in  Verhältnissen  verfaüst 
haben,  wo  ihn  kein. apostolischer  EinfLub  mehr  gegen  die 
Zuflösse  der  Tradition  sicherte,  deren  Erzählungen  darum, 
weil  er  sie  froher  von  Paulus  nicht  gehört  hatte,  zu  ver- 
werfen, er  sich,  waren  sie  nur  erbaulich  und  auf  seinem, 
die  Wunder  keineswegs  scheuenden,  Standpunkte  glaub* 
lieh,  unmöglich  bewogen  finden  konnte.  Nun  aber  meint 
man,  da  die  Apostelgeschichte  mit  der  zweijährigen  römi- 
schen Gefangenschaft  Pauli  abbricht,  so  müsse  diese  zweite 
Arbeit  des  Apostelschftlers  eben  während  jener  Zeit,  63 — 65 
n.  Ch. ,  vor  der  Entscheidung  der  Sache  des  Apostels,  und 
könne  somit  die  erste,  das  Evangelium,  gleichfalls  nicht 
später  geschrieben  sein.  17>  Allein  jenes  Abbrechen  der 
Apostelgeschichte  kann  noch  manche  andere  Gründe  ha- 


16)  ds  Warn,  a.  a.  O.,  §.  114. 

17)  db  Witts,  §.  116.  Tholuck  weiss  sogar,  dass  Lukas  sein 
Evangelium  in  Jerusalem  oder  Cä'sarea  während  der  Haft  de» 
Paulus  geschrieben  habe ;  Beweis :  weil  er  dort  am  meisten 
Zeit  und  die  beste  Gelegenheit  hatte.  Demselben  Theologen 
ist  es  wahrscheinlich ,  dass  Lukas  während  jenes  Aufenthalts 
noch  mit  der  Mutter  Jesu  zusanunengewesen ;  denn  altershal- 
her  konnte  diese  noch  leben ,  und  wahrscheinlich  lebte  sie 
wirklich  noch,  da  Johannes  Jerusalem  schwerlich  verlassen 
haben  wird ,  so  lange  die  ihm  Anbefohlene  noch  übrig  war : 
damals  aber  war  Johannes  noch  in  Jerusalem.  S.  141  (F..  (Als 
ob  er  nicht  auch  nach  ihrem  Tode  noch  in  Jerusalem  geblie- 
ben sein  könnte!)  %  Ueber  diese  Beweisart  vergl.  man  die 
Reo.  des  TaoLucx'sshen  Buchs  von  Schulz,  im  Literaturblatt 
aar  allg.  KZtg.  1837,  No.  69.  S.  549. 


Einleitung,    f,  IS»  Sl 

*•),  und  reicht  ffir  «Ich  allein  fa  keinem  Falle  bin, 
Iber  den  historischen  Werth  des  Evangeliums  nu  ent* 

Heber  Johanne«  möchte  atan  ein  ähnliches  Zeegnifs, 
wie  das  dee  Pepiae  iber  Matthias  ist,  von  Puijkarsma 
wfineehen,  welcher  (t  167)  den  genannten  Apostel  noch 
gesehen  nnd  gehört  hat  20>  Zwar  dafe  wir  nnn  in  dem 
Einen,  kurzen  Briefe,  den  wir  noch  von  ihm  haben,  ein 
■eichen  nicht  finden,  kann  nichts  dagegen  bevueisen;  so 
wenig  als  die  mehr  oder'  minder  deutlichen  Anklftege  an 
die  jobanneisehen  Briefe  bei  mehreren  apostolischen   Vi* 

**)  daftlr;  wohl  aber  arafs  es  Wunder  nehmen,  da(s 
Folykarpus  Sebftler,  Irenius,  welcher  die  johanneisohe 
Abfassung  des  Evangeliums  bereits  wider  Gegner  ata  vor* 
theidigen  hatte ,  weder  bei  dieser  Gelegenheit ,  nooh  sonst 
irgendwo  in  seinem  weltlffuftigen  Werke  auf  die  in  dieser 
Sache  gewichtigste  Ancteritlt  des  apostolischen  Mannes 
sieh  beruft  **)•  Ungewiis,  ob  schon  von  Anfang  unter  des 
Apeataie  Johannes  Namen ,  begegnet  uns  das  vierte  Evan- 
gelium suerst  bei  den  Valentlnianern  und  Montanisten,  um 
die  Mitte  des  aweiten  Jahrhunderts ;  woran  sich  aber  so- 
gleich der  Widerspruch  der  sogenannten  Aloger  knüpft, 
weiche  das  Jobanneische  Evangelium  verwarfen  und  dem 
Cerrath  anschrieben ,  theils  weil  die  Montanisten  aus  dem* 
salben  die  Idee  ihres  Paraklet  entlehnten ,  theils  aber  auch 
weil  ee  mit  den  drei  übrigen  Evangelien  nicht  nnsammen- 
ans!  1  in  mein  schien  ,s).  Die  erste  Anführung  einer  Stelle 
desselben  unter  dem  Namen  des  Johannes  findet  sieh  bei  Theo- 


18)  bei  os  Warn,  a.  «.  O.  und  Cribnbr,  $.  66.  e.  108. 

19)  Vgl.  Creiuieh,  1,  S.  154  ff. 

20)  Euseb.  H.  E.  5,  20.  24. 

21)  bei  ob  Wbttb,  $.  100. 

22)  ob  Witts,  a.  s.  O. 

23)  ob  Warn,  a.  a.  O.  und  Giltst»*  K.  G.  1,  S.  154. 

Bas  Leben  Jem  He  Aufl.  h  Band.  6 


M  Einleitung.    &  13. 

pbttus  veto  Antlachien  (ums  Jahr  172)  ").  Wie  wenig 
auf  die  aufseien  Zeugnisse  für  das  vierte  Evangelium  die 
grofse  Zahl  derjenigen  anter  den  jetzigen  Theologen  pochen 
kann*  welche  die  uin  nichts  schlechter  beceugte  Apoka- 
lypse dem  Apostel  absprechen,  darauf  hat  auch  Tholuck 
aufmerksam*  gemacht 2S).  Endlich  ist  das  Zusammensein 
aweier.  Johannes ,  des  Apostels  und  des  Presbyters ,  in 
Ephesns  ein  Umstand ,  der  mit  den  ältesten  Zeugnissen 
fttr  die  jobenneisehe  Abkunft  der  Apokalypse  einerseits 
und  des  Evangeliums  und  der  Briefe  andrerseits  noch  lange 
nicht  soharf  genug  unsammengehalten  ist. 

So  sagen  uns  die  ältesten  Zeugnisse  bald  awar^  dafis 
ein  Apostel  oder  apostolischer  Mann  ein  Evangelium  ge- 
sehrieben, aber  nicht,  ob  es  dasjenige  war,  welches  spä- 
ter in  der  Kirche  unter  seinem  Namen  in  Umlauf  kam; 
bald,  dafs  ähnliche  Schriften  vorhanden  waren,  aber  nicht, 
dafs  de  mit  Bestimmtheit  einem  gewissen  Apostel  oder  Be- 
gleiter eines  Apostels  zugeschrieben  wurden:  und  doch» 
mit  aller  ihrer  Unbestimmtheit,  reichen  diese  Nachrichten 
nicht  Aber  den  Anfang  des  zweiten  Dritttheils  vom  «weiten 
Jahrhundert  hinauf,  während  die  bestimmten  Anftahriw* 
gen  erst  nach  der  Mitte  des  Jahrhunderts  ihren  Anfang 
nehmen.  Die  Apostel  aber  waren  aller  Wahrscheinlich« 
keitsberechnung  nach,  selbst  den  Johannes  nicht  ausge* 
nommen,  (er  soll  um's  Jahr  100  n.  Ch.  gestorben  sein)  **)» 
über  dessen  Alter  und  Ende  fibrigens  frühzeitig  gefabelt 
worden  ist 27) ,  noch  im  ersten  Jahrhundert  heimgegangen« 
Welcher  weite  Spielraum,  ihnen  Schriften  beizulegen, 
welche  sie  nicht  geschrieben  hatten!  Die  Apostel,  Ber- 
streut ,  sterben  in  der  «weiten  Hälfte  des  ersten  Jahrhan* 


24)  Ad  Autol.  2. 

25)  Glaubwürdigkeit,  S.  283  ff. 

26)  b.  Giisitiit,  S.  110. 

27)  Dm.  tbdt.  o.  »e  Wim,  a.  a.  O.  §.  108. 


—         •»■* 


Einleitung*    §.  15.  86 

Bteb  und  nach  ab;   die  evangelische  Yerkümiigaüg 
Weitet  «ich  im  römischen  Reiche  alimähiig  aue  und  fixirt 
■eh  mehr  und  nehr  naeh  einem  bestimmten  Typus:    da- 
her eo  mancher   mit  Stellen  unserer  jeteigen  Evangelien 
gleichlautende  Spruch,  welchen  wir  bei  den  ältesten, Ktvr 
ebenmebrifbteUera  ohne  Angabe  einer  Quelle  angefthft  fiav 
den,   ebne  Zweifel  ans  der  mündlichen  Ueberlieferung  get 
schupft  ist«    Bald  aber  wurde  diese  Tradition  in  versebie» 
denen  Schriften,  eo  deren  einer  oder  der  andern  vielleicht 
saeh    ein   Apostel    die  Grundlinien   lieferte ,    aufgefeilt} 
Schriften,  welche  Anfangs  noch  keine  feste  Gestalt,   und 
daher  manche  Umgestaltungen  an  erleiden  hatten »  wie  4** 
Beispiel    des   Hebräerevangeliums  nnd    die    Anführungen 
Justins    neigen.    Diese  Schriften   waren   zuerst,   wie  et 
seheint,   nieht  nach  den  Verfassern,   sondern   hold,  wie 
das   Hflbrierevangdimn ,   naeh   dem  Kreise  der  Loses  he* 
nennt,    hei    welchen  jede  derselben  zuerst  im  Gebrauche 
war,  bald  vom  dem  Apostel  oder  Evangelisten,  naeh  dessen 
mlndeichen   Vorträgen  oder   Gedenkblätsern   Einer  sofort 
eine  msammen hängende  Evangelienschrift  verfafst  hatte-** 
eine  Bedeutung,  weiche  das  xard  m.  B.  in  der  Ueberaebrift 
den   ersten    Evangeliums   ursprünglich    gehabt    su    haben 
seheint  ™y,    Natürlich  übrigens  ergab  sieh  sofort  die  Vor- 
auasetenng,  dafs  die  in  Umlauf  nnd  kirchlichen  Gehranch 
gekommenen  Nachrichten  aber  Jesum  unmittelbar  von  sei« 
neu  Schülern  werden   aufgezeichnet  worden  nein;  daher 
bei  Justin   und  Celsus   die    Ableitung  der   eveogeüseben 
8ehriften  von  den  Aposteln  überhaupt,  und  bald  auch  ein« 
scher  von    einseiften    Aposteln  und  Apottelschüiern»,   Je 
nachdem  etwas  Mündliches  oder  Schriftliches  von  einein; 
•sieben   Manne  einer  Evangeliensehrift  anm  Gtomde  lag, 
oder  vielleicht  auch  nur,  je  nachdem  ein  solcher  in  einer 
Gegend  oder  bei  einer  Partei  in  besonderem  Ansehen  stand. 


28)  s.  ScjrLSiBMKJLcnER,  ».  a.  O. 

6 


84  Einleitung,    f.  15. 

* 

Alle  drei  Arten  von  Benennungen  hat  des  Hebrfierevange- 
Ihnn  erfahren,  indem  es  nach  seinem  Leserkreise  evayyiXiov 
xa&  'EßQalsg,  später  hierauf  bald  evangeliwm  juxta  duo- 
dectm  apostolos,  bald  bestimmt  seamdum  Maühaeum  ge- 
nannt wurde  **). 

Indefs  aneh  «»gegeben,  dafs  wir  in   keinem  unserer 
Evangelien  den  unmittelbaren  Berieht  eines  Augenseugen 
haben ,  seheint  doeh  sehon  das  undenkbar  au  sein ,  dab  in 
einer  Zeit,  wo  so  manehe  Augenzeugen  noeh  lebten,   in 
Palästina  selbst  sieh  unhistorisehe  Sagen  Ober  Jesum ,  und 
Sammlungen   Ton   solchen,    gebildet  haben   sollen.     Dafa 
nun  erstlieh  eu  Lebaeiten  der  Apostel  bereits  Sammlungen 
Tön  Erzählungen  aus  dem  Leben  Jesu  in  allgemeinen  Um. 
lauf  gekommen,   und   dafs  namentlich   eines  von  nnser» 
Evangelien  einem  Apostel  bekennt  und  von  ihm  anerkannt 
werden  sei,  wird  niemals  bewiesen  werden  können.    Was 
aber  das  Entstehen  einaelner  Anekdoten  betrifft:  so  darf 
man  sieh  nur  «Be  Verstellungen  von  Palfistina  und  tob 
Augenaeugen  näher  entwickeln ,   nm  au  sehen,    dafis   sie 
die  Entstehung  von  Sagen  in  so  frflher  Zeit  keineswegs 
undenkbar  machen.    Wer  sagt  uns  denn,  daß  sie  gerade 
an  denjenigen  Orten  Palistina's  sich  gebildet  haben  mfftv- 
sen ,   wo  Jesus   sieh  am  Iftngsten  aufgehalten  hatte ,    wo 
also  seine  wahren  Schicksale  bekannt  waren  ?    Was  aber 
die  Augenaeugen  betrifft ,    so  mfifste ,   sofern  die  Apostel 
darunter  verstanden  sein  seilen,  diesen  eine  wahre  Alige- 
genwart angeschrieben  werden,  wenn  sie  an  allen  Orten 
und  Enden,  wo  unhistorisehe  Sagen  Ober  Jesum  aufkeim* 
t«?n  und  fortwucherten ,  au  deren  Ausffitung  sollten  äuge- 
gen   gewesen  sein ;    Augensengen  im  weiteren  Sinne  da- 
gegen, welche  Jesum  nicht  ununterbrochen  begleitet,  son- 
dern ihn  nur  das  eine  oder  andere  Mal  gesehen  hatten, 
mu&tea  wohl  sehr  geneigt  sein ,  die  Lficken  ihrer  Kennt- 


29)  es  Witts,  a.  a.  O. 


Einleitung.    J.  11  85 

«IIb  tob  «eine«  Lebensgang  durch  mythische  Vorstellun- 
gen MUsnfUlen  *°). 

Ueberhanpt  aber  soll  in  einer  bereits  •  historischen 
Zeit,  wie  die  Periode  der  ersten  römischen  Imperatoren 
war,  die  Entstehung  einer  solchen  Mythenmasse  undenk- 
bar sein.  Allein  durch  den  weitsebichtigen  Begriff  eines 
inatorieeheo  Zeitalters  darf  man  sich  nicht  ünponiren  las- 
ten. Sa  wenig  allen  unter  gleichem  -Meridiane  gelegenen 
Orten  in  der  gleichen  Jahreszeit  die  Sonne  in  demselben 
Augenblicke  sichtbar  wird,  sondern  denen,  die  auf  einer 
Bergspkee  oder  Hochebene  liegen,  früher  als  denen,  wel- 
che in  tieigelegenen  Thälern  und  Schluchten  stecken:  so 
wenig  ist  auch  allen  Völkern  so  gleicher  Zeit  das  histo- 
rische Zeitalter  angebrochen.  In  dem  hochgebildeten  Grie- 
chenland) in  der  Welthauptstadt  Rom,  konnte  man  damals 
jumf  einer  Stufe  stehen,  welche  das  Volk  in  Galiläa  und 
Jodln  daran  noch  nicht  auch  erreicht  haben  mufste.  Viel- 
mehr herrschte  aber  selbst  an  den  Mittelpunkten  der  Bil- 
dung in  jener  Zeit ,  nach  einer  in  den  Gesehichtscompen- 
dien  langst  abgedroschenen  Phrase,  die  man  jetzt  anf  ein- 
mal ▼ergessen  au  wollen  scheint,  neben  dem  Unglauben 
4er  Aberglaube,  neben  dem  Zweifel  die  Schwärmerei  "). 

Hoch  auch  das  jüdische  Volk,  sagt  man,  war  damals 
längst  ein  schriftstellerisches  geworden;  ja  die  blähende 
Periode  seiner  Literatur  war  bereits  vorbei :  es  war  Jieine 
werdende  und  damit  produetive ,  sondern  eine  vergehende 
Kation.  Allein  ein  rein  historisches  Bewufstsein  ist  dem 
hebräischen  Volke  während  der  ganzen  Zelt  seines  politi- 


30)  Gegen  Müller1!  (Studien,  1836,  3,  S.  868.)  und  Tholucx's 
(S.  75 f.)  Einwendungen  vergl.  meine  Streitschriften,  1,  3, 
S.  174,  und  Georgs,  über  Mythus  u.  Sage,  S.  125. 

51)  Vergl.  hierüber  die  Bemerkungen  von  Bauer,  in  der  Res. 
der  Schriften  über  mein  L.  J. ,  Jahrbücher  für  Wissenschaft, 
liehe  Kritik,  1837,  März,  No.  43,  S.  337  ff. 


'N 


86  Einleitung»    $.  14. 

«eben  Bestehens  eigentlich  niemals  aufgegangen,  da  selbst 
«eine  spätesten  Geschichtswerke,  wie  die  Bücher  der  Mak- 
kabfier,  nnd  sogar  die  Schriften  des  Josephns,  nicht  frei 
von  wnnderhaften  and  abenteuerlichen  Ersählungen  sind. 
Es  gibt  überhaupt  kein  rein  historisches  Bewußtsein  ohne 
die  Einsicht  in  die  Dnserreifsbarkeit  der  Kette  endlicher 
Ursachen  und  in  die  Unmöglichkeit  des  Wunders;  diese 
Einsicht  aber,  welche  so  Vielen  in  unsrer  Zeit  noch  fehlt, 
war  noch  weniger  «u  jener  Zeit  in  Palästina  oder  Ober- 
haupt im  römischen  Reiche  In  gröfseren  Kreisen  Vorhan- 
den. *  Wird  ein  solches  Bewufstsein,  in  welchem  die  Pforte 
fttr  das  Wunderhafte  noch  nicht  verschlossen  ist,  vollends 
In  religiöse  Begeisterung  hineingezogen ;  so  kann  es  Alles 
glaublich  finden,  und  ergreift  diese  Begeisterung  einen 
gröfseren  Kreis:  so  wird  selbst  in  dem  ausgelebtestm 
Volke  neue  Productivität  erwachen.  Eine  solche  Begeiste- 
rung su  erregen,  waren  aber  keineswegs  die  Wunder  der 
evangelischen  Geschichte  als  vorausgehende  Ursache  erfor- 
derlich :  sondern  es  genügte  auf  der  einen  Seite  die  be- 
kannte religiöse  Verarmung  jener  Zeit,  welche  die  Reli- 
gionsbedfirftigen  selbst  an  den  abenteuerlichsten  Cultne- 
formen  Geschmack  linden  liefs :  auf  der  andern  die  kräftige 
religiöse  Befriedigung,  welche  der  Glaube  an  die  Auferste- 
hung des  gestorbenen  Messias  nebst  dem  wesentlichen  In- 
halte der  Lehre  Jesu  darboten* 

$.    14. 
Die  Möglichkeit  von  Mythen  im  N.  T.  iucIj  inneren  Gründen. 

Da  es  sich  nach  dem  Bisherigen  mit  den  fiufteren 
Zeugnissen  für  die  Abfassung  unsrer  Evangelien  von  Au- 
genseugen  oder  sonst  genau  Unterrichteten  so  verhfilt, 
dafs  sie,  weit  entfernt,  uns  eu  dieser  Annahme  su  swin- 
gen,  die  Entscheidung  gans  auf  das  Ergebnils  der  innern 
Gründe,  d.  h*  der  Beschaffenheit  der  evangelischen  Er- 
zählungen selbst,  ausgesetzt  sein  lassen:    so  könnte,  inso« 


Einleitung,    f.  14.  9t 

fern  eine  Prüfung  dieser  EraihJungen  im  EbmeJnen  der 
Zweck  gegenwärtiger  Arbeit  ist ,  sogleich  aus  der  Einkl- 
ang nur  eigentlichen  Abhandlung  gesehritten  werden. 
lndnssnn  mag  es  dienlich  scheinen,  dieser  speciellen  Un- 
tenaehung  die  allgemeine  Frage  voranansebickeu,  wiefern 
ea  mit  dam  Charakter  der  christlichen  Religion  Aber- 
kenn* vereinbar  sei,  dal*  auch  in  ihr  sich  Mythen  finden, 
and  vermöge  der  allgemeinen  Beschaffenheit  der  evangeli*- 
eehen  Erzählungen  zulässig,  gerade  sie  als  Mythen  nn  be- 
trachten; obwohl  eigentlich,  wenn  es  in  der  folgenden 
Specialfcritik  gelingt,  die  Wirklichkeit  von  Mythen  im 
N.  T.  naehsnweisen,  die  vorläufige  ^kufseigung  ihrer  Mög- 
lichkeit na  etwas  Ueberflüssigem  herabsinkt 

Vergleichen  wir  in  dieser  Hinsieht  die  sogenannten 
mythischen  Religionen  des  Alterthnma  mit  der.  israeliti- 
schen nnd  christlichen:  so  fallen  allerdings  swisehen  den 
heiligen  Geschichten,  wie  sie  in  jenen  Religionsformen, 
nnd  wie  sie  in  diesen  sich  finden,  afenche  Unterschiede  in 
die  Augen*  Vor  Allem  wird  gewöhnlich  herrerjgeheben, 
dafa  die  heilige  Geschichte  der  Bibel  sich  von  den  Götter- 
sagen der  Inder,  Griechen,  Römer  n.  s.  f.  in  Besag  anf 
den  sittlichen  Charakter  und  Werth  wesentlich  unter- 
scheide. „Dort,  in  den  Eraählungen  von  den'Gö&erkäm- 
pfen,  von  den  Liebeshändeln  des  Krischna,  Zeus  n.  A.,  so 
Manches,  was  das  sittliche  Gefühl  schon  gebildeter  Heiden 
beleidigte,  nnd  des  nnsrige  empört:  hier  im  ganzen  Ver- 
laufe der  Erzählung  nur  Gotteswürdiges,  Belehrendes, 
Veredelndes. "  Zwar  läfst  sich  hiegegen  theils  auf 
Seiten  des  Heiden thums  Einsprache  thun ,  sofern  der  un- 
sittliche Schein  mancher  Eraählungen  nur  Folge  späteren 
MiTsverstands  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung  ist;  theils 
ist  auf  Seiten  des  A.  T.  die  durchgängige  sittliche  Rein- 
heit acuter  Geschichte  bestritten  worden,  —  freilieh  nicht 
selten  anf  «»gegründete  Weise ,  indem  man ,  was-  mensch« 
liehen  Individuen ,   welche  keineswegs  als  fleckenlose  Mn- 


,v 


BS  Einleitung.    $.  14. 

stet»  hingestellt  werden,  und  was  Gott  zugeschrieben  and 
Ton  ihm  gebilligt  wird ,  nicht  gehörig  nntersehied  f) ;  wo- 
bei jedoch  gtittliohe  Befehle,  wie  dafa  die  Israeliten  bei'm 
Aassag  aas  Aegypten  goldene  Gefitfse  entwenden  sollten* 
Ar  ein  gebildetes  sittliches  Gefühl  kaum  minder  ansttffaig 
bleiben,  als  die  Diebstähle  des  griechischen  Herme«  — c 
übrigens  diesen  Unterschied  auch  in  der  grötsten  Schärfe 
sagegeben,  wie  er  denn  in  Besag  auf  das  H.  T.  jedenfalls 
■agegeben  werden  mafs,  so  hat  derselbe  Ar  den  histori- 
schen Charakter  der  biblischen  Geschichte  darchaos  keim 
beweisendes  Moment ;  da ,  wenn  «war  eine  unsittliche  Gfft» 
tergeschichte  erdichtet  sein  mofs,  doch  auch  die  sittlichste 
erdichtet  sein  kann. 

„Aber  des  Unglaublichen,  Undenkbaren,  ist  anf  Sei- 
ten der  heidnischen  Fabeln  gar  eo  Vieles:   während   auf 
Seiten  der  biblischen  Geschichte,  wenn  man  nur  die  un- 
mittelbare Einwirkung  Gottes  roraossetat,  sich  nichts  der- 
gleichen findet. "     Allerdings ,  wenn  man  diese  voraue~ 
setst.    Denn  sonst  könnte  man  die  Wander  im  Leben  jni- 
nes  Moses,  Elias,  Jesus,  die  Theophanien  and  Angelophe- 
nien  des  A.  n.  N.  T.,  leicht  ebenso  anglaublich  finden  9 
als  was  die  Griechen  von  ihrem  Zeus,  Herakles  und  Die- 
nysos  fabeln;    setst   man  hingegen  die  Göttlichkeit  oder 
göttliche  Abkunft  dieser  Individuen  voraus,  so  werden  anoh 
ihre  Thaten  nnd  Schicksale,  wie  bei  der  gleichen  Voraus- 
setanng  die  der  biblischen  Männer,    glaublich.  —  Doch 
nicht  gans  ebenso,  kann  man  einwenden«    Dab  Wiscbna 


I)  Diese  Nichtunterscheidung  war  et  gleicherweise,  weiche  die 
Alexandriner  zu  mancher  Allegorie,  die  Deisten  zu  Einwürfen 
und  Schmähungen,  und  die  Supranaturalisten  zu  Verdrehun- 
gen de«  Wortsinns  veranlasste,  wie  noch  neuestens  Hormura 
(Christoterpe  auf  1838,  S.  184.)  in  Bezug  auf  Davids  Verfah- 
ren mit  den  besiegten  AmmonHern  eine  in  Anwendung  ge- 
bracht hat. 


JKInJeltung.    J.  14.  8» 

te  Abo  drei  ««tan  Ayetars  als  Fisch,  Schildkröte  und  Eher 
erschienen  tain,  dals  Kronos  seine  Kinder  verschlungen, 
Zone  sieh  in  einen  Stier,  Sektran  n.  s.  £  verwandelt  ha- 
be» sali,  das  aind  noch  gana  andere  UngiAubliebkeiten, 
ab  wenn  Jokern  In  Mensekengeatalt  uu  Abraham  unter 
dfe  Terebinthe  kommt,  oder  dem  Moses  im  feurigen  Busch 
erscheint.  Diefs  ist  der  abenteuerliche  Charakter  der 
heidnischen  Mythologie,  an  welchen  swar  in  manchen 
Partkien  der  biblischen  Geschichte,  wie  in  den  Krafth- 
langen  von  Bileam,  Josaa,  Simson,  sich  gleichfalls  An- 
klinge finden:  doch  allerdings  minder  grelle,  und  so,  dafs 
sie  nickt,  wie  s.  B.  in  der  indischen  Religion  und  auch  in 
gewiseen  Tkeilen  der  griechischen,  den  vorherrschenden 
Charakter  derselben  bilden.  Deck  wie  soll  auch  died 
kier  entscheidend  sein?  Aoeh  diefs  beweist  nur,  da£s  die 
fcjfch'eihe  Geschichte  eher  wahr  sein  könne,  als  die  indi- 
sche, griechische  Fabel;  aber  keineswegs,  da£s  die  bibli- 
eehe  Geeekiekte  de&balb  mehr  sein  misse,  nichts  Erdich- 
tetes enthalten  könne. 

„Aber  die  Sabjeete  der  heidnischen  Mythologie  sind 
gröfstentheils  seiche,  von  welchen  num  Voraus  gewifr 
ist,  dab  sie  nur  erdichtet  sind:  die  der  biblischen  Ge- 
eehiekte  solche,  deren  Wirklichkeit  ausgemacht  ist  £{n 
Umkam,  Ormusd,  Zeus,  haben  ja  niemals  existirt:  Iber 
einen  Gott,  einen  Christus  gibt  es  doch,  und  einen  Adam, 
Meah,  Abraham,  Moses,  hat  es  gleichfalls  gegeben. " 
Allein  ob  ein  Adam,  ein  Noah,  als  diese  Individuen  ge- 
lebt haben,  ist  ja  schon  bezweifelt  worden,  und  lilst  sich 
beaweifein ;  sowie  andrerseits  an  Herakles,  Theseus,  Acbil- 
kus  und  andern  Helden  der  griechischen  Sage  gar  wohl 
etwas  Historisches  gewesen  sein  mag*  Debrigens,  wenn 
nun  sieh  nur  cum  Voraus  bescheidet,  weiter  als  diefs 
daraus  zu  folgern,  dafs  auch  hienach  die  biblische  Ge- 
schichte eher  als  die  heidnische  Mythe  wahr  sein  könnte, 
keineswegs  es  sein  misse :  —  so  lädt  sich  allerdings  an 


M  Einleitung.    ft.  14. 

diese  Unterscheidung  eine  folgenreiche  Betrachtung  knü- 
pfen, in  weicher  auch  die  beiden  früher  gemachten  Unter- 
schiede sn  '  ihrer  Wahrheit  kommen  werden*  Wodurch 
geben  sieh  die  griechischen  Götter  ans  sogleich  als  nicht* 
existirende  Wesen  kund,  wenn  nicht  dadurch,  dafs  ihnen 
Dinge  zugeschrieben  werden,  welche  wir  mit  dem  Begriffe 
des  Göttlichen  nicht  au  reimen  wiesen  ?  wogegen  der  bibli- 
sche Gott  eben  insofern  für  uns  der*  wirkliche  ist,  als  in 
-dem jenigen ,  was  die  Bibel  voulhm  aussagt,  niehts  her- 
vorsticht ,  das  sieh  mit  unserer  Gottesidee  nicht  vereinigen 
Hefte.  Abgesehen  von  dem  Widersprach,  in  welchem  die 
Vielheit  der  'heidnischen  Götterwesen  und  der  nähere  Ia- 
halt ihres  Wollen«  und  Thuns  mit  unsern  Begriffen  vom 
Göttlichen  steht,  so  ist  es  schon  das,  woran  wir  Anstoß 
nehmen,  dafs  hier  die  Götter  selbst  eine  Geschichte  haben, 
dafs  sie  geboren  werden ,  aufwachsen ,  sieh  vermählen , 
Kinder  zeugen ,  Thaten  vollbringen ,  Kämpfe  und  Müh- 
seligkeiten bestehen,  siegen  und  besiegt  werden.  Da  es 
mit  unsrer  Idee  vom  Absoluten  unvereinbar  ist,  dasselbe 
als  ein  der  Zeit  und  dem  Wechsel  unterworfenes,  von 
Gegenwirkung  und  Leiden  afficirtes  zu  denken :  so  erken- 
nen wir  eine  Erzählung,  in  welcher  dergleichen  von  gött- 
lichen Wesen  ausgesagt  wird,  eben  hieran  als  unhistori- 
sch^,  mythische. 

Diesen  Sinn  hat  es  nun  in  letzter  Beziehung,  wenn 
man  behauptet,  die  Bibel,  namentlich  auch  schon  das 
A.  T. ,  enthalte  keine  Mythen.  Die  Schöpfungsgeschichte 
freilich,  mit  ihrer  Aufeinanderfolge  von  Tagewerken  and 
dem  endlichen  Ruhen  nach  vollbrachter  Arbeit;  der  im 
weiteren  Verlaufe  der  Erzählung  öfter  wiederkehrende 
Ausdruck ,  es  habe  Gott  gereut ,  etwas  gethan  zu  haben ; 
diese  und  ähnliche  Darstellungen  sind  nicht  ganz  von  dem 
Vorwurf  einer  Verzeitlichung  Gottes  freizusprechen ,  und 
eben  hieran  knöpft  sich  die  Behauptung  derer,  welche 
jene  Urgeschichte   mythisch  gefafst  wissen   wollen;  auch 


Einleitung«    §.  14.  91 

lifst  sieh,  so  oft  Gott  ausschliefalich  an  einem  bestimmten 
Ort   oder  in  einem  bestimmten  Zeitpunkt  erscheint  oder 
thitig  ist,  wie  jenes  bei  Theophanien,  dieses  bei  Wundern, 
die   unmittelbar    von   ihm   abgeleitet    sind,    vorausgesetzt 
werden  mtifrte,  behaupten,  dafs  Gott  dadurch  in  die  Zeit 
und   sur  mensehliehen    Wirkungsweise  herabgesogen  sei : 
dennoch  ober  kann  man  im  Allgemeinen  vom  A.  T.  sagen, 
dafs  Gott  in  demselben  von  dem  seitlichen  Charakter  sei- 
ner Wirksamkeit  nicht  wesentlich  affioirffe  erseheine ,    dafs 
sich  daher  das  Zeitliche  leichter  als  blofse  Form  neige,  als 
ein  unvermeidlicher  Schein,   entstanden  aus  der  notwen- 
digen Sehranke  des  menschliehen ,  zumal  unwissenschaftl- 
ichen, VorstellnngsvermÖgens.    Jeder  bemerkt,  dafs  es  et- 
was gans  Anderes   ist,   wenn  es  im    A.  T.   heifst:   Gott 
machte  einen  Bund  mit  Noah,  Abraham,  führte  später  sein 
Volk  ans  Aegypten,   gab  ihm  Gesetze,    krachte  es  in  das 
gelobte  Land,   erweckte  ihm  Richter,  Könige,  Propheten, 
and  strafte  es  am  Ende  für  seinen  Ungehorsam  dutch  das 
Exil ,  —  als  wenn  von  Zeus  erzählt  wird ,   er  sei  von  der 
Rhea  auf  Kreta  geboren ,   daselbst  vor  seinem  Vater  Kro- 
ne« in  einer  Kluft  verborgen  worden,   habe  hierauf  den 
Vater  bekriegt,  die  Draniden  befreit,   mit  ihrer,   und  des 
ihm  von  denselben  gewährten  Blitzes  Hülfe  die  widerstre- 
benden Titanen  fiberwältigt,   und  endlich   die  Welt  unter 
seine  Geschwister  und  Kinder  vertheilt.     Der  wesentliche 
Unterschied  zwischen  beiden  Darstellungen  ist  nämlich  der, 
dafs  in  letzterer  der  Gott  selbst  ein  werdender,  am  Ende 
des-  Processes  ein  anderer  als  am  Anfang  ist,  dafc  an  ihm 
und   f&r  ihn   selbst   etwas  wird  und  zu   Stande  kommt: 
wogegen  in  jener  ersteren   nur  auf  Seiten  der  Welt  sich 
etwas  ändert,    während  Gott  in  seiner  Identität  mit  sich, 
*ls  7T7TH  "fflftt  nrut)   beharrt,  und  das  Zeitliche  nur  ein 
oberflächlicher   Widerschein   ist,    welchen   der   von    ihm 
theils  hervorgebrachte  theils  gelenkte  Verlauf  des  weltli- 
ehen Geschehens    auf   seine   Thätigkeit    zurückwirft.    In 


M 


Einleitung«    9.  14. 


der  heidnischen  Mythologie  haben  die  Gatter  eine  Ge- 
schichte: im  A.  T.  hat  nicht  Gott  eine  solche»  sondern 
nur  sein  Volk ,  and  wenn  man  unter  Mythologie  wesent- 
lich Göttergeschichte  versteht ,  90  hat  die  hebräische  Reli- 
gion keine  Mythologie. 

Aus  der  hebräischen  Religion  hat  die  christliche  die 
Krkenntnifs  wie  der  Einheit  so  der  Unveräriderlichkeit 
Gottes  in  sich  aufgenommen.  Dafs  Christus  geboren  wird, 
aufwächst,  Wunritfr  thut,  leidet,  stirbt  und  aufersteht,  sind 
Thaten  und  Schicksale  des  Messias,  Aber  welchen  Gott  in 
unveränderlicher  Sichselbstgleichheit  beharrt.  Insofern 
weifs,  Mythologie  in  obigem  Sinne  genommen,  auch  das 
N.  T.  nichts  von  Mythologie.  Indefs,  etwas  verändert  ist 
dem  A.  T.  gegenüber  die  Stellung  doch:  Jesus  helfet  der 
Sohn  Gottes  nicht  blofe  in  dem  Sinne,  wie  auch  theokra- 
tische  Könige  so  genannt  wurden,  sondern  als  wirklich 
erzeugt  durch  den  göttlichen  Gebt,  oder  weil  der  göttliche 
Xdyog  in  ihm  incarnirt  ist;  sofern  er  Eins  ist  mit  dem  Va- 
ter, und  die  ganze  Fülle  der  Gottheit  leibhaftig  in  ihm 
wohnt,  so  ist  hier  mehr  als  Moses;  sein  Tbun  und  Leiden 
Ist  kein  der  Gottheit  äußerliches  Geschehen,  und  wenn 
man  sich  ihr  Verhäitnifs  an  ihm  gleich  nicht  theopaschi- 
tisch  vorstellen  darf,  so  ist  es  doch  immerhin  auch  jsehon 
nach  dem  N.  T. ,  noch  mehr  nach  der  späteren  Kirchen- 
lehre,  ein  göttliches  Wesen,  das  hier  lebt  und  leidet;  was 
mit  ihm  geschieht,  hat  absoluten  Werth  und  Bedeutung. 
Nach  dem  oben  angenommenen  Begriffe  des  Mythus  also 
hätte  das  N.  T.  wieder  mehr  als  das  alte  am  Mythischen 
Theil;  wenn  aber  insofern  die  Geschichte  Jesu  eine  my- 
thische genannt  werden  wollte,  so  wäre  diefs  zunächst 
eine  ebenso  unverfängliche,  als  in  Betreff  der  historischen 
Frage  nichtsbedeutende  Benennung ,  da  der  Begriff  Gottes 
einem  solchen  Eingehen  in  das  Werden,  wobei  seine  Un- 
veränderüchke it  bewahrt  bleibt,  auf  keine  Weise  wider- 
strebt,   mithin  in   dieser  Rficksioht  die  evangelische  Ge- 


1 
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Einleitung,    f.  14.  tt 

«hiebt»,    «Mitteiltet  ihrer  Beaeiehnung    als  mythischer, 
doch  ««gleich  durchaus  historisch  wahr  sein  kannte» 

Wenn  auf  diese  Weiae  die  biblische  Geschichte  «war 
■lebt  ebenso  wie  die  heidnische  Mythologie  unser  Gottes- 
bewufetseia  verietat,  also  hieran  nicht  auf  die  gleiche 
Weise  wie  diese  ein  Kennzeichen  des  anhistorischen,  wie- 
wohl aneh  bei  Weitem  noch  keine  Bürgschaft  des  histeri» 
sehen  Charakters  hat:  so  ist  die  andere  Frage,  welche 
hier  noch  in  Betracht  kommt,  die,  ob  sie  nicht  minder 
euch  mit  nasrem  Weltbewuüstsein  susammenstimme,  and 
nicht  vielleicht  an  der  Unvereinbarkeit  mit  diesem  ein 
Merkmal  des  Ungeschichtlichen  trage  f 

Der  alten,  namentlich  orientalischen  Welt  war,  ver- 
m5ge  ihrer  vorwiegend  religiösen  Richtung  und  ihrer  ge» 
ringen  Kenntnifs  der  Naturgeaetae,  der  Znsammenhang 
dea  weltlichen,  endliehen  Seins  etwas  so  Loses,  dafs  sie 
von  /edem  Punkte  desselben  auf  das  Unendliche  flberan» 
springen ,  von  jeder  einaelnen  Veränderung  in  der  Nator 
und  Menschenwelt  Gott  als  die  unmittelbare  Ursache  au 
betrachten  fthig  war.  Von  diesem  Standpunkte  des  ße- 
wufstseins  aus  ist  auch  die  biblische  Geschichte  geschrie- 
ben. Zwar  nicht  Alles  und  Jedes  wirkt  hier  Gott  selbst 
(was  wegen  der  Unmittelbarkeit,  mit  welcher  sich  in  man» 
eben  Kreisen  der  ursächliche  Zusammenhang  der  endlichen 
Dinge  aufdringt,  niemals  Bewufstsein  eines  Vernünftigen 
hat  nein  können):  wohl  aber  ist  eine  absolute  Leichtigkeit 
verbanden,  Alles,  auch  das  Einaelste,  sobald  es  besonders 
bedeutsam  erscheint,  unsüttelbar  von  Gott  abzuleiten.  Er 
ist's,  der  Regen  und  Sonnenschein  gibt;  er  sendet  den 
Ostwind,  das  Ungewttter;  er  schickt  Krieg,  Theurung, 
Fest;  er  verhärtet  die  Hermen  und  erweicht  sie,  gibt  Ge- 
dsnken  und  EnteehHefsungen  ein«  Besonders  aber  sind  es 
seine  erkorenen  Werkaeuge  und  Lieblinge,  auf  und  durch 
welche  er  unmittelbar  wirksam"  ist:  die  Geschichte  des 
israelitischen  Volks  trägt  auf  jedem  Schritte  die  Spuren 


04  Einleitung-    $.  14» 


seines  unmittelbaren  Eingreifens;  durch  Moses*  Elias,  Je*»  f 
sus,  wirkte  er  Dinge,  «reiche  der  ordentliche  Lauf  der  ä\ 
Natur  niemals  herbeigeführt  haben  würde,  c  i 

Die  neuere  Zeit  hingegen  hat  einer  durch  Jahrhun«      1 i 
derte  fortgesetzten  Reihe    der    mühsamsten   Forschungen      II  \ 
die  Einsicht  eu  danken,  dafs  Alles  in  der  Welt  dnrch  eine      i  i 
Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen  ausammenhängt,  wet«      i 
ehe  keine  Unterbrechung  duldet«    Zwar  die  einseinen  Oe-      i 
genstände   und  Sphären  der  Weit   mit  dem  Verlauf  ihre*      1 1 
Zustände  und  Veränderungen  sind  keineswegs  so  jedes  in       % 
sich  abgeschlossen,  dafs  sie  einer  Einwirkung  und  Unter-       s 
brechung  von  aufsen  unzugänglich   wären;    sondern   die       \ 
Thätigkeiten    des    einen    Naturwesens    oder   Naturreichs       * 
greifen  in  die  des  andern  über,   die  menschliche  Freiheit 
bricht  die  Entwicklung    manches  Naturgegenstandes   ab, 
und  natürliche  Ursachen  wirken  auf  die  menschliche  Frei-        , 
heit  turück:    aber   immer   bildet  doeh   die   Gesammtheit        { 
endlicher  Dinge  einen  gröfsten  Kreis,  in  welchen,  abgese»       ,, 
ben  dayon,  dafs  er  sein  Dasein  und  Sosein  einem  Höheren        , 
verdankt,  nichts  Einseines  mehr  von  aufsen  hereinkommen        , 
kann.    Diese   Ueberseugung  Ist  so  sehr  Bewufstsein   der 
neuen  Welt  geworden,  dafs  im  wirklichen  Leben  dieMei*        , 
nung  oder  Behauptung,  eine  übernatürliche  Ursache,  eine 
göttliche  Wirksamkeit,    habe  irgendwo  unmittelbar  einge-        , 
griffen,  geradesu  als  Unwissenheit  oder  Betrug  betrachtet 
wird;   und  sie  hat  sich  bis  «um  Extreme  fortgetrieben  in 
der  Ansicht  der  neueren  Aufklärung,   welche,   der  bibli- 
schen gerade  entgegengesetat,  die  göttliche  Ursächlichkeit 
entweder  gana  entfernte,   oder  sie  doch   so  weit  aorüok- 
sehob,  dafs  sie  nur  im  Acte  der  Schöpfung  eine  unmittel- 
bare, von  hier  an  abwärts  aber  eine  blofr  mittelbare  sein,        ' 
d.  h.  Gott  nur  insofern  auf  die  Welt  wirken  sollte,  als  er 
ihr  in  der  Schöpfung  diese  bestimmte  Einrichtung  gegeben 
habe.    Von  diesem  Standpunkte  aus,   welcher  in  Natur 
und  Geschichte  ein  festes  Gewebe  endlicher  Ursachen  und 


Einleitung    J.  14. 


Wlriemgeu  erblftekt,  konnten  die  biblischen  Erzählungen, 
in  welchen  diese»  Gewebe  auf  unzähligen  Punkten  doreh 
Einschreitung  dar  gastlichen  Ursächlichkeit  durchlöchert 
ist,  unmöglich  alt  Geschichte  erscheinen. 

Näher  owvogcn  neigte  sieh  freilieb,  dal*,  wie  jene 
akerthfimliehe  Ansteht  den  Begriff  der  Welt,  so  diese 
moderne,  selbst  soweit  sie  des  Dasein  Gottes  nicht  gera- 
dem Jängnete,  den  Begriff  Gottes  aufhob.  Denn  das  ist, 
wie  oft  nnd  mit  Recht  bemerkt  worden ,  kein  Gott  und 
Schöpfer  mehr,  sondern  ein  endlieber  Künstler,  weleher 
aaf  eein  Werk  nnr  während  dessen  Hervorbringung  un- 
suttelbai»  wirkt,  bernaeh  aber  es  sieh  selbst  äberiäfst; 
weleher  äberhaupt  ans  irgend  einem  Kreise  des  Daseine 
mit  seiner  Tollen  Wirksamkeit  ausgeschlossen  ist.  Daher 
bat  man  denn  darauf  gedacht,  beide  Ansichten  zu  vereJ* 
nigen,  um  sowohl  der  Welt  Ihren  Zusammenhang,* ' als  Gott 
seine  unbeschränkte  Wirksamkeit  zu  erhalten,  und  dadurch 
«■gleich  die  Wahrheit  der  bibliseben  Geschichte  an  retten* 
Hienaeh  soll  nun  die  Welt  in  der  Regel  «war  im  Znsasa* 
menhange  der  in  ihr  verbundenen  Crsaohen  und  Wirkun- 
gen sieh  bewegen,  nnd  Gott  nnr  mittelbar  auf  sie  wirken : 
in  einzelnen  Fällen  aber,  wenn  er  es  zu  besondern  Zwe- 
eben  nötbig  finde,  sei  es  ihm  doch  unbenommen,  auch  un- 
mittelbar in  den  Verlauf  der  weltlichen  Veränderungen 
einzugreifen.  Diefs  ist  nun  der  Standpunkt  des  neueren 
Supranaturalisunis  ^ ,  welcher  sioh  sogleich  dadurch  bIb 
falschen  Vermittlungsversuch  kennhar  macht,  dafs.  er  die 
Fehler  tler  zwei  sich  entgegenstehenden  Ansichten,  statt 
sie  zu  vermeiden,  verbindet,  und  noch  einen  neuen,  den 
Widerspruch  der  beiden,  schlechtverbundenen,  Ansichten 
gegen  einander,  hinzufügt.  Hier  bleibt  nämlich  sowohl 
der  Natur«    nnd  Geschichtszusammenhang   durchlöchert, 


2)  Z.  B.  bei  Hkydenmich,  über  die  Unzulässigkeit  u.  s.  f.  1.  Stück* 
Vgl.  Stobb,  doctr.  christ.  §.  35  ff. 


9§  EinleUaog,    9.  14. 

wie  bei  der  alterthOmÜeh-bibüsobetf  Ansieht,  als  anch  dfr 
Wirhsaaskeit  Gottes  besehrlnkt ,  wie  bei  der  entgegenge* 
setsten ;  woso  nun  noch  kommt,  dafs  durch  die  Aonahsse, 
Gott  wirke  bald  mittelbar,  bald  unmittelbar  auf  die  Welt, 
ein  Wechsel,  mitbin  ein  seitliches  Element,  In  dessen 
TbXtigkeit  hereingebracht  wird,  was  freilich  auch  sehen 
der  biblischen  Ansicht  bot  Last  ftlit,  sofern  sie  eineelne 
Acte  der  göttlichen  Tbütigkeit,  und  der  entgegengesetateo, 
sofern  sie  dae  Wirken  Gottes  im  Schopf nngsacte-  von  dem 
erhaltenden  unterscheidet  3). 

Wenn  hienach  der  Begriff  Gottes  eine  unmittelbare, 
der  der  Welt  aber  eine  blofs  mittelbare  Einwirkung  Got- 
tes erheischt j  Beides  aber  sich  nicht  durch  Annahme  eines 
Wechsels,  «wischen  beiden  Wirkungsweisen  vereinigen 
Ufst:  so  bleibt  nichts  Anderes  übrig,  aU  beide  sieh  stetig 
und  bleibend  vereinigt  an  denken,  so  dais  also  die  Wirk- 
samkeit Gottes  auf  die  Welt  immer  und  überall  beides, 
sowohl  eine  unmittelbare  wäre  als  eine  mittelbare;  was 
freilich  anch  wieder  so  viel  heilst,  dais  sie  keines  v«oa  bei* 
den  ist,  oder  diese  Unterscheidung  ihre  Gültigkeit  verliert* 
Fragt  es  sieh,  wie  diefs  der  Vorstellung  näher  su  bringen 


3)  Leidet  diese  supranaturalistische  Ansicht  an  einem  theologi- 
schen Widerspruche :  so  enthält  die  der  sog.  gläubigen  Theo- 
logie, welche  sich  so  hoch  über  den  alten  Supranaturalismus 
erhaben  glaubt,  sogar  schon  einen  logischen  Widerspruch. 
Gott  wirkt  zwar  in  der  Regel  nur  mittelbar  auf  die  Welt, 
bisweilen  jedoch,  ausnahmsweise,  auch  unmittelbar  —  das  ist 
doch  Etwas?  wenn  auch  nichts  Kluges;  nun  aber:  Gott  wirkt 
schon  immer  unmittelbar  auf  die  Welt,  in  gewissen  Fallen 
aber  noch  besonders  unmittelbar  —  das  ist  der  baare  Wider- 
spruch in  sich  selbst.  Vom  Standpunkte  der  Immanent'  Got- 
tes in  der  Welt,  wie  ihn  diese  neuevangelische  Theologie  aus- 
drücklich für  sich  in  Anspruch  nimmt,  ist  der  Begriff  des 
Wunders  ein  unmöglicher.  Vergl«  meine  Streitschriften,  I, 
3,  S.  46  f. 


Einleitung.     {,  14.  <>7 

sei,  so  ist,  wenn  man  ?oa  Begriffe. Gottes  ausgeht,  von 
welchem  ans  die  Forderung  eines  unmittelbaren  Wirkens  auf 
die  Welt  entstand,  für  Gott  die  Welt  jederzeit  als  Ganzes  da ; 
umgekehrt,  vom  Standpunkte  des  Endlichen,  der  Welt, 
ausgegangen,  ist  diese  wesentlich  ein  Getheiltes,  Verein- 
seltes ,  und  von  hier  aus  ist  uns  die  Forderung  eines  blofs 
mittelbaren  Eingreifens  Gottes  entstanden;  so  dafs  man. 
also  sagen  muh:  auf  die  Welt  als  Ganzes  wirkt  Gott  un- 
mittelbar ,  auf  jedes  Einzelne  in  ihr  aber  nur  durch  Ver- 
mittlung seiner  Wirksamkeit  auf  alles  andere  Einzelne, 
d.  h.  vermittelst  der  Naturgesetze '). 

Heber  den  historischen  Werfb  der  biblischen  Ge- 
schichte füllt  bei  dieser  Ansicht  das  Urtheil  nicht  anders 
ans  als  bei  der  oben  betrachteten.  Die  Wunder,  welche 
Gott  für  Moses,  Jesus,  und  durch  sie,  wirkt,  sind  keine 
Abflüsse  seiner  unmittelbaren  Wirksamkeit  auf  das  Ganze, 
sondern  setzen  eine  unmittelbare  Einwirkung  auf  das  Ein- 
zelne voraus,  und  widersprechen  insofern  dem  sonstigen 
Typus  des  göttlichen  Wirkens  auf  die  Welt.  Die  supra- 
aataralistisehe  Ansicht  nun  setzt  eben  für  den  Kreis  der 
Biblischen  Geschichte  eine  Ausnahme  von  diesem  Typus 
voraus:  eine  Voraussetzung,  welche  unser  Standpunkt 
tbeilen  kann6),  sondern  dieselben,  obwohl  nach  der 


4)  In  dieser  Ansicht  stimmen  im  Wesentlichen  zusammen  Ws*- 
schkiskk,  instit.  theol.  dogm.  t}.  12. j  db  Witts,  bibL  Dogm., 
Vorbereitung;  Schlburmachkr ,  Glaubensl.  §.  46 f.  Marhbi- 
kbsb,  Dogm.  $.  369  ff.  '  Vergl.  Gborck,  S.  78  f. 

5)  Diess  ist  die  Voraussetzungslosigkeit,  welche  die  vorliegende 
Untersuchung  für  sich  in  Anspruch  nimmt ;  in  ähnlichem  Sinne, 
wie  man  den  Staat  einen  voraussetzungslosen  nennen  könnte, 
in  welchem  Standes-  u.  a.  Privilegien  nichts  gelten.  Freilich 
kann  gesagt  werden,  ein  solcher  Staat  mache  doch  die  Vor* 
anssetznng  der  gleichen  menschlichen  Natur  in  allen  seinen 
Bürgern,  wie  unsre  Ansicht  die  der  gleichen  Gesetzmässigkeit 
in  allem  Geschehen:   aber  nur  so,    wie  man  jeden  negativen 

Da*  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  f.  Band.  7 


tt  Einleitung.     {.  14. 

Yaraehiedenheit  der  Gebiete  verschieden  beatimnaten ,  Ge- 
setze dureh  alle  Kreise  des  Seins  und  Gesehebens  herr- 
sehen iäfst,  und  daher,  wo  eine  Erzählung  gegen  dies« 
Gesetze  veratöfst,  sie  insoweit  für  nn historisch  erkennt 

Dieses  scheinbar  auffallende  Ergebnifs  einer  allgemei- 
nen Ansioht  der  biblischen  Geschichte,  dafs  hienach  auch 
die  hebräische  und  christliche  Religion ,  wie  alle  andern, 
Ihre  Mythen  habe 6) ,  wird  bestätigt ,  wenn  man  vom  Be- 
griffe der  Religion  aasgeht,  nnd  fragt,  was  eu  deren  We- 
sen gehört  und  also  Bestandteil  aller  Religionen  sein  mufs, 
und  worin  hingegen  die  eineeinen  Religionen  sich  noch 
unterscheiden  können?  Wenn  man,  die  Religion  im  Ver- 
hältnis sur  Philosophie  bestimmt  als  das  Bewnfstsein  des- 
selben absoluten  Inhalts,  aber  nicht  in  Form  des  Begriff«, 
sondern  der  Vorstellung:  so  ist  leicht  zu  sehen,  dafs  nur 
«nter  und  ober  dem  eigentlichen  Standpunkte  der  Religion 
das  Mythische  fehlen  kann,   innerhalb  der  eigentlich  reii- 


Satz  auch  wieder  in  einen  affirmativen  verwandeln  kann.  An 
sich  hingegen,  «einem  Gehalte  nach,  ist  der  Anspruch,  dass 
für  die  biblische  Geschichte  besondere  Gesetze  gelten  sollen, 
eine  Affirmation,  die  Nichtanerkennung  dieses  Anspruchs  eine 
Negation;  nach  der  bekannten  Regel  aber  muss  der  affirma- 
tive Satz,  nicht  ebenso  der  negative  ,x  bewiesen  werden:  so 
dass  also  nur  jener,  nicht  dieser,  falls  er  nicht  bewiesen, 
oder  der  Beweis  nicht  genügend  gefunden  wird,  als  Voraus- 
setzung bezeichnet  werden  kann.  —  Näheres  Merüber  habe 
ich  in  meinen  Streitschriften  gegeben,  1,  3,  S.  36  ff. 

6)  Dagegen  beweist  z.  B.  Hoffmahn  (S.  70 ff.)  durch  eine,  vom 
ersten  Menschen  und  dessen  geträumtem  Urzustände  ausge- 
hende Deduction ,  dass  in  der  A.  und  N.  T.  liehen  Religion 
keine  Mythen  sein  können;  eine  Beweisführung,  die,  nach 
dem  eigenen  Ausdruck  ihres  Urhebers,  ab  ovo  anfängt,  d.  h. 
▼om  an  sich  Unbestimmten,  dem  man  am  bequemsten  dieje- 
nigen Bestimmungen  ertheilen  kann,  deren  man  als  Voraus- 
setzungen zu  dem,  was  man  beweisen  will,  bedarf. 


Einleitung.     $.  14.  91 

giosen    Sphäre    aber  dasselbe  wesentlich    und   nothwendig 
vorhanden  Ist. 

Mar  bei  den  wildesten   and  elendesten  Völkern,   bei 
Eskimo's  n.  dgl. ,   finden  wir  es,   dafs  ihre  Religion  noeii 
■lebt  sor  objectiven  Form  der   Vorstellung  herausgebildet, 
sasMlern  im  aubjeetiven   Gefühle  beschlossen  ist;    dafs  sie 
■ach  nichts  von  Göttern ,   höheren  'Geistern  und  Mächten 
wiesen,   sondern  ihre  gante  Frömmigkeit  in  der  dampfen 
Empfindung  besteht,  welche  sie  dem  Orkan,  der  Sonnenfin- 
sternUs,  oder  dem  Zaoberer  gegenüber  haben.     Weiterhin 
aber  löst  sich  immer  mehr  der  absolute  Inhalt  der  Religion 
ven   der  trüben  Vermischung  mit  der  Snbjectivitit,  und 
tritt  dieser  in  objectiver  Form  gegenüber:  es   werden  in 
den  Gegenständen    der    sinnlich    vorhandenen    Welt,    in 
Sonne,  Mond,  Gebirgen,  Thieren,  höhere  Milchte  des  Da« 
■eins  angeschaut  and  verehrt ;   damit   aber ,   je   mehr  die 
Bedeutung,  welche  man  diesen  Gegenständen  beilegt,   von 
ihrer   Wirklichkeit   verschieden  ist,    zugleich   eine  neue 
Weit  der  blofsen  Vorstellung,  ein  Kreis  von  Götterwesen, 
erschaffen,   deren  Verhältnils  nn  einander,  ihr  Thun  und 
Wirken,   nur  nach  Analogie  dea  menschlichen,  also  seit- 
lich  und  geschichtlich,    vorgestellt  werden  kann«     Auch 
wenn  sieh  das   Bewußtsein   zum  Gedanken   der   Einheit 
des  Göttlichen  erhoben  hat,  wird  dennooh  Gottes  Leben- 
digkeit und  Wirksamkeit  nur  unter  der  Form  einer  Reihe 
göttlicher  Thaten  betrachtet,   und   andrerseits  das  natür- 
liche   Geschehen   und   das  menschliche  Thun   nur  durch 
Annahme   göttlicher  Wirkungen  und  Wunder  in   demsel- 
ben so  religiöser  Bedeutung  erhoben  werden  können,    Erat 
auf  dem  Standpunkte  der  Philosophie  ist  es,  dafs  die  Welt 
der  religiösen  Vorstellung  mit  der  wirklichen   wieder  eu- 
sammengeht,   indem  der  Gedanke  Gottes  als  dessen  Sein 
gefafst,   und  eben  in  dem  gesetsmäfsigen  Verlaufe  des  an* 
tätlichen  and  geschichtlichen  Lebens  die  Selbstoffeuberauf 
dar  göttlichen  Idee  erkennt  wird. 

7» 


101)  Einleitung.     §.  14. 

Wie  nun  dergleichen  Erzählungen,    welche  Nfohtge« 
scheheiies  als  geschehen  berichten,  ohne  absichtlichen  Be- 
trug gebildet,   und  ohne  beispiellose  Leichtgläubigkeit    für 
wahr  gehalten  werden  konnten,  ist  zunächst  befremdend, 
und  man  bat  es  der  mythischen  Ansicht  von  manchen  Er*- 
z&hlungen   des  A.  u.  W.  T.  als  unüberwindlichen  Anetofa 
entgegengehalten.    Wlire  er  diefs,  so  würde  dadurch,  wie 
für  die  hebräische  und  christliche,   so  auch  für  die  heid- 
nische Sage  die  mythische  Auffassung  unmöglich  gemacht; 
wogegen ,    wenn  die  profane  Mythologie  diese  Schwierig- 
keit überwunden  hat,   auch  die  biblische  nicht  an  dersel- 
ben -scheitern  wird,    loh  setze  hierüber  die  Worte  eineis 
auf  dem   Felde    der   griechischen   Mythologie   und   Urge- 
schichte bewährten  Forschers,  Otfried  Müllkr's,  ausführ- 
lich hieher,  weil  es  sich  zeigt,  dafs  diese  Vorbegriffe,  wel- 
che zum  Verständnisse  der  nachfolgenden  Untersuchungen 
über]  den  evangelischen  Mythus  aus  der  allgemeinen  My- 
thologie vorausgesetzt  werden,  noch  nicht  allen  Theologen 
geläufig  sind.    Wie  vereinigen  wir,  fragt  Müller  *) ,   das, 
data  im  Mythus  mit  dem  Factischen  Nichtfaotisohes,  Ideel- 
les, wesentlich  verbunden  ist,  mit  der  Thatsaobe ,  dafs  die 
Mythen  geglaubt,  für  wahr  gehalten  worden  sind?  „Jenes 
Ideelle,    könnte  Jemand  sagen,   ist  doch   nichts  Anderes, 
als  in  die  Form  von  Erzählung  eingekleidete  Dichtung  nnd 
Erfindung;   eine  Erfindung  der  Art   aber   kann   ohne  ein 
Wunder  nicht  zugleich  von  Vielen  gemacht  werdon,  weil 
ein  eigenes  Zusammentreffen  von   Absicht,   Darsteltungs- 
vermögen  und  Darstellungsweise  dazu  erforderlieh  wlire. 
Also  hat  sie  doch  Einer  gemacht,  —   und  wie  hat  dann 


7)  Frolegomena  zu  einer  wissenschaftlichen  Mythologie,  S.  110  ff. 
fiiemit  sind,  was  die  heidnischen  Mythen  betrifft,  auch  Uu- 
manu  u.  j.  Müller  in  ihren  Recc.  des  vorliegenden  Werks, 
Hoftmakw,  S.  113  f.,  u.  A.  einverstanden.  Besonders  zu  ver- 
gleichen ist  aber  Giorsi,  Mythus  u.  Sage,  S.  IS  ff.  10*. 


Einleitung.     $,  14.  101 

dieser   Eise  alle  Uebrigen    von    der    Wirklichkeit   seiner 
Erfindung  überzeugt?    Sollen  wir  etwa  annehmen,  dieser 
Eine  sei  ein  Schlank opf  gewesen ,  der  durch  allerlei  Täu- 
schung  und  Blendwerk  die  Andern  su  überreden  gewufe 
habe,  etwa  dadurch ,   dafs  er  sich  mit  gleiohgesinnten  Be- 
trügern  in  Verbindung   setzte,   die   dem  Volke  dann  das 
von  ihm  Ersonnene  als  auch  von  ihnen  beobachtet  beeeu- 
gen  mausten?    Oder  tollen  wir  nns  den  Einen  als  einen 
hoher  begabten  Mensehen,  als  ein. erhabeneres  Wesen  den- 
ken, dem  die  übrigen  aufs  Wort  glaubten,  and  von  dem 
sie  jene  Mythen,   unter  deren  Hülle  er  ihnen   heilsame 
Wahrheiten  mitzutheiien  suchte,  als  heilige  Offenbarung 
annahmen?    Aber  es   kann  anmöglich  bewiesen   werden, 
dafs  eine   solche  Carte  von  Sehlauköpfen   im   alten  Grie- 
chenland  [oder  Palästina]  exlstirt  habe;    auch  ist  diefs 
künstliche  System  des  Betrags,  es  sei  nun  ein  grober  oder 
feiner ,  eigennütziger  oder  menschenfreundlicher  gewesen, 
wenn  nicht  der  ganze  Eindruck  trügt,    den  die  frühesten 
Prodncte   des  griechischen  [und  christlichen]  Geistes  auf 
uns  machen,  der  edeln  Einfalt  jener  Zeiten  sehr  wenig 
angemessen.     Wir  kommen  also  dahin,  dafs  anch  Ein  Er- 
finder -des  Mythus  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  nnge- 
denk'bar  sei.     Wozu  führt  aber  diefs  Raisonnement  ?    Zu 
nichts  Anderem  offenbar,    als   dafs  der  ganze  Begriff  der 
Erfindung,  d.  h.  einer  freien  und  absichtlichen  Handlung, 
•durch  welche  etwas  von  dem  Handelnden  als  unwahr  Er- 
kanntes mit  dem  Scheine  der  Wahrheit  umkleidet  werden 
soll,  als   anpassend   für  die  Entstehung  des  Mythus   von 
nnsrer  Betrachtung  zu  entfernen  ist.     Oder  mit   andern 
Worten,   dafs  bei  der  Verbindung  des  Ideellen  und  Reel- 
len,   welche  im  Mythus  vereinigt  liegen,    eine  gewisse 
Notwendigkeit  obwaltet,   dafs   die   Bildner  des  Mythus 
durch  Antriebe ,  die  auf  Alle  gleich  wirkten ,   darauf  hin- 
geführt worden ,   nnd  dafs  im  Mythus  jene  verschiedenen 
Elemente  zusammenwuchsen,  ohne  dafs  diejenigen,    durch 


Itl  Einleitung.     $.14. 

welche   es   geschah ,    selbst   ihre  Verschiedenheit  erkannt, 
•um  Bewufetsein   gebracht  hfttten.     Es  ist  der  Begriff  ei- 
ner gewissen  Notwendigkeit   und  Unbewufstheit   im  Bit« 
den  der  alten  Mythen,   auf  welchen  wir  dringen.    Haben 
wir  diesen  gefaßt,  so  sehen  wir  auch  ein,  dafe  der  Streit, 
ob  der  Mythus  von  Einem  oder  Vielen,   von  dem  Dichter 
oder  dem    Volke  ausgehe,   auch   wo  er   sonst  Statt  bat, 
nicht  die  Hauptsache  trifft.    Denn  wenn  der  Eine,  Erzäh- 
lende,   bei   der  Dichtung   des  Mythus   nur  den  Antrieben 
gehorcht,    welche   auch  auf  die  Qemfither  der  Anderen, 
Hörenden ,  wirken  :   so  ist  er  nur  der  Mund ,   durch  den 
Alle  reden,  der  gewandte  Darsteller,   der  dem,  was  Alle 
aussprechen  möchten,  feuerst  Gestalt  und  Ausdruck  zu  ge- 
ben das  Geschick  hat.     Es  ist  indessen  wohl  möglich,  dafs 
dar  Begriff  dieser  Notwendigkeit;  und  Unbewufstheit  man« 
chem  unsrer  Alterthomsforscher  [und  Theologen]  dunkel, 
ja  mystisch,   vorkomme;    aus  keinem  andern  Grunde,   als 
weil  diese  mythenbildende  Thätigkeit  in  unserem  heutigen 
Denken  keine  Analogie  hat:  aber  soll  die  Geschichte  nicht 
auch  das  Fremdartige,  wo  sie  unbefangene  Forschung  dar- 
auf hinfahrt,  anerkennen  ?"    Sofort  gibt  Müller  ein  Bei- 
spiel, wie  selbst  sehr  zusammengesetzte  Mythen,  zn  deren 
Bildung  mehrere,   scheinbar  entlegene  Umstände  sieh  ver- 
einigen mufsten  ,   auf  diese   bewußtlose  Weise  entstehen 
konnten,    an  dem   griechischen  Mythus  von  Apollon  und 
Marsyas.    „Bei  Apollinischen  Festen,  sagt  er,  warKithar- 
•piel  gewöhnlich,  und  es  war  dem  frommen  Gemfithe  noth- 
wendig,  den  Gott  selbst  als  Urheber  und  Erfinder  dessel- 
ben  anzusehen.     In   Phrygien   dagegen  war   Flötenmusik 
einheimisch ,   die  auf  dieselbe  Weise  auf  einen  einheimi- 
sehen  Dümon,  Marsyas,  zurfickbezogen  wurde.    Die  alten 
Hellenen  fühlten ,    dafs  diese  jener  im   innern  Charakter 
entgegengesetzt   war:   Apollon   mußte  den  dumpfen  oder 
pfeifenden  Flötenlaot  verabscheuen,  und  den  Marsyas  dasu. 
Nicht  genug:  er  mufste,  damit  der  kitharspielende  Grieche 


Einleitung.     $.  14.  10$ 

neb  des  Gottes  Erfindung  ah  das  vortrefflichste  Instru- 
ment ansehen  konnte,  den  Marsyas  überwinden.  Aber 
warum  mußte  der  unglückliche  Phryger  auch  gerade  ge- 
Sekunden  werden?  Die  Sache  ist  einfach  die.  In  der 
Felsengrotte  an  der  Burg  von  Kelfinfi  in  Phrygien ,  aus 
Weher  ein  Flufs  Marsyas  oder  Katarrhaktes  hervorbricht, 
king  ein  Schlauch,  der  Schlauch  des  Marsyas  bei  den 
Pbrygern  genannt,  sofern  Marsyas,  wie  der  griechische 
Buenos,  ein  Dämon  der  saftstrotzenden  Natur  war.  Wenn 
aon  ein  Hellene  oder  ein  hellenisch  gebildeter  Phryger  den 
Schlauch  sah ,  so  raubte  ihm  klar  werden ,  wie  Marsyas 
««endet ;  hier  hing  ja  noch  seine  abgezogene,  schlauohalin- 
liehe  Haut:  Apollon  hat  ihn  schinden  lassen.  In  allem 
■iiesem  ist  kein*  willkürliche  Dichtung;  es  konnten  Viele 
daraufkommen,  und  wenn  es  Einer  xuerst  aussprach,  so 
wufste  er,  dafs  die  Andern,  von  denselben  Vorstellungen 
geoihrt,  keinen  Augenblick  an  der  Riohtigkeit  der  Sache 
zweifeln  würden.  —  Der  Hauptgrund,  warum  die  Mythen 
in  der  Regel  in  ihrer  Entstehung  so  wenig  einfach  sind, 
liegt  darin,  dafs  sie  grofsentheils  gar  nicht  auf  Einen 
Schlag  entstanden  sind,  sondern  sich  allgemach  und  suc- 
cessiv,  unter  der  Einwirkung  gar  verschiedenartiger,  aufse- 
rer  und  innerer  Zustünde  und  Ereignisse,  deren  Ein- 
drucke die  im  Munde  des  Volks  fortlebende,  durch  keine 
Schrift  befestigte  nnd  erstarrte ,  immer  bewegliche  Tradi- 
tion simmtlich  aufnahm ,  im  Laufe  langer  Jahrhunderte 
[in  wiefern  diefs  auch  bei  einem  grofsen  Theile  der  N.  T. li- 
ehen Mythen  zutreffe,  wird  unten  gezeigt  werden]  zu  der 
Gestak,  in  welcher  wir  sie  nun  erhalten,  ausgebildet  ha- 
hei».  Diefs  ist  eine  ebenso  wichtige  wie  einleuchtende 
Thatsache,  die  jedoch  bei  der  MythenerklKrung  noch  im- 
mer häufig  übersehen  wird ;  indem  man  den  Mythus  wie 
eine  Allegorie  betrachtet,  welche  von  reinem  auf  einmal 
mit  der  bestimmten  Absieht  ersonnen  wird,  einen  Gedan- 
ken in  die  Form  einer  Erzählung  zu  verstecken."  —-    Die 


^-  .^_-  ^%k_ 


104  Einleitung.     §.   14. 

Ansicht,  welche  hier  Müller  aasspricht,  „dafs  dem  My- 
thus kein  individuelles  Bewufstsein ,  sondern  ein  höheres 
allgemeines  Volksbewufstsein  [Bewufstsein  einer  religiösen 
Gemeinde]  zum  Grunde  liege,"  nennt  ein  competenter  Be- 
urtheiler  des  MüLLfiR'sehen  Werks  „die  nothwendigste 
Bedingung  eines  richtigen  Verständnisses  des  alten  My- 
thus, dessen  Anerkennung  oder  Verwerfung  alle  Ansich- 
ten ober  Mythologie  sogleich  von  vorne  herein  in  zwei 
durchaus  entgegengesetzte  scheide."  *). 

Allerdings  indessen  ist  die  Gränzlinie  zwischen  Ab- 
sichtslosem und  Absichtlichem  hier  nicht  leicht  zu  ziehen« 
Wo  eine  Thatsache  zum  Grunde  lag,  die  im  Munde  des 
Volks  viel  besprochen  und  gepriesen,  im  Laufe  der  Zeiten 
zum  Mythus  sich  gestaltete,  da  lfifst  sich  wenigstens  für 
die  erste  Zeit  der  Begriff  der  Dichtung  und  Absichtlich- 
keit leicht  entfernt  halten,  indem  ein  solcher  Mythus  vor- 
erst gar  nicht  das  Werk  eines  Einzelnen,  sondern  ganzer 
Gemeinschaften  und  auf  einander  folgender  Geschlechter 
ist,  in  weichen  die  Erzfihiung  von  Mund  zu  Munde  ging, 
und  durch  unwillkürliches  Hinzufügen  eines  verherrlichen- 
den Zugs  durch  diesen,  eines  andern  durch  jenen  Erzäh- 
ler schneeballartig  sich  vergröberte.  Mit  der  Zeit  aber 
finden  sich  nun  allerdings  durch  solche  Sagen  begabtere 
Köpfe  zur  eigenen  poetischen  oder  religiös  -  pragmatischen 
Bearbeitung  derselben  angeregt,  und  die  meisten  mythi- 
schen Erzählungen,  welche  uns  aus  dem  Altertum  auf- 
behalten sind,  wie  der  troisohe,  der  mosaische,  Sagen- 
kreis, liegen  in  dieser  überarbeiteten  Gestalt  uns  vor.  Hier 
nun  scheint  absichtliche  Erdichtung  sogleich  sich  einmi- 
schen zu  müssen :  doch  auch  nur  von  unrichtigen  Voraus- 
setzungen aus.  Es  ist  nämlich  unsrer  verständigen  und 
kritischen  Zeitbildung  fast  unmöglich,   sich  in  eine  Zelt 


8)  Worte  Baua's  in  seiner  Recens.  von  Müller'*  Prolegomenen, 
in  Jahk's  Jahrbüchern  f.  Phiiol.  u.  Pädag.  1828,  1.  Heft,  S.  7. 


Einleitung.    §.  14.  105 

and  Bildung  surilcksuversetnen ,  in  welcher  die  Phantasie 
so  kräftig  wirkte,  da£s  ihre  Gebilde  in  dem  Geiste  dessen 
sribet,  der  sie  schuf,  sieh  an  Wirklichkeiten  yerfesten 
kennten.  Allein  die  nämlichen  Wunder,  welche  in  min- 
ier gebildeten  Kreisen  die  Phantasie,  thut  ja  in  gebildeten 
4er  Verstand«  Nehmen  wir  den  nächsten  besten  pragma- 
tmreaden  Historiker  der  alten  oder  neuen  Zeit,  z.  B.  Li- 
nas. Numa,  sagt  dieser,  habe  den  Römern  eine  Menge 
religiöser  Gebräuche  gegeben,  ne  luxuriarentur  otio  animi, 
aad  weil  er  die  Religion  für  das.  geeignetste  Mittel  gehal- 
ten habe,  multitudhiem  imperitam  et  Ulis  seculis  rudern 
im  Zaume  an  halten.  Idem,  sagt  der  Geschichtsbhreiber 
weiter,  nefastos  dies  fastosque  fecit,  quia  aliquando  nihil 
cum  populo  agl  utile  futurum  erat  *)•  Woher  wufste  Li- 
nas, dafs  diefs  die  Beweggründe  des  Mama  waren?  Sie 
waren  es  in  der  Wirklichkeit  gewifs  nicht.  Aber  Livius 
glaubte  es.  Es  ist  eine  Combination  seines  reflectirenden 
Verstandes,  die  ihm  aber  so  notb wendig  schien,  dafs  er 
sie  mit  Toller  Deberseugung  als  Wirklichkeit  vorträgt. 
Die  Volkssage  oder  ein  alter  Dichter  hatte  sich  die  Pro- 
dnctivität  des  JNuma  in  Beaug  auf  religiöse  Einrichtungen 
anders  erklärt,  nämlich  aus  Zusammenkünften  desselben 
mit  der  Göttin  Egeria,  welche  ihm  geoffenbart  fcabe,  was 
für  Dienste  den  Göttern  die  willkommensten  seien.  Man 
siebt,  das  Verhältnifs  ist  auf  beiden  Seiten  ziemlich  gleich : 
wenn  die  letztere  Erzählung  Einen  Urheber  hat,  so  meinte 
dieser,  das  geschichtlich  Gegebene  nur  durch  die  Voraus- 
setzung einer  Zusammenkunft  mit  einem  höheren  Wesen, 
wie  Livius  nur  durch  die  Unterlegung  politischer  Absich- 
ten, erklären  zu  können;  jener  hielt  das  Prodnct  seiner 
Phantasie,  wie  dieser  die  Combination  seines  Verstandes, 
Ar  Realität  10). 


9)  I,  10. 

SO)  Auf  ähnliche  Weise  zeigt  Gsoiies,  S.  26f  ,   wie  jeder  Ge 


106  Einleitung.     §.  14. 

Man  wird  die  Möglichkeit  bewußtloser  Erdichtung, 
seihet  wenn  bestimmt  ein  Einzelner  aU  Urheber  hervor« 
tritt,  vielleicht  zugeben,  wo  das  Mythische  nor  in  der 
Ergfinsung  and  Ausschmückung  eines  gegebenen  Geschicht- 
lichen durch  einzelne  unhistorische  Züge  besteht;  wo  hin- 
gegen die  ganze  Ercählung  erdichtet,  und  ein  geschichtli- 
cher Kern  gar  nicht  su  finden  ist,  wird  man  fortfahrea 
su  behaupten,  dafs  hier  die  Annahme  bewufstloser  Dich- 
tung u)  unmöglich  sei.  Mag  es  sich  in  dieser  Hinsicht 
mit  der  auswärtigen  Mythenbildung  verhalten  wie  es  will: 
bei  der  N.  T.  liehen  wenigstens  läfst  sich  anschaulich  ma- 
chen, wie  gerade  diese  Art  von  Dichtungen  Über  Jesum 
am  leichtesten  ohne  Bewufstsein  entstehen  konnte.  Die 
messianische  Erwartung  war  schon  lange  vor  Jesu  Zeit 
im  israelitischen  Volk  erwachsen,  und  eben  damals  sur 
gröTsten  Reife  und  Ausbildung  gediehen.  Nun  war  sie 
schon  von  Anfang  an  keine  ganz  unbestimmte  gewesen, 
sondern  durch  mehrere  Momente  bestimmt  und  umschrie- 
ben. Einen  Propheten ,  wie  er  gewesen ,  hatte  angeblich 
Moses  seinem  Volke  verheifsen  (5.  Mos.  18, 15:  7pnj?ö  ITC) 

(TJVJS»  rfjrr  7|S  D*j£  %p%  7JTJWD  ,  und  diese  Steile  wurde 
su  jener  Zeit  vom  Messias  verstanden  (A.  G.  3,  22»  7,  37). 
Daher   der   rabbinisohe   Grundsatz:    Stfä  D  ftlftn   StfUD 

fnriK ;  was  dann  auch  in  einseinen  Zügen  ausgeführt  wurde, 

die  man  vom  Messias  nach  dem  Vorbilde  des  Moses  er- 
wartete12).    Der  Messias  sollte  ferner  aus  dem  Geschlechts 


lehrte,  der  eine  nicht  mehr  nach  allen  Beziehungen  bekannte 
Vergangenheit  darzustellen  unternehme,  unbewusst  Mythen 
Lüde. 

11)  Das  Vergnügen ,  an  dem  Ausdruck :  hcwusstlosc  Dichtung, 
als  einem  „Widerspruche  in  termtnts",  sich  zu  stossen  (Mach, 
Bericht  über  D.  Strauss  kritische  Bearbeitung  des  L.  J.,  S.S.), 

'  will  ich  dem  Berichterstatter  auch  in  dieser  Auflage  lassen. 

12)  Midrasch  Hoheleth  f.  73, 3.  (bei  Schott«*,  Aar«*  Aeeroseoe 


Einleitung.    $.  14.  10T 

Davids  kommen,  als  ein  «weiter  David  dessen  Thron  in 
Besitz  nehmen  (Matth.  22,  42;  Luc.  1,  32;  A.G.  2,  SO): 
daher  erwartete  man  snr  Zeit  Jesu,  dafs  er,  wie  David, 
in  dem  kleinen  Bethlehem  geboren  werden  würde  (Job* 
7,  42 ;  Match.  2, 5  f.)«  In  jener  mosaischen  Stelle  war  der 
vermeintliche  Messias  als  Prophet  bezeichnet ;  wie  er  denn 
saeh  seinem  Begriffe  nach  die  Spitze  und  der  Schlafs  des 
Propbetenthams  war.  Nun  aber  waren  die  Propheten  in 
der  alten  Nationalsage  durch  die  wunderbarsten  Thaten 
aad  Schicksale  verherrlicht.  Wie  konnte  man  von  dem 
Messias  Geringeres  erwarten?  Mnfste  nicht  sein  Leben 
schon  cum  Voraus  mit  dem  Herrlichsten  und  Bedeutend- 
sten ans  dem  Leben  der  Propheten  geschmückt  werden? 
Mußte  ihm  nicht  die  Volkserwartung  ebenso  an  der  Licht- 
seite des  Lebens  der  Propheten  Anthefil  geben,  wje  später 
der  erschienene  Messias,  Jesus,  seine  und  seiner  Anhänger 
Leiden  als  Antheil  an  der  Nachtseite  des  Schicksals  der 
Propheten  auffafste  (Matth.  23,  29  ff.  Luc.  13,  33  ff. ,  vgl. 
Matth.  5,  12*?  Hatten  Moses  und  die  Propheten  alle  vom 
Messias  geweissagt  (Joh.  5,  46b  Luc.  4,  21.  24,  27):  so 
lag  es,  bei  der  typoiogi sehen  Richtung  des  jüdischen  Vol- 
kes, nahe  genug,  wie  ihre  Aussprüche  als  Weissagungen, 


et  tahnudicae,  2,  S.  251  f.)  Ä  Berechias  nomine  ß.  Isaad 
dixit:  Quemadmodum  Goet  primus  (Moses),  sie  etiam  postre- 
mus (Messias)  comparatus  est.  De  Go&e  primo  autonom 
seriptwra  dicitf  Kxod.  4,  20.:  et  sumsit  Moses  uworem  et  /&- 
tios,  eosque  asino  fmposutt.  Sic  Go&  postremus,  Zaxhar.  9, 9*: 
pauper  et  insidens  asino.  Quidnam  de  Goeie  primo  nostif  Is 
descendere  fecit  Man,  g.  d.  Exod.  16,  14.:  ecce  ego  piuere 
faciam  vobi*  panem  de  coelo.  Sie  etiam  Goal  postremus 
Manna  descendere  faciet,  g.  d\  Ps.  72,  16.:  erit  muttitudo 
frumentt  in  terra.  Quomodo  Goel  primus  comparatus  fuit  t 
Is  ascendere  fecit  puteum :  sie  qnogue  Go&  postremus  ascen- 
dere  faciet  aguas ,  g.  d.  Joel  4,  18. *  et  fons  e  domo  Domint 
egrodtetur,  et  torrentem  Sttttm  irrigaHt 


i 


108  Einleitung.     §,.  14. 

so  ihre  Thaten  und  Schicksale  als  Vorbilder  für  den  Mes- 
sias ku  betraohten.  Endlich  aber  wurde  die  messianische 
Zeit  überhaupt  als  eine  Zeit  der  Zeichen  und  Wunder  er* 
wartet.  Die  Augen  der  Blinden  sollten  anfgethan ,  die 
Ohren  der  Tauben  eröffnet  werden,  der  Lahme  sollte 
hupfen,  und  die  Zunge  des  Schwerredenden  Gott  preisen 
(Jes.  35,  5  f.  42,  7.  vgl.  32,  3.  4.)«  Dieb,,  zunächst  snm 
Theil  blofs  bildlich  gemeint,  wurde  bald  eigentlich  ver- 
standen (Matth.  11,  5.  Luc.  7,  21  f.),  und  auch  hiedurch 
das  Messiasbild  schon  vor  dem  Erscheinen  Jesu  immer 
mehr  in  das  Einzeln  e  gezeichnet 13).  So  waren  manche 
Sagen  über  Jesum  nicht  erst  neu  zu  erfinden,  sondern 
nur  von  dem  in  der  Volkshoffnung  lebenden  Messiasbilde, 
in  welches  selost  *ie,  vielfach  umgeformt "),  gröfstentheils 


13)  Tanchuma  f.  54,  4.  (bei  Schöttgkk  a  a.  O.  S.  74.) :  B.  Acha 
nomine  R,  Samuelis  bar  Nachmani  dixit:  Quaecumque  Dens 
8.  B.  facturus  est  JOS  TTw?  (tempore  messiano)  ea  jam 
ante  fecit  per  tnanus  justorum  HTH  .oSlJO  (seculo  ante  Mes- 
Harn  elapso).  Dens  8,  B,  suscitabit  mortuos,  id  quod  jam 
ante  fedt  per  Eliam,  Eltsam  et  Ezechtelem.  Mure  eaesicca- 
bit9  prout  per  Mosen  factum  est  Oculos  caecorum  apertet, 
id  quod  per  Elisam  fecit,  Dens  8.  B.  futuro  tempore  visita- 
bit  steriles,  guemadmodum  in  Abrahamo  et  Sara  fecit.  Wenn 
allerdings  diese  Stelle  unmittelbar  etwas  über  die  A.  T.  liehen 
Gottesmänner  aussagt,  dass  nämlich  die  Wunder  der  messia- 
nischen  Zeit  schon  in  der  ihrigen  sich  finden  (  Ho*fmanh  ,  S. 
112.):  *o  ist  diess  doch  nur  eine  Zurückwendung  zu  der 
Quelle,  aus  welcher  jene  Züge  des  Messiasbildes  grössern - 
theils  ursprünglich  geflossen  waren.  Die  Erwartung  der  all- 
gemeinen Todtenerweckung  hatte  allerdings  ihre  eigene  Quelle ; 
dass  die  Augen  der  Blinden  sollten  geöffnet  werden,  mag 
durch  Jes.  35,  5.  42,  7.  veranlasst  sein :  aber  dass  dieser  Zug 
sofort  eigentlich  genommen,  und  dass  namentlich  Austrock- 
nung des  Meeres  erwartet  wurde,  ltfsst  sich  doch  nur  als 
Nachbildung  der  A.  T.  liehen  Mythe  erklären. 

14)  Dass  die   A.  T.  liehe  Sage ,   auch  ohne  Beziehung  auf  den 


V 


Einleitung.    §.  14.  10» 

aus  dem  A.  T.  gekommen  waren,  auf  Jesum  Obersutra« 
gen  1S)  und  naeh  dem  Geiste  seiner  Persönlichkeit  nnd 
Lehre  so  bestimmen:  und  hiebe!  konnte  e§  nun  leichter 
ab  irgend  sonst  geschehen,  dafs  derjenige,  welcher  etwa 
saerst  einen  solchen  Zog  in  die  Verkündigung  von  Jesu 
hineintrug,  selbst  glaubte,  dafs  sich  diefs  wirklich  mit  ihm 
zugetragen  habe,  nach  folgendem  Schlüsse:  Mit  dem  Mes- 
sias mofs  sich  das  und  das  begeben ;  Jesus  war  der  Mes- 
sias :  folglich  wird  sich  jenes  eben  mit  ihm  begeben  ha« 
ben  ")• 

Freilich  eben  von  dem  Untersatze,  kann  man  sagen, 
dafs  Jesus  der  Messias  gewesen,  würden  seine  Zeitgenos- 
sen sieh  um  so  weniger  haben  Überzeugen  können,  je  be- 


Messias, in  der  späteren  Zeit  manche  Um-  und  Weiterbildung, 
erfuhr,  und  folglich  aus  der  theilweisen  Unähnlichkeit  der 
Erzählungen  von  Jesu  mit  denen  von  Moses  und  den  Prophe- 
ten um  so  weniger  geschlossen  werden  darf,  dass  >ene  sich 
nicht  aus  diesen  haben  entwickeln  können ,  erhellt  x.  B.  aus 
der  Yergleichung  von  Stellen  wie  A.  G.  7 ,  22.  53*  und  der 
entsprechenden  Abschnitte  bei  Josephus,  Antiq.  2.  u.  3.,  mit 
der  Erzählung  des  Exodus  über  den  Moses.  Ferner  vergl. 
mit  der  biblischen  Erzählung  über  Abraham  Antiq.  1,  8,  2.; 
über  Jakob  1,  19,  6. ;  über  Joseph  2,  5,  4. 

15)  Gborsb,  S.  125. :  „Denke  man  sich  die  feste  Ueberzeughng, 
die  unter  den  Jüngern  bestand,  dass  Alles,  was  von  dem  Mes- 
sias im  A.  T.  geweissagt  worden  wäre,  nothwendig  in  der 
Person  ihres  Meisters  erfüllt  sein  müsse ;  denke  man  sich  da- 
bei, dass  Vieles  in  dem  Leben  Christi  schon  leerer  Raum  ge- 
worden war:  so  sieht  man  gar  keine  andere  Möglichkeit  ein, 
als  dass  jene  Vorstellungen  sich  verkörpern  mussten,  und  dass 
so  die  Mythen  entstanden ,  die  wir  finden.  Ja ,  wäre  selbst 
durch  die  Ucbcrlieferung  noch  eine  wahrere  Vorstellung  von 
dem  Leben  Jesu  möglich  gewesen:  diese  Ueberzengung  hatte 
in  Ihrer  Stärke  sie  Überwinden  müssen.u 

16)  Vergl.  über  einen  ähnlichen  Schluss  griechischer  Dichter 
O.  Müiabk,  Prolegomena,  S.  87. 


110  Einleitung.    §.  14. 

stimmte?  die  Erwartung  wunderbarer  Thaten  und  Schick« 
sale  des  Messias  in  der  allgemeinen  Vorstellung  gegeben 
war,  wenn  er  dieser  Erwartung  nicht  wirklich  genfigt 
hätte.  Allein  aller  derjenigen  Züge,  welche  für  Wunder 
angesehen  zu  werden  sich  eigneten,  wird  auch  die  fol- 
gende Kritik  das  Leben  Jesu  nicht  entkleiden:  was  aber 
noch  fehlte,  das  ersetzte,  so  lange  er  lebendig  gegenwärtig 
war,  der  übermächtige  Eindruck  seiner  Persönlichkeit  and 
Rede,  welcher  ein  ängstliches  Reflectiren  auf  alle  Seiten 
jenes  messianischen  Mafsstabes  nicht  aufkommen  lief«; 
aueh  wurde  er  theils  nur  sehr  allmählig  in  gröTseren  Krei- 
sen als  der  Messias  anerkannt,  theils  mag  sich  das  Volk 
schon  zu  seinen  Lebzeiten  manches  Abenteuerliche  von 
ihm  erzählt  haben  (vgl.  Matth.  14,  2) ;  nach  seinem  Tode 
aber  lag  in  dem,  wodurch  auch  immer  entstandenen,  Glau- 
ben an  seine  Auferstehung  mehr  als  hinreichende  Ueber- 
zeugungskraft  für  seine  Messianität:  so  dal*  das  übrige 
Wunderbare  in  seinem  Leben  nicht  als  Grund  des  Glau- 
bens an  dieselbe  vorausgesetzt  zu  werden  brauoht,  sondern 
als  Erzeugnis  aus  diesem  Glauben  hergeleitet  werden 
kann« 

Keineswegs  soll  jedoch  jene  Unbewufsthelt  und  AH- 
aichtslosigkeit  auf  alle  und  jede  A.  u.  N.  T.liohe  Erzäh- 
lungen ausgedehnt  werden,  welche  wir  als  unhistotisch 
betrachten  müssen»  Bei  allen  Sagenkreben,  zumal  wenn 
■ich  ein  patriotisches  oder  religiöses  Parteiinteresse  damit 
verknüpft,  und  wenn  sie  Gegenstände  freier  dichterischer 
oder  sonstiger  schriftstellerischer  Behandlung  werden, 
mischt  sich  auch  bewufste  und  absichtliche  Dichtung  ein. 
So  wenig  die  Urheber  der  homerischen  Gesänge  gerade 
alles  und  jedes  Einzelne,  was  sie  von  Göttern  und  Heroen 
erzählten,  für  wirklich  so  vorgefallen  halten  konnten;  so 
wenig  der  Verfasser  der  Chroniken  ganz  ohne  Bewufstsein 
darüber  gewesen  sein  kann,  dafs  er  in  der  Abweichung 
von  den  Büchern  Samuels  und  der  Könige  manche  spfitere 


Einleitung.     §.  14.  111 

Verhältnisse  in  die  frühere  Zeit  übertrug ;  oder  der  Ver- 
fasser des  Bachs  Daniel l7) ,  dafs  er  dessen  Geschichte  der 
des  Joseph,  seine  Weissagungen  aber  dem  Erfolge  nach- 
bildete :  ebenso  wenig  möchte  sich  diefs  von  allen  unhisto- 
riftehen  Erzählungen  der  Evangelien,  wie  z.  B.  vom  ersten 
Kapitel  des  dritten,  und  manchen  Barstellungen  im  vierten 
Evangelium,  behaupten  lassen.  Aber  eine  Dichtung,  wenn 
sie  auch  nicht  absichtslos  ist,  kann  darum  doch  immer 
noch  arglos  sein.  Gans  dasselbe  VerhUtnifs  «war,  wie 
bei  eigentlichen  Gedichten,  findet  hier  niebt  statt,  da  der 
eigentliche  Dichter  nicht,  wie  die  voraussettüichen  Urheber 


17)  Die  Vergleichung  der  ersten  Kapitel  dieses  Buchs  mit  der 
Geschichte   des  Joseph   in  der   Genesis   gibt  eine  belehrende 
Anschauung  yon  der  Tendenz  der  späteren  hebräischen  Sage 
und  Poesie,  neuere  Verbältnisse  nach  dem  Vorbilde  von  älte- 
ren zu  gestalten.      Wie  Joseph  nach*  Aegypten :     so  wird  Da- 
niel nach  Babylon  gefangen  abgeführt  (1,  2);   er  muss  seinen 
Namen  ändern  (V.  7.)>  wie  Joseph;   Gott  gibt  ihm,    dass  ihm 
der  jyO'Hign  "tftfj  wie  jenem  der  DTQI^n  "tfP  DHD  >  günstig 
wird  (V.  9. )  j    er  enthält  sich  der  Verunreinigung  durch  den 
Genuss  von  des  Königs  Speisen  und  Getränken ,   welche  ihm 
aufgedrungen  werden  (V.  8 ff.):    zur  Zeit  des  Antiochus  Epi. 
phanes  eine  ebenso  verdienstliche  Entsagung,  wie  die  des  Jo- 
seph gegenüber  der  Frau  des  Fotiphar ;  er  macht  sich  hierauf, 
wie  Joseph,  durch  Deutung  eines  Traums,  den  der  König  ge- 
habt hat,  und  über  welchen  ihm  seine  D^ÜHn  keine  Aus- 

kunft  zu  geben  wissen,  diesem  bemerklich  (H.  2.)  5  wobei  die 
Darstellung,  dass  Daniel  nicht  nur  die  Bedeutung,  sondern 
den  Traum  selbst,  der  dem  Könige  entfallen  war,  anzugeben 
im  Stande  ist ,  als  abenteuerliche  Uebertrcibung  dessen ,  was 
Joseph  leistete,  erscheint.  Merkwürdigerweise  hat  sofort  hei 
Josephus  die  Geschichte  Daniels  wieder  auf  die  des  Joseph 
zurückgewirkt;  wie  Nebukadnezar  den  Traum,  und  die  nach 
Josephus  ihm  zugleich  geoffenbarte  Deutung :  so  hat  nach 
demselben  such  Pharao  die  ihm  mit  dem  Traume  gezeigte 
Deutung  vergessen.    Antiq.  2,  5,  4. 


112  Einleitung.    §.  14. 

mancher  biblischen  Dichtungen,  voraussieht  und  beabsich- 
tigt, dafs  sein  Gedicht  als  Geschichte  werde  genommen 
werden:  aber  eben  das  ist  sra  erwögen,  dafs  im  Altertbmn, 
namentlich  im  hebräischen,  and  besonders  in  religiös  auf- 
geregten Kreisen  dieses  Volkes,  Geschichte  und  Dichtung, 
wie  Poesie  und  Prosa  überhaupt,  noch  nicht  so  bestimmt, 
wie  jetzt  unter  uns,  geschieden  waren.  Es  hat  hiemit  eine 
ähnliche  Bewandtnifs,  wie  mit  der  Tbatsache,  dafs  na- 
mentlich  unter  den  Juden  und  ältesten  Christen  die  ach- 
tungswerthesten  Schriftsteller  ihre  Werke  angesehenen 
Namen  unterschoben,  ohne  hiebet  einer  Unwahrheit  und 
Täuschung  sich  bewufst  zu  sein«  —  Nur  die  Frage  ksnn 
hier  noch  entstehen,  oh  dergleichen  Erdichtungen  eines 
Einzelnen  auch  noch  Mythen  eu  nennen  seien?  An  sich 
wohl  nicht  mit  Recht,  sondern  nur  in  dem  Falle,  wenn 
sie  Glauben  finden ,  und  in  die  Sage  eines  Volks  oder  ei- 
ner Religionspartei  fibergehen;  was  dann  immer  zugleich 
beweist ,  dafs  sie  vom  Verfasser  nicht  blofs  nach  eigenen 
Gedanken,  sondern  im  Zusammenhange  mit  dem  Bewufst« 
sein  einer  Mehrheit,  abgefafst  waren  18). 

Was  oben  über  die  Entstehungszeit  mancher  evange- 
lischen Mythen  bemerkt  ist ,  hat  nun  aber  sein  Hauptge- 
wicht in  der  Hinsicht,  als  so  häufig  eingewendet  wird,  die 
Zeit  von  etlich  und N  dreifsig  Jahren  vom  Tode  Jesu  bis 
cur  Zerstörung  Jerusalems,  innerhalb  welcher  der  gröbere 
Theil  der  evangelischen  Erzählungen  sich  gebildet  haben 
müsse,  und  selbst  bis  in  den  Anfang  des  zweiten  Jahr- 
hunderts hinein,  den  längsten  Termin  für  den  Ursprung  auch 
der  jüngsten  evangelischen  Erzählungen ,  und  zugleich  ftr 
die  schriftliche  Abfassung  unsrer  Evangelien,  sei  viel  zu 
kurz,  um  die  Entstehung  eines  so  reichen  Mythenkreises 
innerhalb  derselben  denkbar  zu  finden  ft9)*    Er  ist  nämlich 


18)  So  auch  J.  Muller,  theol.  Studien  u.  Kritiken,  1856,  3,  S.  839  ff.  • 

19)  So  fast  alle  Beurtheiler  der  ersten  Auflage. 


Einleitung,    f.  Ift.  11t 

grtffrten  Tfaeile  nach  nicht  erst  Ib  dieser  Zeit 
— i feienden,  sondern  seine  erste  Grundlage,  die  A.  T.  liehe 
Mythe,  sehen  vor  and  nach  den  babylonischen  Exil;  die 
Uebertngang  anf  den  erwarteten  Messias  and  dengenäfso 
Gnkildnng  ging  in  den  Jahrhunderten  von  da  bis  auf 
Jesuse  tot  sieh:  so  dafs  för  die  Zeit  Ten  den  Znsannen* 
feilte  der  ersten  Gemeinde  bis  cor  Entstehung  der  Evan- 
gelien nur  noch  die  Uebertragung  der  grtffstentheils  sehen 
gebildeten  nessianischen  Sagen  auf  Jesom,  sannt  der  Mo- 
attention  derselben  in  christlichen  Sinne  und  nach  den 
individuellen  Verhältnissen  Jesu  und  seiner  Umgebung, 
ihrig  blieb;  während  nnr  verhältnUsmäfsig  wenige  erst 
völlig  neu  zu  bilden  waren* 

1    15. 

Begriff  und  Arten  des  evangelischen  Mythus. 

Ans  allen  Bisherigen  ergibt  sieh  nun  der  bestimmte 
Sinn,  in  welchem  wir  den  Ausdruck :  Mythus,  fttr  gewisse 
Theile  der  evangelischen  Geschichte  gebrauehen;  sogleich 
nagen  die  verschiedenen  Arten  und  Abstufungen  des  My- 
lutschen,  welchen  wir  in  dieser  Geschichte  begegnen  dürf* 
tnij  liier  vorausnahnsweise  aufgeführt  werden« 

Evangelischen  Mythos  nennen  wir  eine  solche, 
aof  Jesus  unmittelbar  oder  mittelbar  sieh  bestehende 
ErsähJung,  welche  und  so  weit  wir  sie  nicht  als  Ab- 
druck einer  Thatsache,  sondern  als  Miederschlag  einer 
Idee  seiner  frühesten  Anhänger  betrachten  dürfen.  —  Der 
Mythne  in  diesem  Sinne  wird  uns  auch  hier,  wie  auf  an- 
deren Gebieten,  theils  rein  fftr  sich,  als  Substans  der  Er» 
sählnng,  theils  als  Accidens  an  wirklicher  Geschichte,  he* 

Der  reine   Mythus    in    Evangelium    wird    swei 

Quellen    haben,  die   aber  in  den  neisten  Fällen  nur  mit 

abwechselndem  Uebergewiehte  des  einen   oder  des  andern 

Zuflusses    nur  Mythenbildung    sosannenwirken   werden. 

Dom  Lebern  Jesu  Ue  Aufl.  1.  Bernd  S 


114  Einleitung.    $.  15. 

Die  eine  dieser  Quellen  ist ,  wie  bereits  erwähnt ,  die 
schon*  vor  and  unabhängig  von  Jesu  anter  dem  jüdischen 
Volke  vorhandene  Messiaserwartung  nach  ihren  einzelnen 
Zügen;  die  andere  der  eigentümliche  Eindruck,  welchen 
Jesus,  vermüge  seiner  Persönlichkeit,  seines  Wirkens  and 
Schicksals*  hinterlief*,  und  durch  welchen  er  die  Meeslaa- 
idee  seines  Volkes  modificirte.  Fast  gana  aas  der  ersteren 
Quelle  — r  aas  der  andern  nur  mit  dem  Zuge  vermehrt» 
dafs  die  Erscheinenden  .mit  Jesu  von  seinem  Aasgange  sich 
unterredet  haben  —  ist  u.  B.  die  Verklärungsgesehiehte 
geflossen;  wogegen  an  der  Erzählung  vom  Zerreifsen  des- 
Vorhangs beim  Tode  Jesu  die  Stellung  den  Hauptanstofa 
geliefert  au  haben  scheint,  welohe  sieh  Jesus  selbst,  and 
nach  ihm  seine  Gemeinde,  cum  jüdischen  Tempeldienste 
gegeben  hatte.  Ist  schon  hier  etwas  Historisches,  nur  aber 
ein  blofs  allgemeiner  Zug  des  Charakters,  der  Verhältnisse 
u.  dgL,  die  Quelle  der  mythenbildenden  Idee:  se  werden, 
wir  ebensobald  auf  den  Boden  des 

Mythus  an  der  Geschichte  versetzt,  als  ein  be- 
stimmter eineeiner  Vorfall  die  Grandlage  ist,  deren  sich 
die  Begeisterung  bemächtigt,  and  sie  aas  der  Idee  von 
Christus  heraus  mit  mythischen  Bildungen  umschlangen 
hat.  Eine  solche Thatsaehe  ist  bald  eine  Rede  Jesu:  wie 
die  von  den  Menschenfischern,  dem  unfruchtbaren  Feigen« 
bäume*  welche  jetzt  in  Wundergeschichten  verwandelt  vor 
uns  liegen ;  bald  eine  wirkliche  Handlang  oder  Begeben« 
h  ei  t  aas  seinem  Leben:  wie  s.  B.  die  mythischen  Züge  in  der 
Taafgeschichte  auf  eine  solche  aufgetragen  sind ,  oder  wie 
einseinen  Wandergeschichten  natürliche  Begebenheiten  cum 
Grunde  liegen  mögen,  welche  sofort  die  Erzählung  theile 
in  eine  fibernatürliche  Beleuchtung  gestellt,  theib  auf 
wunderhaften  Zügen  ausgestattet  hat. 

Während  die  bisher  aufgeführte*  Bildungen  stamt* 
Heb,  euch  nach  der  neuen,  schärferen  Begriffsbestimmung 
von  Ghoros,  mit  Recht  als  Mythen  beaeiohnet  werdet*  se» 


Einleitung.    $.  16.  11» 

ron  dem  Uahisterlsohen  an  ihnen,  sei  et  nun  all* 
mlbJig  in  der  Ueberlieferung,  eder  bestimmt  doreh  Eines 
{Meter  gebildet  worden,  jedesmal  die  Idee  der  Ausgange« 
yeukt  Ist:  so  mag  nun  allerdings  filr  solche  Partien  >  in 
welchen  Unbestimmtheit  nnd  Lückenhaftigkeit,  flfifsrmv 
ftnmd  und  Ümdentang,  Vermischung  nnd  Verwirrung,  wie 
sie  beim  Hindurehgange  durch  längere  aeflhdUche  Uebei*» 
Merung  steh  einnafinden  pflegen,  oder  umgekehrt  eine 
AntcbartlieMteft  und  Ausmalung  sieh  bemerken  lassen,  die 
amf  ebrndü  gleichen  Ursprung  hlnsudeuten  scheine»  — -  flu? 
Stiche  Partien  nmg  allerdings  die  Benenamng  des  Sagen« 
haften  angemessener  sein. 

Ven  beidem,  dem  Mythischen  wie  dem  Sagenhaften, 
ist  endBeb  dasjenige  sn  unterscheiden,  was  einerseits  ohne 
tfaer  bestimmten  Idee  m  dienen ,  und  andrerseits  ohne 
auf  der  Uefcerlieleraeg  sieh  berEusehreibatiy  rein  ak  indi» 
riduefte*  nur  Yeransebauliehung,  Verbnffpftjug,  Steigerung 
e.  dgf.  dienende,  Zntfcatt  des-  Schriftstellers-  erscheint^ 

Bier  war  es  nur  am  AufniMang  der  Tcrschiedenea 
Formen  des  Uifhieterischenr  an  der  evangelischen  Geschichte 
es  «Iran:  dem  Historischen,  welche»  sie  daneben,  in-  M- 
tfaeiri  Hafte  noch  enthalt,  ist  UeaaÜ  nichts  «evjjeben» 

$.    16. 

•  » 

Kriterien  des  Uahlstoritchen  in  der  evangelischen  Erzählung, 

let  bisher  nach  tfsfteVM  wie  Inneren  Gründen  die 
Möglichkeit  des  Mythfechcrv  und  Sagenhaften  in  den  Evan- 
gelien dargethan,  und  dessen  Begriff  und  Arte«  bestimmt : 
se  fragt  sich  sehliefslfeh  noch ,  wie  sein  wirkliches  Vor- 
handensein fm  einzelnen  Falle  sich  erkennen  lasse? 

Der  Mythos ,  wie  er  selbst»  die  ewei  Seiten  an  eich 
hat,  erstlich  nicht  Geschichte,  sondern  zweitens  eine  aus 
der  Geisteariehtung  einer  gewissen  Gemeinschaft  hervor- 
gegangene Dichtung  sn  sein;  se  wird  er  eben  auch  an 
diesen  swei  Seiten,  mitbin  einerseits  an  negativen,  andrer- 


116  Einleitung-    §•  16. 


sehe  an  positiven  Kriterien ,  als  solcher  sieh  erkennen 
lasse»  ')• 

I.  Dafs  ein  Bericht  nicht  historisch ,  etwas  Ersäht- 
tes  nicht  so  geschehen  sein  ktfnne,  wird  sieh  vor  Allem 
daran  erkennen  lassen,  wenn  es 

1)  mit  den  bekannten  und  sonst  fiberall  geltenden 
Gesetzen  des  Geschehens  unvereinbar  ist. 

Zn  diesen  Gesetzen  gehört  esx  nun  vor  Allem,  dafs. 
ebensowohl  richtigen  philosophischen  Begriffen,  als  alter 
beglaubigten  Erfahrung  zufolge,  in  die. Kette  der  beding- 
ten Ursachen  niemals  die  absolute  Causalitit  mit  eincelnea 
Acten  eingreift,  indem  sie  vielmehr  eben  nur  in  der  Her- 
vorbringung der  Gesammtheit  endlicher  Ursächlichkeiten 
und  ihrer  Wechselwirkung  sich  offenbart.  Wo  uns  denn 
nach  ein  Bericht  eine  Erscheinung  *>der  Begebenheit  mel-r 
det,  mit  der  ausdrücklichen  oder  au  verstehen  gegebenen 
Behauptung,  dafs  sie  unmittelbar  durch  Gott  selbst  (Theo- 
phanien,  Himmeisstimmen  u»  dgl.)  oder  durch  menschliche 
Individuen  in  Folge  übernatürlicher  Ausrüstung  durch  ihn 
(Wunder,  Weissagungen)  herbeigeführt  worden  seien.:  da 
haben  wir  insoweit  keine  historische  Relation  annuer- 

• 

kennen.  Und  sofern  überhaupt  die  Einmischung  von  We- 
sen einer  höheren  Geisterwelt  in  die  menschliche  sieh 
theils  nur  in  unverbürgten  Berichten  findet,  theils  mit 
richtigen  Begriffen  unvereinbar  ist :  so  kann  auch  was  von 
Engel«  und  Teufels- Erscheinungen  und  Einwirkungen  be- 
richtet wird,  unmöglich  geschichtlich  genommen  werden« 

Ein  weiteres  Gesete,  das  wir  bei  allem  Geschehen 
beobachten  können,  ist  das  der  Suecession,  wornach  auch 
Jbei  den  gewaltsamsten  Epochen  und  schnellsten  Verände- 
rungen dennoch   Alles   in  einer  gewissen   Ordnung   und 


.  > 


1)  Vergl.,  «asser  den-1}.  $:  angeführten  älteren  Schriften,  nock 
von  Boam,  die  Genesis,  S.XVII,  und  besonders  Gaoaes, 
Mythos  und  Sage,  S.  91  ff. 


Einleitung.    &  1&  HT 

Folge»  1a  ailmahligem  Waehsthum  und  Abnehmen  vor  sieh 
geht«  Wird  ans  demnach  von  einem  grofsen  Individuum 
gesagt,  dasselbe  habe  das  Aufsehen,  das  es  Im  Mannesalter 
hervorbrachte,  bereits  bei  seiner  Geburt  nnd  in  den  ersten 
Kinderjahren  gemacht;  wird  von  seinen  Anhingern  er- 
zihk,  sie  haben  ihn  beim  ersten  Anblick  schon  ak  denje- 
aigeu,  der  er  war,  erkannt ;  wird  nach  seinem  Tode  demn 
Aufsah wung  von  tiefster  Niedergeschlagenheit  aar  höchsten 
Begeisterung  als  Werk  einer  einsigen  Stande  gefaßt :  so 
missen  wir  mehr  als  zweifelhaft  werden,  ob  wir  hier  Ge- 
schichte vor  uns  haben. 

.Endlich  kommen  hier  alle  psychologischen  Gesetze  In 
Betraeht,  welche  es  unwahrscheinlich  machen,  dafs  ein 
Meoseh  gegen  alle  menschliche,  oder  doch  gegen  seine 
sonatige  Art  und  Weise  empfunden ,  gedacht  und  .gehan- 
delt haben  sollte;  wie  s.  B.  wenn  die  jüdischen  Synedri- 
sten  der  Aussage  der  an  Jesu  Grab  gestellten  Wfichter, 
dals  er  auferstanden  sei,  Glauben  geschenkt,  und,  statt  sie 
zu  beschuldigen,  sie  werden  wohl  im  Schlafe  sich  seinen 
Leichnam  haben  stehlen  lassen,  sie  bestochen  haben  sollen, 
eben  died  auszusprengen.  Auch  das  gehört  bisher,  dafs, 
allen  Gesetzen  des  menschlichen  Erinnerungsvermögens 
■nah,  Reden,  wie  die  Jesu  im  vierten  Evangelium,  nicht 
treu  behalten  und  wiedergegeben  sein  können. 

Allerdings  geht  oft  Manches,  besonders  in  und  durch 
geniale  Persönlichkeiten,  plötzlicher  vor  sich,  als  man  er- 
warten sollte,  und  wie  oft  handeln  die  Menschen  ineonse- 
quent  und  charakterlos:  deswegen  werden  die  zwei  leta- 
leren Punkte  mit  Vorsicht  und  nur  in  Verbindung  mit 
andern  als  Kriterien  des  Mythischen  zu  gebrauchen  sein.- 

1)  Doch  nicht  allein  mit  den  Gesetzen  des  Gesche- 
hens, auch  mit  sich  selbst  und  mit  anderen  Berichten  darf 
eine  Relation  nicht  im  Widerspruch  stehen,  wenn  sie  ge- 
schichtliche Geltung  ansprechen  will* 

Am  entsefciedensten  is{  der  Widerspruch   als  contra- 


HS  Einleitung.    $,  1*. 

dfctorieehcr ,  wenn  die  eine  Relation  sagt,  was  die  andre 
Uogoet:  wie;  wenn  die  eine  Ersfthlung  Jesum  ausdrttok- 
lieh  erst  nach  der  Verhaftung  des  Täufers  in  GalilÄa  auf- 
treten ttftt>  die  andre  aber,  nachdem  Jesus  schon  Ilagera 
Zeit  in  Galiläa  sowohl  als  in  Judäa  gewirkt  hatte,  be- 
merkt, Johannes  sei  noch  nicht  in  das  Gefltagaifs  gewer« 
fon  gewesen* 

Stellt  hingegen  der  «weite  Bericht  statt  dessen,  waa 
der  erste  gibt,  schlechtweg  etwas  Anderes  hin :  so  betrifft 
der  Widerspruch  entweder  mehr  formelle  Punkte,  wte 
Zeit  (Tempelreinigung) ,  Ort  (früherer  Aufenthalt  der  El- 
tern Jesu),  Zahl  (Gadarener,  Engel  am  Grabe),  Namea 
(Matthäus  und  Levi) ;  oder  aber  die  Materie  der  Begeben* 
halten  selbst.  In  dieser  Hinsieht  erscheinen  bald  Charak- 
tere und  Verhältnisse  in  der  einen  Erzählung  gans  anders, 
als  in  der  andern :  wie  wenn  s.  B.  nach  dem  einen  Refe~ 
ranten  der  Ttafer  Jeeujn  als  den  *um  Leiden  bestimmten 
Messias  erkannt,  nach  dem  andern  an  seinem  leidenden 
Verhalten  Anttoft  genommen  haben  soll;  bald  wird  ein 
Vorfall  auf  »wei  oder  mehrerlei  Weisen  dargestellt ,  wo- 
von doch  nur  die  eine  der  Wirklichkeit  gemftl*  sein  kann : 
wie  wenn  nach  dem  einen  Berichte  Jesus  seine  ersten 
Junger  am  galiläisehen  See  von  den  Netten  weg  berufen, 
nach  dem  andern  in  Judffa  und  auf  dem  Wege  nach  Ga- 
liläa gewonnen  haben  soll.  Auoh  das  UUst  sieh  hieher 
sieben,  wenn  Begebenheiten  oder  Beden  als  sweimal  vor- 
gekommen nebeneinandergestellt  werdet ,  welche  einander 
so  ähnlich  sind,  dal*  man  nicht  annehme*  kann,  sie  seien 
öfter  als  nur  Einmal  gesprochen  worden  oder  vorgefallen« 

Es  fragt  sich,  wiefern  su  den  Widerspräche*  der 
Berichte  auch  das  su  sibleq  ist,  wenn  den  eine  von  et- 
was schweigt,  was  der  andere  meldet?  Au  sieh  und 
ohne  Weiteres  gilt  ein  solches  argunffltfvm  ex  eikmtfo  ge- 
wifs  nicht;  wohl  aber  dann,  wenn  sich  beweisen  laUst, 
dafs  der  andre  Referent,  wenn  er  von  der  Sache  gewußt, 


Einleitung.    §.  J«.  }10 

ala  hftite  berühren,  and  wenn  sie  vorgefallen*  von  ihr  wie* 
tan  anüseen* 

11.    Positiv  ala  Sage   and  Dichtung  ist  eine  £i»«h- 
lang  theila  an  der  Farm,  theila  an  Inhalte  tu  erkennen. 

1)  kt  die  Form  poetisch,  wechseln  die  Handelnden 
hymnische  Reden ,  länger  und  bqgeieterter ,  nie  aich  von 
ihrer  Bildung  and  Sitnatien  erwarten  iäfetr  ao  sind  we-* 
nigetena  dieae  Reden  nicht  al«  historisch  anauseben.  .l)fo 
Abwesenheit  dieses  formellen  Merkmals  übrigens  beweist 
neeh  keineawega  den  biatoriaehen  Charakter  einer  Sraäb- 
laag,  da  der  Mythita  die  einfachste,  scheinbar  galus.  bl- 
etorieehe,  Ferm  liebt.  Hier  kommt  dann  Aüea  ,Mgf  ;djBj| 
Inhalt  an. 

2)  Stimmt  der  Inhalt  einer  Rraählnng  auffallend  ag- 
eaaeemen  mit  gewiesen,  innerhalb  dea  Kreises  ihrer  Entste- 
hnag geltenden  Vorstellungen,  welche  aelbet  eher  d+rnaob 
aaseehen,  aaa  vorgefaßten  Meinungen,  ala  nach  der  JSrfah« 
rang  gebildet  «u  sein:  ao  wird  ein  mythischer  Ursprung 
dar  Eraäblung  je  nach  Umständen  mehr  oder  weniger 
wahrscheinlich.  Schon  daa,  dafa  wir  wiesen:  die  Jaden 
machten  grobe  Männer  gerne  an  Kindern  lange  unfrußht<- 
bar  gewesener  Mütter,  mufe  uns  mifatraniaob  machen  ge* 
gen  die  geschichtliche  Wahrheit  der  Angabe ,  dafs  diefti 
bei  Jehannea  dem  Täufer  der  Fall  gewesen;  dafa  uns  be- 
kannt ist:  die  Joden  aaben  in  den  Sobriften  ihrer  Prophe- 
ten nad  Dichter  überall  Wciaeaguagen,  and  im  Leben  der 
früheren  Gotteemäcuier  überall  Vorbilder  auf  den  Messias, 
gibt  ans  die  Vermutbung  au  die  Hand,  waa  im  Leben  Jean 
mmlHßh  naob  aolehen  Anaaprfiehen  und  Vorgängen  abge- 
schattet ist,  möchte  wohl  eher  Mythe  als  öeschiohte  sein. 

Die  einfacheren  Kriterien  dea  Sagenhaften  und  dea 
rem  Schriftsteller  Hiuaogethanen  bedürfen  nach  dem,  waa 
im  verigen  5-  darüber  bemerkt  worden  ist,  keiner  be- 
sondern Ausführung  mehr« 

Doch,   jeden   dieaer    (iründe    einerseits«    und  jede 


140  Einleitung,    f.  16. 

evangelische  Ersählang  andrerseits,  einzeln  für  sieb  ge- 
nommen, würden  wir  in  den  wenigsten  Fällen  weiter  «1» 
bis  zu  blöder  Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  eines 
anhistorischen  Charakters  der  Berichte  kommen.  Dm 
greisere  Sicherheit  des  Resultates  herbeizuführen,  mösaen 
erstlieh  mehrere  jener  Grinde  zusammentreffen.  Die  Ge- 
schichte mit  den  Magiern  und  dem  Kindermorde  zu  Beth« 
lebem  stimmt  zwar  auffallend  mit  der  jüdischen  Vorstel- 
lung ron  dem  durch  Bileam  geweissagten  Messiasstern 
und  mit  dem  Vorbifde  des  pharaonischen  Blutbefehls  flber- 
ein:  doch  darum  allein  könnte  sie  noch  nicht  sicher  flir 
mythisch  ausgegeben  werden.  Nun  kommt  aber  dazu,  dal* 
das  vom  Stern  Erzählte  den  Naturgesetzen,  die  angebliohe 
Handlungsweise  des  Herodes  den  psychologischen  wider- 
spricht; dais  von  dem  Blutbad  in  Bethlehem  der  sonst 
über  Herodes  so  ausführliche  Josephus  mit  allen  andern 
Geschichtsquellen  schweigt,  und  dafc  der  Magierbesueh 
sammt  der  Flucht  nach  Aegypten  in  dem  einen ,  und  die 
Darstellung  im  Tempel  in  dem  andern  Berichte  sich  gegen** 
seitig  aueschliefsen.  Wo  auf  diese  Weise  alle  Arten  von 
Kriterien  des  Mythischen  zusammentreffen,  da  ist  das  Re- 
sultat gewifs ;  sonst  um  so  sicherer ,  je  mehrere  und  stär- 
kere sich  zusammenfinden. 

Zweitens  aber  hätte  vielleicht  eine  Erzählung,  für 
•Ich  genommen ,  nur  schwache  oder  gar  keine  Merkmals 
des  Ungeschichtlichen:  sie  hängt  aber  mit  andern  zusasn- 
men,  oder  ist  doch  von  demselben  Referenten,  berichtet 
wie  andere,  welche  durch  entscheidende  Grunde  in  des 
mythische  oder  sagenhafte  Gebiet  verwiesen  werden,  und 
einen  verdächtigenden  Widerschein  auch  auf  sie  zurück- 
werfen« So  kommen  auch  in  jeder,  noch  so  wunderhaf- 
ten, Erzählung  Zöge  vor,  die  an  sieh  wohl  historisch  sein 
könnten,  aber  ihrer  Verbindung  mit  dem  Uebrigen  wegen 
gleichfalls  zweifelhaft  werden  müssen. 

Doch  diefs  greift  gewissermafsen  der  Frage  vor,  wel- 


Einleitung.    «.  1*  MI 

hier  MhfafilMfa  noch  sieh  steik,  ob  uamlinh  die  Kri- 
terien de«  UngesehiohtUeuen  eben  Mir  diejenigen  Zöge  ei- 
ner ErsJhlung,  an  welchen  sie  sieh  unmittelbar  finden, 
«kr  euch  die  übrigen ,  nnd  ob  der  Widersprach  nweier 
■Weihte  nar  den  einen,  oder  beide  zugleich,  ak  unhisto- 
luth  keanbar  mache  ?  Diefs  ist  die  Frage  nach  der  Grins« 
Kais  den  Historischen  nnd  Unhistorisehen,  —  die  schwie- 
rigste auf  dem  ganaea  Gebiete  der  Kritik  *)• 

Für 's  Erste,  wenn  nwei  Erafihlungen  sich  aussehlio» 
neu,  so  ist  hiednreh  allerdings  nuniohst  nnr  die  eine  als 
■auisteriach  erwiesen ;  denn  nnr  sofern  die  eine  Platn 
laden  seil ,  muf*  die  andre  weichen ,  weicht  aber  jene , 
ss  kann  diese  Plats  finden.  So  ist  es  in  Bezog  aof  den 
fiisjsren  Wohnort  der  Eltern  Jen  nicht  unrichtig ,  mit 
iaisehiiefsnng  des  Matthäus,  der  deutlich  Bethlehem  als 
sskhen  ▼oranssetnt,  nach  Lukas  Naaaret'dafftr  anauaeh- 
■ea,  and  überhaupt  von  nwei  unvereinbaren  Berichten 
denjenigen,  welcher  weniger  als  der  andere  den  natirUp 
ebm  u.  a.  Gesetsen  widerstreitet,  oder  gewissen  Volks- 
■nd  Parteimeinnngen  entspricht,  als  den  historischen  vor- 
nsiehen.  Näher  betrachtet  jedoch:  so  gut  die  eine  Er* 
nahlung  erdichtet  sein  kann,  ist  diels  auch  bei  der  andern 
■äjgtieb;  das  Vorhandensein  Einer  mythischen  Bildung 
aber  einen  gewissen  Punkt  neigt,  dafs  die  Dichtung  in 
Beeng  auf  denselben  tbitig  war  (man  denke  nur  an  die 
Genealogien),  nnd  es  wird,,  dafs  der  eine  von  nwei  sot- 
eben  Berichten  geschichtlich  sei,  in  letzter  Beaiehung  doch 
nur  durch  den  Zusammenhang  oder  die  Zusammenstimmung 
unesiben  mit  anderweitig  verbürgten  Stucken  sicher  no 
entscheiden  sein. 

Die  Theüe  Einer   und  derselben  Erufthlung  anlan- 


3)  Hiezn  ▼ergl.  Tholvch  :  Ueber  das  VerhältniH  der  Differenten 
im  Detail  tnr  Wahrheit  im  Ganzen ;  Glaubwürdigkeit  a.  s.  f., 
S.  457  ff. 


IM  Einleitung.    $.  16. 

geud,  kannte  man  an  «lob  glauben,  unbistoriacb  «ei  zwar 
%.  B.  das,  dafs  der  Maria  ein  Engel  angekündigt  haben 
seil,  sie  werde  den  Meaaiaa  gebären:  defawegen  könnte 
Aber  doch  so  viel  wahr  sein,  dafa  Maria  ver  der  Gebort 
Jesu  diese  Hoffnung  hatte«  Allein  was  sollte  alsdann  diese  i 
Erwartung  in  ihr  rege  gemaebt  haben?  Wir  sehen:  trage« 
sehichtlich  ist  aneh  das,  was,  für  sieh  wohl  denkbar,  mit 
etwas  Undenkbarem  so  Eusammenhängt,  dafs  sieh  ohne 
dieses  kein  Grand  von  jenem  denken  ifi&t*  Oder,  wenn 
eine  Handlang  Jesu  als  Wunder  erzählt  ist,  so  könnte, 
das  Wunderhafte  abgesogen,  das  Uebiige  sich  doch  so, 
als  gans  natürliches  Ereignifs,  angetragen  haben«  ülefs 
mag  bei  einigen  Wundergeschichten ,  wie  namentlich  den 
Diimooenaustreibangen ,  mit  einiger  Einschränkung  denk« 
bar  sein.  Aber  bei  diesen  nur  defswegen,  weil  hier  eine 
so  schnelle  und  nur  durch  ein  paar  Worte  vermittelte, 
Kur,  wie  sie  der  Evangelist  beschreibt,  psychologisch 
nicht  undenkbar  ist,  also  dessen  Ereählung  im  Wesentlk 
eben  unangetastet  bleibt  Anders  «.  ß.  bei  der  Heilung 
des  Blindgeborenen.  Wer  hier  eine  natürliche  Heilnng 
annimmt,  mufs  diese  sogleich  so  sueeessiv  sich  denken, 
dafs  dadurch  die  evangelische  Ersählong,  welcher  sufolge 
die  Sache  plötzlich  erfolgt  ist,  als  wesentlich  unrichtig 
hingestellt  wird,  wodurch  dann  die  Bürgschaft  auch  fir 
den  et  wenigen  natürlichen  Rest  wegfällt,  der  Überdiefs 
nicht  ohne  willkürliche  Vermuthungen  herausgefunden 
werden  kann. 

Was  in  solchen  Fällen  das  Entscheidende  ist,  wird 
aus  folgenden  Beispielen  hervorgehen.  Dafs,  ab  Maria 
eu  der  schwangeren  Elisabet  eintrat,  dieser  das  Kind  im 
Leibe  sich  bewegt,  der  Geist  sie  ergriffen,  und  sie  die 
Maria  als  Messiasmutter  begrüfst  haben  soll,  hat  sichere 
Kriterien  des  Unhistorischen  gegen  sich:  defswegen  aber 
könnte,  scheint  es,  Maria  wähl  einen  Besuch  bei  Elisa- 
bet gemacht  haben,  wobei  nur  Alles  natürlich  angegangen 


KUiLeltaag.    t  »,  m 

wäre.  Ja  der  Taot.  jedoch  stehen  sjgeh {eeJion>  der  Heise 
4er  Verlobten  psychologische  Schwierigkeiten  entgegen, 
und  der  gante  Besuch  sammt  der  Verwandtschaft  beide» 
Frauen  seift  sieh  mi  dem  Bestreben  entstanden,  die 
Mutter  des  Messias  mit  der  das  Vorläufers  zesammenzu-r 
(Haren.  Oder  wenn  es  heilst,  die  Männer,  welche  Jesu 
saf  des«  Verklfirungsberge  erschienen,  seien  Moses  and 
Elias,  der  Glanz,  der  ihn  daselbst  snoflofs,  ein  übernn.^ 
tffrlieher  gewesen :  so.  könnte  man .  aneh  hjer  nach  Abzug, 
des  Wanderbaren  nach  awel  Männer  and  eine  Morgen- 
befevehtang  Übrig  behalten«  Ailein  nicht  blofs  zwei  gegen 
bene  Männer  Cderea  Person,  Absieht  and  Benehmen  über? 
diefs  höchst  räthselbaft  bleibt,  wenn  sie  nicht  waren,  wo-, 
flfar  die .  Erzählung  sie  nimmt)  aa  Moses  und  £Uas  au 
machen,  sondern  die  ganae  Zusammenkunft  an  erdichten, 
war  die  Sage  doreh  die  umlaufenden  Vorstellungen  Qber 
4as  Verhältnifs  des  Meesias  av  Janen  beiden  veranlafst; 
and  ebenso  nicht  hjol*  eine  gegebene  Beleuchtung  (weiche 
äberdiefs,  wenn  sie  eine  natürliche  war,  sehr  übertrei- 
bend and  .anrichtig  »beschrieben  wäre)  als  eine  wander- 
rolle  au  fassen,  sondern  sje  frei  an  schaffen,  durch 
Erzählung  vom  leuchtenden  Antlitz  des  Moses« 

Hieraus  ergibt  sieh  der  Kaaon:  wo  nicht  blofs 
albere  Art  and  Weise  eines  Vorgangs  kritisch  yerdäob- 
dg,  sein  äofseres  Beiwerk  in*s  Wunderbare  geaeiehnet  ist 
a.  dgL,  sondern  auch  der  innere  Kern  und  Grundstock 
desselben  theils  andenkbar ,  theils  einer  messianischen 
Verstellung  der  damaligen  Juden  auffallend  ähnlich  sieh 
adgt,  da  mufs  nicht  nur  der  bestimmte  angebliche  Her- 
gang der  Sache,  sondern  der  ganae  Vorfall  als  solcher 
für  ongeschicbtlich  gehalten  werden.  Wo  hingegen  nur 
Einzelnes  an  der  Form  einer  erzählten  Begebenheit  Kri- 
terien des  Unhistorischen  gegen  sich  hat,  der  allgemeine 
Inhalt  derselben  aber  nicht,  da  bleibt  wenigstens  die  Mög- 
lichkeit, noch  einen  geschichtliehen  Kern  vorauszusetzen ; 


124  Einleitung,    f.  M, 

wtewobl,    ob  ein   ioloher   wirklich  yorfaanden  »ei,    und 
warin  er  bestehe,  sofern  es  nieht  durch  anderweitige  Com- 
binatlonen  gefunden  werden  kann,  niemals  mit  Sicherheit 
ftu  bestimmen  ist.  Leichter  läfct  sich  bei  sagenhaften,  oder 
von  dem  Schriftsteller  ausgesch'mfickten  Ersählongen  durch 
Abzog  dessen,  was  sich  als  falsche   Anschaulichkeit,   Ue- 
bertreibnng  n.  dgi.  verrith,    dnrch   Versuche,   das  Ver- 
mischte zu   scheiden  and   die  Locken'  so  ergänzen,     die 
geschichtliche  Grundlage  wenigstens  annähernd  aussondern« 
Immer  aber  wird  die  Grlnelinie  zwischen  dem  Ge- 
schichtlichen und  Ungeschichtlfehen  in  Berichten,  welche, 
wie  die  evangelischen,  dieses  letztere  Element  in  sich  auf- 
genommen  haben,   eine  schwankende  und  fließende  blei- 
ben;  am  wenigsten  kann  man  von  dem  ersten  umfassen- 
deren Versuche,  die  Berichte  von  kritischem  Standpunkte 
su  bearbeiten ,  bereits  eine  scharfgezogene  Grfinze  verlan- 
gen ;  in  dem  Dunkel,  welches  die  Kritik  durch  Auslösellen 
aller   bisher  dafür  gehaltenen  historischen   Lichter  ange- 
richtet, mufs  das  Auge  erst  durch  allmfihlige  Gewöhnung 
wieder   Einzelnes  unterscheiden  lernen:    und  Wenigstens 
der  Verfasser  dieses  Werkes  verwahrt  sich  hiemit  aus- 
drflcklich  dagegen,  dafs,  wo  er  erklärt,  nicht  au  wissen, 
was  geschehen  sei,  ihm  die  Behauptung  untergelegt  werde, 
tu  wissen,  es  sei  nichts  geschehen. 


Erster  Abschnitt. 

Die  Geschichte    der  Gebort   und 

Kindheit  Jesu. 


• 


i*+mmm 


! 


Eritti    Kapitel. 


Verkündigimg  mnd  Gebvrt  des  Täufers. 


f»    17. 


Dit  Erzählung  det  Lukas*)  und  deren  unmittelbare ,   •npranatu- 

raUstitche  Auffassung. 

» 

Dem    öffentlichen  Auftritte  Jesu  schicken  alle  nnsre 

Evangelisten  den  des  Täufers  Johannes  voraus:  seinem 
ersten  Eintritt  in  das  Leben  den  Lebensanfang  des  Täu- 
fers voranzustellen ,  ist  dem  eineigen  Lukas  eigen*  Diese 
Erzählung  kann  auch  von  einer,  eigentlich  nur  dem  Le- 
ben Jesu  gewidmeten  Betrachtung  nicht  übergangen  wer- 
den: theils  wegen  des  engen  Zusammenhangs,  in  welchen 
schon  von  vorne  herein  das  Leben  des  Täufers  mit  dem 
Leben  Jesu  gesetzt  wird ;  theils  wegen  des  Beitrags,  wel- 
chen der  bezeichnete* Abschnitt  zur  Charakteristik  der 
evangelischen  Berichte  liefert.  Denn  dafs  derselbe,  sammt 
dem  Debrigen  der  beiden  ersten  Kapitel  des  Lukas,  un- 
ieht  und  spätere  Zuthat  sei,  war  eine  unkritische  Ver- 
nthung  Soloher,  welche  den  damals  noch  neuen  mythi- 
schen Standpunkt,   den   diese  Kindheitsgeschichte  zu  for- 


*)  Ein»  für  allemal  mag  hier  erinnert  werden,  dass,  wo  in  den 
folgenden  Untersuchungen  kurzweg  von  Lukas,  Matthäus  u. 
s.  f.  gesprochen  wird,  immer  nur  der  Verf.  des  dritten,  er- 
sten u.  s.  w.  Evangeliums  gemeint  ist ;  unentschieden ,  ob  Je- 
der von  ihnen  der  apostolische  Mann  dieses  Namens,  oder  ein 
späterer  Unbekannter  war. 


1S0  Erster  Abschnitt» 

dem  schien ,  auf  das  übrige  Evangelium  Mwuwewien  sieb 
scheuten  *)• 

Ein  frommes  priesterliches  Ehepaar  Ist  In  vergebli- 
cher Sehnsucht  nach  Kindern  gealtert:  als  eines  Tages 
dem  Priester  beim  Räuchern  im  Heiligühom  der  Enger 
Gabriel  erscheint,  nnd  ihnen  in  ihren  alten  Tagen  eineir 
Sohn  verhelfst,  der  als  Gottgeweihter  leben,  und  der  weg- 
bereitende Vorläufer  des  in  der  messianisoben  Zeit  sein 
Volk  heimsuchenden  Gottes  sein  werde*  Als  Zachariaa 
wegen  seines  und  der  Elisabet  hohen  Alters  die  Verheis- 
sung  bezweifelt,  wird  ihm  vom  Engel  als  Zeichen  und 
Strafe  zugleich  bis  zur  Erfüllung  Stummbeit  auferlegt, 
welche  wirklich  andauert,  bis  bei  der  Beschneidung  des 
nunmehr  geborenen  Sohnes  der  Vater  ihm  den  vom  Engel 
vorgeschriebenen  Namen  beilegen  soll,  worauf  er  mit  wie- 
dererlangtem Sprachvermögen  in  einen  Hymnus  ausbricht 
(Luk.  1,  5  —  25.  57  —  800. 

Dafs  hiemit  der  evangelische  Bericht  wirklich  eine 
Reihe  äufserer,  und  zwar  wunderbarer,  Vorgänge:  efpe 
von  Gott  veranstaltete,  durch  die  Erscheinung  eines  der 
höchsten  Geister  vermittelte  Vorherverkündigung  des  mea- 
sianischen  Vorläufers,  eine  nicht  ohne  besondern  göttli- 
eben Segen  bewirkte  Schwangerschaft,  und  eine  auf  aus- 
serordentliche Weise  sowohl  eingetretene  als  gehobene 
Stummheit,  erzählen  wolle,  scheint  sich  zunächst  von 
selbst  bu  verstehen.  Eine  ancfere  Frage  ist,  ob  auch  wir 
dieser  Ansicht  des  Berichterstatters  beitreten,  und  uns 
überzeugen  können,  dafs  wirklich  der  Geburt  des  Täufers 
eine  solche  Reihe  von  wunderbaren  Ereignissen  vorange- 
gangen sei? 

Den  ersten  Anstofs,  welchen  die  neuere  Bildung  an 
der  vorgelegten  Erzählung  nahm,   bildet  die  Engetersehei- 


1)  S.  das  Verzciclmiss  bei  Huwfc,  Com«,   in  Luc«,  Proleg. 
p.  247  ff.  / 


Erstes  Kapitel«    $.  17.  IM 

g,  theils  eis  solche  überhaupt,  tbeils  diese  lo  Ihrer  be- 
nderen   Beschaffenheit»    Was   das   Letalere    betrifft,   so 
gibt  sieh  der   Engel    selbst  su   erkennen   als   raßQtyly  6 
luxf&zipaog  twmiov  t5  &t5  (1,  l°0»  an^  hier  fand  man  es 
nan   ondenkbar,   dafs   der  göttliche  Geisterstaat  wirklich 
gerade  so  beschaffen  sein  sollte,    wie   sich  die  nachexilt- 
aehen  Jaden  denselben  dachten ,   and  dafs  sogar   die  Na- 
nsen der  Engel  in  der  Sprache  dieses  Volkes  gegeben  sein 
sollten  z).    In  der  That  kommt  hier  selbst  der  Sopranata- 
raJist   aaf  seinem   Boden   in   einiges   Gedränge«      Wären 
nSmlich  Namen  and  Rangordnung  der  Engel ,  -wie  sie  ia 
mosrer  Erzählung  vorausgesetzt  werden ,  orsprflnglich  auf 
Boden  der  geoffenbarten  hebräischen  Religion  erwacht* 
n;  hätte  Moses  oder  einer  der  älteren  Propheten  diese!« 
ben  festgesetzt:   so  könnten  and  mfifsten  sie  auf  suprana« 
toralistischem  Standpunkt  als  richtig  angenommen  werden. 
fiun   aber  linden    sich  jene    näheren   Bestimmungen  der 
KsgeUehre  erst  in  dem  makkabäischen  Daniel  *)  and  dem 
Apokryphum    Tobia  *) ;    offenbar  in  Folge  des   Einflusses 
der  Zendreiigion;   wie  denn   die   Juden  selbst   beneugen, 
"eWs  die  Engelnamen  mit  ihnen   aus  Babylon   gekommen 
*)•    Hieraus  ergibt  sieh  eine  Reihe  fär  den  Suprana- 


2)  Paulus,  exeget.  Handbuch,  1,  t,  S.  78 f.  96.  Bauer,  hehr. 
Mythol.  2.  Bd.  S.  218  f. 

3)  Hier  Michael  all  ITfltWnn  D^jteH  "IHK  bezeichnet,   10,  15. 

Gabriel,  8,  16.  9,  21. 

4)  Hier  Raphael  als  hs  J*  wr  htra  ayUar  ayyiltoi',  ot  —  ekxo?evor'- 
rm  frumov  rq;  S%&  t5  iyU  (12,  15),  fast  wie  Gabriel  bei  Li*- 
Xas,  die  Zahlbestimmung  ausgenommen.  Diese  ist  der  Zahl 
der  persischen  Amschaspands  nachgebildet,  vergl.  um  Warrs, 
bibl.  Dogmatik,  §.  171  b). 

5)  Hieros.  rosch  haschanah  f.  56,  *.  (bei  LtwmrooT,  horae  hebr. 
et  talmud.  in  IV  Evangg.,  p.  723):  R.  Simeon  ben  LacMsch 
dielt:  nomina  angelorum  aicenderunt  in  manu  Israelis  ex 
Babylone.    Nam  antea  dUtum  esU  mdvolmoit  md  ms  uaui  rö? 

Det  Üben  Jesu  Vt  Aufl.  I.  Bsmd.  • 


\ 


I 


130  Erster  Abschnitt. 

tnralisten  Infserst  bedenklicher  Fragen.  Sind  diese  Vor« 
Stellungen,  eo  lange  sie  noch  blofs  bei  auswärtigen  Völ- 
kern waren,  falsch  gewesen,  nnd  erst,  als  sie  zu  den  Ja« 
den  abergingen,  wahr  geworden?  oder  sind  sie  von  jeher 
wahr  gewesen,  nnd. haben  also  abgöttische  Völker  eine  so  ,» 
hohe  Wahrheit  früher  entdeckt,  als  das  Volk  Gottes?  1 
Waren  Jene  Völker  von  besondrer  göttlicher  Offenbarung  fc 
ausgeschlossen ,  kamen  sie  also  durch  ihre  eigne  Vernunft  i 
früher  auf  jene  Entdeckung ,  als  die  Juden  mittelst  ihrer  c 
Offenbarung:  eo  scheint  ja  die  Offenbarung  fiberflüssig,  i 
oder  nur  negativ,  d»  h.  cur  Verhinderung  eines  au  frühen  j 
Bekanntwerdens,  wirksam  zu  sein;  nimmt  man  aber,  um  t 
dieser  Conseqnens  ausauwelchen ,  lieber  auch  bei  jenen  v 
nichtisraelitischen  Völkern  einen  offenbarenden  Einflufe 
Gottes  an:  so  löst  sich  der  supranaturalistische  Stand«» 
trankt  auf,  und  wir  dürfen,  da  in  den  sich  gegenseitig 
widerstreitenden  Religionen  doch  nicht  Alles  geoffenbart 
sein  kann,  kritisch  auswählend  verfahren.  Da  werden 
wir  es  nnn  einem  geläuterten  Begriffe  von  Gott  keines- 
wegs angemessen  finden,  ihn,  wie  einen  menschlichen  Kö- 
nig, von  einem  Hofstaat  umgeben  au  denken;  und  wenn 
man  sich  fttr  das  wirkliche  Dasein  solcher  Thronengel  so 
gerne  anf  die  vernünftigerweise  anzunehmende  Stufenlei- 
ter der  Wesen  beruft  6) :  so  wird  hiemit  nicht  die  hebräi- 
sche Vorstellung  gerechtfertigt,  sondern  ihr  eine  moderne 
untergeschoben.  Man  wäre  also  auf  den  Ausweg  hinge* 
wiesen,  eine  Anbequemung  von  Seiten  Gottes  anzunehmen, 
cL  h.  daft  er  einen  höheren  Geist  abgesendet  habe  mit  der 
Weisung,  sich,  um  bei  dem  Vater  des  Täufers  Glauben 
zu  finden ,  der  jüdischen  Vorstellung  gemäfs ,  einen  Rang 

Seraphim,  Seraphim  steterunt  ante  eum9  Jet*  6;  at  post:  tfr 
Gabriel,  Dan.  9,  2J,  Michael  princeps  vester,  Dan.  10,  2J. 
6)  Z.  B.  Olshauskn,  biblischer  Commentar  zum  N.  T.      1.  Tbl 
S.  95.  (3tc  Auflage).    VgL  HonvAiuf,  S.  124  f. 


Erstes  Kapital.    J.  17.  131 

■nd  Titel  beinlegen,  die  er  eigentlich  nicht  hatte.  Da 
aber  ,  wie  sogleich  sieh  seigte ,  Zaeharias  auch  so 
dem  Engel  nicht  glaubte ,  sondern  erst  dem  Erfolg :  so 
war  Jene  ganse  Herablassung  «nntltc ,  ond  kann  .  daher 
aieht  von  Gott  veranstaltet  worden  sein.  Waa  im  Beson- 
dern noeh  den  Namen  des  erscheinenden  Engels  betrifft, 
and  die  Unwahrscheinlichkeit ,  dafs  die  Engel  gerade  he- 
brfiiaehe  Namen  haben  sollen :  se  macht  man  swar  dataof 
anfnierksam,  dafs  der  Name  Gabriel  appellativisofa  in  der 
Bedeutung :  Mann  Gottes,  genommen,  gans  richtig  die  Na- 
tur eines  solchen  Wesens  bezeichne,  nnd  indem  er  sieh  in 
dieser  Bedeutung  in  allen  Sprachen  wiedergeben  lasse, 
keineswegs  an  die  hebräische  gebunden  sei  0 :  aber  damit 
umgeht  man  eben  das  eigentlich  Anstöfaige,  was  an  lösen 
wäre,  indem  man  das  offenbar  als  Eigennamen  sich  ge- 
bende Wort  als  blofses  Appellativum  fafst.  Es  müßte 
also  auch  hier  eine  Accommodation  angenommen  werden, 
dafs  nämlich  der  Engel,  um  sich  nach  seinem  Wesen  fcu 
bezeichnen,  einen  Namen  sich  beigelegt  hätte,  welchen  er 
nicht  wirklich  führte;  eine  Anbequemung,  welche  mit  der 
verigen  beartbetlt  ist. 

Aber  nicht  allein  Namen  und  angebliche  Stellung  des 
Engels,  sondern  auch  sein  Reden  und  Benehmen  hat  man 
anetöJsig  gefunden.  Zwar  wenn  Paulus  sich  dahin  Aus« 
sert,  nur  ein  ievitischer  Priester,  nicht  aber  ein  Engel 
Jehova's,  habe  für  nothwendig  erachten  können,  dafs  der 
Knabe  in  nasiritischär  Enthaltsamkeit  leben  sollte  8):  so 
Übt  sich  dagegen  geltend  machen ,  dafs  auch  der  Engel 
wissen  konnte,  unter  dieser  Form  werde  Johannes  am 
Meisten  auf  seine  Nation  bu  wirken  im  Stande  sein.  Be- 
denklicher aber  ist  das  Andere.  Als  nämlich  Zaeharias 
in  einem   aus   Ueberraschung    und  einer    nahe  liegenden 


7)  Ouiuvsnv,  a.  a.  O.     Homumi,  S.  135- 

8)  a.  a.  O.  S.  77. 

9 


13t  Erster  Abschnitt. 

Ueberlegung  hervorgegangenen  Zweifel  »ich  ein 
erbittet:  so  wird  ihm  .das  vem  Kngel  ttlsbsld  zun  Verbre- 
eben  gerechnet,  und  er  mit  der  Strafe  des  Verstummens 
belegt.  Wenn  man  nun  auch  nicht  mit  Paulus  behaupten 
mag^  ein  wirklicher  Engel  würde  den  Untersuchungsgeist 
des  Prieaters  vielmehr  gelobt  haben:  so  wird  man  ihm 
doch  in  der  Bemerkung  beistimmen  können,  dafs  ein  so 
gebieierisohes  Verfahren  weniger  einem  wirkliehen  himm- 
lischen Wesen,  als  der  damaligen  jüdischen  Meinung  Ton 
einem  solchen ,  angemessen  sei.  Auch  auf  supranaturaü- 
stisehem  Boden  bat  man  keine  rechte  Parallele  su  diesem 
harten  Verfahren.  Denn  gegen  die  PAULCs'sche  Berufung 
auf  das  ungleich  mildere  Verfahren  Jehova's  mit  Abra- 
ham, welchem  die  gans  gleiche  Frage  selbst  ohne  Tadel 
hingeht,  gilt  es  nur  in  Bezog  auf  die  Stelle  1.  Hos.  15,  8., 
was  Olshavsen  erinnert,  Abraham  habe  diefs,  nach  V«  6, 
ans-  einer  gläubigen  Gesinnung  herausgesproehen  ;  wogegen 
nicht  allein  nach  Kap.  18,  12.  der  weit  entschiedenere 
Unglaube  der  Sara  in  gleichem  Falle  ungestraft  bleibt, 
sondern  auch  nach  17,  17.  Abraham  selbst  die  göttliche 
Verheifsung  bis  zum  Lachen  unglaublich  findet,  ohne  auch 
nut*  getadelt  su  werden 9).     Noch  näher  liegt  das 


9)  Diese  Parallele  lässt  Homuinv  nicht  gelten ,  weil  Abraham 
und  Sara  älter,  mithin  die  Verheissung  von  Nachkommenschaft 
bei  ihnen  weniger  glaublich  gewesen  sei,  als  bei  den  Eltern 
des  Täufers  (S.  137).  Hier  sieht  man  nun,  was  es  mit  der 
HoFFMiNw'schen  Verweisung  auf  das  hohe  Alter  der  Erzväter 
( s.  oben  S.  33)  Anm.  5* )  für  ein  Ernst  gewesen  ist.  Dieses 
Alter  als  geschichtlich  Torausgesetzt)  so  war  ja  in  einer  Zeit. 

wo   das    gewöhnliche  Lebensziel  der  Männer   auf   170 180 

Jahren  stand  (Tharah  205,  1.  Mos.  11, 32;  Abraham  175,  l.Mot. 
25,  7;  Isaak  180,  1.  Mos.  35,  28),  der  hundertjährige  Abra- 
ham, von  seinem  Vater  in  dessen  siebzigstem  Jahre  gezeugt 
(l.Mos.  11,  26),  verhältnisamäasig  noch  nicht  einmal  so  weit 
gegen  das  Lebensende  vorgerückt,  als  in  einer  Zeit,  in  wel- 


Erstes  Kapitel.    &  17.  139 

der  Maria,  welehe  Lue.  1,  S4.,  «war  einer  noch  gröfaerem 
Un  Wahrscheinlichkeit  gegenüber,  die  aber  gleichfalls  durah 
eine  ausdrückliche  göttliche  Botschaft  für  nichtig  erklärt 
war,  eigentlich  ganz  dieselbe  Frage  wie  Zacharias  macht ; 
so  dafs  man  immer  mit  Paulus  wird  sagen  müssen,  gewifs 
sieht  das  Verfahren  Gottes   oder   eines   höheren    Wesens, 

* 

sondern  nur  die  Vorstellung  der  Joden  von  demselben 
werde  so  folgewidrig  gewesen  sein.  —  Eben  weil  es  ihnen 
m  der  Art,  wie  es  vorlag,  selbst  ein  Anstefs  war,  haben 
die  orthodoxen  Theologen  für  dieses  Verstummen  lassen  al- 
lerhand Gründe  ausgesonnen.  Hess  glaubte  das  Verfahren 
des  Kugele  gegen  den  Vorwurf  der  Willkürlichkeit  da- 
durch rechtfertigen  su  können,  dafs  er  die  Stommheit  des 
Zacharias  als  das  einsige  Mittel  betrachtete,  eine  Sache 
such  wider  seinen  Willen  geheim  su  halten,  deren  früh- 
zeitiges Bekanntwerden  für  das  Kind  Johannes  ähnliche 
gefährliche  Folgen  hätte  haben  können,  wie  das  Bekannt- 
werden der  Geburt  Jesu  durch  die  Magier  sie  für  das 
Jesuskind  hatte  ").  Allein  erstlich  sagt  von  einem  solchen 
Zwecke  der  Engel  nichts,  sondern  oinsig  als  Strafe  und 
Zeichen  zugleich  verhängt  er  die  Stummheit  (V.  20.); 
dann  aber  mufs  Zacharias  den  Hauptinhalt  der  gehabten 
Erscheinung  doch  auch  während  seiner  Stummheit  wenig- 
stens seiner  Gattin  schriftlich  mitgetheilt  haben,   wie  wir 


eher  das  Lebensziel  längst  auf  den  Termin  Ps.  90,  10.  her- 
untergesunken  war,  der,  vermöge  des  Gesetzes  (4.  Mos.  8, 25., 
wie  Hoffmawh  anführt;  richtiger)  4.  Mos.  4,  3.  *7.,  höchstens 
funfzigjäHrige  Zacharias.  Das  Alter  der  Elisabet  lässt  sich 
nicht  ebenso  bestimmen ;  war  sie  aber  gleichfalls  gegen  50, 
so  stand  sie ,  ihre  natürliche  Lebensgränze  zu  70  Jahren  ge- 
nommen, der  90jährigen  Sara,  welche  127  Jahre  alt  wurde, 
(i.  Mos.  23,  I.)  «0  ziemlich  gleich. 
10)  Geschichte  der  drei  letzten  Lebensjahre  Jesu,  sammt  dessen 
Jagendgeschichte.  Tübingen  1779.  1.  Bd.  S.  12. 


134  Erster  Abschnitt. 

daran«  sehen ,  dafs  diese ,  noch  ehe  man  ihren  Mann  be- 
fragt, den  dem  Kinde  bestimmten  Namen  kennt  (V.  60.)  ; 
endlich,  was  half  es,  das  ungeborne  Kind  swar  durch  er- 
schwerte Mi« heilang  seiner  wundervollen  Ankündigung  si- 
cher sn  stellen,  wenn  das  kanm  geborene  sogleich  aller 
Gefahr  dadurch  preisgegeben  wurde,  dafs  durch  die  ge- 
löste Zunge  des  Vaters  und  das  Aufsehen  der  Scene  bei 
seiner  Beschneidung  die  ganee  Umgegend  des  Redens  von 
der  Begebenheit  voll  ward  ( V.  65.)  ?  Annehmlicher  wäre, 
wie  Olshaüsbn  die  Sache  ansieht ,  indem  er  den  ganzen 
wundervollen  Hergang,  also  namentlich  auch  das  Verstum- 
men, als  ein  sittliches  Erziehungsmittel  für  Zachariafe  be- 
trachtet ,  durch  welches  er  seinen  Unglauben  kennen  and 
überwinden  lernen  sollte  n);  allein  auch  hievon  steht  theils 
nichts  im  Texte,  theils  würde  das  unverhoffte  Eintreten 
des  für  unmöglich  gehaltenen  Erfolgs  gewMs  auch,  wenn 
der  Engel  statt  des  Verstummens  nur  etwa  einen  Verweis 
angebracht  hatte,  seinen  Unglauben  gehörig  beschämt  be- 
ben. Im  Gefühle  der  Unzulänglichkeit  dieses  moralischen 
Grundes  für  die  Verhängung  der  Stummheit,  verschmähen 
es  jetet  manche  Theologen  nicht,  der  durch  diese  Schi- 
ckung gesteigerten  Stimmung  des  Zacharias  an  seiner  phy- 
sischen Befähigung  cur  Zeugung  eines  Sohnes  Antheil  ta 
geben  12) :  ein  bedenklicher  Seitenschritt  der  supranata- 
ralistischen  Ansicht  gegen  den  rationalistischen  Stand- 
punkt hin. 

Möchte  übrigens  das  Benehmen  des  Engels  noch  so 
begründet  und  gotteswürdig  gewesen  sein :  schon  die  En- 
gelerscheinung als  solche  würden  Viele  in  unsern  Tagen 
unglaublich  finden«  Der  Verfasser  der  hebräischen  My- 
thologie hat  geradezu  den  Säte  aufgestellt:  wo  Angelo- 
phanien  sind,   da  ist  ein  Mythus,   wie  im  A.  T. ,   so  im 


11)  Bibl.  Comm,  1,  S.  115. 

12)  Lauge,  S.  51 ;    Hoffmanw,  S.  138. 


Erstes  Kapitel.    $.  17*  135 

neuen  IJ).  *  Vorausgesetzt  auch,  dafs  es  Engel  gebe,  so 
können  sie  doch,  urtheilt  man,  den  Menschen  nicht  er- 
scheinen ;  denn  sie  gehören  4er  Übersinnlichen  Welt  an, 
welche  auf  nnsre  Sinnorgane  nieht  einwirken  kann:  so 
dafs  es  immer  gerathen  bleibt,  ihre  angeblichen  Erschei- 
nungen auf  die  blofse  Einbildungskraft  surficksuführen  "). 
Es  sei  nicht  wahrscheinlich,  sagt  man  ferner,  dafs  Gott 
sie  der  gewöhnlichen  Vorstellung  gemftTs  gebrauche ;  denn 
es  lasse  sieh  kein  rechter  Zweck  ihrer  Sendungen  erken- 
nen, indem  sie  gewöhnlich  nur  der  Neugier  dienen,  oder 
defNeigung  des  Menschen,  seine  Angelegenheiton  unthfftig 
in  höhere  Hände  zu  legen ,  Vorschub  thun  lö).  Auch  das 
müsse  auffallen,  dafs  diese  Wesen  in  der  alten  Welt  zwar 
bei  den  geringsten  Veranlassungen  sich  geschäftig  zeigen, 
in  der  neuen  aber  selbst  bei  den  wichtigsten  Begebenhei- 
ten mössig  bleiben ").  Wenn  aber  ihr  Erscheinen  und 
Einwirken  in  die  Menschenwelt,  so  ist  ebendamit  auch  ihr 
Dasein  überhaupt  bezweifelt,  weil  eben  in  fenen  Verrich- 
tungen ein  Hauptsweck  ihrer  Existenz  liegen  soll  (Hebr. 
1,  14).  Zwar  lasse  sich,  meint  Schlkikrmacurr  "),  das 
Dasein  von  Engeln  nicht  als  unmöglich  nachweisen;  doch 
sei  die  ganze  Vorstellung  eine  solche,  welche  in  unserer 
Zeit  nicht  mehr  entstehen  wflrde ,  sondern  ganz  nur  der 
alterthfimlichen  Weltanschauung  angehöre.  Denn  wenn 
der  Engelglaube  eine  gedoppelte  Quelle  und  Wurzel  habe, 
die  eine  in  dem  natürlichen  Verlangen  unseres  Geistes, 
■ehr  Geist  in  der  Welt  vorauszusetzen,  als  in  der  meosch- 


13)  Hebr.  Mythol.  2,  S.  218. 

14)  Bader,   a.  a.  O.  1,  S.  129.     Pauli*,   exeget.  Handbuch,  l, 
a,  74. 

15)  Paulus,  Commentar  1,  S.  12. 

16)  Bausb,  a.  a.  O. 

17)  Glaubenslehre,  1.  TU.  §.  42  und  45  (2tu  Ausgabe). 


156  firster  Abschnitt. 

liehen  Gattung  verwirklicht  ist 18) :  so  ist  nach  Schleier- 
macher dieses  Verlangen  für  uns  jetzt  Lebende  durch  die 
Vorstellung  befriedigt,  dafs  auch  andre  Weitkörper  aufser 
dem  unsrigen  auf  entsprechende  Weise  bevölkert  seien 19), 
womit  diese  erste  Quelle  des  Engelglaubens  abgeleitet  ist; 
die  andre  aber,  die  Vorstellung  Gottes  als  eines  von  sei- 
nem Hofstaat  umgebenen  Königs ,  ist  ohnehin  nicht  mehr 
die  unsere,  auch  die  Veränderungen  in  Natur  und  Men- 
gchen weit,  welche  man  sich  sonst  als  von  Gott  selbst 
durch  dienende  Engel  bewirkt  dachte,  wissen  wir  jetst 
aus  Naturursachen  cu  erklären,  oder  stellen  uns  doch 
diese  Aufgabe:  so  dafs  der  Engelglaube  jedes  wahren  Ad* 
knöpfungtfpunktes  an  einen  in  der  Bildung  der  neueren 
Zeit  wahrhaft  Begriffenen  entbehrt,  und  nur  noch  auf 
todte,   traditionelle  Weise  vorhanden  ist.    Das  Ergebnifs 


18)  Diess  ist  der  richtige  und  vorsichtig  gewählte  Ausdruck  fdr 
dasjenige,  was  gewöhnlich  als  die  Forderung  einer  Stufenlei- 
ter   von   Wesen    vom   Menschen    zu  Gott    hin    ausgedrückt 
wird;  „ein  unchristlicher  Mangel  an  Logik:  als  oh,  Endlich- 
keit und  Unendlichkeit  als  feste  Gegensätze  genommen ,    der 
Abstand  zwischen  der  Creatur  und  Gott  nicht  immer  ein  un- 
endlicher bliebe ;  vielmehr  aber,  als  ob  nicht  durch  Christum 
Gott  und  Mensch   in  Einheit  gebracht  wären "  (Binder  ,  Be- 
merkungen über  die  Lehre  von  den  Engeln  und  Dämonen,  in 
den  Studien  der  evangel.   Geistlichkeit  Würtemhergs,  9,  2, 
S.  18  f.).    Sagt  man  aber  mit  Hoffmawn  Mos  :  Wie  der  Mensck 
mit  fortschreitender  Bildung  immer  weniger  ghbae  adscrip- 
ftwwird:    so  m us s   (jawohl!)  noch   eine   höhere  Bildung 
möglich   sein,    vermöge   deren  die  Wesen   auch  nicht  mehr 
globo  adscrtptt  sind   (S.  125)    -    so  fällt  die  willkürliche 
Spielerei  von  selbst  in  die  Augen. 

19)  Diese  Bevölkerung  lässt  jetzt  Linea  (S.  45)  durch  die  Ana- 
logie  unserer  Luftballons  und  mit  Hülfe  der  geringeren  Schwere 
mancher  andern  Planeten  von  diesen  wegfliegen:  und  das  sol- 
len  dann  Engel  sein. 


Erstes  Kapitel.    $.  17.  1S7 

verändert  sieh  nicht,  auch  wenn  wir  mit  einem  der  neue- 
sten Bearbeiter  der  Engeltehre 20)  als  den  Ursprang  die- 
ser Vorstellung  uns  das  ßedörfnifs  des  Menschen  denken, 
die  beiden  Seiten  seiner  sittlichen  Doppelnatnr  auseinan- 
der so  legen,  and  als  anfser  ihm  befindliehe  Wesen,  En- 
gel nnd  Teufel,  sich  cur  Anschauung  zu  bringen.  Denn 
•och  «o  bleibt  der  Ursprung  beider  Vorstellungen  lediglich 
ein  subjeetiver,  die  Engel  blofse  Ideale  creatüriicher  Voll- 
kommenheit, welche,  wie  auf  dem  untergeordneten  Stand- 
punkte des  vorstellenden  Bewußtseins  entworfen,  so  auf 
dem  höheren  des  begreifenden  Denkens  zurückgenommen 
werden* 

Diesem  ftr  die  Annahme  von  Engeln  verneinenden 
Ergebnisse  der  Zeitbiidong  gegenüber  sucht  Olshausbn 
ebenderselben,  nach  ihrer  specolativen  Seite,  bejahende 
GrSnde  für  die  Wirklichkeit  der  vorliegenden  Ersehet- 
jiang  abzugewinnen.  Die  evangelische  Erzählung,  meint 
er,  widerspreche  einer  richtigen  Weltansicht  keineswegs, 
da  ja  Gott  der  Welt  immanent,  sie  von  seinem  Hauche 
bewegt  sei  21)-  Allein,  eben  wenn  Gott  der  Welt  imroa- 
nirt,  so  braucht  er  am  wenigsten  durch  Dazwischenkunft 
von  Engeln  auf  sie  zu  wirken;  nur  wenn  er  ferne,  oben 
im  Himmel,  thront,  mag  er  Engel  herabsenden,  um 
auf  der  Erde  etwas  vorzunehmen.  Man  würde  sich  wun- 
dern müssen,  wie  Olshausbn  auf  jene.  Weise  folgern  könne; 
wenn  nicht  aus  der  Art,  wie  dieser  Ausleger  die  Angelo- 
logie  and  Dämonologie  durchweg  behandelt,  erhellte,  dafs 
ihm  die  Engel  nicht  sowohl  individuelle,  persönlich  für 
sich  bestehende  Weaen  sind,  als  vielmehr  nur  göttliche 
Kräfte,  vorübergehende  Ausflusse  und  Fulgnrarionen  des 
göttlichen  Wesens:  so  dafs  die  Vorstellung  Olshauskns 
von  den  Engeln  in  ihrem  Verhältnifs  zu  Gott  der  sabellia- 


20)  Binder,  a.  au  O.,  S.  11  ff. 

21)  Bibl.  Cesua.  1.  TkL.  S.  115. 


138  Erster  Absohnitt. 

nischen  von  der  Trinkfit  zu  entsprechen  scheint;  dafs 
aber  diefs  nicht  die  biblische  Vorstellung  sei,  folglich 
auch,  was  für  jene  yorgebraoht  wird,  für  diese  nichts 
beweise ,  ist  hier  nicht  weiter  auseinander  zu  setzen. 
Auch  was  der  genannte  Theologe  ferner  "sagt  9  man  dürfe 
die  Gemeinheit  des  Alltagslebens  nicht  auch  fftr  die  reich- 
sten Lebensmomente  ansres  Geschlechtes  fordern;  in  der 
Zeit,  als  das  ewige  Wort  sich  in  das  Fleisch  versenkte, 
seien  Erscheinungen  der  geistigen  Welt  in  die  unsrige  ein- 
getreten, die  in  minder  reich  bewegten  Zeiten  kein  Be- 
dürfnis waren  S2)  —  beruht  auf  einem  Mifsverständnifa. 
Denn  die  Alltäglichkeit  wird  in  solchen  Momenten  eben 
dadurch  unterbrochen ,  dafs  Geister  wie  der  des  Täufers 
in  die  Menschheit  eintreten,  und  es  würde  kindisch  sein, 
die  Zeiten  und  Umstände,  unter  welchen  ein  Johannes 
entstand  und  sich  heranbildete,  defswegen  alltäglich  zu 
nennen,  weil  es  ihnen  an  Verzierung  durch  Engelerschei« 
nungen  gefehlt  hätte;  ebenso,  was  in  solchen  Zeitpunkten 
die  intelligibie  Welt  für  die  unsrige  thut,  ist  eben,  dafs 
sie  aufserordentliche  Menschengeister  sendet,  nicht  dafs 
sie  Engel  auf-  und  niedersteigen  läfst. 

Wenn  zur  Vertheidigung  der  buchstäblichen  Auffas- 
sung dieser  Abschnitte  endlich  angedeutet  wird,  eine  sel- 
che Vorzeichnung  des  Erziehungsplans  für  das  zu  gebä- 
rende Kind  durch  den  Engel  sei  nöthig  gewesen,  um  es  za 
dem  Manne  cu  machen,  der  es  werden  sollte  23) :  so  würde  das 
entweder  zu  viel  voraussetzen,  nämlich,  dafs  alle  grofsen  Män- 
ner, um  zu  solchen  erzogen  zu  werden,  auf  ähnliche  Weise 
in  die  Weit  eingeführt  werden  müfsten;  oder  man  mufste 
sich  anheischig  machen,  nachzuweisen,  warum,  was  bei 
den  gröfsten  Männern  anderer  Völker  und  Zeiten  entbehr- 


22)  a.  a.  O.  S.  89. 

23)  Hess,  Geschichte  der  drei  letzten  Lebensjahre  Jesu  u.  s.  w. 
1.  Thl.  S.  13.  35. 


Erstes  Kapitel,    fi.  IS.  139 

Reh  war,  bei'm  Täufer  nothwendig  gewesen  sei:  über- 
haupt würde  hiednrch  zu  viel  Gewicht  auf  die  Erziehung, 
Eon  Nachtheil  der  Entfaltung  des  Geistes  von  innen  her* 
ans,  gelegt;  endlich  aber  ist  umgekehrt  gegen  die  Auf- 
fassang der  Ersählang  als  einer  wirklichen  Wunderge» 
schichte  mit  Recht  dal  geltend  gemacht  worden,  dafs  viel« 
mehr  Vieles  in  dem  folgenden  Leben  des  Täufers  ganz 
unerklfirlich  werde  bei  der  Voraussetzung,  dafs  sich  wirk- 
lieh so  viele  wandervolle  Begebenheiten  vor  and  bei  sei- 
ner Gebart  ereignet  haben.  Denn  allerdings,  wenn  Jo- 
hannes schon  von  Anfang  an  so  wunderbar  auf  Jesus,  als 
den,  dessen  Vorläufer  er  sein  sollte,  hingewiesen  war: 
so  ist  es  nicht  zu  begreifen ,  wie  er  ihn  vor  seiner  Taufe 
nicht  gekannt  haben  J  und  selbst  später  noch  an  seiner 
Messianität  irre  geworden  sein  kann  (Job.  1,  $0.    Matth. 

Man  wird  somit  der  rationalistischen  Kritik  und  Po« 
lemik  in  dem  negativen  Ergebnisse  Recht  geben  müssen, 
dafs  es  vor  und  bei  der  Gebart  des  Täufers  nicht  so  über- 
natürlich sagegangen  sein  könne ;  nur  fragt  es  sich  jetzt, 
welche  positive  Ansicht  von  der  Sache  an  die  Stelle  der 
mmgestoftenen  su  setzen  ist? 

f.    18. 

Die  natürliche  Deutung  der  Erzählung. 

Die  leichteste  Aendernng,  welche  mit  der  vorliegen« 
den  Erzählung  durch  Unterscheidung  des  reinen  Factum* 
von  dem  Urtheil  der  betheiligten  Personen  im  Sinne  der 
rationalistischen  Auslegung  vorgenommen  werden  könnte, 
wäre  nun  diese,  die  Thatsache  nach  ihren  beiden  Haupt- 
theilen:  der  Erscheinung  des  Engels,  und  dem  Verstum- 


14)  Horst,  in  Hnna's  Muse  am ,  1 ,  4.  S.  733  f.    Gmaa,  in  sei- 
nem  neuest,  theol.  Journal,  7,  I,  S.  403. 


14)  Erster  Abschnitt. 

ton  Zunge  sieb  selbst  auf  einige  Zeit  untersagt  habe9)» 
Neu  belebt  übrigens  durch  den  außerordentlichen  Vorfall 
kehrt  diesen  Deutungen  zufolge  der  Priester  su  seiner 
Gattin  aurüok,  und  sie  wird  eine  zweite  Sara. 

Was  nun  die  PAULDS'sehe  Erklärung  der  Engeleiv 
seheinung  betrifft,  auf  welche  alle  andern  entweder  im 
Wesentlichen  hinauslaufen,  oder  durch  ihre  offenbare  Un- 
nahbarkeit hingetrieben  werden:  so  kann  man  geradeso, 
sagen,  dafs  sie  das  Wunderbare,  an  dessen  Entfernung 
sie  so  viele  Mühe  anwendet,  nicht  einmal  vermeide.  Denn 
ihr  Urheber  gesteht  selbst  su ,  dafs  von  einer  solchen  Vi- 
sion, wie  er  sie  hier  voraussetzt,  die  meisten  Menschen 
keine  Erfahrung  haben  6):  sollen  nun  dennoch  in  einzelnen 
Fällen  dergleichen  Zustände  vorkommen,  so  mufs  doch 
theils  eine  besondre  Anlage  dazu  vorhanden  sein,  von 
welcher  bei  Zacharias  nicht  nur  übrigens  keine  Spur  sn 
finden,  sondern  die  auch  in  seinem  vorgerückten  Alter 
nicht  mehr  su  vermuthen  ist;  theils  mufs  eine  bestimmte 
Veranlassung  hinsutreten ,  welche  hier  durchaus  fehlt  *), 
denn  ein  so  lange  gehegter  Wunsch  äufsert  sich  nicht 
mehr  in  ekstatischer  Heftigkeit,  und  daa  Räuchern  im 
Tempel  konnte  einen  alten ,  gedienten  Priester  nicht  wohl 
aufser  sich  bringen«  So  hat  Paulus  hier  nur  ein  göttli- 
ches Wunder  in  ein  Wunder  des  Zufalls  umgewandelt; 
ob  aber  gesagt  wird:  bei  Gott  ist  kein  Ding  unmöglich; 
oder:  dem  Zufall  ist  kein  Ding  unmöglich,  ist  beides 
gleich  precär  und  unwissenschaftlich. 

Aber  auch  das  Verstummen  des  Zacharias  wird  auf 
diesem  Standpunkte  nur  sehr  unbefriedigend  erklärt.  Denn 
war  dasselbe  nach  der  einen  Erklärung  durch  einen 
Schiagflufs  herbeigeführt,   so  wird  man,«  wenn  auch  das 


5)  Exeget.  Handb.  1,  a,  S.  77.  80. 

6)  a.  a.  O.  S.  73. 

7)  Vgl.  Schleikrrucher  über  die  Schriften  des  Lukas  S.  25. 


Erstes  Kapitel.    §.  18.  143 

PjjJLUS'flehe  Bedenken  ans  3.  Mos.  21,  16  ff.  durch  die  Ge- 
genbemerkung von  Lightfoqt  8)  sieh  hebt,  doch  mit 
Schleiermacber.  darüber  sich  verwundern  müssen,  wie 
Zaeharias  oneraehtet  jenes  Sehlagflosses  frisch  und  übri- 
gens gestund  nach  Hause  gebt9)!  **  a^>  er  gerade  mit 
dieser  theilweisen  Lähmung  anderntheils  die  Kraft  erhal- 
ten haben  mfifste,  seinem  langgehegten  Wunsehe  Erfüllung 
m  schaffen.  Aueh  das  mu£»  als  ein  senderbarer  Zufall 
bezeichnet  werden,  dafs  gerade  am  Besehneidungstage  die 
Lähmung  der  Zunge  gewichen  sein  soll ,  da ,  wenn  diels 
der  Gewalt  der  Vaterfreude  «geschrieben  ^vird  10) ,  diese 
gewifs  am  Tage  der  Geburt  des  Sohnes  gröTser  gedacht 
werden  muls,  als  an  dem  späteren  der  Beschneidung,  wo 
lieb  dar  Vater  an  den  Besite  des  Kindes  bereits  gewöhnt 
hatte.  —  Die  andre  Erklärung  aber,  dafii  das  Njehtreden* 
kennen  des  Zaeharias  nicht  eine  physische  Unmöglichkeit, 
seadern  nur  ein  psychologisch  an  erklärendes  Meinen, 
lieht  reden  bu  dürfen,  gewesen  sei,  ist  dem  Wortsinn  bei 
Lukas  anwider.  Denn  was  beweisen  alle  die  Stellen, 
welche  Paulus  cum  Beweis  dafür  aufhäuft,  dais  a  dwapa* 
akht  allein  ein  wirkliches  non  posse  9  sondern  aueh  ein 
blofaes  non  susünere  bedeuten  könne  ")>  gegen  den  klaren 
Zusammenhang  nnsrer  Stelle?  Wenn  nämlich  etwa  auch 
das  eraäblende  sx  ydvvccto  XaMjoai  cevrcig  (V.  22«)  mit 
Noth  in  jenem  Sinne  genommen  werden  könnte :  so  würde 
doeh  V.  20.  der  Engel  in  der  visionären  Vorstellung  des 
Zaeharias,  wenn  er  diesem  das  Reden  nur  verbieten,  nicht 
unmöglich  machen  wollte,  nicht  gesagt  haben :  xal  eot]  ouo- 
näv9  faj  dvpdftevog  XaXrjocu,   sondern:   toöi  ouumäv,  /07c) 


8)  Horae  hebt,  et  talmud.  ed.  Carpzov.  p.  722. 

9)  a.  a.  O.  S.  26. 

10)  Wofür  man  sich  auf  Beispiele  aus  A.  OcUius  5,  9 ,  und  Va- 
lerius  Maximus  1,  8.  beruft. 

11)  a.  a.  O.  S>  97  f. 


144  •  Erster  Abschnitt. 


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I    ! 


GrtiJpypfiflS  totfaai)  wie  auch  das  SiF/ueve  xaxfog  V.21- 
natürlichsten  von  wirklicher  Stummheit  verstanden  wird. 
Soll  also  der  Bericht,  was  auf  diesem  Standpunkte  durch- 
aus vorausgesetzt  wird  und  werden  mufs,  genau  das  wie- 
dergeben,  was  Zachariaa  selbst   Ober  das   ihm  Begegnete 
erzählte:  so  müfste,  wenn  man  eine  wirklich  eingetretene       i   i 
Stummheit  läugnet,  da  er  doch  durch  den  Engel  sich  wirk-       i  i 
lieh  eine  solche  ankündigen  läfst,  angenommen  werden,  er       i 
habe,   nnerachtet  er  hätte  reden  können,   sich   doch   fttr 
stumm  gebalten;  was  auf  Verrücktheit  führen  würde,  die 
man  doch  dem  Vater  des  Johannes,  ohne  Nöthigung  durch 
den  Text  nicht  wird  aufbürden  wollen«  s 

Auch   das    berücksichtigt  die.se  natürliche  Erklärung        i 
su  wenig,   dafs  ihr  sufolge  einer  aus  so  abnormem  See«        i 
leneustande  entsprungenen  Vorherverkündigung  der  Erfolg 
mit  unbegreiflicher  Genauigkeit  entsprochen  haben  mutete. 
Ein    solches    Eintreffen     einer    visionären    Voraussagnng 
würde  der  Rationalist  in  keinem  andern  Gebiete  glaublich 
finden.    Wie,  wenn  etwa  Dr.  Paulus  von  einer  Somnam- 
bule su  lesen  bekäme,   sie  habe  in  einer  Ekstase  die  dea        t 
Umständen  nach  im  höchsten  Grade  unwahrscheinliche  Er- 
zeugung eines  Kindes,   und  nicht  nur  eines  Kindes  über-       \ 
haupt,  sondern  bestimmt  eines  Knaben ,  und  swar  mit  ge- 
nauer Angabe  sogar  seiner  künftigen  Geistesentwickelung        j 
und  geschichtlichen  Stellung,   vorausgesagt,  und  Alles  sei        i 
aufs  Genauste  eingetroffen:   würde  er  ein  solches  Zusam»        t 
mentreffen  annehmlich  finden?    Gewifs,   er  würde   einen        j 
solchen  Blick  in  die  geheimste  Werkstfitte  der  Beugenden 
Natur  keinem  Menschen   in  keinem  Zustande  sugestehen ; 
namentlich   würde   er    über  Frevel   an  der  menschlichen 
Freiheit  Klage  erheben,    welche  durch   die  Annahme  auf- 
gehoben  werde,   dafs  sich  der  ganze  geistige  und  sittliche 
Entwicklungsweg  eines  Mensohen  wie  der  Ablauf  eines 
Uhrwerks  vorherbestimmen  lasse,  und  er  würde  ebendes- 
wegen  über  Ungenauigkeit  der  Beobachtung   und  Unn- 


-I  . 


i 


I 


Erstes  Kapitel,     f.  19.  145 

verllfefgkeit  eines  Berichtes  sich  beschweret) ,  welcher  so 
«mögliche  Dinge  als  geschehene  erzähle.  War  am  thut 
er  dieis  nicht  aach  in  Besag  auf  onsern  N.  T.  liehen  Be- 
richt? warum  findet  er  hier  annehmlich,  was  er  dort 
verwirft?  Herrschen  denn  in  der  biblischen  Geschichte 
andere  Gesetze  als  in  der  übrigen?  Diefs  mnfs  der  Ra- 
tionalist voraussetzen ,  wenn  er  das  sonst  Unglaubliche  in 
4er  evangelischen  Geschichte  glaublich  findet:  damit  aber 
kehrt  er  zum  sapranatnraiistischen  Standpunkte  zurück; 
denn  eben  die  Annahme,  dafs  die  sonst  gewöhnlichen  Na« 
targesetze  für  jene  Geschichte  nicht^  unverbrüchlich  geinln, 
ist  das  Eigentümliche  des  Supranaturaliamos» 

Vor  dieser  Selbstvernichtung  sich  zu  retten ,   bleibt 
der    dem   Wunder    ausweichenden    Erklär  ungsart    nichts 
Anderes  übrig,   als  die   buchstäbliche  Richtigkeit  der  Er» 
Zahlung   zu   bezweifeln.     Dafs  dieses  die  einfachste  Aus« 
kauft  wäre,  bemerkt  auch  Paulus,  wenn  er  selbst  veram- 
thet,  man  werde  sein  Bemühen  mit  natürlicher  Erklärung 
eines  Berichtes  überflüssig  finden ,    welcher  nichts  Andres 
als  eine  von  den  lobpreisenden  Jugendgesehichten  sei,  wie 
sie   von  jedem   grofsen  Manne  nach  seinem  Tode,   oder 
selbst  noch  zu  seinen  Lebzeiten,    gedichtet  werden*    Den- 
noch  glaubt  Paulus   nach  unparteiischer  Erwägung   diese 
Analogie  hier  nicht  anwenden  zu  dürfen.    Sein  vornehm« 
ster  Grund  ist  die  allzukurze  Zwischenzeit  zwischen  der 
Gebart  des  Täufers  und  der  Abfassung  des  Lukas- Evan- 
gelinnas12);  was  wir  nach  dem  in  der  Einleitung  Bemerk- 
ten geradezu  umkehren,  und  den  Ausleger  fragen  können, 
wie  er  begreiflich  machen  wolle,   dafs  von  einem  so  ge- 
feierten  Manne   wie   Johannes,   in   einer  so    aufgeregten 
Zeit,   seine  Geburtsgeschichte  nach  mindestens  tiO  Jahren 
noch  mit  urkundlicher  Genauigkeit  habe  überliefert  werden 
tonnen?  Hier  hat  Paulos  die  auch  von  Andern  (wie  üsy- 


a.  a.  O.  S.  72  f. 
Das  Leben  Jesu  Sic  Aufl.  LBanü.  10 


140  Erster  Abschnitt« 

dbnrkich,  Olshagsen)  gebilligte  Antwort  bereit,  vermnth- 
lieb  sei -der  von  Lukas  1,  5 — 2,  39.  eingerückte  Aafsats 
eine  unter  der  Verwandtschaft  des  Tfiufers  und  Jesu  um- 
laufende, wahrscheinlich  von  Zacharias  verfafste,  Familien- 
naehrioht  gewesen13);  eine  Hypothese,  welcher  schon  K» 
Ch.L*  Schmidt  entgegengehalten  hat,  eine  so  entstellte 
(wir  würden  blofs  sagen:  ausgescbmfiokte >  Erzählung 
könne  unmöglich  ein  Familienaufsata  sein,  sondern,  wenn 
sie  nicht  gans  in  die  Klasse  der  Legenden  gehöre,  so  sei 
doch  ihre  etwaige  geschichtliche  Grundlage  nicht  mehr  na 
unterscheiden  ")•  Weiter  wird  angeführt ,  in  der  firstth- 
lung  selbst  finden  sieh  Züge,  welche  kein  Dichter  hJftte 
ersinnen  können,  welche  somit  darauf  hinweisen,  dafs  der 
Bericht  ein  unmittelbarer  Abdruck  der  Thatsaehe  sei.  Ein 
solcher  Zog  soll  vor  allen  der  sein,  dafs  die  messianischen 
Erwartungen  der  verschiedenen,  Luc.  1.  u.  %  redend  ein- 
geführten Personen  so  richtig  nach  ihren  Umständen  nnd 
Verhältnissen  gezeichnet  seien  13) :  allein  diese  Unterschiede 
sind  gar  nicht  so  scharf  vorhanden,  wie  sie  Paulus  dafür 
ausgibt,  sondern  sie  verhalten  sich  mehr  nur  als  Fort- 
schritt vom  Allgemeinen  cum  Bestimmteren,  der  auch  ei- 
nem Dichter  oder  einer  Volkssage  natfirlioh  ist;  insbeson- 
dere aber  die  judaisirende  Fassung  der  ausgesprochenen 
Messiashoffnungen,  aus  welcher  man  auf  die  Aufzeichnung 
oder  doch  Fixirung  dieser  Ercihlungen  vor  dem  Tode  Jesu 
achliefsen  will,  dauerte  auch  nach  demselben  noch  fort 
(A.  G.  1,  6)  l6j.  Ueberhaupt  wird  man  ScnLEiSRMAcnsn'a 
beistimmen  müssen,  wenn  er  sagt,  diese  Reden  lassen  sieh 
gerade  am  wenigsten  als  historisch  genau  im  engsten  Sinne 
nehmen,  und  behaupten ,   Zacharias  habe  wirklich  in  dem 


15)  a.  a.  O.  S.  69. 

14)  In  Sciimidt's  Bibliothek  für  Kritik  und  Exegese,  3,  1,  S.  119. 

15)  Paulus  a.  a.  O. 

16)  Vgl."  de  Wjstti,  exeg.  Handbuch,  1,"  2,  S.  9. 


Erstes  Kapitel.    §.  19.  147 

Augenblick,  als  er  die  Sprache  wieder  erhielt,  sie  auch 
so  jenem  Lobgesang  benutzt,  ohne  dnrch  die  Freude  und 
Verwunderung  der  Versammlung  gestört  an  werden,  durch 
welche  doch  der  Ersfihler  selbst  sich  unterbrechen  iäfst, 
—  sondern  es  müsse  auf  jeden  Fall  angenommen  werden, 
dafs  der  Verfasser  von  dem  Seinigen  hiosugefflgt,  and  die 
Gesehichtserzihlang  durch  die  lyrischen  Ausbräche  seiner 
Hose  bereichert  habe17);  denn  was  Küinöl  vermnthet, 
Zeeharias  habe  den  Lobgesang  erst  nachher  verfertigt  und 
niedergeschrieben,  ist  doch,  neben  dem  Wunderlichen,  dem 
Texte  eu  sehr  zuwider.  Wenn  aber  die  Erklärer  sich 
weiter  darauf  berufen,  am  allerwenigsten  würde  ein  Er- 
Inder  gewisse  andere  Züge  so  richtig  getroffen  haben,  wie 
das  Zuwinken,  den  Streit  des  Familienraths,  und  dafs  der 
Engel  gerade  cur  rechten  Hand  des  Altars  gestanden l8) : 
m  zeigen  sie  nur,  dafs  sie  von  Poesie  und  Volkssage  ent- 
weder durchaus  keinen  Begriff  haben,  oder  hier  keinen 
haben  wollen ;  da  ja  Sehte  Dichtung  und  Mythe '  gerade 
durch  Anschaulichkeit  und  Natürlichkeit  der  einzelnen 
Züge  sich  auszeichnet 19). 

5.     19. 

Die  mythische  Ansicht  von  der  Erzählung  auf  verschie- 
denen Stufen. 

Die  oben  nachgewiesene  Notwendigkeit  und  die  an- 
leimt dargelegte  Möglichkeit,  die  historische  Trene  des 
vorliegenden  Berichts  sn  bezweifeln ,  hat  mehrere  Theolo- 
gen veranlagt,  die  gance  Erzählung  von  der  Geburt  des 


17)  Ueher  die  Schriften  des  Lukas,  S.  23. 

18)  Paulus  und  Olskausm  z.  d.  St.,  Heydburbxch  a,  a.  O.  1; 
S.  87. 

19)  Vgl.  Horst,  in  Hexkr's  Museum,  1,  4,  S.  705;  Vatäp,  Com- 
mentar  zum  Pcntatcuch,  3,  S.  597  ff.  J  Hask  L.  J.,  §•  35 ;  auch 
Georgs,  S.  5  •  f   91. 

10* 


US  Erster  Abschnitt. 

Täufers  für  eine  Dichtung  zvl  erklären,  entstanden  ans 
der  Wichtigkeit,  welche  Johannes  als  Vorläufer  Jesu  für 
die  Christen  hatte,  und  aus  der  Erinnerung  an  einige 
A«  T.  liehe  Ereählungen,  in  welchen  lsmaels,  Isaaks,  Sa« 
muels  und  namentlich  Simsons  Geburt  auf  ähnliehe  Weifte 
angekündigt  wird.  Doch  nicht  rein  erdichtet  sollte  die 
Sache  sein:  sondern  als  geschichtliche  Wahrheit  möge 
cum  Grunde  liegen,  dafs  Zaeharias  mit  Elisabet  lange  in 
einer  unfruchtbaren  Ehe  gelebt;  dats  ihm  einmal  im  Tem- 
pel eine  Stockung  des  Bluts  seine  alte  Zunge  gelahmt; 
bald  darauf  aber  seine  bejahrte  Frau  ihm  einen  Sohn  ge- 
boren, und  er  in  der  Freude  hierüber  das  Sprachvermögen 
'wieder  bekommen  habe.  Schon  damals,  noch  mehr  aber 
als  Johannes  ein  merkwürdiger  Mann  wurde,  machte  die 
Geschichte  Aufsehen,  und  es  bildete  sich  die  vorliegende 
Erzählung  *)• 

Man  mufs  verwundert  sein,  unter  anderem  Titel  hier 
beinahe  wieder  dieselbe  Erklärung  sich  vorgeführt  eu  se- 
hen, welche  bisher  als  natürliche  beurtheilt  worden  ist;  so 
dafs  die  aufgenommene  Voraussetzung  möglicher  Einmi- 
schung späterer  Sagen  in  die  Erzählung  fast  keinen  Ein- 
fluß auf  die  Ansicht  von  der  Sache  selbst  gehabt  hat.  Da 
die  Erklärungsweise,  auf  deren  Boden  wir  jetzt  getreten 
sind,  das  Vertrauen  sn  den  Berichten,  als  ächthistorischen, 
einmal  aufgegeben  hat:  so  müssen  ihr  alle  Züge  derselben 
an  sich  gleich  problematisch  sein;  und  ob  sie  einige  doch 
als  geschichtlich  festhalten  soll,  kann  sich  nur  darnach 
bestimmen,  ob  ein  oder  der  andere  Zug  theils  für  sich 
nicht  so  schwierig,  theils  nicht  so  im  .Geist,  Interesse  und 
Zusammenhang  der  dichtenden  Sage  ist,  dafs  sein  Ur- 
jsprong  aus  dieser  wahrscheinlich  würde.  Als  solche  Züge 
werden  hier  festgehalten    die  lange   Unfruchtbarkeit  der 


I)   E.  F.  über  die  zwei  ersten  Kapitel  u.  s.  w.   in  Hbkkk's  Ma- 
gazin 5>  1,  S.  16  ff.,  und  Bauia,  hebr.  Mvthol.  2,  220 f. 


Erstes  Kapitel.     §.   19.  149 

Eiisabet  und  das  plötzliche  Verstummen  des  Zacharias :  so 
dafs    nur   die  Erscheinung   und  Vorbersagung  des  Engels 
preisgegeben  wird.    Da  aber  eben  durch  die  Wegschaffung 
der  Angelophanie  die  Stommheit   des  Zaeharias   in  ihrem 
plötzlichen  Eintreten   und  Wied  eraufhören  ihre  einsig  ge- 
aflgende  übernatürliche  Ursache  verliert:    so   kehren   hier 
alle  die  Schwierigkeiten  eurtick,   welche   an  der   natürli« 
eben  Dentnng  in's  Licht  gestellt  worden  sind;  wozu  noch 
die  Felgewidrigkeit  kommt,    dafs  man  bei  einmal  betrete- 
nem mythischen  Standpunkte  sich  ohne  alle  Noth  in  diese 
Verlegenheit  begibt,  da  man  ja  nicht  mehr  dorch  die  Vor-» 
anssetsung  historischer  Treoe  der  Berichte  an  Festhaltung 
derselben  gebenden   ist.    Das  Andre  aber,     was  als  ge- 
schichtlich beibehalten  wird,  die  lange  Kinderlosigkeit  der 
Eltern    des  Täufers,   ist   so  gans   im  Geist  ond  Interesse 
der    hebräischen  Sagenpoesie ,    dafs  von   diesem  Znge  am 
wenigsten  der  mythische  Ursprung  verkannt  werden  sollte. 
Wie  verworren  hat  dieses«  Verkennen  s.  ß.  das  Raisonne- 
ment  von  Bauer  gemacht!    Man  habe,   sagt  er,   im  jüdi- 
schen freiste  so  geschlossen :  Alle  nach  langer  Unfruchtbar- 
keit  im  yrorgerOckten  Alter  der  Eltern   geborenen  Kinder 
werden  grofse  Männer;   Johannes   war  von   alten   Eltern 
da  und  wurde  ein  angesehener  Lehrer  der  Bufso :  folglich 
glaubte  /man  berechtigt  zu  sein ,  seine  Geburt  dorch  einen 
Engel   ankündigen   zu  lassen.      Weloh    ein  unförmlicher 
SehloGi !   und  das  aus  keinem  andern  Grunde ,  als  weil  er 
das  SpXtgeberensein  des  Johannes  als  gegeben  voraussetzt. 
Mao  mache  es  zu  etwas  erst  Erschlossenem:    so  gestaltet 
sich  der  Schlufs  ohne  alle  Schwierigkeit.      Von   bedeuten- 
den Männern,  lautet  er  nun,  nahm  man  gerne  an,  dafs  sie 
Spatgeborene  seien  *)  ,    und  ihre  ,  menschlich  erweise  nicht 


2)  Warum  man  diess  annahm,  erklärt  am  besten  eine,  für  diese 
Materie  elastische,  Stelle  im  Evangelium  de  nativitate  Mariac, 
bei  Fabmcius,  Codex  apoeryphus  N.  T.  J,  p.  22  f,  bei  Thilo, 


150  Krater  Abschnitt. 

mehr  su  erwartende  Gebort  durch  himnilische  Boten  ver- 
kündigt werde ;  Johanne*'  war  ein  grofser  Mann  nnd  Pro  • 
phet:  also  machte  die  Sage  auch  ihn  zu  einem  Sptftgebo- 
renen,  nnd  liefs  seine  Geburt  durch  einen  Engel  verkün- 
digt werden  *).  ' 

Weil  auf  diese  Weise  die  Deutung  der  vorliegenden 
Ers&bfung  als  eines  halben  (sogenannten  historischen)  My- 
thus von  allen  Schwierigkeiten  einer  halben  Mafsregel  ge- 
drückt ist :  so  hat  sich  schon  Gabler  lieber  der*  Annahme 
eines  reinen,  philosophischen  oder  dogmatischen,  Mythus  an- 
gewendet*), und  Horst  hielt,  wie  die  ganzen  ewei  ersten 
Kapitel  des  Lukas,  so  auch  diesen  Theil  derselben,  für  eine 
sinnreiche  Dichtung,  in  welche  mit  der  Geburtsgeschiohte* 


I ,  p.  322 :  Dens  —  heisst  es  hier  —  cum  aHcujus  uterum 
claudit ,  ad  hoc  facit,  ut  mtrabiHus  denuo  apertat,  et  non 
libidinis  esse,  quod  nascitur,  sed  divini  mune- 
ris  cognoscatur.  Prima  enim  gentis  vestrae  Bora  mater 
norme  usque  ad  octogesimum  annum  infecunda  fuitt  et  ta- 
rnen in  ultima  senectutis  aetate  genuit  Isaac,  cui  repromissa 
erat  benedtctio  omnium  gentium,  Rachel  quogue,  tantum 
Domino  grata  tantumque  a  sancto  Jacob  amata,  diu  steriUs 
fuit>  et  tarnen  Joseph  genuit,  non  solum  dominum  Aegypti, 
sed  plurimarum  gentium  fame  periturarum  liberatorenu  Quis 
in  ducibus  vel  fortior  Sampsone,  vel  sanctior  Samuele?  et  ta- 
rnen ht  ambo  steriles  matres  habuere,  —  ergo  —  crede  —  dt- 
latos  diu  conceptus  et  steriles  partus  mfrabtltores  esse  solere* 
Die  christlich-  ascetische  Farbuug  dieser  Stelle  hindert  nicht 
(Hoffmann,  S.  141  f. ),  in  derselben  den  richtigen  Ausdruck 
der  A.  T.  liehen  Vorstellung  zu  finden.  Man  setze  nur  zu 
Anfange  an  die  Stelle  des  Ausdruckes :  libidinis,  etwa :  natu- 
rae,  und  sage  dann,  welche  Bedeutung  die  Juden  in  jenen 
Erzählungen  von  der  Geburt  des  Isaak  u.  s.  f.,  ihre  geschicht- 
liche Wahrheit  auch  vorausgesetzt,  finden  konnten,  wenn 
nicht  die  von  unterem  Apokryphum  ausgesprochene. 

3)  Vgl.  dk  Wette,  Kritik  der  mosaischen  Geschichte,  S.  67. 

4)  Neuestes  thcol.  Journal,  7,  1,  S.  402 f. 


Erstes  Kapitel.     $.  19.  151 

des  Messias  auch  die  «eines  Vorläufen  aufgenommen,  und 
die  Vorhersagen  Ober  dessen  Charakter  ond  Wirksamkeit 
nach  dem  Erfeige  gebildet  seien ;  wobei  gerade  «neb  die 
redselige  Umständlichkeit  der  Ersfthlung  den  Dichter  ver- 
rathe  *).  Ebenso  hat  Schleiermachbr  wenigstens  das  erste 
Kapitel  des  Lukas  für  ein  kleines  poetisches  Kunstwerk 
erkürt,  in  der  Art  mehrerer  jüdischer  Dichtungen ,  die 
wir  noch  unter  den  Apokryphen  finden*  Er  will  «war 
nicht  das  Ganne  für  durchaus  ersonnen  erklären  K  sondern 
es  mögen  Thatsachen  und  weitverbreitete  Tradition  sum 
.Grunde  liegen ;  wobei  jedoch  der  Dichter  sich  die  Freiheit 
genommen ,  das  Entfernte  BusammensurOcken ,  und  das 
Schwankende  der  Ueberiieferung  in  festen  Bildern  zu  be- 
stimmen; wefswegen  das  Bestreben,  die  geschichtliche  und 
natürliche  Grundlage,  noch  herauszufinden,  leer  und  ver- 
geblich sei  °).  Als  Verfasser  des  Stocks  hat  schon  Horst 
einen  jadaisirenden  Christen  vermuthet,  und  auch  Schleier- 
HACHE&  nimmt  an,  dafs  e*.  von  einem  Christen  ans  der 
veredelten  jüdischen  Schule  au  einer  Zeit  verfabt  sei,  in 
welcher  es  noch  reine  JohannisjQnger  gab,  welche  es  cum 
Christon thum  herüberlocken  sollte,  indem  es  die  Beziehung 
des  Johannes  auf  Christus  als  seine  eigentliche  höchste 
Bestimmung  angab,  selbst  aber  von  der  Wiederkunft 
Christi  noch  zugleich  eine  Xufterliche  Verherrlichung  des 
Volkes  erwartete. 

Dafs  eine  solche  Ansicht  des  Abschnitts  die  einzig 
richtige  sei ,  wird  vollends  gans  klar  werden ,  wenn  wir 
die  A.  T.lichen  Erefihlungen  genauer  betrachten,  welchen, 
wie  die  meisten  Erklärer  erinnern,  diese  Verkündigung- 
und  Geburtsgeschiehte  des  Täufers  auffallend  ähnlich  ist. 
Hiebei  darf  man  sich  aber  nicht  vorstellen ,    wodurch  man 


•5)  In  Hsxkk's  Muscum;  I,  4,  S.  702  ff. 

6)  a.a.O.  S.  24  f.     Dasselbe  erkennt  auch  Hais  an,  Leben  Jesu, 
§.  52.  vgl    mit  §.   32. 


152  Erster  Abschnitt« 

jetct  so  gerne  die  mythische  Ansieht  von  dem  Abschnitte 
widerlegt 7),  der  Urheber  unsrer  Ereählung  habe  die  Zöge 
derselben  erst  einsein  aus  dem  A.  T.  susammengeblättert; 
vielmehr  waren  die  zerstreuten  Züge,  wie  sie  bei  der  spä- 
ten Gebort  verschiedener  merkwürdiger  Männer  im  A.  T. 
sich  finden,  dem  Leser  desselben  schon  vorher  in  ein  Ge- 
sammtbild  zusammengeflossen,  ans  welchem  er  nun  für  den 
vorliegenden  Fall  die  geeignetsten  hervorlangte.  —  Das 
älteste  Urbild  aller  Spätgeborenen  ist  Isaak.  Wie  Zacha- 
rias  und  Elisa bet  (V.  5.)  TtQoßtßrpcoreg  iv  Talg  rj(.tiqaig  av- 
tiov  heifsen:    so  waren   Abraham  und  Sara    D^3  0^9 

(1.  Mos.  18,  11;    LXX:  7tQoßeßrpc6reg  rj/ueQtov*)  y   als  ihnen 
ein  Sohn  verheifsen  wurde.    Besonders  aber  ist  aas  dieser 
Geschiebte   in   unsere  Ereählung   der   auf  das  hohe  Alter 
der   beiden  Eltern  gegründete   Unglaube   des   Vaters   und 
seine  Frage  nach  einem  Zeichen  herfibergenommen.     Wie 
nämlich  Abraham,  als  ihm  Jehova  von  einem  Leibeserben 
eine  Nachkommenschaft  verheifsen  hatte,  welche  das  Land 
Kanaan  besitzen  werde,   zweifelnd  fragte:  xard  tl  yvviao- 
fiat,   ort  Hk^QOVOfx^ato  awqv;    (sc.  rrjv  yjjv.    1.  Mos.  15,  8. 
LXX):  so  hier Zacharias :  xotra  xl  yvciooftai  töto;  (V.  18.) 
Der  Unglaube  der  Sara  ist  für  Elisabet  nicht  benfitzt ;  die- 
ser Marne  der  Ovyar^o  *Accqwv  aber  könnte  an  den  gleichen 
Namen  von  Aarons  Gattin  (2.  Mos.  6, 23.  LXX.)  erinnern.  — 
Aus  der  Geschichte  eines  andern  Spätgebornen ,   des  Sim- 
;on,    ist  der  Engel  genommen,    welcher  die  Geburt   des 
Sohnes   verkündigt.     Dafs   er    in   nnsrer  Erzählung   dem 
Vater  im  Tempel  erscheint,  während  er  dort  (Richter  13.) 
zuerst  der  Mutter,   dann   dem  Vater   auf  dem  Felde  sich 
zeigt,  ist  eine  Umänderung,  welche  sich  von  selbst  aus  der 
Standesverschiedenheit  der  beiderseitigen  Eltern  ergab,  in- 
dem  die    Priester    nach   jüdischer   Volksvorstellung    eben 
bei'm    Räuchern    im    Tempel    nicht    selten   Angelo  •    und 

7)  Z.  B.  Howmam«;  S.   H2  ff. 


Erstes  KapiteL    S.  19. 


15* 


Tbeepbanien  hatten  *).  Ebendaher  ist  die  Vorschrift  ent- 
lehnt, welche  den  Johannes ,  dessen  spSteres  ascetisches 
Leben  bekannt  war,  schon  vor  seiner  Geburt  zum  Nasir&at 
bestimmt;  wie  bei  Simson  schon  seiner  Matter  während 
der  Schwangerschaft  Wein,  starke  Getränke  und  unreine 
Speisen  verboten,  dann  aber  anch  dem  Sohne  die  gleiche 
Diät  vom  Engel  vorgeschrieben  worden  war  *),  »od  zwar, 
ähnlich  wie  bei  Johannes,  mit  dem  Beisätze,  dafs  der 
Knabe  schon  von  Mutterleib  an  Gott  geheiligt  sein  wür- 
de **)•  Auch  die  Verbeifsung  der  fttr  ihr  Volk  segensrei- 
chen Wirksamkeit  beider  Männer  ist  analog  (vgl.  Luc.  1, 
16.  17.  mit  Richter  IS,  5.)>  »o  wie  die  Schlußformel  Aber 
das  hoffnungsvolle  Heranwachsen  der  beiden  Knaben  11). 
—  Ans  der  Geburtsgeschichte  eines  dritten  Spätgebornen, 
des  Samuel,  möchte  es  zwar  zu  kfihn  sein,  die  levitische 


8)  Wktsteiw  zu  *Luc.  1,  11.  S.  647  f.  führt  Stellen  aus  Josephus 
und  den  Rahhinen  an,  in  welchen  von  Hohenpriestern  solche 
Erscheinungen  erzählt  werden;  dass  man  aber  auch  hei  ge- 
wöhnlichen Priestern  dergleichen  vorauszusetzen  leicht  geneigt 
war,  liegt  in  unserer  Stelle  selbst,  V.  22. 

9)  Rieht.  13,  14  (LXX.)  :  Luc.  1,  15 : 

xa\    olror   xai   m'xfQa    (al.     iu-  xat  owov  xat  olxtqa  «  fiq  nCg. 

&voua,  hebr.  "Oö7)   /uq  ntirto. 

10)  Rieht.  13,  5 : 

Sri  rfliaflphYOY  Zgai  Ty  #«3  (*L 
Na±i(t  9ti*  ?$ai)  ro  naiSd^tor 
Jx  t?5  yasqps  (aL  ano  rrjg  xtx- 
l'a;). 

11)  Rieht.  13,  24  f. : 

xai  qvldyrfttr  avror  Kvoux; ,  xa\ 
*pirtfy  (*!•  yäqvyfy)  ro  ncuSa- 
qtor'  xat  rfo%ftro  nvevpa  Kv^fn 
avi/7f0^tvf<f9cu  avrtp  ir  naQtju- 
ßoljj  dar,  avajitöov  JZafu  xai 
nvauf.Gov    g&i&ao).. 

Yergl.  l.Mos.  21,  20. 


Luc.  1,  15: 

xai  7TV€vfiaro$   ayis  nhjoSfjöezai 
frt  Ix  xoJUag  jurj^of  avr*. 


Luc.  1,  80: 

to  Se  natS^oy  qu$ave  xai  «*(xr- 
Taittro  nrfvjuan,  xai,  rtr  *v  raig 
tqiyiioit ,  «fc*j  fjiitftai  avadtC&t»$ 
aurS  n^og  xov  ^laaaqL 


*        v 


I 


154  Erster  Abschnitt.  , 

Abstammung  des  Johannes  als  blofse  Nachbildung  abzu- 
leiten (  vgl.  mit  1.  Sara.  1,1.  1.  Chron.  7,  27.  ) ;  aber  die 
lyrischen  Ergüsse  sind  dieser  Geschichte  abgesehen,  welche 
sich  im  ersten  Kapitel  des  Lukas  finden.  Wie  nffmlieh 
Samuels  Mutter  bei  der  Debergabe  ihres  Sohnes  an  den 
Hohenpriester  in  einen  Hymnus  ausbricht  (l.Sam.  2,  Iflf.): 
so  hier  der  Vater  des  Täufers  bei  der  Beschneidung  sei- 
nes Sohns ;  nur  dafs  im  Einzelnen  dem  Lobliede  der  Hanna 
weniger  das  des  Zacharias,  als  das  der  Maria  nachgebildet 
erscheint,  auf  welches  wir  später  kommen  werden.  Dafs 
der   bedeutsame  Name  Johannes  Q3n'W  =  Qeodcooog^  von 

dem  Engel  zum  Voraus  angegeben  wird,  hat  in  der  An- 
kündigung des  Ismael  und  Isask  seinen  Vorgang  l2) ;  sei- 
nen Grund  aber  darin ,  dafs  das  Zusammentreffen  der 
Wortbedeutung  des  Namens  mit  der  geschichtlichen  Be. 
deutung  des  Mannes  providentiell  erschien.  Die  Bemer- 
kung, dafs  der  Name  Johannes  in  der  Familie  des  Zacha- 
rias  sonst  nicht  herkömmlich  gewesen  (V.  61.),  soll  nur 
seine  unmittelbar  himmlische  Herkunft  um  so  mehr  her- 
vorheben; das  Tciraxldtov  aber,  worauf  der  Vater  den  Na- 
men schreibt  (V,  63.),  war  theils  durch  seine  Stummheit 
gefordert,  theils  hatte  auch  Jesaias  bedeutsame  Namen  ei- 
nes Kindes  auf  eine  Tafel  sehreiben  müssen  (Jos.  8,  1  ff.) 
Der  einzige  ungewöhnliche  Zug ,  für  welchen  eine  Analo- 
gie im  A.  T.  zu  fehlen  scheinen  kann,  ist  das  Verstummen 
des  Zacharias;  worauf  man  sich  denn  auch  gegen  die  my- 
thische Ansicht  von  unsrer  Erzählung  beruft ,5).  Allein 
bedenkt  man  nur,  dafs  das  Fordern  und  Bekommen  von 
Zeichen    zur    Versicherung    einer  Voraussagung    bei  den 


12)  l.Mos.  16,  Jl>  LXX:  Luc.  1,  13: 

jcüt     xatJUan;     ro     ovoua     avcn  xai     uaie'of  ig      ro     ovoua.     avr* 

lauayl.  Itaatvfpf. 

17,  19: Vom.-. 

J3)  Olmiauskk,  bibl.  Commenlar ,  1,  S.  116.     Hoffmahn.  S.  146. 


Erstes  Kapitel*    §.  19.  155 

Hebräern   gewöhnlich    war   (vgl.  Jes.  7,  11  ff.)  5    data  als 
außerordentliche  Strafe   nach  einer  himmlischen  Erschei- 
nung auch  sonst  der  Verlast  eines  Sinnes  bis  auf  eine  ge- 
wisse Zeit  verhängt  wird  (A.  6.  9,  8.  17  f.) ;  dafs  Daniel, 
als  der  Engel  mit  ihm  redet,  verstummt,    und  erst  wieder 
sprechen  kann,   nachdem  der  Engel  dnrch  Berührung  sei- 
ner Lippen  ihm  den  Mnnd  geöffnet  hat  (Dan.  10,  15  f.)« 
so  kann   man  sieh   die   Entstehung  dieses  Zages  in    der 
Sage  auch  ohne  geschichtliche  Veranlassung  gar  wohl  er- 
klären.   —    Von  zwei   wunderlosen    Nebensögen   ist   der 
eine,    die  gesetzliche  Gerechtigkeit  der  Eltern  des  Johan- 
nes C V*  60  9  1°  jedem  Falle  blofs  auf  den  Schluß  gegrün- 
det, dafs  nur  ein  so  gottseliges  Ehepaar  mit  einem  solchen 
Sohne  habe  begnadigt  werden  können,    und   hat  also  kei- 
nen geschichtlichen  Werth;   wogegen  die  Angabe  (V.  5»), 
dafs  Johannes  unter  dem  König  Herodes   ( dem  Grofsen ) 
geboren  sei,  eine  ohne  Zweifel  richtige  Berechnung  ist. 

So  stehen  wir  also  hier  ganz  an f  mythisch-poetischem 
Grande,  und  was  wir  als  sichere  historische  Thatsache  fest- 
halten können,  ist  nur  diefs:  der  Täufer  Johannes  bat 
dnrch  seine  spätere  Wirksamkeit  und  deren  Beziehung  auf 
Jesus  so  bedeutenden  Eindruck  gemacht,  dafs  sich  die 
christliche  Sage  zu  einer  solchen  Verherrlichung  seiner 
Geburt  in  Verbindung  mit  der  Geburt  Jesu  getrieben 
fand  **). 


14)   Mit  dieser  Ansicht  des  Abschnitts  vcrgV  db  Wette,    exeg. 
Handbuch  zum  N.  T.,  1,  2,  S.  12. 


•mmmm 


Zweites    Kapitel. 

Jesu  'Davidische  Abkunft  nach  zwei  Stamm- 
bäumen. 


§.     20. 

Die  beiden  Genealogien  Jesu  ')  ohne  Bezug  auf  einander 

betrachtet. 

Hatten  wir  Air  die  Geburtsgeschichte  des  Täufers 
nur  den  einzigen  Bericht  des  Lukas:  so  fallt  bei  dem 
(Jebergang  auf  die  Abstammung  Jesu  auch  Matthäus  ein; 
so  dafs  nun  durch  die  gegenseitige  Controle  zweier  Er« 
Zähler  unser  kritisches  Geschäft  theils  vervielfältigt, 
theils  aber  doch  erleichtert  wird.  Auch  die  zwei  ersten 
Kapitel  des  Matthäus  übrigens ,  welche  die  Geburt«-  und 
Kindheitsgeschichte  Jesu  enthalten,  sind,  wie  die  paral- 
lelen Abschnitte  des  Lukas,  in  Bezug  auf  ihre  Aechtheit 
angezweifelt  worden:  doch  nur  von  demselben  befan- 
genen Standpunkt  aus  wie  jene;  wefswegen  auch  hier 
durch  gründliche  Widerlegungen  die  Zweifel  zum  Schwei- 
gen gebracht  sind  2). 


1)  Eine  gründliche,  aber  in  künstlichen  Vcreinigungs versuchen 
sich  verwirrende  Untersuchung  über  diese  Genealogien  findet 
man  hei  Hoffmaniv,  S.  148  ff  ;  nichtssagende  Declamationen 
hei  Osiander,  S.  84ff.  J  wer  an  Grobheit  und  Aberwitz  Gefal- 
len findet,  muss  auch  hier  Lange  zur  Hand  nehmen,  S.  55  ff. 

2)  S.  das  Verzeichniss  hei  Huik'öl,  Conun.  in  Matth.  Prolcg. 
p.  XXVII  ff. 


p— ■"- 


Zweite«  Kapitel.    $#  20.  157 

Der  Geschichte  der  Verkündigung  and  Gebart  Jesu 
ist  bei  beiden  Evangelisten  eine  Stammtafel  —  bei  M«t<- 
thiss  voran-  (1,  1  — 17.) ,  bei  Lukas  nachgeschickt  (3, 
23-38.),  welche  die  Davidische  Abkunft  Jesu  als  des 
Messias  doenmentiren  soll ;  und  sowohl  jede  für  sich ,  als 
beide  in  Vergleichung  miteinander  betrachtet,  geben  so 
tüchtige  Aufschlüsse  über  den  Charakter  der  evangeli- 
schen Nachriohten  in  diesem  Abschnitte,  dafc  eine  genaue 
Prüfung  derselben  nicht  umgangen  werden  kann.  Neh» 
neo  wir  zuerst  jede  ohne  Rücksicht  auf  die  andere,  so 
ist  wiederum  jede,  und  zwar  soll  es  zuvörderst  die  des 
Matthäus  sein,  theils  für  sich,  theils  in  Beziehung  auf 
die  A*  T.iichen  Stellen  an  betrachten,  mit  welchen  sie 
parallel  läuft. 

Bei  der  Genealogie,  welche  der  Verfasser  des  ersten 
Evangeliums  mittheilt,  ist  eine  Vergleichung  derselben' 
■it  sich  selber  defswegen  von  Erfolg ,  weil  sie  an  ihrem 
Schlosse  (V.  17.)  ein  Resultat,  eine  Summe,  siebt,  und 
bob  durch  Vergleichung  des  Vorangeschickten  unterw 
sieht  werden  kann,  wiefern  demselben  jenes  Resultat 
wirklich  entspricht.  Es  sagt  nämlich  die  Zusammenfas- 
sung am  Schlüsse  aus,  von  Abraham  bis  auf  Christus 
seien  es  dreimal .  14  Glieder :  einmal  von  Abraham  auf 
David,  dann  wieder  von  diesem  zum  babylonischen  Exil, 
isd  endlich  von  da  bis  auf  Christus  herab.  Zählen  wir 
aas  nach ,  so  treffen  von  Abraham  bis  auf  David ,  beide 
miteingeschlossen,  die  Vierzehn  zu  (V.  2 — 5.);  ebenso  von 
Salomo  bis  auf  denjenigen,  nach  welchem  des  babylo- 
nischen Exils  gedacht  ist,  den  Jechonias  (6 — 11. )  ;  aber 
Ton  diesem  bis  auf  Jesus  bringt  man,  den  letzteren 
*lb*t  noch  mitgezählt,  bloft  13  Glieder  heraus  (V.  12  — 
1&).  Wie  ist  diese  Differenz  zwischen  der  vom  Verfasser 
gesogenen  Summe  und  den  vorausgeschickten  Zahlen  zu 
^klaren?  Die  Vermnthung,  dafs  von  den  Gliedern,  der 
dritten  Tessareskaidekade  eines   durch  Versehen  der  Ab- 


160  Erster  Abschnitt 

Richtige  hat  hier  wohl  de  Wette  gesehen,  wenn  er  be- 
merklieh macht  ,  in  der  Zusammenzählung  V.  17.  werde 
allerdings  bei  beiden  Ue  bergfingen  etwas  zweimal  genannt, 
aber  nur  das  erstemal  eine,  demgemäfs  doppelt  an  rech- 
nende, Person,  nämlich  David;' das  anderemal  sei  es  die 
f.ttTöix£0icc  Baßvhjivog ,  einfallend  awischen  Josia  und  Je- 
chonia,  welcher  letztere,  da  er  nur  drei  Monate  in  Jeru- 
salem regiert  hatte,  die  langete  Zeit  seines  Leben*  aber 
nach  der  Wegffibrung  in  Babel  zubrachte,  zwar  nm  des 
Zusammenhangs  zwischen  der  z weitet)  und  dritten  Reihe 
willen  auch  sohon  am  Schlüsse  von  jener  genannt,  erst 
aber  am  Anfange  der  dritten  zu  zählen  sei  9> 

Halten  wir  hierauf  die  Genealogie  des  Matthäus  — 
immer  noch  ohne  Rücksicht  auf  die  des  Lukas  —  mit  den 
entsprechenden  Stellen  des  A.  T.  zusammen:  so  stimmt 
sie  mit  diesen  nicht  durchaus  tiberein,  und  es  zeigt  sich 
das  dem  eben  gewonnenen  äufserlich  entgegengesetzte 
Ergebnifs,  dafs,  wenn  für  sich  betrachtet  die  Geschlechts-, 
tafel  ein  Glied  verdoppeln  mufste,  um  ihr  Schema  zu  fallen  : 
sie  in  Vergleichung  mit  dem  A.  T.  von  den  in  diesem  an 
die  Hand  gegebenen  Gliedern  mehrere  ausläfst,  um  ihre 
14Zahl  nicht  zu-  überschreiten.  Mit  A.  T.lichen  Angaben 
nämlich  läfst  sich  diese  Genealogie,  als  die  berühmte 
Stammtafel  des  Davidischen  Königsgeschlechts,  verglei- 
chen von  Abraham  bis  auf  Serubabel  und  seine  Söhne, 
von  wo  an  das  Davidische  Haus  in  die  Dunkelheit  zurück- 
zutreten anfängt,  und  bei  dem  Schweigen  des  A.  T.  von 
demselben  die  Controle  für  die  Matthäische  Genealogie 
aufhört.  Und  zwar  ist  das  Geschlechtsregister  von  Abraham 
bis  auf  Juda,  Perez  und  Esron  hinlänglich  aus  der 
Genesis  bekannt;  das  ron  Perez  bis  David  finden  wir  am 
Schlüsse  des  Buchs  Ruth  und  im  zweiten  Kapitel  des  er- 
sten Buchs  der  Chronik ;  das  von  David  bis  auf  Serubabel 


9)  Exegct  Handbuch,  1,  1,  S.  12  f. 


Zweites  Kapitel.    §.  20.  161 

dritten  Kap.  desselben  Buchs ;  Parallelen  für  Einzeln* 
noch  ungerechnet. 

Vollziehen  wir  non  die  Vergieichung:  so  finden  wir 
die  Linie  von  Abraham  bis  David,  also  die  ganze    erste 
Tessareskaidekade  unserer  Genealogie,  in  den  Männerna- 
md  den  A.  T.licben  Angaben  gleichlautend;    nur  flögt  sie 
einige  Frauen  ein,  von  welchen  Eine  Schwierigkeit  macht« 
Dafs  nämlich  (nach  V.  4  )  Rahab  des  Boas  Mutter  gewesen, 
ist  nicht  nur  ohne  Bestätigung  im  A.  T.,  sondern  es  sind 
ameh,   wenn  sie  cur  Urgrofsmutter  Isafs,  des  Vaters  von 
David,  gemacht  wird ,  zwischen  ihrer  Zeit  und  dem  Davi- 
dischen Zeitalter,    beiläufig  von   1450  —  1050  v.  Chr.,    zu 
wenige  Generationen    gesetzt,     nämlich,    die  Rahab  oder 
den  David  mitgezählt,  4  für  400  Jahre.  Dooh  dieser  Fehler 
fällt  insofern   auf  die  A.  T.lichen  Genealogien  selbst  zu- 
rätek ,     als    Isai's     Crgrofsvater    Salmon ,    welchen    Mat- 
thäus  zum  Gatten   der  Rahab   macht,    auch  Ruth  4,  20, 
wie  bei  Matthäus,  Sohn  eines  Nabasson  ist,  welcher  nach 
4-  Mos.  1, 7.  noch  der  Zeit  des  Zugs  durch  die  Wüste  an- 
gehörte 10);  von  wo  aus  es  denn  nahe  lag,   seinen  Sohn 
mit  jener  Rahab,   weiche  die  israelitischen  Kundschafter 
gerettet  hatte  (Jos.  2. )>    in  Verbindung  zu  bringen,   um 
diese  Frau,  auf  welche  der  patriotische  lsraelite  einen  be- 
sondern Werth  legte  (vgl.  Jak.  2,  25.  Hebr.  11,  31.) >  in 
das  Geschlecht  Davids  und  des  Messias  hereinzuziehen» 

Mehrere  Abweichungen  finden  sich  in  dem  Abschnitte 
von  David  bis  zu  Serubabel  und  dessen  Sohn,  oder  der 
zweiten  Dekatetras,  sammt  den  ersten  Gliedern  der  drit- 
ten* —  Erstlich,  während  es  hier  V.  8.  heilst:  ^IwQaft 
iyemjae  tov  Ö£/cw:  so  wissen  wir  aus  l.Chron.  S,  11«  12., 


10)  Hiedurch  wird  die  Auskunft  Kuiköl's  ,   Comment   in  Malth. 
p.  3. ,  die  hier  genannte  Rahab  von  der  berühmten  su  un- 
terscheiden,  ausser  dem  Willkürlichen  auch  vollends  Über« 
flüssig. 
Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  1.  Band  11 


16t  Erster  Abschnitt. 

dafs  Usia  nicht  der  Sohn ,  sondern  der  Eokel  de*  Sehne 
von  Joram  war,  und  drei  Könige  «wischen  beide  fallen, 
nämlich  Ahasja,  Jobs  nnd  Amasia,  ~  hierauf  erst  Uaia 
(2*  Chron.  26,  vl;  oder,  wie  er  1.  Chrom  3, 12.  und  2.  Kon« 
14,  21«  heilst,  Asaria).  —  Zweitens  sagt  unser  Genealo- 
gUt  V#  11 :  *£woiag  de  iyiwijae  rov  "lexoviav  xal  rsg  dddLq&g 
oinaSL  Aber  aus  1.  Chron.  S9  16  ersehen  wir  einestheila, 
dafs  der  Sohn  und  Nachfolger  des  Josias  Jojakim  hieb, 
lind  erst  dessen  Sohn  und  Nachfolger  Jeehonia  oder  Joja- 
ohin  (2.  Köm  24,  6.  2.  Chron.  36, 8.) ;  antferntheils  werden 
von  Jeehonia,  dem  hier  adelqm  zugeschrieben  sind,  in 
jener  Stelle  keine  Brüder  namhaft  gemacht,  wohl  aber 
hatte  Jojakim  Brüder:  so  dafe  die  Erwähnung  der  dddL- 
tpoi  jfc#»'*8  bei  Matthäus  aus  einer  Verwechslung  der  ge- 
nannten beiden  Männer  hervorgegangen  eu  sein  scheinen 
kann.  —  Eine  dritte  Abweichung  findet  in  Bezng  auf 
Serubabel  statt.  Während  dieser  hier  V.  12.  ein  Sohn 
Salathiels  heilst,  wird  er  1.  Chron.  3,  19.  nicht  durch 
Schealthiel,  sondern  durch  dessen  Bruder  Pedaja  von  Je- 
ehonia abgeleitet;  wogegen  jedoch  Esra  5,2.  und  Haggai 
1,  1.  Serubabel  wie  hier  als  Sohn  Schealthiels  bezeichnet 
ist.  Endlich  der  hier  als  Sernbabels  Sohn  genannte  Abiad 
ist  1.  Chron.  3,  19  f.  unter  den  Kindern  Sernbabels  nicht 
su  finden;  vielleicht  weil  Abind  nur  der  vom  Sohne  ge- 
nommene Beiname  eines  der  dort  Genannten  war  ")• 

Von  diesen  Abweiehungen  sind  die  «weite  und  dritte 
unverfänglich,  und  können  sich  ohne  Absicht  und  aueh 
ohne  eu  grofse  Nachläfsigkeit  eingeschlichen  haben;  denn 
die  Auslassung  des  Jojakim  kann  durch  den  Gleichklang 
der  Namen  (tTJ^BT  und  p^iT)  veranlaßt  sein,  und  durch 
eben  diese  Verwechslung  auch  die  Erwähnung  von  Brü- 
dern des  Jeehonia;  während  das  von  Serubabel  Gesagte 
die  A.  T.  liehen  Nachrichten  nur  cum  Theil  gegen  sjch, 

11)  Hoffmato,  S.  154,  nach  Hut,  Einl.  2,  S.  271. 


l    i. 


Zweites  Kapitel.    {.  20.  163 

Theil  aber  ftr  sieh  bat.  Nicht  ebenso  leichten  Kauft 
lifst  sich  die  Eiterst  aufgeführte  Abweichung ,  das  Ueber- 
tpriogen  von  drei  wohlbekannten  Königen ,  anf  die  Seite 
schaffen.  Zwar  hat  man  auch  hier  den  Gleichklang  der 
Naaea  geltend  gemacht,  und  gemeint,  gana  anabsichtlich 
ssi  der  Verf.  von  Joram  statt  auf  Ahasja  (bei  den  LXX 
ty(£uxg)  auf  den  Ähnlich  lautenden  O^lag  gesprungen.  AI- 
kis  ailsu  geschickt  trifft  doch  diese  Auslassung ,  war  ein- 
mal David  doppelt  gezählt,  mit  dem  Augenmerk  des  Ver- 
fassers auf  die  dreifache  Vieraehn  eusammen,  als  dafs  man 
tnhin  kannte  ß  mit  Hieronymus  eine  besondere  Absicht 
darin  m  erkennen  12>    Da  er  von  Abraham  bis  David,  wo 


12)  Vgl.  FftrmcKK,   Comm.  in  Matth.  p.  19;    Paulus,    exegct. 
Handbach,  S.  289;  bi  Witts,  exeg.  Handb.  z.  d.  St.     Wenn 
Olshausbh  S.  44 f.  sagt,  es  könne  nicht  die  Absicht  des  Mat- 
thäus  gewesen   sein ,    auf  die   14Zahl  zu  dringen ,    da   er  ja 
mehrere  Glieder  auslasse :   so  heisst  diess  die  Sache  auf  den 
Hopf    gestellt.      Denn   hier  ist    doch  -gerade   umgekehrt   zu 
schliessen,   dem  Verf.   müsse  besonders  viel  an    der   l4Zahl 
gelegen  gewesen  sein,  sonst  würde  er  nicht,  um  sie  nicht  zu 
Überschreiten,    wohlbekannte  Glieder  ausgemerzt  haben.    — 
Ebendamit  widerlegt  sieb  auch  die  Ansicht,   welche  vor   den 
Lucken  bei  Joram  und  Josias  (V.  8«  u.  11.)  das  eytyyqoe  nicht 
im  engern  wörtlichen,    sondern  nur  im  weiteren  Sinne  von: 
e  posterts  ejus  erat,  genommen  wissen  will,  als  hätte  der  Ge- 
nealogist die  weggelassenen  Glieder  nicht  ausschliessen ,  viel- 
mehr hinzugedacht  wissen  wollen  (KuirrÖL  z.  d.  St.):    unmög- 
lich bätte  er  dann  so  zusammenzählen  können,  wie  er  thut. 
Von  gleichem  Schlage  ist  die  Ausflucht  HorfMAinr's,  ytyta  hier 
nicht  für  Glied,  sondern  für  Generation  zu  nehmen,  so  dass 
V.  17«    ano  daßt&   $tos   rijs   jurroaeeouxs  B.  ytvsch.   Sexar^aaa^q ,    nur 
sagen  soll,  von  David  bis  zum  Exil,  oder,  wie  Hoffhluto  rech- 
net T  zum  Wiederaufbau  des  Tempels,  seien  es  14  Menschen« 
alter,  d.  h.  500  Jahre,  gewesen,  womit  nicht  gesagt  sein  solle, 
dass  das  in  Rede   stehende  Geschlecht  während   dieses   Zeit- 
raums nicht  weiter  als  14  Sprossen  getrieben  habe  (S.  156.)* 

Und  doch  sind  eben  nur  so  viele  aufgezahlt ! 

11* 


$ 


164  Erster  Abschnitt. 

der  erste  Abtäte  sieh  ergab,  14  Glieder  vorfand:  so  seheint 
er  gewünscht  zn  haben,  apch  die  übrigen  Abtheilungen 
dieser  ersten  gleichzShlig  eu  finden;*  es  boten  sich  aber 
von  selbst  noch  zwei  dar,  indem  in  die  ganze  noch  übrige 
Reihe  das  babylonische  Exil  als  Scheideponkt  eintrat.  Da 
nun  jenem  Wunsche  die  zweite  Reibe  in  der  Art  nicht 
entsprach,  dafe  die  Stammtafel  der  Davididen  bis  znm  Exil 
vier  Glieder  über  14  darbot:  so  lief*  er  hier  vier  Namen 
weg;  warum  gerade  diese,  möchte  wenigstens  beiden  drei 
zuletzt  erwähnten  schwer  zu  entscheiden  sein  13). 

Dafs  dem  Verfertiger  dieser  Genealogie  so  viel  an 
der  dreimal  gleichen  Zahl  lag,  davon  könnte  zwar  der 
Grund ,  wie  einige  annehmen ,  ein  lediglich  mnemonischer 
gewesen  sein,  leichterer  Behaltbarkeit  wegen  die  Genealo- 
gie nach  orientalischer  Sitte  in  gleiche  Abschnitte  zu 
theilen*4);  doch  möchte  sich  wohl  mit  diesem  zugleich  ein 
mystischer  Grund  verbunden  haben.  Es  fragt  sich,  ob 
dieser  in  der  bestimmten  Zahl,  welche  sich  dreimal  wie- 
derholt, oder  überhaupt  nur  darin,  dafs  dieselbe  Zahl 
dreimal  wiederkehrt,  zu  suchen  sei  ?  Dafs  es  dem  Geiiea- 
logisten  um  die  Wiederholung  gerade  des  Vierzehn,  als 
der  doppelten  heiligen  Sieben,  zu  thun  gewesen15),  igt 
unwahrscheinlich,  weil  er  sonst  schwerlich  die  7  so  ganz 
in  die  14  versteckt  haben  würde;  noch  weniger  latat  sich 
mit  Olshausen  zul&fsig  finden ,  data  die  14  als  der  Zahl* 
werth  des  Namens  David  besonders  hervorgehoben  sei16); 
denn  solche  Künsteleien  der  rabbinischen  Gematria  linden 
sich  sonst  in  den   Evangelien   nicht.     Mithin  möchte  es 


13)  Doch  vgl.  Fritzscbs  i.  d.  St. 

14)  Fritzsche  in  Matth.  S.  11. 

15)  Paulus  S.  292.    Dass  übrigens  auf  die  Sieben   auch  in  Ge- 
nealogien Gewicht  gelegt  wurde,   erhellt  z.  B.  aus  dem  tßSo- 

juo$  ano  \dSaju  ^ßyto^  JuO.  V#   14. 

16)  Bibl.  Comment.  S.  44.  Anm. 


Zweites  Kapitel.     §.  20.  165 

sehr  nur  om  die  Wiederholung  der  gleichen  Zahl,  nach- 
dem sieh  srafällig  zuerst  die  14  ergeben  hatte,  bei  Festhal« 
tng  von  dieser  zu  tbon  gewesen  sein,  indem  die  Joden 
aafserordentliche  göttliche  Heimsuchungen,  erfreuliche  wie 
traurige,  in  bestimmten  Zwischenseiten  wiederkehrend  sich 
dachten ;  so  dafg ,  wie  auf  den  Gründer  des  heiligen  Vol- 
kes in  14  Generationen  der  König  nach  dem  Herzen  Got- 
tes gefolgt  war :  ebenso  14  Generationen  nach  der  Wieder- 
herstellung des  Volkes  der  Sohn  Davids,  der  Messias,  ge- 
konnten sein  mufste17).  Gans  dieselbe  Gleichmfifsigkeit 
faden  wir  schon  in  den  ältesten  Genealogien  der  Genesis. 
Wie  nach  dem  ßißlog  ysv&aeiog  apd-Qumw  Cap.  5.,  von  dem 
ersten  Stammvater  der  Menschen  an  der  andere,  Noah :  so 
ist  von  diesem  oder  vielmehr  dessen  Sohne  an  der  Vater 
der  Gläubigen,  Abraham,  der  Zehnte  x8). 

Diese  apriorische  Behandlungsweise  seines  Stoffes, 
das  Prokrustesbette,  auf  welches  er,  fast  wie  ein  construi- 
render  Philosoph,  denselben  bald  dehnend,  bald  verkürzend 
legt,  kann  für  den  Verfasser  unserer  Genealogie  kein  gfln- 
stiges  Vorurtheil  erwecken.  Zwar  beruft  man  sich  auf 
die  Sitte  orientalischer  Genealogisten ,  sich  auch  sonst 
seiche  Auslassungen  an  erlauben;  allein  wer  mit  der  aus- 
drücklichen Erklärung,    naaai  al  yeveal  während   eines 


17)  S.  ScHwiCKKKBURttBR ,  Beiträge  zur  Einleitung  in  das  N.  T., 
S.  41  f.  9  und  die  daselbst  angeführte  Stelle  aus  Joseph.  B.  j. 
€,  4,  8.  Ausserdem  kann  verglichen  werden  die.  von  Schott - 
tsir,  borac  hebr.  et  talm.  zu  Matth.  1.  angeführte  Stelle  aus 
Synopsis  Sohar  p.  152.  n.  18:  Ab  Abrahame  usque  ad  Salo- 
monen XV  sunt  gener  ationcs ;  atque  tunc  htna  futt  in  pleni- 
htnto.  A  SaJomane  usque  ad  Zedekiam  iterum  sunt  XV  gc^ 
nerationes,  et  tunc  iuna  defecit,  et  Z^dekiae  effoiH  sunt  ocuH 

18)  Auf  die  Analogie  dieser  A.  T.  liehen  Geschlechtstafcln  mit 
den  evangelischen  in  Rücksicht  auf  die  absichtsvolle  Gleich- 
heit  der  Zahlen  hat  dz  Wkttb  hingewiesen ,    Kritik   der  mos. 

Geschichte,  S.  69.     Vgl.  S.  48. 


160  Erster  Abschnitt. 

Zeitraums  seien  14,  eine  Geschlechtstafel  gibt,  in  welcher 
dorch  Zufall  oder  Absicht  mehrere  Glieder  fehlen,  der 
zeigt  eine  Willkör  oder  Unkritik,  welche  das  Vertreuen 
anf  die  Sicherheit  seiner  Geschlechtsableitnng  überhaupt 
erschüttern  nanfs. 

Der  Genealogie  bei  Lukas  für  sich  genommen  sieht 
man  nicht  so  viele  Fehler,  wie  der  des  Matthias  an. 
Denn  einmal  ihre  Vergleichnng  mit  sich  selbst  liefert  gar 
kein  Ergebnifs,  da  sie  nicht  wie  jene  dorch  Ziehung  einer 
Summe  Ober  sich  selbst  die  Probe  macht19);  dann  aber 
auch  von  Seiten  des  A.'  T.  fehlt  ihr  die  Controle  grofsen« 
theils,  weil  sie  von  David  und  Nathan  an  fast  durch  lau- 
ter unbekannte  Geschlechter  herabläuft,  von  welchen  sich 
im  A.  T.  kein  Stammbaum  findet.  Nur  in  zwei  Gliedern 
berührt  sie  von  da  an  eine  im  A.  T.  erwähnte  Linie  3  in 
Salathiel  nnd  Serubabel;  kommt  aber  eben  hiedurcfa  in 
Widerspruch  mit  1.  Chron.  3,  17.  19  f.,  indem  sie  dem  Sa- 
lathiel einen  Sohn  von  Neri  nennt,  da  doch  nach  der  an- 
geführten Stelle  Jechonia  sein  Vater  war;  als  Sohn  Sern- 
babels  aber  einen  Resa  namhaft  macht,  welcher  in  der 
Chronik  unter  Serubabels  Kindern  fehlt.  Auch  in  der 
vorabrahamischen  Geschlechterreibe  findet  sich  die  Abwei- 
chung, dafs  zwischen  Arphachsad  und  Sela  Lukas  einen 
Kaivav  einschiebt,  welcher  im  hebräischen  Texte  1.  Mos. 
10,  24.  11,  12 ff.  sich  nicht  findet,  übrigens  schon  von 
den  LXX  eingeschaltet  war.  Nämlich  im  dritten 
Gliede  der  »ersten  Reihe ,  von  Adam  an ,  hat  auch  der 
Grundtext  diesen  Namen,  und  von  da'  scheint  ihn  die 
Uebersetzung  an  die  gleiche  Stelle  der  zweiten  Reihe,  von 
Noah  an  gezählt,  verpflanzt  zu  haben. 

19)  Dass  übrigens  auch  sie  in  Siebenzahlen  aufgeht  (yon  Adam 
bis  Abraham  3;  von  Abraham  bis  David  2;  von  Nathan  Bis 
Salathiel  3;  von  Serubabel  bis  Jesus  3;  zusammen  11  —  wo- 
bei  Abraham  doppelt  gezählt  werden  muss,  darauf  hat  Tnmiut 
aufmerksam  gemacht,  zur  Biographie  Jesu,  S.  43. 


Zweites  Kapitel    $.  21.  167 

$.    21. 

Fergteichung  beider  Geaetlogien.    Versuche,  ihren   Widerstreit 

su  lösen* 

Noch  weit  auffallendere  Ergebnisse  bekommt  man 
aber,  wenn  man  die  beiden  Genealogien  bei  Matthäus  und 
Lukas  mit  einander  vergleicht,  and  ihrer  Abweichung  von 
einander  sieh  bewnfst  wird.  Einige  der  stattfindenden 
Diffisrensen  zwar  sind  unverfänglich  und  selbst  niehtsbe* 
deutend,  wie  die  Verschiedenheit  der  Richtung,  dafs  die 
Gesehleehtstafel  bei  Matthäus  abwärts  geht,  von  Abraham 
auf  Jesus,  die  bei  Lukas  aber  aufwärts,  von  Jesus  auf 
seine  Vorfahren  zuröck  ;  ebenso  die  Verschiedenheit  des 
Umfang»,  welchen  Lukas  weiter  absteckt,  als  Matthäus, 
indem  dieser  das  Geschlecht  Jesu  nur  bis  auf  Abraham, 
jener  dagegen,  vielleicht  in  paulinisch  -  universalistischem 
Sinne  ein  ihm  vorliegendes  Doeument  verlängernd  *)^  auf 
Adam  and  Gott  selbst  zurückführt.  Bedenklicher  schon 
ist  der  nicht  geringe  Unterschied  in  der  Zahl  der  Genera** 
üonen  für  gleiche  Perioden,  indem  uwisehen  David  und 
Jesus  Lukas  41 ,  Matthäus  dagegen  nur  26  Geschlechter 
bat.  Die  Hauptschwierigkeit  jedoch  liegt  darin,  dafs  Lu- 
kas £QS  Theil  ganz  andre  Individuen  au  Vorfahren  Jesu 
macht,  als  Matthäus  Zwar  stimmen  sie  in  der  Angabe 
derselben  nicht  allein  darin  fiberein,  dafs  'beide  das  Ge- 
schlecht Jesu  durch  Joseph  auf  David  und  Abraham  «u- 
rAckftthren ;  sondern  auch  in  Bezug  auf  die  Mittelglieder, 
durch  welche  sie  diefs  thun,  treffen  sie  in  den  Generatio* 
nen  van  Abraham  bis  David,  und  später  in  den  beiden 
Namen  Salathiel  und  Serubabel,  zusammen.  Der  eigent- 
lich verzweifelte  Punkt  ist  nun  aber  der,  dafs  von  David 
auf  den  Pflegevater  Jesu,   mit  Ausnahme  von  zweien 


1)  S.  CLrysostomus  und  Luther,  bei  Cridker,   Einleitung  in  d. 
N.  T  ,  |,  S.  U3t.    Wxkbr,  bibi.  Realwörterbuch,  1,  S.  659. 


)68  Erster  Abschnitt, 

ongeffchr  in  der  Mitte,  lauter  verschiedene  Namen  bei  Lu- 
kas und  Matthäus  sich  finden.  Nach  Matthäus  nämlich 
biefs  der  Vater  Josephs  Jakob,  nach  Lukas  Eli;  nach 
Matthäus  ist  der  Sohn  Davids,  durch  welchen  Joseph  von 
diesem  König  abstammte,  Salomo,  nach  Lukas  Nathan r 
und  so  läuft  dann  das  Geschlechtsregister  des  Matthäus 
durch  den  bekannten  Königsstamm  herunter,  das  bei  Lu- 
kas durch  eine  unbekannte  Nebenlinie ;  nur  in  Salathiel 
und  Serubabel  treffen  beide  zusammen ,  doch  so ,  dafs  sie 
sogleich  wieder  Salathiels  Vater  und  den  Sohn  Serubabeis 
verschieden  haben»  Da  diese  Differena  ein  vollkommener 
Widerspruch  eu  sein  scheint,  so  ist  man  von  jeher  mit 
Lösungsversuchen  äufserst  geschäftig  gewesen.  Um  von 
offenbar  ungenügenden  Auswegen,  wie  mystischer  Den« 
tung  *)  oder  willkürlicher  Aenderung  der  Namen  *),  nichts 
su  sagen,  so  haben  sich  besonders  zwei  Hypothesenpaare 
ausgebildet,  von  welohen  je  ein  Paar  sich  gegenseitig  stützt 
pder  doch  verwandt  ist. 

Das  erste  Paar  bilden  die  Voraussetzung  des  Augu- 
stinus, dafs  bei  Joseph  ein  Adoptionsverhältnifs  stattge- 
funden, und  nun  der  eine  Evangelist  seinen  wirklichen, 
der  andere  seinen  Adoptiv- Vater  nebst  dessen  Stammbaum 
gebe  *),  —  und  die  Annahme  des  alten  Chronologen  Ja« 
lins  Africanus,  dafs  bei  Josephs  Eltern  eine  Levirats-Ehe 
eingetreten  sei,  und  nun  der  Stammbaum  des  einen  Evan- 
gelisten dem  natürlichen,  der  andere  dem  gesetzlichen 
Vater  Josephs  angehöre;  durch  den  einen  habe  er  voa 
der  Salomonischen,  durch  den  andern  von  der  Nathan!- 
sehen  Linie  des  Davidischen  Geschlechtes  abgestammt  5). 


2)  Orig.  homil.  in  Luc  am  28. 

S)  Luther,  Werke,  Bd.  14.  Walcb.  Ausg.  S.  8  ff. 

4)  De  corisensu  Evangelistarum ,   2,  3,   und  unter  den  Neueren 
z.  B.  E.  F.  in  Hinke'*  Magazin  5,  1,  180  f. 

5)  Bei  Eusefaius,   H.  E.  1,   7.   und  neuerlich  z,  B.  Schleikrma- 
cuurj  über  den  Lukas,  S,  53, 


Zweites  Kapitel.    §•  21.  169 

Die  nähere  Frage,  welche  von  beiden  Genealogien  den 
natürlichen ,  und  wekhe  den  gesetzlichen  Vater  rak  sei- 
nem Stammbaum  angebe,  bann  nach  zweierlei  Kriterien 
entschieden  werden,  deren  eines  mehr  dem  Buchstaben, 
das  andere  mehr  dem  Geist  und  Charakter  der  beiden 
Evangelisten  angehört,  und  welche  eine  entgegengesetzte 
Entscheidung  herbeigeführt  haben«  Augustinas  und  auch 
schon  Africanus'  haben  daraufgesehen,  welcher  von  beiden 
Evangelisten  zur  Bezeichnung  des  Verhältnisses  «wischen 
Joseph  und  demjenigen ,  den  er  als  dessen  Vater  nam- 
haft macht,  eich  eines  Ausdrucks  bediene,  welcher  be- 
stimmter als  der  des  andern  auf  ein  natürliches  Sohnes* 
Terhältnifs  hinweise.  Einen  solchen  gebraucht  nun  Mat- 
thäus; indem  er  nämlich  sagt:  'laxojß  tyiwr^ae  xov  jToi- 
CYpi  *o  scheint  das  yewqtv  nur  das  natürliche  Verhält- 
nifs  bezeichnen  zu  können,  während  das  'lo)arjq>  %h  *WX 
bei  Lukas  ebensowohl  das  Verhältnifs  eines  Adoptivsohns, 
oder  eines  solchen,  der  vermöge  des  Leviratsverhältnia- 
ses  als  Sohn  angesehen  wird,  anzeigen  zu  können  scheint. 
Allein  da  die  Verordnung  der  Leviratsehe  gerade  den 
Zweck  hatte,  Namen  nnd  Geschlecht  eines  kinderlos  Ver- 
storbenen zu  erhalten:  so  war  es  jüdische  Sitte,  den  ans 
solcher  Ehe  zuert  entsprossenen  Sohn  nicht  in  das  Ge- 
schiechtsregister  des  natürlichen  Vaters  einzutragen,  wie 
hier  Matthäus  thun  soll,  sondern  in  das  des  gesetzlichen 
Vaters,  wie  diefs  Lukas  nach  der  obigen  Voraussetzung 
beobachtet.  Dafs  nun  aber  gerade  der  so  ganz  jüdisch 
gebildete  Verfasser  des  ersten  Evangeliums,  oder  der 
Genealogie  insbesondere,  einen  solchen  Verstofs  begangen 
haben  sollte,  kann  man  nicht  wahrscheinlich  finden: 
weswegen  z.  ß.  Schleibrma.cher  dem  Geiste  der  beiden 
Evangelisten  gemäfs  annehmen  zu  müssen  glaubt,  daiä 
Matthäus,  uneraohtet  seines  iyewijae9  doch  nach  jüdischem 
Brauche  den  Stammbaum  des  gesetzlichen  Vaters  gebe; 
Lukas  aber,  vielleicht  kein  geborner  Jude  und  der  jüdi- 


170  Erster  Abschnitt. 

sehen  Gewohnheiten  minder  kundig ,  habe  die  Stammtafel 
der  jüngeren  JJrüder  Josephs  zur  Hand  bekommen,  welche 
nicht,  wie  der  Erstgeborene ,  anf  das  Geschlecht  des  ver- 
storbenen gesetzlichen,  sondern  des  natürlichen  Vaters 
geschrieben  wurden,  und  diese  habe  er  non  auch  ftr  die 
Stammtafel  des  Erstgeborenen,  Joseph,  gehalten,  was  sie 
Dar  nach  dem  natürlichen  Momente  war,  anf  welches  aber 
die  jüdische  Genealogistik  keine  Rücksicht  nahm  *).  Al- 
lein abgesehen  von  dem  erst  unten  zu  Erweisenden,  dafs 
die  Genealogie  bei*Luka8  schwerlich  vom  Verf.  des  Evan- 
geliums herrührt,  also  aus  dessen  minder  jüdischer  Bil- 
dung kein  Schlafs  auf  die  Deutung  des  von  ihm  aufge- 
nommenen Geschlechtsregisters  gilt:  so  würde  der  Ge- 
neaiogist  im  ersten  Evangelium  sein  zyhvrpe  nicht  so 
ohne  allen  Beisatz  "hingeschrieben  haben,  wenn  er  an  ein 
blofs  gesetzliches  Vaterverhältnifs  gedacht  hätte;  wefs- 
wegen  die  beiden  Ansichten  von  dem  Verhältnifs  der  Ge- 
nealogien in  dieser  Beziehung  gleich  sohwierig  sind« 

lndefs,  wir  müssen  uns  diese,  bis  jetzt  nur  im  All- 
gemeinen bezeichnete  Hypothese  erst  näher  vor  die  Vor- 
stellung bringen,  um  über  ihre  Zulässigkeit  urtheilen  zu 
können.  Da  in  Bezug  auf  die  Voraussetzung  der  Levirats- 
ehe Verfahren  und  Krgebnifs  im  Ganzen  dasselbe  bleibt, 
ob  wir  mit  Aogustin  und  Africanus  dem  Matthäus,  /oder  mit 
Schleiermacher  dem  Lukas  die  Angabe  des  natürlichen 
Vaters  zuschreiben:  so  wollen  wir  das  Verhältnifs  bei- 
spielsweise in  der  ersten  Form  betrachten;  um  so  mehr, 
da  uns  Eusebius  nach  Africanus  eine  sehr  genaue  Ausfüh- 
rung hierüber  hinterlassen  hat.  Nach  dieser  Vorstellungs- 
weise war  also  Josephs  Mutter  zuerst  mit  demjenigen 
Manne  verheirathet ,  welchen  Lukas  als  Josephs  Vater 
nennt,   mit  Eli;    da   aber   dieser  ohne  Kinder  starb,   so 


6)  a.  a.  O.  S.  53.    Vgl.  Winer,  bibl.  Rcalwörterbuch,  1.  Band. 
S.  660. 


■*■- 


Zweites  Kapitel.    $.  21.  171 

ehelichte  vermöge  des  Leviratsgesetzes  sein  Bruder,  der 
von  Matthäus  als  Vater  Josephs  genannte  Jakob,  die 
Wittwe,  und  ersengte  mit  ihr  den  Joseph ,  welcher  nun 
gesetslich  als  Sohn  des  verstorbenen  Eli  angesehen  wurde, 
wie  dieb  Lukas  angibt,  während  er  natürlich  der  Sohn 
•eines  Bruders  Jakob  war,  eine  Betrachtungsweise,  wel- 
cher Matthäus  gefolgt  Ist. 

Allein,  blofs  so  weit  geführt,  würde  die  Hypothese 
keineswegs  ausreichen.  Denn  wenn  die  beiden  Väter  Jo- 
sephs wirkliehe  Brüder,  Söhne  desselben  Vaters,  waren: 
so  hatten  sie  Einen  und  denselben  Stammbaum,  und  es 
mttfsten  in  diesem  Falle  die  beiden  Genealogien  nur  den 
Vater  des  Joseph  verschieden  haben,  ober  demselben  aber 
sogleich  wieder  zusammenlaufen.  Um  zu  erklären ,  wie 
sie  bis  auf  David  hinauf  abweichen  können,  mufs  man  die 
zweite  Voraussetzung  hinzufügen,  welche  auch  Africanus 
gemacht  hat,  dafs  die  beiden  Väter  des  Joseph  nur  Halb- 
brüder gewesen,  nämlich  nur  einerlei  Mutter,  nicht  aber 
denselben  Vater,  gehabt  haben.  Man  mflfste  also  annehmen, 
die  Mutter  der  beiden  Väter  Josephs  habe  nach  einander 
in  zwei  Ehen  gelebt:  einmal  mit  dem  Matthan  des  Matthäus, 
welcher  durch  Salomo  und  die  königliche  Linie  von  Da« 
vid  descendirte,  und  diesem  habe  sie  den  Jakob  geboren; 
aufserdem  aber  sei  sie  vor-  oder  nachher  mit  dem  Mat- 
that des  Lukas  verehelicht  gewesen,  welcher  durch  Nathan 
Davids  Nachkomme  war,  und  dieser  habe  den  Eli  mit  ihr 
erzeugt;  nach  dessen  Verheirathung  und  kinderlosem  Ab- 
leben sein  Halbbruder  Jakob  seine  Wittwe  geheiratbet, 
und  gesetzlich  för  den  Verstorbenen  den  Joseph  erzeugt' 
habe. 

Müssen  wir  schon  bis  hieher  die  Hypothese  einer  ge- 
rade in  zwei  aufeinanderfolgenden  Gliedern  so  verwickel- 
ten Ehe,  zu  welcher  die  Abweichung  der  beiden  Genealo- 
gien uns  trieb ,  zwar  keineswegs  unmöglich ,  aber  doch 
unwahrscheinlich  finden;  so  wird  die  Schwierigkeit  durch 


172  Erster  Abschnitt. 


■ 


1 


die   unwillkommene   Uebereinstim&ung    noch    verdoppelt, 
welche  sich,   wie  schon  erwähnt,  mitten  unter  den  abwei- 
chenden Reihen ,   in   den   beiden   Gliedern    Salathiel   and       B 
Serubabel,  findet.    Um  nämlich   zu  erklären,   wie  sowohl       i 
JNeri  bei  Lukas  als  Jechonia  Jbei  Matthäus  Vater  des  Sala-        B 
thiel,   des  Vaters   von  Serubabel,   heifsen   könne;   mttfcte 
nicht  nur  die  Annahme  einer  Leviratsehe  wiederholt  wer-       " 
den,  sondern  auch  die,  dafs   die  beiden  nacheinander  mit        B 
derselben  Frau  vermählten  Brüder  diefe   nur  mütterlicher        * 
Seits   gewesen  seien.     Wesentlich    gemindert  wird   diese        * 
Schwierigkeit  auch  nioht  durch  die  Bemerkung,  data  niebt        > 
blofs  der  Bruder,   sondern   überhaupt   der   nächste  Bluts-        ■ 
verwandte    dem    andern    in  einer  Leviratsehe   folgen  —        * 
wenn  nicht  gemufst,  so  doch  gekonnt  habe  (Ruth  3,  12  f.        * 
4,  4.    f.)   7).      Denn    da   auch    über  zwei    Vettern   der        4 
Stammbaum    weit    früher    zusammenlaufen    mufs,    als  er        * 
hier   über  Jakob  und  Eli  und   über  Jechonia  und  Neri        i 
zusammengeht:  so  müfste  man  doch  beidemale   die  Hypo-        ' 
these  von  Halbbrüdern  zu  Hülfe  nehmen;  nur  dafs  dann        t 
die  beiden  so  eigenthümlichen  Ehen  nioht   in   zwei  unmit-        i 
telbar  auf  einander  folgende  Geschlechter  fallen  würden». 
Dafs    nun    dieser    seltsame    Doppelfall   sich    nicht  allein 
zweimal    wiederholt,    sondern    dafs    auch    beidemale   die 
Genealogisten  sich  in  die  Angabe  des  natürlichen  und  des 
gesetzlichen  Vaters  auf  die  gleiche  Weise,    und  beidemale 
stillschweigend,  getheilt  haben  sollten,   das  ist  so  unwahr- 
scheinlich, dafs  auch  die  Hypothese  einer  Adoption,    wel- 
che nur   von  der  Hälfte  dieser  Schwierigkeiten  gedrückt 
ist,   schon   daran    mehr  als   genug  hat.     Da  nämlich  zur 
Adoption    kein    brüderliches,     oder    sonstiges    Verwandt- 
schaftsverhältnifs    des    natürlichen    und  des  adoptirenden 
Vaters  erfordert  wird:  so  fallt  zwar  die   zweimalige  Zu- 


7)  Vgl.  Michaelis,  Mos.  Recht.  2,  S,  200.    Wiskr,   bibL  Real- 
w'örterb.  2,  S.  22  f. 


Zweites  Kapitel.    §.  21.  178 

flocht  so  einer  Helbbrnderschaft  weg,  and  es  bleibt  nor 
die  Notwendigkeit  $  zweimal  ein  Adoptions-Verhältnifs 
anzunehmen  and  zweimal  das  Eigene ,  dafs  die  eine  Ge- 
nealogie es  anjtidisch  jgnorirte,  die  andere  aber  nur  stiii- 
•ekweigend  berücksichtigte. 

Auf  weit  bequemere  Weise  glaubte  man  daher  in 
■euerer  Zeit  den  Knoten  durch  die  Annahme  lösen  zu 
können,  dafs  wir  nur  bei  dem  einen  Evangelisten  die  Ge- 
nealogie des  Joseph,  bei  dem  andern  aber  die  der  Maria  • 
haben,  deren  Verschiedenheit  also  kein  Widerspruch  wa% 
re8);  wozu  man  gerne  noch  die  Voraussetzung  fugt,  dafs 
Marin  eine  Erbtochter  gewesen  sei 9).  Die  Ansicht,  dafs  auch 
Maria  ans  Davidischem  Geschlechte  stamme,  ist  schon  alt. 
Zwar  der  Idee  zulieb,  dafs  in  dem  Messias,  als  zweitem 
Melchisedek ,  die  königliehe  Würde  mit  der  priesterlichen  f 

vereinigt  sein  sollte 10),  und  verleitet  durch  die  Verwandt-  i 

schaft  der  Maria  mit  der  Aaronstochter  Elisabet,   wie  sie 
von  Lukas  1,  36«  an  die  Hand  gegeben  ist u),  liefsen  nicht 
nur  schon  frühzeitig  Manche  den  Joseph  von  einer  aus , 
den  Stämmen  Juda  und  Levi  gemischten  Familie  abstam- 


8)  So  z.  B.  Sfaxhkim,  dubia  evang.  F.  1.  S.  13  ff.  Ligkitoot, 
MicbasuBj  Paulus,  Kuntbi,,  Olshauskn,  jetzt  HovimATHf  u.  A. 

9)  Schon  Epipuamus  ,  Grotivs  ,  stellten  diese  Vermuthung  auf. 
Olshaüskt»  nimmt  sie  an  (S.  41.)  >  weil  es  zum  Entwicklungs- 
gange des  Davidischen  Geschlechts  zu  passen  scheine  (siehe 
über  ein  ähnliches  Passen  §.  20.  Anmerk.  9.) ,  dass  diejenige 
Linie  desselben,  aus  welcher  4er  Messias  hervorgehen  sollte, 
sich  mit  einer  Erhtochtcr  beschloss,  die  den  verheissenen 
ewigen  Erben  des  Davidischen  Throns  gebärend,  dieselbe  en- 
digte ! 

10)  Testament.  XII  Patriarch.,  Test.  Simeon  c.  71.  In  Fabric. 
Codex  pseudepigr.  V.  T.  p.  542 :  Ig  avray  (den  Stämmen  Levi 
und  Juda)  avartitT  vjuiv  to  atarr^or  t«  &ts.  *Avagfp fi  yaq  Kvqiog 
ix  rS  yftvt  10$  aQ%t*Qfa,  xcii  wr  th  yIsSa  u>$  fiaOiAttx  x.  r.  2. 

11)  Vgl.  jedoch  Paulus  a.  a.  O.  S.  119. 


\ 


174  Erster  Abschnitt. 

men 1S) ,  sondern  auch  die  Ansicht  war  nicht  selten ,  dafa 
Jesns  durch  Joseph  zwar  ans  königlichem,  durch  Maria 
aber  ans  priesterlicbem  Geschlechte  gewesen  sei  J3).  Ge- 
wöhnlicher jedoch  wurde  bald  die  Ansicht  von  einer  Da- 
vidischen Abstammung  Maria's.  Mehrere  Apokryphen 
sprechen  sich  dabm  aus  14);  ebenso  Justin  der  Märtyrer, 
bei  weichem  man  den  Ausdruck,  dafs  die  Jungfrau  aus 
dem  Geschlechte  Davids,  Jakobs,  Isaaks  und  Abrahams 
gewesen,  selbst  als  eine  Andeutung  auslegen  könnte,  dafa 
er  eines  unsrer  Geschlechtsregister,  welche  ja  ebenso  Ober 
David  auf  Abraham  »urflckgehen,  auf  die  Maria  beaogea 
bitte  ")• 

Fragt  man  nun  aber,  welcher  der  beiden  Stammbäume 
als  der  der  Maria  gefafst  werden  solle,  so  scheint  diels 
eigentlich  bei  keinem  von  beiden  möglich  au  sein,  indem 
beide  gar  eu  bestimmt  sich  als  Genealogien  des  Joseph, 
ankündigen ;  der  eine  in  den  Worten :  *Iaxaiß  iyewqoe  tov 
ii&MTiyy,  der  andere  durch  die  Worte:  viog  Itoo^q)  %5  *HÄL 
Dennoch  aber  lautet  auch  hier  das  iyhvrjae  des  Mattbfiua 
bestimmter  als  das  ?&  des  Lukas,  welches  nach  jenen  Aus- 
legern wohl  auch  einen  Schwiegersohn  oder  Enkel  anzei- 
gen könnte,  so  dafs  die  Genealogie  bei  Lukas  in  den 
Worten  3,  23.  entweder  sagen  wollte:  Jesns  war  nach 
der  gewöhnlichen  Ansicht  ein  Sohn  Josephs,  welcher 
selbst  ein  Schwiegersohn  des  Eli,  Vaters  der  Maria  war1*/; 


12)  Vgl.  Thilo,  cod.  apocr.  N.  T.  1,  S.  374  ff. 

13)  So  z.  B.  der  Manichäer  Faustus  bei  Augustin.  contra  Fautt. 
L.  23,  4. 

14)  Protevangel.  Jacobi  c.  lf.  u.  10«  und  evangel.  de  nativi« 
täte  Mariae  c.  1.  werden  als  die  Eltern  der  Maria  Joa- 
chim und  Anna,  aus  Davidischem  Geschlechte,  genannt.  Fau- 
stus hingegen ,  in  f  der  angeführten  Stelle ,  bezeichnet  eben 
diesen  Joachim  als  sacerdos.  #fi '» 

15)  Dial.  c.  Tryph.  43.  100.  der  Mauriner  Aiisg.  Paris  1742. 

16)  So  namentlich  Paulus  zvd.  St.'  Auch  diCT  Juden,  indem  sie 


Zweites  Kapitel.    $.  21.  175 

oder:   Jesu»  war,   wie  man  glaubte,   ein  Sohn  Josephs, 
and  dnroh  Maria  ein  JSnkel  des  Eli  ")•    Indem   man   hie« 
gegen  einwenden  kann,  daft  die  Jnden  bei  ihren  Genealo* 
gien  auf  die  weibliehe  Linie   keine  Rückeicht  an  nehmen 
pflegten  18):    so    kommt  hier    die  weitere  Hypothese   an 
Hülfe,  dafs  Maria  eine  JBrhtoehter,  d.  h.  die  Tochter  eines 
sofanelosen  Vaters,  gewesen,    in  welchem  Falle  es  nach 
4.  Mos.  36 ,  6.  nnd  Nehem.  7 ,  63.  die  jüdische  Sitte  mit 
skh  gebracht  habe,  dafs  der  Mann,  der  eine  solche  Toch- 
ter ehlichte,  nicht  nur  ans  demselben  Stamme  mit  ihr  sein 
mnfste,   sondern  sich  auch  in  ihr  Geschlecht  anfnehmen 
lief s,    nnd  somit  ihre  Vorfahren  au  den  seinigen  machte. 
Allein  nur  das  £rstere  ist  aus  der  mosaischen  Stelle  er- 
weislich j   wogegen  ans  der  andern ,  in  Vergleichnng  mit 
mehreren  ähnlichen  (Esra  2,  61.  4.  Mos*  32, 41.  vergl.  mit 
1.  Chron«  2, 21  f.),  nur  so  viel  erhellt,  dafs  ausnahmsweise 
bisweilen  Einer  nach  den  mütterlichen  Vorfahren  benannt 
wurde.     Doch  die  Schwierigkeit  wegen  der  jüdischen  Sitte 
tritt  ganz   zurück   hinter   einer    ungleich   bedeutenderen» 
Wenn   es   nämlich   gleich   nicht  geleugnet   werden   kann, 
da£t  der  Genitiv  bei  Lukas,  als   Casus  der  Abhängigkeit 
überhaupt,  an  sich  jedes  Verwandtschaftsverhältnifs ,  mit« 
hin  auch   das  des  Schwiegersohns  oder  Enkels,   bedeuten 
könnte:  so  dürfte  doch  der  Zusammenhang  nicht  so  ent- 
schieden dagegen  sein,    wie  hier.    In  den  34  oberen  Glie* 
dern,    die  uns  aus   dem  A.  T.  bekannt  sind,   bezeichnet 
Genitiv  nachweislich  durchweg  das  eigentliche  Seh- 


eine  Maria,  TochteV  Eli'«,  als  gequält  in  der  Unterwelt  vor- 
stellen (s.  Lxghtvoot  a.  a.  0.) ,  scheinen  den  von  Eli  ausge- 
henden Stammbaum  hei  Lukas  für  den  der  Maria  genommen 
zu  haben. 

17)  So  z«  B.  Lightfoot  horae  p.  750;  Osiarder,  S.  86« 

18)  Juchasin  f.  55,  2.  bei  Liorttoöt  S.  183.    und  Bava  bathra 
f.  110,  2.  bei  WiTtTEU!  S.  230  f.    Vgl.  indess  Joseph«  Vita,  1. 


176  Erster  Abschnitt. 

neeverh&ltnifs ;  ebenso  wieder*  in  der  Mitte,  swisehen  8a* 
lathiel  und  Serababel,:  wie  könnte  er  das  Einemai  bei  Jo* 
seph  den  Schwiegersohn  anzeigen?  oder  wie  gar  Dach 
Andern  das  durchaus  im  Nominativ  hinzuzudenkende  viog 
in  fortwährender  Aufsteigung:  Sohn,  Enkel,  Urenkel ,  bis 
cum  entferntesten  Abkömmling  hin?  Beruft  man  sich  auf 
das  Idda/j,  rö  &eö,  wo  der  Genitiv  aueh  nicht  Sohn  im  ei- 
gentlichen Sinne  bedeuten  könne:  so  zeigt  er  doch  auch 
hier  auf  den  unmittelbaren  Daseinsurheber  hin,  ein  Begriff, 
unter  weichen  weder  Schwiegervater  noch  Grofsvater  ge- 
stellt werden  können.  —  Eine  weitere  Schwierigkeit  hat 
diese  Auffassung  der  beiden  Stammbäume  mit  der  ersteren 
gemein,  nämlich,  das  Zusammentreffen  beider  in  den  Na- 
men Salathiel  und  Serubabel  eu  erklären.  Man  könnte 
auoh  hier  wie  dort  eine  Leviratsehe  Voraussetzen:  doch 
die  hiehergehörigen  Erklärer  ziehen  meistens  die  Annahme 
vor,  dafs  diese  gleichen  Namen  in  den  beiden  Genealogien 
gar  nicht  dieselben  Personen  bezeichnen.  Allein,  wenn 
Lukas  an  der  21ten  und  22ten  Stelle  nach  David,  wie 
Matthäus  —  die  vier  übergangenen  Glieder  eingerechnet 
—  an  der  19ten  und  20ten  19)  dieselben  Namen,  worunter 
ein  sehr  berühmter,  hat:  so  ist  gewifs  auch  an  dieselben 
Personen  zu  denken» 

Ueberhaupt  findet  sich  sonst  im  N.  T.  nicht  nur  keine 
Spur  von   einer  Davidischen  Abstammung  der  Maria 20), 


19)  Nach  Osiandkr  (S.  86)  sind  dies»  „ungleiche  Zeitstellen". 

20)  Wie  Nbander  mit  Hoffmann  in  Luc.  1,  52.  eine  solche  Spur 
finden  will,  ist  nicht  einzusehen.  Uebrigens  erlaubt  Nrjw- 
dkr'it  sein  Wahrheitsgefühl  nicht,  den  Stammbaum  bei  Lukas, 
80  wie  er  dasteht,  als  den  der  Maria  anzusprechen;  er  er 
greift  d  all  er  den  Ausweg,  derselbe  habe  vielleicht  ursprüng- 
lich zwar  sich  auf  Maria  bezogen ,  im  Evangelium  aber  eine 
unrichtige  Stellung  erhalten;  doch  fühlt  er  sich  auch  hiemit 
nicht  sicher,  und  lä'sst  das  Verhältnis s  heider  Genealogien 
dahingestellt  (L.  J.  Chr.  S.  17.  Anm.). 


Zweitea  Kapitel.    *  HL  ITT 

einige  Stellen  anwehen  ooger  dagegen.  Ldcl 
1,  27.  besieht  sieh  dae  e£  oft»  Jtyf}<J  nur  aaf  dae  mnlefaet 
<mfyi  q>  orojuc  jfcrttyqp ,  nicht  aber  aaf  das  ent- 
naQ&ho*  laimj&vtiknp ;  hauptsächlich  aber  die 
Weadtuig  Lue.  ff,  4:  afl^fy  d£  xcd  *fuioqip  -  du»  tro  elxu 
mute*  eg  e&a  «cd  nm^tag  Jaßid,  dnoyQcxfwff&at  awMagtf 
&  x.  i- ,  wo  «o  leicht  statt  erirrov  ovrag  gosetat  werden 
kannte,  wenn  der  Verfasser  einen  Gedanken  an  eine  Ha* 
viateebe  Abkunft  aneh  der  Maria  hatte,  —  Ycrstirkt  ans* 
Cebarflnfr  die  nachgewiesene  Unmöglichkeit,  die  Davidi» 
•ehe  Genealogie  gerade  dea  dritten  Evangelisten  anf  die 


1    SS. 
Dia  Geneaiagien  nahistsrisch. 

Bedenkt  man  die  nnllberwindlichen  Schwierigkeiten, 
ia  weiche  sich  alle  diese  Vereinignngsrersuehe  nnvermeid- 
lich  rerwiekeln:  ao  wird  man  wohl  mit  freier  denken- 
den Exegeten  an  der  Möglichkeit  einer  Friedensstiftnng 
zwischen  beiden  Geschlechtstafeln  verzweifeln ,  und  ihren 
gegenseitigen  Widersprach  anerkennen  müssen  *>.  In« 
dem  ao  wenigstens  nicht  beide  richtig  sein  können:  so 
scheint,  wenn  gewXhlt  werden  sollte,  snnflohst  Manches 
ftr  die  des  Lnkas  an  sprechen.  Fttr's  Erste  aeigt  sie  doch 
nicht  dieselbe  Willkür  im  Zählen  nnd  Gleichmachen  der 
Perioden ,  und,  während  für  den  Zeitraum  von  David  bis 
Jechonia  oder  Neri  die*  SO  Geschlechter  des  Lukas  der 
Wahrscheinlichkeit   wenigstens  nicht  ferner   stehen,   als 


1)  Se  EianosH,  Eirf.   in  das  lt.  T.  1.  Bd.  S.  425.     Kaiies, 
hihi.  Theol.  1,  S.  232.    WatscaBioaii,  Institut.  $.  123,  not.  d. 

■ 

»s  Warn  9  bihL  Dogm.  $.  279.  und  exeget.  Handbuch  1,  2, 
S.  32.  Wnian,  bibl.  Resiw'drterb.  l,  S.  660  f,  Hais,  Leben 
Jesu,  f.  33.  FuTztcn,  Comm.  in  Mstth.  p.  35.  Ahm©», 
Fortbildung  des  Chrittenthmns  sur  Weltreligisn,  1 ,  S.  196  Ä. 
Ais  Lehm  Jem  Sie  jtufl.  1.  Band.  12 


178  .   Erster  Abschnitt.    . 

Matthias  alt  keiner  Waglassung  von  4  Gliedern  4er  ge- 
schichtlichen Wahrheit :  so  sind  für  die  Periode  von  Je» 
eben!»  (geb.  617  v.  C.)  bis  auf  Jesus ,  d.  b.  beiläufig  Mi 
Jahre,  23  Generationen,  jede  au  27%  Jahr,  wie  sie  Lukas 
gibt ,  der  Natur  der  Sache ,  and  namentlich  des  Orient^ 
angemessener,  als  die  IS  des  Matthias,  jede  na  46  Jahren» 
Aufserdem  macht  sieh  die  Gesehieehtstafel  des  Lukas  da- 
durch weniger  eines  verherrlichenden  Bestrebens  vardfieh- 
dg,  als  die  des  Matthias,  dafs  ab,  out  der  Davidischen 
Abkunft  Oberhaupt  sufrieden,  das  Geschlecht  Jesu  nicht 
wie  jene  gerade  durch  die  königliche  Linie  herouierftthrt. 
Indefs  llfst  sich  hier  ebenso  umgekehrt  unwahrschein- 
licher finden,  dad  von  der  minder  bedeutenden  Nathan!» 
sehen,  als  dafs  von  der  königlichen  Linie  ein  Stammbaum 
vorhanden  gewesen  sei;  auch  scheint  die  öftere  Wieder- 
holung derselben  Namen,  auf  welche  flormam  mit  Recht 
aufmerksam  macht,  die  Genealogie  des  Lukas  als  eine  ge- 
machte au  beseichnen.  ' 

So  hat  in  der  That  keine  vor  der  andern  etwas 
voraus:  sondern,  wenn  «die  eine  als  unhistorisch  an- 
Busprecben  ist,  so  auch  die  andere,  cumal  es  sehr  we- 
nig Wahrscheinlichkeit  hat,  dafs  nach  den  Zerrfittungen 
des  Exils  und  der  folgenden  Zeiten  in  der  obscnren  Fa- 
milie des  Joseph  noch  so  weit  hinaufreichende  Genealogien 
vorhanden  gewesen  *)•  Erkennen  wir  somit  in  beiden ,  so 
weit  sie  nicht  sqs  dem  A.  T.  geschöpft  sind,  freie  Bil- 
dungen, oder  doch  willkürliche  Anwendungen  vorhandener 
fremder  Genealogien  auf  Jesum:  so  könnten  wir  dabei 
immer  noch  das  als  historische  Grundlage  festhalten,  dafs 
Jesus  von  David  abgestammt  habe,  und  nur  die  Mittelglie- 
der dieser  Abstammung  von  Verschiedenen  verschieden 
ergingt  worden   seien  *).    Allein   das  *  Eine ,   worauf  man 

2)  8.  Wissa,  a.  s.  O. 

3)  Wie  FniTztCMi  s.  d.  St.,  der  übrigens  nach  der  Beobachtung, 
welche  tr  Frolcgg.  in  Matthaeum  p.  XV.  autgesprochen ; 


Zw+ltes'Kapitel     f»  23.  IT» 

■fall  hieft»  beruft,  dfo  durch  4m  Ciftm  «eranlabte  Rebe 
4er  Btteru  Jen  nach  BetbbheM,  steht  selbst  nicht»  wen!« 
gär  als  fest,  wie  wir  bald  genug  sehen  werden,*  und  würde 
ttbardiefs   noeh  lange,  aleht  hinreichen ,  Ihre  Abknnft  ge- 
rede   Ten  David  wahrscheinlich  an  machen«    (fowbhtiger 
ist  der  andere  Grund,  dab  Jesos  überall  im  JH.  T. ,  nnd 
ebne  bemerkbaren  Widerspruch  der  Gegner,  ab  Abkdain*» 
lag  Davids  gilt    Doch   ktnnte  vielleicht  auch  das  üog 
Javid  ein  Prüdioat  sein,   welches  Jesa  nicht  ade  histori- 
schen, sondern  .aas  dogmatischen  Gründen  beigelegt  werde. 
Der  Messias  kennte ,  den  Weissagungen  gemfifs ,  nnr  reu 
David  stammen:   wb  denkbar  daher,   wenn  ein  Gal4Uerf 
Abstimmung  weiter  hinauf  gar  nicht  bekannt  war, 
snitbia  anch  Niemand  beweisen  kennte,  dab  er  nicht 
reo  David  stamme  —  wie  denkbar,  wenn  ein  sebher  sich 
den  Ruf  des  Messias  erworben  hatte ,  dab  sich  bald  in 
verschiedenen  Formen  die  Sage   von  der  Davidischen  Ab- 
kunft desselben  bildete ,   und  dafs  nun  nach  diesen  Sagen 
Genealogien  von  ihm  verfafst  wurden,  welche  aber,  weil 
es  an  urkundlichen  Nachrichten  fehlte,  nothwendig  so  ab- 
weichend  und  widersprechend  ausfalbn  mufsten,  wb  nun 
die  Gesehbchteregbter  bei  Matthäus  und  Lukas  sich  au 
einander  verhalten  *> 


Studium  —  es  cmUuHt  seriptor  (der  Verf,  des  ersten  Evange- 
liums) ut  nihil  Jesu  ad  Messias  eaemplar  fingi  posset  em- 
presstus,  in  der  Ueberschrift  des  ersten  Kapitels,  Comm.  p.6., 
einen  weitergehenden  Zweifel  anzudeuten  scheint:  Jesus,  ui 
de  futuro  Met sia  canunt  V*  T.  or acuta,  est  e  gente  Davidica 
per  Josephum  titricum  ertundus. 
4)  s.  na  Wrrra,  bihl.  Dogm.,  a.  a.  O.  und  exeg.  Handb.,  f,  I, 
S.  14 ;  HasB ,  L.  J. ,  a.  a.  O.  Eine  nicht  unwahrscheinliche 
Veranlassung  zu  dieser  Abweichung  gibt  Eusebius  an  (ad 
Steph.  quaest.  3,  nachgewiesen  von  Casmon,  1,  S.  68  f.) ,  dass 
nämlich  unter  den  Juden  neben  der  Ansicht,  der  Messias 
müsse  durch  die  königliche  Linie  von  David  abstammen ,  eine 

12* 


!40  Erster  Abt  erholt*. 

Fragt  man  daher  nach  dar  sichern  geschichtlichen 
Ausbeute ,  welche  diese  Genealogien  gewähren ,  so  besteht 
sie  doeh  nur  in  dem  aach  sonsther  Gewissen :  Jesus  bat, 
persönlich  und  durch  seine  Junger,  anch  anf  streng  jfcV 
disob  Resinate  einen  so  entschiedenen  Eindruck  der  Mes- 
sianitftt  gemacht,  dafs  diese  nicht  nweifelten,  aneh  das 
prophetische  Merkmal  Davidischer  Abstammung  müsse  bei 
ihm  zugetroffen  haben,  und  mehr  ab  Eine  Feder  sich  in 
Bewegung  setste,  am  durch  genealogische  Nachweisnng 
dieses  Merkmals  seine  Anerkennung  als  Messias  au  recht- 
fertigen *)• 


andere  hergegangen  «ei,  welche  dieser  vielfach  verunreinigten1 
und  in  ihrem  letzten  regierenden  GMede  der  ferneren  Nach- 
folge auf  dem  Throne  Davids  unwürdig  erklärten  ( Jerem.  22r 
gO)  Linie  eine  minder  befleckte,  wenn  auch  minder  berühmte! 

.  vorgezogen  habe. 

5)  Die  weiteren  Betrachtungen  über  Ursprung  und  Bedeutung 
dieser  Genealogien,  welche  sich  aus  der  Zusammenhaitung 
derselben  mit  der  Nachricht  von  Jesu  übernatürlicher  Erzeu- 
gung ergehen,  können  erst  nach  der  Untersuchung  über  diese 
lett tere  Angabe  folgen. 


Drittes    Kapitel. 

Vcrkttadigong  der  Empftiigiiiss  Jem;  des- 
sen übernatürliche  Erzeugung;  Besuch  der 

Maria  bei  Blteabei. 


s.  ts. 


Abriet  der  Tertdnedenea ,  kanonischen  und  apekryphiacbea, 

Berichte. 

In  Besug  auf  die  nächste  Herkunft  Jesu  findet  in  Me- 
tern kanonischen  and  apokryphischen  Evangelien  eine  bc~ 
deutende  Abstufung  statt,  indem  In  verschiedenen  Graden 
mehr  «der  weniger  weit  in  die  Anfange  EUrllekgegangen, 
und  diese  kflrser  oder  ausführlicher,  natürlicher  oder  ge- 
künstelter, dargestellt  werden.  Markus  and  Johannes 
netzen  die  Gebart  Jesu  als  gegeben  voraus,  and  befcutfgen 
sieh,  gefegentlieh  im  Verlauf  ihrer  Erzählungen  Maria1  als 
die  Matter  (Marc.  6,  3.)  ftnd  Joseph  als  den  Vater1  Jesu 
(Job.  1, 46.)  namhaft  na  machen.  Weiter  gehen  Matthäus 
und  Lukas  nurfck,  indem  sie  die  Entstehung  der  messia- 
nisehen  Person  Jesu  genetisch  darstellen,  seine  Gebart 
summt  den  dieselbe  vorbereitenden  Umständen  berichten. 
Unter  den  genannten  Beiden  selbst  steigt  Lukas  noch  et« 
was  höher  hinauf  als  Matthäus.  Dieser  nämlich  läfst 
Maria,  als  Verlobte  Josephs,  schwanger  befunden  werden, 
und  als  nun  hieran  ihr  Bräutigam  Anstofs  nimmt,  and 
damit  umgeht,  sie  na  entlassen,  wird  er  im  Traume  durch 
den  Engel  des  Herrn  von  dem  göttlichen  Ursprang  and 
der  hohen  Bestimmung  der  Leibesfrucht  Maria  s  vergewis- 


16S  Erster  Abschnitt. 

Sert ;  was  die  Folge  hat,  data  er  die  Maria  heirathet,  doch 
bis  cor  Gebort  Jesu  nicht  ehlich  berfihrt  (Matth.  1,  18  — 
25.)«  L*t  so  mit  bei  Matthäus  die  Schwangerschaft  der 
Maria  eine  vorgefundene  and  erst  naohtrlgiich  durch  den 
Engel  gerechtfertigte:  so  wird  dieselbe  bei  Lokas  durch 
fiioe  himmlische  Erscbeinong  bevorwortet  und  angekündigt 
Derselbe  Gabriel ,  welcher  dem  Zacharias  die  Gebort  des 
Johannes  angesagt  hatte,  kündigt  nun  auch  der  mit  Joseph 
verlobten  Maria  ihre  durch  göttliohe  Kraft  so  bewirkende 
Schwangerschaft  an ;  worauf  die  künftige  Mutter  des  Mes- 
sias mit  der  schwangeren  Mutter  des  Vorläufers  auf  be- 
deutungsvolle Weise  Eusammen  trifft,  ond  ihre  Empfindun- 
gen in  hymnischer  Form  mit  derselben  tauscht  (Luc  1, 26 
— 50.)'  Nahmen  Matthäus  und  Lokas  wenigstens  das  Ver- 
hältnils «wischen  Maria  ond  Joseph  als  gegebenes:  so  su- 
chen apokryphische  Evangelien,  namentlich  das  ProtevaMr 
geliim  Jacobi  ond  das  Evangelium  de  nativitate  Mariae  % 
mit. deren  Inhalte  auch  Kirchenväter  thetl weise  auaamneit» 
stimmen,  seihst  jenes  Verhältnifs  in  seiner  Entstehung  dar- 
anstellen;  ja,  sie  gehen  sogar  bis  cur  Geburt  der  Maria 
anrdck,  welcher  sie  eine  ähnliche  Vorausverkfindiguog, 
wieij&iüias  der  Gebort  des  Täufers  ond  Jesu,  voraoaohi- 
eken,nr>Wie  die  Geburtsgescbichte  des  Johannes  bei  Lokas 
vorzugsweise  der  des  Samoel  ond  Simson  im  A.  T. :  so 
ist  nun  die  Geburtsgeschichte  der  Maria  in  den  genannten 
Apokryphen  der  des  Täufers,  sammt  jenen  A.  T.  liehen, 
nachgebildet» 

Joachim,  so  lautet  die  apokryphische  Erzählung,  ond 
Anna  (wie  Samuels  Motter  hiefs2))  fühlen  sich  ungldok- 


1)  Fabucius,  Codex  apocryphus  N.  T.  1,  p.  19  ff.  66  ff. ;  Thilo, 
1,  p.  161  ff.  319  ff. 

2)  An  diese  fand  sich  schon  Gregor  von  Nyssa  oder  sein  Inter- 
polator  durch  die  apokryphitche  Anna  erinnert,  wenn  er  von 
ihr  Mgt:  Mifmrat  rolrur  *A  evrq  xd  n$£  rtji  ftiftQOf  tS  ZapmjJt. 
Jurmtora  n,  r.  L  bei  FlBiucnJf,  1,  p.  6. 


.1 


Drittes  Kapitel.    fc/IS.  18t 

lieh  in  lenger  kinderloser  Ehe  (wie  die  Utero  des  Joban* 
see):  de  erseheint  ihnen  beiden  (wie  Simsens  filtern)  an 
varsebiedenen  Orten  ein  Engel,  nnd  verhelfst  ihnen  ein 
Kind ,  die  tioftesgebirerin ,  Welche  (wie  der  Täufer)  von 
dem  Engel  einer  naeirüschen  Lebensweise  bestimmt  wird, 
b  firffher  Kindheit  wird  nun  Maria  (wie  Semnel)  ron  ih- 
ren Bitern  in  den  Tempel  gebrannt,  wo  sie  ron  Engeln 
besucht  nnd  gespeiet,  auch  göttlicher  Anschauungen  ge- 
wirdigt,  bis  mm  awtlften  Jahre  verwelk.  Mit  den  Jah- 
ren der  Mannbarkeit  soll  sie  ans  dem  Tempel  entfernt 
werden,  nnd  Aber  ihre  weitere  Versorgung  nnd  Bestim- 
mung wird  dem  Hohenpriester  das  Orakel  an  Theil,  dafs 
—  zufolge  der  Weissagung  Jes.  11,  lf«:  effredietur  virga 
de  radice  Jesse,  et  fios  de  radice  ejus  ascendet,  et  re» 
quiescet  super  eum  Spiritus  Domini  —  alle  der  Familie 
Davids  ungehörige,  heirathf fthige ,  nnverehliebte  Männer 
nach  der  einen  *) ,  oder  alle  Wittwer  im  Volke  nach  der 
andern  Eraählung  *) ,  ihre  Stäbe  herbeibringen  sollten, 
and  an  wessen  Stabe  sich  (wie  am  Stabe  Aarons  4.  Mos» 
17.)  ein  Zeichen  ereigne,  nämlich  das  in  der  angeführten 
Prophetenstelle,  rerheifsene,  der  solle  die  Maria  an  sieh 
nehmen.  Dieses  Zeichen  ereignete  sieh  an  <dem  Stabe  Jo- 
sephs, indem  ans  demselben,  gans  naeh  dem  Orakel,  eine 
Blume  hervorspro&te  und  eine  Taube  sich  auf  die  Spitae 
desselben  setste').  Joseph  war  naeh  den  Apokryphen 
und  Kirchenvätern  schon  alt6);  doch  findet  der  Unterschied 


X)  Evang.  de  nativ.  Mar.  c.  7 :  cuncto*  de  dem*  et  famttim  Dm- 
vtd  nuptid  KaHlei,  nen  amjugatos. 

4)  Protev.  Jac.  C.  8  5  r«;  j^fttvorraf  r«  lan. 

$)  So  im  Evang.  de  nativ.  Marias  c.  7  11.  8  >    etwa»  anders  im 
Protev.  Jac.  c.  9. 

6)  Protev.  c.  9 :  n^Mßvn^.    Evang.  de  nativ1.  Mar.  8 :  grandaems. 

Epiphan.  adv.  haeres.  78,  8:  lafißuvti  rqy  Mqtfap  £740; ,  mazayw 


194  Erster  Abschnitt 

statt,  dsft  nach  dem  Ewuuj.  de  nativ.  Maria*)  unertfchtet 
des  von  Maria  vorgewendeten  Keusohheitsgelttbdes  und 
der  Weigerung  dee  Joseph  wegen  seines  Alters,  dennoch 
anf  priesterliches  Gebells  eine  wirkliche  Verlobung  und 
spftter  eine  fleirath  eintritt  (welche  freilieh  im  Sinne  des 
Verfassers  ohne  Zweifel  eine  keusche  blieb) ;  wogegen  es 
dem  Protevang.  Jacobi  eufolge  gleich  von  Anfang  an  gar 
nicht  auf  Verlobung  und  Ehe,  sondern  nur  auf  Behütang 
der  Jungfrau  durch  den  Joseph  abgesehen  scheint  7)9  und 
dieser  noch  bei  der  Reise  nach  Bethlehem  zweifelt,  ob  er 
sie  als  seine  Toohter  oder  Frau  einschreiben  lassen  solle, 
weil  er  durch  das  letztere,  des  AJtersverhältnisses  wegen, 
lächerlich  su  werden  furchtet6);  wie  auch,  wo  bei  Mat- 
thäus Maria  rj  yvrrj  des  Joseph  heifst,  das  Apokryphum  sie 
versichtig  nur  als  77  nalg  bezeichnet,  und  selbst  das  Tiaga- 
Xaßelv  gerne  vermeidet,  oder  mit  diccqtvkal-ai  vertauscht, 
womit  auch  manche  Kirchenväter  zusammenstimmen  *)•  In 
Josephs  Haus  aufgenommen,  erhält  nun  nach  dem  Prot- 
evangeUum  Maria  mit  mehreren  Jungfrauen  den  Auftrag, 
Zeug  zum  Tempelvorhang  su  verfertigen,  wobei  ihr  durch 
das  Loos  die  Bearbeitung  des  Purpurs  zu  Theil  wird. 
Während  indefs  Joseph  in  Geschäften  abwesend  ist,  be- 
kommt Maria  den  Besuch  des  Engels;  Joseph,  bei  seiner 
Rückkehr,  findet  sie  schwanger,  und  stellt  sie,  nicht  als 
Bräutigam,  sondern  als  verantwortlicher  Ehrenwächter, 
nur  Bede;  sie  aber  hat  die  Worte  des  Engels  vergessen, 
und  betheuert,  die  Ursache  ihrer  Schwangerschaft  nicht 
zn  wissen«  Indem  nun*  Joseph  damit  umgeht,  Maria  «ei- 
ner Obhut  heimlich  zu  entlassen,  wird  ihm  im  Traume 


7)  Traptiaß*  atmpr  «2;  nj^jar  «caurj.  a  9*    Vergi  dagegen  Kvang. 
de  nativ.  Mar.  c.  8  u.  10. 

8)  Frotev.  Jic.  c.  17. 

9)  C.  14.  f.  die  Varianten  bei  Thilo,  p.  227.    Die  Stellen  der 
Kirchenvater  bei  detns.  S.  365.  not. 


t 

I 


Drittes  Kapitel.  . $*  Ä  IM 

durah  den  Engel  der  ^beruhigende  Aufrchlafa  an  Theil. 
Als  die  Sache  vor  die  Priester  kequat,  müssen  beide  we- 
gen das  Verdachts  der  Onkeuachheit  des  vdwq  zfjg  iteygmg 
trinken;  werden  aber,  da  sie  durch  dasselbe  unbeschädigt 
hhüben,  firei  gesprochen;}  worauf  die  Sehataung  und  Jesu 
Geburt  folgt  ")• 

Wie  diese  apekryphioehen  Ernähtungeu  längere  Zeit 
in  der  Kirche  für  historisch  gehalten,  and  gleich  den  Be- 
liebten der  kanonischen  Evangelien  vom  eupranaturalisti» 
sehen  Standpunkt  ans  anf  wanderhafte  Weise  erklärt  wur- 
den: so  haben  sie  in  neuerer  Zeit  auch  das  Loos  der  na« 
tirlieben  Erklärung  mit  den  N.  T.lichea  Erzählungen  thet* 
ien  aussen«  War  nämlich  in  der  älteren  Kirche  der  Wun- 
derglaube so  überschwänglich  stark ,  dafii  er  auch  noch 
Aber  das  N.  T.  hinaus  für  apokryphische  Ersählungen 
■■reichte,  und  über  deren  offenbar  unhistoriaehen  Charak- 
ter rerblendete:  so  war  in  einzelnen  Herolden  der  neue* 
ven  Aufklärung  der  rationalistische  Pragmatismus  so  tiber- 
kräftig, dafs  sie,  wie  a.  B.  der  Verfasser  der  natürlichen 
Geschichte  des  greisen  Propheten  ven  Nasaret ,  denselben 
sogar  den  apekryphischen  Mirakeln  gewachsen  glaubten; 
we&wegea  der  genannte  Verf.  getrost  auch  die  Erzählun- 
gen von  der  Abkunft  und  Jugend  der  Maria,  natürlich 
gedeutet,  in  den  Kreis  seiner  Darstellung  aufgenommen 
hat lr).  Wenn  man  in  unsern  Tagen  mit  der  Einsicht  in 
den  fabelhaften  .Charakter  solcher  Ernählnngen  sowohl  anf 
jene  Kirchenväter,^  *1*  ftöf  diese  natürlichen  Erklärer  her- 
shbliekt:  so  hat  man  hiesu  insofern  «war  ein  Recht,  als 
an  den  appkryphischen  Berichten  auch  hier  jener  Charak- 
ter nur  bei  grober  Unkunde  sn  verkennen  ist;  näher  an- 
gesehen jedoch  neigt  sieh  ihr  Unterschied  ron  den  kanoni- 


10)  So  im  Proiev.  Jac.  e.  10  — 16.    Weniger  chartkteristuch  im 

Evaog,  de  nativ.  Mar.  c.  8— 10. 
il)  lter  Band,  S.  119  ff. 


168  Erster  Abschnitt. 

ROekkehr  nimmt  Joseph  an  der .  entdeckten  Schwanger- 
schaft Anstoß  (Mattbfio*) ;  worauf  4)  aneh  ihm  eine  Bn- 
gelerscheinang  an  TheU  Wird  (dert .)  *)• 

Allein  diese  Stellnag  der  Begebenheiten  hat,  wie  schon 
von  Schlbimmachm  bemerkt  worden  ist  *)>  *W  Bedenk* 
liebes,  und  es  scheint,  was  der  eine  Evangelist  ernfihlt,  da« 
Tom  'andern  Berichtete  nicht  nnr  nicht  voranasaaetnoa, 
sondern  sogar  auscoschliefsen.  Denn  fürs  Erste  ist  da» 
Benehmen  des  dem  Joseph  erscheinenden  Engels  eehwnr 
erklärlich ,  wenn  er  oder  ein  anderer  sehen  früher  der 
Maria  .erschienen' war.  Jener  nämlich  (bei  Matthftna) 
spricht  gans  so ,  wie  wenn  sein  -Erscheinen  das  erste  in 
dieser  Sache  wire  4) :  er  weist  nicht  auf  eine  der  Maria 
früher  an  Theil  gewordene  Botschaft  nnrück;  er  macht 
dem  Joseph  keinen  Vorwurf,  dafs  er  dieser  nicht  geglaubt 
habe;  besonders  aber,  dafs  er  den  Namen  des  an  erwar- 
tenden Kindes,  mit  ausführlicher  Begründung  dieser  Be- 
nennung, dem  Joseph  an  die  Hand  gibt  (Mattb.  1,  21.), 
wäre  gans  überflüssig  gewesen,  bitte  (nach  Luc.  1,  31.) 
der  Engel  bereits  der  Maria  diesen  Namen  angezeigt  ge- 
habt. 

Doch  noch  unbegreiflicher  wird  bei  dieser  Stellung 
der  Sache  das  Benehmen  der  beiden   Verlobten.     Hatte 


2)  So  Paulus,  exeget.  Handb.  1,  a.  S.  145  ff.  Olshauskiv,  Gomm. 
1,  142  ff.    Fritzschb,  Comm.  in  Matth.  p.  56. 

3)  lieber  die  Schriften  des  Lukas,  S.  42f*  Vergl.  ds  Wbttb, 
exeg.  Handbuch,  1,  1,  S.  18. 

4)  Durch  Keckheit  den  Mangel  an  Evidenz  ersetzend,  sagt 
hier  Homsuni:  „Das*  —  die  einzelnen  Berichte  —  Keine 
Einschiebung  dulden,  ist  geradezu  falsch.  Denn  Matthäus 
referirt  so,  dass  man  recht  deutlich  die  Zusammenziehung 
weitläufigerer  Nachrichten  wahrnimmt.  Die  erste  Engelsver- 
kündigung Hess  er  weg,  weil  ihm  die  zweite  genügte,  und  er 
sich,  an  Juden  schreibend,  durchweg  mehr  mit  dem  beschäf- 
tigen musste,  was  den  Joseph  betraf"  u.  s.  f.  S.  174. 


Dritten  Kapit ei.    f.  94.  IS» 

lhrh  eine  EngderscbeSnung ,  welche  ihr  efafte  berorste- 
hoswlo  Schwangerschaft  ohne  Zuthun  des  Joseph  ankün- 
digte: wu  hatte  eine  aartffcUende  Braut  Eiligeres  sn 
das,  als  die  erhaltene  himmlische  Botschaft  dem  Brintf- 
pn  mitentheÜen,  um  einer  beschämenden  Entdeckung 
ihres  Znstandes  dnreh  Andere  nnd  einem  schlimmen  Vor- 
daahte  des  Bräutigams  smvorsokommenf  Aber  gerade 
saf  Jene  Entdeckung*  deroh  Andere  läftt  es  Maria  ankom^ 
mse,  nnd  fährt  dadnreh  diesen  Ifardaeht  herbei;  denn 
dale  das  svQÜhf  h  yaggl  t%Böa  (Matthw  1,  18. )  eine  Ent- 
deekung  ganu  ebne  Zuthun  der  Maria  bedeutet,  ist  klar, 
nnd  ebenso,  da»  aneh  Joseph  nur  anf  diese  Weise  ihren 
Znstand  in  Erfahrung  bringt,  da  Ja  sein  Benehmen  air 
Felge  jenes  evghnmadm  durgestelit  wird«  Das  Rithsel 
einee  solchen  Benehmens  von  Seiten  der  Maria  hat  schon' 
das  apekryphiscbe  Protetxmffelkm  Jaeobi  gefühlt,  and  anf 
die  ftr  den  supranaturalistischen  Standpunkt  vielleicht  fol- 
gerechteste Weise  sn  lösen  versucht  Erinnerte  sieh  Ma- 
ria noch  —  anf  diesem  Schlosse  beruht  die  sinnreiche 
Darstellung  des  Apokryphums  —  an  den  Inhalt  der  himm- 
lischen Betschall:  so  mnfste  sie  denselben  auch  dem 
Joseph  mittbeilen ;  da  sie  diefs,  nach  Josephs  Benehmen 
ms  schlief sen,  nicht  gethan  an  haben  scheint:  so  bleibt 
nar  die  Annahme  übrig,  dals  jene ,  in  erhöhtem  Gemfiths- 
anstände  ihr  sn  Theil  gewordene,  gebeimnifsvolle  Erftff» 
naag  nachher  wieder  ans  ihrem  Gedächtnisse  verschwand, 
nad  sie  selbst  die  wahre  Ursache  ihrer  Schwangerschaft 
nmht  kannte  *).  In  der  That  bleibt  anf  diesem  Standpunkte 
ftr  den  gegenwärtigen  Fall  kaum  etwas  Andres  übrig,  als 
sich  in  das  Wonderbare  und  Unbegreifliche  sn  flüchten ; 


$)  Frotev.  Jac.  C.  12  :  Maqtvp  #t  hrtZd^rro  x&r  puetrfurj  Zy  rfvr« 
*to«  avrijr  raßqujl.  Als  sie  daher  von  Joseph  zur  Rede  gestellt 
wird,  versichert  sie  ihn  mit  Thränen :  }  ymoomt,  noStr  J?l  riro 
ro  hr  r§  jo?Qt  /**.     c«  15. 


1*0  Erster  Abschnitt' 

denn  die  Verwiche,  welch*  neuere  Theologen  deaeelban 
Staudpunktes  gemacht  haben ,  da«  Schweigen  der  Mar» 
gegen  Joseph  au  erklären ,  und  sogar  noch  einen  rortreffi» 
lieben  Charakteraug  darin  an  finden ,  sind  ebenso  kacke 
als  mifsratbene  Bemahttngen ,  ans  der  Notb  eine  Tagend 
se  machen.  Nach  Hess  *)  mnfs  es  die  Maria  sieht  wen££ 
Selbstverleugnung  gekostet  haben,  dem  Joseph  die  Mkthei- 
long  des  Engels  an  verschweigen,  und  nun  muls  diese 
Zurückhaltung  für  ein  Zeichen  ihres  starken  Vertrauen* 
auf  Gott  in  dieser  nur  dir  und  ihm  bekannten  Angelegen* 
beit  halten.  Nicht  umsonst  nämlich,  dachte  sie  ohne  Zwei- 
fel, ist  diese  Erscheinung  nur  mir  allein  m  Theii  gewe»> 
den;  sollte  auch  Joseph  schon  fetet  davon  erfahren,  se 
würde  der  Engel  auch  ihm  erschienen  sein  (wellte  Jeder, 
dem  eine  höhere  Offenbarung  nu  Theii  wird ,  so  denken, 
wie  vieler  besonderen  Offenbarungen  bedttrfte  es  dann?); 
ferner:  es  ist  die  Sache  Gottes ,  ihm  habe  ich  es  also  nu 
fiberlassen,  auch  den  Joseph  nu  fiberseogen  (Grundsata 
der  Trägheit).  Dem  stimmt  auch  Olshjujsb»  bei,  und  setnt 
nur  noch  seine  allgemeine  Lieblingsbemerkung  binnu,  daft 
auf  so  au&erordentliohe  Ereignisse  der  Mafsstab  der  ge* 
meinen  Weltverhältnisse  keine  Anwendung  finde :  eine  Ka- 
tegorie ,  unter  welche  hier  sehr  wesentliche  Rücksichten 
der  Zartheit  und  Sebkkliehkeit  geworfen  sind. 

Mehr  vom  Standpunkte  der  natürlichen  Erklärung 
aus  sucht  das  Evangelium  de  natwüate  Marias  ') ,  und 
nach  ihm  unter  den  Neueren  e«  B.  der  Verfasser  der  na- 
türlichen Geschichte  des  grofsen  Propheten  von  Nanaret, 


6)  Geschichte  der  drei  letzten  Lebensjahre  Jesu  u.  s.  w.  1.  Tbl. 
S.  36 f.  Vergl,  Homuunf,  S.  176  f.,  der  auch  hier  nicht  bei 
der  Defensive  stehen  bleibt,  sondern  et  geradezn  vorschnell 
ond  gegen  alle  bräutliche  Sittsam^eit  findet,  wenn  Maria 
ihrem  Verlobten  von  der  Engeltbotschaft  getagt  hätte! 

7)  C.  8  -  10. 


Drittel  K«pit«l.   fil  1§1 

das  Stillschweigen  dar  Mari*  durch  Voraussetzung  einer 
Entfernung  des  Joseph  von  dem  Wohnorte  seiner  Brant 
Zeit  der  himmlli eben  Botschaft  an  erklären.  Ihnen 
ifelge  ist  nämlich  Maria  ans  Nazaret,  Joseph  aber  «us 
Bethlehem,  wehin  er  naeh  eingegangenem  Verlöbnisse  sieh 
Doeh  eiiMaal  begab,  nnd  erst  naeh  drei  Monaten  zurfiek* 
kam  ,  wo  er  dann  die  in  der  Zwischenzeit  eingetretene 
Schwangerschaft  der  Maria  entdeckte.  Allein  die  ange- 
nomzeene  Verschiedenheit  des  Wohnorts  von  Maria  nnd 
Jeeeph  ist,  wie  wir  unten  sehen,  werden,  ohne  allen  Grund 
in  den  kanonischen  Evangelien,  und  damit  wird  diese 
ganze  Auskunft  na  nichte*  Ohne  eine  solche  Vor- 
aussetzung könnte  man  Tön  demselben  Standpunkte  natflr« 
lieber  Erklärung  aus  das  Stillschweigen  der  Maria  gegen 
Joseph  vielleicht  dadurch  begreiflich  machen  wollen,  dafe 
man  sie  durch  Verschämtheit  abgehalten  dichte,  einen  so 
leicht  dem  Verdacht  ausgesetzten  Zustand  einzugestehen. 
Allein  wer  von  dem  Göttlichen  in  der  Sache  so  fest  Aber* 
sengt  war,  und  sich  in  die  geheimnisvolle  Bestimmung 
bereits  so  verständig  gefunden  hatte,  wie  Maria  (Luc*  1,38.), 
dem  kennte  durch  kleinlichte  Rücksichten  falscher  Scham 
die  Zunge  unmöglich  gebunden  sein. 

Daher  haben  die  Erklärer ,  um  den  Charakter  der 
Maria  au  retten,  ohne  jedoch  dem  des  Joseph  au  nahe  au 
treten,  sich  bewogen  gefunden,  eine  von  Maria  dem  Joseph 
gemachte  Mittheilung,  wiewohl  verspätet,  um  seinen  Un- 
glauben erklärlich  au  finden,  vorauszusetzen«  Aehnlich 
wie  das  suietst  genannte  Apokryph  um  aogen  sie  eine  Reise, 
aber  nicht  des  Joseph,  sondern  die  von  Lukas  gemeldete 
der  Maria  au  Slisabet,  herein,  um  die  Verzögerung  der 
Mittheilung  au  erklären*  Vor  dieser  Reise,  meint  Paulus, 
entdeckte  sich  Maria  dem  Joseph  nicht:  wahrscheinlich 
wollte  sie  sich  erst  mit  der  älteren  Freundin  besprechen, 
wie  sie  sieh  demselben  eröffnen  solle,  und  ob  sie,  als  Mut- 
ter dea  Messias,  sich  Oberhaupt  verheirathen  dürfet    Erst 


19*  Erster  Aj>&ehnitt 

ab  sie  BwrÄckkomint,  Ififat  sie,  yermnthlfeh  dareh  Andern,  a« 
dem  Joseph  bedeuten ,  wie  es  ort  sie  stehe,  und  was  ftr  m 
Verheifsungen  sie  empfangen  habe*  Den  Joseph  aber  fand  ^ 
dieser  erste  Eindrnek  nicht  gehörig  gestimmt  «nd  Torbe-  m 
reitet;  er  ging  mit  allerlei  Gedanken  tun,  sehwankte  awi-  fc 
sehen  Verdacht  und  Hoffnung,  bie  endlieh  ein  Tmnm  ent»  a 
seheidend  wurde  *).  Allein  hier  ist  erstlich  der  Reise  Ma-  f 
ria's  eine  Bedeutung  untergelegt,  welche  derselben  in  der 
Ernfibiung  des  Lukas  fremd  ist.  Nicht  um  steh  bei  ihr  . 
Raths  su  erholen,  sondern  um  sieh  des  vom  Engel  gege- 
benen Zeichens  su  versichern,  wandert  Maria  bu  EHsabef, 
und  keine  durch  die  Freundin  bu  beschwichtigende  Unruhe, 
sondern  stolce,  durch  keinerlei  Hfteksieht  yerkflmaMrto 
Freude  spricht  aus  ihren  Heden  bu  der  künftigen  Mutter 
des  Verlffufers.  Ueberdiefs  aber  kann  ein  so  verspätete» 
Qeständnils  die  Maria  nicht  einmal  rechtfertigen*    Weicht» 


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8)  Paulus,  ezeg.  Handb.  f,  a,  S.  121«  145.  Auch  Hoffmauh  fasst  * 
jene  Reise  so:  „Die  freiwillige  dreimonatliche  Entfernung  der  * 
Maria  versteht  sich  einfach  aus  den  Wunsche,  sich  der  Mite-  t 
ren  Freundin  mitzufheilen,  in  der  Stille  die  nothige  Ruhe  \ 
und  Klarheit  wieder  su  gewinnen ,  welche  ihr  der  Anblick 
Josephs  nur  hätte  rauhen  können.  In  seiner  Gegenwart  hätte  ' 
ein  Streit  der  Empfindungen  umso  starker,  je  mehr  sie  ihn-  l 
liebte  und  achtete,  sie  Beunruhigt.  Nachher  konnte  sie  ge.  * 
fasst  und  gestärkt  ihm  Alles  entdecken,  was  vielleicht  bis  da- 
hin der  Ruf  ihm  schon  gesagt  haben  mochte« "  S.  178.  Wie  j 
modern !  man  glaubt  in  der  natürlichen  Geschichte  des  gros?-  ( 
sen  Propheten  zu  lesen.  Eigentlich  ist  die  Bewegung,  Ver- 
wirrung, Rathlosigkeit,  in  welche  man  die  Maria  auf  die  En- 
gelsbotschaft hin  versetzt,  nur  die  Wirkung  des  versteckten 
Unglaubens  der  Theologen,  Wäre  ihr  Glauhe  stark  genug, 
um  sich  fest  und  lebhaft  die  Maria  als  überzeugt  von  dem 
Uebernatürlichen  der  Empfängniss  denken  zu  können:  so 
müssten  sie  ihr  auch  eine  Über  jede  Unruhe  und  Verlegenheit 
erhabene  Sicherheit  anfühlen;  nur  weil  sie  ihren  Zweifel  auf 
Maria  übertragen,  leihen  sie  derselben  auch  ihre  Verlegenheit. 


Drittes  Kapitel.    $.  24.  IM 

Betragen' einer  Verlobton,  nach  einer  den  Bräutigam  so 
nahe  angehenden  höheren  Mittheilnng  in  einer  ao  zarten 
Angelegenheit  —  Tiefe  Meilen  weit  wegzureisen,  drei  Mo- 
nate auszubleiben,  and  hierauf  erst  durch  dritte  Personen 
dem  Bräutigam  das  nicht  mehr  zu  Verheimlichende  anste- 
cken bu  lassen ! 

Wer  daher  die  Maria  nieht  auf  eine  Weise  handeln 
lassen  will,  wie  unsre  Evangelisten  gewifs  nicht  voraus- 
setzen, dafo  sie  gehandelt  habe,  der  mufs  geradezu  anneh- 
men, sie  habe  die  Engelbotschaft  sogleioh  nach  Erhalt  der- 
selben ihrem  JBräutigam  mitgetheilt,  dieser  aber  habe  ihr 
keinen  Glauben  geschenkt  9).  —  Allein  nun  sehe  man  an, 
wie  man  mit  dem  Charakter  des  Joseph  zurechtkommen 
möge!  Auch  Hess  ist  der  Meinung,  so  wie  Joseph  die 
Maria  kennen  mufste,  hätte  er  keine  Ursache  gehabt,  ei- 
nen Zweifel  in  ihre  Aussage  eu  setzen ,  wenn«  sie  ihm  die 
gehabte  Erscheinung  mittheilte.  That  er  es  doch,  so 
seheint  diefs  ein  Mifstrauen  gegen  seine  Verlobte  voraus* 
susetzen,  das  mit  seinem  Charakter  als  avrjq  dixaiog 
(Matth.  1, 19.))  und  einen  Unglauben  an  das  Wunderbare, 
der  mit  seiner  sonstigen  Geneigtheit,  auf  Engelersoheinun- 
gen  einzugehen,  schwer  vereinbar  ist,  und  ihm  auf  keinen 
Fall  bei  der  später  ihm  selbst  zu  Theil  gewordenen  Er- 
scheinung so  ganz  ungeahndet  hingegangen  wäre. 

Da  somit  unvermeidlich  etwas  dem  Sinne  unserer 
Evangelisten,  sofern  sie  offenbar  den  Joseph  wie  die  Ma- 
fia als  reine  Charaktere  halten  wollen,  Unangemessenes 
sich  ergibt,  wenn  ihan  ihre  Erzählungen  einander  gegen- 
seitig voraussetzen  und  ergänzen  läfst :  so  darf  eben  diefs 
nicht  angenommen  werden,  sondern  ihre  Berichte  sehlies- 
sen  einander  aus.  Nieht  ist  sowohl  der  Maria  suerst, 
als  auch  dem  Joseph  hernach  ein  Engel  erschienen; 
sondern  nur    entweder  dem  einen,  oder  defe  andern 


9)  Dabin  neigt  sich  Njuhdm,  L»  J.  Gh.  S.  18. 
Das  Leben  Jesu  Me  Aufl.  L  Ba$d.  1 3 


li)4  Erster  Abschnitt. 

Theiie  kann  er  erschienen  sein :  hiemit  aber  auch 
nur  die  eine  oder  die  andre  Relation  für  historisch  ange- 
sehen werden«  Hier  könnte  man  sich  nun  nach  versehe 
denen  Rücksichten  für  die*  eine  oder  die  andere  Ersählang 
entscheiden  wollen:  man  könnte  von  rationalistischem 
Standpunkte  aus  die  Erzählung  des  Matthäus  wahrschein-' 
lieber  finden ,  weil  sich  die  Engelerscheinung  im,  Traume, 
wie  er  sie  gibt,  leichter  natürlich  erklären  lasse ;  vom  su- 
pranaturalistischen aber  die  des  Lukas,  weil  die  Art ,  wie 
hier  dem  Verdachte  gegen  die  heilige  Jungfrau  zuvorge- 
kommen wird,  gotteswürdiger  sei,  u.  dgL:  bei  genauerer 
Einsicht  jedoch  ergibt  sich,  dats  keine  von  beiden  etwas 
Wesentliches  vor  der  andern  voraus  hat.  >  Beide  enthalten 
eine  Engelerscheinung  t  sind  also  von  allen  den  Schwierig- 
keiten gedrückt,  welche,  laut  dessen,  waa  oben,  bei  Gele- 
genheit der  Verkündigung  des  Täufers,  auseinandergesetzt 
wurde,  der  Annahme  von.  Engeln  und  Erscheinungen  der- 
^selben  überhaupt  entgegenstehen ;  der  Inhalt  der  Engel- 
botschaften aber  ist,  wie  wir  bald  sehen  werden,  auf  bei- 
den Seiten  eine  Unmöglichkeit:  so  da£s  jedes  unterschei- 
dende Kriterium  verschwindet,  um  die  eine  Erzählung  zu 
verwerfen,  die  andre  aber  festzuhalten,  und  wir  uns  für 
beide  mit  Notwendigkeit  auf  den  mythischen  Standpunkt 
versetzt  sehen. 

Auf  diesem  fallen  dann  auch  von  selbst  .die  verschie- 
denen Deutungen  weg,  welche  man,  namentlich  von  Seiten 
natürlicher  Erklärer,  von  den  beiden  Eagelerseheinungen 
zu  geben  versnobt  hat.  Wenn  Paulus  die  Erscheinung 
bei  Matthäus  für  einen  natürlichen  Traum  erklärt,  bewirkt 
durch  die  vorangegangene  Mittheilung  der  Maria  über  die 
ihr  zu  Theil  gewordene  Verkündigung ,  von  welcher  Jo- 
seph gewufst  haben  müsse ,  weil  sich  nur  daraus  erkläre, 
wie  er  sieh  im  Traume  ganz  ähnliohe  Worte  könne  sagen 
lassen ,  als  früher  der  Engel  der  Maria  gesagt  hatte :  so 
beweist  vielmehr  gerade  diese  Aehnlichkeit  der  Worte  den 


Diittes  Kapitel.    }.  24.  195 

Toraosaetsdich  «weiten  Engels  mit  denen  des  ersten,  ohne 
dab  doch  in  jenen  auf  diese  Rücksicht  genommen  würde, 
dab  fliese  froheren  dabei  nicht  rorausgesetat  werden,  nnd 
äberhaopt  fällt  die  natürliche  Erklärung  dadurch  weg,  dafa 
die  Berichte  sich  als  mythische  gezeigt  haben«  Eben  die- 
ses Letztere  gilt  auch  von  der  Art,  wie  Paulus  versteckt, 
der  Verf.  der  natürlichen  Geschichte  aber  offen ,  den  eu 
Maria  eingetretenen  Engel  (bei  Lnkas)  für  einen  Menschen 
erklären;  wovon  in  der  Folge  noch  wird  die  Rede  sein  müssen. 
Nach  allem  Bisherigen  können  wir  über  den  JJr- 
sprang  der  beiden  Ersählungen  von  erschienenen  Engeln 
nur  folgendermafsen  urtheilen.  Dafs  Jesus  durch  göttliche 
Thätigkeit  in  Maria  erseugt  sei,  diefs  durfte  nicht  blofs 
durch  schwankende  Vermuthnng  gefunden,  es  mufste  klar 
und  surerläüsig  ausgesprochen  werden,  und  dann  bedurfte 
man  eines  himmlischen  Boten,  welchen  ohnehin,  wie  für 
die  Gebort  eines  Simson  und  Jobannes,  so  noch  mehr  für 
die  Geburt  des  Messias,  das  theokratische  Decorum  eu  er- 
fordern schien«  Auch  die  Worte,  deren  sich  hiebe!  die 
Engel  bedienen,  sind  «um  Theil  mit  A.  T.  liehen  Ankün- 
digungen merkwürdiger  Kinder  gleichlautend 10).    Dafs  den 


10)  1.  Mos.  17,  19.  LXX.  (An-     Matth,  1,  21 : 
Kündigung  Isasks) :  (pq   atoßtj&qg   naqalaßtXv   Ma- 
la» ZdoQCt  rj  ywri  am  riTpral  (tot  (xaju  rtjy  yuvaixa  er«  — )  rfierat 
tnor,  xal  xal&sns  ro  orojua  avrti  Se   vlov ,    xal  xalfaeis   ro  ovoua 
*Foaax.  >wra  *Iqo5y '  aurof  yaQ  otaoet  ror 

Richter  13,  $•  (Ankündigung  2aoy    avrS   &16    rar   apaorwov 

Simsons) :  «vr«y. 

xal    auroq     antrat    outan     tot 
'loQoajZ  ix  £*{<*  'Pvh^d'fu 

1.  Mos«  16 ,   11  ff,   (  Ankündi-     Luc.  1,  30  ff.  : 

gung  Isttaels) :  xai  einer  o  ayyelos  avr'ß  —  «T« 

xai  tiney  avrjj  o  ayyslos  Kvtfa  ovlbfoy  rr  yagQi,  xal  rt$n  vioyy 

l&tt  ou  er  yag^l  ?£***>    xal   re^n  xal  xaMoetg   ro  ovofta  avrti  *fy- 

Viov  xal  xaliötti  ro  wofia  avrS  o»v.     Ourog  fem  —  —  . 
ylauar4l.    Ovrot  feai  —  — • 


13 


196  Erster  Abschnitt. 

Engel  die  ein?  Ers&hlung  schon  vorläufig  der  Maria ,  die 
andere  erst  nachträglieh  dem  Joseph  erscheinen  läfst,   ist 
als  eine  Variation  der  Sage  oder  der  Bearbeitung  sn  be- 
trachten,  welche  ein  erläuterndes  Seitenstack  in  der  Ge- 
schichte der  Verkündigung  Isaaks  hat,    l.Mos.  17,  15  ff. 
verhelfst  Jehova  dem  Abraham  einen  Sohn  von  der  Sara, 
worüber  jener  sieh   des  Lachens   nicht   enthalten    kann, 
aber  wiederholt  dieselbe  Versicherung  bekommt;    18,  Iff. 
gibt  Jehova  diese  Verheifsung  unter   der  Terebinthe  au 
Mamre,  und  Sara  lacht,  wie  über  etwas  Neues  und  Uner- 
hörtes ;  endlich  21, 5  ff.  spricht  Sara  erst  nach  Isaaks  Geburt 
von  dem  Lachen  der  Leute,  das  der  Anlafs  des  Namens  Isaak 
sein  soll;  wobei  also  jene  beiden  andern  Erafihlnngen  von 
der  Vorherverkfindigung  der  Geburt  Isaaks  nicht  voraus- 
gesetst  sind  ")•    Wie  in  Beeng  auf  Isaaks  Geburt  verschie- 
dene Sagen  oder  Dichtungen  ohne  Rficksioht  auf  einander 
sich  bildeten,   einfachere  und  ausgeschmficktere:   so  auch 
Über  die  Geburt  Jesu  zwei  abweichende  Erzählungen,  von 
denen    die    bei  Matthäus  12)  einfacher  und   in   gröberem 
Style  gearbeitet  ist,  indem  sie  es  nicht  vermeidet,    wena 


11)  Vgl.  de  Wxttb,  Kritik  der  mos.  Geschichte,  8.  86  ff. 

12)  Das  nach  Matthäus  dem  Joseph  zu  Theil  gewordene  Trauinge- 
sicht hat  noch  insbesondere  eine  Art  von  Vorbild  an  demjenigen, 
welches  nach  jüdischer  Tradition,  wie  sie  sich  schon  bei  Jo- 
sephus  findet,  dem  Vater  des  Moses  in  ähnlicher  Lage,  als  er 
wegen  der  Schwangerschaft  seiner  Frau,  obwohl  aas  anderem 
Grunde,  bekümmert  war,  su  Theil  geworden  sein  soll.  Jo- 
seph. Antiq.  2,  9,  3  5  IdjuaQajutjg,  täy  €v  yBywarww  naqa  rotg  €J£fl$atotfi 
SeSuog  vneQ  rS  ncevrog  ^drsg,  fa}  OTiavei  rljt  vncTQCuprpopiYtjs  v&JrijTOt 
hrdeCnijj  xa\  ^altrtSg  ht9  cevrio  tpifttar^  hevft  yasq  avnp  ro  yvrcHoy,  hr 
a/ufjxdrotf  rtv.  Kai  itqos  txsretav  th  &sh  TQtTterai  — .  o  S*  &eos  eltq- 
aag  cri/ror,  ■—  }(pC^arai  xara  r»q  vnvtig  avrS^  xal  fOfre  anoyowoxttr 
avrov  Tre^\  rar  /jtHovrwv  na(#xaXtt  •—  —  — .  6  reale  y«£  ouroc  —  ro 
fthr  ^Rß^alutv  y*vo$  rt}$   tioq*  Aiyimrloig    avdyxtfi   anohbaei ,    pyqjtofi  & 

y  }<p*  oaav  jutvfi  /noyov  ra  aujimrrvza,  revfyxou,  7Xa(f  av&(nm<kf. 


Drittes  Kapitel.    §.  25.  197 

aach  nur  in  einem  vorübergehenden  Verdachte  des  Joseph, 
einen  Schatten  anf  die  Maria  su  werfen,  der  erst  hinten« 
nach  wieder  entfernt  wird:  wogegen  die  Darstellung  bei 
Lukas,  schon  feiner  und  kunstreicher ,  gleich  von  vorne 
herein  die  Maria  in  dem  reinen  Lichte  einer  Braut  des 
Hhnmels  zeigt13). 

lahalt  der  Engelsbotschaft.     Erfüllung  der  Weissagung  des 

Jesaias. 

* 

Der  Engel,  welcher  nach  Lukas  der  Maria  erscheint, 
spricht  zunächst  nur  davon,  daC|  Maria,  noch  unbestimmt, 
anf  welche  Weise ,  schwanger  werden ,  und  einen  Sohn 
gebären  werde,  den  sie  Jesus  nennen  solle ;  er  werde  grofs 
sein,  nnd  vlog  vtplcs  genannt  werden ;  Gott  werde  ihm  den 
Thron  seines  Ahnherrn  David  geben,  und  er  das  Haus 
Jakob  ohne  Ende  beherrschen.  Hier  ist  ganz  in  den  ge- 
wöhnlichen jüdischen  Formeln  vom  Messias  die  Rede,  und 
selbst  das  viog  vipigs  würde,  wenn  nichts  Weiteres  nach* 
kirne,  nur  in  demselben  Sinne  zu  nehmen  sein,  wie  nach 
%  Sam.  7,  14.  Ps.  2,  7.  ein  gewöhnlicher  israelitischer 
König,  also  noch  mehr  der  höchste  dieser  Könige,  der 
Messias,  auch  als  blofser  Mensch  betrachtet,  so  genannt, 
werden  konnte.  Dieses  jüdische  Reden  wirft  nachträglich, 
noch  ein  weiteres  Licht  auf  den  historischen  Werth  die* 
ser  Engelerscheinung  zurück,  indem  man  mit  Schleier»: 
hacher  sagen  muja,  dafs  schwerlich  der  wirkliche  Engel 
Gabriel  in  so  strengjüdischen  Formeln  die  Ankunft  des 
Messias  verkündigt  haben  würde  *) ;  ebendefswegen  wird 
»an  geneigt  sein,  mit  diesem  Theologen  auch  das  gegen- 
wärtige Ereählungsstüek,  wie  das  vorige,  den  Täufer  be- 


13)  Hiezii  vcrgl.   Amhoii,   Fortbildung  des  Christcnthums ,    i, 

S.  308  f. 
1)  üeber  die  Schriften  des  Lukas,  S.  23. 


199  Erster  Abschnitt. 

treffende,  einem  und  demselben  jadenchristlichen  Verfasser 
anzuschreiben.  —  Erst  als  gegen  die  Verheifsnng  eines 
Sohnes  Maria  von  ihrer  Jnngfranschaft  aas  Einwendungen 
machF,  bestimmt  der  Engel  die  Art  der  Empfängnifs  näher 
dahin,  dafs  sie  durch  den  heiligen  Geist,  durch  die  Kraft 
der  Gottheit,  bewirkt  werden  werde;  wornach  nun  anch 
die  Benennung  vlog  $e&  einen  bestimmteren  metaphysischen 
Sinn  erhält.  Zum  bestätigenden  Zeichen,  dafs  etwas  der 
Art  Gott  keineswegs  unmöglich  sei,  wird  Maria  auf  den 
Vorgang  mit  ihrer  Verwandtin  Elisabet  verwiesen ;  worauf 
sie   sieh   glaubig  in   den    göttlichen    Rathschlafs   mit    ihr 

ergibt  , 

Bei  Matthäus,  wo  die  Beschwichtigung  der  Bedenk- 
lichkeiten Josephs  die  Hauptsache  ist,  beginnt  der  Engel 
sogleich  mit  der  Eröffnung,  dafs,  wie  der  Evangelist  schon 
V*  16,  für  sich  berichtet  hatte,  das  in  Maria  erzeugte  Kind 
vom  rtvevpa  ayiov  sei,  nnd  hierauf  erst  wird  Jesu  meseia* 
niscjie  Bestimmung  durch  den  Ausdrucke  bezeichnet,  dafs 
er  sein  Volk  von  dessen  Sonden  erlösen  werde.  Klingt 
diefs  auch  anscheinend  weniger  jüdisch,  als  das,  wodoreh 
bei  Lukas  die  messianische  Stellung  des  au  gebärenden 
Kindes  ausgedrückt  war:  so  sind  doch  in  den  dfxa(nlaig 
auch  die  Strafen  derselben,  namentlich  die  Unterjochung 
des  Volks  durch  Fremde,  mitbegriffen,  so  dafs  auch  hier 
das  jüdische  Element  nicht  fehlt;  so  wie  andrerseits  in 
dem  ßaoiXevetv  bei  Lukas  das  Herrschen  über  ein  folgsja» 
mes,  gebessertes  Volk  enthalten,  also  hier  das  Höhere  nicht 
ganz  an  vermissen  ist.  Hierauf  fügt,  sei  es  der  Engel, 
oder  wahrscheinlicher  der  Erzähler,  durch  die  besonders 
bei  ihm  so  oft  wiederkehrende  Formel:  tsto  de  olov  yiyo- 
vev,  %va  TtlqQw&fj  to  (nphr  x.  t.  X.  CV.  220  e*n  A.»  T.  liehe» 
Orakel  bei,  welches  durch  diese  Art  der  Empfängnifs  Jesu 
sich  erfülle;  dafs  nämlich  nach  Jes.  7,  14.  eine  Jungfrau 
schwanger  werden  und  einen  Sohn  gebären  solle,  welchen 
man  Gottmituns  nennen  werde. 


Drittes  Kapitel.    $.  25.  199 

Der  ursprüngliche  Sinn  der  jesaiättlsehen  Stolle  ist 
neueren  Forschungen  eufolge2)  dieser.  Den  König 
Alias,  welcher  aus  Fureht  vor  den  Königen  Syriens  and 
Israels  sich  za  einem  Bande  mit  Assyrien  neigte,  will  der 
Prophet  von  dem  bald  bevorstehenden  Untergang  jener 
jetst  eo  geffirehteten  Feinde  lebhaft  versiehern,  und  sagt 
daher:  setze,  dab  eine  jetnt  noch  Unverheirathete,  die  eich 
■an  erst  in  ein  geschlechtliches  Verhältnis  einlief se  3),  ein 
Kind  empfinge;  oder  kategorisch:  eine  bestimmte  jange 
Fraa  (vielleicht  die  eigene  des  Propheten)  ist  schon  oder 
wird  schwanger  werden :  jedenfalls  werden  bis  na  der 
ttebarC  ihres  Kindes  die  politischen  Umstände  sieh  so  weit 
gebessert  haben,  dafs  man  demselben  einen  Namen  von 
guter  Vorbedentang  wird  geben  können,  and  ehe  dann 
das  Kind  in  die  Untersoheidungsjahre  getreten  sein  wird, 
werden  die  feindlichen  Mächte  gan«  vernichtet  sein.  D.  b. 
prosaisch  ausgedruckt :  ehe  neun  Monate  vergehen ,  wird 
es  sich  mit  der  Lage  des  Reiehs  schon  besser  an- 
lassen,  und  binnen  dreier  Jahre  etwa  wird  die  Gefrthr 
versehwanden  sein.  So  viel  ist  in  jedem  Falle  durch  die 
neuere  Auslegung  einleuchtend  gemacht,  dals  nur  ein  Zei- 
chen aus  der  Gegenwart  und  nächsten  Zukunft  in  den 
Verhältnissen,  wie  sie  die  Einleitung  uu  dem  Orakel  des 
Jesaias  angibt,  einen  Sinn  haben  konnte.    Wie  unpassend 


2)  Vgl-  Gssmxus  u.  Hm»  in  ihren  Commentaren  nun  Jesaia; 
Umbrbit,  über  die  Gebart  des  Immanuel  durch  eine  Jungfrau, 
in  den  tbeoL  Studien  u.  Krit.,  18 SO,  3.  Heft.  S.  541  ff. 

3)  Bei  dieser  Erklärung  verliert  der  Streit  Über  die  Bedeutung 
des  TKhv  «ein  Gewicht.  Er  dürfte  übrigens  dahin  entschie- 
den  sein,  dass  das  Wort  nicht  die  unbefleckte,  sondern  die 
mannbare  Jungfrau  bedeute  (s.  Gksikius  a.  a.  0. 2,  a,  S.  297  f.)* 
Schon  *u  Justins  Zeiten  behaupteten  die  Juden,  das  Wort  sei 
nicht  durch  na?&evosy  sondern  durch  reavn  *«  übersetzen. 
Diai.  c.  Tryph.  no.  4$.  p.  139  E.  der  fceieichaetcn  Ausgabe. 


200  Erster  Abschnitt. 

ist  die  prophetische  Rede  nach  der  Deutung  Bbnosten- 
bbrg's  *) :  so  gewifs  dereinst  noch  der  Messias  unter  dem 
Bundesvolke  von  einer  Jungfrau  geboren  werden  wird,  so 
unmöglich  ist  es,  dafs  das  Volk,  anter  welchem  er  gebo- 
ren werden,  und  die  Familie,  von  welcher  er  abstammen 
soll,  zu  Grunde  gehe.  Wie  übel  berechnet  von*  dem  Pro- 
pheten, die  Unwahrscheinliehkeit  der  nahen  Rettung  dnreh 
eine  gröfsere  Unwahrscheinliehkeit  aus  der  fernen  Zukunft 
wahrscheinlich  machen  su  wollen!  Und  dann  vollends  der 
gegebene  Termin. von  wenigen  Jahren!  Der  Sture  der 
beiden  Königreiche,  deutet  Hengstbnbkro,  soll  erfolgen  — 
nicht  in  der  Zeit  bis  nun  demnächst  der  bezeichnete  Knabe 
wirklich  in  die  Unterscheidungsjahre  treten  wird,  sondern 
—  in  so  viel  Zeit  von  jetat  an,  als  in  fernster  Zukunft 
einst  zwischen  der  Geburt  i  des  Messias  und  seiner  ersten 
Entwicklung  vergehen  wird,«  also  ungefähr  in  drei  Jahren« 
Welche  abenteuerliche  Vermengung  der  Zeiten!  Ein  Kind 
soll  geboren  werden  in  ferner  Zukunft ,  und  was  nun  ge- 
schehen  soll,  ehe  dieses  Kind  in  die  Unterscheidungsjahre 
treten  wird,  das  soll  in  die  nächste  Gegenwart  fallen« 

So  entschieden  aber  Paulus  und  seine  Partei  gegen 
Hengstenberg  und  die  Seinigen  darin  Recht  hat,  dafs  sei« 
nem  ursprünglichen  Localsinne  nach  das  Orakel  des  Jesaias 
auf  gegebene  Zeitverhältnisse,  nnd  nicht  auf  den  künftigen 
Messias,  oder  gar  auf  Jesus,  sich  beziehe:  ebenso  entschie- 
den hat  Henostenberg  gegen  Paulus  Recht,  wenn  er  dar- 
auf beharrt,  dafs  hier  bei  Matthäus  die  jesaianische  Stelle 
als  Weissagung  auf  Jesu  jungfräuliche  Geburt  genommen 
werde.  Während  nämlich  die  orthodoxen  Ausleger  in  der 
häufigen  Formel  %va  TtXqQiodij  und  ähnlichen  von  jeher  den 
Sinn  fanden :  diefs  geschah  nach  göttlicher  Veranstaltung, 
damit  die  A.  T.  liehe  Weissagung  einträfe,  mit  welcher  es 
schon  ursprünglich  auf  das  N.  T.liche  Ereignifs  abgesehen 


4)  Christologic  des  A.  T.  1.  b,  S.  47. 


Dritte«  Kapitel»    $.25.  201 

«rar,  —  so  finden  die  rationalistischen  Erklärer  nur  so 
fiel  darin :  diels  geschah  auf  eine  Weite ,  war  so  beschaf- 
fen, dafs  die  A.  T. liehen  Worte,  die  sich  ursprünglich 
swar  auf  etwas  Anderes  benogen,  sich  doch  darauf  anwen- 
den lassen ,  nnd  dadurch  erst  gleichsam  ihre  volle  Wahr« 
hsit  bekommen.  Bei  der  enteren  Dentang  ist  das  Ver- 
hlltnif»  zwischen  der  A.  T.  liehen  Stelle  nnd  dem  N.  T.lt» 
eben  Ereigniis  ein  objeetires,  von  Gott  selbst  veranstalte« 
tat  5> :  nach  der  letzteren  nur  ein  subjeetires ,  von  den» 
späteren  Schriftsteller  gefundenes ;  nach  jener  ein  genaues, 
wesentliches:  nach  dieser  ein  ungefähres,  zufälliges.  AI« 
lein  gegen  diese  letztere  Auffassung  der  N.  T.licben  Stei- 
len ,  welche  eine  A.  T.  liehe  Weissagung  als  erfüllt  nach- 
weisen, ist  ebensowohl  die  Sprache  als  der  Geist  der  N.  T.- 
licben Schriftsteller.  Die  Sprach?;  denn  weder  kann 
rüijQHO&at  in  solcher  Verbindung  etwas  Anderes  heifsen, 
sls  ratum  fieriy  eventu  comprobari ,  noch  iW,  omog,  et» 
was  Anderes,  als  eo  consüio  vi,  indem  die  verbreitete  An^ 
nähme  eines  wa  ixßcctixw  nur  aus  dogmatischer  Verlegen« 
heit  entstanden  ist  *)..  Gans  besonders  aber  ist  eine  solche 
Auslegung  dem  jadischen  Geiste  der  evangelischen  Schrift-* 
steller  zuwider.  Wenn  nämlich  Paulus  behauptet,  der 
Orientale  denke  nicht  im  Ernst,  das  Aeltere  sei  in  der; 
Absiebt  gesagt,  oder  von  Gott  defswegen  nur  Wirklichkeit 
gebracht,  damit  das  Neuere  dadurch  vorgebildet  würde, 
und  umgekehrt:  so  ist  diefs  ein  Hinübertragen  unserer 
occidentalischen  Nüchternheit  in    das  Phantasieleben   des 


5)  Die  Sache  auf  diese  Formel  gebracht,  fällt  auch  HsaesTsx- 
Bime  hieher,  ob  er  gleich  die  orthodoxe  Ansicht  (1,  a,  S.  338  ff.) 
weit  mehr  mildert,  als  auf  seinem  Standpunkte  folgerichtig 
gefunden  werden  kann. 

6)  s.  Winke,  Grammatik  des  neutest.  Sprachidioms,  3te  Aufl. 
S.  382  ff.  Fritzsghi,  Comm.  in  Matth.  p.  *9.  317.  und  Ex- 
curs.  1,  p.  836  ff. 


204  Erster  Abschnitt. 

ohne  Weitere»  zugeben  können,  dafs  sie  hier  nicht  selten 
gans  anders  gedeutet  ond  angewendet  werden,  als  sie  ur- 
sprünglich gemeint  waren» 

Wir  haben- hier  in  der  That  eine  vollständige  Tafel 
aller  Tier  über  diesen  Punkt  möglichen  Ansichten,  worun- 
ter awei  Extreme  und  ewei  Vermittlungen,  eine  falsche 
und  eine,  hoffentlich,  richtige. 

1.  Orthodoxe  Ansicht  ( Hengstenbrrg  u.  A. )• 
Dergleichen  A.  T.liche  Stellen  hatten  schon  ursprünglich  nur 
die  prophetische  Beziehung  auf  Christus ;  denn  die  N.  TJichen 
Schriftsteller  deuten  sie  so,  und  diese  müssen  Recht  haben, 
wenn  auch  der  Menschenverstand  dabei  au  Grunde  geht. 

2.  Rationalistische  Ansicht  (von  Paulus 
u.  A.)  :  Auch  die  N»  T.lichen  Schriftsteller  geben  den  A. 
T.lichen  Orakeln  jene  streng-  messianfsche  Deutung  nicht; 
denn  diese  Beziehung  ist  den  Orakeln,  verständig  angese- 
hen, ursprünglich  fremd;  mit  dem  Verstände  aber  müssen 
die  N.  T.lichen  Schriftsteller  susammenstimmen,  was  auch 
die  Altgläubigen*  dagegen  sagen  mögen. 

3.  Mystisch  vermittelnde  Ansicht  (vonOLS- 
hausen  u.  A.) :  In  den  A.  T.lichen  Stellen  liegt  ursprüng- 
lich sowohl  der  von  den  N.  T.lichen  Schriftstellern  an- 
gegebene tiefere,  als  auch  der  durch  verständige  Ansicht 
derselben  uns  aufgenöthigte  nähere  Sinn :  so  kann  sich 
gesunder  Menschenverstand  und  Altgläubigkeit  vertragen. 

4.  Entscheidung  der  Kritik:  Die  A.  TJicheiL 
Weissagungen  hatten  ursprünglich  sehr  häufig  nur  jene 
nähere  Beziehung  auf  Zeitverhältnisse:  wurden  aber  von 
den  N.  T.lichen  Männern  als  wirkliche  Propbeeeihungen 
anf  Jesus  als  den  Messias  angesehen ,  weil  der  Verstand 
in  jenen  Männern  durch  die  Denkart  ihres  Volks  be- 
schränkt war,  was  sowohl  der  Rationalismus  als  die  Alt« 
gläubigkeit  verkennt  9). 


9)  Die  ganze  rationalistische  Schriflauslcgung  beruht  auf  einem 


Dritte«  Kapitel,    J.  26.  205 

Det&gem&h  werden  wir  auch  in  Bezog  auf  das  in 
Rede  stehende  Orakel  keinen  Augenblick  anstehen,  ein- 
zuräumen, dafs  die  Beaiehnng  anf  Jesus  ihn  vom  Evan- 
gelisten aafgedrungen  ist;  ab  so,  daft  die  wirkliche  Ge- 
hart Jesu  von  einer  Jungfrau  mu  dieser  Anwendung  des 
Orakele,  oder  dafs  das  sehon  vorher  anf  den  Messias  ge- 
deutete Orakel  an  der  Annahme  einer  jungfräulichen  Ge- 
bart Jesu  Veranlassung  gab,  kann  erst  ans  dem  Folgen- 
den entschieden  werden* 

$.    26. 

Jesus  durch  den  heiligen  Geist  erzeugt.    Kritik  der  orthodoxen 

Ansicht. 

Was  die  beiden  Evangelisten ,  Matthäus  und  Lukas, 
über  die  Art  der  Erzeugung  Jesu  melden,  ist  von  den 
kirchlichen  Auslegern  jederzeit  dahin  gedeutet  worden, 
dafs  Jesus  durch  eine,  an  die  Stelle  der  männlichen  Mit- 
wirkung getretene  göttliche  Thätigkeit  in  Maria  eraeugt 
worden  sei.    Und  wirklich  hat  diese  Auslegung  den  Au- 


ziemlich  handgreiflichen  Paralogismus ,  mit  welchem  sie  steht 
und  fallt : 

Die  N.  T.  liehen  Schriftsteller  dürfen  nicht  so  ausgelegt 
werden,  als  ob  sie  etwas  Unvernünftiges  sagten  (allerdings 
nichts  ihrer  Vernunftbildung  Widersprechendes). 

Nun  wären  aber  ihre  Aussprüche  bei  einer  gewissen  Deu- 
tung unvernünftig  (nämlich  gegen  unsre  Vernunftbildung). 

Folglich  können  sie  es  nicht  so  gemeint  haben,  und  müs- 
sen anders  ausgelegt  werden,  \ 

Wer  sieht  hier  nicht  die  quaternio  terminorum  und  die 
dem  Rationalismus  tbdtliche  Inconsequeni  eines  mit  dem  Su 
pranaturalismu8  gemeinschaftlichen  Bodens,  dass  nämlich, 
während  man  bei  jedem  Andern  erst  zusieht,  ob  er  nur  Rich- 
tiges und  Wahres  rede  und  schreibe,  den  N.  T.  liehen  Män- 
nern das  Vorrecht  eingeräumt  wird ,  bei  ihnen  dieses  schon 
vorauszusetzen  ? 


206  Erster  Abschnitt. 

genschein  der  Stellen  ffir  sich,  indem  dureh  das  nqiv  ij 
owel&eiv  avtäg  (Matth.  1,  18.)  ond  das  insi  ävdqa  s  yi- 
vciöxcj  (Luc*  1,  34.)  der  Antheil  des  Joseph  und  jedes 
Mannes  überhaupt  an  der  Erzeugung  des  in  Frage  stehen* 
den  Kindes  ausgeschlossen;  dureh  das  nvffyta  clyiw  aber 
und  die  dvvccjtug  vipi^s  «war  nicht  der  heilige  Gebt  im 
kirchlichen  Sinne,  als  dritte  Person  in  der  Gottheit,  wohl 
aber,  nach  dem  A.  TJichen  Sprachgebrauehe  von  DTISkTPH, 

Gott  in  seiner  Einwirkung  auf  die  Welt ,  und  namentlich 
auf  den  Menschen,  bezeichnet;  endlich  durch  die  Aus- 
drücke iv  yccgQi  t%Baa  **  mf£v/uarog  ayl&  bei  Matthäus,  und 
iwev^a  ayiov  iTielsvaerat  tTtl  ah  x.  t.  L  bei  Lukas  deut- 
lich genug  gesagt  ist,  dafs  die  fehlende  männliche  Mit« 
Wirkung  durch  die  göttliche  Schöpferkraft  —  obwohl  nicht 
in  physischer  Art,  nach  heidnischer  Vorstellung  —  ersetzt 
werden  würde. 

Erscheint  diefs  als  die  Vorstellung,  welche  die  be- 
zeichneten evangelischen  Abschnitte  über  den  Ursprung 
des  Lebens  Jesu  geben  wollen:  so  läfst  sich  dieselbe  doch 
nicht  ohne  bedeutende  Schwierigkeiten  vollziehen.  Wir 
können  die,  so  zu  sagen,  physico -  theologischen  von  den 
exegetisch-historischen  Schwierigkeiten  unterscheiden. 

Die  physiologischen  Schwierigkeiten  laufen  darin 
zusammen,  dafs  eine  solche  Erzeugung  die  auffallendste 
Abweichung  von  allem  Naturgesetze  wäre.  So  wenig  näm- 
lich die  Physiologie  über  das  nähere  Wie  des  Hergangs 
im  Klaren  ist :  so  fest  steht  durch  eine  ausnahmlose  Erfah- 
rung die  Thatsache,  dafs  nur  durch  Zusammenwirken 
zweier  geschlechtlich  verschiedenen  menschliehen  Organis« 
men  ein  neues  Menschenleben  sich  erzeugt  *) ;   weftwegen 


1 )  In  seiner  rabulistischen  Weise  sucht  Homunr  (S.  1 87)  durch 
die  Unklarheit  jenes  Wie  das  von  demselben  ganz  unabhän- 
gige Das s  unsicher  zu  machen. 


Drittes  Kapitel.    $.26.  W7 

es  auf  den  Grand  des  Plntarohischen :  nauUo»  söt/ula  frort 
yvrrj  Uyezai  noirjaai  dl%u  xomaiiag  dvdqog  *) ,  bei  dem  Ce- 
rinthiseben  impossibile  *)  sein  Bewenden  haben  wird.  Nor 
bei  des  niedrigsten  Thiergattungen  ist  eine  Fortpflanzung 
ohne  Geschlechtsvermischung  bekannt  *),  und  so  wftre  es, 
die  Sache  Mols  physiologisch  betrachtet ,  mit  einem  ohne 
Gesehlechtsreraiischung  entstandenen  Menschen  in  der  That 
ss  dem,  wasOrigenes,  freilich  im  Sinne  des  höchsten  Supra- 
saturalismus,  sagt,  daft  die  Worte  Ps.  22,  7. :  ich  bin  ein 
Warm  and  kein  Mensch ,  —  eine  Weissagung  anf  Jesnm 
iasofern  seien,  als  aneh  er,  wie  diefs  bei  Würmern  sich 
lade  (ohne  jene  Vermischung)  entstanden  sei  *)•  Doch 
sa  der  blofs  physiologischen  Betrachtungsweise  bringt 
schon  der  Engel  bei  Lukas  die  theologische  hinan, 
indem  er  sich  (1,  37.)  anf  die  göttliche  Allmacht  beruft, 
welcher  kein  Ding  unmöglich  sei.  Allein  da  die  göttliche 
Allmacht  vermöge  ihrer  Einheit  mit  der  göttlichen  Weis- 
heit nie  ohne  zureichende  Gründe  wirkt:  so  möfste  sich 
auch  hier  ein  solcher  nachweisen  lassen.  Ein  genügender 
Grund  aber  aur  Suspension  eines  selbstgegebenen  Natur- 
gesetzes könnte  für  Gott  nur  darin  liegen,  dafs  «ur  Er- 
reichung gottes würdiger  Zwecke  jene  Abweichung  vom  Na* 
turgesetse  nothwendig  wäre«  Nun  sagt  man  hier :  der  Zweck 
der  Erlösung  forderte  Jesu  Unsündlichkeit;  um  aber  un- 
sftndlich  tein  au  können ,  mnfste  Jesus  durch  Entfernung 
des  Antheil*  eines  sündhaften  Vaters  und  einen  göttlichen 


2)  Conjugial«  praecept.  Opp.  ed.  Hütten,  Vol.  7.  S.  428. 

3)  Irenaeus  adr.  haer.  1 ,  26 :  Cerinthus  Jesum  subjedt  tum  ex 
vtrgine  natum,  Unposstöile  entm  hoc  ei  Visum  est. 

4)  Worauf  sich  wirklich  eine  Abhandlung  in  Hsirafs  neuem 
Magazin,  3,  3,  S.  369.  beruft. 

5)  Homil.  in  Lucam  14.  Gegen  die  Berufung  auf  die,  gleichfalls 
ohne  Geschlechtsverkehr  entstandenen,  ersten  Menschen  vergl. 
meine  Streitschriften,  1,  2,  S.  72  f. 


206  Erster  Abschnitt. 

JSinflnfs  auf  seine  Erzeugung  ans  dem  Zusammenhang  der 
Erbsünde  herausgenommen  «ein-  6).  Allein,  wie  auch  sonst 
schon  bemerkt  7)>  neuesfcens  aber  von  Schlkiermacher  auf 
eine  die  Sache  von  dieser  Seite  absehliefsende  Weise  ge- 
zeigt worden  ist  8),  so  war  hieen  die  Ausschliefamg  blofs 
des  väterlichen  Antheils  nicht  hinreichend,  wenn  nicht 
auch  der,  gleichfalls  Sonde  fortpflanzende,  mütterliche, 
etwa  durch  die  Valentinische  •  Behauptung  eines  blofeen 
•Durchgangs  Christi  durch  Maria,  entfernt  wird.  Bleibt 
nun  aber  der  mütterliche  Antheii  nach  den  evangelischen 
Berichten  offenbar  stehen:  so  müssen  wir,  am  doch  die 
voranssetelieh  nothwendige  Dnsfindlichkeit  herraustrobe» 
kommen,  eine  göttliche  Thätigkeit  annehmen,  welche  den 
Antheii  der  sündhaften  menschlichen  Matter  bei  der  Er* 
Beugung  Jesu  heiligte.  Nahm  aber  Gott  mit  dem  stehen* 
bleibenden  mütterlichen  Antheii  eine  solche  Reinigung  vor, 
so  lag  es  näher,  dasselbe  auch  mit  dem  männlichen  cu 
than,  als  durch  gänzliche  Ausschließung  desselben  das  Ma- 
turgesetz auf  so  anerhörte  Weise  zu  durchbrechen :  and 
es  iäfst  sich  somit  die  vaterlose  Erzeugung  Jesu  nicht  als 
notwendiges  Mittel  zum  Zwecke  seiner  Unsündliehkeit 
behaupten. 

Doch  wer  auch  über  die  bisher  vorgetragenen  Schwie* 
rigkeiten  sich  hinüberhelfen  zu  können  glaubt,  indem  er 
sich  in  einen  für  Vernunftgründe  und  Maturgesetze  nnzu* 
gänglichen  Supranaturalismus  hüllt,  dem  müssen  doch 
die    auf    seinem  eigenen  N.  T.liohen    Boden    gelegenen, 


6)  t.  Olshaüskn  a.  a.  0.  S.  48.  Niawdir  ,  L.  J.  Gh. ,  S.  16  f. 
Dem  Versuche  Bauer'»,  Jahrbücher  f.  wiss.  Krit.,  1835,  Dec, 
No.  111  f.,  dieses  Argument  höher  und  speculativer  zu  fassen, 
habe  ich  in  meinen  Streitschriften,  1,  3,  S.  104  ff.,  seine  Ver- 
wirrung nachgewiesen. 

7)  z.  B.  von  Eichhorn,  Einleitung  in  das  N.  T.  1.  Bd.  S.  407. 

8)  Glaubenslehre,  2.  Thl.  $.  97.  S.  73  f.  der  zweiten  Auflage. 


Drittes  Kapitel«    S.  M.  900 

exegetisch  -  historischen  Schwierigkeiten  bedenk* 
Heb  «ein,  welche  gleichfalls  die  Ansteht  von  eine*  Ober» 
natürlichen  Enengung  Jesu  drflekcn.     In   keiner  andern 
Stelle  des    N.  T.  nimlioh,  auber  den  beiden  Kindbeits* 
ersagelien  bei  Blatthlas  nnd  Lukas,   wird  von  einem  sei« 
dm  ürspmnge  Jesu  gesproehen  9  oder  anch  nur  deutlich 
anf  denselben  hingewiesen  *)•     Nicht  allein  Markus  lifst 
im  Emeugungsgeschichte  weg>   sondern  auch  der  veraus* 
sttsliche  Verfasser  des  vierten  Evangeliums,  Johannes»  der, 
ab  angeblicher  Hausgenosse  der  Mutter  Jesu  nach  dessen 
Tode,  am  genauesten  ober  diese  Verhältnisse  unterrichtet 
«ein  aufirte.    Man  sagt:  er  wollte  mehr  die  himmlische 
tis  die  irdische  Herkunft  Jesu  berichten;  aber  es  fragt 
sich  eben,  ob  mit  seiner  im  Prologe  ausgesprochenen  Lehre 
ron  einer,  wirklich  in  Je%a  .fleischgewordenen  und  ihm 
immanent  gebliebenen,  göttlichen  Hypostase  die  in  unsevn 
8teüen  liegende  Ansicht  Ton  einer  bto&en ,  seine  Erneu* 
gang  bedingenden,  göttlichen  Einwirkung  yertr&glieh  sei, 
eb  er  also   die  Erzeugungsgeschichte   des  Matthäus  und 
Lukas  habe  voraussetzen  können?     Da  jedoch  dieser  Ein- 
wand so  lange  keine  entscheidende  Kraft  hat,  bis  sich  ans 
im  Verfolg  unsrer  Untersuchung  der  apostolische  Ursprung 
ie$  vierten  Evangeliums  bewährt   haben. wird:   so  kommt 
hauptsächlich  diefs  in  Betracht,  dafs  auch   im  weiteren 
Verlaufe  nicht  biofs  des  Markus-   und  Johannes- Evange- 
Hums,  sondern  auch  des  Matthäus  und  Lukas  selbst,  keine 
räekweieende  Hindeutung   auf  diese  Art   der  Erzeugung 


9)  Diese  Seite  findet  sich  besonders  hervorgekehrt  in  der  Skia-, 
graphie  des  Dogma's  von  Jesu  übernatürlicher  Geburt,  in 
Schmidt'*  Bibliothek  1 ,  3 ,  S.  400  ff. ;  in  den  Bemerkungen 
über  den  Glaubenspunkt :  Christus  ist  empfangen  vom  heil. 
Geist,  in  HebUe'*  neuem  Magazin,  3,  5,  365  ffV;  in  Kjisbr's 
bibl.  Theol.  1,  S,  231  f. J  »*  Witte' t  bibl.  Dogmatik,  §.  281 ', 
Sciilbiba&uciibr'»  Glaubenslehre,  2.  Tbl.  $.  07. 
Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  /.  Band  14 


210  Erster  Abschnitt. 

Jesu  vorkommt.    Nicht  nur  bezeichnet  Maria  den  Joseph 
ohne  Weiteres  als  den  Vater  Jesu  (Lue,  2, 46.),  und  spricht 
der  Evangelist  von  beiden  geradeso   als   von  seinen  yovu$ 
(Luc.  2,  41.) ,  was  der  so  eben    von  der  Erzählung  der. 
übernatürlichen    Erzeugung    herkommende    Berichterstat- 
ter nnr  im  weiteren  Sinne  genommen  haben  kann:   son- 
dern alle  seine  Zeitgenossen   überhaupt  hieltdh  ihn  nach 
nnsem  Evangelien  für  einen  Sohn  des  Joseph,  und  nioht 
selten  wurde  es  verächtlich  and  vorwarfsweise  in  seiner 
Gegenwart  geüufsert  (Matth.   13,  55.  Lac-  4,  22.   Joh.  6, 
42.)  5  ihm  also  entschiedene  Veranlassung  gegeben ,    sich 
auf  seine  wunderbare  Erzeugung  zu  berufen,   was  er  je- 
doch    mit   keinem  Worte  thut     Könnte  man   hier  sagen, 
dafs  er  auf  diese  fiufserliche  Weise   nicht  von  oer  Gott« 
lichkeit  seiner  Person  Überzeugen  wollte,   auch  bei  inner« 
lieh  Abgeneigten   keine  Wirkung  davon  sieh   versprechen 
konnte:  so  ist  hinzuzunehmen,  dafe  nach  der  Angabe  des 
vierten  Evangeliums  auch  seine  eigenen  Jünger  neben  sei- 
ner Gottessohnschaft   ihn   doch  für  den   wirklichen  Sohn 
Josephs  hielten;  denn  Philippus  stellt  ihn  dem  Nathana£l 
als  fyväv  tov  vlov  *Iwoj}q>  vor  (Job.    1,  46.),  offenbar  in 
demselben  Sinne  eigentlicher  Vaterschaft,  wie  ihn  sonst 
die  Juden  ebenso   bezeichnen,   ohne   dafs  diefs  irgendwo 
als   eine    irrige   oder  unvollkommene  Ansicht    dargestellt 
würde,  welche  diese  Apostel  nachher  hfftten  ablegen  müs- 
sen: vielmehr  hat  die  Erzfihlung  unverkennbar  den  Sinn, 
dafs  hier  der  rechte  Glaube   in  denselben  zum  Dasein  ge- 
kommen sei.    Die  räthselhafte  Voraussetzung,  mit  welcher 
bei  der  Hochzeit  zu  Kana  Maria  sich  an  Jesum  wendet 10), 
ist  viel  zu  unbestimmt,   um   eine    Erinnerung  der  Mutter 
an  seine  übernatürliche  Erzeugung  zu  beweisen;  jedenfalls 
wird  dieser  Zug   von  dem  entgegengesetzten  aufgewogen, 
dafs  die  Familie  Jesu,   und  wie  es  aus  Matth«   12,  46.  ff« 


10)  Geltend  gemacht  von  Nbandsii,  L.  J.  CIi,,  S.  t£. 


Drittes  Kapitel,    f.  27.  211 

vergL  mit  Marc  3,  21.  ff.  den  Anschein  gewinnt ,  tauch 
•eine  Mutter,  an  aeioen  Bestrebungen  aplter  irre  wurde, 
was  bei  aelcben  Erinnerungen  aalbat  von  den  Brüdern 
kau*  erklärlieh  wäre. 

Ebensowenig  als  in  den  Evangelien  findet  sieb  in 
den  ihrigen  N.  T.lichen  Schriften  etwas  nur  Bestätigung 
aar  Ansieht  von  einer  übernatürlichen  Eraengnng  Jesu. 
Dann  wenn  der  Apostel  Paulus  Jeeuai  yevojLievov  ix  ywat- 
gog  nennt  (GaL  4,  4.)  *  *o  wird  man  in  diesem  Ausdruoke 
daeh  niebt  eine  Ausschließung  des  männlichen  Antheils 
finden  wollen ,  da  ja  daa  beigesetzte :  y&ofierw  vno  vofzov, 
deutlich  neigt,  dafs  er,  wie  ao  htafig  im  A.  n.  W.  T.  (u. 
B.  Hiob  14,  1.  Matth.  11,  11.),  Oberhaupt  die  menschliche 
Katar  mit  allen  ihren  Bedingungen  beeeiehnet.  Wenn 
Paulos  ferner  (  Rom.  1 ,  3.  f.  vergl.  9,9.)  Christum  xard 
oaima  von  David  und  den  Ersvlttern  abstammen,  xard  TtveSfta 
GfuoovvTfi  aber  ale  Gottes  Sohn  aieh  bewähren  läftt:  ao 
wird  man  doch  hier  den  Gegeneats  von  <rap£  und  mevpa 
nicht  dem  von  menschlichem  mütterlichen,  und  durch  gött- 
liche Thätigkeit  ersetztem  väterlichen  Antheil  an  seiner 
Erzeugung  glelcheetcen  wollen.  Endlieh,  wenn  im  flebräer- 
brief  (7,  3.)  Melehisedek  als  ccTtdrcjQ  mit  dem  vtog  rädtS 
▼erglichen  wird:  so  verbietet  sich  eine  Beziehung  des 
wörtlich  gefafeten  äjtotxwQ  auf  die  menschliche  Erschei- 
nung Jesu  schon  durch  das  danebenstehende  dfiijmQ,  wei- 
ches bei  ihm  so  wenig  als  das  weiter  beigesetzte  dyewala- 
yqtog  antreffen  wurde. 

f.    »• 

Rückblick  auf  die  Genealogien. 

Doch  die  entscheidendste  exegetische  Instana  gegen 
die  Wirklichkeit  einer  übernatürlichen  Erzeugung  Jesu 
liegt  nns  näher  als  alle  bisher  aufgeführten  Stellen,  näm- 
lich in  den  beiden  Genealogien,  die  wir  nur  so  eben  erst 
betrachtet  haben.     Schon   der  Manichäer  Fanstus  machte 

14» 


21t  Erster  Abschnitt. 

geltend,  wer,  wie  nnsre  ewei  Genealogisten,  Jesum  dnreh 
Joseph  von  David  abstammen  lasse,  der  könne  ohne  Wi<* 
darsprach  nicht  roraussetaen ,  dafs  Joseph  gar  nicht  Jesm 
Vater  gewesen  sei:  und  Augustinas  wufste  ihm  nichts 
Triftiges  su  erwiedern,  wenn  er  bemerkte,  dafs  wegen  des 
Vorrangs  des  männlichen  Geschlechts  die  Genealogie  Jesu 
durch  Joseph  habe  geführt  werden  müssen,  welcher,  wenn 
auch  nicht  durch  leibliche,  doch  durch  geistige  Verbin- 
dung Maria's  Gatte  gewesen  sei  ')•  Auch  in  neuerer  Zeit 
haben  manche  Theologen  die  Bemerkung  gemacht,  aus  der  Be- 
schaffenheit unserer  Geschlechtsregister  bei  Matthäus  und 
Lukas  erhelle,  dafs  die  Verfasser  derselben  Jesum  als 
wirklichen  Sohn  Josephs  sich  gedacht  haben  *)•  Sie  seilen 
nämlich  beweisen,  dafs  Jesus  durch  Joseph  von  Davids 
Geschlecht  abstamme;  was  beweisen  sie  aber,  wenn  Jo* 
sepb  Jesn  Vater  gar  nicht  war?  Die  als  Zweck  der  gm** 
neu  Genealogie  (bei  Matthäus  1,1»)  vorausgeschickte  Behaup* 
tung,  dafs  Jesus  vlog  Jaßld  gewesen*  wird  durch  die  darauf 
folgende  Läugnung  seiner  Erzeugung  durch  den  Davididen 
Joseph  geradeso,  wieder  aufgehoben»  Unmöglich  kann 
man  es  defswegen  wahrscheinlich  finden,  dafs  die  Genea- 
logie und  die  Geburtsgeschichte  von  demselben  Verfasser 
herrühre  *%  sondern  man  wird  mit  den  envor  angefahrten 
Theologen  annehmen  müssen,  dals  die  Genealogien  ander»* 
woher  genommen  seien.  Schwerlich  mächte  man  hlegegen 
mit  der  Bemerkung  ausreichen ,  da  Joseph  ohne  Zweifel 


1)  Augustinus  contra  Faustum  Manichaeum  L.  25,  3.  4*  8. 

2()  Skiagraphie  de»  Dogma  u.  s.  f.  in  Schmidt'*  Bibl.  a.  a.  O. 
S.  403 f.;  K.  Ch.  L.  Schmidt,  ebend.  3,  1,  S.  132 f.  VergL 
ScHLKiiRBucHin,  Glaubenslehre,  %  §•  97.  9. 71 ;  Wioschbidb*, 
Instit.  §.  123.  not.  d). 

3)  Wie  diess  z.  B.  Eichhorn,  Ernl.  in  das  N.  T.  1,  S.425,  aus- 
drücklich für  wahrscheinlich ,  db  Wim ,  ezeg.  Hcndb.  1,  i, 
S.7f.,  wenigstens  für  attf  glich  erklärt. 


Drittes  Kapitel,    f*  27.  21* 

Jesam  adoptirt  habe,  eo  habe  sein  Stanunbawn  auch  für 
diesen  rolle  Billigkeit  hekoraen.  Denn  die  Adeption 
»echte  wohl  hinreichen,  nm  dem  angenommenen  Sohne 
die  Anwartschaft  anf  gewisse  Itafsere,  Erbsehafts-  and  an- 
dere Rechte  ans  der  Familie  des  Adoptirenden  zu  ver- 
schaffen *);  keineswegs  aber  konnte  ein  solches  Verhält« 
mb  Ansprach  anf  die  messianisehe  Würde  verleihen,  wel- 
che an  wirkliches  Davidiaches  Blnt  und  Geschlecht  gehnn* 
den  war.  Schwerlieh  würde  daher,  wer  den  Joseph  blofs 
ftr  den  Adoptir- Vater  Jesn  gehalten  hätte,  sieh  die  Mühe 
genommen  haben ,  der  Davidigchen  Abstammung  des  Jo- 
leph  nachmspüren ;  sondern ,  wenn  anders  neben  der  ein« 
mal  gewonnenen  Ansicht  von  Jesn  als  Gottessohn  noch 
ein  Interesse,  ihn  als  Davidssohn  darzustellen,  fortdanerte, 
so  würde  man  nn  diesem  Behuf  eher  die  Genealogie  der 
Maria  gegeben  haben,  indem,  wenn  auch  gegen  die  Ge- 
wohnheit, der  Stammbaum  der  Mutter  su  Hülfe  genom- 
men werden  inniste ,  wo  kein  menschlicher  Vater  rorhan* 
den  war.  Am  wenigsten  würden  mit  der  Zusammen- 
setzung eines  durch  Joseph  vermittelten  Stammbaums  Jesu 
Mehrere  sieh  befafst  haben,  so  dafs  uns  noch  uwei  ver- 
schiedene Genealogien  dieser  Art  übrig  bleiben  konnten, 
wenn  man  nicht  nur  Zeit  ihrer  Abfassung  noch  ein  nühe» 
res  Verhältnis  Jesu  eu  Joseph  angenommen  hätte. 

Kaum  wird  man  daher  dem  Ortheil  jener  Gelehrten 
abstellen  können,  es  seien  diese  Genealogien  vota  der  An- 
sieht aus  verfertigt ,   dafs  Jesus  der  wirkliche  Sohn  Jo- 


4)  Das«  et  auch  Jbei  Jesu  um  eine  Erbschaft ,  nämlich  die  der 
Verheissung,  sich  gehandelt  habe,  diese  Bemerkung  HoFnumi's 
(S.  200)  ist  eine  Spielerei ,  welche  er  seihst  unzulänglich  fin- 
det, indem  er  die  Adoption  in  Davids  Geschlecht  von  väterli- 
cher Seite  nur  zureichend  findet  in  Verbindung  mit  wirkli- 
cher Davidischer  Abstammung  von  Seiten  der  Mutter,  wie  er 
sie  falschlich  in  der  Genealogie  des  Liüfas  gegeben  glaubt. 


114  Erster  Abschnitt. 

aftphrf  «od  der  Maria  gewesen  eei;  die  Verfasser  eder 
Sammle*  unterer  Evangelien  aber,  obwohl  ihrerseits  von 
den  höheren  Ursprung  Jesu  überzeugt,  haben  dieselben 
doch  in  ihre  Sammlongen  aufgenommen;  nur  dafs  Mat- 
thäus (1,  1&)  das  ursprüngliche:  "ltoat}q)  de  eyewTjae  rot 
*1ths£p  ix  trjg  Mctqlag  (vgl.  V«  3.  5.  6.)  nach  seiner  abwei- 
chenden Ansieht  abgeändert,  nnd  ebenso  Lukas  (S,  2£.) 
seine  Genealogie  statt  einfach  mit:  r[ipj§g-vl6g  ^wörjf,  durch 
<Sv,  log  ivofd£eco  x*  r.  X.  eingeleitet  habe.  Man  wende  hie« 
gegen  nieht  ein,  wenn  naeh  nnsrer  Bemerkung  von  der  An« 
sioht  aus ,  daft  Joseph  nioht  Vater  Jesn  gewesen ,  nnsre 
Genealogien  nicht  verfertigt  werden  konnten ,  so  lasse  bei 
dieser  Ansicht  auch  nicht  einmal  dafür  ein  Interesse  sieh 
denken»  sie  den  Evangelien  einzuverleiben.  Denn  das  ur- 
sprüngliche Verfertigen  einer  Genealogie  Jesn,  und  wenn 
es  in  unserem  Falle  auch  nur  darin  bestanden  hätte,  da(s 
gegebene  fremde  Stammbäume  in  Beziehung  auf  Jesnm 
gesetzt  wurden,  erforderte  ein  starkes  nnd  ganzes  In- 
teresse, welches,  in  der  Voraussetzung  einer  leiblichen 
Abkunft  Jesn  von  Joseph,  durch  jene  Operation  eine  Haupt- 
stütze für  den  messianischen  Glauben  an  ihn  zu  gewin- 
nen hoffte;  wogegen  zur  Aofnahme  der  schon  vorbände» 
neu  auch  das  schwächere  Interesse  anregen  konnte,  dafa 
sie,  auch  ohne  ein  zwischen  Jesu  und  Joseph  statt  gehab- 
tes natürliches  Verhältnifs,  dennoch  zur  Anknüpfung  Jesn 
tm  David  nicht  nndienlioh  scheinen  mochten«  Ebenso 
wird  ja  in  den  beiden  Geburtsgeschichten  bei  Matthäus 
und  Lukas,  welche  den  Joseph  entschieden  von  der  Er- 
zeugung Jesu  ausschliefsen ,  doch  noch  immer  auf  die 
Davidische  Abstammung  Josephs  Gewicht  gelegt  (Mattb, 
1,  20.  Luc.  1,  27«  2,  4.),  indem  man  das  zwar  nur  bei  der 
früheren  Ansicht  recht  Bedeutsame  doch  auch  nach  geän- 
dertem Standpunkte  beibehielt. 

■  Indem  wir  auf  diese  Weise   in  den.  beiden  Genealo- 
gien Denkmale  aus  einer  Zeit   und  einem  Kreise  der  äl- 


Drittes  Kapitel.    $•  27.  215 

legten  Kirebe  »eben,  in  welchen  Jesus  noch  für  einen  na- 
türlich erseugten  Menschen  galt:  so  müssen  uns  htebeidie 
Kbioniten  einfallen,  da  nns  eben  von  diesen  aus  jener 
ersten  Zeit  geartldet  wird,  dafs  sie  die  bezeichnete  An- 
rieht von  der  Person  Christi  gehabt  haben  *).  Sollten 
wir  hienach  erwarten ,  in  den  alten  ebionitisehen  Evange 
Ben,  von  welchen  wir  noch  Kunde  haben,  vor  Allem  diese 
fiesehleehtsregister  noch  annntreffen:  so  müssen  wir  nns 
niebt  wenig  überrascht  finden ,  wenn  wir  erfahren ,  dafs 
gerade  jene  Evangelien  ohne  die  Genealogien  waren. 
Zwar,  da  nach  Epiphanius  das  Evangelium  der  Ebioniten 
erst  mit  dem  Auftritte  des  Täufers  anfing,  so  könnte  man 
antar  4m  yeveaXoyiatg ,  welche  sie  weggeschnitten  haben 
aellen,  die  Gebort*-  and  Kindheitsgesobichte  der  beide« 
ersten  Kapitel  unseres  Matthins  verstehen,  welche  sie, 
weil  dieselben  die  von  ihnen  verworfene  vaterlose  Zeogung 
Jesu  enthalten,  wenigstens  nicht  in  ihrer  fetsigen  Form 
annehmen  konnten;  und  man  könnte  nun  vermuthen,  dafs 
in  ihrem  Evangelium  vielleicht  nur  diese  ihrem  System 
zuwiderlaufenden  Abschnitte  gefehlt  haben,  die  ihrer  An- 
eicht  ansagenden  Geschleehtsregister  aber  dennoch  irgend- 
wo eingefftgt  gewesen  seien.  Aber  diese  Aussieht  ver- 
schwindet alsbald ,  wenn  wir  sehen ,  wie  Epiphanius  in 
Beaug  auf  4\e  Naaarener  die  Genealogien ,  von  welchen 
er  nicht  weifs,  ob  sie  auch  ihnen  gefehlt  oder  nicht,  ai* 
rag  and  zs  ^ßgaa/u  kog  XQt$s  bestimmt  *)?  wonaeh  er 
unter  den  Genealogien,  weiche  einigen  Häretikern  fehlten, 
offenbar  aun&chst  die  Gesehleehtstafeln  versteht,  wenn  er 
auch  in  Beaiehung  auf  die  Ebioniten  augleich  die  Geburts- 
geschiohte  unter  jenem  Ausdruck  mitbegreift« 


5)  Justin.   Mart.  Dial.   cum  Tryplone,  49;     Origenes  cojilra 
Celtum  L.  5,  61.    Eusch.  H.  E.  3,  27. 

6)  tipiphan.  haercs.  30,  14- 

7)  Hscir».  29,  9, 


216  .     Erster  Abschnitt. 

Wie  sollen  wir  ans  nun  diese  befremdende  Erschei- 
nung erklären,  da£s  gerade  bei  derjenigen  Christenpartei, 
in  welcher  sich  die  den  Genealogien  zum  Grande  liegende 
Ansicht  forterhielt,  dieselben  nicht  zu  finden  sind?  £in 
neuerer  Forscher  stellt  die  Vermnthuog  auf,  die  Juden» 
Christen  haben  die  Gesehlechtsregister  aus  Klugheit  weg- 
gelassen, not  nicht  durch  dieselben  die  unter  Domitian 
und  vielleicht  auch  schon  früher  über  .die  Davidische  Fa- 
milie verhängten  Verfolgungen  au  erleichtern  und  zu  ver- 
mehren *)•  Allein  zu  solchen  äußerlichen  Erklärungen 
aus  zufälligen  Umständen,  die  selbst  nooh  dem  Zweifel 
der  historischen  Kritik  unterliegen,  sollte*  man  nur  dann 
>  seine  Zuflucht  nehmen ,  wenn  jede  Erklärung  der  fragli- 
chen Erscheinung  aus  der  Sache  selbst,  also  hier  ans  dem 
Innern  des  ebionitischen  Systems,  unmöglich  ist 

So  mifslich  aber  steht  es  in  unserem  Falle  noch  lange 
nicht.  Bekanntlich  sprechen  die  Kirchenväter  von  dop- 
pelten Ebioniten}  von  welchen  die  einen,  neben  Strengen 
Grundsätzen  in  Beeng  auf  die  Verbindlichkeit  des  mosai- 
schen Gesetzes,  Jesum  für  den  auf  natürliche  Weise  er- 
zeugten Sohn  Josephs  und  der  Maria  gehalten,  die  andern, 
sofort  auch  Nazarener  genannt,  mit  der  orthodoxen  Kirche 
eine  Erzeugung  durch  den  heiligen  Geist  angenommen 
haben  •)•  Neben  diesem  Unterschiede  aber  geht  noch  ein 
anderer  her«  Die  ältesten  Kirchenschriftsteller,  wieJustinus 
Martyr,  Irenäus,  wissen  nur  von  solchen  Ebioniten,  wel- 
che ganz  einfach  Jesum  ffir  einen  natürlich  erzeugten  und 
erst  bei  der  Taufe  mit  höheren  Kräften  ausgerüsteten 
Menschen  hielten  10>:  wogegen  wir  bei  Epiphanius  und 
in    den  Klementinischen    Homilien    Ebioniten    begegnen. 


S)  Cftsamta,  in  den  BeiirXgen  zur  Einleitung  in  dss  !f.  T.  U 

S.  443.  Anm. 
9)  Orig.  a.  a.  O. 
SO)  Vergl,  Neakpik,  K.G.  1,  2,  S.  615  f. 


Drittes  Kapitel,    f.  27.  217 

welche  ein  gnosüsch  -  speenlatives  Element  in  steh  aufge- 
■iBBifin  haben*     Man  hat   diese  Rieht  eng,  welche  nach 
jBpiphanins  von  einem  £lzai  sieh  herschreiben  soll,  vom 
Einflüsse  des  Essenismns  abgeleitet  M) ,  und  schon  in  den 
Irrlehren  des  Colosserbriefs  Spuren  derselben  bemerkt  **) ; 
wahrend  die  ersten  Klasse  der  Ebioniten  offenbar  vom  ge- 
wöhnlichen Jndenthnm.  ansgegsngen  war.      Welche  von 
diesen  Richtungen  die  frohere  nnd  welche  die  spätere  ge- 
-  Spesen,  ist  nicht  so  leicht  auszumachen;  in  Benag  auf  den 
nnletst  ausgeffihrten  Unterschied  könnte   man,   da  dieser 
.epeealirenden  Ebioniten,  erst  die  Klementinen  <tnd  Epipha- 
nias, jener  einfachen  aber  schon  Jnstin  und  Irenlns  Mel- 
dnng  thon,  diese  för  die  früheren  ansehen:  allein  da  auch 
schon  Tertnllian  von  einer  gnostisirenden  Christologie  der 
Ebioniten  weifs  **),   nnd  im  Essenismns  der  Keim  en  sol- 
chen Ansichten  schon  nm  die  Zeit  Jesu  gegeben  war:  so 
•  scheint  die  Annahme  sicherer  zu  sein,    beide  Richtungen 
ftr  gleichseitig  neben  einander  hergehende  zu  halten  ")• 
Ebensowenig  iifet  sich  in  ßesug  anf  die  andere  Differenz 
beweisen,  deü  die   nazaräische  Ansicht  von  Christo  sich 


11)  Camrsft,  über  Essener  und  Ebioniten  und  einen  theilweisen 
Zusammenhang  beider,  in  Wikba's  Zeitschrift  L  wissenschaft- 
liche Theologie,  1.  Bd.~2tes  und  3tes  Heft;  vgl.  Baue,  Progr. 
de  Ebionitarum  origine  et  doctriua  ab  Essenis  repetenda,  und 
christl.  Gnosis,  S.  403. 

12)  NiAjroiR,  a.  a.  O.  S.  620. 

15)  De  came  Christi,  c.  14:  Potertt  haee  optnto  HeHotd  com* 
venfre,  qiä  nudum  hominem,  et  tantum  ew  semine  David,  f.  e. 
mom  et  Bei  fiHum,  canstttuit  Jesum,  ut  in  tüo  angetum  fuiiie 
edieat. 

14)  Mit  Nkahdia  a.  a.  O.  u.  ScmmcxBmumeBft,  über  einen  häufig 
übersehenen  Funkt  in  der  Lehre  der  Ebioniten  v.  <L  Person 
Christi,  Tübinger  Zeitschrift  f.  Theol.  1830,  i,  114  ff.  —  Bas 
Erstere  ist  die  Ansicht  von  Gmsxum,  tiberftasaraer  und  Ebio- 
niten, in  StXudub's  und  Tsscanusa's  Archiv  für  H*  G.  4»  Bd. 
und  Caaniuui's  a.  a.  O. 


218  Erster  Abschnitt« 

«rat  spfiter  *ur  ebionitisehen  herabgestinunt  habe  IS);  da 
die  tbeils  verworrenen  16)  tbeilfl  spaten  Nachrichten  kirch- 
lieber  Schriftsteller  sich  natürlich  aas  der  gleichsam  opti- 
schen Täuschung  der  Kirche  erklären  lassen  t  welcher, 
während  sie  in  der  Verherrlichung  Christi  vorwärts  schritt, 
ein  Tbeil  der  Jadenchristen  aber  stehen  blieb,  es  vorkam, 
als  bliebe  sie  stehen,  die  andern  aber  gingen  ketaerisch 
aorttok. 

Durch  diese  Unterscheidung  einfaoher  und  speenliren* 
der  Ebioniten  ist  so  viel  gewonnen,  dafs  das  Fehlen  dar 
Genealogien  bei  den  letzteren,  von  welchen  Epiphanfos 
spricht,  nicht  beweist,  dafs  sie  auch  den  enteren  gefehlt 
haben.  Um  so  weniger,  wenn  wir  im  Stande  sein  Sollten, 
wahrscheinlich  an  machen,  dafs  die  Gründe  ihrer  Abnei- 
gung gegen  die  Geschlechtsregister  in  demjenigen  lagen, 
was  ihnen  im  Unterschiede  von  den  gewöhnlichen  Ebioni- 
ten eigen  war.  Einer  dieser  Gründe  nun  war  offenbar  die 
angünstige  Ansieht,  welche  die  Ebioniten  des  Epiphanius 
nnd  der  Klementinisoben  Homilien  über  David  hatten*  von 
welchem  die  Genealogie  das  Geschlecht  Jesu  ableitet.  Sie 
unterschieden  bekanntlich  im  A.  T.  eine  doppelte  Prophe- 
tie,  eine  männliche  und  eine  weibliche,  reine  und  unrei- 
ne, von  weichen  jene  nur  Himmlisches  und  Wahres,  die- 
se Irdisches  und  Trfigliches  verhelfte;  jene  von  Adam  und 
Abel,  diese  von  Eva  und  Kain  ausgehend,  und  beide  durch 
die  ganze  Geschichte  der  Offenbarung  herunterlaufend  17). 
Ais  wahre  Propheten  werden  im  A.  T,  nur  die  frommen 


15)  Wie  Homumi  eu  beweisen  sucht,  S.  198  ff. 

16)  Hiemit  meine  ich  die  Nachricht  des  Hegcsippus  bei  Euse- 
bius,  H.  E.  4, 22,  Dass  Epiphanius,  bser.  30, 1  ,  die  Ebioniten  als 
die  jüngere  Secte  den  NazarScrn  gegenüberstelle,  wie  Honr- 
manh  behauptet,  ist  falsch ;  haer.  29,  7.  30,  2.  lasst  er  beide 
Sectcn  gleichzeitig  entstehen. 

17)  Homll.  3,  23  -  27. 


Drittes  Kapitel,    J.  27.  219 

Hffuner  von  Adam  bis  Josse  anerkannt :  die  späteren  Pro* 
pheten  and  Gottesm&nner,  unter  welchen  aueh  David  nnd 
Saiomo  namhaft  gemacht  sind,  werden  niebt  nur  nfeht  an* 
erkannt  5  sondern  verabscheut  **).  Wir  finden  aber  sogar 
bestimmte  Sparen,  dafs  den  David  ihre  Abneigung  ganu 
besonders  getroffen  hat.  Mehrere  Punkte  waren  es,  wel- 
che sie  von  David  (and  anoh  von  Safomo)  abstiefsen.  Da* 
vld  war  ein  blutiger  Krieger:  Blutvergießen  aber  nach 
der  Lehre  dieser  Ebioniten  eine  der  vornehmsten  Sünden ; 
von  David  ist  ein  Ehebruch  (von  Salomo  seine  Wellast) 
bekannt:  den  Ehebrach  aber  verabscheute  die  genannte 
Partei  noch  mehr  als  selbst  den  Mord ;  David  war  ein  Sai- 
tenspieler: das  Saitenspiel  aber  galt  jener  Seote,  als  Er* 
undung  der  Kainiten  (1.  Mos.  4,  21.),  Ar  ein  Zeichen  der 
mischen  Prophetie;  endlich  gingen  sowohl  die  von  David 
herrührenden,  als  die  an  ihn  (nnd  Salomo)  geknüpften, 
Weissagungen  auf  ein  irdisches  Reich,  von  welchem  die 
gnostisirenden  Ebioniten  nichts  wissen  wollten19).  Diesen 
Grund  eut  Abneigung  gegen  die  Genealogien  nun  konnten 
die  vom  gewöhnlichen  Judenthnm  ausgegangenen  Ebioni- 
ten nicht  theilen,  da  für  den  rechtgläubigen  Juden  David 
Gegenstand  der  höchsten  Verehrung  war«  —  (Jeher  einen 
«weiten  Punkt  sind  die  Nachrichten  nicht  gehörig  klar 
und  einstimmig;    ob  nämlich  diese  Ebioniten  auch  durch 


*  ■ 

18)  Epiphan.  haeree.  30,  18.  vgl.  15. 

19)  S.  die  Belegstellen  bei  Crsdnbr,  in  der  angef.  Abhandlung, 
Das«  es  diese  Züge  gewesen  seien,  welche  der .  genannten 
Christenpartei  an  David  inissnelen,  wird  wenigstens  in  Einer 
Stelle  der  Hlemcmtlnischen  Homilien  auch  ohne  Nennung  des 
Namens  klar  genug,  nämlich  HomiL  9,  25 :   in  w  *»  <*  ano 

rrjs  rtrrs  (rs  XäIv)  3t*&oxSfc  nqöthjht&OTte  jc^ßrot  /ut*%ol  tyfromro,  xal 
tyalryna,  *(ü  xt^dpn,  «t&  %aUiTit  enlmr  nbbftaw*  fyfrovro*  d?  o 
tetn  rj  t£*v  tyyoviav  nQotptirata,  t**X**  ***  ^oln^ituß  ytpao<*,  Icn&woy- 
r«?  dpa  TiZv  ijdvnalhttov  atf  rng  nok'{i*s  tytt&i. 


B20  .    Erster  Abschnitt 

eine  Steigerung  der  gemeinebienitischen  Lehre  von  der  P< 
eon  Christi  cor  Verwerfung  der  Genealogie  veranlaßt  wa- 
ren.   Nach  Epiphanias  unterschieden  sie  ganz  gnoetisch 
Jesus,  den  Sohn  Josephs  and  der  Maria,  ren  dem  anf  ihn 
herabgekommenen  Christus20),    und    insofern  mochte    «ie 
von  einer  Beziehung  der  Genealogie  auf  jenen  nur   etwa 
ihre  Abneigung  gegen  David  eurtf ckhalten :  aus  der  Grtmd- 
ansieht  und  einer  Stelle  dar  Klementinen  dagegen  21)    ist 
neuerlich  nicht  ohne  Schein  gefolgert  worden ,  dafs  vom 
Verfasser  derselben  die  Ansicht  von  einer  natürlichen  Er- 
Beugung und  selbst  Geburt  Jesu  aufgegeben  war22;;   wo- 
bei dann  noch  offenbarer  der  Grund,   warum  diese  .Seele 
die  Genealogien  verwarf,  ihr  eigentümlich  uud  nicht  mit 
den  andern  Ebioniten  gemeinsam  wäre. 

Doch  auch  positive  Spuren  fehlen,  nicht  gan«e,  dafs  die 
yom  gewöhnlichen  Judenthum  ausgegangenen  £bioniten  die 
Genealogien  gehabt  haben.  Während  die  Ebioniten  des 
J£piphanius  und  der  Klementinen  Jesum  nur,  Sohn  Gottes 
nannten,  die  Benennung  Sohn  Davids  aber,  als  der  ge- 
meinen jüdischen  Ansicht  zugehörig,  verwarfen28):  werden 
andere  Ebioniten  von  den  Kirchenvätern  verklagt,  Jesum 
nur  als  den  Sohn  Davids ,  auf  welchen  die  Gesehieohtsre- 
gister  hinführen,  nicht  ebenso  als  Sohn  Gottes  aneuer- 
kennen  *')•    Ferner  erzählt  Epiphanias  von  den  uralten 


20)  Epiphan.  Hier.  30,  14.  16.  34. 

21)  Hom.  3,  17. 

22)  ScaifBCKBiisuaeia,  Über  das  Eräug,  der  Aegypter,  S.7;  Bau», 
christl.  Gnoaia,  S.  760  ff.  VergL  dagegen  Cudhbr,  a.  a.  0. 
S.  253  f.  und  Honauim,  S.  208  ff. 

23)  Orig.  Comm.  in  Matth.  T.  16, 12.  Tertnllian.  De  carne  Christi, 
14,  a,  Aam*  13  (eine  Stelle,  in  welcher  freilich  die  speculativea 
Ebioniten  und  die  gewöhnlichen  vermischt  sind). 

24)  Clement,  homil.  18,  13.     Sie  bezogen  hienach  den  Spruch 

Matth*.  11,  27i    sSeig  fywo  rov  nartya,  d  ftq  o  vlog  x.  r.  2.  auf  r«« 
nariqa  rofil^ovxai  X^tgS  xw  da/bd,  xai  avrov  3k  rix  Xqtgor  vlov  orra, 


Drittes  Kapitel,    f.  27.  221 

jodaisirenden  Onosttkera,  Ceriath  und  Carpokrates,  dafb 
rie  im  Uebrigen  zwar  desselben  Evangeliums ,  wie  die 
Ebioniten,  sieh  bedient,  aber  die  Genealogien ,  welche  sie 
demnach  in  demselben  lasen ,  «am  Beweise  der  menschli- 
chen Erzeugung  Jesu  durch  Joseph  gebraucht  haben  88). 
Aach  die  ans  jndenehristliehem  tiebiete  stammenden  cwro- 
pnftionvtiaza  Justins  scheinen  eine  ähnliche  Genealogie  wie 
anser  Matthäus  gehabt  an  haben,  da  Justin  wie  Matthias 
in  Beeng  auf  Jesum  von  einem  yhog  rä  Jaßld  xci  ^Aß^aa^ 
reo  einem  an&Qfta  i£  *faxtaß,  dia  jfcida  xcel  Oa^g  xal  Ja- 
ßld xccreQxo/uevov ,  spricht  26);  nur  dafs  aar  Zeit  and  in 


•»*  «u*  4c?  /<?  hr**vr*s>  imd  beklagten  sieh,  dass  Mi  T*  *tS 
r«r  AxßtS  narret  Meyor. 
25)  Heeres.  30r  14*  o  ph  ya$  XforS-of  *ai  Ka^Ttox^Sg  t»  mrf  X&*~ 
ptrt*  itttQ*  mrdtg  {reif  *Eß*ovcUtks)  evayyel&a,  ano  Trji  aqxi*  T"-  ■**• 
Mar9dwr  evccyytlta  Sta  Trjs  ytrtaloy(a$  ßslortca  naqu;av  itc  onfyfurroq 
*IwBft  *cA  Maltas  tlrat  tov  X^goy.  Wie  CaSDHBR  (Beiträge  a.  a* 
O.)  dazu  kommt,  hier  unter  yerealoyta  nicht  das  Geschlechts- 
register, sondern  die  Geburtsgeschichte  zu  verstehen,  ist  nicht 
einzusehen*  Wie  hätte  denn  die  MatthXitche  Gebertsge- 
schichte  zu  einem  Beweis  für  die  reinmenschliche  Abkunft 
Jesu  dienen  können?  Wenn  sich  Guonan  darauf  berufen 
kann,  dass  ja  dem  von  Cerinth  und  Carpokrates  gebrauchten 
Ehionitenerangelium  die  Geschlechtsregister  gefehlt  haben, 
also  jene  beiden  Häretiker  nicht  aus  diesem,  ihrer  Urkunde 
gerade  fehlenden,  Theile  haben  argumentiren  können:  so  er- 
hellt aus  der  Wendung,  mit  welcher  Epiphanius  nach  jener 
Aeusserung  über  Cerinths  und  Carpokrates  Benützung  der 
Genealogien  zu  den  Ebioniten  übergebt :  &-<*  <ft  aXXa  *W  Sux- 
voürrat.   na^mxoxpcemg  yaq  rag  na^a  rto  JtftaT&a&o  ytrsctloyütf  x.  t.  iL 

aus  dieser  Wendung  erhellt  deutlich  genug,  dass  das  Evange- 
lium der  Ebioniten  sich  von  dem,  übrigens  mit  ihm  identi- 
schen, des  Cerinth  und  Carpocrates  durch  den  Mangel  der 
Genealogien  unterschied. 
26)  Dial.  c.  Tryph.  100.  120.  Auch  hier  kann  ich  nicht  mit 
Crbbhxr  übereinstimmen,  welcher  dem  Justin  die  Genealogie 
abspricht  (*l  a.  0.  S.  til.  44&) 


9&g  firster  Abschnitt. 

dem  Kreise  Justins  bereits  die  Ansieht  Ton  einer  Überna- 
türlichen Erzeugung  Jesu  Veranlassung  gegeben  hatte,  die 
Genealogie  statt  auf  Joseph ,  vielmehr  anf  Mama  zu  be- 
zieben. 

Hienaoh  haben  wir  in  den  Genealogien  ein  mit  an* 
derweitigen  Spuren  zusammenstimmendes  Denkmal  dafSr» 
dafs  in  der  allerersten  christlichen  Zeit  in  Palästina 
eine  Anzahl  von  Christen ,  grofs  genug,  um  von  verschie- 
denen Grundansicbten  aas  zweierlei  messianisehe  Stamm» 
bäume  anzulegen,  Jesum  für  einen  natürlich  emeugten 
Menschen  gehalten  hat;  eine  Ansicht,  von  der  uns  in  den 
apostolischen  Schriften  kein  Beweis  dafür  vorliegt,  dab  die 
Apostel  sie  für  unohristlich  erklärt  haben  würden;  erst 
vom  Standpunkte  der  Geburtsgesohiohten  des  ersten  und 
dritten  Evangeliums  aus  erschien  sie  so:  obwohl  auch 
noch  Kirchenväter  dieselbe  auffallend  milde  behandeln  S7). 

§.    28. 

Die  natürliche  Erklärung  der  EmpfangnlssgescLicIite. 

Hat  nach  dem  zuletzt  Ausgeführten  die  supranatura- 
listisohe  Erklärung  der  Empfängnifsgeschichte  so  bedeu- 
tende, sowohl  philosophische  als  exegetische,  Schwierig- 
keiten :  so  verlohnt  es  sich  wohl,  die  evangelische  Erzäh- 
lung noch  einmal  darauf  anzusehen,  ob  nicht  vielleicht 
eine  andere  Auslegung  derselben  möglich  sei,  durch  welche 
diese  Anstöfse  vermieden  würden.  Eine  solche  hat  man 
wirklich  von  verschiedenen  Seiten  in  der  Art  versucht, 
dafs  man  bald  nur  mit  dem  einen  oder  andern,  bald  aber 
auch  mit  allen  beiden  Berichten  auf  dem  Wege  natürlicher 
Erklärung  fertig  werden  zu  können  glaubte. 

Zunächst  schien  sich  die  Erzählung  des  Matthäus  ei- 
ner solchen  Deutung  darzubieten.  In  Bezug  auf  sie  wurde 
durch   zahlreiche  rabbinische  Stellen   nachgewiesen,    dafs 


27)  S.  Nkakdbr,  K.G.  a.  a.  0.  S.  616. 


Drittes  Kapitel.    $-28.  31» 

o*eh  jadischer  Ansteht  ein  Sohn  frommer  Eltern  anter 
Mitwirkung  des  heiligen  Geistes  erzeugt  sei  und  ein  Sohn 
desselben  genannt  werde,  ohne  dafs  hiebe!  an  Anssehlie» 
fsmg  des  mfinniiehen  Aatheils  an  seiner  Ersengnng  ge- 
dacht würde.  Der  betreffende  'Abschnitt  des  Bf  atthfaa 
naa,  meinte  man,  enthake  weiter  nichts,  als  diese  Vorstel- 
lung ;  der  Engel  wolle  hier  dem  Joseph  nicht  sagen ,  dafs 
Marin  ohne  Znthnn  eines  Mannes  schwanger  geworden, 
sondern  nur,  dafs  sie,  ihrer  Schwangerschaft  ungeachtet, 
sk  rein,  nicht  als  eine  Gefallene,  ansnsehen  sei.  Erst  bei 
Lukas  sei,  vermöge  einer  Steigerung  der  nrsprfingliehen 
Vorsteilnng,  durch  das  avdqa  s  yinooxw  jede  yAterfiche 
Mitwirkung  ausgeschlossen  ')•  Wurde  von  der  andern 
Seite  hiegegen  richtig  bemerkt,  dafs  ja  bei  MatthAus  der 
sinnige,  hier  in  Frage  kommende  Mann,  nSmlieh  Joseph, 
durch  das  n^h  rj  owelfruv  avrug  (1,  18. )  au  entschieden 
susgeschlossen  sei:  so  glaubte  man  nnn  von  dieser  Seite 
jene  Ausschliefsung  im  Lukasevangelium  weniger  entschie- 
den au  finden;  freilich  nur,  indem  man  entweder  unexe- 
getisch den  klaren  Wortsinn  auf  den  Kopf  stellte,  oder 
unkritisch  einen  Theil  der  so  wohl  eusammenhXngenden 
Krsfihlung  verdächtigte.  Bei  dem  ersteren  Verfahren  sollte 
die  Frage  der  Maria :  tbSq  igai  töro,  inel  (xvdqa  s  ymioxta; 
(1,  34.)  *°  riftl  heifsen :  wie  kann  ich,  die  schon  Verlobte 
and  Vermählte,  den  Messias  gebaren,  als  dessen  Mutter 
ish  keinen  Mann  haben  milfste?  worauf  der  Engel  er- 
wiedere,  dafs  aneh  aus  ihrem  mit  Joseph  erzeugten  Kinde 
Gett  durch  seine  Kraft  etwas  Besonderes  maohen  könne 8). 


1)  Br  . . . ,  die  Nachricht,  das»  Jesus  durch  den  hei).  Geist  und 
Ton  einer  Jungfrau  geboren  sei,  aus  ZeitbegriÖen  erläutert,  in 
Schmidt'*  Bibl.  1,  1.  S.  101  ff. ;  Horst,  in  Hbkkb's  Museum, 
1,  4,  497  ff.  >  über  die  beiden  ersten  Kapitel  im  Evang*  Lukas« 

2)  Bemerk.  üBer  den  Glaubenapunkt  u.  s.  f.,   Hsxkb's  n.  Maga- 
zin, 3,  3,  S.  399. 


2*4  :  Erster  Abschnitt. 

Ebenso  wlllkflrlieh  ist  4m  andere  Verfahren,  die  ange- 
führte Zwischenfrage  der  Maria  für  eine  unnatürliche 
Unterbrechung  der  Rede  des  Engels  so  erklären,  jene  ab- 
gerechnet aber  in  der  Stelle  keine  bestimmte  Hmdeatnaaj 
auf  die  anfsernatttrttehe  Empffeagnifs  an  finden  *). 

Ist  somit  die  Schwierigkeit  der  natfirKehen  Erklärung 
för  beide  Berichte  gleieh  groß:  se  meiste  entweder  auf 
beiden  Seiten  auf  eine  solche  versiebtet,  oder  sie  beide» 
male  gewagt  werden,  and  der  conseeuente  RationaUsmnSy 
n»  B.  eines  Paulus,  konnte  sieb  nur  fdr  das  Letztere  ent- 
scheiden. Den  Antheil  Josephs  «war  hält  der  genaust* 
Aasleger  durch  Matth«  1,  18.  för  ausgeschlossen,  keines- 
wegs aber  Jede  andere  männliche  Wirksamkeit;  se  wenig 
als  er  in  rtvsvfia  ayiw  and  dvvafug  viplgs  (Lac.  1,  35.) 
eine  wundervolle  göttliche  Thätigkeit  finden  kann.  Das- 
Ttvevfta  ayiov  ist  ihm  nichts  Objectives,  von  aufsen  aaf 
Maria  Einwirkendes,  sondern  ihre  eigene  Iremme  Ge- 
sinnung; die  dvvapug  vtpigs  aber  ist  ihm  nicht  anmittel- 
bar die  göttliche  Allmacht,  sondern  jede  gottgefällig  an- 
gewandte Naturkraft  kann  nach  ihm  so  genannt  werden» 
Demeufolge  ist  nach  Paulus  der  Sinn  der  Verkündigung 
des  Engels  nur  dieser:  vor  der  Verehlichnng  mit  Joseph 
werde  Maria  mit  reiner  Begeisterung  für  das  Heilige  ihrer- 
seits, and  durch  gottgefällige  Wirksamkeit  (versteht  sich, 
eines  Mannes)  auf  der  andern  Seite ,  Matter  eines  Kindes 
werden,  das,  wegen  dieses  heiligen  Ursprungs,  ein  Gottes- 
sohn an  nennen  sein  werde. 

Sehe«  wir  aber  noch  näher  nach,  wie  sich  der  Re- 
präsentant rationalistischer  Auslegung  die  Umstände  der 
Erzeugung  Jesu  vorstellt.  Von  Elisabet,  der  patriotischen, 
klugen  Aaronstochter,  wie  er  sie  nennt,  geht  er  ans« 
Hatte  diese  die  Hoffnung  gefaßt,  einen  Gottespropheten  eu 
gebären:   so  mufste   sie  wünschen,  dafo  er  der  höchste 


3)  Schlbibrmacrir,  über  den  Lukas,  S.  26  f. 


Dritte*  Kapitel.    $.28.  »5 

Prophet,  der  Vorläufer  des  Messias,  sein,  daft  also  auch 
dieser  bald  geboren  werden  möchte.  Und  eine  cor  Matter 
des  Messias  gan*  taugliche  Person  hatte  sie  in  ihrer  Ver- 
wandtschaft: die  jungfräuliche  Davidische  Descendentin 
Maria;  es  kam  nor  darauf  an,  sie  an  besonderen  Hoffnun- 
gen sn  veranlassen.  Während  man  nach  diesen  Andeu- 
tangen  bereits  einen  schlauen  Plan  der  Elisabet  mit  Ihrer 
jaagen  Verwandtin  ahnt,  und  in  denselben  eingeweiht  ra 
werden  hoffit  i  ififct  Paulus  hier  auf  einmal  den  Vorhang 
fidlen,  und  bemerkt,  die  Art,  wie  Maria  nu  der  Ueberaeu- 
gung  gekommen,  Motter  des  Messias  an  werden,  müsse 
man  historisch  pnentsebieden  lassen;  nur  an  fiel  sei  ge- 
wits,  dafs  Maria  dabei  rein  geblieben  sei,  indem  sie  un- 
möglich ,  wie  später  geschah ,  mit  gutem  Gewissen  unter 
das  Kraus  ihres  Sohnes  hätte  treten  können,  wenn  sie  sich 
eines  Vorwurfs  über  den  Ursprung  ihrer  Hoffnungen  von 
ihm  beweist  gewesen  wäre.  Nur  folgender  Wink  über 
die  eigentliche  Ansicht  von  Paulus  kommt  weiterhin  noch 
vor:  der  verkündigende  Engel  sei  vielleicht  Abends,  oder 
gar  bei  Nacht,  au  Maria  gekommen;  ja  der  richtigeren 
Lesart  aufolge,  welche  Luc.  1,  28.  nur:  xcci  elgsl+kav  Tioog 
avT7p>  üue,  ohne  6  ayyelog,  habe,  sei  hier  nur  von  einem 
Hereingekommenen  überhaupt  die  Rede  (als  ob  das  dgsk- 
&wv  in  diesem  Falle  nicht  nothwendig  %\g  bei  sich  haben, 
oder  ohne  dieses  auf  das  Subjeot:  6  äyyelog  IVr/fytj^l, 
V.  26.,  bezogen  werden  mülste!):  daft  es  der  Engel  Ga- 
briel gewesen ,  habe  sich  Maria  erst  nachher,  als  sie  von 
der  Vision  des  Zaoharias  hörte,  ergänst. 

Was  in  dieser  Erklärung  des  Vorgangs  stecke,  hat 
scheu  Gabler  in  einer  Reeenslon  des  PAuios'sohen  Com- 
mentars*)  mit  angemessener  Derbheit- ans  Licht  gesogen, 
indem  er  geradeso  sagt,  bei  der  Ansicht  von  Baulvs  bleibe* 


4)  Im  neuesten  theol.  Journal,  7.  Bd.  4.  Stück.  S.  407 f.    Vgl. 
Bauea,  hebr.  Mythol.  1,  S.  192,  c,  ff. 

Das  Leben  Jesu  5f*  Aufl.  I.  Band.  15 


'tu 


9M  Erster  Abschnitt. 

nlebti  Anderes  so  denken  übrig,  ab  dafr  «leb  Jemand  für 
den  Engel  Gabriel  ausgegeben,  und  als  angeblicher  Gottee- 
bote  selbst  die  Maria  besehlafen  habe,  um  den  Messias  mit 
ihr  an  eraengen.  Und  das,  fragt  Gablbr,  wenn  Maria  «t 
einer  Zeit,  da  sie  schon  verlobt  ist,  von  einem  Andern 
schwanger  wird,  soll  eine  unsündliohe,  gottgefällige  Weise, 
eine  vorwarflose,  heilige  Wirksamkeit  heifsen?  Maria  er* 
schiene  hier  als  eine  fromme  Schwärmerin ,  und  der  all-. 
getyiohe  Gottesbote  entweder  als  ein  Betrüger,  oder  aaeh 
als  ein  grober  Sehwärmer«  Mit  Recht  findet  der  genannte 
Theologe  vom  christlichen  Standpunkte  aus  eine  solche 
Behauptung  empörend;  vom  wissenschaftlichen  angesehen 
aber  widerspricht  sie  gleichsehr  den  Gesetzen  der  Ausle- 
gung wie  der  Kritik. 

Als  der  würdigste  Dolmetscher  von  Paulus  ist  hier 
der  Verfasser  der  natürlichen  Geschichte  des  grefsen  Pro- 
pheten vonNaaaret  au  betrachten,  welcher,  wenn  er  auch 
bei  Abfassung  dieses  Thcils  von  seinem  Werke  den  Paik 
Lus'schen  Commentar  noch  nicht  benutsen  konnte,  doch 
gana  in  dessen  Geiste,  was  dieser  noch  behutsam  mit  ei- 
nem Schleier  verhüllt,  ohne  Scheue  aufdeckt.  Er  ver- 
gleicht eine  Eraihlung  bei  Joseph  us  %  nach  welcher  eben 
im  Zeitalter  Jesu  ein  römischer  Ritter  die  keusche  Gattin 
eines  edeln  Römers  dadurch  für  seine  Wünsche  gewarnt, 
dftfs  er  sie  durch  einen  Isispriester  in  den  Tempel  dieser 
Göttin  unter  dem  Vorwande  laden  lief«,  der  Gott  Anubis 
hegehre  sie  au  umarmen;  worein  die  Frau  unschuldsvoll 
und  glaubig  sich  ergab,  und  spfiter  vielleicht  auch  ein 
Götterkind  su  gebären  geglaubt  haben  würde,  wenn  nicht 
der  Buhle  bald  darauf  mit  bitterem  Hohn  ihr  den  wahren 
Stand  der  Sache  entdeckt  hätte.  Auf  Ähnliche  Weise 
meint  der  Verfasser,  sei  Maria  als  Verlobte  des  Ält- 
lichen Joseph  durch  einen  verliebten  und  schwfirmerisehea 


5)  Antiq.  18,  3,  4. 


>  • 


Drittes  Kapitel.    (.  2S.  S27 

(er  lÄfst  ihn  In  der  folgenden  Geschichte  als 
Joseph  von  ArimathJta  auftreten ! )  get&uscht  worden  t 
und  habe  sofort,  in  alier  Unschuld,  wieder  Andere  ge- 
tloseht*).  Hier  wird  es  non  klar,  dafs  diese  Erklfirungs- 
art  nicht  verschieden  ist  von  jener  nralten  jtldiscben  Blas- 
phemie, welche  wir  bei  Celsns  und  im  Talmud  finden, 
dafs  Jesus  seine  Geburt  von  einer  reinen  Jungfrau  f&lsch- 
lieh  vorgegeben  habe,  in  der  That  aber  von  Maria  im 
Ehebruch  mit  einem  gewissen  Panthera  erzeugt  gewesen 
•ei  0 

Treffender  kann  man  ober  diese  ganse,  in  der  Läste- 
rung der  Juden  culmintrende  Ansicht  nicht  urtheilen,  als 
schon  Origenes  gethan  hat,  indem  er  sagt;  wenn  sie  der 
Geschichte  von  Jesu  Übernatürlicher  Erzeugung  etwas  An« 
deres  hätten  unterschieben  wollen,  so  hfitten  sie  diefs  we- 
nigstens auf  wahrscheinlichere  Weise  thun  sollen ;  sie 
kitten  nicht,  gleichsam  wider  Willen,  zugeben  dürfen, 
dafs  Maria  von  Joseph  unberührt  gewesen  sei,  sondern 
schon  diesen  Zug  hfitten  sie  Ifiugnen,  und  Jesum  aus  einer 
gewöhnlichen  menschlichen  Ehe  jener  beiden  entstehen 
laaoen  müssen;  wogegen  nun  das  Gezwungene  und  Aben- 
teuerliche ihrer  Hypothese  jedem  Kenner  die  Lüge  ver- 
reibe6). Was  heifit  diefs  anders,  als:  wenn  einmal  an 
einigen  Zügen  einer  wunderhaften  Erzählung  gezweifelt 
wird,  so  ist  es  folgewidrig,  andre  unbezweifelt  stehen  zu 
lassen ;  vielmehr  mufs  dann  ein  solcher  Berieht  nach  allen 


6)  iter  Theil,  S.  140  ff. 

7)  Die  Sage  hat  verschiedene  Formationen  erlebt,  durch  welche 
aber  immer  der  Name  Fanthera  oder  Pandira  hindurchgeht. 
S.  Origenes  c.  Cels.  1,  28.  32;  Schott**!«,  Horae,  2,  693 ff. 
aus  Tract.  Sanhedrin  u.  A.  ;  EisamnuneBa ,  entdecktes  Juden, 
thnm ,  1,  S.  105  ff.  aus  der  Schmähschrift :  Toledoth  Jeschu ; 
Thilo,  Cod.  apoer.,  1,  S.  528  f. 

8)  c.  Gels.  J,  32. 

15* 


228  Erster  Abschnitt. 


seinen  Theilen  mit  kritischem.  Auge  angesehen  werde»- 
Die  richtige  Ansicht  von  der  vorliegenden  Erzählung  lag, 
wenigstens  mittelbar,  in  Origenes,  Denn  wenn  er  das  elnemal 
mit  der  übernatürlichen  Empfängnifs  Jesu  die  Erzählung  von 
Plato's  Erzeugung  durch  Apollo  als  gleichartig  znsammen- 
stellt  (aber  hier  freilich  der  Meinung  ist,  nur  Böswillige 
können  dergleichen  bezweifeln)  *);  das  andremal  aber  von 
der  Erzählung  über  Piato»  sagt,  sie  gehöre  zu  den  Mythen, 
dureh  welche  man  die  ausgezeichnete  Weisheit  und  Kraft 
grober  Männer  habe  erklären  wollen  (aber  hier  dio  Er- 
zählung von  Jesu  Erzeugung  aus  dem  Spiele  läfst)  10> :  so 
hatte  er  ja  die  beiden  Prämissen  (Gleichartigkeit  der  bei- 
den Erzählungen  und  mythischen  Charakter  der  einen), 
aus  welchen  sich  ajs  Schlufssatz  der  blofs  mythische  Werth 
der  Erzählung  von  der  Empfängnifs  Jesu  ergab;  ein 
Schlafs,  den  er  aber  freilich  nicht  einmal  vor  seinem  ei- 
genen Bewußtsein  gezogen  haben  kann. 

§.    29. 

Die  Geschiebte  der  Erzeugung  Jesu  als  Mythus. 

Wenn  man  dem  fibernatürlichen  Ursprünge  Jesu  aus« 
weichen  wiU,  sagt -Gabler  in  seiner  Recension  von  Paulus 
Commentar,  um  nicht  in  nnsern  Tagen  zum  Gespfftte  zu 
werden :  wenn  aber  andrerseits  die  natürlichen  Erklären- 
gen  desselben  auf  sonderbare  nicht  nur,  sondern  selbst 
empörende  Behauptungen  fähren:  so  wähle  man  doch  lie- 
ber die  Annahme  eines  Mythus ,  durch  welche  alle  Jene 
Schwierigkeiten  vermieden  werden.  Viele  grofse  Man  per 
hatten  in  der  alten  mythischen  Welt  eine  aufserordentliche 
Geburt  und  waren  Göttersöhne.  Jesus  selbst  sprach  von 
seinem  himmlischen  Ursprung,   nannte  Gott  seinen  Vater, 


9)  Ebend.  6,  8« 
10)  Ebend.  1,  37. 


Drittes  Kapitel.    J.  29.  229 

«ad  hiefi  ohnehin  als  Messias  Gottes  Sohn.'  Aos  Matth. 
1,  22  fl  sieht  man  ferner,  dafs  die  Stelle  Jes.  7,14.  in  der 
ersten  christlichen  Kirche  auf  Jesum  bezogen  wurde. 
Jesus,  dächte  man,  mnfs  als  Messias,  dieser  Stelle  zu- 
folge, von  einer  Jnngfran  durch  Gotteskraft  geboren  sein; 
was  sein  mufste,  schloß  man,  ist  auch  wirklich  geschehen, 
and  ae  entstand  ein  philosophischer  (dogmatischer)  My- 
thus über  die  Geburt  Jesu.  Seiner  wirklichen  Geschichte 
aach  wäre  dann  Jesus  aus  einer  ordentlichen  Ehe  Josephs 
und  der  Maria  entsprossen;  womit,  wie  mit  Recht  be- 
merkt wird,  ebensowohl  die  Würde  Jesu  als  die  schuldige 
Achtung  gegen  seine  Mutter  besteht  ')• 

Man  hat  also,  um  sich  die  Entstehung  eines  solchen 
Mythos  eu  erklären,  an  die  Neigung  der  alten  Welt  erin- 
nert, grofse  Mfinner  und  Wohlthflter  ihres  Geschlechts  als 
Göttersöhne  darzustellen.  Die  Beispiele  sind  von  den 
Theologen  reichlich  beigebracht.  Namentlich  aus  der 
griechisch-römischen  Mythologie  und  Geschichte  hat  man 
an  Hercules  und  die  Dioskuren  erinnert,  an  Romulus  und 
Alexander,  vor  Allen  aber  an  Pythagoras2)  und  Plato, 
von  deren  Letzterem  Hieronymus,  ganz  auch  auf  Jesum 
anwendbar ,  sagt :  sapientiae  principem  tum  aliter  arbi- 
frantVTy  nisi  de  partu  virginis  editum  *). 


1)  Gablsr,  in  seiopm  neuesten  theol.  Journal,  7,  4.  S.  4ü8f>; 
Eichhorw,  Einleitung  in  das  N.  T.  1,  S.  428 f.;  Bauer,  nebr. 
Mythol.  1,  192  e  ff.  ;  Kaiser,  bibl.  Theologie,  1 ,  S.  231  f.; 
WtesciuiDSR,  Instit.  $.  123;  de  Witts,  bibl.  Dogmat.  §.  281. 
und  exeg.  Handb.  1, 1,  S.  18  f. ;  Arno«,  Fortbildung  des  Chri- 
atenth.  S.  201  ff. ;  Hase,  L.  J.  §,  33;  Fextescbi,  Comment.  in 
Matth.  S.  56.  Der  Letztere  schon  in  der  Ueberschrift  de« 
ersten  Kapitels,  S.  6,  richtig :  non  minus  iüe  (Jesus)  ut  fe- 
rvnt  dodorum  Judatcorum  de  Messia  sententiae,  patrem  ha- 
bet spiritum  divinum,  matrem  virginenu 

2)  Jamblich,  vita  Pythagorae,  cap.  2.  ed.  Kiissliä*. 

3)  adr.  Jevin.  1,  26.    Diog.  Laert.  3,  1,  2. 


£S0  Erster  Abschnitt 

Wenn  man  aas  diesen  Beispielen  schliefen  möchte, 
dafc  wojil  auch  die  Erzählung  von  der  übernatürlichen 
Erzeugung  Jesu,  ohne  historischen  Grund,  aus  einer  ähn- 
lichen Neigung  hervorgegangen  sein  dürfte:  so  vereinigen 
sich  Orthodoxe  und  Rationalisten,  fene  Analogie  nicht  gel« 
ten  «u  lassen;  wiewohl  aus  sehr  verschiedenen  Gründen* 
Wenn  bei  Origenes  nicht  viel  fehlt,  dafs  er  um  der  Gleich- 
artigkeit der  beiderseitigen  Ersählungen  willen  auch  die 
heidnischen  Sagen  von  Göttersöhnen  für  wahre  Wunder- 
geschichten hielte:  so  ist  Paulus  auf  seinem  Standpunkte 
mit  mehr  Entschiedenheit  so  consequent ,  beiderlei  Ersäh- 
lungen als  natürliche)  aber  wahre,  Geschichten  zu  erklä- 
ren. Wenigstens  von  der  den  Plato  betreffenden  Erzäh- 
lung sagt  er,  man  könne  nicht  behaupten,  dafs  sie  der 
Hauptsache  naeh  erst  später  entstanden  sei ;  vielmehr  habe 
Periktione  leicht  glauben  können,  von  einem  ihrer  Götter 
schwanger  zu  sein:  dafs  ihr  Sohn  hierauf  wirklich  ein 
Plato  wurde,  könne  zur  Bestätigung  ihres  Glaubens  ge- 
dient haben,  ohne  doch  dessen  Ursache  gewesen  zu  sein» 
Tholuck  macht  auf  den  bedeutenden  Unterschied  auf- 
merksam, dafs  jene  Mythen  von  Romulus  u.  A.  erst  Jahr- 
hunderte nach  den  Lebzeiten  dieser  Männer  sich  gebildet 
haben:  die  über  Jesuin  dagegen  ganz  kurz  nach  seinem 
Tode  entstanden  sein  müßten  *>  Der  Erzählung  von  Pla- 
to's  Geburt  zu  gedenken,  vermeidet  er  klüglich,  weil  er 
wohl  weifs,  dafs  diese  eben  in  jener  Hinsicht  ein  gefähr- 
licher Punkt  ist  Dagegen  fährt  nun  Osia^der  mit  grofsem 
Pathos  eben  auf  diesen  Punkt  zu,  und  behauptet,  Plato*« 
Apotheose  zum  Sohne  Apollos  sei  erst  mehrere  Jahrhun- 
derte nach  ihm  ausgeboren  worden5):  da  vielmehr  schon 
Plato*s  Schwestersohn  davon,  als  von  einer  in  Athen  ver- 


4)  Glaubwürdigkeit,  S.  64. 

5)  Apologie  des  L.  J.,  S.  92. 


Drittes  Kapitel,    ff,  ».  SSI 

breiteten  Sage,  sprach*).     Auf  noch  andere  Weife  will 
Olubao&u,  dem  rieh  Neander  ansehtieftt,  die  Analogie  der 
mjfthieehen  Göttersahne    unsehfidlich  auchen,    indem  er 
darauf  aufmerksam  macht,  wie  diese  Erzählungen ,  wenn 
gleich  «»historisch ,   doch  flr  die  allgemeine  Ahnung  und 
Sehnsucht  naeh  einer  solchen  Thateache,   and  damit  Ar 
die  Wirklichkeit  derselben  wenigstens  in  Einer  geschieht- 
liehen    Erscheinung,   bargen»    Allerdings  nun  mufs  einer 
eJJgenseinen  Ahnung  und  Vorstellung  Wahrheit  sum  Grunde 
liegen j  nur  dafs  diese  nicht  in  einer  einseinen,  jener  Vor- 
stellung genau  entsprechenden   Thatsaehe  bestehen  wird, 
aendern  in  einer  Idee,    welche  sieh  in  einer  Reihe,   jener 
Verstellung  oft  sehr  unähnlicher,  Thatsaehen  verwirklicht, 
—    und   wie  die    ▼erbreitete   Vorstellung    eines  goldenen 
Zeitalters  nicht  beweist,   dafs  wirklich  einmal  eine  solche 
Zeit  gewesen:    so  hat  aueh  die  Vorstellung  von  göttlichen 
Erzeugungen  in  etwas  gans  Anderem  ihre  Wahrheit,   als 
darin,  dafs  irgendeinmal  ein  Individuum  auf  diesem  Wen 
«tun  Dasein  gekommen  ist  '). 

Eine  wesentlichere  Einwendung  gegen  die  dargelegte 
Ajudogte  ist,  daü  die  Vorstellungen  der  Ueidenwelt  nichts 
für  die  abgeschlossenen  Juden  beweisen,  udd  dafs  nament- 
lich die  dem  Polytheismus  angehörige  Idee  von  tiöttersöh- 
nen  auf  ihre  streogmonetheiatisehen  Messiasbegriffe  nicht 
wohl  einen  Einflufs  habe  ausüben  können  6).  Allerdings 
darf  asan  hier  nicht  au  schnell  aus  dem  Ausdruck:  Sohn 
Vottes,  der  sich  auch  bei  ihnen  findet,  schliefen,  welcher, 


6)  Diog.  Laert.  a.  a.  O. :   Snriatnnos  (Sororis  Piatonis  fittut, 

tfieron.  )  &*  fy  r«3  irnyocupo/itvin  niarmot  7i*QideinvM  xat  KXeaoj(o; 
Iv  r«3  Jlidrtoyo;  h/xtafibp  xat  \4va$J.id/jt  tv  n»  dtvrtQtü  nt'yi  <f*looo<f*ay\ 
yaakr*  A$i)vrfHV  tjv  JLayo;  x.  r.  X, 

.7)  UebereinstiauncAd  Ha«*,  L.  J.  §.33>  de  Weite,  exeg.  Haadb. 

1,  1,  S.  19. 
S)  Neamhc»,  L*  J.  C1l  S.  10« 


232  Erster  Abschnitt. 

wo  er  im  A.  T.  von  Obrigkeiten  (  Ps.  82,  0. )   oder  theo* 
kretischen  Königen  (2.  Sam.  7,  14.    Ps.  2,7.)  gebraucht 
wird,  eben  nnr  dieses  theokratisehe,  kein  physisches  oder 
metaphysisches    Verhlltnifs   anzeigt;    noch   weniger  darf 
man  darauf  Gewieht  legen ,  dafs  bei  Josephus  ein  Römer 
schöne   jüdische  Fürstenkinder  schmeichelnd  Götterkinder 
nennt9).    Doch  aber  hatten,   wie   im  vorigen  §.  bemerkt, 
die  Juden  die  Vorstellung,  deis  bei  Erzeugung  der  From- 
men der  heilige  Geist  mitwirke ;    ferner ,  *  dafs  die   auser- 
wfibltpsten    Rüstzeuge  Gottes    durch    göttlichen  Beistand 
von  solchen  filtern  erzeugt  werden,  welche  nach  dem  na* 
türlichen  Laufe  der  Dinge  kein  Kind  mehr  bekommen  ha- 
ben worden :  und  wenn  bei  diesen  nach  glaubiger  Vorstel- 
lung die  göttliche  Wirksamkeit  die  erstorbene  Fähigkeit 
beider  Theile  erneuerte  (Rom.  4, 19.),  so  war  es  nur  noch 
ein  Schritt  bis  zu  der  Annahme,    dats  sie  bei" Erzeugung 
des  höchsten  jener  Rüstseuge ,   des  Messias ,  die  fehlende 
Wirksamkeit  des  einen  Theils,   bei  vollkommener  Fähig- 
keit des  andern,   ersetzen  werde;   dieses  verhilt  sich  mm. 
jenem  kaum  als  ein  höherer  Grad  des  Wunderbaren»    So 
mub  es  der  Verfasser  von  Luc.  1.  selbst  angesehen  haben, 
indem  er  die  Zweifel  der  Maria  durch  denselben  Spruch 
niedergeschlagen  werden  läCst,  mit  welchem  im  A.  T.  Je- 
hova  den  Zweifel  der  Sara  zurückgewiesen  hatte10).    Dafs 
es  zu  dieser  Steigerung  vollends  kam,   daran  konnte  we- 
der die  jüdische  Achtung  vor  der  Ehe  hindern,  welcher 
eine  aseetische  Schätzung  des  ehelosen  Lebens;    noch  die 
herrschende  Vorstellung  vom  Messias  als  einem  gewöhnli- 
chen Menschen  u) ,  der  von  Daniel  aus  die  Idee  von  ihm 


9)  Antiq.  15,  2,  6. 
10)  1.  Mos.  18,  14.  LXX:  Luc.  1,  37: 

firj     a&vvarqaci     naqa    rw    &€to  ort  ax  aduvar/jaet   normet  tw  #**5 

U)  Auf  Beides  beruft  sich  Nbahdbh,  L.  J.  Ch.,  S»  10. 


Dritt**  Ka»ltel.    5-29.  23S 


als  einem  näheren  Wesen  bot  Seile  ging.  Eine  bestimmte 
Veranlassung  aber,  die  aasern  deburtsgesehiehten  znm 
Grantle  liegende  Vorstellung  auscubilden,  lag  aum  Theil 
etjion  in  dem ,  einmal  ftr  den  Messias  fibiieh  gewordenen 
Titel :  vtog  #«*  '*)•  Denn  es  ist  die  Natur  solcher  zunächst 
fcildliohen  Ausdrücke,  dafs  sie  mit  der  Zeit  immer  mehr 
eigentlich  und  im  strengen  Sinne  genommen  werden ,  und 
besonders  tinter  den  späteren  Jaden  war  .eine  sinnliche 
Auflassung  des  früher  geistig  and  biidlieh  Gemeinten  an 
dar  Tagesordnung.  Dieser  natfirliehen  Neigung,  das  viog 
9t£  vom  Messiaa  in  immer  wörtlicherem  Verstände  eu 
nehmen,  kam  dann  einerseits  der  Zusate  entgegen,  wei» 
eben  Es.  2,  7.   das  messianiseh  gedeatete  HPK  ^  in  dem 

t[TT1?*  DVn  hat,    welches    fast    unausbleiblich    verleiten 

mauste,  hier  an  ein  physisches  Verhältnifs  /zu  denken; 
andererseits  das  jesaianische  Orakel  von  der  gebarenden 
Jungfrau,  welches,  wie  so  viele ,  deren  nlchste  Beziehung 
sieh  verdunkelt  hatte,  auf  den  Messias  scheint  bezogen 
worden  zu  sein :  eine  Beziehung,  welche  man  in  der  Wahl 
des  Wortes  TiaQ&lvog,  d.  h.  reine,  unbefleckte  Jungfrau, 
bei  den  LXX,  statt  des  veäng  bei  Aquila  u.  au  griechi- 
schen Cebersetzern,  finden  kann  13J.  Hierauf  wurden  dann 
die  Begriffe  vom  Gottessohn  und  Jungfrauensobn  in  der 
Art  durch  einander  ergänzt,  dafs  man  die  göttliche  Wirk- 
samkeit an  die  Stelle  der  menschlich  -  vÄterlichen  setzte. 
Freilich  versichert  Wbtstein,  dafs  nie  ein  Jude  die  jesaia- 
aieehe  Stelle  auf  den  Messias  bezogen  habe,  und  auch 
Schöttgen  weifs  Spuren  der  Ansicht  vom  Messias  als 
Jungfrauensohn  aus  den  Rabbinen  nur  äufserst  mühselig 
zusammenzulesen  ") :    allein  bei  der  Mangelhaftigkeit  der 


12)  Vgl.  Eich»»»*,  Einl.  in  das  N.  T.  a.  s.  O. 

13)  »a  Warn,   exeg.  Handb.,  1,1,   S.  17. 

14)  Jüngere  Bahbincn  haben  sie  allerdings ,    s.  Matthaii ,  Reli- 
l.  der  Apostel,  2,  a,  S.  555  ff. 


SM  Ereter  Abschnitt. 


Nachrichten  aber  die  seeesianisehen  Ideen  Jener  Zeit  be- 
weist diefii  nichts  gegen  die  VorauMetnung  einer  Zeitvor> 
Stellung,  von  welcher  die  vollständigen  Grundlagen  im 
A.  T.  nnd  eine  kaum  verkennbare  Folge  im  neuen  sieh 
findet. 

Noch  ist  eine  Einwendong  zorlek,  die  ich  jetzt  nicht 
mehr  eine  Olshausen  eigentümliche  nennen  kann,  eeit 
aneh  andere  Theologen  sieh  beeifern,  an  dem  Rahme  der* 
selben  Antheil  su  bekommen.  Nämlich,  die  mythische  Auf- 
fassung der  vorliegenden  Ersfthlung  sei  besonders  defe- 
wegen  gefährlich,  weil  sie  nur  so  geeignet  sei,  profanen 
nnd  gotteslästerlichen  Vorstellungen  ober  den  Ursprung 
Jesu,  wenn  auch  nur  dunkel,  Eingang  zu  verschaffen. 
Denn  sie  könne  nur  die,  den  Begriff  eines  Erlösers  ver- 
nichten4e,  Ansicht  begünstigen,  dafs  Jesus  auf  unheilige 
Weise  in's  Leben  gerufen  worden,  da  Ja  Maria  unver* 
mahlt  gewesen  sei,  als  sie  ihn  unter  dem  Herzen  getra- 
gen habe  iS).     Wenn   Olshausen   in  der   ersten  Auflage 


15)  Bibf.  Comm.  1,  S.  47.  Auch  Theilb,  dessen  hiehergehori- 
ger  §.  14.  (und  überhaupt  seine  Behandlung  der  Jugendge- 
schichte) ein  merkwürdiges  Stück  von  Geben  mit  der  einen 
Hand  und  Nehmen  mit  der  andern  ist,  findet,  obwohl  er  ein- 
sieht, dass  bei  der  mythischen  Ansicht  mit  der  übernatürli- 
chen auch  die  voreheliche  Zeugung  wegfiele,  doch  möglich, 
dass  Einem  die  Aufklärung  verböte,  mit  der  ersteren  auch  die 
letztere  in  Abrede  zu  ziehen;  wogegen  ich  auf  den,  §.  16.  auf- 
gestellten  und  im  Obigen  angewendeten,  kritischen  Kanon  ver- 
weise. Etwas  glimpflicher  stellt  Neakdcr  (S.  9)  das  Dilemma, 
die  mythische  Ansicht  müsse  hier  entweder  eine  reine  Dich- 
tung, oder  eine  solche  annehmen,  der  etwas  Geschichtliches 
zum  Grunde  liege,  was  dann  nur  jenes  Unheilige- sein  könnte. 
Darauf  aber  werde  der  Mythiker  nothwendig  hingetrieben; 
denn  jener  ersteren  Annahme  „widerstrebe  durchaus  die  ein- 
fache, prosaische  Erzählung  de«  Matthäus4'.  Es  kann  nur 
bedauert  werden,  dass  auch  Nea*»hv- die  Einsicht  in  die  my- 


Drittel  Kapitel.    $.  SO.  £35 

Mnsusetste ,  er  wolle  übrigen«  gerne  zugestehen,  da& 
tolehe  Erklürer  nieht  wissen,  was  sie  thun:  so  ist  es 
billig,  das  gleiche  ZogestftndniTs  auch  ihm  au  Goto  kom- 
laen  su  lassen,  da  er  hier  gar  nieht  an  wissen  scheint, 
waa  mythische  Erklärung  ist.  Denn  wie  konnte  er  sonst 
sagen,  dafs  diese  Erklärangsweise  nur  jene  blasphemi» 
sehe  Ansiebt  begünstigen  könne;  dafs  also  Alle,  welche 
die  vorliegende  Erzählung  mythisch  fassen,  das  Unsinnige 
au  begeben  geneigt  seien ,  waa  sehen  Origenes  den  jüdi- 
schen Lästerern  nnm  Vorwurf  machte ;  nämlich  von  eine^ 
ErsfiUung,  welche  sie  im  Uebrjgen  für  onhistoriseh  er- 
kenne«, doch  den  Einen  Zng  festzuhalten,  dafs  Maria 
noch  nieht  verheirathet  gewesen  sei;  ein  Zog,  welcher 
offenbar  nur  aar  Stfttse  des  andern ,  dafs  Jesns  von  kei- 
nem Manne  erzeugt  gewesen,  dienen  soll,  also  mit  diesem 
steht  and  ftilt?  So  verblendet  and  inconseqnent  ist  kein 
einsiger  der  Erklärer  gewesen ,  welche  hier  einen  Mythus 
im  vollen  Sinne  finden,  sondern  alle  haben  eine  legitime 
Ehe  nwisehen  Joseph  und  Maria  vorausgesetzt,  und  nur 
Olshausen  malt  die  mythische  Anffassnngswelse  in  das 
Fratzenhafte,  um  desto  eher  mit  derselben  fertig  au  wer« 
den,  weil  sie,  wie  er  eingesteht ,  in  diesem  Abschnitte  be» 
eonders  viel  Blendendes  hat. 

S.    *0.  l 

Verhältniss  Josephs  zu  Maria.     Brüder  Jesu. 

Gans  im  Geiste  der  aJten  Sage  finden  ee  untre  Evan« 
geilen  anatitndig,    die  Mutter  Jesu,    so    lange  aie  diese 


thisebe  Natur  wenigsten»  einzelner  evangelischer  Erzählungen 
schon  von  vorne  herein  durch  die  verkehrte  Vorstellung  sich 
verbaut  hat,  als  könnte  der  Mythus  nicht  (und  zwar  schon  in 
«einem  Ursprung )  einfach ,  prosaisch  ,  sein.  Wer  im  Wald 
Keine  Bäume  finden  will,  der  darf  nur  bei  sich  feststellen, 
was  ein  Baum  sei,  müsse  roth  aussehen:  dann  findet  er  ge- 
wiss keinen,  ausser  etwa  hie  und  da  jm  Herbst. 


236  Erster  Abschnitt- 

himmlische  Fracht  unter  dem  Herzen  trag,  von  keinem 
irdischen  Manne  berührt  und  verunreinigt  werden  zu  las- 
sen. Daher  läßt  Lukas  vor  Jesu  Geburt  den  Joseph  mit 
Maria  nur  im  Verhftltnits  der  VeHobung  stehen  (2,  5.), 
nnd  wie  es  von  Plato's  Vater  heifst,  nachdem  seine  Gattin 
von  Apollo  empfangen  hatte:  o&ev  xa&aQav  yd/its  gwlex^ai 
i'tog  rfjg  dnoKvrjaetag  0  ,  so  wird  bei  Matthfius  von  Joseph 
bemerkt  (1,  25.)  2  xcA  &x  iyivwaxev  avrjjv  {.rrpr  ywatxa 
avrS)  iwg  ö  txexe  rov  vtoP  ccvrijg  rov  nqonovüxov.  Offen« 
bar  muff  in  beiden  verwandten  Stellen  das  l'tog  auf  glei- 
che Weise  genommen  werden ;  nun  aber  bezeichnet  es  in 
der  enteren  unstreitig  nur  dieft,  dafs  zwar  bis  za  Plato's 
Gebart  sein  Vater  sich  der  Gemeinschaft  mit  der  Gattin 
enthalten  habe,  nachher  aber  in  seine  ehelichen  Rechte 
eingetreten  sei,  zumal  wir  ja  von  Brüdern  Plato's  wissen. 
Nicht  anders  wird  daher  das  &)$  in  Bezog  auf  die  Eltern 
Jesu  su  nehmen  sein:  dafs  es  nur  bis  su  der  angegebenen 
Grinse  hin  die  eheliche  Gemeinschaft  lfiugnet,  nach  der- 
selben aber  sie  stillschweigend  voraussetzt.  Ebenso 
scheint  das  nQcoToroxog ,  wie  Jesus  in  beiden  Evangelien 
bezeichnet  wird  (Matth.l,  25.  Luc.  2,  7.),  eine  Folge  an- 
derer Kinder  der  Maria  vorauszusetzen,  nach  dem  Lucia- 
nisehen:  et  nkv  nQwtoQ,  ö  fiovog'  el  de  fitovog,  ö  7ZQcurog  *)> 
zumal  in  denselben  Evangelien  (Matth.  13,55.  Luc.  8, 19.) 
von  ddelcpdis  *LrßH  die  Rede  ist.  Wenn  also  nach  Fritz- 
sche's  Worten  Ivbentissime  post  Jesu  natales  Mariam  conr 
cessit  Mattliaeus  (ebenso  auch  Lukas)  uxorem  Josepko,  in 
hoc  uno  occupatus,  ne  quis  ante  Jesu  primordia  mutua  Ve- 
nire usos  suspicaretur:  so  genügte  diefs  doch  den  Or- 
thodoxen um  so  Weniger  in  die  Länge,  je  höher  bald  die 
Verehrung  der  Maria  stieg,  deren  Leib,  einmal  durch 
göttliche  Thfitigkeit  befruchtet,  nicht  mehr  durch  gemein- 


i)  Diog.  Lftert.  t.  a.  O.    Vgl.  Origenea  c.  Geh.  I,  37. 
2)  Demonax,  29* 


Drittes  KapiteL    8.  30,  i57 

menschlichen  Geschlechtsverkehr  entheiligt  werden  soll« 
te  *>  Frühzeitig  trat  daher  die  Ansicht,  dals  Maria  nach 
dar  Gebart  Jesu  mit  Joseph  ehelichen  Umgang  gehabt, 
in  die  Kreise  der  Ketaer  snrflek  *),  und  die  rechtgläubigen 
Viter  sachten  auf  Jede  Weise  derselben  auswweichen  and 
sie  sa  bekfimpfem  Exegetisch  erdachte  man  sich  für  das 
Sag  «  die  Auslegung,  dafs  es  nnweilen  nicht  Mols  bis  sa 
der  angegebenen  Zeitgrftnae  hin,  sondern  auch  Aber  die- 
selbe hinaus,  fftr  immer ,  etwas  behaupte  oder  Ufiogne,  so 
dsfs  hier  das  ax  iytmoxsv  avnjy  i'iog  &  eiexe  x.  %9  L  die 
eheliche  Gemeinschaft  swischen  Joseph  und  Maria  für 
alle  Zeiten  ausschließe  5).  Ebenso  machte  man  in  Besag 
aaf  das  TtQonotoxog  geltend,  es  schließe  nicht  nothweadig 
in  sich,  dafc  nachher  noch  andere  Kinder  geboren  seien, 
sondern  nur,  dafs  andere  vorher,  schiiefse  es  aas  ')•  Um 
aber  nicht  blofs  grammatisch,  sondern  auch  physiologisch 
den  Gedanken  an  ein  eheliches  Verhfiknifs  swischen  Ma- 
ria und  Joseph  sa  entfernen,  machte  man  den  Letsteren 
sam  abgelebten  Greise,  welchem  Maria  mehr  nar  sar 
Aufsicht  und  Beschütsung  übergeben  worden  sei,  and 
sah  demnach  die  im  W.  T.  vorkommenden  adefopog  *Lt/sh 
Iftr  Kinder  Josephs  aas   einer  früheren  Ehe  an  7)-    Bald 


3)  S.  Origenes  in  Matthaeum,  Opp.  ed.  de  la  Rue  Vol.  3. 
S..  463. 

4)  Der  Arianer  Eunomius  lehrte  nach  Fhotius  ,  tw  yJaxnjtp  /um 
xrpr  mp^agay  xwxpoQurr  avyanrea9ai  tJ  iu%94rty»  Ebenso  n*Cn  Epi* 
phanius  die  tob  ihm  sogenannten  Dimoriten  und  Antidikoma- 
rianiten,  und  na/h  Augustin  die  Hei  vidi  aner.  Vergl.  hierüber 
die  Sammlung  von  Suicia,  im  Thesaurus  2,  s.  ▼.  Matfa, 
fei.  305  f. 

5)  Vergl.  Theephylakt  und  Suidas  hei  Suicsm  I,  s.  ▼.  ?«•>*,  fol. 

1294  ^ 

6)  Hieron.  z.  d.  St. 

7)  S.  Orig~  in  Matth.  Tont.  10,  17;  Epiphan,  haeres.  78,  7;  HU 
storia  Josephi  c.  2;  Proter.  Jac.  9.  18. 


236  Erster  Abschnitt. 

•  •  • 

aber  sollte  Maria  nicht  allein  von  Joseph  niemals  berfthrt,  - 
sondern  auch  durch  die  Gebart  Jesu  ihrer  Jangfrauschaft 
nicht  verlustig  geworden  sein  *)•  Ja  selbst  die  unver- 
letste  Jungfräulichkeit  der  Maria  genügte  in  die  Länge 
nicht?  auch  Ten  Joseph  wurde  beständige  Virginitlt  ver- 
langt; man  war  nieht  zufrieden,  dafs  er  mit  Maria  keinen 
ehelichen  Umgang  gehabt,  er  sollte  überhaupt  niemals  in 
ehelichen  Verhältnissen  gestanden  haben.  Daher  warde, 
was  selbst  Epiphanias  eugibt,  von  Hieronymus  als  gott- 
lose apokryphische  Träumerei  verworfen,  dafe  nämlich 
Joseph  von  einer  froheren  Gattin  Söhne  gehabt  habe,  und 
es  worden  von  jetzt  an  die  adelqxA  7>;<78  ra  blofsen  Vet- 
tern desselben  degradirt  *)• 

Auch  neuere  orthodoxe  Theologen  halten  mit  den  Kir- 
ehenrätern  daran  fest ,  dafs  niemals  ein  ehelicher  Umgang 
«wischen  Joseph  und  Maria  eingetreten  sei,  und  glauben 
demgemäfs  auch  die  evangelischen  Ausdrücke,  welche  fiir 
das  Gegen theÜ  an  sprechen  scheinen,  erklären  zu  können. 
Wenn  in  Besiehung  auf  TtQanoioxog  Olshausen  behauptet, 
dafs  es  ebensowohl  den  eineigen  Sohn,  als  den  ersten 
neben  andern  bedeuten  könne:  so  wird  ihm  hierin  auch 
Ton  Paulus  Recht  gegeben,  und  Clbmkn  la)  und  Fritz- 
schb  suchen  vergebens  die  Unmöglichkeit  dieser  Aus- 
legung darzuthun;  denn  wenn  es  2.  Mos.  13,  2.  heifst: 
DIJ3  ^5  ICQiTtQcmoioxovnQiüToyevegLXX^  1133"73  *h  U/;lj) 

so  war  doch  keineswegs  allein  ein  solches  Erstgeborene,  auf  %  s 
welches  noch  andere,  später  Geborene  folgten,  Jehora  heilig, 
sondern  jede  Leibesfrucht,  vor  welcher  keine  andere  von 


8)  Chrysostomu«,  hom.  142,  bei  Suiesu,  s.  v.  Alatfa,   —  beson- 
dert widerlich  aasgeführt  im  Protev.  Jac.  c.  19.  u.  20. 

9)  Hieron.   ad  Matth.  12,    und  advers.  Helvid.  )>ei  Suicsn,   1, 
5.  85. 

10)  Die  Brüder  Jesu.    In  Wnntn's  Zeitschrift  für  Wissenschaft- 
liehe  Theologie«  t,  5,  S.  364  f. 


Drittes  Kapitel.    g.  SO.  2S9 

derselben  Blatter  geboren  wer;  was  also  der  Ausdruck : 
rrpft/ror ofcrx;  5  noth wendig  auch  mafs  beseichnen  können. 
Freilich  mufs  man  andererseits  mit  Wihbr  n.  A.  u)  sa- 
gen, dafs,  wenn  der  Erafihier,  vor  welchem  die  Ge- 
sehMhte  abgeschlossen  daliegt,  jenen  Ansdrack  gebraucht, 
man  denselben  in  seinem  ursprünglichen  Sinne  au  neh* 
aen  versucht  ist,  da  der  Schriftsteller,  wenn  er  wei- 
tere Kinder  ausschliefen  wollte ,  wohl  eher  den  Aus-t 
druck  paroyevijg  gebraucht,  oder  mit  TZQorrcrroxog  verbun- 
den haben  würde.  Doch,  wenn  auch  dieses  nichts  ent- 
scheiden  mag,  so  ist  um  so  schlagender  die  Aosftihrung 
Fritzscbb's  in  Bezug  auf  das  l'cog  5  x.  t.  L,  in  welcher  er 
die  angeblichen  Belegsteilen  der  kirchenvÄterüchen  Aus- 
legung jener  Formel'  aurfiek  weist,  und  aeigt,  daft  sie,  ihrem 
nJteheten  Sinne  nach  nur  bis  au  einer  angegebenen  Grinse» 
hin  etwas  aassagend,  und  von  dieser  an  das  Eintreten  dea 
logischen  Gegentheils  voranssetsend ,'  nur  in  dem  Falle 
diesee  Letztere  nicht  thue,  wenn  aus  dem  Zusammenhang 
daa  Eintreten  dieses  Gegentheils  als  unmöglich-  von  selbst 
erhelle  **)•  Dann  s.  B«,  wenn  es  hiefse:  sx  tylvoxjxev 
cnrtrpi  twg  ö  aTti&cnrev,  verstünde  es  sich  von  selbst,  dafs 
Am*  von  der  Zeit  bis  sum  Tode  Geleugnete  auch  nachher 
nicht  eingetreten  sei:  heilst  es  aber,  wie  bei  Matthäus, 
ex  «.  er.  i'iog  &  iT€xevy  so  liegt  in  dem  AusgebSren  der 
göttlichen  Frucht  keine  Unmöglichkeit,  sondern  umgekehrt 
die  Wiederherstellung  der  Möglichkeit ,  d.  h.  Schicklich- 
keit,  das  eheliche  Verhtltnifs  in  Wirklichkeit  treten  au 
lassen  ts). 


11)  Biblisches  Realwörterbuch,  i.  Bd.  S.  664,  Anm.  di  Witt«, 
s.  d.  St.    Niakdsr,  L.  J.  Ch.,  S.  34. 

12)  Comment.  in  Mattb.  S.  53  ff.,  vgl.  auch  S.  835. 

13)  Das  von  Olshausbh  cur  Unterstützung  seiner  Auslegung  des 
ftoi  »  ersonnene  Beispiel  ist  besonders  unglücklich  gewählt. 
Denn  wenn  gesagt  wird :  -wir  warteten  bis  Mitternacht ,  aber 
es  kam  Niemand;   so  liegt  darin  allerdings  nicht  nothwendig, 


MO  Erster  Abschnitt«. 

Aach  Ol8haü8En  übrigens  widerspricht  hier  dar  kbh 
ren  Grammatik  and  Logik  *nur  ,  wfiü  ihn  ähnliche  dogma- 
tische Gründe«  wie  die  Kirchenväter,  d**P  treiben;  ohne 
nämlich  die  Heiligkeit  der  Ehe  beeinträchtigen  eu  wollen, 
meint  er,  Joseph  habe  nach  solchen  Erf abrangen  (?)  wohl 
denken  müssen,  seine  Ehe  mit  Maria  habe  einen  andern 
Zweck,  als  den,  Kinder  so  erneiagen;  auch  seheine  es  pa- 
tur(?)gemäfs  zu  sein  "),  dafsdie  letnte  Davididin  des  Zwei- 
ges, ans  welchem  der  .Messlas  geboren  ward ,  mit  diesem 
letzten,  ewigen  Spröfsling  ihr  Geschlecht  beschlossen 
habe.  Es  lä&t  sich  hienach  eipe  hübsche  Leiter  des  Glau- 
bens and  beziehungsweise  Aberglaubens  in  Bezug  auf  das 
Verbältnils  zwischen  Maria  and  Joseph  entwerfen« 

1.  Zeitgenossen  Jesu  and  Verfasser  der  Genealogien: 
Joseph  and  Maria  Eheleute ,  und  -aas  ihrer  Ehe  Jusos  er- 
zeugt« 

2*  Zeitalter  und  Verfasser  unerer  Geburtsgeschiohten; 
Maria  und  Joseph  nur  verlobt;  Joseph  ohne  Antbeil  an 
dem  Kinde,  und  vor  dessen  Geburt  in  keiner  eheliche» 
Berührung  mit  Maria. 

3.  Olshaü8Bn  u.  A. :  Auch  nach  der  Geburt  Jesu,  wie- 
wohl nun  Maria's  Gatte,  wollte  doch  Joseph  keinen  Cfo- 
brauch  von  seinem  ehelichen  Rechte  machen« 

4.  Epiphanius,  Protevangelium  Jacobi  u.  A. :  Als  ab- 
gelebter Greis  konnte  er  diefs  auch  nicht  wohl  mehr; 
seine  angeblichen  Kinder  sind  aus  einer  früheren  Ehe,  und 
überhaupt  bekommt  Joseph  die  Maria  nicht  sowohl  zur 
Braut  und  Frau,  als  vielmehr  Mols  in  Obhut» 


dass  nun  nach  Mitternacht  Jemand  gekommen  sei:  wohl  aber, 
wenn  dies«  nicht,  das  Andere,  dass  wir  nach  Mitternacht 
nicht  mehr  gewartet  haben ;  so  dass  hiedurch  dem  „bis"  seine 
exclusive  Bedeutung  nicht  geschmälert  wird. 

14)  Abermals  ein  ähnliches  „passend",  wie  §§.  20«  u.  21. 


Drittes  Kapitel«    §.  30*  241 

5.  Protevang. ,  Chrysostomus  u.  A. :  Nicht  nur  nicht 
durch  spfitere,  Tun  Joseph  erzeugte  Kinder ,  sondern  Aoch 
nieht  durch  die  Geburt  Jesu,  wurde  die  Jungfreusebaft 
der  Maria  im  Mindesten  verietst. 

6.  Hieronymus:  Nicht  allein  Maria,  sondern  auch  Jo- 
seph beobachtete  bestfindige  Virginität,  und  die  angeblichen 
Brüder  Jesu  sind  nicht  seine  Söhne ,  sondern  Jesu  Vetterju 

Auch  gegen  die  Ansicht,  dafs  die  im  N. .  T.  vorkom- 
menden adeJUpol  und  dSebfcu  tyaä  blofse  Stiefgeschwister, 
oder  gar  blofse  Geschwisterkinder  Jesu  gewesen,  mufs 
aus  der  vorgelegten  Genesis  dieser  Meinung  das  schlimm- 
ste Vorurtheil  entstehen,  indem  sie  hienach,  sammt  der 
Meinung,  daft  zwischen  Joseph  und  Maria  nie  ein  ehli- 
eher  Verkehr  stattgefunden ,  als  eine  blofse  Erdichtung 
des  Aberglaubens  erscheint  In  der  That  aber  verhält  es 
sich  hiemit  nicht  so ,  sondern  .  es  sind  rein  exegetische 
GrGnde  vorhanden,  vermöge  welcher  auch  vorurteilsfreie 
Theologen  geglaubt  haben ,  die  Ansicht,  dafr  Jesus  wirk- 
liche Brfider  gehabt,  aufgeben  su  müssen  ,5).  —  Zwar, 
wenn  wir  blofs  die  Stellen  Matth.  13,  55.  Marc.  6,  &  hät- 
ten, wo  die  Nasaretaner,  sich  über  die  Weisheit  ihres 
Landsmannes  verwundernd,  um  seine  ihnen  wohlbekannte 
Herkunft  su  bezeichnen,  unmittelbar  hinter  dem  zixnov 
seinem  Vater,  und  seiner  Motter  Maria  seine  ddeXpäg,  Na- 
mens Jakobus,  Joses,  Simon  und  Judas,  nebst  seinen  un- 
genannten Schwestern  16J,  auffahren ;  ferner  Matth«  12,  46. 
Luc«  6,  J9. ,  wo  die  Brüder  mit  der  Mutter  Jesu  ihn  be- 


15)  Vgl.  über  diesen  Gegenstand  besonders  Climek,  die  Brüder 
Jesu,  in  WikerV  Zeitschrift  für  wiss.  Theol.  1,  3,  S.  329  ff. ; 
Paulus,  exeg.  Handbuch  1.  Bd.  S.  557  ff. J  Fritzschs,  a.  a.  O. 
S.  480  ff.;  WncxR,  bibl.  Realwörtcrb.,  in  den  A.A.:  Jesus,  Jaco- 
bus,  Apostel,  wo  auch  die  weitere  Literatur  nachgewiesen  ist. 

16)  Wie  sie  die  Legende  verschiedentlich  benannt  hat,  s.  bei 
Tano,  Codex  apoeryphus  N..  T.,  1,  S.  363«  not. 

Dat  Leben  Jesu  Zte  Aufl.  t.  Band.  U 


242  Erster  Abschnitt. 

suchen ;  Joh.  2,  12. ,  wo  Jesus  mit  ihnen  und  seiner  Mut« 
ter  nach  Kapernaum  feist ;  A.  G.  1,  14.,  wo  sie  gleichfalls 
mit   Maria   zusammen  genannt  werden:    so  würden   wir 
keinen  Augenblick  anstehen,  an  leibliehe  Geschwister  Jesu 
wenigstens  von  mütterlicher  Seite,  an  Rinder  Josephs  und 
der  Maria 9   zu   denken;    nicht   nur   wegen   der  nächsten 
Wortbedeutung  von  ddekfog,  sondern  namentlich  auch  we- 
gen der  stehenden  Verbindung,  in  welcher  sie  mit  Joseph 
und  Maria  erscheinen.    Auch  Stellen,  wie  Joh.  7,  5.,  wo 
bemerkt  wird,  auch  seine  ddf-Xcpoi  haben  nicht  an  Jeatim 
geglaubt,  und  Marc.  3,  21.    vergl.  mit  31.,   wo  der  wahr- 
scheinlichsten Erklärung  zufolge  die  Brüder  Jesu  mit  sei- 
ner Mutter  ausgehen,  um  seiner,  als  eines  von  Sinnen  Ge- 
kommenen, sich  zu  bemücRtigen ,  enthalten  keinen  hinrei- 
chenden  Grund,    die   unmittelbarste    Wortbedeutung    von 
ditelyog  zu  verlassen.      Denn   dafs  wirkliche  Söhne   der 
Maria  sogleich  an  Jesura  geglaubt  haben  müfsten,  weswe- 
gen  manche  Theologen   auch  schon  mit  Rücksicht  auf  die 
r.uletzt   angeführten    Stellen    die   ddelcpttg  %Iija5  für   seine 
Stiefbrüder,    und    Sohne   des  Joseph   aus  einer  früheren 
Khe,  erklärt  haben,  läfst  sich  nur  aus  Vorurtheilen  bewei- 
sen.    Schwieriger  scheint  sich  die  Sache  zu  stellen,  wenn 
man  Joh.  19,  26 f.  liest,  dafs  Jesus  am  Kreuze  seine  Mut- 
ter dem  Johannes ,   Sohnesstelle  an  ihr  zu  vertreten ,   em- 
pfohlen habe;  was  man  nicht  schicklich  finden  zu  können 
glaubt,  wenn  Maria  noch  mehrere  leibliche  Kinder  hatte, 
sondern   nur  wenn  die  überlebenden  Geschwister  filtere, 
ihm   abgeneigte,    Stiefbrüder    waren.      Allein    immerhin 
konnten  theils  in  Äufaeren,  theils  in  inneren  gemüthlichen 
Verhältnissen  Gründe  lieget*,   warum  Jesus   seine  Mutter 
lieber  dein  Johannes  übergeben  mochte,  als  den  Brüdern; 
von   welchen   dadurch ,    dafs    sie   nach    der   Himmelfahrt 
(AG.  1,  14.)  in  der  Gesellschaft  der  Apostel  erscheinen, 
noch  keineswegs  bewiesen  ist,  dafs  sie  auch  bei  Jesu  Tode 
schon  geglaubt  haben  müssen. 


Drittes  Kapitel.     §•  80.  243 

Das   eigentlich  Mißliche   in  dieser  Sache  fängt   erst 
damit  an,  dafs  anfser  dem  Jakobas  und  Joses,  welche  als 
Brüder  Jesu  aufgeführt  werden ,    noch  zwei  Männer  glei- 
ches Namens  als  Söhne  einer  andern  Maria  vorkommen 
(Marc.  15,  40.  47.    16,  1.     Matth.  27,  56.) >   ohne  Zweifel 
derselben,   welche  Job.  19,  25.  als  Schwester  der  Mutter 
Jesu   nnd  Gattin   eines  Klopas  bezeichnet  ist;   so  dafs  wir 
sowohl  unter  den  Söhnen  der   Maria,   Mutter  Jesu,  als 
rach   unter  ihrer  Schwester  Kindern  beidemale  einen  Ja* 
kobas   und  Joses  hätten.    Diese   Gleichnamigkeit  in  dem 
nächsten  Kreise  Jesu  vermehrt  sieh,   wenn   wir  erwägen, 
da(s  wir  in   den  Apostelverzeichnissen  (Matth.   10,  2 ff. 
Lue.  6,  14 ff.)  noch  zwei  Jakobus,   also  mit  dem  Bruder 
■od  Vetter  Jesu  4;   ferner  2  Jndas,  also  mit  dem  Bruder 
Jesu  3 ;   ebenso  2  Simon,  also  mit  Jesu  Bruder  gleichfalls 
S,  haben:  wobei  sich  der  Gedanke  aufdringt,  ob  nicht  mit« 
rater  dieselben  Personen  hier  als  verschiedene  genommen 
seien?    Dieser  Verdacht  scheint  zunächst  bei  dem  Namen 
Jakobus  entstehen  zu  müssen.    Nämlich,  wie  der  Jakobus 
Aiphäi  Sohn  im  Apostelkatalog  als  der  zweite,    vielleicht 
jüngere,  nach  dem  Zebedaiden  aufgeführt  ist,  so  beidt  auch 
der  Jakobus,  Jesu  Vetter,  Marc.  15,40.  6  (uxQog,  und  wenn 
dieser  Letztere  bei  Vergleiehung  von  Joh.  <0, 25«  als  Sohu 
eines   Klopas   erscheint,   so  könnten  die  Namen  KXamag, 
wie  der  Mann  von  Maria'»  Schwester,  und  ^Aktpdios,   wie 
der  Vater  des  Apostels  genannt  wird ,  gar  leicht  nur  ver- 
schiedene Formen  für  das  hebräische  IPn  **iu.  So  wäre  also 
der  Apostel  Jakobus  der  zweite  mit  dem  Vetter  Jesu  glei- 
ches Namens  identisch ,    und  es  blieben  aufser  ihm  nur 
noch   der  Zebedaide  und  der  Bruder  Jesu.    Nun  tritt  in 
der  Apostelgeschichte  (15,  13.)  ein  Jakobus  mit  entschei- 
dender  Stimme    bei   dem   sogenannten   Aposteleoneil  auf, 
nnd  da  nach  A.G.  12,  2.   der  Zebedaide  schon  getestet, 
sonst   aber  in   der  A.G.    bis   dahin   von   keinem  weiteren 
Jakobas,   als  dem  Sohne  des  Alpbäus  (1,  IS  )  die  Rede 

16* 


\ 


244  Erster  Abschnitt. 

gewesen  war:   so  kann  unter  jenem  nicht  nfiher  bezeich- 
neten   Jakobus   A.G.  15,  13.    nicht  wohl  ein  anderer  als 
dieser   verstanden   sein.     Paulus  non    aber  (Gal.  1,  19.) 
spricht  von  einem  Jakobus,    döeXcpog  th  Kvqis,    welchen 
er  zu  Jerusalem  gesehen ;  und  da  er  ohne  Zweifel  densel« 
ben  Gal.  2,  0.  mit  Petrus  und  Johannes  zu  den  gidoi  der 
Gemeinde   rechnet  —    ganz   wie  jener  (Apostel)  Jakobus 
bei  dem  apostolischen  Concil   erscheint  — :   so  wäre  also 
dieser  mit  dem  Bruder  des  Herrn  identisch,   um  so  mehr, 
da  in  dem  Ausdruck:  l'reQov  dt  ziov  cctio^oXmv  öx  eldov,  n 
jui}  lavuoßov  %6v  ddthpov  tS  Kvqis  (Gal.  1,  19.)  der  Bruder 
des   Herrn   zu    den  Aposteln  gerechnet  zu  sein  scheint; 
womit   auch  die  alte  Nachricht  stimmt,   welche   Jakobus 
den  Gerechten ,  einen  Bruder  Jesu ,   zum  ersten-  Vorsteher 
der  jerusalemisehen  Gemeinde  maeht 17).     Der  Jakobus  in 
der  A.G.  aber  ist,   seine  Identität  mit   dem   bezeichneten 
Apostel  vorausgesetzt,   ein  Sohn  des  Alphfius,   nicht  des 
Joseph ;  folglieh  könnte,  wenn  er  zugleich  ddekcpog  rS  Kv- 
yis    sein    sollte,    ddelcpog    nicht  einen   Bruder  bedeuten. 
Nimmt  man  nun  den  Alphaus  gleich  dem  Klopas,  Gemahl 
der  Mutterschwester  Jesu:   so  lüge  es  nahe,  ddtlyoz,   von 
dem  Verhältnifs  seitfes  Sohnes  zu  Jesu  gebraucht,   in  der 
Bedeutsag  von  Geschwisterkind,  Vetter,  zu  nehmen.    Ist 
auf  diese  Weise  einmal  der  Apostel  Jakobus  Alphli   mit 
dem  Vetter,  und  dieser  mit  dem  Bruder  Jesu  gleichet  Na* 
mens  identificirt:  §o  liegt  es  dann  nahe,  das  [sdag  *Iaxcißs 
in  den  Apostelkatalogen  des  Lukas  (Luc.  6, 16.  A.G.  1, 13.) 
durch  Bruder  des  Jakobus  (Alphfii)   zu  übersetzen,    and 
diesen  Apostel  Judas  nun  mit  dem  Judas  ddelq>6$  *hjoä  als 
Vetter  des  Herrn  und  Sohn  der  Maria  Klopa   (uneraohtet 
er  bei  dem  Namen  dieser  Frau  nirgends  genannt  ist)    für 
identisch  zu  halten;  womit,  wenn  der  Brief  des  Judas  in 
unserem  Kanon  acht  ist,  das  ganz  zusammenstimmen  würde, 


17)  Euseb.  H.  E.  2,  i. 


Dritte«  Kapitel.    §.  30.  245 

dafs  der  Verfasser  desselben  «ich  V.  1.  als  ddaktpog  %£axoiß9s 
besetchneL  Walter  könnte  dann  nach  Einigen  der  Apo- 
stel Simon  6  ^tjlorrrjg  oder  Kavecvirr^g  mit  dem  unter  den 
cdelqHHg  Irjüs  aufgeführten  Simon  zusammengeworfen  wer« 
den,  weloher  der  kirchlichen  Sage  zufolge  nach  Jakobus 
Vorsteher  der  jerusalemischen  Gemeinde  geworden  sein 
soll 1S) ;  so  dafs  nur  Joses  allein  leer  ausginge. 

Seilen  demnach  die  ddekqm  Ti^a  blofse  Vettern  von 
ihn,  und  drei  derselben  Apostel  gewesen  sein:  so  mub 
es  doch,  befremden,  wie  sowohl  A.G.  1,  14.  nach  Aufzäh* 
lang  aller  Apostel  die  Brüder  Jesu  noch  besonders  er- 
wähnt werden,  als  auch  1. Kor.  9,  5.  von  den  Aposteln 
als  eine  eigene  Klasse  unterschieden  au  sein  scheinen;  wie 
denn  anch.Gal.  1,  19.  vielleicht  so  gedeutet  werden  mufr, 
dafs  Jakobus  der  Bruder  des  Herrn*  ab  Nichtapostel  be- 
zeichnet ist  19).  Scheinen  auf  diese  Weise  die  ddehfcb 
lqo5  aus  der  Zahl  der  Apostel  herausgerissen  zu  werden: 
$o  widerstreben  sie  noch  entschiedener  dem,  für  blofse 
Geschwisterkinder  Jesu  sich  ansehen  ztk  lassen,  da  sie  Li 
so  vielen  Stellen  in  unmittelbarer  Verbindung  mit  der 
Motter  Jesu,  und  nur  in  zwei  bis  drei  Stellen  zwei  ihnen 
Gleichnamige  in  Verbindung  mit  derjenigen  Maria  vorkom- 
men, welche  hienach  ihre  wirkliche  Mutter  wäre.  Auch 
das  Wort  ddefopd<;,  ob  es  gleich  in  ungenauer  Redeweise, 
wie  das  hebräische  ntt*  auch  einen  entfernteren  Verwand 

ton  bedeuten  kann ,  machte  doch ,  da  es  für  das  Verhält 
nifs  der  bezeichneten  Personen  au  Jesus  so  oft  sich  wie 
derholt,  ohne  jemals  mit  dveiptog  vertauscht  au  sein,  wel 
ehes,  wo  ein  Vetter  beacichnet  werden  soll ,  dem  N.  T.  li 
ehen  Sprachschatze  keineswegs  fehlt  (KoL  4,  10«),  nicht 
wohl  anders,  als  in  seiner  eigentlichen  Bedeutung,  genom- 
aaen  werden  dürfen«    Dafs  ferner  4*e  Identität  der  Namen 


18)  Euscb.  H.  E.  3,  11. 

19)  tturcscHM,  Comm.  in  Matth.  p.  482« 


24A  Erster  Abschnitt* 

Alphfius  and  Klopft« ,  auf  welcher  die  des  Jakobus ,  Vet- 
ters von  Jesus,  und  des  Apostels  Jakobus  minor  beruht, 
ebenso  die  Uebersetzung  von  Yadag  'laxwßs  durch  Bruder 
des  Jakobas,  und  nicht  minder  die  angenommene  Identität 
des  Verfassers  des  loteten  katholischen  Briefs  mit  dem 
Apostel  Judas  höchst  unsicher  ist,  braucht  nur  angedeutet 
zu  werden.  —  Weicht  so  das  Gewebe  dieser  Identifica- 
tionen  auf  allen  Punkten  auseinander,  und  werden  wir 
hiemit  auf  den  Anfang  unsrer  Untersuchung  zurückgewor- 
fen ,  so  dafs  wir  wieder  eigentliche  Brüder  Jesu ,  ferner 
zwei  von  diesen  verschiedene  Vettern  gleichen  Namens  mit 
zweien  von  jenen,  außerdem  einige  mit  beiden  gleichna- 
mige Apostel  hätten:  so  ist  «war  die  gleiche  Benennung 
zweier  Paare  von  Söhnen  in  einer  Familie  nichts  so  Un- 
gewöhnliches ,  dafs  man  sich  daran  stofsen  dürfte;  wohl 
aber  ist  es  bedenklieb,  dafs  derselbe  Jakobus,  welcher  im 
Galaterbrief  als  ade)*q>6g  Kvqiö  bezeichnet  wird ,  nach  der 
A.C.  ohne  Zweifei  als  Sohn  des  Alphlus  zu  denken  ist, 
was  er,  wenn  doch  jenes  einen  Bruder  bedeutet,  nicht  ge- 
wesen sein  kann.  —  So  bleibt  auf  alle  Fälle  eine  ziem- 
liche Verwirrung ,  und  sie  scheint  nur  dadurch ,  wiewohl 
blofs  negativ  und  ohne  ein  geschichtliches  Resultat,  gelöst 
werden  zu  können,  dafs  man  bei  den  N.  T. liehen  Schrift- 
stellern und  in  der  urchristlichen  Sage  selbst  einige  Un- 
klarheit und  Irrung  über  diesen  Punkt  annimmt,  welohe 
bei  etwas  verwickelten  Verwandtschafts-  und  Namens-Ver- 
hfiltnissen  eher  eintreten  kann  als  ausbleiben  20). 

Wir  babeu  also  keinen  Grund,  zu  läugnen,  dafs  Jesu 
Mutter  ihrem  Gatten  aufser  Jesu  noch  mehrere  Kinder  ge» 
boren  habe,  jüngere  und  vielleicht  auch  filtere  5  Letzteres* 
weil  die  Angabe,  dafs  Jesus  der  erstgeborene  Sohn  gewe» 
sen  sei,  so  gut  zur  Mythe  als  N.  TU  icher  geboren  könnte, 
wie,  dafs  er  der  einzige  gewesen,  zu  ihr  als  patristischer« 


20)  Aehnlich  Turn*,  zur  Biographie  Jt!<m?  §,  18, 


Dritte«  Kapitel.    $.  31*  247 

f.    31. 

Besuch  Maria'»  bei  ElUabct. 

Der  Engel,  welcher  der  Maria  ihre  bevorstehende 
Schwangerschaft  verkündete ,  hatte  ihr  zugleich  von  der 
ihrer  Verwandten,  Elisabet,  Kunde  gegeben  (Luc.  1,  36), 
«reiche  damals  bereits  im  sechsten  Monate  stand.  Unmit- 
telbar darauf  unternimmt  Maria  eine  Reise  zu  ihr,  wobei 
«ich  das  Aufserorden tlioho  ereignet,  dafs  auf  den  Grafs 
der  Maria  das  Kind  im  Leibe  der  Elisabet  sich  freudig 
bewegt,  und  auch  diese  selbst  in  Begeisterung  Maria  als 
künftige  Mutter  des  Messias  anredet,  worauf  die  Letztere 
hymnisch  erwiedert  (Luc.  1,  39  —  5G  ). 

Mit  dieser  Erzählung  des  Lukasevangelioms  glaubt 
die  rationalistische  Exegese  leicht  durch  eine  ganz  natür- 
liche Erklärung  fertig  au  werden,  Der  Unbekannte,  meint 
man  ')>  welcher  die  Maria  zu  so  eigcnthttmliclien  Hoffnun- 
gen veranlagte,  hatte  sie  zugleich  mit  demjenigen  bekannt 
gemacht,  was  der  Elisabet  Aehnliches  begegnet  war.  Um 
so  mehr  treibt  es  jetzt  die  Maria,  sich  mit  ihrer  filteren 
Verwandten  über  ihre  Angelegenheiten  zu  besprechen. 
Bei  derselben  angekommen,  erzählte  sie  vorerst,  was  ihr 
begegnet  war,  was  aber  unser  Referent  verschweigt,  weil 
er  es,  als  schon  berichtet,  nicht  wiederholen  wollte*  Nicht 
allein  vor  dem  Anfang  der  Rede  der  Elisabet,  sondern  auch 
zwischen  diese  hinein  glaubt  man  daher  Worte  der  Maria 
suppliren  zu  dürfen,  welche  stückweise,  und  8o9  dafs  da- 
zwischen hinein  Elisabet  zum  Worte  kam,  dieser  ihre 
Geschichte  vorgetragen  habe.  Die  Geniüthsbewegung  der 
Mutter  theilte  sich,  —  so  wird  weiter  erklärt,  —  nach 
natürlichen  Gesetzen  dem  Kinde  mit,  welches,  wie  Fötus 
von  ff  Monaten  schon  zu  thun  pflegen,  eine  Bewegung 
machte,    was  die  Mutter  erst  nach  den  weiteren  MittheU 


1)  ?4i>M>»>  exeg.  Handji.  1,  a,  S.  iJOff. 


M8  Erster  Abschnitt 

langen  der  Maria  bedeutsam,  fand  and  aaf  den  Grad  de» 
Messiasmatter  bezog.  Ebenso  natürlich  findet  man  es 
dann,  dafs  Maria  ihre  durch  Elisabet  bestätigten  messiani- 
schen  Erwartungen  in  einem  psalmartigen  Reoitativ  aus- 
spricht, das  aus  allerlei  A.  T.lichen  Reminiseenzen  zusam- 
mengesetzt ist« 

Aber  in  dieser  Erklärungsart  ist  Manches  dem  Texte 
durchaus  zuwider.  Dahin  gehört  schon  das,  dafs  Elisa- 
bet  durch  Maria  selbst  die  dieser  zu  Theil  gewordene  Him> 
melsbotschaft  erfahren  haben  soll;  da  doch  nirgends  eine 
Spur  vorangegangener  Mittheilung  ist,  noch  weniger 
eine  Unterbrechung  der  Rede  Elisabet's  durch  weitere  Auf- 
schlösse der  Maria:  vielmehr,  wie  es  eine  übernatürliche 
Offenbarung  war,  durch  welche  Maria  von  der  Schwanger- 
schaft ihrer  Base  in  Kenntnifs  gesetzt  wurde,  so  ist  auch 
das  einer  Offenbarung  zuzuschreiben ,  dafs  Elisabet  die 
Maria  alsbald  für  die  zur  Messiasgebärerin  Erkorene  er- 
kennt 2).  Ebensowenig  verträgt  der  andere  Zug  der  Erzäh- 
lung, dafs  sich  der  eintretenden  Messiasroutter  der  Vor- 
läufer in  Mutterleibe  entgegenbewegt,  eine  natürliche 
Auslegung;  obwohl  selbst  orthodoxe  Ausleger  neuerer  Zeit 
sich  zu  derselben  neigen,  wenn  sie  der  Sache  die  Wen- 
dung geben,  zuerst  sei  der  Elisabet  eine  Offenbarung  ge- 
worden, und  erst  an  der  dadurch  erregten  Entzückung 
der  Mutter  habe  das  Kind,  physiologisch  erklärbar,  gleich- 
sam Antheil  genommen  *).  So  aber  stellt  der  Bericht 
die  Sache  nicht  dar,  als  ob  die  Gemüthsbewegung  der 
Mutter  die  vorausgehende  Ursache  der  Bewegung  des 
Kindes  gewesen  wäre  :  vielmehr  wird  die  Begeiste- 
rung der  Muttor  sowohl  vom  Evangelisten ,  V,  41. , 
erst  nach  der  Bewegung  des  Kindes  erwähnt,  als  auch 


S)  S.  Olshauskn  und  dk  Wetti  z.  d.  StP 

5)  Hess,  Geschichte  Jesu,  1,  S.  26 ;    Olshaubin,  bjlbi,  Conun.  k. 
4.  St.  J  UgwauKK,  S,  226}  Lau**,  S.  76  ff» 


Dritte«  Kapitel«.  5-  31.  249 

mi  Elisabet  seibat  V.  44.  die  Saobe  so  gestellt ,  dafs  Uta* 
rims   Grofs,    niefat  etwa    durch   einen  besonders  bedeut- 
sftoeo  Inhalt, -sondern  als  blofse  cfojvrj  der  Messiasmutter, 
ssuicbst  das  Kind  in   ihrem  Leibe  in  Bewegung  geeist 
hmbe;   was  unverkennbar  etwas  Uebernatürlicues   voraus- 
notsL     Und  «war  ein  solches,  das  selbst  anf  supranaturali~ 
ertlichem  Boden  nicht  frei  von  Änstofs  ist ;  woher  es  eben 
kommt,  dafe  auch  jene  orthodoxen  Ausleger  bemüht  waren, 
demselben  auszuweichen«     Wenn   wir  uns  nämlich   «war 
wohl  denken  können,  wie  der  göttliche  Gebt  auf  den  ihm 
verwandten  menschliehen  in  anmittelbarer  Weise  anregend 
wirke :  so  läfat  sich  doch   die  Vorstellung ,   wie  er  an  ein 
Unbegeiatetes,  was. ein  Embryo  noch  ist,  unmittelbar  sich 
aaiuheilen  möge,  nur  schwer  vollziehen.     Und   fragt  man 
mach   dem    Zweck    eines    so    abenteuerlichen    Wunders: 
so  will  sieh  auch    kein  rechter  zeigen.     Denn   sollte   es 
sieh   auf   den  Täufer   beziehen,     also    diesem    mögliehst 
frühe  ein  Eindruck  von  demjenigen  gegeben  werden ,   für 
weichen  zu  wirken   er  bestimmt  war:   so  wetts  man  gar 
nicht,  wie.  ein  solcher  Eindruck  auf  einen  Embryo  müfste 
beschaffen  gewesen  sein;  sollte  aber  der  Zweck  in    den 
übrigen  Personen,  in  Maria  oder  Elisabet,. liegen:  so  war 
ja  diesen  das  erforderliche  Mafs  von  Einsicht  und  Glauben 
bereits  in  Folge  höherer  Offenbarungen  zu  Theii  geworden* 
Nicht  geringere  Schwierigkeiten  setzt  zunächst  der 
natürlichen,*  dann   aber  ebenso  der  supranaturaliatisohen 
Deutung  der   Hymnus   der  •  Maria  entgegen.      Denn  dafs 
gerade    vor    den   Worten    Maria's   die   Formel:    infofo&i] 
nrtvftcaos  dyitt,    nicht  steht,    welche    sowohl    den   Hym- 
nus des   Zacharias   (V.  67.),    als   auch   die  Anrede   der 
Elisabet  (V.  41.)   einleitet,   kann   bei  der   Gleichartigkeit 
der  drei  Reden  nicht  als  Beweis  dafür  angeführt  werden, 
dafs  der  Verfasser  nicht  auch  diese,  wie  die    beiden  an- 
4ern,  als  Wirkung  des   nvevfta   betrachtet   wissen   wolle. 
Aber  auch   abgesehen   von  4er  Meinung  des   Verfasser«, 


250  Erster  Abschnitt* 

kann  es  überhaupt  auf  rein  natürlichem  Wege  nicht  au 
Bugehen,  dafs  sieb  besuchende  Freundinnen  auch  bei  noch 
so  außerordentlichen  Ereignissen  in  solche  Hymnen  aus- 
brechen ,  und  ihre  Unterhaitang  die  Farbe  eines  Dialogs 
so  gans  verliert,  wie  er  unter  dergleichen  Umstanden  na- 
tOrlich  ist  Nur  durch  höheren  Einflufs  konnte  ffie  Stirn* 
mung  der  beiden  Freundinnen  auf  eine,  dem  wirklichen 
Leben  so  durchaus  fremde  Weise  erhöht  werden*  Ist  nun 
aber  der  Hymnus  der  Maria  als  Wirkung  des  nvevjua  aytop 
sn  fassen:  so  mufs  es  auffallend  gefunden  werden,  dafs 
eine,  unmittelbar  aus  der  göttlichen  Quelle  der  Begei? 
Störung  geflossene  Rede  nicht  origineller  ausgefallen  ist, 
sondern  so  stark  mit  fUminlseeneen  aus  dem  A.  T.,  na- 
mentlich aus  dem,  unter  verwandten  Umstünden  gespro- 
chenen Lobgesange  der  Matter  Samuels  (l.Sam.  *.),  be* 
seiet  sich  seigt  *)  Hienaoh  müssen  wir  freilich  eihe  auf 
natürlichem  Wege  vor  sich  gegangene  Zusammensetzung 
dieser  Rede  aus  A. T.lichen  Erinnerungen  annehmen;  nur, 
wenn  dieselbe  wirklich  natürlich  Ter  sieh  gegangen  sein 
soll,  dürfen  wir  sie  nicht  der  einfachen  Maria  zuschreiben, 
sondern  demjenigen,  Welcher  die  über  die  vorliegende 
Soene  umlaufende  Sage  poetisch  bearbeitete* 

Da  somit  alle  Haupfvorfäiie  dieses  Besuchs  wedtr 
bei  der  wunderhaften  Auslegung  denkbar  sind,  noch  eins 
natürliche  vertragen  t  so  sind  wir  auch  für  dieses  Stück, 
wie  für  die  bisherigen,  auf  eine  mythische  Auffassung 
hingewiesen.  Dieser  Weg  ist  auch  schon  von  Andern 
eingeschlagen.     Der  ungenannte  E.  F.   in  Qenke's  Maga* 


4)  Vergi.  betender»  Luc.  1,  47.  mit  1.  Sam.  8,  1  >  Luc.  V.  49, 
mit  Sam.  V.  2;  Luc.  V.  51.  mit  Sam.  V.  3 f.;  Luc.  V.  52. 
mit  Sam.  V.  8;  und  Luc.  V.  55*  mit  Sam.  V.  5.  Ausserdem 
ist  Luc.  V.  48.  mit  1.  Sam.  1,  11  (aus  dem  Gebete  der  Hanna 
um  Leibesfrucht) ;  V.  50.  mit  5.  Mos.  7,  9 ;  V.  52*  mit  Sir» 
10,  14;  V.  54.  mit  Ps,  98»  3.  zu  vergleichen, 


Drilles  Kapitel.    $.  31.  251 

ein  s>  sprach  euch  über  diese  Kraählong  die  Einsieht 
ans,  sie  berichte  niebt  genau  Alles,  wie  es  vorgefallen 
sei,  sondern  wie  es  wohl  vorgefallen  sein  möchte»  Dem« 
nach  sei  namentlich  in  die  Reden  der  beiden  Frauen  Man* 
ehee  von  dem  surückgetragen,  was  Über  die  Bestimmung 
ihrer  Söhne  erst  der  spätere  Erfolg  lehrte,  und  auch  sonst 
sei  mancher  Zng  ans  der  Sage  hincogekommen.  Dennoch 
Hage  ein  wahres  Factum  nnm  Grande,  nämlich  ein  wirk- 
licher Besuch  der  Maria  bei  Elisabet,  ihre  vergnügte  Un» 
torhaltnng  and  ihr  Dank  gegen  Gott;  was  Alles  habe  stall» 
finden  können,  anoh  ohne  dafs  die  beiden  Franen  von  der 
aufeerordentliehen  Bestimmung  ihrer  Kinder  damals  schon 
etwas  wußten,  lediglieh  vermöge  des  hohen  Werthes,  wel» 
eben  die  Orientalinnen  auf  Matterfreuden  legten«  Von 
dieser  vergnügten  Zusammenkunft  und  den  Aeulserungen 
ihres  Dankes  gegen  Gott  mochte  nun  nach  diesem  Verfas* 
ser  Maria  oft  erfühlt  haben,  wenn  sie  über  das  fol- 
gende, merkwürdige  Leben  ihres  Sohnes  nachdachte:  und 
so  kam  diese  Erzählung  pi  Umlauf«  —  Auch  Borst,  der 
sonst  einen  richtigen  Blick  in  die  dichterische  Natur  die» 
uer  Abschnitte  hat,  und  die  natürliche  Erklirungsweise 
derselben  gut  widerlegt,  gleitet  hier  unversehens  nur 
Hälfte  in  diese  nnrüek,  indem  er  gar  nichts  Unwahr- 
scheinliches darin  findet,  dafs  Maria  ihre  filtere  und  an 
Erfahrung  reichere  Verwandte  während  ihrer,  in  manchem 
Betracht  leidensvollen,  Schwangerschaft  besucht,  und  dab 
Elisabet  bei  diesem  Besuche  das  erste  Leben  an  ihrem 
Kinde  gespürt  habe:  ein  Zug,  welcher,  weil  er  später  für 
ominös  gehalten  wurde,  sich  durch  die  mündliche  Sage 
wehl  habe  erhalten  können  *). 

Aneh   hier   wieder  dasselbe    unkritische   Verfahren, 
welches  das  Mythische  und  Poetische  einer  Ersählung  aus- 


5)  5.  Band.  1.  Stück.  S.  161  f. 

t>)  In  H*kks's  Museum,  1,  4,  S.  729« 


S52  firster  Abschnitt. 

geschieden  nu  haben  glaubt,  wenn  es  etliehe  Zweige  und 
Blfithen  dieses  Triebes   abpflückt,    die  eigentliche  mythi- 
sche Wurzel  aber  unangetastet   beim  Reinhistorischen  lie- 
gen läfct.     Dieser  mythische  Grundzug,   auf  welohen    die 
übrigen  nur  aufgetragen  sind,  ist  in  unserer  Erzählung  ge- 
rade der  ,  wnlolmu  die  angeführten   vorgeblich  mythologi- 
schen Erklärer   als   historisch  durchlassen:    nämlich    der 
Besuch  Bfaria's   bei  der  schwangeren  Elisabet.     Denn  da 
wir  als  flaupttendenx  des  ersten  Kapitels  im  Lukas  bereits 
die  kennen,  Jeeum  dadurch  su  verherrlichen,  dafs   dem 
Täufer  scheu  so   frühe  wie  möglich   eine   Beziehung   auf 
ihn,  aber  im  Verhältnifs  der  Unterordnung,  gegeben  wird ; 
so  konnte  dieser  Zweck  nicht  besser  erreicht  werden,  als 
wenn  nicht   erst  die  Söhne,  sondern  schon   die  Mütter, 
dooh  bereits  mit  Besiehung  auf  die  Söhne,  also  während 
ihrer  Schwangerschaft,  ausammengefQhrt  wurden,  und  sich 
hiehei  etwas  ereignete,   was  das   einstige  Verhältnifs   der 
beiden  Männer  bedeutungsvoll  vorzubilden   geeignet  war«. 
Je   mehr  somit   als   der  Kern  dieses  Besuches   ein   dog- 
matisches Interesse  hervortritt:   desto  unwahrscheinlicher 
wird   es,    da(s  er    eine  geschichtliche   Grundlage   gehabt 
habe.     An  diesen  Grundzug   reihen   sioh   sofort  die  übri- 
gen  Züge    folgendermafsen   an*    .Der  Besuch   der  beiden 
Frauen    mufste    überhaupt   .als    möglieh    und    wahrschein- 
lich   dargestellt    werden   durch    den  Zug,    dafs    Elisabet 
eine  ovyysinrg  der  Maria  gewesen   (V.  36.) ;    was  zugleich 
auch    dem    späteren    Verhältnifs    der  Söhne    angemessen 
scheinen  mochte.    Ferner,  dafs  der  bedeutsame  Besuch  ge- 
rade in  diesem  Zeitpunkte  gemacht  wurde,  mufste  eine  be- 
sondere, höhere,  Veranlassung   haben:    daher  wird  Maria 
durch  den  Engel  auf  ihre  Verwandte  verwiesen.    Bei  dem 
Besuche   selbst  sollte  sich    das   dienende    Verhältnifs   des 
Täufers  su  Jesu  vorbedeutend  aussprechen :  —  diefs  konnte 
durch   die  Mutter  desselben   geschehen,   wie   es   in  ihrer 
Anrede  an  Maria  wirklich  geschieht,  — *  doch  spUte  wo 


Drittes  Kapitel.    $.31.  253 

möglich  auch  der  kfinftige  Tfiufer  selbst  schon  ein  Zeichen 
geben,  wie  das  Verhfiltnifs  von  Jakob  und  Esau  zn  einen« 
der  sich  gleichfalls  schon  durch  ihre  Bewegung  und  Stel- 
lung im  Matterleibe  vorgebildet  hatte  (1.  Mos.  25,  22.  ff.); 
eine  ominöse  Bewegung  aber  konnte  dem  Rind  im   Leibe 
der  Elisabet,  wenn   nicht  zu  pebr  gegen  die  Gesetze  der 
Wahrscheinlichkeit   verstofsen  werden   sollte,   nicht   eher 
cit geschrieben  werden,  als  bis  die  Schwangerschaft  seiner 
Matter   eu  einem  Zeitpunkte  vorgeschritten  war,  wo  die 
Leibesfrucht  sich  su   bewegen   auffingt:   daher  der  Zug, 
dafs  Elisabet  schon  sechs  Monate  schwanger  ist,  als  Maria 
durch  den  Engel  sie  zu  besuchen  veranlaßt  wird  (V,  36.). 
So  hingt,  wie  Schlbisrmacbkr  bemerkt  hat7),  diese  ganze 
Zeitbestimmung  von  dem  Umstände  ab,  den  der  Verfasser 
gerne  anbringen  wollte,  dab  das  Kind  unter  dem  Herzen 
der  Elisabet  sich  der  eintretenden  Maria  freudig  entgegen- 
bewegt habe ;  denn  nur  defswegen  mufs  diese  ihren  Besuch 
aufschieben  bis  nach  dem  fünften  Monat,  und  kommt  auch 
der  Engel  nicht  bälder  zu  ihr. 

Jiicht  nur  also  der  Besuch  Maria's  bei  Elisabet  und 
was  dabei  vorgefallen  sein  soll,  fällt  als  unhistorisch  hin; 
sondern  auch,  dafs  Johannes  nur  ein  halbes  Jahr  alter  ge- 
wesen, als  Jesus,  dafs  beider  Matter  sich  verwandt  und 
ihre  Familien  befreundet  gewesen,  können  wir  auf  den 
blofsen  Bericht  des  Lukas  hin  nicht  mit  historischer  Si- 
cherheit behaupten,  wenn  es  nicht  noch  von  andern  Seiten 
her  bestätigt  wird:  wovon  wir  aber  im  weiteren  Verfolge 
unserer  Kritik  vielmehr  das  Gegentheil  finden  werden« 


7)  Ueber  den  Lukas,  S.  25  f. 


VM 


Viertes    Kapitel. 

Geburt  und  erste  Schicksale  Jesu* 


§•    32. 
Die  Schätzung  *). 

In  Besag   auf  die  Gebart  Jesu  stimmen  die  Berichte 
Ton  Matthias  and  Lukas  darin  fiberein,  dafa  beide  dieselbe 


1)  Ueher  die  Schätzung  hat  neuesten 8  Tholuch  (zuerst  im  liter. 
Anzeiger,  jetzt  in  der  Glaubwürdigkeit  u.  8.  f.,  S.  158  —  198) 
eine  weitläufige  Abhandlung  geschrieben,  welche  Olibauikji 
(S.  127)  eine  meisterhafte  Arbeit  nennt.  Ihm  imponirte  noch 
der  Pfau:  seitdem  hat  Scmnx,  in  der  Rec.  des  TaoLücn'schen 
Buchs  (Lit. Blatt  der  a.  K.  Ztg.,  1837,  No.  69 f.),  durch  Aus* 
raufung  der  fremden  Federn  —  d.  h.  durch  die  Nachweiiung, 
dass  fast  alle  mit  so  grossem  Prunke  zur  Schau  getragenen 
Gitate  aus  allen  möglichen  Schriftstellern,  fremdes,  nament. 
lieh  aus  Lardnir  entwendetes  Gut  sind  —  die  Krähe  herge- 
stellt. Auch  Übrigens  ist  diese  Abhandlung  ein  merkwürdiges 
Stück  Arbeit.  Zuerst  wird  die  Richtigkeit  vieler  andern, 
dnreh  die  Profangeschichte  controlirten  Angaben  des  Lukas 
gezeigt:  als  ob,  wer  neunmal  das  Rechte  trifft,  nicht  doch 
das  zehntemal  irren  könnte ;  als  ob  nicht  die  meisten  von  T*o- 
kjck  beigebrachten  Stellen  auf  weit  spätere  Zeit  sich  bezögen, 
über  welche  also  Lukas  leichter  das  Richtige  wissen  konnte; 
und  als  ob  er  nicht  in  Betreff  des  Lyaanias  und  des  Theudas 
ebenso  wahrscheinlich ,  wie  in  Betreff  der  Schätzung ,  geirrt 
hätte.  —  Hierauf  an  die  Stelle  selbst  herantretend,  findet 
Th.  nicht  bloss  eine,  sondern  —  alle  schon  vorgeschlagenen 
Auskünfte  denkbar:   die  Stelle  kann  ein  Glossem  sein;   man 


Viertes  Kapitel,    $.  32.  255 


in  Bethlehem  erfolgen  lassen;  w&hrend  aber  der  Letalere 
die  näheren  Umstände  ansfithrlieh  eraihlt,  gedenkt  der 
Erstere  der'Thatsache  nur  gelegentlich,  einmal  anhangs« 
weise  auf  dieselbe  als  etwas  Nachfolgendes  verweisend 
(1,35.)>  das  andremal  voraussetsungsweise  darauf  zurück- 
deutend  (2,  l.>  Dabei  seheint  der  Eine  die  Eltern  Jesu  als 
rorher  schon  in  Bethlehem  wohnhaft  voranssusotaent  da  sie 
doch  nach  dem  Andern  erst  dnrch  ganz  besondere  Umstände 
dahin  geführt  werden.  Sehen  wir  fibrigens  von  'diesem 
Differenspunkte  «wischen  beiden  Evangelisten  für  jetnt 
noch  ab,  da  er  erst  später,  wenn  wir  noch  mehrere  Data 
beisammen  haben,  seine  Erledigung  finden  kann,  und  wen- 
den ans  bu  einem  Verstofse,  welcher  dem  Lukas,  wenn 
man  ihn  mit  sieh  selbst  und  mit  sonst  bekannten  Daten 
vergleicht,  begegnet  zu  sein  scheint  Miefe  ist  4fc  Angabe, 
dafs  Jesu  Eltern,  welche  sich  sonst  eu  Nasaret  aufgehal- 
ten, sn  der  Reise  nach  Bethlehem,  wo  Jesus  geboren  wurde, 
durch  einen  Census  veranlagt  worden  seien,  denAugustus 
am  die  Zeit,  als  Quirinus  Statthalter  von  Syrien  war,  habe 
vornehmen  lassen  (Luc.  2,  lff.)* 

Hier  ist  schon  das  schwierig,  dafs  die  von  Augustus 
befohlene  anoyQaqij  (d.  h»  Einschreibung  der  Namen  und 
Vermögensanschlag  zum  Behuf  der  Besteuerung)  auf  näaccv 
ttjv  oixöftttip'  beeogen  wird  (V.  1.).  Dieser  Ausdruck  in 
seinem  damals  gewöhnlichen  Sinne  würde  den  orbis  Ro- 
manus  bezeichnen.  Nun  aber  meldet  kein  älterer  Schrift- 
steller etwas  von  einem  solchen  von  August  ausgeschriebe- 


kann  aber  such  Tr^arrj  für  nqoript  nehmen;  »der  fasse  man  et 
ts  nqwTor,  und  dieses  s=  demum}  such  avnj  statt  avnj  *u  le- 
sen, hindert  nichts.  Wie  schlecht  versteckt  sich  hier  das 
Misstrauen  gegen  jeden  einzelnen  dieser  Auswege  hinter  den 
Schein  de*  Vertrauens  auf  alle !  —  Einzelne  Unrichtigkeiten 
und'  selbst  Leichtfertigkeiten  werden  im  Folgenden  cur  Spra- 
che kommen. 


256  Erster  Abschnitt. 

neit  Generälcensos ,  sondern '  nur  von  eineeinen ,  ra  reF- 
schiedenen  Zeiten  engeordneten ,  Provincialsohatenngen  ist 
die  Rede.  Daher,  soll  nun  anch  Lukas  —  durch  das  oi- 
xxub>T]  nicht  nach  seinem  gewöhnlichen  Sinne  die  römische 
Welt9  sondern  nur  das  jüdische  Land  haben  bezeichnen 
wollen»  Für  die  Möglichkeit  hieron  werden  sofort  Bei- 
spiele angeführt  *) *  welche  aber  stimm tlkh  nichts  bewei- 
sen; denn  wenn  sieh  anch  nicht  darthuu  Uefse,  dafs  in 
allen  diesen  Steilen,  aus  den  LXX.,  dem  «losephus  und  dem 
N.  T. ,  der  Ausdruck  in  dem  übertreibenden  Sinne  der 
Schriftsteller  wirklich  auf  die  gange  bekannte  Erde  sich 
besieht:  so  wäre  doch  hier,  wo  von  einem  ßefehle  des 
römischen  Imperator  die  Rede  ist,  naoa  rj  oUs/jevrj  not- 
wendig vom  Gebiete  desselben,  dem  orbis  Rantanus,  eu 
verstehen«  —  •  Daher  hat  man  sich  neuerlich  nach  der 
entgegengesetsten  Seite  gewendet,  und  mit  Berufung  auf 
Savigny  behauptet,  es  sei  wirklich  su  Augustus  Zeit  ein 
allgemeiner  Census  im  Reiche  vorgenommen  worden3). 
Diefs  sagen  zwar  späte,  christliche  Schriftsteller  gerade« 
zu4):  ihre  Angaben  werden  aber  nicht  allein  durch  das 
Fehlen  aller  älteren  Zeugnisse  verdächtig ö) ;  sondern  auch 
durch  die  Thatsache,  dafs  noch  geraume  Zeit  nachher  eine 


2)  Von  Olshauskn,  Paulus,  Kuntfz.  z.  d.  St. 

3)  Tsolucx,  S.  594  ff.    Nkakder,  S.  19. 

4)  Cassiodor.  Variarum  3,  52.    Isidor.  Orig.  5,  36» 

5)  Von  äusserster  Nachlässigkeit  zeugt  es,  sich  hier  auf  das 
Ancyranische  Monument  zu  berufen,  welches  für  das  Jahr  d. 
St.  746  einen  Census  des  ganzen  Reichs  enthalten  soll  (Osiaji- 
nER,  S.  95).  Denn  wer  diese  Inschrift  nachsieht,  findet  auf 
ihrer  zweiten  Tafel  nur  drei  census  civtum  Romanorum, 
welche  auch  Sueton  (Octav. 27.)  als  census  populi,  und  roa 
welchen  Dio  Cassius  55,  13.  wenigstens  den  einen  'ausdrück- 
lich als  anoyQctipq  rw  l-v  r7j  7r<r2ta  varourtfroor  bezeichnet*  Vgl* 
auch  Ldilsa,  Chronol.  2,  8.  339. 


Viertes  Kapitel.    §•  SS.  »7 

gfeiehsnlTsige  tfcenerverfasaaag  im  Reiche  fehlte*),  wider* 
legt;  endlich  ian  Theil  durch  ihre  eigenen  Werte  eis 
abhängig  tob  Lukas  erwiesen  ').  —  80  seil  denn  Augu- 
stes wenigstens  das  Bestreben,  das  ganae  Reich  mittelst 
eines  allgemeinen  Census  gleichmäßig  an  besteuern,  ge- 
habt, and  die  Durchführung  mit  EineehXtaang  einaelner 
Prorinaen  begonnen,  die  Fortsetzung  und  Vollendung  aber 
seinen  Nachfolgern  fiberlassen  haben  *).  Allein  gesetat 
such,  das  dvypa  des  Evangelisten  lasse  sieh  von  einem 
tieften  Plane  verstehen ,  eder  der  unbestimmte  Plan  habe 
«oh,  wie  Uoffmajcn  meint,  in  einen!  Reichsdecrete  ausge- 
«prochen :  so  kann  derselbe  eben  an  Jadäa  an.  die  Zeit 
der  Gebart  Jesa  nnmKglich  durchgeführt  werden  sein. 

Nicht  allein  nach  Matt  bans  nämlich  Ist  Jeans   noch 
einige  Zeit  vor  dem  Tode  Herodes  dee  Groben  geboren, 
welcher  nach  Mattb.  2,  19«  erst  während  des  Aufenthalts 
Jesa  in  Aegypten  starb ;  sondern  auch  Lukas  sagt  dasselbe 
awar  nicht  ausdrücklich,  doch  geht  er,  wo  Ton  der  Aav 
kündigung  der  Geburt   dea  Täufers  die  Rede  iat  (1,  5.), 
von  den  rjf.äQaig  *HqwIb  r«  ßaaiUtag  aas,   und  sechs  Mo- 
nate später  lälst  er  die  Geburt  Jesu  rerkftudigt  werden: 
so  dafs  nach  ihm  Jesus,  wie  Johannes,  wenn  nicht  gleich- 
falls  noch   vor,   so  doch  kura  nach  dem  Tode  Herodes  I. 
geboren   ist.  .  Mach   dessen  Tode  aber  fiel  (Matth.  2,  22.) 
die  Landschaft  Judfia  seinem  Sohn  Archelaus  au,  welcher 
nach  nicht  gana  aehnjflhriger  Regierung  von  Augustus  ab« 
gesetat  nnd  verbannt  wurde  *) ;  worauf  erst  Judäa  nur  rö- 
mischen Provinz  gemacht,  von  römischen  Beamten  verwal- 


6)  Nachgewiesen  von  Sxvt+icr  selbst,  Zeitschrift  f.  geschichtliche 
Rechtswissenschaft,  6.  Bd.,  S.  SSO  f. 

7)  In  der  sein  sollenden  Beweisstelle  aus  Suidas  finden  sich  die 
aus  Lukas  genommenen  Worte:  aurtj  £  anofoaw  nqarrj  Jy/rrro. 

8)  HoFFMAlflf,  S.  231. 

9)  Joseph.  Antiq.  17,  13,  2.    B.  j.  2,  7,  3. 

Da*  Leben  Jesu  lie  Aufl.  1.  Bund  17 


258  Erster  Abschnitt. 

tH  tu  werden  anfing 10).  Nnn  müfste  also  der  römische 
ffensfcS)  tod  weichem  hier  die  Rede  ist,  entweder  neeh 
unter  Herodes  d.  Gr.  selbst,  oder  in  der  ersten  Zeit  des 
Archelaus  gehalten  worden  sein.  Diefs  ist  fiofserst  ««- 
wahrseheiiitieh.;  denn  in  solchen  Ländern,  welche  noch 
nicht  in  formam  pracmcfae  redigirt  waren,  sondern  von 
re<fii>wt  sortis  Terwaltet  worden,  erheben  diese  Fürsten 
die  Steuern  selbst,  und  beseelten  den  Hörnern  einen  Ab« 
trag11);  so  auch  in  JudXa  vor  der  Absetzung  des  Arche- 
Inas»  'Mäh  hat  «war  Mehrtres  aufgesucht,  an  wahrschein- 
lich zu  machen,  dafs  Augustus  aasnahmsweise  schon  unter 
Herodes  einen  Census  in  Palästina  angeordnet  habe.  Man 
macht  darauf  aufmerksam ,  dafs  in  den  breviurtnm  ivipe- 
vity  welches  Augustus  hkUerliefa,  auch  die  finanziellen 
Verhältnisse  des  gansen  Reichs  enthalten  waren ;  und  oa 
diese  für  Palastina  genau  zu  ermitteln ,  habe  er  vielleicht 
durah  Herodes  eine  Aufzeichnung  veranstalten  lassen  ,2). 
Weiter  beruft  man  sich  auf  die  Nachricht  des  Josephas, 
dafs  ans  Anlafs  einer  in  dem  Verhältnisse  des  Herodes  an 
Augustus  einmal  eingetretenen  Störung  dieser  dem  Erste« 
ren  gedroht  habe,  ihn  von  jetst  an  den  Untergebenen  füh- 
len an  lassen  Ia) ;•  anf  den   Huldigungseid,   welchen   nach 


10)  Antiq.  17,  13,  5.  18,  1,  1-    B.  j.  2,  8,  I. 

11>  Vgl.  Paulus,  exeg.  Handb.  i,  a,  S.  171.    Wj*br,  bihl.  Real- 
Wörterbuch  d.  A.  Abgaben. 

(.J2)  Tacit.  Annal.  1,  11.  Suetpn.  Octav.  101,  Allein  wenn  in 
jener  Schrift  opes  puöficae  continebantur :  quantum  ctvium 
sociorumque  in  armis ;  guot  das  sex,  regna,  provinciae,  tributm 
out  veettgaita,  et  necessitates  ac  largtttones:  so  konnte  die 
Truppe nzahl  und  die  Summen ,  welche  die  jüdischen  Fürsten 
zu  prästiren  hatten ,  auch  ohne  eine  römische  Schataung  in 
ihrem  Lande  angegeben  werden  j  für  Judäa  insbesondere  aber 
hatte  Augustus  den  späteren  Quirinischen  Census  vor  sich. 

*3)  ©rt,  naUai  ;jf*w«fvo;  aurw  <pfi<y.  vvv  vnqxotp  j^orjatrai,     Joseph,  Aa> 


Viertes  Kapttefc     $.  32.  250 

Joseßhus  noch  wm  Lebzeiten  des  Herodes  die  Jaden  dam 
Angnstas  haben  leisten  mfissen  ") ,  und  darauf,  dafs  An- 
gusfos,  weil  er  im  Sinne  hatte,  nach  Herodes  Tode  seinen 
Löhnen  die  Gewalt  so  beschränken,  gar  wehi  in  dessen 
letzten  Jahren  eine  Sehatsung  könne  angeordnet  haben lö). 
Au  der  ersten  Zeit  naeh  dem  Tode  des  Herodes  aber 
kann  eich  der  Umstand  darcubieten  scheinen,  dafs,  wfth- 
read  Arehelans  in  Angelegenheiten  der  Reiehsnaehfolge 
naeh  Rom  gereist  war,  der  romische  Proearator  JSabinus 
Jemaalem  besetzt,  nnd  die  Jaden  auf  Jede  Weise  bedrängt 
hatte  ")• 

Einer  ausfflbrlichern  Prflfung  dieser,  mehr  oder  we- 
niger «historischen  '  nnd  willkfirliehen  Combinationen 
•berhebt  uns  unser  Evangelist  dnreh  den  Zusatn,  welohen 
er  su  seiner  anoyQayr}  macht ,  dafs  sie  nämlich  vorgenom- 
men worden  sei,  rjyenwtvotoos  tijg  2v(Hag  Kvgrrls]  denn 
ren  der  Quirinisehen  Sehatsong  ist  es  nun  urkundlich, 
dafs  sie  nicht  schon  unter  Herodes  oder  in  der  ersten  Zeit 
des  Arcbelaus  stattfand ,  wohin  auch  nach  Lukas  die'  tft- 
bort  Jesu  fällt.     Quirinus  nämlich  war  damals  noch  nieht 


tiq.  16,  9,  3*  Aber  die  Miss  hei  ügkeit  war  lange  vor  dem  Ende 
des  Herode«  wieder  beigelegt,  Joseph.  Ant.  16,  10,  9. 

14)  Ebenda«.   17,   2,  4.    nayzOi  th  7«<TorYx«  /teßauooarrog  St*  oqxtav y    q 
*  ftrjr   tvvorpai    KaloafM.   xai    rong    ßaoJU'to;    TCQaypaoi.     Das«  dieser  Eid 

nicht  mit  einer  demtitnigenden  Massregel  gegen  Herodes  ver- 
banden ,  vielmehr  in  «einem  Interesse  veranstaltet  war ,  be- 
weist die  Leidenschaft,  mit  welcher  er  die  Pharisäer,  die  den- 
selben nicht  mitsohwuren,  bestrafte« 

15)  Tholuck,  S.  192  f.  Allein  «-was  gegen  alle  diese  Annahmen 
gilt  —  der  Aufstand,  den  die  anoypxw  nach  de9  Archelaus  Ab- 
setzung erregte,  beweist,  das«  dies«  die  erste  römische  Mass- 
regel dieser  Art  in  Judäa  war.      . 

16)  Antiq.  17,  9,  3.  10,  1  ff.  B.  j.  2,3,2.  Es  war  ihm  aber 
nur  um  die  festen  Plätze  und  den  Senats  des  Herode«  iu 
thun. 

17* 


260  Erster  Abschnitt« 

Präses  von  Syrien,  sondern  diese  Stelle  bekleideten  in  den 
letzten  Jahren  des  Herodes  Sentins  Saturninus  und  nach  ihaa 
Quintilius  Vares ;  erst  längere  Zeit  nach  des  Herodes  Tode 
trat  (tuirinus  die- Verwaltung  Syriens  an«  Uafs  dieser  ei- 
nen Census  in  Judfta  vorgenommen,  ist  ans  Josephus  ge- 
wifs17)?  welcher. aber  »gleich  bemerkt,  er  sei  zu  dessen 
Vornahme  geschickt  worden,  %?jg  Idqx&uH  %iiqag  dg  «afep- 
%im  <ne$iy()a<pew7]s,  oder  iwoizXös  ^f,(^%<  rfj  2v- 
(xovx8),  also  beilänfig  zehn  Jahre. nach  der  Zeit,  in  wel- 
cher nach  Lukas  und  Matthäus  Jesus  geboren  sein  mußte. 
Doch  auch  diesen  bo  unläugbar  scheinenden  Wider* 
sprach  des  Lukas  gegen  die  Geschichte  beben  die  Erklä- 
rer auf  verschiedene  Weise  lösen  au  können  geglaubt. 
Die  Beherztesten  dadurch,  dafs  sie  den  ganzen  zweiten 
Vers  für  eine  schon  frühzeitig  in  den  Text  gekommene 
filosse :  erklärten  19>.  Andere  durch  Aenderung  der  Lesart, 
und  zwar  die  Einen  am  nomen  proprium,  indem  sie  ent- 
weder nach  Tertullians  Vorgang,  welcher  den  Census  ge» 
ra^eau  dem  Saturninus  zuschreibt  **),  den  Namen  von  die* 
sem,  oder  den  von  Quintilius,  in  den  Text  setzen  **)•  Dfo 
Andern  nehmen  bei  den  übrigen  Worten  Aenderungen  und 
Zusätze  vor:  am  leichtesten  noch  Paulus,  welcher  statt 
avtrj  cwrij  liest,  und  annimmt,  schon  unter  Herodes  L  habe 
Augustus  aus  den  oben  angegebenen  Gründen  die  Anord- 
nungen zu  einem  Census  getroffen,  und  diese  seien  bereits 
so  weit  gediehen  gewesen,  um  Jesu  Eltern  zu  der  Reise 
nach  Bethlehem  zu  veranlassen ;  doch  sei  Augustus  wieder 
begütigt  worden,  und  so  die  Sache  damals  noch  nicht 
durchgeführt,  vielmehr  avcrj  rj  <x7toyQaq>ij  erst  geraume  Zeit 


17)  Antiq.  18,  1,  1. 

18)  Bell.  jud.  2,  8,  f.  9,  1.    Antiq.  17,  IS,  5. 

19)  So  2.  B.  Kunttft,  Comm.  in  Luc.  p.  320. 

20)  Adv.  Marcion.  4,  19. 

21)  S.  bei  Was*  Rcalwörtsrbuch  u.  d.  A.  Quirinas. 


Viertes  Kapitel.    &  32.  261 

spiter,  unter  Quirinus,  gehalten  worden.  So  unbedenklich 
diese  Aenderung  der  Lesart,  sofern  sie  die  Buchstaben  an- 
Terindert  llfst,  erscheint:  so  mAfste  sie  doch,  am  nulifsig 
au  sein,  im  Zusammenhang  der  Stelle  eine  Stfltae  haben. 
Davon  ist  aber  das  Gegentheil  der  Fad.  Denn  wenn  von 
einem  Forsten  in  dem  einen  Satae  eine  Anordnung  berich- 
tet wird,  nnd  im  folgenden  Satae  die  Ausführung:  so  ist 
doeh  an  sieh  nicht  wahrscheinlich,  dafs  «wischen  beide  ein 
Zeitraum  von  sehn  Jahren  falle.  Hauptsächlich  aber  bitte 
bei  dieser  Annahme  der  Krangelist  V.  1.  von  der  Anord- 
nung, V.  %  von  der  sehn  Jahre  späteren  Durchführung 
des  Census,  Y.  3.  aber,  ohne  diefs  bemerklich  au  machen, 
wieder  Ten  einer  Reise  sur  Zeit  der  Anordnung  desselben 
gesprochen:  was  gegen  alle  Möglichkeit  einer  vernünftigen 
KnihJung  ist. 

Selchen  willkürlichen  Conjecturen  gegenüber  sind  im* 
merhin  diejenigen  Versuche  höher  au  stellen,  welche  ohne 
dergleichen,  auf  dem  reinen  Wege  der  Auslegung,  surecht- 
ankommen  unternehmen.  Freilich  mit  Einigen  itfn'm; 
in  diesem  Zusammenhange  für  nQoveQa,  •q/tfioveimrog  K. 
aber  nicht  als  absoluten,  sondern  als  einen  vom  Com- 
parstiv  regierten  Genitiv  au  nehmen,  und  so  eine  Scha- 
sung  vor  der  (hunnischen  berausuudeuten  **) ,  ist  gram- 
matisch nicht  weniger  gewaltsam,  als  nach  nQuinj  -—  tiqo 
ttjs  einzuschieben**),  unkritisch  ist  Ebensowenig  Ufst 
sieh  annehmen,  da(s  ein  schon  unter  Herodes  gegebenes 
Verspiel  des  spätem  Quirinisehen  Census,  wobei  aber  Qui- 
rinua  noch  gar  nicht  thfitig  gewesen ,  etwa  der  schon  er* 
wihnte  Huldigungseid ,  nachmals  mit  jenem  unter  Einem 
Namen  ausammengefafst  worden  sei.  Cm  diese  Benennung 
einigermaßen  au  erklären, 'lädt  man  daher  den  Quirinu* 


22)  Storr  ,    opusc.  acad,  5,  S.  126  f.    Sösraro  ,   vermischte  Auf- 
sätze, S.  63.    Neuesten»  Tmolvck,  S.  182  f. 

23)  Miciusus,  Ann.  x.  d.  St.  und  Einl.  ia  d.  N.  T.  1,  71. 


162  Erster  Abschnitt. 

schon  unter  Herodes  als  aofrerordenflteben  Stenercommi*- 
Bär  nach  Judäa  gesendet  werden 2*) :  altein  diese  Deutung  des 
?}yef4W€vovios  wird  durch  den  Zusatz :  2vQictg ,  unmöglich 
gemacht,  mit  welchem  verbunden  jener  Ausdruck  nur  den 
Proeses  Syriae  bezeichnen  kann. 

Also  au  der  Zelt,  in  welcher  Jesus  nach  Matth.  %  1. 
und  Lue.  1,  5. 2tf.  geboren  ist,  kann,  unmöglich  der*Cen- 
sus  stattgefunden  habfen,  von .  welchem  Lukas  2,  1.  f. 
spricht,  und  wenn  Jena  Angaben  richtig  sind,  so  mufs 
diese  nothwendig  falsch  sein.  Aber  könnte  es  sich  nicht 
umgekehrt  verhalten,  und  Jesus  erst  nach  des  Archelaus 
Verbannung,  cur  Zeit  des  ttuirinischen  Census,  geboren 
sein?  Abgesehen  auch  von  den  Schwierigkeiten,  in  wel- 
che uns  diese  Annahme  röcksichtlich  der  Chronologie 
des  späteren  Lebens  Jesu  verwickeln  würde:  so  konnte 
ein  römischer  Census  nach  des  Archelaus  Verbannung 
unmöglich  Jesu  Eltern  von  dem  galilftisehen  Nasaret  b> 
das  jüdische  Bethlehem  rufen.  Denn  nur  Jodäa  und  was 
sonst  cum  Antheil  des  Archelaus  gebort  hatte,  wurde 
römische  Provinz  und  dem  Census  unterworfen;  in  Gali- 
läa blieb  Herodes  Antipas  als  ■  verblödeter  Forst,  und 
diesem  konnte  kein  in  Nasaret  Angesessener  sur  Schä- 
tzung nach  Bethlehem  gesogen  werden 25).    Da  hienach  an- 


24)  Munter,  Stern  der  Weisen,  S.  88.    Vgl.  HomtAffii,  S.  255. 

25)  Die  Stelle  Joseph.  B.  j.  2,  8,  |.,  wo  ron  Judas  dem  GalilSer 
gesagt  wird,  er  habe  nach  der  Absetzung  des  Archelaus  <i-r 
Schätzung  wegen  r««  bricht  aufgewiegelt ,  beweist  nickt  so 
schnell,  ah  Hornu»*  (S.  234)  meint,  dass  der  Census  sich 
auch  über  Galiläa  erstreckt  habe.  Denn  wenn  Josephus  in 
dem  spateren,  genaueren  Werke,  Antiq.  18,  1,  *.,  sagt:  na^jr 

St  xui.  Kv(>tnoc  nt  rqv  7«(Wcry,  7rgoQ.9fxt/y  Tijq  2.u(nae  yhouivtp .  ano- 
Ttpr/ooptvo;  if  auruy  ra*  «a«r«  xat  anoSutaoufyoQ  rd  *jd(ix*l<*»  Z^f.uaTa* 
so  ist  der  Census  (der  sich  übrigens  nach  17,  15,  5.  auf  ganz 
Syrien,  so  weit  es  römische  Provinz  war,  erstreckte)  unter 
den   palästinensischen  Landesthcilen  unverkennbar   bloss  auf 


Viertes  Kapital.    §.52.  SM 


Schriftsteller,  om  eine  Sebateang  am  behemmen,  die 
Verhältnisse  sieh  so  denkt,  wie  sie  nach  de«  A*ebeteua  Ab* 
setsang  waren;  ungleich  aber,  nm  den  Centn*  aaoh  fit 
Galiläa  gültige  ao  machen ,  das  ungetheilte  Reieh ,  wie  es 
aater  Heredes  d.  Cr.  war,  reraassetetc  so  setst  er  offen* 
l»ar  Widersprechendes  rnrana;  eder  y  sei  mehr,  er'  hei  tthets 
haupt  nar  eioe  Xnfserst  trabe  Vorstettnag  fsen  «Jen  Zeit* 
ferbfiitnissen,  indem  er  ja  iherdiefs,  wie  wir  luas  eramera 
anlasen,  die  Sehatsung  nicht  blefs  auf  gans  Palästina,  ees* 
dem  selbst  anf  die  gaaae  römische  Welt,  sieh  eratreehen 
utts*. 

Indefs,  out  diesen  Chronologie  eben  Aottöiaen  lind 
die  Sehwierigkeiten  der  Angabe  des  Lukas  noch  ntejbc 
ersehepft,  sondern  es  liegen  dergleichen  auch  noch  in  de» 
Art,  wie  nach  ihm  die  Sehataung  vorgenommen  werde* 
sein  soll«  Es  heilst  nämlich  erstens,  der  Sehatsung  we- 
gen sei  Joseph  nach  Bethlehem  geraist,  dta xo  slvat  o*?Var 
i£  on»  um  TtaiQtag  Jaßid,  nnd  so  Jeder  eis  rrv  idiv¥ 
jioJUy,  d.  h.  nach  dem  eben  Erwähnten  an  den  Ort,  wo 
sein  Geschlecht  ursprftnglieh  herstammte.  Diefs  nun,  data 
Jeder  in  seinem  Stammorte  sich  einschreiben  lassen  uiufsle, 
fand  allerdings  statt  bei  jüdischen  Aufzeichnungen,  weil 
bei  den  Jaden  die  Familien-  und  Stamm  -  Verfassung  die 
Grundlage  des  Staates  bildete:   die  Römer  hingegen  pfleg- 


Judaa  bezogen.  Vergleicht  man  nun  überdies»  die  Darstel 
hing  des  Aufstandet,  Antiq.  18,  1,  I.  2,  1,  wo  Galiläa,  gar 
nicht  mehr  erwähnt  wird ,  sondern  Judas  der  GauUnjt  heisst, 
und  der  nachgiebige  Hohepriester  in  Jerusalem  als  xaTa&<*«t~ 
«iNk9  vno  riJQ  nb,&*><;  bezeichnet  ist:  so  muss  man  als  den 
Schauplatz  der  Empörung  offenbar  Judäa  denken,  und  entwe- 
der jene»  «m/o^ui;  des  Bell.  jud.  im  weiteren  Sinne  nehmen, 
oder  voraussetzen ,  Judas  habe  zunächst  die  ohnehin  unruhi- 
gen Galiläer  durah  die  Aussicht  auf  einen  auch  ihnen  vielleicht 
in  Kurzem  drohenden  Census  in  Bewegung  gebracht,  von  hier 
aber  den  Aufstand  nach  Judäa  binobergespieit. 


SM  Erster  Abschnitt. 

ten  den  Oennis  in  den  Wohnorten  and  Besirkshauptstld* 
ten  vorzunehmen  **),  und  sehlo&en  sich  an  die  Gebräuche 
der  eroberten  Länder  nur  insoweit  an,  als  diese  nicht 
ihren  Zwecken  entgegen  liefen;  was  eben  hier  im  höch- 
sten Grade  der  Fall  war,  wenn  nnm  Behnfe  des  Censns 
der  Kintfelne  ram  Theii,  wie  Joseph,  in  gans  entlegene 
Orte  abgemfen  wurde,  wo  seine  Vermögensverhiltnisse 
gar  nicht  bekannt,  mithin  seine  Angaben  nicht  su  contra* 
iiren  waren  **)•  Eher  ließe  sich  daher  mit  Schleibrm  achkr 
annehmen,'  die  wahre  Veranlassung,  weiche  die  Eltern 
Jesu  nach  Bethlehem  fährte ,  .sei  eine  priesterliche  Auf« 
seichnnng  gewesen,  welche  aber  der  Evangelist  mit.  der 
Ihm  vorcngsweise  bekannten  römischen  unter  Goirinus  ver- 
wechselt habe98)-  Allein,  selbst  diefs  angegeben 9  weicht 
der  Widerspruch  von  dieser  mlfslichen  Atigabe'  des  Lukas 
nicht.  Er  läfst  mit  Joseph  auch  die  Maria  eingeschrieben 
werden  (V.  5.);  da  doch  die  Aufzeichnung  nach  jüdischer 
Sitte  nnr  auf  die  Mfinner  sich  bezog  29j.  Es  bliebe  also 
wenigstens  das  unrichtig,  dafs  Lukas  anch  der  Maria  cum 
Reisezwecke  gibt,  sich  am  Stammort  ihres  Verlobten  ein- 


26)  s.  die  Stellen  hei  Wetstkik  und  Paulus  z,  d«  St. 

27)  Diese  weist  Cridnkr  nach,  a.  a,  O.  S.  254.  . 

28)  Veber  den  Lukas,  S.  35  f. 

29)  Vgl.  Paulus  a.a.O.  S.179.  Wenn  aber  nicht  nach  jüdischer, 
so  war,  sagt  Tmolück,  nach  römischer  Form  des  Census  das  Mit« 
reisen  der  Maria  unerla'sslich ;  wofür  er  sich  auf  die  von  Lajls- 
ksk  an  die  Hand  gegebene  Stelle  aus  Dionys.  Halicarnass. 
Antiq.  Rom.  4,  14.  beruft  (  S.  191 ).  Für  Leute  wie  Olshau- 
8in  ist  eine  solche  Angabe  unbesehen  richtig,  und  sie  schrei* 
ben  sie  wörtlich  nach  (  S.  127 ).  Wer  nun  aber  die  Stelle 
nachschlagt,  der  findet  nichts,  als  die  Verordnung  des  Servias 
Tullius,  die  Römer  sollen  sich  einschreiben  lassen,  yuraixds  r« 
*ori    natSag    —    nicht   etwa    ayorrag,     sondern,  bloss    oroptiCorras. 

Der  mildeste  Name  für  eine  solche  Art,  auf  Belegstellen  sich 
su  berufen,  ist  Leichtfertigkeit 


i 

Viertes  Kapitel.    $.  32.  2ffi 

schreiben  au  lassen;  «dar  wenn  m  dieb  mit  Paulus 
durah  eine  genwungene  Ceustrneticn  entfernt,  so  sieht 
man  nicht,  was  Maria  bewegen  konnte,  in  ihren  damaligen 
Umstanden  eine  solche  Reiee  an  nntaniahmen ,  da  sie, 
will  nsan  nioht  mit  Olshagssn  u.  A.  die  Hypothese  ans 
dar  Luft  greifen,  sie  sei  eine  in  Bethlehem  uegflterfa 
firbtoehter  gewesen,  dort  iedigHeh  nithta  an  schauen 
hatte. 

Unser  Verfasser  freilich  wnCrtegar  wohl,  was  sie  dort 
an  tonn  hatte:  nämlich,  der  Weissagung  Micha  5,  1.  ge 
mftTs,  in  der  Davidsstsdt  den  Messias  an  gebXrea.  Da  er 
nnn  von  der  Voraussetanng  aasging,  defs  Jesa  Eltern  eigent- 
Üeh  sn  Nasaret  ihre  Wohnung  gehabt  hajken,  so  sachte 
er  nach  einem  Hebel,  nm  sie  fbr  die  Zeit  der  Gebart  Jesn 
nach  Bethlehem  in  Bewegung  an  setzen.  Da  bot  sich  weit 
and  breit  nichts  als  die  berühmte  Schatsnng  dar;  nach 
dieser  griff  er  um  so  unbedenklicher,  je  mehr  ihm  bei 
seiner  dunkein  Vorstellung  von  den  Verhältnissen  jener 
Zeit  die  vielen  Schwierigkeiten  verborgen  waren,  welche 
in  dieser  Combioation  liegen*  Steht  es  so  mit  seiner 
Notiz:  so  wird  man  K.  Ch.  L.  Schmidt  Recht  geben  müs- 
sen, wenn  er  sagt,  durch  die  Versache,  die  Angebe  des 
Lukas  von  der  afioyQaytj  mit  der  Chronologie  in  Einklang 
an  bringen,  werde  dem  Berichterstatter  viel  au  viel  Ehre 
sngethan ;  er  habe  die  Maria  nach  Bethlehem  hinfiberse« 
tzen  wollen,  und  da  habe  sich  die  Zeit  nach  seinem  Wil- 
len fügen  müssen  **)• 


20)  In  Schmidt7»  Bibliothek  für  Kritik  und  Exegese,  5, 1.  S.  124. 
Vergl.  Kaisir,  bibl.  Theol.  1,  S.  230;  Akmoh,  Fortbildung,  1, 
S.  196 ;  Cridkea,  Einleitung  in  d.  N.  T.,  1,  S.  155 ;  pb  Witte, 
exeget.  Handbuch  z.  d.  St.  Auffallend  ist,  wie  noch  Sixxxkut 
(über  den  Ursprung  des  ersten  Ev.,  S.68&  158  ff.)  dem  Mat- 
thäus zum  Vorwurfe  machen  mag ,  von  den  besondern  Um- 
ständen nichts  xu  wissen,  welche  die  Eltern  Jesu  von  Na*arct 
nach  Bethlehem  führten  (vergl.  dagegen  Ksav,  Über  den  Ur- 


2ÜÖ  Erster  Abschnitt* 

Also  weder  einen  festen  Anhaltspunkt  für  die  Chre* 
nologie  der  Gebart  Jesu  bekommen  wir  hier,  noeh  nneh 
einen  AufschluCs  Aber  die  Veranlassung,  weiche  seine  Ge- 
burt gerade  in  Bethlehem  herbeifährte.  Labt  sieh  —  kön* 
nen  wir  jetst  sohon  sagen  —  kein  anderer  Grund  beibrin- 
gen, warum  Jesus  in  Bethlehem  soll  geboren  worden  sein, 
als  der  von  Lukas  angegebene:  se  haben  wir  gar  keine 
Bürgschaft,  dafs  Bethlehem  sein  Geburtsort  sei. 

$.    33. 

jähere. Umstünde  der  Geburt  Jesu  sammt  der  Beichn&dun^. 

Auf  die  einmal  gewählte  Grundlage,  dafs  Maria  und 
Joseph  als  fremde  Reisende  der  Schätzung  wegen  nach 
Bethlehem  gekommen  seien,  trügt  die  Erzählung  des  Lu- 
kas die  weiteren  Zöge  folgerecht  auf.  Wegen  des  durch 
die  Schätzung  verursachten  Zusammenflusses  vieler  Frem- 
den in  Bethlehem  haben  jene  beiden  in  der  Herberge 
keinen  Raum,  und  müssen  sich  bequemen,  in  einem  Stalle 
sich  einzurichten,  wo  Maria  sofort  ihres  Erstgeborenen 
entbunden  wird  ')•     Aber  das   auf  Erden   unter  so   un- 


sprung  4es  Evang.  Matthäi,  Tab.  Zeitschrift,  1834,  2,  S.U5); 
nicht  minder  seltsam,  dass  Wixbr  (b.  Rw. ,  2,  S.  350)  gegen 
die  Annahme  eines  parachronistischen  Zurückdatircns  der 
Quirinischen  Schätzung  von  Seiten  des  Lukas  sich  darauf  be- 
rufen mag,  dass  dieser  nach  A. G.  5,  37.  diese  Schätzung 
wohl  gekannt  habe :  da  doch  eben  diese  Stelle  durch  die  fal- 
sche Stellung  dos  Theudas  im  Verhältniss  zu  Judas  deutlich 
zeigt,  dass  der  Verf.  in  der  Chronologie  dieser  Zeiten  keines- 
wegs fest  war. 
1)  Die  dem  Zusammenhang  zuwiderlaufende  Behauptung  Horr- 
minw's  im  vorigen  Stücke,  Joseph  habe  nach  Bethlehem  nicht 
als  in  sein  Stammort,  sondern  als  seine  Geburtsstadt  reisen 
müssen,  rücht  sich  jetzt  schwer  dadurch,  dass  er  (sofern,  sei- 
nem eigenen  Geständnisse  nach,  S.  241.,  diese  Annahme  mit 
dem  gänzlichen  Mangel  an  Baum  in  der  Stadt  sieh  nicht  ver« 


Viertes  KapiteL    $♦  33.  267 

scheinbaren  Uautinden  int  Dasein  getreten*  Kind  ist  im 
Himmel  hoch  angesehen:  ein  Bote  von  da  verbandet  Hir* 
ten,  welche  nächtlich  auf  dem  Feld  ihre  Heerden  bewa* 
eben»  die  Gebart  des  Messias,  nnd  weist  sie  auf  das  Kind 
in  der  Krippe  hin,  welches  sie,  nachdem  noch  ein  ühor 
himmtiseher  Heerschaaren  mit  einem  Lobgesang  eingefallen^ 
anfauchen  und  finden  (2,  6-2Q.)- 

Koch  weiter  haben  die  apokryphiscben  Erangaiien 
and  die  Ueberliefemng  bei  den  Kirehenvfitern  die  Gebart 
Jesu  ansgeschmfickt.  Als  nach  dem  ProteoangeUum  Ja* 
eobi  *)  Joseph  die  Maria  anf  einem  Esel  nach  Bethlehem 
rar  Schätzung  fahrt,  beginnt  sie  in  der  Nähe  der  Stadt 
bald  traurig  bald  freudig  sich  an  gebärden,  nnd  gibt, 
hier  Aber  befragt,  die  Auskunft ,  dafs  sie  (wie  einst  in  Re- 
bekkas  Leibe  sichawei  feindliche  Nationen  stiefsen,  l.Mos. 
35,  23.)  «wei  Völker,  das  eine  weinend  das  andere  la- 
chend, Tor  sich  sehe;  iL  h.  nach  der  einen  Erklärung  *) 
die  »wei  Theile  von  Israel,  deren  einem  die  Erscheinung 
Jesu  (nach  Luc  2,  34.)  **£  nvuiGpr,  dem  andern  elg  dvd- 
caow  gereichen  sollte;  nach  der  andern  Deutung  aber  das 
Volk  der  Joden,  welche  Jesuin  hernach  verwarfen,  nnd 
das  dar  Beiden,  welche  ihn  annahmen  *)•  Ais  bald  darauf 
Maria  —  wie  es  nach  dem  Zusammenhang  and  mehreren 
Lesarten  scheint,  noch  außerhalb  Bethlehems  —  von  Ge- 
burtswehen befallen  wird,   bringt  sie  Joseph  in  eine  am 


trägt)  jetzt  im  offensten  "Widerspruche  gegen  den  Text  den 
Grund  der  Niederkunft  im  Stalle  nicht  in  Mangel  an  Raum, 
sondern  in  der  unerwartet  schnell  eingetretenen  Noth  der 
Entbindung  suchen  suis 8,    Gerade  wie  wenn  es  statt:   Ston  «x 

t,y  aurotg  to7to;  ir  riß  xara/ivjuaTi^  hißSSC  2  Siori  «x  tjy  avroTg  XQ?y°S 
T«  17.9  tiv  flq  t.  x. 

2)  Cap.  17  ff.    Vgl.  Historia  de  nativ.  Mariae  et  de  infantia  Ser- 
vatoris  c.  13. 

3)  Kabmcius,  im  Codex  Apocryph.  N.  T.  1,  S.  105.  not.  y. 

4)  Das  zuletzt  angeführte  Apocrypbum  a.  a.  O. 


t>OS  E*ater  Abschnitt. 

Wege  liegende  Höhle,  wo  sie,  wXhrend  die  ganze  Natur 
feiernd  stillsteht,  von  einer  Lichtwolke  verborgen,  dm 
Kind  eor  Welt  bringt,  und  von  herbeigerufenen  Frauen 
•ach  nach  der  Entbindung  noch  als  Jungfrau  befunden 
wird.  —  Die  Sage  von  der  Geburt  Jean  In  einer  Höhl« 
kennen  schon  Justin  und  Origenees)  und  bringen  aie  mit 
der  Nachricht  des  Lukas,  dafa  Jesus  in  einer  <pazrtj  nie* 
dergelegt  worden  sei,  so  in  Einklang,  dafa  aie  in  der  Höhl« 
eine  Krippe  sieh  denken,  worin  ihnen  auoh  manche  Neuere 
beistjmmen;  während' Andere  lieber  die  Höhle  selbst  alt 
q)drv7]>  in  der  Bedeutung  von  Futteretall,  betrachten'). 
Für  die  Gebort  Jesu  in  der  Höhle  beruft  sich  Justin  auf 
die  Weissagung  Jeg.  33,  16.:  sxog  (der  Gerechte)  olxr/ou 
iv  vifältii  (t7irfi.aL(>  Tttcqag  iaxvQag 7) ;  wie  die  Historia  de 
nativitate Marias  etc.  für  die  Angabe,  dafa  das  am  drittea 
Tage  aus  der  Höhle  in  den  Stall  gebrachte  Jesuskind  vesi 
Ochsen  und  Esel  angebetet  worden  sei,  anuf  Jes.  1,  3.: 
cognovit  hos  possessorem  suum,  et  asi&um  praesepe  do- 
mini  sui  *).  In  mehreren  namhaften  Apokryphen  fallen 
zwischen  den  gebnrtshelfenden  Frauen  und  den  Magiern 
die  flirten  aus;  doch  finden  sie  sich  z.  B.  in  dem  Evan- 
gelium infantiae  arabicum,  wo  ihnen,  als  aie,  cur  Höhle 
gekommen,  Freudenfeuer  anzündeten,  daa  himmlische  Heer 
erscheint  9). 

Nehmen  wir  nun  die  von  Lukas  erzahlten  Umstände 
der  Geburt  Jesu  in  supranaturalem  Sinne,  so  ergeben  sieb 
mehrere  Schwierigkeiten.      Zuerst  Ififet  sich  billig  frage*, 


5)  Jener  Dial.  c.  Tryph.  78 ;  dieser  c.  Cels.  1,  51. 

6)  Ersteres  Hess,  Geschichte  Jesu,  1,  S.  45;  Olshausi*,  i.  d.  Stj 
Letzteres  Paulus,  z   d.  St. 

7)  a.  a.  O.  No.  70  und  78. 

8)  Cap.  14. 

9)  Gap.  4,  hei  Thilo,  S.  Od« 


Viertes  Kapitel    f.  33.  269 

welchem  Zwecke  die  Engelersebeinung  dienen  sollte10)? 
Die   näohste  Antwort   ist:   die  Gebort  Jesn   bekannt  nn 
machen.    Aber  sie  wird  ja  dorob   dieselbe  so  wenig  be- 
kannt, dafs  in  das  so  nebe  gelegene  Jerusalem  eivt  später 
die  Magier  die  erste  Kunde  von  dem  neugeborenen  Juden- 
könig bringen ,  und  überhaupt  in  der  weiteren  Geschiebte 
keine  Spar  eines  solchen  Vorfalls  bei  der  Gebort  Jesn  sieh 
findet.    Kann  demnach  der  Z^weck  jener  aufserordentlichen 
Erseheinufjg  nicht  ihr  Bekanntwerden  in  weiteren  Kreisen 
gewesen  sein,  weil  sonst  Gott  seinen  Zweck  verfehlt  haben 
würde:  so  müfste  man  mit  Schlkikrmacher  annehmen,  sie 
habe   nur  in  der   unmittelbaren  Wirkung   auf  die  Hirten 
selber  ihr  Ziel  gehabt  1S>     Dabei  müfste  mau   dann  aber 
mit  ebendemselben  voraussetzen ,  diese  Hirten  seien ,.  wie 
jener  Simeon,  von  messianischen  Erwartungen  besonders 
erfkllt  gewesen.,  und  diesen  ihren  frommen  Glauben  habe 
Gott  durch  jene  Erscheinung  belohnen  ond  befestigen  wol- 
len«'    Aber  weder  von  einer  solchen  Stimmung  der  Hirten 
berichtet  die  Ersanlnng  irgend  etwas ,    noch   wird  eine 
bleibende   Wirkong    auf    dieselben   bemerkten  gemacht; 
hauptsächlich  aber  erscheint  der  ganaen  Darstellung  zu* 
folge  nichts  die  Hirten  Betreffendes  als  Zweck  der  Erschei- 
nung, sondern  lediglich  die  Verherrlichung  und  Bekannt« 
maehung  der  Geburt  Jesu  als  des  Messias.    Da  aber  das 
Letztere,   wie  schon  bemerkt,  nicht  erreicht  wurde,  das 
Erster«  eher  rein  für  sich,  wie  jedes  leere  Gepränge,  kein 
gotteswtirdiger  Zweck  ist:   so  stellt  dieser   Umstand  auch 
ftr  sieh  schon  der  supranaturalistischen  Auffassung  dieser 
Geschichte  ein  nicht  unbedeotendes  Hindernis  entgegen. 
Nimmt  man  nun  hiezo  die  früher  ausgeführten  Bedenken 
gegen  Erscheinungen  und  Dasein  von  Engeln  Oberhaupt: 
so  ist  es  sehr  begreiflich ,   dafs  auch  bei  dieser  Erzählung 


10)  S.  Gabler  im  neuest,  theol.  Journal,  7,  4,  S.  41  (K 

i!)  Ucbcr  den  Lukas,  S.  33.    Vgl.  Njukd«r,  L.  J.  Chr.,  S.22. 


270  Elfter  Abschnitt 

der  Ausweg   einer  natürlichen  Erklärung  betreten  wor* 

den  Ist. 

Dic/te  ist  denn  freilieh  in  ihren  ersten  Versuches 
grob  genug  ««gefallen.  So  nahm  Eck  den  ayyelog  f Ar  ei- 
nen Boten  ans  Bethlehem,  welcher  Liebt  bei  sieh  hatte, 
das  den  Hirten  in  die  Angen  fiel,  und  den  Lobgesang  der 
Ileerschaaren  als  ein  Freudengeschrei  mehrerer  Begleiter 
dieses  Boten  **).  Feiner  und  pragmatischer  hat  Paulus  die 
Sache  ausgesponnen.  Maria,  welche  in  einer  Hirtenfasri- 
tie  eu  Bethlehem  gastfreundliche  Aufnahme  gefunden  bitte, 
erefihlte,  roll  Hoffnung,  wie  sie  war,  den  Messias  an  g* 
baren,  auch  den  Gliedern  dieser  Familie  davon,  welche  all 
Bewohner  der  Davidsstadt  nicht  unempfänglich  dafür  seio 
konnten.  Als  daher  in  der  Nacht  diese  Hirten  auf  den 
Felde  sieh  befinden,  und  eine  feurige  Lufterscheinung  er- 
blieben,  wie  sie  nach  Berichten  von  Reisenden  in  jener 
Gegend  nicht  ungewöhnlich  aind :  ao  deuten  sie  diefs  als 
eine  Gottcfebotscbaft ,  dafs  die  fremde  Frau  In  ihrem  Fat* 
terstalle  wirklich  von  dem  Messias  entbunden  worden  sei; 
und  als  die  Lichterscheinung  sich  ausbreitet  und  hin  and 
her  bewegt,  do  sehen  sie  hierin  lobpreisende  Engelseh**- 
ren.  Heimgekehrt,  finden  sie  ihre  Erwartung  durch  den 
Erfolg  bestätigt ,  und  stellen  nun  das ,  was  nur  sie  selbst 
als  Sinn  und  Bedeutung  jener  Erscheinung  vorausgesetst 
hatten,  morgenlfindisch  als  wirkliehe  Worte  derselben 
dar  ")- 


12)  Ia  seinem  Versuch  über  die  Wuadergeschichten  des  N.  T., 
vergl.  Gablba's  neuestes  theolog»  Journal,  7,  4,  S.  411*  D* 
Verf.  der  natürlichen  Geschichte  des  Propheten  voa  Nauret 
hat  auch  hier  an  den  Wundern  der  N.  T.  liehen  Erzählung 
nicht  genug  Stoff  für  seine  Lust  zu  natürlicher  Erklärung, 
sondern  er  unternimmt  es,  auch  die  Fabeln  der  Apokryphes 
auf  seine  Weise  zurechtzulegen. 

13)  Ejteg.  Handb.,  i,  a,  S.  18011.     Wie  Paulus  eine  äussere  Ns- 


Vierte«  Kapitel.    $.  33.  271 

Bei  dieser  Erklärung  hingt  Alle«  «1  der  Vorausse- 
teung,  dafs  «lie  Hirten  schon  vorher  etwas  von  den  Er- 
wartungen der  Maria,  den  Messlas  au  gebären,  gewufst 
haben;  denn  ohne  diefs,  wie  hätten  sie  dann  kommen  sol- 
len, die  Naturerscheinung  als  ein  Zeichen  gerade  ron  der 
Gebort  des  Messias  in  ihrem  Stalle  oi  betrachten  f  eben 
jene :  Voraussetzung  '  aber  ist  der  vollkommenste  Wider* 
»prach  gegen  den  evangelischen  Bericht.  DeYin  erstlieh, 
dafs  ihnen  der  Stall  zuguhdrt  habe,  setat  dieser  offenbar 
siehe  voraus,  weanr  er,  nachdem  er  die  Entbindung  der 
Maria  in  dem  Stalle  erzählt  hat,  zu  den  Hirten  als  au 
etwas  ganz  Neuem  und  Fremdem,  das  mit  jenem  Stalle 
gar  nicht  zusammenhängt,  in  den  Worten  übergeht:  xal 
7totf4tveg  yoav  ip  tf\  xwqy  rf[  avtfj,  statt  deren  bei  jener 
Erklärung  doch  wenigstens  ot  dt  noinhsg  x.  t.  L  stehen 
mlifate ;  so  wie  dann  auch  das  nicht  ohne  alle  Andeutung 
hätte  bleiben  därfen,  dafs  die  Hirten  den  Tag  über  in  dem 
Stalle  ab-  und  angegangen,  und  erst  mit  Anbruch  der 
Naebt  zum  Hüten  ausgezogen  seien.  Dach,  auch  diese 
Umstände  vorausgesetzt,  ist  es  von  Paulus  folgewidrig,  die 
Maria  früher  so  schweigsam  über  ihre  messianische  Schwan- 
garnfchaft  vorzustellen,  dafs  sie  Anfangs  selbst  dein  Joseph 
dieselbe  nicht  entdecken  will:  nun  aber  mit  Einem  Male 
so  geschwätzig,  dafs  sie,  kaum  angekommen,  vor  fremden 
Lernten  die  ganze  Geschichte  ihrer  Erwartungen  auskramt* 
Uebrigeas  widerspricht  die  Annahme,  dafs  die  Hirten 
Horch  Maria  selbst  schon  vor  ihrer  Niederkunft  von  der 
Sache  unterrichtet  gewesen,  auch  dem  weiteren  Verfeig 
der  Erzählung.  Denn  wie  diese  lautet,  so  bekommen  die 
Hirten  durch  den  erscheinenden  Engel  die  erste  Kunde 
von  der  Geburt  des  aom^Q,  und  zum  Zeichen  der  Wahr« 
heit  dieser  Kunde   soll  ihnen  das  neugeborne  Kind  in  der 


turerscheinung ,  so  nimmt  Matthaki  ,  Synopee  der  vier  £van< 
gelien,  S.  3»,  eine  innere  EngeUnschatiung  sa. 


2T2  Erster  Abschnitt. 


Krippe  dienen ;  kitten  sie  bereits  durch  Meine  etwas  ron 
den  nächstens  so.  gebarenden  Messias  gewulst:  so  wlre 
ihnen  schon  die  LiohterseheinuHg  ein  <rr{fteiov  für  jene  Aus- 
sage der  Maria,  und  nicht  erst  das  Finden  des  Kindes  ein 
Zeichen,  für  die  Wahrhaftigkeit  der  Erscheinung  gewesen* 
Endlich  dürfen  wir  nnsern  bisherigen  Untersuchungen 
wohl  so  viel  vertrauen,  um  hier  zu  fragen,  woher  denn 
der.  Ataria,  wenn  doch  weder  eine  'wundervolle  Vcrkflndt- 
gung,  nooh  eine  öbernatttriiohe.£nip|ängnlfs  stattgefunden 
hatte,  die  feste  Hoffnung.?  den  Meaaias  au  gebären,  hätte 
kommen  sollen? 

Dieser  nach  allen  Seiten  so  schwierigen  natürlichen 
Erklärung  gegenüber  kündigte  Bauer  eine  mythische  Auf- 
fassung an  ") ;  kam  aber  in  der  That  keinen  Schritt  über 
die  natürliche  Deutung  hinaus,  sondern,  wiederholte  Zug 
für  Zug  die  PAULUs'sche  Auslegung.  Mit  Recht  setzte 
GABLia  an  dieser  gemischt* mythischen  Erklärung  ans,  dafs 
sie,  wie  die  natürliche,  au  viel  Unwahrscheinliches  häufe: 
einfacher  erscheine  Alles  bei  Annahme  eines  reinen,  dog- 
matischen. Mythus;  wodurch  zugleich  mehr  Harmonie  in 
diese  christliche  Urgeschichte  komme,  deren  bisherige 
Stücke  ja  ebenfalls  als  reine  Mythen  haben  ausgelegt  wer- 
den müssen  16>  Demgemäfs  erklärt  nun  Gabler  die  Er- 
zählang  aus  der  Zeitvorstellung,  bei  der  Geburt  des  Mes- 
sias müssen  wohl  Engel  geschäftig  sein.  Nun  habe  man 
gewulst,,  daCs  Maria  in  einer  Hirtenwohnung  entbunden 
werden  war:  diesen  gu^en  Hirten,  habe  man  also  gesehles- 
sen,  müssen  die  Engel  sogleich  die  Botschaft  gebracht  ha« 
ben,  dafe  der  Messias  in  ihrem  Stalle  geboren  sei,  und 
die  Engel,  die  ja  immer  Gott  preisen,  messen  auoh  hier 
einen  Lobgesang  angestimmt  haben.    Anders,  meint  Gab- 


14)  Hebräische  Mythologie,  2.  Tbl.  S.  223  ff. 

15)  Recension  von  Baujcr's  hebr.  Mythologie  in  GaSuji's  Journal 
für  auserlesene  theol.  Literatur,  2,  1,  S.  58  f. 


Viertes  Kapitel.    $.  SS.  273 

lsb,  keimte  sich  ein  Judenohrist  die  Gebart  Jesu,  wenn 
er  einige  Data  Ton  derselben  wulste,  unmöglich  denken, 
ab  sie  hier  gemalt  ist  ")• 

Auf  merkwürdige  Weise  zeigt  diese  GABLBa'sche  Er- 
klarang,  wie  schwer  es  hält,  sieh  von  der  naturlichen 
Erklärnngsweise  völlig  ioszuwinden,  und  ganz  an  der  my- 
thischen an  erheben ;  denn  während  der  genannte  Theologe 
gern?  schon  anf  mythischen  Boden  getreten  an  sein  meint, 
steht  er  doch  mit  einem  Fufre  noch  anf  dem  der  natttrli- 
ehen Auslegung.  Einen  Zug  nämlich  aus  dem  Berichte 
des  Lukas  nimmt  er  als  geschichtlich  hin,  welchen  sein 
Zusammenhang  mit  ungeschichtlichen  Angaben  und  seine 
Angemessenheit  an  den  Geist  der  urchristlichen  Sage  au 
deutlich  als  blofs  mythischen  bezeichnet:  nämlich,  da& 
Jesus  wirklich  in  einer  Hirtenwohnung  geboren  sei;  und 
eine  Voraussetzung  nimmt  er  aus  der  natürlichen  Erklä- 
rnngsweise auf,  welche  die  -mythische  gar  nicht  dem  Texte 
aufzudringen  braucht:  dafs  die  flirten,  welchen  angeblich 
die  Engel  erschienen,  EigenthOmer  des  Stalles  gewesen  sein 
sollen,  in  welchem  Maria  entbunden  wurde*  Was  das 
Erste  betrifft,  mit  weichem  das  Andere  von  selbst  hinfüllt, 
so  beruht  es  auf  derselben  Maschinerie,  durch  welche  Lu- 
kas mittelst  der  Schätzung  die  Eltern  Jesu  von  Nazaret 
nach  Bethlehem  in  Bewegung  setzt«  Nun  wissen  wir  aber, 
wie  es  mit  dieser  Schätzung  steht:  sie  fällt  ohne  Rettung 
vor  der  Kritik  dahin ,  und  mit  ihr  das  lediglich  auf  sie 
gebaute  Datum,  dafs  Jesus  in  einem  Hirtenstalle  geboren 
worden.  Denn  waren  Jesu  Eltern  zu  Bethlehem  nicht 
fremd,  und  kamen  sie  nicht  gerade  bei  einem  grofsen 
Zusammenflusse  von  Fremden,  wie  er  aus  Gelegenheit  ei- 
nes Census  stattfinden  konnte,  dahin:  so  ist  kein  Anlafs 
mehr  dazu  vorhanden,  dafs  Maria  einen  Stau  zum  Urte 
ihrer  Entbindung  nehmen   mufste.     Aber  ebenso  stimmt 


16)  Neuestes  theol.  Journal,  7,  4,  S,  412  f» 

Das  Leben  Jesu  M<*  Aufl.  /.  Hand.  1$ 


•274  Erster  Abschnitt. 

andererseits  der  Zog,  dafs  Jesus  in  einem  Stalle  gebore», 
und  »«erst  Von  Hirten  begrüfst  worden  sein  soll,  mit  dem 
Geist  der  alten  Sage  so  gane  tiberein,  dafs  es  klar  ist,  wie 
sie  veranlafst  sein  konnte,    ihn  rein  zu  erdichten*     Schon 
Theophylakt  dentet  diefs  richtig  an,   wenn  er  sagt,  nicht 
su  Jerusalem  den  Pharisäern  und  Schriftgelehrten,  weiche 
aller  Bosheit  voll  waren,  sei  der  Engel  erschienen,  sondern 
auf  dem  Felde  den  Hirten ,  wegen  ihres  einfachen ,  argto- 
sen Wesens,  und  weil  sie  durch  ihre  Lebensweise  Nach- 
folger der  alten  Patriarchen  gewesen  seien  17)*    Auf   dem 
Felde   bei   den  Heerden  hatte  auch  Moses  die  himmlische 
Erscheinung  (2.  Mos.  3,   lff),    nnd   den    Ahnherrn    des 
Messias,  Darid,  hatte  Gott,  nach  Ps.  78,  70  f.  (vgl.  1.  Sam. 
16,  11. )>  a0s  den  Bürden  (bei  Bethlehem)  genommen,   um 
sein  Volk   su  weiden.     Deberhaupt  Ififst  der  Mythus    der 
alten  Welt  Landleuten  ie)  und  Hirten  19)  am  liebsten  Got- 
teserscheinungen  zu  Theil   werden;    die  Göttersöhne    und 
grofsen  Mfinner  werden   häufig  unter  Hirten   erzogen  **)• 
In   demselben  Geiste   der   alten  Sage   ist  auch  die  apokry- 
phische  Nachricht  gedichtet,  dafs  Jesus  In  einer  Hoble  ge- 
boren sei;  wodurch  man  an  die  Geburtshöhle  des  Zeus  und 
anderer  Götter   erinnert  wird21),  wenn   auch   gleich    die 
mißverstandene  Stelle  Jes.  33,  16.   die   nächste  Veranlas- 
sung dieses  Zuges  gewesen  sein  mag22).     Die  Naeht  fer- 
ner, in  welche  die  Scene  verlegt  wird  —  wenn  man  nicht 
an  rabbinisohe  Vorstellungen  denken  will,   naeh  welchen, 
wie  die  Erlösung  aus  Aegypten ,  so  auch   die   durch   den 


17)  In  Luc.  2.    Bei  Suicer,  2,  p,  789  f- 
IS)  Servius  ad  Virg.  Ecl.  10,  26. 

19)  Liban.  progymn.  p.  138,  bei  Wbtstbi*,  S«  662- 

20)  So  Cyrut,  nach  Herod.  1,  HO  ff.    Romuhit,  nach  Liv.  f,  4. 

21)  S.  die  Stellen  bei  Wktstein,  p.  660  f. 

22J  Diess  ist  die  Ansicht  Tmilo's,  Codex  Apocr. N.T.  |,  S.  385,  not. 


Viertes  Kapitel.    $•  33.  275 

Messias  bei  Naebt  vor  sioh  gehen  sollte29)  —  bildet  den 
dunkeln  Hintergrand,  auf  dem  sieh  die  erscheinende  doSa 
Kvqis  dd  so  glänzender  ausnimmt,  welche,  wie  sie  de 
Gebort  des  Moses  verherrlicht  haben  sollte24),  so  aush 
bei  der  seines  heileren  Nachbildes,  des  Messias,  nicht  feh- 
len konnte* 

Einen  Gegner  hat  die  mythische  Auffassung  dfcses 
Abschnitts  namentlich  in  Schleier* ach br  gefunden  2*> 
Zwar ,  wenn  er  es  unwahrscheinlich  findet ,  dafs  Üeeer 
Anfang  von  Lue*  2.  eine  Fortsetsong  des  Voriger,  und 
von  demselben  Verfasser  mit  diesem  sei,  weil  dir  mehr« 
fache  Veranlassung,  sich  in  lyrischen  Ergüssen  attrabrei* 
ten ,  wie  «.  B.  bei  der  lobpreisenden  Umkehr  de  Hirten^ 
V.  20.,  hier  gar  nicht  sd>  Wie  im  ersten  Kapitel  benotet 
werde:  90  kann  man  ihm  hierin  wohl  etwa  bestimmen ( 
wenn  er  aber  daraus  weiter  folgert,  dafs  dieserErxählung 
auch  nicht  ein  vorwiegend  dichterisches  Geirtge  enge« 
sehrieben  werden  dürfe,  indem  dieses  notn«endig  mehg 
Lyrisches  herbeigeführt  haben  wurde :  so  eweist  diefs 
nur,  dafs  Schleibrvachsr  den  Begriff  derjnigen  Poesiej 
von  welcher  es  sich  hier  handelt,  nämlich'***  Poesie  des 
Mythus,  nieht  gehörig  erfafst  hak  Die  rfthbcha  Poesie 
ist  mit  Einem  Worte  eine  objeetive:  sie  igt  das  Dichte, 
risehe  in  den  Stoff  der  Erzählung,  nnr  kann  daher  in 
gans  schlichter  Form*  ohne  allen  Anfand  lyrischer  £r- 
giedungen,  erseheinen ;  welche  letztere  vielmehr  nnr  die 
spltere  Zinnat  einer  subjeetiven,  mehr  Jewufst  und  künst- 
lerisch ausgefibten  Poesie  sind  26>  Allerg*  also  haben  wir, 


23)  S.  Schöttgsw,  a.  a.  Ot  Ö,  S.  551* 

24)  Sota,  1,48:  Saptente*  nostti  perh&ü,  dtca  horam  nativt- 
tatis  Mosts  totam  domum  reylettarfutsse  face  (Witstkin). 

25)  Ueber  den  Lukas,    S*  291     ihr  schliesst  sich  jettt  u.  A. 
Nbakvbr  an,  L.  J.  Ch.,  S.  Jl  f. 

26)  Vgl.  dk  Witts,   Kritik  ier  modischen  Geschichte,  S.  116; 

Gkorck,  Mythfts  u*  Sage,  S*  33  f. 

i5 


s 


*76  Erster  Abschnitt 

wie  es  seheint ,   diese  jetct  folgenden  Abschnitte  mehr  In 
der  ursprünglichen  Form  der  Sage:   während  die  Erzfifr- 
loogen   des  ersten  Kapitels   bei  Lukas  mehr  das  Gepräge 
der  Umarbeitung  durch  ein  dichtendes  Individuum  tragen-; 
abtr  von  geschichtlicher  Wahrheit  ist  defrwegen  dennoch 
hie»  ebensowenig  als  dort  etwas  zu  suchen.     Daher  kann 
es  Jach  nur  als  Spielerei  des  Scharfsinns  angesehen  wer- 
den ,  wenn  Schleiermacher   weiterhin   sogar  die   Quelle 
auseunittefai  sich  anheischig  macht,  aus  welcher  diese  Er- 
Bählunf   in  das  Lukasevangelium   gekommen    sein   möge. 
Dutts  e\  als  diese  Quelle  nicht  die  Maria  annehmen  will» 
abgleichen  der  Bemerkung  V.  19.,  sie  habe  alle  diese  Re- 
den im  feroen  bewahrt,  eine  Berufung  auf  sie  gefunden 
werden  bunte,  daran  bat  er  «war  um  so  mehr  Recht,  als 
jene  BemeJiung  (worauf  Schlkierhacher  keine  Rficksicht 
nimmt)  no  eine  aus  der  Geschichte  Jakobs  und  Josephs 
herübergenfemene   Phrase  ist.      Wie  nämlich  die  Erefih- 
lnng  der  G^esis  Ten  Jakob,  als  Vater  jenes  Wunderkin- 
des, berichte^  dafs  er ,  wenn  Joseph  von  seinen  vorbedeu- 
tenden Trüunbri  erzählte,   und  die  Brüder  ihn  defswegen 
beneideten,  de*en  Reden  nachdenklich  im  Herzen  bewahrt 
habe:  so  gibt  ^  an   die  Erzählung  bei  Lukas   der  Maria 
au  dem  Aufserodentlichen,  was  sich  mit  ihrem  Kinde  zu- 
trug, hier  und  n,ten  2,  51.  die  schickliche  Stellung,   dafs 
f  sie,   während  die,[Jebrigen  in  laute  Bewunderung  ausbra- 
chen, was  sie  Bahnrad  hörte,  nachdenklich  in  sich  aufge- 
nommen und  bei  sifc  Oberdacht  habe  27>    Wenn  nun  aber 

\ 

27)  Man  vergleiche : 

i.  Mos.  37,  11  (Mf.) :  Luc.  2,  18  f. : 

*JGyy&war    fft    auror   ol\$€Z<fxt  xai   nayres   ot   axwrccyrtg  e&av/imtar, 

ovth    o  Sh  narw  avr«  "Vt^'-  —  —  jy  Ss  Mapa/t    ncarva    ovre- 

qqos    ro    Qijfia.      Und^azu  Ttjqct  to  Qtjjuaza  rav-ror,  avftßal- 

die  Rabbinen,   bei  ScjVrr-  j^   }v  Tjj  xa^(a  aurq;.    2,   51: 

GKKf  noraej  i,  262.  ^  xal  g  /qfnpg  aurS  JteTtJQtt   navra 


Viertes  Kapitel    5**3.  277 

der  genannte  Theologe  statt  der  Maria  die  Hirten  als 
Quelle  unserer  £rs&hlung  beseichnet ,  weil  Alles  ans  dem 
Standpunkte  nicht  von  jener,  sondern  von  diesen  erzählt 
sei:  so  ist  es  vielmehr  ans  dem  Gesichtspunkte  der  Sage 
emählt,  welche  gleicherweise  Aber  beiden  steht.  Wenn 
Schlbibrm acher  es  anmöglich  findet,  dafs  diese  Ersfihlung 
eine  aus  Nichts  zusammengeballte  Luftblase  sei:  so  mu(s 
er  anter  dem  Nichts  die  jüdischen  nnd  urchristlichen  Ideen 
von  Bethlehem  als  dem  nothwendigen  Geburtsorte  des 
Messias,  von  dem  Hirtenstande  als  dem  des  Verkehrs  mit 
dem  Himmel  besonders  gewürdigten,  und  von  den  Engeln 
als  den  Vermittlern  dieses  Verkehrs ,  verstehen;  Vorstel- 
lungen ,  welche  wir  unsererseits  unmöglich  so  gering  an* 
schlagen,  sondern  uns  wohl  denken  können ,  wie  sich  aus 
denselben  etwas,  wie  unsere  Erzählung  hier,  gestalten 
mochte.  Endlich,  wenn  er  eine  sufKllige  oder  absichtliche 
Dichtung  hier  defswegen  undenkbar  findet,  weil  die  Chri- 
sten jener  Gegend  so  leicht  die  Maria  oder  die  Jünger 
über  die  Sache  haben  befragen  können:  so  ist  diefc  doch 
an  sehr  im  Style  der  alten  Apologetik  geredet,  und  setst 
die  in  der  Einleitung  besprochene  Ubiquititt  jener  Perso- 
nen voraus,  welche  doch  unmöglich  an  allen  Orten  berich- 
tigend zugegen  sein  konnten,  wo  eine  Neigung  au  christli- 
cher Sagenbildung  sich  regte. 

Die  Notiz  von  der  Beschneidung  Jesu,  Lug.  9,  21«, 
rührt  offenbar  von  einem  solchen  her,  welcher,  ohne  von 
dieser  9eene  wirkliehe  Nachricht  au  haben,  nur  in  Ge- 
mifsheit  der  jadischen  Sitte  für  gewifs  annahm ,  dafs  die- 
selbe am  achten  Tage  nach  der  Geburt  in  gewöhnlicher 
Weise  stattgefunden,  und  nun,  wie  Paulus  PhiL  S,  5. 
durch  das  neQuofifj  oxtafyeQog  für  sich  thnt,  auch  diesen 
Moment  im  Leben  eines  israelitischen  Knaben  an  Jesu  be- 
merklich machen  wollte88).     Dabei  ist  derContrast  auffal- 

28)   Etwa   „möglichen  Einwürfen   der  Juden  vorsichtig   begeg- 
nend4'? (AmMOK,  Fortbildung,  1,  S.  217.) 


378  Erster  Abschnitt 

lend  »wischen  der  ausführlichen  Benutzung  und  Ausma* 
hing  desselben  Punktes  im  Leben  des  Johannes  (1, 59  ff), 
nnd  der  Trockenheit  nnd  Kurse,  mit  welcher  derselbe  hier 
in  Bezug  auf  Jesom  behandelt  ist;  worin  man  mit  Schleier« 
M4CHB&  ein  Zeichen  finden  kann,  dafs  wenigstens  hier  der 
Verfasser  ron  Kap.  1.  nicht  mehr  der  Coocipient  ist.  Bei 
diesem  Stande  der  Sache  erfahren  auch  wir  ftr  unsern 
Zweck  aus  dieser' Angabe  nichts,  als  was  wir  schon  wie- 
sen konnten,  nur  noch  nicht  ausdrücklich  zu  bemerken 
Gelegenheit  hatten:  dafs  nämlich  die  angebliche  Bestim- 
mung des  Namens  Jesu  schon  vor  seiner  Geburt  auch  nur 
m  der  mythischen  Einkleidung  der  Ere&blung  gehöre. 
Wenn  nämlich  in  unserem  Verse  gesagt  wird,  der  Marne 
Jesus  sei  xItjO-Iv  vtzo  ts  dyyika  ,hqo  %ö  avlXrff&ip'ai  aueov 
$v  xfi  xodla:  so  ist  das  hierauf  gelegte  Gewicht  ein  deut- 
liches Zeichen,  dafs  diesem  Zuge  der  Erzählung  ein  dog* 
matisches  Interesse  zum  Grunde  liegt;  welches  denn  kein 
anderes  sein  wird,  als  dasjenige,  um  dessenwillen  im  A.  T. 
die  Namen  einet  Isaak  nnd  Ismael,  im  neuen  der  des  Jo- 
hannes, vor  der  Geburt  der  betreffenden  Kinder  den  Eltern 
geoffenbart  werden,  und  wefswegen  die  Rabbinen  insbe- 
sondere auch  vom  Namen  des  Messias  ein  Gleiches  erwar- 
teten 20)«  Gewifs  waren  es  also  vielmehr  ganz  natürliche 
Gründe,  welche  die  Eltern  Jesu  bewogen,  ihm  diesen,  un- 
ter ihren  Volksgenossen  sehr  gewöhnlichen  Namen  (JfiB^ 
abgekürzt  aus  JTttfYT,  4.  h,  ©  KvQiog  aanyjQia')  zu  geben; 


29)  ?irk*  R,.  Elieser,  33 :  Sex  hominum  notnina  dlcta  smt, 
tequtm  fuucerentitr:  Isaaci  nempe*  IsmaHlU*  Mosis,  Salonun 
ftfs,  Jortae  et  nomen  regte  Messiae  (Vergl.  Beresch.  rabba  1, 
3,  3,  bei  Schott«*,  2,  S.  436).  War  hierunter  ursprünglich 
auch  nur  der  Amtsname ,  [T^P  >  verstanden :  so  musste  man 
/doch,  sobald  eine  wirkliche  Person  als  Messias  anerkannt 
war,  an  deren  Eigennamen  denken  (gegen  Hoim^NW,  S.  247, 
£em  ÜS14RPKH  nachspricht,  §.  JQ?).. 


Viertes  Kapitel.    §.  34»  279 

weil  aber  dieser  Name  mit  seinem  später  gewühlten  Berufe 
als  Messias  and  oYi/n/p  auf  bedeutsame  Weise  sueammea- 
xraf,  ein  Zusammentreffen ,  das  man  unmöglich  als  Werk 
des  Zufalls  betrachten  au  können  glaubte,  und  weil  es 
überhaupt  schieklioher  schien ,  den  Maaren  des  Messias 
durch  göttlichen  Rathsehlufs,  als  durah  mensebliehe  Will- 
hur, bestimmt  werden  au  lassen:  se  wurde  die  Festsetzung 
desselben  dem  Engel  übertragen,  der  abnabln  die  Empfang- 
jnfr  Jesu  anzukündigen  hatte/ 

5.     84. 

Die  Magirr  und   ihr  Stern,   die  Flucht  nach  Aegypten  und   der 
bethlchemitische  Kindermord.    Kritik  der  supranaturalisLischen  ' 

Ansicht. 

Mit  der  bisher  betrachteten  Eraahlung  des  Lukas 
über  den  Eintritt  des  neugeborenen  Messias  in  die  Well 
lauft  bei  Matthäus  eine  aiemlich  verschiedene  doch  pa- 
rallel i%  1.  ff.)*  Auch  sie  nämlich  hat  cum  Zwecke ,  die 
feierliche  Einführung  des  messiaoisehen  Kindes,  die  er- 
ste, vom  Himmel  selbst  übernommene,  Bekanntmachung 
seiner  Geburt,  und  seine  erste  Aufnahme  bei  den  Met*» 
eoben  au  beschreiben  *)•  Mach  beiden  Erzählungen  macht 
eine  himmlische  Erscheinung  auf  den  neugeborenen  Mes- 
sias aufmerksam,  welche  nach  Lukas  ein  Engel  im  Lioht- 
glanse,  nach  Matthäus  ein  Stern  ist  Gemlfs  der  Versohle* 
denheit  des  Zeichens  sind  auch  die  Subjecte,  welchen  es 
erseheint,  verschieden :  dort  einfache  Hirten ,  au  welchen 
dea  Engel  spricht;  hier  morgenl&ndische  Magier,  welche 
das  stumme  Zeichen  sich  selbst  au  deuten  wissen«  Beide 
Theile  werden  nach  Bethlehem  gewiesen :  die  Hirten  durch 
die  Worte  des  Engels  selbst;  die  Magier  nach  eingesogc» 
Erkundigung  in  Jerusalem ,  und  beide  huldigen   dem 


4)  Vgl.  äcuKKCHEUBBAfriR ,   über  den  Ursprung  des  ersten  k*4<v 
nistfcea  Evangelium,  S.  b9ff. 


280  Erster  Abschnitt. 

Kinde:  die  armen  Hirten  durch  Lobgesänge,  die  sie  anstim- 
men, die  Magier  durch  kostbare  Geschenke  aas  ihrer  Hei- 
math. Aber  von  hier  an  beginnen  die  beiden  Erzählun- 
gen sich  bedeutender  von  einander  zn  entfernen.  Bei 
Lukas  geht  Alles  heiter  aas:  die  Hirten  kehren  freudig 
wieder  am,  and  dem  Kinde  geschieht  kein  Leid,  sondern 
es  kanji  zur  gehörigen  Zeit  im  Tempel  dargestellt  wer- 
den, and  wächst  sofort  im  Frieden  auf;  bei  Matthias 
hingegen  nimmt  die  Sache  eine  tragische  Wendung:  da 
veranlagt  die  Nachfrage  der  Magier  in  Jerusalem  nach 
dem  neugeborenen  Judenkönig  einen  Mordbefehl  des  He- 
rodes  gegen  die  Kinder  so  Bethlehem,  welchem  das  Je* 
suskind  nur  durch  schleunige  Flucht  in  das  benachbarte 
Aegypten  entzogen  wird,  von  wo  es  mit  den  Eltern  erst 
nach  des  Herodes  Tode  wieder  in  das  heilige  Land  zu- 
rückkehrt. 

Wir  haben  also  hier  eine  doppelte  Einführung  des 
messianischen  Kindes,  welche  wir  so  stellen  könnten,  dafs 
die  eine,  durch  den  Engel,  bei  Lukas,  die  Geburt  des  Mes- 
sias der  nächsten  Nähe,  die  andre,  durch  den  Stern,  bei 
Matthäus,  dieselbe  der  weiten  Ferne  habe  ankündigen  sol- 
len. Allein,  da  nach  Matthäus  die  Geburt  Jesu  erst  durch 
den  Stern  auch  in  der  nächsten  Nähe,  in  Jerusalem,  be- 
kannt wird :  so  kann,  wenn  diese  Erzählung  historisch  ist, 
jene  andre  bei  Lnkas,  nach  welcher  die  Hirten,  was  ihnen 
als  Sache  des  ganzen  Volks  verkündigt  war  (V.  10.)  >  mit 
Preis  gegen  Gott  weiter  erzählten  (V.  17.  20  ),  unmöglich 
richtig  sein;  so  wie  umgekehrt,  wenn  wirklich  nach  Lu- 
kas die  Geburt  Jesu  durch  einen  Engel  mittelst  der  Hirten 
der  Gegend  von  Bethlehem  bekannt  gemacht  worden  war, 
es  irrig  sein  mufs ,  dafs  Matthäus  erst  später  durch  die 
Magier  die  erste  Kunde  davon  in  das  nur  2  —  S  Stunden 
von  Bethlehem  entfernte  Jerusalem  gelangen  läfst.  Da 
wir  nun  aber  die  Ercählpng  des  Lukas  von  der  den  Hir- 
ten geschehenen  Verkündigung  an  mehreren  Merkmalen  als 


Vierte«  Kapitel.  -§.  34.  SSI 

geschichtlich  erkannt  haben :  so  bliebe  Insofern  für  die 
«las  Matthäus  nn verkümmerter  Raum,  und  es  ist  sonach 
ihre  Glaubwürdigkeit  aas  inneren  Gründen  su  unter- 
smehon 

Unsere  EnXnlung  beginnt  ganu  so,  wie  wenn  es  sich 
von  selbst  verstünde,  dafs  Astrologen  einen  die  Gebart 
des  Messias  ankündigenden  Stern  als  solchen  sa  erken- 
nen vermögen.  Könnten  wir  hiebet  zunächst  ans  darüber 
wundern  |  wie  heidnische  Magier  ans  dem  Orient  etwas 
von  einem  jüdischen  J£önig  wissen  konnten,  dem  sie  eine 
religiöse  Verehrung  darzubringen  hätten:  so  wollen  wir 
uns  hierüber  mit  der  Notiz,  dafs  70  Jahre  später  im 
Oriente  die  Erwartung  eines  Weltherrschers  aas  dem  jü- 
dischen Volke  verbreitet  war  *),  beruhigen,  um  auf  das 
Bedenklichere  20  kommen,  dafs  es  ja  nach  dieser  Erzäh- 
lung seheint,  als  hätte  die  Astrologie  Recht  mit  der  Be- 
hauptung, daß  die  Gebart  grober  Männer  nnd  bedeutende 
Veränderungen  der  menschlichen  Verhältnisse  durch  side 
tische  Erscheinungen  angezeigt  werden;  eine  Meinung, 
welche  längst  in  das  Gebiet  des  Aberglaubens  verwiesen 
ist.  Man  müfste  also  zu  erklären  soeben,  wie  jene  trÜ- 
gerische  Kunst  in  diesem  einzelnen  Falle  Recht  haben 
konnte:  ohne  dafs  jedoch  auf  andere  Fälle  daraus  geschlos- 
sen werden  dürfte*  Das  Nächste  für  den  orthodoxen  Stand- 
punkt wäre,  dafs  man  sich  auf  eine  außerordentliche  Ver- 
anstaltung Gottes  beriefe,  welcher  sich  diefsmal,  um  die 
fernen  Magier  zu  Jesu  herbeizuziehen,  ihren  astrologischen 


2)  Joseph.  B.  j.  6,  6,  4.  (Olshausix  citirt  hier,  aus  Missverstand 
eines  gleichfalls  irrigen  KuixbVschen  Citats,  Kapitel,  in  denen 
nicht  nur  von  dem  Obigen  nichts  steht,  sondern  die  selbst 
gar  nicht  existiren)  $  Tacit.  histor.  5,  13 ;  Sueton.  Vespas.  4. 
Was  uns  aus  der  Zeit  der  Geburt  Christi  aufbehalten  ist, 
bezieht  sich  nur  unbestimmt  auf  einen  Welthcrrscher  über- 
haupt«   Vgl.  Virgil.  Eclog.  4 ;   Sueton*  OctaT.  94. 


*84  Erster  Abschnitt. 

welche,  wie  ans  seinem  gewaltigen  Zorn  ober  dieselbe 
(V.  16.)  erhellt,  Herodes  keineswegs  vorausberechnet  hatte. 
Vorher  war  nach  V.  8*  seine  Absicht,  sieh  durch  die  wie- 
derkehrenden Magier  das  Kind,  dessen  Wohnung  und 
übrige  Verhältnisse,  so  genau  beschreiben  zu  lassen ,  dab 
er  es  nachher  nicht  verfehlen,  und  ohne  andere  mitsumor- 
den,  aus  dem  Wege  räumen  lassen  könnte.  Erst  als  die 
Magier  ausblieben,  war  er  zu  jener  andern  Mafsregel  ver- 
anlagst, «u  deren  Behuf  er  die  Zeit ,  wann  der  Stern  er« 
schienen  war,  wissen  mufote6).  Wie  glücklich  daher 
Ar  ihn,  dafs  er,  auch  ohne  noch  jenen  Plan  su  haben, 
doch  gleich  Anfangs  nach  dieser  Zeit  sich  erkundigte; 
aber  auch  wie  unbegreiflich,  dafs  er  dieses,-  was  ihm  bei 
seinem  ersten  Plane  Nebensache  war,  gleich  eu  seiner 
ersten  Frage  (xaUoag  —  TJXQißmoe  x.  u  L  V.  7.)  und  cur 
Hauptangelegenheit  machte* 

Das  Zweite,  was  Herodes  mit  den  Magiern  verhan- 
delt, ist,  dafs  er  ihnen  aufträgt,  alles  das  königliche 
Kind  Betreffende  genau  su  erkunden  und  ihm  bei  ihrer 
Rückkehr  su  melden,  damit  auch  er  hingehen  und  dedk 
Kinde  seine  Verehrung  bezeigen,  d.  h.  nach  dem  wahren 
Sinn ,  es  >  sicher  ermorden  lassen  könnte  ( V«  8. ).  X>a£a 
eine  solche  Einleitung  der  Sache  von  dem  schlauen  He- 
rodes schwer  su  begreifen  sei,  ist  längst  bemerkt  wor- 
den ')•  Konnte  er  auch  durch  die  freundliche  Maske ,  die 
er  vornahm,  die  Magier  für  sich  etwa  su  täuschen  hoffen : 
so  mufste  er  doch  nothwendig  voraussehen,  daüs  Andere 
8^e  auf  seine  wahrscheinlich  Übeln  Absichten  mit  dem 
Rinde  aufmerksam    machen,    und  von  der  Rückkehr  au 


6)  Treffend  Fritzscct  i.  d.  St*:  —  comperto,  quasi  tnagos 
uon  ad  se  redtturo*  stattm  sctvitset,  orti  stderU 
tempore  etc% 

7)  K.  Cfa.  L.  Schmidt,  exeg.  Beiträge,  l,  S.  150 f.  Vgl.  F&rrz- 
8chb  u.  ds  Weite  z.  d.  St. 


VLertet  Kapitel,    f.  34.  285 

ihn  abhalten  würden.    Von  dea  Eltern  de«  Kindes  konnte 
er  reraothen,  dafs  sie,   wenn  sie  von  seinem  gefährlichen 
Interesse  an  demselben  hörten,  es  darch  Flocht  in  Sicher- 
heit bringen  würden;  so  wie  endlieh  von  denjenigen,  wel- 
che in  Bethlehem  and  der  Umgegend  messianische  Erwar- 
tungen hegten,  dafs  sie  durch   die  Ankunft  der  Magier 
nicht  wenig  in  denselben   bestärkt  werden  mülsten*    Aus 
allen   diesen  Gründen   mufste  Herodes  entweder  die  Ma- 
gier in  Jerusalem  aufhalten  *),  und  indessen  durch  geheime 
Abgesandte  das  in  dem  kleinen  Bethlehem  leicht  au  erfra- 
gende Kind,  an  welches  sich  so  besondre  Hoffnungen  knflpf- 
tten,  ans  dem  Wege  räumen  lassen;   oder  er  jnufste  den 
Magiern  Begleiter  mitgeben,  welche  das  Kind,   sobald  es 
von  jenen  aufgefunden  wäre,  auf  die  sicherste  Weise  um 
das  Leben  brächten.    Auch  Olshadsbn  findet  diese  Bemer- 
kungen nicht  gaps  grundlos,   und  weifs  sich  gegen  diesel- 
ben in  letater  Instanz  nur  darauf  au  berufen ,  dafs  in  der 
Geschichte  aller  Zeiten  unbegreifliche  Vergefslichkeitenjror- 
kommen,  welche,  eben  nur  aeigen,  dafs  eine  höhere  Hand 
die  Geschichte  lenke.     Auf  diese  höhere  Hand  mufs  sieh 
allerdings  der  Supranaturalist  hier  in    der  Art  bertifei», 
dafs   er   annimmt,  Gott  selber  habe  den  sonst  so  klugen 
Herodes  über  die  sicherste  Maßregel  au  seinem  Zwecke 
verblendet,   um   das  messianische  Kind  vom   frühzeitigen 
Untergange  au  retten.    Aber  die   andre  Seite   dieser  gött- 
lichen Veranstaltung  ist,   dafs  nun  statt  des  Einen   viele 
andere  Kinder  sterben  mufsten.     Hiegegen   wäre  für  den 
Fall  nichts  einzuwenden ,   wenn  es  erweislich  auf  andere 


8)  Eine  solche  Verletzung  des  Gastrechts,  meint  Hoffmark, 
werde  Herodes  wohl  vermieden  haben :  Herodes,  den  er  doch 
selbst  als  ein  Ungeheuer  von  Grausamkeit  mit  Recht  darstellt ; 
denn  nicht  seinem  Herzen ,  wogegen  Nbatsder  (S.  30  ?•)  «rß"- 
mentirt,  sondern  seinem  Verstände  finden  wir  das  Verfahren 
des  Herodes  hier  unangemessen. 


286  >    Erster  Abschnitt« 

Art  nicht  möglich  gewesen  wfirej  Jesnm  einem,  mit  dem* 
Krlösungszwe<*ke  unvereinbaren,  Schicksal  zu  entziehen* 
Aber  wenn  Gott  einmal  so  flbernatfirlich  eingriff,  dafs  er 
das  Gemüth  des  Herddes  verblendete,  und  den  Magiern 
später  eingab,  nicht  mehr  nach  Jerusalem  zurück  zu  keh~ 
ren:  warum  gab  er  diesen  nicht  gleich  Anfangs  ein,  Bit 
Umgehung  Jerusalems  geradezu  nach  Bethlehem  zu  rei- 
sen, wo  dann  die  Aufmerksamkeit  des  Herodes  nicht  so 
nn mittelbar  erregt,  nnd  so  Welleicht  das  ganze  Unheil  ver* 
mieden  worden  wäre  *)?  Biegegen  Weiht  auf  diesem  Stand- 
punkte nichts  übrig,  als  im  ganz  alten  Style  so  sagen, 
den  Kindern  sei  es  gut  gewesen,  so  frohe  umzokommenji 
weil  sie  so  durch  ein  kurzes  Leiden  vielem  Elende  und 
namentlich  der  Gefahr  entzogen  wurden,  sioh  mit  den  nn- 
gläubigen  Juden  an  Jesu  zu  versündigen }  weil  sie  nun  di«J 
Khre  hatten,  um  Christi  willen  ihr  Leben  zu  lassen  nnd 
Märtyrer  zu  werden  u.  s.  w.  Iö). 

Die  Magier  ziehen  jetzt  von  Jerusalem  ab;  bei  Nacht, 
in  welcher  die  Orientalen  gerne  reisen;  der  Stern,  den 
sie  seit  der  Abreise  aus  ihrer  Heimath  nicht  mehr  gese« 
hen  zn  haben  scheinen,  zeigt  sich  wieder,  und  zieht  ihnen 
auf  der  Strafse  nach  Bethlehem  voran,  bis  er  endlich  über 
dem  Wohnhause  des  Kindes  nnd  seiner  Eltern  stehen 
bleibt*  Von  Jerusalem  nach  Bethlehem  geht  der  Weg 
südlich  i  nun  ist  aber  die  wahre  Bahn  den*  bewegliehen 
Sterne  entweder  von  West  nach  Ost,  wie  die  der  Pia« 
neten  und  eines  Theils  der  Kometen,  oder  von  Ost 
nach  West ,  wie  bei  einem  anderri  Theile  der  Ko« 
meten ;  nnd  wenn  auch  von  manchen  Kometen  die  wahr« 
Bahn  nahezu  von  Norden  nach  Süden  geht,  so  kommt 
doch  bei  allen  diesen  Sternen  ihre  eigene  wahre 
Bewegung  gar  nicht  in  Betracht  über  der  durch  die  täg- 
liche Drehung   der  Erde    hervorgebrachten   scheinbaren, 

9)  Schmidt,  -a.  a.  0.  S.  155  f> 

10)  Stark,  Synops.  bibl.  cXcg.  In  N.  T.  p.  62. 


/ 


Viertes  Kapitel.    §.  34.  287 

*elehe  von  Osten   nach  Westen   geht      Doch  auch   diese 
Ortsverlndernng     der     Sterne     ftlJt     bei     einer     kurzen 
Wanderung    nicht  so    in   die   Augen,    als  die    optische, 
welche   dnrch   die  Ürtsverfinderung   des  Beobachters  ent- 
steht,   vermöge   weicher    ein   vor   nns    stehender   Stern, 
wenn    wir   nns    vorwärts    bewegen ,     in's    Endlose    vor- 
anzugehen scheint,  also  auch  nicht  über  einem  bestimmten 
Hause  stille  halten,   nnd  dadurch  einen  Wanderer  veran- 
lassen kann,,  gleichfalls  Unit  eu  machen :    da  vielmehr  um- 
gekehrt,  erst  wenn  der  Wanderer  Halt  macht,  anch  der 
Stern   «am  Stehen    kommt*     Hienach    kannte   es   kein    ge- 
wöhnlicher, natfirlicher,  sondern  mflfste  nach  der  Annahme 
einiger  Kirchenväter ")   ein  von  Gott  besonders  su  diesem 
ßehofe  geschaffener  Stern  gewesen  sein,  welcher  von  dem 
Schöpfer  nach   eigener  Regel  bewegt  und  sinn  Stillstand 
gebracht  wurde«    AHein   ein   wirklicher  Stern  in  der  ei- 
gentlichen Höhe  und  Sphäre   der  Sterne   kannte   er  auch 
so  nicht  gewesen  sein,  da  ein  solcher,  er  mag  bewegt  nnd 
festgehalten  werden  wie  er  will,  doch  nach  optischen  Ge- 
aeteen  niemals  scheinen  kann,  Über  einem  einseinen  Hanse 
unverrückbar  stille  zu  stehen.     Es  mfifste  daher  etwas  nie-» 
driger   über   der  Erde  sich  Hinbewegendes  gewesen  sein: 
und  cht  haben  etliche  Kirchenväter  und  Apokryphen12)  ei- 
nen Engel  angenommen,  der  nun  freilich  den  Magiern  aof 
ihrem  Wege  in  Gestalt  eines  Sternes  vorausfliegen,  und  zu 
Bethlehem  in   mäfstger  Höhe  ober   üem  Hause  der  Maria 
Halt  machen   konnte;    Neuere  haben   ein  Meteor  vermu* 
thet13);    Beides  gegen   den  Text  des  Matthäus  i   Ersteres, 
weil  es  nicht  die  Art  unserer  Evangelien  ist,   etwas  rein 
Uebernatfirliehes,  wie  eine  Engelerscheinutig,  durch  einen 


11)  z.  B.  Euseb.  Demonstr.evang.9,  angei  bei  Suicsa,  1,S.  559. 

12)  Chrysostomus  u.  A.  bei  Suicbr  a.  au  0»,  und  das  cvang.  in. 
fant.  arab.  c.  7. 

13)  S.  bei  Kuik'öl,  Comm.  in  Matth.  S.  23. 


388  Erster  Abschnitt, 

natfirltchklingenden  Ausdruck,  wie  agr)q,  au  bezeichnen; 
Letzteres,  weil  ein  blofces  Meteor  für  eine  so  lange  Zeil, 
wie  von  dem  Aufbräche  der  Magier  aus  ihrer  fernen  Hei- 
math  bis  zu  ihrer  Ankunft  in  Bethlehem  verging,  nicht 
zureicht  ,  wenn  man  nicht  annehmen  will ,  Gott  habe  för 
die  Reise  der  Magier  von  Jerusalem  nach  Bethlehem  ein 
ganz  neues  und  anderes  Meteor  geschaffen,  ab  er  ihnen 
in  ihrer  Heimath  gezeigt  hatte. 

Von  diesen  Schwierigkeiten  in  Beziehung  anf  den 
Stern  haben  sich  selbst  manche  orthodoxe  Erklärer  der- 
mafsen  gedrückt  gefundep,  dafs  sie  seinem  Voranlaofen 
nach  Bethlehem  und  seinem  Stillstehen  aber  einem  Hanse 
um  jeden  Preis  zu  entgehen  versnobten«  So  hat  nament- 
lich die  SüSKiND'sche  Erklärung  vielen  Beifall  gefunden* 
nach  welcher  das  TtQorjyev  V.  9«  nicht  als  Imperfectm  eis 
sichtbares  Vorangehen,  sondern,  gleich  dem  Plusquamper- 
fectum,  ein  unsichtbares  Vorangegangeneein  bedeutet,  so 
dafs  der  Evangelist  sagen  wolle:  der  Stern,  den  die  Ma- 
gier  im  Morgenlande  erblickt,  and  seitdem  nicht  mehr  ge- 
sehen hatten,  kam  plötzlich  in  Bethlehem  über  dem  Hause 
des  Kindes  wieder  zum  Vorsehein ;  er  war  ihnen  also  da- 
hin vorangegangen  '*)•  Allein  das  heifst  rationalistische 
Kunstgriffe-  auf  das  Gebiet  der  orthodoxen  Exegese  ver- 
pflanzen; denn  dafs  hier  nicht  blofs  das  irzQor/yev,  sondern 
auch  das  ecos  il&tov  x.  z.  L  das  Vorangehen  des  Sterns 
als  eine  nicht  schon  vorher  abgeschlossene  ,  sondern  erst 
noch  vor  den  Augen  der  Magier  sich  verlaufende  Bege- 
benheit bezeichnet,  das  kann  nur  eine  exegetische  Willkür 
verkennen ,  welche  dann  folgerecht  auch  noch  weiter  ge- 
hen, und  die  ganze  Erzählung  auf  das  Gebiet  des  Natür- 
lichen herüberziehen  mufs.  Ebenso,  wenn  Olshausen  zwar 
einräumt,  dafs  ein  Stern  durch  seinen  Stand  unmöglich 
ein  einzelnes  Haus  bezeichnen  könne,  dafs  daher  die  Ma- 


14)  Vermischte  Aufsitze,  S.  8. 


Viertes  Kapitel.    §.  34.  289 

gier  das  Hau*  des  Kindes  wohl  haben  erfragen  müssen, 
und  nur  in  kindlich  naiver  Weise  auch  den  Ausgang  wie 
den  Anfang  ihrer  Reise  auf  den  himmlischen  Führer  be- 
sagen haben  15) :  so  ist  er  damit  auf  den  rationalistischen 
Standpunkt  hiuübergetreten  ,  und  liest  natürliche  Erklä- 
rungsgründe  «wischen  den  Zeilen  des  biblischen  Textes, 
was  er  selbst  an  andern  Stellen  einem  Paulus  u.  A.  mit 
Recht  übel  nimmt. 

Die  Magier  treten  nun  in  das  Haus,  beeeigen  dem 
Kinde  ihre  Verehrung,  und  überreichen  ihm  Erzeugnisse 
ihrer  Heimath  als  Geschenke  (V.  11.).  Man  könnte  sich 
hiebei  wundern,  dafe  der  Ueberrasohung  nicht  gedacht  ist, 
welche  es  für  diese  Männer  sein  mufste,  statt  des  erwar- 
teten Prinsen  ein  Kind  in  gane  gewöhnlichen,  vielleicht 
dürftigen,  Umständen  su  finden  16) :  nur  so  weit  darf  man 
den  Contrast  nicht  treiben,  dafs.  man,  wie  gewöhnlich  ge- 
schieht, die  Magier  das  Kind  im  Stall  und  in  der  Krippe 
finden  läfst;  denn  von  diesen,  dem  Lukas  eigenthümlichen, 
Angaben  weifs  Matthäus  nichts,  sondern  spricht  schlecht- 
weg von  einer  oixia,  in  welcher  das  Kind  sich  befunden 
habe.  —  Sofort  erfolgt  die  Warnung  der  Magier  im 
Traume  (V*  12.),  von  welcher  man,  wie  gesagt,  nur  wün- 
schen möchte,  dafs  sie  früher  gekommen  wäre,  um  durch 
Ablenkung  der  Magier  von  Jerusalem  vielleicht  das  ganfee 
folgende  Blutbad  su  ersparen. 

Während  nun  Herodes  noch  auf  die  Rückkehr  der 
Astrologen  wartet,  wird  Joseph  im  Traume  durch  eine 
Engelerscheinung  angewiesen,  das  messianische  Kind  sammt 
dessen  Mutter  nach  dem  benachbarten  Aegypten  in  Sicher- 
heit su  bringen  (V.  13  — 15. ).  Diefs  hat  auf  dem  ange- 
nommenen Standpunkte  keine  Schwierigkeit;  wohl  aber 
die  Weissagung ,   welche  dadurch  in  Erfüllung  gegangen 


15)  Bibl.  Comm.  z.  d.  St    Ebenso  Homuinf,  S.  261* 

16)  Schmidt,  exeg.  Beitrage,  1,  152  ff. 

Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl*  h  Band.  19 


292 


Erster  Abschnitt« 


Erinnerung  *n  die  geringe  Zahl  von  Knaben  des  bezeich- 
neten Alters,  weiche  in  dein  kleinen  Bethlehem  sich  vor- 
finden mochten ,  das  Auffallende  jenes  Stillschweigens  s« 
vermindern  suchen ,  und  ferner  bemerken ,  dafs  unter  den 
vielen  Grüuelthaten  des  Herodes  diese  That  wie  ein  Tropfen 
im  Meere  verschwunden  sei22):  so  ist  hiebet  das  spezifisch 
Abscheuliche  des  Hinwürgens  wenn  auch  nur  weniger  un- 
schuldigen Kinder  übersehen,  um  dessen  willen  diese  That, 
wenn   sie  wirklich   vorgefallen   war,   schwerlich  so  gan» 
würde  vergessen  worden  sein23),  —  Auchhiewi  wird  wie- 
der eine  Proptetenstelle  (Jerem.  31,  15. ),  als  eine  durch 
diesen  Kindernord  erfüllte  Weissagung,  angeführt  (V.  17. 
18.))  welche  sich   ursprünglich  auf  etwas  gnne  Anderes , 
nämlich  die  Wsgführung  der  Juda'er    nach  Babylon,    be- 
sog ,   uni  in  wdcher  an  etwas  in  ferner  Zukunft  Liegen* 
des  auf  feine  Weise  gedacht  war. 

Wählend  sieh  nun  das  Jesuskind  mit  seinen  Eltern  in 
Aegypten  tufhält,  stirbt  Herodes  L,  und  Joseph  wird 
durch  einei  Engel,  der  ihm  im  Traum  erscheint,  zur 
Rückkehr  i%  die  Beimath  eingeladen;  welche  Rückkehr 
jedoch ,  wei  auch  Archelaus ,  des  Herodes  Nachfolger  in 
Judüa,  «u  fürchten  war,  durch  ein  »weites  Traumorakel 
näher  dahin  hstimmt  wird,  dafs  Joseph  nach  Nasaret  in 
Galiläa,  in  das  Gebiet  des  milderen  Herodes  Antipas,  sie- 
ben solle  (V.  lt  —  23)  Wir  hätten  somit  in  diesem  Ab- 
schnitte fünf  auTserord*ntliche  göttliche  Veranstaltungen : 
nämlich  einen  wgewöhtlichen  Stern  und  vier  Traumge» 
sichte.    Schon  der  Stern  und  das  erste  Traumgesicht  hüt- 


pueros,  quos  in  Syria  Hernes  rew  Judaeorttm  inira  bimatum 
jussit  interfici,  plium  guoq*.  ejus  occisum,  att:  melius  est, 
Herodis  parcum  ($y)  esse  quat  filium  (wör). 

22)  S.  Wetstsik,  KütaÖL,  Olsuai,™  z.  d.  St.  j  Wiwsr,  d.  A.  He- 
rodes. 

25)  Kritzs giib,  Comm,  in  Mallh,  *  95  f. 


•S. 


*\. 


Viertes  Kapitel.    $.  34.  293 

ten,  wie  oben  bemerkt,  nicht  nur  ohne  Sehaden,  sondern 
selbst  mit  Nutzen  in  Eins  susammeBgethan  werden  kön- 
nen: so  dafs  entweder  der  Stern  oder  die  Traumerschei- 
nung gleich  Anfangs  die  Magier  von  Jerusalem  ab  nach 
Bethlehem  gewiesen  hfitte;  wodurch  das  von  Herodes  ver- 
hängte Blutbad  vielleicht  wäre  su  verboten  gewesen.  Ein 
ganz  entschiedener  Ueberflufc  ist  es  nun  aber,  dafs  die. 
beiden  lotsten  Weisungen  im  Traume  nicht  vereinigt  sind ; 
denn  was  dem  Joseph  bei  der  letzten  gesagt  wurde,  dafs 
er  wegen  des  Archelaus  nicht  nach  Bethlehem,  sondern 
nach  Nasaret  siehen  solle,  das  konnte  doch  wohl  einfa- 
cher schon  bei  der  vorangegangenen  hinsugesetst  werdon. 
Eine  solche,  bis  sur  Verschwendung  gehende  Nichtach- 
tung der  lex  parsimoniae  in  Beeng  auf  das  Wunderbare 
mufs  man  versucht  sein,  eher  der  menschlichen  Meinung, 
als  der  göttlichen  Vorsehung  zuzuschreiben. 

Den  falschen  Auslegungen  A.  T. lieber  Stellen  in  die« 
sess  Abschnitte  setst  sofort  die  Bemerkung  im  lotsten  Verse 
die  Krone  auf,  durch  die  Ansiedelung  der  Eltern  Jesu  in 
Hasaret  sei  die  Weissagung  der  Propheten  erfüllt  worden: 
o$i  Na'^(oQa7(^  xhjhpstiai.  Denn  will  man  sich  nicht  muth- 
los  in  das  Dunkel  flüchten  durch  die  Annahme,  dafs  die- 
ses Orakel,  welches  sich  mit  denselben  Worten  im  A.  T. 
nicht  findet,  aus  einem  verloren  gegangenen  kanonischen2*) 
oder  apokryphischen  S5)  Buche  sei:  so  mufs  man  den  Evan- 
gelisten entweder  einer  höchst  willkürlichen  Bezeichnung 
seihen,  wenn  er  nach  den  Einen  die  A.  T.Iichen  Vorher- 
sagungen, dafs  der  Messiaa  verachtet  sein  werde,  so  aus- 
gedrückt haben  soll,  er  werde  ein  Nasaretaner,  d.  h.  Bür- 
ger eines  verachteten  Städtchens,  heifsen  *);  oder  man 
mufs  ihn  der  gröbsten  Entstellung  des  Sinnes  uud  der  ge- 


£4)  So  Chrysostomus  u.  A. 

25)  S.  Gm  atz,  Comm.  zum  Ev.  Malth,  1,  S.  115. 

2ö)  KuiftöL,  ad  Matth.  p.  44  f. 


294  Erster  Abschnitt 

waltsamsten  Umformung  der  Worte  beschuldigen,  wenn  er 
das  Wort  Ttt  gemeint  haben  soll,   durch  welches,   wenn 

es  anders  im  A.  T.  vom  Messias  vorkäme,  dieser  nnr  ent- 
weder als  Nasiräer  27)f  was  übrigens  Jesus  nie  war,  oder 
als  Gekrönter  a8),  wie  Joseph  1.  Mos.  49,  26.,  keineswegs 
aber  als  ein  in  dem  Städtchen  Nazaret  Aufwachsender, 
bezeichnet  wäre.  Endlich  auch  bei  der  wahrscheinlichsten 
Deutung  dieser  {Stelle,  welche  die  Auctorität  der  von  Hie- 
ronymus  befragten  Judenchristen  für  sich  hat  —  dafs  nlm« 
lieh  der  Evangelist  hier  auf  Jes.  11,  1.  anspiele,  wo  der 
Messias  *ltfs  1X3  (surculus  Jesse)  wie  sonst  TOS  heifst  29)i 

—  bleibt  immer  die  gleiche  Gewaltsamkeit,  welche  dem 
Tom  Messias  gebrauchten  appellativurn  eine  ihm  ganz  fremde 
Beziehung  auf  das  nomen  proprium  der  Stadt  Nazaret  gibt. 

Versuche  natürlicher  Erklärungen  für  die  Geschichte  von  den 
s  Magiern.    Uebergang  zur  mythischen  Auffassung. 

Die  vielen  Anstöfse  zu  vermeiden,  welche  der  supra- 
paturnlistischen  firklärungs weise  dieses  Abschnittes  bei  je- 
dem Schritte  hemmend  in  den  Weg  treten ,  verlohnte  es 
sieh  wohl,  eine  andere  Auslegung  zu  versuchen,  welche, 
ohne  Einmischung  von  etwas  (lebernatQrlichem,  Alles  nach 
physischen  und  psychologischen  Gesetzen  zu  erklären  ver- 
möchte; wie  sie  am  besten  Paulus  gegeben  hat« 

Gleich  der  erste  Anstofs:  wie  heidnische  Magier  aus 
dem  fernen  Orient  etwas  von  einem  zu  gebärenden  jüdi- 
schen König  haben  wissen  können?  wird  dadurch  wegge- 
räumt, dafs  man  jene  Männer  zu  auswärtigen  Jaden 
maoht.    Allein,  wie  es  scheint,  ganz  gegen  den  jSinn  des 


»T 


97)  S.  Wststbik  s.  d.  S*. 

28)  ScHKgcKEHijüfiGKR,  Beiträge  zur  Einleit.  in  das  N.  T.  S.  42. 
£9)  Gib8blm,  in  den  Studien  u.  Kritiken,  1831,  3,  Heft,  S.  588  f. 
und  Fmtzsphs,  S.  104.    Vgl,  Hieron.  afi  Jcsai.  ji,  j. 


Vierte«  Kapitel.    $.  35.  295 

J£rangellsten.    Denn  indem  dieser  den  Magiern  die  Frage 
in  den  Mund  legt :  nä  tgiv  6  t€x&H£  ßaodeua  %iiv  "hidaUitv; 
CV.  %)  so  läfst  er  sie  von  den  Juden  sich  unterscheiden; 
sind  was  die   Tendenz   der  ganzen   Erzählung  betrifft,   so 
«cheint  die  kirohliche  Ansiebt  nicht  so  Unrecht  zu  haben, 
wie  Paulus  meint,   wenn  sie  den  Besuch  der  Magier  als 
«las  erste  Bekanntwerden  Christi  unter  den  Heiden  betrach- 
tet.   Jiidessen ,  wie  sehon  bemerkt ,  ist  dieser  Anstofs  auch 
ohne  jene ,  Annahme  zu  beseitigen,  -r-  Ferner  ist  nun   der 
natfirlicben  Erklärung  zufolge  der  eigentliche  Reisesweck 
jener  Minner  nicht,   den  neugeborenen  König  zu   sehen, 
und  die  Veranlassung  ihres  Zuges  nicht  der  ven  ihnen  be- 
obachtete Stern;   sondern  sie  reisen  vielleicht  in  kaufmän- 
nischer Absieht  naeh  Jerusalem,  und  nur  weil  sie  da  und 
dort   im  Lande  von    einem  neugeborenen    König  sprechen 
boren,   fällt   ihnen  eine,   kürzlich  bemerkte,    himmlische 
Krscheinung  ein,   nnd  sie  wünschen,   gelegentlich  das  be- 
sprochene Kind  selbst   zu  sehen.    Dadurch    wird    freilich 
das  Anstöfsige  der  Bedeutsamkeit,  welche  bei  der  gewöhn* 
liehen   Deutung   der  Erzählung    die  Astrologie  bekommt, 
gemindert;    doch  nur  auf  Kosten  der  ungezwungenen  Aus- 
legung.    Denn,    wenn  es  auch  anginge,   aus  pdyoig  ohne 
Weiteres  Kaufleute  zu  machen  9   so   kann  doch  bei  dieser 
Reise  ihr  Zweck   kein  mercantilischer  gewesen  sein,    da 
bei  ihrer  Ankunft  in  Jerusalem  ihre  erste  Frage  naeh  dem 
neugeborenen  Judenkönig   ist,    und  sie  sofort  als-  Grund 
dieser  Frage   den  im  Morgenlande  gesehenen   Stern,    aU 
veranlagt  durch  diesen  ihre  jetzige  Reise,  und  als  Zweck 
derselben  die  dem  Neugeborenen  darzubringende  Huldigung 
angeben  (V.  % :  nö  igiv  —  tiSofiev  yaQ  —  xal  ijl&onw  uqos 


xuvrfiai  — . 


Der  dgjjQ  wird  ?on  dieser  Erklärungsweise  entweder 
zum  natürlichen  Meteor   gemacht;   oder  zum  Kometen  '); 


1)  Beides  i.  bei  KuijtiM.  z.  d.  Steile. 


296  Erster  Abschnitt. 

oder  su  einer  Constellation,  d.  h.  einer  Conjanction  mek 
rerer  Planeten,  welcher,  von  Kepler  aufgestellten,  Ansicht 
neuerlich  mehrere  Astronomen  und  Theologen  beigetreten 
sind  2).  Die  Hauptfrage  ist  hiebei,  ob  das  im  Text  angege- 
bene Voranlaufen  des  agtJQ ,  nebst  seinem  Stillestehen  Ober 
einem  Hause*,  bei  dieser  Ansicht  von  demselben  leichter  er- 
klärlich werde?  [Von  den  beiden  ersteren  Auffassungswei« 
sen  ist  schon  oben  in  dieser  Besiehung  die  Rede  gewesen. 
Bei  der  Fassung  des  ecgjJQ  als  Constellation  wird  das  tcqc- 
ayeiv  (V.  9  )  entweder  von  dem  Auseinandertreten  der  bis 
dahin  beisammen  gestandenen  Planeten  gedeutet  *):  allein 
im  Texte  ist  von  keinem  Auseinandergehen  der  Theile  der 
Erschein nng ,  sondern  von  einem  Vorwärtsgehen  der  gan- 
zen Erscheinung  die  Rede;  oder  man  nimmt  das  Süskind- 
sche  Plusqnawperfectum  eu  Hülfe*  und  stellt  sich  vor,  die 
Constellation,  welche  die  Magier  in  dem  Thale  «wischen 
Jerusalem  und  Bethlehem  nicht  haben  sehen  können,  habe 
sich  ihnen  bei  der  Annäherung  ku  Bethleh  em  mit  Einem- 
.male  wieder  gezeigt,  und  zwar  Ober  dem  Wohnorte  des 
Kindes  stehend4).  Denn  das  Inavto  5  rp  to  nctidiw (V *§>) 
soll  nur  Oberhaupt  den  Wohnort,  nicht  das  Wohnhaus 
des  Rindes  und  seiner  Eltern  bedeuten»  Wir  geben 
diefs  eu ;  aber  indem  der  Evangelist  gleich  folgen  lÄfot: 
xal  elgtX&ovteg  eig  xrpt  oixtav,  so  wird  eben  hiednrch  der 
Wohnort  näher  als  das  Wohnhaus  bestimmt ;  so  dafs  dieie 
Erklärung  nnr  aus  dem  vergebliehen  Bestreben  entstanden 
sich  fceigt,  das  Wunderbare  in  der  evangelischen  Krsäh- 
lung  su  mindern.  —  Das  Merkwürdigste  bei  der  Deutung 
des  agrJQ  auf  eine  Constellation  ist   nun   aber,  dafs  man 


2)  Kepler,  in  mehreren  Abhandlungen;  MBkzir,  der  Stern  der 
Weisen  ;  Ipki.br  ,  Handbuch  der  mathemat.  und  techn.  Chro- 
nologie, 2.  Bd.  S.  399  ff. 

3)  S.  bei  Olshauskn,  S.  67. 

4)  Paulus  a.  a.  O,  S.  202.  221. 


Viertes  Kapitel.    §.  35.  297 

durch  dieselbe  einen  festen  Punkt  in  der  beglaubigten  Ge- 
schichte gefanden  zu  haben  meint,  an  welchen  man  die 
Erzählung  des  Matthins  anknOpfen  könne.  Nach  Keplke's, 
von  Ideler  berichtigter  Berechnung  nämlich  fand  drei 
Jahre  ?or  Berodes  Tode,  a.  17.  747,  eine  Confunction  des 
Jupiter  und  Saturn  im  Zeichen  der  Fische  statt,  und  diese, 
wie  sie  in  jenem  von  den  Astrologen  auf  Palfistina  bezo- 
genen Zeichen  auf  dieselbe  Weise  beiläufig  alle  800  Jahre 
wiederkehrt,  hatte  nach  des  Juden  Abarbanel  (um  1403) 
Berechnung  auch  drei  Jahre  vor  der  Geburt  des  Moses 
stattgefunden :  so  daft  sich  gar  wohl  an  diese  Constelia» 
tion  bu  Herodes  Zeit  Erwartungen  des  «weiten  grofsen 
Retters  der  Nation  anknüpfen,  und  babylonische  Juden 
mvr  Nachfrage  veranlassen  konnten.  Dafs  nun  aber  der 
von  Matthlus  erwlhnte  Stern  eben  jene  Planetencon- 
junctiou  gewesen  sei,  wird  durch  die  gleiche  Unsicher- 
heit sowohl  des  Geburtsjahrs  Jesu,  als  des  Alters  jener 
astrologischen  Berechnung  nächst  precär;  und  da  fiber- 
dieCs  Zöge  der  evangelischen  Erzählung,  wie  das  nQofjev 
und  igt],  nicht  dazu  passen:  so  sind  wir,  sobald  sich  ir- 
gend ein  anderes  Datum  zeigt,  welches  unsrer  Erzählung 
bei  Matthlus  ähnlicher  sieht,  als  diese  Constellation ,  eben 
damit  berechtigt,  jenes  und  nicht  diese  als  die  Grundlage 
derselben  vorauszusetzen. 

Die  Anstöfse  wegen  der  falsch  gedeuteten  A.  T. liehen 
Stellen  werden  auf  diesem  Standpunkte  dadurch  entfernt, 
dafe  eine  falsche  Auslegung  von  Seiten  der  N.  T.lichen 
Schriftsteller  geradezu  in  Abrede  gezogen  wird.  Die  Weis- 
sagung des  Micha  soll  eben  nur  das  Synedrium  auf  den 
Messias  und  sein  Geborenwerden  in  Bethlehem  gedeutet, 
Matthäus  aber  diese  Deutung  mit  keinem  Worte  gebilligt 
haben.  Allein,  da  Matthäus  weiter  erzählt,  wie  der  Er- 
folg der  Auslegung  des  Synedriums  entsprochen  habe:  so 
ist  darin  eine  thatsächJiche  Billigung  dieser  Auslegung  ent- 
halten,   in  Betreff  der  Stelle  aus  Hosea   stimmen  Paulus 


} 


298  Erster  Abschnitt. 

und  Stkudkl.  *)  in  einer  seltsamen  Auskunft,  cusaaunen. 
Nur  abwehren  wolle  Matthfius  durch  Anführung  derselben 
den  Anstoß,  welchen  palästinische  Jaden  daran  nehmen 
konnten,  dafs  der  Messias  das  beilige  Land  einst  verlasset! 
habe;  indem  er  darauf  aufmerksam  mache,  dafs  auch  jener 
Erstgeborene  Gottes  in  anderem  Sinne  (das  jüdische  Volk) 
aus  Aegypten  geholt  worden  sei,  wefs wegen  sich  Niemand 
daran  stofsen  dörfe,  dafs  auch  bei  diesem  Sohne  Gottes 
(dem  Messias)  eine  solche  Reise  in  das  anheilige  Ausland 
stattgefunden*  Allein  von  einem  solchen  blofs  negativen, 
abwehrenden  Zwecke  der  angeführten  A.  T.lichen  Weis- 
sagung ist  in  der  ganzen  Stelle  keine  Spar  6);  vieiraehr 
haben  diese  Anführungen  durchaus  die  positive.  Absicht, 
die  Messianität  Jesu  dadurch  zu  begründen,  dafs  fneseis- 
nische  Weissagungen  als  an  ihm  in  Erfüllung  gegangen 
nachgewiesen  werden.  —  Dafs  ebenso  vergeblich  in  Besug 
auf  die  beiden  andern  in  unserem  Abschnitte  citirteri  Weis- 
sagungen das  nfaßü&^vui  cur  blofsen  Analogie  und  An- 
wendbarkeit  en  verflüchtigen  gesucht  werde,  bedarf  keiner 
weitern  Ausführung, 

Die  mehrfachen  Weisungen  endlieh ,  welche  die  Per- 
sonen unserer  Ensäiüung  durch  Traumerscheinungen  be- 
kommen, werden  auf  dem  gegenwärtigen  Standpunkte 
sfimmtlich  psychologisch  aus  vorangegangenen  Erkundi- 
gungen und  Gedanken  der  Wachenden  erklärt.  IMefi 
scheint  zwar  bfei  der  letzten  Erscheinung  dieser  Art, 
V,  22.,  durch  den  Text  selbst  an  die  Hand  gegeben,  in- 
dem es  hier  heifst,  Joseph  habe  gebort,  dafs  Arcbelant 
Herr  von  Judfia  geworden  sei,  and  habe  sich  daher  ge- 
fürchtet, dortbin  zn  gehen ;  hierauf  erst  sei  ihm  eine  bö- 


5)  Bkuskl's  Archiv,  7,  2,  S.  424. 

6)  Später  knüpften  sich  zwar  an  diese  ägyptische  Reise  Jesu 
jüdische  Lästerungen  ,  aber  ganz  anderer  Art ,  von  welchen 
im  folgenden  Kapitel  die  Rede  werden  wird.  N 


Viertes  KapiteL    §.  35.  299 

bere  Weisung  im  Traume  zugekommen.  Dennoch  ist  auch 
hier,  wenn  man  genauer  zusieht,  das  im  Traame  Mitge- 
theilte  etwas  Neues  osd  nicht  ans  dem  Wachen  herti her- 
genommen; h Amiich  nur  das  Negative,  dafs  wegen  des 
Archelans  eine  Niederlassang  in  Bethlehem  nicht  woM 
rathsam  sei ,  war  dem  Joseph  im  Wachen  gegeben :  das 
Positive,  dafs  er  nach  Naaaret  ziehen  solle ,  wird  erst  im 
Traum  hinzugefügt.  Bei  den  übrigen  TrAttmerschein fin- 
gen unseres  Abschnittes  aber  ist  es  geradezu  Interpolation 
de*  Textes,  wenn  man  sie  auf  die  bezeichnete  Weise  er- 
klären will.  Denn  sowohl  dafs  Herorfes  dem  Kinde  nacj) 
dem  Leben  trachte,  als,  dafs -er  nun  gestorben  sei,  läfst 
der  Text  dem  Joseph  erst  durch  den  Traum  bekannt  wer- 
den ;  so  wie  auch  die  Magier  kein  Mifstrauen  gegen  He- 
mdes haben,  bis  der  Traum  sie  vor  ihm  warnt. 

Wenn  bienaoh  die  Auffassung  der  Matth.  2.  erzählten 
Vorgänge   als   natürlicher  dem    Sinne    des    Berichts    ent- 
schieden zuwider  ist;   in  ihrem  ursprünglichen  Sinne   ge- 
nommen aber  die  evangelische  Erzählung  bis  zum  Aben- 
teuerlichen Uebernatfirliohes,    und  Unwahrscheinliches  bis 
com  Unmöglichen  enthält :    so   mufs  man   zum  Zweifel  an 
dem   historischen  Charakter  der   Erzählung,   und  zu  der 
Vermuthang  gefohlt  werden,    dafs  wir  hier  etwas  Mythi- 
sches vor  uns   haben.     Von    dieser  Auffassungsweise  sind 
aber  auch  hier  die  ersten  Versuche   so  ungeschickt  ausge- 
fallen,   dafs    sie   über  die  Sphäre  der  natürlichen  Erklä, 
rang,  welche   sie  überfliegen  wollten,   in   der  That   nicht 
hinausgekommen  sind.     Arabische  Kaufleute  —  meint  z.  B. 
Krug  —  welche  zufällig  nach  Bethlehem    kamen,  lernten 
Jesu  Eltern  als  bedürftige  Fremde  kennen  (nach  Matthäus 
sind  Jesu  Eltern  in  Bethlehem  nicht  fremd),  beschenkten 
sie,  wünschten  ihnen  viel  Gutes  für  ihr  Kind,  und  reisten 
weiter.     Wie  Jesus  später  als  Messias  sich  geltend  machte, 
erinnerte  man  sich  jener  Begebenheit,   und  schmückte  sie 
mit  Stern,    Traumersclieinung    und    glaubiger   Huldigung 


300  Erster  Abschnitt 

aus.  Auch  die  Erzählungen  von  der  Flucht  nach  Aegyp- 
ten  und  dem  Bethlehemitischen  Kindermorde  schlofsen  sich 
an,  weil  man  eine  Wirkung  jenes  Vorfalls  auf  den  Hero- 
des  voraussetzte,  der  vielleicht  um  jene  Zeit  aus  anders 
Ursachen  in  Bethlehem  einige  Familien  umbringen  lieft, 
wie  auch  Jesus  vielleicht  später  ra  andern  Zwecken  i* 
Aegypten  war  7). 

Bei  dieser,  wie  bei  der  reinnatflrliehen  Erklärungsart, 
bleiben  also  die  Thatsaohen  der  Ankunft  einiger  Morgen- 
länder,  der  Flucht   nach  Aegypten  und  der  Biutscene  io 
Bethlehem  stehen ;  entkleidet  jedoch  von  dem  wunderhafte* 
Schmucke,   welcher  sie   in   der  evangelischen  Erefihlnng 
umgibt.    So   sollen  nun   diese  Ereignisse  begreiflich   sei«, 
und  gar  wohl  sich  haben  eutragen  können.      In  der  T hat 
aber  werden  sie  dadurch  unbegreiflicher,  als  selbst  bei  der 
orthodoxen    Erklfirungsart.      Denn    mit   dem    übernatürli- 
chen Schmucke   ist   jenen  Thatsachen   sogleich   alles  Mo- 
tivirende  genommen,  und  sie  schweben  völlig  in  der  Lafc 
Wie  die  Orientalen  in  ein  Verhältnifs  zu  Jean  Eltern  und 
dem  Kinde  kommen ,   ist  in  der  Erzählung   des  Matthias 
vollständig  motivirt:    bei   der  zuletzt   ausgeführten  Erklfi- 
rungsweise  aber  bleibt  es   ein   wunderlicher  Zufall.     D»* 
Blutbad  zu  Bethlehem  hat  in  der  evangelischen  Geschichte 
«eine    bestimmte    Veranlassung:     hier   aber    begreift  «an 
nicht,  wie  Herodes  dazu   gekommen   sein  soll,   es  zu  ver- 
anstalten, und  ebenso  steht  die  Reise  Jesu  nach  Aegypten, 
so  dringend   begründet   bei  Matthäus,    bei  dieser  Ansicht 
ganz  unerklärlich  da.     Man   kann  zwar  sagen:   diese  ßa* 
.gehenkelten  werden  in  der  Wirklichkeit  ihre  hinreichen* 


7)  Ueber  formelle  oder  genetische  Erklärungsart  der  Wunder. 
In  Hinke's  Museum,  1,  3,  399 ff.  Aehnliche  Ausführungen  *• 
in  der  Abh.  über  die  beiden  ersten  Hipitel  des  Matthäus  u. 
Lukas,  in  Henkk's  Magazin,  5,  1 ,  171  ff.  ,  und  bei  Mattuü1; 
llcligionsgl.  der  Apostel,  2,  S.*  422ff. 


Vierte*  Kapitel«    |.  39.  SOI 

«P  den  Veranlassungen  gehabt  hftben;  nnr  dafs  Matthäus  die- 
ne teo  natürlichen  Zusammenhang  verschwiegen ,  nnd  einen 
fle  endern ,  wenderhaften ,  an  die  Stelle  gesetet  bat*  Allein 
m>  der  Schriftsteller  oder  die  Sage,  wenn  sie  Begebenheiten 
In  mit  ganz  falschen  Motiven  nnd  Nebenumständen  zu  um« 
a.  geben  im  Stande  sind:  so  vermögen  sie  euch  die  Begeben* 
heiten  selbst  zu  erdichten;  und  diefs  wird  um  so  wahr» 
m  seheinlicher,  je  klarer  sich  nachweisen  läfst,  wie  die  Sage, 
m  auch  ohne  da£t  irgend  etwas  dergleichen  wirklich  vorge- 
k:  fallen  war,  ein  Interesse  haben  konnte,  es  als  so  vorgefal- 
ä     Jeo  daranstellen, 

k  Das  Letatere  gilt  auch  gegen  den  Versnob,   welchen 

m     neoestens  selbst  die  supranaturalistische  Ansicht  gemacht 
T;     bat,  sich  mit  unserer  Erzählung  auf  einen   ähnlichen  Fufs 
[i     zu  stellen.    Bei  einem  Berichte  wie  dieser,  meint  Neander, 
t      müsse  man  den  Kern   der  Thatsache  aon  den  einzelnen 
\      Umständen  wohl  unterscheiden,   und  nicht  für  Alles  den« 
i      selben  Grad  von  Gewifsheit   verlangen.     Dafs  die  Magier 
r      vermittelst   ihrer  astrologischen  Forschungen  zur  Ahnung 
•      des  in  Judfia   geborenen  Erlösers  gelangten ,  und  debhalb 
i       nach  Jerusalem  reisten,   um  demselben  zn  huldigen,   das 
\       ist  nach  ihm   das  einzig  Wesentliche  und  Sichere  an  der 
Sache;  wie  sie  nun  aber,  in  Jerusalem  angelangt,  erfuhren, 
data  das  Kind  in  Bethlehem  geboren  worden,  ob  durch  flero- 
dee  selbst,  oder  auf  anderem  Wege :  darüber  will  Neander 
die    Wahrheit    der  Machrichten    des   Matthäus   nicht  mit 
gleicher  Sicherheit    verbürgen;    auch    mache    es  für  die 
Hauptsache  nichts  aus.    In  dem    kleinen  Bethlehem   konn- 
ten sie   dann  durch  manche  Fügungen  der  Vorsehung  im 
gewöhnlichen  Gange  der  Dinge,  z.  B.   dnreh  Zusammen« 
treffen  mit  jenen  Hirten,  oder  andern  Frommen,  die  an  dem 
grofsen  Ereignifs  Theii   genommen  hatten,    der   Geburts- 
stätte des  Kindes  zugeführt  werden;   im  Hause  angekom- 
men aber  die  Sache  so  darstellen,  wie  sie  ihnen  von  ihrem 
subjeetiven  Gesichtspunkte  aus  beim  Aufblick  an   den  ge- 


302  Erster  Abschnitt 

stirnten«  Himmel  erschien.  IMe  Flucht  nach  Aegypten  und 
den  herodisehen  Kindermord  läfst  Nrander  als  historisch 
stehen  8).  Diese  Ansieht  von  der  Erzählung  hat  von  den 
Anstöfsen  in  derselben  eigentlich  nur  das  schwerste  Stttck, 
das  Vorangehen  and  Stehenbleiben  des  Sternes,  über  Bord 
geworfen:  die  übrigen  Schwierigkeiten  bleiben.  Dennoch 
hat  sie  aneh  so  schon  das  unbedingte  Vertrauen  auf  die 
Treue  des  Evangelisten  aufgegeben,  und  Unhistorisches  in  sei- 
nem Berichte  anerkannt.  Fragt  sich  nun,  wie  weit  diese« 
Unhistorische  gehe,  und  von  welcher  Art  es  sei:  ob  um 
einen  geschichtlichen,  oder  einen  blofs  in  Gedanken  beste- 
henden'Kern  angeschossen?  so  seigt  sich  leicht,  dafs  das 
wenige  und  unbestimmte  Geschichtliche,  welches  eine  min« 
der  nachsichtsvolle  Kritik  als  die  NEANDER'scbe  Qbrig  lassen 
kann,  sich  weit  weniger  eignete,  unsere  Erzählung  hervor- 
zubringen, als  der  sehr  bestimmte  Kreis  von  Vorstellun- 
gen  und  Vorbildern,  weicher  sofort  entwickelt  werden  soll. 

§.    36. 

Die  Erzählung  von  den  Magiern  und  was  damit  zusammenhängt, 

rein  mythisch. 

In  naiver  Weise  haben  mehrere  Kirchenväter  auf  den 
wahren  Schlüssel  der  Erzählung  von  den  Magiern  und 
ihrem  Sterne  hingewiesen,  indem  sie,  um  zu  erklären, 
woher  jene  heidnischen  Astrologen  von  einem  Stern  des 
Messias  haben  wissen  können,  die  Vermuthung  aufstell- 
ten, sie  mögen  wohl  ans  den  Weissagungen  des  heidni- 
schen Propheten  Bileam,  dessen  Orakel  von  dem  aus  Ja- 
kob aufgehenden  Sterne  auch  bei  Moses  sich  finde,  ge- 
schöpft  haben  1).      Mit  richtiger   Einsicht   hat   daher    K. 


8)  L.  J.  Ch.,  S.  29  ff. 

i)  Orig.  c.  Cels.  1,  60.     Ebenso   Auetor   op.   imperf.  in  Mattb. 
hei  Fabmc.  Cod.  Pscudepigr.  V.  T.  p.  807  ff. 


Viertes  Kapitel.    §.  36.  SOS 

m 

Ch*  L.  Schmidt  an  der  PAüum'sehen  Auslegung  diese« 
Abschnittes  besonders  diefs  getadelt,  dafs  sie  keine  Rfick- 
siebt  auf  den  Stern  nehme ,  welcher  sich ,  nach  jfldischer 
Erwartung,  bei  der  Erscheinung  des  Messias  neigen  sollte. 
Und  doch,  setct  er  hinan,  ist  in  keinem  Andern  Heil, 
ist  auch  kein  andrer  Name  da,  wodoreh  dieser  Erzählung 
könnte  geholfen  werden  *)•  NXmiich  die  Weisagong  Bi- 
laams  4.  Mos*  24,  17.  von  einem  Stern  ans  Jakob  war 
allerdings  die  Veranlassung  —  freilich  nicht,  wie  die 
Kirchenväter  glaubten,  dafs  wirklich  damals  Magier  einen 
erschienenen  Stern  für  den  des  Messias,  erkannten,  und 
defshalb  nach  Jerusalem  reisten:  wohl  aber,  dafs  die 
Sage  bei  Jesu  Gebort  einen  Stern  erscheinen  und  von 
Astrologen  als  den  des  Messias  erkannt  werden  liefs» 
Die  dem  fiileam  in  den  Mund  gelegte  Weissagung  beaog 
sich  ursprünglich  auf  irgend  einen  glücklichen  und  sieg- 
reichen israelitischen  Regenten;  sie  scheint  aber  früheet* 
tig  eine  messianische  Deutung  erhalten  au  haben«  Sollte 
auch  die  Ueberseteung  des  Targam  Onkelos:  surget  rex 
ex  Jacobo,  et  Messias  (unctus)  vngetur  ex  Israele,  nichts 
beweisen,  da  hier  das  unctus  als  Parallele  des  rex  viel* 
leicht  auch  einen  gewöhnlichen  König  bedeuten  könnte: 
ss  haben  doch  naeh  Aben  Esra's  Zeugnifs  *)  und  den  von 
Wktstein  und  Schöttgsn  angeführten  Stellen  manche  Rah« 
binen  die  Weissagung  auf  den  Messias  beaogen.  Auch 
der  Marne  Bar  Cochba,  welchen  der  bekannte  Pseodomes- 
siaa  unter  Hadrian  führte,  war  mit  Rücksicht  auf  die 
measianisch  gedeutete  Weissagung  des  Bileam  gewählt. 

Ihrem  ursprüglichen  Sinne  nach  spricht  swar  die  be- 
zeichnete Stelle  von  keinem  wirklichen  Sterne,  sondern 
vergleicht  nur  den  an  erwartenden  Forsten  Israels  mit  ei- 


2)  Schmidts  Bibliothek,  3V1,  S.  130. 

3)  In  loc^  Num.  (bei  ScnorrGi$N,  Iiorae,  2,  S.  152)  :  Mullt  inter- 
pvetuti  sunt  huec  de  Mes.sia. 


304  Erster  Abschnitt.  ' 

nem  solchen,  and  so  wird  sie  auch  noch  von  dem  ange- 
fahrten Targum  ausgelegt;  bald  aber  machte  der  stei- 
gende Glaube  an  Astrologie,  vermöge  dessen  man  jede 
merkwürdige  Begebenheit  durch  siderische  Veränderungen 
angezeigt  sich  dachte,  data  man  den  Sprach  des  ßileam 
nieht  mehr  bildlich,  sondern  eigentlich  von  einem  Stern 
verstand,  der  aar  Zeit  des  Messias  am  Himmel  erschei- 
nen sollte.  Was  die  Verbreitung  des  astrologischen  Glau- 
bens am  die  Zeit  Jesu  betrifft,  so  glaubte  man  e.  B.  die 
künftige  Größe  des  Mitbridates  durch  einen ,  in  den  Jah- 
ren seiner  Geburt  und  seines  Regierungsantritts  erschie- 
nenen Kometen  vorbedeutet  *),  und  ein  bald  nach  J.  Cä- 
eäre  Tode  beobachteter  Komet  wurde  in  genaue  Beziehung 
zu  diesem  Ereignifs  gesetzt  6).  Dafs  diese  Vorstellungs- 
weise auch  auf  die  Juden  von  Einflufs  war,  erhellt  daraas, 
dafs  wenigstens  spätere  jüdische  Schriften  cur  Zeit  von 
Abrahams  Geburt  einen  ausgezeichneten  Stern  erscheinen 
lassen  6).  Von  hier  aus  ergab  es  sieh  leicht,  auch  die  Ge- 
burt des  Messias  durch  einen  Stern  verkündet  sich  an 
denken;  snmal  ein  solcher  in  dem  messianisch  gedeute- 
ten Bileamsorakel  bereit  lag.  Wirklich  machten  die  Ja- 
den diese  Combination ;  denn  rabbinische  Vorstellung  ist 
es  wenigstens,  dafs  zur  Zeit  der  Geburt  des  Messias  ein 
Stern  im  Osten  erscheinen  und  längere  Zeit  sichtbar  sein 
werde  7>     Wie   mit  dieser  einfacheren  jüdischen  Vorstel- 


4)  Justin.  Hist.  37,  2* 

5)  Sueton.  Jul.  Caes.  88* 

6)  Jalkut  Rubeni,  f.  32 ,  3  (bei  Wststkui)  :*  qua  hora  natu*  ed 
AbrahamuS)  pater  notier,  super  quem  sit  paas,  stettt  guodda* 
Mus  in  Oriente  et  deglutivit  quatuor  astra ,  quae  traut  in 
quatuor  codi  plagis.  Nach  einer  arabischen  Schrift,  Maallem 
betitelt,  wird  dieser  die  Geburt  Abrahams  vorbedeutende 
Stern  von  Nimrod  im  Traum  gesehen.  Fabmc.  Cod.  psead- 
epigr,  V.  T.  1,  S.  345. 

7)  Testamentum  XII  Patriarcharum,  test.  Levi,  18  (Fabmc.  Cod. 


Viertes  Kapitel.    $•  36.  305 

hing,  daff  snr  Zeit   des  Messias   Oberhaupt  ein  Stern  er- 
seheinen werde,  unsere  Erzählung  im  Matthins  verwandt 
Ist:    so   mit  jenen   ff  bertreibenden   Schilderungen    des   sa 
.Abrahams  Zeiten    erschienenen    Gestirns    die    apokryphi- 
mchen  Beschreibungen  desv  Sternes,   der  Jesu  Geburt  ver- 
sündigt haben  sollte  •)•    Offenbar  also  verhalt  es  sieh  mit 
dem  bei   Jesu  Geburt  nach  Matthäus  erschienenen  Sterne 
so,  wie  schon  K.  Cb.  L.  Schmidt  9j,  mit  welchem  neuestens 
mach  Fritzscbe  und  de  Wette  flbereinstimmen,  es  dargestellt 
Jiat.    Wie  Sterne  Oberhaupt  immer  die  Vorläufer  grdfser 
Gegebenheiten  sind :  *o,  dachten  die  Juden  sur  Zeit  Jesu, 
müsse  nach  4.  Mos.  24, 17.  auch  des  Messias  Geburt  durch 
einen  Stern  voraus   verkündigt  werden.    Die  neuen  Chri- 
sten aus  den  Juden   aber  konnten   ihren  Glauben   an  Je- 
aom  als  den  Messias   vor   sich   und  Andern  nur  dadurch 
rechtfertigen  und  begründen ,  dafs   sie  alle  Attribute,  wel- 
che   die   jfidische   Zeitvorstellung   dem   Messias  lieh,   an 
ihrem  Jesus .  als  verwirklicht   nachsoweisen   sich  benauh- 
ten;  was  um  so  argloser  und  unwidersprochener  gesche- 
hen konnte,  je  weiter  man  sich  von   dem  Zeitalter  Jesu 
entfernte,   und  je  mehr  namentlich  die  Geschichte  seiner 


pseud.  V.  T.  p.  584 f.  ) :    *<w  worein  Sgoor  avr*  (des  meisiani- 

tcfaen  U(#vs  xcuvoq)  tr  s^artpy  —  (fxorC^ov  tpoig  yvtaatto;   x.  r.  X.     Pe- 

•ikta  Sotarta  f.  48,  1  (bei  Sch<Jtt«n  2,  8.  551) :  Et  prodibit 
steüa  ab  Oriente,  guae  est  Stella  Messiae,  et  in  griente  t>ersa~ 
bitur  dies  XV.  Yergl.  Sohar  Genes,  f.  74.  bei  SchÖttmn  2, 
524 f  und  einige  andere  Stellen,  welche  Idelrr  nachweist  im 
Handbuch  der  Chronologie,  2.  Bd.  S.  409,  Anm.  1;  und  Ber- 
tholdt,  Christologia  Jüdaeor.  $.  14. 

8)  Vergl.  mit    den   Anm.  7.  angeführten  Stellen  Protevang.  Jac. 
cap.  21:    eldoficv    a^qa    na/i/ufyförjy    Xauyjavra   Iv   rotg  a?Qoig  Tttroig 
*<u  apßtivorra  aurs9  th    tpa&ttv*      Noch  .  mehr  übertrieben  in  . 
Ignat.   ep.  ad  Ephes.  19.     S.   die    Sammlung  hiehergeh'öriger 
Stellen  bei  Thilo  ,  cod.  apocr.  1,  S.  390  f. 

9)  Exeg.  Beiträge  1,  S.  159  ff. 

Das  Leben  Jesu  Ue  Aufl.  1.  Band.  20 


30(i  Erster  Abschnitt 


\ 


Kindheit  im  Dunkel  lag.  Daher  zweifelte  man  bald  ge- 
nug nicht  mehr,  dafs  nicht  auch  die  erwartete  Erschei- 
nung eines  Sterns  bei  Jesu  Gebart  wirklich  angetroffen 
sei  10).  Dafs  aber  diese  Erscheinung  von  orientalischen 
Magiern  gesehen  worden,  dieser  Zug  ergab  sich,  den 
Stern  einmal  vorausgesetzt,  von  selbst;  denn  theils  konnte 
die  Bedeutung  desselben  Niemand  besser  verstehen  als 
Astrologen ,  und  für  des  Vaterland  dieser  Kenntnisse  galt 
der  Orient:  tbeils  mufste  es  angemessen  scheinen,  den 
messianisehen  Stern ,  welchen  der  alte  Magier  Bileam  im 
(ieiste  geschaut  hatte,  nunmehr  leiblich  gleichfalls  von 
Magiern  gesehen  werden  au  lassen. 

Indessen  hiingt  diefs ,  so  wie  ohnehin  das ,  dafs  die 
Magier  eine  Reise  nach  Judfta  unternehmen,  und  dem  mes- 
sianisehen Kinde  köstliche  Geschenke  bringen,  noch  mit 
andern   A.   T.lichen   Stellen  eusammen.     In    der  Schilde- 
rung der  besseren  Zukunft,  welche  Jesaiaa  Kap.  60.  gibt, 
wird  namentlich  auch  diefs  hervorgehoben ,   dafs  in  jener 
Zeit  die  entferntesten  Völker  und  Könige   gur  Verehrung 
tlehova's  nach  Jerusalem  kommen,   und  Gold   und  Weib- 
rauch und  allerlei  angenehme  Gaben  darbringen  werden  ")• 
Wenn  in  dieser  Stelle  nur  von  der  messianisehen  Zeit  die 
Rede  ist,  ein  messianisches  Subject  aber   fehlt:   so  wird 
Ps.  72.  von  einem  Könige,  von  dem  es  helfet,  man  werde 
ihn  fürchten   so    lange  Mond  und  Sonne  währen,   sa  «ei- 
ner  Zeit  werde  Gerechtigkeit    blöhen,    und  alle   Voller 
ihn  preisen ,  also  von  einem  leicht   messianisch   au  fassen- 


10)  FnrrzscnB,  in  der  Ueberschrift  von  Xap.  2:  Etiam  Stella, 
quam  judatca  dtsctpUna  sub  Messias  natafes  Visum  iri  df- 
cit  9  quo  Jesus  nateebatur  tempore  exorta  est. 

11)  Wie  es  Matth.  2,  ij.  von  den  Magiern  heisst:  np>ppf*Y*ar 
qvt(Z  —  xe^or  rat  Zißarovi  so  Jes.  60,  6  (LXX):  $*»,  v- 
e*»T*<?  Xiwtor*  *<**  Uflaror  dawh.  Das  dritte  Geschenk,  welche« 
bei  Matth.  in  o/uv^a  besteht,   ist  bei  Jes.  ZtSot  rtyioc. 


Viertes  Kapitel.    $.  36.  307 

den  Sobjecte,  gerade  wie  Je*.  60*  gesagt,  dafs  ihm  fremde 
Könige  Gold  und  andere  Geschenke  bringen  werden  (V. 
10.  15.)*  Daau  kommt,  dafs  in  jener  Prophetenstelle  das 
Wallfahrten  fremder  Völker  nach  Jerusalem  mit  einem 
fiber  dieser  Stadt  aufgegangenen  Liebte  in  Verbindung 
gesetzt  ist  12),  welches  an  den  Stern  des  ßileam  erinnern 
konnte.  Was  war  daher  natürlicher,  da  man  auf  der 
einen  Seite  Bileams  messianischen  Stern  ans  Jakob ,  -  na 
dessen  Beobachtung  sternkundige  Magier  am  geeignetsten 
waren,  auf  der  andern  ein  Über  Jerusalem  aufgegangenes 
Liebt  hatte ,  so  welchem  ferne  Völker ,  Geschenke  brin- 
gend, wandeln  sollten,  —  als  Beides  au  eombiniren  und 
au  sagen:  des  Aber  Jerusalem  aufgegangenen  Sterns  we- 
gen kamen  fernher  Astrologen  mit  Geschenken  fttr  den 
durch  den  Stern  angedeuteten  Messias?  Hatte  man  aber 
einmal  einen  Stern  und  um  deinetwillen  fernher  ziehende 
Reisende:  so  liefe  man  lieber  auch  vollends  diesen  Stern 
den  unmittelbaren  Führer  ihrer  Reise  sein,  ihnen  auf 
ihrem  Zuge  voranleuchten.  Diese  Vorstellung  war  im 
Altert h um  sehr  gewöhnlich:  dem  Aeneas  bezeichnete 
nach  Virgil  eine  Stella  facem  ducens  vorbedeutend  den 
Weg  von  Troja  in  das  Abendland  i3);  den  Thrasybul 
und  Timoleon  fahrten  himmlische  Feuer,  und  auch  dem 
Abraham  sollte  ein  Stern  den  Weg  10m  Moria  gezeigt 
haben  ")•  Zudem  schien  in  der  Prophetenstelle  selbst 
das  Himmelslicht  mit  der  Wanderung  der  Geschenkebrin- 
genden als  Leiter  ihres  Zugs  in  Verbindung  gesetzt  zu 
sein;  wenigstens  konnte  der  zunächst  bildliche  Ausdruck, 
Völker  und  Könige  werden   in  dem,  ober  Jerusalem  auf» 


±2)  V.   l.   und  3:    ^pfot  1*3  *3  (LXX:  7*<«*frf)   n1)»  TWp 

o^S»3!  tt*h  ufa  «Srn  -  .ttjj  ä  nyv  -foDi 

*TO  ruft 

*3)  Acneid.  2,  693  ff 
1*)  Nachgewiesen  bei  Wetitii»  t.  d.  St. 

20* 


308  Erster  Abschnitt« 

gegangenen  Lichte  wandeln ,  später  leicht  in  rabbiniscbeai 
(ieiste  eigentlich  verstanden  werden.  Dafs  der  Stern  die 
Magier  nicht  geradezu  nach  Bethlehem  führt,  wo  Jesus 
sich  befand ,  sondern  sie  erst  nach  Jerusalem  sich  wenden, 
könnte  einestheils  in  der  Prophetenstelle  seinen  Grund  ha- 
ben, welche  das  aufgehende  Licht  und  die  Geschenkebrin- 
genden auf  Jerusalem  besieht;  der  Hauptgrund  ist  jedoch, 
dafs  bu  Jerusalem  Herodes  su  finden  war.  Was  eignete 
sich  nämliob  mehr  zur  Veranlassung  des  herodischen  Mord-* 
befehls,  als  die  Aufsehen  erregende  Nachricht  der  Magier, 
den  Stern  des  grofsen  Jadenkönigs  gesehen  eu  haben? 

Einen  Mordbefehl  von  Herodes  gegen  Jesum  ergehen 
au  lassen,  lag  aber  im  Interesse  der  urchristlichen  Sage. 
Durch  Mordanschläge  und  Ausseteungen  hat  von  jeher 
die  Sage  die  Kindheit  grofser  Männer  verherrlicht:  je 
gröTser  die  Gefahr,  welche  über  ihnen  schwebte,  desto 
höher  scheint  ihr  Werth  zu  steigen ;  je  unerwarteter  ihre 
Rettung  erfolgt,  desto  deutlicher  zeigt  sich ,  wie  viel  de» 
Himmel  an  ihnen  gelegen  war.  Daher  finden  wir  in  den 
Kindheitsgeschichten  des  Cyrus  bei  Herodot,  des  Roma- 
ins bei  Livius  1S),  selbst  noch  später  in  der  des  Aogustus 
bei  Sueton  16),  diesen  Zug,  und  auch  die  hebräische  Sage 
hat  ihn  bei  Moses  nicht  vergessen.  Die  Erzählung  2.  Mos« 
1.  2.  ")  ist  der  unsrigen  besonders  darin  genau  verwandt, 


15)  Herod.  1,  108  ff.  Lir.  1,  4. 

16)  Octav.  94 :  —  ante  paucos  quam  nasceretur  menses  prodi- 
gium  Romae  factum  publice ,  quo  denunttabatur ,  regem  po- 
puli  Romant  naturam  parturire ;  Senatum  exterrttum,  cen- 
suisse  t  ve  quis  Wo  anno  genitu$  educaretur;  eos,  qui  gra- 
vid as  uxores  haberent,  quod  ad  se  quisque  spetn  traheret, 
curasse,  ne  Senatusconsultum  ad  aerarium  deferretur, 

17)  Mit  der  wunderbaren  Errettung  des  Moses  hatte  schon  Bauer 
(über  das  Mythische  in  der  früheren  Lebensper.  des  Moses, 
im  n.  theol.  Journal,  13,  3)  die  des  Cyrus  und  Romulus 
▼erglichen;    die  Vergleichung  des  bethlehemitischen  Kinder- 


Viertes  Kapitel.    $*  36.  300 

da(s  der  Mordbefehl  beidemale  nicht  blof*  special!  auf 
Moses  oder  Jesus ,  sondern  allgemein  auf  eine  gewisse 
Klasse  von  Kindern:  dort  alle  männlichen,  neugeborenen, 
hier  aaf  alle  von  nnd  unter  uwei  Jahren,  sich  besieht 
Freilich  nach  der  Erslhlung  des  Exodus  ist  der  Mordbe* 
fehl  gans  ohne  Rücksicht  auf  den  Moses  gegeben ,  von 
dessen  Geburt  Pharao  nichts  ahnt,  und  der  also  nur  an- 
fällig durch  jenen  Befehl  mit  gefährdet  wird ;  aber  diese 
Darstellqug  war  der  Tradition  im  hebräischen  Volke  nicht 
absichtsvoll  genug,  und  sie  hat  daher  schon  bei  Jo^phus 
eine  Wendung  erhalten,  dureh  welche  sie  den  Sagen  von 
Cyrus  und  Augustus ,  aber  auch  der  Erzählung  des  Mat- 
thias, bedeutend  ähnlicher  wurde:  die  nämlich,  daCs  eine 
£röffnung  seiner  Schriftdeuter  (wie  bei  Berodot  der  Traum- 
deuter und  bei  Matthäus  der  Sterndeuter),  es  werde  ein 
Kind  geboren  werden,  das  den  Israeliten  aufhelfen,  die 
Aegypter  aber  demüthigen  würde,  den  Pharao  eu  jenem 
Mordbefehl  veranlafst  habe  iö).  Wie  den  Gesetageber, 
so  lieb  die  Sage  bald  auch  den  Stammvater  der  Nation, 
kaum  geboren,  durch  den  Mordanscblag  eines  argwöhni- 
schen Tyrannen  in  Lebensgefahr  gerathen«  Wie  dem 
Moses  Pharao  als  Feind  und  Unterdrücker  entgegenstand, 
so  wurde  dem  Abraham  Nimrod  in  der  gleichen  Rolle 
gegenübergestellt.  Diesem  sagten  seine  Weisen,  durch 
einen  ausgezeichneten  Stern  aufmerksam  gemacht,  data 
dem  Tharah  ein  Sohn  geboren  sei ,  von   welohem  ein  ge- 


mordet fügte  vm  Witts  hinzu,  Kritik  der  mos.  Geschichte, 
S.  176. 

18)  Joseph.  Antiq.  2,  9,  2 :  wr  Uqoy&PP*1****  r* «yy/Ua  r/5 

ßaodtTy  rex&iJMO&at  rtva  xtrr  extTror  rov  xatQor  rdif  'laqaqUcats ,  o»- 
Tancaxaöti  /uir  rrp  Alyunrüay  rff9/uovlav,  mfypti  Se  t«j  laqaijliTtti 
rprytcf,  apTfl  de  ndrraq  wrtfßaXei,  xai  So^af  aeC/irr^w  xrtjotvai. 
Jttoas  Se  6  flaadevgy  xara  yyoi^r  tiJk  extiv*  xtUwt  nav  ro  ytyvj- 
div  aqoev  vno  vmv  'IoQaijktiav   f«;  xov  nout/wr  fanirivt  8ict<f9kC*tu 


HO  Erster  Abschnitt. 

waltiges  Volk  abstammen  werde ;  worauf  er  ebenfalls  ei- 
nen Mordbefehl  ergeben  Ififst,  welchem  jedoch  Abraham 
glficklieh  entgebt l9).  Was  Wander ,  dafs  man  nan ,  wie 
dem  Stammvater  and  dem  Gesetzgeber,  so  aaoh  dem  Wie- 
derhersteller der  Nation,  dem  Messias,  einen  andern  Nim-. 
rod  nnd  Pharao  in  der  Person  des  Herodes  entgegenstellte, 
diesem  durch  Weise  seine  Gebart  verkündigen,  ihn  dem 
Neugebornen  nach  dem  Leben  trachten,  diesen  aber  «ei- 
nen Nachstellungen  glücklich  entkommen  liefs?  Hat  ja 
dochßdie  apokryphiscbe  Legende  sieh  bewogen  gefunden, 
auch  in  der  Geschichte  des  Vorläufers  diesen  Zug  in  ihrer 
Weise  nachzubilden:  auch  er  soll  durch  den  herodisehen 
Mordbefehi  in  Gefahr  gekommen,  aus  dieser  durch  das 
Wunder  eines  für  ihn  und  seine  Matter  sieh  öffnenden 
Berges  gerettet,  sein  Vater  aber,  weil  er  den  Aufenthalts- 
ort des  Knaben  nicht  anseigen  wollte,  ermordet  worden 
sein  so). 

Die  Art,  wie  Jesus  den  Nachstellungen  des  Herode« 
entgeht,  ist  eine  andere,  als  wie  nach  der  mosaischen 
Geschichte  Moses  und  nach  der  jüdischen  Sage  Abra- 
ham den  gegen  sie  ergangenen  Mordbefeblen ;  nämlich 
durch  eine  Flucht  aus  dem  Lande,  nach  Aegypten.  Eine 
Flucht  aufser  Landes  kommt  «war  auch  im  Leben  des 
Moses  vor,  aber  nicht  in  der7 Geschichte  seiner  Kindheit, 
sondern  nachdem  er  als  Mann  den  Aegypter  erschlagen, 
als  Pharao  ihm  defshalb   nach  dem  Leben  trachtet,  flttch- 


19)  Jalkut  JRubeni  (Fortsetzung  der  Anro.  6.  angeführten  Stelle) : 
dixerunt  sapientes  Nimrodi;  natu*  est  Tharae  fiüus  kac  ip- 
sa  hora,  ex  quo  egressurus  est  populus,  gut  haereditabit 
praesens  et  futurum  seculum;  st  tibi  placuerit ,  detur  patri 
ipstus  domus  argento  auroque  plena,  et  occidat  ipsum, 
Vergl.  auch  die  Stelle  des  arabischen  Buchs*,  hei  Fa*bic. 
Cod.  pseudepigr.  a.  a.  0. 

20)  Frotev.  Jacohi  c.  22  f. 


Viertes  Kapitel.    $.36.  Sil 

.  tet  er  sich  nach  Midian  (2.  Mos«  2,  !!>.)•     Dafs  auf  diese 
Flocht  des  ersten  GoSi  bei  der  des   «weiten  Rücksicht  ge- 
nommen ist,    eeigt  unser  Text  selbst  ausdrücklich  an,   in« 
dem   er  dem   Engel,   welcher  den  Joseph   unr  Rückkehr 
uns  Aegypten  nach  Palästina  ermuntert,   dieselben  Worte 
in    den  Mund  legt,  mit  welchen   dort  die  Rückkehr  aus 
Midian  nach   Aegypten   motivirt  ist  ")•      Dafs   nun  aber 
Jesus  gerade  nach  Aegypten  geflüchtet  wird,  diefs  erklärt 
sich  wohl  am  einfachsten  so.    Da  der  junge  Messias  nicht, 
wie  Moses,  aus  Aegypten  cu  fliehen  hatte,  so  kehrte  man, 
um    doch  die  bedeutsame  O  ertlichkeit  Aegyptens,  dieser 
alten  Zufluchtsstätte  der  Kraräter,  nicht  so  verlieren ,  das 
Verhältnifs  um,  und  liefs  Ihn  nach  Aegypten   sich  bege- 
ben, welches  fiberdiefs  der  Nachbarschaft  wegen  das  geeig- 
netste Asyl  fflr  einen  aus  Judäa  Fliehenden  war«     Weni- 
ger brauchbar  cur  Erklärung  dieses  Zuges  ist  die  Prophe- 
tenstelle,  welche  unser  Evangelist  aus  Hosea  11,    1.  an- 
führt: e£  Alyvmq  exdleaa  tov  vlov  /*«.     Denn  dafs  diese 
Stelle   von  den  Juden   auf  den  Messias   beeogen    worden 
wäre,  dafür  sind  die  unmittelbaren  Belege  sehr  unsicher  M); 
ob  es  schon  bei  Vergleiehung  von  Stellen   wie  Ps.  2,  7., 
wo  das  pihk  wj  auf  den   Messias  bezogen  wurde ,   nicht 

undenkbar  erscheinen  kann«  dafs  man  auch  dem  *3ib  bei 

9  ... 

Hosea  eine  messianische  Beaiehung  gegeben  hätte. 


21)  2.  Mos.  4,  19  LXX:  Matth.  2,  20: 

refhnpuMH   yaq  ttwrvtg   oi    £9-  (FW     TffrnjxafH    yaq   et    ttjrirr«; 

Wobei  zu  bemerken  ist,  dass  nur  aus  der  Berücksichti- 
gung der  A.  T.  liehen  Stelle  der  in  die  evangelische  eigent- 
lich nicht  passende  Plural  sieh  erklärt.  S.  Witwer,  N.  T. 
Gramm.  S.  149.  —  Ferner  vcrgl.  2.  Mos.  a.  a.  0.  V.  20.  mit 
Matth.  V.  14  u.  21. 

22)  S.  z.  B.  ScuörrsB*,  horac,  2,  p.  209. 


Sit  Erster  Abschnitt. 

Diese  mythische  Ableitung  der  Erzählung  hat  man 
neuesten*  besonders  von  zwei  Seiten  beanstandet.  Fflr's 
Erste ,  wenn  es  das  Orakel  des  Biieam  ist,  aus  welchem 
die  Geschichte  von  dem.  Sterne  erwuchs :  warum  —  fragt 
man  —  weist  Matthäus,  der  so  gerne  im  Leben  Jesu  die 
Erfüllung  A.  T.licher  Weissagungen  .zeigt,  mit  keinem 
Worte  darauf  zurück?.23)  Darum  nicht,  weil  er  salbet 
es  nicht  ist,  der  aus  vder  A.  T.lichen  Stelle  diese  Ge- 
schichte herausgesponnen  hat;  er  bekam  die  bereits  gebil- 
dete von  Andern,  welche  ihm  jene  Wurzel  derselben  nicht 
mitöberliefert  hatten.  Daher,  weil  ihm  manche  Erzählung 
ohne  den  zu  ihr  gehörigen  Schlüssel  fibergeben  war, 
kommt  es,  dafs  er  bisweilen  sogar  falsche  Schlüssel  ver- 
sucht, wie  in  unserer  Erzählung  an  dem  Kindermorde  die 
ganz  falschgegriffene  Stelle  von  dem  Weinen  der  Ra- 
hel  2*)-  —  Der  andere  Einwand  ist:  wie  doch  die  Gemein- 
den der  Judenchristen,  aus  welchen  der  angebliche  Mythus 
hervorgegangen  sein  mufste,  den  Heiden  eine  so  grofse  Be- 
deutung haben  beilegen  können,  wie  ihnen  in  den  Personen 
der  Magier  beigelegt  werde25)?  Als  ob  nicht  schon  die 
Propheten  in  den  angeführten  Stellen  den  Heiden  diese 
Bedeutung  ertheilt  hätten;  eine  .Bedeutung,  welche  aber 
näher  ein  Huldigen,  sich  unterwürfig  Bezeigen  derselben 
gegen  den  Messias  war,  wie  es,  so  ganz  abgesehen  noch 
von  den  näheren  Bedingungen  ihres  Eintritts  in  sein  Reich, 
selbst  dem  judenchristlichen  Sinne  zusagen  mufste« 

Es  bleibt  demnach  bei  der  mythischen  Auffassung 
unsrer  Erzählung,  und  wir  müssen  uns  auch  hier  beschei- 
den, keine  einzelne  Thatsache  aus  dem  Leben  Jesu  zu  er- 
fahren, sondern  nur  eine  neue  Probe  davon  zu  bekommen, 
wie  bestimmt  der  messianisohe  Eindruck'  war,  den  Jesus 


23)  T heile,  zur  Biographie  Jesu  §.  15 ,  Anm.  9.  Hoffmank,  S.  269. 

24)  Vergl.  meine  Streitschriften ,  1,  f,  S.  42  f. ;    George,  S.  59. 

25)  Neam)ek,  L.  J.  Ch.  S.  27. 


Viertes  KapiteL    §.36.  313 

Unterlief*,  da  selbst  der  Geschichte   feiner  Kindheit  die 
messianische  Form  gegeben  wurde  '*). 

Blieben  wir  von  hier  noch  einmal  auf  die  Erzählung 
des  Lukas,  Kap.  %,  nurfick,  so  weit  sie  mit  der  unsrigen 
gleich  ifiuft:  so  haben  wir  schon  gesehen,  dals  die  ons- 
rige  das  von  Lukas  firsählte  nieht  als  früher  Vorgefalle- 
nes yoraussetst;  noch  weniger  kann  das  Umgekehrte  statt- 
finden, dals  die  Magier  vor  den  Hirten  gekommen  wftren: 
es  fragt  sieh  also,  ob  nieht  vielleicht  beide  Berichte  das- 
selbe darstellen  wollen,  nur  dafs  sie  diefe  auf  verschiedene 
Weise  tbun?  Auf  dem  älteren  orthodoxen  Standpunkte, 
welcher  den  Stern  bei  Mattbaas  als  einen  Engel  zu  fassen 
geneigt  war,  lag  es  nahe,  denselben  mit  dem  Engel  bei  Lukas 
in  der  Art  bu  vereinigen,  dals  der  in  der  Geburtsnacht  Jesu 
den  bethlehemitischen  Hirten  erschienene  Engel  von  den 
Magiern  in  der  Ferne  für  einen  über  Jadäa  stehenden 
Stern  gehalten  worden  sein  sollte  27) :  wobei  dann  beide 
Berichte  im  Wesentlichen  richtig  wären.  Neuerlich  hat 
man  nur  Einen ,  und  zwar  den  des  Lukas ,  als  den  rich- 
tigen vorausgesetzt;  den  des  Matthäus  aber  als  ausge- 
achmökte  Umbildung  von  jenem  dargestellt.  Aus  dem  En- 
gel im  himmlischen  Glänze  bei  Lukas  soll  in  der  umbilden- 
den Erzählung  der  Matthäustradition  ein  Stern  geworden 
sein,  wie  die  Begriffe  von_Engeln  und  Sternen  in  der  hö- 
heren jüdischen  Theologie  ensammenflofsen ;  die  Hirten 
aber  sollen  zu  königlichen  Weisen  umgebildet  worden  sein, 
wie  ja  die  Könige  im   Alterthum  Hirten   der  Völker  hei- 


26)  Auch  Schleiermacher,  über  den  Lukas,  S.  47,  erklärt  die 
Erzählung  von  den  Magiern  u.  s.  w.  für  eine  symbolische ; 
da  er  es  aber  verschmäht ,  auf  die  hiehergehongen  A.  T. li- 
ehen u.  a.  Stellen  Rücksicht  zu  nehmen ,  so  rächt  sich  diess 
dadurch,  das«  er  in  der  Deutung  der  Erzählung  theils  im 
Allgemeinen  stehen  bleibt,  theils  in's  Schiefe  geräth. 

27)  So  Lightfoot  ,  horau  p.  202* 


314  .  Krater  Abschnitt. 

fsen  M).  Diese  Ableitung  wäre  selbst  dann  durch  ihre 
Könstlichkeit  unwahrscheinlich,  wenn  es  richtig  wäre, 
was  dabei  vorausgesetzt  wird  >  dafs  die  hieher  gehörigen 
Erzählungen  des  Lukas  den  Stempel  der  historischen 
Wahrheit  tragen.  Da  wir  aber  hievon  das  Gegen theil 
nachgewiesen  za  haben  hoffen,  mithin  zwei  gleich  unhisto- 
rische Erzählungen  vor  uns  liegen:  so  fehlt  jeder  Grund, 
die  gequälte  Herausdeutung  des  Matthäischen  Berichts  aus 
dem  des  Lukas  der  so  einfachen  Ableitung  desselben  aus 
A.  Teichen  Stellen  und  jüdischen  Meinungen  vorzuziehen. 
Es  sind  also  diese  beiden  Beschreibungen7  der  ersten  Ein* 
führung  Jesu  zwar  Variationen  über  dasselbe  Thema,  aber 
ohne  unmittelbaren  Einflufs  der  einen  auf  die  andere. 

$.    37. 

Chronologisches  VerhKltniss  des  Besuchs  der  Magier  samnit  der 
Flucht  nach  Aegypten  bei  Matthäus  zu  der  Darstellung 

im  Tempel  bei  Lukas. 

Es  ist  oben  bemerkt  worden,  dafs  die  im  Anfang 
ziemlich  parallel  laufenden  Erzählungen  des  Matthäus  und 
Lukas  in  der  Folge  ganz  auseinandergehen ,  indem,  statt 
der  tragischen  Katastrophe  mit  Kindermord  und  Flucht, 
uns  Lukas  die  friedliche  Scene  der  Darstellung  des  Jesus- 
kindes im  Tempel  aufbehalten  hat.  Setzen  wir  für  jetzt 
das  Ergebnifs  unsrer  letzten  Untersuchung,  den  blofs  my- 
thischen Charakter  der  Erzählung  bei  Matthäus,  bei  Seite, 
und  fragen :  in  welchem  Zeitverhältnisse  soll  diese  Dar- 
stellung im  Tempel  zu  dem  Magierbesuch  und  der  Flucht 
nach  Aegypten  stehen? 

Eine  ausdrückliche  chronologische  Bestimmung  hat 
von  beiden  Begebenheiten  nur  die  Darstellung  im  Tempel, 


28)  SciiNBCKENBURGBR ,    über  den  Ursprung  des   ersten   kanoni- 
sche» Evangcliums;  S.  69  IT. 


Viertes  Kapitel.    §.  S7.  S15t 

von  welcher  ee  heißt ,  dafs  sie  nach  der  gesetzlichen  Zeit 
der  Reinigung  einer  Matter,  <i.  h.  aho,  nach  S.  Mob.  12, 
S  —  4.,  40  Tage  nach  der  Gehurt  des  Kindes,  vorgenom- 
men worden  sei  (Lac.  2,  22.).  Die  Zeit  der  andern  Be- 
gebenheit ist  nicht  ebenso  festgesetzt:  es  heilst  nur,  die 
Magier  seien  angekommen  %&  *£ijoä  yswqdivroQ  iv  Br^lMtfji 
(Mattb.  2,  1.)»  unbestimmt  wie  lange  hernach.  Da  aber 
durch  dieses  Partieip  der  Besuch  der  Magier  unmittelbar, 
wenigstens  wie  wenn  nichts  Bedeutendes  dazwischen  vor- 
gefallen wäre,  an  die  Geburt  des  Kindes  «angeknüpft  su 
werden  scheint:  so  hat  diefs  einige  Ausleger  auf  die  An« 
sieht  geführt,  dafs  jener  Besuch  vor  die  Darstellung  im 
Tempel  zu  setzen  sei  0-  Dabei  bleibt  noch  die  doppelte 
Möglichkeit  offen:  entweder  auch  noch  die  Flocht  nach 
Aegypten  der  Darstellung  im  Tempel  vorzusetzen;  oder 
den  Besuch  der  Magier  zwar  dieser  voranzustellen,  die 
Flucht  aber  erst  auf  die  Darstellung  folgen  zu  lassen« 
Nimmt  man  das  Letztere  an,  und  klemmt  die  Darstellung 
im  Tempel  zwischen  den  Magierbesuoh  und  die  Flucht  ein : 
so  verwickelt  man  sich  in  einen  schlimmen  Zwiespalt  so* 
wohl  mit  den  Worten  des  Matthäus  als  mit  dem  Zusam- 
menhange der  Sachen.  Da  nämlich  mit  derselben  Parti- 
eipialconstruction  der  Evangelist  hier  an  die  Umkehr  der 
Magier  die  Aufforderung  zur  Flacht  knüpft  (^avaxtaqrjaav- 
%iav  avtdfv  tds  äyyelog  k.  t.  L  V.  13.)>  mit  weicher  er  V.  1. 
die  Ankunft  der  Morgenländer  an  die  Geburt  Jesu  ange- 
schlossen hatte:  so  mufs  doch  gewifs  derjenige,  welchen 
diese  Construction  oben  bewogen  hatte,  die  durch  sie  ver- 
bundenen Begebenheiten  ohne  Dazwiachenkunft  eines  an- 
dern bedeutenden  Vorfalls  aufeinander  folgen  zu  lassen, 
auch  hier  sich  durch  dieselbe  abgehalten  finden,  zwischen 
die  durch  sie  verknüpften  Ereignisse  des  Besuchs  und  der 


f)  S.  z.  B.  Augustin  de  consens.  cvangelist.  2,  5.    Storr,  opusc. 
acadL  5,  S.  96  ff.  Süsjwd,  in  Bskgkl's  Archiv,  j,  1.  S.  216  ff. 


316  Erster  Abschnitt. 

Flocht  ein  drittes  einzuschieben.  Was  aber  die  Sache 
betrifft ,  so  wird  man.  doch  nicht  wahrscheinlich  finden 
wollen,  dafs  in  einem  Zeitpunkt ,  in,  welchem  Gott  dem 
Joseph  anaeigen  lütt,  er  sei  zu  Bethlehem  nicht  mehr  vor 
Herodes  sicher,  demselben  eine  Reise  nach  Jerusalem,  also 
eigentlich  in  den  Rachen  des  Löwen  hinein,  zugelassen 
worden  wäre.  Jedenfalls  hätte  allen  Betheiligten  die 
strengste  Vorsicht  eingeschärft  werden  müssen,  das  Ruoht- 
.barwerden  der  Anwesenheit  des  messianischen  Kindes  in 
Jerusalem  su  verhüten»  Solches  ängstliche  Incognito  ist 
aber  in  der  Erzählung  des  Lukas  nirgends  zu  spüren: 
vielmehr  macht  nicht  nur  Simeon  im  Tempel  auf  Jesus* 
aufmerksam.,  ohne  vom  Geist  oder  von  den  filtern '  daran 
verbindert  zu  werden;  sondern  auch  Hanna  glaubt  der 
guten  Sache  einen  Dienst  zu  tbun,  wenn  sie  die  Kunde 
von  dem  neugeborenen  Messias  so  sehr  wie  möglich  ver- 
breite (Luc.  2,  28  ff.  SS.)*  Dal»  *ie  diefs  nur  unter  Gleich- 
gesinnten that  Cilulsc  tibqI  avzs  tvccoi  tcHs  TCQogdE%of.ie- 
voig  IvTQtoGiv  iv  %QüOab}in'),  konnte  nicht  verhindern, 
dafs  es  nicht  auch  der  herodischen  Partei  bekannt  wurde; 
da  eben,  je  gröTser  die  Aufregung  jener  rtQogdexQftevoi 
durch  solche  Kunde  wurde,  desto  mehr  auch  die  Aufmerk- 
samkeit der.  Regierung  erregt  werden,  und  so  Jesus  in  die 
Hände  des  lauernden  Herodes  fallen  mufste. 

In  jedem  Falle  müfste  sich  also,  wer  die  Darstellung 
im  Tempel  nach  dem  Besuche  der  Magier  setzt,  auch  da- 
zu vollends  entsohliefsen ,  sie  selbst  bis  nach  der  Rück- 
kehr aus  Aegypten  eu  verschieben.  Allein  auch  dabei  geht 
es  nicht  ohne  Verstofs  gegen  die  Berichte  ab.  Es  müfste 
sich  nämlich  dieser  A°nanme  sufolge  zwischen  der  Ge- 
burt Jesu  und  seiner  Darstellung  im  Tempel  ereignet  ha- 
ben :  die  Ankunft  der  Magier ;  die  Flucht  nach  Aegypten ; 
der  bethlehemitische  Kindermord;  der  Tod  des  Herodes; 
die  Rückkehr  der  filtern  Jesu  aus  Aegypten.  Das  ist  aber 
für  40  Tage  offenbar  zu  viel;    man   niüfrte  daher  anneh- 


Viertes  Kapitel.    §.  37.  317 

neu,  die  Darstellung  des  Rindes  and  der  erste  Tem- 
pelbesuch  der  Wöchnerin  sei  über  die  .'gesetzliche  Zeit 
hinaus  verschoben  worden.  Diefs  lauft  aber  der  Er- 
Zählung  des  Lukas  zuwider ,  welcher  durch  sein  ore 
£tt?jqo%hjoav  ai  rjfutQai  tö  xad-aQto/js  avtwv  xard  rov  yo- 
ftov  M<aai(og  (V.  22.)  ausdrücklich  sagt,  dafs  der  Tempel- 
besuch  zur  gesetzlichen  Zeit  stattgefunden.  Doch  gleich- 
viel, ob  früher  oder  später:  die  filtern  Jesu  konnten  dem 
Matthäus  zufolge  nach  ihrer  Rückkehr  aus  Aegypten  so 
wenig  als  unmittelbar  vor  ihrem  Abgang  dahin  an  eine 
Reise  nach  Jerusalem  denken.  Denn  da  bei  der  Rückkehr 
von  der  Flucht  Joseph  wegen  des  Archelaus  vor  Judäa 
gewarnt  wird,  das  unter  seiner  Herrschaft  stand,  so  konnte 
er  es  am  wenigsten  wagen,1  in  dessen  Residenz,  Jerusalem, 
selbst  sieh  zu  begeben. 

Da  also  auf  keine  dieser  beiden  Weisen  die  Darstel- 
lung im  Tempel  es  ertragen  will,  dem  Magierbesuche  nach- 
gesetzt zu  werden:  so  bleibt  nur  das  Andre  Übrig,  mit 
der  Mehrheit  der  Ausleger  *)  jene  von  Lukas  erzählte 
Begebenheit  den  beiden  von  Matthäus  berichteten  voran- 
zustellen. Diefs  ist  auoh  insofern  das  natürlichste,  als 
wenigstens  mittelbar  bei  Matthäus  ein  längerer  Zeitraum 
zwischen  der  Geburt  Jesu  und  der  Ankunft  der  Magier 
angedeutet  ist.  Denn  dafs  Herodes  die  Kinder  in  Beth- 
lehem bis  zum  Alter  von  zwei  Jabren  morden  läfst,  diefs 
setzt,  wenn  er  auch ,  um  sicher  zu  gehen ,  die  Zeitangabe 
der  Magier  überschritt,  doch  voraus,  dafs  diesen  der  Stern 
schon  vor  mehr  als  einem  Jahre  sichtbar  geworden  war; 
das  Erscheinen  des  Sterns  aber  scheint  der  Erzähler  als 
gleichzeitig  mit  der  Geburt  Jesu  sich  zu  denken.  —  Nach 
dieser  Stellung  der  Erzählungen  wären  also  die  Eltern 
Jesu  zuerst  von  Bethlehem,    wo  das  Kind  geboren  war, 


2)  Unter  den  Neuem  z.  B.  Hgss ,  Geschichte  Jesu ,  1 ,    S.  51  ff 
Paulus  ,  Olshausbh  ,  x.  d.  St. 


318  Erster  Abschnitt«. 

nach  Jerusalem  gereist,  am  die  gesetzlichen  Gaben  dann» 
bringen;  sodann  wären  aie  wieder  nach  Bethlehem  zurück« 
gekehrt»  wo  (nach  Mattb.  2,  1.  und  5.)  die  Magier  aie 
fanden ;  hierauf  w&re  die  Flacht  nach  Aegypten,  und  nach 
der  Rückkehr  von  derselben  die  Ansiedelung  in  Nasaret 
erfolgt«  Die  hiebei  vor  Allem  sich  aufdringende  Frage: 
was  hatten  denn  die  Eltern  Jesa  nach  der  Darstellung  im 
Tempel  noch  einmal  in  Bethlehem  so  thun,  das  ja  gar 
nicht  ihre  Heimath  war,  and  wo  sie  binnen  der  40  Tage 
ihre  Geschäfte  wegen  der  Schatcung  gewifs  hatten  abma- 
chen können?  mufs  «war  auf  später  verwiesen  werden; 
indessen  wird  dieser  in  der  Sache  liegende  Entscheidung* 
grund  vollständig  ersetzt  durch  einen,  der  in  den  Worten 
liegt.  Lukas  nämlich  sagt  (V.  39.)  gar  zu  bestimmt,  nach 
Vollendung  der  gesetzlichen  Opfer  u»  s.  f.  aeien  Jesa  fil- 
tern wieder  nach  Nasaret  zurückgekehrt ,  als  in  ihre  ei- 
gentliche Heimath ,  and  nicht  nach  dem  blofs  vorüberge- 
henden Aufenthaltsorte  Bethlehem  3).  Kamen  also  die 
Magier  nach  der  Darstellung  im  Tempel:  so  mofsten  aie 
die  Eltern  Jesa  schon  wieder  in  Nasaret  treffen,  nnd  nicht 
in  Bethlehem,  wie  Matthäus  sagt.  Dazu  kommt  noch, 
dafs,  wenn  wirklich  der  Ankunft  der  Magier  die  Darstel- 
lung im  Tempel  mit  dem  Aufsehen,    welches  die   Reden 


3)  Süikind,    a.  a.  0.   S.  222:     „Lukas  drückt  sich,   indem  er 

Sagt:    xat  wf  ir&crav  anotvra  xara    roy  vouoy  RvqIh,    vnfgpipar  eh 

Nataqtr,  so  aus,  wie  nur  der  sich  ausdrücken  kann,  der  sa- 
gen, cL  h.  bei  den  Lesern  die  Vorstellung  erwecken  will, 
von  Jerusalem  aus  sei  die  Reise  unmittelbar,  ohne  Dazwi 
schenkunft  einer  andern  Reise,  nach  Nasaret  gegangen." 
Diess  war  eben  mit  ein  Grund,  warum  Susxwd  u.  A.  Magier 
und  Flucht  lieber  vor  der  Darstellung  einschieben  wollten* 
—  Nach  Michaelis  (Anm.  zu  seiner  Uebersetzung,  S.  379.) 
soll  der  Weg  von  Jerusalem  nachNazaret  über  (das  in  ent- 
gegengesetzter Richtung  gelegene!)  Bethlehem  ge- 
führt haben. 


Viertes  Kapitel.    $.  37.  319 

Simeon's  and  de*  Hanna  machen  mnfsten,  sehen  vorange- 
gangen war:  unmöglich  dann  bei  der  Ankunft  der  Magier 
die  Gebart  des  messianiscben  Kindes  an  Jerusalem  noch 
so  anbekannt  sein  konnte,  dafs,  wie  Matthäus  meldet,  die 
Ankündigung  derselben  durch  die  Magier  allgemeine  Be- 
stürzung erregte  (2,  3.)  *). 

Wenn  somit  die  Darstellung  Jesu  im  Tempel  weder 
frfiher  noch  auch  später  stattgefunden  haben  kann,  als  der 
Besuch  der  Magier  and  die  Flacht  nach  Aegypten,  und 
ebensowenig  diese  letztere  Begebenheit  früher  oder  später 
als  jene  erste:  so  ist  es  also  unmöglich,  dafs  die  eine  so« 
wohl  als  die  andere  sollte  vorgefallen  sein,  sondern  höch- 
stens kann  die  eine  oder  die  andere  sich  ereignet  haben  ö). 

Diesem  gefährlichen  Dilemma  au  entgehen,  hat  auch 
hier  die  supranaturalistische  Ansicht  neuesten*  sich  bewo« 
gen  gefanden,  einen  freieren  Standpunkt  au  betreten,  am 
durch  Preisgeben  dessen,  was  nieht  mehr  zu  halten  ist, 
das  Uebrige  au  retten.  Dafs  weder  Lukas  you  dem,  waa 
Matthäus,  noch  der  (vom  Apostel  verschiedene)  Verfasser 
des  griechischen  Matthäus  von  demjenigen  etwas  gewn&t 
haben  könne,  was  Lukas  hier  ans  der  Kindheitsgeschiohte 
Jesu  mittboilt,  das  findet  Nbander  sich  gedrangen  zu  zu« 
gesteben.  Aber  daraus  folge  nicht,  dafs  nicht  dennoch 
Beides  sich  ereignet  haben  könne  6).  —  Dureh  diese  Wen« 
dang  entgeht  man  allerdings  den  Schwierigkeiten,  welche 


4)  Dieselbe  Differenz    in   Feststellung  des  chronologischen  Ver- 
.  Vältnisses  der  beiden  Begebenheiten  findet  sich   auch  zwi- 
schen zwei  verschiedenen  Texten  des  Apokryph  um  s :  historia 
de  nativ.  Mariae  et  de  inf.  Serv. ,   s.  bei  Thilo,  S.  385.  not. 

5)  Diese  Unverträglichkeit  der  beiden  Erzählungen  ist  schon 
frühe  einigen  Gegnern  des  Christentums  (Epiphanius,  hae- 
res.  51  j  8.  nennt  neben  Gelsus  und  Porphyrius  noch  einen 
Philosabbatius)  zum  Bewusstsein  gekommen. 

6)  Nbakdir  ,  L.  J.  Chr. ,  S.  33*  Anmerkung. 


320  Erster  Abschnitt. 

in  den  Werten  der  Evangelisten  liegen:  aber  denen  in  der 
Sache  nicht.  Daß  der  erste  Evangelist  die  Gebart  Jesu, 
den  Besuch  der  Magier  nnd  die  Flucht  aneinanderreiht, 
wie  wenn  keine  Orteveränderung  dazwischen  wäre;  dafs 
der  Verfasser  des  dritten  Evangeliums  die  Eltern  mit  dem 
Kinde  von  der  Darstellung  im  Tempel  nnmittelbar  nach 
Nazaret  zurückkehren  lfi(st,  wird  unverfänglich ,  weil  ans 
dem  Nichtwissen  ferne  stehender  Berichterstatter  kein 
Schlufs  auf  Nichtgeschehensein  gilt.  Dagegen  nun  aber 
die  Unwahrscheinlichkeit,  dafs  nach  der  Scene  im  Tempel 
die  Gebart  des  messianischen  Kindes  in  Jerusalem  noch  so 
ganz  anbekannt  sollte  gewesen  sein,  wie  das  Benehmen  des 
Herodes  bei  der  Ankunft  der  Magier  es  voraussetzt;  die 
Undenkbarkeit  (bei  der  umgekehrten  Stellang  der  Bege- 
benheiten), dafs  es  dem  Joseph  sollte  angelassen  worden 
sein,  mit  dem  Kinde,  das  Herodes  so  eben  zu  morden 
sachte,  nach  Jerusalem  zu  reisen ;  das  Unbegreifliche  end- 
lich, dafs  die  Eltern  Jesu  nach  der  Darstellung  im  Tem- 
pel nach  Bethlehem  sollten  zurückgekehrt  sein  (wovon 
später) :  alle  diese  in  der  Sache  liegenden  Schwierigkeiten, 
die  nicht  geringer  sind,  als  die  in  den  Worten,  bleiben 
bei  dieser  Auskunft  stehen,  nnd  beweisen  ihre  Unznläng* 
lichkeit. 

Es  bleibt  sonach  bei  dem  Dilemma;  und  wenn  wir 
in  demselben  wählen  sollten ,  so  dürften  wir  nns ,  se  weit 
wir  jetzt  in  der  Untersuchung  sind,  in  keinem  Fall  fttr 
die  Erzählung  des  Matthäus  und  gegen  die  des  Lukas 
entscheiden;  sondern,  da  wir  jene  als  mythisch  erkannt 
haben,  so  bliebe  ans  nar  übrig,  mit  neuern  Kritikern  7) 
an  der  Erzählung  des  Lukas  festzuhalten,  und  die  des 
Matthäus  preiszugeben.  Indefs,  ob  nicht  auch  jene  von 
gleicher  Beschaffenheit  mit  dieser  sei,    mitbin  statt  des 


7)  ScHLSiKRMACrtXR ,   über  den  Lufcas,   S.  47.    Schab  ckbäbürgi*, 
a.  a.  O. 


Vierte»  Kapitel,    f.. 38.  Sil 

i 

Entweder,  Oder,  vielmehr  weder  die  eine  noch  die  andere 
sJs  aisterisefc  festgehalten  werden  dürfe?  wird  die  nächst» 
feigende  Untersuchung  lehren. 


t  $.    38. 

Die  Darstellung  Jesu  im  Tempel. 

Die  Kraählung  von  der  Darstellung,  Jesu  in*  Tempel 
(Lac.  2,  12— SS.)  scheint  auf  den  ersten  Anblick  ein  gans 
geschichtliches  Gepräge  eo  fragen..  Ein  doppeltes  Gesetn, 
das  eine  der  Mutter  ein  Reinige  ngsopfer  vorschreibend , 
das  andern  die  Loskaufung  des  erstgeborenen  Sohnes  bei« 
lebend |  fahrt  die  filtern  Jesu  mit  dejn.Hiode  nach  Jero~ 
salem  in  den  Tempel.  Hier  treffen  sie .  einen  frommen , 
aessianiseber  Erwartung  hingegebenen  Mann,  mit  Namen 
Simeon,  nn.  Manche  Erklärer  halten  diesen  Simeon  für 
deoselben  mit  dem  Rabban  Simeon  (Hillels  Sohn  und  IfaelH 
folger  als  Präsident  des  Synedriwns,  Vater  Gamaliels); 
welchen  selbst  einige  mit  dem  Samens-  des  Josephue  ^> 
identiiieiren ,  nnd  auf  seine  angeblich  Dafidiseh*  Abknnfis 
detswegen  Gewicht  legen,  weil  diese  ihn  cum  Verwand* 
teo  Jesu  mache,  nnd  die  folgende  Seen*  natürlich  erklären 
helfe. .  Doch auchohne  diese  Annahme,  welch*  achoq  4uenk 
die,  fttr  einen  so  bekannten  Mann  nn  kahle*  BeaelcbnsMigi 
w&Qwnos  rifo  bei  Lukas,  unwahrscheinlich  *inJ^,  ecfceJnfe 
sich  immerhin  die  Scene,  welche  sich  sofort  nwfrükfen'  den 
Eltern  Jesu  nnd  diesem  Simeon  sntrug.,  .  wie  auch  [die 
Rolle,  welche  die  Prophetin  Hanna  dabei  spielte,  auf  sehr 
natürliche  .  Weise  erklären  su  lassen.    Nickt ,  einmal  das 


1)  Antiq.  14,  9.  4.    15,  i,  i  'und  10,  4. 

2)  Das  Evang.  Nicodemi  freilich  nennt  ihn  c.  16.  o  p(ya<  BJua- 
xah* ,  und  das  P^otev.  Jasobi  c.  24»  macht  ahn  cum  Priester 
oder  gar  xum  Hohenpriester,  s.  die  Varr,,  hei  Thu.0  Cod. 
Apocr.  N.  T.  1,  S.  271.  Tgl.  203. 

Das  Ltbtn  Jesu  tfe  Aufl.  f.  Band  21 


ttt  Erster  Abschnitt 

bracht  man  mit  dem  Verf.  der  natürlichen  Geschieht*  *) 
rorausjEUsetaen  ,  dafs  Simeon  schon  vorher  mm  die  Hoff* 
nang  der  Maria,  den  Messiaa  s*n  gebaren,  gewufst  habe: 
man  denke  «ich  nur  mit  Paulus  u.  A.  die  Sache  so.  Be- 
seelt, wie  Manche  in  Jener  Zeit,  von  der  Erwartung  der 
nahe  bevorstehenden  Ankonft  des  Messias,  bekommt  St- 
meon,  wahrscheinlich  im  Traume,  die  Gewifsheit,  ibn  vor 
seinem  Ende*  noch  sehen  «u  dürfen.  Als  er  daher  eines 
Tags  dem- Drange  nicht  widerstehen  kann,  den  Tempel  eil 
besuchen,  und  nun  eben*  an  diesem  Tage  Maria  ihr  Kind 
dahin  brachte,  dessen  Schönheit  ihn  schon  ansog:  so 
wurde,  als 'sie  ihm  vollends  die  üavidische  Abkunft  des 
Kjndes  eröffnete,' die  Aufmerksamkeit  und  Theilnahme  des 
Mannes  in  einem  Grade  rege,  welcher  die' Maria  bewog, 
ihm  die  Hoffnungen,  welche  auf  diesem  SpröTsling  des  al- 
ten Königshauses  ruhten,  und  die  an fser ordentlichen  Er- 
eignisse, welche  dieselben  veranlagst  hatten,  eu  entdecken. 
Diese  Hoffnungen  ergreift  Simeon  mit  Zuversicht,  und 
Spricht  nun  seine  messianischen  Erwartungen  and  Befürch- 
tungen, kl  de*  Ueberaeugung ,  dafs  sie  an  diesem  Kinde 
i*<  Erfüllung»  gehen  werden ,  in  begeisterter  Rede  aus. 
Noeh  weniger  braucht  man  fttr  die  Hanna,  die  Annahme 
de»  f erfs.  *der  nntffrlictien  Geschichte,  dafs  sie,  als  eine 
jener  bei  der  Entbindung  Maria's  thltfig  gewesenen  f  rauen, 
mit  den  auf  dem  Kinde  ruhenden  Hoffnungen  schon  \or« 
her-  bekannt  gettresen  :  sie  hatte  ja  Simeon«  Reden  gehört, 
und  gleichgestimmt,  wie  sie  war,  gab  sie  denselben  ihren 
Beifall;     r' 

So  efnfab'h  diese  natürliche  Erklärung  scheint :  so  isS 
sie  doch  auch  hier  nicht  minder  gewaltsam,  als  wir  sie 
sonst  gefunden   haben.    Denn  dafs  dem  Simeon,    ehe  er 


3)  f.  ThL'S.  205  ff.  Auch  nach  Horr&mr»  (8.  276 f.')  sollen  die 
Reden-  der  beiden  Alten  sich  nur  au*  ihrer*  Bekanntschaft 
mit  der  Geburtsgeschichte  erklären.       '     •   •*  • 


Viertes  Kapitel,    f.  SS.  *23 

In  seine  begeisterte  Rede  tiob  «rgofs,  Ae  Eltern  Jesa 
etwas  von  ihren  auieerordentliohen  Erwartungen  mitge- 
theilt  hätten,  sagt  der  Evangelist  nicht  nar  nirgend»;  son- 
dern die  Sjrftee  seiner  ganaen  Ersfihlang  besteht  gerade 
«Urin,  dafs  der  fromme  Greis  in  Kraft  des  Ihn  erfüllenden 
Geistes  Jesum  sogleich  als  das  messianisohe  Kind  erbannt 
habe:  and  ebendefswegen  wird  aveh  sein  Verhiltnifs  «na 
vmvfia  ayiov  so  hervorgehoben,  nn  erklärbar  an  nachen, 
wie  er  auch  ohne  vorangegangene  Bfittheiinng  doeh  Jesum 
als  den  ihm  Verheifsenen  aa  erkennen,  und  Begleich  den 
Gang  seines  Schicksals  vorherausagen  vermochte«  Wie 
unser  kanonisches  Evangelium  dasjenige,  was  Jesnnt  dem 
Simeon  kenntlich  machte,  in  den  Simeon  selbst,  aber  als 
Übernatürliches  Princip,  versetat:  so  legt  es  das  Evtvnge- 
hwm  itfcmtiae  arabicum  als  etwas  Ohjeotives  in  die  Ei*, 
aeheinang  Jesa  *);  immer  noch  mehr  im  Geiste  der  ur- 
sprünglichen Ernihlung,  als  die  natürliche  Erklfirungsweise, 
wall  es  doch  das  Wonderbare  an  der  Saehe  festhält.  Ein 
Wnnder  anaonehmen,  ftillt  ans  aber,  anfser  den  allge- 
meinen Gründen  ge^en  die  Zulfifsigkeit  des  Wunders  fiber- 
hanpt,  hier  noch  insbesondere  deswegen  schwer,  weil 
sich  kein  würdiger  Zweck  desselben  erkennen  liftt  Denn 
dafs  dieser  Vorfall  ans  Jesa  Kindheit  mit  ein  Hebel  ge- 
worden wäre,  nn  den  Glauben' an  ihn  als  den  Messias  in 
weiteren  Kreisen  begründen  aa  helfen,  davon  ist  nirgends 
eine  Spar;  wir  müfsten  also  den  Zweck,  wie  es  aoch  der 
Evangelist  wendet  (V.  26.  29.),  nur  in  Simeon  und  Sanna 
suchen,  deren  treuem  Hoffen  dieser  individuelle  Lohn  au 
Tbeil  geworden  wäre,  dafs  ihnen  aur  Erkenntnis  des 
measianlsehen  Kindes  der   Blick  geöffnet  wurde-.-   Allein, 


4)  Cap.  €:  vtditque  iitum  Simeon  jene*  instar  columnat  tnds 
refulgmtem,  tum  Domina  Maria  vtrgo,  «tafer  ejus,  ulnis 
suis  eum  aetfaret,  —  et  ctrcumdakant  eum  angeU  instar 
etrcutt,  eeiebrante$  ittitm  etc.    Bei  Thilo,   S.  71. 

21* 


324  Erster  Abschnitt* 

data  um  solcher  vereinzelter  Zwecke  willen  die  Vorsehung 
Wunder  gesehehen  lasse ,  ist  mit  richtigen  Begriffen  von 
derselben  niobt  so  vereinigen. 

Man  wird  sich  daher  auch  hier  zu  einem  Zweifel  an 
dem  historischen  Charakter  der   Erzählung  veranlagst  fin- 
den;   am  so  mehr,    als  sie  sieh  nach   dem  Bisherigen   am 
lauter  mythische  Erzählungen  anschließt*    Nor  mnfs  mam 
dann  nicht   dabei  stehen  bleiben,   zu   sagen,    die  wahren 
Aasdrücke  Simeons  mögen  wohl  gewesen  sein:  möchte  ich 
doch  so,   wie 'ich  diefs  Kind  hier  trage,   auch  den  neuge- 
borenen Messias  noch  erblicken!   was  dann  ex  eventu  in 
der  Sage  dahin  umgedeutet  worden  sei,    wie  wir  es  jetzt 
bei  Lnkas  lesen  *);  sondern  man  mufs  in  der  Anlage  die- 
ses Theils  der  evangelischen  Geschichte  und  in  dem  Intern 
esse  der  urchristlichen  Sage  die  Veranlassung  nachweisen, 
warum   dergleichen   von  Jesu  in  Umlaof  kam«     Was  nun 
das  Erstere  betrifft ,  so  wird  man  die  Parallele  nicht  ver- 
kennen, welche  zwischen  dieser  Seene  bei  der  Darstellung 
Jesu  im  Tempel,   und  der  bei  der  Beschneidung  des  Tau* 
fers  nach  der  Erzählung  desselben  Evangelisten  stattfindet: 
indem  beidemale,  dort  durch  den  Vater,  hier  durch  einen 
andern  frommen  Mann,   auf  Antrieb  des   heiligen  Geistes 
Gott  fflr  die  Geburt  dieser  Retter  gedankt,   und  ihr  künf- 
tiger Beruf  prophetisch  vorausverkttndigt  wird.     Dafs  diese 
Scene  das  eiaemal  an  die  Beschneidang ,  das  andremal  an 
die  Darstellung  im  Tempel  sich  geknöpft  hat,  scheint-  zu- 
fölligj  >ha.tte  aber  einmal  in   Bezug   auf  Jesum   die   Sage 
seine  Darstellung  im  Tempel  so   verherrlicht:    so  mubte 
din  Besehneidung,   wie  wir  es  oben  gefunden  haben,  leer 
ausgehen.  -*-  Da£s  aber  eine  solche  Erzählung  im  Interesse 


,£)  <8o  E.  F.  in  der  Abhandlung  über  die  beiden  ersten  Hspp. 
/>     des  Matth.  und  Lukas.    In  Hikxb's  Magazin  5.  Bd.  S.  169  f. 
s       Eine  ähnliche  Halbheit  bei  Matthaii,  Synopse  der  vier  Evaa- 
gel.  S.  3.  5  f. 


Vierte«  Kapitel.    $.  38.  3S.V 


der  Sage  leg,   Ut  ebenfalls  leicht  einzusehen.     Wer  gieli 
eilt  Mann  ao  augenscheinlich  ale  Messias  so  erkennen  g*bf 
der  mofs,  dachte  man,  auch  schon  als  Kind  für  ein  durcltf 
den   göttlichen  (»eist  geschärftes  Aoge  als  solcher  an   eiM 
kennen  gewesen  sein;  derjenige,  welcher  in  splterer ^fcst* 
durch  mächtige  Reden  und  Thaten  sich*  als  den  Sehfrttblb 
tes  erwies,  gewKs,  er  hat  auch  schon,   ehe  er ' sftfeflhfce 
und  sich  frei  bewegen  konnte,   den  göttlichen  Stempel' gi£ 
tragen.    Ferner,  wenn  Mensehen,  vom  Geiste  fiüttes'gel* 
trieben,  Jesnm  so  frfihe  schon  liebend  und  ehrftirobCsWH 
in  die  Arme  schlolsen:  dann  war  auch  der  Geist;*  eW»  ÜsW 
beseelte,  nicht,   wie  man  ihm  vorwarf,   ein  ongätfttcher; 
sind  wenn  ein  frommer  Seher  ihm  im  Gefolge  seiner  boheir 
Bestirnmong  sogleich  die  Kämpfe,  welche  er  so  besteÜen 
haben,    und v  seiner  Motter  den  Schmers,    dert  ihr  sesof 
Schicksal  machen  würde*),   voraosgesagt  hatte?  dann  war 
es  gewifs  kein  Ungefähr,  sondern  ein  göttlicher  Pktty  darf 
ihn  anf  dem  Wege  so  seiner  Erhdhong  in  diese  Tief«  der 
Erniedrigung  fthrte. 

Gegen  eine  solche  $  positiv  aas  der  Sache  selbst  and 
negativ  aus  den  Schwierigkeiten  anderer  Auffassungswei- 
sen  sich  ergebende  Ansicht  von  der  verliegenden  Ersah-»; 
lang,  mufs  man  sich  gleicherweise  wundern,  wie  Schumi*- 
sacher  die  Bemerkung  kehren  mag ,  die  ihn  doch  oben  • 
von  einer  ähnlich«*  Auffassung  der  Geburtsgeschichte  des 
Täufers  nicht  abgehalten  hat:  die  Ersählung  sei  zu  uattir- 
lieh ,   am  gedichtet  su   sein  ») ;   als  wie  Nbanobr  dagegen 


ß)  Mit  den  von  Süneon  an  Maria  gerichteten  Worten :  *<ü  oi  St 
Au*5s  rjr  yn,jpr  *«Wsna»  iowia  (V.  35. )  vergl.  die  Worte 
des  mesftianiichen  Unglückspijlms  22,  V.  21 :    fro<u  ano  frfi- 

«pauxg  ripr  yvzqv  /*** 

7)  Sckliimräachm,  über  den  Lukas ,  S.  37.  Vergl.  dagegen  die 
Bemerkungen  oben,  $•  1S9  und  dis  dort,  Anm.19.,  angeführ- 
ten Schriftsteller. 


$M  Erster  Abschnitt. 

aas  überspannten  Vorstellungen  von  den  herrlicheren  Zfl» 
g«n  argumentiren  nag ,  welche  der  Mythos  an  dje  Stelle 
M%e*er  ttrzählung  gesetzt  haben  würde.  Weit  entfernt 
nftmlieh,  meint  Neandkk,  fiör  die  Mutter  Jeaa  eine  Rein*, 
gutfg,  nnd  ftr  ihn  selbst  eine  Losung  vorgenommen  wer- 
den :za  lassen,  würde  der  Mythus  eine  Engelerscheinung 
*4*ir<g0ttli*be  Mahnung  eingeschoben  haben,  durch  welche 
Maria,  oder  die  Priester  von  einer  solchen,  mit  der  Würde 
Jesu ,  streitenden  >  Handlang  abgehalten  worden  frSren  *)• 
Als.  ob  Jiieht  selbst  das  panlinische9  am  wie  viel  mehr  mit« 
bfafcjUl  Jndenchristenthum,  ans  welchem  diese  Krzfihlua~ 
gen  stammen,  die  Anschauung  von  Christo  als  yjbvv^ieyos 
vrm  vAfiW  CGaL  4,  4.)  festgehalten,  und  Jesus  selbst  «ich 
nicht  ebenso  der  Taufe,  and  zwar  gerade  bei  Lukas  ohne 
vorgfingige  Weigerung  des  Johanne*  ,  unterworfen  bfitte» 
Mehr  Gewicht  bat  die  andere  Bemerkung  Schlki&emachbr's, 
weis  diese  Erzählung  gedichtet  hfitte,  der  würde  schwer- 
lieh neben  dem  Simeon  auch  noch  die,  nicht  einmal  dich* 
terisch  benatzte,  Ilanna  aufgestellt  haben,  nnd  noch  du« 
nak  dieser  Genauigkeit  in  ihren  Personalien,  wogegen  die 
Hauptperson  weit  nachläfsiger  bezeichnet  sei.  Allein  ans 
zweier  Zeugen  Mund  die  Würde  des  Kindes  Jesu  band 
werden  zu  lassen,  nnd  namentlich  neben  den  Propheten 
auch  noch  eine  Prophetin  zu  stellen,  das  ist  doch  gewifs 
ganz  die  symmetrische  Gruppirung,.  wie  sie  die  Sage  liebt. 
Die  ausführliche  Personalbezeichnung  mag  von  einer  wirk* 
liehen  Person ,  die  aar  Zeit  des  Ursprungs  unserer,  Erzäh- 
lung noch  im  Rufe  ausgezeichneter  Frömmigkeit  fortlebte, 
genommen  sein;  was  aber  die  Reden  betrifft,  so  ist,  wie 
Simeon  zur  Bewillkominung  im  Tempel,  so  die  Frau  haupt- 
sächlich zur  weiteren  Verbreitung  der  Kunde  benutzt:  wo- 


6)  Wie  oben  das  Poetische ,  so  macht  Nsjndb*  hier  ( S.  24  f. ) 
das  Apokryphisehe  zum  Charakter  des  Mythischen;  Eines  ao 
verkehrt  wie  das  Andere. 


Viertes  KaplteL    $.  J9.  egf 

bei,  weil  dlafs  Mater  der  8mm  vorgeht,  «Ich*  ebeaso 
Ihr»  eigenen  Worte  angefihrt  werden  konnten.  —  Wie 
oben  aas  dem  Blande  der  Bfcriea,  ee  coli  hier  aach£cuLii*a- 
macure  der  Eraagelist  die  Geschichte  anmltteibar  oder  mit* 
feiner  ans  dem  Munde  der  ee  genau  beaehriebenen  Henna 
beben;  NsANnm  stimm*  bei  t  eicht  der  einntge  Schleier- 
tttmiBR'scbe  Strohhalm,  na  welchen  dlaaer  Theologe  4n  der 
kritischen  Bedrangnifs  dleear  Zeiten  sieh  anklammert. 

Aach  hie*,  wo  die  Brnihlnng  dea  Lnkaa  Jesam  enf 
eine  Reibe  von  Jahren  vertatst,  wird,  nie  an  dem  ent* 
sprechenden  Pnnkt  im  Lebe»  dea  Täufers,  eine  Schlafe» 
farmei  über  dea  gesegnete  Aufwachsen  des  Kindes  beige* 
fügt  (V.  4009  welche,  'wie  die  den  Tlnfer  brtreftsade,  an 
die  ähnliche  Formel  in  der  Geschichte  Sisuena  (Rieht  IS, 
14  f.)  erinnert* 

f.    SS. 

Ittkkhlkk.  Diferea*    twiscben  Mttth'Mts  end  Lukas  m  Bettig 
auf  dea  ursprünglichen  Wohnort  der  Eltern  Jesu. 

Es  ist  bis  bisher  die  geschichtliche  Gianbwördlgkeit 
der  evangelischen  Ersfthldngen  Aber  die  Abkunft,  Geburt 
«od  Kindheit  Jesu  aus  dem  doppelten  Gesichtspunkte  in 
Ansprach  genommen  werden,  weil  theiht  die  eiaaeinen  JJr- 
Zahlungen  Manches  enthalten,  was  der  geschichtlichen  Auf» 
fisseaag  widerstrebe;  theils  die  parallelen  Berichte  dea 
Matthäus  and  Lukas  sieh  gegenseitig  aussehliefsen,  so  dafs 
aaatfglieh  beide  Recht  haben  kennen,  sondern  nethwendig 
müsse  Einer  (diefs  aber  könne  der  eine  so  gut  aU  der 
andere,  also  vielleicht  auch  beide  sein)  Unrecht  haben. 
Einer  von  diesen  Widersprochen  der  beiden  Berichte  ge- 
gen einander  ist  es  besonders,  weicher  sich  vom  Anfang 
unserer  Kindheitsgeschichte  bis  su  dem  hier  erreichten 
Abschnitt  hindurehaieht,  auf  den  wir  daher  auch  schon 
früher  gestofsen  sind ,  ohne  data  wir  ans  jedoch  bis  jejtet 
langer  bei  demselben  hätten  verweilen  können,  weil  wir 


Hg  Eitter  Abschafft.    ' 

■ 

erst  jstst,  wo  er  seine  Rolle  ausgespielt  hat,  Materiajlea 
genug  zu  grttadUolier  Wflrdignag  desselben  in  4er  Heod 
haben*  Et  ist  diefs  eine  Abweichung,  welch*  awiscfcea 
Matthias  and  Lukas  in  Betdg  auf  den  anpringUehea 
Wohnort  der  Bitern  Jesu  stettindet. 

Lakas  nämlich  gibt  gletdh .  fön.  Anfang  Nasacst  als 
den  Wohnort  der  Eltemt  Jean  an:  hier  sacht  der  Engel 
die  Maria  anf  (1,  Si);  hier  ist  Marias  oLce?  (1,  «L>  sn 
denken;  von  da  reisen  Jesu  Eltern  nach  Bethlehem  aur 
Schataung  (2,  4.);  kehren  aber,  sobald  es  die-  Oimatändo 
erlauben,  wieder  nach  Nasaret,  als  die  nofag  ttvzwv y  so- 
rfiok  (V.  SO.)*  Bei  Lakas  ist  also  angenscheinHoh  Näsarct 
der  eigentliche  Wohnort  der  Eltern  Jesu,  and  nach  ßetb* 
khem  kommen  sie  nnr  durch  znftillge  Veraniassnng  anf 
knrze  Zeit 

Bei  Matthias  wird  von  vorne  herein  nicht  gesagt , 
wo  Joseph  und  Maria  sich  aufgehalten  haben.  Nach  2,  1« 
ist  Jesus  in  Bethlehem  geboren,  und  indem  von  aofteror- 
dentlichen  Umständen,  welche  Cnach  Lakas)  seine  Eltern 
dahin  gefBhrt  haben  sollen,  nichts  erwähnt  ist,  so  seheint 
es,  Matthäus  setse  dieselben  als  ursprünglich  schon  -an 
Bethlehem  wohnhaft  voraus.  liier  läfst  er  sofort  die  El« 
tern  mit  dem  Kinde  den  Besuch  der  Magier  erhalten,  hier- 
auf sich  nach  Aegypten  flöchten ,  und  von  der  Flacht  sa« 
rfickkehrend  wollen  sie  wieder  nach  Judäa  sich  tuenden, 
wenn  nicht  eine  aufserordentliche  Warnung  sie  in  das 
galiläische  Nasaret  wiese  (2,  22.)*  Darob  diesen  Zug  wird 
der  vorhin  entstandene  Schein  nur  GewUsbeit,  dafs  Mat» 
thäus  nicht  wie  Lukas  Nasaret,  sondern  Bethlehem  als 
ursprünglichen  Wohnort  der  Eltern  Jean  voraussetae,  und 
den  Zug  nach  Nasaret  nur. durch  unvorhergesehene  Dan 
stände  herbeigeführt  sich  denke. 

Dafs  man  Ober  diesen  Widerspruch  gewdhalieh  so 
arglos  hinfibergleitet ,  davon  liegt  der  ttrund  in  dem  Cha- 
rakter der  Ersählung  des  Matthäus,  auf  welchen  ein  nene» 


Viertes  Kapital  <f^39.  Sti 

ftrWfirer  Joga*  die  0*haiiB*mg  gabeat  hat,  dieeer  £***> 
gcKst ,  sage  ober  den  .  pw prflnglf eh«  Aufenthaltsort  de* 
JUtarn  Jesu  nicht  etwas  von  der  ftnesage  das  Lukas  Vor- 
smj^cd****,  sondern,  gar  nichts  au*»  indem. es  ihm  u* 
topeiogische  .wie  chuonelegiscbe  Genauigkeit  gar.njab*  «h 
tbun  aoL  Den  spätere*  Aufejtfhultae/rt  de*  £lte?a  . Jesu 
«ad.^eUe^  Ge^Uort  luche  4sr  w  deswegen  iMufthaft, 
weil  eich,  daran  A,  TMfche  Weissagungen  knüpfen  Helfen: 
eU  de*  Wohnort  dar  Eltern  Jean  »er  seiner  $ehurt  *u 
keinem  ihnjfcheu  Citate  Anlaf*  gegeben,  so  hebe  ihn 
Mattblau  ganfc  yerscbftjegen ;  was  aber,  bei  seiner  Darr 
atellungsart,  keineswegs  besreise»  d*(s  er  von  diesem^ 
Aufenthalte  nichts  gewufst,  oder  .gar  Bethlehem  els^arv 
aprfiugliehen  Wohnort  der  .filtern  Jesu  f  orausgesetat .  h*\^ 
he1)«  Allein,  auch  angegeben 3  da/s^dae  Stillschweigen 
des  Matthias  über  den  früheren  Aufenthalt  ,  van  Jesu^ 
Eltern ,  in  JNasaret  uard  .aber  d^e  besondern  Umstände» 
durch  welche  seine  Gebart  su  Bethlehem  veranlaßt  war, 
noch  nichts  beweise :  se  mfllste  dann  doch  das  spätere  Ver- 
tauscheu  Bethlehems  mit  Naaaret  so  dargestellt  sein,  dafs 
«in  Wink  gegeben  wäre,  oder  nnr  wenigstens  die  Mög- 
lichkeit übrig  bliebe,  den  enteren  Ort  als  Mofa  vorüber* 
gehenden  Aufenthalt,  die  Reise  iq  den  letzteren  aber  afc[ 
Rückreise  in  die  eigentliche  Heimath  an  fassen*  Ein  foL 
eher  Wink  wäre  gegeben,  wenn  Matthias  nach  der  ügyp? 
tischen  Reise  die  Ansiedelung  Josephs  in  Nasaret  dadurch 
begründete,  dafs  er  ihm  durch  die  Trpninerschaiuang  ga« 
gen  liefse:  kehret  jetst  in  das  Land  Israel  aurfiek,  und 
swar  in  euren  ursprünglichen  Wohnort,  Daaaret;  denn  in, 
Bethlehem  habt  Ihr  nichts  mehr  an  schaffen,  da  ja  die 
Weissagung,  dafs  euer  messianisches  Kind  an  diesem  Ortc^ 
geboren  werden  sollte,  bereits  erfüllt  ist«  Doch  weil  es  ja, 
dem  Matthäus  überhaupt  um  Oertlichkeiten  nicht  ssvthiW 


1)  Ousnv»s*f~.bibl.  Csnun.  1,  S.  142 f. 


UO  Erster  Abschnitt,  ' 

■ 

teil  fort,  so  WoÜtfn  wir  MMg  sein  i  und  keinen  •  positiven 
Wink,  sondern  nur  das  Negative  tob  {hm  verlangen,  dal* 
er  HB«  die  Vorstellung,  Biasaret  sei  der  ursprüngliche 
Aufenthalt  der  Kitern  Jesu  gewesen,  niebt  gerade«! 
etfglioh  mache.  Diese  Forderung  wäre  dann  erfüllt, 
die  Reise  der  Eltern  Jesu  aas  Aegrpten  nach  Naearet 
geradezu  gar  tiieht  motivirt,  sondern  matt  gesagt  wftr*, 
Sie  seien  auf  hänfene  Weisung  in  das  Land  Israel  fturftea> 
gekehrt,  und  hallen  sieh  nach  Nasaret  begeben.  Freilieh 
Wäre  es  dann  auffallend  genug),  ofcne  alle  ftevorwertung 
Btätt  des  bisherigen  Bethlehem  auf  einmal  Nazaret  ge- 
nannt zu  finden ;  was  auch  unser' EnElhler  gefühlt,  und 
eben  defcwegen  die  Veranlassung  der  Reise  nach  dem 
letztgenannten  Orte  ausführlich  angegeben  hat  (2,  22.  f.)* 
Statt  nun  aber  diefs  so  au  thun,  wie  er  es  nach  dem  OH* 
gen  thun  mußte,  wenn' er  mit  Lukas  Nasaref  als  den  ur- 
sprünglichen Wohnort  von  Jesu  Eltern  kannte,  thut  er 
es  gerade  *uf  die  entgegengesetzte  Art,  welche  unwtder- 
Sprechlich  beweist,  dafs  seine  Voraussetzung  die  ua^e* 
kehrte  von  der  des  Lukas  war*  Denn  wenn  er  den  aus 
Aegypteti  zurückkehrenden  Joseph  nur  aus  Furcht  vor 
Archelaus  nicht  naoh  Jndäa  gehen  laTst:  so  schreibt  er 
Ihm  fa  eine  Geneigtheit  zu,  sich'  wieder  dahin  an  be- 
geben;  eine  Geneigtheit,  welche  unbegreiflich  bleibt, 
wenn  ihn  nach  Bethlehem  nur  der  Sehatzungtbefehl  ge- 
führt hatte,  und  einzig  unter  der  Voranssetaung  sich  er* 
klärt,  dafs  er  schon  vorher  dort  wohnhaft  gewesen« 
Andrerseits,  indem  Mattnäus  Ar  die  Ansiedelung  in  Na* 
saret  nur  Jene  Gefahr  (  nebst  dem  Zwecke  der  Erfüllung 
einer  Weissagung)  angibt:  so  kann  er  ein  ursprüngliches 
Zuhausesein  In  Nazaret  nicht  voraussetzen;  da  dieses  ja 
ein  für  sloh  entscheidender  Grund  gewesen  wäre,  neben 
welchem  es  Jenes  andern  nicht  bedurft4  liltte* 

Da  hienach  die  Schwierigkeit  einer  Vereinigung  des 
Matthäus  mit  Lukas  in  diesem  Stacke  darauf  beruht,  .dafs 


Vieri**  Kapitel.    %  *0.  ttt 

es  eiefi  nicht  will  denken  lusaAn,  wie  Jesu  Ekaro,  aus 
Aegyptan  awöckhdounejid,  im  Sinne  haben  könnten,  sich 
noch  einmal  nach  Bethlehem  au  begebet,  wenn  diese« 
nicht  ihre  uvepNingliehe  lleimath  war:  eo  haben  aleh  <tte 
Bemühungen  de*  Erkltter  hauptsächlich  auf  den  Pankt 
hinwenden  mfiaeen,  noch  anderweitige  firtede  ausfindig 
an  aiachen  ,  dnwsb  welehe  In  Joseph  nnd  Maate  Jene  Heb 
gnng  veranlagst  «ein  kennte.  <  Solche  Versuche  finden  fleh 
schon  sehr  frohe.  An  Lukas  anknöpfend,  welcher,  se  be- 
stimmt er  Kaaarat  als  den  Wohnort  der  Eltern  Jesu  vor- 
unstete*  9  doch  auch  Bethlehem  dem  Joseph  nicht  gann 
fremd  sein,,  sondern  als  Stammest  mit  ihm  in  Besiehnng 
stehen  Ifilst,  scheint  Justin  der  Märtyrer  Naaaret  nwar 
ah  Wohnort,  Bethlehem  aber  als  Geburtsort  Josephs  vor* 
nnsansotten  *) ,  und  Cseöner  glaubt  in  dieser  Justiniseheu 
Nachricht  die  Quelle  und  die  Ausgleichung  der  abwei- 
chenden Berichte  unserer  beiden  Evangelisten  su  finden8)» 
Allein,  ffir's  Erste,  ausgeglichen  sind  sie  hiedurch  fcoinee* 
wegs.  Denn'  wenn  doch  als  der  Ort,  wo  sich  Joseph 
häuslich  niedergelassen  hatte,  auch  hier  Naaaret  stehe* 
bleibt,  so  aeigt  sieh  immer  kein  Grund  ftr  ihn,  nach  sei* 
ner  Rfiefckebr  von  der  ägyptischen  Flucht  auf  Einmal  aei- 
aen  bisherigen  Wohnort  mit  seinem  Gebortsorte  nu  ver- 
tauschen; Bumal  er  auch  nu  der  früheren  Reise  dahin 
nach  Justin  selbst  nicht  etwa  durch  einen  Plan,  sieh -dort 
anzusiedeln,   sondern  lediglich  durch  die  Schatamng  vet> 


3)  DiaL  C.  Tryph.  78:  ayO^lü&n  (7«*>w)  eno  Ncfr^x,  Ir&a 
fxtiy  elf  Bq&üh/u,  o&9v  ijv,  e7ioyQafao9cu.  Indc88  könnte  man 
das  o&ty  qv  möglicherweise  als  Bezeichnung  des  blossen 
Stammorts  fassen;  rnmal  wenn  man  den  Zusatz  Justins  er- 
wägt:   ano   yaq  rq;  maTouttiotft  rjr  y£r  fefe-yr  tf>vlfr*I*&a  ro  yi- 

3)  Beitrage  sur  Einheit  in  das  N.  T.  l,  S.  217.  Vergl.  Uonr- 
maii«,  S.  238  f.    277  ff. 


3Sf  Ars ter  Abschnitt.   •' 

aniafst  werten  war:  ei*  Anlafs|  weloher  nach  der  Flacht 
jedenfalls  fehlte»  So  steht  eile  Darstellung  Jnstin's  mehr 
auf -der  Seite  de«  Lukas,  und  reicht  nicht  hin,  um  den 
Matthftas  mit  ihn  su  vereinigen.  -  Da£s  aber  die  Justinl~ 
sehe  N  anbricht  auch  die  «Quelle  der  -  beide»  tmsrigeu  sein 
sollt*,  ist  hoch  weniger  so  glauben*  -Denn  wie  aus  der 
Angabe  bei  Justin,  welche  doch  sbhon  Nasaret  als  Wohn- 
ort» und  die  *  Schätzung  ale  Veranlassung  der  Reise 
nach  Bethlehem  hat ,  die  Krafthlong  des  Matthias  ha- 
be entstehen  kSiraen,  welche  von  heidem  nichts  weifs, 
begreift  man  nicht;  und  Oberhaupt,  wo  sich  ektostheile 
awei  divergirende  Belichte,  anderntheils  eine  nngenö- 
gende  Verbindung  denselben  findet,  da  ist  gewifs  nicht 
diese  das  ursprüngliche  und  jene  abgeleitet,  sondern 
umgekehrt:  und  eben-  in  dieser  Reite,  Aasgleichungen 
su  versuchen,  haben  wir  den  Justin  oder  seine  Quellen 
schon  oben,  bei  Gelegenheit  der  Genealogien,  kennen' 
gedornt» 

Ein  nachhaltigerer  Ausgleiehongstersuch  ist  in  dem 
apoJrrjrphischen  Evangelium  de  natMtate  Mariae  gemacht 
worden,  und  hat  anoh  bei  neueren  Theologen  vielen  Bei» 
fall  gefunden.  Nach  diesem  Apokryphem  ist  das  elter- 
liche 'Haue  der  Maria  in  Nasaret ,  und  obwohl  im  Tempel 
so  Jerusalem  ersogen,  und  dort  mit  Joseph  verlobt,  kehrt 
sie  doch,  nachdem  diefs  geschehen ,  zu  :  ihren  Bitern  nach 
Galilfta  sariftefc«  Joseph  hingegen  war  nicht  blofs  gebürtig 
von  Bethlehem,  wie  Justin  sagen  su  wollen  scheint,  son- 
dern er  hatte  auch  sein  Haus  daselbst,  und  holte  die 
Maria  dahin  heim  *)•  Allein  diese  Ausgleichung  ist  nun 
su  sehr  su  Gunsten  des  Matthäus,  gegen  den  {jukas. 
Denn  die  Schätzung  nebst  Zubehör  ist  weggelassen  und 
muftte  weggelassen  werden ,  weil ,  wenn  Joseph  in  Beth- 
lehem su  Hause,   und  nur  um  seine  Braut  heimsuholen 

4)  C.  1.  8    10.  ' 


Vierte*  Kapitel.    J.  39.  333 

»ach  Nazaret  gereist  war, .  sieht  erst  der  Ceusue  ihn 
wieder  dorthin  gerufen  haben  wurde,  sondern  er  wfire 
Dach  wenigen  Tagen  Abwesenheit  von  selbst  tweüokg&> 
kehrt;-  hauptsächlich  aber,  wenn  er  in  Bethlehem  sein 
Heknwesen  (eine  domus  radisponiren)  hatte:  so  braucht* 
er  bei  seiner  Dahin* unft  nieht  ein  xaxakvfja  aufzusacken, 
«m  auch  in  diesen  keinen  Raum  an  finden,  sondern  er 
wfirde  die  Mark  unter  sein  eigenes  Dach  gefthrt  haben. 
Daher  nehmen  neuere  Ausleger,  welefae  die  Auskunft  des 
Apokryphums  sieh  au  Nutae  machen,  aber  aueh  die  Sehn» 
tsung  des  Lukas  nicht  fallen  lasseh  wollen ,  an ,  Joseph 
habe  ewar  froher  in  Bethlehem  gewohnt  und  gearbeitet) 
doch  keine  eigene  Wohnung  daselbst  besessen,  und  aueh 
als  ihn  die  Sehatsung,  ehe  er's  dachte,  dahin  sttrfiokriet\ 
noeh  sieht  f  Ar  eine  solche  gesorgt  gehabt  *).  Allein  nieht 
■nr  nieht  als  Ansässige,  sondern  nicht  einmal  als  Fremde 
die  sich  ansiedeln  wollen,  vielmehr  nur  als  solche,  die 
«ach  möglichst  kurzem  Aufenthalte  wieder  abzureisen  ge- 
denken, erscheinen  nach  Lukas  Jesu  Kitern  in  Bethlehem« 
Setzt  diese  Annahme  die  Eltern  Jesu  als  sehr  arm  voraus: 
so  will  Olsbaüskn  mm  Behuf  der  Ausgleichung  der  vc*. 
liegenden  Differenz  sie  lieber  bereichern,  indem  er  an* 
nimmt,  sie  haben  sowohl  in  Bethlehem  als  in  Nasaret  Be- 
sitzungen gehabt,  hätten  also  an  dem  einen  oder  andern 
Orte  sieh  niederlassen  können :  aber  unbekannte  Umstän- 
de heben  nach  der  Rückkehr  aus  Aegypten  sie  geneigt 
gemacht,  fär  Bethlehem  sieh  au  entscheiden,  bis  die 
himmlische  Warnung  dazwischen  getreten  sei.  Jenen 
▼ob  Olshausbn  unbestimmt  gelassenen  Grund,  der  den 
filtern  Jeau  eine  Niederlassung  in  Bethlehem  wffitscheas» 
werth  machte,  geben  andere  Ausleger,  wie  Heyderäxich  *), 


5)  So  Paulus,  exeg.  Handh.  1,  a,  S.  178« 

6)  Ueber  die  Unzulässigkeit  der  mythischen  Auffassung  u.  s.  t 
i,  S.  101. 


SM  Erster  Abschnitt»  - 

4UM0  sn#  es  habe  ihnen  am  sehiekliohsten  scheinen  mfisaen, 
dafs  de»  ihnen  geschenkte  Davidssobn  in  der  Davidsstadt 
«mögen  werde. 

Hiebet  sollten  sieh  aber  die  Theologen  doch  so  weit 
*n  Nkandbr's  Redlichkeit  spiegeln ,  um  mit  ihm  einenge» 
stehen,  da£»  von  dieser  Absiebt  der  Eltern  Jesn,  sieb  in 
Bethlehem  niedersulassen,  und  von  den  Ursachen,  welche 
sie  bewogen,  diesen  Plan  hernach  aufzugeben,  Lohne 
nichts  weift,  sondern  nur  Matthäus«  Aber  was  weifs  denn; 
Matthäus  fUr  Ursachen  dieser  angebliehen  Aendernng 
des  Planes  ansugeben!  Den  Magier  besuch,  den  Kinder» 
jnord,  Traumgesichte  auf  der  ägyptischen  Flucht:  Ersah« 
langen ,  deren  naehweislioh  unhistorischer  Charakter  sie 
durchaus  ungeeignet  macht,  der  Angabe  einer  Aende- 
rnng des  Wohnsitses  von  Seiten  der  Eltern.  Jesn  rar 
Gewähr  nu  dienen«  Andrerseits,  gesteht  Neamdkk  bo, 
möge  der  Verfasser  des  ersten  Evangeliums  von  der  beson- 
dern Ursache,  durch  welche  dem  Lukas  sufolge  die  Reise 
nah  Bethlehem  herbeigeführt  war,  nichts  gewefst,  und 
daher  Bethlehem  für  den  ursprünglichen  Wohnort  der 
Kitern  Jesn  genommen  haben:  und  dennoch  könne,  ob- 
gleich nicht  in.  dem  Bewufstsein  beider  Schriftsteller  eu- 
aammen  vorhanden,,  in  der  Wirklichkeit  der  Inhalt  beider 
Berichte  ineinandergegriffen  haben  *)•  Allein,  wie  oben, 
wodurch  begründet  denn  nun  Lukas  die  Rebe  nach  Beth- 
lehem? Durch  die  Schatsung;  welche  nach  unserer  fr&V 
beren  Untersuchung  eine  ebenso  morsche  Stfttae  für  diene 
Angabe  ist,  als  der  Kindermord  und  seine  Folgen  für  die 
des  Matthäus.  Auch  hier  demnaoh  geht  es  nicht  an, 
durch  Einräaunungvder  (Jnbekanntscbaft  des  einen  Bericht- 
erstatter« mit  dem,  was  der  andere  berichtet,  die  von  bei- 
den eraählten  Tbatsachen  nu  retten:  da  jeder  nicht  bloCs 
das  Nichtwissen    des  Andern,   sondern    aufserdem  noch 


7)  L.  &  Gh.  9.  33. 


Viertes  Kapitel    fr3&  S9i 

die  Unwebreeiieinlichkeit  seines  ejgemn  Berichtes  gegen 
sieh  hat. 

.Doch  wir  mttoen  dl»  eineeinen  Seilen  and  Bestand- 
theile  der  beiderseitigen  Angeben  erst  noch  genauer  anter* 
seheidem  Da  de«  eben  Bemerkten  anfblge  die  Wohnerts- 
verändemng  der-  Kitern  Jesa  bei  Matthäns  mit  den  um» 
historische*  Denmvde*  bethlehemitischen  Kindermovds  and 
der  Flacht  neeh  Aegypten  so  ansammenhängt,  dafs  ohne 
dieee  jede  Veranlassung  einer  späteren  Verlegung  des  Wohnsi* 
tnes  hinwegfällt:  so  werden  wir  in  diesem  Stücke  auf  die 
Seite  des  Lnkas  treten ,  welcher  die  Eltern  Jesu  nach  tvie, 
vor  dessen  Gebart  en  .demselben  Orte  wohnen  lifit.  De~ 
Ar  hingt  denn  eher  bei  Lukvs  die  Angabe,  Jeans  sei  an 
einem  endern  Orte  geboren  als  wo,  seine  Eltern  wohnhaft 
waren,  mit  einem  eben  so  wenig  historischen  Datum,  näm- 
lich der  Schätzung,  Basammen,  und  mit  dieser  fällt  jeder 
Aniafs  für  die  Eltern  Jesu  weg,  bei  herannahender  Ent- 
bindung der  Maria  eine  so  weite  Reise  an  unternehmen: 
so  dafs  wir  in  diesem  Stücke  aas  auf  die  Seite  des  Mat« 
tkäus  neigen  werden,  wenn  er  Jesus  nicht  auswärts,  son» 
dem  an  dem  Wohnorte  seiner  Eltern  geboren  sein  läfat* 
Doch  nur  diefe  FormeHe  und  Negative  haben  wir  bis  jetet, 
dafe  die' Angaben  der  Evangelisten  unverbürgt  sind,  nach 
welche*  Jesu  Eltern  an  einem  andern  Orte  früher  gewohnt 
haben  sollen  als  später,  and  Jesus  anderswo  geboren  wäre, 
als  wo  seine  Eltern  wohnten:  über  das  Positive  und  Mar 
Serielle,  weiches  dehn  dieser  Ort  gewesen,  ist  die  Unter» 
smshung'erafr  anzustellen. 

In  dieeer  Hinsieht  werden  wir  nnn  in  entgegengeseta» 
ter  Riehtang  anseinandergenogen ,  indem  wir  als  Geborte« 
ort  Jesn,  wo  wir  neeh  unserem  eben  gewonnenen  Ergeh» 
nifa  keinen  Grand  haben,  seine  Eltern  nioht  auch  wohn«» 
halt  an  denken,  in  beiden  Evangelien  Bethlehem  angegeben 
finden ;  als  späteren  Wohnort  dagegen ,  welchen  nach  dem 

en  nor  eine   unverbürgte  Angabe  uns  verbieten  will 


tU  Rrslrer  ^bschnltf.    ' 

aneh  als  de*  UYspHtt^Jtibett  and  soinjt  aW  Geburtsort  Jesu 
ansusehen,  gleichfalls  in  beiden  Nasaret.    Dieser  Wider* 
sprach  ist  unauflöslich,   wenn   beide  Richtungen  wirklich 
gleich  stark  aneiehenj;   er  itist  sich  eher,    sobald  auf  der 
einen  Seite  das  Band  reifst,  und  ans  der  andern  Richtung 
ungehindert  folgen  iifst    Prüfen:  wir  suerst  das '  Band, 
weicht*  uns  an  die  Annahme  Ab9  gaUfäisehen.  Nasaret  als 
des  späteren  Wohnaitses  der  Eitern  Jesu  kuipft,  se  he* 
steht  es  nicht  allein  in  der  trockenen  Angabe  der  vorlie- 
genden Stellen  im  sweiten  Kapitel  des  Matthäus  und  Lukas, 
dafs  die  Eitern  Jesu  nach  -  dessen  Geburt  sieh  in  Nasaret 
aufgehalten:  sondern  in  einer1  fortlaufenden  Reihe  von  Da« 
ten   aus   der   evangelischen  «und   der  Ältesten  Kirchenge« 
schichte. '  Der  GalUäer,  der  Nasarener,  war  der  stehende 
Beiname  Jesu :  als  Jesus  von  Nasaret  stellte  ihn  Pfailippus 
dem  Nathanael  vor,    welcher  ihm  die  Frage  suräehgabr 
was  kann  aus  Nasaret  Gutes  kommen?    (Job*  1,   46  f.) 
Nasaret  wird  nicht  biofs  als  der  Out,   h  tp  Te&Qaptdvog 
(Luc.  4,  16  >,  sondern  geradesu  auch*  als  seme  ^or^  he* 
neichnet  (Matth.  13,  64.   Marc.  6,  1.);   ak  Jeans  der  Na- 
säretaner  wird  er  von  den  Leuten  kenntikh  gemacht  (Lue» 
18,  37.)  und  von  den  Dämonen  angerufen   (Marc;  1«  M-); 
noch  am  Kreuse  beseiohnet  ihn  die  *  Uebentohrift  als  Nasa* 
reifer  <  (Jon.  19,  19.) ,  *  und  nach  seiner  Auferstehung  ver- 
kündigen die  Apostel  allenthalben  Jesum  voa  Nasaret  CA*  6* 
%  12J)  und   thun  in   seinem  Namen   als  des   Nasareuers 
Wunder  (A.  G.  3, 6.)«   Auch  seine  Anhänger  wurden  noch 
längere  Zeit  Nasarener  genannt,  und. erat  in  späteren  Zct» 
ten  ging  diefter  Name  auf  eine  ketserieahe  Sehte  über  8). 
Diese  Benennung  seist,  we*u<4ueh  nicht  diefr,  dafs  Jesus 
von  Nasnret  gebti  rtigt  ist*,  so  doch  einen  längeren  Aufent» 
halt  desselben  an  dem  gedachten  Orte  voraus ;  ein  Aufent- 
halt, weicher,  da  eich  Jesus*  glaubwürdigen  Nachrichten 


»  * 

*  8)  TcrtuB.  tdV.^llllrciön.  4,  8.    Epipban.  hacr.  29, 'f. 


«»folge  (Luc.  4,  16  f.  und  die  Parall.),  wahrend  seines 
öffentlichen  Lebens  nur  vorabergehend  daselbst  verweilt 
hat,  einzig  in  »eini>t  frühere  Lebensperiode  fallen  kann, 
welche  er  im  Schoofse  seiner  Familie  verlebte.  Diese  also, 
und  namentlich  seine  Eltern,  müssen  während  der  Kind- 
heit Jesu  in  Nazaret  gewohnt  haben,  nnd  wenn  einmal, 
dann  ohne  Zweifel  von  jeher,  da  wir  keinen  geschichtli- 
chen Grund  haben,  eine  Wohnor tsver ändern ng  anzuneh- 
men: so  dafs  dieser  eine  der  beiden  widersprechenden 
Sätze  alle  die  Festigkeit  hat,  die  man  von  Thatsachen  aus 
■o  alter  nnd  dunkler  Zeit  erwarten  kann.' 

Anch  der  andere  Safts  jedoch,  dafs  Jesus  In  Bethle- 
hem geboren  sei,  ruht  keineswegs  nnr  anf  der  Angabe  un- 
serer ersten  Kapitel,  sondern  zugleich  anf  der  durch  eine 
Prophetenstelle  veranlagten  Erwartung,  dafs  der  Mes- 
siaa in  Bethlehem  werde  geboren  werden  (vergl.  mit 
Matth.  2,  5  f.  Joh.  7,  42.)-  Aber  eben  diefs  Ist  eine  ge- 
fährliche Stütze,  und  derjenige  sollte  sie  gerne  missen, 
welcher  Jesu  Gebart  in  Bethlehem  als  historisch  festhalten 
will.  Denn  wo  der  Nachricht  von  einem  Erfolge  eine 
lange  Erwartung  desselben  vorangeht,  da  mnfs  schon  ein 
starker  Verdacht  entstehen,  ob  nicht  die  Firzlhlong,  dafs 
das  Erwartete  eingetroffen  sei,  nur  der  Voraussetzung, 
dafs  es  habe  eintreffen  mässen,  Ihre  Entstehung  verdanken 
möge.  Zumal  wenn  jene  Erwartung  nngegrnndet  war; 
wie-  hier  der  Erfolg  eine  falsche  Auslegung  eines  prophe- 
tischen Orakels  bestätigt  haben  mdfste.  Also  diese  pro- 
phetische Grundlage  der  Geburt  Jesu  in  Bethlehem  be- 
nimmt der  historischen,  welche  In  der  Erzählung  von 
Matth.  and  Lac  2.  liegt,  Ihre  Kraft,  indem  die  letztere  nur 
auf  die  erstare  gebaut  erseheint,  und  folglich  mit  ihr  hinfällt. 
Außer  diesen  aber  sacht  man  einen  anderweitigen  Beleg 
für  jene  Annahme  vergeblich.  Nirgends  sonst  im  N.  T. 
wird  Jesu  bethlehemitischer  Geburt  erwähnt;  nirgends 
tritt  er  mit  diesem  seinem  angeblichen  Geburtsort  in  irgend 
DaiLe&mJem  Ut Aufl.  I.Bund.  ,  32 


33S 


Erster  Abschnitt. 


'ein*  Begleitung,  oder  erweist  ihm  die  Ehre  eines  Besuchs, 
die  er  doch  dem  unwürdigen  Nasaret  nicht  versagt;  nir- 
gends beruft  er  sich  auf  jene  Thatsache  als  einen  Mitbe- 
weis seiner  Messianität,  unerachtet  er  daen  die  bestimm* 
teste  Veranlassung  hatte,  da  sich  Manche  an  seiner  gali- 
läischen  Abkunft  stiefsen,  und  sich  darauf  beriefen,  dafs 
der  Messias  aas  der  Daridsstadt  Bethlehem  kommen 
müsse  (Joh.  7,  42.)  9,.  Zwar  sagt  hier  Johannes  nicht, 
dafs  diese  Bedenklichkeiten  in  Gegenwart  Jdsu  geäussert 
worden  seien  **);  aber  wie  er  unmittelbar  vorher  (V.  39.) 
eine  Rede  Jesu  mit  der  eigenen  Bemerkung  begleitet  hat, 
es  habe  damals  noch  kein  mtvfi*  ayiov  gegeben :  so  würde 
auch  hier  die  Erläuterung  an  der  Stelle  gewesen  ""  sein, 
das  Volk  habe  nämlich  noch  nicht  gewufst,  dafs  Jesus  von 
Bethlehem  gebürtig  gewesen.  Alan  wird  eine  solche  Notis 
für  einen  Johannes  zu  äufserlich  und  unbedeutend  finden; 
allein  so  viel  ist  gewifs:  wenn  er  mehrmals  von  der 
Meinung  der  Leute,  dafs  Jesus  ein  geborener  Masavener 
sei,  und  ihrem  Anstofs  daran  su  erzählen  hatte,  so  mußte 
er,  wenn  er  es  anders  wufote,  eine  berichtigende  Bemer- 
kung hinsufügen,  oder  er  erregte  den  falschen  Schein, 
als  stimme  auch  er  jener  Meinung  bei.  Nun  aber  findet 
sich  nicht  blofs  an  jener  Stelle,  sondern  auch  Joh.  1,  46  ff. 
ein  solcher  Anstofs,  welchen  hier,  wie  schon  oben  erwähnt, 
Mathanael  an  der  nazaretanischen  Abkunft  Jesu  nimmt, 
ohne  dafs  diese  Meinung  unmittelbar  oder  mittelbar  be- 
richtigt würde;  denn  nirgends  erfahrt  er  nachher,  dafs 
dieser  Gute  wirklich  nicht  aus  Nazaret  gewesen,  sondern 
erimufs  lernen,  dafs  auch  aus  Nasaret  etwas  Gutes  kom~ 
men  könne.    Ueberhaupt,   wäre  Jesus,    wenn   auch  noch 


9)  Vgl.  K.Cb,.  L.  Schmidt  in  Schmidt**  Bibliothek,  5, i,S.  123  f.; 

Kjuskr,  bibl.  Theol.  l,  S.  250. 
1(V)  Worauf  »ich  t.  B.  Hbyi)b*rkich  beruft ,    übor  die   Unzuläs- 

sigkeit  u.  s.  f,  i,  $..  99.  *  . 


*  Vierte«  Kapitel,    $•  39.  339 

so  suftllig,  in  Bethlehm  geboren  gewesen:  so  wäre  es, 
bei  der  Bedeutung,  welche  diefs  für  den  Glauben  an  seine 
Messianität  gehabt  hätte,  nicht  su  begreifen,  wie  ihn  auch 
die  Seinigen  immer  nur  den  Nasarener  nennen  konnten, 
ohne  diesem,  von  den  Gegnern  mit  polemischem  Acoent 
ausgesprochenen  Beinamen  den  apologetischen  Ehrennamen 
des  BethlehemUen  entgegensustellen.  —  Ist  die  Angabe 
Ton  Jesu  Geburt  in  Bethlehem  auf  diese  Weise  von  allen 
gültigen  historischen  Zengnissen  verlassen;  ja  hat  sie  be- 
stimmte geschichtliche  Thatsachen  gegen  sich,  und  läfst 
sie  sich  namentlich -mit  dem,  was  uns  nun  feststeht,  dafs 
die  Eltern  Jesu  später,  und,  wie  wir  nicht  anders  wissen, 
auch  von  jeher,  in  Na  rare  t  gewohnt  haben ,  und  dafs  Je- 
sus, sofern  uns  keine  glaubwürdige  Nachricht  vom  Gegen- 
theil  versichert,  an  keinem,  von  dem  Wohusitse  seiner 
Eltern  verschiedenen  Orte  geboren  sei,  nicht  vereinigen: 
so. kann  es  uns  keine  Ueberwindueg  mehr  kosten,  uns  da« 
hin  su  entscheiden,  dats  Jesus  nicht  in  Bethlehem,  sondern, 
da  wir  keine  andere  sichere  Spur  haben,  am  wahrschein- 
lichsten in  Nasaret  geboren  «ei. 

Demnach  würde  sich  in  diesem  Punkte  das  Verhält- 
nifs  der  beiden  Evangelisten  folgen^ermafsen  stellen. 
Was  das  Formelle  betrifft,  hätte  jeder  zur  Hälfte  Recht 
und  zur  Hälfte  Unrecht:  Lukas  Recht  in  der  Behauptung 
der  Identität  des  früheren  Wohnortes  der  Eltern  Jesu  mit 
dem  späteren,  und  hierin  hätte  Matthäus  Unrecht;  Mat- 
thäus Recht  in  der  Festhaltang  der  Identität  des  Geburts- 
ortes Jesu  mit  dem  Wohnorte  seiner  Eltern,  und  hierin 
wäre  der  Irrthum  auf  Seiten  des  Lukas.  In  Hinsicht  auf 
das  Materielle  aber  hat  Lukas  darin  das  völlig  Richtige, 
dafs  er  vor  wie  nach  der  Geburt  Jesu  dessen  Eltern  in 
Nasaret  wohnen  läfst,  wo  Matthäus  nur  die  halbe  Wahr- 
heit hat,  dafr  sie  nämlich  nach  Jesu  Geburt  daselbst  an* 
eässig  gewesen;  in  der  Angabe  aber,  dafs  Jesus  in  Beth- 
lehem geboren  worden,   haben  beide  entschieden  Unrecht. 


340  Erster  Abschnitt. 

Woher  nun  alles  Falsche   hei  beiden  kommt,   da»  ist  die 
jüdische  Meinung,  der  sie  nachgaben,   der  Messias  müsse 
zu   Bethlehem   geboren   sein;   woher  aber  alles   Richtige, 
das  ist  die  Thatsache,   welche  sie  Vorfanden,   da&  Jesus 
immer  als  Nazaretaner  gegolten  hat;    woher  endlieh    das 
verschiedene  Verhältnifs  des  Wahren  und  Falschen  in  bei- 
den, und  das  Uebergewicht  des  letzteren  bei  Matthäus,  dra 
ist  die  verschiedene  Weise,    wie  sich  beide  eu  jenen  Prä- 
missen verhielten.      Galt  es  nlmlich  eine  Vereinigung  der 
beideft   Punkte:    des   historischen   Datums,   dafs  Jesus  als 
Nazaretaner  bekannt  war ,  und   des  prophetischen  Paste» 
lats ,   dafs   er ,   als  Messias ,   zu  Bethlehem   geboren   sein 
müsse:  so  vollzog  Matthäus,    oder  die  Sage,   welcher  er 
folgte,  nach  der  vorwiegenden  Richtung  dieses  Evangelium« 
auf  prophetischen  Pragmatismus,  die  Vereinigung  so,  dafs 
das  Uebergewicht  auf  das  vom  Propheten  an  die  Hand  ge- 
gebene Bethlehem  gelegt,    dieses  schon  als  die  ursprüng- 
liche Heimath   der  filtern  Jesu  angenommen,   und  Naza- 
ret  als  der,  nur  durch  eine  spätere  Wendung  der  Dinge 
herbeigeführte  Zufluchtsort   dargestellt   wurde;    wogegen 
der  mehr  historisoh  -  pragmatische  Lukas  diejenige  Gestal- 
tung der  Sage  aufnahm  oder  selbst  bildete,  nach  welcher 
auf  das  von   der  Geschichte  an  die  Hand  gegebene  Naza- 
ret  der  Hanptnachdruck  gelegt,   es  als  der  ursprüngliche 
Wohnort  der  Eltern  Jesu  gefafst,  und  der  Aufenthalt  in 
Bethlehem  nur  als  ein  in  Folge  eines  zufälligen  Ereignis- 
ses zwischeneingetretener  betrachtet  wurde. 

Bei  diesem  Stande  der  Sache  wird  es  wohl  Niemand 
vorziehen  wollen,  weder  mit  Schleiermacher'11)  die  Frage 
über    das  Verhältnifs   der   beiden  Berichte  zum   Thatbe- 


11)    UiJber   den  Lukas,   S.  49.     Ein   ähnliches  Schwanken  bei 
Ttisif.it,  zur  Biographie  Jesu,  §.  15. 


Vierte«  Kapitel.    §.  39.  541 

stand  unentschieden  na  lassen,  noch  mit  Sikpfbrt  lt)  einsei- 
tig för  den  Lukas  sich  na  entscheiden  '*)• 


12)  Ueber  den  Ursprung  u.  s.  w.,  S.  68  f.  u.  S.  138. 

13)  VergL  Ajuaon,  Fortbildung,  1,  S.  194  ff.;  d*  Witts,  exegct. 
Handb.,  1,  2,  S.  24  f.  $  George,  S.  84  ff.  —  Diese  Erscheinung, 
da**  von  einer  Autgabe  verschiedene  Erzähler  verschiedene 
Lösungen  versuchen,  und. diese  hernach,  oft  sogar  in  Einem 
Boche,  zusammengestellt  werden,  lasst  sich  durch  eine  Masse 
A.  T.  lieber  Beispiele  belegen.  So  gibt  die  Genesis  von  dem 
Namen  des  Isaak  eine  dreifache  Ableitung  (wie  oben,  S.  106) 
bemerkt  worden  ist);  von  dem  des  Jakob  eine  doppelte  (25, 
26.  27,  16) ;  ebenso  von  den  Namen  Edom  (25,  25.  25,  30)  und 
Bersafra  (21,  31.  26,  33).  Vergl.  ds  Witts  ,  Kritik  der  mos. 
Gesch.,  8.  110.  118  ff.,  und  meine  Streitschriften,  1,  1, 
S.  83  ff.    ' 


Fünftes    Kapitel. 

r 

Der    erste    Tempelbesuch    und    die 

Bildung   Jesu. 


5.    40. 

Der  zwölfjährige  Jesus  im  Tempel. 

Heber  die  ganze  Periode  von  der  Rückkehr  der  El- 
tern Jesu  mit  ihrem  Kinde  aus  Aegypten  bis  zu  der  Taufe 
Jesu  durch  Johannes  geht  das  Matthäus  «Evangelium  still- 
schweigend hinweg,  und  auch  Lukas  weif»  uns  aus  der 
langen  Zeit  von  der  ersten  Kindheit  Jesu  bis  zu  seinem 
Mannesalter  nur  Einen  Vorfall  noch  zu  berichten :  die  Art 
und  Weise  nämlich,  wie  er  fm  zwölften  Lebensjahre  im 
Tempel  zu  Jerusalem  auftrat  (2,  41—  52.).  Diese  Erzäh- 
lung aus  der  beginnenden  Jugend  Jesu  unterscheidet  sich 
von  den  bisher  betrachteten  aus  seiner  Kindheit  nach  der 
richtigen  Beobachtung  von  Hess1)  dadurch,  dafs  sich  in 
derselben  Jesus  nicht  mehr,  wie  in  jenen,  blofs  leidend 
verhält,  sondern  eine  thätige  Probe  von  seiner  hohen  Be- 
stimmung ablegt;  und  zwar  bat  man  dieselbe  von  jeher 
als  eine  solche  besonders  geschätzt,  die  uns  den  Moment 
zeige,  in  welchem  das  höhere  Bewufstsein  in  Jesu  hervor- 
getreten sei  2). 

Im  zwölften  Jahre,  wo  nach  jüdischer  Sitte  der  Knabe 


1)  Geschichte  Jesu,  1,  S.  HO. 

2)  Olsiuvskiv,  bibl.  Gomm,  1,  S,  145  f. 


Fünftes  Kapitel.    $.  40.  343 

cum  setbststandigen  Antheil  an  den  heiligen  Gebräuchen 
gelangte,  nahmen  dieser  Erzählung  zufolge  die  Eltern,  wie 
es  scheint  can  orstenmale,  Jesum  cum  Paschafeste  nach 
Jerusalem  mit.  Nach  Ablauf  der  Festzeit  traten  die, Kl* 
fern  den  Rückweg  an;  dafs  der  Sohn  ihnen  fehlte,  bot 
kümmerte  sie  zunächst  nicht,  weil  sie  ihn  irgendwo  bei 
der  Reisegeseilschaft  vermutheten.  Erst  nachdem  sie  eine 
Tagreise  ohne  ihn  zurückgelegt,  und  ihn  bei  Verwandten 
und  Bekannten  vergeblieh  gesucht,  kehren  sie  nach  Jeru« 
salem  zurück,  um  dort  dach  ihm  an  sehen.  —  Dieses  Be- 
nehmen der  Kitern  Jesu  kann  befremden.  Es  kann  mit 
der  Sorgfalt,  die  man  von  denselben  voraussetzen  zu  dar» 
fen  glaubt,  unvereinbar  scheinen,  dafs  sie  das  ihnen  an- 
vertraute HimmeJskind  so  lange  aus  den  Augen  gelassen 
haben  sollen,  und  man  hat  ihnen  daher  von  manchen  Sei- 
ten in  Besug  hierauf  geradesu  Naehläfsigkeit  und  PfKcht- 
versfiumnifs  vorgeworfen  *).  Aliein  dafs  einen  zwölfj&hri« 
gen  Knaben  —  d.  i.  im  Orient  so  viel  als  bei  uns  ein  13« 
fahriger  —  von  der  Gediegenheit  des  Charakters,  wie  sie 
Jesus  schon  damals  gezeigt  haben  mufs :  dafs  einen  solchen 
seine  Eltern  nicht  immer  ängstlich  unter  ihren  Augen  hiel- 
ten, mufs  wohl  sehr  natürlich  und  billig  gefunden  wer- 
den *).  War  er  aber  einmal,  als  der  Augenblick  der  Ab- 
reise herankam,  nicht  bei  ihnen :  so  wäre  es  zweckwidrig 
gewesen ,  ihn  in  der  Verwirrung  der  überfüllten  Haupt- 
stadt beharrlich  zu  suchen,  und  indefs  die  Landsleute  nach 
Hause  reisen  su  lassen ;  es  war  vielmehr  ganz  das  Rechte, 
was  die  Eltern  Jesu  ergriffen:  nach  einigem  Warten  der 
galiläischen  Karawane  nachzureisen,  bei  welcher  sie  allen 
Grund  hatten,  den  Sohn  zu  vermuthen  ,  da  sich  aiyyeyeic; 
xui  yrtogdi  in  derselben  befanden  fi). 

3)  Derselbe  a.  a.  O.  S.  146. 

4)  Hase,  Leben  Jesu,  §.  37 ;   Heydikrkicii,  über  die  Unsulassig- 
keit  u.  s.  f.,  1,  S.   103;  Täoluck,  Glaubwürdigkeit,  S,  216  f. 

5)  S.  die  Ausführung  von  Tholuck,  a,  a.  O.  S.  214  ff. 


t 


i  • 


* 


344  Erster  Abschnitt. 

Nach  Jerusalem  umgekehrt,  finden  sie  am  dritten 
Tage  den  Sohn  im  Tempel;  ohne  Zweifel  in  einer  der 
gufseren  Hallen,  unter  einem  consessus  von  Lehrern,  in 
einer  Unterredung  mit  ihnen  begriffen,  und  .als  Gegenstand 
allgemeiner  Bewunderung  (V.  45  f.)*  Hier  könnte  es  nach 
einigen  Spuren  scheinen,  als  wäre  Jesu  den  Lehrern  ge- 
genftber  ein  höheres  Verhältnis  gegeben,  als  es  einem 
swölfjährigen  Knaben  ankommen  konnte.  Schon  das  xa- 
&£±6{tevov  (V.  46.)  bat  Anstofs  erregt;  da  nach  jfidiscben 
Nachrichten  erst  nach  dem  weit  späteren  Tode  des  Rab- 
ban  Gamaliel  die  Sitte  aufgekommen  ist,  dafs  die  Rabbi- 
nenschäler  safsen,  während  sie  bis  dahin  in  der  Schule 
hatten  stehen  müssen  6) :  allein  diese  jüdische  Ueberliefe- 
rung  ist  aweifelhaft 7).  Auch  das  hat  man  anstöfgig  ge- 
funden, dafs  Jesus  sich  nicht  blofs  receptiv  als  dxscw,  son- 
dern anch  activ  als  insQonwv  au  den  Lehrern  verhalte, 
und  so  gleichsam  als  ihren  Lehrer  au  benehmen  scheine* 
So  fassen  es  freilich  die  apokryphisehen  Evangelien,  nach 
welchen  Jesus  schon  vor  seinem  zwölften  Jahre  alle  Leh- 
rer durch  seine  Fragen  verlegen  macht,  und  seinem  Infor- 
mator im  Alphabet  die  mystische  Bedeutung  desselben  auf« 
schliefst;  bei  jenem  Tempelbesnch  aber  Streitfragen  wie 
die  über  den  Messias  als  augleioh  Davids  Sohn  und  Herrn 
(Matth.  22,  41  f.)  auf  die  Bahn  bringt,  und  sofort  gleichsam 
in  allen  Facultäten  Unterricht  ertheilt8).  Wäre  freilich 
das  eQwr^v  und  anoxQivso&ai  von  einem  solchen  belehren- 
den Verhältnisse  au  verstehen:  so  mausten  wir  eines  so 
unnatürlichen  Zuges  wegen  9)  die  evangelische  Ersählung 
nach  dieser  Seite  verdächtig  finden.    Allein  au  einer  sol- 


6)  Megillah  f.  21,  bei  Lightfoot  z.  <L  St. 

7)  s.  bei  Küin'öl,  in  Luc.  p.  553. 

8)  Evangel.  Thomae  c.  6 ff.    Bei  Thilo,   S.  288 ff.  und  Evangel, 
Infant,  arab.  c.  48  ff.  p.  123  ff.  bei  Thilo. 

9)  Dafür  erkennt  diese  Vorstellung  auch  Olshaussk  an. 


Fünfte*  Kapitel.    §.40.  *45 

ehen  Auffassung  der  Worte  nöthigt  uns  nichts;  da  Dach 
jadischer  Sitte  der  rabbinisohe  Unterricht  von  der  Art 
war,  dafs  nicht  bJofs  die  Lehrer  den  Schillern,  sondern 
auch  diese  den  Lehrern  Fragen  vorlegten,  wenn  sie  Ober 
etwas  Auf schlafs  wünschten  *•).  So  dürfen  wir  daher 
noch  hier  an  solche,  einem  Knaben  geziemende  Fragen*  am 
so  wahrscheinlicher  denken ,  als  unser  Text ,  nicht  ohne 
Absieht,  wie  es  scheint,  die  Verwunderung  der  Lehrer 
nicht  an  die  Fragen,  sondern  an  die  anoxQiaEtg  Jesu  knCpft, 
also  an  dasjenige,  worin  sich  Jesns  an  meisten  als  verstän- 
digen Schaler  zeigen  konnte.  Indefs,  auch  die  Fragen  be- 
treffend, bemerkt  Tholück  mit  Recht,  es  wäre  diefo  nicht 
das  einsige  Beispiel,  dafs  ein  ewölf-,  beziehungsweise 
fünfzehn -jähriger  genialer  Schaler  seinem  Lehrer  etwas 
au  rathen  aufgegeben  hätte ,  und  bei  der  Verschrobenheit 
und  dem  Aberwitne  mancher  rabbiniscben  Vorstellungen 
lasse  sich ,  woraof  auch  Hsss  aufmerksam  macht ,  um  so 
leichter  denken,  dafs  der  gesunde  Wahrheitssinu  des  Kna- 
ben durch  unbefangenes  Fragen  und  Erklärungfordern  die 
Lehrer  in  verlegenes  Erstaunen  versetzen  konnte.  —  Be- 
denklicher könnte  der  Ausdruck  scheinen,  dafs  der  Knabe 
Jesus  iv  ftia<p  %<av  didccüxaXajv  gesessen  habe.  Denn  was 
einem  Schaler  siemte,  das  sagt  uns  Paulus  A.  G.  22,  S., 
nämlich  sich  su  bilden  TtccQa  rag  nodag  der  Rabbinen ,  in* 
dem  diese  auf  Kathedern,  die  Schaler  aber  auf  dem  Boden 
safsen11);  nicht  aber,  mitten  unter  den  Lehrern  Platz  zu 
nehmen.  Freilich  glaubt  man  das  iv  /tteay  bald  so  erklä- 
ren zu  können,  dafs  es  nur  ein  Sitzen  zwischen  den.  Leh- 
rern bedeute,  indem  mehrere  Lehrer  auf  ihren  Snggesten, 
and  zwischen  diesen  Jesus  mit  andern  Schülern  auf  der 


10)  t.  die  Belege  (z.  B.  Hierot.  Taanith  67,  4.)  bei  Wststkis 
und.Li«nTrooT  z.  d,  St. 

11)  LifrirrropT,  horae,  S.  742. 


•*.*»■ 


346  Erster  Abschnitt 

Erde  sitzend  vorgestellt  werde  ,2) ;  bald  toll  es  überhaupt 
nur  in  Gesellschaft  von  Lehrern,  d.  h.'iii  der  Synagoge, 
bedeuten  15):  allein  dem  Wortsinne  nach  scheint  doch 
xa&eZeafrai  iv  fdaq*  %tvviv^  wenn  auch  nicht,  wie  Schott- 
gkn  in  majorem  Jesu  gloriam  glaubt  **),  einen  Ehrenplatz, 
so  doch  ein  Sitzen  in  gleichem  Verhältnils  mit  Anderen 
zu  bezeichnen 15).  Mag  man  es  nun  aber  mit  Tholugk 
wahrscheinlich  finden,  oder  nicht,  dab  die  jüdischen  Leb- 
rer  den  ausgezeichneten  Knaben  neben  sich  haben  sitzen 
heifsen:  im  schlimmsten  Falle  hätte  man  hier  einen  tot* 
herrlichenden  Ausdruck  des  Berichterstatters,  der  gegen 
YÜe  wesentliche  Wahrheit  seines  Berichtes  nichts  beweisen 
könnte. 

Es  läfst  hierauf  die  Erzählung  die  vorwurfsvolle  Frage 
der  Mutter  Jesu  an  den  wiedergefundenen  Sohn  iblgen, 
warum  er  den  Eitern  das  Herzeleid  dieses  kummervollen 
Suohens  nicht  erspart  habe  *  worauf  er  die  Antwort  gibt, 
welche  eigentlich  die  Spitze  der  ganzen  Geschichte  bildet: 
ob  sie  nicht  hätten  wissen  können,  dafs  er  nirgends  an- 
ders, als  im  Hanse  seines  Vaters,  im  Tempel,  zu  suchen 
•ei?  (V.  48  f.)  Diese  Bezeichnung  Gottes  als  t«  narqoq 
könnte  man  unbestimmt  davon  nehmen  wollen',  dafs  er 
dadurch  Gott  als  den  Vater  aller  Menschen,  und  nur  so 
auch  als  den  seinigen,  darstellen  wolle.  Allein,  es  nur  so 
zu  verstehen,  wird  nicht  allein  durch  das  hinzugesetzte 
jus  widerratben,  da  bei  jenem  Sinne  (wie  Matth.  0,9.) 
eher  r^oh  zu  erwarten  wäre:  sondern  hauptsächlich  da- 
durch, dafs  Jesu  Eltern  diese  Rede  nicht  verstehen  (V.  50.); 
was  bestimmt  darauf  hindeutet,  dafs  der  Ausdruck  etwas 
Besonderes  bedeuten  muß :   welches  hier  nur  das  Geheim* 


12)  Paülü«,  exeg.  Hdb.,  1,  a,  S.  279. 
15)  Kuiköl,  a.  a.  0.  S.  553  f. 

14)  Horac,  2,  S.  886. 

15)  HK  Wettk,  exeg.   Handb.,   1,  2,  S.  20 


Fünftes  Kapitel.    §.  40. 


347 


nffs  der  Messianität  Jesu  sein  kann,  der,  als  Messias,  vlog 
&&i  ins  besondern  Sinne  war.      Dafs  nnn  aber  in  dem  12- 
jährigen  Jesus   schon  das  Bewnfstsein   seiner  Messianität 
aufgegangen   gewesen*    diefs  könnte   zweifelhaft  scheinen 
aaf  unserem  Standpunkte,  der  durch  die  Nach  Weisung  des 
blofs  mythischen  Charakters  der  Gebart»-  and  Kindheitoge* 
schichte  sich  alier  natürlichen  wie  über  natürlichen  fiufse* 
reo  Anlässe  beraubt  hat,  welche  jenes  Bewnfstsein  in  dem 
Kinde  Jesu  wecken  konnten.      Wenn  zwar  das  Bewnfst- 
sein einer  mehr  snbjectiven  Bestimmung,   könnte  man  sa- 
gen, wie  zum  Dichter,  Künstler  u.  dgl. ,    wobei  Alles  auf 
die,  schon  frühzeitig  empfindbare ,   innere  Begabung  des 
Individuums  ankommt,  möglicherweise  sehr  frühe  aufgehen 
kann :  so  ist  doch  eine  objective  Bestimmung ,  in  welcher 
die  Verhältnisse  der  gegenständlichen  Wirklichkeit  einen 
Hauptfactor  ausmachen ,    wie  die  Bestimmung  zum  Staats- 
mann ,   tum  Feldherrn ,    zum  Reformator   einer   Religion, 
unter  welche  Rubrik   die  messianische  Bestimmung  gehört 
—  eine  solche  ist  doch  schwerlich  auch  dem  begabtesten 
Individuum  jemals  so  frühe  klar  geworden ;  weil  dazu  eine 
Kenntnifs  der  gegebenen  Verhältnisse  erforderlich  ist,  wie 
sie  nur  eine  längere   Beobachtung   und  reifere  Erfahrung 
gewähren  kann.    Allein  auch  hier  ist  wohl  zu  unterschei- 
den zwischen  einem  Bewnfstsein  der  Bestimmung,  welcher 
alle  Beziehungen  derselben   in   deutlicher  Reflexion   über- 
schaut;  was   freilieh  erst  Sache  reiferer  Jahre  ist:  und 
dem  einfachen,  unmittelbaren  Vorgefühl,  welches  den. we- 
sentlichen Kern  des  künftigen  IJerufs,  den  es  als  Trieb  in 
sieh  trägt,  oft  sehr  frühzeitig  in  bedeutungsvollen  Aeufse- 
rungen   enthüllt.     Und  mehr  als  das  Letztere  ist  es  doch 
nicht,  was  der  Knabe  Jesus  uns  hier  zu  hören  gibt :   noch 
fern  von   aller  bestimmteren  Beziehung  auf  die  mosaische 
Religion,  auf  Propheten,  Hierarchie,  Sectenwesen ,  Heiden 
u.  dgl. ,  ist  das  Bewnfstsein  Gottes  als  seines  Vaters ,    mit 
dem  er  in  besonders  innigem  Geistes-  und  Gemüthsvevkelir 


3*8  Erster  Abschnitt. 

stehe,  der  natürlichst*  Keim,  ans  welchem  das  spätere  ent- 
wickeltere ßewufstsein  Jesu  von  seiner  messianiscben  Stel- 
lang hervorwachsen  mufste  16). 

Dafs  sofort  (V.  50.)  von  Jesu  Eltern  gesagt  wird,  sie  haben 
diese  Aenfsernng  von  ihm  nicht  verstanden :  das  mnfs  bei  jeder 
andern  Ansicht  von  der  früheren  Geschichte,  als  bei  der  unsri« 
gen,  sehr  auffallend  gefanden  werden«  Denn  dafs  ihr  Sohn  in 
specifischem  Sinne  ein  viog  &eä  genannt  werden  würde,  diefs 
war  der  Maria  schon  durch  den  verkündigenden  Engel 
na  wissen  gethan  (Lac.  1,  32.  35.);  dafs  er  aber  eine  be- 
sondere Beziehung  aum  Tempel  haben  würde,  diefs  konn- 
ten sie  theils  eben  hieraas,  theils  aas  .dem  gläneenden 
Empfange  abnehmen,  welchen  er  noch  als  Kind  bei  seiner 
ersten  Darstellung  im  Tempel,  erfahren  hatte.  Die  Eltern 
Jesu,  oder  wenigstens  Maria,  von  welcher  wiederholt  ge- 
rühmt wird,  dafs  sie  die  außerordentlichen  Eröffnungen 
Ober  ihren  Sohn  sorgfältig  im  Herzen  bewahrt  habe,  soll- 
ten also  über  seine  damalige  Rede  keinen  Augenblick  im 
Dankein  geblieben  sein.  Aber  auch  schon  bei  jener  Dar* 
stellang  im  Tempel  hiefs  es,  dafs  sieh  die  Eltern  Jesu 
über  die  Reden  Simeons  gewandert  (V.  33«),  sie  also  wohl 
nicht  recht  verstanden  haben.  Und  swar  war  diefe  nicht 
von  jenem  Aussprache  Simeons  bemerkt ,  dafs  ihr  Knabe 
^ioht  allein  elg  avdgaow,  sondern  auch  sl$  Tttwatv  gerei- 
chen, and  das  Herz  seiner  Matter  eine  (fofttpaia  durch-! 
dringen  werde;  von  welcher  Seite  seines  Berufs  and 
Schicksals  allerdings  den  Eltern  Jesu  noch  nichts  mitge- 
tbeilt  war,  worüber  sie  sich  also  wohl  hätten  verwandern 
können;  sondern  diese  Eröffnungen  macht  Simeon  erat 
nach  der  Verwunderang  der  Eltern,  welche  ihrerseits  nur 
durch  die  Aeafserangen  seiner  Freude  über  den  Anblick 
des  Retters,  .der  zur  Verherrlichung  Israels  und  rar 
Leuchte  für  die  ed-vrj  dienen  werde,  verursacht  ist.     Und 


16)  Vgl.  Nhakdir,  L,  J.  Chr.,  S.  37f. 


ie  Verwöt». 

Beaiehqng 
i   sie  -Über. 

re  Beatim- 
Ei  bleibt 


'inen  aber 

Maria  h 

nbegreif- 

»- Stell«, 

'oraaige- 

wttre  so 

•rgegan- 

»de  vor» 

•  nicht: 

iar  also 

ehende 

Sheren 

Elteni 

lieben 

i  oder 

«  int, 

wnn- 


Or- 

vio 
lie 


kl 


350  Erster  Abschnitt. 

pelten  Schlufsanmerkang  —  dafs  Jesu  Matter  alle  diese 
Worte  in  ihrem  Herzen  bewahrt  (V.  51.),  und  dafs  der 
Knabe  forthin  an  Alter  and  Weisheit  u.  s.  f.  angenommen 
habe  (V.  52«)  —  ob  sie  dem  Evangelisten  aus  historischer 
Erkundigung  und  Reflexion,  oder  vielmehr  nnr  ans  der 
Röcksicht  auf  den  Typus  der  hebräischen  Heldensage  ge- 
flossen sind,  au  welchem,  wie  wir  schon  oben  sahen,  diese 
Schlufs  -  und  Uebergängsformeln  gehörten  17). 

Dem  Bisherigen  aufolge  ist  in  der  Erafihlong  von 
dem  ersten  Auftreten  Jesu  im  Tempel  kein  historisch  un- 
wahrscheinlicher Zug,  höchstens  vielleicht  einige  unwesent- 
liche Pinselstriche  vom  Ersähler  aus  dem  Seinigen  hinan* 
gethan;  überdiefs  steht  die  Erzählung  nicht,  wie  einige 
der  bisherigen }.  mit  einer  andern  hn  Verhalt nifs  gegensei- 
tiger Ausschließung :  steht  sie  daher  nicht  etwa  mit  einer 
späteren  geschichtlich  eaverläfsigen  Nachricht  im  Wider. 
Spruch,  was  wir  hier  noeh  nicht  absehen  können,  90  hat 
sie  kein  Merkmal  des  Unhistorischen  gegen  sich,  «ober 
etwa  dem,  dafs  sie  nur  bei  Einem  Evangelisten,  and  swir 
in  einem  Abschnitt  uns  begegnet,  in  welchem  das  Ein- 
schleichen von  Ungeschichtlichem  leichter  möglieh,  and 
dessen  bisher  betrachtete  Theile  wirklich  lauter  mythische 
waren.  Doch  diefs  ist  viel  zu  anbestimmt,  am  unsere 
Erzählung  au  gefährden ;  welche  nun  überdiefs,  da  sie  von 
entscheidenden  negativen  Kriterien  des  Unhistorischen  frei 
ist,  auch  dadurch  nicht  erschüttert  werden  kann,    wenn 


17)  S.  oben,  S.  153.  327«    Diessmal  vergl.  noch  besonders: 
l.Sam.  2,  26  (LXX):  Lac.  2,  52: 

xai   to    natddfkov  ^a/j»fjl   cto-  xai  9IqoSs   n^oixcnzf  aotpCa    xtu  *2i- 

Qevero  fttyaXuvo/utyov ,    xai  ciya-  xt'a,    xai    X^P*1   na$*    $*?    ****  *?* 

&ov    xai   fiiTd    Kuqfo    xai  fitra  &(X>mou;. 
av&otontov. 

Vergl.  hiezu  noch,    was  Josephus  Antiq.  2,  9,  6.  von  der 

Xücqis  naitiixrj  des  Moses  zu  sagen  weiss. 


Fünftes  Kapitel.    §.  40. 


351 


sieb  etwa  positiv  ein  starkes  dogmatisch  -  poetisches  In- 
teresse zeigen  sollte,  welches  möglicherweise  eur  Erdich- 
tung einer  solchen  Seene  hätte  veranlassen  können. 

In  dieser  Hinsicht  ist  nun  freilich  bekannt  genug, 
dafs  von  grofsen  Männern  ,  welche  sich  im  reifen  Alter 
durch  geistige  üeberlegenheit  ausgezeichnet  haben ,  gerne 
auch  schon  die  ersten,  vorbedeutenden  Regungen  ihres 
Geistes  aufgefaist,  und  wenn  sie  nicht  historisch  eu  er  mit- 
teln  sind,  nach  der  Wahrscheinlichkeit  erdichtet  werden  ,8). 
Insbesondere  aber  auch  in  der  hebräischen  Geschichte  und 
Sage  finden  wir  diese  Neigung  mehrfach  bethftigt.  So 
wird  Von  Samuel  im  A.  T.  seihst  berichtet ,  dafs  er  schon 
als  Knabe  eine  göttliche  Offenbarung  und  die  Gabe  der 
Weissagung  erhalten  habe  (1.  Sam.  3.),  und  von  Moses, 
über  dessen  Knabenjahre  die  A.  T.liche  Erzählung  schweigt, 
wnfste  die  spätere  Tradition,  welcher  Josephus  und  Philo 
folgen,  auffallende  Proben  seiner  frühen  Entwickelang  zu 
erzählen.  Wie  in  dem  vorliegenden  Berichte  der  Knabe 
Jesus  sich  über  sein  Alter  verständig  zeigt :  so  soll  dasselbe 
auch  bei  Moses  der  Fall  gewesen  sein  19);  wie  Jesus,  von  dem 
eiteln  Geräusche  der  festlich  bewegten  Stadt  sich  abwen- 
dend, im  Tempel,  bei  den  Lehrern  seine  liebste  Unterhal- 
tung findet:  so  sog  auch  den  Knaben  Moses  nicht  kindi- 
sche« Spiel,  sondern  nur  ernste  ßesehäfcigung  an,  und 
frühzeitig  mufsten  ihm  Lehrer  bestellt  werden ,  welchen 
er  jedoch,  wie  dei  zwölfjährige  Jesus,  sich  bald  überlegen 

zeigte20)- 


18)  Vgl.  Tholucx,  S.  209. 

19)  Joseph.  Ankiq.  2,  9,  6  5    avnaig  Sh  »  xcrra  r^v  ykxCav  etpvero  av- 

TW,    X.    f.    X. 

20)  Philo,  de  vita  Mosis ,  Opp.  cd.  Mangey ,  Vol.  2.  S.  83  f.    hX 

tka  xofJiA?]  vqmag  jjSero  Ttfifraaudii  xal  yfin)Ot  xal  7rai3tai$  —  alX    alow  N 
'     xvt  aeuvörrjTa  na(ia(paiy«tv,  axmiuaoi  xal  &ea/iartiv,  a  tfjv  ^v^v  fueUtv 
uHffXi-afLV.  jiigüstTxt.     Sidäoxa/iot  <P  eufh)?,  aUaxd&*y  aUo$y  natfjoay    — 


'\_ 


352  Erster  Abschnitt. 

Namentlich  aber  bildete  nach  der  Eigenthämlichkeit 
morgenländiecher  Natur  und  jüdischer  Sitte  das  zwölfte 
Jahr  einen  solchen  fiutwicklungspnnkt,  an  welchen  man 
gerne  besondere  Proben  des  erwachenden  Genius  knöpfte; 
da  von  dem  genannten  Jahr  an,  wie  etwa  bei  uns  vom 
14ten,  der  Knabe  als  den  kindischen  Verhältnissen  ent- 
wachsen angesehen  wurde 2l).  Demzufolge  wurde  von 
Moses  angenommen,  da(s  er  im  zwölften  Jahre  aus  dem 
Hause  seines  Vaters  getreten  sei,  um  unabhängiges  Organ 
der  göttlichen  Offenbarungen  zu  werden  22J ;  Samuel ,  von 
welchem-,  im  A.  T.  unbestimmt  gelassen  war,  wie  frohe 
ihm  die  Gabe  der  Prophetie  mitgetheilt  worden  sei,  sollte 
nach  der  späteren  Tradition  vom  zwölften  Jahr  an  geweis- 
sagt haben 23) ,  und  ebenso  sollten  von  Salomo  und  von 
Daniel  die  weisen  Urteilsspruche  (1.  Kön.  3, 23  ff.  Susann. 
45  ff.)  schon  im  12ten  Jahre  gefällt  worden  sein  2*).  Nun 
wäre  es  zwar  an  sich  wohl  möglich,  dafs  man  in  der  er- 


Tag  vrpr;yijOfi$. 

21)  Chagiga,  bei  Wetstbin  i.  d.  St. :  A  XII  anno  filtus  ccnsetvr 
maturus.  Ebenso  Joma  f.  82,  i.  Berachotb  f.  24,  1;  woge- 
gen Rereschith  Rabba  63 ,  ebenfalls  bei  Wststxdt  ,  da»  drei« 
sehnte  Jahr  als  jenes  Entscheidungsjahr  bezeichnet. 

22)  Schemoth  R.  bei  Wststiih  :  Dixtt  R.  Chama:  Moses  duo- 
denarius  aoulsus  est  a  domo  patrts  svt  etc. 

23)  Joseph.  Antiq.  5,  10,  4:  Za^lo;  <fe  umh^um*  frog  9*7  <W/- 

XOTOT)    7t^Oi<pjT€ve. 

24)  Ignat.  ep.  (Interpol.)  ad  Magnes.  c.  3 :   ZoXop&v  <ft  —  J«J«- 

xaerrjq  ßaodevoaq,  njv  tpoftsqar  (xtiytjv  Xal  SugeQ/uip'evTov  hil  ralg  f>- 
vai£t  xQtotv  tyexa  tw  naiSüxty  hzoajoato.  -—  davajl  o  eotpog  6>»&f*ß*m 
rqg  yfyove  xaro^og  tS  teüp  nrevpari,  xal  rag  fiamp  npr  nokar  ftf** 
rag    n^üßurag   ovxoqmrtag   xal    hri&v/utjrag    alloT^üt   xtUleg    amjitfo» 

Zwar  Darstellung  einer  christlichen  Schrift,  aber  in  Vergiei- 
chung  mit  den  obigen  Daten  vielleicht  nach  alterer  jüdischer 
Sage. 


Fünftes  KapiteL    $.40.  HS 

• 

sten  Christengemeinde  gedaoht  bitte :  ist  bei  diesen  A.  T.- 
lieben  Heroen  der  Geist ,  weleher  sie  trieb ,  im  12ten  Le- 
bensjahre zuerst  in  selbsttätigen  Aeufserungen  hervorge- 
treten :  so  kann  er  bei  Jesu  aoch  niebt  länger  verborgen 
gewesen  sein,  und  wenn  Samuel  und  Daniel  in  jenem  Al- 
ter schon  in  ihrer  späteren  Eigenschaft  als  gottbegeisterte 
Seher,  Salomo  in  der  eines  weisen  Regenten  sich  geneigt  hat : 
so  mufs  sich  Jesus  ebenso  schon  damals  in  der  Rolle  ge- 
zeigt haben,  welche  ihm  spfiter  eigentümlich  war,  als 
Sohn  Gottes  und  Lehrer  der  Menschheit.  Wenn  nament» 
lieh  in  dem  Berichte  des  Lukas  bis  daher  das  Bestreben 
sichtbar  war,  keinen  Knotenpunkt  in  der  erstell  Lebens- 
■eit  Jesu  su  übergeben,  ohne  ihn  mit  göttlichem  Glänze, 
mit  bedeutsamen  Voraeichen  des  Künftigen  au  umkleiden; 
wie  er  seine  Geburt  in  diesem  Style  behandelt,  die  Be- 
schneidung wenigstens  auf  bedeutungsvolle  Weise  genannt, 
ganz  besonders  aber  die  Darstellung  im  Tempel  in  diesem 
Sinne  benütst  hatte:  so,  könnte  man  sagen,  wollte  er  auch , 
den  letzten  Entwicklungsknoten,  den  ihm  das  Jugendleben 
Jesa  nach  jüdischer  Sitte  noch  bot,  mit  dem  gebührenden 
Schmuck  umgeben  25> 

t  Andererseits  jedoch,  so  oft  es  auch  die  Sage  oder 
Dichtung  gewesen  sein  mag,  welche  die  Jugend  grofser 
Minner  mit  solchen  Proben  ihres  frühreifen  Geistes  ver- 
herrlichte: so  sind  doch  in  vielen  Fällen  dergleichen  Pro- 
ben wirklich  abgelegt  worden;  da  der  Natur  der,  Sache 
nach  das  Genie  früher,  als  gewöhnliche  Geister9  su  reifen 
pflegt.  Die  Beispiele  aus  der  Jugendgeschichte  unsrer 
groben  Geister ' —  Dichter,  Feldherren,  Gelehrten  —  sind 
bekannt26),  und  gana  nahe  der  Zeit  und  Oertlichkeit  nach 
liegt  der  evangelischen  Erzählung  ein  Zug  aus  dem  Leben 


25)  So  Kaisir  ,  tibi.  Theol. ,    1  ,  234.    Mehr  Historische*  lässt 
Gabler  stehen,  im  neuesten  theo].  Journal,  3,  1,  S.  39.  \ 

26)  Mehrere  werden  nachgewiesen  von  Tholück  ,  S.  221  f.  227  f. 
Dom  Leben  Jesu  Ue  Aufl.  /.  Band.  23 


N.» 


S54  Erster  Abschnitt 

eines  ziemlich  untergeordneten  Talentes,  von  welchen  ans 
auf  Jesum  ein  Schiufa  a  minori  ad  majns  gilt,  des  Jose« 
phus  27)-  Läfst  sich  nun  Überdiefs  von  derjenigen  öe- 
mOthsverfassung  und  Geistessrellung ,  die  wir  bei  Jesu  io 
seinem  Mannesalter  finden ,  mit  Recht  behaupten ,  dafs  sie 
nicht  Ergebnifa  eines  späten,  plötzlichen  Durchbruchs,  son- 
dern nur  allmähliger,  stetiger  Entwicklung  sein  konnte :  so 
fügt  aich  in  den  Gang  eines  solchen  Lebens  unsere  Erzäh- 
lung so  passend  ein,  dafs  die  Kritik  kein  Recht  hat,  ihr 
die  geschichtliche  Geltung  abzusprechen. 

$.    41. 

Ucber  die  äussere  Existenz  Jesu  bis  zu  seinem  'öffentlichen 

Auftritt. 

In  welchen  äufseren  Verhältnissen  Jesus  von  der  zu- 
letzt beaproehenen  Seene  an  bis  zu  der  Zeit  seines  öffent- 
lichen Auftritts  gelebt  habe,  darüber  findet  «ich  in  unaern 
kanonischen  Evangelien  kaum  eine  Andeutung. 

Zuerst  von  seinem  Aufenthaltsorte  erfahren  wir  aus« 
drticklioh  nur  aiefs,  dafs  er  sowohl  am  Anfang,  als  am 
Ende  dieser  dunkeln  Periode  in  Nazaret  gewesen  sei. 
Nämlich  nach  Luc.  2,  51.  kehrte  der  12jährige  Jesus  mit 
seinen  Eltern  dahin  zurück,  und  nach  Matth*3,  13.  Marc/ 
1,  9.  kam  der  dreißigjährige  (vgl.  Luc«  3,23  )  yron  da  zur 
Taufe  des  Johannes.  Es  scheinen  also  unsere  Evangeli- 
sten vorauszusetzen,  Jesus  habe  auch  in  der  Zwischenzeit 
in  Galiläa,  und  näher  in  Nazaret,  sich  aufgehalten;  wo« 
mit  jedoch  Reisen,  wie  zu  den  Festen  in  Jerusalem,  nicht 
ausgeschlossen  sind. 

Die  Art  der   Beschäftigung  Jesu  in  seinen  Knaben- 


27)  Vita,  2.  "Eti  <J'  aqa    nctls   wy    7%t$   TCöoaQfigxmStxaToy  eroc  8tm  ro 
<fi\oyQttfituaiov  vtto  rtavrwy  litrpHftrp ,    avyiorrutr   at\  rtov  ^if^Mi 


Fünftes  Kapitel.    $.  41.      x 

und  Jfinglingsjahren  scheint  sich,  einer"  Andeutung  unserer 
Evangelien  eufolge,  nach  dem  Gewerbe  seines  Vaters  be- 
stimmt eu  haben,  welchen  sie  als  xixztov  bezeichnen 
(Matth.  13,  55.)«  Dieser  von  dem  Gewerbe  des  Joseph  ge- 
brauchte Ausdruck  wird  gewöhnlich  in  der  Bedeutung  von 
faber  Iwpiarius  gefafst  ');  nur  Einzelne  haben  aus  mysti- 
schen Gründen  einen  faber  ferrarius,  aurarius,  oder  ei- 
nen caementarius  darin  gefunden  2).  Die  Holsarbeiten, 
weiche  er  verfertigt,  finden  sieh  bald  als  gröfsere,  bald  als 
kleinere  bestimmt:  nach  Justin  und  dem  Evangelium  Tko- 
mae  *)  waren  es  aQoiQa  xal  £vyd9  also  was  wir  als  Wag- 
nerarbeit bezeichnen  würden  ;  nach  dem  Evangelium  in-  s 
fantiae  arabicum  *)  Thfiren,  MelkgefäTse ,  Siebe  und  Kä- 
sten; einmal  macht  er  auch  dem  Konig  einen  Thronses- 
sel: also  theils  Tischler-  theils  Bötticherarbeit ;  das 
T*rotecangelivM  Jacobi  dagegen  Ififst  ihn  an  oucodofjalg 
arbeiten  *),  ohne  Zweifel  als  Zimmermann«  An  dieser 
Beschäftigung  des  Vaters  scheint  nun  Jesus  nach  einem 
Ausdrucke  des  Markus  Theil  genommen  so  haben , .  wel- 
cher die  Nasaretaner  von  Jesu  nicht  blofs,  wie  Matthäus 
in  der  Parallelstelle,  fragen  Ififst :  s%  mog  igtv  6  %5  rix- 
rovog  wog;  sondern  geradezu:  b%  ötoq  igw  6  rextw; (6, 3.) 
Zwar  auf  den  Spott  des  Celsus,  dafs  der  Lehrer  der  ChtU 
Bten  Ttxziav  rjv  rr4v  tixPi^  erwiederteOrigenes,  er  müsse 
fibersehen  haben,  ort  sdctfiö  rcov  ev  %aTg  ixxX)piccig  yejo- 


1)  Daher  die  tfeberschrift  eines  arabischen  'Apokryphums  ( nach 
der  lat.  Uebersetzung  bei  Thilo,  1,  S.  3.):  historia  Josephi, 
fabri  lignarii. 

2)  s.  Thilo,  Cod.  Apocr.  N.  T.  S.  368  f.  not. 

3)  Justin.  Dial.  c.  Trypb.  88.  Diese  Stücke  Iässt  er  Jesum  fer- 
tigen, ohne  Zweifel  angeleitet  von  Joseph.  Im  E  van  gel.  Tho- 
mae  c.  15.  ist  Joseph  der  Verfertiger. 

4)  cap.  38  f.,  S.  112  ffM  bei  Thilo. 

5)  c.  9  and  13. 


356  Erster  Abschnitt. 

fiivüw  evayyüMßJV  t&ctcw  ccvtoq  6  'frso5$  avaykyQccmm  •> 
Wirklich  hat  nun  jene  Stelle  des  Markus  die  Variante: 
6  %5  T&awos  vlog ;  wie  auch  Origenes  ,  wenn  er 
*  die  Stelle  nicht  ganz  übersehen  haben  soll,  gelesen 
haben  mufs ,  und  was  einige  neuere  Kritiker  vorziehen  *). 
Alfeih  mit  Recht  hat  schon  Beza  hiesu  bemerkt:  fortasse 
mutavit  aliquis,  existimaiis,  hanc  artem  Christi  majestati 
parum  convenire:  wogegen  schwerlich  Jemand  ein  Interesse 
haben  konnte,  die  umgekehrte  Aenderang  vorzunehmen  8). 
Auch  Kirchenväter  und  Apokryphen  lassen  nach  dieser 
Andeutung  des  Markus  Jesum  seinem  Vater  in  dessen  Ge- 
schäft an  die  Hand  gehen«  Justin  legt  besondern  Werth 
darauf,  dafa  Jesus  Pflöge  und  Joche  oder  Wagschalen, 
als  Sinnbilder  des  thfitigen  Lebens  und  der  Gerechtigkeit, 
verfertigt  habe  ^);  nach  dem  arabischen  Kindbeitsevange- 
lium  geht  tjeftus  mit  Joseph  an  den  Orten ,  we  dieser  Ar- 
beit hatte,  umher,  um  ihm  in  der  Art  su  helfen,  daß  er, 
wenn  Joseph  etwas  zu  lang  oder  zu  kurz  gemacht  hatte, 
durch  Berührung '  oder  blofses  Ausstrecken  der  Hand  der 
Sache  die  rechte  Gröfse  gab;  eine  Nachhülfe,  welche  dem 
Pflegevater  Jesu  zu  Statten  kam,  weil  er,  wie  das  Apokry- 
phum,  als  wäre  auch  für  ihn  jenes  Handwerk  zu  gemein 
gewesen,  naiv  bemerkt:  nee  admodum  peritus  erat  artis 
fabtifis  10).  —  Abgesehen  von  diesen  apokryphischen  Aus- 
malungen hat  jene  Nachricht  über  die  Jugendbescb&ftigiing 
Je»  Manches  fiör  sich.  Einmal  die  Zusammenstimmung 
mit  der  jüdischen  Sitte,  nach  welcher  auch  der  zu  einer 


6)  c  Gels.  6,\6. 

7)  Fritmchb  in  Marc,  p,  200. 

8)  S.  Wststbin  u.  Paulus  z.  d.  St. ;  Wikbr,  Realw'drterbiich,  J> 
S.  665«  Anm. ;  Niajvdbr,  L.  J.  Chr.,  S.  46  f.  Anm. 

•  9)    a.  S»  O.  I    ravra  yaq   rd  Ttxrovtxd   fyya   «ipycrfero   tr    av&QtaTroi;  «w» 

aqoTQa  ttcä   ft/ya"    <&a    t&tiov  xai  rd  rfjq  Üixcnoovrqt  av/jßoZa  StSdaxaTf 
,  «tri  b'ffjyy  ßlov  • 

g£l0)  cap  38:  ' 


Fünftes  Kapitel-    §.  41. 


W7 


gelehrten  oder  überhaupt  geistigen  Laufbahn  Bestimmte 
nebenher  ein  Gewerbe  zu  lernen  pflegte;  wie  der  Rabbi- 
nenzögling  Paulus  zugleich  ein  oxipmoidg  zrpf  xiyyrp  war 
(&•  6.  18,  3.)«  Da  wir  tiberdiefs  nach  unsern  bisherigen 
Untersuchungen  von  außerordentlichen  Erwartungen  und 
Planen,  welche  die  Eltern  Jesu  in  Beeng  auf  ihren  Sohn 
gehabt  hätten,  nichts  geschichtlich  wissen:  so  ist  nichts 
natürlicher,  als  die  Annahme,  dafs  Jesus  fr  abseitig  zu 
dem  Geschäfte  des  Vaters  angehalten  worden  sei.  Ferner 
mochten  die  Christen  eher  ein  Interesse  haben,  sich  gegen 
diese  Ansicht  von  der  früheren  Beschäftigung  ihres  Mes- 
sias zu  wehren,"  als  sie  zu  erdichten;  da  sie  Ihnen  nicht 
selten  den  Spott  ihrer  Gegner  zuzog.  So  konnte  sich, 
wie  schon  erwähnt,  Celans  einer  Anmerkung  darüber 
nicht  enthalten;  wefswegen  Origenes  von  einer  Bezeich- 
nung Jesu  als  ztxxuw  Im  N.  T.  gar  nichts  wissen* will: 
und  bekannt  ist  die  spöttische  Frage  des  Libanius  nach  dem 
Zimmermannssohne,  welche  nur  ex  eventu  mit  einer  so 
schlagenden  Antwort  versehen  scheint  ")•  Freilich  liefse 
sich  dagegen  sagen,  dafs  die  Nachricht  von  den  rex- 
'rwtxdis  tQyoig  Jesu  auf  einem  blofsen  Schlüsse  von  dem 
Bandwerk  seines  Vaters  auf  das  Treiben  des' Sohns  zu 
beruhen  scheine,  welchen  doch  ebenso  gut  auch  eine  an- 
dere Kunstfertigkeit  sich  habe  aneignen  können;  ja  dafs 
vielleicht  gar  die  ganze  Sage  vom  Zimmermannshandwerk 
Jesu  und  Josephs  jener  von  Justin  herausgehobenen  sym- 
bolischen Bedeutsamkeit  desselben  ihre  Entstehung  möge 
zu  verdanken  haben»  Da  indessen  die  Angabe  unserer 
Evangelien  von  Joseph  als  zaxvtbv  so  kurz  und  trocken  ist 
und  nirgends  in*  N.  T.  allegorisch  benutzt,  noch  auch  nur 
näher  ausgeführt  wird:  so  ist  diesem  das  genannte  Hand- 
werk nicht  streitig  zu  machen ;  von  Jesus  aber  unaus- 
gemacht  zu  lassen,  ob  er  daran  Theil  genommen,  oder  nicht. 


11)  Theodore«.  H.  E.  3,  23. 


358  Erster  Abschnitt, 

■ 

In  welchen  Vermögensumständen  Jeans  und  «eine 
Eltern  sich  befunden  haben,  ist  Gegenstand  mancher  Ver- 
handinngen gewesen.  Dafs  die  Behauptung  einer  drücken- 
den Armuth  Jesu  von  Seiten  orthodoxer  Theologen  auf 
dogmatisch  -  ästhetischen  Gründen  beruhte  >  indem  man 
theils  den  Status  exinanitionis  auch  in  diesem^  Stücke 
durchführen,  theils  den  Contrast  zwischen  der  /uoQffrj  &eü 
und  noQfp*}  <fc*Aa  recht  grell  ausmalen  wollte,  erhellt  von 
selbst  Dafs  ferner  der  angeführte  paulinische  Gegensats 
(Phil.  2,  ö  flF.) ,  so  wie  desselben  Apostels  Ausdruck ,  dafs 
Christus  tTviw^evae  (%.  Kor.  8, 9.)>  nur  das  glanalose,  mühe- 
rolle  Lehen  bezeichne,  welchem  er  sich  nach  seiner 
himmlischen  Präexistens  und  statt  der  in  der  jüdischen 
Vorstellung  gegebenen  messianischen  Königsrolle'  unter- 
sog, ist  gleicherweise  als  anerkannt  zu  betrachten  12). 
In  dem  eigenen  Ausspruch  Jesu,  er  habe  nicht  u5  ztpr  xe- 
ifalyv  xUvrj  (Matth.  8,  20.  )i  kann  möglicherweise  auch 
nur  die  freiwillige  Vereichtleistung  auf  ruhigen  Gütergenufs 
cum  Behufe  seines  messianischen  Wanderlebens  liegen: 
so  dafs  nur  noch  die  Eine  Nachricht  (Luc.  2,24.)  übrig 
bleibt,  dafs  Maria  als  Reinigungsopfer  Tauben,  also  nach 
3.  Mos.  12,  8.  das  Opfer  der  Armen,  dargebracht  habe» 
welche  allerdings  beweist ,  dafs  der  Verfasser  Jenes  Ab* 
Schnittes  sich  die  Eltern  Jesu  in  keineswegs  glänzenden 
Verhältnissen  vorstellte  **);  allein  wer  bürgt  uns  dafür, 
dafs  nicht  auch  ihn  schon  unhistorische  Gründe  nu  dieser 
Darstellung  bewogen  haben?  Indessen  haben-  wir  eben- 
sowenig von  dem  Umgekehrten,  dafs  Jesus  Vermögen  be- 
sessen habe,  haltbare  Spuren;  wenigstens  auf  den  unge- 
nauen Leibrock  Joh.  19,  23.  dürfe»  wir  uns  nicht  beru* 
fen  "),  ehe  wir  unten  genauer  untersucht  haben  werden, 
was  es  mit  demselben  für  eine  Bewandtnifs  hat. 

12)  s.  Hasc,  Leben  Jesu,  §.  70;  Wink«,  bibl.  Realw.,  1,  S.  665« 

13)  Winer  a.  a.  O.  , 

14)  Wie  dicss  die  genannten  beiden  Theologen  a.  d.  a,  00,  thun. 


raufte»  Kapitel.    $.  42. 


359 


$.    4«. 
Jesu  geistige  Ausbildung. 

Waren  Über  die  fufsere  Existens  Jean  wfihrend  sei- 
ner Jugend  die  Nachrichten  im  höchsten  Grade,  dürftig: 
so  fehlen  sie  Ober  seine  geistige  Entwicklung  beinahe  gans. 
Denn  die  in  der  Kindheitsgeschichte  bei  Lukas  sich  wie- 
derholende unbestimmte  Phrase  von  seinem  geistigen  Er- 
starken and  Zunehmen  an  Weisheit  sagt  uns  nichts,  was 
wir  nicht  auch  ohne  sie  voraussehen  müfsten ;  auf  die  Er- 
wartungen aber,  welche  seine  Eltern  schon  vor  seiner  Ge- 
burt von  ihm  gehabt,  und  aof  die  Gesinnungen,  welche 
unmentlich  seine  Mutter  dabei  an  den  Tag  gelegt  haben 
soll,  ist  kein  Schlafs  su  gründen,  da  eben  diese  angebli- 
chen Erwartungen  und  Aeufserungen  unhistorisch  sind. 
Die  so  eben  betrachtete  Ersählung  von  dem  Auftritte  des 
swölrjfihrigen  Jesus  im  Tempel  liefert  uns  mehr  nur  ein 
Ergebnib  —  die  frühe  und  eigentümliche  Entwicklung 
seines  religiösen  ßewufstseins  —  als  dafs  sie  uns  ober  die 
Ursachen  und  Verhältnisse  Aufsohlufs  gfibe,  durch  welche 
diese  Entwicklung  begünstigt  war.  Doch  wenigstens  so 
viel  lernen  wir  aus  der  Angabe  Lue.  S,  41.,  was  sich  frei- 
lich von  frommen  Iraeliten  von  selbst  versteht,  dafs  Jesu 
Eltern  alle  Jahre  nach  Jerusalem  sum  Paschafeste  au  rei- 
sen pflegten;  wobei  su  vermuthen  ist,  dafs  auch  Jesus  vom 
zwölften  Jahr  an  gewöhnlich  mitgereist  sein,  und  die  treff- 
liche Gelegenheit  benotet  haben  wird,  sich  unter  dem  Zu- 
sammenflusse von  Juden  und  Judengenossen  aus  allen  Lin- 
dern, und  von  allen  Gesinnungen-  und  Ansichten,  auszubil- 
den; den  Zustand  seines  Volkes  und  die  falschen  Grund- 
sätze der  pharisäischen  Leiter  desselben  kennen  su  ler- 
nen, und  seinen  Blick  über  die  engen  Gränsen  Palästina'* 
hinaus  su  erweitern  ')• 

Ob  und  in  wie  weit  Jesus  die  gelehrte  Bildung  eines 


1)  Paulus,  exeg.  Haodb.;  1,  «,  S.  273  fF. 


0 


MO  Erster  Abschnitt 

RabUoen \erhalten  habe,  i*>t  gleichfalls  in  uusern  kanorf- 
achen  Evangelien  nicht  gesagt  Ana  Stellen  wie  Matth. 
7,  29  t  Jesus  habe  gelehrt  h%  ojq  ol  yQafijuaTetg ,  ist  nur  m 
schliefen,  dafs  er  die  Methode  der  Schriftgelehrten  nickt 
mu  der  seinigen  gemacht,  nicht  aber ,  dafs  er  die  Bildung 
eines  yQafi/uccvevg  nicht  genossen  habe.  Freilieh  laTst  sieh 
andrerseits  ans  dem  Umstände,  dafs  Jesus  nicht  bJofs  van 
seinen  Schalern  (Mätth.  26,  25.  49.  Marc  9,  5.  11,  21. 
14,45.  Joh.  4,  31.  9,  2.  11,  6.  20,  16.  vgl.  1, 38. 40.  SO.) 
und  von  flehenden  Hfilfsbedürftigen  (Marc.  10,  51.)  (taßiti 
und  fyaßßwl  genannt  wurde,  sondern  dafs  ihm  auch  der 
pharisäische  Sqxcov  Nikodemus  (Job.  3,  2.)  diesen  Titel 
nicht  versagte,  ebensowenig  folgern,  dafs  er  die  schuimä- 
fsige  Bildung  eines  Rabbinen  erhalten  hatte  *) ;  da  die  Be- 
grtifeung  als  Rabbi,  wie  auch  das  Recht  des  Vortrags  in 
der  Synagoge  (Lue.  4,  16  ff.) ,  worauf  man  sich  ebenfalls 
beruft,  gewifs  nicht  blofs  gradutrten  Rabbinen,  sondern 
jedem  thatsfichlieh  erprobten  Lehrer  zukam  *).  Gegen  die 
bestimmte  und  von  Jesu  nicht  widersprochene  Aussage  sei- 
ner Feinde,  dafs  er  ein  yod/uptczcc  ,««y  fiejuafhptog  sei  (Job. 
7,  15.),  und  gegen  die  Verwunderung  der  Nasaretaner, 
solche  Weisheit  bei  ihm  su  finden  (Matth.  13,  54  ff.),  von 
welohem  ihnen  also  kein  gelehrtes  Studium  bekannt  gewe- 
sen sein  mufs,  kann  man  wohl  schwerlich  das  anfahren, 
dafs  Jesus*  sich  selbst  einmal  als  Muster  eines  für  das 
Gottesreich  ausgebildeten  yQajUjuarevg  darstelle  (Matth.  13, 
52.)  *) ;  da  dieses  Wort  hier  einen  Schriftlehrer  überhaupt, 
nicht  gerade  nur  einen  schulmäfsig  gebildeten,  bedeutet« 
Endlieh  auch  die  genaue  KenntniXs  der  rabbinischen  Lehr- 
traditionen und  Mifsbrfiuche ,  wie  er  sie  besonders  in  der 
Bergrede,    Matth.  5.  ff.,    und  in    der   antipharisäischen, 


2)  Darauf  beruft  sich  Paulus,  a.  a.  O.  275  ff. 

5)  Vergl.  Hasb,  Leben  Jesu,  §,  38  j  Nkakdir,  L.  J.  Chiv,  S.  45  f. 

4)  Paulus,  a.  a.  O. 


Fünftes  Kapitel    $.  42* 


S61 


Matth,  23«,  an  den  Tag  legt9),  konnte  er  durch  die  zahl- 
reichen Vorträge  der  Pharisäer  an  das  Volk,  ohne  tfnen 
gelehrten  Cursus  bei  ihnen  zu  machen,  sich  erwerben. 
Wenn  so  die  evangelischen  Data  zusammengenommen  das 
Ergebnifs  liefern,  dafs  Jesus  nicht  förmlich  durch  eine 
rabbinische  Schule  gegangen  war :  so  könnte  dagegen  an- 
dererseits die  Erwägung,  dafs  es  Im  Interesse  der  christli- 
eben Sage  liegen  mußte,  Jesuin  als  unabhängig  von  mensch- 
liehen Lehrern  darzustellen,  sn  einem  Zweifel  an  jenen 
N.  T. liehen  Angaben,  and  su  der  Vermuthung  veranlas- 
sen, dafs  Jesu  die  gelehrte  Bildung  seines  Volkes  nicht  so 
gans  fremd  gewesen,  sein  möge.  Doch  kann  aus  Mangel  an 
urkundlichen  Nachrichten  hierüber  nicht  entschieden  werden. 
Indessen  hat  man  mehr  oder  minder  unabhängig  von 
den  Angaben  des  N.  T.  in  alter  wie  in  neuer  Zeit  ver- 
schiedene Hypothesen  Aber  die  geistige  Entwickelung  Jesu 
aufgestellt,  welche  nach  dem  Gegensätze  der  natürlichen 
and  der  übernatürlichen  Ansieht  in  zwei  Hauptklassen 
■erf allen.  Indem  es  nämlich  der  übernatürlichen  Ansicht 
von  Jesu  Person  darum  sn  thun  sein  mufs,  ihn  als  völlig 
einsig  in  seiner  Art,  als  unabhängigem* allen  äufseren, 
menschlichen  Einflüssen ,  als  Auto  -  und  näher  Theodidak- 
ten  hinzustellen :  so  mufs  sie  nicht  allein  jede  Vermuthung, 
als  hätte  er  etwas  von  Andern  entlehnt  und  gelernt,  ent- 
schieden surüekweisen ,  und  daher  die  Schwierigkeiten, 
welche  der  natürlichen  Ausbildung  Jesn  sich  in  den  Weg 
stellten,  in  möglichst  grellem  Lichte  malen  6) ;  sondern,  um 
desto  sicherer  jedes  Empfangen  auszuschließen,  mufste  man 
auf  diesem  Standpunkte  geneigt  sein ,  Jesu  eigene  Sponta- 
neität in  der  Art,  wie.  wir  sie  bei  gereiftem  Alter  in  ihm 
finden,  so  frühe  wie  möglich  hervortreten  sn  lassen«  Diese 
Selbsttätigkeit  ist  eine  doppelte :   eine  .theoretische  und 

5)  Darauf  beruft  sich  Scböttciv:  Christus  rabbinorum  tummus, 
in  s.  horae,  2,  S.    890  f. 

6)  Wie  dicss  s.    B.  Reinhard  thut,  in  seinem  Plan  Jesu. 


St>2  Erster  Abschnitt. 

eine  praktische«  Wag  jene  Seite,  die  Einsicht  and  Erkennt- 
nis, betrifft :  so  findet  sich  das  Bestreben  ?  diese  so  frohe 
wie  möglich  auf  selbstständige  Weise  in  Jesu  hervortreten 
eu  lassen,  in  den  zum  Theil  schon  oben  angefahrten  Schil- 
derungen der  Apokryphen  von  der  Art,  wie  Jesus  bereits 
lange  vor  dem  zwölften  Jahre  seine  Lehrer  übersehen 
habe ;  da  er  ja  nach  einem  derselben  bereits  in  der  Wiege 
gesprochen,  and  sich  für  den  Sohn  Gottes  erklärt  haben 
soll  0*  Aber  auch  die  praktische  Seite  der  höheren  Selbst- 
tätigkeit, welche  Jesu  in  späteren  Jahren  eigen  gewesen 
sein  soll,  nämlich  das  Wunderthun,  versetzen  die  apokry- 
phischfen  Evangelien  schon  in  seine  erste  Kindheit  und 
Jugend«  Mit  dem  fünften  Jahre  Jesu  eröffnet  das  Evan- 
gelium Thomae  seine  Erzählung  von  dessen  Wundertha- 
ten  *) ;  nnd  das  arabische  Evangelium  infantiae  fallt  schon 
die  ägyptische  Reise  mit  einer  Masse  von  Mirakeln,  welche 
die  Mutter  Jesu  mittelst  der  Windeln  oder  des  Wasch- 
wassers ihres  Kindes  verrichtet  *)•  Oie  Wander,  welche 
nach  diesen  Apokryphen  das  Kind  and  der  Knabe  Jesus 
thut,  sind  theils  den  N.  T.  liehen  analog:  Heilungen  and 
Todtenerweckungen;  theils,  ganz  abweichend  von  dem  in 
den  kanonischen  Evangelien  herrschenden  Typus,  höchst 
widrige  Strafwunder,  vermöge  deren  Jeder,  der  dem  Kna- 
ben Jesus  in  irgend  etwas  entgegen  ist,  erlahmen  oder 
gar  sterben  mufs 10) ;  oder  völlig  abenteuerliche  Stücke, 
wie  die  Belebung  aus  Koth  geformter  Sperlinge  ")  u.  dgL 
Das  entgegengesetzte  Interesse  der  natürlichen  An« 
sieht  von  Jesu:    seine  Erscheinung   dem  Causalitätsgesetee 

7)  Evangel.  Infant  arab.  c.  1.  S.  60  f.  bei  Thilo,  und  die  §.  40. 
angeführten  Stellen  aus  demselben  Evangelium  und  dem  Evang« 
Thomae. 

8)  cap.  2,  9.  278.  Thilo. 

9)  cap,  10  ff. 

10)  ».  B.  Evang.  Thomae,  c.  3  —  5.    Evang.  infant.  arab.  c.  46  f. 

11)  Evang.  Thomae,  c.  2.     Evang.  iof.  arah.  c.  56. 


F Haftet  Kapitel.    §«42.  366 

geuUtfs  aus  verwandten  früheren  und  gleichseitigen  an  er- 
klären,   ood   daher  «eine  Abhängigkeit  und  Receptivitftt 
hervorauheben ,   hat  sieh  gleichfalls,  schon  frohe,   bei  jüdi- 
schen 'und  heidnischen  Gegnern   de«  Christenthums  r  her* 
Torgethan.    Freilich ,   indem  in  den  ersten)  Jahrhunderten 
der  christlichen  Zeit  der  ganze  geistige  Boden  bei  Heiden 
wie   bei  Juden   noch    ein   supranataralistiaoher   war:    ao 
konnte  damals  der  Vorwurf,    dafa  Jeaua  seine  Einsichten 
and   wunderähnlichen  Geschicklichkeiten  nicht  aich  selbst 
oder  Gott,  sondern  einer  Mitt heilang  Ton  aufsen  verdanke, 
noch  nicht  die  Gestalt  annehmen,  er  habe  auf  dem  gewöhn- 
lichen Wege  des  Unterrichts  natürliche  Kunstfertigkeiten 
nnd  Einsichten  von  Andern  empfangen ;  sondern  es  wurde 
dem  Göttlichen  und  Cebernatfirlichen  statt  des  Natürlichen 
«Ad  Menschlichen  «ein  Unnatürliches  und  Dämonisches  ent- 
gegengestellt,   und  Jesu  vorgeworfen,   dafa  er  zum  Behuf 
•einer  Wunder  in  aeiner  Jugend  die  Zauberei  erlernt  habe. 
Diese  Beschuldigung  iiefs  sich  am   ehesten   an   die  Reise 
aeiner  Eltern   mit  ihm  nach  Aegypteu,   in  dieses  uralte 
Land  der  Magie  und  geheimen  Weisheit,  knüpfen:  und  so 
gewendet  finden  wir  sie  wirklich  sowohl  bei  Celans  als  im 
Talmud.    Jener  läfst  einen  Juden   unter  Anderem   auch 
das  gegen.  Jesum  vorbringen ,  er  habe  sich  nach  Aegypten 
um   Lohn  verdungen,    dort   habe  er  sioh   einige  Zauber« 
kflnste  ansueignen  gewufst,  und  nach  seiner  Rückkehr  um 
derselben  willen  sich  prahlerisch  für  einen  Gott  ausgege- 
ben **)•    Der  Talmud  gibt  ihm  einen  jfidischen  Synedristen 
«um  Lahrer,    läfst  ihn  mit  diesen*  nach  Aegypten  reisen, 
nnd   von    da   Zauberfetmäln  nach  Palästina  surückbrin- 

±2)  Orig.  6.  Cels.  1 ,  28 :  *ac  (läytd  Sri  Iroq  (o  '/jpi«)  Sti  n*vt*y  tk 
Afyvnxw  pto&cqvqaof,  xaxtl  &woft*w  f»w  me*Mft  *V*  «*&   Aiyu- 

13)  Sanhedr.  f.  107,  2 :  —  E.  Josua  f.  Perachja  et  ^  Alexm- 


«4  firster  AJbmAmitt. 

Der  rein  natttrliefc  fiealchtapunkt  för  die  geistig« 
Entwiekeiung  Jesu  keimte  erst  aaf  dem  Boden  der  neuem 
Bildung  gefafst  werden,  und  hier  begründet  den  Haupt- 
untersebied  der  Ansichten  diefs,  ob  ans  den  in  jener 
Zeit  gegebenen  Bildungsmomenten  einseitig  nur  Eines 
herausgegriffen,  oder  mit  umfassenderem  Sinne  von  ihrer 
Gesammtheit  ausgegangen  wird;  ob  ferner  dieser  äufseren 
Einwirkung  gegenüber  die  innere  Begabung  uiid  freie 
Selbstbestimmung  Jesu  gehörig  berücksichtigt  wird  oder  nicht. 

Die  Grundlage  seiner  Bildung  waren  jedenfalls  die 
heiligen  Bücher  seines  Volkes,  deren  eifriges  und  tiefein- 
dringendes Studium  die  in  den  Evangelien  uns  aufbehalte- 
nen Reden  Jesu  beurkunden.  Sein  messianisebes  Bewufst« 
sein  scheint  eich  an  der  Hand  namentlich  von  Jesaia  und 
Daniel  entwickelt  zu  haben ;  auf  geistige  Religiosität ,  auf 
Erhebung  über  den  gemein -jüdischen  Partioularlsmub , 
wiesen  überhaupt  die  prophetischen  Schriften,  sammt  den 
Psalmen,  bedeutsam  hin» 

Zunächst  liegen  sofort  untörden  damals  in  der  Hei- 
math Jesu  gegebenen  Bildungsmomenten  die  drei  Secten, 
in  welche  das  geistige  Leben  seiner  Volksgenossen  getheilt 
war.  Scheinen  unter  diesen  die  von  Jesu  später  so  sehr 
bestrittenen  Pharisäer  nur  als  negatives  Bildungsmittel  für 
ihn  in  Betracht  kommen  zu  können :  so  ist  doch  neben  ih- 
rem Ueberlieferungswesen  und  gesetzlichen  Pedantismus, 
ihrer  Werkheiligkeit  und  Heuchelei,   wodurch  sich  Jesus 


driam  Aegyptt  profeett  sunt  —  —  IUP  ex  Wo  tempore  fha- 
giam  exercutt,  et  IsraäÜtas  ad  pesstma  guaevts  perduxtt 
(Ein  .bedeutender  Anachronismus ;  da  dieser  Josua  Ben  P6- 
rachja  um  ein  Jahrhundert  früher  lebte.  S.  Jost,  Geschichte 
der  Isr.,  2,  S.  SO  ff.  u.  142  der  Anhänge.)  Schabbath  f.  104, 
2 :  Traditip  est,  R.  Elteserem  dtxtsse  ad  vfro*  doctos  :  amwn 
/.  Satdae  (t  e+  Jesus)  magiam  ex  Aegypto  adduxtt  per  tncU 
sionem  in  came  sua  faetam  t  s.  Schöttgen,  horae,  2,  S.  697  ff* 
EisiKMjMfSBii,  entdecktes  Judenthumj  1,  S.  149  f. 


Ffinftes  Kapitel,    fr  4*.  MS 

Ton  ihnen  abgestofsen  fühlte,  auf  $w  andern  Seite  nicht 
aniser  Acht  ^u  lassen  ,  dafs  ihr  {Haube  an  £ngel  and  Un- 
sterblichkeit, Oberhaupt  ihre  gleiehmfifsige  Anerkennung 
auch  der  nachmosaischen  Fortentwickelang  der  jüdischen 
Religion,  ebenso  viele  Ansehliefsangspnnkte  für  Jesuin 
waren.  Da  jedoch  diese  Stöcke  den  Pharisäern  nnr  im 
Gegensätze  gegen  die  Sadduc&er  eigentümlich,  übrigens  aber 
allen  rechtgläubigen  Juden  mit  ihnen  gemein  waren :  so  wird 
es  doch  bei  dem  wesentlich  negativen  Einflüsse  der  pharisäi- 
schen Secte  anf  die  Bildung  Jesu  sein  Verbleiben  haben.  — 
Da  in  den.  Reden  Jesu  der  Gegensat»  gegen  den  Sadducäis- 
mus  weniger  hervortritt;  da  er  vielmehr  mit  demselben  in 
der  Verwerfung  der  pharisäischen  Tradition  und  Heuchelei 
zusammentraf:  so  haben  einzelne.  Gelehrte -in  dieser  Secte 
eine  Schule  für  ihn  finden  wollen  ").  Allein  die  blofs  ne- 
gative Uehereinstimmung  gegen  die  Verirrungen  der  Pha- 
risäer, eine  Uehereinstimmung,  welche  flberdiefs  bei  Jesu 
aus  ganz  anderem  Princip,  als  bei  den  Sadducflern,  kam, 
wird  durch  den  Gegensatz  weit  fiberwogen,  welchen  ihre 
religiöse  Kälte,  ihr  Unglaube  an  Fortdauer  und  Geister- 
welt, mit  der  Stimmung  und  Weltanschauung  Jesu  bildet; 
dafs  aber  in ,  den  Evangelien  die  Polemik  gegen  die  Sad- 
ducäer  zurücktritt,  erklärt  sich  einfach  daraus,  dafs  die 
Secte  selbst  anJEinflufs  auf  diejenigen  Kreise,  mit  welchen 
es  Jesus  zunächst  zu  thun  hatte,  sehr  zurückstand,  indem 
sie  nur  in  den  höheren  Ständen  ihre  Anhänger  hatte 15). 

Nur  von  Einer  der  damaligen  jüdischen  Secten  kann 
ernstlich  die  Frage  entstehen,  ob  ihr  nicht  ein  bestimmen« 
der  Einflufs  auf  die  Bildung  und  das  Auftreten  Jesu  zuzu- 
schreiben sei:  von  der  Secte  der  Essener *16)»  Die  Ablei- 
tung des  Christenthums  aus  dem  Essenismus  war  im  vori- 

14)  z»  B.  Dia  CoTEt,  Schutzschrift  für  Jesus  von  Nazaret,  S.  128  ff. 

15)  Neandkb,  L.  J.  Chr.,  S.  39  £. 

16)  s.  Joseph.*  B.  j.  2,  8,  2  —  13.     Antiq.  18 ,  1 ,  5.    Vgi  Philo, 
quod  omnis  probus  lihcr  u.  de  Tita  contcmplafciva. 


368  Erster  Abschnitt. 

ger  StoflF  gegeben  sein,  dessenungeachtet  der  Funke,  durch 
Welchen  der  Genius  denselben  entstindet,  und  seine  ver- 
schiedenen Bestandteile  in  Einen,  in  sich  gleichartigen, 
Guts  verschmelzt,  weder  an  Erklärlichkeit  gewinnt,  noch 
an  Verdienst  verliert?  So  auch  bei  Jesu«  Mag  er  die 
Bildungsmittel  seiner  Zeit  aufs  Gründlichste  ausgebeutet 
haben :  umfassende  Receptivität  ist  bei  grofsen  Männern 
immer  die  Kehrseite  ihrer  gewaltigen  Selbstfli&tigkeit; 
möchte  er  dem  Essenismus  nnd  Alexandrinismus,  und  wel- 
chen Schulen  und  Richtungen  sonst  noch,  weit  mehr  ver- 
danken, als  wii*  —  noch  daau  so  unsicher  —  nachzuweisen 
im  Stande  sind :  zur  Umbildung  einer  Welt  reichte  keines 
dieser  Elemente  auch  nur  von  ferne  hin:  den  hiesu  erfor- 
derlichen Gährungsstoff  konnte  er  nur  aus  der  Tiefe  sei- 
nes eigenen  Geistes  nehmen  21)« 

Doch  von, Einer  Erscheinung  ist  noch  nicht  die  Rede 
gewesen,  welche  unsre  Evangelien  in  die  Entwickelung 
der  ThÄtigkeit  Jesu  am  bedeutendsten  eingreifen  lassen: 
von  der  des  Täufers  Johannes.  Da  nämlich  der  Wirk- 
samkeit dieses  Mannes  von  den  Evangelien  erst  in  Ver- 
bindung mit  der  Taufe  und  dem  öffentlichen  Auftreten  Jesu 
gedacht  wird:  so  ist  das  ihn  und  sein  Vegh&Itnifs  zu  Jesu 
Betreffende  nicht  mehr  hier  abzuhandeln,  sondern  mit  der 
Untersuchung  darüber  der  «weite  Abschnitt  eu  eröffnen« 


21)  Vergl.  Paulus  a.  9.  O.  1,  a,  273  ff«;  Flakcx,  Geschichte  des 
Christenthuma  in  der  Periode  seiner  ersten  Einführung,  1, 
S.  84;  »s  Wetts,  bü>l.  Dogmat,,  §.  212;  Hask,  L»  J.  §.  38; 
WiKSJt,  bibl.  Realw.,  S.  677 f.;  Nkawdsr,  L.  J.  Chr.,  S.  38  ff, 


Zweiter  Abschnitt.    , 

Die   Geschichte    des   öffentlichen 

Lebens  Jesu. 


Dtp  Ltktm  /m»  ile  Aufl.  1.  Bmnd. 


24 


"^— 


Erstes    Kapitel. 

Das  Verhältnis  Jesu  zun  Täufcy  Johannes. 


$.    43. 
Chronologisches  Verhältnis 8  zwischen  Johannes  und  Jesus. 

Von  dem  Auftritte  des  Täufers  Johannes,  dessen 
sämmtlicbe  Evangelien  gedenken,  geben  nns  das  zweite 
and  vierte  keine  Zeitbestimmung;  das  erste  eine  angenaue; 
das  dritte  eine,  wie  es  seheint,  sehr  präoise. 

Nach  Matth.  3,  1.  tritt  Johannes  als  Bufsprediger 
aof  ev  raTg  fydQaig  exelvaig,  das  hiefse,  wenn  man  es  mit 
dieser  Ruckweisung  auf  das  zoletat  Erefihlte(2,23.)  streng 
nehmen  wollte:  um  die  Zeit,  als  Jesu  Eltern  sich  in.  Na- 
saret ansiedelten;  wo  Jesus  noch  ein  Kind  war.  Wenn 
nun  im  Folgenden  berichtet  wird,  wie  Jesus,  um  sich 
tanfen  au  lassen,  su  Johannes  gekommen  sei:  so  moTste 
man  hienaoh  zwischen  dem  ersten  Auftritte  des  Täufers, 
der  in  die  Kindheit  Jesu  fiele ,  und  dem  Zeitpunkt ,  in 
welchem  er  Jesum  taufte,  eine  Reibe  von  Jahren  einschie- 
ben ,  während  welcher  Jesus  so  weit  herangereift  sein 
müfste,  am  an  der  johanneischen  Taufe  Tbeil  nehmen  eu 
können.  Aber  die  Schilderung  der  Person  und  Wirksam- 
keit des  Täufers  bei  Matthäus  ist  so  kurz,  es  wird  ihm  so 
wenig  eine  selbstständige,  so  gana  nur  eine  auf  Jesum 
hinsielende  Wirksamkeit  angeschrieben:  dafs  es  gewifs 
nicht  im  Sinne  des  Evangelisten  ist ,   denselben  eine  lange 

Reihe  von  Jahren   für'  sieh  wirken  an   lassen ;    sondern 

04* 


372  Zweiter  Abschnitt 

seine  Meinung  geht  unstreitig  dahin ,  die  knrae 
keit  des  Titufers  habe  frfihaeitig  ihr  Ziel  darin  gefunden, 
dafs  Jesus  sieh  von  ihm  taufen  liefs.  Haben  wir  anf  diese 
Weise  nicht  «wischen  den  Auftritt  des  Täufers  und  die 
Taufe  Jesu,  also  «wischen  V.  12*  und  13.  des  dritten  Kap. 
bei  Matthäus ,  die  lange  Zwischenzeit  hineinzudenken, 
welche  wir  hier  in  jedem  Falle  nttthig  haben :  so  bleibt 
nichts  übrig,  als  sie  «wischen  dem  Schlüsse  des  zweiten 
und  dem  Anfänge  des  dritten  Kapitels,  d.  h.  «wischen  der 
Ansiedelung  der  Eltern  Jesu  in  Nazaret  und  dem  Auftritte 
des  Täufers  einzuschalten«  Mag  man  nun  «u  diesem  Ende 
mit  Paulus  voraussetzen ,  Matthäus  rücke  hier  ein  St  tick 
aus  einer  Dlegese  über  den  Täufer  ein,  in  welcher  von 
dessen,  seinem  öffentlichen  Auftritt  unmittelbar  vorange- 
gangenem Leben  Manches  berichtet,  und  dann  mit. vollem 
Rechte  durch  iv  ralg  rjfxkQaig  ixstvaig  fortgefahren  war, 
welohe  Verbindungsformel  nun  Matthäus,  ob  er  gleich  das, 
worauf  sie  sich  bezog,  weggelassen,  dennoch'  beibehalten 
habe  *) ;  oder  mag  man  mit  Süskind  die  Worte  als  Hinweisung 
auf  die  Zeit  nicht  der  Ansiedelung,  sondern  des  fortgesetzten 
Aufenthalts  Jesu  zu  Nasaret  fassen2);  oder  besser  das 
iv  Tccig  rjfdQcug  ixslvaig,  wie  das  entsprechende  hebräische 
Dnn  DTDJ3  «»  B.  2.  Mos.  2,  11.  wahrscheinlich  su  erklären 

ist ,  zwar  auf  den  Zeitpunkt  der  Ansiedelung  in  Nazaret, 
aber  in  der  Art  beziehen,  dafs  etwas  gegen  dreifsig  Jahre 
nachher  Eingetretenes  immer  noch  im  weiteren  Sinne  ge- 
schehen in  jenen  Tagen  heifsen  kann3):  in  keinem  Falle- 
erfahren  wir  aus  Matthäus  über  die  Zeit  des  Auftritts  von 
Johannes  mehr,   als  das  ganz  Unbestimmte,  dafs  derselbe 


1)  Exeget.  Handb.,  1,  a,  S.  46*    Ihm  stimmt  auch  Schukcrbit- 
BuaasA  hei,  über  den  Ursprung  des  ersten  kanon.  Evang.,  S.  30. 

2)  Vermischte  Aufsätze,  8.  76  ff.    Vgl«  dagegen  ScmBcnnBURMSy 
a.  a.  O. 

5)  d«  Wim  tu  Fmtzscbs  je.  d.  St; 


/ 


in    cier  renooe   cwiscnen  oer  rununeK  am  oem  msnnes- 
«lter  Jesu  erfolgt  sei. 

Lakai  gibt  eine  vielfache  Zeitbestimmung  für  den 
Auftritt  der  Täufers,  indem  -er  denselben  in  die  Verwal- 
tungsaeit  des  Pilatni  in  Jadia ;  in  die  Regierung  des  He* 
rodes  CAntipas),  des  Pbillppus  nnd  des  Lysanias  in  den 
Sbrigen  Theilen  Palästina'«;  in  die  Hohepriestersehaft  de* 
Annas  undKaiphas;  bestimmt  aber  in  das  lata  Regierung^ 
js.hr  des  Tjberins  verlegt,  welches,  vom  Tods  des  Augu- 
stos  an  gerechnet,  dem  Jahr  ÄS— 29  nnsrer  aera  ent- 
spricht *}  (5,  1. 2.).  -  Mit  dieser  letzteren,  genauesten  Zelt* 
angäbe  stimmen  alle  die  vorhergegangenen  minder  genauen 
(«neb  die,  defs  neben  Kaiphas  noch  Annas  als  Hoheprie- 
ster genannt  wird,  sobald  man  den  eigenthflmliohen  Ein- 
flufs  erwägt,  welchen  nach  Jon.  18,  IS.,  A.  G.  4,  6.  Jener 
gewesene  Hobepriester  aneh  nach  seiner  Absetzung,  beson- 
ders seit  dem  Amtsantritte  seines  Schwiegersohns  Kaiphas, 
beibehielt)  zusammen:  mit  Ausnahme  der  Angabe  Aber  den 
Lysanias,  welcher  dem  Antipas  und  Philippus  eis  gleich- 
■eiliger  Tetrarch  von  Abllene  nur  Seite  gesetst  ist.  Zwar 
spricht  auch  Josephns  von  einer  'AßHa  rt  Avoavla  und 
fahrt  einen  Lysaaias  als  Herrscher  von  Chalcls  am  Liba- 
non, in  dessen  Nabe  auch  das  Gebiet  von  Abila  s»  suchen 
ist ,  auf,  der  also  ohne  Zweifel  auch  der  Beherrscher  des 
lauteren  war:  aber  dieser  Lysanias  war  bereits  84  Jahre 
tot  Christi  Geburt  auf  Anstiften  der  Kleopatra  ermordet 
worden,  nnd  eines  andern  Lysanias  erwähnt  weder  Jose- 
phns, noch  sonst  ein  Schriftsteller  über  jene  Zeit  ■).     Die 


4)  i.  P»ni.u«  s.  i.  0.  S.  336. 

5)  Ich  stelle  alle  von  Lysanias  und  (einem  Gebiete  handelnden 
Stellen  des  Josephus  lammt  den  Parallelen  aus  Dio  Cataius 
hier  zaiammen.  Antiq.  Iß,  16,  3.  14,  3,  2.  7,  8.  —  AnUq. 
15,  4,  i.  B.  j.  1,  13,  I  (Dio  Ca».  49,  62).  —  Anliq.  15,  1», 
1—3-    B.  j.  1,  20,  4  (Dio  Ca».  54,  9).    -   Aatiq.  17,  11,  4. 


/ 


974  Zweiter  Abschnitt. 

i 

Herrschaft  jene«  Lysanias  fiele  also  nicht  nur  mehr  als  60 
Jahre  früher  als  das  15te  Jahr  des  Tiberins,  sondern  auch 
Aber  die  andern  von  Lukas  mit  diesem  zusammengestellten 
weiteren  Perioden  um  Vieles/  hinaus.  Alan  hat  daher  an- 
genommen, Lukas  spreche  hier  von  einem  Nachkommen 
jenes  früheren,  einem  jüngeren  Lysaniaa,  weicher  anter 
Tiberius  jene  Landschaft  besessen  habe,  von  Josephcia 
aber,  seiner  minderen  Berühmtheit  wegen,  nicht  erwähnt 
werde  *)•  Nqn  Ifi&t  sich  «war. freilieh  nicht  beweisen,  was 
Süskind  Jtur  Widerlegung  dieser  Deutung  verlangt,  daf* 
Josephus  des  jüngeren  Lysanias  nothwendig  hätte  erwäh- 
nen müssen,  wenn  ein  solcher  existirt  hätte;  aber  doch, 
dafs  er  mehr  als  Eine  Veranlassung  dazu  hatte,  hat  Pau- 
lus genügend  aufgezeigt.  Namentlich  da  er  noch  in  Be- 
zug auf  die  .Zeiten  des  ersten  und  zweiten  Agrippa  Abila 
als  rj  Avouvfa  bezeichnet,  so  mnfste  er  doch  hiedurch  dar- 
an erinnert  werden,  dafs  er  des  zweiten  Lysanias,  von 
welchem ,  als  dem  späteren  Regenten ,  das  Land  um  Jena 
Zeit  zunächst  diesen  Beinamen  gehabt  haben  müfste,  gar 
nicht  erwähnt,  sondern  nur  von  dem  ersten  erzählt  hatte  *)• 


B.  j.  2,  6,  3.  —  Antiq.  18,  6,  10.  B.  j.  2,  9,  6  (Dio  Gass. 
59,  8).  —  Antiq.  19,  5,  1.  B.  j.  2,  11,  5.  —  Antiq.  20,  5,  2. 
7,  1.    B.  j.  2,  12,  8.  . 

6)  Süsbind,  vermischte  Aufsätze,  S.  15  ff.  93  ff. 

7)  Thomjck  meint  „  ein  vollkommen  entsprechendes  Exempel u 
bei  Tacitus  gefunden  zu  haben.  Da  dieser  Anna!.  2,  42  (im 
Jahr  Chr.  17)  einen  Gappadocierk'dnig  Archelaus  sterben  lasse, 
und  doch  Annal.  6,  4t  (36  n.  Chr.)  wieder  eines  Gappadociers 
Archelaus  als  Herrschers  der  Cliten  gedenke :  so  müsse  auch 
hier  „dieselbe  historische  Conjectur"  gemacht  werden ,  näm- 
lich dass  es  zwei  Gappadocier  Archelaus  gegeben  habe  (S.203f.). 
Allein  das  ist  gar  keine  Gonjectur,  sondern  ein  klares  histori- 
sches Datum,  wenn  derselbe  Geschichtschreiber,  nachdem  er 
den  Tod  eines  Mannes  gemeldet,  später  einen  ihm  gleichna- 
migen ,  noch  dazu  in  anderer  Stellung,   auftreten  läsat,    dass 


i 
i 


Erstes  Kapitel    f.  4S.  375 

Ist  demnaeh  der*  nweite  Lysanias  niohts  anderes  als  eine 
historische  Fietion:  se  ist  freilich  das,  was  man  statt  den- 
selben in  Vorschlag  gebracht  hat  *) ,  auch  nicht  weiter  als 
eine  philologische.  Denn  wenn  vorhergegangen  war:.  Q>i- 
üimt*  —  TSTQaQxönos  vtjs  ^HQcdctg  x.  *.  iL,,  und  es  folgt 
no:  xal  Avaavin  Tijg  *AßiXrpnjg  TW(xx(tx8¥T0$:  sokanndiefs 
nnmöglich  so  verstanden  werden,  als  hfftte  eben  jener  Phi- 
lippas  aneii  über  das  Abilene  des  Lysanias  geherrscht« 
Denn  in  diesem  Falle  durfte  das  TerQaQxävtog  nicht  wie- 
derholt 9),  und  mutete  rrjg  <ver  Avaaris  gestellt  werden, 
wenn  der  Verfasser  nicht  niCsverstanden  sein  wollte.  Gs 
bleibt  daher  nichts  übrig,  als  die  Annahaie,  der  Verfasser 
selbst  habe  sich  geirrt,  und  aus  dem  Umstände,  dals  anch 
in  späteren  Zeiten  noch  Abilene  von  dem  letnten  Herrscher 
der  friheren  «Dynastie  37  Avaavls  subenattnt  war,  den 
Schlafs  gesogen,  dafs  es  anch  damals  noch  einen  Herr- 
scher dieses  Namens  gehabt  habe;  während  es  dooh  ent- 
weder unter  Philippus,  oder  unmittelbar  unter  den  Römern 
stand  ")* 


es  folglich  zwei  solche  Pertonen  gegeben  hat;  gani  anders, 
wenn ,  wie  bei'm  Lysanias ,  zwei  verschiedene  Schriftsteller, 
jeder  nur  Einen ,  aber  in  verschiedener  Zeit ,  haben :  wobei 
die  Verdoppelung  der  Person  dann  allerdings  eine  Con- 
jeetur,  aber  eine  um  so  weniger  historische,  ist,  je  unwahr« 
scheinlicher  es  sich  zeigt ,  dass  der  eine  von  beiden  Schrift- 
stellern von  dem  zweiten  Manee  gleichen  Namens ,  wenn  es 
einen  solchen  gab,  geschwiegen  haben  würde. 

8)  Micnasut,  Itafevs  v.  d.  St.;  SciotxcxxffvüJtftBa,  in  Uuaumi's 
und  Ukb&sit's  Studien,  1835,  4,  lieft,  S.  1056 ff.;  Tholücm, 
S.  201  ff. 

9)  Denn  auf  die  Auctorltät  eines  einzigen  Codex  hin  mit 
ScwiKCK*nBUR6XR  u.  A.  das  zweite  rrrprf/Hirof  xu  streichen, 
ist  doch  eine  zu  offenbare  Gewaltsamkeit. 

10)  VergL  mit  dieser  Ansicht  AUgem.  Lit.  Ztg.,  1805,  No,  $44. 
S.  552;  oft  Wätii,  exeg.  Handb.  z.  d.  St. 


376  Zweiter  Abschnitt. 

Die  chronologische  Angebe  unserer  Stelle  betrifft 
nächst  nur  den  Täufer  Johannes;  wo  Lukas  später  (V. 
21.  iL)  auf  Jesum  so  reden  kommt,  vermiist  man  eine  ahn* 
liehe»  Von  ihm  wird  hlofs  das  ungefähre  Alter  iiogel 
ziwv  TQUxxoyia)  bei  seinem  Auftritt  (aQXO/ueyog)  angege- 
ben, der  Zeitpunkt  aber  versehwiegen;  so  wie  nmgekehit 
flr  Johannes  die  Altersangabe  fehlt.  Ist  also  gleich  Jo- 
hannes im  fünfzehnten  Jahre  des  Tiborius  aufgetreten, 
so  können  wir,  seheint  es,  daraus  doch  nichts  ffir  die 
Zeit  des  Auftritts  Jesu  abnehpeo ,  da  Ja  nirgends  geiagt  • 
ist,  wie  kuru  oder  lange  nachdem  Johannes  au  teufen 
angefangen ,  Jesus  bu  ihm  an  den  Jordan  gekommea  sei ; 
ebenso ,  wenn  wir  gleich  wissen ,  dab  Jesus  bei  seiner 
Taufe  ungefähr  30  Jahre  zählte,  so  erfahren  wir  dadurch 
nicht,  wie  alt  Johannes  war,  da  er  seine  Wirksamkeit  als 
Täufer  begann.  Freilich,  wenn  wir  uns  an  Luc.  1,  26. 
erinnern,  wonach  Johannes  gerade  ein  halbes  Jahr  älter 
als  Jesus  war,  und  wenn  wir  das  Datum  au  Hälfe  neh- 
men, dafs  vor  dem  dreißigsten  Jahre  die  jüdische  Sitte 
ein  öffentliches  Auftreten  nicht  wohl  erlaubt  habe:  so 
könnte  der  Täufer  nur  ein  halbes  Jahr  vor  Jesu  Ankunft 
am  Jordan  aufgetreten  sein,  da  er  nur  so  lange  vor  ihm 
das  hiesu  notwendige  Alter  erreicht  hätte.  Allein  vor 
dem  angegebenen  Lebensjahre  öffentlich  aufzutreten,  verbot 
wenigstens  kein  ausdrückliches  Gesetu,  und  ob  von  den 
Priestern  nnd  Leviten,  welchen  jenes  Jahr  als  Anfang  des 
ordentlichen  Dienstes  bestimmt  war  (4.  Mos.  4,  &•  47«, 
vergl.  übrigens  2.  Chron.  31,  17.,  wo  das  nwanaigste  ge- 
nannt Ist),  ein  Schlafs  auf  die  freiere  Wirksamkeit  eines 
Propheten  gelte ,  hat  man  mit  Recht  in  Frage  gestellt  u> 
Diefs  also  würde  nicht  hindern,  auch  das  angegebene 
Altersverhältnifs  vorausgesetzt,  doch  den  Auftritt  des  Täu- 
fers dem  von  Jesu  um  ein  Ziemliches  vorangehen  au  las- 


II)  •   Pauli»,  S.  294. 


Er*i#s  Kapital,    $.  43.  977 


ladefr  schwerlich  ja  fiiaaa  des  Evunff  ahn  fiten 
dal«  dieser  den  Abtritt  des  Veriaafars  twar  m  iber* 
eargfftltig  bestimmt  fcaben  sollte,  dm  des  Messias  selbst 
«bar  wmkmümmt  aulasaaa,  das  wire  doch  gar  au  ange» 
anhiebt  **),  and  wir  ataaea  fcaam  andern,  als  ihm  die- 
Abriebt  unterlegen,  durah  aaiae  Aagabea  ftr  den  Auftritt 
das  Täufer«  aaeb  *e  Zeit  des  Auftritts  Jesa  mitaubestim« 
om)b.  Diefs  trifft  aber  nur  dann  an,  wenn  er  annahm, 
dafs  sehr  bald  naoh  dem  Auftreten  des  Jehanaes  Jesus  ca 
{hm  an  den  Jordan  gekommen  sei,  and  sofort  selbst  auch 
au  lehren  angefangen  babe  la).  Denn  dafs  jene  Zeitbe» 
Stimmung  ursprünglich  nur  den  Anfang  eines  von  Lukas 
eingerückten  Aufsatzes  über  den  Taufer  susgemacht  haben 
sollte,  ist  defswegen  wenig  wahrscheinlich,  weil  solche 
chronologische  Akribie  eher  dem  nccQTpcoXsdrpoTi  avco&ev 
mcüiv  axQißwg  und  demjenigen  annlich  sieht,  der  auch 
die  Zeit  ven  Jesu  Geburt  auf  entsprechende  Weise  au  be- 
stsauaen  gesucht  hatte« 

Eine  so  kurze  Dauer  der  Wirksamkeit  des  Titufers 
aber  hat  man  neuerlieh  unwahrscheinlich  gefunden;  da  er 
dock  eine  beträchtliche  Anzahl  Jünger  (Job.  4,1.),  und 
zwar  nicht  hlofs  solche,  die  sich  nur  von  ihm  taufen' 
liefsen,  sondern  auch  von  ihm  besonders  gebildete  Schil- 
ler (Luc*  11,  1*)?  hatte,  und  eine  eigene  Partei  von  An- 
hangern hinterließt  ( A.  6.  IS,  25.  19,  3.):  was  schwerlich 
das  Werk  von  wenigen  Monaten  habe  sein  können.  Es 
raubte  doch,  wurde  bemerkt,  erst  einige  Zeit  hingehen, 
bis  der  Taufer  so  bekannt  wurde,  dafs  die  Leute  die  Reise 
au  ihm  in  die  Wüste  unternahmen;  es  bedurfte  Zeit,  seine 
Lehre  au  fassen,  und  Zeit,  dafs  sich  dieselbe,  aumal  sie 
gegen  die  gangbaren  jüdischen  Begriffe  verstiefe,  erst  Ein- 


12)  8.  Schlsxbrmachxr,  über  den  Lukas,  S.  62. 

13)  Dieser  Ansicht  war  such  Bsxski.,  Ordo  temporum,  S.  204  f. 
ed.  2. 


37$  Zweiter  Abschnitt, 

gang  verschaffen  and  sieh  festsetzen  konnte;  tiberhaupt, 
das  hohe  und  dauernde  Ansehen,  in  weiches  sich  Jobannes 
nach  Josephus  ")»  wie  nach  den  Evangelien  (Matth.  14,  2. 
21,  26.) ,  bei  seiner  Nation  gesetzt  hatte,  liefit  sieh  nicht 
wohl  in  so  kurzer  Zeit  erwerben  '*)• 

Wir  lassen  das  Recht  oder  Unrecht  dieser  Forderung 
einer  längeren  Zeit  für  die  Wirksamkeit  des  Täufers  noch 
einen  Augenbliek  unentschieden,  und  sehen  erst  nach,  ob 
unsere  Evangelien  dieselbe  nicht  vielleicht  dadurch  befrie- 
digen, dafs  sie,  was  vorne  fehlt,  hinten  ansetzen,  und  den 
Täufer  nach  dem  Auftritt  Jesu  desto  länger  noch  fortwir- 
ken lassen?  Allein  auch  eine  Verlängerung  der  Wirk* 
samkeit  des  Täufers  nach  dieser  Seite  ist  wenigstens 
in  den  zwei  ersten  Evangelien  nieht  zu  finden.  Denn 
nicht  nur  berichten  diese  nach  Jesu  Taufe  über  Jo- 
bannes  nichts  mehr,  aufser  jener  Sendung  zweier  Jün- 
ger (Matth.  ll.)>  dl«  schon  aus  dem  tiefängnifs  erfolgt; 
sondern  es  lautet  Matth.  4,  12.  Marc.  1,  14.  ganz  so,  als 
ob  während  oder  kurz  nachN  dem  vierzigtägigen  Aufent- 
halte Jesu  in  der  Wüste  der  Täufer  gefangen  genommen 
worden,  und  in  Folge  dessen  Jesus,  nach  Galiläa  gegan- 
gen wäre,,  um  daselbst  öffentlich  aufzutreten.  Lukas  frei- 
lich (4,  14.)  erwähnt  der  Gefangennehmung  des  Täufers 
nicht  als  der  Veranlassung  von  Jesu  Auftreten  in  Galiläa, 
und  von  der  Sendung  der  zwei  Johannis jünger  scheint  er 
sich  vorzustellen,  sie  sei  noch  während  der  freien  Wirk- 
samkeit des  Täufers  erfolgt  (7,  18.  ff.);  noch  bestimmter 
spricht  sich  das  vierte  Evangelium  gegen  die  Vorstellung 
aus,  als  wäre  Johannes  so  bald  nach  Jesu  Taufe  gefangen 
gesetzt  worden,  indem  es  3,  24.  ausdrücklich  bemerkt, 
dafs  noch  nach  dem  ersten  von  Jesu  während  seine« 
öffentlichen  Lebens  besuchten   Pascha  Johannes   in 


14)  Antiq.  18,  5,  2. 

15)  So  Clüdius,    über  die  Zeit  und  Lebensdauer  Johannis  und 
Jesu.    In  Haaxi's  Museum,  2,  5,  502  ff. 


Erste«  Kapitel.    §.  43.  379 

Wirksamkeit  gestanden  habe»     Allein  tbeils  kann  dieses 
Fortwirken  des  Täufers  nach  Jesu  Auftritt  doch  nicht  sehr 
lange  mehr  gedauert  haben,  da  er  geraume  Zelt  vor  Jesu 
hingerichtet  worden  zu  sein  scheint  (Lac.  9,  9.  Matth.  14, 
1.  ff.  Marc.  14,  16.);  theüs  kann,  wenn  man  den  Einflafs 
des  Tlafers   und    die   Fortdauer   seiner  Schule  nur    aus 
einer  länger  dauernden  Wirksamkeit   begreifen  zu  können 
glaubt,  die  Verlängerung  nicht  viel  helfen,    die  man  der- 
selben nach  dem  Auftritte  Jesu  zugesteht,   durch  welchen 
Johannes  so  sehr  verdunkelt  wurde  (Job.  3,  26.  ff.  4,  1.). 
So  bliebe  nur  noch  der  Ausweg  flbrig,  zwischen  der 
Taufe  Jesu   und    seinem   öffentlichen  Auftritt    su   unter- 
scheiden ,  und'  su  sagen :   er  ist  zwar  schon  nach  dem  er- 
sten Halbjahre  der  Wirksamkeit  des  Johannes  von  dessen 
Rufe  so  angezogen   worden,    dafs  er  sich    seiner   Taufe 
unterwarf;  aber  von  da  an  hat  er  sich  noch   lungere  Zeit 
entweder  im  ttefolge  desselben,    oder  wieder  zu  Hause 
in  der  Zurfickgesogenheit  aufgehalten,    und   ist   erst   ge- 
raume Zeit  später  selbstständig  hervorgetreten.     So  wür- 
den wir  einerseits  den  gröberen  Zeitraum,    welchen  Jo- 
bannes vor  dem  Auftritt  Jesu   und  unverdunkelt  von  die- 
sem gewirkt  haben  soll,   gewinnen,  und  doch  hätten   un- 
sere Evangelien  Recht,   wenn   sie   die  Taufe  Jesu  schein- 
bar so  bald  nach  dem  Auftritte  des  Täufers  erfolgen  his- 
sen.    Allein   die   Annahme    einer  solchen   längeren    Zwi- 
schenzeit zwischen  der  Taufe  Jesu  und   seinem   öffentli- 
chen Auftritt  ist  den  N.  T.  liehen  Schriftstellern  am  aller- 
meisten fremd.    Denn  seine  Taufe  betrachten  sie,  wie  aus 
dem  Herabkommen  des   Geistes  und   der   Himmelsstiinme 
erhellt,  als  Einweihung  Jesu  zu  seinem  messianischen  Be- 
rufe;  die  einzige  Pause,   welche  sie  nach  derselben  noch 
«intreten  lassen,  Ist  das  sechswöchige  Fasten  in  der  Wüste; 
nach  diesem  aber  tritt  Jesus,  dem  Lukas  zufolge  unmit- 
telbar (4,  14.)»  dem  Matthäus  und  Markus  zufolge,  nach- 
dem der  Täufer,  wahrscheinlich  übrigens  in  der  Zwischen- 


J60  Kar nilw  AJwalifiitt. 

■ett,  In  Am  GeTÄngnif«  geästet  war,  in  4)alttäa  auf.  Be* 
sonders  aber  kutan  Lokas  3,  SS.  4Ü»  Taufe  Jean  (der  wahr- 
«ehejnliriwteni  Juadegnug  infolge)  ah  ein  aQ%w&at,  sein« 
Amtsantritt^  bezeichnet ,  and  A.  6. 1,  22.  Jesum  von  dem 
(immßpa  ^Iwxm*  an  mit  seinen  Jüngern  Ferkehren  läfst: 
so  hat  er  augenscheinlich  Jesu  Taofe  dnrch  Johannes  nnd 
seinen  öffentlichen  Auftritt  als  Eines  und  dasselbe,,  nnd 
durch  keine  Zwischenzeit  (anfser  jenen  6  Wochen)  ge* 
trennt,  sich  vorgestellt. 

Wenn  somit  den  beiden  Annahmen,  zu  welchen  wir$ 
um  ffir  die  bedeutende  Wirksamkeit  des  Täufers  Raum  zu 
gewinnen,  geneigt  sein  müssen,  dafs  Jesus  entweder  später 
zu  seiner  Taufe  sich  begeben,  oder^afs  er. noch  längere 
Zeit,  nachdem  er  getauft  war,  seinen  öffentlichen  Auftritt 
verzögert  habe,  die  evangelische  Darstellung  entschieden  in 
den  Weg  tritt :  so  zeigt  sich  freilich  auf  der  andern  Seite 
leicht,  wie  die  N.  T.  liehen  Schriftsteller  auch  ,o5ne»  histo- 
rische Gründe  zu  einer  solchen  Darstellung  veranla&t  sein 
gönnten.  War  einmal ,  wie  es  in  der  ersten  Christenge* 
meinde  geschah  (A.G.  19,  4.)>  der  Täufer  nicht  mehr  als 
eine  Erscheinung  ffir  sich,  sondern  als  eine,  nur  zur  Vor- 
bereitung auf  Christum  dienende,. gefafst:  so  verweilte  die 
Vorstellung  nicht  mehr  bei  der  Wirksamkeit  des  blofsen 
Vorläufers',  sondern  eilte  zu  derjenigen  Erscheinung  fort, 
welche  er  vorbereiten  sollte.  Noch  offenbarer  ist  das  In- 
teresse, welches  auch  ohne  geschichtlichen  Grund  die  ur- 
christliche Tradition  dafür  haben  muftte,  zwischen  der 
Taufe  Jesu  und  seinem  öffentlichen  Auftritt  jede  Zwischen- 
zeit auszuschliefsen.  Denn  dals  durch  Ale  Taufe  Jesus 
sich  an  Johannes  angeschlossen  und  sofort  noch  längere 
Zeit  in  diesem  Verhältnisse  gelebt  habe,  diefs  anzunehmen, 
widersprach  -dem  religiösen  Interesse  der  neuen  Gemeinde, 
welches  einen,  nicht  von  Mensehen,  sondern  von  Gott  be- 
lehrten Stifter  derselben  verlangte;  wefswegen,  auch  wenn 
es  sich  wirklich  auf  jene  Weise  verbalten  hätte ,  dennoch 


Erstes  Kapitel.    $.43.  881 

gewifs  frühzeitig  der  Sache  diese  andre  Wendung  gegeben 
worden  wäre ,  weleber  zufolge  die  Tanfe  Jesu  durch  Jo- 
hannes nicht  seinen  Eintritt  in  die  um  diesen  fj#h  bildende 
Gesellschaft,  sondern  nur  seine  Einweihung  «um  selbststän- 
dlgen  Auftritt  bezeichnete. 

Allein  einen  Ton  diesen  Auswegen  einzuschlagen,  sind 
wir  nnr  dann  genöthigt,  wenn  es  wirklieh  an  dem  ist,  dafs 
die  eingreifende  Bedeutung,  welche  der  Täufer  für  Mit« 
und  Nachwelt  gewann,  sich  schlechterdings  nur  dann  er- 
klären lädt,  wenn  er%  länger,  als  nur  etwa  ein  halbes  Jahr, 
in  öffentlicher  Wirksamkeit  gestanden  hat.  Diets  läfst  sich 
nun  aber  nicht  beweisen.  Der  Geist  hält  sich  in  seinen 
Wirkungen  nicht  immer  an  das  Zeitmafs,  und  namentlich 
wo  durch  die  ganze  Entwickelung  eines  Volks  und  seiner 
Zustände  viel  brennbarer  Stoff  sich  angehäuft  hat,  da  kann 
der  hineingeworfene  Funke  schnell  einen  weitumgreifenden 
Brand  entzünden  **).  Bleibt  es  somit  zwar  immer  möglich, 
dafs  Johannes  auch  in  kfirzester  Zelt  das  gewirkt  habea 
könnte,  was  er  gewirkt  hat:  so  reicht  doch  hier  wie- 
derum die  evangelische  Darstellung  nicht  hin,  diese  Mög- 
lichkeit zur  geschichtlichen  Gewißheit  zu  erheben,  da  von 
dieser  Darstellung  selbst  eine  unhistorisehe  Entstehung  sieh 
alz  möglieh  gezeigt  hat;  so  dafs  mithin  die  Kritik  sich  für 
keine  Seite  entscheiden  darf,  zufrieden,  die  Unsicherheit 
dieses  Punktes  zum  Bewußtsein  gekracht  zu  haben. 

Nicht  anders  steht  es  aueh  mit  einem  andern  Punkte, 
der  uns  hier  wieder  in  Erinnerung  kommen  mufc:  dem 
Altersverhältnll*  zwischen  Johannes  nnd  Jesus.  Von  der 
so  eben  besprochenen  Voraussetzung  ausf  dafo  der  Täufer 
mehrere  Jahre  vor  Jesus  öffentlich  aufgetreten  sei,  hat 
man  es  unwahrscheinlich  gefunden,  dafs  er  nur  um  ein 
halbes  Jahr  älter  gewesen ,  mithin ,  wenn  Jesus  beiläufig 
im  dreifsigsten  Jahre  auftrat,    noch   in  den  Zwanzigen 


16)  Vgl.  HornuHH,  S.  284;  Neahds*,  S.  83.  Anm. 


* 

\ 


381  Zweiter  Abschnitt 

sollte  hervorgetreten  sein.  Allein,  auch  abgesehen  vor 
demjenigen)  was  vorhin  gegen  die  Sicherheit  der  Voran* 
seteung  eines  viel  früheren  Auftritts  des  Täufers  bemerkt 
worden  ist:  so  lfifst  sich  weder  beweisen,  dafs  ein  so  ju- 
gendlicher Bnfsprediger  nicht  bfttte  Eindruck  machen  and 
för  einen  Propheten  ans  der  alten  Zeit,  einen  Elias,  gehal- 
ten werden  können  17) ;  noch  darf  der  um  ein  Ziemliches 
früher  su  öffentlicher  Wirksamkeit  Gelangte  schon  deb- 
halb  als  nm  ebensoviel  älter  vorausgesetzt  werden ,  da  er 
oft  sogar  der  Jüngere  ist.  Aber  wieder  wie  oben ;  da  die 
Angabe  Lnc.  1,  20. ,  der  Tänfer  sei  nm  sechs  Monate  äl- 
ter als  Jesus  gewesen,  sich  als  blofs  mythisch  gezeigt  bat: 
so  bleibt  es  cwar  immer  möglich,  dafs  er,  vielleicht  gerade 
so  alt ,  aber  ebenso  möglich ,  dafs  er  älter  oder  auch  jöa- 
ger  war. 

S-    44. 

Auftritt  und  Absicht  des  Täufers.    Sein  persönliches.  Verhältnis! 

su  Jesu. 

Johannes,  wie  unsere  Quellen  andeuten,  ein  Nasirfer 
(Matth.  3,  4.  9,  14.  11,  J8.  Lue.  1,  15.),  wie  manche 
Theologen  vermuthet  haben  ') ,  auch  mit  Essenern  im  Zu- 
sammenhang, wurde  nach  der  Angabe  des  Lukas  (3, 1) 
durch  ein  an  ihn  in  der  Wüste  ergangenes  (ifjpa  Sts  auf- 
gefordert, öffentlich  hervorzutreten.  Da  wir  hier  in  kei- 
nem Falle  mehr  die  eigne  Erklärung  des  Täufers  vor  uns 
haben,  so  ist  das  Dilemma,  wie  es  Paulus  stellt,  man 
könne  nicht  wissen,  ob  sich  Johannes  selbst  eine  äußere 
oder  innere  Thatsache  als  Aufforderung  Gottes  gedeutet^ 
oder  ob  ein  Anderer  ihn  so  aufgerufen  habe ,  nicht  voll* 


17)  Gludius,  a.  a.  O. 

1)  Stabcdlct,  Geschichte  der  Sittenlehre  Jesu ,  1,  S.  580.  Pa*-' 
mjs,  ezeg.  Handb.,  i,  a,  S.  136.  Vgl.  auch  CaauuR,  Symbo- 
lik, 4,  S.  413  ff. 


Erstes  Kapitel.    §.  44.  383 

ständig,  and  es  mufs  als  dritte  Möglichkeit  bineugesetet 
werden,  dafs  vielleicht  seine  Anbänger  die  Berufung  ihres 
-Lehrers  durch  jenen  an  die  alten  Propheten  erinnernden 
Ausdruck  verherrlicht  haben. 

Während  es  nach  der  Darstellung  des  Lukas  scheint, 
als  wäre  nur  der  göttliche  Ruf  an  den  Täufer  iv  rfj  iqr^uf 
ergangen,  warn  Behufe  des  Lehrens  und  Taafens  aber  habe 
er  sich  von  da  in  die  TtfglxtoQog  t«  \oqoovh  begeben  (V.  3»): 
macht  Matthäus  (3,  1  ff.)  die  jüdische  Wägte  selbst  cum 
Schauplätze  der  Predigt  und  Taufe  des  Johannes;  wie 
wenn  der  Jordan,  in  welchem  er  taufte,  'durch  jene  Wüste 
geflossen  'wäre.  Nun  flofs  dieser  ewar  nach  Josephus  vor 
seinem  Einfall  in  das  todte  Meer  allerdings  durch  7tö3Üi?;p 
iqqiilav  2),  was  aber  nicht  die  eigentliche  Wüste  Juda  war, 
welche  weiter  südlich  lag.  Detswegen  hat  man  hier  einen 
Fehler  des  ersten  Evangelisten  finden  wollen,  welcher, 
verführt  durch  die  Besiehung  der  Weissagung :  qwvrj  ßo- 
wyvoq  h  zfj  iQrjpup,  auf  den,  aus  der  sq^ioq  rijg  ^Isdaiag 
stammenden  Johannes,  auch  seine  Thätigkeit  als  Bufspre- 
diger  und  Täufer  dorthin  verlegt  habe,  deren  Schauplatz 
doch  das  blühende  Jordanthal  gewesen  sei  *).  Sieht  man* 
indefs  im  Lukasevangeliom  weiter  vorwärts :  so  verschwin- 
det der  Schein,  als  liefse  dasselbe  den  Johannes  nach  er* 
haltenem  Rufe  die  Wüste  verlassen;  da  unten,  bei  der 
Gesandtschaft  de»  Täufers,  auch  Lukas  Jesum  in  Besug 
auf  denselben  fragen  läfst:  %i  igdLqXv&art  dg  %ijv  l'tjrtftw 
fhaocco&ai;  (7,  24.)  Da  nun  die  Jordanaue  in  der  Mähe 
des  todten  Meeres,  wohin  die  Wirksamkeit  des  Täufers  eu 
setsen  ist,  den  schmalen  Uferrand  ausgenommen,  wirklich 
eine  dürre  Ebene  war*):  so  bliebe  nur  das  etwa  ein  dem 


2)  Bell.  jud.  3,  10,  7. 

3)  ScHxacumumeaa,  über  den  Ursprang  u.  s.  f.,  S.  58  f. 

4)  t.  ausser  der  angef.  Stelle  des  Josephus,  Witaw,  bib).  Real* 
Wörterbuch,  I,  S.  708. 


384  Zweiter  Abschnitt 

Matthias  elgenthamlieber  Irrthum ,  dafs  er  diese  Wäste 
als  die  eQt^ftog  tjjq  "fsdalag  beseiohnet;  wenn  man  nicht 
anders  entweder  annehmen  will,  Johannes  habe  sieh ,  als 
er  von  der  Bufspredigt  nur  Taufe  sehritt,  ans  der  jüdischen 
Wüste  an  das  Jordanufer  hinaufgesogen  8) ,  oder,  der  öde 
Strich  am  Jordan  sei  als  Fortsetzung  der  jüdischen«  Wüste 
gleichfalls  noch  mit  diesem  Namen  beseichnet  worden  *)• 

Die  Taufe  des  Johannes,  schwerlich  aus  der,  ohne 
Zweifel  erst  nachchristlichen,  Proselytentaufe  7),  eher  in 
Analogie  mit  den  religiösen  Lustrationen  entstanden,  wie 
sie  auch  unter  den  Juden  r  vorzüglich  bei  den  Essenern, 
eingeführt  waren,  gründete  sich,  wie  es  seheint,  haupt- 
sächlich auf  die  bildlichen  Aeufserungen  mehrerer  Prophe- 
ten, die  in  der  Folge  eigentlich  verstanden  wurden:  nach 
welchen  Gott  von  dem  israelitischen  Volke,  wenn  es  wie- 
der su  Gnaden  angenommen  werden  wolle,  ein  Baden  und 
Abwaschen  seiner  Unreinigkeit  verlangt,  und  es  selbst  mit 
Wasser  au  reinigen  verspricht  (Jes.  1,  16»  Ecech.  36,  25. 
vergL  Jerem«  2,  220-  Nimmt  mäh  dasu  die  jüdische  Vor- 
stellung, dafs  der  Messias  mit  seinem  Reiche  nieht  eher 
erseheinen  werde,  als  wenn  die  Israeliten  Bube  thun  *): 
eo  sieht  man,  wie  leicht  die  Combination  gemacht  werden 
konnte,  dafs  also  eine,  die  Besserung  und  Sünden  Verge- 
bung symbolisch  darstellende  Abwaschung  der  Ankunft 
des  Messlas  vorangehen  müsse. 

Deber  die  Bedeutung  der  Taufe  des  Johannes  sehet* 
neu  die  Berichte  vorerst  nicht  gann  einstimmig.    Alle  swar 


5)  WikiiL,  a.  a.  O.,  S.  691 ;  Nbakp**,  I-  J.  Chr.,  S.  52. 

6)  Paulus,  a.  a.  O.,  S.  301. 

7)  ».  die  Schrift  von  Sckkeckukburgir,  über  das  Alter  der  jüdi- 
schen Proselytentaufe. 

8)  Sanhedr.  f.  97,  2  :  J?.  Elteser  dixit :  si  IsraSÜtae  poeniten- 
tiam  agunt,  tunc  per  Go£lem  liberanturt  sin  vero,  mm  Hbe- 
rantur.    Bei  Scuottobw,  horac,  2,  S.  780  ff. 


I> 


Erstes  Kapitel.    $.44.  385 

kommen  darin  fiberein ,  dafs  die  fiecavota  ein  wesentliches 
Erfordernifs  bei  derselben  gewesen  sei;  denn  auch  was 
Josepbus  vom  Täufer  sagt,  er  habe  die  Juden  er- 
mahnt, aQenjv  inaaxSnag,  xal  %r\  ttgog  dtäqlog  dixaioavpjj 
xal  Tigog  rov  &ew  evaeßela  xjQm^hng  ßamtantp  owibai  *)> 
ist  doch,  mir  grfioisirt,  das  Nämliche.  Nun  aber  verbin- 
den Lukas  (3, 3.)  und  Markus  (1, 4.)  mit  der  Beaeichnung 
der  Johannistaufe  als  ßamiOfia  ftsravoiag  den  Zusatz: 
et£  ag&oiv  afiaQTUxßVj  diesen  hat  Matthäus  hier  cwar 
nicht,  doch  beceichnet  auch  er,  wie  Markus,  diejenigen, 
welche  sich  taufen  liefsen,  sogleich  als  igojuolvysjuevoi  Tag 
KfuxQziag  ovkLy  (3,  6);  Josepbus  dagegen  scheint  gerade- 
au  au  widersprechen,  wenn  er  als  die  Meinung  des  Täufers 
die  angibt:  svw  yap  xal  %rp  ßamusw  dnodsxnjv  amy  (jip 
&€($')  qtayelo&ai,  pq  inl  tivwv  dfiaQvddcw  Ttaqavirflu 
XQ(Ofiivtav9  dU,*  i<p*  dyveiq  i5  ow/uarog,  Ste  drj  xal  %rjg 
*pvXfl$  dixaioavvfj  nQoexxexad-aQphqg.  Und  hier  könnte  man 
nnn  das  auffassen,  dafs  das  eig  acpeoiv  dfta^vuSv  nach 
A-G.  2,  3S.  u.  a.  St.  eine  gewöhnliche  Beaeichnung  der 
christlichen  Taufe  war,  und  daher  vielleicht  auch  auf  die 
johanneische  unhistorisch  fibergetragen  sein  möchte  10). 
Indessen,  da  schon  in  der  angeführten  Stelle  aus  Eeechiel 
die  Abwaschung  nicht  blofs  Besserung,  sondern  auoh  Sün- 
denvergebung versinnlichte  s  so  steht  die  Angabe  der  Evan- 
gelisten auf  gutem  Grunde.  Ueberdiefs  stimmen  die  Worte 
des  Josepbus,  genauer  angesehen,  mit  dem  evangelischen 
Berichte  wohl  ausammen.  Die  Verfehlungen,  um  deren 
Abwaschung  es  sich  hier  nicht  handeln  sollte,  sind  die  levitt» 
sehen  Verunreinigungen,  welche  dem  Gesetze  gemäfs  durch 
Waschungen  au  tilgen  waren  (3.  Mos»  14,  8  f.    15,  5.  13. 


9)  Antiq.  18,  5»  2.  —  Osiakdi*  gibt  dem  Täufer  das  gefährliche 
Lob,  er  habe  „die  Axt  an  die  sittliche  Wurzel  des  Lehens  ge- 
legt" (S.  132). 

10)  Vergl.  db  Witts,  exeg.  Handln,  l,  2,  S.  30* 
Das  Leben  Jesu  Me  Aufl.  L  Bind.  25 


366  Zweiter  Abschnitt. 


•  * 


18.  21.  27.  17,  16.  23,  ©\  u.  a.  8t):  diesen  Waschungen, 
denen  man  eine  von  der  Gesinnung  unabhängige  Reini- 
gungskraft anzuschreiben  gewohnt  war,  wollte  Johannes 
seine  Taufe  als  ein  sittlich -religiöses  Institut  entgegen- 
setzen ")• 

Ein  weiterer  Unterschied  tritt  In  Besag  auf  das  Ver- 
hältnifs  hervor,  in  welches  die  verschiedenen  Nachrichtea 
Ober  Johannes  seine  Taufe  au  der  ßaoikela  %wv  ö(ktw* 
stellen.  Nach  Matthäus  war  '*  ar  kurze  Inhalt  der  Auf- 
forderung, welche  er  mit  der  Taufe  verband,  der:  //era- 
voücv  ijyytxs  yccQ  rj  ßaoileia  twv  öQav&v  (3,  2.);  nach 
Lukas  spricht  der  Täufer  anfänglich  nur  von  ftsravoia  und 
aifioii;  afiaQTiunL,  aber  von  keinem  Himmel  refoh,  und  erst 
die  Vermuthung  des  Volkes,  .er  möchte  vielleicht  selbst  der 
Messias  sein,  veranlagst  ihn,  auf  diesen,  als  nach  ihm  kom- 
menden, hinsuweisen  (3,  15 ff.);  bei  Josephus  aber  findet 
sieh  von  einer  Beziehung  der  Thätigkeit  des  Täufers  auf 
die  messianische  Idee  gar  nichts.  Auch  hier  Jedoch  «Jarf 
man  aus  der  Abweichung  der  Berichte  nicht  schliefsen, 
der  Täufer  selbst  habe  sich  in  kein  Verhältnis  cum  raes- 
sianischen  Reiche  gestellt,  und  erst  die  christliche  Sage 
habe  ihm  diefs  zugeschrieben.  Denn  seine  Taufe  selbst 
ist ,  sofern  man  die  Ableitung  aus  der  ProseJyteotanfe  vea 
der  Hand  weist ,  nicht  recht  erklärlich ,  wenn  man  nicht 
an  die  oben  erwähnte  sühnende  Lustration  des  Volkes 
denken  darf,  welche  in  der  messlanisehen  Zeit  erwartet 
Wurde.  Dafs  aber  Josephus  die  messianische  Besiehung 
der  Sache  surflckstellt ,  stimmt  gana  mit  seiner  sonstigen 
Praxis  ö berein,  welche  sich  namentlich  aus  «1er  Rücksicht 
auf  das  Verbältnifs  meines  Volks  zu  den  Römern  erklärt; 
überdiefs  liegt  in  dem  Ausdrucke :  ßcmztony  owihai,  wel- 
chen er  gebraucht,  in  dem  ovgQtyeo&cu  der  Leute  nnd  der 


11)  So  Paulus,  a.  a.  O.  S.  314  und  361.  Anm.;    Nbakdib,  L.  J* 
Chr.,  S.  50  f.  Anm. 


s 


Erstes  Kapitel.    $.44. 


387 


.  Furcht  de*  Antrat  vor  einer  durch  Johannes  su  bewir- 
Menden  dnogaoig,  wovon  Joeephna  weiterhin  spricht,  gans 
die  Andeutung  einer  solchen  religiös  -  politischen  Vereint« 
gung,  wie  sie  dnrch  massianische  Hoffnungen  gebildet  wer- 
den mochte. 

Wie  der  Täufer  so  bestimmt  erklären  konnte,  dafs 
wirklieh  das  Messiasreieh  nun  vor  der  ThÖre  sei,  darüber 
könnte  man  sich  verwundern,  and,  nicht  beruhigt  dnrch 
die  Verweisung  des  Lukas  auf  eine  göttliche  Aufforderung 
und  Offenbarung,  der  Vermnthung  nachgeben,  daA  viel- 
leicht der  christliche  Ersähler  aus  dem  späteren  Erfolg 
heraus,  da  ja  sofort  wirklich  derjenige  auftrat,  welchen 
er  fu>  den  Messias  hielt,  der  Rede  des  Täufers  eine  Be- 
stimmtheit gegeben  habe,  welche  ursprünglich  nicht  in  der- 
selben lag ;  *  indem  dieser  nämlich ,  gana  angemessen  der 
oben  angeführten  jüdischen  Vorstellung,  nur  gesagt  haben 
könnte:  fietavoeiTe,  Iva  ei  #17  tj  ßaailela  %vh  &(xxvwv,  und 
erst  die  spätere  Darstellung  hätte  statt  des  fva  yaQ  gesetat. 
Doch  dieser  Annahme  bedarf  es  nicht;  leieht  konnte  ja 
das  erregbare  Gemüth  des  Johannes  in  den  damaligen  be- 
wegten Zeiten  Merkmale  an  entdecken  glauben,  welche  ihm 
die  Nlhe  des  messianischen  Reichs  au  verbürgen  schienen: 
and  wie  nahe  es  sei ,  das  liefe  er  ja  vorerst  noch  unbe- 
stimmt 

Den  Eintritt  der  ßccodela  twy  äfwvuv  knüpfte  Johan- 
nes unsern  Evangelien  aufolge  an  ein  messianisches  Indi- 
viduum, welchem  er,  sunt  Unterschiede  von  seiner  Was- 
aertaufe,  ein  ßetml&w  Ttvev/uceti  aylq)  xal  twqI  anschrieb 
(Hatth.  3,  11.  parallel.) :  da  ja  die  Ausgielsung  des  heili- 
gen Geistes  für  einen  Hauptang  der  messianischen  Zeiten 
galt  (Jo£l  3^  1 — 5.  A.  G.  2,  16 ff.);  von  welchem  er  fer- 
ner eine,  mit  dem  Worfeln  des  Getreides  vergleichbare 
Sichtung  des  Volkes  erwartete  (vielleicht  gehört  auch  das 
Feuer,  als  veraehrendes,*  auf  diese  Seite):  was  schon  die 
Propheten,  wenn  gleich  unter  andern  Bildern,  für  die  mee- 

25* 


ft*9  Zweiter  Abschnitt. 

slanieche  Zeil  vorbergesagt  hatten  (  Zachar.  13, 9«    Malach. 
3,  2.  3.)*    Hier  stellen  nun  die  Synoptiker  die  Sache  so, 
als  ob  der  Täufer  unter  diesem  messianischen  Individuum 
bestimmt  schon  Jesum  von  Nasaret  verstanden  hätte.  Nach 
Lukas  waren  ja  die  Mütter  der  beiden  Männer  verwandt 
und  von  dem  künftigen  Verbältnifs  ihrer  Söhne  unterrich- 
tet; *cbon  in  Mutterleibe  hatte  sich  der  Täufer  Jesu  ent- 
gegenbewegt: und  es  ist  daher,  wie  hier  die  Sache  einge- 
leitet ist,  vorauszusetzen,  dafs  beide  schon  frühzeitig  sich 
in  ihrem,  durch  himmlische  MittheHung  vorherbestimmten, 
Verhältnisse  kennen  gelernt  und   anerkannt  haben.    Mat- 
thäus  zwar    berichtet    über    solche  Familienverbindungen 
zwischen   Johannes  und  Jesus  nichts;   doch  legt  er,  wie 
sich  Jesus  taufen  lassen  will,  dem  Johannes  Ausdrücke  la 
den 'Mund,  welche  eine  frühere  Bekanntschaft  beider  vor- 
auszusetzen  scheinen.     Denn  sein  Befremden  äufsern,  dtft 
Jesus  zu  ihm  komme,   da  doch  er  vielmehr  nöthig  bitte, 
von  ihm  getauft  zu  werden,   diefs  konnte  Johannes  nicht, 
wenn  ihm  Jesus  nicht  entweder  früher  schon  bebannt  ge- 
wesen,  oder  im  Augenblicke  durch  eine  Offenbarung  be- 
kannt gemacht  worden  war:   wovon  das    Letztere  durch 
nichts  angedeutet  ist;  das  sichtbare  und  hörbare  Zeichen 
der  Messianität   Jesu    wenigstens    erfolgt    erst    nschber. 
Stimmen  so   das  erste  und  dritte  Evangelium  (das  zweite 
behandelt  die  Sache  zu  epitomirend,  als  dafis  seine  Ansicht 
in  dieser  Beziehung   klar ,  werden  könnte  )    darin  überein, 
dafs  Johannes   und  Jesus  einander  schon  vor  der  Tavfe 
nicht  fremd  gewesen :  so  behauptet  dagegen  im  vierten  der 
Täufer  ausdrücklich,  Jesum  vor  der  himmlischen  Erschei- 
nung,  welche  den  Synoptikern  zufolge   bei  seiner  Taofe 
sich  ereignete,  nicht  gekannt  zu  haben  (1,  31.  33.)-    ^h> 
fach  aufgefafst,    klingt  diefs  wie  Widerspruch:   und  weil 
die  frühere  Bekanntschaft   beider  Männer  bei  Lukas  als 
der  objective  Thatbestand,   und   bei  Matthäus  als  unwill- 
kürliches Eingeständnifs  des   überraschten  Johannes;  das 


Erstes  Kapitel.    §.  44«  38* 

frühere  Nichtgekannthaben  dagegen  im  vierten  Evangelium 
ata  snbjective,  und  zwar  wohlbedachte ,  Versieherang  des 
Tinfers  erscheint :  so  lag  es  nahe,  mit  dem  Wolfenbflttler 
Fragmentisten  den  Widersprach  auf  Rechnung  des  Johan- 
nes nnd  Jesu  in  der  Art  an  sehreiben ,  dafc  sie  in  der 
Thnt  «war  sich  längst  gekannt  nnd  verabredet  gehabt,  vor 
den  Leuten  aber,  um  einander  desto  besser  in  die  Hände 
arbeiten  zu  können ,  sieh  das  Ansehen  gegeben  haben  ,  als 
wären  sie  einander  bisher  fremd  gewesen,  und  legten  nun 
gans  unbefangen  der  eine  von  des  andern  Trefflichkeit 
Zeognifs  ab  "). 

Da,  man  diesen  Widerspruch  nicht  als  absichtliche 
Verstellung  auf  Johannes  und  mittelbar  auch  auf  Jesus 
liegen  lassen  wollte,  versuchte  man  auf  exegetischem  Wege 
das  Vorhandensein  desselben-  an  läugnen*  Sofern  dasje- 
nige, was  dem  Johannes  durch  das  himmlische  Zeichen 
bekannt  werden  sollte,  der  Messias  ist  (Joh.  1,  33  f.) :  so 
soll  das  xayw  sx  rjdetv  atkov  nicht  heifsen:  die  Person, 
sondern  die  Messianität  Jesu  war  mir  unbekannt  '*)•  Die 
Möglichkeit  dieser  Deutung  auch  angegeben  —  obwohl 
weder  die  Worte  ftr  sich  nocb  ihr  Zusammenhang  im 
vierten  Evangelium  uns  aof  dieselbe  führen  würden  — : 
so  fragt  sich  doch,  ob  bei  der  Art,  wie,  den  Bericht  des 
Matthäus  und  Lukas  vorausgesetzt,  Johannes  Jesum  ge- 
kannt haben  mfifste,  die  Bekanntschaft  mit  seiner  Messia» 
nität  von  der  mit  seiner  Person  getrennt  werden  kann? 
Soll  nämlich  Johannes  Jesum  persönlich  gekannt  haben  in 
der  Weise,   wie  uns  Lukas  die  Familienverhältnisse  uwi- 


12)  Fragment  von  dem  Zwecke  Jesu  und  seiner  'Jünger,  heraus- 
gegeben ron  Lsssiao,  S.  135  ff. 

13)  So  Sbmlsr,  in  der  Beantwortung  des  angeführten  Fragments 
z.  d.  St. ;  ebenso  die  meisten  Neueren :  Planck,  Geschichte  dos 
Christenthums  in  der  Periode  seiner  Einführung,  1,  K.  7.; 
Wuiss,  bibi.  Realwörterbuch,  1,  S.  691. 


w 

S90  Zweiler  Absohnitt 

sehen  beiden  angibt :  so  ist  unmöglich,  dafs  er  nicht  auch 
frühe  genug  davon  Künde  bekommen  haben  sollte,  wie 
feierlich  Jeans  schon  tot  und  bei  seiner  Geburt  als  Mes- 
sias angekündigt  worden  war;  er  hätte  also  spfiter  nicht 
sagen  können,  er  habe  davon  nichts  gewußt,  bis  er  ein 
himmlisches  Zeichen  bekommen  habe :  sondern  er  hätte 
sich  so  anadrücken  müssen ,  er  habe  der  Erzählung  von 
den  früheren  Zeichen,  deren  eines  ja  gar  an  ihm  selbst 
vorgegangen  war,  nicht  geglaubt ").  Zwar  sucht  man  mit 
diesem  Nichtwissen  das  erste  Kapitel  des  Lukas  durch 
Berufung  auf  die  weite  Entfernung  der  Wohnorte  beider 
Familien  au  vereinigen,  welche  dieselben  verhindert  habe, 
in  weitere  Berührung  su  kommen 15).  Allein ,  war  der 
Maria  als  Verlobten  der  Weg  von  Nasaret  in  das  jüdische 
Gebirge  nicht  eu  weit  gewesen:  wie  sollte  er  es  den  bei* 
den  Söhnen,  als.  sie  su  Jünglingen  heranreiften,  gewesen 
sein?  Welche  sträfliche  Gleichgültigkeit  der  beiden  Fami- 
lien gegen  die  empfangenen  höheren  Mittbeilungen  wird 
hiebet  vorausgesetzt ,  und  endlich  weichen  Zweck  sollen 
die  letzteren  gehabt  haben,  wenn  ihnen  in  Bezug  auf 
das  Verhältnifs  der  beiden  Söhne  gar  -  nicht  nachgelebt 
wurde  ?  ") 


14)  Man  urtheile  selbst,  ob  es  nicht  gekünstelt  ist,  was  Neaw- 
dsr  sagt:  „Wenn  der  TMufer  auch  nach  dem,  was  er  von  je- 
nen Umstanden  bei  der  Gebart  Jesu  vernommen,  schon  hätte 
erwarten  können  [  nothwendig  wissen  musste !  J ,  dass  er 
der  Messias  sei :  so  galt  ihm  doch  weit  mehr  als  jedes  andere 
fremde  das  ihm  selbst  gewordene  göttliche  Zeugniss  in  seinem 
Innern,  und  gegen  das,  was  er  nun  im  göttlichen  Lichte  er* 
kannte,  erschien  ihm  alles  Frühere  als  ein  Nichtwissen " 
(S.  68). 

15)  Blhk,  Bemerkungen  zum  Evang.  Joh.,  in  den  theolog.  Stu- 
dien und  Kritiken,  1855,  2,  S.  435;  LUcki,  Commentar  zum 
Evangelium  Johannis,  1,  S.  362. 

16)  In  der  Verzweiflung  gibt  Osxahdbk  die  Antwort ,   jene  gött- 


Kniet  Kapitel 'S.  44.  -  S91 

Wollte  man  indofs  auch  Eugeben,  da&  das  vierte 
Evangelium  nichts  weiter ,  altf  die  Bekanntschaft  dea  Täu- 
fers mit  Jean  Menianitit  ausschliefe ; '  daa  dritte  aber 
nichts  weiter,  als  die  Bekanntschaft  desselben  mit  seiner 
Person  voraussetze:  so  ist  damit  der  Widerspruch  der 
Evangelien  doch  nicht  gelöst  Denn  bei  Matthäus  spricht 
Johannes ,  als  er  Jesum  taufen  soll,  so,  als  ob  ihm  dieser 
nicht  blofs  überhaupt  von  Person,  sondern  bestimmt  als 
der  Messias,  bereits  bekannt  wäre.  Wenn  er  ihn  nämlich 
nicht  taufen  will,  indem  er  sagt:  eyoj  xQeucv  £#/>  vno  as 
ßarvriOxhjvaij  tccd  av  fyxü  KQOS  /**>  (3,  14.)  so  hat  man 
diefs  «war  im  Sinne  der  Harmonistik  so  su  erklären  ge- 
sucht, dafs  Jobannes  dadurch  nur  die  höhere  Vortrefflich» 
keit  Jesu,  nicht  aber  seine  Messianität,  habe  aussprechen 
wollen  ").  Allein  für  so  sittlich  trefflich  der  Täufer  aueh 
Jesum  erkennen  mochte:  so  lange  er  ihn  ffir  einen  sünd- 
haften Menschen  hielt,  konnte  er  ihn  von  der  Pflicht,  sei- 
ner Taufe  sich  su  unterziehen ,  nicht  entbunden  achten ; 
gar  aber  das. Recht,  die  cum  messianischen  Reiche  vorbe- 
reitende Lustration  vorzunehmen,  konnte  nicht  durch  hohe 
Vortrefflichkeit  Oberhaupt  ertheilt  werden,  sondern  es  ge- 
hörte ein  besonderer  Beruf  dasu,  wie  Ihn  auch  Johannes 
erbalten  hatte,  und  wie  er  nach  jüdischer  Vorstellung  nur 
an  einen  Propheten,  oder  den  Messias  und  dessen  Vorläu- 
fer, ergehen  konnte  (Job.  1,  111  ff.)*  Schrieb  also  Johan- 
nes Jesu  die  ßefugnifs  en  taufen  bu,  so  mufs  er  ihn  nicht 
blofs  fflr  vortrefflich  Oberhaupt,  sondern  bestimmt  ffir  ei- 
nen Propheten,  gehalten  haben,  und  «war,  da  er  ihn  für 
wardig  hielt ,  ihn  selbst  eu  taufen ,  ffir  einen  höheren  als 
aich  selbst :  was,  da  er  sich  als  den  Vorläufer  des  Messias 


liehen  Mittheilungen  selbst  mögen  wohl  Winke  enthalten  ha- 
ben, die  beiden  Knaben  —  getrennt  zu  halten !  (S.  127). 
17)  Hess,  Geschichte  Jesu,  1,  S.  117 f.,  Paulus,  a»  a,  O.  S.  3too  ; 

N&AMJKK,   S.  64  ff. 


\ 


S93  Zweiter  Abschnitt 

gefafst  hatte,  nur  der  Messias  selbst  sein  konnte.  Dan 
kommt,  dafs  Matthäus  so  eben  (3, 11.)  eine  Rede  des  Tfis- 
fers  mitgetheilt  hatte,  in  welcher  dieser  dem  nach  ihm 
kommenden  Messias  eine  Taufe  zusohreibt ,  welche  krftfti« 
ger  als  die  seinige  sein  werde:  wie  könnten  wir  also  seios 
darauf  folgende  Aeufserung  gegen  Jesum  anders  verstehen) 
als  so:  was  soll  dir  meine  Wassertaufe,  o  Messias?  weit 
eher  wflre  mir  deine  Geistestaufe  noth 18) ! 

Lftfst  sich  somit  der  Widerspruch  nicht  wegräumen: 
so  mufs  man  ihn,  wenn  er  nicht  den  betheiligten  Personen 
als  absichtliche  Täuschung  cur  Last  fallen  soll ,  auf  die 
Berichterstatter  überweisen ;  was  um  so  ungehinderter  an- 
geht, je  anschaulicher  sich  machen  lttfst,  wie  der  eine  oder 
der  andere  sra  einer  unrichtigen  Darstellung  kommen 
konnte.  Nun  steht  bei  Matthflus  seiner  Uebereinstimmung 
mit  Johannes  in  dem  bezeichneten-Punkte  nur  die  Stellung 
der  Rede  des  Tfiufers  entgegen,  durch  welche  er  Jesu* 
von  seiner  Taufe  zurückhalten  will:  nur  weil  jener,  ehe 
irgend  etwas  Außerordentliches  erfolgt  ist,  so  spricht, 
scheint  eine  vorangegangene  Kenntnifs  Jesu  in  seiner  Met« 
sianität  vorausgesetzt  zu  werden.  Wirklich  stellt  nun  dal 
Hebräerevangelium  bei  Epiphanius  die  Bitte  des  Johanne«, 
dafs  Jesus  vielmehr  ihn  taufen  möchte,  als  Folge  der  himm- 
lischen Erscheinung  dar ") :  und  diese  Darstellung  hat  man 
neuerlich  für  die  ursprüngliche  angesehen,  welche  der 
Verfasser  unseres  ersten  Evangeliums  abgekürzt  haben  soll, 


18)  Vergl.  die  Ausführung  des  Fragmentisten  u.  B&ssk,  a.  d.  «* 
00.;  Homunii,  S.  287. 

19)  Haeres.  30,  13 :  K<ä  £;  ZvJjZ&tv  £k»  r«  v<for<*,  $vtyffiav  *  »P* 
rbl,  xa\  il3*  ro  nyev/ta  rS  &*S  ro  ayior  Iv  cl&n  flrtpgpprc  *.  r.  1  *»& 
qxorq  sy/rero  x.  t.  L  xcti  evfrue  ire(*£2a/£ip§  ror  ronor  <pof  piya'  «* 
ZS<or>  qajoty,  6  YuaWy$  jfcyft  ervr$ '  au  r£t  *7,  Kvqi*  ;  jutl  ndiat-  «wy  *> 
r.  1.  vor»  Tort ,  ftjoir ,  6  'l(oarvqs  napxnt<tt*v  ovnjo  ffe/t '  dtoftal » 
Kvpt,  au  jui  flannaov.  x 


Erstes  Kapitel,     f.  44. 

indem  er  zugleich ,  am  die  Sache  effektvoller  so  machen, 
schon  bei  dem  ersten  Nahen  Je*u  den  Täufer  sieh  weigern 
nnd  jenen  Aossprueb  thnn  lasse *•)•  Allein ,  dafs  wir  an 
dem  Berichte  des  HebrKerevangaliams  nicht  die  ursprüng- 
liche Form  dieser  Ersählang  besitzen ,  konnte  schon  die 
ffafserst  schleppende  Wiederholung  der  Himmelsstimme 
sammt  dem  Auseinandergesogenen  der  ganzen  Darstellung 
seigen«  Vielmehr  ist  sie  ein  sehr  abgeleiteter  Bericht,  und 
die  Stellung  der  Weigerung  des  Johannes  nach  der  Er- 
scheinung nnd  Stimme  swar  -  keineswegs  sn  dem  Ende 
vorgenommen»,  um  den  Widerspruch  gegen  das  vierte 
Evangelium  sn  vermeiden,  welches  in  dem  Kreise  jener 
ebionitlschen  Christen  nicht  als  anerkannt  vorausgesetzt 
werden  darf;  sondern  in  eben  der  Absicht,  welche  man 
Irrig  bei  der  angeblich  umgekehrten  Aenderung  dem  Mat- 
thias susehreibt:  nämlich,  die  Scene  effectvoller  zu  ma- 
chen* Eine  einfache  Weigerung  von  Seiten  des  Täufers 
schien  zu  matt:  es  mutete  wenigstens  ein  Fu&fall  CnaQcc- 
neacjv)  vor  dem  Messias  stattgefunden  haben;  dieser  konnte 
aber  nicht  besser  motivirt  werden,  als  durch  die  himm- 
lische Erscheinung;  welche  somit  vorangestellt  werden 
mufste.  Auf  diese  Weise  zeigt  sich  also  nicht ,  wie  Mat- 
thäus zu  seinem  Widerspruche  gegen  Johannes  gekommen 
ist;  so  wie  ohnehin  für  die  Darstellung  des  Lukas  diese 
Ableitung  nicht  ausreicht. 

Alles  erklärt  sich  ungezwungen,  wenn  man  nur  be- 
denkt, dafs  das  wichtige  Verhältnifs  zwischen  Johannes 
nnd  Jesus  als  ein  von  jeher  bestandenes  erscheinen  mufste 
vermöge  der  Eigentümlichkeit  populärer  Vorstellungs- 
weise,  das  Wesentliche  sich  als  von  jeher  Gewesenes  zu 


20)  Blkbk,  •.  «*  O. ;  Schheckbhbürgbr  ,  über  den  Ursprung  des 
ersten  kanonischen  Evangeliums,  S.  121  f. ;  Luciti,  Comm.  z. 
Er.  Joha)  1,  S.  361.  Vgl.  Ustsri,  über  den  Täufer  Johsnncs 
u.  s.  w,,  Studien,  2,  3.  8,  446. 


SM  Zweiter  Abschnitt 

denken.  Wie  demgemäfs  die  Seele ,  sobald  sie  als  wesen* 
haft  anerkannt  Ist,  auch  klarer  oder  dankler  als  pr&epi- 
stirende  gedacht  wird :  so  hat  auch  jedes  folgenreiche  Ver« 
hältnifs  in  populärer  Denkweise  eine  solche  Präexistenz. 
So  innfs  nun  Johannes,  welcher  dnreh  die  Taufe,  die  er 
dem  Messias  Jesus  ertheiite,  in  eine  so  bedeutungsvolle 
Beziehung  zu  diesem  trat,  ihn  schon  vorher  als  solchen 
gekannt  haben:  wie  es  kons  nnd  unbestimmt  bei  Matthäus 
dargestellt  ist;  oder,  wie  es  Lukas  weiter  aasspinnt:  schon 
ihre  Mütter  kannten  sich,  nnd  noch  in  Mutterleibe  wur- 
den beide  zusammengeführt  **). 

Dieses  Alles  fehlt  im  vierten  Evangelium,  welches  den 
Täufer  vielmehr  die  entgegengesetzte  Versicherung  geben 
Ififst;  wir  wagen  nicht  zu  entscheiden,  ob  ans  historischen 
Gründen ,  oder  weil  bei  ihm  ein  anderes  Interesse  das  so 
eben  bezeichnete  Überwog.  Je  weniger  nämlich  der  Täu- 
fer Jesum  -schon  vorher  gekannt  hatte,  den  er  nachher  so 
hoch  erhob :  desto  mehr  fiel  alles  Gewicht  auf  die  wunderbare 
Seene,  welche  ihn  auf  Jesum  hinwies ;  desto  mehr  erschien 
aein  ganzes  Verhältnis  zu  diesem  nicht  als  ein  natürlich  ent- 
standenes, sondern  als  ein  unmittelbar  von  Gott  gewirktes. 

» 

S*    45. 

War  Jesus   von  Johannes  als  Messias   anerkannt?  und  in 
\  welchem  Sinne? 

Mit  der  bisher  besprochenen  Frage,  ob  Jesus  dem 
Johannes  schon  vor  der  Taufe  bekannt  gewesen  sei,  hängt 
die  andere  zusammen,  was  überhaupt  der  Täufer  von  Jesu 
und  seiner  Messianität  gehalten  habe  ?  —  Nach  sämmtli- 
chen  evangelischen  Berichten  erklärt  Johannes  vor  Jean 
Ankunft  bei  ihm  aufs  Bestimmteste,  dafs  demnächst  Einer 
kommen  werde,   zu  welchem  er  in  untergeordnetem  Ver- 


21)  Vgl.  ob  Wkttb,  cxe^.  Handb.,  l,  a,  S.  33« 


Erstes  Kapital,    f.  4S.  M5 

hlltnisse  stehe;  durch  die  Seene  bei  dar  Taafe  Jesu  war 
ihm  Jesus  unverkennbar  als  derjenige  beaelchnet  worden, 
als  dessen  Vorläufer  er  gekommen  war;  dafe  er  diesem 
Zeichen  Glauben  geschenkt  habe,  müssen  wir  nach  Mar» 
kus  nnd  Lokas  voraussetzen;  nach  dem  vierten  Evangelium 
beaeugt  er  es  ausdrücklich  (1,  S4.)j  «ad  tbut  fiberdiefs 
Aussprüche,  welche  die  tiefste  Einsicht  tn  Jesu  höhere 
Natur  und  Bestimmung  beurkunden  (1,  29 ff.  36V S,  27 ff.); 
nach  dem  ersten  war  er  bereits  vor  der  Taufe  Jesu  davon 
überzeugt.  Dagegen  berichten  nun  aber  Matthias  (11,2  ff.) 
nnd  Lukas  (7,  18  ff.) ,  dafs  späterhin  der  Täufer  auf  die 
Kunde  von  der  Wirksamkeit  Jesu  einige  seiner  Schüler 
an  ihn  abgeordnet  habe,  mit  der  Anfrage,  ob  er  der  ver* 
heilsene  Messias  sei,  oder  ob  man  eines  andern  warten 
müsse  ? 

Dem  ersten  Eindrucke  nach  scheint  diese  Frage  eine 
Ungewißheit  des  T&ufers  ausaudrflcken,  ob  Jesus  wirk* 
lieh  der  Messias  sei;  und.  so  ist  sie  schon  frühzeitig  ver« 
standen  worden  *)•  Aber  ein  solcher  Zweifel  steht  mit 
allen  übrigen  Umstünden,  welche  uns  die  Evangelien  mal« 
Ven,l  im  vollkommensten  Widerspruche.  Mit  Recht  findet 
man* es  psychologisch  undenkbar,  dafs  derjenige,  welcher, 
durch  das  Zeichen  bei  Jesu  Taufe,  das  er  für  eine  gött- 
liche Erklärung  hielt,  überzeugt  oder  bestärkt,  seitdem  so 
bestimmt  über  den  messianischen  Beruf  und  die  höhere 
Natnr  Jesu  sich  ausgesprochen  hatte ,  auf  einmal  sollte  in 
seiner  Ueberaeugung  wankend  geworden  sein:  er  müfste 
denn  einem  vom  Wind  hin-  und  hergewehten  Rohre  ge- 
glichen haben,  was  Jesus  eben  hier  rühmend  von  dem 
Täufer  in  Abrede  stellt  (Matth.  11,  7.);   man  sucht   ver- 


1)  s.  B.  Tertull.  sdv.  Marcion.  4, 18.  Vergl.  das  Genauere  über 
die  verschiedenen  Deutungen  der  Stelle  bei  Bkncel,  historisch- 
exegetische  Bemerkungen  über  Matth*  11,  2—19 i  in  seinem 
Archiv,  1,  3,  S,  754  ff. 


Zwei***  AfeMlmitt. 

jfaHiah  mmA  rifaem  Aslafi  in  dem  Benehmen  oder  dem 
damaligen  Schicksale  Jesu :  denn  eben  auf  die  Nachricht 
Ton  'den  eqya  %5  XqtgS,  weiche  nach  Lukas  Wunderthaien 
waren,  die  doch  am  wenigsten  Zweifel  in  ihm  erst  erwe- 
cken konnten ,  sandte  er  Jene  Botschaft  ab ;  endlich  wfire 
es  so  verwundern,  wie  Jesus  später  (Job.  5, 33  f£)  so  »u- 
versichtlfch  auf  des  Täufers  Zeugnifs  von  ihm  sich  beru-  « 
fen  mochte ,  wenn  man  doch  wußte,  dafs  Johannes  am 
Ende  selbst  an  seiner  Mdssianität  irre  geworden  war*). 

Man  hat  def* wegen  den  Versuch  gemacht,  der  Sache 
die  Wendung  sn  geben,  dafs  Johannes  nicht  für  sich 
selbst,  um  seine  eigene,  schwankende  Ueberseugung  bu 
befestigen,  habe  fragen  lassen;  sondern  für  seine  J&iiger, 
nm  deren  Zweifel  niederzuschlagen,  von  welchen  er  selber 
unberührt  gewesen  sei  *)•  Damit  erledigen  sich  allerdings 
die  erwähnten  Schwierigkeiten;  namentlich  scheint  klar 
eu  werden,  wie  der  Täufer  gerade  auf  die  Nachricht  von 
Jesu  Wundern  hin  jene  Sendung  habe  veranstalten  kön- 
nen: indem  er  nämlich  hoffte,  seine  Janger,  welche  sei- 
nen Worten  Aber  Jesuin  nicht  glanbten,  werden  durch 
die  Anschauung  von  dessen  außerordentlichen  Thaten  sich 
fibereeugen,  dafs  er  Recht  habe,  sie  auf  ihn  al;  den  Mes- 
sias hinzuweisen.  Allein  wie  konnte  Johannes  hoffen, 
dafs  seine  Abgesandten  Jesuin  anfällig  im  Wunderthun  be- 
griffen antreffen  würden?  Auch  trafen  sie  ihn  nicht  so, 
nach  Matthäus;  sondern  Jesus  berief  sich  nach  V.  4.  f. 
nur  auf  das,  was  sie  von  ihm  oft  sehen,  und  wovon  sie 
fiberall  in  seiner  Nähe  hären  kannten:  und  nur  die  augen- 
scheinlich secundäre  Erzählung  des  Lukas9}  mifsversteht 


2)  s.  Paulus,  Kuxhöl  z.  d.  St.;  Bkksbl,  a.  8.  O.  S.  763 ff. 

3)  So  s.  B.  Calvin  ,    Comm.  in  härm,  ex  Matth. ,  Marc,  et  Luc. 
z.  d.  St.  F.  l,  S.  258,  ed.  Tholuck. 

4)  So  nennen  wir,  mit  Schlbimrmachkr  (über  den  Lukas,  S.  106  f.)» 
die  Erzählung*  des  dritten  Evangeliums,  1)  wegen  der  massigen 


ab*  te>v  Kauftet    J.  4».  SSV 

die  Worte  Jesu  dahin,  ai*  hfitte  er  sie  nicht  gebrauchen 
können,  wein  die  JohannisjJInger  ihn  nioht  mitten  im 
Wunderthun  angetroffen  hätten«  Und  denn,  wenn  es  die- 
Absieht  des  Tfiufere  wer,  seine  Jünger  dareh  den  An- 
biiek  der-Thaten  Jesu  sn  überfuhren,  durfte  er  Ihnen 
keine  Frage  an  Jesnm  aufgeben,  mit  welcher  es  nnr  auf 
Worte,  auf  eine  authentische  Erklärung  Jesn,  abgesehen 
schien.  Denn  durch  eine  Erklärung  desjenigen,  an  de* 
een  Messianität  sie  eben  sweifelten,  konnte  er  seine  Scha- 
ler nicht  eu  fiberseugen  hoffen,  welche  durch  seine  eignen 
Erklärungen,  die  ihnen  sonqt  Alles  galten,  nicht  ttbersengt 
worden  waren.  Ueberhaupt  wäre  es  ein  seltsames  Beneh- 
men vom  Täufer  gewesen,  fremden  Zweifeln  seine  eigenen 
Worte  bu  leihen,  und  dadurch,  wie  SchlbIbrmachbr  mit 
Recht  bemerkt,  sein  früheres  wiederholtes  Zeugnifs  för 
Jesnm  bu  compromittiren«  Wie  denn  auch  Jesus  die  von 
den  Boten  ihm  vorgetragene  Frage  als  von  Johannes  sel- 
ber ausgegangen  fafst  (jujtayyEÜüCecs  %)dwrjf  Matth.  11,  4.), 
und  sich  ober  dessen  Ungewifsheit  indirect  durch  Seilgprei- 
enntj  derer,  die  keinen  Anstofs  an  ihm  nehmen,  beschwert 
(V.  i.)  J> 

Bleibt  es  somit  dabei,  dafs  Johannes  nicht /blofe  für 
seine  Schaler,  sondern  für  sich  selbst  h<ft  fragen  lassen; 
und  kann  man  ihm  doch  auch  nioht  nach  der  froheren 
Entschiedenheit  jetzt  auf  Einmal  Zweifel  an  der  Messia- 
nität Jesu  Buschreiben:  so  bleibt  nichts  übrig,  als,  statt 
dieser  negativen  die  positive  Seite  an  seiner  Frage  hervor» 
nnkehren,  und   das  Skeptische  in  ihr   als  blofce  Einklei* 


Wiederholung  der  Worte  des  Täufers  V«  20;  2)  wegen  des 
Mißverstandet  V.  18  u*  21,  von  welchem  bald  weiter  die  Rede 
sein  wird,  und  dergleichen  sich  auch  V,  29.  30.  einer  zu  ver- 
rathcn  scheint.  «. 

5)  Vcrgl.  Calviji  z,  cL  St.  und  BsvesL,  a,  a.  O.  S.  753  9. 


400  Zweiter  Absebnitc 

fiberfallen  habe ;  and  wenn  er  dafür  sich  auf  das  Beispid 
von  Männern  beruft,  welche,  um  des  christlichen  Glanbens 
oder  anderer  Oeberzeugungen  willen  verfolgt*  nachdem 
sie  lange  ohne  Todesfurcht  für  die  Wahrheit  gezeugt  hat- 
ten, doch  endlich  im  Kerker  der  menschlichen  Schwäche  un- 
terlagen und  zum  Widerrufe  sich  fortreifsen  Heften :  sq  fin- 
det hier  9  genau  betrachtet,  gar  keine  Aehnlichkeit  statt. 
Verfolgte  Christen  der  ersten  Jahrhunderte,  später  ein  Be» 
rengar,  Galilei,  wurden  eben  denjenigen  Ueberzeugungen 
untreu,  um  derentwillen  sie  eingekerket  waren,  und  durch 
deren  Verläugnung  sie  sioh  zu  retten  hofften:  der  Täufer, 
um  mit  ihnen  verglichen  werden  zu  können ,  möfste  seine 
flöge  gqgen  Herodes  zurückgenommen  haben,  nicht  seine 
Zeugnisse  von  Christo  wankend  gemacht,  die  mit  seiner 
Verhaftung  in  keinem  Beznge  standen« 

N  Es  bleibt  also  bei  der  Unverträglichkeit  dieser  Sen- 
dung des  Täufers  aus  dem  Kerker  —  zunächst  könnte 
man  gar  glauben ,  mit  seiner  früheren  Anerkennung  Jesu 
als  des  Messias  überhaupt.  Denn  es  ist  doch  höchst  seit* 
sam,  was  auch  ßfiNGEi/n  aufgefallen  ist  8),  dafs  unsere 
Evangelisten  in  den  Worten:  6  ^laxxwrjg  axsoag —  %a  egya 
TÖ  X(M,gS9  Tiifiipag  —  elTtev  x«  r.  L  (Matth.  11,  2 ;  ähnlich 
Lukas,  7,  18.  f.)  die  Sache  so  darstellen,  als  sei  der  Täu- 
fer durch  die  ihm  zugekommenen  Nachrichten  von  dem 
Wunderthaten  Jesu  an  seiner  Messianität  irre  geworden; 
statt,  wie  man  erwarten  sollte,  dadurch  im  Glauben  an  die* 
selbe  bestärkt  zu  werden.  Nicht  weil  er  von  diesen  Tha- 
ten  hörte,  sondern  weil  er  von  denselben  in  seinem  Ge- 
fängnifs  nichts  hörte,  könnte  man  vermutben,  seien  in  ihm 
Zweifel  aufgestiegen ;  oder,  wenn  er  von  den  Thaten  Jesu 
Nachricht  hatte,  dann  müsse,  was  in  ihm  aufstieg,  nicht 
der  Argwohn  gewesen  sein,  Jesus  sei  wohl  nicht  wirklieh 
der  Messias,  sondern  die  Vermuthung,  der  Mann  von  eol- 


8)  a.  a.  O.,  S.  769  f. 


Erstes  Kapitel.    $.45.  401 

eben  Thaten  möchte  vielleicht  der  Messias  sein.  Doch  so, 
von  einem  entstehenden,  nicht  einem  verschwindenden 
Glauben  die  Worte  des  Täufers  su  verstehen,  wird  nicht 
allein  dorch  die  Antwort  Jesu  unmöglich,  der  in  densel- 
ben ein  oxavdali&od-aiy  d.  h.  ein  Irrewerden,  findet;  son- 
dern auch  in  der  Frage  des  Johannes  selbit  drückt  das 
so  dem  av  el  6  «p%o/f«>o&  gesetste:  jj  Izsqov  TtQogdoxw/tiev; 
deutlich  ein  Unsicherwerden  des  bisherigen  Glaubens  ans  ")• 
Wirklich  sind  wir  auch  au  jener  andern  Vorstellung  von 
dem  Sinn  der  Frage  nur  durch  die  Darstellung  des  Lukas 
genöthigt,  die\wir  bereits  als  eine  abgeleitete  erkannt  ha- 
ben. Denn  freilich ,  wenn  dieser  Evangelist ,  nachdem  er 
die  Erweckung  des  Jünglings  zu  Nain  und  die  Heilung 
des  Knechts  au  Kapernanm  eraählt  hatte,  nun- fortführt: 
JKal  aitiffyBiXav  üoawr]  ol  /uadr/ral  avrö  tcbqI  navziw  t&vwv. 
JCal  TVQogxcdeodfisvog  —  i'ne/nipe  x.  %.  X. :  so  sind  es  die 
.Wnnderthaten,  auf  deren  Kunde  hin  der  Täufer  an  Jesuin 
schickt;  wogegen  unter  den  e'fyyotg  tö  XQic;ä,  die  nach  Mat- 
thäus den  Johannes  zu  seiner  Anfrage  veranlassen,  mögli- 
cherweise die  ganae  Art  des  Wirkens  und  Verfahrens  Jesu 
▼erstanden  sein  kann.  ' 

'  Hindern  aber  die  Worte  der  Evangelisten  nicht  mehr, 
so  ist  in  der  Thatsaohe  dieser  Sendung  gleichfalls  nichts, 
wodurch  es  entschieden  undenkbar  würde,  dafs  der  Täu- 
fer Jesum  früher  in  irgend  einem  Sinne  für  den  Messias 
gehalten  habe*  Ausgiefsqng  der  Geistesfalle  über  seine 
Anhänger,  Sichtung  des  Volks  und  Ausrottung  seiner  un- 
würdigen Mitglieder,  konnte,  wie  die  Synoptiker  berich- 
ten, Johannes  von  Jesus  als  dem  Messias  erwartet  haben; 
aber  schleunig  ausgeführt  und  nicht  ohne  äufsere  Gewalt- 
samkeit :  und  weil  darauf  Jesus  immer  und  immer  nicht 
einging,  so  konnte  er  am  Ende  wohl  zweifelhaft  werden, 


9)  VgL  db  Wrrri  z,  d.  St.  des  Matth.  und  Niakdir,  L.  J.  Co., 
S.  $7£ 

Das  Leben  Jesu  Sie  Aufl.  I.Band.  26 


40t  Zweiler  Abschnitt. 

ob  er  Ihn  auch  mit  Recht  für  den  Messias  gehalten  habe. 
Aber  er  konnte  diefs  nicht,  wenn  er  von  den  Wandern 
der  Erzeugung  und  Kindheit  Jesu  Glaubhaftes  wnfste:  wo- 
von schon  früher;  er  konnte  es  nicht,  wenn  ihm  bei  der 
Taufe  Jesus  durch  eine  himmlische  Erscheinung  und  Stirn« 
ine  als  Messias  bezeichnet  worden  war:  wovon , spä ter ;  er 
konnte  es  auch  nicht,  wenn  er  in  Jesu,  nach  dem  vierten 
Evangelium,  ein  vom  Himnteb  herangekommenes  höheres 
Wesen  und  den  zum  versöhnenden  Leiden  für  die  Mensch- 
heit bestimmten  Messias  sah:  wovon  sogleich.  Kann  dem- 
nach der  Täufer,  wenn  er  diese  Vorstellungen  von  Jean 
hatte,  ihn  nicht  auf  die  besprochene  Weise  haben  fragen 
lassen  und  umgekehrt :  so  ist  sofort  jedes  der  beiden  un- 
verträglichen Stücke  für  sich  zu  untersuchen ,  nnd  eu  se- 
hen, welches  aufzugeben,  welches  festzuhalten  ist.  Neh- 
men wir  zuerst  die  Aussprüche  des  Täufers  über  Jean 
Messianitüt  im  vierten  Evangelium,  so  müssen  wir  hiebe! 
zwei  Fragen  unterscheiden:  einmal,  ob  es  denkbar  sei, 
dafs  Johannes  überhaupt  einen  solchen  Begriff  vom  Mes- 
sias gehabt,  nnd  zweitens,  ob  es  wahrscheinlich  sei,  dats 
er  denselben  in  der  Person  Jesu  verwirklicht  geglaubt 
habe. 

Den  ersten  Punkt  betreffend,  so  ist  das  eine  Merk- 
mal in  dem  Messiasbegriff  des  Täufers  nach  dem  vierten 
Evangelium,  dafs  er  ein  höheres  Wesen,. ein  ix  r5  sqovh 
ZQXWWOS,  der  demnach  dndvo)  ndvzcov  igt  (3,  31.),  sei.  In 
dem  nQuhoQ  fis  rp  1 ,  15.  27.  30.  wollen  jetzt  auch  Nean- 
dsr  nnd  na  Wette  nur  die  Priorität  des  Wesens  finden; 
allein  wenn  auch  die  Präexistenz  des  Messias  darin  liegt : 
so  brancht  man  höchstens  mit  Lücke  anzunehmen,  dafs 
der  Täufer  nicht  wie  der  Evangelist  den  Begriff  des  koyog 
mit  jenen  Worten  verbunden ,  sondern  mehr  auf  popuifir 
jüdische  Weise  an  die  Prfiexistenz  des  Messias,  als  Suh- 
jects  der  A.  T.  liehen  Theophanien  u»  s.  w.,  gedacht  habe. 
Von  dieser  jüdischen  Ansicht  finden  sich  ja  auch  aufeer 


Erstes  Kapitel,    f.  45.  408 

den  Schriften  des  vierte«  Evangelium  noch  Sporen  bei 
Paulas  O  B.  l.Kor.  10,  4.  Kol.  1,  15 f.)  und  den  Rab- 
binen10);  und  wenn  sie  auch  ursprünglich  alexandrinisch 
gewesen  wäre,  was  Brktschmkider  gegen  unsre  Stelle  gel- 
tend machte11):  so  fragt  sich,  ob  nicht  auch  schon  vor 
Christi  Zeit  die  alexandrinisch  -  jüdische  Theologie  auf  die 
Ansichten  des  Mutterlandes  von  Einflofs  war  ? 12)  Dafs 
also  der  Messiasbegriff  de»  Täufers  dieses  Merkmal  gehabt 
habe,  ist  für  sieh  nicht  undenkbar« 

Das  andere  Merkmal  wäre  das  eines  sühnenden  Lei- 
dens. —  Zwar  hat  man  versucht,  die  Ausdrücke,  mit  wei- 
chen der  Tänfer  1 ,  29  und  36.  seine  Schüler  auf  Jesum 
hinweist,  so  au  deuten,  dafs  jener  Begriff  wegfiele:  Jesus 
mit  einem  Lamme  nur  seiner  Sanftmath  und  Duldsamkeit 
wegen  verglichon ;  cuquv  rtjv  afiaqulccv  tS  xoOfts  entweder 
▼on  einem  geduldigen  Ertragen  der  Bosheit  der  Welt,  oder 
▼on  einem  Versuche,  die  Sünde  der  Weit  bessernd  hin- 
wegauräumen ,  verstanden,  und  in  dem  Ausspruche  des 
Täufers  der  Sinn  gefunden  würde  ,  wie  rührend  es  sei, 
daft  dieser  sanfte  und  weiche  Jesus  sich  einem  so  harten 
und  seüweren  Geschäfte  untersogen  habe 1S).  Allein  die 
besten  Exegeten  haben  gezeigt,  dafs,  wenn  awar  cuqsiv 
für  sich  in  der  bezeichneten  Weise  gefatst  werden  könnte, 
doch  apvog,  nicht  blofs  mit  dem  Artikel,  sondern  überdieüs 
noch  mit  dem  Beisatse:  rä  &e5,  nicht  ein  Lamm  über- 
haupt, sondern  ein  bestimmtes,  heiliges  Lamm  beseichnen 


10)  s.  Bsrtboidt,   Christologia  Judieorum   Jesu  apostolorumque 
aetate,  $§.  23—25. 

11)  Probabilia,  S.  41. 

12)  t.  Gmtfaia,  Philo  und  die  alexandr,  Theotophie,  2.  Thl.  von 
S.  280  an. 

13)  Gabler,  meletem.  in  loc    Job.  1,  29 ,  in  seine»  Opusc.  acad. 

S.  514 ff.    Paulus,  Leben  Jesu,  2,  a,  die  Uebersetzung  d.  St., 

und  Comm.  zum  Er.  Job.  s.  d.  St. 

20* 


404  Zweiter  Abschnitt. 

mufft;  wobei  dann,  wenn  es  der  wahrscheinlichsten  Erklä- 
rung zufolge  auf  da«  Lamm  Je*.  53,  7.  sich  besieht,  auch 
das   utQhiv  ttjv  dua(triav  nur   aus   demjenigen  erklärt  wer- 
den kann,    was  dort  von  dem   mit, einem  Lamm  vergliche- 
nen Knecht  Gottes  gesagt  ist,    dafs   er  rag  d/ua(niag  r^nh 
'(fFQety  xal  mql  yfioh  dawaren  (V.  4.  LXX. );    wonach  es 
also  ein  stellvertretendes  Leiden  bezeichnet  '*).     Dafs  nun 
der  Täufer  diese  Prophetenstelle  auf  den  Messias  bezogen, 
diesen  mithin  als  einen  leidenden  sich  gedacht  habe,  diefs 
eben   hat   man   neuerlich   zweifelhaft  gefunden  16).     Denn 
der  gangbaren  Meinung   wenigstens   war   eine  solche  An- 
sicht vom  Messias  so  fremd,  dafs  die  Jünger  Jesu  wfihrend 
der  ganzen   Zeit    ihres  Umgangs  mit  ihm    sich  in  dieselbe 
nicht  finden  konnten,   und  nach  seinem  wirklich  erfolgten 
Tode  völlig  an  ihm ,   als  Messias ,   irre  wurden   ( Luc  24, 
20  (f.).     Wie  sollte  nun  der  Tffufer,    welcher  der  eigenen 
ErklXrung  Jesu  (Matth.  11,  11.)   zufolge   tief  unter  den 
Bürgern  des  Himmelreichs  stand,  za  denen  doch  auch  da- 
mals schon  die  Jünger  gehörten ,  —   wie  sollte  dieser  ent- 
fernter Stehende  lange  vor  dem  Leiden  Jesu  zu  einer  Ein- 
sicht  in   dessen  Notwendigkeit  für   den  Messias  gekom- 
men sein,  zii  Welcher  den  zunächst  Stehenden  nur  der  Er* 
folg  verholfen  hat?  oder  wie  sollte,  wenn  Johannes  wirk- 
lich diese  Einsicht  hatte  und  gegen  seine  Jünger  aussprach, 
dieselbe  nicht  durch  diejenigen ,  welche  aus  seiner  Schale 
in  die  Gesellschaft  Jesu  übergingen ,  auch  in  der  letzteren 
Eingang   gefunden,    und1  Überhaupt   durch   das    Ansehen, 
welches   der  Täufer  genofs,    auch  im  gröfseren  Publicum 
den  Anstofs,  den  man  am  Tode  Jesu  nahm,  gemildert  ha- 


14)  d»  Witts,  de  morte  Christi  expiatoria,  in  s.  Opusc.  thcol. 
S.  7 7 fT.  Lücke,  Comm.  zum  Ev.  Joh.  1,  S.  347 ff.  Wim», 
bibl.  Realwörterb-,  1,  S.  693,  Am». 

15)  Gabi.br  und  Paulus  a.  d.  a.  00.  Auch  dk  Wsttb,  a.  a.  CK, 
S    75  ff.  80ff 


Erstes  Kapitel.    $.  45.  405 

ben  ?  Zudem,  sehen  wir  die  aufserjobanneischen  Nachrieh? 
teo  vom  Täufer  «He  darch:  nirgends  finden  wir,  dafs  er 
dergleichen  Ansichten  über  das  Schicksal  des  Messias  ge- 
Sufsert  hatte;  sondern,  am  von  Josephus  nichts  au  sagen, 
sprach  er  den  Synoptikern  zufolge  «war  von  einem  jn*ch 
ihm  kommenden  Messias,  als  dessen  Geschäft  er  jedoch  le- 
diglich die  Geistestanfe  und  Sichtung  des  Volkes  heraus« 
hob*  Doch  die  Möglichkeit  bleibt  immer  offen,  dafs  auch 
schon  vor  dem  Tode  Jesu  ein  tiefer  blickender  Geist,  wie 
der  Täufer,  aus  A.  T.  liehen  Stellen  und  Vorbildern  einen 
leidenden  Messias  herausgelesen,  ohne  dafs  doch  seine 
Schüler  und  Zeitgenossen  seine  dunkeln  Andeutungen  hier-: 
Aber  verstanden  bitten  '*) ;  ob  es  gleich  bedenklich  zu 
werden  anfängt,  dem  Täufer,  der  sonst  nur  dafür  bekannt 
ist,  die  praktische  Seite  an  der  Idee  des  Messiasreichs  her* 
vorgekehrt  su  haben,  von  dem  einzigen  vierten  Evangeli- 
sten swei  Begriffe,  welche  in  jener  Zeit  ohne  Zweifel  nur 
der  tiefsten  messianischen  Spekulation  angehörten,  zuge- 
schrieben su  sehen,  und  zwar  in  solcher  Weise,  dafs  je- 
denfalls die  Form,  in  welcher  er  sie  ausdrfiokt,  zu  johan- 
neisch  ist,  um  nicht  auf  Rechnung  dieses  Evangelisten  ge- 
schrieben werden  su  müssen. 

Dafs  es  aber  bisweilen  auch  mehr  ist  als  die  blolse 
Form,  was  der  Verfasset*  des  vierten  Evangeliums  bei  Ue- 
berlieferung  fremder  Worte  aus  dem  Seinigen  hlnzuthut, 
das  erhellt  aus  der  Rede ,  die  er  3,  27  —  36.  dem  Täufer 
als  Antwort  auf  die  Klage  seiner  Jünger  über  den  wach- 
senden Anhang  Jesu  in  den  Mund  legt«  Nachdem  der 
Täufer  sich  darüber  erklärt  hatte,  wie  es  in  ihrer  beider- 
seitigen  Bestimmung,  über  welche  er  nicht  binaussuschrei- 


16)  db  Wbtt*  z.  d.  St.  des  Joh. ;  Nhakder,  S.  78;  Letzterer  mit 
der  Einschränkung,  dass  vielleicht  der  Täufer  nur  von  den 
Sünden  des  Volhs  gesprochen,  der  Evangelist  aber  von  sei- 
nem  Standpunkt  aus  statt  des  Volks  die  Welt  gehcUt  fiabo. 


405  Zweiter  Abschnitt. 

teil  verlange,  begründet  sei,  dafs  er  abnehmen,  Jesus  aber 
Benehmen  müsse:  führt  er  von  V.  31.  an  in  Formeln  fort, 
welche  gana  dieselben  sind  mit  denjenigen,  in  weichen 
sonst  der  vierte  Evangelist  Jesnm  selbst  von  sich  reden 
l&Tst,  oder  seine  eigenen  Gedanken  über  Jesnm  ausdrückt; 
namentlich,  wie  auch  Lücke  zugesteht,  erscheint  diese  Rede 
des  Johannes  als  Nachhall  der  vorausgegangenen  Unterre- 
dung Jesu  mit  Nikodemus iT).  Die  Ausdrücke  dieser  dem 
T&ufer  geliehenen  Rede  sind  specifisch  johanneisoh,  wie 
G<pQayl£io,  ftarrvvQia ,  der  Gegensatz  von  uvtofrev  und  ix  rijg 
yijg>  die  Phrasis:  t%eiv  £i07jv  aiwrtov,  und  es  fragt  sich:  ist 
es  wahrscheinlicher ,  dafs  sowohl  der  Evangelist  als  auch 
Jesus,  dem  er  sie  so  oft  in  den  Mund  legt,  sie  von  dem 
Täufer  geborgt  haben,  oder  umgekehrt,  dafs  sie  der  Evan- 
gelist, ich  will  für  je  tat  nur  sagen  dem  Tänfer,  geliehen 
habe?  Diefs  wird  sich  mit  dem  Andern  entscheiden,  dafii 
nämlich  auch  die  Ideen,  welche  hier  der  Täufer  ausspricht, 
ganz  dem  Boden  des  Christenthums ,  und  zwar  wieder 
spfeciell  des  johanneischen,  angehören.  Eben  jener  Gegen- 
satz  von  am  und  ix  zijg  yrjg,  die  Bezeichnung  Jesu  als  des 
avu&ev  iQXOfi&og,  als  dessen,  ov  drtigedsv  6  &€og9   welcher 


17)  Man  vergleiche  besonders : 
Joh.  3,  11   (Jesus  zu  Niko-         Joh.  3,  32  (der  Täufer)  : 

demus) :    a/Ap,  a/z^p,  It'yto  oot)  xeu  o  tvi^axe  xae  tjxna^  thto  pa(*Tu- 

oxi  o  olSa/utVy    ZalSjuev,    xai   o  £«,    xat    rqr    fta^rv^iav    avrS   *Sti$ 

tw^axajuer,  /ua^TVQHuer,   xai  rtjv  lajußareu 
fia^ru^Cav  fj/uov  «  laußavret. 

▼  •182   o  mgtvwv  *i$  avror  V«    36  t     o   mgevatv   *U   top    vlar 

h  x(xysrat.'  6  Sh  faj  nt&wav,  tj&rj  f%et  £(orjr  aumav '   6  St  anet9üir  xtf 

xixqtrai)    ort  firt   nenCgeuxer  el$  vuo  «x  oxftreu  £019? ,    «22*  tj  og/tj  ri 

ro   ovo/ia   r5  /lovoyevSe   vlü  th  &e»  /utrei  in*  auroy. 

Vgl.  aus  der  Rede  des  Täufers  noch  V.  31.  mit  Joh.  3,  6. 
12  f.   8,  23;    V.  32.  mit  8,  26;    V.  33.  mit  6,  27;    V.  34.  mit 

12,  49.  50 ;    V.  35.  mit  5,  22.  27.   10,  28  f.    17,  2. 


1 

Erstet  Kapitel.    $.  45.  -  407 

daher  rd  föfiova  t5  9*5  lalet,  das  Verhäknifs  Jesu  zu 
Gott  als  des  vlog,  weichen  6  nartjo  dyanq,  —  diese  Be- 
griffe, die  bei  Jesu  und  dem  vierten  Evangelisten  so  oft. 
wiederkehren,  miltsten  demnach  gleichfalls  vom  Täufer  aof 
Jesus,  und  von  diesem  auf  den  Apostel,  fi hergegangen  sein: 
wogegen  auch  hier,  wie  oben,  eine  Uebertragnng  vom 
Evangelisten  auf  den  Täufer  wahrscheinlicher  ist,  für  wel- 
chen sich  uberdiefs,  nach  Olshacskn's  richtiger  Bemerkung, 
auch  das  njcht  schicken  will,  dafs  er,  der  doch  fortan  von 
Jesus  geschieden  blieb,  hier  von  dem  Segen  eines  gläubigen 
Anschlielsens  an  Jesum  redet  (V.  33.  und  36.)* 

Soviel  demnach  ist  gewifs  und  auch  von  der  Mehrsahl 
neuerer  Ausleger  anerkannt:  die  Worte  V.  31  —  36.  kann 
der  Täufer  nicht  gesprochen  haben.  Folglich,  schlofsen 
nun  aber  die  Theologen,  kann  auch  der  Evangelist  sie  ihm 
nicht  in  den  Mund  gelegt  haben,  sondern  von  dem  bezeich- 

•  ■  

neten  Verse  an  nimmt  dieser  selbst  das  Wort  18).  Diefs 
klingt  annehmlich,  wenn  man  uns  nur  die  Fuge  nachweist, 
durch  welche  der  Evangelist  seinen  eignen  Zusatz  von  der 
Rede  des  Täufers  gesondert  hat  Allein  eine  solche  sucht 
man  vergeblich*  Zwar  spricht  der  von  V.  31.  an  Redende, 
wo  er  den  Täufer  bezeichnen  will, .nicht  mehr,  wie  noch 
V.  30.,  in  der  ersten  Person ,  sondern  in  der  dritten ;  al- 
lein der  Täufer  wird  hier  nicht  mehr  geradezu  und  indi- 
viduell, sondern  nur  mit  einer  ganzen  Klasse  zusammen 
bezeichnet,  wo  er  demnach,  auch  wenn  er  selbst  der  Re- 
dende war,  die  dritte  Person  wählen  mußte.  Nirgends 
also  findet  sich  eine  Gränzschelde ,  und  ganz  unmerklich 
gleitet  die  Rede  aus  denjenigen  Sätzen,  welche  der  Täufer 
etwa  noch  gesprochen  haben  könnte,  in  diejenigen  hinüber? 
welche  Ihm  schlechthin  unangemessen  sind;  namentlich 
wird  auch  nach  V«  30.  von  Jesu  im  Präsens  zu  reden  fort- 
gefahren, wie  der  Evangelist  nur  den  Täufer  zu  Jesu 


18)  PAUtu»,  Olsmaussn,  z.  d.  St. 


408  Zweiter  Abschnitt 

Lebzeiten  sprechen  lassen  konnte,  nicht  aber  selbst  in  eig- 
ner Person  nach  Jesu  Tode  so  schreiben;  wie  er  denn, 
wo  er  eigne  Reflexionen  über  die  irdische  Erscheinung 
Jesu  vorbringt,  sich  des  Präteritums  su  bedienen  pflegt 19). 
Grammatisch  betrachtet  also  spricht  von  V.  31.  an  der 
Täufer  fort:  nnd  doch  kann  er,  historisch  erwogen,  du 
Folgende  nicht  gesprochen  haben;  ein  Widerspruch,  wel- 
cher freilich  dann  unauflöslich  werden  mufs,  wenn  mal 
hinzusetzt:  dogmatisch  beurtheilt  aber  kann  der  Evangelist 
dem  Täufer  nichts  in  den  Hund  gelegt  haben,  was  dieser 
nicht  wirklich  gesprochen  hat.  Wollen  wir  nun  nicht  den 
klaren  Regeln  der  Grammatik  und  den  feststehenden  Daten 
der  Historie  um  des  eingebildeten  Dogma' s  von  der  Inspi- 
ration willen  widersprechen :  so  werden  wir  aus  den  ge- 
gebenen Prämissen  vielmehr  mit  Lücke  den  Schlafs  wehen, 
dafs  sich  hier  mit  der  Rede  des  Täufers  auf  eine  nicht 
mehr  genau  zu  unterscheidende  Weise,  aber  überwiegend, 
die  Reflexion  des  Evangelisten  mische,  —  Haben  wir  nnn 
aber  hieran  einen  Beweis,  dafs  es  dem  vierten  Evangeli- 
sten nicht  darauf  ankam,  dem  Täufer  Johannes  nicht  nur 
Worte,  sondern  auch  Begriffe  zu  leihen,  welche,  dieser 
nicht  hatte :  so  werden  wir  uns  gestehen  müssen,  dafs  wir 
keine  Sicherheit  mehr  haben ,  ob  die  früher  besprochenen 
beiden  Merkmale  des  Messiasbegriffs,  welche,  *war  nicht 
geradezu  undenkbar  in  jener  Zeit,  doch  sonst  nirgends 
dem  Täufer  zugeschrieben  werden,  ihm  nieht  gleichfalls 
nur  vom  Evangelisten  geliehen  seien  ? 

Diese  messianischen  Attribute  nun  hat  überdiefs,  wenn 
wir  das  vierte  Evangelium  boren,  der  Täufer  auf  Jesmn 
fibergetragen.  That  er  diel«  so  begeistert,  so  öffentlich 
and  so  wiederholt,   wie' Wir   es   bei  Johannes  lesen:   to 


V 

0 


19)  z.  B.  während  hier,  V.  32,  gesagt  wird:  ry>  pctqwtfar  wr* 
«Jfis  Xafifiam ,  heisst  es  im  Prolog  V.  1 1 :  xal  ol  tSa*  avror  « 
na^Xaßov,    Vergr-  Lücwt,  a.  a,  0.  S.  501, 


Erstes  Kapitel.    §-45,  409 

>•'  ■ 

konnte  er  unmögKebH  von  Jeso  (Matth.  11,  11.)  ans  der 
ßaaiXda  roh  SQaywv  ausgeschlossen,  und  der  Kleinste  in. 
derselben  ihm  vorgesogen  werden.  Denn  solche  Bekennt- 
nisse, wie  dieser  Täufer,  wenn  er  Jesum  den  vlog  tö  &€&, 
welcher  vor  ihm  gewesen  sei,  nennt;  solche  geläuterte 
Einsichten  in  die  messianische  Oekonomie,  wie  wenn  er 
Jesum  als  o  a/wog  rS  %hs,  6  ccIqojv  %rp  aftaqrlav  %h  xoOpt! 
beneichnet:  hatte  selbst  Petras  nicht  aufzuweisen,  wel- 
chen Jesus  doch  för  sein  Bekenntnifs  Matth.  16,  16.  nicht 
nur  in  das  Gottesreich  aufnimmt,  sondern  selbst  zum 
Felsen  macht,  auf  den  es  gegründet  werden  sollte.  Indefs, 
das  Dnbegreifliche  liegt  noch  weiter  zurück.  Als  Zweck 
«einer  Taufe  gibt  Johannes  im  vierten  Evangelium  an,  ivatpa- 
rtQio&fj  (Jesus  als  Messias)  xy  IöqcctJI  (1, 31.),  und  erkennt  es 
als  göttliebe  Ordnung,  dafs  dem  annehmenden  Jesus  gegen- 
über er  abnehmen  müsse  (3,30.):  dennoch,  während  bereits 
Jesus  durch  seine.  Jünger  taufen  Ififst,  setzt  auch  er  seine 
Taufe  fort  (3,  23  )•  Warum  nun  aber,  wenn  er  doch  mit 
der  Einführung  Jesu  die  Bestimmung  seiner  Taufe  erfüllt 
wufste,  und  nun  seine  Anh&nger  auf  Jesum  als  den  Mes- 
sias verwies  (1,  36  f.),  schliefst  er  sich  nicht  selbst  an  Je- 
sum an?  Johannes  hatte,  erwiedert  Nk  ander,  seinen  be- 
stimmten Standpunkt:  als  der  letzte  der  Propheten  ^  auf 
den  Messias  hinzuweisen;  über  diesen,  mehr  noch  alttesta- 
mentlichen,  Standpunkt  konnte  er  nicht  hinaus;  der  schon 
eelbstständig  entwickelte,  gereifte  Prophet  konnte  sich 
nicht  mehr  in  eine  Schule  begeben,  welche  unentwickelte, 
bildsame  Jönglinge  verlangte  *°).  Wohl;  wenn  also  ein 
Befangensein  auf  einem  tieferen  Standpunkte  bei  dem  Täu- 
fer anerkannt  wird,  so  fragt  sich  weiter:  wird  ihn  diese 
Beschränktheit  nur  von  der  fiufseren,  und  mnfs  sie  ihn 
nicht  vielmehr  auch  von  der  innern  Anschliefsung  an  Je- 
sum, von  der  Anerkennung  seiner  als  des  Messias,  zurück- 


20)  Njuhpi»,  L,  J.  Chr.,  S,  74  f, 


416  '  Zweiter  Abschnitt. 

i 

gehalten  haben  ?  Mußte  der  strenge  Ascet,  der  sich  cid 
den  Seinigen  harte  Fasten  auflegte,  der  drohende,  von 
Geiste  des  '  Elias  beseelte  Bufspredigefc ,  nicht  ebensosehr 
wie  seine  Jünger  (Matth.  9,  14«)  an  der  liberalen  Weite 
Jesu  sich  stofsen,  der  über  alle  Vornrtheile  und  Hirten 
des  johanneisohen  Standpunkts  hinausgesohritten,  dem  Le- 
ben die  gans  entgegengesetzte  Farbe  gab?  Doch  es  sei} 
dafs  er  schon  ans  dem  A.  T,  sich  belehrt  hatte,  das  Leben 
in  dem  neuen ,  messianisehen  Bunde  als  ein ,  vermöge  des 
ausgegossenen  Geistes,  freieres  und  froheres  sich  vors* 
stellen  81),  und  somit  in  die>  Art  und  Weise  Jesu  sich  ei 
finden :  so  wird  ebendamit  wieder  unbegreifllich,  was  ihn 
abgehalten  heben  soll ,  sich  auch  fiufserlich  mit  ihm  so 
verbinden.  Oder ,  fühlte  er  sich  cum  Schaler  au  alt,  sa 
eigen  gebildet:  no  mufste  er  wenigstens  von  dem  öffentli- 
chen Schauplatse  sich  surttckaiehen.  Aber  auch  das  nicht: 
er  setst  bin  wie  her  seine  Taufe  fort.  Diefs  war,  wenn 
er  Jesum  als  den  Messias  anerkannt  hatte,  swecklos. 
Einer  Ueberganganstait,  wie  Neander  meint,  bedurfte  ei 
nicht  mehr  nach  dem  Auftritt  Jesu,  dessen  Wirken  Alles  mit- 
enthielt,  was  an  dem  des  Johannes  sittlich  vorbereitend 
war;  noch  weniger. l&fst  sich  das  Fortwirken  des  Tiefe» 
aus  dem  Bedflrfnifs  solcher  Orte,  in  deren  Nfibe  Jesu 
nicht  kam,  erklären82),  da  Job.  S,  22.  ff.  beide  unfern 
von  einander  taufend  erscheinen.  Aber  selbst  aweckwi- 
drig  erscheint  die  Fortsetzung  der  Taufe  von  Seiten  des 
Johannes,  wenn  blols  Hinweisung  auf  Jesus  als  den  Mes- 
sias sein  Zweck  war.  Er  hielt  dadurch  noch  immer  eines 
Kreis  von  Menschen  in  den  Vorhallen  des  Messiasreiches 
hin,  und  verzögerte  oder  hinderte  selbst  gans  ihren  Uebef- 
tritt    au  Jesu    (und    zwar    durch  eigene,     nicht    allein 


21)  Hnur,  die  Hauptthatsachen  der  evang.  Geschichte,  Tab.  Zeit- 
schrift, 1836,  2,  S.  53  f. ;  Neawdbr,  a.  a.  O.  S.  59  f. 

22)  Lücke,  Comm.  s.  Evang.  Joh.,  1,  S.  488. 


Erste*  Kapitel    fr  45.  411 

durch  ihre  Schuld  **),  da  er  ja  «eine  sn  Jesu  weisenden 
Worte  durch  den  Widerspruch  «eines  Beispiels  selbst  un- 
wirksam machte) ;  wie  wir  denn  die  Partei  der  Johann!*- 
Jünger  noch  *u  des  Apostels  Paulus  Zeit  (A.  6.  18,  24  f. 
19,  1  ff.)*  und  wenn  es  wahr  ist,  was  die  sogenannten 
Zabier  von  sich  behaupten  **),  bis  auf  die  neuesten  Zeiten 
fortdauern i  sehen.  Gewifc ,  jene  Uebereeogung  des  Tlu- 
fers  in  Besag  auf  Jesum  vorausgesetat ,  wäre  es  für  ihn 
das  Natürliche  gewesen,  sich  an  diesen  ^ansuschliefsert,  oder 
wenigstens  sich  curflckEuziehen :  4iun  keines  von  beiden 
geschah,  folgern  wir,  so  kann  er  auch  jene  Ueberaeugung 
nicht  gehabe  haben  **)• 

Während  also  durch  die  Botschaß  aus  dem  Kerker  nur 
das  undenkbar  wurde  >  dafs  Johannes  Jesum  als  den  Mes- 
sias in  dem  gesteigerten  und  geläuterten  Sinn  erkannt  ha- 
ben sollte,  welchen  das  vierte  Evangelium  ihm  unterlegt: 
bo  begründet  das  Fortwirken  des  Täufers  nach  dem  öffent- 
lichen Auftritt  Jesu  den   Schlafs,  dafs   er   ihn  ftberhaupt 


23)  Nbakbba  ,  S.  75.  Mit  Unrecht  will  derselbe  ( S.  61 )  eine  * 
Spur,  dass  der  Täufer  seine  Jünger  wirklich  auf  Jesum  hin- 
gewiesen habe,  A.  G.  18,  24.  finden,  wo  es  von  Apollos  heisst : ' 
iStöaaxcv  axfxßw;  ra  ntql  r*  JTi^At,  hru;d/u*rof  porw  ro  ßanriff/ua 
'ItoayrH.  Denn  aus  der  Vergleichung  des  folgenden  Kapitel«, 
wo  Paulus  die  Johannis jünger  belehren  muss,  dass  unter  dem 
eQX°.ueyo$y  au*  welchen  Johannes  taufte,  Jesus  zu  verstehen  ge- 
wesen sei,  erhellt  deutlich,  dass  die  Lehre  vom  Kupos,  welche 
Apollos  schon  als  Johannis  jünger  genau  vorzutragen  wusste^ 
nur  der  johanneische  geläuterte  Messianismus  als  Erwartung-, 
eines  Kommenden  war:  die  genauere  Belehrung  aber,  die  er 
sofort  von  den  Christen  Aquila  und  Priscilla  empfing,  in  der 
Ausfüllung  jener  Erwartung  durch  die  Person  Jesu,  bestand. 

24)  s.  Gisenius  ,  Probeheft  der  Ersch  und  Gavnsji'schen  Ency- 
clopädie,  d.  A.  Zabier. 

25)  BRKTsennuDSR,  Frobab.  S.  46 f.  Vgl.  Lvckb,  a.  a.  Q.  S.  493  f.; 
ns  Witte,  de  morte  Chr.  expiatoria,  Opusc  theol.  p,  81  > 
bibi.  Do  gm.,  $.  209;  exeg.  Handb.,  1,  1,  S.  107.  1,  3,  S.  29. 


412  Zweiter  Abschnitt. 

nicht  für  den  Messias  gehalten  haben  kann.  Wenigstem 
vor  seiner  Verhaftung  nicht.  Denn  nach  dieser  konnte  er, 
wenn  aueh  wir  Anerkennung  Jesu  gelangt,  sich  doch  nicht 
mehr  an  ihn  anschliefsen«  Eine  solche  Anerkennung  aber 
scheint,  wie  wir  gesehen  haben,  seine  Sendung  aus  dem 
Gefängnisse  und  die  Art,  wie.  Jesus  sie  aufnimmt,  voraussa- 
setzen.  So  wäre  denn  dem  gefangenen  Johannes  mancherlei 
von  Jesu  bu  Ohren  gekommen ;  diefs  hätte  Anfangs  auf  iha 
den  Eindruck  des  Messianischen,  und  die  Erwartung  in  ihm 
rege  gemacht,  dafs  Jesus  nun  demnächst"  entschieden  als 
Messias  hervortreten  werde:  wie  diefs  immer  und  immer 
nicht  geschah,  wären  ihm  wieder  Zweifel  aufgestiegen,  und 
er  hätte  jene  Anfrage  gemacht. 

Indessen,  ist  denn  eine  solche  Sendung  aus  dem  Ker- 
ker an  sich  denkbar,  und  dürfen  wir  also  diese  «weite 
der  oben  sich  gegenübergestellten  unverträglichen  Nach- 
richten nach  Hinwegräumung  der  ersten  ruhig  Platz 
greifen  lassen?  Ganz  unbedenklich  «war  ist  sie  nicht. 
Nach  Josephus  26)  war  Furcht  vor  Unruhen  die  Ursache, 
warum  Herodes  den  Täufer  verhaften  liefe;  sollte  diefs 
aber  auch  blofe  Mitursache  gewesen  sein  neben  dem,  was 
die  Evangelien  angeben :  so  bleibt  es  doch  immer  auffallend, 
dafs  eu  einem  Manne,  der  mit  defswegen  gefangen  gesetst 
war,  um  durch  Entfernung  desselben  von  seinem  Anhang 
Unruhen  unter  diesem  zu  verhüten,  seine  Schüler  freien 
Zutritt  behalten  haben  sollen  2T).  Nun  findet  sich  die 
Angabe,  dafs  die  Sendung  aus  dem  deOftanrjQiaP  erfolgt 
sei,  nur  bei  Matthäus:  Lukas,  der  sie  aucb  ersählt,  er- 
wähnt von  einem  Gefängnisse  nichts.  Man  könnte  daher 
mit  Schleiermacher'  die  Darstellung  des  Lukas  in  diesem 
Stöcke  für  die  wahre ,  und  das  deO[.wvn)()tov  bei  Matthäus 
für  einen  unhistorischen   Zusate  halten.     Allein  derselbe 


26)  Antiq.  18,  5,  2. 

27)  ScHLKifiRAuciutH,  üb  er  den  Lukas,  S.  100. 


* 


Erstet  Kapitel*    $.  4S.  413 

Kritiker  hat  überzeugend  nachgewiesen,  dafs  Matthäus 
dieae  Erzählung  in  der  ursprünglichen ,  Lnkaa  in  uberar* 
beiteter  Formt  gibt;  wobei  ea  sonderbar  wäre,  wenn  sieh 
an  jenem  Einen  Punkte  das  Verhältnis  umgekehrt  hätte: 
weit  natürlicher  ist  es,  anzunehmen,  dafs  Lukas,  der  im 
gansen  Abschnitt  als  Ueberarbeiter  erseheint,  die  ursprüng- 
lich angemerkte  Oertlicbkeit  verwischt  habe.  Bleibt  es 
aleo  bei  einer  Sendung  aus  dem  Kerker:  so  ist  ewar  die 
Berufung  auf  die  Haft  des  Paulus  in  Rom  und  der  Chri- 
sten während  der  Christenverfolgungen  M)  insofern  nicht 
ganz  treffend,  als  hier  nicht,  wie  bei  dem  Täufer,  Furcht 
vor  Aufruhr  unter  den  Granden  der  Verhaftung  war;  indes- 
sen läfst  sich  immer  denken,  dafc  der  Besuch  eineeiner  An* 
hfinger  bei  dem  Wohlverwahrten  ffir  unbedenklich  gehalten 
werden  mochte* 

Doch  da  uns  oben  die  Annahme,  dafs  Jesus  von  Jo- 
hannes vor  dessen  Gefangennehmung  Oberhaupt  als  Mes- 
sias anerkannt  gewesen ,  nur  durch  die  Angabe  des  vier- 
ten Evangeliums  unmöglich  gemacht  wurde,  dafs  der  Täu- 
fer auch  nach  dem  Auftritt  Jesu  seine  Taufe  fortgesetzt 
habe :  so  fährt  uns  diefs  auf  die  Erwägung  der  verschie- 
denen Zeitpunkte,  in  welche  die  verschiedenen  Evangelien 
die  Verhaftung  des  Täufers  versetzen.  Matthäus,  dem 
sich  Markus  anschliefst,  setat  sie  vor  den  öffentlichen  Auf- 
tritt Jesu  in  Galiläa,  indem  er  durch  dieselbe  Jesu  Rück- 
kehr in  diese  Provina  motivirt  (Mattb.  4,  12.  Marc.  1, 14.)« 
Lukas  weist  der  Gefangennehmung  des  Täufers  keine  be- 
stimmte chronologische  Stelle  an  (s.  3,  19  f.) ;  doch  scheint 
sie  nach  ihm,  da  er  ja  bei  der  Sendung  der  beiden  Jünger 
nichts  vom  Geftngnifs  bemerkt,  erst  später  eingetreten  au 
sein.  Johannes  aber  erklärt  noch  nach  dem  ersten  von 
Jesu  nach  seinem  öffentlichen  Auftritt  besuchten  Pa- 
scha ausdrücklich:   imio  yaq  Jjv  ßeßlrjf4tvo$  dg  irjv  (fvlaxqv 


28)  Letztere  bei  Nbakdir,  L.  J.  Chr.,  S.  8*. 


414  Zweiter  Abschnitt. 

o  ^aHWtjs  (3,  M»>  Fragt  et  sieb:  wer  hat  hier  Recht? 
00  befindet  eich  in  der  Darstellung  des  ersten  Evangelisten 
etwas,  das  manche  Erklärer  geneigt  gemacht  hat,  sie  ohne 
Weiteres  gegen  die  der  beiden  letzten  aufzugeben.  Dali 
nämlich  Jesus ,  anf  die  Kunde  von  des  Täufers  Gefangen- 
nehmung  durch  Herodes  Antipas,  nach  Galiläa,  also  gerade 
in  das  Gebiet  dieses  Fürsten,  sich  seiner  Sicherheit  wegen 
surückgezogen  haben  sollte:  ist,  wie  Scbneckenboroer  mit 
Recht  behauptet  29) ,  undenkbar ;  da  er  ja  gerade  hier  am 
wenigsten  vor  einem  Ähnlichen  Schicksale  sicher  war. 
Allein  selbst  wenn  man  für  das  avextio^oev  nicht  ohne  den 
Nebenbegriff  der  gesuchten  Sicherheit  abkommen  au  kön- 
nen glaubt:  so  fragt  sich  doch  imiaer  noch,  ob  nicht,  an* 
erachtet  der  irrigen  Motivirung,  doch  das  Datum  selbst 
sich  festhalten  lasse?  Matthäus  und  Markus  knüpfen  an 
diese  nach  des  Täufers  Verhaftung  erfolgte  Reise  Jesu 
nach  Galiläa  die  Anfänge  seiner  öffentlichen  Wirksamkeit: 
und  dafs  diese  erst  nach  des  Täufer«  Wegnahme  und  aus 
Veranlassung  derselben  begonnen  habe,  wäre  an  sich  nicht 
unwahrscheinlich.  Leichter  indessen  konnte,  da  mit  dem 
Auftreten  Jesu  das  Interesse  des  christlichen  Erst  hier*  und 
Hörers  an  dem  Vorläufer  erlosch ,  diefs  den  Irrthum  her- 
beiführen, als  sei  er  wirklich  schon  damals  vom  Schauplata 
abgetreten ;  leichter  ist  diefs  zu  begreifen,  als  wie  die  ent- 
gegengesetzte Darstellung  auf  ungescbichtliohem  Wege 
hfftte  entstehen  sollen :  zumal  die  fortdauernde  Freiheit  des 
Täufers  im  vierten  Evangelium  nicht  dazu  benutzt  ist«  ihn 
thatsäehlich  au  Jesu  übergehen  su  lassen,  sondern  nur  au 
anerkennenden  Erklärungen,  wie  sie  ebensogut  aus  dem 
Kerker  abgegeben  werden  konnten« 

Bleibt  es  demnach  dabei,  dafs  während  seiner  öffent- 
lichen Wirksamkeit  der  Täufer  Jesum  nicht  für  den  Mos- 


29)  Uebcr  den  Ursprung  u,s.w.,  S.  79.    Vgl.  Frxtxschb,  Comm. 
in  Matth.,  S.  178*  » 


Erstes  Kapitel«    J.  45.  415 

•las  gebalten  nnd  erklärt  haben  bann :  so  Ißt  dagegen  leiebt 
nachzuweisen ,  wie  jene  -Vorstellung  sich  auf  ungeschieht- 
liehe  Weise  bilden  konnte.  Nach  A.  G.  19,  4.  erklärt  der 
Apostel  Paulus,  was  jedenfalls  zuni  geschichtlichen  Reste 
der  N.  T. liehen  Nachrichten  ober  Johannes  gehört,  da(s 
derselbe  elg  rov  €Qx6fievov  getauft  habe:  nnd  dieser  kom- 
mende Messias ,  auf  .welchen  er  hingewiesen,  setzt  Paulus 
hinzu,  sei  eben  Jesus  gewesen  irmlgiv  eig  Xqi$6v  fyoövl* 
JDiefs  war  eine  Deutung  der  Worte  des  Täufers  aus  dem 
Kr  folge;  da  als  den  durch  Johannes  voransverkttndigten 
Messias  sich  bei  einer  groben  Zahl  seiner  Volksgenossen 
Jesus  bewährt  hätte.  Wie  nahe  aber  lag  von  hier  aus  die 
Meinung,  als  ob  der  Täufer  selbst  schon  unter  dem  iQ%6- 
fievog  die  Person  Jesu  verstanden,  selbst  schon  jenes  T&regtv 
x.  r.  L  gedacht  hätte;  eine  Ansicht,  welche,  so  unge- 
schichtlich sie  ist,  doch  Air  die  ältesten  Christen  um  so 
einladender  sein  mufste,  je  erwünschter  es  war,  dureh  die 
in  der  damaligen  jadischen  Welt  vielgeltende  Auctorität 
des  Täufers   das  Ansehen  Jesu   zu  stützen50).    Dazu  kam 


30)  Auch  darüber,  warum  gerade  der  vierte  Evangelist  so  beson- 
ders geschäftig  ist,  den  Täufer  zu  Jesu  in  ein  günstigeres 
Verhältniss  zu  setzen,  als  sich  geschichtlich  denken  lässt,  bie- 
tet uns  die  angeführte  Stelle  aus  der  Apostelgeschichte  viel- 
leicht einigen  Aufschluss.  Derselben  zufolge  (V.  1  ff.)  fanden 
sich  nämlich  in  Ephesus  Leute,  die  nur  von  der  j  oh  anneischen 
Taufe  wussten ,  und  daher  vom  Apostel  Paulus  noch  einmal, 
auf  Jesum,  getauft  wurden.  Wim  ist  aber  einer  alten  Ueberlie- 
ferung  zufolge  das  vierte  Evangelium  in  Ephesus  geschrieben 
(Irenaeus  adv.  haer.  3,  f.).  Nehmen  wir  diese  an,  wie  sie  denn 
in  dem  Allgemeinen,  dass  sie  eine  griechische  Localität  für  die 
Abfassung  dieses  Evangeliums  angibt,  in  jedem  Falle  Recht 
hat,  und  setzen  wir  jener  Andeutung  der  Apostelgeschichte  zu- 
folge Ephesus  als  den  Sitz  einer  Anzahl  von  Anhängern  des 
Täufers ,  welche  dann  Paulus  schwerlich  alle  bekehrt  haben 
wird,  vorans :  so  würde  sich  aus  dem  Bestreben,  diese  zu  Jesu 


416 


Zweiter  Abschnitt 


V.-  4' 


noch  ein  im  A.  T.  gelegener  Grand.  Der  Ahnherr  de* 
Messias,  David,  hatte  in  der  althebräischen  Sage  gleichfalls 
eine  Art  von  Vorläufer,  in  der  Person  des  Samuel,  der 
ihn  im  Auftrage  Jehova'a  Eum  Könige  über  Israel  salbte 
(l.Sam.  16.))  u°d  »och  in  der  Folge  im  Verhältnis  der 
Anerkennung  na  ihm  blieb.  Mußte  demnach  auch  dar 
Messias  selbst  einen  Vorläufer  haben,  welcher  übrigens 
ans  der  Weissagung  des  Malachia  näher  als  *tn  eweiter 
Elias  bestimmt  wurde;  und  war  geschichtlich  im  Zeitalter 
Jesu  Jobannes  gegeben,  dessen  Taufe  leicht  als  Weihe  an 
die  Stelle  der  Salbung  gesetzt  werden  konnte :  so  lag  es 
doch  wohl  nahe  genug,  das  Verhältnis  des  Täufers  bu 
Jesu  insbesondere  nach  der  Analogie  des  Verhältnisses 
zwischen  Samuel  und  David  auszubilden. 


$.    46. 

Urtheü  der  Evangelisten  und  Jesu  über  den  Täufer,  nebst  dessen 
Selbstbeurtheilung.    Resultat  über  das  Verbältniss  beider 

Männer. 

Auf  den  Johannes,  als  Vorbereiter  des  durch  Jesum 
gestifteten  Messiasreichs,  wenden  die  Evangelien  mehrere 
A.  T.  liehe  Stellen  an« 

Der  Aufenthalt  des  Bufspredigers  in  der  Wüste,  seine 
wegbereitende  Thätigkeit  für  den  Messias,  mufste  an  die 
jesaianische  Stelle  erinnern  (40,  3  ff.  LXX) :  (pum)  ßowtTog 
iv  tQtyup '  hoifidoare  xrjfv  odov  KvQiy  x.  r.  iL  Diese  Stelle, 
die  sich  in  ihrem  ursprünglichen  Zusammenhange  nicht 
auf  den  Messias  und  dessen  Vorläufer,  sondern  auf  Jehoya 


herüberzuziehen,  das  auffallende  Gewicht  erklären,  welches 
das  vierte  Evangelium  auf  die  paqTVQCa  *luayvs  legt.  Diess  hat 
schon  Stork  bemerkt  und  ausgeführt,  über  den  Zweck  der 
evangelischen  Geschichte  und  der  Briefe  Johannis ,  S.  5  ff. 
24  f.  Vergl.  auch  Hut,  Einleitung  in  das  N.  T.,  2,  S.  190 L 
3tc  Ausg. 


) 


Erstes  KapiteL    $.48.  417 

Aesiog,  dem  ftr  die  Rückkehr  mit  seinem  Volke  aus  dem 
Exil  durch  die  Wüste  nach  Judas  Bahn  gemacht  werden 
soll,  führen  die  drei  ersten  -Evangelisten  als  eine  dnreh 
den  Auftritt  des  Täufers  erfüllte  Weissagring  an  ( Matth. 
3,  3.  Marc.  1,  3.  Lac*  3,  4ff. ).  Es  liefse  sieh  denken, 
dais  diefs  erst  spätere,  christliche  Anwendung  wäre:  doch 
stobt  auch  dem  nichts  entgegen,  dafs  dem  vierten  Evange- 
lium zufolge  der  Täufer  selbst  seine  Bestimmung  durch 
jene  prophetischen  Worte  bezeichnet  hätte  (1,  23.)* 

Wie  diese  Stelle  sämmtliehe  Synoptiker  vom  Täufer 
selbst,  so  bat  Markus  eine  andre  Prophetenstelle  Aber  den 
Täufer  von  Jesus  entlehnt.  Wie  nämlich  Jesus  Matth« 
11,  10.  Lac.  7 ,  27.  gesagt  hatte :  tnog  yaq  igt  naqt  e  yi- 
yQanxai*  ids  dnog&ka  zov  ayyekov  fia  nqo  nQooojTis  ob,  og 
xaraaxevaoei  xrp  odov  oh  e/uTtQoa&iv  üb  '  so  wendet  im  Ein* 
gange  seines  Evangeliums  Markus  diese  Stelle  des  Malachia 
(3, 1.)}  neben  der  eben  besprochenen  jesaianischen,  Irriger» 
weise  beide  dem  Jesaias  anschreibend,  anf  den  Vorläufer 
Jobannes  an«  Die  Stelle  ist  eine  messianisohe:  nur  will  in 
derselben  Jehova  nicht  vor  einem  andern,  dem  Messias, 
einen  Engel  oder  Boten  herschicken,  sondern  vor  sieh 
selbst:  nnd  erst  in  der  N.T.  liehen  Anwendung  ist,  über- 
einstimmend in  allen  drei  Stellen ,  statt  der  ersten  Person 
i?3Db)  die  s  weite  (a&)gesetot. 

Namentlich  aber  ist  es  eine  Steile  desselben  Prophe- 
ten C  3>  23*  LXX.  4,  4 :  xal  lös  iyw  aTtogeld  v/täv  *HXiav 
tw  OeoßlzTjv,  n(HV  tl&6ii>  rrp  rjfdqav  Kvqih  x.  t.  L),  wei- 
cher zufolge  dem  Täufer  in  den  Evangelien  eine  Beziehung 
an  Elias  gegeben  wird.  Dafs' Johannes,  iv  mev/uau  xal 
öwdpei  "HUh  anf  Besserung  des  Volks  hinwirkend,  dem  in 
der  messianischen  Zeit  sein  Volk  heimsuchenden  KvQiog 
rorangehen  werde,  war  nach  Luc.  1,  17.  schon  vor  seiner 
Geburt  vorhergesagt.  Im  vierten  Evangelium  (1, 21.)  lehnt 
der  Täufer  auf  die  Frage  der  Abgesandten  des  Synedrinmrf 
ob  er  Elias  sei?  diese  Würde  ab;  ohne  Zweifel  nur  in 
Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  1.  Band.  27 


*  * 


41S  Zweiter  Abschnitt. 

dam  Sinne,  dafs  er  nicht  der  rohen  Volksvorstellung  ge* 
miifs  der  leibhaftig  wiedergekommene  alte  Seher  sei;  wo- 
gegen er  dag,  waa  die  Synoptiker  von  ihm  sagen,  ein  Mann 
im  Geiste  des  Elias  eu  sein,  wohl  selbst  auch  eingerannt 
haben   würde.    Auf  Ähnliche   Weise  setut  ja  auch  Jesaa 

/  (Matth.  11,  14.)?  wo  er  den  Johannes  als  den  verheifsenen 
Elias  bezeichnet,    wie  snr  Ab  wehrang  jenes .  fleischlichen 

'  Verständnisses,  hinsu :  ei  &&Xtts  digetoüatr1). 

Jene  dem  vierten  Evangelium  eigenthflmlicbe  Seen«, 
wo  Johannes  den  Eliastitel  nebet  mehreren  andern  aue- 
sehllgt,  verlangt  noch  eine  genauere  Betrachtung,  und 
wtar  mufs  sie  mit  einer  Erzählung  des  Lukas  ( 3 ,  15  ff. ) 
verglichen  werden,  mit  welcher  sie  auAiUende  Aebnlich- 
keit  hat.  Wie  bei  Lukas  das  um  den  Täufer  versammelte. 
Volk  auf  den  Gedanken  kommt,  ftynore  avtog  euj  6  Xqi- 
cos»;  so  fragen  ihn  bei  Johannes  Uepnthrte  des  Syne- 
drrams*)**  avrlg  ei;  was,  nach  der  Antwort  des  Täufers* 
eu  schliefen,  den  Sinn  haben  mufs:  Wofür  gibst  du  dich' 
aus?  etwa,  wie  deine  auf  das  Messiasreich  bestfgliebe 
Taufe  vermuthen  lädt ,  und  Manche  von  dir  glauben ,  för 
den  Messias  s)?  Mach  Lukas  antwortet  Johannes:  *yw  ftfv 
vöatt  ßamlCo)  vfivg*  $Q%eicu  <$&  6  loxvQ&zeQog  /uö,  h  «x  ftpl 
txavog  iJooai  rov  l/uavra  tcjv  vnodijfidrünr  amS  — ;  nach  Jo- 
hannes erwiedert  er  gleichfalls:  iyto  ßccmlfy)  iv  vda%f 
pioos  da  vfiwv  tgipctv,  ov  v/usig  ax  Mate  —  s  iyto  aar  ei/ui 
äSiog  ha  hvam  avvs  tov  iftdvra  tS  vnodrjfuaiog^  womit  bei 
Johannes  noch  die  ihm  eigentümlichen  Ausspruche  aber 
Jesu  Präexistenz  oder  höhere  Natur  verbunden  sind,  statt 
deren  Lukas  eine  Erwähnung  der  messianiaehen  Geistee- 
taufe hat,   welche  Johannes  erst  bei  einer  späteren  Gele« 


1)  de  Witts,  exeget.  Handb.,  1,  3,  S.  25. 

2)  Ucbor  diesen  Sinn  von  ,«  VwTwut   in  unserer  Stelle  vergl.  die 
Ausleger. 

3)    S.    LUC  KB    U.    HB    WSTTB    Z.    d.    SU 


Erste«  Kapitel,    f.  46.  419 

4 
\ 

genheit  (V.  SS.)  nachholt.  Wie  aber  Lukas  diese  ganre 
Seene  in  der  Absicht  und  mit  der  Bedeutung  einrückt,,  die 
Messianitft  Jesu  auch  dadurch  so  begründen,  dafs  der' 
Tfiufer  sie  von  sieh  abgelehnt  nnd  anf  einen  nach  ihm 
Kommenden  übergetragen  habe:  so  hat  sie,  nur  mit  noch 
stärkerem  Gewichte,  dieselbe  Bedeutung  Auch  bei  Johan- 
nes. Liegt  nun  den  beiden  so  verwandten  firzfihiungen 
schwerlich  mehr  als  Ein  Vorfall  com  Grunde  *):  so  fragt 
sich,  welche  ihn  getreuer  wiedergibt?  Hier  ist  fürs  Erste 
in  der  Darstellung  des  Lukas  keine  innere  Unwahrschein« 
liohkeit ;  vielmehr  läTst  sich  leicht  denken,  wie  das  um  den 
Täufer  geschaarte  Volk  den  Mann,  der  die  Annäherung 
des  Messiasreichs  verkündigte,  und  mit  Beziehung  auf  das- 
selbe taufte,  in  begeisterten  Augenblicken  für  den  Messias 
selber  halten  mochte.  Nicht  minder  aber  ist  es  dem  Auf- 
sicbtsrechte  des  Synedriums  ober  öffentliche  Lehrer,  wie 
da  ein  solches  auch  gegen  Jesum  geltend  machte  (Matth. 
21,  2S.),  angemessen,  dafs  es,  nach  der  Darstellung  im 
vierten  Evangelium,  den  Johannes  um  seine  Befugnifs  fra- 
gen läfst.  Dafs  bei  Lukas  diese  Scene  vor,  bei  Johannes 
ohne  Zweifel  nach  der  Taufe  Jesu  vorgeht,  gibt  gleichfalls 
keinen  Grund,  uns  für  die  eine  oder  andere  Darstellung 
sta  entscheiden.  Denn  auf  den  Messias  als  einen  eu  er* 
wartenden  und  ihnV  überlegenen  —  und  mehr  hat  Lukas 
ifcteht  —  mufs  Johannes ,  ancb  schon  ehe  er  Jesum  taufte, 
hingewiesen  haben :  wogegen  ebenso  im  vierten  Evangelium, 
vtö  Ate  Scene  bei  der  Taufe  vorausgesttst  wird ,  die  be- 
rftfihartäre  Hinweisung  auf  den  schon  mitten  unter  die  Fra- 


4)  Bi.uk,  a.  a.  0.  S.  426;  ob  Wette,  a.  a.  0.  S.  26 f.  Auch 
Lücke  gesteht  (S.  339  seines  Comm.)  zu,  die  Ansiebt  von  der 
Identität  beider  Relationen  habe  vielen  Schein  füt  sich;  dass 
er  seihst  (S.  342)  sich  für  die  Verschiedenheit  erklärt,  hat 
seinen  Grund  nur  in  dem  eingestandenen  Wunsche,  beide 
evangelische  Erzählungen  in  ihre»  Werthe  zu  erhalten. 

27* 


V 


4M  '  Zweiter  Abschnitt 

ger  getretenen  Messias  gan*  in  der  Ordnung  ist.  Endlieh 
seihst  durch  die  Frage,  welche  von  den  beiden  Darstellun- 
gen denn  ejier  auf  au  historischem  Wege  habe  entstehen 
Mnnen,  kommt  die  Wage  nicht  aus  dem  Gleichgewicht. 
Denn  wie  sich  die  Ersählung  bei  Lukas  als  der  unbe- 
stimmte Nachball  dessen  betrachten  läfst,  was  der.  vierte 
Evangelist  genauer  su  berichten  weifs :  ebenso  liebe  sieh 
umgekehrt  die  Darstellung  des  letsteren  aus  dem  Bestreben 
erklären ,  dem  Zeugnils  des  Täufers  ober  Jesum  dadurch 
mehr  Gewioht  su  geben,  dafs  es  su  einem  offiziellen,  nicht 
{dofs  vor  Volkshaufen,  sondern  vor  der  Staatsbehörde  ab- 
gelegten, gemacht. wurde;  wie  sich  denn  «loh.  5,33.  Jesus 
auf  dieses  Zengnifs  mit  gans  anderem  Gewichte  beruft,  als 
er  sich  auf  das  bei  Lukas  hätte  berufen  können.  Es  ist 
also  pin  Dilemma,  das  nur  aus  der  allgemeinen  Ansieht 
Qber  das  Verhältnifs  des  vierten  Evangeliums  su  den  Syn- 
optikern in  Hinsicht  ihrer  historischen  Glaubwürdigkeit 
entschieden  werden  kann. 

Was  Jesus  seinerseits  über  den  Jobannes  urtheilte, 
findet  sich  bei  den  Synoptikern  an  sweiOrte  vertheilt,  in- 
dem hier  Jesus   theils  nach   dem  Abgang  der  Boten   des 
Johannes  sich   su  einer  Erklärung  über  diesen  veranlagst 
sieht  (Matth.  11, 7  ff.  paralL),  theils  nach  der  Erscheinung 
des  Elias  bei  der  Verklärung  durch«  eine  Frage  der  Junger 
auf  ihn  su  sprechen  kommt  (Matth.  17,  12  f.  paralL) ;    im 
vierten  Evangelium,  spricht  Jesus  den  fedaloig  gegenüber, 
nachdem  er  sich,  wie  bemerkt,    auf  ihre  Sendung  su  Jo- 
hannes   berufen,   ein   ehrendes   Urtheil   über   diesen   aus 
(5,  35.)«    In  der  johanneiechen  Stelle  nennt  er  den  Täufer 
-ein  hellscheinendes  Licht,  in  dessen  Strahle  das  Volk,  statt 
tiefe  und  bleibende  Eindrücke  von  ihm  ^u  empfangen,  sich 
eine  Zeit  lang  habe  ergetsen  mögen ;  in  der  s weiten  syn- 
optischen Stelle  (bei  Matthäus  auch  schon  in  der  ersten, 
V.  14.)  versichert  er,  dafs  Johannes  der  als  messianischer 
Vorläufer  verheifsene  Elias  sei;   in  der  ernten  Stelle  sind 


Erstes  Kapitel.    $.  40. 


421 


drei  Punkte  so  unterscheiden.  Erstlich  das  Wesen  und 
die  Wirksamkeit  des  Johannes  betreffend,  wird  sein  stren- 
ger und  fester  Sinn  und  die  Erhabenheit  gerühmt,  welche 
er  als  der  von  Malachia  geweissagte  messianlsche  Vorläu- 
fer, der  mit  gewaltiger  Hand  das  Himmelreich  eröffnet 
habe  9  selbst  Aber  die  Propheten  behaupte  (V.  7 — 14.); 
sweiten*  im  Verhältnifs  so  Jeso  und  den  Borgern  der 
ßaoileta  xotv  üoavwv  wird  der  Tlufer  eurflckgestellt  als 
derjenige,  welcher,  obwohl  über  alle  Mitglieder  der  A.T.- 
liehen  Oekonomie  erhaben,  doch  dem  Geringsten  von  de- 
nen, die  an  dem  Leben  des  nenen  Bundes  Theil  haben, 
nachstehe  (V.  11.)*  Was  drittens  das  VerhXitnifs  der 
Wirksamkeit  sowohl  des  Johannes  als  Jesu  su  den 
Zeitgenossen  "betrifft,  so  wird  V.  16  ff.  Ober  deren  gleiche 
Uoempfanglichkeit  für  beide  geklagt;  wiewohl  V.  12.  be- 
merkt war,  dafs  seit  dem  Auftreten  des  Täufers  ein  ge- 
waltiger Eifer  für  das  Messiasreich  angeregt  sei,  und  man» 
che  ernst  Strebende  ißivgal)  sich  den  Zugang  in  dasselbe 
erzwingen  *). 

Hier  mufs  man,  was  den  «weiten,  wichtigsten  der 
aufgezählten  Punkte  betrifft,  allerdings  mit  Nkander  sagen: 
hfitte  nicht  Johannes  die  Idee  vom  Messias  und  seinem 
Reiche  auf  eine  klarere  und  geistigere  Weise  als  die  Pro- 
pheten ausgebildet,  nicht  unmittelbarer  als  sie  auf  den 
Messias  hingewiesen :  so  würde  ihn  Jesus  nicht  grftfser  als 
alle  Propheten  genannt  haben  6).  Aber  ebenso  wird  man 
auf  der  andern  Seite  sagen  müssen :  hätte  der  Tfiufer  Je- 
su m  selbst  fest  und  entschieden  als  den  Messias,  und  «war 
gan*  im  N.  T. liehen  Sinne,  anerkannt:  so  würde  ihn  Je« 
sua  nicht  aus  seinem  Reiche  ausgeschlossen,   dem  loteten 


5)  Eine  abweichende  Erklärung  «.  bei  Scsäsckikbuaw,  Beitrage, 

S.  48  ff. 
4)  NsAjtps*}  L,  J.  Chr.,  S.  91* 


\ 


422  Zweiter  Absehpitt 

Bürger  desgelben  nachgestellt  hab^n.  Diefs  gibt  Nbands« 
selbst  cum.  Tbeil  su ,  wenn  er  das  Zurückbleiben  des  Jo- 
bannes hinter  dem  christliehen  Standpunkte  darauf  besieht, 
dafs  er  noch  nicht  mit  klarem  Bewußtsein  erkannt  habe9 
wie  der  Messias  nicht  durch  eine  allen  Widerstand  besie- 
gende Wun^ermachty  sondern  durch  Leiden  sein  Reich  in 
der  Menschheit  gründen,  und  dieses  nicht  zuerst  als  ein 
(ulserliches  In  4er  Erscheinung  sich  darstellen ,  sondern 
von  innen  heraas  als  ein  geistige?  steh  entwickeln  werde. 
Davon  hatte  aber  cW  Täufer  da»  Erstere  dem  vierten 
Evangelium  zufolge  bestimmt  erkannt  und  wiederholt  aus- 
gesprochen: und  NfiAtiDER'n  bleibt  nicfits  übrig ,  als  den 
Evangelisten  Johannes  der  Vermischung  des  Subjectiven 
und  Objectiven,  der  flineintraguqg  eines  bestimmteren  und 
höheren  $innes  in  die  Worte  des  Täufers  su  beschuldi« 
gen  7) ;  wobei  wir  dann  nicht  wissen  können,  was  von 
dessen  Beden  im  vierten  Evangelium  als  sicherer  geschieht«* 
lieber  Rest  übrig  bleibt.  —  Ein  weiterer  Punkt,  in  "Betreff 
dessen  Jesus  den  Johannes  den  Mitgliedern  des  messisni- 
sefeen  Reiches  nachsetzt r  ist,  wie  aus  V.  18.  in  Verglei- 
ehung  mit  Matth.  9,  Iß  f.  erhellt,  sein  ascetisches  Wesen, 
der  Aeufserlichkeitsgeist  Überhaupt,  der  noch  an  Fasten 
u.  dergl.  Werken  hingt  welche  Jesus  dort  als  die  zu  dem 
(leiste  des  neuen  Bundes  nicht  passenden  alten,  Schläuche 
und  Gewänder  bezeichnet. 

Zum  Schlüsse  ist  noch  eine  Uebersicht  des  Stufen- 
gangs  su  geben,  in  welchem  an  die  einfachen  historischen 
Grundsüge  des  Verhältnisses  zwischen  Johannes  und  Jesus 
ailmähÜg  immer  mehr  Traditionelles  sieh  angesetzt  hat. 
Historisch  ist,  dafs  Jesus,  erfüllt,  wie  er  war,  von  der  ei- 
gentümlich gefafsten  Messiasidee,  durch  den  Ruf  der 
vorbereitenden  Taufe  des  Johannes  abgezogen  wurde,  und 
sieh  derselben  unterwarf;  bald  aber  selbstständig  als  Mos* 


7)  a.  ji.  ü.,  S.  78. 


Erstes  Kapital.    $.  46.  42S 

•In«  unter  seinen  Volksgenossen  auftrat.  Von  dieser  Wirk- 
samkeit Jesu  seheint  der  Täufer  noch  von  seinem  Kerker 
aus  Notis  genommen  au  haben ;  ohne  jedoch  mit  sieh  in  s 
Reine  au  kommen ,  ob  er  den ,  der  so  langsam  su  Werke 
fing  und  so  leidend  sieh  verhielt ,  für  den  von  ibm  ange- 
kündigten Messlas  halten  dlrfe:  wie  sieh  diefs  in  der 
frage  ausspricht,  mit  welcher  er  die  ewei  Schüler  aus 
dem  Gefängnifs  an  Jesum  sendet. 

Nun  konnte  man  aber  in  der  ersten  Christengemeinde 
nicht  anders  denken,  als  dafs  der  Vorläufer  Jesum  ent- 
schieden als  den  Messias  anerkannt  habe:  und  so  genügte 
das  halbe  und  überdem  späte  Zeugnifs  nicht,  welches  in 
jener  Sendung  aus  dem  Kerber  lag* 

Es  wer  höchstens  ein  halbes  Zeugnifs;  sofern  es  iu 
der  Frage  die  (Jngewifsheit ,  und  in  dem  V>  iQ/ofternc;  eine 
Unbestimmtheit  enthielt.  Daher  im  vierten  Evangelium 
keine  Frage  nach  der  Messianität  Jesu  mehr,  sondern  die 
heiligste  Versicherung  derselben ;  daher  die  bestimmtesten 
Ausspräche  über  Jesu  ewige,  göttliche  Natur  und  seinen 
Charakter  als  des  leidenden  Messias. 

Doch  auch  ein  spätes  war  jenes  Zeugnifs ;  denn  vor 
demselben  blieb  fa  immer  noch  die  Taufe,  welche  Jesus 
voo  Johannes  angenommen,  und  dadurch  sich  ihm  schein- 
bar untergeordnet  hatte.  Daher  mufste  der  Taufe  Jesu 
die  entgegengesetzte  Wendung  gegeben  werden  (wovon 
unten)  S  daher  ferner  jene  Scenen  bei  Lukas,  durch  welche 
der  Täufer  ver  seiner  Geburt  tubon  in  ein  dienendes  Ver- 
häitnifs  ou  Jesu  gesetzt  wurd«. 

Mit  diesen  Vorgängen  und  Aussprüchen  konnte  nun 
freilich  in  einer  nach  Einheit  strebenden  Darstellung  jene 
zweifelnde  Sendung  nicht  wohl  cusammen  bestehen:  wie 
sie  denn  im  vierten  Evangelium  fehlt;  wogegen  die  übri- 
gen Evangelisten  in  ihre  loseren  Compositionen  neben  der 
späteren  Verherrlichung  auch  noch  die  ursprüngliche  Er- 
itäliluiig  aufnahmen ,  indem  sie  weuiger  auf  die  frage  des 


4$4  Zweiter  Abschnitt. 

Johannes,  als  asrf  die  damit  in  Verbindung  gebrachte  Red« 
Jesu  Aber  denselben  Gewicht  Jagen  mochten  8)» 


g)  Nur  in  Form  einer  Anmerkung  sei  hier  der  Halbheit  gedacht, 
mit  welcher  dai  Verhältnis»  des -Täufers  zu  Jesu  auch  vom 
denjenigen,  welchen  über  die  Unhalftbarkeit  der  gewöhnlichen 
Ansicht  von  demselben  ein  Licht  aufgegangen,  doch  noch  im* 
mer  gefasst  wird.  Unter  diese  ist  Plahc*,  in  seiner  Geschieht* 
des  Christenthums  Jn  der  Periode  seiner  Einführung,  1,  Kap.  7n 
nicht  einmal  zu  zählen ,  indem  er  die  Berichte  über  dieses 
Verhältniss  durchaus  als  historisch  nimmt,  dann  aber  nicht 
umhin  kann,  einen  zwischen  beiden  Männern  abgeredetes 
Plan  aufs  Bestimmteste  zu  behaupten. 

Die  Abhandlung  eines  Ungenannten  hingegen  in  Harai'i 
neuem  Magazin,  6,  3,  S»  373 ff. ,  Johannes  und  Jesus  über. 
schrieben,  geht  von  dem  Bewusstsein  aus,  data  die  orthodoxe 
Vorstellung  von  Johannes  als  blossem  Vorläufer  Jesu,  der 
seine  Bestimmung  und  Absicht  nicht  in  sich  selber ,  sondern 
einzig  in  dem  nach  ihm  Gekommenen  gehabt  habe,  unhaltbar 
sei;  ebensowenig  aber  der  naturalistische  Verdacht,^  das*  zwi- 
schen beiden  Männern  eine  vorgängige  Abrede  stattgefunden, 
irgend  einen  Grund  für  sich  aufzuweisen  "habe.  In  ersterer 
Beziehung  nun  räumt  der  Verf.  mit  vieler  Unbefangenheit  die 
Meinung  hinweg ,  als  hätte  Johannes  bestimmt  schon  auf  Je? 
s um  als  Messias  hingewiesen ,  und  geht  hierin  selbst  zu  weit, 
indem  er  der  unbegründeten  Vermuthung  nachhängt,  vielleicht 
habe  der  Täufer  anfänglich  sich  selbst  zum  Messias  berufen 
geglaubt,  und  durch  seine  Taufe  für  sich  Partei  machen  woU 
Jen.  Gegen  die  andre  Vermuthung  aber  geht  er  lange  nicht 
weit  genug.  Er  gibt  nämlich  nicht  bloss  die  Verwandtschaft, 
das  ziemlich  gleiche  Alter  und  die  frühe  Bekanntschaft  beider 
zu:  sondern  ergeht  sich  auch  in  romantischen  Vorstellungen 
▼on  den  Weltverbesserungsplanen,  welche  die  Jünglinge  sut 
sammen  entworfen ;  von  dem  eddmüthigen  Streit,  in  welchem 
sie  gestanden,  indem  jeder  den  andern  für  würdiger  gehalten 
habe,  den  Messias  voranstellen  j  bis  endlich  Johannes  im  Be* 
wusstsefn  seiner  Unzulänglichkeit  zurückgetreten,  Jesus  aber 
durch  eine  Naturbegebenheit  bei  seiner  Taufe  in  der  Uebcr» 
seugung,  der  Messias  zu  sein,  bestärkt  worden  sei. 


* 


Erstes  Kapitel,    %  47.  «9 

$.    47. 

Die  Hinrichtung  de«  Taufen  Johanne«. 

Anhange  weise  nehmen  wir  hier  gleieb  da« jenige'  mit, 
was  ans  aber  das  tragische  Ende  des  Tänfers  Johannes 
gemeldet  wird.  Nach  den  übereinstimmenden  Berichten 
der  Synoptiker  and  des  Josephus  ')  wurde  er,  nachdem 
er  einige  Zeit  lang  gefangen  gesessen ,  auf  Befehl  des  He- 
rodes  Antipas,  Tetrarehen  von  Galiläa,  hingerichtet,  und 
»war  nach  den  N.  T.liehen  Nachrichten  enthanptet'(Matth. 
14,  3  ff.    Marc.  6J  17  ff.    Lac.  0,  9.)* 

-  Deber  die  Ursache  seiner  Gefangennehmung  und  Hin- 
richtung aber  findet  zwischen  Josephus  und  den  Evange- 
listen eine  Abweichung  statt.    Wihrend  nämlich  nach  den 


*■ 


Wurm,  unter  dem  Artikel  Johanne«  in  seinem  bibl.  Real* 
Wörterbuch,  1,  S.  690 ff. ,  hat  zwar  die  richtige  Einsicht  in 
die  unausgleichbare  Differenz  zwischen  der  synoptischen  und 
johanneischen  Darstellung  de«  Täufers,  so  wie  darüber,  dass 
die  letztere  die  Farbe  Johann eilchcr  Ünosis  trage;  aber  von 
dem  theilweise  sagenhaften  Charakter  auch  der  synoptischen 
Berichte  gibt  er  keine  Andeutung,  sondern  setzt  aus  Lukas 
die  Verwandtschaft^  und  du  Altersverhältnis« ,  au«  Matthias 
die  frühere  Bekanntschaft  Beider  voraus,  und  glaubt  auch 
anerachtet  diese«  Verhältnisses  die  späteren  in  der  Sendung 
aus  dem  Kerker  bewiesenen  Zweifel  des  Täufers  aus  seinen 
A.  T.  liehen  Messiasvorstellungen  begreifen  zu  können. 

Auch  Hast,  $$.  52.  96,  «eine«  Leben«  Jesu,  findet  e«  noch 
wahrscheinlich  9  das«  Johannes  ein  Blutsfreund  von  Jesu  gc- 
wesen  sei,  und  mit  ihm  in  einer  auf  höchste  Achtung  ge 
gründeten  Freundschaft  gestanden  habe,  ohne  übrigen«  vor 
der  Taufe  dessen  inessianische  Bestimmung  zu  kennen.  So- 
bald er  diese  erkannte,  habe  er  sich  Jesu  mit  erhabener  Auf- 
opferung untergeordnet. 

Von  Nejhpbk's  Ansicht  ist  im  Texte  hinlänglich  die  Rede 
gewesen* 
I)  Antio,  18,  5,1 


426  Zweiler  Abschnitt 

letzteren  der  Tadel,  welchen  Johanne«  über  die  Verbeira- 
thung  des  Herodes  mit  der  Fran  seines  (Halb-)  Binders7) 
ausgesprochen  hatte,  die  Veranlassung  seiner  Gefangen* 
nehmung  war,  und  die  rachsüchtig*  List  der  Herodias 
während  eines  Hoffeste«  die  Hinrichtung  herbeiführte:  ss 
erzählt  «war  auch  Joseph«)  ftas  VerhftltnUs  des-  Antipae 
cur  Herodia*  und  den  Tod  des  Täufers  in  Einem  Zusam- 
menhange ;  aber  nicht  so,  dafs  der  Tadel  jenes  Verhältnis« 
«es  als  Ursache  der  Hinrichtung  des  Täufers  erscheint: 
Sendern  die  Hinrichtung  des  Täufers  als  Ursache  der  Nie* 
derlage  des  Antipas  in  dem  durch  dje  fleirath  mit  Hero- 
diaa veranlafsten  Araber |t?i*ge ;  als  Grund  der  Verhaftung 
und  Hinrichtung  des  Täufers  aber  gibt  Josephua  die 
Furcht  vor  Unruhen  an,  yvelehe  Herodes  von  dem  bedeu- 
tenden Anhange  desselben  besorgt  habe.  Diese  beiden  ab- 
weichenden Erzählungen  *)  sind  übrigens  nicht  unverein- 
bar. Man  hat  die  Vereinigung  so  versucht,  dafs  msn 
yermuthete,  die  Furcht  ?pr  Aufruhr  sei  der  eigentliche 
Kabinetagrund  »ur  Verhaftung  des  Täufers  gewesen ,  das 
mebjrerbiaiige  Urtheil  über  die  Herrscher  aber  als  osten- 
sibler Grund  vorgeschoben  worden  *}.  Allein  ich  zweifle 
sehr,  ob  Herodes  den  von  Johannes  gerügten  scandalö'en 
Punkt  absichtlich  wird  hervorgekehrt  haben;  sondern, 
wenn  man  hier  zwischen  geheimer  und  ostensibler  Ur- 
sache unterscheiden  will,  so  möchte  der  Tadel  jener  Hei- 
rath  die  geheime  gewesen,  und  die  Sachye  bo  zu  denken 
min ,   dafs  die  Furcht  vor  Aufruhr  absichtlich ,   um  den 


%)  Diesen  früheren  Gemahl  der  Herodjas   nennen   die   Evange- 
lien Philippus,  Josephus  Herodes.     Er  war  der  Sohn  der  Ho- 
.  henpriciterstophter  Mariammo,  und  lebte  als  Privatmann,     S. 
Joseph.  Antiq,  15,  9,  3.    18,  5,  1.  4.     B.  j.  1,  29,  2.    30,  7. 

3)  Vgl,  Hasb,  Leben  Jesu,  §.,  8$.t    . 

4)  Fmtzschs,   Conim.  in  Matth.    z.  d.  St.    Wixvkr,   bibl.  iUral- 
W>rtcrb.,  1,  S.  094. 


I 


\ 


Qrst  es 'Kapitel.    $.17.  427 

Mord  su  entschuldigen,  ausgestreut  worden  sei  *).  Uebri» 
gens  braucht  man  jeoe  Unterscheidung  nicht  einmal;  da 
ja  Antipaa  befürchtet  haben  kann,  eben  auch  durch  den 
starken  Tadel  jener  gesetzwidrigen  Heireth  und  seiner 
Lebensweise  Oberhaupt  möchte  Johannes  das  .  Volk  gegen 
ihn  in  Aufruhr  bringen. 

Aber  apei}  syrischen  den  evangelischen  Erzählungen 
selbst  findet  sich  eine  Differenz;  nicht  nur  darin,  dafs 
Jttarkus  in  anschaulichster  Ausführlichkeit  die  Seene  bei 
dem  Festmahl  erzählt,  Lukas  dagegen  sieh  mit  einer  kur- 
zen Angabe  begnügt  (3,  18  —  M.  Ö,  9.)j  während  Mat- 
thäus in  der  Mitte  steht:  sondern  es  wird  auch  das  Ver- 
haitnifs  Aß*  Herodes  zum  Täufer  vou  Markus  wesentlich 
aoders  als  von  Matthäus  dargestellt.  Während  nämlich 
nach  dem  Letzteren  Herodes  den  Täufer  au  ttfdten 
wfinschte,  aber  nicht  dazu  kommen  konnte,  weil  das  Velk 
sn  ftrchten  war,  das  ifia  für  einen  Propheten  hielt  (V.»v)* 
so  ist  es  nach  tylarkus  nur  Herodias,  welche  dem  Johan- 
nes nach  dem  Leben  trachtet,  aber-  ihren  Zweck  nicht  er- 
reichen kann,  weil  ihr  Gemahl  ihn  als  einen  heiligen  Mann 
sehen te,  ihn  bei  Gelegenheit  selbst  gerne  härte,  und  sei« 
nem  Rath  nicht  selten  Folge  leistete  (V.  i9ff.>  Hier  hat 
nun  das  individuell  Charakteristische  der  Erzählung  des 
Markns  die  Erklärer  bewogen,  seiner  Darstellung  den 
Vorzug  vor  der  des  Matthäus  an  gehen  *).  Allein  gerade 
jn,  diesen  Ausmalungen  und  Aenderungen  bei  Markus 
könnte  man  vielmehr  die  Spur  des  Traditionellen  zn  er- 
kennen glaubpn,;  zumal  auch  «losepaus  nur  vom  Volke 
sagt;  7}<)!h4(fui(  rij.  uxqqqujgi  vw  Xoyuivi  den  Herodes  aber 
als   denjenigen  aufführt,    welcher   deiaas  xq&liluv  *&&*"+ 


5)  So  Faülus;  ScaLsnamACRBB,  Über  den  Lukas,  S.  109  {  nbaä- 
dbr,  L.  J.  Chr.,  S.  85. 

fiX  2,  B.  Schub ckbnburcbr  ,  über  den  Ursprung  des  ersten  kano- 
nischen Evangeliums;  S.  86  f. 


418     •  Zweiter  Abschnitt. 

(roV  *IoHxrvtfö  avmqäv.  Wie  nahe  lag  es  nämlich ,  cn  wei- 
tWer  Erhebung  dea  Täufers*  den  Contrast  herbeizuführen, 
data  selbst  der  Fürst,  gegen  welchen  er  gesprochen,  und 
der  ihn  defswegen  verhaftet  hatte,  im  Gewissen  gehalten 
gewesen  s£i,  Um  e«  achten,  und  nnr  sein  rachsüchtiges 
Weib  eu  'seinem  Bedauern  ihm  den  Mordbefehl  abgelistet 
habe.  Mit  dem  Charakter  des  Antipas  ist  es  ohnehin  nicht 
unverträglich,  dafs  er,  als  ayarcorv  trjv  rjovxlav*))  den  Stö- 
rer setner  inneren  und  äofseren  Ruhe  aus  dem  Wege  cu 
schaffen  wünschte. 

Der  Schiais  der  evangelischen  Ersählung  gibt  den 
Eindruck,  als  wäre  der  abgeschlagene  Kopf  des  Johannes 
noch  bei  Tisch  überreicht  worden,  also  das  Geftngnifs 
desselben  gans  in  der  Nähe  gewesen.  Nun  aber  erfahren 
wir  aus  der  angeführten  %  Stelle  des  Joseph  us,  dafs  der 
Täufer  in  Machart»,  einem  festen  Plate  an  der  Südgrinse 
von  Peräa,  gefangen  gesessen  habe ;  wogegen  die  Residens 
des  Herodes  in  dem  eine  Tagreise  davon  entfernten  Tibe- 
rias  war9)»  Von  Maohärus  aber  nach  Tiberias  konnte 
das  Raupt  des  Johannes  erst  nach  swei  Tagen,  also  nicht 
mehr  über  Tafel,  herbeigebracht  werden.  Der  Wider- 
spruch, welcher  hierin  su  liegen  scheint,  ist  nun  swar 
nicht  mit  Fritzschk  durch  Berufung  darauf  su  lösen,  dafs 
in  den  Evangelien  mit  keinem  Worte  gesagt  sei,  das  Haupt 
des  Johannes  sei  noch  während  des  Mahles  gebracht 
worden.  Denn  die  Tochter  der  Herodias  verlangte  das- 
selbe (odef  d.  h.  doch  wohl  auf  der  8telle,  noch  während 
des  Festes  9) :  und  der  Verfolg  der  Erzählung,  besonders 
ri  Markus,   wo  alsbald  ein   speculator  in  den   Kerker 


7)  Joseph.  Antiq.  18,  7,  9-  Dass  das  tivnqfy  Ae*  Matthäus  V.  9« 
kein  Widerspruch  dieses  Evangelisten  mit  sich  selber  ist, 
darüber  vor  gl.  Faitzscju  z.  d.  St. 

8)  Vergl.  Fritzschk,  Couun.  in  Matth.,  S.  491. 

9)  Vgl.  ps  Wjcrrs,  exeg,  Handb.,  J,  i,  S.  132. 


Erstes  Kapitel.    &  47.  429 

geht,  und  mit  dem  Haupte  dea  Tftnfers  auf  dem  ntva%  cu- 
Mruckkommt,  veranlagt  an  glauben,  dafs  ihr  Wunsch, 
oder  vielmehr  der  ihrer  Matter,  gewihrt^  nod  dem  rech* 
süchtigen  Weibe  der  Kopf  ihres  Feindes  als  das  köstlichste 
Gericht  noch  über  Tafel  gebracht  worden  sei*  Das  aber 
tritt  hier  mit  einer  wenigstens  möglichen  Lösung  ein,  was 
wir  aas  Josephns  erfahren10),  daf s  Herodes  Antipas  ebenda- 
mala  mit  dem  arabischen  König  Aretas  im  Kriege  begriffen 
war,  swischen  dessen  Gebiet  and  dem  seinigen  Machfirns 
die  Grinsfeste  bildete:  wo  also  damals  Herodes  selbst  mit 
seinem  Hofstaate  sich  aufgehalten  haben  könnte  **)• 

Wir  sehen :  das  Leben  des  Johannes  in  der  evangeli- 
schen Erafihlang  ist  aas  leicht  denkbaren  Granden  vor- 
wiegend nar  an  seiner  Jesu  angewendeten  Seite  von  my- 
thischem Schimmer  umflossen ;  wfihrend  die  von  der  Sache 
Jean  abgekehrte  Seite  mehr  noch  die  geschichtlichen  Um- 

seigt. 


10)  Antiq.  18,  5,  J.  Vergl.  Kux,  Hauptamtlichen  o.  s.  f.,  Tttb. 
Zeitschrift,  1836,  2,  S.  60. 

11)  OsiAMoin  iwtf  (S.  140)  weiss  für  gewiss,  dsss  Herodes  da- 
mals in  Mächanis  „seine  Hofhaltung  hatte";  so  lange  er 
uns  aber  nicht  sagt,  woher  er  diess  weiss,  müssen  wir  bei 
unserem  „könnte"  bleiben. 


Zweites    Kapitel. 

Taufe  und  Versuchung  Jesu. 


$.    48. 
In  welchem  Sinne  hat  sich  Jesus  von  Johannes  taufen  lassen  ? 

Die  vorangestellte  Frage  ,  so  leicht  man  et,  mit  ihrer 
Beantwortung  bisher  an  nehmen  pflegte,  gehdrt  doch  an 
den  schwierigsten  in  der  evangelischen  Geschichte;  sofern 
die  zwei  Seilen ,  welche  der  früheren  Ausführung  zufolge 
an  der  Bedeutung  der  Johannistaufe  zu  unterscheiden  sind, 
beide  gleich  sehr  mit  der  Stellung  und  dem  Wesen  Jesu 
im  Widerspruche  eu  stehen  scheinen. 

FüVs  ferste  stellen  uns  die  Evangelisten  die  Taufe  des 
Johannes  als  ein  ßamitifta  fieravoiay  dar.  Die  Israeliten, 
heifst  es  Matth.  3,  6  ,  haben  sich  von  Johannes  taufen 
lassen  i^p/joloysftevoc  vag  a/uaQrlag  avrwv :  soll  nun ,  müs- 
sen wir  fragen ,  Jesus  gleichfalls  ein  solches  Bekennthift 
abgelegt  haben?  es  erging  an  sie  der  Ruf:  fietavoelti 
(Matth.  3,  2.):  soll  auch  Jesus  sich  diefs  haben  gesagt 
sein  lassen? 

/  Schon  in  der  alten  Kirche  war  dieses  Bedenken ;  im 
Hebräer-Evangelium  der  Nazarener  richtete  esus  Jan  seine 
Mutter  and  Brüder,  welche  ihn  aufforderten,  sich  von  Jo- 
hannes taufen  zu  lassen,  die  Frage,  was  er  denn  gesündigt 
habe,  dafs  er  diese  Taufe  nöthig  hätte1)?   und  ein  ketse- 


1)  Hieron«  adv.  Pelagian.  3,2:/«  Evangelio  juxta  Hebraeos  — 
—  narrat  htstorta :  Ecce  maier  Domini  et  fratres  ejus  die*- 


Zweites  Kapitel.    ?.  48.  431 

ritehes  Apokryphum  soll  Je*  am  bei  seiner  Taufe  geradezu 
ein  Bekenntnis  eigener  Sonde  haben  ablegen  lassen2). 

Zu  einer  solchen  Vermnthung  karin  man  allerdings* 
durch  folgende  Ueberlegungetf  gefahrt  Verden.  Nach 
M atth.  3 ,  6.  scheint  Johannes-  Vor  der  Taufe  ein  Sünden- 
bekenntnib  verlangt  eo  haben:  ablegen  konnte  Jesus,  als 
sündlos  vorausgesetzt,  ein  solches  ohne  Unwahrheit  nioht; 
verweigerte  er  es,  so  taufte  ihn  Johannes  schwerlich,  denn 
für  den  Messias  hielt  er  ihn  vorher  nicht,  und  bei  jedem  an- 
dern Israeliten  mufste  er  ein  Sflndenbekenntnifc  ftr  nöthig 
\ halten.  Wollte  also  Jesus  keines  abfegen,  so  mOfste  sich 
wohl  hierOber  der  Streit  entsponnen  haben,  weichest  Mat- 
thäus eine  gans  andre  Besiehung  gibt ;  aber  freilich,  wenn 
das  dnxitiXvtv  des  Johannes  durch  eine  solche  Weigerung 
Jean  veranlafst  gewesen  wfire,  so  würde  sich  die  Sache 
schwerlich  durch  ein  blofses  aco)  rtQinov  iglv  haben  abma- 
chen lassen,  sondern  eben  das  ulfjQÖiaai  naoav  dtxaioovvqv 


bant  ei :  Joannes  baptista  bapHzat  in  remitstonem  peccato- 
rum;  eamus  et  baptizemur  ah  6a.  JJtaii  amtem  eist  quid 
peccavi  ut  vadam  et  baptizer  ab  eo  ?  nisi  forte  hoc  ipsumt 
quod  dixi,  ignorantia  est. 

2)  Der  Verfasser  des  Tractatus  de  non  iferando  baptiamo  in 
Cyprians  Werken,  ed.  Rigalt.,  p.  139.  ( die  Stelle  steht  auch 
in  Fibric.  Cod.  apocr.  N.  T. ,  1,  S.  799f.)  sagt;  Est  —  Über, 
gui  tnscribitvr  Pauli  praedicatio.  In  quo  libro9  contra  omnes 
scriptnras  et  de  peccato  proprio  confitentem  invenies  Christum, 
qni  sohm  .omntno  nihil  deHquit,  et  ad  aecipteudum  Joannis 
bapHsma  paene  imiHtm  a  matte  sna  Maria  esse  compüt.furn.  — 
Da  dieses  Strauben  gegen  die  Taufe  nicht  cum  Bekenntriiss 
eigner  Sünde,  sondern  eigentlich  nur  zu  dem  Bewussteein 
der  Stindlosigkcit  passt,  wie  es  Jesus  im  Nazarenerevfenge- 
lium  ausspricht:  so  mag  die  Darstellung  der  Praedicatio  Pauli 
der  des  genannten  Evangeliums  verwandt  gewesen,  und  viel- 
leicht nur  aus  verketzerndem  Missverstand  härter  dargestellt 
worden  sein. 


432  Zweiter  Abschnitt«  ^ 


würde  der  Täufer  vermilst  haben,  wenn  kein  Sünden*«* 
kenntnifs  abgelegt  war.  Indessen,  wenn  auch  vielleicht 
nicht  jeder  einzelne  Täufling  ein  solches  Bekeontnifs  able- 
gen mufete;  so  hat  doch  wohl  Johannes  bei  Vollziehung 
der  Tanfhandlnng  nicht  ganz  geschwiegen ,  sondern  des 
Täufling  mit  Worten  angeredet,  welche  sieh  anf  die  /i««- 
vota  bezogen.  Konnte  Jesus  solche  Worte  Ober  sich  spra- 
chen lassen,  wenn  er  sich  bewufst  war«  keine  Sinnesaode* 
rung  nötbig  zu  haben?  nnd  machte  er  dadurch,  dafs  er 
von  sich  als  einem  Sünder  reden  liefe,  nicht  die  Gemfitber 
irre,  welche  nachher  an  ihn  als  den  Sündlosen  glauben 
sollten?  Lassen  wir  aber  selbst  auch  die  Behauptung 
fallen,  dafs  Johannes  die  Täuflinge  in  angegebener  Weise 
angeredet  habe :  so  mnfsten  doch  die  Gebärden  derjenigen, 
welche  in  die  reinigende  Fluth  hinabstiegen  nnd  wieder 
anftanchten,  die  von  BuTsenden  sein,  nnd  wenn  Jesus  diese 
auch  nur  stillschweigend  mitmachte,  ohne  sie  doch  auf 
sich  zu  beziehen :  so  könnte  er  von  Simulation  nicht  frei- 
gesprochen werden. 

So  zwingend  diese  Erwägungen  scheinen:  so  wenig 
kann  man  sich  doch  auf  der  s/idern  Seite  der  Wahrheit 
der  Bemerkung  entziehen,  es  sei  undenkbar,  dafs  derje- 
nige, welcher  mit  dem  Bewufstsein  zur  Taufe  gekommen 
war,  der  Sflndenvergebung  und  Reinigung  von  der  Sonde 
wie  Andere  zu  bedürfen,  sich  später  im  Gegentheil  ftr 
den  gehalten  haben  sollte,  welcher  selbst  die  Sündenverge- 
bung und  Geistestaufe  ertheilen  könne;  zwischen  beiden 
durchaus  entgegengesetzten  Formen  des  religiösen  Bewirfst* 
seins  könne  es  in  demselben  Subjeote  keine  Vermittlung, 
keinen  möglichen  Uebergang  aus  der  einen  in  die  andere 
geben  *)• 

Um  zu  Gunsten  dieser  Ueberlegung  der  froheren  aus- 
zuweichen, genügt  es  aber  nicht,  mit  Näandkr  ungenau  ** 


3)  Nbandbs,  L.  J.  Chr.,  S.  64« 


Zweites  Kapitel.    $.  48.  433 

sagen,   die  Beziehung  der  Taufe  anf  die  Bnfse    sei  von 
selbst  ausgeschlossen  gewesen  bei  dem,   welcher  eben  ins 
Momente  der  Taufe  als  den  Messias,  den  Befreier  von  der 
Bünde,  sieh  offenbarte;   denn  nach  den  evangelischen  Er- 
sählangen erfolgte  diese  Offenbarung  erst,   nachdem   der 
Tanfact  vorüber,   mithin  alles  dasjenige,   woran  wir  uns 
im  Gedanken  an  die  Unsündlichkeit  Jesu  stofsen  müssen, 
bereits  vorgenommen  war«    Ebensowenig  ist  die  Schwie- 
rigkeit dureh  die  Unterscheidung  zu  lösen ,  für  sich  selbst 
zwar  habe  Jesus   keine  perdvota  ne'thig  gehabt ;   um  die* 
selbe  aber  als  etwas  für  alle  andern  Menseben,  aueh  seine 
Volksgenossen,   die  Nachkommen  Abrahams  nicht  ausge- 
nommen, unerläßliches  darzustellen,   und  für  die  darauf 
absweckende  Taufe  seine    Billigung  öffentlich  auszuspre- 
chen, habe  Jesus  sieh  derselben  unterworfen4):   auch  so 
bliebe  die  Unwahrheit,   dafs  er  etwas ,   das  ihn  für  sich 
nichts  anging,  doch  scheinbar  auf  sich  bezogen  hätte*  Doeh 
dafs  ihn,  als  Siindlosen  vorausgesetzt,  die  Taufe  nichts  an- 
gegangen hätte,  ist  eigentlich  nur  bei  demjenigen  Begriffe 
der  Sündlosigkeit  richtig ,  welcher  das  posse  non  peccare 
cum  non  posse  peccare  steigert.    War  die  Möglichkeit  des 
Sfindigens  in  Jesu,  und  die  beständige  Niederhaltung  der- 
selben Werk  seines  freien  Willens:  so  steht  niohts  mehr 

0 

im  Wege,  dal*  er  sich  nicht  einer  sinnbildlichen  Handlung 
sollte  haben  unterwerfen  können,  durch  welche  er  sich 
fortgesetzte  Reinheit,  wie  die  Uebrlgen  Reinigung,  ge- 
lobte 6> 

Doeh   kaum    mit    diesem  Bedenken    fertig,     kommt 
nns,  von  der  andern  Seite   an   der  Bedeutung  der  Johan- 
nistaufe    her,    ein    neues    entgegen.       Dieselbe   war   den 
N.  T>  liehen  Nachrichten  zufolge  eine  Taufe  elg  zov  £(>xo 
fievov,  indem  man  durch  dieselbe  auf  die  Ankunft  des  Mes- 


4)  Kuiwöl,  Olshauskn,  z»  d-  St. 

5)  db  Wxttb,  exeg,  Handb.,  1,  1,  S.  34. 

Das  Leben  Jesu  Me  Aufl.  /.  Band.  28 


'    • 


434  Zweiter  Abschnitt 

sias  gläubig  sieh  vorbereiten  su  wollen  versprach:  wie 
kennte  Jesus ,  wenn  er  der  tQxaptvog  selbst  su  sein  sieh 
bewafst  war,  dieser  Taufe  sieh  unterwerfen,  und  dadurch 
den  täuschenden  Schein  veranlassen,  als  ob  auch  er  noch 
eines  Andern  wartete?  Ist  diel*  weder  seiner  Sittlichkeit, 
noch  auch  nur  seiner  Klugheit  »zutrauen,  und  fehlt  an* 
dererseits,  bei  { dem  mythischen  Charakter  der  tieburtage- 
schichte  und  der  Unbestimmtheit  der  Aeufserung  Jesu  im 
ewölften  Jahre,  jede  äußere  Nöthigung,  das  Bewußtsein 
seiner  Messianität  schon  früher  in  ihm  entwickelt  eu  den- 
ken: so  kann  man  eu  der  Folgerung  sich  veranlagt  fin- 
den, dafs  Jesus,  als  er  eu  Johannes  kam,  um  sich  taufen 
eu  lassen,  sich  noch  nicht  entschieden  als  den  Messias  ge- 
dacht haben  könne6). 

Aber  auch  hier,  wie  oben,  stellt  sich  dieser  Vermu- 
thung  ein  gewaltiges  Hindernifs  in  den  Weg.  Lfifst  es 
sich  denken ,  mufs  man  nämlich  fragen ,  dafs  derjenige, 
der  sich  bald  hernach  mit  einer  Klarheit  und  Entschieden- 
heit, welche  den  Schrecken  des  Todes  trotzte,  als  den 
Messias  wufste  — •  ist  es  denkbar,  dafs  dieser  noch  bis  in 
sein  reifes  Mannesalter,  das  dreifsigste  Jahr,  hinein  über 
sich  im  Unklaren  gewesen  sei?  kann  ein  so  sicheres  und 
in  seiner  Wirkung  auf  Andere  so  gewaltiges  Bewußtsein, 
wie  das  messianische  Jesu ,  als  ein  später  Fund  eu  seinem 
übrigen  Selbstbewußtsein  hinzugetreten,  und  mufs  es  nicht 
vielmehr  aus  demselben  hervor-  und  mit  demselben  grofs- 
gewachsen  sein?  eine  Entfaltung,  in  deren  Gang,  wie 
schon  früher  bemerkt,  die  Ereählung  von  dem  ersten  Tem- 
pelbesuch Jesu  aufs  natürlichste  sich  einfügt. 

Doch  eur  Lösung  dieses  Widerstreites  bietet  sich  die 
Nachricht  bei  Justin,  welcher  eufolge  es  jüdische  Erwar- 
tung war,  dafs  der  Messias  durch  den  ihm  vorangehenden 


6)  Paulus,  exeg.  Handb.,  1,  a,  S,  362  ff.  367.    Hase,  Leben  Jesu, 
§.  48.  erste  Ausg. 


Zweites  Kapitel.    §.  40.  4SS 

Ellas  gesalbt)  and  dadurch  unter  seinem  Volke  werde  ein« 
geführt  werden  *)•  Ale  diese  Salbung  konnte  Jesus  die 
Taufe  des  Johannes  betrachten ,  und  sich  eben  als  Messias 
derselben  unterwerfen«  Das  Gleiche  >  dafs  nicht' blof*  die 
auf  das  messianische  Reich  Wartenden,  sondern  auch  der 
Messias  selbst  m  seiner  Taufe  kommen  würde,  erwartete 
auch  der  Tfiufer  nach  dem  vierten  Evangelium  (1,  39  f.) ; 
wogegen  seine  Weigerung,  Jesum  eu  taufen,  im  ersten 
Evangelium  (8,  14.) ,  sich  mit  jener  Vorstellung  nicht  ver* 
tragt. 

$.49. 

Die  Votfälle  bei  der  Taufe  Jesu  als  Übernatürliche  und  als 

natürliche  betrachtet. 

Eben  als  Johannes  seine  Taufe  an  Jesus  vollendet 
hatte,  ereignete  es  sich  nach  den  synoptischen  Evangelien, 
dafs  der  Himmel  sich  öffnete ,  der  heilige  Geist  in  Gestalt 
einer  Taube  auf  Jesum  herabkam,  und  eine  Himmelsstimme 
sich  hören  Heb,  die  ihn  als  den  Sohn  Gottes,  auf  welchem 
des  Vaters  Wohlgefallen  ruhe,  bezeichnete  (Matth.  13, 16 f. 
Marc«  1,  10  f.  Luc.  3,  21  f.).  Das  vierte  Evangelium  lfiftt 
(1,  32  ffi)  durch  den  Tinfer  ersihlen,  j*ie  er  den  heiligen 
Geist  einer  Tanbe  gleich  auf  Jesum  habe  herabkommen 
und  Ober  ihm  bleiben  sehen ;  von  einer  Stimme  wird  hier 
nichts  gesagt ,  auch  nicht,  dafs  die  Scene  gerade  bei  der 
Taufe  Jesu  vorgefallen  sei:  doch  da  im  unmittelbar  Vor» 
hergehenden  Johannes  von  seiner  Taufe  gesagt  hatte,  sie 
sei  nur  Offenbarung  des  Messias  bestimmt  gewesen,  über* 
diefs  die  johanneiscbe  Beschreibung  des  herabkommenden 
Geistes  fast  wörtlich  der  synoptischen  entspricht  t   so  ist 


7)  DiaL  c.  Tryphon.  8 1  x&oe  Sh  (tagt  der  Jude  Trypfcon)  tl  *£ 

ftywf/tüi  ttai  fo  nei  ayywgdf  2$  xa\  «fo  avtog  nta  iavroy  ittigartn 
sSh  *xft  Jurajtür  rtra»  §UxifA  **  *Mr  *BJUa$  x&*  «w™*  *°*  «w*f«>V 
neun  ftoajoß* 

28« 


436 


Zweiter  Abschnitt. 


wohl  nicht  so  eweifein ,  dafe  hier  derselbe  Vorfall  berich- 
tet werden  solle.  Die  alten  verlorenen  Evangelien  Justins 
nnd  der  Bbioniten  verbanden  hiemit  noch  ein  "himmlisches 
Lieht  ,  oder  ein  imv  Jordan  aufflammendes  Feuer1)»  e*ek 
mit  der  Taube  und  Himmeiestimme  nahmen  sie  VerÄnde- 
rangen  vor,  von  welchen  unten  zu  sprechen  sein  wird. 
Wem  denn  eigentlich  die  Erscheinung  gegolten  habe,  dar* 
über  kann  man  bei  Vergleichnng  der  verschiedenen  Be- 
richte sweifelhaft  bleiben.  Nach  Johannes ,  wo  der  Täu- 
fer sie  seinen  Anhängern  erzählt,  scheinen  diese  nicht  Aa- 
genseugen  gewesen  eu  sein;  sondern,  indem  er  davon 
spricht,  wie  ihm  von  demjenigen,  der  ihn  eu  taufen  ge- 
sandt habe,  das  'Herabkommen  und  Bleiben  des  Geistes 
z  über  Einem  als  Kenneeichen  des  Messias  verheifsen  wor- 
den sei,  sieht  es  aus,  als  wäre  die  Erscheinung  vorzugs- 
weise nur  für  den  Täufer  bestimmt  gewesen.  Nach  Mar- 
kus ist  es  Jesus,  der  im  Heraufsteigen  ans  dem  Wasser 
den  Himmel  sich  spalten  und  den  Geist  herabkommea 
sieht.  Auch  bei  Matthäus  liegt  es  am  nächsten ,  eufe  und 
&nty%fhpav  avzqi  auf  6  *[qoSg  sn  beziehen,  der  unmittelbar 
vorher  Subject  gewesen  war ;  doch,  da  es  sofort  heilst,  er 
habe  den  göttlichen  Geist  gesehen  iQxo/usvov  In  avzort 
nicht  i<p*  avrov  (bei  Markus  erklärt  sich  das  in  seine  Con- 
strnetion  nicht  passende  in*  avrov  aus  seiner  Abhängigkeit 
von  Matthäus) :  so  scheint  der  Sehende  nicht  derselbe  ge- 
wesen su  sein  mit  dem,  auf  welchen  er  den  Geist  herab- 
kommen sah,  und  man  ist  veranlagst,  elde  und  avei#%fhfiw 
ccvTtfi  auf  das  entferntere  Subject,  den  Täufer,  eu  belie- 
hen, welcher  jedenfalls,  da  die  Himmelsstimme  von  Jesa 
in  der  dritten  Person  redet, -am  natürlichsten  als  weiterer 


1)  Justin.  Martyr.  dial.  c.  Tryph.  88 :  xartlterrot  r«  7*r»  ht\  w 

vStaq,  xtä  nvQ  arqq&q  er  rw  ^lo^Sarij  it.  r.  L      Epiphan.  nteres.  50, 

13  (nach  der  Himmelsstimme):  *a\  tu9vc  7rep42apy#  tot  ronor 
9*s  pfy** 


*  Zweites  KapjteL    J.  49.  437 

» 

Zeuge  dar  Erscheinung  vorausgesetzt  wird.  Ein  noch  viel 
gWtfseres  Poblioom  scheint  Lukas  dem  Vorfalle  au  geben, 
indem  er  ir  vqi  ßamusdijvai  aitavta  %ov  loa»  auch  Jesum 
die  Tanfe  empfangen ,  nnd  hierauf,  wie  man  eu  glauben 
veranlaßt  ist,  vor  allem  Volke  die  beschriebene  Scene  sich 
ereignen  läfst  *)• 

Die  Ers&hlungen  veranlassen  nunXohst  eu  keiner  an- 
dern Auflassung,  als  dafc  alles  Angegebene  ftufsarlich  sicht- 
bar nnd  hörbar  vor  sich  gegangen :  nnd  so  sind  sie  defs- 
wegen  von  jeher  von  der -Mehrheit  der  Ausleger  verstan- 
den worden.  Will  man  sich  aber  die  Sache  als  wirklich 
so  geschehen  vorstellen:  so  stöfst  die  gebildete  Reflexion 
auf  nicht  unbedeutende  Schwierigkeiten.  .Erstlich,  dafs  bei 
der  Erscheinung  eines  göttlichen  Wesens  auf  der  Erde  sieh 
erst  der  sichtbare  Himmel  anfthun  müsse  f  um  demselben 
das  Heruntersteigen  aus  n  seinem  gewöhnlichen  Sitae  mög- 
lich au  machen,  diefs  kann  doch  wohl  nichts  Objeotives, 
sondern  nur  subjective  Vorstellung  einer  Zeit. sein,  welche 
den  Wohnplata  Gottes  ober  dem  festen  Himmq|gewÖlbe 
eich  dachte«  Ferner,  wie  ist  es  mit  richtigen  Begriffen 
von  dem  heiligen  Geiste,  als  der  göttlichen,  Alles  erfüllen- 
den Kraft,  au  vereinigen,  da(s  sich  derselbe,  wie  ein  end- 
liches Wesen,  von  einem  Orte  zum  andern  bewegen,  und 
vollends  gar  in  einer  Taube  sich  verkörpern  solle  ?  End- 
lieh aber,  dals  Gott  menschlich  articulirte  Töne  in  einer 
bestimmten  Landessprache  von  sich  gegeben  habe,  hat  man 
mit  Recht  selbst  abenteuerlich  gefunden  ■). 


2)  Ueber  diese  Differenzen  vergl.  Ustski,  über  den  Täufer  Jo- 
hannes, die  Taufe  und  Versuchung  Christi,  in  den  theolog. 
Studien  und  Kritiken ,  2ten  Bandes  drittes  Heft ,  S.  442  ff. ; 
Blbek,  Bemerkungen  mm  Evang.  Joh. ,  ebendaselbst,  1853,  2, 
S.  428  ff. 

3)  Bauen,  hehr.  Mythologie,  2,  S.  225 f.  Vgl.  Grate,  Comm. 
zum  Evang.  Matth.,  1,  S.  172  ff.  i 


438  Zweiter  Abschnitt. 

Schon  in  der  alten  Kirche  waren  daher  gebildetere 
Vfiter  namentlich  in  Beeng  auf  die  in  der  biblischen  G* 
schichte  stob  findenden  Gottesstimmen  auf  die  Ansiebt  ge- 
kommen, dafs  sie  nicht  eigentlich  ffufeere,  durch  Bewegsog 
der- Luft  entstandene  Töne,  sondern  innerliehe  Eindrücke 
gewesen  seien,  welche  Gott  im  Gemfithe  derjenigen,  denen 
er  sich  mittheilen  wollte,  hervorgebracht  habe ;  und  10  be» 
hanpten  auch  von  der  Erscheinung  bei  Jesu  Taufe  Orige* 
nes  und  Theodor  von  Mopsvestia  geradeso,  dafs  sie  <ma- 
oia,  b  qvoig,  gewesen  sei  *).  Den  Einftltigen  freilich,  «igt 
Origenes ,  ist  es  in  ihrer  Einfalt  ein  Geringes ,  die  gante 
Welt  in  Bewegung  an  setzen,  und  eine  so  fest  verbundene 
Masse  wie  den  Himmel  au  spalten ;  wer  aber  tiefer  Aber 
dergleichen  Dinge  forsche,  meint  er,  der  werde  an  jene 
höhere  Eröffnung  des  Sinnes  denken,  renmöge  welcher, 
wie  öfters  im  Traume,  so  auch  im  Wachen  erwfihlte  Per- 
sonen mit  ihren  leiblichen  Sinnen  etwas  su  yernehaei 
glauben,  während  doch  nur  ihr  Gemfi th  in  Bewegung ge* 
setst  ist  j  so  dafs  folglich  auch  hier  die  ganse  Erscheinung 
nicht  als  änfserer  Vorgang,  sondern  als  innere,  von  Gott 
gewirkte  Vision,  au  fassen  wäre  5  eine  Auffassung,  welche 
auch  unter  neueren  Theologen  vielen  Beifall  gefunden  hat, 
Dieselbe  tat  in  den  ewei  ersten  und  dem  fierten 
Evangelium  Anknüpfungspunkte  an  den  Ausdrücken:  att- 
(fxOTjaav  avriff,  elde  und  red-eafiai, ,  welche  der  Erscheinung 
eine  subjeetive  Wendung  zu  'geben  scheinen  können;  in 
dem  Sinne  der  Bemerkung  Theodors,  dafs  das  Nicderetai- 
-  gen  des  heiligen  Geistes  0  näoiv  äq^d-rj  töl$  Tvagäoiv,  alh 
neevd  Tiva  Twevficetix^v  d-ewQtav  äq>9rj  fuovq)  zip  ^Iwawr^  ^0B0 
wir  nach  Markus  Jesum  als  den  Zweiten  setzen  mfifeteo, 
der  an  dem  Gesichte  Antheil  gehabt.    Dagegen  lautet  nun 


4)  Dies»  dio  Worte  Theodor'«,  in  Münter's  Fragment«  p>tr. 
gracc.  Kate.  1,  S.  142.  Orig.  c.  Cel«.  1,  48.  Vgl.  Basjl.  IL 
in  Svicer's  Thesaurus,  2}  S.  1479*  %  , 


Zweites  Kapitel.    §.  49. 


430 


aber  die  Darstellung  des  Lukas  mit  ihrem:  tyheto  aretp- 
Z&ijvai,  — xat  xaiafiijvat — xcu  qxarijp  —  yev&od'ai  — ,  vollends 
wqnn  mau  das  awpatmp  e&fet  hinznnimmt,  so  gans  obje- 
ktiv und  Mufserlieh  •) ,  da(s  auf  dem  Standpunkte,  der  die 
wllkommene  Wahrheit  slmmtÜeher  evangelischen  Berichte 
festhält,  die  minder  bestimmten  drei  übrigen  Ersitzungen 
naeh  der  unzweideutigen  des  Lukas  von  einem  Vorgange 
gedeutet  werden  müssen,  der  nicht  blofs  im  Innern  des 
Taufers  und  Jesu  sieh  antrug.  Richtig  gibt  daher  Ols- 
badsss  dem  Berichte  des  Lukas  insoweit  naeh,  dafo  er  eine 
Volksmenge  bei  dem  Vorgange  nugegen  sein,  nnd  dieselbe 
auch  etwas  sehen  und  hören  laist,  doch  nur  etwas  Unbe- 
stimmtes und  Unverstandenes.  Hiemit  wird  die  Sache  ei- 
nerseits aus  dem  Gebiete  subjeetiver  Vision  wieder  auf 
d«s  des  objeetiven  Geschehens  hinübergespielt;  indem  aber 
Andrerseits  die  erschienene  Taube  nicht  dem  physischen, 
sondern  nur  dem  eröffneten  geistigen  Auge  sichtbar ,  und 
ebenso  die  Worte  nicht  leibliohen  Ohren  hörbar,  fondern 
nur  dem  Geiste  vernehmlich  gewesen  sein  sollen :  so  geht 
Aber  solcher  übersinnlichen  Sinnlichkeit  OLSHAUSSN'scher 
Pneumatologie  uns  Uebrigen  das  Verstfindnifs  aus,  und 
wir  eilen  aus  dieser  dumpfen  Atmosphäre  gerne  au  der 
Klarheit  derjenigen  fort ,  welche  uns  einfach  sagen ,  die 
Sache  sei  ein  fiufserer  Vorgang ,  aber  ein  rein  natürlicher 
gewesen« 

Von  dieser  Seite  beruft  man  sieh  auf  die  Weise  des 
Alterthums ,  natürliche  Vorgänge  als  göttliche  Zeichen  an- 
zusehen, nnd  in  bedeutungsvollen  Momenten,  wo  es  auf 
einen  kühnen  Entschlaf»  ankam,  sich  durch  dieselben  lei- 
ten so  lassen.  So  habe  auch  für  Jesuin,  als  er,  innerlich 
Kum  Messias  herangereift,  nur  noch  auf  eine  ffufsere  gött- 
liche Bestätigung  wartete,   und  eben  so  für   den  Taufer, 


5)   Wie  dies»  auch  Lücke  anerkennt,    Commcntar  zum  Evangul* 
Joh.,  1,  S.  570.  und  Buckk,  a.  ä    (>.,  S    4)7« 


440 


Zweifer  Abschnitt, 


der  seinen  Jugendfreund  bereite  über  sieb  selber  stellte,  u 
der  feierlichen  Stimmung  bei  der  Tanfe  des  Ersteren  durch 
den  Letzteren  jedes  zufallig  eintretende  Natarpbfinoqea 
bedeutungsvoll  sein,  and  ihnen  als  Zeichen  des  gffttltchea 
Willens  erscheinen  müssen  *).  Was  nun  diese  natürliche 
Erscheinung  gewesen  sei ,  darüber  sind  die  Erklärer  ge» 
theilter  Meinung7).  Oie  einen  nehmen  mit  den  Synopti- 
kern sowohl  etwas  Hörbares  als  etwas  Sichtbares  an;  die 
andern  mit  Johannes  nur  etwas  Sichtbares.  Was  dal 
Sichtbare  betrifft,  so  deuten  sie  das  Sieböffnen  des  Him- 
mels entweder  von  plötzlicher  Zertheilung  der  Wolken8), 
oder  von  einem  Blitzstrahl ') ;  die  Taube  aber  nehmen  sie 
entweder  als  einen  wirklichen  Vogel  dieser  tvattuog,  wel- 
cher zufällig  ober  das  Haupt  Jesu  langsam  Einschwebte i0), 
oder  setzt  man  voraus ,  dafs  eben  jener  die  Wolken  zer- 
theilende  Blitz11),  oder  ein  sonstiges  Meteor12),  der  Art 
seines  Herabkommens  wegen  mit  einer  Taube  verglichen 
werde.  Nimmt  man  neben  diesem  Sichtbaren  aacb  noch 
etwas  Hörbares  bei  der  Scene  an ,  so  versteht  man  auf 
diesem  Standpunkt  einen  Donnerschlag  darunter,  welchem 
die  Anwesenden  als  einer  Bath  -  kol  die  Auslegung  gege- 
ben haben,  die  wir  bei  den  ersten  Evangelisten  lesen iS)J 
wogegen  Andere  Alles,  was  von  hörbaren  Worten  gesagt 
ist,  nur  als  Ausdeutung  des  sichtbaren  Zeichens  fassen,  in 
welchem  man  eine  Erklärung  Jesu  zum  vlog  ösij  gefunden 


6)  Paulus,  a.  a.  O.  S.  363  ff. 

7)  Unentschieden  lässt  es  Kaissr,  hibl.  Theo!.,  1,  S.  25G. 

8)  Paulus,  a.  a.  O.  und  S.  373. 

9)  Bauer,,  hebr,  Mytnol.,   2,  226  f.    Kuiwöl,  Comm.  in  Matth., 
p.  72. 

10)  So  Paülü8,  Baus*. 

11)  KuiiröL. 

12)  Hasi,  erste  Ausg. 

13)  Bauer,  Kuiköl;  Ihkils,  zur  Biogr.  J.,  §.  22*  Anm.  5* 


Zweites  Kapitel    f.  49.  441 

habe  ")•      Diese   letztere  Ansicht   setzt    die'  Synoptiker, 
welche  unverkennbar  von  einer  wirklichen  Stimme  reden, 
gegen  Jobannes  zurfick,  enthält  ,also  einen  kritischen  Zwei- 
fel an  dem  historischen  Charakter  der  Berichte ,    welcher, 
consequent  verfolgt,   auf  einen   ganz  andern  Standpunkt, 
als  den  der  natürlichen  Erklärung,  führt.    Ebenso,   wenn 
das  Hörbare  ein  blofser  Donner  gewesen,  die  Worte  aber 
aar  eine  sabjeetive  Auslegung  desselben  sein  sollen:  so 
tn&fste,  da  in  der  synoptischen  Darstellung  die  Worte  au» 
genscheinlich  zum  objeetiven  Vergang  gerechnet  sind,  eine 
traditionelle  Zutbat  in  diesen  Berichten  angenommen  wer- 
den.    Was   das  Sichtbare  betrifft,   so  ist  zwar  nicht  zu 
llugnen,   dafs   schnell    sich   theilende   Wolken    oder    ein 
Blitzstrahl  als  Sichöffnen  des  Himmels  bezeichnet  werben 
konnten;  keineswegs  aber  konnte  einem  Blitz  öder  Meteor 
eine  Taubengestalt    zugeschrieben   werden«      Die    Gestalt 
aber  ist  nicht  nur   bei  Lukas  entschieden   der    Verglei- 
chungspunkt, sondern  ohne  Zweifel  auch  bei  den  übrigen 
Erzfihlern;  obgleich  selbst  Fritzsche  das  cogel  negtgeQav 
bei  Matthäus  nur  auf  die  schnelle  Bewegung  bezogen  wis- 
sen will.    In  ihrer  Bewegung  hat  die  Taube  keine  so  be- 
stimmte Eigentümlichkeit,    dafs  nicht,   wenn   blofs  diese 
der  Vergleichnngspunkt  wfire ,   in  einer  der  vier  Parallel- 
steilen  eine  Variation  und  Substitution  eines  andern  Vo- 
gels, oder  Oberhaupt  einer  andern  Bezeichnung,  sich  finden 
mfifste;   da  statt   dessen  durch   unsere  vier  Berichte  die 
neQigeQa  als  stehende  Bezeichnung  hindurchgeht:   so  mufs 
sich  die  Vergleichung  auf  etwas  der  Taube  ausschliefsend 
Eigentümliches  beziehen,   und   diefs  scheint  nur  die  Ge- 
stalt sein  zu   können.    Daher  thun   diejenigen   zwar  dem 
Texte  die  wenigste  Gewalt  an,    welche  an  eine  wirkliche 
Taube  denken ;   aber  da  hat  nun  Paulus  ein  schweres  Ge- 
schäft, dureb  eine  Masse  naturgeschichtlicher  und  anderer 


14)  Paulus,  Hase. 


442  Zweiter  Abschnitt. 

Bemerkungen  die  Taube  so  weit  kirre  an  machen,  daft 
ein  solches  Herbeifliegen  derselben  eu  einem  Menschen, 
wie  es  hier  angenommen  werden  müfste,  wahrscheinlich 
würde15);  wie  aber  eine  Taube  gar  so  lange  Ober  Jemand 
schwebend  verweilen  könne,  dafs  sich  sagen  liefse:  quftw 
eW  avrov,  das  hat  er  doch  nicht  denkbar  gemacht ,  and 
damit  gegen  die  Erzählung  des  Johannes,  welchem  er 'sieh 
in  Serag  auf  das  Fehlen  der  Stimme  anschloß,  selbst  Ver- 
stoßen. 

§.    50. 

Versuche  einer  Kritik  der  Berichte.    Mythische  Auffassung 

derselben. 

Kann  man  somit  den  Vorgang  bei  Jesu  Taufe  einer 
verständigen  Vorstellung  nicht  näher  bringen,  ohne  den 
evangelischen  Berichten  Gewalt  ansutbun,  und  eine  unge- 
naue Darstellung  bei  einem  Theite  derselben  voraussnse- 
tsen:  so  wird  man  hiedjiroh  mit  Notwendigkeit  an  einer 
kritischen  Behandlung  der  Berichte  hingetrieben,  wie  eine 
solobe  nach  de  Wetts  und  Schleiermachbr  jefat  als  die 
herrschende  Auffassung  dieses  Punktes  der  evangelischen 
Geschichte  gelten  kann  *)•  Man  versucht,  aus  der  johsn- 
ueisohen  Erzählung,  als  der  reinen  Quelle,  die  übrigen, 
als  getrübte  Abflüsse,  herzuleiten.  Bei  Johannes  sei  rsn 
keinem  sich  öffnenden  Himmel,  von  keiner  göttlichen  Stim- 
me die  Rede;  nur  das  Herabsteigen  des  Geistes  werde  den 
Täufer  nach  einer  ihm  gewordenen  Verheifsung  «um  gött- 
lichen Zeugnifs,   da£s  Jesus  der  Messias  sei;   auf  welche 


16)  Vergl.  übrigens  Euseb.  H.  E.  6,  29. 

1)  dr  Warnt,  bibl.  Dogmatik,  §.  208.  Anm.  b. ,  cxeg.  tiandb., 
1,  1,  S.  34 ff,  1,  S,  S.  29  f.;  Schlkikrmachbr,  über  den  Lukas, 
S,  5$£j  Ustkri  und  Blbkk  in  den  angeführten  Abhandlungen; 
Hask,  L.  J.,  §54;  Kkrn,  Hauptihatsachen,  S.  67  ff. ;  N«a»m»> 
J,.  J.  Chr.,  S.  69  (T. 


Zweites  Kapitel.    $•  50.  443 

Webe  aber  der  Täufer  wahrgenommen,  dafs  der  Seist  auf 
Jesu  ruhe,  sage  er  uns  nicht,  und  gar  wohl  können  ihm 
auch  blofs  Reden  Jesu  das  Zeichen  davon  gewesen  sein. 

Man  mob  sich  Aber  die  Behauptung  Schlelbriucher's 
wundern,  dafs  im  Tierted  Evangelium  nicht  angegeben  wer- 
de, in  welcher  Weise  der  Täufer  das  niedersteigende  mev- 
fta  w»hrgenommen:  da  doch  das  auch  hier  sich  findende 
cigu  TjeQigsQav  es  deutlich  genug  sagt,  und  eben  durch  die- 
sen Zug  Jenes  Herabkommeu  als  sichtbares,  nicht  blofs 
uns  Reden  erschlossenes,  unverkennbar  dargestellt  ist, 
Ustsri  freilich  meint,  die  Taube  habe  der  Tlufer  nur  als 
Bild  gebraucht,  um  den  sanften  und  milden  Geist  eu  be- 
zeichnen, den  er  an  Jesu  bemerkte.  Allein,  wenn  er  nur 
diefs  wollte ,  so  würde  er  eher  Jesum  selbst,  wie  sonst 
mit  einem,  apvog,  so  hier  mit  einer  neQtgsQa,  verglichen, 
nicht  aber  durch  das  malerische  Te&eajuat,  zo  Ttvevfta  xveca- 
ßatvov  dsü  nequgBqdv  ii;  hqccvö,  den  Gedanken  an  eine  sinn- 
liche Anschauung  erregt  haben.  Jus  ist  also  in  Bezug  auf 
das  von  der  Taube  Gesagte  nicht  wahr,  dafs  erst  in  der 
entfernteren  Ueberlieferung,  wie  die  Synoptiker  sie  geben 
aollen,  das  ursprünglich  blofs  bildlich  Gemeinte  eigentlich 
gedeutet  worden  sei ;  sondern  schon  Johannes  versteht  es 
eigentlich,  und  da  dieser  die  richtige  Darstellung  haben 
soll:  so  mfifrte  der  Tänfer  selbst  schon  von  einer  sichtba- 
ren,  taubenähnliehen  Erscheinung  gesprochen'  haben ;  wie 
Bisse,  Neanpsb  u,  A.  mit  Recht  anerkennen. 

Wie  hienach  in  Bezug  auf  die  Taube  der  angebliche 
Unterschied  zwischen  den  drei  ersten  und  dem  vierten 
Evangelien)  sich  gar  nicht  findet :  so  ist  hinsichtlich  der  Stim- 
me dieser  Unterschied  so  grofs,  dafs  man  nicht  begreift, 
wie  aus  der  einen  Darstellung  die  andere  geworden  sein 
kann.  Denn  hier  soll  das  Zeugnifs,  welches  Johannes  in 
Folge  jener  Erscheinung  über  Jesum  abgab;  ort  vzog  egiv 
6  viog  tu  #ea  (Job.  J,  340>  u>  Verbindung  mit  dem  vor- 
angegangenen; p  Tiifitpag  fie  ßanri^w  •—  iwvos  fioi  elnw 


444 


Zweiter  Absohnitt. 


iq>  ov  av  idrß  ro  nvevfia  xonaßahov  —  Szog  i$tv  o  ßaml- 
£cw  iv  TWGVfiari  aylip  (V.  33)  — •  beides  zusammen  soll  in 
der  fortgehenden  Ueberlieferung  zu  einer  anmittelbaren 
himmlischen:  Erklärung  geworden  sein,  wie  wir  sie  bei 
Matthäus  in  der  Form :  Orog  igiv  6  vlog  fiB  o  *ly<mr[io$  b 
<ji  evdoxrjoa,  lesen.  -  Da  zu  einer  solchen  Umwandlung, 
wenn  sie  jtnnehmlich  sein  soll,  auch  irgend  eine  Ver- 
anlassung nachgewiesen  werden  mufs:  so  bietet  eicb 
Jes.  42,  1.  dar,    wo  Jehova  von    seinem    *DP    aassagt: 

^?3  nren  nTji-i  CisnjonK  ^r^)  ]n;  wovon  die  aotwr 

Klammer  befindlichen  Worte  durch  die  Worte  der  Hirn- 
melsstimme  bei  Matthäus  fast  wörtlich  fibeipetzt  sind.  Wer- 
de nan  diese  Stelle,  wie  wir  aus  Mattb.  12,  17 ff.  leben, 
auch  sonst  auf  Jesus  als  den  Messias  angewendet:  so  lag 
in  ihr,  indem  doch  hier  wie  bei  der  Taufe  Gott  selbst  der 
Redende  ist,  ungleich  nähere  Veranlassung,  eine  Himmels* 
stimme  an  erdichten,  als  in  dem  bezeichneten  Aussprache 
des  Johannes.  Indem  wir  also,  um  den  Ursprung  der  Er- 
Zählung  yon  einer  Gottesstimme  zu  erklären,  den  Mifsrer- 
stand  der  Rede  des  Täufers  nicht  brauchen;  zur  Ableitung 
des  Zugs  mit  der  Taube  aber  jene  Rede  nicht  brauchen 
können :  so  müssen  wir  die  Quelle  unserer  Erzählung  nicht 
in  einem  der  evangelischen  Berichte,  sondern  außerhalb 
des  N.  T.  im  Gebiete  der  auf  das  A.  T.  gegründeten  Zeit- 
Vorstellungen  suchen,  welche  namentlich  Schleiermacher 
zum  grofsen  Schaden  des  dbjeetiven  Werthes  seiner  neu« 
testamentlichen  Kritik  durchaus  vernachlässigt  hat* 

Aussprüche  über  den  Messias,  welche  Dichter  den 
Jehova  in  den  Mund  gelegt  hatten,  als  wirklich  vernehm- 
bar gewordene  himmlische  Stimmen  zu  betrachten,  war 
ganz  im  Geiste  des  späteren  Juderithums,  welches  selbst 
ausgezeichneten  Rabbinen  nicht  selten  himmlische  Stimmen 
zu  Theil  werden  liefs  2j,  und  dessen  Voraussetzungen  vom 


2)  Nach  Bava  Mesia  f.  59)  1.  (bei  Wit3tiin  S.  427)  berief  »ich 


Zweites  Kapitel,    f.  SO.  445 

Messias  die  erste  Christengemeinde  sowohl  selbst  tb eilte, 
als  auch  denselben  den  Jaden  gegenüber  au  genügen  su- 
chen muffte.  Nnn  hatte  man  in  der  angeführten  jesaiani- 
sehen  Stelle  einen  göttlichen  Ausspruch,  in  weichem  wie 
mit  dem  Finger  auf  den  gegenwärtigen  Messias  hingewie- 
sen war,  der  sieh  also  gana  besonders  eignete,  als  himm- 
lischer Ruf  über  denselben  aufgefafst  an  werden :  wie 
konnte  die  christliche  Sage  in  die  Länge  säumen,  eine 
Scene  aussubilden ,  in  welcher  diese  Worte  hörbar  vom 
Himmel  herab  über  ihren  Messias  aasgesprochen  worden 
waren  ?  —  Tfoch  eine  weitere  Veranlassung,  die  Sache  auf 
diese  Weise  an  gestalten,  entdecken  wir,  wenn  wir  auf 
die  aweite  Person  achten ,  in  welcher  bei  Lukas  and  Mar* 
kns  die  Himmelsstimme  au  Jesus  spricht  ißv  el  6  vlog  fix), 
und  damit  vergleichen,  wie  den  Kirchenvätern  aufblge  io 
einigen  der  alten  verlorenen  Evangelien  die  Himmelsstim« 
me  gelautet  hat.  Justin  giebt  sie  nach  seinen  ccjtofny/uo- 
vevficeKx  TJSv  änogolwv  so  wieder:  vlog  /it^el  av*  iyw  oy- 
fiSQW  yeyewqxa  ob  *)}  im  Hebräerevangelium  des  Epipha- 
nias stand  dieser  Aussprach  neben  dem,  welchen  unsere 
Evangelien  haben  *) ,  und  Klemens  von  Alexandrien  5)  und 
Augustin  *)  scheinen  selbst  in  Exemplaren  von  diesen  jene 
Worte  gelesen  au  "haben,  welche  bei  Lukas  wenigstens 
auch  noch  einige  unsref  Codices  an  die  Hand  geben  *). 


B.  Elieter  dafür,  dass  er  die  Tradition  auf  seiner  Seite  habe, 
auf  ein  himmlisches  Zeichen.  Tum  personuit  Echo  coele- 
sHm:  quid  vobis  cum  R.  EHenere?  natu  ubivis  secundum  U- 
htm  obtinet  traditio. 

3)  Dial.  c.  Tryph.  88. 

4)  Haeres.  30,  13. 

5)  Paedagog.  1,  6. 

6)  De  consent.  Evangg.  2,  14« 

7)  s.  WsTSTSiif  *.  d.  St.  des  Lukas,  und  na  Witts,  Einl.  in  das 
N.  T.  8.  100.  , 


446  Zweiter  Absohnitt. 

Hier  waren  also   in  der  Himmelsstimme  nicht  Worte  am 
der  angeführten  jesaianischen  Stelle ,  sondern  ans  Ps.  2,7., 
einer  Stelle,  welehe  von  den  jttdisoben  Erklärern  auf  den 
Messias  gedeutet  8) ,   auch  Hebr.  1,  5.    auf  Christum  ange- 
wendet wird ,   und   durch   die  Form   einer  unmittelbaren 
Anrede  eine  noch  stärkere  Veranlassung  enthielt,  sie  als 
eine  wirkliehe,  vom  Himmel  herab  an  den  Messias  gerieb* 
tete  Stimme   aufzufassen»    Waren  nun    ursprunglich  viel* 
leicht  die  Worte  des  Psalms   der  Himmelsstimme  in  den 
Mund  gelegt,  oder  war  auch  nur,   wie  jedenfalls  aus  der 
«weiten  Person:  av  el,  bei  Markus  und  Lukas  wahrschein» 
lieh  wird  —  welehe  nur  durch  die  Psalmstelle,  nicht  aber 
durch  die  jesaianisebe  an  die  Hand  gegeben  war  —  neben 
*  dieser  auch  noch  auf  jene  Rücksicht  genommen  i  was  be* 
dürfen  wir  weiter  Zeugnifs,   um  in  diesen,  längst  messt* 
irisch  gedeuteten,  und  bald  auch  als  himmlische  Anrede  *a 
den  auf  Erden  gegenwärtigen  Messias  gefafsten  Stellen  die 
Quelle  dnserer  Erzählung  von  der  himmlischen  Stimme  bei 
Jesu  Taufe  su  finden?  Denn  dafs  sie  gerade  mit  der  Taufe 
verbunden  wurde,  ergab  sich  von  selbst,  sobald  diese  ein- 
mal als  Einweihung  Jesu  su  seinem  Amte  aufgefafst  war« 
Was  nun  das  Herabkommen  des  mevfia  in  Gestalt  ei* 
ner  TteQigeQa  betrifft,  so  müssen  wir  das  Herabsteigen  dei 
Geistes  und  die  Gestalt  der  Taube  trennen,   und  jedes  be« 
sonders  betrachten»    Dafs  der  göttliche  tieist  in  besonde- 
rem Maafse  auf  dem  Messias  ruhen  werde,   diese  Erwar- 
tung ergab  sich  von  selbst,  sobald  einmal  die  meseianisebe 
Zeit  als  die  der  Ausgiefsung  des  Geistes  über  alles  Fleisch 
gefafst  war  (Joel  3,  1  ff);    und  Jes.  11,  1  f.   war  ja  von 
dem  Sprofs  Isai's  ausdrücklich  gesagt,  dafs  auf  ihm  ißt 
Geist  Gottes  in  aller  seiner  Falle,  als  Geist  der  Weisheit 
und  Klugheit,  der  Stärke  und  Gottesfurcht,  ruhen  werde. 
Dafs  diese  Geistesmittheilung  als  eineeiner  Act  gedacht, 


8)  s.  RosBjrÄüixsR'i  Schol.  in  Psalm,  tu  Pt.  2. 


Zweites  Kapitel.    §.  50.  .     447 

und  mit  der  Taufe  in  Verbindung  gesetzt  wurde,  hat  ein 
Vorbild  in  der  Geschichte  Davids:  als  dieser  von  Samuel 
gesalbt  worden  war,  kam  der  Geist  Gottes  über  ihn  von 
dem  Tage  and  furder  ( 1  Sern.  16,  13. ).  Ferner»  ist  nun 
aber  in  den  A.  T.lichen  Ausdrücken  für  die  Mittheilung 
des  göttlichen  Geistes  an  die  Menseben,  insbesondere  in 
dem  jesaianiseben  **Sy  fpo,   welchem  das  jobanneisehe  pi- 

veiv  tiü  am  meisten  entspricht,  bereits  ein  Moment  sinnli- 
cher Anschauung  enthalten,  indem  jenes  Verbum  sonst  ein 
Sichniederlassen  von  Heeren,  oder,  wie  das  entsprechen- 
de arabische  Wort,  auch  vonThifereri  bedeutet.  War  ein« 
mal  durch  einen  solchen  Ausdruck  die  Einbildungskraft 
angeregt :  so  muf ste  sie  sich  zur  Vollendung  des  Bildes  um 
so  mehr  getrieben  finden ,  als  das  Herabkommen  des  Gei- 
stes auf  den  Messias  ausgeaeichnet  werden  mufste,  jfidi- 
scherseits  vor  der  Art,  wie  auch  Aber  Propheten  (*.  B. 
Jos.  61,  l.)j  christlicherseits  vor  der,  wie  auch  über  die. 
getauften  Christen  (a.  B.  A.G.  1»,  1  ff.)  der  göttliche  Geist 
su  kommen  pflegte  9);  war  einmal  gegeben,  dafs  der 
Geist  sich  auf  den  Messias  niederlassen  werde :  so  lag  die 
Frage  nahe:  wie  wird  er  sich  niederlassen?  üiefs  mufste 
sich  nach  der  Volksvorstellung  bestimmen;  je  nachdem 
nämlich  bei  den  Juden  der  göttliche  Geist  unter  diesem 
oder  jenem  Bilde  vorgestellt  eu  werden  pflegte.  Im  A»  T» 
und  auch  im  neuen  (A.G.  2,  3.)  finden  wir  vorzugsweise 
das  Feuer  als  Symbol  des  heiligen  Geistes;  woraus  aber 
keineswegs  folgt,  dafs  nicht  auch  noch  andere  sinnliche 
Gegenstände  als  solche  Symbole  haben  gebraucht  werden 
können.  Nun  war  aber  in  einer  A.  T.lichen  Hauptstelle 
über  die  DTlSl*  im>  l.Mos.  1,  2.,  diese  als  schwebend 
CnDrHD)  dargestellt;  suchte  man  hieför  ein  sinnliches  Sub- 

V   T   -    X 

strat,  so  konnte  man  nicht  sowohl  an  Feuer,  als  an  die 


9)  ScjusiBRiucHia,  Über  den  Lukas,  S.  57. 

I 


449  Zweiter  Abschnitt. 

i 

Bewegung  eines  Vogels  denken,  wie  denn  das  prp  5.  Mo*. 

32,  11«  von  dem  Schweben  eines  solchen  Ober  seinen  Jun- 
gen gebraucht  ist»  Konnte  aber  bei  dem  unbestimmten 
Bilde  eines  Vogels  Oberhaupt  fflr  jenes  Schweben  des  Got- 
tesgeistes die  Vorstellung  wieder  nicht  stehen  bleiben:  so 
muftte  Alles  auf  die  Wahl  gerade  der  Taube  hinführen« 

Im  Orient,  namentlich  in  Syrien y  ist  die  Taube  eis 
heiliger  Vogel  10),  .und  swar  gerade  au*  einem  Grunde, 
welcher  beinahe  nöthigen  mufste,  sie  mit  dem  auf  denUr» 
gewissern  schwebenden  Geiste,  1.  Mos.  1,2»,  in  Bezie- 
hung su  setzen.  Die  Taube  nämlich  als  brütende,  war 
ein  Symbol  der  belebenden  Naturwfirme  M);  sie  stellte 
also  gana  jene  Function  dar,  welche  in  der  mosaischen 
Schöpfungsgeschichte  dem  göttlichen  Geiste  sugeschrieben 
wird:  durch  seine  belebende  Kraft  aus  dem  chaotischen 
Zustande  der  ersten  Schöpfung  die  Welt  des  Lebens  her- 
vorzurufen. Ueberdiefr,  als  die  Erde  zum  eweitenmale  vom 
Wasser  bedeckt  worden  war,  ist  es  eine  von  Noah  aus- 
gesendete Taube,  welche  Aber  den  Wassern  schwebt,  nnd 
durch  das  Oelblatt,  das  sie  bringt,  nnd  zuletzt  durch  ihr 
Anfsenbleiben ,  die  wiedergekehrte  Möglichkeit  des  Lebens 
auf  der  Erde»  verkündigt.  Wen  kann  es  hiernach  noch 
Wunder  nehmen,  wenn  in  jödischen  Schriften  der  Aber 
dem  Orgewässer  schwebende  Geist  ausdrücklich  mit  einer 
Taube  verglichen  sich  findet  12),  nnd  auch  abgesehen  von 
dieser  Ersfthlung  die  Taube  sds  Symbol  des  heiligen  Gei- 


10)  Tibull.  Carm.  L.  |.  eleg.  8.  V.  17  f.  und  dazu  die  Anmerkung 
von  Broeckhuis;  Crbuzka,  Symbolik,  2,  S.  70 f.;  Paulvs,  exeg. 
Handb.,  1,  a,  S.  369. 

11)  Crkuze»,  Symbolik,  2,  S.  80. 

12)  Cbagiga  c.  2:  Spiritus  Dei  ferebatur  super  aqua*,  sicvt  co- 
lumba,  quae  fertur  super  pullos  suos  nee  tangit  Mos.  Vergf. 
Ir  Gibborim  ad  Genes.  1,  2.  bei  Schöttckn,  borae,  1,  S.  9. 


1 

«    Zweites  Kapitel.    &  50.  449 

• 

stes  gefaßt  wird  l3)?  Wie  nabe  es  von  hier  ans  lag,  der 
schwebenden  Taube  eine  Beziehung  auf  den  Messias  EU 
geben ,  auf  welchen  der  mit  einer  Taube  verglichene  Got- 
tesgeist herabkommen  sollte,  erhellt  von  selbst,  and  ohne 
dafs  man  sich  anf  jüdische  Schriften  «o  berufen  brauchte, 
welche  den  Ober  dem  Wasser  schwebenden  Geist,  l.Mos« 
1,  2.,  als  den  Geist  des  Messias  bezeichnen  l4),  und  die 
Mo  achische  Taube,  dieses  Nachbild  des  taubenartig  über 
dem  Urwasser  brütenden  Gottesgeistes*,  mit  dem  Messias 
in  Verbindung  bringen  **)• 

Doch  eben  hier  fafst  die  dem  Berichte  des  vierten 
Evangeliums  günstige  Kritik  aufs  Neue  festen  Fufs  mit  der 
Bemerkung,  je/  geläufiger  unter  den  Juden  jener  Zeit  die 


13)  Targum  Koheleth,  2,  12*  wird  die  Dow  tuttnris  als  tox  spi» 
ritus  sancti  gedeutet.  Dies s  mit  Lockb  S.  367«  für  eine  will- 
kürliche Deutung  zu  erklären,  scheint  nach  den  obigen  Daten 
selbst  der  Willkür  ähnlich  »u  sehen.  Vergl.  db  War«,  exeg* 
Handb.,  1,  1,  S.  35  f« 

14)  Bereschith  rabba,  sect.  2,  f.  4,  4,  ad  Genes.  1,2  (bei  Schott- 
sek  a.  ä.  O.) :  intettigitvr  Spiritus  regis  Messiae ,  de  quo  dt* 
citur  Jes.  11,2:  et  quiescet  super  tllum  spiritus  Dominik 

15)  Sohar  Numer.  f.  68.  col.*271f.  (bei  ScHttnvsir,  horac,  2j 
S.  557  ft).  Der  Inhalt  dieser  Stelle  beruht  auf  dein  kabbali- 
stischen Schlüsse :  Ist  David  nach  Pa«  52 ,  10«  der  Oelbaum  t 
so  ist  der  Messias,  Davids  Spross,  dasOeiblatt;  heisst  es  von 
Noa's  Taube  Genes«  8,  11. ,  sie  habe  ein  Oelblatt  im  Munde 
geführt:  so  wird  der  Messias  durch  eine  Taube  in  die  Welt 
eingeführt  werden«  —  Auch  christliche  Ausleger  haben  die 
Taube  bei  Jesu  Taufe  mit  der  Noachischen  Verglichen,  s.  Sui- 
c«r,  Thesaurus,  2,  d.  A<  nt^fQa,  S.  688  f.  —  Was  man  sonst 
hier  anzuführen  pflegte,  däsj  die  Samaf itaner  Auf  Gari- 
zim  eine  Taube  unter  dem  Namen  Achima  göttlich  verehrt 
haben ,  ist  wohl  hur  aus  absichtlicher  Mksdeutung  hervorge- 
gangene jüdische  Beschuldigung,  s.  Staeudliw's  und  Tzschir- 
kvr's  Archiv  für  H,G.,  1,  5,  S.  66.  vergl.  55«  59.  64  f  Lüchj, 
I,  S.  367. 

Bas  Leben  Jesu  He  Aufl.  /.  Band»  20 


450  Zweiter  Abschnitt 

Taube  als  Sinnbild  des  göttlichen  Geistes  gewesen  sei:  de- 
sto eher  lasse  sich  denken,  wie  dem  Täufer  wirklich  in 
prophetischer  Vision  die  messianische  Begabung  Jesu  an* 
ter  jenem  Bilde  sich  dargestellt  haben  könne  ").  Allein 
abgesehen  davon,  dafs  hiebei  eine  augenblickliche  wunder- 
bare Erleuchtung  des  Täufers  angenommen  werden  mutete, 
so  bleibt  eine  so  kräftige  Vergewisserung  desselben  von 
der  Hessianität  Jesu  mit  seinem  späteren  Zweifel  unver- 
einbar 17):  und  wenn  eine  von  beiden  Erzählungen  erdich- 
tet sein  mufs,  so  ist  diefs  leichter  von  der  unsrigen  sa 
begreifen ,  die  cur  Beglaubigung  Jesu  gereichte ,  als  von 
jener  froher  betrachteten,   die   ein  Bedenken  gegen  ihn 

enthielt. 

Sind  nach  dem  Bisherigen  alle  näheren  Umstände  der 
Taufe  Jesu  unhistorisch :  so  fragt  es  sich ,  ob  auch  dai 
Datum  selbst,  dafs  Jesus  von  Johannes  die  Taufe  empfan- 
gen, «um  blofs  Mythischen  su  schlagen  ist?  Fritzschi 
scheint  hiezu  nicht  gän«  ungeneigt,  wenn  er  es  dahinge- 
stellt sein  läfst ,  ob  die  ältesten  Christen  historisch  ge- 
wufst,  oder  nur  in  Gemäfsheit  ihrer  messianischen  Erwar- 
tungen gemeint  haben ,  Jesus  sei  durch  Johannes  als  sei- 
nen Vorläufer  in  das  messianische  Amt  eingeweiht  wor- 
den. Diese  Ansicht  kann  sich  auf  die  Bemerkung  stfitsen, 
dafs  in  der  jüdischen  Erwartung,  welche  aus  der  Ge- 
schichte Davids,  in  Verbindung  mit  der  Weissagung  des 
Malachia ,  entstanden  war ,  hinreichende  Veranlassung  lag, 
eine  solche  Einweihung  Jesu  durch  den  Täufer,  auch  on- 
geschichtlich,  vorauszusetzen;  wogegen  die  Erwähnung  des 
ßajvilafiaTOs  %Lü)ow&  in  Bezug  auf  Jesum,  A.  6. 1, 22. ,  in 
einem  selbst  traditionellen  Berichte,  nichts  beweisen  könnte. 
Doch  jener  Trieb  cur  Erdichtung  der  Taufe  mufste  durch 
die  schon   bei  Matthäus    berücksichtigte  Möglichkeit,  sie 


16)  Hoffmann,  S.  309 ;    Kkrn,  S.  68. 

17)  di  Wettk,  exeg    Handb.,  1,  3,  S.  30. 


^      • 


Zweites  Kapitel    $.  51.  451 

noch  als  Unterordnung  Jesu  unter  Johannes  su  fassen, 
uurffckgedrängt  werden;  dafs  aber  Jesus,  selbst  der  Mes- 
sias eu  sein  sich  bewufst,  der  Taufe  cur  Eröffnung  des 
Messiasreiehs  sieh  unterworfen  habe,  ist  nach  dem  früher 
Ausgeführten  nicht  gegen  die  historische  Wahrschein- 
lichkeit. 

f.    51. 

Verhältnis  des  Uebernttiirlichen  bei  der  Taufe  Jesu  tu  dem 
Uebernatttrlichen  bei  seiner  Erzeugung. 

Wie  im  Eingange  dieses  Kapitels  nach  der  subjeetiren 
Absicht  gefragt  worden  ist,  welche  Jesus  bei  Annahme 
der  johanoeischen  Taufe  haben  konnte:  so  kann  hier  cum 
Schlüsse  dieser  Materie  nach  dem  objeetiren  Zwecke  ge- 
fragt werden,  welchem  das  Wunderbare  bei  Jesu  Taufe 
dienen  sollte? 

Die  gewöhnliehe  Antwort  ist:  Jesus  sollte  dadurch  in 
sein  öffentliches  Amt  eingeführt,  und  für  dien  Messias  er- 
klärt werden  A),  d«  h.  es  sollte  durch  dasselbe  ihm  nicht 
noch  etwas  gegeben,  sondern  nur  das,  was  er  schon  war, 
den  Debrigen  kund  gethan  werden«  Es  fragt  sich  aber, 
ob  diese  Abstraction  im  Sinn  unsrer  Berichte  ist?  Eine 
unter  göttlicher  Mitwirkung  vollzogene  Einweihung  in  ein 
Amt  betrachtete  das  Alterthum  immer  ungleich  als  eine 
Verleihung  göttlicher  Kräfte  su  Führung  desselben;  daher 
erfüllt  im  A.  T.  die  Könige,  sobald xsie  gesalbt  sind,  Got- 
tes Geist  (1.  Sara.  10,  6.  10.  16,  13.),  und  auch  im  N.  T. . 
werden  die  Apostel  vor  dem  Antritt  ihres  Berufs  mit  hö- 
heren Kräften  ausgerüstet  (A.  6.  2J.  Hienach  läfst  sich 
cum  Voraus  vermuthen,  dafs  dem  ursprunglichen  Sinne 
der  Evangelien  uufolge  mit  der  Weihe  Jesu  bei  der  Taufe 
ungleich  eine  Ausrüstung  desselben  mit  höheren  Kräften 


1)  Hbss,  Geschiebte  Jesu,  1,  S.  130. 

29 


4.V2  Zweiter  Abschnitt. 

werde  verbanden  zu  denken  sein,  und  der.  Anblick  unte- 
rer Einzahlungen  bestätigt  riiefs.  Denn  die  synoptischen 
bemerken  alle,  dafs  nach  der  Taufe  das  Ttvev/ua  Jesum  in 
die  Wüste  geführt  habe :  offenbar,  am  diesen  Gang  als  die 
erste  Wirkung  des  bei  der  Taufe  empfangenen  höheren 
Principe  zu  bezeichnen;  bei  Johannes  aber  scheint  das 
piveiv  iTi  (xinov,  welches  er  dem  auf  Jesum  herabkommen- 
den Geiste  zuschreibt  (1,  33.)?  anzudeuten,  dafs  von  der 
Taufe  an  ein  früher  nicht  stattgefundenes  Verh&ltnifc  des 
TZfGVfiicc  aytov  zu  Jesu  eingetreten  sei. 

Diese  Bedeutung  des  Wunderbaren  bei  Jesu  Taufe 
scheint  mit  den  Erzählungen  von  seiner  Erzeugung  im  Wi- 
derspruch zu  stehen.  War  Jesus*  nach  Matthäus  und  Lu- 
kas durch  den  heiligen  Geist  erzeugt,  oder  war  in  ihm 
gar  nach  Johannes  gleich  von  Anfang  an  der  göttliche  16 
yog  Fleisch  geworden:  wozu  bedurfte  er  dann  noch  bei 
•einer  Taufe  einer  besondern  Ausrüstung  mit  dem  nvevfia 
ayiovt  Mehrere  neuere  Erklärer  'haben  diese  ^Schwierig- 
keit gefühlt  und  zu  lösen  gesucht  Was  Olshaüsen  dar- 
über vorbringt  2),  lauft  auf  den  Unterschied  des  Potentiel- 
len und  Actuellen  hinaus,  womit  es  aber  sich  selbst  wi- 
derlegt. Ist  nämlich  der  Charakter  des  XQigot;,  welcher 
in  Jesu  mit  erreichtem  Mannesalter  bei  der  Taufe  actn 
hervortrat,  schon  in  dem  Kinde  und  Jüngling  potentia  vor- 
handen gewesen:  so  war  damit  auch  ein  Eiitwicklungs- 
trieb  gesetzt,  vermöge  dessen  jene  Anlage  sich  von  innen 
heraus  allmählig  entfaltet  haben,  und  nicht  erst  durch  das 
von  aufsen  kommende  m'svfia  mit  Einem  Male  geweckt 
worden  sein  wird»  Hiedurch  ist  jedoch  nicht  ausgeschlos- 
sen, dafs  das  in  Jesu,  als  übernatürlich  Erzeugtem,  von 
seiner  Geburt  an  gesetzte  Göttliche  nicht  doch  zugleich, 
vermöge  der  menschlichen  Form  seiner  Entwickelung,  der 
Anregung  von  aufsen  bedurft  hätte :    und   von   diesem  Ge- 


2)  Bibl.  Comm.,  f,  S,  171  f. 


Zweites  Kapitel.    $.  51.  453 

genaate  innerer  Entwicketang  and  äufeerer  Anregung  ist 
Lücke  richtiger  aasgegangen  s).  Der  von  Gebart  an  in 
Jesu  vorhandene  loy<x;,  meint  er,  habe  bei  allem  Triebe 
von  innen  doch  auch  Anregung  und  Belebung  von  aufsen 
nölhig  gehabt,  um  sur  vollen  Wirksamkeit  und  Manifesta- 
tion in  der  Welt  su  gelangen;  dasjenige  aber,  was  die 
göttlichen  Lebenskeime-in  der  Welt  anregt  und  leitet,  sei 
»ach  apostolischer  Vorstellungsweise  eben  das  mtvpa  Ixyuw* 
Diefs  sugegeben,  so  stehen  doch  innere  Anlage  und  erfor- 
derliche Stfirke  der  äuteren  Anregung  in  umgekehrtem 
Verhältnisse:  so  dafs,  je.  stärkere  Anregung  erfordert  wird, 
desto  geringer  die  Anlage  ist;  bei  absolut  grober  Anlage 
aber,  wie  sie  in  dem  durch  das  Ttvtvfiu  erseugten  oder 
vom  loyog  beseelten  Jesus  vorausgesetzt  werden  mufs,  die 
Anregung  ein  mbUmum  sein  darf,  d.  h.  jeder  gegebene 
Umstand,  auch  der  gewöhnlichste,  nur  Anregung  für  den 
mächtigen  Trieb  wird.  Sehen  wir  nun  aber  bei  Jesu  Taufe 
ein  maximum  äufseren  Anstobes  in  dem  sichtbaren  Herab- 
kommen des  göttlichen  Geistes  gegeben:  so  kommt  «war 
das  Eineige  der  messianischen  Aufgabe  allerdings  in  Be- 
tracht, cu  deren  Lösung  er  befähigt  werden  sollte4):  doch 
aber  kann  nicht  sogleich  jenes  maximim  der  inneren  An- 
lage «um  vlog  &eö  als  ein  schon  von  seiner  Geburt  an,  in 
ihm  vorhandenes  vorausgesetzt  werden  —  eine  Consequens, 
welcher  auch  Lückä  nur  dadurch  entgeht,  dafs  er  dieScene 
bei  Jesu  Taufe  hinterher  doch  wieder  sur  blufften  Inaugu- 


3)  Comm.  zum  Ev.  Joh.,  1,  S.  378  f\ 

4)  Nur  darf  man  auf  orthodoxem  Standpunkte  nicht  mit  Hor»- 
MAivjf  (S.  301  f.)  sagen,  um  die  Ueberzeugung  von  seiner  Mes- 
sianität  und  die  richtige  Stellung  unter  so  vielen  Versuchun- 
gen und  Widerwärtigkeiten  festzuhalten,  habe  für  Jos  um  dio 
innerlich  errungene  Gewissheit  nicht  genügt,  sondern  es  sei 
noch  die  äussere  Beglaubigung  durch  eine  Thatsacfrc  erfor- 
derlich gewesen. 


/ 


4M  <       Zweiter  Abschnitt. 

ration  herabsetst,  womit  er  nach  dem  Obigen  den  evange- 
lischen Berichten  widerspricht. 

Wir  mfissen  also,  wie  oben  bei  den  Geschlechtsregi- 
stern, so  auch  hier  sagen:  in  demjenigen  Kreise  der  ur- 
christlichen  Gemeinde,  in  welchem  die  Erzählung  von  der 
Herabknnft  des  mtufta  aof  Jesnm  bei  seiner  Taufe  sieh 
gebildet  hat,  kann  die  Vorstellung  von  einer  Erseugung 
Jesn  duroh  dasselbe  mevfta  nicht  herrschend  gewesen  sein; 
sondern ,  während  man  sich  jetst  das  Göttliche  Jesu  schon 
in  seiner  Erseugung  mitgetheilt  denkt,  müssen  jene  Chri- 
sten erst  die  Taufe  als  den  Zeitpunkt  dieser  Mittheilong 
angesehen  haben.  Wirklich  sind  nun  diejenigen  uralten 
Christen,  welche  wir  oben  als  solche  gefunden  haben,  die 
von  einer  übernatürlichen  Erseugung  Jesu  nichts  wofsten, 
oder  nichts  wissen  wollten,  sogleich  auch  diejenigen,  wel- 
che die  Hittheilung  göttlicher  Kräfte  an  Jesum  erst  an 
dessen  Taufe  im  Jordan  gebunden  dachten.  Dm  keiner 
andern  Lehre  willen  haben  ja  die  orthodoxen  Kirchenväter 
die  alten  Ebioniten  *)  sammt  ihrem  gnostisirenden  Glau- 
bensgenossen Cerioth  6)  grimmiger  verfolgt,  als  weil  diese 
behaupteten,  mit  dem  Menschen  Jesn  habe  sieh  erst  bei 
der  Taufe  der  heilige  Geist  oder  der  himmlische  Christas 
vereinigt ;  wie  denn  im  Evangelium  der  Ebioniten  au  lesen 
war,  dafs  das  rcvevfia  in  Gestalt  der  Taube  nicht  Mols  auf 
Jesum  herabgekommen,  sondern  in  denselben  hineingegan- 
gen sei  *)j  und  auch  die  gemeine  jfidische  Erwartung  dem 
Justin  Eufolge  die  war,  dafs  erst  bei  der  Salbung  durch 
den  Vorläufer  Elias  dem  Messias  höhere  Kräfte  werden 
mitgetheilt  werden  8). 

5)  Epiphan.  haeres.  30,  14 t  hnJj  y*c  flüorr*  rar  tuh>  Y^  5rr«, 
avitqwtw  iivcu,  Xp^ov  Sk  er  aur$  yrySYtjo&ai  tot  *r  eldu  nfpstpiq 
xaraßfftrjxoTa  *.  r.  im 

6)  Epiphan,  haeres«  28,  1. 

7)  Epiphan.  haeres.  50,  13;    —  Tw^tQag  *a«i£«ny«  *m  ttfeX»**^ 


tU  aurdv. 


8)  s»  die  Stelle  oben,  §.  48.  Anw,  7. 


Zweite«  Kapitel.    §.  51.  455 

Et  scheint  der  Entwlekelungsgang  dieser  Vorstellun- 
gen folgender  gewesen  eu  sein.     Als  man  unter  den  Juden 
enterst  anfing,  die  messianisehe  Würde  Jesu  anzuerkennen* 
glaubte  man  seine  Ausrüstung  mit  den  erforderlichen  Ga- 
ben am  schicklichsten  an  den  Zeitpunkt  au  knüpfen,  von 
welchem  an  Jesus  erst  einigermafsen   bekannt  geworden 
war.  und  welcher  sich  sogleich  durch   die  in  denselben 
fallende  Ceremonie  am  besten  su  einer  solchen  Salbung  mit 
dem  heiligen  Geiste  eignete,  wie  sie  die  Juden  bei  dem 
Messias  erwarteten:   und  auf  diesem  Standpunkte   bildete 
sich   unsre  Sage  von  den  Vorgängen  bei  Jesu  Taufe  aus* 
Wie  aber  die  Verehrung  gegen  Jesum  stieg,  und  ungleich 
Mfinner  in '  die  christliche  Gemeinde  traten  •   welche   mit 
höheren  Messiasideen  bekannt  waren  p  genügte  diese  splt 
entstandene  Messianität  nicht  mehr:   es  wurde  sein  Ver- 
hlltnifs  *um  mev/ua  aytov  schon  anf  seine  Empflngnifs  au- 
rflckdatirt,    und   von   diesem  Standpunkt  aus   wurde   die 
Sage  von  der   übernatürlichen    Erzeugung  Jesu  gebildet. 
Hier  ist  es  vielleicht  auch  gewesen,   wo  die  Hinimelsstim- 
me,   welche   ursprünglich  nach   Ps.  2,  7.   gelautet   haben 
mag.  nach  Je*.  42,  h  umgestaltet  wurde.    Denn  die  Wor- 
te:  oyfttQm  ytyhvipa  ae  hatten  «war  ihren  angemessenen 
Sinn  bei  der  Ansieht,  dafs  Jesus  eben  erst  bei  der  Taufe 
*um  viog  &eö  gemacht*  und  mit  den  entsprechenden  Kräf- 
ten ausgestattet  worden  sei  5   aber  sie  pafsten  nicht  mehr 
sur  Taufe  Jesu,   nachdem  die  Ansicht  entstanden    war. 
daß  schon   sein   erster  Lebensanfang  auf  göttlicher  Zeu- 
gung beruht  habe.   Durch  diese  spftere  Vorstellung  jedoch 
wurde  die  frühere  keineswegs  verdrängt,  sondern,  wie  die 
Sage   und  der  mit  ihr  auf  gleichem  Standpunkt  stehende 
Schriftsteller  weitherzig  ist.  gingen  beide  Kraählungen.  die 
von   den    Wundern   bei  Jesu   Taufe  und  die   von  seiner 
wundervollen  Erzeugung  oder  der  Einwohnung  des  Xoyog 
in  ihm  von  Lebensanfang  an  ,    wiewohl  sie  sich  eigentlich 
ausschlieisen ,  friedlich  neben  einander  her,   und  wurden 


456  Zweiter  Abschnitt. 

so  auch  Ton  ungern  Evangelisten ,  diefsmal  selbst  den  Wer- 
ten nicht  ausgenommen,  beide  aufgezeichnet  Ganz  wis 
oben  bei  den  Genealogien:  entstehen  konnte  die^Erzfihlang 
yon  der  bei  der  Taufe  geschehenen  Geistesmittheilong 
nicht  mehr,  sobald  die  Vorstellung  von  dpr  Erzeugung 
Jesu  durch  das  mevfia  ausgebildet  war;  aber  nachgeffibrt 
werden  neben  dieser  konnte  sie  noch  immer,  weil  die  Sage 
nicht  gerne  etwas  von  den  einmal  gewonnenen  Schätzen 
verlieren  mag, 

» 

Ort  und  Zeil   der  Versuchung  Jesu.     Abweichungen  der  Evang»» 

listen  in  Darstellung  derselben. 

Der  Uebergang  von  der  Taufe  eur  Versuchung  Jesu, 
wie  ihn  die  Synoptiker  machen  (Matth.  4, 1.  Marc.  1,  fl 
Lue«  4,  1.),  hat  in  Bezug  sowohl  auf  die  Ortsbezeiehnnng 
als  die  Zeitbestimmung  Schwierigkeit. 

Was  die  erstere  betrifft,  so  fällt  es  auf,  dafs  sinnt« 
lieben  Synoptikern  zufolge  Jesus  naeh  seiner  Taufe  som 
Behuf  der  Versuchung  eig  ttjv  sQrjtov  soll  geführt  worden 
sein,  als  ob  er  nicht  schon  zuvor  in  der  eQqftog  gewesen 
wäre,  da  doch  nach  Matth.  3,  1.  Johannes,  von  weichen 
er  sieh  taufen  lieb,  daselbst  sieh  aufhielt.  Diesen  ansehe** 
nenden  Widerspruch  hat  die  neueste  Kritik  des  Matthäus« 
evangeliums  hervorgehoben,  um  die  Angabe  desselben,  daft 
der  Täufer  in  der  Wüste  gewirkt  habe ,  als  eine  irrige 
darzustellen  ')•  Wer  jedoch  aus  früher  dargelegten  Gran- 
den diese  Angabe  su  verwerfen  sich  nicht  entsohliefsen 
mag,  der  kann  sich  aueh  hier  entweder  durch  die  An- 
nahme helfen,  dafs  Johannes  seine  ersten  Vorträge  «war 
in  der  judäisohen  Wüste  gehalten,  sofort  aber  zum  Behof 
des   Taufens  aus   derselben  hinweg  an   den  Jordan  sieb 


|)  ScHNscKiNBUiurSH,  über  den  Ursprung  des  ersten  kanoniacbw 
Bvang.,  S,  39. 


Zweites  Kapitel.    §.  52.  457 

begeben  hebe  ;*  oder,  wenn  man  auch  das  Jordanafer  noch 
mu  Jeher  Wüste  gerechnet  sieb  denkt ,  dnrch  die  Voraus- 
setzung, die  beiden  ersten  Evangelisten  hätten  2 war  ei- 
gentlich nnr  sagen  müssen ,  von  der  Taufe  weg  habe  Je« 
zum  der  Geist  tiefer  in  die  Wüste  hineingeführt,  diese 
nähere  Bestimmung  haben  sie  jedoch  weggelassen  y  weil 
ihre  frühere  Bezeichnung  des  Locals  der  Wirksamkeit  des 
Johannes  als  .einer  Wüste  dnrch  die  Schilderung  der 
Scene  bei  Jesu  Taufe  in  ihrer  Vorstellung  znrückgetre- 
ten  war. 

Aufserdem  aber  kommt  hier  noch  eine  chronologische 
Schwierigkeit  in  den  Weg.  Während  nämlich  nach  den 
Synoptikern  Jesus  in  frischer  Fülle  des  ihm  am  Jordan 
mitgetheilten  7W8vfta,  mithin  unmittelbar  von  der  Taufe 
weg,  sich  auf  40  Tage  in  die  Wüste  begibt,  wo  die  Ver- 
suchung erfolgt,  und  hierauf  erst  nach  Galiläa  zurück- 
kehrt :  so  scheint  dagegen  Johannes ,  der  von  der  Versu- 
chung schweigt,  «wischen, der  Taufe  und  der  galiläischen 
Reise  Jesu  nur  eine  Zwischenzeit  von  wenigen  Tagen  vor- 
auszusetzen ,  in  welcher  jener  sechswöchige  Aufenthalt  in 
der  Wüste  keinen  Platz  finden  kann.  Das  vierte.  Evange- 
lium beginnt  nämlich  seine  Erzählung  mit  dem  Splgnifi», 
welches  der  Täufer  ror  den  Gesandten  des  Synedriums 
ablegt  (1,  19ff.  )J  den  Tag  darauf  (tjj  tnavQtov')  läfst  es 
denselben -beim  Anblick  Jesu  den  Vorgang  erzählen,  wel- 
cher nach  den  Synoptikern  bei  dessen  Taufe  erfolgt  ist 
(V.  29  ff.)  5  wieder  rfj  sTzut'Qiw  veranlagst  der  Täufer  zwei 
seiner  Schüler,  Jesu  nachzufolgen  (V.  35  ff.) ;  abermals  zfj 
ircavQiov  (V.  44«),  wie  Jesu*  nach  Galiläa  zu  reisen  im 
Begriffe  steht,  kommen  Philippas  und  Natbanaül  zu  ihm, 
und  endlich  rfj  fyieQ$  rfj  TQirr]  (2,  1.)  ist  Jesus  auf  der 
Hochzeit  zu  Kapa  in  Galiläa.  Zunächst  liegt  hier  die  An- 
nahme ,  dafs  eben  vor  der  Erzählung ,  welche  Johannes 
von  dem  bei  der  Taufe  Jesu  Vorgefallenen  macht,  diese 
selbst  stattgefunden ,   und  da  den  Synoptikern  zufolge  un- 


456  Zweiter  Abschnitt, 

mittelbar  t  mit  der  Taufe  die  Versuchung  utsaaimenhiBg, 
auch  diese  sammt  der  Taufe  a wischen  V.  28  und  20.  sa 
letzen  sei;  wie  diel*  sehen  Euthymius  angenommen  hat 
Da  nun  aber  «wischen  dem  bis  V.  28.  Erafihlten  und  dem 
von  V.  29.  an  Folgenden  nur  die  Zwischenzeit  eines  a?iau~ 
Qtov  gesetst  ist ,  die  Versuchung  aber  einen  Zeitraum  von 
40  Tagen  erfordert:  so  glaubten  die  Ausleger  dem  tnah- 
qiov  den  weiteren  Sinn  Ton  vgeqov  geben  su  müssen ;  was 
jedoch  schon  defrwegen  unaulftfsig  ist,  weil  im  Zusammen* 
hang  mit  jenem  Worte  hier  tfj  rtitk(Kf  vfj  tqItt]  vorkommt, 
im  Unterschiede  von  welchem  inccvQiov  nur  den  aweiten, 
unmittelbar  folgenden  Tag  bedeuten  kann.  Daher  könnte 
man  mit  Küinöl  sich  versucht  finden,  Taufe  udd  Versu- 
chung bu  trennen ,  und  jene  «war  nach  V«  28.  su  setzen, 
das  Tegs  darauf  erfolgte  Zusammentreffen  Jesu  mit  Jo- 
bannes aber  (V.  29.)  als  einen  dem  Letateren  vom  Erst* 
ren  gemachten  Abschiedsbesuch  anausehen  9  und  nach  die« 
aem  erst  den  Gang  in  die  W  äste  und  die  Versuchung  ein» 
zufügen.  Allein,  auch  abgesehen  davon ,  dafr  die  drei  er- 
sten Evangelisten  a wischen  der  Taufe  Jean  und  seinem 
Abgang  in  die  Wüste  auch  eine  seiche  Zwisehenaeit  von 
nur  Eiajtm  Tage  nicht  auaulasaen  scheinen,  so.  weif«  msn 
auch  später  ebensowenig,  wo  man  jene.  40  Tage  unter- 
bringen soll.  Denn  »wischen  diesen  seinsollenden  Ab* 
schiedsbesuch  und  die  Hinweisung  sweier  Jünger  so  Je- 
sus, d.  h.  «wischen  V.  34»  und  35.,  wie  Küinöl  will,  kann 
jener  Aufenthalt  ebensowenig  gesetst  werden,  wie  zwischen 
V.  28  und  29. ,  da  jene  Verse  so  gut  wie  diese  durch  %jj 
ijvavQtoy  verbunden  sind.  Jflau  mftfste  daher  noch  weiter 
herabsteigen,  und  es  a wischen  V.  43«  und  44.  versuchen; 
aber  auch  hier  ist  nur  die  Zwisehenaeit  eines  inavQtty 
und  selbst  2,  1.  nur  eine  rjfiiQa  tqIttjZ  mq  dafs  man,  anf 
diesem  Wege  fortgehend,  die  Versuchung  am  Ende  in  dea 
galiläischen  Aufenthalt  Jesu  hineinbrächte,  gana  gegen  die 
Darstellung  der  Synoptiker;  neben  dem,  dafs  man  sie,  in 


Zweites  Kapitel,    fr  52.  459 

einem  weiteren  Widerspräche  gegen  dieselben,  immer  mehr 
von  der  Teufe  entfernen  würde.  Wenn  also  auf  diese 
Weise  weder  bei  noch  anterhalb  des  ¥.29.  sich  die  Spalte 
findet,  in  welche  sich  der  vieroigtfigige  Aufenthalt  Jesu  in 
der  Wüste  mit  der  Versuchung  einschieben  Heise :  so  mofs 
man  es  mit  Lückä2)  u.  A.  oberhalb  jener  Stelle  versuchen, 
und  diefs  wäre  nur  vor  V,  19»  möglich,  wo  sich  insofern 
scheint  einschieben  au  lassen,  so  viel  man  will,  als  hier 
erst  das  vierte  Evangelium  seine  Geschiohtseraählung  an- 
fängt. Zwar  ist  nun  auch  das  von  da  an  bis  V.  28.  Fol- 
gende nicht  von  der  Art,  dafs  es  die  Taufe  und  Voran« 
chung  Jesu,  als  schon  früher  geschehen,  geradesu  aus- 
scbiöfse;  aber  V.  29  ff.  lä&t  der  Evangelist  den  Täufer  doch 
gar  nicht  so  sprechen,  wie  wenn  zwischen  der  Taufe  Jesu 
und  seiner  jeteigen  Erzählung  von  derselben  eine  Zeit  von 
sechs  Wochen  läge");  und  nimmt  man  *  die  On  Wahrschein- 
lichkeit der  Voraussetaung  binau,  dafs  der  vierte  Evange* 
list  die  den  übrigen  so  wichtige  Versuchungsgeschichte 
bloCs  anfällig  übergangen  haben  sollte:  so  mufs  die  Frage 
erlaubt  sein,  ob  dieselbe  ihm  überhaupt  bekannt,  oder  als 
Geschichte  von  ihm  anerkannt  war« 

Stehend  ist  bei  allen  drei  Synoptikern  die  Zeitbestim- 
mung von  40  Tagen  för  Jesu  Aufenthalt  in  der  Wüste: 
aber  hieran  knüpft  sich  sogleich  die  nicht  unerhebliche 
Abweichung,  dafs  dem  Matthäus  aufolge  die  Versuchung 
des  Teufels  erst  nach  Ablauf  der  40  Tage  eingetreten,  den 
übrigen  zufolge  auch  schon  während  dieses  Zeitraums  vor 
sich  gegangen  au  sein  scheint;  denn  des  Markus  rp>  iv 
rfj  iQi]ft({>  rj/utQccg  TeoactQaxonu  TtetQaCofievog  vtzo  tö  oeetavu 
(1,  13.)  und  die  ähnliche  Wendung  bei  Lukas  (4,  1.  2.) 
kann  nichts  anders  als  diefo  aussagen.  Woau  noch  «wi- 
schen den  beiden  auletat  genannten  Evangelisten  dieDjffe- 


2)  Comm.  t,  Ev.  Job.,  1,  S.  344. 

5)  Vcrgl.  ps  Wsrrs,  exeg.  Haadb.,  1,  5,  S,  27» 


4<i0  Zweiter  Abschnitt. 

rene  kommt,  dafs  bei  Markos  das  Versaehtwerden  nur 
überhaupt  in  die  Dauer  der  40  Tage  verlegt  ist,  ohne  dafs 
die  einzelnen  Versuchongsacte ,  welche  dem  Matthäus  aa- 
fplge  nach  jenen  40  Tagen  fielen,  namhaft  gemacht  wären ; 
bei  Lukas  dagegen  Beides,  sowohl  das  durch  die  40  Tage 
hindurchgehende  TxeiqaCea&ai  im  Allgemeinen  erwähnt,  als 
auch  die  nachher  erfolgten  drei  eineeinen  neigaopol  her- 
ausgehoben sind4).  Diefs  hat  man  durah  die  Annahme 
ausgleichen  au  können  geglaubt,  dafs  der  Teufel  Jesum 
sowohl  während  der  40  Tage,  wie  Markus  sagt,  als  auch 
insbesondere  noch  nach  Abflufs  derselben,  so  wie  Mat- 
thäus berichtet,  versucht  habe,  was  beides  von  Lukas  eu- 
sammengefafst  sei c) :  und  .diese  beiderlei  Versuchungen  hat 
man  wohl  auch  so  unterschieden,  dafs  die  nicht  näher  be- 
zeichneten ,  während  der  40  Tage  vorgefallenen ,  unsieht« 
bare  und  solche  gewesen  seien ,  wie  sie  der  Tepfel  auch 
sonst  gegen  die  Menschen  unternehme ;  wogegen  er ,  als 
ihm  diese  fehlgeschlagen,  am  Ende  der  40  Tage  persönlich 
und  sichtbar  hervorgetreten  sei 6).  Allein ,  wenn  die  letz- 
tere Unterscheidung  offenbar  aus  der  Luft  gegriffen  ist,  so 
begreift  man  nicht,  warum  Lukas  von  den  vielen  Versu- 
chungen der  40  Tage  (eine  einzige ,  sondern  nur  die  drei 
nach  denselben  vorgefallenen ,  übereinstimmend  mit  Mat- 
thäus namhaft  macht.  Man  könnte  daher  auf  die  Vermu- 
thung  gerathen,  die  drei  von  Lukas  erzählten  Versuchun- 
gen seien  nicht  erst  nach  den  0  Wochen  eingetreten,  son- 
dern von  den  vielen  in  diesen  Zeitraum  selbst  gehörigen 
fähre  er  nur  beispielsweise  drei  an ;  was  dann  Matthäus 
dahin  mifsverstanden  habe,  als  wären  sie  nach  jenen  6  Wo- 


'4)  Vergl.  Faitzschs,  Co  mm.  in  Marc  ,  S.  23;    ds  Witts,  cxeg. 
Handb.,  1,  2,  S.  33. 

5)  KuwÖl,  Comm.  in  Luc.  S.  579. 

ü)  JaüHTKOoi,  horae,  p.  245. 


Zweites  Kapitel.     §.52.  461 


chen  erst  eingetreten  *)•  Allein  die  Aufforderung,  Steine 
in  Brod  zu  verwandeln,  mufs  doch  jedenfalls  an  das  Ende 
dieses  Zeitraums  gestellt  werden,  da  sie  ja  durch  den  ans 
dem  40tägigen  Fasten  entstandenen  Hunger  Jesu  (ein  Mo- 
ment, welenes  nur  bei  Markus  fehlt,)  motivirt  ist.  Nun 
aber  ist  diefs  auch  bei  Lukas  die  erste  Versuchung :  und 
wenn  diese  schon  an  das  Ende  der  40  Tage  ftllt,  so  kön- 
nen die  folgenden  nicht  froher  fallen ;  denn  das  geht  doch 
nicht  an,  zu  sagen,  weil  die  einzelnen  Versuchungen  bei 
Lukas  nicht  wie  bei  MatthXus  durch  rote  und  rcahv ,  son- 
dern nnr  durch  xui  aneinandergereiht  seien.,  so  habe  man 
sich  an  ihre  Ordnung  nicht  zu  binden ,  sondern  gar  wohl 
könne  im  Sinne  des  dritten  Evangelisten  die  zweite  und 
dritte  vor  der  zuerst  erwähnten  sich  zugetragen  haben« 
Bleibt  demnach-bei  Lukas  das  Ungeschickte,  dafs  er  Je* 
sum  40  Tage  vom  Teufel  versucht  werden  läfst,  ans  dieser 
langen  Zeit  aber  keine  Versuchung  namhaft  zu  machen 
weife,  sondern  nur  etliche  nachmals  eingetretene :  so.  wird 
man  hienach  wenig  geneigt  sein,  mit  der  neuesten  Kritik 
des  Matthäusevangeliums  bei  Lukas  die  ursprüngliche,  bei 
Matthäus  dagegen  die  abgeleitete  und  getrübte  Erzählung 
zu  finden 8).  Sondern  indem  die  Versuchungsgeschichte 
bald  unbestimmt  erzählt,  und  dann  das  TtftQa^Oxkai  Ober- 
haupt in  die  40  Tage  verlegt  wurde,  wie  Markus  die  Sache 
wiedergibt ;  bald  aber  mit  Anführung  der  bestimmten  Fälle, 
wobei  dann  der  zum  Motiv  des  ersten  gewählte  Hunger 
die  Stellung  nach  dem  40tägigen  Fasten  erheischte,  wie 
wir  es  bei  Matthäus  finden :  so  Jiat  nun  Lukas  die  offen- 
bar secundäre  Darstellung,  beides  auf  eine  kaum  erträg- 
liche Weise  zusammenzufassen,  und  nach  dorn  unbestimm- 
ten 40tägigen  Versuchtwerden  zum  Ueberflufs   auch  noch 


7)  ScHKECKijiBüR&iR,  über  den  Ursprung  des  ersten  kan.  Evang. 

S,  46. 
S)  Ders.  cbend. 


/ 


4fö  Zweiter  Abschnitt 

das  bestimmte,  spätere,  cn  stellen.  Damit  soll  kelneewegs 
gesagt  werden ,  dafs  Lukas  erst  nach  Markos  nnd  In  Ah* 
Bangigkeit  von  ihm  geschrieben  habe;  sondern,  wenn  aoch 
umgekehrt  Markos  hier  ans  Lukas  schöpfte,  so  nahm  er 
sich  nor  den  ersten  Theil  von  dessen  Darstellung,  das 
Unbestimmte,  heraus,  indem  er  statt  der  weiteren  Angabe 
einzelner  Versuchungen  einen  eigentümlichen  Zog  in  Be- 
reitschaft hatte:  dafs  nfimllch  Jesus  wfthrend  seines  Auf* 
entbalts  in  der  Wüste  perd  rwv  fhjQlajv  gewesen  sei. 

Was  Markos  mit  den  Thieren  will,  ist  schwer  au 
sagen.  Die  meisten  Erklärer  meinen,  er  wolle  das  schau* 
Verhafte  Bild  der  Wüste  dadurch  vollenden9);  doch  ist 
nicht  ohne  Grund  hiegegen  erinnert  worden,  dafs  dann 
der  Zusatz  enger  mit  deftt  rp  iv  tfj  iqqfiip  verbanden  nnd 
nicht  erst  nach  dem  neiQcc'Gofievog  gestellt  sein  müTste  10). 
Ustsri  bat  die  Vermuthung  gelfufsert,  ob  nicht  vielleicht 
durch  diesen  Zog  Christas  als  Aotitypus  von  Adam  darge- 
stellt werden  solle,  welcher  auch  im  Paradies  in  einem 
eigentümlichen  Verhältnisse  eu  den  Thieren  gestanden 
habe11),  ond  Olshausbn  hat  diesen  mystischen  Zug  begie* 
rig  aufgegriffen;  doch  auch  diese  Deutung  findet  eu  wenig 
Hülfe  in  dem  Zusammenhang.  Wenn  Schlkiermacber  die- 
sen Zog  als  einen  abenteuerlichen  heseiehnet 1S) ,  so  meint 
er  diefs  doch  ohne  Zweifel  so,  dafc  durch  denselben  Mar- 
kus, wie  aoch  sonst  öfters  durch  übertreibende  Züge,  an 
die  Weise  der  apokryphischen  Evangelien  streife,  von  de- 
ren willkürlichen  Dichtungen  wir  nicht  selten  keinen  An- 
Inf»  ond  Zweck  mehr  angeben  können:  und  so  müssen 


9)  So  schon  Euthymios,  jetzt  Koaröt  u.  A.  s.  d.  St 

10)  FiirrzscBS  z.  d.  St 

11)  Beitrag  zur  Erklärung  der  Vertuchungtgetchichte ,   in  Uu- 
auwf'i  und  Umbaut'!  Studien,  1834,  4,  S.  789. 

12)  üeber  den  Lukas,  S.  56. 


Zweites  Kapitel.    $.53.  463 

wir  ans  wohl  auch  hier  vor  der  Hand  bescheiden,  in  den 
Sinn  dieser  Angabe  des  Markos  eindringen  au  wollen. 

In  Beeng  auf  die  Differenz  swischen  Matthäus  und 
Lukas  in  der  Anordnung  der  eineeinen  Versuchungen  wird 
es  wohl  gleichfalls  bei  demjenigen  sein  Bewenden  haben, 
was  Schleibrmachkr  aur  Erklärung  nnd  Benrtheilnng  die- 
ser Abweiehnng  gesagt  hat:  dafs  nfimlich  die  Ordnung  des 
Matthfios  als  die  ursprüngliche  erscheine,  weil  sie  nach 
der  Hauptrüoksicht  au&  das  Gewicht  der  Versuchungen 
gemacht  sei,  in  welcher  Beziehung  die  Aufforderung  cur 
Anbetung,  mit  welcher  Matthffus  schliefst,  als  die  stärkste 
Versuchung  sich  verhalte;  wogegen  die  Anordnung  des 
Lukas  einer  späteren,  nicht'  sehr  glücklichen  Umstellung 
ähnlich  sehe,  welche  von  der  dem  ursprünglichen  Sinne 
der  Eraähiung  fremden  Rücksicht  ausgehe,  dafs  Jesus  mit 
dem  Teufel  wohl  eher  aus  der  Wüste  auf  den  nahe  gele- 
genen Berg  und  von  da  nach  Jerusalem  werde  gegangen 
sein,  als  aus  der  Wüste  in  die  Stadt,  und  von  da  wieder 
in  das  Gebirge  zurück  **). 

Während  die  beiden  ersten  Evangelisten  damit  schlie* 
faen,  dafs  sie  nur  Bedienung  Jesu  Engel  erscheinen  lassen: 
ist  dem  Lukas  der  Schlufs  eigen,  der  Teufel  sei  von  Jesu 
Abgestanden  ä%Qi  xcciqö  (V.  13.)  ;  wodurch,  wie  es  scheint, 
namentlich  daa  Leiden  Jesu  als  eine  weitere  Anfechtung 
des  Teufels  voraus  bezeichnet  werden  soll ;  eine  Bezeich- 
nung, welche  Übrigens  unten  bei  Lukas  nicht  wieder 
'aufgenommen,  Wohl  aber  bei  Johannes,  14,30.,  enge* 
ileutet  ist. 

$.    53. 

Die  Vertuchungsgeschichte  im  Sinne  der  Evangelisten  aufgefastt. 

Nicht  leicht  ist  einer  evangelischen  Perikope  eine 
fleifsigere  Bearbeitung  «tt  Theil  geworden,  als  der  gegen« 


15)  Doch  vcrgl.  Scmnbckbnbur9bii,  a.  a.  O.  S.  46  f. 


464  Zweiter  Abschnitt.    * 

wartigen,  und  nicht  leicht  hat  eine  ao  vollständig  den 
Kreis  aller  möglichen  Auffassungen  durchlaufen.  Denn  die 
persönliche  Teufelserscheinung ,  welche  sie  zu  enthalten 
scheint ,  war  ein  Stachel,  welcher  die  Erklärer  beider 
sich  zuerst  bietenden  Deutung  nicht  ruhen  liefe,  sonders 
sie  rastlos  immer  weiter  zu  andern  und  wieder  anders 
Versuchen  forttrieb.  Die  hiemit  eich  bildende  Reihe  v«v 
schiedener  Erklärungsversuche  lud  eu  beurtheilenden  Zu- 
sammenstellungen ein ,  unter  welchen  in  den  von  K.  flu 
L.  Schmidt  ') ,  von  Fritzschb  *)  und  Usteri  3)  gegebenen 
die  Untersuchung  wirklich  als  su  ihrem  Ziele  geführt 
erscheint« 

Die  erste  Auffassung,  welche  sich  der  unbefangenen 
Betrachtung  des  Textes  bietet,  ist  die,  dafs  Jesus  von  dem 
bei  der  Taufe  empfangenen  göttlichen  Geist  in  die  Worte 
geführt  worden  sei,  um  eine  Versuchung  des  Teufeil  m 
bestehen;  welcher  ihm  sofort  persönlich  und  sichtbarlieh 
erschienen  sei,  und  auf  verschiedene  Weise,  an  verschie- 
denen Orten,  «u  welchen  er  ihn  hinführte,  seine  Verw> 
chongen  mit  ihm  vorgenommen  habe^  nach  deren  siegrei- 
cher Abwehr  von  Seiten  Jesu  der  Teufel  von  ihm  gewi- 
chen, und  Engel  erschienen  seien,  ihm  zu  dienen.  Indeu, 
so  einfach  sich  diefs  exegetisch  als  Sinn  der  Ersählong 
ergibt,  so  thun  sich  doch,  sobald  sie  nun  als  Geschichte 
angesehen  werden  soll,  in  allen  Theilen  derselben  Schwie- 
rigkeiten hervor. 

Wenn,  um  gleich  vorn*  anzufangen,  der  göttliche 
Geist  Jesum  in  der  Absicht  in  die  Wüste  führte,  um  ihn 
daselbst  versuchen  zu  lassen,  wie  diefs  Matyhftus  in  den 
Worten:  avrj%{hj  eig  xrp  eQ^ov  vtco  tö  nrev/narog,  ntifja- 
a^ijvat  (4,  1.)  ausdrücklich  sagt:    wozu  sollte  diese  Vef- 


1)  Exegetische  Beitrage,  1,  S.  277  ff. 

2)  Comm.  in  Matth.  S.  172  ff. 

3)  In  der  angef.  Abhandlung,  von  S.  768  an. 


Zweites  Kapitel.    $.53.  465 

jnehnng  dienen  ?  Einen  stellvertretenden ,  erlösenden 
Werth  derselben  wird  man  doch  wohl  nieht  behaupten 
wollen ,  so  wenig  als  dafs  Gott  erst  nöthig  gehabt  hätte, 
Jesuin  anf  eine  Probe  «u  stellen ;  sollte  aber  durch  die* 
selbe  Jeans  uns  gleich  und  nach  Hebr.  4,  15.  in  allen 
Dingen  versucht  werden  wie  wir:  so  wurde  ihm  ja  der 
Prüfungen  vollestes  Mais  in  seinem  folgenden  Leben  nu 
Tbeil\),  und  durch  eine  Versuchung  des  persönlich  er^ 
scheinenden  Teufels  wfire  er  uns  Cebrigen  vielmehr  un- 
gleich geworden,  die  wir  von  dergleichen  Erscheinungen 
varschont  bleiben. 

Auch  mit  dem  40tlgigen  Fasten  ist  es  etwas  Eigenes» 
Man  begreift  nicht,  wie  Jesus  nach  sechswöchiger  Enthal- 
tung von  aller  Nahrung  noch  hungern  konnte,  und  nicht 
schon  längst  verhungert  war;  da  für  gewöhnlich  die 
menschliche  Natur  nicht  Eine  Woche  völlige  Nahrungslo- 
sigkeit  ertragen  kann«  Freilich  trösten  sich  die  Ausleger 
damit,  die  fjju&Qai  zeauagcatona  seien  eine  runde  Zahl,  das 
vijgevoag  bei  Matthäus  aber  und  selbst  das  ax  eqxxyev  sdlr 
bei  Lukas  sei  nicht  so  streng  su  nehmen ,  und  bezeichne 
nicht  Enthaltung  von  allen ,  sondern  nur  von  den  gewöhn« 
liehen  Speisen,  so  dafs  der  GennTs  von  Wurseln  und  Krau« 
tarn  dadurch  nicht  ausgeschlossen  werde  f).     Aber  von 

4)  Sehr  schön  stellt  Nkajtoir  mit  den  drei  Teuf  eis  Versuchungen 
dieser  Geschichte  eine  Reihe  dem  Inhalte  nach  gleicher  Ver- 
suchungen Jesu  aus  seinem  späteren  Leben  in  Parallele  (S.  95  f. 
97*  98);  wodurch  aber  eben  jene  Versuchungsgeschichte  als 
einzelner  Vorfall  überflüssig  wird« 

5)  So  s.  B.  Kunrife,  Comm.  in  Matth.  p.  84.  Vergl.  Grats, 
Comm.  cum  lVfatth. ,  1 ,  S.  229.  Noch  kleinlicher  hält  sich 
Homum  daran,  dass  es  zwar  heisse,  Jesus  habe  nichts  ge- 
gessen, aber  nirgends,  er  habe  nichts  getrunken:  nun  aber 
habe  sich  einmal  ein  Schwärmer  mit  Wasser" und  Thee  45 
Tage  lang  erhalten ;  freilich  sei  er  hierauf  gestorben ,  aber 
nicht  an  Hunger,  sondern  an  der  „Unwahrheit  seines  Gefühls" 
(!  S.  315). 

Das  Lebern  Jesu  Ue  Aufl.  /.  Band.  30 


H 


4<»ti  Zweiter  Abschnitt. 

den  40  Tagen  kann  man  in  keinem  Falle  00  viel  absieben, 
als  nOthig  wäre ,  am  ein  so  langes  Fasten  denkbar  cn  fin- 
den; und  was  dieses  selbst  betrifft,  so  hat  Fritzschb  klar 
geceigt,  und  auch  Olshausbm  gibt  es  so,  dafs  namentlich 
wegen  der  Parallele  mit  dem  ebenso  langen  Fasten  des 
Moses  C2  Mos.  34,  28.  5.  Mos.  9,  9  18.)  und  des  Elias 
(J.  Ktfn.  19,  8.)  -r-  von  deren  Ersterem  es  heifst:  er  als 
kein  Brot  und  trank  kein  Wasser,  vom  Letsteren  aber,  er 
pei  durch  die  Kraft  einer  vor  der  Abreise  genossenen 
$pei*e  40  Tage  lang  gegangen  —  aueh  hier  an  nichts  Ge- 
ringeres, als  an  gfinaiiche  Enthaltung  von  aller  Nahrung, 
fsu  denken  ist.  Eine  solche  aber  ist  nicht  allein  röcksicht- 
lich der  Möglichkeit,  sondern  auch  der  Zweckmäßigkeit 
schwierig.  v  Dem  Znsammen  hange  nach  mufs  das  Fasten 
von  Jesu  auf  Antrieb  desselben  mw^a  übernommen  ge- 
wesen sein,  welches  ihn  eu  dem  Gang  in  die  Wüste  ver- 
aulafst  hatte,  und  nunmehr  en  einer  heiligen  Uebung  auf- 
munterte, durch  welche  auch  die  Gottesmänner  des  alten 
Bnndes  sich  geläutert  und  göttlicher  Anschauung  würdig 
gemacht  hatten.  Jenem  mtvfta  aber  konnte  nicht  verbor- 
gen sein,  dafs  gerade  an  diesem  Fasten  der  Satan  Jesus 
ergreifen,  und  den  dadurch  hervorgerufenen  Hunger  nun 
Fürsprecher  seiner  Versuchung  werde  nehmen  wollen« 
Und  war  nun  in  diesem  Falle  das  Fasten  nicht  eine  Art 
von  Herausforderung  des  Satans ,  eine  Vermessenheit ,  wie 
sie  auch  dem  seiner  «elbst  Gewissesten  übel  ansteht  *)? 

Nun  aber  der  persönlich  erscheinende  Teufel  mit  sei- 
nen Versuchungen  ist  der  eigentliche  Stein  des  Anstofses 
in  der  vorliegenden  Ereftjiiung.  .Wenn  es  auch  einen  per- 
sönlichen Teufel  geben  sollte,  sagt  man,  so  kann  er  doch 


\ 


6)  Ustbri,  über  den  Täufer  Johannes,  *iie  Taufe  und  Versuchung 
Christi,  in  den  thcol.  Studien  und  Kritiken,  zweiten  Jahr- 
gangs (1829)  drittes  Heft,  S.  450;  i>s  Wans,  exeg.  Handb.,  I, 
i>  S.  38. 


Zweites  Kapitel    §.  53.  467 

nicht  sichtbar  erseheinen;  and  wenn  auch  diefs,  so  wird 
er  «ich  schwerlich  so  benehmen,  wie  er  sich  nach  unserer 
Ersfblung  benommen  haben  muffte,  lndele,  schon  mit 
dem  Ilasein  des  Teufels  rerh&lt  es  sieh,  wie  mit  dem  der 
Engel:  dafs  selbst  der  üffenbarungsglaubige  an  demselben 
uns  dem  Grunde  irre  Verden  kann,  weil  diese  Vorstellung 
nicht  rein  auf  dem  Boden  des  Offenbarungsvolks  geweeh- 
'•en,  sondern  im  Exil  aus  profanen  Gebieten  herflberver* 
pflanct  worden  ist T).  Ohnehin  aber  ffcr  diejenigen  unter 
den  Zeitgenossen9  welche  sieh  der  Bildung  des  Jahrhun- 
derts nicht  versohlessen  heben,  ist  die  Exbtenn  eines  Teu- 
fels im  höchsten  Grade  zweifelhaft  geworden.  Auch  in 
Beuug  auf  diese  wie  auf  die  Engelvorsteilung  kann  als  In- 
terpret der  neueren  Bildung  Scbleikrmachbu  gelten,  wenn 
er  auf  der  einen  Seite  seigt ,  daCs  die  Vorstellung  eines 
Wesens,  wie  der  Teufel  eines  sein  mllfste,  aus  Wider» 
aprflcben  Eusammengesetst  ist ;  auf  der  andern  bemerklieh 
macht,  dafs,  wie  die  Engelvorstellung  aus   beschränkter  t 

Naturbeobaehtung,  eo  sie  aus  beschränkter  Selbstbeobach- 
tung entstanden ,  mit  den  Fortsehritten  von  dieser  immer 
mehr  in  den  Hintergrund  tretet»,  und  die  Berufung  auf 
den  Teufel  hinfort  als  Ausflucht  der  Unwissenheit  oder 
.Trägheit  gelten  mufs  •).  Aber  auch,  die  Existent  des  Teu- 
fels angegeben,  so  hat  doch  ein  persönliches  und  sicht- 
bares Erscheinen  desselben,  wie  es  hier  vorausgesetat  wird,  ♦ 
•noch  seine  besonderen  Schwierigkeiten.  Selbst  Olshaussn 
erinnert,  dafs  ein  solches  sonst  weder  im  alten  noch  im 
neuen  Testamente  vorkomme.  Ferner,  wenn  doch  der 
Teufel,  um  hoffen  au  können,  Jesum  au  täuschen,  nicht 
in  seiner  eigenthttmlichen  Gestak,  sondern  nur  entweder 


7)  db  Wim,  bibl»  Dogmatil,  §.  171 ;  Gjuhbbrs,  Grandzüge  ei- 
ner Engellehre  des  A.  T.,  $•  5,  in  Wim*»'«  Zeitschrift  f.  wis- 
senschaftliche Theologie,  1.  Bd.  S.  J82f. 

8)  Glaubenslehre,  1,  $$   44.  45.  der  »weiten  Ausg. 

30* 


4<i8  Zweitor  Abschnitt 

\  \ 

als  Mensch,   oder  alt  guter  Engel   erseheinen  durfte:  10 

tragt  man  mit  Recht,  ob  denn  die  Stelle  2.  Kor.  11,  14., 
nach  welcher  o  oararäg  fteiaox^ftccri^ezai  Big  äyyekw  axuros, 
buchstäblich  sq  verstehen  sei,  nnd  wenn  diefs,  ob  dien 
abenteuerliche  Vorstellung  Innere  Wahrheit  haben  könne')? 
Was  die  Versuchungen  betrifft,  so  hat  im  Allgemei- 
nen schon  Julian  gefragt,  wie  denn  der  Teufel  habe  hof- 
fen können,  Jesum  su  verfahren,  da  er  doch  seine  höhere 
Natur  gekannt  haben  müsse1*)?  und  Theodors  von  Mops- 
vestia  Antwort  darauf,  dem  Teufel  sei  Jesu  Göttlichkeit 
damals  noch  unbekannt  gewesen,  widerlegt  eich  durch  die 
Bemerkung,  wenn  er  nieht  damals  schon  in  Jesu  ein  höhe- 
res Wesen  gesehen  hotte ,  würde  er  sich  schwerlieh  die 
Mühe  gegeben  haben ,  ihm  ausnahmsweise,  persönlich  si 
erscheinen.  —  In  Beeng  auf  die  einseinen  Versuchung» 
wird  man  dem  Kanon  seinen  Beifall  nicht  versagen  kfa- 
nen,  dafc,  um  glaubwürdig  su  erscheinen,  die  Erslbloog 
dem  Teufel  nichts  seiner  vorauszusetzenden  Klugheit  wr 
dersprechendes  anschreiben  dürfte  ")•  Nun  ist  allerdings 
die  erste  Versuchung  durch  den  Hunger  nicht  se  übel 
motivirt;  schlug  diese  bei  Jesu  nicht  an,  so  mvfste  der 
Teufel  als  klnger  Taktiker  eine  noch  lockendere  Verse- 
drang  bereit  haben:  statt  dessen  aber  finden  wir  nun  (bei 
Matthlus)  den  Vorschlag  zu  dem  halsbreehenden  Unter' 
nehmen,  sich  von  der  Tempelzinne  herabzustürzen,  wor- 
nach  es  den,  welcher  die  Steinverwandiung  ausgeschlagen, 
noch  weniger  gelüsten  konnte;  und  als  auch  dieser  Ver- 
schlag keinen  Anklang  gefunden,  folgt  zum  Schlüsse  eine 
Zumuthung,  welche,  was  auch  immer  damit  zu  gewinnen 
sein  mochte,  jeder  fromme  Israelit  ungesäumt  mit  Absehe« 


9)  Schmidt,  exeg.  Beiträge,  1,  S.  279.    Kuiköl,  in  Matth.  S.  76. 

10)  In  einem  Fragmente  Theodor'»  von  Mopsvestia,  in  Minis»'» 
Fragm.  Fatr.  graec.  Fase.  1,  S.  99  f. 

11)  Paulus,  a.  a.  O.  S.  376. 


Zweites  Kapitel.    $.  53.  469 

sartick  weisen  mnfirte:  den  Teafel  fufsftllig  mi  verehren* 
Eine  so  «ngesehickto  Aaswahl  and  Anordnung  der  Ver- 
saohangen  hat  die  meisten  neueren  Erklärer  bedenklich 
gemacht **).  * 

Da  die  drei  Versuchungen  an  drei  verschiedenen, 
selbst  entlegenen,  Orten  vorfallen,  so  fragt  es  siehy  wie 
Jesus  mit  dem  Teufel  von  einem  vom  andern  gekommen 
sei?  Diese  Ortsverfinderung  haben  selbst  Orthodoxe  gans 
natürlich  sugehen  lassen ,  indem  sie  annahmen ,  Jesus  sei 
ohnehin  auf  der  Reise  gewesen,  und  der  Teufel  ihm  nach* 
gefolgt  ").  Allein  die  Ausdrücke :  naQalapßccvet  —  fgjjaaß 
um  6*  6  diaßokog  bei  Matthäus,  avayäywv^  tffciy&ß  und  egrjoev 
bei  Lukas,  deuten  unverkennbar  auf  eine  vom  Teufel  ei- 
gens veranlasste  Ortsverlnderang,  und  da  ohnehin  der 
Zug  bei  Lukas  (V,  5.),  der  Teufel  habe  Jesu  alle  Reiche 
der  Welt  iv  giyftfj  XQW**  g**eigtj  «rf  etwas  Zauberhaftes 
in  der  Sache  hinweist:  so  hat  man  ohne  Zweifel  an  ma- 
gische Verseteungen  au  denken,  wie  A.  G.  8,  39.  dem 
nveöfia  KvqIö  ein  solches  aqna&w  sageschrieben  ist.  Hier 
fand  man  es  nun  aber  frfihseitlg  mit  der  Würde  Jesu 
unvereinbar ,  dafs  der  Teufel  auf  diese  Weise  eine  magi- 
sche Gewalt  Ober  ihn  geflbt,  und  ihn  in  der  Luft  mit  sich 
heromgef  tthrt  haben  solle  '*) ;  ein  Zug ,  welchen  selbst 
derjenige  höchst  abenteuerlich  finden  wird,  dem  das  per* 


■w 


12)  Die  Auskunft  Homujni's,  der  Teufel  wähle,  z.  B.  bei  der 
zweiten  Versuchung,  „absichtlich  ein  recht  grelles  Beispiel 
an  dem  Herabstürzen  von  der  Tempelzinne,  während  es  über- 
haupt nur  um  einen  falschen  Gebrauch  der  Wunderkraft  und 

'  des  Gottesbewusstseins  Jesu  sich  handelte'4  (S,  322)  —  diese 
Ausflucht  lässt  die  Sache  wie  sie  ist,  indem  es  die  gleiche 
Ungereimtheit  bleibt,  so  unpassende  Beispiele  oder  so  unpas- 
sende Versuchungen  auszuwählen. 

13)  Hess,  Geschichte  Jesu,  I,  S.  124. 

|4)  s.  den  Verf.  der  Rede  de  jejunio  et  tentatiönibut  Gh.  ttti 
unter  den  Werken  Cyprians, 


.  * 


*  470  Zweiter  Abschnitt 

stauch*  Erscheinen  des  Teufels  noch  erträglich  war.  Da 
Unglaubliche  blnft  eich,  wenn  man  bedenkt,  welches  Auf- 
sehen es  gemacht  haben  mfifste,  Jesam  (sein  Begleiter  mag 
sich  hier  etwa  unsichtbar  gemacht  haben  )  auf  dem  Tem* 
peldaeb  erscheinen  an  sehen,  wenn  es  auch  nur  das  Dach 
der  Halle  Salomo's  war,  und  somit  weder  die  vergoldeten 
9piefse  anf  dem  eigentlichen  Heiligthum,  noeh  das  Verbot 
für  Laien ,  dessen  Dach  so  betreten ,  im  Wege  stand  ")• 
Die  letste  Versuchung  betreffend,  ist  die  Frage  allbekannt, 
wo  denn  der  Berg  sei,  von  welchem  ans  man  alle  Reiche 
der  Welt  fibersehen  kfinne  f  und  wenn  die  Ansknnft,  dab 
unter  xoopog  hier  nur  Palästina,  und  unter  den  ßaotfoiai$ 
dessen  einzelne  Gebiete  und  Tetrarchien  verstanden  seien  ")9 
haum  minder  lächerlich  ist,  als  die,  der  Teufel  habe  Jesu 
die  Welt  auf  einer  Karte  geseigt :  so  bleibt  keine  Antwort 
ihrig,  als,  ein  solcher  Berg  existire  nur  in  der  alterthflu- 
Hchen  Vorstellung  von  der  Erde  als  einer  Fläche  einer- 
seits, und  andrerseits  in  der  volkstümlichen  Phantasie, 
welche  leicht  einen  Berg  bis  in  den  Himmel  hinein  erhö- 
heu,  und  ein  Auge  in's  Unendliche  schärfen  kann. 

Endlich  auch  der  abschliefsende  Zug  der  Eraähinng, 
dafs,  nachdem  der  Teufel  mit  seiner  Versuchung  au  Ende 
war ,  Bngel  eu  Jesu  gekommen  seien  und  ihn  bedient  ha- 
ben, ist,  auch  abgesehen  von  dem  oben  besprochenen 
Zweifel  an  der  Existenz  solcher  Wesen,  von  Anstofa  nicht 
frei.  Denn  das  dirptovuv  kann  doch  keine  andere  Art  von 
Bedienung  bedeuten ,  als  die  Darreichung  von  Nahrang* 
mitteln ;  wie  nicht  allein  der  Zusammenhang,  welchem  in- 
folge Jesus  nach  langem  Hungern  eben  eine  solche  Bedie- 
nung nöthig  hatte j    sondern  auch  die   Vergleichong  nu't 


15)  Vcrgl.  Joseph,  b.  j.  5,  5,  6.   6,6,  1.    Fumacas,  ia  Matth. 
S.  164;  dk  Wem,  exeg.  Handb.,  1,  1,  S.  40. 

16)  Jene  von  Kuiköl,   in  Matth.   S.   90;    diese  angeführt  kl 
Kritzsciib,  p.  168. 


Zweites  rUpitel.    §.  H.  47* 

■ 

l.Kön.  19,5.  selgt,  wo  dem  Elias  ein  Kugel  Speise  bringt 
Dann  aber  ist  beides  gleich  unwahrseheiolieb ,  was  maii 
möglicherweise  annehmen  könnte:  dafs  entweder  ffthe* 
risehe  Wesen,  wie  Kugel,  irdische,  materielle  Speisen  da« 
hergetragen  haben;  oder  dafs  Jesu  menschlicher  Leib  mit 
himmlischen  Substanzen,  wenn  es  solche  gibt,  gestärkt 
worden  sei. 

5.  54. 

Die  Versuchung  als  innerer,    oder  als  äusserer  natürlicher  Vor- 

gang;    dieselbe  als  Parabel. 

Das  Undenkbare  jener 'pltf  tauchen  Entrttekungen  Jesu 
auf  den  Tempel  und  Berg  hat  schon  einige  der  alten  Er« 
klarer  auf  die  Ansicht  gebracht ,  dafs  wenigstens  die  Lo- 
eale  der  «weisen  und  dritten  Versuchung  nicht  leiblich 
und  äußerlich,  sondern  bloCs  im  Gesichte,  Jesu  gegen- 
wärtig gewesen  seien  *) ;  wogegen  Neuere ,  welchen  Über* 
haupt  die  äufseriioh  sichtbare  Teufelserscheinung  anstöCug 
war,  die  ganse  Verhandlung  mit  demselben  gleich  von  An« 
fang  in  das  Innere  der  Seele  Jesu  hinein  verlegten.  Dabei 
fassen  sie  entweder  auch  das  40t£gige  Fasten  als  blofs  in« 
nere  Vorstellung  auf*)*  was  aber  wegen  der  ganz  histo- 
risch lautenden  Angabe:  vqgevoag  tydQCcQ  T&wctQaxavta 
vgeQOv  ir&lvaoe,  die  unerlaubteste  Willkür  ist;  oder  mau 
nimmt  es  als  wirkliche  Thatsache:  wobei  dann  för  diesen 
Zug  die  im  vorigen  $•  erwähnten  nicht  geringen  Schwio* 


1)  Theodor  von  Mopsvestla  a.  a.  O.   S,  107«  behauptete  gegen 

Julian ,    yavxaölav    oqh$    to*    tfuißalor    ntnoupet-rai ,    und    nach  dem 

Verfasser  des  schon  angeführten  Sermo  de  jejunio  et  tenta- 
tionibus  Christi  ging  die  erste  Versuchung  zwar  tocaHter  in 
deserio  vor,  auf  dem  Tempel  und  Berg  aber  war  Jesus  nur 
so ,  wie  Ezechicl  vom  Cbaboras  aus  zu  Jerusalem ,  nämlich 
in  spiritm 

2)  fAUius,  S.  379. 


473  Zweiter  Abschnitt. 

rigkelten  stehen  bleiben.     Jenes  innere  Anschsnen  nd 
Vorstellen  der  Versuchungen   verlegen  die  Einen  in  eines 
Znstand  ekstatischer  Vision,  fflr  welche  man  den  Obern* 
tfirlichen  Ursprung  beibehalten,  nnd  sie  entweder  von  Gott, 
oder  von  der  Einwirkung  des  Kelchs  der  Finsternib*)  ab- 
leiten kann ;  Andre  fassen  die  Vision  mehr  als  traumartig, 
nnd  suchen  demgemäfs  einen  natürlichen  Grund  för  die- 
selbe in  den  Gedanken ,    mit  welchen  Jesus  wachend  um- 
gegangen war  *).    In  der  erhöhten  Stimmung  —  so  wird 
hier  die  Sache  vorgestellt  —   in  welcher  sich  Jesus  noch 
von   der  Scene  bei   seiner  Taufe  her  befand,  durchdenkt 
er  in  der  Einsamkeit  noch   einmal   seinen  messianischeo 
Plan,    nnd  hält  sich  neben  den  wahren  Mitteln  su  dessen 
Ausführung  auch  die  möglichen  Gegensätze  vor:  Ueber* 
treibung  des   Wunderglaubens  und   Herrsohsnoht ,  durch 
welche  der  Mensch   nach   jadischer  Denkart  aus   einen 
Rttstneuge  Gottes  ein  Vollstrecker  der  Plane  des  Teufels 
wurde.    Indem  er  sich  solchen  Gedanken  fiberl&fst,  unter- 
liegt- sein  feihorganisirter  Körper  der  Anspannung :  er  ver- 
sinkt auf  einige  Zeit  in  tiefe  Ermattung,   nnd  hierauf  in 
einen   traumartigen   Zustand,   in  welchem   sein  Geist  die 
vorigen  Gedanken   unwissend  in  redende  and   handelnde 
Gestalten  umschafft. 

Fflr  diese  Verlegung  des  ganzen  Vorgangs  in  das  In- 
nere Jesu  glauben  die  Erklftrer  einige  Züge  der  evangeli- 
schen Erzählung  selbst  anfahren  nu  können.  Das  dvrjxfy 
dg  %rpf  Hqrjfiov  vno  tS  mev/ucczos  bei  Matthäus,  noch  mehr 
das  tjyero  iv  ?q>  Ttvev^iari  bei  Lukas,  sei  doch  ganz  ent- 
sprechend den  Formeln :  iysv6/Lnp>  iv  Ttvev/jari,  Offenb.  l,lti*> 
anqreyxi  fie  dg  ÜQijfiiw'iv  Tcvevfiiau,  ebend.  17,  3«,  und  fihn- 


3)  Jenes  H.  Farmer»  bei  Grats,  Comm.  zum  Ev.  Matth.,  1» 
S.  217;  dieses  Olshausrn  z.  d.  St.,  aueh  Hornumr  (S.  326  fj* 
wenn  ich  ihn  recht  verstehe. 

4)  Paulus,  a.  a.  O   S.  377  ff. 


Zweites  Kapital.    {.54.  473 

liehen  bei  Eseehiel ;  de  nun  in  diesen  8tellen  nur  Ten  in- 
nerer Anschauung  die  Rede  sei,  so  könne  aoeh  in  der 
vnsrigen  kein  äufserer  Vorgang  gemeint  sein.  Allein  mit 
Grund  bat  man  dagegen  bemerkt  ')>  dafs*  fene  Formeln  flu? 
sieh  beides  bedeuten  können :  vom  göttlichen  Geist  änfseffc 
lieh  und  wirklieh  wohin  versetst  werden,  wie  A.  6.  8,  St* 
S.Kön.  2,  16  ;  oder  nur  innerlich  und  visionär,  wie  in 
den  angefahrten  Stellen  der  Apokalypse:  swisohen  beiden 
mögliehen  Dentangen  müsse  der  Znsammenhang  entschei- 
den* Dieser  entscheide  nnn  allerdings  in  einem  dnrch 
und  dnrch  visionären  Boche,  wie  die  Apokalypse  nnd  Ene- 
chiel,  Dir  einen  blofo  inneren  Vorgang;  in  einem  ge- 
schichtlichen Werke  aber,  wie  unsere  Kvaogeiien,  ffir  ei« 
neir  fiufseren.  Träume  ohnehin,  aber  auch  Visionen,  wer- 
den in  den  historischen  Büchern  des  N.  T.  immer  dnrch 
ansdrflckliche  Bemerkungen  als  solche  angeköndigt:  nnd 
so  mttCste  es  anch  an  unserer  Stelle  entweder  eldsv  iv  ooov 
pari,  iv  ixgdoei,  heiften,  wie  A.C.  9,  12.  10,  ID.,  oder 
iyavrj  avuji  *ar'  oyccq,  wie  Matth.  1,  20.  2,  13.  Nament- 
lich aber,  wenn  ein  Traum  ernäblt  werden  sollte,  möfste 
der  Uebergang  aus  demselben  su  dem  weitem  Verlaufe 
der  wirklichen  Geschichte ,  wie  Matth.  1,  24.  2,  14.  21., 
durch  ein  dieyEQfrelg  gemacht  sein ;  wodurch ,  wie  Paulus 
sehr  wahr  bemerkt,  die  Verfasser  den  Eiegeten  grofse 
Mähe  erspart  haben  worden.  Ueberdiefs  ist  gegen  die 
Auffassung  des  Vorgangs  als  Ekstase  nicht  ohne  Grund 
eingewendet  worden,  dafs  dergleichen  Zustände  sonst  nicht 
im  Leben  Jesu  vorkommen;  gegen,  die  Annahme  eines 
Traums  aber  diefs,  dafs  Jesus  sonst  nirgends  einen  Traum, 
und  zwar  mit  solchem  Gewichte,  wieder  ersählt  habe  6J. 


5)  Fjutzschs,  in  Matth.  155  f. ;    Usnax ,  Beitrag  zur  Erklärung 
der  Versuchungsgeschichte,  a.  a.  O.  S.  774  f. 

6)  Jenes  von  Ullmahk,  über  rie  UnsUndlichkcit  Jesu ,  in  s.  Stu- 
dien, 1,  1;  S.  56;  diese«  von  Ustmj,  a.  a.  O.  S.  775* 


474  Zweiter  Abschnitt. 

Ferner,  was  des  Bewirkende  dieser  Zustünde  betrifft,  &» 
begreift /man  nicht,  an  weichem  Ende  Gott  in  Jesu  die*« 
Vision  erregt  haben  sollte ;  ebensowenig ,  dafs  der  Teufet 
eine  solche,  sumal  in  Christo,  hervorzubringen,  Macht  and 
Befugnifs  gehabt  haben  könne ;  -  bei  der  Annahme  eines 
dnreh  die  eigenen  Gedanken  Jesn  bewirkten  Traumes  aber 
darf  man  namentlich  auf  orthodoxem  Standpunkte  sieht 
vergessen,  dafs  man  dabei  eine  grofse  Gewalt  jener  fair 
sehen  Messiasideen  im  Gemfkthe  Jesn  voraussetzt  7). 

Kann  so  nach  dem  Ergebnifs  der  letzten  Betraehtaag 
die  Versnchnngsgeschichte  nieht  als  innerer  Vorgang  ge- 
nommen werden,  and  nach  dem  früher  Ausgeführten  nicht 
als  übernatürlicher:  so  scheint  nichts  übrig  au  sein,  ab 
dieselbe  als  fiufsere  zwar,  aber  durchaus  natürliche  Bege- 
benheit ansusehen ,  iL  h.  also  den  Versucher  su  einen 
blofsen  Menschen  au  machen.  Nachdem  Johannes  auf  Je» 
sum  als  den  Messias  aufmerksam  gemacht  hatte,  meint  der 
Verf.  der  natürlichen  Gescbiehte  des  Propheten  von  Nasa- 
ret  *),  habe  die  herrschende  Partei  su  Jerusalem  einen  li- 
atigen  Pharisfier  ausgesandt,  der  Jesum  auf  die  Probe 
stellen  sollte,  ob  er  wirklich  messianische  WunderLrlfie 
besftfse,  und  ob  er  nicht  in  das  Interesse  der  Priesterschaft 
su  sieben,  und  su  einer  Unternehmung  gegen  die  Römer 
su  gebrauchen  wfire?  Eine  Fassung  des  diaßoXos,  nit 
welcher  es  auf  würdige  Weise  susammenstimmt,  die  nach 
dessen  Abgang  sur  Erquickung  Jesu  erseheinenden  ayytk* 
von  einer  sich  nähernden  Karawane  mit  Lebensmitteln, 
oder  von  sanften ,  erfrischenden  Winden ,  sn  verstehen  9> 


7)  Ü8TBR1,  S.   776. 

8)  1.  Bd.  S.  542  ff. ,  nach  Hermann  von  der  Hardt,  Baskdow 
u.  A. ;  noch  neuesten*  Kvinöl,  S.  81. 

9)  Erstcrea  in  einer  Abhandlung  in  Hknhs's  n.  Magazin,  4,  2, 
S.  552;  letzteres  in  der  natürlichen  Geschichte  u.  »•  *•»  *» 
3.  591. 


Zweites  Kapitel    9.  54.  475 

Indefe  hat  diese  Ansieht ,  nach  Oshii's  Ausdruck,  ihren 
KrelslAuf  in  der  theologischen  Welt  so  sehr,  schon  vollen* 
det,  dafs  es  überflüssig  ist,  su  ihrer  Widerlegung  ein  Wort 
m  verlieren« 

Wenn  sieh  nach  dem  Bisherigen  die  Versuobongage- 
sehichta,  wie  sie  die  Synoptiker  uns  erschien,  weder  «Is 
iufserer,  noch  als  innerer,  weder  als  Übernatürlicher,  noch 
als  natürlicher  Vorgang  denken  l&fst:,so  folgt  nothwendig 
der  Schlafs :  dieselbe  kann  überhaupt  nicht  so  vorgegangen 
nein,  wie  die  Evangelisten  berichten« 

Der  gelindeste  Aasweg  ist  hiebei  die  Annahme,  dafs 
nwar  wirklieh  Tbatsiehliches  ans  dem  Leben  Jesu  sum 
Grunde  liege,  welches  Jesus  den  Jüngern  erzählt  habe; 
aber  so,  dafs  seine  ErcShlnng  kein  gans  genauer  Abdruck 
des  Factischen  gewesen  sei*  Versuchende  Gedanken,  wel- 
che ihm  entweder  wirklich  während  seines  Aufenthalts  in 
der  Wüste  nach  der  Taufe,  oder  su  verschiedenen  Zeiten 
und  bei  verschiedenen  Gelegenheiten,  vor  die  Seele  getre- 
ten, aber  durch  die  reine  Kraft  seines  Willens  alsbald  nie- 
dergeschlagen worden  seien,  habe  er  naoh  orientalischer 
Denk-  und  Ausdrucksweise  als  teuflische  Versuchungen 
ersühlt,  und  diese  bildliche  Eraählüng  sei  eigentlich  ver- 
standen worden  10).  Die  Haopteinwendung  nwar ,  welche 
gegen  diese  Ansieht  gekehrt  worden  ist,  dafs  sie  die  Un* 
sündlichkeit  Jesu  gefährde 11),  ist,  da  sie  auf  einem  dogma- 
tischen Begriffe  beruht,  für  unsern  kritischen  Standpunkt 
nicht  vorbänden ;  wohl  aber  können  wir  ans  dem  Verlaufe 
der  evangelischen  Geschichte  vorwegnehmen ,  dafs  in  der- 
selben  der  praktische  Verstand  Jesu   durchaus  klar  und 


10)  So  nach  vielen  Vorgängen,  welche  Schmidt,  Kunvöi,  u,  A. 
nachweisen,  Ullmahw,  a.  a.  O.  S.  56 ff. ;  ELuiik,  Leben  Jesu, 
$.  55;    Nbakdkr,  L.  -J.  Chr.,  S.  101  f. 

11)  ScuutiiRKACiiKB ,   üher  den  Lukas  ,   S.J»4.    Ustski,   4.  a.  0. 
'   ß.  777«. 


476  Zweiter  Abschnitt. 

richtig  erscheint;  dieser  aber  müfete  schadhaft  gewesen 
sein ,  wenn  Jesus  au  etwas  der  Art,  wie  die  aweite  Ver- 
suchung bei  Matthäus  ist,  jemals  Lost  empfinden,  and  fast 
ebenso,  wenn  er  auch  nur  darauf  verfallen  konnte,  eins 
Versuchung  verständigerer  Art  seinen  Schälern  unter  die- 
ser  Form  darzustellen.  Zudem  hätte  Jesus  in  einer  sol- 
chen Erzählung  ein  von  einem  redliehen  Lehrer,  wie  er 
sonst  erscheint,  nicht  au  erwartendes,  trübes  Gemisch  von 
Dichtung  und  Wahrheit  aus  seinem  Leben  gegeben ,  na- 
mentlich wenn  man  nicht  annimmt,  die  versuchenden  Ge- 
danken seien  ihm  wirklich  nach  dem  49tägigen  Aufenthalt 
in  der  Wüste  in  Einem  Zuge  aufgestiegen,  sondern  diefs 
noch  nur  Einkleidung  rechnet ;  nimmt  man  dagegen  jene 
Zeitbestimmung  geschichtlich,  so  bleibt  auch  das  vierzig» 
*  tfigige  Fasten  stehen,  und  mit  ihm  einer  der  bedeutendsten 
Anstölse  in  der  Erzählung.  Jedenfalls ,  weifn  Jesus  den 
Innern  Vorgang  einfach  erzählen  wollte,  nur  aber  in  der 
Art,  wie  der  Hebräer  jeden  bösen  Gedanken  durch  einen 
Scblufs  von  der  Wirkung  auf  die  Ursache  dem  Teufel  sn« 
schrieb :  so  war  er  bieduroh  nur  au  der  Wendung  voran- 
lafst,  der  Satan  habe  ihm  diefs  und  das  in  das  Hera  geben 
wollen,'  keineswegs  aber  dazu,  von  einem  personlichen  Auf- 
treten des  Satans  und  einem  Herumreisen  mit  denselben 
uu  reden;  wenn  nicht  neben  oder  statt  der  Absicht  des 
Erzählens  noch  eine  andere,  poetisch  «didaktische,  stattge- 
funden haben  soll. 

Eine  solche  Absicht  hatte  nun  allerdings  Jesus  denfe* 
nigen  zufolge,  nach  welchen  die  Vereuohungsgesehiohte 
von  ihm  als  Parabel  erzählt,  von  den  Jüngern  dagegen 
geschichtlich  verstanden  worden  ist  Dabei  wird  meisten* 
das  Bedenkliche ,  dafs  ein  wirkliches  inneres  Erlebnifi 
Jesu  zum  Grunde  gelegen,  fallen  gelassen  l2) :   nicht  Jeri» 


12)  Wenn  bei  der  Annahme  einer  Parabel  zugleich  etwas  wirk« 
lieh  von  Jesu  Erlebtes  hier  gefunden  wird ,   flicsst  diese  An« 


Zweit*«  Kapital.    $.  54.  477 

selbst  sali  solche  Versuchungen  durchlebt,  sondern  nnr 
seine  Jünger  vor  denselben  su  verwahren  beabsichtigt 
haben,  indem  er  ihnen,  gleichsam  als  ein  Compendium  saes- 
sianiseher  und  apostolischer  Weisheit,  die  drei  Maximen 
einprägen  wollte:  1)  kein  Wander  su  than  su  eigenem 
Vortheiie,  selbst  unter  den  dringendsten  Umständen ;  2)  nie 
in  Hoffnung  auf  außerordentlichen  göttlichen  Beistand 
etwas  Abenteuerliches  su  unternehmen ;  3)  nie,  aueh  wenn 
der  gröfste  Vortheil  dadurch  su  erreichen  wäre,  sich  in 
Gemeinschaft  mit  dem  Bösen  einzulassen  ")•  —  Längst  bat 
atan  gegen  diese  Auffassung  bemerkt,  dafs  die  ErsAhlung 
nicht  leicht  als  Parabel  su  erkennen,  und  die  Belehrung 
schwer  herauszufinden  gewesen  würe  **)•  Gewi/s  wäre, 
was  das  Letstere  betrifft,  namentlich  die  swelte  Versuchung 
ein  wenig  passend  gewähltes  Bild;  doch  die  erstere  Be- 
merkung bleibt  die  Hauptsache.  Warum  diese  Erzählung 
so  gar  nicht  das  Gepräge  einer  Parabel  trage,  das  ist 
neuerlich  dahin  bestimmt  worden,  eine  Parabel  känne  bei 
der  ihr  wesentlichen  geschichtlichen  Form  nur  dadurch 
sich  von  wirklicher  Geschichte  unterscheiden ,  dafs  die  in 
derselben  handelnden  Personen  sich  sogleich  von  selbst  als 
fingirte  kundgeben  '*)•  Diele  ist  aber  dann  der  Fall,  wenn 
die  Personen  entweder  unbestimmt,  als  Allgemeinheiten, 
bezeichnet  sind ,  wie  in  den  GleichniTsreden  Jesu  all  o 
G7%d(*üv,  ßaadevg  u.  dgl. ;    oder  wenn  ihnen  swar  eine  in* 


sieht  mit  der  vorigen  zusammen,  wie  z.  B.  bei  Hase  zu 
sehen  ist. 
13)  J.  E.  C.  Schmidt,  in  seiner  Bibliothek,  1,  1,  S.  60  f. ; 
Scrubikrmachsa,  über  den  Lukas,  S.  54  f. >  Usteri,  über  den 
Täufer  Johannes ,  die  Taufe  und  Versuchung  Christi,  in  den 
theol.  Studien,  2,  3,  S.  456  ff. 

44)  K.  Gh.  L.  Schkidt,  exeg.  Beiträge,  1,  S.  339. 
15)   Has**t,   Bemerkungen  über   die  Ansichten  Ullmajto's  und 
Ustsri's  von  der  Versuchen  gsgesch.,  Studien,  3,  i,  S.  74  f. 


478  •    Zweiter  Abschnitt 

•dividuelle  Bestimmung  gegeben  ist,  aber  eine  solche,  wefche 
nie  als  unhistorische  Personen,  als  Träger  von  Dichtungen, 
kenntlich  macht,  was,  in  Verbindung  mit  den  übrigen  Zl* 
gen  jener  Parabel,  selbst  von  dem  mit  Namen  genanntes 
^/u^aifog  im  Gleiohnifs  vom  reiohen  Manne  gilt»  In  beides 
Rücksichten  kann  ein  sinnlich  Gegenwärtiger  nicht  ab 
Subjeet  einer' Parabel  gebraucht  werden;  denn  ein  solcher 
ist  immer  eine  bestimmte  und  augenscheinlich  historische 
Person«  Also  weder  den  Petrus ,  noch  sonst  einen  seiner 
Jünger,  noch  anch  sich  selbst,  konnte  Jesus  sum  Subjeet 
einer  Gleichnifsrude  machen ;  da  die  eigene  Person  dessen, 
der  eine  solche  vortrügt,  am  unmittelbarsten  su  dea  dabei 
gegenwärtigen  gehört:  und  ebendefswegon  kann  er  die 
Versuchungsgesehiohte,  in  welcher  er  das  Subjeet  ist,  niebt 
als  Parabel  vorgetragen  haben.  Annunebmen  aber,  daft 
die  Parabel  ursprünglich  ein  anderes  Subjeet  gehabt  hebe, 
an  dessen  Stelle  dann  in  der  mündlichen  lieberiiefertug 
Jesus  gesetet  worden  sei ,  gebt  nicht  an ,  weil  die  Ersah- 
lung  auch  als  Parabel  nur  dann  eine  rechte  Bedeutung  hat, 
wenn  der  Messias  das  Subjeet  derselben  ist ie). 

Kann  somit  Jesus  nicht  über  sich  selbst  and  niebt 
über  einen  Andern  eine  solche  Parabel  vorgetragen  heben: 
so  könnte  sie  ja  vielleicht  von  einem  Andern  über  Jena 
gemacht  worden  sein  5  und  so  hat  neuestens  Theile  die 
Versnohungsgesebichte  für  ,  eine  symbolisch  -  parabolische 
Warnung  erklärt,  welche  irgend  ein  Anhänger  Jeso  sor 
Begründung  der  geistig- sittlichen  Ansicht  gegen  die  Haupt- 
momente  der  irdischen  Messiashotfnung  gerichtet  habe17) 
Hiemit  ist  der  tfebergang  auf  den  mythischen  Standpunkt 
gegeben ;  welchen  selbst  su  betreten  der  genannte  Theo- 
loge die  Erafthlung  tbeils  nicht  anschaulich  genug  findet: 
was  sie  doch  in  hohem  Grade  ist;    theile  su  rein:   w«i 


10)  Has«rt,  a.  s.  O.  S.  76. 
17)  Zur  Biographic  Jesu,.  §♦  23« 


Zweites  Kapitel.    §   55.  470 

^falsche  Vorstellungen  von  den  Ältesten  Christengemeinden 
.voraussetzt;  theiis  stehe, die  Bildung  des  Mythos  der  Zeit 
Jesu  su  nahe :  was  auch  gegen  das  frihe  Mifsverständnib 
-der  Parabel  gelten  moTste»  Ltffst  sieh  dagegen  umgekehrt 
nachweisen,  dafs  die  in  Rede  stehende  Erzählung  weniger, 
-wie  es  einer  Parabel  gesternt,  ans  lehrhaften  Gedanken 
•und  deren  bildlicher  Einkleidung,  als  vielmehr  ans  A.  T.- 
•lichen  Stellen  und  Vorbildern  susammengefogt  ist:  so  wer- 
den  wir  nicht  anstehen  dirfan,  sie  geradecn  als  Mythus 
cu  begeiehnen# 

*.    55. 

Die  Versuchungigetchichte  alt  Mythus. 

Der  aus  der  persischen  Religion  als  böses  und  men- 
schenfeindliches Wesen  herfibergekommene  Satan  war  von 
den  Juden,  deren  Partieularismus  alles  Gute  nnd  wahrhaft 
Menschliche  auf  das  israelitische  Volk  beschränkte,  jsum 
besonderen  Widersacher  ihrer  Nation,  und  damit  »um 
Herrn  der  ihnen  feindlichen  Heidenvölker  gemaebt  wor- 
den ')•  Wurden  nnn  die  Interessen  des  Jüdischen  Volks 
in  der  Person  des  Messias  vereinigt:  so  war  es  natürlich, 
dafs  der  Satan  namentlich  als  Gegner  des  Messias  aufge* 
fafst  wurde;  wie  denn  auch  im  N.  T.  mit  der  Vorstel- 
lung, dafs  Jesus  der  Messias  sei,  sich  überall  die  vom  Sa* 
tan  als  dem  Gegner  seiner  Person  und  Sache  verbindet. 
Wie  Christus  defrwegen  erschienen  ist,  um  die  Werke  des 
Teufels  so  serstdren  (l.Joh.  3,  8.):  **>  ergreift  nnn  dMser 


1)  Vergt.  Zachar.  3,  i ,  wo  dem  vor  Jehova's  Engel  stehenden 
Hohenpriester  Satan  widersteht;  ferner  Vajikra  rahha  f.  151, 
1.  (bei  Bkrtholdt  ,  Chris  toi.  Jud.  S.  183. ):  wo  nach  Rabbi 
Jochanan  Jehova  zum  HICH  "UOO  (d.  b.  zum  Satan,  vergl. 
Hebr.  2,  14.  und  Lishtfoot  ,  horae ,  p.  1088. )  spricht :  feti 
qutdem  te  xoa/uoxQtlroQo ,  nt  vero  cum  poputo  foederis  negotium 
nuüa  in  re  tibi  est. 


480   X  Zweiter  Abschnitt. 

jede  Gelegenheit,  am  unter  Ben  guten  Samen,  welchen  des 
Menschen  Sohn  ausstreut,  Unkraut  su  säen  (Matth.  13,39.), 
und  tritt  sowohl  Jesum  selbst  an,  ob  er  nicht  Meister  Aber 
ihn  werden  könne  (Job.  14,30.))  als  er  auch  seinen  Gläu- 
bigen beständig  zusetzt  (Ephes.  6,  11.  1.  Petr.  5,  8.>  In* 
dem  die  Angriffe  des  Teufels  auf  die  Frommen  nichts  An- 
ders als  Versuche  sind,  ob  er  nicht  den  einen  oder  an- 
dern in  seine  Gewalt  bekommen,  d.  b.  cum  Sündigen  be- 
wegen könne  (Lue.  22,  31.)?  diese  Probe  aber  nicht  an- 
ders gemacht  werden  kann ,  als  durch  mittelbares  Veran- 
lassen oder  unmittelbares  Eingeben  böser,  verführerischer 
Gedanken:  so  war  damit  der  Satan  als  Versucher,  als  o 
<?t€iQa£w9  aufgefafst.  Mittelbar,  durch  Verhängong  von 
Plagen  und  Unglück,  sucht  er  im  Prologe  des  Hiob  den 
Frommen  von  Gott  abzuziehen ;  als  unmittelbare  diabolisch« 
Einflüsterung  aber  wurde  frühzeitig  der  verführerische 
Ratbschlag  aufgefafst,  welchen  nach  1.  Mos.  3.  die  Schlange 
den  ersten  Menschen  gab  (Weish.  2,  24.  Job.  8,  ü 
Offenb.  12,  9.)- 

Der  Begriff  des  Versuchens  (HI-0,   LXX:  mtQafyiv) 

war  dem  älteren  Hebraismus  in  Bezug  auf  Gott  selbst  ge- 
läufig, welcher  seine  Lieblinge,  wie  Abraham  (I.Mo*. 
22,  1.)  und  das  Volk  Israel  (2.  Mos.  16,  4.  u.  sonst) ,  auf 
die  Probe  stellte,  oder  auch  im  gerechten  Zorne  die  Men- 
schen su  unheilbringenden  Handlungen  reizte  (2.  San« 
24,  1.).  Nachdem  sich  aber  die  Vorstellung  des  Satans 
ausgebildet  hatte,  wurde  dieselbe  benutzt,  um  das  Versu- 
chen, welches,  wie  man  nachgerade  zu  bemerken  anfing, 
mit  Gottes  absoluter  Güte  sich  nicht  vertrug  (s.  Jac.  1, 
13.),  Gott  abzunehmen  und  auf  den  Satan  zu  flberwälsen» 
Daher  ist  es  nun  dieser,  welcher  bei  Gott  die  Erlaubnis 
auswirkt,  den  Hiob  durch  Leiden  auf  die  gefährlichste 
Probe  zu  stellen;  daher  ist  der  strafbare  Gedanke  Davids, 
das  Volk  su  zählen,  welcher  im  zweiten  Buch  Samneis 
noch  vom  Zorne  Gottes  hergeleitet  war,  in  der  späteren 


Zweites  Kapitel.    $.55.  N    481 

Chronik  (1.  Chr.  22,  1«)  geradezu  auf  Rechnung  des  Ten* 
fels  geschrieben,  and  selbst  die  gutgemeinte  Versuchung, 
welche  der  Genesis  enfolge  Gott  mit  Abraham  vornahm, 
als  er  die  Opferung  des  Sohnes  von  ihm  forderte,  war 
nach  späterer  jfidischer  Ansicht  auf  Anstiften  des  Satans 
von  Gott  vorgenommen  *).  Ja  aneh  diefs  genügte  nicht, 
sondern  es  wurden  Seenen  erdacht,  wie  der  Teufel  dem 
Abraham  bei  seinem  Hinausgang  nur  Opferung  persönlich 
mit  einer  Versuchung  in  den  Weg  getreten  sein ,  und  wie 
er  das  Volk  Israel  in  Abwesenheit  des  Moses  versucht  ha» 
ben  sollte  *). 

Waren  so  die  vornehmsten  Frommen  des  hebrftisehen 
Alterthums,  war  das  Volk  Israel  selbst,  nach  der  frftberen 
Ansicht  von  Gott,  nach  der  späteren  vom  Teufel,  versucht 
worden :  was  lag  näher,  als  die  Vorstellung,  dafs  vor  Alien 
an  den  Messias,  das  Haupt  aller  Gerechten  und  den  Re- 
präsentanten und  Vorkämpfer  des  Volks  Gottes,  der  Satan 
eich  wagen  werde,  Jim  ihn   eu  fallen4,)?   wie  wir  diefs 


2)  s.  die  von  Fasaxcius  Cod.  pseudepigr.  V.  T.  p.  595.  aus  Ge- 
mara  Sanhedrin  angeführte  Stelle. 

S)  Ebendat.  p.  396.  Als  Abraham  hinzog,  um  dem  Befehle  Je- 
hova's  gemäss  seinen  Sohn  zu  opfern ,  anteverttt  eum  Sata- 
na* in  via,  et  taÜ  coltogwto  eum  ipso  habito  a  proposito  aver- 
tere  eum  conatus  est  etc.  S chemo th  fU  41  (  bei  WsTSTsnr  z. 
d.  St.  d.  Matth.):  Cum  Moses  in  altum  adscenderet,  dtssit 
Israeli:  post  dies  XL  hora  sexta  redibo.  Cum  autem  XL  ilä 
dies  elapsi  essent,  venit  Satanas',  et  turbavit  mundum,  dixit- 
que:  übt  est  Moses,  magtster  vettert  mortuus  est  Bemer- 
kenswert}! ist,  dass  auch  hier  die  Versuchung  nach  Ablauf 
von  40  Tagen  eintritt. 

4)  So  Fmtzschb,  in  Matth.  S.  173-  Treffend  derselbe  schon  in 
der  Ueberschrift  S.  154 :  Quod  in  vulgart  Judaeorum  opinione 
erat,  fore,  ut  Satanas  sahäartbus  Messtae  eonstliis  omni  mo- 
do,  sed  sine  effectu  tarnen,  nocere  studeret,  id  ipsum  Jesu 

.  Messias  accidit   Nam  quam  ts  ad  esemphtm  iiiustrium  ma- 

Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  1.  Band.  31 


432  Zweiter  Abschnitt« 

wirklich  als  rabbinisehe  Meinung  Angedeutet  finden  *),  and 
Bwar  nach  der  sinnlichen  Vorsteiiungsweise  des  späteres 
Judenthums  in  einer  leibhaften  Erscheinung-  and  einen 
persönlichen  Zwiegespräch. 

Fragte  es  sich  nm,  den  Ort,  wo  der  Satan  mathmafi- 
iieb  eine  solche  Versuchung  mit  dem  Messias  vornehmes 
werde:  so  bot  sich  von  mehr  als  Einer  Seite  die  Wüste 
dar.  Nioht  nur  ist  sie  von  Asasei  (3.  Mos.  16*,  8. 10.)  ood 
Asmodi  ( Tob.  8,  3. )  bis  eu  den  von  Jesu  ausgetriebenen 
Dämonen  herunter  (Matth.  12,  ,43.)  der  sehavderhafa 
Wohnplatz  der  höllischen  Mächte :  sondern  die  Waste  war 
auch  das  Local ,  in  welchem  das  Volk  Israel ,  dieser  filius 
Dei  cottectivus,  versucht  worden  war  *).  Dazu  kam,  dafs 
Jesus  selbst  es  liebte,  zu  stiller  Betrachtung  und  Gebet  eich 
bisweilen  an  einsame  Orte  zurückzuziehen  (Matth.  14,  1£ 
Marc.  1,  35.    Lue.  6,  12.    Joh.  6, 15.);  wozu  er  sich  nach 

jurum  quadraginta  dierum  in  deserto  loco  egtsset  jejwihah 

Satanas  cum  conventt,  proterutsque  atque  imptis eosrf- 

liis  ad  tmpietatem  deducere  frustra  conatus  est. 

5)  Schöttgen,  horae,  2,  538,  führt  nach   Fini  flagellum  Judaeo- 
ritm,  3,  35.  eine  Stelle  aus  Pesikta  an:  AU  Satan:  Domtue, 

*  permitte  me  tentare  Measfam  et  ejus  generattenem.  Ctä  in- 
quit  Dens:  tum  höheres  ullam  adversus  eum  potestatem.  Sa- 
tan Herum  att:  sine  me,  qtda  potestatem  haöeo.  Beapondit 
Dens:  st  in  hoe  dtutius  perseveraMs,  Satan,  poftui  (te)  de 
mundo  perdam ,  quam  aliquant  antnuan  generattonts  Messiac 
perdi  permtttam.  Diese  Stelle  beweist  wenigstens,  das*  eine 
vom  Teufel  gegen  den  Messias  zu  unternehmende  Versuchung 
dem  jüdischen  Vorstellungskreise  nicht  fremd  war.  Liess  der 
Urheber  der  angeführten  Stelle  dem  Satan,  wie  es  scheint, 
sein  Gesuch  abgeschlagen  werden,  so  werden  es  Andere,  dt 
die  Vorstellung  einmal  angeregt  w^r,  gewiss  haben  in  Er- 
füllung gehen  lassen. 

6)  5.  Mos.  8,  2(LXX)  wird  das  Volk  so  angeredet:  pvqo&fa  **- 
aar  rtpr  odov,  tjv  *jyaY^  at  ^C°*  ®  &cot  a&  T®*°  TeooaQctxogor  hos  i* 
TJj  F(tytu(p,   oTttos  xaxuKJi)  at  xai  ntiftdotj  tu  y   xai    diayyuo&ij  ra  h  *B 


Zweites  Kapitel,    f.  55.  485 

der  Einweihung  8Q  seinem  messiauisehen  Berufe  gana  be» 
sonders  aufgelegt  gefunden  haben  mag.  Es  wäre  demnach* 
wohl  möglich,  dafs  naoh  der  Annahme  einiger  Theologen  *) 
ein  Aufenthalt  Jesu  in  der  Wtiste  nach  der  Taufe  —  na- 
türlich nur  nicht  gerade  ein  40tfigiger  —  cur  geschichtli- 
chen Grundlage  unserer  Eraihlung  gehörte;  obwohl  auch 
ohne  diesen  Anhaltspunkt  nicht  nur  durch  das  eben  Be- 
merkte die  Wahl  des  Orts,  sondern  auch  die  des  Zeitpunkts 
durch  die  Erwägung  sich  erklären  würde,  dals  es  am 
nächsten  liegen  mufste,  den  Messias,  als  einen  andern  Her- 
cules am  Scheidewege,  beim  Eintritt  in  das  reife  Alter  und 
in  das  messianische  Amt  eine  solche  Probe  besteben  zu  lassen« 
Was  aber  sollte  der  Messtat  in  der  Wüste  tbun  ?  Dafs 
auch  der  «weite  Retter,  wie  Moses,  der  erste,  als  er  in 
der  Wüste  auf  dem  Berge  Sinai  war  (2.  Mos.  34,  38. 
5.  Mos.  9,  9.),  die  heilige  Aseese  des  Fastens  über  sich 
genommen  haben  werde,  lag  um  so  nftber,  als  diefc  die 
angemessenste  Einleitung  au  der  ersten,  sieh  an  den  Hun- 
ger knüpfenden  Versuchung  geben  konnte.  Durch  das 
Vorbild  des  Moses,  au  welchem  hier  noch  das  des  Elias 
(1.  Kön.  19,  8.)  kam,  war  auch  die  Zeitdauer  dieses  Fa- 
stens in  der  Wüste  bestimmt ;  denn  auch  sie  hatten  40  Ta- 
ge gefastet;  wie  denn  die  Viersig  auch  sonst  im  hebrfii- 
eohen  Alterthum  als  heilige  Zahl  eine  Rolle  spielt  f).  Na- 
mentlich scheinen  die  40  Tage  der  Versuchung  Jesu,  nach 
Olshauskn's  richtiger  Beobachtung,  im  verkleinerten  Mafs- 
atabe  dasselbe  au  sein,  was  die  40  Prüfungsjahre  des  is- 
raelitischen Volks  in  der  Wüste, 'die  ja  selbst  ein  strafendes 
JNachbild  der  40  Tage  waren,  welche*  die  Kundschafter  im 
Lande  Kanaan  angebracht  hatten  (4.  Mö*>  14, 34.)*  Denn  dals 

7)  Zixslbr,  in  Gablbr's  n.  theoL  Journ.,  6,  S.  201$  Thbilb,  zur 

Biogr.  J.,  $.  23. 
«)  s.  Wbtixb»,  S.  270;  d*  Wim,  Kritik  der  mos.  Geschickte, 

S.  245;  Derselbe  in  Daub's  und  Crsvssa's  Studien,  3,  S.  245} 

v.  Bornnr,  Genesis,  S.  LXUIf* 

•  31* 


484  Zweiter  Abschnitt 


i  der  Versuchung  Jesu  auf  die  Versuchungen)  welche  du 
Volk  in  der  Wüste  an  bestehen  hatte,  gana  besondere  Rfiek- 
ataht  genommen  ist,  neigt  sohon  der  Omstand,  dafs  alle  von 
Satan  gegenüber  von  Jesu  angesogenen  Scbriftstellen  ani 
der  reeapitulirenden  Schilderung  des  Zugs  der  Israeliten, 
5,  Mos.  6.  u,  8.9  genommen  sind«  Auch  der  Apostel  Pao- 
lo« Bihlt  1.  Kor.  10  ,  6  ff.  eine  Reihe  von  Zügen  aus  den 
Benehmen  der  Israeliten  in  der  Wfiste,  sammt  den  von 
Gott  dafür  verhängten  Strafgerichten,  auf,  und  warnt  die 
Christen  vor  einem  ähnlichen  Betragen;  indem ,  wie  er 
V.  0*  und  11.  sagt,  jene  Strafgerichte  über  die  Alten  als 
wrtoi  Ar  die  so  seiner  Zeit,  in  den  %iXrj  tcov  aiiovo/v,  Lc* 
benden,  verhängt  worden  «efen:  wefs wegen,  wer  stehe, 
nusehen  möge ,  dafli  er  nicht  falle.  Schwerlich  war  diefi 
blofs  zufällige  Privatmeinung  des  Apostels,  sondern,  wie. 
überhaupt  das  Mosaische,  so  seheinen  besonders  diese  har- 
ten Prüfungen  des  von  Moses  geführten  Volkes  als  Vorbil- 
der derjenigen  angesehen  worden  au  sein,  welche  in  der 
durch  den  Messias  herbeiaufährenden  Katastrpphe  seines 
Anhängern,  vor  Allen  aber  ihrem  Anführer,  dem  Messias 
selbst,  bevorstünden,  der  hier  in  sofern  als  Antitypus  des 
Volks  erscheint,  als  er  alle  die  Versuchungen,  welchen 
dieses  erlegen  war,  siegreich  bestehen  sollte* 

So  war  also  die  erste  Versuchung  des  Meaaias  dadorch 
num  Voraus  bestimmt,  dafs  das  Volk  Israel  in  der  Wüste 
hauptsächlich  durch  Honger  versucht  worden  war9);  wie 
denn  unter  den  verschiedenen  Versuchungen,  welche  die 
Rabbinen  von  Abraham  eu  erzählen  wissen,  meistens  auch 
der  Hunger  mitaafgezäblt  wird  10).  Dafs  der  Satan  die 
Aufforderung  an  Jesum,  die  Befriedigung  seines  Bedürf- 
nisses, statt  sie  vertrauensvoll  von  Gott  an  erwarten,  auf 


9)  5« Mos.  8,  3*  (Fortsetzung  des  not«  6*  Angeführten):  *ai  w«- 

«axr/  Ot  xal  hkfiayxoi¥rfl4  ae  2.  r.  X. 

10)  8.  Fabhicius,  Cod.  pseudepigr.  V.  T.  p.  398  ff. 


Zweite»  Kapitel    5-55,  4M 

i 
eigenmächtige  Weise  herbeizuführen,  gerade  so  ausdruckt, 

wie  wir  es  bei  den  Evangelisten  lesen,  kann  nioht  Wun- 
der nehmen ,  wenn  man ,  neben  der  steinigen  Oertlicbkejt 
der  Wüste,  bedenkt,  wie  gewöhnlich  für  den  Ersats  ei» 
nes  ginalieh  mangelnden  Gegenstandes  die  Formel  war,  ihn 
aus  Steinen  henroraubriogen  (Matth.  8,  9,  vgl«  Lue.  19, 
40.),  and  wie  namentlich  Stein  und  Brot  einen. auch  sonqt 
geläafigen  Gegensatz  bilden  (Matth.  7,  9.)-  Was  Jesus 
auf  diese  Zornnthong  erwiedert,  ist  ans  demselben  Zusam- 
menhange, welchem  der  ganae  erste  Versncbnngsact  nach- 
gebildet scheint.  Denn  eben  dos  gibt  hier  Jeans  dem  Sa- 
tan cur  Antwort,  was  nach  5.  Mos«  6,  3«  das  Volk  Israel 
daroh  die  Versnchnng  des  Hungers  (die  es  aber  sunfichat 
nicht  bestanden,  sondern  sich  tum  Murren  hatte  verleiten 
lassen),  doch  nachtrSgtich  hatte  lernen  müssen:  namücb, 
ort  tt*  in  äqvqf  non#  Zqceiai  6  uvd-qamot;  x.  r.  X. 

Doch  an  £iner  Versuchung  war  es  nicht  genug.  '  Von 
Abraham  zählten  die  Rabbinen  deren  sehn;  für  eine  dra- 
matische Darstellung  aber,  wie  wir  sie  in  den  Evangelien 
haben,  war  diefs  an  viel,  und  unter  den  niedrigeren  Zah- 
len lag  keine  näher  als  die  heilige  Drei.  Dreimal  riis  sich 
im  Seelenkampf  in  Gethsemane  Jesus  von  seinen  Jüngern 
los  (Matth.  26.);  dreimal  verläognete  Petrus  den  Herrn 
(ebend.),  und  dreimal  stellte  nachher  Jesus  dessen  Liebe 
sn  ihm  in  Frage  (Job,  31.);  auch  in  jener  rabbinisehell 
Stelle,  welche  den  Abraham  durch  den  Teufel  persönlich 
versucht  werden  llfst,  sind  es  drei  Ginge,  die  er  mit 
ihm  macht:  eine  Darstellung,  welche  auch  durch  die  Art, 
wie  ihr  erfolge  zwischen  beiden  Theilen  mit  A.  T.lichen 
Steilen  hin-  und  hergefochten  wird,  der  evangelischen  ver- 
wandt ist  ").    Die  «weite  Versuchung  (nach  Matth.)  war 


11)  Gemara  Saab,  meldet  das  oben  not  3.  Angeführte,  wo  daaa 

das  eolloquium  zwischen  Abraham  and  Satan  ferner  so  lautet: 

1.  Smimas:  Arno*  t**tare  te  (Dmm)  im  laH  r*  oegre  ft- 


t  - 


486  Zweiter  Absebnltt. 

nicht  ebenso  durch 'den  Zusammenhang  mit  dem  Vorkämt 
gangenen  bestimmt,  wie  die  erste;  sie  tritt  daher  abgebro- 
chen auf,  and  die  Auswahl  derselben  kann  anfällig  uad 
willkürlich  erscheinen.  In  Beeng  auf  die  Form  derselben 
mag  «lieft  der  Fall  sein;  aber  ihr  Inhalt  steht  dadurch  mit 
dem  der  vorhergehenden  im  genauen  Zusammenhange,  dab 
auch  er  aus  dem  Benehmen  des  jüdischen  Volks  in  der 
Wüste  genommen  ist.  Diesem  war  5.  Mos*  6,  16.  die  Er- 
mahnung gegeben ,  Gott  nicht  mehr  na  versuchen,  wie  sie 
Ihn  bei  Massa  versucht  hfitten;  eine  Ermahnung,  wdebe 
1.  Kor.  10,  9.  auch  den  Mitgliedern  des  neuen  Bandet, 
doch  mehr  mit  Anspielung  anf  4*  Mos*  21 ,  4  ff.  und  ait 


rast  Eeee  erudiebas  mukös  —  labantem  erigebant  verba  tu 
—  guum  nunc  advenit  ad  te  (Dens  tautet  te  tentans)  wem 
aegre  ferres  (Job   4,  2—5.)? 

Cui  resp.  Abraham  t  ego  in  tntegrttate  mea  ambulo  (ft 
96,  11.). 

2    Satanas:  Annan  titnar  tuus.9  spes  tua  (Job.  4,  6.)' 
Abraham  t  reccrdare  guaeso,  gyfs  est  tusons,  gut  perierii 
(V.  7.)f 

3.  Quare,  guum  vtderet  Satanas,  se  nihil  proficere,  tut 
Abrahamum  sibi  obedtre,  dtxit  ad  tlhim:  et  ad  me  vertun 
furtim  ablatum  est  (V.  12.)*  audivi  —  pecus  futurum  eise  pro 
holocausto  (Gen.  22,  7.)>  *on  atttem  Isaacum. 

Cui  resp.  Abraham*  Haee  est  poena  mendacü,  %t  sttsm 
cum  vera  loguitur,  fufes  ei  nan  habeatur. 

Ich  bin  weit  entfernt,  sn  behaupten,  dass  dleie  rtbbini» 
sehe  Darstellung  das  Vorbild  untrer  Versuchungsgeacbicbt« 
gewesen  sei;  wenn  man  dagegen  von  der  andern  Seite  eben- 
sowenig beweisen  kann,  diu  dergleichen  Darstellungen  sieb 
nur  als  Nachbilder  'der  neutestamentlichen  haben  gestyltes 
können :  so  weist  die  voraussetzt  ich  unabhängige  Entstehung 
so  entsprechender  Ersählungen  bestimmt  genug  darau£fci*t 
wie  leicht  sie  aus  den  gegebenen  Prämissen  sich  vpn  selbst 
bilden  kennten. 


Zweites  Kapitel.    $.  55.  48? 

Beeng  auf  Qhristum ,  gegefttyi  wird.  Auch  au  dieser  be- 
sonders schweren  Sünde  also ,  welcher  das  alte  Volk  Got- 
tes erlegen  war,  muhte  der  Messias  gereist  werden,  um 
durch  seinen  Sieg  über  diesen  Reie  die  Uebertretung  des 
Volkes  gleichsam  got  an  machen.  Nrn  war  aber  bei  dem 
Volke  cjas  als  ixT&iQa&tv  Kvqiov  bezeichnete  Benehmen 
durch  einen  Wassermangel  veranlafst,  und  das  Gott  Ver- 
suchen war  ihr  Murren.  Oiefs  schien  der  späteren  Sage 
jenem  Ausdrucke  nicht  völlig  au  entsprechen;  man  sah 
sieh  nach  etwas  Angemessenerem  um:  und  kaum  konnte  von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  passender  gewfthlt  werden,  als 
wie  wir  es  in  unsrer  Versuchungsgeschichte  finden;  denn 
nichts  kann  in  eigentlicherem  Sinne  Gott  versucht  heifsen, 
als  wenn  auf  so  tollkühne  Weise,  wie  der  Satan  in  seiner 
»weiten  Aufforderung  Jesu  anmuthet,  sein  ausserordentli- 
cher Beistand  in  Anspruch  genommen  wird»  Was  die 
Veranlassung  war,  als  Beispiel  solcher  Vermessenheit  ge- 
rade das  Herabstürzen  vom  Tempel  namhaft  an  machen, 
das  ist  dem  Satan  selbst  in  den  Mund  gelegt.  Es  fiel  n&m« 
lieh  dem  Urheber  dieses  Zugs  der  Sage  als  mögliche  Veiv 
Abrang  au  einer  tollkühnen  Handlung  die  Stelle  Ps.  Ol, 
ltf.  ein»  wo  dem  unter  Jehova's  Schutze  Stehenden,  als 
weichen  er  vorzugsweise  den  Messias  dachte,  vörheifsen 
ist ,  die  Engel  werden  Ihn  auf  den  Händen  tragen ,  damit 
er  seinen  Fufs  an  keinen  Stein  stöbe.  Da  das  atottv  sttI 
%n{Hav  um  das  nQogxoncreiv  au  vermeiden,  auf  ein  Herab« 
stürzen  aus  der  Höhe  au  deuten  schien ,  so  konnte  diefs 
auf  die  Vorstellung  führen,  dafs  der  von  Gott  beschützte 
Messias  sich  unversehrt  von  einer  Höhe  herabstürzen  kön- 
ne. Von  welcher  Höhe?  darüber  konnte  bei  dem  Messias 
nicht  wohl  ein  Zweifel  sein»'  Dem  Frommen ,  und  somit 
auch  ihm,  dem  Haupt  aller  Frommen,  ist  es  ja  nach  Ps« 
15,  1  f.  £4,  3  f.  eigentümlich,  auf  Jehova's  heiligen  Berg 
geben  nnd  an  seiner  geweihten  Stalte  stehen  au  dürfen: 
die  Höhe  des   Tempels  konnte  daher  nach  jener  vermesse- 


4$&  Zweiter  Abschnitt 

nen  Scblufsweise  als  diejenige  angesehen  wtrden,  von  wtl* 
«her  der  Messias  unverletst  sich  hinablassen  könne. 

Die  dritte  Versuchung,  welche  Jesus  besteht ,  die  zur 
Teufelsanbetung,  seheint  nntffr  den  Versuchungen  des  al- 
ten   Volks  Gottes   nicht   vorankommen.    Als  eine  der  ge* 

9 

fährlichsten  Verführungen ,  welchen  die  Israeliten  in  der 
Wüste  unterlegen  waren,  komm{  aber  die  cur  Abgötterei 
vor,  und  auch. der  Apostel  Paulus,  1.  Kor«  10,  7.,  führt 
sie  unter  den  Vorbildern  für  die  Christen  auf.  Diese  Ver- 
'  suchung  wird  nicht  nur  in  einer  oben  angeführten  Stel- 
le 12)  dem  Teufel  als  unmittelbarem  Urheber  sugeschrie- 
ben;  sondern  es  war  in  der  späteren  jüdischen  Vorstel- 
lung Abgötterei  geradezu  zur  Teufelsanbetung  geworden 
(Baruch  4,  7.  1.  Kor.  10,  20.).  Wie  sollte  nun  der  Mes- 
sias nur  Anbetung  des  Teufels  versucht  werden?  Hier 
reichten  sieh  die  Vorstellungen  vom  Messias  als  demjeni- 
gen ,  welcher  als  König  des  jüdischen  Volks  sugleich  siun 
Herrn  der  übrigen  bestimmt  war,  und  vom  Satan,  als  dem 
durch  dea  Messias  an  besiegenden  Beherrscher  der  Hei- 
den well  n),  <li©  Hände.  Die  Weltherrschaft ,  welche  der 
Messias  nach  der  ohristianisfarten  Vorstellung  der  Zeit  durch 
lange,  cum  Theil  leiden  volle  Mühe  su  erringen  hatte,  bot 
ihm  der  Satan  leiohten  Kaufes  an,  wenn  er  ihm  den  Zoll 
der  Anbetung  bringen  wollte.  Dieser  Versuchung  begeg- 
net Jesus  so,  dafs  er  die  Maxime,  Gott  allein  au  dienen, 
welohe  den  Israeliten  5.  Mos.  6,  13.  mit  Besag  auf  ihres 
Fehltritt  eingeschärft  worden  war,  dem  Satan  entgegen- 
hält, und  ihm  damit  sugleich  den  Abschied  gibt. 

Was  hierauf  Matthäus  und  Markus  als  Schlafs  der 
Versuchungsgesohichte  haben,  dafs  Engel  su  Jesu  getre- 
ten seien ,  und  ihn  nach  dem  langen  Fasten  und  der  Ar- 


12)  Anmerkung  1. 

Ji)  Bkrtuoldt,  Christolog.  Judaeorum  Jesu  «etat*,  $.  86«  not  f« 
«ad  2f  Fjutzschs,  Conun.  in  Matth.  S.  169  f. 


Zweites  KapiteL    f.  SS.  48» 

bei!  der  Versuchungen  nie  Nahrungsmitteln  erqulokt  hsw 
ben  :  ist  tbeils  durch  den  Engel  vorgebildet,  welcher  nach 
1.  Kön.  19,  5.  6.  dem  Elia«  vor,  wie  nun  dem  Metsiaa 
nach  dem  40tägigen  Fasten  Speise  gebracht  hatte:  theils 
wurde  ja  auch  das  Manna,  welches  den  Hunger  des  Volke 
in  der  Wflste  stillte ,  aQios  ayyilcap  genannt  (Ps.  78,  25« 
UUL  vergl.  Weisheit  16,  20.)  ")• 


14)  Vergl.  mit  der  gegebenen  Darstellung  die  Im  Ganzen  über- 
einstimmenden Ausführungen  ron  Schmidt,  Fritzscbb,  Utnai 
an  den  $.  50.  not.  1  —  3.  angeführtes  Orten,  und  Ton  de  Witts 
exeg.  Handb«,  I,  1,  8.  41  fL 


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Drittes    Kapitel. 

-fjoca!  und  Chronologie  des  öffentlichen 

Lebens  Jesu. 


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8.    56. 

Differens  zwischen  den  Synoptikern  und  Johannes  Über  den 
gewöhnlichen  Schauplatz  der  Thätigkeit  Jesu. 

Den  Synoptikern  zufolge  hatte  der  swar  in  dem  ja- 
dltischen  Bethlehem  geborene ,    aber   in  dem  galilfiisehen 
Nazaret  aufgewachsene  Jesus  Galilfta  nur   auf  die  knrse 
Zeit  von  seiner  Taufe  bis  cur  Gefangennehmung  des  Tio- 
fers  verlassen ;   begab  sieb  aber  nach  dem  letzteren  Ereif 
nits  alsbald  dahin  zurück,  und  begann  lehrend ,   heilend, 
Jünger  berufend,  seine  Wirksamkeit  in  der  Art,  dafs  er 
ganz  Galiläa  durchreiste,    zum  Behuf  eines   Mittelpunkts 
•einer  ThXtigkeit  aber  seinen  bisherigen  Wohnort  Nasaret 
mit  Kapernaum ,  am   nordwestlichen  Ufer  dea  galilfiisehen 
Sees,  vertauschte  (Matth.  4,  12—25.  parall.).     Von  hier  an 
haben  «war  Markus  und  Lukas  im  Unterschiede  von  Mat- 
thäus manches  Eigentümliche,    und  das  mit  ihm  Gemein- 
same zum  Theil  in  anderer  Ordnung ;  da  sie  jedoch  in  Be- 
zug auf  den  geographischen  Kreis,  welchen  sie  Jesum  be- 
schreiben lassen,  von  Matthfius  nioht  abweichen:  so  ksnn 
die   Darstellung'  dieses  Letzteren    hier   unbedenklich  sam 
Grunde  gelegt  werden.    Ihm  zufolge  gehen  nun  gaiiläische 
und  zum  Theil  bestimmt  in  Kapernaum  vorgefallene  Bege- 
benheiten fort,  bis  8,  18.,  wo  Jesus  über  den  galiiüischen 
See  setzt,  aber,  kaum  am  östlichem  Ufer  gelandet,  wieder 


Drittes  Kapitel,    f.  56.  4M 

nach  Kapernaum  surftckkebrt  (9,  1.).    Hierauf  eine  Reihe 
durch  kurae  Uebergänge,  wie  naoayon  ixtt&ev  (9,  9.  27.)» 
tore  (  V.  14.)  9  zccuta  avva  XalSnog  (V .  18.)  n.  dergl.  ver- 
knüpfter Seenen,  bei  welchen  an  keine  wesentliche  Ort* 
Veränderung,  d.  h.  an  keinen  Wechsel  der  ProvfriB,  der- 
gleichen der  Verfasser  sonst  weit  sorgfältiger  ansuaeigen 
pflegt ,  gedacht  werden  kann;  wie  denn  auch  das:  neqiij- 
yev  6  Itjohs  tag  aoleig  naaag  —  öiddaxwv  eV  tcug  tfwapvn- 
yalg  avtw,  9,  35.,   offenbar  nur  eine  Wiederholung  ist 
von  dem;  xcu  fUQirjyev  ohp  vrp  ralüiala*  6  *hjaSg  diäaa- 
ittav  hß  feig  owaytoyalg  ccvtdiv  4,  23. ,  also  nnr  von  einem 
Umherwandarn  in  Galiläa  an  verstehen.     Die  Botschaft  des 
Täufers  (Kap.  11.)  empfängt  Jesus  nach  dem  Sinne  das  Etf- 
sählers  wahrscheinlich  gleichfalls  in  Galiläa,  da  er  ja  im 
Znsammenhange  mit  derselben  die  Klage  iber  die  galiläi- 
achen  Städte  ausspricht;   bei  dem. Vortrage  der  Parabeln 
(Kap»  13»)  ist  er  am  Meere,  ohne  Zweifel  am  galiläisoheii, 
und  weil  von  seiner  otxia*  die  Rede  ist  (V.  1.),   wah*- 
acheinlich  in  der  Nähe  von  Kaperdaum.    Nachdem  er  hier* 
auf  seine  Vaterstadt  Nacaret  besucht  hat  (IS, 53. ff),  fährt 
er  Q4,  13.)   Aber  den  See,   dem  Lukas  enfelge  (9,  10.) 
nach  der  Gegend  von  Bethsaida  (Julias);  von  wo  er  aber, 
nachdejn  er  die  Speisung  vorgenommen,  alsbald  "wieder  an 
das  westliche  Ufer  sich  aurttckbegibt  (14,  34>    Hierauf 
*ieht  sich  Jesus  in  das  nördlichste,  Ende  des  jüdischen  Lan- 
des, an  die  phönicische  Gränae  hinauf  (15,  21);  bald  aber 
an  den  galiläischen  See  aurfickgekehrt  (V.  29.),  begibt  er 
sich  zp  Schifte  an  das  östliche  Ufer,  in  die  Gegend  von 
Magdala  (V.  39.) ;  sieht  sieh  aber  von  hier  wiederum  nftrd* 
lieh,  in  die  Gegend  von  Cäaarea  PhiJippi  (16,  13.),  in  die 
JNihe  des  Libanon,   unter  dessen   Vorbergen   wohl  auch 
der  Verklärungsberg  (17,  1.)  au-  suchen  ist.    Nachdem  er 
sofort  mit  seinen  Jüngern  noch  einige  Zeit  in  Galiläa  um- 
liergewandert  war  (17,  22.) ,   auch  Kapernaum   noch   ein- 
mal besucht  hatte  (V.  24.),  verläßt  er  Galiläa   (19,  -!.)> 


Zweiter  Abschnitt. 


am  (der  wahrscheinlichsten  Erklärung  infolge)  l)  durek 
Peria  nach  Judäa  zu  reisen  (eine  Reise,  welche  er  nach 
Lac«  9,  52.  durch  Samarien  gemacht  zu  haben  scheint); 
20, 17«  ist  er  auf  der  Reise  nach  Jerusalem ;  V.  29.  kommt 
er  durch  Jericho;  21,  1.  befindet  er  sieh  in  der  Nähe  von 
Jerasalem,  wo  er  V.  10.  einsieht. 

Den  Synoptikern  zufolge  kommt  also  Jesus  von  sei- 
ner Rückkehr  nach  der  Johannestaufe  bis  su  setner  lere* 
ten  .Reise  nach  Jerusalem  über  die  Grinsen  ron  Nordpa- 
lästina nicht  hinaus,  sondern  sieht  in  den  Landschaften 
westlich  und  östlich  Vom  galiläischen  See  und  von  oberen 
Jordan,  in  den  Gebieten  des  Herodes  Antipas  und  de^Phi- 
lippus,  umher,  ohne  Jemals  südlich  Samaria,  noch  weni- 
ger Judäa,  überhaupt  nicht  das  unter  unmittelbarer  römi- 
scher Verwaltung  stehende  Gebiet  zu  berühren.  Und  in- 
nerhalb dieser  Grinsen  ist  es  näher  wiederum  das  Land 
westlich  vom  Jordan  und  vom  See  Tiberias,  also  Galiläa, 
die  Provinz  des  Antipas,  in  welche  vorzugsweise  die  Wirk- 
samkeit Jesu  fällt,  indem  nur  von  drei  kurzen  Absteohem 
auf  das  Östliche  Ufer  des  Sees,  und  zwei,  schwerlich  län- 
geren, an  die  nördlichen  Grunzen  des  Landes,  berichtet 
wird. 

Ganz  anders  wird  der  Schauplatz  der  Wirksamkeit 
Jesu  im  vierten  Evangelium  angegeben.  Auch  hier  »war 
geht  er,  als  er  von  Johannes  getauft  ist,  nach  Galiläa  so 
der  Hochzeit  zu  Kann  (2,  *.) ,  und  von  dort  nach  Kaper- 
naum  (V.  12.) ;  doch  schon  nach  wenigen  Tagen  ruft  ihn 
das  nahe  Paschafest  nach  Jerusalem  (V.  13.)«  Von  Jeru- 
salem begibt  er  sich  in  die  Landschaft  Judäa  (S,  22.))  ten 
wo  er  nach  längerer  Wirksamkeit  (4,  1.)  durch  Samarien 
nach  Galiläa  surüokkahrt  (Y.  430«  Nachdem  von  hier  nur 
•Ine  Wunderheilung  berichtet  ist,  folgt  sogleich  wieder 


I)  Famseas,  p.  591. 


^ 


Drittes  Kapitel.    S  56.  4M 

eine  neue  Festreife  nach  Jerusalem  (5,  1«)»  und  aus  dem 
dortigen  Aufenthalt  werden  eine  Heilang,  Verfolgungen 
und' lungere  Reden  Jesu  gemeldet;  bis  er  (0,  1.)  sich  auf 
das  östliche  Uferland  des  Sees  Tiberias ,  und  von  hier  nach 
Kapernaum  (V.  17.  59.)  begibt:  worauf  er  einige  Zeit  in 
Galiläa  umhersog  (7,  1.}.  Aber  schon  wieder  reist  er 
von  da  sum  Laubhfittenfeste  nach  Jerusalem  (V.  £•  10.)  f 
und  aus  seinem  diesmaligen  Aufenthalte  daselbst  werden 
aas  besonders  viele  Reden  von  ihm  und  Schwankungen 
seiner  Stellung  mitgetheilt  (7,  10—10,  21.),  auch  an  den- 
selben, ohne  einer  Wegreise  aus  Jerusalem  und  Judäa  au 
erwähnen,  unmittelbar  sein  Auftreten  bei  dem  Feste  der 
Tempelweihe  angeknöpft  (10,  22.)*  Nach  diesem  sog  sich 
Jesus  wieder  in  die  Gegend  von  Peräa,  wo  er  suerst  mit 
Johannes  gewesen  war,  surflok  (10,  40),  und  hielt  sich 
einige  Zeit  daselbst  auf,  bis  ihn  der  Tod  des  Lazarus  nach 
Bethanien  bei  Jerusalem  rief  (11,  1. ff);  von  wo  er  sich, 
nach  Ephraim,  in  der  Hübe  der  jadischen  Wüste,  surück« 
s^og  (V.  54.),  bis  das  Paschafest  sich  nahte,  welches  Je- 
ans sofort,  als  sein  letstes,  besuchte  (12,  1.  ff). 

Nach  Johannes  war  also  Jesus  vor  seiner  letzten  Fest- 
reise schon  bei  vier  Festen  in  Jerusalem ,  und  außerdem 
Einmal  in  Bethanien  gewesen,  hatte  ferner  längere  Zeit  in 
4er  Landschaft  Jndäa,  und  auf  der  Durchreise  auch  in 
Samaria,  gewirkt 

Warum  haben  nun,  mofs  man  fragen,  die  Synopti- 
her  diese  üftere  Anwesenheit  Jesu  in  Jerusalem  und  Ju- 
däa  verschwiegen?  warum  die  Sache  so  dargestellt,  als 
wäre  Jesus  vor  seiner  ^etsten,  verhängnisvollen  Reise  nach . 
Jerusalem1  nicht  über  Galiläa  und  Peräa  hinausgekommen! 
Lange  Zeit  freilich  hat  man  in  der  Kirche  diese  Abwei- 
chung der  synoptischen  Darstellung  übersehen,  und  neuer- 
lich dieselbe  sogar  längnen  sn  dürfen  geglaubt.  Allerdings, 
bat  man  gesagt,  verlege  Matthäus  gleich  Anfangs  die  Sce- 
ne  nach  Galiläa  und  Kapernaum,  und  ersähle  fort,  ohne, 


494  Zweiter  Abschnitt. 

bis  auf  die  letzte,  einer  Reise  nach  Jqdäa  zu  gedenken: 
allein  darauf  dürfe  man  nicht  schließen ,  Matthäus  wisse 
nichts  von  einer  froheren  judäischen  Thätigkeit  Jesu;  denn 
da  bei  diesem  Evangelisten  das  locale  Interesee  hinter  den 

• 

Streben  nach  einer  Sachordnung  gänzlich  zurücktrete,  so 
könne  man  nicht  wissen ,  ob  nicht  Manches,  was  er  in 
den  früheren  Theilen  seiner  Schrift  ohne  Ortsangabe  er* 
zähle,  vielleicht  ihm.  selber  wohl  bewufst,  nur  von  ihm 
nicht  erwähnt,  bei  den  früheren  judäischen  Reisen  und 
Aufenthalten  vorgefallen  sei  *)•  Allein  dieses  angebliche 
Zurücktreten  des  localen  Interesses  bei  Matthäus  ist,  wie 
man  neuestene  gründlich  nachgewiesen  hat  *),  nichts  wei- 
ter als  elfte  harmonistische  Flction.  Wenn  Matthäus  so 
sorgfältig  Kap.  4.  den  Anfang  und  Kap.  19.  das  Ende  des 
vorwiegend  gaiiläischen  Aufenthalts  Jesu  angibt:  so  mofs 
doch  wohl  das  dazwischen  Erzählte,  wenn  nicht  beson- 
ders das  Gegentheil  bemerkt  wird,  als  in  Galiläa  vorge- 
fallen betrachtet  werden ;  da  er  es  alsbald  bemerklich  macht, 
wenn  Jesus  nur  auf  kurze  Zeit  über  den  gaiiläischen  Set 
hinüberfuhr,   oder   einen   Zug  nach  der  Nordgränze  des 

Landes  -unternahm :  so  wird  er  doch  nicht  die  bedeutende- 

* 

ren  Reisen  nach  Judäa  und  die  cum  Theil  längeren  Auf- 
enthalte daselbst  mit  Stillschweigen  übergangen  haben , 
wenn  er  etwas  von  denselben  wufste  oder  wissen  wollte« 
Nur  soviel  ist  zuzugeben ,  dafs  die  speoiellsten  Localitäts- 
angaben,  die  Bezeichnungen  der  Orte  und  Ortsgebiete,  in 
welchen  Jesus  wirkte,  bei  Matthäus  nicht  selten  vernach- 
lässigt sich  finden;  in  dem  Allgemeineren  der  Ortsbestim- 
mungen hingegen,  in  der  Angabe  der  palästinischen  Lan- 
destheile  und  Provinzen,  innerhalb  deren  Jesus  wirksam 
war,  will  er  so  genau  sein,  als  irgend  ein  Anderer. 


2)  Olshadsbn,  bibl.  Comm.,  l,  S.  189  f. 

3)  Schnichkhbua*kr,  Beiträge,  S.  38  f  • y  über  den  Ursprung  u.  s.  £ 
S.  7  f . 


Drittel  Kapitel.    $.  56.  495 

Man  wird  sich  daher  bequemen   müssen,   in  diesem 
Stücke  eine  Abweiohnng  «wischen   den  Synoptikern  und 
Johannes  einsurfiumen  *);  wobei  dann,  wer  die  Evangelien 
harmonisiren  zu  müssen  glaubt,  en  verhüten  suchen  mufs, 
dafs  die  Differenz  nicht  'cum  Widerspruche  werde ;    was 
nur  dadurch  geschehen  kann,  dafs  man  versucht ,  jene  Ab- 
weichung nicht  aus  einer  verschiedenen  Ansicht  der  Evan- 
gelisten von  dem  Aufenthalt  Jesu,   sondern,   bei  Voraus- 
setzung der  gleichen  Ansicht,   aus  verschiedener  Absicht 
sn  erklären.    Da  nehmen  nun  die  Einen  an,  dem  Matthäus 
als  Oalilfier  sei  das  GalilJEisohe  das  Nächste  gewesen,    und 
defswegen  habe  er,  obwohl  aueh  der  jerusalemischen  Wirk- 
samkeit Jesu  •  kundig ,   doch  nur  auf .  die  Darstellung  von 
jenem  sich  beschränkt  *).    Allein  welcher  Biograph,  der, 
unerachtet  er  seinen  Helden  selbst  in  verschiedene  Provin- 
zen begleitet,  und  ihn  in  denselben  hatte  wirken  gesehen, 
doeh  nur  das  von  ihm  erzählte,   was  er  gerade  in  seiner, 
des  Biographen,  Heimath  verrichtet  hatte!   Schwerlich  ist 
eine  solche  provincieile  Bornirtheit  jemals  vorgekommen. 
Daher  haben  Andere  die  Annahme  vorgezogen,   dafs  Mat- 
thäus, zu  Jerusalem  schreibend,   aus  der  ihm  vollständig 
bekannten  Masse  der  Reden  und  Thaten  Jesu  vornehmlich 
nur  die  galiläischen  herausgehoben  habe ,  weil  das  in  dem ' 
entfernteren  Galiläa  Geschehene  zu  Jerusalem  weniger  be- 
kannt war,  und  also  eher  erzählt  zu  werden  brauchte,  als 
das,  was,  in  und  bei  Jerusalem  vorgegangen,   allen  da- 
selbst Wohnenden   noch  in  frischer  Erinnerung  stand  *)• 
Doch  hiegegen  ist  bereits  von  Andern  1)  bemerkt  worden, 
wie   unerwiesen  die  specielle  Bestimmung  des  Matthäus» 


4)  db  Wim,  Einleitung  in  das  N.  T.,  $.  98  u.  106. 

5)  Paulus,  exeg.  Handb.,  1,  a,  S.  39. 

6)  Gubrikb,  Beiträge  zur  Einleitung  in  das  N.  T.,  S.  33 ;    Tho 
luck,  Glaubwürdigkeit,  S.  305. 

7)  Schhbckbkburmr,  über  den  Ursprung  u.  «.  w.,  S.  9. 


•  <• 


496  Zweiter  Abschnitt. 

evangeliums  fttr  jud&ische  und  jerusalemische  Christen  sei; 
dafs  aber,  diese  selbst  vorausgesetzt,  doeb  eine  genaue 
Hinweisung  auch  auf  das  in  der  Heimath  der  Leser  Ge» 
sehehene  keineswegs  fiberfltissig  hätte  erscheinen  können; 
und  dafs  endlich  (was  auch  gegen  den  vorletaten  Erkli- 
rungs versuch  gilt)  die  gleiche  Beschränkung  Jesu  auf  6a* 
liläa  bei  Markus  und  Lukas  sich  hieraus  nicht  erkläre* 
lasse,  da  ja  diese  augenscheinlich  nicht  blofs  ffir  Judas 
schrieben  (noch  auch,  nach  jener  Erklärung,  Galiiäer  wa- 
ren), und  eu  Matthäus  nioht  in  solchem  Abhängigkeit*  Ver» 
hältnifs  standen ,  dafs  sie  nicht  im  Stande  gewesen  waren, 
Aber  die  von  diesem  gesogene  Gräneeduroh  eigentümliche 
Nachrichten  hinauszugehen.  Das  Schönste  aber  ist,  dab 
diese  ewei  Arten,  den  Widerspruch  «wischen  Johannes 
und  den  Synoptikern  cu  lösen,  sich  selbst  gegenseitig  durch 
Widerspruch  auflösen.  Denn  wenn  nach  der  einen  An- 
nahme Matthäus  wegen  der  Mähe,  nach  der  andern  we- 
gen der  Entfernung  von  dem  jud&ischen  Schauplätze  das 
auf  diesem  Vorgefallene  soll  verschwiegen  haben:  so  selgt 
die  Erscheinung,  dafs  man  cur  Erklärung  eines  und  des- 
selben Umstände  gleich  gut  swei  entgegengesetzte  Hypothe- 
sen machen  kann,  dafs  beide  sich  gleich  schlecht  das* 
eignen. 

Wenn  hienach  derjenige  Versuch,  die  bezeichnete  Dif- 
.ferens  au  lösen,  welcher  blofs  auf  die  örtlichen  Verhält- 
nisse der  Verfasser  Rücksicht  nimmt,  nicht  ausreicht:  so 
mub  höher  hinaufgestiegen,  und  auch  Geist  und  Zweck 
der  evangelischen  Sehriften  in  Rechnung  genommen  wer- 
den. Von  diesem  Standpunkt  aus  hat  man  den  Sata  auf- 
gestellt; dasselbe,  was  den  Unterschied  im  Gehalte  «wi- 
schen dem  jobanneisohen  Evangelium  und  den  synoptischen 
begründe,  liege  auch  ihrer  Abweichung  in  Hinaicht  auf 
den  Umfang  cum  Grunde ;  d.  h.  weil  die  jerusalemischen 
Reden  Jesu,  welche  uns  Johannes  berichtet,  um  verstan- 
den au  werden ,  eine  höhere  Entwicklung  des  Christen- 


Drittes  KapiteL    $.56.  497 

tbums,  aU  sie  in  der  ersten  apostolischen  Zeit  gegeben 
war,  erfordert  haben,  so  sei  drfs  frühere  Jeuusalemische 
aas  der  ursprünglichen.  Evangelientradition,  als  deren  Or- 
gane die  Synoptiker  schrieben ,  aasgeschlossen  geblieben, 
und  erst  von  dem  später  schreibenden  Jobannes  eu  einer 
Zeit,  in  weicher  jene  Entwicklung  schon  zum  Theil  vor 
•ich  gegangen  war,  nachgeholt  worden  *)•  Allein  auch 
dieser  Lösungsversuch  reicht  nicht  aus.  Denn  wie  sollte 
doch  das  Populäre  und  das  Esoterische  in  den  Vorträgen 
Jesu  so  eigen  sich  vertheilt  haben,  dafs  jenes  durchaas 
nur  nach  Galiläa,  dieses,  mit  alleiniger  Ausnahme  der  har- 
ten Rede  in  der  Synagoge  ca  Kapernaam,  ausschließlich 
nach  Jerusalem  gefallen  wäre?  Man  könnte  sagen:  in  Je- 
rusalem hatte  er  ein  gebildeteres  Publicum  vor  sich  als  in 
Galiläa,  das  ihn  eher  fassen  konnte.  Allein  übler  konn- 
ten ihn  unmöglich  die  Galiläer  mifsverstehen,  als  ihn  nach 
Johannes  Berichte  die  Judäer  durchaus  mifs verstanden ; 
und  da  in  Galiläa  Jesus  am  ungestörtesten  mit  seinen  Jün- 
gern zusammen  war,  sollte  man  eben  hier  den  Sita  seines 
tieferen  Unterrichts  vermathen.  Ueberdiefs,  da  aus  dem 
lotsten  jerusalemischen  Aufenthalte  Jesn  die  Synoptiker 
eine  reiche  Lese  allgemein  verständlicher  Reden  desselben 
eu  geben  wissen :  so  können  die  früheren  nicht  gau*  leer 
von  dergleichen  gewesen  sein;  es  müfsten  denn  die  Untef» 
baltungen  Jesu  bei  den  früheren  Festaufenthalten  sieh 
durchaus  höher  gehalten  haben,  als  die  während  des  letz- 
ten, wovon  sich  schlechterdings  kein  Grund  denken  lä ist. 
Doch,  auch  angenommen,  deft  alle  früheren  judäischen 
und  jerusalemischen  Reden  Jesu  für  die  Zwecke  der  er- 
sten apostolischen  Ueberlieferang  cu  hoch  gewesen  wären: 


8)  Kern,  über  den  Ursprung  des  Evang.  Matthai,  in  der  Tübin- 
ger Zeitschrift,  1854,  2tes  Heft,  S.  198 ff.  Vergl.  Hue,  Ein- 
leit.  in  d.  N.  T.,  2,  S.  205  ff.  (5te  Ausg.). 

Das  Lebern  Jesu  Ite  Aufl.  L  Band.  32 


408  Zweiter  Abschnitt. 

so  gnb  es  ja  auch  Thaten  von  dort  cu  ersfthlen,  wie  tis 
Heilung  deg  3Sjtihrigen  Kranken,  des  Blindgeborenen,  die 
Auferweckung  des  Lazarus:  welche  durch  die  Wichtigkeil, 
die  sie  von  jeher  ftr  die  Verkündigung  des  Christenthoou 
hatten,  fast  nttthigen  mnfsten,  der  frfihefen  judffisches 
Aufenthalte  Jesu,  in  welche  sie  fielen,  Erwähnung  so  thun. 

Auf  keine  Weise  also  Iffftt  es  sich  erklXren.  wie  die 
Synoptiker,  wenn  sie  von  früheren  Reisen  Jesu  nach  Je- 
rusalem wufsten,  dieselben  nicht  erwähnt  haben  sollten, 
und  man  mufs  sagen:  hat  Johannes  Recht,  so  wissen  die 
drei  ersten  Evangelisten  von  einem  wesentlichen  Theile  der 
froheren  Wirksamkeit  Jesu  nichts;  haben  aber  diese  Recht, 
so  hat  der  Verfasser  des  vierten  Evangeliums,  oder,  wenn 
er  einer  8age  folgte,  diese,  einen  grofsen  Theil  des  von 
ihm  ersfihlten  Wirkens  Jesu  wenigstens  in  eine  falsche 
*  Localitfit  verlegt 

Näher  angesehen  indefs  verhalten  sich  Johannes  md 
die  Synoptiker  nicht  blofs  so,  dafs  diese  etwas  nicht  wfib- 
ten,  was  jener  berichtet;  sondern  ihr  Verhfiltnifs  ist  der 
Art,  dafs  sie  von  positiv  entgegengesetzten  Annahmen  aus- 
gehen. Wie  nänilich  die  Synoptiker  und  besonders  Mat- 
thäus, so  oft  Jesus,  seit  er  sich  einmal  nach  des  Tiefere 
Verhaftung  dort  ansässig  gemacht  hatte,  Galiläa  verllbt, 
selten  versäumen,  einen  besondern  Grund  davon  ansage- 
ben ;  sei  es ,  dafs  er  dem  Volksandrange  durch  eine  Ueber- 
fahrt  über  den  See  habe  entgehen  wollen  (Matth.  8,  18.), 
oder  vor  den  Nachstellungen  des  Herodes  in  die  jenseitige 
Wüste  sioh  eorückgeeogen  habe  (14,  13.),  oder  dafs  er 
wegen  des  Anstofses,  welchen  die  Schriftgelehrten  an  sei- 
nen Reden  genommen ,  in  die  Gegend  ton  Tyrus  und  Si* 
don  entwichen  sei  (15,  21.):  ^o  finden  wir  umgekehrt  bei 
Johannes  gewöhnlich  einen  besonderen  Grund  dafür  ange- 
geben, dafs  Jesus  Jodtia  verlflfst,  und  sich  nach  GaliU* 
zurücksieht.  Will  man  auch  nicht  behaupten,  dafs  gleich 
'  Heine  erste  Reise  dahin  nach  der  Taufe  nur  durch  die  Ein- 


i 


Drittes  Kapitel.    $.  56.  499 

ladung  nach  Kana  motivlrt  erscheine:  so  Ist  doch  davon, 
dafc  Jesus  naoh  dem  ersten  Pascha,  das  er  seit  seinem  öf- 
fentlichen Auftritt  in  Jerusalem  zugebracht,  wieder  nach 
Galiläa  geht,  als  Grand  ausdrücklich  die  gefährliche  Auf- 
merksamkeit angegeben,  welche  die  wachsende  Zahl  seiner 
Anhänger  bei  den  Pharisäern  erregt  hatte  (4,  l.ff.);  auch 
dafa  er  4icb  nach,  dem  zweiten  von  ihm  besuchten  Feste  in 
die  Gegend  östlich  vom  See  Tiberia*  zurückzieht  (6,  l.)j 
mufs  wohl  ebenso  zu  dem  i'Qrjv&v  avtov  oi  ^Isdaioi  aTCOxcet- 
vat  (5,  18.)  in  Beeng  gesetzt  werden,  als  gleich  darauf 
fflr  Jesu  Wandel  in  Galiläa  der  Grund  angegeben  wird, 
da(s  ihm  der  Aufenthalt  in  Judäa  wegen  der  Nachstellun- 
gen seiner  Feinde  lebensgefährlich  gewesen  (7,  1.).  Zwi- 
schen dem  folgenden  Laubhütten-  und  dem  Enkjtnienfeste 
(10,  22.)  scheint  es,  wie  wenn  Jesus,  weil  diefsmal  keine 
ungünstigen  Umstände  ihn  zur  Entfernung  nöthigten,  die 
dazwischenliegenden  Monate  in  der  Hauptstadt  geblieben 
wäre  *) ;  ohnehin  stellen  sich  die  Zöge  nach  Peräa  (10, 40.) 
und  Ephraim  (11,  54.)  als  solche  dar,  su  welchen  Jesus 
nur  durch  die  Rücksicht  auf  die  Verfolgungen  seiner  Fein« 
de  genöthigt  gewesen. 

Gans  dasselbe  Verhältnils  also,  welches  in  Beeng  auf 
den  ursprünglichen  «Wohnort  der  Eitern  Jesu  zwischen 
Matthäus  und  Lukas  stattfand,  haben  wir  hier  in  Betreff 
des  eigentlichen  Schauplatzes  der  Wirksamkeit  Jesu  «wi- 
schen den  drei  ersten  Evangelisten  und  dem  vierten.  Wie 
nämlich  dort  Matthäus  x  Bethlehem  als  den  ursprünglichen 
Wohnsitz  voraussetzte,  Nazaret  aber  nur  als  den  darcn 
safällige  Umstände  herbeigeführten ;  Lukas  umgekehrt:  so 
ruht  hier  die  ganze  Darstellung  der  Synoptiker  auf  der 
Ansicht,  dafs  Galiläa  das  eigentümliche  Gebiet  der  Thä- 
tigkeit  Jesu  vor  seiner  letzten  Reise  gewesen  sei ,  welches 


9)  So  Tbolock,  Comm.  zum  Evtng.  Job.,  S.  207  (Ste  Aufl.). 

32* 


*.— 


ß 

1 


509  Zweiter  Abschnitt. 

er  nur  aas  besondern  Ursachen  bisweilen  auf  kurze  Zeit 
verlassen  habe ;  die  des  Johannes  aber  umgekehrt  auf  der 
Voraussetzung,  eigentlich  hätte  Jesus  immer  inJudäa  and 
Jerusalem  wirken  mögen,  wenn  ihm  nicht  die  Vorsieht 
bisweilen  gerathen  hätte,  sich  in  die  entlegeneren  Provin- 
zen zurückzuziehen  10). 

Kann  von  diesen  entgegenstehenden  Voraussetzungen 
nur  Eine  die  richtige  sein :  so  hat  man ,  wie  man  früher 
unbewölkt  den  Johannes  in  die  Synoptiker  hineinlas,  so 
nun  seit  der  Erkenntnifs  des  Widerspruchs  swiscben  bei- 
den Theilen  immer  nur  zu  Gunsten  des  vierten  Evangeli- 
sten entschieden;  die  neueren  Kritiker  suhlen  es  geradeso 
unter  den  ßedenkliohkeiten  gegen  die  Aechtheit  ,des  M*> 
thäusevangeliums  auf,  dafs  es  die  Wirksamkeit  Jesu  fälsch« 
lieh ,  auf  Galiläa  einschränke  "),  und  so  stark  ist  diese  Ge- 
wohnheit, dafs  selbst  der  Verfasser  der  Probabilien  jene  Diffe- 
renz nicht  zum  Nachtheil  des  vierten  Evangeliums  geltend  ge- 
macht hat  Soll  diese  Entscheidung  gegründet  sein,  so  meft 
sie  auf  sorgfältiger  Erwägung  der  Frage  ruhen,  welche  von 
beiden  unvereinbaren  Ersählungen  durch  AuCsere  Grflnde 
mehr  gestiftet  und  nach  inneren  Gründen  die  wahrschein- 
lichere sei?  Hier  steht  es  nun  mit  den  äufseren  Gründen, 
welche  in  den  Zeugnissen  für  die  Aechtheit  der  beidersei- 
tigen Evangelien ,  und  «war  auf  Seiten  der  Synoptiker  na- 
mentlich des  Matthäusevangeliums,  besteben,  der  Einlei- 
tung zufolge  ziemlich  gleich:  d.  h.  sie  entscheiden  beider- 
seits nicht,  sondern  Oberlassen  den  inneren  Gründen  die 
Entscheidung.  In  Beeng  auf  diese  aber  kommen  zwei  Fra- 
gen in  Betracht;,  zunächst  die:  ist  es  wahrscheinlicher, 
dafs,   unerachtet  Jesus  .wirklich  schon   vor  seiner  letsteo 


t 

10)  Vgl.  Lückb,  a.  a.  O.  S.  546. 

11)  bk  Wurm,  Einleitung  in  das  N.  T.,  §.  98;  Crbdner,  Einl-, 
1,  S.  96;  Schnückbkburgkk,  über  den  Ursprung  u.  s.  i'.;  S.  7> 
Beitrage  u.  s.  f.y  S.  38  ff. 


Drittel  Kapitel.    §.  56.  501 

Reise  öfters  ig  Jerusalem  und  JudXa  gewesen  war,  doch 
in  der  Zeit  und  Gegend,  wo  die  synoptischen  Evangelien 
entstandet*,  jede  Kunde  davon  sieh  verloren ;  oder  dafs  um- 
gekehrt, ohne  dafs  Jesus  vor  seiner  lotsten  Reise  jemals 
in  öffentlicher  Wirksamkeit  nach  «fudfia  gekommen  war," 
doch  an  dem  Ort  und  bis  zu  der  Zeit  der  Abfassung  des 
vierten  Evangeliums  die  Sage  von  mehreren  solchen  Rei- 
sen sich  gebildet  hatte?  v 

Dafs  der  erste  Fall  leicht  möglich  gewesen,  diefs  su<< 
eben  die  genannten  Kritiker  auf  folgende  Weise  darsuthun. 
Das  erste  Evangelium,  sagen  sie  12),  und  mehr  oder  Weni- 
ger auch  die  zwei  mittleren,  enthalten  die  Tradition  über 
das  Leben  Jesu,  wie  sie  sich  in  Galiläa  gebildet  hatte; 
hier  aber  hatte  sich  vorwiegend  nur  die  Kunde  von  dem, 
was  von  Jesu  eben  in  dieser  Provinz  gethan  und  geredet 
worden  war,  erhalten;  von  dem  Aubergalilftischen  hinge«* 
gen  war  nur  das  Wichtigste,  die  Geburt,  Einweihung  und 
namentlich  die  lotete  Reise  Jesu ,  auf  welcher  sein  Tod 
erfolgte,  bekannt  geworden;  das  Uebrige  aber,  so  nament- 
lich die  früheren  Festreisen,  entweder  unbekannt  geblie- 
ben, oder  frühzeitig  wieder  in  Vergessenheit  gerathen:  so 
dafs,  was  etwa  auch  von  einzelnen  Notizen  aus  einem 
oder  dem  andern  früheren  Festaufenthalte  Jesu  verlautete, 
weil  man  nur  von  Einem  solchen,  dem  letzten,  wufste,  in 
diesen  verlegt  wurde. 

Allein  ebenderselbe  Johannes,  auf  welchen  diese 
Theologen  sonst  Alles  bauen,  meldet  ausdrücklich  von  den 
Galil&ern  (4,  45.),  dafs  auch  sie  auf  dem  ersten  Paschafe- 
ste, welches  Jesus  nach  seiner  Taufe  besuchte  (und  also 
wohl  auch  auf  den  übrigen) ,  gewesen  seien ,  und  zwar  in 
Masse,  wie  es  scheint,  da  ja  in  Folge  dessen,   dafs  die 


12)  Schjibcxbmbua&br,  Beiträge,  S.  39 i.  Vgl.  Gable»'»  Abband 
lung  über  die  Wiederbelebung  des  Lazarus ,  in  seinem  Jour- 
nal lür  auserlesene  tiieol.  Literatur,  5,  2. 


SM  Zweiter  Abschnitt 


in  Jerusalem  seine  Tbaten  gesehen  hatten,  Jet» 
eine  günstige  Aufnahme  in  Galiläa-  fand.  Nimmt  man  noch 
dam,  dafs  die  meisten  J Anger  Jesu,  die  ihn  auf  den  fie- 
beren Festreden  begleiteten  (s.  s.  B.  Joh.  4,  22.  9,  &), 
Galiläer  waren:  so  ist  es  undenkbar,  dafs  nicht  von  An- 
fang an  Nachrichten  ober  die  frühere  Wirksamkeit  Jem 
in  Jerusalem  nach  Galiläa  gekommen  sein  sollten.  Einmal 
dahin  gekommen  aber  konnten-  sie  vielleicht  mit  der  Zeit 
wieder  erlöschen?  Allerdings  bat  die  Tradition  eine  ver- 
schwemmende ,  assimiHrende  Kraft :  da  die  lotste  Reife  Je« 
an  nach  Jerusalem  besonders  merkwürdig  war,  io  kons* 
ten  die  früheren  allmählig  mit  dieser  ansammenfliefien. 
Aber  einen  anderen  Trieb  hat  die  Sage  auch,  und  der  ist 
ihr  stärkster:  nämlich  su  verherrlichen.  Nun  könnte  man 
freilich  sagen:  cur  Verherrlichung  der  Provins,  in  wel- 
0    •  eher  die  synoptische  Ueberlieferung  entstand,  diente  et, 

'  ;  die  frühere  Wirksamkeit  Jesu  gans  in  die  (fransen  Gali- 

x  läa's  einsusehliefsen.    Allein,  nicht  Galiläa  wollte  die  syn« 

-    .  optische  Sage  verherrlichen,  über  welches  sich  vielmehr 

f  sehr  harte  Urtheile  in  derselben  finden     sondern  Jason 

'  verherrlicht  sie:  und  dieser  steht  um  so  g  'ifeer  da,  (e  we- 

■  niger  er  sich  von  jeher  in  dem  galiläischen  angulu*  terrae 

*  verkrochen,  je  öfter  er  sich  auf  dem  glänzenden  Schan- 

platse  der  Hauptstadt,  besonders  wenn  diese  von  Zuschauers 
und  Zuhörern  aus  allen  Gegenden  so  sahireich  wie  um  die 
Festseiten  besucht  war,  hatte  seilen  lassen.  Wenn  daher 
auch  geschichtlich  nur  Eine  jerusaiemische  Reise  Jesu  statt- 
gefunden hätte,  so  konnte  doch  die  Sage  versucht  sein, 
nach  und  nach  deren  mehrere  su  machen,  indem  sie  für 
sieh  von  dem  Schlüsse  ausging:  wie  wird  ein  so  grofees 
Lieht  ale  Jeeps  war,  mo  lange  unter  dem  Scheffel  gestan- 
den, und  nicht  frühzeitig  und  oft  sich  auf  den  erhabenen 
Leuchter  gestellt  haben  (Matth.  5,  15.),  welchen  ihm  Je* 
rusalem  darbot?  in  Besag  auf  die  Gegner  aber  glaubte  man 
£inwfirfen,   wie  schon  die  ungläubigen  acfctyoi  Y^c/ö  Job. 


Drittes  Kapitel.    §.  56.  903 

7,  8*  4.  sie  machten,  dals,  wer  etwas  Rechtes  leisten  eu 
können  sich  ^ewufst  sei,  sich  nicht  verstecke,  sondern  die 
Oeffentlichkeit  suche ,  um  sich  Anerkennung  so  verschaf- 
fen, nicht  besser  begegnen  eu  können,  als  durch  die  Wen- 
dung, dals  Jesus  allerdings  auch  früher  schon  jene  Oeffent- 
lichkeit gesucht,  und  sich  Anerkennung  in  weiteren  Krei- 
sen erworben  habe;  woraus  sieh  dann  leicht  allmihlig  die 
Vorstellung  bflden  konnte,  wie  sie  jebt  im  vierten  Evan- 
gelium cum  Grande  liegt,  dafij  nicht  Galiläa,  sondern  Ju- 
däa  der  eigentliche  Aufenthalt  Jesu  gewesen  sei. 

Wenn  sieh  auf  diese  Weise,  die  Sache  vom  Stand-* 
punkte  möglicher  Sagenbilddng  aus  betrachtet,  die  Wage 
auf  die  Seite  der  Synoptiker  neigt;  so  fragt  sich,  ob  das 
Ergebnits  dasselbe  bleibt,  wenn  bu  den  Verhältnissen  und 
Absichten  Jesu  hinaufgestiegen,  und  von  diesem  Gesichts- 
punkt aus  zweitens  gefragt  wird,  ob.  es  wahrscheinlicher 
sei,  dals  Jesus  während  seines  öffentlichen  Lebens  mehr- 
mals oder  nur  Einmal  in  Judäa  und  Jerusalem  gewesen  sei'l 

Hier  nun  ist  swar  die  Bedenklichkeit,  dafs  mit  den 
mehreren  Festreisen  auch  ein  Hauptmoment  nur  Erklärung 
der  Bildung  Jesu  wegfiele?  nicht  schwer  au  heben.  Denn 
theils  reicht,  die  Bildung  Jesu  su  erklären,  auch  die  An- 
nahme von  mehreren  Festreisen  nicht  aus,  und  da  auf  die 
innere  Begabung  doch  das  Hauptgewicht  gelegt  werden 
mnfs,  könnten  wir  immer  nicht  wissen,  ob  einem  Geiste, 
wie  der  seinige  war,  nicht  auch  Galiläa  genug  Bildung** 
mittel  darbot;  theils  würden  ja?  wenn  wir  den  Synopti- 
kern folgen,  nur  diejenigen  Festreisen  wegfallen,  welche 
Jesus  nach  seinem  öffentlichen  Auftritte  gemacht  haben 
soll:  so  dals  er  früher,  ohne  noch  eine  Rolle  eu  spielen, 
Öfters  auf  den  Festen  gegenwärtig  gewesen  sein  könnte. 
Wollte  man  aber  selbst  das  nicht  begreiflich  finden,  wie 
Jesus  nach  seinem  öffentlichen  Auftritte  sich  so  lange  auf 
Galiläa  habe  beschränken  mögen ,  statt  auf  den  durch  hö- 
here Bildung  und  greisere  Frequenz  weit  geeigneteren  Bo- 


I    ' 


904  Zweiter  Abschnitt 

den  ^udäa's  and  Jerusalems  sieh  sä  begeben :  so  ist  et  Jt 
(fingst  anerkannt,  wie  in  dem  von  Priesterherrschaft  und 
Pharisäerthum  weniger  abhängigen  Galiläa  mit  seinen  ein- 
fachen und  kräftigen  Naturen  Jesus  leichter  Eingang  fin- 
den, und  daher  Ursache  haben  konnte,  erst  nachdem  er 
hier  durch  längere  Wirksamkeit  einen  festen  Grund  ge- 
legt, sich  auch  nach  Jerusalem  su  wenden,  wo  er,  als  im 
Mittelpunkte  des  priesterlichen  und  pharisäischen  Regi- 
ments, auf  stärkeren  Widerstand  rechnen  mufste« 

Bedenklicher  wird  die  Sache,  wenn  man  die  Darstel- 
lung der  Synoptiker  im  Verhältnifs  zum  mosaischen  Os- 
sete und  sur  jüdischen  Sitte  betrachtet.  Bei  der  strengen 
Vorschrift  des  Gesetees ,  dafs  jeder  Israelität  jährlich  an 
den  drei  Hauptfesten  vor  Jehova  erscheinen  solle  (2.  Mos. 
23,  14.  ff),  und  bei  Jesu  Ehrfurcht ' vor  den  mosaischen 
Einrichtungen  (Matth.  5,  17.  ff.),  läfst  es  sich  nicht  ohne 
Schwierigkeit  denken ,  dafs  er  während  der  ganzen  Zeit 
seiner  öffentlichen  Wirksamkeit  nur  Eine  Festreise  sollte 
unternommen  haben  18).  Indefs,  das  Matthäasevaogeliun, 
welches  diese  Darstellung  gibt,  wir  mögen  von  Zeit  und 
Ort  seiner  Abfassung  urtheilen,  wie  wir  wollen,  ist  jeden- 
falls in  einem  judenchristlichen  Gebiet  entstanden,  wo 
man ,  was  das  GesetB  von  einem  frommen  Israeliten  for- 
derte, gar  wohl  wufste,  also  auch  ein  Bewufstsein  daron 
haben  mufste,  in  welchen  Widerspruch  gegen  das  Gesets 
man  Jesum  verwickelte,  wenn  man  aus  seiner  mehrjähri- 
gen* öffentlichen  Wirksamkeit  nur  Einen  Festbesuefa  mel- 
dete, oder  (falls  die  Synoptiker  nur  ein  einjähriges  Wir- 
ken Jesu  voraussetzen  sollten,  wovon  unten)  wenn  man 
ihn  aufser  dem  Pascha  die  beiden  andern  Jahresfeste,  ver- 
säumen liefs.  Fand  also  ein  der  jodischen  Sitte  noeh  so 
nahe  stehender  Kreis  an  der  Annahme  nichts  Anstöfsiges, 
dafs   Jesus   während  seiner  öffentlichen   Wirksamkeit  alle 


13)  Vgl.  Hve,  Einleit.  in  das  N.  T.,  2,  S.  2 10. 


Drittes  KnpiteL    f.  56.  505 

Fette  bis  auf  Blues  übergangen  habe  s  so  fragt  efe  sich ,  ob 
diese  Auctorität  nicht  auch  ans  das  Bedenken  in  dieser 
Sache  benehmen  sollte?  and  Wenigstens  Ein  in  die  Perio- 
de seines  Öffentlichen  Lebens  gefallenes  Pascha  hat  er  auch 
nach  der  johanneisehen  Darstellung  nicht  besacht  (Job.  6, 4.). 
Der  für  die  Synoptiker  ungünstigste  Punkt  aber  ist 
nun,  dafs  ee  unerklärlich  scheint,  wie  Jesus  bei  seinem 
lotsten  Aufenthalt  in  Jerusalem  während  der- kurzen  Dauer 

i 

der  Festtage  sich  mit  der  regierenden  Partei  der  Haupt- 
stadt so  entschieden  habe  verfeinden  können-,  dafs  sie  sei* 
ne  Gefangennehmung  und  Hinrichtung  veranstaltete,  wenn 
man  die  Angabe  des  Johannes  zaröokweist,  dafs  sich  diese 
Feindschaft  schon  bei  früherer  öfteren  Anwesenheit  Jesu 
in  Jerusalem  angesponnen  und  allmählich  ausgebildet  ha- 
be ").  Wollte  man  sich  hier  darauf  berufen ,  dafs  sieh 
theils  auch  in  galiläiscben  Synagogen  ansfifsige  Schriftge- 
lehrte und  PharisKer  fanden  (Matth.  0,  3.  12,  14.),  theils 
solche,  die  in  der  Hauptstadt  wohnten,  die  Provinzen  au 
durchreisen  pflegten  (Matth.  15,  l.)>  dafs  also  ein  hierar* 
cbischer  Verband  vorhanden  war,  vermöge  dessen  man 
Jesu  in  Jerusalem  längst  den  Tod  geschworen  haben  konn- 
te, ehe  er  einmal  öffentlich  wirkend  dahingekommen  war: 
so  findet  sich  bei  den  Synoptikern  selbst  eine  Stelle,  wo 
sie,  gegen  ihre  eigene  Voraussetzung,  Jesum  auf  eine  öf- 
tere Anwesenheit  in  Jerusalem  hinweisen  lassen«  Die  Worte 
nämlich:  %qsaakrj(.ii  'isQuoalrjfi,  —  noodxig  ^d-kXtjüa  im- 
owa^ai  Ttt  rixva  ob  —  xal  sx  Tfi-sX^accve ,  haben  bei  Lu- 
kas, der  sie  Jesu  in  den  Mund  legt,  ehe  er  während  sei« 
Der  öffentlichen  Wirksamkeit  Jerusalem  auch  nur  gesehen 
hatte  (13,  34  ),  gar  keinen  Sinn,  und  auch  nach  der  bes- 
seren Anordnung  des  Matthäus  (23,  37.)  ist  nicht  abzuse- 
hen, wie  Jesus  nach  einem  einzigen  Aufenthalte  von  we- 
nigen Tagen  auf  häufige  Versuche ,  die  Bewohner  Jerusa- 


14)  Hve,  a.  a.  0.  S.  211  f. 


508  Zweiter  Abschnitt 

i 

die  vornehmsten  Jünger  läfst  das  johanneische  Evangeliäa 
nicht,  wie  die  Synoptiker,  ans  Kapernanm ,  sondern  theih 
ans  Kana  (21,  2.),  theils  ans  Bethsaida  sein  (1,  45.).  Der 
letztere  Ort  übrigens  wird  neben  Chorazin  auch  von  den 
Synoptikern  als  ein  solcher  erwähnt,  an  welchem  Jesus 
vorzugsweise    wirksam   gewesen    ( Matth,   11 ,  41.    Lac 

10,   13.). 

Wie  es  gekommen  sei,  dafs  Jeens  gerade  Kapernanm 
zum  Mittelpunkte  seines  galüäischen  Aufenthalts  machte* 
davon  gibt  Markus  gar  keine  Rechenschaft ,   sondern  lifst 
Ihn  nach  seiner  Rückkehr  nach  Galiläa  und  der  Berufung 
der  Figcherpaare  ohne  Weiteres    dahin   kommen  (1,  21.). 
Matthäus  (4,  IS  ff.)  gibt  als  Gm  od  an,  dafs  eine  A.  T.liche 
Weissagung  (Jes.  8,  23.  0,  1.)  dadurch  habe   erfüllt  wer- 
den müssen ;  ein  dogmatischer  Grund ,   der  in  historischer 
Beziehung  nichts  begründet.    Lukas  glaubt  den  Grood  in 
etwas  Anderem   gefunden  zu  haben,   das  sich   weit  eher 
hören  läfst.    Nach  ihm   nämlich    nimmt  Jesus    nicht  so- 
gleich naeh  seiner  Rückkehr  von  der  Taufe  in  Kapernami 
seinen  Aufenthalt ,  sondern  macht  zuerst  in  Nazaret  einen 
Versuch ,    nach  dessen  Fehlsehlagen  er  sich  erst  nach  Ka- 
pejnaum  wendet.    Mit  gröfster  Anschaulichkeit  wird  ans 
berichtet,   wie  Jesus  am  Sabbat  in  der  Synagoge  zu  Na* 
zaret  aufgetreten   sei ,    und*  eine  Prophetenstelle   auf  eine 
Weise  ausgelegt  habe,  welche  allgemeine  Bewunderung  sei- 
nes Vortrags,   aber  ebensobald  auch  hämische  Rückblicke 
auf  seine  beschränkten  Familienverhältnisse  hervorrief.  Je- 
sus hierauf  habe  die* Unzufriedenheit  der  Nazaretaner  dar- 
über, dafo  er  nicht  auch  bei  ihnen  wie  in  Kapernaum  Wun- 
der thue,  auf  die  Geringschätzung,  die  jeder  Prophet  eben 
in  seiner  Heimath  am  meisten  zu  erfahren  habe,    zurück- 
geführt, und  ihnen  in  A.  T.liohen  Beispielen  gedroht,  dafs 
die  göttlichen  Wohlthaten  ihnen   entzogen  und  Auswärti- 
gen werden  zugewendet  werden.     Hierüber  ergrimmt ,  ha- 
ben  sie  ihn  an  den  Abhang  des  Bergs   hinausgeführt,  um 


Dritte«  Kapitel.     §•  57.  §09 

ihn  hinabzustürzen :  er  aber  sei  unverletzt  durch  ihre  Rei- 
hen hindurchgegangen  (4,- 16  —  50.)* 

Von  einem  Besuche  Jesu  in  Nazaret  wissen  auch  die 
beiden  andern  Synoptiker;  aber  sie  versetzen  ihn  in  eine 
viel  spätere  Zeit:  als  Jesus  schon  längst  in  Galiläa  ge- 
wirkt, und  namentlich  schon  lange  sich  in  Kapernaum  an- 
sfifsig  gemacht  hatte  (Matth.  13,  54  ff.  Marc. 6, 1  ff).  Beide 
Vorginge  •  pflegte  man  sonst  *)  in  das  Verhäjtnifs  zu  stei- 
len ,  dafc  Jesus ,  unerachtet  er  das  erste  Mal  so  Abel  auf- 
genommen forden  war,  wie  Lukas  erzählt,  doch  später 
noch  einmal  habe  einen  Versuch  machen  wollen,  ob  nicht 
seine  längere  Abwesenheit  und  seither  erworbener  Rahm 
das  kleinstädtische  Urtheii  der  Nazaretaner  gebessert  habe; 
was  aber  nicbt  der  Fall  gewesen  sei.  Allein  die  beiden 
Scenen  sehen  -  sich  doch  gar  zu  ähnlich,  um  sich  leicht 
auseinanderhalten  zu  lassen.  Beidemale  macht  das.  Lehren 
Jesu  in  der  Synagqge,  welches  Lukas  nur  näher  beschreibt, 
denselben  Eindruck:  dafs  die  Nazaretaner  eine  solche 
Weisheit  an  dem  Sohne  des  Zimmermanns  Joseph  nicht 
begreifen  können ;  beidemale  läfst  es  Jesus  an  Wundern 
fehlen,  wovon  bei  den  zwei  ersten  Evangelisten  mehr  die 
Ursache,  nämlich  der  Unglaube  der  Nazaretaner,  bei  dem 
dritten  mehr  die  ungünstige  Wirkung  auf  dieselben ,  her» 
vorgehoben  wird;  beidemale  endlich  spricht  Jesus  die  Er- 
fahrung aus,  dafs  der  Prophet  in  der  eigenen  Hehnath  am 
wenigsten  geschätzt  werde;  woran  er  bei  Lukas  noch  wei- 
tere Reden  Knüpft,  weiche  die  Nazaretaner  zum  Versuch 
eines  Gewaltstreichs  reizen,  dessen  die  beiden  andern  Re- 
ferenten nicht  gedenken.  Entscheidender  aber  ist  das  An- 
dere, dafs  keine  von  beiden  Erzählungen  die  andre  vor 
sich  dulden  will,  sondern  jede  den  Anspruch  macht,  den 
ersten  Vorfall  dieser  Art  zu  betreffen;  indem  sich  in  bei- 
den die  erste  Befremdung  der  Landsleute  Jesu  über  seine 


1)  So  noch  Paulus |  exeg.  Handb.,  1,  b,  S.  403. 


512  Zweiter  Abschnitt 

vertrautesten  Jünger  dort   zo  Hause  waren,    theils  der 
gröfsere  Verkehr  des  Orts  etwas  dazu  beigetragen  bat'> 
Was  die  beiderseitige  Schilderung  der  Seene  betrifft, 
so    hat   die  Ausführlichkeit   der  von  Lukas  gelieferten  ge- 
genüber dem  Summarischen  derjenigen,  welche  die  beides 
andern  Evangelisten  geben,   gewöhnlich  das,  Urtbeil   sur 
Folge,  dafs  jene   die  genauere  und  richtigere  sei8).    Tre- 
ten wir  näher,   so   zeigt  sich  die  gröfsere  Ausführlichkeit 
der  Erzählung  des  Lukas  zuerst  darin ,  dafs  er  sieb  nicht 
begnügt,  nur  im  Allgemeinen  eines  von  Jesu  in  der  Syna- 
goge gehaltenen  Vortrags  gu  gedenkqn;    sondern  auch  die 
A.  T.liche  Stelle  angibt ,  über  welche  er  gesprochen ,  und 
den  Anfang  der  Anwendung,  die  er  von  derselben  gemad  t 
habe.    Die  Stelle  ist  aus  Jes.  61,  1.  2.,   wo  der  Prophet 
die  Rückkehr  aus  dem  Exil   ankündigt;   nur  die  Worte: 
mw^ttkai  zeS-QavOfihög  iv  dqieoei  sind  aus  Jes.  58,  6.  eis* 
geschoben*    Dieser  Stelle  gibt  nun  Jesus  eine  messiamsche 
Deutung,  indem  er  sie  durch  seinen  Auftritt  für  erfüllt 
erklärt.    Wie  er  gerade  auf  diesen  Text  gekommen,  dar- 
über hat  man  Verschiedenes  gemuthmafst.    Da  man  weift) 
dafs  bei  den  spätem  Juden  für  die  einfeinen  Sabbate  sad 
Feste,  bestimmte  Abschnitte  aus  der  Thorah  und  den  Pro* 
pheten   «um  Vorlesen  in  den  Synagogen  bestimmt  waren: 
so  vermuthete  man,  für  den  damaligen  Sabbat  oder  Fest- 
tag sei  eben  jener  Abschnitt  aus  Jesaias  festgesetzt  gewe- 
sen.   Und  zwar,  da  die  Perikope,  aus  welcher  die  Worts 
aTfogelkai  x.  %.  L  genommen  sind,  am  groben  Versöhnung«- 
feste  gelesen  zu  werden  pflegte:   so  hat  Bengel  zn  einen 
Grundpfeiler  seiner  evangelischen  Chronologie  die  Voran* 
setznng  gemaeht,  dafs  die  vorliegende  Begebenheit  am  Ver- 
söhnungstage vor  sich  gegangen  sei9).    Allein,   wenn  Je- 

7)  Vergl.  Thkils,  sur  Biographie  Jesu,   $.  21$    Neaädis,  L.  J- 
Chr.,  S.  386. 

8)   SCHLBIKBVACIUR,    8.   65  f. 

9)  Ordo  tempQrum,  S.  220  ff. 


% 


Drittes  Kapitel.     §.  57.  513 

cos   an  diesem  Feste  die  ordentliche  Vorlesung  hielt,  so 
durfte  er  «ms  der  Ar  dasselbe  bestimmten  Perikope  nicht 
bloft  ein  paar  verlorene  Worte  einfliefsen  lassen,  und  den 
gröberen  Theil  der  Leotion  aps  einer  gsns  andern  Stelle 
nehmen ;    überhaupt  aber  ist  nicht  erweislich ,   dafs  schon 
na  Jesu  Zeit  beftinunte  Lesestficke  auch   aus  den  Prophe* 
ten    vorgeschrieben   gewesen   seien 10).     War   also   Jesus 
nicht  durch  diese  äufsere  Veranlassung  auf  die  bezeichnetet 
Stelle  hingewiesen,   so  fragt  sich:   schlug  er  sie  absieht* 
lieh  oder  unabsichtlich  auf  ?    Manche"  freilich  lassen   ihn 
so  lange  blättern,    bis  er  die  Stelle,  welche  er  im  Sinne 
hatte,  findet11):   allein  ülshaüsbn  hat  wohl  Recht,  wenn 
er  sagt,   das  ccvamvgag  to  ßißllav  bvqb  roV  %6nov  deute 
nieht  auf  ein  reflectirend  absichtliches,  sondern    auf  ein 
vom  Geiste  geleitetes  Finden  jener  Stelle  hin.     Wenn  nun 
swar  das  anfällige   Aufschlagen   einer  für  die  Situation 
passenden  Stelle  oft  genug  vorkommt;  oder  auch  angenom- 
men werden  könnte,  das  absichtliche  Suchen  Jesu  sei,  nm 
die  Sache  bedeutungsvoller  sn  machen,   in  der  Ersählang 
weggeblieben ;  fiberdiefs  sehr  glaublich  ist,  dafs  Jesus  diese 
Stelle  mit  Beeng  auf  sich  selber  su    gebrauchen   pfleg- 
te:  so  schwebte   sie   doch   ebenso  den   Evangelisten    als 
in  Jesu  erfüllt  vor;    und  wie  Matthäus  sie  vielleicht  in 
seiner  eignen  Person  durch  Iva  TitytModyj  eingeführt,  und 
gesagt  hätte,  Jesus  habe  nunmehr  sein  messianisches  x/j 
(nrytua  begonnen,  auf  dafs  die  Weissagung  Jes.  6L  1  ff.  er- 
'füllet  wflrde:  so  tiefte  sich  denken,  dafs  Lukas,  der  diese 
-Eormel  weniger  liebt,  oder  die  Tradition,  aus  welcher  er 
schöpfte ,  jene  Stelle  Jesu  selbst  bei  seinem  ersten  messia- 
nisehen  Auftritt  in  den  Mund  gelegt  hätte;  so  dafs  es  da- 
hin gestellt  bleiben  moJs,    welcher  von  beiden  Berichten 
der  treuere  ist. 


10)  Vgl.  Paulus,  a.  a.  O.  1,  b,  S.  407. 

11)  Paulus,  a.  a.  O.,  aber  auch  Lichtvoot,  horae,  S.  765* 
Da*  Leben  Jesu  ZteAufl*  I.Band,  83 


514  Zweiter  Abscümit. 

Das  Andere,  worin  der  Yorsog  der  Schilderung  des 
Lukas  in  Hinsieht  der  Ausführlichkeit  bestehen  soll,  dai 
anschauliche  Gemfilde  der  tninultuarischen  Schiufssoene, 
haben  selbst  diejenigen ,  welche  im' Gänsen  seiner  Kraih« 
Inng  den  Vorsug  geben ,  doch  nicht  gans  surechtsolegeo 
gewußt.  Denn  wenn  auch  die  Ankündigung  der  Am- 
sohliefsung  Nasarets  von  Jesu  heilsamer  Wirksamkeit  wt 
den  A.  TJiehen  Parallelen  erbitternd  genng  war ,  um  die 
Nasarener  su  einem  Mordversuch  an  Jean  reisen  so  kön- 
nen l2) :  so  Ist  doeh  aofort  das  duldwv  dia  /nias  avtüii 
moQeveto  (V.  30.)  ©in  Zug,  der  sich,  wenigstens  nach  des 
ErsJthlers  Absieht,  nicht  mit  Hasb  durch  den  blofseo  Herr- 
scherblick Jesu  erklären  läfst;  sondern  anch  hier  behält 
Olshausbn  Recht,  wenn  er  sagt,  der  Absicht  des  Schrift- 
stellers nach  aolle  ausgesprochen  sein,  Jesus  sei  defswegen 
ungekr&nkt  mitten  durch  seine  wfitbenden  Feinde  hindurch- 
gegangen ,  weil  seine  göttliche  Kraft  Sinn  und  Glieder  der- 
selben gebunden  hielt,  weil  seine  Stunde  noch  nicht  gekom- 
men war  (Joh.8, 20.),  und  weil  Niemand  sein  Leben  voa 
ihm  nehmen  konnte,  bis  er  selbst  es  hingab  (Job.  10, 1&> 
Nur  um  so  weniger  aber  wird  man  auch  in  diesem  Zöge 
das  verherrlichende  Bestreben  der  Sage  verkennen,  ver- 
möge dessen  sie  Jesum  als  einen  solchen  darsustellen  lieb« 
te,  von  welchem,  wie  von  einem  Lot  (l.Mos.  19, 11»)  und 
Klisa  (%  Kon.  6,  18.)  eine  höhere  Hand,  oder  besser  seine 
eigene  Macht  als  höheren  Wesens,  die  Feinde  abwehrte, 
wenn  man  anch  nicht  gerade,  was  schon  Tertullian  ver- 
wehrt **),  ein  Müdere  per  taliginem,  wie  in  jenen  .bei- 
den Fällen,  annehmen  wi(L  Ob  nun  gleich  auch  hier,  über 
Absug  des  vrunderhaften  Anstrichs,  der  Mordversuch  unA 


12)  Gegen  Mass,  Leben  Jesu,  §.  62.  und  ScuLBitaMACUS»,  über 
den  Lukas,  S.  63.  vgl,  um  Wim,  exeg.  Handb.,  1,  2,  S. 56? 
Nkavdbr,  L.  J.  Chr.,  S.  415» 

13)  odv.  Marcton.  4,  8« 


Drittes  Kapitel.    §.  58.  *|5 

* 

das  Entkommen  Jesu  historisch  sein  könnte :  f o  mufs  doch 
die  Sicherheit  schwinden,  mit  welcher  man  den  Bericht 
des  dritten  Evangeliums  dem  der  beiden  ersten  vorsiehe« 
au  dürfen  glaubte  ")• 

$.     58. 

Abweichungen  der  Evangelisten  in  Besag  auf  die  Chronologie  des 
Lebens  Jesu.    Dauer  seiner  öffentlichen  Wirksamkeit. 

Was  die  Zeitrechnung  des  öffentlichen  Lebens  Jesu 
betrifft,   so  mufs  die  Frage  nach  der  Dauer  desselben  im 
Gänsen  von  der  andern  nach  der  Vertheilung  der  ebisel 
nen  Begebenheiten  innerhalb  dieses  Zeitraums  unterschie- 
den v/erden« 

Wie  lange  die  öffentliche  Wirksamkeit  Jesu  gewährt 
habe»  wird  von  keinem  unserer  Evangelisten  ausdrücklich 
gesagt;  docl},  während  uns  die  Synoptiker  auch  Ar  einen 
Schlafs  auf  jene  Dauer  nichts  an,die  Hand  geben ,  linden 
wir  bei  Johannes  einige  Data ,  welche  uns*  su  einem  sol- 
lten Schlüsse  su  berechtigen  scheinen.  Bei  den  Synopti- 
kern ist  keine  Andeutung,  wie  lange  nach  Jesu  Taufe 
seine  Gefangennehmung  and  Hinrichtung  erfolgt  sei:  nir- 
gends s$nd  Monate  und  Jahre  unterschieden ,  und  wenn 
es  ein  und  das  andremal  heilst:  peS?  yfii(xxg  e£  oder  ovo 
CMatth.  17,  1«  26,  2«),  so  können  diese  sinselnen  festen 
Punkte  in  der  allgemeinen  Unbestimmtheit,  in  welcher  afe 
sebwimtaen,  durchaus  keinen  sichern  Halt  gewähren.  Das 
vierte  Evangelium  dagegen  gibt  uns  eben  durch  jene  Fest- 
reisen Jesu,  durch  deren  Mebrsahl  es  sich  von  den  übri- 
gen unterscheidet,  sugleich  chronologische  Anhaltspunkte 
an  die  Hand';  indem,  so  oft  Jesus  auf  einem  dieser  jähri- 
gen Feste  und'  namentlich  auf  dem  Paschafest  erschienen 
ist,  so  viele  volle  Jahre  seiner  Wirksamkeit,  nach  Abzug 
des  ersten  Festes,  gerechnet  werden  dürfen«    Wir  haben 


14)  Vgl.  os  Wim,  a.  a.  O 

33 


516  Zweiter  Abschnitt. 

im  vierten  Evangelium  naeh  der  Taufe  Jean  eitert t  ein  res 
ihm  besuchtes  Paschafest  (2,  13),  «wischen  welchem  nad 
der  Taufe  nur  kurze  Zeit  eu  liegen  scheint  (rergl.  1,  & 
35.  44.  51,  1.  12.).     Nun   aber  das   nächste   von  Jesu  be- 
suchte Fest  (5,  1.),  welches  nur  unbestimmt  als  tOQrjj  «5r 
IndaLav  bezeichnet  ist,  war  von  jeher  die  crux  der  N.  T.- 
*liohen  Chronologen.     Bedeutend  ist  es  fflr  die  Bestimmong 
der  Dauer  des  öffentlichen  Lebens  Jesu  nur,  wenn  et  ein 
Pascha  ist;  denn  in  diesem  Falle  wäre  hier  das  erste  Jahr 
seiner  Wirksamkeit  eu   Ende.     Dafs  nun  durch  rj  lopnf 
vwv  isdalwv  vorzugsweise  das  Paschafest  bezeichnet  wer- 
den  ktinne,  glauben  wir  gerne;   allein  die  besten  Codieei 
haben  in   unsrer  Stelle  keinen  Artikel,   und   ohne  dieses 
kann  jener  Ausdruck  nur  unbestimmt  irgend  ein  jüdisches 
Fest  bedeuten,   das  der  Verfasser  nicht  namhaft  maehes 
will.    Au  sich  könnte  es  also  gleich  gut  Pfingsten,  Purin, 
•Pascha,  oder  ein  anderes  sein  *)>  doch  im  Sinne  des  Re- 
ferenten ist  wohl  nicht  an  ein  Paschafest  ra  denken,  theib 
weil  er  dieses  gröfste  Fest  schwerlich  so  unbeeeiehnet  ge- 
lassen hätte,  theils  weil  6,  4.  schon  wieder  ein  Pasohafctt 
kommt,  und  so  nwisehen  5,  47.  and  6,  1.  ein  ganses  Jahr 
mit  8tUlsohweigen  fibergangen'  sein  mttfste  *).    Denn  Aals 
das  tjv  di  iyyvg  ro  nia%a  (6,  4  )  sieh  rflokwfirts  auf  «ha 
eben  verflossene  Fest  besiehe,  .ist  doch  eine  su  gewaltsame 
Auskunft  von  Paulus,  da,  wie  er  selbst  gesteht,  dieselbe 
Phrase  bei  Johannes  sonst  immer  daa  nahe  bevorstehende 
Fest  bedeutet  (2,  13.  7,  2.  11,  55  ),  nnd  auch  ihrer  Katar 
naeh  bedeuten  mufs,  wofern  nicht  aus  dem  Zusammenhang 
das  Gegentheil  sich  ergibt.    Erst  also  Job.  6, 4.  haben  wir 
das  e weite  Paschafest,  von  welchem  Übrigens  nicht  gemel- 
det wird,  dafs  Jesus  es  besucht  hätte.    Nachdem  nun  noch 


1)  Zusammenstellungen  der  verschiedenen  Ansichten  geben  Hitf, 
L.  J.,  §.  53;  Lücke,  Gomm.  z.  Ev.  Job.,  2,  8.  2  ff. 

2)  S.  Lücm  und  u  Warn,  z.  d.  St 


Drittes  Kapitel.    $.58.  517 

des  Festes  der  Laubhütten  und  der  Tempelweihe  gedacht 
Ist,  wird  11,  55.  12,  1.  das  letzte  Pascha  aufgeführt,  wel- 
ches Jesus  besuchte.  So  hätten  also  wir,  nach  unserer 
Ansicht  von  «loh.  5,  1.  und  6,4.,  für  die  öffentliche  Wirk- 
samkeit Jesu  «wei  Jahre,  nebst  demjenigen  Zeitabschnitt, 
welcher  «wischen  seiner  Taufe  und  dem  ersten  von  ihm 
besuchten  Pascha  liegt  9).  Auf  dieselbe  Rechnung  kom- 
men diejenigen,  welche,  wie  Paulos,  5,  1.  ein  Pascha, 
aber  6,  4.  nur  eine  Röckweisung  auf  dieses  sehen;  woge- 
gen die  alte,  kircheny&terliche  Ansicht,  welche  in  den  an* 
geführten  beiden  Stellen  ewei  verschiedene  Paschafeste 
fand,  drei  volle  Jahre  herausbrachte;  Indeft  durch  jene 
Rechnung  bekommen  wir  nur  das  mimmtim  der  Dauer  des 
dffentlioben  Wirkens  Jesu  nach  Johannes :  da  weder  dieser 
irgendwo  andeutet,  dafs  er  gerade  alle  Feste,  welche  in 
Jenen  Zeitraum  fielen,  und  namentlich  auch  die  von  Jean 
nicht  besuchten,  namhaft  machen  wolle;  noch  wir,  sofern 
wir  nicht  den  Apostel  Johannes  als  den  Verfasser  des  vies* 
ien  Evangelium*  schon  voraussetaen ,  eine  Bürgschaft  ha- 
ben ,  dafs  er  von  allen  gewufst  habe. 

Wenn  man  nun  nicht  selten  sagt,  dieser  Johanne!» 
•eben  Rechnung  gegen  Aber  geben  die  Synoptiker'  Veran- 
lassung, die  öffentliche  Wirksamkeit  Jesu  auf  Ein  Jahr 
su  beschränken  *):  so  beruht  dlefs  nur  auf  der  Vorausse- 
tzung, dafs  Jesus  alle  Paschafeste  habe  besuchen  müssen; 
eine  Annahme,  welche  durch  die  Darstellung  des  Johan- 
ne« selbst ,  nach  welcher  Jesus  das  Paschafest  6,  4.  unbe- 
eucht  gelassen,  widerlegt  wud.  Denn  hier  ist  nicht  etwa 
«ine  von  Jesus  wirklich  gemachte  Reise  vom  Referenten 
verschwiegen,  sondern  von  6,  1.  an,  wo  Jesus  auf  der 
Ostseite  des  Sees  Tiberias  ist ,  durch  6,  13.  und  59. ,   wo 


3)  Vgl.  Hasm,  a.  a,  0. ;  Thsils,  x.  Biogr.  J.,  §.  JO;  Neakdsr,  L, 
J.  Chr.,  S.  380.  430  ff. 

4)  z.  B.  Wiasa,  b.  Realw.,  1,  S.  666. 


518  Zweiter  Abschnitt 


er  nach  Kapernaum  gebt,  und  7,  1.,  wo  er,  om  Judb 
zu  vermeiden,  in  Galiläa  wandelt,  bis  7,  3»  und  10.,  wo 
er  cur  Skenopegle  naoh  Jerusalem  reist,  hingt  die  Dar» 
Stellung  des  Evangelisten  so  genau  eusamtnen,  dafa  nir- 
gends  eine  Paschareise  eingeschoben  werden  bann.  Au 
den  Synoptikern  für  sich  wissen  ^wir  gar  nicht,  wie  lang» 
Jesus  öffentlich  gewirkt  hat ,  und  er  könnte  nach  ibuss 
ebensogut  mehrere  Jahre  als  blofs  Eines  thätig  gewesen, 
nur  aber  im  letzten  erst  cum  Paschafest  gereist  sein,  frei- 
lich sprachen  schon  eklige  der  ältesten  Häretiker  ')  and 
Kirchenväter  6)  von  einer  blofs  einjährigen  Wirksamkeit 
Jesu:  allein,  dafs  nioht  das  Fehlen  der  früheren  Festrei- 
sen Jesu  bei  den  Synoptikern,  sondern  etwas  ganz  Zufäl- 
liges die  Quelle  dieser  Ansicht  war,  geben  jene  Väter  selbst 
eu  verstehen,  indem  sie  sich  für  dieselbe  auf  die  aneh 
von  Jesus  Luc.  4«  auf  sich  bezogene  Prophetenstelle  Je* 
Ol,  1.  f.  berufen,  wo  von  einem  iviaivog  KvqIh  donros  die 
Kede  ist,  welchen  der  Prophet,  oder  nach  der  evangeli- 
schen Deutung  der  Messias ,  su  verkündigen  gesendet  stL 
Indem  sie  diesen  Ausdruck  im  strengen ,  chronologisches 
Sinne  verstanden,  kamen  sie  auf  ihre  Annahme  nur  Eioes 
Messlasjahrs;  welche  sie  denn  freilich  mit  den  Synopti- 
kern leichter  vereinigen  konnten,  als  mit  Johannes,  naeh 
dessen  Darstellung  jene  Rechnung  bald  genug  in  der  Kir- 
che berichtigt  wurde. 

In  auffallendem  Contraste  mit  diesem  niedrigsten  An 
schlage  der  Zeit  von  Jesu  öffentlichem  Leben  steht  die 
ebenfalls  sehr  alte  Behauptung,  dafs  Jesus  swar  im  draV 
fsigsten  Jahre  getauft  worden,  aber  bei  seiner  Kreusigong 


5)  Iren.  adv.  haer.  1,   |,  5.  2,  35.  58.  (ed.  Grabe),  von  den  Vi- 
lentinianern.     Ciem.  honi.  17,  19.  • 

6)  Clem.  Alex.  Stromat.  1,  p.  174  Würsb.  Ausg.,  34oSyiburgi 
ürig.  de  prineipp.«  4,  5,  vgl.  honuL  in  Luc.  32* 


Drittel  Kapitel.    $.58.  519 


nleht  mehr  weit  von  den  Fünf eigen  entfernt  gewesen  sei  '). 
Allein  aach  diese  Annahme  beruht  nur  aaf  Milsverstsnd, 
Die  TtQeüßmeqoi  ol  xa%a  vqv  'Aalav  *lmcwri  re7  ra  KvqIh  //er« 
Orjtf^  ovfißeßfoptoieg ,  anf  deren  Zeugnifs,  naQadedioxevai 
renket  roV  ^Itaainnrp,  sieh  Irenins  beruft ,  hatten  ihm  nur  so 
viel  an  die  Hand  gegeben,  dafs  Christus ,  aetatem  senio~ 
rem  haben* ,  gelehrt  habe;  daft  diese  aetas  senior  das  AN 
ter  a  quadragesimo  et  quinquagesimo  anno  sei,  ist  der  ei- 
gene Schlafs  des  Irenlus,  darauf  gegründet,  dafs,  was 
Job.  8,  57.  die  Juden  Jesu  entgegenhalten:  Ttevzrjxovva  (rrt 
&t(o  ex*lS>  *<*i  jfßQaafi  iwgaxag;  füglich  nur  einem  sol- 
chen habe  gesagt  werden  können,  qui  jam  quadraghUa 
anuos  excessit,  quinquagesimum  autem  annum  nondttm  at- 
tiffit.  Allein  gar  wohl  konnten  die  Joden  aueb  uu  einem 
etlioh  und  Dreißigjährigen  sagen,  er  sei  viel  so  jung,  um 
Abraham  gesehen  cu  haben,  da  er  ja  noch  nicht  einmal 
das  funfsigste  Jahr  erreicht ,  d.  h.  nach  jüdischer  Vorstel- 
lung, das  Mannesalter  vollendet  habe  •). 

8o  wissen  wir  also  aus  ungern  Evangelien  nicht  ge- 
nau, wie  lange  Jesu  öffentliches  Wirken  gedauert  habe; 
sondern  können  nur  so  viel  sagen,  dafs  es,  wenn  wir  dem 
vierten  Evangelium  folgen,  nicht  unter  swei  Jahren  und 
etwas  darüber  anzuschlagen  wäre» 

Diesem  mmimum  gegenüber  erhalten  wir  ein  Maximum 
fttr^die  Dauer  des  Öffentlichen  Lebens  Jesu,  wenn  wir  die 
Angabe  des  Lukas  S,  1  ff.  und  23.  so  verstehen,  dafs  die 
Taufe  Jesu  in  das  funfsehnte  Jahr  des  Tiberius  gefallen 
sei,  und  wenn  wir,  darauf  fufeend,  das  andere  Datum 
dasu  nehmen,  dafs  Jesus  noch  unter  der  Procuratur  des 
Pontius  Pilatus  hingerichtet  worden  ist  9).  Da  nämlieh 
Pilatus  im  Todesjahre  des  Tiberins  von  seinem  Posten  ab- 

7)  Iren.  adv.  haeres.  2,  22,  5  f.    Vgl.  die  Bemerkung  Cmdxsh1«, 
EinL,  1,  S.  215. 

8)  LiSHrrooT  und  Tholucx  z>  d.  St. 

4U)  Auch  von  Tacitus  bezeugt,  Ann.  15,  44« 


520  Zweiter  Abschnitt. 

berufen  wurde  t0) ;  Tiberiue  aber  nach  jenem  fünfzehnten 
Jahr  noch  etwas  über  sieben  Jahre  regierte  ")•  so  wäreo 
sieben  Jahre  das  maximum  für  die  Wirksamkeit  Jesa  osch 
seiner  Taafe  12). 

$.    59. 

Die  Versuche  einer  chronologischen  Anordnung  der  einzelnen 
Begebenheiten  des  öffentlichen  Lebens  Jesu, 

Um  die  einzelnen  Begebenheiten,  welche  in  den  Zeit- 
raum von  der  Taufe  Jesu  bis  zur  Leidensgeschichte  fallen» 

10)  Joseph.  Antiq,  1$,  4,  2. 

11)  Sueton.  Tiber,  c.  73.    Joseph.  Antiq.  18,  6,  10. 

12)  WennTüOLUCK  in  Bezug  auf  das  Obige  behauptet,  „es  werde 
von  mir  die  Entdeckung  vorgetragen,  dass  nach  Lukas  sieben 
Lehrjahre  (Jesu)  herauskommen;  ich  stelle  nämlich  die  Sache 
so  dar ,   als  ob  Lukas  wirklich  Jesu  Tod  in  das  siebente  Jthr 
seiner  Wirksamkeit  fallen  Hesse"  (S.  205  f.) :  so  fet  dies*  eine 
elende  Chicane.   Setzt  denn,  wer  in  irgend  einer  Sache  von  eisen 
tmaximum  spricht ,    dieses  Maass  als  das  wirkliche  und  nickt 
vielmehr  als  das  bloss  mögliche?    Und  wo  sage  ich,  dass  Loht 
(und  warum  denn  JLukas  ?  von  diesem  ausschliesslich  ist  bion 
in  Bezug  auf  den    von   ihm  allein  bestimmten  Anfangspunkt 
der  öffentlichen  Wirksamkeit  Jesu  die  Rede;    ihr  Ende  wird 
von  allen  unter  Pilatus  gesetzt)  —  wo  sage  ich,  dass  die  Evan- 
gellsten   den  Tod  Jesu  in   das    letzte  Jahr  des  -Pilatus  fallen 
lassen  ?    Nur  so  viel  ist  gesagt,  und  anwiderlegt ;  sofern  we* 
der  aus  Johannes   bestimmt  erhelle ,    dass  das  ^Lehramt  Jesu 
nicht  über  2  —  3  Jahre  gedauert  habe ,  noch  irgend  ein  Evan- 
gelist angebe,  im  wievielten  Jahre  des  Pilatus  Jesus  hingerich- 
tet worden  sei :  so  könnte  diese,  äussersten  Falls ,  wohl  sack 
erst  im  letzten  Jahre  geschehen  sein.    Und  auf  eine  so  flüchtig 
gelesene  und  so    grob  missverstandene  Stelle  seines  Gegners 
hin  scheut  sich  Tholuck  nicht,  von  einem  „böslichen  Spiele*, 
zu  sprechen,    auf  welches  derselbe  es  abgesehen  zu  haben 
scheine !  —  Auf  ähnlich  unverantwortliche  Weise  la'sst  Osnxnia 
(S.  151.)  mich  die  Bestimmung  deaJMatthäusevangeliums  für  pa- 
lästinensische Christen  läugnen  :  da  ich  S.  495  f.  nur  be- 
zweifelt hatte,  dass  dasselbe speciell  für  judäische  und  Je- 
rusalem! sehe  Christen  ,   und  nicht  ebenso    für   galiläi- 
sehe,    sollte  bestimmt  gewesen  sein. 


Drittes  Kapitel.    $.  59.  SSI 

chronologisch   gegeneinander  sn  stellen,   ist  vermöge  des  , 
eigenthlimliohen  Verhältnisses  der  Synoptiker  zum  Johan- 
nes eine  Betrachtung  theils  jedes  dieser  T heile  für  sich, 
theils  beider  in  Beziehung  auf  einander  erforderlich. 

Was  das  Letztere  betrifft,  so  mfifsten,  wenn  eine 
Ausgleichung  möglich  sein  sollte ,  die  johanneischen  Fest- 
reisen die  Fächer  abgeben,  in  welche  der  von  den  Synop- 
tikern gelieferte  Stoff  in  der  Art  einzutragen  wäre,  dal« 
jedessaal  zwischen  zwei  jener  Reisen  und  die  jerusaleml- 
sehen  Ereignisse,  welche  sich  an  sie  anschließen,  eine 
Partie  der  galiläischen  Begebenheiten  fiele.  Sollte  diese 
Einordnung  mit  einiger  Sicherheit  zu  Stande  gebracht  wcb- 
den  können,  so  müfste  zweierlei  stattfinden:  einmal  von 
Seiten  der  drei  ersten  Evangelisten,  dafs  sie,  so  oft  bei 
dem  vierten  von  einem  Festaufenthalte  die.  Rede  ist,  eine 
Abreise  Jesu  aus  Galiläa  anzeigten ;  dann  von  Seiten  des 
Johannes,  dafs  er  dieselben  galiläischen  Begebenheiten, 
welche  die  Synoptiker  in  Einem  Zuge  berichten,  zwischen 
die  verschiedenen  Feste  hinein  vertheilt  erzählte  oder  an- 
deutete. Allein  jene  Anzeigen  von  Seiten  der  Synoptiker 
finden  sich  nach  dem  Obigen  gar  nicht  \  Johannes  aber 
trifft  bekanntlich  zwischen  der  Taufe  Jesu  und  den  lots- 
ten Ereignissen  seines  Lebens  nur  in  zwei  bis  drei  Erzäh- 
lungen mit  den  übrigen  Evangelisten  zusammen.  —  Da« 
Stiop  rjv  ßeßXr^ikvog  elg  xrp  yvlaxrjv  6  lo)awrtq  (Job.  3,  24), 
woraus  man  zu  achliefsen  pflegt,  Matthäus,  welcher  (4, 12.) 
Jesum  erst  nach  des  Täufers  Verhaftung  nach  Galiläa  zu- 
rflekkehren  läfst,  melde  nicht  die  Rückkehr  von  der  Tau- 
fe, sondern  vom  ersten  Paschafeste  ')>  ***>  d*  Matthäus  un- 
verkennbar den  Anfang  der  Wirksamkeit  Jesu  nach  Galiläa 
verlegt,  folglich  eine  frohere  Wirksamkeit  auf  dem  Feste 
au  Jerusalem  nicht  voraussetzt,  weit  entfernt,  einen  chrono- 
logischen Vereinigungspunkt  der  synoptischen  Berichte  mit 


1)  Vcrgi.  Paulus,  Lebca  Jesu,  1,  a,  S.  2 14  f. 


S2S  Zweiter  Abschnitt 

\ 

dem  Johanneisehen  an  die  Hand  zd  geben,  vielmehr  ein  Be- 
weis ihrer  völligen  Unvereinbarkeit.  —  Das  nächste,  aber  von 
den  Meisten  bezweifelte  Zusammentreffen  findet  bei  der  Hei- 
lung des  Sobns  eines  ßaadixog  nach  Job.  4,  46  ff.,  oder  des 
Knechts  eines  hcatonaqxog  Mattb.  8,  5  ff.  Lac  7,  1  £  statt, 
welche  Johannes  anmittelbar  (V.  47.)   nach   der  Zurück- 
kauft Jesu  von   seinem  lungeren  Aufenthalt  in  Judas  and 
Samarien  bei  und  nach  dem  ersten  Paschafeste-  setzt.  Nun 
mfifste  also  unmittelbar  vor  der  entsprechenden  Ersfthlong 
bei  den  Synoptikern   eine  Andeutung  der  ersten  Festrefae 
Jesu  sich   finden*    Aber   nicht  einmal  eine  Spalte  für  die 
mögliche  Einfügung  dieser  Reise  findet  man,  da  den  Synopti- 
kern zufolge  jene  Heilung  vor  sich  geht,  nachdem  Jsras 
«ben  die  Bergrede  gehalten,  welche,  namentlich  nach  Mat- 
thäus, mit  dem  übrigens  auch  Lukas  zusammenstimmt,  der 
Höhepunkt  einer,  so  viel  man  sehen  kann,  ununterbroche- 
nen, galiläischen  Wirksamkeit  Jesu  ist    So  läfst  sich,  ehe 
an  diesem  Punkte  der  Chronologie  der   drei. ersten  E?*n- 
gelisten  durch  die  des  vierten  nicht  aufhelfen,  indem  sfrh 
nirgends  eine  Fuge  zeigt,  an  welcher  die  Darstellung  dei 
Letzteren   in    die   der  Erstehen  eingreifen  könnte.  —  Bin 
anderes  entschiedeneres  Zusammentreffen  des  Johannes  mit 
den  Synoptikern   findet   sich  in  den  aneinanderhängenden 
Erzählungen  von  der  Speisung  und  dem  Wandeln  auf  de« 
Meere,  Job.  6,  1—21.  Matth.  14,  14—36.  parallel.,  welche 
Johannes  (6,  4.)  in  die  Zeit  unmittelbar  vor  dem  zweiten, 
von  Jesus  nicht  besuchten,  Pascha  verlegt.   Aber  hier  sind 
vollends    die  Anfangs-  und  Endpunkte  der  Erzählung  auf 
beiden  Seiten  so  verschieden,    dafs   man  sagen  mufs:   der 
«ine  oder  der  andere  Theil   hat   sie  in  falsche  Verbindung 
gestellt.    Denn  während  Jesus  nach  Matthäus  von  Mass- 
ret,  in  jedem  Falle  von  Galiläa  ans,   auf  das  jenseitige 
Ufer  sich   zurückzieht ,  wo  sofort  die  Speisung   erfolgt: 
kommt  er  nach  Johannes  von  Jerusalem  und  Judäa  her; 
und  während  er  bei  den  beiden  ersten  Evangelisten  nach 


Dritte«  KaplteL    {.  59.  SU 

der  Speisung  fn  eine  Gegend ,  wo  er  minder  bekennt  war 
(et  wirtl  ja  Matth.  V.  34.  Marc.  V.  54.  ausdrücklich*  her- 
ausgehoben^ dafs  die  Leute  ihn  erkannt  haben),  sich  -be- 
gibt: geht  er  naeh  Johannes  gerade  in  die  ihm  vertrauteste 
Stadt ,  nach  Kapernaum.  Wenn  wir  so  nicht  wissen,  ob 
nicht  das  genannte  Ereignifs  bei  den  Synoptikern  oder  bei 
Johannes  zu  früh  oder  so  spftt  «gesetzt  ist :  so  können  wir 
•ach  nicht  absehen ,  wie  viele  von  den  synoptischen  Er- 
elihlnngen  vor,  und  wie  viele  naeh  dem  mit  Jener  Spei- 
sung zusammentreffenden  zweiten  Pascha  zu  setzen  sind. 
Damit  sind  .nun  aber  die  Berührungspunkte  aus  der  Zeit 
vor  der  lotsten  Reise  Jesu  su  Ende,  und  wenn  diese  so 
wenig, sicher  sind,  dafs  sie  eine  Vertheilung  des  synopti- 
schen Stoffs  auch  nur  durch  die  beiden  Paschafeste  ver- 
gebens versprechen:  wie  kann  man  hoffen,  durch  die  Ret-9 
aen  Jesu  auf  die  eoqrcrj  %wv  Yöda/wv,  auf  die  Skenopegie, 
und,  wenn  diefs  eine  besondere  Reise  ist,  auf  die  finkanien, 
den  ununterbrochenen  Flufs  der  galiläischen  Erzählungen 
in  den  drei  ersten  Evangelien  chronologisch  abtheilen  zu 
können  ?  wie  diefs  bis  auf  die  neueste  Zeit  eine  Reibe 
Ton  Theologen  mit  einem  Aufwände  von  Scharfsinn  und 
Gelehrsamkeit  versucht  hat,  der  eines  fruchtbareren  Stoffes 
würdig  gewesen  wäre2).  Mit  Recht  haben  daher  unbe- 
fangene Forscher  sich  dahin  entschieden,  da  die  Erzählung 
der  drei  ersten  Evangelien  zu  wenig  darbiete ,  was  bei 
einer  solchen  Einordnung  einigermafsen  sicher  leiten  könnte: 
bo  habe  keine  der  bisherigen  Evangelienharmonien  einen 
Anspruch,  für  mehr  als  ein  Gewebe  historischer  Conjectu- 
reri  gehalten  zu  werden8). 


2)  b.  besonders  die  Leistungen  von  Pauiv*  in  den  chronologi- 
schen. Excnrsen  seines  Commentars  und  exegetischen  Hand- 
Buchs;  von  Hu*  in  der  Einleit.  x.  N.  T.,  2,  S.  2,  233  ft;  und 
Anderen,  welche  Wursn  nachweist,  ini  bibl.  Realwörter]». ,  1, 
S.  667. 

3)  Wtmn/s.  a.  O. ;  Luc«,  Cenum.  i.  Job.,  !,  8. 536}  vgt  Kai- 


SM  Zweiler  Abschnitt. 

Was  nun  die  chronologische  Würdigung  der  Synopti- 
ker Abgesehen  Von  Johannes  betrifft,  so  weichen  sie  in  der 
Anordnung  der  Begebenheiten  so  oft  von  einander  ab,  and 
so  wenig  behält  Einer  die  Wahrscheinlichkeit  durchs« 
auf  seiner  Seite,  dafs  auf  jeden  von  ihnen  eine  Zahl  chro- 
nologischer Verstösse  kommt,  welche  seine  Verläßlichkeit 
in  diesem  Stücke  untergraben  mofs.  üeberdiefs,  wenn 
man  ihre  ganse  Darstellungsweise  ansieht,  so  ist  an  der 
Behauptung,  sie  haben  bei  Abfassung  ihrer  Bacher  an 
keine  bestimmte  Zeitordnung  gedacht*),  wenigstens  so  viel 
wahr,  daüs  ihre  Erzählungen  Aber  den  Zeitraum  von  der 
Taufe  Jesu  bis  nur  Leidensgeschichte  allerdings  einem 
Aggregate  von  Anekdoten  *)  ähnlich  sehen,  welches  meistern 
nur  nach  Rücksichten  der  Analogie  und  Ideesmssoebuea 
'gemacht  ist ;  wobei  man  fedoch  wohl,  unterscheiden  msb, 
dafs  «war  wir  dem  Inhalte  des  Erafihlten  snfolge  diefs 
einsehen  ,  und  ans  den  unbestimmten  und  eintönigen  Ver* 
bindungsformeln ,  welche  sie  gebrauchen,  achliefsen  kön- 
nen, data  ihnen  die  Einsicht  in  das  genauere  chronologi- 
sche Verhftltnib  des  von  ihnen  Erzählten  abgegangen  sei: 
dabei  aber  aus  dem ,  wenn  auch  noch  so   unbestunaiten, 


•br  ,  biblische  Theologie ,  1 ,  S.  254.  Anm. ;  die  Abhandlung 
über  die  verschiedenen  Rücksichten  u.  s.  w. ,  in  BerthoiWi 
krit.  Journal,  5,  S.  239.  Auch  Olskavshv,  bibl.  Comm,,  1, 
S.  25  f.)  stimmt  überein. 

4)  Olsbausbh,  bibl.  Comm»,  1,  S.  22  ff. 

5)  Unerachtet  des  vielfachen  Anstosses ,  den  man  an  dieser  von 
Lsssnie  entlehnten  Bezeichnung  für  Bestandteile  der  evange- 
lischen Erzählungen  genommen,  muss  ich  sie  doch  beibehal- 
ten ,  bis  man  mir  eine  angemessenere  zeigt  für  einzelne  Gs« 
schichten ,  die ,  jede  ihre  eigentümliche  Pointe  in  sich  tri- 
gend,  von  Mund  zu  Mundo  gehen.  Nur  diese  Form  und  Art 
der  Fortpflanzung  ist  durch  jenen  Ausdruck  bestimmt;  der 
Inhalt  kann  ebensowohl  der  höchste  als  der  niedrigste  sein. 


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Dritte«  Kapitel.    $.  50.  525 

doch  Immerhin  chronologischen  Charakter  der  meisten«  jener 
Oebergangsformeln  (wie  xazaß&vzi  ano  t§  öQsg,  naQayaw 
ixei&BVy  ravra  avvS  IcASvtoq,  iv  ccvrfj  vjj  y(j£(Hf,  rote,  xal 
ids  u.  s*  f.)  abnehmen  müssen,  dafs  die  Verfasser  sich 
geschmeichelt  haben,  eine  chronologische  Erzählung  sn 
geben6). 

Johannes  freilich  unterliegt  in  Bezug  auf  die  Chro- 
nologie seiner  gröTstentheils  eigentümlichen  Ersähinngen 
weder  einer  solchen  Controle  anderer  Berichte,  wie  die 
Synoptiker  untereinander,  noch  auch  fehlt  es  an  Zusam- 
menhang und  Fortschritt  in  seiner  Darstellung;  wir  ban- 
nen daher  seine  Anordnung  nur  so  beurtheilen,  dafc  wir 
fragen:  ist  der  Entwicklungsgang  und  Fortschritt  der  Sa- 
che und  des  Planes  Jesu,  wie  ihn  das  vierte  Evangelium 
gibt,  ein  in  sich  und  bei  Vergleichung  brauchbarer  Data 
uns  den  übrigen  Evangelien  glaubwürdiger?  worauf  die 
Antwort  erst  in  der  folgenden  Untersuchung  sich  erge- 
ben kann« 


6)  ScntscinxiiUfttBR'«  Beiträge,  S.25  ft;  »»  Wbtts,  exeg.  Handb., 
J,  1,  S.  2:  „Es  scheint,  data  die  Sachverbindang  zuweilen 
entweder  gleich  in  der  ersten ,  oder  in  der  zweiten  Hand  in 
die  anschauliche  nach  Zeit-  und  Örtt  ^  Einheit  umgeacala* 
gen  ist. " 


Viertes    Kapitel. 

Jesus    als   Messias  *). 


-  §•    60. 

Indem  wir  von  dem  Verhfiltnifs  handeln,  in  welches 
sieh  Jesus  Nr  messianisehen  Idee  gesetzt  hat,  können  wir 
dasjenige,  was  er  in  dieser  Beziehung  von  seiner  Person 
aassagte,  von  demjenigen  unterscheiden,  was  er  Aber  dsi 
von  ihm  unternommene  Werk  gelufsert  hat» 

Der  gewöhnlichste  Ausdruck ,  durch  welchen  Jen* 
den  Evangelien  zufolge  seine  eigene  Person  beseichnet, 
ist  der  Ausdruck  o  viog  t5  avO-Qüiust  Das  sunlebst  ent* 
sprechende  hebräische  DIK'J^  ist  im  A.  T.  eine  gana  allge- 

n^eine Beaeichnung  des  Menschen  Oberhaupt:  und  so  könnte 
man  es  auch  im  Munde  Jesu  verstehen  wollen.  Diefi 
ginge  in  einigen  Stellen  an;  z.B.  wenn  Jesus  Matth.14,8. 
sagt!  xvqios  yctQ  sei  tö  aaßßars  6  vlog  %5  av&Qi'ms,  w 
könnte  man  diefs  an  und  für  sich  schicklich  mit  Grotius 
gans  allgemein  so  fassen ,  dafs  der  Mensch  Herr  Aber  den 
Sabbat  sei;  besonders  wenn  man  den  Markus  vergleicht, 
bei  welchem  (2,  27.)  der  Sats  vorherging:  zo  odßßaiw 
dia  %w  Svd-Qcmw  iysvero,  8%  6  avO-Qomog  dia  to  odßßazw. 
Allein  die  meisten  übrigen  Stellen  lauten  auf  einen  be- 
stimmten Menschen.  So,  wenn  Jesus  Matth.  S,  20.  den  so 
seiner  Nachfolge  sich  anbietenden  yQaftfiarevg9  um  ihm  die 


*)  Was  sieh  speciell  auf  die  Idee  des  leidenden,  sterbenden  und 
wiederkommenden  Messias  bezieht,  bleibt  hier  ausgeschlossen 
und  der  Leidensgeschichte  vorbehalten. 


Viertes  KapiteL    fc.  öo.  M!I 

V 

Beschwerlichkeiten  zu  bedenken  zu  geben,  welche  mit  der- 
selben verbanden  seien,  darauf  aufmerksam  macht,  dafs 
o  viotf  %h  <x><>iHt>hs  «*  s%uy  tch  T7Jv  xeqxxlrjv  xüvrji  so  mala 
er  hier  einen  bestimmten  Menschen  gemeint  haben,  und 
«war  denjenigen,  an  dessen  Begleitung  der  Schriftgeiehrte 
sieh  erbot :  d.  h.  sich  selbst  Wie  diefs  in  dem  Ausdrucke 
liegen  könne,  hat  man  so  erklärt,  dafs  Jesus,  nach  der 
morgenländisehen  Art ,  das  Ich  eh  vermeiden ,  sich  in  der 
dritten  Person,  als  diesen  Menschen  hier,  bezeichne1). 
Allein  sich  selbst  in  der  dritten  Person  bezeichnen  kann 
man  doch,  sofern  man  verstanden  sein  will,  nur  so,  dafs 
entweder  die  Bezeichnung  eine  bestimmte  ist,  und  auf  kei- 
nen  der  Anwesenden  anfser  dem  Redenden  pafst:  wie 
wenn  der  Vater,  der  König,  von  sich  in  dieser  Weise 
spricht;  oder,  wenn  die  Bezeichnung  an  sich  anbestimmt 
ist,  so  muA  ihr  durch  ein  demonstratives  Pronomen  nach- 
geholfen werden:  wie  namentlich,  wenn  einer  unter  der 
eJlerallgeineinsten  Personalbezeichnung:  Mensch,  von  sich 
selber  reden  .will,  ein  solches  unerläßlich  ist.  So  viel 
etwa  mag  noch  zogegeben  werden,  dafs,  ein  und  das  an- 
dere Mal  statt  eines  hinweisenden  Wortes  auch  eine  bin- 
neigende  Gebärde  genügen  kann;  dafs  aber  Jesus  so  un- 
endlich oft,  als  er  Jenes  Ausdrucks  sich  bediente,  es  je- 
desmal auf  das  Deuten  sollte  haben  ankommen  lassen,  und 
dafs  namentlich  die  Erzähler,  in  deren  Berichten  die  An- 
schauung des  Deutens  wegfiel,  der  Unbestimmtheit  des 
Ausdrucks  nicht  durch  einen  demonstrativen  Beisatz  ab- 
geholfen  haben  sollten,'  ist  undenkbar.  Fanden  diefs  bei* 
4*  Tbeile  Überflüssig ,  so  mofo  die  nähere  Bestimmung  irt 
dem  Ausdrucke  selbst  schon  gelegen  haben.  Hier  sind  nun 
JSinige  der  Meinung,  Jesus  wolle  sich  durch  denselben 
als  den  Menschen  im  edelsten  Sinne  des  Wortes,  als  den 

1)  Paulus,   exeg.  Handb.  1,  b.    S.  465  J    Fritzschi,  in  Mtitth. 
p.  320. 


5S8  Zweiler  Abschnitt. 

Idealen  Menschen ,  bezeichnen  *) ;  allein  von  einer  solchen 
Bedeutung  des  Ausdrucks  zur  Zeit  Jesu  fehlt  übrigens  Je- 
de Spur  *),  und  weit  eher  liefse  sich  die  umgekehrte,  ei- 
nes niedrigen,  verachteten  Mensehen,  darin  nachweisen: 
welche  daher  Manche  auch  für  die  Mehrzahl  der  Steilen, 
in  welchen  Jesus  sich  so  nennt,  vorausgesetzt  haben  *). 
Abgesehen  davon,  dafs  auch  hier  ein  hinzugesetztes  De- 
monstrativem vermifst  wird,  würde,  diese  Bedeutung  «wir 
für  manche  Stellen,  wie  Matth.  8,  20.  Job«  1,  52.,  sieh 
eignen:,  in  Stellen  dagegen,  wie  Job. ,3,  13«,  wo  das 
avaßeßyxevai  eig  %6v  öqccvov,  5,  27. ,  wo  die  xqIgiq  als  Vor- 
recht des  vtog  tö  dvd'(xa7ZQ  dargestellt  ist ,  wird  vielmehr 
ein  Wesen  von  hoher  Würde  vorausgesetzt;  so  wie  Matth« 
10,  23.  die  den  ausgesendeten  Jüngern  gegebene  Versiehe* 
rang ,  ehe  sie  in  sfimmtiiehen  israelitischen  Städten  her 
mngereist  sein  würden,,  werde  des  Menschen  Sohn  ken- 
nen ,  nur  dann  Gewicht  hatte ,  wenn  durch  diesen  Auf- 
druck eine  bedeutende  Person  bezeichnet  war«  Welche 
Würde  und  Bedeutung  aber  Jene  Worte  anzeigten,  dar» 
über  gibt  die  Vergleichung  von  Matth.  16,  28-  Aufsohlift, 
wo  gleichfalls  von  einem  eQxeo&cci  des  Menschensohoi, 
aber  mit  dem  Beisatz:  iv  %f[ ßaöddy  ctvt5,  die  Rede  ist; 
ein  Beisatz,  der  nur  das  messianische  Reich,  also  dar 
uog  %h  dv&Qwnö  nnr  den  Messias,  bedeuten  kann. 

Inwiefern  nun  aber  ein  so  unbestimmt  klingender  Auf- 
druck gerade  den  Messias  bezeichnen  könne,  ist  a« 
Matth«  26,  64.  parall.  zu  ersehen.  Hier  ist  von  einem 
Kommen  des  Menschensohns  inl  rtov  vetpehSv  r§  a(mi 
die  Rede;  mit  unverkennbarer  Beziehung  auf  Dan.  7,1$  f> 
wo  es,  nachdem  von  dem  Untergang  der  vier  Thlere  ge- 
handelt war,  heifst:    ich  sah  in   nächtlichen  Gesichten, 


3)  So  nach  Headxr  z.  B.  HtfiTXR,  im  Immanuel,  S.  265. 

3)  Vgl.  Lücke,  Comm.  zum  Joh.  1,  S.  397  f. 

4)  s.  B.  Grotius. 


Viertes  Kapitel.    $.  60.  519 

und  «iehe,  mit  den  Wolken  des  Himmels  kam  wie  eines , 
Menschen  Sohn  (BfrK  ""D3,  tog  vlog  dv&Qoma,  LAX),  und 

man  brachte  ihn  vor  den  Alten  der  Tage ,  nnd  ihm  ward 
Herrlichkeit  nnd  Königreich  gegeben,  dafs  alle  Völker 
ihm  dienen,  nnd  seine  Herrschaft  ist  eine  ewige  Herrschaft» 
Indem  die  vier  Thiere  V.  17  ft  auf  die  Tier  groben  Reiche  ' 
gedeutet  werden ,  deren  letetes  das  macedonische  mit  sei- 
nem Zweige,  dem  syrischen,  ist,  nnd  indem  nun  nach  de- 
ren Untergang  das  Reich  auf  ewige  Zeiten  dem  Volke 
Gottes  gegeben  werden  soll :  so  kann  unter  dem  in  den 
Welken  Kommenden  nur  entweder  eine  Personifieation 
des  heiligen  Volkes  selbst 5) ,  oder  ein  vom  Himmel  stam« 
äsender  Führer  desselben,  also  ein  messianisches  Wesen, 
verstanden  werden;  nnd  diese  letztere  Deutung  ist  die  bei 
den  Juden  gewöhnliche').  In  dieser  Würde  freilich  ist  . 
das  beschriebene  Snbject  hier  nicht  dnrch  den  Zug,  dals 
es  einem  Menschen  geglichen,  vielmehr  durch  den  andern, 
dafs  es  in  den  Wolken  des  Himmels  daher  gekommen  sei, 
bezeichnet:   wogegen  das  Uftlt  123   nur  entweder  diefs, 

dafs  der  vom  Himmel  Kommende  darum  nicht  in  einer 
übermenschlichen  Gestalt,  etwa  eines  Engels,  sondern  in 
menschlicher,  erscheinen  werde;  oder  den  Gegensatz  der 
Humanität  des  au  erwartenden  Reichs  der  Heiligen  gegen 
die  durch  Thiergestalten  versinnllchte  Inhumanität  der 
früheren  Reiche  ausdrücken  su  können  scheint  *)*  Daher 
haben  «war  die  späteren  Juden  der  Stelle  einen  wesentli- 
cheren Zug  cur  Beseichnnng  des  Messias  entnommen, 
wenn  sie  ihm  von  seinem  Komme«  MW  "OMTOF  den  Na- 


5)  So  unter  den  Juden   Abcncsra,   s.  Haeverxick,   Comm.   zum 
Daniel  S.  244. 

6)  Sca»Tr*mi,  horae,  2,  S.  63.  73;  Hasvsjuiick,  a.  a.  O.  S.  243 f. 

7)  a.   die  vornehmsten    Ansichten    hei     Haitbjuuck,      a.   a.   O. 
S.  242  f. 

Das  Leben  Jesu  ?>te  Aufl.  I.  Band.  34 


.'     530  Zweiter  Abschnitt. 

roen  Animi  beilegten  8) :  indessen  ist  auch  das  ganz  im 
jüdischen  Gesehmacke,  einen  biofsen  Nebenzug,  wie  hier 
die  Verglcichung  mit  einem  Menschensohn,  zur  stehenden 
Bezeichnung  einer  Person  oder  Sache  zn  machen  *)•  Muhte 
so  der  Ausdruck  o  ting  rö  avü-Qotitis  an  die  anf  den  Mes- 
sias bezogene  Stelle  des  Daniel  erinnern:  so  konnte  Jesus 
denselben  unmöglich  so  oft,  und  swar  in  Verbindungen, 
welche  auf  den  Messias  deuteten,  gebrauchen,  ohne  diesen 
dadurch  bezeichnen  zu  wollen. 
v  So  verstanden  auch  die  Juden   den  Ausdruck;  denn 

wenn  sie  Joh.  12,  34* ,  nachdem  Jesus  von  der  Erholung 
des  Menschensohns  gesprochen10),  die  Hinwendung  ma- 
chen, sie  wissen  aus  dem  Gesetz,  dafs  der  Messiss  in 
Ewigkeit  bleibe;  nun  aber  sage  Jesus  von  dem  Menschen- 
I  söhne  aus,  er  müsse  erhöht  werden,  d»  h.  den  Kreusestod 

4  sterben:    wer  denn  nun  dieser   viog  %h  ttf&Qamü  sei? — 

]  wenn  die  Juden  so  fragen:  so  setzen  sie  offenbar  die  Iden- 

tität beider  Begriffe  voraus ,  woran  sie  nur  dadurch  eines 
Augenblick  irre  werden,  dafs  Jesus  dem  Menschensohns 
etwas  zuschrieb,  was  mit  ihren  Messiasvorsteilungen  stritt. 
So  irrig  es  hienaoh  ist,  ans  dieser  Stelle  den  Schluß  so 
ziehen ,  der  in  Rede  stehende  Ausdruck  sei  den  mit  Je» 
dort  sich  unterredenden  Juden  als  Bezeichnung  des  Mes- 
sias unverständlich  gewesen  "):  ••  mufs  *•  deeh  auffalle!» 

8)  Schott«*,   horte,  2,  S.  73« 

9)  Man  denke  nur  an  die  Bezeichnung  jener  Davidischen  Elegie 
2.  Sam.  1,  17  ff.   durch  JT#J>>   und  an  die   Benennung  de« 

Messiss  als  flDX-    Hätte  Sciiuubrmackb*   diese  jüdische  Be- 

zeichnungt weise  beachten  mögen,  so  hatte  er  nicht  die  Be- 
ziehung des  uto<;  th  a.  auf  die  Danielische  Stelle  einen  sonder- 
baren Einfall  nennen  können  (Glaubcnsl.  §.  99.  S.  99.  Aiun). 
10)  Johannes  hatte  ihn  zwar  ungenau  iyta  sagen  lassen;  er  sctxt 
aber  sofort  selbst  die  Bezeichnung  als  6  wo*  Tu~ay&?*n*  vor- 
aus; wie  8,  2S.  Vgl.  Tmoluck,  z.  d.  St. 
11)  Abuson,  Fortbildung,  1,  S.  236.  Thomjck,  Comm.  z.  Job. 
S.  80.     S.  dagegen  NsAMutJt,  L.  J.  Chr.,  S.  129. 


i 


i 


i 


v 
Viertes  Kapitel,    f.  «0.  SSI 

dafs  aufser  Jesu  selbst  und  Stephaitus,  A.  G.  7, 56  (OfFenb. 
1,  13.  gehört  nicht  hieher),  Kiemand  in  N.  T.  dieses  Aus- 
drucks als  Benennung  Jesu  nach  «einer  eigenthffmlichen 
Würde  sich  bedient  Dazu  komme  die  Stelle  Matth.  16. 13  ff., 
wo  Jesus  seine  Jünger  fragt t  ^riva  //«  Uy&oiv  oi  ch'd-Qtimöt 
flvaiy  iov  xiov  th  av&fxoTiH ;  und  nachdem  er  die  verschie- 
denen Ansichten  der  Leute  vernommen,  hinzusetzt:  vuzlg 
de  rlra  f/e  Uyere  elvat;  worauf  Petrus  die  Ueberzeugung 
ausspricht,  <b£s  er  der  X^icoV  sei:  auch  aus  tlieser  Stelle 
wird  wahrscheinlich,  dafs  die  Bezeichnung  Mb  Menschen- 
söhn  wenigstens  nicht  die  gewöhnliche  f&r  den  Messias 
war;  indem  es  sonderbar  gefragt  gewestai  WSre:  für  wen 
haltet  ihr  mich,  der  ich  der  Messias*  bin  ?  wohl  aber  ging 
es  an ,  zu  fragen :  für  wen  sehet  ihr  mich  an ,  der  ich 
mich  durch  den  eigentümlichen  Ausdruck:  6  viog  zS  av- 
&Qwnx,  zu  bezeichnen  pflege  la)  ? 

Gegen  diese  Lieblingsbezeichnung  seiner  Person  und 
Würde  tritt  in  den  Reden  Jesu  die  eigentliche  Benennung 
ab  Mtaolag,  XQtgog,  sehr  zurück.    Der  Samariterin  gibt 
er  sich   als  solchen  zu  erkennen  (Job.  4,  26.);    das  Be- 
kenntnis des  Petrus  nimmt  er  wohlgefällig  an  (Matth.  16, 
16 ff.);  auf  die  Frage  der  Juden  (Job.  16,  24 f.)  und  spä- 
ter des  Hohenpriesters,  ob  er  der  Christus  sei,    antwortet 
er  bejahend  (Matth.  26,  63 f.):  aber  in  eigenen  freien  Re- 
den liebt  er  diese  Bezeichnung  nicht  (Job.  17,3?).    Ebenso 
l2(st  er  sich  den  gleichfalls  för  den  Messias  üblichen  Ti- 
tel:   vlog  Jaßt$,  zwar  von  Andern  geben  (Matth.  9,  27. 
und  Öfter):   er  selbst  aber  gedenAt  desselben  nnr  auf  die 
bekannte  skeptisohe  Weise  in  der  Streitfrage  an  die  Pha- 
risäer, Matth.  22,  41  ff.  '*). 

Fragt  man,  warum  Jesus  diese  beiden  Bezeichnungen 
vermied :  so  springt  bei  der  letztern  der  Grand  besonders 


12)  Vgl.  vm  Witts,  z.  d.  St. 

13)  Vgl..  AuMojf,  a.  a.  Q.  S,  251» 

34 


SS»  Zweiter  Abschnitt. 

triebt  in  die  Augen.  Denn  an  dem  Manen:  8eba  DtvUi, 
hingen  alle  politischen  Erinnerungen  und  Erwartungen, 
welchen  Jesus  nicht  sorgfältig  genng  ans  dem  Wege  g» 
hen  konnte»  Etwas  Aehaliehee  war  es  aber  auch  mit  dar 
Beueiehnung  als  Meaalag  oder  Xqtgog:  auch  sie  war  nit 
der  gewöhnlichen  politischen  Messiasidee  auf  eine  schwer 
abtrennbare  Weise  verwachsen.  Dagegen  wird  dem  Mas- 
sehensohne bei  Daniel  «war  anch  die  Weltherrschaft  ga- 
geben: doch  ist  der  Begriff  desselben  von  vorne  bereu 
höher  gehalten,  and  schon  das  Ungewöhnliche  der  Besakh- 
nnng  machte  sie  aar  Anknöpfang  einer  neuen  Messiasre*» 
Stellung  geeigneter. 

Welche  eigenthfimliohe  Vorstellung  es  gewesen  sei, 
die  Jesus  in  diesen  Ausdruck  hineinlegte,    ist  nicht  ee 
leicht  bu  bestimmen.    Dafs  er  durch  denselben  haha  be- 
merklich machen  wollen,    wie  er,  unerachtet  seiner  Gött- 
lichkeit ,  dennoch  wahrer  Mensch  sei ") :    wäre  nar  dam 
wahrscheinlich ,  wenn  entweder  unter  seinen  ZeMgenonsi 
eine  Messiasrorsteliung  geherrscht  hätte ,  welche  Aber  der 
Gottheit  des  Messias    seine   Menschheit  an   vergessen  ta 
Gefahr  war:  wovon  vielmehr  das  Gegen theil  bekannt  ist; 
oder  wenn  er  der  Hervorhebung  seiner  göttlichen  NaW 
in  seinen  eigenen  Reden  durch  die  Anwendung  jenes  As* 
drucks  auf  sich  ein  Gegengewicht  geben  eu  müssen  glaahte: 
allein  in  einer  solchen,   sich  gegenseitig  einschrAnkenden, 
Wechselbeziehung  erscheinen  die  Bezeichnungen:  vtisfi 
cev&Qomö  und  viog  tö  xheS,  nirgends.      Kann  somit  jener 
Ausdruck  nicht  denjenigen  anaeigen,  welcher,  unerachtet 
seiner  Göttlichkeit,  dennoch  Mensch  ist :  so  geht  doch  dai 
Umgekehrte  an ,  in  dem  vlog  x«  av&QtoTW  denjenigen  sa 
sehen,  welcher,  unerachtet  seiner  menschlichen  Gebrech- 
lichkeit, dennoch  göttlicher  Natur,  die  in  der  Menschheit 
geoffenbarte  Gottheit,  ist ls).     Dtefs  kommt  am  Ende  frei- 

14)  Tbolucx,  a.  a.  O.j   Neander,  S.  151  f. 

15)  ds  Wette,  excg.  Handb.,  |,  |,  S.  87.    Auch  Neandea  itrcift 
an  diesen  Sinn. 


Viertes  Kapitel,    f.  61.  583 

lieh  auf  dasselbe  hinaus  mit  der  oben  abgewiesenen  Auf- 
fassung des  Ausdrucks  als  Bezeichnung  des  idealen  Men« 
sehen:  Aur  dafs  nach  unserer  Erkfftrung  dieser  Sinn  nicht 
der  ursprüngliche,  sondern  lediglich  ein  an  die  aus  der 
Stelle  des  Daniel  geschöpfte  Grundbedeutung  angelehn- 
ter ist. 

5.    «1, 
Jesus  als  o  «V*  r*  *<«. 

Ein  weiterer  Ausdruck,  welchen  Jesus,  aber  ebenso 
oft  auch  Andere,  zur  Bezeichnung  seiner  Person  gebrau* 
eben,  ist  der  Ausdruck :  o  vlog  %5  &t8. 

Denselben  haben  wir  Luc.  1,  85.  in  der  engsten,  ei* 
gentlieh  physischen,  Bedeutung  gefunden,  indem  dort  Jesus 
vermöge  seiner  unmittelbaren  Erzeugung  durch  den  gffttli« 
oben  Geist  so  genannt  worden  war.  In  diesem  Sinne  wen- 
det weder  Jesus  selbst,  noch  einer  seiner  Zeitgenossen  den 
Ausdruck  auf  ihn  an :  sondern  lediglich  der  dritte  Evan- 
gelist legt  eine  solche  Anwendung  dem  Engel  in  den 
Mund,  der  die  Empftngnib  Jesu  verkündigt. 

Umgekehrt  im  allerweitesten  moralischen  und  meta- 
phorischen Sinne  findet  sich  der  Ausdruck  Matth.  5,  9.  45» 
Ifuc.  6, 35.,  wenn  die  Friedfertigen  und  diejenigen,  welche 
in  der  Feindesliebe  und  Wohlthätigkeit  Gott  nachahmen, 
sda  Söhne  Gottes  bezeichnet  werden. 

Der  Ausdruck  kommt  >aber  noch  |n  einem  dritten, 
ganz  eigenthfimlichen ,  Sinne  vor.  Wenn  (Matth.  4,,  3.) 
der  Teufel  Jesum  unter  der  Voraussetzung:  el  vlog  el  v5 
&m,  zum  Verwandeln  der  Steine  s  auffordert;  wenn  Natha- 
naSl  zu  Jesu  sagt:  av  el  6  vlog  rs  &eö,  6  ßaatkevg  zS 
%IöQar}X  (Joh.  ],  50*);  wenn  Betrns  bekennt:  av  el  6  Xqi- 
gog,  o  vlog  %h  &e5  t&  £wvzog  (Matth.  16, 16.  vgl.  Joh.  6, 69.) ; 
wenn  Martha" ihren  Glauben  an  Jesum  so  ausspricht:  iyw 
ttenigevxa,  öti  av  el  6  Xqigog,  6  vlog  %5  &eS  (Job.  11, 47.); 
wenn  der  Hobepriester  Jesum  beschwört,  ihm  zu  sagen, 


\ 


554  Zweitor  Abschnitt. 

ob  er  aei  o  XQtgog,  6  viog  ts  &tö  (Matth.  26,  65.):  so 
will  weder  der  Teufel   etwas  Anderes  sagen,   als:  wenn 
du  der  Messias  bist ;  noch  la'fst  in  den  übrigen  Stellen  die 
Verbindung  des  viog  tö  &tä  mit  Xqlco^  und  ßaoUtv*:  ver- 
kennen ,  dafs  es  fieeeiebnung  des   Messias  ist.    Wiefern 
diefs1),  das  kann  schon  aus  demjenigen  erhellen,  was  be- 
reits gelegentlich  bemerkt  werden  mufste:  dafs  Hos.  11,1* 
%  Mos.  4,  22.  das  Volk  Israel ,   und  ebenso  2.  Sem.  7,  14 
Ps.  2,  7.  (vgl.  89,  28  )  der  König  dieses  Volkes,  als  Sohn 
und   Erstgeborener  Gottes    bezeichnet  ist.      Sobn  Gottei 
wurde  der  König  (wie  das  Volk)  der  Israeliten  nach  der 
Stelle  aus  2.  Sam.  in  Besiehung  auf  das  besondre  und  un- 
mittelbare Ersiehungs-  und  Liebesverha*ltnils  genannt,  Ib 
^welches  Jehova  su  demselben  treten   wollte ;   wosn  oach 
der  Stelle  aus  dem  zweiten  Psalm  noch  der  weitere  Grund 
kommt,   dafs,   wie  menschliche  Könige  einen  Sohn  sau 
Mit-  oder  Unterregenten  anzunehmen  pflegen,  so  der  im* 
litiscbe  König  von  Jehova,  dem  höchsten  Herrscher,  nit 
der    Verwaltung    seiner  Lieblingsprovins    beauftragt  ist 
Dafs  diese,  ursprünglich  auf  jeden  im  Sinne  der  Theokrt* 
tie  regierenden  israelitischen  König  anwendbare  Bezeich- 
nung mit  der  Entfaltung  dea  Begriffs  eines  Messias  w 
sugsweise  auf  diesen ,   als  den   geliebtesten  Sobn  und  ge- 
waltigsten Statthalter  Gottes   auf  Erden,    besogen  werdes 
mufste,  erhellt  von  selbst.    Obgleich  also  Beseichnaug  dai 
Messias,  so  ist  der  Ausdruck  darum  doch  nicht  schlecht- 
hin gleichbedeutend  mit  Xqicoq,   so  da£s  nicht  jeder  tob 
beiden  Ausdrucken    neben   den  gemeinsamen    auch  wiedar 
eigenthümliehe   Merkmale   enthielte.      Sondern,    wie  du 
Volk,  als  es  Jesum  mit  dem  Zuruf:  toOcmd  riß  vup  JaßH 
empfing ,    dabei   eben  an  den  groben  König  und  die  Wie- 
derherstellung seines  Reiches  durch  den  Messias  dachtet 


1)  Vgl.  über  das  Folgende  die  Ausführung  von   Paulus  ,  in  der 
Einleitung  zum  Leben  Jesu,  1,  a,  S.  28  ff. 


Viertes  Kapitel.    $.  61.  535 

so  Übt  sieh  in  den  ebigen  Stellen,  wo  Jesus  als  viog  O-eS 
angeredet  wird,  leicht  entdecken,  dafs  die  Redenden  dabei 
vorwiegend  die  Gott  sugekehrte  Seite  des  Messiasbegriffs* 
seine. Theiluabme  an  göttlicher  Macht  and  Ehre,  in  Auge 
hatten  *). 

Noch  weiter  naeh  dieser  Seite  bin  hat  Jesus  selbst 
den  Ausdruck  umgebildet,  und  zwar  liegt  diese  eigenthffm-  , 
liebe  Umbildung  hier  deutlicher  vor,  als  bei  der  früher 
erwogenen  Beseichnung :  Menschensohn«  Wie  das  nattir*» 
liehe  und  das  rechtliche  Verhaitnif*  zwischen  Vater  und 
Sohn  in  dem  höheren,  gemüthltchen,  sich  aufliebt :  so  war 
es  diese  Seite  seiner  Gottessohnschaft,  {las  Leben  und 
Siehversenken  in  den  Angelegenheiten  des  Vaters,  welche 
zuerst,  schon  in  dem  swölfjahrigen  Jesus ,  ^aufging.  Die* 
selbe  Innigkeit  der  geistigen  Gemeinschaft  ist  es,  welche 
Jesus  später  in  den  Worten  ausdrückt:  nana  pm  naQe- 
4o0t]  vTto  ts  TiavQog  fdW  xal  dösig  imywoMJxsi  tov  vlov>  u 
fiij  6  nazTjQ'  ndi  %ov  ixmkqa  zig  iniyivoiaxetf  ei  prj  6  viog> 
xal  q»  idv  ßshjtat  6  viog  ajtoxalvipai  ( Matth.  11 ,  S7.  )• 
Gans  besonders  aber  herrscht  diese  Fassung  des  Begriffes 
vuig  tS  &e&  im  vierten  Evangelium  vor:  wenn  Jesus  von 
sich  sagt,  er  rede  und  tbue  nichts  von  ihm  selber,  sondern 
nur  „was  er  als  Sohn  vom  Vater  gelernt  habe  (5, 19»  12,49. 
und  sonst);  welcher  Übrigens  in  ihm  (17,  31.) >  und  ojier» 
achtet  seiner  Erhabenheit  über  ihn  ( 14,  28.  vgl*  Lue.  18, 
IS  f.  parail.),  doch  auch  wieder  Eins  mit  ihm  sei  (Job.  10, 30. > 

Hatte  auf  diese  Welse  Jesus  in  seinen  Reden  die  Be- 
seichnung: Gottessohn,  aus  ihrem  jüdisoh-theokratiseheti 
Sinne  eu  religiös -metaphysischer  Bedeutung  erhoben:  so 
ist  es  kein  Wunder,  dafs  die  Juden  nicht  blofs  an  der 
Anwendung,  welche  er  von  jenem  hergebrachten,  sondern 
ganz   besondersi  auch  an   der,    welche    er  von   dem   auf 

2)  Vgl.  i>b  Wsns,  exeg.  Haadb.  i,  1,  S.  38;  Ammov,  a.  *.  O. 
S    255. 


53«  Zweiter  Abschnitt. 

diese  Weise  gesteigerten  Begriff  auf  sieh  machte,  Anstob 
nahmen ;  dafs  sie  ihn  der  Anmafsnng  nicht  allein  metti» 
nischer,  sondern  mehr  noch  göttlicher  Würde,  derGefthr» 
dnng  des  monotheistischen  Princips  ihrer  Religion,  be- 
schuldigten.   Wie  jene  höheren  Aussprüche  Jesu,  so  bat 
auch  diese  Seite  des  Anstofses  der  Juden  vorzugsweise 
das  vierte  Evangelium  aufbehalten  (5, 17  f.  10, 30 ff,  19,7.): 
doch  auch  in  den  synoptischen  mag  s{ch  das  ißiaoqTjtofö 
welches  der  Hohepriester  ausruft,  als  Jesus  seine  Fraget 
av  el  6  Xqigoctj  6  viog  th  &eö;  bejaht,  und  auf  sein  Kom- 
men in  den  Welken   cur  Rechten  der  Kraft  hingewiesen 
hatte  (Matth.  26,  63  ff.  parall.)  —  auch  hier  mag  sieh  der 
Anstofia  des  Hohenpriesters  auf  Beides :  die  Anmafsnng  der 
messianisohen   nicht    nur,    sondern  auch  -  der  göttlichen 
Wörde,  bestehen.     Wenn  Jesus  Job.   10»  34  ff.  ftr  die 
Befngnils,  sich  viog  %u  &eö  eu  nennen,  auf  die  Benennnag 
&€<ü,  welche  im  A.  T.  (Ps.  82,  6.)  auoh  andern  Menschen, 
wie  Porsten  und,  Obrigkeiten,  gegeben  werde,  sich  bereit: 
ao  fallt  es  nwar  auf,  wie  Jesus  am  diesem  so  ferne  liegen- 
den und  preoffren  Argumente  greifen  konnte;    während 
ihm  das  schlagende  so  nahe  lag :    da  im  A.  T.  die  theo- 
kratischen  Könige,   oder,   nach  der  damals  üblichen  Den« 
tung  der  betreffenden  Stellen,  der  Messias,   als  Sohn  Je» 
hova's  beseiohnet  sei:  so  habe  somit  er,  der  sich  ja  V.tt» 
für  den  Messias  erklärt  hatte,  vollkommenes  Recht,  diese 
Benennung  ffir  sich  in  Anspruch  su  nehmen.    Allein,  dafi 
dem  vierten  Evangelium  der  theokratische  Sinn  des  frag- 
lichen Ausdruoks  nicht  geläufig  gewesen  sei,  und  es  des- 
wegen Jesum  hier  auf  den  vagen  metaphorischen  «urüek- 
gehen  lasse,  darf  man  schon  defswegen  nicht  sagen,  weil 
Job.  1,  50.  in  der  Anrede  des  Nathanati  6  viog  tu  %fc5  an 
o  ßaadevg  %ü  '/tfpcnyA,   mithin  an  den  theokratischen  Mes- 
siasbegriff, angeknüpft  erscheint.      Vielmehr  scheint  Jeaas 
diesen  Weg  des  Beweises  defswegen  einsuschlagen,  nai 
von  seiner  Befngnifs,   sich  Sohn  Gottes  su  nennen,  ancs 


Vierte«  Kapitel,    f.  62.  537 

solche  so  fiberseugen,  welche  seine  Messisnität  in  Abrede 
stellten,  also  durch  Stellen ,  in  denen  der  Messias  so  ge- 
nannt wird,  nicht  su 'fiberweisen  waren,  dafs  anch  Jesus 
ein  Recht  habe,  jene  Bezeichnung  auf  sich  anzuwenden *). 

$.    02. 
Jesu  Sendung  und  Vollmacht;   »eine  Präexistens. 

In  Bezug  auf  die  Erklärungen  Jesu  aber  seine  gfftt» 
liehe  Sendung  und  Vollmacht  stimmen  die  vier  Evangelien 
fiberein.  Nicht  nur  ist  er,  wie  jeder  Prophet,  von  Gott  ge- 
sendet (Matth.  10,  40.  Job.  5,  23  f.  56  f.  u.  son«t),  handelt 
und  redet  im  Auftrag  and  unter  unmittelbarer  Leitung 
Gottes  (Joh.5, 19  ff.);  sondern  er  ist  im  ausschliefslicheu 
Besitze  der  vollkommenen  Gotteserkenntntfs ,  die  er  allein 
den  Menschen  mittheilen  kann  (Matth.  11,27.  Joh.S,  13.). 
Als  dem  Messias  ist  ihm  von  Gott  alle  Gewalt  fibergeben 
(Matth.  11,  27.)»  zunächst  über  das  von  ihm  zu  stiftende 
und  zu  regierende  Reich  und  dessen  Mitglieder  (Job.  10, 29. 
17,  6«),  dann  aber  auch  über  alle  Menschen  überhaupt 
(Job.  17,  2.),  und  selbst  fiber  die  äuftere  Natur:  somit 
über  die  ganze  Welt , (Matth.  28,  18.);  sofern  ohne  eine 
durchgreifende  Revolution  in  dieser  das  messianische  Reich 
nicht  begründet  werden  kann.  Bei  einstiger  Eröffnung 
dieses  Reiches  hat  Jesus  als  Messias  die  Vollmacht ,  die 
Todten  zu  erwecken  (Job.  5,  28.),  und  das  Gerioht,  die 
Scheidung  derer,  welche  der  Theilnahme  am  Gottesreiche 
würdig  sind,  von  den  Unwürdigen,  vorzunehmen  (Matth* 
25,  31  ff.  Job.  5,  22.  29*);  lauter  Befugnisse,  welche  die 
jüdische  Zeitvorstellung  dem  Messias  zuschrieb  ')• 

Hiebt  ebenso  einstimmig  sind  die  Evangelisten  in  ei- 
nem andern  Punkte.    Während  nämlich  nach  den  Syno- 


3)  Vgl.  Kaax,  a.  a.  O.,  S.  80.  v  Die  Bemerkung  Nsaudsii's  über 

diese  Steile,   S.  133,  ist  nicht  recht  klar. 
I)  s.  Birtholdt,  Christo!.  Jud.  §§.  8*  35.  42. 


538  Zweiter  Abschnitt.  ' 

ptikern  Jesus  zwar  för  Gegenwart  and  Zakanft  die  höth- 
8te  menschliche  Würde  und  das  erhabenste  Verhiltnifs  wr 
Gottheit  sich  anschreibt;  fiber  den  Anfang  seines  mensch' 
Hoben  Daseins  aber  nicht  zurückgeht:    so   finden  sich  in 
vierten  Evangelium  mehrere  Reden  Jesu ,   welche  die  Be- 
hauptung einer  Präexistenc  desselben  vor  seiner  menschli- 
chen Erscheinung  in  sich  schliefsen.     Zwar,  wenn  in  die- 
sein  Evangelium  Jesus   sich  als  den   vom  Himmel  auf  die 
Erde  Herabgekommenen  bezeichnet  (Job.  3,  13.    16,  28.): 
so  lftfst  sich  dieis  für  sich  genommen  leicht  als  biofo  bild- 
liche Beschreibung  eines   höheren,    göttlichen   Ursprungs 
fassen.     Schon  schwerer,  doch  möglicherweise  vielleicht, 
könnte  die  Behauptung  Jesu:   ttqIv  ^Aßqaaft  yeveo&ui,  vpi 
slftt  (Joh.  8,  58.)   mit    dem   Socinianar   Cbbll   von  einen 
biofs  idealen  Sein  in   der  Vorherbestimmung  Gottes;  die 
Bitte  an  den  Vater  aber  Joh.  17,  5. ,   ihm  die  doia  «■  ge» 
währen,  welche  er  tiqo  ts  tov  xoa/uöv  elvcu  bei  ihm  gehitt 
habe,    von  Verleihung  einer   Jesu   von  jeher  sugedachtei 
Herrlichkeit    verstanden  werden.      Hören   wir    nun   aber 
noch  Joh.  0,  62.   Jesuin  von  einem  avaßalveiv  des  Men- 
scbensohns,  öuh  Jjv  to  Trpors^or,  sprechen:  so  ist  diefetbeili 
für  sich,    theiis  in  Verbindung    mit   den  übrigen  Stelleo 
eine  eu  bestimmte  Bezeichnung  eines  früheren  Seins,   eh 
dafs  wir  dabei  bleiben  könnten,  dieses  für  ein  blofc  idet> 
les  sn  halten  *). 

Man  hat  nun  schon  vermuthet,  diese  Jesu  in  des 
Mund  gelegten  Aussprüche,  oder  wenigstens  ihre  Dentaag 
auf  eine  reale  Prfiexistenc ,  rühren  blofs  von  dem  Verfas- 
ser des  vierten  Evangeliums  her  *),  mit  dessen  im  Prologe 
dargelegten  Ansichten  sie  allerdings  ganz  specifisch  aosam- 
mensttmmen;  denn  war  der  koyog  iv  aQyrj  iiqoq  röV  &&*'• 
so  konnte  Jesus,  in  welchem  er  occq^  by&v&v9  im  realsten 


2)  Vgl.  Tholuck  und  db  Wktts,  z.  d.  St. 

3)  BjuB-iiiCMMBiDKRy  Probabilia,  S.  59. 


Viertes  Kapitel.    $.  6*2.  539 

Sinne  rieb  eine  Präexistene  vor  Abraham*  eine'  Herrlich- 
keit beim  Vater  vor  Grundlegung  der  Welt,  anschreiben« 
Zu  jener  Ansieht  sind  wir  aber  nur  in  dem  Falle  berech- 
tigt, wenn  «ich  weder  zeigen  Utfst,  dafa  die  Idee  von  ei« 
ner  Präexistene  des  Messias  zu  Jesu  Zeit  unter  den  palä- 
stinensischen Juden  vorhanden  war,  noch  auch  wahrschein- 
lieh  machen,  dafs  Jesus  unabhängig  von  Zeit*  und  Volks* 
Vorstellungen  auf  eine  solche  Ansioht  von  sieb  selbst  ge* 
kommen  sei 

DaXs  nun  das  Letztere  stattgefunden,  und  Jesus  aus 
eigener  Erinnerung  von  seinem  vermenschlichen  und  vor-» 
weltlichen  Zustande  gesprochen  habe,  diese  Annahme  hat 
an  Pythagoras,  Ennius,  Apollonios  von  Tyana,  gefährliche 
Analogien;  deren  angebliche  Erinnerung  an  die  vor  dem 
jetzigen  Dasein  von  ihnen  durchlaufenen  Persönlichkeit 
ten  *)  jetzt  allgemein  entweder  als  spätere  Fabel ,  oder  als 
Schwärmerei  jener  Männer  selbst,  betrachtet  wird.  In* 
dessen  ist  nicht  zu  fibersehen,  dafs  die  Erinnerung  Jesu 
nicht ,  wie  bei  jenen  Männern ,  auf  ein  früheres  irdisches, 
sondern  himmlisches  Dasein  geht:  und  so  können  wir  nicht 
wissen,  ob  einem  Gemfithe  von  der  religiösen  Innigkeit  Je» 
au  die  Gemeinschaft  mit  Gott,  deren  es  sich . bewufst  war, 
sich  nicht  im  Reflex  der  Phantasie  als  Erinnerung  an  ein 
früheres  Sein  bei  Gott  gestalten  konnte.  Lieber  wenigstens 
möchte  ieh  die  Sache  so  fassen,  als  mich  auf  die  göttliche 
Natur  Christi  im  orthodoxen  Sinne  berufen,  vermöge  wel- 
cher ihm  eine  Erinnerung  eingewohnt  habe,  die  freilieh 
blofsen  Menschen  nicht  zukommen  könne;  eine  Vorstel- 
lung, welche  Jesum  zu  einem  fremdartigen  Wesen  macht, 
dergleichen  eines  weder  dem  Philosophen  und  Historiker 
glaublich ,  noch  dem  Glaubigen ,  wenn  er  sieh  recht  ver- 
steht, tröstlich  sein  kann  6). 

4)  Porphyr,  vita  Pythag.  26  f.     Jamblich.  14 ,  63.     Diog.  Laürt. 
8,  4  f.  14.    Baur  ,    Apollonius  von  Tyana,  S.  64  f.  98  f.  185  f. 

5)  Vgl.  ScttLKisftaucHSji,  Glaubens!.  2}  S.  <J9- 


540  Zweiter  Abschnitt 

Psychologisch  aber  scheint  ein  solches  Bewufstssin  an 
so  leichter  in  Jesn  rieh  heben  bilden  sm  können,  wenn 
geschichtlich  ähnliche  Vorstellungen  vom  Messias  gegeben 
waren.  Eine  Grundlage  so  dergleichen  Zetaronteiluog» 
konnte  man,  was  das  A.  T.  betrifft,  etwa  in  der  ange- 
führten Danielischen  Beschreibung  von  dem  in  den  Wol- 
ken des  Himmels  kommenden  Menschensohne  finden;  le- 
dern ohne  Zweifel  schon  der  Verfasser,  und  jedanialli 
mancher  Leser,  sich  denselben  als  ein  übermenschlich» 
Wesen,  das  suvor  gleich  den  Engeln  bei  Gott  geweieo, 
vorgestellt  bat»  Dafs  aber  Jeder,  der  diese  Stelle  auf  den- 
Messias  benog,  und  namentlich  Jesus,  sofern  er  sich  nach 
derselben  den  Menschensohn  nannte,  auch  an  eine  Prtai- 
stens  gedacht  habe ,  lAtst  sich  nicht  beweisen ;  denn  sda 
Kommen  in  des  Himmels  Wolken  dachte  er  sich  doch. 
wenn  wir  von  Johannes  absehen,  nicht  so,  als  wäre  er. 
wie  ein  von  jeher  im  Himmel  su  Hanse  gewesener,  asf 
den  Wolken  auf  die  Erde  herniedergekommen:  sonder« 
nach  Matth.  26,  64.  (rergl.  24,  25.)  eo ,  dals  er,  der  Eid- 
geborene,  nach  Vollendung  seiner  irdischen  Laufbahn  in 
den  Himmel  aufgenommen  werden ,  und  von  da  sur  Er- 
öffnung seines  Reiches  wiederkehren  werde;  wodurch  also 
die  Vorstellung  des  Kommens  in  den  Wolken  eine  Wen* 
dang  bekam,  bei  welcher  sie  nicht  noth wendig  eine  P* 
existenn  in  sich  schlofs.  Sonst  findet  sich  in  den  Prof* 
bien .  dem  Sirach  und  dem  Buche  de*  Weisheit  die  Idee 
einer  persooificlrten  und  endlich  selbst  hypostasirten  Weit* 
heit  Gottes ;  ebenso  in  den  Psalmen  und  Propheten  starke 
Peraonifieationen  des  göttlichen  Wortes6);  besonders  wich- 
tig aber  ist ,  dafs  in  Folge  der  Scheue  des  späteren  J* 
denthums  vor  Antbropomorphismns  in  der  Vorstellung  von 
göttlichen  Wesen   es  gewöhnlich   wurde,  sein  Sprechen, 


6)  S.  die  Nachweisung  und  Auslegung  der  Stellen   bei  Lßc», 
Conun.  xum  Ev.  Joh.  1,  S.  211  ff. 


Viertes  Kapitel.    $.  «L  841 

* 

Erscheinen  und  unmittelbares  Einwirken  dem  Wort  0X10*0) 
oder  der  Wohnung  QtnTSGO  Jehova's  suBuschreiben,  wie 
rieh  diefs  schon  in  dem  uralten  Targum  des  Onkelos  fin- 
det 7).    Diese  Vorstellungen,  Anfangs  blofte  Umsohreibun- 
gen  des  Namens  Gottes  ,  bekamen  bald  den  schwankenden 
Werth  einer  eigenen  Hypostase ,  eines  Ton  ihm  yersohie- 
denen  nnd  doch  mit  ihm  einigen  Wesens»    Da  die  meisten 
Offenbarungen  nnd  Einwirkungen  Gottes,  als  deren  Organ 
dieses  personificirte  Gotteswort  angesehen  wurde,  «u  Gun- 
sten des  israelitischen  Volkes  geschehen  waren:  so  war 
es  natürlich ,  diejenige  von  Gott  noch  su  veranstaltende 
Erscheinung,   von  welcher  das  meiste  Heil  für  Israel  er- 
wartet wurde,   die  Erscheinung  des  Messias,  in  besondre 
Besiehung  mit  dem  Wort  oder  der  Scheckina  su  setaen; 
woraus  sich  einerseits  die  Vorstellung,  dab  mit  dem  Mes- 
sias  die  Sckechina  erscheinen  werde9),    andrerseits  das 
sieh  ergab,  dafs,  was  der  Sckechma  sususchreiben  war, 
aueh  vom  Messias  ausgesagt  wurde;    eine  Darstellunirs- 
weise,  welche  nicht  blofs  bei  den  Rabb!n«ft,  sondern  auch 
bei  dem  Apostel  Paulus  sich  findet.     Hienach  war  der 
Messias  schon  in  der  Waste  der  unsichtbare  Begleiter  und 
WohlthXter  des  Volks  Gottes  (1.  Kor.  10,  4.  9.)  9) ;  er  war 
bereits  bei  den  ersten  Eltern  im  Paradiese10);  schon  bei 
der   Weltschöpfung   war  er    als  Organ  derselben    thätig 
CKol.  1, 16.) ;  selbst  vor  derselben  exktirte  er  n),  und  war 


7)  Bs&noiDT,  Chrittologia  Judaeor.   §(.  25  —  25.    Vgl.  Lucas, 
s.  a.  O.  S.  244.  Anm. 

8)  Schöttskiv,  2,  S.  6  f. 

9)  Targ.  Jes.  16,  i :   Iste  (Messias)  in  deserto  fuit  rupes  eccle- 
siae  Zionis  (bei  Bertboldt,  a.  a.  O.  S.  145.)« 

10)  Sobar  chadascb  f.  82,  4,  bei  Schott*!*,  2,  S.  440. 

11)  Nexach  Iirael  c.  35  f.  48,  1.  (bei  Schmidt,  Bibl.  für  Kritik 
u.  Exegese,  1,  S.  38) :  VTITI  *2BO  FTUTO-  Sohar  Levit.  f.  14, 
56,  (bei  Schott***,  2,  S.  436) :  Septem  (htmtna  condtta  sunt, 
anteguam  mundus  eonderetur) ,    nimirum et  lumen 


542  *  Zweiter  Abschnitt. 

vor  seiner  Menschwerdung   In   Jesus  in   herrlichem  Zu- 
stande bei  Gott  (PhJJ.  %  <>.). 

Da  auf  diese  Weise  in  der  höheren  jüdischen  Theo- 
logie unmittelbar  nach  Jesu  Zelt  die  Idee  von  einer  Prfr 
existenz  des  Messias  gegeben  war:  so  liegt  die  Venu* 
thung  nahe,  daifs  dieselbe  auch  schon  in  der  Zeit;  in  wel- 
cher Jesus  sich  bildete,  vorhanden  gewesen,  und  dal*  er 
somit,  wenn  er  sich  einmal  als  Messias  fiifete,  diesen,  tn 
die  Eigentümlichkeit  seines  religiösen  Bewofstseins  in- 
klingenden, Zug  der  Messiasvorstellung  auf  sich  habe 
fibertragen  können.  Dabei  ist  es  jedoch  bemerkenswert!! 
und  bedenklich ,  dafe  nur  der  mit  alexandrinischer  Logo* 
logie  vertraute  Verfasser  des  vierten  Evangeliums  Jesu  die 
Behauptung  einer  Präexistenz  in  den  Mund  legt:  und  es 
wird  von  dieser  Seite  immer  der  Zweifel  offen  bleibe», 
ob  dieselbe  der  eigenen  Ansicht  Jesu  von  sieh,  oder  nur 
der  Reflexion  des  vierten  Evangelisten  über  ihn  angehöre. 

§.    63. 

Wie  bald  sich  Jesus  als  Messias  ^'erteilt,  «ad  als  solcher 

Anerkennung  gefunden  habe? 

Die  vorangestellte  Frage  beantworten  sffmmtliche  Et** 
gelisten  zunächst  einstimmig  dahin,  dafs  er  von  seiner 
Taufe  an  jene  Rolle  flbernommen  habe  *)•  AM°  1****°  ^ 
der  Taufe  Jesu  Dinge  sich  ereignen,  die  ihn  selbst,  sofern 
er  es  nicht  schon  vorher  war,  und  alle,  welche  entweder 
Zeugen  davon  waren,  oder  den  Erzählungen  darüber  Glas* 


Btessiae.  Die  hier  als  real  dargestellte  PrHexistenz  des  Me* 
Sias  findet  sich  mehr  nur  ideal  gefasst  in  Bereschith  rabBa, 
sect.  1.  f.  3,  3,  u.  Pirke  Elieser  3*  (Schott«:!,  ebendas.  und 
db  Wbttb,  bihl.  Dogm.,  §.  200,  not.  g.). 
1)  Auch  diess  ist  einer  der  Ausdrücke,  an  welchen  man  fcst 
Anstoss  nehmen  wollen}  z.  B.  Kbrn,  Hauptthatsachen , 
S.  72.  91. 


Viertes  Kapitel.    §.  63.  543 

ben  schenkten ,  Tön  seiner  Messianttät  überzeugen  nrafs- 
ten;  und  wie  hierauf  nach  Johannes  die  ersten  Jünger 
ihn  gleich  bei'm  ersten  Zusammentreffen  in  dieser  Würde 
anerkennen  (1,  42 ff.):  so  hat  er  nach  Matthäus  (7,  21  ff.) 
gleich  eu  Anfang  seiner  Lehrthätigkeit  in  der  Bergrede 
sich  als  Weltrichter,  mithin  als  Messias,  dargestellt 

Bei  näherer  Betrachtung  jedoch  thut  sich  in  dieser 
Hinsicht  «wischen  der  synoptischen  und  der  johanneischea 
Darstellung  eine  merkliche  Abweichung  hervor.  Während 
nämlich  bei  Johannes  Jesus  seinem  Bekenntnifs,  seine  An- 
hänger ihrer  Ueberseugung,  dafs  er  der  Messias  sei,  durch- 
weg getreu  bleiben :  so  sind  bei  den  Synoptikern  gleich- 
sam Rückfälle  su  bemerken,  indem  theils  auf  Seiten  der 
Jünger  und  des  Volks  die  in  früheren  Fällen  ausgespro- 
chene Üeberzeu^r,nff  Yon  Jesu  Messianität  im  Verlaufe  der 
Erzählung  zuweilen  wieder  rerscim?;^!**«  ran  einer  weit 
niedrigeren.  Ansicht  von  ihm  Plats  zu  machen,  theils  aucb 
Jesus  selbst  mit  der  früher  unumwunden  gegebenen  Er- 
klärung in  späteren  Fällen  mehr  zurückhält.  Diefs  ist 
swar  besonders  auffallend,  wenn  man  die  synoptische 
Darstellung  gegen  die  Johanneische  hält ;  aber  auch  jene 
für  sich  betrachtet,  ist  das  Ergebnifs  ein  ähnliches. 

Was  fürs  Erste  das  Volk  betrifft,  so  ist  freilich  an 
diesem  ein  solches  Schwanken  weder  unwahrscheinlich,  noch 
blofs  den  drei  ersten  Evangelisten  eigentümlich,  sondern 
auch  in  der  johanoeisehen  Darstellung  findet  es  sich«  Nicht 
aliein  bei  jenen  ist  es  der  Fall,  dafs,  nachdem  wegen  der 
Stillung  des  Sturms  die  Leute  im  Schiffe  vor  Jesu  als 
dem  t)iog  Ssö  niedergefallen  waren  (Matth.  14,  33.)?  and 
Besessene  ihn  als  Sohn  Gottes  (Matth.  8;  29.  paratf. ), 
Blinde  aber  als  Sohn  Davids  (Matth.  8,  27.  parail.)  ange- 
rufen hatten,  —  dafs  nachher  doch  noch  die  Erkundigung 
nach  der  Leute  Meinung  von  ihm  kein  anderes  Ergebnifs 
lieferte,  als  dafs  ihn  die  Eitlen  für  den1  (wiedererstande- 
nen) Täufer,   die  Andern  für  Elias,  noch  Andere  für  Je* 


544  Zweiter  Abschnitt 

remias  oder  sonst  einen  Propheten,  Alle  aber  hieb  f  Ar  d* 
nen  Vorläufer  des  Messias  hielten;  nicht  blofe  bei  des 
Synoptikern  findet  sich  dieses  Schwanken  von  Seiten  da 
Volks :  sondern  auch  im  vierten  Evangelium  ist  nach  den 
Versuche  der  wunderbar  Gespeisten,  Jesum  com  menUni- 
schen  König  su  machen  (Joh.  6,  15.)»  die  Yolksstimae 
noch  nicht  einig,  ob  er  der  Messias  oder  der  ihm  ?eran- 
gebende  Prophet  sei'  (Joh.  7,  400 :  natürlich,  da  unter  den 
Volke  theils  die  einen  den  andern  in  Bezog  auf  die  An« 
sieht  von  Jesu  vorausgeeilt  sein ,  theils  auch  dieselben  In- 
dividuen nach  den  Augenblicken  der  Begeisterung,  in  wel- 
chen sie  in  ihm  den  Messias  gesehen  hatten,  wieder« 
einer  geringeren  Ansicht  von  ihm  surficksinken  konnten. 
Schwieriger  ist  die  Abweichung,  welche  die  Jünger 
betrifft.  Während  bei  Johannes  Andreas  zZuvn  nack  let 
ner  ersten  Zusammen];--^  mjf  Jesu  seinem  Bruder  ugf** 
evQTjxetfiev  xov  Mecolav  (1,  42.) ;  ebenso  Philippus  ihn  des 
Nathanael  als  den  von  Moses  und  den  Propheten  Gewd* 
sagten  bezeichnet  (V,  46.) ;  sofort  Nathanael  selbst  ibn  ab 
den  vtog  zö  &eä  und  ßaadevg  zö  'IoqcctjI  begrüfst  (V.  50.); 
das  spätere  Bekenntnifs  des  Petrus  aber  (6,  69.)  nur  wie- 
derholte Versicherung  des  längst  Anerkannten  nach  eisen 
glücklich  überwundenen  Anstpfse  ist:  scheint  bei  den  er 
sten  Evangelisten  erst  naoh  langem  Zusammensein  mit  ihn 
und  kurz  vor  seinem  Leiden  dem  den  Uebrigen  voranei- 
lenden Petrus  die,  Einsieht  aufzugehen,  dafs  Jesu«  fa 
XQigog,  6  vtog  zS  &eS  z5  £wvtoq,  sei  (Matth.  16, 16.  partll.) 
Konnte  dieses  Bekenntnifs,  mufs  man  hier  fragen ,  auf  J* 
sota  so  starken  Eindruck  machen ,  dafs  er  nach  MatthSn 
(V.  17.)  den  Petrus  um  desselben  willen  selig  pries,  und 
seine  Einsicht  als  eine  ihm  su  Theil  gewordene  göttliche 
Offenbarung  darstellte ,  nach  allen  dreien  aber  ( 16,  Jft 
8,  30.  9,  21.)  den  Jüngern,  wie  erschrocken,  die  weitere 
Ausbreitung .  der  von  Pfetrus  ausgesprochenen  Uebersei- 
gung  verbot:   wenn  diese  eine  im  Kreise  seiner  Jünger 


Viertes  Kapitel.    $.  63.  MS 

längst  gehegte  Ansicht,  und  nieht  vielmehr  ein  neues,  dem 
Petrus  jetet  eben  aufgegangenes ,  und  dadurch  erst  den 
Uebrigen  aum  Bewubtsein  gebrachtes  Licht  war8)? 

Aach   in  den   eigenen  Erklärungen  Jesu   aber  seine 
Hessianität   findet  sich  eine  ähnliche  Abweichung.    Nach 
Jobannes  genehmigt  er  nicht  blofs  gleich  Anfangs  die  Hul- 
digung, welche  ihm  Natfahnaäl  als  dem  Sohne  Gottes  and 
Könige  Israels  darbringt,   als  den  richtigen,  obwohl  noch 
nicht  auf  dem  wahren  Grunde  ruhenden,  Glauben  (Tttgavttg, 
1,  51. ):   sondern  auch   den  Samaritern  gibt  er  sieh   nach 
seinem  ersten  Festbesuche  (4,  26.  39  ff.) ,    und  den  Juden 
auf  dem  «weiten  (5, 46),  als  den  von  Moses  geweissagten 
Messias  su  erkennen*      Auch  bei  den  Synoptikern  gibt  er 
sich,  wie  schon  bemerkt,  bereits  in  der  Bergrede  die  Stel- 
lung des   Weltrichters,   mitbin  des  Messias,    nimmt  die 
gleichfalls   erwähnten    messianischen    Anreden    an,    and 
spricht  in  der  Instruotionsrede  (Mattin  10,  33.)  von  seiner 
messianischen  Wiederkunft :  aber  die  beaeicnnete  Stellung, 
die  er  sich  zu  dem  Bekenntnis   des  Petras  gibt, ^scheint, 
mit  diesen  Vorgängen  unvereinbar,  vielmehr  vorauseuse* 
tsen,   dafs  er  sich  bis  dahin   auch  seinen  Jüngern  gegen- 
über noch  nicht  ausdrücklich  für  den  Messias  erklärt  hatte. 
Es  hat  daher  die  neueste  Kritik  des  ersten  Evange- 
liums alle  diejenigen  von  demselben  berichteten  Reden  und 
Thaten,   durch  welche  sich  Jesus  unumwunden  für  den 
Messias  gab,  oder  in  deren  Folge  er  die  laute  Anerken- 
nung, da£s  er  der  Messias  sei,  frei  gewähren  lieb,  wenn 
sie  vor  der  eigenen  Erklärung  Jesu  (Job.  5.)   oder  vor 
dem  apostolischen  Bekenntnifs  (Matth.  16.)  eraähit  wer- 
den,   fflr  Verstöde    des    Verfassers  entweder  gegen   die 
Chronologie,     oder    gegen    die    buchstäbliche   Treue    er- 
klärt, und  in  dem  öffentlichen  Leben  Jesu  ewei  Abschnitte 
unterschieden,    in   deren  erstem  er  sich   noch   nicht  als 


2)  Vergl.  db  Wim  *.  d.  St. 

Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  L  Band.  35 


946  Zweiter  Abschnitt. 


dargestellt,  sondert»  nur  das  johanneische:  perora. 
«W  15777*«  yuQ  rj  ßaGihla  twv  sqovwv  (Matth  4,  17.  vgL 
3,  2.) ,  fortgesetat  habe  8) ;  wobei  nur  das  einseitig  war, 
dafs  die  Kritiker  jene  Anklage  anf  Verwirrung  der  me* 
sianlschen  Oekonomie  im  Leben  Jesu  blofs  gegen  das  er- 
ste,  oder  überhaupt  nur  gegen  die  synoptischen  Evange- 
lien, and  nicht  In  noch  stärkerem  Grade  gegen  das  johan- 
neische erhoben,  welchem  doch  selbst  der  einzige  Finger* 
seig  anf  einen  solchen  Wendepunkt  in  der  Stellang  Jen, 
Matth.  16,  13  ff.  parall.,  fehlt. 

Diese  Ansicht  als  die  richtige  vorausgesetzt,  mub 
sogleich  weiter  gefragt  werden:  oiiterliefs  Jesus  von  Äs- 
ung an ,  sich  als  den  Messia?  darzustellen ,   weil  er  «och 
ftr  sich  selbst  erst  spftter  au  der  Ueberseugung  von  sei- 
ner Messianitttt  gelangte;  oder  hatte  er  diese  für  sich  cwar 
schon,  von  seinem  öffentlichen  Auftritt  an,  verbarg  sie  sber 
aas  gewissen  Rücksichten?    Dm  hierüber  su  entsobekk% 
mujs  ein  bereits  erwähnter  Punkt  noch  genauer  erwog« 
werden.    Bei   den   Wunder  heilangen   Jesu   ist  es  in  des 
ersten   Evangelien,   doch  so,   dafs  auch   im  vierten  sieh 
Aehnliches  findet,  fast  stehende  Formel,  dafs  Jesus  durch 
ein  oga  fufi&il  emrjg  oder  etwas  Aehnliches  dem  Geretteten 
die  Ausbreitung  der  Sache  verbietet :  wie  dem  Aussitsigen, 
Matth.  9,  4.  parall. ;    den  Blinden ,    Matth.  9,  30. ;    einer 
Ansah!  von  Geheilten,   Matth.  12,   16.;   den    Kitern  dm 
wiederbelebten  Mädchens ,  Marc.  5,  43. ;   namentlich  aber 
legte  er  den  Dämonischen   Schweigen   auf,   Marc.  1,  34. 
3,  12.,  und  Joh.  5,  13.  helfet  es  nach  der  Heilung  des  38- 
j&brigen  Kranken:   o  /.  igsvevoew,  ogAa  6Wo$  er  rqi  %bsu$* 
Ebenso  verbot  er  den  Dreien ,  welche  mit  ihm  auf  den 
Verklärungsberge  gewesen   waren,    die  Bekanntmachung 
dieser  Scene  (Matth.  17,  9.) ,  und  nach  dem  ßekenntnifc 

3)  Fmtzuchi,  Co  mm.  in  Mattb. ,    S.  213.  536»    ScuKicxissuaesa, 
über  den  Ursprung  u.  s.  w.,  S.  28  f. 


Viertes  Kapitel.    §.  63.  547 

Petri  den  Jftfigern  die  Verbreitung  der  in  demselben  ent- 
haltenen Ansicht  von.  ihm  (Matth.  16,  20.  parall.)  4).  Nor 
bei  dem  oder  den  Besessenen  im  Gadareneriande  macht 
Jesas  eine  Ausnahme^  indem  er  diesem  auftrügt,  die  ihm 
wiederfahrerie  göttliche  Wohlthat  den  Seinigen  eu  ver- 
kündigen (Marc.  5,  19.  Luc.  8,  39,).  Hjer  seheint  aller- 
dings eine  Rücksicht,  sei  es  anf  den  GemOthsaustand  des 
Geheilten,  oder  auf  das  Bedurfnifs  jener  von  der  Wirk- 
samkeit Jesu  noch  wenig  berfihrten  überseeischen  Gegen- 
den stattgefunden  eh  haben  *)•  Dafs  er  aber  in  der  über- 
wiegenden Mehrheit  der  Fülle  die  Ausbreitung  solcher 
Thatsachen  verbot,  davon  ist  der  Grund  zunächst  kein 
anderer,  als  der  Wonseh,  den  Glauben,  dafs  er  der  Mes- 
sias sei,  sich  nicht  au  sehr  verbreiten  zu  lassen.  Wenn 
es  nftmlich  Marc.  1,  34  heifst,  Jesus  habe  die  Dämonen^ 
welche  er  austrieb,  nicht  reden  lassen,  ori'jjdsioav  athov, 
und  vrenn  er  nach  Maro.  8,  12.  den  Dffmonen ,  und  nach 
Matth*  12,  16.  den  geheilten  Kranken  einschärft:  ifo  firj 
qxxveQOv  avzov  noirjOüMJcr:  so  sollten  offenbar  jene  ihn  nicht 
als  denjenigen  bekannt  machen,  als  welchen  sie  ihn  ver- 
möge ihres  tieferen  dämonischen  Blickes,  diese  nicht  als 
denjenigen,  als  welchen  sie  ihn  aus  der  ihnen  «u  Theif 
gewordenen  wundervollen  Heilung  kannten,   nämlich  als 


4)  Freilich  indem  die  Evangelisten  dergleichen  Verbote  Jesu 
bisweilen  ganx  am  unrechten  Orte  in  den  Mund  legen ,  wie 
*.  B.  Matth.  8,  4.  nach  einer  im  Gedränge  de»  Volks  voll-' 
brachten  Heilung  et  nichts  nützen  konnte,  dem  Geheilten 
die  Ausbreitung  der  Sache  zu  verbieten:  so  mag  es  sein,  dass 
in  der  evangelischen  Tradition,  welche  durch  das  Geheimnis« - 
rolle ,  das  in  jenem  von  Jesu  gespielten  Incognito  lag ,  sich 
angesogen  fand,  die  derartigen  Fälle  unhistorisch  vervielfäl- 
tigt worden  sind.  Vergl.  Fmtzscus,  S.  309;  Scrlbisrmacher, 
über  den  Lukas.  S»  74. 

5)  Olshause*  ,  bibl.  Comm. ,  1 ,  S.  302-  vgl.  261  f. ;    na  Wette, 
exeg.  Handb.,  1,  2t  $.  53. 

35* 


548  Zweiter  Abschnitt 

den  Messias ;  wie  nach  Matth.  16, 20.  die  Jünger  Nlemin« 
den  sagen  sollten,  on  airtog  iciv  6  Xqigog.  Warum  Jen» 
diefs  nicht  wollte,  davon  scheint  Matthäus  (12,  19.)  seine 
Bescheidenheit  als  Grund  ansogeben,  indem  er  im  Zussn- 
menhang  eines  solchen  Verbots  das  '  jesaianisehe  Orakel 
vom  geräuschlos  wirkenden  Knecht  Gottes  (Jes.  42,  lf.) 
auf  Jesum  anwendet;  allein  dieser  Grund  reicht  fflr  eine 
so  durchgreifende  Hafsregel  nicht  aus  *).  Dagegen  liegt 
der  wahre  Grund  jenes  Verbotes  ohne  Zweifel  Job.  6, 15. 
eu  Tage.  Wie  hier  das  Volk ,  welches  aus  der  wunder- 
baren Speisung  geschlossen  hatte,  dafs  er  der  (5.  Mo*.  18, 
15)  verheifsene  Prophet,  d.  h.  der  Messias,  sei,  ihn  sofort 
gewaltsam  «um  König  eu  machen  gedachte:  so  hatte  er 
von  der  Verbreitung  jeder  That'odar  Rede,  die  Hu»  ik 
den  erwarteten  Messias  eu  beurkunden  schien,  eine  Auf- 
regung der  fleischlichen  Messiashoffnnngea  seiner  Zeitge- 
nossen su  befürchten,  deren  Umbildung  in'a  Geistigere  die 
Aufgabe  seines  Lebens  war  ')•  Besonders  bemerkenswert 
ist  es  hiebet,  dafs  Jesus  sowohl  die  Bekanntmachung  der 
Verklärungsscene  bis  auf  die  Zeit  nach  seiner  Auferste- 
hung verbietet,  als  auch  an  das  Verbot  der  Verbreitung 
des  Bekenntnisses  Petri ,  dafs  er  der  Messias  sei ,  sogleM 
die  Verkündigung  seines  bevorstehenden  Leidens  und  Ster- 
bens knüpft.  Sein  Tod  nämlich  war  das  einsige  Mittel, 
durch  welches  er  die  Messiasidee  seiner  Volksgenosse» 
von  ihren  irdischen  Bestandtheilen  eu  befreien  hoffte.  Ehe 
diese  Katastrophe  eingetreten  war,  mufste  jedes  entschie- 
dene messianisehe  Auftreten  falsche  Hoffnungen  erweckest 


6)  Daher  schlug  er  in  sein  Gegentheil  um  im  Sinne  des  Frag- 
mentisten ,  welcher  jenem  Verbote  dufthaus  die  Absicht  un- 
terlegt ,  die  Leute  nur  desto  begieriger  su  machen.  Von 
Zweck  Jesu  und  seiner  Jünger,  S.  141  f. 

7)  Vgl.  Fritz 6 che,  a.  a.  O.,  S.  352;  Tuoluck,  Comm.  s.  Job., 
S.  153. 


Viertes  Kapitel.     $.  64.  549 

daher,  und  nicht  etwa  aus  eigener  Unentschiedenheit,  jene 
Verbäte  Jesu,  seine  Messianitlt  noch  bei  seinen  Lebzeiten 
tintqr  den  Volke  auszubreiten;  daher  die  Vermeidung  des 
Ausdrucks  XQtgog  aur  Beseiebnung  seiner  Person;  daher 
selbst  seinen  Jfingern  gegenflber  eine  Zurückhaltung,  wel- 
che die  endliche  Frage,  wofür  sie  ihn  denn  hielten*  und 
die  Freude/darüber ,  dafs  sie  ihn,  mehr  aus  Andeutungen 
und  Tbaten,  als  aus  Ärmlichen  Erklärungen,  als  Messias 
erkannt  und  festgehalten  hatten  *)• 

f.    64. 

Der  metsiaoische  FUn  Jesu.     Schein  einer  politischen  Seite. 

Wie  der  TXufcr  auf  einen  Künftigen,  so  wies  Jesus 
auf  sieh  selbst  als  denjenigen  hin,  welcher  die  ßaoiXeia 
*twv  bqccvwv  eu  stiften  gekommen  sei.  Die  Idee  4**  mes- 
eianiscben  Reiches  gehörte  dem  israelitischen  Volke  an; 
es  fragt  sieh :  bat  Jesus  sie  nur  so,  wie  er  sie  unter  die- 
sem vorfand,  aufgenommen,  oder  auch  selbsstindig  Modi« 
ficationen  an  derselben  angebracht?  eine  Frage,  die  eigent- 
lich in  demjenigen  schon  beantwortet  ist,  was  bisher  über 
die  persönliche  Stellung  Jesu  bemerkt  wurde. 

Da  die  Messiasidee  unter*  den  Juden  ans  politisch« 
religiösem  Boden  erwachsen ,  ihre  weitere  Ausbildung 
vorzüglich  durch  das  politische  Unglück  dar  Zeiten  beför- 
dert worden  wtor,  und  auch  au  Jesu  Zeit,  nach  dem  ei- 
genen Zeugnifs  der  Evangelien,  erwartet  wurde,  dafs  der 
Messias  den  Herrscherstuhl  seines  Ahnherrn  David  bestei- 
gen ,  das  jüdische  Volk  vom  Drücke  der  Römer  befreien, 
and  eth  Reich  ohne  Ende  stiften  werde  ( Luc  1 ,  32  f. 
68  ff.  A.  0.  1,  6  ) :  so  mufste  die  erste  Frage  diese  sein, 
ob  Jesus  auch  dieses  politische  Grundelement  Jn  seinen 
messianischen  Plan  aufgenommen  habe? 


8)  Vergl.  Kawi,  Haupttiutsachea,  S.  86 ;  Ammox,  Fortbildung,  1, 
S.  235  ff. 


'   \ 


550  Zweiter  Abschnitt. 

Dafa  Jesus  enm  weltliehen  Herrscher  sich  habe  aif- 
werfen  wollen,  ist  von  jeher  von  Gegnern  des  Christen- 
thums  behauptet,  von  keinem  aber  so  scharf  an  der  Baal 
der  Exegese  durchzuführen  versucht  worden,  als  von  den 
Wolfenbüttler  Fragmentisten  *),  welcher  ihm  übrigens  hie- 
be! das  Streben  nach  sittiioher  Besserung  seiner  Nation 
keineswegs  absprach.  Das  Brate,  was  dem  Frsgmentistei 
cufolge  für  einen  politischen  Plan  Jesu  asu  sprechen  scheint, 
ist,  dafs  er  immer  nur  schlechtweg  das  sich  nahende  Met- 
siasreich  ankündigte,  und  die  Bedingungen  des  Eintritts 
in  dasselbe  vorlegte,  ohne  sich  näher  darüber  su  erklären, 
was  es  sei  und  worin  es  bestehe*),  mithin  den  Begriff 
desselben  als  einen  allbekannten  voraussetzte.  Nnn  war 
aber  der  damals  herrschende  Begriff  von  demselben  üb«* 
wiegend  politisch  gefatrbt:  folglieh  konnten,  demFragmeo« 
tisten  eufolge,  die  Juden,  wenn  Jesu«  ohne  nähere  ErklaV 
rung  vom  Messlasreiche  sprach  f  nur  an  eine  weltlicäe 
Herrschaft  denken ;  und  da  Jesus  keine  andre  Aoffsasrog 
seiner  Worte  voraussetzen  konnte  i  so  anufs  er  eben  ao  ha- 
ben verstanden  sein  wollen«  Dann  kommt,  nach  derselbe« 
Ansicht,  dafii  Jesus  die  Apostel,  deren  Vorstelluiigsweiff 
ihm  nicht  verborgen  sein  konnte ,  nur  Verkündigung  des 
Messiasreichs  im  Lande  umherachickte  (Matth.  10.)*  ^u 
aber  hatten  <*iese,  welche  sich  um  die  oberste  Stelle  ia 
dem  von  Jesu  eu  errichtenden  Reiche  senkten  (Matth. 
18,  1«  Lue.  29,  24.) ;  von %  welchen  ewei  sieh  bestimmt  die 
Sitae  zur  Rechten  und  Linken  des  messianischen  Könip 
ausbaten  (Marc.  10,  85  ff.) ;  welche  selbst  naoh  dem  Tod 
und  der  Auferstehung  Jesu  noch  ein  aTWxa&igavuv  %rf 
ßaodelav  ty  ^IoqvtjX  erwarteten  ( A.  6.  1,  6« ) ;  diese  hat- 
ten offenbar  von  Anfang  bis  cum  Ende  ihres  Umgangs  vti 
Jesu   ganz  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  vom  Messias: 


1)  Von  dem  Zweck  Jeau  und  seiner  Junger,  S.  108*- 157* 

2)  Vgl.  lfoiTzscus,  in  Matth.  S.  114. 


Viertes  Kapitel.    $.  64.  551 

wenn  also  Jesus  sie  eis  Herolde  seine«  Reiches  anssandte, 
so  scheint  es  In  seiner  Absicht  gelegen  zu  haben,  dafs  sie 
aller  Orten  ihre  politischen  Messias  begriffe  verbreiten  sollten. 

Unter  den  eigenen  Reden  Jesu  hat  man  besonders 
Eine  hervorgehoben.  Matth.  19,  28.  (vergl.  Lue.  22,  SO.) 
verhelfst  er  auf  die  Anfrage  des  Petrus ,  was  ihnen ,  die 
um  seinetwillen  Alles  verlassen  haben,  dafür  werden  würde? 
«einen  J fingern,  dafs  sie  in  der  rtafoyy&soiu ,  wenn  des 
Menschen  Sohn  seinen  herrlichen  Thron  bestiegen  haben 
werde,  selbst  auch  auf  zwölf  Stählen  sitsen,  und  die  zwölf 
Stämme  Israels  richten  sollen.  Haft  der  nächste  Wort- 
sinn  dieser  Verheifsung  dem  Zusammenhange  der  Messias* 
Hoffnungen  damaliger  Juden  angehöre,  daftir  wird  auf 
l.Kor.  6,  %  hingewiesen,  und  so,  nach  dem  nächsten 
Wortsinne,  müsse  Jesus  haben  verstanden  sein  wollen; 
wenigstens  haben  die  Jünger  ihn  so  verstanden  V  wenn 
doch  selbst  nach  Jesu  Auferstehung  noch  ähnliche  Gedan- 
ken in  ihnen  wohnten ;  und  da  Jesus  ihre  Geneigtheit  cu 
weltlichen  Messiashoffnungen  aus  mehreren  Proben  kannte: 
po  würde  er  sich  schwerlich  jenes  Versprechen  erlaubt 
haben,  wenn  er  nioht  beabsichtigte,  diese  Erwartungen  in 
ihnen  zu  nähren.  Dafs  er  diefs,  ohne  sie  selbst  an  thei- 
Jen,  aus  biober  Aecommodation  an  die  Jünger,  um  ihren 
Mutb  au  befeuern,  gethan  habe,  diese  Voraussetzung  lasse 
ihn  unredlich  handeln,  und  diefs  im  gegebenen  Falle  noch 
Jbesonders  nnnötbig,  da  auf  die  Frage  des  Petrus  jede  an* 
dere  lobende  Anerkennung  des  Strebens  der  Jünger  ge- 
nügt haben  würde:  es  bleibe  somit  nur  die  Annahme  übrig, 
dals  Jesns  die  jüdischen  Erwartungen,  welche  er  hier  vor- 
trage, selbst  aueh  getheilt  habe. 

Unter  den  Handlungen  Jesu  beruft  man  sieh  für  die 
Behauptung  eines  politischen  Planes  besonders  auf  seinen 
letzten  Einzug  in  Jerusalem  (Matth.  21,  1  ff.).  Hier  deu- 
tet nach  dem  Fragmentuten  Alles  auf  eine  politische  Ab- 

hin.    Der  Zeitpunkt,  den  er  wählt :  nach  hinreichend 


552  Zweiter  AbsehnitL 

langer  Vorbereitung  des  Volks  in  den  Provtnaen,  das  vea 
diesem  »ah  Ire  ich  besuchte  Osterfest;  das  Thier,  das  er 
besteigt,  durch  welches  er  sioh  mit  Beeng  auf  Zaeharias 
als  den  für  Jerusalem  bestimmten  König  ankündigen  wollte; 
die  Billigung,  die  er  ausspricht,  als  das  Volk  ihn  mit  kö- 
niglichem Grafs  empfffngt;  das  gewaltsame  Verfahren, 
welches  er  steh  sofort  im  Tempel  erlaubt;  die  scharfe 
Rede  endlich  gegen  den  hohen  Rath  (Matth.  23.) ,  an  de« 
ren  Schlufs  er  sich  die  Anerkennung  als  messianiseher 
K^nig  durch  die  J)rohung,  sich  dem  Volke  sonst  gar  siehe 
rne^r  sq  neigen,  erzwingen  will. 

$.    65. 

Data  für  einen  rein  geistigen  Messiasplan  Jesu. 

i 

Nirgends  findet  sich  jedoch  in  unsern  evangelisch« 
Darstellungen   eine  Spur,   dafs  Jesus  politisch  Partei  so 
machen  gesucht  hfitte.    Vielmehr  hat  er  sieh  der  Aufre- 
gung des  Volks,  das  ihn  tum  König  machen  wollte,  est* 
sogen  (Job.  6,  15.);   hat  erklärt,    dafs  das  Messiasreich 
nicht  pteva  naQccnjQqGEWQ  komme,  sondern   unbemerkt  be- 
reits unter  seinen   Zeitgenossen   erschienen   sei  (Lue.  17, 
SO  f.) ;   Vereinigung  des  Gehorsams  gegen  Gott  und  gegen 
die,   wenn  anch  heidnische,   Obrigkeit  fst  sein  Grondsats 
(Matth.  22,21.);  nach  dem  festlichen  Einzug  in  die  Haapt- 
'stadt  weicht  er  der  Menge  aus ,  statt  ihre  Aufregung  » 
seinen  Gunsten  eu  benutzen;  endlich,  was  er  vor  seinen 
Richter  behauptet,  dafs  sein  Reich  sx  ivrevd-w,  ex  ix  rf 
xoctyia  rw«  sei,    und  wofür   er  sich  darauf  beruft,  dafs 
seine  Diener  sich  seiner  Ablieferung  an  die  Jüdische  Obrig- 
keit nioht  gewaltsam  Widersetat  haben  (Job.  16, 36):  dieft 
hat  darin  das  Zeugnifs  seiner  Wahrheit,   dafs  Pilatus  sor 
Verurtheilung  Jesu  von  den  Juden  fast  genöthigt  werden 
mufs;  während  dooh,  wenn  auch  nur  ein  Schein  von  po- 
litischem Streben  gegen  Jesuin  gewesen  wäre,  der  Uö»er 


Viertes  Kapitel     §.  0$.  55* 

r 

der  erste  gewesen  sein  würde,   der  ihn   unschädlich  zu 
machen  gesucht  hätte  *> 

Die  Ausgleichung  scheinbar  so  entgegengesetzter  An« 
seichen  hat  man  neuerlich  so  versnobt,  dafg  man  eine 
frühere  und  eine  spätere  Gestaltung  des  Planes  Jesn  un- 
terschied *)•  Obgleich,  hat  man  gesagt,  sittliche  Besserung 
und  religiöse  Erhebang  seines  Volkes  von  jeher  sein  Haupt« 
sweck  gewesen  sei:  so  habe  er  doch  zu  Anfang  seines 
Öffentlichen  Wirkens  die  Hoffnung  gehegt,  vermittelst  die«. 
eer  Innern  Wiedergeburt  auch  die  lufsere  Herrlichkeit 
der  Theokratie  zu  erneuern,  wenn  er  von  seiner  Nation 
als  Messias  anerkannt,  und  dadurch  zugleieh  als  die  höch- 
ste Staatsgewalt  eingesetzt  würde;  erst  als  diese  Hoffnung 
fehlgeschlagen,  habe  er  hierin  die  göttliche  Verwerfung 
Jeder  politischen  Beziehung  seines  Planer  erkannt,  und 
dadurch  diesen  zur  reinen  Geistigkeit  verklärt  4  Eine  sol- 
che Veränderung  im  Plane  Jesu  soll  namentlich  daraus 
hervorgehen,  dafs  über  sein  erstes  Auftreten  ebensoviel 
Heiterkeit,  als  über  die  spätere  Zeit  seines  Wirkens  Weh- 
muth  ausgegossen  sei;  dafs  an  die  Stelle  des  angenehmen 
Jahrs  des  Herrn,  das  er  Anfangs  verkündete,  herqach  das 
Wehe  habe  treten  müssen,  und  dafs  er  selbst  über  Jeru- 
salem gesagt  habe,  er  habe  es  zu  retten  gedacht,  nun  aber- 
werde es,  auch  politisch,  untergehen. 

Allein  eine  solche   Unterscheidung  zweier  Perioden, 
in   deren   einer  der  Plan  Jesu  eine  andere  Farbe  gehabt 


1)  VergJ.  Neakdee,  L.  J.  Chr.,  8.  626  ff. 

2)  Paulus,  Leben  Jesu,  1,  b,  S.  85.  94.  106 ff.}  Vähturuti,  2, 
S.  310 f.  Hase,  Leben  Jesu,  erste  Auflage,  §§•  68*  84.  In 
der  zweiten  Auflage,  $$.  49. 50«  (vgl.  seine  theol.  Streitschrif- 
ten, i,  S.  61  ff.)  hat  Hais  diese  Ansicht  in  der  Art  xurückgc- 
nonunen,  dass  nun  Jesus  das  Politische  der  Messiasidee  schon 
vor  seinem  öffentlichen  Auftritt  überwunden  .gehabt  haben 
soll. 


554  Zweiter  Abschnitt. 

hälfe,  *l*  in  der  andern,  findet  sieh  bei  den  Evangelisten 
nicht.  Denn  der  iviawog  Kuyis  dexrog,  mit  dessen  Ver- 
kfindignng  er  suerst  auftrat  (Luc*  4,  19«  —  wenn  Anden 
die  chronologische  Stellung  richtig  wäre ;  s.  o.)9  heifst  so, 
nicht  wegen  der  Freudigkeit  des  Verkflndigenden  oder  de* 
rer,  welche  die  Verkündigung  anfnabmen:  sondern  wagen 
des  Inhalts  der  Verkündigung,  welcher,  wie  immer  aufge- 
nommen, ein  freudiger,  ein  evayyiXiov,  blieb.  Ueberdiefo 
aber  findet  sich  in  dem  früheren,  angeblieh  von  heiterer 
Aussicht  belebten.  Abschnitte  des  Lebens  Jesu  bereits  eins 
Hindeutung  auf  seine  Hinwegnahme  (Matth.  9,  15.);  wo" 
gegen ,  mifslicherweise ,  gerade  die  awei  Stellen ,  auf  wel- 
ehe  man  sieh  fflr  die  frühere  politische  Farbe  des  Pltnei 
Jesu  noch  mit  dem  meisten  Scheine  berufen  bann,  db 
Verheifsung  des  Siteens  auf  Thronen  und  der  Einsag  in 
Jerusalen\,  in  die  letrtte  Zeit  des  Lebens  Jesu  fallen.  Non 
sagt  man  swar  in  Betreff  des  Einenge ,  der  sich  nicht  an 
seiner  Stelle  rocken  läfst ,  Jesus  hätte  ihn  nicht  in  die»* 
Weise  veranstalten  können,  wenn  er  nicht  wenigstens  frü- 
her theokratisoh  -  politische  Absichten  gehabt  hätte:  allein 
mit  aufgegebenen  Hoffnungen  im  Angesichte  der  letsten 
Entscheidung  noch  einmal  sm  spielen,  ist  eine  Schwach* 
heit,  die  Jesu  am  wenigsten  ähnlich  sieht.  Die  Rede  tos 
den  Thronen  soll  von  Matthäus  irrig  in  die  spätere  Zeit 
des  Lebens  Jesu  hineingebracht  sein:  eine  an  sich  wohl 
mögliche  Voraussetzung ,  an  der  man  aber  doch  nur  dann 
seine  Zuflucht  nehmen  darf,  wenn  sich  auf  keine  andere 
Weise  helfen  läfst. 

Es  frfigt  sich  demnach,  ob  sich  denn  wirklieb  in  Be- 
treff des  Planes  Jesu  ewel  entgegengesetzte  Reihen  tos 
Merkmalen  gegenüberstehen,  deren  eine  auf  einen  politisch* 
gefärbten,  die  andere  auf  einen  rein  geistigen  Plan  hin- 
führe ?  ob  nicht  an  dieser  oder  jener  Seite  ihr  Gegeassts 
gegen  die  andere  ein  blofser  Schein  sei? 

Hier  nun  läfst  sioh  an  der  einen  Seite ,  an  den  Sftel- 


L 


Viertes  Kapitel.    $.«5.  596 

len ,  in  welchen  sieh  der  messianisebe  Plan  Jesu  als  ein 
rein  geistiger  ad  erkennen  gibt,  auf  keine  Weise  rütteln; 
indem  vielmehr  gesagt  werden  mofs :  weder  der  Charakter, 
noch  das  Verfahren,  noch  das  Schicksal,  noch  der  Erfolg 
Jesu  liefsen  sich  begreifen,  wenn  sein  Plan  eine  politische 
Farbe  gehabt  hätte. 

Anders  dagegen  verhält  es  sich  mit  der  andern  Seite. 
Er  habe,  wird  gesagt,  über  seine  Fassung  des  Begriffs 
vom  Messiasreicbe  sich  nicht  erklärt,  und  daher  seine 
Zuhörer  den  gewöhnlichen,  jüdischen,  bei  ihm  veraasse» 
taen  müssen.  Mufsten ,  ja  konnten  sie  diefs  auch  nur, 
nachdem  Jesus  in  der  Bergrede  als  seine  Aufgabe  die 
Vergeistignng  des  Gesetses  ,  die  Erhöhung  der  sittlichen 
Anforderungen  an  den  Menschen  und  die  Veredlung  seine« 
inneren  und  lufseren  Lebens  ausgesprochen ;  nachdem  er 
in  seinen  Gleiehnifsreden  das  Messiasreich  niemals'  im  jtt» 
dischen  Sinne,  sondern  immer  nur  als  ein  sittlich  -  religiö- 
ses Gemeinwesen  geschildert  hatte:  und  weist  nicht  das 
Irrewerden  seiner  Landsleute  an  seiner  Messianität  deut- 
lich darauf  hin,  dafs  sie  in  seinem  Begriffe  vom  Messias» 
reiche  den  ihrigen  nicht  wiedererkannten?  —  Aber  er 
schickte  seine  Jünger  nur  Verkündigung  der  Nähe  des 
Himmelreiches  aus,  von  welchen  er  doch  wissen  muftte, 
dafs  sie  von  demselben  sehr  sinnliche  Begriffe  hatten. 
Allein  die  ausgesendeten  Jünger  sollten  nur  vorbereitend 
die  Nähe  des  Messiasreiches  verkündigen;  die  nähere  ße» 
Stimmung  dieses  Begriffs,  und  namentlich  die  Läuterung 
desselben  von  seinen  politischen  Merkmalen,  blieb  der  nach- 
folgenden Belehrung  durch  Jesum  selbst  (vgl.  Luc.  10, 1.)» 
nnd  wohl  auch .  dem  Eindruck  seines  bevorstehenden  To- 
des überlassen.  —  Was  die  Rede  von  den  Thronen  be- 
trifft, so  ist  sie  bei  Lukas  mit  der  Verheifsung  verbunden, 
dafs  die  getreuen  Jünger  Jesu  mit  ihm  in  seinem  Reiche 
essen  und  trinken  sollen;  eine  Rede,  die,  unter  Verglei- 
chung  von  Luc.  20,  35  f. ,  nothwendig  bildlich  au  nebni&u 


556  Zweiter  Abschnitt 

ist;  denn  von  wirklichem  Nahrungnehmen  in  der  nahyyi- 
veala  konnte  Jesus  ebenso  wenig  reden  wollen ,  als  voo 
freien  und  sich  freien  lassen  nach  der  avagaaig.  Ebenso« 
wenig  aber  kann  selbst  das  bei  Matthfins  mit  jener  Verbal- 
fsung  verbundene  Versprechen,  verlassene  Häuser,  Aeoker, 
Väter,  Mütter,  Weiber  n.  s.  f.  hundertfältig  surfickaobe- 
kommen ,  wörtlich  verstanden  sein  x  folglich  auch  das  Si- 
tten auf  Thronen  nicht ;  sondern  ea  ist  nur  ein  Bild  da- 
für, dafs  der  Jetdgen  Thätigkeit  für  das  Gottesreich  du 
Mafs  des  l\flnftigen  Antheils  an  der  Ehre  and  Seligkeit 
desselben  entsprechen  werde«  —  Hoch  weniger  beweist 
der  Einsug  in  Jerusalem:  nach  so  deutlichen  Erklärungen 
konnte  Jesus  als  hinlänglich  bekannt  .voraussetaen,  in  wel- 
chem Sinne  er  das  Thier  des  friedlichen  Königs  bestieg 
«nd  die  Huldigung  des  Volks  entgegennahm ;  die  Rffgei 
sofort  gegen  Pharisäer  und  Schriftgelehrte,  sowie  die 
Tempelreinigung,  deuteten  vielmehr  auf  einen  Religio»» 
nnd  Sittenreformator  als  auf  einen  Herrscher  hin.  —  End- 
lich die  Klage,  dafs  er  Jerusalem  habe  retten  wollen,  das 
nun,  weil  es  ihn  verschmäht  habe,  untergehen  werde:  diese 
wörde  höchstens  darauf  hinzeigen ,  dafs  Jesus  früher  ge- 
hofft hätte,  die  von  ihm  herbeisufllhrende  Wiedergeburt 
seines  Volkes  werde  dasselbe  mittelbar  auch  vom  politi- 
schen Untergang  retten,  nicht  aber,  dafs  er  im  Sinne  ge- 
habt hätte ,  unmittelbar  auch  für  seine  politische  Erueae- 
rung  thätig  su  sein  8). 

5»    66« 
Das  Verhältnis*  Jesu  «um  mosaischen  Gesetz. 
Ins  der  von  Jesu  gestifteten  Kirche  hat  die  mosaische 
Religionsverfassung  thatsächlioh  ihren    Untergang   gefui- 


3)  Vergi.  hiezu  Da  Warn,  exeget.  Handbuch,  1,  1,  S.  163  f-  3> 
S.  219;  Kirr,  HauptthaUachen ,  S.  91  ff. ;  Nsasdi»,  l«  J 
Chr.,  S.  102  ff. 


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den ;  es  fragt  sieb,  ob  auch  in  der  Absiebt  des  Stif- 
ters die  Abschaffung  des  Mosaismas  gelegen  habe? 

Hier'  fehlt  es  keineswegs  an  Aussprüchen  and  Hand- 
langen Jesa,  welche  unverkennbar  dahin  su  deuten  schei- 
nen s>  Wo  immer  er  die  Bedingungen  der  Theiloahme 
an  der  ßaatXeiv  zw  sqaviav  auseinandersetzt,  wie  in  der 
Bergrede,  da  hebt  er  nicht  die  Beobachtung  der  einseinen 
mosaischen  Vorschriften,  sondern  den  Innern  Geist  der 
Religiosität  and  Sittlichkeit  hervor;  dem  Fasten,  Beten, 
Almosengeben,  schreibt  er  blbfs  in  Verbindung  mit  ent* 
sprechender  Richtung  des  Gemfiths  einen  Werth  au  (Matth. 

6,  1—18.) ;  in  den*  Ausspruch ,  nicht  was  cum  Mund  ein- 
gehe, sondern  was  aus  demselben  hervorgehe,  verunrei- 
nige den  Menschen  (Mattb.  15,  11.) ,  liegt  die  Nichtigkeit 

,  der  mosaischen  Speiseverbote  eingeschlossen;  die  beiden 
Hauptbestandteile  des  mosaischen  Coltos,  den  Opferdienst 
and  die  Fest-  und  Sabbatfeier,  empfiehlt  er  nicht  nur 
nirgends  ausdrficklich,  sondern  stellt  sogar  den  erstem 
merklich  zurück,  indem  er  einen  yna/t///a?et£,  der  von 
hereliober  Gottes-  und  Nächstenliebe  erklärt  hatte,  sie  sei 
lik&av  navnav  %wv  olaKavrwftazan'  xai  dvouov,  lobend  ftr 
einen  solchen  erklärte,  welcher  d  ficaegav  arto  tijg  ßaoduas 
zS  &eö  sei  (Marc.  12,  SS  f.)  *) ;  wie  er  denn  selbst  das 
tkeov  &&to  xai  «  Ovalav  aus  Hos.  6, 6.  (vgl.  1.  Sam.  15, 22.) 
bei  jeder  Gelegenheit  im  Munde  fährte  (Matth.  9,  13. 
12,  7.);  gegen  die  damals  abliebe  Sabbatfeier  aber  hat 
Jesus  mehr  als  einmal  sowohl  thätlich  verstoßen,  als  aus» 
drttckiich  sich  erklärt  (Matth.  12,  1  - 13.  Marc  2,  23—28. 
S,  1-5.    Luc.  6,  1-10.     13,  10  ff.   14,  1  ff.    Johv  5,  5  ff. 

7,  22 f.  9,  1  ff),  nnd  sich,  als  dem  viog  tö  av&Qomüy  die 
Macht  Aber  den  Sabbat  zugeschrieben;  wie  auch  die  Ju- 


1)  Vergl.  BsufBARo,  Plan  Jesu,  S.  14  ff. 

2)  Eine  Uebertrcibung  des  Ebionitenevangeliums  s.  bei  Epipha- 
^              nius,  haer.  30,  16. 


—      V 


558  Zweiter  Abschnitt. 

den    vom    Messias    eine    Revision    des    mosaischen    Ge» 
;  setses   erwartet  zu  haben    scheinen  *).     Einen   ähnliches 

H  Sinn   kann  man  in  dem  Ausspruche  finden ,   welchen  d» 

vierte  Evangelium  (2,  19.)  Jesu  selbst  Buschreibt;  das  er- 
ste (26,  610  und  «weite  (14,  5a)  ihm  durch  falsche  Ze» 
gen  «geschrieben  werden  lassen  (der  Verfasser  der  A.  8. 
.  6,  14.  hat  etwas  Aebnliches   als  Klagartikel  gegen  Steph» 

nus) :  dvvafiai  xazalvaat  (Joh. :  Xvoctve)  rov  vaov  re  foa 
(Marc:  tov  xbiqotkhijiov) ,  xal  diu  tquSv  TjfieQcjv  oixödofirr 
üat  avrcv  (Marc.:  allovy  d%up(molTjtw ,  olxodoftTjOü));  be- 
sonders  wenn  man  als  authentische  Erklärung  hievon  das 
gelten  llfst,  was  die,  A.  6.  (a.  a.  O.)  statt  der  «weiten 
\  Hälfte  dieses  Ausspruchs  hgt :  xal  dkXd&i  (nämlich  Jeim, 

naoh  der  angeblichen  Behauptung  des  Stephanns)  ta  ftty, 
a  naQedioxev  rjfäv  Mioiioijg.  (Jeberhaupt  kann  man  sagen: 
wer  einmal,  wie  Jesus,  den  alleinigen  Werth  des  Innert 
gegenüber  vom  Aeufoern,  der  Gesammtheit  der  Gesinnaog 
im  Vergleich  mit  der  von  derselben  losgerissenen  einseinen 
Handlung,  in  der  Art  erkannt  hat,  dafs  er  die  Gottes-  osl 
Nächstenliebe  für  das  Wesentliche  des  .Gesetzes  erklärt 
(Matth.  22,  36  ff.))  dem  kann  nicht  verborgen  bleiben, 
dafs  ebendamit  dasjenige  im  Gesetse,  was  auf  diese  beides 
Punkte  sich  nicht  besieht,  als  Unwesentliches  bestiom* 
ist  Gans  entschieden  aber  scheint  die  Aussicht  Jesu  anf 
Abschaffung  des  mosaischen  Cultos  in  den  Aussprüche« 
enthalten  su  sein,  dafs  der  Mittelpunkt  desselben,  de* 
Tempel  in  Jerusalem,  eerstört  (Matth.  24,  2.  parnll.),  ond 
die  Gottesverehrung  künftig  an  keinen  Ort  mehr  gebt* 
den,  eine  rein  geistige  sein  werde  (Job.  4,  21  ff.)* 

Indefs  alles  diefs  ist  doch  nur  die  eine  Seite  der  Stel- 
lung, welche  Jesus  sich  sum  mosaischen  Gesetee  gab;  in- 
dem sich  ebenso  Data  finden,  Welche  su  beweisen  schei- 
nen,  dafs  er  an  einen  Umsturz  der  alten'  Religiousverfe*- 


S)  Bsrtkoldt,  Christolog.  Jud.,  §.  Si. 


•  ? 


Viertes  Kapitel.    $.  66.  559 

sang  »eine»  Volks  nicht  gedacht  habe:  eine  Seite,  weiche 
früher,  ans  leicht  denkbaren  Granden,  vorzugsweise  von 
Gegnern  des  Christenthnms  in  seiner  kirchlichen  Form 
ausgeführt  *),  und  erst  neuerlich,  bei  erweitertem  theolo- 
gischen Gesichtskreise,  auch  von  unbefangenen  kirchlichen 
Auslegern  gehörig  anerkannt  worden  ist  *).  Im  Leben 
vorerst  bleibt  Jesus,  wie  aueh  Paulus,  Gai.  4,  4»,  beaeugt, 
dem  väterlichen  Geeetee  trau:  er  besucht  am  Sabbat  die 
Synagoge,  reist  cur  Festaeit  nach  Jerusalem,  und  ifst  an 
Ostern  mit  seinen  Jüngern  das  Pasobalamou  Wenn  er 
am  Sabbat  heilt  oder  seine  Schaler  Aehren  ausraufen  laTst 
(Matth.  12,  1  f£);  wenn  er  in  seiner  Gesellschafe  keine 
Fasten  und  keine  Waschungen*  vor  Tische  einfahrt  (Matth. 
9,  14.  15,  %)z  so  wa?  diel*  nicht  gegen  das  mosaische  Ge* 
sota,  welches  nur  Enthaltung  von  gemeiner  Arbeit,  rDttSö, 
verlangte  (2.  Mos.  20,  8  ff.  31,  12  ft  5.  Mos.  5X  12  ff.), 
worunter  namentlich  Pflögen  und  Ernten  (2.  Mos.  34, 21. >, 
Holasammeln  (4.  Mos«  15,  32  ff.)  u.  dergl.  begriffen  war, 
Beilen  aber  und  Abpflücken  einiger  Aehren  nur  von  dem 
späteren  Kleinigkeitsgeiste  gerechnet  wurde  e,j  ebenso  war 
das  Waschen  der  Hände  vor  dem  Essen  nur  eine  höchsr 
geswungene  rabbinlsehe  Folgerung  aus  3.  Mos.  15,  ll«9); 
ae  wie,  was  das  Fasten  betrifft,  im  Gesetce  nur  Ein  jähr- 
liches aligemeines  CS*  Mos,  16,  29  ff.,  23,  27  ff.) ,  von  Pri- 
vatfasten aber  nichts  geboten  war  •).  -*-  Von  Aussprächen 
Jesu  findet  sich  in  derselben  Bergpredigt,  in  welcher  er 
die  geistige  Religiosität  so  weit  aber  alles  Rituale  »etat 
Cneben  der  Mob  gelegentliehen,  und  daher  unverfänglichen 


4)  Auch  diest  am  bündigsten  vom  Wolfenhüttier  Fragmentisten, 
von  dem  Zweck  u.  s.  f.,  S.  66  ff. 

5)  Vorzüglich  von  Fritmchi,  in  Matth.  S.  214. 

6)  S.  WnfiR,  bibl.  Realwert  erb.,  lte  Aufl.,  S.  585« 

7)  Vgl.  Faiküi,  exeg.  Handb.,  2,  S.  273. 

8)  Wims,  bibl.  EleaLw,,  2t e  Aufl.,  1,  S.  426. 


■tah 


560  -  Zweiter  Abschnitt 

Voraussetzung   des    vorläufigen  Fortbestehen«  der  Opfer 
Matth«  5,  23  f.)  j   die  Erklärung ,'  dais  er  nicht  gekomoea 
sei,  das  Oeseta  and  die  Propheten  aufzulösen,  sondern  n 
erfüllen  (Matth.  5,  17.);    worauf  sofort   dem   kleinst« 
Bachstaben   des  Gesetzes   ewige   Daner  verhelften  r  und 
demjenigen ,  der  auch  nur  das  geringste  Gebot  desselben 
als  anverbindlich  darstelle,  mit  Zurücksetzung  im  Himmel- 
reich gedroht  wird  *)•  —    Demgemlfs  beobachteten  sack 
die  Apostel,    seibat  nadh   dem  ersten  Pfingstfeste  noch, 
streng  das  jüdische  Gesetz:    sie  gingen  am  die  Gebeto- 
stnnde  in  den  Tempel  (A.  G.  3,  1.);    hielten  siebte  des 
Synagogen ;  hingen  an  den  mosaischen  Speiseverboten  (16} 
14.) ,   und  wnlsten  die  Klagen  der  judaisirenden  Partei 
Über  das    Verfahren    des   Barnabas   und   Paulos,  weicht 
Heiden  tauften ,    ohne  ihnen  die  Last  des  mosaischen  Ge- 
setzes aufzulegen,   wenigstens  durch  keine  Berufung  in* 
ausdrückliche  Erklärungen  Jesu  zurückzuweisen  (A*6.ft> 
Diesen  scheinbaren  Widersprach  in   dem  Benehme» 
und  den  Aenfserungen  Jesu  hat  man  von  apologetisches 
Interesse  ans  in  der  Art  lösen  so  können  geglaubt  j  dafi 
man  nicht  blofs  die  eigene  Gesetzbeobachtung  Jesu,  tos* 
dem  auch  seine  Erklärungen  zu  Gunsten  des  Gesetzes  ib 
nothwendige  Acoommodation  an  seine  Volksgenossen  6fr 
te:   welohe  ihm   ihr   Vertrauen  sogleich   entzogen  hsbeo 
würden,  wenn  er  sich  als  Zerstörer  des  heilig  geachtetes 
Gesetzes  angekündigt  hätte  10).     Hieraus  liefse  sich  wirk* 
lieh  das,  dafs  Jesus  für  seine  Person  das  Gesetz  beobach* 
tete,  so  gut  erklären ,  als  das  gesetzliche  Leben  des  Apo- 
stels Paulus   unter  Juden  nach  seiner  eigenen  Erklärung 
blolse  Anbequemung  war  (1,  Kor.  9,  20.  vgl.  A.G.  16,3} 
Aber  die  starken  Versicherungen  über  die  Unvergänglich- 


9)  Vergl.  Fhxtzschi,  S.  214  ff« 

10)  Rkikhard  ,   a.  a.  O.  S.  15  ff.    Plawck  ,   Geschichte  des  Chrl 
stentkums  in  der  Periode  seiner  Einführung,  1,  S.  175 ff. 


L 


Viertes  Kapitel.    $.  66. 


561 


kett  des  Gesetzes  and  die  Schuld  dessen,  der  euch  aar 
da«  kleinste  Gebot  desselben  aufzulösen  sieh  erkühne,  las- 
sen sich  aas  blofcer  Aoconunodation  unmöglich  ableiten; 
denn  für  unentbehrlich  erklären,  was  man  doch  für  über- 
flüssig hält  and  selbst  nach  and  nach  in  Abgang  au  brin- 
gen wünscht,  würde  neben  der  Unredlichkeit  sogleich  allzu 
unklug  gehandelt  sein. 

Daher  haben  Andere  den  Unterschied  des  Moralischen 
und  Ritaalen  geltend  gemacht ,  and  die  Erklärung  Jesu, 
das  Gesetz  nicht  aufheben  eu  wollen,  nur  auf  das  erstere 
bezogen,  welches  er  durch  reinere  Herausarbeitung  aas 
dem  blofs  Ceremoniellen  «u  vervollkommnen  (jnAqQcSijai) 
gestrebt  habe  ")•  Allein  eine  solche  Unterscheidung  liegt 
In  der  betreffenden  Stelle  der  Bergrede  nicht:  vielmehr 
ist  theils  durch  vofdog  und  nQ&pr/zcu  die  ganze  A.  T.  liehe 
Religionsverfassung  im  weitesten  Umfange  bezeichnet; 
theils  sind  unter  den  unbedeutendsten  Geboten  and  klein- 
sten Buchstaben  des  Gesetzes,  welche  gleichwohl  nicht 
abrogirt  werden  sollen,  nicht  wohl  andere,  als  eben  Cere- 
monialgebote  zu  verstehen  12). 

Glücklicher  ist  die^ Unterscheidung  zwischen  wirklich 
mosaischen  Vorschriften  und  den  traditionellen  Zusätzen 
su  denselben  '*)•  Wirklich  liefen  ja  die  Sabbatheilungen 
Jesu,  seine  Geringschätzung  des  pedantischen  Waschen* 
vor  dem  Essen  u«  dgl. ,  nicht  gegen  Moses ,  sondern  nur 
gegen  spätere  rabbinjsche  Satzungen,  and  auch  mehrere 
Reden  Jesu  führen  auf  diesen  Unterschied«  Matth.  15, 
3  ff.  stellt  Jesus  die  naQadoaig  %wv  nQ&jßvt&Qwv  der  iwolr} 


mb  i 


11)  db  Wim,  bibl.  Dogm.,  $.  210. 

12)  8.  den  Fragmentisten,  vom  Zwecke  u.  8.  w.,  8.  69;  Fmtx- 
scaa,  S.  214;  de  Wbtte,  exeg.  Handb.,  1,  1,  S.  56  j  Nsandbr, 
L.  J.  Chr.,  S.  124. 

13)  Paulus,  exeget.  Handb. ^  1,  b,  S.  600 f.  Leben  Jesu,  1,  a, 
8.  296.  312. 

Dom  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  /.  Band*  36 


502  Zweiter  Abschnitt 

ts  &eS  gegenüber,  und  Matth.  23,  23.  erklärt  er,  wo  sfck 
beide  miteinander  vertragen,  möge  man  xavxa  nmpm, 
xdxelva  ^trj  dynvcti,  wefswegen  er  anch  V.  3.  das  Volk  er- 
mahnt, Alles,  was  ihm  die  Schriftgelehrten  ond  Phartsfier 
vorschreiben,  eu  thun ;  könne  oder  wolle  man  dagegen  nur 
Eines  oder  das  Andere  thun,  bemerkt  er  Matth.  15,  3K, 
so  sei  ei  gerathener,  nm  dem  göttlichen  (durch  Moses  ge- 
gebenen) Gebote*  folgen  gta  können,  itaqaßalvtiv  trpr  wxqa- 
äootv,  als  umgekehrt  TtccQaßabsiv  rrjv  irrolijv  r§  dtü  ita 
rrv  TictQCtdooiv.  Ueberhaupt  findet  er  in  der  Masse  tradi- 
tioneller Gebote  ein  (poQriw  difgßdzcanm  (23,  4.) ,  welch« 
er  dem  hartgedrtfekten  Volke  abzunehmen,  and  ihm  dafür 
sein  tpoqtlw  äLaqtQOv,  seinen  £vyog  xp^os,  aufzulegen  ge- 
denkt (11,  29  f.);  wefswegen  bei  aller  Schonung,  die  er 
gegen  das  Bestehende,  sofern  es  nur  nicht  geradem  ver- 
derblich wirkte,  aussufiben  geneigt  war,  doch  seine  Mei- 
nung dahin  ging,  dafs  alle  diese  endlftcna  dyd-qumujf^ 
eine  qpvre/a,  ijv  ex  igwrevocv  6  nccrijq  6  öQaviog,  «u  Grssde 
gehen  worden  (16,  9.  13.).  Insofern  dieses  pbarissiid* 
Sat«ungswesen  grofsentheils  auf  Aenfserliehkeiten  gerieh* 
tet  war,  unter  welchen  der  edle  sittliche  Kern  des  mosti- 
schen  Gesetses  sieh  verlor;  wie  wenn  man  durch  Ge- 
schenke an  den  Tempel  sich  von  der  schuldigen  Dntentl- 
taung  bedürftiger  Kitern  entbinden  liefe  (15,3),  oder  Aber 
dem  Versöhnten  des  Tills  und  Kämmeis  die  Nächstenliebe 
vergafs  (23,  23.):  *o  ftllt  freilieh  diese  Unterscheiden! 
mit  der  vorigen  gewissermafsen  zusammen ;  indem  es  in 
den  rabbinischen  Satzungen  eben  die  blofs  ceremonielk 
Richtung  war,  was  Jesus  verwarf,  im.  mosaischen  Gesetss 
aber  der  moralisch  -  religiöse  Kern,  um  dessen  willen  er 
es  hauptsächlich  sehätste. 

Consequenterweise  hätte  nun  allerdings  Jesus,  wenn 
er  einmal  das  auf  Sittlichkeit  und  geistige  Gottesvereh- 
rung eich  Beziehende  als  das  allein  Wesentliche  in  der 
Religion  erkannt  hatte,  alles  blofs  Rituelle,  sofern  es  sieh 


Viertes  Kapitel.    $.  66. 


563 


religiöse  Bedeutung  anmaßte,  dergleichen  sich  schon  eine 
grofse  Masse  im  mosaischen  Gesetse  selber  fand,  verwer- 
fen müssen:  allein  man  weifs  auf  der  andern  Seite,  wie 
langsam  solche  Consequensen ,  wenn  ihnen  ein  geheiligtes 
Herkommen  entgegensteht,  gesogen  werden.  Dafs  Gehor- 
sam  besser  denn  Opfer  sei,  hat  angeblich  schon  Samuel 
erkannt  (1.  Sam.  1$,  22.),  und  Assaph,  dafs  ein  Opfer  ge- 
fühlten Danks  Gott  besser  gefalle,  als  von  geschlachteten 
Thieren  (Ps.  50*):  und  doch,  wie  lange  wurden  noeh 
Opfer  neben  und  statt  des  wahren  Gehorsams  beibehalten  ? 
Lebendiger  noch  als  jene  Alten  war  Jesus  von  dieser  Ue- 
berseugung  durchdrangen;  die  wahre  ivtohrj  tth&bä  am 
mosaischen  Gesetze  war  ihm  eigentlich  nur  das  tlfta  zw 
7iatiqa9  das  e  (povevatig  u.  s.  w.,  vor  Allem  aber  das  aya- 
mjoeig  Kvqiw  %6v  &eov  xai  %ov  nkrplw :  dabei  aber  Uelse 
sieh  immer  noeh  denken,  dafs  er,  einzig  an  diese  Seite 
sieh  haltend,  in  eine  genauere  Prüfung  der  andern,  eere- 
moniellen ,  sich  gar  nicht  eingelassen ;  dafs  er ,  in  Folge 
seiner  tiefgewurselten  Achtung  vor  dem  heiligen  Gesät*» 
buche  seiner  Nation,  um  jenes  wesentlichen  Inhaltes  wil- 
len auch  den  unwesentlichen  geehrt  hätte;  was  er  um  so 
eher  konnte,  da  im  Verhfiltnifs  su  dem  in'a  Unsinnige 
übertriebenen  Pedantismus  der  traditionellen  Zusätze  das 
Rituelle .  in?  Pentateueh  als  höchst  einfaeh  erscheinen 
mufste  ")•  ' 

Doch  die  Einsieht,  dafs  das  Gesetz  nicht  für  ewige 
Zeiten  gültig  sei ,  liegt  jedenfalls  darin ,  dafs  Jesus  nach 
Matth.  24-  parall.  dem  Tempel  au  Jerusalem  den  bei  sei- 
ner baldigen  Wiederkunft  bevorstehenden  Untergang ,  und 
nach  Job.  4,  23  f.  sogar  eine  Lösung  der  Gottesverebrung     * 


14)  Vergl.  Ne ander,  L.  J.  Chr.,  S.  118,  welcher  dazu  das  Bei- 
spiel  Fhilö's  anführt,  der  unerschtet  seiner  geistigen  Ausdeu- 
tung des  mosaischen  Gesetzes  dennoch  zugleich  auf  Üessen 
ausser  liehe  Beobachtung  drang, 

36* 


/ 


564  Zweiter  Abschnitt« 

von  jeder  localen  Gebundenheit,  vorausverkfindigt  hat;  4a 
hiemit  die  ganEe  mosaische  Form  des  Coltus  fallen  mnfirte, 
Dafs  er  Matth.  5, 18.  da*  Gesetz  fortdauern  labt,  so  lange 
Himmel  und  Erde  stehen,  widerspricht  dem  nicht,  sobald 
man  sich  ans  Matth.  24.  erinnert ,  dafs  sich  der  Hebrfier 
den  Untergang  seines  Staats  nnd  Heiligthuros  nnd  d* 
Ende  der  (alten)  Welt  im  engsten  Znsammenhang  dsflhte; 
so  dafs  es  dasselbe  war,  «u  sagen:  so  lange  der  Tempel 
steht,  wird  das  Gesetz  danern,  oder  so  lange  die  Weh 
steht  ")•  Zwar  scheint  Luc  16,  16.,  wenn  es  heibt:  o 
vofiog  xai  lü  7iQ<xp7;Tci  k'tog  *l(odvvif  die  Gültigkeit  de«  Ge- 
setzes schon  mit  dem  Auftritte  des  Täufers  aufgehoben; 
indefs  verliert  diese  Stelle  durch  die  Parallele  Matth.  11, 
13. :  narceg  ol  nQ4Xfijrai  xai  6  vopog  tws  %Iiodmt  nQoe^ 
tevoav,  ebenso  ihren  ungünstigen  Sinn,  als  freilieb  dornt 
Lue.  16,  17«,  wo  das  Vergehen  von  Himmel  und  Krdi 
nicht  als  bestimmter  Termin,  vor  welchem  die  Abschaffiwg 
des  Gesetzes  nicht  erfolgen  werde,  aufgestellt,  sondern  ut 
als  der  leichter  mögliehe  Fall  mit  dem  Untergange  des 
Gesetzes  verglichen  wird,  der  Ausspruch  Matth.  5,  & 
seinen  günstigen  Sinn  eu  verlieren  scheint;  wobei  «* 
nur  fragt,  ob  nicht  beidemale  die  Fassung  des  ersten  Enn- 
geliums  als  die  richtigere  aneusehen  ist  ?  Damit  wfiflb 
auch  der  Ausspruch  vom  abeubrechenden  und  wieder  est 
subauenden  Tempel  in  dem  Falle  zusammenstimmen,  wenn 
die  hierin  versprochene  Vergeistigung  der  Religion,  ono, 
nach  Stephanus  angeblicher  Deutung,  die  Abschaffung  des 
mosaischen  Gesetzes,  von  Jesu  an  den  Eintritt  des  mewi* 
nischen  aitav  jtielXayv  geknüpft  war.  Bienach  wären  dsss 
die  Ansicht  Jesu  und  die  des  Paulus  nur  so  verschieden, 
dafs,  was  jener  erst  auf  der  bei  seiner  verherrlichten  Ao* 
kunft  oder  Wiederkunft  en  erneuernden  Erde  sich  als 
wegfallend  dachte,   dieser  schon  in  Folge  der  ersten  Ao- 


15)  Vergl.  Paulus,  exeg.  Handh.,  1,  b,  S.  598  f. 


Viertes  Kapitel.    §.  6*.  565 

litinft  de*  Messias,  noob  auf. der  alten  Erde,  abschaffen  eu 
dürfen  glaubte16). 

Doch  wie  im  Geeprfiche   mit  der  Samariterin  Jesus 
da9  Aufhören    des  ausschliefslicben   Tempeldtenstes  nicht 
blofs  als  etwas  Zukünftiges,    sondern  in  seinem  Anfange 
bereits  Gegenwärtiges  darstellt  (ßQ%etai  üqq  xal  vvv  £$iv) : 
so  stellt  er  an  einem  andern  Orte  sich  als  den  gegenwär- 
tigen Messias  nicht  allein   ober  die  traditionellen  Zusfttse 
sum  Gesets,  sondern   fiber  dieses  selbst.     Bei  der  schon 
eben  erwähnten   Gelegenheit  des  Aehrenraufens  am  Sab« 
bat  ist  es  nicht  nur  das,   allerdings   blofs  der  Ueberliefe* 
rang  ungehörige,  Verbot  dieser  einzelnen  Handlung,    was 
er  nicht  anerkennt;  sondern  er  sagt  gans  allgemein  ,  dafs 
des  Menschen  Sohn  xvqioq  %S  aaßßdzs,  dafs  in  seiner  mes- 
sianischea  Erscheinung   und  Thätigkeit    etwas   Gröfseres 
noch   als  der  Tempel  gegeben  sei,    dessen  Besorgung  die 
Priester  von  den   Sabbatgesetzen  dispensire    (Matth.  12, 
5  ff.  >     Wenn  so  in   der  letsteren  Stelle  eine  Erhebung 
fiBer  das  Gesets  auch  nach  seinen  mosaischen  Beetandthei- 
Jen,  in  der  ersteren  aber,  in  Vergleichnng  mit  den  Gleich- 
nifsreden  vom  Sauerteig,  vom  Senfkorn  u.  a.,  die  Andeu- 
tung einer   all  mahl  igen   Entwiekelung  seines   Reichs   und 
eines  damit  gleichen  Schritt  haltenden  ZurQcktretens  des 
Tempelcultus  enthalten  ist  x   so  stellt  sich   als  das  Wahr- 
scheinlichste doch  diels  hervor,   dafs  Jesus,  wie  Paulus, 
«war  für  seine  Person   das  Gesets   beobachtete,   um  sieh 
nicht  von   seiner  Nation   losunreifsen ,  dafs  er  überhaupt 
keine    gewaltsame  .  Abschaffung    desselben    beabsichtigte ; 
ebensowenig  aber  das  Aufhören  des  Gesetzes  erst  mit  dem 
Abbrechen    der  ganzen   jetzigen  Weltordnung  erwartete: 
sondern  dafs  er   von   dem  Wachs thom   und  Reifen  seiner 
Ideen  hoffte,  es  würden  mit  demselben  die  Biätterhflllen 


16)  Vcrgl.  Hiss ,  L.  J. ,   §.  84.     Rahbinische  Vorstellungen  von 
Abschaffung  des  Gesetzes  s.  bei  Schöttgui,  2,  S.  611  ff. 


566  Zweiter  Abschnitt. 


» 


F* 


und  Schalen  von  selbe*  fallen ,  die  ein  damals  noeh  äugt* 
ben ,  ond  welche  von  dem  noch  anreifen  Kerne  Vorzeitig 
absureifsen,  diesem,  wie  er  wohl  wufste,  nur  cum  Seha- 
den gereichen  konnte. 

Bei  dieser  Stellung  Jesu  darf  et  an*  nicht  mehr  Was* 
der  nehmen,  dafs  er  in  seinen  Reden  Aber  diesen  Punkt  sn- 
rflckhaltend  war,  cnfrieden,  seinen  Jüngern  die  Prftmissen ge- 
geben an  haben,  ans  welchen  frflher  oder  eplfter  die  gewünsch- 
ten Folgerangen  gesogen  werden  mofsten  (vgl.  Job.  16, 13f. 
Ja  selbst  fene  Aussprüche  In  der  Bergrede,  welche  ab  po- 
sitive Veraicherang  der  fortwährenden  Gültigkeit  des  Ge- 
setzes erscheinen  kennen,  treten  bienach  in  ein  änderet 
Licht«  Die  Annahme  einer  Accommodatien  «war,  wie  die 
Unterscheidung  dea  Moralgesetees  vom  Ceremonialgesetn, 
bleibt  aus  den  oben  beigebrachten  Gründen  unauUMg; 
aber  Geist  ond  Buchstabe 'ist  an  unterscheiden,  und  wena 
Jesus  auch  dem  kleinsten  Bnchstaben  des  Gesetaes  ewige 
Daner  ausiohert,  so  kann  diefs  nach  dem  Bisherigen,  wie 
nach  dem  Zusammenhange  der  Bergrede  selbst ,  our  » 
verstanden  werden,  dafs  von  demjenigen  nichts  verleite 
gehen  dfirfe ,  was  von  wirklichem  sittlich  -  religiösen  fit- 
halte selbst  in  den  scheinbar  Kaiserlichsten  Geboten  ent- 
halten sei.  In  ähnlicher  Weise  sagt  ja  auch  Paulas,  der 
den  Werken  des  Gesetzes  allen  Werth  .absprach,  ond  die 
Christen  von  der  Beobachtung  der  Vorschriften  nesselest 
entband,  dennoch  von  seiner  Lehre  aus,  daft  sie  das  Ge- 
setz nicht  umstofse,  sondern  erat  recht  geltend  msehe 
tlgajftev,  Rom.  3,  31.  vgl.  8,  4.)?  <L  b.  nicht  die  Äufeereu 
Vorschriften  desselben,  sondern  den  Gebt,  und  das  Weeee 
des  Gesetzes.  So  ist  die  folgenreiche  Idee  dea  Paulas  res 
dem  Gesetc  als  einer  blofs  vorbereitenden  Eraiehongsu- 
stalt  (yoftog  naidayc*yog9  Gal.  3,  24),  die  aber  mit  Errei- 
chung des  Zweckes  der  Ersiehung ,  mit  dem  Eintritte  des 
Zöglings  in  das  reife  Alter,  als  ferner  überflüssig,  wegfal- 
len müsse:  diese  paulin ische  Idee  ist  nur  Wiederaufnahme 


Vierte«  Kapitel.    $.  67.  567 

dessen,  was  sehen  Jesus  erkennt,  und  euch  der  Form 
nach  in  der  Aeufserung  angedeutet  hat,  dafa  Moses  dem 
Volke  uqoQ  xijv  oxlt}(fotca()diav  awiZv  Manches  angelassen 
habe,  was  jetat,  bei  fortgeschrittener  Entwickelung ,  nicht 
mehr  so  dulden  sei  (Mattb.  10,  8  f.)  17). 

f.    67. 
Umfang  des  mcssianischen  Plans  Jesu.     Verbältnist  zu  den  Heiden. 

Die  Ausdehnung  ober  den  Kreis  des  jüdischen  Volkes 
hinaas,  welche  das  von  Jesu  gegründete  Reich  frühaeitig 
gewann,  war  ansern  Evangelien  aufoige  durch  ausdrück- 
liche ErklSrungen  Jesu  vorgeaeichnet.  Bei  seinem  Auf- 
tritte id  der  Synagoge  seiner  Vaterstadt  wies  Jesus,  cum. 
großen  Verdrösse  der  Nasaretaner,  aunächst  awar  bloüs 
um  seine  Abwendung  von  Nesaret  au  motiviren,  auf  das 
Beispiel  des  Elia  und  Elisa  hin,  welche  um  der  Un Wür- 
digkeit ihrer  Volksgenossen  willen  ihre  Wohlthaten  an 
Heiden  bitten  wenden  müssen  (Luc.  4, 86  ff.)-  Aus  Veranlas- 
sung seines  Zusammentreffens  mit  dem  kapernaitischen  Haupt- 
manne  versicherte  Jesus  ferner,  in  der  ßaotlela  %<öv  «(>or- 
vtav  würden  einst  noXXol  <mo  ävaxcJuüiv  xcd  tfvOfuxh'  kommen 
und  mit  den  Patriarchen  au  Tische  sitaen ,  während  die 
vlol  %rt$  ßaoilticcg ,  d.  h.  offenbar  die  Juden,  welchen  es 
ursprünglich  bestimmt  gewesen,  hinausgeworfen  werden 
würden  (Matth.  8,  11  f.).  Noch  bestimmter  erklärt  er, 
als  Nutzanwendung  der  Parabel  Von  den  Weingärtnern, 
seinen  Volksgenossen :  ort  aQ&jocral  äq>*  vfiiliv  rj  ßaadela 
%b  &€3  xal  dothfoerai  ifhet  noiSrBi  %sg  xaQTtss  avzijs 
(Matth.  21,  43),  und  in  der  Rede  über  die  Parusie  wird 
die  Verkündigung  des  Evangeliums  unter  allen  Völkern  als 
einer  der  Umstände   betrachtet,   welche  der   Wiederkunft 


17)  Vergl.  hirzu  NiAftnan,  S.  117  (f. }   na  Wbtts,  exeg.  Handb., 
1,  I,  S.  56  ff. 


568  Zweiter  Abschnitt 

des  Messias  vorangehen  muTsten  (Matth.  24 ,  14.  Man. 
13,  10.)«  Endlich  nach  seiner  Auferstehung  gibt  Jesus  des 
Jüngern  die  förmliche  and  bestimmte  Anweisung:  no(m- 
&tvzEQ  fiaSTjrevactre  navra  ra't9vrn  ßcmrl^oneg  cnksg x.t.l 
(Matth.  29,  19.  Marc.  16,  15.  Lac.  24,  47.)* 

Auf  rftthselhafte  Weise  jedoch  stellt  sich  diesen  Er» 
klftrungen  Jesu  für  die  Zulassung  der  Heiden  In  das  me> 
sianische  Reich  eine  Reihe  anderer  gegenüber,  aus  wel- 
chen hervorsugebien  scheint ,  dafs  eine  solche  Ausdeutung 
desselben  keineswegs   In  seinem    Sinne  gelegen  habe  *> 

Als.  er  die  Zwölfe  auf  die  erste  Missionsreise  aussen- 
det, weifs  er  ihnen  nichts  angelegentlicher  einzuschärfen, 
als:  etg  odcv  idytSv  yr}  <mtX97pe  —  noQevea&e  di  fiutta 
Ttoog  Ta  nQößcaa  ra   anoXtDloza  <&t&  *IaQcnjl  (Matth.  II, 
5  f.)«    DaT*  diesen  Ausspruch  nur  Matthäus  hat,  die  bei- 
den andern   Synoptiker  aber  nicht,  diefs  ist  schwerfiel 
so  su  erklÄren,  dafs  der  judaisirende  Verfasser  des  erstes 
Evangeliums  diese  Worte  mit  Unrecht  hin  zugesetzt;  w* 
dern  umgekehrt  so ,  daCs  die  hellenisirenden  Verfasser  der 
beiden   andern   sie   weggelassen   haben.     Denn    da  unter 
MatthXus  dooA  nicht  so  sehr  judaisirt,  dafs   er  Jen  die 
Absicht  unterlegte ,   das  messianisohe  Reich  auf  Juden  n 
beschränken;   da  er  vielmehr  S,    11  f.    21,  33 ff.  22,1  & 
28,  19  f.  Jesum   deutlich  von   der  Berufung   der  Heides 
sprechen  läfst:   so  hatte  er  keinen  Anlafe,   einen  so  psrtt 
cularistischen  Zusats  au  machen;   wohl  aber   die  ' anders» 
den  Ausspruch,  cur  Vermeidung,  des  Anstofsea  bei  den  ntna 
mehr  aufgenommenen  Beiden,  wegaulassen. 

Diesem  Verbote  entspricht  das  eigene  Verfahren  Jen 
gegen  das  kananäisohe  Weib,  dessen  Bitte  um  Heilung  &V 
rer  kranken  Tochter  er  defswegen  nicht  gewähren  will, 
weil  er  nur  su  denr  verlorenen  Schafen  des  Hauses  Israel 
gesandt  sei  (Matth.  15,  24.)*    Und  awar  handelte  es  sieb 


1)  So  der  Wolfcnbüttlcr  Fragmentist,  a.  a.  O.  S.  72  ff. 


Viertes  Kapitel.    5.  67.  500 

hier  nicht  einmal  um  Zulassung  «um  messlanischen  Reiche, 
sondern  nur  am  eine  einzelne ,  seitliche  Wohlthat,  wie 
dergleichen  schon  Ellas  und  Elisa  auch  Niobtlsraeliten  er- 
wiesen hatten  (1.  Kön.  17,  9ffc  4.  Köo.  5,  lff.),  auf  deren 
Vorgang  sich  Jesus  selbst ,  wie  eben  erwähnt  worden  ist, 
berief;  wefswegen  auch  die  Jünger  die  Gewährung  der 
Bitte  natürlich  nnd  unanstöfsig  fanden;  so  dafs  man  hier 
a  tninori  ad  majus  scheint  fehliefsen  bu  können:  wenn 
nicht  einmal  diese  äußerliche  Wobithat,  dann  wird  Jesus 
noch  viel  weniger  den  Segen  des  Messiasreichs  einem  Hei- 
den anzuwenden  geneigt  gewesen  sein«  Zwar  ist  hiebe! 
die  ausdrückliche  Erklärung,  nur  zu  den  Israeliten  gesandt 
su  sein,  dem  Matthäus  eigentümlich;  aliein  theils  ist  die 
Auslassung  derselben  bei  Markus  (bei  Lukas  fehlt  die 
gaose  Ersählung)  auch  hier  wie  oben  au  erklären;  theils 
liegt  auch  bei  ihm  in  der  Aeufserung  Jesu,  dafs  die  Kin- 
der vor  den  Hunden  gesättigt  werden  müssen ,  der  Sache 
nach  dasselbe. 

Dazu  kommt  das  Benehmen  der  Apostel  nach  dem 
Hingange  Jesu  (A.  G.  10.  u.  11.).  Her  heidnische  Haupt- 
mann Cornelius,  durch  seinen  gottseligen  Wandel  der  Auf- 
nahme in  die  messianische  Gemeinde  würdig,  wird  von 
Gott  durch  einen  Engel  an  den  Apostel  Petrus  gewiesen« 
Weil  es  aber  Gott  nicht  verborgen  war,  müssen  wir  im 
*  Geiste  der  Ersählung  ergänzen,  wie  schwer  der  Apostel 
dazu  su  bewegen  sein  würde,  einen  Heiden .  ohne  Weite- 
res in  das  Messiasreich  aufzunehmen,  fand  er  für  nOthig, 
denselben  in  einem  symboIi8ohea<43esichte,  das  ihm  die  jü- 
dische Unterscheidung  zwischen  Reinem  und  Unreinem  als 
nichtig  darstellte,  bu  einem  solchen  Schritte  vorzubereiten. 
Auf  diese  Weisung  geht  Petrus  «war  au  Cornelius;  ihn 
aber  mit  seiner  Familie  bu  taufen,  dazu  wird  er  erst  durch 
ein  weiteres  Zeichen  bewogen,  indem  er  nämlich  das 
7tvevfta  ayiov  über  sie  kommen,  sieht.  Wie  ihn  nachher 
die  Judenchristen  in  Jerusalem  über  die  Aufnahme  von 


570  Zweiter  Abschnitt, 

Beiden  eh*  Rede  stellen,  beruft  sich  v  Petras  se  seiner 
Rechtfertigung  nur  auf  die  gehabte  Vision  und  das  bei 
der  Familie  des  Hauptmanns  bemerkte  meöfuz  aytw.  Mai 
mag  von  dieser  Geschiebte  denken,  wie  man  will:  in  jeden 
Falle  ist  sie  ein  Denkmal  der  vielen  Ueberlegnngen  and 
Kämpfe,  weiche  es  nach  Jesu  Hingang  die  Apostel  kostete, 
sieh  von  der  Aufoabmsfähigkeit  der  Heiden  als  solcher  is 
das  Reich  ihres  Christus  sutfiberaeugen,  und  der  Gründe, 
durch  welche  sie  nur  Aufnahme  derselben  endlich  bewo- 
gen worden  sind ;  Kämpfe  und  Ueberlegnngen,  welche,  wie 
es  scheint,  nicht  stattfinden  konnten,  wenn  von  Christ** 
selbst  eine  so  bestimmte  Erklärung  vorlag,  wie  namentlich 
in  dem  sogenannten  Taufbefehl  eine  enthalten  iet»\ 

Doch  eine  Beschränkung  seines  Reiche»  auf  da*  jo- 
dische Volk  kann  man  Jesu  schon  defswegen  unmöglies 
nutrauen ,  weil  er  damit  unter  den  Standpunkt  der  alten 
Propheten  seiner  Nation  uurtiokgesunken  -wäre,  welches 
die  Hoffnung  geläufig  war,  dafs  in  der  messianischen  Zeit 
auch  die  Heiden  nur  Jehovareligion  sich  bekehren  würden 
(Jes.  2,  2  ff.  Jer.  3,  17.  Arnos  9,  12.  vgl.  A.G.  15, 15 ff. 
Maisch.  2,  ll.)»  Demgemäfs  hatte  auch  der  Täufer,  der 
letzte  Prophet ,  die  jüdische  Abstammung  so  gering  ange- 
schlagen, dafs  er  seine  stolzen  Volksgenossen  auf  die  Steine 
am  Ufer  des  Jordan  hinwies  mit  dem  Bedeuten,  im  Noth* 
fall  wäre  Gott  im  Stande,  aus  diesen  dem  Abraham  Nach« ' 
kommen  zu  schaffen  (Matth.  3,  0.)  *)•  Wie  sollte  nun 
Jesus,  der  sonst  in  Bezog  auf  die  flöhe  des  Standpunkte! 
und  Weite  des  Gesichtskreises  so  hoch  über  diesen  Min- 
nern  steht ;  der,  wie  wir  zuletzt  gesehen  haben ,  das  nw 
saisohe  Gesetz  und  den  Tempeldienst  als  Anstalten  be- 
trachtete, welche  bjald  der  Anbetung  Gottes  im  Geist  und 
in  der  Wahrheit  weichen  würden :  wie  sollte  er  ganz  fol- 
gewidrig die  Segnungen  seiner  Stiftung  in  die  zufälligen 


2)  Vfrgl.  Njum>eh,  L.  J    Chr.,  S.  54. 


Viertes  Kapitel.    $.  67.  57t 

Grinsen  Efre*  Volkes  beben  eineehlleben  wollen?  Indem 
durch  diese  üeberiegungeh  ein  entschiedenes  Uebergewiebt 
in  die  Wagscbale  derjenigen  Aussprflebe  und  Ersäblungen 
von  Jesu  geworfen  wird,  welche  die  Idee  der  Ausdehnung 
des  Messiesreiehs  auch  ober  Heiden  enthalten:  se  fragt 
sieh  nur,  ob  die  entgegenstehenden  Stellen  sieh  mit  Jenen 
in  (Jebereinstimmung. bringen  lassen? 

In  dieser  Hinsieht  kann  da?  den  Jüngern  erthettte 
Verbot,  sieb  an  Heiden  na  wenden,  mit  aller  Wahrschein- 
lichkeit als  ein  solches  dargestellt  werden,  welches  blofo 
vorläufig  gelten  seilte;  indem  Jesus  gerathen  fand,  wäh- 
rend seiner  Lebenszeit  das  Evangelium  vorerst  nur  unter 
seinen  Volksgenossen  feste  Wurzel  fassen,  und  erst  später, 
wenn  sich  überdieCt  die  Vorstellungen  seiner  Anhänger 
durch  seinen  Tod  gereinigt  haben  worden,  sich  weiter 
ausbreiten  su  lassen  *).  Die  anfängliche  Härte  gegen  das 
hananäische  Weib  scheint  hieraus  nioht  erklärlich ,  da  es 
sich  hier,  wie  schon  oben  bemerkt,  gar  nicht  um  Zulas- 
sung in  das  messianische  Reich  handelte,  und  fiberdiefs 
Jesus  eine  ähnliche  Wohlthat  bei  einer  andern  Gelegen- 
heit bereits  einem  Heiden  erwiesen  hatte.  Der  Hauptmann 
von  Kapernaum  nämlich,  gleichfalls  ein  Heide  (wie  aus 
dem  ade  er  c<p  iüQcdjl  %oaav%rpf  iücw  bvqw  erhellt),  bat 
Jesu  kaum  eine  ähnliche  Noth  wie  Jenes  Weib  geklagt, 
als  er  sich  schon  von  selbst  erbietet,  nur  Heilung  seines 
Knechts  in  sein  Haus  cu  kommen  (Matth.  8,  5ff.  )•  Das 
aber  macht  hier,  nach  Nianpär's  richtiger  Beobachtung, 
einen  Unterschied,  dafs  das  Ansinnen  des  Hauptmanns 
jnitten  im  jüdischen  Lande,  die  Bitte  der  Kananitin  aber 
an  den  Grausen  der  Heiden  an  Jesum  erging,  wo  er  eher 
befürchten  konnte,- durch  einen  solohen  Vorgang  in  einen 


5)  S.  Rkikhabd,  a.  a.  O. ;  Phjtcm,  Geschichte  de«  Christenthums 
in  der  Per.  seiner  Einführung,  1,  S.  179  ff. ;  uk  Wbtt«,  exc£. 
Handb.,  J,  i,  S7i00;  Nlaadkh,  L.  J.  Chr.,  S.  460  ff. 


57*2  Zweiter  Abschnitt. 

Verkehr  mit  Heiden  verwickelt  su  werden,  der  ihm  flr 
jetzt  noch  nicht  gerftthen  schien.  Ueberdiefs,  weon  wir 
iiuf  den  endliehen  Ausruf  Jesu  sehen:  so  enthielt  dieser, 
in  dem:  eJ  yvvai,  /ueyalrj  ob  rj  nlgts,  eine  Ähnliche  Var- 
herrlichnng  der  Frau,  wie  in  der  verglichenen  ErsShlang 
der  Hauptmann  verherrlicht  wird,  und  es  bleibt  immer 
möglich,  dafs  Jesus  ihre  Glaubensstärke  auf  die  Prob» 
stellen  wollte,  um,  im  Falle -sie  diese  bestfinde,  den  Jon- 
gern  die  Heidin  in  einem  Liebte  an  neigen ,  das  manehen 
Israeliten  beschämen  konnte«  Bndlich  der  scheinbare  Wi- 
dersprueh  ewischen  dem  Taufbefehl  und  den  Bedenklich- 
keite*h  der  Apostel  wegen  Zulassung  von  Heiden  zur  Tasfc 
löst  sich  gleichfalls,  wenn  mau  erwägt,  wie  die  Apostel 
hur  darein  sich  nicht  gleich  finden  konnten  j  dafs  Heides 
als  solche,  d.  h.  ohne  vorher  durch  die  Beschneiduog  sick 
dem  Volk  Israel  einverleibt  su  haben,  und  ohne  fernerhin 
das  Geseta  Jehova's  su  beobachten,  Mitglieder  des  Reiehei 
Christi  sollten  werden  können:  und  darüber  allerdiags 
hatte  Jesus  nichts  bestimmt,  dessen  einfacher  Befehl,  tll* 
Völker  an  taufen,  sammt  der  Drohung,  dafs  das  Mesau* 
reich  wegen  der  Dnwfirdigkeit  der  geborenen  Israelit*! 
en  den  Heiden  litergehen  würde,  es  unentschieden  lieft) 
ob  diese  ohne  Weiteres,  oder  erst  nach  vorhergegangener 
Annahme  des  Judenthums ,  an  den  Segnungen  seines 
ches  Antheil  bekommen  sollten  *)• 


4)  Die  Propheten  dachten  sich  den  Antheil  der  Heiden  am  Mee- 
siasreiche  ohne  Zweifel  in  der  letzteren  Weise,  und  nid 
Roth,  in  epist.  ad  Hebraeos,  p.  117  f.  war  es  Unterscheidung«- 
lehre  der  Schulen  Hülel's  und  Schammai's ,  das«  nach  der 
ersteren  nur  Beobachtung  der  noachischen  Gebote ,  nach  der 
letzteren  Unterwerfung  unter  das  ganze  mosaische  Gesetz  iut 
Bedingung  der  Aufnahme  der  Heiden  in  das  Messiasreich  ge- 
macht wurde. 


Viertes  Kapitel,    i  66.  573 

i 

i.  es. 

Verhältnis*  des  messiaaisefcen  Plans  Jetu  su  den  Samarttanern. 
Sein  Zusammentreffen  mit  der  samarischen  Frau. 

Aehnliobe  Schwierigkeiten  liegen  In  der  Stellung, 
welche  Jesus  sich  und  seinen  Jüngern  so  den  Bewohnern 
Samarieng  gegeben  hat  Während  er  nffmiioh  in  der  In« 
strnetionsrede ,  Matth.  10,  5.,  seinen  Jöngern  das  Besu- 
chen einer  nolig  2afiaqeixwv  eben  so  sehr  wie  das  Betre- 
ten der  oSog  iOriov  untersagt  i  lesen  wir  bei  Johannes 
(Kap.  4.)  9  dafs,  Jesus  selbst  auf  der  Durchreise  dorch 
Saniarien  mit  rielem  Erfolge  als  Messias  gewirkt,  aueh  zu 
dem  Ende  sich  zwei  Tage  in  einer  samarischen  Stadt  auf- 
gehalten ,  und  in  der  Apostelgeschichte  (1,  8.) ,  dafs  er 
vor  seiner  Himmelfahrt  den  Jüngern  aufgetragen  habe, 
seine  Zeugen  nicht  blofs  £v  ^LeQSoaXrjfi  xal  iv  naaj]  rfj  7ö 
dal ^  y  sondern  auch  &  rfj  2afiaQsl$  an  sein.  Dafe  Jesus 
fllr  seine  Person  nicht,  wie  es  nach  jenem  Verbote  schei- 
nen könnte,  Samarien  gXnzlioh  gemieden  habe,  siebt  man 
aas  Luc.  9,  52.  (vgL  17,  110»  wo  seine  Jünger  in  einer 
xw/^7  2afiaQ€iTtSv  ftr  ihn  Quartier  bestellen  wollen ;  wie 
denn  auch  nach  Josephus  der  gewöhnliche  Weg  der  zu' 
den  Festen  reisenden  fjalilXer  durch  Samarien  ging  *)• 
Dafs  er  den  Samaritanern  nicht  abhold  war,  vielmehr  In 
mancher  Hinsicht  ihre  Vorzöge  vor  den  Juden  anerkenn- 
te,  erbellt  daraus,  dafs  er  in  einer  fjleiohnifsrede  gerade 
einen  Samariter  com  Vorbilde  der  Barmherzigkeit  wählte 
(Luc.  10,  30  ff.);  auch  war  ihm  Ja  nach  Luc  17,  16. 
'wirklich  ein  Fall  vorgekommen,  wo  unter  zehn  Geheilten 
nur  Einer,  und  zwar  ein  Samariter,  sich  dankbar  bewies; 
endlich  lielse  selbst  das  sich  hieher   beziehen,    dafs  seine 


J)  Antiq.  20,  6, 1.     Nicht  ganz  zusammenstimmende  rabbinischc 
Grundsätze  hierüber  s.  bei  Lichtioqt,  S.  991  ff. 


574  Zweiter  Abschnitt. 

{tidischen  Gegner  Jesu  einmal  den   Vorwarf  machen:  e 
xaltSq  Xfyoftev,  Sri  Saftagehijs  el  ei—;  (Joh.  4,  48.)  *) 

So  natürlich  es  hienach  so  sein  acheint,  dsfs  Je« 
diese  empfängliche  Seite  des  samariseben  Volkes,  du 
überdiefs  auch  von  der  Messiasidee  nicht  unberührt  wir 
(Job.  4,  25.)  *),  durch  gelegentliche  Verkündigung  dei 
Messiasreiohs  bei  demselben  auch  wirklieh  in  Ansprak 
genommen  habe:  so  mnft  doch  das  eigentümliche  V«- 
hältnifs  Bedenken  erregen,  in  welchem  man  in  dieser  Hin- 
sicht die  Tier  Evangelisten  eu  einander  erblickt  Wih- 
rend  nämlich  Matthäus  weder  eine  Berührung  Jesu  nk 
den  Samaritanern ,  noch  einen  Aussprach  über  sie,  aoCwr 
Jenem  Verbote ,  hat :  gibt  Markos  «war  gleichfalls  weder 
eine  Berührung  noch  eine  günstige  Aeufserung,  aber  dock 
auch  ebensowenig  eine  nachtheilige»  wie  Matthäus;  Lnhi 
bat  swei  Berührungen  Jesu  mit  ihnen ,  von  welchen  dfe 
eine  »war  ungünstige  die  andre  aber,  sammt  seinen  An- 
iserungen  über  die  Samaritaner,  um  so  günstiger  ausfallt; 
Johannes  endlich  weifs  von  einein  gans  genauen  und  bödtf 
günstigen  Verhfiltnifs  Jesu  eu  dem  sumerischen  Volke  n 
ersählen.  Sollen  alle  diese  so  verschiedenen  Nachricht» 
gegründet  sein:  wie  konnte  Jesus  das  einemal  verbieten, 
die  Samaritaner  in  den  messianisohen  JPlan  hereineaöe- 
hen,  das  andremal  aber  diefs  selber  ohne  Anstand  thnn? 
und  Ewar  mühte,  wenn  die  Anordnung  der  Evangelisten 
etwas  gelten  soll ,  die  eigene  Wirksamkeit  Jesu  in  Samt- 
rien  früher  fallen ,  als  das  den  Jüngern  auf  ihre  Mi* 
sionsreise  mitgegebene  Verbot.  Denn  die  in  Galiläa  vor 
sich  gegangene  Aussendung  der  Zwölfe  hat  in  der  kurzen 
Zeit,  welche  dem  vierten  Evangelium  zufolge  Jesus  vor 
dem  ersten  Pascha  in  jener  Landschaft  war  (2,  1-1&)> 
keinen  Raum;   sie  mühte  also  nach  diesem  Pascha,  und, 


2)  db  Wstis,  exeg.  Handb.,  1,  3,  S*  62. 

3)  Vgl.  Birtholdt,  Christol.  Judaeorum,  §•  7. 


« 


Viertes  Kapitel.    §.  68.  575 

« 

well  der  Besuch  in  Samarien  auf  die  Rückreise  von  dem- 
selben fÄilt,  auch  nach  Jenem  Besuche  erst  vor  sieh  ge- 
gangen sein;  wie  aber  konnte  Jesns,  wenn  er  selbst  be- 
reits, and  zwar  mit  dem  schönsten  Erfolg,  in  Samarien 
messianiseb  gewirkt  hatte ,  seinen  Jüngern  ein  Aehnlicbes 
verbieten?  Setzt  man  dagegen  die  von  Jobannes  erzählte 
Seene  nach  dem  von  Matthäus  aufbehaltenen  Verbote:  so 
sollten  die  Jünger  nieht  so  sehr  darüber,  dafs  Jesns  über- 
haupt mit  einem  Weibe  (Job.  4,  27.),  als  dafs  er  gerade 
mit  einer  Samariterin  sieh  so  angelegentlich  unterhielt, 
sich  gewandert  haben  *)• 

Wenn  es  sieh  bei  scheinbar  so  widersprechenden 
Angaben  fragt ,  ob  denn  wirklich  beide  historisch  sicher 
stehen :  so  kommt  auf  der  den  Samaritanern  ungünstigen 
Seite  jene  Ungastlichkeit  eines  samarischen  Dorfs  und  der 
dadurch  aufgeregte  Feuereifer  der  Zebedaiden  nicht  fci 
Betracht;  da  weder  ein  einzelner  Vorfall  dieser  Art  Je» 
snm  von  den  Samaritanern  abwenden  konnte,  noch  die 
Wirksamkeit  Jesu  in  der  samarischen  Hauptstadt  die  Un- 
freundlichkeit jener  Dorfbewohner  nothwendig  verhindern 
mnfste.  Sondern  es  handelt  sich  einsig  um  jenes  Verbot 
in  der  Instraetionsrede,  und  von  diesem  müssen  wir,  wie 
oben  von  dem  die  Heiden  betreffenden:  und  ans  den  glei- 
chen Gründen,  sagen:  wenn  ee  gleich  nur  der  erste  Evan- 
gelist hat,  so  ist  es  doch  erklärlicher,  wie  die  übrigen  be- 
wogen sein  konpten,  es  wegzulassen,  als  jener,  es  nnge» 
schichrlich  hinzuzufügen. 

Untersuchen  wir  sofort ,  ob  nicht  auf  der  andern, 
den  Samaritanern  günstigen  Seite  sich  Un  historisches  an« 
gesetzt  hat:  so  kommt  vor  Allem  die  Ers&blung  des  vier« 
ten  Evangeliums  (K.  4.)  von  dem  Zusammentreffen  Jesu 
mit  der  samfarischen  Frau  and    was  sich  daran  schliefst, 


4)  Mit  Unrecht  wollten  dien  Einige  in  die  Frage  legen ;  s.  bei 
Lücicb,  1,  S.  SS* 


r' 


»  • 


*1 


.77fl  Zweiter  Absehnitt. 

in  Betracht.    Hier  Irinnen  wir  «war  die  Anstifte  nicht 
finden«  welche  der  Verfasser  der  Probabilieo  schon  in  der 
Ortsbeaeichnuqg  und  dem  Anfang  des  GesprXehs  Jesu  ab 
der  Frau  nachweben  an  können  glaubt 5) :  aber  von  V.  11 
an  tbun  sich  auch  nach   dem  GestftndnUs  unparteilich« 
Ausleger0)    manche  Schwierigkeiten    hervor.     Die  Fra 
hatte  euletat  Jesum 'gebeten,   ihr  auch  von   dem  Wsimi 
an  geben,  welches  für  immer  den  Durst  lösche,  und  dar* 
auf  sagt  nun  Jesus  unmittelbar:  tmaye,  qwnpwxw  avd(p 
<ra.     Woau  diefs?     Die  Ansicht.  Jesus  habe  durch  die« 
Frage |  wohlwissend,  dafs  sie  keinen  recbtmfifsigen  Mino 
habe,   die  Frau  nur  beschämen  und  nur  Buße  leiten  wol- 
len 0 ,  weist  Lücke  ab ,  weil  ihm  solche  Verstellung  u 
Jesu  nicht  ge&ilt,  und  vermuthet,  wegen  des  Unverstands 
der  Frau  habe  Jesus  durch  Berufung  ihres  vielleicht  ea» 
pfänglicheren  Mannes  sich  Gelegenheit  su  einer  gedeihli- 
cheren Unterhaltung  verschaffen  wollen.    Aber  wenn  dock 
Jesus,  wie  sich  sogleich  seigt,  wußte,  dafs  das  Weibia 
gegenwärtigen   Zeitpunkte    keinen    eigentlichen  Ebemaaa 
hatte ,  so  konnte  er  nicht  im  Ernste  die  Herbeirufung  de* 
selben  verlangen,   und  namentlich,    wenn  er,  auch  nach 
Lückb's  Zugestfindnifs ,    diese  Kunde   auf  übernatürlich 
Weise  hatte,  so  konnte  ihm.,  der  auch  sonst  wußte,  wu 
im  Menschen  war,   auch  diefs  nicht  verborgen  sein,  dab 
die  Frau  wenig  geneigt  sein  werde ,   seiner  Aufforderung 
au  entsprechen.     Hat  er  aber  vorausgewufst,  dafs  das  Ver- 
langte nicht  geschehen  werde,    ja  selbst  nicht  geschehet 
könne:  so  war  auch  die  Aufforderung  nur  eine  versteilte, 
und  hatte  nicht  die  Herbeischaffung  des  Mannes,  sondern 
etwas  gans  Anderes  cum  Zwecke.    Dafs   aber  dieis  die 


5)  BiumcBiYSiDta,  a.  a.  O.    S/  47  ff.  97  f.    Doch  vgl,  di  Wim 
su  V.  11  f. 

6)  Vgl.  Lücke  und  bi  Wette  z.  <L  Abtchn. 

7)  So  Tmolüch  x.  d.  St. 


Viertes  KapNel.    §.08.  577 

Bnfse  der  Frau  gewesen  wäre,  davon  liegt  in  der  Erzäh- 
lung nichts  ;  denn  als  endliche  Wirkung  auf  die  Frau  tritt 
keineswegs  Beschämung  und  Reue,  sondern  Glaube  an  den 
prophetischen  Blick  Jesu"  hervor  (V.  19.),  und  diefs  wird 
auch  die  Absicht  Jesu  gewesen  sein;  denn  die  Erzählung 
ist  so  gehalten,  wie  wenn  ihm  sein  Vorhaben  mit  der  Frau 
gelangen,  also  der  Erfolg  mit  der  Absicht  zusammen  getrof- 
fen wäre«  Hiebei  ist  indessen  nicht  sowohl  das  anstöbigj 
was  Lückb  Verstellung  nennt,  da  diese  ganz  unter  die 
Kategorie  des  auch  sonst  vorkommenden  unverfänglichen 
TUiQu&iv  ftilt,  als  vielmehr  die  Gewaltsamkeit,  mit  wel- 
cher Jesus  die  Gelegenheit,  sich  in  seiner  prophetischen 
Gabe  au  zeigen,  selber  macht. 

Mit  derselben  Gewaltsamkeit  mnfs  gemach  die  Frau 
das  Gespräch  auf  einen  Punkt  hintreiben,  an  welchem  auch 
vollends  die  MessianHät  Jesu  offenbar  werden  kann.  So«* 
bald  sie  nämlich  Jesum  als  einen  Propheten  erkannt  hat, 
eilt  sie  sogleich,  ihn  über  die  zwischen  Juden  und  Sama- 
ritern obsohwehende  Streitfrage  rttcksichtlich  des  Ortes 
der  wahren  Gottesverehrung  zu  Rathe  zu  ziehen  (V.  20.). 
Dafs  ein  so  starkes  Interesse  an  dieser  religiös -nationalen 
Frage  zu  dem  sonstigen  beschränkten  Wesen  der  Frau 
nicht  passe,  dessen  sind  die  meisten  jetzigen  Erklärer 
durch  die  Annahme  geständig,  sie  habe,  weil  sie  sich 
durch  die  Aeufserung  Jesu  Aber  ihre-  ehelichen  Verhält- 
nisse getroffen  fohlte,  durch  jene  Wendung  nur  das  Ge- 
spräch von  dem  ihr  empfindlichen  Punkte  ablenken  wol- 
len *)•  Diefs  läfst  sich  hören ;  war  aber  hienach  die  Frage 
nach  dem  rechten  Orte  des  Gottesdienstes  dem  Weibe 
nicht  ernst,  sondern  lag  derselben  nur  falsche  Scham, 
welche  sich  dem  Bekenntnifs  und  -der  Bufse  entziehen 
«will,  zum  Grunde:  so  sollten  jene  Ausleger  sich  doch  an 
das  erinnern,  was  sie  sonst  bis  zum  Ueberdrusse  wieder- 


8)  So  Lückb  und  Tuolück  z.  d.  St. ;  Hase,  L.  J.,  $.  67. 
Das  Leben  Jesu  Me  Aufl.  I.Band.  37 


579  Zweiter  Abschnitt 

holen,  dafs  Jcsns  (bei  Johanne«)  In  seinen  Antworte! 
durchaus  nicht  sowohl  auf  den  ausdrücklichen  Sinn  der 
Fragen,  als  anf  die  dabei  cum  Grunde  liegende  Gesinnung 
Rücksicht  nehme«  Dieser  Methode  nufolge  durfte  er  die 
nicht  ernstlieh  gemeinte  Frage  der  Fran  nicht  im  höchstes 
Ernst  beantworten,  sondern  mufste  mit  Umgehung  dersel- 
ben auf  den  suvor  schon  getroffenen  empfindlichen  Fleck 
im  Bewufstsein  der  Frau,  den  sie  jetet  sn  verdecken 
suchte,  losarbeiten,  um  aie  wo  möglich  smm  vollen  GeftU 
nnd  offenen  Bekenntnifs  ihrer  Schuld  eo  bringen«  Aber 
dem  Erslhler  ist  es  einmal  darum  su  thun,  Jesom  hier 
nicht  blofc  als  Propheten,  sondern  bestimmt'  als  MenSsj 
anerkannt  werden  su  lassen:  und  diefs  glaubte  er  an  be- 
sten durch  die  Lenkung  des  Gesprächs  auf  die  Frage  nich 
dem  wahren  Orte  der  Gottesverehrung,  deren  Lösung  nai 
vom  Messias  erwartete  (V.  SS)9)*  herbeiführen  «o  kos* 
nen.  Indessen  —  wir  können  nicht  wissen,  ob  nicht  du 
Gewaltsame  dieser  Debergfinge  nur  Folge  davon  ist,  dsfi 
der  Evangelist  Mittelglieder  aasgelassen  hat:  nnd  so  Ist 
aus  dem  Bisherigen  noch  kein  Schlafs  gegen  des  p* 
echichtlichen  Charakter  der  JSralhlung  an  liehen. 

Öle  Kenntnifs ,  welche  V.  17  £  Jesus  von  den  Ver* 
hfiltnissen  des  Weibes  zeigt,  hat  man  natürlich  an  erkü- 
ren gesucht  durch  die  Voraussetzung,  dafs,  während  Je* 
aus  am  Brnnnen  safs,  nnd  die  Fran  ans  dem  Stldtebei 
dahergegangen  kam,  ihm  ein  Vorübergehender  einen  Wink 
gegeben  habe,  sich  mit  ihr,  als  einer  solchen,  die  Jena 
nach  dem  sechsten  Manne  trachte,  nicht  einzulassend 
Allein  neben  dem  Unwahrscheinlichen,  dafs  ein  Vorüber- 
gehender nichts  Angelegeneres  mit  Jesu  na  sprechen  ge- 
habt haben  seilte,  als  ihn  von  den  Verhältnissen  eiset 
unbedeutenden    Weibes   su    unterrichten,    stimmen  jetst 


' : 

9)  Vgl.  Scuöttck*,  horae,  |,  S.  970  f.    Wetsteih,  S.  865. 
10)  Paulus,  Leben  Jesu,  1,  a,  187;  Comment.  4,  z.  d.  St. 


j 


Viertes  Kapitel.    $.  66.  »79 

Freunde  wie  (fogner  des  vierten  Evangeliums  darin  über« 
ein,  dafs  jede  natürliche  Erklärung  jener  Kunde  Jean  der 
Absieht  dea  Berichterstatters  geradeso  widerstrebe  u> 
Denn  wenn  dieser  am  der  Eröffnungen  Ober  ihre  Verhält» 
niese  willen  nicht  allein  die  Frau  selbst  (V.  19.)>  sondern 
auch  viele  Bewohner  der  Stadt  (V.  39  ),  an  Jesum  gläubig 
werden  läfst:  ao  meint  er  diefs  gewifs  nicht  so,  dafs  diese 
Leute,  wenn  aoeh  nicht  im  Resultate  (dafs  Jesus  ein  Pro* 
phet  sei),  so  doch  im  Kriterium  (dafs  er  es  vermöge  jener 
Kenntnifs  sein  müsse),  sich  getäuscht  und  fibereilt,  son- 
dern dafs  sie  ganz  recht  gehabt  haben ;  er  faftt  also  jenes 
Wissen  Jesu  als  Ausflufs  seiner  höheren  Natur.  Dafs 
nun  vermöge  dieser  Jesus  seine  eigenen  messianischen 
Schicksale  und  die  grofsen  Entwicklungsknoten  seines 
Reiches  prophetisch  vorausgesehen  *  auch  daä  Innere  der- 
jenigen, mit  welchen  er  gerade  tut  thun  hatte,  durchschaut 
habe:  dieft  kann  man,  bei  einer  gewissen  Ansieht  von 
seiner  Person,  wahrscheinlich,  und  in  jedem  Falle  nur 
höchst  würdig  finden;  dafs  er  aber  immer  und  liberall 
selbst  die  äufsern  Verhältnisse  aller  andern  Personen  im 
kleinsten  Detail  gekannt  habe,  diefs  ist,  je  höher  man 
seine  prophetische  Würde  fafst,  eine  desto  unangemessen 
nere  Vorstellung,  und  jedenfalls  zerstört  eine  solehe  empi- 
rische, nicht  Allwissenheit,  sondern  Alleswisserei ,  das 
menschliche  Bewufstsein,  das  doch  auch  die  orthodoxe  Vor- 
,1  Stellung  in  Jesu  setzen  will  i2).  Dagegen  ist  die  Gabe,  fflr 
,  Augenblicke  im  Innern  anwesender  Personen  su  lesen,  und 
e  durch  Vermittlnng  dieses  Innern  selbst  von  Abwesenden, 
»   mit  denen  sie  im  Verhältnifs  stehen,  oder  standen,  Kunde 

0  su  bekommen  —  eine  solche  Gabe  ist  uniäugbar  schon  bei 

1  Somnambulen  beobachtet  worden18):  und  hier  ist  es,   wo 


dl)  Vgl.  Olsbausbr  z.  d.  St.  und  Brbtscbjibidbr  ,  Prob  ab.  S.  50. 

12)  Vgl.  Brbtschkbidbr,  a.  a.  O.  S.  49  f. 

13)  c  u.  A.  Wibth,  Theorie  de»  Somnambulismus,  S.  216  ff. 

-  3T* 


SSO  Zweiter  Abschnitt. 

der  Kritiker  sich  über  einem  apologetischen  Interesse  be- 
trifft, wenn  er  eine  Fähigkeit,  die  sonst  nar  in  Begleitung 
krankhafter  Zustände  vorzukommen  pflegt ,  Jesu  sun- 
schreiben  Bedenken  trägt.  Näher  indefs  ist  diese  Bedenk- 
lichkeit doch  auch  historisch  nicht  unbegründet:  sofern 
von  krankhafter  Ueberspahnung  in  dem  Wesen  nnd  Leben 
Jesu  keine  Spur  zu  finden  ist.  Doch ,  wenn  gleich  jene 
Gabe  sonst  nur  als  Begleiterin  leiblicher  und  geistiger 
Krankheiten  vorzukommen  pflegt :  so  bleibt  es  darum  in- 
mer  möglich,  dafs  dieselbe  einnial  auch  einem  in  beider 
Hinsicht  Gesunden  verliehen  gewesen  wäre ,  und  so  Übt 
sich  daraus,  dafs  sie  hier  Jesu  zugeschrieben  wird,  keine 
Folgerung  gegen  den  geschichtlichen  Werth  des  Beriohtei 
ziehen.  Ebensowenig  aber  —  wohl  zu  merken  —  ist  tm 
einer  solchen  Gabe  etwas  für  die  höhere  .Natur  Jesu  n 
beweisen ;  da  ja  vielmehr ,  wenn  uns  seine  geistige  on' 
sittliche  Gesundheit  nicht  sonsther  gewifs  wäre,  jene  Fi* 
bigkeit  wie  sonst  als  etwas  Krankhaftes  betrachtet  Her- 
den müfste. 

Weiter  spricht  nun  Jesus  (V.  23  ff.)  gegen  das  Wob, 
mit  Hase  zu  reden ,  den  höchsten  Grundsatz  seiner  ßeli* 
gion  aus:  geistige  Verehrung  Gottes  durch  ein  fron** 
Leben,  mit  Aufhebung  jedes  Ceremonialdienstes ,  und  be- 
kennt sich  offen  als  den  Gründer  einer  solchen  Gottesver* 
ehrung,  als  den  Messias.  Hier  hat  man  allerdings  Anlaß, 
zu  fragen:  in  welcher  Hinsicht  war  denn  dieses.  Weib 
einer  so  hohen  Mittheilung  würdig,  wie  sie  nicht  einnul 
den  J Ungern  mit  so  klaren  Worten  zu  Theil  gewordea 
Ist?  was  konnte  Jesum  bewegen ,  den  Blick  einer  Pertos 
in  die  weite  Ferne  der  Religionsgeschichte  ausschweife! 
zu  machen,  der  es  am  besten  gethan  hätte,  in  ihr  eigeoei 
Innerte  geführt,  bei  der  Verdorbenheit  ihres  Herzens  fest- 
gehalten zu  werden?  Nur  das,  scheint  es,  wenn  er  sa 
jeden  Preis  von  der  Frau ,  ohne  Rücksicht  auf  ihre  Besse- 
rung, aüfser  dem  Anerkenntnis  seiner  prophetischen  Gabe 


mich  noch  du  seiner  MessinnitSt  sieh  erzwingen  wollte, 
*»o*n  jene  Wendung  des  Gesprächs  nothwehdig  «ohien. 
Indessen  darf  nicht  nur  die  (ievmlt,  welche  Zelt  and 
Stande,  Gelegenheit  and  Stimmung,  über  Eröffnaog  and 
VersahlieEsung  des  Gemflths  hat,  auch  an  Jesu  nicht  verkürzt 
werden :  sondern  es  lassen  sich  seihst  Gründe  denken, 
am  deren  willen  er  es  unbedenklicher  fand,,  den  Samitri- 
tanern  sieb  als  Messias  zn  bekennen  —  einem  »um  Stam- 
me der  Nation  abgerissenen  Aste  mit  minder  starkem  No> 
tionalgeftthl,  dessen,  wenn  gleich  ebenfalls  politisch  gefärbte, 
Massiastdee  der  Umbildung  In's  Geistige  weniger  Wider- 
stand schien  entgegensetzen  M  können,  als  von  den  Juden, 
und  selbst  von  den  Jüngern,  so  lange  Jesus  noch  lebte,  zu 
befürchten  war.  Hoffte  aber  Jesus  auf  diese  Weise  dar  oh 
das  Weib  bei  den  Samaritanern  als  Messiaa  Gingang  zu  ' 
finden :  so  Ist  es  nicht  an  verwundern ,  dafs  er  in  seinem 
Gespräche  hauptsächlich  auf  diesen  grüfieren  Zweck  hin- 
arbeitete, die  Verwirklichung  des  engeren  Zweckes  aber, 
der  sittlichen  Besserung  des  Weibes ,  den  Wirkungen 
Überlief«,  welche  von  der  Bekehrung  ihrer  Landsleute  auf 
sie  ausgehen  mufsten. 

x  .  Indessen,  führt  die  ErzShlung  V.  27.  fort,  kamen  die 
Jünger  Jesu  mit  Lebensmitteln  aus  derStadt  zartiefe,  and 
wanderten  sich ,  dafs  er  gegen  den  rabbinischen  Grund- 
■ata  ")  mit  einem  Weibe  sich  unterhalte.  Wihrend  die 
Frau ,  durch  die  letzte  Erö flfnong  Jesu  aufgeregt ,  in  die 
Stadt  zurfickUaft ,  am  ihre  Mitbürger  zur  Besiobtgung 
des  messiz»rtigeii  Fremden  einzuladen,  fordern  Ihn  die 
Jünger  auf,  von  der  mitgebrachten  Speise  etwas  zu  sieb 
zu  nehmen;  worauf  er  erwiedert:  s/w  ßnöiatv  fji<>  (ftxystv, 
ip>  vfitiq  äx  oiiJwre  (V.  32.),  was  seine  Jünger  dahin  mils- 
verstehen,  es  habe  ihm  vielleicht  In  ihrer  Abwesenheit  je- 
mand za  essen  gebracht;    eine  jener  fleischlichen  Auffss- 


14)  bei  LiSHnooi,  S.  1003. 


I 

1 

l  582  Zweiter  Abschnitt. 


-sangen  geistig  gemeinter  Aussprüche  Jesu,  wie  de  in  vier- 
ten Evangelium  stehend  sind,  and  eben  dadurob  verdick* 
tig  werden:  übrigens  vom.  wesentlichen  Inhalte  derErsuY 
lang  als  mehr  formelle  Zothat  des  Berichterstatters  InAk- 
sog  gebraoht  werden   können.     Weiter  folgt  eins  Res) 
Aber  Säen  and  Ernten  (V.  35  ff.),    welche,  wenn  an 
V.  87 f.  vergleicht,   nar  den  Sinn  haben  kann,  dafo,  wa 
Jesus  ges&et   habe,    die  Jünger  ernten  sollten").    Kiua 
diefs  gleich  gans  allgemein  darauf  besogen  werden,  dafs 
Jesus  die  Keime  der  ßaaiXela  tö  &eä,  welche  anter  «v 
Pflege  seiner  Jünger  Blfithen  and  Früchte  trugen,  euer* 
in  die  Mensohheit  gelegt  habe:  so  ififst  sich  doch  ssgletek 
eine    speciellere   Beziehung    unmöglich   abweisen.    Jen» 
sieht  voraus,  dafs  ihm  die  cur  Stadt  geeilte  Frau  Gelegt* 
heit  verschaffen  werde,  in  Samarien  die  Saat  des  Bvanp- 
liums  auszustreuen ,   and  verhelfst  den  Jüngern,  atfiia 
die  Früchte  dieser  seiner  Bemühangen  einst  au  genietas 
haben  würden.    Hier  mofsr  man  an  die  nachmalige  Aw- 
breitung  des  Ch'ristenthums  in  Samarien  dorch  Philipp« 
and  einige  Apostel  (A.  6.  &)  denken  ") ,    and  könnte  in- 
sofern ein  vaticinium  post  eventum  vermathen :  doch  li&t 
eich  theils,  selbst  bei  einer  rein  natürlichen  Ansieht  ?w 
der  Person  Jesu,   olcht  geraden  in  Abrede  stellen,  ebb 
er  diesen  Fortgang  seiner  Sache  in  Samarien  nach  sein« 
Kenntnifs  der  Bewohner  nicht  schon  damals  habe  vorher- 
sehen können ;    theils  könnte  nach  hier  vielleicht  die  pf- 
Ciere  Bestimmtheit  der  Vorhersage  Zuthat  des  Evangeliitai 
sein ,  in  dessen  Erinnerung  sich  die  damalige  Rede  Jeu 
nach  dem  späteren  Erfolge  ettvas  umgestaltet  hotte,  oh* 
dafs  darum  sein  Bericht  im  Wesentlichen  glaubwürdig  n 
sein  aufhörte. 

Zumal  derselbe  eine  Ersfthlung  der  Apostelgeschichte 


15)  Lttcxs,  1,  S.  543. 

16)  Lücks  und  du  Wktts  z.  d.  St. j  Bubtscmasidek,  S.  52. 


Vierte«  Kapitel    $  68.  5S3 

gane  auf  seiner  Seite  bat.  Noch  ehe  auf  höheren  Antrieb 
Petras  den  ersten  Heiden  in  das  neue  Reich  des  Messias 
aufgenommen  hatte,  war  ans  Veranlassung  der  Mliptg  ye- 
rofthrt  inl  Zkeqxmp  der  Diakonus  Philippas  elg  noliv  Sa- 
ftixQtiag  gereist,  wo  er  den  Christas  verkündigte  and  durch 
Wunder  aller  Art  viele  Saatarftaner  sunrOiäuben  and  eur 
Annahme  der  Taufe  bewog  (A.G.  8,  5  ff.).  Diese  Kr  Zäh- 
lung bildet  mit  der  früher  betrachteten  von  der  Aufnahme 
der  ersten  Heiden  einen  völligen  Gegensat* ;  während  es 
dort  die  aufserordentlichsten  Vorbereitungen  durch  ein  Ge- 
eicht and  einen  besondern  Antrieb  des  nvevfia  bedurfte, 
am  den  Petrus  den  Heiden  bu  nähern:  so  fängt  hier  Phi* 
üppos,  and  «war  ohne  noch  jenen  Vorgang  so  haben,  ohne 
Weiteres  in  Samarien  na  taufen  an.  Damit  man  aber 
nicht  etwa  sage,  der  Diakonus  sei  vielleicht  liberaler  als 
der  Apostel  gesinnt  gewesen,  sd  kommt  sofort  Petriir  selbst 
mit  Johannes  nach  Samarien,  und  auch  diefs  ist  ein  Zag 
weiter  in  dem  Gegensatse  def  beiden  Ersählungen,  dafs, 
während  dort  die  Aufnahme  der  ersten  Heiden  bei  der 
Mattergemeinde  in  Jerasaiem  einen  höchst  ungünstigen 
Eindruck  machte,  hier  die  Runde,  Sri  d&d&etal  tj  2aftaQefo 
%Q¥  loyov  tS  &e3,  beifällig  aufgenommen  $  and  das  vor* 
nebmste  Apostelpaar  abgeschickt  Wird,  um  das  Werk  des 
Pbilippus  au  bestätigen  und  an  vollenden*  Hiemit  stimmt 
ein  solcher  Vorgang  ven  Seiten  Jesu  selbst  sehr  gut  su- 
sammen ,  and  es  fragt  sich  nur,  wie  mit  demselben  das 
oben  besprochene  Verbot  bei  Matthäus,  das  geschichtlich 
auch  nicht  weichen  will,  in  Uebereinstimmang  sa  brin- 
gen ist? 

Hier  dürfen  wir  ans  nan  nicht  verhehlen,  dafs  die 
Vereinigung  noch  schwieriger  ist,  als  oben  bei  dem  Ver- 
bot in  Betreff  der  Heiden :  sofern  es  sich  eher  reimen 
läCit,  wie  Jesus,  was  er  för  die  Zeit  nach  seinem  Tode 
selbst  anordnete,  während  seines  Lebens  noch  nicht  vor- 
genommen  wissen  wellte;  als  dab  er,  wie  hier,  seinen 


V 


584  Zweiter  Abschnitt.  ' 

Jüngern  verboten  haben   sollte,   was  er  nicht  lange  hei* 
nach,  oder  sogar  vorher,   selbst  unternahm.    Doch  wem 
er  zu  jenem  Verbot  in  Bezog  auf  die  Heiden   den  doppel 
ten  Grund  hatte:  erstlich   den  infsersten  Anstofs  bei  der 
jüdischen  Nation,   der  so  lange  vermieden  werden  mubte 
bis    sein   Werk   feste    Warsein   unter   derselben  gefaßt 
hatte;  zweitens  die  Unfähigkeit  der  noch  nicht  durch  sei- 
nen Tod   belehrten  Jünger ,  den   Helden  auf  die  rech» 
Weise  entgegennukommen,  und  die  Gefahr,  dafs  sie,  wäh- 
rend sie  den  Juden  ihre  falschen  Messiasvorsteliungen  ■« 
nicht   benahmen ,  den  Heiden  für  sie  neue  irrthümer  bei* 
bringen   möchten  —   während  ihn   su  dem  Verbot  in  Be- 
treff der  Heiden  diese  beiden  Schwierigkeiten  veranlaßt», 
von  denen  dadurch,  dafs  er  etwa  persönlich,  ohne  Ver- 
mittlung der  Jünger,  sich  an  die  Heiden  gewendet  offne, 
nur  die  «weite  su   vermeiden  gewesen ,   die  erste  selbst 
verstärkt  worden  sein  würde :  scheint  in  Betreff  der  St* 
maritaner  Jesus,  wie  später  die  Apostel,  den  Anatobba 
den  Juden  weniger  geschont,  wegen  der  dermaligen  Unge- 
schicklichkeit seiner  Jünger  «um  Verkehr  mit  Samaritt- 
nern  aber,  wie  sie  sich  auch  in  dem  oben  erwähnten  Vor- 
gang, Luc.  9,  52  ff* ,  «eigte ,  sioh  nur  persönlich  an  diesel- 
ben gewendet  «u  haben  17)» 


1 7)  Vergl.  Niakdbr,  L.  J.  Chr.,  S.  *62  f. 


Fünftes   Kapitel. 

Die  Jünger  Jesu« 


S.    69. 

Die  Berufung  der  ersten  Begleiter.    Differenz  zwischen  den 
beiden  ersten  Evangelien  und  dem  vierten. 

Naeh  der  übereinstimmenden  Erzählung  der  zwei  er- 
sten Evangelien  (Matth*  4,  18—22.  Marc.  1,  16-20.) 
bat  Jesus,  am  galiläischen  See  wandelnd,  zuerst  die  bei« 
den  Brüder,  Petrus  und  Andreas,  unmittelbar  darauf  den 
Jakobus  und  Jobannes,  von  den  Fischernetzen  weg  au 
seiner  Nachfolge  berufen.  Auch  das  vierte  Evangelium 
erzählt  gleich  zu  Anfang  (1,35  —  52.),  wie  sich  die  ersten 
Schüler  an  Jesum  ansehlofsen ,  unter  welchen  auch  hier 
Petrus  und  Andreas,  und  wahrscheinlich  auch  Johannes, 
sich  befinden,  indem  der  ungenannte  Begleiter  des  An> 
dreas  gewöhnlich  auf  jenen  gedeutet  wird.  Jakobus  fehlt 
in  dieser  Erzählung;  statt  seiner  wird  noch  die  Berufung 
des  Philippus  und  des  Nathanael  berichtet.  Doch  auch 
von  den  gleichen  Personen  sind  alle  näheren  Umstände 
ihres  Zusammentreffens  mit  Jesu  verschieden  erzählt» 
Während  nach  den  beiden  Synoptikern  der  Schauplatz 
desselben  das  Ufer  des  galiläischen  See's  ist,  kommen  im 
vierten  Evangelium  Andreas,  Petrus  und  der  Ungenannte 
in  Peräa  in  der  Mähe  des  Jordan,  Philippus  und  Natba- 
nael  auf  dem  Wege  von  da  nach  -Galiläa  zu  Jesu.  Wäh- 
rend ferner  dort  je  ein  Brüderpaar  zusammen  berufen 
wird,    treffen  hier  zuerst  Andreas   und  der  Ungenannte, 


V 


1 


580  Zweiter  Abschnitt. 

I  dann  Petras,    hierauf  Philippas   and  Nathanaä  mit  Jen 

ftusammen*  Haaptsiehlieb  aber,  während  bei  Matthin 
nnd  Markus  die  Brfiderpaare  von  ihren  Fischergeschift 
hinweg  unmittelbar  von  Jesu  berufen  werden ,  gibt  Jo 
liannes  als  Situation  der  Berufenen  nur  überhaupt  ein 
EQXeod-ai  nnd  fVQioxeo&ai  an,  und  läfst  von  Jesu  unmittel- 
bar nur  den  Philippas  berufen  werden ,  den  Andreas  usd 

[  den  Ungenannten   weist    der  Täufer,    den   Petrus  bringt 

1  Andreas,  den  *Nathana€l  Phiiippns  su  ihm  hin. 

I  Scheinen    so    die   beiden  Era&blungen    verschiedest 

Ereignisse  eu  betreffen ,  und  fragt  es  sieh ,  welche  Au 
frfihere  und  welche  das  spätere  ?  so  scheint  Johannes  die 
Geschichte  noch  etwas  früher  einsureihen  ,  weil  er  de 
schon  vor  Jesu  Rflekkehr  von  seiner  Taufe  nach  Galilia 
erfolgen  l&fst,  die  Synoptiker  erst  nach  derselben;  iumI 
wenn,  nach  einer  gewtthntioben  Berechnung,  die  Rück- 
reise, von  welcher  die  Synoptiker  ausgehen,  nicht  die  m 
der  Taufe ,  sondern  von  dem  ersten  Paschafest  sein  ulL 
Auch  der  inneren  Beschaffenheit  des  Vorgangs  nach  scheint 
#  das   vom    vierten  Evangelium  Erzählte   lyfcht  das  Späte« 

sein  su  können.  Denn  waren  nach  den  Synoptikern  As* 
dreas  und  Johannes  bereits  Jesu  nachgefolgt,  so  koantn 
sie  nicht  wieder,  wie  im  vierten  Evangelium,  cum  (Molß 
des  Täufers  sich  gesellen,  noch  brauchte  dieser  erst  de 
auf  Jesum  hinzuweisen ;  ebenso ,  wenn  Petrus  schon  ui* 
mittelbar  von  Jesu  zum  Bfenechenfiseher  berufen  wir» 
brauohte  ihn  nicht  erst  sein  Bruder  Andreas  eu  Ibn  n 
ffihren.  Dagegen  stimmen  die  Ausleger  darin  öbereto> 
dafjj  sowohl  die  synoptische  Ersfihlung  sich  eigne,  die]«* 
hanneische  vor  sich,  als  diese,  jene  nach  sich  eu  hsta 
Das  vierte  Evangelien),  sagt  man  %  erzähle  nur  das  ersts 


■ 


I)  Küiwöl,  Comm.  in  Matth.  8.  100;  Lücke,  Comm.  s.  Job.  *> 
S.  588;  Olshausb»,  bihl.  Comm.,  1,  S.  193;  Hasb,  Leben  Je««, 
§.  56.  61;  Nkakdsk,  L.  J.  Chr.,  S.  247  ff. 


Fünftes  Kapital.    $.  09. 

Bekanntwerden  Jesu  mit  jenen  Männern,  auf  welche 
sie  noch  nicht  sogleich  «eine  bettfindigen  Begleiter  g€ 
den  seien;  erst  bei  der* von  den  Synoptikern  aofbel 
nen  Gelegenheit  habe  sie  Jesus  «um  beständigen  Ge 
sur  eigentlichen  Jüngerschaft,  berufen. 

Allein   wenn    man   in  dem  synoptischen  Bericht 
Aufforderung  Jesu:  devrs  onloa)  pe,  und  die  Bezeich 
des  Erfolgs   durch  Tfxok&xhjoav  cnkqi  von   bestindigei 
gleitung  versteht!   so  fällt  es  auf,    wie  man  in  der  je 
neischen   ErsäMung   das   gleiche  dxols&Fi  /uoi   in   an 
Bedeutung  nehmen  kann,  und  man  mafs  die  Conseq 
von  Paulus  loben,   wenn  er  nicht  nur  in  der  letsto 
sondern  auch  in  der  ersteren  Ersählung  eine  Auffordei 
su  einer  blofs  vorübergehenden  Begleitung   auf  dem  n 
sten  Gange  findet  *)•    Allein   diese  Deutung  der  syn 
sehen  Erzählung  ist   unmöglich.    Wie  hätte  doch   Pc 
später  im  Namen  seiner  Mitjflnger  Jesusi  so  nachdrfiel 
erinnern  können :   ide  q/ueig  dq>rjxaftev  ndvra  xal  rjxoh 
üafih  001,   und  dazu  fragen:  %L  aqa  tgat  r^äv;  und 
hätte  Jesus  den  axoXsxhjoarzsg  avrtfi  und  jedem,   der 
seinetwillen   aq>rjxev  olxldg  x.  x.  L   hundertfältigen  Er 
verheifsen  können  (Matth.  19,  27  ff.),  wenn  dieses  Vei 
sen  und  Nachfolgen,,  und  also  auch  das  gans  ebenso 
zeichnete  in  unserer  Ersählung,  nur  ein  so  vorflbergel 
des  und  unterbrochenes  gewesen  wäre  ?   Wird  schon  h 
aus  wahrscheinlich,  dafs  auch  das  dxoXs&et  {tot  bei  Joh 
nes  die   Anknöpfung  eines    bleibenden   Verhältnisses 
zeichnen  werde :  so  sind  fiberdiefs  in  dem  Zusammenha 
der  Johanneischen  Erzählung   die  deutlichsten  Spuren  1 
von  su   finden.    Gans   nämlich   wie  bei  den  Synoptjk 
vor  dieser  Berufungsscene  Jesus  allein  erscheint  j  nach! 
aber  bei  jeder  schicklichen  Gelegenheit  die  Begleitung  i 
ner  fiai>rjv<u  erwähnt  wird :  so  tritt  auch  im  vierten  Eyi 


2)  Leben  Jesu,  1,  s,  S.  21Z* 


A- 


— i  ^mm^       _  - -*■  —— —        -     -  ---  - 


X 


588  Zweiter  Abschnitt. 

gelium  der  vorher  anbegleitete  Jeans  von  Jenem  •  Vorfall 
an  in  Gesellschaft  von  Jüngern  auf  (£,  2.  11. 12.17.  3,  iL 
4,  8.  27.  u.  f.),  und  die  Annahme,  dafs  diese  in  Perii 
gewonnenen  Jünger  naeh  Jesn  Rückkehr  nach  Galiläa  nah 
wieder  zerstreut  haben9),  ist  den  Evangelien  nur  von 
harmonistischen  Bestreben  aufgedrungen.  Indets,  aoeo 
diefs  vorausgesetzt,  konnten  sie  ihm  doch  in  der  karten 
Zeit,  welche  jene  Entfernung  immer  nur  gedauert  habei 
kann,  unmöglich  so  entfremdet  werden,  dafs  er  so,  wie  in 
der  synoptischen  Beruf  ungsgeschichte  der  -Fall  ist,  die  Be- 
kanntschaft mit  ihnen  ganz  wieder  wie  von  vorne  ans* 
fangen  sich  veranlafst  finden  konnte. 

Als  einen  besondern  V ortheil  dieser  Stellung  der  bei- 
den Erzählungen  heben  die  rationalistischen  Erklärer  dien 
hervor,  dafs  so  allein  begreiflich  werde,  worüber  nai 
sonst  im  höchsten  Grade  staunen  müfste,  wie  sowohl  Je* 
sus  nur  so  im  Vorbeigehen  auf  den  ersten  Blick  vier  Fi- 
scher zu  Jüngern  habe  wühlen ,  und  darunter  gleieb  da 
zwei  ausgezeichnetsten  Apostel  treffen  '  können ;  als  aseh 
wie  die  vier  geschäftigen  Männer  auf  den  rfithselbsften 
Ruf  eines  ihnen  nicht  näher  bekannten  Mannes  bin  *• 
gleich  ihr  Gewerbe  verlassen,  und  sich  zu  seiner  Beglei- 
tung haben  hergeben  mögen:  bei  Vergleichung  des  viert« 
Evangeliums  sehe  man  nämlich,  dafs  Jesus  diese  Manncf 
längst  vorher  kennen  gelernt,  und  sich  gleicherweise  ih- 
nen in  seiner  Vortrefflichkeit  gezeigt  hatte ;  woraus  tick 
nun  sowohl  das  Glückliebe  seiner  Wahl,  als  auch  ihn 
Bereitwilligkeit  ihm  zu  folgen,  erkläre.  Allein  gerade 
dieser  scheinbare  Vortheil  ist  es,  der  über  die  bezeichnete 
Stellung  der  beiden  Erzählungen  vollends  den  Stab  bricht 
Denn  entschiedener  kann  nichts  gegen  die  Absicht  da? 
beiden  ersten  Evangelisten  sein ,  als  die  Voraussetzung  £ 


3)  Paulus  ,  Leben  Jesu ,  1,  a,  S.  215 ;    Siiffbrt  ,   über  den  fr* 
sprung  u.  s.  f.,  S.  72;  auch  Njujvdir;  a,  a.  0. 


Fünfte«  Kapitel.    $.69.  589 

nes  schon  vorher  «wischen  Jesu  und  den  berafenen  Brfl- 
derpaaren  bestandenen*  Verhältnisses.  Legt  nämlich  die 
Erzählung  bei  .beiden  darauf  so  grofses  Gewicht,  dafs  sie 
ev&*(ag  ihre.  Netse  verlassen,  und  sith  cur  Nachfolge  Jesu 
entschlossen  haben:  so  mufs  diefs  im  Sinne  der  Erzähler 
etwas  Außerordentliches  gewesen  sein;  was  es  nicht  war, 
wenn  die  Männer  schon  '  früher  im  Gefolge  Jesu  gewesen 
waren.  Dnd  ebenso  in  Bezog .  auf  Jesum  liegt  die  Spitze 
der  Erzählung  darin,  dafs  er  mit  prophetischem  Geiste 
gieioh  auf  den  ersten  Blick  die  rechten  herausgefunden , 
dafs  er  nach  Job.  %  25.  «  xqeiav  el%sv9  Iva  Ttg  fxa(rcvQrj(Tv 
mqi  ts  dvO'QtJTtay  weil  er  avtog  iylvtooxe,  %l  f4v  iv  rqi  av- 
&QwUüt)y  wodurch  er  einer  Forderung  genügte,  welche  die 
Juden  an  den  Messias  stellten  *). 

Macht  so  jede  der  zwei  verschiedenen  Erzählungen 
darauf  Anspruch,  das  erste  Bekanntwerden  Jesu  mit  sei- 
nen vornehmsten  Jüngern  zu  beschreiben :  so  kann  nur 
Eine  richtig,  die  andere  mufs  irrig  sein  5) ,  und,  es  ist 
nun  nach  innern  Gründen  zu  untersuchen,  welche?  Hier 
nnb  man  in  Bezug  auf  die  Darstellung  der  Synoptiker 
Paulos  Recht  geben,  dafs  man  sich  nicht  genug  wundern 
kannte,  wenn  gleich  das  erste  Zusammentreffen  Jesu  mit 
Jenen  Männern  sieh  so  gemacht  hätte,  wie  sie  erzählen. 
Ein  Durchschauen  des  Menschen  auf  den  ersten  Blick, 
wie  es  Jesus  hier  erprobt  hätte,  ginge  weit  über  Alles 
hinaus,  was  'der  glücklichsten  nnd  geübtesten  Menschen« 
kenntnifs  natürlicherweise  müglich  ist.  Wir  müfsten  also 
entweder  an  die  eigentümliche  Gabe  denken,  vermöge  de- 
ren Jesus  der  Samariterin  von  ihren  sechs  Männern  sag- 
te; oder  müfsten  wir  annehmen,  die  Synoptiker  haben 
den  Vorfall  dadurch  in  ein  falsches  Licht  gestellt,  dafs  sie 


4)  s.  Schott*!*,  horae,  2,  S.  371  f. 

5)  Vergl.  Ffurzscus,  in  Matth.  p.  189;  di  Witts,  exeg.  Handb., 
1,  1,  S.  46. 


V 


590  Zweiter  Abschnitt 

das  ErgebniTe  eines  lungeren  Verkehrs  wie  ein  erstmilig« 
Noticnehmen  beschreiben* 

Dabei  könnte  das  Wesentliche,  dafs  Jesus  die  Iba 
längst  bekannten  Männer  snletzt  von  den  Netsen  weg  n 
seiner  Jüngerschaft  berief,  sich  wirklich  so  ereignet  haben; 
freilich  ebenso  leicht  aber  konnte  auch  dieser  Grundstock 
der  Ersählang  auf  traditionelle  Weise  sieh  bilden.  Anlsb 
dasu'lag  nicht  allein  in  der.  schön  angeführten  jüdisches 
Vorstellung  vom  Messias  als  Hereenskttndiger;  sonders 
auch  ein  ganz  specielles  Vorbild  dieser  Apostelberofosg 
war  in  der  Erzählung  (1.  Kön.  19,  lfr- 21.)  von  der  Art 
und  Weise  gegeben ,  wie  der  Prophet  Elia  den  «Elisa  n 
seiner  Nachfolge  bestimmt  haben  sollte.  Wie  hier  Jena 
die  BrOderpaare  von  den  Netzen  und  dem  Fischfang?  * 
ruft  qlort  der  Prophet  seinen  künftigen  Scbttler  von  da 
Rindern  und  dem  Pfluge  weg;  beidemale  von  einer  eing- 
ehen materiellen  Arbeit  zum  höchsten  geistigen  Berufe, 
ein  Contrast,  welchen ,  wie  ans  der  rtfmischen  Geschieht« 
bekannt,  die  Sage  besonder«  gerne  entweder  aufbewahrt 
oder  macht.  Ferner,  wie  die  Fischer  auf  den  Ruf  Jen 
ihre  Netze  verlassen ,  und  ihm  nachfolgen :  so  heifit  m 
von  Elisa,  als 'Elia  seinen  Mantel  anf  ihn  warf;  xcn&m 
tag  ßoag,  xal  xccridQaiiev  oxioco  ^HXtH  CV.  20.  LXX.).  Ho 
folgt  eine  scheinbare  Differenz,  die  aber  eigentlich  da 
frappanteste  Znsammentreffen  ist.  Der  berufene  Proph» 
tenschtiler  bat,  ehe  er  sich  ganz  an  Elia  anschlöfse,  «<* 
noefc  von  Vater  und  Mntter  verabschieden  zu  dflrfen,  nod 
der  Prophet  nimmt  keinen  Anstand,  ihm  diefs  eu  gestio 
ten,  wenn  nur  Elisa  sofort  wieder  zu  ihm  zurffekkehreil 
würde.  Aehnliche  Bitten  werden  jauch  Jesu  (Luc.  9,59  ff 
Matth.  8,  21  f.)  von  Einigen  gestellt,  die  er  zur  Nachfolgt 
berufen,  oder  die  sieh  freiwillig  dazu  erboten  hatten;  «ber 
Jesus  gewährt  diese  Gesuche  nicht,  sondern  weist  des 
Einen,  Welcher  zuvor  seinen  Vater  zu  begraben  wünschte, 
su  augenblicklichem  Antritt  seiner  Jüngerschaft  an,  deo 


Andern  aber,  der  sich  ansgobeteu  hatte,  sieh  erat  nooh 
von  seiner  Familie  verabschieden  tu  dürfen,  weist  er  an- 
rücli ;  wogegen  von  den  beiden  Fischerpaaren  hier  gesagt 
wird,  dafs  sie,  ohne  um  Frist  au  bitten,  Alisa,  die  Zeba- 
daiden  selbst  ihren  Vater,  in  Stiche  gelassen  haben.  Die- 
ser Zag  kann  anf  die  Vermuthuog  führen ,  die  ganze  Er- 
Kfihlang  bei  Matthias  und  Markus  mSge  eine  überbietende 
Nachbildung  der  A.  T. liehen  sein,  um,  wie  Paulus  rieb- 
tip  siebt,  em  seigen,  dafs  Jesna  als  Measlas  noch  entsohloa- 
aenere  und  Bit  grtilserer  Aufopferung  verbundene  Nach- 
folge gefordert  habe,  ab  Elias  der  Prophet  verlangte  und 
verlangen  durfte.  Die  geschichtliche  Grundlage  der  Er- 
zählung w<re  dann  nur  die,  dafs  mehrere  der  vorzüglich- 
sten Junger  Jean,  wie  namentlloh  Petrua,  als  Anwohner 
des  gatilfliachen  Sees,  Fischer  gewesen  waren ;  welswegen 
Jesna  sie  in  ihrer  spltereb  apostolischen  Wirksamkeit  bis- 
weilen als  äküs  dv&Qwuin'  bezeichnet  haben  mag. 

Wäre  somit  durch  Wegrlumung  entweder,  oder  Be- 
richtigung der  synoptischen  Ereählong  für  die  Jobannei- 
aehe  Ranm  gemacht:  ao  kann  doch,  ob  sie  diesen  als  hl* 
storische  einnehmen  darf,  erst  aus  einer  Prüfung  ihrer 
Innern  Beschaffenheit  sieh  ergeben.  Bier  erregt  ea  zwar 
kein  gutes  Vorurtheil,  dais  Johannes  der  Täufer  es  ist, 
Welcher  Jesn  die  nwel  ersten  Schüler  angewiesen  haben 
soll;  denn,  ist  in  der  froher  gegebenen  Darstellung  des 
Verhältnisses  nwiachen  Jesu  und  dem  Täufer  nur  irgend 
'etwas  Wahres:  so  konnten  awar  wohl  Ja  hannesjunger  aus 
eignem  Antriebe  sich  an  Jesus  anschließen)  nicht  aber  der 
Tlufer  Jemanden  von  sich  weg  an  Jesum  als  den  Messias 
verweisen.  Doch  kannte  such  hier,  der  Wahrheit  des 
Uebrlgen  unbeachadet,  in  der  Erinnerung  des  Evangelisten 
irgend  eine  Aeufserung  des  Täufers  eu  Gunsten  Jesu, 
durch  welche  einige  seiner  Jünger  zuerst  veranlaßt  wur- 
den,   Jesu  nähere  Bekanntschaft  cu  suchen,  ans   spaterer 


I 


592  Zweiter  Absohnitt. 

Erkenntaifs  heraus  bestimmter  und  inhaltsvoller  gemacht 
worden  sein« 

Dafs  sofort  Andreas.,  nachdem  er  einen  Abend  mit 
Jesu  Busammengewesen ,  ihn  seinem  Bruder  sogleich  mit 
den  Worten:  evQrpcafiev  rov  Meoolav,  angekündigt  habeo 
soll  (1,  42.) ,  und  auf  ähnliche  Weise  Philippus 
naeh  seiner  Berufung  sich  gegen  Nathanaäl  über  ihn 
spricht  (V.  46),  steht  mit  der  glaubwürdigen  Darstellung 
der  Synoptiker  im  Widerspruch.  Aus  dieser  (Matth.  16, 
16  ff.  parall.)  wissen  wir,  dafs  es  einige  Zeit  brauchte, 
bis  die  Janger  Jesum  als  den  Messias  anerkannten  y  und 
diets  durch  ihren  Sprecher  Petrus  laut  werden  liefseo, 
dessen  späte  Einsicht  Jesus  mit  Unrecht  als  göttliche  Of- 
fenbarung gepriesen  haben  würde,  wenn  sie  ihm  gleich 
Anfangs  durch  seinen  Bruder  Andreas  entgegengebracht 
worden  wäre.  Es  scheint  also  hier  eine  anachronistische 
Verschiebung  im  Gedächtnisse  des  Evangelisten  angenom- 
men werden  zu  müssen. 

Aehnlichen  Anstofs  kann  die  Art  erregen,  wie  sofort 
Jesus  den  Simon  empfangen  haben  soll.  Schon  das,  dafs 
er,  nachdem  er  ihn  in  das  Auge  gefafst,  ihm  sagt:  ai 
el  2tfUiiv9  6  viog  Iwvu,  klingt  nach  Bbkgsl's  richtiger  Be- 
obachtung 6)  so,  als  sollte  hier  Jesu  eine  Übernatürliche 
Kenntnifs  des  Namens  und  der  Abkunft  eines  ihm  sonst 
unbekannten  Mannes  Angeschrieben  werden.  Jedenfalls 
> aber,  wenn  er  ihm  »nun  den  bedeutsamen  Beinamen  Kr, 
tpag  oder  IlkiqoQ  sulegt,  so  ist  diefs,  sofern  man  diesen 
Ausspruch  nicht  mit  Paulus  durch  Besiehung  auf  die  Kör- 
pergestalt des  JMannes  bis  cum  Scurrlien  herunterziehe» 
will  *),  so  gemeint,  dafs  Jesus  auf  den  ersten  Anblick  mit 
dem  Auge  des  xaQdioyvalzTp;  sein  Inneres  durchschaut,  und 
nicht   blofs  seine   allgemeine   Befähigung  cum  Auostolat, 


6)  Gnomon,  z.  d.  St. 

7)  Leben  Jesu,  1,  a,  S.  168. 


Fünftes  Kapitel.    $.09.  MS 


y 


sondern  aneh  die  individuellen  Eigenschaften  erkannt  he- 
be, welobe  den  Mann  mit  einem  Felsen  vergleichbar  mach* 
ton.  Die  Ersähiung  der  Synoptiker ,  nach  welcher  Jesus 
erst  nach  längerem  Umgang  mit  dem  Manne  su  ihm  spricht« 
ev  cZ  JZ&(jo£,  xai  kü  rainy  ffj  neiqq  x.  t.  L  (Matth.  16, 
18.),  Ifi&t  sich  «war  so  verstehen,  dafs,  Jesus  —  sofern 
er  hier  nicht  wie  bei  Johannes  sagt:  av  xhftrpjjij  sondern 
av  ely  und  sofern  aneh  Matthäus  den  Simon  schon  vor 
jener  Anrede  Petrus  nennt  —  von  einem  dem  Jünger  frfl* 
her  beigelegten  Namen  ,  jetst  nur  eine  bedeutsame  Anwen- 
düng  gemacht  habe  °);  jedenfalls  aber  bleibt  es  überwie- 
gend wahrscheinlich,  dafs  erst  nach  längerer  Bekanntschaft, 
eder  wenigstens,  wie  Locus  will,  nach  einer  längeren  Du» 
terredung,  dem  Petrus  dieser  Charaktername  gegeben  wur- 
de; wornach  also  die  firsähluog  des  vierten  Evangelisten 
auch  hier  mindestens  eine  bis  nur  Täuschung  verkarste 
wäre» 

Noch  mehrere  Schwierigkeiten  finden  sich  in  der  Ver- 
handlung mit  Nathanael.  Wie  Phiiippus  ihm  von  einesi 
Messias  aus  Nazaret  sagt,  macht  er  die  her  ahmte  Frage: 
ix  Na£aQlv  dvvcaai  zt  dyad-ov  ehai;  (V.  47.)  Dafs  nun 
schon,  als  Jesus  auftrat,  Nasaret  in  besonderer  Verach- 
tung gestanden,  lädt  sich,  wie  auch  Lückb  bemerkt,  durch 
kein  einsiges  historisches  Datum  belegen,  und  es  hat  aUe 
Wahrscheinlichkeit,  dafs  erst  von  den  Gegnern  des  Chri* 
atentbums  dieser  Vaterstadt  des  von  ihnen  verworfenen 
Messias  ein  Schandfleck  angehängt  worden  ist.  Zu  Jesu 
Zeit  stand  Nasaret  nur  in  der  Eigenschaft  einer  galiläi- 
sehen  Stadt  überhaupt  bei  den  Judäern  in  Verachtung; 
aber  in  diesem  Sinne  konnte  Nathanael  nicht  auf  dasselbe 
herabsehen,  da  er  selbst  ein  Galiläer  war  (21, 2.).  Leicht 
kannte  also  hier  eine  spottende  Frage,  welche  sur  Zeit 
der  Abfassung  des  vierten  Evangeliums  die  Christen  oft 


8)  Luck*  und  de  Witts  z.  d.  St.  des  Job. 

Da»  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  /.  Band.  38 


Zweiter  Abschnitt, 

von  ihren  Gegnern  hören  mufsten,  schon  einem  Zeitgenos- 
sen Jesu  in  den  Mund  gelegt  sein,  der  seinerseits  vielmehr 
in  der  Art,  wie  die  Juden  Joh.  7,  41  f.»  seine  Bedenkifch- 
keit  geankert  hätte.  —     Wie  nun  Natbanael   auf  Jesu« 
ankommt,   soll  dieser  Ober  ihn   das  Urtheil  gefällt  haben: 
ftte  alqQwg  ^lOQa^kirt^  er  <ji  dolos  ux  e'gi  (V.  48.)-    Paolos 
meint,  von  Nathanael  aus  Kana,  wohin  er  eben  aur  Hoch- 
aeit  von  Verwandten  ging ,   könne  Jesus  wohl  schon   vor- 
her gewnfst  haben.      Allein,    war  Matbanaels  Charakter 
Jesu  auf  natürlichem  Wege  bekannt  geworden,  so  mutete 
ar  Auf  dessen  Frage 8  noO-ev  pe  yivoiüxHg;  entweder  ihn  aa 
die  Gelegenheit  erinnern,    bei  welcher   sie  schon    früher 
Bekanntschaft  gemacht ,  oder  sich  auf  Andre  berufen  ,  die 
ihm  von  Nathanael   schon  Gutes  gesagt  halten;    wenn  er 
statt  dessen  von  einem  Wissen  um  den  Aufenthalt  Natha* 
naels  unter  einem  Feigenbaum  spricht,  welches  den  Sehefai 
des   Wunderbaren   bat:   so  wäre  ein  solches  Benehmen, 
wenn  irgend  eines,   Charlatanerie  gewesen.     Da  aber  der 
Evangelist  Jesu  so  etwas  nicht  anschreiben  will:    so  geht 
seine  Absicht  unverkennbar  dfthin ,    Jesu   ein  übernatttrli» 
ehes  Wissen  um  den  Charakter  Nathanael*  au  anschreiben; 
worüber  wie  oben  in  Bezug  auf  Petrus  und  die  Samarite- 
rin  au  urthetlen  ist.     Ebensowenig  läfst  sich  das  omr  iW 
rrjv  ovxijv  tldov  ae  durch  den  pAULUs'schen  Ausspruch :  wie 
oft  siebt  und  beobachtet  man  einen,  der  es  selbst  nicht  be- 
merkt!  erklären.    Zwar  denkt  auch   Lücke   hier   an    ein 
natürliches  Beobachten;  nur  dafs  er  Jesum  den  Mathanael 
in  einer  Situation  beobachten  läfst,  welche,  wie  etwa  Ge- 
bet und  Studium  des  Gesetzes,  ihm  einen  Schlafs  auf  dea 
Charakter   des    Mannes    möglich   gemacht   habe.      Allein, 
wollte  Jesus  sagen :   wie  sollte  ich  von  deiner  Redlichkeit 
nicht  überzeugt  sein,  da  ich  ja  von  deinem  eifrigen  Bibel- 
Studium  und  brünstigen  Gebet  nnter  der  oixi,  Zeuge  war? 
so  mfifste  doch  wohl  ein  7tQog£v%of.i€vov  oder  uruyiPuMixavru 
dabeistehen  ;  ohne  diesen  Beisatz  kann  als  Sinn  dea  Ans 


kB! 


Fünftes  Kapitel.     §.  69.  595 

sprach«  nur  dieser  erscheinen:  nein  Vermögen,  in  dein 
Inneres  eu  Micken ,  kannst  da  daraus  erkennen ,  dafs  ieh 
dich  in  einer  Lage,  in  welcher  du  auf  natürliche  Weise 
keinen  Beobachter  hattest,  gesehen  habe;  wobei  es  also 
auf  eine  bestimmte  Situation  des  Gesehenen  nicht  ankommt, 
sondern  einzig  auf  das  Sehen  Jesu ,  welches ,  sofern  aller 
Nachdruck  auf  demselben  liegt,  kein  gewöhnliches,  sinnli- 
ches, gewesen  sein  kann  •).  Auch  ein  solches  Fernse- 
hen ohne  Vermittlung  der  lufseren  Sinne  ist  In  dem 
Kreise  magnetischer  und  ähnlicher  Erscheinungen  *  wie 
b.  B.  unter  den  Propheten  der  Camisards ,  nicht  ohne  Bei- 
spiel; dasselbe  auf  Jesnm  fibersutragen ,  unterliegt  ewar 
denselben  Bedenklichkelten ,  die  sich  aber  auf  die  gleiche 
Weise  lösen  lassen ,  wie  oben  in  der  Geschichte  der  Un- 
terredung Jesu  mit  der  Samariterin.  Dafs  Jesus,  als  ihn 
auf  diese  Eröffnung  bin  Nathanael  für  den  Sohn  Gottes 
und  König  Israels  anerkennt ,  Ihm  erwiedert ,-  diese  Probe 
seiner  messianisohen  Fernsicht  sei  noch  eine  Kleinigkeit 
gegen  das,  was  Nathanael  noch  bu  sehen  bekommen  wer- 
det dafs  nämlich  über  ihm,  als  dem  Messias,  ans  geöfihtf- 
tem  Himmel  göttliche  Kräfte  gleichsam  auf-  und  niedeH 
steigen  werden  (V.  51  f.);  diefs  beweist  keineswegs,  wie 
Paulus  meint,  dafs  in  jener  ersteren  Probe  nichts  Wui*> 
derbares  gewesen,  da  es  auch  im  Wunder  eine  fcteige^ 
rang  gibt. 

Es  kann  folglieh  die  Anschliefsung  der  ersten  Jünger 
an  Jesura  im  Wesentlichen  so  erfolgt  sein,  wie  das  vierte 
Evangelium  meldet;  wodurch  dann  die  Erzählung  der 
erwei  ersten  Evangelien  von  der  Berufung  der  beiden  ßrü- 
derpaare  su  Menschenfischern  entweder  völlig  aus  dem 
Kreise  des  Geschichtlichen  ausgeschlossen ,  oder  dach  in 
soweit  für  unrichtig  erklärt  wurde,  als  sie  unverkennbar 


9)  So  auch  Buuh,  Bemerkungen  zum  Evmtfg.  Job.,  in  den  theol« 
Studien  und  Kritiken,  1335,  S.  440  f. 

38* 


L-.      «. 


596  Zweiler  Abschnitt. 

darauf  ausgeht,   das  erste  Ansehlief sen   der  vier  Min 
an  Jesum  uns  so  berichten  *•). 

$.    70. 

Der  Fitchzug  de«  Petrus. 

Doch  aofser  den  bisher  besprochenen  beiden  könnet 
noch  eine  dritte  Ersäblnng,  die  des  Lukas  (5, 1 — 11.)»  hi** 
in  Betracht,  welche,  obwohl  mit  der  des  Matthias  und 
Markos  genau  verwandt,  doch  auch  von  ihr  dureh  meh- 
rere ?öge  sich  unterscheidet«  Abgesehen  von  den  Klei- 
nigkeiten, auf  welche  s.  ß.  Storr  Gewicht  legt,  um  diese 
Erzählung  von  der  der  beiden  ersten  Evangelisten  su  tren- 
nen fl)t  Hegt  ein  wesentlicher  Unterschied  darin,  dalä  bei 
Lukas  das  Anschliefcen  der  Fischer  an  Jesus*  nicht  auf 
eine  blofse  Einladung  hin ,  sondern  in  Folge  eines  reichen 
Fiscbsugs  geschieht,  su  welchem  Jesus  dem  Petrus  ver- 
helfen hatte.  Gibt  sich  so  die  Geschichte  bei  Lukas  flr 
die  Ersählong  einer  andern  Begebenheit,  als  welche  seine 
Yormänner  berichten:  so  ist  nun  zunächst  ihre  Glaubwür- 
digkeit für  sich  zu  untersuchen,  und  dann  ihr  Verhältnifs 
su  der  des  Matthäus  und  Markus  su  bestimmen* 

Jesus,  am  galiiäisehen  See  vom  Volke  gedrängt,  be- 
steigt ein  Schiff,  um  in  einiger  Entfernung  vom  Ufer  un- 
gehinderter sum  Volke  sprechen  su  können;  nach  Beendi- 
gung der  Reden  fordert  er  den  Simon,  den  Eigen thflmsr 
des  Kahnes,  auf,  tiefer  in  den  See  hineinzufahren,  und 
da  die  Netze  sum  Fang  auszuwerfen.  Simon,  obwohl 
wenig  ermuthigt  durch  den  schlechten  Erfolg  der  Fischer» 
arbeit  in  der  vergangenen  Nacht,  erklärte  sich  doch  bereit, 
und  der  Erfolg  war  ein  so  außerordentlich  reicher  Fang, 
dafs  Petrus  und  seine  Genossen,  Jakebus  und  Johannes 
{Andrea*  wird  hier  nicht  erwähnt),  in  das  äufsersto  £r> 


10)  Vgl.  Thkili,  zur  Biogv.  J.,  $.  24. 
1)  Ucber  den  Zweck  der  ev.  Gesch*  and  der  Br.  Job. ,  S-  SSO. 


Fünftes  Kapitel.    $.  70.  597 

etaanen  r  der  Entere  selbst  in  eine  Art  von  Furcht  vor 
Jesu  eis  einen  höheren  Wesen  gerieth ,  und  auf  die  An? 
rede  Jesu  an  Petras:  inj  (poßir  ano  tö  vuv  ccvSqwit&s  &nj 
£(oy(Hor,  alle  drei  Alles  vertieften  and  ihm  nachfolgten. 

Dals,  was  hier  ersihlt  wird,  auf  natürliche  Weise 
Badglich  gewesen,  Sachen  die  rationalistischen  Aasleger 
angelegentlich  darzothnn.  Nach  Ihnen  war  der  auffal- 
lende Erfolg  theils  Werk  einer  richtigen  Beobachtung 
Jesu,  theils  glücklicher  Zufall.  Tiefer  in  den  See  hinein- 
fahren wollte  Jesus  naeb  Paulus  auerst  nur,  am  das  Volk 
ao  entlassen,  and  erst  als  er  im  Hinfahren  einen  fischrei- 
chen Plata  ma  bemerken  glaubte,  forderte  er  den  Petras 
auf,  hier  das  Neta  auszuwerfen«  Ein  doppelter  Wider- 
spruch gegen  die  evangelische  Ereühlung.  Wenn  doch 
Jesus  in  unmittelbarer  Verbindung  sagt:  inavdyaye  eig  ro 
ßadvt;,  xccl  %ahxoar8  xa  dixrva  x.  r.  L,  so  hatte  er  offenbar 
aehon  bei  der  Abfahrt  die  Absicht,  einen  Fischaug  an 
veranlassen;  und  tpraoh  er  diese  schon  am  Ufer  aus,  so 
konnte  seine  Hoffnung  auf  einen  glücklichen  Fang  nicht 
Ergebnifs  der  Beobachtung  einer  fischreichen  Stelle  auf 
der  Höhe  des  Sees  sein,  die  sie  noch  gar  nicht  erreicht 
hatten.  Man  müßte  also  mit  dem  Verfasser  der  natürli- 
chen Geschichte  sagen,  Jetns  habe  überhaupt  vermuthet, 
dafs  unter  den  gegebenen  Umständen  (vielleicht  bei  heran- 
nahendem Sturme)  der  Fang  auf  der  Mitte  des  Sees  jetat 
besser  als  in  der  Nacht  gelingen  werde.  Allein,  vom  na- 
türlichen Gesichtspunkt  ausgegangen,  wie  sollte  Jesus  diefs 
besser,  au  beurtheilen  gewnfst  haben ,  als  die  M Anaer, 
welche  ihr  halbes  Leben  als  Fischer  auf  dem  See  ange- 
bracht hatten  ?  Gewifs,  bemerkten  die  Fischer  nichts,  was 
ihnen  au  einem  guten  Fange  Hoffnung  machen  konnte:  so 
kann  auch  Jesus  etwas  der  Art  natürlicherweise  nicht  be- 
merkt  haben,  und  das  Zusammentreffen  des  Erfolgs  mit 
seinem  Worte  mufs,  den  natürlichen  Standpunkt  festge- 
halten, rein  auf  Rechnung  des  Zufalls  geschrieben  werden. 


59S  Zweiter  Abschnitt. 

Doch  welche  unbesonnene  Vermeasenbeit,  so  auf  Gerathe» 
wohl  etwas  zu  versprechen ,  was  nach  dem  Vorgangs  der 
verflossenen  Macht  eher  fehlschlagen  als  gelingen  konnte! 
Aber,  sagt  man,  Jesus  fordert  ja  den  Petras  nuch  nur  auf, 
noch  einen  Versach  za  machen,  ohne  ihm  etwas  Bestimm» 
tes  na  versprechen.  Allein  in  seiner  bestimmten  Auffor- 
derung ,  welche  sich  aach  durch  die  Bemerkung  de*  Pe- 
tra«, wie  ungünstig  die  Umstände  dem  Fange  seien,  niek 
irren  läfst,  liegt  doch  zugleich  ein  Versprechen,  und  schwer- 
lich hat  das  x^kdacers  x.  t.  A.  in  unserer  Stelle  einen  in- 
dem Sinn,  als  bei  der  ähnlichen  Scene  Job.  21.  das  ßakts 
.dg  t<*  de^id  fdtyt)  %5  nXoiH  %6  dixzvov,  xal  svqtjOsu 
(V.  6.).  Wenn  ferner  Petrus  selbst  seine  Bedenkliehkeift 
in  den  Worten  zurücknimmt:  int  fte  rq>  fty/tiarl  as  %alm 
10  dlxivovy  so  mag  zwar  fry/ucc  nicht  geradezu  durch  Zn- 
zage,  sondern  durch  Befehl  zu  übersetzen  sein,  in  jeden 
Falle  aber  liegt  die  Hoffnung  darin ,  dafs ,  was  Jesus  ge- 
biete, nicht  erfolglos  sein  werde.  Diese  Hoffnung,  wenn 
sie  Jesus  nicht  hatte  erregen  wollen ,  mufste  er  aUbald 
wieder  niederschlagen,  um  sich  nicht  der  Beschämung 
durch  einen  etwaigen  ungünstigen  Erfolg  auszusetzen,  wi 
in  keinem  Falle  durfte  er  nach  gelungenem  Fange  den 
Fufsfall  des  Petrus  annehmen ,  wenn  er  ihn  nicht  besser, 
.als  duroh  einen  auf  gut  Glück  gegebenen  Rath  verdient 
hatte. 

Es  bleibt  also  der  ganzen  Absicht  der  Erzählung  in- 
folge nichts  übrig,  als  hier  ein  Wunder  anzuerkennen; 
was  nun  entweder  mehr  als  Wunder  der  Wirksamkeit 
oder  des  Wissens  gefaßt  werden  kann.  Zunächst  ergib 
eich  die  erste  Auffassungsweise:  dafs  Jesus  durch  sdai 
Wundermacht  die  Fische  im  See  dahin  zusammengetrieben 
hätte,  wo  er  den  Petrus  das  Metz  auswerfen  hiefs.  Nu 
dafs  Jesus  auf  Menschen ,  an  deren  Geist  seine  Geistee- 
kraft einen  Anknüpfungspunkt  hatte,  unmittelbar  durch 
seinen  Willen  einzuwirken  vermochte,   diefs  könnte  mW 


Fünfte«  Kapitel.    $.  70.  599 


sieb  etwa  noch  denken,   ohne  von  den  Geseiften  psycholo- 
gischer Wirksamkeit  allzuweit  abzukommen;    aber  wie  er 
auf  vernunftlöse  Wesen,  und  zwar  nicht  auf  einseihe  und 
ihm  unmittelbar  gegenwärtige  ,   sondern  auf  Sehaaren  von 
Fischen  in  der  Tiefe  eines  Sees  anf  diese  Weise  habe  wir- 
ken können,  das  läTst  sich  nicht  vorstellig  machen,  ohne  in 
das    Zauberhafte    hineinzugerathen.     Die    Olhhau&en  sehe 
Vergleichong  wenigstens,  Jesus  habe  hier  dasselbe  gethatf, 
was  die  göttliche  Allmacht  alljährlich   mit  den  wandern- 
den Fischen  und  Zugvögeln  thue  *),  hinkt  nicht  blofs,  soft« 
flern  weieht  ganz  auseinander;  denn  der  Unterschied,  dafa 
dts  Letstere  eine  göttliche  Thötigkeit  ist,  welche  mit  der 
ganzen  Übrigen  Naturwirksamkeit  Gottes,  mit  dem  Wech- 
sel der  Jahreszeiten  u.  s.  f.   in  engster  Verbindung  steht, 
das  firstere  aber,  auch  Jesum  als  wirklichen  Gott  voraus- 
gesetzt,  eine  aus  allem  Naturzusammenhang  herausgeris- 
sene vereinselte  That  wä*re,  hebt  alle  Vergleichbarkeit  bei- 
der Erscheinungen   auf.  —    Doch,  auch   die  Möglichkeit 
eines  lolchen  Wunders  vorausgesetzt,  wie  denn  auf  sopra- 
naturalstischem  Standpunkte  nichts  an  sich  unmöglich  ist: 
Ififst  sith  denn  anch  nur  ein  scheinbarer  Zwfeek  denken, 
welcher  Jesum  bewegen  konnte ,   von  seiner  Wunderkraft 
einen  so  abenteuerlichen  Gebrauch  zu  machen  ?    War  es 
denn  so  tiel  werth,   dafs  Petrus  durch  den  Vorfall  eine 
abergläubische  und  gar  nicht  »eutestamentliohe  Furcht  vor 
Jesus  bekan?    und   liefe  sich  nur  anf  diese  der  wahre 
(jlaube   pfropen?    oder  glaubte  Jesus   nur  durch   solche 
Zeichen    sich  jünger    werben    an  können?    Wie   wenig 
halte  er  da  an t  die  Macht  des  Geistes  und  der  Wahrheit 
▼ertraut,  wie  vie  zu  gering  den  Petrus  angeschlagen ,  der 
wenigstens  später (Joh.  ö,  68.)  nicht  durch  die  Mirakel, 
die  er  von  Jesus  sa*,  sondern  durch  die  fyrjuasa  £o»/p  aba- 


2)  Bibl.  Comuu,  1,  S.  73, 


r 


J 


600  Zweiter  Abschnitt 

vhiy  die  er  von  ihm  hörte,  in  seiner  Gesellschaft  festgehal- 
ten war. 

Von  diesen  Schwierigkeiten  gedringt,  kann*  man  sid 
anf  die  andere  Seite  flächten,  and  als  das  Gelindere  u 
nehmen,  Jesus  habe  nur  vermöge  seines  -übermenschlicher 
Wissens  die  Kenntnifs  gehabt ,  dafs  an  jenem  Platse  g» 
rade  eine  Menge  von  Fischen  sieh  befinde,  and  diefs  des 
Petras  mitgetheilt*  Meint  man  diefs  so,  Jesus  habe  »1 
einer  Allwissenheit,  wie  man  sie  bei  Gott  sich  vorsagtet 
len  pflegt,  jederaett  am  alle  Fische  in  allen  Seen,  Flfiasa 
and  Meeren  gewnfst:  so  ist  es  mit  seinem  menschUeba 
Bewafstsein  aas;  soll  er  aber  nur  etwa,  wenn  er  Aber  en 
Wasser  fuhr,  von  dem  Treiben  der  Fische  in  demseUea 
Kenntnifs  bekoirimen  haben:  so  ist  auch  diefs  schon  ge- 
nug, nm  in  seinem  Gemfithe  den  Plats  fftr  wichtigere  6a- 
danken  au  versperren;  endlich,  soll  er  so  etwas  nicb  »* 
mer  und  wesentlich  gewnfst  haben,  sondern  es  nir,  at 
oft  er  wollte,  haben  wissen  können :  so  begreift  msn^iehtj 
wie  in  Jean  ein  Antrieb  entstehen  konnte,  dergletaen  et- 
was EU  erfahren;  wie  derjenige,  dessen  Bernfauf  die 
Tiefen  der'menscbliohen  Herzen  sieh  bezog,  mit  An  fisch» 
reichen  Tiefen  der  Gewässer  sich  an  befassen  versnobt 
sein  mochte. 

Doch  ehe  wir  über  diese  Ersählang  des  Lukas  est» 
scheiden ,  müssen  wir  sie  asuvor  noch  im  V<rh£ltnifs  u 
der  Berufungsgeschichte  bei  den  sjvei  erster  Synoptiken 
betrachten ;  wobei  die  erste  Frage  das  cbroitflogische  Ver- 
hältnils beider  Begebenheiten  betrifft  Daf  nnn  der  wun- 
derbare Fischzag  bei  Lukas  vorangegangen  die  Berufung 
bei  den  beiden  andern  aber  erst  nach/efolgt  sei,  diese 
Voranssetaong  ist  dadurch  abgeschnitten?  dafs  nach  der 
starken  Anhänglichkeit,  welche  dare/  jenes  Wander  ifi 
den  Jüngern  angeregt  war,  keine  n*re  Berufung  nöthig 
sein  konnte ;  oder,  wenn  die  mit  ein*n  Wunder  verknöpfte 
Einladung  nicht  hingereicht  hatte,  die  Männer   bei  Jesu 


Fünftes  Kapitel.    $.  70.  601 

fcstaubeiten  ,   konnte  er  von  dem  Antiklimax  einer  später 
erlassenen  kahlen  und  wanderlosen  Aufforderung  sich  noch 
weniger  Erfolg  versprechen.    Bei  der   umgekehrten  Stel- 
lung könnte  sich,  ein  passender  Klimax  der  beiden  Einla- 
dungen su  ergeben  seheinen :   doch  woau  überhaupt  eine 
zweite,  da  die  erste  schon  gewirkt  hatte?    Denn  anauneh- 
snen,  dafs  die  Brüder,  welche  ihm  auf  die  erste  hin  nach- 
gefolgt waren ,   ihn   bis  nur  «weiten  wieder  verlassen  ge- 
habt, ist  doch  nur  eine  willkürliche  Nothhülfe.    Nament- 
lich  aber,  wenn   man  auch  das  vierte  Evangelium  hinnu- 
nimmt ,   was  wäre  das  ftlr  ein  VerhÄltnifs ,   wenn  Jesus 
diese  Jünger  Beerst  so  wie  Johannes  eraählt,  in  seine  Ge- 
sellschaft gezogen  haben  soll ;   hierauf  aber ,   naohdein  sie 
sich  aus  einer  unbekannten  Ursache   wieder  von  ihm  ge- 
trennt, hÄtte  er  sie  noch  einmal,   wfe  wenn  nichts  voran« 
gegangen  wäre,  am  galilalsehen  See  berufen,  und  als  auch 
fliese  Einladung  noch  keine  bleibende  Verbindung  hervor* 
brachte,  hätte  er  zum  drittenmal  mit  Hülfe  eines  Wunders 
sie  au  seiner  Nachfolge  aufgefordert?    Ihrer  gansen  An- 
lage nach   ist  vielmehr  die  Kraft hlung  bei  Lukas  so   be- 
schaffen,  dafs  aueh  sie  ein   früheres  engeres  VerhÄltnifs 
awischen  Jesu  und  seinen  nachmaligen  Jüngern  ausschliefst. 
Denn  ^enn  sie  gana  unbestimmt  damit  anhebt,  Jesus  habe 
awei  Schiffe  am  Ufer  gesehen,   deren  Inhaber  aus  densel- 
ben gestiegen  waren ,    um   ihre   Netce  au  waschen ,   und 
wenn   erst  hierauf  als  der  Eigenthümer  des  einen  dieser 
Fahrneuge  Simon  namhaft  gemacht  wird:  so   klingt   doch 
diefs ,   wie  Schleiermacher  bündig  gezeigt  hat  *) ,    völlig 
fremd,  und  nur  wie  auf  ein  jetet  anauknüpfendes  VerhÄlt- 
nifs vorbereitend,   nicht  ein  sohon   bestandenes   vorausse- 
tzend;  so   dafs*  anch  die  von  Lukas  vorher  eraählte  Hei-» 
inng   der  Schwiegermutter  des   Petrus   entweder,  wie  so 
manche   Heilungen  Jesu,    noch   ohne  Anknüpfung    eines 


3)  Ueber  den  Lukas,  S.  70. 


602  Zweiter  Abschnitt, 

engeren  Verhältnisses  vorübergegangen,   oder  von  Loht 
(Matthfins  hat  sie  später)  su  früh  gestellt  sein  »ab. 

Es  geht  uns  also  anch  mit  dieser  tyrefihlong  des  Li- 
Jkas  in  ihrem  Verbiltnifs  zu  der  des  Matthäus  und  Mar* 
tos,  wie  es  ons  mit  der  johanneischen  Erzählung  in  V» 
Jitiitnifs  ku  der  letztem  ging :  dafs  nämlich  keine  ?on  bei* 
den  weder  vor  noch  nach  der  andern  sich  wiii  einreibe! 
lassen,  dafs  sie  somit  einander ,  ausseh  liefsen1).  Fragt  siek 
hiebei,  wer  die  richtige  Erafihlnng  gebe?  so  hat  geh« 
JSchlbiermachär  die  de*  von  ihm  behandelten  EvangelUtn 
als  die  genauere  vorgesogen  6),  nnd  neuestens  hat  Sikffek 
jsehr  emphatisch  versichert,  gewifs  habe  poch  MienaW 
daran  gezweifelt,  dafa  die  Eraäblong  dea  Lukas  ein  viel 
treueres  Bild  des  ganzen  Vorfalls  gebe,  indem  sie  aes 
ilorch  eine  Fülle  specieller,  anschauliche*  und  innerlich 
wahrer  Züge  höchst  vorteilhaft  von  der  Ercihlung  da 
.ersten  (und  zweiten) 'Evangeliums  unterscheide,  wekb 
.ihrerseits  durch  Auslassung  des  eigentlich  ergreife*!«* 
Hsuptmomenta  (des  Fischaugs)  sieh  als  von  einem  Sicht* 
augenseugen  herrührend  charakterisSre  6).  Ich  habe  aiek 
diesem  Kritiker  schon  an  einem  andern  Orte  0  als  deajs- 


4)  Diese  und  dea  sagenhaften  Charakter  beider  Erzählung» 
erkennt  auch  »*  Wette  an,  exeg.  Handb.  1,  1,  S  47.  U% 
S.  58  f. 

5)  An  ihn  schliesst  sich  auch  hier  Niahdik  an ,  L,  J.  Chr.) 
S.  249  f.  Er  bemerkt,  schon  bei  Matthäus  können  uns  fr 
Worte  Jesu  xu  Petrus,  dass  er  ihn  zu  einem  Menschenfistfatf 
machen  wolle ,  dazu  fuhren ,  eine  den  Gebrauch  dieser  Vef- 
gleichung  veranlassende  Begebenheit  vorauszusetzen,  to0 
recht ;  nur  dass  diese  Veranlassung  nicht  gerade  ein  Wunder, 
überhaupt  nicht  ein  einzelner  Vorfall,  gewesen  sein  muH  J 
sondern  Veranlassung  genug  war  der  Umstand,  dass  Pctt* 
früher  das  Fischerhandwerk  getrieben  hatte* 

6)  Ueber  den  Ursprung  des  ersten  kan.  Ev.,  S.  73» 

7)  Berliner  Jahrbücher  für  wissenschaftliche  Kritik,  1834.  N*. 


Ffinftes  Kapitel.    «.  70.  603 

* 

nigeif  gestellt,  der  einen  solchen  Zweifel  wagen  wolle, 
und  tah  kann  aaoh  hier  nur  die  Frage  wiederholen :  was 
i*t  —  wenn  doch  die  eine  der  beiden  Erzählungen  durah 
m6ndliche  Deberliefernng  entstellt  sein  soll  — •  dem  Wesen 
der  Tradition  angemessener:  das  wirklieh  geschehene  Fa- 
ktum des  Fischaugs  com  blofsen  Dictum  von  Menschen« 
fiscKern  verflfichtigt,  oder  diese  ursprünglich  allein  vor- 
handene bildliche  Rede  an  jener  Geschichte  vergröbert 
su  haben?  Die  Antwort  auf  diese  Frage  kann  nicht  swei*, 
feihaft  sein.  Denn  seit  wann  wäre  es  doch  in  der  Art 
der  Sage ,  an  vergeistigen ,  Reales ,  wie  eine  Wunderge- 
mhichte  ist,  in  Ideales,  wie  blofse  Reden,  au  verwandeln? 
da  doch  naeh  der  ganaen  Natur  der  Bildungsstufe;  nnd 
der  Geistesvermögen,  welchen  sie  vorzugsweise  angehört, 
die  Sage  darauf  ausgehen  muls,  dem  flöchtigen  Gedanken 
einen  soliden  Leib  au  bauen,  das  leicht  mifsverfitehbare 
und  schnell  verhallende  Wort  ab  allgemein  verständliche 
und  unvergeßliche  Begebenheit  su  fixiren. 

Und  wie  leicht  läfst  sich  erklären,  wie  aus  der  von 
den  swei  ersten  Evangelisten  aufbewahrten  Gnome  die 
Wnndererzfihlung  des  dritten  sich  bilden  konnte.  Hatte 
Jesus  seine  Apostel,  sofern  einige  derselben  früher  daa 
Fischergewerbe  getrieben  hatten,  als  Menschenfischer  be- 
zeichnet; hatte  er  das  Himmelreich  mit  einer  oayfpj]  ßkrj- 
&elorj  *&•  **}?  &udaooccv  verglichen,  in  welcher  Fische  aller 
Art  gefangen  werden  (Matth.  13,  47.  ff.) :  so  ergaben-  sich 
von  selbst  die  Apostel  als  diejenigen,  weiche  auf  Jesu, 
Wort  dieses  Nets  auswarfen,  und  in  demselben  den  wun- 
derbar reichen  Fischzug  thaten8).  Nimmt  man  noch  daan, 
dflfs  die  alte  Sage  ihre  Wondermfinner  gerne  mit  Fisch- 
sligen   su   schaffen   haben   liefs,    wie  denn   Porphyr  und 


8)  Aach  nach  'ob  Witts  ,  a.  d.  zuletzt  a.  O.  ,  ist  der  reiche 
Fischfang  „ein  symbolisches  Wunder,  die  reiche  apostolische 
Wirksamkeit  vorbildend." 


\ 


604  Zweiter  Abschnitt. 

J*  rablich  etwas  Aehnliehes  von  Pythagoras  eralhlen*):  a» 
ist  nicht  absusehen,  was  der  Ansicht  noch  entgegenstehe! 
könnte,  dafs  der  Fischsug  des  Petras  nur  die  cur  Wnra- 
dergeschiohte  gewordene  Onome  von  den  Mensehenfisahen 
sei;  wodurch  sogleich  alle  Schwierigkeiten,  weiche  jik 
natürliche  wie  die  supranatarale  Auffassung  der  Eraählarag 
drücken,  mit  Einem  Schlage  weggeräumt  sind. 

Einen  ähnlichen  wanderbaren  Fiseheug  >  welfs  dar 
Anhang  des  vierten  Evangeliums  aas  den  Tagen  der  Aal* 
erstehnng  Jesn  sa  berichten  (K.  21.)«  Gleichfalls  anf  des 
galilfiischen  See  fischt  Petrus,  wie  dort,  in  Begleitung  dar 
beiden  Zebedaiden  und  einiger  andern  Jünger,  die  ganss 
Nacht  hindurch,  obife  etwas  an  fangen 10).  Mit  dem  erstes 
Morgen  kommt  Jesus  an  das  Ufer  und  fragt,  von  ihaea 
anerkannt,  ob  sie  kein  nQogcpaytw  haben?  and  als  sie  diefr 
verneinen,  heifst  er  sie  rechts  vom  Schifte  das  Nets  aus- 
werfen ,  worauf  sie  wirklich  einen  überaus  reichen  Fang 
thun,  und  daran  Jesum  erkennen.  Dafs  diefs  eine  von 
der  bei  Lukas  erzählten  Geschichte  verschiedene  aei,  ist 
wegen  der  grofsen  Aehnlichkeit  kaum  denkbar;  ohne  allea 
Zweifel  vielmehr  ist  dieselbe  Eraählung  durch  die  Tradi- 
tion in  verschiedene  Theile  des  Lebens  Jesu  verlegt  wor- 
den ")• 

Vergleichen  wir  nun  diese  drei  Fischaugsgescbichtea, 
die  beiden  von  Jesus   ereählten   und  die  von  Pythagoras: 


\ 


0)  Porphyr,  vita  Pythagorae,  no.  25.  ed.  Hiesfcling)  JamblicL 
,v.  F.  no.  36.  ders.  Ausg.  Diese  Geschichte  darf  hier  vergtt- 
chen  werden,  da  sie  als  die  weniger  wunderbare  schwerlich 
durch  Nachbildung  der  evangelischen  Erzählung*  sondern  un- 
abhängig von  derselben  entstanden  ist ,  und  also  auf  eilte  ge- 
meinsame Neigung  der  alten  Sage  zu  dergleichen  Geschichten 
hinweist. 

10)  Luc.  5,5?    <J**  ohfi   rljg  vwetoq -tumtaoayrts  mShr  ilaßofttr.     Jeu* 
21,  5.  xai  $r  Ixtfon  rjj  wmtI  hiiaa&v  Zdiv. 

11)  Vgl.  db  Witts,  exeg.  Handb.,  1,  5,  S.  213. 


Fünftes  Kapitel.    $.70.  646 

so  wird  uns  .  Ihr  mythischer  Charakter  vollends  anschau- 
lich.    Was  bei  Lukas  ohne  Zweifel  ein  Wunder  der  Macht 
•ein  soll,  ist  in  der  jamblichiachen  Erzählung  ein  Wander 
des  Wissens,   indem  Pythagoras  von  den  bereits  auf  na- 
türlichem Wege  gefangenen  Fischen  nur  die  Zahl  auf  wun- 
derbare  Weise  anzugeben   weife;    zwischen  beiden  aber 
steht  die  johanneische  Darstellung  insofern  in  der  Mitte, 
ab  auch  in  ihr,  wenn  gleich  nicht  als  Vorherbestimmung 
des  Wundert  häters ,   sondern  nur  als  Angabe  des  Ersch- 
ien,   die  Zahl  der  Fische  (153)   eine  Rolle  spielt.    Ein 
sagenhafter  Zug  ist  ferner  in  allen  drei   Ersählungen  die 
Art,  wie. die  Menge  nnd  Schwere  der  Fische  geschildert 
wird;    besonders   wenn   man  auf  die  Variationen  merkt, 
welche  sieb  in  dieser  Hinsieht  finden.    Nach  Lukas  ist  die 
Menge  der  Fische  so  grob,  data  die  Netne  zerreiben,  dafs 
'Ein  Schiff  sie  nicht  faßt,   nnd  auch  nach  der  Vertheilnng 
in  swei  Fahrzeuge  beide  zu  sinken  drohen.    Dali  in  Ge- 
genwart des  Wunderthäters  die  durch  seine  Wundermaoht 
gefüllten  Netze  serrissen  sein  sollten,   will  der  Tradition 
im  vierten  Evangelium  nicht  recht  einleuchten;  da  sie  aber 
doch  durch  Hervorhebung  der  Menge   und  Schwere  der 
gefangenen  Fische  das   Wunder  heben  will,   so  zählt  sie 
dieselben,  bestimmt  sie  als  f,eyuksg,  nnd  fügt  hineu,  dafs 
die  Männer  das  Nets  ex  m  tbwoai  ta%voav  ano  tu  Tthj&ue 
%m  i%dvü*vi  statt  nnn  aber  durch  ein  Zerreilsen  der  Netze 
aus  dem  miraculösen  Zusammenhange  zu  fallen ,  weifs  sie 
geschickt  ein  zweites   Wunder  daraus  zu   machen,    dafs 
voosTto*  omw,  &x  toxio&y  %6  dixtvov.    Ein  weiteres  Wan- 
der bietet  Jamblich  dar,  welches  flbrigens  bei  ihm  neben 
dem  Wissen  des  Pythagöras  um  die  Zahl  der-  Fische  das 
einzige  ist,  dafs  nämlich  während  des  Abzähiens  der  Fische, 
wozu  es  doch  bei  ihrer  grofsen  Menge  geraume  Zeit  brauchte, 
keiner  derselben  gestorben  sei.  —  Wem  in  diesen  Verglei* 
drangen   nicht  das  Schalten  und   Walten  der  Sage,    nnd 
damit  auch  der  sagenhafte  Charakter  dieser  evangelischen 


600  Zweiter  Abschnitt« 

Erzählungen  zur  Anschauung  kommt ,  sondern  die  An* 
hlnglichkeit  an  die  geschichtliche,  sei  es  natürliche  oder 
Übernatürliche^  Fassung  derselben  bleibt:  nnn  der  mnfs 
doch  ebensowenig  einen  Bogriff  von  Sage  wie  von  Ge- 
schichte, von  Natürlichem  wie  von  Uebernatürlichesn  haben* 

§/  71. 
Berufung  des  Matthäus.    Gemeinschaft  Jesu  mit  den  Zöllnern. 

Das  erste  Evangelium  erzählt  (9,  9  ff.)  von  einem 
av&Qamog,  MavxhxTog  kyo/uevog,  statt  dessen  das  «weite  and 
dritte  (2,  14 ff.  5,  27 ff.)  einen  Aevtv  (rov  tö  IdUpcda  bei 
Markus)  haben,  welchem,  wie  er  an  seiner  Zollstätte  sab, 
Jesus  das  axolöfrei  poi  anrief,  worauf  er  (nach  Lukas  AI* 
las  verliefe)  ihm  nachfolgte,  und  ein  Mahl  veranstaltete, 
an  welchem  vitele  Zöllner  und  Sünder  sunt  Anstofa  der 
Pharisäer  Theil  nahmen. 

Wegen  des  verschiedenen  Namens  hat  man  schon  ge» 
meint,  es  müssen  hier  zwei  verschiedene  Begebenheit«« 
zum  Grande  liegen1);  doch  jene  NamensverschiedenheU 
wird  weit  überwogen  von  der  Aehnlichkeit,  welche  darin 
liegt,  dafs  Mattblaue,  wie  die  beiden  andern,  diese  Bern- 
fungsgesehiehte  zwischen  die  gleichen  Begebenheiten  hin- 
einstellt; dafs  beiderseits  das  Subject  der  Erzählung  in 
die  gleiche  Situation  versetzt ,  Jesu  Anrede  mit  denselben 
Worten  gegeben,  und  ihr  der  gleiche  Erfolg  zugeschrieben 
wird  *)•  Ist  man  daher  fetzt  ziemlioh  allgemein  einver- 
standen, dafs  die  drei  Synoptiker  blofs  Eine  Begebenheit 
erzählen :  so  fragt  sich  nur ,  ob  man  darin  nicht  za  weit 
geht,  dafs  man  zugleich  ärinimmt,  sie  haben  unter  den 
verschiedenen  Namen  doch  nur  Eine  Person  9  und  swar 
den  Apostel  Matthäus,  verstanden.  Üiefs  sucht  man  ge- 
wöhnlich  durch  die    Voraussetzung  denkbar  zu  machen, 


1)  s.  bei  HuuiÖL,  in  Matth.  p.  255. 

2)  Sigmar,  a.  a.  O.  S.  55. 


Fönftes  Kapitel.    §.  71.  007 

lad  Levi  der  eigentliche,  Matthftus  nar  der  Beiname  de« 
Mannes  gewesen  sei  *) ;  oder  dafs  er  nach  seinem  Ueber- 
jritt  äq  Jesus  jenen  mit  diesem  vertauscht  habe*)»  Um 
m  einer  solchen  Annahme  berechtigt  xn  sein,  müßten  wir 
»ine  Spar  haben,  dafs  die  Evangelisten,  welche  den  hier 
»erufenen  Zöllner  Levi  nennen,  darunter  keinen  andern 
verstehen,  als  denjenigen,  welchen  sie  im  Apostelkataloge 
il*  Matthäus  auffahren«  Allein  nicht  nur  erwähnen  sie 
lier  (Marc  3,  18.  Luc.  0,  15.  A.6.  1,  13.)»  wo  mehrere 
Beinamen  und  Doppelnamen  vorkommen,  des  Namens  Levi 
»1*  früherer  oder  eigentlicher  Benennung  des  Matthäus 
rieht,  sondern  sie  lassen  bei  Ihrem  Matthäus  auch  das 
5  itijuwrfi  weg,  welches  der  erste  Evangelist  in  seinem 
l&sttaloge  (10,  3#)  beisetst,  cum  deutlichen  Beweise,  dafs 
lie  den  Matthäus  nkbt  mit  dem  vom  Zolle  weg  berufenen 
Levi  identisch  denken  •)• 

EruJtblen  so  die  Evangelisten  die  Berufung  von  zwei 
verschiedenen  Männern ,  aber  auf  gans  gleiche  Weise :  so 
tat,  dafs  beide  Theile  Recht  haben  sollten,  defs wegen  un« 
pvsUirseheinlich,  weil  schwerlich  so  gans  dieselbe  Begeben- 
heit sich  wiederholte;  und  mufs  somit  der  eine  Theil  Un- 
recht haben,  so  hat  man  in  dem  Berichte  des  ersten  Evan- 
geliums  den  Uebelstand  finden  wollen,  dafs  hier  Matthäus 
urnt  um  ein  Ziemliches  nach  der  Bergrede  berufen  werde, 
ia  doch  nach  Lukas  (6,  13  ff.)  vor  der  Bergrede  schon 
i£mmüiche  Zwölfe  ausgewählt  gewesen  seien 6).  Allein 
Uefa  würde  höchsten*  nur  beweisen,  dafs  das  erste  Evan« 
^elium  jene  Bernfungsgesehiehte  unrichtig  stelle,  nicht 
iber,   dafo  es  dieselbe  auch  falsch  eraähle.    Da  es  somit 


5)  Huik'öl,  a.  a.  O.    Paulus,  exeg.  Handb.,  1,  b,  S.  513*     L,  J-> 
~1,  a,  240. 

4)  Bkrtholdt,  Einleitung,  3,  S.  1255  f.     Fkitzschk,  S.  540. 

5)  vgl.  Sikffbrt,  S.  5(ij  de  Wette,  exeg.  Uandb.,  1,  1,  &•  91* 

6)  SlÄIFJfRT,   S.  60. 


GOS  Zweiter  Abschnitt 

irrig  ist,  der  Erzählung  des  ersten  Evangelisten  eigtt- 
thttmliohe  Schwierigkeiten  aufbürden  zu  wollen;  ebenn» 
wenig  aber  in  der  der  beiden  andern  sich  dergleichen  a» 
gen,  wenn  man  nicht  etwa  das  xccvoXitküv  änana  bell* 
kas,  von  einem  Manne,  den  er  doeh  nicht  anter  den  b* 
ständigen  Begleitern  Jesn  aufführt,  unpassend  finden  will2): 
•o  fragt  es  sich  nur  noch,  ob  sie  von  keinen  gemeiasauai 
gedrückt  werden,  welche  dann  beide  Berichte  als  unhbti- 
risch  erscheinen  lassen  würden? 

In  dieser  Hinsieht  tat  die  genaue  Analogie  dlessr  bV 
rnfongsgeschichte  mit  der  der  beiden  Brüderpaare  bemcr» 
kenswerth*  Wie  diese  von  den  JSetnen,  ao  wird  hier«* 
Jünger  von  der  Zollbank  abgerufen;  wie  dort,  so  braucht 
ei  hier  nichts  weiter  als  daa  einfache:  axoXsO-ei  ftoi,  ad 
dieser  Ruf  des  Mesaias  hat  Über  das  Gemüth  der  Bswfc» 
nen  eine  so  unwiderstehliche  Gewalt ,  dafs  hier  der  TA 
ner,  wie  dort  die  Fischer,  xazafoiKov  anavta,  avc^agrn- 
isthjoev  avr(p.  Allerdings  ist  nicht  an  läugnen,  iwe* 
Fritzsche  die  Anklagen  einen  Julian  und  Porpbyriw, 
Matthäus  zeige  sich  hier  leichtsinnig,  surüokschlägt,  U 
Matthäus  Jesum,  der  damals  schon  längere  Zeit  in  Jen« 
Gegenden  gewirkt  hatte,  längst  gekannt  haben  müsse;  •** 
eben ,  je  länger  aueb  Jesus  ihn  schon  beobachtet  hatte) 
desto  leichter  konnte  er  Gelegenheit  linden,  den  Mann  & 
mählig  und  ruhig  in  seine  Machfolge  au  sieben ,  statt  ik 
ao  tnmultuarisoh  mitten  aus  seinem  Beruf  heraussoreifit* 
Freilich  meint  Paulus,  es  sei  hier  von  keiner  Berahnj 
nur  Jüngerschaft,  von  keinem  plötsliehen  Verlassen  «* 
bisherigen  Gewerben  die  Rede,  sondern  Jesus  habe  das 
Freunde,  der  ihm  für  diesen  Tag  ein  Mahl  bereitet  hatta, 
nach  geendigtem  Lehrgeschäft  nur  bemerklich  machen  wel- 
len ,  dafs  er  jetst  bereit  sei,  mit  ihm  nach  Hause  undstf 


7)  Di  Wbtte,  a.  a.  0. 


Fttnftefl  Kapitel    f.  » 1.  609 

Tafel  so  gehen  •)*  AHein  die  Mahlaeit  erscheint,  nament* 
lieh  bei  Lukas ,  nicht  alt  Grand ,  sondern  als  Folge  jmtr 
Abberuf ang;  aar  Mahlaeit  ferner  wird  ein  bescheidener 
Vast  de»  Wirth,  der  ihn  geladen)  nur  durch  ein  cnroU*- 
&ifHa  aoij  aieht  darch  axolod-et  /uoi  sich  ansagen;  end* 
lieh  wird  ja  bei  dieser  Auffassung  die  ganae  Anekdote  so 
bedeutungslos ,  dafs  sie  besser  weggeblieben  wäre; »).  So- 
mit bleibt  das  Jihe  nad  Gewaltsame  dieser  Soene  immer 
ein  Pankt,  an  welchen  sieh  der  Zweifel  nnd  die  Vermtf- 
thung  ansebllelsen  kann,  ea  möchte  vielleicht  der  Anstritt 
des  apostolischen  Mannes  ans  seinem  früheren  Lebenskrelse 
mnd  sein  Eintritt  in  einen  neuen  in  der  Sage  darch  die 
Wendung  veranschaulicht  worden  sein:  derselbe  habe  das 
ÜVerkeeug  seines  bisherigen  Treibens  weggeworfen,  seine 
Werkstitte  verlassen ,  um  ein  neues  Leben  an  beginnen« 

Besondere  Aufmerksamkeit  verdient  bei  dieser  Eraih- 
1mg  noch  der  Umstand,  dafs,  nach  der  gewöhnlichen  Vor- 
smssetsung  Aber  den  Verfasser  des  ersten  Evangeliums,  in 
diesem  Matthäus  selbst  die  tieschiohte  seiner  Berufung  et» 
elblen  würde.  Dafs  nun  positive  Spuren  hievon  in  der 
BraXhlung  sich  keine  befinden ,  ist  als  eingestanden  anau» 
nehmen,  und  es  fragt  sich  daher  nnr,  ob  keine  negativen 
vorhanden  sind,  die  jene  Annahme  unmöglich  oder  un- 
wahrscheinlich machen?  Dad  der  Evangelist  hier  nicht 
in  der  ersten  Person  von  sich  redet,  und  nicht  sofort'  die- 
jenigen Begebenheiten,  welche  er  seihst  miterlebte,  in  der 
ersten  Person  des  Plural,  wie  der  Verfasser  der  A.  6., 
vorträgt,  diefs  freilich  kann  noch  nichts  beweisen,  da  auch 
ein  Josephos,  nicht  minder  classische  Geschichtsehreiher, 
von  sich  in  der  dritten  Person  schreiben ,  und  das  Wir 
des  Pseudomatthäus  im  Ehionitenevangelium  gerade  höchst 


g)  Exeg.  flandh.,  1,  b,  S.  510.    L.  J.,  1,  •,  240. 
9)  Schlixsmuchs»,  über  den  Lukas,  S.  79. 
10)  Gkatz,  Gomm.  x.  Matth.,  1,  S.  470* 
Das  Lebern  Jesu  Me  Aufl.  L  Band.  39 


610  Zweiter  Ablehntet« 

verdfichtig  klingt. ,  Aach  «lab  er  «ich  sogar  durch  sinn 
gftM  fremd  thoemlen  Ausdruck:  ovttqitmov,  MozÖcuov  k 
yo//«w,  bezeichnet,  woran,  wie  an  dem  suvor  erwfthntei 
Umstände)  die  ManiehSer  Anstofs  nahmen  u)>  hat  gleich 
bei  Xenophon  eine  Analogie,  welcher  in  der  Anaba*is  sieh 
selbst  als  xtvoqtüv  ng  Idxhrratttg  einfßhrt i2).  Nor  ist  dieli 
bei  dem  Griechen  nicht  treue  Hingabe  an  den  Gegenstand 
and  naira  Reflexionalosigkeit,  wofür  es  Olshadskn  bei  den 
Evangelisten  in  Anspruch  nimmt;  sondern  entweder  einer 
alten  Ueberlieferung  zufolge  1S)  die  Absicht,  nicht  ftr  des 
Verfasser  en  gelten, .  oder  doch  Unstlerisebe  Absichdiek* 
keit  Oberhaupt :  welches  beides  man  dem  Matthäus  nicht 
wird  ««schreiben  wollen.  Ob  man  defswegen  jenen  Asr 
druck  mit  Scbolz")  als  ein  Zeichen  ansehen  dürfe,  dali 
der  Verfasser  des  ersten  Evangeliums  nicht  eben  jeasr 
Matthfius  war,  möchte  schwer  nu  entscheiden  sein;  jedes- 
falls  .ist  auch  im  Uebrigen  diese  Berofungtgeschfohte  irul 
«teniger  klar  erzfihlt,  als  namentlich  im  dritten:  nunweft 
dort  nicht ,  wie  auf  einmal  von  einem  uraxeiofrai  £v  fij  i- 
%Uf  die  Rede  sein  kann,  da  doch  der  erste  Evangelbt, 
wenn  er  selbst  der  gastgebende  Zöllner  war,  seine  Freude 
über  die  Berufung  wohl  auch  in  der  Er&fiblung  noch  d* 
durch  bitte  hervortreten  lassen ,  dafs  er,  wie  Loksi,  s» 
drtteklieh  bemerkt  bitte,  wie  er  alsbald  eine  doxy  ^ 
hry  in  seinem  Hanse  veranstaltet  habe«  Sagt  man,  er  hak 
diefs  ans  Bescheidenheit  nioht  so  ausdrücklich  sagen  nfr 
gen :  so  sieht  man  einen  derben  Galiläer  jener  Zeit  in  die 
Ziererei  des  schwächlichsten  modernen  Bewufstseins  her 
uiiier. 

An  das  Mahl  bei'm  Zöllner,  an  welchem  viele  Bernfr 


11)  Augustin  c.  Faust.  Manich.  17,  1. 

12)  3,  1,  4.      . 

13)  Plutarch.  de  gloria  Atheniens.,  zu  Anfang. 

14)  Uebcr  das  Abendmahl,  S.  308. 


Fünftes  Kapitel.    §.  71.  611 

genossen  desselben  Theii  nahmen,    knüpfen  die  Evangeli- 
sten Verwürfe,  welche  die  0<%)ioaloi  nnd  yQc^fiareig  gegen 
Jesu  Jünger  geKnfsert  beben :  dafs  ihr  Lehrer  f/eia  nhi>- 
viSv  xai  afiacnwlriSv  esse;    worauf  Jesus,   der  den  Tadel 
hatte  hören  können,    die  bekannten  Gnomen  von  der  Be- 
stimmung des  Arstes  für  Kranke  un<J  des  Menschensohns 
für  Sünder  surflckgab  (Matth.  Ü,  11  ff.parall.).    Dafs  Vor- 
würfe über  sn  grofse  Gemeinschaft  mit   dem  verachteten 
Stande  der  Zöllner  Jesu  nicht  selten  von  seinen  pharisäi- 
schen Gegnern  gemacht  worden  (rgl.  Matth«  11, 19.),  liegt 
gans  in  dem  Wesen  seiner  Stellung,    und  ist  also,   wenn 
irgend  etwas,  historisch;  -so   wie   die   Jesu   hier  in  den 
Mund  gelegte  ^Beantwortung  jener  Vorwürfe   durch  ihren 
schlagenden,  gnomischen  Charakter  sich   gans   so  wörtli- 
i  eher  Aufbewahrung  in  der  Ueberlieferung  eignete.    Dafs 
\  jener  Anstofa  namentlich  auch  dadurch  erregt  worden  sei, 
x  dafs  Jesus  mit  Zöllnern  speiste,   und  unter  ihr  Dach  ging, 
jhat    gleichfalls    keine    Unwahrsoheinltahkeit    gegen     sich. 
,  Aber  dafs  nun  die  Vorwürfe  der  Gegner  sich  unmittelbar 
['  en   das  Zöllnermabl  angeschlossen   haben   sollen ,   wie  es 
i  nach  unserer  firsählung  den  Schein  gewinnt,  wenn  es  na- 
mentlich bei  Markus  (V.  16.)  heilst :  Kai  ol  yjlticftftcct&is  *«1 
s  cl  OaQUfalot  Idorceg  avtov  io&iomx  —  eteyw  to&  fia&q- 
,twq,  diefs  will  sich  schon   nicht  ebensogut  denken  las- 
sen 15).    Denn  da  die  Mahlzeit,  an  welcher  auch  die  Jün- 
,  ger  Theii  nahmen,  iv  %r\  cixlq  war :  wie  konnten  die  Pha- 
risäer diesen   noch   wahrend  des  Essens  solche  Vorwürfe 
machen,  ohne  durch  etgeX&eiv  naQa  a^a(mwA<j>  sich  ebenso 
sn  verunreinigen,  wie  sie  es  Jesu  (Luc.  19>7.)  vorwarfen? 
nnd  draufsen  gewartet,  bis  das  Mahl  su  Ende  wäre,  wer- 
nen  die  Pharisäer  doch  auch  nicht  haben.     Dafs  aber  die 
evangelische  Erzählung  nur  einen  causalen,    keinen  Zeit- 
ansammenhang   zwischen  dem  Zöllnermahl   und  dem  pha? 


15)  Vgl.  db  Wim,  exeg.  Handb.,  1,  2,  'S.  134- 

39* 


• 


012   ,  Zweiter  Abschnitt. 

rlsätschen  Tadel  setze,  läfst  sieh  schwerlich  euch  nur  tob 
der  Darstellung  bei  Lukas  mit  Schleiermacher  ,$)  behaup- 
ten. Leicht  k5nnte  diese  unmittelbare  Verknüpfung  auf 
sagenhaftem  Wege  entstanden  sein;  denn  in  der  That 
wüßte  man  kaum,  wie  das  abstracto  Datum ,  dafs  an  den 
freundlichen  Verkehr  Jesu  mit  den  Zöllnern  die  Pharisäer 
Anstofs  genommen,  und  diefs  bei  verschiedenen  Gelegen- 
heiten ausgesprochen  haben,  sich  in  der  Alles  in*a  Con- 
creto umbildenden  Sage  anders  hätte  darstellen  können, 
als  so:  Jesus  speiste  einmal  in  eines  Zöllners  Hause  mk 
vielen  Zöllnern;  das  sahen  die  Pharisäer,  trafen  na  den 
Jüngern,  und  machten  ihnen  Vorwürfe,  welche  auch  Je- 
sus hörte  und  alsbald  lakonisch  genug  beantwortete« 

Nadi  den  Pharisäern  tatst  Matthäus  die  Jehanub- 
jünger  bu  Jesu  treten  mit  der  Frage,  warum  seine  Schü- 
ler nicht  ebenso,  wie  sie,  fasten  (V.  14 f.);  bei  Lukas 
(V.  33 ff.)  sind  es  noch  die  Pharisäer,  welche  ihre  und 
der  Johannisjünger  Fasten,  im  Gegensatse  gegen  das  ioSi- 
Biv  und  niveiv  seiner  Jünger,  Jesu  entgegenhalten;  Mar- 
kos vermittelt  auf  unklare  Weise  (V.  18  ff.)*  Hier  soH 
nun  nach  Schleiermachbr  jeder  Unbefangene  in  der  Dar- 
stellung des  Matthäus  im  Vergleich  mit  der  des  Lukas  die 
verwirrende  Umgestaltung  einer  «weiten  Hand  erkennen, 
welche  sich  nicht  bu  erklären  wufste,  wie  die  Pharisäer 
danu  gekommen ,  sich  auf  die  Schüler  des  Täufers  su  be- 
rufen. Vielmehr  aber  wäre,  meint  Schleiern acükr , 
den  Johanniejüngern  die  Frage  fast  einfältig  gew< 
wogegen  sich  leicht  begreifen  lasse,  wie  die  Pharisäer 
dann  kommen  konnten ,  auf  eine  äufsere  Aehnlichkeit  mit 
den  Johannisjöngern  Jesu  gegenüber,  der  selbst  die  Johan» 
nistaufe  angenommen  hatte,  sich  su  stütsen.  Allerdings 
nun  ist  es  auffallend,  dafs  nach  den  Pharisäern,  welebe 
sich  an  Jesu  Essen  mit  Zöllnern  stieben,  wie  gerufen  Je» 


16)  a.  s.  O.  S.  77. 


Fünftes  Kapitel.    $.  71.  613 

hannisjönger  aufgetreten  sein  tollen,  welche  überhaupt  an 
•einem  und  der  Seinigen  nnverkümmertem  Essen  und  Trin- 
ken Anstofs  nahmen ,  und  wahrscheinlich  ist  Beides,  in 
der  evangelischen  Cfeberlieferung  der  Sachverwandtschaft 
wegen  zusammengestellt ,  von  dem  ersten  Evangelisten  ir- 
rig auch  durch  die  Einheit  Ton  Zeit  und  Ort  verbanden 
worden«  Allein  die  Art,  wie  nun  der  dritte  Evangelist 
Beides  Busammenfftgt,  sieht  selbst  einer  noch  kttnstliohe* 
ren  Verbindung  gleich,  und ,  einer  historischen  schon  defs* 
wegen  nicht,  weil  die  Gegenrede  Jesu  nur  gegen  Johan- 
nisjflnger  oder  solche,  welche  ihn  Aber  jene  Differens  gut« 
arfthig  fragten,  gerichtet  sein  kenn:  gegen  Pharisäer 
würde  sie  wohl  anders  and  schärfer  laateu  17). 

Gans  dasselbe  Verhältnif*  wie  die  von  Matthias  oder 
•Levi  behandelt  auch  eine  andere  Ereählung,  welche  dem 
Lukas  eigenthflmlich  ist  (19,  1  10*>  Wie  Jesus  auf  sei* 
jser  leisten  Pestreise  durch  Jericho  kommt,  war  du  ccq%a- 
TtXwvrfi  Zaoehäus,  um  ihn  in  dem  Volksgedringe  bei  sei" 
Der  kleinen  Statur  doch  sehen  au  können,  auf  einen  Baum 
gestiegen,  wo  ihn  Jesus  bemerkte,  und  ihn  sogleich  wttr* 
dig  fand,  das  Nachtquartier  bei  ihm  su  nehmen.  Auch 
liier  erregt  das  Anschliefsen  an  einen  Zöllner  die  Unna- 
friedenhelt  der  strengerdenkenden  Zusohauer;  worauf  , 
nachdem  noch  Zaechius  bofsfertige  nnd  wohithfitige  Ge» 
läbde  fdr  die  Zukunft  getban ,  Jesus  durch  eine  ähnliche 
Gnome  wie  oben  antwortet»  Bei  dieser  Geschichte  scheint 
mwar  die  ausgeueiohnete  Anschaulichkeit  der  Scene  ftr 
ihren  historischen  Charakter  na  sprechen:  doch  enthält 
jsuoh  sie  etwas,  das  bedenklich  machen  könnte*  Nämlich 
die  Eraählung  lautet  gar  nicht  so,  ab  ob  Jesus  von  dem 
ülanne  schon  vorher  gewebt,  und  jetat  ihm  Jemand  den- 
selben mit  Nennung  des  Namens  geneigt  hätte  i8>:  sondern 


17)  »s  Witts,  exeg.  Hsndb.,  1,  1,  S.  93. 

18)  ftutus,  eaeg«  Usadh»,  3,  a,  S.  48»    Huiaö*,  in  Luc.  p.  632. 


r»«. 


614  Zweiter  Abschnitt. 

Olshausbn  hat  Recht,  wenn  er  die  Kenntnifs,  die  hier 
Jesus  plötalich  von  Zacchäus  ««igt,  aaf  sein  Vermögen 
surflckftthrt,  ohne  Zeugnife  Andrer  su  wissen,  was  im  Men- 
schen war.  Doch  reicht,  nach  dem  früher  über  Ähnliche 
Zöge  Bemerkten,  weder  diefs,  noch  der  Umstand,  dafs  die 
Ersählung  von  dem  Zeugnifs  der  drei  übrigen  Evangeli- 
sten verlassen  Ist,  hin,  einen  entschiedenen  Zweifel  gegen 
ihre  geschichtliche  Wahrheit  an  begründen. 

Die  «wöif  Apostel. 

IKe  Männer ,  deren  Bernfang  bisher  betrachtet  wer- 
den ist:  die  Jonaiden,  die  Zebedatden,  sammt  Philippas 
Und  Matthäus,  den  einzigen  Nathanaet  ausgeschlossen,  bil- 
den die  Hälfte  desjenigen  engeren  Kreises  von  Schülern 
Jesu,  weicher  unter  dem  Namen  dt  öwdexa,  oi  doidtxa  ua- 
shjiai  öder  djtozolot,  durch  das  gance  N.  T.  hindurchgeht 
Die  cum  Grunde  liegende  Vorstellung  von  diesen  Zwölfen 
Ist,  dafs  Jetus  selbst  sie  ausgewählt  habe  (Marc.  3,  13f. 
Luc.  6,  13.  Job.  6,70.  15,  16).  Matthäas  zwar  erzählt 
Uns  die  Geschichte  der  Auswahl  sämmtlicher  Zwölfe  nicht, 
sondern  setst  sie  stillschweigend  voraus,  indem  er  (10,  1.) 
dieselben  schon  als  feststehendes  Collegium  einfahrt.  Lu- 
kas hingegen  ereählt  (6,  12  ff.) ,  wie  nach  einer  anf  dem 
Berge  im  Gebete  durchwachten  Nacht  Jesus  aus  dem  wei- 
teren Kreise  seiner  Anhänger  Zwölfe  ausgewählt  habe, 
und  hierauf  mit  ihnen  von  der  Höhe  herabgestiegen  sei, 
um  die  sogenannte  '  Bergrede  au  halten.  Auch  Markat 
(a.  a.  O.)  berichtet  in  demselben  Zusammenhange,  daft 
Jesus  auf  einem  Berge  aus,  der  gröberen  Ansah!  seiner 
Schaler  nach  beliebiger  Auswahl  swölf  Männer  berufen 
habe.    - 

Dafs  nun  Jesus  nach  der  Darstellung  des  Lukas  ge- 
rade vor  der  Bergrede  und  mit  Besiehung  auf  dieselbe  die 
Zwölfe  ausgewählt  habe,  davon  läTst  sich  kein  Grund  ein- 


Fünfte«  Kapitel.    J.  Tu.  615 

-decken,  indem  diese  Rede  weder  besondere  auf  sie  berech- 
net ist  ') ,  Doch  sie  bei  Abhaltung  derselben  eine  Verrieb» 
tnng  haben  konnten ;  die  Darstellung  bei  Markos  aber 
sieht  so  gern  darnach  ans,  naeh  dem  ganz  unbestimmten 
Ilatom,  dab  Jesus  die  Zwölfe  ausgewählt  habe,  ans  eige- 
ner Phantasie  gemaebt  su  sein,  dafs  ans  ihr  Über  die  ei- 
gentliche Veranlassung  und  Art  dieser  Auswahl  keine  Be» 
iehrung  an  entnehmen  ist  2),  und  Matthäus  noch  am  be- 
sten su  tbun  scheint,  wenn  er  die  eigentliche  Berufung*» 
scene,  ohne  sie  su  schildern,  blofi»  voraussetzt;  wie  auch 
Johannes,  ohne  vorher  einer  Auswahl  gedaeht  au  haben, 
auf  einmal  (6,  67.)  von  den  dtodtxa  an  sprechen  anfiUigt. 

Wird  so,  dafs  Jesus  selbst  dieZwtiifsahi  der  Apostel 
festgestellt  habe,  in  den  Evangelien  eigentlich  imsaer  nur 
vorausgesetzt:  so  fragt  sich,  ob  die  Voraossetsung  richtig 
ist?  Zwar,  dafs  an  Jesu  Lebseiten  schon  fene  Zahl  sieh 
festgestellt  hatte,' scheint  nicht  bezweifelt  werden  so  köa> 
»an,  da  nicht  nur  nach  der  Darstellung  der  Apostelge- 
schichte die  Zwölfe  gleich  nach  Jesu  Himmelfahrt  als  ein 
so  geschlossener  Körper  auftreten,  dafs  sie  die  durch  den 
Abgang  des  Judas  entstandene  Lücke  alsbald  durch  eine 
neue  Wahl  ausfüllen  au  müssen  glauben  (1,  IS  ff«);  •on- 
dern  auch  Paulus  (l.  Kor«  15,  5.)  von  einer  toig  daidexa 
ssu  Tbeil  gewordenen  »Erscheinung  des  Auferstandenen 
spricht.  Das  aber  hat  namentlich  Schlku&rmachkr  gefragt, 
ob  Jesus  selbst  die  Zwölfe  ausgewlhit,  und  nicht  vielmehr 
das  besondere  VerhaJtnils  von  Zwölfen  aus  dem  Kreise 
aeiner  Anhänger  au  ihm  sich  allmäblig  von  selbst  gemacht 
habe  S)S  Dafs  nun  die  Wahl  der  Zwölfe  in  einem  beson- 
dern feierlichen  Acte  vor  sich  gegangen  wäre,  dafür  ha- 
ften wir  nach  dem  Bisherigen  nicht  nur  keine  Bürgschaft, 


1)  Sciilsuckmacubk,  über  den  Lukas,  S.  85. 

2)  Vgl    dens.  cbcnd. 

3)  s.  s.  0.  S.  88. 


616  Zweiter  Abschnitt. 

sondern  die  Evangelien  selbst  lassen  ja  Seehse  von  ihnen 
einsein  and  paarweise  bei  verschiedenen  Anlässen  berufen 
werden;  eine  andre  Frage  aber  tat,  ob  nicht  doch  dis 
Zwölfsahl  eine  von  Jesu  selbst  bestimmte  gewesen  sei,  er 
also  mit  Vergrö&ernng  seines  nächsten  Gefolges  bei  dieser 
absichtlieh  inne  gehalten  habe?  Zufällig  kann  dieselbe  nn 
so  woniger  sein,  je  bedeutsamer  sie  ist,  und  je  leichter 
sich  nachweisen  Ififst,  was  Jesu  in  bewogen  haben  mag,  sie 
so  wählen.  Er  selbst,  wenn  er  Matth.  19,  38.  den  Jün- 
gern verheilst:  xafrioead-e  int  daldtxa  d-Qov&g,  xqbaneg  rag 
döÜsxa  qwlag  tä  Ytf^vl,  gibt  der  Zahl  derselben  eine  Be- 
ziehung auf  die  Zahl  der  Stämme  seines  Volks,  und  das 
höchste  christliche  Alterthum  war  der  Ansiebt,  data  er  sie 
in  dieser  Beziehung  gewählt  habe*).  War  er  und  seine 
Jünger  sunächst  gesandt  eig  zd  nQoßara  ta  arcoAcuiofB 
<üx&  *IO(xxfjk  (  Matth.  10,  6.  15,  24. ) :  so  konnte  es  ange- 
messen scheinen,  die  Zahl  der  auszusendenden  Hirten 
nach  der  Zahl  der  hirtenlosen  (Matth.  9,  36.)  Stämme 
festasetsen. 

Die  Bestimmung  dieser  Zwölfe  wird  Joh.  15,  16.  nur 
gase  allgemein,  Marc  3,  14  f.  dagegen  genauer  und  ohne 
Zweifel  riefhtig  angegeben.  ^Ertoirpe  doidexa,  heilst  es  hier, 
1)  i'ra  MOL  /uer*  avrSy  d.  h.  um  nicht  nur  auf  seinen  Rei- 
sen nicht  ohne  Gesellschaft,  Hülfe  und  Bedienung  sn  sein, 
wie  sie  ihm  denn  vielftkig  su  Bestellung  von  Quartier 
(Lue.  9,  52.  Matth.  26»  17  f.),  su  Herbeiscbaffong  von  Le- 
bensmitteln (Joh.  4,8.)  und  andern  lUisebedürfnissen 
(Matth.  21,  1  ff.)  behfilfiieh  waren ;  sondern  vornehsalieh 
sollten  sie  in  seiner  Geseilschaft  herangebildet  werden  su 
yoaftjuareiQ  f4afrijtevd-£vreg  dg  xrp  ßaodeUtv  %uiv  hqotA 
(Matth.  13,  52.),  su  welchem  Behufe  ihnen  Gelegenheit 
gegeben  war,  theils  Jesu  meisten  Lehrvorträgen  anuawoh- 


4)  Ep.  Baroab.  8,   und  das  Evangelium  der  Ebioniten  bei  Epi< 
phanius,  bacr.  30,  13. 


Fönfte«  Kapitel,    f.  72.  617 

neu ,  und  selbst  noch  besondre  Aufschlüsse  aber  dieselben 
sieh  von  ihm  eu  erbitten  (Mattb.  13,  10  ff..  36  ff.),  theUs 
dnreh  seine  ebenso  freundliche  als  strenge  Zucht  ihre  Ge- 
sinnung au  Untern  (Mattb.  S,  26.  16,  2&  18,  1  ff.  21ffit 
Lac.  9,  50.  55  f.  Job.  IS,  12  ff.  u.  e.),  tbeils  endlich  durch 
den  Anblick  seines  Vorbildes  sich  an  heben  (Jeh.  14,  «.)* 
S)  Daran  schliefst  sich  sofort  dss  Andre  an,  was  dort  als 
Zweck  der  Erwählung  der  Zwölfe  namhaft  gemacht  wird, 
iva  drtogiJ&T]  cnkog  xqfwooeiv,  nlmlich  %rp>  ßa0ilei<&:  *wf 
uqovwvi  sowohl,  was  bei  Markus  nunitohet  der  Sinn  Jsf» 
noch  w&hrend  seines  Lebens;  als  anch,  was  wir  im  Sinne 
Jesu  hinandenken  müssen ,  cur  Ausbreitung  seiner  Sachs 
nach  seinem  Tode.  (Danilt  ist  in  der  Stelle  hei  Markus 
noch  die  igaola,  &eq<mevsiv  za£  roa&g,  xal  ixßdU*iv  t? 
dcufiovut  verbunden;  ein  Punkt,  von  welchem  erst  spAter 
die  Rede  werden  kann.) 

Eben  von  dieser  Bestimmung  hatten  sie  auch  den  aus« 
Ablehnenden  tarnen  anozoloi  (Mattb.  10,  2.  Marc.  6,  30V 
Luc  6,  13.  n.  s.).  Man  hat  gezweifelt,  ob  wirklich  nach 
Luc  6,  13.  dieser  Name  den  Zwölfen  von  Jesus  selbst 
nehon  beigelegt  gewesen , .  und  nicht  vielleicht  erst  später 
ex  eventu  aufgekommen,  sei 5)?  Allein ,  dafs  Jesus  sie 
aeine  Abgesandten  genannt  habe,  kann  nichts  Unwahr* 
eoheintiches  haben,  wenn  er  sie  wirklich  schon  (Matth> 
10,  5  ff.  parall.)  auf  eine  Reise  anr  Verkündigung  das  nur 
banden  Messiasrelcbes  ausgesendet  hat.  Man  meiste  denn 
eben  diese  Sendung,  aumal  das  vierte  Evangelium  von  der»» 
aelben  schweigt,  dafür  ansehen,  aus  der  Zeit  nach  Jesu 
Tod  in  seine  Lebzeiten  zurückgetragen  au  sein,  ,  um  von 
der  nachherigen  Mission  der  Apostel  ein  Vorspiel  noch 
nnter  Jesu  Augen  vorgehen  nu  lassen;  ein  Zweifel,  au 
welchem,  da  jene  Aussendung  nichts 
gegen  sich  hat,  die  Berechtigung  fehlt. 


5)  Scuuhsswachsb,  s.  a.  O.  S,  $7. 


618  Zweiter  Abschnitt 

Wie  Johannes  nichts  von  dieser  Missionsreiae  der 
Synoptiker:  so  wissen  diese  nichts  davon,  was  Johannes 
sagt,  dafs  schon  «u  Lebseiten  Jesu  seine  Jünger  getauft 
haben  (4,2.);  sondern  erst  nach  der  Anferstehong  ertheih 
er  Ihnen  hier  cum  Tanfen  die  Vollmacht  (Matth  28,  l& 
parall. ).  Da  jedoch  der  Tanfritns  einerseits  schon  vea 
Johannes  als  Vorbereitung  auf  das  Reich  des  Messias  ei» 
geführt  war ;  und  andererseits  nach  djem  Tode  Jesu  gleioa 
bei  der  ersten  Aafnahme  neuer  Mitglieder  als  Weihe  ftr 
das  Reich  Christi  erscheint  (A.G.  «,  SS.  41.):  so  ergik 
sich  die  Anwendung  der  Tanfe  auch  schon  wlhread 
des  Lebens  Jesu  als  das  natürlichste  Mittelglied;  wie  anck 
die  andere  Noria  sowohl  an  sich,  als  anter  Vergleichnng 
Von  1.  Kor.  1,  17.  alle  Wahrscheinlichkeit  für  sich  hat, 
'dafs  Jesus  selbst  nicht  getauft  habe,  sondern  nur  aaias 
Jünger  (4,  2  ) 

Aufser  jener  Missionsreise  gedenken  die  Evangeliea 
keiner  längeren  Entfernung  der  Zwölfe  von  Jesu ;  denn 
daraus,  dafs  sie  nach  seinem  Tode  wieder  ihrem  Gewerbe 
nachgingen  (Jdh.  21,  2  ff.),  ist  doch  wohl  kein  Beweis 
herzunehmen.  Nur  der  Eifer  harmonisirender  Theologen, 
welche  nach  der  ersten  Bernfang  noch  für  eine  zweit» 
lind  dritte  Raum  gewinnen  wollten,  auf  der  einen,  and  ifie 
Bemähong  pragmatischer  Ausleger  auf  der  andern  Softe, 
das  Auskommen  so  vieler  unbemittelten  Minner  dadurch 
begreiflicher  au  machen ,  dafs  man  sie  dazwischen  hiaeia 
wieder  durch  Arbeit  etwas  verdienen  liefs,  konnte  aus  dea 
Evangelien  solche  Unterbrechung  des  Zusammenseins  Jesu 
mit  den  Zwölfen  herauslesen.  Was  nun  das  Auskommen 
Jesu  und  seiner  Gesellschaft  betrifft,  so  liegen  in  derGast- 
freundlichkeit  des  Orients,  '^weiche  bei  den  Juden  beson- 
ders dem  Rabbinen  zu  Gute  kam;  in  der  Begleitung  be- 
güterter Frauen,  cSriveg  dirpcov&v  avr(ji  <rao  twv  tWcrpjjfd*- 
xiov  amdig  (Luc.  8,  2 f.);  endlich  in  dem,  freilich  nur  von 
vierten  Evangelisten  erwalinteu,  yJUttfowcyiW  (12,6.  13,290, 


Fünftes  Kapitel.    J.  73.  61V 

aus  weichet*  neben  den  Bedirfbisten  de»  Geeellltthaft  auch 
Hoch  den  Armen  Unterstützung  gereicht  Verden  konnte, 
und  in  welches,  wie  wir  denken  müssen,  bemittelte  Freunde 
fclesu  Beftrffge  gfcbcn,  wie  es  scheint,  dnbeletensmittel  ge» 
»ug.  Wer  diese  jedoch  entweder*  •  ohne  eigenen  Erwerb 
der  Jünger  nicht  ftr  sureiohend  hfilt,  oder  Oberhaupt  eine 
gfineiiche  Lossagang  der  Zwftlfe  von  ihren  bürgerÜehen 
Geschäften  nicht  wahrscheinlich  findet,  der  «sie  nur  seine 
Ansicht  nicht  auch  den  Evangelien  aofswiugen  wollen, 
«reiche,  vielmehr  durch  das  jgrofse  Gewicht,  welches  ste 
aof  das  aqrpca^ev  ndvra  von  Seiten  der  Apostel  legen 
(Matth.  19,  27  ff«),  deutlich  die  entgugengesetst»  eu* erken- 
nen geben. 

So  weit  uns*  über  den  Stand  der  swtflf  Jünger  Jesu 
etwas  aufbehalten  ist,  gehorten  sie  slmmtlieh  der  Miede* 
ren  Klasse  an:  vier  (oder* nach  Job.  21,  Ä.  vielleicht  noch 
mehrere)  Fischer  und  ein  Zolleinnehmer ,  und  auch  für 
die  übrigen  macht  die  Bildungsstufe',  vtfelebe  sie  stigen^ 
so  wie  Jesu  fiberall  sieh  fiufsexnde  Vorliebe  Air  die  tvfüp- 
X'd^  und  rrpzhi$  (Matth.  5,  S.  11,  6*  25. )  wahrscheinlich, 
dafs  sie  ans- ihnllchem  Stande  gewesen  seien. 

$.78. 

Die  ZwttÜB  eiaseln  betrachtet.     Die  drei  oder  vier  vertrautesten 

Jünger.  Je«u. 

Wir  haben  im  N.  T.  vier  Apostelkataloge:  je  bei  den 
*drel  Synoptikern  einen,  und  einen  In  der  Apostelgeschichte 
C  Matth.  10 ,  2-4.  Marc.  S ,  16  -  19.  Luc.  6 ,  14  -  Ift. 
A.  G.  1 ,  13.  ).  Jedes  der  vfer  Verseichnisse  läfst  sich  in 
drei  Tetraden  thellen,  deren  Flügelmänner,  und  bei  der 
letzten  auch  der  abschließende  (A.  G.  1 ,  13-   wo  er  fehlt, 

4 

abgerechnet) ,  durchweg  dieselben ,  die  übrigen ,  doch  in- 
nerhalb derselben  Tetrade o,  verschieden  geordnet  sind,  in 
der  letsten  aber  selbst  eine  Namens  •  oder  Perspneadiffe- 
rens  sich  findet. 


6*2«  Zweiter  Abschnitt. 

« 

Vornnde*  ersten  Tetrode  «nd  den  ganneu  Katalogs 
sieht  in  alte«  Verzeichnissen,  und  swar  in  ersten  mit  den 
Beisätze:  XQJhog*  Simon  Petrus,  Sohn  von  Jonas  CMatth. 
16,  17. ),  naqfa.  dem.  vierten  Evangelium  von  Bethsaidi 
(I,  45.)»  B**h  den  synoptischen  in  Kapernaum  aneaTaig 
(Matth.  8,  14«  parail.)  *)•  Hier  klingt  bei  protestantische* 
Auslegern  noeh  die  alte  Polemik  nach,  wenn  sie  dies* 
Stellung  entweder  für  blofsen  Zofall  ausgeben,  wogegen 
die  Uebereintlimmung  eller  vier , .  sonst  in  der  Anordnung 
abweichenden  Veraeicjiniase  in  der  Stellung  des  Petras  ist; 
oder  dieselbe  daraas  erklfireA,  dafs  Petrus  nnerst  berufen 
worden  sei  *) ,  was  nach  dem  vierten  Evangelium  nicht 
einmal  richtig  wäre.  Dafs  dieses  durchgingige  VoransteJ- 
len  einen  gewissen  Vorrang  des  Petras  unter  den  Zwölfen 
bedeute,  wird  aneh  ans  eeiner  sonstigen  Erscheinung  ia 
der  evangelischen  Geschichte  offenbar«  Mit  dem  Feuer  sei» 
nee  Wesens  ist  er  überall  den  andern  voran,  sowohl  we 
es.  m  sprechen  (Matth.  15,  1&.  16,  16.  22.  17,  4.  IS,  th 
M,  33.  Job.  6,  68.  ),  als  wo  es  an  bandeln  gilt  C  Matth. 
14,  28.  26,  5&  Joh.  18,  16),  nnd  wenn  diefs  swar  nicht 
selten  ein  verfehltes  Reden  und  Thun  ist,  und  vder  eben 
gezeigte  Math  ihm  oft  schnell  wieder  verfliegt,  wie  «eins 
Verläognung  seigt,  so  ist  doch  nach  der  synoptischen  Dar* 
stellang  er  anoh  der  Erste,  weleber  die  Messiauitfit  Juso 
mit  Entschiedenheit  aussprieht  (Matth.  16,  16.  parail.  > 
Von  den  bei  dieser  Gelegenheit  ihm  ertheilten  LohsprO- 
<chen  und  Voradgen  bleibt  fibrigena  nur  der  sunffebst  am 
Sri  neu  Beinamen  geknüpfte  ihm  eigeuthtünlioh ;  die  Befug» 
nifs  des  dstiv  und  Ivew,  d.  h,  des  Verbieten*   und  ErJam 


1)  Wenn  £  nol*  Uväp»  *a\  IJJtq*  Joh.  1,  45.  dasselbe  bedeutet, 
wie  rj  WCa  noJUi  Matth.  9, 1.,  nämlich  den  Ort,  wo  sie  ansässig 
waren:  so  findet  hier  ein  Widersprach  zwischen  Johannes 
und  den  Synoptikern  statt. 

2)  Für  Beides  vcrgl.  Fjutzscub,  in  Matth.  p.  358. 


Fünftes  Kapitel    §.  73.  6*1 

bens  •),  Im  neaerriehteten  Messlasrefohe ,  wird  bald  nach* 
her  (18,  19.)  auf  alle  Apostel  ausgedehnt.  Noch  entschie- 
dener tritt  dieser  Vorrang  des  Petras  unter  den  filteren 
Aposteln  bekanntlieh  in  der  A.6.  und  den  pauHnisehen 
Briefen  hervor« 

Auf  den  Petrus  lfifst  der  Katalog  des  ersten  nnd  drit- 
ten Evangeliums  seinen  Bruder  Andreas  folgen;  der  des 
streiten  Evangeliums  und  der  Apostelgeschichte  den  Jako- 
bus  and  nach  ihm  den  Johannes«  Die  ersteren  offenbar 
Ton  der  Rücksicht  geleitet,  die  Brflderpaare  EUsammenau» 
stellen:  die  beiden  andern  von  dem  Gesichtspunkte  aus, 
die  swel  an  Aasaeichnung  dem  Petrus  snnJtahst  Stehenden 
dem  minder  hervortretenden  Andreas  vorsuseteen,  welchen 
nie  defshalb  sum  loteten  der  ersten  Tetrade  machen«  Wie 
diese  Viere  in  der  christlichen  Sage  durch  eine  besondere 
Berufungsgeschichte  ausgeaeichnet  worden  sind,  ist  bereits 
erwogen  worden.  Sonst  stehen  sie  bei  Markus  noch  einl« 
gemaJe  beisammen:  nuerst  1,  29.,  wo  Jesus  in  Begleitung 
der  beiden  Zebedaiden  in  das  Haus  des  Petrus  und  An- 
dreas tritt;  was  aber,  da  die  andern  Ersfihler  hier  nur 
des  Petrus  gedenken,  ein  Zusatz  des  Markus  aus  eigenen 
Mitteln  sein  könnte,  indem  er  schlofs,  die  vier  kurs  aovor 
berufenen  Fischer  werden  Jesum  auch  dorthin  begleitet, 
und,  was  an  sieh  wohl  richtig  sein  könnte,  an  des  Petrus 
Banse  werde  auch  sein  Bruder  Andreas  Antheil  gehabt 
haben  *)•  Noch  einmal  stehen  die  Viere  Marc.  13,  &  bei- 
aammen,  wo  Jesus  das  Orakel  Über  die  Zerstörung  des 
Tempeis  und  seine  Parusie  eben  ihnen  xcnr'  idlav  mittheilt 
Allein  die  Parallelen  haben  hievon  nichts ,  und  wenn  wir 
bei  Matthäus  ( 24 ,  3. )  lesen :  jzQogijlfrw  avu$  ai  fia&r/rai 
xax  Idiavx  so  sehen  wir  schon,  data  Markus  nur  durch 
«inen  Lrrthnm  cu  jener  Angabe  gekommen  ist*     Das  xor' 


3)  Vgl.  LitttrrooT  x.  d.  St. 

4)  Vgl.  SAvaisa,  über  die  Quellen  des  Markus,  S.  65  f. 


02t  Zweiter  Abschnitt  : 

löla*  nRaUfeb,  wütetet  er  in  den  von  ihm  beatmeten  Be- 
lichte wir  Unterscheidung  der  Zwölfe  von  dem  Volke  vor- 
fand ,  klang  ihm  als  Einleitnngsformel ,  wie  et  tonst  vor- 
nukommen  pflegt  (Matth.  17,  1.  Marc*  9,  2.) ,  nn  einer 
Privatconferen«  Jesu  mit  Petrus,  Jakohas  und  Johanne«, 
sn  welchen  er  dann ,  der  Brdderschaft  wegen  ,  wie  ei 
scheint,  noch  den  Andreas  setste;  wie  umgekehrt  Lukas 
(5,  100  b*i  der  Eratthlung  vom  Fischfang  und  der  Beru- 
fung den  Andreas,  welchen  die  beiden  andern  haben,  weg- 
läfst,  weil  er  sonst  in  dem  engeren  Ausscbuls  ans  den 
Zwßifen  nicht  erscheint,  sondern  nur  noch  Job.  6,  9.  12, 
>22.  ebne  besondere  Bedentang  vorkommt* 

Neben  Petrus  treten  sonst  nur  die  beiden  Zebeduideu 
noch  mit  Ausaeichnung  hervor.  Sie  «eigen  einen  fihnli- 
ehen  feurigen,  aber  der  Mäf«igung  bedürftigen  Eifer  wie 
Petrus  (Luc.  9,  54«;  einmal  auch  Johannes  allein,  Marc 
9,  38.  Luc.  SA,  49.) ,  eine  Gemflthsart,  welcher  sie  wahr- 
scheinlich den  ihnen  von  Jesu  beigelegten  Namen:  \bt\  ^q 
viel  ßfxmiJQ  (Marc.  3,  17»),  verdankten  6),  und  aie  standen 
unter  den  Zwölfen  so  hoch,  dafs  sie  Ar  sieh  (Marc  12, 
35  ff.),  oder  ihre  Matter  ffir  sie  (Matth.  20, 20  ff.)*  •**  die 
ersten  Plfitae  im  Reiche  Jesu  Anspruch  machen  «u  kfin- 
jien  glaubten.  Bemerkens werth  ist ,  dafa. nicht  nur  in  al- 
len vier  Katalogen,  sondern  aueh  wo  die  beiden  Brfider 
sonst  susammen  genannt  werden,  wie  Matth.  4,  21.  17,  I. 
Marc.  1,  19.  29.  5,  37.  9,  2.  10,  33.  13,  3.  14.  33.  Lue. 
5,  10.  9,  54.,  mit  Ausnahme  von  Luc.  8,  M.  9,28.,  immer 
Jakobns  zuerst  genannt,  und  Johannes  gerne  als  6  adel- 
(pog  avtö  an  ihn  angelehnt  erscheint.  Einen  VorBU£  dm 
Jakobns  vor  Johannes  kann  diefs  nicht  .andeuten  sollest 
da  man  von  Jakobus  nichts  Besonderes  weil*,  Johannes 
aber  als  der  Lieblingsjttnger  Jesu  bekannt  ist;  defs wegen 
erklärt  man  jene  Stellung  gewöhnlich  durch  die  Annahme, 


5)  Vgl.  di  Witts  i.  d.  St.  I 


Fünftes  Kapitel.     §.  73.  6BJ 

Jakokns  sei  ..vielleicht  der  filtere.  Bruder  gewesen*  *).  Doofe 
dieses  Verhältnis  führt  uns  auf  eine  Differenz  «wischen 
den  drei  ersten  Evangelien  und  dem  vierten,  welche  noch 
nfiher  erwogen  werden  mufs« 

Bei  den  Synoptikern  bildet,  wie  gesagt,  Petrus  mit 
Jakebus  und  Johannes  den  engeren  Aussehnfs  aus  den 
Zwölfen,  welchen  Jesus  eu  einigen  Seenen  bezieht,  deren 
richtiger  Auffassung  die  übrigen  nicht  gewachsen  schienen : 
wie  die  Verklärung  auf  dem  Berge ,  der  Kampf  in  Geth- 
uemane,  und  nach  Markus  (5,  37.)  die  Auferweckung  der 
Tochter  des  Jairos  7). 

Im  vierten  Evangelium  finden  wir  von  einem  solchen 
Triumvirate  nichts.  V>n  Jakobus  wird  selbst  der  Marne 
nicht  genannt:  nur  im  Anhange  (21,  2.)  kommen  einmal 
oL  %h  Zsßedais  susammen  vor;  während  mehrere  Bern* 
fungsgeschichten,  wahrscheinlich  auch  die  des  Johannes, 
flutgetbeilt  werden:  ist  von  der  des  Jakobus  nicht  die  Rede; 
auch  tritt  er  nirgends,  wie  manche  einzelne  Apostel  in  die- 
sem Evangelium,  redend  auf.  Von  Petrus  werden  zwar  seine 
Vor süge,  wie  der  ehrende  Beiname«  den  ihm  Jesus  gab 
(1,  43),  und  sein  glaubensvolles  Bekenntnifs  (u\  68  f.),  im 
vierten  Evangelium  so  wenig  versehwiegen,  als  in  den 
synoptischen  seine  SchwXchen  und  die  ihm  defshalb  von 
Jesu  ertheilten  Augen  (s.  B.  16,  23)}  auch  ist  in  den  Er- 
tsfthitingen  von  dem  Gange  des. Petrus  und  Johannes  cum 
Grabe  Jesu  (20,  3  ff.)  und  von  der  Erscheinung  des  Auf- 
erstandenen am  galilfiischen  See  (21.)  nicht  ein  Vorzug  des 
einen  Jüngers  vor  dem  andern,  vielmehr  eine  gleiche  Ab- 


6)  z.  B.  Paulm,  exeg.  Handb.,  1,  b,  S.  556. 

7)  Dies»  beruht  indessen  ohne  Zweifel  wieder  auf  einem"  blos- 
sen Schlüsse  des  Markus.  Weil  Jesus  die  unberufene  Menge 
wegtrieb,  und  die  Mittheilung  des  Vorfalls  verbot :  so  sah  der 
Evangelist  hier  einen  jener  geheimen  Vorgänge,  z,u  welchen 
Jesus  sonst  nur  jene  Drei  mitzunehmen  pflegte. 


624  Zweiler  Abschnitt. 

wlgang  Ihrer  beiderseitigen  Verdienste  eu  bemerken :  le- 
dern das  einemai  Johannes  vor  Petras  «am  Grabe  and  tu 
Glauben  gelangt,  Petrus  dagegen  vor  Johannes  in  das  Grah 
hineinaogehen  wagt;  das  andremal  ebenso  Johannes  nvrs* 
der  Erste  ist,  der  Jesnm  erkennt,  Petras  dagegen  derje- 
nige, der,  am  auf  dem  kflreesten  Wege  sa  ihm  an  gelan- 
gen, sieh  in  den  See  wirft  *)•  Doeh  in.  einigen  ErtULhlan» 
gen  des  vierten  Evangeliums  ist  ein  Vorsag  des  Johannes 
vor  Petrus  nieht  na  verkennen.  Nor  ein  Äafserer  VortheÜ 
ist  es  «war  and  ohne  Besiebung  auf  ein  näheres  Verhlk- 
nifs  eu  Jesu,  dafs  nach  dem  einsigen  vierten  Evangelien 
Johannes  es  ist,  der,  als  yvwgog  rqi  cIqxuqsl,  dem  Petrus 
bei'm  Verhöre  Jesu  den  Zutritt  inMen  hohenpriesterliehea 
Palast  verschafft  (18,  15  f.) ;  womit  aber  sogleich  das  sa- 
Sftmmenhffogt,  dafs  die  Synoptiker  Oberhaupt  nur  dem  Pe- 
tras, nieht  ebenso  dem  Jobannes,  den  Eifer  «uscbreiben, 
der  ihn  antrieb,  dem  gefangenen  Meister  su  folgen.  Eben 
dahin  gehört  der  Umstand,  dafs  das  vierte  Evangelium  den 
Johannes  anter  das  Kren«  Jesu  stellt,  wo  bei  den  Syn- 
optikern keiner  der  Jünger  erscheint,  und  dafs  es  ihn  da- 
selbst in  ein  VerhJtftnifs  nur  Mutter  Jesu  treten  Ififtt,  voa 
welchem  jene  nichts  melden  (19, 26  f.) ;  so  wie  auch  bei  m 
letsten  Mahle  Petras  durch  Vermittlang  des  er  r«p  xaJUoy 
ts  yfT]oä  liegenden  Johannes  sich  nach  der  Person  des  Ves> 
rithers  erkundigen  mufs  *)• 

Diefs  hängt  damit  «usammen,    dafs   in  dem   von   ihm 
benannten  Evangelium  Johannes  durch  die  stehende  Be> 


8)  Vergl.  hiezu  J.  Mvlur,  theol.  Studien  u.  Kritiken,  1836,  3; 
Thbils,  zur  Biogr.  J.,  S.  107  ff.  J  Thöluch,  Glaubwürdigkeit, 
8.  295  ff. 

9)  Vergl.  Paulus,  in  seiner  Recens.  des  ersten  Bandes  der  zwei- 
ten Auflage  von  Lückb's  Conrai.  zum  Johannes,  im  Lit.  Bl.  zur 
allg.  Kirchenzeitung,  Febr.  1834,  no.  18,  8.  137  f.  und  L.  J., 
1,  a,  S.  167  f. 


Fünftes  Kapitel    *.  73«  62» 

nennnng:  o  fiad-qrqg  ov  rffiata  oder  tqnUit  o  jfi7aB^9  vor  al- 
len andern  ausgeseichnet  wird  (13,  23.  19,  26.  20,  2.  21, 
7*  20« )•  Da(s  dnreh  diese  Formel  ond  durch  die  unbe- 
stimmtere: 6  akloSt  oder  auch  nur  SiXog  fiathpygW*  ***• 
20,  3.  >4.  9.),  welche,  wie  ans  20, 2  f.  erhellt,  dieselbe  Per- 
eon mit  Jener  andeutet,  der  Apostel  Johannes  beneiehnet 
eei,  läfst  sieh  swar  aus  dem  vierten  Evangelium  für  sieh 
oder  mit  den  übrigen  verglichen  nicht  swingend  beweisen* 
Denn  weder  wird  diese  Beseichnung  irgendwo  mit  dem 
Namen  dieses  Apostels  vertauscht,  nooh  wird  im  vierten 
Evangelium  etwas  von  dem  Lieblingsjünger  erzählt,  waa 
in  den  drei  ersten  dem  Johannes  angeschrieben  wäre. 
Daraus  aber,  dafs  21,  2.  unter  den  Anwesenden  oi  %5  Ze~ 
(tedais  aufgeführt  sind,  folgt  nicht,  dafs  der  naohher, 
V.  7.,  erwähnte  fia&r^g  ov  rjydna  6  *Iijo5g  gerade  Johan- 
nes sein  müsse;  ebensogut  könnte  Jakobus,  oder  einer  der 
V.  2.  aufgezählten  alloi  in  rwv  fiadi/ttüv  <k'o,  gemeint  sein. 
Dennoch  seheint  die  kirchliehe  Ueberlieferung  mit  gutem 
Grund  unter  dem  auf  jene  Weise  Bezeichneten  von  jeher 
den  Johannes  verstanden  au  haben;  da  in  dem  griechi- 
schen Entstehungsgebiete  •  des  vierten  Evangeliums  kaum 
ein  anderer  von  den  in  demselben  nicht  genannten  Apo- 
steln so  bekannt  war,  um  auf  jene  Beeeichnung  hin  er* 
kennt  su  werden,  als  eben  nur  Johannes,  dessen  Aufent- 
halt in  Ephesus  schwerlich  als  leere  Sage  von  der  Hand 
su  weisen  ist. 

Zweifelhafter  kann  scheinen,  ob  durch  die  genannten 
Formeln  der  Verfasser  sogleich  sieh  selbst ,  und  also  sich 
als  den  Apostel  Johannes  bezeichnen  wolle?  Der  Schlufs 
des  21ten  Kapitels  freilich,  V.  24.,  macht  den  Lieblings« 
jünger  zum  f«xQTV(XjJY  iuql  mwv  xal  ygaipag  ravra:  doch 
dab  diefs  ein  Zusatz  von  fremder  Hand  sei,  kann  als  an- 
erkannt vorausgesetzt  werden.  Wenn  aber  in  dem  ächten 
Contexte  des  Evangeliums,  19,  35.,  der  Verfasser  von  dem 
Erfolge  des  Jesu  am  Kreuze  beigebrachten  Lanzenstichs 
Das  Leben  Jesu  hte  Aufl.  /.  Band.  40 


026  Zweiler  Abschnitt 

sagt:  o  HPpaxiftjg  fit pa(jTV(npef :  so  kenn  damit  «war  nur 
der  LieblingsjOnger  gemeint  sein ,  weil  nnr  er  unter  des 
Jüngern,  die  doch  allein  hier  ala  Zeugen  aafauführes 
•chicklioh  war,  als  bei  dem  Kreuee  gegenwärtig  voramge- 
setat  ist;  auch  würde,  dafs  der  Varfaaaer  dadureh  sugleicfc 
sich  selbst  gemeint  habe,  durch  die  dritte  Person,  deren 
er  sich  bedient,  keineswegs  unwahrscheinlich:  wohl  aber 
könnte  das  Präteritum  zweifelhaft  machen,  ob  nicht  doch 
der  Verfasser  sieh  hier  afif  das  Zeugnifs  des  Johannes, 
als  einer  von  ihm  verschiedenen,  aber  (wegen  des  o#dev) 
noch  lebenden,  Person  berufe10)?  Doch  lifst  sieh  diese 
Ausdrucks  weise  auch  im  andern  Fall  erklffren  u),  und  in 
dem  i&eaodpedv  und  tlaßofttv  (1, 14. 16.)  acheint  sich  der 
Verf.  als  Angenneugen  der  von  ihm  ersihlten  Geschieht* 
su  geben. 

Ob  nun  aber  der  Verfasser  des  vierten  Evangelium^ 
welcher  sieh  wahrscheinlich  als  den  Apostel  Johannes  au 
errathen  geben  will,  dieser  auch  wirklich  gewesen  sei,  ist 
eine  andre  Frage;  ober  welche  wir  Übrigens  hier  nur  nach 
Mafsgabe  des  uns  bis  jetat  Vorliegenden  nns  ausspreche» 
können.  Hier  mag,  was  wir  in  der  Zeichnung  des  Ver- 
hältnisses «wischen  Jesus  und  demTiufer  Unhistoriaehes, 
noch  mehr  was  wir  in  den  Gespr&ohen  Jesu  mit  seinen 
ersten  Schülern  und  der  Samariterin  Ver  köre  tos  oder  sab* 
jeetiv  Gefärbtes  gefunden  haben,  ans  der  Art  des  Apostels, 
Alles  mehr  mit  der  Innigkeit  des  Gemttths,  als  mit  eine* 
lieh  -  verständiger  Schürfe  aufaufassen,  und  aus  der  Um- 
bildung  sich  erklären  lassen,  welche  in  der  langen  Zeit 
von  seiner  Jugend  bis  aum  hohen/ Alter,  während  der  er 
seine  Erinnerungen  im  Heraen   bewegte,    arft   denselben 


10)  s.  Paulus  ,  in  der  Becens.  von  Brbtschkbidbe's  Probabilien, 
in  den  Heidelberger  Jahrbüchern,  1821 ,  no.  9 ,  S.  138.  Vgl. 
us  Wette  z.  d.  St. 

11)  Lücke,  a.  a    O.  S.  664. 


Fünftes  Kapitel.    $.73.  6*7 

vorgegangen  sein  mochte ;  der  Vor  rag,  des  in  diesem  Evan- 
geliom  Johanne«  in  gewisser  Beziehung  vor  Petras  gentefst, 
kann  geschichtlich  stattgefunden  haben ,  nur  ads  der  gyn» 
optischen  Tradition  verschwanden  sein ;  dab  aber  Johan- 
nes seinem  eigenen  Brnder  Jakobus,  wenn  dieser  wirklich 
so,  wie  die  übrigen  Evangelisten  melden,  von  Jesu  vorge- 
wogen war,  so  gar  nicht  sein  Recht  sollte  haben  widerfah* 
ren  lmum9  wie  wir  diefs  im  vierten  Evangellnm  finden: 
das  ist  mir  immer  nooh  nicht  so  leicht  denkbar,  als  man 
es  gewöhnlich  dafür  nimmt.  Wendet  man  sieh  in  dieser 
Beziehung  an  dem  synoptischen  Berichte  mit  der  Frage, 
ob  nicht  dieser  vielleicht  an  Gunsten  nies  johanneischen 
aufsogeben  sei :  so  könnte  man  einen  Augenblick  etwa  sa- 
gen wollen:  vueil  nach  dem  Tode  und  der  Auferstehung 
Jesu  ein  Jakobus,  Petrus  und  Johannes  alt  <*vXoi  "4er  Ge- 
meinde sich  ausseichneten  (Gal.  2,  9.)*)>  so  habe  die 
Sage  diese  drei  Männer  auch  schon  su  dem  lebenden  Jesos 
In  ein  besonders  ehrenvolles  YerhaltnMs  »gestellt ,  uneraeh^ 
tet  an  diesem  in  der  Wirklichkeit  nur  Petrus  und  Johan- 
nes tbeilgenommen  haben.  Allein,  da  der  in  der  ersten 
Jerusslemischen  Gemeinde  ausgezeichnete  Jakobus  nicht 
der  frühe  hingerichtete  Zebedaide  (A.  G.  12,  2>),  sondern 
der  auch  bei'm  ersten  Apostefconett  mit  vorwiegendem 
Ansehen  aufgetretene  Bruder  des  Herrn  (GaL  1^  19.)  war; 
wogegen  der  Bruder  des  Johanne«  von  Anfang  an  hintef 
diesen  und  den  Petrus  aurüok  traft  so  verschwindet  jeder 
Anlafs,  den  die  Sage  haben  konnte,  gerade  diesen  Jakobus 
um  verherrlichen;  wenn  man  nicht  sagen  will,  es  sei  nur 
eben  um  einen  dritten  nu  thun  gewesen,  um  stach  den 
Messias,  wie  den  Moses  (2.  Mos.  £4,  1.  9*),'  mit  einem  en- 
geren Ausschusse  von   drei  vertrauten  Begleitern  »u  um* 


i. 


12)  Diesen  Dreien,  glaubte  man  in  der  ältesten  Kirche,  habe  Je-, 
sus  die  yrtoait  xu  geheimer  Ueberiieferung  mitgetheüt.  S.  bei 
GissBLSft,  K.  C,  1,  S.  234. 

40* 


028  Zweiter  Abschnitt. 

geben :  eine  Analogie ,  welebe  aber  dadurch  unbrauchbar 
wird  3  dafs  die  Gruppe  jener  drei  Mftnner  am  den  Moses 
nicht  so  stehend  ist,  wie  die  der  drei  Jünger  am  «Pesos. 
Bleibt  demnach  die  synoptische  Darstellung  stehen:  at 
kann  die  auffallende  Ab  weichung  der  johanneischen  in  die- 
sem Stücke  tiwar  fffr  sich  noch  keine  Entscheidung  gegen 
die  Anthentie  dieses  Evangeliums  herbeifahren;  wohl  aber 
werden  wir  ans  diesen  Punkt  als  einen  solchen  merken 
müssen,  welcher  bei  der  Frage  nach  derselben  in  Betracht 
su  eichen  Ist 

5.    74. 

Die  übrigen  von  den  Zwölfen  und  die  siebcnzig  Jünger. 

Die  «weite  Tetrade  eröffnet  in  allen  vier  Katalogen 
Philippas.  Die  drei  ersten  Evangelien  wissen  anfser  sei- 
nem Namen  nichts  von  ihm.  Das  vierte  allein  gibt  seinen 
Geburtsort  Bethsaida  an,  and  berichtet  seine  Bernfaag 
<1,  44 f.);  in  demselben  tritt  er  aach  öfters  redend  and 
angeredet  auf,  mit  mißverstehenden  Aeufsernngen  (6*7* 
14,  8.) ;  bedeutender  vielleicht  dadurch,  dafs  sieh  (12,  %\.) 
die 'EUipttg,  welche  Jesom  su  sehen  wünschen,  gerade  aa 
ihn  wenden. 

Der  nftohste  in  den  drei  evangelischen  Verseiehniaaea 
ist  Bartholomftos ;  efai  Name,  der  aufser  den  Kataloge« 
sonst  nirgends  genannt  wird.  Wie  die  synoptischen  Ver- 
zeichnisse den  Bartholomäus:  so  verbindet  in  der  ohea 
betrachteten  Bernfangsgesohichte  das  vierte  Evangelium 
(1)  46)  mit  Philippas  den  Nathanaei ,  welehen  es  aneb 
21,  2.  in  der  Gesellschaft  von  Aposteln  aufführt.  Untier 
den  Zwölfen  aber  findet  Nathanaei  keinen  Raum,  wenn  er 
nicht  mit  irgend  einem,  den  die  Synoptiker  anders  nennen, 
identisch  ist*  Daau  scheint  sich  am  leichtesten  Bartholo- 
mäus eben  dadurch  aa  eignen,  dafs  ihn  die  drei  ersten 
Evangelien  ebenso  neben  Philippas  aufführen,  wie  das 
vierte,   das  von  einem   Bartholomäus  nichts, weifs,    den 


Fünftel  Kapitel.    $.74.  629 

Nathanael;  wosu  noch  könnt,  dafs  *chn  TQ  nur  die  Be- 
aeichuung  des  Sohns  vom  Vater  her  ist,  neben  welcher 
also  noch  ein  eigentlicher  Name,  wie  Nathanael,  Plats 
hatte  ')•  Allein  weder  jene  gleiche  Zusammenstellung  des 
Bartholomäus  und  Nathanael  mit  Philippus,  welche  sich 
dadurch  als  anfällige  neigt,  dafs  sowohl  A. G.  1,  13.  Bar* 
tholomäus,  als  Joh.  21,  2,  Nathanael  in  anderer  Verbin* 
dnog  erscheinen,  ist  für  diese  Identification  ein  hinreichen- 
der Grand ;  nach  das  Fehlen  des  Bartholomäus  bei  Johan- 
nes, der  auch  andere  von  den  Zwölfen  verschweigt;  noch 
endlich  die  Beschaffenheit  dieses  Namens,  da  auch  neben 
eigentlichen,  nicht  Mofs  patronymischen  Namen,  «weite 
Namen,  als  Beinamen,  geführt  werden  konnten;  wie  Simon 
Petrus,  Joseph  Kaiphas,  Johannes  Markus  o.  dgU ;  so  data 
jeder  andere  von  Johannes  nicht  genannte  Apostel  gleich 
gnt  mit  seinem  Nathanael  identificirt  werden  könnte ;  wo- 
durch das  ganae  »wischen  den  genannten  beiden  Namen 
angenommene  Verhältnifs  unsicher  wird« 

Im  Katalog  der  Apostelgeschichte  folgt  auf  Philippus 
statt  des  Bartholomäus  Thomas,  welchen  das  Veraeichnils 
im  ersten  Evangelium  nach  Bartholomäus,  die  der  beiden 
andern  auch  noch  nach  Matthäus  haben.  Thomas,  grie- 
chisch Jidvfiog,  kommt  nur  im  vierten  Evangelium  einmal 
in  der  Rolle  seh wermuths voller  Treue  (11,  16. ),  ein  an« 
dermal  in  der  bekannteren  des  Schwerauüberaeugenden 
<20,  24 ff.),  nnd  noch  einmal  im  Anhange  (21,  2.)  vor. 
Per  nun  folgende  Matthäus  findeUsioh  sonst  nur  noch  in 
neiner  Bernfungsgeschichte. 

Die  dritte  Tetra«  wird  abereinstimmend  durch  den 
Jakobus  Alphäi  eröffnet,  von  welchem  schon  oben  die 
ftade  war.    Auf  ihn  folgt  in  den  beiden  Verseichnissen 


|)  So  die  meisten  Erklärer ,  auch  Famscas ,  Mstth. ,  S.  559 ; 
Wmsn,  Realwtfrterb.,  l,  S:  l63f.  Doch  vgl.  »s  War»,  exeg. 
Hsndb.,  1,  I,  S.  96. 


630  Zweiter  Abschnitt. 

des  Lukas  Simon.,  welcher  bei  ihm  o  Cj]lufrr}$y  bei  RUt- 
thäus  und  Markus,  die  ihn  am  eine  Stelle  später  heben, 
6  xavccvirTfi  (von  KJj3)  helfet;  ein  Beinerne,  der  ihn  als  ei- 
nen ehemaligen  Anhänger  der  jüdischen  Secte  der  Reli- 
gionseiferer so  bezeichnen  soheint*);  eine  Partei,  die 
«war  erst  in  den  letzten  Zeiten  des  jüdischen  Staats  als 
solche  hervortrat,  in  eineeinen  Reimen  aber  schon  daasab 
vorhanden  war.     Wehrend  nnn  die  letste  Stelle  in  alles 

Veraeichntssen ,  die  ihn  noch  haben ,   mit  Jndas  Iscbariet 

■ 

besetzt  ist,  von  welchem  erst  In  der  Leidensgeschichte  die 
Rede  werden  kann :  so   weichen  in  der  Besetzong   der  in 
der  dritten  Tetrade  noch  offenen  Steile  die  Kataloge  des 
Lukas  von  den   beiden  andern,   und  vielleicht  auch  diese 
von  einander,  ab,   indem  hier  Lukas  zweimal  einen  "tödas 
*IaxojßHj  Matthäus  einen  yffßßalog,  Markus  einen  Gaddcuog 
aufführt.    Zwar  wird  nun  bei  Matthäus  gewöhnlich  sleßßdia; 
6  imxhfltig  QaMaTog  gelesen ;  aber  das  Schwanken  der  Les* 
art  scheint  diese  Worte  als  einen  späteren  Zusats  an  ver- 
rathen,   welcher  den  Katalog  der  beiden  ersten  Evangeli- 
sten in   diesem  Punkte  in  Uebefelnstimmung  bringen  seil- 
te *) ;  was  Andere  so   versucht   haben ,    dafs  sie   auf  die 
gleiche  Bedeutung  der  beiden  Namen  hinwiesen ,  die  aber 
nicht  stattfindet4).    Doch  auch  einen  oder  den  andern  die- 
ser Au8gieichungsvei*suche  als  gültig  angegeben,  so  bleibt 
jedenfalls  zwischen  Matthäus  und  Markus  mit  ihrem  Leb- 
bäus  -  Thaddäus  und  Lukas  mit  seinem  Judas  Jakobi  eine 
Abweichung.    Mit  Recht  tadelt  Schlribrmachkk  die  sna 
Theil  höchst  unnatürlichen  Versuche,  auch  hier  nur  srwei 
verschiedene  Namen  Einer  Person  nachzuweisen ;  wenn  es 
aber  jene  Differenz  daraus  au  erklären  sucht,  dafs  viel» 


2)  ••  Joseph,  bell.  jud.  4,  3,  9. 

3)  Vgl.  Chsdnbr,  Einleitung,  1,  S.  64;  PS  Wim,  exeg.  Hand* 
buch,  1,  1,  8.  98  f. 

4)  ps'Wstrs,  «.  s.  0. 


Fünftes  Kapitel«    f.  74.  6S1 

leioht  noeh  su  Lebeeiten  Jesu  einer  von  beiden  Männern 
gestorben  oder  ans  dem  Kreise  der  Apostel  getreten  »ei, 
und  der  andere  seine  Stelle  eingenommen  habe;  so  dafs 
nun  die  einen  Verseichnisse  den  früheren,  die  andern  den 
»filteren  Personalbestand  wiedergeben  6) :  so  ist  schwerlich 
einer  unserer  Apostelkataloge  ans  den  Lebseiten  Jesu  her ; 
nachher  aber  wird  wohl  Niemand  ein  früh  abgegangenes 
Mitglied  des  Aposteleollegiums ,  sondern  nur  die  suletst 
am  Jesum  gewesenen  aufgeslfhlt  haben.  So  0afs  auch  hier 
das  Gerathenste  bleibt,  eine  Abweichung  der  Veraeichnisse 
ansnerkennen,  welche  leicht  daraus  entstehen  konnte,  dafa 
man  swar  die  Zwölfsahl  der  Apostel  hatte,  und  die  aus* 
gezeichneteren  unter  denselben  kannte,  die  Übrig  bleiben* 
den  Stellen  aber,  wo  bestimmte  Data  fehlten,  nach  verschie- 
denen Traditionen  verschieden  besetste. 

Mit  einem  eigenthflmlichen  Kreise  von  Jfingern  Jesu, 
welcher  swischen  dem  engeren  der  Zwölfe  und  dem  wei* 
testen  seiner  Anhänger  Aberhaupt  in  der  Mitte  steht,  macht 
ans  Lukas  bekannt,  indem  er  10,  1  ff.  sagt,  dafs  Jesus 
auber  den  Zwölfen  noeh  hiqsg  hßdourptwra  ausgewählt, 
ond  sie  paarweise  in  die  Ortschaften,  durch  welche  er  auf 
seiner  leisten  Reise  zu  kommen  gedachte,  Torausgeschickt 
bebe,  um  die  Nähe  der  ßaatlela  twv  sqccvwv  bu  verkündi- 
gen« Da  die  übrigen  Evangelisten  von  diesem  Umstände 
schweigen,  so  hat  die  neueste  Kritik  nicht  ermangelt,  na- 
mentlich dem  ersten ,  als  seinsollendem  Apostel ,  dieses 
Stillschweigen  aum  Vorwurf  su  machen  6).  Allein  die 
hieraus  gegen  Matthäus  erwachsene  Ungunst  mufs  sich 
mildern,  wenn  man  erwägt,  dafs  nicht  nur,  wie  bemerkt, 
iu  keinem  der  übrigen  Evangelien,  sondern  auch  weder  in 
der  Apostelgeschichte,    noch   einem  apostolischen  Briefe, 


5)  Ueber  den  Lukas,,  S.  88  f. 

6)  Schulz,  über  das  Abendmahl,  S.  307.;  ScuäICKsäotbwh,  über 
den  Ursprung,  S.  13  f. 


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f 


632  Zweiter  Abschnitt. 

von  den  70  Jüngern  eine  Spar  sieh  'findet,  welche  schwe> 
lieh  so  gans  fehlen  könnte ,  wenn  ihre  Sendang  so  erfolg- 
reich gewesen   wäre,    eis  man    gewöhnlich  aaeanehaei 
pflegt     Doch  weniger  durch  ihren  Erfolg,  als  durch  ihn 
Bedeutsamkeit,    soll  jene  Auswahl  wichtig  gewesen  seit; 
wie  nämlioh  die  12  Apostel  durch  ihre  Besiehung  auf  dis 
12  Stimme  Israels  die- Bestimmung  Jesu  für  das  jüdisch« 
Volk  andeuteten:  so  waren,  sagt  man,  die  70,  oder,  wii 
einige  Auetoritäten  haben ,  78  Jünger  Repräsentanten  im 
der  70  oder  72  Völker ,   welche,  mit  eben  so  vielen  Spra- 
chen ,    naeh  jüdischer  und  altchristlicher  Ansicht  snf  ist 
Erde  steh  finden  sollten' 7),  und  wiesen  somit  aaf  die  mV 
verselle  Bestimmung  Jesu  und  seines  Reiches  hin 8).    Dock 
auch  für  die  jüdische  Nation  für  sioh  hatte  jene  Zahl  ab 
heilige  Zahl  Bedeutung:  70  Aelteste  wählte  sich  Motens 
Geholfen  (4.  Mos.  11,  16.  25.);   70  Mitglieder  hatte  du 
Synedrium  ®)5  ebenso  viele  griechische  Dolmetscher  das  A.T. 
Hier  fragt  sich  nun  :   hatte  der  in  das  Gedränge  der 
Umstände   hineingestellte  Jesus  nichts  Angelegeneres  st 
thun,  als  alle  mögliehen  bedeutsamen  Zahlen  Bussnutef 
ansuchen,  und  sich  naeh  Mafsgabe  derselben  mit  versöhn» 
denen  Jüngerkreisen  au   umgeben  f    oder   ist  ein  tokbsi 
durchgeführtes  Halten  an  heiligen  Zahlen,  ein  solches  Fen* 
spinnen  des  einmal   durch  die  Zahl  der  Apostel  dasn  g* 
gebenen  Anfangs ,   nicht  vielmehr  gans  im  Geiste  der  m* 
christlichen  8age,  welche,  sofern  wir  sie  jüdisch  gefirtt 
uns  denken,  den  Schlafe  machte,  wenn  Jesus  die  13  Stie- 
me in  der  Zahl  seiner  Apostel  abgebildet  habe ,  so  werdt 
er  auch  die  70  Aeltesten  durch  eine  entsprechende  AostU 


7)  Tuf  haaret  f.  19,  c.  3;  Clem.  hom.  IS,  4;  Rccognit.  Clemcit 
2,  42;  Epiphan.  haer.  1,  5. 

8)  ScHKncxumuRUR,  a.  a.  O. ;    Gistiua ,  über  Entstehung  d* 
•chriftl.  Evangelien,  S.  127  f, 

0)  s.  LteimooT,  p.  786» 


v^ 


Fünftes  Kapitel.     §.  74.  Ö33 

Ton  J  Ungern  nachgebildet  haben ;  oder  sofern  wir  sie  mehr 
pnulinisch- universalistisch  vorstellen,  nicht  umhin  konnte, 
voraussusetaen ,  dafs  Jesnt  neben  der  durch  die  Zahl  der 
Apostel  angedeuteten  Bestellung  seiner  Sache  auf  das  israe- 
litische Volk  isagleich  durch  die  Auswahl  von  70  J  fingern 
ihre  weitere  Bestimmung  für  alle  Völker  der  Krde  vorge- 
bildet habe  ?  Und  so  angenehm  auch  von  jeher  der  Kirche 
die  Klasse  der  70  Jünger  gewesen  ist,   gleichsam  als  Ver- 
sorgungsanstalt, um  Minner  unterzubringen,  welche  nicht 
so  den  Zwölfen  gehörten ,  an  denen  ihr  aber  doch  etwas 
gelegen  war,  wie  einen  Markus,  Lukas,  Matthias :  so  wer- 
den  wir  'doch  diese  letztere  Frage  bejahen,  die  Entschei- 
dung der  neuesten  Kritik  für  Debereilung  erklären,   und 
gestehen  müssen,  da(s  durch  die  Aufnahme  einer  solchen, 
▼on   aller  historischen  Bestätigung  verlasseneu,   nur   auf 
dogmatisches  Interesse  als  Quelle  hinweisenden  Nachricht 
das  Lukasevaogelium  gegen  das  des  Matthäus  im  Nachtheil 
ist.    So  viel  freilich  scheint  namentlich  aus  A.  6.  1,  21  f. 
so  erhellen,   dafs  Jesus  auch  aufser  den   Zwölfen  noch 
andere  beständige  Begleiter  hatte:   dafs  aber  diese  gerade 
einen  Körper  von  Siebsigen  gebildet,  oder  aus  ihnen  so 
viele  ausgelesen  worden  seien,  scheint  nicht  gehörig  ver- 
bürgt su  sein  **)• 


10)  Ueber einstimmend  ob  Witts,  exeget.  Handb. ,  I,  1,  S.  99 f. 
I,  2,  S.  61.  I,  3,  S.  220;  Tinos,  cur  Biogr.  J.,  $.  24.  Da- 
gegen vergL  NsiHDia,  L.  J.  Chr.,  S.  498  f. 


Seebste»    Kapital. 

Reden  Jesu  in  den  drei  ersten  Evangelien8). 


S.    7*. 

Die  Bergrede. 

In  dem  weiteren  Verläufe  det  öffentlichen  Lebens  Jen 
lassen   sich  von  den  Begebenheiten  diejenigen  Rede*  ab- 
sondern ,    weiche  nicht  Mols  Aeoldensen  von  Begeben!* 
ten ,  sondern  selbststXndige  Ganze  bilden ;    wiewohl  diew 
Unterschied  immerhin  ein  fliefeender  ist,  nnd  von  manches 
Kedestficke,    wegen   des  veranlassenden   Ereignisse«,  I* 
hanptet  werden  kann,    es  sollte  anter  die   Begebenheit«, 
so  wie  von   mancher  Begebenheit,  wegen  der  daran«* 
knöpfenden  Erörterungen,  sie  sollte  su  den  Reden  gestellt 
werden.    Da  ferner  «wischen  den  drei  ersten  Evangelist« 
und  dem  vierten  namentlich  auch  in  Hinsicht  auf  die  Re- 
den eine  solche  Differenz  stattfindet,  dafs  dieser  mit  jeoei 
nur  wenige  einzelne  Aussprüche  gemein   hat ;    auch  fiker 
djeft  die  ganze  Natur  und  Beschaffenheit  der  Reden  Jen 
bei  den  Synoptikern  und  deren  bei  Johannes  eine  veneiuV 
dene  ist:   so   sind   beide  einer   abgesonderten  Betracht»; 
au  unterwerfen.    Unter  sich  verhalten  sich  in  diesem  Sa- 
cke die  drei  ersten  Evangelisten  so ,   daft  Matthäus  gen» 
gröfsere  Massen   von  Reden  Jesu  zusammenstellt,  weicht 
sich  bei  Lukas  an  verschiedene  Orte  und  Anlässe  vertbe* 

•)  Wat  auf  Leiden,  Tod  und  Wiederkunft  si<*  besiebt,  We* 
auch  hier  aufgespart. 


Sechstes  Kapitel.    J.  75.  635 

finden,  wobei  jedoch  jeder  von  beiden  euch  wieder  eigen* 
thfimliehe  Redestfleke  för  eich  hat;  bei  Markos  tritt  das 
Element  der  Reden  sehr  zurück.  Es  wird  demnach  das 
Zweekmäfsigste  sein,  wenn  wir  zunächst  von  den  Rede- 
massen des  Matthäus  ausgehen,  jedesmal  das  ihnen  Ent* 
sprechende  bei  den  andern  Evangelisten  aufsuchen,  hier» 
auf  fragen,  wer  wohl  diese  Reden  besser  gestellt  und  dar- 
gestellt habe,  und  endlich  darüber,  wiefern  sie' wirklieh 
als  aus  Jesu  Munde  gekommen  au  betrachten  seien  *  uns 
ein  Urtheil  an  bilden  streben. 

Die  erste  gröbere  Redemasse  bei  Matthäus  ist  die  so* 
genannte  Bergrede ,  Kap.  5-7«  Nachdem  nämlich  dieser 
Evangelist  die  Rückkehr  Jesu  von  der  Taufe  nach  Galiläa 
und  die  Berufong  der  beiden  Fischerpaare  erzählt  hat, 
berichtet  er ,  wie  Jesus  lehrend  und  heilend  ganz  Galiläa 
durchreist  habe,  ond  viel  Volks  ans  allen  Theilen  Palä- 
stina^ ihm  nachgesogen  sei;  als  er  die  Volksmenge  ge* 
*ehen ,  sei  er  auf  einen  Berg  gestiegen ,  und  habe  die  be* 
zeichnete  Rede  gehalten  (4,  2S  ff.)«  Während  man  eine 
Parallele  au  dieser  Rede  bei  Markus  vergeblich  sucht,  gibt 
dsgegen  Lukas,  6,  SO— 49. ,  einen  Vortrag,  der  nicht 
nur  denselben  Anfang  und  Schlafs,  sondern  auch  in  dem 
dazwischen  liegenden  Inhalt  und  Gedankengang  die  auf* 
fallendste  Verwandtschaft  mit  jenem  hat;  wozu  noch  kommt,' 
dafs  apoh  bei  ihm  wie  bei  Matthäus  nach  Beendigung  des 
Vortrags  Jesus  nach  Kapernaum  geht,  und  den  Knecht 
des  Hauptmanns  heilt«  Freilich  reiht  er  die  Rede  etwas 
später  ein ,  indem  er  vor  derselben  manche  Wanderungen 
und  Heilungen  Jesu  erzählt,  welche  Matthäus  nach  der 
seinigen  stellt;  er  läßt  ferner,  fast  im  Gegensätze  gegen 
Matthäus,  Jesum  die  Rede  nicht  avaßmra  elg  %6  oqoq, 
sondern  xazaßdvia,  int  zons  nedivS,  und  nicht,  wie  bei 
Matthäus,  xa&ioavza,  sondern  stehend,  halten;  wozu  end- 
lich noch  diefa  kommt,  dafs  die  Rede  bei  Lukas  dem  Um- 
fange naoh  nur  etwa  ein  ViertheU  von  der   bei  Matthäus 


<.  ,  _ 


636  Zweiter  Abschnitt, 

beträgt,  somit  ein  bedeutender  Thett  von  dieser  in  je 
fehlt:  während  übrigens  doch  auch  die  Rade  bei  Lakai 
einige  eigentümliche  Elemente  hat,  weiche  in  der  dei 
Matthäus  vermiftt  werden. 

Dm  daher  nicht  angehen  an  müssen,  dafii  von  awei 
inspirirten  Evangelisten  einer  Dnreeht  habe,  wenn  doch 
der  eine  Jesum  auf  dem  Berge,  der  andre  anf  der  Ebene* 
der  eine  sitsend,  der  andre  stehend,  der  eine  früher,  .der 
andre  später,  dasselbe  reden  liefse;  andern  entweder  «kr 
eine N wesentliche  Auslassungen,  oder  der  andere  ebenso!* 
ehe  Znsätse  sich  erlaubt  hätte:  hat  die  alte  Harmonietik 
beide  Reden  för  verschieden  erklärt  *) ;  mit  Berufung  dar- 
auf,  dafr  Jesus  wichtige  Stocke  seiner  Lehre  öfters  be- 
handelt haben  müsse,  und  dabei  auch  gewisse  besonders 
schlagende  Aussprüche  wörtlich  wiederholt  Laben  könne» 
So  unbedenklioh  dieses  Letstere  von  einzelnen  Sentenaaa 
anzugeben  ist:  so  entschieden  ist  es  von  längeren  Ansfth» 
rangen  au  läugnen;  ja  selbst  jene  kursen  Gnomen  wird 
der  begabte  und  erfindungsreiche  Lehrer  jedesmal  in  an* 
drer  Stellung  und  Verbindung  voranbringen  wissen  ,  und 
unmöglich  kann  ein  anderer  als  ein  gana  dürftiger  Kopf 
einen  so  bestimmt  ausgeführten  Anfang  und  Schlafe,  wie 
ihn  die  in  Frage  stehenden  Reden  an  den  Hakarismen  und 
dem  Bilde  des  auf  Felsen  oder  auf  Sand  gebauten  H^ntti 
haben,  au  wiederholten  Malen  gebrauchen. 

Mufste  man  sich  daher  für  die  Identität  beider  Reden 
entscheiden,  so  galt  es  auerst,  die  Abweichungen  awiachea 
beiden  Relationen  auszugleichen,  oder  auf  eine  Weiee  an 
erklären,  bei  welcher  ihre  Glaubwürdigkeit  unaugetaetet 
blieb.  In  Beeng  auf  die  verschiedene  Beeeichnung-  der 
Oertlichkeit  hat  Paulus  das  &ü  bei  Lukas  hervorgehoben, 


1)  Augutttn.  de  content,  er.  2, 19  j  Stör*,  über  den  Zweck  des 
Evang.  u.  d.  Br.  Job. ,  S,  347  ff.  Die  weitere  Literstur  s.  ia 
Thoivch'*  Auslegung  der  Uergpredi^t,  Ein!.,  $.  1. 


Sechstes  Kapitel*    J.  75.,  637 

und  von  einem  Stehen  ober  der  Ebene,  also  auf  einem 
Hfigel  erklärt;  bester  Tholück  den  tonog  mdivog  von  der 
eigentlichen  Ebene  unterschieden,  ond  als  eine  weniger 
jähe  Stelle  seines  Abhangs  an  dem  Berge  gesehlagen;  in* 
defs,  da  der  eine  Evangelist  den  Vortrag  Jesu  unmittelbar 
an  ein  Hinaufsteigen ,  der  andere  an  ein  fiterabsteigen 
knüpft:  so  wird  man  doch  mit  Olshausbn  sagen  missen, 
wenn  Jesus  nach  Lukas  auf  der  Ebene  oder  an  einer  nie- 
drigeren Stelle  des  Berges  gesprochen,  so  habe  Matthäus 
daa  auf  das  Hinaufsteigen  gefolgte  Heruntersteigen  fiber- 
gangen; oder  wenn  nach  Matthäus  Jesus  auf  der  Höhe 
des  Berges  geredet,  so  habe  Lukas  vergessen  zu  melden, 
dafa  er,  nachdem  er  schon  herabgestiegen  war,  sich  doch 
des  Gedränges  wegen  vor  der  Rede  wieder  etwas  in  die 
Höhe  gesogen  habe»  Und  swar  hat  jeder  von  beiden,  was 
er  nicht  meldet,  davon  ohne  Zweifel  auch  nichts  gewufst; 
sondern,  indem  in  der  Deberliefernng  diese  Aede  mit  ei- 
nem Aufenthalte  Jesu  auf  einem  Berge  in  Verbindung 
stand ,  so  dachte  wohl  Matthäus  sich  eben  den  Berg  als 
eine  bequeme  Erhöhung  für  eine  Volksrede,  während  Lu- 
kas ein  Herabsteigen  au  der  Menge  ffir  nöthig  erachtete: 
womit  auch  die  weitere  Differenz  zusammenhängt,  dafa 
der  vom  Berg  aus  Redende  sitsen  au  können  schien,  weil 
er  durch  den  Berg  schon  genug  über  die  am  Anhang  her- 
unter aufgestellten  Zuhörer  hervorragte:  der  auf  der  Ebe- 
ne Sprechende  aber  muffte  natürlich  stehen.  —  Ebenso 
wie  diese  das  Loeal  betreffende,  wird  man  auch  die  chro- 
nologische Oifferens  einräumen,  und  sich  falscher  Ana* 
gleichungsversuche  enthalten  müssen  *)• 

Die  Abweichungen  im  Umfang  und  Inhalt  der  Aede 
lassen  an  sich  die  dreifache  Erklärung  offen :  dafr  entwe- 
der der  kfiraere  Bericht  des  Lukas  nur  ein  Auscug  aus 
der  ganaen  Rede,   wie   sie  vollständig  Matthäus  wieder- 

2)  Vergl.  ns  Witte,  exeg    Handb. ,  1,  1,  S.  47  ff.    i,  2,  S.  44- 


036  Zweiter  Abschnitt. 

gebe;  "oder  dafs  in  der  Aufzeichnung  des  Matthfttti  man» 
'  che*  bei  endern  Gelegenheiten  Gesprochene  hinzugefügt; 
oder  endlich  dafs  beides  zugleich  der  Fall  sei.  Wer,  wie 
Tholuck,  die  fides  divina,  oder,  wie  Paulus,  die  fides 
kumana  des  Evangelisten  unverletzt  erhalten  will,  den  em- 
pfiehlt sich  die  erstere  Ansicht,  weil  Weglassen  von  Vor» 
gekommenem  ein  unverfänglicherer  Fehler  ist,  als  Hinz* 
setzen  von  Nicht  vorgekommenem,  und  man  beruft  sieh 
hiebe!  auf  den  engen  Znsammenhang,  welchen  man  in  der 
Bergrede  des  Matthäus  nachweisen  zu  können  glaubt,  und 
der  darauf  hinweisen  soll ,  daCs  die  Rede  in  Einem  Zuge 
von  Jesus  selbst  so  gesprochen  worden  sei.  Allein  theifa 
kann  ja  wohl  auch  ein  nur  nicht  ganz  ungeschickter  Wie* 
derernähler  ursprünglich  nicht  zusammengehörige 
spreche  in  erträglichen  Zusammenhang  bringen; 
geht  dieser,  wie  jene  Erklärer  selbst  gestehen  mflseen  *), 
nur  etwas  über  die  Hälfte  der  Bergrede  hinüber,  so  dafs 
von  6,  19.  an  mehr  oder  minder  vereinzelte  Sentenzen 
folgen,  von  welchen  zum  Theil  höchst  unwahrscheinlich 
ist,  dafs  sie  an  dieser  Stelle  sollten  gesprochen  sein.  Da- 
her hat  sich  die  neueste  Kritik  umgekehrt  dahin  entseUe* 
den ,  dafs  die  kürzere  Relation  bei  Lukas  ganz  oder  doch 
nahezu  die  ursprüngliche  Gestalt  der  Rede  Jesu  wieder- 
gebe, Matthäus  dagegen  sich  erlaubt  habe,  an  dasjenige, 
was  Jesus  bei  dem  beschriebenen  Anlasse  vorgetragen« 
manches  bei  andern  Gelegenheiten  von  ihm  Gesprochene 
in  der  Art  anzureiben ,  dafs  der  gemeinschaftliche  Gmnd- 
riis,  nämlich  Anfang,  Schlafs  und  zwischen  beiden  das 
Wesentliche  des  Gedankenfprtschritts  blieb,  in  dieses  Fach* 
werk  aber  mehr  oder  minder  Verwandtes  von  anderwärts 
her  eingeschoben  wurde4);   eine  Ansicht,   welche  haapt- 


3)  Tholuck,  S.  24;  Paulus,  ezeg.  Handb.,  1,  b,  S.  584« 

4)  So  Schul* ,  vom  Abendmahl,  S.  313 f.;    SnrrsHT,  S.  74  C; 
FniTZScas,  S.  301« 


Sechstes  Kapitel.    $«  75.  639 

siehtieh  dadurch  nnterstfltst  wird,  dafs  viele  von  den  Ana* 
sprächen,  welche  Matthias  in  der  Bergrede  zusammen- 
stellt, bei  Lukas  ond  cum  Theii  anob  bei  Markas  an  ver- 
schiedenen Orten  Berstreut  vorkommen.  Diefs  zuzugeben 
genftthigt,  ond  doch  bestrebt,  einen  Irrthum,  der  seine 
Augenzeugenschaft  sweifelhaft  machen  könnte ,  von  dem 
Evangelisten  abzuwälzen,  behaupten  nnn  andere  Theolo- 
gen, nicht  in  der  Meinung,  sie  sei  in  Einem  Zuge  gespro- 
chen worden,  sondern  mit  klarem  Bewufstsein,  dafs  diefs 
nicht  der  Fall  gewesen  sei,  habe  Matthias  diese  Rede  zu- 
sammengesetzt *).  Allein  mit  Recht  ist  hiegegen  bemerkt 
worden,  wenn  doch  Matthias  Jesum,  ehe  er  die  Rede  be- 
ginnt, auf  den  Berg  hinaof,  and  nachdem  er  sie  geendigt, 
von  demselben  wieder  herabsteigen  lasse :  so  stelle  er  da- 
durch  das  zwischen  beiden  Momenten  Gesprochene  äugen* 
scheinlich  als  in  Einem  Zage  gesprochen  dar;  and  wenn 
er  von  den  oxloig,  deren  er  vor  dem  Beginn  der  Rede  ge- 
dacht hatte,  nach  deren  Beendigung  bemerke,  welchen 
Eindruck  die  Rede  auf  sie  gemacht:  so  müsse  er  doch 
wohl  einen  zusammenhingenden  Vortrag  schildern  wol- 
len *)•  Indessen  auch  bei  Lukas  hat  man  theils  in  seiner 
Sergrede  Stellen  gefanden,  wo  der  unterbrochene  Zusam- 
menhang auf  Locken  geblieben  lifst,  and  Zusätze,  welche 
schwerlich  ursprünglich  sind  *) ;  theils  ist  die  richtigere 
Stellung  derjenigen  Aussprüche,  welehe  er  an  andern  Or- 
ten hat,  mitunter  sehr  sweifelhaft  gefunden  worden8): 


5)  Ombausu,  bihl.  Co  mm.,  I,  $.197;  Kami,  in  der  Tttb.  Zeit. 
Schrift,  1834,  2,  S.  33. 

6)  Schul*,  a.  a.  O.  S.  315;  ScuascxsxBUaesR,  Beitrüge,  S.  26; 
CnsDivsft,  Einleit.,  1,  $.  69. 

7)  ScBLBxsaMACasa,  über  den  Lukas,  S.  89  f. 

8)  Tholtck,  a.  a.  O.  S.  11  ff.,  und  meine  Recens.  der  Schriften 
von  Sibffirt  u*  A.  in  den  Jahrbüchern  f.  witt.  Kritik,  Nov. 
1834,  S.  775  ff. 


1 


640  Zweiter  Abschnitt. 

■ 

wefswegen ,  wie  wir  bald  nfiher  sehen  werden ,  in  diesen 
Stücke  Lnkas  nichts  vor  Matthäus  voraus  hat. 

Das  Publicum,  för  welches  die  Bergrede  bestimm 
war,  könnte  von  Lnkas  als  ein  engerer  Kreis  bezeichnet 
su  sein  scheinen,  wenn  er  die  Apostelwahl  unmittelbar 
vorhergehen,  nnd  bei'm  Beginne  des  Vortrags  Jeswn  db 
Augen  dg  zsg  (xaOijiag  avrs  erheben  lilst,  als  von  Mal» 
thäus,  der  der  Rede  eine  Beziehung  auf  die  ox^QQ  güto 
Da  indessen  andererseits  sowohl  Matthäus  vor  der  Berg- 
rede die  fiafrifcaQ  an  Jesu  treten,  and  diese  sofort  vos 
ihm  belehrt  werden;  als  auch  Lukas  ihn  die  Rede  «£  **k 
axodg  rS  las  halten  lälst:  so  eeigt  sieh,  daCi  Jeans  saus 
versammelten  Volk  überhaupt,  doch  mit  besonderer  Besäe* 
hang  auf  seine  Schüler,  geredet  hat 9) ;  denn  dafs  hier  eis 
bestimmter  feierlicher  Redeaet  cum  Grunde  liege,  habsa 
wir  nicht  Ursache  «u  bezweifeln. 

Schreiten  wir  jetat  nur  Betrachtang  des  Einzelnen:  m 
ist  in  beiden  Redactionen  die  Bergrede  durch  eine  Am»u 
von  Makarismen  eröffnet,  von  welchen  übrigens  bei  Lukas 
nicht  nur  mehrere  fehlen,  sondern  jtneh,  wie  Store  •) 
besser  eingesehen  hat,  als  jetat  Olshausen,  die  meisten  ia 
einem  andern  Sinne  genommen  sind,  als  bei  Matthias* 
Indem  nämlich  weder  die  tvuoxoL,  wie  bei  Matthäus,  deren 
den  Zusata:  r<p  msvficeci,  näher  bestimmt,  also  nicht  dis 
innerlich  sich  arm  nnd  elend  Fohlenden,  sondern  die  ei* 
gentlich  Armen  sind ;  noch  der  Hunger  der  ^«mJyrt-;  auf 
<£?}v  dixcuoavvTjv  beaogen,  also  kein  geistiger,  sondern  eb 
leiblicher  ist;  dagegen  so  Wohl  die  neivdüvteg  als  die  xXaL 
oneg  doroh  die  Zeitbestimmung :  vvv,  näher  bezeichnet  wer- 
den:  so  ist  der  Gegensats  bei  Lukas  nicht  wie  bei  Bfsu 
thäus  der  concreto  von  jetat  unbefriedigten  und"  leidendes 


9)  Vgl.  Tholuck,  a.  a«  0.  8.  25  ff. ;   ob  Wittk,  exeget.  Handk, 

1,  1,  S.  49. 
10)  üeher  den  Zweck  u.  s.  w.,  S.  548. 


Sechstes  Kapitel.    $.  75.  041 

Frommen  and  deren  künftiger  tiläckseligkeit,  sondern  der 
abstracto  von  jetzigem  Leiden  und  künftigem  Wohlergehen 
tiberhaupt  ")•    Diese   Art    der  Entgegeneetsung  des  aiwv 
Htog  nnd  ftilhtfv  kommt  bei  Lukas  auch  sonst,  namentlich 
in  der  Parabel  vom  reichen  Manne,  vor,   und  ohne  hier 
sebon  su   untersuchen,   welche  von   beiden  Darstellungen 
wohl  die  ursprüngliche  sein  möge,  bemerke  ich  nur,    dafii 
eben  die  des  Lukas  gans  in  dem  ebionitisehen  Geiste  ge- 
macht ist,  welchen  man  neuestens  im  MatthSusevangeliua 
hat  finden  wollen.    Bei  den   Ebioniten   nämlich,   wie  sie 
namentlich   in  den  klementinischen  Homilien   sich  darstel- 
len, ist  diefs  ein  Hauptsats,  dafs,  wer  sich  in  dieser  Zeit 
sein  Theil   nehme,   in   der  künftigen   leer    ausgehe,    wer 
aber  auf  irdischen  Besits  versieh te,   sich  dadurch  himm- 
lische Sehfttse  sammle  12).     Der  lotete  jttar.aQiOftog  besieht 
sich  auf  diejenigen ,    welche  um  Jesu  willen  verfolgt  wer- 
den.   Lukas  in   der  Parallelstelle  hat  i-'vexei'  %s  viä  tu  av~ 
&Qo)7iiiy  und   so   kann   auch  das  l'v&nv  ipö   bei  Matthäus 
Jesum   nur  in    der    Eigenschaft   des    Messias    bezeichnen. 
Gegen  ein  so  frühes  Hervortreten  Jesu  mit  der  Erklärung 
seiner   Messianitfit   hat  man  von   Matth.  16,  13  ff.  pnrall. 
aus  Zweifel  erhoben:  wogegen  das  oben  1S)   hierüber  Be- 
merkte su  vergleichen  ist. 

Auf  die  Makarismen  folgen  bei  Lukas  ebensoviele 
ecd,  welche  bei  Matthäus  fehlen.  In  ihnen  tritt  die  ebio- 
nitlsche  Entgegensetsung  des  Kinn  D71P  und  KDH  noch 
schroffer  hervor,  wenn  ohne  Weiteres  den  7tXaaioigy  iynf- 
TthrfinhoiQ  und  ythüai  wehe  sugerufen,    und  in  der  kom- 


11)  Vgl.  es  Wrrrs,  exeg.  Handb«,  1,  2,  S.  44  f.;  Niaädkr,  L.  J. 
Chr.,  S.  155  f.  Aam.  \ 

12)  Homil.  15)  7  u.  sonst;  vergl.  Ciuuhu*  in  Wuisa's  Zeitschrift 
f.  wiss.  Theologie,  1,  S.  298 f.;  ScmtscxsHBUsesa,  über  das 
Evangelium  der  Aegyptier,  $.  6. 

15)  $•  63. 

Du*  Leben  Jesu  $te  Aufl.  /.  Band.  41 


6f2  Zweiter  Abschnitt. 

menden  messianisehen  Weltordnung  mit  entsprechendes 
Uebeln  gedroht  wird ;  eine  Darstellung,  welche  an  Jac.  5, 
1  ff  erinnert.  Da  jedenfalls  das  letzte  £ul  etwas  «reif  den 
loteten  (.ivcrxiQioi  nachgebildet  ist,  indem  gewlfs  nor  de« 
Gegensätze  mit  den  vieiveriisterten  wahren  Propheten  ss- 
lieb,  and -nicht  weil 'ein  historische«  Datom  vorhanden  ge- 
wesen wäre ,  behaopret  wird,  bei  den  ^'eirfoOToofjnfraf  £  sei 
es  der  Fall  gewesen,  dafs  Jedermann  Gutes  von  ihnen  ge- 
sagt habe:  so  könnte  man  wohl  mit  Schleis  rm  ach  kr  ") 
yermothen ,  der  Referent  im  dritten  Evangelium  habe  die 
den  Seligpreisungen  entsprechenden  Wehe  von  seinem  Ei- 
genen hinsugethan.  Weniger  äbrigens,  weil  er,  wie 
Schleiern acbbr  meint,  eine  Lücke  fühlte,  die  er  nicht 
mehr  ergänzen  konnte,  als  weil  es  dem  Messias  angemes- 
sen scheinen  mochte,  wie  einst  Moses,  neben  dem  Segta 
auch  den  Fluch  ausgesprochen  au  haben.  Wenn  maa 
nämlich  in  der  Bergrede  sonst  ewar  mit  Recht  ein  Seiten* 
stück  uur  sinaitiseben  Gesetzgebung  findet:  so  dürfte  doch 
dieser  Eingang,  wenigstens  bei  Lukas,  mehr  an  den  Ab- 
schnitt im  Denteronomiom  (27,  11  ff.)  erinnern,  wo  Moses 
gebietet,  dafs  hei'ra  Einenge  des  Volks  in  Kanaan  die  eins 
Hälfte  auf  den  Berg  Garizim,  die  andere  auf  den  Ebal 
sich  stellen ,  und  jene  einen  vielfachen  Segen  fÖr  die  dem 
Gesetne  Gehorsamen,  diese  einen  ebenso  vielfachen  Fluch 
gegen  die  Uebertreter  desselben  aussprechen  solle ; 
nach  Jos*  8,  33  ff.  wirklieh  vollsogen  worden  ist  **)• 


14)  a.  a.  0.  S.  90.    Ihm  stimmt  auch  Neakdrr  bei  a.  a.  O. 

15)  Auch  die  Rabbincn  legten  auf  diese  mosaischen  Segnungen 
und  Flüche  Gewicht,  8.  Ligiitfoot,  S.  255.  Ferner ,  wie  wir 
hier  acht  Makarismen  haben ,  so  Hessen  sie  den  Abraham  *>- 
nedtetionibus  Septem  (Baal  Turins,  in  Gen.  IX  hei  Lkkuoot, 
S.  256. ) ,  deta  David  ,  Daniel  sammt  drei  Genossen  und  de« 
Messias  benedictionibns  sex  gesegnet  werden  (Targ.  Ruth  3» 
ebenda«  ).     Auch  zählten  sie  gegenüber  von  20  beatitudimibm* 


Sechstes  Kapitel.    $.  75.  643 

Passend  reiht  sieh  an  die  Makarismen  bei  Matthins 
die  Darstellung  der  Jünger  Jesu  als  vo  ahxg  zijg  yijg  and 
to  (flog  ts  xoo/ua  an  (5,  13  ff.).  Bei  Lukas  findet  sieh  die 
Rede  vom  Salze  mit  etwas  Verschiedenem  Anfang  an  einer 
andern  Stelle  (14, 34f.)>  wo  Jfhukj  seine  Zuhörer  ermahnt, 
in  reiflicher  Erwägung  der  im  seiner  Nachfolge  an  brin- 
genden Opfer  sieh  lieber  gar  «ich  <i  an  ihn  mzuschliefsen, 
als  nachher  mit  Schande  au  bestehe«;  worauf  er  füglich 
solche  seh  wach  werdende  Schüler  m\i  abstehendem  Saite 
vergleichen  kann«  Pafst  so  das  Dictum  an  beide  Stellen: 
ao  ist  es  augleieh  in  seiner  gnomischen  >  Kürze  von  der 
jArtrdafs  es  öfters  wiederholt  werden  konnte,  also  in  bei- 
den Verbindungen  gesprochen  sein  kann.  Dagegen  kann 
es  nicht  gesprochen  sein  in  dem  Zusammenhange,  welchen 
ihm  Markus  (9,  50.)  anweist;  denn  das  auf  die  Hölle  sieh 
beziehende  ali&iv  bann  mit  dem  akag,  durch  welches  der 
Vorzug  des  wahren  Anhängers  Jesu  dargestellt  wird,  in 
Jteinem  inneren  Znsammenhange  stehen,  vielmehr  ist  die 
Verbindung  nur  fiufserlich  durch  das  gleiche  Wort  ver- 
mittelt, eine  Art  von  Zusammenhang,  welche  treffend  als 
lexikalischer  bezeichnet  worden  ist  16).  Der  veränderte 
Schlafs,  welchen  Markus  der  Gnome  gibt  0xeze  &  kavzoTg 
vlag,  xai  siQyevers  iv  altifioig*),  kann  zwar  möglicher- 
weise in  Verbindung  mit  derselben ,  ebensogut  aber  in 
ganz  andrem  Zusammenhange  vorgetragen  worden  sein.  — 
Auch  die  Gnome  vom  Lichte,  das,  wie  das  Salz  nicht 
kraftlos,  so  nicht  verborgen  werden  dürfe,  fehlt  in  der 
JDergrede  des  Lukas,  welcher  mit  Weglassung  der  be- 
stimmten  Beziehung    auf  die  Jünger   den  Ausspruch   an 


in  den  Psalmen,  ebensoviele  vae  im  Jesaias  auf  (Midrasch  Te- 
hillim  in  Ps.  1.  ebend.)« 
16)  Schnbckknbük&er,  Beiträge,  S.  58.    Künstelnd  sucht  Nsandbr, 
S.  157.  Anm.,  einen  wirklichen  Gedankenzusammenhang  nach- 
zuweisen. 

41* 


-in  i      i        *--"-  •*»- 


644  Zweiter  Abschnitt. 

zwei  verschiedenen  Orten  hat.  Zuerst  9,  16.,  unmittelbar 
nach  der  Auslegung  der  Parabel  vom  Süemann,  wohin 
auch  Markus  (4,  21.)  das  Dictum  stellt ,  liefse  sich  «war 
das  Leuchten  des  Lichts  mit  dem  xaQTKKfoqttv  des  Samens 
in  Verbindung  setzen:  doe#  ist  nach  der  Auslegung  einer 
Gleichnifsrede  ein  Rehepunkt,  Ober  welchen  ein  verstän- 
diger Redner  nicht  so  leicht'  zu  neuen  Bildern  hinwegeilea 
wird;  jedenfalls,  aber  findet  sofort  z wischen  diesem  Leueb- 
ten  des  inneren  Lichts  und  dem  von  Lukas  weiter  daraa- 
gehingten  Ausspruche ,  dafs  alles  Verborgene  an  den  Tag 
komme,  kein  innerer  Zusammenhang  statt ,  sondern  wir 
haben  hier  eine  Erscheinung,  welche  bei  Lukas  besonders 
häufig  sich  wiederholt,  dafs  nämlich  in  den  Zwischenraum 
s wischen  zwei  selbst*  ttindigen  Reden  oder  ErzAhlnngea 
mehrere  vereinzelte  (inomen  zusammengeworfen  sind.  So 
ist  hier  zwischen  der  Parabel  vom  Sfiemann  und  der  Er- 
stfhlung  von  dem  Besuche  der  Mutter  und  der  Brüder  Jesu 
die  Gaome  vom  nicht  zu  bergenden  Lichte  wegen  einiger 
inneren  Verwandtschaft  mit  der  Parabel  eingefügt;  dann, 
weil  in  dieser  Gnome  der  Gegensatz  von  Verbergen  und 
offen  Hinstellen  vorkam,  fiel  dem  Referenten  die  sonst  he« 
terogene  Rede  vom  Offenbarwerden  alles  Verborgenen  ein; 
worauf  ohne  Zusammenhang  mit  dieser,  aber  wieder  in 
einiger  Besiehung  auf  die  Parabel,  der  Ausspruch:  wer 
hat,  dem  wird  gegeben,  hinzugesetzt  ist.  Vollends  aber 
an  der  zweiten  Stelle,  11,33.,  ist  zwischen  der  Rede  Jesu, 
dafs  seine  Zeitgenossen  einst  durch  die  Nineviten  werde« 
verurtheilt  werden ,  und  dem  adelg  de  JLvyvov  vipag  kein 
Zusammenhang  nachzuweisen,  wenn  man  ihn  nicht  hinein- 
legt17); sondern  wir  haben  auch  hier  wieder,  zwischen 
den  Reden  gegen  die  Zeichenforderung   und  denen  bei'm 


17)  wie  Olshausbn  z.  d.  St     Das  Richtige  angedeutet  bei  Scans- 
ckäkbi hgbr,  Beiträge,  S.  58;  Tholück,  a.  a.  O.  S.  11. 


.  Sechstes  Kapitel.    $.  75.  645 

Pbarisiermabl,  eine  solche  Fuge,  welche  mit  abgerissenen 
Medesttieken  ausgefällt  ist. 

Es  folgt  nun  5, 17  ff.  der  Uebergang  som  eigentlichen 
Thema  der  Rede ,  nämlich  die  Versicherung  Jesu ,  niehtt 
cur  Auflösung,  sondern  aur  Erffillung  des  Gesetaas  und 
der  Propheten  gekommen  au  sein  u.  s.  f.  Lukas  (1#,  17.) 
stellt  diesen  Ausspruch  neben  den  scheinbar  gana  «atge- 
gengeaetuten ,  dafs  das  Geseta  und  die  Propheten  nur  bis 
auf  Johannes  gehen ;  awei  Ausspräche ,  die  unmöglich  in 
demselben  Zusammenhange  gethan  sein  können,  sondern 
auch  hier  ist  der  Zusammenhang  nur  ein  lexikalischer^  in- 
dem ad  vocem  vofiog,  womit  der  erste  Sats  anfing,  dem 
Verfasser  ein  anderer,  gleichfalls  den  vopog  betreffender 
Ausspruch  Jesu  beifallen  mochte  18).  Deberhaupt  ist  hier, 
zwischen  den  Parabeln  vom  Hausbalter  und  vom  reichen 
Manne,  wieder  eine  jener  Spalten,  in  welchen  sich  bei 
Lukas  gerne  abgerissene  Redestficke  ausammenJinden» 

So  wenig,  wird  V.  20.  fortgefahren,  sei  Jesus  geson- 
nen, Nichtachtung  des  mosaischen  Gesetzes  au  lehren,  dafs 
er  vielmehr  eine  noch  strengere  Achtung  desselben  als  die 
Sehriftgeleiirten  und  Pharisäer  verlange,  und  diese  sich 
gegenüber  als  diejenigen  erscheinen  lasse,  welche  das  Ge- 
aetz  untergraben;  worauf  sofort  an  einer  Reihe  von  mo- 
saischen Geboten  geaeigt  wird,  wie  Jesus,  statt  sich  an 
den  blofsen  Buchstaben  su  halten,  in  den  Geist  der  Ge- 
setze eindringe,  und  namentlich  die  rabbinisehe' Auslegung 
derselben  in  ihrer  Verwerflichkeit  durchschaue  («— V.  48.). 
Dafs  dieser  Abschnitt  in  der  Ordnung  und  Vollstfindig- 
keit, wie  wir  ihn  bei  Matthäus  lesen,  in  der  Bergrede  des 
Lukas  fehlt,  ist  ein  entschiedenes  Zeichen,  dafs  diese  letz- 
tere LQcken   hat.    Denn  in  demselben  ist  der  Grundge- 


£8)  Diess  ist  der  von  Schuiikimcrbr  ,  S.  205,  vermisste  Anitas, 
zum  16ten  Vers  den  J7ten  unhistorisch  hinxuzufügea.  Vergl. 
pb  Wrrrs  x.  d.  St. 


646  Zweiter  Abschnitt. 

danke  nicht  nur  der  Rede,  wie  sie  Matthfius  hat,  angege- 
ben :  sondern  auch  die  zerstreuten  Aeufserungen  ober 
Feindesliebe,  Versöhnlichkeit,  Wohtthfitigkeit,  welche  Lu- 
tea« gibt,  finden  nnr  in  dem  Gegensätze  der  geistigen 
Schriltauslegung  Jesu  and  der  fleischlichen  der  damaligen 
Lehrer  ihren  bestimmten  Sinn  nnd  Einheitspunkt.  Anch 
ist  mit  Recht  darauf  aufmerksam  gemacht  worden ,  dal* 
die  .Worte,  mit  welchen  Lukas  (V.  27.)  Jesum  nach  dem 
Jetzten  Webe  fortfahren  lfifst:  oHJm  vftiv  Uyo),  and  ebenso 
V.  39»  das  elfte  de  TtctQccßohpr  avrotg,  Locken  verrathen  "). 
Was  einzelne  Parallelen  betrifft,  so  ist  die  Ermahnung  n 
schneller  Ausgleichung  mit  dem  amdtxog  (5,  25  f.)  bei 
Lokaa  (12,  58  f«)  wenigstens  nicht  so  leicht  mit  dem  Vor- 
angegangenen in  Zusammenhang  zu  bringen,  als  bei  Nat« 
thäus*°>;  noch  schlimmer  jedoch  steht  es  mit  der  Paral- 
lele ra  5,  32.,  von  der  Ehescheidung,  wo,  was  bei  Mat- 
thäus in  engster  Verbindung  steht,  bei  Lukas  (16,  18.) 
in  einer  der  schon  bezeichneten  Spalten  zwischen  die 
Versicherung  der  (JnvergiEnglichkeit  des  Gesetzes  und  die 
Parabel  vom  reichen  Manne  eingeklemmt  ist.  Denn  zum 
Behuf  einer  Verbindung  dieses  Satzes  mit  dem  vorherge- 
henden das  {(ötyzxmv  mit  Olshauskn  ohne  Weiteres  allego- 
risch von  Untreue  gegen  das  göttliche  Gesetz  zu  dentes, 
oder  Behufs  des  Zusammenhangs  mit  der  folgenden  Para- 
bel diese  mit  Schleiermacher  21)  auf  den  ehebrecherischen 
Herodes  zu  beziehen:  das  heifst  doch  gleicherweise  Ge- 
spenster sehen22).  Vielmehr  scheint  in  dem  Verfasser  die 
Deberlieferung  nachgeklungen  zu  haben,  dafs  Jesus  nach 
vorangeschiokter  Versieberang  von  der  Unverbrüchlichkeit 
des  mosaischen  Gesetzes  unter  Anderem  auch  diesen 


19)  ScHLEiBRMACHgR,  a.  a.  O.  S.  90.;  Tholuck,  S.  21. 

20)  Tholuck,  S.  12.  187;  as  Warn,  z.  d.  St. 

21)  a.  a.  O.  S.  206  f. 

22)  Vgl.  »*  Wktte,  exeg.  Hdb.,  1,  2,  S.  86. 


Sechstes  Kapitel.    §.  75.  647 

gen  Grundsatz  in  Bezug  aaf  die  Scheidung  Aasgesprochen 
habe,  und  diesen,  der  ihm  von  jener  Ausführung  allein 
gegenwärtig  war,  stellte  er  hieher.  Derselbe  Ausspruch 
kommt  Matth.  19,  9.  in  einem  Zusammenhange  wieder, 
der  eine  Wiederholung  glaublich  macht.  Während  sofort 
bei  Matthäus  die  Gebote  der  Duldung  und  Nachgiebigkeit 
C5,  3S  —  42.)  unter  der  geistigen  Auslegung  desuHf^aA/nov 
cevtt  oq&ulftö  im  begriffsmälsigsten  Zusammenhange  ste- 
hen, sind  sie  in  der  Bergrede  des  Lukas  (6,  29)  weit  un- 
bestimmter durch  das  Gebot  der  Feindesliebe  (V.  27 f.) 
eingeleitet;  weiches  selbst  bei  Matthäus,  wiederum  ent* 
schieden  besser,  als  Berichtigung  des  dyanyotig  %6v  nXq~ 
oiov  äs  xal  fuaqaeig  tov  i%&QOv  oh  (V.  43  ff.)  gegeben  ist* 
Namentlich  die  Bemerkung,  dafs,  nur  die  Freunde  su  lie- 
ben, nichts  sei,  was  nicht  auch  schlechte  Menschen  thun 
könnten,  welche  bei  Matthäus  (V.  46  f.)  als  Polemik  gegen 
die  zum  mosaischen  Gebot  der  Freundesliebe  in  der  Tra- 
dition hinzugekommene  Krlaubnifs ,  den  Feind  bu  hassen, 
so  genau  sich  ansehliefst,  steht  bei  Lukas  (V.  32.)  nach 
dem :  was  ihr  wollt  u.  s.  f.,  welches  Matthäus  erst  weiter 
unten  (7,  12.)  hat,  ohne  Zusammenhang.  Ueberhaupt, 
▼ergleicht  man  den  Abschnitt  Luc.  6, 27 — 3&  mit  dem  ent- 
sprechenden bei  Matthäus:  so  wird  man  hier  geordneten 
Fortschritt  der  Gedanken,  dort  eine  ziemliche  Verwirrung 
finden  2*). 

Bleiben  -hierauf  die  Warnungen  vor  pharisäischer  Heu- 
chelei (6,  1—6.)  ohne  Parallele:  so  folgt  in  Beeng  auf 
das  Mustergebet  eine,  auf  welche  die  neuere  Kritik  nicht 
wenig  cum  Nachtheil  des  Matthäus  baut.  Die  ältere  Har- 
monistik  «war  hatte  kein  Bedenken ,  dieses  Gebet  von  Je* 
sa  sweimal,  sowohl  unter  den  Umständen,  welche  Mat- 
thäus, als  welche  Lukas  (11,  1  ff.)  ercählt,   vorgetragen 


23)  Uebereinstimmend  tm  Witts,  cxeg.  Handb.,  1,  1,  S.  48. 


648  Zweiter  Abschnitt. 

fein  bu  lassen  **):   allein  schwerlieh  werden,  wenn  Jesus 
in  der  Bergrede  schon  ein  Mastergebet  gegeben  hatte,  sei- 
ne Jünger  ihn  später,   wie  wenn  nichts  dergleichen  vor- 
hergegangen wäre,   um  ein  solches   angesprochen    haben; 
in  keinem  Falle  hätte  wohl  Jesus  ohne  alle  Erinnerung, 
dafs  er  ein  solches  ja  längst   gegeben,  das  früher   mitge- 
theilte  Master  wiederholt.    Deswegen  hat   sieh   die  neue- 
ste Kritik  dahin  entschieden,   dafs   nur  Lukas  den  natür- 
lichen und  wahren  Anlafs  der  Mittheilung  dieses  Gebetet 
aufbewahrt  habe;   wogegen  es   in  der   Bergrede  des  Mat- 
thäus nur,   wie  so  manche  andre  Redestficke,   vom  Refe- 
renten eingeschoben  sei  25).    Allein  die  Natürlichkeit,  wel- 
che man  an  der  Darstellung  dieser  Sache  bei  Lukas  rtihatf, 
kann  ich  nicht  entdecken.    Abgesehen  davon ,  was  die  be- 
zeichneten Kritiker  selbst  unwahrscheinlich  finden,  dafs  As 
Jünger  Jesu  bis  cur  loteten  Reise,   in   welche  Lukas  die 
Scene  versetzt,  ohne  Anweisung  su   beten  gewesen  sala 
sollten:  will  überhaupt  schon  das,   dafs  Jesus   mit  einer 
solchen  gewartet   haben   soll,    bis  die  Jünger  ihn   darum 
ersuchten,  und  dafs  er  dann  auf  ihr  Begehren  sich  sogleich 
in  ein  Gebet   geworfen  haben   seil,    nicht  recht  natürlich 
scheinen;   gewifs  vielmehr  hat  or  von  Anfang  an    oft  in 
ihrem  Kreise  gebetet :   dann  aber  war  ihre  Bitte  überflüs- 
sig,   und  er  mufste  sie,  wenn  sie  doch   baten,  wie  Job. 
14 ,   9.    auf  das  verweisen ,   was  sie  in  seinem  Umgange 
längst  haben   sehen   und  hören  können.    Die  Darstellung 
bei  Lukas  scheint  nach  blofser  Vermuthung   gemacht ,    in- 
dem man  zwar  wufste,  dafs  jenes  Gebet  von  Jesu  herrühr- 
te, auf  die  weitere  Frage  aber,  was  ihn   zur  Mittheiiung 
desselben  bewogen  habe,  sich  selbst  die  Antwort  ertheilte: 
ohne  Zweifel  werden  sie  ihn  am  ein  Mustergebet  ersucht 


24)  So  noch  Hess,  Gesch.  Jesu,  2,  S.  48  f. 

25)  ScHLiiiRMtciiBR,  a.  a    O.  S.  173;  Olshausek,  1,  S.  232;  Sias- 

fsrt,  S.  7ä  ff. ;  Niuadsa,  S.  235  f.  Amn. 


Sechstes  Kapitel.    &.  75.  649 

haben.  Ohne  daher  behaupten  sn  wollen,  daff  Matthäus 
uns  die  Verbindung  aufbewahrt  habe,  in  welcher  dieses 
Gebet  ursprünglich  von  Jesn  gesprochen  ist,  zweifeln  wir 
doch  ebensosehr,  ob  wir  diese  bei  Lukas  au  lesen  bekom- 
men 26).  Was  das  Einselne  dieses  Gebets  betrifft,  so  ia$ 
es  »war  nicht  zu  läugnen,  was  Wktstein  sagt:  toia  kaec 
oratio  ex  formdis  Hebraeorum  concinmta  est  2T)t  aber 
eben  so  richtig  bleibt,  was  Fritzscbe  erinnert,  dafs  so 
allgemeine  W  ansehe  gar  wohl  von  Verschiedenen  auf  unr 
abhängige  Weise  im  Gebete,  und  «war  selbst  mit  ähnli- 
ehen Worten,  ausgesprochen  werden  konnten  **);  woau 
noch  diefs  kommt,  dafs  ihre  Auswahl  und  Zusammenstel- 
lung hier  durchaus  eigentbfimlich  und  ein  genauer  Abdruck 
desjenigen  religiösen  fiewufstseins  ist,  welches  Jesus  hatte 
und  den  Seinigen  mittheilen  wollte  S9).  Das  nach  dem 
Schlüsse  des  Gebetes  angehängte  Corollarium  nur  dritt- 
letzten Bitte  steht  hier  nach  der  Unterbrechung  durch  die 
späteren  Bitten  um  so  weniger  gut,  als  es  auch  am  Fol* 
genden  keinen  Halt  hat ,  wo  V.  16  18.  dem  früheren  Ge- 
dankengange gemäfs  gegen  das  Heuchlerische  des  pharisäi- 
schen Fastens  gesprochen  wird;  doch  hat  Markus  11,  25. 
diesen  Ausspruch,  sammt  der  Anweisung,  beim  Gebete 
seinen  Feinden  zu  vergeben,  an  die  vorangegangenen  Re- 
den von  der  Kraft  des  glaubensvollen  Gebetes  noch  übler 
angehängt  80). 

Von  6,  19.  an  sollten  alle  Ausleger  mit  Paulus  beken- 
nen, dafs  ihnen  der  Faden  des  engeren  Zusammenhangs 
abreifse:  nur  dals  man  dann  nicht  mit  ebendemselben  be- 


26)  Vergl.  de  Wrrre,  exeg.  Handb.,  1,  1,  S.  69-    1,  2,  S.  65. 

27)  N.  T.  1,  323.    Man  sehe   die  Parallelen  bei  ihm  und  Liwrr- 
voot. 

28)  Comm.  io  Matth.  p.  265. 

29)  Vgl.  db  Warn,  1,  1,  S.  69 ff.;  Nsakm*,  S.  257  & 

30)  Vgl.  os  Witts,  1,  2,  S.  176. 


650  Zweiter  Abschnitt. 

haupten  kann,  unerachtet  des  mangelnden  Zusammenhangs 
habe  doch  Jesus  selbst  anch  alle  die  folgenden  Gnomes 
noch  susammen  gesprochen;  sondern  hier  hat  die  neven 
Kritik  Alles  für  sich,  wenn  sie  vermuthet,  es  seien  hier 
cum  Theil  anch  verechiedenaeitige  Ausspräche  Jean  es> 
sammengestellt.  Voran  steht  die  Gnome  von  irdischen  uui 
himmlischen  d-ifiacQOiQ  (V.  19 — 21.) »  welche  Lokaa  IS, 
$3  £  in  einer  seine  Anhänger  Vbn  irdischen  Sorgen  abmah- 
nenden Rede  Jesu  wahrscheinlich  im  richtigeren  Zass» 
menhange  hat  Anders  bei  der  nun  (^  22  f.)  folgendes 
Sentenz  vom  Auge  als  des  Leibes  Lieht,  welche  bei  La- 
kas  11 ,  34  f *  der  schon  erwähnten  Gnome  von  dem  aaf 
den  Leuchter  zu  stellenden  Lichte  angehfingt  ist.  Da  näs* 
lieh  der  lv%i'og  auf  dem  Leuchter  etwas  gans  Anderes  be- 
zeichnet, als  die  Vergleiche  ng  des  Augs  mit  einem  Xiyro; 
besagen  will:  se  bUibt  für  die  Verbindung  der  Sfitze  bei 
Lukas  nur  das  leere  Wort  Xvyvog  übrig ;  ein  lexikalischer 
Zusammenhang,  welcher  schlimmer  als  gar  keiner  ist 
Folgt  sodann  (V.  24),  wieder  ohne  nachweisbaren  Zusanr 
menhang,  die  Gnome  von  den  zwei  Herren;  bei  Lukas 
16,  13.  in  der  schon  erwähnten  Fuge  zwischen  den  Para- 
beln vom  Haushalter  und  vom  reichen  Mann,  an  das  Vor« 
hergehende  wahrscheinlich  blofs  ad  vocem  gnafwn'u^  ange» 
schlössen.  Nun  kommt  bei  Matthäus  V.  25  34.  eine  Ab- 
mahnung von  irdischen  Sorgen  durch  Hinweisung  aaf  das 
harmlose  Gedeiht  a  von  Naturgegenständen;  von  Lukas 
12,  22  ff.  passend  an  eine  ihm  eigentümliche  Parabel  v«a 
dem  Manne  angehängt,  welchen  mitten  unter  dem  Anhäu- 
fen irdisoher  Schätze  der  Tod  abfordert  ")•  Die  folgende 
Warnung,  nicht  für  die  eigenen  Fehler  blind,  gegen  die 
der  Andern  scharfsichtig  und  hart  zu  sein  (7,  1—5),  läßt 


31)  Von  6,  19  —  Ende  des  Kapitels  vermistt  auch  Nbaädkä  den 
Zusammenhang  und  vermuthet  eine  vom  Redacteur  des  grie- 
chischen Matthäus  gemachte  Zusammeustellung  (S.  169«  An».). 


«US 


Sechstes  Kapitel.    $•  75.  651 

sieh  ,  naeh  Auswertung  des  Abschnittes  6,  19  —  Ende,  mit 
«ler  vorausgegangenen  Warnung  vor  pharisfiischer  Sehein- 
heiligkeit (6,16  —  180   in   Zusammenhang   bringen,    und 
könnte  insofern  com  ursprünglichen  Körper  der  Rede  ge- 
hört haben  32) ;  wie  sie  denn  auch  Lukas  wieder  in  seiner 
Bergrede  (V.  37 f.  41  f.)  hat,   wo  sie  sich  zwar  zufällig 
besser  an  die  vorangegangene  Ermahnang  zur  Barmher* 
ssigkeit  anschliefst,   aber  V«  39.  40«   and  rem  Theil  aoch 
38.  darch  fremdartige  Dinge  auf  das  Gewaltsamste  unter- 
brochen ist.    Gans  unpassend   hat  die  darin  vorkommende 
Phrasis   vom   Messen  Markos  4,  24.   eingefügt,    in   einer 
Stelle,  welche  ganz  den  mehrbesprochenen  Fogen  bei  La- 
kas  gleicht«    Ist  sofort  V.  6.  bei  Matthfius  gleichsehr  ohne 
Zusammenhang  wie  ohne  Parallele:   so  findet  sich  die  fol- 
gende Ausführung  Ober  den  Nutzen  des  Gebets  (V.  7 — 11.) 
hei  Lukas  11,  9«  sehr  passend  an  eine  ihm  gleichfalls  ei- 
genthtimliche  Gleichnifsrede  von  dem  aus  dem  Schlafe  ge- 
pochten Freunde  angeschlossen^  wogegen  das  bei  Matthäus 
sosammeohanglose:    was   ihr   wollt,    dafs  eneh  die  Leute 
thun  sollen  o.  s.  f.,  in  der  Bergrede  des  Lukas  6,  31.  nur 
einen    ungefähren    Zusammenhang     hat  w).       Was   sofort 
(V.  13 f)  von  der  cwrj  TtvXrj  u.  s.  w.  gesagt  wird,  leitet 
Lukas  (13,  23.)  durch  die   an  Jesum  gestellte  Frage:   ei 
oXiyoi  ol  <Ta)£6fisvoi ;  ein,  welche  leicht,  wie  jene  Bitte  um 
eine  Gebetsformel,   von   einem  Solchen   gemacht  scheinen 
könnte,   der   zwar   wohl   wufste ,   dals  Jesus  jenen  Aus- 
spruch gethan  hatte,  aber  um  eine  Veranlassung  desselben 
verlegen  war ;    auch  ist  das  Bild  bei  Lukas  weit  mangel- 
hafter als  bei  Matthäus  ausgeffihrt,  und  mit  parabolischen 
dementen  verschmolzen  **).    Die   Rede  von   dem  Erken- 
nen des  Baumes  an  seinen  Früchten  (V.  16 — 20«),  welche 


52)  Niakdsr,  a.  a.  0. ;  de  Witt*,  z.  d.  St. 

53)  di  Wkttk,  1,  2,  S.  45. 

34)  i.  de  'Witts,  z.  d.  St.  des  Lukas. 


MZM 


65*  Zweiter  Abschnitt. 

bei  Lukas  (6,  43  ff.)  und  auch  bei  Matthäus  aelbet  weit« 
unten  (12,  33  ff.)  in  allgemeiner  Beziehung,  in  der  Berg- 
rede des  Matthäus  aber  in  jpeelellem  Besag  auf  Paende» 
propheten  vorkommt ,  steht  bei  Lukas  am  allerwenigst» 
in  schicklichem  Zusammenhange,  Die  folgende  Erklärung 
Jesu  gegen  diejenigen,  welche  blofs  Kvqie,  KvQie,  su  ihn 
sagen,  am  Tage  des  Gerichts  aber,  ihrer  schlechten  The- 
ten  wegen,  von  ihm  werden  abgewiesen  werden  (V.  SU  — 
23.)>  steht  sowohl  mit  dem  allgemeinen  Sinne  des  vorher- 
gehenden Ausspruchs  über  das  Erkennen  des  Baumes  ai 
seinen  Früohten ,  als  mit  dem  Grundgedanken  der  ganzes 
Bergrede:  der  Hervorhebung  des  Geistes  gegenüber  von 
Worte,  des  Inneren  gegenüber  vom  Aeufseren,  im  Zusam- 
menhang ;  kann  aber  ebensowohl  aooh  an  der  Stelle  ge- 
sprochen seio,  welche  Lukas  derselben  anweist  (13,  25ft> 
Der  Schlote  der  Rede,  wie  schon  erwähnt,  ist  beide* 
Evangelisten  gemeinschaftlich. 

Ans  der  bisher  angestellten  Vergleichong  sehen  wir 
bereits,  dafs  die  körnigen  Reden  Jesu  durch  die  Fleth 
der  mündlichen  Ceberlieferung  zwar  nicht  anfgelöet  wer- 
den konnten ;  wohl  aber  nicht  selten  aus  ihrem  natürlichen 
Zusammenbange  losgerissen,  von  ihrem  ursprünglichen  La- 
ger weggeschwemmt,  und  als  Gerolle  an  Orten  abgesetzt 
worden  sind,  wohin  sie  eigentlich  nicht  gehörten.  Cnd 
dabei  finden  wir  «wischen  den  drei  ersten  Evangelisten 
den  Unterschied,  dafs  Matthäus,  einem  geschickten  Si 
ler  ähnlich,  den  Stücken  zwar  bei  Weitem  nicht  imi 
den  ursprünglichen  Zusammenhang  wiederangeben 
mocht ,  doch  aber  meistens  das  Verwandte  sinnig  so« 
menzureihen  gewußt  hat;  während  bei  den  beiden  andern 
manche  kleine  Stücke  da,  wo  gerade  der  Zufall  sie  abge- 
setzt hatte,  namentlich  in  Spalten  zwischen  gröfseren  Re- 
demassen, liegen  geblieben  sind,  wobei  dann  insbesondere 
Lukas  in  einigen  Fällen  sieh  bemüht  hat,  sie  künstlich  m 


Sechstes  Kapitel    $.  ?G.  653 

issen,  was  aber  den  natürlichen  Zusammenhang  nicht  er- 
»tzen  konnte. 

$.    76. 

Instruction   der  Zwölfe.     Klage  über  die  galiläischen  Städte. 
Freude  über  die  Berufung  der  Einfältigen. 

Bei  Gelegenheit  der  Anwendung  der  Zwölfe  stellt 
A8  erste  Evangelium  (K.  10.)  wieder  eine  gröfsere  Rede 
usammen,  welche,  soweit  sie  ihm  nicht  eigentümlich  ist, 
ie  beiden  andern  Synoptiker  nur  cum  kleineren  Theile 
ei  eben  diesem  Anlafs  gesprochen  sein  lassen ;  die  meisten 
testandtheile  derselben  rückt  Lukas  theils  bei  Gelegenheit 
ler  Aussendnng  der  Siebenzig  (10,  2 ff.),  theils  bei  einem 
päteren  Gespräche  mit  den  Jüngern  (12,  2 ff.),  ein;  Efli- 
hes  findet  sich  auch  sowohl  bei  Matthäus  als  bei  den 
ihrigen  in  den  Reden  Jesu  über  seine  Parnsie  wieder. 

Wie  anch  hier  die  ältere  Harmonistik  unbedenklich 
ine  Wiederholung  derselben  Reden  annahm  \  ;  so  will 
lie  neuere  Kritik  nur  bei  Lukas  die  ursprünglichen  An- 
ässe  und  Verbindungen,  bei  Matthäus  eine  blofse  Znsam* 
Denstellung  des  Referenten  finden  *)  ;  auch  die  Differenz 
Lehrt  wieder,  dafs  die  apologetisch  gesinnten  Ausleger  be- 
haupten, Matthäus  habe  das  Be wulstsein  gehabt,  hier  zu 
erschiedenen  Zeiten  Gesprochenes  zusammenzustellen ,  ja 
r  habe  sogar  vorausgesetzt,  dals  diefs  auch  seinen  Lesern 
n  die  Augen  fallen  würde5):  wogegen  andere  mit  Recht 
mf  die  Art  hinweisen,  wie  die  Rede  V.  5.  durch  die 
Worte :  t&iag  zig  diodexa  dnigeikev  6  jf.  nccQayysllag  avvoig 
angeführt,  und  11,  1.  durch  xal  tyiveco  oze  trihoev  o  £ 
\uaaaaixiv  zeig  dvidexa  x.  %.  L  abgeschlossen  ist,    woraus 


1)  c.  B.  Miss,  Gesch.  Jesu,  1,  S.  545. 

2)  Schulz,  a.  a.  O.  S.  308.  314;  Siiff*rt,  S.  80  ff. 

3)  Olsuaüsbn,   z.  d.  St.     Die  letztere    kecke  Behauptung    bei 
Hin*,  über  den  Ursprung  des  Evang.  Matth.,  S.  63. 


654  Zweiter  Abschnitt. 

nur  Genfige  die  Meinung  des  Evangelisten,  hier  einen 
sammenhängenden  Vortrag  eu  geben,  erbelle  *)• 

Eigentümlich  ist  in  dieser  Rede  dem  Matthäus 
ben  Anderem,  was  mehr  nur  als  Erweiterung  von 
ken  erscheint,  die  aoch  in  den  entsprechenden  Stellen  der 
beiden  andern  Synoptiker  angelegt  sind,  der  Eingang  dar 
Instruction,  der  die  Wirksamkeit  der  Ausgesendeten  aaf 
Juden  beschränkt  (V*  5.  6.) ,  und  ihnen  den  Auftrag  er* 
theilt  —  neben  Verkündigung  des  Messiasreicbs  and  Bö» 
lung  der  Kranken,  wovon  ebenso  Lukas  (9,  2.)  spricht,— 
(natürlich  auf  eben  dieser  nächsten  Reise,  sonst  mtifste  jt 
auch  das  Verbot  V.  5«  6.  in  weiterem  Umfange  genomnea 
werden)  aueh  Todte  eu  erwecken:  ein  befremdender  Aaf 
trag,  da  von  den  Aposteln  vor  Jesu  Hingang  keine  Todtss» 
erweekung  bekannt  ist,  und  solche,  ohne  dafs  sie  ans  er« 
Eählt  sind,  dennoch  mit  Olshausrn  vorausEusetuen,  Wenig« 
Lust  haben  werden»  Erst  die  Apostelgeschichte  weifs  ?os 
den  Todtenerweckungen  eines  Petrus  und  Paulus :  was  die 
Jünger  nach  ihrem  Ausgang  in  alle  Welt'thaten,  daci 
liefs  sie  die  Sage  schon  bei  ihrer  ersten  Aussendung  dareh 
Jesnm  bevollmächtigt  werden. 

Gemeinschaftlich  sind  den  Synoptikern  bei  der  Aus* 
sendung  der  Zwölfe  eigentlich  nur  die  Regeln  fllr  das 
fiufsere  Verbalten  der  Ausgesendeten :  auf  welche  Weite 
sie  reisen,  und  wie  sie  sich  in  verschiedenen  Füllen  be- 
nehmen sollten  (Mattb.  V.  9  -  11.  14.  Marc  6,  S— 11. 
Luc.  9,  3  —  5  );  wobei  die  Abweichung,  dafs  Jesus  nach 
Matthäus  und  Lukas  den  Jüngern  aufser  Geld,  Ranaea 
u.  dgl.  auch  vjiodrjuvcva  und  fydßdov  mitzunehmen  verbietst, 
nach  Markus  dagegen  ihnen  nur  untersagt,  etwas  Weite* 
res  mit  sich  eu  führen,  u  /lijJ  (idßdov  ftorw  und  oavduha, 
am  einfachsten  durch  das  Geständnifs  eu  lösen  ist,  dafs, 
wo  die  Sage  nur  diefs  festhielt,  dafs  Jesus,  mit  aosdrüek- 


4)  Schulz,  S.  515. 


Sechsteg  Kapitel.    §.  76.  655 

Hoher  Nennung  des  Stab«  und  der  Schuhe,  die  Einfach- 
heit der  apostolischen  Ausrüstung  bezeichnet  hatte,  diefs 
leicht  der  Eine  so  verstehen  konnte,  als  hätte  Jeans  alles 
fteisegeräthe  bis  auf  jene  Stücke :  der  Andre,  als  hätte  er 
«neb  diese  untersagt. 

Bei  Aassendung  der  Siebenztg  ist   es,    dafs  Lukas 
CIO,  2  )  Jesu»  die  Worte  gebrauchen  läfst,   welche   Mat- 
thäus  schon  9,  37  fl   als  das  Motiv  Jesu   cur  Aussendung 
der  Zwölfe  enthaltend,  wiedergibt,  die  Gnome:    o  fj&v  #£- 
tMauo;  Tiokvs  x.  r.  iL;  ferner  den  Ausspruch,  dafs  der  Ar- 
beiter seines  Lohnes  werth  sei  (V.  7.  vgl.  Matth.  10, 100; 
ebenso  die  Rede  vom  apostolischen  Grafs  und  dessen  Wir- 
kung (Matth,  V.  l%t    Lue.  V.  5 f.);    die  Drohung  gegen 
die  Unempfänglichen   (Matth.  V.  15.     Luc.  V.  12.);    end- 
lieh das  aTtogiUxü  vfjäg  eis  iiQoßaxa  x.  z.  L  (Matth,  V,  16* 
Luc.  V.  3 ).    Der  Zusammenbang  dieser  Sätze  ist  beide- 
■aale  ziemlich  gleich  natürlich ;  die  Vollständigkeit  bald  auf 
der  einen,    bald  auf  der   andern  Seite  gröfser:    doch  so, 
dafs  bei  Matthäus  Wesentlicheres,  wie  V.  16. ,  bei  Lukas 
mehr  Aeufserliches  hinzugefügt  ist,  wie  V.  7.  nnd  8.,  und 
V.  4,  dessen  seltsames  Verbot,  Jemanden  aaf  dem  Wege 
za  grüfsen,  als  unhistorische  Uebertreibuog  der  Dringlich- 
keit ihres  Geschäfts,  oder  als  Nachbildung  von  2.  Köo.  4, 29. 
erscheinen  könnte,  wenn  man  nicht  wfifstej  dafs  die  damali- 
gen jüdischen  Begrflfsungen   nicht  wenig  umständlich  wa- 
ren 6>     Wenn  von  diesen  Vorschriften,  welche  Jesus  nach 
Matthäus    den  Zwölfen,   nach  Lukas  den  Siebeigen  gibt, 
Sieffert  bemerkt,   dafs  sie  an  sich  ebensogut  bei  dem  ei- 
nen  als  bei  dem  andern  Anlafs  ertheilt  sein  können :   so 
möchte  ich  schon  diefs  aus  dem  Grunde  bezweifeln,    weil 
es  mir  unwahrscheinlich  vorkommt,  dafs  Jesus  nach  Lukas 
die  vertrauteren  Jünger  nur  mit  dürftigen  Regeln  für  ihr 
Ouierliohes  Verhalten  entlassen,  den  Siebzigen  aber  meb- 


5)  «.  db  Wsrrs,  ArchaoU,  §.  265,  and  z.  d.  St. 


tiS6  Zweiter  Abschnitt. 

rare*  weit  Wesentlichere  and  Herzlichere  zugerufen  ha- 
ben sollte  6).  Wenn  sich  aber  jener  Kritiker  Knietet  far 
die  Stellung  des  Lukas  entscheidet ,  weil  seine  ErsXhluar 
vermöge  der  Unterscheidung  der  Siebensig  von  den  Zwöl- 
fen die  bestimmtere  sei:  so  ist  dieser  Punkt  oben  «■ 
Vortheil  vielmehr  des  Mattbtfus  erledigt  worden.  —  Auch 
der  am  Scblufs  der  Instructionsrede  bei  Matthäus  über 
denjenigen  ausgesprochene  Segen,  der  einem  seiner  Anhin- 
ger nur  ein  nmlßiov  \}jv%qS  reiche  (V.  44.),  l*t  hier  we- 
nigstens schicklicher  eingefügt,  als  in  der  endlosen  Wirr- 
nifs  des  letsten  Stücks  von  Marc.  9.  (V.  41.),  wo  das 
verknöpfende  Band  am  Ende  nur  noch  das  aar  und  og  ar 
su  bilden  scheint ,  womit  die  zusammenhanglosen  Sites 
beginnen. 

Anders  stellt  sich  die  Sache ,  wenn  wir  diejenige« 
Theile  der  Instructionsrede  betrachten,  welche  bei  Lakai 
Kap.  12.  und  spiter  stehen,  nnd  auch  bei  Matthias  als 
«weiter  Tbeil  derselben  sich  aussondern.  Ausspruche  nist- 
lieh,  wie  Matth.  10,  19  f.  Luc.  12,  11.,  wo  den  Jüngern 
gesagt  ist ,  was  sie  thnn  sollen ,  wenn  sie  vor  Gericht  ge- 
sogen werden ;  wie  Matth.  V.  28.  Luc.  V.  4  f. ,  dafs  sie 
diejenigen  nicht  fürchten  sollen,  die  nur  den  Leib  tödtea 
können ;  wie  Matth.  V.  32  f.  Luc.  V.  8  f.  die  Warnung 
vor  Verliugnung  Jesu;  auch  die  Rede  von  der  durch  tha 
su  stiftenden  allgemeinen  Entsweiung  (Matth.  V.  34  ff. 
Luc.  51  ff,  woran  Matthäus,  wie  es  scheint,  aus  Veranlas- 
sung der  biebei  aufgesihlten  Familienglieder,  den  Aas- 
spruch Jesu  knöpft,  dafs  man  an  diesen  nicht  stirher  ab 
an  ihm  hingen  dürfe,  sein  Kreus  auf  sich  nehmen  naftase 
u.  s.  f. ,  was  er  sum  Theil  unten ,  16,  24  f.  in  schickliche* 
rem  Zusammenhange  wiederholt) ;  ferner  Ausspräche, 
welche  in  den  Reden  von  der  Parosie  wiederkehren,  wie 
von  allgemeiner  Verfolgung  der  Jünger  Jesu  (V.  17  f.  23. 


6)  Vgl.  db  Warn,  exeg.  Htndb.,  i,  1,  S.  99* 


Seefestes  Kapitel.    $.76.  65T 

▼gl.  24,  9.  13.);  das  von  Lukas  in  der  Bergrede  (6y  4#.) 
eeageeehobene,  ond  aueh  bei  Johannes  (15,  20.)  Torkons» 
mende  Wort,  dals  der  «länger  kein  besseres  Loos  als  der 
Bleiater  aaauspreehen  habe  (V.  24  f.);  endlieh  die  der  Rede 
bei  Matthias  eigentbflmliche  Anweisung,  von  einer- Stadt 
in  die  andere  an  fliehen,  sammt  dem  dazugefflgten  Tröste 
C  V.  23) :  dergleichen  Aussprüche,  haben  die  Kritiker  weh* 
seit  Aeehf  erklärt  *) ,  paaaen  nieht  gut  eu  dieser  ersten* 
Aassendang  der  Zwölfe,  welche,  wie  die  angebticke  de* 
Sieben  tig,  nnr  erfrealiehe  Resultate  lieferte  (Lac.  •,  10« 
1«3,  17.);  sie  setsen  vielmehr  die  getrfibteren  Verhältnisse 
voraus,  wie  sie  nach  Jesu  Tode  ond  vielleicht  aneh  aeJum 
in  der  lotsten  Zeit  seines  Lebens  sich  gestalteten.  Dem* 
nach  bitte  Lnkas  das  Richtigere,  indem  er  diese  Reden  in- 
die  letate  Reise  Jesu  rersetet  *) :  wenn  nicht  gar  dergleW 
eben  Sebildernngen  des  späteren  Schicksals  der  Apostel, 
nnd  übrigen  Anhinger  Jean  erst  nach  dessen  Tade  e* 
event*  gemacht  f  nnd  ihm  als  Weissagungen  in  den  Mnnd 
gelegt  worden  sind;  eine  Vermnthnng,  welche  wenigstens 
im  Beeng  aaf  den  Ausspruch  V.  38:  og  «  Xa^ßvnfBi  ro* 
gcwQor  ccvts  xal  dxoXö&el  omaia  pu  x.  t.  L,   sehr  nahe 

Hegt9). 

Die  nächste  längere  Rade  Jesu  bei  Matthäus  Ist  die, 
so  weit  sie  sich  auf  den  Täufer  besog,  bereits  betrachtete, 
Kap.  11.  Von  der  V.  20  -  24.  folgenden  Klage  und  Dro- 
hung gegen  die   galiläisohen  Städte,    &  ah  eybono  al 


9 

7)  Schttli,  S.  308;  Sumar,  S.  83  ff. 

8)  Den  durchaus  befriedigenden  Zusammenhang  Übrigens,  wel- 
chen die  neuere  Kritik  in  dem  12ten  Kapitel  de«  Lukas  findet, 
kann  ich  ebensowenig  entdecken,  al«  Teolück,  Auslegung  der 
Bergpredigt,  S.  13  f.,  welcher  hier  zugleich  die  Parteilichkeit 
Schlsibrmachsr's  für  den  Lukas  und  gegen  den  Matthäus  tref- 
fend gezeichnet  hat. 

9)  s.  di  Witts  s.  d.  St. 

Das  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  L  Band.  42 


«8  Zweiter  Abschnitt.  x 

otogen  dvmfieiQ  cn/re,  nnd  welche  doch  a  t&tennj&B, 
möchten  die  neuesten  Kritiker  vielleicht  mit  Recht  behaup- 
ten, dafs  sie  mitten  in  die  galiläisdie  Wirksamkeit  hinein, 
wehin  Matthäus  aie  stellt,  weniger  passe ,  als  in  die  Zeit, 
{»welche  sie  Lukas  (10,  13  ff.)  versetzt,  da  Jeans  Galiläa 

i 

verlassen,  und  sich  isn  leisten  Versuche  nach  Jndäa  und 
Jerusalem  auf  den  Weg  gemacht  hatte  10).  Anders  dage- 
gen verhält»  es  sich  mit  dem  näheren  Zusammenhange  die* 
an#  Aussprüche.  Während  nämlich  bei  Matthäus  an  der 
vorangegangenen  Zusammenstellung  der  gleich  schlechtes 
Aufnahme,  welche  Jesus  wie  Johannes  gefunden,  die» 
Klage  über  die  HäuptsebauplStse  der  Wirksamkeit  dm 
finsteren  trefflich  pafstt  ist  schwer  su  begreifen,  wie  Je- 
ans nach  Lukas  den  auszusendenden  Slebsigen  'gegenüber, 
welche  gana  der  Zukunft  angekebrt  sein  mufsten,  vea 
seiner  eigenen  trüben  Vergangenheit  reden  mochte,  ohne 
doch  das  den  galiläischen  Städten  angedrohte  Strafgericht 
mit  demjenigen  in  Verbindung  an  bringen,  welches  er 
eben  vorher  über  die  Stadt  ausgesprochen  hatte,  die  seine 
Abgesandten  nicht  aufnehmen  würde»  Vielmehr  nur*  den 
Referenten  erinnert  diese  von  Jesu  überlieferte  Verglei- 
chnng  einer  gegen  seine  Jünger  widerspenstigen  Stadt  mit 
Sodom  an  die  ähnliche  der  gegen  ihn  selbst  unfolgsamen 
Orte  mit  Tyrus  und  Sidon ,  ohne  dafs  ihm  die  Unsosas*» 
mengehdrigkelt  beider  eum  Bewufstsein  käme lf)- 

Die  V.  25  —  27.  folgende  ayaXXiaaig  über  die  den 
vrjnloig  verliehene  Einsicht  knüpft  Matthäus  nur  unbe- 
stimmt an  die  vorhergegangene  Verwünschung  an;  da  eis 
jedoch  einen  durch  erfreuliche  Anlässe  geänderten  Ge- 
müthseustand  Jesu  voraussetzt:  so  würde  es  alle  Wahr* 
scheinlichkeit  haben,  dafs  Lukas  (10,  17.  21  ff.)  die  ROck- 


10)  ScRLUBRMAcmui,  über  den  Lukas,  S.  169  f. ;  Schb*ckb*bu»m», 
Über  den  Ursprung  u.  «.  f.,  S.  32  f. 

11)  Vgl.  ns  WrrrMvexeg.  Handb.,  j,  1,  S.  HO.    1,  2,  S.  62. 


8eehstes  Kapitel«    &  77. 

kehr  der  Siebensig  mit  erfreulichen  Nachrichten  ab  An- 
lafs  jener  Rede  heraushebt ;  wenn  nur  die  Auswahl  and 
nlso  auch  die  Rückkehr  der  70  Jünger  nicht  so  problema- 
tisch würe;  atatt  deren  übrigens  die  der  Zwölfe  hieherge- 
eegen  werden  könnte.  Die  an  dieses  Frohlocken  bei  Mat- 
chfas  sieh  sehliefsende  Einladung  an  die  xmutmeg  xal 
9t&f0$uö[iivöi  (V.  38 — 30.)  fehlt  bei  Lukas,  welcher  statt 
dessen  Jesum  xonr'  tdlav  eu  den  Jüngern  sieh  wenden,  Und 
sie  glücklich  preisen  lifst,  dafs  sie  sehen  and  boren  dür- 
fen, wonach  viele  Propheten  nnd  Könige  vergeblich  sich 
gesehnt  bitten  (V.  2Sf.);  was  nu  dem  Vorangegangenen 
wenigstens  nicht  so  speeifisoh,  wie  das  bei  Matthäus  damit 
Verbundene,  pafst,  auch  bei  diesem  13, 16  f.  in  einer  Ver- 
bindung steht,  weiche  mit  der  bei  Lukas  sich  Jedenfalls 


5.    TT. 
Die  Parabeln. 

Wenn  Matthäus  Kap.  13.  Jesum  sieben 
•Immtlich  die  ßaodela  rwv  SQccywy  betreffend,  vortragen 
lifst:  so  ist  die  neuere  Kritik  bedenklich  geworden,  ob 
wirklich  Jesus  so  viele  Gleichnisse  in  Einem  Zuge  gespro- 
chen haben  möge1)?  Die  Parabel,  bat  man  erinnert,  sei 
eine  Aufgabe,  welche  durch  eigenes  Nachdenken  gelöst  en 
werden  verlange;  defswegen  nach  jeder  ein  Ruhepnnkt 
nftthig,  wenn  man  durch  dieselben ffcvahrbaft  belehren,  und 
nicht  vielmehr  durch  den  Wech'l  unverstandener  Bilder 
Berstreuen  wolle  ')•  Wird  man  diefs  jedenfalls  mit  Nean- 
dir  soweit  einrlnmen  müssen,  dafs  nur  Parabeln  über 
denselben  oder  genan  verwandte  Gegenstände  hintereinan- 
der gesprochen  werden  dürfen,  um  eben  unter  manchfal- 
Cigen  Formen  nnd  von  verschiedenen  Punkten  aus  auf  das 


1)  Schulz,  über  das  Abendmahl,  S.  314. 

2)  Olskausbh,  bibi.  Comm.,  1,  S.  430. 

42 


660  Zweiter  Abschnitt. 

Eine  hf umleiten  •):  so  lassen  «loh  unter  den  sieben  fct 
Rede  stehenden  Gleichnissen  «war  die  Ten  Senfkorn  uns1 
Sauerteig  auf  den  gemeinsamen,  jedoch  verschieden  sehet- 
tirten,  Grandgedanken  von  dem  allmthligen  Wachsen  und 
Durchdringen  des  Reiches  Gottes ;  die  vom  Netze  nnd  voe 
Unkraut  auf  den  der  Mischung  des  Guten  mit  dem  Beeea 
im  Reiche  Gottes;  die  vom  Schatze  und  der  Perle  auf  dea 
«des  unschätzbaren  und  alle  Opfer  lohnenden  Werths  des 
Gottesreicbes  zurückführen:  womit  aber,  den  tiedankea 
von  der  verschiedenen  fimpfänglicbkeit  der  Mensehen  fiir 
die  Predigt  vom  Reiche  Gottes,  im  Gleichnifs  vom  Sie» 
mann,  dazugerechnet,  vier  verschiedene  Grondgedanftfli 
für  die  zusammengestellten  Parabeln  bleiben;  Gedanken, 
die  zwar  in  ihrer  gemeinsamen  Beziehung  auf  die  ßaoihk 
rcJv  BQccmv  zusammenhängen,  von  dieser  aber  so  weseafr 
lieh  verschiedene  Seiten  zur  Anschauung  bringen,  dafr 
■um  Behuf  des  gründlichen  Verständnisses  unertHsIick 
war,  bei  Jedem  insbesondere  zu  verweilen.  Gewifs  wurde 
daher,  hat  man  geschlossen,  Jesus  das  Lob  der  Lehrweis- 
heit nicht  verdienen,  wenn  er  fene  GleichnUsreden  alle,  so 
wie  Matthäus  es  darstellt,  in  Einem  Zuge  gesprochen 
hätte  ')•  Sah  nian  hienach  auch  in  diesem  Abschnitt 
Zusammenstellung  gleichartiger,  aber  zu  verschied* 
Zeiten  gesprochener  Reden:  so  erhob  eich  sofort  auch 
hier  der  Streit,  ob  sie  Matthäus  mit  Bewufstsein  von  die- 
sem letzteren  Umstand  4»  ader  in  der  Meinung,  zusammen- 
hängend Vorgetragenes  aufgeben,  veranstaltet  habe  ?  wovon 
das  Letztere  aus  der  Anfangsformel  (V.  3.):  xai  iXafopo 
avsoiQ  natäa  iv  noQaßokalg,  und  dem  Schlüsse  (V.  53. ): 
oV«  hileoev  6  jT.  rag  naQaßokdg  vccvvccg,  unwiderspreehliek 
au  erhellen  scheint.  Darauf  wenigstens,  da(s  die  Jünger 
Jesum  nicht  wohl  vor  allem  Volke,  sondern,   wie  auok 


3)  L.  J.  Chr.,  S.  175. 

4)  ScvxscxasBVASB*,  über  den  Ursprung  u.  •.  f.,  S,  33- 


Sechstes  Kapitel.    $.77.  661 

luraos  (4,  10.)  berichte»  als  sie  wieder  xcetafiovag  waren,* 
m  eine  Erklärung  der  ersten  Parabel  werden  angegangen 
*tben,  kann  man  sieh  für  ein  Abbrechen  des  Vortrags 
leich  nach  dieser  nicht  berufen  *),  weil  daraus,  dafs  nach 
er  ersten  Parabel  Matthäus  nicht  wie  Markos  Jesum 
ach  Hanse  gehen,  sondern  auf  dem  Piatee  von  seinen 
ungern  um  Erläuterung  ersacht  werden  Iftfst,  deutlich 
rhellt,  dafs  er  sich  hier  kein  Abbrechen  des  Vortrags  ge- 
lacht hat.  Mit  mehr  Grand  kann  man  sich  auf  die 
fohlufsformel  berufen,  welche  Matthäus  schon  naoh  der 
ierten  Parabel  V.  34  f.  einfügt  ,  indem  er  die  bisherigen 
Gleichnisse  durch  die  Bemerkung:  tcrika  navta  ihxXrpw  6 
.  er  naQaßoXalg  x.  t.  L  zasammenfafst ,  and  sogar  durch 
Anwendung  einer  A.  T.lichen  Weissageng  den  Ruhepunkt 
rollkommen  macht;  sowie  aof  die  Veränderung  der  Oert- 
lehkeit,  die  hier  bei  ihm  eintritt,  indem  V*  36.  Jesus  das 
Volk  entläfst,  and  vom  Ufer  des  galiläischen  Sees,  wo  er 
bisher  gesprochen,  etg  tt}v  olxlccy  kommt,  wo  ihn  die  Jttn-* 
per  um  Erklärung  der  zweiten  Parabel  angehen,  an  web» 
ehe  er  sofort  nooh  drei  weitere  Oleichnisse  knüpft.  AI« 
lein ,  dafs  auf  diese  Weise  der  Vortrag  der  drei  letzten» 
Parabeln  von  dem  der  übrigen  durch  einen  Ortswechsel 
und  somit  auch  durch  einige  Zwischenzeit  getrennt  ist, 
verändert  den  Stand  der  Sache  wenig.  Denn  dafs  Jesus 
vor  dem  so  leicht  zu  überladenden  Volke  auch  nur  vier 
Parabeln,  worunter  zwei  der  bedeutendsten,  in  Einem 
Zage  vorgetragen,  und  dafs  er  hierauf  die  Jünger ,  deren 
Faseungskraft  er  bei  dem  ersten  und  zweiten  Gieichnifs 
hatte  zu  Hülfe  kommen  müssen,  statt  sie  zu  prüfen,  ob  sie 
nun  das  dritte  und  vierte  sich  selbst  auszulegen  im  Stande 
wären,  mit  drei  neuen  Gleichnissen  überschüttet  haben 
sollte:  bleibt  immer4  noch  unwahrscheinlich  genug«  Uebri- 
gens  dürfen  wir  die  Erzählung  des  Matthäus  nur  genauer 


5)  Diese  und  die  folgende  Berufung  bei  Oubaüssti,  S.  4SI. 


068  Zweiter  Abschnitt. 

ansehen ,  am  au  bemerken ,  wie  er  au  der  Onterbreohneg 
V.  34  ff.  nur  unwillkürlich  gekommen  ist*  Hatte  er  in 
Sinn  ,  eine  Masse  von  Parabeln ,  und  für  die  swei  wick- 
tigsten  nnd  daher  voranzustellenden  awel  privatim  dm 
Jüngern  gegebene  Erklärungen,  aütuutheilen:  so  konnte  m 
biebei  auf  dreifache  \Veise  an  Werke  gehen«  Entweder 
lief*  er  nnmittelbar  nachdem  eine  Parabel  vorgetragsa 
war,  noch  im  Angesichte  des  Volkes  Jesum  den  Jüngern 
die  Erklärung  geben ,  wie  er  nach  der  ersten  ttleienahV 
rede  (V.  10  23.)  wirklich  thut.  Allein  diese  Dnretellueg 
bat  das  Unbequeme,  dafs  man  nicht  begreift,  wie  Jetts 
dem  in  gespannter  Erwartung  um  ihn  versammelten  Volks 
gegenüber  au  einer  Privatunterbaltung  der  Art  Malte  be- 
kommen konnte  6).  Diesen  Uebelstand  hat-  Markus  gt» 
fohlt,  und  defshalb  die  zweite  mögliche  Auskunft  ergriffet, 
dafa  er  nämlich  nach  der  ersten  Parabel  Jesum  mit  dm 
Jüngern  nach  Hause  gehen,  und  ihnen  hier  die  Lösueg 
derselben  geben  lälst.  Indefs,  diese  Wendung  war  Ar 
denjenigen  gar  su  hinderlich,  der  mehrere  Gleicbniftredea 
nach  einander  au  geben  gedachte;  denn  war  schon  nach 
der  ersten  Jesus  au  Hause  gebracht:  so  war  der  Schaa- 
plats  verlassen,  auf  welchem  mit  Fug  die  weiteren  vorge- 
tragen werden  konnten.  Defswegen  mag  der  Berichter» 
statter  im  ersten  Evangelium  nach  der  aweiten  Parabel  st 
Beeng  auf  die  Erklärung  weder  seine  erste  Auskunft 
derholen,  noch  die  andere  in  Anwendung  bringen; 
dern,  indem  er  ohne  Unterbrechung  au  awei  weiteren 
Gleichnissen  fortgeht,  scheint  er  sich  eine  dritte  Maüsregei 
voraubehalten :  nämlich,  die  ihm  im  Sinne  liegenden  Pi 
beln  vorher  alle  dem  Volke  vortragen,  und  dann 
wenn  er  nach  Abschlufs  derselben  Jesum  nach  Hanse  ge- 
bracht hätte,  ihn  die  rückständige  Auslegung  der  zweiten 
geben  au  lassen.    Hiedurefa  entstand  in  dem  Wiederenäh- 


6)  Schuhs JuucMsa,  S.  120. 


Sechstes  Kapitel    $.77.  ^6* 

ler  ein  Streit  »wischen  den  Parabeln,  die  ihm    noeh   im 
Sinne  lagen,    und  der   Auslegung,    deren  Rückstand  ihn 
strängte:   sobald  in   seiner   Erinnerung  an  jene  die   min- 
desto  Stockung  eintrat,  mufste  er  mit  dieser,  und  also  mit 
Schlafsformel  nud  Heimkehr,  bei  der  Hand  sein,  nnd  fie- 
len  ihm  hierauf  noch  einige  weitere  Gleichnisse  ein,   so 
mufste  er  sie  eben  nachher  noeh  beisetsen.   So  ist  es  dem 
Matthtas  mit  den  drei  lotsten  Parabeln  begegnet,   die  er 
asan   fast   wider*  Willen  den  J  Angern  allein  mufs  vorgetra- 
gen werden  lassen,  für  welche  doch  nicht  besondere  Para- 
beln ,   sondern  nur  Auslegungen  derselben  gehörten ;    wie 
denn  auch  Markus  (V.  33f.)  offenbar  voraussetzt,  die  wei» 
Deren  Gleichnisse,  die  er  auf  die  Auslegung  des  ersten  fol- 
gen Ififst,  seien  wieder  dem  Volke  vorgetragen  worden  *). 
Markus ,   welcher  nach  4,  1.  dieselbe  Seene  am  See 
malt,   wie  Matthäus,   stellt  nur  drei  Parabeln  eusammen, 
won   weichet*  die  erste  der  ersten,  die  dritte  Oom  Senf- 
korn) der  dritten  bei  Matthäus  entspricht,  die  mittlere 
mber   dem  Markus  eigenthflmlicb   ist,   und  einerseits  der 
vom  Senfkorn  ähnlich,   doch  mit  Unterscheidung  der  ver- 
schiedenen Entwicklungsstufen)  das  Wachstbum  des  Reichs 
Gottes  auf  Erden  versinnbildlicht ;  andererseits  aber  durch 
die  Hinweisung  auf  den  Abschlufs  der  Entwicklung  und 
das  Gericht  unter   dem  Bilde  der  Ernte  mit  dem  Gleioh- 
nisse   vom   Unkraut   im   Acker  bei  Matthäus   Verwandt» 
schaft  hat  *). 

Auch  Lukas  hat  von  den  sieben  Parabeln,  Matth.  IS«, 
blofs  drei:  die  vom  Säemann,  vom  Senfkorn  und  vom 
Sauerteig;  so  dafs  also  dem  Matthäus  die  Gleichnisse  vom 
vergrabenen  Senats,  von  der  Perle  und  vom  Netse,  wie 
auch  die  vom  Unkraut  im  Acker,   eigentümlich   bleiben. 


7)  Fairstes*,  Gomm.  in  Marc.  8.  130.  138.  134. 

8)  Vergl.  Sauwiea,  Über  die  Quellen  de«  Markus,  S.  74}  Fawi- 
icmi  «.  d.  zuletzt  i.  0. ;  »s  Wim  i.  d.  St. 


664  Zweiter  Abschnitt. 

Da*  Gleichnifr  vom  Sffemann  «teilt  Lukae  etwas  früher 
(8,  4  ff.)  9  und  auch  nicht  in  dieselbe  Umgebung  wie  Mat- 
thäus ;  fiberdiefs  getrennt  von  den  zwei  weiteren  Parabeb, 
die  er  noch  mit  der  Sammlung  des  Matthäus  gemein  hat 
Diese  bringt  er  spffter,  13,  IS -21.,  nach;  eine  Stellung, 
welche  die  neueren  Kritiker  einstimmig  als  die  richtige 
anerkennen  *)•  Allein  dieses  Urtheil  gehört  cg  dem  Selt- 
samsten ,  wozu  sieh  die  jetzige  Kritik  durch  ihre  Partei- 
lichkeit für  den  Lukas  hat  verleiten  lassen.  Denn  sehen 
wir  den  so  sehr  gerühmten  Znsammenhang  an,  so  hat  hisr 
Jesus  in  einer  Synagoge  ein  zusammengebficktes  Weib 
geheilt,  hierauf  den  schwierigen  Synagogenvorsteher  «tuen 
das  Argument  vom  Ochsen  und  Esel  zum  Schweigen  ge- 
bracht, und  nun  heilst  es  V.  17. :  xal  rcnka  liyortos  ami 
xccrfiOxirvorzo  rtdwsg  ol  drstxeifievoi  avzqi,  xcu  nag  6  ojiog 
exoti^e?  ini  näai  zöls  ivdo^oig  tolg  ywofjhoig  wi*  avti, 
tiewifs  eine  Schlafsformel,  so  ausführlich  und  entacbiedea, 
wie  irgend  eine,  nach  welcher  unmöglich  noch  die  Bege- 
benheit auf  derselben  Seene  weitergeführt  sein  kann;  son- 
dern ,  wenn  hierauf  durch  ein  eleye  d*  und  naktv  dn&  die 
beiden  Parabeln  angehfingt  werden:  so  sieht  man,  der 
Verfasser  wn&te  die  Gelegenheit  nicht  mehr,  bei  welcher 
sie  Jesus  vorgetragen  hatte;  daher  fügte  er  sie  auf  Gera- 
thewohl  irgendwo  in  dieser  unbestimmten  Weise  ein,  und 
zwar  weit  weniger  geschickt  offenbar  als  Matthias,  der 
sie  doch  zn  Gleichartigem  zu  gesellen  wufste  10). 

Wenn   wir   hierauf  von   den   übrigen  evangelische* 
Parabeln11)  zuerst  diejenigen,  welche  Einem  Evangelisten 


9)  Schlhirmacmr  ,    a.    a.    0.    S.  192  j     Ott  Hl  DI  »II ,    I,    S.  431 ; 

SCHNECKBNBURCIR,  8.  a.  O.  S.  35- 

10)  Vgl.  db  Witts,  exeg.  Handb.,  1,  2,  S.  73  f. 

11)  Analogien  zu  diesen  Gleichnusreden   und  Sprüchen  aas  der 
rab^inischcn  Literatur  geben  Witstbiit,  JLi6htfoot  u. 

cer  z.  d.  St. 


Sechstes  Kapitel*    {•  77.  645 

eigentbtimlieh  sind,  betrachten :    so  stoben  wir  zuvörderst 

bei  Matthäus  18,23  ff.  aof  des  Gleich  nid  von  dem  Knechte, 

-welcher,  anerachtet  ihm  sein  Herr  eine  Schuld  von  10,006 

Talenten  geschenkt  hatte,  doch  seinem  Mitkneohte   nicht 

\       einmal  eine  von  100  Denaren  erlaasen  wollte;  passend  ein* 

\      geleitet  dorch  eine  Ermahnung  cur  Versöhnlichkeit  (V.  15.) 

i      und  die  Frage   des   Petras,   wie  oft  man  dem  fehlenden 

Bruder  vergeben   solle?  —    Gleichfalls  eigenthfimlioh  ist 

i      dem  Matthias  das  Gleichnifs  von  den  Arbeitern  im  Wein* 

i      berge  (20,  lff)>  welches  ein  passendes  Gegengewicht  ge- 

i       gen    die   vorangegangene   Verheißung  reicher    Belohnung 

seiner  Anhänger  ist.     Von  den  Sentenzen  übrigens,  welche 

i      Matthias  (V.  16V)   an  die  Parabel  hängt,  pa&t  nnr  die 

(      erste:  taonai  oi  tayjxioi  nQokoi  x.  %.  L>  die  er  Ihr  auch 

schon  vorausgeschickt  hatte  (19,  30.) ,   au  derselben;    die 

.       andere:   nolXol  etat  xXr/idi  x.  r.  L  aber   gibt  vielmehr  die 

,       Moral  der   Parabel   vom  königlichen   Gastmahl  und  vom 

j       hochzeitlichen  Gewände  an,  wo  sie  auch  wirklich  Matthäus 

i       wiederholt  (22,  14.)«     Sie  eignete  sich   aber  ganz  dazu, 

auch  abgerissen  als  vereinzelte  Gnome  umzulaufen,  und  da 

,       ee  passend  schien,   an  das  Ende  einer  Gleichniftrede  eine 

,       oder  mehrere  dergleichen  kurze  Sentenzen  zu  stellen:   so 

,       mag  diese  hier  wegen  einiger  äufserlichen  Aehnlichkeit  mit 

,       der  andern  ihr  vom  Referenten  beigesellt  worden  sein.   — 

(       Weiter  ist  dem  Matthäus  die  Parabel  von  den  zwei  in  den 

Weinberg  geschickten  Söhnen  {21,  28  ff  )  eigenthömlioh, 

welche  sich  an  eine  Verhandlung  mit  den  Hohenpriestern 

und  Aeltesten  nicht  fibel  lehnt,  und  deren  antipharisäische 

Bedeutung  durch  die  Zusätze  V.  31  f.  auf  erwünschte  Weise 

in's  Liebt  gestellt  ist. 

Unter  den  dem  Lukas  eigentümlichen  Parabeln  haben 
die  von  den  zwei  Schuldnern  (7,  41  ff.),  die  vom  barm- 
herzigen Samariter  (10,  30 ff.)»  die  von  dem  Manne,  den 
im  Sammeln  irdischer  Schätze  der  Tod  unterbricht  (12, 
16  £  vergl.  Sir.  11,  17 ff.),  so  wie  die  beiden,  welche  die 


666  Zweiter  Abschnitt. 

Wirksamkeit   des    anhaltenden    Gebete  versinulieheai   (H 
5  ff.  1S}  2  ff.),  ihren  unverkennbaren  Sinn,  und  bis  auf  die 
leiste,  welche  abgebrochen  eintritt,  auch  leidlichen  Zusam- 
menhang;   sogleich  kann  man   an  den  beiden  letsteu  ler- 
nen, wie  in  den  Parabeln  Jesu  oft  von  einem  Zuge  gast 
nbstrahirt  werden   mufs,    indem  in  der  einen    derselbm 
Gott  mit  einem  trägen  Freunde ,  in  der  andern  mit 
ungerechten  Richter  in  Parallele  gestellt  ist.    An 
letst  genannte  Parabel   schliefst  sich  die  vom    Phuriiinr 
und  Zöllner  an  (V.  f  —  14.)  >  von  .welcher  nur  8cHuna- 
machkr,   einem  selbstgemachten  Zusamumnhamge   mit  das 
Vorhergehenden  aulieb,  die  antipharisäische  Tendenz  lauf 
nen  kann  A2).     Eine  ähnliche  Richtung  haben  die  GlsiuV 
nbse  vom  verlornen  Schaf,  Groschen  und  Sohn  (Lue.  1^ 
3    32.)»   von  welchen  Matthäus  OS,  12  ff.)  nur  das  eran, 
aber  In  einem  andern  Zusammenhange,  bat,  der  auch  dm 
Sinn  etwas  anders,    und   swar,    wie  sich   später 
wird,  ohne  Zweifel  minder  richtig,  bestimmt.     Oats 
drei  Parabeln  unmittelbar  hinter  einander  gesprochen  aus 
können,  ist  deswegen  denkbar,  weil  die  aweite  nur  uns 
untergeordnete  Variation  der  ersten,   die  dritte  aber  wei- 
tere Ausführung   und   Erläuterung  von   beiden    ist.     Ob 
ebenso,    nach   der  Behauptung  der  neueren  Kritik,    ausk 
noch  die  ewei  folgenden  Gleichnisse  mit  den  vorhergehm- 
den   in    Einen   susammenhängenden  Vortrag    gehören  ")i 
mufs  die  nähere  Betrachtung  ihres  auch  an  sieh  beaaar» 
kenswerthen  Inhalts  eeigen. 

Die  nächstfolgende,  als  Cruz  bUerprehtm  bekannte, 
Parabel*  vom  ungerechten  Hanshalter  (16,  1  ff.)  ist  dach 
in  sich  selber  ohne  alle  Schwierigkeit  Liest  man  bleu 
bis  sum  Ende  des  Gleichnisses,  die  aunäehst  darangehängt» 
Moral ,  V.  9. ,  miteingeschlossen :   so  bringt  man  den  eh> 


13)  Ueber  den  Lukas,  S.  320. 

13)  ScKunsiuuGasE,  *.  a.  0.  S.  202  ff. ;  O&shausss  z.  i  St 


Sechstes, Kapitel.    $.  77.  607 

beben  Sinn  heraus,  dafs  der  Mensch,  der,  «ach  ohne  ge- 
rade bestimmt  auf  unrechtmäßige  Weise  «u  Geld  and  Gut 
gelangt   su   sein,   doeh   Gott  gegenüber  immer  ein  dolos 
xXQstos  CLiue.  17,  10.) ,   uod  In  Anwendung  der  ihm  von 
Dott    anvertrauten    Gaben   ein   otxovoftog   Trjg  ddixlccg   ist, 
diese  immer  mitunterlaufende   Untreue  am   besten   durch 
Nachsicht  und   Wohlthätigkeit  gegen  seine  Mitmenschen 
gut  machen,  und  sieh  durch  deren  Vermittlung  einen  Plats 
im  Himmel  verschaffen  könne,    llafs  diese  Wohlthitigkeit 
in    der  anginen  Geschichte  ein  Betrug  ist,   hievon  mufii 
man,  wie  in  den  vorhin  angefahrten  Parabeln  davon,  dafs 
der  Freund  trffg  und  der  Richter  ungerecht  ist,   abstrahle 
reo;   waa  fiberdiefs   in  der  Ersihlung  selbst  dadurch  an« 
gedeutet  ist,  dafs  V.  8»  gesagt  wird,  was  der  olxovo/uog  im 
8inne  dieser  Welt  gethan  habe,  sei  in  der  Anwendung  im 
höheren  Sinne  der  vlol  %5  cpwrog  su  verstehen.    Freilich, 
wenn  man  nun  auch  noch  das    6  nigog  iv  ilaxt&p  x.  %.  2. 
(V.  10—12.)  in  demselben  Zusammenhange  gesprochen  sich 
denkt:  gewinnt  es  den  Schein,  als  möfste  der  in  der  Pa- 
rabel   als  Muster  aufgestellte    otxovoftog  in   irgend  einem 
Sinne  das  Lob  der  Treue  verdienen,  und  wenn  V.  13.  von 
cwei  Herren,  Gott  und  dem  Mammon,  die  Rede  wird,  de« 
nen    man    nicht  sugleich    dienen   könne:    so   scheint  der 
Hauehalter  es  mit  dem  rechten  Herrn  gehalten  haben  sn 
müsaen.    Daher  Erklärungen,  wie  die  ScuLSiERMACüfiR'sche, 
welohe  unter  dem  Herrn  die  Römer,  unter  den  Schuldnern 
das  jüdische  Volk,   unter  dem  Haushaiter  die  auf  Kosten 
von  jenen  gegen  dieses  wohlthütigen  Zöllner  versteht,   cu 
diesem  Behuf  aber  auf  die  willkürlichste  Weise  den  Herrn 
uum  gewaltth&tigen  Manne  machen,   den  Haushaiter  aber 
rechtfertigen  mufs  *');    eine  Verkehrung,   welche  in  Ols- 
Hausbm  bis  eum  Extrem  fortgegangen  ist,  indem  nun  die- 
ser den  Herrn,  der  durch  sein  richterliche«  Auftreten  sich 
—  .  . 

14)  ».  ».  0. 


1 


66S  Zweiter  Abschnitt 

deulliob  als  Repräsentanten  Oottea  ankündigt,  son  ayx*"* 
tQ  xoOfiö  zHtn  veraeblimmert ,  den  Haushaiter  aber  m 
Bilde  eines  Menseben  erhebt,  der  die  Güter  dieser  Web 
an  geistigen  Zwecken  verwendet»  Allein  den  bezeichnete* 
Versen  auf  die  Deutung  der  Parabel  Binflofs  an  gestatten, 
wäre  man,  da  diese  in  der  Moral  V.  0«  den  befriedigend- 
sten Absehlufs  hat,  und  unrichtige  Zusammenstellungen 
bei  Lukas  keineswegs  ohne  Beispiel  sind,  nur  dann  ver- 
anlagt, wenn  eine  genaue  Verwandtschaft  des  Inhalts  aa 
Tage  läge:  wovon  aber  vielmehr  das  Gegen tbeil,  die  st* 
rendste  Verschiedenartigkeit,  vorhanden  ist«  Ueberdiefc 
fällt  es  nicht  schwer,  nachzuweisen,  was  den  Lukas) 
au  einer  falschen  Zusammenstellung  verführt  haben 
Es  war  in  der  Parabel  vom  fia/umväg  rijg  adixiag  die  Rede; 
diefs  weckte  in  ihm  die  Erinnerung  an  einen  ähnlich  lau- 
tenden Ausspruch  Jesu:  dafs,  wer  an  dem  ddixip  fiatiwy, 
als  dem  Geringeren,  sich  treu  beweise,  dem  auch  das  Hö- 
here anvertraut  werden  könne.  War  aber  einmal  vom 
Mammon  die  Rede :  wie  konnte  der  Verfasser  umhin,  sich 
des  bekannten  Ausspruchs  Jesu  von  Gott  und  dem  Mam- 
mon, als  zwei  unvereinbaren  Herren,  su  erinnern,  und 
sum  Ceberflufs  aueh  noch  diesen  (V.  13.)  beiausetnen  **)! 


15)  Diesen  letzteren  Vers  bat  auch  Schheck¥*buägir  ,  Beiträge, 
No.  V. ,  wo  er  zugleich  die  Olsh AUtaVtche  Deutung  der  Pa- 
rabel treffend  widerlegt ,  als  nicht  hieher  gehörig  erkannt, 
während  er  von  den  vorangegangenen  Versen,  mit  Unrecht 
schon  vom  9ten  an,  diese  Ansicht  bloss  möglich  findet.  Aue* 
de  Wettc  <z.  d.  St.  findet  nur  V.  13.  entschieden  nicht  hieher 
gehörig ;  V.  10  —  12.  scheinen  ihm  durch  Ergänzung  eines 
ausgelassenen  Mitteiglieds,  das  von  der  klugen  Benützung 
des  Reich thums  auf  die  Treue  überleitete,  für  den  Zusammen- 
hang möglicherweise  gerettet  werden  zu  können;  doch  so, 
dass  der  Begriff  der  Treue  nicht  auf  den  Haushalter  bezogen 
werden  dürfe.  —  Die  zahlreichen  älteren  und  neueren  Ver- 
suche, das  Gleichniss  vom  Haushalter  ohne  eine  solche  kriti- 


Sechste*  Kapitel.    $.  77.  669 

Dafr  durch  diese  Zbsütze  die  vorhergemeldete  Gleicbnifs» 
*ede  in  ein  völlig  falsches  Lieht  gestellt  wurde,  toküm» 
merte  den  Referenten  wenig,  der  vielleicht  ihren  Sinn 
selbst  nicht  klar  gefafst  hatte,  oder  in  dem  Bestreben,  sein 
evangelisches  Gtdtchtnib  vollständig  eu  entleeren,  auf  den 
Zusammenhang  keinen  Bedacht  nahm.  Man  sollte  über» 
hanpt  mehr  Bewnfstsein  davon  haben,  dafs  bei  denjenigen 
unserer  Evangelisten ,  welche  nach  der  jetzt  herrschenden 
Annahme  eine  mündliche  Oeberliefernng  aufzeichneten,  in 
Abfassung  ihrer  Schriften  das  Gedficbtnifs  in  einer  Weise 
eingesprochen  war,  welche  die  ThMtigkeit  der  Reflexion 
zmrüekdrffngen  mufste;  wefswegen  in  ihren  Berichten  das 
herrschende  Band  die  Ideenassociation  mit  ihren  zum  TheM 
am  Aenfserliche8  sich  haltenden  Gesetzen  ist,  und  wir  uns 
nicht  wundern  dürfen,  namentlich  manche  Reden  Jesu 
mach  dem  biofsen  Gleichklang  gewisser  Schlagwort  zu* 
•ammengereiht  zu  finden. 

Blicken   wir   von   hier  auf  die  Behaoptung  zurück, 
dafs  das  Gleicbnifs  vom  ungerechten  Verwalter  im  Zusam- 
,      naenhange  mit  dem  vorhergehenden  vom  verlorenen  Sohne 
t      gesprochen  sein  müsse :  so  sehen'  wir  dieselbe  nur  auf  fal» 
aoher  Deutung  beruhen.    Soll  nämlich  nach  Schleibrmachsr 
die  Vertbeidigung  der  Zöllner  gegen   die   Pharisäer  das 
Band  ausmachen:   so  finden  wir  von  Zöllnern  und  Pbari- 
t      fläern  in  der  Parabel  keine  Spur;    oder  soll  nach  Olshaü« 
'      sin  der  zuvor  dargestellten  barmherzigen  Liebe  Gottes  ge- 
genüber nun  die  barmherzige  Liebe  der  Menschen  hervor* 
gehoben   werden:   so  ist   hier  überall   nur  von  einfacher 
Wohlthätigkeit  die  Rede,  und  eine  Parallele  zwischen  die- 
ser nnd  der  Art,   wie   Gott  dem   Verlorenen  verzeihend 
entgegenkommt,   nicht   von  ferne  angedeutet.     Auch  die 


sehe  Sonderung  zu  erklären,  sind  nur  eben  so  viele  Beweite, 
das«  ohne  dieselbe  eine  befriedigende  Auslegung  der  Parabel 
unmöglich  ist. 


\ 

-i- 


§70  Zweiter  Abschnitt. 

Bemerkung  V.  14. ,  «Ufa  alles  diefs  die  Pharisäer  gebort, 
und  als  (pthxqyvqoi  Jesum  verspottet  beben,  tauft  sieh 
theils  nieht  nothwendig  aof  dieselben  Individuen  beziehe«, 
von  welchen  15,  2.  die  Rede  gewesen  war,  so  dafs  diese 
die  ganze  Rede  als  susammenhfingende  angehört  haben 
mfifsten ;  theils  bewiese  sie  doch  zunächst  nur  die  A"tii»ht 
des  Referenten  von  der  Zusammengehörigkeit  dieser  Pa- 
rabeln,  welche  nach  dem  Bisherigen  ans  unmöglich  binden 
kann  18)- 

Nach  einer  bereits  besprochenen,  mit  Zusammenhang» 
losen  Redestficken  ausgefällten  Spalte,  V.  15  18,  wird  an 
das  letzte  dieser  Stöcke,  vom  fiotx&mv,  das  Gleichnifs  vesi 
reichen  Manne  anf  eine  Weise  angefügt,  welche  man  ver- 
geblich nach  dem  froher  Bemerkten  äis  Zusammenhang 
daranstellen  sich  bemüht  Darin  jedoch  wird  man  Schu(b*> 
MACBER  n  Recht  geben  müssen,  dafs,  wenn  man  das  Glesea* 
nifs  vom  Vorhergehenden  trennt,  die  alsdann  gewöhnliche 
Besiehung  desselben  anf  die  göttliche  Strafgerechtigkeit 
gleichfalls  ihre  grofsen  Schwierigkeiten  habe  t7>.  Den» 
gar  nichts  ist  doch  in  der  ganaen  Parabel  herausgehoben, 
was  der  Reiche  nnd  Lazarus  gethan  haben  müfsten,  mm 
naoh  «nsern  Begriffen  mit  Recht  der  eine  in  Abrahams 
Sehoofs,  der  andere  in  die  Qual  versetzt  an  werden ;  son- 
dern das  Verbrechen  des  einen  scheint  nur  im  Reichthsna, 
wie  des  andern  Verdienst  nnr  in  der  Armnth  bestanden 
nu  haben.  Man  nimmt  «war  gewöhnlieh  von  dem  Reichen 
an,  theils  dafs  er  im  Genasse  aasgeschweift,  tbeile  dafs 
er  den  Lazarus  lieblos  behandelt  habe  l6).  Allein  das 
letztere  ist  nirgends  angedeutet;  denn  dafs  der  Arme  hart 
nqog  tov  nvhowa  des  Reichen  liegt,  soll  nicht  den  Vorwwf 
Air  diesen  enthalten ,  dafs  er  ihm  leicht  bitte  helfen  höa- 


16)  Vgl.  di  Warn,  exeg.  Handbuch,  1,  2,  S.  80. 

17)  a.  s.  O.  S.  208. 

18)  s.  Kuiköl,  z.  d.  St. 


Sechstes  Kapitel.    $.  77.  #71 

nen,  und  es  dooh  unterlassen  habe:  sondern  nnr  den  Con« 
trast  sowohl  zwischen  Ihrem  beiderseitigen  irdischen  Loose, 
als  «wischen  ihrer  Nähe  in  diesem,  and  ihrer  Entfernung 
im  andern  Leben  in'*  Licht  stellen ;  und  ebenso  will  der 
Zog,  dafs  der  Arme  begierig  gewesen  sei,  von  den  Brosa- 
men sieb  so  sittigen ,  die  von  des  Reichen  Tische  fielen, 
nicht  sagen,  dafs  der  Reiche  ihm  auch  diese  verweigert, 
«der  dafs  er  ihm  mehr  als  bloft  die  Brosamen  hätte  zu« 
kommen  lassen  seilen:  sondern  nur  die  tiefe  Unterordnung 
fies  irdischen  Leeses  von  Lazarus  unter  das  des  reichen 
Mannes  soll  es  anaeigen ,  im  Gegensatz  gegen  das  umge* 
kehrte  VerbÄltnifs,  welches  nach  dem  Tode  eintrat,  wo 
der  Reiche  sich  nach  einem  Tropfen  Wassers  von  der 
Hand  des  Lazarus  sehnte.  Auf  dieses  Gesuch  könnte,  so* 
-fern  der  Reiche  als  unbarmherzig  gegen  den  Lazarus  ge* 
zeichnet  werden  sollte,  der  Abraham  der  Parabel  nicht 
anders  als  in  der  Art  antworten:  du  hast  einst  einen  weit 
näheres  Weg  zu  diesem  Lasarus  gehabt,  und  ihn  doch 
nicht  erquickt;  wie  sollte  nun  er  einen  so  weiten  Weg  zu 
dir  hinüber  machen,  um  dir  Linderung  zu  bringen?  Eben* 
so  ist  das  herrliche  Leben  des  Reichen  nur  im  Contraste 
gegen  das  Elend  des  Armen  so  ausgemalt;  wfire  er  als 
ausschweifend  im  Genüsse  vorausgesetzt,  so  mfifste  ihn 
Abraham  erinnern,  wie  er  im  Leben  sich  des  Goten  au 
viel  genommen,  nicht  Mofs,  wie  er  sein  Gutes  empfangen 
habe.  Nicht  minder  grundlos  ist  es  andrerseits,  bei  Laza- 
rus hohe  sittliche  Vorzöge  vorauszusetzen,  da  solche  weder 
in  der  Besehreibung  seiner  Persönlichkeit  angedeutet,  noch 
in  der  Rede  Abrahams  ihm  angerechnet  sind ;  sein  einziges 
Verdienst  ist,  in  diesem  Leben  Uebles  empfangen  zu  haben. 
Es  ist.  also  in  dieser  Parabel  als  Mafsstab  bei  der  kflnfti- 
gen  Vergeltung  nicht  das  in  diesem  Leben  gethane  Gute 
und  verübte  Böse ,  sondern  das  hier  erlittene  Uebel  und 
genossene   Gute  vorausgesetzt19),    und  das  sprechendste 

19)  Vergl.  dk  Witt«,  i,  2>  S.  86  f. 


679  Zweiter  «Abschnitt. 

Motto  €u  derseibfcn  haben  Vwtr  in*  dar  ßergrede  nach  4er 
Redaetion  des  Lukas  gehabt,  in  dem:  (mbuxqioi  d  Twnaxvi' 
mt  vpev&Qa  iglv  rj  ßaadäu  zii  dtö'  —  nkrp  «ot  vpuw  tw$ 
nlsalotg •  vu  anexete  tqv  na^ctnhjGtv  4>fiiov ,  wo  auch  erin- 
nert worden  ist ,  wie  genau  diese  Ausspruche  mit  der 
Weltansicht  der  Ebioniten  zusammenstimmen.  Eine  »h- 
liebe  WerthschÄteung  der  to&eren  Armuth  schreiben  fibri- 
gens  aaeh  die  andern  Synoptiker  in ,  dar  ErsfihJojag  vea 
dem  reichen  Jfingiing  und  der  Gnome  wem  Kamee!  and 
Nadelöhr  (Matth.  19,  16  ff.  Marc.  10,  17  ff.  vergL  Loa 
18,  18 ff.)  Jesu  au;  was  in  der  synoptischen  Tradfcwa 
über  ihn  >  namentlich  wie  sie  im  dritten  Evangelium  er- 
scheint,  durch  esseniache  Ansichten  hervorgerufen  acbes» 
nen  kann  *).  —  Das  bisher  Betrachtete  ist  der  Inhalt  dar 
Parabei  vom  reichen  Manne  bis  V.  27.,  von  wo  an  dar 
weitere  Gedanke  von  den  A.  T.  liehen  Schriften,  als  st- 
reichenden und  eineigen  Gnadenmitteln,  eintritt» 

Zum  Schlüsse  Vrenden  wir  uns  noch  au  einer  Grane 
von  Parabeln,  aus  weicher  awar  einige  wegen  ihrer  Be- 
siehung  auf  Tod  und  Wiederkunft  Christi  auüaosparea 
wären,  doch  aber  wegen  ihres  Zusammenhangs  mit 
übrigen,  wiewohl  nur  eben  in  soweit,  hier  mitgeno 
werden  müssen.  Es  sind  die  drei  Gleichnisse  von 
rebellischen  Weingfirtnern  (Matth.  21,  33  ff.  parail/),  ?ea 
den  Talenten  oder  Minen  (Matth.  $&, 14  ff«  Lue.  19,  12  ff.), 
und  dem  Gastmahle  (Matth.  22, 2  ff.  Luc  14, 16fE>  ü». 
ter  diesen  sind  die  Parabel  von  den  Weingärtnern  nach 
allen  Berichten,  die  von  den  Talenten  bei  Mattbftns,  and 
die  vom  Gastmahl  bei  Lukas,  einfache  Parabeln,  die  keine 
weitere  Schwierigkeit  machen:  anders  verhalt  es  aieh  mit 
dem  Gleichnifs  von  den  Minen  bei  Lukas,   und  dam  vom 


30)  Ueber  die  Essener  als  Karatpqoytfras  nhir»  vgl.  Joseph,  b.  j.  2» 
8,  3;  Cridkir,  über  Essener  und  Ebioniten,  ih  Wau's  Zeit- 
schrift, 1,  S.  217;  Giäöebr,  Philo,  2,  S.  311. 


Seehates  Kapitel.     §.  77.  0fj| 

Gastmahl  bei   NatthJus.    Dafs   da«  erster*  mit  dem  von 
den  Talenten   bei  Matthäus    im  Grunde   dasselbe  sei,    ist 
nnerachtet  der   mancherlei   Abweichungen  ualäugbar.    In 
beiden   findet  sich  die  Abreise  eines  Herrn;,  das  Zusam- 
menrufen der  Knechte,  um  ihnen  ein  Kapital  zum  Umtrieb 
anzuvertrauen;  nach,  der  Rückkehr  des  Herrn  «ine  Rechen- 
schaft,  bei  weither  drei  Knechte   hervorgehoben  werden* 
von  denen  zwei  thatig,   der  dritte, aber  unth&tig  gewesen 
ist*  und  daher  dieser  bestraft»  jene  belohnt  werden,  wobei 
besonders  dje  Entschuldigung  des  Knechts  und  die  Antwort 
des  Herrn  in  beiden  Darstellungen  fast  gleichlautend  sind* 
Die  Hauptversehiedenbeit  dagegen  ist,  da&  bei  Lukas  au- 
ßer, dem  Verhaltnils    des    abreisenden   Herrn    an   meinen 
Knechten  noch  ein  zweites  Verh&ltniis  desselben  zu  rebel* 
lisch  eq  Bürgern   eingeschoben   ist:    weis  wegen  der   nach 
Matthäus  nur  als.  avSQtßaQQ  bezeichnete  Herr  bei  Lukas 
äv&QOmtg  evysvfjg  beifst,  und  ihm  ein  ßuQtldeiv  zugesphrie* 
bea  ist;  der  Zweck  seiner  Reise  aber,  den  Matthäus  nicht 
angibt,  dahin  bestimmt  wird,  er  sei  gezogen  *fe  xqiftaf  pct-, 
xöäV,  laßfZv  hvwip  fiaedilav.    Die  Unter thanen  diese*  Hejttt 
nun,  .heilst  es  weiter»  haben  ihn  gehaßt,  und  na/ch  .seiner 
Abreise  ihm  den    Bebnrsani    aufkündigen   lassen.    tD*h»fi 
wer den  nach  der  Rückkehr  des  Herrn  neben  dem  fauleft 
Knecht  auch  noch  .die  rebellischen  Bürger,  und  zwar  nWch 
Hiedermetzelnng,   bestraft,    und.  die   treuen  Diener  nicht 
blofii  unbestimmt,  durch  Eingehen  in.  die  £a<?a  ihres  Qerrt»9 
sondern  königlich,  4u1?ch  4*e  Schenkung  einer  Anzahl  vgii 
Städten,   belohnt.     Weniger  wesentlich  sind  die  Differen- 
zen ,  dal*  die  Zahl  der  Knechte  bei  JHatthüns  unbestimmt, 
bei  Lukas  auf  zehn  festgesetzt  ist;  dafs  sie  nach  Mattheua 
Talente,4  nach  Lukas  Minen ;  bei  jenem  ungleiche  Saauneii 
t&cdctqt  xotcc  ttjv  idiav  dvvctf.uv') ,   bei  Lukas  gleiche  bekom- 
men, und  sofort  nach  jenem  aus  ungleichem  Kapital  durch 
gleichen   Kraftaufwand  Ungleiches   gewinnen ,   und  daher 
gleich    belohnt  werden,   nach  diesem  dagegen  schaffen  sie 
Das  Leben  Jesu  Ue  Aufl.  f.  Band  43 


674  Zweiler  Abschnitt. 

mit    gleichem  Kapital    durch    angleiche  Kraftaiurtrenjrumg 
Ungleiches,  und  werden  daher  auch  ungleich  belohnt. 

Sollte  diese  Parabel  so  zwei  verschiedenen  Malen  ii 
veränderter  Gestalt  aas  dem  Munde  Jesu  gekommen  nein: 
-so  muTete  er  sie,    wenn  Matthäus  und  Lukas   sie   richtig 
stellen,  zuerst  in  der  zusammengesetzteren  Form,   wie  sw 
Lukas,   dann   erst  In  der  einfacheren,  wie  Matthäus  alt 
gibt,  vorgetragen  haben  **J ;   da  jener  sie  vor,  dieser  nach 
dem  Einzug  in  Jerusalem  setzt.      Allein  diefs  wäre  gegm 
alle  Analogie.     Die  erste  Ausführung  eines  Gedankens  ist 
ihrer  Natur  nach  die  einfachere:   bei  der  zweiten  können 
neue  Besiehungen  hinsukommen,  die  Sache  von  mehrere» 
Seiten  betrachtet,  und  in  mancbfakigere  Verbindnngen  ge- 
setzt werden.    So  mllfste   jedenfalls  mit  ScHUHsnuiAcum 
angenommen  werden,  dafs,  gegen  die  Stellung   in   dsa 
Evangelien,   die  Parabel  von  Jesu  zuerst  In  der  einfache- 
ren Gestalt  vorgetragen,  dann  bei  einer  späteren  Gelegen- 
heit bereichert  worden  sei  **).    Indessen  Tu>  unsern  beson- 
deren Fall  Ist  diefs  nicht  weniger  undenkbar  ah  jenes» 
Der  eigne  Urheber  einer  solchen  Darstellung  nämlich ,  be- 
sonders wenn  sie   nur  erst  in  seinem  Geist  und   Monde 
lebt,  und  noch  nicht  schriftlich  fiiirt  ist,  bleibt  auch  bei 
einer  späteren  Ceberarbeitung  seines  Stoffe«  Herr;  die  Ge- 
staltung, die  er  Ihm  froher  gegeben,  widersteht  Ihm  nicht 
als  spröde,  sondern  verhält  sich  als  flüssige  Masse,  so  ckfs 
er  bu  den  neu   hinzukommenden  Gedanken  uud   Bilder* 
die  von  frflherher  vorhandenen  in  das  richtigste  Verhält, 
nifs  setzen,  und  Einheit  in  seine  Darstellung  bringen  kann. 
So  mußte  derjenige,  welcher  der  vorliegenden  Parabel  die 
Gestalt  gab,  die  sie  bei  Lukas  hat,  fafls  er  aueh  ihr  erster 
Urheber  gewesen  wäre,  -  hatte  er  einmal  den  Herrn  m 

11)  so  Küutöl,  Comm.  in  Luc.  p.  635. 

22)  Ueber  den  Luka»,  »9  f.    Ihm  folgt  auch  hier  Ksaxasa,  L.  I 
Chr.,  S.  188. 


Sechstes  Kapitel,    f.  77.  075 


einen  Kftnig  gemacht,    ond  den  Zog  von  den  rebellischen 
Borgern  hineugefftgt:    nodiufendig  den  Knechten  statt  Ka» 
pitalien  lieber  Waffen  Ogl,  Lac.  23,  36. 23)  )  anvertrauen*. 
sie  ihre  Treue  statt  dnreh  Gelderwerb  vielmehr  durch  Be- 
kämpfung der  Rebellen   beweisen,    überhaupt  die  beiden 
Klassen  von  Personen  In  der  Parabel,   die  Knechte  and 
lue  Borger,  in  irgend  eine  Beeiehung  treten  lassen;  statt 
dessen  nun  beide  durch  die  ganae  Erzählung  hindurch  be- 
ziehungslos auseinanderfalten,    und  die  Parabel  in  awel 
*feel  '•  ausamniengeleiaite'  Theffe    gespalten    sich   aeigt  •*> 
Ditffs  beweist  sehr  bestimait,  dafs  die  Bereicherung  der 
-Parabel  mk  den  beeeiebneten  Zügen '  nicht  von  demselben 
•Urheber   herrührt,    wie   ihre  erste  Schöpfung;    sondern 
durah  einen  andern  saefs  sie  In  der  UeberJiefernng  auf 
jjteee  Welse  erweitert  werden  sein.    Diefs  kann  nicht  in 
«1er  Art  vor  sich  gegangen  sein,    dafs  durch  attmthlige 
.weitere  Ausmalung,    wie  dtefs  In-  dar  Art  der  Sage  Ist, 
Jene  Zage  sieh  thr  angebildet  bitten ;  denn  aae  den  Kneeb» 
1en  und  Talenten  wollen  sieh  auf  keine  Weise  rebeHtMhe 
-Birger  beraasspinnen  lassen,  sondern  dies«' sind  vdn  au- 
fsen  au   den  Uebrigen    htnaugeftgt,    ssüssen  eise  neben 
diesem  alsTbeÜ  eines  besonder a1  Gänsen  vorhanden  gewesen 
seirtk    Das  heilst  nun  nichts  Anderes,  als: "wir  haben  liier 
'die  Erscheinung ,   dafs  swel  ursprünglich  getrennte  Para- 
beln ,  die  eine  von  Knechten  und  Talenten ,  die  andre  von 
rebelHsehen  Bürgern  handelrid,  des  gemeinsamen  Zugs  voo 
der  Abreise  und  Wiederkunft  eines  Herrn  «wegen  eutam- 
igeftoesen  sind  *•).    Die  Probe  unserer  Behauptung  ist, 


23)  Diess  gegen  Neajidi*1«  Einwurf,  8.  191.  Antau 

24)  Wie  Paulus,  cxeget.  Handb.,  3,  a,  S.  76,  die  Parabel  in  der 
zusammengesetzteren  Form  bei  Lukas  als  die  besser  nicht  al- 
lein autgemalte ,  sondern  anch  abgerundete  bezeichnen  kann, 
weiss  ich  mir  nicht  tu  erklären. 

25)  Vgl.  db  Wsrrs,  1,  1,  S.  208  f. 

43* 


UC SL. 


676  Zweiter  Abschnitt. 

welui  sich  Ate  beiden  Parabeln  leicht  wieder  anacffnnneW 
nehmen  leiten,  ond  diefi  gelingt  auf«  Willkemmenate,  ia- 
dem  neu  durch  Herausnahme  der  Verse  W.  14.  .15  m.  27. 
mit  geringer  Modifieetien  die  Parabel  von  den  rebeüiaebei 
Birgern ,  freilich  in  etwas  rerkireter  Gestalt,  doch  reis 
herausbekommt ,  von  welcher  man  alsdann  sieht,  dafa  » 
mit  der  von  den  rebellischen  Wetngirtnern  einerlei  Ten- 
denz hatte  *). 

Ein  Ähnliche«  Verhiltnifr  findet  nwjeelien  der  Fans 
statt >  in  welcher  das  GJekfeoif*  vom  Gastmahl  bei  Lehm 
<H,  16 ff.)  alid  bei  Matthins, GM* 2ff)  erscheint;  anr  dafc 
hier  Lukas,. wie  dort  Mattbfiue,  das  Verdienst  bat,  ettn  ein- 
fache ond  ursprünglich*  form  Beibehalten  nu  halse 
Während  nimUch  auf  beiden  Setten  die  Üge;  GertmaU, 
Einladung,  Zuriekweisnng  denselben,  and  daher  Aerefang 
Anderer»  die  Binerleiheit  beider  Parabeln  verbirge*:  Ist 
dann  anderareeU»  der  Gestöber,  bei  Lukas  arfrQomos  ca& 
roa  Maitha*na  snm  ßaadevs  genw©nt>  werben  die  Boebnejt 
aeinea  9obna  vetfenlaCit,  ein  Featmajhi  so  gaben ;  die  Gele» 
denen*  welche  aich .  bei  JLnhes  gegen  die  nur  EinemeJ  ge- 
aendeten  Boten  durch»  verschiedene  Grinde  nnfnc  hnliUgnii, 
wollen  nach  Matthäus  auf  die  erste  Ladung  nicht  kern» 
men,  bei  der  aweiten,  dringenderen  *  gehen- die  einem  na 
ihren  Gesehfiften,  die  andern  mUshandeln  und  tidten  de 
Knechte  des  Königs,  welcher  sofort  Heere  ausaebiekt,  an 
jene  Mörder  aq  verderben  qnd  ihre  Stadt  einnmieebaan 
Hieron  ist  bei  Lukas  nichts  *u  finden ;  nach  ihm  lltet  der 


16)  V.  12 :  "Av&ponoe  rtf  riyfrtjt  btopu&r}  §U  Z***"  *"**&*  *aßi*r  *m- 
rp  ßaodtiay,  wi  vno^p&t.     44.  d  <te  k«Utoi  aurS  ijfanr  ouzvr,  m 
an^hUay  ngtaftfCay  onio<A  avrS,  Uyavtfs'    «  9üo/itr  tvtot  flm 
W  q/Mi-     i&-    xai  iytytro  iv  rf  47urr*ltoir  avrop  Xaßovt*  rjr  r 
l*tav>  neu.  sin*  pwyft??««  afc$  ti*  $mb*s  —  (*»  cmtr  ovrotc  * )    2? 
—  r*s  ix&^S  /**  «Wv»*,   r«f  w  aslytayrut  ftt  ßmsdevoat  In*  a»r*- 
eyayfTf  <Me  xtti  uaraotpatctTi  l/unfQOx'htr  p*. 


Sechstes  Kapitel.    $.77.  677 

Her*  einfach  nur  statt  der  auerst  Geladenen  die  Nächsten 
besten  Ton  der  Strafse  cum  Mahle  Kienen;  ein  Zug,  den 
auch  Matthäus  aof  den  zuvor  erwähnten  folgen  lalsfc 
Wfihread  hierauf  Lukas  durch  die  Versicherung  des  Herrn, 
dafs  keiner  dar  auerst  Geladenen  an  seinem  Mahle  Aatheil 
bekommen  solle ,  die  Parabel  abschlieurt:  hat  Matthäus 
noch  den  wetteren  Zag,  nachdem  das  Hans  voll  geworden 
m*r9  hake  der  König  die  Gaste  gemustert,  und  einen  ohne 
Doehaettliehes  Kleid  gefunden,  welchen  er  sofort  elg  10 
0x610g  %6  i^drve(j0^  habe  abführen  lassen. 

Bier  wfll  gleich  Anfangs  der  Zog  bei  Matthias,  dale 
die  ßeiadenen  die  Boten  des  Königs  mifsbandelt  und  ge* 
tödtet  haben,  nieht  rocht  passen,  und  wie  ein  Herausfal- 
len aus  dem  gewählten  Bilde  erscheinen«  Mifsaohtung  et- 
iler Einladung  ntfmlioh  wird  hialflngiicb  durch  Aussohla1* 
gen  derselben  unter  nichtigen  Vorwtf  nden ,  wie  sie  Lukas 
itamhaft  macht,  an  den  Tag  gelegt;  Mifshandlang  oder 
gar  Tödtong  der  Ladenden  ist  ein  übertreibender  Zug, 
von  welchem  sieh  nieht  ebenso  leicht  einsehe»  Iftmt,  wie 
Jesus,  ah  wie  der  Referent  im  ersten  Evangelium  su  dem- 
aelben  kommen  mochte.  Dieser  hatte  nümlich  unmittelbar 
ibq vor  .die  Parabel  von  den  rebellischen  WeingXrtnern  mit* 
getheilt,  sind  von  daher  schwebte  ihm  noch  die  Art  vor, 
%vie  diese  den  von  ihrem  Herrn  ihnen  Eugescbickten  Boten 
begegnet  waren,  indem  sie  Xaßovrtg  rag  dalag  ccvtö  w  fii» 
fttteikrv*,  w  di  dnixreivov,  w  di  6Xi&oßöl7ficnr ,  und  -die Je 
trug  er  auch  in  die  gegenwärtige  Parabel  ober  in  des» 
Worten:  xQat?}oaneg  rag  dalag  etwa  vßquiav  xcA  anixsH* 
vav,  übersah  aber,  dafs,  was  dort,  als  Verfahren  gegem 
Diener,  die  mit  Forderungen  und  auf  Eiecntioa  kamen, 
wohl  motivirt  war ,  hier  völlig  unmotlvirt  er  sohlen«  Dala, 
hierauf  der  König,  nicht  aofrieden,  sie  von  seinem  Mahle' 
ansBuschliefsen,  die  Mörder  durch  seine  Heere  tödten  und 
ihre  Stadt  anaunden  läfst,  folgt  awar  aus  dem  vonuige* 
gsngenen  Zuge  noth wendig,  scheint  aber,  wie  dieser,  *n* 


4T78  Zweiter  Abschnitt.  t 

einer  Parabel  genommen  su  «ein,  welche  das  Yerbükirifi  l 
«wischen  dem  Herrn  und  den  Andern  nicht  in  der  müde- 
ren Form  einer  «««geschlagenen  Einladung,  sondern  ii 
der  Lftrteren  einer  Empörung  iafste,  wie  d«s  GLeiehain 
ran  den  Weingirtaern  und  d«s  von  den  rebellischen  Bür» 
gern  9  welches  wir  oben  ans  den  von  den  Minen  «mag» 
schieden  heben«  An  dem  leisten  Zug*  unserer  Parabel  bei 
Matthias  ,  dem  von  dem  bochseirUchen  Kleide,  Ifi&st  sink 
«war  die  der  Form  angehdrige  Schwierigkeit:  wie  dss 
von  der  Strafte  Hereingerufenen  die  Anlegung  eines  Feier» 
bleides  sngemuthet  werden  mochte  I  —  diese  Schwierigkeit 
lftfist  sich  ohne  die  sowohl  dem  Texte  fremde,  als  gesehiehtiirk 
Ibr  jene  Zeit  unerweisliche  Annahme,  dafs  nach  der  Sitt« 
morgenläudischer  Herrscher  der  König  den  Geladenen  je- 
dem einen  Kaftan  habe  «usthollen  l«ssen,  dessen  Nichtge- 
brauch somit  auch  dem  Aermsten  snm  Vorwurf  gemacht 
werden  konnte ,  «Jorch  die  Bemerknng  beseitigen ,  dafs  ja 
Lukas  nicht  reu  Bettlern  und  Krüppeln ,  denen  freilich 
der  Beck*  eigener  Festkleider  nicht  susumuthen  war,  son- 
dern von  nainjQdig  ml  ayec&diQ  redet ,  Von  welchen ,  sofern 
sie  nicht  ausdrücklich  als  Arme  beseichnet  sind)  erwartet 
werden  konnte,  daCs  sie,  ehe  sie  der  Einladung  folgten, 
ihre  besten  Kleider«  anlegen  würden17).  Doch  wenn  unsk 
nicht  dem  Bude,  so  scheint  doch  der  Idee  dieser  Parabel 
der  fragliche  Zusats  fremd  su  seil»  Denn  bis  dahin  he» 
wegte  sich  dieselbe  in  dem  nationalen  Gegensatse  der  wi- 
derspenstigen Juden  und  der  heilsbegierigen  Heiden :  tum 
müfste  sie  auf  Einmal  nn  dem  moralischen  von  Würdiges 
und  Unwürdigen  Überhaupt  übergehen.  Dafs,  nachdem' 
die  Juden  die  Ladung  zum  Gottesreiche  verschmiht  betten, 
dicflelden  in  dasselbe  berufen  werden  sollten,  ist  eine  Ider 
für  sich,  mit  welcher  sich  daher  die  Parabel  bei  Lukas, 
Wie  billig,  sehliefst;   dafs,  wer  sich  der  Berufung  nickt 


47)  Vergt,  oi  Wtrrs  z,  d.  St. 


Sechstes  Kapitel»    $  78.  679 

«Jitrch  entsprechende  Gesinnung  würdig  Beige,  aus  de« 
Kelche  wieder  ausgeschlossen  werde,  ist  eine  andere  Idee, 
welche  eine  abgesonderte  Behandlung  in  einer  andern  Pa- 
rabel su  verlangen  scheint.  Auch  hier  kann  daher  rcr- 
snuthet  werden,  dafs  der  Schlafs  dieser  Gleiehntfsrede  bei 
Matthias  Fragment  einer  andern  Parabel  sei,  welche,  weil 
beide  von  einem  Gastmahl  handelten ,  leicht  in  der  Sage 
anler  in  der  Erinnerung  eines  Einzelnen  mit  dem  Gleich- 
siifs,  das  in  seiner  Reinheit  durah  Lukas  aufbewahrt  wor- 
den ist,  susammenfliefsen  mochte28).  Diese  andre  Parabel 
anfl&te  einfach  dahin  gelautet  haben,  dafs  ein  König  ver- 
schiedene Gäste  su  einem  HochseiUnahie  geladen  habe  un- 
ter dar  stillschweigenden  Vorauasetsung  eines  wfirdigen 
Ansage ,  und  dafs  er  sofort  ein  Individuum ,  bei  welchem 
mr  diesen  nicht  fand,  seiner  verdienten  Strafe  fibergeben 
liabe.  So  hfttten  wir  liier  die  Erscheinung  einer  vielleicht 
noch  sosaaunengeseUteren  Parabel  als  oben :  einer  Para- 
bel, bei  welcher  i)  das  Gleiebnifs  von  den  undankbaren 
Geladenen  (Xuc.  14.)  die  Grundlage  bildet }  doch  so,  dafs 
*)  ein  Faden  ans  dem  Gleicbriifs  von  den  rebelBschen 
Weingf rtnern  oder  Bürgern  darein  verwoben ;  der  Schluft 
aber  wahrscheinlich  3)  aus  einem  sonst  nicht  bekannten 
Gleichnifs  vom  unbochseitlicben  Gewände  darangenftht  ist; 
eine  Erscheinung,  welche  uns  einen  folgenreichen  Blick  in 
die  Art  und  Weise  gestattet,,  wie  die  evangelische  Tradi- 
tion uüt  ihrem  8teff  su  verfahren  pflegte. 

J.    78. 
Vermischte  Lehr-  und  Streitreden  Jesu. 

Da  die  Reden  Matth,  15,  1    30.  schon  oben  erwogen 
sind,   so  ist  su  18,  1  tL    Marc.  9,  93  ff.    Lue.  9,  46  ff. 

* 

28)  Aus  dem  Zusatzblatt  su  ScmiBCKnfBimasn's  Beiträgen  ersehe 
ich,  dass  auch  ein  Recensent  im  theo*.  Literaturblatt,  1831  > 
No.  88.  hier  eine  Verschmelzung  zweier  ursprünglich  ver- 
schiedenen Parabeln  vermitthet  bat« 


i 


680  Zweiter  Abschnitt. 

Aberzogenen,  wo  sich  an  die  durch  einen  Rangstreit  der 
Jünger  veranlafste  Aufstellung  eines  Kindes-  verschiedene 
Reden  knflpfen.  Vollkommen  angemessen  schliefst  sieh  bei 
Matthftns  an  die  Aufstellung  des  Kindes  zunffchst  die  Er- 
mahnung, wieder  Kinder  zu  werden  und  sich  wie  dteft 
Kind  zu  erniedrigen  (V.  3.  4.);  wogegen,  wie  hiemft  der 
folgende  Ausspruch  Jesu,  wer  ein  solches  Kind  in  sei 
Namen  aufnehme,  der  nehme  ihn  selbst  auf,  eiisem 
h&nge,  schon. nicht  ebenso  klar  ist.  Denn  aufgestellt  war 
das  Kind,  um  den  Jüngern  anschaulich  eu  machen,  was 
sie  ihm  nachthun,  nicht,  was  sie  ihm  thun  Sollten,  und 
wie  Jesus  diese  Absicht  auf  Einmal  aus  den  Augen 
Heren  konnte,  macht  bereits  Schwierigkeit  Doch 
greller  als  bei  Matthäus  tritt  das  Unzusammenhängend 
dieses  Ausspruchs  bei  Markus  und  Lukas  darin  hervor, 
dafs  sie  nach  der  Aufstellung  des  Rindes  unmittelbar  da* 
og  idv  di^zai  x.  z.  A.  folgen  lassen,  so  dafs  also  Jesus 
schon  wlhrend  des  Aufsteilens  vergessen  haben  mftfste, 
wefswegen  er  das  Kind  aufstellte,  nämlich,  um  es  seinen 
ehrgeizigen  Jüngern  als  nachahmungswflrdig,  nicht  aber 
um  es  als  aufnahmsbedflrftig  darzustellen  ').  Von  seinen 
Schülern  pflegte  Jesus  zu  sagen,  wer  sie  aufnehme,  nehme 
ihn  selbst  f  und  in  ihm  denjenigen  auf,  der  ihn  gesaadt 
habe  (Matth.  10,  40  ff.  Luc,  10,  16.  Job.  13,  20.):  ▼<» 
den  Kindern  sagte  er  sonst  nur,  wer  das  Himmelreich 
nicht  als  ein  Kind  aufnehme,  der  werde  nicht  hineinkea- 
men  (Marc  i0,  15.  Luc.  18,  17.)-  Dieser  Aasspraefc 
wfirde  auch  hier  trefflich  sich  eignen,  und  man  möchte 
fast  die  Vermuthung  wagen,  dafs  hier  das  ursprfingltdi 
hiehergehörige :  og  iav  ^  difyzai  rrp>  ßavdeiav  nw  aoc 
vtiv  ws  naidtw,  mit  dem  Ähnlich  lautenden:  oV  iav  <?&rr<a 
naidlov  toiwov  ev  int  1$  oYo/«m  ^a,  verwechselt  wordea 
sein  möge. 


i)  Vgl    ob  Wbtte,  1,  1,8.  152. 


Sechste*  Kapitel.    §.78. 


681 


WJe  -in   unitrittelbarsfeer   Beziehung   aof  das  culetvt 
angefftbrte  Wort  Jesu  fügen  hierauf  Markus  (9, 88 f.)  und 
Lukas  (9,  49 f.)  durch  ein  arwxQiS^ig  die  Nachricht  ein, 
*relohe  Johannes  Jesu  gegeben  haben  seil,  dafs  sie  reinem 
Menschen,   der  in  Jesu  Namen  Dämonen  austrieb,   ohne 
efch  doeh  an  sie  aneuscfalief sen ,  diefs  niedergelegt  haben. 
ScRLBiBftMACHUt  ffcfst  den  Zusammenhang  so:   weil  Jesos 
eben   die  Aufnahme'  der  Kinder  Sni  rq>  oropatl  fis  (t.  '/,) 
empfohlen  hatte,   so   habe  ihm  Johannes  das  Gestlhdnifs 
gethan,  •  sie  bitten  bisher  das,  dafs  einer  etwas  gerade  &rü 
n$  ovofical  os  (z.  /.)  thne,   so  wenig  für  die  Hauptsache 
gehalten,  dafs  sie  ekiem,  der  sieh  sieht  an  sie  angeschloa» 
sen,   da«  Handeln   anf  seinen   Namen   gewehrt  haben  *)• 
Allein   dafs  Jobannes   ans    dem  in  •  der  Rede  Jesu   dem 
Sinne  naeh  nicht  'her vortretenden,    und    durch   die  An- 
schauung des  in  die  Mitte  gestellten -Kindes   Hoeh  beson- 
ders in  den*  Hintergrand  gestellten   Beisatz?  inl  vqi  ovo^ 
ficttl  fcs,  fm  Augenbllek   den  allgemeinen  Gedanken  sollte 
berausgesegen   haben:  also  ist  das  „im  Namen  Jesu"  bei 
allem  Thun  die  Hauptsache ,   und  ebenso  eehnell   aof  den 
gans   entfernt  liegenden  Fall  reflectirt:  mit  dieser  Regel 
steht  unser  Verfahren  gegen  jenen  Exorcisten  im  Wider- 
spruch, das  setet  ScHLKiERMAOHBR'sehe  Denkfertigkeit  vor* 
«us,    nicht  eine  Schwäche,    wie  sie  den  J fingern  damals 
noch  eigen  war.     Dennoch  hat  Schleiermaghbr   unfehlbar 
das  Rechte  getroffen ,   wenn  er  in  dem  Ausdruck  ivd  %q> 
dvötuart  (.tu  das  Band   «wischen  der  vorhergehenden  Rede 
Jesu  nnd  dieser  otioxqkjiq  des  Johannes  erkannt  hat;  nur 
dafs   dieses   Band    kein    inneres  nnd   ursprüngliches   ist^ 
sondern    ein    tofseres   and  seeundires.      Denn  wenn   es 
«war  för  die   eubörenden   Jünger  yiel  «u  ferne  lag,   bei 
jenem  Worte  Jesu  sich  durch  innere  Gedankenvermittlong 
sogleich  jenes  Falls  ans  ihrer  Praxis  au  erinnern:    so  lag 

2)  Ueher  den  Lukas,  S.  153  f. 


r 


.LT 


-- 


684  Zweiter  Abschnitt. 

• 

entweder  an  die  jüdische  Synagoge  zu  denken  ,  wmftkr  die 
Analogie  dieser  Anweisungen  mit  jüdischen  Vorschriftse 
so  sprechen  -scheinen  könnte;  oder,  wenn  naeh  Wortbe- 
deutung and  Zusammenhang  ixxhjola  *en  der  christliche» 
Gemeinde  verstanden  werden  mofs*  welehe  damals  noek 
lange  nicht  bestand :  so  findet  hier  wenigstens  im  Aoedmck 
eine  Vorwegnahme  späterer  Verhältnisse  statt  7).  Dar 
J&efcrent  freilich  dachte  gewils  an  die  jau  gründende 
Gemeinde ,  wenn  er  sofort  die  Rede  folgen  laut ,  in 
eher  Jesus  die  schon  früher  dem  Petrus  gegebene  Voll 
macht,  au  binden  und  an  lösen)  also  eine  neue  imiasiani 
sehe  Religtoasverfassuag  au  begründen,  sammtÜehen  Jün- 
gern ertheilt ;  womit  sodann  dl»  Aussprüche  von  der  Kr> 
htfrung  des  eininüthigen  Gebets  und  von  der  Gegenwart 
Jesu  bei  swei  oder  drei  in  seinem  Namen  Versammeltem 
zusammenhängen  9). 

Die  nächste  Rede,  die  uns  begegnet,  Matth.  19,1— U 
-Marel  10,  Ä>12.,  ist,  ob  «war  nach  den  Evangelisten  aaf 
der  letalen  Festreise  Jesu  vorgefallen,  doch  gleichartig 
mit  jenen  Disputationen,  welche  sie  sonst  grdTstentheüs  in 
den  letalen  Aufenthalt  Jesu  in  Jerusalem  stellen.  Phari* 
sffer  legen  ihm  .die  in  den  jüdischen  Schulen  damaliger 
£cR  vielbesprochene  °)  Frage  vor ,  ob  man  das  Eheweib 
nm  jeder  beliebigen  Ursache  willen  entlassen  könne? 
Wenn  man  hiebe! ,  um  Jesum  nicht  in  Widersprach  mit 
der  modernen  Praxis  kommen  au  lassen,  darauf  dringt, 
dafc  er  nur  diejenige  Art  der  Ehetrennung,  von  welcher 
man  damals  allein  wußte,  nämlich  das  willkürliehe  Weg* 
schicken  der  Frau,  nicht  aber  die  gerichtliche  Seheidmm> 


7).a.  ne  Warn,  exeg.  Handb.,  1,1,  8:  155. 

8>  Auch  hiezu  Analoges  aus  jüdischen  Schriften  bei 
LiaaivooT,  Schott««*  z.  d.  St. 

9)  Bemidbar  R,  ad.  Num.  5,  30.  bei  Warmia  p*  W3 


J 


Sechstes  Kapitel    §.  78.  685 


wi«  nie  Jets*  ekigefährt  W,  mifsbilligt  nabe  "):   s*  Ist  da- 
.  jmlt  doch  ««gestanden,  daü»  Jesus,  soweit  er  tön»  Ebetran- 
anmngen  wnfste,  sie  allgemein  yeftverfen  hat;    Wobei  als* 
ndoh  die  Frage  ist ,   ob  ihn  die  neuere  Art,   die  Ehe  auf 
•»Ideen,  wenn   er  davon  Kunde  bfttte  bekommen  können, 
bewogen  haben  würde,  jene  allgemeine  Verwerfung  einatf- 
sehrfnken?  —  Auch  bei  dem  folgenden,  durch  eine  Fragn 
.dar  Jünger  veranlagten  Ausspräche"),  von  welchem  Je> 
ßmm  selbst'  sagt ,  nicht  AUe  begreifen  Um,  sondern  nur  eis: 
dtöbrcu,  dafs  nftmlieb  die  Ehelosigkeit  auch  nm  des  Reicht 
Oätsu  wlUen  übernommen  werden  könne  (V.  11  £),  bat 
-snnn,  ötn  Jesnm  «lebt*  den  den  Jettfgeo  Verstellungen  Zu- 
widerlaufendes sagen  tu  lassen,  siel)  beeilt,  den  Gedanken 
fAnsnfragen ,    nnr  mit  Rleksicht  aof  die  bewtestehendeil 
JMtupjttode ,  oder  damit  sie  In  ihrer  apostolischen  Thfi- 
tigkeit  nicht  ^gehindert  worden,   babe  Jern^s  den  Jägern, 
*ofpmj  sie  es  vermöchten,  die  Ehelosigkdt  angejrt)bmt  **); 
«l|e|n  im  Zusammenbange  liegt  davon  noeh  vreniger  eine 
^deutnng,  als  in  <)er  verwandten  Stelle,  1.  Kor.  7, 15  ff,  «), 
sondern  es  ist  auch  hier  wieder  etiler  der  Ortet,  wo.asce- 
tisehe  Grundsätze,  wie  ,«ie  damals  namentlich  unter  den 
Jissenern")  herrachten,  auch  bei  Jesu,  nach  der* Darstel- 
lung der  .synoptischen  Evangelien,  durchscheinen. 

4  • 

•  10)  s.  B.  Paulus,  L.  J.,  ij  b, Sv  46l  ./ 

11)  Mögliche  Zweifel  an  der  richtige*  Stellung  dieser  Rtde  Jesa 
,   *.  bei  Ns*m>bb,.L.  J.  Chr.,  S.  525.  Anm. 
.  lg)  Paulus  ebenda*.  S.  50.  and  exeg.  Handh.)  2,  S.  599. 

13)  In ,  dieser  Stelle  wird  zwar  die  Ehelosigkeit  zuerst  nur  Sri 
rip>  iregwaay  ayayxqv  empfohlen;  dabei  aber  bleibt  der  Apostel 
nicht  steheri,  iondern  führt  V.  3S ff.  in  dem:  £  ayafio*  jnpjurü 
ra  tU  KvqCh  — '  o  Sf  yaptjaas  ra  r»  *oö/** ,  einen  Grund*  für  die 
Ehelosigkeit  an,  der  unter  allen  Umständen  gültig  seiAmüsate, 
und  in  den  asketischen  Hintergrund  der  Ansichten,  des  Paulus 
blicken  lässt.    Vgl.  Mack,  Co  mm.  ü.  d.  Pastoralbriefe,  S.  509. 

14)  s.  Gvaöaia,  Philo,  2,  S.  310  f. 


686  Zweiter  Abschnitt. 

Die  Streitreden,    Welche  nach  dem  fctneag  Jera  u 
Jerusalem  Mattbios   fast  durchaus  In-  Uebereinstimmuug 
mit  den  beiden  andern  Synoptikern  folgen  lifst  (21,  23- 
27.  M,  lS-tf.)*),  «Ind  gewif*  rorsQgiicb  Ächte  Stücke, 
weil  eie  so  ganz  im  fielst  and  Ten  damaliger  rabbinieeher 
Dialektik  gehalten  »Ind.    Unter  ihnen  sind  die  dritte  «ad 
fünfte  dadurch  besonders  merkwürdig,  dato  sie  Jeemm  mk 
Sehrtfterkiirei"  neigen«    In  Beeng  auf  den  enteren  Kall, 
wo  Jeans  den  SaddacJtern  ans  der  mosaischen  Benennung 
Ootte*  als  #eo?  'Aßfmtitfi  xeri  "lüadx  xtd  'icoetoß,  Ja  doch  Gott 
nicht  &o£  vexQuhy  sondern  £covt<op  sei,  s«  beweisen  aaehf, 
nfr*  iyei$omxi  vexqd  CMattb.  *2,  *  l    3&  pawhVfc  gibt  Pon- 
tes nwar  au,  '  daft  Jesus  hier-  subtil  argutaentirn,    dosfc 
liege  in  seiner  Prffmisse  wirklieh  das ,    was  er  d*moa  ab- 
leite.   Allein  in  dem  aar  Formel  gewordenen  ÜgTXM'yfm 
«.  s»  w.   Ist  nichts  enthalten,  als  daß  Jebovn,  Wie  er  der 
Schdtegdtt  dieser  Mffhner  gewesen  sei ,    so  fort  nntf  fort 
auch  ftir  Ihre  IVachkbmtrien   es  sein  werde:    an   fein   aseh 
nach  ihrem   Tode  fortdauerndes   individuelle*  Verbffknifs 
Jehöra's  an  jenen  Bf  finnern  wird  sonst  Im  PenUtencb  nicht 
gedacht,  nnd  in  unsere  Worte  konnte  es  nur  durah  rabtt- 
nfcfhe  Hermeneutik  an  einer  Zeh  hineingelegt  werden,  in 
welcher  man  die  ihdefs  aufgegangene  Idee   der  Unsterb- 
lichkeit nm  jeden  Preis  auch  schon  in  dem  Gesetze  finden 
wollte,    wo  sie  doch  nicht  anzutreffen  ist;    wie  denn  die 
Besiehung  Gottes  auf  Abraham,   Isaak  nnd  Jakob   aeeh 
sonst  in  rabbinischen  Argumentationen, die  schwerlich  alle 
dieser  Beweisführung   Jesn  nachgebildet  sind,   aum  Beleg 
der  Unsterblichkeit  gebraucht  sich   findet16).    Sieht   man 
sich  auch  noch  in  den  neuesten  Commentaren  um ,    so  fin- 
det-man  nirgends  ein  unumwundenes  Gesttfndnifs,  wie  es 


15)  Eine  bündige  Erläuterung  derselben  gibt  Ha»,  L.J.,  §.129. 

16)  s.  Öemara  Hieros.  Berac.  f*  5j  4.  bei  LicuTrooT,  S.  423,  und 
R.  Manassc  Ben  Isr.  bei  ScuÖfTes»,  i,  S.  ISO. 


< 


I 


Sechstes  Kapitel.    $.  78.  687 

mit  •  dieser '  Argumentation  f mk  steht  Olshaiwin  weif* 
Wunder  von  der  tiefen- Wahrheit  dieser  BeweisMitorig 
mm  sagen,  aus  welcher  er  nebenher  noch  1)  die  Authfentie, 
2)  die  Göttlichkeit  des  Pentalenehs  auf  dem  kdrsesten 
Wege  ableiten  so  können  glaubt;  Paulus  liest  den  Herr 
sles  Beweiset  swisehen  den  Zeilen  des  Textes;  Fritzscbr 
schweigt.  Wozu  diese  Wkikelstfge?  Wunrm  den  Rahm, 
In  dieser  Baehe  klar  gesehen  und  offen  geredet  so  haben, 
den*  WolienMtttler  Pragtneiitistftn  4berlettfen  w)  ?  Zn  wei- 
chen Gespenstern  nnd  Doppelgängern  tuscht '  man  einen 
Masses ,  einen  Jesus,  wenn  sie  unter  ihren  Zeitgenessen 
hemmgewandelt  haben  soffen,'  ohn6  anf  lebendige  Weise 
*ft  deren  Einsichten  nnd  Sehwichen,  wie  mit  ihren  Fren- 
zen nnd  Leiden,  susammensuhfingen ,  sondern  losgetrennt 
Ton  Ihrer  Zeh  nnd  iterem  Volke  sollen  sie  nnr  lufserlich 
und  aus  Anbequemung  sich  diesen  gleichgestellt,  innerlich 
aber  nnd  ihrem  Wesen  nach  in  den  vordersten  Reihen  der 
Neuesten  Zeit  nnd  ihrer  Erkenntnisse  gestanden  haben. 
Würdiger  gewifc,  ja  allein  fthig  der  Theitntfhme  nnd  Ver 
•hrung  sind  diese  Minner  dann,  wenn  sie  anf  fichtmenscli- 
liehe  Weise  klmpfend  mit  den  Schranken  nnd  Vorurthet» 
len  Ihrer  Zeit  diesen  in  hundert  Nebendingen  unterlegen 
sind,  nur  nicht  in  Beeng  anf  den  Einen  Punkt,  In  wei- 
chem Jeder  von.  ihnen  die  Weltgeschichte  vorwärts  su 
bringen  berufen  war. 

Haft  nnn  aber  vollends  ton  der  Streitfrage  über  den 
Messias,  -welche  Jesus  den  Pharisäern  vorlegt:  wiefern 
derselbe  Davids  Herr  und  sogleich  dessen  Sohn  sein  kön- 
net (V.  41-  40.)  Paulus  su  behaupten  im  Stande  ist,  sie 
a*i  ein  Master  textgemifser  Schriftauslegung  *•) ,  erregt 
kein  gutes  Vorurtheil  für  die  Textgem&Tsheit  seiner  eige- 
nen.   Nach  ihm  will  Jesus,  wenn  er  fragt,  wie  doch  Da* 


|7)  t.  dessen  4tes  Fragment,  in  Lissiire's  4tein  Beitrag,  S.  454  ff. 
18)  L.  J.,  I,  b,  S.  115  ff. 


■-*. 


-Jl 


038  Zweite*  Abschnitt. 

vid  iov  tHtten  Psalm  de«  B&eaeias,  welcher  4«mt  der;*Uge. 
me;ia*n^  Vorstellung  vielmehr  s 'fr  &» ha  wer,  «einen  Harn 
nennen  könne?  die. Pihe4tbi^<>da*auf  aufmerksam  waob^, 
daf«  «tien  in  diätem  PMa*t'W«jd£r  Dl*  vid  noch  vom  Mt* 
eiarrede,  sondern  *feo  anderer  Dichter  rede  von  Oivii 
als  seinem  Herrn)  so  dal*,  dieser  kriegerisch  lautende  Pak 
gar  Mein  meseianischer  sei.  Waran  4*11  to,  fragt  Paulo, 
Jesus,  diesen  Sinn  des  Psalms  nicUt  gefunden  il&beD)  4 
er  an  qjch  waV ist $  Allein  des  ist  eben  ,dsj»  af^lkaf  ^w- 
des  dieser  gangen  Art  r  von  gaegese,  £u  ,**einen,  w« 
«ob ,  ?d*r  näiw  f ttr  *MW  >  wahr  ist,  daa  mfiase  bis  arf 
daa  BinaeUjte  Wnaus  aucfr  spAmfür  Jesum  nad.dieip 
Atel  daa.  Wabse  «gewesen  sein.,  Wie  kann,  dertdieJÜtei* 
frischen 'Erklarer  4*n,  Psalm  ^(seDtheüe  vom  Dtooa 
verstanden  19);  da  dfo  Apostel,  *hp,  al*  ,VVleLrta^ung  aal 
Christum  gefaranchen  (A.  G,  2,  34  t  *,•, Kor-  .19/  25.);  « 
Jesus  selbst  naeb  Matthäus-  .unfi.  Rfarinf  durch  den  Za- 
aata:  iv^JW&ppKi  sa  Jaßlö  $pl& >  ifiktov  JCi ^ft»  effaikii 
seine  Beistimmiing  su  der  Meinung,  dafs  hier  DatM,«*' 
«war  yom  Messias  spreche,  ,af|sd#uckt£  wtetftaffß  nuada 
annehmlieh  finden ,  dal*  ^esup  der  ftnigegeogeaetsies  Ma- 
nung  gewesen  sei?  Bleibt,  '-es  vielmehr,  debe},  WJtf  ,B^ 
Olshausen  gut  Ausführt |  da%  Jesus  den  Psaln*  4*  m?M* 
nischen  voraussetzte.;  aber  eben  so  sehr,  worin  dann  2& 
lüs  Recht  behält,  dafs  er  ursprünglich  nicht  auf  den  Mer 
sias,  sondern  auf  einen  jüdischen  Regenten,  sßi,  dieses,  vm 
David  oder  ein»  anderer,  ging:  so  sehen  wir  hier  haXf* 
de  Jesu  ein  Muster  nicht  textgemäfser,  wohl  aber  seitp 
mäfser  Schriftauslegung,  was  wir  uns  denn  nacfc  d» 
oben  Bemerkten  nur  gar  nicht  wollen  wandern  1**M» 
0er  Sphlüssel  «u  dem  R&tjiseJ,  welches  Jesus;  den  Phs* 
aäern.bier  aufgab»  ^g  ftyr  ityi,ehtte  ZWretfctl.ui.der  Leb 


19)  s.  Wbtstbis,  z.  d.  St.;  Hjbwtbkbirg,  CfytistoL,  l,a,  S.  f40^ 
auch  Paulus  selbst,  exeg.  Handb.,  3,  a,  S.  \283i. . 


Sechstes  Kapitel.    $•  78.  *S9 

von  der  höheren  Natur  des  Messias:    sei  ee  in  der  Art, 
dal*  der  naeh  dieser  Seite  Davids  Herr  an  Nennende  naeh 
der  Seite  seiner  menschlichen  Natur  sogleich  sein  Sohn 
heißen  ktinne;   oder  dafa  Jesus  die  Vorstellung  vom  Mes- 
sias als  Sohne  Davids,   und  damit  die  politische  Messias- 
t      Idee  tfberhanpt ,  als  eine,  irrige  beseitigen  wollte  so>    Der 
[      Erfolg,   and  vielleicht  nach  die  Absicht  Jesu  den  Pbari- 
i      eiern  gegenüber,  wer  aber  nur,  ihnen  cd  neigen,  daüs 
i      naeh  er,  was  sie  früher  gegen  ihn  versnobt  hatten,  im 
Stande  sei:  sie  durch  verfängliche  Fragen  in  die  Enge  sa 
treiben,  and  «wer  mit  besserem  Erfolg  als  er»    Defswe- 
i      gen  stellen  die  Evangelisten  dieses  Stück  an  den  Schlafs 
i      der  von  ihnen  mitgetheilten  Disputationen,  and  Matthins 
i      setat  die  Schlußformel :  &d£  itÜLfape  zig  an   ixeivqg  zrjg 
t     yfi&Q<*G  ineQanijaai  ccvzov  sxhtf  gewid  passender  hieher, 
j      bIm  Lakas  naeh  der  Zurechtweisung  der  Sadducfier  (20, 40.), 
oder  Markos  nach  der  Verhandlung  Aber  das  größte  Ge- 
t      bot  (12,  34.). 

I  Znniehst  vor  dieser  von  Jesu  den  Pharisiern  gestell- 

,      ten  Aufgabe  nämlich  ereihlen  die  beiden  ersten  Evangeli- 
t      aten  eine  Verhandlung  Jesu  mit  einem  vo/nucog  oder  YQccfi- 
,      funevg  Aber  das  vornehmste  Gebot  (Matth»  22,  34  ff.  Marc 
I      12,  28  ff.) ,  welche  Matthins  en  die  Disputation  mit  den 
|      Sadduciern  so  anknüpft,   als  bitten  die  Pharisäer  durch 
,      ihre  Frage  nach  dem  höchsten  Gebote  die  Niederlage  der 
(      Sadducier  riehen  wollen.   So  befreundet  aber  waren  diese 
,      beiden  Secten  bekanntlieh  nicht,   sondern  umgekehrt  war 
nach  A*  G.  23,  7.  die  eine  geneigt,   sich  anf  die  Seite  ei- 
nes sonst  Angefeindeten  su  schlagen,    wenn  sich  dieser 
nur  als  Gegner  der  andern  bu  stellen  wufste*    Hier  wird 
also  Schkickskbubqbk's  st)  Beobachtung  gelten  müssen,  dafs 
Matthias  nicht  selten  (3, 7.  16, 1.)  die  Pharisäer  and  Sad- 


20)  Vgl.  di  Wem  c.  d.  St. 

21)  Ueber  den  Ursprung  u.  s.  f.,  S.  45.  47. 

Das  Leben  Jesu  3t*  Aufl.  L  Band.  44 


■i> 


/■*-■.-' 


*  I 


696  Zweiler  Abschnitt. 

dueffer  in  einer  Weite  nebeneinanderstelle,  w!o  sie  kei- 
neswegs in  der  sie  feindlieb  trennenden  Wirklichkeit,  son- 
dern nur  in  der  traditionellen  Erinnerung,  in  welcher  der 
eine  Gegensat«  den  andern  hervorrief,  gestanden  haben 
können.  Leidlicher  welfs  in  dieser  Hinsicht  Markos  die- 
ses Gesprfich  an  das  vorige  ansnsebliefsen ;  indefr  scheint 
oben  das  ein  Irrtbnm  der  Synoptiker  an  sein,  dafs  sie 
meinen,  diese,  der  Aehnliebkeit  wegen  in  der  Ueberliefi> 
mng  ansammengrnppirten  Verbandinngen  messen  auch  der 
Zeit  nach  anf  einander  so  gefolgt  sein,  dafs  eine  Rede  die 
andre  gab.  Dem  Lukas  fehlt  die  Frage  nach  dem  höch- 
sten Gebot  im  Znsammenhang  dieser  Streitreden ;  eine  Un- 
liebe Ereählnng  aber  hat  er  schon  früher  in  dem  Reise- 
bericht, 10,  25  £,  gehabt.  Hier  ist  nnn  die  gewöhnliche 
Ansicht,  dafs  die  beiden  ersten  Evangelisten  Eine  und  die» 
selbe  Begebenheit  wiedergeben,  der  Dritte  aber  eine  ver- 
schiedene 22).  Wirklich  unterscheidet  sich  die  Era&hinng 
des  Lukas  ton  der  der  beiden  andern  in  mehreren  nicht 
unwesentlichen  Punkten.  Zuerst  in  Betreff  der  Zeitord- 
nung anf  die  bereits  erwtthnte  Weise,  und  diefs  hat  wohl 
am  meisten  für  die  Auseinanderhaltung  gewirkt;  hien&ehst 
in  der  Frage,  welche  bei  Lukas  nach  einer  Lebenangel 
aum  Behuf  der  Ererbung  der  ^uyrj  attiviosy  hei  den  andern 
nach  dem  höchsten  Gebote  lautet ;  dann  in  dem  Subjeete* 
welches  die  höchsten  Gebote-  ausspricht,  was  bei  den  swei 
ersten  Synoptikern  Jesus,  bei  dem  dritten  der  Schrifkge» 
lehrte  ist ;  endlich  auch  in  dem  Ausgang  der  Sache,  indem 
bei  Lukas  der  vopixog  eine  «weite,  rechthaberische  Frage 
thut,  an  welche  sich  das  Gleichnifs  vom  barmheraigen  Sa- 
mariter schliefst,  während  er  bei  den  beiden  andern  ohne 
weitere  Frage  befriedigt  oder  abgefertigt  sich  gibt.  Indefr 
auch  ewisohen  der  Erzählung  des  Matthäus  und  der  des 
Markus    seigen   sich  erhebliche   Verschiedenheiten*      Dia 


22)  so  Paulus  und  Outuussit  s.  d.  St. 


Sechstes  Kapitel.    $•  78.  N 


«91 


hauptsächlichste  betrifft  den  Charakter  des  Fragenden,  der 
bei  Matthäus  als  tziiqo^wv,  bei  Markos  in  gutmft  thiger  Ab- 
sieht kommt,  weil  er  wnfste,  da£»  Jesus  den  Sadducäern 
xaltSs  d7cex(Hdy.  Paulus  swar,  uneracbtet  er  anderswo 
(Luc.  10,  25.)  den  ix7ULQa£ow  selbst  als  einen  eigensüchti- 
gen Probemaeher  nimmt,  erklärt  doch,  hier  bei  Matthäus 
könne  atLQu^w  nur  im  guten  Sinne  gemeint  sein.  Allein 
ein  Grund  hiesu  liegt  im  Matthäus  nicht,  sondern  nur  im 
Markos  und  in  der  unberechtigten  Voranssetcung ,  daCs 
beide  Referenten  in  Bezug  auf  den  Charakter  und  die 
Absieht  des  fragenden  Gesetslebrers  nicht  verschiedener 
Meinung  gewesen  sein  können.  Mit  Recht  hat  hiegegen 
Fritzscbb  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie  hier  einer 
Vereinigung  des  Matthäus  mit  dem  Markus  theils  die  Be- 
deutung des  7teiQa£un>9  theils  der  Zusammenbang  entgegen- 
stehe, welcher  nicht  gestatte,  eine  Reihe  böswilliger  Fra- 
gen der  Gegner  Jesu  ohne  besondere  Aussige  durch  eine 
gutgemeinte  unterbrochen  su  denken«  Mit  dieser  Haupt- 
diffiereoft  hängt  die  andere  zusammen ,  dafs ,  während  bei 
Matthäus  der  Schriftgelehrte,  nachdem  ihm  Jesus  die  bei- 
den Gebote  genannt  hat,  wahrscheinlich  beschämt,  schweigt, 
was  auch  kein  Zeichen  einer  freundlichen  Stellung  zu  Jesu 
Ist,  er  bei  Markus  nicht  nur  durch  ein:  xakHg,  diddaxale, 
in  alr/dtlag  tinas,  Jesu  Beifall  gibt,  sondern  auch  das 
von  diesem  Gesagte  weiter  ausfährt,  wofür  er  von  Jesu,' 
oii  vövexwg  otuxqi^ip  ml*  einer  bezeichnet  wird,  der  nicht 
ferne  vom  Reiche  Gottes  sei.  Auch  das  kann  noch  ange- 
führt werden,  dafs,  während  bei  Matthäus  Jesus  nur  von 
dem  Gebot  der  Liebe  spricht,  er  bei  Markus  von  dem 
ox««  "[(jQarjk)  KvQiog  6  &eog  ijfiwv  KvQiog  eig  igt,  ausholt« 
Wenn  man  also  um  der  Differenzen  zwischen  der  Erzäh- 
lung des  Lukas  und  der  der  beiden  andern  willen  diese 
unterscheiden  zu  müssen  glanbt :  so  mufs  man  nicht  gerin- 
gerer Unterschiede  wegen  auch  den  Markus  von  Matthäus 
trennen,   und  so  dreierlei  Begebenheiten  als  cum  Grunde 

44* 


s 


092  Zweiter  Abschnitt. 

liegend  denken.  Aber  drei  Im  Wesentlichen  so 
Vorfalle  anaunehmen  ,  fällt  so  schwer ,  dafs  man  sieh  i» 
mer  wieder  en  Reductionsversuchen  veranlafst  findet 
wird.  Und  hier  scheinen  sieh  nun  awar  vor  Allem  tot 
beiden  Ersäblungen  des  Matthias  und  Markus  aar  Idesfr 
ficirung  daranbieten;  indessen  fehlt  es  auch  weder awisebei 
Matthäus  und  Lnkas  an  Berührungspunkten,  da  in  beide» 
der  vofitxog  als  7tsiQ<x£a)v  auftritt,  und  durch  Jesu  Antwort 
niebt  eu  dessen  Gunsten  gestimmt  wird ;  noch  auch  wi- 
schen Lukas  und  Markus,  indem  beide  der  Nennung  dir 
höchsten  Gebote  noch  eine  weitere  erläuternde  Verhut 
lung  folgen,  und  in  das  Gesprich  Jesu  mit  dem  SehriAgr 
lehrten  Beifallsformeln,  wie:  OQdvjg  anexQt&rß,  xdLukm 
aXiftsictQ  elixag,  einfliefsen  lassen.  So  sehen  wir,  dtfi,  nr 
ewei  ron  diesen  Ersählungen  ausammensunehnen,  an 
halbe  Mafsregel  ist,  und  entweder  alle  drei  ausefnaid* 
gehalten  werden  müssen ,  oder,  da*  dieCs  nicht  angebt,  aib 
drei  ausammengefafst;  woraus  wir  abermals  sehen,  m  wie 
freien  Variationen  die  urchrisdiebe  Sage  das  gletehe  Tfae- 
ma  —  hier  das ,  dafs  Jesus  aus  dem  mosaischen  Gesetze 
die  beiden  Gebote  der  Gottes-  und  Nächstenliebe  ab  die 
vornehmsten  herausgehoben  habe,  —  su  behandeln  pflegte9). 
Wir  kommen  nun  an  die  grofse  antipharisäisobeRes^ 
welche  Matthäus  Kap.  23.  als  HaopttrefFen  auf  die  Ver- 
spiele der  Disputationen  folgen  läfst.  ,  Auch  Markos  (H 
38  ff.)  und  Lukas  (20,  45  ff )  haben  hier  eine  Rede  Jeff 
gegen  die  yQa/u/ucrreig ,  doch  nur  von  wenigen  Verse«. 
Wohl  mochte  aber  Jesus,  wie  auch  die  neueste  Kritik  i> 
gesteht"),  unter  den  damaligen  Umständen  renuM 
sein,  sich  ausführlicher  gegen  jene  Menschen  aassolaiseij 
und  es  müssen  auch  wohl  solche  scharfe  Erörterungen  der 
Katastrophe   vorausgegangen  sein :   so  dafs  man  slto  4* 


25)  Vgl.  dk  Wim,  exeg.  Handb.,  I,  1,  S.  186. 

2*)  Siarnar,  Über  den  Ursprung  des  ersten  Ev.,  S.  Uli 


\ 


Sechste«  Kapitel.    $.  78«  693 

Darstellung  des  Matthäus  hier  wenigstens  nicht  nach  den*, 
was  die  beiden  andern  Synoptiker  geben,  abmessen  darf85)  ; 
eumal  die  Von  jenem  mitgetheilte  Rede  in  sich  selbst  wohl 
Kusammenbängt.  Freilich  hat  auch  hier  wieder  Lukas 
Manches  von  dem,  was  Matthäus  nusammenstellt ,  an  ver- 
schiedene Orte  nnd  Anlässe  vertheilt,  and  hieraus  würde 
folgen,  dafs  auch  diefsmal  Matthäus  den  nrspr anglichen 
Lehrstoff  mit  verwandten  Elementen  aus  andrer  Zeit  ver- 
aebmolaen  habe26):  wenn  es  ausgemacht  wäre,  dafs  die 
Stellung  jener  Redestücke  bei  Lukas  die  richtige  sei;  was 
sofort  eu  untersuchen  ist.  Lukas  hat,  was  er  aufser  den 
paar  Versen ,  die  er  an  gleicher  Stelle  wie  Matthäus  von 
der  antipharisäischen  Rede  Jesu  beibringt,  mit  dieser  ge- 
mein hat,  bei  zwei  pharisäischen  Gastmahlen  unterge- 
bracht, an  welchen  er  —  eine  nur  bei  ihm  sich  findende 
Artigkeit  -  Jesum  geladen  werden  iäfst  (11, 37  ff.  14, 1  ff.), 
und  hier  ist  nnter  den  jetsigen  Auslegern  fast  nur  Eine 
Stimme  darüber,  wie  natürlich  und  treu  uns  Lukas  die 
ursprünglichen  Veranlassungen  dieser  Reden  aufbewahrt 
habe  27>  Nun  nimmt  sich  wirklich  bei  dem  zweiten  der 
angeführten  Pharisäermahle  das  natürlich  genug  aus,  wie 
Jesus  von  dem  dabei  bemerkbaren  Trachten  der  Geladenen 
nach  den  obersten  Plätsen  Veranlassung  nimmt,  vor  dem 
Obenansitsen  bei  Gastmahlen  schon  aus  Klugheitsrücksich- 
ton  su  warnen ;  was  bei  Matthäus  und  Markus,  aber  auch 
hei  Lukas  selbst  wieder,  in  jener  letzten  antipbarisäischen 
Rede,  ohne  besondern  Anlafs  nnd  kürzer,  sich  findet. 
Anders  dagegen  verhält  es  sich  mit  den  Reden,  welche 
Lukas  bei  dem  früheren  Phajrisäermahle  geführt  werden 


25)  Vgl.  db  Wim,  1,  1,  S.  189. 

26)  So  Schul«,  über  das  Abendmahl,  8.  513  f.  j  Schnickikbv**«*, 
über  dca  Ursprung,  S.  35 .  • 

27)  Sciilbibhmachbr,  über  den  Lukas,  S.  182.  >96  f.  j    Ols  mausen, 
z.  d.  St ,  und  die  in  der  vorigen  Anm.  genannten. 


_  4.. 


694  Zweiter  Abschnitt 

ifffst.    Hier  spricht  Jesus  nicht  nur  gleich  von  vorne  her» 
ein  von  dfmayfj  und  7tovr;oia9  womit  die  Pharisäer   ihre 
Schüsseln  fallen,    and  beehrt  sie  mit  dem  Titel   atffxm;] 
Sondern   er  bricht  sofort  in   ein  öa*   um  das  andere  Hb« 
sie  und  die  Schriftgelehrten  aas,  and  droht  ihnen  orft  ei- 
nem Strafgerichte  für  alies  Blut,    das   sie  and  die   ihn» 
Gleichgesinnten  von  jeher  vergossen  haben.   Ist  nun  gieiek 
von   einem  jüdischen  Lehrer  keine  attische  Urbanität  n 
verlangen,  so  rnnfsten  doch  gerade  auch  nach  morgenlis- 
dischem  Mafsstab  gemessen  solche  Reden ,  Ober  Tiseh  ge- 
gen den  Wirth   and  die  Mitgäste  geführt,    als  die  gröbste 
Verletzung  des  Gastrechts  erscheinen.   -  Diefs  hat  Schlkiu- 
macher  fein  genng  gefühlt;   wefswegen  er  denn  das  Gast- 
mahl selbst  friedlich  vorübergehen,  and  erst  nach  demsel- 
ben, als  Jesns  sich  schon  wieder  draufsen  befand,  sowohl 
den  Gastgeber  mit  seiner  Verwanderang  über  die  von  Je* 
sas  and  seinen  Jüngern   unterlassene    Waschung    heraus- 
rücken, als   auch  Jesum  hierauf  so   gewaltig   antworten 
lfffst  ").    Allein   dal*   auf  diese  Weise  der  Referent  das 
Gastmahl  selbst  and  was  dabei  vorgegangen  jpr  nicht  be- 
schrieben, sondern  nnr  des  Zusammenhangs  wegen  erwähnt 
haben  soll,  Ist  eine  gewaltsame  Annahme,  and  wenn  aus 
liest:   elgeXd-ojv  <W  averteoev  6  di  OaQiaalog  Idiav   i9av- 
ftaoev,  avi  s  TtQcütöv  ißamtoxh]  — •  eine  dk  o  Kvqioq  aroos 
ainovy  so  ist  es  rein  unmöglich,  irgendwo  nwisehen  dien 
Sfitee  den  Verlauf  der  Mahlzeit  einzuschieben ;  sondern  ei 
mufs  sich   nach  der  Ansicht  des   Erzählers   sowohl  dm 
id-avfiaaev  an  das  dvirteoev,  als  das  elnev  an  das  e&at^fitso^ 
unmittelbar  angeschlossen  haben.    Kann  aber  diefs,   wem 
Jesns   nicht  auf  das  Gröbste  gegen   alle  Sitte   verstofsea 
haben  soll ,   nicht  wirklieh  so  der  Fall  gewesen  sein  :  ss 
hat  es  mit  dem  Rühmen  der  Stellung  dieser  Rede  bei  La-  - 
kas  ein  finde,  und  wir  müssen  nur  noch  sehen,  wie  er  *i 


28)  a.  a.  0.  8.  ISO  f. 


i 


Seohttef  Kapitel.    §.  76.  IHM» 

einer   so   falschen  Stellang  gekommen    fein   fcaniu     Diefs 
finden  wir,  wenn  wir  die  Art  vergleichen,  wie  die  beiden 
andern  Synoptiker   de«  Anstofses  Erwähnung  thun,   wel- 
chen   die  Pharisäer  an   der  Unterlassung  der    Waschung 
vor  Tische  von  Saiten  Jesn   and    seiner  Sehale  nahmen; 
woran  sie  übrigens  andere  Reden  als  Lukas  knöpfen,  wel- 
che   schon  oben   betrachtet   worden   sind.    Bei   Matthins 
C 15,  1  ffi. )  kommen  die  y^a^fiaveig  und  OctQioaioi  von  Je- 
rusalem und  fragen  Jesum,  warum  seine  Jünger  die  Sitte 
des  Waschens  vor  Tische  nio^t  beobachten?  was  sie  also, 
wie  man  voraussetzen  kann,  durch  das  Gerücht  erfahren 
•haben  mögen;   bei  Markus  (7,  lff.)  sehen   sie  unmittelbar 
*n  (,ldovte$')9  wie  einige  von  Jesu  Jüngern   mit  ungewa- 
schenen Händen  essen,  und  stallen  sie  darüber  aar  Rede; 
hei  Lukas  endlieb  speist,   wie  wir  gesehen  haben,.  Jesus 
eelbst   bei  einem   Pharisäer,    und  bei   dieser   Gelegenheit 
steigt  es  sieh,   dafs  er  die  Waschung  unterläßt,    Dieb  ist 
ein  offenbarer  Klimax:   Hörensagen  —  Zusehen  —  Mit- 
speisen:   and  es  fragt  sieh  nur,   in   welcher  Richtung  er 
entstanden  seinhnag,   ob  io  der  absteigenden  von  Lqkas 
sc  Matthäus,   oder  in  der  aufsteigenden  von  Matthäus  au 
Lukas?    Von  dem   Standpunkte  der  neuesten  Kritik  des 
ersten  Evangeliums  wird  man  nicht  ermangeln,  das  Ersiere 
eu  behaupten :  dafs  nämlich  die  Kunde  von  der  ursprüng- 
lichen Soene,  dem  Mahle,  sieh  in  der  Ueberiieferung  ver- 
loren habe,  und  debwege*  im  ersten  Evangelinm  fehle. 
Allein  angesehen  von  dem  Undenkbaren,  dafs  jene  Reden 
bei  einem  Mahle  sollten  geführt  werden  sein,   so  ist  es 
keineswegs  die  Weise  der  Sage,   einen  so  anschaulichen 
Zug,  wie  eine  Mahlzeit  ist,  wenn  sie  ibn  einmal  hat,v  wie- 
der fallen  an  lassen,  sondern  eher,  wenn  sie  ihn  nicht  hat, 
ihn  au  erdichten«    Wie   überhaupt  das  Abstracto  in  der 
Sage  uum  Conereten  umgebildet: wird:  so  macht  sie   das 
Mittelbare  cum  Unmittelbaren,  das  fando  audire  «um  Se- 
hen, den  Zuschauer  uum  ThettneiMuer,  und  da  sieh  der 


^-.    :~<-» 


096  Zweiter  Abschnitt 

Anstofs,  welchen  die  Pharisäer  an  Jesu  nahmen,  unto 
Anderm  auch  auf  Tiaehgebräuohe  bezog:  ao  war  et  itt 
Sage  nahe  gelegt ,  jenen  Ansteh  an  Ort  und  Stelle  ents* 
hen ,  nnd  an  diesem  Behnfe  pharisäische  Einladungen  n 
Jesnm  ergehen  an  lassen,  von  wieleben  nnn  aoeh  bedesk« 
lieh  wird,  dafs  sie  Lukas  allein  hat,  nnd  die  beides  s> 
dern  Synoptikern  nichts  von  dergleichen  wissen.  Hiedueh 
wird  dann  anch  das  andre  der  erwähnten  Pharislenukk 
verdächtig,  nnd  wir  sehen  hier  wieder  den  Lukas  in  ssi- 
ner  beliebten  Geschäftigkeit^  au  fiberlieferten  Reden  Jen 
passend  scheinende  Rahmen  au  verfertigen  oder  avtaek* 
men;  ein  Verfahren,  welohes  von  der  historischen  Wik 
heit  um  ein  gutes  Stfiek  weiter  abliegt ,  als  das  Bestnki 
des  Matthäus,  Reden  ans  veraehiedenen  Zeiten,  doch  «tu 
eigne  Znthat,  aasammeneustellen.  Der  bezeichnete  Kliaa 
f  übrigens  Ist  dem  sonstigen  Verhältnifs  der  Synoptiker  £• 

mäfs  nur  so  sn  denken,  dafs  Markus,  welcher  in  dieser 
firsählung  augenscheinlich  den  Matthäus  vor  sieh  fcatte, 
In  dessen  Darstellung  das  anschauliche  idonsg  hinefotrsg, 
während  Lukas,  von  beiden  unabhängig,  sogar  ein  iiim 
Bei  es  von  der  weiter  fortgeschrittenen  Sage  fibefiMi 
oder  mit  regerer  Phantasie  daaudiebtete.  —  Neben  dieaer 
anhistorischen  Stellung  acheinen  auch  die  Ausspräche  nM 
bei  Lukas  cum  Theil  entstellt  n  sein  (11,  »9-41.  M 
nnd  die  Zwischenrede  des  vofitxog:  diddoxale*  tavia  Uff 
xal  rjftag  vßgl&tg  (11,  45.),  siebt  einer  gemachten  Qekr 
leitnng  von  den  Reden  gegen  die  Pharisäer  au  denen  p 
gen  die  Schriftgeiehrten  gar  an  ähnlich  29). 

Sonst  ist  aus  dieser  Rede  besonders  V.  35.  fiel  be- 
sprochen worden,  wo  Jesus  seinen  Zeitgenossen  droht,  W 
alles  unschuldig  vergossene  Blut  von  Abel  bis  an  den  i* 
Heiligthnm  ermordeten  Zaebarias,  Barachias  Sohn,  Ü* 
sie  kommen  werde.    Da  nämlich  derjenige  Zaeharias,  *■ 


29)  Vgi>  ds  Warn ,  exeg.  Handb.,  i,  1,  S.  189.   1,  2,  8.  67.  *- 


-^A 


Sechstes  Kapital.    $.  79. .  007 

welche«  a.Chr*ri.*4,20ft  ein  solches  Kode  ersählt  wird, 
ein  Sohn  »lobt  von  Baraehias ,  sondern  von  Jojada  war; 
dagegen  im  jüdischen  Krieg  ein  Zaebarias,  Barneb«  Sohn, 
ein  gleiches  Knde  nahm50);  da  es  fiberdieJs  anpassend 
schien,  dafs  Jesos  auf  einen  850  v.  Chr.  begangenen  Mord, 
eis  aof  den  loteten,  snrflokgewiesen  haben  sollte :  so  glaabte 
man  snerst,  eine  Prophezeihang,  hernach  eine  Verbreche* 
Inng  jener  früheren  Thatsache  mit  dieser  späteren,  hier  am 
finden;  weiches  Letstere  man  als  Mitbeweis  einer  späte- 
ren Abfassung  des  ersten  Evangeliums  gebrauchte  8i> 
fibeneognt  indefs  kann  der  nach  der  Chronik '  ermordete 
Zaebarias  Jojada's  Sohn  mit  dem  gleichnamigen  Propheten, 
der  ein  Sohn  von  BaraeUas  war  (Zach.  1,1.  LXX;  Ba» 
rnch  bei  Josephns  ist  nicht  einmal  derselbe  Name},  ver- 
wechselt worden-  sein  **) ;  nnmal  anch  ein  Targum,  offen- 
bar in  Folge  der  gleichen  Verwechslung  mit  dem  Prophe- 
ten, der  ein  Enkel  Iddo's  war,  den  ermordeten  Zaebarias 
einen  Sobn  von  Iddo  nennt ") ;  dem  ersten,  im  ersten  ka- 
nonischen Boche  ersählten ,  Morde  aber  einen  im  lotsten 
Bache  des  Kanon  gemeldeten  (der  Prophetenmord  Jerem, 
26,  23.  füllt  zwar  der  Zeit  nach  später;  aber  Jeremia 
steht  im  Kanon  weiter  vorwärts)  gegenüberzustellen,  ist 
gans  in  der  Art  jüdischer  Redeweise  **)• 

Nachdem  wir  non  von  den  Raden  Jesu  bei  Matthäus 
alle  diejenigen  betrachtet  und  mit  ihren  Parallelen  ver- 
glichen haben,  welche  uns  nicht  entweder  schon  froher 
vorgekommen  sind,  oder  später,  theils  in  der  Betrachtung 


50)  Joseph,  b.  j.  4,  5,  4« 

51)  Eichhorn,  Einleitung  in  das  N.  T.,  1,  8.  510 ff.;   Hu©,  Einl. 
in  das  N.  T.,  2,  S.  10 ff.;  Crbdkir,  Einl.,  1,  S.  207. 

32)  S.  Thkilb  ,  Über  Zaebarias  Baracbias  Sobn ,   in  Wihzr's  nnd 
Kngblhardt's  neuem  krit.  Journ.,  2,  S.  401  ff.;  db  Warn  s.  d.  St« 

33)  Targum  Thren.  2,  20,  bei  Witstuji,  8.  49t. 

34)  VgL  ua  Wmtts  s.  d.  St. 


'. "  *-  «- 


aus 


Zweiter  Abschnitt* 


eineeiner  Begebenheiten  Mit  der  ftffentlichen  Wirksamkeit 
4eso,  tbtile  in  der  Leidensgeschichte ,  noch  vorkommen 
werden:  so  konnte  es  eur  Vollstfindigkeit  su  gehSren 
scheinen,  dal*  wir  ebenso  anch  noch  die  Zusammenstellun- 
gen, in  welchen  die  beiden  andern  Synoptiker  die  Reden 
Jesu  geben,  für  sich  betrachteten,  und  von  da  aoe  auf  dis 
Parallelen  im  Matthäus  hinübersähen.  Indefs  auf  die  merk* 
würdigsten  Redemassen  bei  Lnkas  und  Markos  haben  wir 
bereits  einen  vergleichenden  Blick  geworfen ;  die  Parabeln, 
welche  beiden  eigentümlich  sind,  durchgegangen; 
Uebrige  aber,  was  sie  an  Reden  voraushaben,  wird 
tbeils  gleichfalls  später  neeh  verkommen,  theils  ergibt  aick 
der  Standpunkt  für  die  Betrachtung  desselben  aus 
Bisherigen :  wefswegen  es  hiebet  sein  Bewenden  haben 


N 


I 

t 


Siebentes    Kapitel. 

Reden  Jesu  im  yierten  Evangelium, 


f.    79. 

Die  Unterredung  Jesu  mit  Nikodemus. 

Das  erste  gröfsere  Redestttck,  welche«  uns  das  Joban- 
heische Evangelium  mittheilt,  ist  die  Unterbaitang  Jesu 
mit  Nikodemus  (3,  1—21.)*  Vorher  (2,  23  —  25.)  war  be- 
richtet worden,  wie  während  des  ersten  von  Jesu  seit  sei: 
nem  öffentlichen  Auftritte  besuchten  Paschafestes  durch 
die  OfytsZccy  welche  er  verrichtete,  Viele  zum  Glauben  an 
ihn  gebracht  worden  seien ;  wie  aber  er  sich  ihnen  nicht 
anvertraut  habe,  weil  er  sie  —  ohne  Zweifel  in  Hinsicht 
der  Unsicherheit  und  Unreinheit  ihres  Glaubens  —  durch- 
schaute. Nun  wird,  als  Beispiel  sowohl  von  dem  Anhang, 
welchen  Jesus  schon  damals  fand,  als  auch  von  der  Be- 
hutsamkeit, mit  welcher  er  bei  Prüfung  und  Aufnahme 
seiner  Anhänger  su  Werke  ging,  die  Art  näher  besehrie- 
ben y  wie  sich  Nikodemus,  ein  sur  Pharisäersecte  gehöri- 
ger jfidischer  uqx<ov9  an  ihn  gewendet,  and  wie  ihn  Jesus 
behandelt  habe. 

Von  diesem  Nikodemus  erfahren  wir  einzig  durch  das 
johanneische  Evangelium,  welches  ihn  auch  7,  50 f.  als 
Fürsprecher  ffir  Jesum  insofern  auftreten  läfst,  als  er 
diesen  nicht  ungehört  verdammt  wissen  will,  und  19,  39* 
Ihn  die  Sorge  für  die  Bestattung  Jesu  mit  Joseph  von 
Arimathäa  theilen  läfst.  Die  neuere  Kritik  hat  es  befrem- 
dend gefunden,   dafs  Matthäus  (mit  den  übrigen  Synopti- 


r     -      m-        '•     '       "  «■       :-V* 


Li 


700  Zweiter  Abschnitt. 

kern)  euch  nicht  einmal  den  Namen  jenes  merkwürdiges 
Anhingen  Jesu  irgendwo  nenne;  eo  dafs  wir  Alles,  wa 
uns  von  demselben  bekannt  ist,  ans  dem  vierten  Evange- 
lium erfahren  mftssen ;  da  doch  das  eigenth  Unliebe  Ver* 
hältnifs,  in  welchem  Nikodemns  so  Jesn  gestanden,  ul 
dafs  auch  er  an  seiner  Bestattung  Tbeil  genommen,  dm 
Matthäus  ebensogut  als  dem  Jobannes  habe  bekannt  mu 
müssen.  Diefs  wird  sofort  in  den  Kreis  jener  Gründe  gl* 
sogen,  welche  beweisen  sollen,  dafs  das  erste  Evangalim 
nicht  vom  Apostel  Matthäus  verfafst,  sondern  ans  sienlfck 
später  Tradition  entstanden  sei  *)•  Allein  auch  an  der  ge- 
meinen urchristlichen  Sage,  aus  welcher  dio  Spcptibr 
schöpften,  mnfs  es  auffallen,  dafs  sie  von  diesem  Nikos> 
nins  nichts  weif«.  Hat  sie  dooh  die  Namen  aller  flbrigu, 
welche  dem  gemordeten  Meister  die  lotste  Ehre  erweis* 
halfeu,  eines  Joseph  von  Arimathäa  und  der  beiden  Maries, 
mit  röhrender  Pietät  in  ihre  Gedenkbücber  eingeseieoiet 
(Matth.  27,  57  —  61.  parall.):  wie  konnte  ihr  nnr  to 
eämmtiichen  uns  aufbehaltenen  Denkmalen  gerade  dieser 
Nikodemns  entgangen  sein,  welcher  unter  den  Tbeüneh- 
mern  an  der  Bestattung  Jesu  durch  jenen  nächtlichen  Be- 
such bei  ihm  und  die  Fürsprache  für  ihn  besonder!  as> 
geseiehnet  war?  Dafs,  wenn  der  Mann  sich  in  der  Thst 
so  hervorgethan ,  sein  Name  dennoch  aus  der  yolgtai 
evangelischen  Deberiieferung  spurlos  habe  verschwind« 
können,  diefs  ist  so  schwer  sich  begreiflich  su  mich», 
dafs  man  sich  veranlagst  linden  kann,  cu  versuchen,  * 
nicht  das  Umgekehrte  erklärlicher  wäre,  wie  nfalfefc) 
ohne  dafs  er  wirklich  in  einem  solchen  Verhältnil*  so  Jen 
stand,  die  Sage  davon  dennoch  sich  bilden,  und  vom  Ve> 
fasser  des  vierten  Evangeliums  aufgenommen  werde« 
konnte.  Indefs,  da  ein  Verschwinden  des  Nikodearoi  atf 
der  synoptischen   Ueberlieferung,   wenn  auch  anffidlesi 


1)  Scans,  über  das  Abendmahl,  S.  331. 


^ 


Siebentes  Kapitel«    $*  7». 


701 


dooh  nicht  undenkbar  ist:  an  kann  ans  seiner  Erscheinung 
Im  vierten  Evangelium  kein  Schlufs  gegen  dessen  Authen* 
tfe  ond  Glaubwürdigkeit  gesogen  werden. 

Was  nun  das  folgende  Gesprfich  betrifft,  so  wollen  wir 
weder  an  die  Schwierigkeit  umhängen,  wie  denn  «von  den 
nächtlichen,   also   geheinten  und  wahrscheinlich  seegenlo- 
aen  Gespräche  der  Evangelist  so  genaue  Kunde  habe  be- 
kommen ktianen  ?  noch  wollen  wir  mit  dem  Verfasser  der 
Probabilien  gleich  an  dar  Anrede  des  Nibodemus  Anstof* 
nehmen;   noch  auch  mit  demselben  zwischen  dieser  Anre- 
de and  der  Antwort  Jesu  den  Zusammenhang  vermissen  *)• 
DaCs  Jesus  sofort  als  Bedingung  des  Eintritts  in  das  Him- 
melreich das-  yewtj&ijvai  ano&er  verlangt ,  ist  von  dem  aus 
den  Synoptikern  bekannten  /asTcnveitf  ijyyixe  yaQ  rj  ßaöi- 
leia  %w*  BQavaJVy  nicht  wesentlich  verschieden.    Das  Bild 
der  neuen  Geburt,  der  neuen  Schöpf ang,  -war  den  Juden 
sehr  geläufig,  namentlich  um  die  Umwandlung  eines  Men- 
schen ans  einem  Gtitsendiener  in  einen  Verehrer  Jehova's 
en  bezeichnen«     Von  Abraham  pflegte  man  au  sagen  9  dafii 
er  bei   seinem   von  den  Juden  vorausgesetzten   Uebertritt 
ans  dem    Götzendienst  zur  Verehrung  des  wahren  Gottes 
ein  neues  Geschöpf  (JWTTl  rTH3 )  geworden   sei  8) ,  und 
ebenso'  Wurde  der  ProseJyt  wegen  seines  Austritts  aus  al- 
len bisherigen  Verhältnissen  mit  einem  neugeborenen  Kin- 
de verglichen  *)•    Dafs   diese   Redewelse  schon  in  jener 
Zeit  unter  den  Juden  üblich  war ,  beweist  die  Sfaherheii, 
mit  welcher  Paulus  2.  Kor»  5,  17»  GaL  6,  15.  den  entspre- 
chenden Ausdruck:  kcliyt}  xvboig,  wie  einen  keiner  weite- 


2)  S.  44,  Vgl.  dagegen  t>i  Wim  a.  d.  St.;  Naumta,  L.  J.  Chr., 
S.  399. 

3)  Bereschith  R.  sect.  39.  f.  38,  2.  Bammidbar  R.  sect.  11  f. 
211,  2.  Tanchuma  f.  5.  2,  bei  Schöttcm  ,  1,  S.  704.  Etwas 
Aehnliches  von  Moses  aus  Schemoth  R.  ebenda«. 

4)  Jevimoth  f.  62,  1.  92,  1,  bei  Liohtfoot,  S.  984. 


* 


-J 


•  0 


~     --  *- 


TW  Zweiter  Abschnitt. 

reu  Erklärung  bedürftigen,  auf  die  wahrhaft  an  Chris* 
Uebergetretenen  anwendet.    Verlangte  nnn  Jesus  das  7». 
vrftryai  owtiter,   welehes  die  Jaden  den  an  ihnen  ftbertn» 
tenden  Heiden  anschrieben,   auch  von  den  Juden,  sofari 
sie  in  das  Messiasreich   angelassen    werden  wölkst:  a 
konnte  sieh   Nikodemns   allerdings  Aber  diese  Fordert^ 
wandern,  da  der  lsraeiite  sehon  aU  solcher  ein  onbedug- 
tes  Anrecht  auf  dasselbe  an  haben  glaubte:  and  dies* 
Sinn  hat  man  daher  wirklich  in  seiner  Frage  V.  4.  iudu 
wollen  *).    Allein  Nikodemns  fragt  nicht:  mag  av  Ikpti 
düv   avd-Qiimov    avay&nnjdijvai   *IudvZov  oder   vtov  'jfifmp 
ovra;  sondern  darQber  wundert  er  sich,  data  JesasT» 
aasausetaen  acheine,   es   könne  ein   Mensch,   and  «nr 
yiqfov  wv,  aufs  Nene  «V  %i)v  xoü.lav  tiji;  fiiqvQog  efeitä 
xin  yevvr^rjwui  es  befremdet  Ihn   also   nicht,   wie  eins 
Jaden  die  geistige  Wiedergeburt,  sondern  wie  einen Mee 
sehen   Aberhaupt   ein  leibliches   Neugeboren  werden  au> 
muthet  werden  könne.     Wie  nun  ein  Orientale,  dea  du 
•bildliehe  Sprache  überhaupt,  nttber  ein  Jude,  dem  inibe- 
sondere das   Bild   von   der    neuen   Geburt    geläufig  tau 
mufste,  und  noch  daau  ein  didüoxaXog  tö  'loQatfa  bei  wel- 
chem man  nicht,  wie  bei  den  Aposteln,  daa  Mifsventebei 
bildlicher  Reden  (wie  Matth.  lft,  15  f.  16,   7.)  eaf  Beck- 
nung  des  Mangels  an  Bildung  schreiben  kann,  —  wie  m 
solcher  jenen  Ausdruck  eigentlich  verstehen  konnte,  da* 
Aber  haben  sich,  wie  Jesus  V.  10. ,  die  Erklärer  der  f* 
sohtedensten  Parteien  immer  höchlich  verwundert.    Daktf 
eetuen  die  einen  voraus,   der  Pharisäer  habe  Jesu«  wekl 
verstanden ,   und   durch  seine  Frage  ihn  nur  prüfen  wel» 
len,  ob  er  das  bildlich  Ausgesprochene  auch  in  klare  Be- 
griffe  umsusetaen   wisse  *)•   allein  Jesus  wenigstens  *> 

5)  So  z.  B.   Knapp  ,   Scripta  vir.  arg     1 ,  p.  18$  ff.    Aehafr* 
Neahder,  L.  J.  Chr.,  S.  399  f.  I 

6)  Paulus,  Conua.  4,  S.  185.    L.  J.,  1,  a,  S.  176.  1 


Siebeates  Kapitel    $.  79. 


TOS 


bandelte  ihn  nicht ,   wie  er  in  diesem  Fette  oMifste ,    nie 
vnoxffittpi  sondern  als  einen  wirklich  e  ymooxüna  (V.  10.); 
andere  drehen  die  Frage  so :  im  ieibliehen  Verstände  kann 
es  nicht  gemeint  ««in,  weil  diefs  urimöglieh  wäre,  wie  also 
sonst  *)?  aber  die  Frage  lautet  vielmehr  dahin:  das  kann  ich 
nur  von  leiblichem  Wiedergeborenwerden  verstehen,  wie  aber 
ist  ein  solches  möglich  ?    Es  bleibt  also  die  Verwunderung 
über  solche  Unwissenheit  des  jfidischen  Lehrers,  und  diese 
mufs  noch  steigen,   wenn    selbst   nach  der  ausfahrliehen 
Erörterung  Jesu  (  V.  5  —  8.)  darüber,   dafs  die  von  ihm 
verlangte  neue  Geburt  ein  yevvij&f/vai  ix  tö  nvsvfiatog  »ei, 
Dikodemus  noch  auf  derselben  Stelle,  wie  vorher,    steht, 
und,   wie  wenn  er  Jesu  Erklärung   fiberbört  hätte,    mit 
verschlossenem   Verständoifs  fragt  (V.  9.):   -neig  dvvcetai 
ravra  yevio&ai;    Von  diesem  letzteren  Uebelstande  findet 
sich  auch  Lücke  so  gedruckt,   dafs,  wie  andre  Exegeten 
schon  das  auf  Ingliche,  so  er,  wider  seinen  sonstigen  exe» 
getischen  Takt,   wenigstens  das  fortdauernde  Nichtverst* 
hen   des   Nikodemus   auf  die    von  Jesu  behauptete  Noth* 
-wendigkeit  der  Wiedergeburt  auch  für  Israeliten  besieht; 
in  welchem  Falle  aber  Nikodemus  eben  nach  der  Noth- 
wendigkeit,  nicht  nach  der  Möglichkeit  fragen,   und  statt 
nwg  dvvcnai  x.  r.  L  nuig  Sei  x.  t.  L  setsen  mufste.    Bleibt 
somit  der  unbegreifliche  Mifsverstand  eines  jüdischen  Leb* 
rers:  so  mufs  unsere  Befremdung  Ober  denselben  cum  be- 
stimmtesten Verdachte  werden,   sobald  sich  ein  Interesse 
des  Ersählers  neigt,  den  Mann,  der  sich  hier  mit*  Jesu 
unterhält,  einfaltiger  sioh  su  denken  und  zu  schildern, 'als 
er  wirklich  war.     Hier  mufs  uns  suerst  das  allgemeine 
Interesse  einfallen,  welches  jede  Darstellung  für  Contraste 
hat,  wodurch  sie  leicht  dazu  kommt,    wenn  in  einer  dar- 
zustellenden Unterredung  einer  der  Beiehrende,  der  andere 
der  Belehrte  ist,  diesen  im  Gegensätze  su  der  Weisheit 


7)  LUcks  und  Tsoluck  z.  d.  St» 


704  Zweiter  Abschnitt. 

Ton  Jenen  in*s  Einfältige  mi  malen;  ferner  »fteeen  w 
ans  erinnern ,  welche  Befriedigung  es  fdr  einchristÜebei 
tiemüth  jener  Zeit  sein  muhte,  einen  didaffxalos  %&  "IoqctL 
im  VerhÄitnifr  su  dem  Lehrer  der  Christen  als  einen  Tb- 
ren  bestehen  su  lassen;  endlieb  gehört  es,  wie  wirUW 
näher  sehen  werden ,  sur  stehenden  Manier  des  viertel 
Evangeliums,  in  den  Unterredungen  Jesu  die  Verwickekig 
und  den  Fortsehritt  dadurch  herbeisufthren,  dafs  die  in 
Jesu  geistig  gemeinten  Bilderreden  von  den  Mitsprechen» 
den  fleisehlieh  verstanden  werden  8> 

Wenn  in  Erwiederung  auf  die  nweite  Frage  da  R» 
kedemus  Jesus  fast  gann  die  Sprache  des  johanneiue« 
Prologs  redet  (V.  11-13.)9),  und  die  hieraus  entstehest 
Frage ,  ob  wohl  eher  der  Evangelist  diese  Redeweisem 
Jesu  entlehnt,  oder  die  seinige  Jesu  geliehen  haben  naß 
einer  früheren  Untersuchung  10)  nufolge  su  Gunsten  «In 
zweiten  Gliedes  su  entscheiden  ist:  so  betrifft  «lief s  dseh 
unmittelbar  blofs  die  Form;  den  Inhalt  betreffend  ist  am 
der  Aehnliebkeit  philoniseher  Darstellungen  noch  rieht  so- 
fort na  sebliefsen,  dafs  der  Verfasser  Jesu  hier  seiie  sie- 
xandrinisehe  Logoslehre  in  den  Mund  lege11) ,  weil  de» 
doch  su  dem  o  ctdaftev  kaXä/uev  x.  t+  L  ipnd  sdelg  wafityl- 
jcer  x.  r.  L  in  dem  sdelg  invyvmaxsi  %6v  luxtiqa  x.  r.i 
Mattfau  11,  27.  eine  Analogie  findet,  von  der  hier  rois* 
gesetsten  himmlischen  Präexistens  des  Messias  aber  saa 
dem  frflher  Bemerkten  auch  der  Apostel  Paulus  weiß. 


g)  VgL^s  Witts,  exeg.  Hdb.,  f,  5,  S.  42. 

9)   3,  11t    o  iaqdgafiev,  fHtfrvp-  '      1,  18:  fror  «fcfe  Up**+ 

für '    *al   Ttj¥    fiaqTvqtav  ij/uüy   $  ,  frort*  o  poroyevqs  utot,  •  •*  * 

lafißarfrt.     13*    xai   53 (U  ar9ß4~>  tor   xo/bior   rS  nargoit   kw* 

ßtpttr  *k  rov  bqovoV)    tl  ftij  o   in  ttyyqoaTO* 

re  eqavti  xaraßd; ,   o   vto;   re  ar*>  11t-—   mä  o»  tSat  oft*  ' 

Sqwtf^  o  &y  h  rf  $Qarqh  nofflaßor* 

10)  Oben,  §45. 

11)  Wie  diess  in  den  Frobsbilien,  3,  46,  geschieht. 


i 

i 


Siebentes  Kapitel,    £  79. 


705 


V.  14.  u.  15.  steigt  Jesus  von  den  leichteren  imyeiotQ, 
>fhm  Eröffnungen  aber  die  Wiedergeburt,  eh  den  schwieri- 
geren inüQavloig,  der  Kunde  von  der  Bestimmung  des  Mes- 
sias su  einem  versöhnenden  Tode,  auf.     Des  Mensehen 
Sohn,   sagt  er,   müsse  erhöht  werden  tvifmdijvai ,  in  jo» 
i  bannetseben  Spracbgebrauche  den  Kreuzestod,  mit  Anspie- 
lung  auf  die  Erhebung  cur  Herrliebkeit  beeeiehnend  '*)), 
tauf  dieselbe  Weise  und   mit  demselben  rettenden  Erfolge^ 
Iwie  die  eherne' Schlange  4.  Mos.  £1,  8.  9.    Hier  drängen 
sich   mehrere  Fragen   auf.     Ist  es  glaublich,   dfcfc  Jesus 
isehon  damals,  au  Anfang  seiner  öffentlichen  Wirksamkeit, 
i nicht  nur    Oberhaupt   seinen  gewaltsamen   Tod,   sondern 
mich  die  bestimmte  Form  desselben  als  Kreuzestod,   vor- 
i  hergesehen ,  und  dafs  er,  lange  ehe  er  seine'  Jänger  über 
i  diesen  Punkt  belehrte,   einem  Pharisäer  tfine' darauf  'tfc 
i  abgliche  Eröffnung    gemacht    habe?     Kaöh    aian  erder 
Lehrweisheit  Jesu  angemessen  finden,  dafs  fcr  gättnto"dei£ 
i  Mikodemus  eine  solche  Mittbeilung  machte?    Aach  LtftKB 
i  wirft  sich  hier  ein,  warum  Jesus,  wenn  doch  Niködbmutf 
das  Leichtere  nicht  verstand,  ihn  mit  dem  Schwereren  ge- 
quält  habe,   und  warum  gerade  mit  dem  Geheimn!fs:  vom 
Tode  des  Messias,    der  damals   noch  -so  ferne   lag?    Kr 
antwortet,  es  sei  der  Lehrweisbeit  Jesu  vollkommen,  ange- 
messen gewesen,   das  ibm  von  Gott  verordnete  Leiden  so 
bald  als  möglich  eu  offenbaren,  weil  nichts  geeigneter  sein 
konnte,    falsche    sinnliche    Hoffnungen   niederzuschlagen. 
Allein  je  ferner  ihrer  sinnlichrn  Erwartungen  wegen  sei- 
nen Zeitgenossen  der  Gedanke ^an  den  Tod   des  Messias 
lag,  desto   deutlicher   und   unumwundener   mufste  Jesus, 
wenn  er  ihn  verbreiten  wollte,  diesen  Gedanken  ausspre- 
chen, und  nicht  in  einem  räthselhaften  Bilde,  von  welchem 
er  nicht  sicher  war,  ob  ea  Nikodemus  nur  verstehen  würde  ")• 


12)  Vgl.  Luchs,  I,  S.  470. 

13)  s."  db  Witts  z.  d.  St. 

Das  Leben  Jem  He  Aufl.  /.  Band. 


45 


706  Zweiter  Abschnitt« 

Aber  Nlkodemas,  «itgtLüctR,  war  eki  empfänglicher  Msm, 
dein  wobl  etwas*  mehr  eugemuthet  werden  durfte.  Alle« 
gerade  in  diesem  Gesprs'ch  hatte  er  sich  darch  Au  Niehi- 
?er stehen  der  tnlyaicc  als  noch  weniger  für  die  kcsoäm 
cmpftngÜeh  bewiesen ,  ond  Jesus  selbst  verzweifelt«  naci 
V.  12«  daran  ,  dafs  er  diese  verstehen  werde.  Aber  eta 
dadurch  ,t  bemerkt  nun  Lücke  letztlich ,  dafs  er  so  des 
nicht  verstandenen  Leichteren  das  noeh  weniger  verstfiod- 
licbe  Schwerere  fügte,  habe  Jesus  aoch  sonst  die  Gei«* 
spornen  wollen,  um  durch  Spannung  ihrer  AufmerkiauM 
ihr  Nachdenken  um  so  mehr  in  Anspruch  au  sehnen. 
Doch  das  kann  nicht  spornen  9  sondern  nur  ?erwirrw 
heUsen,  wenn  einem  solchen,  der  den  bekannten  Tropa 
wo*  der  Wiedergeburt  beharrlich  .  nicht  versteht ,  sage» 
tbet  wird,  die  unerhörte  Vergleiehung  des  Messias  mit  fe 
otoruen  Sehlange  auf  dessen  Tod  cu  besuchen,  und  die* 
Vorstellung  sofort  mit  seinen  jüdischen  Begriffen  sa  wr 
einigen  ").  Die  Beispiele  eines  solchen  Verfahren!  J«*% 
^reiche  Lücke  beibringt,  sind  sämmtlich  aus  dem  riefte» 
Bvangelium  selbst,  von  welchem  es  sich  eben  fragt,  ob  « 
das  Lehrverfahren  Jesu  in  diesem  Stücke  richtig  *id* 
gebe,  beweisen  also  im  jCirkel.  Gans  anders  verftbrt  Je- 
sus In  den  drei  ersten  Evangelien :  wenn  sich  hier  uf 
Seiten  der  Jünger  ein  Nichtverstehen  neigt ,  so  bleibt  er, 
wo  er  nicht  überhaupt  abbricht,  oder  die  Referenten  oft* 
bar  unhistorisch  bildliche  Reden  susammenhäufen,  as 
Schtpftdagogiscber  Beharrlichkeit  eben  an  jenem  Psnk» 
stehen,  bis  er  ihn  völlig  jiufgeklKrt  hat,  und  gehtcn* 
dann,  immer  Schritt  für  Schritt,  su  weiteren  Belehren*» 
fort  (so  Matth.  IS,  10  ff.  36  ff.   15,  1«.   16,  8ff.)">  ^ 


14)  Vgl.  Brbt*chmider,  a.  a.  O.  '  , 

15)  db  Wette  führt  als  Beispiele  eines  ähnlichen  Verfahr*» 
Jesu  aus  den  synoptischen  Evangelien  Matth.  19,  21.  20?23*' 
an.    Allein  diese  beiden  Falle  sind  ganz  «aderer  Art  tli  & 


Siebente*  Kapitel.    $.  79.  707 

ist  das  Verfahren  eines  weisen  Lehrers:  die  deflatorische, 
überladende  und  überspannende  Manier  dagegen,  in  wel- 
cher der  vierte  Evangelist  ihn  reden  lädt,  kann  nur  ans 
dem  Interesse  eines  Darstellers  erklürt  werden,  welcher 
den  schon  Anfangs  angelegten  Contrast  swisehen  der  Weis» 
heft  des  Lehrers  und  dem  Unverstände  des  Schülers  da- 
durch auf  die  effectvollste  Weise  steigern  su  können 
glaubt,  dafs  er  vor  demjenigen,  welcher  schon  bei  dem 
Leichtesten  unverständige'  Fragen  that,  nun  auch  das 
Schwerste  aufhäufen,  und  ihm  diesem  gegenüber  vollends 
alle  Gedenken  vergehen  Itist. 

Von  V.  16.  an  geht  jetst  selbst  denjenigen  Auslegern, 
die  sich  sonst  in  diesem  Fache  etwas  snsumnthen  pflegen, 
der  Glaube,  dals  auch  das  Folgende  noch  von  Jesu  so  ge- 
sprochen sein  könne,  aus;  was  hier  nicht  blofs  Paulus, 
sondern  aooh  Ol8HAUS«n,  mit  bandiger  Angabe  der  Gründe, 
erklärt.  Es  verschwindet  namlieh  von  hier  an  jede  nähere 
Beziehung  der  Rede  auf  Nikodemns ,  •  und  beginnt  eine 
völlig  allgemeine  Ausführung    fiber  die  Bestimmung  des 


angefochtenen  bei  Johannes.  Hier  ist  et  ein  Nichtverstehen, 
welchem  gegenüber  es  uns  wundern  muts,  Jesuin,  statt  dass 
er  su  dem  schwachen  Verständnisse  sich  herablies se,  vielmehr 
in  eine  diesem  noch  weniger  erreichbare  Höhe  hinaufsteigen  zu 
senen.  in  den  angeführten  synoptischen  Erzählungen  dagegen 
ist  es  Selbstüberschätzung,  ein  allzugrosser  Werth,  welchen 
das  einemal  der  reiche  Jüngling,  das  anderemal  die  Zcbedai- 
den,  auf  ihre  Tüchtigkeit  für  die  Sache  Jesu  legten,  was 
sofort  von  Jesus  mit  vollem  Rechte  durch  die  schroffe  Ent- 
gegenstellung einer  höheren  Forderung  niedergeschlagen  wird. 
Hiemit  liesse  sich  die  Wendung  Jesu  im  Gespräch  mit  Niko* 
demus  nur  für  den  Fall  vergleichen,  wenn,  wie. der  Jüngling 
und  die  Jünger  ihre  Leistungen,  so  Kikodemus  seine  Einsicht 
Überschätzt  hätte ,  und  nun  von  Jesus  durch  einen  schnellen 
Aufüug  in  höhere  Gebiete  von  seiner  Unwissenheit  überführt 
würde. 

45  * 


708 


Zweiter  Abschnitt. 


Menschensohns  nur  Beseligung  der  Welt,  nnd  öbw  fr 
Art,  wie  der  Unglaube  eich  dieses  Segens  verlustig  ancst: 
diese  Gedanken  com  TheiJ  in  einer  Form  aosgedritott, 
welche  theils  als  Reminiscens  ans  dem  Prolog  des  Eri» 
gellsten  erscheint,  theils  mit  Stellen  ans  dem  ersten  johai- 
nelsohen  Briefe  auffallende  Aehnlichkeit  bat16).  Hauest 
lieh  der  Ausdruck :  6  [iowyevqs  viog ,  welcher  Jen  wa> 
derholt  (V.  16.  und  18.)  nur  Bezeichnung  seiner  eigeau 
Person  geliehen  ist,  kommt  sonst  selbst  im  vierten  Erat 
geiium  im  Munde  Jesu  nirgends  vor:  um  so  entschiede« 
aber  ist  er  ein  Lieblingsterminus  des  Evangelisten  (1,14 
18.)  und  des  Briefstellers  (1.  Job.  4,  9.).  Ferner  litis 
Folgenden  Manches  als  vergangen  dargestellt,  was  m 
Zeit  jenes  Gesprächs  erst  bevorstand;  denn  wenn  ad 
das  edojxev  (V.  16»)  nicht  die  Hingabe  in  den  Tod,  soefai 
die  Sendung  in  die  Wek  bedeutet:  so  lautet  doch,  w» 
auch  Lücke  bemerkt,  das  rjyanrjoav  oi  av&QWTioi  to  GOT 
und  ?;v  novrjQa  av*ov  rd  f'oya  (V.  19.)  so,  wie  du  «et 
sprechen  konnte;  als  sich  in  der  Verwerfong  und  Hinrich- 
tung Jesu  die  Uebermacht  der  Finsternife  erprobt  hatte, 
also  vom  Standpunkte  des  später  schreibenden  Eftngefr 
sten ,  nicht  aber  des  im  ersten  Anfang  seiner  Thitigkof 
stehenden  Jesus.  Ueberhaupt  lautet  diese  ganse  angebüesf 
Rede  Jesu ,   mit  ihrer  fortwährend  zu  seiner  ßeseiehneej 


16)  3,  19 1  avTtj  S4  cgtv  jy  *£t<ftf, 
ort  to  <pc5f  Hjrjlv&ev  el{+  rw 
xoöfior  y  ttai  tjyanrjoav  ol  av- 
&Q{O7t0t   /uailw   to    axorot  $  to 

3  y    16 1    Srta  yoQ  qyanqoer 

O     &tO$      TW     XOOpOt,       &£t     TOT 

vtor  avrS  tot  fiovoytvt}  l£wjr*v, 
tva  naf  o  nu;tviay  tlf  avrwf 
ftrt     anohjraiy     a/UL*    fxtl    $M*Pr 


atwrior. 


1,9*  qv  to  <f*i$  to  alifteWi * 
ipt&t^oy  narra  ar&i&mov,  itf*!**1 
?U  tw  xoopoY.  5*  udt  to  fit  * 
T/j  oxorCa  (palvtt ,  tt*\  tj  ow*  «*♦ 
i»  xartlaßtr. 

1.  Joh.  *,  9:  er  TBttf  hfamj 
&l  jj  ayamj  tS  fai  h  tjftar>  on  w 
wov  owt»  tot  ftwoyerij  aufak1* 
9eot  cfe   TW   Koo-pWy   fra  #•»* 


3  •        >    - 
«71      OVT9. 


&ie»entes  KaplteL    f.  79.  *0§ 

gebrauchten  dritten  Person,  mit  den  dogmatischen  termbus 
von  jttovoyevtjg  y  qxiig,  o.  dgl«,  unter  welchen  sie  Jesu«  be- 
trachtet ,  mit  ihre«  Deberblick  über  die  dureh  Jean-  Er« 
acheinung  herbeigeführte  Rrisis  und  deren  Resultate)  viel 
cu  objectiv  und  gegenständlich ,  als  dafs  wir  glauben 
könnten ,  eigene  Worte  Jesu  in  derselben  au  vernehmen: 
so  konnte  nicht  Jesus,  aus  sich  heraus,  sondern  nur  ein 
Dritter  über  Jesum  sprechen.  Demnach  soll  nun,  wie  in 
einem  früher  betrachteten  Falle  der  Täufer,  so  hier  Jesus 
nur  bis  au  V«  10.  reden ,  von  da  an  aber  der  Evangelist 
seine  eigenen  dogmatischen  Reflexionen  anknüpfen  "), 
Aber  hier  90  wenig  wie  dort  findet  sieh  Im  Text  hlevon 
eine  Andeutung,  vielmehr  scheint  das  anknöpfende  yaQ 
V.  16.  eine  Fortsetzung  derselben  Rede  «u  beseichnen, 
80  streut  kein  Schriftsteller,  und  namentlich  nicht  der 
Verfasser  des  vierten  Evangeliums  (vgl*  7,  39.  11,  Stf. 
12 ,  16.  33.  37  ff.) ,  eigene  Bemerkungen  ein ;  er  mfifste 
denn  absichtlich  MifsverstXndnisse  veranlassen  wollen. 
Bleibt  es  sonach  gleicherweise  dabei,  dafs  der  Evangelist 
auch  von  hier  an  noch  Worte  Jesu  geben  will,  und  dafs 
Jesus  90  nicht  gesprochen  haben  kann :  so  werden  wir 
mit  db  Wkttk  aogestehen  müssen ,  dafs  der  Evangelist, 
nachdem  er  schon  vorher  bisweilen  Jesu  seine  Worte  ge* 
liehen,  von  V.  16.  an  sich  noch  freier  gehen  lälst  **). 


17)  So  Paulus  und  Olshausek  z.  d.  St. 

18)  Exeget.  Handb.*,   1,    3,   S.  48.    Tholuck  (Glaubwürdigkeit, 
S.  535-)  führt  alt  Beispiele  eines  gleichen  unmerklichen  Ver- 
fliestens  einer  angeführten  fremden  Rede  mit  der  eigenen  des 
Schriftstellers  (Gal.  2,  14 ff.)    Euseb.  H.  E.  3,  1.  39.    Hieron.  V 
Comm.  in  Jes.  53.  an.     Allein  etwas  Anderes  ist  es  in  einem 

Brief,  einem  Commentar,  einem  kritisch  räsonnirenden  Ge- 
schichtswerke: und  in  einer  Geschichtscrzählung  wie  die 
evangelische.  In  Werken  der  ersteren  Art  erwartet  der  Le- 
ser, den  Verfasser  räsoitniren  zu  hören,  und  muss  daher, 
wenn   einmal   die  Rede    eines   Andern   eingeflochten  ist,   bei        x 


je^tmhta 


710  Zweiter  Abschnitt, 

So  hat  uns  das  vierte  Evangelium,  gleich  bd  die* 
ersten  Probe,  wenn  wir  sie  mit  dem  vergleichen,  wu  wir 
Aber  Job.  3,  22 ff.  4,  1  ff.  bereits  gesehen  haben,  alk 
Haupteigenthttmliehkeiten  der  von  ihm  mitgethdlten  Redei 
Jesu  dargelegt.  Sie  fangen  gerne  dialogisch  an ,  und  *> 
weit  diese  Form  geht,  ist  der  Hebel  des  Gespriehi  der 
grelle  Contraat  «wischen  geistigem  Sinn  und  fleischliehflr  ^ 
Auffassung  der  Reden  Jesu;  meistens  aber  Verlier«« 
sieh  hierauf  in  fortlaufende  Vortrfige,  in  welchen  der  Re- 
ferent die  Person  Jesu  mit  seiner  eigenen  versehutbt, 
und  jenen  nicht  selten  von  sieh  selber  reden  Uftt,  w» 
nur  er  ober  Jesum  reden  konnte.  Dieselbe  ObjectiriÄ 
also  in  Wiedergebung  der  Reden  Jesu ,  wie  bei  den  Sp- 
optikern,  die  nur  in  der  Stellung  und  ZusammejireiftU( 
der  einselnen  Aussprüche,  suweilen  unhistoriseh  a»d,  h* 
ben  wir  bei  Johannes  nicht  ni  suchen  19). 

5.    SO. 

Die  Reden  Jesu  Job.  5  — 12. 

Im  5ten  Kapitel  des  Johanneischen  Kvangelltfaf  büfft 
sieh  an  eine  von  Jesu  am  Sabbat  verrichtete  Heikng  ein 
lÄngere  Rede  (V.  19-47.).  Schon  die  Weise,  wie  tat 
V.  17.  seine  Tätigkeit  am  Sabbat  vertheidigt,  ist  im  ü* 


federn  kleinsten  Ruhepunnte  gefasst  sein ,  den  Autor  lefrt 
wieder  das  Wort  nehmen  zu  sehen :  in  einer  Schrift  vie  i* 
vierte  Evangelium  dagegen ,  deren  Verfasser  nach  da»  !*• 
sonnirenden  Einleitung  (auf  dem  Boden  dieses  Prolog*  W« 
ganz  in  der  Ordnung,  dass  nach  kurser  Anführung  «■* 
fremden  Rede,  V.  15.,  der  Verf.  V.  |6.  ohne  Weiteres  wted» 
selbst  fortspricht)  sich  in  das  Erzählen,  als  Wiedergeben  * 
Geschehenem  und  Gesprochenem,  geworfen  hat,  nwu  ■* 
nothwendig  jede  Rede,  die  er  an  die  Rede  eines  Andern  sk* 
deutliche  Unterscheidung  (wie  s.  B.  12,  57.)  anknüpft,  fr. 
Fortsetzung  eben  jener  fremden  Rede  halten. 
19)  na  War«,  a.  a.  Ü.  S.  8  f. 


Siebeates  Kapitel.     §.  SO.  711 

tereehiede  von  der  Art,    wie  er  dteb  in  den  ersten  Evan- 
gelieh    thut,    bemerkenswerth.      Diese  ^laben    hiefür   drei 
Arguniente:    das    von    David,     der  die    Sehaubrete     afi»; 
woran    sieh   das  auch  Job.  7,  2S.   aufgeführte,   von  dem 
sabbatltchen   Arbeiten   der  Priester  in  Teatpei,   schliefst 
(Matth,  12,  3.  parall.) ;  ferner  das  vom  Hausthier,  das  in 
den  Bronnen  ftllt  (Matth.  12,  lLparall.)?  oder  cor  Tranke 
geführt  wird  (Lee.  IS,  15.):  ttmmtlioh  praktisch-populäre 
Argumente.     Das  vierte  Evaogeiiam  hingegen  laTst  ihn  hier 
aas    der  nie    unterbrochenen   Thfitigkeit   Gottes   Schlüsse 
sieben,    und  erinnert  durch  sein:  o  nartjo  i'iag  ä(rt{  tQyd- 
Ctraij  an  das  alexandrinisch  -  metaphysische :    noiiov  6  &eog 
wUnote   Ttccvsrcu  *) ; .   ohne   dafs    man    jedoch    behaupten 
dürfte,    dafs  dem  religiösen  Bewufsfisein  Jesu  dergleichen 
Gedanken  nicht  ebenso  nahe  liegen  konnten ,    als  dem'  des 
Evangelisten.    Statt  dafs  nun  ferner   bei  den  Synoptikern 
an  solche  Sabbatbeilongen  weitere  Aussprüche  Über  Wesen 
und  Bestimmung  de9  Sabbats,    aur  Belehrung  des  Volks, 
sieh  ansnknüpfen  pflegen :  wendet  sich  hier  die  Bede  als- 
bald auf  das  Grundthema  des  Evangeliums,  auf  die  Person 
Christi   and  sein   Verhftltnifs   sum  Vater;  eine  Wendung, 
auf  deren  öfteres  Vorkommen  die  Gegner  des  vierten  Evan- 
geliums   nicht   ohne   Schein  den    Vorwurf  einer  einseitig 
theoretischen  und  auf  die  Verherrlichung  Jesu  gerichteten 
Tendenss   gegründet  haben;    die   aber  ebenso  gut   nur  in 
Weglassuög   der  meisten  praktischen   Reden,    als  in  Ver- 
mehrung und  Erdichtung  theoretischer ,  ihren  Grund  ha- 
,ben  kann. 

In  dem  Inhalte  der  folgenden  Rede  findet  sieb  sofort 
nichts  Anstöfsiges  und  was  nicht  Jesus  selber  so  konnte 
gesprochen  haben ;  da  im  besten  Zusammenhang  Dinge  vor- 
getragen werden,  welche,  wie  namentlich  die  Todtener- 
weckung  und  das  Gericht,    theils  die  Juden  vom  Messlas 


1)  Fhilo,  Opp.  ed.  Mang.  I,  44,  bei  (isatfasa,  1,  S.  122. 


-*-- 


r 


71) 


Zweiter  Abschnitt. 


erwarteten ,  theils  Jeans  ancb  nach  den  Synoptikern  an 
angeschrieben  hat.  Desto  bedenklicher  dagegen  ist  t* 
Form  nnd  Ansdrnokaweiae ,  in  welcher  Jesus  das  Ann 
ansgesprochen  haben  aeJUL  Gann  voll  nämlich  ist  itis* 
Rede ,  besonders  in  Ihrer  «weiten  Hilf te  (von  V.  31.  u), 
der  genanesten  Analogien  theils  mit  dem  ersten  joht*a*> 
sehen  Briefe,  theils  mit  solchen  Steilen  des  EYsagefism,  ( 
in  welchen  entweder  der  Verfasser ,  oder  der  Tffefer  i* 
hannes  redet  *).    Cm  die  erster«  Aehnliehkett  an  «rklJm, 


2)  Job,  5«  30!  q  ydq  ncrvfjq  <pt- 
XeX*rdr  vior  neu  ndrra  &e(xvv- 
Ctv  a&r$  §  cnrroq  7totti. 

34:   o   ro¥  loyotr   pm.   mtutotr 
—   ptraßißqmv   he  rS  #*rerm 

32:     *Oi    ciSa,    ar$    aiq9ijt 

nt(k  IftS. 


54  *  lyto  3h  «  nagd  ar&Qtün* 
njr  /uaffruqCav  hxfißavu. 

56  •    tyio  <fo .  $%&    ßiaQiVQfav 

57 !    xa\  6  nifrtpas  p*  narqq 

Ehend. :  Sre  rqv  <po)vqv  av- 
rS  axrptoars  manove^  «fr«  to 
ilSog  avTH  iwgdxare. 

58  •    xal    ror   Zoyov   avra  $* 

fZ**8  p*voyr<x  tv  vfilv. 

40:  mV  «  Mitrc  U&tTr  np>g 

42  X  ort  rijy  ayant/f  tS  &tü 
ix  £#«■*  h  cauToU. 

44;  nüg  duvao&8  v/utls  m- 
S*vtir,  Sö\av  TiaQU  dV.ijltoy  la/u- 
ßavwrt*  %     xoi  •  ryv   Ö6$av    -tip 


Joh.  3,  55  (der  Täufer):  i 
jrflp  narrft  ayaaa  rov  vior  xri  *ö- 
ra  dtötoxtv  er  rjj  j«^  aüri. 

1.  Joh.  3  9  14:    jjVk  rt* 

5t»  fierafkft/jxa/w  2»  ri  9avmk 
Job.  19,  55 :  xät  ilghri  b 

aurif  y  uaqrufgia^  xaxtirQs  «^i  m 
ahfi?{  Ikyti.  Vgl.  21,  24.  IM 
5,  12. 

1.  Joh.  5,9:  tt  ttJt  pp>»*» 

rür,  avS-pmtor  la/ußaropfr,  y  p*t 
TVfUa  tS  &t9  fetfair  f^Är'  5n  «*p 

*  c  *  flu 

^«c  n*(*  ri  vi5  cahS. 

Joh.  1 ,  18  :  &tov  tiu;  wf* 
TtüJnore.     Vgl.  1.  Joh.  4,  12* 

1.  Joh.  1,  10 :   xd  o  Ür**- 

TM    MX   t$lV    tV    VfUV. 

1.  Joh.  5,  12:  o  rilfi*** 
vlov  tS  &e5  Zfoyv  mx  ^/ft. 

1. Joh.  2,  15 :  M^ifi 

Joh."  11,  43:  iyän^v  y«  T 
Jc^av    nüy  av&qtontar   palhn\  p* 


Siebente«  lUpitel.    §.80.  713 

Afste   angenommen   werden ,    dafs  der  Evangelist   seine 
mee    Ausdrucksweise  aaf  das  Genaueste  der  von  Jesu 
achgebildet  hätte.    Dafs  diefs  möglich  sei,   ist   nicht   m 
oatreiten;  aber  ebensowenig,   dafs  es  nur  bei  ganz  an* 
»ibstständigen   Geistern   vorankommen  pflegt,   als   deren 
inen    sich  der  vierte  Evangelist  sonst  .keineswegs  eeigt. 
'erner,   da   bei   den   übrigen  Evangelisten  Jesus  in  gans 
nderem  Styl  and  Tone  spricht :    so  mfifste  ,  wenn  er  so, 
rie  bei  Johannes,  gesprochen  haben  sollte,  die  Art,  wie 
ene  ihn  reden  lassen,  eine  gemachte  sein.     Dafs  sie  non 
tber  wenigstens  von  den  Evangelisten  selbst  nicht  gemacht 
at,  eeigt  der  Umstand,  dafs  sie  ihres  Redestoffs  so  wenig 
Heister  sind ;  aber  auch  von  der  Sage  können  jene  Reden 
ihrem  gröfseren  Theile  nach  nicht  fingirt  sein,   wegen  ih- 
res nicht  blofs  höchst  originellen,  sondern  auch  völlig  zeit- 
nnd  ortsgemäfsen  Gepräges.    Wogegen  der  vierte  Evange- 
list sowohl   durch  die  Leiehtigkeit,  mit  weloher   er  den 
Redestoff  beherrscht,   den  Verdacht  erregt,   auch  an  der 
Hervorbringung  desselben   starken  Antheil  gehabt  au  ha- 
ben;  als  auch   durch   LiebiingshegrifFe-  und  Redensarten, 
wie  in  dem  gegenwärtigen  Abschnitt  aafser  den  schon  an- 
geführten noch  der  Ausdruck ,    dafs.  der  Vater  ndvza  de/- 
xvvoi  ztji  viipi  ix  avvog  rcoul 3) ,    eher  auf  hellenistische  als 
palästinische   Quellen  hinweist.    Doch   das   Hanptmoment 
in  dieser  Sache  ist,    dafs,    wie  wir  früher   schon  gesehen 
haben,  auch   der  Tänfer  Johannes   in  diesem  Evangelium 
-ganz  in    denselben   Formeln    und   in  dem  gleichen   Tone 
spricht,   wie   der  Verfasser   des  Evangeliums  und   dessen 
Jesus.    Da  es  sieb  hier  nicht  denken  läfst,  dafs  neben  dem 
Evangelisten  auch  der  schon  vor  Jesu  als  scharf  markirter 
Charakter   hervorgetretene  Täufer    seine   Ausdrucks  weise 
wörtlich  »genau  nach   der  von  Jesu  gebildet  haben  sollte; 


5)  ».  die  Von  Gehorch,  1,  S.  194. ,  verglichene  Stelle  aus  Philo, 
de  Unguarum  confusione, 


714  Zweiter  Abschnitt« 

90  bleiben  nur  die  ewei  F&lle  möglich,  dafs  entweder  Jer 
Täufer  die  Sprechweise  sowohl  Jesn  als. des  vierten  Em 
gellsten,  der  ja  auch  sein  Schüler  gewesen  sein  soll,  oder 
dafs  der  Evangelist  die  Redeweise  sowohl  des  Taufen  ib 
Jesn  nach  der  seinigen  bestimmt  habe*  Das  Erster«  ws> 
den  die  Orthodoxen  mit  Rücksicht  auf  die  höhere  Kit» 
in  Christo  sich  verbitten ,  und  wir  wenigstens  debwegu, 
weil  Jesus  im  Verhältnis  zum  Täufer  sonst  durchaus  ab 
Original  erscheint;  woeu  noch  kommt ,  dafs  dieser Jehu* 
neische  Styl  für  den  T&ufer,  wie  wir  ihn  sonsther  kenao, 
viel  su  weich  and  mystisch  ist.  So  bleibt  also  nir  sx 
Andere,  dafs  der  Evangelist  sowohl  Jesnm  als  den  Thfcr 
in  seinem  Tone  reden  Ififst;  eine  Annahme,  welche,« 
sieh  schon  weit  natürlicher  als  die  vorige,  durch  ein 
Menge  ton  Beispielen  aller  möglichen  Gesehichtechrakr 
gedeckt  ist»  Ist  hienacb  die  Form  dieser  Rede  Jen  uf 
Rechnung  des  Evangelisten  zo  schreiben,  so  könnte  eVr 
Inhalt  swar  möglicherweise  Jesu  angehören:  docht&uua 
wir  nicht  berechnen  ,  wie  weit ,  da  wir  schon  sonst  Bei- 
spiele gehabt  haben ,  dafs  der  vierte  Evangelist  auf  Mi- 
lien freie  Weise  an  bequeme  Veranlassungen  seine  eips» 
Reflexionen  in  Form  von  Reden  Jesu  knüpft. 

Aus  der  Rede  Kap.  6.  ist  das,  dafs  Jesus  sieh,  ritf 
vielmehr  seinen  Vater,  V.  27  ff.  ale  den  Geber  des  geistig« 
Manna  darstellt,  in  Analogie  mit  der  oben  angefahrten^ 
disehen  Erwartung,  dafs  der  m weite  Goel  wie  derer* 
Manna  gewähren  werde  *) ,  und  mit  der  Einladung  «* 
Weisheit  in  den  Proverbien :  gvUter«,  qxzysre  ruh  epö'k 
%wv  (0,  S.);  womit  das,  dafs  er  sofort  sich  selbst  des«? 
tog  6  £(2v  6  ex  zö  BQwä  xcevaßag  nennt  (V.  35  ff.),  so  «■ 
nosammengranst ,  dafs  die  Aehnlichkeit  mit  der  philo» 
sehen  Darstellung  des  Xoyog  &elos  *ls  %6  vqiyw  %rp  ipiffl* 


4)  Oben,  $.  14. 

b)  De  profugis,  Opp.  Mang.,  1,  S.  566,  bei  Giaöa»,  1;  $ .» 


Siebentes  Kapitel.    §.  80.  715 

nicht  hinreicht,  om  den  Verdacht  so  begründen»  alt  hätten 
wir  es    hier  nor  mit   Worten  des.  Evangelisten  eu  thon« 
Schwieriger  ist,   dafs  Jesus  von  V.  51.  an  als  das  Him- 
melsbrot   sein  Fleisch  darstellt»  welches  er  cum  Heil  der 
Welt  geben  werde,  and  das  qxxyetv  rrp  aaQxa  s8  viö  rS 
avf>Qumr&  und  tu&v  *6  cupa  cnkö  für  das  einsige  Mittel 
ausgibt,    nur  Jctwy  atwiog  au  gelangen.    Durch  die  Aehn» 
Uchbeit   dieser  Ausdrucke  mit  den   Worten ,   welche   die 
Synoptiker  und    Paulus  Jesom    bei    der  Einsetzung  des 
Abendmahls  sprechen  lassen»   bewogen,  haben  die  alteren 
Ausleger  diese  Stelle  meistens  als  Hindeutung  auf  das  eu 
stiftende  Abendmahl  gefafst  *).    Die  Haupteinwendung  ge» 
gen  diese  Auslegung  ist,  dafs  damals,  vor  der  Stiftung  des 
Abendmahls,    eine  solche  Andeutung  völlig  unverständlich 
gewesen  wfire  7>    Allein  unverständlich  blieb  ja  die  Rede, 
sie  mochte  einen  Sinn  haben,  welchen  sie  wollte,  nach  der 
eigenen  Angabe  des  Berichts,  den  Zuhörern  doch;   auch 
kommt  Jesu  im  vierten  Evangelium  auf  die  Unmöglichkeit, 
verstanden  su  werden,   nicht  so  viel  an,  dafs   hiedurch 
jene  Erklärung   unwahrscheinlich   würde,  welche  au  der 
Verwandtschaft  mit  den  Einsetzungsworten  einen  Halt  be- 
sitzt, der  einem  der  neuesten  Kritiker  das  BekenntnUs  ab- 
gedrungen hat,  wenn  auch  nicht  Jesus,  indem  er  so  sprach, 
so  möge  doch  Johannes,  indem  er  gerade  diese  Reden  Jesu 
auswählte   und  überlieferte,   sn   das  Abendmahl  gedacht, 
und   in]  denselben  eine  Vorandeutung  davon  gefunden  ha- 
ben *)•     ludet*  schwerlich  hat  er  dann  die  Reden  Jesu 


Das  hier  noch  weiter  vom  Myo<  Gesagte :  0/  I  *«rm  naJtJai 
Mai  aof/ai  £W-  a*rva<A  kann  mit  Joh.  4,  14«  6,  55«  7>  SS«  ver- 
glichen werden. 

6)  s.  Lvcxs't  Geschichte  der  Auslegung  dieser  Stelle,  in  s.  Comm., 
2,  Anhang  B,  S.  727  ff. 

7)  Schuli,  die  Lehre  vom  Abendmahl,  S.  161 ;   Lücks,  a.  a.  O. 
S.  113. 

8)  üui,  L.  J.,  §.  99. 


715  Zweiter  Abschnitt. 

unverändert  gelassen ;  sondern,  da  sieh  die  Wahl  dar  A» 
drficke:  oaQxa  cfayelv  o.  s.  w.  nur  ans  der  Beftiehnng  mI 
des  Abendmahl  genügend  erklären  Ififst,  so  haben  wir 
diese  ohne  Zweifel  nur  dem  Evangelisten  su  verdank* 
Hatte  dieser  einmal  Jesnm  sich  als  6  aqrtog  trjg  %taijg  h» 
zeichnen  lassen:  wie  hätte  ihm  nicht  der  crpng  einfsttsi 
sollen  ,  welcher  in  der  christliehen  Gemeinde  als  Leii 
Christi,  sammt  einem  Getränk  als  seinem  Blute,  genona 
% a  werden  pflegte  *)  ? 

Aach  die  eben  betrachtete  Rede  trägt  die  dialogis* 
Form,  und  swar  ist  ihr  der  eigentümliche  Typus  d«j§- 
hanneischen  Dialogs,  dafs  geistig  gemeinte  Redeo  flöat* 
lieh  verstanden  werden,  gann  besonders  aufgeprägt  h* 
erst ,  V.  34. ,  meinen  die  Jnden,  ganc  wie  froher  (4,  li) 
die  samarisehe  Frau  in  Beeng  anf  das  Wasser,  Jeset  f* 
stehe  unter  dem.  anzog  ix  zs  agave  eine  leibliche  Spebs, 
und  bitten  ihn,  sie  nur  immer  mit  solcher  su  verenge* 
So  möglich  an  sich  dieses  Mifsf erstfindnifs  war,  so  stetf 
es  doch,  die  Jnden  worden,  ehe  sie  sich  hierauf watof 
einlief sen,  vor  Allem  gegen  die  Behauptung  Jesu  (V.8)> 
Bf  oses  habe  kein  Himmelsbrot  gegeben ,  mit  Entribasg 
steh  erklärt  haben.  Wie  sofort  Jesus  sich  selber  den  cp- 
fog  ix  %b  üQuvä  nennt,  murren  die  Juden  in  derSynagop 
su  Kapernaum  darüber,  dafs  er,  der  Sohn  Josephs,  denn 
Vater  und  Matter  sie  kennen ,  sich  eine  Herabkunft  fl» 
Himmel  zuschreibe  (V.  41  f.);  eine  Reflexion,  welche  * 
Synoptiker  mit  gröberer  Wahrscheinlichkeit  in  Jesu  Va- 
terstadt Nazaret  Vorlegen,  und  mit  einem  natfirlichern 
Anlafs  verbinden.  Dafs  V.  52.  die  Joden  nicht  verstehe», 
wie  ihnen  Jesus  sein  Fleisch  zu  essen  geben  könne,  fr 
seh(  begreiflich :  desto  weniger,  wie  gesagt,  wie  Jesus  je- 
nes Unverständliche  sagen  konnte;  ebenso  wirdmanV.ro 
66.  das  Hintqrsichgehen  vieler  Jünger  auf  solchen  tfxfyf* 


9)  Vgl.  Bjuu-scHKiiDfiR;  Frobab.,  p.  56.  88 #. 


^1 


( 
Siebentes  Kepitel,    $.  80.  717 

l&yog  hin  sehr  erklärlich  finden :  um  so  weniger  aber  ein* 
•eben,  wie  Jesus  diefc  einerseits  selbst  herbeiführen ,  ond 
doeh,  als  es  eintrat,  so  verstimmt  sein  konnte,  wie  die 
Fragen  V«  61.  und  67*  es  aussprechen.  Man  sagt  2 war: 
Jesus  wollte  seine  Jfinger  siebten,  die  nur  oberflächlich 
Gläubigen ,  irdisch  Gesinnten ,  denen  er  sich  nicht  anver- 
trauen konnte,  aus  seiner  Gesellschaft  entfernen;  aber, 
wie  er  ee  hier  angriff,  war  es  eine  Probe,  die  auch  die 
Besseren  und  Verständigeren  von  ihn  abwendig  machen 
konnte.  Denn  gewifs  hatten  auch  die  Zwölfe,  weiche  ein 
andermal  nicht  wnfsten ,  was  er  mit  dem  Sauerteig  der 
Pharisäer  (Matth.  16,  7.)  und  mit  dem  Gegensatae  des 
sum  Munde  Ein-  und  Ausgehenden  sagen  wollte  ( Matth. . 
15,  15/),  die  gegenwärtige  Rede  nicht  geratenden;  und 
die  (irtfAccta  i^o)r^  aiwvis,  um  welcher  willen  sie  bei  ihm 
blieben  (V.  68.)>  waren  gewifs  nicht  die  Worte  dieses  6ten 
Kapitels  10). 

Je  weiter  man  sich  in  die  Reden  des  vierten  Evan- 
geliums hineinliest,  desto  mehr  fallen  die  Wiederholungen 
derselben  Gedanken  und  Ausdrücke  auf.  So  »iod  die  Re- 
den Jesu  ans  der  Zeit  des  Laubhiittenfeste*,  Kap.  7.  u.  8«, 
wie  auch  Lücke  beobachtet  hat,  nur  eine  wiederholte  und 
erweiterte  Abhandlung  der  bereits  (namentlich  Kap.  5  J) 
dagewesenen  Gegensätze  des  Gekommenseins,  Redens  und 
Handelns  von  sich  selber  und  von  Gott  (7,  17.  28  f.  8,2Sf. 
38.  40.  42.  vgl.  mit  5,  30.  43.  6,  38);  des  slvcu  ex  «5r 
ano  und  ix  twv  xcnco  (8,  23.  vgl.  3,  31.);  des  von  sich 
selbst  Zeugens  und  von  Gott  Zeugnilsnehmens  (8,  13 — IV« 


10)  Ich  matt  in  Bezug  auf  dieses  Kapitel  ganz  der  Bemerkung 
der  Probabilien  beistimmen  (S.  56):  videretur  —  Jesus  tpse 
studtUsse,  ui  verbis  Hinderet  Judaets,  nee  ab  iis  tntelägeretur, 
*eM  reprobaretur.  Ha  vero  nee  egit,  nee  agere  potuit,  neque 
si  tta  docuUset,  tanta  effecisset,  quanta  illum  effedsse  Histo- 
rie testatur.    Vgl.  auch  na  Wim,  exeg.  Handb.,  t,  $,  8.  S. 


718  '  Zweiler  Abschnitt 

vgl.  5,  31  -  87.);   von  wahrem   and  falschem  Richten  ft 

15f.    vgl.  5,  30.) ;    von  Licht  and  Finsternifs  (8,  11  vgl 

S,  19  ff.    auch  12 ,  S5  f. ).      Was  von    neuen  Gedanken  k 

diesen  Kapiteln  fct,  wird  alsbald  wiederholt,  wie  die  Er- 

wihnong  des  Hingangs  Jesu ,    wohin  ihm  die  Joden  iWi 

folgen  können  (7,  33  f.  8,  21.,  noch  mehr  spater,  13,11 

14,  2  ff.  16,  1«  ff.) ;  ein  Aussprach ,  an  welchen  sieh  tt» 

diefs  die  beiden  ersten  Maie  eiemlich  unwahrscheinlich 

Mifsverstindnisae  oder  Verdrehungen  der  Jaden  knöpf«, 

indem  sie  das  einemai,  un erachtet  Jesus  gesagt  hatte:  m 

yw  nQog  rov  m^ixpwna  //*,  an  eine  Reise  so  der  diaxmp 

rwv  "Blrjvojp,  das  andremal  gar  an  Selbstmord  gedacht  fa- 

ben  sollen.     Wie  oft  sind  ferner  auch  in  diesen  Kapiu 

die  Versichertingen  Jesu  wiederholt ,    da&  er  nicht  «se 

eigene  Ehre,  sondern  die  kies  Vaters  suche  (7,  17  t  8,Ä 

64);   dafs  die  Jaden  ae\m  Herkonft,  seinen  Vater,  akk 

kennen  (7,  28.  8,  14.  19.  54.);    dafs,  wer  an  ihn  jhib> 

ewig  leben,  den  Tod  nicht  sehen  werde,  wer  ateafcfcl 

glaube ,   ohne  Antheil  an  der  £*»?  in  seinen  Sflode»  «er* 

ben  mflsse  C8,  21.  24.  51.  vgl.  3,  36.  6>  40.).  -   Dm«» 

Kapitel ,    dem  grtf  fsten  Theii   nach  eine  Verhandlang  d* 

8ynedriams   mit  dem  von  Jesu   gebeilten    Blindgeberna, 

Ist  darchaas  dialogisch  gehalten;   doch  tritt,  weil  Je* 

selbst  mehr  im  Hintergrunde  bleibt ,  jenes  gemachte  Cs> 

trastsuchen  nicht  so  wie  sonst  hervor,  und  der  Dialeg  p- 

staltet  sich  natürlicher. 

Das  sehnte  Kapitel  beginnt  mit  der  bekannten  RA 
vom  guten  Hirten;  eine  Rede,  welche  man  mit  Onre* 
eine  Parabel  zu  nennen  pflegt  ")•    Auch  die  kleinsten  der 

r 

ii)  «.  Ä.  Tholuck  und  Lucx*,  welcher  Letztere  aber  doch  «• 
gibt,  das»  sie  mehr  nur  eine  angefangene  als  vollendeten- 
rabel  sei  (2,  S.  345.  Anm.  2.).  Auch  Olshaussii  bemerkt,  da 
hier  ?om  guten  Hirten  und  das  15,  1  ff.  vom  Weinstock  &• 
•agte  sei  mehr  nur  Vergleich™ g  als  Parabel ,  und  Nun» 


_j 


Siebentes  Kapitel.     §.80.  :i9 

mat  von  Jean  vorgetragenen  Gleichnisse,  wie  die  vom 
unerteig,  vom  Senfkorn,  enthalten  die  Grundzöge  einer 
eh  fortbewegenden  Geschichte,  welche  Anfang,  Fortgang 
nd  Schlufs  hat.  Hier  dagegen  ist  schlechterdings  kein 
iatoriacher  Verlauf:  auch  die  geschichtartigen  Züge  sind 
llgemein  gehalten  (was  zu  geschehen  pflege,  nicht  waa 
In  mal  geschehen  sei,  wird  gesagt),,  and  dadurch  zum 
»Sehen  gebracht;  ja  das  ursprüngliche  Hauptbild  vom 
XHfjrpr  durch  das  andere  von  der  xhvQa  unterbrochen:  so 
afs  wir  hier  keine  Parabel  haben,  sondern  eine  AUego- 
ie  12>  Es  bildet  also  diese  Stelle  wenigstens  (und  wir 
rerden  auch  keine  andre  finden;  denn  mit  dem  sogenann- 
an  Gleichnifs  vom  Weinstock  Kap.  16.  bat  es,,  wie  auch 
.»tiCKft  sieht,  die  gleiche  Bewandtnifs  wie  mit  diesem) 
Leine  Instanz  gegen  die  Art,  wie  neuere  Kritiker  ihren 
/erdacht  gegen  das  vierte  Evangelium  auch  dadurch  zu 
«gründen  gesucht  haben ,  dafe  es  von  der  parabolischen 
>>hrweise,  welche  Jesus  den  Übrigen  Evangelisten  zu- 
blge  so  sehr  liebte,  nichts  zu  wissen  scheine.  Unbekannt 
ibrigens  scheint  es  dem  Verfasser  desselben  nicht  gewesen 
ui  sein ,  dafs  Jesus  gerne  in  Parabeln  lehrte ,  da  er  hier 
md  Kap.  15.  Proben  davon  zu  geben  strebt,  von  welchen 
*r  die  erstere  ausdrücklich  eine  naQoifiia  nennt  (V.  6.)t 
aber  man  sieht,  wie  seinem  anders  gebildeten  Gescbmacfce 
diese  Form  widerstand,  wie  er  namentlich  nicht,  genug 
Objectivitit  hatte,  um  sich  der  Einmischung  von  Reflexio- 
nen au  enthalten,  wefswegen  sich  ihm  unter  der  Hand  die 
Parabel  in  Allegorie  verwandelte. 

Bis  10,  18«  gehen  die  Reden  Jtau  auf  dem  Laubhflt» 


zeigt  sich  bereit,  von  der  all  gemeinen  Gattung  der  Gleich- 
nisse, unter  welche  auch  die  johanneischen  ncrpxpfat  gehören, 
die  Art  der  Parabel,  wie  sie  bei  den  Synoptikern  erscheint, 
unterscheiden  zu  lassen  (S.  211.  Anm.). 

12)  Vcrgl.  db  Wirr*,  exeg.  Handb.,  1,  3,  S.  5.  127. 


"^ 


7M  Zweiler  Abschnitt. 

tenfeste:  von  V.  45.  an  melde!  der  Evangelist  AeeCstn» 
gen,  welche  Jesus  drei  Monate  später,  auf  dem  Fette  de 
Tempelweihe,  gethan  haben  soll*  Hier  erwiedert  Jen 
den  Joden,  welehe  eine  bestimmte  Erklärung ,  ob  er  Ar 
Messias  sei ,  von  ihm  verlangten ,  sunfiebst ,  dafs  er  ihm 
diefs  bereits  sur  Genügte  gesagt  bebe ,  und  wiederholt  fi 
Berufung  auf  das  Zengnifs  des  Vaters  für  ihn  durch  <& 
f(yya  (aus  5,  36.).  Hierauf  aber  (von  V.  26.  an)  ftllter 
dureb  die  Wendung,  dafs  die  ungläubigen  Frager  -nicht  u 
seinen  Schafen  gehören,  in  die  eben  verlassene  Alkgeil 
vom  Hirten,  mit  cum  Theil  wörtlicher  Wiederholung,  n> 
rück  18).  Eben  verlassen  aber  hatte  diese  Allegorie  nick 
Jesus ;  denn  seit  dieser  sie  vorgetragen  ,  waren  drei  lt 
nate  verflossen ,  und  gewifs  Vieles  von  ihm  gesproeta, 
gethan  und  erlebt  worden,  was  ihm  diese  Biidsrredeii 
den  Hintergrund  des  Gedächtnisses  rocken  mafste:  M<kfe 
er  schwerlich  «u  derselben  zurückgekehrt,  in  keineuM 
aber  sie  so  wörtlich  eu  wiederholen  im  Stande  gswmm 
wäre.  Wer  unmittelbar  von  jener  Allegorie  herksaaU, 
ist  vielmehr  nur  der  Evangelist,  welchem  freiliei  voa 
Niederschreiben  der  ersten  Hälfte  dieses  Kapitels  bis  nr 
2 weiten  nicht  Monate  vergangen  waren ;  sondern  er  scMt 
das  nach  seiner  Zeitangabe  ziemlich  Entfernte  in  Boes 
Zuge  fort,  und  so  mochte  wohl  in  seinem  GedÄchtnaa, 
nicht  aber  ebenso  in  Jesu ,   die  Allegorie  vom  Hirten  tri 


13)  10,  27:  /Tor  TTQoßara  ra  e/ia  10,  $•    xak  t«  nqoßm  1$  P 

rijs  <p<t>vt}i  fi*  oxhh  xajm  yiroU  vrjt;  ovth  a*t*t* 

axta  nur*  l4  l  xa\  ytrwrxta  ra  tp* 

28  '•  xdk  axola&Soi  poi.  4 1     xai   ra    nqoßara  mri  «*" 

Auch  dss  folgende  xaYu  fafr  ahinor  dti*ßH  *vT*s  esupri^ 
dem  obigen  tyt  fa$Wi  %ya  f^v  tXwr*,  V.  10. ,  so  wie  du  m  k 
u^naafi  tk  avra  ht  r?4(  /^?  jum  das  Gegent tttck  davon  ist)  d*1 
nach  V.  12.  der  Miethllng  die  Schafe  «^«b^  l«Mt« 


Siebente*  Kapitel.    $.  8*.  911 

solche  Weise  nachklingen.  Wer  sieh  hier  dadurch  noch 
helfen  eu  können  glaubt,  dafs  er  nur  die  wörtliche  Aehn> 
liehkeit  der  späteren  Rede  mit  der  früheren  auf  Rechnung 
des  Evangelisten  schreibt,  dem  kann  man  diefs  nicht  ver- 
wehren :  für  Andere  wird  dieser  Punkt  in  Verbindung  mit 
den  übrigen  dafür  entscheidend  sein,  dafs  die  Reden  Jesu 
bei  Johannes  zum  Tbeil  ziemlich  freie  Composidoneii 
sind  "). 

Dasselbe  erhellt  auch  aus  derjenigen  Rede,  mit  wel- 
cher der  vierte  Evangelist  Jesum  seine  öffentliche  Thttig» 
keit  beschliefsen  läfst  (12,  44  —  50.)-  Diese  Rede  nftmliob 
ist  so  durch  und  durch  nur  von  Reminiscenzen  aus  den 
bisherigen  Reden  Jesu  zusammengesetzt"),  so  ganz  nur, 
wie  Paulus  sich  ausdrückt,  ein  Wiederschall  mancher 
sonst  ausgesprochenen  Hauptworte  Jesu,  dafs  man  sich 
schwer  entschließen  kann,  mit  einer  so  wenig  originellen 
Rede  das  öffentliche  Wirken  Jesu  endigen  zu  lassen,  und 
daher  die  neueren  Ausleger  gröfstentheils  der  •  Meinung 
sind,  nur  der  Evangelist  sei  es,  der  hier  die  Summe  von 
Jesu  Lehre  noch  einmal  zusammenfassen  wolle16)«  Auch 
nach  unserer  Ansicht  redet  hier  wieder  der  Evangelist, 
aber  sein  Vorgeben  ist,  einen  Vortrag  Jesu  zu  gehen,  wenn 
er  doch  die  Rede  durch  ein :  *Iqoös  6i  &c(hx!;8  xal  einer, 
einleitet.  Diefs  freilich  wollen  die  Ausleger  nicht  zuge* 
ben,  und  sie  können  sich  nicht  ohne  Schein  darauf  bereu 
fen,  dafs  ja  der  Evangelist  schon  V,  36.  gesagt  hatte,  Je» 
sus  habe  sich  nunmehr  zurückgezogen  CexQvßr})9  und  dafs 
er  durch  die  folgende  Betrachtung  über  den  durch  so 
viele  von  Jesu  verrichtete  artfiua  nicht  gebrochenen  Un- 


14)  Vgl.  de  Wbtti  s.  d.  St. 

15)  Vgl.  V.  44.  mit  7,  17;  V.  46.  mit  8,  12;  V.  47.  mit  3,  17; 
V.  48.  mit  3,  18.  5,  45 ;  V.  49.  mit  8,  28;  Y-  50.  mit  6,  40. 
7,  17,  8,  28. 

16)  Lucks,  Tholucm,  Paulus  z.  d.  St. 

Das  Leben  Jesu  Ue  Aufl.  /.  Band.  46 


WÄ  Zweiter  Absohnitt 

glauben  der  Joden  nicht  nndenttteh  Jesu  öffentliche»  Wfc 
ken  ftr  geschlossen  erklärt  hatte;  wef« wegen  es  alsogegea 
«einen   eigenen   Plan  wäre,  Jesnm  hier  noch  einamal  mit 
einer  öffentlichen  Rede  auftreten  en  lassen.    Und  hiegegea 
mag  ich  mich  «war  nicht  mit  filteren  Exegeten  darauf  be- 
rufen, dafs  Jesus,   nachdem  er  schon  den  Rfickcug  ange* 
treten,  sich  nech  einmal  umgewendet,  und  den  Joden  jene 
Worte  BUgeruTen  habe;  aber  daran  halte  ich  fest,  dals  der 
Evangelist    durch  den   bezeichneten  Eingang  V.  44*  nur 
einen    bestimmten   Redeaot   kann  anzeigen  wollen.     Zwar 
seil  der  Aorist  in  exQa§€  und  eine  die  Bedeutung  des  Pias» 
^piamperfectums  haben,  und  hier  die  frfiberen  Reden  Je» 
reeapitnlirt  werden ,  deren  ungeachtet  die  Joden  ihm  In- 
nen  Glauben   geschenkt   haben;  aliein  diese  nachholesai 
Stellung  des   Satses  mOfste   doch  durch  etwas,    in  da 
Worten  selbst   oder  im  Zusammenhang ,   angedeutet  seia, 
ond  da  diefs  weit  weniger  als  n.  B*  Job.  18,  24.  der  FaB 
ist:  so  wird  man  sich  die  Sache  so  bu  denken  haben,  dafs 
Johannes  «war  mit  V.  86.   den  Bericht  ven  der  frfientti- 
eben  Thfitigkeit  Jesu  hatte  schiiefsen  wollen ;   aber  dmreh 
die  ausführliche  SchluAbetrachtung    V.  $7  ff.   und  duck 
die  Kategorien  der  nlgig  und  dmgia,  welche  in  derselben 
vorkamen,  wurde  er  an  froher  von  ihm  vorgetragene  He- 
den Jeso  erinnert,  welche  diesen  ond  ähnliche  Gegensite 
behandelten,  und  welche  er  nicht  umhin  konnte,  hier  nut 
verstärktem  Nachdrucke  Jesum  wiederholen  an  lassen1*). 


17)  db  Witts,  exeget.  Handb.,  1,  5,  S.  148:  „Man  wird  aacfc 
hier ,  wie  3 ,  16  ff.  31  ff. ,  das  freie  Verfahren  des  Evangeli- 
sten anerkennen  müssen ,   und  zwar  in  umgekehrter  Weise: 

-  näintich  während  er  dort  die  angefangenen  Reden  Anderer 
als  die  «einige  fortführt,  so  gestaltet  sich  ihm  hier  unter 
der  Hand  die  Erinnerung  an  den  Inhalt  der  Reden  Jesu  zur 
Beschämung  der  Ungläubigen  zu  einer  wirklichen  Rede,  wel- 
che nie  so  gesprochen  ist.'* 


_     Siebentes  Kapitel.    $.  81.  72* 

$.81. 

Einzelne ,  dem  rierten  Evangelium  mit  den  übrigen  gemeinsame 

Aussprüche  Jesu« 

Die  bisher  erwogenen  längeren  Reden  Jesu  waren  dem, 
arten  Evangelium  eigenthümlich:  nor  einige  küraere  Aae- 
rrOche  finden  sieh,  sei  weichen  die  Synoptiker  Paraihv 
n  bieten.  Von  diesen  haben  wir  diejenigen,  welche  bei 
»h anne*  in  nicht  minder  passender  Verbindung  stehen 
vie  12,  25.  rgl.  mit  Matth.  10,  39.  16,  25,  and  IS,  16. 
jl.  mit  Matth.  10,  24.),  nicht  besonders  an  betrachten, 
nd  da  die  Stelle  2,  19.  vgl.  mit  Matth.  26,  61.  erst  im 
on texte  der  Leidensgeschichte  aar  Sprache  kommen  kann, 
»  bleiben  ans  hier  nur  drei  Stellen  übrig,  von  weichen 
ie  erste  4,  44   ist 

Nachdem  der  Evangelist  gemeldet  hat,  wie  sich  Jesus 
on  Samaria  wieder  nach  Galiläa  gewendet  habe ,  setst  er 
insu:  avzog  yaQ  6  7.  ifiaqrtvQi]Oev  y  ort  ftQwpr/crfi  &  ifl 
Mtf  navqldi  zifiijv  sx  exet.  Denselben  Aussprach  finden 
rir  Matth.  13,  57.  (Marc.  6, 4.  Lac.  4, 24.)  mit  4en  Wor- 
sjp  :  öx  igt  nQOfrjT^g  änfiog,  ei  {ir}  ev  Tjj  natqidt  ctvrS 
ai  iv  vfj  oixla  avrs.  Allein,  während  er  hier  am  gans 
eeigneten  Orte  steht,  veranlagst  nämlich  durch  die  schlechte 
knfnahme,  welche  Jesu.*  in  seiner  Vaterstadt  Nasaret  fand, 
ie  er  defswegen  wieder  verlief«:  so  erscheint  bei  Johan- 
en  der  Ausspruch  umgekehrt  wie  ein  Motiv  der  Reise 
lesn  in  seine  Heimath  Galiläa,  wo  er  übrigens  sofort  gut 
mfgenommen  wurde.  Da  ihn  die  in  jener  Sentena  ausge- 
prochene  Erfahrung  vielmehr  hätte  abhalten,  als  antrei- 
ben müssen,  eine  Reise  nach  Galiläa  au  unternehmen:  so 
fige  allerdings  dem  Bedfirfnifs  die  Erklärung  am  nächsten, 
reiche  noch  Küinöl  aufgenommen  hat,  das.  yaQ  geradeso 
'Ör  obgleich  eu  nehmen.;  wenn  sie  nur  nicht  die  sprach- 
widrigste Gewaltbülfe  wäre.  Indessen ,  da  es  dabei  bleibt, 
lafs,   wenn  Jesus  diese  Stellung  des  Propheten  au  seiner 

46» 


7*4  Zweiter. Abschnitt. 

7ia%QiQ  kannte,  er  vielmehr  nieht  dahin  gehen  mobte:  a 
war  man  sofort  veranläßt,  natgls  nicht  von  der  Prorim, 
sondern  im  engeren  Sinne  von  der  Vaterstadt  so  venfr 
hen,  and  nach  der  Angabe,  dafs  er  nach  Galiläa  gega» 
gen,  so  ergangen:  dafs  er  sich  Jedoch  in  seine  Vstantai 
Nasaret  ans  dem  angezeigten  Grande  nicht  begeh«  b 
be  *>>  silein  eine  Auslagsang,  wie  sie  bei  dieser  ErUt 
rang  angenommen  wird ,  gehört  nieht  minder  au  des  h> 
mögliehkeiten,  als  jene  CJmdentang  von  yaQ  bei  der  rin- 
gen. Da  man  hienaob  eine  Angabe ,  wie  man  sie  Mnt 
te,  dafs  Jesus  gar  nicht  in  seine  TtcczQig  gegangen,  ibu» 
aere  Stelle  nieht  hineinbringen  kann:  so  glaubte  naiv* 
nigstens  das  in  ihr  su  finden,  dafs  er  nicht  bald  M 
zurQckgekebrt  sei;  wovon  dann  das  ort  nQOftrn^  ruii 
ganz  passend  den  Grand  anzogeben  schien  *)•  Sollt«  im 
Auffassung  zulässig  sein,  so  mfilste  anmittelbar  vorher  die 
ganze  Dauer  des  auswärtigen  Aufenthalts  Jesu  saturne* 
gehalst  sich  finden :  statt  dessen  aber  ist  V*  45.  off  A 
kurze  Zelt  angegeben ,  welche  Jesus  in  Samarieo  verwdh 
hatte;  so  dafs,  in  lächerlichem  BÜTsverhältnifs  voafina' 
and  Folge,  die  Furcht  vor  der  Verachtung  seiner  Lasu» 
leate  als  der  Grund  bezeichnet  wäre,  nicht  Warna  * 
erst  nach  mehrmonatlichem  Aufenthalt  in  Jodka,  sonfa 
warum  er  nicht  eher  als  nach  Verflnfs  zweier  in  Sanas 
zugebrachten  Tage  nach  Galiläa  gegangen  sei.  Kau* 
mit ,  so  lange  man  Galiläa  und  Mazaret  als  die  nca(i;  *• 


1)  So  Cyrill,  Erasmut.  Was  Tuolvck'b  Auskunft,  welcher** 
Olshausbn  beitritt,  das  i^a^rv^otv  in  der  Bedeutung  d«  ß* 
quamperfectums ,  jand  das  r^  explanativ  zu  nehmen,  W** 
soll,  sehe  ich  nicht  ein,  da  auch  so  durch  ya$  und  *r  (V»u* 
ein  Verha'ltniss  der  Uebereinstümnung  zwischen  zwei  SSW1 
bleibt,  zwischen  welchen  man  einen,  etwa  durch  /ar** 
<fr  angezeigten ,    Gegensatz  erwarten  sollte.  ' 

2)  Paulos,  Comm.  4,  S.  351.  56. 


Siebentes  Kapitel,    f.  81.  TOS 

•a  eich  denkt,  aus  unserer  Stelle  des  absurdum  nicht  ent- 
fernt werden ,  dafs  Jesu« ,  bewogen  dnreh  die  daselbst  au 
erwartende  MiCsachtuug,  dahin  gegangen  sei:   so  war  es 
dem  Ausleger  nehe  gelegt,  sieh  ans  seinem  Matthäus  und 
Lukas  na  besinnen  ,  daft  ja  Jesns  vielmehr  in  der  Davids- 
stadt  Bethlehem  geboren ,  .  somit  Judäa  seine   eigentliche 
Heimath  gewesen  sei;   welche  er  nun,  der  daselbst  erfah- 
renen Mitsaehtung  wegen,   verlassen  habe  *)•    Allein  in 
Judäa  hatte  er  ja  nach  4,  1.  vgl.  2,  23.  3, 26  ff.  einen  sehr 
bedeutenden  Anhang  gewonnen,  und  konnte  sich  also  über 
Mangel  an  tiui]  nicht  beklagen;  denn  die   Nachstellungen 
der  Pharisäer,   welche  4,   1.  su  verstehen  gegeben  sind, 
waren  eben  durch  das  wachsende  Ansehen  Jesu  in  Judäa 
veranlafst,  und  ihrerseits  keineswegs  auf  das:   an  tiqo 
tpiftTfi  x.  x.  iL,   aurückauftihren.    Ferner  ist   in   unserer 
Stelle  das  Gehen  nach  Galiläa  nicht  mit  einem  Verlassen 
Judäa's,    sondern   Samariens    in   Verbindung  gesetzt;   so 
daft,   da   es  heilst:  er  verlieft  Samarien,   und  ging  nach 
Galiläa,    weil  er  die   Erfahrung  gemacht  hatte,   dafs  ein 
Prophet  in  seinem  Vaterland  nichts  gelte,  vielmehr  Sama- 
rien  als    sein   Vaterland   bezeichnet   au   werden  scheinen 
könnte,    wie  er  8,  48.  Sa/naQeh^g  gescholten  wird:    aber 
auch  in  Salharien  hatte  er  nach  4,  39*  eine  günstige  Auf- 
nahme gefunden.    Ueberdieft  haben  wir  schon  oben  gese- 
hen, daft  das  vierte  Evangelium  von  einer  Geburt  Jesu  in 
Bethlehem  nichts  weift,   sondern   ihn  allenthalben  als  Ga- 
liläer  und  Naaaretaner  voraussetat.    Der  einsig  übrig  blei- 
bende Ausweg  ist,  den  Satz  als  Erklärung  davon  au  neh- 
men,  warum  Jesus    nicht  auerst  längere  Zeit  in  Galiläa, 
sondern  vielmehr  in  Judäa  und   Samarien  gewirkt,    und 
sich  hierauf  erst  nach  Galiläa  zurückgewendet t habe:  näm- 


5)\  Dieser  Gedanke  ist  so  ganz  im  Geiste  der  alten  Harmonistill, 
dast  es  mich  wundert,  wenn  wirklich  erst  LxJckb  (Comrn.  1, 
S.  545  f.)  auf  denselben  verfallen  ist. 


TSC  Zweiter  Abschnitt. 

lieb,  «i  sieh  erst  auswärts  Ansehen  so  > erschaffen,  tri 
dnreh  die  Rückwirkung  hieven  sofort  auch  die  Galifa 
sv  gewinnen;  was  ihm  nach  dem  gleich  Folgeaden  tiefe 
gelang  •). 

Der  Aussprach  IS,  20:  o  hx/ißamv  iav  wa  tupfa 
ifii  XanßavW  6  di  ipi  kxußavtav  hx^ßavu  toy  nifiijmi 
fie,  hat  Matth.  16,  40.  eine  fast  wörtliche  Parallele.  V* 
angegangen  war  bei  Johannes  die  VerherverkündigiBgai 
Verraths  nnd  die  Erklärung  Jean  gegen  die  Jünger,  U 
er  ihnen  diefs  im  Vorans  habe  sagen  wollen,  damit  u, 
wenn  sieh  seine  Vorhersage  erfülle ,  an  ihn  ab  Mens 
glauben  möchten.  Wie  hingt  nun  damit  jener  Anispnd 
susammen?  nnd  wie  mit  dem  Folgenden,  wo  alsbald?» 
der  vom  Verrather  die  Rede  wird  ?  Man  sagt,  Jesus  mh 
auf  die  hohe  Wörde  eines  messianischen  Lehrgecaafa 
aufmerksam  machen,  welche  der  Verräther  versehene1): 
aber  eben  dieser  negative  tiedanke  des  Verlieren«,  »i 
welchen  hier  Alles  ankommt,  ist  im  Texte  duret  meto 
angedeutet.  Andere  nehmen  an,  mittelst  der  Schilderung 
Ihres  hohen  Werthes  habe  Jesus  den  durch  die  Erwib* 
nung  des  Verräthers  niedergeschlagenen  Jüngern  neee« 
Muth  einflössen  wollen  6) :  aber  dann .  durfte  er  aehwerW 
unmittelbar  darauf  wieder  vom  Verräther  fortfahren.  Kai 
Andere  vermothen  ausgelassene  Mittelglieder7):  kaoub* 
ser,  als  wenn  Küinöl  an  ein  Glossem  aus  Matth.  10,  <*■ 
denkt,  das  "ursprünglich  su  V.  16.  gemacht,  hierauf  ito 
hieher,  an  den  Slhlnfs  des  Abschnitte',  verwiesen  worin 
sei.  Hiebet  ist  übrigens  die  Hinweisung  auf  V.  ld  ea 
brauchbarer  Fingerzeig.    Auch  dieser  Vers  nämlieb,  wb 


4)  NsAHMa,    L.  J.  Chr.,  .3.   386.    Anm. ;     vgl.     na  Wimi 
*  d.  St. 

5)  Paulus,  L.  J.  l,  b,  S.  158. 

6)  Ltfcat,  2,  S.  478. 

7)  Taottfca,  s.  d.  St. 


Siebentes  Kapitel,    f.  81.  T5T7 

•er  SOste,  hat  feine  Parallele  in  der  Instruöttonsrede  bei 
Mattl*ius  (10,  24.);  waren  dem  Verfasser  des  vierten 
mVtuigeliums  ans  dieser  einige  Stücke  fan  Gedietitnifs :  se 
konnte  leicht-  eines  das  andere  in  seiner  Erinnerung  her» 
vorrufen*  V.  10.  war  von  dem  anogolog  und  dem  nipiftag 
ecvrov  die  Rede;  ebenso  hier,  V.  SO.,  von  denen,  weiche 
Jeans  senden  werde,  und  dem,  der  ihn  gesandt  habe. 
Freilieh  jenes,  nm  Demntb  an  empfehlen,  dieses  nm  an 
ermnthigen ;  also  dem  Sinne  nach  nicht  aosammenbiogend, 
sondern  nur  den  Vif  orten  nach:  so  dafs  wir  hier  den  Vei^ 
fasser  des  vierten  Evangeliums  in  Wiedergebnng  der  Aus- 
sprüche Jesu  demselben  Gesetse  der  Ideenassociation  fol- 
gen aeben,  wie  die  Synoptiker.  Das  Natürlichste  wäre 
hiebe!  awar  gewesen,  den  20sten  Vers  unmittelbar  nach 
dem  16ten  an  stellen;  indefs  der  Gedanke  an  denVerrither 
drängte  sich  vor,  und  der  doch  nur  lexikalisch  in  der  Er- 
innerung des  Evangelisten  wiedererwekte  V.  20-  konnte  ja 
ebensogut  auch  etwas  spfiter  stehen. 

Die  dritte  hier  in  Betracht  kommende  Stelle,  14,  31., 
steht  n war  noch -tiefer  als  die  anletat  beleuchtete,   im  Be- 
reich der  Leidensgeschichte:   kann  aber,  da  sie  sich,  wie 
jene,  gana  abgesehen  von  diesem  Zusammenhang  untersu- 
chen Iftftt,    hier  ebenso  unbedenklich  mitgenommen  wer- 
den.   In  dieser  Stelle  fallen  die  Worte:  iysiQeodt,  ayw//*v 
evrevd-evy   defswegen  auf,   weil  der  in  denselben  enthalte- 
nen  Aufforderung  cum    Weggehen   keine   Folge   gegeben 
wird,    sondern  Jesus,    wie  wenn  er  so.  etwas  gar  nicht 
gesagt   bitte,   unmittelbar  (15,   1.)   fortfährt:    iyal  eifui  rj 
afirukos  rj  afoftivrj  x.  t.  A.,   und  erst  nach  lange  noch  fort- 
gesetzten Reden  18,  1.  mit  seinen  Jüngern  aufbricht.   Mit 
seltener  Uebereinetimmung  jedoch  haben  die  Ausleger  der 
verschiedensten  Farben  jene  Worte  dahin  erklArt,  dafs  Je- 
sus swar  im  Sinne  gehabt  habe,    nunmehr  wegsugehen, 
und  sich  nach  Gethsemane  au  begeben,   dafs  Ihn  aber  die 
Liebe  und  der  Drang,  seinen  Jüngern  noch  Hehreres  mit- 


T26  Zweiter  Abschnitt. 

Mtheilea*  festgehalten,  feabe;  ao  sei  iwav  da*  Eine,  w« 
er  aufforderte,  dm  $fdqfß&€>  in  Vollzug  gekommen,  ab* 
stehend  im  Speisesaale  habe  er  sofort  noch  weiter  getpn> 
ehen,  bis  erat  später  (18,  1.)  aneh  dem  uyo)ft&  ivuvte 
folge  gegeben  worden  sei  *)•  Die  Möglichkeit  einst  «li- 
ehen Hergänge  wird  ragegeben  werden  müssen:  so  wii, 
dafg  im  Andenken  eines  Jfingera  das  Bild  dieses  letstu 
Abends  mit  allen  seinen  Einzelheiten  gar  wohl  so  lebbsfi 
sich  erhalten  haben  konnte,  dafs  er  auch  Jesu  Anbtehn 
j|nd  röhrendes  Verweilen  an  gehöriger  Stelle  miters&hlte. 
Aber,  wer  ans  lebendiger  Erinnerung  heraus  ers&hlte,  der 
mußte,  acheint  es,  gerade  daa  Anschauliche  an  der  Sieb} 
daa  Aufbreohen,  und  wie  doch  noch  verweilt  wurde,!* 
entheben;  nicht  aber  die  blofsen  Worte,  welche  ohnetfr 
Ifigung  Jener  Umstände  durchaus  unverständlich  bleu* 
Bemerken  wir  nun,  dafs  an  demselben  letzten  Abend  uu 
die  Synoptiker  Jean  ein  iyei$£0&€  uyco/uev,  in  darein* 
passendem  Zusammenhange,  in  den  Mund  legen  (Ktttk 
26,  46,  Marc.  14,  42.):  eo  kann  auch  hier  die  VerwtoMg 
entstehen ,  es  möchte  von  dem  vierten  Evangelist«  em 
RedestOck,  wo  es  ihm  eben  einfiel,  nicht  im  bsstsa 
Zusammenhange,  eingefügt  worden  sein.  In  der  Thst 
lfifst  sich  auch  etwas  nachweisen,  daa  ihn  gerade  biern 
jenen  Ausspruch  erinnern  konnte.  In  den  synoptueki 
Parallelen  steht  die  Aufforderung:  tyelQeo&e  cryw/tfv,  ■* 
der  Ankündigung  im  Zusammenhang:  16&  ^yyixe^  rj  «(»? 
xal  6  viog  t.  d.  naQadidorai  dg  x£iQa§  <xfta(nü>lc~)v  —  l® 
ijyyucev  6  naqaöidsg  /ue,  also  mit  der  Verkffndigang  d* 
Mähens  der  feindlichen  Macht ,  vor %  welcher  sich  jedoet 
Jesus  nicht  fürchtet,  aondern  mit  jener  entschlossenen  An- 
forderung der  Gefahr  entgegengeht.  Von  dem  Herannahe» 
einer  feindlichen  Macht  hatte  Jeans  auch  im  Zusammen- 


8)  Paulus,  Ldcki,  Tkoujck,  Olsbausik,  z.  d.  St.;  Hw,  EiaL i> 
das  N.  T.  2,  S.  209. 


Siebente«  Kapitel,    f.  81.  72» 

bange  der  jobanneiechen  Stelle  gesprochen,  wenn  er  sagte : 
ÜQXerai  6  tu  xoo/uh  ccqxojv,  xcä  iv  ifioi  ax  txei  öder.  Dafs 
hier  die  in  dem  Verräther  nnd  den  von  ihm  Geführten  wirk- 
same Macht,  dort  aber  der  von  derselben  getriebene  Ver- 
rfither selbst,  als  das  sich  Nähernde  namhaft  gemacht  ist, 
würde  hiebe!  wenig  Unterschied  machen:  sondarn,  wnfste 
der  Verfasser  nur  unbestimmt,  dafs  Jesus  mit  der  Hinw^sung 
auf  die  nahende  Gefahr  ein  entschlossenes  tyeiQeo&e  ayioutv 
verbanden  hatte :  so  konnte  ihm  diefs  bei  der  Erwähnung  des 
feindlich  nahenden  aqxoyv  tHxojus  einfallen,  und  er  fügte,  weil 
er  Jesum  und  seine  Jünger  noch  in  der  Stadt  und  im  Hause 
hatte,  sie  also  bis  cum  Zusammentreffen  mit  der  feind- 
seligen Macht  noch  eine  bedeutende  Ortsveränderung  vor- 
nehmen lassen  mufcte,  dem  aytofitv  noch  das  tvztv$ev  hin- 
an. Wie  ihm  aber  dieses  traditionelle  Dictum  nur  unwill- 
kürlich in  den  Gang  derjenigen  Gedanken,  welche  er  Jesu 
als  Abschiedsreden  in  den  Mund  au  legen  gedachte,  swi* 
scheneingescblüpft  war:  so  wurde  es  auch  alsbald  wieder 
Ignorirt,  und  dem  noch  nicht  erschöpften  Strome  der  Ab- 
schiedsreden nach-  wie  vorher  freier  Lauf  gelassen.  Wäre 
freilich  der  fragliche  Ausspruch  auf  diese  Weise  an  unsere 
Stelle  gekommen,  so  könnte  der  Erzähler  nicht  wohl  Zeuge 
jenes  letzten  Abends,  also  nicht  Johannes,  gewesen  sein; 
doch  auch  angenommen,  Jesus  habe  wirklich  auch  schon 
im  Speisesaale  jene  Worte  gesprochen :  so  ist  in  dem  un- 
vermittelten Anschließen  der  Bilderrede  vom  Weinstock 
an  dieselben  eine  Unklarheit,  die  uns  eu  dem  Geständnifs 
zwingt,  dafs  der  Evangelist  auch  hier  wie  in  manchen 
andern  Fällen  den  objeetiv  -  historischen  Faden  nicht  sicher 
festgehalten  habe9). 


9)  »e  Witts,  exeg.  Handb.,  1,  3,  S.  166  f. 


730  Zweiter  Abschnitt. 

&    ML 

Die  neueren  Verhandlungen  über  die  Glaubwürdigkeit  der 
johanneischen  Reden.    Resultat. 

Durch  die  bisherige  Untersuchung  der  Reden  Jen  k 
vierten  Evangelium  werden  wir  nun  hinreichend  assgerl! 
stet  sein,  am  uns  in  dem  Streite,  weicher  neuerlieh  ihr 
dieselben  geführt  worden  ist,  ein  Urtheil  so  bilden.  Dt 
neuere  Kritik  nämlich  hat  diese  Reden  theils  nach  ikv 
inneren  Beschaffenheit,  mit  Beziehung  auf  gewisse  aUg* 
mein  anerkannte  Maßstäbe  der  Glaubwürdigkeit,  AA 
nach  ihrem  äufseren  Verhaltnils  zu  andern  Reden  ssi 
Darstellungen,  verdächtig  gefunden :  wogegen  es  aber  n& 
an  zahlreichen  Vertheidigern  derselben  gefehlt  bat 

In  Bezug  auf  die  innere   Beschaffenheit  entstellt 4  ! 
doppelte  Frage :   entsprechen   jene  Reden ,   so  wie  sie  n 
ans  liegen ,  den  Gesetzen  1)  der  Wahrscheinlichkeit,  vi  \ 
3)  der  Behaltbarkeit  ? 

In  ersterer  Hinsicht  wird  von  den  Freundes  sei 
vierten  Evangeliums  bemerkt,  seine  Reden  zeichm»  seh 
durch  ein  besonderes  Gepräge  der  Wahrheit  not4  «** 
verläfsigkeit  aus,  die  Gespräche,  die  4s  Je««  ■* 
Menschen  der  verschiedensten  Gattungen  fähren  Ist«) 
seien  durchaus  treue  Charakterschilderungen,  welche»  ; 
strengsten  Anforderungen  der  psychologiechen  Kritik  Ge- 
nüge thun  ')•  Dem  ist  von  der  andern  Seite  entgegenf  j 
setzt  worden,  wie  es  vielmehr  höchst  unwahrtcheiafi* 
sei,  dafs  einerseits  Jesus  zu  Personen  von  den  ven** 
densten  Bildungsstufen  so  ganz  auf  dieselbe  Weise,  so  ** 
Galiläern  in  der  Synagoge  zu  Kapernaum  nicht  veno*' 
lieber,  als  zu  dem  diddaxalog  tö  *IöQarjX  in  Jerww 
gesprochen ,  dafs  den  Inhalt  seiner  Reden  fast  durtowf 
nur  die  Eine  Lehre  von  seiner  Person  und  deren  H* 


1)  WaescmwiR,   Einl.  in    das  Evang.  Job.    S.  37f.    f"0. 
Com».  S.  VI  f. 


Siebentes  Kapitel,    f.  83,  TS1 

mheft  gebildet  haben ,  die  Fern  derselben  aber  wie  ab* 
ehelich  darauf  berechnet  gewesen  sein  sollte,  die  Leute 
re  sn  machen  und  von  ihm  surflcknestofsen.  Ebenso  an« 
reraeks  bei  den  Zuhörern  ond  Mitunterrednern  hat  man 
Le  Angemessenheit  ihrer  Zwisehenreden  niebt  selten  ver- 
lifst.  Hier  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  kein  Unterschied 
wischen  einem  samarischen  Weibe  und  dem  gebildetsten 
'harisler:  dieser  so  gut  wie  jenemufs  die  geistig  gemein« 
in  Reden  Jesu  fleischlich  rnifs  verstehen ,  und  diese  Mifs- 
erständnisee  sind  nicht  selten  so  grell,  dafs  sie  allen 
Hauben  Abersteigen,  jedenfalls  aber  so  einförmig,  dafs 
ie  einer  stehenden  Manier  Ähnlich  sehen ,  in  welcher  der 
Verfasser  des  vierten  Evangeliums  willkürlich  des  Contra« 
tes  wegen  die  mit  Jesu  sich  Unterhaltenden  gezeichnet  nn 
iahen  seheint  *)•  Dafs  in  vielen  andern  Fällen  sowohl  die 
Anwendungen  der  Mitunterredner,  als  die  Erwiederun- 
gen Jesu  auch  wieder  vollkommen  angemessen  sind  (e.  B. 
m  Uten,  com  Theil  auch  im  Uten  Kap.,  in  den  Abschieds» 
«den  u.  sonst),  ist  nicht  in  Abrede  eu  stellen ;  aber  eben- 
sowenig die  entgegengesetste  Beschaffenheit  mancher  an« 
lern  Wechselreden  bu  fiberseben« 

Was  fuVs  Andere  die  tiesetee  der  Behaltbarkeit  be- 
rifft,  so  ist  man  so  ziemlich  darin  einverstanden,  dafs 
iiejenige  Art  von  Reden ,  wie  sie  das  jbhanneische  Evan« 
gelium,  im  Unterschiede  von  den  eineein  stehenden  oder 
Busammengereihten  Sinnsprüchen  und  Parabeln  der  übri- 
gen, berichtet:  nämlioh  susammenh&ngende  Demonstratio- 
nen oder  fortlaufende  Dialogen,  bu  demjenigen  gehöre, 
was  sich  am  schwersten  behalten  und  treu  wiedergeben 


2)  So  Ecxbubuxw,  theol.  Beitrüge,  5,  2,  8.  228}  (Vosbl)  der 
Evangelist  Johannes  und  seine  Ausleger  vor  dem  jüngsten 
Gericht,  I,  8.  28  ff. ,  bei  Wboscmbidbr  ,  a.  a.  O.  S.  281.; 
Brbtschhbidbr,  Probabil.  S.  33.  45 ;  »s  Wbttb,  exeg.  Handb. 
!,  3,  8.  6  f.  .      * 


712  Zweiter  Abschnitt. 

lifst  *).  Wenn  solche  Reden  nicht  protokollarisch  naehgt- 
sehrieben  werden,  so  ist  fär  ein  treues  Wiedergeben  nicht 
su  stehen*  Wirklich  hat  daher  Dr.  Paulus  einmal  dsa 
Einfall  gehabt,  es  mögen  vielleicht  bei  den  Tempel-  «der 
Synagogengerichten  en  Jerusalem-  eine  Art  von  Geschwind- 
Schreibern  als  Protokollisten  angestellt  gewesen  sein ,  aus 
deren  Acten  dann  nach  Jesu  Tode  die  Christen  Abschrif- 
ten gesammelt  hätten  *),  und  auf  ähnliche  Weise  meinte 
Bertholdt,  unser  Evangelist  habe  noch  bei  Lebseiten  Je« 
die  meisten  seiner  Reden  aramäisch  aufgezeichnet,  und 
diese  Aufzeichnungen  bei  der  weit  späteren  Abfassung  sei* 
nee  Evangeliums  zum  Grunde  gelegt  &).  Wenn  anch  alt 
letztere  Voraussetzung  nicht  ohne  Stütze  in  der  Sitte  /i- 
discher  Rabbinenschfiler  ist  6) :  so  sehen  doch  die  Rena 
bei  Johannes  am  wenigsten  darnach  aus,  frisch  vom  Mun- 
de Jesu  weg  aufgezeichnet  zu  sein ,  sondern  es  sind  hier- 
über, dafs  sie  lange  vor  der  Miederschreibung  im  GemsV 
the  des  Verfassers  getragen  worden  sein  müssen,  jetzt  atle 
Theologen  einverstanden.  Zur  Beglaubigung  derselben  be- 
rufen sie  sich  nun  aber  auf  die  Tiefe  erster  Jogendein* 
drücke,  auf  die  Weiche  und  Bildsamkeit  von  Johannes 
Charakter ,  auf  sein  inniges  Verhältnis  zu  Jesu  während 
dieser  lebte,  auf  die  Treue,  mit  welcher  er  naob  des 
Meisters  Tode  seine  Reden  im  Herzen  bewegt ,  und  sich 
ganz  in  die  Denk-  und  Redeweise  Jesu   hineingelebt  ha- 


3)  ob  Wstts,  ßinl.  in  das  N.  T.  $.  105.;  exeg.  Handb.  1,  \, 
S.  6 ;  Tholuck  ,  Gomm.  z.  Joh.  S.  38  f. ;  Glaubwürdigkeil, 
S.  544  ff.;   Lücke,  1,  S.  198  f. 

4)  Commentar,  4,  S.  275  f. 

5)  Verosimilia  de  origine  ev angeln  Joannis ,  opusc.  S.  1  ff.  und 
Einleit.  in  das  N.  T.  S.  1302  ff.  Dieser  Ansicht  gibt  VVM. 
acHEiDBR,  a.  a.  O.  S.  270  ff.  Beifall,  und  auch  Hut*  2,  265  f. 
und  Tholuck,  Comm.  S.38,  glauben  die  Annahme  früherer  Auf- 
zeichnungen nicht  ganz  ausschliefen  zu  dürfen. 

6)  Vgl.  Tholuck,  S.  18. 


Siebente»  Kapitel.    $.  8S.  7SS 

be  *).  Mit  dem  Letzteren  gestehe»  sie  Jedoch  selbst  eh, 
dafs  an  strenge  Auseinanderhaltung  des  Eigenen  und  Frem- 
den, an  eigentliche  Objectmt&t ,  nicht  su  denken  sei* 
Namentlich  setst  Tholück  in  den  Reden  Jesu  bei  Joban- 
nes die  kindliche  Einfalt  (d.  h.  das  Fortlaufen  des  Perio* 
dehbans  an  einer  beschränkten  Zahl  von  Conjunctionen), 
die  Einförmigkeit  (d.  h.  die  kreisförmige  Gedankenbewe« 
gang,  welche  in  kurzem  Umschwünge  immer  wieder  auf 
den  Punkt  zurückkehrt,  von  dem  sie  ausgegangen)  und 
die  Zerflossenheit  (welche,  mehr  auf  die  Einheit,  als  auf 
die  Verschiedenheit  der  Begriffe  merkend,  dem  Erklärer 
die  logische  Exposition  oft  so  schwierig  macht),  unbedenk- 
lich auf  Rechnung  des  Evangelisten:  scheinbar  nur  for- 
melle Momente;  welche  aber,  wie  namentlich  die  von 
Tholück  treffend  sogenannte  Kreisbewegung,  sogleich  tief 
in  den  Inhalt  eingreifen,  und  uns  namentlich  für  den  Gang 
und  Fortschritt  der  johanneischen  Reden  jede  Bürgschaft 
entstehen.  Ob  aber  nicht  sogleich  auch  entschieden  zum 
Inhalt  Gehöriges,  Vorstellungen  und  Ideen,  in  die  Reden 
Jesu  und  Anderer  im  vierten  Evangelium  sich  eingeschli- 
chen haben,  mafs  sich  aus  dem  Bisherigen  von  selbst  er* 
geben. 

In  letzter  Instanz  beruft  man  sich  auf  den  übernatür- 
lichen Beistand  des  TtaQaxkrjcos  y  den  Jesus  seinen  Jüngern 
verheißen ,  und  der  sie  an  Alles,  was  er  ihnen  gesagt,  er- 
innern sollte  *).  Allein  so  weit  diese  Berufung  wissen- 
schaftliche Bedeutung  hat,  ist  sie  in  den  oben  aufgeführ- 
ten psychologischen  Momenten  enthalten ;  führt  also  auch 
nicht  weiter  als  diese:  und  wie  wenig  sie  eine  darüber 
hinausgehende  Sicherheit  zu  gewähren  im  Stande  ist,  er- 


7)  W*esciura>*R,  S.  285  f.;   Lückb,  S.  195  £.;   Tholück,  Glaub- 
Würdigkeit,  a.  a.  O. 

8)  Licits,  1,  S.  197;   Tholück,  Comm.,  S.  39;  Glaubwürdigkeit, 
'    S.  345  f. 


754  Zweiter  Abschnitt 

hellt  am  besten  daraus»  dein  Tholück,  nachdem  er  sieh 
eben  mit  grobem  Nachdruck  aof  dieselbe  berufen ,  alsbald 
geratben  findet,  sieh  auf  den  schlimmsten  Fall  veransc 
hen,  dafs  nioilich  Einer  glauben  könnte,  angeben  ma  mie- 
sen, manche  von  diesen  Reden  seien  gar  nicht  reit  Chri- 
sto gehalten  werden,  aber  der  Geist  des  Meisters  aei  anf 
die  Jünger  Abergegangen,  und  habe  aus  ihnen  hemoe  aal» 
ehe  Reden  gebildet  •> 

Das  änfsere  Verhfiltnifs  der  Reden  Jesu  bei  Johannes 
ist  selbst  wieder  ein  gedoppeltes:  indem  sieh  nur  VergW- 
ebung  mit  denselben  theils  diejenigen  Reden  darbieten, 
welche  die  Synoptiker  Jesu  in  den  Mund  legen;  theils  dis 
Art  und  Weise,  wie  der  Verfasser  des  vierten  Erna^s» 
liums,    wo  er  in  eigener  Person  auftritt,   au  reden  pflegt. 

In  ersterer  Beaiehung  hat  man  die  bedeutende  Dtfb- 
rena  hervorgehoben,  welche  ewischen  den  beiderseitigen 
Reden  sowohl,  dem  Inhalt  als  der  Form  nach  stattfindet. 

In  formeller  Hinsicht  ist  auf  die  Differenz  zwischen 
der  gnomischen  oder  parabolischen  Form  der  Belehrungen 
Jesu  bei  den  Synoptikern,  und  der  dialektischen  bei  Jo- 
hannes, aufmerksam  gemacht  worden10).  Die  Parabel  nun 
allerdings  fehlt  dem  oben  Bemerkten  aufoige  im  vierten 
Evangelium  gann,   und  man  mufs  sich  wundern,   da  dock 


9)  GlaubwUrdigleit,  S.  347.  Indem  bei  dieser  Gelegenkeit  dSe 
Reden  bei  classischen  Geschichtschreihern  rerglichen  wer* 
den,  ist  die  Ungenauigkeit  zu  rügen,  mit  welcher  das  nu- 
cydideische«  i^optoo  an  fyyvrcnv  rtjs  %vpnaot]$  yrmpqt 
rüv  akftwq  Xtxto'yrtar,  «war  yollständig  angeführt,  aber  für 
die  ungelehrten  Leser  übersetzt  ist:  „mich  so  nahe  als  mög- 
lich an  das  wirklich  Gesprochene  (statt:  an  den  allgemei- 
nen Sinn  desselben)  haltend."  Offenbar  schreibt  die  Ue- 
bersetsung  dem  Geschichtschreiher  eine  ungleich  grössere 
Treue  in  Wiedergebung  der  Reden  zu,  als  er  selbst  für 
sich  in  Anspruch  nimmt. 

10)  BmiTSCmtstnsa,  Probahil.  Anhang. 


Siebente«  Kapitel,    f.  81.  716 

nfcas  neben  Matthäus  noch  so  manches  schöne  GleiohnUs 
igen  bat,  wie  nioht  Johannes  naoh  beiden,  vorausgesetat 
uch,  dafs  er  ihre  Schriften  kannte,  noch  eine  bedeutende 
[aoblese  so  machen  .gewufst  haben  sollte?  Dafs  es  an 
imaselnen  Gnomen  nnd  Senteneen,  welche  den  synopti- 
oben  ähnlich  sind,  im  vierten  Evangelium  nicht  durchaus 
»hie ,  .müssen  wir  swar  zugeben  (Job.  1,  52.  2,  16.  5,  14. 
1,  11.  12,  7  f.,  ferner  die  §.  81.  angefiihrten  Anssprttobe 
md  manche  ans  der  Leidensgeschichte,  in  weloben  die 
ier  Evangelien  bisweilen  wörtlich  ausammen  treffen);  so 
ria  andererseits  in  den  drei  ersten  Evangelien  nicht  an 
Laden,  die  an  paradoxer  Schärfe  nnd  Härte  den  johannei- 
«shen  gleichen  (wie  Matth.  8,  22. ):  aber  ebenso  sollte 
Dan  von  der  andern  Seite  eingestehen,  dafs  im  Gänsen  für 
»inen  palästinischen  Volkslehrer  jener  vorwiegend  gnomi- 
iche  nnd  parabolische  Vortrag,  den  ihm  die  Synoptiker 
eihen ,  besser  als  der  dialektische  bei  Johannes  passe  ")• 
Doch  diese  formelle  Differenz  ist  nicht  su  trennen  von 
lerfenigen,  welche  auch  in  Betreff  des  Inhaltes  der  Reden  Je» 
m  »wischen  dem  johanneischen  Eyangelium  und  den  ftbri- 
^sn  gefunden  worden  ist.  Während  Jesus  in  den  drei  ersten 
Evangelien  sich  aufs  Engste  an  die  Bedürfnisse  seines  hir- 
enlosen  Volkes  anschliefse,  und  demgemäß  bald  den  ver- 
lerblichen  Satzungen  der  *  Pharisäer  gegen  Ober  den  sittli- 
chen nnd  religiösen  Gehalt  des  mosaischen  Gesetzes,  bald 
na  Gegensatz  gegen  die  sinnlichen  Messiasheffhungen  der 
Keit  das  reingeistige  Wesen  seines  Reichs  und  die  Bedin- 
gungen des  Eintritts  in  dasselbe  auseinandersetse :  drehe 
»r  sich  im  vierten  Evangelium  immer  nur,  und  oft  auf 
lofruehtbar  speoulative  Weise,  um  die  Lehre  von  seiner 
Person  und  höhern  Natur;  so  dafs  dem  manobfaltigen, 
bald  theoretischen,  bald  praktischen  Inhalte  der  synopti- 
ichen  Reden  Jesu  in   den  johanneischen    ein   einseitiger 


11)  di  Witte,  Einleitung,  $.  105. 


736  .    Zweiter  Abschnitt. 

Dogmatismus  entgegenstehe  iZ).  DaJs  diele  kein  totaler 
tiegensats  sei,  sondern  sowohl  in  den  synoptischen  Redsi 
JohanneischartfgeBestandtheile,  als  umgekehrt,  sieh  findet, 
wird  man,  mit  Räcksieht  auf  Stellen  wie  Mattl».  11,  27  £ 
einerseits,  und  die  oben  aus  Johannes  angeführten  anderer- 
seits ,  angeben  müssen  ls) :  aber  aueh  nur  das  bedeutende 
Vorwiegen  des  dogmatischen  Elements  auf  der  einen,  im 
praktischen  auf  der  andern  Seite  bedarf  einer  gründlichen 
Erklärung.  Gewöhnlich  nimmt  man  hier  den'  Zweck  n 
Hülfe,  welchen  Johannes  bei  Abfassung  seines  Evange- 
liums gehabt  haben  soll:  die  drei  ersten  Evangelien  n 
ergänzen,  ,und  die  von  ihnen  gelassenen  Lücken  aaasafil- 
len.  Allein,  wenn  doch  Jesus  bald  auf  die  eine  Wein, 
bald  auf  die  andere  sprach ,  warum  nahmen  sieh  die  Syn- 
optiker fast  durchaus  nur  die  praktisch  populären,  Johan- 
nes fast  ohne  Ausnahme  nur  die  dogmatisch  speealatira 
Bestandteile  seiner  Reden  heraus  ?  Jenes  weifs  man  auf 
eine  Weise  en  erklären,  die  an  und  für  sich  befriedigen 
könnte.  In  der  mündlichen  Ueberlieferung,  bemerkt  mao, 
aus  welcher  die  drei  ersten  Evangelien  geflossen  seien, 
habe  von  den  Reden  Jesu  nur  das  Einfache  und  Gemein- 
Verständliche,  das  Kursgefafste  und  Schlagende,  als  dai 
Behaltbarste,  sich  fortpflansen  können,  das  Tiefere  aber 
und  feiner  Ausgesponnene  verloren  gehen  müssen**).  Dan 
nun  aber  der  Verfasser  des  vierten  Evangeliums  in  der 
Nachlese,  welche  er  nach  dieser  Voraussetzung  anstaHte, 
fast  alles  jener  praktischen  Tendenz  Angehörige  fibergeht, 
da  doch  gewifs  nicht  alle  Reden  Jesu  von  dieser  Art  be- 
reits durch  die  Synoptiker  aufbehalten  waren,  «Hefe  Ufa 
sich  doch  nur  aus  einer  Vorliebe  des  Evangelisten  fnr 


12)  Brjetscrkiidia,  Probabil.  S.  2.  3.  31  ff. 

13)  di  Wim ,   Einl.  in  das  N.  T.  §.  103. J   exeg.  Handb.  1 ,  3, 
8.  4 ff.)  Hasi,  L.  J.  §.7.;  Tboluck,  Glaubwürdigkeit,  S.  527* 

14)  Luc»  und  Tholuck,  a.  d.  a.  00. 


Siebentes  Kapitel.     $,8*2.  737 

laichen  Reden  erklären,  welche  nicht  allein  in  dem  ob* 
tetiven  Bedtfrfnifs  seiner  Zeit  vnd  Umgebung,  sondern 
neb.  in  der  subjectiven  Richtung  seines  eigenen  Geistes 
iren  Grand  gehabt  haben  mufs.  Doch  ebensosehr  in  dem 
welehthom  des  Geistes  Jesu,  wird  bemerkt,  und  helfend 
n  die  in  gaus  ähnlicher  Weise  sich  unterscheidenden  ßil«* 
er  erinnert,  welche  uns  Xenophon  auf  der  einM  und 
•leito  auf  der  andern  8eite  von  der  Lehrart  doli  Sokrates 
ntwerfen1*).  Gewifs  mufs  Sokrates  mehr  getrjesenrsein, 
Im  Xenophon  aus  ihm  macht,*  und  dieses.  Mehr  haben  tyir 
ben  aus  der  platonischen  Darstellung  herausnuiesen^'  aber 
lamit  ist  nicht  gesagt,  da(s  alle  die  Ideen,  welche  Plato 
einem  Sokrates  in  den  Mund  legt,  auf  Reohnung  des  ge- 
ichichtlichen  Sokrates  geschrieben  werden  dürfen*  Ebenso 
et  susugeben,  dafs  cum  Verständnifs  nicht  nur  mancher 
ineelnen  Aussprüche  des  synoptischen  Jesus,  sondern  der 
[anzen  Eigenthttmlichkeit  seines  Bewußtseins,  seiner.  Stel- 
ong  und  Wirksamkeit,  der  Schlüssel  nur  in  dem  johannei- 
chen liegt;  aber  nicht  allein  bedarf  ebenso  die  Zeiofrnung 
leau  im  vierten  Evangelium  einer  Ergänzung  aus  den  drei 
Ihrigen  Evangelien,  und  erweist  «ich  somit  als  .eine  £in*ei* 
ige:  sondern  eben  von  dieser  Einseitigkeit  des  gierten 
Evangelisten  fragt  es  sich  sehr,  ob  sie  aufser  dem  Nega- 
iven  des  Weglassens  wesentlicher  Zttge,  sich  nicht .  ungleich, 
wie  bei  Plato  bewufst  und  absichtlich,  so  hier  vielleicht 
inbewufst)  auch  positiv,  durch  Verstärkung  gegebener 
ind  Eintragen  neuer  Züge,  geäufsert  hat? 

Man  fahrt  mehrere  Eigentümlichkeiten  des  vierten 
Evangeliums  an,  die  eine  solche  Untreue  unwahrscheinlich 
Aachen  sollen*  Warum  —  fragt  man  — ,  wenn  dem  Ver- 
fasser desselben  so  wenig  darauf  ankam,  eigene  Gedanken 
leinem  Jesus  in  den  Mund  su  legen,  enthält  er  sich  so 
gewissenhaft,    ihm  die  Logosidee  seines  Prologs  su   lei- 


J5)  Tmoluck,  a.  a.  0. ,  S.  519  ff. 

Dom  Leben  Jen  Sie  Aufl.  /.  Band.  47 


739  Zweiter  Abschnitt. 

hen  ")  ?  Kein  sicherer  Beweis  ^  da  er  von  Glaser  aait  git 
(serer  Bestimmtheit  ale  von  minder  formell  ausgeprägtes 
Vorstellungen  sich  bewirfst  «ein  mufste,  sie  anderswoher 
ale  von  Jesu  »u  haben ,  weswegen  er  bei  ihr  sorgfältig« 
ale  bei  andern  vermied ,  sie  ansdrlfekltcb  Jeeu  ev  unter- 
legen. Ale  ein  weiteres  günstiges  Zeichen  ftr  die  Treue 
des  vierten  Evangelisten  in  Wledergebnng  der  Reden  Jesa 
hat  man  das  betrachtet,  daft  er  die  VorherverkllndiguB- 
gen  des  Todes "  und  der  Auferstehung  weit  unbeetimaater 
halte ;  dafs  er  ferner  bisweilen  dunkle  Aussprüche  Jsm 
durch  eigene  BeisStae,  und  «war  öfters  falsch,  erkliie: 
statt  dafs  bei  einem  minder  treuen  Oeschichtsdureiber  — 
wie  diefs  in  Absicht  der  Todes  -  und  Aoferstehungsverka* 
digungen  bei  den  Synoptikern  geschehen  —  die  spfiter, 
nach  dem  Erfolge,  gefabte  Ansicht  mit  jenen  Ausspruches 
zusammengeflossen  sein  würde 17).  lndefs  —  wie  wir  äs- 
ten sehen  werden,  seinen  gewaltsamen  Tod,  und  zwar 
bestimmt  als  Kreuaestod,  läfst  Johannes  Jesum  kann  min- 
der unumwunden  als  die  übrigen  Evangelisten  voraussagen; 
den  Verrath  des  Judas  sagt  Jesus  nach  Ihm,  wenn  auch 
nicht  bestimmter,  doch  ungleich  früher,  vorher ;  Oberhaupt, 
wenn  sich  ihm  einaelne  geschichtlich  wichtig  gewordene 
Worte  Jesu  scharf  einprägten,  und  er  diese  getreu  wie- 
dergibt; so  folgt  daraus  noch  nicht,  dafs  Beides  bei  alka 
und  namentlich  auch  bei  solchen  Vortrügen  Jesu  stattfand, 
welche,  statt  an  die  Geschichte  sich  anzulehnen,  an  die 
dogmatischen  Vorstellungen  des  Evangelisten  anklangen. 
Nicht  unwichtig  ist  endlich  noch  das 


16)  pAOi.ua,  in  der  Recens.  der  »weiten  Auflage  von  Leen** 
Commentar ,  im  Lit,  Blatt  der  allgesB.  Kirchenzeitung,  1834, 
No.  18. 

17)  Bbrtholdt,  an  dem  Anm.  5*  angeführten  Orte;  Harn,  pra- 
gramm, quo  illustratur  Joannes  apostolus  nonnullorum  Jean 
apophthegmatum  et  ipso  interpres* 


Siebentes  Kapitel.    §.  84.  730 

Reden   Jesu    bei  Johannes  au  der   eigenen   Denk«   and 
Schreibart  des  Evangelisten.   Hier  nämlich  haben  wir  eine 
Aehnlichkeit  zwischen   beiden   gefunden 18) ,  welche  .  man 
zwar  jetat,   wie  schon  bemerkt,   In  der  Regel  daraus  er- 
klären will,    dafs  der  empfängliche  Jünger  sieh  gana  In 
die    Sprechweise    Jesu    bineingebildet   habe  *•).      Allein, 
war  diejenige  Form  des  Gedankens   und  der  Rede,  wie 
sie,   einselne  Sentenaen  abgerechnet,   im  vierten  Evange- 
lium die  herrschende  ist,   wirklich   der  charakteristische 
Grandton  der  Vorträge  und  Gespräche  Jesu:  so  mfifsten 
die  flbrige*  Evangelien,    in  welchen,   wiederum  einselne 
Stellen  abgerechnet,    der  Ton   ein   durchaus  anderer  ist, 
den  Charakter   der  Reden  Jesu   verändert   haben.    Diefa 
läfst  sich  aber  nicht  wohl  denken*    Denn  das  Medium,  in 
welchem  der  Redestoff  der  drei  ersten  Evangelien  vor  der 
schriftlichen  Aufaeichnung  bewahrt  wurde,   hat  sich  uns 
als  ein  solches  geaeigt ,  das  ewar  eerhröckelnd,  aber  nicht 
aufweichend  wirkte;  das  awar  die   Verbindung  nolancher 
Redetheile  auflöste,  ihre  Stellung  au  einander  veränderte, 
aber  jedes  einzelnen  Theiles  innere  Structar  so  «sehr  re- 
spectirte,   daft  es  in  unsähligen  Fällen  lieber  Ungefügiges 
auf  schroffe  Weise  zusammenstellen,  als  durch  Schmelzen 
Uebergänge  vermitteln  wollte:    ein  solches  Medium   aber 
hat  alle  Wahrscheinlichkeit  eines  treuen  Wiedergebens  von 
Jesu  Redeweise  für  sieb.    Finden  wir  dagegen  im  vierten 
Evangelium  von   allem   diesem    das   Widerspiel:    nämlich 
fast  durchaus  gelinde,  gleitende  Uebergänge,   wenn  auch 
wegen  der  Tiefe  des  mystischen  Sinnes,  in  welcher  sie  lie- 
gen,  bisweilen  ffir  den  ersten  Anblick   dunkel;  ein  Her- 
aasspinnen des  einen  Gedankens  aus  dem  andern ,   wobei 
häufig  der  folgende  Satz  nur  erläuternde  Umbildung  des 


18)  vgl.  hiezu  Schulze,  der  schrittst.  Charakter  und  Wertfa  des 
Johannes.     1803. 

19)  Lucm  und  Tholüch,  a.  d.  a.  00. 

47* 


"•-  ^—— ^■^^^■M^fc»^. 


740  Zweiter  Abschnitt. 

■  •  ♦ 

vorhergehenden  ist  *°):  so  bleibt  nur  sweteriei:  entweder 
lieben  wir  hier  eine  noch  treuere  Relation  ab    bei   dea 
"Synoptikern,   nfimlicb  eine  solche,  welche  aufeer  den  ein» 
seinen  Bestandteilen  auch  deren  Verbindung  und  Zusauh 
menhang  auf  ursprüngliche  Weise  wiedergibt  -    eine  sol- 
che aber  wird   dem  jöhanneischen  Evangelium  jetat  selbst 
von  seinen  eifrigsten  Freunden  nicht  mehr  angeschrieben; 
oder  wir  haben  in  demselben  Reden ,  in  welchen,  was  Im 
Gedächtnisse  auseinandergefallen  war,  durch  eigene  Gef 
stesthfitigkeit  des  Evangelisten  wieder  in  Einheit  gebracht 
worden  ist,   und  awar  ill  der  Art,  dafs  er  die  sprödes, 
gediegenen  Redestttcke  gröfstentheils  erst  in   aelnem  fl*- 
mfithe  bu  einer  weichen  Masse  auflöste ,  aus  welcher  er 
nun  die  uns  jetet  vorliegenden  Reden  in  Formen  ausbildete, 
an  welchen  er  selbst  den  überwiegenden  Antheil  hat. 

•  Darin  kommen  jetet  im  Wesentlichen  alle,  welche  ei- 
ne kritische  Betrachtung  des  N.  T.  sich  gestatten,  überan, 
was  Brktschnbidbr  als  seine  neueste  umgestaltete  Ansieht 
von  den  jöhanneischen'  Reden  ausspricht:  Johannes  Itefs 
Jesum  weniger  sprechen ,  wie  dieser  jedesmal  wirklich  im 
Einseinen  gesprochen,  als  wie  ea  jedesmal  dem  Eindrucke, 
den  er  von  der  gannen  Erscheinung  und  Lehre  Jesu  hal- 
te! gemfifs  war  ")•    Der  Streit  dreht  sieh   nur  urstBsb 


J0)  Treffender  ksnn  man  diese  Eigenthtimlichkeit  der  jöhannei- 
schen Reden  nicht  bezeichnen,  alt  Erasmns  in  der  seiner 
Paraphrase  vorausgeschickten  Epist.  ad  Ferdinandum : 
Joanne*  suum  guoddam  dicendi  cenus,  tta  sermmem 
ansutt*  ea  *e*e  eohaerentibus  contenen*,  nonwmqUamt  em 
trarits,  mmnunguam  ew  Hmiübus,  mmnunguam  em  ff—fem 

eubinde  repetttts, ut  oraticni*  quodque  atsatin 

per  exctpiat  prim,  sie  ut  priori*  /Saft  *ii  tnitium 
tt*  etc. 

21)  Erklärung  über  die  mythische  Auffassung  des  historischen 
Christus.    Allg.  HZtg.  J837,  Juli,  No.  104—106. 


i 

i 


I 


Siebentes  Kapitel.    §.  tt.  »41 

darum,  wie  Hei  demungeaehtet  in  diesen  Reden  neeh  Jesu  i 
selbst  angehöre?  Zweitens,  eb  mit  dieser  Ansieht  die  Ab* 
fassong  des  vierten  Evangeliums  durah  den  Apostel  Jo- 
hannes bestehen  köone?  Entere  Frage  habe  leb  im  Bis* 
herigen  bereits  au  beantworten  gesueht;  in  Betreff  der 
andern  getraue  ieh  mir  nkht,  so  behaupten,  dafr  die  Jo« 
hanneisoben  Reden  etwas  enthielten,  was  sieh  entschieden 
weigerte,  theils  ans  der  Individnatttit  dee  Johannes,  theile 
ans  der  Abfassung  des  Evangelium*  in  seinem  eplten  AJftsr 

au^  wj#ajaj     ^Baa>  aa^epaam  a^aja}    a^f  aaj    üiajpaaapBsnaja) 


Achtes    Kapitel. 

Begebenheiten  ans   dem  öffentlichen 

Leben   Jesu* 

(mit  Auuehlnfs  der  Wandergeaohiohten).  . 


8-    8». 


Vergleichung  der  Krzählungs weise  der  verschiedene n.  Evange- 
listen im  Allgemeinen. 

Vergleichen  wir,  ehe,  wir  una  zur  Betrachtung  de* 
Einseinen  wenden,  zuvor  den  allgemeinen  Charakter  and 
Ton  der  Geschichtserzählung  in  den  verschiedenes  Evan- 
gellen :  so  treten  hier  Differenzen  theils  zwischen  Matthäus 
nnd  den  beiden  andern  Synoptikern,  theils  zwischen  sammt- 
lichen  drei  ersten  Evangelisten  nnd  dem  vierten  hervor. 

Unter  den  Vorwürfen,  mit  welchen  die  neuere  Kritik 
das  Matthäusevangelium  überhäuft  hat,  nimmt  eine  flanpe- 
stelle  der  des  Mangels  an  Anschaulichkeit,  an  individua- 
lisirender  Lebendigkeit  ein;  ein  Mangel,  aus  weichest 
man,  da  sich  sonst  der  Augenzeuge  gerade  im  Wiederge- 
ben des  Bestimmten  und  Einzelnen  zeige,  schliefsen  aa 
dürfen  glaubte ,  der  Verfasser  sei  kein  Augenzeuge  gewe- 
sen ').  Und  gewifs ,  wenn  man  in  diesem  Evangelium  die 
Unbestimmtheit  seiner  Zeit  - ,  Orts  -  und  Personalangabee, 


1)  Schulz,  über  das  Abendmahl,  S.  303  ff. ;   Siäffkrt  ,  über  den 
Ursf>r.  des  ersten  kanon.  Evang.  S.  58.  73,  u.  s. ;  Sckxecxbb-    *1 
avnska,  über  den  Urspr.  S.  73. 


Achtes  Kapitel«    %  83. 


74» 


las  so  häufig  wiederkehrende.  xw£,  aaQayw  itat9evf  äv- 
hffumos  n.  dgl.  liest;  wenn. man  an  die  aablreichen  Anga- 
jen  in  Bausch  and  Bogen,  wie,  dafs  Jesus  alle  Städte 
«ad  Flecken  durchbogen  (9,  35«   11,1.  vgl.  4,  23.),  dafs 
.eto  ihm  alle  Kranke  gebracht,  and  er  sie  alle  gebeilt  bä- 
te C4,  24  f.   14,  35  f.   vgl.  15,  29  ff.) ,  und  endlich  an  die 
trockene  Kürze  auch  so  mancher  einseinen  Eraäbjnngen 
lieh  erinnert : .  so  wird  man  die  Behauptung  dieser  Kritik 
lieht   mißbilligen  können,    das  Alles  sehe  gana  so   ans, 
wie    wenn   vor  geraumer  Zeit  geschehen*  Begebenheiten 
corch  lange  mündliche  Ueberlieferang  sich  mehr  und  mehr 
fa'a  Allgemeine  und  Unbestimmte  umgeformt  hätten.   Doch 
»ringend  ist  allerdings  dieser  Beweis  für  sich  noch  nicht, 
{■dem  anf  die  meisten  Fälle  die  Bemerkung  Anwendung 
fiaden  wird,  dafs  auch  einem  Augeneeugen  möglicherweise 
da  Gabe  anschaulicher  Darstellung  fehlen  könne  *)• 

<  Nun  aber  wird  von  der  neueren  Kritik  Matthäus  nicht 
Wcfs  an  diesem  reinen  Mafsstabe  des  von  einem  Augen- 
neigen   su  Erwartenden,  sondern  auch  an  dem  gegebenen 
der  Darstellung  seiner  Mitevangelisten  gemessen.     Unter 
diesen  :£ndet  man  nicht  nur  ohnehin  den  Johannes,  theils 
in  dbn    wenigen  Parallelen,   theils  in   seiner  gansen  Daiv 
stallutigsweise,  dem  Matthäus  an  Anschaaliehkeit  entschie- 
den tttarlegen;  sondern  auch  die  beiden  andern  Synoptiker, 
.vorefigÜoh  Markus,  geben,  wie  man  behauptet,  in  der  Re- 
gel  eim«  weit   klarere  und    vollständigere  Darstellung8)« 
.Die  Saehe  verhält   sich,  wirklich  so,  und  man  sollte  sie 
nicht  snetr  läugnen.    Was  das  vierte  Evangelium  betrifft, 
so  fehlen  war  naturlieh  auch  ihm  allgemeine  Zusammen- 
fassungen, wie,  dafs  Jesus  während  des  Festes  viele  Zei- 


2)  Olsmaussr,  H.  Comm.  1,  S.  15.    der  zweiten  Auflage. 

3)  i«  die  obengenannten  Hritifeer  an  mehreren  Orten ;  auch  Hu», 
Eial.  in  das  N  T.  2,  S.  212  ff. 


es 


744 


Zweiter  Abschnitt. 


\ 


cbeo   gethau,    and  daher    VMe   an    ihn   gegkabt  habs 
(2,  23.  f.) ,   nnd  andere  dergleichen  (3,  22.  7,  1.),  riebt 
auch  die  Personen  beseichnet  er  nicht  selten  unbestinat 
doch  einlgeniÄle  gibt  er,  wo  Matthäus  nur  voo  Einen  odr 
Einigen  spricht,   die  Namen  an  (12,  3.  4.  vgl.  Mit  Matth 
26,  7.  8.  und  18,  10.  vgl.  mit  Matth.  26,  51.;  aoeh  6,5.1 
mit  Matth.  14,  16.  f.) ;  in  Beeng  auf  da/  Loeai  weifs  aa 
in  der  Regel   genau,    in  welcher  Ortschaft  oder  flege* 
eine  Begebenheit  vorgefallen;  von  der  fleißigen  Cbieao 
logie  dieses  Evangeliums  ist  schon  oben  die  Rede  gewem, 
nnd  was  die  Hauptsache  ist,   seinen  Ernäfalungen  ist  ein 
Anschaulichkeit  <  nnd  Lebendigkeit  eigen,  welche  aus, pri 
sie  sich  b.  B.  in  der  Ernäblung  vom  Biindgebornea  d 
von   der  Wiedererweckung  des  Lasarus  neigt,  in  en» 
Evangelium  vergeblich  sucht.    Auch  bei  den  zwei  nittbi 
Evangelisten   fehlt  es  an  unbestimmten  ßeseichnungei  ff 
Zeit  (a.  B.    Marc  8,   1.   Luc.  5,  17.  8,  22.) ,  dei  Ofl» 
(Marc.  3,  13.  Lue.  6,  12.)  und  der  Personen  (Mare.  \%fl* 
Luc.  IS,  23.)  nicht;  ebensowenig  an  Angaben,  aabJ** 
alle  Städte  bereist  und  alle  Kranke  geheilt  habe  (Marc  \\ 
32.  ff.  38*  f.  Luc.  4,  40.  f.):  nicht  selten  jedoch  findesnok 
bei  ihnen   die   von    Matthäus   nur  allgemein  aogegeteoe* 
Verhältnisse  individualisirt ,  indem  nicht  allein  Lukas  wie 
wir  schon   gesehen  haben ,  von  Reden  Jesu  die  M  M* 
thäus  verschwiegene   besondere  Veranlassung  herorbsH 
sondern  er  nnd  Markus  auch  Personen,  welche  jaieri* 
unbestimmt  tra   beseiehhen  weifs,    bei  Amt  oder  Nanu 
nennen  (Matth.  9,  18.  Marc.  5,  22.  Luc.  8,  41.  ■***•  *\ 
16.  Luc.  18,  18.  Matth.  20,  30.  Marc.  10,  46.);  vor  Allen 
aber  in  anschaulicher  Schilderung  der  eineelnm  Begebet* 
betten  ist  Lukas   und   noch   mehr  Markus   d/m  Mattbi« 
entschieden  überlegen :  man  vergleiche  nur  v*n  dem  bereit* 
Vorgekommenen   die  Ersählungen  des  Ma<häus  und  ** 
Markus  von  der  Hinrichtung  des  Täufers/Mafth.  14, 3.ff. 
Marc.  6,  17.  ff.),    und  von  dem  noch  rieht  Dagewesene! 


Achtes  Kapitel,    f.  SS.  745 

vor  Allem  die  ttmfthlung  von  den  (oder  den)  Besessenen 
aus  Oadara  (Matth.  8,  88.  ff.  parail ). 

Daraus  hat  nun  die  neueste  Kritik  Ar  den  Verfasser 
dee  vierten  Evangeliums  eine  Bestätigung  seiner  angebli- 
ehen Augenaeugenscbaft,  für  die  der  beiden  mittleren  Evan* 
gelien  wenigstens'  so  viel  entnehmen  au  können  geglaubt, 
dafs  sie  den  Thatsaohen  näher  als  der  erste  Evangelist  ge- 
standen haben  müssen.  Allein  anch  augegeben,  dafs  kei- 
ner, der  durchweg  nicht  anschaulich  erzählt,  ein  Augen- 
seage  sein  könnet  so  folgt  daraus  doch  nicht,  dafs  alle 
anschaulich  Ersählenden  Augenaeugen  sind;  sondern  nur 
dafs  einige.  Wie  defswegen  fiberall,  wo  über  denselben 
Gegenstand  ein*  ausführlicherer  und  ein  kürzerer  Bericht 
vorhanden  ist,  die  Meinungen  getheilt  sein  können,  ob  je- 
ner oder  dieser  der  ursprüngliche  sei4);  so  hat  man  ins- 
besondere in  Beeng  auf  solche  Berichte,  bei  welchen  eine 
Einmischung  der  Ueberlieferung  an  annehmen  ist,  eine  «wie- 
fache Thfitigkeit  derselben  an  unterscheiden :  die  eine,  ver- 
möge welcher  sie  das  Bestimmte  der  eoncreten  Wirklich- 
keit in  ein  Unbestimmtes,  das  Individuelle  in  ein  Allge- 
meiries,  verflöchtigt;  und  die  andere,  nicht  minder  wesent- 
liche, am  die  Stelle  der  verlorengegangenen  geschichtlichen 
Wirklichkeit  eine  willkfirliche  Ausmalung  treten  an  las- 
sen ')•  Schreibt  man  nun  die  Unbestimmtheit  in  der  Dar- 
stellung des  Matthiusevangeliums  auf  Rechnung  der  erste* 
ren  Function  der  Sage,  so  fragt  es  sich:  darf  man  die 
Bestimmtheit  und  Anschaulichkeit  in  den  fibrigen  ohne  Wei- 
teres als  Zeichen  aum  Grunde  liegender  Autopsie  betrach- 
ten ,  und  mufs  man  nicht  vielmehr  ansehen ,  ob  sie  nicht 
«aus  jener  eweiten   Function  der  Sage  abzuleiten  sei  6J? 


i   4)  vgl.  Sautubr,  über  die  Quellen  des  Markus,  S.  42  ff. 

5)  Kiwi,  über  den  Urspr.  des  Ev.  Mattfi.  a.  a.  O.  S.  70  ff. 

6)  Zusehen,  ob  nicht  —  ?  nicht  für  entschieden  annehmen,  dass 
— ;  womit  die  Beschuldigungen  der  Gegner,  da6S  ich  sowohl 


74*  Zweiter  Abschnitt. 

Dafs  man  das  Entere  so  entschieden  voraussetzt,  ist  ia  k 
Tbat  nur  ein  Nachgeschmack  der  altorthodoxea  Anaea, 
dafs  unsere  sämmtjicben  Erangelien  unmittelbar,  oder  we- 
nigstens durch  eine  reine  Vermittlung,  von  Aageaseoga 
herrühren.  Dieser  Voraussetzung  Bat  die  neuere  antik 
ihre  Allgemeinheit  benommen,  und  die  Möglichkeit)  dafc 
eines  oder  das  andere  unserer  Evangelien  durch  mOndbek 
Ueberlieferung  alterirt  sein  möge,  eingeräumt  DiM 
nimmt  sie  nicht  ohne  Wahrscheinlichkeit  an,  dafi  m 
Evangelium,  dessen  Schilderungen  fast  durchaus  der  A* 
schaulichkeit  ermangeln,  nicht  von  einem  Augenzeagejs 
oben  bezeichneter  Weise  herrühren  könne,  sondern  ia  Ar 
Ueberlieferung  gelitten  haben  müsse.  Dafs  nun  aber  « 
übrigen,  ausführlicher  und  anschaulicher  erzählenden  Er* 
gellen  auf  Augenzeugenschaft  beruhen ,  folgt  nur  oito 
der  Voraussetzung,  dafs  unter  unseren  Evangelieo  jeden- 
falls  etliche  an  toptische  seien.  Denn  allerdings,  wem  •* 
ter  mehreren  Erzählungen  beiderlei  vorausgesetzt  werdea: 
bo  sind  die  anschaulicheren  mit  überwiegender  Wahnehaa- 
lichkeit  auf  Augenzeugen  zurückzuführen.  Alias  j*M 
Voraussetzung  selbst  hat  lediglich  den  subjectiren  Gi«4 
dafs  von  der  alten  Annahme  lauter  unmittelbar  ödere* 
telbar  autoptischer  Berichte  leichter  zu  der  beschränkt* 
Einräumung  zu  gelangen  war,  dafs  vielleicht  einem,  d» 
zu  der*  allgemeinen ,  dafs  möglicherweise  auch  alles  z> 
y  aer  Charakter  abgehen  möge.  Consequenterweise  aber  SB 
mit  der  orthodoxen  Ansicht  vom  Kanon  die  VoraQStttmf 
rein  autoptischer  Berichte  nicht  bloft  für  ein  oder  i* 
andre,  sondern  für  sämmtlicbe  Evangelien  weg;  ee  wm 
die  Möglichkeit  des  Gegentheils  bei  allen  vorauf«**' 
und,  wiefes  sich  wirklich 'verhalte,  erst  aus  der  Beseht 


\ 


die  Kiirce  als  aucli  die  Ausführlichkeit  der  Berichte  «1*  6e 
weise  für  deren  mythischen  Charakter  bcatitzc ,  tob  *$* 
sich  erledigen. 


Achtes  Kapitel.    $.  8S.  747 

• 

fenheit  der  Berichte,  inf  Vergleiehung  mit  den  äufseren 
Zeugnissen,  ermittelt  werden«  Von  diesem  Standpunkte, 
dem  einzig  kritischen,  die  Sache  angesehen,  ist  es  nun, 
bei  der  in  der  Einleitung  erwogenen  Beschaffenheit  der 
Aufseren  Zeugnisse,  ebensowohl  möglich,  dafs  die  drei 
übrigen  Evangelisten  die  Anschaulichkeit,  die  sie  vor  Mat- 
thäus voraushaben,  einer  weiteren  Ausschmückung  durch 
die  Sage,  als  dafs  sie  dieselbe  einem  näheren  Verhältnisse 
aar  ursprünglichen  Augenzeogensehaft  verdanken. 

Sehen  wir  in  dieser  Beziehung,  nm  nichts  vorweg* 
i  nehmen  au  müssen,  auf  die  bereits  gewonnenen  Ergebnisse 
'  zurück:    so  ist  uns  die  bestimmtere  Bezeichnung  der  Ver- 
.  anlassungen  an  manchen  Reden  Jesu,  wie  wir  sie  bei  Lu- 
i  kas  dem  Matthias  gegenüber  fanden,  nicht  selten  als  sp&V 
i  tere  Zothat  erschienen;  die  Nennung  bestimmter  Personen 
I  bei  Markus  (13,  &  vgl.  5,  37«  Luc  8,  51.)  schien  nns  auf 
,  .einem  eigenen  Schlüsse  des  Berichterstatters  zu  bejruhen; 
i  nunmehr  aber,  im  Eingange  zu  den  einzelnen  Erzählungen, 
wo  wir  stehen,  wollen  wir  die  schon  erwähnten  aligemei- 
«en  Anfangs-,   Schlafs-  and  Uebergangsformeln   der  ver- 
schiedenen Evangelien  aas  dem  angegebenen  Gesichtspunkte 
noch  betrachten«    Hier  nämlich  finden  wir  zwischen  Mat- 
thäus nmd  den  übrigen  Synoptikern  den  Unterschied  der 
gröfseren  und  geringeren  Anschaulichkeit  auf  eine  Weise 
ausgeprägt,  welche  ans  am  besten  belehren  kantig  was  es 
«ait  dieser  Anschaulichkeit  auf  sich  hat* 

Wenn  Matthäus  (8,  16«  f.)  nur  allgemein  angibt,  dafs 
am  Abende  nach  der  Heilung  der  Schwiegermutter  das 
'Petras  viele  Dämonische  zu»  Jesu  gebracht  worden  seien, 
welche  er,  sammt  andern  Kranken,  alle  geheilt  habe.:  so 
setzt  Markus  (1,  SSL)  höchst  anschaulich,  wie  wenn  er  es 
selbst  gesehen  hätte ,  hinzu ,  daft  die  ganze  Stadt  sich  vor 
der  Thüre  des  Hauses,  in  welchem  Jesus  war,  versammelt 
habe;  ein  andermal  läfst  er  so  viel  Volks  zusammenströ- 
men,, dafs  es  das  ganze  Vorhaus  sperrte  (2,  2  );    zwei 


748  Zweiter  Abschnitt 


f 


/ 


'  weitere  Maie  macht  er  das  Getimmel  ee  grob,  daf«  hm 
und  seine  Jünger  nicht  «am  Essen  kommen  können  (5,Ä 
6,  31  ),  nnd  Lukas  läfst  gar  einmal  Myriaden  Volks  » 
sammenkommen ,  in  solchem  Gedränge,  cS$e  xcmmaw 
diXqloQ  0%  10-  Alles  höohst  anschauliche  Züge  oftnk, 
aber  deren  Mangel  dem  Matthäus  schwerlich  nun  Hast 

y  theil  gereichen  kann;  denn  sie  sehen  durchaus  sabjettiia 

Ausmalungen  Ähnlich,  wie  sie  nach  ScHLBlEBMACHiil  it 

'  merkung  *)  namentlich   der  Erzählung  des  Msrku  wA 

selten  ein  fast  apokryphisches  Ansehen  geben»  Wem  dm 
In  detaillirten  Erzählungen,  wie  uns  im  Folgenden  die  B* 
spiele  zahlreich  genug  vorkommen  werden,  während  I* 
thäus  einfach  wiedergibt ,  was  Jesue  bei  einer  gevrim 
Gelegenheit  gesprochen,  die  beiden  andern  uns  anau* 
dem  Blicke  an  sagen  wissen,  mit  welchem  er  du  Geee* 
chene  begleitet  habe  (Maro.  S ,  5.  10,  21.  Lac  6, 11); 
wenn  von  einem  blinden  Bettler  bei  Jericho  Marko*  an 
den  Namen  und  Vaternamen  anzuführen  sich  beeÜwt  (H 
40.):  so  können  wir  bereits  ahnen,  was  ans  die  Bete» 
chung  der  einzelnen  Ersählongen  bestimmter  «eigeawH 
dafs  wir  hier  jene  andre  Funotion  der  Ueberliefernog  w 
uns  haben,  welohe  wir  mit  Einem  Worte  die  auwile* 
nennen  können.  Ob  nun  diese  Ausmalung  aodh  is  ** 
mfindlichen  Sage  allmählig  von  selbst  entstanden,  oder  A 
absichtliche  Zuthat  der  Anfzeiohner  unsrer  Evangelien  * 
ansehen  sei,  darüber  läfst  sich  streiten,  und  höchsten» 
Bezug  auf.  einselne  Stellen  bis  au  einer  gewissen  WJ* 
scheinlichkeit  kommen :  jedenfalls  indessen  steht  nicht  W 
eine  durch  eigene  Zuthat  des  Referenten  anageeehateka 
Eraählung  der  ursprünglichen  Wahrheit  ferner  all  ä* 
von  solchem  Znsate  freie ,  sondern  auch  die  Sage  «W 
\  scheint  eher  in  froheren  Perioden  ihrer  Bildung  kars  *J 

nnr  auf  Hervorhebung  der  Hauptmomente,  seien  diess  * 


7)  Ueber  den  Lukas,  8,  74  u.  swut. 


/Achtes  Kapitel.    $   8».  749 

Dieta  oder  Facto,  gerichtet  au  «ein,  später  aber  sieh  mehr 
auf  gleiobmäfsige  Veransehaullehung  aller,  auch  der  Nebert- 
ssttge,  eq  legen,  als  umgekehrt:  so  dab  auch  in  dieser  Hin- 
sicht das  nähere  Verhältnils  aar  Wahrheit  anf  Seiten  de* 
ersten  Evangeliums  bliebe« 

Wie  die  Diflferens  grfffserer  oder  geringerer  Anschau- 
lichkeit der  Schlafs*  und-  Uebergangsformeln   mehr  «wi- 
schen Matthias   nnd  den  übrigen  Synoptikern  stattfindet: 
so  eine  andre  Differens  in  Beaug  aaf  jene  Formeln  «wi- 
schen  eimmtliehen  Synoptikern  and  Johannes*     Während 
nämlich   die   meisten   synoptischen  Ersählangen   ans   dem 
öffentlichen  Leben  Jesu  panegyrisch  auslaufen:   so  bei  Jo- 
hannes die  meisten,  so  so  sagen,  polemisch*   Zwar  berich- 
ten auch  die  drei  ersten  Evangelisten  nicht  selten  schliefe- 
lieh  von  dem  Anstoße,  den  Jesus  bei  Engherzigen  erregt, 
nnd  von  den  Anschlägen,   welobe  seine  Feinde  gegen  ihn 
gemacht  haben  (Matth.  8, 34.  12,  14.  21,  46.  26,  3  f.  Lac  4, 
28  f.   11,  53  f .) ,    nnd  umgekehrt  schliefst  aoeh  der  vierte 
einige  Rede-  and  Wdnderacte  mit  der  Bemerkung,   dab 
dadurch  Viele  an  ihn  glaubig  geworden  seien  (2,  23.  4,39. 
53.  7,  31.  40 f.  8,  30.  10, 42.  11,  45).    Doch  aber  herrschen 
bei  jenen  für  die  Zeit  vor  dem  jerusalemischen  Aufenthalte 
Jesu  im  Gänsen  Formeln  vor,  wie  dafs  weit  und  breit  der 
Ruf  Jesu  erschollen  sei  (Matth.  4;  24.  0,  26«  31.  Marc.  I, 
28.  45.  5,  20.  7,  36.  Luc.  4,  37.  5,  16.  7,  17.  8,  39.);  dafs 
das  Volk  seine  Lehre  bewundert  (Matth.  7,  28.  Marc.  1, 
22.  11,  18-  Lue.  19,  48.  u.  s.  w.),  seine  Wunderthaten  an- 
gestaunt  habe  (Matth.  8,  27.  9,  8.  14,  33.  15,  31.  u.  e.), 
und  defowegen  ihm  allenthalben  nachgesogen  sei  (Matth. 
4,  25.  8,  1.  9,  36.  12,  15.   13,  2.  14,  13.  a.  s):  im  vierten 
Evangelium  dagegen  findet  sich   häufiger  die  Bemerkung, 
die  Juden  haben  Jesu  nach  dem  Leben  getrachtet  (5,  18, 
7,  1.);   die  Pharisäer  haben  ihn  festnehmen  wollen,   oder 
Diener  ausgesendet ,  ihn  su  greifen  (7,  30.  32.  44.   vgl.  8, 
20.  16,  39.) ;  es  seien  Steine  gegen  ihn  aufgehoben  worden 


753  Zweiter  Abschnitt. 

geschehen  jenen  *>    Wm  jenen  Vorwurf  betrifft,  eo  Im 
da«  erstemal  (Matth.  9,S2  ff.)   Jesus  einen  Dfimosttefa* 
stummen  geheilt:   darüber  verwundert  sich  das  Volk,  üb 
Pharisäer  aber   bemerken ,    er  treibe   die    Dämonen  am 
durch  den  &q%wv  der  Dämonen«    DaTs  Jesus  etwas  darasf 
erwiedert  bitte,  davon  meldet  hier  Matthäus  nichts.    Um 
nweitemal   (12,  22  ff.)  ist  es  ein  dämonischer  Blindste» 
mer,   welchen  Jesus  heilt,  worüber  wieder  daa  Volk  er- 
staunt, die  Pharisäer  aber  äufsern,  er  thne  diele  durch 
Hfilfe  des  Beelsebul,  des  aQ%iov  der  Dlmonen,  woraof  m- 
fort  Jesus  das  Absurde   dieser   Beschuldigung    aufdeckt 
Dafs  nun  jene  Beschuldigung  gegen  Jesum  bei  seinen  Di- 
monenaustreibungen  au  wiederholten  Malen  erhoben 
den  sei,  ist  an  sich  gans  wohl  glaublich.    Nur  dieCs 
bedenklich,  dafs  der  Dämonische,  weicher  jene 
veranlagte,    beidemale.ein  xtoyog   (nur  das   einemal  noch 
Tvylog  daau)  gewesen  sein  soll.    Der  Dämonischen  wann 
doch    so   vielerlei,    alle   Arten   von   Krankheiten   wurden 
dem   Einflüsse  böser   Geister   augeschrieben:    warum  soll 
nicht  auch  an   die  Heilung  eines  Besessenen   andrer  Art, 
sondern  zweimal  an  die  eines  dämonisch  Stammen,  besagte 
Beschuldigung  sich  geknüpft  haben?    Die   Schwierigkeit 
vergröfsert  sich,  wenn  wir  die  Erzählung  der  Lukas  (11, 
14  f.)  daaunehmen,  welche,  was  die  vorangestellte  Beschrei- 
bung des  Hergangs  betrifft,  der  ersten,  nicht  der  zweites 
bei  Matthäus  entspricht:  denn  wie  dort,  ist  auch  bei  Lu- 
kas der  Dämonische  MÄr  stumm;  genau  mit«  derselben  Fer- 
mel  wird  seine  Heilung  und  ebenso  entsprechend  die  Ver- 
wunderung des  Volkes  ansgedrflcht;  in  welchen  Besiehu- 
gen  allen  die  aweite  Erzählung  des  Matthäus  der  des  Lu- 
kas weit  ferner  steht.    Nun  verbindet  aber  Lukas  mit  der 
Heilung  dieses  Stummen,  welche  Matthäus  von  Seiten  Jen 
still  vorübergehen  lädt,  dieselben  Reden  Jesu,  wie  IM^tK*— 


S)  a.  a.  O.'S,  311. 


r 


Achtes  Kapital.    $.  84.  753 

it  der  Heilung  seines  Blindstummen,  se  dafs  Jesos  bei 
Ieeeo  «wei  auf  einander  gefolgten  Fällen  das  Gleiche 
ttfste  geredet  haben.  Dieb  geht  über  das  Wahrsebeia» 
ahe  so  weit  hinaus,,  nnd  Ter  banden  mit  der  Unwahr- 
iheinlichkeit  einer  zweimaligen  gleichen  Beschuldigung 
»mde  bei  Gelegenheit  eines  dämonisch  Stummen,  fahrt  es 
»n x selbst  auf  die  Frage,  ob  hier  nicht  ein  und  derselbe 
orfall  sich  in  der  Sage  verdoppelt  haben  möge?  Wie 
lefa  ragegangen  sein  kann,  darüber  gibt  uns  Matthäus 
übst  Aufschlufs,  indem  er  den  Dämonischen  das  einemal 
nr  einfach  stumm,  das  andremal  zugleich  blind  sein  l&Tst. 
»ine  auffallende  Kur  mufste  es  wohl  sein,  an  welche  sich 
beils  jene  Bewunderung  des  Volks,  theils  dieser  verawei- 
alte  Angriff  der  Feinde  Jesu  knüpfte:  bald  mag  daher  Ar 
las  geheilte  Subject  die  blofse  Stummheit  nicht  genfigt  ha« 
«en,  und  es  in  der  steigernden  Sage  auch  noch  des  Gesicb- 
sa  beraubt  worden  sein.  Ging  nun  aber  neben  dieser 
euen  Formation  der  Sage  auch  noch  die  ältere  her:  was 
Yunder,  wenn  ein  mehr  gewissenhafter  als  kritischer 
lammler,  wie  der  Verfasser  des  ersten  Evangeliums,  hei- 
les als  verschiedene  Geschichten  neben  einander  aufnahm, 
rar  dafs  er,  um  die  Wiederholung  su  vermeiden,  das  eine- 
nd die  Reden  Jesu  wegliefs  ?  2). 


2)  Vergl.  db  Warnt,  exeg,  Handb.  1,  I,  S.  116«;  Nbahder,  L. 
J.  Chr.,  S.  288.  Wie  Schlburmachbr  (S.  175.)  von  der  Rede 
über  die  Blasphemie- des  nvev/ua  ayior  bei  Matthäus  (12, 31f.)> 
welche  sich  an  das  vorangegangene  *y«  fr  nrevucm  &t»  etßalka 
xa  datfiovia  (V.  28.)  trefflich  anschliesst ,  den  Zusammenhäng 
▼ermissen  kann ,  ist  doch  immer  noch  erklärlicher ,  als  dass 
er  (S.  185  *f.)  diesen  Ausspruch  bei  Lukas  (12,  10.)  besser 
eingefügt  findet.  Denn  zwischen  dem  hier  vorangeschickten 
Satze,  dass,  wer  des  Menschen  Sohn  vor  den  Menschen  ver- 
läugne ,  von  ihm  vor  den  Engeln  verläugnet  werden  werde, 
^und  dem  in  Rede  stehenden  findet  doch  kein  anderer  Zusam- 
menhang statt,    als   dass  das  aqyeTofrcu  tov  wov  th  ayfrfun*  dem 

Da*  Leben  Jesu  Ite  Aufl.  L  Band  48 


7M  Zweit«*  Abschnitt 

SehniU  Matthias  9,  34.  die  Rede  Jesu  weg,  so  keuü 
er  noch  die  Zeicbenfordemng,  welche  eine  Abfertigung 
von  Seileo  Jesu  erforderte,  erst  bei  «einer  Krsälüug  van 
der  Beschuldigung  wegen  ßeelaebnls  damit  verbinde»,  und 
euch  in  diesem  Stücke  ist  Lnkas,  welcher  die  Zeichen- 
fordemg  gleichfalls  an  jene  Beschuldigung  knüpft,  mit 
der  späteren  Stolle  des  Matthias  parallel  *>    Nun  aber  hat 


Referenten    dlt  elnsTv  loyov  etg  rov  vtov  tn  ar&(xo7TB   in    Erinse- 
rang  brachte.     Hieftir  ist  die  Probe,  dass  nun  zwischen  die- 

1  sem  Aussprach  und  dem  folgenden,  dass  seinen  Jüngern  wr 
Gericht  das  Nttthige  durch  das  nrtv/ua  aytor  werde  eingegeben 
werden,  die  Verbindung  ebenso  äusserlich  durch  den  Ab- 
druck nrevpa  aytov  vermittelt  ist.  Was  bei  Matthäus  (V.  3 
—37.)  noch  folgt ,  ist  zum  Theil  schon  in  der  Bergrede  Ai 
gewesen ,  steht  aber  auch  hier  in  besserem  Zusammenhang, 
als  Scrlkikrmachbr  anerkennen  will. 

3)  Dass  Lukas  Beschuldigung  und  Zeichenforderung  unmittelbar 
hinter  einander  ausgesprochen  und  hierauf  von  Jesu  nach- 
einander beantwortet  werden  lässt ,  findet  die  neuere  Kritik 
ungleich  wahrscheinlicher,  als  wenn  Matthäus  zuerst  die  Be» 
schuldigung  und  deren  Beantwortung,  dann  die  Zeächenfor- 
derung  und  deren  Zurückweisung  gibt;  sofern  es  sich  näm- 
lich schwer  denken  lasse ,  dass ,  nachdem  Jesus  sich  gegen 
jenen  Vorwurf  lange  genug  verantwortet,  nun  die  nämliche* 
Leute,  welche  denselben  vorgebracht,  oder  doch  ein  Theil 
Ton  ihnen,  noch  ein  Zeichen  begehrt  haben  sollten  (Schlei» 
bamachsr,  S.  175;  ScHwiCKZWBURezR,  über  den  Urspr.  S.  521). 
Indess  ebensogut  läset  sich  andrerseits  das  unwahraeneinEca 
finden ,  dass  Jesus ,  nachdem  er  längst  in  einer  gewaltigen 
Rede  gegen  das  Bedeutendere ,  die  Beschuldigung  wegen 
Beelzebuls,  gesprochen,  und  sogar  nach  einer  Unterbre- 
chung, die  ihn  zu  einer  ganz  anderartigen  Aeusserung  ver- 
anlasste (Luc.  11,  27  f.) ,  noch  auf  die  minder  bedeutende 
Zeichenforderung  sollte  zurückgekommen  sein.  VergL  na 
Witts,  exeg.  Handb.,  1,  1,  S.  119.  —  Was  sich  hierauf  bei 
Matthäus  (V.  43—45.)  ansekiiesst,  die  Rede  von  den  ver- 
stärkt wiederkehrenden  Dämonen,  scheint  bei  Lukas  (11, 24  C) 


1 


I  . 


Achtes  Kapitel.    $*  94.  7ft* 

Lsrtthlue  nltfht  blofs  wie  Lukas  Sinei  .  Zeichutnfarderung, 
i  Verbindung  mit  jenem  Vorwarft , «  »otufeftü  •  iri>gh  ©fae 
ndere  (16,  1  fF.)  nach. der  «weite«  iStpeiapng,  gelobe  auqh 
Utrkue  (8,  11  f)  hat,  der  dagegen  die;,ersfcre/ wsgMtfst. 
iier  treten  Pharisäer  (bei  Matthäus.,  ift  d^i&Wlhrß&ßfoi 
eben  Begleitung  von  Sadduefiero>  cu  ibi*  *i «n4  etegobtti 
in  um  ein  or^alov  ix  t&  s(hws,  tfotfuf  i|>A0ßi.J|fts«*;e|n0 
tot  wort  gibt,  deren  Schlufssata*:  yftWf.ftetyie  Jtfftfyuqigak 
i<?  orj/ueTov  mi^r/tety  xcd  qt^iüo»  ö  dovhytfeiw  warft,: u  f&j  tq 
tjfiäiov  "iwvä  ts  TtQoqijiSy  bei  Matthäus  wörttielfcjtoU,  deog 
Lnfiang  der  früheren  Abweisung,  12, 39M  ws*uunensdnis»t» 
at  aehon  diefs,  dafs  Jesus  jene  Zumuthung  mteiinal  mit 
leraelben  räthselhaften  Hinweisung  aul  Jenes   und  *m*b 


in  Verbindung  mit  den  Aeusserungen  gegen  den  Vorwurf  ei- 
ner Austreibung  der  Dämonen  durch  Beelzebul  passender  zu 
stehen,  als  hei  Matthäus  erst  nach  den  Roden  gegen  die* 
Zeichenforderung.  Sehen  wir  indessen  genauer  zu,  so  isl 
es  sehr  unwahrscheinlich ,  daas  Jesus  an  die  ifim  gewaltsam 
abgedrungene  Apologie  seiner  Dämonenaustreibungen  gege* 
Feinde  eine  so  ruhige,  rein  theoretische  Ausführung,  wel- 
che ,  wo  nicht  für  ihn  interessirte ,  doch  empfängliche  Zu- 
h'örer  voraussetzt,  geknüpft  haben  sollte,  und  wir  finden 
hier  in  letzter  Beziehung  keinen  andern  Zusammenhang,  als 
dass  beide  Reden  von  Austreibung  der  Dämonen  handeln. 
Durch  diese  Aehnlichkeit  Hess  sich  der  Referent  im  dritten 
Evangelium  verführen,  die  Verbindung  zwischen  den  Reden 
Jesu  gegen  die  '  oftgenannte  Beschuldigung  und  gegen  die 
Zeichenforderung,  welche,  als  die  zwei  stärksten  Proben  des 
böswilligen  Unglaubens  seiner  Feinde  betreffend ,  in  der 
Ueberlieferung  zusammengefügt  gewesen  zu  sein  scheinen, 
su  sprengen;  eine  Gewaltsamkeit,  deren  der  erste  Evange- 
list sich  enthielt,  und  daher  die  ihm  durch  jene  Verdächti- 
gung der  Dämonenaustreibungen  Jesu  in  das  Gedächtnis s  ge- 
rufene Rede  von  der  Wiederkehr  der  Dämonen  zurückbe- 
hielt, bis  er  zuvor  auch  die  Zurückweisung  der  Zoichenfor- 
derung  jnitgetheilt  hatte; 

49* 


7M  Zweiter  Abschnitt 

sontt  mit  denselben  Worten  abgefertigt  habe,  unwahr» 
sehettfieh  genug?  so  sind  die  In  der  «weiten  Stelle  dm 
Matthias  de«  MleUtangeflhrten  Satse  vorangehend» 
Woite»^  V.S  und  *.)  Tollende  unbegreiflich*  Denn  wie 
Jetm  a&  to' Forderung  eines  wunderbaren  Zeichens  am 
Hiinalel* seillto  Ofcgntern  erwiedern  kann,  dab  sie  ewv 
auf  die  natörftohen  Zeiehen  am  Himmel  sich  gut  versan- 
den ,  desto  schlechter  aber  anf  die  geistigen  Zeiehen  die- 
ser messianlsehen  Zeit,  das  ist  so  dunkel*),  dafs  a\ 
Verewefflnug '  an'  einem  Znsammenhange  die  sonst 
gründete  Auslassung  der  Verse  2  nnd  3.  *)  hervorgegangen 
seheint.  Lukas,  der  diesen  Vorwurf  Jean,  dab  seine  Zell* 
genossen*' besser  die  Zeiehen  der  Witterung  ab  der  Ze* 
verstehen,  nnr  snm  Theil  mit  andern  Worten,  gleichtun 
bat  (12,  54  f.)  >  gibt  demselben  eine  andere  Stellung  9  wel- 
che man  fttr  die  bessere  ansehen  könnte,  sofern  nach  dm 
Reden  von  dem  Feuer,  das  er  anufinden,  nnd  der  £at- 
sweiong,  welche  er  herbeiführen  werde,  Jesus  m  gaus 
schicklich  num  Volke  sagen  konnte:  von  den  unverkenn- 
baren Vorseichen  einer  so  groben  Revolution,  wie  eich 
durch  mich  eine  vorbereitet ,  nehmet  ihr  keine  Notin,  se 
schlecht  versteht  ihr  euch  anf  die  Zeiehen  der  Zeit*). 
Doch  genauer  erwogen  reiht  Lukas  diese  Gnome  den  vor- 
hergegangenen Reden  ebenso  abgebrochen  an,  wie  13,  18» 
die  beiden  Parabeln  *)•  Sehen  wir  von  hier  anf  Matthta 
surfick,  so  neigt  sich  uns  leicht,  wie  er  nu  seiner  Dar- 
stellung kommen  konnte.  Zur  Verdopplung  der  Zeichan- 
forderung mag  ihn  die. Variation  veranlabt  nahen,  welche 
er  vorfand,  dab  das  geforderte  Zeichen  bald  ab  a^päm 
schlechtweg,    bald  ab  orj/ueTov  ix  %h  aQccva  bestimmt  an 


4)  Vgl.  db  Wim  z.  d.  St. 

5)  t.  Gjussbach,  Comm.  crit.  *.  d.  St. 

0)  Etwas  anders  Schlkieamacmka,  S.  190  f. 

7)  ob  Wann,  exeg.  Handb.  1,  i,  S.  139.    1,  3,  S.  72» 


Achte»  Kapitel.    §,85-  757 

r 

werden  pflegte.  Und  wenn  er  nnn  wufste,  dafp  Jesus  die 
Juden  von  den  diaxQiveiv  %6  nQooimw  %ü  bqovb  auf  die 
1  didxQioig  der  artpttia  ruh  xatfalv  verwiesen  hafte  neo  lag 
1  Ihn  die  Vernntbnng  niebt  allen  ferne,  daft  die  Jode? 
>  diese  Abfertigung  vielleicht  durch  das  Verlangen  eines, 
i  OTjuelov  ix  %s  bqovö  reranlabt  haben  mögen.  So  begegnet 
uns  Jiier  Matthins,  wie  sonst  Öfters  Lukas,  njt  einer  ge- 
i  machten  Einleitung  einer  Rede  Jesu ;  cum  Belege  für  den 
i  von  SisrrsRT  «war  aufgestellten  8),  aber  eu  wenig  berück-, 
i  sichtigten  Satc,  dafs  es  in  der  Natur  solcher  traditionel* 
I  len  Berichte,  wie  wir  sie  an  den  drei  ersten  Evangelien 
i  haben,  liege,  dafs  der  eine  Zug  in  diesen,  der  andre  in 
i*  andern  sieb  besser  erhalten  seige,  somit  bald  dieser  bald 
I  jener  in  Nachtheil  gegen  die  Übrigen  sei* . 

I  .  > 

r  f-    85. 

'  Besuch  der  Motter  und  der  Brüder  Jesu,   und  die  selig-' 

l  preisende  Frau. 

1  SXnntliohe  Synoptiker  wissen  uns  von  einem  Besuche 

der  Mutter  und  der  Brüder  Jesu  eu  erzählen,  bei  ttessen 
Anmeldung  Jesns,  auf  seine  Jflnger  deutend,  den  Ausspruch 
1  gethan  habe,  dafs  die  seinem' Worte  Folgsamen  seine  Mut- 
'  ter  und  Brüder  seien  (Matth.  12,  46  ff.  Marc.  3,  31  ff.  Lue« 
8,  19  ff.)-  Matthäus  und  Lukas  sagen  von  dem  Zwecke 
dieses  Besuches  nichts;  also  auch  nicht,  ob" jene  schein- 
bar  abweisende  Aeufserung  Jesu  durch  etwas  Besonderes 
veranlafst  war.  Markus  hat  hierüber  eine  unerwartete 
Auskunft,  indem  er  uns  (V.  21.)  eu  wissen  thut,  dafs, 
während  Jesus  unter  einem  Volkssulanfe,  der  ihn  selbst 
an  Essen  verhinderte,  au  lehren  gepflegt  habe,  seine  Ver- 
wandten, in  der  Meinung,  er  sei  verrückt,  ausgegangen 
seien,  un  sieh  seiner  su  benichtigen,  und  ihn  in  Familien- 


8)  Ueber  den  Ursprung,  8.  115. 

# 


T58  Zweiter  Abschnitt. 

gewahrsänV  zu  nehmen1).  Nachdem  er  hierauf,  wie  « 
rsohein£,  blofs  der  Aehnlichkeit  wegen ,  welche  zwiscbet 
dem  HW'  Verwandten  betreffenden  eleyov,  Sri  *£*cjr,  und 
dem  ol  */ijauf(ccTtZg  skejwv,  Sri  BfelCeßöl  iyu  x.  t.  2.  (FgL 
/Job.  10,  20.)  stattfindet,  diesen  Vorwurf  sammt  Jean  Anfc 
Wort',  aber  ohne  die  Veranlassung  durch  eine  Dämooen- 
austreibung',1  eingeschaltet  bat,  läfst  er  die  indefs  aoge- 
kommenen  Verwandten  Jesu,  als  welche  jetzt  näher  seias 
Bfutter  und  Brüder  namhaft  gemacht  sind,  bei  ihn  ange- 
meldet werden,  und  ihn  hierauf  die  obige  Antwort  er- 
theilenv    ' 

Diese  Notiz  des  Markus  ist  den  Auslegern  sehr  will- 
kommen, um  die  Hörte,  welche  in  der  Entgegnung  Ja« 
auf  die  Anmeldung  seiner  nächsten  Verwandten  en  lieg« 
scheint,  aus  der  verkehrten  Absicht  ihres  Besuchs  so  er- 
klären und  su  rechtfertigen.  Allein  auch  abgesehen  da- 
von, dafs,  bei  der  gewöhnlichen  historischen  Auffassung 
der  Kindjieitsgeschichte  Jesu  sich  schwer  erklärt,  wie  seine 
Mutter  nach  solchen  Ereignissen  später  so  weit  an  ihrem 
Sohne  irre  werden  konnte,  so  fragt  es  sich  doch  sehr,  ob 
wir  jene  Notiz  des  Markus  annehmen  dürfen?  Bedenkt 
man,  wie  sie  theiis  neben  der  augenscheinlichen  Ueber- 
treibung  steht,  dafs  Jesus  lind  die  Seinigen  des  Volkssu- 
drangs wegen  nicht  einmal  zum  Essen  haben  kommen  kön- 
nen, theiis  in  ihrer  Abgebrochenheit  sich  selbst  nicht  min- 
der seitsam  ausnimmt:  so  wird  man  kaum  umhinkönnen. 
»  * 

dem  Urtheil  Schleiermacher's  beizutreten,  dafs  in  diesem 
Zusätze  kein  Aufschi ufs  über  das  damalige  Verhält nifsJes« 
su  seiner  Familie  zu  suchen  sei,  derselbe  vielmehr  cu  je- 
nen Uebertreibungen  gehöre,  welche  Markus  sowohl  ia 
den  Eingängen   einzelner  Begebenheiten,   als  in  den  aflge- 


1)  Den  Beweis  für  diese  Deutung  der  Ausdrücke:    oi  no«  wri 
Koarijnai  und  jg^  führt  Fumscits ,    Qomm.    in  Marc.  p.  97  £  > 


/ 

/ 


Achtes  Kapitel.    $.  95.  750 

Minen  Darstellungen  so  gerne  anbringe  *)•  B*  sollte  die 
bweisende  Antwort  Jesu  anf  die'  Anmeldung  seiner  Ver- 
wandten begreiflieh  machen ;  glaubte  defswegen  ihrem.  Be- 
sehe eine  für  Jesum  unerwünschte  Absicht  unterlegen  su 
räseen,  und  weil  er  nun  von  den  Pharisäern  wafste,  daü 
ie  ihn  unter  Einflute  "des  Beelaebnl  gestellt  haben  9  so 
ehrieb  er  auch  jenen  eine  ähnliche  Ansicht  zu8). 

Legen  wir  diese  Notjfc  des  Markus  bei  Seite,  so  bie» 
et  swar  die  Vergleichung  der  sehr  ihnliohlautenden  drei 
(erlebte  an   sieh   keine  Ausbeute4);   wohl  aber  mufs  uns 

4 

[im  verschiedene  Verbindung  auffallen,  in  welche  die  Evan- 
gelisten diese  Begebenheit  setzen:  Matthäus  und  Markus 
ifimlich  nach  der  Vertheidigung  gegen  den  Verdacht  eines 
löllisehen  Beistands  Und  vor  de?  Parabel  vom  Sftemann; 
wogegen  Lukas  den  Besuch  um  ein  Ziemliches  vor  jene 
Beschuldigung ,  die  Parabel  aber  noch  vor  den  Besuch 
»teilt«  Merkwürdiger  Weise  dagegen  hat  Lukas  an  der- 
leiben  Stelle,  nach  der  Vertheidigung  gegen  den  Vorwurf 
nnes  Teufelsbundes,   wo  die  beiden   andern  den  Besuch 


2)  Ucber  den  Lukas,  S.  121. 

3)  Vgl.  Ol  Wxttb,  z.  d.  St. 

4)  Wenn  SciiascKBitBUAGKA,  ( über  den  Ursprung,  S.  54. )  in  dem 
(m4  t*  und  dem  fxraVa;  zip*  jW(ja  bei  Matthäus ,  gegenüber 
dem  Anw  und  nfQtfihyapnog  xuxho  des  Markus,  eine  gemachte 
Anschaulichkeit  finden  will :  so  ist  diess  eine  Probe  der  par- 
teiischen Scharfsichtigkeit  zu  Ungunsten  des  Matthäus,  wel- 
che in  der  neuesten  Kritik  dieses  Evangeliums  eine  so  grosse 
Rolle  spielt.  Denn  wer  sieht  nicht,  wenn  nun  umgekehrt 
Matthäus  das  tinov  hätte ,  wie  es  alsbald  zu  den  Zügen  ver- 
wischter Anschaulichkeit  gezäjhlt  werden  wurde  ?  An  dem 
hrnras  rrjr  £'?pr  aj^er  ist  vollends  gar  nichts  zu  entdecken, 
was  diesem  Ausdruck  mehr  als  dem  -nfotßXftfä^roi  das  Geprä- 

'  ge  des  Gemachten  geben  sollte ;  ebensogut  kannte  umgekehrt 
diese  letztere  Formel  aus  der  sehon  erwähnten  Liebhaberei 
des  Markus  für  Bezeichnung  de%  Augenspiels  abgeleitet,  und 
somit  als  willkürliche  Zuthat  betrachtet  werden. 


o? 


MD 


Zweiter  Abschnitt. 


der  Verwandten  Jesu  einfügen ,  einen  Vorfall,  welcher  auf 
ein  gen*  ähnliches  Dietam,  wie  Jene  Anmeldung,  anaiiuft. 
Nach  der  Widerlegung  Jenes  Vorwurfs  nämlich,  und  dar 
Belehrung  aber  die  Wiederkehr  der  Dämonen,  bricht  eint 
Frau  'unter  der  Menge  bewunderungsvoll  in  eine  SeUgpra- 
sung  der  Mutter  Jesu  ans;  worauf  Jesus,  wie  oben  bei 
der  Anmeldung  seiner  Mutter,  erwiedert:  selig  vielmehr 
diejenigen,  welche  das  Wort  Gottes  hören  und  beobach- 
ten !  *)  Schleirmacher  nun  rieht  auch  hier  den  Bericht 
des  Lukas  vor;  von  der  kleinen  Zwisohenhandleuig  mit 
der  seligpreisenden  Frau  namentlich  glaubt  er,  sie  ver- 
ratbe  eine  frische  und  lebendige  Erinnerung,  welche  als 
an  Ort  und  Stelle,  wo  sie  vorgefallen,  eingeschoben  m 
haben  scheine,  wogegen  Matthäus  mit  der  Antwort  Jen 
auf  den  Ausruf  der  Frau  die  sehr  ähnliche  auf  die  An- 
meldung der.  Verwandten  verwechselt ,  diese  an  die  Stalls 
von  jener  gesetst,  und  so  die  Scene  mit  der  Frau  flber- 
gangen  habe6)*  Allein  wie  gerade  durch  die  technische 
Erörterung  Aber  die  Wiederkehr  der  ausgetriebenen  Dä- 
monen oder  auch  durch  die  vorangegangenen  Strafreden 
die  Frau  sich  au  einer  so  begeisterten  Ausrufung  hinge* 
rissen  fühlen  konnte,  ist  schwer  begreiflich,  und  es  möchte 
eher  die  der  ScHLEiERMAcpER'schen  entgegengesetzte  Ver- 
muthang sich  begründen  lassen,  dafc  an  die  Stelle  der 
Anmeldung  der  Verwandten  der  Referent  im  ^dritten  Evan- 
gelium die  ähnlich  auslaufende  Scene  mit  der  seligpreisen 
den  Frau  gesetat  habe.    £s  hatte  nämlich,   wie  wir  ans 


5)  Antwort  auf  die  Anmeldung, 

S,  21: 

/qfr??    fia  xai   adtltpot  pm    mrol 
.    tlatr  oi   ror  Zoyor  r«    &*S 
axsorrtt    mal  noiMVTH    <*"- 

TOV. 

6)  «.  a.  O.  S.  177  f. 


Antwort  auf  die  Seligpreisung, 
.     11«   28: 

pwitryt  fianaqu*  (  SC.  «g  tj  /qfrg» 
/**,    all   )    oi    axmorr 9£ 
loyor    rm    &tm 
rf$  avror. 


ror 


xai 


Aobres  Kapitel.    $.85.  '     761 

latthftns  nnd  Markat  sehen,  die  evangelische  Deberliefe- 
ung,  sei  es  aas  einen  historischen,  oder  einem  snftlligen 
Iran  de,  jenen  Besuch  and  das  Dictum  von  den  geistigen.' 
erwandten  mit  den  Reden  Jesu  gegen  den  Vorwurf  eines 
rerhfiltnisses  com  Beelcebul  and  von  der  Wiederkehr  der 
Unionen  in  Verbindung  gebracht,  nnd  auch  Lakas,  wo 
r  an  Schlafs  dieser  Reden  kam,  wurde  an  fene  Scene 
lit  deren  Pointe,  die  Erhebung  der  geistigen  Verwand* 
sbaft  Jesu,  erinnert.  Man  aber  hatte  er  den  Besuch  be- 
eits  oben  gemeldet7);  or  griff  daher  nach  der  ähnlich 
aslaufenden  Anekdote  von  der  Frau.  Dabei  lftfst  sieb 
ber  der  groben  Aehnlichkeit  beider  Anekdoten,  wegen 
weifein,  ob  wirklich  swei  verschiedene  Begebenheiten 
um  Grunde  liegen;  der  unvergessliche  Aussprach  Jesu, 
n  welchem  er  seine  geistigen  Verwandten  ober  seine  leib« 
ichen  setate,  könnte  möglicherweise  in  der  Sage  swei 
erschiedene  Fassungen  oder  Rahmen  bekommen  haben : 
»dem  es  dem  Einen  als  das  Natürlichste  erscheinen  mochte, 
afs  eine  solche  Zurücksetzung  seiner  Blutsverwandten  mit 
iner  wirklichen  Zurückweisung  derselben  verbanden;  dem 
Lndern,  dafs  die  Erhebung  der  ihm  geistig  nahe  Stehen- 
!en  durch  eine  vorangegangene  Seligpreisung  derjenigen, 
ie  ihm  leiblich  am  nächsten  stand,  hervorgerufen  gewe- 
en  sei«  Von  diesen  swei  —  sei  es  verschiedenen  Geschien- 
en ,  oder  Variationen  derselben  Geschichte  —  geben  Mat- 
bftos  and  Markos  nor  die  erstere;  Lukas  aber,  welcher 


7)  Was  den  Evangelisten  veranlasste,  den  Besuch  nach  der  Pa- 
rabel vom  Saemann  einzuschalten,  muss  auch  nicht  gerade, 
wie  Sciilkibrmachir  meint,  eine  wirkliche  chronologische 
Verbindung  gewesen  sein;  vielmehr  werden  wir  das  ganz  in 
seiner  Art  finden,  dass,  ihm  der  Schlust  der  Auslegung  je- 
ne Parabel :    %toC  efoir  cXriyet  ~"~  axaoavrff  rov  loyov  xar^x**  *tf* 

Kaf7TO(poQiotv  er  vno/iovjj,  den  ähnlichen  Ausspruche  Jesu  hei 
seinem  Besuche :  Iroi  flow  ot  rov  tiyov  t«  9e »  Zxtorrts  m&  noi- 
iyrt;  «vroV,  in  die  Erinnerung  rief. 


I 


702     <  Zweiter  Abschnitt. 

diese  schon  bei  einer  früheren  Gelegenheil  ▼orvreggeosa- 
inen  hatte,  fand  sieh,  alt  er  an  die  Steile  kam,  wo  Inder 
gewöhnlichen  evangelischen  Tradition  jene  Anekdote  ihm 
Site  hatte,  veranlafst,  eie  nunmehr  in  der  »weiten  Fora 
Wer  einzufügen.  / 

r  . 

5-    86. 

Die  Erzählungen  Ton  Rangstreitigkeiten   unter  den  Jungem  vd 

Ton  Jesu  Liebe  zu  den  Rindern. 

Die  drei  ersten  Evangelien  ersfihlen  uns  von  mehre- 
ren Rangstreitigkeiten,  welche  unter  den  Jüngern  ange- 
brochen* seien ,  nnd  von  der  Art,  wie  Jesus  dieselben  bei- 
gelegt habe.  Allen  ist  ein  Rangstreit  gemein,  welch* 
nach  Jesu  Verklärung  und  erster  Leidensverkfindigoig 
unter  den  Jüngern  zum  Ausbrach  gekommen  sein  »II  ' 
(Mattb.  18,  1  ff.  Marc.  9,  33  ff.  Luc.  9,  46  ff.) ,  wobei  «ca 
Ewar  Differenzen  in  den  Ersfihlungen  finden,  aber  die 
Einerleiheit  derselben  durch  die  in  allen  vorkommende 
Aufsteilung  eines  Kindes  verbürgt  ist,  da  so  etwas,  wie 
auch  Sch(.biermacher  bemerkt  *) ,  sich  nicht  leicht  wieder- 
holt.  Matthäus  und  Markus  haben  einen  Rangstreit  ge- 
mein ,  welcher  durch  die  beiden  Söhne  des  Zebedias  an- 
geregt wurde,  indem  diese  sich  (nach  Markus),  oder  ihre 
Mutter  ihnen  (nach  Matthäus),  die  swei  ersten  Stellen 
neben  Jesu  im  messianischen  Reiche  ausbat  (Matth.  % 
iO  ff.    Marc.   10,  35  ff.)2)«     Von  einer  solchen   Bitte  der 


1)  a.  a.  O.  S.  152. 

.  2)  Es  ist  consequent  in  dem  Tone  der  neueren  Kritik  über  den 
Matthäus  gesprochen,  .wenn  Schulz  (üb.  d.  Abendm.  S.3W0 
1  in  Bezug  auf  die   bemerkte  Differenz    zwischen  den  bei« 

1  ersten  Evangelisten   äussert,   er,  zweifle   keinen    Augen- 

I  blick ,*dass  jeder  aufmerksame  Leser  sich  ohne  Be- 

I  denken  der  Darstellung  des  Markus  zuwenden  werde,  wei- 

ther, ahne  Erwähnung  der  Mutter,    die  ganze  Verbinde 


Achtes  Kapitel     $.  66. 


Ttt 


Zebedaiden  weif*  das  dritte  Evangeliäai  nichts;  wohl  aber 
hat  es  ohne  diesen  Anlafs  noch  einen  weiteren  Rangstreit, 
bei  welchem  Ähnliche  Reden  fallen,  wie  sie  die  beiden 
ersten  an  jene  Bitte  angeknöpft  haben.  Bei  dem  lotsten 
Mahle  nftmllch,  das  Jesus  vor  seinem  Leiden  mit  seinen 
Jüngern  hielt,  lifst  Lnkas  unter  den  Jüngern  eine  (fdovei- 
xla  ausbrechen,  wer  von  ihnen  der  größte  sei,  welche 
Jeans  sofort  durch  dieselben  Gründe,  cum  Tbell  mit  den- 
selben Werten,  niederzuschlagen  sacht,  wie  nach  Mat- 
thäus nnd  Markus  die  über  die  Bitte  der  Zebedaiden  un- 
ter den  Jüngern  entstandene  aycn'ctKtrpiQy  worunter  ein 
Ausspruch  sich  findet,  den  Lukas  selbst  nnd  Markus  auch 
bei  der  Aufsteilung  des  Kindes  schon  fast  ebenso  gehabt 
haben,  und  welchen  Matthäus,  aufser  bei  der  Bitte  der 
Salome,  auch  noch  in  der  grofsen  antipharisftischen  Rede 
hat  (vgl.  Luc.  22,  26.  Marc.  9,  35.  Luc.  9,  48.  Matth.  20, 
26  f.  23,  IL).  So  glaublich  es  nun  auch  sein  mag;  dafs 
.bei  den  weltlichen  Messlashoffnungen  der  Jünger  öfters 
Rangstreitigkeiten  unter  ihnen  *u  dämpfen  waren,  so  ist 
es  doch  keineswegs  wahrscheinlich,  dafs  e.  B.  die  Sen- 
tens:  wer  unter  euch  der  größte  sein  will,  sei  Aller  Die- 
ner, 1)  bei  der  Aufstellung  des  Kindes,  2)  aus  Anlafs  der 
Bitte  der  Zebedaiden,  3)  in  der  antipharisäischen  Rede, 
und  4)  bei  dem  letzten  Mahle  gesprochen  worden  sei. 
Sondern  hier  findet  augenscheinlich  eine  traditionelle  Ver- 


swischen Jesus  und  den  beiden  Aposteln  vorgehen  lasse. 
Allein,  was  die  historische  Wahrscheinlichkeit  betrifft,  so 
möchte  ich  wissen,  warum  eioe  Frau,  welche  zu  den  Be- 
gleiterinnen Jesu  gehörte  < Matth.  27 ,  56.)»  eine  solche  Bitte 
nicht  sollte  haben  wagen  dürfen ;  was  aber  die  psychologi- 
sche, so  hat  das  Gefühl  der  Kirche  in  der  Wahl  der  Feri- 
kope  auf  den  Jakobustag  wohl  mit  Recht  für  die  Darstel- 
lung des'  Matthäus  entschieden ,  da  eine  so  feierliche  Bitt- 
scene  aus  dem  Stegreife  ganz  in  der  Art  eines  Weibes,  und 
näher  einer  für  ihre  Söhne  sich  verwendenden  Mutter  ist. 


7M 


Zweiter  Abschnitt. 


wfrrong  statt,  sei  et  nun,  dafc,  wie  StsmaT  In  aoleben 
Fällen  gerne  annimmt,  mehrere  ursprünglich  verschiedene 
Vorgänge  in  der  Sage  assimilirt ,  d.  h*  hier  dieselben  Re- 
den irrig  bei  verschiedenen  Anlässen  wiederholt,  oder  dal* 
ans  Eiriem  Falle  durch  die  Sage  mehrere  .gemacht,  d.  h. 
hier  an  denselben  Reden  verschiedene  Veranlassungen  er* 
dacht  worden  sind.  .Zwischen  diesen  beiden  Möglichkei- 
ten wird  darnach  entschieden  werden  müssen,  ob  die  ver- 
schiedenen Facta,  an  welche  die  analogen  Dentutharedoa 
sich  knöpfen,  eher  das  unselbstständige  Ansehen  blofsor 
Rahmen  ffer  die  Reden ,  oder  das  selbstständige  von  Ver- 
gangen haben ,  welchev  ihre  Wahrheit  and  Bedentenmkdl 
in  sich  selber  tragen.    . 

Hier  nun  wird  vor  Allen  der  Bitte  der  Zebedaidea 
nicht  abgesprochen  werden  können,  Air  sich  schon  etwas 
so  Bestimmtes  find  Merkwürdiges  an  sein,  dafs  sie  gar 
nicht  darnach  aussieht,  nnr  als  Einfassung  der  folgenden 
Reden  sich  angesetst  an  -.  haben ,  und  ebenso  wird  man 
über  die  Aufstellung  des  Kindes  urtheilen  müssen:  so  duft 
wir  also  vorerst  awei  für  sich  bestehende  Fälle  von  Rang- 
streitigkeiten hätten.  Wollen  wir  jedem  dieser  ,  beiden 
Fälle  die  au  ihm  gehörigen  Reden  autheilen,  so  geboren 
die  Aussprüche ,  welche  Matthäus  bei  der  Aufstellung  dm 
Kindes  hat:  wenn  ihr  nicht  wieder  werdet  wie  die  Kinder 
n.  s.  w.,  und :  wer  sich  erniedrigt,  wie  diefs  Kind  n.  a.  w», 
unverkennbar  au  diesem  Anlafs,  und  andrerseits  die  vom 
Herrschen  .und  Dienen  in  der  Welt  und  im  Reiche  Jos« 
scheinen  der  Bitte  der  beiden  Jünger  um  die  Herrscher- 
stuhle  im  messianischen  Reiche ,  womit  Matthäus  sie  ver- 
bindet, ganz  angemessen  au  sein;  wogegen  das  Dictum 
vom  Ersten  und  Letaten,  Uröfsten  und  Kleinsten,  weiches 
Markus  und  Lukas  auch  schon  bei  der  Kindersoene  haben, 
Matthäus  mit  Recht  für  die  Scene  mit  den  Zebedaiden  aufge- 
spart au  haben  scheint.  Anders  als  mit  den  bisher  bespro- 
chenen beiden  Anlässen  verhält  es  sich  mit  dem  Wetteifer, 


Achtes  Kapitel    f.  86.  MS 

Lac.  22,  24  ff.  Dimer  knüpft  sich  weiter  an  eine  besondre 
Veranlass«!*;,  noek  läuft  er  in  eine  markirte  Seene  ans 
(wenn  wir  nicht  ans  Johannes,  der  übrigens  keines  Wett- 
streits gedenkt,  die  Fufswasehung  herübernehmen  wollten; 
wovon  jedoch  erst  in  der  Leidensgeschichte  die  Rede  wer- 
den kann);  sondern  er  wird  nnr  eingeleitet  durch  iyhtro 
de  xcd  tpdoreuda  er  oi/rot?,  fast  mit  denselben  Worten, 
wie  Lukas  bereits  den  ersten  Rangstreit  (9,  45.)  eingeführt 
hatte,  und  veranlagt  Jesnm  sn  Reden,  welche,  wie  schon 
erwähnt,  Matthins  und  Markus  ihn  bei  den  frlheren 
Rangstreitigkeiten  führen  lassen:  so  dafs  also  für  diese 
hier  nichts  Eigentümliches  übrig  bleibt,  als  nnr  die  Stelle 
beim  leisten  Mahle,  welche  aber  aaoh  nicht  die  sicherste 
Ist.  Denn  dafs  unmittelbar  nach  den  für  die  Jünger  so 
demütbigenden  Reden  vom  Verräther  ihnen  der  Hochmnth 
alsbald  wieder  sollte  so  stark  gewachsen  sein,  ist  ebenso 
schwer  ra  glauben,  als  es  bei  Gegeneinanderhaltung  der 
Verse  23.  und  24.  leicht  sn  entdecken  ist,  wie  der  Refe- 
rent ohne  geschichtlichen  Grund  verführt  werden  konnte, 
einen  Rangstreit  hleheraustellen.  Unverkennbar  nämlich 
waren  es  die  Worte:  xal  avrol  ij^avio  ovCfpctiv  nqog  «ov- 
TBg,  zo,  tIs  ona  ärj  j£  avuüv  6  mo  piXktov  nQaaoeiv;  wel- 
che ihm  das  ähnliche:  iytvero  di  xal  (piXoveoda  iv  cn/rot£, 
to,  xlg  aviäiv  doxa  eivai  fiel^cav;  d.  h.  es  waren  die  Streit- 
reden über  den  Verräther,  welche  ihm  die  Streitreden 
über  den  Vorrang  in  die  Erinnerung  riefen.  Einen  sol- 
chen Streit  hatte  er  swar  bereits  gemeldet,  aber  mit  dem- 
selben, Eine  Sentens  abgerechnet,  nur  jene  Reden,  eu 
welchen  Jesum  das  Kind  veranlagte,  in  Verbindung  ge- 
bracht: nun  waren  ihm  noch  die  andern  übrig,  welche 
die  beiden  ersten  Evangelisten  an  die  Bitte  der  Zebedaidett 
knüpfen,  ein  Anlafs,  der  dem  Erzähler  im  Lukasevange- 
iirim  nicht  gegenwärtig  gewesen  au  sein  scheint,  wefswe- 
gen  er  die  dasu  gehörigen  Reden  hier  mit  der  unbestimm- 
ten Angabe  eines  ausgebrochenen  Rangstreits  einfügt.    In- 


-- 


7M 


Zweiter  Abschnitt. 


defs  die  chronologische  Stellung  auch  der  zwei  feueret  ge- 
nannten Raugstreitigfceiten ,  beidemale  nach  einer  Leideas- 
verkflndigung ,  welche  doch,  wie  die  Veraussagong  des 
Verraths,  solche  irdische  Rochmuthsgedanken  scheint  ha- 
ben niederschlagen  zu  müssen ,  hat  so  wenig  Wahraebetn- 
liehkeit  8),  dafs  der  Fingerzeig  willkommen  senu  rnofs, 
welcher  in  der  evangelischen  Darstellung  selbst  Aber  die 
Art  liegt,  wie  die  Referenten  auf  nngeschiehtliche  Weise 
zu  einer  solchen  Anordnung  gekommen  sind.  In  Jesu 
Antwort  auf  die  Bitte  der  Salome  nämlich  war  die  Hta- 
weieung  auf  das  ihm  nnd  seinen  J fingern  bevorstehende 
Leiden  das  Hervorstechendste:  daher  schlofs  sieh  durch 
die  natürlichste  ldeenaesoeiation  an  die  Leidensverküadt» 
gnng  die  Erzühlung  von  dem  auf  das  bevorstehende  Lei- 
den .verwiesenen  Ehrgeiz  der  beiden  Jünger  an.  Bei  der 
ersten  Rangstreitigkeit  aber  geht  die  voranstehende  Lei» 
densverkündigung  nach  den  beiden  mittleren  Evangelisten 
in  die  Bemerkung  aus,  dafs  die  Jünger  die  Rede  Jesu 
nicht  verstanden,  nnd  doch,  Jesom  darüber  so  frage», 
eich  gefürchtet  (also  ohne  Zweifel  über  den  Sinn  der  Rede 
nnter  sich  ^gesprochen  und  gestritten)  haben:  und  hier 
schlofs  sich  nun  sehr  natürlich  der  gleichfalls  hinter  Je«« 
Rücken  geführte  Streit  über  den  Vorrang  an.  Auf  die 
Erzählung  des  Matthäus  übrigens  findet  diese  Erklärung 
ihre  Anwendung  nicht  ebenso,  da  bei  ihm  zwischen  die 
Leidensverkündigung  und  den  Wetteifer  die  Anekdote  von 
dem  erangelten  Stater  eingeschoben  ist4).  v 

Mit  diesen  Rangstreitigkeiten  hängt  durch  Vermitte- 
lung  des  bei  einer  derselben  aufgestellten  Kindes  noch 
eine  andere  Anekdote  zusammen,  die  nämlich,  wie  die 
Leute  Kinder  zu  Jesu  bringen,  nm  sie  von  ihm  segnen  zu 


3)   Vg^    SCHLBIRRJWACHER,    8.    S.    O.    S.    285. 

4)  Hiermit  vergl.  die  Bemerkungen  ds  Wstts's  ,    exeg.  tiaadh. 
1,  2,  S.  107. 


Aehtes  Kapitel«    §•  87«  707 

lasten 9    die  Jünger  es  bindern  wollen,   Jesus  aber  da* 
freundliche:    acptte  tu  naidux  x.  t.  L,   spricht,    und   be- 
merkt,    da(s  nur  Kindern  und   ihresgleichen  das  Himmel« 
reioh  beschieden  sei  (Matth.  19,  13  ff.  Marc.  10,  13  ff.  Luc 
18, 15  ff.)-    Diese  Ersfthlung  hat  mit  der  von  dem  inmitten 
dar  Jünger  aufgestellten  Kinde  vieje  Aehnlichkeit.    1)  Bei« 
dentale  stellt  Jesus  die  Kinder  als  Muster  yor  und  erklärt, 
dafs  nur  KinderihnUche  in  das  Reich  Gottes  kommen  kön- 
nen; %)  beidemale  erscheinen  die  Jünger  in  einem  tiegen- 
aats  gegen  die  Kinder,  und  endlieh  3)  tagt  Markus  beide* 
male,    Jesus    habe   die   Kinder   in    die   Arme   genommen 
{ivayxaXujapievog).    Wollte  man   defshalb   nur  Einen   Vor* 
fall  als  aum  Grunde  liegend  vermuthen,   so  müTste  jeden* 
falls  die  letatere  firsfihlung  als   die  der  Wahrheit  nXhere 
festgehalten  werden,  weil  das  Wort  Jesu:  äq>et€  tcc  neu,- 
dlcc  x.  t.  L,  welches  in   seiner  durch   alle    Berichte   hin- 
durch sich  gleich  bleibenden  Originalität  den  Stempel  der 
Aechtheit  unverkennbar  an  sich  trägt,   nicht  wohl  bei  je* 
ner  andern  Gelegenheit  gesprochen  werden  konnte;  woge« 
gen  die  angeblich  aus  Anlafs  des  Rangstreits  gethanen  Aus* 
sprflehe   von   den  Kindern  als  Demotbsmastern  gar  wohl 
bei  der  unerigen  im  Rückblick  auf  frühere   Rangstreitig* 
ketten  vorgetragen  sein  könnten.    Eher  möchte  indefs  hier 
der  Ort  sein,  eine  Assimilation  ursprünglich  verschiedener 
Fälle  anannehmen,  da  wenigstens  Markus  sein  ivayxufaoa- 
fiievog  offenbar  nur  der  Aehnlichkeit  beider  Scenen  wegen 
bei  beiden  gleicherweise  angebracht  hat. 

« 

§.    87. 
Die   Tempelrcinigung. 

Wenn  Johannes  (2,  14  ff.)  Jesum  bei  seinem  ersten, 
die  Synoptiker  (Matth.  21,  12  ff.  parall.)  bei  seinem  letz- 
ten  Aufenthalt  in  Jerusalem  eine  Tempelreinigung  vorneh- 
men lassen:  so  dachten  die  älteren  und  denken  auch  noch 


708  Zweiter  Abschnitt. 

manche  neuere  Ausleger  *)  an  swei  verschiedene  Begeh» 
heften ;  eumal  aufser  der  chronologischen  Differens  aaek 
in  der  Darstellung  des  Vorgangs  sieh  awisehen  den  dni 
ersten  Evangelisten  und  dem  vierten  einige  Abwekbatj 
findet.  Während  nämlich  in  Besag  auf  das  Verfikrei 
Jesu  bei  jenen  nur  überhaupt  von  einem  ixßaMw  die 
Rede  ist :  heilst  es  bei  diesem ,  er  habe  sich  su  Anm 
Behufe  ein  <pQay&bw  ix  o%oivLdV  gemacht;  ferner,  wfr 
rend  er  dort  gegen  alle  Verkäufer  auf  gleiche  Wehe  Ter- 
fthrt:  scheint  er  hier  einigen  Unterschied  au  suelm, 
«nd  die  Tanbenhftndler  etwas  milder  su  behandeln;  neb 
ist  bei  Johannes  davon  nicht  die  Rede,  dafs  er  mit  im 
Verkäufern  auch  die  Käufer  ausgetrieben  hätte.  Aochii 
der  Rede  Jesu  bei  diesem  Anlasse  findet  sich  die  Diüereu, 
dafs  die  Synoptiker  sie  genau  in  Form  eines  Citats  tu 
dem  A.  T. ,  Johannes  aber  nur  als  ungefähre  An*pieUo| 
darauf  gibt.  Besonders  aber  im  Erfolge  neigt  sieb  in 
Unterschied ,  dafs  nach  dem  vierten  Evangelium  Jen  **■ 
gleiob  Einsprache  gethan  wird,  wovon  die  Synoptiker 
nichts  Berichten ,  sondern  erst  Tags  darauf  die  jfidiicta 
Hierarchen  eine  Frage  an  Jesum  richten  lassen ,  welche 
Bezug  auf  die  Tempelreinigung  au  haben  scheiot  (Mittk 
21,  23  ff.)i  euf  welche  Jesus  auch  ganz  anders  entwertet» 
und  namentlich  ohne  die  berfibmte  Rede  vom  Absnek 
und  Wiederaufbau  des  Tempels,  mittelst  welcher  er  a*k 
dem  vierten  Evangelium  jene  Einsprache  anrfickweist  Bfc 
Wiederholung  einer  solchen  Execution  sucht  man  durek 
die  Bemerkung  erklärlich  au  machen,  dafs,  da  asf  <fo 
erste  Austreibung  hin  der  Unfug  schwerlich  unterblieb, 
bei  jeder  Erneuerung  desselben  Jesus  auch  su  wiederhol- 
tem Einsehreiten  veranlafst  gewesen  sei ;  dafs  aber  niber 
die   Johanneische   Tempelreinigung    eine    frühere  ab  & 


i)  Paulus  und  Tboluck  z.  d.  Abach.    Auch  Naurosa,  L.  J.  Cfcr.» 
,  S.  388*  Anm. ,  findet  eine  Wiederholung  möglich. 


w 


Achtes  Kapitel.    $.  87.  769 

rnoptiscbe  sei,  davon  glaubt  man  die  Spur,' eben  auch 
arin  zu  entdecken,  dafs  bei  jener  Jesu  alsbald  fiinspr*» 
\ke  gethan  wurde ,  bei  dieser  hingegen  seines  inzwischen 
sstiegenen  Ansehen»  wegen  nicht  mehr. 

Allein  bei  allen  Abweichungen  ist  doch  die  Uebereiiv» 
timmung  der  beiden  Erzählungen  fiberwiegend.  Derselbe 
fnfug;  dieselbe  gewaltsame  Art,  ihm  durch  ixßccXXeiv  der 
*eute  ond  avagqiqmtv  der  Tische  su  steuern;  ja  auch  im 
Wesentlichen  dieselbe  Rede  zur  Begründung  .dieses  Ver- 
ahrens,  welche,  wenn  gleich  nicht  mit  ebensovielen  Wor- 
»n,  doch  auch  bei  Johannes  eine  Hinweisung  auf  Jes. 
6,  7.  Jer.  7,  11.  enthält.  Jedenfalls  mfifste  man  dieser 
bedeutenden  Aehnlichkeiten  wegen  mit  Sieffkrt  *)  anneh- 
Ben,  die  tfwei  sieh  ursprünglich  weniger  ähnlichen  Vor- 
ftlle  qeien  in  der  Deberlieferung  assimilirt,  die  Züge  des 
Inen  auf  den  andern  fibergetragen  worden.  Allein  soviel 
cheint  doch  klar:  die  Synoptiker  wissen  nichts  von  einer 
ürflhern  Begebenheit  dieser  Art,  so  wenig  als 'von  einem 
früheren  jerusalemischen  Aufenthalte  Jesu  überhaupt;  und 
»benso  scheint  der  vierte  Evangelist  die  Tempelreinigung 
lach  dem ,  letzten  Einzug  Jesu  in  die  Hauptstadt  nicht 
lefswegen  fibergangen  su  haben,  weil  er  sie  als  aus  den 
Ibrigen  bekannt  voraussetzte,  sondern  weil  er  den  einsi- 
gen Act  dieser  Art,  der  ihm  überhaupt  bekannt  war,  in 
sine  frühere  Zeit  setsen  su  müssen  glaubte.  Wissen  so 
i&mmtliobe  Evangelisten  nur  je  von  Einem,  Vorfalle  dieser 
Art:  so  berechtigen  ans  weder  die  kleinen  Abweichungen 
in  der  Besehreibung ,  noch  die  bedeutende  in  'der  Stellang 
der  Begebenheit,  swei  verschiedene  Vorfälle  vorauszu- 
setzen, da  Ja  namentlich  chronologische  Differenzen  in 
den  Evangelien  keineswegs  selten,  und  bei  traditionell 
entstandenen  Schriften  auch  ganz  natürlich  sind.  Mit 
Recht   haben  daher  nach  filteren  Vorgängen  die  neuesten 


2)  Ueber  den  Ursprung,  S.  108  ff. 

Das  Leben  Jesu  3fc  Aufl*  /.  Band.  49 


770  Zweiter  Abschnitt. 

Ausleger  de*  Johannes   «ich  für  die  Identität  beider  6t 
schichten  erklärt  *). 

Auf  welcher  Seite  hiebet  der  lrrthnm,  namentlich  ii 
chronologischer  Beziehung,  liege,  derUber  kann  num  n 
Voraus  wissen,  wie  sich  die  jeteige  Kritik  entscheide« 
wird:  nämlich  au  Gnnsten  des  vierten  Evangeliums.  Ü* 
Peitsche,  die  abgestufte  Behandlung  der  verschieden« 
Klassen  von  Händlern,  die  freiere  Anspielung  aof  die 
A.  T. liehe  Stelle,  sind*  nach  Lücke  ebensoviele  Kenmet- 
chen  des  Augen  *  und  Ohren eeugen ;  in  Besag  aof  die 
Chronologie  sei  ohnehin  anerkannt,  dafs  die  Syuoptfcr 
sie  gar  nicht  beobachten ,  sondern  nur  Johannes:  wp/* 
wegen  es ,  nach  Sirffert  *) ,  das  Gewisse  gegen  das  Ei* 
gewisse  aufgeben  hiefse,  wenn  man  die  johanneische  fr 
s&hlung  der  synoptischen  gegenüber  fallen  lassen  wollte. 
Allein,  was  jene  Anschaulichkeit  betrifft,'  so  hat  aoefc  . 
Markus  in  seinem:  xal  sx  rtcpiev,  iva  ng  duvfyxi;  mos 
dtd  ts  i€QÖ  (V.  I6O9  einen  solchen  Zug  vor  denikn^s 
voraus ,  der  sich  Oberdiefs  einer  Stfitee  in  der  jüduchen 
Sitte  erfreut,  welche  nicht  erlaubte,  den  TempehorM 
mm  Durchweg  zu  machen  *)•  Setet  man  dennoch  von 
diesem  Zuge  voraus ,  dafs  er  au  der  willkfirlicbeo  Am* 
maiung  gehöre,  wie  sie  Markus  auch  sonst  liebt  '):  w« 
berechtigt  dann,  ähnliche  malerische  Züge,  wenn  aus  im 
bei  dem  vierten  Evangelisten  findet,  als  Kennzeichen  sei- 
ner Autopsie  eu  betrachten  ?  Sich  dabei  auf  seine  §*»■ 
kannte  Augeneeugensohaft  su  berufen  7),  ist  doch  eise 
gar  au  -grelle  petüio  principii,  wenigstens  auf  dem  Stand- 


3)  Lückb,  1,  S.  435  ff. ;   db  Witts,  exeg.  Haadb.  I,  !,  &  i74f. 

1,  3,  S.  40. 

4)  a.  a.  O.  S.  109. ;  vergl.  Schnkckkhburckr;  S.  26  f. 

5)  Lightfoot,  S.  632,  aus  Bab.  Jevamoth,  f.  6,  2. 

6)  Li'cHK,  S.  438. 

7)  Lücke,  S.  437.;   Sieffirt,  S.  HO. 


Achte«  Kapitel.    5-  #7«  771 

paukt  einer  vergleichenden  Kritik ,  auf  welchem  es  ledig- 
lich nach  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  entschieden  wer- 
den mtifs ,  ob  nicht  anch  die  malerischen  Züge  des  vier- 
ten Evangelium«  blofse  Ausmalung  sind«  Wenn  hier4  die 
Verschiedene  Behandlang  der  verschiedenen  Menschen* 
klassen  ein  für  sieh  wahrscheinlicher,  die  freiere  Besag» 
nähme  aaf  das  A.  T.  wenigstens  ein  indifferenter  Zog  ist: 
eo  verhält  es  sieh  mit  dem  auffallendsten  Zage  der  johan» 
nebehen  Ersählang  ganz  anders«  An  dem  flechten  und 
Anwenden  der  Strickpeitsche  hat  schon  Origenes,  als  an 
einem  gar  an  gewalttätigen  and  ordnungswidrigen  Schrit- 
te, Anstofs  genommen8):  and  die  Milderang  neuerer  Er- 
klärer, dafs  Jesus  dieselbe  nur  gegen  das  Vieh  gebraucht 
habe  *),  Ist  theils  gegen  den  Text,  welcher  mittelst  des 
cfQcr/eXXiav  navrag  austreiben  lSfst;  theils  bann  auch  mit 
dieser  Milderung  noch  das  Anwenden  einer  Geifsel  über- 
haupt fflr  eine  Person  von  Jesu  Würde  unschicklich  er- 
scheinen, und  insbesondre  nur  geeignet,  das  ohnehin  Tu- 
multe arische  der  Handlung  zu  vermehren  10).  Solche 
Schwierigkeiten  hat  der  dem  Markos  eigenthflmliche  Zug 
nicht  gegen  sich :  und  doch  soll  er  verworfen ,  der  des 
Jobannes  aber  angenommen  werden« 

Ebenso  wird  in  Betreff  der  chronologischen  Differenz 
fast  einstimmig  gegen  die  Synoptiker  und  für  den  vierten 
Evangelisten  entschieden.  Und  doch  ist  man  nicht  im 
Stande,  Einen  Grand  aufzubringen,  um  dessen  willen  die 
fragliche  Begebenheit  besser  in  die  Zeit  des  ersten,  als  in 
die  des  letzten  von  Jesu  besachten  Pascha  taugen  sollte  ")> 


8)  Comm.  in  Job.  Tom«  10,  $•  17,  Opp.  1*  p.  322,  ed.  Loh- 

MATSSCa. 

9)  HvfwtfL,  x.  d.  St« 

10)  BftSTSCHXBiDB*,  Prob  ab.,  p.  43« 

11)  Nach  Nbaudi*  (S.  387.  Anm.)  musste  Jesu»  nach  seinem  _lett- 
ten  Einstige  in  Jerusalem,  wo   die  Begeisterung  der  Menge 

49* 


17%  Zweiter  Abschnitt. 

wohl  aber  l&Tst  sieb  In  entgegengesetatem  Sinne  riebt  W 
gegründetes  geltend  machen.  Zwar,  wenn  aus  mm 
wabracheinlieh  findet,  dafs  Jesus  so  frühe  sehen,  w»i 
nach  der  Deutung  des  Johanne«  durch  den  Aatspraesia 
absubrechenden  nnd  wiederaufsubauenden  Teufel  gtni 
bitte ,  auf  seinen  Tod  ond  seine  Auferstehung  liiapri 
aen  haben  sollte  i2):  so  werden  wir  seine«ort*  seheaJ4i' 
eben  diese  Beaiehung  auf  den  Ted  nnr  durch  des  Im 
gellsten  in  Jene  Worte  hineingetragen  ist.  Die  Frage  ih 
lifo  sieh  der  johanneischen  Stellnng  der  ßegebeabat  m 
gegenhalten ,.  ob  wohl  Jesus  bei  seinem  besonnenes  Tsb 
so  frühe  sehon  einen  so  gewaltsamen  und  für  Manch) » 
rftckstofsenden  Act  seiner  messianischen  Anctoritit  w& 
ausgeübt  haben  '*)?  Sonst  sehen  wir  ihn  von  Anflug  « 
noch  weit  mehr  anf  gütliche  Weise  mit  seinen  Yefap 
nossen  snsammentreffen :  nnd  man  kann  daher  swefflnj 
ob  er  gleich  Anfangs,  ohne  in  Güte  einen  Versuch  m  wt 
eben,  so  kriegerisch  aufgetreten  sein  wird.  In  fctato 
Woche  seines  Lebens  hingegen  pafst  ein  solcher  Aiftritt 
vollkommen.  Damals ,  nach  seinem  messianisches  Etaf 
in  Jerusalem,  legte  er  es  absichtlich  darauf  an,  AttAÜ- 
les,  was  er  that  und  sprach,  dem  Widersprach  Mb* 
Feinde  nnm  Trots,  sioh  als  den  Messias  na  geben;  *• 
mala  stand  Alles  schon  so  anf  der  Spitse,  dafs  durch* 
neu  aolcben  Schritt  nichts  mehr  sn  verlieren  war.  -  W 
dennoch,  wenn  es  wahr  ist,  dafs  der  vierte  Efaaj* 


sich  für  ihn  erklärt  hatte,  Alles  vermeiden,  wis  ■*■» 
Absicht ,  durch  'äussere  Macht  zu  wirken ,  Unruhen  itffi* 
su  wollen,  gedeutet  werden  konnte.  Allein  dieti  numteer 
theils  gleicherweise  am  Anfang  wie  am  Ende  seiner  Lauft*1 
su  vermeiden  suchen ;  theils  war  die  Handlung  in  **•** 
vielmehr  ein  Aufbringen  der  äusseren  Macht  gegen  na»  * 
eine  Benützung  derselben  für  sich. 

12)  So  englische  Ausleger,  hei  Lücke,  1,  S.  435  f.  Ann. 

13)  Dieselben  a.  a.  O.  ;  vgl.  auch  d*  Witt«,  a.  a.  0. 


i 


Achte*  Kapitel.    $.88.  773 

Recht    bat  mit  seiner  Unterscheidung  mehrerer  Festreisen' 
Jesu,    ven  welchen  die  übrigen   nichts  wissen:  so  ist  es 
nicht  gans  richtig,  so  sagen,   diese  verlegen  die  Tempel-' 
reinig ang  in  den  lotsten  jemsalemisehen  Aufenthalt  Jesu; 
vielmehr  verlegen  sie  dieselbe  in  den  Einen,   von  dem  sie 
nur  wissen ,  nnd  aas  welchem  nun  wir  nach  Johannes  die 
ttbHgen  aussuscheiden  hatten.    Da  demnach  der  bestimm* 
ten  Zeitangabe  des  vierten  Evangelisten  die  übrigen  eigent- 
lich ehne  Zeitbestimmung  gegenüberstehen:  so  kann  uns, 
hei  unserer  mangelhaften  Kenntnifs  der  Zeitverhfiltnisse  nnd 
n&nern  umstände,   der  Schein  gröf serer  innerer  Schwie- 
rigkeit aef  Seiten  der  Zeitbestimmung  im  vierten  Evange- 
lium  noch  nicht  berechtigen,   sie  gegen  eine  andere  so 
verwerfen,  die  gar  kein  bestinyntes  Zeognifs  ftr  sieh  hat. 
Was  die  Begebenheit  an.  sich  betrifft,  so  hat  Qrige» 
nes  unglaublich  gefunden,  dafs  dem  einseinen  Manne  von 
noch  immer  sehr  bestrittenem  Ansehen  eine  solche  Menge 
von  Menschen  so  ohne  Widerstand  sollte  gewichen  sein; 
wogegen  er  sich  aber  auf  die  höhere  Macht  Jesu  berief* 
vermöge  deren  Jesus  den  Grimm  seiner  Gegner  plfttslich  an 
dämpfen  oder  doch  unschädlich  an  machen  im  Stande  ge- 
wesen sei:  wefswegen   denn  Origenes  diese  Austreibung 
den  gröbten  Wundern  Jesu  an  die  Seite  seist  **)•    Aller- 
dings ist  sie  ein   Wunder,    und  gewirkt    durch    höhere 
Kraft:   nämlich  ein   Wunder  der  religiösen  Begeisterung, 
gewirkt  durch  die  unwiderstehliche  Macht,  mit  welcher 
das  lange  verletzte  Heilige  sich  oft  mit  Einem  Male  gegen 
seine  Verlebter  kehrt  15> 

$.    88. 

• 

Pie  Erzählungen  von  <}er  Salbung  Jesu  durch  ein  Weib. 

Von  einer  Salbung  Jesu   durch  ein   Weib   während 
eines  Gastmahls    erzählen    uns    sämmtliohe    Evangelisten 

14)  Comnu  in  Joh.  Tom.  10,  16.  p    521  f. 
\b)  Vgl.  Lvcks,  ps  Wsits  und  NsAsasa. 


"V:  __—*_•_.. -w".—-^ 


Zweiter  Abschnitt, 

(Matth.  26,  6  ff.  Marc.  14,  3  ff.  Loa  7,  36  ff.  Job.  12, 1 
mit  Abweichungen  freilich,  welche  besonders  ssrui 
Lukas  and  den  übrigen  bedeutend  sind.  Erstens  nlsi 
die  Chronologie  betreffend,  setat  Lukas  den  Vorgabt 
die  fräfrene  Zeit  des  Lebens  Jesu,  vor  seine  Aarane! 
Galiläa,  die  übrigen  dagegen  jn  die  lotete  Wochen* 
Lebens;  zweitens,  den  Charakter  der  anlbenden  Fmt 
langend ,  ist  diese  nach  Lukas  eine  yuvrj  dfia^wloQj  m 
den  beiden  andern  Synoptikern  aber  eine  unbetpWtt! 
Person,  welche  Johannes  sogar  als  die  Betbanisehs Mi 
näher  bestimmt.  Mit  diesem  «weiten  Punkte  bangt  i 
msammen,  dafs  der  Vorwarf  der  Anwesenden  bei  U 
der  Zulassung  einer  so  verrufenen  Person,  bei  des  fr 
gen  nur  der  Versehwendung  des  Weibes  gut;  mtbcä 
das,  <k&  Jeans  in  seiner  Verteidigung  dort  als  dsukbs 
Liebe  der  Frau  im  Gegensatae  gegen  die  afoln  Lia*Vsj 
keit  des  Pharisäers ,  hier  seinen  baldigen  Tod  i*  üg* 
sats  gegen  die  immer  au  habenden  Amen  hewWC 
Geringere  Differenzen  sind  noch,  dafs  als  die  Oitobl] 
in  welcher  das  Gastmahl  und  die  Salbung  vor  «flk  pH 
von  den  zwei  ersten  und  dem  vierten  Evangeßnn  Bern 
nien  (was  nach  Job.  11,  1.  eine  xwfaj  war),  W  U" 
unbestimmt  eine  rrolig  genannt  wird;  ferner,  *W*  » 
Vorwurf  nach  jenen  dreien  von  Seiten  der  Jünger,  am 
Lukas  von  dem  Gastgeber  kommt.  Daher  denn  im  * 
den  meisten  Erklärern  die  Unterscheidung  von  iw*  **" 
oungen,  deren  eine  Lukas,  die  andere  die  übrigen  a^1, 
gellsten  ersählen  *). 

Allein  es  fragt  sich,  wenn  man  den  Lnk«  nfl» 
drei   übrigen   einstimmig  an   machen  verzweifelt,  ob 
Uebereinstimmung    von   diesen   unter  sich  so  ennol** 


$)  So  Paulus,  eseg.  Handb.  J,  b,    S.  766.    L.  J.  I,  «i  ** 
TlIOtUCK,   Lücke,   Olsuausen  ,  z.  d.  St.;    Ham>  !••  *•  r 
Anm. 


\* 


Achtes  Kapitel.    $.  88.  TW 

iet,    und   nicht  vielmehr  von  der  Unterscheidung  nweier 
Salbungen    noch   weiter    aar   Unterscheidung   von   dreien 
oder  gar  vieren   fortgegangen  >  werden   mnft?    Zn   vieren 
nun  freilich  wird  es  wohl  nicht  reichen ,  da  Mafkus  von 
Matthfius   nur  durch   einige   Zöge   seiner   wohlbekannten 
Veransehauliehung  abweicht;  wphl  aber  finden  sich  zwi- 
schen diesen  beiden  auf  der  einen  und  Johannes .  auf  der 
andern   Seite   Differenzen,   welche   sich   denen   a wischen 
Lukas   und  den  fibrigen  an  die  Seite  stellen  dürfen.    Die 
erste  betrifft  das  Hans,  in  welchem  das  Gastmahl  vor  sich 
gegangen   sein  seil:    nach   den  awei   erstem    Evangelisten 
nämlich  im  Banse  eines  sonst  unbekannten  ^i/uw,  der  aJa 
n  leTZQos  bezeichnet  wird ;  der  vierte  nennt  «war  den  Gast- 
geber nicht  ausdrücklich ,  da  er  aber  Martha  als  die  auf- 
wartende,  und   ihren  Bruder  Lazarus  als  mitspeisenden 
namhaft  macht,   so  ist  nach  ihm  ohne  Zweifel  das  Haus 
dieses  Letzteren  als  das  LoeaT  des  Gastmahls  au  denken  *)• 
Auch  die  Zeit  des  Vorgangs  ist  nicht  gana  dieselbe,   son- 
dern nach  Matthäus  und  Marcus  geht  die  Seene  nach  dem 
feierlichen  Einzug  in  Jerusalem,  höchstens  awei  Tage  vor 
dem  Pascha,   vor:    nach  Johannes  dagegen  vor  dam  Ein- 
zug,  schon  6  Tage  vor  dem   Pascha,    Die  Frau  ferner, 
welche  nach  Johannes  die  Jesu  so  eng  verbundene  Maria 
von  Bethanien  ist,   wissen  die  beiden  ersten  Evangelisten 
nur  unbestimmt  durch  yvv>)  au  bezeichnen;  auch  lassen  sie 
dieselbe   nicht  wie  die   Maria   in   das  Haus   und   au  der 
Familie  des  Wirtbs  gehören,   sondern,   man  weifs  nicht 
woher,  au  dem  bei  Tische  liegenden  Jesus  kommen.  Auch 
der  Act  der  Salbung  ist  im  vierten  Evangelium  ein  ande- 


2)  Diese  Differenz  ist  auch  dem  Origenes  aufgefallen)  welcher 
überhaupt  eine  kritische  Yergleichung  dieser  vier  Erzählun- 
gen gegeben  hat ,  «wie  man  sie  in  neueren  Cominentaren  in 
dieser  Scharfe  vergeblich  sucht;  s.  dessen  in  Matth.  Coav 
mcAtariorum  series,  Opp.  ed.  de  U  Rue,  i,  S.  892  ff* 


/ 


f 


Zweiter  Abschnitt 

rer  als  in  den  beiden  ersten."  Mach  diesen  nUmUeh  gfefa 
die  Frau  Ihre  Nardensalbe  über  Jean  Haupt  aas,  sin 
Johannas  dagegen  salbt  sie  ihm  die  Füfte,  and  tmkut 
dieselben  mit  ihren  Haaren ;  was  der  ganzen  Seene  ein 
andere  Farbe  gibt  Endlich  wissen  die  beiden  Syooptüw 
auch  davon  nichts,  dafs  eben  Judas  es  gewesen  sei,  wel- 
cher den  Tadel  gegen  die  Fran  aassprach,  >  sondern  M* 
thflus  legt  ihn  den  Jüngern,  Markos  den  Anwesens* 
Oberhaupt  In  den  Mund. 

So  ist  also  zwischen  der  Eroihlung  des  JohssM 
und  dei»  des  Hatthftua  und  Markus  ein  kaum  geringer» 
Unterschied,  M  «wischen  dem  Berichte  dieser  drei  susta» 
men  und  dem  des  Lnkas:  wer  hier  swei  verschiede»  IV 
gebenheiten  voraussetat,  ist  nur  dann  consequent,  wea 
er  diefs  auch  dort  thut,  nnd  so  mit  Origenes  einstweiki 
drei  verschiedene  Salbungen  annimmt.  Dennoch  skr, 
aobald  man  sieh  diese  Consequens  nflher  ansieht,  nsA 
man  Aber  dieselbe  bedenklich  werden«  Denn  wie  uwibv 
scheinlich  ist  es  doch,  dafs  Jesus  nicht  allein  dreiaal, 
jedesmal  bei  einem  Gastessen,  allemal  von  einer  Fni, 
aber  jedesmal  wieder  von  einer  andern ,  kostbar  gesalbt 
worden  sein ,  sondern  dafs  es  sich  hiebe!  aoch  jedeaul 
gefügt  haben  sollte,  dafs  Jesus  diese  Handlung  der  Fm 
gegen  Angriffe  der  Zuschauer  au  vertheidigen  hatte?  Wie 
labt  sich  namentlich  das  denken,  dafs,  wenn  Jesu  H 
einem,  und  selbst  bei  swei  früheren  Anlassen  die Ü» 
erwiesene  Ehre  der  Salbung  so  entschieden  in  Schote  g» 
nommen  hatte,  die  Jünger,  oder  einer  derselben  sie  dock 
immer  wieder  sollten  getadelt  haben  *)  ? 

Mufa  mari  sich  hiedurch  getrieben  finden,  anfl» 
ductionen  bedacht  au  sein;   se  wird  ea  allerdings  i 


J)  Origenes  a.  a.  O. ;   Sculeikasuchbr,  über  den  LukM,  S,|ltl 
WWr,  N.  T.  Gramm.  S.  149. 


4 


Achtet  Kapitel.    $.  88.  ?T7 

» 

ans    nächsten  liegen ,   mit  den    Erslhlongen    der    beiden 
ersten  Synoptiker  und  der  des  Johannes  den  Anfang  su 
maeben;  denn  de  haben  nicht  allein  den  Ort  der  Handlang, 
{Bethanien,  gemein,  sondern  im  Allgemeinen  auch  die  Zeit, 
die  letste  WocSe  des  Lebens  «Jesu;  hauptsächlich  aber  ist" 
xRede  und  Gegenrede  auf  beiden  Seiten  nahesu  dieselbe: 
and  bei  diesen  Aehnliehkeiten  wird   man  Aber  die  IHffe- 
rensen  theils  durch  den  Drang  der  Unwahrscheinliehkeit 
eines  dreimal  wiederholten  Vorfalls  ,so  eigener  Art ,  theils 
durch  die  Wahrscheinlichkeit  hinweggehoben,  dafo  bei  der 
traditionellen  Fortpflansuog  der  Anekdote  dergleichen  Ab- 
weichungen  sich  eingeschlichen   haben  mögen.  •  Hat  man 
aber  anf  dieser  Seite  in  Betracht  der  Aehnliehkeiten ,  un- 
erachtet  der  Differenzen  im   Berichte,  die  Identität  des 
Vorfalls  angegeben :  so  können  auch  anf  der  andern  Seite 
die  der  Krsählung  des  Lukas  eigentümlichen  Abweichun- 
gen   nicht  mehr  hindern,   sie  mit  der  der  drei  übrigen 
Evangelisten  für  identisch  su   erklären,   sobald  sich  nur 
einige  erhebliche  Aehnliehkeiten  awiseben  beiden  hervor* 
stellen.    Und  diese  sind  wirklieh  vorbanden,  indem  Lukas 
bald  mit  Matthäus  und  Markus  gegen  Johannes,   bald  mit 
diesem  gegen  jene  auffallend  susammenstimmt.    Dem  Gast- 
geber gibt  Lukas  denselben  Namen,  wie  die  awei  ersten 
Evangelisten  dem  Hauswirt!»,  nämlich  Simon,  nur  dafs  ihn 
jener  durch  d>aqujalogy  diese  durch  6  leTZQog,  näher  bezeich- 
nen.    Auch   darin   stimmt   Lukas   mit  den  Übrigen  Synop- 
tikern  gegen  Jobannes  fiberein,   dafs  nach  ihrer  gemein- 
samen Darstellung  die  salbende  Frau  eine  nicht  sum  Hause 
gehörige  Ungenannte  ist;   ferner  darin,   dafs  sie  dieselbe 
mit  einem   dldßagQov  fivQS  auftreten  lassen ,   während  Jo- 
hannes nur  von  einer  ifaqa  /uvqs,   ohne  Angabe  des  tie» 
fäfres,  spricht.     Mit  Johannes  hingegen  stimmt  Lukas  anf 
merkwürdige   Weise  in   der  Art  der  Salbung  gegen   die 
beiden  andern  Evangelisten  snsammen*    Während  nämlich 
diesen  aufplge  die  Salbe  auf  das  Haupt  Jesu  ausgegossen 


778  Zweiter  Abschnitt- 


wird;  salbt  nach  Lukas  die  Stinderin,  wie  nach  Ji 
Maria,  Je*n  vielmehr  die  Füfse;  und  selbst  der 
Zug  findet  sieh  bei  beiden  fast  mit  den  gleichen  Wal 
angegeben,  dab  sie  mit  ihren  Heeren  seine  Fifa  g*s 
net  habe*):  nur  dafs  bei  Lukas  j  wo  die  Fraa  ab  SM 
rin  gehalten  ist,  noch  die  ßenetsung  der  Fflfse  doreki 
Thränen  sammt  dem  K  Assen  derselben  hinsafceaai 
Ohne  Zweifel  heben  wir  ralso  hier  nur  Eine  Gcschicb 
drei  ziemlich  abweichenden  Formen;  was  schon  dfc 
gentliche  Ansieht  des  Origenes  gewesen  mm  sein  sehe 
und  nenerlieh  von  Schlwirmachsr  angenommen  v 
den  ist. 

Dabei  sacht  man  dann  aber  möglichst  wtalftl 
Kaufes  abzukommen,  und  die  Abweichungen  der  renek 
denen  Evangelien  wenigstens  vor  dem  Schein  des  Wü 
eprnchs  su  bewahren.  Was  cuerst  die  Differeasen  n 
sehen  den  beiden  ersten  Evangelisten  und  den  btrii 
betrifft,  so  hat  man  vor  allem  die  verschiedene  Zeftiejd 
durch  die  Vorauesetsung  aussugleichen  gesucht,  difc  ^ 
f  {athenische  Mahl  «war  wirklich ,  wie  Johanne»  berieta 
6  Tage  vor  Ostern  gehalten  worden  sei ,  daft  aber  Im 
thäus ,  welchem  Markus  nachgeschrieben ,  Heine  den  u 
dersprechende,  sondern  vielmehr  gar  keine  Zeitbettiesjq 
habe;  denn  dafs  er  jenes  Mahl  erst  nach  dem  Aotcpr« 
Jesu;  oii  ftiia  dvo  rjiiqag  zo  naö%<x  yivevai,  ciirfcn» 
beweise  nicht,  dafs  er  dasselbe  der  Zeit  nsch  *ft* 
stellen  wolle,  vielmehr  hole  er,  hier,  ehe  er  anf  des  '* 
rath  des  Judas  komme,  die  Begebenheit  nsch,  W  ** 
eher  dieser  den  schwarsen  Entschlufs  daso  fafife»  * 
lieh  das  Mahl,  bei  welchem  ihn  die  Versch wendig ** 
ärgerte ,   und  die  abweisende  Antwort  Je*B  *** 


4)  Luc.  7,  $8.:    *«?  n63as  «J-  Joh.    12,  3:    &>'*'  m 


j 


Achte*  Kapitel.    $.  88»  779 

terte*)«  Allelo  hiegegen  bat  die  neueste  Kritik  gezeigt, 
wie  einestheUs  in  der  milden  und  gans  allgemeinen  Rede 
Jesu*  oiehto  persönlich  Erbitterndes  für  den  Judas  liegen 
konnte, .  und  wie  anderntheiU  die  zwei  ersten  Evangelien 
als  Tadler  der  Salbung  niebt  den  Jndas ,  sondern  tlie  Jon* 
ger  pder  die  Umstehenden  überhaupt  nennen,  da  sie  doch, 
wenn  sie  die  Scene  bei  der  Salbung  lediglieb  als  Motiv 
der  Verrätherei  des  Jndas  hier  nachholten,  diesen  nament- 
lich hervorheben  mflfsten6).  Folglich  bleibt  hier  ein  chro- 
nologischer Widerspruch  swieehen  den  beiden  ersten  Syn- 
optikern und  Jobannes,  welchen  aoeh  Osshacskn  an- 
erkennt. 

Der  weiteren  Differenz,  raeksiehtlioh  der  Person  des 
Gastgebers,  bat  man  auf  verschiedene  Weise;  anecu weichen 
gesucht.  Da  Matthäus  und  Markus  nur  von  der  oixla 
JSi/mavoe  %&  Xffkqä  sprechen,  so  haben  Einige  den  Haue- 
eigenthumer  Simon  von  dem  Gastgeber,  welcher  ohne 
Zweifel  Laearus  gewesen  sei,  unterschieden,  und  enge» 
nommen,  dafs  nun  beiderseits  ohne  irrthum  der  vierte 
Evangelist  diesen,  die  zwei  ersten  jenen  namhaft  machen  *), 
Allein  wer  bezeichnet  denn  ein  Gastmahl  durch  den  Na- 
men des  Hauseigenthfimers,  wenn  dieser  nicht  irgendwie 
zugleich  der  Gastgeber  ist?  Weil  übrigens  Johannes  den 
Lazarus  nicht  ausdrücklich  als  den  Wirth,  sondern  als 
einen  der  oirvavaxei/uevtov  bezeichnet,  und)  dafs  er  zugleich 
der  Gastgeber  gewesen,  lediglich  daraus  geschlossen  wird, 
daß  seine  Schwester,  Martha,  öujxomi  so  haben  Andre 
den  Simon  als  den  entweder  wf  gen  Aussatzes  abgesonder- 
ten, oder  bereits  verstorbenen  Gatten,  oder  unbestimmt 
als  einen  Verwandten  der  Martha  betrachtet,   bei  welcher 


5)  Kcixöl,  Co  mm.  in  Matth.  p.  687. 

ß)  SisvrsRT,  über  den  Ursprung,  S.  125  f.    Vgl.  j>e  Wette,  Zr- 

d.  St.  des  Matth. 
7)  S.  bei  Kvinöl,  a.  a.  Ü.  S.  688. ;    auch  Thou'ck,  S.  228« 


fcffl  Zweiter  Abachnitt. 

at»h  damals  aueh  fianarae  aufgehalten  habe9);  tSm\ 
nähme,  die  aieh  swar  eher  alt  die  vorige  Mit  dai 
Jungen  vereinigen,  aber  durch  nichts  Sicheret  etilen  I 
1  Die  Abweichung  in  Besag  auf  die  Art  der 
welche  den  swei  ersten  Evangelisten  erfolge  aas 
nach  dem  vierten  die  Fflfoe  Jesn  betraf,  hat  aus 
der  filteren ,  trivialen  Anagleichnng ,  dafs  vieUekU  sei 
der  Fall  gewesen  sei ,  nenestens  durah  die  Anaabne  h 
«ulegen  versnobt,  dafs  Maria  swar  wirklieh  aar  dal 
eicht  gehabt  haben  soll,  Jesn  die  Fflfee  so  salben  (Ab 
nes),  dafs  aber,  da  sie  anfällig  das  Gefiele  serbmdi(« 
TQiif/aaa9  Marc.),  auch  das  Hanpt  Jean  mit  Safte  st 
gössen  worden  sei  (Matth.)9);  «ine  Anagleishaag,  n 
che  dadurch  in'e  Komische  ftllt ,  dafs ,  da  nun  nicht  k 
ken  kann ,  Wie  die  an  einer  Fuessalbang  sieh  anteafcsui 
Fran  dasSalbengeftfe  Ober  das  Hanpt  Jesn  bringt»  kisri 
'man  sich  ein  Aufwlrtssprhaen  der  Salbe,  wie  siacudA 
menden  Getrink  es,  vorstellen  mftfste.  80  dafs  aen  aa 
der  Widerspruch  bleibt,  und  swar  nicht  blofs  iwiaas 
Matthins  und  Johannes,  wo  ihn  auch  Schlkiäuuc« 
anerkennt,  sondern  auch  Markus  tat  mit  Johannes  nfcb 
su  vereinigen. 


8)  Paulus,  exeg.  Handb.,  *,  S.  581.  3,  b,  S.  466}  Tiotpa^ 

OlSKAUSBN,  z.  d.   St. 

9)  Schrickbhbcrsbr,  über  den  Urspr.  u.  s.  f.  S.  60.  S«**f 
übrigens  in  der  Darstellung  hei  Markus  eine  Spur  ist,  äs 
das  aurr^tfwra  ro  aidßa<;p#  ein  unabsichtliches  JkrAwde 
bezeichne;   so  wenig  kann  es  doch  mit  Favws  (eisf-Hn»- 

t  3,  b,   S.  471.)   und  Farmen*   (in  Marc.  p.  60*.)»*** 

härteste  Ellipse  von  dem  blossen  Aufbrechen  des  VencM* 
ses  der  Mündung  verstanden  werden ;  sondern  es  kasa,  o- 
gezwungen  erklärt,  nur  ein  Zerbrechen  des  GefassesieW 
bedeuten.  Fragt  man  hiegegen  mit  Paulus  :  wozu  du  (s*1* 
bare )  Gefäss  verderben  ?  oder  mit  Fritzschi  :  woio  etat 
Verletzung  der  eigenen  Hand  und  vielleicht  auch  des  H"f 


i-J 


Achtet  Kapitel.    $.88«  '78! 

Am  leJoh  testen  glaubte  Man  mit  den  beiden  Abwei 
ehangen  rfiekslehtlich  der  Perton  der  salbenden  Frau  und 
ihres  Tadlera  fertig  au  werden.  Dafs,  was  Johanne«  nur 
dem  Einen  Judas  susebreibt,  Matthäus  and  Markos  auf 
a&mmtlicbe  Jünger  oder  Anwesende  Abertragen,  glaubte 
man  einfach  durch  die  Annahme  au  erklären,  während 
die  übrigen  ihre  Mifsbilligung  nur  durch  Gebirden  ssu 
erkennen  gaben,  habe  Judas  den  Sprecher  gemacht10). 
Allerdingt  nun  mufs  dat  ehyw,  da  ihm  bei  Markus  dyu- 
vcactövreg  n()6s  tavrös  vorangeht,  bei  Matthäus  ywog  dt  6 
*i>;<Jötf  folgt,  nicht  nothwendig  ein  lautet  Reden  simmtli- 
eher  Jünger  bezeichnen;  da  indefs  die  zwei  ersten  Evan- 
gelisten unmittelbar  nach  diesem  Mahle  den  Verrath  des 
Judas  berichten,  so  bitten  sie  gewifs  den  Verrlther  auch 
dort  schon  namhaft  gemacht,  wenn  er  sieh  ihres  Wissens 
bei  jenem  habsüchtigen  Tadel  besonders  hervorgethan 
hätte.  Daus  aber  Johannes  die  salbende  Frau,  deren  Na- 
men die  Synoptiker  nicht  nennen,  als  die  Maria  von  Be~ 
thanien  beaeichnet,  ist  nach  der  gewöhnlichen.  Ansicht 
trar  ein  Beispiel,  wie  der  vierte  Evangelist  die  früheren 
ergingt11)*  Allein,  da  jeqe  beiden  auf  die  Handlung  der 
Frau  so  größtes  Gewicht  legen,  dafs  sie,  waa  Johannea 
nicht  hat,  ihr  Unvergefslichkeit  ankündigen  lassen:  so 
würden  sie  sicher  auch  den  Namen  der  Thäterin  angege- 
beo  haben,  wenn  er  ihnen  bekannt  gewesen  wäre;  so  dafs 
also  in  jedem  Falle  soviel  bleibt:  sie  wissen  von  der  Frau 


tes  Jesu  riskiren?  so  ist  das  ganz  richtig  bemerkt  für  die 
Handlung  der  Frau,  nur  nicht  für  die  Krzählung  des  Mar- 
kus. Denn  dass  diesem  ein  solches  Zugrunderichten  auch 
des  köstlichen  Gefässes  zu  der  edlen  Verschwendung  der 
Frau  mitzugehören  schien,  das  ist  ganz  in  seiner,  uns  längst 
bekannten,  Übertreibenden  Art. 

f  0)  Kuiköl,  in  Matth.   p.  669. 

II)  Sc  Paulus,  exeg.  Handb.,  $,  b,  S.  466.  und  viele  Andere. 


TBS  Zweiter  Abschnitt. 

nicht,  wer,  and  namentlich  nicht,  dafs  eie  die  ftethn 
eehe  Marie  war« 

Also,  wenn  man  die  Identität  anch  nur  de 
der  letste  Evangelist,  und   was   die  beiden   ersten 
len,   anerkennt,   mnfs  man  eingestehen,  dal«  man  auf 
einen   oder  andern  Seite  ungenaue  and  durch    die  Debet* 
lieferong-  entstellte    Berichte    hat.    — _  Doeh    nieht    eilen 
•wisehen  diesen,   sondern   auch  «wischen  Lukas  und  dm 
übrigen,    sacht,   wer  ihren  Berichten  nur  Eine  Bcgcbca 
heit   unterlegt,   den  "Schein  des   Widerspräche    möglichst 
na  entfernen«     Schlkikrmacder  ,    dessen    höchste   Instaat 
Johannes  ist,   der  aber  doch  auch  seinen  Lukas  nirgenn 
fallen  lassen  will,   kommt  hier,   wo  sie  so  stark   abwe» 
eben,   in  eine  eigene  Klemme,   aus  der  er  sieh  besonder) 
geschickt   riehen  jeu   können  geglaubt   haben  mufs,  da  et 
Ihr   nioht,    wie    ähnlichen    sonst,    durch    die    Aiuishmr 
sweier  cum  Grunde  liegenden  Begebenheiten  ansgewieoea 
ist*    So  viel   zwar  siebt  er  sich  gedrungen,    na  fausten 
des  Johannes  dem  Lukas  eu  vergeben,  dafs  nein  Gewihn- 
mann   hier   kein   Augenzeuge  sei,    woraus    sich   geringere 
Abweichungen,   wie   namentlich  in  Bezug  auf  die  LocsS* 
tlt,   erklären;    die    scheinbar   bedeutenderen    Diffiarema 
dagegen,    dafs   nach  Lukas   die  Frau  eine  Sünderin  te, 
nach  Johannes  Maria  von  Bethanien,  dafe  nach  jenem  der 
Wirth,    nach   den  übrigen  die  Jünger  Einwendungen  su- 
chen,   and  dafs   die  Erwiederung  Jesu   beiderseits  «tos 
gans  andere  ist,  —  diese  haben  nach  ScHUSiBamACUsa  d* 
in  ihren  Grund,  dafs  der  Vorgang  sich  aus  awei  Gesiebti- 
punkten  fassen  liefs.     Die  eine  Seite  des  Vorgangs*  nin- 
ieh  sei  das  Murren  der  Jünger  und  namentlich  dea  Jnus 
gewesen,   und   diese  Seite  habe  Matthias  aufgefafst;  die 
andere   Seite,    die  Verhandlung   Jesu   mit   dem   pharisfr 
sehen    Wirthe,   kehre  Lukas  hervor,   und  Johannes  be- 
richtige beide   Darstellungen.     Was   hier   am  entschiede«- 
sten  einer  Vereinigung  des  Lukas  mit   den  übrigen  wider 


Achtes  Kapitel.     $.  88,  t83 

>ebt9  seine  Bezeichnung  der  Frau  als  djuctQToXog,  läfst 
:hlkikrmachkr  als  eine  falsche  Folgerang  des  Referenten 
18  der  Anrede  Jesu  an  die  Maria:  mpHovtai  not  ai  dt  tan 
in,  falieri.  ßiefs  nämlich  habe  Jesus  mit  Bezug  auf  eine 
18  unbekannte  Verschuldung,  wie  sie  auch  dem  Reinsten 
»gegne,  zu  Maria  sagen  können,  ohne  sie  vor  den  An« 
esenden ,  die  sie  Ja  hinlänglich  gekannt  haben ,  zu  com* 
romittiren,  urfd  nur  der  Referent  habe  daraus  und  aus 
en  weiteren  Reden  Jesu  irrig  geschlossen ,  es  habe  sich 
ier  von  einer  Sönderin  im  gemeinen  Sinne  des  Wortes 
«handelt ,  wefswegen  er  dann  auch  die  Gedanken  des 
Yirthes  V.  39.  unrichtig  ergänzt  habe12).  Allein  nicht 
►lofs  yon  dfuxQvicuc;  schlechtweg,  sondern  von  nokXaig* 
ifiaQviaig  spricht  Jesus  in  Bezug  auf  die. Frau,  und  wenn 
Mich  diefs  ein  unrichtiger  Zusatz  des  Referenten  sein  soll, 
sofern  es  auf  die  Bethanische  Maria  nicht  pafst,  so  hat 
sr  die  ganze  Rede  Jesu,  von  V.  40  —  48.,  welche  sich 
am  den  Gegensatz  von  nah)  und  oXiyov  dq>mfat  und  uyaucev 
dreht,  entweder  verfälscht,  oder  falsch  gestellt,  und  es 
ist  auf  dieser  Seite  besonders  vergeblieh ,  zwischen  den 
abweichenden  Berichten  Frieden  stiften  zu  wollen  13). 

Sind  demnach  die   vier   Erzählungen   nur  unter  der 
Voraussetzung  zu  vereinigen,   dafs  mehrere  derselben  be- 
deutende   traditionelle    Umbildungen   erfahren    haben:    so 
fragt  es  sich  jetzt*    welche  von  ihnen  der  ursprünglichen 
Thatsaebe  am  nächsten  stehe?    Dafs  hier  die  neuere  Kri- 
tik einstimmig  für  den  Johannes   entscheidet,    kann    uns 
nach  unsern   bisherigen  Wahrnehmungen   nicht  mehr  be- 
fremden, und  ebensowenig  die  Beschaffenheit  der  Gründe, 
aus  welchen   es  geschieht:    nämlich   vermöge  des  Cirkel- 
schlusses,  dafs  die  Erzählung  des  Augenzeugen  Johannes 
ohne   Weiteres    als    die    richtige    vorausgesetzt    werden 


12)  Uebcr  den  Lukas,  S.  111  ff. 

13)  Vcrgl.  os  Witt*,  excg.  Handh.  1,  2,  S.  SO. 


784  Zweiter  Abschnitt. 

müsse u) ,  welcher  indefs  biswellen  noch  durch  da  I 
•eben  Obersata  weiter  begründet  wird,  dafr,  wwi 
ausführlicher  and  anschaulicher  erafthle,  der  gern 
Referent,  der  Aogenseoge,  sei16).  Von  solchen  And 
lichkeiten  wird  man  wohl  leicht  geneigt  sein,  demlsj 
sein  ovrTQiipaaa  als  Ausmalung  surfiekaogebeu:  hat  ä 
nicht  euch  Johannes  in  seiner  Angabe  roa  einem  tk 
Karden  einen  an  Uebertreibung  griooenden  Zog,  m  i 
die  Kxtrayagans ,  welche  Olshausen  in  Besag  auf  ä 
so  onrerhültnifsmaTsigen  Verbraaeh  von  Salbe  der  U 
Marias  anschreibt,  auf  die  Phantasie  des  Braag* 
möglicherweise  übertragen  werden  müfste?  Benern 
werth  ist  auch,  dafs  die  Zahlbestimmong  des  Weftknl 
Salbe  sa  300  Denaren  nur  Johannes  and  Market  g& 
wie  aoeh  bei  der  wonderbaren  Speisung  ^ieiehhJb  dfa 
beiden  den  Anschlag  der  ndthigen  Lebensmittel  nfü 
Denare  gemein  haben*  Hätte  blofs  Markos  diese  sota 
Bestimmungen:  wie  schnell  wiren  sie,  wenigasf  *n 
Schlei  er*  acher  ,  für  Zusätze  aas  den  eigenen  Hitth  ^ 
Erzählers  erklärt;  was,  wie  non  die  Sachen  stoboi) & 
aes  Urtheil  selbst  als  Vermathang  nicht  aafkoaaen  lÄj 
ist  es  etwas  Anderes,  als  das  Vorartheil  ftr  est  ** 
Evangelium  ?  Hat  man  'doch  selbst  die  Haophalbong  sr 
beiden  Synoptiker,  weil  Johannes  statt  derselbe  «* 
Fulasalbung  hat ,  für  ungewöhnlich  and  ans  MtkJi  •* 
passend  aasgegeben16);  während,  wie  auch  Lütf*0* 
räumt,  umgekehrt  das  Salben  der  Fflfee  out  W»«* 
Oel  das  minder  Gewöhnliche  war17). 

Gans  besonders  dankbar  ist  man  aber  den  A*l* 
fc  oeagen  Johannes  dafür,  dafs  er  den  Nana*  *>**" 


14)  SismuT,  t.  a.  O.  S.  123  f. 

15)  Schul»,  a.  a.  O.  S.  320  f. 

16)  Schkiciikkburgir,  a.  a.  O.  S.  60. 

17)  Comm.  2,  S.  417-i   rgl.  Lishtsoot,  horae,  S.  468  «■*• 


Achtes  Kapitel,    f.  66.  ?96 

i 

aalbeaden  Freu  de  des  tadelnden  Jüngere  der  Vergessen-  , 
helt  entrissen  hat 18).  Da  in  Besag  anf  die  Fran  die  Aus- 
kunft, die  Synoptiker' haben  ihren  Namen  wohl  gewußt, 
ihn  aber  ans  Rücksicht  auf  mögliche  Gefahr  für  die  Fe* 
mrilie  dea  Laaarus  versehwiegen,  uqd  erst  der  später 
eohreibende  Johannes,  habe  wagen  können,  ihn  an  neu* 
neu19))  auf  unerwiesenen  Voraussetzungen  beruht:  so 
bleibt  es  dabei ,  dals  die  ersten  Evangelisten  von  dem 
Nnuien  der  Fran  niehts  gewufst  haben,  und  es  fragt  sich, 
wie  dieTs  möglieh  war?  Da  Jesu»  der  That  des  Weibes 
ausdrücklich  Verewigung  verhieb,  so  mnfste  die  Tendens 
entstehen  ,  aneh  ihren  Namen  aufeubewahren,  und  wenn 
dieser  nun  mit  dem  bekannten  und  yielfach  genannten  der 
Bethanisehen  Maria  sosammentraf  9  so  ist  nicht  leicht  ein* 
naschen,  wie  dieses  Band  in  der  Ueberliefernng  wieder 
gelöst,  und  jene  salbende  Fran  aar  Unbekannten  werden 
konnte.  Nicht  minder  unbegreiflich  aber  ist,  wie,  wenn 
der  habsüchtige  Tadel  der  Frau  wirklich  von  dem  nach- 
sneligen  Verräther  ausgesprochen  worden  war,  diefe  in 
der  Ueberlieferung  vergessen,  und  derselbe  den  Jüngern 
Aberhaupt  angeschrieben  werden  konnte«  Wenn  von  ei- 
ner sonst  unbekannten  Person  namentlich  etwas  eraählt 
wird ,  oder  auch  von  einer  bekannten  «twas,  das  mit  ih- 
rem anderweitigen  Charakter  nicht  sichtbar  zusammen*  \ 
hingt:  so  ist  es  natürlich,  dal*  deh  in  der  Ueberlieferung 
der  Name  verliert;  wenn  aber  das  ereählte  Wort  oder 
Werk  einer  Person  so  gans  mit  ihrem  sonst  bekannten 
Charakter  übereinstimmt,  wie  hier  der  habsüchtige  und 
heuchlerische  Tadel  mit  dem  Charakter  des  Verräthers:  , 
wie  da  die  Sage  diesen  Namen  verlieren  kann,  ist  nicht 
so   leicht  au    begreifen.     Zumal   da  die  Geschichte,    bei 


18)   SCBULZ,    ft.   A.   O. 

19)  So  Gaoum,  Hbuoir. 
Das  Lebe*  Jesu  $te  Aufl.  /.  Band.  SO 


'786  Zweiter  Absohnitt. 

welcher  jener  Tadel- ausgesprochen  wurde,  besonden  nuet 
ihrer  Stellung  bei  den  zwei  ersten  Evangelisten,  so  naht 
mit  dem  Zeitpunkte  des   Verraths  zusammenfiel,  und  w 
eine  Besiehung  dieses  Schrittes  auf  jene  Aeufseruog  fast 
aufgedrungen   war.    So   sehr   in   der   That,  dals,  weni 
jene  Aeuüerung  versteckten  Geizes  auch  nicht  wkUieh 
von  Judas  gethan  worden  war,  man  sich  doch  später  w 
sucht  finden  mufste,  sie  ihm  als  Beitrag  zu  seiner  Chi* 
rakteristik   und  nur  Erklärung  seines    nachmaligen  Ver» 
ratbes  anzuschreiben.    So  dafg  sich   hier  die  Stehe  «• 
kehrt ,  und  die  Frage  entsteht,   ob  wir  nicht,   stattet 
Johannes  au  loben,  daß  er  uns  diese  bestimmte  Nottse* 
halten  hat,  vielmehr  die  Synoptiker  rühmen  müssen,  i& 
sie  sich  einer  so  nahe  liegenden,  aber  unhistorisehee  Cea* 
bination   enthalten   haben.    Dasselbe   lifat  sich  in  Befrei 
der  Bezeichnung  der  salbenden   Frau  als  Maria  vm  H* 
thanien  fragen :  ob  nicht  statt  einer  Ablösung  jener  Ihr 
angebörigen  That  von  ihrem  berühmten  Namen  rielneAf 
das  Umgekehrte  anzunehmen  sei,  dafs  die  sich  fortsMsato 
Sage  eine  Handlung  ergebener  Liebe  gegen  Jeus))  wene 
sje   auch   ursprünglich  einer    andern,    minder  sskaast« 
Person    angehörte,    derjenigen  zuschrieb,    deren  iwp* 
VerhÄltnifs   au  Jesu  dem  dritten  und  vierten  Evangefa« 
zufolge  frühzeitig  grofsen.  Ruhm  in  der  ersten  Genetik 
erlangt  hatte. 

Doch  so  große  Schwierigkeit  es  hat,  das  Versito*" 
den  der  Namen  von  Maria  und  Judas  aus  der  lynopti- 
schen  Deberlieferung  von  dieser  Scene  zu  erkürte:  ie  W 
es  doch  noch  weniger  rathsam,  das  vierte  Bvangefie* 
gerade  hier  einer  nnhistorischeh  Namengebung  se  beeiM- 
digen.  Denn  das  Verhältnis  Jesu  ru  der,  Fsnilie  ia  ^* 
thanien  ist,  wie  die  mehreren  Festreisen,  ein  Ponkt,  •» 
welchem  dieses  Evangelium  aller  Wahrscheioiicfikeit  wen 
vor  den  übrigen  genauere  Notizen  voraus  hat.  Wenn  wir 
bei  den  Synoptikern  lesen,  während  seines  FetUtfeothalt* 


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Achtel  KapifteL    $.  88. 


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habe  sich  Jesus  des  Abends  nach  Bethanien  surliokgeso- 
gen   (Matth.  21,  17.  Marc.  11,  11  f.) ;   wenn  Lukas   ohne 
Ortsangabe   von1  der    Einkehr  Jesu   bei   den   Schwestern 
Maria  und  Martha  spricht,  wobei  die  letztere  sioh  als  die 
vielgeschAftige  Wirthin,   die  erste  als  die  gemütbvolle  Zu- 
fcttrerin  Jesu   bewiesen,  habe  (10,  38 ff.):    wenn   wir   bei 
Matthins  und  Markus  von  einen  Mahle  lesen,   das  Jesu 
in  den  letsten  Tagen  vor  dem  Pascha  au  Bethanien  gege- 
ben  wurde,   wobei  ein  Weib  ihre  tiefgefühlte  Verehrung 
für  ihn  dutch  Salbung  seines  Hauptes  mit  köstlicher  Narde 
an  den  Tag  legte:  so  sind  ja  diese  Berstreuten  Züge  eben« 
soviele   Wegweiser,    welche    als   auf  einen  Vereinigungs- 
pnnkt  nach  der  Ersfihlung  des  Johannes  hinneigen,   die 
ans  auf  erwünschte   Weise    belehrt,    dafs  die   Herberge 
-Jesu  in  Bethanien  eben  bei  jenen  Schwestern  und  ihrem 
Bruder  Lasarus  war;  dafs  das  Wort:  Eins  ist  Noth!  eben 
in  Bethanien  gesprochen  wurde,  und  dafs  die  im  Ergufs  ihres 
Gefühles  ^  verschwenderische    Salbende    keine    andere  als 
eben  diejenige  war,   die  schon  früher  über  den  Worten 
Jesu,   su  dessen  Füfsen   sie  safs,   alles  Andere  vergessen 
hätte«    Hierin  also  hat  ohne  Zweifel  der  vierte  Evangelist, 
aei  er  Johannes   oder  ein  Anderer,  das  Genauere  su  ge- 
ben gewnfst. 

Dafs  der  Name  der  Maria  in  der  synoptischen  Deber- 
lieferung  verloren  ging,  bleibt  befremdend,  wie  oben  die 
gleiche  Erscheinung  in  Besug  auf  den  Nikodemus;  dafs 
aber  Lukas  gar  die  Salbende  im  Hanse  des  Simon  su  ei- 
ner Sünderin  macht,  scheint  aus  dem  Zusammenfließen 
dieser  Begebenheit  mit  einer  andern ,  violleicht  mit  der« 
jenigen  erklärt  werden  su  müssen,  welche  der  in  ihrer 
Aechtheit  angefochtenen  Kneblung  des  vierten  Evange- 
liums von  der  Ehebrecherin   (8,  1  ff.)   sum  tirunde  liegt. 


Df  ook  fehler: 


S.  33.  Zeile  4.  irt  statt  18»  xu  lesen  1809. 


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