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Full text of "Das Marzellen Gymnasium in Köln 1450-1911 : Bilder aus seiner Geschichte :Festschrift dem Gymnasium anlässlich seiner Übersiederung gewidmet von den ehemaligen Schülern"

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DAS  MARZELLEN 

GYMNASIUM  IN  KÖLN 

1450-1911 


BILDER  AUS  SEINER  GESCHICHTE 


FESTSCHRIFT 

DEM  GYMNASIUM  ANLÄSSLICH  SEINER  ÜBERSIEDELUNG 

GEWIDMET  VON  DEN  EHEMALIGEN  SCHÜLERN 
HERAUSGEGEBEN  VON  PROFESSOR  DR.  JOS.  KLINKENBERG 


KÖLN  1911 

Druck  der  Kölner  Verlags- Anstalt  und  Druckerei  A.-Q. 


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JUN  II  1937 


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Vorwort. 

Zur  Einführung  in  die  vorliegende  Festschrift  geziemt  es  sich, 
zunächst  der  Entstehungsgeschichte  jener  Feier  i<urz  zu  ge- 
denken, der  das  Buch  als  Begleiter  dienen  soll. 

Im  Jahre  1909  bildete  sich  aus  ehemaligen  Abiturienten  und 
einigen  Lehrern  des  Marzellengymnasiums  ein  Arbeitsausschuß 
zwecks  Vorbereitung  einer  Abschiedsfeier  der  früheren  Schüler  bei 
der  Übersiedelung  der  Anstalt  in  ihr  neues  Heim.  Nachdem  der 
Ausschuß  in  einer  Reihe  von  Sitzungen  die  wichtigsten  Fragen 
und  dringendsten  Vorarbeiten  erledigt  hatte,  unterbreitete  er  am 
16.  Dezember  1910  einer  von  ihm  einberufenen  Versammlung  ehe- 
maliger Schüler  seinen  Plan,  bei  der  Verlegung  des  Gymnasiums 
alle  alten  Marzellianer  bei  einem  Festkommers  und  einem  Festmahl 
zu  vereinen  und  nach  einem  feierlichen  Akte  in  der  erinnerungs- 
reichen Aula  der  alten  wie  der  neuen  Anstalt  eine  Ehrengabe  zu 
widmen:  der  alten  eine  reich  illustrierte  Festschrift,  die  in  Form 
von  einzelnen  Bildern  aus  dem  Leben  und  Wirken  ihrer  hervor- 
ragendsten Lehrer  und  Schüler  künftigen  Generationen  von  der  ruhm- 
reichen Geschichte  des  Gymnasiums  Zeugnis  geben  soll,  der  neuen 
ein  Geschenk  zur  Förderung  ihrer  wissenschaftlichen  Hilfsmittel. 
Diesen  Vorschlägen  gab  die  Versammlung  ihre  begeisterte  Zu- 
stimmung und  betraute  den  Arbeitsausschuß  mit  der  weiteren 
Leitung  der  Vorbereitungen. 

Die  vielgestaltigen,  aus  diesem  ehrenvollen  Auftrage  erwach- 
senden Aufgaben  hätte  der  Arbeitsausschuß  in  der  kurzen  ihm 
noch  verbleibenden  Zeit  kaum  erledigen  können,  wenn  er  nicht 
allerseits   bereitwillige   und   wirksame  Förderung   erfahren    hätte. 

Zu  großem  Danke  ist  er  verpflichtet  dem  Oberbürgermeister 
unserer  Stadt,  Herrn  Max  Wallraf,  Vorsitzenden  des  Ehrenaus- 
schusses, selbst  zwar  nicht  Schüler  des  Marzellengymnasiums, 
durch  seinen  großen  Älterohm  Franz  Ferdinand  jedoch  mit  ihm 
gleichsam  verwandt,  und  der  Versammlung  der  Stadtverordneten  für 
die  Bewilligung  eines  städtischen  Zuschusses  von  2000  Mark  zu  den 
Kosten  dieser  Festschrift.  Dankend  sei  ferner  gedacht  der  tatkräftigen, 
begeisterten  Unterstützung,  die  die  Bestrebungen  des  Ausschusses 
durch  den  Beigeordneten  der  Stadt  Köln,  Herrn  Walter  Laue, 
erfahren  haben.  Das  so  oft  bewährte  Interesse  des  Geh.  Kommerzien- 
rates  Herrn  Dr.  Emil  vom  Rath  für  wissenschaftliche  Forschung 
zeigte  sich  auch  hier  wieder  in  hellstem  Lichte.  Herr  Dr.  Richard 
Schnitz  1er,    Kommerzienrat   und   Konsul,    und   sein   Bankhaus 


J.  H.  stein  in  Köln  haben  sich  unermüdlich  der  Vermehrung  der 
Geldmittel  für  das  Fest  und  die  Festgaben  angenommen.  Die  Leiter 
der  verschiedenen  Unterausschüsse  haben  wacker  an  der  Förderung 
der  Arbeiten  mitgewirkt.  Diesen  Herren  sowie  den  zahllosen  Spen- 
dern aus  dem  Kreise  der  früheren  Schüler  sei  hier  herzlichst  gedankt. 

Auf  alle,  die  mit  rührender  Liebe  zu  ihrem  Denkmale  die 
Bausteine  herbeitrugen  und  zusammenfügten,  schaut  dankerfüllten 
Auges  die  geistige  Mutter  hernieder.  Wenn  heute  das  Denkmal 
der  Öffentlichkeit  übergeben  wird,  so  gebührt  es  sich,  den  Ehren- 
platz in  der  Festversammlung  dem  leitenden  und  mitschaffenden 
Künstler  einzuräumen  und  seine  großen  Verdienste  hervorzuheben: 
Prof.  Dr.  Jos.  Klinkenberg  war  es,  der  sich  in  der  Versammlung 
der  alten  Schüler  am  16.  Dezember  vor.  Js.  sofort  in  liebens- 
würdigster Weise  bereit  erklärte,  die  Herausgabe  der  geplanten 
Festschrift  in  die  Wege  zu  leiten,  und  dem  es  in  kurzer  Zeit  gelang, 
den  Plan  des  Buches  zu  entwerfen,  aus  der  großen  Fülle  des 
Materials  die  zu  behandelnden  Lebensbilder  auszuwählen  und  geeig- 
nete Mitarbeiter  zu  werben.  Mit  bewundernswerter  Liebe  und  Aus- 
dauer und  mit  Aufopferung  aller  seiner  Kräfte  hat  er  sich  von  Anfang 
bis  zu  Ende  der  freudig  übernommenen  Aufgabe  gewidmet.  Ihm  ist 
der  Arbeitsauschuß  zu  unauslöschlichem  Dank  verpflichtet. 

Durch  Spendung  von  Mitteln  für  die  Beifügung  der  notwen- 
digsten Quellenangaben  hat  Herr  Justizrat  Julius  Maaßen  den 
Herausgeber  sehr  verpflichtet.  Der  inzwischen  verstorbene  Geheime 
Sanitätsrat  Prof.  Dr.  Eduard  Lent  hat  uns,  ohne  Schüler  der 
Anstalt  zu  sein,  bei  unserem  Werke  glücklich  über  die  ersten 
Schwierigkeiten  hinweggeholfen. 

Aus  der  stillen  Studierstube  tritt  heute  die  Festschrift  den 
Weg  in  die  Welt  an.  Wir  wünschen  ihr,  was  jeder  gute  Vater 
dem  geliebten  Kinde  beim  Abschied  von  dem  Elternhause  wünscht: 
eine  freundliche  und  nachsichtige  Aufnahme  bei  den  Menschen  da 
draußen  und  eine  lange  Lebensdauer,  damit  ihr  dereinst,  wenn 
wieder  einmal  das  altehrwürdige  Marzellengymnasium  vor  einem 
bedeutsamen  Wendepunkte  seiner  Entwicklung  steht,  viele  neue 
Ruhmesblätter  angefügt  werden  können,  die,  ebenso  wie  die  heutigen, 
künden  von  der  Anhänglichkeit  der  alten  Schüler  an 
die  geistige  Mutter. 

KÖLN,  den  20.  September  1911. 

Der  Vorsitzende  des  Arbeitsausschusses: 
DR.  MED.  Paul  bermbach. 


Der  Ehrenausschuß  besteht  aus  den  Herren: 

Oberbürgermeister  Wallraf; 

Generalleutnant  z.  D.  Conzen,  Exzellenz; 

Geh.  Justizrat  Carl  Custodis; 

Oberlandesgerichtspräsident  Dr.  C.  Morkramer; 

Weihbischof  Dr.  Jos.  Müller; 

Geh.  Kommerzienrat  Dr.  E.  vom  Rath ; 

Kommerzienrat  Dr.  R.  Schnitzler,  Konsul ; 

Geh.  Regierungsrat  Prof.  Dr.  Thome; 

Polizeipräsident  vonWeegmann; 

Geh.  Regierungsrat  von  Weise,  Oberbürgermeister  a  D.; 

Prof.  Dr.  Wesener,  Direl<tor  des  Marzellengymnasiums; 

Geh.  Justizrat  Dr.  H  am  Zehnhoff,  Mitglied  des  Reichstags. 

Der  Arbeitsausschuß  setzt  sich  zusammen 
aus  den  Herren: 

Dr.  med.  P.  Bermbach; 

Prof.  Dr.  W.  Bermbach; 

Dr.  med.  Gerhartz; 

Dr.  med.  Hopstein; 

Pfarrer  Kastert; 

Prof.  Dr.  Klinkenberg; 

Justizrat  Notar  Krings,  Stadtverordneter; 

W.  Laue,  Beigeordneter  der  Stadt  Köln; 

Amtsgerichtsrat  Dr.  Lauten ; 

Justizrat  Dr.  V.  Schnilzler,  Stadtverordneter; 

Dr  med.  H.  Schulte; 

Prof.  P.  Wedekind. 

Durch  Zeichnung  größerer  Beträge  für  das  Fest  und 
die  Festschrift  haben  sich  besonders  verdient  gemacht: 

Oberregierungsrat  a.  D  J.  Baascl; 
Notar  Justizrat  S.  Fröhlich; 
Kommerzienrat  M.  von  Guilleaume; 
Geh.  Kommerzienrat  Th.  von  Guilleaume; 
Kommerzienrat  und  Stadtverordneter  L.Hagen; 
Geh.  Kommerzienrat  N.  Heidemann; 


Direktor  Dr.  M.  Heimann; 

Notar  Justizrat  J.  Krings,  Stadtverordneter; 

Dr.  H.  R.  Langen; 

Beigeordneter  W.Laue; 

Weingutsbesitzer  Corn.  Müller; 

Geti.  Kommerzienrat  Dr.  E.  vom  Rath; 

Wwe.  Geh  Bergrat  Prof.  Dr.  G.  vom  Rath; 

Wwe.  Reciitsanwalt  Dr.  A.  Scheiff ; 

Landgerictitsrat  a.  D.  Paul  Schnitzler; 

Kommerzienrat  und  Konsul  Dr.  R.  Schnitzler; 

Justizrat  und  Stadtverordneter  Dr.  V.  Schnitzler ; 

Kommerzienrat  M.  Seligmann; 

Geh.  Justizrat  Notar  E.  Thurn; 

Polizeipräsident  E.  von  Weegmann; 

Definitor  J.  P.  Zaun ; 

Geh.  Justizrat  Dr.  H.'am  Zehnhoff,  M.  d.  R. 


Aula  des  Marzellengymnasiums. 


Vorbericht  des  Herausgebers. 

Als  dem  Unterzeichneten  der  ehrenvolle  Auftrag  zur  Herausgabe 
dieser  Festschrift  zuteil  wurde,  da  konnte  es  nicht  zweifelhaft 
sein,  daß  die  glorreiche  Geschichte  des  Marzellengymnasiums,  der 
ältesten  Lehranstalt  der  Rheinlande,  ja  des  ganzen  deutschen  Westens, 
den  Stoff  dazu  bieten  müsse.  Zwei  Bearbeitungen  lagen  bis  dahin 
vor:  die  eine  von  Franz  Joseph  von  Bianco  im  ersten  Bande 
seines  Werkes  „Die  alte  Universität  Köln  und  die  spätem  Gelehrten- 
Schulen  dieser  Stadt",  Köln  1855,  die  andere  von  dem  Direktor 
des  Marzellengymnasiums  Prof.  Dr.  Heinrich  Milz  in  den  Schul- 
programmen der  Jahre  1886,  1888  und  1889  mit  einer  Ergänzung 
im  Programm  1901.  So  verdienstlich  aber  auch  diese  Arbeiten 
für  die  Zeit  ihrer  Entstehung  waren,  heute  reichen  sie  bei  weitem 
nicht  aus,  da  ihren  Verfassern  das  unerschöpfliche  Material  un- 
zugänglich war,  das  unser  städtisches  Archiv  gegenwärtig  bietet, 
besonders  in  den  Abteilungen  „Universitäts-Akten"  (Städtische 
Aufsicht  und  Provisoren  Nr.  22,  30,  34,  36,  38,  39  —  Artistische 
Fakultät  Nr.  146—201  —  Gymnasium  Tricoronatum:  a)  Inventare 
Nr.  594—598;  b)  Allgemeine  Verwaltung  Nr.  599—614;  c)  Schüler- 
und  Prüfungslisten  Nr.  615 — 654;  d)  Unterrichtswesen,  Festauf- 
führungen, Schülerarbeiten  Nr.655— 672;  e)  Promotionen  Nr.  672a — 
675;  g)  Stiftungen  Nr.  676—697  —  Verschiedenes  Nr.  732a— 742), 
„Jesuiten-Akten"  (besonders  Nr.  7,  8,  27,  39,  44-47,  636—639) 
und  „Französische  Verwaltungsakten"  (Kapsel  63  A — Q).  Eine 
willkommene  Ergänzung  für  die  preußische  Zeit  findet  dieses 
Quellenmaterial  in  den  bei  dem  Kgl.  Provinzial-Schulkollegium  zu 
Coblenz  beruhenden  Aktenstücken  (vgl.  Milz  im  Programm  1901, 
Vorwort)  und  den  —  freilich  lückenhaften  —  altern  Teilen  unseres 
Gymnasialarchivs  (Verfügungen  der  Behörden,  Verhandlungen, 
Konferenzprotokolle  und  Zensurlisten  seit  1815,  Schulprogramme 
seit  1816,  Reifezeugnisse  seit  1828,  Reifeprüfungsarbeiten  seit  den 
vierziger  Jahren).  Erst  nach  der  Veröffentlichung  von  Milz  erschien 
die  Ausgabe  der  Jesuiten -Akten  von  J.  Hansen,  die  ein  treff- 
liches Hilfsmittel  für  die  Bearbeitung  der  ältesten  Periode  unseres 
Jesuitengymnasiums  darstellt.  Da  sich  außerdem  die  Werke  von 
V.  Bianco  und  Milz  nicht  zu  weiterer  Verbreitung  eignen,  so  war 
der  Gedanke,  bei  Gelegenheit  der  Übersiedelung  des  Gymnasiums 
eine  Neubearbeitung  seiner  glorreichen  Geschichte  zu  unternehmen, 
ungemein  verlockend.  Doch  die  knapp  bemessene  Zeit  würde 
hierfür  nicht  ausgereicht  haben.   Es  mußte  daher  eine  Darstellungs- 


form  gewählt  werden,  die  das  Zusammenarbeiten  vieler  Kräfte 
erlaubte  und  das  rechtzeitige  Erscheinen  des  Werkes  sicherstellte. 
Als  solche  bot  sich  ungesucht  die  monographische.  Das  Buch 
bringt  demnach  eine  größere  Anzahl  von  Einzeldarstellungen,  die 
geeignet  sind,  das  innere  Leben,  die  Wandlungen  und  die  Erfolge 
des  Gymnasiums  während  der  verschiedenen  Epochen  seines  Be- 
stehens in  ein  helles  Licht  zu  setzen.  Die  meisten  schildern  das 
Wirken  solcher  Lehrer  und  Schüler  des  Gymnasiums,  die  für 
seine  Entwicklung  und  seinen  Ruf  eine  hervorragende  Bedeutung 
gewonnen  haben;  sie  bilden  in  ihrer  Gesamtheit  den  Ehrensaal 
der  Anstalt.  Bei  der  außerordentlichen  Fülle  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Männer  war  es  nicht  leicht,  eine  geeignete  Auswahl 
zu  treffen:  neben  der  Bedeutung  des  einzelnen  für  Schule, 
Wissenschaft  und  kulturellen  Fortschritt  sowie  seiner  Volks- 
tümlichkeit kam  auch  in  Betracht  das  Streben  des  Herausgebers, 
möglichst  reiche  Abwechselung  in  das  Buch  zu  bringen.  An  die 
Biographieen  schließt  sich  die  Baugeschichte  des  Gymnasiums. 
Zur  Orientierung  ist  eine  nach  neuen  Gesichtspunkten  behandelte 
Übersicht  über  die  äußere  Geschichte  der  Anstalt  voraus- 
geschickt. 

Ihrem  Inhalte  nach  machen  die  einzelnen  Monographieen  keinen 
Anspruch  darauf,  den  behandelten  Gegenstand  vollständig  zu  er- 
schöpfen; sie  streben  jedoch,  weil  auf  dem  Studium  der  Quellen 
beruhend,  geschichtliche  Zuverlässigkeit  an  und  bieten  unter  Ver- 
zicht auf  weitläufige  Polemik  dem  Kenner  nicht  wenig  Neues  und 
Besseres.  Um  als  Grundlage  für  weitere  Forschungen  zu  dienen, 
sind  die  wichtigsten  Quellen  und  Hilfsmittel  beigefügt. 

Dem  Zwecke  des  Buches,  eine  Festschrift  zu  sein,  sucht  die 
unterhaltende  Form  der  Darstellung  und  der  reiche  Bildschmuck 
Rechnung  zu  tragen.  Die  alten  Schüler  des  Marzellengymnasiums 
werden  sich  —  so  wagt  der  Herausgeber  zu  hoffen  —  oft  und 
gern  in  seinen  Inhalt  vertiefen,  mit  seiner  Hilfe  alte  Erinnerungen 
wieder  auffrischen  und  sich  stets  lebendig  erhalten  in  der  Liebe 
und  Verehrung  für  die  altehrwürdige  Bildungsstätte  ihrer  Jugend- 
zeit. Auch  allen  Freunden  kölnischer  Geschichte  werden  die  Bilder 
aus  dem  Leben  der  Lehranstalt,  die  sich  mit  berechtigtem  Stolz 
Mater  et  caput  scholarum  Coloniensium  nennen  darf,  gewiß  sehr 
willkommen  sein. 

Wenn  nun  nach  kaum  siebenmonatiger  Arbeitszeit  das  Manu- 
skript der  Festschrift  fertiggestellt  war  und  dem  Drucke  übergeben 
werden  konnte,  so  gebührt  dafür  in  erster  Linie  der  wärmste  Dank 

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den  Herren  Mitarbeitern,  frühern  Schülern,  ehemaligen  und  jetzigen 
Lehrern  und  Freunden  der  großen  geschichtlichen  Vergangenheit 
unseres  Gymnasiums,  die  ihr  Wissen  und  ihren  Fleiß  in  den  Dienst 
der  guten  Sache  gestellt,  ihre  Sonderwünsche  dem  Interesse  des 
Ganzen  untergeordnet  und  ihre  Beiträge  mit  nicht  genug  zu 
rühmender  Pünktlichkeit  eingeliefert  haben.  Es  sind  die  Herren: 
Prof.  Dr.  Willibald  Bermbach  in  Köln,  Oberlehrer  Dr.  Franz 
Bosch  in  Crefeld,  P.  Bernhard  Duhr  S.  J.  in  München,  Prof.  Dr. 
Alfons  Fritz  in  Aachen,  Dr.  Joseph  Götzen  in  Köln,  Oberlehrer 
Dr.  Jakob  Kemp  in  Köln-Kalk,  Gymnasialdirektor  Dr.  Anton 
Kreuser  in  Jülich,  Oberlehrer  Hermann  Mennen  in  Köln, 
Prof.  Dr.  Wilhelm  Schurz  in  M. -Gladbach,  Domkapitular 
Dr.  Arnold  Steffens  in  Köln  und  Regierungsbaumeister 
Dr.  ing.  Hans  Vogts  in  M.- Gladbach.  Aufrichtiger  Dank 
gebührt  ferner  den  Herren:  Dr.  med.  Joseph  Gerhartz, 
Oberlehrer  Otto  Ullrich  und  Prof.  Peter  Wedekind  für 
ihre  außerordentlich  mühevolle  Arbeit  der  Zusammenstellung 
einer  Liste  der  Direktoren,  Lehrer  und  Abiturienten  der  Anstalt 
seit  dem  Jahre  1815,  die  den  Teilnehmern  der  Feier  mit  der  Fest- 
schrift überreicht  wird.  Als  wissenschaftliche  Förderer  des  vor- 
liegenden Werkes  seien  mit  dem  Ausdrucke  des  verbindlichsten 
Dankes  genannt:  Archivdirektor  Prof.  Dr.  Hansen,  der  die  Schätze 
des  städtischen  Archivs  bereitwilligst  zur  Verfügung  gestellt,  und 
Stadtarchivar  Prof.  Dr.  Keussen,  der  uns  mit  seinem  sachkundigen 
Rate  allezeit  hilfbereit  zur  Seite  gestanden  hat;  Bibliothekdirektor 
Prof.  Dr.  Keysser,  der  uns  die  hiesigen  wie  auswärtige  Bibliothek- 
schätze zugänglich  machte;  P.  Bernhard  Duhr  S.  J.,  Archivar 
Dr.  Schwann  und  Gymnasialdirektor  Prof.  Dr.  Wesener,  die 
die  Verwertung  von  Archivalien  der  deutschen  Ordensprovinz  der 
Gesellschaft  Jesu,  des  Kölner  Wirtschaftsarchivs  und  des  Marzellen- 
gymnasiums  in  freundlichster  Weise  gestatteten;  Dr.  Götzen, 
Geh.  Kommerzienrat  Dr.  Emil  vom  Rath  und  Prof.  Dr.  Wiepen, 
die  uns  mit  literarischen  Hilfsmitteln  unterstützten.  Prof.  Dr. 
Hansen  hat  uns  die  Wiedergabe  einer  großen  Anzahl  von  Bildern 
und  Plänen  aus  dem  ihm  unterstehenden  Historischen  Museum 
und  dem  Stadtarchiv,  Gymnasialdirektor  Prof.  Dr.  Wesener  die 
Reproduktion  der  Gemälde  in  der  Aula  und  der  Bibliothek  des 
Gymnasiums  gerne  erlaubt;  für  einzelne  Bilder  und  Pläne  sind 
wir  verpflichtet  den  Herren  Prof.  Dr.  Bermbach,  Stadtbaurat 
Heimann,  Landgerichtsdirektor  Herbertz,  Oberlehrer  Mennen, 
Geh.  Kommerzienrat  Dr.  E.  vom  Rath    und    Gymnasialdirektor 


Prof.  Dr.  Wiedel  in  Köln,  Oberlehrer  Dr.  Bosch  in  Crefeld, 
J.Gürtler  inMülheim-Styrum,  Prof.  Dr.  Plaßmann  in  Münsteri.W. 
und  der  Burschenschaft  Frankonia  in  Bonn;  in  technischen  Fragen 
haben  uns  zur  Seite  gestanden  Dr.  med.  Liebmann,  Baumeister 
Prof.  Stiller  und  Regierungsbaumeister  Dr.  Vogts.  Alle  genannten 
Herren  bittet  der  Herausgeber,  den  verbindlichsten  Dank  für  ihr 
reges  Interesse  an  einer  möglichst  vollkommenen  Ausgestaltung 
der  vorliegenden  Schrift  entgegennehmen  zu  wollen.  In  ganz 
besonderm  Maße  aber  gebührt  unser  Dank  dem  wackern  Vor- 
sitzenden des  Arbeitsausschusses,  Dr.  med.  Paul  Bermbach, 
dessen  erstaunliche  Arbeitskraft  und  aufopferungsvolle  Hingabe 
sich  als  beste  Garantie  für  einen  glücklichen  Verlauf  der  ganzen 
Feier  erwiesen  und  auch  diese  Festschrift  durch  alle  Stadien  ihrer 
Entwicklung  begleitet  und  in  erfolgreichster  Weise  gefördert  hat. 

So  trete  unsere  Festschrift  ihre  Wanderung  in  die  Welt  an 
unter  der  Devise:  Dem  Marzellengymnasium  zur  Ehrung,  der 
alten  Schülergeneration  zur  Erinnerung,  dem  jungen  Geschlecht 
und  allen  kommenden  zur  Nacheiferung! 

Erfüllt  das  Buch  diesen  Zweck,  dann  wird  auch  der  Wunsch 
sich  verwirklichen,  den  der  Herausgeber  ins  Stammbuch  der 
neuen  Anstalt  schreiben  möchte : 

In  .  noVa  .  DoMo 
prIsCa.tIbI.  gLorIa 
sChoLa  .  trICoronata 

Köln,  20.  September  1911. 

Prof.  Dr.  Jos.  Klinkenberg. 


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Vormaliges  Jesuiten-,  jetziges  l«atholisches  Gymnasium  zu  Köln  1836 


Zur  Geschichte 
des  Marzellengymnasiums. 

Von    Prof.  Dr.  JOS.  KLINKENBERG. 

Der  Ursprung  des  Marzellengymnasiums  steht  in  engster 
Beziehung  zur  alten  Kölner  Universität,  die  als  vierte  in 
Deutschland  am  8.  Januar  1389  gegründet  wurde.  Die 
mittelalterlichen  Universitäten  waren  von  der  Kirche  abhängige 
Unterrichtsinstitute.  Ihre  Lehrer  gehörten  in  der  Regel  dem 
geistlichen  Stande  an  und  waren  daher  zur  Ehelosigkeit  ver- 
pflichtet; ihr  Einkommen  floß  aus  kirchlichen  Ämtern  und  Pfründen. 
Die  Universität  zerfiel  in  vier  Fakultäten :  die  theologische,  juristische, 
medizinische  und  artistische;  letztere,  an  deren  Stelle  heute  die 
philosophische  Fakultät  getreten  ist,  bildete  die  Vorbereitungs- 
schule für  die  höhern  Studien.  Eine  strenge  Scheidung  zwischen 
Lehrern  und  Schülern  fand  nicht  statt:  die  Schüler  der  obern 
Kurse  bildeten  die  Lehrer  der  untern.  Der  als  scholaris  in  die 
Artistenfakultät  Eintretende  schloß  sich  einem  Magister  an,  der 
ihn  gegen  Entgelt  unterrichtete  und  ihm  auch  Kost  und  Logis 
gewährte;  zunehmende  Schülerzahl  bedingte  natürlich  auch  eine 
Vermehrung  der  Lehrkräfte.  Eine  solche  Vereinigung  von  zusammen- 


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wohnenden  Lehrern  und  Schülern  hieß  bursa.  Im  15.  Jahrhundert 
entstanden  in  Köln  kurz  nacheinander  drei  Bursen,  die  sich  bis 
auf  die  Franzosenzeit  erhalten  und  im  16.  Jahrhundert  unter  dem 
Einflüsse  des  Humanismus  die  Bezeichnung  Gymnasien  ange- 
nommen haben.  Aus  dem  Jahre  1419  stammt  die  bursa  Montis, 
das  spätere  Gymnasium  Montanum,  aus  dem  Jahre  1426  die 
bursa  Laurentii  oder  das  Gymnasium  Laurentianum,  aus  dem 
Jahre  1450  die  bursa  oder  domus  Cucana. 

Letztere,  auf  die  nachweislich  unser  Marzellengymnasium 
zurückgeht,  verdankt  ihre  Gründung  dem  Magister  Joannes 
Kuick,  spätem  Dr.  theol.  in  Mecheln.  Über  ihre  Schicksale  sind 
wir  bis  jetzt  fast  gar  nicht  unterrichtet,  dürfen  aber  bald  eine  Auf- 
hellung derselben  von  dem  verdienten  Forscher  unseres  Universitäts- 
wesens, Herrn  Stadtarchivar  Prof.  Dr.  Keussen  erwarten.  Dem 
Regens  Jacobus  Leichius,  der  der  Burse  1550 — 1556  vorstand, 
kaufte  der  Rat  nach  dem  Verluste  des  Hauses  auf  dem  Eigelstein, 
in  dem  die  Burse  bisheran  untergebracht  war,  ein  neues  in  der 
Maximinenstraße  und  nannte  dieses  von  dem  an  dem  Hause 
angebrachten  Stadtwappen  Bursa  nova  trium  coronarum,  auch 
Gymnasium  trium   coronarum   oder  Tricoronatum   (1552). 

Als  Leichius  sich  durch  seine  Hinneigung  zum  Protestantis- 
mus und  seine  Heirat  als  Regens  unmöglich  gemacht  hatte,  gelang 
es  dem  Jesuiten  Joannes  Rethius,  die  erledigte  Burse  zuerst  an 
sich  und  dann  allmählich  an  den  Jesuitenorden  zu  bringen. 
Dieser  hat  das  Gymnasium  bis  zur  Aufhebung  des  Ordens  1773 
geleitet  und  es  an  Zahl,  Führung  und  Leistungen  seiner  Zöglinge 
zur  größten  und  angesehensten  LehranstaU  Kölns  erhoben.  Ver- 
fasser befindet  sich  in  der  angenehmen  Lage,  zum  ersten  Male 
eine  fast  lückenlose  Liste  der  Regenten  der  Anstalt  während  dieses 
217  jährigen  Zeitraumes  hier  veröffentlichen  zu  können.  Der  erste 
Teil  derselben,  Nr.  1 — 18,  ist  ein  Abdruck  des  Katalogs  in  den 
Monumenta  Germaniae  Paedagogica  II  p.  147  sq.,  der  zweite, 
Nr.  19—43,  ist  ihm  dank  der  gütigen  Vermittelung  des  P.  Bernhard 
Duhr  S.  J.  aus  dem  Archiv  der  deutschen  Ordensprovinz  zur 
Verfügung  gesteüt  worden.  Die  Originale  der  der  Liste  voran- 
gehenden beiden  Siegel  des  Gymnasium  Tricoronatum  befinden 
sich  im  Archiv  der  Maria-Himmelfahrtskirche. 


12 


Regentes  trium  Coronarum  Gymnasii  S.  J. 

Coloniae. 

1.  P.Joannes  Rhetius,  Joannis  a  Reid,  Coloniensis  vice-con- 
sulis  filius,  a  s(ancto)  p(atre)  n(ostro)  Roma  Coloniam  cum 
duobus  sociis,  Francisco  Costero  et  Henrico  Dionysio,  1556. 
in  Junio  missus,  bursam  Cucanam  sab  1550.  auspiciis  senatus 
reformatam  (a  cuius  insignibus,  tribus  coronis,  novi  trium 
Coronarum  Gymnasii  nomen  accepit),  pauculis  post  annis  ob 
professores  et  regentem  ipsum  primum  Jacobum  Leichium 
Cochemensem  Lutherizantes  extinctam  impetravit  ao.  1556., 
die  16.  Novemb.,  pro  sua  primum  persona,  deinde  paulatim 
pro  Societate.  Et  scholis  1557.  ineunte  Februario  inchoatis 
rexit  feliciter  continuus  regens  annis  fere  18,  usque  1574., 
26.  Oct.,  quo  maniaci  Gerardi  Peschii  nostri  manu  et  cultro 
una  cum  P.  Leonardo  Kesselio  rectore  et  P.  Nicoiao  Fabri 
ministro  sublatus  est  miserando  omnium  ordinum  luctu. 

2.  P.  Arnold  US  Havensius,  vulgo  Havens,  Buscoducensis,  ab  a. 
1575.  ad  1585.,  circa  quod  tempus  a  Societate  transiit  ad 
Carthusianos;  apud  eos  loco  magno,  variis  locis  prior,  visitator 
provinciae;  obiit  prior  Gandavensis  1610.,  4.  Aug.  Ruraemundae. 
Scripsit  aliquot  libros  apud  Kinchium  et  Gualteri  Coloniae  editos. 

3.  P.Joannes  ab  Einatten  Bouland,  equestris  familiae  dioeces. 
Leod.,  promotus  Coloniae  a(rtium)  magister  1565.,  die  4.  Apri- 
lis;  docuit  in  gymnasio,  sicut  P.  Rhetius  et  Havensius,  et  fuit 
regens  ab  1584.  exeunte.  Obiit  in  officio  1594.,  18.  Decembris. 

4.  P.  Stephanus  Loon  Neomagensis  fuit  ao.  1595.  ineunte  us- 
que 1599.  3.  Februarii,  quo  habiturus  concionem  in  summa 
aede  pomeridianam  petiit  in  congregatione  facult.  a(rtium)  sub- 
stitui  P.  Conesium  successorem. 


13 


5.  P.  Henricus  Conesius  Suchtalensis,  vix  ultra  annum;  obiit 
enim  1600.  ineunte. 

6.  P.  Joannes  Gilsius  Hollandus,  non  diu:  nam  successor 

7.  P.  Conradus  Ratingius  Arnemensis  iam  fuit  1600. 5.  Octobris. 
Obiit  1602.,  die  20.  Decembris,  Physicae  professor,  uti  habet 
Lib.  a(rtium). 

8.  P.  Matthaeus  Schrick  Aquisgranensis  usque  ad  5.  Dec.  1604., 
quo  ad  rectoratum  Aquisgr.  collegii  abiit. 

9.  P.  Gualterus  Zevener  Embricensis  obiit  regens  1607.  ante 
30.  Augusti. 

10.  P.  Everardus  Brouwerus  Arnemensis  usque  ad  18.  No- 
vemb.  1610. 

11.  P.  Petrus  Rosenbaum    Novesiensis    usque    13.  Oct.    1613. 

12.  P.  Stephanus  Ruidius  Andernacensis  a  4.  Januarii  1614., 
3  mensibus. 

13.  P.  Joannes  Kesselius  Graviensis  ad  4.  Dec.  1618. 

14.  P.Petrus  Ruidius,  Stephani  frater,  vix  ultra  annum. 

15.  P.  Goswinus  Nickel  Juliacensis  ex  Goslar,  1620.  sub  nono 
Martii. 

16.  P.  Erasmus  Geldropius  Brabantus  1621.  ineunte  Septembri. 

17.  P.Joannes  Elberti  Anholdiensis  a  14.  Maii  1625. 

18.  P.  Adamus  Käsen  Traiectensis  ab  1626.  pridie  S(anetorum) 
Omnium  21  annis  prope  continuis,  et  post  rectoratum  Dussel- 
dorpiensis  collegii  adhuc  2  annis  amplius;  obiit  in  rectoratu 
Coloniensi  1653.  1.  Julii.  Vir  longe  optime  de  gymnasio 
meritus.  R.  in  P. 

19.  1648 — 50  P.  Arnoldus  Mylius  regens,  Coloniensis,  natus 
16.  Nov.  1610,  ingressus  Societatem  9.  April.  1628;  mortuus 
Coloniae  17.  Nov.  1680. 

20.  1655—57  P.Winandus  Weidenfeld,  Betburg.,  natus  10.  Julii 
1610,  ingressus  22.  Mart.  1627,  mortuus  Treveris  8.  Junii  1685. 

21.  1658 — 60  P.  Joannes  Egmont,  Coloniensis,  natus  29.  Nov. 
1620,  ingressus  20.  Oct.  1640,  mortuus  28.  Mart.  1680. 

22.  1661—65  P.  Bernardus  Habbel,  Affelensis  (Dioec.  Colon.), 
natus  11.  Maii  1607,  ingressus  11.  Oct.  1623,  mortuus  2.  Junii 
1675  Coloniae. 

23.  1666—68  P.  Arnoldus  Mylius  ut  supra. 
1669—73  deficiunt  Catalogi. 

24.  1674 — 75  P.  Bernardus  Habbel  ut  supra. 

25.  1676  P.  Nicolaus  Elften,  Trarbach.  ad  Mosell.  natus  2.  Junii 
1626,  ingressus  13.  Julii  1644,  mortuus  Colon.  14.  Dec.  1706. 

14 


26.  1677—1680  P.  Arnoldus  Mylius  ut  supra. 
1681—82  deficiunt  Catalogi. 

27.  1683—89  P.  Simon  Derckum,  Vernich.  (duc  Juliac.)  natus 
12.  Sept.  1622,  ingressus  17.  Oct.  1642,  mortuus  28.  Apr.  1695.i) 

28.  1690— 93  P.Petrus  Herwartz,Aquisgran.,  natus  28.  Aug.  1628, 
ingressus  30.  Apr.  1647,  mortuus  4.  Febr.  1696  Coloniae. 

29.  1694—1702  P.  Henricus  Cuperus,  Juliae natus 30.  Apr.  1629, 
ingressus  11.  Apr.  1649,  mortuus  Coloniae  21.  Nov.  1702. 

30.  1704—13  P.  Paulus  Aler  S.  Veit,  natus  11.  Nov.  1654,  in- 
gressus 6.  Nov.  1676,  mortuus  Marcoduri  2.  Maii  1727. 

31.  1715  P.  Petrus  Dham,  S.  Veit,  natus  27.  Oct.  1643,  ingressus 

21.  Oct.  1661,  mortuus  30.  Apr.  1715  Coloniae. 

32.  1716—17  P.  Henricus  Heinsberg,  Colon,  natus  Febr.  1673, 
ingressus  16.  Junii  1690,  mortuus  Colon.  17.  Apr.  1717. 

33.  1718 — 19  P.  Gulielmus  Penten,  Traiecti  ad  Mos.  natus 
9.  Aug.  1680,  ingressus  31.  Maii  1698,  mortuus  17.Novbr.  1724. 

34.  1720P.  Lambertus  duChasteau,  Leodii  natus  23.  Jan.  1669, 
ingressus  13.  Maii  1687,  mortuus  Colon.  22.  Jan.  1740. 

35.  1721—22  P.  Henricus  Frisch,  Colon,  natus  1.  Oct.  1664, 
ingressus  11.  Maii  1683,  mortuus  Contluentiae  25.  Apr.  1732. 

36.  1723  P.  Nicolaus  Mocking,  Herenberg.  (Geldriae)  natus 
14.  Maii  1659,  ingressus  2.  Maii  1679,  mortuus  29.  Marl.  1723 
Colon. 

37.  1724 — 25  P.  Gulielmus  Penten  ut  supra. 

38.  1726— 35  P.  Henricus  Venedien,  Calcar.  natus  28. Oct.  1668, 
ingressus  13.  Nov.  1689,  mortuus  Colon.  5.  Mart.  1735. 

39.  1736  P.  Daniel  Ramus,  Drontheim.  Norvegiae  natus  Julio 
1685,  ingressus  2.  Dec.  1709,  mortuus  Col.  14.  Oct.  1761. 

40.  1736 — 59  P.  Josephus  Hartzheim,  Colon,  natus  11.  Jan. 
1694,  ingressus  3.  Maii  1712,  mortuus  Colon.   17.  Jan.  1763. 

41.  1760—62  P.  Adolfus  Schmitz,  Zeit,  ducat.  Montens.  natus 
5.  Apr.  1714,  ingressus  20.  Oct.  1 732,  mortuus  Colon.  28.  Maii  1 762. 

42.  1763 — 67P.  Petrus  Sa  Im,  Colon,  natus  19.  Martiil704,ingressus 

22.  Oct.  1721,  mortuus  Colon.  1.  Junii  1767. 

43.  1768 — 73  P.  Henricus  Frings,  Erstdorf.  duc.  Juliac.  natus 
27.  Sept.  1718,  ingressus  21.  Oct.  1737,  mortuus  ? 

Nach  der  Aufhebung  des  Jesuitenordens  wurde  der  Unter- 
richt am  Gymnasium  Tricoronatum  dadurch  aufrecht  erhalten, 
daß  die  Lehrer  den  Charakter  von  Weltgeistlichen  annahmen. 

')  Regens   bis  25.    Februar    1689,    wo   er   Rektor   und  Novizenmeister   in 
Trier  wurde. 

16 


Zum  Regens  wurde  nach  einer  Aufzeichnung  bei  v.  Bianco 
I  S.  594  Anm.  bestellt  der  bisherige  P.  Provinzial 

44.  Hieronymus  von  Wymar,  einem  Kölner  Patriziergeschlechte 
entstammend  (vgl.  A.  Fahne,  Geschichte  der  Kölnischen  Ge- 
schlechter I  S.  462  f.).  Durch  Wahl  der  Professoren  ging  diese 
Würde  1780  über  auf 

45.  Johann  Matthias  Carrich,  geb.  1735  zu  Ehrenbreitstein, 
vorgebildet  am  Jesuitenkollegium  zu  Coblenz,  daselbst  in  den 
Orden  eingetreten  am  27.  Mai  1755,  nach  zweijährigem  Noviziat 
Lehrer  der  Humaniora  in  Ravenstein,  zum  Priester  geweiht 
am  14.  September  1760  in  Köln,  1760—62  Lehrer  der  Logik  und 
Physik  in  Münster,  1762—63  Professor  der  Logik  an  der 
Universität  Paderborn  und  nach  Verlegung  derselben  1763—69 
Professor  der  Exegese,  der  hebräischen  Sprache  und  Dogmatik 
in  Köln.  Nachdem  er  hier  zum  Dr.  theol.  promoviert  war, 
trug  er  an  der  Universität  Dogmatik,  Moral  und  Kirchenge- 
schichte, am  Gymnasium  Tricoronatum  Hebräisch  und  Rhetorik 
vor.  Das  Amt  des  Regens  verwaltete  er  1780—98  mit  großem 
Ruhme  und  war  gleichzeitig  1788—93  Rektor  der  Kölner 
Universität.    Er  starb  am  21.  Oktober  1813  zu  Köln. 

Nachdem  unsere  Stadt  durch  den  Frieden  von  Campo 
Formio  der  französischen  Republik  einverleibt  war,  erfolgte 
unterm  9.  Floreal  VI  (28.  April  1 798)  die  Aufhebung  der  Universität 
und  der  drei  Gymnasien.  An  die  Stelle  sämtlicher  frühern 
höhern  Lehranstalten  trat  die  Zentralschule  desRoer-Depar- 
tements  unter  Leitung  des  letzten  Rektors  der  Universität 
46  Paul  Best.  Geboren  zu  Köln  1752,  widmete  er  sich  dem 
Studium  der  Medizin  an  den  Universitäten  Köln  und  Wien, 
beschäftigte  sich  aber  auch  angelegentlich  mit  Sprachen,  Ge- 
schichte und  Philosophie.  An  der  Kölner  Universität  war  er 
von  1786  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  und  vom 
4.  Nivöse  bis  9.  Floreal  VI  (24.  Dezember  1797  bis  28.  April  1798) 
Rektor,  wirkte  dann  an  der  Zentralschule  als  Professor  der  Klinik 
bis  zu  deren  Auflösung,  war  zugleich  Oberarzt  des  hiesigen 
allgemeinen  Krankenhauses  und  Mitglied  des  Jury  Medical 
des  Roer-Departements.    Er  starb  am  5.  Februar  1806. 

Die  napoleonische  Unterrichtsreform  setzte  an  der  Stelle 
der  ihrem  Zwecke  nicht  entsprechenden  Zentralschule  1803 
und  1804  zwei  Sekundärschulen,  eine  des  ersten  (niedern) 
Grades  im  ehemaligen  Laurentianergymnasium,  eine  des  zweiten 
(höhern)  Grades  im  früheren  Jesuiten-Kollegium.   Letztere  be- 

16 


stand  bis  zum  Untergang  der  französischen  Herrschaft  unter 
der  Direlition  von 

47.  von  Heinsberg  (Vorname  nicht  festzustellen),  der  jedoch 
nicht  dem  Lehrerkollegium  angehörte.  Er  hat  sich  als  Mit- 
glied der  Commission  administrative  bedeutende  Verdienste 
um  die  Rettung  der  Schulfonds  erworben. 

Gleich  nach  der  Besetzung  Kölns  durch  die  Verbündeten 
am  14.  Januar  1814  begann  die  Umgestaltung  des  hiesigen 
höheren  Schulwesens.  Am  24.  April  1815  wurde  „das  Kölnische 
Gymnasium"  mit  vier  Klassen  in  den  Räumen  der  ehemaligen 
Jesuiten  eröffnet,  dem  als  Vorbereitungsanstalten  „das  Jesuiten- 
kollegium" im  Jesuiten-  und  das  „Karmeliter-Kollegium"  im 
Karmeliterkloster,  jedes  mit  drei  Klassen,  angegliedert  waren. 
Alle  drei  Anstalten  unterstanden  der  Oberleitung  des  Direktors 
des  Kölnischen  Gymnasiums.  Das  Karmeliter-Kollegium  wurde 
1820  selbständig  und  entwickelte  sich  1825  zum  Karmeliter- 
Gymnasium,  dem  heutigen  Friedrich-Wilhelm-Gymnasium.  Die 
wachsende  Schülerzahl  der  seit  1830  ,,das  katholische  Gym- 
nasium" benannten  Lehranstalt  führte  1860  zur  Gründung 
des  Gymnasiums  an  der  Apostelkirche,  1868  zu  der  eines 
katholischen  Progymnasiums,  des  heutigen  Kaiser -Wilhelm- 
Gymnasiums,  aus  den  Mitteln  unserer  Anstalt,  die  seit  1860 
„das  kgl.  katholische  Gymnasium  an  Marzellen"  (d.  i.  an  der 
Marzellenstraße)  heißt. 

Das  Gymnasium  leiteten  seit  1815  die  Direktoren: 

48.  Franz  Joseph  Seber,  geboren  am  4.  Januar  1777  zu  Wald- 
thurn  in  Baden,  machte  seine  Studien  am  Gymnasium  zu  Milten- 
berg und  an  der  Universität  Würzburg,  wurde  Priester  und  Doktor 
der  Philosophie  und  Theologie,  1806  Konrektor  an  dem  Gym- 
nasium zu  Aschaffenburg,  1815  auf  Empfehlung  des  Kurators 
der  Würzburger  Universität  Direktor  des  Gymnasiums  in  Köln. 
Nach  Errichtung  der  Universität  Bonn  wurde  er  im  Früh- 
jahr 1819  in  die  dortige  katholisch-theologische  Fakultät 
als  ordentlicher  Professor  der  Dogmatik  und  Moral  berufen. 
Im  Herbst  1825  nahm  er  einen  Ruf  als  Professor  der  Philosophie 
an  das  von  der  niederländischen  Regierung  errichtete  Collegium 
zu  Löwen  an.    Dort  starb  er  am  5.  August  1827. 

49.  Adolf  Rudolf  Joseph  Heuser,  Dr.  phil.  und  Lic  theol., 
geboren  zu  Sinzenich  am  29.  Januar  1760,  vorgebildet  am 
Laurentianer-Gymnasium  und  an  der  Universität  Köln,  zum 
Priester  geweiht  am  21.  März  1785,  war  seit  1780  als  Professor 

■i  17 


der  alten  Sprachen  und  der  Rhetorik  am  Laurentianer-Gym- 
nasium  tätig,  wurde  1803  Professor  der  griechischen  Sprache 
an  der  Sekundärschule,  1806  Professor  der  klassischen  Literatur, 
der  Logik  und  Geschichte  der  Philosophie  an  der  Sekundär- 
schule zweiten  Grades.  Bei  der  Eröffnung  des  preußischen 
Gymnasiums  1 815  trat  er  in  dessen  Lehrerkollegium  ein,  wurde  am 
24.  August  1819  Direktor  und  starb  am  25.  Juni  1823  in  Langen- 
schwalbach,  wo  er  Heilung  von  einem  schweren  Leiden  suchte. 

50.  Eugen  Jacob  Maria  Birnbaum,  geboren  zu  Bamberg  am 
28.  März   1788,   besuchte   das    Gymnasium    seiner  Vaterstadt 

und  die  Universität 
München  zum  Stu- 
dium der  klassi- 
schen Philologie. 
Die  Staatsprüfung 
bestand  er  in  ei- 
ner so  glänzenden 
Weise,  daß  ihm  die 
Kgl.  Bayrische  Re- 
gierung die  Wahl 
ließ,  ob  er  sogleich 
angestellt  werden 
oder  zu  weiterer 
Ausbildung  auf 
Staatskosten  eine 
auswärtige  Uni- 
versität besuchen 
wolle.  Er  wählte 
das  letztere  und 
besuchte  mit  dem 
Jahre  1810  die 
Universität  Heidel- 
berg.ImJahrel812 
wurde  er  als  Gym- 
nasiallehrer in  Re- 
gensburg angestellt,  folgte  1818  einem  Rufe  als  erster  Ober- 
lehrer am  Gymnasium  zu  Trier  und  wurde  am  1.  April  1824 
Direktor  unseres  Gymnasiums.    Er  starb  am  3.  März  1854. 

51,  Philipp  Jakob  Ditges,  Dr.  phil.  h.c,  geb.  zu  Neuß  am  3.  April 
1810,  machte  seine  Gymnasialstudien  in  Aachen,  bestand 
dort  die  Reifeprüfung  Ostern   1830  und  studierte  drei  Jahre 


Dr.  phil.  h.  c.  Philipp  Jakob  Ditges. 


18 


klassische  Philologie  an  der  Universität  Bonn.  Nachdem  er  am 
(Kaiser  Karls-)  Gymnasium  in  Aachen  sein  Probejahr  durch- 
gemacht hatte,  wurde  er  Ostern  1834  als  ordentlicher  Lehrer 
an  das  Kollegium  in  Neuß,  Herbst  1841  als  Oberlehrer  an 
das  Gymnasium  zu  Coblenz,  Herbst  1845  in  derselben  Eigen- 
schaft an  das  (Kaiser  Karls-)  Gymnasium  in  Aachen  berufen. 

Herbst  1849  über- 
trug ihm  das  Ver- 
trauen derBehörde 
die  Direktion  des 
Gymnasiums  zu 
Emmerich,  Ostern 
1853  die  des  Gym- 
nasiums zu  Mün- 
ster i.  W.,  endlich 
Ostern1856diedes 
Marzellengymna- 
siums  in  Köln,  die 
er  bis  zum  1.  April 
1884  mit  großem 
Erfolge  führte.  Er 
starb  zu  Köln  am 
3  Februar  1899. 
Heinrich  Milz, 
geboren  am  12.  Fe- 
bruar 1830  zuTrier, 
bestand  die  Reife- 
prüfung am  Gym- 
nasium seiner  Va- 
terstadt Herbst 
1849  und  besuchte 
dann  mehrere  Semester  die  philosophischen  und  theologischen 
Vorlesungen  im  dortigen  Priesterseminar.  Nach  glücklicher 
Heilung  von  einer  längeren  Krankheit  widmete  er  sich  seit 
Ostern  1852  dem  Studium  der  Philologie  und  Geschichte  an 
der  Universität  Bonn,  bestand  dort  im  Herbste  1855  die 
Lehramtsprüfung  und  wurde  auf  Grund  einer  gekrönten  Preis- 
schrift zum  Doktor  der  Philosophie  promoviert.  Während  der 
Ableistung  des  Probejahres  versah  er  zugleich  eine  wissenschaft- 
liche Hilfslehrerstelie  zu  Deutsch-Crone  in  Westpreußen,  war 
von  Herbst  1856  bis  Ostern  1858  kommissarischer  Lehrer  am 


11  ein  rieh  Milz. 


2« 


19 


Marzellengymnasium  in  Köln,  wurde  darauf  an  das  (Kaiser 
Karls-)  Gymnasium  in  Aachen  berufen  und  dort  am  1.  Januar 
1859  fest  angestellt.  26  Jahre  lang  war  er  an  dieser  Anstalt 
tätig,  wurde  am  1.  Oktober  1874  zum  Oberlehrer  und  am 
29.  November  1876  zum  Professor  ernannt.  Am  15.  April  1884 
wurde  ihm  die  Leitung  des  Marzellengymnasiums  anvertraut, 

dem  er  bis  Ostern 
1901  vorstand.  Er 
starb  am  27.  Mai 
1909  in  Bonn. 

53.  Martin  Wetzel, 

geboren  am  8.  De- 
zember 1851  zu 
Dingelstädt  im 
Eichsfelde,  besuch- 
te das  Gymnasium 
zu  Heiligenstadt, 
studierte  in  Würz- 
burg, Münster  und 
Göttingen,  wurde 
1877  Dr.  phil., 
Herbst  1879  or- 
dentlicher Lehrer 
am  Gymnasium  zu 
Warburg,  1882  in 
gleicher  Eigen- 
schaft nach  Pader- 
born berufen,  am 
1.  Oktober  1889 
Oberlehrer,  am  19. 
Dezember       1896 

Professor.  Am  1.  Juli  1897  übernahm  er  die  Direktion  des 
Kgl.  Gymnasiums  zu  Braunsberg  in  Ostpreußen,  von  wo  er 
am  1.  April  1901  an  unsere  Anstalt  versetzt  wurde.  Schon  im 
Januar  1902  erkrankte  er  an  einem  schweren  Leiden  und 
verschied  am  16.  September  1902  zu  Köln. 

54.  Georg  Wesener,  geboren  den  5.  Juni  1847  zu  Culm  in 
Westpreußen,  besuchte  das  Kgl.  Gymnasium  zu  Coblenz  und 
das  Kurfürstl.  Gymnasium  zu  Fulda,  verließ  Ostern  1866  das 
Herzogl.  Gymnasium  zu  Hadamar  mit  dem  Zeugnis  der  Reife 
und  studierte  an  den  Universitäten  zu  Bonn,   München   und 


Martin  Wetzel 


20 


Berlin  Geschichte  und  Philologie.  Nachdem  er  im  März  1870 
zum  Doktor  der  Philosophie  promoviert  worden  war,  trat  er 
im  Juli  als  Freiwilliger  beim  Hessischen  Füsilier-Regiment 
Nr.  80  ein,  bei  dem  er  seit  Oktober  den  Feldzug  in  Frank- 
reich mitmachte.  Dann  legte  er  am  Kgl.  Gymnasium  zu 
Hadamar  das  Probejahr  ab,  bestand  im  Mai  1873  zu  Bonn 
die  Staatsprüfung,  wurde  dem  Kgl.  Gymnasium  zu  Wiesbaden 
als  Hilfslehrer  überwiesen  und  am  1 .  Januar  1875  als  ordentlicher 
Gymnasiallehrer  angestellt.  Am  1.  April  1889  erhielt  er 
eine  etatsmäßige  Oberlehrerstelle  am  Gymnasium  zu  Fulda, 
dessen  Leitung  ihm  übertragen  wurde,  nachdem  er  am 
24.  Januar  1897  zum  Kgl.  Gymnasialdirektor  ernannt  worden 
war.  Vorher  hatte  er  den  Charakter  als  Professor  erhalten 
und  1  V2  Jahr  lang  die  Direktionsgeschäfte  als  stellvertretender 
Direktor  geführt.  Am  5.  Januar  1903  wurde  er  von  Fulda 
an  das  Marzellengymnasium  in  Köln  versetzt  und  am  29.  April 
feierlich  in  sein  neues  Amt  eingeführt. 


Georg  Wesener. 


21 


Jacobus  Leichius  und  Justus  Velsius. 

Von  Prof.  Dr.  JOS.  KLINKENBERG. 

Die  gewaltige  geistige  Bewegung  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 
zugunsten  der  Wiederbelebung  des  klassischen  Altertums, 
der  man  den  Namen  des  Humanismus  beizulegen  pflegt, 
vermochte  trotz  einzelner  Anläufe  lange  Zeit  auf  den  Unterrichts- 
betrieb an  der  Universität  Köln  keinen  wirksamen  Einfluß  auszu- 
üben. Während  in  Löwen  schon  seit  1518,  in  Paris  seit  1529  das 
Studium  trilingue,  d.  h.  der  wissenschaftliche  Betrieb  der  lateinischen, 
griechischen  und  hebräischen  Sprache  in  den  Universitätskollegien 
eingeführt  war,  wandelte  man  in  Köln  noch  immer  in  den  alten 
Bahnen,  teils  aus  Abneigung  gegen  die  neue,  vielen  Vertretern  der 
Orthodoxie  verdächtige  Studienrichtung,  teils  aus  Mangel  an  Mitteln 
zur  Besoldung  humanistisch  gebildeter  Professoren.  Hinzu  kam, 
daß  die  vorhandenen,  wenig  bedeutenden  Lehrkräfte  immer  mehr 
in  ihrem  Eifer  erlahmten  und  entweder  die  mit  der  Erlangung 
einer  Universitätspräbende  verbundene  Verpflichtung  zur  Unter- 
weisung der  Studierenden  ganz  außer  Acht  ließen  oder  einen 
jungen  Dozenten  gegen  geringe  Remuneration  als  Stellvertreter 
bestellten.  So  verödete  die  einst  so  blühende  Kölner  Hochschule 
immer  mehr.  Da  griff  endlich  der  Rat  tatkräftig  ein:  seit  dem 
Jahre  1545  waren  seine  Bemühungen  unausgesetzt  darauf  gerichtet, 
den  Papst  zur  Gewährung  neuer  Universitätspräbenden  zu  veran- 
lassen, die  Pfründeninhaber  zur  Erfüllung  ihrer  Pflicht  oder  zur 
Zahlung  der  Kosten  für  die  Dotierung  neuer  Lehrstellen  zu 
bestimmen  und  eine  zeitgemäße  Studienreform  herbeizuführen. 
Auf  eigene  Kosten  berief  er  1550  neben  sechs  theologischen, 
ebensovielen  juristischen  und  zwei  medizinischen  Professoren  drei 
anerkannt  tüchtige  Humanisten  als  Lehrer  der  Sprachen,  und  ein 
begeisterter  Aufruf  an  die  Studentenschaft  wies  auf  den  Auf- 
schwung der  Hochschule,  ihre  ausgezeichneten  Lehrkräfte,  ihre 
reichen  Geldmittel  und  die  Annehmlichkeiten  ihrer  örtlichen  Ver- 
hältnisse hin.  Die  neuen  Universitätslehrer  waren  Dr.  JuSTUS 
Velsius  aus  dem  Haag,  Professor  der  beiden  klassischen  Sprachen, 
Magister  Gerardus  Matthisius  aus  Geldern  für  das  Griechische 
und  Magister  JacobuS  Leichius  aus  Cochem  an  der  Mosel  für 
das  Lateinische;  hinzu  kam  mit  dem  16.  Juli  1552  der  getaufte 
Jude  Johannes  Isaac  aus  Wetzlar  für  das  Hebräische.  Unter 
ihnen   erregen  Jacobus  Leichius   und  Justus  Velsius    unser    be- 

22 


sonderes  Interesse,  da  sie  neben  ihrer  Stellung  als  Universitäts- 
lelirer  auch  an  der  Entwicklung  der  Kukanerburse,  der  Vorläuferin 
unseres  Marzellengymnasiums,  einen  hochbedeutsamen  Anteil 
haben. 

In  der  Kölner  Universitätsmatrikel  (IV  fol.  1650)  liest  man  zum 
7.  Mai  1543  den  Eintrag:  „Jacobus  Cochemensis  de  Vlisch  ad  artes 
iuravit  et  solvit".  Diese  Worte  können  sich  nur  auf  die  Immatriku- 
lation des  Jacobus  Leichius  beziehen,  dessen  Familienname  auf 
leicht  erklärbare  Weise  verderbt  ist.  Er  hieß  Jakob  von  Lisch,  und 
an  seine  frühere  Heimat  erinnert  noch  heute  die  Lescher  Linde 
und  der  Lescher  Hof  südwestlich  von  Cochem.  Wenn  wir  an- 
nehmen, daß  er  bei  seiner  Immatrikulation  in  die  Artistenfakultät 
das  damalige  Durchschnittsalter  von  15 — 16  Jahren  hatte,  so  war 
er  um  1527  geboren.  Wo  er  seine  Vorbildung  für  die  höheren 
Studien  genossen  hat,  steht  im  einzelnen  nicht  fest;  sicher  ist  nur, 
daß  er  während  des  letzten  Jahres  einer  Kölner  Burse,  vermutlich 
dem  Cucanum,  als  Scholar  angehörte.  Möglicherweise  hat  er  aber 
auch  schon  früher  in  Köln  seine  Studien  gemacht.  Es  bestand 
nämlich  damals  die  häufig  gerügte  Unsitte,  daß  die  Studierenden, 
um  die  Kosten  von  zwölf  Albus  zu  sparen,  die  Immatrikulation  statt 
bei  ihrem  Eintritte  in  die  Burse  oder  das  Gymnasium,  erst  kurze  Zeit 
vorder  Meldung  zur  Baccalaureatsprüfungbewirkten,  für  die  die  Imma- 
trikulation Voraussetzung  war.  Die  Baccalaureatsprüfung  fand  zwei- 
mal im  Jahre,  zu  Christi  Himmelfahrt  und  Allerheiligen,  statt.  Zur  Ab- 
haltung derselben  wurden  jedesmal  durch  den  Rat  der  Fakultät 
unter  dem  Vorsitze  des  Dekans  fünf  Examinatoren  gewählt.  Die 
Regenten  der  Gymnasien  präsentierten  die  Prüflinge  dem  Dekan, 
nachdem  sie  sich  vorher  von  ihren  Kenntnissen  überzeugt  hatten, 
und  diese  mußten  beschwören,  daß  sie  zwei  Jahre  dem  Studium 
der  schönen  Wissenschaften  obgelegen  und  die  vorgeschriebenen 
philosophischen  und  rhetorischen  Lehrkurse  und  Disputationen 
mitgemacht  hatten.  Leichius  bestand  die  Prüfung  am  Himmel- 
fahrtstermin 1544  und  errang  unterm  30.  Mai  die  Würde  eines 
Baccalaureus  (admissus  ad  baccalaureatum).  Der  Zeitpunkt  seiner 
feierlichen  Promotion  (determinatio)  ist  nicht  überliefert.  Der 
Baccalaureus  setzte  seine  philosophischen  Studien  noch  ein  bis 
zwei  Jahre  fort,  um  dann  am  Blasiustag  (3.  Febr.)  vom  Regenten 
seines  Gymnasiums  zum  Tentamen  pro  gradu  licentiae  präsentiert 
zu  werden.  Auch  diese  Prüfung  wurde  von  fünf  eigens  dazu 
bestellten  Magistern,  den  sogenannten  Tentatores,  vorgenommen. 
Diejenigen,  die  bestanden,  wurden  dem  Vizekanzler  der  Universität, 

23 


meist  einem  Professor  der  Tiieologie  oder  des  kanonischen  Rechtes, 
präsentiert,  der  durch  vier  von  ihm  bestellte  Examinatores  eine 
weitere  Prüfung  der  Kandidaten  vornehmen  ließ,  die  freilich  damals 
eine  reine  Formsache  gewesen  zu  sein  scheint.  Auf  Grund  der- 
selben promovierte  sie  dann  der  Vizekanzler  zu  Lizentiaten,  d.  h. 
sie  bekamen  die  Lizenz,  in  der  artistischen  Fakultät  als  Lehrer 
aufzutreten.  Den  Rang  eines  Lizentiaten  erhielt  Leichius  nach  den 
Aufzeichnungen  des  Dekanatsbuches  im  Jahre  1546.  Er  nahm 
nun  seine  Lehrtätigkeit  am  Cucanum  auf,  erwarb  durch  die  sog. 
Inceptio  den  Magistertitel  und  beantragte  nach  zwei  weitern  Lehr- 
und  Lernjahren  unterm  22.  Dezember  1548  seine  Aufnahme  in  den 
Rat  der  Fakultät.  Diese  wurde  ihm  auch  unter  dem  11.  April  1549 
gewährt,  aber,  wie  es  scheint,  nur  bedingungsweise.  Zur  Rezeption 
war  nämlich  die  Zahlung  von  Gebühren  und  die  Ableistung  eines 
Eides  auf  die  Fakultätsstatuten  erforderlich.  Letztere,  die  dem 
Akte  erst  seine  Rechtskraft  verlieh,  wurde  häufig  verschoben,  bis 
die  Gebühren  erlegt  waren.  Auch  Leichius  befand  sich  wohl  in 
dieser  Lage,  da  er  bei  seiner  Baccalaureatsprüfung  wenigstens 
unter  den  Unbegüterten  (pauperes)  aufgeführt  wird.  Das  sollte 
für  ihn  in  Verbindung  mit  andern  Verwicklungen  eine  Quelle 
großer  Verdrießlichkeiten  werden. 

Die  wissenschaftliche  und  pädagogische  Tüchtigkeit  des  jungen 
Magisters  an  der  Kukanerburse  erregte  bald  Aufsehen,  und  Leute 
von  Urteil  glaubten  in  ihm  den  geeigneten  Mann  zu  erkennen, 
um  an  der  Reform  der  tief  gesunkenen  Universität  tatkräftig  mitzu- 
wirken. Der  Rat  übertrug  ihm  eine  der  neu  gegründeten  Profes- 
suren an  der  artistischen  Fakultät,  und  kaum  ein  Jahr  später 
wurde  er  auch  mit  der  ehrenvollen  Aufgabe  betraut,  die  Kukaner- 
burse zu  neuem  Leben  zu  erwecken.  Diese  war  nämlich  durch 
den  unsittlichen  Lebenswandel  ihres  Leiters  stark  in  Verfall  geraten 
und  drohte  ganz  einzugehen,  als  nach  dem  Tode  des  Hauseigen- 
tümers der  Erbe  den  Mietvertrag  kündigte.  Der  Administrator  der 
Burse,  Gottfried  Wiiich,  Dechant  des  Stiftes  St.  Aposteln,  ersah 
sich  zum  neuen  Regenten  der  Anstalt  unsern  Leichius.  Anfangs 
sträubte  sich  dieser  heftig  gegen  die  Übernahme  des  beschwer- 
lichen Amtes;  erst  den  vereinten  Bemühungen  des  Professors  der 
Rechtswissenschaft  Conrad  Betzdorp,  der  Universitätsprovisoren 
und  der  Bürgermeister,  von  denen  HERMANN  SUDERMANN  trotz 
seines  Mangels  an  klassischer  Bildung  ein  ganz  besonderer  För- 
derer der  humanistischen  Studien  war,  gelang  es,  ihn  umzustimmen. 
Der  Rat  kaufte  im  März  1552  zur  Unterbringung  des  neuen  Kollegs 

24 


das  den  Vorkindern  des  Johann  von  Holtz  gehörige  Haus  auf  der 
Maximinenstraße,  ließ  in  demselben  die  nötigen  baulichen  Ände- 
rungen vornehmen,  übergab  es  dem  Rektor  gegen  einen  jährlichen 
Mietzins  von  dreißig  Goldgulden  und  nannte  die  Burse  von  dem 
an  ihr  angebrachten  kölnischen  Stadtwappen  mit  den  drei  Kronen 
Nova  Tricoronata.  So  wurde  aus  einem  Privatunternehmen  eine 
akademische  Anstalt,  deren  äußern  und  innern  Ausbau  der  Rat 
selbst  sich  angelegen  sein  ließ.  In  dem  Protokoll  vom  4.  April 
wird  nämlich  den  „provisorn  mit  rath  der  rechtsgelerten  befohlen, 
eine  gute  Ordnung  zu  machen,  was  und  welcher  gestalt  die  lectiones 
gehalten  werden  sollen".  Leichius,  den  man  selbstverständlich 
mit  der  Lösung  dieser  Aufgabe  betraute,  entwickelte  sein  Programm 
in  mehreren  Plakaten,  die  er  um  Ostern  1552  an  den  Türen  der 
benachbarten  Kirchen  anschlagen  und  nach  auswärts  versenden 
ließ.  In  denselben  fehlte  es  nicht  an  heftigen  Ausfällen  gegen 
den  bisherigen  Studienbetrieb  an  der  artistischen  Fakultät.  Diese 
fand  bald  eine  Gelegenheit,  Leichius  ihren  Zorn  fühlen  zu  lassen. 
Am  Tage  nach  Christi  Himmelfahrt  hatte  der  Dekan  in  gewohn- 
ter Weise  die  Magister  zur  Wahl  der  Baccalaureats-Examinatoren 
berufen.  Da  sich  in  der  Versammlung  kein  Rezipierter  aus  der 
Kukanerburse  fand,  der  das  Amt  eines  Präsentators  hätte  führen 
können,  so  verschob  der  Dekan  die  Wahlhandlung  auf  den  fol- 
genden Tag  ohne  Rücksicht  auf  Leichius,  der  als  Regent  des 
Cucanums  die  Rolle  des  Präsentators  für  sich  in  Anspruch  ge- 
nommen hatte.  Ja,  man  erörterte  sogar  die  Frage,  ob  Leichius 
mit  Rücksicht  auf  die  scharfe  Kritik,  die  er  an  der  Fakultät  geübt 
habe,  überhaupt  rezipiert  werden  dürfe.  Die  zahlreicher  besuchte 
Fakultätsversammlung  des  folgenden  Tages  mißbilligte  zwar  das 
Vorgehen  des  Leichius,  genehmigte  jedoch  auf  die  Fürsprache 
seines  Gönners  Wilich,  der  den  Inhalt  der  Anschläge  möglichst 
günstig  zu  deuten  wußte,  seine  Rezeption  unter  der  Bedingung,  daß  er 
sich  in  allen  Stücken  den  übrigen  Gymnasien  anpasse,  die  Statuten 
der  Vorfahren  gewissenhaft  beobachte  und  bei  einem  Streite  zwischen 
ihm  und  einem  Fakultätsmitgliede  nie  an  den  Rat  appelliere, 
sondern  immer  sich  dem  Urteil  der  Fakultät  oder  doch  wenigstens 
der  Universität  füge.  Leichius  gab  die  Erklärung  ab,  daß  ihm  jede 
Beleidigung  der  Fakultät  ferngelegen  habe  und  daß  er  auch  nicht 
einen  Finger  breit  von  ihren  Satzungen  abweichen  wolle.  Darauf 
leistete  er  in  Gegenwart  der  ganzen  Fakultät  einen  feierlichen 
Eid,  und  nun  erfolgte  seine  abermalige  Rezeption  und  Ernennung 
zum  Examinator,  nicht  ohne  Androhung  des  Verlustes  sämtlicher 

25 


Vorteile  und  Einkünfte,  wenn  er  sein  Versprechen  in  irgend  einem 
Stüci<e  nicht  halten  würde. 

Die  Eröffnung  des  neuen  Gymnasiums  fand  dem  Namen  nach 
zu  Ostern  1552,  in  Wirklichkeit  erst  zu  Pfingsten  statt,  und  der 
Unterricht  nahm  mit  dem  Dreifaltigkeitssonntage  seinen  Anfang. 
Aber  selbst  gegen  Ende  November  waren  die  Bau-  und  Zimmer- 
arbeiten noch  nicht  fertig.  Die  Anstalt  sollte  sich  nach  der  Willens- 
meinung des  Rates  dadurch  von  ihren  Schwesteranstalten  unter- 
scheiden, daß  in  ihr  nicht  bloß  die  sog.  studia  maiora,  d.  h. 
Dialektik,  Rhetorik  und  Physik  gepflegt,  sondern  auch  die  sog. 
studia  minora,  d.  h.  die  lateinische  und  griechische  Grammatik, 
deren  Betrieb  sonst  den  Partikulärschulen  zufiel,  daselbst  eine 
Heimstätte  finden  und  in  organischen  Zusammenhang  mit  den 
eigentlichen  akademischen  Studien  treten  sollten.  Als  Lehrer,  die 
mit  Leichius  an  der  Lösung  dieser  Aufgabe  wirkten,  erscheinen 
in  einem  später  zu  erwähnenden,  noch  nicht  veröffentlichten  Akten- 
stücke die  Magister  mit  den  zum  Teil  stark  verderbten  Namen 
Henricus,  pet  Verl,  Godt  und  Hermans,  von  denen  die  drei  ersten 
wohl  Henricus  Kempensis,  Peregrinus  Wylich  und  Godefredus 
Wylych  sind,  ferner  Franciscus,  unter  dem  zweifelsohne  der  Jesuit 
Franz  Coster  zu  verstehen  ist,  der  spätere  Regens  des  Tricoronatum, 
Magister  Joannes  Reidt  und  Magister  Joannes  Ossenbrenus,  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  der  auch  anderweit  als  Lehrer  am  Cucanum 
bekannte  Joannes  Osnabrugensis.  Den  maßgebendsten  Einfluß  aber 
hat  nicht  bloß  auf  die  Studienrichtung  der  Anstalt,  sondern  auch 
auf  die  religiöse  Gesinnung  und  Haltung  ihres  Leiters  ausgeübt 
Justus  Velsius. 

Jost  Welsens,  gebürtig  aus  dem  Haag,  erwarb  sich  1538  in 
Bologna  den  Rang  eines  „Doctor  artium  et  medicinarum".  Von 
den  naturwissenschaftlichen  Studien,  denen  er  mit  großem  Erfolge 
obgelegen  hatte,  wandte  er  sich  später  in  seiner  Heimat  wieder 
humanistischen  zu,  bewarb  sich  1541  in  Löwen  um  die  Professur 
des  Petrus  Nannius  am  Collegium  trilingue  und  errang  durch 
seine  dortigen  Vorlesungen  den  Ruf  großer  Gelehrsamkeit.  Geusius 
nennt  ihn  in  einem  Briefe  an  Masius  (LOSSEN,  Briefe  von  Andr. 
Masius  S.  15)  einen  Mann  von  tüchtigen  Kenntnissen  im  Griechischen 
und  Lateinischen  und  von  wunderbarer  Beredsamkeit,  einen  scharf- 
sinnigen Philosophen  und  guten  Mathematiker.  Im  Jahre  1550 
erschien  er,  begleitet  von  einer  großen  Zahl  von  Studenten,  in 
Köln,  vermutlich  weil  ihn  seine  religiösen  Anschauungen  in  Löwen 
unmöglich  gemacht  hatten,  mit  der  Absicht,  wieder  nach  Bologna 

26 


*lfi. 


zu  ziehen.  Der  Rat  benutzte  die  günstige  Gelegenheit,  den  her- 
vorragenden Gelehrten  für  die  Kölner  Universität  als  Professor 
der  griechischen  und  lateinischen  Sprache  zu  gewinnen,  bot  ihm  für 
das  erste  Jahr  hundert  Pagamentsgulden  oder  fünfzig  Taler,  ein 
Kerb  Wein  und  ein  Kleid  und  erklärte  sich  bereit,  mit  ihm  über 
weitere  Kondition  zu  verhandeln,  wenn   durch  seinen  Fleiß  das 

jVifTjlärfCelJg  ««g«niumbergefdjtf(ftobge<= 
liegen/  rtu*  Mc  funörtmmt  bcr  fpt«<t4)m  vit 
fteyttt  Cürtfl  bttmafftn  bcgnf en/bna  «?  ftiii«  qefet 
Imbalb  TOrit  »bertroffm.  Had?  biefem  begabte 
ficb  rtuff  man*etley  botje  ©c^l/  m  (hiburct  mit 
^roffem  fle«|»  m  berJDIjilofopbey  /  baa  ec  «urtj  bm 
fi»mcm(fmpbilo|ropb«6tn  TeutfctjeriTation  ju 
»ergleidjm.  tDtemtt  übet  er  JT4?  aud)  in  bec  ODcbf* 

ein  vrrb  XTbcologcy /«Ifo  brt«  er  )ii  Coln  ünbec  ble 
^tofcffotee  rtngenomen.  TOeil  er  (1*  «ber  In'ffbeo 
o^ia  mit  rtnberen  nit  üectragcn/  tarne  er  p5  Coln 
TT  T^^P  hinweg / jog« l^in rnb n>ib<r burrt? Uentfcfaelanb/ 

vnt>  bielte  ju  5r«nrffurt  mit  jfobrtnne  Caluino  bem  gro(fen'?rbeologo  x>o 
©enffemoffentlicbcbtfputaVonbcfreyenwiUmwnbrtnbcrepunctett 
Clj»ityfnl«*<rlebt.Xfrbrttaiidj  ein  jettUngmitfonberbarermegiqtettm 
33«felgeTOonet/»nb  fem  lebt  begeretrtufjjufptcitten.  ^twatbcaber  «ueh 
rtbgefertiget/joge  iit  e«d?fen/  pnb  warbe  btird)  fein  f*rtrpffen  verff  mib 
tnengElidjem  betnnbt.i^r  bat  eln4>tati5  gem«*et/  biis  ein  O^ebfctis  fol 
U  irt  melen  lun^tn  tool  erfarf  feJn.rirtd?  bfefem  bat  er  byppocrotia  bud> 
»on  ben  treumen  rtu  ggelegt  a(fo  aud;  fdn  glo^  m  3lriflotcU8  bud)  ber  tu^ 
5?r<  '^{ri!-  '"5'''n**  ^^P*"  g«fleUet;bar|u  etwas  aug  ©ateno  uon  htm 
(Dtied?ifd>finbae  Latein  »ertotmetfd)ct.2m|ffoUid;e8  tarne  er  inirfefc* 
Unb/»nb  TPonec  j.i  Sruningen  /  b«  er  bann  auff  beütigett  tag pnbwgw 
UM«nl<»teningr(»fr<n»«»|«btn.  Con.Gcfs.     '  *        ^  a 

Bild  und  Lebensbeschreibung  desJ.  Velsius  aus  Heinr.  Pantaleon,  Teutscher 
Nation  Heidenbuch  III,  Basel  1570,  S.  400. 

Studium  und  die  Universität  zunehmen  würde.  Velsius  ging  auf 
das  Anerbieten  ein  und  wurde  unterm  16.  Juni  1550  in  die  Matrikel 
eingetragen.  Auf  seinen  Antrag  erhöhte  ihm  der  Rat  im  folgenden 
Jahre  seine  Barbezüge  auf  150  Taler,  während  Velsius  sich  ver- 
pflichten mußte,  vor  Ablauf  von  5— 6  Jahren  Köln  nicht  zu  verlassen. 
Daß  Velsius  Lehrer  an  der  Bursa  trium  coronarum  gewesen 
sei,  behauptet  der  Zeitgenosse  Georg  Braun  in  den  Rapsodiae 
Colonienses  (Stadtarchiv,  Sammlung  Alfter  Bd.  44  S.  69);  aus  den 
Akten  der  Universität  und  der  genannten  Burse  ergibt  sich  die 
Tatsache  bis  jetzt  nicht.  Jedenfalls  hat  Velsius  von  Anfang  an 
zu  Leichius  in  einem  engen  Freundschaftsverhältnis  gestanden  und 


27 


erscheint  als  die  Seele  der  ganzen  Studienreform.  Über  diese  sind 
wir  durch  zwei  Urkunden  unterrichtet,  die,  soviel  ich  sehe,  noch 
keine  richtige  Beurteilung  gefunden  haben.  Die  eine  ist  ohne 
Quellenangabe  abgedruckt  bei  Ennen,  Geschichte  der  Stadt  Köln, 
IV  S.  692  ff.,  geht  aber  ohne  Zweifel  auf  ein  Original  des  Kölner 
Stadtarchivs  zurück.  Sie  trägt  die  Überschrift:  „Ratio  institutionis 
in  nova  bursa  in  platea  s.  Maximini  per  JODOCUM  —  offenbar 
Schreibfehler  für  JACOBUM  —  Leichium  et  per  JUSTUM  Velsium" 
und  erweist  sich  gleich  aus  den  Eingangsworten  als  Skizze  der 
am  Tricoronatum  einzuführenden  neuen  Lehrordnung,  die  eine 
umfassende  Darstellung  in  einer  Schrift  des  Justus  Velsius  finden 
solle.  Diese  scheint  nicht  herausgekommen  zu  sein.  Allerdings 
findet  sich  unter  den  Schriften  des  Velsius  eine,  die  man  für  sie 
halten  könnte.  Sie  führt  den  Titel:  „De  artium  liberalium  et 
Philosophica  praecepta  tradendi  explicandique  recta  ratione  ac  via 
in  celeberrima  Universitate  Coloniensi  CG.  Goss.  Provisorum  et 
Amplissimi  florentissimae  Reip.  Senatus  autoritate,  posthac  servanda: 
a  JUSTO  Velsio  Hagano  descripta  et  explicata.  Coloniae  apud 
Heredes  Arnoldi  Byrckmanni.  Anno  1554".  Indessen  berührt  sich 
das  äußerst  seltene  Büchlein  von  nur  67  Seiten,  das  mir  dank 
dem  Entgegenkommen  der  Großherzoglich  Hessischen  Hofbibliothek 
zu  Darmstadt  zur  Verfügung  gestellt  wurde,  nur  ganz  entfernt  mit 
der  erwähnten  Skizze,  insofern  im  111.  Kapitel  (p.  23  sq.)  ausgeführt 
wird,  die  richtige  Methode  des  sprachlichen  Unterrichtes  bestehe 
darin,  daß  man  im  Griechischen  und  Hebräischen  die  Schüler  zu 
einem  auf  solider  grammatischer  Grundlage  beruhenden  Verständnis 
der  Schriftsteller  führe,  im  Lateinischen  sie  außerdem  aber  auch  zu 
gewandtem  mündlichen  und  schriflichen  Gebrauch  der  Sprache 
anleite.  Im  Anfange  des  Kapitels  aber  wird  auf  eine  Schrift  über 
den  Unterricht  der  Jugend  in  Grammatik  und  Sprachen  hingewiesen, 
die  M.  Jakob  Leichius,  „vir  pietatis  nescio  an  eruditionis  maioris" 
verfassen  wolle.  Auch  diese  ist,  soviel  ich  sehe,  nicht  erschienen, 
nahe  Beziehungen  zu  ihr  aber  hat  die  andere  Urkunde  über  die 
Kölner  Schulreform,  die  in  den  Annuae  litterae  collegii  Societatis 
Jesu  Coloniensis  1553—1660  (Stadtarchiv,  Jesuiten-Akten  9)  fol.  3 
steht  und  sich  nur  in  einer  äußerst  fehler-  und  lückenhaften  Ab- 
schrift aus  dem  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  erhalten  hat.  Sie  ist 
überschrieben:  „Ratio  quaedam  instituendi  luventutem  novi  apud 
Coloniam  Agrippinam  Senatus  collegii  Nonas  —  d.  i.  entweder 
pridie  Nonas  oder  Nonis  —  Decemb.  1552  mihi  et  Collegis  a  Primate 
et  Dno  nostro  D.  JACOBO  Leichio  proposita"  und  stellt  sich  als 

28 


Ansprache  des  Leichius  an  seine  Kollegen  über  die  Maßnahmen 
zur  Durchführung  der  Unterrichtsreform  dar.  Das  Schriftstück  ist 
auch  dem  Joannes  Rethius,  der  damals  schon  der  Gesellschaft  Jesu 
angehörte,  vorgelegt,  von  ihm  abgeschrieben  und  an  den  Gründer 
der  Gesellschaft,  Ignatius  von  Loyola,  nach  Rom  gesandt  worden. 
Somit  enthält  das  erste  der  beiden  Aktenstücke  die  prinzipielle  Dar- 
stellung der  neuen  Lehrordnung  am  Tricoronatum  nach  ihrer  prak- 
tischen und  theoretischen  Seite,  das  zweite  die  Anweisung  zu  einem 
gedeihlichen  Unterrichtsbetrieb  auf  Grund  der  neuen  Prinzipien. 

Eine  harmonische  Ausbildung  des  Verstandes  und  Herzens  — 
das  ist,  wie  das  Ideal  des  Humanismus  überhaupt,  so  insbesondere 
auch  das  Ziel  der  beiden  Kölner  Schulreformer.  Sie  wollen  die 
Jugend  an  feinere  Sitten  gewöhnen  und  sie  zugleich  in  den  Wissen- 
schaften so  weit  fördern,  daß  sie  ihre  Gedanken  logisch  richtig 
und  in  gutem  Latein  zum  Ausdruck  bringen  können.  Als  Endziel 
aller  Studien  betrachten  sie,  ähnlich  wie  der  große  Straßburger 
Pädagoge  Sturm,  die  Begründung  des  Frommsinns  und  die  Förderung 
des  Wohles  der  Menschheit.  „Nicht  von  Gewinnsucht  angelockt"  — 
so  läßt  Rethius  den  Leichius  sagen  —  „bin  ich  hierher  gekommen, 
sondern  weil  die  Studien  fromm  sind:  fromm  wollen  wir  mitein- 
ander arbeiten,  und  Gott  wird  uns  schon  helfen."  Den  Aufschwung 
seiner  Schule  will  er  nach  besten  Kräften  in  die  Wege  leiten  „ad 
Dei  magnam  gloriam  et  totius  christianae  rei  publicae  utilitatem", 
und  Velsius  verlangt  von  den  Lehrern,  daß  sie  Leute  seien  von 
idealer  Gesinnung,  die  die  allgemeine  Wohlfahrt  fördern  wollen 
zur  Ehre  Gottes,  zum  Nutzen  des  ganzen  Staates  und  zur  Sicherung 
der  Aussicht  jedes  einzelnen  auf  das  ewige  Heil. 

Sind  dies  die  idealen  Grundgedanken  der  Kölner  Schulreformer, 
so  gilt  es  nunmehr,  die  Einrichtung  der  Schule  im  einzelnen  kennen 
zu  lernen,  wie  sie  sich  aus  den  vierzehn  Kapiteln  des  ersten  Haupt- 
teils der  Velsiusschen  Schrift  ergibt.  Dem  Verfasser  gilt  als  einzig 
richtige  Art,  die  artes  liberales  und  die  Philosophie  zu  lehren,  die 
grammatisch-humanistische,  die  den  Einklang  zwischen  dem  Gym- 
nasium und  den  höhern  Fakultäten  zu  vermitteln  geeignet  ist.  Die 
vier  untern  Klassen  des  achtklassigen  Schulsystems  befassen  sich 
lediglich  mit  einer  gründlichen  Einführung  in  die  Grammatik  der 
beiden  klassischen  Sprachen,  während  den  vier  obern  die  Behand- 
lung der  klassischen  Autoren,  der  Unterricht  in  Rhetorik  und  Dia- 
lektik, in  den  mathematischen  Lehrfächern,  d.h.  der  Arithmetik,  Geo- 
metrie, Astronomie  und  Musik,  sowie  im  Hebräischen  vorbe- 
halten bleibt.  Nach  derVorschrift  des  Erasmus  wird  der  Unterricht  in 

29 


den  beiden  klassischen  Sprachen  gleichzeitig  aufgenommen.  Die  erste 
(unterste)  Klasse  erlernt  morgens  die  lateinische  Deklination,  Kom- 
paration und  Konjugation,  nachmittags  das  Lesen  des  Griechischen; 
die  zweite  im  Lateinischen  die  Geschlechtsregeln  der  Nomina  und  die 
unregelmäßigen  Verba,  im  Griechischen  die  Deklination  der  Nomina 
und  die  Konjugation  der  Verba  Ttnrw,  noisio  und  T.d-ri/.u.  Beide  Klassen 
haben  täglich  drei   gemeinsame  Stunden,   von   denen    zwei   zum 
Vergleich  der  Regeln  der  beiden  Sprachen,  eine  zur  Erlernung  der 
Wortbedeutungen   dient.     Die   dritte  und  vierte  Klasse   erledigen 
das  gesamte  grammatische  Lehrpensum  der  beiden  Sprachen  und 
haben  in  ähnlicher  Weise  wie  die  erste  und  zweite  drei  gemein- 
same Lektionen.    Aufgabe  der  fünften  Klasse  ist  neben  der  Wieder- 
holung der  Grammatik  die  Einführung  in  die  Rhetorik  (Schmuck 
der  Darstellung)  sowie  die  Anfangsgründe  der  hebräischen  Sprache. 
Der  sechsten  Klasse  fällt  vornehmlich   der  Betrieb  der  mathema- 
tischen Wissenschaften,  der  siebenten  die  miteinander  abwechselnde 
Erklärung  griechischer  und    lateinischer  Dichter,    der   achten   die 
Erklärung  eines  Historikers,  etwa  Cäsar,  nebst  allgemeiner  Wieder- 
holung zu.    Jeden  Morgen  um  7  Uhr  hören  die  Schüler  der  drei 
obersten  Klassen  gemeinsam  eine  Vorlesung  über  den  elementaren 
Teil  der  Dialektik  des  Aristoteles,  die  der  obersten  außerdem  um 
12  Uhr  eine  solche   über  die  Partitiones  oratoriae  Ciceros.     Nur 
die  drei  untersten  Klassen  sind  ausschließlich  auf  den  Unterricht 
im  Gymnasium  angewiesen;   die  fünf  andern   nehmen   außerdem 
an  den  öffentlichen  Vorlesungen  über  Sprachen  und  Philosophie 
teil,  die  an  der  Universität  gehalten  werden.   Zur  Erklärung  sollen 
diejenigen  Autoren  ausgewählt  werden,  die  die  trefflichsten  Beispiele 
zur  Erläuterung  der  vorzutragenden  Regeln  bieten,  am  geeignetsten 
sind,  Gewandtheit  im  Gebrauche  der  lateinischen  Sprache  zu  ver- 
mitteln, und  nichts  enthalten,  was  religiös  oder  sittlich  anstößig 
wäre.  Nicht  bloß  Überflieger  sollen  als  Schüler  angenommen  werden, 
sondern  auch  mittelmäßige  Köpfe  und  überhaupt  alle,  die  guten 
Willens  sind,  etwas  zu  lernen.     Die  Verteilung  auf  die  einzelnen 
Klassen  soll  sich  lediglich  nach  dem  Wissen  der  Schüler  und  ihrem 
Alter  richten.    Jeder  soll  so  lange  in  derselben  Klasse  bleiben,  bis 
er  sich   das  Lehrpensum   vollständig   angeeignet   hat;   auf   diese 
Weise  wird  Gleichmäßigkeit  der  Kenntnisse  in  den  einzelnen  Klassen 
erzielt.     Ganz  besonders   sind   arme  Schüler  zu  fördern,   da  die 
Erfahrung  lehrt,  daß  aus  ihnen  so  häufig  große  Männer  hervor- 
gegangen sind,  sobald  sich  ein  Wohltäter  fand,  der  sich  ihrer  an- 
nahm.    Bei  der  Anstellung  von  Lehrern   soll   nicht   so   sehr   auf 

30 


wissenschaftliche  Tüchtigkeit  wie  auf  ideale  Auffassung  des  Lehrer- 
standes gesehen  werden.  Sie  sollen  einträchtig  und  bescheiden 
sein  und  sich  neben  ihrer  Gelehrsamkeit  auch  durch  erprobte 
Lebensführung  auszeichnen.  Der  Unterricht  darf  insbesondere  die 
Gründlichkeit  nicht  vermissen  lassen.  Bei  der  Schriftstellerlektüre 
soll  zuerst  das  Thema  formuliert  werden;  daran  schließt  sich  das 
Lesen  der  Stelle  mit  guter  Aussprache  und  die  Worterklärung,  und 
zwar  bei  lateinischen  Texten  so,  daß  dunkle  Wörter  durch  bekanntere 
ersetzt  und  auf  Bedeutung  und  Gebrauch  des  einzelnen  Wortes 
eingegangen  wird,  bei  griechischen  durch  Übersetzung  ins  Lateinische ; 
ferner  die  Etymologie  und  Konstruktion  der  einzelnen  Wörter; 
sodann  die  Darlegung  der  Satzkonstruktion  auf  deutsch,  endlich 
die  Besprechung  des  Inhaltes,  „soweit  er  auf  Leben  und  Sitten 
Bezug  hat".  Jedes  Semester  steigen  die  Schüler  in  eine  höhere 
Klasse  auf.  Zur  Befestigung  und  Vertiefung  der  Lehrvorträge  dienen 
die  wöchentlich  dreimal  stattfindenden  Disputierübungeu  der  untern 
Klassen  über  grammatische  Fragen  und  die  von  den  Schülern  der 
obern  Klassen  außer  den  Disputierübungen  wöchentlich  einmal 
zu  übernehmenden  Deklamationen.  Während  des  Tages  —  ab- 
gesehen von  der  Morgenfrühe  und  dem  Abend  —  sind  sämtliche 
Stunden  bis  auf  zwei  mit  Lektionen  oder  gemeinsamen  Repeti- 
tionen,  letztere  um  9  und  3  Uhr,  besetzt;  es  muß  aber  auch  noch 
Zeit  gewonnen  werden  für  private  Wiederholungen  beim  Klassen- 
oder Hauslehrer.  Ein  Teil  der  Klassenlektüre  ist  zur  Stärkung  des 
Gedächtnisses  auswendig  zu  lernen.  Der  Religionsunterricht  muß 
der  Fassungskraft  der  Schüler  angepaßt  und  auf  das  Ziel  der 
Studien,  die  Frömmigkeit,  gerichtet  sein.  Die  Staatsbehörden  haben 
die  Pflicht,  das  Schulwesen  zu  fördern  und  sich  der  Studierenden 
wie  besonders  der  Rektoren  wohlwollend  anzunehmen;  die  Kosten, 
die  sie  dafür  aufwenden,  bringen  ihnen  großen  Nutzen  und  hohen 
Ruhm.  Endlich  müssen  die  Eltern  mit  der  Schule  und  den  Lehrern 
Hand  in  Hand  gehen. 

An  den  besondern  ersten  Hauptteil  des  Buches  schließt  sich 
ein  zweiter  allgemeiner.  Hier  wird  dargelegt,  welchen  Nutzen  die 
Studierenden  ziehen  aus  der  Freundlichkeit  der  Behörden  und 
Bürger,  der  günstigen  Lage  des  Ortes,  der  glänzenden  Lebens- 
haltung und  der  Pracht  der  Schulräume  und  Wohnungen.  Sodann 
wird  auf  die  großen  Übel  hingewiesen,  welche  die  in  den  ver- 
gangenen Jahrhunderten  geübte  und  auch  jetzt  noch  nicht  aus- 
gestorbene falsche  und  verderbliche  Art,  die  schönen  Künste 
und  die  Philosophie  zu  betreiben,  mit  sich  bringe,  und  ihr  die 

31 


richtige,  auf  der  Tugend  beruhende  Methode  gegenübergestellt. 
Im  Schlußabschnitt  sollte  dann  analytisch  das  Wesen  dieser  besten 
Methode  in  allen  ihren  Teilen  autgedeckt  und  synthetisch  die 
Durchführung  derselben  an  den  einzelnen  Wissenszweigen,  wie 
Dialektik,  Rhetorik,  Moral-  und  Naturphilosophie,  Mathematik  und 
Metaphysik  klargemacht  werden,  so  daß  sie  geeignet  erscheine, 
einzuführen  in  die  höchsten  Probleme  der  spekulativen  wie  der 
realen  Wissenschaften. 

Die  bis  jetzt  nicht  veröffentlichte  Lehranweisung  des  Leichius 
entzieht  sich  infolge  ihrer  äußerst  mangelhaften  Überlieferung 
einer  vollständigen  Ansschöpfung  ihres  Inhaltes;  trotzdem  kann 
man  mit  Sicherheit  sagen,  daß  sie  in  untergeordneten  Punkten 
von  den  Aufstellungen  des  Velsius  abweicht.  Der  erste  Teil  ent- 
hält eine  mit  Beispielen  erläuterte  Anleitung  zur  Erteilung  eines 
gründlichen  lateinischen  und  griechischen  Anfangsunterrichtes. 
Als  Prinzip  wird  aufgestellt,  daß  am  Morgen  die  Regeln,  am  Mittag 
die  Anwendung  derselben  den  Gegenstand  des  Unterrichtes  bilden 
sollen.  Morgens  soll  der  Lehrer  z.  B.  die  lateinische  Formenlehre 
und  das  griechische  Alphabet,  mittags  ausgewählte  Briefe  Ciceros 
nach  der  Sammlung  des  Straßburger  Schulrektors  Joh.  Sturm  und 
das  griechische  Vater  unser  nach  dem  ebenfalls  1514  in  Straßburg 
erschienenen  Büchlein:  Elementale  Introductorium  in  Nominum 
et  Verborum  declinationes  Graecas  behandeln.  Am  Anfange  der 
Stunde  soll  er  kurz  und  klar  das  von  ihm  zu  behandelnde  Thema 
und  dessen  Teile  angeben,  dann  die  einzelnen  Regeln  oder  Sätze 
auseinandersetzen  und  sich  bei  seinen  Erklärungen  der  deutschen 
Sprache  bedienen.  Das  wird  insbesondere  an  einer  Lektion  über 
Wesen  und  Wert  der  lateinischen  Grammatik  und  an  der  Besprechung 
des  kleinen  Briefes  Cic.  ad  fam.  XIV  22  gezeigt.  Die  drei  Lectiones 
communes,  die  der  Übung  im  Deklinieren  und  Konjugieren  sowie 
der  Wiederholung  der  Regeln  und  der  Schriftstellerlektüre  dienen, 
sollen  morgens  von  7—8,  mittags  von  1 — 2  und  nachmittags  von 
4_5  Uhr  liegen,  die  beiden  ersten  im  Anschlüsse  an  eine  vor- 
hergehende Unterrichtsstunde,  die  letzte  als  Abschluß  des  ganzen 
Tagewerkes.  Die  Lehrer  der  untern  Klassen  sollen  sich  häufig 
über  die  Unterrichtsmethode  miteinander  austauschen.  Sie  sollen 
weniger  durch  Strenge  als  vielmehr  durch  Weckung  des  Ehrgefühls 
und  des  gegenseitigen  Wetteifers  auf  faule  und  widerspenstige 
Schüler  wirken.  Liebevolle  Behandlung  der  Schüler  soll  ihnen 
deren  Gegenliebe  gewinnen,  wissenschaftliche  Tüchtigkeit,  gereiftes 
Urteil  und  ehrbarer  Lebenswandel  ihre  Autorität  stützen.  Im  zweiten 


32 


Abschnitte  der  Rede  kommt  dann  die  Unterrichtsverteilung  und 
die  Lektüre  zur  Sprache.  Aristoteles  in  der  lateinischen  Übersetzung 
des  Benediktiners  Joachim  Perionius,  Plutarchs  Schrift  de  pueris 
instituendis,  Ciceros  Tuskulanen,  Livius,  Ovids  Tristia  und  des 
Rudolf  Agricola  drei  Bücher  de  inventione  dialectica  werden  hier 
genannt.  Schließlich  mahnt  Leichius  seine  Kollegen  zu  einträch- 
tiger Arbeit  an  der  Lösung  ihrer  „hochheiligen  Aufgabe".  Sie 
sollten  ihn  nicht  im  Stiche  lassen,  insbesondere  erst  nach  voraus- 
gegangener mehrmonatigen  Kündigung  ihre  Stellung  aufgeben; 
dann  werde  auch  er  ihnen  seine  Hilfe  in  allen  Stücken  ange- 
deihen  lassen. 

So  lückenhaft  auch  unsere  Kenntnis  der  Studiumreform  des 
Leichius  ist,  überall  leuchtet  doch  der  ernstliche  Wille  hervor,  auf 
wissenschaftlichem  wie  auf  pädagogischem  Gebiete  etwas  Tüchtiges 
zu  leisten.  So  kann  es  uns  nicht  wundern,  wenn  seine  Bestrebungen 
allgemeinen  Beifall  fanden:  beim  Rate,  der  die  Reform  in  die 
Wege  geleitet  hatte,  bei  der  Bürgerschaft,  die  ihre  Söhne  in  stets 
wachsender  Zahl  der  Anstalt  anvertraute,  bei  den  Kollegen,  die, 
soweit  sie  dem  Jesuitenorden  angehörten,  geradezu  ihr  Studien- 
und  Erziehungsideal  in  den  Leichiusschen  Maßnahmen  verwirklicht 
sahen.  Auch  bewilligte  der  Rat  dem  Regenten  zur  Erweiterung  der 
Anstalt  unterm  11.  April  1554  ein  Darlehn  von  100  Talern  und 
verpflichtete  die  Studenten  zur  Zahlung  von  „Hausgeld",  das  für 
die  reichern  zwölf,  für  die  armem  sechs  Albus  jährlich  betragen 
sollte.  Aber  die  schönen  Hoffnungen,  die  man  für  die  Zukunft 
der  neuen  Schule  und  ihres  Regenten  zu  hegen  wohl  berechtigt 
war,  sollten  sich  nicht  erfüllen. 

Von  vornherein  fühlte  sich  Leichius,  eine  mehr  auf  das  Theo- 
retische als  auf  das  Praktische  gerichtete  Natur,  zu  schwach  für 
die  schwere  Bürde,  die  auf  seine  Schultern  gelegt  war,  und  er 
vermochte  auch  tatsächlich  nicht,  eine  energische  Disziplin  durch- 
zuführen. Sodann  sahen  die  Regenten  der  andern  Gymnasien 
mit  Eifersucht  das  Anwachsen  der  Schülerzahl  des  Tricoronatum, 
die  Kollegen  des  Leichius  an  der  Universität  die  Verlegung  des 
Schwerpunktes  der  artistischen  Studien  aus  dieser  in  die  Burse. 
Verhängnisvoll  aber  wurden  für  Leichius  die  Verwicklungen,  in 
die  er  durch  seine  Freundschaft  mit  Velsius  geriet.  Während  letz- 
terer als  Anhänger  der  neuen  Lehre  immer  offener  hervortrat,  wußte 
er  auch  ersteren  für  seine  Anschauungen  mehr  und  mehr  zu 
gewinnen.  Die  Wandlung  spiegelt  sich  in  höchst  interessanter 
Weise  in   den   Briefen  wider,   die  zwischen    P.  Leonard  Kessel, 

3  33 


dem  Rektor  der  Jesuitenniederlassung  in  Köln,  und  seinen  Ordens- 
genossen Rethius  und  Hemerolus  in  Rom  gewechselt  wurden.  Im 
Jahre  1554  veröffentlichte  Velsius  seine  Krisis,  eine  Streitschrift,  in 
der  er  die  wahre,  christliche  Philosophie  der  antichristlichen  gegen- 
überstellte, zahlreiche  Anspielungen  auf  die  Sophismen  der  Theo- 
logieprofessoren machte  und  ein  furchtbares  Bild  der  Verheerung 
entwarf,  der  die  Jugend  an  der  Universität  anheimfalle.  Wie 
begreiflich,  erregte  das  Buch  bei  den  Kollegen  des  Velsius  den 
heftigsten  Unwillen,  und  gegen  seinen  Verfasser  leiteten  Kaiser, 
Erzbischof  und  Universität  im  Bunde  miteinander  die  erforderlichen 
Schritte  ein,  um  ihn  von  seinem  Lehrstuhl  zu  verdrängen.  Eine 
kräftige  Stütze  hatte  Velsius  anfangs  am  Rate,  der  nicht  zugeben 
wollte,  daß  ein  von  ihm  bezahlter  Professor  seines  Amtes  ent- 
hoben werde,  ohne  daß  man  dem  Rate  zur  Prüfung  der  Sach- 
lage und  dem  Angeklagten  zu  seiner  Verteidigung  Gelegenheit 
gebe.  Trotzdem  verhängte  die  Universität  unterm  11.  Dezember  1554 
über  Velsius  die  Ausschließung,  und  der  Rat  fühlte  sich  nicht  stark 
genug,  ihn  zu  halten.  Es  kam  ihm  daher  sehr  gelegen,  als  Velsius 
selbst  im  Januar  1555  seine  Professur  niederlegte.  Aber  nun  ent- 
brannte der  Kampf  erst  recht.  Velsius  kündigte  eine  öffentliche 
theologische  Vorlesung  an  und  eiferte  in  seinen  Schriften  immer 
heftiger  gegen  die  Universität,  die  kölnische  Kirche,  das  Provinzial- 
konzil,  den  Cölibat  der  Priester  und  die  Anbetung  der  Eucharistie. 
Nun  erging  an  ihn  zu  wiederholten  Malen  die  Aufforderung  des 
Rates,  die  Stadt  zu  verlassen,  ohne  daß  er  ihr  Folge  leistete. 
Endlich  mußte  er  sich  zu  Turm  begeben,  und  das  Inquisitions- 
verfahren wegen  „der  Schwärmerei  des  Wiedertaufs,  der  Sakra- 
mentirerei  und  anderer  verdammter  Sekten"  wurde  gegen  ihn 
eingeleitet.  Schon  schwebte  Velsius  in  größter  Lebensgefahr,  da 
führten  die  Interzessionsschreiben,  die  mehrere  Fürsten  zu  seinen 
Gunsten  an  den  Rat  richteten,  und  die  Furcht  vor  dem  starken 
Anhange,  den  er  unter  dem  Volke  hatte,  eine  mildere  Wendung 
seines  Schicksals  herbei:  nachdem  Velsius  sich  am  19.Dezember  1555 
schriftlich  zur  Augsburgischen  Konfession  bekannt  hatte,  wurde  er 
von  der  Inquisition  „als  Ketzer,  Blasphemator  und  des  Aufruhrs 
Verdächtiger  kondemniert  und,  damit  der  gelindeste  Weg  gegen 
ihn  vorgenommen  werde,  der  weltlichen  Gewalt  zur  Proskribierung 
und  Verweisung  aus  Stadt  und  Stift  Köln  überliefert".  Auch  gegen 
dieses  Urteil  erhob  Velsius  Einspruch,  und  so  brachte  man  ihn  in 
der  Nacht  vom  26.  auf  den  27.  März  1556  gewaltsam  in  einem 
Nachen  über  den  Rhein  auf  bergisches  Gebiet. 

34 


Um  dieselbe  Zeit,  wo  Velsius  seine  Krisis  veröffentlichte, 
geriet  auch  sein  Freund  Leichius  wegen  seiner  religiösen  An- 
schauungen mit  der  Universität  in  Konflikt:  er  heiratete  um  Johannis 
1554  und  erschütterte  durch  diesen  Schritt  seine  Stellung  als 
Inhaber  einer  Universitätspräbende  an  St.  Maria  ad  Gradus  wie 
auch  als  Regens  der  Kukanerburse.  Die  Schülerzahl  der  letztern 
nahm  allmählich  ab,  teils  weil  die  Bürgerschaft  an  ihm  irre  wurde, 
teils  weil  seine  alten  Neider,  die  Regenten  der  beiden  andern 
Gymnasien,  die  Gelegenheit  benutzten,  um  im  Trüben  zu  fischen. 
Indessen  dauerte  es  ein  volles  Jahr,  bis  von  seiten  des  Rates  und 
der  Universitätsprovisoren  die  Frage  erwogen  wurde,  ob  Leichius 
im  Amte  bleiben  könne  oder  nicht.  Einen  akuten  Charakter 
nahm  diese  erst  bei  der  Dekanatswahl  im  März  1556  an,  wo  nach 
der  üblichen  Reihenfolge  ein  Mitglied  der  Domus  Cucana  zum 
Dekan  erwählt  werden  sollte.  Die  Fakultät  weigerte  sich  dessen, 
so  lange  ein  Verheirateter  an  der  Spitze  des  Gymnasiums  stehe, 
und  verlangte  dringend  von  Leichius,  daß  er,  seinem  oft  gegebenen 
Versprechen  nachkommend,  auf  seine  Stelle  zugunsten  seines 
Bruders  Johannes  oder  eines  andern  Unverheirateten  verzichten 
solle.  Leichius  dagegen  betonte,  seine  Ehe  sei  weit  besser  als 
das  sittenlose  Junggesellenleben  anderer,  und  er  sei  nicht  weniger 
der  Führung  der  Regentschaft  wert  als  Leute,  die  sich  mit  Hab- 
sucht, Simonie  und  andern  Lastern  befleckt  hätten;  er  werde  sein 
Recht  mit  allen  Mitteln  verteidigen  und  nicht  eher  aus  der  Burse 
weichen,  bis  er  vom  Rate  dazu  genötigt  werde. 

Es  war  genau  an  dem  Tage  der  Ausweisung  des  Velsius,  als 
Leichius  die  angeführten  Worte  sprach.  Mit  rührender  Treue  trat 
er  nunmehr  für  den  Verbannten  ein  und  ließ  am  Dom  anschlagen, 
er  wolle  dessen  Vorgehen  öifentlich  verteidigen.  Das  Verhalten  des 
Leichius,  das  von  manchen  geradezu  als  Anzeichen  von  Geistes- 
störung betrachtet  wurde,  und  die  gänzliche  Verödung  der  Burse 
veranlaßten  nunmehr  den  Rat,  unterm  16.  Juni  mit  Leichius  in 
Unterhandlung  zu  treten,  damit  er  unter  Nachlaß  der  Schuld  von 
100  Talern  und  mehrerer  Jahre  Mietzins  die  Burse  räume.  Nach- 
dem  er  unterm  2.  Oktober  noch  vier  Monate  Ausstand  erhalten 
hatte,  um  sich  eine  neue  Wohnung  zu  suchen,  übergab  er  bald 
darauf  dem  neu  gewählten  Dekan  der  artistischen  Fakultät  die 
Akten  der  Burse  und  verzichtete  auf  sämtliche  Rechte  an  dieselbe. 
Am  28.  Januar  1557  verließ  er  das  Haus  und  lebte  bis  zu  seinem 
Tode  als  Privatlehrer  in  Köln,  immer  und  immer  wieder  belästigt 
von  Maßregelungen  und  Ausweisungsbefehlen  des  Rates,  der  nicht 

3«  35 


dulden  wollte,  daß  der  Katholizismus  durch  Lehrer  protestantischer 
Richtung  gefährdet  werde,  anderseits  aber  auch  den  Verdiensten 
des  ehemaligen  Leiters  seiner  Burse  zu  viel  Anerkennung  zollte, 
als  daß  er  den  äußersten  Schritt  getan  hätte.  „Anno  1584  den 
18.  sept."  —  so  erzählt  uns  das  Buch  Weinsberg  III,  S.  248  — 
„starb  meister  Jacobus  Lichius,  ein  gutter  grammaticus  und  ler- 
meister  uff  S.  Marvirnstrais  (d.  i.  Machabäerstraße),  vor  burgers 
und  fremder,  edel  und  unedel  kinder,  guttes  wandeis  und  1er, 
aber  nit  cattolischer,  colnischer,  bruchlicher  religion.  Vor  etlichen 
jarn  wart  im  prebenda  universitatis  de  prima  gratia  von  provisorn 
geben  ad  Gradus  Marie;  der  begert  er  folgens  nit,  resigneirte 
sie  sinem  broder,  her  Kochern,  nam  ein  ehefraue,  die  cattolischs 
pleib,  dabei  er  sie  leis,  und  sich  armlich  der  leerkinder  ernerte 
lange  zit  van  jaren,  still  hilf,  gelitten  wart.  Er  wurde  auf  dem 
Geussenfriedhof  vor  der  Weyerpforte  (an  der  Stelle  des  jetzigen 
evangelischen  Krankenhauses)  begraben." 

Nur  wenige  Jahre  war  es  Leichius  und  Velsius  beschieden, 
miteinander  für  die  Reform  des  Kölner  Schulwesens  tätig  zu  sein, 
und  nur  zu  bald  wurde  ihr  fruchtreiches  pädagogisches  Wirken 
in  den  religiösen  Streitigkeiten  erstickt,  in  die  sie  sich  verwickelten. 
Aber  ihr  Werk  hat  sie  um  Jahrhunderte  überlebt:  die  humanistische 
Bildung,  die  sie  in  Köln  eingeführt  haben,  zählt  hier  auch  heute 
noch  Tausende  von  begeisterten  Anhängern,  und  wenn  das  Mar- 
zellengj'mnasium  als  humanistische  Lehranstalt  in  sein  neues  Heim 
einzieht,  so  verdankt  es  das  zunächst  der  Wirksamkeit  eines  Leichius 
und  Velsius. 


Literatur. 

Handschriften:  Matrikel  der  Kölner  Universität,  Bd.  IV.  —  Dekanatsbuch 
der  Artistenfakultät,  Bd.  IV.  —  Ratsprotokolle,  Bd.  15-25.  —  Jesuiten-Akten  9. 
—  Universitäts-Akten  602.  Sämtlich  im  Kölner  Stadtarchiv.  Vergl.  Mitteilungen 
aus  dem  Stadtarchiv  von  Köln  33,  1911,  S.  141  ff.  und  S  148  ff. 

Druckwerke:  J.  Hartzheim,  Bibliotheca  Coloniensis,  Col.  1747.  — 
F.  Reiffenberg,  Historia  Societatis  Jesu  ad  Rhenum  inferiorem,  Col.  1754.  — 
J.  von  Bianco,  Die  alte  Universität  Köln  I,  Köln  1855.  —  L.  Ennen,  Geschichte 
der  Stadt  Köln  IV,  Köln  und  Neuß  1875,  S.  667  ff.  —  F.  Paulsen,  Geschichte 
des  gelehrten  Unterrichts,  Leipzig  1885.  —  J.Hansen,  Rheinische  Akten  zur 
Geschichte  des  Jesuitenordens  1542-1582,  Bonn  1895.  —  Gast.  Wolf,  Aus  Kur- 
köln im  16.  Jahrhundert,  Berlin  1905,  109  ff.  —  Simons,  Kölnische  Konsistorial- 
Beschlüsse  1572-1596,  Bonn  1905,  S.  5  und  11.  —  F.  Meyer,  Der  Schulplan  für 
das  Dreikronenkolleg  in  Köln  1552,  in  den  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für 
deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  18,  1908,  S.  23  ff. 

36 


Nalus  ColontafVbiorxcm. 
A  ?  XrT  MEBOCXIl.labcnte . 
Dies  hactervua  incomncrta. 


ftretiltb.DnolDcaRETDTao   1^3  4 
V"  et  alttTaunvConsulc.Matre 
N.KAVNE.GIE  5  S  EKConsulaiT,. 


Obyt  ibklc'uiplaura  .S.Maxrmx-m- 
A*  is-r*.  diclo.  Octco .  inimatiira. 
xnortK,  ontTuvT  Ordmimi  larrymi5 
adS.  PAVLL  Sepultu^ 


H«rtmu»  exüui^iu  rrcubakiii  10\eX)vS  orc 
Nunc  vmi  ad  TKjTinanvsurCTUlinaQO.PArtUÄ' 

'lias  erdL,<)uuido  CICEHDNIS  tnore  lonahal, 
iSJui  prataiui.lemu,6rugticra.Rostra  replm« 


jttatXLllnoTuiisi  currcnfe , 

Vir  aivnis  aAeo  pauci3,raaxum 
;^li,ctUiborLS  uuLclf.ssi.  ,  de  pa- 
Iria  CXlLONLAoptimc  mcTitus. 

Est  triplfx  n\eT\io  parta  COfayrt/l  vivo  i 
Priinafirii  Soc'aaS,'\'»WO£u>taliei:a  Cta\D, 
VfbijCgjl3PJ*IA?tiTtiaparta  fuit  . 


Z  ialnda.  mortuali  ijL  'Vitium.  deUneai-us  tt  Jcul-atia  ßrmo  vost  xrm  -nahon. 

lEiVs   MtA    DeLeCtatIo 


Johannes  Rethius. 

Von  Prof.  Dr.  Jos.  KLINKENBERG. 

Unter  den  Schülern,  die  Leichius  an  der  Dreikronenburse 
ausgebildet  hat,  ist  für  seine  Zeitgenossen  und  zumal 
seine  Mitbürger  in  religiöser  wie  in  erziehlicher  Hinsicht 
keiner  bedeutsamer  geworden  als  JOHANNES  RETHIUS,  der  Mann, 
der  berufen  war,  seinem  Lehrer  in  der  Leitung  des  Gymnasiums 
nachzufolgen  und  letzterm  auf  mehrere  Jahrhunderte  hinaus  den 
Stempel  seines  Geistes  aufzudrücken. 


37 


JOHANN  VON  RlEDT  oder  REIDT,  latinisiert  RlEDTUS  oder  RETHIUS 
• —  so  hat  er  selbst  seinen  Namen  geschrieben,  während  die  Spätem 
RHETIUS  schreiben  —  stammte  väterlicher-  und  mütterlicherseits 
aus  Kölner  Bürgermeisterfamiiien.  Der  gleichnamige  Vater  bekleidete 
im  Jahre  1532,  dem  Geburtsjahre  seines  ältesten  Sohnes  Johannes, 
zum  vierten  Male  das  höchste  reichsstädtische  Amt,  das  er  im 
ganzen  fünfmal  inne  hatte;  die  Mutter,  Katharina  Kannengießer, 
war  die  Tochter  des  Bürgermeisters  Gotthard  Kannengießer  und 
der  Bürgermeisterstochter  Katharina  Rinck.  Der  Vater  stand  in 
freundsciiaftlichen  Beziehungen  zu  den  Humanisten  Desiderius 
Erasmus,  Johannes  Caesarius  und  Jacobus  Sobius,  von  denen 
letzterer  ihm  1525  seine  Liviusausgabe  widmete.  Vom  Vater  erbte 
der  hochbegabte  Knabe  seine  Vorliebe  für  die  klassischen  Sprachen; 
die  Mutter,  die  nach  dem  vorzeitigen  Tode  des  Vaters  die  Erziehung 
der  Kinder  leitete,  flößte  ihm  eine  tiefe  Frömmigkeit  und  warme 
Anhänglichkeit  an  die  katholische  Kirche  ein.  Seine  erste  Aus- 
bildung genoß  er  in  der  Vaterstadt,  wo  er  am  19.  Juni  1546  als 
Artist  immatrikuliert  wurde.  Er  besuchte  die  Kukanerburse,  deren 
Lehrer  Gottfried  Wylich  und  Jacobus  Leichius  er  stets  mit  großer 
Verehrung  und  Dankbarkeit  nennt,  wurde  als  Zögling  derselben 
am  2.  November  1548  zur  Baccalaureatsprüfung  zugelassen  und 
am  1.  April  1549  promoviert.  Am  3.  März  1550  erfolgte  seine 
Ernennung  zum  Lizentiaten  und  am  15.  März  desselben  Jahres 
seine  Promotion  zum  Magister  artium.  Wie  er  selbst  in  einem 
Briefe  erzählt,  hat  er  einen  Teil  seiner  Studienzeit  in  Westfalen 
zugebracht.  Man  darf  annehmen,  daß  er  zu  der  Zeit,  wo  die 
Kukanerburse  im  Niedergange  begriffen  war,  von  der  Mutter  an 
das  Gymnasium  in  Münster  geschickt  wurde,  wo  der  Freund  des 
Vaters  Caesarius  wirkte. 

Bestimmend  für  das  ganze  Leben  des  jungen  Magisters  wurde 
seine  Bekanntschaft  mit  P.  LEONARD  KESSEL,  dem  ebenso  gewandten 
wie  tatkräftigen  ersten  Rektor  der  Kölner  Jesuitenniederlassung. 
Von  einem  Verwandten  seiner  Mutter,  Peter  Kannengießer,  bei 
ihm  eingeführt,  gewann  er  bald  dessen  lebhafteste  Sympathie  und 
machte  seinerseits  Kessel  zu  seinem  Seelenführer.  „Es  ist  ein 
vorzüglicher  Jüngling"  —  so  schreibt  dieser  über  ihn  an  Ignatius  — 
„von  reinen  Sitten,  gütig  und  liebenswürdig  im  Umgang."  An- 
fangs schwankte  Rethius  noch,  ob  er  sich  für  den  Ehestand  oder 
die  Ehelosigkeit  entscheiden  sollte,  und  eine  Studienreise  nach 
Paris,  die  er  1550  antrat,  hätte  ihn  beinahe  den  Strudeln  eines 
leichtsinnigen  Lebens  überantwortet;  als  er  aber  wegen  des  Krieges 

38 


nach  Köln  zurückkehrte  und  seine  Beziehungen  zu  Kessel  immer 
inniger  wurden,  da  war  noch  vor  Ablauf  des  Jahres  der  Entschluß 
bei  ihm  gereift,  nicht  nur  ehelos  zu  bleiben,  sondern  auch  dem 
Jesuitenorden  beizutreten.  Zunächst  war  er  nur  heimliches  Mit- 
glied der  Gesellschaft,  aber  schon  damals  ein  begeisterter  Förderer 

ihrer    Interessen.    Mit 

nämlich  Kessel  die 
Erfüllung  des  langge- 
hegten Wunsches,  den 
Jesuiten  die  höhere 
Lehrtätigkeit  zu  eröff- 
nen. Auf  Kessels  Ver- 
anlassung bestimmte 
Rethius  den  Regens 
Leichius,  mit  dem  er 
seit  seiner  Schülerzeit 
gute  Beziehungen  un- 
terhalten hatte,  ihn  als 
Lehrer  an  der  Drei- 
kronenburse  anzuneh- 
men, und  so  unterrich- 
tete nun  der  vornehme 
junge  Magister  seit 
Ostern  1552  täglich 
zwei  Stunden  die  Gram- 
matici,  d.  h.  die  Schüler 
der  untern  Klassen. 
Leichius  fragte  ihn  auch  viel  um  Rat  und  betraute  ihn  mit  seiner 
Stellvertretung  bei  Tisch,  ja  seit  August  wohnte  Rethius  vollständig 
in  der  Burse.  In  einem  interessanten  Briefe  aus  dem  Herbste  des- 
selben Jahres  ist  uns  seine  damalige  Tagesordnung  erhalten,  die 
sich  aus  religiösen  Übungen,  Studium  und  Unterricht  zusammen- 
setzt. Täglich  steht  er  um  4—5  Uhr  auf.  An  den  Wochentagen 
wird  darauf  eine  Stunde  der  Betrachtung  und  dem  Gebet  gewid- 
met. Dann  folgt  Studium  bis  zur  Messe  um  6  Uhr.  Um  8  Uhr 
hört  er  Hebräisch,  wiederholt  um  9  Uhr  die  Vorlesung,  erklärt 
den  Schülern  um  1  Uhr  Ciceros  Briefe  ad  familiäres  und  Cäsars 
Commentarien,  treibt  von  2—4  Uhr  selbst  Klassikerlektüre,  liest 
mit  den  Schülern  um  4  Uhr  Reden  aus  Livius  und  Ovids  Tristia, 
beschäftigt  sich   von  5  Uhr  ab   mit  leichterer  Lektüre  und  hält 


3ic  oculos.stcora.n-ianjLEONARDEferebaS, 
DumLOlOI^  absens  sisicret  ora  tibi 


39 


nach  dem  Abendessen  noch  eine  halbstündige  Gewissenser- 
forschung. Dienstags  nach  Tisch  besucht  er  seine  Mutter  und 
sucht  Erholung  in  angenehmer  Unterhaltung;  Samstags  um  3  Uhr 
geht  er  zur  Beichte  und  bereitet  sich  nach  dem  Abendessen 
besonders  auf  die  morgige  Kommunion  vor.  Die  Morgenfrühe 
des  Sonntags  widmet  er  einer  einstündigen  Betrachtung,  dem 
Empfang  der  hl.  Kommunion  in  der  Messe  und,  wenn  möglich, 
dem  Anhören  der  Predigt.  Dann  folgt  abwechselnd  Studium  und 
Gebet.  Um  3V4  Uhr  hält  er  Gewissenserforschung;  um  4  Uhr 
erklärt  er  den  Schülern  die  Parabeln  Salomons.  Mit  seinem 
eigenen  Studium  verfolgt  er  den  Zweck,  ein  tüchtiger  Mensch  und 
ein  gewandter  Verkünder  des  Evangeliums  zu  werden.  „Darum 
beschäftige  ich  mich  fleißig  mit  der  Redekunst,  lese  eifrig  Cicero, 
ahme  ihn  in  Stilübungen  nach,  vernachlässige  das  Deutsche 
nicht,  studiere  das  Hebräische  und  will  gegen  den  Sommer  auch 
zum  Griechischen  zurückkehren." 

Der  Regens  Leichius,  der  von  vornherein  die  Leitung  der  Schule 
als  eine  drückende  Last  empfand,  bezeichnete  wiederholt  im  Privat- 
gespräch den  tüchtigen  und  tatkräftigen  Magister  als  geeignet  für 
diesen  Posten,  und  Rethius  fühlte  auch  Lust  und  Kraft  in  sich,  zu 
Nutz  und  Frommen  seiner  Vaterstadt  und  der  Gesellschaft  Jesu  dem- 
selben vorzustehen.  Aber  seine  dahin  zielende  Anfrage  fand  einst- 
weilen kein  Gehör.  So  sehr  sich  Ignatius  über  die  glückliche  Wen- 
dung freute,  so  wollte  er  doch  die  junge  Kölner  Niederlassung  nicht 
gebunden  wissen,  und  Kessel  war  schon  lange  der  Meinung,  der 
hoffnungsvolle  Novize  werde  noch  größere  Fortschritte  machen, 
wenn  er  das  Leben  im  römischen  Kolleg  der  Gesellschaft  Jesu 
kennen  lernen  würde.  Sein  Gedanke  kam  zur  Ausführung.  Ohne 
Vorwissen  ihrer  Eltern  reisten  am  Karfreitag  1553  die  drei  Magister 
Johannes  Rethius,  Franz  Coster  und  Gerhard  Brassica  nach  Rom  ab; 
den  ersten  begleiteten  auf  ihren  dringenden  Wunsch  seine  beiden 
Schüler  Andreas  Lynner  und  Franz  Dachverlies  (Hemerolus). 
Die  Reise,  deren  große  Beschwerden  Brassica  in  einem  Briefe  an 
Kessel  anschaulich  schildert,  ging  durch  Württemberg  über  Trient 
und  Venedig.  Auch  jetzt  wurde  das  Studium  nicht  vernachlässigt. 
In  der  Morgenfrühe  unterrichtete  Rethius  den  Lynner  und  Hemerolus 
in  lateinischer  Grammatik,  um  darauf  mit  Coster  und  Brassica 
hebräische  und  griechische  Grammatik  zu  treiben.  Am  20.  Mai, 
dem  Tage  vor  Pfingsten,  langte  die  Reisegesellschaft  sehr  erschöpft 
in  Rom  an.  Auf  höhere  Anordnung  studierte  Rethius  zunächst 
ein  Jahr  Philosophie,  um  dann  zur  Theologie  überzugehen    Kurz 

40 


vor  seiner  Abreise  im  Mai  1556  empfing  er  die  Priesterweihe  und 
traf  am  22.  Juni  in  Köln  ein,  begeistert  für  die  Aufgaben  des 
Jesuitenordens,  der,  wie  er  selbst  in  Briefen  aus  Rom  u.  a.  an 
den  spätem  Syndikus  der  Hansa  HEINRICH  Sudermann  ausführt, 
die  Ehre  Gottes  und  die  Wohlfahrt  des  Nächsten  in  jeder  Weise 
fördern,  das  Leben  dem  der  ersten  Christen  möglichst  ähnlich  gestal- 
ten und  die  zu  Ämtern  in  Staat  und  Kirche  berufene  Jugend  zur 
Wissenschaft,    Sittlichkeit    und    Frömmigkeit    heranbilden    wolle. 

Die  Lösung  dieser 
Aufgaben  in  die  Hand 
zu  nehmen  sollte 
Rethius  bald  reiche 
Gelegenheit  finden. 
Nach  längerem  Zö- 
gern hatte  sich  näm- 
lich Ignatius  auf  An- 
suchen der  Freunde 
der  Gesellschaft,  zu- 
mal des  Priors  der 
Kartäuser,  entschlos- 
sen, der  Gründung  ei- 
nes Jesuitenkollegs  in 
Köln  näher  zutreten. 
Heinrich  dionysius, 
Franz  coster,  Jo- 
hannes RETHIUS  und 
Heinrich  Somalius  wurden  von  Rom  abgeschickt,  um  unter 
Leitung  Kessels  den  Grundstock  desselben  zu  bilden.  Sie  hatten 
die  Weisung  erhalten,  zunächst  mit  den  Kölner  Freunden  Füh- 
lung zu  nehmen,  in  Predigten  und  Privatunterhaltungen  für 
die  katholische  Sache  tätig  zu  sein  und,  so  lange  die  Grün- 
dung eines  eigenen  Kollegs  noch  nicht  möglich  sei,  in  andern 
Schulen  zu  unterrichten.  Nun  hatte  der  Rat  nur  wenige  Tage 
vor  ihrer  Ankunft  Leichius  auffordern  lassen,  die  Burse  zu 
räumen,  und  die  Provisoren  angewiesen,  sie  sollten  „verdacht 
sein  uf  eine  bequeme  gelerte  person,  denselben  zum  regenten 
vorzuschlagen".  Daher  wandten  sich  Heinrich  Dionysius,  Franz 
Coster  und  Johannes  Rethius  noch  im  Juni  mit  einer  Ein- 
gabe an  den  Rat,  in  der  sie  sich  zunächst  zur  Abhaltung  von 
täglich  drei  theologischen  und  einer  mathematischen  Vorlesung 
erboten,  die    in   der  letzten  Zeit  fast  unterblieben  waren,  sodann 


Heinr.  Sudermann. 


41 


um  Überlassung  der  Dreikronenburse  anhielten  unter  dem  Ver- 
sprechen, der  katholischen  Religion  treu  zu  bleiben,  kein  Kloster 
oder  Kollegium  in  Köln  zu  errichten,  keine  dem  Rate  mißliebigen 
Mitglieder  der  Gesellschaft  hierher  zu  bringen,  die  Universitäts- 
statuten treu  zu  beobachten,  mit  den  andern  Bursen  sich  gut  zu 
vertragen  und  die  Dreikronenburse,  falls  der  Rat  es  befehlen  sollte, 
sofort  aufzugeben.  Kurze  Zeit  nach  Überreichung  der  Eingabe 
waren  die  drei  Bittsteller  zu  Baccalaurei  der  Theologie  promoviert 
worden;  Dionysius  hatte  eine  Vorlesung  über  die  Psalmen  unter 
großem  Beifall  seiner  zahlreichen  Zuhörerschaft  aufgenommen, 
Rethius  und  Coster  solche  über  das  Matthäusevangelium  und  die 
Genesis  in  Aussicht  gestellt.  Infolgedessen  war  die  Universität 
den  Bittstellern  geneigt:  der  Senat  entschied  in  ihrem  Sinne, 
ernannte  Rethius  zum  Regens  des  Gymnasiums  und  verlangte  von 
den  Petenten  außer  der  Erfüllung  der  von  ihnen  gemachten  Ver- 
sprechungen nur  noch  die  Versicherung,  daß  sie  keinen  Schüler 
zum  Eintritt  in  die  Gesellschaft  Jesu  verlocken  und  ihr  Gesuch 
um  die  Burse  alle  zwei  Jahre  erneuern  wollten.  Aber  der  Rat 
schlug  einige  Tage  später  infolge  mißgünstiger  Berichterstattung 
der  Delegierten  der  Universität  das  Gesuch  rundweg  ab.  Infolge- 
dessen reichten  die  drei  Jesuiten  ein  neues  Gesuch  an  den  Rat 
ein,  das  von  ihrem  Gönner  DR.  JOH.  GROPPER,  Scholarchen  an 
St.  Gereon,  verfaßt  war.  Es  betont  die  Bestätigung  der  Gesell- 
schaft Jesu  durch  den  Papst  und  das  Ansehen,  dessen  sich  ihre 
Mitglieder  als  Priester,  Prediger  und  Lehrer  bei  den  katholischen 
Fürsten  erfreuen,  und  will  auf  diese  Weise  die  Bedenken  aus- 
räumen, die  sich  gegen  ihre  Zulassung  zum  Tricoronatum  er- 
heben könnten.  Aber  trotz  der  Fürsprache  der  beiden  Doktoren 
Gropper  und  des  Karmeliterprovinzials  hatte  auch  diese  Bittschrift 
wenig  Aussicht.  Da  erfuhr  Rethius  von  dem  Sohne  des  Bürger- 
meisters Hermann  Sudermann,  des  besonderen  Gönners  der 
Dreikronenburse  und  des  Jesuitenordens,  daß  der  Rat  lediglich 
der  Gesellschaft  Jesu  die  Burse  nicht  überlassen  wolle;  wenn 
Rethius  für  seine  Person  um  dieselbe  einkomme,  werde  kein 
Hindernis  im  Wege  stehen.  Nun  richtete  Rethius  allein  eine  dritte 
„Supplikation"  um  die  Burse  an  den  Rat,  in  der  er  kurz  und  bündig 
erklärte:  „will  mich  also  dorin  durch  gottes  hilf  halten,  daß  ich 
verhoff,  man  nutz  und  ehr  von  mir  wirt  haben".  Am  27.  November 
entschied  der  Rat  zu  seinen  Gunsten,  daß  „ime  die  burse  erlaubt 
und  zugelassen  uf  2  iar  zu  versichen,  doch  sol  er  jarlich  uf  die 
fridagsrentkamer  zins  bezalen  25  goldgulden".   Nachdem  Leichius 

42 


am  28.  Januar  1557  die  Burse  geräumt  hatte,  zog  Rethius  am 
1.  Februar  ein  und  eröffnete  am  14.  Februar  den  Unterricht  in 
drei  Klassen  nach  einem  Stundenplan,  der  an  den  Türen  des 
Domes,  der  Pfarrkirche  St.  Maria  im  Pesch,  der  Stifskirche  St.  Maria 
ad  Gradus,  des  Trankgassentores  und  der  Burse  selbst  angeschlagen 
war  und  von  Rethius  Hand  geschrieben  in  den  Fasti  et  ephemerides 
Gymnasii  novi  triam  coronarum  S.  J.  Coloniensis  (Stadtarchiv, 
Univ.-Akten  604)  fol.  17  vorliegt.  Schon  die  Einleitungsvorträge 
des  Rethius  in  Ciceros  Rede  pro  lege  Manilia  und  dessen  partitiones 
oratoriae  sowie  Costers  in  die  Analytica  priora  des  Aristoteles 
richteten  die  Aufmerksamkeit  aller  gebildeten  Kreise  Kölns  auf  das 
neue  Gymnasium  und  gewannen  ihm  eine  nicht  unerhebliche  Anzahl 
von  Schülern  und  Gönnern.  Aber  die  zwei  noch  übrigen  Monate 
des  Wintersemesters  bildeten  nur  das  Vorspiel  für  die  eigentliche 
Tätigkeit  der  Schule:  diese  setzte  erst  vollständig  ein  mit  dem 
Sommersemester,  dessen  Lehrplan  Rethius  am  25.  April  veröffent- 
lichen und  nicht  nur  allenthalben  in  Deutschland,  zumal  in 
denjenigen  Gegenden,  die  der  neuen  Lehre  anhingen,  sondern 
auch  in  den  Niederlanden,  der  Schweiz,  Frankreich,  Italien,  Ungarn 
und  England  verbreiten  ließ.  Er  lautet  nach  Univ.-Akten  604 
fol.  19  folgendermaßen: 

Tabula  Lectionum  huius  Coronarum  Collegii. 

In  classe  Dialecticorum 
praelegentur 

Hora  sexta  matutina  voces  Porphirii:  deinde 
Aristotelis  Cathegoriae  et  de  interpretatione  liber. 
Hora  septima  lectionis.fiet  repetitio  iuncta  disputatione. 
Hora  duodecima  Aristotelis  Analytica  priora  et  posteriora. 
Hora    prima    lectionis    repetitioni    quoque    adiungetur 
disputatio. 

Hora  quarta  Sphera  mundi  Joannis  Sacrobusti. 
Diebus  Veneris  hora  quarta  vespertina  disputabitur. 


M.  Fran- 

ciscus 

Costerus 


M. 
Henricus 
Dionysius 

M.  Fran- 

ciscus 
Costerus 


Sabatinis  eadem  hora  Epistola  et  Evangelium  legentur. 

Dominicis  hora  duodecima  Euchlidis  Megarensis  Geo- 
methricorum  elementorum  libri  praelegentur  et  iisdem 
diebus  hora  quarta  exponetur  Summa  doctrinae  christia- 
nae  in  usum  christianae  pueritiae  per  quaestiones  recens 


43 


M.  Fran- 

ciscus 

Costerus 


conscripta  et  iussu  ac  auctoritate  sacratissimae  Rom. 
Hung.  Bohem.  etc.  Regiae  Maiesta.  edita.  Reliquis  porro 
festivis  diebus  et  in  iisdem  exercebuntur  auctoribus  et 
praeterea  mane  hora  sexta  explicationi  Epistolae  et 
Evangelii  illius  diei  intererunt. 

In  classe  Rhetorum 

Hora  sexta  Marci  Tullii  Ciceronis  Philippicae  in  Marcum 

Antonium. 

Hora  septima  lectione  hac  prius  repetita  adolescentum 

compositiones  corrigentur. 

Hora  duodecima  Ciceronis  de  partitione  Oratoria  dia- 

logus. 

Hora  prima  idem  fiet  quod  mane  hora  septima. 

Hora  quarta  Tabulae  Diaiectices  Cornelii  Valerii. 

Diebus  Sabatinis  et  Dominicis  hora  quarta,  et  cae- 
teris  diebus  festivis  etiam  hora  sexta  his  lectiones 
communes  erunt  cum  Diaiecticis.  Sed  Dominicis  die- 
bus hora  duodecima  unus  eorum  orationem  pronuntiabit, 
et  in  caeteris  festis  eadem  hora  Tabulas  Cornelii  Va- 
lerii andient. 

In  Prima  classe  Grammaticorum 
Hora   sexta  et  septima   Opus  Joannis  Despauterii  de 
Syntaxi  seu  emendata  Structura  latini  sermonis. 
Hora  nona  M.  Tullii  Ciceronis  Laelius   sive  de  ami- 
citia  dialogus  ad  T.  Pomponium  Atticum. 
Hora  duodecima  et  prima  M.  Tullii  Ciceronis  Epistu- 
larum  libri  XVI. 

Hora  quarta  rursum  Despauterius  de  emendata  Struc- 
tura latini  sermonis. 

In  secunda  classe  Grammaticorum 

Hora   sexta   et   septima  Despauterius  de  generibus  ac 

declinationibus  nominum. 

Hora    nona  M.  T.   Ciceronis   Selectarum  Epistolarum 

libri  tres. 

Hora   duodecima  et  prima  Despauterii   de  nominibus 

Heteroclitis,  formis  comparationum,  et  verborum  prae- 

teritis  atque  supinis  tractatus. 

Hora  quarta  rursum  Ciceronis  selectae  epistolae. 


44 


In  utroque  porro  Grammaticorum  ordine  iuvenum 
compositiones  praeceptores  emendabunt  et  saepius 
quotidie  lectiones  repetent.  Diebus  praeterea  sabatinis 
Epistolam  et  Evangelium  sequentis  diei  exponent:  id 
quod  iis  diebus  qui  sanctis  consecrati  sunt  mane  hora 
septima  et  meridie  hora  duodecima  fiet.  Quarta  denique 
hora  Catechismum  iilum  brevem,  qui  doctrinae  chris- 
tianae  compendium  est,  studiose  discent:  et  Dominicis 
diebus  hora  duodecima  studiosum  Rhetoricae  orantem 
audient. 

Dominus  noster  Jesus  Christus,  quo  adiuvante 
plures  huius  modi  iabores  in  vestram  utilitatem  post- 
hac  suscipiemus,  conatus  nostros  propitius  intueatur. 
Der  Studienplan  weist,  wie  das  in  der  Natur  der  Sache  liegt, 
nahe  Beziehungen  zu  der  Kölner  wie  zu  den  niederländischen 
Humanistenschulen  auf.  Das  Gymnasium,  mit  drei  Klassen  eröffnet, 
hat  jetzt  deren  vier,  und  sechs  Lehrer.  Der  Studiengang  führt  nach 
altbewährter  Weise  durch  Grammatik,  Beredsamkeit  und  Philosophie 
zu  den  akademischen  Fächern  im  eigentlichen  Sinne  empor.  Wie 
damals  allgemein  üblich,  herrscht  das  Klassenlehrersystem.  Die 
Schulstunden  liegen  wie  bei  Leichius  von  6 — 8,  von  12 — 2  und 
von  4 — 5  Uhr;  die  Grammatikklassen  haben  außerdem  eine  Stunde 
um  9  Uhr.  Wegen  der  äußerst  beschränkten  Zahl  der  Lehrfächer 
ist  der  Stundenplan  für  alle  Wochentage  im  wesentlichen  gleich; 
auch  an  den  Sonn-  und  Feiertagen  finden  mehrere  Unterrichts- 
stunden statt.  Die  beiden  Unterklassen,  die  sog.  Grammatici,  be- 
schäftigen sich  lediglich  mit  dem  Studium  des  Lateinischen.  Sie 
lesen  Cicero,  die  Anfänger  seleclarum  Epistolarum  libri  tres,  eine  von 
Heinrich  Somalius  besorgte  Sammlung  kurzer  und  leichter  Briefe,  die 
Rethius  herausgegeben  hatte,  zweifelsohne  um  die  Sturmsche  Samm- 
lung zu  verdrängen.  Die  Grammatik  wird  betrieben  nach  den  ,,Gram- 
maticae  institutionis  rudimenta"  und  den  ,,Commentarii  grammatici" 
des  JOHANNES  DESPAUTERIUS  (van  Pauteren),  eines  aus  Ninove  in 
Flandern  stammenden  Humanisten  und  Schulmannes  (t  1526). 
Schriftliche  Arbeiten,  die  vom  Lehrer  zu  verbessern  sind,  und 
tägliche  Wiederholungen  unter  seiner  Leitung  dienen  zur  Befestigung 
des  Lernstoffes.  Samstags,  anscheinend  um  4  Uhr,  und  Festtags 
um  7  und  12  Uhr  hören  beide  Klassen  die  Erklärung  der  sonn- 
oder  festtäglichen  Epistel  und  des  Evangeliums,  um  4  Uhr  —  es 
ist  wohl  an  den  Sonn-  und  Feiertagen  gemeint  —  lernen  sie  den 
von  P.  Nicolaus  Goudanus  hergestellten  Auszug  aus  dem  Katechis- 

46 


mus  des  Canisius,  den  Rethius  hatte  drucken  lassen,  am  Sonntag 
um  12  Uhr  wohnen  sie  dem  Vortrag  eines  Schülers  der  Rhetorik 
bei.  Als  Klassenlehrer  der  vereinigten  Grammatik  war  anfangs 
Magister  Johannes  de  Cathena  tätig;  an  seine  Stelle  traten  schon 
am  8.  März  die  eben  promovierten  Magister  Gregorius  Fabius 
aus  Dinant  für  die  Oberstufe  und  Johannes  Berckelius  aus  Her- 
zogenbusch für  die  Unterstufe.  —  Ihrem  Namen  entsprechend 
beschäftigt  sich  die  Rhetorikerklasse  unter  Leitung  ihres  Klassen- 
lehrers Rethius  mit  den  Meisterwerken  Ciceronischer  Beredsamkeit, 
den  Philippischen  Reden  gegen  M.  Antonius,  und  dem  Kompendium 
ihrer  Theorie,  dem  Dialog  de  partitione  oratoria,  sodann  unter 
Leitung  des  Joh.  de  Cathena  mit  den  Tabulae  dialectices  CORNELII 
Valerii  (Wouters),  eines  berühmten  Ciceronianers  aus  Oudewater 
bei  Utrecht,  der  Schüler  und  Lehrer  an  dem  Collegium  trilingue 
in  Löwen  war  (|  1578).  Sonntags  12  Uhr  findet  die  Rede  eines 
Schülers,  Festtags  12  Uhr  Vortrag  aus  den  Tabulae  dialectices 
statt.  Gemeinsam  mit  den  Schülern  der  Dialektik  haben  die 
Rhetoriker  Samstags  um  4  Uhr  Erklärung  der  Epistel  und  des 
Evangeliums,  Sonntags  um  4  Uhr  Erläuterung  des  Canisiusschen 
Katechismus.  —  In  der  obersten  Klasse,  der  Dialektik,  werden  die 
logischen  Schriften  des  Aristoteles  in  der  Übersetzung  des 
JOACHIM  Perionius,  die  Einleitung  des  Neuplatonikers  Porphyrius 
zu  denselben,  die  Sphaera  mundi  des  JOHANNES  Sacrobosco,  ein 
astronomisches  Lehrbuch  des  13.  Jahrhunderts,  und  an  den 
Sonn-  und  Festtagen  die  Elemente  der  Geometrie  nach  Euclid 
von  dem  Klassenlehrer  Coster  behandelt;  den  philosophischen 
Vorträgen  folgt  stets  eine  Stunde  Repetition  und  Disputation. 
Freitags  um  4  Uhr  ist  große  Disputation,  an  den  Festtagen  um 
6  Uhr  morgens  die  Erklärung  der  Epistel  und  des  Evangeliums. 
Die  Entwicklung  der  jungen  Anstalt  ging  erstaunlich  rasch 
vorwärts.  Sie  vollzog  sich  bis  zum  Sommer  1561  in  der  Weise, 
daß  gleich  dem  grammatischen  Kursus  nun  auch  der  rhetorische 
und  philosophische  je  zwei  Klassen  umfaßte,  jener  die  Poetik  und 
Rhetorik,  dieser  die  Logik  und  Physik.  Das  Sechsklassensystem 
ist  von  nun  an  die  charakteristische  Form  der  Kölner  Jesuiten- 
schule geblieben.  Wenn  seit  1609  eine  dritte  Grammatikklasse, 
die  sogenannte  infima  Grammatica  erscheint,  so  ist  sie  nur  als  Vor- 
schule zu  betrachten;  ebenso  steht  außerhalb  des  Systems  die 
schon  im  Lehrplan  für  das  Wintersemester  1561/62  genannte  Vor- 
bereitungsklasse angehender  Magister.  Wie  sich  aus  den  Ver- 
zeichnissen der  versetzten  Schüler  ergibt,  betrug  die  normale  Dauer 

46 


des  Aufenthaltes  eines  Schülers  in  derselben  Klasse  ein  Jahr,  und 
zwar  fanden  die  Versetzungen  in  der  Regel  zu  Allerheiligen  statt.  Da 
es  aber  neben  dieser  wichtigsten  „Studienerneuerung"  (Renovatio 
oder  Jnstauratio  studiorum)  eine  andere  zu  Ostern  gab  und  je- 
des Semester  ein  neuer  Lehrplan  eintrat,  so  war  begabten  und 
fleißigen  Schülern  auch  die  Möglichkeit  geboten,  das  Klassen- 
pensum in  einem  Semester  zu  erledigen.  Der  Ascensus  ist  an 
eingehende  Klassenprüfungen  geknüpft,  deren  Ergebnis  bei  einer 
öffentlichen  Schulfeier  bekannt  gemacht  wird;  die  drei  tüchtigsten 
Schüler  erhalten  Prämien.  Den  Abschluß  der  Logik  bildet  das 
Baccalaureatsexamen,  zu  dem  die  Termine  (Christi  Himmelfahrt 
und  erste  Hälfte  des  November)  in  den  Beginn  der  Semester 
fallen;  den  der  Physik  das  Tentamen  pro  gradu  licentiae  am 
Blasiustag  (3.  Februar). 

Im  grammatischen  und  rhetorischen  Kursus  ist  das  wichtigste 
Unterrichtsziel  die  Aneignung  eines  klassischen  Lateins.  Wie  das 
gedacht  ist  und  mit  welchen  Mitteln  die  Lösung  der  Aufgabe 
angestrebt  wird,  zeigt  am  besten  die  „Anweisung,  die  lateinische 
Sprache  zu  lernen  und  zu  lehren",  die  Rethius  seinen  Lehramtskandi- 
daten Fabius  und  Berckelius  in  die  Hand  gibt  (Stadtarchiv, 
Tagebuch   des  Rethius,   Univ. -Akten  604  fol.  Hb): 

„Verwendet  alle  mögliche  Sorgfalt  und  Mühe  darauf,  eure 
Schüler  möglichst  schnell  an  ein  reines,  unverdorbenes  Latein  zu 
gewöhnen.  Setzt  ihnen  daher  die  Regeln  der  Grammatik  so  aus- 
einander und  macht  sie  ihnen  so  klar,  daß  sie  dieselben  mit  nur 
ganz  geringer  Mühe  erfassen  und  sich  dabei  nicht  lange  aufhalten. 
Zur  Nachahmung  stellt  ihnen  nur  Cicero  vor,  den  gefeiltesten  und 
beredtesten  unter  den  lateinischen  Schriftstellern.  An  ihm  sollt 
ihr  ihnen  nicht  bloß  die  Anwendung  der  Regeln  zeigen,  sondern 
auch  die  einzelnen  Wörter  mit  sorgfältigen  Nachweisungen  ver- 
sehen, sowohl  an  und  für  sich  als  besonders  mit  Bezug  auf  ihre 
Konstruktion  und  Stellung.  Was  nämlich  jedes  einzelne  Wort 
bedeutet,  an  welcher  Stelle  und  in  welcher  Reihenfolge  es  steht 
und  mit  welchen  andern  Wörtern  es  bei  Cicero  verbunden  erscheint, 
sollt  ihr  den  Knaben  mit  großer  Sorgfalt  und  vielem  Fleiße  dar- 
legen und  ihnen  in  Kürze  den  ganzen  Aufbau  und  die  Zusammen- 
setzung der  Sprache  Ciceros  zur  Anschauung  und  Nachahmung 
vorführen.  Dazu  muß  dann  eine  mannigfaltige  und  vielfache  Übung 
kommen.  Legt  ihnen  also  das,  was  ihr  sie  gelehrt  habt,  mit  ver- 
änderten Zeiten,  Personen,  Orten  und  Sachen  in  deutscher  Übertra- 
gung vor  und  laßt  es  sodann  die  Knaben  selbständig  ins  Lateinische 

47 


übersetzen,  und  zwar  ganz  auf  die  Weise,  die  sie  gerade  gehört 
haben.  Sind  sie  in  Übungen  dieser  Art  einigermaßen  geschult,  so 
sollen  sie  vor  größere  Aufgaben  gestellt  und  größerer  Volliionimen- 
heit  entgegengeführt  werden;  sie  sollen  nämlich  Briefe  Ciceros, 
die  ihr  ihnen  wörtlich  ins  Deutsche  übersetzt,  ohne  den  lateinischen 
Text  weiter  anzusehen,  aus  eigener  Kraft  wiedergeben.  Wenn  sich 
auch  hierin  ein  ziemlicher  Fortschritt  bemerkbar  macht,  dann  soll 
man  ihnen  in  derselben  Weise  einige  Briefe  Ciceros  vorlegen,  die 
sie  mit  den  Wörtern  und  Ausdrücken  wiedergeben  sollen,  in  denen 
Cicero  an  andern  Stellen  den  nämlichen  Gegenstand  behandelt. 
Bevor  sie  sodann  von  diesen  Übungen  zur  Poesie  oder  Rhetorik 
zugelassen  werden,  sollen  sie  sich  zuerst  einige  deutsche  Bücher 
ganz  verschiedener  Art  zur  Übersetzung  wählen,  um  sich  daran 
zu  gewöhnen,  jeden  Stoff  in  lateinischer  Darstellung  glänzend 
und  nach  Art  Ciceros  zu  behandeln.  Mag  das  alles  auch  mühevoll 
und  schwierig  sein,  es  wird  doch  bequem  und  leicht  einerseits 
durch  die  Aussicht,  gewissermaßen  das  Höchste  in  der  Beredsam- 
keit zu  erreichen,  besonders  aber  mit  Hilfe  großer  Arbeit  und 
Anstrengung  von  eurer  Seite;  werdet  ihr  doch  auch  darauf 
nicht  zu  wenig  Mühe  und  Sorgfalt  verwenden,  daß  eure  Schüler 
nur  in  der  Art  und  Weise  schreiben  und  reden,  wie  sie  es  nicht 
etwa  von  euch,  sondern  von  Cicero  gelernt  haben;  denn  nach 
seiner  Sprache  müssen  sich  als  der  richtigsten  Norm  alle  Studien 
der  lateinischen  Sprache  richten." 

Ein  Vergleich  dieser  Anweisung  des  Rethius  mit  den  ent- 
sprechenden Bestimmungen  des  Leichius  und  Velsius  fällt  zu 
Ungunsten  der  erstem  aus.  Wohl  betonen  auch  letztere  mit  allem 
Nachdruck  den  Wert  einer  guten  lateinischen  Diktion;  aber  sie 
sind  nicht  so  ausschließlich  auf  Cicero  als  Vorbild  eingeschworen 
wie  Rethius  und  lassen  vor  allem  bei  der  Behandlung  der  Schrift- 
steller neben  der  Form  auch  den  Inhalt,  „soweit  er  auf  Leben 
und  Sitten  Bezug  hat",  zu  seinem  Rechte  kommen.  Den  ange- 
gebenen Grundsätzen  gemäß  verwendet  die  Jesuitenschule  in  aus- 
giebigster Weise  als  Lektüre  Ciceros  Briefe,  Reden,  rhetorische 
und  philosophische  Schriften;  daneben  erscheinen  noch  in  der 
Poetik  Vergils  Äneis,  Ovids  Tristia,  die  Episteln  des  Horaz,  die 
Komödien  des  Terenz  sowie  eine  Chrestomathie  aus  den  römischen 
Elegikern  von  JOHANNES  MURMELLIUS,  einem  hervorragenden  Philo- 
logen und  Schulmann  aus  Roermond,  der  vornehmlich  in  Münster 
seine  Tätigkeit  entfaltet  hat.  Wie  Leichius  und  Velsius,  so  wollte 
auch  Ignatius  „die  unreinen  Autoren"  vom  Jugendunterrichte  ausge- 

48 


schlössen  wissen;  im  gegebenen  Falle  halfen  sich  die  Jesuiten 
mit  sogenannten  purgierten  Ausgaben.  Weit  strenger  als  Leichius 
aber  nahm  es  Rethius  mit  den  von  Protestanten  verfaßten  Schrift- 
stellerausgaben und  Lehrbüchern.  Schon  zu  der  Zeit,  wo  er  unter 
Leichius  als  Lehrer  an  der  Kukanerburse  wirkte,  hatte  er  seine 
Bedenken  über  derartige  Bücher,  die  er  in  den  Händen  der  Schüler 
sah,  Ignatius  gegenüber  geäußert  und  gemeint,  wenn  er  Leichius 
um  Abhilfe  angehe,  so  werde  dieser  ablehnend  erwidern:  „Mögen 
die  Verfasser  Häretiker  sein ;  hier  haben  sie  jedenfalls  ihre  Irrtümer 
nicht  zur  Geltung  gebracht."  Daher  arbeitete  Rethius  seit  dem 
Antritte  seiner  Regentschaft  mit  allem  Nachdrucke  darauf  hin, 
Bücher  von  religiös  zweifelhaften  oder  protestantischen  Verfassern 
aus  den  Händen  der  Schüler  zu  entfernen.  Im  Lateinischen  finden 
wir  außer  den  schon  genannten  Werken  im  Gebrauch  oder  von 
Rethius  empfohlen:  des  Humanisten  RUDOLFUS  AGRICOLA  (|  1485 
zu  Heidelberg)  de  inventione  dialectica  libri  tres  und  den  Auszug 
aus  diesem  Werke  von  Bartholomaeus  Latomus  aus  Arlon,  die 
Dialektik  des  AUGUSTINUS  HUNAEUS  aus  Mecheln,  des  französischen 
Jesuiten  ANDREAS  FRUSIUS  De  utraque  Copia  verborum  et  rerum 
praecepta  und  dessen  Rudimenta,  des  JOHANNES  MURMELLIUS  Tabu- 
lae  in  artis  componendorum  versuum  rudimenta,  sowie  die  Prosodie 
des  GEORGIUS  MACROPEDIUS  (van  Langeveldt),  Lehrers  in  Lüttich, 
Herzogenbusch  und  Utrecht  (f  1558). 

Dem  Lateinischen  gegenüber  tritt  das  Griechische  bedeutend 
zurück.  Im  Wintersemester  1558/59  wird  unter  den  lectiones  com- 
munes  aufgeführt  „cum  Leonardo  Luciani  mortuorum  dialogi", 
d.  h.  die  Schüler,  wahrscheinlich  der  drei  Klassen  Grammatik  I, 
Poetik  und  Rhetorik,  lesen  Lucians  Totengespräche  unter  gleich- 
zeitigem Studium  der  griechischen  Grammatik  des  NICOLAUS 
Clenardus  (Cleonardus,  Cleynaerts)  aus  Diest,  der  Lehrer  der 
griechischen  und  hebräischen  Sprache  in  Löwen  war,  sich  später 
ganz  dem  Studium  des  Arabischen  widmete  und  nach  tragischen 
Schicksalen  1542  in  Granada  starb.  Vom  Sommer  1561  an  werden 
die  Anfangsgründe  des  Griechischen  in  der  obern  Grammatikklasse 
gelehrt,  in  der  Poetik  der  Plutus  des  Aristophanes,  in  der  Rhetorik 
die  philippischen  Reden  des  Demosthenes  und  die  Apostelgeschichte 
gelesen.  Daneben  studiert  man  die  griechische  Syntax  des  JOHANNES 
VARENNIUS  (van  der  Varen)  aus  Mecheln,  Professor  in  Löwen 
(f  1536).  Auch  im  griechischen  Unterrichte  spielen  die  rhetorischen 
Interessen  die  Hauptrolle:  in  dem  Entwurf  einer  Studienordnung  des 
Rethius  vom  Jahre  1563  heißt  es,  daß  die  Schüler  sich  in  der  Ab- 

4  49 


fassung  und  im  Vortrag  griechischer  Reden  fleißig  üben  sollen. 
Das  Hebräische  erscheint  in  den  altern  Lehrplänen  des  Gymnasiums 
überhaupt  nicht;  zu  seiner  Erlernung  sind  die  Schüler  auf  die 
Vorlesungen  in  der  Schola  artium  angewiesen. 

Die  beiden  obersten  Klassen  beherrscht  vollständig  Aristoteles, 
dessen  Schriften  in  der  Übersetzung  des  Joachim  Perionius  die 
Grundlage  für  den  philosophischen  Unterricht  bilden;  zur  Ein- 
führung dient  die  Isagoge  des  Neuplatonikers  Porphyrius.  Wenn 
man  bedauern  muß,  daß  in  diesen  Klassen  nicht  mehr,  wie  in  dem 
Plane  des  Leichius  und  Velsius  vorgesehen  ist,  griechische  und 
lateinische  Dichter  und  Historiker  behandelt  werden,  so  darf  man 
anderseits  nicht  vergessen,  daß  die  Statuten  der  Kölner  Artisten- 
fakultät auf  eine  möglichst  umfassende  Kenntnis  des  Aristoteles 
hindrängten  und  von  dem  Kandidaten  für  das  Baccalaureat  die 
Bekanntschaft  mit  den  logischen  und  einigen  physischen,  von  dem 
zukünftigen  Lizentiaten  die  mit  den  sämtlichen  physischen,  meta- 
physischen und  ethischen  Werken  dieses  Autors  verlangen.  Wollte 
also  das  neue  Institut  bei  den  Prüfungen  gute  Resultate  erzielen, 
so  mußte  es  diesen  Vorschriften  gerecht  werden. 

Den  Charakter  von  Nebenfächern  tragen  die  Mathematik  und 
die  Religion:  sie  fallen  zumeist  unter  die  sogenannten  lectiones  com- 
munes  (d.  h.  Unterrichtsstunden  für  vereinigte  Klassen),  die  nur 
an  den  Sonn-  und  Festtagen  abgehalten  werden.  Von  den  mathe- 
matischen Disziplinen,  die  die  Arithmetik,  Geometrie,  Astronomie, 
Geographie  und  Musik  umfassen,  beabsichtigte  Rethius  noch  weniger 
als  Leichius  seinen  Schülern  ein  festgefügtes  System  zu  übermitteln: 
der  Leichiussche  Plan  sieht  „mathematicarum  artium  gustum  cum 
methodica  ratione  universali  et  particulari"  vor,  und  im  Geiste  der 
Instruktion  des  Ordensstifters,  der  den  drei  nach  Köln  entsandten 
Jesuiten  anempfohlen  hatte,  „zuzusehen,  ob  eine  Vorlesung  über 
Kosmographie,  Sphärik  oder  andere  Teile  der  Mathematik  ange- 
messen sei",  stellt  der  Mathematiker  Coster  «die  schwierigem  Be- 
rechnungen und  Theorien  bei  Seite  und  beginnt  mit  angenehmem 
Problemen:  er  erklärt  die  Erscheinungen  des  Sonnenwechsels  im 
Frühling  und  Herbst,  die  jährlichen  Bewegungen  des  Mondes  und 
seinen  Wechsel,  Sonnen-  und  Mondfinsternisse,  Tag  und  Nacht, 
Fixsterne  und  Planeten".  Als  Lehrbücher  erscheinen  außer  den 
schon  erwähnten  von  Euclid  und  Sacrobosco  die  Perspectiva  des 
JOH.  CANTHUNIENSIS,  die  Arithmetik  des  CORNELIUS  GEMMA  FRISIUS, 
um  1540  Professor  der  Mathematik  in  Löwen,  und  der  Computus 
ecclesiasticus    des    Sacrobosco,    ein    Lehrbuch    der    Kalender- 

60 


berechnung.  In  einem  Bericht  von  1559  wird  die  Mathematik  aus- 
drüciilich  als  Hilfswissenschaft  für  das  Verständnis  der  physischen 
Schriften  des  Aristoteles  bezeichnet,  und  ähnlich  ist  es  aufzufassen, 
wenn  Coster  im  Winter  1561/62  den  Philosophen  eine  Vorlesung 
über  die  Chorographie  des  Pomponius  Mela  häU. 

Wenn  auch  schon  in  dem  Lehrplan  des  Leichius  und  Velsius 
„Institutiones  sacrae"  erscheinen,  so  kann  man  doch  die  Ausbildung 
des  Religionsunterrichtes  auf  katholischer  Seite  als  eine  Schöpfung 
des  Jesuitenordens  ansehen,  die  sich  im  Anschluß  an  die  Heraus- 
gabe der  beiden  Katechismen  des  Petrus  Canisius  vollzog.  Der 
Unterricht  wurde  an  den  Samstagnachmittagen  sowie  an  den  Sonn- 
und  Festtagen  in  zwei,  später  sogar  in  vier  Abteilungen  erteilt, 
und  er  fand  solchen  Anklang,  daß  sich  auch  Schüler  der  andern 
Gymnasien  dazu  meldeten.  Außer  der  Katechismus-  und  Perikopen- 
erklärung  behandelte  er  die  Evangelien,  die  Briefe  der  (Apostel 
und  Kontroversfragen. 

Neben  den  Lehrstunden  und  den  in  der  Regel  an  sie  an- 
schließenden Repetitionen  nehmen  im  Lehrplan  einen  immer  breitern 
Raum  ein  die  Deklamationen  und  Disputationen,  Schulübungen, 
die  so  ganz  dem  Charakter  eines  Zeitalters  entsprachen,  das  im 
beredten  Vortrag  und  zumal  in  der  beredten  Verteidigung  einer 
These  die  schönste  Blüte  wissenschaftlicher  Durchbildung  sah. 
Schon  im  ältesten  Stundenplan  von  1557  erscheint  allsonntäglich 
die  Rede  eines  Rhetorikers,  der  die  Grammatiker  anwohnen  müssen, 
und  allfreitäglich  eine  Disputation  der  Dialektiker.  Im  Sommer 
1561  sind  bereits  aus  dieser  einen  drei  öffentliche  Disputationen 
am  Montag,  Mittwoch  und  Freitag  geworden.  Im  Winter  1561/62 
disputieren  die  Philosophen  täglich  über  Thesen  aus  der  Logik 
und  Physik  und  außerdem  zweimal  wöchentlich  die  Logiker  gegen 
die  Physiker.  Die  Rhetoriker  (ragen  abwechselnd  an  jedem  Sonn- 
und  Feiertag  eine  Rede  in  Gegenwart  sämtlicher  Lehrer  und  Schüler 
auswendig  vor;  jeder  einzelne  schreibt  alle  acht  Tage  eine  Rede, 
die  ausgehängt  und  von  den  Mitschülern  verbessert  wird.  Jeden 
Donnerstag  hält  ein  weniger  geübter  Schüler  auswendig  eine  Rede 
vor  seiner  Klasse  und  eventuell  auch  vor  der  Poesie  nebst  den 
betreffenden  Klassenlehrern.  Jeden  Mittwoch  findet  Disputation 
der  Poeten  gegen  die  Rheloren  und  umgekehrt  über  Fragen  der 
lateinischen  und  griechischen  Grammatik  und  Metrik  statt;  außer- 
dem täglich  eine  halbstündige  Disputation  der  Rhetoriker  über 
das  Pensum  ihrer  Klasse.  Von  den  Schülern  der  Poesie  tragen 
die  bessern   jeden  Sonn-  und  Feiertag  abwechselnd  ein  selbstver- 

4*  51 


faßtes  Gedicht  öffentlich  vor;  die  schwächern  tun  dasselbe  Donners- 
tags zusammen  mit  den  Rhetorikern.  Jeden  Tag  hat  jeder  dem 
Lehrer  einige  Distichen  und  einmal  wöchentlich  eine  poetische 
Epistel  abzugeben.  Ja  selbst  die  Schüler  der  beiden  Grammatik- 
klassen haben  schon  jeden  Mittwoch  ihre  Disputierübungen  gegen- 
einander, und  die  Sieger  erhalten  kleine  Prämien. 

Das  war  die  Studienordnung,  die  Rethius  an  seiner  Anstalt 
einführte,  eine  Ordnung,  die,  was  Unterrichtsstoff,  Lehrbücher  und 
Übungen  angeht,  auf  der  Höhe  der  damaligen  Anforderungen 
stand.  Wenn  schon  die  eifrige  Propaganda,  die  der  Regent  für 
seine  Anstalt  machte,  ihr  viele  Schüler  zuführte,  so  wuchs  ihre 
Zahl  noch  mehr  durch  das  rege  wissenschaftliche  Leben,  das  sich 
dort  entwickelte,  und  den  siegreichen  Wettstreit,  den  das  Trico- 
ronatum  mit  den  andern  Kölner  Gymnasien  aufnahm.  Schon  1558 
kamen  zu  den  237  im  ersten  Jahr  eingeschriebenen  Schülern  122 
neue  hinzu;  im  September  1559  betrug  die  Gesamtzahl  der  Ein- 
geschriebenen gegen  850,  die  freilich  bei  weitem  nicht  alle  stand- 
hielten; im  Juli  1560  gab  es  über  128  Conviktoristen  neben  mehr 
als  500  Externen.  Aber  mehr  noch  als  die  neuzeitlich  humanis- 
tische Ausbildung,  die  das  Gymnasium  ohne  Beimischung  anti- 
katholischer Tendenzen  bot,  trug  zu  seinem  erstaunlich  raschen 
Wachstum  der  Umstand  bei,  daß  es  auch  eine  treffliche  Erzie- 
hungsanstalt war.  Wie  die  Tätigkeit  des  Jesuitenordens  über- 
haupt als  höchstes  Ziel  die  religiöse  und  sittliche  Hebung 
des  Menschen  anstrebte,  so  suchte  Rethius  insbesondere  in 
der  studierenden  Jugend  durch  Gebetsübungen,  täglichen  Be- 
such der  hl.  Messe,  monatliche  Beichte  und  Kommunion  und 
häufige  anregende  Vorträge  über  religiöse  Gegenstände  eine  „sa- 
piens atque  eloquens  pietas"  zu  forden,  d.  h.  Religiosität  im  engsten 
Verein  mit  klassischer,  philosophisch-rhetorischer  Bildung,  und 
dies  gelang  ihm  in  so  hohem  Maße,  daß  man  die  Schüler  des 
Tricoronatum  die  reformata  iuventus  nannte.  Die  wissenschaft- 
lichen Erfolge  der  Anstalt  aber  werden  wohl  am  besten  durch 
ein  Schriftstück  charakterisiert,  das  ihre  Neider  —  an  solchen 
fehlte  es  zumal  innerhalb  der  Kreise  der  beiden  andern  Gymnasien 
nicht  —  1563  dem  Dekan  der  Artistenfakultät  zustellten.  Hier 
heißt  es  von  den  Jesuiten,  man  verstehe  nicht,  durch  welche 
Kunstgriffe  sie  sich  plötzlich  eine  solche  Gelehrsamkeit  angeeignet 
hätten,  daß  die  meisten  jungen  Leute,  wenn  sie  kaum  aus  ihrer 
Schule  hervorgingen,  sich  bei  ihren  Vorträgen  im  Griechischen, 
in  der  Mathematik  und  Philosophie  solche  Autoren  zur  Erklärung 

62 


auswählten,   in    denen    sonst   erfahrene    und  gereifte  Männer  un- 
überwindliche Schwierigkeiten  fänden. 

Die  geschilderten  Erfolge  auf  didaktischem  wie  pädagogischem 
Gebiete  erreichte  Rethius  vor  allem  durch  den  Geist,  den  er  Lehrern 
und  Schülern  einflößte,  und  die  Strenge,  mit  der  er  die  Ausführung 
seiner  Anordnungen  überwachte.  In  seinem  Tagebuche  (Univ.-Akten 
604  fol.  72  b  sq.)  ist  von  seiner  eigenen  Hand  eine  Dienstanweisung 
für  den  Studienpräfekten,  seinen  Stellvertreter  in  der  Leitung  der 
Anstalt,  und  für  die  Lehrer  eingetragen.  An  diese  sollten  sich  Regeln 
für  die  Schüler  der  einzelnen  Klassen  anschließen,  sind  aber  über  die 
ersten  Anfänge  nicht  hinausgekommen.  Dem  Studienpräfekten  liegt 
die  Überwachung  der  gesamten  Tätigkeit  von  Lehrern  und  Schülern 
ob,  bei  allen  seinen  Maßnahmen  ist  er  jedoch  an  die  Gutheißung  des 
Regenten  gebunden.  Er  hat  die  Zahl  der  Schüler,  sowohl  die  der 
einzelnen  Klassen  als  ihre  Gesamtzahl  zu  kennen  und  dafür  zu 
sorgen,  daß  ihnen  die  entsprechende  Zahl  von  Lehrern  gestellt 
wird.  Bei  diesen  hat  er  die  ordnungsmäßige  Abhaltung  der 
Unterrichtsstunden,  ihre  Teilnahme  an  den  Disputationen  sowie 
die  Verbesserung  der  schriftlichen  Arbeiten,  bei  den  Schülern 
Studiengang,  Fleiß  und  Fortschritte  aufs  genaueste  zu  kontrollieren. 
Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  dienen  die  unerwarteten  Besuche, 
die  er  wöchentlich  in  den  Stunden  der  Lehrer  zu  machen,  und 
die  Berichte,  die  er  ebenso  oft  über  die  Fortschritte  ihrer  Schüler 
von  ihnen  zu  verlangen  hat;  die  Einsichtnahme  in  die  schriftlichen 
Arbeiten  der  Schüler  und  die  vorsichtigen  Erkundigungen  bei 
ihnen  über  Beliebtheit  und  Leistungen  ihrer  Lehrer;  endlich  die 
Sorge  für  die  Neulinge  und  die  Feststellung  der  Gründe,  die  zum 
Abgang  von  Schülern  geführt  haben.  Lehrer,  die  zu  wenig  leisten, 
sollen  im  Privatunterrichte  ihre  didaktischen  Fähigkeiten  verbessern. 
Besonderer  Sorgfalt  erfreuen  sich  die  Konviktoristen.  Der  Studien- 
präfekt  muß  die  Trägen  aneifern,  die  Übereifrigen  zügeln  und  sie 
nicht  länger  als  zwei  Stunden  nacheinander  studieren  lassen. 
Bei  den  Vorlesungen  während  der  Mahlzeit  muß  er  für  Verbesse- 
rung der  Fehler  gegen  die  Aussprache  und  Betonung  Sorge 
tragen.  Hat  ein  Konviktorist  eine  öffentliche  Rede  zu  halten, 
so  soll  nicht  bloß  der  Klassenlehrer  sie  eine  Woche  lang  mit  ihm 
vorbereiten,  sondern  der  Studienpräfekt  sie  auch  vorher  einmal 
bei  Tisch  halten  lassen. 

Noch  weit  charakteristischer  als  die  Regeln  für  den  Studien- 
präfekten sind  die  für  die  Lehrer,  in  denen  Rethius  offenbar  die 
Träger  des  Geistes  der  Anstalt  sieht.     Das  Endziel   ihrer  ganzen 

53 


Tätigkeit  soll  sein  die  Ehre  Gottes  und  das  Heil  der  Seelen,  und 
ihre  Schüler  sollen  sie  anleiten,  dem  Studium  obzuliegen  aus 
Gehorsam  gegen  Gott  und  aus  Liebe  zur  Tugend.  Darum  soll  der 
Lehrer  keine  Gelegenheit  vorübergehen  lassen,  kurze  religiös-sittliche 
Belehrungen  in  den  Unterricht  einzustreuen.  In  Wort  und  Schrift 
soll  er  ein  Musterbeispiel  seiner  Schüler  sein;  nie  darf  ihm  ein 
Wort  gegen  die  hohe  Geistlichkeit  oder  die  Fürsten  oder  sonst 
eine  unerbauliche  Bemerkung  entfallen.  Seinen  Unterricht  muß 
er  so  einrichten,  daß  er  nicht  bloß  verstanden,  sondern  auch  gern 
gehört  wird,  daß  er  weniger  sein  eigenes  Interesse  fördert  als 
vielmehr  den  Nutzen  seiner  Zuhörer;  sorgfältige  Vorbereituug  auf 
die  Lehrstunde  und  eigene  Weiterbildung  muß  ihm  daher  zur 
strengen  Pflicht  gemacht  werden.  Die  Pflege  des  Lateinischen 
als  Umgangssprache  ist  ebenso  sehr  seine  wie  des  Studienpräfekten 
Aufgabe.  Ganz  besonders  aber  hat  er  das  religiös-sittliche  Leben 
seiner  Zöglinge  zu  leiten  und  zu  beaufsichtigen.  Strenges  Fest- 
halten der  Schüler  an  den  katholischen  Glaubenswahrheiten, 
täglichen  Besuch  der  hl.  Messe  und  eifrigen  Sakramentenempfang 
muß  er  bei  ihnen  pflegen,  anderseits  Streit,  Fluchworte,  Zuchtlosigkeit, 
Unrecht  aller  Art  und  Unsittlichkeit  aus  der  Schule  verbannen. 
Wenn  ihm  als  Mittel  zur  Erreichung  dieser  Zwecke  auch  die  unser 
sittliches  Empfinden  aufs  tiefste  verletzende  Bestellung  von 
„Censores  occulti"  verordnet  wird,  so  darf  doch  nicht  vergessen 
werden,  daß  die  bezeichnete  Einrichtung  unter  dem  Namen  der 
Corycaei  im  15.  Jahrhundert  allgemein  war  und  sich  bis  in  das 
18.  Jahrhundert  hinein  in  den  Schulordnungen  protestantischer  An- 
stalten Nord-  und  Süddeutschlands  behauptet  hat  (vgl.  die. bezüg- 
lichen Zitate  bei  SCHMID,  Encyclopaedie  des  Erziehungswesens  I 
S.  114,  884,  und  DUHR,  Die  Studienordnung  der  Gesellschaft  Jesu 
S.53A.4).  Ungemein  wohltuend  berühren  dagegen  die  Bestimmungen 
über  das  allgemeine  Verhältnis  zwischen  Lehrern  und  Schülern. 
Der  Lehrer  muß  sich  bei  seinen  Schülern  Autorität  und  Beliebtheit 
verschaffen.  Autorität  gewinnt  er  dadurch,  daß  sein  Unterricht 
nach  der  wissenschaftlichen  und  technischen  Seite  allen  Anforde- 
rungen entspricht  und  „daß  er  sich  nie  eine  Behauptung  entschlüpfen 
läßt,  die  er  nicht  aufs  beste  zu  beweisen  vermag".  Doch  soll 
ihn  sein  Wissen  nicht  zur  Eitelkeit  verleiten,  sondern  nur  als 
Mittel  zur  Förderung  „der  Ehre  unseres  Herrn  Jesu  Christi  und 
der  Erbauung  anderer"  von  ihm  betrachtet  werden.  Die  Beliebtheit 
sichert  sich  der  Lehrer  dadurch,  daß  er  „in  allen  Stücken  weniger 
im  Geiste  der  Furcht  als  in  dem  der  Liebe  vorgeht"  und   selbst 

51 


bei  Tadel  und  Strenge  sein  Wohlwollen  gegen  den  Schüler 
durchblicken  läßt.  Er  darf  ihn  daher  „nie  mit  einem  Schimpfnamen 
belegen  oder  ihn,  wenn  auch  nur  leichthin,  mit  sarkastischen 
Bemerkungen  aufziehen".  Besonders  soll  der  Lehrer  bestrebt  sein, 
sich  die  Liebe  derjenigen  Schüler  zu  erhalten,  die  zu  größeren 
Hoffnungen  berechtigen. 

Es  würde  zu  weit  führen,  wollten  wir  die  Tätigkeit  des 
Rethius  im  Tricoronatum  über  seine  prinzipielle  Stellungnahme 
hinaus  an  der  Hand  seiner  Tagebücher,  Berichte  und  Briefe  bis 
in  die  Einzelheiten  verfolgen.  So  tief  eingreifend,  umfassend  und 
vielseitig  diese  auch  sein  mag,  sie  bildet  doch  nur  einen  Aus- 
schnitt aus  jener  großen  Aufgabe,  deren  Lösung  sich  Rethius  bei 
seinem  Eintritt  in  den  Orden  vorgesetzt  hatte,  der  Erhaltung  und 
Wiederherstellung  des  katholischen  Glaubens  in  seinem  Vaterlande 
und  zumal  seiner  Vaterstadt  alle  Kraft  zu  widmen.  Darum  bemühte 
er  sich  jahrelang,  leider  nur  mit  geringem  Erfolge,  die  theologische 
Fakultät  in  Köln  zu  neuem  Leben  zu  erwecken;  darum  wurde  er 
nicht  müde,  den  Rat  zur  Vertreibung  der  Geusen,  die  kirchlichen 
Würdenträger,,  selbst  die  Kardinäle  der  deutschen  Kongregation  zu 
Maßregeln  für  die  Hebung  des  religiösen  Lebens  der  Geistlichkeit 
und  der  Laienwelt  Deutschlands  anzuregen;  darum  hielt  er  längere 
Zeit  fast  täglich  in  einer  Kirche  Kölns  die  Predigt  und  stand  mit 
sämtlichen  hervorragenden  Vertretern  des  Katholizismus  innerhalb 
und  außerhalb  Deutschlands  in  Briefwechsel.  Dabei  verfolgte  er 
das  Ziel,  eine  gelehrte  wie  volkstümliche  katholische  Literatur  ins 
Leben  zu  rufen,  die  der  protestantischen  ebenbürtig  sein  sollte. 
Allein  aus  dem  Jahre  1574  liegen  über  150  Briefe  von  ihm  vor, 
die  zur  Schöpfung  von  Ausgaben  und  Übersetzungen  der  griechischen 
Kirchenväter,  Kommentaren  zur  hl.  Schrift,  Leben  der  Heiligen 
zumal  Deutschlands  und  in  deutscher  Sprache,  kirchen-  und  welt- 
geschichtlichen Darstellungen,  Predigtbüchern  und  Kontrovers- 
schriften anregen  oder  derartige  Arbeiten  fördern. 

Ein  tragisches  Geschick  riß  den  Unermüdlichen  im  kräftigsten 
Mannesalter  mitten  aus  seiner  reichen  Tätigkeit.  Am  Nachmittage 
des  26.  Oktober  1574,  als  gerade  die  Studenten  ihre  Erholung  im 
Garten  genossen,  fiel  er  mit  seinem  väterlichen  Freunde  und  Vor- 
gesetzten P.  Leonard  Kessel  und  P.  Nicolaus  Fabri  dem  Messer  eines 
wahnsinnig  gewordenen  Ordensbruders,  des  hochbegabten  Magisters 
Gerhard  Pesch,  zum  Opfer.  Unsäglich  war  die  Bestürzung,  die 
sich  über  die  Untat  in  der  Stadt  verbreitete.  Der  Rat  ließ  eine 
Druckschrift  veröffentlichen,  in  der  er  nach  Darlegung  des  Vor- 

66 


ganges  erklärte,  daß  „vorbenenter  M.  Gerhardus  zum  Pesch  die 
erbärmliche  Mordthatt  auß  Schwacheit  seines  Heuptz,  und  großer 
Wannsinnichkeit  gethan,  und  daß  ihme  von  den  Herren,  und 
Magistris  Societatis  Jesu,  oder  jemanden,  derselbiger  angehorigen 
Studiosis,  die  geringste  Ursach  darzu  nit  gegeben  worden".  Ein 
Leichenzug  von  nie  gesehener  Pracht  bewegte  sich  am  28.  Oktober 
durch  die  Straßen.  Je  acht  Studenten  trugen  die  drei  Särge,  und 
bei  ihrem  Anblicke  brachen  die  nach  Tausenden  zählenden 
Zuschauer  in  lautes  Weinen  und  Wehklagen  aus;  einige  wurden 
sogar  vor  Schmerz  ohnmächtig.  Während  Kessel  und  Fabri  in 
St.  Maximin  ihre  letzte  Ruhestätte  fanden,  wurde  Rethius  auf  den 
dringenden  Wunsch  seiner  angesehenen  Verwandten  an  der  Seite 
seines  Vaters  in  St.  Paulus  beigesetzt.  Bei  den  feierlichen  Exequien 
in  St.  Maximin  am  3.  November  hielt  der  Prediger  Nie.  Elgard  die 
Leichenrede;  die  ebenfalls  in  Druck  erschien. 

Johannes  Rethius  war  kein  Mann  mit  neuen,  bahnbrechenden 
Ideen,  er  stellt  sich  vielmehr  als  echter  Sohn  seiner  Zeit  dar;  aber 
er  war  ein  in  sich  geschlossener  und  gefestigter  Charakter,  dessen 
ganzes  Sinnen  und  Trachten,  Denken  und  Handeln  der  begeisterten 
Vertretung  der  katholischen  Interessen  galt.  Seine  ungeheuchelte 
Frömmigkeit,  seine  Verbindlichkeit  im  Umgang,  sein  bescheidenes 
Hintansetzen  der  eigenen  Person,  seine  dankbare  Gesinnung  gegen 
Freunde  und  Wohltäter,  sein  herzliches  Mitgefühl  mit  den  Not- 
leidenden und  Bedrängten  und  seine  warme  Anhänglichkeit  an 
Vaterstadt  und  Vaterland  machten  ihn  bei  Schülern  und  Mitbürgern, 
Landsleuten  und  Fremden  beliebt  und  rechtfertigen  wohl  das 
hohe  Lob  seines  Schülers  Georg  Braun,  der  ihn  in  seinem  Städte- 
buch ,,omnis  humanitatis,  pietatis  et  mansuetudinis  nitore  orna- 
tissimus"  nennt.  Ein  Bild  des  Rethius  scheint  vor  seinem  gewalt- 
samen Tode  nicht  existiert  zu  haben;  ein  Kupferstich,  der  nach 
der  Totenmaske  zur  ersten  Zentenarfeier  des  Gymnasiums  (1657) 
ausgeführt  wurde,  ist  S.  37  wiedergegeben  und  trägt  als  Unter- 
schrift folgende  Distichen,  die  mit  Anspielung  auf  den  Namen 
Tricoronatum  den  dreifachen  Ehrenkranz  des  Schulmannes  Rethius 
feiern: 

Dulce  coronatis  nomen  sociando  palaestris 

Est  triplex  merito  parta  Corona  viro; 

Prima  fuit  sociis,  Ubio  fuit  altera  Clero, 

Urbi  Agrippinae  tertia  parta  fuit. 


Literatur. 

Außer  den  zu  der  Abhandlung  über  Leichius  und  Velsius  angeführten  Hand- 
schriften und  Druckwerken  folgende 

Handschriften:  Universitäts-Akten  599  (600),  603,  604. 

Druckwerke:  Monumenta  Oermaniae  Paedagogica  II:  Ratio  studiorum  et 
Institutiones  scholasticae  Soc.  J.  1.  Berlin  1887.  —  Eberhard  Gothein,  Ignatius 
von  Loyola  und  die  Gegenreformation,  Halle  1895.  —  Bernhard  Duhr  S.  J., 
Die  Studienordnung  der  Gesellschaft  Jesu,  Freiburg  i.  B.  1896.  —  Ders.,  Die  älte- 
sten Studienpläne  des  Jesuitengymnasiums  in  Köln:  Mitt.  d.  Ges.  f.  deutsche  Er- 
ziehungs-  u.  Schulgesch.  8,  1898,  S.  130  ff.  —  Ders.,  Geschichte  der  Jesuiten  in  den 
Ländern  deutscher  Zunge  im  XVI.  Jahrhundert  I,  Freiburg  i.  B.  1907.  —  Meyer,  Der 
Ursprung  des  jesuitischen  Schulwesens,  Dissertation,  Berlin  1904.  —  Ders.,  Ziel, 
Organisation  und  Stoff  des  Unterrichts  im  Jesuitengymnasium  zu  Köln  in  den 
ersten  Jahren  nach  seiner  Eröffnung:  Mitt.  d.  Ges.  f.  deutsche  Erziehungs-  u. 
Schulgesch.  19,  1909,  S.  35  ff.  —  Joh.  Schwab,  Ludwig  Hillesheim,  Humanist 
und  Bürgermeister  von  Andernach.    Progr.  d.  Gymn.  zu  Andernach  1906. 


67 


Justus  Lipsius. 


Von  Hermann  Mennen,  Oberlehrer  am  Marzellengymnasium. 

Moribus  antiquis.  (Symbol.  Ups.) 

Eine  ausführliche  Schilderung  der  Jahre,  die  Justus  Lipsius 
als  Schüler  des  Tricoronatum  in  Köln  verbrachte,  ist  um 
so  mehr  berechtigt,  als  gerade  diese  wichtigste  Zeit  seiner 
wissenschaftlichen  Ausbildung  und  seiner  Charakterentwicklung 
von  den  Biographen  meist  nur  mit  allgemeinen,  zum  Teil  auch 

irreführenden  Bemer- 
kungen abgetan  wird, 
die  für  die  Beurtei- 
lung seiner  wissen- 
schaftlichen Bedeu- 
tung und  seines 
wechselvollen  Lebens 
zum  mindesten  wert- 
los sind.  Zudem  fällt 
sein  Aufenthalt  in 
Köln  in  jene  Tage, 
als  die  Jesuiten  eben 
die  bursa  novaTrico- 
ronata  übernommen 
hatten  und  sich  durch 
die  gegebenen  Ver- 
hältnisse gezwungen 
sahen,  in  ihrer  Lehr- 
tätigkeit an  Gewissen- 
haftigkeit und  Fleiß 
alles  daranzusetzen, 
um  sich  durch  glän- 
zende Erfolge  ihrer 
Schule  die  Anerken- 
nungdes  Ordens  zu  er- 
ringen und  zu  sichern. 
Joest  Lips  wurde 
am  18.  Okt.  1547  in 
dem  südöstlich  von 
Brüssel  gelegenen  Marktflecken  Overyssche  geboren.  Als  die  Eltern, 
reiche  und  hochangesehene  Leute,  1553  ihren  Wohnsitz  nach  Brüssel 


CLARISSIMVS      1VST\-.S     1  I>'Sl\-.i    HISTORIOGRAPHVS 
REGIVS    PROFESSOR    CON  SLIARIVS   ETC. 


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63 


verlegten,  schickten  sie  ihren  Sohn  dort  auf  eine  Elementarschule, 
ließen  ihn  dann  aber,  in  seinem  10.  Lebensjahre,  das  Athenaeum 
in  Ath  (Hennegau)  besuchen,  das  sich  damals  eines  gewissen  Zu- 
zuges rühmen  konnte.  Aber  Lipsius  hat  nicht  viel  Freude  dort 
erlebt.  Der  Unterricht,  der  sich  in  kleinliche  Spitzfindigkeiten 
grammatischer  Regeln  verlief,  war  ihm  bald  verleidet,  und  mit 
bittern  Worten  spricht  er  später  noch  von  den  beiden  Jahren, 
die  er  in  Ath  aushalten  mußte,  bis  die  Eltern  ein  Einsehen  hatten 
und  ihn  wegnahmen.  Sie  schickten  ihn  auf  die  Bursa  der  Jesuiten 
nach  Köln. 

Eine  Unterbrechung  des  Studienganges  hat  nachweislich  nicht 
stattgefunden,  und  da  Lipsius  Vorkenntnisse  des  Lateinischen  be- 
saß, so  wurde  er  in  die  oberste  Grammatikklasse  aufgenommen. 
Dies  ist  ohne  Zweifel  bei  der  Innovatio  studiorum  zu  Allerheiligen 
1559  geschehen.  Bei  dieser  Gelegenheit  mußte  er  dem  Studien- 
präfekten,  der  auch  seine  Personalien  genau  prüfte,  Gehorsam  und 
gute  Sitten  versprechen.  Er  war  1559 — 1560  Schüler  in  der  Klasse 
Grammatica  superior,  1560 — 1561  in  der  Poetica,  1561  —  1562  in 
der  Rhetorica,  1562—1563  in  der  Logica,  1563  bis  19.  Juni  1564 
in  der  Physica. 

Über  seine  Kölner  Gymnasiastenzeit  berichtet  Lipsius  nichts 
weiter,  als  er  habe  bei  den  Jesuiten  Rhetorik  und  Philosophie 
gelernt,  er  sei  sehr  lernbegierig  gewesen  und  habe,  ohne  damit 
zu  prahlen,  stets  den  ersten  Platz  innegehabt.  Dann  fährt  er  fort: 
Sub  idem  tempus  pietas  pectus  meum  längere,  et  Patribus  ipsis  velle 
ac  censeri:  parentes  sciverunt,  abduxerunt,  et  annos  iam  sedecim 
natum  Lovanium  amandaverunt.  Ibi  litterarum  haec  antiquitatis 
studia  ad  se  traxerunt,  quorum  tamen  gustum  amorem- 
que  Coloniae  infuderat  Gerardus  Kempensis,  praeceptor 
mens  in  Graecis,  acerbi  homo  fati.  (Epist.  misc.  cent.  III.  87.) 
Es  ist  dies  der  bekannte  Gerhard  Pesch  aus  Kempen,  der  am 
26.  Oktober  1574  die  PP.  Leonhard  Kessel,  Johann  Rethius  und 
Nikolaus  Faber  im  Wahnsinn  ermordete. 

Verfolgt  man  die  für  das  Studium  des  jungen  Lipsius  in 
Betracht  kommenden  Lehrpensen,  so  ist  der  für  die  Prima  classis 
Grammaticorum  für  das  Jahr  1557  vorgeschriebene  und  bei  der 
Schilderung  der  Tätigkeit  des  Rethius  mitgeteilte  Plan  mit  kaum 
nennenswerter  Änderung  für  das  Jahr  1559  geblieben.  Der  Klassen- 
lehrer (Primarius  lector)  war  Gregorius  Fabius  Dionantensis, 
der  seit  Dezember  1557  Magister  artium  war  und  dessen  Lehr- 
geschick der  Rektor  Kessel  lobend  hervorhebt.    Lipsius  stand  im 


13.  Lebensjahre,  als  er  mit  den  Schriftwerken  Ciceros  bei<annt 
gemacht  wurde.  Die  Freude  am  Gegenstande  mochte  dem  Ver- 
ständnis zugute  kommen;  denn  der  empfindsame  Knabe  mußte  den 
Gegensatz  zu  dem  früheren  geisttötenden  Grammatikbetriebe 
mächtig  empfinden,  wenn  er  den  fein  stilisierten  lateinischen 
Erklärungen  seines  Lehrers  folgte  oder  auch  Sonntags  bei  den 
Deklamationen  der  Rhetoriker  mehr  oder  minder  große  Nachahmer 
Ciceros  bewunderte. 

Als  Lipsius  zu  Allerheiligen  1560  in  die  Klasse  der  Poeten 
versetzt  wurde,  war  er  Zeuge  einer  ungewohnten,  erhebenden  Feier. 
Rethius  schildert  sie  in  seinem  Berichte  über  die  vier  letzten  Monate 
des  Jahres  mit  folgenden  Worten :  Nonis  Novembribus  studia 
instaurata  sunt  ac  eo  die  primum  matutino  tempore  sacrum  cum 
gaudio  et  devotione  iuvenum  musice  est  decantatum.  Post  vero 
horä  secundä  pomeridianä  in  scholis  nostris  duo  adulescentes 
Studiosi  dialogum,  quem  ex  classis  rhetoricae  auditoribus  unus 
composuerat,  exhibuerunt,  reliqui  vero  parietes  variis  carminum 
generibus  obtexerunt,  quae  res  adeo  commovitaliorum  gymnasiorum 
Studiosos,  ut  non  modo  venirent  spectatum,  verum  etiam  corrigerent 
si  possent  affixa  parietibus  carmina.  Deinde  ubi  exhibitus  fuit 
Dialogus,  duo  Rhetores  ad  classem  Philosophiae  conscensuri  ora- 
tiones  de  Philosophia  pronuntiarunt,  quorum  alter  eam  contempsit, 
alter  vero  postquam  laudibus  sustulisset  et  in  magnis  scientiis  eam 
reposuisset,  antecedentis  argumenta  evertit,  adeo  ut  laudem  sit  non 
mediocrem  adeptum  illud  certandi  genus  ac  declamandi  in  utramque 
partem.  Demum  singulis  adulescentibus  (ascendentibus?)  ad 
superiores  classes  praeter  honorem,  qui  pro  unius  cuiusque  eru- 
ditione  tributus  est,  munuscula  etiam  quaedam  tribus  maxime 
primis  classis  cuiusque  donata  sunt,  ut  hoc  pacto  omnes  ad  studia 
deinceps  inflammarentur. 

Was  Lipsius  in  dem  neuen  Schuljahre  zu  lernen  hatte,  ersieht 
man  aus  den  Lehrplänen: 

1.  Catalogus  lectionum,  qui  servabitur  a  festo  Omnium  Sanc- 
torum  1560  usque  ad  festum  Paschae  1561. 

In  poesi. 
m.  Gregorius  Fabius  Dionantensis.     hora  6.  Liber  6.  Aeneidos. 

hora  9.  grammatica  Clenardi  et 

evangelia  graeca  dominicalia. 

hora    12.  liber   2.  officiorum 

Ciceronis. 
m.  Gregorius  Fabius.  hora  4.  Ovidius  de  Tristibus. 

00 


m.  Joannes  Herbetius  Lotharingus. 


2.  Catalogus  lectionum,  qui  servabitur  a  festo  Paschatis  1561 
usque  ad  festum  Omnium  Sanctorum  eiusdem  anni. 

In  poesi. 
m.  Gregorius  Fabius  Dionantensis.     hora  6.  über  6.  Aeneidos. 

hora  9.  grammatica  Clenardi 


m.  Velroux  Leodiensis. 


et  Plutus  Aristophanis. 

hora  12.  libellus  Ciceronis  de 

senectute. 

^  .      r^  ,^.       .  ■  I  hora  4.  de  utraque  copia  [libri 

m.  Gregorius  Fabius  idem.  1  o  a    ^         c       -i 

^  (  2  Andreae  FrusiiJ. 

Sabbatinis  autem  diebus  et  sacris  parvus  Catechismus  Catholicorum. 

Die  Klasse  hat  ihren  primarius  lector  behalten;  die  Stunden- 
zahl ist  um  eine  verringert.  Lipsius  lernte  jetzt  auch  Griechisch. 
Er  benutzte  dazu  die  institutiones  linguae  Graecae  des  Nikolaus 
Cleynaerts.  Sonntags  um  12  Uhr  mußte  er  sich  an  den  Dekla- 
mationsübungen beteiligen,  die  von  den  Poeten  und  Rhetorikern 
in  Poesie  und  Prosa  abgehalten  wurden.  Um  6  Uhr  hörte  seine 
Klasse  die  Erklärung  des  Tagesevangeliums,  und  Samstags  und 
Sonntags  wurde  der  kleine  Katechismus  des  Canisius  gelernt, 
das  compendium  doctrinae  christianae  pro  puerulis,  das  seit  1558 
bei  Maternus  Cholinus  in  Köln  gedruckt  wurde. 

Der  Plan  des  Wintersemesters  1561/1562,  als  Lipsius  unter 
den  Rhetorikern  saß,  verzeichnet: 

In  classe  Rhetoricae. 


hora   6.  Ciceronis   über  ad    Q. 
m.  Arnoldus  Buscoducensis.       [  Fratrem. 


m.  Gerardus  Cempensis. 


m.  Gerardus. 


I 

[  hora  7.  repetitio  fiet  lectionis. 
hora  9.  diebus  Lunae  Martis 
atque  Mercurii  syntaxis  Varennii 
praelegetur,  reüquis  vero  Philipp. 
4  Demosthenis. 

hora  1.  Rhetorices  ad  Herennium 
über  4. 

m.  Arnoldus.  hora  4.  oratio  pro  lege  Manilia. 

Der  secundarius  lector,  der  „praeceptor  in  Graecis",  war  Gerhard 
Pesch,  der  einflußreichste  Lehrer  des  Lipsius.  Er  war  „omnium 
doctissimus".  Nach  dem  Urteil  des  Mainzer  Provinzials  Anton 
Vinck  ist  der  Verfolgungswahn,  in  den  er  später  verfiel,  auf  über- 
mäßiges Studieren  und  ungeregeltes  Arbeiten  für  das  Kolleg  zurück- 
zuführen.   Mit  seinen  umfassenden  Kenntnissen  hat  er  neben  der 

61 


Behandlung  der  vorgeschriebenen  Lektüre  und  unter  Berück- 
sichtigung des  Haupterziehungszieles  der  Jesuiten,  der  Beredsam- 
keit, die  in  dieser  Klasse  vorgesehene,  in  ihrem  Ziele  aber  nicht 
fest  umgrenzte  sog.  Eruditio,  d.  h.  die  Kenntnis  der  Geschichte, 
der  Staatseinrichtungen,  des  Privatlebens  usw.,  ferner  der  Theorie 
der  Dicht-  und  Redekunst  der  Griechen  und  Römer  so  zu  ver- 
mitteln gewußt,  daß  sie  für  die  spätere  wissenschaftliche  Tätigkeit 
des  Lipsius  von  grundlegender  Bedeutung  geworden  ist. 

Für  formalistische  Übungen  in  der  Rhetorik  bot  diese  Klasse 
dem  jungen  Lipsius  Gelegenheit  genug.  Sonntags  mußte  er 
deklamieren,  wenn  die  Reihe  an  ihn  gekommen  war,  dazu  aber 
alle  acht  Tage  eine  Rede  ausarbeiten  und  sie  im  Klassenzimmer 
aufhängen,  so  daß  die  Mitschüler  Gelegenheit  hatten,  sie  zu 
korrigieren.  Mittwochs  um  fünf  Uhr  beteiligte  er  sich  an  den 
Disputationen  der  Poeten  gegen  die  Rhetoriker  oder  umgekehrt 
über  Stoffe  aus  der  lateinischen  und  griechischen  Grammatik  und 
Metrik,  wobei  die  Lehrer  beider  Klassen  zugegen  waren;  jeden 
Nachmittag  von  5 — 5 1/2  Uhr  übte  er  sich  mit  den  übrigen  Rhetorikern 
im  Disputieren  über  Gegenstände,  die  zum  Klassenunterricht  ein- 
schließlich der  Eruditio  gehörten. 

Lipsius  ist  in  spätem  Jahren  noch  stolz  auf  seine  ersten 
rhetorischen  Versuche.  Als  ihm  einst  die  Kritiker,  die  gegen  den 
Inhalt  seiner  Werke  nichts  vorzubringen  wußten,  vorwarfen,  er 
schreibe  keine  Reden,  da  hielt  er  ihnen  mit  ganz  ungewohntem 
Selbstbewußtsein  entgegen:  ,,Daß  ich  Reden  zu  schreiben  verstehe, 
wer  will  es  leugnen,  der  mich  schon  als  Knaben  kannte!  Kaum 
zwölf  Jahre  zählte  ich,  als  ich  Reden  schrieb  und  auch  vortrug, 
nach  Knabenart  freilich,  aber  sie  hätte  ein  gereiftes  Alter  mit 
Rücksicht  auf  meine  Jugend  loben  können,  und  wäre  es  die 
Forderung  meiner  Zeit  gewesen,  meine  Eloquenz  auf  diesem 
Gebiete  zu  betätigen,  ich  hätte  es  gewagt,  mit  manchem  Redner 
des  Altertums  denWettkampf  aufzunehmen".  (Epist.  misc.  cent.  11. 27.) 

Die  Lektionspläne  für  die  folgende  Studienzeit  des  Lipsius 
sind,  soweit  ersichtlich,  in  den  Akten  nicht  vorhanden.  Für  die 
Logiker  und  Physiker  war  der  Hauptautor  Aristoteles,  aus  dessen 
Werken  für  jede  Klasse  eine  geeignete  Auswahl  getroffen  wurde. 
Zu  den  regelmäßigen  Vorlesungen  und  Wiederholungen  traten  die 
für  äußerst  wichtig  erachteten  Disputationen  über  Gegenstände 
aus  dem  ganzen  Bereiche  der  Philosophie;  fanden  diese  in  der 
gemeinsamen  schola  artium  in  der  Stolkgasse  statt,  dann  beteiligten 
sich  auch  die  logici  und  physici  der  übrigen  Gymnasien  an  ihnen. 

62 


Professor  logicae  primarius  war  1563  Petrus  Busaeus,  secun- 
darius  war  Gerardus  Peschius  Cempensis.  Die  Klassenlehrer  der 
Physik  waren  für  1563/64  Franciscus  Costerus  und  Arnoldus 
Havensius  Buscoducensis. 

Für  die  philosophischen  Unterweisungen,  namentlich  die  aus 
dem  Gebiete  der  Ethik,  hatte  Lipsius  eine  tiefe  Neigung  mit- 
gebracht. Gerne  verfolgte  er  die  im  Unterricht  aufgenommenen 
Gedanken  weiter  und  suchte,  wie  er  in  der  Einleitung  zu  der 
Schrift  De  constantia  mitteilt,  in  Büchern,  die  ihm  von  den  Jesuiten 
überlassen  wurden,  Bestätigung  seiner  mitunter  abweichenden 
Ansichten,  die  er  dann  gelegentlich  seinen  Lehrern  vortrug. 
Diese  mußten  aber  jede  derartige  Regung  zu  selbständiger  wissen- 
schaftlicher Erkenntnis  um  so  mehr  verurteilen,  als  sie  selber 
nach  dem  Grundgedanken  der  Ordensverfassung  an  rückhaltlose 
Unterwerfung  unter  den  einen  Willen  des  Praepositus  generalis 
gebunden  waren.  Daher  nahmen  sie  kurzer  Hand  die  Bücher  weg 
und  vernichteten  die  mühevoll  gesammelten  Notizen.  Lipsius  hat 
darob  nicht  gegrollt;  ihm  ist  auch  die  Freude  an  der  Philosophie 
nicht  verleidet  worden.  Jedenfalls  aber  hat  er  für  die  Folge  die 
Sucht  nach  leeren  syllogistischen  Spitzfindigkeiten  zu  bemeistern 
gewußt  und  stets  den  Frieden  dem  Gezanke  vorgezogen. 

Am  20.  Dezember  1562  stellte  Leonhard  Kessel  über  den 
Primus  seiner  Logici  das  Zeugnis  aus:  Jodocus  Lips  Bruxellensis 
iuvenis  magni  ingenii,  bonus  poeta,  orator  et  grecus,  futurus 
videtur  bonus  philosophus,  ad  conversandum  et  ad  regendum 
aptus  et  iuvenis  admodum  bonus,  fervidus  et  obediens.  (Hansen  499.) 
Und  das  Urteil  des  Regenten  Rhetius  vom  12.  Januar  1563  lautet: 
Jodocus  Lips  Bruxellensis  logicae  classis  singulari  ingenio  et 
eruditione  praeditus.  (Litt.  ann.  fol.  47.) 

Lipsius  ist  am  20.  April  1563  bei  der  Artistenfakultät  immatri- 
kuliert worden  (vgl.  Hansen  781),  und  unter  den  ,,nomina  eorum, 
quos  promovimus  ad  Baccalaureatum  in  festo  Omnium  Sancto- 
rum  anno  Domini  1563"  ist  Jodocus  Lyps  (sie!)  aufgeführt  mit 
dem  Zusatz  Justus  Lipsius.  (Fasti  et  Eph.  fol.  137.)  Das  Magister- 
examen hat  er  nicht  abgelegt.  Das  Dekanatsbuch  der  Artistenfakultät 
(IV.  fol.  317)  verzeichnet  unter  dem  19.  Juni  1564:  „accepit  litteras 
promotionis  suae,  nempe  baccalaureatus,  Jodocus  Lips  Bruxellensis, 
in  bursa  Jesuitarum  promotus":  er  ließ  sich  sein  Examen 
bescheinigen,  um  von  Köln  Abschied  zu  nehmen. 

In  den  beiden  eisten  Monaten  seines  Aufenthaltes  bei  den 
Jesuiten   wohnte    Lipsius   wie   die    übrigen   von    auswärts   aufge- 

63 


nommenen  Schüler  in  der  Bursa  mit  den  Fratres,  den  vollberechtigten 
Mitgliedern  des  Ordens,  zusammen  und  war  von  den  Scholastikern 
der  Gesellschaft  nur  durch  die  Kleidung  unterschieden.  Erst 
Weihnachten  1559  war  es  möglich,  die  den  Bestimmungen  des 
Ordens  zuwiderlaufenden  Verhältnisse  wenigstens  so  zu  regeln, 
daß  die  zahlreichen  Commensales  von  den  Fratres  getrennt 
wurden  und  diese  ein  Haus,  jene  zwei  Häuser  bezogen.  Der 
Regens  convictorum  war  Rethius,  die  Fratres  unterstanden  dem 
Franciscus  Costerus  aus  Mecheln. 

Dieser  ist  wohl  der  bedeutendste  Kölner  Jesuit  aus  jener  Zeit. 
Er  war  Vizeregens.  Als  ihn  Ignatius,  der  ihn  am  7.  November  1552 
aufgenommen  hatte,  nach  Köln  sandte,  hatte  er  ihm  den  Auftrag 
gegeben,  Vorlesungen  über  Mathematik  und  Kosmographie  zu 
halten.  Durch  seine  Wissenschaft,  die  er  gründlich  beherrschte, 
empfahl  er  die  Vorzüge  der  Jesuitenschule  vor  den  übrigen 
Gymnasien,  für  die  solche  Vorträge  damals  etwas  ganz  Neues 
waren.  Als  Praefectus  studiorum  überwachte  er  Lehrpensen  und 
Lehrmethode.  Daneben  übte  er  als  Beichtvater  und  als  Religions- 
lehrer der  drei  oberen  Klassen  sehr  großen  Einfluß  aus.  In  seiner 
Eigenschaft  als  Magister  novitiorum  legte  er  Wert  darauf,  vor- 
nehme, folgsame  und  begabte  Zöglinge  der  Gesellschaft  zu  ver- 
binden und  ihre  Ausbildung  gewissenhaft  zu  leiten. 

Da  sich  die  Novizen  aus  der  Zahl  der  Konviktoristen  ergänzten, 
so  war  es  mit  Rücksicht  auf  den  Orden  geboten,  auf  den  Unterricht 
und  die  Erziehung  dieser  Schüler  besondere  Sorgfalt  zu  verwenden. 
Diese  Aufgabe  übernahmen  aber  die  meist  selbst  noch  in  der 
Vorbereitung  stehenden  Lehrer  um  so  eifriger,  als  sie  für  ihre 
spätere  berufliche  Tätigkeit  zu  lernen  Gelegenheit  hatten.  Sie 
nahmen  sich  ihrer  Zöglinge,  der  Konviktoristen  und  der  Scholastiker 
der  Gesellschaft,  einzeln  an.  So  konnte  auch  Lipsius,  der  ja  schon 
früh  nach  eigener  wissenschaftlicher  Überzeugung  strebte,  seine 
Lehrer  bei  den  Vespertinae  repetitiones  bereit  finden,  ihm  über 
die  tagsüber  gehörten  Vorlesungen  genauere  Erklärung  zu  geben. 
Sie  waren  ebenso  bei  den  Disputierübungen  anwesend,  die  von 
frühmorgens  an  und  selbst  während  der  Mahlzeiten  gepflegt  wurden; 
sie  leiteten  die  Domesticae  declamationes,  die  an  Feiertagen 
geradezu  zu  Schaustellungen  wurden,  und  wenn  sie  in  wöchent- 
lichen Konferenzen  über  Trägheit  oder  Fortschritt  ihrer  Schüler 
verhandelten,  sind  sie  gewiß  in  dem  Lobe  der  Fähigkeiten  des 
Lipsius  einig  gewesen.  Mußte  ein  Zögling  in  der  schola  artium 
auftreten,  dann  übten  die  Lehrer  die  Aufgabe  gründlich  mit  ihm 

64 


ein  und  ließen  sie  ihn  während  der  Mahlzeit  zur  Probe  vortragen. 
Zu  den  Predigtübungen,  die  mit  Rücksicht  auf  die  Scholastiker, 
die  ja  später  als  Prediger  und  Beichtväter  verwandt  werden  konnten, 
in  deutscher  Sprache  in  Gegenwart  aller  Fratres  Freitags  abge- 
halten wurden,  zogen  sie  auch  besonders  geeignete  Konviktoristen 
hinzu  und  nährten  so  den  Ehrgeiz  derer,  die  zurückstehen  mußten. 
Allgemein  aber  fehlte  es  den  Knaben  an  Eifer  nicht.  Sie  überboten 
sich  geradezu,  durch  freiwillige  Darbietungen,  namentlich  von 
Gedichten,  zur  Verschönerung  von  Festlichkeiten  beizutragen,  von 
denen  der  1.  Februar,  der  Tag  des  Einzuges  in  die  Bursa,  besonders 
glänzend  gefeiert  wurde. 

Auch  in  den  Übungen  der  Frömmigkeit  suchten  sich  die 
Konviktoristen  voreinander  hervorzutun  oder  die  Vorzüge  der 
Fratres  de  Societate  nachzuahmen,  und  bei  dem  allgemeinen 
Wetteifer  verlangten  sehr  viele  von  ihnen  danach,  in  den  Orden 
aufgenommen  zu  werden.  Es  war  auch  für  sie  kein  großer  Schritt 
mehr  bis  zur  völligen  Entsagung  der  Welt.  Man  lese  nur  in  den 
Berichten  nach,  wie  eifrig  sie  die  Sakramente  empfangen,  Kirchen 
besuchen,  Messen  und  Predigten  hören,  freiwilligen  Abtötungen 
sich  unterziehen  und  wie  sie  nie  ohne  Zustimmung  der  Lehrer 
das  Kolleg  verlassen  und  sich  nur  selten,  bei  ganz  schönem  Wetter, 
mit  einem  Lehrer  zum  Spiele  auf  die  Wiesen  begeben. 

Auch  Lipsius  ist  dem  Orden  beigetreten.  Er  entschloß  sich 
dazu  im  Sommer  1562,  als  er  in  der  Rhetorikerklasse  saß.  Kessel 
berichtet  darüber  am  13.  Oktober  nach  Rom:  Fratres  nostri  optime 
se  gerunt  et  suo  exemplo  multos  ad  contemptum  mundi  provocant. 

Inter  quos  duo  sunt et  tertius   filius    unicus   cuius- 

dam  civis  Bruxellensis  qui  acriter  instant,  ut  ad  Societatem 
recipiantur.  Quia  autem  intellegunt,  nos  citra  parentum  consensum 
neminem  recepturos,  parentibus  per  litteras  animos  suos  indicaturi 
sunt  et  eorum  ad  id  consensum  postuiaturi.  (Vgl.  Hansen  438.) 
Ob  man  bei  Lipsius,  der  nach  dem  angeführten  Zeugnis  Kesseis 
den  Anforderungen  der  Konstitutionen  glänzend  entsprach  (vgl. 
const.  4,  c.  2),  auf  Absendung  des  Schreibens  bestanden  hat,  wo 
man  doch  in  Köln  mit  Zustimmung  des  Generals  auch  geheime 
Mitglieder  hatte  und  beim  Widerstände  der  Eltern  recht  vorsichtig 
zu  Werke  zu  gehen  verstand?  Jedenfalls  ist  es  sicher,  daß  damals 
der  Vater,  den  der  eigene  Sohn  als  vir  acer,  manu  promptus 
schildert,  nichts  erfahren  hat,  und  recht  auffallend  bleibt  es,  daß 
die  Aufnahme  bereits  tatsächlich  vollzogen  war,  ehe  das  erwähnte 
Schreiben  Kessels  abging.     In  einer  der  erhaltenen  Schüierlisten 

s  66 


steht  nämlich  neben  dem  Namen  des  Lipsius  die  Bemeri<ung: 
Admissus  est  ad  societatem  29.  7^"^  1562.  Dasselbe  Datum  ist 
in  einer  Löwener  Liste  enthalten,  in  der  die  Namen  der  Personen 
verzeichnet  sind,  die  in  der  belgischen  Provinz  von  1542 — 1612 
aufgenommen  wurden.  Rethius  zeigte  im  Auftrage  Kessels  am 
12.  Januar  1563  unter  Beifügung  der  erwähnten  Empfehlung  die 
Aufnahme  in  Rom  an.  Es  mag  zwar  dem  noch  nicht  fünfzehnjährigen 
Knaben  die  volle  Erkenntnis  der  Tragweite  seines  Entschlusses, 
der  zu  schweren  Konflikten  führen  mußte,  gefehlt  haben,  für  die 
Beurteilung  seiner  spätem  Entschließungen  aber  ist  er  bezeichnend 
genug. 

Die  Frage,  ob  Lipsius  als  Novize  dem  Orden  angehört  habe, 
ist  zu  verneinen.  Denn  nach  den  Konstitutionen  war  während 
des  zweijährigen  Noviziates  jegliches  wissenschaftliche  Studium 
strengstens  untersagt.  Lipsius  ist  aber,  wie  die  Listen  beweisen, 
nach  seinem  Eintritt  in  die  Sozietät  noch  Schüler  der  Logik  ge- 
wesen und  hat  auch  sein  Abschlußexamen  gemacht.  Er  gehörte 
demnach  zu  den  scholastici  societatis,  die  sich  auf  das  Noviziat 
vorbereiteten,  und  unterschied  sich  von  den  Scholastikern,  die  es 
hinter  sich  hatten.  Seine  plötzliche  Abberufung  von  Köln  ist  wohl 
so  zu  erklären,  daß  die  Eltern  von  seinem  Vorhaben  in  dem  Augen- 
blicke Kenntnis  erhielten,  als  er  nach  langem  Zögern  im  Begriffe 
stand,  in  das  Noviziat  einzutreten  und  sich  durch  ein  Gelübde 
zum  Ordensleben  zu  verpflichten. 

Während  seiner  Zugehörigkeit  zur  Societät  wohnte  Lipsius 
wieder  bei  den  Fratres  und  zählte  zu  den  berechtigten  Mitgliedern 
des  Ordens,  wie  es  Ignatius  noch  kurz  vor  seinem  Tode  bestimmt 
hatte.  Bei  der  Erziehung  der  nicht  approbierten  Scholastiker  der 
Gesellschaft  erstrebten  die  Jesuiten  dasselbe  Ziel  wie  bei  den 
Novizen,  absolute  Disziplin  des  eigenen  Wesens,  aller  Gefühle, 
Gedanken  und  Willensregungen  zum  Zwecke  der  völligen  Hingabe 
an  das  Höhere,  an  Gott  und  seine  Kirche.  Daß  die  täglich  bis 
ins  kleinste  geübte  Selbstzucht  dauernde  Wirkung  haben  mußte, 
ist  nicht  zu  bezweifeln,  und  die  Leidenschaftslosigkeit  und  Selbst- 
beherrschung, die  Lipsius  später  in  seinen  literarischen  Werken  stets 
bekundet  hat,  darf  man  als  eine  Folge  jener  strengen  Erziehung 
betrachten.  Als  ihn  einst  ein  Gegner  zur  Fehde  zwang,  da  konnte 
er  von  sich  sagen:  „Ich  habe  gelernt,  die  Wahrheit  zu  lieben, 
aber  auch  die  Streitigkeiten  zu  meiden",  und  zum  Beweise  seiner 
Behauptung  erklären:  „Ich  habe  bis  jetzt  über  vierzig  Jahre  gelebt 
und  mehr  als  zwanzig  Jahre   geschrieben,  aber   ich  habe  meine 

66 


Feder  bisher  gegen  niemand,  und  niemand  hat  sie  gegen  mich 
geführt.  Denn  ich  liebe  von  Natur  die  Mäßigung  und  Ruhe  und 
bin  auch  durch  Erziehung  dazu  gebildet  worden."  (Institutio  etiam 
accessit.     Adversus  dialogistam  281.  283.) 

Als  Lipsius,  16  Jahre  alt,  im  Juni  1564  von  der  Bursa  nova 
Tricoronata  ging,  da  besaß  er  neben  der  Begeisterung  für  das 
Altertum  die  Grundlage  der  Kenntnisse,  durch  die  er  sich  zum 
Fürsten  in  seiner  Wissenschaft  erhoben  hat.  Er  dankte  es  seinen 
Lehrern,  besonders  dem  unglücklichen  Gerhard  Pesch,  und  was 
er  dem  Orden  im  allgemeinen  schuldete,  das  schrieb  er  am 
I.Dezember  1597  an  den  Jesuitenpater  Matthäus  Rader  in  Augsburg: 
„Daß  ich  ein  Freund  des  Ordens  bin,  was  soll  ich  es  nicht  offen 
bekennen?  Er  hat  mich  in  die  Wissenschaften  eingeführt,  er  hat 
mir  heilsame  Lehren  für  mein  ganzes  Leben  gegeben  und  ist  mir 
in  ihrer  Befolgung  als  Muster  voraufgegangen.  Ich  liebe  diesen 
Orden  und  liebe  seine  Mitglieder." 

Lipsius  setzte  seine  unterbrochenen  philosophischen  Studien 
in  Löwen  fort  und  widmete  sich  dann,  ohne  Magister  artium  zu 
sein,  der  Rechtswissenschaft,  um  sich  nach  dem  Willen  des  Vaters 
für  den  Staatsdienst  vorzubereiten.  Aber  sein  Geist  weilte  bei  den 
Werken  der  lateinischen  Literatur.  Mitten  in  dem  Zwiespalt  zwischen 
Neigung  und  Pflicht  traf  ihn  unerwartet  die  Nachricht  vom  Tode 
des  Vaters,  dem  auch  die  Mutter  bald  ins  Grab  folgte.  So  war 
der  kaum  achtzehnjährige  Student  auf  eigene  Hilfe  angewiesen, 
und  das  empfand  er  um  so  mehr,  als  sein  Vater  das  Vermögen 
nahezu  verbraucht  hatte.  Schnell  entschlossen  erwarb  er  sich,  so 
gut  er  konnte,  den  Grad  eines  Baccalaureus  in  utroque  iure  und 
betrieb  dann  ausschließlich  das  Studium  des  Lateinischen.  Schon 
1568  erschienen  von  ihm  die  Variarum  lectionum  übri  111,  eine 
kritische  Studie  über  eine  ganze  Reihe  lateinischer  Autoren.  Sie 
war  dem  Kardinal  Granvella,  dem  langjährigen  Minister  Philipps  II. 
in  den  Niederlanden,  gewidmet. 

Der  Erfolg  spornte  Lipsius  an,  sich  auf  diesem  Gebiete  der 
Kritik  weiter  zu  betätigen.  Er  fand  dazu  Zeit  und  Gelegenheit 
in  Rom,  wohin  ihn  Granvella  als  Sekretär  seiner  lateinischen 
Korrespondenz  mitnahm.  Hier  machte  er  die  Bekanntschaft  der 
bedeutendsten  damaligen  Gelehrten.  Er  studierte  die  Denkmäler  der 
Stadt  und  bemühte  sich,  die  zugänglichen  Handschriften  des  Tacitus, 
Seneca,  Plautus  und  Terentius  zu  vergleichen.  Als  er  jedoch  nach 
zweijährigem  Aufenthalte  nach  Löwen  zurückkehrte,  hielt  ihn  der 
Verkehr  mit  vergnügungssüchtigen  Freunden  davon  ab,  das  reich- 

6»  67 


lieh  gesammelte  Material  zu  verarbeiten.  Unzufrieden  mit  sich 
selbst  und  erbittert  über  die  kriegerischen  Verheerungen  in  seiner 
Heimat,  wandte  er  nach  einem  Jahre  Belgien  den  Rücken,  um  sich 
nach  Wien  zu  begeben,  wo  der  freisinnige  Maximilian  II.  eine 
Reihe  angesehener  Humanisten  um  sich  versammelt  hatte.  Trotz- 
dem hier  Lipsius,  ohne  Zweifel  auf  Empfehlung  Granvellas,  aufs 


Justus  Lipsius  mit  Hugo  ürotius  und  den  Gebrüdern  Rubens. 


Gem.  V.  P.  P.  Rubens. 


Mit  Genehmigung  von  Hanfstängel,  München. 


Palazzo  Pilti,  Florenz. 


freundlichste  aufgenommen  wurde,  verließ  er  doch  nach  wenigen 
Wochen,  im  September  1572,  die  Stadt  fast  wie  ein  Flüchtiger. 
Als  er  dann  auf  der  Rückreise  einige  Tage  später  neue  Nachrichten 
über  das  wüste  Treiben  der  spanischen  Truppen  aus  seiner  Heimat 


erhielt,  nahm  er  ohne  Bedenken  die  Stelle  eines  Professors  der 
Geschichte  und  Beredsamkeit  an  der  1558  gegründeten  lutherischen 
Universität  Jena  an,  ein  Entschluß,  der  dem  bisherigen  Schützling 
eines  Kardinals   die  Rückkehr   nach  Belgien   unmöglich    machte. 

Die  Professur  trat  er,  kaum  25  Jahre  alt,  im  Oktober  1572 
an,  und  bald  hatte  er  sich  eine  angesehene  Stellung  verschafft. 
Während  der  drei  Semester,  die  er  hier  vornehmlich  über  lateinische 
Autoren  der  klassischen  Periode  las,  vollendete  er  seine  Noten  zu 
Tacitus  und  setzte  die  Variae  lectiones  fort.  Als  er  beim  Tode 
des  Herzogs  Johann  Wilhelm  im  Auftrage  der  Herzogin  Dorothea 
Susanna  die  Leichenrede  hielt,  bekannte  er  sich  in  ihr  offen  zur 
lutherischen  Lehre.  Gleichwohl  entstanden  ihm  bald  schwere  An- 
feindungen, als  er  sich  bei  der  Bewerbung  um  das  Dekanat  zu- 
rückgesetzt sah,  weil  er  nicht  Magister  artium  sei.  Den  Streit 
entschied  der  stellvertretende  Regent,  Kurfürst  August  von  Sachsen, 
zugunsten  des  Lipsius.  Dieser  mischte  sich  aber  bald  darauf  durch 
seine  Rede  De  duplici  concordia  in  die  Fehde  der  lutherischen 
Geistlichkeit  und  machte  sich  dadurch  seinen  weitern  Aufenthalt 
in  Jena  fast  unerträglich. 

Während  der  großen  Ferien,  im  September  1573,  reiste  Lipsius 
nach  Köln.  Man  darf  wohl  als  sicher  annehmen,  daß  er  seine 
Lehrer  und  die  Stätten,  wo  sie  ihn  unterrichtet  und  bewirtet  hatten, 
nicht  aufgesucht  hat.  Denn  es  ist  festzuhalten,  daß  er  vorab  noch 
in  dem  Verbände  der  Jenaer  Universität  zu  bleiben  entschlossen  war 
und  sich  erst  durch  den  Widerstand  seiner  Frau,  einer  verwitweten 
Anna  van  den  Geistere  aus  Löwen,  die  er  in  Köln  heiratete,  be- 
stimmen ließ,  die  Professur  aufzugeben.  Im  März  1574  verließ  er 
Jena,  nachdem  er  in  aller  Form  von  seinen  Verpflichtungen  entbunden 
war.  Der  Aufforderung  der  Herzogin,  die  erwähnte  Leichenrede 
in  Druck  erscheinen  zu  lassen,  kam  Lipsius  nicht  nach.  Ihn  quälte 
die  Sorge  um  die  Rückkehr  in  die  Heimat,  und  aus  Furcht  vor 
den  Spaniern  hielt  er  sich  die  neun  folgenden  Monate  in  Köln  auf.  In 
dieser  Zeit  veröffentlichte  er  das  Meisterwerk  philologischer  Kritik, 
den  Kommentar  zu  Tacüus.  Er  erschien  1574  bei  Christophorus 
Plantinus  in  Antwerpen  und  war  dem  Kaiser  Maximilian  II.  gewidmet. 

In  Köln  vollendete  Lipsius  auch  den  Commentarius  antiquarum 
lectionum,  der  1575  erschien.  Er  enthält  kritische  und  exegetische 
Erläuterungen  zu  Plautus,  wofür  er  namentlich  drei  vatikanische 
Handschriften  verglichen  hatte,  ferner  zu  Propertius,  Seneca  philos. 
und  trag.,  Tacitus  u.  a.  Seine  ciceronianische  Schreibweise  gab 
er  auf  und  vereinigte  von  jetzt  ab  die  Nachahmung  der  Archaismen 

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eines  Apuleius  und  seiner  Anhänger  mit  der  pointierten  Kürze  eines 
Sallustius,  Seneca  und  Tacitus. 

Von  Köln  kehrte  er  anfangs  1575  nach  Overyssche  zurück, 
um  sich  hier  der  Öffentlichkeit  fernzuhalten.  Aber  schon  bald  ist 
er  wieder  in  Löwen,  wo  er  das  juristische  Studium  wieder  auf- 
nimmt und  zum  Doctor  iuris  promoviert  wird.  Kurz  darauf  hielt 
er  sogar  Vorlesungen  über  alte  Geschichte  und  stellte  für  seine 
Zuhörer  die  Leges  regiae  et  decemvirales  zusammen.  1577  erschienen 
die  Epistolicarum  quaestionum  libri  V,  in  quis  ad  varios  scriptores, 
pleraeque  ad  T.  Livium  notae. 

Als  jedoch  die  Spanier  die  Truppen  der  Generalstaaten  nieder- 
warfen und  sogar  Löwen  einnahmen,  und  als  fast  gleichzeitig  die 
mehrmals  erwähnte  Oratio  in  funere  erschien,  da  erkannte  Lipsius 
die  ihm  drohende  Gefahr  und  reiste  nach  Holland.  Hier  wurde 
er  am  5.  April  1578  zum  Professor  der  Geschichte  und  der  Rechte 
an  der  drei  Jahre  vorher  gegründeten  Universität  Leiden  ernannt. 
Damit  beginnt  die  glänzendste  Epoche  seines  Lebens.  In  der 
Vollkraft  seines  Schaffens  veröffentlichte  er  eine  ganze  Reihe 
bedeutsamer  Werke  kritischen,  sprachlichen  und  antiquarischen 
Inhaltes.  (Vgl.  Bibl.  Lips.)  In  kurzem  war  er  der  angesehenste 
Gelehrte  der  jungen  Hochschule.  Durch  seine  Arbeiten  wurde  er 
trotz  des  Einflusses  der  französischen  Philologen  für  die  Studien 
maßgebend,  wie  sie  in  der  sogenannten  älteren  holländischen 
Schule  gepflegt  worden  sind. 

In  seiner  allgemein  anerkannten,  hervorragenden  Stellung 
konnte  Lipsius  auch  in  dem  Streit  der  Tagesmeinungen  ein  ent- 
scheidendes Wort  mitsprechen.  Nun  war  die  Frage  nach  der  Ver- 
einigung von  Theologie  und  Philosophie  schon  lange  eifrig  hin 
und  her  behandelt  worden,  sie  hatte  aber  infolge  des  starren 
Widerstandes  der  beiderseitigen  Anhänger  bisher  keine  befriedigende 
Beantwortung  gefunden.  Lipsius  griff  das  Problem  in  seiner  1584 
erschienenen  Schrift  De  constantia  auf,  und  als  begeisterter  Ver- 
ehrer der  Stoa,  wie  sie,  an  Schroffheit  und  Strenge  wesentlich 
gemildert,  durch  Seneca  überliefert  ist,  wagte  er  den  Versuch, 
die  stoische  Philosophie  den  Lehren  des  Christentums  anzupassen 
und  so  zu  gestalten,  daß  man  sein  tägliches  Leben  nach  ihr 
einrichten  könne.  Jedes  spekulative  Denken  schob  er  beiseite  und 
machte  damit  einerseits  einen  Rückschritt  in  die  Zeiten  der  Huma- 
nisten, die  wie  Leonardo  Bruni  in  seinem  Dialogus  ad  Petrum 
Paulum  Istrum  ed.  Klette  p.  49  ihre  Aufgabe  in  der  Aneignung 
der  Gedanken  der  antiken  Philosophen  erblickten,  anderseits  recht- 

70 


fertigte  er  den  Standpunkt  der  Jesuiten,  die  auch  in  Köln  (vgl. 
Meyer  37)  dem  Humanismus  soweit  entgegenkamen,  als  sie  die 
litterae  der  pietas  unterordneten  und  „die  Philosophie  als  die 
Magd  der  Theologie"  betrachteten.  In  der  Vorrede  spricht  Lipsius 
seine  Ansicht  offen  aus:  „Fürchtet  nicht,  ihr  Theologen,  die 
wissenschaftliche  Weisheit,  wohlverstanden  jene,  die  sich  nicht 
zum  Hochmut  hinreißen  läßt,  sondern  als  ruhige  Magd  dem 
Glauben  dient." 

Der  Erfolg  der  Schrift  übertraf  alle  Erwartungen;  sie  wurde 
in  fast  alle  Sprachen  übersetzt,  und  der  Name  des  Verfassers  wurde 
fortan  in  den  Kreisen  der  Gebildeten  Europas  am  meisten  genannt. 

Nicht  opportun  waren  die  ebenfalls  publizistischen  Politicorum 
sive  civilis  doctrinae  libri  sex,  1589.  In  ihnen  zeigte  sich  Lipsius 
als  eifrigen  Verteidiger  der  Monarchie  und  ließ  sich  zu  Behaup- 
tungen verleiten,  die  bei  den  republikanischen  Niederländern  argen 
Anstoß  erregen  mußten.  Den  heftigsten  Angriffen  trat  er  mit  der 
Schrift  De  una  religione  entgegen,  zog  es  dann  aber,  wie  er  es 
in  seiner  Jugend  gelernt  hatte,  vor,  nutzlose  Zänkereien  zu  meiden 
und  dem  Gegner  das  Feld  zu  räumen.  Er  verließ  Leiden,  reiste 
über  Amsterdam  und  Hamburg  nach  Mainz  und  söhnte  sich  hier 
im  März  1591  bei  den  Jesuiten  mit  der  katholischen  Kirche  aus. 
Vermutlich  waren  unter  den  Mainzer  Patres  frühere  Schul- 
kameraden. Erst  auf  der  Rückreise  besuchte  er  die  Kölner  Ordens- 
angehörigen. Die  Professur  legte  er  am  5.  Juni  formell  nieder. 
Aber  die  Leidener  Kuratoren  suchten  ihn  auch  jetzt  noch  zu 
halten.  Ihr  Anerbieten  war  vergeblich.  Denn  Lipsius  strebte  mit 
allen  Mitteln  nach  der  Rückkehr  in  die  Heimat.  Durch  die 
Bemühungen  seiner  Freunde  erlangte  er  von  Philipp  II.  Verzeihung. 
Am  12.  September  1592  wurde  er  zum  Professor  der  alten 
Geschichte  und  am  24.  November  1593  zum  Professor  der  latei- 
nischen Sprache  in  Löwen  ernannt. 

Auch  in  dieser  Zeit  ließ  er  unermüdlich  ein  Werk  nach  dem 
andern  erscheinen  (De  cruce  libri  III;  Poliorceticon  libri  V,  1594; 
De  militia  Romana  libri  V,  1595;  De  magnitudine  Romana  u.  a. 
Vgl.  Bibl.  Lips.).  Diese  Arbeiten  aus  dem  Bereiche  der  sogenannten 
Antiquitäten,  die  man  vom  heutigen  Standpunkte  korrekter  metho- 
discher Forschung  als  Kompilationen  zu  bezeichnen  sich  hier  und 
dort  für  berechtigt  hält,  hatten  mit  Rücksicht  auf  den  enzyklo- 
pädischen Unterricht  der  belgischen  Schulen,  vor  allem  aber  auch 
als  zuverlässige  Materialsammlungen  für  die  Erklärung  der  Texte 
und   zuletzt   auch    für  spätere  wissenschaftliche  Verarbeitung  her- 

71 


vorragenden  Wert.  Für  unsere  Tage  sind  aus  dieser  Epoche  der 
Kommentar  zum  Panegyricus  des  Plinius  und  die  Manuductio 
ad  Stoicam  philosophiam  noch  von  Bedeutung.  Seine  religiöse 
Überzeugung  bekundete  Lipsius  in  den  Schriften  über  die  Wunder- 
weri<e  der  Madonna  zu  Hai  und  Montaigu.  Für  erstere  hatte  ihm 
Franciscus  Costerus  die  authentischen  Belege  verschafft.  Viele 
Ehrungen  wurden  dem  verdienten  Gelehrten  zuteil.  Der  König 
ernannte  ihn  am  14.  Februar  1597  zu  seinem  Historiographen. 

Noch  bevor  Lipsius  seinen  Aufsehen  erregenden  Kommentar  zu 
Seneca  vollendet  hatte,  starb  er  zu  Löwen  am  24.  März  1606.  Er 
wurde  in  der  Franziskanerkirche  beigesetzt.  Die  Marmorbüste  seines 
Grabmals  wurde  1794  nach  Paris  gebracht.  Seit  dem  28  Juni 
1853  schmückt  ein  Denkmal  seinen  Heimatsort  Overyssche. 

Die  Verdienste  des  Justus  Lipsius  liegen  auf  dem  Gebiete  der 
Kritik  und  Erklärung  der  lateinischen  Prosaschriftsteller.  Hier  hat  er 
sich  durch  hervorragende  Begabung,  unermüdlichen  Fleiß  und  prä- 
zise Gelehrsamkeit  glänzende  und  dauernde  Erfolge  errungen.  Sie 
wird  jeder  ohne  Rückhalt  und  um  so  m.ehr  bewundern,  je  genauer  er 
sich  vergegenwärtigt,  wie  viele  durch  Unwissenheit,  Sorglosigkeit 
und  kritiklosen  Übereifer  entstandene  Schwierigkeiten  zu  überwin- 
den waren,  um  wenigstens  zu  einer  annähernden  Richtigkeit  eines 
Textes  zu  gelangen.  Lipsius  hat  den  Tacitus,  den  das  Zeitalter 
der  Humanisten  mißachtet  hatte,  desgleichen  den  Seneca,  dessen 
Persönlichkeit  man  nicht  einmal  mehr  kannte,  wieder  zugänglich 
gemacht.  Es  widerspricht  daher  den  Tatsachen,  wenn  Bernays 
(in  seinem  Buch  über  Scaliger  und  in  seiner  Vorlesung  im  Sommer- 
semester 1866)  die  Behauptung  aufstellte,  Lipsius  habe  seinen 
Mangel  an  Genialität  durch  Künstelei  zu  ersetzen  gesucht.  Mit 
vollem  Recht  wird  er  vielmehr  „der  genialste  Textkritiker  der  Neu- 
zeit" (Gudemann)  genannt.  Seine  Kritik  erstreckt  sich  auf  emen- 
dierte  Ausgaben  ganzer  Texte,  auf  fortlaufende  Notae  ohne  Text 
und  endlich  auf  die  schier  zahllosen  gelegentlichen  Konjekturen, 
wie  sie  in  seinen  Sammelschriften  und  auch  in  seinen  Briefen 
niedergelegt  sind.  Die  Verbesserungen,  die  Lipsius  wohl  an  sämt- 
lichen lateinischen  Autoren  vorgenommen  hat,  haben  in  größter 
Zahl  vor  der  Kritik  der  späteren  Zeit  standgehalten  und  sind  in 
unsere  Ausgaben  aufgenommen  worden.  Seine  Sacherklärungen 
verraten  den  gründlichen  Kenner  der  lateinischen  Literatur  und 
der  römischen  Altertümer  im  weitesten  Sinne.  Sie  sind,  wo  der 
Zweck  es  erfordert,  durch  gelehrte  Exkurse  ergänzt,  die  aber  nur 
sachlicher    und    nicht    persönlicher    Auseinandersetzung    dienen. 

72 


überhaupt  bekundet  Lipsius  in  allen  seinen  Schriften  besonnene 
Mäßigung,    scharfes   Urteil   und   klare   Ordnung   der   Gedanken. 

Der  Kommentar  des  Tacitus  ist  „ein  unübertroffenes 
Meisterwerk,  mit  dem  sich  weder  ein  Vorgänger,  obgleich  sich 
darunter  Beatus  Rhenanus  befand,  noch  unter  den  ausgezeichneten 
Nachfolgern,  deren  er  viele  gefunden  hat,  einer  vergleichen  kann" 
(Urlichs).  Lipsius  war  der  erste,  der  eine  scharfe  Scheidung  der 
Annalen  von  den  Historien  durchführte.  Er  erkannte  ferner,  daß 
das  in  der  Handschrift  fehlende  sechste  Buch  der  Annalen  mit 
einem  Reste  des  fünften  Buches  vereinigt  war.  Daß  er  die 
Trennung  nicht  ganz  genau  an  der  rechten  Stelle  vornahm,  will 
wenig  besagen,  wenn  man  bedenkt,  daß  erst  vor  wenigen  Jahr- 
zehnten der  Irrtum  berichtigt  worden  ist.  Für  die  Rezension  seines 
Textes  benutzte  er  die  editio  princeps  des  Vindelinus  de  Spira, 
die  um  1470  in  Venedig  erschienen  war;  er  nennt  sie  Ann.  XII. 
41:  Romanus  priscae  editionis  codex;  ferner  mehrere  vatikanische 
Handschriften  und  einen  Farnesianus  (Histor.  III.  5.),  den  ihm 
Fulvius  Ursinus  verschafft  hatte.  Weitere  Angaben  über  Hand- 
schriften findet  man  in  seinen  Briefen.  Neuerdings  hat  Scato  de 
Vries,  worauf  Herr  Prof.  Dr.  Sonnenburg-Münster  mich  in  liebens- 
würdigster Weise  aufmerksam  gemacht  hat,  festgestellt,  daß  Lip- 
sius in  seiner  Handschriftensammlung  den  Codex  Leidensis  XVIII 
sive  Perizonianus  Q.  21.  besessen  hat.  (Vgl.  Tac.  dial.  de  or.  et 
Germ.  Suet.  de  vir.  ill.  fragm.  cod.  Leidens.  Periz.  photograph. 
ed.  Praefatus  est  G.  Wissowa,  Leiden,  Sijthoff.  1907,  praef.  pag. 
XXII  und  XXllI.)  Die  erste  Ausgabe,  1574,  enthielt  nur  den  be- 
richtigten Text  nebst  Noten.  In  Leiden  verfaßte  er  commentarii  pleni 
dazu  und  ergänzte  sie  später.  Die  Erläuterungen  sind  ganz  knapp 
gehalten  und  meiden  jedes  Prahlen  mit  Kenntnissen.  Die  Kon- 
jekturen sind  so  treffend,  daß  Lipsius,  als  Pichena  1604  die  medi- 
ceische  Handschrift  veröffentlichte,  gestehen  konnte:  (qui  codex) 
centenis  circiter  locis  coniecturas  nostras  (quod  gaudeam)  con- 
firmavit.  (Vorrede  18.  August  1605.) 

Der  Kommentar  des  Seneca  erschien  1605;  er  war  dem 
Papste  Paul  V.  gewidmet.  Lipsius  hat  das  Verdienst,  den  Rhetor 
scharf  von  dem  Philosophen  geschieden  zu  haben.  (Vgl.  Electorum 
liber  I.  cap.  1.)  Für  den  Text  des  Philosophen  benutzte  er  die 
vorliegenden  Ausgaben  und  Verbesserungsvorschläge  und  eigene 
handschriftliche  Notizen.  Die  genaue  Kenntnis  der  Gedanken  des 
ihm  geistesverwandten  Römers  ermöglichte  es  ihm,  in  den 
meisten    strittigen    Fällen    die    richtige  Lesart  einzusetzen.    Sehr 

73 


verdienstvoll  war  auch  die  Regelung  der  Interpunktion,  die  in- 
folge der  mangelhaften  Bekanntschaft  mit  dem  Inhalt  sehr  im 
Argen  lag.  Den  einzelnen  Dialogen  sind  wertvolle  Inhaltsangaben 
vorausgeschickt.  Die  Erläuterungen  reichen  nur  bis  zu  den 
Naturales  quaestiones.  Erst  in  unsern  Tagen  wird  man,  vor  allem 
nach  den  verdienstvollen  Vorarbeiten  Buechelers,  daran  gehen,  eine 
kritische  Ausgabe  des  Seneca  herzustellen,  die  den  Kommentar 
des  Lipsius  überholen  soll. 


Literatur. 

Justi  Lipsii  opera,  Wesel  1625.  —  Jos.  Hansen,  Rheinische  Akten  zur 
Geschichte  des  Jesuitenordens  1542-1582,  Bonn  1896;  dazu  die  Originalal<ten  des 
Kölner  Stadtarchivs.  —  Meyer,  Ziele  des  Unterrichtes  am  Jesuitengymnasiura 
in  Köln:  Mitteilungen  der  Ges.  für  d.  Erz.-  und  Schulgeschichte.  19.  Jahrgg. 
1909.  —  B.  Duhr,  Die  ältesten  Studienpläne  des  Jesuitengymnasiums  in  Köln. 
Ebenda  VIII.  1898.  S.  130.  fgd.  —  Eberh.  Qothein,  Ignatius  von  Loyoia  und 
die  Gegenreformation.  Halle  1895.  —  van  der  Haghen,  Bibliographie  Lipsienne. 
3  Bde.  Gent  1886-1888,  nebst  der  dort  angegebenen  Literatur.  —  Urlichs, 
Geschichte  der  klassischen  Philologie,  in  Iwan  Müllers  Handbuch.  —  Lucian 
Müller,  Geschichte  der  klassischen  Philologie  in  den  Niederlanden,  Leipzig 
1869.  —  Halm,  Justus  Lipsius  in  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie. 


74 


Georg  Braun. 

Von  Regierungsbaumeister  Dr.-Ing.  HANS  VoGTS  in  Köln. 


Die  Vielseitigkeit,  die  vielleicht  das  hervorragendste  Kenn- 
zeichen der  italienischen  Renaissance  und  ihres  Geistes- 
lebens ist,  zeichnet  nicht  nur  auch  die  deutschen  Huma- 
nisten und  die  ganze  deutsche  Kultur  zu  Anfang  des  16.  Jahrhun- 
derts aus,  sondern  verleiht  auch  noch  dem  geistigen  Leben  der 
Gegenreformation   in    manchen    deutschen    Städten   ihr   Gepräge. 

Unter  den  Kultur- 
mittelpunkten dieser 
Zeit  ragte  neben  Prag, 
Wien,  Augsburg,  Ba- 
sel, Nürnberg,  Straß- 
burg, Mainz  unser 
Köln  hervor,  mochte 
es  auch  an  innerer  Be- 
deutung gegenüber 
früheren  Jahrhunder- 
ten verloren  haben. 
In  der  Stadt  wirkte 
damals  ein  Kreis  von 
Männern,  die  durch 
Freundschaft  mitein- 
ander verbunden  wa- 
ren und  sich  gegen- 
seitig anregten;  die- 
semKreise  gehörte  ne- 
ben dem  Geschichts- 
forscherStephan  Bröl- 
mann,  den  Altertums- 
freunden und  Sammlern  Constantin  und  Johann  von  Liskirchen, 
Peter  Heimbach,  Johann  Helman,  dem  Bürgermeister  Johannes 
Hardenrath,  dem  Vorbild  seiner  Amtsnachfolger,  den  Buchdruckern 
und  Verlegern  Arnold  Mylius,  Johann  Gymnicus  und  Anton  Hierat 
und  vielen  andern  Freunden  der  Kunst  und  der  Wissenschaft  der 
Dechant  GEORG  BRAUN,  der  Herausgeber  des  Städtebuchs,  an, 
der  wie  sein  Hauptwerk  bisher  wohl  nicht  die  Aufmerksamkeit 
gefunden    hat,   die   seine  Person   und   seine  Tätigkeit  verdienen. 


76 


Freilich  ist  auch  über  das  Leben  Georg  Brauns  (oder  Bruins, 
wie  er  sich  selbst  häufig  schreibt)  nicht  viel  zu  erfahren.  Schon 
von  seiner  Abstammung  fehlen  sichere  Angaben;  es  steht  nur 
so  viel  fest,  daß  er  1541  in  Köln  geboren  wurde.  Seine  Eltern 
sind  unbekannt  (die  Namen,  welche  Ennen  an  einer  Stelle  angibt, 
beruhen  auf  einer  Verwechslung).  Man  kann  es  als  wahrschein- 
lich betrachten,  daß  Georg  einer  ausgedehnten,  sehr  regsamen 
Kölner  Maler-  und  Glaswörterfamilie  Bruin  angehörte,  von  welcher 
der  Chronist  Hermann  von  Weinsberg,  der  mit  ihr  großmütter- 
licherseits  verwandt  war,  viel  berichtet.  Von  dieser  Familie  werden 
genannt  der  Glaswörter  und  Ratsherr  Tilman,  der  1577  starb; 
der  Maler  Christian,  der  seine  Kunst  in  Mecheln  gelernt  hatte, 
im  Hause  seines  Vaters  in  der  Brückenstraße  wohnte  und  neben 
vielen  andern  Arbeiten  auch  solche  für  die  Jesuitenkirche  aus- 
führte (t  1586);  sein  Bruder  Heinrich,  der  am  Waidmarkt,  „uff 
der  Drenken"  wohnte  und  die  Jakobskirche  mit  Glasgemälden 
schmückte,  sein  Sohn  Heinrich,  welcher  1597  städtischer  Glas- 
wörter wurde  und  Arbeiten  für  das  Kartäuserkloster  lieferte;  dessen 
Sohn  Melchior,  der  sein  Amtsnachfolger  wurde,  keine  Kinder  hatte 
und  zwischen  1678  und  1683  starb,  und  seine  Schwestern  Katha- 
rina und  Richmud. 

Die  Abstammung  Georgs  von  dieser  Familie  wird  durch  sein 
Wohnen  in  der  Columbapfarre,  durch  das  Vorkommen  gleicher 
Vornamen  in  Georgs  und  Heinrichs  Familie,  durch  das  Interesse, 
das  Weinsberg  auch  Georg  und  seinem  Bruder  entgegenbringt, 
durch  die  gemeinsamen  Beziehungen  zu  Mecheln  und  zu  den 
Jesuiten  wahrscheinlich  gemacht  und  wäre  insofern  bedeutsam, 
als  sie  die  Kunstliebe  erklärte,  die  ein  hervortretender  und  beson- 
ders liebenswürdiger  Zug  Georg  Brauns  ist  und  sich  auch  bei 
seinen  Verwandten  findet.  Neben  der  Glaswörterfamilie  Braun  gibt 
es  noch  mehrere  Kölner  Familien  desselben  oder  ähnlichen  Namens, 
darunter  als  die  bekannteste  die  des  aus  Antwerpen  nach  Köln 
eingewanderten,  berühmten  Bildnismalers  Barthel  Bruin,  die  viel- 
leicht einen  Seitenzweig  desselben  Stammes  darstellt,  mit  der 
unser  Georg  aber  erst  in  zweiter  Linie  verwandt  sein  könnte,  da 
alle  ihre  Glieder  —  im  Gegensatz  zu  denen  der  Glaswörterfamilie  — 
aus  den  Schreinsbüchern  festgestellt  werden  konnten.  Als  ein 
Zeichen  näherer  Beziehungen  wird  man  auch  den  Namen  „Fuscus", 
der  sich  sowohl  auf  den  Maler  Barthel  als  auf  Georg  angewandt 
findet,  nicht  auffassen  dürfen,  da  solche  Übersetzungen  der  Familien- 
namen ins  Lateinische  eine  allgemein  geübte  Mode  waren. 

76 


Ein  anscheinend  jüngerer  Bruder  Georgs  war  Melchior  Braun, 
weicher  kein  Schüler  der  Jesuiten  war,  1561  bei  der  Artistenfakultät 
der  Kölner  Universität  eingeschrieben  wurde,  den  Doktorgrad 
erwarb,  1575  Kanonikus  am  Apostelnstift,  1583  dort  Dechant,  am 
14.  Dezember  1585  Pastor  an  Klein  St. -Martin  wurde  und  im 
Juni  1605  starb.  Wahrscheinlich  schmückte  er  seine  Pfarrkirche 
mit  den  Gemälden  vom  Leben  des  heiligen  Martin,  die  später  in 
die  Kapitolskirche  übertragen  wurden.  1578  gab  er  eine  Über- 
setzung der  Schrift  des  Heinrich  Kyspinnik  über  den  Tod  und 
die  Tröstung  Sterbender  heraus,  die  ihn  als  eifrigen,  praktisch 
tätigen  Geistlichen  zeigt.  Melchior  war  ein  „insignis  animarum 
zelator",  von  dessen  Bedeutung  für  die  Gegenreformation  noch 
die  Rede  sein  wird. 

Hartzheim  (und  nach  ihm  Merlo)  bezeichnen  als  einen  weitern 
Bruder  den  Maler  Augustin  Braun,  einen  „zweiten  Apelles",  wie 
ihn  Brölmann  nennt,  einen  „herrlichen  Künstler",  wie  Sandrart 
schreibt.  Von  ihm  sind  zahlreiche  Gemälde,  Stiche  und  Radierungen 
aus  der  Zeit  von  1592  bis  1639  erhalten,  darunter  eine  Bilderfolge 
des  Lebens  Mariae  von  1592,  zu  welcher  Georg  Braun  einen 
lateinischen  Text  verfaßte,  ferner  eine  Halbfigur  des  leidenden 
Heilands,  die  Augustin  in  Gemeinschaft  mit  dem  Stecher  Peter 
Isselburg  1607  dem  „hervorragenden,  hochgelehrten  Herrn  Georg 
Braun,  hochwürdigen  Dechanten  an  St.  Maria  ad  gradus  und 
Kanonikus  an  St.  Georg,  dem  hochverdienten  Theologen  und 
berühmten  Geschichtsschreiber,  seinem  Herrn  und  Gönner",  wid- 
mete; am  bedeutendsten  zeigt  sich  das  Talent  Augustins  wohl  in 
den  sechs  Handzeichnungen  aus  der  Kölner  Geschichte,  die  im 
Hahnentormuseum  hängen  und  offenbar  Entwürfe  für  dekorative 
Malereien  in  Bogenfeldern  irgend  eines  öffentlichen,  wahrscheinlich 
städtischen  Gebäudes  sind,  als  welches  das  zu  Anfang  des  17.  Jahr- 
hunderts vollendete  Zeughaus  oder  der  sogenannte  „spanische 
Bau"  am  Rathausplatz  in  Betracht  kommen  könnten;  diese  acht 
Blätter  sind  flott  gezeichnet,  geschickt  komponiert  und  verraten 
ein  auffallendes  Bewandertsein  in  der  städtischen  Geschichte  und 
in  Tracht  und  Lebensweise  vergangener  Jahrhunderte,  das  freilich 
auch  auf  die  Ratschläge  und  Winke  der  Auftraggeber  und  geschichts- 
kundiger  Freunde  zurückgehen  kann.  Augustin  Braun  unterhielt 
freundschaftliche  Beziehungen  zu  der  Stecherfamilie  Hogenberg, 
die  am  „Städtebuch"  in  erster  Linie  mitbeteiligt  war.  Aus  allem, 
was  wir  über  ihn  erfahren,  geht  hervor,  daß  er  mit  Georg  wohl 
verwandt,  aber  kaum  sein  Bruder  war  —  neben  dem  allzu  demütigen 

77 


Text  der  oben  angeführten  Widmung  würde  auch  der  Altersunter- 
schied dagegen  sprechen;  eher  wird  er  als  ein  Neffe  des  Dechanten 
anzusehen  sein. 

Als  Wappen  führte  Georg  Braun  ein  Schild,  das  oben  ein 
springendes  Pferd,  unten  zwei  gekreuzte  Ähren  enthält;  dieses 
Wappen  befindet  sich  unter  seinem  Bildnis  bei  Hartzheim.  Ein 
ganz  ähnliches  Wappen  war  an  der  reichen,  holzgeschnitzten 
Wendeltreppe  des  Hauses  Edern,  Unter  Goldschmied  Ecke  Portals- 
gasse, angebracht,  das  von  1563  —  1570  dem  Ehepaar  Heinrich 
von  der  Dussel  und  Christine  Bruins,  1570—1597  dem  Ehepaar 
Heinrich  Faber  und  Margareta  Bruins  gehörte;  man  wird  also 
wohl  auch  diese  beiden  Frauen  zur  Verwandtschaft  Georgs  zählen 
dürfen.  Zu  dieser  gehört  ferner  Christine  Bruins,  die  am 
31.  Oktober  1620  aus  dem  Hause  des  Dechanten  zur  Trauung 
mit  Werner  Müntz  geführt  und  1660  neben  ihrem  Gatten  im 
Grabe  Georgs  in  der  Kirche  St.  Maria  ad  gradus  bestattet  wurde; 
Christine,  wohl  eine  Nichte  Georgs,  starb  kinderlos  und  erwähnte 
in  ihrem  Testamente  noch  einen  Halbbruder  Wilhelm  Braun  und 
eine  Schwester  Margareta.  Mit  Georg  verwandt  war  wohl  auch 
der  Kupferstecher  Sebastian  Braun,  den  Hartzheim  erwähnt  und 
zu  dessen  Bildern  aus  dem  Leben  Christi  und  der  Jungfrau  Maria 
der  Dechant  ein  Vorwort  schrieb  (oder  beruht  Hartzheims  Angabe 
auf  einer  Verwechslung  mit  Augustin?).  Endlich  scheinen  den 
Vornamen  nach  zehn  Geschwister  mit  unserm  Braun  verwandt, 
welche  Johannes,  Diederich,  Georg,  Barthel,  Melchior,  Maria, 
Adelheid,  Margneth,  Kathanna  und  Lucia  hießen  und  von  denen 
Johannes  1629  achtzehn  Jahre  alt,  Diederich  Karmelitermönch, 
Georg  wahrscheinlich  mit  einem  Georg  Braun  identisch  war,  der 
1610  an  der  Artistenfakultät  in  Köln  eingeschrieben  wurde. 

Für  unseres  Georg  Brauns  Leben  und  späteres  Wirken  war 
die  Erziehung  von  höchster  Bedeutung,  die  er  im  Gymnasium  der 
Jesuiten  in  der  Maximinenstraße  empfing,  in  dessen  Büchern  er 
sich  zuerst  1558  genannt  findet,  im  selben  Jahre,  in  dem  er  am 
23.  Juli  immatrikuliert  wurde.  1558  stieg  er  als  zweiter  der  auf- 
geführten Schüler  aus  der  poetica  in  die  rhetorica,  in  der  er  am 
7.  Mai  zusammen  mit  Hieronymus  Vedderhenn  zur  Abwendung 
einer  Fieberepidemie  vorzutragen  hatte.  Im  Februar  1561  war  er 
Schüler  der  physica;  am  14.  März  1561  wurde  er  magister  artium 
und  bald  darauf  baccalaureus.  1562  wird  er  als  Novize  des  Jesuiten- 
ordens genannt,  dem  er  aber  jedenfalls  nur  kurze  Zeit  angehörte. 
Hartzheim  nennt  als  seine  Lehrer  Rhetius  und  Kessel;  er  selbst 

78 


erwähnt  außerdem  als  bedeutende  Gelehrte  des  Kölner  Ordens- 
hauses den  beredten  Balduinus  Leodiensis,  den  Philosophen  Petrus 
Sylvius  und  die  Theologen  Theodor  und  Peter  Busaeus.  1560  gab 
Kessel  in  seinem  Monatsbericht  eine  ausführliche  Charakteristik 
Georgs,  welcher  damals  Schüler  der  logica  war,  eine  Schilderung, 
welche  Kessel  als  einen  guten  Menschenkenner  erscheinen  läßt, 
da  in  Brauns  späterem  Leben,  soweit  wir  es  kennen,  gerade  die 
erwähnten  Fähigkeiten  zum  Teil  hervortreten.  Kessel  schrieb  von 
ihm:  „iuvenis  natura  satis  modestus  boni  autem  ingenii  et  iudicii, 
gratiam  habebit  concionandi  docendi  philosophiam  bonus  videtur 
magisternostrorum  puerorum  ac  discipulorum,  habet  gratiam  conver- 
sandi  etiam  cum  viris  magnae  autoritatis,  sie  satis  idoneus  ad 
quemcunque  rerum  externarum  executionem". 

An  der  Universität  erwarb  Georg  den  Grad  eines  Licentiaten 
der  Theologie.  Um  1570  scheint  er  Hilfsgeistlicher  in  der  Columba- 
pfarre  gewesen  zu  sein.  1575  versprach  der  Rat  als  Gegengabe 
für  die  Widmung  eines  Exemplares  des  Städtebuches,  sich  um 
eine  geistliche  Pfründe  für  ihn  zu  bewerben,  und  verehrte  ihm 
50  Reichstaler.  1578  wurde  er  quaestor  und  fiscus  an  der  neu- 
gegründeten  theologischen  Lehranstalt,  deren  Gründer,  der  um  die 
Erhaltung  der  katholischen  Konfession  bemühte  Johannes  Swolgen, 
Dechant  an  St.  Andreas  und  St.  Georg,  ein  Freund  und  Gönner 
der  Jesuiten  war;  zur  Eröffnung  des  Collegium  Swolgianum,  das 
sich  an  der  Stelle  des  heutigen  Marzellengymnasiums  befand  und 
über  dessen  Tür  in  goldenen,  in  Stein  gemeißelten  Buchstaben 
sein  Name  prangte,  gab  Georg  Braun  eine  Beschreibung  der 
Anstalt  und  des  Lehrplanes  mit  seinen  acht  Klassen  heraus;  er 
hielt  auch  am  11.  Juli  1578  die  Eröffnungsrede  über  das  Studium 
der  Theologie  und  deren  Lehranstalten,  welche  in  der  Beschreibung 
mit  einem  Anhange,  einer  Disputation  darüber,  ob  die  Theologie 
die  hervorragendste  Wissenschaft  sei,  abgedruckt  ist.  Bald  nachher 
wurde  Georg  Kanonikus  an  der  St.  Georgskirche  und  am  5.  Juni  1585 
Dechant  des  Stiftes  St.  Maria  ad  gradus,  dessen  schöne  Kirche 
östlich  vom  Domchor  lag,  bevor  sie  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
abgebrochen  wurde.  Als  Dechant  dieser  Kirche  war  er  zugleich 
Archidiakon  von  Dortmund,  ein  Amt,  das  seit  Erzbischof  Annes 
Zeit  mit  dem  des  Dechanten  an  St.  Maria  ad  gradus  verbunden 
war.  Georg  bewohnte  seitdem  bis  zu  seinem  Tode  das  1489  ge- 
stiftete, in  der  Immunität  des  Stiftes  gelegene  Dekanatsgebäude, 
das  Ausblick  in  den  Garten  der  Kirche  hatte.  Er  starb  am 
10.  März    1622,    einundachtzig    Jahre    alt,    und    wurde    in    der 

79 


St.NikolauskapelleseinerKirche  begraben.  Seine  Grabinschrift  geben 
Hartzheim  und  Büllingen  an;  sie  lautete:  „Admodum  reverendus 
ac  magnificus  vir  ac  dominus  Georgius  Braun  Agrippinas  huius 
Collegiatae  ecclesiae  Beatae  Mariae  virginis  ad  gradus  per  37  annos 
decanus  et  archidiaconus  Tremoniensis  optime  meritus  hoc  epita- 
phium  in  sui  memoriam  una  cum  aliis  legatis  piarum  imaginum 
ac  contemplationum  picturis  ecclesiae  suae  donavit  aetatis  81  obiit 
ao.  salutis  1622  die  10  martiis." 

Aus  der  Grabschrift  geht  hervor,  daß  er  die  Stiftskirche  reich 
bedachte  und  insbesondere  mit  Bildern  schmückte,  von  denen  eines, 
welches  im  nördlichen  Seitenschiff  aufgehängt  wurde,  ihn  selbst 
darstellte;  nach  diesem  Bilde  schuf  der  Stecher  Rösel  um  die  Mitte 
des  18.  Jahrhunderts  den  Stich,  der  uns  Brauns  kluges,  ernstes, 
wohlwollendes,  nach  der  Tracht  der  Zeit  spitzbärtiges  Gesicht  über- 
liefert hat.  Zum  Ausdruck  dieses  Bildes  paßt  die  kurze,  aber  treffende 
Charakteristik,  die  Hermann  von  Weinsberg  1585  von  Georg  Braun 
gab,  indem  er  ihn  „gar  wolgeleirt  und  politissimus"  nannte. 

Häufig  erhielt  Braun  ehrenvolle  Aufträge  von  seifen  der  kirch- 
lichen Behörden:  so  wurde  er,  als  er  1592  in  Neuß  mit  dem  Nuntius 
über  die  dortige  Errichtung  eines  Jesuitenkollegs  verhandelte,  zur 
Begrüßung  der  Herzogin-Regentin  Jakobine  von  Kleve-Jülich-Berg 
nach  Düsseldorf  geschickt,  mit  der  diplomatische  Verhandlungen 
wegen  einer  Stärkung  der  katholischen  Partei  in  ihren  Ländern 
gepflogen  wurden;  so  war  er  im  Juni  1602,  zusammen  mit  Johannes 
Swolgen  und  dem  Obersiegier  Ludwig  von  Heresbach,  der  Vertreter 
des  apostolischen  Stuhles  bei  der  feierlichen  Einweihung  der  neuen 
Franziskanerkirche  in  der  Streitzeuggasse,  ein  Ereignis,  auf  das 
er  eine  Medaille  prägen  ließ. 

Von  Georgs  Tätigkeit  als  Geistlicher  zeugen  sein  Testament, 
durch  das  er  in  seiner  Stiftskirche  den  Gottesdienst  zu  Ehren  des 
Namens  Jesu  begründete,  und  viele  seiner  Schriften,  darunter  eine, 
die  sich  mit  dem  Kommentar  des  belgischen  Bischofs  Cornelius 
Jansenius  zu  dessen  Evangelienharmonie  befaßte  und  die  1579 
erschien.  Als  Geistlicher  mußte  er  vor  allem  zu  dem  Streit  der 
Konfessionen  Stellung  nehmen,  der  damals  in  und  um  Köln  ent- 
brannt war.  Die  Erziehung  Georgs  im  Jesuitenorden  und  seine 
Beziehungen  zu  Johannes  Swolgen  lassen  es  als  selbstverständlich 
erscheinen,  daß  er  in  diesem  Streit  vollständig  auf  der  Seite  der 
katholischen  Kirche  stand;  er  weist  denn  auch  in  seinen  Schriften 
die  Lehren  des  Velsius  und  Leichius  als  Ketzereien  zurück  und 
vergißt   anderseits   in    seinem    Städtebuch    nie,   die    Institute    der 

80 


römischen  Kirche,  die  Ordensniederlassungen  der  Jesuiten  und 
ihre  führenden  Männer  zu  erwähnen.  Als  Archidiakon  von  Dort- 
mund versuchte  er  besonders,  allerdings  ohne  Erfolg,  dort  den 
Protestantismus  zurückzudämmen,  gegen  den  er  1605  eine  Druck- 
schrift „Catholicorum  Tremoniensium  adversus  Lutheranicae  ibidem 
factionis  praedicantes  defensio"  erscheinen  ließ;  auch  sein  Vertreter 
und  Offizial  in  Dortmund,  der  Pastor  Schmalbein  von  Büderich, 
wirkte  in  seinem  Auftrage  den  protestantischen  Predigern  entgegen. 

Es  scheint  also,  daß  Georg  an  der  Seite  seines  Bruders 
Melchior  kämpfte,  welcher  1582  eine  Flugschrift  mit  dem  Titel 
herausgeben  ließ:  „Ablienung  und  gruendtliche  Widerlegung  der 
übel  gegründten  Supplikation  so  etliche  der  Augsburg.  Confession 
vermeinte  verwandten  umb  einräumung  einer  öffentlicher  Platz  zu 
ihres  Glaubens  exercitium  einen  hochachtparn  und  weisen  Rhatt 
der  heyligen  Statt  Colin  übergeben  haben".  Diese  Flugschrift, 
die  sich  auf  Ratsbeschlüsse  und  Reichstagsabschiede  stützt,  erhielt 
eine  weite  Verbreitung  und  1649  eine  zweite  Auflage;  sie  ist  in 
einem  lebendigen  Stil  geschrieben,  der  es  ahnen  läßt,  daß  Melchior 
ein  guter  Prediger  war,  der  auf  die  Allgemeinheit  Eindruck  zu 
machen  wußte.  Georg  dagegen  wandte  sich  schon  durch  die 
lateinische  Sprache  seiner  Schriften  an  einen  kleineren  Kreis;  er 
geht  auch  bei  seinen  religiösen  Auffassungen  vorwiegend  von  der 
Geschichte  aus,  und  es  ist  bezeichnend,  daß  er  in  dem  auf  Dortmund 
bezüglichen  Buche  gegen  die  Lutheraner  fast  nur  deren  Uneinig- 
keit und  Unbeständigkeit   und  die  Jugend    ihrer  Kirche   anführt. 

Die  Gegenreformation  begnügte  sich  aber  nicht  mit  der 
Abweisung  der  protestantischen  Ansprüche,  sondern  suchte  auch 
die  eigene  Kirche  zu  kräftigen  und  zu  festigen  und  ihre  Schäden 
zu  heilen;  auch  dabei  finden  wir  Melchior  Braun  mit  tätig  und 
von  seinem  Bruder  Georg  unterstützt.  Es  galt  besonders,  den 
Pfarrerstand  in  Köln  zu  heben ;  zumal  Melchiors  Vorgänger  als 
Pfarrer  von  St.  Aposteln  war  ein  ganz  ungelehrter  Mann.  Als 
ein  Mittel  zur  Gewinnung  tüchtiger  Pfarrer  erschien  eine  bessere 
Bezahlung  ihrer  Dienste,  die  man  durch  Aufhebung  der  allzu 
zahlreichen  Präbenden  an  mehreren  Kölner  Kirchen  ermöglichen 
wollte,  ein  Beginnen,  für  das  sich  besonders  der  Rat  interessierte. 
Dessen  Wünsche  in  dieser  Hinsicht  vertrat  Melchior  1580  in  Rom 
bei  dem  Papste;  im  Februar  1581  kehrte  er  von  seiner,  mit  vollem 
Erfolg  durchgeführten  Reise  zurück.  Georg  Braun,  der  schon  mit 
seiner  ersten  bekannten  Schrift  ,, oratio  quodlibetica  contra  con- 
cubinarios  sacerdotes"   vom  Jahre  1566   für  die  Reformation  des 

6  81 


geistlichen  Standes  eingetreten  war,  hatte  kaum  das  Dekanat  am 
Marienstift  erlangt,  als  (am  17.  Oktober  1586)  zwölf  Präbenden  des- 
selben (sicherlich  nicht  ohne  seine  Mitwirkung)  aufgehoben  wurden. 

Ein  so  lebhafter  Anhänger  der  katholischen  Kirche  aber  Georg 
auch  war  und  so  wenig  Zweifel  er  auch  daran  aufkommen  ließ, 
so  war  er  doch  persönlich  durchaus  tolerant  und  von  aller  Feind- 
schaft frei.  Sein  Lebenswerk,  das  Städtebuch,  brachte  ihn  in 
Beziehungen  zu  gelehrten  Protestanten  und  zu  protestantischen 
Städten ;  in  seinem  Text  enthält  er  sich  aller  feindlichen  Bemerkungen. 
Ja,  er  stand  mit  mehreren  religiösen  Gegnern  in  naher  Freund- 
schaft, besonders  mit  dem  trefflichen  Georg  Cassander,  einem 
1515  in  Brügge  geborenen  Gelehrten  und  Feinde  der  Jesuiten, 
der  seit  1544  in  Köln  für  eine  Wiedervereinigung  der  beiden 
Konfessionen  auf  einer  mittleren  Grundlage  wirkte  und  in  Brauns 
Wohnung  in  der  Columbapfarre  am  3.  Februar  1566  starb;  ferner 
mit  dem  Kupferstecher  Franz  Hogenberg  aus  Mecheln,  der  selbst 
ein  Anhänger  der  Augsburger  Konfession  war  und  wiederholt 
ihre  Prediger  anhörte. 

Wie  viele  Gelehrte  seiner  Zeit,  so  hatte  auch  Georg  Braun 
überhaupt  einen  zahlreichen  Freundeskreis  und  wahrscheinlich  auch 
einen  regen  Briefwechsel,  von  dem  leider  nur  ein  paar,  seine  Schriften, 
besonders  das  Städtebuch,  betreffende  Stücke  erhalten  sind.  Ganz 
abgesehen  von  den  vielen  Gelehrten,  die  er  im  Städtebuch  als 
seine  Freunde  bezeichnet  oder  die  ihn  in  ihren  zur  Einleitung 
dienenden  Lobsprüchen  ihren  Freund  nennen  und  von  welchen 
nur  die  Kölner  Wilhelm  Salzmann  und  der  Kanonikus  des  Stiftes 
St.  Maria  ad  gradus  Melchior  Hittorf  erwähnt  seien,  stand  Georg 
in  nahem,  freundschaftlichem  Verkehr  mit  dem  etwas  jungem 
Dr.  jur.  Stephan  Brölmann,  der  bald  nach  ihm  (am  10.  November 
1622)  starb  und  der  in  seinen  „Epideigmata"  1595  eine  Karte 
Europas  dem  „durch  Frömmigkeit  und  Bildung  ausgezeichneten 
Georg  Braun,  dem  Theologen  und  Erläuterer  der  Städte  des  Erd- 
kreises, seinem  alten  Freunde  und  Mäcen"  widmete.  Mit  Georg 
verkehrte  ferner  freundschaftlich  Hartger  Henot  in  den  Jahren, 
welche  dieser  als  Kanonikus  an  St.  Andreas,  Domherr  und  späterer 
Protonotar  in  Köln  verbrachte.  Henot,  der  Sohn  des  Taxisschen 
Postmeisters  in  Köln  und  ebenfalls  ein  Schüler  des  Tricoronatum, 
wurde  1588  zum  Priester  geweiht,  später  als  Diplomat  am  Kaiser- 
hof hochgeschätzt  und  erlangte  zahlreiche  geistliche  Würden ; 
gegen  das  Ende  seines  Lebens  wurde  er  aber  durch  einen  Prozeß 
verbittert,  den  man  gegen  seine  geschäftstüchtige  Schwester,  die 

82 


Postmeisterin  Katharina  Henot,  wegen  Hexerei  führte  und  der  1628 
mit  ihrem  Tode  auf  dem  Scheiterhaufen  endete;  ja,  man  wagte  es 
sogar,  den  Domherrn  selbst  der  Zauberei  zu  beschuldigen.  Ein  Bild 
dieses  Zöglings  der  Jesuiten  und  Freundes  des  Georg  Braun  befindet 
sich   im  Gebäude   der  Kölner  Studienstiftungen  am   Gereonshof. 

Das  Hauptgebiet  von  Georgs  gelehrter  Tätigkeit  war  die 
Geschichtsschreibung,  die  er  als  ein  Freund  der  Kunst  an  die 
Erscheinungen  der  Städte,  kirchlichen  Gründungen  und  Bauten 
anknüpfte,  welche  er  als  greifbare,  augenfällige  Zeugen  der  Ge- 
schichte auffaßte.  So  war  neben  dem  Städtebuch  auch  die 
„Rapsodia  Coloniensis"  geartet,  eine  Geschichte  der  Kölner  Stifter 
und  Orden,  Hospitäler  und  Konvente,  der  Fahnen  und  Siegel  der 
Stadt,  der  Ratskapelle  und  der  erzbischöflichen  Residenz,  der  ein 
kurzer  Abriß  der  allgemeinen,  hauptsächlich  der  römischen  Stadt- 
geschichte wie  eine  Art  Vorwort  vorangesetzt  ist.  Diese  Schrift, 
die  in  der  Alfterschen  Sammlung  des  Stadtarchivs  (Band  44) 
erhalten  ist,  hat  Braun  anscheinend  bis  zu  seinem  Tode  beschäf- 
tigt und  ist  als  Fragment  liegen  geblieben  und  in  fremde  Hände 
übergegangen;  es  sind  noch  Ereignisse  aus  den  Jahren  1614/15 
erwähnt,  allerdings  zum  Teil  nicht  mehr  wie  die  übrigen  Sätze 
der  Handschrift  in  lateinischer  Sprache,  sondern  in  deutscher  und 
von  anderer  Hand  niedergeschriebener,  so  daß  es  scheint,  als  habe 
der  selbst  im  Lateinischen  so  gewandte,  alte  Dechant  diese  späteren 
Ereignisse  einer  fremden  Person  diktiert.  Braun  hatte  mit  der 
Rapsodia  kein  geringeres  Werk  vor,  als  es  später  Aegidius  Gelenius 
in  seinem  Buche  de  admiranda  magnitudine  Coloniae  1645  voll- 
endete. Gelenius  hat  offenbar  die  Braunsche  Schrift  nicht  benutzt, 
da  diese  manch  wertvolle  Notiz,  z.  B.  von  den  Klöstern  St.  Pan- 
taleon  und  St.  Mauritius,  enthält,  die  bei  Gelenius  fehlt;  um  so 
mehr  wäre  es  verdienstlich,  die  Rapsodia  trotz  ihres  fragmen- 
tarischen Charakters  herauszugeben  und  einem  weitern  Kreise 
zugänglich  zu  machen.  Natürlich  enthält  sie  auch  eine  ausführ- 
liche Geschichte  des  Jesuitenordens  in  Köln  und  seines  Gymnasiums 
bis  zum  Jahre  1598.  An  dieses  Werk  Brauns  schließt  sich  eine 
Geschichte  des  Stiftes  St.  Maria  ad  gradus  mit  zweiunddreißig 
Kapiteln  an,  die  sich  in  der  geistlichen  Abteilung  des  Stadt- 
archivs (Nr.  166)  befindet. 

Brauns  unvergängliche  Bedeutung  beruht  aber  auf  dem  Städte- 
buch, dem  „theatrum  orbis  terrarum  civitatum"  (oder  „Beschreibung 
und  Contrafaktur  der  vornembster  Stät  der  Welt"),  womit  er  sich 
früh  beschäftigt  haben  muß,  da  der  erste  Band  schon  1572  erschien. 

c*  83 


Die  Idee,  die  größeren  oder  docli  aus  irgend  einem  Grunde 
interessanteren  Städte  der  damals  bekannten  Welt  in  Bild  und  Wort 
vorzuführen,  lag  wohl,  nachdem  Abraham  Orttelius  in  Antwerpen 
und  Arnold  Mercator  in  Duisburg  ihre  großen  und  schönen  Karten- 
werke herausgegeben  hatten,  gewissermaßen  in  der  Luft;  ja, 
Braun  hatte  einen  Vorgänger  in  Sebastian  Mtinster,  dem  Ober- 
ingelheimer  Gelehrten,  welcher  1552  in  Basel  eine  Kosmographie 
erscheinen  ließ,  die  aber  durchaus  der  streng  wissenschaftlichen 
Grundlage  entbehrte  und  vor  allem  auch  des  großartig  geplanten 
Bilderschmuckes  und  der  Reichhaltigkeit  des  Braunschen  Werkes. 
In  der  Art  und  im  Umfang  der  Münsterschen  Kosmographie  hielt 
sich  später  das  „Stättebuch"  des  Abraham  Säur,  das  von  1593  ab 
erschien  und  vorzugsweise  deutsche  Städte  behandelt,  während 
Mathaeus  Menan,  der  tüchtige  Frankfurter  Kupferstecher,  in  seiner 
Topographie  von  1646,  ebenso  wie  vorher  der  Mediziner  und 
Mathematiker  Johannes  Gigas  in  seinem  Prodromus  geographicus 
Coloniensis  von  1620,  zum  guten  Teil  die  Braunschen  Abbil- 
dungen und  Angaben  benutzt.  Bis  heute  steht  das  theatrum 
orbis  terrarum  civitatum,  das  in  sechs  Bänden  192  deutsche, 
108  niederländische,  21  englische,  35  dänische  und  skandinavische, 
45  französische,  53  spanische,  68  italienische,  19  ungarische, 
17  polnisch-russische,  16  türkische,  7  afrikanische  und  12  ost- 
und  westindische  Städte  behandelt  und  mit  ihnen  eine  Beschreibung 
aller  Verhältnisse  und  Kulturen  der  damals  bekannten  Erdteile 
gibt,  unerreicht  da. 

Freilich  gebührt  das  Verdienst  der  Herausgabe  dieses  Monumen- 
talwerkes nicht  Braun  allein ;  als  Herausgeber  des  ersten  und  zweiten 
Bandes  zeichnen  Georg  Braun,  der  Kölner  Kupferstecher  Franz 
Hogenberg  und  der  Radierer  Simon  Novellanus  (van  den  Noevel), 
als  Herausgeber  des  dritten,  vierten  und  fünften  Bandes  Georg  Braun 
und  Franz  Hogenberg;  beide  scheiden  dann  bei  der  Herausgabe 
des  sechsten  Bandes  aus,  der  1618  erschien  und  den  der  Kölner 
Verleger  Anton  Hierat  und  Abraham  Hogenberg,  wahrscheinlich 
ein  Sohn  Franz  Hogenbergs  und  wie  er  Kupferstecher,  besorgten. 
Abgesehen  von  den  Herausgebern  waren  aber  noch  viele  Personen 
an  dem  großen  Werke  beteiligt,  und  zwar  lag  das  in  seinem  Plane, 
bat  doch  Georg  Braun  in  einem  seiner  Vorworte  die  Leser,  sie 
möchten  ihm  für  die  folgenden  Bände  Berichtigungen  und  bessere 
Ansichten  zusenden;  daß  dieses  häufig  geschah,  geht  daraus  hervor, 
daß  mehrere  Städte  mehrfach  abgebildet  und  besprochen  werden. 
Auf  der  lebhaften  Anteilnahme,  die  das  Städlebuch  in  ganz  Europa 

84 


fand,  beruht  gerade  sein  Hauptwert,  seine  über  die  Gewohnheit 
der  damaligen  iiosmographischen  Litteratur  hinausgehende  Treue; 
denn,  wenn  auch  Braun,  wie  aus  allem  hervorgeht,  zweifellos 
selbst  weitgereist  war  und  vieles  vom  Augenschein  kannte,  wenn 
auch  Hogenberg,  der  z.  B.  um  1560  in  England  lebte,  manche 
Stadtansicht  nach  der  Natur  gezeichnet  hatte,  so  mußten  doch 
die  Gaben  fremder  und  einheimischer  Gönner,  die  Arbeiten  anderer, 
vielgewanderter  Künstler  ergänzend  hinzutreten.  Der  Kölner  Bürger- 
meister Constantin  von  Liskirchen  schenkte  z.  B.  die  Bilder  aus 
Asien,  Afrika  und  beiden  Indien  im  ersten  Bande,  Georg  Sylvius 
und  Gerard  von  Groesbeck  in  Lüttich  das  Bild  ihrer  Stadt,  Hiero- 
nymus  Scholeus  die  Beiträge  Elsenor  und  Bergen  im  4.  Bande, 
Herr  Johannes  Muflin,  admirator  picturarum  et  antiquitatum,  das 
Bild  von  Bilbao.  Sehr  wesentlich  war  die  Gunst  des  Heinrich  von 
Rantzau,  der  1556  bis  1598  Statthalter  in  Schleswig-Holstein  war, 
sich  prächtige  Schlösser  gebaut  und  eine  Bibliothek  von  6000  Bänden 
eingerichtet  hatte,  der  dem  Braunschen  Werke  fast  alle  däni- 
schen und  schleswig-holsteinischen  Bilder  zur  Verfügung  stellte 
und  dessen  Enkel,  vielleicht  nicht  ohne  Anregung  durch  das 
Städtebuch,  weite  Reisen  unternahm.  Von  auswärtigen  Künstlern 
sind  der  kaiserliche  Hofmaler  Egidius  von  der  Reye,  ein  Belgier, 
mit  dem  Bilde  von  Klausenburg,  der  in  Nürnberg  und  Wien  tätige 
Maler  Lucas  von  Valkenborch  aus  xMecheln  mit  Ansichten  von 
Linz  und  anderen  österreichischen  Städten  vertreten,  von  ein- 
heimischen Künstlern  bereits  im  ersten  Bande  Abraham  Hogen- 
berg mit  dem  Stich  von  Straßburg.  Wohl  bei  weitem  die  meisten 
Bilder  lieferte  aber  der  Antwerpener  Georg  Houfnagel,  der  eben- 
falls in  Wien  als  Hofmaler  tätig  war  und  in  Begleitung  des 
großen  Kosmographen  Abraham  Orttelius  und  allein  weite  Reisen 
gemacht  hatte;  so  sind  südfranzösische  Bilder  von  seiner  Hand 
mit  1561,  spanische  mit  1564,  1565,  1566  und  1593,  italienische 
mit  1564,  1578,  1580,  1582,  ein  Bild  Münchens  mit  1586,  nord- 
französische Ansichten  mit  1596  und  1597  bezeichnet.  Georg 
Houfnagel  benutzte  bei  seinen  Stichen  mehrfach  fremde  Zeich- 
nungen, wie  die  des  Spaniers  Cornelius  Chaymox,  des  Lukas  von 
Valkenborch,  das  Bild  Messinas  von  Pieter  Brueghel,  den  Plan 
des  italienischen  Architekten  Caesar  Porta  zu  der  Festung  Petrina, 
sowie  die  Zeichnungen  seines  Sohnes  Jakob,  der  ihm  als 
Hofmaler  in  Wien  folgte,  von  den  Städten  Regensburg  (1594) 
und  Fus  an  der  Enns  (1617).  Der  zweite  Band  bringt  unter 
anderm  auch  ein  nach  einer  Zeichnung  des  ,, alten"  Hogenberg  1544 

85 


gefertigtes  Bild  von  Bilbao;  dieser  alte  Hogenberg  wird  wohl 
der  Vater  des  Franz  Hogenberg  (der  weitgereiste  Hans  Hogenberg?) 
gewesen  sein. 

Georg  Braun  fiel  die  Aufgabe  zu,  zu  sammeln,  was  auf  den 
Ursprung  und  die  Geschichte  der  einzelnen  Städte  Bezug  haben 
könnte;  dem  unterzieht  er  sich  mit  großem  Fleiß  und  Erfolg. 
Vieles  schreibt  er  aus  eigener  Anschauung  nieder,  vieles  nach 
alten  und  neuen  Schriftstellern,  die  er  gewissenhaft  anführt.  Seine 
Texte  beginnen  meist  mit  Erklärungen  des  Namens,  die  er  nicht 
kntiklos  wiedergibt;  es  folgt  dann  die  äußere  Geschichte  der 
Stadt,  eine  Erwähnung  der  Stadtanlage,  der  Bodenbeschaffenheit, 
der  Hauptbauten,  Wahrzeichen,  Plätze,  der  berühmten  Männer, 
welche  die  Stadt  geboren,  besonders  auch  noch  lebender  Gelehrter 
der  Universitätsstädte,  zuweilen  die  Angabe  alter  Inschriften  und 
Denkmäler,  endlich  eine  Charaktenstik  der  Bevölkerung  und  ihrer 
Lebensweisen  und  Trachten,  wozu  wir  auf  den  Städtebildern  mit 
ihren  Volksszenen,  ihren  Aufzügen,  Jagden,  Fischfängen  usw.  die 
Illustrationen  finden.  Aus  Köln  z.  B.,  von  dem  Braun  nach 
Mathias  Quad,  teutscher  Nation  Hedigkeit,  1609,  unter  den  vielen 
Beschreibungen  der  Stadt  der  Kürze  nach  die  beste  gibt,  erwähnt 
er  im  Index  außer  vielen  Kirchen  und  Klöstern  das  Rathaus  mit 
der  neuen  Vorhalle,  dem  Turm  und  Uhrblatt,  das  schöne  Gemälde 
in  der  Ratskapelle,  die  prächtigen  Wohnhäuser  der  Bürgermeister 
von  Liskirchen  (Neumarkt,  jetzt  Heusersches  Haus)  und  von  Siegen 
(Holzmarkt,  jetzt  abgebrochen),  die  Altertumssammlung  des  Johann 
Helman,  die  Universität  mit  ihrer  Geschichte,  den  Jesuitenorden 
und  das  furchtbare  Ende  der  beiden  Regenten  Rhetius  und  Kessel, 
die  alte  Römermauer  mit  ihren  Türmen  und  Toren  und  vieles 
andere.  Den  Einzeltexten  schickt  Braun  in  jedem  Bande  ein 
Vorwort  voraus,  das  sich  mit  der  Entstehung  und  der  verschieden- 
artigen Anlage  der  Städte,  mit  der  verschiedenen  Bauweise  der 
einzelnen  Völker,  mit  den  Stadtverfassungen  usw.  beschäftigt, 
insbesondere  auch  mit  der  Knegsbaukunst,  die  in  erster  Linie  die 
Bedingungen  für  den  früheren  Städtebau  stellte. 

Neben  den  Städteansichten  findet  man  auch  einzelne  Bauten 
abgebildet,  z.  B.  den  Campanile  von  Sevilla,  die  Alhambra,  den 
Escurial,  die  Schlösser  von  Richmont,  York,  Fontainebleau,  St.  Ger- 
main en  Laye  und  andere,  ferner  Trachten-  und  Waffentafeln,  z.  B. 
vom  Hennegau  und  von  den  baskischen  und  den  schottischen 
Provinzen.  Mehrere  Städte  nehmen  zwei  oder  mehr  Tafeln  in  An- 
spruch, wie  Antwerpen,  Krakau,  Rom  und  Jerusalem,  von  welchen 


beiden  letzten  Städten  Rekonstruktionen  ihres  Zustandes  im  Altertum 
versucht  sind,  welche  naturlich  nicht  frei  von  Phantastik  sind. 
Übrigens  macht  sich  auch  bereits  eine  damals  noch  seltene  Freude 
an  der  Landschaft  bemerkbar,  ist  doch  manches  Bild  ausdrücklich 
der  eigenartigen  Lage  der  Stadt  wegen  aufgenommen.  Für  uns 
heute  ist  die  Sammlung  alter  Stadtansichten,  wie  sie  das  Braunsche 
Werk  bietet,  ganz  unschätzbar,  zeigen  sie  doch  nicht  nur  unter- 
gegangene und  zum  Teil  nirgend  sonst  abgebildete  Bauten,  vor 
allem  die  städtischen  Festungswerke,  die  Schlösser  und  Burgen 
der  Umgegend,  sondern  auch  vollständige  Stadtanlagen,  alte  Häfen 
und  Kanäle,  Platzbildungen  usw.,  die  inzwischen  verschwunden 
sind;  man  denke  nur  an  die  durch  Erdbeben  oder  Brand  zerstörten 
Städte,  wie  Lissabon  und  London,  oder  an  die  in  der  Barockzeit  und 
später  ganz  umgewandelten  Pläne  von  Paris,  Nancy,  Salzburg  u.  a. 
Man  kann  wohl  sagen,  daß  die  geschichtlichen  Angaben,  die  uns 
das  Braun-Hogenbergsche  Werk  bietet,  noch  bei  weitem  nicht 
vollständig  verwertet  worden  sind,  auch  wenn  man  ganz  davon 
absieht,  eine  wie  wertvolle  Übersicht  über  die  Bauweise  des  ganzen 
Abendlandes  das  Buch  gibt. 

Zur  Zeit  seiner  Herausgabe  erfuhr  es  von  allen  Seiten  eine 
freudige  Zustimmung,  die  auch  in  langatmigen  Gedichten  an 
Brauns  Adresse  ausgedrückt  ist,  welche  den  einzelnen  Bänden  vor- 
angestellt wurden.  Ausführlich  schreibt  über  den  Wert  des  Werkes 
der  Brügger  Gelehrte  Dominicus  Lampsonius,  der  den  Genuß  der 
Leser  an  der  Lieblichkeit  der  dargestellten  Landschaften  hervor- 
hebt, den  Architekten  die  Kenntnisnahme  der  Bauten,  insbe- 
sondere der  Wälle  und  Kriegsmaschinen,  den  Staatsmännern  die- 
jenige der  Einrichtungen,  Verfassungen  und  Gebräuche  der  ver- 
schiedenen Völker,  den  Kranken  und  Müßigen  die  Lektüre  zur  Freude 
und  Erholung,  den  Malern  zum  Studium  für  die  Hintergründe  der 
Bilder  (anstelle  ihrer  bisherigen  Phantasieen),  den  Reiselustigen 
zur  Vorbereitung  auf  ihr  Ziel  empfiehlt.  In  der  Tat  erfuhren  die 
Bände,  die  von  den  deutschen  Kaisern  und  spanischen  Königen 
privilegiert  wurden,  auch  eine  weite  Verbreitung;  sie  wurden  ins 
Deutsche,  Niederländische  und  Französische  übersetzt.  Die  deutsche 
Übersetzung  soll  Melchior  Braun  besorgt  haben,  eine  Nachricht, 
die  sich  aber  nur  auf  die  ersten  Bände  beziehen  kann,  da  Melchior 
schon  1605  starb.  Die  ersten  fünf  Bände  erhielten  1612  eine 
zweite  Auflage.  Im  sechsten  Bande,  an  dessen  Herausgabe  Georg 
Braun  nicht  mehr  beteiligt  zu  sein  scheint,  sind  die  Begleittexte 
wesentlich  kürzer  und  weniger  eingehend  gehalten  und  fehlt  eine 

87 


Einleitung  ganz;  die  Ansichten  haben  dagegen  an  Schönheit 
nichts  verloren. 

Die  Ausstattung  des  ganzen  Werkes  ist  sehr  sorgfältig;  den 
Bänden  sind  Titelblätter  mit  allegorischen  Darstellungen  voran- 
gesetzt, die  gut  gestochen  und  schön  zusammengestellt  sind;  die 
einzelnen  Ansichten  sind  geschmackvoll  im  Stile  der  Ornamentik  des 
spätem  16.  Jahrhunderts  mit  Kartuschen,  Fruchtschnüren,  Grottesken 
usw.  umrahmt,  worin  sich  besonders  Houfnagel,  der  auch  als 
Ornamentist  tätig  war,  auszeichnet;  nirgends  fehlen  hübsche  Ini- 
tialen, ein  guter,  deutlicher  Druck  und  gefälliger  Schriftsatz.  Zu 
den  Bildern  selbst  sind  die  trefflichsten  Künstler  herangezogen: 
Hogenberg,  dessen  Kunstfertigkeit  Braun  selbst  mehrfach  rühmt, 
Simon  van  den  Noevel,  der  eine  ,, lustige,  freie,  kluge  und  ver- 
ständige Hand"  besaß,  Houfnagel,  dem  der  „Preis  in  Steffen, 
Prospekten,  Blumen  und  Geweren"  gebührte.  Übrigens  zeichnen 
sich  auch  die  andern  Schriften  Brauns  durch  ihre  sorgfältige  Aus- 
stattung mit  Randleisten,  Initialen  usw.  und  durch  die  gute  Ver- 
teilung des  Satzes  aus,  so  daß  sie  auch  äußerlich  zu  dem  Bilde 
des  kunstsinnigen,    geschmackvollen,    gelehrten   Mannes   passen. 

Georg  Braun  war  vielleicht  für  anderthalb  Jahrhunderte  und 
länger  der  letzte  in  Köln  wirkende  Gelehrte,  der  weit  über  die 
Grenzen  seiner  Vaterstadt,  ja  ganz  Deutschlands  hinaus  bekannt 
und  wirksam  war,  und  die  letzte  ganz  von  echtem  Renaissance- 
geist erfüllte  Erscheinung  der  Kölner  Geschichte;  noch  vor  seinem 
Tode  begann  der  lange,  verwüstende  Krieg,  der  für  Deutschland 
das  Ende  seiner  Renaissancekultur  bedeutete. 


Literatur. 

A.  Handschriften:  Universität:  Nr.  74,  158.  —  Geistliche  Abteilung: 
Nr.  166.  —  Kirchenbuch  St.  Maria  ad  gradus.  —  Ratsregister  vom  9.  9.  1575. 
—  Testamente :  B  759  u.  760,  B  768,  B  987.  —  Schreinsbücher  St.  Laurenz :  Nr.  98, 
105.  —  Chronil<en  und  Darstellungen:  Nr.  182  II.  —  Alftersche  Sammlung  Band  44. 
Sämtlich  im  Kölner  Stadtarchiv. 

B.  Druckwerke:  Die  aufgeführten  Werke  von  Melchior  und  Georg 
Braun  (ausgenommen  die  mir  nicht  erreichbaren  von  Georg  Braun  über  die 
Bücher  des  Cornelius  Jansenius  und  contra  concubinarios  sacerdotes);  Bianco, 
Die  alte  Kölner  Universität.  —  Steph.  Broeimann,  Epideigma,  Köln  1595.  — 
Ennen,  Geschichte  der  Stadt  Köln,  1865—80.  —  Gelenius,  Aegidius,  De 
admiranda  magnitudine  Coloniae,  Köln  1645.  —  Gigas,  Joh.,  Prodromus  geo- 
graphicus  archiepiscopatus  Coloniensis,  Köln  1620.  —  Hansen,  J.,  Kölner  Jesuiten- 
akten des  16.  Jahrhunderts,  Köln  1910  —  Hartzheim,  J.,  Bibliotheca  Coloniensis, 


Köln  1747.  —  Höhlbaum  u.  Lau,  Das  Buch  Weinsberg,  1886—1898.  — 
Lempertz,  H.,  Niederrhein.  Annalen,  Bd  34,  S.  180.  —  Merlo,  J,  Nachrichten 
aus  dem  Leben  und  den  Werken  kölnischer  Künstler,  Düsseldorf  1895.  —  Merian, 
Mathäus,  Topographia,  1646.  —  Münster,  Sebast ,  Kosmographia,  Basel  1552.  — 
Quad,  Math,  von,  Teutscher  Nation  Herligkeit,  Köln  1609.  —  Säur,  Abr., 
Stättebuch,  1593—1658.  —  Unkel,  Karl,  Niederrh.  Annalen,  Bd.  54,  S.  137.  — 
Vogts,  H.,  Das  Kölner  Wohnhaus  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  (noch 
nicht  veröffentlicht).  —  Wiepen,  E.,  Korrespondenzblatt  d.  Westd.  Zeitschrift, 
XV.,  Sp.  20.  — 

Aus  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie:  Braun,  Augustin;  Broelmann, 
Stephan;  Jansen,  Cornelius;  Hogenberg,  Franz  und  Abraham;  Mercator.  Gerhard; 
Münster,  Sebastian;  Orttelius,  .Abraham ;  Rantzau,  Heinrich.  —  Siebertz,  Künstler- 
lexikon. —  Nag  1er,  Künstlerlexikon. 


90 


Titelblatt  der  Annales  Trevirenses 
von   Brower  und   Masen,    Leodii  1670. 


Christoph  Brower  und  Jacob  Masen. 

Von  Bernhard  Duhr  S.  J.  in  München. 

Unter  die  Schüler  des  Jesuitengymnasiums  in  Köln,  welche 
sich  bei  der  Mit-  und  Nachwelt  einen  geachteten  Namen  er- 
worben haben,  müssen  mit  Fug  und  Recht  auch  CHRISTOPH 

Brower  und  Jacob  Masen  gerechnet  werden. 

Christoph  Brower  (Brouwer)  war  geboren  am  10.  November 

1559  zu  Arnheim   in  Geldern.    Seine  Studien   machte  er  teils  zu 

Nymwegen,  teils  am 
Jesuitengymnasium  zu 
Köln.  Nachdem  er  hier 
die  Laurea  in  der  Philo- 
sophie erworben,  trat 
er  am  12.  März  1580  in 
das  Noviziat  der  Jesui- 
ten zu  Trier.  Nach 
einem  arbeitsreichen 
Leben  als  Professor, 
als  Oberer  und  als 
Schriftsteller  starb  er 
am  2.  Juni  1617  zu 
Trier,  wohin  erzurVoll- 
endung  seiner  Trierer 
Annalen  gesendet  wor- 
den war. ') 

Brower  ist  ohne 
Zweifel  einer  der  be- 
deutendsten Historiker 
seinerzeit.  Seine  Leis- 
tungen sind  umsomehr 
anzuerkennen,    als    er 

vielfach   mit   wichtigen  Ämtern   betraut,  sich    gleichsam   die  Zeit 

stehlen   mußte   für   seine  mühevollen  Arbeiten  in  den  Archiven. 


')  Vergl.  Reiffenberg,  Historia  Soc.  Jesu  ad  Rhen.  Inferior.  (1764)  1,  534  ff., 
Sotvellus,  Bibliotheca  Scriptorum  S.  J.  (1676)  139.  Das  Verzeichnis  der  Schriften 
am  genauesten  bei  De  Bacl<cr-Sommervogel,  Bibliotheque  de  la  Compagnie  de 
Jesus  2  (1891)  218  ff.  —  Der  1567  zu  Arnheim  geborene  Everhard  Brouwer,  der 
von  1607—10  als  Regens  am  Tricoronatum  wirkte,  ist  wohl  der  jüngere  Bruder 
oder  ein  entfernterer  Verwandter  von  Christoph. 


91 


Seine  Stoffe  sind  deutsche  Städte,  wie  Fulda  und  Trier,  deutsche 
Heilige,  wie  Ludger,  Meinwerk,  Pyrmin,  Sturmius,  Godehard,  Bern- 
ward, und  deutsche  Dichter,  wie  Venantius  Fortunatus  und 
Hrabanus  Maurus.  Als  einziges  Ziel  verfolgt  er  die  historische 
Wahrheit,  die  ihm  wie  ein  Abglanz  der  ewigen  Wahrheit  ist. 

Gelegentlich  seiner  Antiquitates  Fuldenses  (1612)  urteilt  ein 
neuerer  Kritiker:  „Man  muß  ihm  zugestehen,  daß  er  entfernt  von 
jeder  tendenziösen  Geschichtskünstelei,  unzweifelhaft  ein  gewissen- 
hafter, gründlicher  und  wirklich  gelehrter  Forscher  ist  und  seine 
wissenschaftliche  Überzeugung  zu  wahren  weiß.  .  .  .  Seine  be- 
rühmteste Leistung  ist  der  Geschichte  des  Hochstifts  Trier  gewidmet. 
Es  ist  das  Hauptwerk  seines  Lebens,  an  welchem  er  mit  zäher 
Ausdauer  fast  ein  Menschenalter  hindurch  gearbeitet  hat,  ein  opus 
immortale,  wie  es  Hontheim  später  etwas  überschwenglich  genannt 
hat.  ...  Es  zeichnet  sich  aus  durch  alle  die  Vorzüge,  die  wir 
bereits  in  seinen  Fulda'schen  Antiquitates  hervorgehoben  haben, 
und  ist  neben  der  Schrift  Kyrianders  grundlegend  für  die  Ge- 
schichte von  Trier  geworden,  dieselbe  Gelehrsamkeit,  dieselbe 
Gründlichkeit,  dieselbe  Unabhängigkeit  und  allerdings  auch  die- 
selbe nicht  überall  zureichende  Kraft  in  der  Unterscheidung  des 
Wertes  der  verschiedenen  Quellen."  ^) 

Als  Rektor  des  Jesuitenkollegs  in  Fulda  beschäftigte  sich 
Brower  mit  der  Sammlung  der  alten  Urkunden  über  Fulda.  Der 
General  Aquaviva  hatte  die  Erlaubnis  zu  dieser  Arbeit  gegeben 
in  der  Hoffnung,  daß  die  pflichtmäßigen  Arbeiten  des  Rektors 
darunter  nicht  leiden  würden. -)  Für  die  Veröffentlichung  äußerte 
der  General  aber  große  Bedenken.  Am  1.  Dezember  1605  schrieb 
er  an  den  Provinzial  Busaeus  und  wiederholte  dies  am  8.  No- 
vember 1606  in  einem  Briefe  an  dessen  Nachfolger  Scheren:  „Die 
Veröffentlichung  wird  offenbar  Anstoß  erregen,  weil,  wie  ich  ge- 
hört, Gebrechen  des  Klosters  Fulda,  wenn  auch  schon  alten 
Datums,  behandelt  sind,  und  deren  Erinnerung  durch  uns  er- 
neuert wird.  Die  Dominikaner,  die  Franziskaner  usw.  können, 
wenn  sie  ihre  Geschichte  schreiben,  ihre  eigenen  Fehler  erzählen, 
auch   wir    die  unsrigen;   uns   aber   will    es   nicht   geziemen,  die 

1)  Wegele,  Geschichte  der  deutschen  Historiographie  (1885)  406  ff.  Wie 
Hontheim  spenden  auch  Ludewig  und  Boineburg  dem  Histonl<er  Brower  das 
größte  Lob.  Vergl.  Duhr,  Die  deutschen  Jesuiten  als  Historiker  in  der  Zeitschrift 
für  iMthol.  Theologie  XIII,  68. 

2)  Aquaviva  an  Brower  28.  Jan.  1605.  Original-Register  ad  Rhenum  (Ordens- 
besitz). 

92 


Gebrechen  andrer  Orden  aufzudecken  "  ^)  Wohl  infolge  dieser 
Schwierigkeiten  erschienen  die  Antiquitates  Fuldensiium  erst  sechs 
Jahre  später. 

In  der  Widmung  der  „Fuldensium  Antiquitates"  vom  12.  März 
1612  an  den  Fürstabt  Johann  Friedrich  von  Schwalbach  betonte 
Brower  nachdrücklich  die  Wichtigkeit  der  Geschichte  nicht  allein 
für  den  Mann  des  öffentlichen  Lebens,  sondern  auch  für  das 
Privatleben.  Ohne  die  Leuchte  der  Geschichte  hat  der  Mensch 
keine  großen  Vorbilder  und  keine  warnenden  Beispiele.  Im  Gegen- 
satz zu  der  damals  schon  grassierenden,  durch  den  dreißigjährigen 
Krieg  später  noch  gesteigerten  Auslandssucht  hebt  er  hervor:  In 
fremde  Länder  reisen  und  in  einer  fremden  Sprache  reden  gilt 
heute  als  etwas  Nobles,  aber  die  Tugend  der  Vorzeit  und  die 
Treue  der  Voreltern  kennenzulernen,  ihren  geraden  Sinn  und  ihre 
Redlichkeit  nachzuahmen,  liegt  wenigen  am  Herzen.  Dann  schildert 
er,  welchen  Eindruck  das  Studium  der  Geschichte  auf  ihn  gemacht: 
Als  ich  die  alte  Geschichte  Fuldas  studierte,  wurde  ich  innerlich 
ergriffen,  feurige  Liebe  zu  dem  Lande  erfaßte  mich.  Möchte  doch 
ein  Funken  von  dem  Feuer,  das  in  der  Brust  unserer  Voreltern 
glühte,  hervorbrechen  und  von  neuem  zünden.  In  seinem  Werke 
schildert  er  dann  an  der  Hand  der  besten  Quellen  und  Urkunden 
die  Geschichte  der  Benediktiner-Abtei  in  Fulda,  zeigt  die  großen 
Verdienste  der  Benediktiner  für  Deutschland,  besonders  auch  für 
die  Wissenschaft.  Bei  der  Fuldaer  Schule  hebt  er  mit  Nachdruck 
hervor,  daß  das  Kloster  blühte,  solange  Arbeit  und  Studium  in 
Blüte  waren.  Brower  schließt  mit  der  Wahl  Johann  Friedrichs  (1 606); 
er  will  den  Lebenden  nicht  loben,  um  auch  den  Schein  des 
Schmeichlers  zu  meiden  und  zugleich  der  Bescheidenheit  andrer 
und  dem  eigenen  Zartgefühl  nicht  zu  nahe  zu  treten.  Das  Buch 
ist  mit  guten  Stichen  (alte  Siegel  von  Fulda,  Gewandung  der 
Benediktiner  usw.)  ausgestattet. 

Noch  bedeutender  als  die  Geschichte  Fuldas  sind  die  Trierer 
Annalen.  Das  Werk  hat  eine  lange  Leidensgeschichte  durchgemacht.^) 
Schon  im  Jahre  1591  war  dasselbe  beinahe  fertig.  Der  rheinische 
Provinzial  Jacob  Ernfelder  schreibt  darüber  von  Trier  18.  Januar 
1591  an  Aquaviva:  Die  Geschichte  der  Trierer  Kirche,  welche 
unser  Bruder  Christophorus  Arnimiensis  bis  jetzt  sammelt,  geht 
fast  ihrem  Ende  entgegen  und  der  Erzbischof  (Johann  von  Schönen- 
berg) drängt  auf  die  Drucklegung.   Wegen  des  Namens  auf  dem 

')  Orig.-Reg.  ad  Rhen. 

2)  Vergl.  Hontheim,  Historia  Trevirensis  diplom.  (1750)  1,  V  und  3,  993. 


Titel  haben  wir  beraten.  Der  Name  des  Erzbischofs  geht  nicht, 
weil  er  über  sich  selbst  sprechen  müßte.  Auch  der  Name  des 
Kollegs,  von  dem  der  jetzige  Erzbischof  und  sein  Vorgänger  Jacob 
das  Werk  erbeten,  scheint  ebenfalls  nicht  angängig,  weil  diese 
Geschichte  vielleicht  nicht  in  allem  allen  gefallen  wird  und  Anstoß 
erregen  kann.  In  letzterem  Falle  ist  es  besser,  daß  der  Anstoß  nur 
eine  Person,  den  Sammler,  trifft.  Deshalb  stimmten  alle  für  den 
Namen  des  Verfassers.  Derselbe  ist  so  bescheiden,  daß  er  auf 
seinem  Namen  nicht  bestehen  würde,  wenn  das  Buch  unter  einem 
andern  Namen  erschiene.  Aber  dadurch  würden  wir  alle  Freunde 
und  besonders  den  Erzbischof,  dem  er  sehr  teuer  ist,  beleidigen; 
auch  ist  allen  bekannt,  welche  Arbeit  der  Verfasser  darauf  ver- 
wendet hat.^) 

Aquaviva  findet  in  seiner  Antwort  vom  29.  März  1591  bei 
dieser  Lösung  die  Schwierigkeit,  daß  der  Anstoß  gegen  den  einen 
Jesuiten  auch  die  Gesellschaft  treffen  könne.  Deshalb  erscheine  es 
doch  besser,  den  Namen  eines  Auswärtigen,  Nicht- Jesuiten,  dem 
Buche  vorzusetzen. 2)  In  einem  Briefe  vom  17.  Mai  1593  kommt 
der  Provinzial  Ernfelder  auf  diese  Antwort  zurück:  Der  Erzbischof 
ist  gegen  einen  fremden  Namen,  da  so  das  Buch  nicht  abgehen 
werde.  Anstoß,  so  meint  der  Erzbischof,  werde  nicht  erregt,  da 
ja  alles  auf  öffentlichen  Urkunden  beruhe.  Alle  Konsultoren 
stimmen  für  die  Ansicht  des  Erzbischofs,  die  ja  auch  ehrenvoll 
für  die  Gesellschaft  ist,  da  das  Werk  von  allen,  die  es  gelesen, 
gelobt  wird  und  weil  dasselbe  in  herrlicher  Weise  den  Eifer  und 
die  Frömmigkeit  dieser  Kirche  beleuchtet.  Eine  baldige  Entschei- 
dung ist  nötig,  denn  zum  Tröste  des  guten,  vom  Alter  gebrochenen 
Erzbischofs  müssen  wir  etwas  tun,  und  vielleicht  möchte  er  auch 
selbst  vor  seinem  Tode  etwas  sehen,  obgleich  er  das  nicht  aus- 
drücklich sagt.^) 

Die  Sache  kam  nicht  weiter.  Am  14.  September  1599  wandte 
sich  Brower  selbst  an  Aquaviva.  Dieser  antwortete  am  13.  November 
1599,  daß  über  sein  vor  einigen  Jahren  geschriebenes  Werk  schon 
früher  verhandelt  worden:  er  sei  bei  dergleichen  Schriften  stets 
für  die  größte  Vorsicht  gewesen,  um  Anstoß  bei  den  Fürsten  und 
andern  zu  vermeiden.  Wenn  die  Zensoren  ihr  Urteil  gefällt,  werde 
er  eine  Entscheidung  treffen.  Das  Urteil  in  der  Provinz  war 
günstig,   jedoch   wünschte  Aquaviva  wegen   der  Wichtigkeit  des 

')  Orig.  Germaniae  Epistolae  30,  156  (Ordensbesitz). 

2)  Orig.-Reg.  ad  Rhen. 

s)  Orig.  Germ.  Epp.  32,  234. 

94 


Werkes,  dasselbe  solle  auch  der  Zensur  der  Generalrevisoren  in 
Rom  unterworfen  werden.')  Bald  darauf  wurde  Brower  Rektor  in 
Fulda.  Am  8.  September  1601  ermutigte  ihn  Aquaviva  zu  dem 
neuen  Amte  und  fügte  bei,  in  betreff  der  Trierer  Annalen  halte 
er  daran  fest,  daß  dieselben  zur  Zensur  nach  Rom  gesandt 
würden.-) 

In  Rom  scheint  eine  neue  Verzögerung  eingetreten  zu  sein. 
Der  rheinische  Provinzial  Theod.  Busaeus  drängte  am  23.  Novem- 
ber 1603  auf  Erledigung,  denn  der  Erzbischof  von  Trier  (Lothar 
von  Metternich)  wünsche  die  Drucklegung.  Aquaviva  versprach 
am  14.  Februar  1604  alle  Förderung:  „Obgleich  das  Buch  schon 
lange  nach  Rom  geschickt  worden  sein  soll,  so  habe  ich  von 
seiner  Zensur  noch  nichts  gehört."  Dann  heißt  es  weiter  in  einem 
Briefe  Aquavivas  vom  8.  Oktober  1605  an  Busaeus:  Er  stimme 
dem  Wunsche  des  P.  Brower  um  Befreiung  vom  Rektorat  bei; 
derselbe  könne  dann  mit  mehr  Muße  sich  seiner  Trierer  Geschichte 
widmen.  Da  der  Provinzial  für  die  Revision  in  der  Provinz  sei, 
gestatte  er  (Aquaviva)  dieses,  aber  unter  der  Bedingung,  daß  die 
Urteile  der  Zensoren  nach  Rom  geschickt  und  die  Entscheidung 
des  Generals  abgewartet  würde.  Die  Zensoren  müßten  sorgfältig 
darauf  achten,  daß  weder  eine  Familie  noch  ein  Land  sich  beleidigt 
fühlen  könnten.  Das  sei  ja  der  Grund  gewesen,  weshalb  er  die 
Sendung  des  Buches  nach  Rom  verlangt  habe,  zumal  da  einige 
seine  Befürchtung  als  nicht  unbegründet  bezeichnet  hätten.') 
Warum  nun  trotz  alles  Drängens  aus  der  rheinischen  Provinz  die 
Annalen  zu  Browers  Lebzeiten  nicht  erschienen,  läßt  sich  nicht 
mit  voller  Klarheit  ermitteln. 

Nachdem  dann  endlich  alle  Anstände  der  Ordenszensur  beseitigt 
waren,  trat  der  inzwischen  (seit  1623)  auf  den  erzbischöflichen  Stuhl 
gelangte  Kurfürst  Philipp  Christoph  von  Sötern  hindernd  in  den 
Weg.  Schon  war  ein  großer  Teil  des  Werkes  in  Köln  gedruckt,  als  er 
die  Fortsetzung  des  Druckes  zu  verhindern  wußte.'')  Am  10.  Oktober 
1626  schreibt  darüber  Vitelleschi  an  den    rheinischen   Provinzial 


')  Aquaviva  an  Brower  in  Würzburg  30.  Juni  1601.     Orig.-Reg.  ad   Rhen. 

^  Orig.-Reg.  ad  Rhen. 

^  Orig.-Reg.  ad  Rhen. 

*)  Nach  einer  Mitteilung,  die  der  Nuntius  Chigi  9.  März  1642  nach  Rom 
sandte,  soll  der  Kurfürst  einige  angeblich  fehlerhafte  Blätter  haben  wegnehmen 
lassen ;  darauf  seien  die  so  verstümmelten  E.xemplare  von  der  Frau  des  inzwischen 
erkrankten  Druckers  als  Makulatur  an  Apotheker  und  Oewürzkrämer  verkauft 
worden.   Rom,  Bibl.  Valic,  Barberini,  Lat.  6203.    Vergl.  dagegen  S.  96  Anm.  2). 

96 


Baving:  Ich  höre,  daß  die  Herausgabe  der  mit  großer  Mühe  von 
P.  Brower  verfaßten  Geschichte  von  Trier  verhindert  wird,  weil 
einige  Stellen  über  das  Kloster  St.  Maximin  dem  Kurfürsten 
nicht  gefallen.  Abgesehen  von  dem  Schaden  für  den  Drucker 
und  andern  Nachteilen  mißfällt  mir  besonders,  daß  der  Erz- 
bischof die  Geschichte  mit  Zusätzen  und  Änderungen  heraus- 
geben will.  Deshalb  möge  der  Fürst  gebeten  werden,  lieber  von 
der  Ausgabe  ganz  abzustehen.  Will  er  das  nicht,  so  soll  ihm 
in  aller  Bescheidenheit  mitgeteilt  werden,  daß  wir  im  Falle  einer 
verstümmelten  Ausgabe  gezwungen  würden,  durch  ein  anderes 
Werk  die  Änderungen  und  Zusätze  als  solche  kenntlich  zu 
machen,  um  so  den  Anstoß  bei  andern  zu  vermeiden.  Damit  es 
nicht  so  weit  kommt,  muß  alles  darangesetzt  werden,  daß  der 
Erzbischof  das  Autograph  der  Gesellschaft  zurückstellt;  diese 
wird  dann  eine  Herausgabe  gegen  den  Willen  des  Fürsten  ver- 
hindern.^) 

Der  Kurfürst  gab  aber  das  Autograph  nicht  zurück.  Erst  nach- 
dem er  infolge  seiner  reichsverräterischen  Verbindung  mit  Frank- 
reich gefangengenommen  und  nach  Wien  abgeführt  worden  war, 
konnten  die  Jesuiten  in  den  Besitz  eines  gedruckten  Exemplars 
kommen.  In  einem  Briefe  vom  28.  Juli  1635  an  den  Trierer 
Rektor  Wimpfeling-  drückt  der  General  Vitelleschi  seine  große 
Freude  darüber  aus,  daß  es  gelungen,  eines  gedruckten  Exemplars 
habhaft  zu  werden,  und  einige  Aussicht  vorhanden  sei,  das  Auto- 
graph wiederzubekommen.  Den  Wunsch  des  Generals,  auch  ihm 
ein  Exemplar  zu  besorgen,  konnte  der  Rektor  erfüllen,  bevor  ein 
Dekret  des  Kapitels  alle  weitere  Hoffnung  abschnitt.  Weiterhin 
wünschte  der  General  wenigstens  eine  Abschrift  des  nicht  gedruck- 
ten Teiles  zu  erhalten,  doch  scheint  die  Erfüllung  dieses  Wunsches 
nicht  möglich  gewesen  zu  sein.-) 

1)  Orig.-Reg.  ad  Rhen  Vergl.  Vitelleschi  an  den  Trierer  Rektor  Aldenhoven 
27.  März  1627,  wo  er  den  Rektor  tröstet  wegen  der  Unterdrückung  des  Buches,  weil 
so  auch  aller  Anstoß  vermieden  werde.  Quod  tarnen  non  ideo  a  me  scribitur  quasi 
librum  tot  annis  elaboratum  et  a  tot  censoribus  probatum  ob  huiusmodi 
metum  meum  perpetuo  premi  velim. 

-)  Vitelleschi  an  Wimpfeling  30.  Mai  1636.  Am  30.  Mai  1637  zeigte 
Vitelleschi  dem  Rektor  den  Empfang  des  gedruckten  Exemplars  an.  Später  gab 
sich  der  Präfekt  der  Vaticana,  Lucas  Holstein,  viele  Mühe,  ein  Exemplar  zu 
erhalten.  Holstein  an  Chigi,  3.  Januar  und  5.  April  1642.  Rom,  Bibl.  Chigi 
A  III  59.  Chigi  konnte  dem  Wunsche  Holsteins  durch  Vermittlung  des  Provinzials 
der  niederrheinischen  Provinz  entsprechen.  Vergl.  S.  95  Anm.  ■■).  Chigi  9.  März 
1642  an  den  Staatssekretär.    Bibl.  Vatican.  Barberini  Lat.  6203. 

96 


Die  wenigen  unfertigen  Exemplare  der  Annalen  ruhten  ver- 
borgen in  einigen  Bibliotlieken,  bis  erst  mehr  als  30  Jahre  später 
(1670)  P.  Masen  eine  neue  Ausgabe  besorgte.  ^) 

P.  Masen  machte  auch  ein  weiteres  Werk  Browers  über  Trier, 
die  Metropolis  Ecclesiae  Trevericae,  für  den  Druck  fertig.  Das- 
selbe mußte  aber  zwei  Jahrhunderte  warten,  bis  es  im  Jahre  1855 
durch  den  Rheinischen  Antiquarius  Christian  von  Stramberg  das 
Licht  der  Well  erblickte.  Eine  Notiz  des  Rektors  von  Tner  im 
Eingange  des  Manusknptes  besagt,  die  Verfasser  seien  Brower  und 
Masen ;  das  Werk  sei  von  letztern  zusammengestellt  und  von  unsern 
Zensoren  approbiert,  die  Drucklegung  aber  von  den  fürstlichen 
Räten  verhindert  worden,  weil  die  Verfasser  einige  Grenzen  als 
strittig  bezeichnet  hätten.  Hontheim  gibt  in  seinem  großen  Werk 
über  Tner  einen  Auszug  aus  der  Metropolis;  er  wollte  dieselbe 
in  die  von  ihm  projektierte  Collectio  Scriptorum  Trevirensium 
ganz  aufnehmen.  -) 

In  der  Vorrede  zu  den  Tnerer  Annalen  erzählt  Brower,  daß 
er  das  Werk  in  seiner  Jugend  angefangen  und  wegen  Behinderung 
durch  andere  Arbeiten  später  vollendet  habe,  ausgerüstet  mit  der 
Kenntnis  der  Archive,  vor  allem  aber  mit  Eifer  für  die  Wahrheit, 
denn  Zuverlässigkeit  und  Wahrheit  sei  seine  Hauptsorge  gewesen, 
weshalb  er  auch  lieber  die  Worte  der  Urkunden  als  seine  eigenen 
gebe.  Manche  Ausstellungen  würden  gewiß  gemacht  werden,  denn 
Vollkommenheit  in  solchen  Arbeilen  sei  unmöglich.  Alle  Fehler 
bitte  er  zu  verbessern  und  ihm  zuzuschreiben,  alles  Gute  aber  Gott, 
dem  Urheber  alles  Guten.  Im  1.  Kapitel  verbreitet  sich  dann  Brower 
auch  über  die  historische  Wahrheit:  Gott  ist  ihm  Quelle  und  Leuchte 
der  Wahrheit,  deshalb  muß  sich  alle  historische  Untersuchung  von 
diesem  Lichte  leuchten  lassen  und  ohne  Leidenschaftlichkeit  und 
Eitelkeit  geführt  werden.  Am  Schluß  des  22.  Buches  (des  letzten 
aus  der  Feder  Browers)  bittet  er,  man  möge  ihm  nicht  übelnehmen, 
wenn  er  nur  auf  die  Wahrheit  gesehen,  auch  wenn  dieselbe  Anstoß 
erregen  könne;  alle  Parteilichkeit  habe  er  ausgeschlossen:  virtutem 
sequamur,  vitia  nesciamus,  coelum  cogitemus  et  aeternitatem. 

')  Eine  Untersuchung  über  das  Verhältnis  der  Masenschen  Ausgabe  zu  dem 
ersten  Kölner  Druck  und  besonders  zur  Handschrift  des  P.  Brower  steht  noch 
aus.  Ein  Exemplar  des  Kölner  Druckes,  welches  P.  Vervaux  benützt  hat  und 
ergänzen  ließ,  befindet  sich  in  der  Staatsbibliothek  zu  München.  Die  Handschrift 
des  Werkes  üb  V-XIII  und  XII-XXII  bewahrt  die  Universitätsbibliothek  zu  Bonn: 
ein  Zettel  von  der  Hand  des  P.  IVlasen  besagt,  daß  er  diese  Handschrift  aus  der 
Trierer  Metropolitan-Bibliothek  entliehen  habe. 

-0  Hontheim,  Historia  Trevirensis  diplomatica  (1750),  3,  991  ff.,  1028. 

7  97 


Die  Ewigkeit  hatte  der  verdiente  Forscher  sein  ganzes  Leben 
vor  Augen  gehabt,  er  konnte  ihr  ruhig  entgegengehen.  Als  man 
ihn  in  den  furchtbaren  Schmerzen  der  letzten  Krankheit  trösten 
wollte  und  fragte,  ob  ihn  etwas  drücke,  da  faltete  er  die  Hände  und 
antwortete  mit  großer  Innigkeit:  Divina  Providentia  quantum  bonum 
est  in  Societate  moril 

Bald  darauf  gab  er  ruhig  seine  Seele  in  die  Hände  ihres 
Schöpfers  zurück  am  2.  Juni   1617;    er   erreichte   ein   Alter   von 

58  Jahren,  von  denen 
er  37  der  Gesellschaft 
Jesu    geweiht    hatte. 

« 
*  ■•■ 

In  dem  Szenar 
des  großen  Dramas 
Stephanus,  welches 
in  Köln  am  16.-18. 
November  1627  von 
den  Schülern  des 
Jesuitengymnasiums 
aufgeführt  wurde,  fin- 
det sich  unter  den  fast 
200  Namen  des  Per- 
sonen-Verzeichnisses 
auch  mehrmals  ge- 
nannt „JACOBUS 

Masen  Dalens.  Phy- 
SICUS",  d.  h.  Jacob 
Masen  aus  Dalen, 
Hörer  der  Physik 
(2.  Jahr  der  Philoso- 
phie). Masen  trat  in 
dem  Stück  in  vier  Rollen  auf:  als  Kardinal,  als  Hofkaplan,  als 
Gefolgsmann  und  als  Verschworener.  ^)  Auch  die  zwei  Jahre 
später  (1629)  verfaßte  Festschrift  „Die  eucharistische  Prozession 
der  Väter  der  Gesellschaft  Jesu  bei  der  Übersiedelung  in  die  neue 
Kirche",  die  aus  Beiträgen  der  Schüler  des  Jesuitengymnasiums 
besteht,  enthält  einen  Aufsatz  von  JACOB.  MASEN  Philos.  Licent.  -) 


')  Das  gedruckte  lateinische  Szenar  mit  Personenverzeichnis  findet  sich  in 
Codex  6  des  Pfarrarchivs  von  S.  Aposteln. 

2)  Supplicatio  solemnis  eucharistica  1629  im  Kölner  Stadtarchiv  Jes.  46. 


Einige  Monate  nach  dieser  großen  Feier  trat  Masen  am 
14.  Mai  1629  in  das  Noviziat  der  Jesuiten  zu  Trier.  Da  er  am 
23.  März  1606  geboren  war,  hatte  er  bei  seinem  Eintritt  das 
23.  Lebensjahr  vollendet.  Später  wirkte  er  14  Jahre  als  Lehrer 
der  Poesie  und  Rhetorik  am  Jesuitengymnasium  in  Köln.  Alle 
seine  Bücher  für  die  Schule  und  viele  seiner  andern  Schriften 
erschienen  in  Köln.    Hier  in  Köln  starb  er  am  27.  September  1681. 

Neben  der  Schule  entfaltete  Masen  eine  große  Tätigkeit  als 
Prediger  und  Schriftsteller.  Außer  vielen  Schulbüchern  verfaßte  er 
geschichtliche,  polemische  und  aszetische  Schriften.  „Masen  war 
das  treue  Charakterbild  eines  Schulmannes  und  Schriftstellers  aus 
der  alten  Jesuitenschule  des  17.  Jahrhunderts."  ^) 

Das  alte  Gymnasium  hatte  sich  vorgesetzt,  in  der  Grammatik 
den  richtigen,  in  der  Poetik  den  schönen,  in  der  Rhetorik  den 
überzeugenden  Ausdruck  des  Gedankens  zu  lehren  und  durch 
viele  Übung  auch  das  Können  zu  vermitteln,  ^j  Als  Lehrer  der 
Poetik  und  Rhetorik  verfaßte  Masen  eine  Reihe  von  Schulbüchern, 
die  dem  Ziele  dieser  Klassen  dienen  sollten.  Außer  einem  Buche 
über  Epigrammatik  (1649)  und  Symbolik  (1650)  verfaßte  Masen 
eine  Palaestra  eloquentiae  ligatae  (1654),  die  im  1.  Teil  die  all- 
gemeine Poetik,  im  2.  Epik  und  Lyrik,  im  3.  die  Dramatik  enthält. 
So  behandelt  Masen  in  der  allgemeinen  Poetik  die  dichterische 
Konzeption  und  die  äußere  Form.  Dabei  geißelt  er  auch  die  aus 
sklavischer  Nachahmung  des  Altertums  eingerissene  Unsitte  der 
Humanisten,  überall  auch  bei  christlichen  Stoffen  von  Göttern, 
Göttinnen  und  Nymphen  zu  singen.  Für  die  Sprache  verlangte 
er  das  Beste,  d.  h.  die  Sprache  des  goldenen  Zeitalters.  Den  damals 
überhand  nehmenden  Schwulst  vergleicht  er  mit  dem  klingenden 
und  blinkenden  Schmuck,  womit  die  Fuhrknechte  ihre  Gäule  be- 
hangen. Masens  Poetik  bedeutet  gegen  die  frühern  Arbeiten  einen 
wirklichen  Fortschritt.  Noch  mehr  ist  dies  der  Fall  bei  der  spe- 
zieilen Poetik.  Wie  Masen  überall  Musterbeispiele  der  Theorie 
anfügt,  hat  er  als  Muster  für  die  Epopöe  die  „Sarkotis"  gegeben, 
die  eine  gewisse  Berühmtheit  erlangt  hat  nicht  allein  durch  ihre 
vielen  Ausgaben  und  Übersetzungen  ins  Deutsche,  Französische, 
Italienische  und  Spanische,  sondern  auch  durch  die  viel  erörterte, 
fast  international  gewordene  Streitfrage,  ob  Milton  die  Sarkotis 
für  sein  Verlorenes  Paradies  benutzt  hat.   Soweit  ein  Urteil  möglich 


')  Vergl  N.  Scheid,  Der  Jesuit  Jakob  Masen  ein  Schulmann  und  Schriftsteller 
des  17.  Jahrhunderts.  Köln  1898,  72. 

-)  Vergl.  Duhr,  Die  Studienordnung  der  Gesellschaft  Jesu  (1896)  79ff. 


7« 


99 


ist,  scheint  Milton  die  Sarkotis  gekannt  und  in  freier  selbst- 
ständiger Weise  benutzt  zu  haben.  ^) 

Besondern  Einfluß  hauptsächlich  auf  die  Ordensschule  hat  die 
Dramatik  Masens  gewonnen.  Wahl  des  Stoffes,  Aufbau,  Aus- 
arbeitung und  die  ganze  äußere  Technik  des  Jesuitendramas  hat 
Masen  lange  Zeit  beeinflußt:  „Er  rechnet  zu  den  führenden  Geistern 
in  der  Blütezeit  des  Jesuitendramas."  „Für  das  Jesuitentheater  in 
Deutschland  bedeutet  Masens  Auftreten  ...  die  Höhe  einer  stufen- 
weisen Entwicklung  in  der  Theorie  sowohl  als  auch  in  der  An- 
wendung der  aufgestellten  Kunstregeln."  -) 

Eine  neuere  Fachstudie  legt  im  einzelnen  dar,  welche  Fort- 
schritte Masens  Dramatik  aufweist:  klarere  Begriffsbestimmungen, 
Entwicklung  des  Chores  zur  Theatermusik,  welche  die  Handlung 
einleitet  und  begleitet,  sittliche  Reinheit  der  Stoffe  usw.  Der  Ver- 
fasser dieser  Studie  urteilt:  „Hiermit  schließe  ich  diesen  Auszug 
aus  Masenius,  welcher  uns  den  Scharfsinn  vor  Augen  führt,  mit 
dem  die  Jesuitendramaturgie  auch  die  feinen  Schönheiten  der 
dramatischen  Technik  herausfand."  ^) 

Seiner  Dramaturgie  hat  Masen  als  Proben  einige  von  ihm  ver- 
faßte Dramen  beigegeben.  Es  sind  meist  Schauspiele,  die  während 
der  Jahre  1640 — 50  in  Köln,  Emmerich  und  Münster  aufgeführt 
wurden.  In  der  Einleitung  zu  den  Schauspielen  bemerkt  Masen: 
Ich  werde  jetzt  die  gemischten  komisch-tragischen  Stücke  vorlegen, 
die  früher  bei  der  Darstellung  auf  dem  Theater  mehr  als  die  Komö- 
dien und  Tragödien  großen  Beifall  gefunden  haben,  besonders  in 
Münster  1647  und  48.  Und  für  seine  den  Schauspielen  voraus- 
gehenden Lustspiele  bittet  er  um  Nachsicht,  daß  sie  nicht  hin- 
reichend geglättet  seien,  weil  „ich  das  meiste  mit  jugendlicher 
Feder  zu  Papier  gebracht".*)  Es  gehören  mithin  alle  uns  be- 
kannten Dramen  des  P.  Masen  der  Zeit  vor  1650  an.    Auch  seine 


')  Vergl.  M.  Dinouart,  La  Sarcothee  (1757)  11  ff. 

»)  Scheid  11  ff.  36,  71. 

ä)  Nik.  Neßler,  Dramaturgie  der  Jesuiten  Pontanus,  Donatus  und  Masenius, 
Progr.  des  k.  k.  Gymnasiums  zu  Brixen  1905  16  ff.  43.  Vergl.  Herder,  Kenota- 
phium  des  Dichters  Jakob  Bälde  in  s.  Terpsichore   (Hempel  S.  237). 

*j  Masen,  Palaestra  eloquentiae  ligatae  (1657)  210.  Die  obige  Angabe  über 
die  Aufführungen  in  Münster  findet  sich  in  der  Ausgabe  von  1664  p.  312.  Von 
Josaphat  wird  auch  in  der  1.  Ausgabe  ausdrücklich  bemerkt,  daß  er  1647  vor  den 
Friedensgesandten  in  Münster  gespielt  worden  sei.  In  Mainz  wurde  1637  ein 
Josaphat,  1642  ein  Mauritius  aufgeführt.  In  den  Jahresberichten  von  Münster 
wird  bemerkt,  daß  dort  von  1642 — 48  viele  Komödien  besonders  von  P.  Masen 
gespielt  worden  seien. 

100 


Theorie  über  das  Drama  war  wahrscheinlich  schon  vor  1650  ge- 
schrieben, weil  er  das  wiedergibt,  was  er  vorher  in  der  Schule 
gelehrt  und  weil  er  schon  im  Jahre  1649  auf  ihr  Erscheinen  ver- 
weist. ^) 

Ein  hervorragender  Kritiker  rühmt  von  Masen,  daß  er  die 
bizarren  Auswüchse  am  Drama  seines  Zeitalters  bekämpft  habe: 
.Nicht  rauschende  Musik,  die  durch  wilden  Lärm  oder  den  Reiz 
der  Neuheit  das  Ohr  betäubt  und  die  Nerven  aufregt,  nicht 
Spektakelstücke  mit  mancherlei  Maschinenwerk,  wo  Phaeton  den 
Himmelswagen  lenkt,  Kometen  erscheinen,  Drachen  und  Genien 
durch  die  Luft  fliegen,  Seeschlachten  auf  den  Brettern  geliefert 
werden',  machen  (nach  Masen)  ein  kunstgerechtes  Stück,  sondern  das 
Drama  muß  ein  lebendiges  Gemälde  sein,  das  uns  die  Wirklich- 
keit in  künstlerischer  Verklärung  wiedergibt.  Eine  Art  Lessing 
des  Schul-  und  Jesuitentheaters  also  ...  hat  er  seine  Theorien 
auch  selbst  ins  Praktische  umgesetzt  und,  ohne  das  eigentliche 
Wesen  eines  Dichters  zu  besitzen,  eine  Anzahl  von  Dramen  ge- 
schaffen, die  nicht  bloß  durch  ihren  Einfluß  als  Musterbeispiele, 
sondern  auch  durch  sich  selbst  die  Beachtung  derLiteraturgeschichte 
verdienen.  Seine  einzige  in  sein  Buch  aufgenommene  Tragödie 
.Mauritius  Orientis  Imperator'  ist  eine  der  besten  Bearbeitungen 
des  für  die  Jesuitenbühne  so  häufig  gewählten  tragischen  Stoffes. 
Von  seinen  Schauspielen  behandeln  zwei  in  ernster  und  ergreifender 
Weise  Parabelstoffe,  die  den  Menschen  als  solchen,  seinen  Fall 
und  seine  Erlösung  zum  Gegenstand  haben.  Sein  Bestes  aber 
gibt  Masen  auf  dem  Gebiete  des  Lustspiels.  Die  ,011aria',  die 
Heilung  eines  jungen  Geizhalses  nach  einer  Erzählung  Petrarcas, 
baut  sich  mit  regelmäßiger,  steigender  Entwicklung,  Höhe  im 
dritten  und  heiterer  Lösung  im  5.  Akt  sehr  einfach  und  ganz 
nach  Masens  Theorie  auf.  ,Bacchi  schola  eversa'  hat  trotz  einzelner 
trefflich  gelungener  Szenen  doch  wesentlich  nur  kulturhistorischen 
Wert;  der  ,Rusticus  imperans'  dagegen,  die  Komödie  vom  .Träu- 
menden Bauer',  der  einen  Tag  lang  König  war,  zeigt  künstlerischen 
Meistergriff  und  hat  als  das  vielleicht  ,beste  Lustspiel  der  ganzen 
Jesuitendramatik'  zahlreiche  Aufführungen  erfahren.  Masen  ist  nach 
Bidermannder  bedeutendste  .  .  .  Dramatiker  des  Ordens  gewesen.^) 

Für  die  Rhetorik  verfaßte  Masen  zunächst  eine  Stilistik 
(Palaestra  stili  Romani  1659).  Dieselbe  enthält  an  erster  Stelle 
eine  Gymnasialpädagogik,   die  sich   vielfach   an  die  klassischen 

*)  In  der  Vorrede  der  Nova  ars  argutiarum  (1649). 

^  Dürrwächter  in  den  Histor.-Polit.  BläUern,  Bd.  124,  288  f. 

101 


Ausführungen  Quintilians  anschließt,  aber  auch  manche  EinbHcke 
in  die  Methode  des  damaligen  Unterrichts  gewährt.  Sehr  fein- 
sinnig behandelt  Masen  nebenbei  die  Frage  nach  der  Verschieden- 
heit der  Beredsamkeit  bei  den  verschiedenen  Nationen.  Das 
3.  Buch  der  Stilistik  ist  dem  antiken  Sprichwort,  das  4.  Buch 
ziemlich  ausführlich  (200  S.)  den  lateinischen  und  griechischen 
Altertümern  (Topographie,  Sakral,  Staats-  und  Rechts-Altertümer 
usw.)  gewidmet. 

In  der  eigentlichen  Lehre  von  der  Beredsamkeit  (Palaestra 
oratoriae  1659)  dringt  Masen  besonders  auf  die  alte  erprobte  Lehre: 
wenig  Vorsdiriften,  viel  Lektüre,  beständige  Übung.  Letzterer  sollen 
dann  besonders  eine  Sammlung  von  Musterbeispielen  (Exercitationes 
oratoriae  1660)  dienen. 

Auch  als  Kanzelredner  hat  Masen  ein  „großartiges  Andenken" 
hinterlassen.  Von  seinem  projektierten  Predigtwerke,  welches  mehr 
Grundrisse  als  vollständige  Predigten  geben  will,  sind  nur  zwei 
Bände  erschienen,  der  erste  über  die  vier  letzten  Dinge,  der  zweite 
über  die  hl.  Schrift,  Genesis  bis  zur  Sintflut.  ^)  Weitere  Bände  über 
die  hl.  Schrift  waren  vorbereitet.  Bei  diesen  Predigten  über 
die  hl.  Schrift  sucht  Masen  mit  der  Homilie  die  Anwendung  auf 
das  Leben  des  Menschen,  sein  Ziel,  Unterwürfigkeit  unter  Gottes 
Willen  usw.  in  praktischer  Weise  zu  verbinden. 

In  seinen  geschichtlichen  Werken  strebt  Masen  wie  Brower 
danach,  ohne  Liebe  und  Haß  die  Wahrheit  zur  Darstellung  zu 
bringen.  Er  ist  sich  der  Schwierigkeit  seiner  Aufgabe  voll  bewußt; 
ja  er  meint,  es  sei  leichter,  durch  große  Taten  das  Material  zur 
Geschichte  zu  liefern  als  dieses  Material  unparteiisch  und  voll- 
kommen zur  Darstellung  zu  bringen.  -)  Seinem  Abriß  der  Geschichte 
Karls  V.  und  Ferdinands  l.  hat  er  als  Motto  die  Worte  Diodors 
vorgestellt,  auf  die  sich  auch  schon  Brower  berufen  hatte:  Nihil 
utilius  jucundiusque  cogitari  potest  quam  in  humanae  vitae  theatro 
quod  historia  partibus  Omnibus  mire  instructum  habet  sedentem 
periculis  aliorum  sine  suo  periculo  cautum  sapientemque  fieri.  ^) 
Im  allgemeinen  läßt  Masen  nur  die  Tatsachen  sprechen  und  ent- 
hält sich  der  eigenen  Reflexion,  aber  sein  warm  deutsch  fühlendes 
Herz  ist  nicht  zu  verkennen. 


')  Orthodox!  concionatoris  antiqui  novi  tomus  primus  de  fine  hominis  usw. 
Mogunt.  1678. 

^)  Annales  Trevirenses  2,  435. 

')  Anima  Historiarum  huius  temporis  in  Caroii  V  et  Ferdinand!  I  imperio 
expressa.  Coloniae  1672.  Vergl.  seine  Epitome  Annal.  Trevirensium.  Aug.  Trevir. 
1676  Widmung  und  Vorwort. 

102 


Es  berührt  überhaupt  angenehm,  in  den  Zeiten  des  dreißig- 
jährigen Krieges  und  seinen  düstern  Nachwehen,  wo  so  viele 
Deutsche  allen  Sinn  für  deutsches  Wesen  und  des  Deutschen 
Reiches  Macht  und  Herrlichkeit  verloren  hatten,  in  dem  Professor 
unseres  Jesuitengymnasiums  einen  wahrhaft  deutschen  Mann  zu 
finden.  Wie  Herder  den  Jesuitendichter  Jakob  Bälde  als  wahren 
Patrioten  und  einen  Dichter  Deutschlands  für  alle  Zeiten  rühmt,  ^) 
so  dürfen  wir  auch  Masen  als  einen  echten  deutschen  Patrioten 
ansprechen.  Gleich  Bälde,  der  in  seinen  Gedichten  den  Jammer 
Deutschlands  beklagt  und  die  Friedensgesandten  in  Münster  be- 
schwört, dem  zerrissenen  Vaterland  den  Frieden  zu  schenken,  so 
hat  Masen  eine  Epistel  verfaßt  (2.  Teil  seiner  Palaestra  lig.),  in 
welcher  er  im  Jahre  1646  die  Gesandten  in  Münster,  besonders 
den  ihn  persönlich  bekannten  Nuntius  Chigi,-)  bittet,  sie  möchten 
doch  endlich  dem  armen  Vaterlande  den  Frieden  wiedergeben: 
Fort  mit  dem  Krieg!  Nicht  mehr  gezögert!  so  ruft  er  den  Gebietern 
des  Krieges  und  den  Herren  des  Friedens  zu: 

Nicht  mehr  gezögert!  So  wünscht  es  der  Landmann,  wünscht  es  der  Bürger; 

Euch  beschwören  zugleich  flehend  die  Stadt  und  das  Land. 
Mancher  verlor  zwar  kämpfend  den  Arm  im  blutigen  Kriege: 

Hebt  er  die  Hände  nicht  mehr,  fleht  doch  sein  Auge  zu  euch. 
Seht,  wie  dem  Armen  die  Träne  auf  narbige  Wangen  herabrinnt: 

Spricht  denn  die  Träne  nicht  mehr,  spricht  denn  die  Narbe  umsonst? 
„Nicht  mehr  gezögert!  Ihr  Freunde  des  Friedens,  entsaget  dem  Schwerte!" 

Ruft  aus  vereinsamtem  Haus  klagend  die  Witwe  zu  euch; 
Oder  vertrieben  vom  Haus,  umgeben  von  hungernden  Kindern, 

Sehnet  sie  kummergebeugt  Tage  des  Friedens  herbei. 
Und  mit  den  Klagen  der  Witwe  vermischt  sich  die  Klage  der  Jungfrau: 

Ihr  ist  der  Friede  nicht  bloß,  ihr  ist  die  Unschuld  geraubt. 
Mancher  sah,  wie  die  Hütte  des  Vaters  zu  Asche  verbrannte; 

Soll  sie  ihm  wieder  erstehn,  braucht  er  des  Friedens  vorerst. 
Mancher  entsandte  den  Freund,  entsandte  den  Bruder  aufs  Schlachtfeld; 
Hoffnung,  sie  wiederzusehn,  gibt  ihm  der  Friede  allein.  3) 

In  seiner  Epopöe  Tunisias  beklagt  Masen  die  Uneinigkeit  der 
deutschen  Fürsten  dem  Vordringen  des  Halbmonds  gegenüber  und 
preist    den    Kaiser  Karl    als   Bezwinger   Barbarossas    und    seiner 

')  Kenotaphium  des  Dichters  Jakob  Bälde  in  Terpsichore  238. 

^)  Die  Bekanntschaft  des  Kölner  Nuntius  Chigi  hatte  Masen  in  Köln  gemacht. 
Nachdem  Chigi  als  Alexander  VII.  1655  den  päpstlichen  Stuhl  bestiegen,  wünschte 
ihm  Masen  am  1 1.  Mai  Glück  und  Segen  zur  höchsten  Würde,  und  am  15.  Dezember 
1655  sandte  er  ihm  den  zweiten  Band  seiner  Palaestra.  Die  Schreiben  von  der 
Hand  Masens  liegen  im  vatik.  Arch.  in  Rom,  Lettere  di  Particolari  vol  30  u.  31. 
Ein  Brief  Masens  an  Chigi  aus  dem  Jahre  1653  in  Rom,  Bibl.  Chigi  B  I,  1. 

*)  Übersetzung  von  Scheid  17. 


103 


Hauptstadt  Tunis.  Seine  Liebe  zum  deutschen  Vaterland  findet 
besonders  Ausdruck  in  seinen  Oden.  Eine  hat  er  ganz  gegen 
die  damals  grassierende  undeutsche  Ausländerei  und  das  stets 
wachsende  fremdländische  Wesen  gerichtet.  Er  findet  die  Deutschen 
von  einem  wahren  Schwindel  erfaßt.  Alles  will  in  fremde  Länder, 
und  statt  des  gesuchten  Glückes  bringen  sie  heim  leere  Taschen, 
verdorbene  Sitten  und  Entfremdung  von  der  einzig  beglückenden 
heimatlichen  Scholle,  als  eine  gerechte  Strafe  solcher  Torheit: 
Caeci  vertimus  exules  —  Ejecti  patria  —  cui  vilis  patria  est,  sit  sine 
patria,  dem  das  Vaterland  nichts  gilt,  der  wird  ein  Vaterlandsloser!  ^) 
In  einer  andern  Ode  ruft  er  Karl  den  Großen  zum  Schutz  für  das 
arme  Deutsche  Reich  an,  er  zeigt  dem  Kaiser  all  den  Jammer  und 
das  Elend  seines  ehemaligen  Reiches.  -)  Auch  seiner  Liebe  zur 
engern  Heimat  hat  Masen  ein  schönes  Denkmal  gesetzt  in  einer 
Ode  auf  seine  Vaterstadt  und  auf  sein  Heimatland,  das  ihm 
in  früher  Jugend  als  blühende  Jungfrau  so  schön  und  reich 
geschmückt  vor  der  Seele  stand.  ^) 

Ganz  besondern  Schmerz  bereitete  Masen  die  religiöse  Zer- 
rissenheit seines  Vaterlandes.  Im  Jahre  1658  erhielt  er  den  Auftrag, 
für  den  kaiserlichen  Wahltag  zu  Frankfurt  ein  Gutachten  für  die 
Vereinigung  der  Protestanten  mit  den  Katholiken  zu  verfassen. 
Dasselbe  wurde  gedruckt  und  später  erweitert.  ^)  Sein  innigster 
Wunsch  war,  es  möchte  Deutschland  zurückkehren  zur  Einheit  des 
alten  Glaubens,  von  der  es  zu  seinem  Verderben  und  zur  Stärkung 
der  für  ganz  Europa  so  gefährlichen  Türkenmacht  abgefallen  sei, 
und  zu  dieser  Rückkehr  ladet  er  alle  im  Glauben  Getrennten  in 
Liebe  ein.  ^) 

Nationale  Übelstände  suchte  er  zu  bekämpfen,  wo  er  nur 
konnte;  deshalb  sein  Kampf  gegen  die  Trunksucht,  gegen  die 
Duelle,  gegen  Astrologie  und  Aberglauben  usw.  In  der  Gerichtsver- 
handlung, ob  der  Wein  dem  Wasser  vorzuziehen  sei,  plädiert  er 
ähnlich  wie  sein  Ordensgenosse  Drexel  für  Freundschaft  zwischen 
Bacchus  und  Neptun,  d.  h.  für  alle  zukünftigen  Zeiten  solle  der 
Wein  mit  Wasser  gemischt  werden,  nur  ist  er  insofern  milder 
als  Drexel,  indem  er  durch  den  Schiedsspruch  Jupiters  eine  Aus- 


*)  Od.  1,  4  in  Palaestra  eloq.  (1655)  ligatae  —  Heroica  poesis  p.  352. 

2)  Od.  2,  1  p.  385  s. 

3)  Od.  2,  10  p.  410. 

*)  Meditata  concordia  protestantium  cum  catholicis.  Colon.  1661.  Der  I.Teil 
ist  Alexander  VII.  gewidmet. 

^)  Nova  praxis  orthodoxae  fidei  discernendae.    Colon.  1668. 

104 


nähme  für  die  Deutschen,  „die  ältesten  Alumnen  des  Bacchus", 
statuieren  läßt,  weil  ihr  Magen  das  kalte  Wasser  nicht  gut  ver- 
tragen könne.  ^)  Er  will  den  Deutschen  einen  Trunk  gestatten  und 
beruft  sich  dafür  auf  den  Nuntius  Chigi,  der  ihm  gesagt,  man 
müsse  den  Deutschen  im  Trinken  etwas  nachsehen,  weil  sie  erst 
nach  einem  guten  Trunk  auftauten.  2)  An  einer  andern  Stelle 
erinnert  Masen  an  einen  Ausspruch  Karls  V.,  den  Deutschen  sei 
das  Trinken  ebenso  schwer  abzugewöhnen,  als  den  Spaniern  das 
Stehlen.») 

Diese  Nachsicht  hindert  ihn  aber  nicht,  mit  großem  sittlichen 
Ernst  und  ergreifender  Kraft  gegen  das  Laster  der  Trunksucht, 
besonders  das  in  Deutschland  übliche  Wettrinken  zu  eifern.*) 

In  seiner  Dramatik  schreibt  er:  Unsern  Zweck,  die  Schändlich- 
keit der  Trunksucht,  die  gemeinhin  bei  den  Deutschen  nicht  für 
so  groß  erachtet  wird,  zu  zeichnen  und  vor  ihr  zu  warnen,  haben 
wir  in  der  ausgefegten  Bacchusschule  durch  eine  offene  Fiktion 
erstrebt,  durch  eine  versteckte  und  zugleich  parabolisch  imTelesbius, 
durch  ein  geschichtliches  Beispiel  im  „Bauer  und  Fürst".  Im  ersten 
Stück  hat  man  die  Eigenschaften  der  Trunksüchtigen,  im  letzten  ihre 
Irrtümer,  im  zweiten  ihre  schweren  Fehler  und  Strafen.  ^) 

In  der  „Ausgefegten  Bacchusschule"  beklagt  Masen  mit  großem 
Schmerz  die  in  Deutschland  eingerissene  Trunksucht.  Ganz  Deutsch- 
land leidet  und  stöhnt  unter  dieser  Schmach,  weil  das  Schlemmen 
bei  hoch  und  niedrig  im  Schwung;  **)  er  malt  die  sporenklirrenden 
Zechbrüder,  die  nie  einen  Gaul  bestiegen,  die  zu  Haus  Weib  und 
Kind  darben  lassen,  alles  versaufen  und  schließlich  in  Banden 
raubend  und  mordend  das  stille  Heim  des  Landmannes  überfallen. 
In  dem  Epilog  schildert  er  den  unter  das  Vieh  gesunkenen  Trunken- 
bold: Wann  werden  die  Deutschen  lernen,  weniger  grausam  gegen 
sich  zu  wüten?  Ein  Heer  von  Krankheiten  züchten  sie,  Gicht,  Delirium, 
Stupidität  und  Krätze.  Wenn  man  die  Trunksucht  öffentlich  brand- 
marken und  verspotten  wollte,  würde  Deutschland  bald  weniger 


')  Exercitationes  oratoriae  (1660)  p.  128. 

2)  quod  post  liberalem  haustum  maximo  sint  homines.  Utiiis  curiositas  de 
huius  vitae  felicitate  (1672)  p.  230. 

•')  Familiarum  Argutiarum  Fontes  -  (1660)  p.  389. 

*)  L.  c.  373,  378  ff. 

')  Masen,  Palaestra  eloquentiae  ligatae,  dramatica  (1657)  37  f. 

")  Inde  tot  calamitates 

Nostra  fert  Germania 
Quod  per  vulgus  et  magnates 

Regnet  haec  insania. 

106 


Trunkenbolde  zählen.  Also  lernet  Nüchternheit,  gedenket  stets,  daß 
in  jedem  unmäßigen  Trunk  zugleich   auch  Gift  getrunken  wird! 

Dabei  bekommen  die  deutschen  Fürsten  ihren  Teil  mit,  beson- 
ders in  dem  „Bauerund  Fürst".  Als  sich  herausstellt,  daß  der  Pseudo- 
fürst  nicht  lesen  kann,  entschuldigt  das  einer  der  Umstehenden 
mit  den  Worten:  Nun  ja,  mit  solchen  Künsten  sich  zu  beschäftigen, 
ist  nicht  üblich  bei  den  Fürsten,  andere  müssen  für  sie  studieren, 
die  Fürsten  haben  die  große  Mühe,  für  andere  zu  trinken  und  zu 
essen.  Das  findet  der  neue  Fürst  ganz  erträglich  und  verspricht 
in  diesem  Stück  seine  Pflicht  vollauf  zu  tun.  ^)  Die  ausländischen 
Moden  verspottet  Masen  auch  hier,  indem  er  den  Barbier  fragen 
läßt,  ob  er  spanisch,  französisch  oder  mehr  deutsch  den  Bart 
richten  solle.  Dafür  erhält  der  Barbier  von  einem  Hofdiener  die 
Rüge:  Du  kennst  also  den  heutigen  Brauch  nicht:  Kleidung 
französisch,  Frisur  spanisch.  Trinken  deutsch! 

Die  damals  in  Deutschland  in  großem,  und  zwar  sehr  verderb- 
lichem Ansehen  stehende  Astrologie  nimmt  Masen  scharf  her  und 
überschüttet  sie  mit  Spott.  In  einer  Streitrede,  ob  die  Astrologen 
oder  die  Bauern  besser  über  die  Zukunft  urteilen  können,  fällt  die 
Entscheidung  dahin,  daß  der  Fürst  sich  schließlich  einen  Bauern  zum 
Astrologen  erwählt  und  seinen  Astrologen  zum  Pfluge  schickt,  damit 
er  mit  dem  Bauer  lerne  vernünftig  zu  werden,  den  Fürsten  vor 
Täuschung  und  sich  vor  dem  Verdacht  der  Lüge  zu  bewahren.  -) 

Auch  sonst  bieten  die  Schriften  Masens  interessante  Einblicke 
in  die  Kulturgeschichte  seiner  Zeit,  so  z.  B.  wo  er  die  Torheit 
der  Eltern  geißelt,  die  ihre  Söhne  noch  als  Kinder  für  Domherrn- 
stellen bestimmen:  wie  solchen  Domherren  dann  die  erzwungene 
Enthaltsamkeit  und  Frömmigkeit  am  Herzen  liege,  dafür  brauche 
man  die  Beispiele  nicht  in  der  Ferne  zu  suchen.  ^) 

In  der  großen  sozialen  Not,  die  als  unmittelbare  Folge  des 
dreißigjährigen  Krieges  Deutschland  heimsuchte  und  manche  zur 
Verzweiflung  brachte,  griff  Masen  ein  mit  der  Trost-  und  Warnungs- 
schrift „Das  Gold  der  Weisen  oder  die  Kunst  ohne  Frevel  reich 
zu  werden".  Hier  legt  er  die  christlichen  Grundsätze  über  die 
Gegensätze  zwischen  arm  und  reich  und  deren  Ausgleichung 
in  schöner  und  herzlicher  Weise  dar. 

Sein  letztes  Werk,  das  in  Köln  erschienen  ist,  trägt  den  Titel 
„Nützliche  Neugierde   über   das   Lebensglück"  (1672);   es  ist  im 

')  Vergl.  Scheid,  Masen  45  f. 

2)  Exercitationes  oratoriae  (1660)  p.  359. 

')  Utilis  curiositas  p.  293  f. 

106 


wahren  Sinn  des  Wortes  eine  Lebenweisheit  für  alle  Stände;  auch 
hier  sind  es  deutsche  Männer  und  deutsche  Frauen,  auf  deren 
Beispiel  er  verweist,  auch  hier  sind  es  die  deutschen  Fürsten,  die 
er  zur  Eintracht  aufruft. 

In  dem  Kapitel  dieser  Lebensweisheit,  wo  Masen  die  hohe  Be- 
deutung von  Bildung  und  Wissenschaft  für  das  Lebensglücli 
auseinandersetzt,  zeigt  er  sich  als  ein  wahrer  Verehrer  der  Wissen- 
schaft und  ihrer  Verbreiter,  der  Lehrer  und  der  Schriftsteller. 
Für  den  Lehrerberuf  ist  er  begeistert.  Er  preist  den  großen  Wert 
der  Lehrer,  den  frühere  Zeiten  durch  ungeheure  Honorare  anerkannt. 
Die  Lehrer  sind  ihm  die  wahren  Weltbeglücker.  Wer  die  Gelehrten 
und  ihre  Werke  als  nutzlos  verdammt,  der  weist  von  sich  die 
Sonne,  die  Tugend  und  das  herrlichste  irdische  Glück.  Die 
Schriftstellerei  ist  ihm  nur  Fortsetzung,  Erweiterung,  ja  Verewigung 
der  Lehrtätigkeit.  Wo  in  der  Welt  kann  eine  Beschäftigung  erdacht 
werden,  die  nützlicher,  würdiger  wäre  als  jene  der  Gelehrten, 
wenn  sie  den  reichen  Schatz  ihres  Wissens  in  schriftlichen  Denk- 
mälern der  Nachwelt  überliefern  und  so  gleichsam  als  unsterbliche 
Lehrer  auf  dem  Lehrstuhl  sitzen  zur  Ehre  Gottes  und  zum  Heil 
der  Staaten!  Ihr  Leben  und  ihre  Lehrtätigkeit,  die  auf  Jahrhunderte 
auszudehnen  die  Natur  versagt  hat,  setzen  sie  so  für  die  nach- 
folgenden Geschlechter  fort,  gleich  als  ob  sie  erklärt,  ihr  ganzes 
Leben,  und  sollte  es  ewig  dauern,  zum  Dienste  Gottes  und  zum 
Nutzen  des  Staates  zu  verwenden.  So  sollen  sie  ewig  leben,  wenn- 
gleich von  ihren  Arbeiten  und  aus  dieser  Zeitlichkeit  geschieden.  ^) 

Eine  so  große  schriftstellerische  Tätigkeit  konnte  Masen  neben 
der  vollen  Hingabe  an  seinen  Lehrerberuf  und  bei  der  treuesten 
Erfüllung  seiner  Verpflichtungen  nur  ermöglichen  durch  rastlose 
Arbeit  und  peinliche  Ausnutzung  der  Zeit.  Im  Angesicht  des 
Todes  bekannte  er,  daß  er  viel  gelesen  und  viel  geschrieben, 
aber  bei  all  seiner  Arbeit  keinen  andern  Zweck  verfolgt,  als  daß 
ihm  kein  Teilchen  der  so  kostbaren  Zeit  unbenutzt  zur  Ehre 
Gottes,  zum  Heil  des  Nächsten  und  seiner  eigenen  Seele  entschwinde. 
Und  seine  Mitbrüder  loben  in  dem  Nachruf  seine  rastlose  Arbeit 
verbunden  mit  stets  ungetrübter  Heiterkeit  seines  Gemütes;  noch 
als  hochbetagter  Greis  habe  er  unermüdlich  mit  voller  Geistesfrische 
an  seinen  gelehrten  Werken  gearbeitet,  bis  ihm  der  Tod  die  Feder 
aus  der  Hand  genommen.  -) 

')  Utilis  curiositas  de  humanae  vitae  felicitate  per  varios  hominum  status 
(1672)  p.  122.    Vergl.  96  ff  114  ff. 

^  Hartzheim,  Bibliotheca  Coloniensis  147.   Vergl.  Scheid  4. 

107 


Cornelius  a  Lapide. 

Von  Domkapitular  DR.  ARNOLD  STEFFENS. 

Unter  den  Schriftauslegern  der  hh.  Bücher  des  Alten  und 
des  Neuen  Testamentes  gibt  es  wohl  kaum  einen,  der 
allerorts  bekannter  wäre  als  Cornelius  a  Lapide.  Der- 
selbe wurde  geboren  am  18.  Dezember  1566  zu  Bocholt  bei  Lüttich 
und   entstammte   der  Familie  van   den    Steen.     Auch    sein  Vater 

muß  wohl  den  Vor- 
namen Cornelius  ge- 
führt haben;  denn 
die  Zensoren  seiner 
Bücher  nennen  ihn 
Cornelius  Cornelii 
a  Lapide.  In  den 
Schulerlisten  des  Tri- 
coronatum  ^)  finden 
wir  unter  den  Zög- 
lingen, die  am  4.  No- 
vember 1578  aus  der 
Syntax  nach  der  Poe- 
sie aufsteigen,  an  er- 
ster Stelle  unsern 
Cornelius  Bocholtz 
verzeichnet,  dem  eine 
etwas  spätere  Hand 
die  latinisierte  Form 
seines  Familienna- 
mens, a  lapide  zuge- 
fügt hat.  Am  12.  April 
1580  wird  Cornelius 
Buchholtius  (zugeschrieben  a  lapide)  in  die  Rhetorik  versetzt. 
Am  6.  November  1581  steht  Cornelius  Bocholt  a  lapide  an  erster 
Stelle  unter  denen,  die  zur  Logik  aufrücken,  am  9.  November  1582 
Cornelius  Bucholt  a  lapide  an  achter  Stelle  unter  denen,  die  nach 
der  Physik  versetzt  werden.  Am  4.  März  1583  wurde  er  Baccalaureus. 
Unter  denen,  die  am  23.  Februar  1584  öffentlich  zu  Lizenziaten 
der   freien   Künste    promoviert   werden,    steht   an    achter   Stelle 

')  Fasti  et  Ephemerides  gymnasii   novi   trium    coronarum.     Kölner  Stadt- 
archiv U.  IX.  604,  S.  160  u.  ff. 


106 


Cornelius  a  Lapide,  Bocholt,  und  am  7.  März  1584  wurde  unser 
Cornelius  Bocholt  a  Lapide  unter  dem  Vorsitz  des  Konrad  Hünsen 
zum  Magister  promoviert,  womit  er,  17  Jahre  alt,  als  Laureat  seine 
Laufbahn  am  Tricoronatum  beschloß. 

Zum  Studium  der  Theologie  bezog  Cornelius  die  Universität 
Löwen,  trat  dort  am  8.  Juli  1592  in  die  Gesellschaft  Jesu  ein  und 
wurde  im  Jahre  1595  zum  Priester  geweiht. 

Zwanzig  Jahre  hindurch  lag  er  in  Löwen  der  Lehrtätigkeit 
ob,  indem  er  zunächst  Latein  dozierte,  dann  aber  Vorlesungen 
über  die  h.  Schrift  hielt.  Auch  leistete  er  während  dieser  Zeit 
vielfach  Aushilfe  in  der  Seelsorge.  Viele  Jahre  hindurch  fand 
er  sich  zu  diesem  Zwecke  an  den  Hauptfestzeiten  im  Dome  zu 
Mecheln  ein  und  hatte  dann  sein  Absteigequartier  beim  Dom- 
dechanten  Heinrich  Franz  van  der  Burch,  der  später  Bischof  von 
Gent  und  dann  Erzbischof  von  Cambrai  wurde.  Innigste  Freund- 
schaft verband  die  beiden  Männer,  deren  liebste  Erholung  es  war, 
selbst  bei  Tische  Bibelfragen  zu  erörtern.  Cornelius  nennt  diesen 
Kirchenfürsten  in  der  Widmung  seiner  Auslegung  des  Pentateuch 
Studienfreund.  Am  Tricoronatum  zu  Köln  hatte  Cornelius  im  Jahre 
1582  zwar  einen  Georg  van  den  Burck  und  im  Jahre  1584  einen 
Theodor  van  der  Burch  zu  Mitschülern.  Heinrich  Franz  van  der 
Burch  wird  wohl  ein  Bruder  dieser  beiden  gewesen  sein,  sein  Name 
ist  jedoch  in  den  Schülerlisten  des  Tricoronatum  nicht  verzeichnet. 

In  große  Lebensgefahr  geriet  Cornelius  im  Jahre  1604,  als 
er  in  dem  bei  Löwen  gelegenen  Wallfahrtsorte  Scherpenheuvel 
(Montaigu)  in  der  Oktav  von  Maria  Geburt  im  Predigen  und 
Beichthören  Aushilfe  leistete.  Holländische  Reiterei  überfiel  am 
Festtage  selbst  (8.  September)  den  vielbesuchten  Wallfahrtsort, 
verwüstete  alles  mit  Feuer  und  Schwert,  und  unser  Cornelius,  der 
das  heiligste  Sakrament  aus  der  Wallfahrtskirche  wegtrug,  um  es 
vor  Verunehrung  seitens  der  andersgläubigen  Kriegshorde  zu 
schützen,  geriet  in  augenscheinliche  Lebensgefahr.  Er  entging 
jedoch  wie  durch  ein  Wunder  der  Gefangennahme  und  Verwundung. 
Der  Vorfall  machte  indes  auf  ihn  einen  solchen  Eindruck,  daß  er 
ihn  zeitlebens  nicht  vergessen  konnte.  In  seinem  frommen  Sinne 
hätte  er  gewünscht,  bei  dieser  Gelegenheit  für  den  Herrn  sein 
Leben  zu  lassen,  und  das  Verlangen  nach  der  Ehrenkrone  des 
Martyriums  verließ  ihn  seitdem  nicht  mehr. 

Der  gelehrte  und  fromme  belgische  Jesuit  hatte  die  Aufmerk- 
samkeit der  höchsten  Stelle  des  Ordens  auf  sich  gelenkt.  Er  wurde 
im  Jahre  1616  nach  Rom  berufen,  woselbst  er  zunächst  mehrere 

100 


Jahre  hindurch  mit  großem  Erfolge  Vorlesungen  über  die  h.  Schrift 
hielt,  dann  aber  sich  ganz  exegetischer  Schriftstellerei  hingab,  die 
seinen  eigentlichen  Lebensberuf  bildete  und  der  er  auch  bis  zu 
seinem  Tode  ununterbrochen  treu  blieb.  Er  hat  die  Riesenarbeit 
geleistet,  zu  allen  Büchern  der  h.  Schrift  Alten  und  Neuen  Testa- 
mentes Kommentare  zu  schreiben,  die  Psalmen  und  das  Buch  Job 
allein  ausgenommen,  und  auch  die  Erklärung  dieser  beiden  Bücher 
war  von  ihm  in  Angriff  genommen,  als  der  Tod  ihn  zwang,  die 
Feder  aus  der  Hand  zu  legen.  Die  Kommentare  zu  den  einzelnen 
Büchern  erlebten  sehr  viele  Auflagen.  Auch  wurden  zahlreiche 
Gesamtausgaben  seiner  Werke  ^)  veranstaltet  bis  in  die  neueste 
Zeit,  ein  Beweis  dafür,  daß  sie  bis  heute  ihren  Wert  noch  nicht 
verloren  haben.  Unter  allen  Schriftauslegungen  ist  unter  der  Seel- 
sorgsgeistlichkeit  am  meisten  verbreitet  und  am  längsten  in  fort- 
währendem Gebrauch  geblieben  unseres  Cornelius  Bearbeitung 
des  Neuen  Testamentes,  obwohl  sie  vielfach  überholt  wurde  von 
spätem  Exegeten.  Der  von  Cornelius  gebotene  Reichtum  patris- 
tischer  Auslegungen  meistens  nach  vierfachem  Sinne,  dem  Wort- 
sinne, dem  typischen,  moralischen  und  allegorischen  Sinne,  scheint 
diese  Vorliebe  erzeugt  und  erhalten  zu  haben.  Bestimmend  war 
für  ihn  nach  seinem  eigenen  Geständnis  der  vom  Dichter  aus- 
gesprochene Grundsatz:  „Omne  tulit  punctum  qui  miscuit  utile 
dulci." 

So  bringt  Cornelius  aus  dem  unermeßlichen  Schatze  seiner 
Belesenheit  und  der  staunenswerten  Fülle  seines  vielseitigen 
Wissens  zur  Erklärung  des  h.  Textes  eine  Menge  von  Material 
herbei,  das  unter  vielem  Zutreffenden  auch  manches  Weitabliegende 
und  Fremdartige  enthält.  Auch  bedürfen  die  eingeflochtenen 
Geschichten  vielfach  kritischer  Sichtung.  Nach  allgemeinem  Urteile 
werden  die  Kommentare  zum  Pentateuch  und  zu  den  paulinischen 
Briefen  für  die  gelungensten  unter  seinen  Arbeiten  gehalten.  Sie 
zeichnen  sich  nämlich  aus  durch  sorgfältige  Durcharbeitung,  und 
das  Abgehen  von  den  strengen  Gesetzen  der  Hermeneutik  macht 
sich  in  ihnen  weniger  fühlbar.  Von  seiner  Bearbeitung  der  vier 
großen  Propheten  sagt  Reinke:-j   „Diese  Kommentare  sind  noch 

1)  Gesamtausgaben:  Antwerpen  1681.  10  Foliobände  (sehr  geschätzt); 
Venedig  1708,  16  Bände;  1740,  11  Bände;  Antwerpen  1714,  11  Bände;  Köln 
1732,  11  Bände;  Lyon  1840,  11  Bände  in  quarto;  Malta  1843—1856,  10  Bände 
in  quarto;  Paris  1855,  20  Bände  in  quarto;  Neapel  1854—1860,  18  Bände  in  quarto; 
Paris  1867,  20  Bände  in  quarto,  1868,  24  Bände  in  quarto;  Lyon  1872,  20  Bände. 

-)  Kommentar  zu  den  messianischen  Weissagungen  bei  den  großen  und  kleinen 
Propheten  1859/62  1.  Bd.  Einl.  §  11. 

110 


mit  Nutzen  zu  gebrauchen,  da  derVerfasser  nicht  bloß  einen  großen 
Scharfsinn  besaß,  sondern  auch  die  frühern  Ausleger,  namentlich 
Sanchez  und  die  Kirchenväter  fleißig  benutzt  hat."  Die  philo- 
logische, rhetorische  und  philosophische  Schulung,  die  Cornelius 
auf  dem  Tricoronatum  erhalten,  kommt  in  seinen  Werken  glänzend 
zur  Geltung.  Er  handhabt  die  lateinische  Sprache  nicht  nur  mit 
Leichtigkeit  und  Gewandtheit,  sondern  auch,  besonders  in  den 
Widmungen,  mit  Anmut  und  Schönheit.  Auch  beherrscht  er  das 
Griechische  und  bekundet  zudem  allenthalben  in  seinen  Schriften 
eine  wenn  auch  nicht  gerade  hervorragende  Kenntnis  des  Hebrä- 
ischen und  Syrischen. 

Cornelius  war  eine  rechte  Gelehrtennatur.  Er  lebte  nur  der 
Wissenschaft  und  dem  Gebete.  Eine  Selbstschilderung  seiner 
Seelenstimmung  soll  hier  in  urschriftlichem  Wortlaut  angeführt 
werden,  die  zugleich  eine  Stilprobe  seiner  Handhabung  der  latei- 
nischen Sprache  liefert. 

Nihil  in  hoc  mundo  a  quoquam  mortalium  exspecto,')  quia  nihil 
desidero').  Aulas  et  oras  fugio:  silentium  et  secessum  mihi  iucun- 
dum  aliisque  non  inutilem  sequor  cum  s.  Basilio,  Gregorio,  Hiero- 
nymo,  cuius  sanctam  Bethleem  ab  eo  in  Palaestina  sollicite  quae- 
sitam  ego  Romae  iuveni.  Olim  iunior  agi  Martham,  nunc  in  devexa 
aetate  magis  Magdalenam  ago  et  adamo,  memor  brevis  aevi,  memor 
Dei,  memor  instantis  aeternitatis.  Cellae  (quae  mihi  fida,  amica, 
tota  terra  carior  est  adeoque  coelum  terrestre  videtur)  et  silentii 
solius  sum  incola;  cellicola  et  musei  sacri  assecla,  coelicola  esse 
contendo,  sanctae  contemplationis,  lectionis,  scriptionis  otium,  imo 
negotium  persequor.  Deo  uni  et  trino,  eius  oraculis  et  inspi- 
rationibus  excipiendis,  meditandis,  celebrandis  iucumbo,  ad 
Christi  pedes  sedeo,  ut  ab  ore  eius  pendulus  verba  vitae  hauriam, 
quae  deinceps  in  alios  effundam."  -j 

In  den  Ergüssen  seiner  Frömmigkeit  tritt  auch  mitunter  der 
Kölner  Einschlag  zu  Tage.  So  flehte  er,  als  er  sich  anschickte, 
die  Weisheitsbücher  der  h.  Schrift  zu  erläutern,  die  Gottesmutter 
an,  ihm  die  Erleuchtung  seitens  des  h.  Geistes  zu  vermitteln,  wie 
sie  es  Albert  dem  Großen  und  Rupert  von  Deutz  gegenüber  getan. 
Cornelius  war  ein  überaus  frommer  Priester.  Er  stand  bei  seinen 
Zeitgenossen  im  Rufe  der  Heiligkeit.  Täglich  las  er,  was  damals 
bemerkenswert  war,  die  h.  Messe.  Tag  und  Nacht  war  die  Lesung 
und  Betrachtung  der  h.  Schrift  die  Nahrung  seines  Geistes  und 
das  Labsal  seines  Herzens.    An  Gehorsam  gegen  die  Obern  und 

')  Widmung  des  Kommentars  zum  Pentateuch,  -)  desgl.  zum  Propheten  Isaias. 

111 


an  Strenge  in  der  Beobachtung  der  Ordensregeln  ließ  sich  der  ehr- 
würdige Gelehrte  von  niemandem  übertreffen.  Wiewohl  er  stets 
von  sehr  schwacher  Gesundheit  war,  wollte  er  durchaus  nicht, 
daß  ihm  etwas  Besonderes  an  Nahrung  vorgesetzt  werde.  Die 
Wahrheit  ging  ihm  über  alles.  Er  war  so  bescheiden  und  demütig, 
daß  er  gegen  Ende  seines  Lebens  von  sich  sagte:  „Ich  beschäftige 
mich  nun  schon  vierzig  Jahre  lang  mit  dem  Studium  der  h.  Schrift 
und  seit  dreißig  Jahren  ist  ihre  Erklärung  meine  einzige  Be- 
schäftigung, und  doch  werde  ich  inne,  wie  wenig  Fortschritte  ich 
in  ihrem  Verständnis  gemacht  habe."  Als  er  die  Erklärung  der  vier 
großen  Propheten  beendet  hatte,  flehte  er  diese  großen  Gottes- 
männer an,  ihm  die  Gnade  des  Martertodes  zu  erwirken:  „O  h. 
Propheten  des  Herrn,  ich  bitte  euch  inständig,  laßt  mir  doch  zuteil 
werden  euer  Martyrium,  damit  ich  die  Wahrheit,  die  ich  aus  euren 
Büchern  geschöpft,  die  ich  andere  gelehrt  und  die  ich  niederge- 
schrieben habe,  mit  meinem  Blute  besiegele..  .  Ich  habe  für  euch 
meine  Lebens-  und  Körperkraft  erschöpft,  nun  will  ich  noch  mein 
Blut  hingeben." 

Der  Herr  ersparte  das  blutige  Martyrium  seinem  getreuen 
Diener,  der  im  Studium  und  in  der  Erläuterung  des  niedergeschrie- 
benen Gotteswortes  sein  Leben  verzehrt  hatte.  Er  starb  zu  Rom 
im  71.  Jahre  seines  Alters  am  12.  März  1637  und  wurde  dort 
begraben,  wie  er  gewünscht,  daß  seine  Gebeine  bei  den  Gebeinen 
der  Heiligen  ruhen  möchten. 


112 


Friedrich  Spee. 

Von  Dr.  pliil.  JOS.  GÖTZEN. 

Es  gibt  wenige  bedeutende  Männer,  über  die  das  Urteil  der 
Nachwelt  so  einmütig  und  uneingeschränkt  lobend  lautet, 
wie  über  FRIEDRICH  SPEE.  Wo  immer  der  Name  dieses 
schlichten  Ordensmannes  genannt  wird,  geschieht  es  mit  hoher 
Achtung  und  Anerkennung.     Die  Wirksamkeit  Spees  fällt  in  die 

unglückliche  Zeit  des 
dreißigjährigen  Krie- 
ges, dessen  Schrecken 
in  Deutschland  noch 
durch  das  Toben  des 
unseligen  Wahnes  der 
Hexenprozesse  ver- 
mehrt wurden.  In  die- 
ser traurigen  Zeit  ist  er 
der  einzige,  der  den 
Muthat.nichtachtend 
der  Gefahr  für  eigene 
Ehre  und  Sicherheit, 
anzukämpfen  gegen 
eine  wahnwitzige  Gei- 
stesverirrung,  die  es 
als  etwas  Verdienstli- 
ches betrachtete,  zahl- 
lose blutige  Opfer  zu 
denen  des  Krieges 
zu  häufen.  Und  in 
derselben  Zeit,  in  der 
der  künstlerische  Ge- 
schmack darniederlag,  dichtete  er  als  fast  einziger  Vertreter  wahrer 
Poesie  liebliche  Lieder,  die  aus  dem  Reimgeklingel  seiner  Tage 
hervortönen  wie  der  Gesang  der  Nachtigall  aus  dem  der  anderen 
Vögel. 

Friedrich  Spee  stammte  aus  dem  alten,  jetzt  gräflichen 
Geschlechte  der  Spee,  und  zwar  aus  der  Linie  von  Langenfeld. 
Sein  Vater  Peter  Spee  war  Burgvogt  und  Amtmann  des  Kurfürsten 
von  Köln  zu  Kaiserswerth  bei  Düsseldorf.  Hier  wurde  Friedrich 
Spee  am  25.  Februar  1591    geboren.    Über  seine  Jugendzeit  ist 


113 


nichts  bekannt;  nur  soviel  läßt  sich  sagen,  daß  die  frommen 
Eltern  ihre  sechs  Kinder,  von  denen  unser  Friedrich  wahrschein- 
lich das  jüngste  war,  in  echt  christlicher  Weise  erzogen.  Mit  etwa 
zwölf  Jahren  kam  der  Knabe  nach  Köln  auf  das  Jesuitengymnasium 
zu  den  drei  Kronen,  das  er  aber  später  verließ,  um  auf  das 
Montanergymnasium  überzugehen,  aus  welchem  Grunde,  ist  nicht 
bekannt.  Der  junge  Spee  war  ein  fleißiger  und  talentvoller  Schüler; 
das  zeigt  schon  die  einzige  Tatsache,  die  aus  seiner  Studienzeit 
bekannt  ist:  beim  Aufsteigen  in  die  Klasse  der  Humanität  im 
Jahre  1604  erhielt  er  das  erste  Prämium  in  der  lateinischen 
Sprache.  Nachdem  er  die  sechs  Klassen  des  Gymnasiums  absol- 
viert hatte,  trat  er  im  Jahre  1610  im  Alter  von  20  Jahren  in  die 
Gesellschaft  Jesu  ein.  Zu  diesem  Schritt  bewog  ihn  hauptsächlich 
der  Gedanke,  später  seine  Kraft  in  den  Dienst  der  Heidenmission 
zu  stellen,  ein  Wunsch,  der  freilich  nicht  in  Erfüllung  ging.  Die 
Novizenjahre  verbrachte  Spee  in  Trier  und  in  Fulda;  von  hier 
wurde  er  im  Jahre  1612  zur  Vollendung  seiner  philosophischen 
Studien  nach  Würzburg  geschickt.  Im  Jahre  1616  kam  er  nach 
Speyer  und  wirkte  hier  als  Lehrer  am  Gymnasium;  im  folgenden 
Jahre  wurde  er  nach  Worms  beordert,  um  dort  die  Humaniora 
zu  lehren.  Im  Jahre  1618  beriefen  ihn  die  Oberen  nach  Mainz, 
wo  er  die  höchste  Gymnasialklasse,  die  Rhetorik,  übernahm.  Nach- 
dem er  so  einige  Zeit  als  Lehrer  tätig  gewesen  war,  begann  er 
im  Jahre  1620  in  Mainz  seine  theologischen  Studien.  Einunddreißig 
Jahre  war  er  alt,  als  er  im  Jahre  1622  zum  Priester  geweiht 
wurde.  Noch  ein  Jahr  lang  setzte  er  seine  Studien  fort,  dann 
wurde  er  nach  gut  bestandenem  Schlußexamen  von  seinen  Oberen 
im  Herbst  1623  als  Professor  der  Philosophie  an  die  im  Jahre 
1614  gegründete  Universität  Paderborn  berufen,  obgleich  er  das 
vorgeschriebene  dritte  Noviziatsjahr  noch  nicht  absolviert  hatte. 
Als  im  Jahre  1626  in  Paderborn  die  Pest  ausbrach,  kam  Spee 
wieder  nach  Speyer  und  vollendete  hier  sein  Noviziat.  Seine 
Oberen  hatten  ihn  für  die  Seelsorge  ausersehen.  Bei  der  Teilung 
der  rheinischen  Ordensprovinz  im  Jahre  1626  war  Spee  der  nieder- 
rheinischen Provinz  zugewiesen  worden.  Infolgedessen  wurde  er 
jetzt  nach  Wesel  geschickt,  um  hier  in  der  Seelsorge  tätig  zu  sein. 
Lange  kann  er  aber  in  Wesel  nicht  gewirkt  haben,  denn  im  Anfang 
des  Jahres  1628  finden  wir  ihn  wieder  in  Köln.  Von  hier  begab 
er  sich  noch  im  selben  Jahre  als  Missionar  nach  Peine,  einem 
Städtchen  im  Hildesheimischen,  dem  Hauptorte  der  gleichnamigen 
Grafschaft.    Seine  Aufgabe  war,   das  Ländchen,  in  dem  der  Pro- 

114 


testantismus  Verbreitung  gefunden  hatte,  wieder  der  alten  Lehre 
zurückzugewinnen.  Durch  sein  müdes  und  versöhnliches  Auftreten, 
dem  das  eigene,  von  echter  Frömmigkeit  und  aufopferndem  Edel- 
mut getragene  Leben  überzeugenden  Nachdruck  verlieh,  gelang 
es  ihm  verhältnismäßig  leicht,  seinen  Auftrag  mit  Erfolg  auszu- 
führen. Sogar  die  früheren  protestantischen  Prediger  schlössen  sich 
dem  katholischen  Glauben  wieder  an,  und  einer  von  ihnen,  der 
„tolle  Herr  Tyle",  wurde  Spees  vertrauter  Freund.  Freilich  erweckte 
ihm  seine  Tätigkeit  auch  Feinde,  wie  das  kaum  anders  zu  erwarten 
war.  An  einem  Sonntagmorgen  im  April  1629  ritt  er  nach  einem 
Dorfe  in  der  Nähe  von  Peine,  um  dort  Messe  zu  lesen.  Nicht 
weit  vom  Ziele  sah  er  sich  in  einem  Walde  plötzlich  angegriffen. 
Ein  Mann  ritt  ihm  entgegen  und  feuerte  zwei  Schüsse  auf  ihn 
ab,  die  aber  beide  fehlgingen.  Wütend  über  das  Mißlingen  seines 
Anschlages  hieb  der  Reiter  nun  mit  dem  Schwerte  auf  den  Wehr- 
losen ein,  dessen  Pferd  unglücklicher  Weise  zu  Fall  gekommen 
war.  Aus  sechs  schweren  Wunden  am  Kopfe  und  zwei  an  der 
Schulter  blutend,  gelang  es  Spee,  dem  Mörder  zu  entkommen. 
Weinend  sahen  die  Leute  des  Dorfes,  wie  übel  ihr  guter  Missionar 
zugerichtet  war.  Notdürftig  verbunden,  bestieg  er  trotz  seiner 
Schmerzen  die  Kanzel  und  verlas  das  Evangelium  des  Tages  vom 
guten  Hirten;  dann  brach  er  ohnmächtig  zusammen.  Auf  seinen 
Wunsch  wurde  der  Schwerverwundete  nach  Peine  zurückgebracht; 
der  tolle  Herr  Tyle  ließ  es  sich  nicht  nehmen,  seinem  Freunde 
diesen  Liebesdienst  zu  erweisen.  Die  Meucheitat  rief  auch  in 
Peine  allgemeine  Entrüstung  und  großes  Mitleid  mit  dem  unschul- 
digen Opfer  hervor.  Die  Nachforschungen  nach  dem  Täter,  die 
sofort  aufgenommen  wurden,  blieben  ohne  Ergebnis.  Von  Peine 
wurde  der  Todkranke  in  einem  Wagen  nach  Hildesheim  gebracht. 
Mehrere  Monate  lag  Spee  an  seinen  Wunden  darnieder,  deren 
Nachwirkungen  sich  in  seinem  späteren  Leben  in  heftigen  Kopf- 
schmerzen und  Schwindelanfällen  häufig  bemerkbar  machten; 
auch  blieben  die  Narben  immer  deutlich  sichtbar.  Zur  weiteren 
Erholung  suchte  er  das  Kloster  Corvey  auf,  dessen  Prior  ein 
Verwandter  von  ihm  war.  Von  hier  sandten  ihn  seine  Oberen  in 
das  nahe  gelegene,  der  Gesellschaft  gehörige  Kloster  Falkenhagen, 
damit  er  sich  hier  in  ruhiger  und  idyllischer  Waldesfrische  weiter 
kräftige.  Im  Herbst  des  Jahres  1629  war  er  so  weit  wieder  herge- 
stellt, daß  er  in  Paderborn  den  Lehrstuhl  für  Moraltheologie  über- 
nehmen konnte.  Seine  Lehrtätigkeit  fand  aber  ein  unerwartet 
schnelles    Ende:    mitten    im    Studienjahre  1630/31  wurde   er   auf 

8*  116 


Betreiben  des  Rektors  der  Paderborner  Niederlassung  seiner  Pro- 
fessur entlioben,  obschon  er  gebeten  tiatte,  man  möge  ihm  doch 
diesen  Schimpf  nicht  antun.  Schon  seit  einiger  Zeit  hatten  sich 
aus  dem  Orden  heraus  Widersprüche  gegen  Spee  erhoben.  Man 
warf  ihm  vor,  er  hege  Ansichten,  die  nicht  geeignet  seien,  bei 
seinen  Schülern  die  Hochachtung  vor  dem  Orden  zu  heben.  Man 
geht  wohl  nicht  fehl  in  der  Annahme,  daß  bei  diesen  Beschul- 
digungen auch  die  Ansichten  über  die  Hexenprozesse  eine  Rolle 
spielten,  mit  denen  Spee  sich  schon  damals  im  Gegensatz  zu  vielen 
seiner  Mitbrüder  befand.  Spee  hatte  zwar  die  Genugtuung,  daß 
die  gegen  ihn  erhobenen  Beschwerden  vom  Ordensgeneral  für 
unbegründet  befunden  wurden,  aber  seine  Professur  erhielt  er  nicht 
wieder;  seit  dem  Jahre  1631  fungierte  er  in  Paderborn  nur  als 
Beichtvater.  In  dieser  Stellung  hauptsächlich  gewann  er  den  tiefen 
Einblick  in  die  Hexenprozesse,  der  ihm  die  Feder  in  die  Hand 
zwang.  An  zweihundert  unglückliche  Opfer  menschlichen  Aber- 
witzes geleitete  er  zum  Scheiterhaufen.  Die  traurigen  Erfahrungen, 
die  er  dabei  sammelte,  das  unsägliche  Elend,  dessen  er  Zeuge 
war,  ließen  ihn  nicht  mehr  schweigen,  und  er  schrieb  jene  Schrift, 
deretwegen  allein  schon  sein  Name  für  alle  Zeiten  mit  Ehren 
genannt  zu  werden  verdient:  die  Cautio  criminalis.  Man  hat  früher 
allgemein  angenommen,  die  Cautio  criminalis  sei  in  Würzburg 
geschrieben  worden;  in  Würzburg  sei  Spee  als  Beichtvater  der 
Hexen  tätig  gewesen.  Aber  abgesehen  von  den  früheren  Studien- 
jahren 1612—1616,  findet  sich  in  Spees  Leben  keine  Zeit,  die  für 
eine  längere  Tätigkeit  in  Würzburg  Raum  böte.  Es  bleibt  also 
nur  die  Möglichkeit,  daß  es  in  Paderborn  gewesen  ist,  wo  Spee 
das  Material  für  die  Cautio  criminalis  gesammelt  hat.  Überall  in 
Deutschland  —  und  nicht  nur  in  Deutschland  allein  —  wütete 
damals  gleich  einer  epidemischen  Krankheit  das  grausame  Vorgehen 
gegen  die  Hexen,  und  zwar  in  gleicher  Weise  in  den  katholischen 
wie  in  den  protestantischen  Ländern.  Es  ist  hier  nicht  möglich, 
ein  Bild  jener  unsäglichen  Greuel  zu  geben,  in  denen  mensch- 
licher Aberwitz  und  menschliche  Grausamkeit  die  traurigsten 
Triumphe  feierten,  wo  zu  Tausenden  greise  Männer  und  Frauen, 
blühende  Jünglinge  und  Jungfrauen  und  sogar  zarte  Kinder  den 
unmenschlichen  Qualen  der  Folter  und  grausamem  Tode  über- 
liefert wurden.  Es  wird  erzählt,  der  gute  Pater  Spee  sei  einmal 
gefragt  worden,  warum  sein  Haar  bereits  so  früh  ergraut  sei,  und 
er  habe  geantwortet,  die  Schuld  daran  trüge  das  furchtbare  Elend, 
dessen   Zeuge   er   als   Beichtvater   der  Hexen  gewesen  sei.    „Ich 

116 


beteure  unter  einem  Eid,"  sagt  er  in  der  Cautio  criminalis,  „dass 
ich  bis  jetzt  iicine  Angeklagte  zum  Scheiterhaufen  geführt  habe, 
die  ich  nach  reiflicher  Erwägung  aller  Umstände  für  schuldig 
erklären  konnte.  Dasselbe  habe  ich  von  zwei  scharf  beobachtenden 
Theologen  gehört,  und  doch  habe  ich  alle  nur  erdenkliche  Mühe 
angewendet,  die  Wahrheit  zu  ergründen."  In  51  Fragen  (Dubia) 
geht  er  in  der  Cautio  criminalis  den  Verteidigern  der  Hexenprozesse 
zu  Leibe,  mit  soviel  Klarheit  und  Beweiskraft,  mit  soviel  Sachlich- 
keit und  zugleich  edler  Entrüstung,  mit  solcher  überlegenen 
Gewandtheit  und  mutiger  Unerschrockenheit,  daß  kein  vernünftig 
Denkender  sich  seinen  Schlußfolgerungen  entziehen  kann.  Das 
Buch  erschien  zuerst  in  Rinteln  im  Jahre  1631 ;  der  Titel  lautet: 
„Cautio  criminalis,  seu  de  processibus  contra  Sagas  Liber.  Ad 
Magistratus  Germaniae  hoc  tempore  necessarius,  tum  autem  con- 
siliariis  et  confessariis  principum,  Inquisitoribus,  ludicibus,  Advocatis, 
Confessariis  Reorum,  Concionatoribus  caeterisque  lectu  utilissimus. 
Aucfore  Incerto  Theologo  Romano."  Die  mutige  Schrift  erregte 
gewaltiges  Aufsehen;  in  wenigen  Monaten  war  die  ganze  Auflage 
vergriffen,  so  daß  selbst  für  teures  Geld  kein  Exemplar  mehr  zu 
erhalten  war,  ein  für  die  damalige  Zeit  ganz  ungewöhnlicher  Erfolg. 
Im  folgenden  Jahre  1632  erschienen  gleichzeitig  zwei  neue  Aus- 
gaben in  Frankfurt  am  Main  und  Köln.  Deutsche  Übersetzungen 
folgten  in  Bremen  1647,  Frankfurt  am  Main  1649  und  Amsterdam 
1657.  Eine  holländische  Übersetzung  erschien  1657,  eine  franzö- 
sische 1660.  Die  Veröffentlichung  des  Werkes  war  ohne  Vorwissen 
Spees  geschehen,  wenn  auch  die  vollendete  Tatsache  ihm  sicher- 
lich nicht  unerwünscht  gewesen  ist.  Er  hatte  das  Manuskript 
einigen  Freunden  zum  Lesen  überlassen,  und  von  diesen  wurde 
es  dem  Druck  übergeben,  weil  sie  wohl  dadurch  der  Absicht  des 
Verfassers  zu  entsprechen  glaubten.  Daß  Spees  Name  verschwie- 
gen wurde,  hatte  seinen  guten  Grund;  man  kannte  die  Geneigt- 
heit der  Richter,  jeden  Verteidiger  der  Hexen  als  mit  ihnen  im 
Bunde  stehend  zu  betrachten  und  ihm  als  hinlänglich  verdächtig 
den  Prozeß  zu  machen.  Innerhalb  des  Ordens  war  der  Name  des 
Verfassers  aber  schon  bald  allgemein  bekannt.  Dem  mutigen 
Pater  erwuchsen  daraus  nicht  geringe  Anfeindungen  und  Schwierig- 
keiten, da  es  auch  unter  seinen  Ordensgenossen  nicht  wenige  gab, 
die  in  den  krankhaften  Ideen  des  Hexenwahnes  befangen  waren. 
Eine  Zeitlang  bestand  sogar  die  Absicht,  Spee  aus  dem  Orden 
zu  entlassen  oder  ihn  zum  freiwilligen  Austritt  zu  bewegen.  Aber 
schließlich  behielt  doch  die  Vernunft  die  Oberhand;  denn  selbst- 

117 


verständlich  gab  es  unter  Spees  Mitbrüdern  auch  viele,  die  seine 
Ansichten  teilten  und  sein  Vorgehen  billigten.  Waren  ihm  doch 
schon  innerhalb  des  Ordens  Paul  Laymann  und  Adam  Tanner 
im  Kampfe  gegen  den  Hexenwahn  voraufgegangen;  besonders 
auf  Tanner  beruft  sich  daher  Spee  öfter  bei  seinen  Ausführungen 
in  der  Cautio  criminalis.  Überhaupt  darf  nicht  unerwähnt  bleiben, 
daß  Spee  nicht  der  erste  gewesen  ist,  der  seine  Stimme  gegen 
die  Hexenprozesse  erhob.  Angefangen  von  dem  rheinischen  Arzte 
Dr.  Johann  Weyer  (1563)  bis  auf  seinen  Ordensgenossen  Tanner 
(1627)  hatte  schon  eine  ganze  Reihe  mutiger  Männer  gegen  den 
verderblichen  Wahn  angekämpft.  Aber  keiner  hatte  mit  solch  ein- 
dringlicher Wucht  der  Beweisgründe,  mit  solch  logischer  Folge- 
richtigkeit und  dialektischer  Gewandtheit,  mit  solch  überzeugender 
Anschaulichkeit,  die  fortwährend  aus  eigener  Erfahrung  schöpfte, 
seine  Sache  vertreten.  Spee  erreichte  auch  keineswegs,  ebenso- 
wenig wie  seine  Vorgänger,  durch  seine  Schrift  ein  Aufhören  der 
Prozesse.  Dazu  saß  der  Wahn  viel  zu  tief  und  hatte  zu  viele 
Anhänger,  die  aus  seinem  Fortleben  klingenden  Vorteil  zogen. 
Aber  ganz  ohne  Erfolg  blieb  die  Cautio  criminalis  doch  nicht. 
Manche  bisherige  Begünstiger  der  Hexenverfolgungen,  nament- 
lich unter  den  Fürsten,  wurden  durch  die  schweren  Anklagen  des 
Buches  nachdenklich  und  drängten  auf  Einschränkung  der  Prozesse, 
einige  wenige  ließen  sie  sogar  gänzlich  einstellen.  Unabhängig 
vom  Erfolg  aber  bleibt  die  Bedeutung  der  Cautio  criminalis;  sie 
ist  eines  der  verdienstvollsten  Bücher,  die  in  Deutschland  geschrie- 
ben worden  sind,  und  ihr  Verfasser  hat  sich  einen  Platz  unter 
den  größten  Wohltätern  der  Menschheit  erworben. 

Bald  nach  dem  Erscheinen  der  Cautio  criminalis  kam  Spee 
nach  Köln;  er  sollte  hier  aufs  neue  die  Professur  für  Moral- 
theologie übernehmen,  von  der  man  ihn  in  Paderborn  so  eilig 
enthoben  hatte.  Aber  neue  Klagen  wurden  gegen  ihn  laut,  und 
zwar  vermutlich  von  solchen,  denen  sein  mannhaftes  Auftreten 
gegen  den  Hexenwahn  ein  Ärgernis  war.  Der  Ordensgeneral  dachte 
daher,  wie  bereits  erwähnt  wurde,  an  eine  Entlassung  des  Pater 
Spee  aus  dem  Orden  oder  an  einen  freiwilligen  Austritt.  Aber 
noch  ehe  es  hierüber  zu  einer  Entscheidung  kam,  änderte  sich 
die  Ansicht  der  Oberen  über  Spee  zum  Besseren.  Seit  dieser  Zeit 
konnte  er  sich  unbehelligt  seiner  Lehrtätigkeit  widmen.  Sie  bot 
ihm  Gelegenheit,  auch  seiner  Ansicht  über  das  Hexenwesen  unter 
den  jungen  Theologen  Verbreitung  zu  verschaffen,  was  ihm  mit 
um  so  größerem  Erfolge  gelang,  als  seine  Schüler  mit  Liebe  und 

118 


Verehrung  zu  ihrem  edlen,  mildgesinnten  Lehrer  aufsahen.  Einer 
seiner  Schüler,  P.  Hermann  Busenbaum,  hat  später  die  Vorlesungen 
Spees  bei  der  Ausarbeitung  seiner  berühmt  gewordenen  ,,Medulla 
theologiae  moralis"  benutzt,  was  er  mit  warmem  Dank  gegen  seinen 
trefflichen  Lehrer  im  Vorwort  des  Werkes  hervorhebt.  Daß  Spee 
neben  seiner  Lehrtätigkeit  auch  noch  eine  eifrige  Wirksamkeit  als 
Seelsorger  entfaltete,  braucht  wohl  kaum  besonders  erwähnt  zu 
werden;  die  Geschichte  weiß  uns  davon  rührende  Beispiele  zu 
erzählen.  Nur  zwei  Jahre  dauerte  Spees  Tätigkeit  in  Köln.  Im 
Jahre  1633  finden  wir  ihn  wieder  in  Trier,  und  zwar  ebenfalls  als 
Professor  der  Moraltheologie  und  als  Beichtvater.  In  Trier,  wo  er 
sein  Ordensleben  begonnen  hatte,  sollte  er  es  auch  beschließen. 
Der  damalige  Kurfürst  von  Trier,  Philipp  Christoph  von  Söteren, 
hatte  sich  ganz  in  die  Hände  der  Franzosen  gegeben,  ihnen  sein 
Land  und  seine  Festungen  ausgeliefert  und  den  französischen 
Kardinal  Richelieu  zu  seinem  Koadjutor  und  Nachfolger  auf  dem 
bischöflichen  Stuhle  ernannt.  Die  Jesuiten,  die  treu  zum  Kaiser 
hielten,  entgingen  nur  mit  Not  der  Landesverweisung;  aber  ihre 
Schulen  wurden  geschlossen  und  ihre  Niederlassungen  gebrand- 
schatzt. Indessen  schon  nahten  die  kaiserlichen  Truppen  zur  Be- 
strafung des  ungetreuen  Reichsfürsten.  In  der  Nacht  zum  26.  März 
1635  drangen  sie  in  die  Stadt  ein,  in  deren  Straßen  sich  alsbald  im 
Dunkel  der  Nacht  ein  wütender  Kampf  entspann.  Der  edle  Spee 
war  beim  Beginn  des  Gemetzels  sofort  herbeigeeilt  und  hatte  sich 
mitten  unter  die  Kämpfenden  gemischt.  Die  Verwundeten  trug  er 
aus  dem  Gewühl,  wusch  und  verband  ihre  Wunden  und  spendete 
den  Sterbenden  den  letzten  geistlichen  Trost.  Als  der  Kampf  am 
Morgen  sein  Ende  fand,  waren  500  Franzosen  getötet,  die  übrigen 
mit  dem  französischen  Obersten  und  dem  Kurfürsten  gefangen 
genommen.  Spee  verwendete  sich  für  die  Gefangenen  beim  kaiser- 
lichen Befehlshaber,  bettelte  für  sie  Kleider  und  Almosen  zusammen 
und  erwirkte  ihre  Entlassung  in  die  Heimat.  Da  brach  in  der 
Stadt  ein  pestartiges  Fieber  aus.  Unermüdlich  war  nun  Spee  in 
den  Spitälern  tätig,  pflegte  und  tröstete  die  Kranken,  schleppte 
ihnen  Speise  und  frisches  Wasser  aus  dem  Stadtbrunnen  herbei 
und  bereitete  die  Sterbenden  zum  Tode  vor.  Aber  die  übermensch- 
lichen fortwährenden  Anstrengungen  hatten  seinen  Körper  so  ge- 
schwächt, daß  er  selber  von  der  Krankheit  ergriffen  wurde.  Am 
7.  August  1635  nachmittags  1  Uhr  verschied  er  sanft  und  gott- 
ergeben. In  der  Gruft  der  ehemaligen  Jesuitenkirche  wurde  er  bei- 
gesetzt; auf  dem  Sarge,  der  seine  sterblichen  Überreste  umschließt, 

119 


steht  die  einfache  Inschrift:  ,,Hic  iacet  Fridericus  Spe."  Im  Jahre 
1907  ist  ihm  in  der  Jesuitenkirche  von  späten  Verehrern  ein  würdiges 
Denkmal  gesetzt  worden.  Das  einzige  Bildnis,  das  uns  von  Spee 
erhalten  ist,  befindet  sich  im  Besitz  des  Marzellengymnasiums;  es 
hing  in  der  Aula  des  alten  Gebäudes.  Fortan  wird  es  auch  in  der 
Aula  des  neuen  Heims  einen  ehrenvollen  Platz  finden,  wie  es  dem 
edlen  Manne  gebührt,  dessen  fleckenloses  und  heiligmäßiges  Leben 
sich  verzehrt  hat  im  Dienste  reinster  Gottes-  und  Menschenliebe. 
Im  Jahre  1649,  also  vierzehn  Jahre  nach  Spees  Tode,  erschien 
in  Köln  bei  Wilhelm  Friessem  ein  Büchlein  ,, Trutz  Nachtigal,  oder 
Geistlichs-Poetisch  Lust-Wäldlein,  deßgleichen  noch  nie  zuvor  in 
Teutscher  sprach  gesehen.  Durch  den  Ehrw.  P.  Fridericum  Spee, 
Priestern  der  Gesellschaft  Jesu.  Jetzo,  nach  vieler  wünsch  und 
langem  anhalten,  zum  erstenmahl  in  Truck  verfertiget."  Das  Büch- 
lein bildet  eine  merkwürdige  Erscheinung  in  der  gleichzeitigen 
Literatur.  Was  es  ,,trutz  allen  Nachtigallen  süß  und  lieblich  singet", 
kommt  aus  einer  reinen,  vom  Glück  innigster  Gottesliebe  erfüllten 
Seele,  die  in  der  Natur  allenthalben  die  Größe  und  Güte  des 
Schöpfers  bewundert.  Das  Büchlein  enthält  nur  geistliche  Gedichte: 
,,dann  je  anders  nichts  allhie  gesucht  noch  begehrt  wird,  als  daß  Gott 
auch  in  teutscher  Sprach  seine  Poeten  hätte,  die  sein  Lob  und 
Namen  ebenso  künstlich,  als  andere  in  ihren  Sprachen  singen  und 
verkünden  könnten".  Bei  Tag  und  Nacht  beschäftigen  den  Dichter 
die  Großtaten  des  Schöpfers;  er  findet  und  bewundert  sie  in  der 
kleinsten  Blume,  in  der  Stille  des  Waldes,  im  Brausen  des  Meeres, 
im  Gesang  der  Vögel,  im  Treiben  der  geschäftigen  Bienen  wie 
in  den  gewaltigen  Wunderwerken  des  gestirnten  Himmels.  Gerade 
dieses  innige  Sichversenken  in  die  Natur  hebt  die  Gedichte  Spees 
weit  heraus  aus  der  Literatur  seiner  Zeit.  So  hatte  vor  ihm  noch 
keiner  gesungen;  und  es  quillt  ihm  alles  aus  einem  übervollen 
Herzen,  das  nicht  lange  nach  Worten  zu  suchen  braucht,  um  seinen 
Gefühlen  Ausdruck  zu  verleihen.  Mit  überlegener  Meisterschaft 
handhabt  Spee  die  Sprache,  ungezwungen  fließt  ihm  der  Reim, 
und  zwar  in  solcher  Fülle,  daß  er  sich  oft  kaum  genug  darin  tun 
kann.  So  haben  seine  Gedichte  für  ihre  Zeit  etwas  ungemein 
Frisches  und  Anziehendes.  Gewiß  ist  für  den  heutigen  Leser 
manches  Tändelnde  und  Spielende,  manches  Weichliche  und  Süß- 
liche nicht  mehr  recht  genießbar;  das  sind  Dinge,  die  aus  dem 
Geiste  der  Zeit  heraus  beurteilt  werden  müssen.  Wer  aber  an 
Spee  herantritt  vom  Standpunkte  des  Literarhistorikers,  dem  einzigen 
Standpunkt,  der  zu  einer  gerechten  Beurteilung  des  Dichters  führen 

12D 


kann,  der  findet  in  seinem  Büchlein  so  viel  Schönes  und  Erfreuliches, 
daß  darüber  die  kleinen,  in  der  Zeitrichtung  begründeten  Mängel 
zurücktreten.  Besondere  Hervorhebung  verdient  die  metrische  Form 
der  Gedichte.  Es  muß  als  ausgemacht  gelten,  daß  Spee  ganz 
unabhängig  von  seinem  Zeitgenossen  Opitz  zu  dem  neuen  Be- 
tonungsgesetz gelangt  ist,  das  noch  heute  in  der  deutschen  Poesie 
Geltung  hat  und  um  dessen  Erfindung  Opitz  soviel  gepriesen 
worden  ist:  die  regelmäßige  Abwechslung  zwischen  betonten  und 
unbetonten  Silben.  In  der  Vorrede  zur  Trutz-Nachtigall  hat  Spee 
dieses  neue  metrische  Gesetz  knapp  und  klar  entwickelt.  Über  die 
Entstehungszeit  der  Gedichte  Spees  sind  wir  nicht  unterrichtet; 
manche  mag  er  wohl  der  Ruhe  und  Muße  in  dem  idyllischen 
Falkenhagen  verdanken,  als  er  dort  zur  Erholung  von  seinen 
Wunden  weilte.  Andere  gehen  aber  sicherlich  schon  auf  viel  frühere 
Jahre  zurück,  in  denen  eine  Beeinflussung  durch  Opitz  noch  gar 
nicht  möglich  war.  Aus  innerstem  Drang,  ganz  aus  sich  selbst 
heraus  ist  Spee  zum  Dichter  geworden.  Am  Gymnasium  seiner 
Zeit  hatte  weder  die  deutsche  Sprache  noch  die  deutsche  Literatur 
eine  Stätte,  so  daß  ihm  von  dort  eine  Anregung  zu  dichterischem 
Schaffen  nicht  gekommen  sein  kann.  Wir  haben  von  Spees  Trutz- 
Nachtigall  zwei  Handschriften,  die  vom  Dichter  selbst  geschrieben 
sind:  eine  in  Straßburg  und  eine  in  Trier.  Die  Trierer  Handschrift 
war  offenbar  zum  Druck  bestimmt;  aber  der  frühe  Tod  des  Dichters 
verhinderte  die  Ausführung  des  Planes.  Spees  Beichtkind  Wilhelm 
Friessem  in  Köln  hat  dann  das  Werk  nach  einer  Abschrift,  deren 
mehrere  in  den  Händen  von  Freunden  und  Verehrern  des  frommen 
Dichters  waren,  zum  Druck  befördert.  Neue  Auflagen  des  Büchleins 
erschienen  in  Köln  bei  Friessem  in  den  Jahren  1656,  1660,  1664, 
1672,  1683  und  1709.  Auch  ins  Lateinische  und  Böhmische  wurde 
es  übersetzt.  Hundert  Jahre  lang  blieb  dann  die  Trutz-Nachtigall 
vergessen;  die  Zeit  des  Rationalismus  hatte  für  Spee  kein  Ver- 
ständnis. Erst  die  Romantik  brachte  ihn  wieder  zu  Ehren.  Im 
Laufe  des  19.  Jahrhunderts  erschienen  zahlreiche  Neuausgaben 
der  Trutz-Nachtigall,  meistens  Erneuerungen  und  Umarbeitungen, 
die  den  Gedichten  viel  von  ihrem  ursprünglichen  Reize  nahmen. 
Eine  solche  umgearbeitete  Ausgabe  veranstaltete  auch  Wilhelm 
Smets;  sie  erschien  ein  Jahr  nach  seinem  Tode  unter  dem  Titel 
„Fromme  Lieder  von  Friedrich  Spee"  1849. 

In  demselben  Jahre  1649,  in  dem  die  Trutz-Nachtigall  erschien, 
beförderte  Wilhelm  Friessem  in  Köln  noch  ein  zweites  Werk  von 
Spee  zum  Drucke:  „Güldenes  Tugend-Buch,  das  ist,  Werck  und 

121 


Übung  der  dreyen  Göttlichen  Tugenden,  des  Glaubens,  Hoffnung 
und  Liebe.  Allen  Gottliebenden,  andächtigen,  frommen  Seelen:  und 
sonderlich  den  Kloster-  und  anderen  Geistlichen  Personen  sehr 
nützlich  zu  gebrauchen,  durch  den  Ehrw.  P.  Fridericum  Spee, 
Priestern  der  Gesellschaft  Jesu."  Das  Güldene  Tugendbuch  ist  ein 
Erbauungsbuch  in  Prosa  mit  eingestreuten  Gedichten,  von  denen 
manche  auch  in  der  Trutz-Nachtigall  sich  finden.  Entstanden  ist 
es  in  der  Zeit  des  Kölner  Aufenthaltes  1631 — 1633.  Es  gehört 
zu  den  schönsten  und  innigsten  Werken  dieser  Art,  die  in  Deutsch- 
land geschrieben  worden  sind.  Freilich  muß  es  noch  viel  mehr 
aus  seiner  Zeit  heraus  beurteilt  werden  als  die  Trutz-Nachtigall; 
denn  manche  allzu  naive  und  süßlich  tändelnde  Ausführungen 
vermögen  beim  heutigen  Leser  nur  ein  Lächeln  zu  erregen.  Aber 
kein  geringerer  als  Leibniz  verehrte  und  schätzte  gerade  dieses 
Werk  des  frommen  P.  Spee;  er  nennt  es  „eines  der  solidesten 
und  rührendsten  Andachtsbücher,  die  ich  jemals  gesehen  habe". 
Das  Güldene  Tugendbuch  ist  in  noch  höherem  Grade  als  die  Trutz- 
Nachtigall  das  Zeugnis  einer  kindlich  reinen  Seele;  es  gibt  uns 
am  meisten  ein  Bild  von  des  Verfassers  eigner  Geistesrichtung. 
Da  ist  alles  so  voll  treuherziger  Innigkeit  und  ergreifender  Ein- 
dringlichkeit, daß  selbst  derjenige  daran  Gefallen  finden  kann,  der 
sich  sonst  mit  dem  Inhalte  nicht  zu  befreunden  vermag.  Was  aber 
besonders  an  dem  Buche  hervorgehoben  werden  muß,  das  ist  der 
meisterhafte  und  bewundernswerte  Stil,  in  dem  es  geschrieben  ist, 
an  dem  nicht  nur  die  klare  und  faßliche  Art  der  Darstellung,  die 
anschaulichen  und  trefflichen  Vergleiche  und  Bilder  zu  loben  sind, 
sondern  auch  die  prächtige  Sprache,  deren  Wohllaut  und  Fluß  in 
gleichzeitigen  Schriften  kaum  ihresgleichen  finden  dürfte.  Neue 
Auflagen  erlebte  das  Güldene  Tugendbuch  in  den  Jahren  1656, 
1666,  1688  und  1749.  Bei  dem  treuherzigen  Inhalt,  der  das  Buch 
auszeichnet,  ist  es  nicht  zu  verwundern,  daß  auch  verschiedene 
Neubearbeitungen  im  19.  Jahrhundert  noch  manche  dankbare  Leser 
gefunden  haben. 


122 


Paulus  Aler. 

Von  Prof.  Dr.  Alfons  Fritz  in  Aachen. 

Im  Bereiche  der  niederrheinischen  Jesuitenprovinz  haben  zwei 
Jesuiten  namens  Aler,  beide  aus  dem  freundlichen  Eifelstädtchen 
St.  Vith  stammend,  eine  bedeutsame  Stellung  eingenommen: 
Paul  geb.  am  9.  November  1656,  Peter  geb.  am  11.  April  1685. 
Die  Gemeinsamkeit  des  Familiennamens  und  des  Heimatortes  läßt 
verwandtschaftliche  Beziehungen  vermuten  und  hat  früher  sogar  eine 
Verwechslung  beider  Persönlichkeiten  veranlaßt.  Über  das  bis  jetzt 
unbekannte  Verhältnis,  in  dem  sie  zueinander  standen,  klärt  uns 
der  ältere  im  Tagebuch  des  Gymnasiums  zu  den  drei  Kronen  unter 
dem  29.  Juni  1711,  als  Peter  Aler  und  Kaspar  Gilson  in  der  Kölner 
Jesuitenkirche  ihre  Primiz  feierten,  dahin  auf,  daß  der  eine  ein 
Sohn  seines  Bruders,  der  andere  ein  Sohn  seiner  Schwester  sei. 
Als  Lehrer  haben  beide  Aler  segensreich  gewirkt,  als  Schrift- 
steller nur  der  ältere.  Daher  finden  wir  auch  nur  über  ihn  in 
dem  alten  Schriftstellerlexikon  des  Jesuiten  Joseph  Hartzheim 
(Bibliotheca  Coloniensis,  Köln  1747)  einige  Bemerkungen,  die 
seinen  Entwicklungsgang  veranschaulichen  und  beweisen,  daß 
Paul  Aler  in  Köln  seine  zweite  Heimat  gewann.  Denn  er,  der 
später  mehr  als  30  Jahre  am  Gymnasium  zu  den  drei  Kronen  tätig 
war,  darunter  23  Jahre  in  der  Regentschaft,  empfing  hier  auch 
seine  humanistische  Bildung  und  wurde  hier  im  Jahre  1676  unter 
dem  Lehrer  der  Philosophie  Adolf  Neißen  zum  Grade  eines 
Magisters  befördert.  Der  Eintritt  in  den  Jesuitenorden  am  6.  No- 
vember desselben  Jahres  entfernte  ihn  nur  für  kurze  Zeit  und 
führte  ihn  nach  Trier,  wo  das  Novizenhaus  der  Provinz  sich  be- 
fand. An  das  Noviziat  schloß  sich,  wie  bei  den  Jesuiten  üblich, 
die  Lehrtätigkeit  in  den  fünf  niederen  Schulen,  die  nach  der  fort- 
schreitenden Einführung  in  die  lateinische  Sprache  als  Infima, 
Secunda,  Suprema  (Syntaxis)  Grammatices  classis,  als  Poesis 
(Humanitas)  und  als  Rhetorica  bezeichnet  wurden.  Der  hier  u.  a. 
gepflegten  Kunst,  „leicht  und  geschmackvoll  lateinische  Gedichte 
jeder  Art  zu  verfassen",  diente  seine  1683  in  Köln  bei  P.  Th.  Hilden 
erstmalig  verlegte  Praxis  poetica,  ein  in  vier  weiteren  Auflagen 
erschienenes  Lehrbuch,  dem  er  als  Proben  eigenen  poetischen 
Schaffens  in  den  folgenden  Jahren  lateinische  Gelegenheits- 
gedichte zu  Ehren  des  wittelsbachisch-bayrischen  Hauses  und 
besonders  des  aus  ihm  hervorgegangenen  Kurfürsten  Maximilian 

123 


Heinrich  von  Köln  folgen  ließ.  Ähnlich  erinnern  an  die  nach- 
folgende Lehrtätigkeit  in  der  Philosophie  am  Kölner  Jesuitengym- 
nasium die  im  Januar  1692  von  Alers  Schülern  öffentlich  verteidigten 
Conclusiones  ex  universa  philosophia. 

Zu  jener  Zeit  versah  Aler  aber  schon  ein  weiteres,  wichtigeres 
Amt,  durch  das  ihm,  wenn  auch  zuerst  noch  nicht  in  vollem 
Umfange,  die  Leitung  des  Dreikronen-Gymnasiums  anvertraut  war. 
Über  diese  eine  Seite  seiner  umfangreichen  Tätigkeit  möchte  vor- 
liegender Aufsatz  neues  Licht  verbreiten.  Sie  ist  für  den  in  unserer 
Festschrift  eröffneten  Rückblick  auf  die  Vergangenheit  des  Gym- 
nasiums jedenfalls  die  wichtigste. 

Die  notwendigsten  chronologischen  Angaben,  teils  einer  Apo- 
logie Alers  (1711),  teils  dem  Tagebuche  der  Anstalt  entnommen, 
seien  vorausgeschickt.  Am  25.  April  1690  wurde  Aler  Subregens 
des  Gymnasiums.  Nachdem  der  bisherige  Regens  Henricus  Cuperus 
am  21.  November  1702  gestorben  war,  verwaltete  er,  wenigstens 
seit  dem  14.  Februar  1703,  auch  das  Amt  eines  Regenten;  die  förm- 
liche Ernennung  teilte  ihm  sein  Rektor  erst  am  2.  März  d.  J.  mit. 
Die  Überlastung  mit  beiden  Ämtern  dauerte  bis  zum  17.  Juli  1709, 
als  Aegidius  Parent  Subregent  wurde,  aber  die  Erleichterung  in 
den  Berufsgeschäften  hielt  nicht  lange  an.  Am  9.  Januar  1710 
übernahm  Aler  im  Nebenamte  noch  die  Leitung  des  Xaverianischen 
Konvikts.  Am  20.  April  1713  wurde  er  von  Köln  nach  Trier  und 
damit  von  seiner  langjährigen  Regentschaft  abberufen. 

Die  Titel  eines  Regenten  und  Subregenten  deuten  die  ent- 
sprechende Tätigkeit  und  Stellung  im  allgemeinen  genügend  an, 
legitimieren  aber  nicht  ihren  Träger  innerhalb  der  Ordenshierarchie 
und  sind  der  Studienordnung  der  Jesuiten  fremd.  Während  bei 
den  anderen  Gymnasien  des  Ordens  der  Mann,  der  unter  der  Ober- 
leitung des  Rektors  —  in  diesem  gipfelte  schließlich  jede  Art  der 
Tätigkeit  eines  Jesuitenkollegs  —  die  Schulverwaltung  versah, 
Studienpräfekt  genannt  wurde,  hieß  er  in  Köln  in  Anlehnung  an 
die  Amtsbezeichnung  der  Leiter  des  Montaner-  und  des  Lauren- 
tianergymnasiums  und  entsprechend  der  Tradition  der  Dreikronen- 
Burse,  welche  die  Jesuiten  seinerzeit  übernommen  hatten,  Regent, 
und  da  bei  ausgedehnten  Schulen  die  Studienordnung  der  Jesuiten 
einen  zweiten  Präfekten  für  die  niederen  Klassen  zuließ,  der  dem 
ersten  unterstellt  war,  so  ergab  sich  für  Köln,  welches  die  größte 
Jesuitenschule  der  Provinz  besaß,  von  selbst  sowohl  die  Notwendig- 
keit eines  zweiten  Präfekten  wie  seine  Bezeichnung  als  Subregent. 
Weil  dieses  Verhältnis,  besonders  außerhalb  Kölns,  nicht  klar  war, 

124 


ließ  sich  Aler  am  24.  August  1704  für  einen  in  Rom  anhängigen 
Prozeß  seitens  des  Rektors  Dham  und  zweier  anderen  Patres  das 
Zeugnis  ausstellen,  daß  derSubregens  des  Dreikronen-Gymnasiums 
nur  praefectus  studiorum  inferiorum  sei,  und  mit  Rücksicht  darauf, 
daß  er  1702/03  die  Regentschaft  angetreten  hatte,  bezeichnete  er 
sich  in  der  Ausgabe  des  Dictionarium  germanico-latinum  vom 
Jahre  1727  als  studiorum  viginti  quinque  annis  praefectus. 

Ein  Unterschied  in  seiner  Tätigkeit  als  Subregent  und  Regent 
läßt  sich  heute  nicht  mehr  nachweisen.  Es  scheint  vielmehr,  daß 
Aler  bereits  als  Subregent  die  Seele  der  Schulverwaltung  war  und 
später  als  Regent  sich  durch  den  ihm  schließlich  beigegebenen 
Gehilfen  wenig  entlasten  ließ.  In  der  Apologie  des  Jahres  1711 
übernimmt  er  die  Verantwortung  für  die  Schule  seit  dem  Jahre 
1690,  also  seit  dem  Beginn  der  Subregentschaft.  Er  verrichtet 
die  Obliegenheiten,  die  an  anderen  Orten  für  den  Studienpräfekten 
charakteristisch  sind.  Er  teilt  beim  Anfang  des  Schuljahres  (Anfang 
November  bis  Ende  September)  den  Ascensus  mit,  liest  am  Er- 
öffnungstage der  Studien  das  feierliche  Hochamt,  schickt  die  Zettel 
mit  seinen  Anordnungen  durch  die  Klassen  usw.  Die  anderswo 
dem  Studienpräfekten  obliegende  Führung  der  Tagebücher  hat  er, 
soweit  sie  überhaupt  für  seine  Zeit  vorhanden  sind  (1692-1712), 
selbst  besorgt,  wie  schon  die  charakteristische  Handschrift  zeigt. 
Er  schien  zum  Regenten  wie  geschaffen.  Schon  als  Knabe,  berichtet 
Hartzheim,  übernahm  er  unter  den  Mitschülern  des  Tricoronatum, 
dem  Cyrus  ähnlich,  die  ihm  freiwillig  übertragene  Herrschaft. 

Eine  willensstarke  Persönlichkeit  als  Leiter  tat  den  damaligen 
Gymnasien  noch  mehr  not  als  den  heutigen,  weil  die  Auflösung 
der  staatlichen  Ordnung  sich  in  Disziplinlosigkeiten  und  Gewalt- 
akten widerspiegelte,  wie  sie  bei  unserer  studierenden  Jugend  nicht 
mehr  möglich  wären.  Zwar  werden  auch  jetzt  noch  gelegentlich  zur 
Verewigung  des  eigenen  oder  anderer  teueren  Namen  neue  Schul- 
bänke mit  Messern  bearbeitet,  wogegen  Aler  am  28.  April  1706 
in  der  Logikklasse  mit  Geldstrafen  von  einem  Reichstaler  einschritt, 
und  verhältnismäßig  harmlos  mag  noch  das  Vergnügen  der  Schüler 
der  verschiedenen  Gymnasien  gewesen  sein,  sich  gegenseitig  Hüte 
und  Mäntel  abzureißen  und  als  Beute  fortzutragen,  wozu  der  da- 
malige Leiter  des  Xaverianischen  Konvikts  die  unschuldige  Ver- 
anlassung gab,  als  er  die  für  die  Studenten  charakteristischen 
Erkennungszeichen  einem  Montaner  abnahm  (Dezember  1702). 
Aber  wenn  die  Eifersucht  der  Gymnasien  aufeinander  zu  blutigen 
Straßenkämpfen  und  zu  Beschädigungen  der  Anstaltsgebäude  führte 

125 


oder  jugendlicher  Übermut  zu  Kämpfen  auf  Leben  und  Tod  mit 
den  Stadtsoldaten  verlockte,  so  sind  das  doch  für  uns  ungewohnte 
Erscheinungen.  Merkwürdig  ist  es,  daß  selbst  die  Betätigung 
religiöser  Gesinnung  bei  den  sogenannten  Römerfahrten  statt  zu 
friedlichem  Einverständnis  in  der  Regel  zu  blutigen  Streitigkeiten 
Veranlassung  gab  und  daß  bei  der  fröhlichen  Nikolausbescherung 
die  Jugend  aufgeregt  auf  die  Straße  lief  und  Händel  suchte. 
Wenn  Aler  auch  alle  Kämpfe  energisch  zu  hindern  suchte,  so  war 
ihm  doch  die  Sitte  nicht  recht,  die  sich  im  Jahre  1708  einbürgerte, 
daß  die  Trikoronaten  am  Nikolausfeste  sich  mit  den  Montanem 
und  Laurentianern  zu  einem  Trünke  einluden.  Am  13.  März  1708 
bedurfte  es  der  besonderen  Energie  Alers,  um  Ausschreitungen 
zu  verhindern,  die  den  städtischen  Magistrat  mit  dem  Könige  von 
Preußen  und  somit  die  Schule  mit  dem  Magistrate  in  Konflikt 
zu  bringen  drohten.  Wie  in  den  konfessionell  abgeschlossenen 
Reichsstädten  des  katholischen  Westens  noch  während  des  18.  Jahr- 
hunderts wiederholt  sich  gezeigt  hat,  reizte  die  ungewohnte  Er- 
scheinung des  Protestantismus  die  Studenten  leicht  zu  GewaU- 
tätigkeiten.  So  waren  denn  auch  nach  Alers  Schilderung  am 
Morgen  dieses  Tages  in  der  Stadt  Zettel  angeschlagen,  in  denen 
alle  Studenten  der  drei  Gymnasien  aufgefordert  wurden,  in  dem 
vom  preußischen  Könige  gekauften  Hause  in  der  St.  Johannis- 
straße  den  vom  preußischen  Residenten  von  Diest  trotz  wieder- 
holter Warnung  abgehaltenen  akatholischen  Gottesdienst  zu  stören. 
Durch  Änderung  des  schulfreien  Tages  und  strenges  Verbot  erreichte 
es  Aler,  daß  kein  Schüler  seines  Gymnasiums  sich  an  den  Unruhen 
beteiligte  und  diese  vom  städtischen  Militär  leicht  unterdrückt 
werden  konnten.  Es  ist  anzunehmen,  wenn  auch  Aler  es  nicht 
angibt,  daß,  als  am  30.  April  wiederum  die  Zettel  erschienen,  um 
10  Uhr  die  Fenster  am  Hause  des  Residenten  eingeschlagen  wurden 
und  das  preußische  Wappen,  vielleicht  durch  das  Ungestüm  der 
Verteidiger,  auf  die  Straße  fiel,  die  Trikoronaten  unbeteiligt  waren. 
Trotz  aller  Strenge  liebte  Aler  seine  Schüler  überaus,  und 
sein  Herz  empörte  sich,  wenn  er  sie  ungerecht  bestraft  glaubte. 
Im  November  und  Dezember  1705  waren  die  Streitigkeiten  der 
Trikoronaten  mit  den  Laurentianern  und  Montanem  besonders 
heftig,  und  während  einer  Reise  Alers  nach  Düsseldorf  ging  man 
sich  mit  Steinen  und  Feuerwaffen  zu  Leibe.  Darauf  wurden  am 
Tricoronatum  einige  Schüler  der  niederen  Klassen  mit  Ruten  ge- 
züchtigt. ,, Trotzdem,"  bemerkt  Aler  im  Tagebuch,  „wurden  die 
Händel  nicht  beigelegt,  was  leicht  hätte  erreicht  werden  können; 

126 


denn,  wenn  die  Unsern  bestraft  werden,  die  immer  von  den 
anderen  angegriffen  werden,  die  Laurentianer  und  Montaner 
dagegen,  die  immer  die  Angreifer  sind,  nicht  ebenso,  so  werden 
die  Unsern  erbittert  und  verteidigen  sich  um  so  mehr.  Wäre  ich 
zugegen  gewesen,  so  hätte  ich  die  Bestrafung  der  Unsern  nicht 
geduldet,  wenn  nicht  zugleich  und  zur  selben  Zeit  einige  von  den 
Laurentianern  und  Montanem  bestraft  worden  wären.  Das  hat 
aber  der  Rektor  Dham  getan."  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß 
hier  eine  gewisse  Voreingenommenheit  für  seine  Anstalt  und 
seine  Schüler  hervortritt.  Sie  verleitet  ihn  auch  bei  andern  Gelegen- 
heiten zu  einseitigen  Urteilen,  besonders  am  Anfang  des  Schul- 
jahres, wenn  der  von  den  Schülern  nicht  selten  vorgenommene 
Wechsel  der  Anstalt  die  gegenseitige  Eifersucht  der  Gymnasien 
weckte.  Die  Rhetoren,  die  zur  Logik  des  Laurentianergymnasiums 
übertreten,  sind  in  seinen  Augen  nichts  wert,  aber  rühmenswert 
die  Schüler,  die  sich  zum  Tricoronatum  gemeldet  haben  (No- 
vember 1707).  Bei  ihm  steht  es  fest,  ,,daß  niemals  einer  vom 
Tricoronatum  weggeht,  weil  er  bei  den  anderen  die  Disziplin,  den 
Unterricht  und  die  religiöse  Erziehung  für  besser  hält,  sondern 
nur  wegen  der  Freiheit,  die  er  anderswo  genießt"  (November  1705). 
Über  die  Aufführungen,  welche  die  Laurentianer  an  drei  Tagen 
des  September  veranstalteten,  hat  er  stets  nur  Worte  tiefster  Vei- 
achtung,  während  er  die  gleichzeitigen  der  eigenen  Anstalt  mit 
Lobsprüchen  bedenkt.  Peinliche  Vorfälle  an  den  anderen  Gym- 
nasien, im  besonderen  Zusammenstöße  mit  Stadtsoldaten,  ver- 
säumt er  nicht  im  Tagebuch  des  Gymnasiums  zu  berichten,  wenn 
sie  auch  zu  diesem  keine  Beziehung  haben. 

Es  fällt  ihm  eben  schwer,  den  anderen  Gymnasien  gerecht  zu 
werden,  aber  der  Grund  zu  dieser  Abneigung  liegt  nicht  bloß 
in  den  andauernden  Streitigkeiten  der  Kölner  Lehranstalten,  son- 
dern vor  allem,  und  das  ist  das  Versöhnliche,  in  der  übergroßen 
Liebe  zu  der  ihm  anvertrauten  Schule.  Wie  freut  er  sich,  wenn 
er  von  früheren  Schülern  Rühmliches  berichten  oder  ihnen  Vor- 
teile, z.  B.  Präbenden  verschaffen  kann!  Und  wenn  er  auch  auf 
adelige  Schüler  stolz  ist,  weil  sie  seiner  Anstalt  Ansehen  und 
Glanz  verleihen,  so  liegen  ihm  doch  die  armen  besonders  am 
Herzen.  An  ihnen  fehlte  es  gerade  dem  Tricoronatum  nicht.  Beim 
Examen  der  Logiker  z.  B.  im  Juni  1707  hatten  die  Montaner 
30  Reiche,  keinen  Armen,  die  Laurentianer  11  Reiche  und  3  Arme, 
die  Trikoronaten  22  Reiche  und  10  Arme.  Arme  Studenten 
wurden  nun  von  den  Magistraten  der  Reichsstädte  möglichst  ab- 

127 


geschoben,  weil  sie  den  Bürgern  keine  wirtschaftlichen  Vorteile 
brachten,  vielmehr  durch  ihr  Betteln  lästig  fielen.  Aber  Aler  ließ 
sich  durch  Maßregeln  des  Kölner  Magistrats,  z.  B.  eine  Aufforderung 
an  die  Regenten  der  Gymnasien,  ein  Verzeichnis  ihrer  armen 
Studenten  einzureichen  (1.  Juli  1707),  nicht  in  seiner  Fürsorge 
beirren,  getreu  dem  Geiste  seines  Ordens,  der  ja  bereits  im  16.  Jahr- 
hundert auf  die  Unentgeltlichkeit  des  Studiums  wie  überall,  so 
auch  in  Köln  hingewirkt  hatte.  Eine  besondere  Aufmerksamkeit 
schenkte  er  der  Vermehrung  der  Stiftungen,  die  einer  langen  Reihe 
von  Studentengenerationen  die  Studien  erleichtern  oder  ermög- 
lichen sollten.  Ihnen  galten  die  zahlreichen  Reisen  durch  die 
Provinz,  besonders  in  den  Jahren  1704  und  1705.  War  auch  kein 
Monat  der  eigentlichen  Studienzeit  von  ihnen  freizuhalten,  so  be- 
nutzte der  unermüdliche  Mann  doch  mit  Vorliebe  für  sie  den 
Ferienmonat,  den  Oktober.  Während  dann  die  Professoren  in 
Rheindorf  ihrer  Erholung  lebten,  brach  er  meist  schon  nach  einigen 
Tagen   den    dortigen  AufenthaU   ab   und  ergriff  den  Wanderstab. 

Nur  eine  Reise  ist  in  den  Tagebüchern  erwähnt,  bei  der  per- 
sönliches Interesse  angenommen  werden  kann.  Am  11.  No- 
vember 1701  verließ  Aler  mit  zwei  anderen  Patres  Moers  und 
Wyrich  das  Kölner  Kolleg,  um  in  Trier  die  theologische  Doktor- 
würde zu  erlangen.  Nach  der  ersten  Nachtruhe  in  Rheindorf  ging 
die  Reise  durch  die  Eifel,  und  zwar  in  Anbetracht  der  winterlichen 
Jahreszeit  ziemlich  rasch.  Nach  weiteren  Nachtlagern  in  Hönningen 
an  der  Ahr  und  Wittlich  kam  man  bereits  am  14.  gegen  3  Uhr 
nachmittags  in  Trier  an.  Am  15.  und  16.  fanden  die  Disputationen 
der  Reisegenossen  statt,  und  zwar  am  15.  nachmittags  die  Alers 
über  die  Inkarnation.  Am  17.  war  die  Promotio  baccalaureatus, 
am  21.  die  Promotio  licentiae,  am  24.  die  Promotio  doctoralis. 
Am  28.  ging  es  von  Trier  moselabwärts  nach  Coblenz,  das  am 
30.  erreicht  wurde.  Am  4.  Dezember  gegen  4  Uhr  langten  die 
Reisenden  wieder  in  Köln  an. 

Die  theologische  Doktorwürde  mag  Aler  zustatten  gekommen 
sein  für  die  theologische  Hausprofessur  (Moral),  die  er  in  den 
Jahren  1701  und  1702  auf  Büchertiteln  hervorhebt  und  für  das 
Schuljahr  1704/05  im  Tagebuch  anführt.  Daß  er  die  Würde  in 
Trier,  nicht  in  Köln  sich  verschaffte,  war  eine  Folge  seines  gespann- 
ten Verhältnisses  zur  Kölner  Universität,  das  bald  in  eine  Reihe 
von  Beleidigungsprozessen  (6)  auslief.  Die  Andeutungen  Hartz- 
heims über  die  unerquicklichen  Vorgänge  sind  irreführend,  aber 
auch  die  aus  Universitätskreisen  stammende  und  wahrscheinlich 

128 


vom  derzeitigen  Dekan  der  theologischen  Fakuhät  Peler  Haustnan, 
Pastor  in  St.  Kolumba,  veraniaßte  zusammenhängende  Darstellung 
ist  keineswegs  einwandfrei.  Sie  führt  den  Titel:  Vera  relatio  cum 
actis  pacificationis  super  diversis  causis  ac  litibus  a  patre  Aler 
S.  J.  contra  diversos  in  alma  universitate  Coloniensi  ab  anno  1701 
excitatis  et  finitis  anno  1708,  SO'""  Augusti.  Dieser  Darstellung 
zufolge  ging  der  Streit  von  Aler  aus,  der  sich  über  die  Komödien 
der  Laurentianer  lustig  machte  und  in  einem  1701  gedruckten 
Büchlein  Appendix  ad  praecepta  literarum  humaniorum  ihre  Pro- 
sodie  verspottete.  Als  die  Laurentianer  nun  in  einer  Schrift  Dica 
contra  dicacem  sich  zur  Wehr  setzten,  verbot  der  Rektor  der  Uni- 
versität Johannes  Forsbach,  um  Aufläufe  und  Zusammenstöße  der 
Studenten  zu  verhindern,  das  Erscheinen  weiterer  Streitschriften. 
Aler  veröffentlichte  trotzdem  eine  Replik  unter  dem  Titel  Appen- 
dix contra  dicam  etc.  und  überbrachte  sie  dem  Rektor  persönlich. 
Dieser,  der  darin  eine  Verhöhnung  sah,  warf  die  Schrift  ins 
Feuer  und  lud  wegen  Geringschätzung  seines  Dekrets  Aler  zur 
Verantwortung.  Aler  erschien  nicht  und  wurde  darauf  aus  der 
Universitätsmatrikel  gestrichen.  Da  der  verfügbare  Raum  es  hier 
nicht  zuläßt,  auf  die  von  Aler  angestrengten  Prozesse  ein- 
zugehen, so  sei  zur  Richtigstellung  obiger  Darstellung  nur  be- 
merkt, daß  die  Schrift  der  Laurentianer  voll  persönlicher  Belei- 
digungen war,  ferner  der  Rektor  der  Verbrennung  von  Alers  Re- 
plik einen  öffentlichen  Charakter  gab  und  gegen  Aler  auch  dann 
noch  mit  der  Streichung  aus  der  Universitätsmatrikel  vorging,  als 
dieser  bereits  gegen  des  Rektors  Handlungsweise  gerichtliche 
Berufung  eingelegt  hatte.  Kurz,  der  leidenschaftliche  Übereifer 
der  Gegner  bot  Aler  eine  ebenso  bequeme  Handhabe,  Prozesse 
gegen  sie  wie  gegen  andere  Universitätsmitglieder,  welche  die 
Auffassung  des  Rektors  teilten  oder  die  Partei  der  Laurentianer 
ergriffen,  anzustrengen,  als  ihre  Zerfahrenheit  und  Lässigkeit  ihm 
den  Sieg  an  den  Kölner  Gerichten  und,  soweit  die  Gegner  an 
die  Rota  appellierten,  auch  in  Rom  erleichterte.  Die  Früchte  seiner 
Siege  ließ  sich  Aler  durch  die  Vermittelungsvorschläge  des  Dekans 
Peter  Hausman  nicht  entreißen,  obgleich  es  diesem  unter  Über- 
nahme der  Prozeßkosten  gelang,  durch  den  Erlaß  des  päpstlichen 
Nuntius  Johann  Baptist  Bussi  in  Köln  vom  30.  August  1708  einen 
allgemeinen  Frieden  zu  bewirken  und  so  auch  den  letzten  Streit 
beizulegen,  der  nach  Alers  Auffassung  zugleich  der  erste  gewesen 
war;  er  betraf  eine  bösartige,  mit  Hilfe  des  Buchdruckers  Arnold 
Metternich  ausgeführte  Fälschung  des  Augustiner-Eremiten  Nikolaus 

9  129 


Girken  zum  Schaden  und  Schimpf  der  ganzen  Gesellschaft  Jesu. 
Suchen  wir  nach  dem  untersten  Grunde  der  unerquicklichen 
Streitigkeiten,  so  finden  wir  ihn  in  der  unnatürlichen  Stellung 
des  Jesuitengymnasiums  zur  Universität.  Während  die  Jesuiten- 
schulen anderswo,  nur  von  den  Oberen  des  Ordens  abhängig 
und  nach  den  Grundsätzen  seiner  Ratio  studiorum  verwaltet,  sich 
vollständiger  Unabhängigkeit  erfreuten,  hatte  der  Orden  in  Köln, 
um  in  den  schwierigen  Zeiten  des  16.  Jahrhunderts  festen  Fuß 
fassen  zu  können,  die  von  ihm  übernommene  Schule  im  Uni- 
versitätsverbande lassen  müssen,  was  den  Regenten  und  die  Lehrer 
zugleich  vom  Rector  Magnificus  und  den  Beschlüssen  der  Uni- 
versität abhängig  machte.  Als  einen  Teil  der  über  ein  Jahrhundert 
geführten  Kämpfe  zwischen  Universität  und  Jesuitenkolleg  sehen 
denn  auch  mit  Recht  die  Annuae  des  Jahres  1708  die  Prozesse 
an  und  geben  der  Freude  Ausdruck,  daß  es  unter  dem  Einfluß 
des  Sieges  dem  Jesuitenkolleg  gelungen  ist,  in  Bezug  auf  die 
theologischen  Vorlesungen  und  die  Stiftungen  eine  größere  Un- 
abhängigkeit von  der  Universität  zu  erlangen,  ohne  ein  Recht  an 
und  in  der  Universität  preiszugeben.  Den  Ruhm,  mit  der  eigenen 
Ehre  das  Ansehen  des  Ordens  gewahrt  und  dessen  Interessen 
vertreten  zu  haben,  durfte  Aler  sich  zuschreiben,  aber  in  den 
Kreisen  der  theologischen  und  philosophischen  Fakultät  hatte  er 
zugleich  den  Ruf  eines  masculus  litigiosus,  eines  streitsüchtigen 
Männleins,  erhalten. 

Dafür  gab  es  aber  andere  Kreise,  die  ihn  verehrten,  vor  allem 
die,  welche  ihn  als  Präses  der  lateinischen  Sodalität  oder  als 
Dichter  und  Leiter  des  Schultheaters  kennen  gelernt  hatten.  Da 
in  der  Sodalität  unter  dem  Titel  der  Virgo  Annunciata,  der  so- 
genannten lateinischen,  sich  die  Studenten  von  der  Logikklasse  auf- 
wärts mit  den  gelehrten  oder  vornehmen  Laien  der  Stadt,  an  einigen 
Orten  auch  mit  WeHgeistlichen,  zusammenfanden,  so  war  Präses 
gewöhnlich  der  Studienpräfekt.  Dem  entsprechend  ist  auch  die 
Kölner  Kongregation  gleichen  Namens  elf  Jahre  hindurch  bis  zum 
Dezember  1701,  also  vom  Beginn  der  Subregentschaft  an,  von 
Aler  geleitet  worden,  und  wenn  er  später  mit  Ausnahme  des 
Schuljahres  1706/07  sie  anderen  Patres  überließ,  so  lag  der  Grund 
wohl  in  Überhäufung  mit  anderer  Arbeit.  Die  Andachten  der  So- 
dalität besuchten  die  Honoratioren  der  Stadt  und  —  was  die  Ver- 
merke in  den  Tagebüchern  besonders  hervorheben  —  vor  allem 
die  Bürgermeister.  Aler  hat  sich  als  Präses  stets  der  eifrigen  Be- 
teiligung dieser  Herren  zu  erfreuen  gehabt  und  ihnen  am  8.  Sep- 

130 


tember  1698,  als  „fünf  Bürgermeister  (ein  sechster  war  verreist) 
und  andere  zahlreiche  und  hervorragende  Magistratspersonen  die 
Sodalität  besuchten",  durch  eine  Lobrede  auf  die  Stadt  Köln 
jedenfalls  eine  besondere  Freude  gemacht;  vielleicht  steht  hiermit 
die  Colonia  Agrippina,  herausgegeben  im  Jahre  1699,  die  er  den 
Bürgermeistern  und  dem  Vorstand  der  Sodalität  widmete,  in  Be- 
ziehung. Der  Gewohnheit  der  Jesuitenkollegien,  auch  außerhalb 
der  Sodalität  mit  den  Würdenträgern  der  Stadt  freundschaftlichen 
Verkehr  zu  pflegen,  entsprach  Aler,  wenn  er  im  Interesse  des 
Ordens  und  der  Schule  seine  Rednergabe  wie  sein  Dichtertalent 
in  den  Dienst  solcher  Verbindungen  stellte.  Fanden  sich  die 
Bürgermeister  im  Kolleg  ein,  was  regelmäßig  im  September  im 
Anschluß  an  die  von  der  Jesuitenkirche  nach  der  Kirche  Beatae 
Virginis  in  der  Kupfergasse  geleitete  Prozession  geschah,  und  ver- 
ehrten eine  kleine  Weinspende  (vinum  senatorium),  so  erwies  sich 
Aler  als  guter  Tischredner,  und  wie  die  Themata  seiner  erbau- 
lichen Sodalitätsreden,  so  können  wir  auch  die  seiner  launigen 
Tischreden  in  den  Tagebüchern  nachlesen.  Dem  am  31.  Juli  1711 
im  Refektorium  des  Kollegs  bewillkommneten  päpstlichen  Legaten 
Annibal  von  Albani  gefiel  Alers  Panegyris  so  gut,  daß  er  sich 
den  Text  ausbat  und  Aler  ihn  drucken  ließ.  Am  21.  Juli  1699 
erfreute  er  den  Bürgermeister  von  den  Hövel,  zu  dessen  Ehren 
der  Unterricht  ausfiel,  durch  ein  von  ihm  verfaßtes  Gratulations- 
gedicht. Trotzdem  vergab  er  seiner  Würde  nichts.  Als  der  Bürger- 
meister Beyweg  ihn  rufen  ließ  und  von  ihm  verlangte,  in  kürzester 
Frist  ein  Tischlied  zu  Ehren  eines  hohen  Magistratsgastes  zu  ver- 
fassen, lehnte  Aler  ab  und  empfahl  für  Tisch  Instrumentalmusik 
(17.  November  1705). 

Die  freundschaftliche  Beteiligung  der  Bürgermeister  zeichnete 
in  den  Augen  der  damaligen  Zeil  u.  a.  einen  Vorgang  aus,  der 
Alers  Gedächtnis  in  Köln  lange  erhalten  hat,  bei  der  Weihe  einer 
Marienstatue  im  Atrium  des  Gymnasiums.  Hartzheim  rechnet  sie 
wohl  mit  Recht  Aler  als  Verdienst  an,  verlegt  den  Vorgang  aber 
irrtümlich  ins  Jahr  1691.  Tatsächlich  wurde  nach  dem  Zeugnis  der 
Tagebücher  am  7.  Juli  1696  der  Grundstein  von  P.  Henricus  Cuperus 
Regens  und  P.  Paulus  Aler  Subregens  gelegt,  am  16.  August  die 
Säule  errichtet,  am  folgenden  Tage  die  Statue  aufgesetzt  und  am 
22.  August  die  Weihe  vollzogen.  Dem  Grundstein  waren  außer  den 
Namen  Jesus  und  Maria  und  dem  Kreuz  in  der  Mitte  zum  Gedächtnis 
an  den  Regenten  und  Subregenten  die  Initialen  P.  H.  C.  R.  und 
P.  P.  A.  S.  eingemeißelt.   Die  Weihe  schloß  sich  an  eine  feierliche 

9.  131 


Prozession  der  Schule  an,  an  der  fünf  Bürgermeister  als  Mitglieder 
der  Sodalitas  Annunciata  major  in  Mitte  eines  Ehrengefolges  von 
Stadtsoldaten  teilnahmen. 

Während  die  Mariensäule,  in  anderen  Kollegien,  z.  B.  1707  in 
Aachen,  1715  in  Essen  nachgeahmt,  Jahrzehnte  hindurch  die  ins 
Gymnasium  tretenden  Schüler  zur  Verrichtung  einer  kleinen  Andacht 
eingeladen  hat,  verfiel  ein  anderes  Werk  Alers  kurz  nach  seinem 
Tod  einem  großen,  am  11.  November  1727  ausbrechenden  Brande: 
das  neue  Schultheater,  dessen  kostspieliger  und  prächtiger  Bau 
auf  Geheiß  des  Provinzials  Heinrich  Weisweiler  am  9.  März  1700 
begonnen  und  bereits  im  Herbst  ds.  J.  durch  eine  sechsmalige, 
auch  durch  die  Anwesenheit  des  Kurfürsten  Joseph  Clemens  aus- 
gezeichnete Aufführung  von  Alers  Musikdrama  ,, Urania"  eingeweiht 
wurde,  und  das  im  Jahre  1709  hinzugefügte  sogenannte  Antitheater, 
ein  amphitheatralisch  aufsteigender  Zuschauerraum,  dessen  vordere 
Bänke  für  die  Vornehmen  mit  rotem  Leder  oder  grünem  Tuch 
ausgestattet  waren.  Hartzheim  beschreibt  uns  in  seiner  1747  erschie- 
nenen Bibliotheca  Coloniensis,  also  lange  nachdem  im  Jahre  1729 
den  Litterae  annuae  zufolge  eine  neue  Bühne  erstanden  war,  mit 
lebhaften  Farben  die  durch  Gegengewichte  ermöglichte  Leichtigkeit 
des  Dekorationswechsels  und  die  großartigen  Maschinen,  durch 
die  u.  a.  Entführung  und  Flug  von  Personen  durch  die  Luft,  der 
Niedergang  von  Genien  und  ganzen  Chören  aus  den  Wolken 
dargestellt  werden  konnten.  Wie  Aler  in  seiner  Apologie  (1711) 
angibt,  war  das  Werk  ein  Konkurrenzunternehmen  gegen  die 
Laurentianer:  ,,Weil  die  Professoren  des  Laurentianum  durch  Auf- 
führungen in  ihrem  neuen  Theater  sich  in  den  ersten  Jahren  einen 
großen  Namen  gemacht  hatten,  so  hielten  unsere  Obern  es  für 
durchaus  nötig,  daß  wir  ein  neues  Theater  errichteten."  Ist  das 
richtig,  so  dürften  wir,  selbst  wenn  Alers  Nekrolog  in  den  Litterae 
annuae  (1727)  es  nicht  andeutete,  annehmen,  daß  die  Konkurrenz 
auch  bei  den  Hauptaufführungen  am  Schluß  des  Schuljahres 
(September)  insofern  eine  Rolle  spielte,  als  Aler  nicht,  wie  sonst 
üblich,  dem  jeweiligen  Magister  der  Rhetorik  die  Bearbeitung  eines 
Stückes  überließ,  sondern  sie  selbst  in  die  Hand  nahm.  Jedenfalls 
hatte  die  Konkurrenz  hier  eine  erfreuliche  Wirkung.  Indem  sie  Aler, 
der  stets  aus  den  praktischen  Bedürfnissen  des  Tages  heraus  zur 
Feder  griff,  zu  immer  neuen  und  immer  vollendeteren  dichterischen 
und  musikalischen  Schöpfungen  antrieb,  hat  sie  einen  der  begab- 
testen und  fruchtbarsten  Theaterschriftsteller  der  Jesuiten  hervor- 
gebracht.  Die  Zahl  seiner  Dramen,  auf  die  des  näheren  einzugehen 

132 


hier  der  Raum  mangelt,  ist  wie  die  der  übrigen  Werke  nach  meinen 
Untersuchungen  durch  die  Aufzählungen  Bahlmanns  und  Sommer- 
vogels keineswegs  erschöpft.  Wenn  seine  Poesie  bald  darauf  dem 
Spotte  des  Kölner  Satirikers  Lindenborn  verfiel,  so  lag  der  Haupt- 
grund wohl  darin,  daß  der  Zeitgeschmack  sich  allmählich  vom 
Barockdrama  der  Jesuiten  abwandte.  Von  anderen  Stücken  erschien 
in  der  Regel  nur  das  Programm  (Synopsis)  in  Druck,  von  Alers 
Dramen  der  ganze  Text,  auch  bei  verschiedenen  Neubearbeitungen. 
Die  September-Aufführungen  fanden  meist  zweimal  statt,  und  an  die 
zweite  schloß  sich  die  Preisverteilung  an;  Alers  Stücke  wurden  oft 
und  seit  1707  sogar  stets  dreimal  gegeben,  vielleicht  in  Konkurrenz 
mit  den  Laurentianern,  bei  denen  die  dreimalige  September-Auf- 
führung Sitte  war.  Auch  bei  besonderen  festlichen  Gelegenheiten 
stellte  sich  seine  dramatische  Muse  ein,  so  bei  einer  Ehrung  zweier 
Kirchenfürsten  und  anderer  hohen  Herren  im  Jesuitenkolleg  am 
22.  August  1706  und  beim  Jubelfest  der  Bürgersodalität  am 
14.  September  1708,  als  der  Kölner  Magistrat  dem  Dichter  als  Aner- 
kennung 200  Ratszeichen  (zu  1  Gulden  15  Albus)  verehrte.  Über 
diese  Aufführung,  die  als  Schlußvorstellung  des  Schuljahres  noch 
dreimal  wiederholt  wurde,  vgl.  auch  A.  Müller,  Die  Kölner  Bürger- 
sodalität (1608-1908),  Paderborn  1909,  S.  115  ff.  Während  Aler 
für  solche  großen  Aufführungen  auch  die  Regie  übernahm  und 
sogar  persönlich  in  der  Bonner  Theatergarderobe  des  Kurfürsten 
die  Kostüme  aussuchte,  überließ  er  die  Dialoge  der  Infimisten, 
Sekundaner  und  Syntaxisten,  ferner  die  teils  wöchentlichen,  teils 
monatlichen  Deklamationen  der  Poeten  und  Rhetoren  während 
des  Schuljahres  meist  den  Lehrern.  Aber  auch  bei  diesen  in  be- 
scheidenem Rahmen  gehaltenen  Übungen  merkt  man  den  Geist 
Alers  in  der  ungewöhnlichen  musikalischen  Umrahmung  der  einen 
oder  anderen.  Zwar  tadelte  er  die  Lehrer  der  Infima  und  Sekunda, 
die  für  die  Dialoge  ihrer  Klassen  am  5.  und  6.  Juni  1710  Trompeten 
und  Pauken  zugezogen  hatten,  aber  er  vergaß,  daß  er  selbst  kurz 
vorher,  am  29.  März,  eine  gewöhnliche  wöchentliche  Deklamation 
der  Poeten  zu  einem  Ohrenschmaus  hoher  Zuhörer  ausgestaltet 
hatte,  als  er  den  Schüler  dieser  Klasse  Johann  Jakob  von  Hittorf 
aus  Köln  ein  von  ihm  verfaßtes  Lied,  „das  auch  in  Druck  erschien", 
singen  ließ.  Gerade  dieser  Schüler  lieferte  den  Beweis,  daß  die 
andauernden  deklamatorischen,  gesanglichen  und  schauspielerischen 
Übungen,  in  Verbindung  natürlich  mit  guten  Anlagen,  auch  höheren 
Anforderungen  genügende  künstlerische  Leistungen  zu  Wege  brach- 
ten.  Er  hatte  bereits  im  September  1709  in  einem  Stücke,  das  die 

133 


Rückkehr  des  jungen  Tobias  aus  der  Stadt  Rages  schilderte,  in 
der  Rolle  der  Sara  durch  sein  schauspielerisches  Geschick,  durch 
Gesang  und  Saitenspiel  allgemeine  Bewunderung  hervorgerufen 
und  wurde  im  September  1711,  als  er  mit  der  Partie  der  Ansberta 
in  dem  Stücke  ,, Ansberta  und  Bertulfus"  vier  Jahre  nacheinander 
eine  Hauptrolle  übernommen  hatte,  durch  einen  ersten  Preis  für 
gutes  Spiel  auf  offener  Bühne  ausgezeichnet.  Gerühmt  wurden  als 
Spieler  auch  der  Kölner  Kaspar  Godesberg  und  der  Bassist  Berning, 
beide  wiederholt  mit  ersten  Rollen  betraut,  doch  scheint  letzterer 
kein  Schüler  gewesen  zu  sein. 

Besonders  strenge  sah  Aler  darauf,  daß  bei  den  kleinen  Auf- 
führungen der  unteren  Klassen  im  Sommer  keine  Frauen  zugelassen 
wurden,  worauf  seit  1714  die  Provinziale  auch  die  Aufmerksamkeit 
der  anderen  Ordensgymnasien  mehr  hinlenkten,  und  ließ  lieber 
im  Mai  1699  besondere  Vorstellungen  für  Frauen  geben  —  er 
hielt  es  später  in  Aachen  (1722)  ebenso  — ,  als  daß  er  sie  unter 
den  Zuschauern  duldete.  Zwar  drängte  sich  zu  einer  Komödie  der 
Syntax  (20.  Juli  1705)  die  Mutter  des  erwähnten  Godesberg  ein, 
weil  ihr  Sohn  mitspielte,  während  der  Bürgermeister  Beyweg,  der 
aus  dem  gleichen  Grunde  erwartet  wurde,  sich  damit  begnügte, 
den  Lehrern  seines  Sohnes  Naschwerk  und  Wein  zu  schicken. 
Als  aber  acht  Tage  später  bei  einem  Dialoge  der  Infimisten  zwei 
Kölner  Damen  den  Versuch  wiederholten,  blieb  Aler  selbst  weg, 
um  nicht,  wie  er  sagt,  durch  die  Anwesenheit  des  Regenten  die 
Anwesenheit  der  Damen  zu  rechtfertigen.  Seitdem  ist  es,  soweit 
wenigstens  Alers  Tagebücher  reichen,  keiner  Kölnerin  mehr  ge- 
lungen, das  Theaterspiel  der  Kleinen  zu  beobachten. 

Die  gleiche  Strenge  zeigte  Aler  im  eigentlichen  Schulbetrieb. 
Wenige  Studienpräfekten  haben  wohl  so  oft,  wie  er,  durch  münd- 
liche Prüfungen  und  Aufgabe  schriftlicher  Arbeiten,  nicht  etwa 
bloß  am  Schluß,  sondern  im  Laufe  des  Schuljahres  sich  von  den 
Fortschritten  der  Schüler  und  den  Leistungen  der  Lehrer  persönlich 
überzeugt.  Galt  es  den  durch  besondere  Vorrechte  ausgezeichneten 
Klassenmagistrat  zu  bestellen,  der  aus  den  besten  Leistungen  in 
den  Klassenarbeiten  hervorging,  so  nahm  er  wenigstens  einmal 
jährlich  in  jeder  Klasse  dem  Lehrer  die  Sache  aus  der  Hand, 
indem  er  selbst  das  Thema  stellte  und  die  Arbeiten  bewertete. 
Von  den  Übersetzungsvorlagen,  die  er  in  Köln  gab,  ist  meines 
Wissens  nichts  erhalten,  doch  sind  die  später  am  Aachener 
Gymnasium  gestellten  Aufgaben  von  ihm  in  seiner  Theoparusia 
(1722)  herausgegeben  worden.   Ich  veröffentlichte  sie  z.  T.  in  der 

134 


Geschichte  dieses  Gymnasiums  als  Beweise  der  weitreichenden 
Lateinl<enntnisse  an  den  damaligen  Jesuitenschulen  sowie  als  Proben 
eines  guten  d.  h.  volkstümlichen  Deutsch  aus  einer  Zeit,  in  der 
die  deutschen  Texte  der  Latein  schreibenden  Gelehrten,  auch  der 
Jesuiten,  meist  nur  durch  wortgetreue  Übertragung  ins  Lateinische 
verständlich  werden. 

Die  Strenge  des  Studienpräfekten  ist  den  Lehrern  wohl  mitunter 
unbequem  geworden,  aber  sie  fanden,  wie  sich  aus  den  Tagebüchern 
ergibt,  am  Rektor  Dham  einen  um  so  nachgiebigeren  Oberleiter, 
so  der  Magister  der  Rhetorik,  als  er  am  7.  März  1705  erst  die 
zweite  wöchentliche  Deklamation  des  Jahres  „wegen  körperlicher 
Schwäche"  abhielt.  Am  13.  November  1705  kam  es  zwischen  Aler 
und  seinem  Rektor  zu  einer  Auseinandersetzung,  weil  dieser  den 
Lehrer  des  Griechischen  Pater  G.  Koch  zum  Ärger  der  übrigen 
Lehrer  für  eine  Woche  vom  Unterricht  befreit  hatte.  Auf  die  Vor- 
stellungen Alers  wurde  der  Rektor  zornig  und  rief:  „Ich  bin  der 
Rektor  und  will  es  so  haben."  Aler  erklärte,  daß  er  sich  bei  den 
Obern  beschweren  werde.  Seit  der  Zeit  häufen  sich  bei  ihm  die 
Verstimmungen  gegen  den  Rektor,  wie  gegen  diejenigen,  die  ohne 
sein  Wissen  mit  dem  Rektor  die  Schule  berührende  Abmachungen 
trafen.  Er  vermerkt  es  im  Tagebuch  übel,  daß  der  Leiter  der 
lateinischen  Sodalität  Moers  die  Andacht  ausfallen  ließ  (29.  Novem- 
ber und  20.  Dezember  1705),  daß  seitens  des  akademischen 
Kanzelredners  Koch  die  Vorlesung  der  Passion  oder  die  Predigt 
unterblieb  (31.  März  und  30.  Mai  1706),  daß  der  Professor  der 
Logik  Heinsberg  sich  im  Katechismusunterricht  vertreten  ließ,  weil 
er  mit  dem  Rektor  in  die  Stadt  zu  seiner  Mutter  ging  (11.  April 
1706).  Etwas  boshaft  ist  sogar  Alers  Bemerkung  im  letzten  Falle: 
„Pater  Weisweiler  erlaubte  nie,  daß  einer  der  Lehrer  aus  der  Schule 
blieb  wegen  eines  Essens  in  der  Stadt,  weil  die  Schüler  sofort 
bemerken,  ihr  Lehrer  sei  zu  einer  Kneiperei  gegangeii."  Die 
Verstimmung  zwischen  Aler  und  seinem  Rektor,  für  die  auch 
die  Vermerke  in  den  Tagebüchern  zum  14.  Dezember  1705  und 
15.  Mai  1706  zeugen,  scheint  frühe  außerhalb  des  Kollegs  bekannt 
geworden  zu  sein.  Erklärte  doch  in  einer  Verhandlung  der  theo- 
logischen Fakultät  am  29.  Mai  1705  nach  den  Aufzeichnungen 
Alers  der  ihm  nicht  gewogene  Peter  Hausman:  den  Pater  Aler 
könne  selbst  die  Gesellschaft  Jesu  nicht  in  Schranken  halten. 

Derartige  Unstimmigkeiten  im  Kolleg  müssen  wir  berühren 
zur  Erklärung  einer  im  Jahre  1711  verfaßten  Apologie  Alers,  von 
der  sich  leider  nur  einige  Blätter  des  ersten  Entwurfs  im  historischen 

136 


Archiv  der  Stadt  Köln  erhalten  haben.  Gegen  wen  die  Apologie 
gerichtet  ist,  wird  hier  nicht  gesagt,  doch  können  es  keine  Gegner 
außerhalb  des  Ordens,  sondern  nur  innerhalb  des  Ordens  gewesen 
sein,  weil  Aler  seine  Verdienste  um  den  Orden  und  das  Jesuiten- 
gymnasium hervorhebt,  an  denen  kein  Auswärtiger  Interesse  hatte: 
die  von  ihm  für  den  Orden  glücklich  gewonnenen  Prozesse,  die 
von  ihm  bei  der  Universität  im  Jahre  1709  wieder  durchgesetzte 
Verleihung  von  praebendae  tertiae  gratiae  an  frühere  Schüler  des 
Tricoronatum,  die  lange  Reihe  der  unter  seiner  Regentschaft  zu 
Benefizien  gelangten  Pastöre.  Wichtig  für  den  Besuch  der  Anstalt 
war  es,  daß,  wie  Aler  hier  angibt,  durch  seine  Bemühungen  beim 
Kölner  Magistrat  den  Präzeptoren  der  Gymnasien  (d.  h.  den  älteren 
oder  früheren  Schülern,  diefür  die  jüngeren  in  der  Stadt  sogenannte 
Silentien  abhielten)  das  von  Pastoren,  Elementarlehrern  usw. 
angefochtene  Recht  nicht  verkümmert  wurde,  nicht  nur  Schüler  des 
Gymnasiums  zu  unterrichten,  sondern  auch  den  zur  Aufnahme  in 
die  unterste  Klasse  erforderlichen  Anfangsunterricht  im  Lateinischen 
den  sogenannten  Tirones  zu  erteilen;  denn  hätten  die  Lehrer  und 
Unterlehrer  der  Pfarrschulen,  so  erläutern  die  Annuae  des  Jahres 
1708,  das  Monopol  des  Vorbereitungsunterrichtes  erhalten,  so  würden 
die  Abc-Schützen  unter  dem  Einflüsse  ihrer  Lehrer,  die  meist 
andere  Gymnasien  besucht  haben,  dem  Tricoronatum  ferngeblieben 
sein.  Auf  anderen  Blättern  beweist  Aler  —  und  aus  der  Verteidigung 
ergeben  sich  die  ihm  gemachten  Vorwürfe  von  selbst  — ,  daß  das 
Tricoronatum  mit  Berücksichtigung  der  Umstände  an  Zahl  wie  an 
gesellschaftlichem  Rang  der  Schüler  vor  dem  Laurentianum  und 
gegenüber  früheren  Jahren  nicht  zurücksteht,  aber  auch,  absolut 
genommen,  mehr  blüht  als  früher,  daß  im  besonderen  gleichviel 
oder  noch  mehr  Einheimische  es  besuchen  als  sonst.  Einige  be- 
sonders interessante  Angaben  mögen  hier  Platz  finden: 

1.  Unter  die  Umstände,  die  nach  Alers  Ansicht  das  Studium 
in  Köln  seit  den  Jahren  1660—1670  ungünstig  beeinflußt  haben, 
ist  die  Konkurrenz  neuer  Anstalten  im  westlichen  Deutschland, 
im  besonderen  die  Einrichtung  des  philosophischen  Studiums  in 
Luxemburg,  Aachen,  Düsseldorf,  Coblenz  usw.  und  der  niederen 
Schulen  in  Attendorn,  Wipperfürth,  Linz,  Berchem,  Kaster  usw. 
zu  rechnen,  ferner  der  Ausschluß  aller  aus  Frankreich,  auch  aus 
dessen  neuen  Gebietsteilen  stammenden  Schüler  und  die  Kriegs- 
wirren im  allgemeinen. 

2.  Aus  den  folgenden  Abschnitten,  die  beweisen  sollen,  daß 
seit  dem  Beginn  von  Alers  Subregentschaft  das  Laurentianum  dem 

136 


Tricoronalum  inbezug  auf  Vornehmheit  und  Zahl  der  Schüler 
nachsteht,  ist  die  Aufzählung  der  vielen  Söhne  von  Fürsten,  Grafen, 
Baronen,  Kölner  Patriziern,  Ratsmitgliedern  und  Großkaufleuten 
wichtig,  die  unter  Aler  das  Tricoronalum  besucht  haben.  Da  ihm 
die  Schülerlisten  des  Laurentianum  nicht  zu  Gebote  stehen,  so 
verweist  er  für  den  Zweck  seines  Beweises  auf  die  Auszählungen 
der  Laurentianer,  besonders  der  Schüler  „mit  den  roten  Mänteln' 
(der  Vornehmen)  anläßlich  der  letzten  Römerfahrt  und  andere  un- 
genaue Quellen.  Zuverlässig  erscheint  hier  nur  das  Zeugnis 
der  Universitätskataloge,  wonach  bei  der  Immatrikulation  der 
Philosophen  in  den  Jahren  1710  und  1711  die  Jesuiten  20 
beziehungsweise  14,  die  Laurentianer  nur  10  beziehungsweise  5 
Nobiles  hatten.  Die  Gesamtzahl  der  immatrikulierten  Logiker  war 
im  letzten  Jahre  beim  Tricoronatum  104,  beim  Laurentianum  89 
(unter  ihnen  10  frühere  Rhetoriker  der  Jesuiten).  Daß  die  Lauren- 
tianer im  Jahre  1711  mehr  Baccalaureen  als  die  Jesuiten  hatten, 
führt  er  auf  einen  Betrug  jener  zurück.  Er  beschuldigt  sie  ebenso 
wie  die  Montaner  auf  Grund  der  Mitteilungen  des  Professors  der 
Montaner  Stangenfelt,  sich  die  Logiker  mit  Geld  zu  kaufen,  für 
die  Römerfahrt,  die  öffentlichen  Disputationen  in  der  Schola  Artium, 
die  Entlassung  der  Metaphysiker  und  andere  feierliche  Gelegenheiten 
herumstrolchende  Studenten  anzuwerben,  in  ihren  Thesenverzeich- 
nissen die  Namen  längst  abgegangener  oder  verstorbener  Logiker 
zu  drucken  und  so  auch  bei  den  Promotionen  zum  Baccalaureat 
sich  Leute  durch  Erlaß  der  Gebühren  und  freie  Bewirtung  zu 
verschaffen.  Nur  für  ein  einziges  Jahr  (seit  1690)  gibt  Aler  zu, 
daß  die  Logik  der  Laurentianer  besuchter  gewesen  sein  könnte 
als  die  der  Jesuiten. 

3.  Festere  Grundlagen  gewinnt  Aler  erst,  als  er  den  Beweis 
antritt,  daß  das  Tricoronatum  nicht  nur  in  Anbetracht  der  (oben 
erwähnten)  Umstände,  sondern  auch  absolut  genommen,  mehr 
Schüler  und  im  besondern  auch  mehr  Kölner  Schüler  zählt  als 
vor  seiner  Regentschaft.  Hier  kann  er  etwa  40  Jahre  rückwärts 
die  Frequenz  jeder  Klasse  angeben.  Fassen  wir  sein  Zahlen- 
material der  Kürze  wegen  zusammen,  so  hatte  die  Rhetorik  des 
Tricoronatum  in  den  Jahren  1671  —  1675:  63—88  Schüler,  in  den 
Jahren  1685—1690:  73—89,  seit  1690  zu  Alers  Zeit  80— 113;  die 
Poetik  in  den  angeführten  Zeiten  87-97,  73—100,  90—107  Schüler; 
die  Syntax  115,  105—137,  118—150  Schüler.  Die  Sekunda  hatte 
vor  Aler  gewöhnlich  93— 96,  ausnahmsweise  131,  seit  1690  gewöhn- 
lich 98 — 108,  ausnahmsweise  143  Schüler.    In  der  Infima  saßen  vor 

J37 


Alers  Subregentschaft  143—195,  seit  dieser  Zeit  152—207  Schüler. 
Wie  diese  unsere  heutige  Lehrerschaft  erschreci<enden  Gesamt- 
zahlen, dürften  auch  in  Zusammenfassung  die  Zahlen  der  Ein- 
heimischen interessieren.  Vor  dem  Jahre  1690  befanden  sich  in 
der  Rhetorik  35—40,  in  der  Poetili  37—46,  in  der  Syntax  53  -69, 
in  der  Sekunda  38—59,  in  der  Infima  64—93  Kölner,  seit  der  Zeit 
(bis  1711  einschließlich)  in  der  Rhetorik  40—50,  in  der  Poetik 
41—57,  in  der  Syntax  52-86,  in  der  Sekunda  49-62,  in  der 
Infima  80—98  Kölner. 

Aus  den  vorliegenden  Zahlen  ergibt  sich  ohne  Zweifel,  daß  das 
Tricoronatum  unter  Alers  Leitung  an  Schülerzahl  nicht  ab-,  sondern 
zugenommen  hat.  Und  wenn  der  aus  der  Art  seiner  Verteidigung 
abzuleitende  Vorwurf  von  Ordensgenossen,  er  habe  durch  seine 
Strenge  Schüler  des  Tricoronatum,  besonders  die  Kölner  Jugend, 
von  diesem  weg  und  den  Konkurrenzanstalten  zugetrieben,  inso- 
fern begründet  sein  sollte,  daß  verschiedentlich  ältere  Schüler 
(Rhetoriker)  zur  Philosophie  bei  den  Laurentianern  übertraten, 
weil  sie  dort  mehr  Freiheit  genossen,  so  würde  das  für  Aler 
keinen  Tadel,  sondern  ein  Lob  bedeuten,  weil  eine  hohe  Frequenz 
nur  dann  Beachtung  verdient  und  den  gesunden  Zustand  einer 
Lehranstalt  bezeugt,  wenn  sie  nicht  durch  Minderforderungen  an 
Arbeitsleistungen  und  Disziplin  der  Schüler  billig  erkauft  wird. 
Aber  vielleicht  war  es  nicht  die  Strenge  gegen  die  Schüler,  welche 
ihm  einzelne  Ordensgenossen  übelnahmen,  sondern  sein  strenges 
Wesen  im  Verkehr  mit  ihnen  selbst.  Er,  der  in  der  gewissenhaften 
Erfüllung  seiner  vielen  Amtsgeschäfte  in  Verbindung  mit  einer 
umfangreichen  Schriftstellerei  sich  die  größten  Anstrengungen  zu- 
mutete und  eine  Erholung  kaum  kannte,  hat  jedenfalls  die  pein- 
liche Auffassung  der  Pflicht,  an  die  er  sich  gewöhnt  hatte,  auch 
von  anderen  gefordert.  Wo  er  in  den  Tagebüchern  gegen  Ordens- 
genossen bittere  Bemerkungen  macht,  geschieht  es,  wie  wir  oben 
sahen,  wegen  einer  von  ihm  angenommenen  Lässigkeit.  Ein 
solcher  Fall  führte  auch  zu  einem  nachhaltigen  Konflikt  mit  dem 
Rektor  Dham,  wobei  Aler,  so  Recht  er  im  Grunde  haben  mag, 
vergißt,  daß  dieser  auch  in  Schulangelegenheiten  sein  Vorgesetzter 
ist,  dem  er  besonders  als  Jesuit  sich  einfach  unterzuordnen  hat. 
Dazu  mögen  noch  andere  Gegensätze  gekommen  sein.  In  den 
Streitschriften  der  Feinde  Alers  in  der  Universität  wird  oft  der 
Kampfeslust  Alers  die  Friedensliebe  anderer  Kölner  Jesuiten  gegen- 
übergestellt. Sicher  ist,  daß  der  Rektor  Dham  seinem  Regenten 
in  den  verschiedenen  Prozessen  alle  Unterstützung  geliehen  hat, 

138 


und  doch  erklärt  der  Pastor  von  St.  Kolumba  Peter  Hausman  in 
seiner  dritten  Suppliii  an  den  päpstlichen  Nuntius  vom  3.  April  1708 
(Vera  relatio)  den  Rektor  des  Kollegs  für  einen  zum  Frieden 
geneigten  Mann,  während  er  die  Neigung  zur  Fortsetzung  der 
Streitigkeiten  mit  verblümten  Worten  Aler  zuschiebt.  Zu  der  Feind- 
schaft, die  dieser  durch  die  im  Interesse  des  Ordens  geführten 
Prozesse  sich  in  der  Kölner  Universität  zugezogen  hatte,  scheint 
in  Ordenskreisen  eine  Gegnerschaft  seines  Systems  gekommen  zu 
sein,  das  bei  der  strengen  Vertretung  der  Ordens-  und  Schul- 
interessen persönliche  Rücksichtnahme  nicht  duldete.  Ob  dadurch 
die  Tätigkeit  Alers  in  der  Art  erschwert  wurde,  daß  seine  Obern 
ihn  abberiefen,  wissen  wir  nicht,  besonders  da  Aler  sich  im  Tage- 
buch völlig  ausschweigt  und  vom  2.  Januar  1712  bis  zum  20.  April 
1713  jede  Eintragung  unterläßt.  Unter  letzterem  Datum  findet  sich 
nur  die  kurze  Notiz:  „P.  Paul  Aler  schied  aus  dem  Amte  eines 
Regenten  und  ging  von  Köln  nach  Trier  am  20.  April  (1713). 
Als  Nachfolger  ließ  er  zurück  P.  Peter  Dham"  (also  seinen  früheren 
Rektor).  Sollte  die  Absicht  der  Jesuitenobern  gewesen  sein,  den 
nachgiebigeren  Dham  zur  Versöhnung  persönlicher  und  anderer 
Gegensätze  zu  bestellen,  so  werden  sie  doch  nicht  die  außer- 
ordentlichen Verdienste  verkannt  haben,  die  sich  Aler  um  den 
Orden  und  seine  Kölner  Schule,  zu  deren  größten  Regenten  er 
zu  rechnen  ist,  erworben  hatte.  Ihm  selbst  war  die  Tätigkeit  als 
Studienpräfekt  in  einem  kleinern  Wirkungskreis,  den  er  in  Jülich 
schloß,  wohl  zu  gönnen.  Nachdem  ihn  dort  ein  Schlaganfall 
getroffen  hatte,  lebte  er  noch  zwei  Jahre  im  Dürener  Krankenhaus. 
An  der  linken  Seite  vom  Kopfe  bis  zu  den  Füßen  so  gelähmt, 
daß  er  ohne  Hilfe  weder  das  Bett  verlassen  noch  im  Bette  selbst 
die  Lage  ändern  konnte,  mußte  er,  der  früher  rastlos  tätige  Mann, 
die  erzwungene  Untätigkeit  um  so  schmerzlicher  empfinden;  aber 
aus  dem  unerbittlichen,  ja  rücksichtslosen  Kämpfer  für  seine  Ideale 
war  ein  Held  der  Geduld  und  christlichen  Ergebenheit  geworden. 
Rührend  ist  in  dem  Nekrolog,  den  ihm  ein  Dürener  Genosse  in  den 
Annuae  des  Jahres  1727  schreibt,  die  Mitteilung,  daß,  wenn  er 
aus  der  Betäubung,  in  die  er  oft  verfiel,  zu  sich  kam  und  gefragt 
wurde,  wohin  sich  seine  Gedanken  verloren  hätten,  er  lächelnd  zu 
sagen  pflegte:  „ich  wollte  Theaterstücke  schreiben."  Am  2.  Mai 
1727  starb  der  Mann  „von  kurzen  Schultern,  aber  herkulischem 
Geiste",  trotz  seiner  mehr  als  70  Lebensjahre  noch  nicht  ergraut, 
als  starker  und  doch  starrer  Charakter  ein  echter  Sohn  des 
Eifellandes. 

139 


Hermann  Joseph  von  Hartzheim. 

Von  Oberlehrer  Dr.  Kemp  in  Köln-Kalk. 

Im  18.  Jahrhundert  steht  unter  den  Regenten  des  Dreikronen- 
gymnasiums der  Dr.  theol.  Hermann  Joseph  von  Hartzheim 
wegen  seines  wissenschaftlichen  Eifers  und  seiner  gelehrten 
Kenntnisse  ohne  Zweifel  an  erster  Stelle.  Er  entstammt  einer  alt- 
angesehenen Kölner  Familie.  Sein  Vater,  der  Ratsherr  Dr.  utriusque 

juris  Ignaz  Konrad 
von  Hartzheim,  besaß 
aus  seiner  Ehe  mit 
Gudula  Sophia  von 
Herrestorff  neun  Kin- 
der, unter  denen  sich 
vornehmlich  drei 
Söhne  als  wissen- 
schaftlich tüchtige 
Männer  durch  ihr 
Wirken  in  Staat  und 
Kirche  hervorgetan 
haben.  Sie  haben  alle 
drei  den  auch  damals 
noch  sehr  geschätzten 
Unterricht  der  Jesu- 
iten am  Dreikronen- 
gymnasium erhalten. 
Der  ältere  Gottfried 
Balthasar  (geb.  14. 
Sept.  1676,  gest.  12. 
Dez.  1731)  trat  in  die 
Fußstapfen  desVaters; 
als  Ratsherr  und  vielfach  Mitglied  bei  der  Verwaltung  der  städ- 
tischen Ämter  hat  er  sich  durch  Berufstüchtigkeit  und  Pflichteifer 
ausgezeichnet.  Der  durch  weite  Reisen  gebildete  Mann  legte  ein 
umfangreiches  Kunstkabinett  an  und  sammelte  als  erster  in  Köln, 
dem  Zuge  seiner  Zeit  folgend,  naturwissenschaftliche  Seltenheiten. 
Diese  Sammlungen  kamen  nach  seinem  Tode  in  den  Besitz  der 
Jesuiten.  Ein  Verzeichnis  und  eine  Beschreibung  der  später 
zerstreuten  wertvollen  Stücke  verdanken  wir  seinem  Freunde, 
dem  Geographen  und  Historiker  Ignaz  von  Roderique. 


]40 


Sein  jüngerer  Bruder  Kaspar  (geb.  26.  Mai  1678,  gest.  2.  April 
1758)  nahm,  nachdem  er  im  Jaiire  1698  an  der  artistischen  Fakultät 
der  Kölner  Hochschule  mit  Auszeichnung  die  Würde  eines  Magisters 
erworben  hatte,  am  31.  Mai  desselben  Jahres  das  Ordenskleid  des 
hl.  Ignatius.  Er  hat  später  als  Professor  an  den  Jesuitengymnasien 
zu  Münstereifel,  Trier,  Paderborn,  Coblenz  und  Düsseldorf  gewirkt; 
am  Dreikronengymnasium  in  Köln  verwaltete  er  lange  das  Amt 
eines  Subregens,  noch  dann,  als  sein  Bruder  Hermann  Joseph, 
der  einst  seinen  Unterricht  genossen  hatte,  dort  Regens  war.  In  Köln 
starb  er  hochbetagt  an  Wassersucht.  Schriftstellerisch  trat  er  durch 
eine  Reihe  von  Abhandlungen  meist  theologischen  Inhalts  hervor; 
wichtiger  ist  seine  auch  heute  noch  lesenswerte  Schrift  über  den 
Kirchenpolitiker   und   Philosophen   Kardinal   Nikolaus  von   Cues. 

Weitreichender  und  fruchtbarer  war  das  Wirken  des  jüngsten 
Sprossen  aus  dem  Hartzheimschen  Hause.  Hermann  Joseph  wurde 
am  12.  Januar  1694  in  St.  Lupus  zu  Köln  getauft.  Auf  dem  Drei- 
kronengymnasium vorgebildet,  bestand  er  am  6.  Juni  1710  die 
zur  Aufnahme  in  die  artistische  Fakultät  befähigende  Prüfung; 
am  19.  Januar  1712  erwarb  er  dann  die  Würde  eines  „Magister 
artium",  wodurch  ihm  eine  der  drei  übrigen  Fakultäten  offen  stand. 
Der  Jüngling  aber  folgte  vorerst  dem  Beispiele  seines  Bruders 
Kaspar;  am  3.  Mai  1712  begann  er  sein  Noviziat  im  Jesuiten- 
kloster zu  Köln.  Sein  Probejahr  verbrachte  er  in  Trier  und  wirkte 
darauf  mehrere  Jahre  als  Lehrer  an  der  Jesuitenschule  zu  Luxem- 
burg. Seiner,  wie  uns  versichert  wird,  recht  segensreichen  Lehr- 
tätigkeit verdanken  zwei  Schriftchen,  die  er  damals  herausgab, 
ihren  Ursprung.  Neben  einem  Lehrbuche  der  Weltgeschichte 
bereicherte  er  die  Jesuitenbühne  durch  die  Tragödie  Belisar;  das 
Theaterstück  wurde  erstmals  am  23.  Februar  1718,  nachmittags 
2  Uhr,  von  der  Poetica  (4.  Klasse)  des  Luxemburger  Gymnasiums 
aufgeführt. 

Im  Jahr  1719/20  widmete  er  sich  theologischen  Studien  an 
der  Kölner  Hochschule  und  ward  dann  zur  weiteren  Vertiefung 
seiner  Kenntnisse  von  seinen  Ordensoberen  nach  Mailand  gesandt. 
Dem  Prinzip  des  Lernens  und  Lehrens  entsprechend,  das,  wie  im 
Mittelalter,  so  auch  die  Einrichtung  der  damaligen  Universitäten 
noch  beherrschte,  lehrte  Hartzheim  in  Mailand  gleichzeitig  die 
Elemente  der  griechischen  und  hebräischen  Sprache.  Dieser  drei- 
jährige Aufenthalt  in  Italien  aber  ward  bedeutungsvoll  für  den 
lebhaften,  wißbegierigen  Jüngling,  einmal  durch  die  reichen  An- 
regungen, die  ihm  aus  dem  Besuche  der  wertvollen  Bibliotheken 

141 


und  Archive  flössen,  und  dann  wieder  durch  die  auch  später  fort- 
gepflegte Freundschaft  mit  hervorragenden  Gelehrten,  die  gerade 
das  damalige  Italien  in  stattlicher  Zahl  aufzuweisen  hatte.  In 
Mailand  selbst  wirkte  sein  Ordensbruder,  der  als  Mathematiker 
und  Dichter  gleichberühmte  Tommaso  Ceva;  mit  ihm  sowie  mit 
Italiens  bedeutendstem  Historiker  Lodovico  Antonio  Muratori, 
der  damals  Bibliothekar  in  Modena  war,  trat  Hartzheim  in  freund- 
schaftlichen Verkehr.  Bei  einem  Besuche  in  Rom  machte  er  die 
Bekanntschaft  des  gefeierten  Orientalisten  Assemani  und  des  ge- 
lehrten Sammlers  Kardinal  Dominicus  Passionei.  Ihm,  dem  nach- 
maligen Präfekten  der  Vatikanischen  Bibliothek,  pflegte  Hartzheim 
noch  in  späteren  Jahren  die  Werke  seines  gelehrten  Fleißes  in 
dankbarer  Erinnerung  zu  übersenden. 

Den  Jesuiten  kam  es  natürlich  darauf  an,  einem  so  vielver- 
sprechenden Geiste  wie  Hartzheim,  der  zudem  einer  der  führenden 
Kölner  Familien  entstammte,  Eingang  in  den  Lehrkörper  der 
Universitätseiner  Vaterstadt  zu  verschaffen.  Nach  altem  Herkommen 
aber  konnte  nur  derjenige  Anspruch  auf  einen  Lehrstuhl  an  einer 
der  drei  Fakultäten  machen,  der  in  Köln  den  Doktorgrad  erworben 
hatte.  An  Hartzheims  Promotion  knüpft  sich  nun  ein  in  den 
Kölner  Universitätsakten  viel  berührter  Streit.  Am  14.  Dezember 
1723  wird  er  nebst  Daniel  Ramus  von  dem  Rektor  des  Jesuiten- 
kollegs der  theologischen  Fakultät  zur  Promotion  präsentiert.  Die 
Fakultät  wies  beide  zurück,  Hartzheim,  weil  er  sich  damals  noch 
in  Mailand  aufhielt,  also  ortsabwesend  sei.  Freilich  war  der  Zeit- 
punkt recht  ungünstig  gewählt;  noch  zitterte  die  Erbitterung  gegen 
die  Jesuiten  nach,  die  kurz  vorher  mit  Unterstützung  des  Rates 
versucht  hatten,  gegen  den  Willen  des  übrigen  Lehrkörpers  Vor- 
lesungen über  kanonisches  Recht  und  Geschichte  zu  halten.  Im 
Verlauf  des  Streites  hatte  sich  der  P.  Rektor  in  einem  Briefe  an 
den  Rector  Magnificus  zu  der  Bemerkung  verstiegen,  daß  sie, 
die  Jesuiten,  weder  der  Universität  noch  dem  Rector  Magnificus 
unterständen.  Erst  nach  langen  Verhandlungen  und  einem  klugen 
Einbiegen  der  Jesuiten  wurden  die  Kandidaten  am  30.  Mai  1724 
,,ad  utrumque  principium  et  licentiam"  zugelassen.  Der  feierliche, 
damals  mit  großem  Gepränge  verbundene  Promotionsakt  fand 
am  7.  Februar  1730  unter  gewaltigem  Zulauf  statt;  die  Feier 
beschloß   ein    „wahrhaft  akademisches"  Mahl   im  Jesuitenkolleg. 

Als  Professor  behandelte  Hartzheim  anfangs  die  Dogmatik  und 
widmete  sich  später  vornehmlich  der  Bibelexegese.  Es  wird  berich- 
tet, daß  zu  seiner  Zeit  und  hauptsächlich   auf  seine  Anregungen 

142 


hin  das  theologische  Studium  an  der  Kölner  Universität  einen 
neuen  Aufschwung  genommen  habe.  Er  reorganisierte  die  gelehrten 
Disputationen,  und  noch  in  späteren  Jahren  pflegte  man  mit 
Bewunderung  darauf  hinzuweisen,  wie  unter  seinem  Vorsitze  sein 
Schüler  Jakob  Settegast  in  griechischer  Sprache  über  einige  Glau- 
benssätze disputiert  habe.  Er  regte  seine  Schüler  zu  wissenschaft- 
lichen Arbeiten  an  und  gab  selbst,  jeweils  am  Schlüsse  des  Sommer- 
semesters, eine  historisch-kritische  Arbeit  aus  dem  Gebiete  der 
Bibelwissenschaft  heraus. 

Im  Jahre  1736  wurde  ihm  die  Leitung  des  Dreikronengymna- 
siums anvertraut,  und  auch  hier  hat  der  pädagogisch  tüchtige 
Mann  in  vierundzwanzigjähriger  Tätigkeit  Hervorragendes  geleistet. 
Aufmerksam  überwachte  er  besonders  den  Wandel  der  Studenten, 
er  suchte  das  Studium  des  Griechischen  wieder  zu  beleben  und 
sicherte  dem  eben  erst  in  den  Lehrplan  aufgenommenen  Studium 
der  Geschichte  seine  Stellung.  Die  Lehrbücher  unterzog  er  einer 
eingehenden  Revision.  Durch  Beispiel  und  Rat  hat  er  ebenfalls 
reformierend  auf  die  Gymnasien  der  ganzen  Ordensprovinz  ein- 
gewirkt. Die  Schülerzahl  des  Dreikronengymnasiums  war,  wie 
Hartzheim  in  seiner  Geschichte  dieser  Schule  angibt,  wesentlich 
gesunken,  vornehmlich  infolge  der  vielen  Neugründungen  von 
Gymnasien  in  den  Nachbarstädten.  Unter  seiner  trefflichen  Leitung 
aber  erreichte  die  Schule  noch  einmal  ihren  Ruhm  wie  in  alten 
Tagen. 

Den  gleichen  tätigen  Eifer  bekundete  er  auch  seiner  geist- 
lichen Behörde  gegenüber.  Lange  Jahre  fungierte  er  als  Prosy- 
nodal-Examinator  und  Prüfungskommissar  zum  Empfang  der  hl. 
Weihen.  Die  apostolischen  Nuntien  in  Köln  bedienten  sich  gern 
seines  kenntnisreichen  Rates.  Nachdem  er  im  Jahre  1759  seine 
Professur  und  die  Leitung  des  Dreikronengymnasiums  niedergelegt 
hatte,  wirkte  er,  unermüdlich  tätig  bis  zu  seinem  Lebensende,  als 
Domprediger.  Einst  hatte  er  in  Mailand  die  landfremden  deutschen 
Soldaten,  die  dort  zur  Besatzung  lagen,  um  sich  versammelt  und 
durch  seine  begeisternde  Predigt  zur  christlichen  Tugend  angeeifert. 
Dürfen  wir  der  Tradition  glauben,  so  hatte  er  auch  im  Alter 
nichts  von  dem  Feuer  seiner  Rede  eingebüßt.  Seine  ebenso  geist- 
volle wie  volkstümliche  Art,  die  christlichen  Wahrheiten  darzulegen, 
sicherte  ihm  einen  großen  Zuhörerkreis  aus  allen   Berufsständen. 

Hartzheims  Name  ist  bekannter  geworden  durch  eine  Reihe 
historischer  Schriften,  die  er  in  den  beiden  letzten  Jahrzehnten 
seines  Lebens  herausgab.  In  der  ersten  Hälfte  des  18.  Jahrhunderts 

143 


hatte  mit  dem  Aufschwung  der  Realien  auch  das  Studium  der 
Geschichte  an  den  deutschen  Universitäten  fast  allenthalben  Ein- 
gang gefunden.  Die  katholischen  Universitäten  West-  und  Süd- 
deutschlands blieben  hierin  nicht  zurück.  In  Köln  begann  im 
Jahre  1723  der  Jesuit  Ludwig  Henseler  im  Auftrage  und  auf 
Kosten  des  Rates  seine  historischen  Vorlesungen  in  der  Aula  des 
Dreikronengymnasiums.  Der  Opposition  der  anderen  Professoren 
gegenüber  aber  —  als  „sei  das  gegen  der  Universität  uralte  Privi- 
legien" —  mußte  der  Rat,  wie  wir  sahen,  nachgeben;  Henseler 
stellte  seine  Vorlesungen  ein.  Gleichwohl  zeigte  sich  der  neu 
erwachte  Zeitgeist  stärker  als  die  konservative  Engherzigkeit  des 
Kölner  Gelehrtentums.  Im  Jahre  1733  erhielt  der  damals  recht 
geschätzte  Diplomatiker  Johann  Ignaz  Roderique,  der  Freund  und 
Mitarbeiter  Johann  Georgs  von  Eckhart,  vom  Kölner  Rate  den 
Auftrag,  an  der  artistischen  Fakultät  geschichtliche  Vorlesungen 
zu  halten.  Leider  haben  den  kränklichen  Mann  seine  Interessen 
später  nach  einer  anderen  Richtung  geführt.  Sein  Jahrhundert 
kennt  ihn  vornehmlich  als  hervorragenden  Politiker  und  Publizisten. 
Mit  ihm  geriet  Hartzheim  erstmals  in  einer  wissenschaftlichen  Fehde 
aneinander. 

In  einer  gegen  den  französischen  Historiker  Martene  gerich- 
teten Schrift,  die  Superiontät  der  beiden  Klöster  Stablo  und  Mal- 
medy  betreffend,  hatte  Roderique,  auf  Gelenius  gestützt,  behauptet, 
daß  Köln  im  8.  Jahrhundert  unter  Karl  dem  Großen  zum  Erzbis- 
tum erhoben  worden  sei.  Hartzheim  suchte  demgegenüber  in 
drei  Abhandlungen  die  Richtigkeit  der  Volkstradition  darzutun, 
dergemäß  der  hl.  Maternus,  der  Sendbote  des  hl.  Petrus,  erster 
Metropolit  Kölns  war.  Man  wird  in  diesen  Schriften  Hartzheims 
große  Belesenheit  bewundern;  in  der  Wertung  und  Interpretation 
der  Quellen  zeigt  sich  ihm  Roderique  in  seiner  durchaus  sachlichen 
und  ruhigen  Gegenschrift  überlegen. 

Reichlich  zwanzig  Jahre  später  trat  Hartzheim  für  diese  seine 
Meinung  noch  einmal  in  einem  Schriftchen  gegen  seinen  Ordens- 
bruder Jean  Perier  auf,  der  für  das  Monumentalwerk  der  Acta 
Sanctorum  das  Leben  des  hl.  Maternus  bearbeitet  hatte.  Da 
Hartzheim  in  dieser  Schrift  sich  gleichfalls  gegen  den  gelehrten 
Kenner  der  westdeutschen  Kirchengeschichte  Johann  Nikolaus 
von  Hontheim  wandte,  mit  dem  er  in  derselben  Angelegenheit 
längere  Zeit  korrespondiert  hatte,  so  erschien  für  Hontheim  der 
Trierer  Professor  des  kanonischen  Rechtes  Georg  Christoph  Neiler 
auf  dem  Plane. 


144 


Wichtiger  als  diese  StreitscJiriften  sind  sein  1752  erschienener 
Katalog  der  Dombibliothek  und  die  1754  herausgegebene  Kölner 
Münzgeschichte.  Beide  Bücher  sind  bereits  von  seinen  Zeitge- 
nossen scharf  kritisiert  worden.  Freilich  ist  die  Münzgeschichte, 
besonders  hinsichtlich  der  beigefügten  Abbildungen,  rasch  und 
flüchtig  gearbeitet.  Hartzheim  wollte  dem  bald  darauf  erschienenen 
Buche  des  Hallenser  Professors  Joachim  „Unterricht  von  dem 
Münzwesen"  voraüfkommen.  Indes  darf  man  nicht  aus  dem  Auge 
lassen,  daß  Hartzheim  kaum  größere  Vorarbeiten  vorfand.  Zudem 
hat  seine  Münzgeschichte  anregend  für  die  weitere  Forschung  auf 
einem  so  wichtigen  Gebiete  wie  die  Kölner  Münzgeschichte  ge- 
wirkt, die  neben  der  Trierer  bis  in  die  ältesten  Zeiten  der  deutschen 
Geschichte  hinaufreicht.  Sein  Katalog  dagegen  hat  späterhin  un- 
schätzbare Dienste  geleistet,  als  es  galt,  die  1794  nach  Arnsberg 
geflüchteten  und  dann  nach  Darmstadt  verbrachten  wertvollen 
Handschriften  der  Dombibliothek  wieder  zurückzufordern. 

Im  Lebenswerke  Hartzheims  ragen  neben  kleineren  Schriften 
—  einer  Erklärung  der  1745  zu  Hersei  gefundenen  ubisch-römischen 
Inschrift  und  einer  Zusammenstellung  der  Akten  der  Kölner  theo- 
logischen Fakultät  —  besonders  zwei  Arbeiten  hervor,  die  heute 
für  den  Forscher  noch  immer  sehr  schätzbar  sind  und  dem  wissen- 
schaftlichen Eifer  sowie  dem  Bienenfleiße  des  Verfassers  das  beste 
Zeugnis  ausstellen.  Dies  sind  ein  den  Bereich  des  Kölner  Erzstifts 
umfassendes  Gelehrtenlexikon  und  eine  Sammlung  der  deutschen 
Konzilien.  Das  Gelehrtenlexikon  ist  ein  jedenfalls  für  seine  Zeit 
bemerkenswertes  Buch;  es  enthält  eine  Fülle  literarischer  und 
biographischer  Notizen,  die  Hartzheim  bei  dem  Mangel  größerer 
Vorarbeiten  zunächst  mühsam  aus  den  Bibliotheken  seines  Ordens 
und  anderer  Klöster  zusammenstellen  mußte.  Zwar  unterstützten 
ihn  dabei  einige  Kölner  Gelehrten;  von  auswärtigen  nennt  er  selbst 
anerkennend  Nikolaus  von  Hontheim.  Eine  neue  Ausgabe  des 
Buches  versprach  Hartzheim  im  Jahre  1758,  sie  ist  indes  nicht 
erschienen.  Sein  Handexemplar  mit  zahlreichen  eigenhändig  ge- 
schriebenen Zusätzen  und  Anmerkungen  besitzt  heute  die  Kölner 
Stadtbibliothek. 

Die  Sammlung  der  deutschen  Konzilien,  ein  Werk,  das  die 
letzten  Lebensjahre  Hartzheims  vollauf  in  Anspruch  nahm,  unter- 
nahm er  auf  Wunsch  und  Anregung  des  damaligen  Erzbischofs 
von  Prag,  Johann  Moritz  von  Manderscheid-Blankenheim.  Dieser, 
der  früher  Domherr  und  Domprobst  zu  Köln  gewesen  war,  hatte 
1735  seinen  Kanzler,  den  ehemaligen  Historiographen  und  Biblio- 

10  145 


thekar  des  Bischofs  von  Fulda,  Johann  Friedrich  von  Schannat, 
nach  Italien  gesandt,  um  dort  in  den  Bibliotheken  zu  Mailand  und 
Rom  für  eine  großangelegte  Konziliensammlung  Material  zu  suchen. 
Auf  der  Rückreise  starb  Schannat  1739  in  Heidelberg.  Sein  lite- 
rarischer Nachlaß  kam  größtenteils  in  die  Hände  Hartzheims.  Der 
Prager  forderte  nun,  damit  das  wertvolle  Material  nicht  unbenutzt 
liegen  blieb,  Hartzheim  auf,  mit  Hilfe  von  Schannats  Papieren  das 
geplante  Werk  durchzuführen. 

Der  ehrenvolle  Auftrag  kam  Hartzheims  Neigungen  entgegen. 
Er  selbst  hatte  seit  Jahren  für  eine  Sammlung  der  Kölner  Kon- 
zilien Stoff  zusammengetragen,  wozu  ihm  die  Schätze  der  Dom- 
bibliothek reiches  Material  boten.  Zudem  war  Köln  eigentlich 
die  klassische  Stätte  für  diese  Arbeiten;  hier  waren  die  ersten  ge- 
druckten Sammlungen  der  Konzilienakten  im  Laufe  des  16.  Jahr- 
hunderts von  Peter  Krabbe  (1538),  Lorenz  Surius  (1567)  und  Severin 
Binius  (1606)  herausgegeben  worden.  Im  Jahre  1758  kündete 
Hartzheim  in  einem  Programme  seine  Arbeit  an;  diesem  Programme 
folgte  im  nächsten  Jahre  der  erste  mit  dem  Bildnis  des  hoch- 
herzigen Stifters  geschmückte  Band.  Hartzheim  selbst  hat  die 
fünf  ersten  Bände  ediert,  fortgesetzt  wurde  das  Werk,  größtenteils 
auf  Grund  von  Hartzheims  Vorarbeiten,  durch  den  Jesuiten  Hermann 
Scholl  und  nach  dessen  Tode  durch  den  P.  Ägidius  Neissen.  Es 
umfaßt  zehn  Bände  und  einen  elften  von  Joseph  Hesselmann  be- 
sorgten Index-Band;  die  Sammlung  der  Konzilien  ist  bis  zum 
Jahre  1747  durchgeführt.  Das  Werk  darf  nebenbei  auch  als  ein 
ehrenvolles  Denkmal  des  Kölner  Buchdrucks  bezeichnet  werden,  als 
eine  letzte  Nachblüte  seiner  Glanzzeit  während  des  15.  und  16. 
Jahrhunderts. 

Hartzheims  handschriftlicher  Nachlaß,  der  viel  seltenes,  be- 
sonders für  die  Kirchengeschichte  wichtiges  Material  enthielt,  ist 
zum  Teil  von  den  Franzosen  weggeschleppt  worden,  einiges  be- 
findet sich  in  den  umfangreichen  Sammlungen  seines  Schülers 
Bartholomäus  Joseph  Blasius  Alfter,  die  heute  größtenteils  im 
Kölner  Stadtarchiv  ruhen.  Aus  dem  Nachlasse  sind  hervorzuheben 
eine  fast  druckfertige  Geschichte  des  Bischofs  Anno  mit  vielen 
urkundlichen  Beiträgen  sowie  eine  Bearbeitung  von  Schannats 
Geschichte  der  Nordeifel.  Dürfen  wir  dem  gelehrten  Sammler 
Baron  von  Hüpsch  Glauben  schenken,  so  war  ursprünglich  Hartz- 
heim von  dem  Erzbischof  von  Prag  mit  einer  historischen  Be- 
schreibung der  Eifel  betraut  worden.  Hartzheim  habe  dann  dem 
Bischof  angeraten,  den  berühmten  Schannat  zu  berufen.  Die  Rich- 

146 


tigkeit  der  Angaben  läßt  sich  nicht  weiter  nachweisen;  doch 
haben  nach  Schannats  Tode  zwischen  Hartzheim  und  dem  Titular- 
bischof  von  Rhodiopoli,  Franz  Kaspar  von  Franken-Sierstorff, 
Verhandlungen  über  die  Herausgabe  dieses  in  Schannats  Nach- 
laß gefundenen  Werkes  geschwebt. 

Hartzheim  endete  sein  arbeitsreiches  Leben  als  Siebenzig- 
jähriger  im  Jahre  1763.  Als  er  sich  am  14.  Januar  dieses  Jahres 
morgens  um  5  Uhr  zum  Gebet  erhoben  hatte,  wurde  er  vom 
Schlage  getroffen;  drei  Tage  später,  am  17.  Januar,  kurz  vor  4  Uhr 
nachmittags  hauchte  er  seine  Seele  aus. 

Gewiß  gehört  Hartzheim  nicht  zu  den  führenden  Historikern 
seiner  Zeit;  in  seinen  Werken  drängt  sich  oft  zu  sehr  seine 
theologische  Gelehrsamkeit  vor.  Aber  was  er  als  Historiker  ge- 
leistet hat,  entspringt  zumeist  der  begeisterten  Liebe  zu  seiner 
Vaterstadt,  und  in  der  Kölner  Gelehrtengeschichte  des  18,  Jahr- 
hunderts, die  nicht  besonders  reich  ist  an  hervorragenden  Köpfen 
und  Namen,  die  auch  über  das  Weichbild  der  Stadt  hinaus  Klang 
haben,  nimmt  er  eine  geachtete  Stellung  ein.  Wie  sehr  er  von 
seinen  Zeitgenossen  geschätzt  war,  kommt,  auch  wenn  wir  von  den 
Superlativen  absehen,  die  das  an  Äußerlichkeiten  reiche  18.  Jahr- 
hundert mit  voller  Hand  verstreut,  spontan  in  den  ihm  gewidmeten 
Nachrufen  zum  Ausdruck.  Der  Dekan  der  artistischen  FakuUät  nennt 
ihn  „einen  über  alle  Empfehlung  erhabenen  Mann  wegen  seiner 
ausgezeichneten  Rechtschaffenheit,  seiner  gewinnenden  Freund- 
lichkeit und  seiner  ausgebreiteten  Gelehrsamkeit.  So  war  er  eine 
Zierde  der  Fakultät  und  das  Ergötzen  aller,  die  ihn  kannten". 
Sein  literarischer  Gegner  Neiler  rühmt  „das  universale  Wissen  des 
Polyhistors  der  Ubier,  der  durch  mannigfache  Werke  grammatischen, 
historischen,  kritischen  und  polemischen  Inhalts  sich  einen  aus- 
gezeichneten Namen  erworben  und  diesen  Namen  durch  Heraus- 
gabe der  Konzilien  Deutschlands  unsterblich  gemacht  hat'. 


10»  147 


Ferdinand  Franz  Wallraf. 

Von  Prof.  Dr.  Jos.  KLINKENBERG. 

Kölns  Glanzperiode  war  längst  dahin.  Der  großzügige  Unter- 
nehmungsgeist von  ehedem  hatte  kleinlicher  Plusmacherei 
^oder  dumpfer  Gleichgültigkeit,  der  „däftige"  Wohlstand 
schlecht  verhüllter  Armut,  einträchtiger  Bürgersinn  widerwärtigen 
Sonderbestrebungen,  hoher  Gedankenflug  engherziger,  geisttöten- 
der Absperrung  das 
Feld  geräumt.  Nur 
die  Erinnerung  an  die 
dereinstige  Herrlich- 
keit warf  noch  einen 
matten  Verklärungs- 
schimmer auf  die 
Trostlosigkeit  der  Ge- 
genwart. Inmitten  sol- 
cher Verhältnisse  er- 
blickteam20Julil748 
Ferdinand  Franz 
Wallraf  das  Licht 
der  Welt,  ein  Mann, 
dem  Mutter  Natur 
ein  warmes  Herz  für 
die  große  Vergangen- 
heit, aber  auch  ein 
offenes  Auge  für  die 
klägliche  Gegenwart 
seiner  Vaterstadt  als 
köstliches  Angebinde 
mitgegeben  hatte.  So 
wurde  er  befähigt,  in 
den  wilden  Stürmen, 
die  die  altehrwürdige  Colonia  bald  verheerend  umbrausten,  als  ihr 
machtvoller  Schirmherr  die  wertvollen  Reste  ihrer  glorreichen  Ver- 
gangenheit zu  retten,  das  Unhaltbare  ihrer  gegenwärtigen  Zustände 
zeitgemäß  umzugestalten  und  sie  so  einer  glücklichern  Zukunft 
entgegenzuführen.  Es  kann  hier  nicht  meine  Aufgabe  sein,  das 
Wirken  des  vielseitigen  Mannes,  des  Retters  der  alten  Kölner  Kunst 
und  zumal  unserer  einzig  großartigen  Stiftskirchen,  nach  allen  Rich- 


Ferdinand  Franz  Wallraf. 


1-18 


tungen  hin  zu  schildern.  Aber  Waliraf  ist  von  Haus  aus  und  bis 
in  sein  Greisenalter  Schulmann  gewesen  und  hat  sich,  wie  um  das 
kölnische  Schulwesen  überhaupt,  so  um  das  Marzelleng3'mnasium 
insbesondere  als  Lehrer  und  Vizedirektor  hohe  Verdienste  erwor- 
ben. Darum  gebührt  ihm  auch  in  dieser  Festschrift  ein  Ehrenplatz. 
Im  18.  Jahrhundert  befand  sich  das  Kölner  Schulwesen  in  einem 
verwahrlosten  Zustande.  Von  Volksbildung  im  eigentlichen  Sinne 
des  Wortes  war  keine  Rede:  die  sogenannten  Trivialschulen,  Tiro- 
cinien  oder  Silentien  waren  im  wesentlichen  Vorbereitungs-  oder 
Hilfsanstalten  für  den  höhern  Unterricht  und  vielfach  auch  einem 
Gymnasium  direkt  angegliedert.  Den  höhern  Unterricht  selbst  ver- 
trat die  Universität,  zu  deren  artistischer  oder  philosophischer 
Fakultät  die  drei  Gymnasien  gehörten.  Allein  der  Gymnasialunter- 
richt hatte  mit  den  Forderungen  der  Zeit  nicht  gleichen  Schritt 
gehalten;  sowohl  in  seiner  humanistisch-rhetorischen  wie  zumal  in 
seiner  philosophischen  Abteilung  huldigte  er  mehr  oder  minder 
einem  öden  Formalismus  und  vernachlässigte  in  ungebührlicher 
Weise  die  deutsche  Sprache,  für  deren  gewaltigen  Aufschwung  um 
die  JVlitte  des  Jahrhunderts  die  gebildeten  Kreise  Kölns  kein  Ver- 
ständnis hatten.  Die  Besoldung  der  Lehrer  wurde  am  Montanum 
und  Laurentianum  vor  wie  nach  aus  Pfründen,  die  der  Silentiarier 
aus  dem  kargen  Schulgeld  bestritten;  der  Magistrat  tat  nichts  für 
Gehaltsaufbesserung,  und  infolge  der  nicht  selten  gedrückten  Lage 
war  auch  der  Pflichteifer  nicht  groß.  Von  praktischer  Ausbildung 
der  Lehrer  für  ihren  Beruf  war  keine  Rede;  als  solche  fungierten 
mit  Vorliebe  Kandidaten  des  Priestertums,  die  sich  durch  diese 
Tätigkeit  dem  Kursus  im  erzbischöflichen  Priesterseminar  entzogen. 
Daß  die  angedeuteten  Mißstände  am  Tricoronatum,  dessen  Lehrer 
als  Mitglieder  der  Gesellschaft  Jesu  an  den  Präbenden  keinen  Teil 
hatten  und  der  Ordenszucht  unterstanden,  nicht  oder  doch  nur  in 
geringem  Maße  zutage  traten,  liegt  in  der  Natur  der  Sache.  Dieser 
Anstalt  stellt  vielmehr  Waliraf  in  der  Biographie  seines  Altersge- 
nossen und  Freundes  Peter  Anth,  des  1810  verstorbenen  stadt- 
kölnischen Hauptpfarrers  zu  St.  Maria  im  Kapitol,  eines  ausgezeich- 
neten Schülers  unseres  Tricoronatum,  das  rühmliche  Zeugnis  aus: 
,Im  Gymnasio  Tricoronato  der  Jesuiten  hatte  der  Geist  der  Wissen- 
schaften schon  lange  vorher  sich  höher  gehoben.  Man  lehrte  da- 
selbst bereits  die  logische  Kritik  und  Analytik  und  bei  einem  an- 
sehnlichen Instrumentenvorrate  die  fast  vollständigen,  für  höhere 
Philosophie  und  Weltkenntnis  so  nötigen  mathematischen  und 
physischen  Wissenschaften."  Unter  den  Instrumenten  verdienen  die 

149 


zahlreichen  und  wertvollen  astronomischen  besondere  Erwähnung, 
von  denen  sich  manches  interessante  Stück  noch  in  unserer  heuti- 
gen physikalischen  Sammlung  vorfindet. 


.,  ^"1 


Astronomische  Instrumente  in  der  pliysikalischen  Sammlung 
des  Marzcllengymnasiums. 

Noch  verhängnisvoller  als  mit  den  Gymnasialstudien  sah  es 
mit  der  Universität  aus.  Während  die  Hochschulen  des  deutschen 
Ostens  unter  dem  Einflüsse  der  reformatorischen  Bewegung  ein 
reiches  wissenschaftliches  Leben  entwickelten,  beherrschte  die  Kölner 
Universität  der  Geist  der  Erstarrung,  Trägheit  und  Selbstgefällig- 
keit, so  daß  ihre  einsichtigen  Freunde  sie  mit  Schmerzen  um  ein  halbes 
Jahrhundert  hinter  ihren  Schwestern  zurückbleiben  sahen,  während 
ihre  Feinde  sie  hohnlachend  als  Hochburg  des  Obskurantismus 
bezeichneten.  So  konnte  der  Professor  der  Medizin,  Hofrat  Dr. 
Menn,  einer  der  wenigen  Universitätslehrer,  die  dieses  Namens  wert 
waren  und  Auge  und  Herz  für  den  Verfall  der  Kölner  Hochschule 
hatten,  in  seiner  Rede  bei  der  Eröffnung  des  neuen  medizinischen 
Hörsaales  1777  mit  Recht  klagen:  „Es  waren  Zeiten,  wo  sich  unsere 
Vaterstadt  das  Athen  am  Rheine  nennen  durfte.    Kölns  angenehme 


150 


Lage  unter  einem  gesunden  Himmelsstriche,  Katheder  für  alle 
Wissenschaften,  mit  den  geschicktesten  Männern  besetzt;  Freiheit, 
Ruhe  und  was  immer  für  Bequemlichkeiten  ein  für  Studierende 
bestimmter  Aufenthalt  erfordert:  alles  das  machte  die  hiesige  hohe 
Schule  weiland  zu  einer  der  blühendsten  in  Deutschland  .  .  .  Aber 
warum  mußte  doch  unser  Athen  dem  alten  auch  darin  gleich  werden, 
daß  die  Wissenschaften  von  ihm  auswanderten  und  dieser  Wohnsitz 
in  gänzlichen  Verfall  geriet?  Seit  anderthalb  Jahrhundert  zog  sich 
ein  immer  trüberer  Nebel  um  uns  her,  der  auch  sogar  von  dem 
im  übrigen  Europa  mehr  und  mehr  aufgehenden  Lichte  keinen 
Strahl  zu  uns  durchließ.  Es  verscheuchten  wohl  innerliche  Unruhen 
oder  Kriegsläufte  die  Musen  eine  Zeitlang  von  ihrem  geliebten 
Wohnsitze;  aber  ist  es  nicht  eine  unverzeihliche  Sache,  daß  hier 
statt  einer  vernünftigen  Gelehrsamkeit  der  Sphinx  jener  rätselhaf- 
ten, abgezogenen  und  leeren  Schulweisheit  unter  der  Larve  einer 
systematischen  Philosophie  sich  vor  das  feiernde  Heiligtum  lagerte 
und  es  bisher  gegen  die  Ansprüche  der  zurückkehrenden  Wahr- 
heit mit  Vorurteilen  behauptete?  Daher  kam  jene  düstere  Periode, 
in  welcher  Köln  fast  ein  von  der  übrigen  gelehrten  Welt  abgeson- 
dertes Eiland  war,  da  entstand  jene  Hartnäckigkeit,  welche  wirk- 
lich noch  Wissenschaften  verachtet,  die  sie  nicht  kennet,  und  an 
andere  nicht  glaubet,  denen  man  schon  in  dem  tiefen  Norden  Throne 
bauet  .  .  .  Unsere  Zeiten  sind  zu  aufgeklärt,  um  sich  dieses  Ge- 
ständnisses schämen  zu  dürfen." 

Unser  Wallraf  fand  mehr  als  genug  Gelegenheit,  sich  der 
Mängel  des  Kölner  Schulwesens  bewußt  zu  werden.  Mit  zwölf 
Jahren  wurde  er  Schüler  des  Montanergymnasiums,  wo  den  talent- 
vollen, wissensdurstigen  Jüngling  der  pedantische  Unterrichts- 
betrieb aufs  heftigste  abstieß.  „Ich  hatte  das  Unglück,"  so  äußert 
er  sich  selbst,  „in  eine  Lehranstalt  zu  geraten,  wo  es  erst  gar 
spät  und  eigentlich  fast  gar  nicht  Tag  werden  durfte."  Das  Studium 
der  Philosophie,  das  er  nach  der  am  23.  Mai  1765  bestandenen 
Baccalaureatsprüfung  aufnahm,  befriedigte  ihn  ebensowenig:  bei 
den  öffentlichen  Disputationen,  an  denen  sich  die  philosophischen 
Klassen  aller  drei  Gymnasien  beteiligten,  „wurden  die  leersten 
Auseinandersetzungen  über  das  Ens  rationis  getrieben".  Wallrafs 
Abneigung  gegen  die  herrschende  Richtung  im  Unterrichtswesen 
fand  reiche  Nahrung  in  der  kunst-  und  literaturfreundlichen  Familie 
des  Hofrates  Menn,  in  die  er  um  diese  Zeit  eingeführt  wurde. 
Nach  zweijährigem  Studium  der  Philosophie,  römischen  Literatur 
und  Geschichte  errang  er  die  Würde   eines  Magister  liberalium 

151 


artium  am  26.  Februar  1767  und  verteidigte  am  23.  Mai  1769  in 
der  Aula  des  Montanergymnasiums  eine  Anzahl  philosophischer 
Thesen,  um  an  dieser  Anstalt  eine  Professur  zu  erlangen.  Der 
Erfolg  war  günstig;  aber  da  er  bald  an  dem  herrschenden  Klassen- 
lehrersystem, das  keine  Vertiefung  in  einen  einzelnen  Wissenszweig 
zuließ,  frei  und  offen  Kritik  übte,  zog  er  sich  das  Mißfallen  seiner 
Kollegen  zu,  und  man  entledigte  sich  seiner  dadurch,  daß  man 
ihm  ein  abgelegenes,  ärmliches  Silentium  übertrug.  Mochten  ihm 
aber  auch  hier  Not  und  Elend  in  der  schärfsten  Weise  zusetzen, 
Wallraf  verlor  doch  den  Mut  nicht.  Während  er  durch  Privatunter- 
richt an  den  jungen  Grafen  von  Sternberg  seine  äußere  Lage  zu 
bessern  suchte,  verwandte  er  seine  knapp  bemessene  freie  Zeit, 
um  sich  mit  allem  Eifer  dem  Studium  der  Theologie  zu  widmen, 
und  da  ihm  die  Vorlesungen  an  der  Universität  nicht  genügten,  be- 
suchte er  auch  noch  solche  im  Augustinerkloster.  Im  Dezember  1772 
empfing  er  die  Priesterweihe  und  feierte  am  Dreikönigenfeste  1773 
sein  erstes  heiliges  Meßopfer.  Professor  Menn,  sein  opferwilliger 
Gönner  während  seiner  theologischen  Studienzeit,  hatte  ihm  den 
Weihetitel  gestellt.  Der  Eintritt  in  den  Priesterstand  verbesserte 
Wallrafs  äußere  Lage  nur  wenig.  Er  warf  sich  deshalb  mit  aller 
Kraft  auf  das  Studium  der  Mathematik,  Physik  und  Ästhetik,  hielt 
am  27.  August  1779  eine  öffentliche  mathematische  Disputation 
am  Montanergymnasium  und  eröffnete  nun  neben  seinem  sonstigen 
Unterricht  mathematische  Lehrstunden  für  die  philosophischen 
Klassen  dieser  Anstalt.  Jetzt  erst  wurde  er  vom  Silentium  abbe- 
rufen und  als  Professor  der  Rhetorik  angestellt;  aber  noch  immer 
verfolgte  den  Neuerungssüchtigen  die  Feindseligkeit  seiner  Kolle- 
gen, die  ihm  mehrere  Jahre  den  Freitisch  sperrte,  auf  den  er 
Anspruch  hatte.  Aber  Wallraf  ließ  jetzt  erst  recht  nicht  nach,  auf 
den  mangelhaften,  unzeitgemäßen  Unterrichtsbetrieb  am  Gymna- 
sium wie  an  der  Universität  hinzuweisen  und  auf  Abhilfe  zu 
drängen,  zumal  da  dem  Rate  das  große  Vermögen  des  aufgehobenen 
Jesuitenkollegs,  das  ihm  durch  Reichs-Hofrats-Konklusum  vom 
20.  Oktober  1774  zum  Besten  seiner  Unterrichtsanstalten  und  zur 
Erfüllung  der  stiftungsmäßigen  Verbindlichkeiten  zugefallen  war, 
reichliche  Mittel  für  eine  durchgreifende  Reform  bot.  Doch  die 
Schwierigkeiten,  die  der  Kurfürst  von  Köln  machte,  ließen  den 
anfänglichen  Eifer  der  von  gutem  Willen  beseelten  Kommission 
wieder  erlahmen,  und  es  blieb  alles  beim  Alten.  Da  trat  ein 
Ereignis  ein,  das  selbst  die  träge  Energielosigkeit  der  reichs- 
städtischen Verwaltung  aufzurütteln  vermochte. 

152 


Im  Gegensatze  zu  der  auf  streng  kirchlichem  Boden  stehen- 
den, jeglicher  Neuerung  abholden  Kölner  Hochschule  hatte  Kur- 
fürst Max  Friedrich  1777  in  Bonn  eine  akademische  Lehranstalt 
gegründet,  die,  ganz  vom  Geiste  des  Josephinismus  und  Fabronia- 
nismus  erfüllt,  die  neuzeitlichen  Ideen  der  Aufklärung  unter  der  kur- 
kölnischen Jugend  verbreiten  sollte.  Diese  Akademie  hatte  bereits, 
wie  begreiflich,  der  Kölner  Hochschule  sehr  starken  Abbruch  getan; 
wäre  sie,  wie  beabsichtigt,  zur  vollständigen  Universität  entwickelt 
worden,  ohne  daß  gleichzeitig  eine  Reform  der  Kölner  Anstalt 
eintrat,  so  wäre  es  um  die  Existenz  der  letztern  geschehen 
gewesen.  Diese  Gefahr  leuchtete  auch  dem  reichsstädtischen 
Magistrat  ein,  und  so  wandte  er  sich  im  Herbste  1783  an  Wallraf 
mit  der  Bitte  um  Vorschläge  für  eine  Reform  des  Kölner  Schul- 
wesens. Dieser  hatte  gerade  den  gelehrten  und  kunstliebenden  Vize- 
dechanten  des  Domstiftes,  den  Grafen  Franz  Wilhelm  von  Oettingen- 
Baldern,  auf  einer  größern  Reise  nach  Süddeutschland  begleitet, 
die  seinem  empfänglichen  Geiste  in  Natur,  Kunst  und  Wissen- 
schaft die  reichste  Anregung  geboten  und  ihn  mit  zahlreichen 
Künstlern  und  Gelehrten  in  Beziehung  gebracht  hatte.  Ohne  die 
schmeichelhafte  Aussicht  auf  eine  Professur  an  der  Bonner  Aka- 
demie, deren  Richtung  seinen  Anschauungen  nicht  entsprach,  weiter 
zu  beachten,  machte  sich  der  für  das  Wohl  seiner  Vaterstadt 
begeisterte  Professor  am  Montanum  sogleich  an  die  Lösung  der 
ebenso  schwierigen  wie  undankbaren  Aufgabe,  das  Kölner  Schul- 
wesen, zumal  die  Artistenfakultät  und  die  Gymnasien,  in  neue 
Bahnen  zu  leiten.  Das  Gutachten,  das  er  Anfang  1784  überreichte, 
ist  nur  noch  bruchstückweise  vorhanden.  Die  Grundzüge  seines 
Reformplanes  sind  folgende. 

Der  ganz  und  gar  vernachlässigte  Volksschulunterricht  soll 
durch  Begründung  und  Dotierung  von  Pfarr-  und  Armenschulen 
gehoben  werden.  Das  Gymnasium  wird  nach  Eigentum,  Personal 
und  Unterricht  von  der  Universität  getrennt;  den  Professoren  an 
beiden  Arten  von  Anstalten  wird  ein  festes,  auskömmliches  Gehalt 
zugesichert  und  so  ein  besonderer  Lehrerstand  geschaffen,  der 
mit  Verständnis  und  Interesse  seiner  Tätigkeit  obliegt.  Zur  Hebung 
des  nationalen  Bewußtseins  und  zur  volkstümlichen  Entwicklung 
des  wissenschaftlichen  Lebens  soll  die  Muttersprache  gepflegt, 
zur  Förderung  einer  echt  christlichen  Erziehung  dem  Religions- 
unterrichte und  der  sittlichen  Überwachung  der  Schüler  größere 
Aufmerksamkeit  geschenkt  werden.  An  die  Stelle  der  bisherigen 
drei,  fast  an  einem  Punkte  zusammenliegenden  Kölner  Gymnasien 

1.53 


treten  für  den  Unterricht  in  den  Humaniora  deren  sieben  mit  je 
sechs  Klassen,  wobei  die  bisherigen  Klassennamen  Infima,  Secunda 
grammatices,  Syntaxis,  Poesis,  Rhetorica  als  nicht  mehr  zutreffend 
fortfallen.  An  jedem  Gymnasium  unterrichten  fünf  festangestellte 
Professoren  mit  ständigen  Lehrfächern :  einer  für  mathematische 
Wissenschaften,  einer  für  Geschichte,  Geographie  und  Altertümer, 
einer  für  Rhetorik,  Poesie  und  Ästhetik  mit  Erklärung  einschlägiger 
griechischen,  lateinischen  und  deutschen  Klassiker,  zwei  jüngere 
endlich  für  den  grammatischen  Unterricht  in  den  drei  genannten 
Sprachen,  den  Religionsunterricht,  die  philosophische  Propädeutik 
und  die  Überwachung  der  Schüler  bei  ihren  Arbeiten  im  Studien- 
saal (Museum).  Der  Unterricht  im  Französischen,  im  Zeichnen, 
Singen  und  andern  Kunstfertigkeiten  wird  von  besondern  Lehrern 
erteilt. 

Es  ist  leicht  begreiflich,  daß  die  Ausarbeitung  dieses  Reform- 
planes erneute  Angriffe  der  aus  ihrer  behaglichen  Ruhe  aufgerüttelten 
Kollegen  auf  Wallraf  zur  Folge  hatte.  Man  bezichtigte  ihn  der 
Gesinnungsverwandtschaft  mit  dem  frivolen  und  ungläubigen 
Eulogius  Schneider,  Professor  an  der  Bonner  Universität,  und  die 
Angriffe  waren  um  so  wirksamer,  weil  seit  dem  28.  Juli  1781 
sein  treuer  Freund  und  mächtiger  Gönner  Professor  Menn  das  Zeit- 
liche gesegnet  hatte.  Bei  der  Kühnheit  des  Reformplanes,  der 
althergebrachten  Schwerfälligkeit  des  Magistrates  und  dem  mäch- 
tigen Einfluß  der  Freunde  des  alten  Systems  kam  die  Umgestal- 
tung des  Unterrichtswesens  nicht  zustande.  Da  Wallrafs  Stellung 
am  Montanum  immer  unhaltbarer  wurde,  so  erwarb  er  sich  den 
Grad  eines  Licentiatus  medicinae,  übernahm  bei  Erledigung  der 
Professur  in  der  Botanik  sogleich  die  botanische  Vorlesung,  erhielt 
1786  seine  Bestallung  als  ordentlicher  Professor  der  Naturgeschichte, 
womit  ein  Kanonikat  an  St.  Maria  im  Kapitol  und  ein  Jahres- 
einkommen von  600  Reichstalern  verbunden  war,  und  wurde  gleich- 
zeitig Verwalter  des  ganz  vernachlässigten  botanischen  Gartens, 
für  den  er  aus  eigenen  Mitteln  2500  neue  Pflanzen  anschaffte. 
Am  18.  November  1788  promovierte  er  als  Doctor  medicinae  mit 
der  Dissertation:  De  igne  et  eius  combinatione. 

Mit  seiner  Ernennung  zum  Professor  der  Botanik  schied 
Wallraf  als  ordentlicher  Lehrer  des  Montanums  aus ;  seinen  Ab- 
schied bezeichnete  er  durch  einen  für  seine  Bestrebungen  charakte- 
ristischen Akt.  Alljährlich  feierten  am  Feste  des  hl.  Chrysostomus 
(27.  Januar)  die  Rhetoriker  des  Montanums  den  Meister  der  christ- 
lichen Beredsamkeit  durch  den  Vortrag  von  Reden  und  Gedichten, 

154 


die  sie  selbst  oder  iiire  Professoren  verfaßt  hatten.  Während  nun 
bei  diesem  Deklamationsaiit  bisheran  nur  die  lateinische  Sprache 
üblich  war,  ließ  Wallraf,  der  bewährte  lateinische  Dichter,  1786 
eine  von  ihm  gedichtete  deutsche  Weiheode  „Chrysostomus" 
vortragen,  die,  ganz  im  Geiste  Klopstocks  gehalten,  mit  den 
Worten  beginnt: 

Als  einst  der  Weltenvater  den  großen  Plan 
Zu  seinem  Kirctienhimmei  auf  Erden  schuf, 
Und  die  Gestirne  erster  Größe, 
Jeglicties  reihet'  in  seine  Sphäre ; 

Da  löste  schon  die  himmlische  Weisheit  sich 
Den  Strahlengürtel,  goß  auf  die  Sonnenbahn 
Auch  diesen  Morgenstern,  und  freute 
Bald  sich  der  Zeit  seines  Aufgangs,  pflanzte 

In  sein  durchdringend  Auge  den  Flammenblick 
Und  Glut  in  seine  goldene  Lefze,  sanft 
Erwärmend  auf  fruchtbarem  Boden, 
Aber  zerstörend  auf  Felsenherzen. 

Welch  begeisterten  Anklang  diese  Neuerung  bei  Wallrafs 
Freunden  fand,  geht  aus  einem  Gedicht  des  spätem  Präfektur- 
rates  DuMont  hervor: 

Verdunkelt  ehdem  stellt'  an  dem  Weihetag 
Latein  vom  hölzern'  Alter  der  Musenzeit 
Den  Himmelsbürger  dar,  und  Schüler 
Eiferten  Meistern  nur  nach  im  Unsinn. 

Erstaunet  seh'  ich's :  heut'  in  der  Muttersprach' 
Geschildert  glänzt  das  Bild  des  Chrysostomus! 
Geschmack !    O,  wie  verdrängst  du  endlich 
Der  Idioten  Geschwätz  in  Abgrund ! 

Um  sich  nicht  selbst  allen  Einfluß  auf  die  Gestaltung  des 
Schulwesens  abzuschneiden,  behielt  Wallraf  den  naturwissenschaft- 
lichen Unterricht  am  Montanum  bei  und  eröffnete  zugleich  an 
der  Universität  —  zum  ersten  Male  in  Köln  —  Vorträge  „über 
Ästhetik  oder  die  Theorie  des  Geschmacks  in  den  schönen  Künsten 
und  Wissenschaften".  Als  Einleitung  gab  er  „eine  Enzyklopädie 
aller  jener  Wissenschaften  und  Künste,  deren  Gegenstand  die 
Schönheit  in  den  Formen  oder  in  den  Produkten  des  Geistes 
ausmacht".  In  diesen  Vorlesungen  bot  sich  Wallraf  reiche  Gelegen- 
heit, auf  die  Erweckung  literarischer  und  künstlerischer  Interessen 
bei  seinen  Mitbürgern  hinzuarbeiten  und  sie  mit  den  Schriften 
Winckelmanns,  Lessings  und  Goethes  bekannt  zu  machen.  Der  Er- 

löö 


folg  übertraf  alle  Erwartungen.  Wallrafs  Worte  wirkten  wie  eine 
neue  Offenbarung;  Fürsten  und  Grafen  des  hohen  Domkapitels 
und  Mitglieder  anderer  Stifter,  Bürgermeister,  Ratsherren  und  an- 
gesehene Fremde  drängten  sich  um  seinen  Lehrstuhl.  Je  mehr 
aber  Wallrafs  Ansehen  wuchs,  um  so  mehr  waren  auch  seine 
Gegner  am  Werk.  Unter  anderm  machte  man  ihm  zum  Vorwurf, 
daß  er  Mitglied  zweier  Fakultäten  sei,  und  wußte  seinen  förm- 
lichen Ausschluß  aus  der  philosophischen  Fakultät  durchzusetzen, 
wodurch  er  zugleich  aller  aus  dieser  Stellung  fließenden  Einkünfte 
verlustig  ging.  So  war  ihm  Köln  verleidet,  und  es  fehlte  nicht 
viel,  so  hätte  er  dem  1791  an  ihn  ergangenen  Rufe  des  Kurators 
der  Bonner  Universität,  Frhrn.  Franz  Wilh.  von  Spiegel,  daselbst 
den  Lehrstuhl  für  die  schönen  Künste  einzunehmen,  Folge  ge- 
leistet; allein  im  letzten  Augenblicke  zerschlugen  sich  die  Ver- 
handlungen durch  die  Höhe  seiner  Forderungen.  Wallraf  blieb 
in  Köln,  und  seine  Anhänger,  deren  Zahl  sich  inzwischen  sehr 
vermehrt  hatte,  setzten  seine  Wahl  als  Rektor  der  Universität  durch. 
Er  war  seit  hundert  Jahren  das  erste  Mitglied  der  medizinischen 
Fakultät,  das  diese  Würde  bekleidete,  und  der  letzte  Rektor  in 
reichsstädtischer  Zeit.  Noch  hatte  er  nicht  den  Widerspruch  über- 
wunden, den  die  theologische  und  philosophische  Fakultät  unter 
Führung  des  Exjesuiten  JOH.  MATTHIAS  CARRICH,  Regenten  des 
Tricoronatum  und  gewandtesten  Kämpfers  gegen  die  Bonner 
Richtung,  gegen  seine  Wahl  und  alle  seine  Amtshandlungen 
erhob,  als  am  6.  Oktober  1794  die  Franzosen  einrückten.  Dieses 
Ereignis  führte  zunächst  eine  vollständige  Stockung  des  öffent- 
lichen Unterrichtes  herbei,  da  die  Studenten  nach  Ablauf  der 
Ferien,  in  welche  dasselbe  fiel,  sich  durch  Schrecken  und  Miß- 
trauen von  der  Rückkehr  abhalten  ließen.  Erst  auf  das  energische 
Betreiben  Wallrafs  gelang  es,  diesen  unhaltbaren  Zustand  zu  be- 
seitigen, und  die  Zahl  der  Studenten  stieg  sogar  infolge  der 
Schließung  mancher  Lehranstalten  in  Belgien  und  des  sichern 
Untergangs  der  Bonner  Universität  auf  1500.  Die  französische 
Republik  hatte  sich  das  Recht  freier  Verfügung  über  das  Schul- 
vermögen zugesprochen  und  drohte,  diesen  Grundsatz  in  Köln 
zur  Anwendung  zu  bringen.  Wallrafs  Vorstellungen  in  einer 
Eingabe  an  die  Zentralverwaltung  in  Aachen  wandten  das  Unheil 
wenigstens  für  den  Augenblick  ab.  Aber  kaum  war  diese  Schwierig- 
keit beseitigt,  da  erging  an  sämtliche  Behörden,  auch  an  die  Uni- 
versität, die  Aufforderung,  der  Republik  den  Eid  der  Ergebenheit 
zu  leisten.     Während  die  Professoren  der  Theologie,  Jurisprudenz 

156 


und  Philosophie  sich  mit  einer  Ausnahme  zu  der  Eidesleistung 
in  bestimmter  Form  verstanden,  weigerten  sich  deren  fünf  Profes- 
soren der  medizinischen  Fakultät  unter  Führung  des  Rektors 
Wallraf  mit  der  Erklärung,  daß  sie  den  zwischen  der  französischen 
Republik  und  dem  Deutschen  Reiche  in  Rastatt  schwebenden 
Friedensunterhandlungen  nicht  vorgreifen  dürften  und  wollten. 
Sofort  wurden  sie  und  der  eidweigernde  Professor  der  Jurispru- 
denz ihres  Amtes  enthoben  und  durch  Verfügung  des  Substitut- 
Kommissars  Rethel  vom  4.  und  7.  Nivöse  VI  (24.  u.  27.  Dez.  1797) 
der  Professor  der  Anatomie  und  Physiologie  Dr.  Best  zum  Rektor 
erhoben ;  in  die  medizinische  Fakultät  traten  vier  neue  Professoren 
ein.  Allein  noch  in  demselben  Jahre  fand  die  Universität  ihren 
Untergang.  Der  Gouvernements-Kommissar  Rudier  beabsichtigte 
nämlich,  das  ganze  Universitätsvermögen  zugunsten  der  stets 
leeren  Generaldomänenkasse  zu  veräußern.  Zwar  gelang  es  den 
Bemühungen  der  nach  Mainz  entsandten  Bürger  zur  Hoven  und 
Dr.  Best,  diesen  vernichtenden  Schlag  von  dem  Kölner  Schul- 
wesen abzuwehren ;  aber  sie  konnten  doch  nicht  verhindern,  daß 
dasselbe  in  die  französisch-republikanischen  Formen  umgegossen 
wurde.  Unterm  9.  Floreal  VI  (28.  April  1798)  ordnete  Rudier  die  Auf- 
hebung sämtlicher  Unterrichtsanstalten  in  Köln  und  den  Ersatz  der- 
selben durch  Primärschulen  (Elementarschulen)  und  eine  Zentral- 
schule an,  und  im  Verfolg  dieser  Verordnung  verfügte  die  Aachener 
Zentralverwaltung  unterm  12.VendemiaireVII  (3  Oktober  1798)  die 
Unterdrückung  der  Universität  und  der  drei  Gymnasien  und  die  Errich- 
tung einer  mit  den  städtischen  Unterrichtsfonds  dotierten  Zentral- 
schule des  Roer-Departements  in  den  Gebäuden  der  ehemaligen 
Jesuiten.  Rektor  der  Anstalt  und  zugleich  Chef  des  öffentlichen 
Unterrichtes  wurde  Dr.  Best  mit  der  Weisung,  der  städtischen  Ver- 
waltung keinen  Einfluß  auf  den  Unterricht  oder  das  Vermögen 
einzuräumen.  Die  feierliche  Errichtung  der  Zentralschule  erfolgte 
am  1.  Frimaire  VII  (21.  Nov.  1798);  am  14.  Frimaire  (4.  Dez.) 
leisteten  die  Professoren  den  Eid,  und  am  l.Pluviöse  (20  Jan.  1799) 
begannen  die  öffentlichen  und  unentgeltlichen  Vorlesungen.  Unter 
den  zehn  Professoren,  die  sämtlich  das  gleiche  Gehalt  von  2500 
Frcs.  erhielten,  finden  wir  auch  unsern  Wallraf  als  Lehrer  der 
schönen  Wissenschaften  wieder.  Ähnlich  wie  seine  frühern  Uni- 
versitätsvorträge bezwecken  auch  die  an  der  Zentralschule,  „junge 
Leute,  die  in  die  Welt  treten  sollen,  zu  kritischen  Beurteilern  und, 
wo  Geist  und  Kraft  dazu  ist,  zu  Selbstschöpfern  des  Schönen  in 
jeder  Art  der  redenden  als  bildenden  Künste"  zu  machen.  Daher 

]57 


bot  er  seinen  Zuhörern  zunächst  „eine  raisonnierende  Enzyklopädie" 
aller  schönen  Künste  „mit  Vorzeigung  und  Anwendung  der  besten 
und  besonders  der  erhabensten  Muster  in  jeder  derselben"  und 
brachte  dabei  auch  die  alte  deutsche  Kunst  zu  Ehren,  indem  er 
auf  die  Harmonie  und  Erhabenheit  unseres  Domes  und  auf  die 
unvergleichliche  Anmut  so  mancher  Gemälde  seiner  Sammlung 
hinwies.  Sodann  gab  er  „eine  Erklärung  des  Schönen  überhaupt, 
seiner  Arten  und  Mißarten,  seines  Begriffs  und  der  Anordnung 
seines  Kanons  auf  jede  Produktion  in  redenden  und  bildenden 
Künsten,  im  Sittlichen  und  Anständigen,  im  Intellektuellen".  Durch 
diese  ästhetischen  Vorträge  wie  durch  seinen  bezaubernden  per- 
sönlichen Einfluß  wurde  Wallraf  der  geniale  Lehrmeister,  von 
dem  unter  dem  Drucke  der  Fremdherrschaft  neue  Begeisterung 
für  Literatur  und  Kunst  und  neues  frisches  Kunstschaffen  aus- 
ging. An  der  Zentralschule  saß  zu  seinen  Füßen  der  frühere 
Schüler  des  Tricoronatum  MARCUS  THEODOR  DUMONT,  der  als 
Inhaber  der  Kölnischen  Zeitung,  fortwährend  von  Wallraf  be- 
raten, sein  Organ  zum  Mittelpunkte  der  literarischen  Bestre- 
bungen in  Köln  machte;  ihm  verdanken  die  mannigfaltigsten  An- 
regungen ein  HOFFMANN,  GAU,  DE  NOEL,  HITTORF,  BEGAS  und 
Cornelius,  die  die  deutsche  Kunst  im  In-  und  Auslande  wieder 
zu  Ehren  gebracht  haben. 

Die  Zentralschule  als  solche  konnte  jedoch  den  Wünschen 
der  Bürgerschaft  in  keiner  Weise  genügen.  Ihr  Studienplan  setzte 
eine  Vorbildung  voraus,  die  die  Elementarschulen  nicht  zu  geben 
vermochten,  und  es  fehlte  an  einer  Anstalt,  welche  die  Vermittelung 
zwischen  beiden  gebildet  hätte.  Die  einzelnen  Fächer  waren  zu 
kärglich  mit  Lehrkräften  besetzt,  es  fehlte  an  den  erforderlichen 
literarischen,  kunstgeschichtlichen  und  naturwissenschaftlichen 
Hilfsmitteln,  und  der  Lehrplan  trug  den  Charakter  der  Oberfläch- 
lichkeit an  sich.  Geradezu  abstoßend  aber  wirkte  der  antireligiöse 
und  antideutsche  Geist,  der  die  Anstalt  beherrschte.  Auch  regie- 
rungsseitig erkannte  man  allmählich  die  Unzulänglichkeit  der 
Zentralschulen.  Auf  Grund  der  Reorganisation  des  öffentlichen 
Unterrichtes,  die  Napoleon  als  erster  Konsul  herbeiführte,  entstand 
zunächst  am  l.  Frimaire  XII  (23.  November  1803)  in  den  Räumen 
des  Laurentianer-Gymnasiums  an  der  Rechtschule  eine  Ecole  se- 
condaire  communale,  auch  Gymnasium  genannt,  als  Vorbereitungs- 
anstalt für  den  höhern  Unterricht  unter  der  Direktion  des  frühern 
Professors  der  Philosophie  am  Laurentianum  WiLH.  LEHMANN,  sodann 
durch  kaiserliches  Dekret  vom  22.  Brumaire  XIV  (13.  Nov.  1805) 

163 


eine  die  höhern  Kurse  umfassende  Schule  unter  dem  Titel  Ecole 
secondaire  communale  de  second  degre,  die  der  Leitung  des  Richters 
VON  Heinsberg  unterstellt  und  im  Gebäude  des  frühern  Jesuiten- 
kollegiums untergebracht  wurde.  Sämtliche  Güter,  Kapitalien  und 
Einkünfte  des  aufgehobenen  Jesuitenordens  sollten  zum  Unterhalte 
der  beiden  neuen  höhern  Lehranstalten  dienen.  Unter  den  sieben 
Professoren  der  Sekundärschule  zweiten  Grades  ragen  am  meisten 
hervor  die  beiden  für  die  schönen  Wissenschaften  Wallraf  und 
Friedrich   Schlegel.     Letzterer   war   der   Hauptstreiter  in    dem 

Kampfe  der  Roman- 
tiker gegen  die  das 
Mittelalter  verkennen- 
den Klassizisten.  Er 
wollte  wieder  deut- 
sches Leben  in  die 
deutsche  Nation  ein- 
führen, deutsche  Bau- 
kunst und  Malerei 
wieder  auf  deutschen 
Boden  verpflanzen. 
Reiche  Nahrung  fand 
sein  edles  Streben  in 
dem  Studium  der 
nach  Paris  zusammen- 
geschleppten deut- 
schen Kunstschätze 
(1802).  Mit  drei  Köl- 
ner Kunstfreunden, 
die  sich  ihm  in  der 
französischen  Haupt- 
Friedrich  Schlegel  Stadt  angeschlossen 
hatten,  den  Brüdern  BOISSEREE  und  BERTRAM,  kam  er  1803  nach 
Köln  und  fand  in  Wallraf  einen  kundigen  Führer  durch  die  dortigen 
Kunstschätze  und  einen  gleichgestimmten  Freund. 

Wenn  aber  auch  die  Sekundärschule  mehr  befriedigte  als  ihre 
Vorgängerin,  so  konnte  doch  die  Bürgerschaft  den  Verlust  ihrer 
ehrwürdigen  Universität  nicht  verschmerzen.  Sie  bemühte  sich 
angelegentlich  bei  der  kaiserlichen  Regierung  um  die  Errichtung 
einer  Akademie  in  Köln,  und  Wallraf  versprach  sogar  in  einem 
Briefe  vom  20.  Juni  1810  an  Gottfr.  Wilh.  Daniels,  General- 
Prokurator  beim  Kassationshofe  in  Paris,  am  Tage  ihrer  Eröffnung 


159 


sein  Vermögen  im  Betrage  von  120000  Frcs.  der  Stadt  zur  Ver- 
fügung zu  stellen;  doch  ohne  Erfolg.  Schon  war  die  Völkerschlacht 
bei  Leipzig  geschlagen,  da  langte  vom  Minister  des  Innern  die 
Mitteilung  an,  daß  der  Kaiser  unterm  29.  August  1813  die  Errichtung 
eines  Lyzeums  im  Jesuitengebäude  genehmigt  habe.  Das  Dekret 
blieb  unausgeführt.  Am  14.  Januar  1814  rückten  die  ersten  Abtei- 
lungen der  Verbündeten  in  Köln  ein,  aufs  lebhafteste  begrüßt  vom 
größten  Teile  der  Bürgerschaft,  die  in  ihrem  Erscheinen  die 
Morgenröte  einer  bessern  Zukunft  erblickte. 

Die  Zeit  vom  Abzüge  der  Franzosen  bis  zur  Neuordnung  der 
politischen  Verhältnisse  glaubte  der  auf  das  Wohl  und  die  Ehre 
seiner  Vaterstadt  stets  bedachte  Wallraf  zur  Lösung  einer  dreifachen 
Aufgabe  nutzen  zu  müssen:  es  galt,  ihr  die  geraubten  Kunstschätze, 
die  untergegangene  reichsstädtische  Freiheit  und  die  verlorene 
Universität  wiederzuverschaffen.  Das  erste  Ziel  wurde  zumal  durch 
die  Mitwirkung  des  dem  Kronprinzen  von  Preußen  als  Adjutant 
beigegebenen  Everhard  von  Groote,  eines  Schülers  von  Wallraf, 
leidlich  erreicht;  der  Hoffnung,  den  zweiten  Wunsch  verwirklicht 
zu  sehen,  bereitete  das  Besitzergreifungspatent  König  Friedrich 
Wilhelms  III.  vom  15.  Mai  1815  ein  jähes  Ende,  und  auch  die 
Aussichten  auf  Wiedererlangung  der  Universität  erwiesen  sich  schließ- 
lich als  eitel.  Der  Generalgouverneur  des  Mittel-  und  Niederrheins, 
Geh.  Staatsrat  Sack,  berief  nämlich  zum  „Direktor  des  öffentlichen 
Unterrichtes"  für  die  Übergangszeit  den  bisherigen  Direktor  des 
Gymnasiums  zu  Prenzlau  Dr.  Karl  Friedr.  Aug.  Grashof,  einen 
ebenso  zielbewußten  und  tatkräftigen  wie  mit  Verständnis  für 
rheinische  Eigenart  ausgestatteten  Mann.  Schon  im  August  1814 
gab  der  Kölner  Gemeinderat  die  Erklärung  ab,  daß  er  für  die 
Errichtung  einer  rheinischen  Universität  in  Köln  jährlich  21  500  Frcs. 
zur  Verfügung  stelle.  Aber  bevor  noch  Kölns  Ansprüche  auf  eine 
solche  eine  sachgemäße  Begründung  in  der  Öffentlichkeit  oder  an 
zuständiger  Stelle  erfahren  hatten,  erschien  eine  Schrift  des  Bonner 
Kreisdirektors  Rehfues,  in  der  die  neue  Rheinuniversität  für  die 
ehemalige  kurfürstliche  Residenzstadt  Bonn  gefordert  wurde.  Grashof 
war  von  Wallraf  bald  für  Köln  gewonnen.  Als  daher  Sack  die 
Einrichtung  von  zwischenzeitlichen  akademischen  Kursen  für  die 
rheinische  Jugend  anregte,  vertrat  er  mit  Entschiedenheit  die  Sache 
Kölns.  „Es  würde  mir  schwer  fallen,"  so  schrieb  er,  „den  Kölnern 
etwas  abzuschlagen,  was  ihnen  zu  gewähren  in  meiner  Macht  läge. 
Sie  haben  sich  überall,  wo  ich  ihren  Nationalcharakter  zu  beobachten 
Gelegenheit  gehabt  habe,  als  ein  sehr  biederes,  deutsches,  auf  ihre 

160 


alten  Rechte  und  Sitten  zwar  stolzes,  aber  gerade  darum  kräftiges 
Volk  gezeigt,  mit  dem  durch  Gewalt  wenig,  aber  durch  Überzeugung 
und  Geradheit  alles  auszurichten  ist."  In  den  Regierungskreisen 
dagegen  war  gegen  Köln  trotz  des  inzwischen  eingetretenen  Um- 
schwungs noch  immer  das  Vorurteil  des  Obskurantismus  verbreitet, 
während  Bonn  von  jeher  in  dem  Rufe  einer  aufgeklärten  Stadt 
stand.  So  kam  es,  daß  der  Generalgouverneur  das  Anerbieten  Kölns 
nicht  annahm,  und  Grashof  nur  die  Erlaubnis  erwirkte,  daß  im 
dortigen    Jesuitenkolle  gium  einstweilen  akade- 


mische Kurse  einge 

daß    jedoch    die 

Anrecht  auf  die 

nische  Univer 

dürfe.  Durch 

mühungen 

Kurse  wirk 

de      und 

dem  3.  Ja 

eröffnet; 

alles  das 

was    ins 

ein       an 

Juristund 

im  ersten 

jähre  zuler 

Prof.       Dr. 

las  Rechtsge 

Einflechtung 

tionen ; 

zinische        1 

SCHMITZ  Anatomie 

allgemeine        Naturge 


Dr.  K  F.A.Grashof. 


richtet  wurden,  ohne 
Stadt   daraus    ein 
zukünftige  rhei- 
sität    ableiten 
Wallrafs  Be- 
kamen    die 
ich  zustan- 
wurden  mit 
nuar  1815 
sie  sollten 
bieten, 
besondere 
gehender 
Mediziner 
Studien- 
nen    habe. 
BLANCHARD 
schichte  mit 
der       Institu- 
)'HAME    medi- 
pädie;        Dr. 
Prof.     Dr.    CASSEL 
schichte  und  Pflanzen- 


physiologie,im  Sommer    " Botanik  nach  Linne  und 

die  natürliche  Methode;  Prof.  HEUSER  Logik  und  Metaphysik;  Dr. 
VON  GROOTE  Kritik  der  philosophischen  Systeme;  Prof.  WalL- 
RAF  allgemeine  Enzyklopädie  und  Philosophie  des  Schönen,  im 
Sommer  Archäologie;  der  evangelische  Pfarrer  Dr.  BRUCH  klas- 
sische Altertumskunde  und  Literaturgeschichte  der  Griechen  und 
Römer  mit  vergleichender  Erklärung  einiger  Komödien  des  Terenz, 
Plautus  und  Aristophanes,  für  evangelische  Theologen  Enzyklo- 
pädie der  theologischen  Wissenschaften.     Für  katholische  Theo- 


161 


logie  hatte  sich  kein  geeigneter  Lektor  gefunden.  Die  Professoren 
entwickelten  großen  Eifer;  aber  die  Studenten  erschienen  nicht  in 
der  erhofften  Anzahl,  und  vor  allem  fehlte  es  gegenüber  der  Rüh- 
rigkeit der  Bonner  Partei  an  einer  geschickten,  wirksamen  Vertretung 
der  Kölner  Ansprüche  an  maßgebender  Stelle.  Die  Widerlegung 
der  Broschüre  von  Rehfues,  an  der  nacheinander  von  Groote, 
Schmitz,  Cassel  und  Wallraf  arbeiteten,  wollte  keine  befriedigende 
Gestalt  annehmen,  und  schließlich  war  Köln,  wie  De  Noel  sich 
äußerte,  über  seinem  Mangel  an  Universalität  um  die  Universität 
gekommen.  Schon  die  kgl.  Kabinettsorder  vom  22.  Oktober  1815 
sprach  sich  grundsätzlich  für  Bonn  aus,  und  trotz  aller  Bittschriften, 
die  1816  und  1817  der  städtische  Magistrat,  der  Präsident  Daniels 
und  Wallraf  beim  preußischen  Ministerium  für  Köln  einreichten, 
bestimmte  doch  der  König  unterm  26.  Mai  1818  Bonn  definitiv 
zum  Sitze  der  rheinischen  Universität. 

In  den  akademischen  Kursen  des  Jahres  1815  hat  Wallraf  zum 
letzten  Male  eine  öffentliche  Lehrtätigkeit  ausgeübt.  Dagegen  hat  er 
sich,  wie  um  diese  Zeit,  so  auch  nachher  noch  große  Verdienste  um 
die  Einrichtung  des  preußischen  Gymnasiums  erworben.  Durch  eine 
Instruktion  des  Generalgouverneurs  vom  18.  September  1814  waren 
die  Leiter  der  höhern  Lehranstalten  mit  den  Grundsätzen  der 
bevorstehenden  Reorganisation  des  höhern  Schulwesens  bekannt- 
gemacht worden.  Von  nun  an  sollte,  wie  in  Preußen  schon  früher, 
das  Gymnasium  von  der  Universität  streng  getrennt  sein  und  in 
einem  fest  geregelten  Lehrgange  auf  diese  vorbereiten;  das  Abitu- 
rientenexamen sollte  die  Eingangspforte  zur  Universität  bilden.  Vom 
Staate  geprüfte,  angestellte  und  besoldete  Lehrer  sollten  fortan  an 
den  Gymnasien  wirken,  und  letztere,  den  Utilitätsbestrebungen 
der  französischen  Schulpraxis  entrückt,  zu  Pflanzstätten  idealer, 
von  klassischem  und  deutschem  Geiste  getragener  Bildung  werden. 
Kein  Mann  war  so  geeignet,  die  Überleitung  in  die  neuen  Schul- 
verhältnisse zu  bewerkstelligen  wie  Wallraf,  der  schon  in  jungen 
Jahren  eine  Umgestaltung  des  Kölner  Schulwesens  vergebens  an- 
gestrebt hatte  und  dessen  Reformideen  sich  in  vielen  Punkten  mit 
dem  preußischen  Schulideal  berührten.  Nach  den  Vorschlägen 
Grashofs  trat  an  die  Stelle  der  aufgelösten  Kommunalschule  zweiten 
Grades  „das  Kölnische  Gymnasium",  das  seinen  Sitz  im  ehemaligen 
Jesuitengebäude  erhielt  und  die  vier  Klassen  Prima  bis  Quarta 
umfaßte;  an  die  Stelle  der  Kommunalschule  ersten  Grades  traten 
zwei  Vorbereitungsanstalten  für  das  Gymnasium  mit  den  drei 
Klassen  Quinta,  Sexta  superior  und  inferior,  das  Jesuiten-  und  das 

162 


Karmeliterkollegium,  benannt  nach  den  ehemaligen  klösterlichen 
Instituten,  in  denen  sie  untergebracht  waren.  Jede  dieser  drei  An- 
stalten hatte  einen  besondern,  Jahr  um  Jahr  wechselnden  Vorsteher, 
alle  drei  aber  unterstanden  der  Oberleitung  des  Direktors  des  Köl- 
nischen Gymnasiums.  Als  solcher  wurde  Prof.  Seber  aus  Aschaffen- 
burg berufen,  dem  Wallraf  als  Vizedirektor  an  die  Seite  trat. 

Am  24.  April  1815,  dem  Tage  nach  der  Feier  der  Vereinigung 
Kölns  mit  der  Krone  Preußen,  eröffnete  Grashof  die  neuen  Anstalten 
durch  einen  Festakt  in  der  nach  Wallrafs  Angabe  geschmückten 
Aula  unseres  Gymnasiums.  Nachdem  er  in  mustergültiger  Weise 
den  Geist  der  neuen  Jugendbildung  dargelegt  hatte,  dankte  er  dem 
abtretenden  Direktor  von  Heinsberg  für  seine  Mühewaltung  und 
wandte  sich  dann  an  Wallraf: 

„Nächst  den  Dienern  und  Lehrern  der  Religion  übergebe  ich 
dem  Direktor  der  neuen  Anstalten  und  in  dessen  Abwesenheit 
Ihnen,  Herr  Vizedirektor  Wallraf,  mit  der  Leitung  des  Ganzen  auch 
die  Sorge  für  das  Wohl  dieser  Jugend.  Wenn  ich  auch  selbst 
noch  eine  Zeitlang  an  Ihrer  Seite  stehen  werde,  so  sollen  Sie  doch 
eigentlich  der  Vollstrecker  des  Willens  sein,  der  von  höherer  Be- 
hörde durch  mich  Ihnen  kuiidgetan  wird.  Die  Achtung,  zu  welcher 
Ihr  Alter  und  Ihre  Verdienste  Ihnen  ein  so  wohl  gegründetes  Recht 
geben,  die  Erfahrungen,  welche  Sie  auf  dem  langen,  mühevollen 
Wege  Ihres  Lebens  gesammelt  haben,  werden  Ihnen  in  allen  schwie- 
rigen Fällen  des  nicht  ganz  leichten  Direktionsgeschäftes  Entschlos- 
senheit und  Ihren  Entschlüssen  Nachdruck  geben.  Wachen  Sie  vor 
allem  über  die  Herzen  der  Ihnen  anvertrauten  Jugend  und  schützen 
Sie  kräftigst  die  Diener  und  Lehrer  der  Religion,  die  in  Ihrem 
Bunde  stehen,  wo  diese  Ihre  Wirksamkeit  in  Anspruch  nehmen. 
Dem  Unglauben  und  der  Freigeisterei  sei  der  Weg  in  dieses  Heilig- 
tum versperrt!  Weder  unter  den  Lehrern  noch  Schülern  werden 
Sie  eine  Spur  davon  dulden;  Sie  werden  am  Eingange  stehen  und 
ihn  mutig  verteidigen  gegen  alles,  was  unheilig  ist.  Erhalten 
werden  sie  sorgsam  das  Band  der  Einheit  und  der  Freundschaft 
unter  den  Lehrern  dieser  Anstalt;  jedes  persönliche  Interesse  wird 
unter  Ihnen  dem  allgemeinen  weichen;  denn  nur,  wo  alle  Glieder 
des  Bundes  in  einem  Geiste  handeln,  nur  wo  freundliche  Kräfte 
vereint  nach  einem  Ziele  streben,  nur  da  kann  das  wahre  Gute 
gedeihen." 

Bis  zu  seinem  Lebensende  am  18.  März  1824  hat  der  greise 
Wallraf  unter  den  Direktoren  Seber  und  Heuser  getreulich  in 
diesem  Sinne  gewirkt.  Wiederholt  hatte  unser  Gymnasium  Gelegen- 

n*  163 


heit,  seinen  Verdiensten  um  Schule,  Wissenschaft  und  Kunst  laute 
und  feierliche  Anerkennung  zu  zollen.  Als  am  20.  Juli  1823  das 
goldene  Priesterjubiläum  Wallrafs  mit  außerordentlichem  Glänze  be- 
gangen und  das  Fest  zu  einer  allseitigen  Ehrung  des  „Erzbürgers" 
von  Köln  ausgestaltet  wurde,  da  trat  Gymnasiallehrer  Kreuser  als 
Abgeordneter  der  Wissenschaft,  Religionslehrer  Dr.  Smets  als  Ver- 
treter der  Kunst  auf,  und  der  eine  setzte  nach  einem  entsprechen- 
den Vortrag  dem  Gefeierten  einen  Lorbeerkranz,  der  andre  einen 
Blumenkranz  auf  das  ehrwürdige  Haupt.  Am  31.  März  1824  beging 
das  Gymnasium  in  seiner  Aula  eine  Gedächtnisfeier  an  den  heim- 
gegangenen  Vizedirektor  mit  Trauergesängen  der  Schüler  und  einer 
vom  Gymnasiallehrer  Kreuser  gehaltenen,  warm  empfundenen  Ge- 
dächtnisrede. An  demselben  Tage  verabschiedete  sich  Dr.  Bruch, 
der  nach  dem  Tode  Heusers  die  Direktionsgeschäfte  geführt  hatte, 
vom  Lehrerkollegium,  um  am  folgenden  Tage  die  Akten  dem  neuen 
Direktor  Dr.  Birnbaum  zu  überreichen.  Dieser  widmet  im  Programm 
desselben  Jahres  Wallraf  folgenden  Nachruf:  „In  dem  am  18.  Mai 
d.  J.  verstorbenen  hochverdienten  und  hochgefeierten  weil.  Herrn 
Dr.  F.  F.  Wallraf  hat  das  Gymnasium  seinen  Senior  und  Vize- 
direktor, einen  treuen,  wohlwollenden  Freund  verloren,  der  in  den 
letzten  Jahren  seines  reichen,  tätigen  Lebens  zwar  nicht  mehr  durch 
unmittelbares  Eingreifen  in  den  Gang  unseres  Unterrichts-  und 
Erziehwerkes,  aber  stets  durch  seinen  rastlosen  Eifer  für  alles 
Schöne  und  Gute,  durch  seine  zahlreichen  und  umfassenden  Samm- 
lungen, deren  Benutzung  uns  einst  die  wichtigsten  Hilfsmittel  bieten 
wird,  sowie  durch  sein  hohes  Beispiel  vielfältige  und  dauernde 
Verdienste  um  dasselbe  sich  erworben  hat  und  unter  uns  ein 
klassischer  Name  geworden  ist.  Möge  sein  Geist  freundlich  und 
segnend  über  uns  walten,  mögen  seine  großen  Ideen  und  Ent- 
würfe immer  mehr  ins  Leben  treten!" 


Literatur. 

Handschriften:  Wallrafs  handschrifüicher  Nachlaß  über  Schulangelegen- 
heiten im  Kölner  Stadtarchiv. 

Druckwerke:  Wallrafs  Werke,  insbesondere  Biographie  des  H.H.  Peter 
Anth,  Köln  1810.  —  Wallrafiana,  Stadtbibliothek  M.  5162.—  W.  Smets,  Ferd.  Franz 
Wallraf,  Köln  1825.  —  J.  v.  Bianco,  Die  alte  Universität  Köln  I,  Köln  1855  — 
L.  Ennen,  Zeitbilder  aus  der  neuern  Geschichte  der  Stadt  Köln,  Köln  1857.  —  Ders., 
Ausgewählte  Schriften  von  F.  F.  Wallraf,  Köln  1861.  —  [Buschmann,]  Die  akade- 
mischen Vorlesungen  zu  Köln  im  Jahre  1815:  Köln.  Ztg.  1897  Nr.  971  und  975  vom 
1.  und  2.  Nov. 

164 


Ohm,  der  grofse  Physiker. 

Von  Prof.  Dr.  Bermbach. 

Unter  den  Lehrern  der  Anstalt,  die  Weltruhm  erlangt  haben, 
nimmt  OHM  wohl  den  ersten  Platz  ein.  Mit  ihm  beginnt 
eine  neue  Epoche  in  der  Geschichte  der  Elektrophysik; 
es  beginnt  die  Zeit  zielbewußten  Arbeitens  über  die  strömende 
Elektrizität,  besonders  in  quantitativer  Hinsicht.  Das  Jahr,  in 
dem  Ohm  das  nach  ihm  benannte  Gesetz  aufstellte,  kann  als  das 

Geburtsjahr  der  Elek- 
trotechnik bezeichnet 
werden ;  diesesGesetz 
bildet  die  Grundlage 
für  die  Lehre  von  der 
fließenden  Elektrizität 
und  damit  zugleich 
die  Grundlage  für  die 
elektrische  Kraftüber- 
tragung; es  ist  eines 
jener  Naturgesetze, 
deren  Nutzen  auch 
von  dem  Laien  leicht 
erkannt  wird. 
Georg  Simon  Ohm') 
wurde  im  Jahre  1787 
zu  Erlangen  als  Sohn 
eines  Schlossermeis- 
ters geboren.  Sein 
Vater, dereinen  mäch- 
tigen Drang,  sich  mit 
den  Wissenschaften 
zu  beschäftigen,  in 
sich  fühlte,  betrieb  in 
seinen  Mußestunden  mathematische  und  philosophische  Studien. 
Er  brachte  es  darin  so  weit,  daß  er  seine  beiden  Söhne,  als  sie 
das  Gymnasium  besuchten,  in  der  Mathematik  unterrichten  konnte. 

')  Quellen  für  diesen  Artikel  waren  u.a.:  Allgemeine  deutsche  Biographie, 
Band  24;  Bauernfeind,  Gedächtnisrede  auf  G.  S.  Ohm,  den  Physiker,  München 
1882;  Handbuch  der  Elektrotechnik,  Band  I,  1;  E.  Hoppe,  Geschichte  der  Elek- 
trizität, Leipzig  1884. 


165 


Ohms  Universitätsstudium  begann  im  Jahre  1805  in  Erlangen. 
Als  Student  bildete  er  sich  im  Schlosserhandwerk  weiter  aus, 
damit  er  den  Vater  unterstützen  könne.  Die  mechanische  Fertig- 
keit, die  er  sich  infolgedessen  erwarb,  kam  ihm  später  bei 
seinen  physikalischen  Arbeiten,  besonders  als  ihm  nur  beschränkte 
Mittel  zur  Verfügung  standen,  sehr  zu  statten.  Schon  nach  drei 
Semestern  mußte  Ohm  wegen  Mangels  an  Mitteln  das  Studium 
unterbrechen,  und  er  nahm  eine  Stelle  an  einem  Unterrichtsinstitut 
an.  Es  erklärt  sich  so,  daß  er  erst  im  Oktober  1811  zum  Doktor 
promovierte.  Als  Privatdozent  in  Erlangen  hielt  er  mathematische 
Vorlesungen.  Aus  ökonomischen  Gründen  mußte  er  jedoch  sich 
nach  einer  gewinnbringenden  Beschäftigung  umsehen,  und  so 
finden  wir  ihn  zuerst  als  Lehrer  an  der  Königl.  Realstudienanstalt 
in  Bamberg,  dann  am  Progymnasium  derselben  Stadt.  An  der 
letzteren  Anstalt  mußte  er  zu  seinem  größten  Leidwesen  latei- 
nischen Unterricht  erteilen.  Später  wirkte  Ohm  als  Lehrer  in 
einer  Abteilung  der  Bamberger  Oberprimärschule.  Auch  hier  ent- 
sprach seine  Beschäftigung  nicht  seinen  Kenntnissen  und  Nei- 
gungen, wie  man  aus  einer  Eingabe  an  die  vorgesetzte  Behörde 
schließen  muß.  Es  wurde  ihm  die  Versicherung  gegeben,  daß 
er,  sobald  als  möglich,  wieder  im  Lehrfache  der  Mathematik 
angestellt  werden  solle. 

Im  Jahre  1817  erschien  Ohms  erstes  Werk:  „Grundlinien  zu 
einer  zweckmäßigen  Behandlung  der  Geometrie",  in  dessen  Vor- 
rede er  eine  Reihe  von  herrlichen  Gedanken  entwickelt.  Er  zeigt, 
daß  die  Geometrie  den  Übergang  vom  Anschauen  zum  Denken 
erleichtere;  ihr  höchst  einfacher  und  doch  so  vernunftgemäßer  Bau 
mache  sie  in  hohem  Grade  geeignet,  den  Menschen  aus  dem  Gebiete 
des  imitativen  Verstehens  in  dasjenige  des  produktiven  Forschens 
überzuleiten.  Diese  Schrift  trug  viel  dazu  bei,  daß  Ohm  vom 
Königlichen  Konsistorium  in  Köln  a.  Rh.  einen  Ruf  an  das  Jesuiten- 
gymnasium als  Oberlehrer  der  Mathematik  und  Physik  erhielt. 
Im  November  1817  trat  er  in  sein  neues  Amt  ein.  Ungefähr 
neun  Jahre  lang  hat  Ohm  an  unserer  Anstalt  höchst  segensreich 
gewirkt  und  die  mathematischen  Studien  zu  hoher  Blüte  gebracht. 
Zu  seinen  Schülern  gehörte  auch  der  berühmte  Mathematiker 
Lejeune-Dirichlet  und  der  verdienstvolle  Astronom  Heis.  Auch 
die  Schüler,  die  sich  für  die  exakten  Wissenschaften  nicht  er- 
wärmen konnten,  hingen  mit  großer  Liebe  und  Verehrung  an 
ihrem  Lehrer,  und  manche  haben  ihrer  Hochachtung  gegen  Ohm 
im  späteren  Leben  beredten  Ausdruck  verliehen.     Die  ganze  Art 

166 


und  Weise,  wie  Ohm  lehrte,   sein   frisches  und   gesundes  Wesen 
erwarben  ihm  die  Zuneigung  alier  seiner  Schüler. 

Während  seiner  Tätigl<eit  an  unserer  Anstalt  entstanden  die 
Arbeiten,  die  Ohms  Weltruhm  begründeten,  nämlich  seine  experi- 
mentellen und  theoretischen  Arbeiten  über  den  elektrischen  Strom. 
Was  man  damals  über  die  fließende  Elektrizität  wußte,  war  nicht 
viel.  Man  kannte  wohl  die  wichtigsten  Wirkungen  des  Stromes, 
u.  a.  auch  die  Ablenkung  der  Magnetnadel,  aber  von  dem  Wesen 
der  Kraft,  durch  die  die  Elektrizität  einer  Stromquelle  in  Be- 
wegung gesetzt  wird,  hatte  man  höchst  unklare,  ja  falsche  Vor- 
stellungen. Es  waren  aber  einige  Erscheinungen  und  Tatsachen 
aufgefunden  worden,  die  später  durch  das  Ohmsche  Gesetz  auf- 
geklärt wurden.  So  hatte  z.  B.  Pfaff  (1801)  gefunden,  daß  die 
Wirkung  der  Voltaschen  Säule  durch  Vergrößerung  der  Platten- 
oberflächen verstärkt  wurde.  Einige  Jahre  später  (1805)  stellte 
Ritter  einen  Satz  auf,  der  gleichsam  ein  Vorläufer  des  Ohmsclien 
Gesetzes  war;  er  sagt  nämlich,  daß  der  „Effekt"  der  Säule  (z.  B. 
die  Stärke  der  Wasserzersetzung)  bei  gleicher  Spannung  abhänge 
von  der  Summe  der  Leitung  in  der  Säule  und  dem  schließenden 
Bogen.  Ferner  hatte  Örstedt  gefunden,  daß  die  Erwärmung  eines 
Leiters  direkt  proportional  dem  Widerstände  sei.  Als  Vorarbeiter 
Ohms  kann  auch  der  Physiker  Erman  gelten,  der  die  Beobachtung 

gemacht  hatte,  daß  die  Spannung 
in  dem  äußeren  Stromkreise  von 
dem  Kupferpol  zum  Zinkpol  fällt, 
und  nachwies,  daß  die  Stromstärke 
in  allen  Querschnitten  des  Kreises 
die  gleiche  ist.  Endlich  ist  hier  der 
große  Davy  zu  nennen,  durch  dessen 
experimentelle  Arbeiten  der  Nach- 
weis zutage  gefördert  wurde,  daß 
das  Leitungsvermögen  der  Metalle 
im  umgekehrten  Verhältnisse  der 
Länge  und  im  geraden  Verhältnisse 
des  Querschnittes  stehe,  daß  aber 
die  Größe  der  Oberfläche  keine 
Rolle  spiele. 

Ohm  benutzte  für  seine  Arbei- 
ten ein  von  ihm  konstruiertes  Gal- 
vanometer, das  mit  einer  Coulomb- 
schen  Drehwage  in  mancher  Hinsicht  Ähnlichkeit  hat.    Der  Metall- 


Zn 


167 


streifen  (siehe  Figur),  der  vom  Strome  der  Hydroi<ette,  eines  gal- 
vanischen Elementes  mit  großen  Platten,  durchflössen  wird,  ist 
horizontal  gespannt;  der  Strom  wirkt  auf  die  an  einem  Kokonfaden 
aufgehängte  Magnetnadel  m.  Durch  Drehen  des  Torsionsknopfes  g 
kann  die  Nadel  wieder  in  ihre  Ruhelage  —  parallel  zu  dem  Metall- 
streifen —  zurückgeführt  werden.  Man  kann  also  die  Kraft,  mit 
der  der  Strom  auf  die  Nadel  in  der  Ruhelage  wirkt,  bestimmen. 
Daß  Ohm  keinen  sogenannten  Multiplikator,  d.  h.  ein  Galvanoskop 
mit  vielen  Drahtwindungen  benutzte,  der  in  den  Jahren  1820 — 25 
von  Schweigger,  Poggendorf,  Nobili  ausgebildet  worden  war, 
halte  seine  guten  Gründe.  Es  sei  hier  nur  erwähnt,  daß  bei  Ohms 
Meßinstrument  der  Widerstand  vom  Elemente  bis  zu  den  Queck- 
silbernäpfen ein  verschwindend  kleiner  war.  Die  Kraft,  mit  der 
der  Strom  auf  die  Nadel  einwirkte,  wenn  die  beiden  Quecksilber- 
näpfe durch  einen  kurzen  dicken  Draht  miteinander  verbunden 
waren,  also  die  Kraft  bei  Kurzschluß,  diente  als  Normalkraft. 
Wurden  statt  des  dicken  Drahtes  nacheinander  dünnere  Drähte 
von  verschiedenen  Längen  eingeschaltet,  so  ergab  sich  ein  „Kraft- 
verlust". Für  diesen  stellte  Ohm  eine  Formel  auf,  die  aber,  wie 
er  später  fand,  der  Wirklichkeit  nicht  entsprach.  Dieser  Umstand 
ist  darauf  zurückzuführen,  daß  die  Hydroketten  nicht  konstant 
sind,  eine  Entdeckung,  die  übrigens  Ohm  selbst  gemacht  hatte; 
er  fand,  daß  die  elektrische  Kraft  einer  geschlossenen  Hydrokette 
gleich  nach  Stromschluß  schnell  und  dann  langsam  abnimmt.  Er 
schreibt  dies  einer  Polarisation  im  Elemente  zu. 

Auf  Anraten  Poggendorfs  benutzte  Ohm  bei  seinen  späteren 
Versuchen  ein  Thermoelement,  dessen  eine  Lötstelle  durch  Wasser- 
dampf auf  100"  und  dessen  andere  durch  schmelzendes  Eis  kon- 
stant auf  0"  gehalten  wurde;  er  erhielt  so  eine  Stromquelle  von 
sehr  großer  Konstanz.  Die  gefundenen  Zahlen  für  die  elektrische 
Kraft  —  nach  unsern  heutigen  Begriffen  für  die  Stromstärke  — 
lassen  sich,  so  schloß  Ohm,  sehr  genügend  durch  die  Gleichung 

X  =  ; darstellen,  wo  x  die  Länge  des  untersuchten  Drahtes 

b  -hx 

ist,  a  und  b  aber  Konstante  sind,  von  denen  die  erstere  von  der 
erregenden  Kraft  und  die  letztere  vom  Leitungswiderstande  der 
übrigen  Teile  der  Kette  abhängig  ist.  Da  die  Widerstände  der 
Verbindungsdrähte,  die  nach  den  beiden  Näpfen  hinlaufen,  ver- 
schwindend klein  sind,  so  ist  b  der  innere  Widerstand  des  Ele- 
mentes. Ohm  führte  zuerst  die  erregende  Kraft  oder  Spannung 
als   treibende  Kraft,   den  Widerstand  als  eine  von  der  Spannung 

163 


unabhängige  Ursache  ein,  die  für  die  Stromstärke  in  zweiter  Linie 
maßgebend  ist;  die  Stromstärke  ist  für  ihn  die  in  der  Zeit- 
einheit bewegte  Elektrizitätsmenge ^).  Eben  diese  klare  Begriffs- 
bildung war  von  weittragendster  Bedeutung.  Ohm  zeigte  in  der- 
selben Abhandlung,  wie  man  auf  Grund  seines  Gesetzes  mehrere 
Elemente  schalten  müsse,  um  den  besten  Effekt  zu  erzielen. 

Eine  weitere  überaus  wichtige  Arbeit  Ohms  erschien  1826  in 
Poggendorfs  Annalen,  die  klärend  wirkte.  In  dieser  stellte  er 
theoretische  Betrachtungen  über  die  galvanische  Kette  an;  u.  a. 
wies  er  nach,  daß  sich  das  von  ihm  gefundene  Gesetz  auf  einen 
beliebigen  Teil  des  Stromkreises  übertragen  lasse.  Hierdurch  wurde 
er  zu  der  heutigen  Fassung  seines  Gesetzes  geführt,  in  der  das 
Leitungsvermögen,  der  Querschnitt  des  Leiters  und  seine  Länge 
sowie  die  „an  seinen  Enden  hervortretende  elektrische  Spannung" 
vorkommen. 

Das  zweite  Ohmsche  Gesetz,  das  weniger  bekannt  ist,  kann 
das  elektroskopische  genannt  werden;  es  zeigt,  wie  man  die 
„Stärke  der  Elektrizität"  in  jedem  Querschnitte  des  Kreises  aus- 
drücken kann. 

Um  sich  seinen  Studien  mit  mehr  Ruhe  widmen  zu  können, 
suchte  Ohm  im  April  1827  einen  längeren  Urlaub  nach,  der  ihm 
auch  unter  Anerkennung  seiner  Leistungen  gewährt  wurde.  Kurze 
Zeit  darauf  erschien  sein  schon  während  seiner  Tätigkeit  an 
unserer  Anstalt  fast  vollständig  ausgearbeitetes,  zusammenfassendes 
Werk:  „Die  galvanische  Kette,  mathematisch  bearbeitet".  Trotz 
seiner  eminenten  Bedeutung  wurde  dieses  in  der  ersten  Zeit  nicht 
allgemein  beachtet  und  nur  von  einigen  wenigen  Physikern  in 
seiner  Tragweite  erkannt;  ja,  andere  Forscher  äußerten  sich  sogar 
wegwerfend. 

Fechner  in  Leipzig,  damals  einer  der  hervorragendsten  Physiker, 
war  wohl  der  erste,  der  das  Ohmsche  Gesetz  experimentell  nach- 
prüfte. In  einer  1831  erschienenen  Schrift  sagt  er:  „Ich  kann  nicht 
umhin,  Ohm  das  Verdienst  beizumessen,  mit  den  wenigen  Buch- 
staben seiner  einfachen  Formel  eine  neue  Epoche  für  die  Lehre 
vom  Galvanismus  begründet  zu  haben."  Er  wünschte,  daß  den 
Verdiensten  Ohms  eine  größere  Anerkennung  zuteil  werde. 

Ohms  sehnlichster  Wunsch,  nämlich  der  Wunsch,  in  die  aka- 
demische Laufbahn  einzutreten,  wurde  von  der  vorgesetzten  Behörde 
nicht  gefördert.  Man  schreibt  dies  u.  a.  dem  Umstände  zu,  daß 
der  damalige  einflußreiche  Ministerialreferent  ein  Anhänger  der 

«)  Hoppe  I.  c.  S.  255. 

169 


Hegeischen  Philosophie  war,  welcher  Ohm  als  exakter  Natur- 
forscher keinen  Geschmack  abgewinnen  konnte.  Eine  mündliche 
Besprechung  mit  dem  Dezernenten  führte  zum  Bruche,  und  Ohm 
reichte  sein  Abschiedsgesuch  ein.  Nichts  konnte  ihn  bewegen, 
dieses  Gesuch  zurückzunehmen,  und  durch  Verfügung  vom  29.  März 
1828  wurde  er  aus  seiner  Stellung  als  Lehrer  unserer  Anstalt 
entlassen.  In  der  „Einladungsschrift  zu  den  öffentlichen  Prü- 
fungen" des  Jesuiten-Gymnasiums  vom  Jahre  1828  findet  man: 
„Der  vormalige  Oberlehrer  der  Mathematik,  Herr  Dr.  Ohm,  ist 
nunmehr  auf  sein  Ansuchen  definitiv  entlassen"  —  weiter  nichts! 
Die  folgenden  sechs  Jahre  waren  wohl  in  jeder  Hinsicht  die 
unfruchtbarsten  in  Ohms  Leben;  mit  dem  kleinen  Gehalt,  den 
er  für  drei  wöchentliche  Unterrichtsstunden  an  der  Allgemeinen 
Kriegsschule  zu  Berlin  bezog,  fristete  er  sein  Leben.  Diesem 
traurigen  Zustande  machte  die  Berufung  als  Lehrer  an  die  Poly- 
technische Schule  in  Nürnberg  ein  Ende.  Dort  blieb  Ohm  neun 
Jahre  lang. 

Das  Jahr  1837  bildet  in  Ohms  Leben  einen  Wendepunkt.  In 
diesem  legte  nämlich  Pouület  der  Akademie  der  Wissenschaften 
zwei  Arbeiten  vor,  die  zur  Folge  hatten,  daß  man  überall  Ohms 
Untersuchungen  über  den  elektrischen  Strom  Beachtung  schenkte. 
Besonders  in  England  beschäftigten  sich  die  Physiker  eingehend 
mit  der  von  Ohm  aufgestellten  Theorie  der  Kette  und  zollten  ihr 
volle  Anerkennung.  Die  Society  Royal  verlieh  dem  verdienstvollen 
Forscher  die  goldene  Copley-Medaille,  eine  der  höchsten  Aus- 
zeichnungen, die  einem  Naturforscher  damals  zuerkannt  werden 
konnte.  In  der  betreffenden  Urkunde  heißt  es:  „Wäre  das  Werk 
Ohms  früher  erkannt  worden,  so  hätte  sich  der  Fleiß  der  Ex- 
perimentatoren besser  gelohnt."  Einige  Jahre  später  wurde  Ohm 
„wegen  seiner  eminenten  mathematischen  und  physikalischen 
Untersuchungen"  zum  auswärtigen  Mitglied  der  Society  Royal 
gewählt. 

Außer  den  mehrfach  erwähnten  theoretischen  und  experi- 
mentellen Untersuchungen  über  den  elektrischen  Strom  verdankt 
die  Physik  Ohm  noch  verschiedene  höchst  wertvolle  Arbeiten  und 
Werke.  Von  hervorragender  Bedeutung  ist  zunächst  die  im  Jahre 
1843  in  Poggendorfs  Annalen  erschienene  Arbeit:  „Über  die 
Definition  des  Tones  und  die  Theorie  der  Sirene  und  ähnlicher 
tonbildender  Vorrichtungen".  In  dieser  zeigt  er,  daß  ein  tönender 
Körper  außer  dem  Grundtone  gleichzeitig  verschiedene  Obertöne 
erzeugt,    daß  man   also   jede   zu   einem    solchen  Tone    gehörige 

170 


periodische  Luftbewegung  in  eine  Reihe  pendeiartiger  Schwingungen 
zerlegen  könne.  Dieses  Gesetz,  das  vielfach  irrtümlicherweise 
Helmholtz  zugeschrieben  wird,  hat  Ohm  mathematisch  abgeleitet 
und  experimentell  geprüft. 

Im  Jahre  1849  erschien  „Die  analytische  Geometrie  am  schief- 
winkligen Koordinatensystem",  die  man  als  den  ersten  Band  eines 
großartig  angelegten,  leider  nicht  vollendeten  Werkes,  das  den 
Titel  Molekularphysik  erhalten  hat,  ansehen  muß.  Der  zweite  Band 
lag  schon  vollständig  ausgearbeitet  vor,  als  der  erste  erschien.  Ohm 
wollte  aber  diesen  Teil  nicht  eher  veröffentlichen,  bis  die  anderen 
Bände  ausgearbeitet  seien.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  den  eminenten 
Wert  der  vorhandenen  Teile  der  Molekularphysik  für  die  Wissen- 
schaft darzulegen.  Für  die  Physik  ist  es  ein  unersetzlicher  Verlust, 
daß  Ohm  sein  großes  Werk  nicht  vollenden  konnte. 

In  demselben  Jahre,  in  dem  der  erste  Teil  der  Molekular- 
physik erschien,  ging  Ohms  Herzenswunsch,  in  die  akade- 
mische Laufbahn  einzutreten,  endlich  in  Erfüllung.  Er  wurde 
als  Konservator  der  mathematisch-physikalischen  Sammlungen  bei 
der  Münchener  Akademie  der  Wissenschaften  und  als  Referent 
für  die  Telegraphenverwaltung  nach  München  berufen;  gleichzeitig 
wurde  ihm  die  Aufgabe  übertragen,  als  ordentlicher  Professor  Vor- 
lesungen über  Mathematik  und  Physik  an  der  Universität  zu  halten. 
Einige  Jahre  später  gab  Ohm  die  beiden  zuerst  genannten  Ämter 
ab  und  übernahm  die  Professur  für  Experimental-Physik.  Die  zahl- 
reichen Pflichten,  die  ihm  aus  seiner  Berufung  nach  München 
erwuchsen,  hatten  zur  Folge,  daß  er  an  seiner  Molekularphysik 
einstweilen  nicht  weiter  arbeiten  konnte.  In  München  verfaßte 
Ohm  eine  hochbedeutende  mathematische  Abhandlung  über  die 
Interferenzerscheinungen  in  Kristallplatten,  die  sich  durch  Scharf- 
sinn und  Eleganz  auszeichnet.  Von  seiner  hervorragenden  Begabung, 
seinen  umfassenden  Kenntnissen  und  seinem  ausgezeichneten  Lehr- 
talent legt  das  „Kompendium  der  Physik"  Zeugnis  ab.  „Dieses 
Lehrbuch,"  sagt  Bauernfeind,  Ohms  Biograph,  „gehört  zu  denje- 
nigen, weiche  den  Beweis  liefern,  daß  ein  gutes  Lehrbuch  zu 
schreiben  eine  wahrhaft  wissenschaftliche  Aufgabe  für  einen  gereiften 
Forscher  und  Lehrer  ist." 

Nachdem  Ohm  Ostern  1854  von  einem  Schlaganfall  betroffen 
worden  war,  der  einen  starken  Kräfteverfall  zur  Folge  hatte,  machte 
ein  zweiter  Schlaganfall  am  6.  Juli  1854  seinem  arbeitsreichen 
Leben  ein  Ende.  Kurze  Zeit  vor  seinem  Tode  soll  er  noch  von  seinen 
Erlebnissen  in  Köln  den  Bekannten,  die  um  ihn  waren,  erzählt  haben. 

171 


Ohm  war  ein  äußerst  schlichter  und  einfacher  Mann,  der  nur 
seinen  Schülern,  Amtsgenossen  und  Freunden  näher  bekannt  war 
und  näher  trat.  Seine  Bescheidenheit  erlaubte  ihm  nicht,  einem 
Maler  oder  Bildhauer  zu  sitzen.  Nur  einmal  hat  er  einem  Anfänger 
der  photographischen  Kunst  gestattet,  ihn  aufzunehmen.  Das  so 
entstandene  ziemlich  schlechte  Bild  und  eine  ohne  sein  Wissen 
angefertigte  Profilzeichnung  bildeten  die  Unterlagen  für  das  Öl- 
gemälde im  Sitzungssaale  der  Königl.  Akademie  der  Wissenschaften 
zu  München  und  für  die  Marmorbüste  in  der  bayerischen  Ruhmes- 
halle. Das  hier  reproduzierte  Bildnis  des  großen  Physikers  kann 
daher  nicht  den  Anspruch  auf  genaue  Ähnlichkeit  erheben. 

An  Auszeichnungen  hat  es  Ohm,  besonders  in  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens,  nicht  gefehlt.  Aber  auch  die  Nachwelt  hat 
das  Andenken  des  großen  Mannes  geehrt.  In  München  wurde  ihm 
ein  Marmorstandbild  errichtet.  Das  schönste  Denkmal  aber,  das 
man  Ohm  widmen  konnte,  besteht  darin,  daß  auf  dem  Pariser 
Kongreß  der  Physiker  und  Elektrotechniker  (1881)  eine  der  wich- 
tigsten elektrischen  Einheiten  nach  ihm  benannt  wurde  —  wahr- 
lich ein  Denkmal  aere  perennius. 


172 


Wilhelm  Smets. 

Von   Dr.  phil.  JOS.  GÖTZEN. 


Der  erste  katholische  Religionslehrer  für  das  nach  der  fran- 
zösischen Fremdherrschaft  neu  eingerichtete  königliche 
Gymnasium  an  Marzellen  wurde  am  2.  Februar  1824  ernannt. 
Es  war  WILHELM  SMETS,  der  neben  seiner  neuen  Stellung  zugleich 
Kaplan  und  Sonntagspre  diger  am  Dom  war  und 


als    Dichter    bereits 
Der  neue  Rel 
26    Jahre    alt; 
würdiges  uni 
ben   lag  be 
ihm:      Frei 
ger,     Frei 
fer      und 
Schauspie 
und    Leh 
er     gewe 
er  im  theo 
Beruf  das 
Lebens  ge 
Wilhelm 
seinem    vol     \ 
Philipp    Karl 
Johann      Wil 
war  geboren  am 
1796  in  Reval   im 
lande.      Sein     Vater 


Namen  hatte, 
slehrerwarerst 
iber  ein  merk- 
bewegtes Le- 
reits    hinter 
heitssän- 
heitskämp- 
Offizier, 
1er,  Literat 
rer      war 
sen,    ehe 
logischen 
Ziel  seines 
funden. 
Smets,   mit 
len    Namen 
JosephAnton 
heim      Smets, 
15.     September 
russischen       Est- 
Johann        Nikolaus 


iCCZ^  ^^-4-,i  ^■'r-'' — -^^ 

Wilhelm  Smets  stammte  aus  der  Gegend  von  Aachen.  Er  war  ein 
begabter,  aber  etwas  exzentrisch  veranlagter  Mann,  der  eine  ge- 
sicherte juristische  Laufbahn  verlassen  hatte,  um  eine  adelige  Dame 
zu  entführen  und  sich  mit  ihr  unter  dem  angenommenen  Namen 
StoUmers  der  Bühne  zu  widmen.  So  war  er  nach  Rußland  verschlagen 


173 


worden,  hatte  seine  treue  Gattin  nach  kurzer,  glücitlicher  Ehe 
verloren  und  lebte  in  Reval,  um  im  Auftrage  des  russischen  Gouver- 
neurs von  Estland,  des  bekannten  dramatischen  Dichters  August 
von  Kotzebue,  für  die  größeren  Städte  der  baltischen  Provinzen 
ein  wanderndes  Theater  zu  organisieren  und  zu  leiten.  Auf  der 
Suche  nach  geeigneten  Kräften  lernte  er  die  jugendliche  Schau- 
spielerin Sophie  Bürger  kennen,  deren  noch  schlummernde  Talente 
er  mit  sicherem  Blick  erkannte.  Er  übernahm  zunächst  die  Aus- 
bildung des  Mädchens,  das  als  Schauspielerkind  ohne  jede  Schule 
aufgewachsen  war  und  weder  lesen  noch  schreiben  konnte,  und 
um  sie  ganz  unter  seinen  Einfluß  zu  bringen,  heiratete  der  Dreißig- 
jährige die  kaum  Vierzehnjährige,  die  nicht  einmal  den  wirklichen 
Familiennamen  ihres  Mannes  kannte.  Das  ungleiche  Verhältnis 
führte  indessen  zu  baldiger  Trennung.  Nachdem  Smets  mit  seiner 
jungen  Frau  noch  ein  Jahr  am  Wiener  Theater  tätig  gewesen  war, 
ließ  er  sich  im  Jahre  1799  in  Breslau  gerichtlich  von  ihr  scheiden. 
Zwei  Kinder  hatte  sie  ihm  geboren,  von  denen  aber  nur  das  älteste, 
der  Sohn  Wilhelm,  am  Leben  geblieben  war.  Das  Theater  war 
ihm  verleidet,  und  er  wandte  sich  wieder  seiner  juristischen  Lauf- 
bahn zu,  die  er  dreizehn  Jahre  vorher  mit  so  vielen  Hoffnungen 
verlassen  hatte.  Er  kehrte  in  seine  Heimat  zurück  und  wirkte  in 
Aachen  als  praktischer  Rechtsgelehrter,  später  auch  als  Ergänzungs- 
richter beim  Friedensgericht.  Seine  Frau  heiratete  im  Jahre  1804 
in  Hamburg  den  Schauspieler  und  Sänger  Friedrich  Schröder.  Als 
Sophie  Schröder  ist  sie  —  ebenso  wie  ihre  Tochter  Wilhelmine 
Schröder-Devrient  —  berühmt  und  unsterblich  geworden,  „Deutsch- 
lands grösste  Tragödin",  die  bedeutendste  Vertreterin  der  klassischen 
Schauspielkunst. 

Das  Kind  aus  seiner  kurzen  Ehe  hatte  der  Vater  an  sich  ge- 
nommen. In  Aachen  wuchs  nun  der  begabte  Knabe  auf,  an  dessen 
Wiege  schon  der  ganze  Jammer  des  Lebens  gestanden  hatte.  Den 
ersten  Unterricht  übernahm  der  Vater  und  ein  Hauslehrer;  dann 
kam  der  Knabe  auf  die  Sekundärschule  in  Aachen.  In  den  Schüler- 
listen der  ficole  secondaire  communale  d'Aix-la-Chapelle,  die  von 
1806 — 1811  reichen,  ist  er  eingetragen  als  Guillaume  Smets  de 
St.  Petersbourg{!),  zuletzt  als  Schüler  der  dritten  Klasse;  er  ist  also 
trotz  einiger  Prämien,  die  er  erhielt,  nicht  immer  versetzt  worden. 
Besondere  Vorliebe  und  Veranlagung  zeigte  der  Knabe  für  die  Dicht- 
kunst und  die  Malerei;  der  Vater  beförderte  diese  Neigungen  und 
suchte  seinen  Sohn  schon  frühzeitig  für  die  besten  Erzeugnisse 
der  deutschen  Literatur  zu  begeistern.    Wenn  auch  die  sorgende 

174 


Liebe  der  Mutter  dem  Knaben  fehlte,  so  verlebte  er  doch  in  Aachen 
glückliche  Kinderjahre,  an  die  er  sich  im  späteren  Leben  gern 
erinnerte.  Aber  im  Jahre  1812  entriß  ihm  der  Tod  den  Vater  plötzlich 
im  besten  Mannesalter.  Verwandte  mußten  sich  jetzt  des  Eltern- 
losen annehmen,  der  nicht  wußte,  daß  er  noch  eine  Mutter  hatte. 
Auf  Veranlassung  seiner  Großmutter  kam  er  im  Jahre  1812  auf 
das  Lyzeum  in  Bonn.  Hier  herrschte  ein  ganz  französischer  Geist, 
der  dem  für  sein  deutsches  Vaterland  begeisterten  jungen  Smets 
in  keiner  Weise  zusagte,  zumal  er  vom  Vater  einen  starken  Wider- 
willen gegen  alles  Französische  eingesogen  hatte.  Das  Studium 
der  deutschen  Dichter,  seine  Lieblingsbeschäftigung,  wurde  ihm  in 
Bonn  untersagt,  und  ihre  Werke,  deren  Besitz  sein  Stolz  und  seine 
Freude  war,  wurden  ihm  abgenommen.  Aber  man  konnte  ihn  nicht 
hindern,  daß  er  in  eigenen  Dichtungen  ihnen  nachzueifern  strebte; 
namentlich  Schiller,  der  beredte  Verteidiger  der  Freiheit,  war  sein 
Vorbild,  für  das  er  auch  seine  Mitschüler  zu  begeistern  suchte.  Mit 
gleichgesinnten  jugendlichen  Schwarmgeistern  gründete  er  einen 
geheimen  Bund,  dessen  Mitglieder  schworen,  für  Deutschlands  Ehre 
und  Freiheit  Gut  und  Blut  zu  opfern.  Aber  die  Sache  wurde  ver- 
raten, und  Smets  bekam  von  der  Entdeckung  noch  gerade  früh- 
zeitig genug  Ahnung,  um  sich  einer  strengen  Bestrafung  durch 
die  Flucht  nach  Aachen  entziehen  zu  können.  Er  hielt  sich  bei 
seinen  Verwandten  in  der  Nähe  von  Aachen  verborgen,  und  da  bald 
darauf  infolge  des  siegreichen  Vorgehens  der  Verbündeten  gegen 
Napoleon  die  französische  Herrschaft  am  Rhein  ins  Wanken  geriet, 
brachte  der  unzeitige  Eifer  für  Deutschlands  Ehre  dem  jungen 
Heißsporn  weiter  keine  üblen  Folgen.  Nur  mit  Mühe  hielten  die 
Verwandten  den  schwärmerischen,  aber  körperlich  schwachen  Jüng- 
ling davon  zurück,  beim  Übergang  der  verbündeten  Truppen  über 
den  Rhein  in  die  Reihen  der  Verteidiger  des  Vaterlandes  einzutre- 
ten. Er  lebte  jetzt  eine  Zeitlang  in  Aachen  und  dessen  Umgegend 
bei  seinen  Verwandten,  hauptsächlich  mit  dem  Studium  der  deutschen 
Schriftsteller  und  eigenen  dichterischen  Versuchen  beschäftigt.  Im 
Herbst  des  Jahres  1814  übernahm  er  eine  Hauslehrerstelie  bei  dem 
Freiherrn  von  Mylius  auf  Schloß,  Reuschenberg  bei  Opladen.  Hier 
verlebte  er  angenehme  und  behagliche  Tage  im  häuslichen  Kreise 
einer  feingebildeten  Familie,  die  den  für  alles  Edle  und  Schöne 
begeisterten  Jüngling  wie  einen  der  Ihrigen  behandelte.  Sein  dich- 
terisches Schaffen  fand  in  der  anregenden  Umgebung  reichliche 
Nahrung.  Aber  diese  schöne  Ruhe  sollte  nicht  lange  währen.  Als 
Napoleon    im   März    1815   den  Versuch    machte,   seine   verlorene 

175 


Herrschaft  wiederzugewinnen,  da  hielt  es  den  jungen  Smets  nicht 
mehr  zurück.  Mit  warmen  Empfehlungen  seines  Gönners,  des 
Freiherrn  von  Mylius,  der  seinen  Hauslehrer  nur  ungern  scheiden 
sah,  trat  er  in  die  Schar  der  niederrheinischen  Freiwilligen  ein, 
in  der  er  zur  Anerkennung  für  seine  begeisterten  patriotischen 
Dichtungen  bald  zum  Offizier  befördert  wurde,  eine  Auszeichnung, 
auf  die  er  mit  Recht  nicht  wenig  stolz  war.  Er  wurde  dem  Haupt- 
quartier Gneisenaus  zugeteilt,  der  den  jungen  Offizier  gern  in  seiner 
Nähe  sah.  Smets  nahm  teil  an  der  Schlacht  bei  Belle-Alliance; 
er  blieb  unverwundet  und  zog  mit  dem  siegreichen  Heere  nach 
Paris.  Nach  Abschluß  des  zweiten  Pariser  Friedens  schied  er  im 
Anfang  des  Jahres  1816  aus  dem  Heeresdienste  als  Leutnant  des 
3.  Rheinischen  Landwehr-Infanterie-Regiments.  Er  kehrte  nun 
wieder  nach  Aachen  zurück  und  veröffentlichte  hier  seine  erste 
Gedichtsammlung  „Versuche  in  Gedichten"  (Köln  1816).  Im  Sommer 
des  Jahres  1816  übernahm  er  eine  Erzieherstelle  bei  dem  nach 
Österreich  ausgewanderten  Freiherrn  von  Forst-Gudenau,  der  da- 
mals mit  seiner  Familie  bei  seinem  Schwager,  dem  Grafen  von 
Mirbach-Harff,  zu  Besuch  weilte.  Im  Herbst  desselben  Jahres  reiste 
Smets  mit  seinen  beiden  Zöglingen  nach  Wien.  Die  Reise  ging 
den  Rhein  hinauf  bis  Straßburg,  dann  bis  Ulm  und  von  hier  die 
Donau  hinunter  nach  Wien.  Die  Fahrt  war  für  den  jungen  Dichter 
reich  an  bleibenden  Eindrücken  und  bot  ihm  Stoff  für  zahlreiche 
Gedichte.  Kaum  ein  paar  Monate,  nachdem  er  in  Wien  ange- 
kommen war,  gab  er  plötzlich  seine  Stellung  als  Erzieher  auf.  Ein 
unerwartetes  Ereignis,  das  tief  in  sein  Leben  eingriff,  bestimmte 
ihn  dazu:  er  hatte  seine  Mutter  wiedergefunden.  Der  Vater  sowohl 
wie  seine  Anverwandten  hatten  den  jungen  Smets  in  dem  Glauben 
gelassen,  daß  seine  Mutter  tot  sei.  Aber  ein  vorwitziger  Einblick 
in  die  Papiere  seines  geistlichen  Oheims,  des  Kanonikus  Johann 
Franz  Smets  in  Aachen,  hatte  ihn  in  seinem  bisherigen  Glauben 
wankend  gemacht.  Qualvoll  lastete  die  Ungewißheit  über  das 
Schicksal  seiner  Mutter  auf  ihm.  Vielleicht  hatte  ihn  der  Gedanke 
an  seine  Mutter  mitbestimmt,  die  Erzieherstelle  bei  dem  Freiherrn 
von  Forst-Gudenau  anzunehmen.  Aber  zweifellos  war  es  ein  Un- 
recht, wenn  die  Familie  glaubte,  er  habe  auf  diese  Weise  nur  nach 
Wien  zu  seiner  Mutter  gelangen  wollen,  denn  Smets  wußte  nicht, 
wo  seine  Mutter  war.  Eines  Abends  war  er  im  Burgtheater,  wo 
Sophie  Schröder  damals  auftrat.  Plötzlich  erkannte  er  in  ihr  die- 
jenige, die  ihn  geboren  hatte.  Er  hat  uns  die  Erkennungsszene 
selber  in  einem  Gedichte  geschildert: 

176 


,Gott,  wie  wurde  mir  da!  Ganz  deutlicli  vernahm  ich  die  eigne 
Stimme,  so  wie  sie  mir  selbst  tönt  aus  der  volleren  Brust, 
Tränenden  Blicks  entdeckt'  ich  im  Antlitz  die  eigenen  Züge: 
Stirn  und  Augen  und  Mund,  selbst  auch  das  Grübchen  im  Kinn. 
—  „Mutter,  Du  bist's!  Ich  zweifle  nicht  mehr,  es  lebet  dein  Kind  noch!" 
„„Wilhelm!  mein  ältester  Sohn!'"  Rief  sie,  und  sank  mir  ans  Herz." 
Man  kann  sich  leicht  deniien,  wie  tief  dieses  unerwartete 
Wiederfinden  einer  so  lange  tot  Geglaubten  in  das  Gemüt  des 
empfänglichen  Jünglings  eingriff.  Mutter  und  Sohn  blieben  seit 
jener  Stunde  in  inniger  Liebe  verbunden,  und  nichts  vermochte 
den  Sohn  auch  später,  nachdem  er  Priester  geworden  war,  in  der 
Liebe  zu  seiner  Mutter  wankend  zu  machen,  obgleich  das  Ver- 
hältnis bei  manchen  engherzigen  Seelen  Anstoß  erregte.  In  Wien 
begann  nun  für  Smets  ein  neues  Leben  voller  Hoffnungen  und 
Pläne.  Er  widmete  sich  der  Erziehung  seiner  jüngeren  Halbge- 
schwister und  besuchte  fleißig  das  Theater  und  die  Kunstsamm- 
lungen. Durch  seine  Mutter  wurde  er  bald  mit  hervorragenden 
Künstlern,  Gelehrten  und  Schriftstellern  bekannt.  Nicht  ohne  Ein- 
fluß seiner  Mutter  faßte  er  den  Plan,  selber  Schauspieler  zu  werden. 
Er  trat  in  mehreren  Rollen  auf  und  fand  auch  Anerkennung;  aber 
schon  nach  kurzer  Zeit  kam  er  doch  zur  Erkenntnis,  daß  die 
Bühne  nicht  der  Ort  für  seine  Talente  sei.  Das  Leben  eines 
Schauspielers,  von  dem  er  bisher  nur  ideale  Vorstellungen  gehegt 
hatte,  zeigte  ihm  bald  auch  seine  vielen  Schattenseiten,  und  so 
gab  er  den  Plan,  in  die  Fußstapfen  seiner  berühmten  Mutter  zu 
treten,  wieder  auf.  Nur  etwa  drei  Monate  hatte  seine  Bühnenlauf- 
bahn gedauert.  Er  wandte  sich  nun,  um  seinen  Lebensunterhalt 
zu  verdienen,  der  Schriftstellerei  zu,  da  seine  Mutter  nicht  in  der 
Lage  war,  ihn  zu  unterstützen.  Er  wurde  Mitarbeiter  an  verschie- 
denen Zeitungen,  für  die  er  Theaterrezensionen  und  andere  Bei- 
träge lieferte.  Mit  allen  literarisch  bedeutenden  Männern  des  da- 
maligen Wien  war  er  bekannt  geworden,  von  denen  nur  Zacharias 
Werner,  Anton  und  Georg  Passy  und  Johann  Emanuel  Veith 
genannt  seien.  Auch  mit  dem  bekannten  Redemptoristenpater 
Clemens  Maria  Hofbauer,  den  die  katholische  Kirche  heute  zu 
ihren  Heiligen  zählt,  kam  er  in  Verbindung.  Hofbauer,  der  schon 
so  mancher  wankenden  Existenz  wieder  aufgeholfen  hatte,  nahm 
sich  auch  des  verzweifelnden  Smets  an,  dessen  Lage  von  Tag  zu 
Tag  drückender  und  hoffnungsloser  geworden  war.  Auf  Hofbauers 
und  der  übrigen  Freunde  Rat  verließ  der  junge  Dichter,  um  viele 
Hoffnungen  ärmer,  im  Spätherbst  des  Jahres  1817  die  Stadt  Wien, 
um   wieder  an   den    Rhein   zurückzukehren.    Ohne   ausreichende 

12  177 


Mittel  trat  er  die  Reise  an,  zu  deren  Fortsetzung  er  sich  unter- 
wegs das  Geld  erst  verdienen  mußte.  Von  Linz  aus,  wo  er  des 
Erwerbes  wegen  längeren  Aufenthalt  nahm,  schrieb  er  in  drücken- 
der Lage  an  seine  Aachener  Jugendfreunde,  die  ihn  daraufhin 
mit  einigen  Mitteln  für  die  Weiterreise  versahen.  So  kam  er  unter 
manchen  Entbehrungen  nach  Coblenz.  Durch  die  Hilfe  von  Joseph 
Görres  erhielt  er  hier  eine  Anstellung  als  Lehrer  an  der  Kriegs- 
schule und  später  als  Hilfslehrer  am  Gymnasium.  In  Coblenz 
veröffentlichte  er  mehrere  seiner  Werke,  die  zum  Teil  schon  früher 
entstanden  waren.  Im  Jahre  1818  erschien  sein  „Taschenbuch  für 
Rheinreisende",  im  selben  Jahre  die  „Poetischen  Fragmente  aus 
Theobalds  Tagebuch"  und  das  Trauerspiel  „Die  Blutbraut";  im 
Jahre  1819  folgten  das  Trauerspiel  „Tassos  Tod"  und  das  Schau- 
spiel „Soldatenglück".  Das  Jahr  1819  bedeutet  den  Wendepunkt 
für  sein  Leben;  er  hatte  den  Entschluß  gefaßt,  Priester  zu  werden. 
Die  Beweggründe  zu  diesem  Schritt  sind  nicht  ganz  aufgeklärt; 
aber  er  hatte  so  viele  Hoffnungen  zu  Grabe  getragen,  daß  es  ihm 
leicht  und  begehrenswert  erscheinen  mochte,  der  Welt  zu  entsagen 
und  im  Dienste  der  Religion  Ruhe  und  Frieden  zu  finden.  Indessen 
zur  Ausführung  seines  Vorhabens  fehlte  es  ihm  an  Geld.  Da  kam 
ihm  Hilfe  von  einer  Seite,  von  der  er  es  wohl  am  wenigsten 
erwartet  hätte:  die  jüdische  Gemeinde  in  Coblenz  setzte  ihm  für 
drei  Jahre  ein  Gehalt  aus,  das  ihm  das  Studium  der  Theologie 
ermöglichen  sollte.  Das  war  so  gekommen.  Smets  hatte  in  einer 
Theaterkritik  energisch  Front  gemacht  gegen  eine  judenfeindliche 
Posse  „Unser  Verkehr",  die  damals  in  Deutschland  über  viele 
Bühnen  ging,  und  hatte  es  dadurch  erreicht,  daß  das  Stück  nicht 
mehr  gegeben  wurde.  Aus  Dankbarkeit  hatte  nun  die  jüdische 
Gemeinde  den  Beschluß  gefaßt,  ihrem  Verteidiger  auf  die  ange- 
gebene Weise  zu  helfen.  Smets  weigerte  sich  zwar  zunächst,  das 
Geschenk  anzunehmen;  aber  den  Bitten  des  Juden,  der  als  Abge- 
sandter der  Gemeinde  bei  ihm  erschienen  war  und  die  erste  Rate 
des  Gehaltes  bereits  in  blanken  Talern  auf  den  Tisch  gezählt 
hatte,  konnte  er  doch  nicht  widerstehen,  und  er  dankte  mit 
Tränen  in  den  Augen.  Im  Herbst  des  Jahres  1819  nahm  er  von 
seinen  Wohltätern,  Freunden  und  Schülern  in  Coblenz  Abschied 
und  ging  nach  Münster,  wo  damals  Georg  Hermes  durch  seine 
theologischen  Vorlesungen  Aufsehen  erregte.  Im  Jahre  1820  trat 
Smets  zur  Fortsetzung  seiner  Studien  in  das  Priesterseminar  in 
Köln  ein.  Am  14.  Februar  1821  erhielt  er  von  der  Universität 
Jena   die   philosophische  Doktorwürde   auf  Grund   einer   Schrift: 

178 


„Was  bestimmt  den  Menschen,  seine  Vorstellungen  durch  die 
Sprache  auszudrücken,  und  auf  welchem  Wege  gelangt  er  zur 
eigentlichen  Sprache?".  Im  selben  Jahre  veröffentlichte  er  eine 
Sammlung  von  Aphorismen  unter  dem  Titel  „Hieroglyphen  für 
Geist  und  Herz",  die  im  Jahre  1823  in  zweiter  Auflage  erschien. 
Am  8.  Mai  1822  wurde  er  in  Köln  zum  Priester  geweiht.  Die 
geistliche  Behörde  hielt  ihn  in  Köln,  obgleich  seine  Coblenzer 
Freunde  sich  für  eine  Überweisung  nach  seinem  früheren  Wirkungs- 
kreise verwandten.  Als  Domkaplan  und  Sonntagsprediger  am  Dom 
wurde  er  bald  in  der  ganzen  Stadt  bekannt;  von  allen  Seiten 
strömte  man  herbei,  um  seine  inhaltreichen,  von  dichterischem 
Schwung  getragenen  Reden  zu  hören.  Zur  Erweiterung  und  Ver- 
tiefung seiner  theologischen  Kenntnisse  besuchte  er  noch  über  ein 
Jahr  lang  einzelne  Vorlesungen  im  Priesterseminar.  Am  2.  Februar 
1824  erfolgte  seine  Ernennung  zum  Religionslehrer  am  königlichen 
katholischen  Gymnasium;  seine  Stellung  am  Dom  behielt  er  bei. 
Der  neue  Religionslehrer  widmete  sich  seiner  Aufgabe  mit 
Ernst  und  Eifer,  und  er  hatte  Erfahrungen  genug  gesammelt,  um 
der  heranwachsenden  Jugend  ein  Rater  und  Führer  sein  zu  können. 
Über  die  Zeit  dieser  Lehrtätigkeit  sagt  er  in  seinem  Gedichte  „Des 
Dichters  Lebensbilder",  das  dreizehn  Bilder  aus  seinem  „ernsten 
Lebensgang"  skizziert: 

„Das  achte  zeigt  daneben 
Manch  reines  Jünglingsherz, 
Mir  innig  hingegeben. 
Mich  fiügelnd  himmelwärts; 
Des  Schülers  Blicke   sehen 
Begeistert  auf  mich  hin, 
Nicht  ahnend  mein  Gestehen, 
Wie  unwert  daß  ich  bin." 

Die  Schüler  hingen  mit  großer  Liebe  und  Verehrung  an  ihrem 
Lehrer,  der  ihnen  nicht  nur  Wissensstoff  beizubringen,  sondern  sie 
vor  allem  zu  einer  lebendigen  Betätigung  der  Religion  anzuleiten 
suchte.  Die  meisten  bewahrten  ihm  auch  im  späteren  Leben  treue 
Anhänglichkeit.  „Er  übte  etwas  von  der  Einwirkung  des  alten 
Hellenen  Sokrates,"  sagt  einer  seiner  Schüler,  „so  daß  er  in  jedem 
der  jüngeren  Freunde  die  eigentümlichen  Geisteskräfte  aufsuchte 
und  weckte.  Er  erzählte  gern  und  anziehend,  besonders  aus  den 
Feldzügen."  Er  selbst  schreibt  über  seinen  Unterricht  in  einem 
Briefe  an  seine  Mutter:  ,,Auch  mein  Unterricht  am  Gymnasium 
gewinnt   immer  mehr  Aufsehen,  weil   ich  mit  scharfer,  beizender 

12»  179 


Kritik,  geschichtlicher  Forschung  und  getreuem  Mute  und  Ver- 
trauen auf  meine  gute  Sache  den  reinen,  vernunftgemäßen  Katho- 
lizismus aufzustellen  mich  bemühe;  genug  verlästert  von  den 
dunkeln  Kreaturen,  die  durch  ihre  Unwissenheit  ebensogut  wieder 
den  tötenden  Spalt  einer  Reformation  verursachen  würden,  wie 
vor  dreihundert  Jahren,  wenn  jetzt  nicht  welche  unter  uns  auf- 
stehen, die  Feuereifer  mit  Gelehrsamkeit  und  Festigkeit  mit  Ruhe 
verbinden."  Die  Einwirkung  auf  seine  Schüler  beschränkte  sich 
nicht  auf  den  Unterricht.  Er  sammelte  einen  Kreis  von  Jünglingen 
um  sich,  denen  er  Vorträge  aus  allen  Wissensgebieten  hielt;  beson- 
ders für  die  Erzeugnisse  der  schönen  Literatur  suchte  er  sie  zu 
erwärmen  und  in  deren  Verständnis  sie  einzuführen.  Da  er  selber 
ein  guter  Deklamator  und  Rezitator  war,  so  boten  gerade  diese 
Stunden  den  Teilnehmern  reiche  Anregung.  Einmal  freilich  wurden 
ihm  von  seiner  Gymnasialjugend  die  Fenster  eingeworfen,  weil 
er  einige  Schüler,  die  er  auf  verbotenen  Wegen  in  einer  Wirtschaft 
ertappte,  zur  Anzeige  gebracht  hatte.  Aber  das  war  nur  ein  kleines 
Augenblicksintermezzo,  ein  mehr  humoristisch  aufzufassender 
Rachestreich,  der  auf  die  allgemeine  Verehrung,  die  Smets  unter 
seinen  Schülern  genoß,  keinen  Rückschluß  gestattet. 

Obgleich  Smets  durch  sein  Doppelamt  nicht  wenig  in  An- 
spruch genommen  war,  ruhte  doch  seine  schriftstellerische  Tätig- 
keit nicht.  In  Köln  herrschte  gerade  damals  ein  ziemlich  an- 
geregtes literarisches  Leben,  an  dem  Smets  sich  eifrig  beteiligte. 
Selbst  in  das  Getriebe  des  Karnevals,  für  dessen  Hebung  und  Neu- 
belebung damals  die  bedeutendsten  Männer  in  Köln  ihre  Kraft 
einsetzten,  wurde  er  hineingezogen;  der  Geistliche  und  Religions- 
lehrer wurde,  wenn  die  närrische  Zeit  kam,  gelegentlich  auch 
zum  Karnevalsdichter.  Im  Januar  1825  hatte  das  Karnevalskomitee 
den  Altmeister  Goethe,  der  das  Kölner  närrische  Treiben  mit  In- 
teresse verfolgte,  zur  Teilnahme  am  Karneval  eingeladen.  Goethe 
antwortete  bald  darauf  mit  einem  launigen  Gedichte.  Das  Komitee 
bat  nun  Smets,  einen  poetischen  Gegengruß  an  Goethe  zu  ver- 
fassen. „Durch  dieses  Gedicht,"  schrieb  er  an  seine  Mutter, 
„welches  sich,  wie  das  allgemeine  und  von  Gelehrten  und  Un- 
gelehrten ausgesprochene  Urteil  aussagte,  neben  dem  Goetheschen 
nicht  unwürdig  zeige,  habe  ich  mir  einen  neuen  großen  Stein  im 
Spielbrette  der  öffentlichen  Meinung  gewonnen."  Im  Jahre  1824 
hatte  Smets  seine  zweite  Sammlung  ,, Gedichte"  herausgegeben. 
Im  Herbst  desselben  Jahres  machte  er  eine  Reise  nach  Wien  zu 
seiner  Mutter,  die  ihn  dann  ein  Jahr  darauf,  bei  Gelegenheit  eines 

180 


Gastspieles  in  Aachen,  mit  ihrem  Besuch  erfreute.  Obgleich  so 
die  Kölner  Zeit  unserem  Smets  manche  Freude  und  Anregung 
brachte,  so  fehlte  es  doch  auch  nicht  an  Enttäuschungen  und 
trüben  Erfahrungen.  Sein  für  die  damalige  Zeit  etwas  freies  und 
weltmännisches  Auftreten,  das  nie  ganz  den  gewesenen  Schau- 
spieler verleugnete,  seine  Herliunft  und  der  Verkehr  mit  seiner 
Mutter,  der  Schauspielerin,  deren  Leben  nicht  ohne  Fehltritte  war, 
und  nicht  zuletzt  seine  dichterische  Tätigkeit  erregte  bei  manchen 
seiner  geistlichen  Amtsbrüder  Anstoß;  man  nannte  ihn  wohl 
spöttisch  den  ,, verdorbenen  Schauspieler".  Der  damalige  Erz- 
bischof von  Köln  Graf  von  Spiegel  war  ihm  zwar  sehr  gewogen 
und  wollte  ihn  durch  Beförderung  zum  Domkapitular  ganz  in 
seine  Nähe  ziehen;  aber  dieser  Plan  scheiterte  am  Widerstand  der 
älteren  Domherren,  angeblich  wegen  zu  großer  Jugend  des 
Kandidaten.  Diese  Kränkung  empfand  Smets  um  so  schwerer,  als 
er  nach  Beförderung  nicht  gestrebt  hatte.  Auch  die  Leitung  der 
von  ihm  gegründeten  katholischen  Monatsschrift,  die  er  vom  Jahre 
1826—1828  führte,  brachte  ihm  Anfeindungen  und  Verdruß.  Zu- 
dem litt  er  öfter  an  Brustkrampf,  so  daß  er  gezwungen  war,  von 
der  ihm  liebgewordenen  Stellung  als  Domprediger  sich  entbinden 
zu  lassen.  Er  wollte  fort  aus  Köln  und  sehnte  sich  nach  der  Ruhe 
einer  ländlichen  Pfarre.  Im  März  1828  wurde  sein  Wunsch  erfüllt: 
es  wurde  ihm  die  Pfarre  Hersei  bei  Bonn  übertragen.  Indessen 
ein  Unterleibsleiden,  an  dem  er  krankte,  verschlimmerte  sich  der- 
artig, daß  er  sich  einer  schweren  Operation  unterziehen  mußte, 
die  zwar  glücklich  gelang,  aber  doch  nicht  imstande  war,  ihm  für 
immer  die  volle  Gesundheit  wiederzugeben.  In  Hersei  war  er 
neben  seiner  seelsorgerischen  Tätigkeit  auch  bald  wieder  schrift- 
stellerisch eifrig  beschäftigt.  Im  Jahre  1829  veröffentlichte  er  eine 
„Kurze  Geschichte  der  Päpste",  der  im  Jahre  1830  als  Supplement 
,,Das  Märchen  von  der  Päpstin  Johanna"  folgte.  Im  Jahre  1831 
erschienen  seine  ,,Neue  Dichtungen  aus  den  Jahren  1824—1830", 
im  Jahre  1832  ,, Spruchlieder".  Eine  Reihe  kleinerer  Schriften 
religiösen  oder  polemischen  Inhaltes  lief  nebenher.  Besuche  seiner 
Mutter  und  seiner  Schwester  Wilhelmine  sowie  kleinere  Reisen 
brachten  angenehme  Abwechslung  in  sein  stilles  Pfarrerleben.  Wenig 
erfreulich  stand  es  aber  mit  seiner  Gesundheit.  Das  wirkte  auch 
ungünstig  auf  seine  seelische  Verfassung;  wie  so  viele  kränkliche 
Menschen  war  er  empfindsam  und  leicht  reizbar.  Eine  kleine 
Veranlassung  genügte,  um  ihm  seine  Pfarrstelle  zu  verleiden. 
Seine  Pfarrkinder  sahen  ihn  nur  sehr  ungern  scheiden.  Im  Oktober 

181 


1832  übernahm  er  die  Stelle  eines  Oberpfarres  in  Münstereifel, 
mit  der  zugleich  die  Schulpflege  über  26  Ortschaften  verbunden 
war.  Den  Anstrengungen,  die  dieses  Amt  von  ihm  forderte,  war 
sein  schwächlicher  Körper  nicht  lange  gewachsen.  Unzufriedenheit 
und  Uniuhe  kam  über  ihn.  Im  November  1835  vertauschte  er 
seine  Stelle  mit  der  eines  Oberpfarrers  in  Nideggen ;  aber  schon 
im  Herbst  1836  verließ  er  Nideggen  wieder,  um  die  Pfarre  Blatz- 
heim  im  Kreise  Bergheim  zu  übernehmen.  Nur  wenige  Monate 
verwaltete  er  diese  Stelle.  Da  seine  Kränlilichkeit  immer  mehr 
zunahm,  sah  er  sich  gezwungen,  um  seine  Versetzung  in  den 
Ruhestand  zu  bitten.  Sein  Gönner,  der  Erzbischof  Graf  von  Spiegel, 
war  inzwischen  gestorben.  Im  Jahre  1837  erhielt  er  seine  Ent- 
lassung unter  Gewährung  einer  kleinen  Pension. 

Smets  begab  sich  nun  wieder  nach  Köln  und  lebte  hier  ganz 
seinen  literarischen  Arbeiten.  Aber  die  Einnahmen  aus  dieser 
Tätigkeit  reichten  neben  der  kärglichen  Pension  nicht  aus,  seinen 
Lebensunterhalt  zu  bestreiten.  Er  geriet  manchmal  in  arge  Not, 
aus  der  ihn  der  Verkauf  des  Wenigen,  was  er  besaß,  darunter 
auch  eines  Teiles  seiner  wertvollen  Bibliothek,  nur  für  kurze  Zeit 
befreite.  Seine  Mutter  und  besonders  seine  Schwester,  wie  auch 
einige  gute  Freunde  halfen  ihm  öfter  aus  der  Verlegenheit.  Im 
Jahre  1838  veröffentlichte  er  seine  neuesten  Dichtungen  unter  dem 
Titel  „Efeukränze",  nachdem  eine  andere  Sammlung  „Kleinere 
epische  Dichtungen"  bereits  im  Jahre  1835  erschienen  war.  Dann 
arbeitete  er  an  einer  Gesamtausgabe  seiner  Gedichte,  die  Cotta 
in  Stuttgart  im  Jahre  1840  in  Verlag  nahm.  Zugleich  redigierte 
er  die  Feuilletonabteilung  der  Kölnischen  Zeitung.  Sodann 
beschäftigte  er  sich  mit  einer  Ausgabe  und  Übersetzung  der 
Beschlüsse  des  Tridentinischen  Konzils,  die  im  Jahre  1844  er- 
schien und  fünf  Auflagen  erlebte.  Die  schönste  Zeit  des  Jahres 
verbrachte  er  meistens  auf  der  idyllischen  Rheininsel  Nonnenwerth, 
die  sein  Lieblingsaufenthalt  war.  In  Köln  lebte  er  ganz  zurück- 
gezogen; Verkehr  pflog  er  nur  mit  einigen  wenigen  Familien. 
Besonders  mit  dem  Appellationsgerichtsrat  Ernst  von  Schiller,  dem 
jüngeren  Sohne  des  großen  Dichters,  verband  ihn  innige  Freund- 
schaft. Schon  lange  hatte  er  den  sehnlichen  Wunsch  gehegt, 
Italien  zu  sehen;  „Roma  aeterna  noch,  und  dann  will  ich  sterben," 
pflegte  er  zu  sagen.  Im  Jahre  1841  hatte  er  sich  endlich  so  viel 
ersparen  können  —  gute  Freunde  hatten  das  Fehlende  beigesteuert 
— ,  daß  er  die  Reise  antreten  konnte.  Der  freundliche  und  ehren- 
volle Empfang  durch  den  Papst  und  mehrere  Kardinäle  in  Rom 

182 


war  ihm  eine  große  Genugtuung  für  die  vielen  Anfeindungen,  die 
er  von  seinen  Amtsbrüdern  erfahren  hatte,  und  trug  nicht  wenig 
dazu  bei,  sein  Ansehen  in  der  Heimat  wieder  zu  heben.  In  Rom 
kam  er  auch  mit  dem  damaligen  preußischen  Gesandten  Grafen 
Brühl  in  Verbindung,  und  dieser  Bekanntschaft  verdankte  er  es, 
daß  er  zwei  Jahre  nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien  zum  Kanonikus 
an  der  Stiftskirche  in  Aachen  ernannt  wurde. 

Am  17.  Juni  1844  wurde  er  feierlich  in  sein  neues  Amt  ein- 
geführt. So  war  der  Dichter  also  wieder  in  die  Stadt  verpflanzt, 
in  der  er  seine  Jugendjahre  verbracht  hatte  und  mit  der  ihn  so 
manche  teuere  Erinnerungen  verbanden.  In  Aachen  lebte  er  von 
neuem  auf ;  frei  von  Sorgen  konnte  er  sich  ganz  seinen  Lieblings- 
beschäftigungen hingeben.  Freilich  bei  seiner  Mildtätigkeit,  die 
mit  den  Armen  alles  teilte,  geriet  er  auch  hier  noch  oft  in  Ver- 
legenheit, so  daß  seine  Freunde  in  unauffälliger  Weise  eingriffen 
und  halfen.  Seine  Predigten  übten  große  Anziehungskraft,  und 
bei  allen  festlichen  Veranstaltungen  war  er  ein  gern  gesehener 
und  gefeierter  Gast  und  Redner.  Da  sein  Amt  ihm  viel  freie  Zeit 
ließ,  so  widmete  er  sich  wieder  eifrig  literarischer  Tätigkeit.  Neben 
verschiedenen  Übersetzungen  theologischer  oder  philosophischer 
Werke  lieferte  er  manche  Aufsätze  für  Zeitschriften.  Vom  Jahre 
1847  bis  zu  seinem  Tode  redigierte  er  das  in  Aachen  erscheinende 
„Album  für  Leben,  Kunst  und  Wissen",  das  viele  Beiträge  aus 
seiner  Feder  enthält.  Auch  seine  dichterische  Tätigkeit  ruhte 
nicht.  Im  Jahre  1847  erschien  eine  neue  Sammlung  „Gedichte" 
und  im  Jahre  1848  „Jesus  Christus  und  das  Symbol  der  Apostel, 
gefeiert  in  Gesängen  und  Liedern".  Eine  Ausgabe  und  Bearbeitung 
der  Gedichte  von  Friedrich  von  Spee  unter  dem  Titel  „Fromme 
Lieder  von  Friedrich  Spee"  wurde  erst  nach  seinem  Tode  im 
Jahre  1849  gedruckt.  Er  hatte  sich  ein  einfaches,  aber  behag- 
liches Heim  eingerichtet,  in  dem  er  gern  den  Besuch  guter  Freunde 
empfing.  Seine  Mutter  verbrachte  im  Jahre  1846  mehrere  Wochen 
bei  ihm.  Mit  vielen  bedeutenden  Männern  seiner  Zeit  stand  er 
in  brieflichem  Verkehr.  Auch  am  politischen  Leben  beteiligte  er 
sich  wieder.  Nur  mit  seiner  Gesundheit  war  es  nicht  gut  bestellt, 
so  daß  er  sich  im  Jahre  1847  wieder  zu  einer  Badekur  genötigt 
sah.  Das  Jahr  1848  ließ  auch  im  Herzen  des  gut  deutsch  gesinnten 
Smets  die  alte  Hoffnung  auf  ein  geeintes  Deutschland  neu  auf- 
leben, für  das  schon  der  Jüngling  in  den  Kampf  gezogen  war. 
Am  10.  Mai  wurde  er  in  Aachen  als  stellvertretender  Abgeordneter 
für  das  Frankfurter  Parlament  gewählt.    Da   der   an   erster  Stelle 

183 


gewählte  Kandidat  David  Hansemann  das  Mandat  ablehnte,  ließ 
Smets  sich  trotz  der  fürsorglichen  Bitten  seiner  Mutter  bewegen, 
die  Wahl  anzunehmen.  Erst  am  26.  Mai  konnte  er  die  Reise 
nach  Frankfurt  antreten,  da  er  noch  am  Wahltage  infolge  der 
vielfachen  Aufregungen  wieder  von  heftigen  Krämpfen  heimgesucht 
worden  war.  Die  Anfälle  wiederholten  sich  auf  der  Reise,  so  daß 
er  nach  mehrfachen  Unterbrechungen  erst  am  3.  Juni  in  Frank- 
furt anlangte.  Die  großen  Hoffnungen,  die  er,  wie  so  viele 
andere,  auf  die  Einberufung  des  Frankfurter  Parlamentes  gesetzt 
hatte,  wichen  bald  arger  Enttäuschung;  gleichwohl  beteiligte 
er  sich  eifrig  an  den  Versammlungen.  Aber  die  aufs  neue  aus- 
brechende Krankheit  zwang  ihn,  das  nahe  gelegene  Bad  Soden 
aufzusuchen,  wo  er  sich  zwar  wieder  erholte,  aber  doch  zu  der 
Überzeugung  kam,  daß  er  sein  Mandat  nicht  weiter  ausüben  könne. 
Anfang  September  reiste  er  nach  Aachen  ab;  leidend  und  voll- 
ständig gebrochen  kam  er  an.  In  kurzer  Zeit  verschlimmerte  sich 
seine  Krankheit  so,  daß  die  Kunst  der  Ärzte  vergebens  war.  Am 
15.  Oktober,  morgens  5  Uhr,  schlummerte  er  gottergeben  in  ein 
besseres  Jenseits  hinüber.  Am  Morgen  des  17.  Oktober  geleitete 
ein  feierlicher  Zug,  an  dem  sich  reich  und  arm  beteiligte,  den 
toten  Dichter  hinaus  auf  den  Friedhof.  Über  seinem  Grabe 
errichteten  Freunde  und  Verehrer  ihm  im  Jahre  1859  ein  würdiges 
Denkmal. 

Smets  war  ein  reiner  und  edler  Charakter,  ein  untadeliger 
Priester,  duldsam  und  mild  gegen  Andersdenkende,  ein  Freund 
und  Wohltäter  der  Armen  und  Bedrückten.  Die  ideale  Begeisterung 
für  alles  Edle  und  Gute,  die  schon  den  Knaben  und  Jüngling 
erfüllte,  half  auch  dem  Manne  hinweg  über  manche  schwere 
Stunde,  deren  ihm  das  Leben  ein  überreiches  Maß  zugemessen 
hat.  Er  war  eine  durchaus  dichterisch  veranlagte  Natur,  der  sich 
jede  Stimmung  und  jedes  Erlebnis  fast  von  selbst  in  Verse  um- 
formte. Er  ist  daher  am  bedeutendsten  als  Lyriker.  Manches 
treffliche  Gedicht  ist  ihm  gelungen,  voll  tiefer  Empfindung  und 
in  glücklicher  Form.  Es  ist  freilich  eine  hochgestimmte  Lyrik, 
die  gebildete  Leser  und  Hörer  voraussetzt;  es  fehlt  ihr  jene  an- 
spruchslose Unmittelbarkeit  und  Einfachheit,  die  sie  auch  dem 
Volke  vertraut  machen  könnte:  volkstümlich  ist  sie  nicht.  Eigen 
ist  fast  allen  seinen  Gedichten  eine  gewisse  wehmütige  Stimmung, 
der  Reflex  der  vielen  traurigen  Schicksale  und  Erfahrungen  seines 
Lebens.  Die  dichterischen  Formen  handhabt  Smets  leicht  und 
mit  Meisterschaft.  Eine  besondere  Vorliebe  hat  er  für  das  Sonett, 

184 


an  dessen  eigensinniger  Prägnanz  er  seine  dichterische  Fertigkeit 
recht  betätigen  konnte.  Außer  lyrischen  Gedichten  ist  ihm  auch 
manche  Romanze  und  kleinere  epische  Erzählung  gut  gelungen. 
Knapp  und  anschaulich  versteht  er  darin  zu  schildern,  lebendig 
den  Gang  der  Darstellung  zu  entwickeln  und  oft  auch  einen 
volkstümlichen  Ton  zu  treffen.  Am  wenigsten  ist  Smets  Dramatiker. 
Seine  Dramen  sind,  bei  mancher  Schönheit  im  einzelnen,  im 
ganzen  doch  als  verfehlt  zu  betrachten,  auch  „Tassos  Tod", 
obgleich  das  Stück  mehrmals  aufgeführt  worden  ist.  Es  sind 
Jugendprodukte,  und  in  richtiger  Selbsterkenntnis  hat  der  Dichter 
sich  in  seinen  späteren  Jahren  auf  diesem  Gebiete  nicht  mehr 
versucht.  Kein  großer,  aber  doch  ein  gottbegnadeter  Dichter 
war  Smets,  der  es  verdient  hätte,  mehr  bekannt  zu  sein,  als  er 
es  heute  ist. 


186 


Professor  Johann  Kreuser. 

Von  Gymnasialdirektor  Dr.  ANTON  KREUSER  in  Jülich. 

Seitdem  Köln  unter  preußischer  Herrschaft  steht,  hat  das 
Marzellengymnasium  kaum  einen  Lehrer  gehabt,  dessen 
Name  enger  mit  der  Anstalt  verknüpft  ist  als  der  des  Pro- 
fessors Johann  Kreuser.  ^)  Länger  als  ein  Menschenalter  hat  er 
an  dem  Gymnasium  unterrichtet  von  1820—1860,  und  eine  außer- 
gewöhnlich große  Zahl  von  Kölnern  hat  ihn  als  Lehrer  gehabt. 
In  der  Erinnerung  aller,  die  ihn  persönlich  gekannt  haben,  lebt 
er  zunächst  fort  als  das  Urbild  eines  alten  Professors.   In  stark 


altfränkischer  Tracht,  leicht 
tige  Haupt  von  strähni 
umwallt,  mit  der  einen 
Zylinder  tragend,  der 
Taschentuch  in  sei 
in  derandern  einen 
stock  führend,  wan 
mit  seltenerRegel 
Eigelsteinstoraus 
jüngeren      Gene 
bekannte    Glacis. 
fürchten,  daß  hinter 
mit  zahlreichen  witz 
des  geistreichen  Man 
überliefert     wird     und 
scheinen     läßt,     das    Ver 


vornübergeneigt,  das  mäch- 

gem,  schneeweißemHaar 

Hand  den  ehrwürdigen 

das  bunt  gewürfelte 

nem   Innern  barg, 

spanischen   Rohr- 

derte    er    täglich 

mäßigkeit      vom 

durch     das    der 

ration  nicht  mehr 

Und  es  ist  fast  zu 

diesem  Bilde,  das 

igen      Aussprüchen 

nes      der    Nachwelt 

ihn     als     Original    er- 

ständnis  für    seine  wahre 


Bedeutung  zurücktritt.  Er  war  nicht  allein  ein  Original,  sondern 
auch  ein  überaus  kenntnisreicher  Lehrer,  ein  hervorragender 
Gelehrter  und  ein  fruchtbarer  Dichter.  Durch  ausgedehnte  schrift- 
stellerische Tätigkeit  und  sein  beredtes  Wort  hat  er  in  der  Dom- 
baufrage und  als  Förderer  des  Verständnisses  für  die  christ- 
liche Kunst  überhaupt  sich  ein  bleibendes  Verdienst  erworben. 
Als  Mensch  verdient  er  wegen  seines  biederen,  christlich-frommen, 
idealen  und  hilfbereiten  Sinnes  besondere  Hochachtung.  Dazu 
ist   er   das   Muster    eines    echten    Kölners,    ausgezeichnet    durch 

')  Bei  der  Beschaffung  des  für  die  Abfassung  des  Lebensbildes  nötigen 
Materials  haben  mich  außer  Herrn  Professor  Dr.  Klinkenberg  die  Herren  Biblio- 
thel<direktor  Prof.  Dr.  Keyßer  und  Archivdirektor  Prof.  Dr.  Hansen  sowie  Dom- 
kapitular  Dr.  Steffens  in  Köln  überaus  zuvorkommend  unterstützt.  Sämtlichen 
Herren  sei  für  ihre  Freundlichkeit  bestens  gedankt- 


186 


Anhänglichkeit  an  die  Vaterstadt  und  ihre  Eigenart  und  begabt 
mit  einem  nie  versagenden  Humor.  Desiialb  würde  die  Reihe 
der  Lebensbilder  bedeutender  Männer,  die  im  Laufe  der  Zeit  der 
Anstalt  als  Lehrer  oder  Schüler  angehört  haben,  eine  Lücke  auf- 
weisen, wenn  der  alte  Professor  Kreuser  darunter  fehlte. 

Johann  Peter  Balthasar  Kreuser  wurde  am  4.  August  1795  zu 
Köln  geboren.  Nach  Angabe  des  Adreßbuches  vom  Jahre  1797 
wohnte  sein  Vater  Peter  Anton  Kreuser  in  der  Johannisstraße  und 
betrieb  dort  einen  Spezereihandel.  Die  erste  Bildung  erhielt  er  als 
Knabe  in  der  an  der  Litsch  gelegenen  Domschule. 

Mit  14  Jahren  trat  Kreuser  in  die  seit  dem  Jahre  1803  ein- 
gerichtete Ecole  secondaire  ein,  die  im  alten  Laurentianergymnasium 
an  der  Rechtschule  untergebracht  war.  ^)  Unter  den  Lehrern  dieser 
Anstalt,  die  nach  Art  der  Gymnasien  im  allgemeinen  eingerichtet 
war,  verdient  Professor  Wallraf  hervorgehoben  zu  werden,  zumal 
da  ohne  Zweifel  Kreusers  Begeisterung  für  die  Kunst  teilweise  auf 
seine  Einwirkung  zurückzuführen  ist.  Von  den  Fremdsprachen 
wurde  besonders  das  Französische  gepflegt,  und  schon  als  Schüler 
erhielt  Kreuser  einen  Preis  für  ein  in  dieser  Sprache  verfaßtes  Ge- 
dicht. Trotzdem  aber  ging  nach  seiner  eigenen  Angabe  echtdeutsche 
Bildung  nicht  verloren; 2)  hauptsächlich  war  es  Professor  Wallraf, 
der  sich  die  Pflege  deutschen  Wesens  angelegen  sein  ließ.  Zudem 
hatten  die  Franzosen,  die  seit  1794  in  Köln  schalteten,  durch  ihr 
Treiben  bei  vielen  großes  Mißfallen  erregt.  Nur  mit  Ekel  kann 
Kreuser  später  noch  an  jene  Zeiten  zurückdenken,  da  der  Krieg 
eröffnet  wurde  gegen  alles,  was  ihm  heilig  und  ehrwürdig  war, 
da  man  ohne  Scheu  die  Kirchen  ihrer  kostbaren  Schätze  beraubte 
und  sie  ihrer  Bestimmung  entzog.^) 

Welche  Fülle  von  Eindrücken  mag  sein  lebhafter  Sinn  in  jener 
ereignisreichen  Zeit  erhalten  haben !  Köln  sah  damals  den  stolzen 
Eroberer  Napoleon  mit  seiner  Gemahlin  Marie  Luise  in  seinen 
Mauern.  Und  nach  dem  Abzüge  der  Franzosen  im  Jahre  1814 
bot  zunächst  der  Durchzug  von  allerlei  fremdem  Kriegsvolk,  das 
zu  den  Heeren  der  Verbündeten  gehörte,  ein  wechselvolles  Bild. 
Außerdem  aber  nahmen  fürstliche  Persönlichkeiten,  wie  der  Kaiser 
von  Rußland  und  der  König  von  Preußen,  auf  der  Durchreise 
Aufenthalt  in  der  Stadt. 


')  Historisches  Archiv,  Französische  Zeit  Kaps.  63,  L.  1- 

2)  Dreikönigenbuch,  S.  110. 

3)  Dreikönigenbuch,  S.  94  ff. 


187 


Kreuser  hatte  es  seiner  Begabung  und  seinem  Fleiße  zu  ver- 
danken, daß  ihm  nach  Beendigung  seiner  Studien  im  Alter  von 
19  Jahren  im  November  1814  eine  Lehrerstelle  an  der  vorher  von 
ihm  besuchten  Anstalt  übertragen  wurde.  In  dem  nämlichen  Jahre 
entriß  der  Tod  ihm  den  geliebten  Vater,  und  fortan  war  er  die 
treueste  Stütze  seiner  Mutter  und  Schwestern.  Der  junge  Lehrer 
hatte  bald  die  Aufmerksamkeit  der  Behörde  erregt.  Deshalb  ver- 
anlaßte  ihn  die  preußische  Regierung  durch  Gewährung  einer 
Unterstützung,  im  Herbst  1817  zu  weiterer  wissenschaftlichen  Aus- 
bildung für  seine  Lehrtätigkeit  die  Universität  Berlin  zu  beziehen. 
Dort  lag  er  mit  großem  Eifer  zunächst  dem  Fachstudium  ob  und 
widmete  sich  besonders  der  griechischen  Sprache  und  Literatur. 
Vor  allem  fand  er  reiche  Anregung  bei  den  großen  Philologen 
Friedrich  August  Wolf  und  August  Böckh,  deren  Namen  er  stets 
mit  der  höchsten  Verehrung  nennt.  Auf  den  poetisch  veranlagten 
jungen  Mann  wirkte  ferner  das  literarische  Leben  der  preußischen 
Hauptstadt,  die  damals  im  Zeichen  der  Romantik  stand,  nach- 
haltig ein.  Eine  Dame,  die  in  der  Gesellschaft  eine  bedeutende 
Rolle  spielte  und  zu  den  hervorragendsten  Männern  Beziehungen 
unterhielt,  Frau  Elisa  von  der  Recke,  geborene  Reichsgräfin  von 
Medem,  scheint  sich  seiner  besonders  angenommen  zu  haben. 
Ihr  als  seiner  mütterlichen  Leiterin  weiht  er  seine  ersten,  im  Jahre 
1824  erschienenen  Dichtungen.  Der  jugendliche  Brausekopf,  wie 
er  selbst  sich  nennt,  wird  der  älteren  weltgewandten  vornehmen 
Frau  manchen  wertvollen  Wink  verdankt  haben.  Von  Berlin  aus 
unternahm  er  verschiedene  Reisen.  Daß  er  Dresden  mit  seinen 
Kunstschätzen  besucht  hat,  geht  aus  einem  Gedichte  hervor, 
in  dem  er  mit  Begeisterung  den  Eindruck  schildert,  den  er  bei 
Betrachtung  eines  Gemäldes  von  Correggio  in  der  sächsischen 
Hauptstadt  empfunden  hat.  ')  Damals  soll  er  auch  bei  Goethe 
eingeführt  worden  sein  und  freundliche  Aufnahme  gefunden  haben.  ^) 

Im  Herbste  1820  kehrte  er  in  seine  Vaterstadt  zurück  und 
nahm  wieder  seine  Lehrtätigkeit  an  dem  mittlerweile  neu  organi- 
sierten Jesuitengymnasium  auf.  Nachdem  er  40  Jahre  lang  un- 
unterbrochen an  derselben  Anstalt  seinen  Beruf  ausgeübt  hatte, 
wurde  er  im  Oktober  1860  auf  seinen  Wunsch  in  den  Ruhestand 
versetzt.     Im  Rheinlande  und  besonders  in  Köln  war  bekanntlich 

')  Dichtungen  1824,  S.  234. 

2)  Nekrolog,  Kölnische  Zeitung  vom  27.  OI<tober  1870  Nr.  298.  In  Goethes 
Tagebüchern  aus  den  Jahren  1817 — 1820  wurde  keine  Notiz  über  Kreusers  Besuch 
ermittelt. 

188 


die  Stimmung  der  neu  begründeten  preußischen  Herrschaft  von 
vornherein  nicht  günstig.  Sulpiz  Boisseree  schreibt  in  einem  Briefe 
vom  30.  Juni  1814,^)  daß  man  lieber  französisch  als  preußisch 
sein  wolle.  Indes  Kreuser,  der,  wie  erwähnt,  schon  als  Knabe 
Abneigung  gegen  die  Franzosen  empfunden  hatte,  war  auch  später 
nicht  freundlicher  gegen  sie  gesinnt.  Er  bedauert  die  Zeit,  da 
Deutschland  nicht  nur  politisch,  sondern  auch  in  künstlerischer 
sowie  in  jeder  geistigen  Hinsicht  zum  Knecht  Frankreichs  geworden 
ist.  Damals  sind  nach  seiner  Ansicht  die  Wege  zur  Unterjochung 
des  Vaterlandes  schon  für  Napoleon  gebahnt  worden.  -)  Sein 
Ideal  war  die  große  Zeit  des  Mittelalters,  das  auch  für  die  Kunst 
die  herrlichsten  Früchte  gezeitigt  hat.  Er  empfand  deutsch  und 
betätigte  diese  Gesinnung  bei  der  Erziehung  der  Jugend.  Deshalb 
wurde  bei  seinem  Ausscheiden  aus  dem  Amte  von  berufener 
Stelle  hervorgehoben,  daß  er  zu  den  Männern  gehört  habe,  die 
nach  Befreiung  des  Rheinlandes  von  der  Fremdherrschaft  zur 
Herstellung  und  Förderung  deutschen  Wesens  und  deutscher  Bil- 
dung tätig  waren.  ^) 

In  seinem  Berufe  war  ihm  seine  große  Liebe  zur  Jugend  för- 
derlich. Zweifelhaft  aber  ist,  ob  er  bei  ihrer  Behandlung  stets 
das  Richtige  traf.  Daß  er  Leben  von  seinen  Schülern  verlangte, 
bezeugt  die  oft  von  ihm  wiederholte  Äußerung,  wenn  Knaben 
und  Hunde  aneinander  vorübergingen,  ohne  sich  zu  necken, 
seien  beide  nichts  wert.  Für  Schelmenstreiche  hatte  er  großes 
Verständnis.  Ja  die  Täter  gingen  sogar  straflos  aus,  wenn  sie 
etwas  Originelles  geleistet  hatten.  Freilich,  die  Wiederholung  eines 
solchen  Streiches  war  bei  ihm  verpönt.  So  wurden  die  Schüler 
zwar  angeregt,  etwas  Neues  auszudenken,  aber  nicht  immer  zu 
ihrem  Vorteile.  Ihren  Wissenstrieb  wußte  er  nicht  richtig  einzu- 
schätzen. Leicht  gelang  es  ihnen,  den  kenntnisreichen  Lehrer  zu 
längeren  Abschweifungen  auf  das  sprachwissenschaftliche  oder 
archäologische  Gebiet  zu  veranlassen  unter  dem  Vorgeben,  daß 
derartige  Fragen  ihr  Interesse  erregten.  Er  war  vielleicht  zu  gelehrt, 
um  ein  entsprechend  erfolgreicher  Lehrer  zu  sein.  Von  der  Art, 
wie  er  sein  Hauptfach,  das  Griechische,  betrieben  haben  wollte, 
legt  eine  sehr  eingehende  griechische  Formenlehre  *)  Zeugnis  ab. 
Es  verdient   hervorgehoben    zu  werden,  daß  nach  seiner  Ansicht 

')  Sulpiz  Boisseree,  Stuttgart  1862.  2  Bde. 

-)  Dombriefc,  S.  262. 

3)  Jahresbericht  des  Kgl.  Kath.  Gymnasiums  an  Marzellen  1870—71. 

*)  Paderborn  1856. 


189 


die  gelehrte  Forschung  sich  zu  wenig  mit  den  griechischen  Kirchen- 
vätern und  den  Byzantinern  befaßt  und  sich  so  einer  für  die  Ge- 
schichte der  Sprachentwicklung  wichtigen  Erkenntnisquelle  beraubt. 
Obwohl  das  Werk  sich  lediglich  mit  der  Formenlehre  beschäftigt 
und  auf  die  Syntax  nicht  eingeht,  überragt  es  die  jetzt  gebräuch- 
lichen Schulgrammatiken  an  Umfang  fast  um  das  Doppelte.  Die 
Accentlehre  findet  eine  besonders  eingehende  Behandlung.  Ein 
gütiges  Geschick  hat  es  Kreuser  erspart,  die  Bestimmung  der 
Lehrpläne  vom  29.  Mai  1901  kennen  zu  lernen,  wonach  Fehlern 
gegen  die  Accentlehre  bei  der  Beurteilung  griechischer  Klassen- 
arbeiten keine  entscheidende  Bedeutung  beizulegen  ist. 

Sein  Äußeres  war  dazu  angetan,  die  Spottlust  der  Jugend 
herauszufordern.  Beim  Sprechen  zischte  er  scharf.  Dazu  war  in 
seinen  reiferen  Jahren  seine  Kleidung  ausgesucht  altmodisch.  Aber 
trotzdem  genoß  er  große  Achtung.  Seine  Gelehrsamkeit  und  Fähig- 
keit, geläufig  griechisch  zu  sprechen  und  in  deutscher  und  grie- 
chischer Sprache  zu  dichten,  erweckte  bei  den  Schülern  Staunen. 
Sie  hatten  ihre  Freude  an  dem  unerschöpflichen  Humor,  an  dem 
treffenden,  wenn  auch  mitunter  derben  Witz,  an  dem  geraden  Sinn 
des  ideal  angelegten  Mannes.  Auch  entging  ihnen  nicht  die  Wert- 
schätzung, die  dem  Professor  in  angesehenen  Kreisen  der  Bürger- 
schaft zuteil  wurde.  Hauptsächlich  aber  erregte  er  durch  seine 
ausgedehnte  schriftstellerische  Tätigkeit  die  Bewunderung  der 
jungen  Leute. 

Durch  seine  Studien  in  Berlin  war  er  zunächst  zu  verschie- 
denen wissenschaftlichen  Veröffentlichungen  angeregt  worden.  Im 
Jahre  1822  erschien  eine  kleine,  dem  Dichter  Jean  Paul  Friedrich 
Richter  gewidmete  Schrift  unter  dem  Titel  „Der  Hellenen  Priester- 
staat mit  vorzüglicher  Rücksicht  auf  die  Hierodulen".  Hierodulen 
nennt  man  Personen,  die  den  Tempeldienst  irgend  einer  Gottheit, 
und  zwar  hauptsächlich  die  niederen  Dienste,  zu  besorgen  hatten. 
Aus  dem  Briefwechsel^)  zwischen  Goethe  und  Sulpiz  Boisseree  erfahren 
wir,  daß  in  der  gelehrten  Welt  die  Hierodulenfrage  schon  im 
Jahre  1818  großes  Aufsehen  erregt  hat.  Hierdurch  war  auch  Kreuser 
der  Anlaß  gegeben,  sich  mit  diesem  Gegenstande  zu  befassen. 

In  einem  größer  angelegten  Werke  gedachte  er  die  homerische 
Frage  zu  behandeln.  Er  teilte  nicht  die  Ansicht,  die  sein  hochver- 
ehrter Lehrer  Wolf  in  den  Prolegomena  ausgesprochen  hatte.  In 
dem  ersten  Teile  der  Vorarbeiten  zu  dem  geplanten  Werke,  den  er 
Vorfragen  zu  Homeros  nennt,  beschäftigt  er  sich  mit  der  Geschichte 

1)  Sulpiz  Boisseree  S.  219. 

190 


der  Schrift  und  sucht  darzutun,  daß  Wolfs  Ansicht  über  ihren 
späten  Ursprung  keine  Billigung  verdiene  und  die  Schrift  schon 
in  den  ältesten  Zeiten  bei  der  Verbreitung  der  homerischen  Gedichte 
Verwendung  gefunden  habe.  Der  zweite  August  Böckh  gewidmete 
Teil,  „Homerische  Rhapsoden"  '),  bestreitet  das  den  Rhapsoden  von 
Wolf  um  die  homerischen  Gedichte  beigelegte  Verdienst  und  sucht 
darzutun,  daß  sie  geschichtlich  überhaupt  unhaltbar  sind.  Nach 
diesen  Vorarbeiten,  in  denen  er  niedergerissen  zu  haben  glaubte, 
was  Wolf  erbaut  hatte,  wollte  er  seine  Ansicht  über  Homer  dar- 
legen. Aber  er  hat  den  Vorsatz  nicht  ausgeführt.  Diese  Bücher 
legen  vor  allem  Zeugnis  ab  von  der  Gelehrsamkeit  und  außer- 
ordentlichen Belesenheit  ihres  Verfassers,  für  die  Wissenschaft 
haben  sie  keine  nachhaltige  Bedeutung  gehabt.  Ihre  Aufnahme 
entsprach  nicht  Kreusers  Erwartungen.  Besonders  entmutigte  ihn 
die  Schwierigkeit,  die  es  gekostet  hatte,  einen  Verleger  zu  finden. 
Deshalb  entschloß  er  sich  dazu,  wieder  zur  Leier  zu  greifen. 
Abgesehen  von  der  schon  angeführten  griechischen  Formenlehre 
und  einer  ausführlichen  Abhandlung  über  die  Züge  Alexanders  des 
Großen  in  Indien  liegt  keine  größere  Veröffentlichung  aus  seiner 
Fachwissenschaft  mehr  vor.  Erwähnt  sei  noch,  daß  er  auf  Philo- 
logen-Versammlungen zu  Bonn  und  Ulm  über  die  Accente  im 
Griechischen  und  den  Verfall  der  griechischen  Sprache  geredet  hat. 
Im  Jahre  1824  war,  wie  bereits  gesagt  ist,  ein  Bändchen 
Dichtungen  erschienen,  dem  im  Jahre  1833  ein  Trauerspiel,  Die 
Overstolzen,  folgte.  Das  Jahr  1854  brachte  wiederum  einen  Band 
Dichtungen,  und  das  Jahr  1857  „Mahnendes  und  Unaufgeklärtes, 
ein  Liebesbüchlein  in  Reimen".  Der  Titel  des  zuletzt  aufgeführten 
Werkes  klingt  sonderbar.  Als  Gegner  der  Aufklärung  bringt  Kreuser 
keine  Aufklärung,  sondern  Unaufgeklärtes.  Eine  Dichternatur  und 
zu  den  Romantikern  gehörend,  fühlt  er  in  sich  den  Drang,  poetisch 
zu  schaffen.  -)  Wie  die  Sternschnuppen  vom  Himmel  fallen  müssen, 
auch  wenn  keiner  des  prächtigen  Schauspieles  achtet,  wie  die  Blumen 
auch  im  entlegensten  Tale  blühen,  wo  kein  Auge  sie  erschaut,  wie 
die  Nachtigall  singt,  auch  wenn  keiner  lauscht,  so  muß  auch  der 
Dichter  singen.  Er  hat  eine  stattliche  Anzahl  von  Gedichten  ge- 
schaffen und  sich  auf  den  verschiedensten  Gebieten  der  Dichtkunst 
versucht.  Wir  haben  neben  der  schon  genannten  Tragödie  Lieder, 
Balladen  und  Sprüche.  Gern  hat  er  die  Form  des  Sonetts  gewählt. 
Manches  ist  ihm  gut  gelungen.    Besonders  spricht  eine  Reihe  von 

«)  Köln  1833. 

^  Mahnendes  und  Unaufgeklärtes  S.  503. 

191 


Liedern ')  an,  die  seinen  Schmerz  um  den  Tod  der  Geliebten  zum 
Ausdruck  bringen.  Die  Balladen  lassen  eine  Vorliebe  für  Stoffe, 
die  auf  die  Vaterstadt  Bezug  haben,  erkennen.  Hierhin  gehören 
Grin,  2)  Das  Roß  Baiard,  Das  Kreuz,  Der  Pfarrer  Eberhard  von 
St.  Jakob,  Jakorden,  Kölnische  Sage  u.  a.  Wenig  Poesie,  aber 
manchen  geistreichen  Gedanken  enthalten  die  gegen  den  Geist  der 
Aufklärung  gerichteten  Gedichte.  Dem  Drama  hat  sich  Kreuser 
hauptsächlich  aus  Liebe  und  Begeisterung  für  seine  Heimat  zu- 
gewandt. Er  glaubt,  das  im  Jahre  1828  in  Köln  erbaute  Theater 
könne  bei  seiner  Eröffnung  keine  bessere  Weihe  erhalten  als  durch 
ein  aus  der  Geschichte  der  Stadt  entlehntes  Stück.  So  entstanden 
die  Overstolzen.  Der  Theaterdirektor  nahm  das  Stück  für  die  Bühne 
an  und  verteilte  die  Rollen.  Schon  hatte  man  mit  dem  Einüben 
begonnen,  da  plötzlich,  so  erzählt  Kreuser  selbst, '')  ein  Blitz  aus 
heiterer  Luft  —  die  Overstolzen  durften  die  Bretter  nicht  betreten. 
Diese  unerwartete  Wendung  hat  anfangs  schweren  Unwillen  bei 
dem  Verfasser  erregt.  Später  wird  er  anders  darüber  geurteilt  haben, 
da  er  selbst  das  Drama  als  etwas  Ungeheuerliches  bezeichnete. 
Das  Stück,  dessen  Handlung  im  Jahre  1267  einsetzt,  führt  uns  die 
Kämpfe  vor,  die  Kölns  Bürger  unter  der  Führung  des  Stadtvogts 
Matthias  von  Overstolz  zur  Verteidigung  ihrer  Unabhängigkeit  gegen 
den  Erzbischof  Engelbert  von  Falkenburg  bestanden  haben. 

Obwohl  die  angeführten  Werke  schon  auf  eine  erstaunliche 
Arbeitskraft  schließen  lassen,  liegt  doch  Kreusers  Haupttätigkeit 
auf  dem  Gebiete  der  christlichen  Kunst,  soweit  sie  besonders  im 
Kirchenbau  zutage  tritt.  Dem  Dom  gegenüber  geboren  und  in 
seinem  Anblick  aufgewachsen,  empfand  er  schon  frühzeitig  die 
Eindrücke  dieses  gewaltigen  Baues.*)  Gereifter  war  er  nach  eigener 
Angabe  bestrebt,  den  geistigen  Zusammenhang  zu  erforschen,  der 
tief  in  dem  Wirken  und  Gottesleben  des  Mittelalters  begründet 
ist,  und  scheinbar  anderen  Forschungen  zugewandt,  verlor  er  die 
Kunst  der  Väter  nie  ganz  aus  den  Augen.  Als  daher  eine  Anzahl  von 
Bürgern  Kölns  im  Jahre  1840  zur  Begründung  einer  Vereinigung 
für  die  Förderung  des  Dombaus  zusammentrat,  nahm  Kreuser 
lebhaften  Anteil  an  der  Bewegung  Er  gehörte  zu  dem  Aus- 
schüsse^), der  die  Bildung  des  Dombauvereins  vorzubereiten  hatte, 


1)  Dichtungen  1854,  S  164  ff. 

2)  Ebenda  S  16,  24,  32;  Mahnendes  usw.,  S.  465,  472,  494. 

3)  Die  Overstolzen,  Vorw.  S.  V. 

*)  Der  christliche  Kirchenbau  II,  S.  253. 

°)  Vorbericht  zum  Kölner  Domblatt,  Beilage  A  und  B. 


192 


und  war  später  bis  zu  seinem  Tode  18  Jahre  lang  Mitglied  des 
Vorstandes.  Mit  dem  damaligen  Dombaumeister  Zwirner  war  er 
eng  befreundet/)  und  an  ihn  richtete  er  im  Domblatt  eine  Reihe 
von  Sendschreiben,  die  1844  unter  dem  Titel  Kölner  Dombriefe 
oder  Beiträge  zur  altchristlichen  Kirchenbaukunst  zusammengefaßt 
wurden.  Alles,  was  er  über  den  altchristlichen  Kirchenbau  und  seine 
Symbolik,  insbesondere  über  die  Symbolik  des  Domes,  die  gotische 
Baukunst,  die  Bedeutung  der  Malerei  für  die  Ausschmückung  der 
Kirchen  und  über  die  Bauhütten  mit  dem  größten  Fleiße  ermitteln 
konnte,  hat  er  in  diesem  Werke  niedergelegt.  Wieviel  Wert  auf 
sein  Urteil  gelegt  wurde,  geht  daraus  hervor,  daß  er  von  dem 
Weihbischof  Anton  Ciaessen  die  Aufforderung  erhielt,-)  einen 
Vorschlag  zur  Ausschmückung  des  Domes  mit  Bildwerk  einzu- 
reichen, eine  Aufgabe,  die  er  mit  Feuereifer  in  Angriff  nahm  und 
zu  Beginn  des  Jahres  1846  fertigstellte.  Außer  ihm  lieferten  noch 
zwei  andere  Kunstverständige^)  solche  Pläne,  einer  war  Sulpiz 
Boisseree.  Ausführlicher  noch  hat  Kreuser  in  dem  Werke*)  „Der 
christliche  Kirchenbau,  seine  Geschichte,  Symbolik,  Bildnerei 
nebst  Andeutungen  für  Neubauten"  seine  Ansichten  über  die 
Kunst  dargelegt.  Ausgehend  von  der  Apostelzeit,  behandelt  er 
die  Geschichte  der  baulichen  Einrichtungen  der  christlichen  Kirchen 
bis  zum  19.  Jahrhundert.  Sein  Ideal  ist  die  Rückkehr  zur  alt- 
deutschen Bauweise,  die  nicht  durch  Reden  und  Schriften  am 
besten,  sondern  durch  die  Tat  gefördert  wird.  Eine  solche  Tat 
bedeutet  für  ihn  der  4.  September  1842,  an  welchem  Tage  der 
Grundstein  zur  Weiterführung  des  edelsten  deutschen  Werkes, 
des  Kölner  Domes,  dank  dem  großsinnigen  Könige  Friedrich 
Wilhelm  IV.  gelegt  wurde.  Der  ganze  Ton  des  Buches  ist 
polemisch,  und  der  Verfasser  hat  selbst  die  Empfindung,  daß 
seine  Schrift  etwas  kriegerisch  erscheinen  könne  und  als  Kunst- 
buch zu  katholisch.  Aber  er  will  der  Zeitrichtung  kein  Zugeständnis 
machen.  Vor  allem  die  Abschnitte  über  Symbolik  und  christliche 
Bildnerei  bekunden  neben  einer  staunenswerten  Beherrschung  des 
Stoffes  eine  tief  religiöse  Überzeugung.  Da  bei  allen  Völkern 
die  Künste,  vorzüglich  die  Baukunst,  mit  der  Religion  im  innigsten 
Zusammenhange  stehen,  so  sind  sie  aus  ihr  auch  zu  begreifen 
und  zu  erklären.     Um   so   bedauerlicher   erscheint   es   ihm,  alles 

')  Wiederum  christlicher  Kirchenbau  II,  S.  5. 
2)  Der  christliche  Kirchenbau  II,  S.  253. 
^)  Wiederum  christlicher  Kirchenbau  II,  S.  4. 
*)  2  Bde.  Bonn  1&51. 


13 


193 


Heidnische  für  beachtenswert  und  sinnvoll  zu  halten,  im  Christen- 
tum und  seiner  Baukunst  dagegen  keinen  tieferen  Sinn  zu  suchen. 
Sobald  der  christliche  Bildner  ein  Werk  beginnen  will,  muß  er 
die  früheren  Jahrhunderte  um  Rat  fragen,  jene  Zeit,  wo  der  christ- 
liche Geist  noch  lebendig  war. 

Zum  Schluß  wird  eingehend  erörtert,  wie  bei  Neubauten  und 
der  Ausschmückung  der  Kirchen  zu  verfahren  ist.  Der  christliche 
Kirchenbau  erschien  einige  Jahre  später  in  zweiter  vermehrter 
Auflage.  ^)  Den  nämlichen  Stoff  behandelt  Kreuser  in  dem  doppel- 
bändigen Werke  „Wiederum  christlicher  Kirchenbau". ^)  Er  will 
darin  ein  Baugesetz  für  den  Dom  und  alle  größeren  Münster 
aufstellen. 

In  das  Gebiet  der  Symbolik  gehört  das  im  Jahre  1863  ver- 
öffentlichte Bildnerbuch.  Es  stellt  die  Grundsätze  auf,  nach  denen 
die  Künstler  bei  der  Darstellung  religiöser  Bilder  zu  verfahren 
haben,  besonders  welche  Attribute  den  Personen  der  Heiligen 
beizulegen  sind.  In  dieser  Schrift  sowie  in  der  Künstlergeschichte  ^) 
„Die  Maler-Brüder",  die  den  traurigen  Untergang  eines  Malers  vor- 
führt, eifert  er  stark  gegen  das  Nackte  in  der  Kunst  und  bestreitet, 
daß  die  Griechen  das  Nackte  geliebt  haben.  Vor  allem  bedauert 
er  die  verderblichen  Wirkungen  solcher  Darstellungen.  Ihm  miß- 
fällt die  moderne  Kunst,  die  ohne  Rücksicht  auf  das  christliche 
Volk  und  sein  Verständnis  Stoffe  aus  dem  heidnischen  Sagenkreise 
entnehme.  Kreusers  Neigung  zur  Symbolik  führte  ihn  wohl  auch 
dazu,  eine  für  weitere  Kreise  berechnete  Erklärung  des  hl.  Meß- 
opfers*) zu  geben. 

Im  Juli  1864  waren  700  Jahre  verflossen,  seitdem  die  Gebeine 
der  hl.  Dreikönige  nach  Köln  gebracht  waren.  Dieser  Anlaß  drückte 
Kreuser  wieder  die  Feder  in  die  Hand.  In  scharfen  Worten  wendet 
er  sich  wider  die  Aufklärung,  die  durch  häßliche  Kritik  dem 
Volke  seine  Freude  verdirbt  an  allem  Schönen  in  Wahrheit  und 
Dichtung,  an  seinem  Glauben,  seinen  Heiligen,  namentlich  an  allem 
Wunderbaren,  und  gibt  eine  Geschichte  der  Reliquien  der  hl. 
Dreikönige,  wobei  er  ausführlich  die  Fortschaffung  und  Zurück- 
bringung des  Domschatzes  in  der  Franzosenzeit  beschreibt.  Neben 
den  erwähnten  Werken  hat  er  auch  noch  eine  Reihe  von  Aufsätzen 


')  Regensburg  1860—61. 

-)  1.  Bd.  Apostolische  Baugesetze.  Brixen  1868.  2.  Bd.  Geschichte  der  Bau- 
kunst. Brixen  1869. 

=)  Innsbrucl«  1861. 

*)  Paderborn  1854,  2.  Aufl. 

194 


über  Fragen  der  christlichen  Kunst  in  Zeitschriften  veröffentlicht. 
Es  ist  erstaunlich,  welche  Unsumme  von  Arbeit  in  diesen  Ver- 
öffentlichungen steckt,  die  allerdings  nicht  frei  von  Wiederholungen 
sind.  Der  Verfasser  besitzt  eine  Belesenheit  in  den  kirchlichen 
Schriftstellern  der  ältesten  Zeit  und  des  Mittelalters,  die  ihres- 
gleichen sucht.  Vornehmlich  kennt  er  die  griechischen  Kirchen- 
väter genau.  Eigentümlich  ist  ihm  ein  stark  polemischer  Ton,  er 
muß  stets  gegen  einen  Gegner  ankämpfen  und  will  lieber  Hammer 
als  Amboß  sein.  Gerade  diese  Polemik  hat  manchmal  Anstoß 
erregt,  besonders  bei  solchen,  die  Kreusers  Eigenart  nicht  kannten. 
Der  modernen  Richtung  gegenüber  zeigt  er  Ablehnung  oder  eine 
gewisse  Nichtbeachtung.  Sie  findet  keine  Gnade  vor  seinen  Augen, 
abgesehen  von  den  Nazarenern  und  Deger,  dem  Schöpfer  der 
Fresken  in  der  Apollinariskirche  zu  Remagen.  Seine  Stellung  zu 
der  neueren  Kunst,  seine  Neigung  zur  Polemik,  bisweilen  ver- 
bunden mit  seltsamen  Ansichten,  bewirkte,  daß  seine  Schriften  in 
den  Kreisen  der  Fachgelehrten  nicht  die  von  ihm  erwartete  Be- 
achtung gefunden  haben.  \)  Trotzdem  ist  seine  Tätigkeit  für  die 
Belebung  des  Sinnes  und  Verständnisses  für  die  christliche  Kunst 
in  weiteren  Kreisen  von  der  größten  Bedeutung  gewesen.  Zu- 
nächst hat  er  in  der  Dombaufrage  manche  wertvolle  und  bei 
seiner  Freundschaft  mit  Zwirner  auch  erfolgreiche  Anregung 
gegeben.  Sodann  haben  die  Grundsätze,  die  der  strenggläubige 
Gelehrte  für  Neubauten  und  künstlerische  Ausschmückung  der 
Kirchen  aufstellt  und  mit  Feuereifer  vertritt,  in  den  Kreisen  der 
Geistlichkeit  große  Beachtung  gefunden,  und  oft  sind  seine  Werke 
in  Kunstfragen  zu  Rate  gezogen  worden. 

Wer  nun  glaubt,  daß  die  ausgedehnte  schriftstellerische  Tätig- 
keit Kreuser  stets  bei  den  Büchern  festgehalten  habe,  irrt  gewaltig. 
Er  war  ein  Freund  des  geselligen  Lebens,  ein  heiterer  Gesellschafter, 
voll  witziger  Einfälle,  der  einen  guten  Trunk  liebte  und  gern  durch 
launige  Rede  in  Knittelversen  bei  passendem  Anlaß  die  Gesellschaft 
erfreute.  Im  Gegensatz  zu  vielen  seiner  Amtsgenossen  trat  er  häufig 
in  der  Öffentlichkeit  auf,  um  durch  sein  Wort  seinen  Ansichten 
über  die  Kunst  Anhänger  zu  verschaffen.  Als  gewandter  Sprecher 
wurde  er  wegen  seines  treffenden  Witzes  und  seines  steten  Kampfes 
gegen  die  Tagesmeinung  in  den  Vereinen  Kölns  gern  gehört.  In 
jüngeren  Jahren  ein  eifriges  Mitglied  des  Freimaurerordens,  nahm 
er  später  außerordentlich  regen  Anteil  an  dem  katholischen  Leben. 
Mit  Vorliebe  besuchte  er  die  seit  dem  Jahre  1848  veranstalteten 

')  Wiederum  christlicher  Kirchenbau  11,  Vorwort. 

la»  195 


Generalversammlungen  der  Katholiken  Deutschlands,  und  mehr- 
mals ließ  er  sich  bei  einer  solchen  Gelegenheit  als  Redner  ver- 
nehmen, so  1852  in  Münster,  1853  in  Wien,  1856  in  Linz,  1859 
in  Freiburg. 

Es  ist  erklärlich,  daß  er  infolge  seiner  schon  besprochenen 
Abneigung  gegen  die  Aufklärung  und  alles  Neue  an  der  revo- 
lutionären Bewegung  wenig  Gefallen  fand.  Mit  Vorliebe  rühmte 
er  sich  später,  im  Jahre  1848  als  Offizier  der  Bürgerwehr  den  auf- 
geregten Volksmassen  entgegengetreten  zu  sein  und  das  aufrühre- 
rische Gesindel  zu  Paaren  getrieben  zu  haben.  Als  echter  Kölner 
schwärmte  er  für  alles,  was  seiner  Vaterstadt  ein  besonderes  Ge- 
präge verlieh.  Als  daher  im  Jahre  1823  angesehene  Bürger  eine 
Wiederbelebung  des  Karnevals  versuchten,  fanden  sie  bei  ihm  rege 
Unterstützung.  Manches  Lied  hat  er  für  die  Sitzungen  der  großen 
Karnevalsgesellschaft  geschaffen  ^),  und  noch  in  hohem  Alter  er- 
schien er  im  Jahre  1864  in  einer  Versammlung  der  genannten 
Vereinigung,  um  einen  Vortrag  über  das  Gemüt  und  den  Froh- 
sinn der  echten  Kölner  zu  halten.-)  Unvermählt  und  persönlich 
höchst  anspruchslos  sorgte  er  zeitlebens  auf  das  liebevollste  für 
seine  Angehörigen.  Aber  auch  über  den  Kreis  der  Familie  hinaus 
zeigte  er  ein  wahrhaft  gutes  Herz.  Ein  Freund  der  Armen,  nach 
Kräften  hilfbereit,  gehörte  er  zu  den  Begründern  des  Vincenzvereins 
und  zu  seinen  tätigsten  Mitgliedern.  Zehn  Jahre  lang  hat  er  sich  bei 
körperlicher  und  geistiger  Frische  noch  der  Muße  im  Ruhestande 
erfreut.  Als  die  große  Zeit  für  unser  Vaterland  herangebrochen 
war,  schied  Kreuser  am  18.  Oktober  1870  aus  diesem  Leben.  Eine 
stattliche  Anzahl  von  Bürgern  aller  Stände  gab  ihm  das  letzte 
Geleit.  Die  dankbare  Verehrung  seiner  Schüler,  die  ihm  durch 
eine  Stiftung  den  Lebensabend  behaglicher  ausgestaltet  hatte,  be- 
reitete ihm  auf  dem  Friedhofe  zu  Melaten  an  der  Südmauer  eine 
würdige,  mit  seinem  Bildnis  geschmückte  Grabstätte.  Um  zu  ver- 
hüten, daß  das  Gedächtnis  des  Mannes  entschwände,  der,  von  Liebe 
und  Begeisterung  für  seine  Vaterstadt  durchdrungen,  zugleich  ein 
Bild  altkölnischer  Biederkeit  gewesen  war,  benannten  die  Stadt- 
verordneten im  Jahre  1902  nach  ihm  eine  Straße.  Außerdem  aber 
wurde  dem  vielgenannten  Professor  dadurch  noch  eine  besondere 
Ehrung  zuteil,  daß  die  Stadt  Köln  die  dauernde  Sorge  für  die 
Unterhaltung  seiner  Grabstätte  übernahm. 


1)  Walter,  Der  Karneval  in  Köln,  Köln  1873,  S.  38. 

2)  Ebenda,  S.  108. 


196 


Theodor  Schwann, 

geboren  am  7.  Dezember  1810  zu  Neuß,  gestorben  am  11.  Januar  1882  zu  Köln. 
Von  Dr.  FRANZ  BOSCH,  Oberlehrer  in  Crefeld. 

Erst  vor  wenigen  Monaten  wurde  der  Name  THEODOR  Schwann 
wieder  besonders  lebendig.  Nicht  als  ob  die  drei  Dezennien, 
seit  er  die  Augen  zum  ewigen  Schlafe  geschlossen,  vermocht 
hätten,  seinen  Namen  aus  der  Erinnerung  einer  schnell  lebenden 
Nachwelt  auszulöschen  oder  auch  nur  minder  eindrucksvoll  zu  ge- 
stalten, als  er  zu  Lebzeiten 
weit  über  die  Grenzen 
Deutschlands  gewesen  war. 
Aber  die  Jahrhundertfeier 
seiner  Geburt  brachte  die 
Gelegenheit,  uns  mit  be- 
sonderer Dankbarkeit  die- 
ses großen  Mannes  und 
seiner  glänzenden  Leis- 
tungen und  segensreichen 
Arbeiten  fürden  Fortschritt 
der  Wissenschaften  und  für 
das  Wohl  dermenschlichen 
Gesellschaft  zu  erinnern. 

Zu  Köln  steht  Schwanns 
Leben  in  vielfacher  Bezieh- 
ung. Hier  beendete  er  seine 
Gymnasialbildung,  oft  ver- 
brachte er  als  Lütticher 
Universitätsprofessor  die 
Ferien  bei  seinen  in  Köln 
lebenden  Verwandten,  hier  beschloß  er  sein  Leben  in  dem  Hause 
Kasinostraße  Nr.  8,  welches  seit  dem  vorigen  Jahre  eine  darauf 
bezügliche  Gedenktafel  trägt,  und  auf  dem  Friedhofe  zu  Melaten  ist 
er  bestattet.  So  lag  gerade  für  die  Kölner  Akademie  für  praktische 
Medizin  mehrfacher  Anlaß  vor,  das  Zentenarfest  seiner  Geburt  feier- 
lich zu  begehen,  und  an  diesem  wurde,  wie  an  manchen  Orten,  so 
auch  in  Köln  in  Wort  und  Schrift  der  Verdienste  des  großen  Toten 
pietätvoll  gedacht. 

Jene  Kölner  Schule,  von  der  aus  Schwann  nach  bestandenem 
Abiturientenexamen  als  neunzehnjähriger  Jüngling  zur  Hochschule 
und  in  die  Welt  hinauszog,  ist  unserMarzellengymnasium.  Wenn  auch 


197 


für  eine  Bildungsanstalt  das  Schriftwort  gilt:  „An  ihren  Früchten 
werdet  ihr  sie  erkennen",  so  ist  sicherlich  unter  den  vielen  bedeuten- 
den Männern,  die  an  dieser  Anstalt  ihre  Ausbildung  erhielten  und 
deren  Namen  unser  Festbuch  zieren,  auch  der  Theodor  Schwanns 
geeignet,  Zeugnis  von  dem  Werte  der  hier  dargebotenen  Lehren 
abzulegen,  und  da  der  Ruhm,  der  ihm  zuteil  wurde,  auch  auf  die 
Stätte  zurückstrahlt,  wo  er  den  Grund  zu  weiterer  wissenschaftlichen 
Betätigung  gelegt  hat,  so  ist  das  Marzellengymnasium  stolz  darauf, 
ihn  im  Kreise  derjenigen  zu  nennen,  die  ihm  angehört  haben,  und 
an   dieser  Stelle  von    den  Erfolgen  seines  Lebens   zu  berichten. 
Schwann  war  ein  Sohn  des  Rheinlandes.  Sein  Vater,  Leonhard 
Schwann,  war  ebenso  wie  sein  Großvater  ursprünglich  Goldschmied 
zu  Neuß,  jedoch  entschloß  er  sich  später,  eine  Buchdruckerei  zu 
gründen.  Dieser  Entschluß  wurde  von  ihm  tatkräftig  durchgeführt; 
die  seinen  Namen   tragende  Verlagsbuchhandlung   in   Düsseldorf 
verdankt  ihm  ihre  Begründung.    Im  Verlag  des  väterlichen  Unter- 
nehmens hat  Theodor  Schwann  später  mehrfach  Arbeiten  wissen- 
schaftlichen Inhalts  herausgegeben.  Aus  der  Ehe  Leonhard  Schwanns 
mit  Elisabeth  Rotteis   entstammten  dreizehn  Kinder;  von  diesen 
war  Theodor  das  fünfte.   Er  besuchte  das  Progymnasium  in  Neuß 
und  kam  dann  als  Schüler  an  das  Marzellengymnasium  in  Köln. 
Dieses  stand  damals  unter  der  Leitung  des  Direktors  Birnbaum. 
In  dem  Zensurbuch  der  Anstalt  findet  sich  noch  sein  erstes  Zeugnis 
vor;  es  ist  ausgestellt  für  die  Klasse  Obersekunda  und  für  das  dritte 
und  vierte  Quartal  des  Schuljahres    1826-27.    In   der  Liste   der 
genannten  Klasse  ist  „Schwann  Theodor"  am  Schlüsse  dieses  Jahres 
nachgetragen;  da  er  in  früheren  Schülerlisten  nicht  zu  finden  ist, 
so  ist  er  also  zu  Ostern  1827  oder  etwas  später  eingetreten.   Das 
erste   Zeugnis   nennt   seine   Ordnungsliebe    „groß",  Strafen    und 
Versäumnisse  enthält  es  keine,  von  den  Zensuren  für  Leistungen  in 
den  Unterrichtsgegenständen  —  je  vier  für  ein  Fach  —  sind  29 
Sehr  gut,  11  Gut,  1  —  im  Hebräischen  —  Genügend.   Das  Zeugnis 
für  das  erste  Halbjahr  der  Prima  ist  nicht  mehr  zu  finden,  das- 
jenige für  das  zweite  Halbjahr  trägt  die  Gesamtnummer  „Zwei  a", 
in   den  Leistungen  weist  es   in    allem  „Gut"  auf.  Besonders  be- 
merkenswert ist  das  Abgangszeugnis,  datiert  vom  18.  September 
1829.    Die  Gesamtnote  lautet  hier:  „Nro.  Eins".    Fernerhin  enthält 
es,  wie  es  noch  heute  in  den  Abiturientenzeugnissen  üblich  ist,  eine 
ausführliche  Charakteristik  der  Aufführung  und  der  Leistungen  des 
Empfängers.    Seine  „Aufführung  gegen  Mitschüler  und  Vorgesetzte" 
zeigt   den  Vermerk:  „Musterhaft;   reiner  Abglanz   eines   schönen, 

198 


unbefangenen  Gemütes."  Sein  Fleiß  war  „höchst  lobenswert  und 
mit  gleicher  erfolgreicher  Liebe  allen  Lerngegenständen  zugewendet". 
Von  der  Beurteilung  seiner  Leistungen  ist  die  folgende  durch  ihren 
prophetischen  Inhalt  ebenso  zutreffend  wie  interessant:  „Für  die 
Mathematik  und  noch  mehr  für  die  Naturwissenschaften  zeigte 
er  natürliche  Vorliebe  und  recht  glückliche  Anlagen.  Durch  diese, 
verbunden  mit  seinem  rühmlichen  Fleiße,  erwarb  er  sich  ein  un- 
gemeines Maß  von  gediegenen  Kenntnissen,  die  bei  weiterer  Pflege 
zu  schönen  Hoffnungen  berechtigen."  ^) 

Diese  natürliche  Vorliebe  leitete  ihn  bei  der  Wahl  des  Studiums 
der  Medizin.  Schwann  hat  freilich  die  Heilkunst  später  niemals 
praktisch  ausgeübt;  seine  Interessen  waren  in  erster  Linie  ihren 
naturwissenschaftlichen  Grundlagen,  der  Anatomie  und  Physiologie, 
zugewendet.  Hier  errang  er  auch  seine  ersten  Erfolge.  Seine 
Dissertation  handelte  über  die  Rolle  des  Sauerstoffs  bei  der  Ent- 
wicklung des  Hühnchens  im  Ei  Dieser  folgten  Untersuchungen 
über  künstliche  Verdauung  und  das  Wesen  des  Verdauungsprozesses. 
Hierbei  hatte  er  das  Glück,  in  den  Säften  des  Magens  das  Pepsin 
—  von  ihm  so  genannt  nach  dem  Worte  ns\pi?  =  Verdauung  —  zu 
entdecken.  Ein  uraltes  Problem,  das  der  Urzeugung  oder  generatio 
spontanea,  dessen  endgültige  Lösung  naturgemäß  auf  theoretischem 
Boden  niemals  gelungen  war,  griff  er  seiner  Neigung  und  Ver- 
anlagung entsprechend  experimentell  an  und  bereitete  Pasteurs 
Forschungen  erfolgreich  vor.  Im  Zusammenhang  damit  stehen  die 
Versuche,  welche  dartun  sollen,  daß  die  alkoholische  Gärung  durch 
die  Tätigkeit  eines  Lebewesens,  des  von  Schwann  entdeckten  Hefe- 
pilzes, zustande  kommt.  Der  Hauptgegner  dieser  Anschauung 
wurde  Liebig,  welcher  die  Gärung  als  einen  rein  chemischen, 
ohne  Beteiligung  von  Lebewesen  stattfindenden  Prozeß  ansah. 
Lange  schien  Schwanns  Auffassung  den  Sieg  davonzutragen,  bis 
es  in  jüngster  Zeit  dem  Bresiauer  Chemiker  Eduard  Buchner 
gelang,  zu  beweisen,  daß  Gärung  auch  bei  Abwesenheit  der 
lebendigen  Hefepilze  eintritt  als  Wirkung  eines  Fermentes,  das 
aus  dem  Preßsaft  der  Hefe  isoliert  werden  kann. 

Die  Kenntnis  der  Gefäße,  Muskeln  und  Nerven  des  tierischen 
Körpers  und  ihrer  Tätigkeit  förderte  er  durch  mehrere  mustergültige 
Arbeiten,  deren  Ergebnisse  er  größtenteils  in  dem  Handbuch  der 
Physiologie  seines  großen  Lehrers  Johannes  Müller  und  im  ,,Encyklo- 
pädischen  Wörterbuch  der  medizinischen  Wissenschaften",  heraus- 

')  Die  Einsicht  in  die  oben  erwähnten  Zeugnisse  verdanke  ich  der  freundlichen 
Vermittlung  des  Herausgebers  dieser  Festschrift,  des  Herrn  Prof.  Dr.  Kiinkenberg. 

199 


gegeben  von  Professoren  der  Berliner  Universität,  veröffent- 
liciite. 

An  diesen  Arbeiten  und  unter  der  sicheren  Führung  Müllers 
schulte  sich  Schwanns  Tatkraft  zu  einem  Werke,  das  ihm  weit 
mehr  noch  als  die  früheren  Arbeiten  Ruhm  und  Ehre  eintrug. 
Seine  weite  Auffassungsgabe,  seine  vorzügliche  Beobachtungs- 
kunst, unermüdliche  Arbeitskraft  und  Energie  befähigten  ihn  in 
Verbindung  mit  der  genossenen  Ausbildung  in  hohem  Maße  zu 
der  Gestaltung  des  großen  Schöpfergedankens  und  wichtigen 
Naturprinzips,  als  welches  die  Zelientheorie  sich  erweisen   sollte. 

Es  ist  bekannt,  eine  wie  große  Rolle  der  Zufall  in  der 
Geschichte  der  naturwissenschaftlichen  Entdeckungen  gespielt  hat. 

Aber  während  die  Mehrzahl  der  Menschen  an  den  Erschei- 
nungen, die  die  Natur  auch  ihrem  Auge  darbietet,  vorübergeht,  ist 
es  das  Zeichen  des  Genius,  ihnen  nachzuspüren  und  ihren  tiefsten 
Grund  in  fundamentalen  Gesetzmäßigkeiten  zu  ermitteln.  Auch 
die  Geschichte  der  Zellentheorie  bietet  das  Beispiel  einer  solchen 
„cause  occasionelle".  Eine  Bemerkung  Schleidens,  des  großen 
Botanikers,  gelegentlich  eines  Mittagsmahles  hingeworfen,  spielt 
hier  die  Rolle  des  Newtonschen  Apfels.  In  dem  aufmerksamen 
Tischgenossen  fand  jene  Bemerkung  einen  durch  Studien  über 
den  Bau  des  tierischen  Körpers  hinreichend  vorbereiteten  Boden. 
Dem  blitzartig  in  ihm  erwachten  Gedanken  die  Existenzberech- 
tigung zu  sichern,  darauf  waren  fortan  alle  Bemühungen  Schwanns 
gerichtet. 

Aber  noch  in  einem  anderen  Punkte  zeigte  sich  hinsichtlich 
äußerer  Umstände,  unter  denen  die  Entdeckung  erfolgte,  Über- 
einstimmung mit  anderen  von  derselben  Größe,  die  zu  einem  Ver- 
gleich herausfordert.  Ostwald  bemerkt  in  den  ,, Großen  Männern", 
daß  bei  diesen  vielfach  das  Maximum  der  Tatkraft  bereits  vor  den 
dreißiger  Lebensjahren  liegt.  Beispiele  hierfür  bietet  das  Leben 
eines  Newton,  Mayer,  Joule,  Helmholtz.  Die  Erklärung  liegt 
nahe.  Abgesehen  von  der  Größe  einer  jugendlichen  Arbeitskraft 
bedingt  dieses  Alter  auch  —  wie  Ostwald  meint  —  den  großen 
Problemen  gegenüber  den  unbefangenen  Mut,  der  noch  nicht 
durch  drückende  Erfahrungen  des  Mißlingens  wegen  eigener 
Unzulänglichkeit  gehemmt  wird,  ferner  Frische  der  Anschauung 
und  Unbefangenheit  in  der  Beurteilung  des  Neuen  und  der 
gesamten  Sachlage,  so  daß  es  aus  jener  heraus  zu  einfacher 
Fragestellung  und  oft  ebenso  überraschend  einfacher  Lösung 
kommt.    Als  Schwann  den  Nachweis  unternahm,  daß  im  Bau  der 

200 


Lebewesen  überall  das  gleiche  Prinzip  herrsche,  zählte  er  eben 
27  Jahre.  Mit  29  machte  ihn  die  Veröffentlichung  der  „Mikro- 
skopischen Untersuchungen"  ^)  für  alle  Zeiten  unsterblich. 

Ein  neuer  Gedanke  verdient  erst  dann  als  ein  wahrhaft 
großer  angesehen  zu  werden,  wenn  er  nicht  nur  auf  dem  eng- 
begrenzten Gebiete  einer  SpezialWissenschaft  die  Erkenntnismenge 
vermehrt,  sondern  wenn  er  weit  über  diese  hinausgreifend  die 
Gesamtheit  des  menschlichen  Denkens  und  Wissens  heilsam 
befruchtet.  Die  Idee,  die  der  Zellentheorie  zugrunde  liegt,  er- 
weist sich  erst,  an  diesem  Maßstab  gemessen,  in  ihrer  ganzen 
Bedeutung.  In  erster  Linie  für  die  Anatomie  von  außerordentlicher 
Tragweite,  hat  sie  nicht  minder  alle  Zweige  der  Physiologie,  die 
gesamte  Lehre  vom  Leben,  auf  eine  ungeahnte  Höhe  gehoben, 
aber  außerdem  eine  einheitliche  Auffassung  vom  Aufbau  der 
lebendigen  Natur  vermittelt  und  der  philosophischen  Naturbetrach- 
tung wichtiges  Rüstzeug  zur  Bekämpfung  falscher  und  zurGewinnung 
neuer  Anschauungen  geliefert.  Ihre  erkenntnistheoretische  Bedeu- 
tung liegt  vor  allem  darin,  daß  sie  einem  tief  in  der  Menschen- 
seele wurzelnden,  uralten  Bedürfnis  entgegenkommt,  dem  Bedürfnis, 
die  Mannigfaltigkeit  in  der  umgebenden  Welt  einheitlich  zu  erfassen, 
sie  zu  ordnen  und  gleichsam  zu  schematisieren,  und  daß  sie  auf 
die  Frage  nach  der  Existenz  einer  Einheitlichkeit  in  der  lebendigen 
Natur  zum  ersten  Male  eine  allgemein  gültige  Antwort  gibt,  die 
auf  der  Beobachtung  der  Tatsachen  beruht  und  nicht  wie  die 
Monadenlehren  der  alten  oder  der  neueren  Philosophen  das 
Produkt  der  Spekulation  des  Menschengeistes  ist. 

Auf  dem  Gebiet  der  allgemeinen  Anatomie  machte  die  Zellen- 
lehre den  verschiedenartigsten  unklaren  Vorstellungen  ein  Ende. 
Wie  bereits  vor  ihm  Schieiden  für  die  Pflanzen,  so  führte  Schwann 
für  alle  Gewebe  des  tierischen  Körpers  den  durch  umfangreiche 
Beobachtungen  gestützten  Nachweis,  daß  auch  die  Organismen  in 
dem  anderen  großen  Reich  der  Lebewesen,  der  Tierwelt,  aus  Ele- 
mentarteilen von  einer  gewissen  Selbständigkeit  der  Existenz,  den 
Zellen,  aufgebaut  sind.  Er  tat  aber  auch  weiter  dar,  daß  diesen 
Kräfte  innewohnen,  die  sich  in  derselben  Weise  wie  bei  den  Pflan- 

')  Mikroskopische  Untersuchungen  über  die  Übereinstimmung  in  der  Struk- 
tur und  dem  Wachstum  der  Tiere  und  Pflanzen,  Berlin,  Q.  Reimer,  1839.  Die 
Ergebnisse  hatte  er  bereits  vorher  stückweise  in  der  Zeitschrift  „Frorieps  Notizen", 
1838  veröffentlicht.  Das  selten  gewordene  Buch  ist  im  vorigen  Jahre  neu  heraus- 
gegeben worden  und  bildet  in  dieser  Ausgabe  Bd.  176  von  Ostwalds  Klassikern 
der  exakten  Naturwissenschaften. 

201 


zenzellen  betätigen,  und  konnte  somit  die  tierisciien  und  pflanz- 
lichen Zellen  als  anatomisch  und  physiologisch  gleichwertig  neben- 
einander stellen.  Hierbei  legte  er  die  Vorstellung  von  der  Zelle 
und  ihrer  Bildung  zugrunde,  die  Schieiden  entwickelt  hatte.  Die 
Teile  der  Zelle  entstehen  danach  durch  Niederschlag  in  einem 
unorganisierten  Zellenkeimstoff,  und  diese  Bildung  erscheint  als 
das  Werk  von  Kräften,  die  in  den  kleinsten  Teilen  der  lebendigen 
Substanz  ihren  Sitz  haben.  Der  ganze  Vorgang  vollzog  sich  vor 
dem  Auge  Schwanns  so  ähnlich  der  Bildung  von  Kristallen, 
daß  er  zu  dem  Schlußergebnis  gelangte,  die  Entstehung  der  Ele- 
mentarteile der  Organismen  sei  ebenfalls  eine  Art  Kristallisation 
und  der  Organismus  ein  Aggregat  solcher  kristallähnlichen  Ge- 
bilde. Wenn  nun  auch  diese  Vorstellungen  von  der  fortschreiten- 
den Wissenschaft  mit  Hilfe  der  überaus  verfeinerten  Methoden 
beseitigt  wurden,  so  bleibt  doch  die  Erkenntnis  des  allgemeinen 
Prinzips  das  große  und  bleibende  Verdienst  Schwanns,  und  dieses 
wird  noch  erhöht,  wenn  man  bedenkt,  daß  er  den  ersten  Anstoß 
zu  jenen  erfolgreichen  Forschungen  gegeben  hat,  denen  wir  als 
fruchtbares  Ergebnis  die  Klarstellung  der  Bedeutung,  Bildung  und 
Vermehrung  der  Zelle,  ihrer  Teile  und  Produkte  zu  verdanken 
haben. 

Die  Kenntnis  des  Aufbaues  irgend  eines  komplizierten  Ge- 
bildes ist  die  Vorbedingung  für  das  Studium  seiner  Wirkungsweise. 
Die  biologischen  Wissenschaften  gliedern  sich  in  zwei  große  Ge- 
biete, von  denen  das  eine  die  Beschreibung  des  Anfbaues  der  Lebe- 
wesen, das  andere  die  Ermittlung  der  Funktionen  der  Teile  und  des 
Ganzen  zum  Gegenstande  hat.  Auch  hier  ist  die  Lehre  von  den 
Erscheinungen,  die  Physiologie,  eng  an  die  Fortschritte  der 
Schwesterdisziplin  gebunden,  und  so  ist  es  zu  erklären,  daß  sie 
aus  der  Zellenlehre  gewaltigen  Nutzen  zog.  Die  Zellularphysio- 
logie wurde  jetzt  erst  begründet  und  damit  die  Untersuchung  der 
Lebensvorgänge  an  ihren  Herd  verlegt.  Vor  allem  hat  die  Zellen- 
lehre reformatorisch  gewirkt  für  das  Zentralproblem  der  Physiolo- 
gie, die  Ernährung.  Männer  wie  Liebig  und  Pflüger  erkannten 
mit  scharfem  Blick,  daß  die  letzte  Ursache  der  Stoffwechselpro- 
zesse in  den  Zellen  zu  suchen  sei.  Nur  dadurch,  daß  die  „groben 
Massenleistungen  des  Gesamtkörpers  in  eine  Summe  von  zahl- 
losen Teilprozessen  innerhalb  der  einzelnen  Elemente  aufgelöst 
wurden",  gelang  es,  auch  für  jene  eine  Erklärung  zu  finden. 

Aber  nicht  nur  die  Erforschung  der  gesunden  und  normalen 
Prozesse  förderte  die  Zellenlehre.     Schon  Johannes  Müller  blieb 


202 


ihre  Tragweite  für  die  richtige  Beurteilung  krankhafter  Prozesse 
nicht  verborgen;  die  Zellularpathologie  Virchows  übertrug  die  Lehre 
vom  zelligen  Aufbau  auch  auf  krankhafte  Gewebe  und  Zustände. 
Bei  allen  Fragen,  die  den  Aufbau  der  Lebewesen  und  die 
Wirkungsweise  der  in  ihnen  tätigen  Kräfte  zum  Gegenstand  haben, 
gelangt  die  Wissenschaft  an  eine  Grenze,  sobald  sich  die  weitere 
Frage  nach  der  letzten  Ursache  erhebt.  Diese  Grenze  ist  aufge- 
baut durch  die  Unzulänglichkeit  der  Hilfsmittel.  Beobachtung  und 
Experiment  sind  da  noch  immer  außerstande,  Antwort  zu  geben, 
und  an  ihre  Stelle  tritt  wiederum  die  Spekulation.  Ihr  lieferte  die 
Zellentheorie  neues  empirisches  Material.  Die  philosophischen 
Konsequenzen  dieser  Lehre  blieben  ihrem  scharfsinnigen  Schöpfer 
nicht  verborgen;  wir  finden  sie  in  ihren  Grundzügen  bereits  in 
den  „iVlikroskopischen  Untersuchungen"  entwickelt.  Der  Vitalismus 
stand  damals  in  Blüte.  Mit  der  Lehre  vom  Zweck  in  der  Natur 
verband  er  die  Vorstellung  von  einer  zwecksetzenden,  in  jedem 
Organismus  wirkenden  Lebenskraft.  Nun  zeigte  die  Zellentheorie 
in  den  Zellen  selbständig  existierende  Elementarteile,  „die  von 
keiner  Kraft,  die  dem  Organismus  gemeinsam  ist,  abhängen". 
Dieser  Nachweis  ließ  nur  die  Möglichkeit,  für  jede  Zelle  auch  eine 
besondere  Lebenskraft  —  gewissermaßen  eine  Lebenskraft  im 
kleinen  —  anzunehmen,  oder  aber  mit  jener  Lehre  völlig  zu  brechen 
und  an  ihre  Stelle  eine  physikalische  Denkweise  zu  setzen,  nach 
welcher  auch  den  Erscheinungen  in  der  lebenden  Natur  Kräfte  zu- 
grunde liegen,  die  mit  blinder  Notwendigkeit  wirken.  Schwann 
glaubte  „allen  Anlaß  zu  haben,  aus  der  Gleichförmigkeit  in  der 
Entwicklung  aller  Zellen  auf  das  Nichtvorhandensein  verschiedener 
Künstler  zu  schließen,  die  jeder  das  Seinige  bauen";  er  blieb  Zeit 
seines  Lebens  ein  entschiedener  Gegner  des  Vitalismus.  Eine 
nähere  Begründung  seiner  philosophischen  Überzeugungen  zu 
geben,  hat  er  noch  oft  Anlaß  genommen,  so  z.  B.  in  seiner  „Popu- 
lären Anatomie", ')  in  einem  Vortrag  in  der  belgischen  Akademie 
der  Wissenschaften,  den  er  auf  eine  Interpellation  ihres  Präsiden- 
ten Omalius  d'Halloy  dort  am  4.  Juni  1870  hielt-),  in  der  Dank- 
rede gelegentlich  seines  Universitätsjubiläums  am  23.  Juni  1878,  ^) 
dann  aber  auch  in  den  Vorlesungen  über  die  allgemeine  Physio- 
logie, die  er  an  der  Universität  Lüttich  als  Professor  lange  Jahre 

')  Anatomie  du  corps  hurtiain.    Bruxelles  1855. 

=)  Rcponse  ä  linterpellation  de  M.  d'Omalius  relative  ä  la  force  vitale. 
Bulletin  de  l'Academie  des  Sciences  de  Belgique  Bd.  24,  p.  683.    1870. 

^  Manifestation  en  l'honneur  de  Mr.  le  professeur  Th.  Schwann,  Düsseldorf, 
Imprimerie  L.  Schwann  1878. 

203 


abhielt.  ^)  Wenn  nun  auch  Schwann  zwischen  den  Erscheinungen 
der  lebendigen  und  leblosen  Natur  einen  wesentlichen  Unterschied 
nicht  machte,  so  führte  ihn  diese  Auffassung  doch  keineswegs 
dazu,  seine  tief  gläubige  Denkweise  zu  verlassen.  Im  Gegenteil,  er 
hat  die  Konsequenzen  seiner  Naturphilosophie  mit  einer  christlich- 
dualistischen Weltanschauung  glänzend  zu  vereinigen  verstanden. 

Es  entbehrt  nicht  der  Ironie,  daß  dieselbe  Lehre,  die  für  ihren 
Schöpfer  und  für  weite  Kreise  gewichtige  Argumente  zur  Be- 
kämpfung des  Vitalismus  lieferte,  denselben  anderseits  auch  wieder 
neu  belebte.  Gewisse  Vorgänge  innerhalb  der  zellulären  Lebens- 
einheiten waren  und  blieben  der  Forschung  verborgen,  und  die 
zahlreichen  ungelösten  Fragen  entrangen  den  einen  ein  verzwei- 
felndes „Ignorabimus",  bei  den  anderen  schlich  sich  die  Lebens- 
kraft als  der  stets  hilfbereite  und  bequeme  deus  ex  machina 
wieder  ein,  bereit,  mit  einem  Schlag  alle  Knoten  zu  entwirren, 
jedoch  auch  mit  dem  wenig  ermutigenden  Ergebnis,  daß  an  die 
Stelle  vieler  Rätsel  e  i  n  neues  großes  Rätsel  trat. 

Nach  der  Zellenlehre  ist  Schwann  nur  noch  mit  einer  Arbeit 
von  größerer  Bedeutung  aufgetreten  ;  in  dieser  bewies  er  die  Not- 
wendigkeit der  Galle  für  den  normalen  Verlauf  des  Verdauungs- 
prozesses. Hiervon  abgesehen  bietet  Schwanns  Leben  die  merk- 
würdige Erscheinung,  daß  ein  Mann,  der  während  der  kurzen 
Spanne  von  nicht  einem  ganzen  Jahrzehnt  Welt  und  Wissenschaft 
geradezu  fürstlich  beschenkt  hatte,  fortan  allein  aufging  in  der 
Erfüllung  der  Pflichten  seines  Berufes.  Vor  allem  hat  diese  Zurück- 
haltung ein  Charakterzug  Schwanns  bewirkt,  den  sein  Freund  und 
Fachgenosse,  der  Göttinger  Anatom  Henle,  hervorhebt.  Es  war 
dies  seine  ausgesprochene  Abneigung  gegen  Polemik,  besonders 
in  solchen  Kontroversen,  die  seine  eigenen  Entdeckungen  zur  Ur- 
sache hatten. 

Dies  bedeutet  aber  nicht,  daß  Schwann  nunmehr  an  den  Fragen, 
welche  die  wissenschaftliche  Welt  bewegten,  keinen  Anteil  mehr 
genommen  hätte.  Dazu  bot  ihm  das  akademische  Lehramt  hin- 
reichend Gelegenheit.  Er  hat  dieses  mehr  als  vierzig  Jahre  höchst 
erfolgreich   vertreten.    Zuerst   Professor   der  Anatomie  in  Löwen, 

')  An  Hand  der  Vorlesungsmanuskripte  ist  Schwanns  Weltanschauung  in 
alier  Kürze  entwickelt  bei  F.  B  o  s  c  h ,  Aus  der  Geschichte  der  Zellenlehre,  Düsseldorf, 
L.  Schwann,  1910  S.  41  ff.  Dieser  Schrift  ist  auch  mit  Genehmigung  des  Verlags 
das  Porträt  Schwanns  entnommen.  Die  Vorlesungen,  von  Schwann  bezeichnet 
als  ,,Cours  de  la  Physiologie  generale",  enthalten  einen  längeren  Abschnitt  unter 
dem  Titel  ,, Theorie  de  la  Creation".  Einiges  über  Sch.s  Weltanschauung  enthält 
auch  Henle,  Th.  Schwann,  Nachruf,  Bonn  1882. 

204 


hatte  er  von  1848  an  einen  Lehrstuhl  an  der  Universität  Lüttich 
inne;  er  vertrat  in  der  dortigen  medizinischen  Fakultät  anfangs 
ebenfalls  das  Fach  der  Anatomie,  später  die  Physiologie.  In  dieser 
Stellung  nahm  er  an  den  Fortschritten  der  Wissenschaft  bis  zu 
seinem  Tode  das  lebhafteste  Interesse  und  gestaltete  durch  die 
Verwertung  ihrer  Ergebnisse  und  der  neuesten  Apparate  und  Ver- 
voUkommungen,  die  die  Technik  im  Verein  mit  der  Theorie  brachte, 
seinen  Unterricht  ebenso  interessant  wie  anschaulich  und  fruchtbar.  ^) 
Ais  Schwann  im  Januar  1882  zur  ewigen  Ruhe  einging,  war 
ihm  der  Dank  der  Mitwelt  für  seine  Lebensarbeit  in  hohem  Maße 
zuteil  geworden.  Zahllos  waren  die  Ehrungen,  die,  aus  allen 
Teilen  der  Erde  einlaufend,  um  die  Stirn  des  großen  Denkers 
sich  zu  dem  verdienten  Ruhmeskranz  vereinigten.  Aber  seine 
Verdienste  erstrecken  sich  auch  in  unvermindertem  Maße  in  Gegen- 
wart und  Zukunft  und  geben  denjenigen,  die  sich  ihrer  erfreuen, 
das  Recht  und  die  Pflicht,  das  Gedächtnis  Theodor  Schwanns 
bei  jeder  Gelegenheit  zu  erneuern,  so  auch  bei  der  Festfeier  der 
Bildungsstätte,  welcher  er  im  reichsten  Maße  das  vergolten  hat, 
was  er  selbst  von  ihr  empfing. 

')  Die  Mitteilungen  über  Sch.s  akademische  Tätigkeit  verdanke  ich  der  Güte 
des  Herrn  Professor  Leon  Fredericq  in  Lüttich,  der  als  Nachfolger  Schwanns 
dessen  Lehrstuhl  an  der  dortigen  Universität  inne  hat. 


Eduard  Heis, 


geboren  am  18.  Februar  1806  zu  Köln,  gestorben  am  30.  Juni  1877  zu  Münster  i.  W. 
Von  Dr.  FRANZ  BOSCH,  Oberlehrer  in  Crefeld. 

An  einer  Stelle  seines  Buches  „Die  moderne  Biologie  und  die 

/\     Entwicklungstheorie"  macht  P.  Wasmann  die  Bemerkung, 

J^     \  die   mikroskopische  Forschung   sei    durch   die  modernen 

Methoden  ihrer  Technik  zu  einer  creatio  secunda  geworden,  durch 

die  alle  Herrlichkeiten  der  Schöpfung  erst  offenbar  würden.    Die 

Grundlage  zu  dieser  Enthül- 
lung der  Schönheiten  im  Bau 
des  Mikrokosmos  schuf  in  den 
dreißiger  Jahren  des  verflos- 
senen Jahrhunderts  Theodor 
Schwann,  dessen  Werk  im 
voraufgehenden  Lebensbilde 
ausführlicher  gewürdigt  wird. 
Wenige  Jahre  vor  ihm  gehörte 
ein  Mann  als  Schüler  dem  Mar- 
zellengymnasium  an,  dessen 
Tätigkeit  in  der  entgegenge- 
setzten Richtung  weit  über  die 
Grenzen  unserer  Erde  hinaus 
in  die  Unendlichkeit  des  Welt- 
alls strebte  und  sich  versenkte 
in  die  Erforschung  der  Werke 
und  Erscheinungen  des  Makro- 
kosmos. Dieser  Mann  war  der 
Astronom  und  Mathematiker 
Eduard  Heis. 

An  der  Hochstraße  zu 
Köln  stand  sein  Geburtshaus.') 
Schon  bei  seinen  Vorfahren  fand  die  Wissenschaft  eifrige  Pflege. 
Sein  Urgioßvater  Johann  Wilhelm  Heis  war  Professor  der  Chirurgie 
und  Medizin  an  der  alten  Kölner  Universität.  Dessen  ältester  Sohn 
Matthias  Joseph   war  Apotheker    und   Inhaber    der    noch    heute 

1)  Für  das  nachstehende  Lebensbild  Heis'  und  die  Würdigung  seiner  Ver- 
dienste sind  benutzt  worden  ein  Nachruf  in  der  Vierteljahrsschrift  der  astronomi- 
schen Gesellschaft  12.  Jahrgang  1877  S.  172  ff.  und  in  ausführlicher  Weise  der 
Aufsatz  eines  Schülers  Heis'  in  der  Kölnischen  Voli^szeitung  vom  19.  Februar 
1906  Nr.  145  gelegentlich  der  Zentenarfeier  seiner  Geburt. 


206 


bestehenden  Hirschapotheke.  Von  ihm  ging  sie  an  den  Vater 
Eduards,  Georg  Friedrich,  über.  Von  diesem  wird  berichtet,  daß 
er  sich  neben  seinem  Beruf  viel  mit  den  Naturwissenschaften, 
insbesondere  der  Physik  und  Mineralogie,  beschäftigte;  auch  war 
er  Liebhaber  der  Kunst,  ein  Freund  Wallrafs  und  Mitglied  des  Vor- 
stands des  alten  Museums.  Von  der  mütterlichen  Seite  mag  Eduard 
Heis  ebenfalls  ein  Erbteil  empfangen  haben,  das  ihn  zu  wissen- 
schaftlicher Arbeit  und  literarischer  Betätigung  befähigte.  Seine 
Mutter  entstammte  der  alten  Kölner  Familie  Schauberg;  sie  war 
eine  Tochter  des  Verlagsbuchhändlers  Schauberg  und  Schwester 
des  späteren  Verlagsinhabers  der  Kölnischen  Zeitung,  Markus 
Du  Mont.  Als  dritter  Sohn  dieses  Ehepaares  wurde  Eduard  Heis 
am  18.  Februar  1806  geboren.  Anderen  irrtümlichen  Nachrichten 
entgegen, die  ihn  als  Schüler  und  Abiturienten  des  Kölner  Friedrich- 
Wilhelm-Gymnasiums  bezeichnen,  hat  Heis  vielmehr  seine  Gymna- 
sialstudien am  Marzellengymnasium  gemacht.  Im  Programm  des 
letzteren  vom  Jahre  1824  wird  er  als  Abiturient  dieser  Anstalt 
aufgeführt.  Wie  hier  bemerkt  ist,  erhielt  sein  Reifezeugnis  die 
Note  „Nro.  2",  und  der  Inhaber  desselben  wurde  zum  Studium 
der  Philologie  und  Mathematik  entlassen.  An  der  Hochschule  zu 
Bonn  hörte  er  zunächst  jedoch  auch  Vorlesungen  über  katholische 
Theologie.  Von  dem  Fleiß,  mit  dem  er  hier  seinen  Studien  oblag, 
und  von  der  Richtung,  welche  diese  inzwischen  genommen  hatten, 
liefert  die  Tatsache  beredtes  Zeugnis,  daß  er  bereits  im  Jahre 
1826  —  also  etwa  im  dritten  oder  vierten  Semester  stehend  — 
zwei  Preisaufgaben  in  der  philosophischen  Fakultät  erfolgreich 
bearbeitete.  Die  erste  behandelte  ein  Problem,  das  zu  der  Wieder- 
herstellung des  teilweise  verloren  gegangenen  Buches  des  antiken 
Mathematikers  Apollonius  von  Perge,  betitelt:  ntgl  (hüjoia/tiiyijz  zofit,? 
in  Beziehung  stand.  Die  andere  rührte  von  dem  Historiker  Niebuhr, 
damals  Professor  der  Geschichte  an  der  Bonner  Universität,  her. 
Heis  hat  diese  Aufgabe  später  seiner  Sammlung  von  Beispielen 
aus  der  Algebra')  einverleibt.  Es  handelte  sich  bei  dieser  Aufgabe 
um  folgendes.  Wenige  Jahre  vor  der  Stellung  der  Aufgabe  durch 
Niebuhr  war  in  der  Vatikanischen  Bibliothek  die  Schrift  Ciceros 
„de  re  publica"  wiedergefunden  worden.  Hier  erwähnt  Cicero  in 
Anlehnung  an  den  römischen  Schriftsteller  Ennius  eine  Sonnen- 
finsternis, die  nach  diesem  um  das  Jahr  350  der  Erbauung  der 
Stadt  an  den  Nonen  des  Juni  vorfiel  und  die  er  mit  den  Worten 

')  Heis,  Sammlung   von    Beispielen    und  Aufgaben   aus   der    allgemeinen 
Arithmetik  und  Algebra.    109.-111.  Auflage.    Köln  1906.   Seite  385 f. 

207 


charakterisiert:  Soli  luna  obstitit  et  nox.  Durch  seine  Berechnung 
ermittelte  Heis  die  Art  und  den  genauen  Zeitpunkt  dieser  Finster- 
nis für  den  21.  Juni  des  Jahres  400  v.  Chr.  Geb.  und  erklärte  die 
Bemerkung  des  Ennius:  „Der  Umstand,  daß  die  Mitte  der  Fin- 
sternis acht  Minuten  vor  Sonnenuntergang  stattfand,  gibt  der  Aus- 
sage des  Ennius  in  Bezug  auf  das  Eintreten  der  Nacht  Bedeutung." 

Im  Jahre  1827  schloß  Heis  seine  akademischen  Studien  ab, 
indem  er  mit  bestem  Erfolg  das  Staatsexamen,  die  Prüfung  pro 
facultate  docendi,  bestand.  Das  erste  Jahrzehnt  seiner  Lehrtätig- 
keit verbrachte  er  an  verschiedenen  Anstalten  seiner  Vaterstadt.') 
Zunächst  war  er  von  1828—30  Lehrer  an  der  Realschule,  von 
1830—36  am  Friedrich-Wilhelm-Gymnasium,  von  1837—38  wieder 
an  der  Realschule.  1838  wurde  er  als  Oberlehrer  an  die  kom- 
binierte Real-  und  Gewerbeschule  —  das  heutige  Realgymnasium  — 
zu  Aachen  berufen.  Aus  der  Zeit  seiner  Tätigkeit  am  Friedrich- 
Wilhelm-Gymnasium  rührt  eine  Abhandlung  her,  die  inhaltlich 
ein  Gegenstück  zu  der  oben  erwähnten  Preisaufgabe  bildet,  ^j 
Diese  behandelt  die  Finsternisse  während  des  peloponnesischen 
Krieges;  es  sind  das  die  von  Thucydides  und  Plutarch  erwähnte 
Sonnenfinsternis  zur  Zeit  des  Perikles  am  3.  August  431  und  die 
Mondfinsternis,  die  im  19.  Jahre  des  peloponnesischen  Krieges 
—  431  —  die  athenische  Flotte  vor  Syrakus  beunruhigte.  Auch 
diese  beiden  Berechnungen  hat  Heis  als  Aufgaben  seiner  Samm- 
lung einverleibt. 

Ebenfalls  in  die  Zeit  des  Kölner  Aufenthalts  fällt  die  erste 
Herausgabe  dieser  Sammlung.  Auf  dem  Boden  der  Praxis  erwachsen 
und  für  diese  bestimmt,  hat  das  Buch  außerordentliche  Verbreitung 
und  Bedeutung  für  den  arithmetischen  Unterricht  an  den  höheren 
Schulen  Deutschlands  erlangt.  Im  Jahre  1837  in  erster  Auflage 
im  Verlag  der  DuMont-Schaubergschen  Buchhandlung  erschienen, 
beging  es  bereits  nach  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  —  1900  —  das 
Jubiläum  seiner  hundertsten  Auflage  und  ist  gegenwärtig  —  auch  in 
fremde  Sprachen  übersetzt  —  in  mehr  als  einer  halben  Million  Exem- 
plaren verbreitet.  Nach  Heis'  Tode  wurde  es  lange  von  dem  1906 

')  Die  oben  genannten  Quellen  verlegen  die  ganze  Zeit  der  Kölner  leliramt- 
lichen  Tätigkeit  an  das  Friedricti-Wilhelm-Gymnasium.  In  dem  Album  der  philo- 
sophischen Fakultät  der  Universität  Münster  findet  sich,  wie  Herr  Prof.  Meister 
mir  mitzuteilen  die  Freundlichkeit  hatte,  eine  Eintragung  über  Heis,  welche  aus- 
drücklich seine  Tätigkeit  an  den  beiden  oben  genannten  Anstalten  erwähnt. 

-)  Die  Finsternisse  während  des  peloponnesischen  Krieges.  Abhandlung 
von  Eduard  Heis  im  Programm  des  Königlichen  Friedrich -Wilhelm-Gymnasiums 
zu  Köln  1834. 

208 


verstorbenen  Rostocker  Professor  Matthiessen  bearbeitet.  Es  war 
jedoch  nicht  zu  verkennen,  daß  das  Buch,  so  wertvoll  und  brauch- 
bar es  sich  so  lange  erwiesen,  einer  umfassenden  Veränderung 
bedurfte,  wenn  es  den  modernen  Anforderungen  und  den  neuen 
Zielen  des  mathematischen  Unterrichts  gerecht  bleiben  wollte. 
Insbesondere  fehlte  ihm  die  Einbeziehung  des  gegenwärtig  mit 
Recht  betonten  Funktionenbegriffs,  die  Schulung  des  funktionalen 
Denkens  und  die  Verwertung  der  graphischen  Methoden  und 
damit  die  engere  Verbindung  mit  der  Geometrie.  Diesem  Umstände 
ist  inzwischen  Rechnung  getragen,^)  und  so  wird  der  alte  „Heis" 
im  neuen  Gewände  noch  viele  Generationen  in  die  Anfangsgründe 
der  Algebra  einführen  und  ihnen  auch  durch  die  verwickeiteren 
Gebiete  des  algebraischen  Denkens  ein  zuverlässiger  Führer  sein. 

Außerdem  verfaßte  Heis  zusammen  mit  Th.  Joh.  Eschweiler 
ein  mehrfach  aufgelegtes  Lehrbuch  der  Geometrie  in  drei  Teilen: 
Planimetrie,  Trigonometrie  und  Stereometrie  —  zuerst  erschienen 
1855 — 67  —  und  ein  „Rechenbuch  für  Gewerbe-  und  Hand- 
werkerschulen". Heis  hat  sich  also  nicht  begnügt,  durch  münd- 
lichen Unterricht,  der  in  Köln  und  Aachen  bei  seinen  Schülern 
hochgeschätzt  war,  die  Kenntnis  der  mathematischen  Lehren  zu 
verbreiten;  die  Zahl  der  geistigen  Schüler,  die  an  der  Hand  seiner 
Lehr-  und  Übungsbücher  ihre  mathematische  Bildung  empfingen, 
mag  in  die  Hunderttausende  gehen. 

In  der  Mathematik  zeigte  sich  Heis  also  von  der  fruchtbarsten 
methodischen  Seite;  eigene  wissenschaftliche  Forschertätigkeit  ver- 
danken wir  ihm  auf  dem  Gebiet  der  Himmelskunde.  Wie  oben 
schon  erwähnt,  führten  Anwendungen  der  Rechnung  ihn  schon 
in  jungen  Jahren  zur  Beschäftigung  mit  astronomischen  Aufgaben 
von  historischem  Interesse.  Heis  tat  aber  alsbald  einen  großen 
Schritt  voran  und  ging  zur  eigenen,  selbständigen  astronomischen 
Beobachtung  über.  Hierzu  war  er  besonders  durch  sein  ausgezeich- 
netes Auge  befähigt,  dessen  Schärfe  noch  heute  allenthalben  gerühmt 
wird,  und  das  kam  ihm  um  so  mehr  zustatten,  als  er  die  meiste 
Zeit,  besonders  naturgemäß  in  seiner  Eigenschaft  als  Gymnasial- 
lehrer an  Orten  ohne  große  wissenschaftliche  Einrichtungen,  genötigt 
war,  mit  bescheidenen  Hilfsmitteln  zu  arbeiten.  Diese  einfachen 
Hilfsmittel  bestimmten  auch  von  Anfang  an  die  Richtung  seiner 
Arbeiten.  Sie  erstreckten  sich  auf  Untersuchungen  und  Beobach- 
tungen der  Fixsterne  von  veränderlicher  Helligkeit,  der  sogenannten 

»)  Die  neue  Bearbeitung  von  1908  —  die  113.  Auflage  —  ist  besorgt  durch 
Oberlehrer  Dr.  J.  Druxes  in  Köln. 

14  209 


veränderlichen  Sterne,  auf  die  Zahl  und  Helligkeit  der  Fixsterne 
überhaupt,  ferner  auf  die  Erscheinungen  der  Sternschnuppen  und 
des  Zodialtallichtes.  Die  erste  Frucht  der  Beobachtungen  über  die 
JV\eteore,  zu  denen  er  bereits  als  Lehrer  in  Aachen  seine  Schüler 
mit  heranzog,  war  die  Schrift:  ,,Die  periodischen  Sternschnuppen 
und  die  Resultate  der  Erscheinungen,  abgeleitet  aus  den  während 
der  letzten  Jahre  zu  Aachen  angestellten  Beobachtungen",  Köln  1849. 
Das  ganze  Material,  das  zu  diesem  Gegenstande  von  Heis  selbst 
bis  in  sein  hohes  Alter  im  Verein  mit  vielen  Schülern  und  Mitarbeitern 
gesammelt  wurde,  ist  erst  kurz  nach  seinem  Tode  1877  als  zweite 
Publikation  der  Sternwarte  zu  Münster  veröffentlicht  worden  unter 
dem  Titel:  „Resultate  aus  den  in  den  Jahren  1837  bis  1875 
angestelhen  Sternschnuppenbeobachtungen".  Vorangegangen  waren 
1875  als  erste  Publikation  desselben  Instituts:  „29jährige  Beob- 
achtungen über  das  Zodiakallicht",  jenes  rätselhafte  Phänomen, 
das  in  unseren  Gegenden  hauptsächlich  in  den  ersten  Monaten  des 
Jahres  nach   Sonnenuntergang  längs   der  Ekliptik  zu  sehen  ist. 

Die  Beobachtungen  über  die  veränderlichen  Sterne  machte 
Heis  vielfach  zusammen  mit  dem  Bonner  Astronomen  Argelander, 
mit  dem  ihn  seit  Anfang  der  vierziger  Jahre  herzliche  Freundschaft 
verband.  Einige  dieser  Beobachtungen,  z.  B.  über  Mira  Ceti,  /?-Lyrae, 
??-Aquileiae,  jj-Geminorum  sind  teilweise  von  Argelander  verwertet, 
teilweise  auch  von  Heis  selbst  an  verschiedenen  Orten  veröffentlicht 
worden.  Von  seinen  langjährigen  Notizen  war  aber  zur  Zeit  seines 
Todes  noch  wenig  bekannt,  vollständig  sind  sie  erst  ein  Viertel- 
jahrhundert später  im  Jahre  1903  durch  P.  Hagen  von  der  Sternwarte 
in  Washington  herausgegeben  worden. 

Die  astronomischen  Arbeiten  hatten  Heis  wie  zu  Argelander, 
so  auch  zu  Alexander  von  Humboldt  in  Beziehung  gebracht,  dem 
er  besonders  für  den  dritten  Teil  des  Kosmos  wertvolle  Beiträge 
astronomischer  Natur  lieferte.  Humboldts  Einfluß  im  akademischen 
Leben  war  ein  sehr  weitreichender,  und  so  war  es  wohl  Humboldts 
Vermittlung  zu  verdanken,  daß  Heis  1852  in  der  Berufung  als 
ordentlicher  Professor  der  Mathematik  und  Astronomie  an  die 
Akademie  zu  Münster  eine  höchst  ehrenvolle  Auszeichnung  und 
Anerkennung  seiner  bisherigen  Arbeiten  fand.  Das  Berufungs- 
schreiben') ist  datiert  vom  2.  Januar  1852  und  unterzeichnet  von 

1)  Die  hier  und  im  Folgenden  angeführten  Aktenstücke  befinden  sich  im 
Besitz  der  philosophischen  Fakultät  der  Königlichen  Wilhelms-Universität  zu 
Münster.  Durch  die  dankenswerte  gütige  Vermittlung  des  zeitigen  Dekans,  des 
Herrn  Professor  Meister  zu  Münster,  und  mit  Genehmigung  der  Fakultät  konnte 
ich  sie  für  die  vorliegende  Lebensskizze  Heis'  benutzen. 

210 


dem  damaligen  preußischen  Kultusminister  von  Raumer.  Es  lautet: 
„Nach  einem  mir  vorliegenden  Berichte  sind  Euer  Hochwohlge- 
boren  für  die  erledigte  ordentliche  Professur  der  Mathematik  bei 
der  Akademie  zu  Münster  in  Vorschlag  gebracht  worden.  Da  ich 
mit  Rücksicht  auf  Ihre  anerkennungswerten  wissenschaftlichen 
Leistungen  diesem  Vorschlag  Folge  zu  geben  beabsichtige,  so  ver- 
anlasse ich  Sie,  sich  baldmöglichst  darüber  zu  erklären,  ob  Sie 
zur  Annahme  der  bezeichneten  ordentlichen  Professur,  mit  welcher 
eine  jährliche  Besoldung  von  800  Talern  verbunden  ist,  bereit 
sind,  und  zugleich  anzugeben,  zu  welchem  Zeitpunkte  Sie  aus 
Ihrer  dortigen  amtlichen  Stellung  ausscheiden  können."  Heis 
erklärte  alsbald  seine  Zustimmung  zur  Übernahme  der  fraglichen 
Stelle.  An  die  akademische  Behörde  zu  Münster  schreibt  er  am 
9.  Januar:  „Mein  Bestreben  wird  sein,  in  die  Fußstapfen  meines 
würdigen  Vorgängers,  des  Herrn  Professors  Gudermann,  zu  treten." 

Da  Heis  auf  dem  Gebiet  der  höheren  Mathematik  selbst  als 
Forscher  nicht  tätig  war  und  diese  Wissenschaft  durch  eigene,  neue 
Erkenntnisse  bringende  Arbeiten  nicht  bereichert  hat,  so  scheinen 
Neid  und  Übelwollen  den  Versuch  gemacht  zu  haben,  ihn  für  die 
Bekleidung  des  akademischen  Lehramtes  als  minderwertig  hinzu- 
stellen. ^)  Aus  der  Zeit  seiner  Berufung  liegen  aber  zwei  Schrift- 
stücke vor,  die  wohl  geeignet  sind,  jenen  Versuchen  die  Spitze 
abzubrechen,  da  in  ihnen  von  maßgebender  Stelle  aus  Heis'  Be- 
fähigung und  bisherige  Tätigkeit  höchst  ehrenvolle  Anerkennung 
findet.  Das  erste  dieser  Zeugnisse  rührt  von  keinem  Geringeren 
als  Argelander  her.  In  einem  Briefe  vom  18.  November  1851  urteilt 
dieser  große  Astronom  folgendermaßen:  „Ohne  gerade  ein  Genie 
erster  Größe  zu  sein,  besitzt  Heis  einen  scharfen  Verstand,  der 
ihn  dasWichtigevomUnwichtigen  unterscheiden  läßt, derihn  befähigt, 
solche  Untersuchungen  sich  herauszuwählen,  die  seinen  Mitteln 
entsprechen,  und  die  richtigen  Wege,  diese  durchzuführen,  zu 
erkennen,  wobei  er  von  einem  nicht  gewöhnlichen  praktischen 
Sinn  unterstützt  wird,  sowie  von  einem  Eifer  und  einer  Ausdauer, 
wie  sie  selten  zu  finden  sind. 

Dies  wird  in  helles  Licht  treten,  wenn  die  große  Arbeit  über 
die  relative  Helligkeit  der  Sterne  erscheinen  wird,  mit  der  er  seit 
5  bis  6  Jahren  beschäftigt  ist . .  .  Daß  Heis  ein  sehr  liebenswür- 
diger und  bescheidener  Mann  ist,  weißt  Du,  ebenso  daß  er  in 
Aachen  wegen  seiner  großen  Gabe,  in   populären  Vorträgen  die 

')  Vgl.  hierzu  den  oben  zitierten  Artikel  in  der  Kölnischen  Volkszeitung 
vom   19.  Februar  1906. 

211 


Resultate  der  Wissenschaft  dem  großen  Publikum  zugänglich  zu 
machen,  allgemein  beliebt  ist."  Ebenso  günstig  über  die  wissen- 
schaftliche Qualifikation  und  die  Persönlichkeit  Heis'  spricht  sich 
ein  Bonner  Universitätslehrer ')  aus,  bei  dem  er  noch  als  Student 
Vorlesungen  gehört  hatte.  In  einem  Briefe  vom  23.  November  1851 
an  einen  Münsterer  Kollegen,  der  offenbar  ebenso  wie  Argelanders 
Schreiben  als  Gutachten  über  den  in  Aussicht  genommenen  Pro- 
fessor aufzufassen  ist,  heißt  es:  „Ob  er  in  gleichem  Grade,  als 
er  ein  kenntnisreicher  Lehrer  ist,  auch  die  Disziplin  in  seiner  Klasse 
zu  handhaben  weiß,  scheint  mir,  was  man  so  hört,  nicht  der  Fall 
zu  sein.  Dagegen  ist  er  in  wissenschaftlicher  Beziehung  ungemein 
regsam  und  namentlich  widmet  er  alle  seine  freie  Zeit  der  theo- 
retischen und  praktischen  Astronomie.  Seine  desfallsigen  Leistun- 
gen haben  von  dem  Direktor  unserer  Sternwarte,  Professor  Arge- 
lander,  ganz  besondere  Anerkennung  gefunden.  Auch  hatte  er 
Aussicht,  der  Nachfolger  des  in  Breslau  verstorbenen  Astronomen 
Bogulawski  zu  werden:  was  dazwischen  gekommen  ist,  weiß  ich 
nicht.  Wissenschaftliche  Vorträge,  welche  Heis  zuweilen  gehalten, 
sind  sehr  gerühmt  worden.  Strebsam  ist  Heis  gewiß  in  hohem 
Grade.  Von  Charakter  ist  er  wohlwollend  und  freundlich.  Ob  er 
für  solche,  die  ihm  und  seinem  Fache  ferner  stehen,  „etwas  lang- 
weilig" ist,  darüber  wage  ich  nicht  mich  entschieden  auszusprechen. 
Von  seinem  „entsetzlichen  Dialekte"  weiß  ich  aber  nichts;  ich  habe 
nur  den  Eindruck  behalten,  daß  er  etwas  langsam  spricht.  Er 
ist  zwar  ein  geborener  Kölner  (Sohn  eines  Apothekers),  hat  aber 
nicht  den  Kölner  Akzent. 

Bei  der  Durchmusterung  der  mir  bekannten  Gymnasiallehrer 
katholischer  Konfession  finde  ich  keinen,  den  ich  auf  Grund  seiner 
wissenschaftlichen  Tätigkeit  für  die  in  Münster  vakant  gewordene 
Stelle  für  geeigneter  halten  könnte,  als  Heis.  Daß  seine  Mathe- 
matik eine  astronomische  Beimischung  hat,  macht  ihn  vielleicht 
für  die  dortigen  Verhältnisse  nur  noch  empfehlungswerter." 

Heis  hat  das  in  ihn  gesetzte  Vertrauen  voll  und  ganz  gerecht- 
fertigt. Auch  in  seiner  neuen  Stellung  hat  er  als  Lehrer  Hervor- 
ragendes geleistet  und  namentlich  auch  als  ehemaliger  Praktiker 
die  pädagogische  Ausbildung  der  angehenden  Lehrer  der  Mathe- 
matik gefördert.  Die  Habilitationsschrift  war  aus  den  Beobachtun- 
gen über  die  Helligkeitsverhältnisse  und  die  Zahl  der  Fixsterne 
hervorgegangen  und  trug  den  Titel:  ,De  magnitudine  relativa 
numeroque    accurato    stellarum   quae    solis    oculis    conspiciuntur 

')  Der  Name  ist  mir  zur  Zeit  unbekannt. 

212 


fixarum".  Die  philosophische  Fakultät  zu  Bonn  verlieh  ihm  anläß- 
lich des  Antritts  der  Professur  auf  Grund  seiner  bisherigen  Arbeiten 
ehrenhalber  den  Doktortitel. 

Seine  Beobachtungen  über  die  Fixsterne  brachte  Heis  1872 
durch  den  Atlas  coelestis  novus  zum  Abschluß.  In  diesem  Atlas 
sind  die  sämtlichen  im  mittleren  Europa  am  Himmel  mit  bloßem 
Auge  sichtbaren  Fixsterne  nach  Zahl,  Größe  und  Helligkeit  ver- 
zeichnet. Die  früheren  Sternkataloge  —  die  Uranometria  Bayers 
aus  dem  Jahre  1603  und  die  1843  erschienene  Uranometria  nova 
Argelanders  —  übertrifft  der  Atlas  coelestis  zunächst  durch  die 
weit  größere  Zahl  der  aufgenommenen  Sterne.  Argelander  ver- 
zeichnete ihrer  rund  3250,  Heis'  viel  schärferes  Auge  unterschied 
aber  nahezu  fünfeinhalbtausend  Objekte.  Die  Milchstraße,  die 
dem  unbewaffneten  Auge  als  leuchtender  Wolkenzug  erscheint 
und  deren  einzelne  Sterne  durch  ihre  Kleinheit  diesem  verborgen 
bleiben,  war  in  den  früheren  Atlanten  entweder  unberücksichtigt 
geblieben,  so  in  der  Uranometria  nova,  oder  falsch  aufgefaßt 
und  dargestellt.  Auch  in  diesem  Punkt  bedeutete  Heis'  Arbeit 
einen  wesentlichen  Fortschritt,  insofern  sie  über  Form,  Ausdehnung 
und  Helligkeitsverhältnisse  dieses  Gebildes  zum  ersten  Male  rich- 
tige Angaben  enthielt  und  spätere  Arbeiten  wirksam  vorbereitete. 

Vielfache  Bemühungen  verwendete  Heis  darauf,  die  gesicherten 
Ergebnisse  naturwissenschaftlicher  Forschung  weiteren  Kreisen  zu- 
gänglich zu  machen  und  diese  insbesondere  für  astronomische 
Beobachtungen  zu  interessieren.  Zu  diesem  Zweck  gründete  er 
zunächst  1855  die  noch  heute  bestehende,  im  Verlag  von  Aschendorf 
in  Münster  erscheinende  Zeitschrift  „Natur  und  Offenbarung",  für  die 
er  selbst  zahlreiche  Aufsätze  schrieb.  Von  1858 — 75  gab  er  die 
„Wochenschrift  für  Astronomie,  Meteorologie  und  Geographie" 
heraus ;  hier  veröffentlichte  er  ebenfalls  einen  großen  Teil  seiner 
eigenen  Beobachtungen,  ferner  auch  die  seiner  Schüler,  die  er  zu 
solcher  Tätigkeit  ausgebildet  und  mit  solchem  Erfolg  dafür  zu 
begeistern  gewußt  hatte,  daß  sie  sich  ihr  auch  späterhin  mit  Eifer 
widmeten. 

Dem  Leben  Eduard  Heis',  der  als  Lehrer  und  Forscher  auf 
verschiedenen  Gebieten  so  erfolgreich  gewirkt  hatte  und  der  als 
Mensch  von  seinen  Schülern  als  einer  der  „edelsten  und  besten 
Männer"  noch  heute  verehrt  wird,  war  am  30.  Juni  1877  ein  Ziel 
gesetzt.  Dieses  Leben  fiel  in  eine  Zeit,  die  in  allen  Zweigen  der 
Naturwissenschaften  neue,  fundamentale  Wahrheiten  erschloß,  deren 
Inhalt  weiterhin  auch  auf  die  großen  Fragen  der  Weltanschauung 

213 


bei  vielen  Einfluß  gewann  und  auch  hier  Neues  an  die  Stelle  des 
Alten  setzte.  Diesen  Wandel  hat  Heis  nicht  mitgemacht;  sein 
Lebensgrundsatz  war  das  Wort,  das  dem  eingangs  genannten 
Buche  Wasmanns  als  Motto  voransteht  und  zugleich  auch  die 
Devise  der  Societe  scientifique  zu  Brüssel  ist,  der  Heis  als  Ehren- 
mitglied angehörte :  Nulla  unquam  inter  fidem  et  rationem  vera 
dissensio  esse  potest. 


214 


Religionslehrer  Dr.  Christian  Hermann  Vosen 

und 

Gesellenvater  Adolf  Kolping. 

Von  Domkapitular  Dr.  A.  STEFFENS. 

Welchem  alten  Marzellianer  ist  nicht  in  Erinnerung  geblieben 
der  volkstümliche,  allverehrte  Religionslehrer  DR.  VoSEN, 
der  vor  nunmehr  vierzig  Jahren  in  die  Ewigkeit  hinüber- 
gegangen ist?  Am  25.  Juli  des  Jahres  1864  sah  ich  ihn  zum  ersten 
Male,  und  seitdem  ist  sein  Bild  unauslöschlich  in  meine  Seele  ein- 
gegraben. Auf  meine  Bitte  hatte  mein  Vater  mich  mit- 
genommen nach  Köln 
feier  der  Übertrag 
könige.  Einen 
mann  Matthias 
St.  Martin,  den 
res  heimisch 
hatten  wir 
dieser  rede 
Vater  zu, 
dieren  zu 
mich    auf 


zur  700jährigen  Jubel- 
ung  der  hh.  Drei- 
Bekannten,  Kauf- 
Anton  Peil  an 
Bruder  unse- 
en  Pastors, 
besucht  und 
te  meinem 
mich  stu- 
lassen  und 
die  Sexta 
lengymna- 
zumelden. 
Schule  sei 
die  beste; 
berühmte  Dr. 
onslehrer.Zu 
wir  hingehen, 
zunächst  prüfe, 
ob  etwas  aus  mir 
Mein  Vater  ließ 
ich  wurde  zu  Dr. 
wohnte  in  der  Straße 
An  den  Dominikanern.  Seine  Schwester  öffnete  die  Tür,  und  als 
wir  eintraten,  kam  gerade  der  Religionslehrer  die  Treppe  herunter, 
eine  eindrucksvolle  Gestalt  von  etwas  mehr  als  Mittelgröße,  bekleidet 
mit  einem  langen,  ziemlich  abgefärbten  Hausrock,  den  eine  in 
Quasten  endende  Kordel  zusammenhielt.  Die  dunkle  Hautfarbe,  die 
etwas  gebogene,  kräftige  Nase,  die  hohe  Stirn,  die  seelenvollen, 


desMarzel 
siums    an 
Denn  diese 
unter  allen 
dort  sei  der 
Vosen  Religi 
ihm      sollten 
damit  er  mich 
um  festzustellen, 
werden      könne 
sich   bereden,   und 
Vosen    geführt. 


Er 


215 


großen  Augen  gaben  dem  edel  geformten,  scharfgeschnittenen  und 
von  leichtgewelltem  schwarzen  Haarwuchs  umrahmten  Gesicht  einen 
männlich  schönen  Ausdruck,  der  Ehrfurcht  einflößte  und  zugleich 
Vertrauen  erweckte.  Ernst,  ja  etwas  finster  schaute  er  durch  seine 
goldene  Brille  auf  die  beiden  Ankömmlinge  herab.  Doch  als  er  unser 
Begehr  vernommen,  da  überflog  ein  Zug  der  Heiterkeit,  wie  ich  ihn 
im  spätem  Leben  nur  noch  einmal  bei  ihm  wahrgenommen,  sein 
Antlitz.  Er  stellte  mir  einige  Fragen,  die  ich  ohne  Bangigkeit 
beantwortete.  Denn  der  Ton  seiner  Stimme  verriet  ein  Herz  voller 
Wohlwollen.  Er  beorderte  uns  alsdann  zum  Direktor  Ditges  in  der 
Domstraße,  der  mich  als  ersten  für  die  Sexta  anschrieb,  wiewohl 
es,  wie  er  umständlich  ausführte,  noch  nicht  an  der  Zeit  war, 
Anmeldungen  entgegenzunehmen. 

So  kam  ich  im  Herbste  1864  ans  Marzellengymnasium,  wo 
ich  bis  zum  Abiturientenexamen  im  Jahre  1872  der  Lehrer  gar 
manche  gehabt,  deren  ich  zeitlebens  mit  Dankbarkeit  gedenke. 
Ich  nenne  nur  meinen  Ordinarius  in  Sexta,  den  nachmaligen 
Professor  an  der  Akademie  zu  Münster,  Dr.  Peter  Langen,  den 
allzufrüh  verstorbenen  Dr.  Eickholt,  das  Ideal  eines  Gymnasial- 
lehrers, den  strammen  Dr.  Joh.  Matthias  Stahl,  der  annoch  als 
emeritierter  Professor  der  Universität  zu  Münster  lebt,  und  den 
milden,  guten  Hemmerling.  Doch  alle  überragte  der  Religionslehrer 
Dr.  Vosen.  Zu  ihm  blickten  alle  mit  Verehrung  hinauf,  niemand 
hätte  es  gewagt,  ihn  zu  betrüben;  ein  Wort  des  Tadels  aus  seinem 
Munde  wurde  als  die  bitterste  aller  Strafen  empfunden.  Er  war 
der  Stolz  seiner  Schüler  und  ein  Fürst  unter  den  Lehrern. 

Christian  Hermann  Vosen  wurde  zu  Köln  am  9.  Juli  1815 
geboren.  Er  entstammte  einer  schlichten  Bürgerfamilie  altkölnischer 
Art,  wie  er  sie  selbst  in  einer  seiner  Reden  ^)  zutreffend  geschildert 
hat,  einer  Familie,  wo  „der  katholische  Glaube  Ruhe  und  Sicher- 
heit in  allen  Anschauungen  zeitlicher  und  ewiger  Verhältnisse 
erzeugte,  wo  der  Vater,  wie  er  seinerseits  der  Autorität  in  Kirche 
und  Staat  gehorchte,  auch  für  seine  Autorität  einmütigen  Gehorsam 
forderte  und  fand;  wo  die  Kinder  gehorchten,  nicht  nach  eigener 
Einsicht  noch  aus  bloßer  Liebe  zu  den  Eltern,  sondern  weil  Gott 
gesagt  hat:  ,Du  sollst  Vater  und  Mutter  ehren'!"  Sein  Vater  war 
Küster  an  Groß  St.  Martin,  und  so  wuchs  er  im  Herzen  der  Stadt 
auf,  mitten  unter  den  Erinnerungen  an  das  alte  reichsstädtische 
Köln,  die  ihn  für  sein  ganzes  Leben  zu  einem  echten  und  rechten 

1)  Rede  über  das  alte  Köln,  gehalten  auf  der  Generalversammlung  der 
katholischen  Vereine  Deutschlands  zu  Köln  1858. 

216 


Kölner  machten.  Mit  zwölf  Jahren  kam  er  auf  das  Marzellen- 
gymnasium,  wo  er  sieben  Jahre  verweilte  und  im  Herbst  1834 
als  vierter  von  fünfzehn  Abiturienten  ein  Zeugnis  der  Reife  mit 
No.  II  davontrug.  Vosen  und  zwei  seiner  Mitschüler  gaben  als 
Fachstudium  „katholische  Theologie"  an.  In  seinem  Bericht  an 
den  Kölner  Erzbischof  bemerkte  der  erzbischöfliche  Kommissar 
bei  der  Abiturientenprüfung,  Domkapitular  Filz,  „daß  unter  diesen 
dreien  Vosen,  Christian  Hermann,  aus  Köln,  wenn  er  anhaltender 
Gesundheit  sich  erfreuen  mag,  woran  ich  nach  seinem  Äußern 
zweifeln  muß,  gute  .  .  .  Brauchbarkeit  im  Dienste  der  Kirche  von 
sich  erwarten  lasse".  Auffallenderweise  studierte  Vosen,  der  später 
eine  noch  jetzt  viel  gebrauchte  hebräische  Grammatik  in  deutscher 
und  lateinischer  Sprache  herausgab,  auf  dem  Gymnasium  kein 
Hebräisch.  Erst  auf  der  Universität  scheint  die  Vorliebe  für  diese 
Sprache  in  ihm  erwacht  zu  sein.  Dafür  aber  betätigte  er  schon 
als  Gymnasiast  besonderes  Interesse  für  die  Kunst,  das  er  sein 
ganzes  Leben  hindurch  bewahrte.  Schon  damals  begann  er  Kunst- 
gegenstände zu  sammeln,  und  seine  Jugendfreunde  wußten  davon 
zu  erzählen,  wie  er  ihnen  zuweilen  mit  irgend  einem  alten  Ge- 
mälde oder  einem  leeren  Rahmen,  den  er  gerade  bei  einem  Trödler 
mit  seinen  bescheidenen  Mitteln  erhandelt  hatte,  hochbeglückt 
begegnete.  Die  Dachrinne  des  elterlichen  Hauses  diente  dazu, 
die  alten  Bilder  zu  reinigen  und  die  fleckigen  Kupferstiche  zu 
bleichen. 

Nach  Vollendung  der  Gymnasialstudien  bezog  Vosen  die  Uni- 
versität Bonn,  um  Theologie  zu  studieren.  Hier  war  er  ein  stiller, 
fast  schüchterner  Student,  der  sich  von  allen  lärmenden  Veran- 
staltungen fernhielt,  errötete,  wenn  man  ihn  ansah,  aber,  wie  auch 
im  späteren  Leben,  im  Kreise  trauter  Freunde  auftaute,  um  dann 
seinen  köstlichen,  echt  kölnischen,  niemand  verletzenden  Humor 
sprudeln  zu  lassen,  wobei  er  sich  am  liebsten  in  Kölner  Mundart 
erging.  Im  Studieren  war  Vosen  jedoch  unternehmend.  Die  Zeit 
war  eine  tiefbewegte.  Auf  dem  Kölner  Erzstuhl  war  auf  den  Erz- 
bischof Ferdinand  August  Graf  von  Spiegel  im  Jahre  1836  Klemens 
August  Freiherr  Droste  zu  Vischering  gefolgt,  der  bereits  im  zweiten 
Jahre  seiner  Amtsführung  auf  die  Festung  Minden  abgeführt  wurde. 
Die  Kölner  Wirren  schlugen  weithin  mächtige  Wellen,  und  in  Bonn 
hatte  der  Hermesianismus  seinen  Hauptherd  aufgeschlagen.  Vosen 
kam  im  Sturm  der  Zeit  und  im  Widerstreit  der  Meinungen  nicht 
von  der  richtigen  Fährte  ab.  Er  schloß  sich  besonders  an  den 
Professor  der  Dogmatik  Dr.  Heinrich  Klee  an,  zu  dessen  vertrau- 

217 


testen  und  liebsten  Schülern  er  gehörte.  Nach  der  durch  Papst 
Gregor  XVI.  am  26.  September  183.5  erfolgten  Verurteilung  der 
Hermesischen  Schriften  wurde  Vosen  in  Bonn  der  Mittelpunkt  der- 
jenigen Studierenden,  die  sich  vom  Hermesianismus  fernhielten 
oder  von  ihm  zurücktraten.  Für  den  Fleiß  des  Theologiestudieren- 
den legt  unter  anderm  Zeugnis  ab  eine  handschriftlich  noch  vor- 
handene, lateinisch  geschriebene  Abhandlung  über  Petri  Anwesen- 
heit in  Rom,  ^)  die  er  nach  längerer  Krankheit  am  Karfreitag  des 
Jahres  1836  vollendete.  Neben  den  philosophischen  und  theolo- 
gischen Vorlesungen  hörte  Vosen  in  Bonn  auch  noch  solche  über 
Kunstgeschichte  und  lernte  zur  Erholung  lithographieren.  Im  Jahre 
1838  trat  er  in  das  erzbischöfliche  Priesterseminar  zu  Köln  ein 
und  wurde  am  31.  Mai  1839  vom  Weihbischof  Karl  Adalbert  Frei- 
herrn von  Beyer  zum  Priester  geweiht.  Im  Jahre  seiner  Weihe, 
wohl  noch  im  Priesterseminar,  verfaßte  er  eine  dogmatische  Ab- 
handlung in  lateinischer  Sprache  über  den  Spender  des  Ehe- 
sakramentes. ^)  die  sich  noch  in  seinem  handschriftlichen  Nach- 
lasse vorfindet.  Nicht  zum  Nachteile  für  seinen  spätem  Beruf 
fand  der  talentvolle,  geistig  regsame  Neupriester  zunächst  Ver- 
wendung in  der  Seelsorge,  die  das  eigenste  Gebiet  des  Priesters 
ist  und  der  er,  falls  er  nicht  entarten  soll,  nie  gänzlich  entfremdet 
werden  darf.  Am  12.  Juli  1839  wurde  Vosen  zum  Vikar  in  Zün- 
dorf ernannt,  woselbst  er  jedoch  nur  zwei  Jahre  blieb.  Am 
16.  Dezember  1841  erfolgte  seine  Ernennung  zum  Kaplan  an 
St.  Andreas  in  Köln,  woselbst  er  bis  zum  28.  Oktober  1844  tätig  war. 
So  wurde  Vosen  seelsorglich  allseitig  geschult.  Er  lernte 
das  Volk  kennen  und  faßte  eine  herzliche,  priesterliche  Liebe  zu 
ihm,  die  ihn  zeitlebens  nicht  verließ.  Durch  Erfahrung  belehrt 
wußte  er,  daß  Kenntnisse  wohl  den  Geist  zu  bereichern  vermögen, 
nicht  aber  genügen,  um  das  Herz  zu  veredeln,  nicht  hinreichen, 
um  aus  Adamskindern  Christen  zu  machen.  Dazu  bedarf  es  der 
Wirksamkeit  der  Gnade,  wie  sie  die  eigentliche  Seelsorge  ver- 
mittelt. Andererseits  schöpft  der  Seelsorger  aus  der  Beschäftigung 
mit  den  hh.  Wissenschaften  immer  höhere  Befähigung  und  stets 
erneute  Anregung.  Wie  Vosen  im  spätem  Leben  als  Religionslehrer 
die  praktische  Seelsorge  nicht  vernachlässigte,  so  hat  er  auch  als 
Vikar  und  Kaplan  über  der  Seelsorgsarbeit  die  Wissenschaft  nicht 


1)  Petrum  apostolum  venisse  Romam  demonstratur  atque  doctorum  quorun- 
dam  virorum  argumenta  contra  hanc  rem  historicam  prolata  refelluntur.  Manuskript 
SS.  147. 

2)  De  ministro  sacramenti  matrimonii.    Manuskript  SS.  56. 

218 


vergessen.  Aus  seiner  Kaplanszeit  stammen  mehrere  Aufsätze  im 
„Archiv  für  theologische  Literatur",  das  von  der  Münchener 
theologischen  Fakultät,  der  damals  angesehensten  in  Deutschland, 
herausgegeben  wurde.  Besonders  bemerkt  wurden  seine  Bemer- 
kungen über  die  Symbolik  des  Professors  Dr.  Hilgers  in  Bonn, 
deren  Verfasser  man  in  dem  jungen  Kölner  Kaplan  nicht  ver- 
mutete. Binterim  wurde  auf  ihn  aufmerksam  und  empfahl  ihn, 
wiewohl  er  ihn  persönlich  nicht  kannte,  für  die  Stelle  eines  Repe- 
tenten am  theologischen  Konvikte  zu  Bonn. 

Im  Herbst  1844  wurde  dem  reichbegabten  und  allseitig 
gebildeten  jungen  Priester  ein  höherer  Wirkungskreis  eröffnet,  für 
den  er  wie  geschaffen  erschien.  Vosen  wurde  Nachfolger  eines  hoch- 
bedeutsamen Mannes,  des  nachmaligen  Bischofs  von  Paderborn, 
Dr.  Konrad  Martin,  der  durch  seine  hervonagende  Tätigkeit  auf 
dem  vatikanischen  Konzil  und  seine  fruchtbare  Schriftstellerei  weit 
über  Deutschlands  Grenzen  hinaus  berühmt  geworden  ist.  Geboren 
zu  Geismar  auf  dem  Eichsfeld  am  18.  Mai  1812  und  zum 
Priester  geweiht  zu  Köln  am  27.  Februar  1836  war  Dr.  Konrad 
Martin,  nachdem  er  vier  Jahre  hindurch  Rektor  des  Progymna- 
siums in  Wipperfürth  gewesen  war,  im  Herbst  1860  als  Religions- 
lehrer ans  Marzellengymnasium  versetzt  worden.  Auch  hier  blieb 
er  nur  vier  Jahre,  machte  sich  während  dieser  Zeit  besonders 
verdient  durch  die  Herausgabe  seines  zweibändigen,  vortrefflichen 
Lehrbuches  der  katholischen  Religion  für  höhere  Lehranstalten 
und  wurde  im  Herbst  1844  als  Professor  der  Moral  und  Pastoral 
und  Konviktsinspektor  nach  Bonn  berufen.  Kurz  vor  seinem  Tode, 
der  am  16.  Juli  1879  in  Mont  Saint  Guibert  unweit  Brüssel 
erfolgte,  veröffentlichte  er  seine  in  Mainz  bei  Kirchheim  erschienenen 
„Zeitbilder  oder  Erinnerungen  an  meine  verewigten  Wohltäter". 
Ein  eigenes  Kapitel  dieser  Schrift  ist  seinen  Freunden  und 
Förderern  am  katholischen  Gymnasium  in  Köln  gewidmet,  unter 
denen  die  damals  bereits  vorstorbenen,  nämlich  Direktor  Birnbaum 
und  die  Gymnasiallehrer  Göller,  Grysar,  Kreuser  und  Schmitz, 
mit  mehr  oder  minder  ausführlichen  Charakterschilderungen 
bedacht  werden. 

Als  Religionslehrer  an  die  Stelle  eines  so  ausgezeichneten 
Mannes  zu  treten,  wie  Dr.  Konrad  Martin  einer  gewesen,  war  für 
Vosen  keine  geringe  Ehre  und  zugleich  ein  mächtiger  Antrieb  zu 
höherm  Streben.  Zunächst  erwarb  er  sich  bei  der  theologischen 
Fakultät  der  Universität  zu  München  im  Jahre  1845  die  theolo- 
gische Doktorwürde  auf  Grund  der  vorhin  schon  erwähnten  Abhand- 

219 


luiigen  im  Münchener  „Archiv  für  theologische  Literatur"  und  einer 
Inaugural-Dissertation  „über  die  innere  Evidenz  der  Lehre  von  der 
Vorsehung",  die  er  nicht  gesondert  erscheinen  ließ,  aber  später  in 
seine  Apologetik  aufnahm.  In  diese  Zeit  fällt  auch  die  Heraus- 
gabe seines  namentlich  in  der  gebildeten  Männerwelt  bis  heute 
beliebt  gebliebenen  Gebetbuches  „Venite  adoremus". ')  Welch  hoher 
Wertschätzung  er  sich  bei  seinem  Oberhirten,  dem  Kardinal  und 
Erzbischof  Johannes  von  Geißel,  erfreute,  geht  daraus  hervor,  daß 
dieser  im  Jahre  1853  ihn  wie  die  Bonner  Professoren  Dieringer 
und  Martin  und  den  gelehrten  Kölner  Pfarrer  Schumacher  beauf- 
tragte, ein  theologisches  Gutachten  über  die  verwickelten  Lehr- 
meinungen des  Wiener  Philosophen  Anton  Günther,  die  mancherlei 
glaubenswidrige  Irrtümer  enthielten,  zu  erstatten.  Die  Jahres- 
berichte des  Marzellengymnasiums  aus  den  sechziger  Jahren 
brachten  zwei  bemerkenswerte  Abhandlungen  von  Vosen,  die  apolo- 
getischer Natur  sind  und  Natur  und  Offenbarung  zum  Gegenstand 
haben.  -)  Seine  Grundanschauung  in  der  hier  zur  Verhandlung 
kommenden,  zu  allen  Zeiten  viel  erörterten  Frage  über  das  Ver- 
hältnis von  Glauben  und  Wissen  legt  er  in  der  ersten  dieser  Ab- 
handlungen mit  folgenden  schlichten  und  schönen  Worten  dar,  die 
zugleich  eine  treffende  Vorstellung  von  seiner  Lehrweise  geben : 
,,Die  wirklichen  Aussprüche  der  Offenbarung,"  sagt  er,  ,, können 
nie  in  wirklichem  Widerspruche  stehen  mit  den  richtig  erkann- 
ten Tatsachen  der  Natur,  der  Geschichte  und  des  logischen  Denkens. 
Wer  daher  die  durch  Gottes  Gnade  begründete  und  durch  die 
Erfahrung  von  der  zu  Gott  führenden  Kraft  des  praktischen  Christen- 
tums befestigte  Ruhe  der  Glaubensüberzeugung  in  sich  trägt,  der 
wird  von  vornherein  die  Zuversicht  mitbringen  und  festhalten,  daß 
in  jedem  Angriffe  auf  irgend  eine  Lehre  der  Offenbarung  ent- 
weder Mißverstehen  dessen,  was  der  Glaube  wirklich  behauptet, 
oder  Fehler  bei  den  Untersuchungen  der  Wissenschaft  auf  ihrem 
eigenen  Boden  zugrunde  liegen  und  daß  sich  oft  genug  beide 
Mängel  vereinigen,  um  den  Irrtum  zu  verschlimmern.  Die  wissen- 
schaftliche Anstrengung  des  Verteidigers  wird  daher  auf  das  Ent- 
decken jener  versteckten  Fehler  im  Angriffe  gerichtet  sein  müssen. 


')  Venite  adoremus!  Kommt,  laßt  uns  anbeten!  Vollständiges  Gebetbuch 
für  katholische  Christen.    Köln,  Bachern.    23  Auflagen. 

-)  Die  sechs  Tage  der  biblischen  Schöpfungsgeschichte  gegenüber  den 
Ergebnissen  der  Naturforschung.    Im  Jahresbericht  zum  Schuljahr  1860—1861. 

Winke  für  die  theologische  Betrachtung  der  Natur  besonders  in  Rücksicht 
auf  den  Jugendunterricht.    Im  Jahresbericht  zum  Schuljahr  1865-1866. 

220 


Während  er  für  sich  selbst  allen  Angriffen  gegenüber  die  Ruhe 
seines  eigenen  Glaubens  behält,  überzeugt,  daß  hier  jedenfalls  nur 
die  so  leicht  sich  täuschende  Handhabung  der  menschlichen 
Wissenschaft  irgend  einen  Fehler  begangen  haben  muß,  weiß  er, 
daß  es  bei  gehöriger  Anstrengung  endlich  jedenfalls  gelingen  muß, 
auch  den  redlich  denkenden  Gegner,  trotz  seines  Vorurteils  gegen 
den  Glauben,  ganz  objektiv  vom  Dasein  des  betreffenden  Fehlers 
in  seinen  Angriffen  zu  überführen."  Das  Bestreben,  namentlich 
den  Nichttheologen  von  höherer  Bildung  und  der  dem  Gymnasium 
entwachsenen  akademischen  Jugend  ein  Heilmittel  zu  bieten  für  die 
Gefahren,  die  ihnen  während  des  Universitätsstudiums  durch  eine 
glaubensfeindliche  Behandlung  der  Philosophie,  der  Naturwissen- 
schaften und  der  Geschichte  sowohl  in  der  Literatur  als  auch  vom 
Katheder  herab  zu  drohen  pflegen,  führte  ihn  dazu,  im  Jahre  1861 
sein  hervorragendstes  Werk,  ,,Das  Christentum  und  die  Einsprüche 
seiner  Gegner"  ^)  erscheinen  zu  lassen,  das  bei  seiner  treuherzigen, 
schlichten  und  doch  gründlichen  Art,  die  Irrgänge  der  wissen- 
schaftlich verbrämten  Angriffe  auf  den  christlichen  Glauben  auf- 
zudecken, eine  individuelle  Erscheinung  in  der  apologetischen 
Literatur  darstellt  und  deshalb  auch  heute  noch  von  Wert  ist,  wie 
die  vor  einigen  Jahren  erschienene,  von  S.  Weber  besorgte  fünfte 
Auflage  des  Buches  beweist.  Im  Jahre  1865  brachten  die  Frankfurter 
Broschüren  seine  Abhandlung  über  „Galileo  Galilei  und  die 
römische  Verurteilung  des  Kopernikanischen  Systems",  und  das  fol- 
gende Jahr  schenkte  uns  das  umfangreichste  Erzeugnis  seiner 
Feder  in  dem  zweibändigen  Werke  ,,Der  Katholizismus  und  die 
Einsprüche  seiner  Gegner",-)  das  die  der  katholischen  Kirche  eigen- 
tümlichen Lehren  und  Einrichtungen  klarstellt  und  verteidigt  gegen- 
über den  Entstellungen  und  Angriffen  der  Gegner. 

Es  ist  nicht  seilen,  daß  in  der  Lehrtätigkeit  stehende  Männer, 
wenn  sie  literarisch  hervortreten,  darüber  ihre  Berufsarbeit  ver- 
nachlässigen. Bei  Vosen  war  dies  keineswegs  der  Fall.  Die  Er- 
zeugnisse seiner  Feder  waren  nur  die  Früchte  seiner  sorgfältigen 
Vorbereitung  auf  den  Unterricht,  den  er  in  vielen,  vielfach  bis  zu 
dreißig  Lehrstunden  wöchentlich  am  Gymnasium  erteilte.  Die 
Unterrichtsmethode  Vosens  war  eine  eigenartige.    Ein  Handbuch 

')  Das  Christentum  und  die  Einsprüche  seiner  Gegner.  Eine  Apologetik 
für  jeden  Gebildeten.    Freiburg  i.  B.  1861,  1905  von  S.  Weber.   5  Auflagen. 

^  Der  Katholizismus  und  die  Einsprüche  seiner  Gegner.  Dargestellt  für 
jeden  Gebildeten.  1,  Auflage  2  Bände,  2.  und  3.  Auflage  1  Band.  Freiburg 
i.  B.  1866,  1885. 

221 


der  Religion  hatten  wir  freilich,  das  von  Dubelmann  für  die  mitt- 
lem und  das  von  Martin  für  die  obern  Klassen,  allein  im  Un- 
terricht kam  es  kaum  jemals  zur  Verwertung.  Mit  Auswendiglernen 
wurden  wir  nicht  geplagt.  Religionsaufsätze  mußten  wir  freilich 
mitunter  anfertigen,  und  zu  Anfang  der  Stunde  wurde  der  eine 
oder  andere  aufgerufen,  um  das  in  der  vorhergegangenen  Religions- 
stunde Vorgetragene  kurz  zu  wiederholen.  Dann  aber  setzte  der 
freie  Vortrag  Vosens  ein,  auf  den  wir  uns  stets  freuten  und  dem 
wir  mit  gespanntester  Aufmerksamkeit  folgten.  Aus  seinem  reichen 
Wissensschatze  und  seinem  warmen  priesterlichen  Herzen  strömten, 
wie  es  in  einem  der  ihm  gewidmeten  Nachrufe  heißt,  'j  die  christ- 
lichen Wahrheiten  in  die  Seele  der  Schüler  über,  überzeugten  den 
Verstand,  erwärmten  das  Gemüt  und  bauten  die  religiöse  Über- 
zeugung auf  so  fester  Grundlage  auf,  daß  viele  seiner  Schüler 
offen  bekannten,  wenn  im  spätem  Leben  ihr  Glaube  in  den  Ver- 
führungen der  Leidenschaften  und  den  Sophismen  des  Unglaubens 
keinen  Schiffbruch  gelitten  habe,  so  hätten  sie  es  Vosen  zu  ver- 
danken. Jeden  Sonntag  predigte  Vosen  bei  der  Gymnasialmesse 
und  an  den  Kommuniontagen  beim  Nachmittagsgottesdienste. 
Klar  und  warm,  kraftvoll  und  frisch  quoll  Gottes  Wort  aus  seinem 
beredten  Munde,  und  weil  bei  ihm  wissenschaftliche  Gediegenheit 
mit  echt  priesterlichem  Wandel  sich  paarte,  so  fiel  das  Wort  nicht 
auf  unfruchtbaren  Boden.  Selbst  hochgebildete  Andersgläubige 
fühlten  sich  durch  Vosens  Persönlichkeit  angezogen,  der  katho- 
lischen Kirche  näherzutreten.  Unter  vielen  nenne  ich  nur  den 
Architekten  FRIEDRICH  FREIHERRN  VON  SCHMIDT,  den  Erbauer  des 
Wiener  Rathauses  und  Urheber  des  Entwurfes  zur  Kölner  Herz-Jesu- 
Kirche,  den  Vosen  im  Jahre  1858  zu  Köln  in  die  katholische  Kirche 
aufnahm. 

Im  Jahre  1853  beabsichtigte  Vosen  für  alle  Sonn-  und  Feier- 
tage des  Schuljahres  einen  nachmittägigen  Gottesdienst  einzu- 
richten. Für  die  untern  Klassen  sollte  in  der  Kirche  eine  Christen- 
lehrandacht stattfinden,  die  obern  Klassen  wollte  er  jedoch  in- 
zwischen in  der  Aula  des  Gymnasiums  zu  einer  ,sacra  lectio'  d.  h. 
zu  einem  für  sie  ganz  besonders  berechneten  asketischen  Vortrage 
versammeln  und  sie  alsdann  zur  Anbetung  des  h.  Sakramentes  in 
die  Kirche  führen,  wo  zum  Schluß  der  h.  Segen  erteilt  werden 
sollte.  Die  erzbischöfliche  Behörde  äußerte  jedoch  das  Bedenken, 
eine  solche  Art  des  Gottesdienstes  möchte  länger  dauern,  als  im 
Interesse   nachhaltigen   Fortbestandes    und  ungeschmälerter  Teil- 

iTKölnische  Voikszeitung,  1871  Nr.  146,  Erstes  Blatt. 

222 


nähme  dienlich  erscheine.  Das  Vorhaben  kam  infolgedessen  nicht 
zustande.  Vosen  war  darüber  nicht  unglücklich;  im  Gegenteil 
erblickte  er  später  einen  großen  Vorzug  darin,  daß  die  Gym- 
nasiasten an  Sonn-  und  Feiertagen  sich  mit  ihren  Eltern  und  Ge- 
schwistern am  Nachmittagsgottesdienste  in  der  Pfarrkirche  oder  bei 
besondern  Festen  an  den  erhebenden  Feierlichkeitenin  den  betreffen- 
den Kirchen  der  Stadt  beteiligten,  und  zu  dieser  Teilnahme  wußte  er 
seine  Schüler  eindringlich  anzuregen.  Gerne  folgten  die  Schüler 
dieser  Anregung,  zumal  sie  bei  kirchlichen  Feierlichkeiten  nicht 
selten  ihren  geliebten  Religionslehrer  als  Festprediger  auftreten 
sahen.  Ganz  besonders  gerne  aber  übernahm  Vosen  die  Predigt 
in  der  vielbesuchten  Abendandacht,  die  allsonntäglich  in  der  Pfarr- 
kirche zum  h.  Andreas  gehalten  wurde.  Werktags  wohnten  infolge 
oberhirtlicher  Anregung  seit  dem  1.  Februar  1854  die  Gymnasiasten 
alltäglich  morgens  vor  dem  Beginn  des  Unterrichtes  der  h.  Messe 
bei,  bei  der  Gesang  und  Stillgebet  miteinander  abwechselten. 
Besondere  Sorgfalt  verwandte  Vosen  darauf,  seine  Schüler  zum 
würdigen  und  andächtigen  Empfang  der  hh.  Sakramente  anzuleiten. 
„Alles,  was  ihr  für  Gott  tut,  müßt  ihr  mit  heiligem  Ernste  und 
voller  Ehrfurcht  tunl"  So  rief  er  uns  öfter  mahnend  zu.  An  den 
Beichttagen  verdroß  es  ihn  nicht,  um  längeres  Warten,  das  der 
Jugend  unerträglich  ist,  zu  verhüten,  die  große  Zahl  seiner  Schüler 
in  einzelnen  Abteilungen  nacheinander  durch  einen  besondern, 
recht  zu  Herzen  gehenden  Vortrag  in  einem  der  Säle  des  Gym- 
nasiums auf  die  h.  Beichte  vorzubereiten  und  sie  in  die  rechte 
Stimmung  zu  versetzen.  In  der  Wahl  des  Beichtvaters  gestattete 
er  wohlweislich  vollste  Freiheit  und  sah  es  gerne,  wenn  seine 
Gymnasiasten  sich  unter  den  Beichtvätern  der  Stadt  in  freier 
Selbstbestimmung  den  ihrigen  auswählten.  Denn  er  wußte  wohl, 
daß  sie  diesem  auch  über  die  Jahre  der  Schulzeit  hinaus  ihr  Ver- 
trauen bewahren  würden.  Mit  Recht  rühmte  man  insgemein  die 
Schüler  des  Marzellengymnasiums,  daß  sie  ihre  religiösen  Pflichten 
mit  freudiger  Bereitwilligkeit  erfüllten,  und  diesen  Ruhm  verdankte 
das  Gymnasium  der  erleuchteten  Weisheit  seines  Religionslehrers. 
Auch  dem  naturgemäßen  Bedürfnis  der  den  Kindesjahren  ent- 
wachsenen Gymnasiasten,  sich  außerhalb  der  Schulveranstaitungen 
in  geselligen  Vereinigungen  mitunter  zusammenzufinden,  kam 
Vosen  entgegen  durch  Gründung  eines  wissenschaftlichen  Kränz- 
chens von  Schülern  der  höhern  Klassen  des  Gymnasiums,  das 
er  mehrere  Jahre  hindurch  persönlich  leitete  und  drei  Jahre  hin- 
durch in  seinem  eigenen  Hause  beherbergte.    Später  hielt  dieses 

223 


Kränzchen  seine  Tagungen  im  Lazaristenkloster  in  der  Stolkgasse, 
und  als  ihm  von  Seiten  der  Staatsregierung  die  Auflösung  drohte, 
trat  Vosen  kräftig  und  wirksam  für  dasselbe  ein. 

Daß  eine  Persönlichkeit  wie  Vosen  auf  das  empfängliche 
Jünglingsherz  nachhaltigen  Eindruck  machen  und  Begeisterung 
für  den  Priesterstand  in  ihm  wachrufen  mußte,  ist  nicht  zu  ver- 
wundern. Es  dürfte  wohl  kaum  ein  Gymnasium  geben,  das  unter 
gleichen  Verhältnissen  eine  solch  große  Zahl  von  Theologen  her- 
vorgebracht hätte  wie  das  Marzellengymnasium  unter  Vosen.  Zum 
Beweise  greife  ich  aus  der  Mitte  der  Jahre  seiner  Tätigkeit  den 
Zeitraum  von  1858  bis  1862  heraus.  In  diesen  Jahren  zählte  das 
Gymnasium  203  Abiturienten,  von  denen  115  angaben,  daß  sie 
Theologie  studieren  würden.  Unter  diesen  115  Theologen  befan- 
den sich  41,  denen  die  mündliche  Prüfung  erlassen  wurde,  was 
damals,  weil  es  selten  vorkam,  als  große  Auszeichnung  galt.  Der 
durch  seine  gediegenen  Werke  rühmlichst  bekannte  spekulative 
Dogmatiker  Professor  MATTHIAS  JOSEPH  SCHEEBEN  (f  21.  Juli  1888 
zu  Köln)  sowie  die  Kölner  Weihbischöfe  Dr.  Hermann  Joseph 
Schmitz  (f  21.  August  1899  zu  Köln)  und  Dr.  JOSEPH  MÜLLER 
haben  als  Gymnasiasten  zu  Vosens  Füßen  gesessen. 

Vosen  lebte  für  seine  Gymnasiasten.  Für  sie  war  ihm  keine 
Arbeit  zu  viel.  Weil  er  sich  unter  allen  Lehrern  der  Anstalt  an 
erster  Stelle  für  die  sittliche  Bildung  ihrer  Zöglinge  als  verant- 
wortlich erachtete,  beantragte  er  am  15.  Juni  1867,  daß  ihm  die 
damals  erledigte  Stelle  eines  Verwalters  der  Schülerbibliothek  des 
Gymnasiums  übertragen  werde.  Daß  ihm  vom  Provinzialschul- 
kollegium  ein  abschlägiger  Bescheid  zuteil  wurde,  gehörte  zu  den 
größten  Verdrießlichkeiten  seines  Lebens. 

Bei  dem  mächtigen,  nie  ruhenden  Tatendrang,  der  Vosen 
beseelte,  vermochte  er  seine  Wirksamkeit  nicht  auf  das  Gymnasium 
zu  beschränken.  Weit  über  die  Grenzen  seines  engern  Berufes 
hinaus  wußte  er  sich  in  vielseitigster,  ja,  man  darf  wohl  sagen, 
übermäßiger  Arbeit  zu  betätigen.  Abgesehen  von  häufiger  Inan- 
spruchnahme durch  Predigten  und  Konvertitenunterricht  half  er 
regelmäßig  im  Beichtstuhle  aus.  Gar  manche,  die  dem  religiösen 
Leben  lange  entfremdet  gewesen,  gewann  er  demselben  wieder 
und  blieb  ihr  Führer  bis  zum  Tode.  Domkapitular  Dr.  Wilhelm 
Braun  (f  18.  November  1908  zu  Köln)  gestand  mit  dankbarer 
Rührung  in  seinen  alten  Tagen,  daß  Vosen,  den  er  als  Seminarist 
vertrauensvoll  aufgesucht,  ihm  über  seine  Berufsschwierigkeiten 
in  einmaliger  Unterredung  für  immer  hinweggeholfen  habe. 

224 


Auch  auf  das  weibliche  Geschlecht  erstreckte  sich  Vosens 
Tätigkeit.  An  der  höhern  Mädchenschule  des  Fräulein  Agnes 
Weinen  erteilte  er  Religionsunterricht,  und  seinen  geistigen  Töchtern 
war  er  auch  in  spätem  Jahren  ein  kundiger  Seelenführer. 

Als  einer  der  ersten  erkannte  Vosen  die  hohe  Bedeutung  des 
Vereinswesens  für  unsere  Zeit.  Auf  Anregung  eines  hochgemuten 
und  edelgesinnten  Jünglings  aus  dem  Kaufmannsstande,  August 
Oster,  gründete  er  die  Agrippina,  einen  Verein  für  Handlungs- 
gehilfen, in  welchem  er  wöchentliche  Vorträge  hielt.  Dieser  Verein 
entwickelte  sich  am  4.  Juli  1858  zu  der  noch  blühenden  Maria- 
nischen Kongregation  für  junge  Kaufleute. 

Bei  der  am  24.  Februar  1853  erfolgten  Gründung  des  Christ- 
lichen Kunstvereins  der  Erzdiözese  Köln,  dem  die  im  Jahre  1860 
erfolgte  Errichtung  des  erzbischöflichen  Diözesanmuseums  zu 
danken  ist,  wirkte  Vosen  in  ganz  hervorragender  Weise  mit,  und 
auf  sein  Betreiben  kam  die  vom  Verein  veranstaltete  epoche- 
machende Ausstellung  mittelalterlicher  Gemälde  auf  dem  Gürzenich, 
die  am  26.  Juni  1854  eröffnet  wurde  und  am  18.  Oktober  des- 
selben Jahres  schloß,  zustande.  Auch  der  Ausstellungskatalog  ist 
ein  Werk  Vosens. 

Fast  seit  Gründung  des  Zentral-Dombauvereins  war  er  Vor- 
standsmitglied desselben  und  wurde  nach  Thissens  Abgang  zum 
Schriftführer  gewählt. 

Auch  bei  der  Gründung  des  Bürgervereins,  aus  dem  die 
jetzige  Bürgergesellschaft  erwachsen  ist,  war  er  beteiligt  und  hielt 
dort  manche  Vorträge.  Er  war  die  Seele  des  Komitees,  das 
im  Jahre  1854  die  für  Köln  geplante  Generalversammlung  der 
katholischen  Vereine  Deutschlands  vorbereitete.  Infolge  von 
Schwierigkeiten,  die  die  Regierung  machte,  kam  diese  Versamm- 
lung nicht  zustande. 

Als  dann  im  Jahre  1858  die  Generalversammlung  wiederum 
für  Köln  angesagt  wurde,  war  Vosen  abermals  der  geistige  Leiter 
bei  den  Vorbereitungen,  und  auf  der  Generalversammlung  selbst 
hielt  er  seine  zündende  Rede  über  das  alte  Köln.  Auch  ander- 
wärts trat  er  auf  den  Generalversammlungen  der  Katholiken  Deutsch- 
lands als  Redner  auf;  so  hielt  er  bei  der  zu  Frankfurt  a.  M.  seine 
Rede  über  die  soziale  Frage. 

In  den  sozialen  Bestrebungen  begegneten  sich  Vosens  Ge- 
danken mit  denen  eines  andern  Priesters,  der  gleich  Vosen  Abi- 
turient des  Marzellengymnasiums  gewesen  war.     Es  war 

16  226 


Adolf  Kolping, 


geboren  zu  Kerpen  am  8.  Dezember  1813,  gestorben  zu  Köln  am 
4.  Dezember  1 865.  Als  vierundzwanzigjähriger  vielgereister  Schuster- 
geselle kam  Kolping  im  Herbste  1837  in  die  Tertia  des  Marzellen- 
gymnasiums    und    studierte   trotz   ernstlicher  Erkrankungen    und 

großer  Entbehrungen 
mit  solchem  Eifer  und 
solchem  Erfolge,  daß 
er  nach  3^/2  Jahren 
zu  Ostern  1841  das 
Abiturientenexamen 
glücklich  bestand. 
Sein  ,Curriculum  vi- 
tae',  das  ervorschrifts- 
mäßig behufs  Zulas- 
sung zur  Reifeprüfung 
seinen  Lehrern  unter 
dem  25.  Februar  1841 
einreichte,  ist  eine 
umfangreiche,  jeden 
Leser  in  tiefster  Seele 
ergreifende  Selbstbio- 
graphie. ')  Auch  legte 
er,  gleich  nachdem  er 
das  Gymnasium  be- 
zogen hatte,  ein  Tage- 
buch an,  in  welchem 
er  seine  Gedanken 
über  seine  Lebens- 
aufgaben und  Seelen- 
stimmungen   nieder- 


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legte.  Es  enthält  fünf  Aufsätze.  Im  zweiten  macht  Kolping  einige 
Bemerkungen  über  offenbarungsfeindliche  Anschauungen,  die  er 
auf  dem  Gymnasium  zu  hören  bekam.  „Es  kommt  da,"  so  schreibt 
er,  „ein  Professor  mit  der  Wissenschaft  unter  dem  Arm  in  die 
Klasse  und  demonstriert  über  das  Weltgebäude,  die  Entstehung 
und  allmähliche  Entwicklung  desselben,  gleich  als  ob  es  sich  ent- 
wickelt hätte,  wie  sich  ein  Hühnchen  aus  dem  Ei  entwickelt;  spricht 

»)  Abgedruckt  bei  Schäffer,  Adolf  Kolping  der  Gesellenvater.    S.Auflage. 
Paderborn,  Schöningh.  SS.  23 — 30. 


226 


von  einem  schaffenden  Prinzip,  das  in  der  Masse  verborgen  liegt 
und,  ich  weiß  nicht,  welche  Tätigkeit  in  dieselbe  bringt."  Nach- 
dem er  sich  darüber  des  weiteren  verbreitet  hat,  fügt  der  fünfund- 
zwanzigjährige Tertianer  hinzu:  „Ich  glaube  fest  und  unverbrüch- 
lich, was  die  Kirche  sagt,  und  folglich  auch,  daß  Gott  durch  sein 
Allmachtswort  die  Welt  in  sechs  Tagen  erschaffen  hat,  daß  er  sie 
ordnet,  lenkt  und  regiert  mit  unendlicher  Weisheit  und  Güte  .  .  . 
Folge  ich  dagegen  dem  Faden  (den  solche  Professoren  spinnen), 
so  gelange  ich  endlich  auf  einen  Punkt,  wo  der  Glaube  an  einen 
allmächtigen  Schöpfer  aufhört.  Dann  herrscht  irgendeine  Kraft, 
irgendein  Gesetz  ohne  Lenker,  ein  Werden  und  Vergehen  ohne 
bestimmenden  Gesetzgeber,  ein  Fatum,  das  die  Urstoffe  der  Welt 
dahinwarf  und  sie,  folglich  auch  den  Menschen,  dem  Zufall  über- 
ließ. Dann  bin  auch  ich  —  was?  Ich  weiß  es  selbst  nicht,  eine 
Pflanze  vielleicht,  ein  Ding,  das  sich  um  sich  selbst  dreht  und  in 
sich  selbst  zusammensinkt,  um  der  Keim  zu  einem  neuen  Ge- 
schöpfe zu  werden.  Das  ist  eine  Nacht,  vor  der  meinem  Herzen 
graut;  und  doch  ist  es  so,  wenn  der  Professor  recht  hat."') 

Nach  seinem  Weggang  von  Köln  studierte  Kolping  in  München 
und  Bonn  Theologie  und  wurde  am  13.  April  1845  in  der  Mino- 
ritenkirche  zu  Köln  vom  Weihbischof  Gottfried  Claeßen  zum  Priester 
geweiht.  Kolping  war  Priester  geworden  eigens  zu  dem  Zwecke, 
um  dem  Handwerkerstande,  dessen  soziales  und  sittliches  Elend 
er  aus  eigener  Erfahrung  kennen  gelernt  hatte,  aufzuhelfen. 

Als  Kolping  Kaplan  an  St.  Laurentius  in  Elberfeld  war,  bildete 
sich  dort  aus  unscheinbaren  Veranlassungen  ein  zumeist  aus 
Handwerksgesellen  bestehender  Jünglingsverein,  dessen  Seele 
bald  Kolping  wurde.  Hier  reifte  in  Kolpings  Geist  der  Gedanke 
der  Stiftung  des  Gesellenvereins.  Jedoch  nicht  in  Elberfeld,  sondern 
in  Köln  wollte  Kolping  seinen  Verein  gründen,  und  er  bat  deshalb 
um  die  Stelle   eines  Vikars   am   Kölner   Dom,   die   er   auch   am 

15.  März  1849  vom  Kardinal  und  Erzbischof  von  Geißel  erhielt. 
„Köln,"  so  spricht  Vosen  in  Kolpings  Leichenrede,  „lag  seinem 
Herzen  nahe;  es  war  seine  zweite  Vaterstadt.  Es  hatte  ihm  viel 
gegeben;  Leid  und  Glück  hatte  er  in  Köln  gefunden.  Auf  diesen 
Boden,  dessen  Wert  er  kannte,  wollte  er  seine  neue  Pflanzung  ver- 
setzen, nicht  aus  Eitelkeit,  sondern  in  richtiger  Berechnung  der 
Hoffnung  auf  ausgezeichnetes  Gedeihen.  Kolping  liebte  Köln, 
wie  wenige  es  lieben.  Er  ließ  sich  in  seiner  Beurteilung  dieser 
merkwürdigen  Stadt  nicht  durch  den  äußern  Schein  täuschen  wie 

')  A.a.O.  S.  17. 

16.  227 


so  viele,  die  nur  gierige  Gewinnsucht  und  frivole  Weltlust  hier 
finden  wollen.  Diese  Stadt,  deren  Boden  vom  Blute  so  vieler 
Märtyrer  getränkt  ist,  deren  Bewohner  die  lange  Vorzeit  hindurch 
Glaubenstreue  und  Sittenstrenge  heilig  gehalten,  sie  schien  ihm 
unter  dem  Schutze  mächtiger  Fürbitter  im  Himmel  zu  stehen.  Er 
hatte  es  durch  eigene  Erfahrung  erprobt,  daß  dort  im  Kern  des 
Volkes,  trotz  des  oft  entgegengesetzten  Scheines,  tiefe  Religiosität 
wurzelt,  wenn  der  Kölner  sie  auch  nicht  immer  zur  Schau  trägt."  ') 

Koiping  suchte  zunächst  in  Köln,  bevor  er  dorthin  übersiedelte, 
den  Boden  für  den  Verein  zu  bereiten,  indem  er  einen  Mann,  der 
gleich  ihm  das  Volk  liebte  und  Verständnis  für  die  soziale  Frage 
hatte,  ins  Interesse  zog.  Dieser  Mann  war  Religionslehrer  Vosen. 
Bei  ihm  fand  Koiping  den  rechten  Blick  für  das,  worum  es  sich 
handelte,  und  zugleich  das  bereitwilligste  Entgegenkommen.  Zwei- 
mal schickte  Koiping  Gesellen  von  Elberfeld  aus  nach  Köln,  um 
dort  Umschau  zu  halten  und  die  Gründung  des  Vereins  in  die 
Wege  zu  leiten.  Zuerst  sandte  er  einen  Coblenzer.  Aber  der 
war  zu  still  und  kam  zurück,  wie  die  erste  Taube,  die  Vater  Noah 
ausfliegen  ließ.  Dann  schickte  er  einen  Kölner  namens  Franz 
Gumpertz,  und  der  war  der  richtige.  Ein  frisches,  munteres  Blut, 
hatte  derselbe  im  Verein  zu  Elberfeld  alle  durch  seine  Lebhaftig- 
keit und  seinen  Kölner  Humor  bezaubert,  so  zwar,  daß  er  Koiping 
hie  und  da  allzu  stürmisch  erschien.  „Höre,"  sprach  er  zu  ihm, 
„gehe  nach  Köln  und  treibe  mir  die  Leute  zusammen.  Geh  dann 
zu  Vosen  und  gib  ihm  die  Liste.  Aber  alles,  was  ich  Dir  sage, 
ordentliche  Leute,  keine  Ströppe."  Der  ließ  sich  das  nicht  zwei- 
mal sagen.  Bald  konnte  er  zurückkehren  mit  der  Nachricht:  „Es 
sind  ihrer  schon  viele  beieinander."  Vosen  hat  mithin  bei  der 
Gründung  des  Gesellenvereins  Pate  gestanden.  Mit  ihm  überlegte 
und  besprach  Koiping  in  der  Folge  alle  seine  Pläne.  Denn  Vosens 
Kenntnisse  in  der  großen  sozialen  Frage,  die  damals  nur  von 
wenigen  gewürdigt  wurde,  sowie  seine  gereifte  Lebensanschauung 
waren  für  Koiping,  wie  er  selbst  gesteht,  sehr  wertvoll,  und  stets 
war  man  des  Gelingens  sicher,  wenn  der  volkstümliche  Führer 
mit  seinem  Scharfblicke  und  seiner  Beredsamkeit  eine  Sache  leitete 
und  förderte. 

Vosen  und  Koiping,  fürwahr  ein  herrliches  Priesterpaar,  zwei 
Männer,  gleich  an  Seelenadel  und  Geistesgröße,  gleich  an  Bered- 


1)  Trauerrede  beim  Begräbnis  des  Gesellenvaters  Koiping,  gehalten  am 
7.  Dezember  1865  in  der  Minoritenkirche  zu  Köln  von  Dr.  Christ.  Hermann  Vosen. 
Köln  1865.  J.  P.  Bachem. 

228 


samkeit  und  schriftstellerischer  Gewandtheit,  beide  hervorgegangen 
aus  dem  Volke  und  das  Volk  liebend  in  sich  hinopfernder  Selbst- 
losigkeit, und  doch  wieder  so  ganz  verschieden  an  Charakter  und 
Eigenart.  Vosen  hatte  ein  goldenes  Gemüt,  Kolping  aber  war  ein 
Diamant;  Vosen  der  kunstliebende  Gelehrte  mit  weitschauendem 
Blick,  Kolping  eine  Kernnatur  von  markiger  Wucht  mit  klarem 
Blick  und  zielbewußtem,  unbeugsamem  Willen;  Vosen  festgebannt 
an  die  heimische  Scholle,  Kolping  hingegen  heimisch  in  allen 
Städten,  soweit  die  deutsche  Zunge  klingt;  Vosen  ganz  und  gar 
hingegeben  an  die  studierende  Jugend,  dabei  aber  voller  Interesse 
für  alle  kirchlichen,  politischen,  wissenschaftlichen,  künstlerischen 
und  sozialen  Fragen  seiner  Zeit,  Kolping  aber  ausschließlich 
lebend  der  Hebung  des  Handwerkerstandes  und  alles  Übrige 
andern  überlassend.  In  Einem  aber  kamen  beide  wieder  überein: 
im  vollständigen  Mangel  an  Sinn  für  Geldgeschäfte.  Beide  traten 
arm  ins  Leben,  beide  starben  in  Armut-  Beide  aber  gingen  Wohl- 
taten spendend  durchs  Leben. 

Zeitlebens  wirkten  die  beiden  Marzellianer  nebeneinander  und 
miteinander  in  Köln.  Vosen  nahm  teil  an  der  konstituierenden 
Sitzung  des  Vorstandes  des  katholischen  Gesellenhospitiums  zu 
Köln  am  13.  Februar  1850  und  blieb  bis  zu  seinem  Tode  Mit- 
glied des  Vorstandes,  auch  beteiligte  er  sich  mit  Kolping  an  der 
Leitung  des  Vereins,  als  dieser  in  einem  Klassenzimmer  der 
Pfarrschule  von  St.  Kolumba  mit  fünf  Gesellen  ins  Leben  trat, 
und  blieb  demselben  stets  innig  zugetan. 

Im  Jahre  1849  übernahmen  Kolping  und  Vosen  die  Re- 
daktion des  im  Jahre  1844  zu  Düsseldorf  ins  Leben  getretenen 
Rheinischen  Kirchenblattes.  Sie  begannen  damit,  die  Monats- 
schrift in  eine  Wochenschrift  umzuwandeln,  aber  erst  1850  traten 
sie  mit  ihrem  vollen  Namen  hervor.  Seit  1851  jedoch  zeichnete 
Kolping  allein  als  Herausgeber.  Doch  erfreute  er  sich  immer 
noch  der  Mitarbeit  Vosens.  Für  die  Gesellenvereine  ließ 
Kolping  seit  1850  eine  eigene  Beilage  als  Vereinsorgan  erscheinen, 
das  1851  den  Titel  „Feierstunde"  annahm  und  sich  am  1.  April 
1854  zu  den  durch  ihren  edlen  Volkston  so  berühmt  gewor- 
denen und  zu  großer  Verbreitung  gelangten  „Rheinischen 
Volksblättern  für  Haus,  Familie  und  Handwerk"  entwickelte. 
Auch  der  „Katholische  Volkskalender  für  1851,  herausgegeben 
von  ein  paar  rheinländischen  Volksfreunden",  war  Kolpings 
und  Vosens  gemeinsames  Werk,  das  Kolping  später  allein  fort- 
setzte. 

229 


Beim  Tode  Kolpings  hielt  Vosen  dessen  Leichenrede,  und 
im  Jahre  1866  veröffentlichte  er  im  Frankfurter  Broschüren  verein 
seine  hochbedeutsame  Schrift  „Kolpings  Gesellenverein  in  seiner 
sozialen  Bedeutung",  in  der  Vosen  tiefes  Verständnis  der  sozialen 
Frage  und  weitausschauenden  Blick  bekundet.  Im  Kalender  für 
das  katholische  Volk  (1867)  veröffentlichte  er  schließlich  eine 
Lebensbeschreibung  Kolpings.  Als  Vosen  im  Jahre  1871  starb, 
fanden  sich  Kolpings  dankbare  Söhne  zahlreich  mit  ihrer  Vereins- 
fahne beim  Leichenbegängnisse  ein,  um  den  zu  ehren,  der  so 
oft  ihr  Lehrer  und  der  frohe  Teilnehmer  ihrer  Feste  gewesen  war. 

Doch  nicht  bloß  durch  Förderung  des  Vereinswesens  bekundete 
Vosen  sein  Interesse  am  öffentlichen  Leben,  auch  für  politische 
Fragen  hatte  er  einsichtsvolles  Verständnis  und  reges  Interesse. 
In  richtiger  Würdigung  der  Bedeutung  der  Presse  war  er  für 
deren  Hebung  im  katholischen  Sinne  tätig.  Er  war  Mitglied  des 
Verwaltungsrates  der  „Volkshalle"  und  fruchtbarer  Publizist. 
Auch  bei  den  Wahlen  zu  den  gesetzgebenden  Körperschaften 
setzte  er  seinen  vielvermögenden  Einfluß  durch  Rede  und  Schrift 
ein,  damit  solche  aus  der  Wahlurne  hervorgingen,  die  das  wirk- 
liche Köln  zu  vertreten  geeignet  waren.  Er  war  es  auch,  der  bei 
einer  der  Wahlbewegungen  den  glücklichen  Namen  der  „alt- 
kölnischen Partei"  schuf. 

Oben  wurde  schon  bemerkt,  daß  Vosen  gleich  Kolping  sich 
im  Wohltun  erschöpfte.  Vosens  Wohltätigkeit  beschränkte  sich  in- 
des nicht  auf  Almosen,  sondern  er  scheute  keinen  Gang  und  keine 
Mühe,  um  Hilfsbedürftigen  Arbeit  und  Stellung  zu  verschaffen, 
damit  sie  dauernd  aus  der  Notlage  befreit  würden.  Ein  unver- 
gängliches Denkmal  der  Nächstenliebe  Vosens  ist  das  Marien- 
hospital an  St.  Kunibert  in  Köln.  Als  am  8.  Dezember  1854  der 
Lehrsatz  von  der  makellosen  Empfängnis  der  h.  Jungfrau  verkündet 
worden  war  und  wie  allenthalben,  so  auch  in  Köln  eine  Marien- 
säule sich  erhob,  da  war  es  Vosen,  der  den  Gedanken  aussprach, 
mit  dem  Denkmal  der  Huldigung  auch  ein  Denkmal  der  christ- 
lichen Nächstenliebe  zu  verbinden.  Anregend  wie  er  war,  gelang 
es  ihm  leicht,  einen  Kreis  gleichgesinnter  Männer,  vor  allem  den 
Kaufmann  PETER  MiCHELS,  für  seine  Idee  zu  begeistern.  Einmütig 
und  gottvertrauend  ging  man  an  die  gewiß  nicht  leichte  Aufgabe 
heran,  ein  Hospital  für  arme,  unheilbare  Kranke  zu  gründen.  Kölns 
nie  versagende  Opferwilligkeit  griff  großartig  ein,  und  schon  im 
Jahre  1864  öffneten  sich  die  Tore  des  neuen  Krankenhauses  zur 
Aufnahme   der  Leidenden.     Seit  Gründung   des   Marienhospitals 

230 


war  Vosen  Schriftführer  des  Kuratoriums,  und  was  er  in  Wort  und 
Tat  und  Schrift  für  die  Anstalt  geleistet,  bleibt  unvergessen. 

Unvollständig  wäre  Vosens  Bild,  wenn  unerwähnt  bliebe,  wie 
er  seine  künstlerische  Begabung  betätigte.  Zu  fachmännischer 
Ausbildung  fehlte  ihm  Zeit  und  Gelegenheit;  jedoch  hat  er  als 
Kunstliebhaber  Versuche  gemacht  in  der  schönen  Literatur  durch 
Herausgabe  eines  unter  dem  Namen  „Hermann  Christian"  erschiene- 
nen Romans.  Sein  frommer,  kunstbegabter  Sinn  bekundet  sich 
auch  in  dichterischen  Ergüssen,  mit  denen  er  seine  Freunde  bei 
besondern  Anlässen  zu  erfreuen  pflegte.  Als  Vikar  in  Zündorf 
schnitzte  er  einen  Kruzifixus  und  später  malte  er  das  Altarbild  für 
die  ehemalige  Lazaristenkapelle  in  der  Stolkgasse,  darstellend  den 
h.  Vinzenz  von  Paul,  wie  er  dem  Volke  predigte.  Ferner  malte 
er  ein  Bild  des  h.  Apostels  Andreas  für  die  Kölner  Andreaskirche 
sowie  ein  Bild  der  seligen  Christina  für  die  Kapelle,  die  sich  an 
der  Stelle  ihres  Heimganges  in  Stommeln  erhebt.  In  den  letzten 
Jahren  seines  Lebens  suchte  er  seine  Erholung  in  naturwissen- 
schaftlichen Versuchen. 

Wie  beim  Volke,  so  stand  Vosen  auch  bei  der  Geistlichkeit 
in  hohem  Ansehen,  das  er  vollauf  verdiente  durch  seine  kirch- 
liche Gesinnung,  sein  allseitiges  Wissen  und  seinen  auferbaulichen 
Wandel.  Wiederholt  wählte  ihn  die  Geistlichkeit  der  Stadt  zum 
Präses  der  Pastoralkonferenz,  und  auch  hier  bewährte  sich  Vosens 
umsichtige  und  verständnisvolle  Leitung  aufs  glänzendste. 

Eine  so  vielseitige  und  angestrengte  Tätigkeit  blieb  nicht 
ohne  nachteiligen  Einfluß  auf  Vosens  Gesundheit.  Er  mußte  sich 
in  seinen  letzten  Lebensjahren  allmählich  von  der  Betätigung  im 
öffentlichen  Leben  zurückziehen.  Seine  letzte  öffentliche  Tat  war 
eine  Adresse  an  das  Haus  der  Abgeordneten  für  die  konfessionellen 
Schulen,  die  er  verfaßt  hatte  und  in  einer  großen  Volksversamm- 
lung zur  Annahme  brachte.  Auch  arbeitete  er  noch  in  den  letzten 
Jahren  an  einem  Religionshandbuch  für  die  Gymnasien,  um  dessen 
Herausgabe  er  von  vielen  Seiten  angegangen  worden  war. 

Der  gewaltige  Kampf  der  Geister  gelegentlich  des  Zusammen- 
tritts des  vatikanischen  Konzils  ließ  ihn  nicht  teilnahmlos.  Die 
Minorität  der  in  Rom  versammelten  Bischöfe  war  gegen  eine 
dogmatische  Definition  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit,  welche  die 
weitaus  größere  Majorität  dringend  verlangte.  Vosen,  der  persön- 
lich die  Verkündigung  der  päpstlichen  Unfehlbarkeit  in  Anbetracht 
der  Zeitlage  nicht  für  zweckdienlich  hielt,  veröffentlichte  in  der 
ersten  Nummer  des  „Rheinischen  Merkur"  im  Februar  1870  einen 

231 


an  den  deutschen  Klerus  gerichteten  Aufruf  zur  Unterzeichnung 
einer  Zustimmungseriilärung  an  die  Minoritätsbischöfe.  Da  jedoch 
der  Kölner  Erzbischof  PAULUS  Melchers,  der  zur  Minorität  gehörte, 
melden  ließ,  solche  Adressen  seien  unangebracht,  erklärte  Vosen 
in  der  zweiten  Nummer  des  „Rheinischen  Merkur",  daß  er  das 
Sammeln  von  Unterschriften  einstelle.  Wie  sein  Erzbischof,  so 
gab  auch  Vosen  als  treuer  Sohn  der  Kirche  die  eigene  Meinung 
auf,  sobald  die  Entscheidung  des  kirchlichen  Lehramtes  sie  als 
irrig  bezeichnet  hatte.  Daß  andere  dies  nicht  taten,  sondern  sich 
von  der  Kirche  trennten,  war  der  bitterste  Schmerz  seines  Lebens, 
der  ihm  außerordentlich  zu  Herzen  ging  und  selbst  seinen  Gesund- 
heitszustand ungünstig  beeinflufJte. 

Zuletzt  mußte  Vosen  wegen  eines  Herzleidens,  das  sich  ein- 
gestellt hatte,  auch  auf  den  Religionsunterricht  am  Gymnasium 
verzichten.  Seine  vielen  Schüler,  die  ihm  bei  seinem  fünfund- 
zwanzigjährigen Priesterjubiläum  im  Jahre  1864  lauten  Ausdruck 
ihrer  dankbaren  Verehrung  zugejubelt  hatten,  mußten  sich  beim 
fünfundzwanzigjährigen  Jubiläum  seiner  Wirksamkeit  als  Religions- 
lehrer darauf  beschränken,  ihm  in  der  Stille  ein  Album  mit  ihren 
Porträts  zu  überreichen. 

Im  Januar  1871  wurde  bekannt,  daß  Vosen  zu  Ostern  seine 
Stelle  als  Religionslehrer  niederlegen  werde.  Jedoch  sollte  es 
nicht  dazu  kommen.  Als  Religionslehrer  sollte  Vosen  sterben,  und 
in  Köln,  seiner  heißgeliebten  Vaterstadt,  sollte  er  seine  letzte 
Ruhestätte  finden. 

Früher  waren  mit  ihm  Verhandlungen  gepflogen  worden 
bezüglich  Übernahme  einer  Domherrnstelle  in  Hildesheim,  auch 
solche  bezüglich  Übernahme  eines  theologischen  Lehrstuhles  in 
Freiburg  i.  B.  und  in  Prag.  Doch  Vosen  blieb  in  Köln.  Schließlich 
wurde  seine  Ernennung  zum  Stiftsherrn  in  Aachen  in  die  Wege 
geleitet,  und  Vosen  ließ  sich  diesmal,  wenn  auch  ungern,  dazu 
bestimmen,  die  ihm  zugedachte  Beförderung  anzunehmen,  da  er 
doch  seine  Lehrtätigkeit  nicht  mehr  fortzusetzen  vermochte. 
Erzbischof  Paulus  Melchers  schrieb  unter  dem  21.  Dezember  1870 
an  den  Oberpräsidenten  von  Pommer-Esche  zu  Coblenz,  der  für 
einen  andern  Kandidaten  beim  Erzbischof  die  Ausstellung  des 
Idoneitätszeugnisses  beantragt  hatte,  auch  Vosen,  der  bereits  seit 
27  Jahren  das  Amt  eines  Religionslehrers  am  Marzellengymnasium 
mit  ausgezeichnetem  Erfolge  bekleide  und  sich  auch  als  Schrift- 
steller mehrfach  verdient  gemacht  habe,  nunmehr  aber  durch 
körperliche  Leiden  verhindert  werde,  in  seinem  seitherigen  amtlichen 

232 


Wirkungskreise  sich  weiter  zu  betätigen,  sei  bereit,  die  gedaclite 
Stelle  anzunehmen.  Der  Oberpräsident  antwortete  am  17.  Februar 
1871,  daß  der  Minister  der  geistlichen  usw.  Angelegenheiten  den 
Religionslehrer  Dr.  Vosen  Sr.  Majestät  dem  Könige  zur  Nomination 
für  die  Stiftsherrnstelle  in  Vorschlag  gebracht  und  Se.  Majestät 
diesem  Antrage  zu  entsprechen  geruht  habe.  Darauf  erfolgte 
unter  dem  20.  Februar  1871  die  Ausstellung  des  förmlichen 
Idoneitätszeugnisses  seitens  des  Erzbischofes,  und  in  Rom  wurde 
nunmehr  auf  Antrag  der  preußischen  Gesandtschaft  die  päpstliche 
Proviste  für  Vosen  ausgestellt.  Vosen  jedoch  starb  am  12.  Mai  1871, 
ohne  etwas  von  seiner  Ernennung  erfahren  zu  haben;  die  Kosten 
für  die  Ausstellung  der  Proviste  mußten  niedergeschlagen  werden. 
Unvermutet  wurde  Vosen  zwei  Tage  vor  seinem  Tode  von  einem 
Schlaganfalle  betroffen.  Mit  Andacht  empfing  er  die  hh.  Sterbe- 
sakramente, und  als  er  nicht  mehr  sprechen  konnte,  zeigte  er 
mit  dem  Finger  gen  Himmel,  um  kundzutun,  daß  für  ihn  die 
Stunde  gekommen  sei,  die  Erde  zu  verlassen. 

Vosen  war  weder  reich  noch  hochgestellt,  und  doch  war  er 
zeitlebens  machtvoll  in  Wort  und  Tat;  Zahllose  verehren  ihn  als 
ihren  Wohltäter. 


Oberlehrer  Schaltenbrand  Professor  Zons 

zwei  langjährige  Mitarbeiter  Vosens. 


233 


Karl  Schurz 

geboren  zu  Liblar  2.  März  1829,  gestorben  zu  New-York  14.  Mai  1906. 
Von  Prof.  Dr.WlLH.  SCHURZ  in  M.-Gladbach. 

Weite  Welt  und  breites  Leben, 
Langer  Jahre  redlich  Streben, 
Stets  geforscht  und  stets  gegründet, 
Nie  geschlossen,  oft  gerundet, 
Ältestes  bewahrt  mit  Treue, 
Freundlich  aufgefaßtes  Neue, 
Heitern  Sinn  und  reine  Zweclte: 
Nun,  man  kommt  wohl  eine  Strecke. 

Goethe. 

Wenn  es  uns  gestattet  wäre,"  —  so  führte  Direktor  Ditges 
am  22.  März  1865  in  seiner  Festrede  aus,  die  neben 
der  Königsgeburtstagsfeier  zugleich  dem  fünfzigjährigen 
Bestehen^)  des  katholischen  Gymnasiums  an  Marzellen  und  der 
zugleich  mit  seiner  Gründung  erfolgten  Einverleibung  der  Rhein- 
provinz in  Preußen  galt,  —  „wenn  es  uns  gestattet  wäre,  alle  die- 
jenigen, die  in  den  fünfzig  Jahren  seit  der  Eröffnung  des  neu- 
organisierten  Gymnasiums  demselben  angehört  haben,  unseren 
Augen  vorzuführen,  so  würden  wir  mit  freudigem  Stolze  eine 
zahlreiche  Schar,  würden  wir  Tausende  vor  uns  sehen,  welche  sich 
auf  der  hier  gewonnenen  Grundlage  zu  segensvoller  Wirksamkeit 
in  irgend  einem  höheren  Lebensberufe  befähigt  oder  sich  zu 
höheren  Stellungen  in  Staat  und  Kirche  emporgeschwungen  haben." 

In  denselben  Tagen,  in  welche  jene  Feier  der  Schule  und 
der  Provinz  fiel,  vollzog  sich  jenseits  des  Ozeans,  in  Nordamerika, 
zugunsten  der  Union  die  entscheidende  Wendung  in  der  leiden- 
schaftlichen Fehde,  die  vier  Jahre  hindurch  den  Norden  und  den 
Süden  zu  mörderischem  Kampfe  gegeneinander  getrieben  hatte. 
An  ihr  hatte  ein  trefflicher  Sohn  des  Rheinlandes,  der  von 
1839—1847  Schüler  der  Jubelanstalt  gewesen  war,  als  bester 
Mitarbeiter  Lincolns  rühmlichen  Anteil  genommen: 

KARL  SCHURZ. 

Der  junge  Deutsche,  der  als  einer  der  besten  unter  so  vielen 
sein  Vaterland  verloren  hatte,  weil  er  für  deutsche  Freiheit  und 
Einheit  kämpfte,  hatte  in  dem  demokratischen  Gemeinwesen  der 
Vereinigten  Staaten  einen  Wirkungskreis  gefunden,  auf  dem  er  seine 


')  1865  bestand  das  Marzellengymnasium   50  Jahre    unter    preußischer 
Herrschaft;  es  bestand  damals  in  Wirklichkeit  über  400  Jahre. 


234 


wahrhaft  freie  Eigenart  ausleben  lassen  konnte  und  sich  zu  einer 
führenden  Persönlichkeit  im  staatlichen  und  öffentlichen  Leben  ent- 
wickeln sollte.  Im  Kriege  und  im  Frieden  hat  er  seinem  neuen 
Vaterlande  in  Ehren  gedient.  Ja,  in  einem  Alter,  in  dem  der  Ameri- 
kaner gewöhnlich  erst  anfängt,  zu  hohen  politischen  Ehren  und 
Würden   zu    gelangen,  war   er,    der   Deutsch-Amerikaner,  bereits 


Gesandter    in     Madrid, 
armee,  Mitglied   des 
Minister  desinnern 

Nach     hervor 
diensten  in  der 
Heere,      auf 
der    Gesetz 
der  Verwal 
er  ein  vol 
Jahrhundert 
Schriftstel 
nalistund 
Agitalorim 
höchsten 
Wortes 
zwar  in  ei 
daß  er  zu  na 
sehen    auch 
lisch'Amerika 

Den  Deutsch 
wurde    er    bald 
rer.  Jahrzehntelang 
ihm  als  ihrem  Vater 


General  in  der  Unions- 
Bundessenats      und 
gewesen, 
ragenden     Ver- 
Diplomatie.im 
dem  Gebiete 
gebung  und 
tung   blieb 
les  Viertel- 
als  Redner, 
1er,  Jour- 
politischer 
besten  und 
Sinne  des 
tätig,  und 
ner  Weise, 
tionalemAn- 
bei  den  Eng- 
nern gelangte. 
-  Amerikanern 
der  geistige  Füh- 
schauten    sie    zu 
und  idealstenVertreter 


hinauf,  und  wenn  Paul  Loeser  im  Jahre  1899  gelegentlich  der 
Feier  von  Schurzens  70.  Geburtstage  sagen  konnte:  „Er  hat 
seinem  Vaterlande,  dem  Lande  seiner  Geburt  wie  dem  seiner 
Wahl,  die  höchste  Ehre  gemacht,  und  er  hat  sie  niemand  mehr 
gemacht  als  den  Deutsch-Amerikanern,"  so  unterschreiben  auch 
wir  Deutsche  diese  Worte  des  Deutsch-Amerikaners  gern  und 
freudig  für  drüben  und  hüben.  Denn  auch  wir  erblicken  in  ihm 
einen   unserer  trefflichsten   Söhne,   der  gerade    dadurch,    daß  er 


I 


236 


in  fremdem  Lande  der  deutschen  Heimat,  der  deutschen  Ab- 
stammung und  dem  deutschen  Namen  seltene  Ehre  machte,  sich 
hohe  Verdienste  um  die  Weltstellung  des  Deutschtums  über- 
haupt erwarb. 

Die  Zugehörigkeit  zu  zwei  Welten  wurde  seine  Größe. 

Dann,  was  alle,  die  lehrend  oder  lernend  der  Schulgemeinde 
des  Marzellengymnasiums  angehört  haben,  noch  besonders  warm 
berührt,  der  Bürger  zweier  Welten  hat  dem  deutschen  Gymnasium, 
seiner  geistigen  Mutter,  ein  dankbares  Andenken  bewahrt,  ist 
seinen  Lehrern  mit  seltener  Anhänglichkeit  in  dankbarer  Verehrung 
zugetan  geblieben,  stets  von  der  Überzeugung  getragen,  seinen 
deutschen  Lehrern  auf  der  humanistischen  Schule  verdanke  er 
im  letzten  Grunde,  was  er  sei  und  was  er  habe. 

Ein  solches  Urteil  aus  dem  Munde  eines  wahrhaft  großen 
Mannes,  eines  Mannes  der  Tat  und  des  Wortes  zugleich,  gereicht 
der  Schule  und  ihren  damaligen  Lehrern  zur  allerhöchsten 
Anerkennung,  ehrt  in  demselben  Maße  aber  auch  den  großen 
Schüler. 

Wer  die  Lebenserinnerungen  von  Karl  Schurz  liest,  wird  zu 
seiner  Freude  und  Genugtuung  auf  Schritt  und  Tritt  Spuren  auf- 
lesen, die  aus  der  neuen  Heimat  zurück  in  die  alte  führen,  er 
wird  nicht  nur  Fäden,  sondern  Fesseln  verspüren,  die  ihm  Herz 
und  Sinn  gebunden  oder  vielmehr  gekettet  hielten  an  Orte  und 
Personen  der  rheinischen  Heimat,  in  denen  und  mit  denen  er 
seine  Jugend-  und  Lehrjahre  verlebte. 

Seine  früheste  Jugend  verbrachte  er  in  seinem  Geburtsdorfe 
Liblar,  1)  treu  gehegt  und  gepflegt  von  Eltern  und  Großeltern. 
Der  Großvater,  Heribert  Jüssen,  war  Halbwinner  auf  der  dicht 
bei  Liblar  gelegenen  Burg,  ,,die  Gracht"  genannt,  der  Vater  Lehrer 
in  Liblar.  Freilich  mußte  er  schon  zu  Anfang  des  Jahres  1836 
seine  amtliche  Tätigkeit  als  Lehrer  aufgeben,  so  daß  Karl  nur  ein 
Jahr  den  Schulunterricht  des  Vaters  genoß.  Weit  mehr  hatte  er 
aber  seitdem  dem  Unterricht  zu  danken,  den  er  außerhalb  der 
Schule,  zu  Hause,  empfing.  Denn  der  Vater  war  von  dem  Wunsche 
beseelt,  dem  Sohne  eine  bessere  Erziehung  und  gründlichere 
Ausbildung  angedeihen  zu  lassen,  als  ihm,  der  frühe  elternlos 
geworden,  beschieden  gewesen  war.  So  blieb  er  unablässig 
bemüht,  nach  seinem  besten  Wissen  und  Können  zur  Charakter- 
und  Geistesbildung  des  Sohnes  beizutragen.    Der  geweckte  und 

1)  Station  der  Eisenbahnlinie  Köln-Euskirchen,  etwa  17  km  von  Köln 
entfernt. 

236 


empfängliche  Knabe,  das  stand  bei  ihm  fest,  sollte  das  Gymnasium 
und  später  die  Universität  besuchen,  um  sich  einem  gelehrten 
Fachstudium  zu  widmen. 

Da  nach  des  Vaters  Ansicht  die  heimatliche  Dorfschule,  der 
übrigens  ein  tüchtiger  Lehrer  vorstand,  zur  Vorbereitung  für  das 
Gymnasium  nicht  ausreichte,  schickte  er  den  Sohn  nach  zurück- 
gelegtem achten  Lebensjahre  (1838)  auf  die  Seminarübungsschule 
in  Brühl,  die  als  Musterschule  galt.  Auch  weitere  Opfer  zu  bringen 
bereit,  ließ  er  ihn  in  Brühl  durch  Privatlehrer  in  Musik  und  Latein 
unterrichten,  während  er  selbst  als  „belesener"  Mann  auch  ferner- 
hin die  Lektüre  des  Sohnes  regelte  und  leitete.  Nicht  gering 
waren  die  Zumutungen  und  Anforderungen  des  Vaters.  Jeden- 
falls aber  war  der  Junge,  als  er,  10  Jahre  alt,  im  Herbst  1839  in 
die  Sexta  des  Gymnasiums  aufgenommen  werden  sollte,  „im 
Punkte  der  Belesenheit  wie  in  anderen  Richtungen  anständig 
vorbereitet". 

Dabei  waren  die  Jahre  der  Kindheit  reich  an  Freuden,  wie 
sie  der  ländlichen  Jugend  geboten  sind,  und  reich  an  Freunden. 
Gern  verweilte  er  noch  im  Alter  in  der  Erinnerung  an  diese 
„sonnigen  und  glücklichen  Jahre",  sei  es  im  Kreise  seiner  Kinder 
oder  seiner  Freunde.  „Ich  schätze  mich  glücklich,"  schreibt  er  als 
75jähriger,  „meine  früheste  Jugend  auf  dem  Lande  verlebt  zu  haben, 
wo  der  Mensch  nicht  allein  der  Natur,  sondern  auch  dem  Menschen 
näher  steht  als  in  dem  Häuserpferch  und  dem  Gedränge  der  Stadt. 
Ebenso  schätze  ich  mich  glücklich,  in  einfachen,  bescheidenen 
Verhältnissen  aufgewachsen  zu  sein,  die  den  Mangel  nicht  kannten, 
aber  auch  nicht  den  Überfluß,  die  keine  Art  von  Luxus  zum  Be- 
dürfnis werden  ließen,  die  es  mir  natürlich  machten,  genügsam 
zu  sein  und  auch  die  kleinsten  Freuden  zu  schätzen,  die  meine 
Genußfähigkeit  vor  dem  Unglück  bewahrten,  durch  frühe  Sättigung 
abgestumpft  zu  werden,  die  ein  sympathisches  Gefühl  der  Zu- 
sammengehörigkeit mit  den  Armen  und  Niedrigen  im  Volke  lebendig 
und  warm  erhielten,  ohne  das  Streben  nach  höheren  Zielen  zu 
entmutigen." 

Der  Aufenthalt  auf  dem  Lande  blieb  nun  für  die  nächsten  sechs 
Jahre  auf  die  Ferien  beschränkt,  bot  dann  aber  selbstverständlich 
der  harmlosen  Vergnügungen  um  so  mehr;  er  hörte  gänzlich  auf, 
als  die  Eltern  ihr  Besitztum  in  Liblar  veräußerten  und  nach  Bonn 
übersiedelten,  in  der  offenbaren  Absicht,  dem  Sohne,  der  nach 
zwei  Jahren  die  Universität  besuchen  würde,  die  akademischen 
Studien  zu  ermöglichen.    Indes  gerade  die  Übersiedelung  brachte 

237 


I 


die  Eltern  in  arge  Verdrießlichkeiten  und  den  Sohn  in  die  bittere 
Lage,  auch  den  „Mangel"  kennen  zu  lernen.  Doch  greifen  wir 
nicht  vor,  begleiten  wir  vielmehr  den  Gymnasiasten  auf  dem  langen 
Wege  von  Sexta  bis  Oberprima  und  sehen  wir  zu,  unter  welche 
Einflüsse  der  Schüler  hier  geriet. 

In  launiger  Weise  schildert  Schurz  in  seinen  Lebenserinne- 
rungen, wie  er  sich  bei  seinem  ersten  Erscheinen  im  Gymnasium, 
es  war  am  24.  Oktober  1839,  dem  Spotte  seiner  Mitschüler  aus- 
gesetzt hat. 

,, Nicht  ahnend,  daß  der  Gebrauch  einer  Schiefertafel  mit  der 
Würde  des  Sextaners  durchaus  unverträglich  sei,  brachte  ich  bei 
dem  Eintritt  in  die  Klasse  meine  Schiefertafel  mit  mir.  Sofort 
waren  die  Blicke  aller  meiner  Mitschüler,  von  denen  ich  keinen 
einzigen  ^)  kannte,  auf  mich  gerichtet  und  es  brach  ein  allgemeines 
Gelächter  aus,  als  einer  auf  gut  Kölnisch  ausrief :  »Such  ens  dohl 
Da  hat  en  Ley!  Da  hat  en  Ley!«  Ich  hätte  mich  gerne  sofort 
mit  der  Faust  an  die  Höhnenden  gemacht,  aber  da  trat  der 
Ordinarius  ein,  und  es  erfolgte  ehrfurchtsvolle  Stille." 

Der  Ordinarius  der  Sexta  war  HEINRICH  BONE,  der  mit  dem 
neuen  Schuljahre  1839/40  seine  Tätigkeh  am  Marzellengymnasium 
eröffnete.  Bis  zum  Schluß  des  Schuljahres  1841/42  verblieb  Bone 
an  der  Anstalt.  Unter  die  Begünstigungen  durch  das  Schicksal 
in  seinem  Leben  rechnet  Schurz  es  geradezu,  daß  er  drei  Jahre 
lang  unter  Leitung  dieses  ausgezeichneten  Lehrers  gestanden. 
Vernehmen  wir  den  Grund  zu  diesem  höchst  anerkennenden 
Urteile  aus  dem  Munde  des  dankbaren  Schülers  selbst:  ,,Wenn 
ich  in  meinem  späteren  Leben  den  Grundsatz  festgehalten  habe, 
daß  Klarheit,  Anschaulichkeit  und  Direktheit  des  Ausdrucks  das 
Haupterfordernis  eines  guten  Stiles  sind,  so  habe  ich  das  in  großem 
Maße  den  Lehren  zu  verdanken,  die  ich  von  Bone  empfing." 
Neben  dem  lateinischen  erteilte  Bone  nämlich  auch  den  deutschen 
Unterricht.  Ausführlich  schildert  Schurz  -)  die  Lehrweise  des 
Deutschlehrers,  der  streng  auf  anschauliche,  objektive  Beschreibung 
in  den  schon  von  Sexta  an  als  Aufgabe  gestellten  kleinen  Auf- 
sätzen hielt.  Verschwommenes,  Abstraktes,  nicht  sinnlich  Wahr- 
nehmbares war  fürs  erste  von  der  Darstellung  gänzlich  ausge- 
schlossen. Damit  war  über  allgemeine,  gar  erst  über  Aufgaben  philo- 
sophischen Anstrichs,  wie  über  den  Nutzen  des  Eisens,  über  die 

^)  es  waren  41. 

'-)  Lebenserinnerungen  I.  S.  55;  benutzt  wurden  auch  die  Archivalien  des 
Gymnasiums. 

238 


Schönheit  der  Freundschaft,  über  den  Fleiß  oder  die  Bescheiden- 
heit der  Stab  gebrochen.  Der  eigentlichen  Beschreibung,  deren 
Gegenstände  allmählich  größere  Verhältnisse  umspannten,  folgten 
auf  Quarta  Erzählungen.  Aber  auch  hier  bestand  er  darauf,  daß 
die  Phantasie  in  Anschauung  des  gewöhnlichen  Lebens  klar  werde, 
vor  einem  Herumschweifen  im  Phantastischen  bewahrt  bleibe. 
Erst  wenn  der  Schüler  in  der  Beobachtung,  Auffassung  und  Dar- 
stellung sinnlicher  Erscheinungen  hinlängliche  Gewandtheit  erlangt 
hatte,  ließ  er  den  abstrakten  Begriff  und  die  Reflexion  zu.  ,,Bones 
Methode  lehrte  uns,"  so  schließt  Schurz  seine  Ausführungen, 
„nicht  allein  korrekte  Sätze  bauen,  sondern  sie  übte  in  uns  die 
Fähigkeit,  die  merkwürdigerweise  bei  verhältnismäßig  wenigen 
Menschen  gründlich  ausgebildet  ist,  die  Fähigkeit,  so  zu  sehen, 
so  wahrzunehmen,  daß  man  sich  über  das  Wahrgenommene  voll- 
ständige Rechenschaft  geben  und  es  zu  klar  anschaulicher  Dar- 
stellung bringen  kann." 

Zu  klar  anschaulicher,  auch  zu  packender  Darstellung  hat 
Schurz  es  in  seinem  Leben  unstreitig  gebracht.  Man  braucht  nur 
den  ersten  Band  der  Lebenserinnerungen,  der  bis  zum  Jahre  1852 
reicht,  zu  lesen,  um  sich  hiervon  zu  überzeugen.  Recht  viele 
Abschnitte  und  Szenen  verdienten  als  Musterstücke  in  Lesebücher 
für  obere  Klassen  aufgenommen  zu  werden,  denn  auf  sie  trifft 
das  Urteil  Bones  über  das  Aufsätzchen  von  Schurz  ,, Sommer- 
abendszene" zu,  sie  sind  klassisch. 

Bone  hatte  selbst  ein  Lesebuch')  verfaßt,  dessen  1.  Auflage 
erschien,  als  Schurz  zur  Quinta  aufstieg.  Nach  Ausweis  des  Schul- 
berichts legte  der  Verfasser  das  Buch  dem  Unterrichte  der  Quinta 
zugrunde.  Wie  Schurz  dazu  überging,  seine  Schulerinnerungen 
niederzuschreiben,  ließ  er  sich  zu  deren  Auffrischung  das  Lese- 
buch aus  Deutschland  kommen  und  erlebte  die  freudige  Über- 
raschung, sich  als  stillen  Mitarbeiter  zu  entdecken.  Mehrere  seiner 
Aufsätzchen  hatte  Bone,  weil  er  in  ihnen  seine  Methode  vorzüglich 
belegt  fand,  aufgenommen.  Leider  macht  Schurz  nur  eines-)  namhaft. 
Es  ist  eine  Jagdszene:  Felder  und  Berge  waren  mit  glänzendem 
Schnee  bedeckt;  der  Himmel  trug  das  rosige  Kleid  der  schönen 
Morgenröte.  Da  sah  ich  drei  Jäger,  welche  unter  einer  hohen 
Eiche  standen.  Die  größeren  Äste  des  Baumes  trugen  eine  schwere 
Last  Schnee,  die  kleineren  Zweige  waren  mit  Reif  behangen.    Die 

')  Deutsches  Lesebuch  für  höhere  Lehranstalten  l  Teil.  Köln,  Du  Mont- 
Schaubergsche  Buchhandlung. 

2)  Ich  vermute,  auch  „Die  Herde"  S.  11,  31.  Auflage  1868,  rührt  von  ihm  her. 

239 


Kleider  der  Jäger  hatten  eine  hellgrüne  Farbe  und  waren  mit 
blanken  Knöpfen  besetzt.  Zu  ihren  Füßen  lag  ein  großer  Hirsch, 
dessen  rotes  Blut  den  weißen  Schnee  färbte.  Drei  dunkelbraune 
Hunde  saßen  um  den  toten  Körper  und  ließen  die  roten  Zungen 
lechzend  hervorhangen. 

Wahrlich  eine  mustergültige  Sextanerleistung!  Auch  auf  der 
folgenden  Stufe  leistete  er  Vorzügliches.  Die  Zeugnisse  weisen 
„recht  gut"  und  „sehr  gut"  auf  mit  dem  Zusätze:  „Ein  besonderes 
Lob  verdient  er  in  Anfertigung  deutscher  Aufsätze."  >)  Gleichzeitig 
wurde  bescheinigt,  daß  der  Schüler  fortgefahren  sei,  ,,mit  ausge- 
zeichneter Gleichmäßigkeit  allen  Gegenständen  einen  regen  Eifer 
und  gewissenhaften  Ernst  zuzuwenden  und  sich  dadurch  bei  seinem 
hoffnungsvollen  Talente  sehr  erfreuliche  Kenntnisse  zu  erwerben". 
„Das  Betragen  des  Schülers  war  in  jeder  Hinsicht  lobenswert  und 
hat  ihm  das  Vertrauen  seiner  Lehrer  in  hohem  Grade  erworben." 
So  wundern  wir  uns  nicht,  wenn  der  Ordinarius  Bone  in  dem 
Maße  Interesse  an  dem  talentvollen  Musterschüler  nahm,  daß  er 
ihn  an  sich  heranzog,  seine  Lektüre  bestimmte  und  leitete.  Daher 
wurde  Karl  ihm  doppelt  verpflichtet. 

So  hätte  denn  der  Weggang  Bones  auf  die  glänzende  Weiter- 
entwicklung des  „stillen  und  bescheidenen"  Tertianers  hemmend 
einwirken  können,  wenn  nicht  ein  anderer  „ausgezeichneter"  Lehrer 
der  Anstalt  sich  in  gleich  liebevoller  Weise  „des  hoffnungsvollen 
Jungen"  angenommen  hätte.  Es  war  der  durch  seine  geschichtlichen 
und  geographischen  Lehrbücher  weit  und  breit  bekannt  gewordene 
Professor  WILHELM  PÜTZ.    Die  frühzeitige  Vorliebe  für  Geschichte, 

')  In  Tertia:  Seine  schriftlichen  deutschen  Arbeiten  empfehlen  sich  durch 
ihre  sinnige  Auffassung  und  Ausführung.    (Pütz.) 

In  Unter-Sekunda:  Seine  schriftlichen  Arbeiten  gehörten  immer  zu  den 
besten;  in  ihnen  waltete  besonders  das  Gemüt  vor,  und  zwar  in  einer  kindlich 
frommen,  manchmal  poetischen  Weise.  (Lohmar.)  —  Herbst:  Er  zeigt  viel  Leben 
und  Frische  in  seiner  Darstellung.  (Lohmar.) 

Ober-Sekunda:  Einer  der  besten;  namentlich  gelingen  ihm  die  Arbeiten, 
bei  denen  seine  lebhafte  Einbildungskraft  Anteil  nehmen  kann,  doch  muß  er  sich 
hüten,  sich  ihrem  Spiele,  wo  es  nicht  statthaft  ist,  zu  überlassen.  (Lohmar.)  Herbst: 
Recht  gut,  zeigt  namentlich  bei  Erklärung  der  Muster  Geschmack  und  Urteil. 
Es  wurde  ihm  nicht  schwer ...  im  Deutschen  besonders  gute  Leistungen  an  den 
Tag  zu  legen.  (Lohmar.) 

Ober-Prima:  An  dem  deutschen  Unterricht  nahm  er  den  lebhaftesten 
Anteil  und  bewies  für  deutsche  Darstellung  eine  sehr  erfreuliche  Fähigkeit.  — 
Im  Gebrauche  der  Muttersprache  zeigte  er  sehr  erfreuliche  Sicherheit  und  Gewandt- 
heit und  suchte  mit  einer  einfachen  und  gefälligen  Darstellung  Klarheit  des 
Gedankens  und  Tiefe  der  Auffassung  glücklich  zu  vereinigen.  (Nattmann.) 

240 


die  Schurz  durch  sein  ganzes  Leben  folgen  sollte,  brachte  ihn  dem 
Geschichtslehrer  näher.  Das  Osterzeugnis  des  Tertianers  lautete 
zwar  nur:  „In  jeder  Hinsicht  befriedigend",  im  Herbst  dagegen: 
„In  jeder  Hinsicht  sehr  gut",  i) 

Zutreffend  erörtert  der  Schüler  die  vorzügliche  Methode  des 
Geschichtslehrers  und  rühmt  ihm  dazu  ein  seltenes  Geschick  nach, 
„bei  seinen  Schülern  die  Lust  an  seinen  Unterrichtsgegenständen 
anzuregen  und  zu  weiteren  Studien  den  Weg  zu  zeigen".  So 
wurde  ihm,  wie  er  versichert,  „die  Geschichtsstunde  und  das  damit 
zusammenhängende  Studium  statt  einer  Arbeit  ein  wahres  Vergnügen, 
das  sich  nur  nicht  oft  genug  wiederholen  konnte". 

Pütz  blieb  auch  auf  den  höheren  Klassen  Geschichtslehrer, 
zugleich  väterlicher  Freund  und  Berater  von  Schurz.  Denn  zwischen 
Lehrer  und  Schüler  entspann  sich  ein  Verhältnis  von  freundschaft- 
licher Vertraulichkeit.  „Freund  Pütz"  erzählte  ihm  von  seinen 
Reisen,  über  Politik  und  andere  Dinge,  die  nicht  gerade  in  dem 
gewöhnlichen  Gedankenkreise  der  Schulbank  lagen,  er  lehrte  ihn 
Italienisch,  begeisterte  ihn  für  Kunstgeschichte  und  ausländische 
Literatur.  ,,So  ging  mir  durch  ihn  eine  neue  Welt  auf,  und  als 
eines  der  Wohltäter  meiner  Jugend  gedenke  ich  auch  seiner  mit 
Dankbarkeit." 

Als  großer  Mann  urteilte  Karl  Schurz  so  über  seine  Lehrer. 
Als  er  ihnen  auf  seinem  behaglichen  Ruhesitz  am  Lake  George, 
wo  er  sich  auf  die  Eindrücke  seines  wechselvollen  Lebens  besann, 
um  sie  literarisch  festzuhalten,  dieses  ehrende  Denkmal  setzte, 
weilten  beide  freilich  nicht  mehr  unter  den  Lebenden.  Doch  hatte 
er  sich  und  den  verehrten  Lehrern  die  Freude  des  Wiedersehens 
verschafft.  Pütz,  der  1865  seine  Lehrtätigkeit  aufgegeben  hatte, 
lebte  auch  weiterhin  in  Köln,  sich  ganz  der  weiteren  Ausgestaltung 
seiner  Lehrbücher  widmend. 

Aus  dieser  Veranlassung  wandte  er  sich  Ende  der  siebziger 
Jahre,  als  Schurz  Minister  des  Inneren  war,  an  den  ehemaligen 
Schüler,  von  dem  er  sich  sagen  durfte,  daß  er  einen  bedeutenden 
Abschnitt  der  nordamerikanischen  Geschichte  nicht  nur  durchge- 
macht, sondern  gemacht  habe,  mit  dem  Ersuchen,  seine  Darstellung 
der  geschichtlichen  Entwicklung  Nordamerikas  für  eine  neue  Auf- 
lage seiner  Weltgeschichte  einer  Beurteilung  zu  unterziehen.    „Ich 

')  Unter-Sekunda:  „Recht  lobenswert",  Ober-Sekunda:  „Befriedigend",  leichte 
und  klare  Auffassung,  doch  muß  auf  das  Einprägen  der  wesentlichen  chronologischen 
Bestimmungen  mehr  Sorgfalt  verwendet  werden.  Ober-Prima:  „Befriedigend", 
solange  er  in  der  Schule  war. 

18  241 


habe  Ihnen  sooft  Ihr  Pensum  korrigiert,"  schrieb  er,  „nun  korrigieren 
Sie  mir  einmal  das  meinige."  Gern  willfahrte  er  dieser  Bitte  und 
besuchte  dann  auch  den  alten  Lehrer  gleich  bei  seiner  nächsten 
Anwesenheit  in  Deutschland.  Etwa  zehn  Jahre  später,  1888,  gelang 
es  ihm  durch  einen  früheren  Schulfreund,  den  Aufenthaltsort  Bones 
zu  erfahren.  Dieses  Wiedersehen  in  Wiesbaden  ließ  an  Herz- 
lichkeit nichts  zu  wünschen  übrig,  obschon  Lehrer  und  Schüler 
sich  seit  46  Jahren  nicht  mehr  gesehen  hatten. 

Von  der  Tertia  an  unterstand  er  nebenher  einem  anderen 
nachhaltigen  Einfluß.  Literarische  Neigung  und  schriftstellerisches 
Schaffen  erwirkten  ihm  Aufnahme  in  einen  Kreis  älterer  Schüler 
höherer  Klassen,  die  sich  gegenseitig  in  ihren  dichterischen  und 
literarischen  Bestrebungen  zu  fördern  suchten. 

In  den  Mitgliedern  Ludwig  v.  Weise  und  Theodor  Petrasch 
gewann  er  liebe  Freunde,  deren  Treue  er  auch  als  Student  und 
Mitglied  der  Burschenschaft  Frankonia  in  Bonn  erproben  durfte. 
Die  Sitzungen  fanden  meist  im  Elternhause  von  Petrasch  auf  dem 
Eigelstein  statt. 

Schurz  wurde  bald  ein  geschätztes  Mitglied  des  literarischen 
Kränzchens.  Der  Beifall,  den  seine  Beiträge  fanden,  spornte  zu 
immer  umfassenderer  Tätigkeit  an.  Die  Arbeitszeit  für  einzelne 
Schulfächer,  namentlich  für  Französisch,  Mathematik  und  Natur- 
wissenschaften, wurde  zugunsten  der  schriftstellerischen  Neigung 
gekürzt,  so  daß  die  Leistungen  in  jenen  Fächern  sichtlich  zurück- 
gingen. „Es  ist  zu  beklagen,"  wurde  ihm  auf  dem  Osterzeugnis 
der  Tertia  verbrieft,  „daß  der  Schüler  es  für  Mathematik,  Natur- 
geschichte und  Französisch  an  lebendiger  Teilnahme  und  ange- 
strengter häuslicher  Tätigkeit  hat  fehlen  lassen  und  den  Anforder- 
ungen der  Klasse  nicht  genügt  hat,  da  er  doch  in  den  übrigen 
Gegenständen  mit  reger  Teilnahme  und  recht  gutem  Erfolge 
fortgeschritten  ist."  Auch  auf  den  höheren  Klassen  wird  noch 
wiederholt  über  die  wenig  .befriedigenden  französischen  Kennt- 
nisse Klage  geführt,  ja  seine  Reife  für  Ober-Sekunda  und  Ober- 
Prima  mußte  von  einer  Nachprüfung  abhängig  gemacht  werden. 
Trotzdem  gehörte  er  auch  auf  diesen  Klassen  dank  seiner  vorzüg- 
lichen Leistungen  in  den  anderen  Fächern  zu  den  besseren  Schülern, 
da  die  Zeugnisse  durchgängig  die  Zensurnummer  II  tragen.') 

In  diesem  literarischen  Kreise  war  es  denn  auch,  wo  der 
empfängliche  jugendliche  Geist  mit  den  politischen  Erzeugnissen 
der  jungdeutschen  Dichterschule  bekannt  wurde.  Ihre  bekämpfende, 

')  Auf  Sexta,  Quinta  und  Quarta  stets  1. 

242 


zerstörende  und  verneinende  Kritik  reizte  zu  weiterer  Aufklärung. 
Zeitungen  und  Flugschriften  unterrichteten  den  Kreis  der  jungen 
Politiker  über  die  Vorgänge  des  Tages  und  die  Gedankenströmungen 
im  Volke.  Das  literarische  Kränzchen  hatte  einen  politischen  An- 
strich bekommen.  Eine  Probe  auf  diese  Erziehung  zum  politischen 
Denken  und  Wollen  wagte  Schurz  als  Obersekundaner  abzugeben, 
als  vom  Lehrer  des  Deutschen,  Lohmar,  als  Aufsatz  die  Aufgabe 
gestellt  war,  eine  Gedächtnisrede  auf  die  Schlacht  bei  Leipzig  zu 
schreiben.  Er  schrieb  die  Rede,  wie  er  versichert,  sozusagen  mit 
seinem  Herzblut,  freilich  ohne  im  Prädikat  die  ungeteilte  Aner- 
kennung seines  Lehrers  zu  finden:  „Stilistisch  sehr  gut,  aber  was 
für  nebelhafte  Ansichten!"  lautete  es.  Und  unter  vier  Augen  urteilte 
Lohmar:  „Was  Sie  da  geschrieben  haben,  klingt  ja  ganz  brillant, 
aber  so  etwas  kann  doch  auf  einem  königlichen  preußischen 
Gymnasium  nicht  vorkommen.  Tun  Sie  es  nicht  wieder."  Gelegen- 
heit zu  einem  Ergüsse  über  politische  Sorgen  bot  sich  allerdings 
auf  dem  Gymnasium  nicht  mehr. 

Dagegen  blieben  ihm  materielle  Sorgen  nicht  erspart.  Der 
Vater  war  kein  Geschäftsmann.  Als  Weinhändler,  dann  als  Wein- 
und  Eisenhändler,  schließlich  als  Gastwirt  hatte  er  sein  Glück 
lange  vergeblich  versucht.  Eben  ließen  sich  die  Verhältnisse  besser 
an,  da  brach  um  die  Person  des  Dorflehrers,  dem  der  Vater  gegen 
seinen  Willen  hatte  weichen  müssen,  ein  heftiger  Parteizwist  aus, 
der  dem  Gastwirt  den  Boykott  der  meisten  Dorfbewohner  eintrug 
und  für  den  Großvater  den  Abzug  von  der  Burg  zur  Folge  hatte. 
Als  dann  der  Vater  von  den  verfehlten  Spekulationsgeschäften 
seiner  Schwäger  noch  mitbetroffen  wurde,  schien  der  Familie  der 
feste  Boden  unter  den  Füßen  weggeglitten  zu  sein.  Karl  hätte 
schon  damals  die  Studien  abbrechen  müssen,  wäre  es  ihm  nicht 
gelungen,  sich  ein  Stipendium  zu  erwirken  und  den  Rest  der 
aufs  Notwendigste  beschränkten  Ausgaben  durch  Erteilung  von 
Privatunterricht  an  Schüler  der  unteren  Klassen  aufzubringen.  Die 
meisten  Schüler  bezahlten  die  Unterrichtsstunde  mit  zweieinhalb 
Groschen,  nur  wenige  Stunden  brachten  ein  Honorar  von  fünf 
Groschen  ein.  So  arbeitete  er  sich  bis  in  Unter-Prima  hin- 
ein durch. 

Da  schien  plötzlich  eine  hoffnungsvolle  Wendung  in  der  Lage 
der  Eltern  einzutreten.  Es  war  ihnen  gelungen,  das  Besitztum  in 
Liblar  zu  verkaufen.  Der  Erlös  hätte  ausgereicht,  die  Verbindlich- 
keiten des  Vaters  wettzumachen  und  eine  neue  Existenz  zu  be- 
gründen. Schon  war  er  in  Bonn,  Ecke  Sternenstraße  und  Kasernen- 


18» 


243 


gasse^),  Inhaber  einer  Bäckerei  mit  Wirtschaft  geworden,  da  stellte 
der  Käufer  in  Liblar  das  Besitztum  zur  Verfügung.  Die  Lage  der 
Familie  wurde  geradezu  verzweifelt,  als  der  Vater  von  seinen 
Gläubigern  ins  Gefängnis  gebracht  wurde.  Da  blieb  denn  dem 
Sohne  kein  anderer  Ausweg,  als  von  Lehrern  und  Freunden  eiligen 
Abschied  zu  nehmen  und  sich  vorläufig  ganz  den  Angelegenheiten 
der  Familie  zu  widmen.  Ein  harter  Entschluß!  Doch  brachte  der 
dankbare  Sohn  angesichts  der  Notlage  das  schwere  Opfer  gern. 
Als  dann  der  Vater  die  geschäftlichen  Angelegenheiten  wieder  über- 
nehmen konnte,  kehrte  Karl  in  die  Unter-Prima  zurück,  die  er 
nach  Ausweis  der  Schülerlisten  Ostern  1846  verlassen  hatte. 

Weitere  geschäftliche  Schwierigkeiten  des  Vaters,  die  zum 
Bankrott  führten,  zwangen  Karl  zu  Neujahr  1847  endgültig 
das  Gymnasium  zu  verlassen.  Der  Entschluß,  sich  durch  Selbst- 
unterricht zum  Abiturientenexamen  vorzubereiten,  wurde  nicht 
nur  gefaßt,  sondern  trotz  der  drückenden  häuslichen  Verhält- 
nisse auch  ausgeführt.  Als  Extraneus  wurde  er  der  Anstalt 
überwiesen,  deren  Schüler  er  sieben  Jahre  lang  gewesen  war. 
Die  Prüfungskommission  bestand  aus  den  Lehrern  der  Ober-Prima, 
dem  Direktor  Birnbaum  und  den  Professoren  und  Oberlehrern 
Dr.  Ley,  Grysar,  Pütz,  Vosen  und  Nattmann.  Königlicher  Kommissar 
war  Lucas.  Das  Ergebnis  der  Prüfung  war  im  allgemeinen  gut. 
Im  Deutschen  und  in  der  Geschichte  deckten  sich  die  Leistungen 
mit  den  früheren.  Denn  in  der  deutschen  Sprache  zeigte  er  sehr 
erfreuliche  Sicherheit  und  Gewandtheit  und  vereinigte  mit  einer 
einfachen  und  gefälligen  Darstellung  Klarheit  des  Gedankens  und 
Tiefe  der  Auffassung.  In  der  Literaturgeschichte  bewies  er  recht 
gute  Kenntnisse.  Mit  einem  klaren  Bilde  von  den  topischen  und 
politischen  Verhältnissen  der  Erde  verband  er  eine  ziemlich  ver- 
traute Bekanntschaft  mit  der  Geschichte  der  wichtigsten  Völker. 
Dagegen  blieben  die  Leistungen  im  Lateinischen  infolge  der 
Unterbrechungen  des  Schulbesuchs  hinter  den  früheren  zurück. 
Unter  einen  der  letzten  lateinischen  Aufsätze  des  Unterprimaners 
hatte  der  Fachlehrer  und  Ordinarius  Grysar  außer  dem  Prädikate: 
„Sehr  gut"  die  lobende  Bemerkung  gesetzt:  „Nunc  latine  scribere 
incepisti".  Die  Prüfungsarbeiten  erzielten  zwar  genügend,  „doch 
würde  sich  sein  unverkennbares  sprachliches  Talent  vorteilhafter 
bewährt  haben,  wenn  er  an  dem  Unterrichte  bis  zum  Schlüsse 
hätte  teilnehmen  können".  In  der  Physik  und  in  der  philosophischen 
Propädeutik  wurde  eine  Prüfung  nicht  vorgenommen,  „nach  den 

')  Er  wohnte  später  in  der  Rheingasse,  dann  auf  der  Coblenzerstraße. 

244 


früheren  Beobachtungen^)  der  betreffenden  Lehrer  würde  dieselbe 
wohl  ziemlich  befriedigend  ausgefallen  sein". 

Da  auch  der  sittlichen  Führung  des  Abiturienten  das  beste 
Zeugnis  ausgestellt  wurde,  seine  Anlagen  und  sein  Fleiß  zu  den 
schönsten  Hoffnungen  berechtigten,  war  es  keine  bloße  Form, 
wenn  der  Regierungskommissar,  der  ihm  vor  der  Prüfung  „furcht- 
bar wie  das  dunkle  Schicksal"  erschien,  seine  Wünsche  für  das 
fernere  Wohlergehen  mit  einem  besonders  warmen  Händedruck 
bekräftigte. 

Noch  vor  Schluß  des  Sommersemesters,^)  in  dem  er  als 
Hörer  philologische  und  geschichtliche  Vorlesungen  besucht  hatte, 
sah  Schurz  also  das  gefürchtete  Hindernis  beseitigt  und  damit 
die  Bedingungen  erfüllt,  fortan  als  vollgültiger  und  seinen  Freunden 
ebenbürtiger  Student  an  der  Universität  aufzutreten. 

Er  wollte  in  Bonn  Jurisprudenz  studieren;  so  lauteten  wenigstens 
die  Angaben  für  das  Zeugnis.  Sollte  etwa  die  tatkräftige  und  erfolg- 
reiche Mitwirkung  an  der  Lösung  der  geschäftlichen  Verwicklungen 
des  Vaters,  die  ihn  mit  der  Gesetzeskunde,  mit  Richter  und  Anwalt 
in  enge  Fühlung  gebracht  hatten,  auch  der  Vater  dieses  Gedankens 
und  Vorhabens  gewesen  sein?  Möglich.  Jedenfalls  wäre  er  einer 
ruhigen  Laufbahn  entgegengegangen,  wären  ihm  die  sonderbaren 
Schicksale  nicht  zugestoßen,  die  dem  freien  Studentenleben  mit 
seinen  Freuden  und  Freunden  ein  so  jähes  Ziel  setzen  sollten. 

Begreiflich  aber  finden  wir,  daß  er  zu  seiner  alten  Liebe,  zu 
der  ihn  Anlagen  und  Neigung  geführt  hatten,  zurückkehrte.  Aus 
dem  Gefühl  der  Sicherheit  heraus  warf  er  sich  jetzt  mit  neuer 
Begeisterung  auf  geschichtliche  und  sprachliche  Studien. 

Nicht  weniger  zog  es  ihn  zu  dem  Freundeskreise  zurück,  in 
dem  er  dank  seinen  früheren  Mitschülern  Th.  Petrasch^)  und 
L.  v.  Weise*)  eine  so  überaus  warme  Begrüßung  gefunden  hatte^) 
zu  der  Zeit,  wo  er  von  häuslichem  Mißgeschick  und  persönlichen 


')  Das  Klassenzeugnis  in  der  Ober-Prima  lautete  in  der  Physil«:  „Er  besitzt 
teilweise  Kenntnisse  der  Hauptgesetze  der  Natur,  jedoch  bedürfen  diese  größerer 
Vollständigl<eit  und  Begründung",  in  der  philos.  Propädeutik:  „Befriedigend"  mit 
dem  Zusatz  von  der  Hand  des  Direktors :  ,,So  lange  er  in  der  Klasse  war". 

2)  Die  mündliche  Prüfung  fand  am  28.  Juli  statt,  das  Zeugnis  trägt  das 
Datum  vom  30  August. 

')  Petrasch  bezog  im  Wintersemester  1845/-16  die  Universität,  er  gründete 
die  Frankonia  und  wurde  später  aktiver  Offizier. 

♦)  Abiturient  Herbst  1846. 

^)  Am  21.  April  1847  wurde  er  in  die  äußere  Verbindung  aufgenommen 
(Album  der  Burschenschaft  Frankonia). 

246 


Sorgen  schwer  niedergedrückt  war.  Da  der  von  Natur  aus  schüchterne 
Jüngling  unter  diesem  Drucke  gänzlich  verschüchtert  worden,  war 
es  ihm  nicht  von  vornherein  gelungen,  die  Erwartungen  zu  erfüllen, 
die  man  in  der  Frankonia  auf  seine  Person  gesetzt  hatte.  Schon 
war  er,  wie  er  selbst  schildert,  auf  dem  Punkte  angelangt,  infolge 
seiner  Schüchternheit  und  Verlegenheit  eine  lächerliche  Figur  zu 
spielen,  als  eine  vorzüglich  gelungene  Kneipzeitung  ihn  zu  einer 
sehr  respektierten  Person  in  seiner  Umgebung  machte.  In  einer 
Parodie  von  Auerbachs  Kellerszene  im  Faust  führte  er  die  hervor- 
ragendsten Leute  der  Frankonia,  wie  Overbeck,  August  Spelz, 
Schirrmacher,  Kleefisch  u.  a.  als  handelnde  Personen  ein.  Da  er 
selbst  über  die  Eigentümlichkeiten  der  Verbindungsbrüder  nicht 
hinlänglich  aufgeklärt  war,  zeigte  sich  Freund  v.  Weise  gern  bereit, 
auf  Grund  seiner  größeren  Erfahrungen  zum  Gelingen  des  Werkes 
beizusteuern.  Der  Erfolg  war  durchschlagend,  wenn  auch  einzelne, 
wie  Aug.  Spelz,  nicht  wenig  ungehalten  darüber  waren,  daß  ein 
,, Mitbummler"  wie  Schurz  sich  erlaube,  ältere  Semester  zu 
karikieren. 

Erst  auf  ein  viersemestriges  Bestehen  konnte  die  Frankonia 
zurückblicken,  als  Schurz  nach  Beginn  des  Wintersemesters  1847/48, 
am  13.  November,  in  die  innere  Verbindung  aufgenommen  wurde. 
Ihre  Organisation  war  lose,  Freiheit  im  Denken  und  Handeln  war 
jedem  Mitgliede  gestattet.  Munterer,  ja  ausgelassener  Scherz  und 
ernstes  wissenschaftliches  Streben  gingen  hier  Hand  in  Hand,  und 
gerade  in  dieser  Mischung  fand  mancher  die  Ergänzung  seiner 
Natur,  die  er  brauchte.  Kein  Wunder,  daß  so  viele  strebsame 
junge  Leute,  die  später  als  tüchtige  Männer  Ruf  und  Namen  er- 
hielten, gerade  in  diesem  Kreise  sich  zusammenfanden.  Wenn 
Schurz  am  5.  Februar  ehrenvoll  entlassen  und  auch  sogleich  zum 
Ehrenmitglied  gemacht  wird,  wenn  er  dann  nach  seinem  Wieder- 
eintritt am  12.  August  schon  am  1.  November  1848  Sprecher,  in 
den  Wahlen  vom  Dezember  1848,  Januar,  Februar,  März  1 849  Ehren- 
richter wird,  dürfen  wir  annehmen,  daß  er  eine  Zier  der  Burschen- 
schaft gewesen. 

Auch  das  Vertrauen  der  Gesamtstudentenschaft,  deren  Vertreter 
er  wiederholt,  so  im  September  1848  auf  dem  Eisenacher  Studenten- 
kongreß, war,  erwarb  er  sich.  Gelegenheit,  öffentlich  aufzutreten, 
bot  ihm  die  am  Ende  des  Wintersemesters  1847/48  mächtig  ein- 
setzende liberale  Bewegung,  die,  wie  sich  denken  läßt,  an  dem 
begeisterungsfähigen  neunzehnjährigen  Studenten  einen  begeister- 
ten Parteigenossen  fand.    Denn  auch  in  der  Burschenschaft  hatten 

246 


viele  Mitglieder,  wenngleich  die  politische  Tätigkeit  der  alten 
Burschenschaft  keine  Fortsetzung  gefunden  hatte,  es  als  ihre  Pflicht 
angesehen,  der  Überlieferung  getreu,  sich  über  die  politischen 
Vorgänge  wohl  unterrichtet  zu  halten  und  daran  regen  Anteil 
zu  nehmen.  „Gott,  Freiheit,  Vaterland"  war  wenigstens  die  Devise 
auch  der  neuen  Burschenschaft  geworden,  und  angesichts  der 
freiheitlichen  und  deutschen  Bewegung  rechnete  kein  Burschen- 
schaftler zuversichtlicher  als  Schurz  damit,  die  alte  Devise  werde 
bald  mit  neuem  politischen  Inhalt  erfüllt  werden.  Zwei  Gruppen 
bildeten  sich  in  der  Verbindung.  Führer  der  radikalen  Politiker 
war  Schurz,  der  mit  mehreren  anderen  am  8.  März  1849  korporativ 
austrat,  um  eine  neue  Verbindung  zu  gründen.  „Wo  der  Zug  des 
Herzens  ein  wahrer  ist,  da  vermag  ihn  der  lauteste  Streit  der 
Meinungen  weder  zu  hemmen  noch  abzulenken."  Mit  diesen 
Worten  als  Unterschrift  widmete  er  kurz  nachher,  im  April  1849, 
seinem  lieben  Felix  Giesebrecht  sein  Bildnis,  zu  einer  Zeit  also, 
wo  auch  durch  die  Ablehnung  der  Kaiserkrone  seitens  Friedrich 
Wilhelms  IV.  die  allgemeine  Begeisterung  allgemeiner  Bestürzung 
Platz  gemacht  hatte. 

Schurz  ließ  sich  seine  Zuversicht  ebensowenig  rauben  wie 
sein  geliebter  Lehrer  Kinkel,  dem  er  aus  dem  Hörsal  in  die  poli- 
tische Agitation  gefolgt  war.  Gleich  Kinkel  hatte  er  durch 
zündende  Reden  Studenten  und  Bürger  mächtig  mit  sich  fort- 
gerissen. Als  er  sich  dann  aber  unter  Kinkels  Führung  weiter  in 
die  stürmischen  Wogen  hineinwagte,  wurden  beide  von  ihnen 
fortgetragen.  Denn  mit  ihm  nahm  er  teil  an  dem  nächtlichen  Zuge 
nach  Siegburg,  der  der  Erstürmung  des  Zeughauses  galt;  um 
zu  retten,  was  noch  zu  retten  sei,  schlössen  sich  beide  dem 
Aufstande  in  der  Pfalz  und  dem  Einmarsch  in  Baden  an.  Vergeb- 
liches Bemühen!  Mit  dem  Niederwerfen  des  Aufstandes  durch 
preußische  Truppen  schien  auch  beider  Männer  Schicksal  besiegelt. 
Während  aber  Kinkel  gefangengenommen  wurde,  gelang  es  Schurz, 
aus  der  Festung  Rastatt  zu  entkommen  und  sich  auf  französisches 
Gebiet,  dann  nach  der  Schweiz  zu  retten.  Dem  odysseischen 
Abenteuer  der  eignen  Errettung  aus  dem  eingeschlossenen  Rastatt 
folgte  im  November  des  folgenden  Jahres  das  andere,  die  Befreiung 
Kinkels  aus  dem  Spandauer  Zuchthause.  Freiheit  und  Leben 
wagte  er  für  die  Rettung  seines  Freundes,  das  glückliche  Gelingen 
machte  dafür  aber  auch  seinen  Namen  in  ganz  Europa  bekannt. 
Das  durfte  er  selbst  erfahren  während  der  beiden  Jahre,  die  er 
als  politischer  Flüchtling  in  Paris  und  London  lebte. 

247 


Das  Treiben  der  zahlreich  dort  versammelten  Leidensgenossen 
der  verschiedensten  europäischen  Länder  sagte  Schurz  indes  wenig 
zu.  Die  Sturm-  und  Drangperiode  des  jugendlichen  Brausekopfes 
war  vorüber.  Unter  die  Vergangenheit  mit  ihren  hohen  Hoffnungen 
und  bitteren  Enttäuschungen  machte  er  einen  dicken  Strich  und 
suchte  einen  festen  Boden  für  seine  Zukunft.  Wenige  Wochen, 
nachdem  er  mit  Margarete  Meyer  aus  Hamburg,  die  er  in  London 
kennen  gelernt,  den  Bund  für  das  Leben  geschlossen,  siedelte  er 
nach  den  Vereinigten  Staaten  über  voll  sicherer  Zuversicht,  in 
dem  Lande  der  Freiheit  und  bürgerlichen  Demokratie  ein  ergiebiges 
Feld  seiner  Tätigkeit  zu  finden. 

Was  ihm  das  gastliche  Land,  das  seine  neue  Heimat  wurde, 
bot,  hat  er  ihm  tausendfach  vergolten.  In  Verwirklichung  der 
Ideale  seiner  Jugend  sollte  er  länger  als  ein  halbes  Jahrhundert 
seine  ganze  gewaltige  Kraft  in  deren  Dienst  stellen. 

Scharfen  und  richtigen  Blicks  sah  er  in  diesem  Lande  den 
großen  Schmelztiegel  einer  neuen  Nation,  zu  deren  Bildung 
namentlich  das  deutsche  Element  seinen  Teil  beizutragen  das 
Recht  und  die  Pflicht  habe.  ,,Wir  sind  nicht  hier,  um  eine  ab- 
gesonderte deutsche  Nationalität  zu  bilden,  sondern  um  zur  Bil- 
dung der  großen  amerikanischen  Nationalität  unsern  Anteil  red- 
lich beizutragen.  Wir  haben  als  Deutschgeborene  sehr  wertvolle 
Charaktereigenschaften  mit  uns  in  dieses  Land  gebracht.  Aber 
bilden  wir  uns  nicht  ein,  daß  wir  als  die  idealen  Mustermenschen 
herübergekommen  sind,  daß  wir  hier  nicht  viel  zu  leisten  brauchen,  und 
daß  wir  nicht  bei  dem  amerikanischen  Volke  große  Eigenschaften 
finden,  die  wir  zum  eignen  und  allgemeinen  Frommen  sehr  wohl 
tun,  uns  anzueignen.  Das  ist  die  Weise,  in  der  das  deutsche 
Element  in  der  Entwicklung  der  amerikanischen  Nationalität  die 
wertvollsten  Dienste  leisten  kann."  ^) 

Erblickte  er  aber  auch  in  der  Aneignung  der  fremden  Sprache 
die  erste  Vorbedingung  für  eine  ersprießliche  Verschmelzung  mit 
dem  einheimischen  Volkstum,  so  war  er  doch  der  letzte,  der  die 
Pflege  der  deutschen  Sprache  vernachlässigt  sehen  wollte.  „Lassen 
Sie  sich  nicht  durch  den  engherzigen  Einwurf  stören,  daß  es  die 
erste  Pflicht  des  Eingewanderten  ist,  Englisch  zu  lernen.  Natür- 
lich ist  das  seine  Pflicht,  sein  offenbares  Interesse.  Niemand  weiß 
das  besser  und  würdigt  das  mehr  als  ich,  und  niemand  hat  es 
seinen  Stammesgenossen  beständiger  gepredigt.  Aber  ich  habe 
nie    verstehen    können,    daß   man,    um    Englisch    zu   lernen,  das 

1)  Rede  von  Schurz  am  2.  März  1899. 

248 


Deutsche  vergessen  muß.  Die  deutsche  Sprache  ist  ein  so  wert- 
voller Schatz,  daß  unzählbare  Tausende,  die  ihn  nicht  besitzen, 
sich  mit  saurem  Fleiß  bemühen,  ihn  zu  erwerben.  Ist  es  nicht 
frevelhafter  Leichtsinn,  wenn  einer,  dem  dieser  Schatz  sogar  in 
der  Wiege  zum  Geschenk  gemacht  worden  ist,  ihn  verächtlich 
wegwirft,  statt  ihn  wie  ein  kostbares  Kleinod  zu  pflegen?  Es  hat 
schon  manchen  Menschen  gebildet  und  gescheiter  gemacht,  aber 
niemals  seinem  Charakter,  seiner  Fähigkeit  oder  seinem  Patriotismus 
geschadet,  wenn  er  mehr  als  eine  Sprache  besaß.  Wer  von  uns 
neben  der  erlernten  englischen  Sprache  die  Pflege  der  deutschen 
beibehält,  wird  dadurch  nicht  ein  schlechterer  Patriot,  sondern  ein 
gebildeterer  Amerikaner."  ^) 

Mit  diesen  markigen  Worten  zeichnet  Schurz  die  Ziele  und 
den  Beruf  des  Deutschtums  in  Amerika.  Jedenfalls  ist  von  all 
den  Millionen  von  Deutschen  keiner  ein  so  echter  Amerikaner  ge- 
worden und  ein  so  guter  Deutscher  geblieben  wie  Schurz.  Daher 
der  große  Einfluß  auf  seine  Landsleute  und  zugleich  auf  das 
geistig  höher  stehende  Amerikanertum. 

Seine  Landsleute  erblickten  in  ihm,  sobald  sie  seine  elemen- 
tare Beredsamkeit  kennen  gelernt  hatten,  ihren  Führer  und  Be- 
rater, den  Vorkämpfer  für  die  Lebensanschauungen  und  Rechte 
der  deutsch-amerikanischen  Bevölkerung.  Denn  wie  kein  zweiter 
verstand  er,  dem  Englisch-Amerikaner  deutsches  Fühlen  und 
deutsche  Anschauungen  in  Wort  und  Schrift,  nachhaltiger  und  wirk- 
samer noch  durch  seine  Persönlichkeit  zum  Verständnis  zu  bringen. 
Eifersüchtig  wachte  er  über  die  Ehre  des  deutschen  Namens,  nie 
zögernd,  wenn  es  galt,  diese  Ehre  gegen  neidische  Vorurteile 
oder  gehässige  Angriffe  zu  verteidigen.  So  verdanken  ihm  in 
erster  Linie  die  Deutschen  jenseits  des  Ozeans,  weim  ihr  Volks- 
tum sich  so  hoher  Wertschätzung  erfreut. 

Den  Deutschen  verleugnete  Schurz  auch  nicht  in  der  Aus- 
dauer und  Gründlichkeit,  mit  der  er  sich  selbst  auf  die  englische 
Sprache,  die  englische  Literatur  und  die  Kenntnis  des  ameri- 
kanischen Volkstums  warf.  So  gelang  es  ihm  bei  seinem  an- 
geborenen Sprachen-  und  Rednertalent  recht  bald,  sich  mit  den 
großen  eingeborenen  Rednern  zu  messen,  ja  die  meisten  durch 
sein  umfassendes  Wissen  und  die  Schärfe  seiner  Logik  in  Schatten 
zu  stellen.  Auch  die  gebildeten  Amerikaner  sahen  daher  bald  in 
ihm  den  Ihrigen,  und  wenn  sich  in  diesen  Kreisen  in  der  Folge 
eine  höhere  Auffassung  in    politischen  Dingen  anbahnte,    so  ist 

>)  Rede  von  Schurz  am  2.  März  1899. 

240 


dies  eines  der  vielen  Verdienste,  die  sicii  der  deutsciie  Idealist 
unter  den  amerikanischen  Realpolitiliern  erworben  hat. 

„Wo  man  steht,"  läßt  Piaton  seinen  Lehrer  Sokrates  vor  seinen 
Richtern  sagen,  „mag  man  sich  selbst  den  Platz  als  den  besten 
erwählt  haben,  mag  ein  Vorgesetzter  einen  dorthin  gestellt  haben, 
dort,  dünkt  mich,  muß  man  bleiben,  der  Gefahr  Trotz  bieten  und 
Tod  und  anderes  für  nichts  achten  im  Vergleich  zur  Schuld." 
Nach  diesem  Grundsatze  des  edelsten  Griechen  hat  Schurz,  der 
edelste  amerikanische  Bürger  deutscher  Abstammung,  sein  ganzes 
Leben  hindurch  gelebt. 

Herz,  Hirn  und  Arbeitskraft  und  der  ewig  frische  Idealismus 
seiner  unvergänglichen  Jugend  hielten  ihn  aber  fünfzig  Jahre  hin- 
durch von  selbst  auf  dem  ersten  Platz.  Und  dabei  war  sein  Ehr- 
geiz stets  von  edlen  Motiven  beseelt.  Jeglichen  Erfolg  bemaß 
er  nach  dem,  was  nach  seinem  wohlüberlegten  Urteil  für  Land 
und  Volk  das  Beste  war. 

Flüchtigen  Tagesströmungen  im  Volke  trat  er  mutig  ent- 
gegen, Parteien  verließ  er,  wenn  sie  abfielen  von  den  Grund- 
sätzen der  Gerechtigkeit  und  des  politischen  Gewissens.  „Wenn 
eine  Partei  ehrliche  Meinungen  vertritt  und  mit  ehrlichen  Mitteln 
kämpft,  dann  hat  sie  eine  volle  sittliche  Existenzberechtigung; 
wird  sie  Selbstzweck,  dann  ist  sie  korrupt  und  gemeingefährlich." 
Das  war  seine  Richtschnur  in  politischen  Fragen.  So  unterschied 
er  zwischen  Parteimann  und  Parteiknecht.  „Der  Gott,  der  Eisen 
wachsen  ließ,  der  wollte  keine  Knechte,"  hatte  er  als  Student 
gesungen,  danach  handelte  er  als  gereifter  Mann.  Kein  Wunder, 
wenn  er,  dem  Mute  seiner  Überzeugung  folgend,  recht  oft  mit 
der  Minorität  war.  Nicht  selten,  wie  in  der  Frage  des  Neger- 
schutzes und  der  Indianererziehung,  wo  es  galt,  energisch  gegen 
die  Wälderverwüstung  einzuschreiten,  bildete  er  sogar  seine 
Minorität  von  einem.  Er  allein  führte  in  seinem  Verwaltungsbezirk 
die  Zivildienstreform  ein.  Die  alles  überragende  Bedeutung  der 
Aufgabe  der  Sklavenemanzipation  war  ihm  sofort  klar  geworden, 
als  er  tätig  in  die  amerikanische  Politik  eingriff.  In  vielen 
Hunderten  von  Reden  suchte  er  in  den  Nordstaaten  das  Volk 
„auf  die  volle  Höhe  eines  Kampfes  um  die  bedeutendsten  Grund- 
sätze der  Demokratie  und  der  Humanität  zu  führen."  Auch  mit 
dem  Schwerte  warf  er  sich  in  die  Antisklaverei-Bewegung.  Als 
General  führte  er  dieselben  Männer  gegen  die  feindlichen  Reihen, 
die  er  vorher  durch  feurige  Reden  bestimmt  hatte,  an  den  Wahl- 
urnen   die    Macht     der    Sklavenbarone    niederzuwerfen.     Nach 


260 


Beendigung  des  Bürgerkrieges,  als  es  sich  um  die  Wiederher- 
stellung der  Union  handelte,  war  niemand  eifriger  als  er  bemüht, 
mit  staatsmännischer  Milde  und  Weisheit  die  tiefen  Wunden,  die 
das  Schwert  geschlagen,  zu  heilen.  Seine  Finanzreden  im  Senate 
führten  zur  Wiederaufnahme  der  Barzahlungen,  seine  Golddebatten 
retteten  Ohio,  sein  heftiger  Kampf  war  es,  der  dem  San  Domingo- 
Schacher  der  Grantschen  Verwaltung  den  Todesstreich  gab  und 
für  lange  Jahre,  bis  1898,  dem  Imperialismus  und  dem  Länder- 
raub Schranken  setzte.  Kurzum,  es  gab  keinen  Fortschritt  in  der 
Geschichte  der  Union,  den  Schurz  nicht  entweder  eingeleitet,  oft 
ganz  allein  gegen  harten  und  zähen  Widerspruch,  oder  wenigstens 
mächtig  gefördert  hat.  Dabei  erging  es  ihm  nicht  selten  wie  dem 
Baustein,  der  verworfen  wurde,  bis  er  sich  als  Grundstein  erwies. 

Der  „Deutsche  Edelstein"  bewährte  sich  als  „des  Guten 
Grundstein"  und  „des  Bösen  Eckstein"  vor  allem  in  den  „Leit- 
motiven" seines  Lebens.  Als  solche  galten  ihm:  der  Kampf  gegen 
den  Parteidespotismus,  die  antiimperialistische  Idee,  die  Indianer- 
erziehung, die  Reform  des  Zivildienstes  sowie  die  Pflege  freund- 
schaftlicher Beziehungen  zwischen  seinem  alten  Vaterlande  und 
der  neuen  Heimat. 

Durch  keines  dieser  Leitmotive  hat  er  mehr  Gegner  auf  den 
Plan  gerufen  als  durch  seine  Lieblingsbestrebung,  die  Zivildienst- 
reform. Gewerbsmäßige  Politiker  und  der  große  Haufen,  der 
durch  Erziehung  und  Gewöhnung  in  der  Beutepolitik  eine  zu  Recht 
bestehende  amerikanische  Einrichtung  erblickte,  sahen  in  dem 
Vorgehen  des  „Ausländers",  dem  die  Ehrenhaftigkeit  und  Pflicht- 
treue des  deutschen  Beamtenstandes  vorbildlich  war,  eine  Art 
Hochverrat.  Aber  weder  die  Zahl  seiner  Gegner  noch  die  Art 
ihres  Kampfes  machten  ihn  irre.  In  Wort  und  Schrift  trat  er 
unermüdlich  für  die  Reform  ein. 

Sein  Verdienst  war  auch  die  Gründung  der  Zivildienstreform- 
liga, die  von  New-York  ausgehend  sich  nach  und  nach  über  das 
ganze  Land  ausbreitete.  Wie  wenig  aber  das  Vorstreben  seine 
Sache  war,  mag  man  daraus  entnehmen,  daß  er  den  Vorsitz  seinem 
Freunde  Curtis  überließ.  Erst  nach  dessen  Tode,  im  Jahre  1896, 
erklärte  er  sich  bereit,  auch  formell  an  die  Spitze  zu  treten,  i) 
Der  Reformgedanke  hatte  sich  inzwischen  auch  in  den  Kreisen 
der  besseren  Amerikaner  soweit  Bahn  gebrochen,  daß  nativistische 
Vorurteile  nach  seiner  Ansicht  nicht  mehr  in  Anschlag  kommen 
konnten. 

•)  Einige  Tage  vor  seinem  Tode  war  seine  Wiederwahl  erfolgt. 

261 


I 


Dem  von  ihm  vertretenen  Ideale  eines  Beamten  lebte  er 
selbst  in  allen  amtlichen  Stellungen.  Mit  höchster  Leistungs- 
fähigkeit verband  er  die  größte  Ehrlichkeit,  Geradezu  Hervor- 
ragendes leistete  er  als  Minister  des  Innern  für  die  Hebung  der 
sozialen  und  wirtschaftlichen  Verhältnisse  des  Landes.  Als  er  aber 
das  Portefeuille  des  Sekretärs  des  Innern  abgab,  sah  er  den  Rest 
seines  Vermögens  verbraucht.  Eine  Stellung,  die  manchem  zur 
Selbstbereicherung  die  beste  und  bequemste  Gelegenheit  geboten 
hätte,  verließ  er  als  mittelloser  Mann.  Wiederholt  hatte  man  dem 
unbequemen  Aristides  die  Taschen  mit  Gold  zu  füllen  gesucht, 
um  ihn  seinen  Reformbestrebungen  untreu  zu  machen.  Vergebens ! 
Treu  blieb  er  sich  und  seinen  Grundsätzen  auch,  als  New-Yorker 
Verehrer  ihm  1881  eine  Ehrengabe  von  100  000  Dollars  anboten. 
Solange  er  arbeitsfähig  sei,  war  seine  Antwort,  gestatte  ihm  sein 
Ehrgefühl  die  Annahme  auch  eines  ehrenvollen  Geschenkes  nicht. 
Der  Deutsche  hat  sich  in  ihm  in  dieser  wie  in  anderen  Beziehungen 
niemals  verleugnet. 

Auch  allem,  was  das  Wohl  und  Wehe  des  alten  Vaterlandes 
betraf,  brachte  er  das  größte  Interesse  entgegen.  Die  Erfüllung 
seiner  Jugendsehnsucht,  die  Begründung  des  Deutschen  Reiches, 
begrüßte  er  in  froher  Begeisterung  „mit  der  dröhnenden  Bered- 
samkeit des  alten  Achtundvierzigers":  ,,Das  war  ein  Schauspiel, 
wie  der  einst  so  verspottete  deutsche  Michel  plötzlich  aus  dem 
Schlafe  erwachte,  wie  er  die  gewaltigen  Glieder  reckte,  wie  er 
seinen  Schild  schüttelte,  daß  er  klang  wie  alle  Donner  des  Firma- 
ments, wie  das  Stampfen  seines  Fußes  den  Boden  Europas  er- 
zittern machte,  wie  er  mit  mächtigem  Schwertschlag  den  über- 
mütigen Feind  vor  sich  in  den  Staub  warf,  wie  er  mit  Posaunen- 
stimme ausrief:  «Das  ganze  Deutschland  soll  es  sein!»  und  wie 
die  Menschheit  staunend  aufblickte  an  der  riesigen  Heldengestalt." 
Der  Möglichkeit  eines  gutes  Einvernehmens  zwischen  den  Ver- 
einigten Staaten  und  dem  neu  entstandenen  Deutschland  hatte  er 
die  Wege  geebnet  durch  sein  mannhaftes  Auftreten  gegen  den 
elenden  Waffenschacher  der  Grantschen  Sippe,  durch  das  er  Deutsch- 
lands und  ganz  Europas  Augen  auf  sich  zog. 

Von  ihm,  dem  Bürger  zweier  Welten,  stammt  der  längst 
klassisch  gewordene  Vergleich  der  Germania,  die  dem  Deutsch- 
Amerikaner  die  Mutter,  und  Columbia,  die  ihm  die  Braut  sei. 
Wie  die  Amerikaner  wissen  auch  wir  Schurz  Dank  dafür,  daß  er 
für  alle  Zeiten  den  richtigen  Weg  zu  einem  erfreulichen  Zusammen- 
gehen von  Germania  und  Columbia  gewiesen  hat. 

262 


Und  an  Anerkennung  hat  es  ihm  seitens  des  neuen  Reiches 
nicht  gefehlt.  Schon  im  Jahre  1868  war  der  rote  Revolutionär 
von  1848  Bismarcks,  des  ehemaligen  junkerlichen  Reaktionärs, 
Gast  in  Berlin  gewesen.  In  trauter  Unterhaltung  wurde  ihm  die 
Rückkehr  in  die  alte  Heimat  in  deutlicher  Sprache  nahegelegt. 
Aber  Schurz  zog  es  vor,  Amerikaner  zu  bleiben,  trotzdem  alles 
Trennende  vergessen  war.  Auf  der  Höhe  ihres  beiderseitigen 
politischen  Lebens  begrüßten  sich  beide  Männer  in  den  Jahren 
1873  und  1888  als  alte  Freunde.  Fast  schien  es,  als  ob  die  Ein- 
heit zwischen  dem,  was  Schurz  in  seiner  Jugend  so  feurig  erstrebt 
und  Bismarck  nach  heißem  Ringen  so  ruhmvoll  erreicht  hatte, 
die  großen  Männer  menschlich  und  politisch  näher  gerückt  habe. 
Der  Waffenschmied  der  deutschen  Einheit  sank  ins  Grab.  Die 
Deutschen  New- Yorks  veranstalteten  eine  erhebende  Gedenkfeier 
für  den  großen  Toten,  und  Karl  Schurz  gab  mit  dem  Gefühle  der 
Trauer  auch  dem  der  Lebensgemeinschaft  zwischen  dem  Deutsch- 
tum hüben  und  drüben  beredten  Ausdruck. 

Ein  noch  stärkeres  Bindeglied  wurde  Schurz  für  das  Deutschland 
Wilhelms  II.  Die  alte  Heimat  rückte  seiner  neuen  auch  sozusagen 
geographisch  näher.  Der  nationale  Gesichtskreis  beschränkte  sich 
nicht  mehr  auf  die  deutschen  Länder,  er  umspannt  auch  die  Länder 
jenseits  der  Weltmeere.  Auch  den  Anteil  deutscher  Kraft  an  dem 
Aufbau  fremder  Völker,  nicht  zum  wenigsten  der  Vereinigten  Staaten, 
sehen  wir  nunmehr  als  deutsches  Leben  an. 

Dem  Deutschland  Wilhelms  II.  sind  die  Deutsch-Amerikaner 
nicht  mehr  verlorene  Kinder,  sondern  ein  Teil  des  unpolitischen  Welt- 
reiches der  deutschen  Kultur.  Uns  ist  Karl  Schurz  ein  deutscher  Held. 

Unter  diesem  Gesichtswinkel  müssen  wir  die  Ehrung  betrachten, 
die  Prinz  Heinrich  dem  großen  Landsmann  bei  seinem  Aufenthalte 
in  den  Vereinigten  Staaten  angedeihen  ließ,  unter  diesem  Gesichts- 
winkel auch  die  Wertschätzung  seitens  unseres  erhabenen  Kaisers 
Wilhelm  II.,  der  Schurz  wiederholt  empfing  und  ihm  sein  Bild,  ein 
Ölgemälde  in  Lebensgröße,  alsZeichen  seiner  Wertschätzung  verehrte. 

Literatur. 

Karl  Schurz,  Lebenserinnerungen,  2  Bände,  Berlin,  Reimer  1906.  —  Karl 
Schurz,  Abraham  Lincoln,  aus  dem  Englischen  übersetzt  von  Mary  Nolte,  Berlin, 
Heimer  1908.  —  Kühnemann,  Deutschland  und  Amerika,  in  der  Internationalen 
Wochenschrift  1910  S.  546  ff.  —  New- Yorker  Staatszeitung  von  März  1899  und 
Mai  1906.  —  Archive  des  Marzellengymnasiums  und  der  Burschenschaft  Frankonia 
in  Bonn,  —  Erinnerungen  an  Karl  Schurz  aus  der  Liblarer  Zeit  von  Herrn 
Lauscher  in  Liblar,  aus  der  Kölner  und  Bonner  Zeit  von  Herrn  Oberbürger- 
meister a    D.  Geheimrat  Ludwig  von  Weise  in  Aachen. 

263 


Die  Familie  vom  Rath. 

Von  Prof.  Dr.  Jos.  KLINKENBERG. 

Am  31.  August  1848  entließ  das  Marzellengymnasium  unter 
/  \  seinen  siebenundzwanzig  Abiturienten  zwei  außergewöhn- 
ji  \  lieh  tüchtige,  hoffnungsvolle  Schüler,  die  den  größten 
Teil  ihrer  Gymnasialzeit  an  der  Anstalt  verbracht  hatten.  Dem 
neunzehnjährigen  Karl  vom  Rath  rühmt  das  Reifezeugnis  nach : 
„Er  hat  ruhigen  und  umsichtigen  Fleiß,  klare  Einsicht  und  sicheres 
Verständnis  bewiesen",  und  aus  den  Zensuren,  die  er  in  den 
sprachlich-geschichtlichen  wie  in  den  mathematisch-naturwissen- 
schaftlichen Fächern  davonträgt,  klingt  überall  die  Anerkennung 
seines  richtigen,  wohlgeordneten  und  sachgemäßen  Denkens 
wider.  Von  seinem  Vetter,  dem  achtzehnjährigen  GERHARD  VOM 
Rath,  heißt  es  an  derselben  Stelle:  „Mit  sicherer  und  scharfer 
Auffassung  und  sichtbarem  Interesse  an  der  Wissenschaft  verband 
er  stetigen  und  nachhaltigen  Fleiß  und  ist  zu  ferneren  Fort- 
schritten gut  vorbereitet" ;  die  Prüfungskommission  entläßt  ihn 
zum  Studium  der  Naturwissenschaften  „mit  den  besten  Wünschen, 
daß  er  die  große  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt,  mit  glücklichem 
Erfolge  lösen  werde,  wozu  er  allerdings  Hoffnung  gibt,  wenn  er 
mit  gleichem  Eifer  wie  bisher  und  besonnen  an  seiner  Entwicklung 
fortarbeitet".  Zu  Männern  herangereift,  haben  diese  beiden  Jüng- 
linge die  hohe  Meinung,  die  das  Gymnasium  von  ihnen  gehegt, 
und  die  stolze  Hoffnung,  die  es  auf  sie  gesetzt  hat,  in  glänzender 
Weise  gerechtfertigt:  sie  sind  Träger  und  Vorbilder  jener  auf 
reale  wie  auf  ideale  Ziele  gerichteten  großzügigen  Bestrebungen 
ihrer  Familie  geworden,  die  die  schönsten  Früchte  für  Leben  und 
Wissenschaft,  für  Heimat  und  Vaterland  getragen  haben. 

Die  weitverzweigte  Großindustriellenfamilie  vom  Rath  stammt 
aus  dem  Bergischen  Lande,  wo  sie  bereits  1588  mit  Grundbesitz 
ansässig  erscheint.  Dem  Zuge  der  Zeit  und  seinem  Unter- 
nehmungsgeiste folgend,  widmete  sich  Joh.  Jakob  vom  Rath  dem 
Kaufmannstande  und  gründete  um  1780  mit  einem  Grundkapital 
von  7000  Reichstalern  ein  Kolonialwarengeschäft  in  Duisburg. 
Dank  seiner  Rührigkeit  entwickelte  sich  dieses  so  glänzend, 
daß  er  es  nicht  bloß  durch  Anlage  einer  Zichorien-,  Tabak-  und 
Seifenfabrik  erweitern  konnte,  sondern  auch  in  Gemeinschaft  mit 
einem  Freunde  ein  Kolonialwaren -Handelshaus  in  Köln  und 
Schwelm  unter  der  noch  heute  bestehenden  Firma  vom  Rath  &  Bredt 

254 


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266 


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zu  begründen  vermochte.  Seine  sieben  strebsamen  Söhne  traten 
nach  und  nach  alle  in  das  väterliche  Geschäft  ein.  Schon  um 
die  Mitte  der  zwanziger  Jahre  des  19.  Jahrhunderts  legten  sie  in 
Duisburg,  in  Köln  und  in  Würzburg  Zuckerraffinerien  an.  Im 
Anschluß  an  das  Etablissement  in  Würzburg  gründeten  sie  kurz 
darauf  in  der  Nähe  auch  eine  Zuckerfabrik.  Der  Bau  der  letztern 
ist  insofern  von  besonderer  Bedeutung,  als  hier  an  die  Stelle  der 
bis  dahin  üblichen  Verarbeitung  von  Kolonialzucker  auf  weiße  Ware 
die  damals  noch  wenig  bekannte  Herstellung  von  Rübenzucker  trat. 

Die  Rübenzuckerfabrikation  ist  ein  Kind  des  deutschen  Geistes. 
Schon  1747  entdeckte  der  Berliner  Chemiker  Marggraf  auch  in  den 
Runkelrüben  den  im  Zuckerrohr  enthaltenen  kristallisationsfähigen 
Süßstoff.  Die  praktische  Anwendung  der  Erfindung  machte  erst  ein 
halbes  Jahrhundert  später  der  geistvolle  und  unermüdliche  Fr.  Karl 
Achard  auf  seinem  Gute  Cunern  in  Niederschlesien  durch  Anlage 
einer  in  bescheidenen  Verhältnissen  gehaltenen  Rohzuckerfabrik. 
Doch  die  Ungunst  der  Zeiten  hinderte  eine  wirksame  Pflege  der 
neuen  Industrie,  und  die  entstandenen  Fabriken  gingen  bald  wieder 
ein.  Auch  im  Rheinlande  war  während  der  französischen  Herrschaft 
infolge  der  Kontinentalsperre  an  mehreren  Orten  unter  staatlicher 
Leitung  der  Versuch  gemacht  worden,  die  Rübenzuckerfabrikation 
einzuführen;  aber  die  Versuche  waren  nach  1815  wieder  eingestellt 
worden.  Eine  der  ersten  Fabriken,  die  für  die  Wiederbelebung 
des  jungen,  volkswirtschaftlich  so  ungemein  wertvollen  Industrie- 
zweiges wirkte,  war  die  der  Gebrüder  vom  Rath  in  Würzburg. 
Wenn  heute  der  Zucker,  für  dessen  Rohmaterial  einst  Unsummen 
deutschen  Geldes  ins  Ausland  wanderten,  aus  einem  kostspieligen 
Einfuhrgegenstande  zu  einem  der  ergiebigsten  Ausfuhrartikel  gewor- 
den ist,  wenn  Deutschland  seit  den  achtziger  Jahren  des  verflossenen 
Jahrhunderts  den  ersten  Platz  unter  den  Zuckerproduktionsländern 
Europas  behauptet  und  das  vor  einem  Jahrhundert  nur  den 
besser  gestellten  Klassen  zugängliche  Genußmittel  sich  im  Laufe 
der  Zeit  in  ein  auch  vom  Volke  verwendbares  Nahrungsmittel 
verwandelt  hat,  so  kommt  an  dieser  für  Volkswirtschaft  und  Volks- 
ernährung gleich  segensreichen  Entwicklung  ein  bedeutender 
Verdienstanteil  auf  Rechnung  der  Gebrüder  vom  Rath.  Daß  diese 
als  Platz  für  die  neue  Anlage  Würzburg  wählten,  hatte  seinen 
Grund  teils  in  zollpolitischen  Rücksichten,  teils  in  der  bequemen 
Wasserstraße,  die  der  Main  bot. 

In  Würzburg  war  es  auch,  wo  KARL  VOM  RATH  als  Sohn  seines 
gleichnamigen  Vaters,  des  verdienten  Leiters  der  dortigen  Zucker- 

2Ö6 


fabrik,  am  17.  Oktober  1829  das  Licht  der  Welt  erblickte.  Mit  dem 
Vater,  der  1842  nach  Köln  zog,  um  seine  Brüder  Jakob,  Peter 
und  Eduard  in  der  Führung  der  Geschäfte  der  seit  sieben  Jahren 
bestehenden  Kölner  Zuckerfabrik  zu  unterstützen,  kamen  auch  die 
Söhne  Karl  und  Adolf  dorthin  und  besuchten  das  Marzellen- 
gymnasium.  Der  jüngere  ADOLF,  der  nur  einige  Jahre  Schüler  der 
Anstalt  war,  hat  sich  später  als  Finanzmann  einen  bedeutenden 
Namen  erworben,  besonders  als  Mitbegründer  und  langjähriger 
Vorsitzender  des  Aufsichtsrats  der  Deutschen  Bank  in  Berlin, 
eines  Instituts,  das  die  Pflege  der  finanziellen  Bedürfnisse  des 
Deutschen  Reiches  und  seines  überseeischen  Handels  zu  seiner 
Hauptaufgabe  machte.  Der  ältere  Bruder  Karl  gehörte  unserm 
Gymnasium  bis  zum  Abiturientenexamen  an,  widmete  sich  darauf 
dem  Studium  der  Staalswissenschaften  in  Heidelberg  und  wurde 
im  Anfange  der  fünfziger  Jahre  Teilhaber  der  Firma  Gebrüder 
vom  Rath  in  Köln.  Durch  Fleiß,  Umsicht  und  Tatkraft  zeichnete 
er  sich  bald  so  sehr  aus,  daß  die  Familie  die  Leitung  eines 
geschäftlichen  Riesenunternehmens  in  die  Hand  des  kaum  sechsund- 
zwanzigjährigen  jungen  Mannes  zu  legen  wagte.  Im  Jahre  1851 
traten  nämlich  die  Gebrüder  vom  Rath  dem  Gedanken  nahe,  ihre 
in  der  Raffinationsindustrie  gesammelten  reichen  technischen  und 
kaufmännischen  Erfahrungen  in  einer  Rübenzuckeranlage  großen 
Stils  zu  verwerten  und  zu  Koberwitz  in  Schlesien,  dem  Heimat- 
lande der  deutschen  Rübenzuckerindustrie,  eine  Fabrik  auf  breitester 
landwirtschaftlicher  Basis  zu  begründen.  Auch  hier  handelt  es 
sich  um  ein  Unternehmen  von  allgemeiner  Bedeutung,  da  der 
Zuckerrübenbau,  zumal  bei  rationellem  Betrieb,  für  die  Hebung 
des  nationalen  Wohlstandes  von  größtem  Werte  ist.  Denn  er 
zwingt  zu  intensivster  Bodenkultur,  führt  zur  Entfernung  der 
Brache  und  Weide  und  liefert  in  den  massenhaften  Fabrikations- 
rückständen ein  treffliches  Viehfutter,  das  geeignet  ist,  auch  eine 
rationelle  Viehzucht  in  die  Wege  zu  leiten. 

Den  großen  Gedanken  der  Gebrüder  vom  Rath  in  möglichst 
vollkommener  Weise  zu  verwirklichen,  war  Karl  vom  Raths  Lebens- 
werk, dem  er  fast  ein  halbes  Jahrhundert  alle  seine  Kraft 
gewidmet  hat.  Seit  1855  in  Schlesien  ansässig,  erlernte  er 
erstaunlich  schnell  die  ihm  bis  dahin  fremde  Landwirtschaft  und 
beherrschte  sie  bald  vollständig.  Sein  unermüdlicher  Fleiß,  gepaart 
mit  scharfem  Blick  und  gründlicher  Menschenkenntnis,  brachte 
dem  Unternehmen  trotz  anfänglicher  großen  Schwierigkeiten  eine 
stetige  Steigerung   der  Erträgnisse,   und   diese  ermutigte  wieder- 

17  267 


um  zur  Ausdehnung  des  Betriebes  und  zur  Vergrößerung  des 
Grundbesitzes.  Während  sich  letzterer  1855  auf  3500  Morgen 
belief,  stieg  er  bis  zum  Abschlüsse  des  Jahrhunderts  auf  mehr 
als  13600  Morgen,  wozu  noch  3000  Morgen  Pachtland  hinzukamen. 
Mit  größter  Aufmerksamkeit  verfolgte  vom  Rath  alle  Erfindungen 
und  Neuerungen  in  der  Industrie  wie  in  der  Landwirtschaft  und 
führte  sie  in  seinen  Betrieben  ein,  sobald  er  sie  als  wirkliche 
Verbesserungen  erkannte.  Auf  landwirtschaftlichem  Gebiete  wirkte 
Koberwitz  nach  dem  Urteile  berufener  Fachmänner  geradezu  vor- 
bildlich. Schon  1857  wurden  hier  die  Rüben  mit  Maschinen 
gesät  und  bearbeitet,  1859  erschien  die  erste  Dampfdreschmaschine, 
1872  der  erste  Dampfpflug,  und  zwar  als  erster  in  ganz  Schlesien. 
Die  Verbesserung  der  Verkehrsmittel,  die  vom  Rath  einrichtete 
oder  veranlaßte,  kam  auch  der  Allgemeinheit  zugute,  insbesondere 
der  Eisenbahnbau  Breslau-Zobten,  der  wesentlich  auf  seine  An- 
regung und  unter  Aufwendung  reicher  Mittel  seinerseits  ausgeführt 
wurde.  Wie  an  sich  selbst,  so  stellte  vom  Rath  auch  an  seine 
Untergebenen  hohe  Anforderungen,  war  ihnen  dafür  aber  auch 
in  ihren  Anliegen  ein  väterlich  wohlwollender  Berater  und  entgegen- 
kommender Helfer.  Reiche  Anerkennung  seiner  Verdienste  spendete 
ihm  ebenso  die  deutsche  Zuckerindustrie,  die  seine  freigebige 
Unterstützung  ihrer  wissenschaftlichen  Entwicklung  wohl  zu 
würdigen  wußte,  wie  auch  die  preußische  Staatsregierung,  die  in 
ihm  den  bahnbrechenden  Förderer  eines  bedeutsamen  Industrie- 
zweiges und  des  nationalen  Wohlstandes  erblickte.  In  seinen  letzten 
Lebensmonaten  beschäftigte  vom  Rath  die  durch  die  Zeitverhält- 
nisse geforderte  Vereinigung  des  die  Interessen  der  ganzen  Familie 
zusammenschließenden,  ausgedehnten  Grundbesitzes  von  nunmehr 
20000  Morgen  mit  dem  benachbarten  von  Schoeller  und  Skene 
in  Klettendorf.  Karl  vom  Rath  starb  am  28.  August  1904.  Genau 
an  seinem  Begräbnistage,  dem  1.  September,  trat  die  neue  Gesell- 
schaft vom  Rath,  Schoeller  &  Skene  ins  Leben,  die  heute  eine 
der  größten  zuckerindustriellen  Unternehmungen  Deutschlands  ist. 
Im  Gegensatze  zu  den  Traditionen  der  Familie  hat  GERHARD 
VOM  Rath  als  begeisterter  Jünger  der  Wissenschaft  seine  Lebens- 
aufgabe erfüllt  und  sein  Lebensglück  gefunden.  Geboren  zu  Duis- 
burg am  20.  August  1830  als  Zweitältester  unter  sieben  Geschwistern, 
kam  er  im  Knabenalter  nach  Köln,  als  sein  Vater  Joh.  Peter  vom 
Rath  im  Interesse  des  dortigen  Geschäftes  dahin  übersiedelte.  Im 
Elternhause  herrschte  ein  herzliches  Einvernehmen  zwischen  Vater, 
Mutter  und   Kindern   und  eine  biedere  Einfachheit,  die  wie  ein 

258 


Vermächtnis  sich  auf  letztere  vererbt  und  sie  durch  das  Leben  be- 
gleitet hat.  Nachdem  Gerhard  zwei  Jahre  lang  bei  dem  evange- 
lischen Pfarrer  von  Haunsheim  bei  Dillingen  a.  d.  Donau  Vor- 
bereitungsunterricht genossen  hatte  —  auch  seine  beiden  jungem 
Brüder  empfingen  ihren  ersten  Unterricht  im  Hause  dieses  vor- 
trefflichen Pädagogen  — ,  kam  er  1843  an  das  Gymnasium  an  Mar- 
zellen  zu  Köln.  Mit  reichen  Gaben  des  Verstandes  und  Gemütes, 
unersättlichem  Wissensdurst  und  starker  Willenskraft  ausgerüstet, 
erzielte  er  hier  glänzende  Erfolge,  um  nach  bestandener  Reife- 
prüfung zunächst  ein  Semester  in  Bonn  und  ein  zweites  in  Genf 
dem  Studium  der  Mathematik,  Astronomie  und  Geologie  obzu- 
liegen. Eine  große  Fußwanderung  durch  die  Alpen  vom  Mont 
Blanc  bis  nach  Wien,  die  er  Herbst  1849  unternahm,  war  wohl 
bestimmend  für  seinen  Entschluß,  Geologe  zu  werden,  und  bildete 
das  Vorspiel  seiner  alljährlichen  ausgedehnten  Reisen,  die  der 
Wissenschaft  wie  der  Literatur  einen  so  reichen  Ertrag  gebracht  haben. 
Nachdem  er  sodann  seine  naturwissenschaftlichen  Studien  in 
Bonn  unter  dem  Astronomen  Argelander,  dem  Chemiker  Bischof 
und  dem  Mineralogen  Nöggerath  fortgesetzt  hatte,  bezog  er  Ostern 
1851  die  Universität  Berlin.  Seine  Strebsamkeit  und  Tüchtigkeit 
machten  ihn  bald  zum  Lieblingsschüler  seiner  Lehrer  Magnus, 
Rummelsberg,  Weiß  und  Gustav  Rose.  Zu  letzterm,  der  ihn  in 
die  Kristallographie  einführte,  trat  er  in  besonders  nahe  Bezieh- 
ungen: in  seinem  gastlichen  Hause  lernte  er  dessen  Bruder,  den 
Chemiker  Heinrich  Rose  sowie  die  Koryphäen  der  Naturwissen- 
schaften, einen  Poggendorf,  Ehrenberg,  L.  v.  Buch  und  Alexander 
v.  Humboldt  kennen.  Am  9.  Juli  1853  promovierte  er  auf  Grund  einer 
Dissertation  über  die  Zusammensetzung  des  Wernerits,  die  Gustav 
Rose  gewidmet  ist.  Mit  seinen  Eltern  und  Geschwistern  machte 
er  darauf  eine  äußerst  lehr-  und  genußreiche  neunmonatige  Reise 
nach  Italien.  Der  Winteraufenthalt  in  Rom  diente  dem  Studium 
der  italienischen  Kunst  und  Sprache;  im  Frühjahr  wandte  er  sich 
nach  Neapel  und  Sizilien,  das  er  mit  seinem  jungem  Bruder  und 
seinem  Freunde  Delius  nach  allen  Richtungen  durchstreifte.  Nach 
seiner  Heimkehr  finden  wir  ihn  bald  wieder  im  Laboratorium 
Heinrich  Roses  mit  mineralchemischen  Untersuchungen  beschäftigt, 
zu  deren  Förderung  Reisen  nach  Schlesien  und  Böhmen  dienen, 
und  im  August  1855  begleitet  er  Gustav  Rose  auf  einer  Forschungs- 
reise ins  Riesengebirge.  Ostern  1856  habilitierte  er  sich  für  Minera- 
logie und  Geologie  in  Bonn,  wurde  daselbst  am  3.  Juli  1863 
außerordentlicher,  am   13.  April  1872   ordentlicher  Professor  der 


17» 


genannten  Fächer  und  am  16.  Dezember  1872  als  Nachfolger 
Nöggeraths  Direktor  des  mineralogischen  Museums  in  Poppeisdorf. 
Unvergängliche  Verdienste  hat  er  sich  um  die  Entwicklung  dieses 
Instituts  erworben,  dem  er  nicht  bloß  die  vom  Kultusministerium 
für  144000  M.  angekaufte  Krantzsche  Mineraliensammlung  von 
über  14000  Stufen  zuzuwenden  wußte,  sondern  auch  seine  eigenen 
Funde  und  Erwerbungen,  die  spolia  opima  seiner  Reisen,  in  uneigen- 
nützigster Weise  zum  Geschenke  machte.  Unterdessen  hatte  sich 
vom  Rath  durch  seine  fruchtbringende  akademische  Lehrtätigkeit 
und  noch  mehr  durch  seine  schriftstellerischen  Leistungen  in  der 
Gelehrten  weit  einen  hochgeachteten  Namen  erworben:  zahlreiche 
gelehrte  Gesellschaften  und  Akademieen  fast  aller  Länder  Europas 
sowie  der  Vereinigten  Staaten  und  Argentiniens  wählten  ihn  zu 
ihrem  Mitgliede  oder  Ehrenmitgliede,  und  als  1873  durch  den  Tod 
seines  Schwiegervaters  Gustav  Rose  der  Lehrstuhl  für  Mineralogie 
in  Berlin  erledigt  war,  wurde  er,  der  schon  damals  als  erster  seines 
Faches  galt,  zum  Nachfolger  berufen,  ohne  jedoch  diesem  Rufe 
Folge  zu  leisten.  Unterm  20.  Januar  1879  verlieh  ihm  Se.  Majestät 
der  König  den  Rang  und  Titel  eines  Geheimen  Bergrates. 

Je  glänzender  die  Anerkennung  war,  die  der  Gelehrte  fand, 
um  so  trüber  gestaltete  sich  das  Geschick,  das  den  Gatten  und 
Vater  traf.  Nur  wenige  Jahre  nach  dem  Abschluß  der  Ehe  (1858) 
wurde  seine  geist-  und  gemütvolle  Gattin  Marie  Rose  von  einem 
Rückenmarkleiden  befallen,  das  sich  fortwährend  steigerte  und 
schließlich  zu  vollständiger  Lähmung  führte;  seinen  einzigen  Sohn 
Hans,  den  Stolz  und  Liebling  der  Eltern  und  Verwandten,  raffte 
im  Alter  von  vierzehn  Jahren  eine  tückische  Diphtherie  dahin 
(1874);  sechs  Jahre  später  erlag  auch  seine  Gattin  ihren  zwanzig- 
jährigen schweren  Leiden,  und  die  Adoptivtochter  folgte  ihr  bald  ins 
Grab.  Mochten  aber  auch  diese  furchtbaren  Schläge  vom  Rath 
fast  bis  zur  Verzweiflung  niederschmettern,  wenn  sie  sein  Haupt 
trafen,  immer  richtete  ihn  wieder  auf  die  Arbeit,  die  ihm  Bedürfnis 
war,  das  Reisen,  das  ihm  Zerstreuung  verschaffte,  und  vorzüglich 
sein  unerschütterliches  Gottvertrauen,  das  in  der  täglichen  Lektüre 
der  hl.  Schrift  reiche  Nahrung  fand.  Nur  als  sein  Haus  ganz  ver- 
ödet war,  schien  sich  dumpfe  Resignation  und  tatenlose  Lebens- 
müdigkeit über  den  schwergeprüften  Mann  lagern  zu  wollen:  da 
brach  zur  Freude  aller,  die  ihm  nahestanden,  1883  ein  neuer 
Lebensfrühling  für  ihn  an  durch  seine  Vermählung  mit  der  geistes- 
verwandten Josephine  Bouvier,  die  ihm  von  nun  an  bei  seinen 
Arbeiten    eine  verständnisvolle  Gehilfin,   auf   seinen  Reisen  eine 

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unverdrossene  Begleiterin,  in  seiner  Liebestätigkeit  eine  kluge 
Beraterin  wurde.  Frei  von  allen  amtlichen  Verpflichtungen  und 
unter  Hervorhebung  ,, seiner  langjährigen  verdienstreichen  Wirk- 
samkeit" zum  Honorarprofessor  ernannt,  entschloß  sich  vom  Rath 
nunmehr,  ganz  seinen  wissenschaftlichen  Neigungen,  seiner  Muße 
und  seiner  Gattin  zu  leben,  und  er  verwirklichte  diesen  Entschluß 
durch  den  Antritt  seiner  größten,  dreizehn  Monate  währenden  Reise 
nach  den  Vereinigten  Staaten  und  nach  Mexiko.  Eine  lange  Zeit 
ungetrübten  Glückes  schien  dem  noch  vollkräftigen  Gelehrten 
beschieden  zu  sein,  da  traf  ihn  ganz  unerwartet,  als  er  eben  eine 
Reise  nach  dem  Süden  mit  zunächst  noch  unbestimmtem  Ziel 
angetreten  hatte,  am  21.  April  1888  auf  dem  Bahnhofe  in  Coblenz 
ein  Schlaganfall,  der  am  23.  April  seine  Auflösung  herbeiführte. 

vom  Raths  schriftstellerische  Tätigkeit,  die  sich  über  ein 
ganzes  Menschenalter  erstreckt,  hat  einen  seltenen  Umfang:  in 
dem  der  Gedächtnisrede  von  H.  Laspeyres  angehängten  Verzeich- 
nis füllt  die  Aufzählung  der  Titel  über  dreißig  Druckseiten.  Die 
literarischen  Arbeiten  des  Gelehrten  bewegen  sich  teils  auf  den 
gemeinverständlichem  Gebieten  der  Länder-  und  Völkerkunde  und 
der  Geologie,  besonders  des  Vulkanismus,  teils  tragen  sie  einen 
streng  wissenschaftlichen  Charakter  an  sich.  Erstere  sind  die 
unmittelbaren  Früchte  der  Reisen,  die  er  alljährlich  in  den  Herbst-, 
zuweilen  auch  in  den  Osterferien  durch  alle  Teile  Deutschlands 
und  Italiens,  die  Schweiz,  Österreich-Ungarn,  Siebenbürgen,  Frank- 
reich, Skandinavien,  Griechenland,  Kleinasien,  Syrien  und  Nord- 
amerika zu  einem  guten  Teile  zu  Fuß  unternommen  hat.  Für 
alles,  was  ihm  auf  diesen  Streifzügen  durch  die  Welt  begegnete, 
hatte  vom  Rath  ein  offenes  Auge,  ein  klares  Verständnis  und  nicht 
selten  ein  zu  warmes  Mitgefühl.  Ihn  interessierten  Natur  und  Kunst, 
Sprache  und  Religion,  Geschichte  und  Sage,  Charakter  und  Sitte, 
Volkswirtschaft  und  Politik.  Was  er  beobachtete  oder  erlebte, 
wurde  sofort  im  Tagebuch  angemerkt,  an  den  Rasttagen  zu  Briefen 
in  die  Heimat  verarbeitet  und  nach  der  Rückkehr  wissenschaft- 
lich ergänzt  und  sprachlich  ausgefeilt.  So  kommt  es,  daß  vom 
Raths  Darstellung  den  Charakter  der  Frische  und  Unmittelbarkeit 
an  sich  trägt,  und  da  er  obendrein  ein  Meister  der  Schilderung 
zumal  geologischer  Verhältnisse  und  vulkanischer  Erscheinungen 
ist,  so  fesseln  seine  Reisebilder  jeden,  der  zu  ihnen  greift.  ^) 

')  Am  meisten  verdienen  folgende  populär-wissenschaftliche  Werke  vom 
Raths  genannt  zu  werden:  Ein  Ausflug  nach  Calabrien  1871.  Der  Ätna.  Vortrag 
zu  Wetzlar  1872.  Der  Vesuv  1873.    Geologische  Reise  nach  Ungarn.  Vortrag  zu 

261 


Die  streng  wissenschaftlichen  Arbeiten  vom  Raths  liegen  auf 
dem  Gebiete  der  Mineralchemie,  der  Petrographie  und  der  kristallo- 
graphischen  Mineralogie.  „Dieselben  sind,"  wie  einer  seiner  her- 
vorragendsten Fachgenossen  schreibt,  „so  ungeheuer  umfangreich 
und  eigentlich  alle  so  bedeutend,  daß  ich  kaum  weiß,  auf  welche 
ich  die  Aufmerksamkeit  besonders  richten  sollte.  Es  sind  fast  alles 
musterhafte,  klassische  Arbeiten."  Des  hervorragendsten  Rufes 
erfreuen  sich  seine  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  Kristallo- 
graphie, „auf  welchem  er  die  größten  Erfolge  zu  verzeichnen  hatte 
und  wohl  als  der  erste  seiner  Zeit  angesehen  werden  muß".  Eine 
ganz  hervorragende  Begabung  brachte  er  für  dieses  Fach  mit. 
Sein  scharfes  und  durch  den  täglichen  Gebrauch  wunderbar 
geschärftes  Auge,  verbunden  mit  einem  ausgezeichneten  Formen- 
sinn, erkannte  die  seltensten  Mineralien  in  ihrer  ungewöhnlichsten 
Ausbildung,  sein  zuverlässiges  Gedächtnis  bewahrte  aufs  treueste 
die  einmal  empfangenen  Eindrücke,  und  seine  mathematische  Ver- 
anlagung wies  ihm  den  richtigen  Weg  für  die  Berechnung.  So 
lieferte  er  u.  a.  glänzende  Untersuchungen  über  Feldspate,  Kalk- 
spat, Leucit,  Humit,  Quarz  und  den  von  ihm  entdeckten  Tridymit. 

Gerhard  vom  Rath  war  aber  nicht  bloß  ein  großer  Gelehrter, 
sondern  auch  ein  edler  Mensch.  Sein  hellblickendes,  blaues  Auge 
spiegelte  seine  reine,  für  alles  Wahre,  Gute  und  Schöne  begeisterte 
Seele  wider.  Wenn  ihm  Not  und  Elend  begegneten,  rührte  Mitleid 
schnell  sein  weiches  Herz  und  öffnete  ihm  die  milde  Hand;  wohl- 
tun, und  zwar  im  Verborgenen  wohltun  war  ihm  Bedürfnis.  Doch 
auch  in  der  Öffentlichkeit  reden  drei  Stiftungen  laut  von  seiner 
menschenfreundlichen  Gesinnung.  Als  ihm  sein  blühender  Sohn 
so  jählings  entrissen  wurde,  da  schuf  der  tiefgebeugte  Vater,  um 
das  Andenken  an  den  früh  Verblichenen  in  der  Schule  lebendig 
zu  erhalten,  am  Kgl.  Gymnasium  zu  Bonn  eine  Studienstiftung 
unter  dem   Namen   Hans  vom  Rath-Stiftung.    Selbst  der  Kinder 


Bonn  1876.  Der  Granit  1878.  Naturwissenschaftliche  Studien,  Erinnerungen  an 
die  Pariser  Weltausstellung  1879.  Das  Gold.  Vortrag  in  Godesberg  1879.  Reise 
durch  einige  Teile  des  österreichisch-ungarischen  Staates  1879.  Siebenbürgen, 
Reisebeobachtungen  und  Studien  nach  Vorträgen  in  Duisburg  und  Bonn  1880. 
Palästina  und  Libanon.  Vortrag  in  Bonn  1881.  Durch  Italien  und  Griechenland 
nach  dem  heiligen  Lande.  Reisebriefe  1882.  Reise  auf  der  Insel  Sardinien  1883/5. 
Geologische  Briefe  und  Wahrnehmungen  über  Nordamerika  1884—1886.  Arizona, 
Studien  und  Wahrnehmungen  1885  und  1888.  Geographisch-geologische  Blicke 
auf  die  Pacifischen  Länder  Nordamerikas  1885.  Geologische  Wahrnehmungen  in 
Mexiko  1886  und  in  Griechenland.  1887.  Pennsylvanien.  Geschichtliche,  natur- 
wissenschaftliche und  soziale  Skizzen  1888. 

262 


beraubt,  gab  er  die  Mittel  her,  um  einer  Anzahl  von  Söhnen 
gebildeter,  aber  unbemittelter  Witwen  in  dem  „Knabenheim"  an 
der  Baumschuler  Allee  in  Bonn  eine  gute  Erziehung  zu  verschaffen, 
und  er  ließ  es  sich  nicht  nehmen,  selbst  den  Knaben  von  den 
Werken  Gottes  zu  erzählen  und  ihnen  Führer  und  Berater  für  ihre 
Lebenslaufbahn  zu  werden.  Das  bedeutende  Vermögen,  das  ihm 
nach  dem  Tode  seiner  innig  geliebten  Mutter  zufiel,  vermochte 
seine  höchst  einfache  Lebenshaltung  nicht  zu  ändern,  gemahnte 
ihn  aber  an  die  Arbeiter  in  den  Zuckerfabriken  seiner  Eltern  und 
Geschwister,  die  zur  Erwerbung  desselben  wesentlich  beigetragen 
hatten.  So  gründete  der  edle  Menschenfreund  unterm  24.  März  1888 
mit  einem  Kapital  von  450000  Mark  die  Arbeiteransiedelung 
„Wilhelmsruhe"  an  der  Bonner-  und  Gerhard  vom  Rathstraße  zu 
Köln-Arnoldshöhe  in  dankbarer  Erinnerung  an  seinen  Vater  Joh. 
Peter  vom  Rath,  Mitinhaber  der  Zuckerraffinerie  Gebrüder  vom 
Rath,  und  im  Geiste  der  arbeiterfreundlichen  Bestrebungen  Kaiser 
Wilhelms  I.,  „zu  dem  Zwecke,  ordentlichen  und  fleißigen  Arbeitern 
der  Stadt  Köln  gegen  billige  Miete  ein  gesundes  Familienheim 
zu  schaffen,  um  dadurch  zur  sittlichen,  geistigen  und  körperlichen 
Hebung  des  Arbeiterstandes  beizutragen".  In  erster  Linie  sollte 
die  Stiftung  den  Arbeitern  des  Rheinischen  Aktien -Vereins  für 
Zuckerfabrikation  in  Köln,  in  den  das.  väterliche  Geschäft  aufge- 
gangen war,  zugute  kommen,  seit  1889  aber,  wo  der  Sitz  des 
genannten  Unternehmens  nach  Dessau  verlegt  worden  ist,  kann 
jeder  Kölner  Arbeiter  zum  Genüsse  der  Stiftung  gelangen.  Diese 
selbst  ist  von  der  Witwe  ihres  Begründers  der  Stadt  Köln  übergeben 
worden.  Schon  im  dritten  Jahre,  als  der  Ausbau  der  Kolonie  noch 
lange  nicht  vollendet  war,  gewährte  Wilhelmsruhe  über  40  Arbeiter- 
familien mit  etwa  200  Personen,  von  denen  drei  Viertel  dem 
katholischen  und  ein  Viertel  dem  evangelischen  Bekenntnisse 
angehörten,  ein  ruhiges  und  gesundes  Heim.  Die  Leistungsfähigkeit 
der  Anlage  vermehrt  sich  noch  fortwährend,  da  satzungsgemäß 
alle  Überschüsse  zum  Kapital  geschlagen  werden.  Heute  gewährt 
sie  400  Personen  eine  behagliche  Unterkunft. 

Gleichzeitig  mit  Gerhard  vom  Rath  besuchten  noch  zwei 
jüngere  Brüder  das  Marzellengymnasium,  ARTHUR,  geboren  am 
24.  März  1832,  und  EMIL,  geboren  am  16.  März  1833,  beide  zu 
Duisburg.  Arthur  war  von  1845—49  Schüler  der  Anstalt.  Im 
letztgenannten  Jahre  begab  er  sich  als  Eleve  auf  ein  landwirt- 
schaftliches Gut  im  Kreise  Herford.  Zur  Vollendung  seiner  land- 
wirtschaftlichen Ausbildung  besuchte  er  die  Akademie  in  Hohenheim 

263 


und  war  dann  unter  der  Leitung  des  Oberamtmanns  Rimpau, 
eines  bedeutenden  Landwirts,  auf  einem  Gute  in  der  Magdeburger 
Gegend  praktisch  tätig.  In  Genf  hielt  er  sich  noch  ein  halbes 
Jahr  zur  Vollendung  seiner  allgemeinen  Ausbildung  auf.  Im  Winter 
1854 — 55  trat  er  die  Verwaltung  eines  seinem  Vater  gehörigen 
Gutes  in  der  Nähe  von  Herford  an  und  blieb  dort  bis  zum  Jahre 
1865.  In  diesem  Jahre  assoziierte  er  sich  mit  seinem  Vetter  Julius 
vom  Rath  zur  Gründung  einer  Zuckerfabrik  in  Grevenbroich. 
Zwanzig  Jahre  widmete  er  sich  dieser  kaufmännischen  Tätigkeit. 
Seinen  Wohnsitz  hatte  er  in  dieser  Zeit  in  Köln  und  lebte  dort 
auch  nach  der  Auflösung  der  Firma,  die  wegen  des  Todes  seines 
Mitbeteiligten  Julius  vom  Rath  erfolgte,  von  den  Geschäften 
zurückgezogen. 

Arthur  vom  Raths  Interesse  war  schon  neben  seinen  geschäft- 
lichen Unternehmungen  mit  besonderer  Vorliebe  kulturhistorischen 
und  politischen  Fragen  zugewandt  gewesen.  Seine  scharf  aus- 
geprägte liberale  Weltanschauung  erfüllte  ihn  mit  großer  Begeiste- 
rung für  Denk-  und  Gewissensfreiheit  und  mit  starker  Abneigung 
gegen  religiöse  Unduldsamkeit.  Seit  der  Aufgabe  seiner  kauf- 
männischen Tätigkeit  widmete  er  sich  den  genannten  Bestrebun- 
gen mit  verstärktem  Eifer.  Politisch  betätigte  sich  vom  Rath  als 
eifriges  Mitglied  des  rheinischen  Zentralkomitees  der  national- 
liberalen  Partei  und  als  Begründer  (1896)  und  Förderer  der 
„Rheinischen  Korrespondenz",  die  1899  mit  Hilfe  der  von  ihm 
bereitgestellten  Mittel  in  die  „Deutschen  Stimmen,  Halbmonats- 
schrift für  Vaterland  und  Denkfreiheit"  umgewandelt  wurde.  Diese 
beiden  Zeitschriften  suchten  nicht  bloß  dem  nationalliberalen  Ge- 
danken in  den  politischen  Kämpfen  der  Gegenwart  Geltung  zu 
verschaffen,  sondern  behandelten  auch  soziale  und  kulturelle  Fragen, 
wie  die  Frauenbildungsfrage,  die  Frage  der  Errichtung  von  Mädchen- 
gymnasien und  sonstige  Maßnahmen,  die  eine  Verselbständigung  des 
weiblichen  Geschlechtes  anzubahnen  bestimmt  sind.  Allen  diesen 
Bestrebungen  brachte  Arthur  vom  Rath  das  lebhafteste  Interesse 
entgegen;  er  griff  auch  wohl  selbst  zur  Feder,  um  sich  in  knappen 
und  präzis  formulierten  Aufsätzen  zur  Sache  zu  äußern,  so  beson- 
ders zur  Zeit  des  tollen,  abergläubischen  Treibens  des  Leon  Taxil, 
dessen  Schwindeleien  1897  entlarvt  wurden.  Aufs  lebhafteste  be- 
schäftigten ihn  die  Probleme  der  Inquisition  und  des  Hexenwahns, 
zweier  düstern  Erscheinungen  der  Geschichte;  mit  Besorgnis 
erfüllte  ihn  der  Gedanke,  daß  veraltete  Vorstellungen  dieser  Art  in 
der  Gegenwart  wieder  aufleben  möchten.   Er  sammelte  eine  um- 

264 


fangreiche  und  wertvolle  Bibliothek  mit  vielen  Inkunabeln  und 
sonstigen  seltenen  Drucken,  insbesondere  über  die  genannten 
Wissensgebiete.  Ein  bleibendes  Verdienst  erwarb  er  sich  dadurch, 
daß  er  den  größten  Teil  dieser  Sammlung  der  Bonner  Universitäts- 
bibliothek durch  Vermächtnis  überwies  und  wissenschaftliche  Ver- 
öffentlichungen aus  den  genannten  Gebieten  wie  aus  dem  der 
rheinischen  Geschichte  zu  wiederholten  Malen  wirksam  unterstützte. 
Er  starb  zu  Godesberg  am  23.  August  1901. 

Emil  vom  Rath  wurde  gleichzeitig  mit  seinenBrüdern  Arthur  und 
Gerhard  1 845 Schüler  des  Marzellengymnasiums,  nachdem  er  vorher 
schon  zwei  Jahre  auf  dem  Gymnasium  in  Zürich  zugebracht  hatte. 
Auch  er  verließ  unsere  Anstalt  1849  und  begab  sich  zunächst  nach 
Genf,  wo  er  ein  Jahr  lang  Vorlesungen  an  der  Universität  hörte, 
und  zwar  insbesondere  auf  mathematischem  und  naturwissen- 
schaftlichem Gebiete.  In  den  Jahren  1850/51  besuchte  er  zu 
demselben  Zwecke  die  Bonner  Universität.  Da  von  seinen  Brüdern 
der  älteste  früh  starb  und  die  beiden  andern  nicht  in  das  väter- 
liche Geschäft  eintraten,  so  wandte  er  sich  der  kaufmännischen 
Tätigkeit  zu  und  ging  zunächst  zu  seiner  praktischen  Ausbildung 
für  mehrere  Jahre  nach  Frankreich  und  England.  Nach  seiner 
Rückkehr  wurde  er  1857  Teilhaber  des  väterlichen  Geschäftes,  das 
damals  in  die  Firma  vom  Rath,  Joest  &  Carstanjen  umgewan- 
delt wurde,  und  hatte  seitdem  seinen  Wohnsitz  dauernd  in  Köln. 

Seine  geschäftlichen  Interessen  konzentrierten  sich  auch  in 
der  Folgezeit  vorwiegend  auf  die  Zuckerindustrie.  Emil  vom  Rath 
ist  heute  Vorsitzender  des  Aufsichtsrats  der  schlesischen  Gesell- 
schaft für  Zuckerfabrikation  vom  Rath,  Schoeller  &  Skene  sowie 
des  Rheinischen  Aktienvereins  für  Zuckerfabrikation  in  Alten  bei 
Dessau,  der  aus  seinem  väterlichen  Geschäfte  hervorgegangen  ist. 
Achtunddreißig  Jahre  hindurch  gehörte  er  auch  dem  Aufsichtsrate 
des  Walz-  und  Hüttenwerkes  Rote  Erde  bei  Aachen  an,  und  fünf- 
zehn Jahre  hindurch  war  er  Vorsitzender  dieses  Aufsichtsrats,  bis 
das  Werk  1905  mit  der  Gelsenkirchener  Bergwerksgesellschaft 
verbunden  wurde.  Seitdem  ist  er  als  Aufsichtsrats-  und  Ausschuß- 
mitglied des  letztgenannten  großen  Werkes  tätig.  Mit  der  Eisen-  und 
Maschinenindustrie  steht  er  ferner  seit  einem  halben  Jahrhundert 
als  Aufsichtsratsmitglied  der  Karlsruher  Maschinenfabrik  in  Ver- 
bindung. Er  war  auch  Mitbegründer  der  im  Jahre  1872  ins  Leben 
getretenen  Gesellschaft  für  Tauerei-Schleppschiffahrt,  welche  bis 
vor  wenigen  Jahren  den  Warengütertransport  auf  dem  Rhein 
erheblich  befördert  hat. 


Neben  dieser  geschäftlichen  Tätigkeit  entwickelt  Emil  vom  Rath 
seit  mehr  als  einem  Menschenalter  eine  aufopferungsvolle  Tätigkeit 
im  öffentlichen  Leben.  Seit  1876  ist  er  Stadtverordneter  seiner 
zweiten  Vaterstadt  Köln,  seit  1894  Mitglied  des  Provinzialland- 
tages  als  einer  der  Vertreter  der  Stadt  Köln;  er  ist  außerdem 
stellvertretendes  Mitglied  des  Provinzialausschusses.  In  dem  Kölner 
Stadtverordneten-Kollegium  macht  er  sich  als  erfahrener  und  hoch- 
geschätzter Berater  vorzugsweise  in  allen  denjenigen  Kommissionen 
verdient,  deren  Arbeiten  das  Finanz-  und  Verkehrswesen,  die 
Kunst  und  Wissenschaft  zum  Gegenstande  haben.  Den  Be- 
strebungen letzterer  Art  dient  er  aber  nicht  bloß  mit  feinem  Urteil, 
sondern  auch  mit  freigebiger  Hand.  Dem  Historischen  Archiv  der 
Stadt  Köln  stellt  er  seit  vielen  Jahren  die  Mittel  zur  Remuneration 
jüngerer  Hilfsarbeiter  zur  Verfügung.  Stiftungen  von  ihm  weisen 
sowohl  das  Kunstgewerbe-  und  Naturhistorische  Museum  wie  auch 
das  Wallraf-Richartz-Museum  und  das  Historische  Museum  der 
Stadt  auf.  Die  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde,  jene 
Schöpfung  G.  von  Mevissens,  die  sich  die  wissenschaftlich  muster- 
gültige Herausgabe  von  Quellenschriften  unserer  rheinischen 
Geschichte  zur  Aufgabe  gesetzt  hat,  verehrt  in  ihm  ihren  hoch- 
herzigen Mäzen.  Die  großen  Veröffentlichungen  dieser  Gesellschaft 
über  die  romanischen  und  gotischen  Wandmalereien  der  Rhein- 
provinz sind  seiner  tatkräftigen  Hilfe  in  erster  Linie  zu  danken. 
Der  Rheinische  Verein  für  Denkmalpflege  und  Heimatschutz, 
zumal  der  Zweigverein  Köln,  hat  seit  seiner  Begründung  an  ihm 
einen  tatkräftigen  und  stets  opferbereiten  Förderer,  und  mancher 
junge  rheinische  Historiker  weiß  sich  in  den  Ausbildungsjahren 
seiner  Unterstützung  zu  erfreuen.  Das  in  Köln  1902  von  einem 
Verein  begründete  und  1908  von  der  Stadt  übernommene  Mädchen- 
gymnasium erfuhr  von  Anfang  an  seine  verständnisvolle  Förderung 
ebenso  wie  die  im  Jahre  1905  begründeten  rechts-  und  staats- 
wissenschaftlichen Fortbildungskurse.  Am  24.  August  1905  traf 
Emil  vom  Rath  einer  der  schmerzlichsten  Schläge  seines  Lebens: 
er  sah  seinen  geistvollen,  einzigen  Sohn  Felix  im  Alter  von  kaum 
39  Jahren  ins  Grab  sinken,  einen  Tonkünstler,  von  dem  sein 
Freund,  Professor  Max  Schillings,  schreiben  konnte:  „Felix  vom 
Raths  Kompositionen  geben  Zeugnis  von  dem  tiefen  Ernst  seiner 
Künstlernatur  und  bedeutendem  Können.  Die  Kunst  war  ihm 
mehr  als  ein  holdes  Spiel,  das  über  des  Lebens  Rätsel  hinweg- 
täuschen sollte.  Sein  künstlerisches  Wirken  war  zu  kurz,  als  daß 
er  zur  vollen  Reife  des  Schaffens  hätte  gelangen  können.    Sein 

266 


Bestes  zu  geben  blieb  ihm  verwehrt;  er  hätte  zweifellos  in  kleinen 
Formen  Großes,  ja  Bleibendes  geleistet;  davon  geben  vor  allem 
die  Klavierstücke  Zeugnis,  die  von  unbestreitbarem  Werte  und 
weitester  Verbreitung  würdig  sind."  Der  tiefgebeugte  Vater  ehrte 
das  Andenken  an  den  Heimgegangenen  durch  Begründung  einer 
vom  Bayerischen  Kultusministerium  verwalteten  Stiftung  zur  För- 
derung talentvoller  Künstler  im  Betrage  von  100000  Mark. 

Emil  vom  Rath  gehört  sodann  auch  zu  den  ältesten  und 
bedeutendsten  Förderern  unserer  Anthropologischen  Gesellschaft. 
Seine  reichliche  Unterstützung  ermöglichte  mehrere  Grabungen 
zur  Erforschung  der  Urzustände  unserer  rheinischen  Heimat,  den 
Ankauf  der  wertvollen  paläolithischen  Sammlung  Hauser  aus  Les 
Eyzies  in  der  Dordogne  (Südfrankreich)  und  im  Verein  mit  den 
Zuwendungen  anderer  Gönner  die  Begründung  des  Prähistorischen 
Museums  im  Bayenturm,  dessen  Saal  I  (Palaeolithikum,  ältere 
Steinzeit)  vollständig  seiner  Munifizenz  zu  verdanken  ist.  Die 
Anthropologische  Gesellschaft  ernannte  ihn  zu  ihrem  Ehrenmit- 
gliede,  und  das  Prähistorische  Museum  ließ  ihm  zu  Ehren  eine 
Bronzetafel  im  Palaeolithikum-Saal  anbringen. 

Allen  diesen  Verdiensten  um  die  Erforschung  der  Geschichte 
und  die  Erhaltung  der  Kultur-  und  Kunstdenkmäler  seiner  rhei- 
nischen Heimat  hat  Geheimrat  vom  Rath  im  vorigen  Jahre  noch 
eines  hinzugefügt,  das  seine  wissenschaftliche  Denkart  besonders 
eigenartig  zum  Ausdruck  bringt,  durch  Begründung  einer  Bib- 
liothekstiftung an  der  Universität  Bonn.  „In  dem  Bestreben," 
—  so  schreibt  er  selbst  —  ,,die  Erforschung  der  Vergangenheit 
meiner  rheinischen  Heimat  zu  fördern  und  zugleich  die  Ver- 
schleppung wertvoller  Schriftdenkmäler,  die  rheinischer  Herkunft 
sind  oder  das  Rheinland  betreffen,  nach  Möglichkeit  zu  ver- 
hindern, aber  auch  um  den  Rückerwerb  bereits  nach  auswärts 
gewanderter  Handschriften,  alter  Drucke  und  wertvoller  Werke 
rheinischen  Ursprungs  zu  erleichtern,  stelle  ich  hiermit  der 
rheinischen  Hochschule  für  ihre  Universitätsbibliothek  die  Summe 
von  dreißigtausend  Mark  zur  Verfügung."  Das  Kapital  soll 
zunächst  zinsbringend  angelegt  und  die  Zinsen  je  nach  dem 
Angebot  und  Bedarf  entweder  zur  Ergänzung  der  Universitäts- 
bibliothek im  Bereiche  der  rheinischen  Geschichte  verwandt  oder 
zum  Kapital  geschlagen  werden.  „Um  aber  dem  Rheinlande  ein- 
zelne Handschriften,  Wiegendrucke  oder  sonstige  Werke  größern 
Wertes  zu  erhalten,  oder  falls  sich  die  Gelegenheit  bieten  sollte, 
eine  ganze  Bibliothek,  deren  Bestand  den  der  Bonner  Universitäts- 

267 


bibliothek  in  der  genannten  Richtung  auf  erwünsctite  Weise  er- 
gänzen würde,  käuflich  zu  erwerben,  kann  auch  das  Kapital  an- 
gegriffen, ja  nötigenfalls  aufgezehrt  werden.  In  diesen  Fällen  ist 
ein  mit  Dreiviertelmehrheit  gefaßter  Beschluß  des  Stiftungs- 
vorstandes erforderlich,  aber  auch  ausreichend."  Diese  „Dr.  Emil 
vom  Rathsche  Stiftung"  kommt  in  ebenso  verständnisvoller  wie 
hochherziger  und  nachahmenswürdiger  Weise  dem  Bedürfnisse  der 
Universitätsbibliothek  entgegen,  ältere  Literaturdenkmäler  zur 
Geschichte  des  Rheinlands,  die  sich  noch  nicht  in  ihrem  Besitze 
befinden,  und  neuere  derartige  Werke,  die  außerhalb  der  Provinz 
erscheinen,  an  sich  zu  bringen  und  sich  so  zu  einer  Bibliotheca 
Rhenana  auszubauen,  eine  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  bei  dem 
gewaltigen  Anwachsen  der  wissenschaftlichen  Tagesliteratur  auf 
allen  Gebieten  die  etatsmäßigen  Mittel  bei  weitem  nicht  reichen. 
Bei  so  hervorragenden  langjährigen  Leistungen  für  das  Ge- 
meinwohl und  die  Förderung  von  Kunst  und  Wissenschaft  fand 
als  wohlverdient  jene  hohe  Auszeichnung  freudigen  Beifall,  welche 
schon  vor  seiner  letzten  Stiftung  die  philosophische  Fakultät  der 
Rheinischen  Friedrich-Wilhelnis-Universität  Herrn  Geheimen  Kom- 
merzienrat  Emil  vom  Rath  dadurch  verlieh,  daß  sie  ihn  unterm 
27.  Oktober  1909  zum  Doctor  philosophiae  honoris  causa  ernannte. 
Wenn  ihn  aber  das  Doktordiplom  nicht  bloß  als  „litterarum  arti- 
umque  protectorem  praestantissimum",  sondern  auch  als  „virum 
tam  munificum  quam  modestum"  preist,  so  deutet  es  mit  dem 
letzten  Worte  auf  das  schönste  Blatt  in  dem  Ehrenkranze,  den 
Herr  Dr.  Emil  vom  Rath  wie  seine  ganze  Familie  sich  gewun- 
den hat. 


268 


Die  Bauten  des  Gymnasium 
Tricoronatum. 

Von  Regierungsbaumeister  Dr.-Ing.  HANS  VoGTS  in  Köln. 

Die  Verlegung  des  Marzeliengymnasiums  in  das  neue  Ge- 
bäude lenkt  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Bauten,  die  bis- 
her dieser  Anstalt  während  der  vier  Jahrhunderte  ihrer 
wechselvoilen,  rühmlichen  Geschichte  gedient  haben. 

Die  Nachrichten  über  die  inzwischen  abgebrochenen  und  ver- 
schwundenen ältesten  Bauten  des  Gymnasiums  ergeben  ein  nur 
unvollständiges  Bild.  Als  der  Bursa  Cucana  1550  ihr  bisheriges 
Heim  auf  dem  Eigelstein  (an  Stelle  des  jetzigen  Hauses  Nr.  16, 
neben  der  ehemaligen  Magdalenenkirche),  das  sie  nur  mietweise 
inne  hatte,  gekündigt  wurde,  verlegte  sie  ihr  damaliger  Regens 
Leichius  in  eine  Häusergruppe  auf  der  Nordseite  der  Maximinen- 
straße, die  der  Rat  der  Stadt  von  den  Erben  Holtz  für  1000  Taler 
erwarb  und  der  Burse  zur  Verfügung  stellte,  nicht  ohne  das  Stadt- 
wappen als  sein  Hoheitszeichen  über  dem  Tore  anzubringen,  wie  dies 
seit  alters  bei  den  der  Stadt  gehörigen  Bauten  geschah.  Nach  den 
drei  Kronen  dieses  Wappens  führte  die  Burse  seitdem  den  Namen 
Tricoronata  oder  Gymnasium  Tricoronatum.  Zur  selben  Zeit  (1552) 
vergrößerte  Leichius  das  Anwesen  durch  den  Ankauf  des  Nebenhauses. 
Mit  dem  Gymnasium  übernahmen  die  Jesuiten  1556  sein  Heim, 
in  das  sie  im  folgenden  Jahre  ihren  Einzug  hielten,  nachdem  es 
durch  den  Rat  und  insbesondere  auf  Betreiben  des  Bürgermeisters 
Sudermann  instandgesetzt  worden  war.  Die  Gesellschaft  Jesu  ver- 
größerte bald  den  Bau  durch  mehrere  angrenzende  Grundstücke; 
1558  erwarb  sie  für  1300  Taler  das  Haus  Ruremond,  1563  für 
1400  Taler  das  Haus  zur  Lilie  mit  seinem  Grashof  und  seiner 
Kemenate,  1568  ein  anstoßendes  Haus,  das  eingestürzt  war  und 
bei  dem  Einsturz  das  Gymnasialgebäude  wesentlich  beschädigt 
hatte,  1569  für  500  Taler  das  Haus  zum  heiligen  Geist;  das  Haus 
zum  Sternen  fiel  den  Jesuiten  1574  durch  das  Vermächtnis  ihres 
Wohltäters  Johann  von  Linden  zu.  Die  letztgenannten  Häuser 
lagen  nebeneinander  auf  der  Johannisstraße  (an  Stelle  der  jetzigen 
Häuser  Nr.  9 — 15)  und  stießen  hinten  an  die  Besitzung  in  der 
Maximinenstraße. 

Bei  dem  ständigen  Wachsen  der  Schülerzahl  waren  die  Er- 
weiterungen sehr  notwendig.  Sie  brachten  fortwährende  Um- 
bauten mit  sich.    Der  der  hl.  Maria  geweihte  Betsaal  befand  sich 

269 


zuerst  über  der  Einfahrt;  er  war  so  eng,  daß  nicht  alle  Schüler 
zur  täglichen  Messe  zugelassen  werden  konnten;  die  Vergrößerung 
durch  Hinzunahme  eines  benachbarten  Kamins,  der  den  Platz  für 
den  Altar  abgab,  konnte  nur  wenig  helfen.  So  mußte  die  stu- 
dierende Jugend  in  den  folgenden  Jahren  von  den  Professoren 
zur  Messe  in  die  Kirche  des  nahegelegenen  Maximinsklosters 
geführt  werden.    Eine  geräumige  Kapelle  mit  weiter  Eingangshalle 


Grundriß  des  Erdgeschosses  des  städtischen  Waisenhauses  an  der  Maximinen- 
straße  und  Johannisstraße  (des  früheren  Gymnasium  Tricoronatumi  aus  dem 

18.  Jahrliundert. 

wurde  dann  in  dem  Hause  zum  heiligen  Geist  in  der  Johannis- 
straße eingerichtet;  mit  dem  Gymnasium  war  sie  durch  einen 
gedeckten  Gang  verbunden,  der  durch  eine  neben  dem  Hochaltar 
gelegene  Tür  in  die  Saalkirche  führte.  Hinter  dem  Altar,  der  sich 
an  der  Westseite  befand,  war  eine  kleine  Sakristei  angeordnet;  zu 
seinen  beiden  Seiten  lagen  die  Emporen  für  den  Chor.  Die 
Kirche  war  zwischen  zwei  den  Jesuiten  gehörigen  Zinshäusern 
eingebaut  und  an  der  Straßenseite  nach  einer  kleinen  Skizze  in 
der  Kreuterschen  Sammlung  durch  einen  hohen  Giebel  und 
große  Fenster  ausgezeichnet. 


270 


Unsere  Abbildung  zeigt  den  Grundriß  der  Kirche  und  des 
Schulgebäudes  zu  einer  Zeit,  als  die  Jesuiten  sie  verlassen  hatten, 
und  ihr  früheres  Heim  —  wahrscheinlich  mit  nur  geringen  Än- 
derungen —  zum  Waisenhaus  eingerichtet  worden  war.  Nach  diesem 
Plan  befand  sich  links  eine  Durchfahrt  zu  dem  Wirtschaftshofe, 
hinter  dem  ein  großes  Waschhaus  lag;  von  der  Torfahrt  führte 
ein  um  einige  Stufen  höher  gelegener  Flur  zu  der  hölzernen 
Wendeltreppe;  nach  der  Straße  zu  lag  ein  Saal,  an  seiner  Seite 
ein  überwölbter  Archivraum  und  ein  Abort;  das  rechts  gelegene 
Haus  mit  dem  etwa  in  der  Mitte  befindlichen  Eingangsflur  und 
mit  der  Küche  und  dem  Refektorium  zu  seinen  Seiten  mag  das 
Wohnhaus  der  Ordensmitglieder  gewesen  sein. 

Die  Einrichtung,  die  wir  auf  diesem  Erdgeschoßgrundriß  kennen 
lernen,  wurde  wahrscheinlich  um  1563  und  1567  geschaffen ;  damals 
wurden  zwei  neue  „runde"  Treppen  ,,mit  einem  Kapeus"  gebaut, 
über  der  Pforte  zwei  neue  Fenster  gebrochen,  ein  neues  Dach 
errichtet,  eine  Stube  für  mehr  als  200  Taler  mit  Holzgetäfel  bekleidet, 
der  Saal  mit  zwölf,  die  Kammer  nach  dem  Hofe  zu  mit  acht, 
zum  Teil  bemalten  Glasfenstern  versehen,  drei  schöne  eiserne 
Öfen  mit  Kachelumkleidung  gesetzt,  für  die  Küche  ein  neuer  Herd 
und  ein  Spüistein  mit  hölzerner  Spülbank  angeschafft,  der  Stein- 
weg (Hof)  gepflastert,  der  bisherige  Stall  zum  Waschhaus  umge- 
wandelt. Auch  der  Garten  erfuhr  eine  Neuanlage:  es  wurde 
Hopfen  gepflanzt,  durch  eine  Fachwerkwand  der  Baumgarten  und 
durch  eine  schmale  Tür  der  Weingarten  von  dem  übrigen  Gartenplatz 
geschieden.  Der  ganze  Umbau  kostete  1200  Taler;  die  Hand- 
werksmeister, deren  sich  die  Jesuiten  bedienten,  waren  der  Stein- 
metz Wilhelm,  der  Zimmermann  Johannes  und  sein  Schwager,  der 
Schnitzler  Hans  Meier  auf  der  Hochpforte,  der  auch  1571—74  im 
Gymnasium  Arbeiten  lieferte,  der  Verfertiger  der  Wendeltreppe 
Hermann  Rost,  der  Layendecker  Heynrich,  der  Schlossermeister 
Jürgen  —  das  neue  Schloß  an  der  Tür  wird  als  besonders  schön 
gerühmt  — ,  ferner  ein  Kachelbäcker,  ein  Glaswörter  und  ein 
Maler. 

Aus  dem  Akkord  des  Zimmermeisters  können  wir  entnehmen, 
daß  die  hofwärts  gelegenen  Zimmer  Schlafkammern  waren  und 
daß  im  Obergeschoß  (wahrscheinlich  über  dem  Refektorium)  wieder 
ein  großer  Saal  lag. 

Diese  Bauten  der  Jesuiten  zwischen  Maximinenstraße  und 
Johannisstraße  gingen  ohne  das  Haus  zur  Lilie,  das  der  Orden 
bereits  1587  wieder  verkaufte,  1599  für  5000  Reichstaler  in  den 

271 


Besitz  des  Rats  über,  der  das  Waisenhaus  hineinlegte,   das  hier 
bis  zum  Ende  der  reichsstädtischen  Zeit  bHeb. 

Den  Jesuiten  war  es  bei  dem  großen  Wachstum  ihrer  Anstalt 
dort  inzwischen  zu  eng  geworden;  sie  bereiteten  sorgfältig  die 
Erwerbung  neuer,  umfangreicherer  Grundstücke  vor,  wobei  sie 
anscheinend  darauf  bedacht  waren,  in  der  Nähe  zu  bleiben,  wohl 
weil  ihr  Kollegium  zunächst  im  alten  Hause  weiterbestehen  bleiben 
mußte  und  nur  die  Verlegung  der  Schule  beabsichtigt  war,  vielleicht 

aber  auch  mit  Rück- 
sicht darauf,  daß  die 
Universität  und  die 
beiden  anderen  Köl- 
ner Gymnasien  in 
derselben  Stadtge- 
gend lagen,  die  wohl 
überhaupt  als  derMit- 
telpunkt  der  Geist- 
lichkeit in  Köln  gelten 
konnte.  1581  wurde 
dem  Orden  das  CoUe- 
gium  Swolgianum  an 
der  Marzellenstraße, 
das  Heim  der  1578 
gegründeten  theolo- 
gischen Lehranstalt, 
von  deren  Stifter,  dem 
Dechanten  des  An- 
dreasstifts Johannes 
SWOLGEN  eingeräumt 
sowie  1582  mit  päpstlicher  Genehmigung  das  daneben  gelegene 
Achatiuskloster,  dieses  auf  Betreiben  des  Kardinals  JOHANNES 
Gropper,  der  das  durch  inneren  Zwist  heruntergekommene  Augus- 
tinerinnenkloster auflöste.  Die  Gesellschaft  Jesu  zahlte  für  das 
Swolgianum  4000,  für  das  Klostergebäude  3000  Taler.  Nachdem  für 
das  Xaverianische  Konvikt  für  edelgeborene  Jünglinge  noch  eine  An- 
zahl Häuser  hinzugekauft  war,  wurde  das  Gymnasium  nach  dem  6.  Sep' 
tember  1582,  dem  Tage  des  Auszuges  der  Klosterfrauen,  in  die  Mar- 
zellenstraße verlegt.  Ein  Plan  des  Stadtarchivs  gibt  die  Lage  und 
Größe  der  einzelnen  von  den  Jesuiten  erworbenen  Grundstücke  an. 
Die  gotische  Achatiuskirche,  die  im  wesentlichen  1429  erbaut 
worden    sein    muß,    erfuhr   eine    gründliche    Instandsetzung    und 


272 


Vergrößerung,  wobei  an  drei  Seiten  Emporen  angebracht  wurden ; 
die  nunmelir  100  Fuß  lange  und  50  Fuß  breite,  ,, schön  verzeerte" 
Kirche  wurde  1583  eingeweiht,  worauf  die  über  dem  Portal 
angebrachte  Jahreszahl  hinwies.  Für  die  Ausstattung  arbeitete 
um  1595  der  bedeutendste  damalige  Kölner  Schreinermeister, 
Melchior  von  Rheydt,  der  Künstler  der  Rathausvertäfelungen,  das 
Sakramentshäuschen  und  die  Beichtstühle,  sowie  der  vielbeschäf- 
tigte Maler  Christian  Bruin,  der  1586  starb  und  für  die  Kirche 
eine  Darstellung  der  Gereonslegende  schuf.  Als  Architekt  der 
Jesuiten  wird  um  dieselbe  Zeit  ein  Meister  Gotschalk  genannt, 
vielleicht  der  mehrerwähnte,  bei  den  Steinmetzen  eingeschriebene 
Bildhauer  Gotschalk  von  den  Steinen  oder  der  1594  als  Vierund- 
vierziger der  Zunft  fungierende  Gotschalk  von  Weinsberg. 

Zu  dem  Umbau  des  Kollegiengebäudes  gab  der  Rat  100000 
Ziegelsteine  und  100  Taler  (1.593);  1599  wurde  das  neue  Klassen- 
gebäude, das  von  den  städtischen  Würdeträgern  und  von  den 
Spitzen  der  Geistlichkeit  mit  mehr  als  neunzig  gemalten  Fenster- 
scheiben geschmückt  wurde,  feierlich  eröffnet.  Von  dieser  Er- 
öffnung datiert  ein  besonderes  Wachstum  der  Schülerzahl  der 
Anstalt. 

Hauptsächlich  durch  die  Freigebigkeit  des  Kölner  Kurfürsten 
erhielten  die  Jesuiten  bald  auch  große  Grundstücke  auf  der  gegen- 
übergelegenen Seite  der  Marzellenstraße,  vor  allem  den  Hubertus- 
hof mit  seinem  Garten,  und  schon  hatten  sie  hier  den  Bau  eines 
Kollegiums  und  einer  prächtigeren  und  größeren  Kirche  begonnen, 
als  in  einer  Nacht  des  Jahres  1621  das  alte  Achatiuskloster  und 
seine  Kirche  mitsamt  der  Bibliothek  der  Anstalt  in  Flammen 
aufging  und  vollständig  vernichtet  wurde.  Nun  wurden  die  Neu- 
bauten beschleunigt  und  ein  provisorischer  Gottesdienst  in  der 
Stiftskirche  von  St.  Andreas  eingerichtet.  Den  Plan  zu  der  neuen 
Kirche  hatte  der  oberdeutsche,  wahrscheinlich  fränkische  Meister 
Christoph  Wamser  geschaffen,  welcher  in  den  ersten  Jahren  des 
Baues  selbst  die  Ausführung  leitete;  er  war  auch  der  Baumeister 
der  Wiederherstellungsarbeiten  und  des  neuen  Turmbaues  der 
St.  Pantaleonskirche  (1618 — 1620),  wurde  mehrfach  vom  Kölner 
Kurfürsten  beschäftigt  und  siedelte  1619  von  Köln  nach  Straßburg 
über,  in  dessen  Nähe  die  Jesuitenkirche  von  Molsheim  nicht  ohne 
seinen  Einfluß  entstanden  sein  dürfte.  Die  Kölner  Jesuitenkirche 
zeigt  eine  noch  durchaus  spätgotische  Konstruktion  und  Raum- 
disposition in  Verbindung  mit  den  Schmuckformen  und  Gliederungen 
der  Renaissancekunst. 

18  273 


Während  die  Kirche  mit  diesem  interessanten  Mischstil  und 
das  weitläufige  Jesuitenl<loster,  dessen  Bau  1634  vollendet  wurde, 
mit  seinen  Bogengängen  um  den  Binnenhof,  mit  dem  vertäfelten 
Refektorium  und  der  prächtigen  gewölbten  Bibliothek  noch  bestehen, 
die  Kirche  bis  heute  als  Gymnasialkirche  der  gegenüberliegenden 
Anstalt,  sind  wir  über  die  alte  Einrichtung  dieser  selbst  wenig 
unterrichtet.  Nur  einzelne  Anschaffungen  und  Verbesserungen 
gehen  aus  den  Rechnungsbüchern  der  Jahre  1627  bis  1645  hervor, 
Reparaturen  an  Fenstern  und  Fußböden,  eine  Erneuerung  der 
Treppe  (1635),  der  Bau  einer  Heizung  (Oktober  1645),  Ausgaben 
für  Leuchter,  die  Anbringung  von  größeren  Bildern  in  den  einzelnen 
Klassen,  vor  welchen  die  Schüler  ihre  Gebete  verrichten  sollten, 
die  Besorgung  anderer  Bilder  in  Antwerpen  (1636),  vielleicht  von 
Professorenporträts,  die  noch  die  heutige  Aula  schmücken. 

1629  wurden  im  Garten  Denkmäler  zu  Ehren  der  Wohltäter 
der  Anstalt  aufgestellt  (für  39  Reichstaler),  mit  gemalten  Wappen- 
schildern und  Emblemen,  zu  deren  Kosten  einzelne  Schüler  bei- 
trugen. 1633  wurde  über  dem  Eingang  der  Aula  eine  Empore  für 
den  Musikerchor  errichtet,  1636  der  Eingang  selbst  erneuert.  Aus 
allem  geht  hervor,  daß  die  Ausstattung  des  Baues  eine  sorgfältige 
und  schmucke  war.  Die  Arbeiten  lagen  wahrscheinlich  in  der  Hand 
des  am  19.  April  1654  gestorbenen  Bruders  VALENTIN  BOLTZ, 
eines  geschickten,  aus  Thüringen  stammenden  Schreiners  und 
Baumeisters,  und  der  von  ihm  zusammengebrachten  und  geleiteten 
Werkstatt,  der  auch  die  meisten  Arbeiten  in  Kirche  und  Kloster 
zu  entstammen  scheinen,  i) 

Doch  auch  die  Neueinrichtung  des  Collegium  Swolgianum 
genügte  den  Anforderungen  wenig;  es  wird  darüber  geklagt,  daß 
selbst  die  stärksten  der  als  Lehrer  verwandten  Ordensherren 
selten,  nachdem  sie  die  unteren  Klassen  durchgemacht,  noch 
in  den  oberen  Dienste  tun  konnten;  viele  erlagen  bei  der 
Beschränktheit  und  Niedrigkeit  der  Schulzimmer,  die  oft  über 
hundert  Schüler  zu  fassen  hatten,  einem  frühen  Tode.  Dem  Übel- 
stande begegnete  man  durch  Teilung  der  Klassen  und  durch  die 
Aufführungeines  neuen  Gebäudes.  Dieser  Bau,  der  1100  Reichs- 
taler  kostete,    wurde    1672   begonnen    und    1674   vollendet    und 


')  Auch  als  der  Regens  des  Gymnasiums  mit  den  beiden  tüchtigen 
Schreinermeistern  Konrad  Wolf  und  Johann  Halver  1627  zur  Vermeidung  von 
Streitigkeiten  mit  der  Kölner  Zunft  einen  Vertrag  abschloß,  wurde  ausdrücklich 
bestimmt,  daß  die  Gesellen  gemeinsam  vom  Regenten  und  den  Meistern  an- 
genommen und  nur  für  die  Jesuiten  arbeiten  sollten,  so  daß  die  oberste  Leitung, 
die  die  beiden  Meister  hatten,  vermutlich  eine  rein  formale  war. 

274 


feierlich  eingeweiht;  an  ihn  wurde  1684—85  für  die  drei  unteren 
Klassen  ein  Flügel  längs  der  Gartenmauer  des  Dominikaner- 
klosters gefügt,  »vom  Fundament  bis  zum  Dach  und  seinem 
Glockentürmchen  ein  herrlicher  Bau".  Die  Neubauten  wurden 
veranlaßt  durch  den  damaligen  Regenten  P.  NIKOLAUS  Elffen 
(t  1706),  einen  baufreudigen  Mann;  in  seiner  Zeit  wurden  dem 
Kollegiengebäude  das  schöne  Hauptportal,  eine  Stiftung  der 
Familie  Pfingsthorn,  ein  neues  Dach  und  ein  neuer  Giebel  zum 
Gymnasium  hin  gegeben  (1688  und  1689),  ferner  die  Türme  der 
Kirche  vollendet  (1689),  die  Kirche  durch  großartige  Ausstattungs- 
stücke bereichert,  sowie  endlich  die  Ordenskirche  in  Bonn,  ein 
Prachtwerk  des  Barockstils,  gebaut. 

Die  einzige  Abbildung  des  1672  begonnenen  Baues  liefert  ein 
Kupferstich,  der  von  der  Hand  des  ALEXANDER  VOETS,  eines  nicht 
eben  sehr  hervorragenden,  um  1700  lebenden  Kölner  Künstlers,  her- 
rührt; hier  sehen  wir  im  Hintergrund  einen  Ausschnitt  aus  dem  Hof- 
flügel, der  uns  dessen  Erdgeschoßfenster  mit  ihren  Hausteingewän- 
den und  die  giebelbekrönte  Tür  kennen  lehrt,  Bauformen,  die  an  das 
Pfingsthornsche  Portal  und  vor  allem  an  die  abgebrochene  Hof- 
mauer der  alten  Domdechanei  an  der  Pfaffenpforte,  einen  Bau  vom 
Jahre  1657,  erinnern.  Das  Elffensche  Gebäude  erhob  sich  hinter 
einem  großen,  straßenwärts  gelegenen  Hofe  von  ungefähr  derselben 
Ausdehnung,  wie  sie  der  Vorhof  des  jetzt  noch  stehenden  Schul- 
hauses besitzt.  Der  Hof  erhielt  1691  eine  Pflasterung  von  schwarz- 
weißen Steinchen,  die  1718  durch  ein  anderes  Pflaster  ersetzt  wurde. 

In  der  Mitte  des  Vorhofs  wurde  1696  ein  Denkmal  auf- 
gestellt, das  die  edelste  Zierde  der  Anstalt  sein  sollte,  eine 
Mariensäule  von  wechselvollem,  reichem  Aufbau,  nach  dem  Ent- 
würfe und  unter  der  Leitung  des  Bruders  THOMAS  ZoLSCHRElBER 
geschaffen.  Dieser,  1628  geboren,  trat  1655  in  den  Orden  ein 
und  starb  1701;  der  Nekrolog  rühmt  von  ihm,  daß  er  in  ver- 
schiedenen Kunstzweigen,  vor  allem  als  Schlosser,  ausgebildet  und 
tätig  gewesen.  Vielleicht  ging  die  Idee  der  Säule  auf  ein  älteres 
Bild  der  Jungfrau  Maria  zurück,  das  im  Gymnasium  aufgehängt 
war  zum  Andenken  daran,  daß  ihr  Schutz  den  Bau  bei  dem  ge- 
fahrvollen Brande  vom  4.  April  1644  vor  der  Zerstörung  bewahrte.^) 

')  Dagegen  wird  in  den  Jesuitenakten  des  Stadtarchivs  von  einer  um  1624 
entstandenen  Figur  der  Maria  Immaculata  nichts  berichtet,  deren  Modell  von  der 
Hand  des  Bildhauers  Jeremias  Geißelbrunn  nach  Merlos  Angabe  der  Kartäuser 
Engelbrecht  Marx  besessen  haben  soll.  Wahrscheinlich  handelt  es  sich  um  eine 
Verwechslung  und  bezog  sich  das  anscheinend  jetzt  verschwundene  Modell  auf 
die  Figur  von  1696. 

18*  275 


Die  Mariensäule  wurde  1729  nach  der  Fertigstellung  des 
westlichen  Teiles  der  neuen  Anstalt  wieder  auf  dem  alten  Platze 
aufgestellt  und  1730  um  zwei  Fuß  erhöht;  gleichzeitig  wurden 
die  Inschriften    etwas   geändert.     1768  wurde  das  Bildwerk,  das 

durch  die  Winde  be- 
schädigt war,  für  40 
Imperialen  60  Albans- 
groschen wiederher- 
gestellt, vergoldet  und 
bemalt.  Während  der 
Pranzosenherrschaft , 
vielleicht  unter  der 
Einwirkung  der  Revo- 
lutionsideen, wurde 
die  Säule,  die  in- 
zwischen das  Vorbild 
ähnlicher  Denkmäler 
vor  den  Gymnasien 
in  Aachen  und  Trier 
geworden  war,  zer- 
stört oderverschleppt, 
und  der  geringwer- 
tige Stich  des  Alexan- 
der Voets  bringt  uns 
allein  ihr  Bild  zur  An- 
schauung. 

Ausführlicher  als 
der  Stich  lehrt  uns  die 
Beschreibung  in  den 
Jahrbüchern  der  Köl- 
ner Ordensgemeinde 
das  Werk  kennen.  Der 
ganze  Aufbau,  aus 
Haustein  geschaffen, 
war  35  Fuß  hoch; 
die  achteckige  Basis 
hatte  einen  Umfang  von  32  Fuß.  Die  Säule  umgaben  vier  Engel 
mit  Symbolen,  die  die  Vorzüge  der  Jungfrau,  ihren  Mut,  ihre 
Unschuld  usw.,  veranschaulichen  sollten,  mit  darauf  bezüglichen 
lateinischen  Sprüchen.  In  zwei  Reihen  waren  an  der  Basis  je  vier 
Chronosticha  angebracht;  sie  lauteten  in  der  unteren  Reihe: 


^BtasiS 


Mariensäule  des  Tricoronatum 
nach  dem  Stiche  des  Alexander  Voets. 


276 


1.  ViRGO  DeIpara  LabIs  orIgInatae  eXpers  VbIae  IVVentVtIs 

TRiCORONATAE  MAGISTRA  (1695). 

2.  aVXILIatrIX  Vera  eanDeM  qVaerentIs  et  InVoCantIs 
(aus  Georgius  Nicodemus;  1696). 

3.  terra  VIRGINALIS  EX  QVA  NOVVS  ET  Vetere  antIqVIor 
proCessIt  aDaM  (1696). 

4.  haeC  est  parens  VnIgenItI  fILII  DIgna  DIgnI  et  sanCta 
SANCtI  Vna  VnIVs  VnICa  VnICI  (1693). 

In  der  oberen  Reihe: 

1.  VenIte  fILII  et  aVDIte  haeC  Mater  noVa  et  eVa  orate 

AVe  et  VoS  SERVABIT  A  VaE  (1696). 

2.  frVstra  qVaerIs  In  Corpore  VIrgInIs  MaCVLas  serpentIs 

SVb  pLantIs  VIrgIMS  CaLCatVs  IaCet  (1696). 

3.  NoLI  rooare  qVare  In  aMpLeXV  VIrgInIs  est  Infans 

SVB  PLANTA  IaCENS  SERPENS  VIRGO  ISTA  INFANTES  LaCTAT  SERPENTES 
CaLCat  (1695). 

4.  eXeste  qVos  sCabIosae  Labes  InfICIVnt  tota  pVLChra 

EST  HAEC  VIrGO  NON  PATItVr  MaCVLaS  (1696). 

Die  Figur  der  Maria  Immaculata  selbst  bildete  die  Krone 
des  Denkmals;  sie  stand  auf  der  Weltkugel  und  trat  auf  einen 
großen,  sich  windenden  Drachen.  Dieses  Denkmal  wurde  von 
den  Schülern  beim  Eintritt  in  die  Lehranstalt  durch  ein  Gebet 
begrüßt. 

Zu  der  schmucken  Mariensäule  trat  1718  eine  weitere  Zierde 
des  Gymnasiums  in  der  Figur  des  den  Jesusknaben  an  der  Hand 
führenden  heiligen  Joseph. 

Der  schöne  Elffensche  Bau  erlebte  nach  54jährigem  Bestehen 
dasselbe  Schicksal  wie  ein  Jahrhundert  früher  an  der  gleichen 
Stelle  das  Achatiuskloster;  am  11.  November  1727  brannte  der 
Westflüge],  der  Mittelteil  des  Gebäudes,  bis  auf  die  Fundamente 
nieder;  bei  dem  Brande  stürzten  das  Dach  und  die  Aula  mit  dem 
1700  eingerichteten  italienischen  Theater  und  mit  allen  gemalten 
Prospekten  sowie  die  vier  oberen  Klassen  ein  und  töteten  fünf 
Menschen. 

Die  Pläne  für  den  gleich  in  Angriff  genommenen  Neubau 
lieferte  der  Paderborner  Architekt  Johann  Konrad  Schlaun,  ein 
Angehöriger  einer  rheinisch-westfälischen,  sehr  verbreiteten  Familie, 
aus  der  mehrere  Mitglieder  Schüler  des  Tricoronatum  waren. 
Johann  Konrad  war  1694  bei  Warburg  geboren  und  seit  1719  im 
Dienste  des  Kurfürsten  Clemens  August,  für  den  er  den  Entwurf 
zu  dem  großartigen  Schloß  in  Brühl  schuf  und  dessen  Ausführung 

277 


bis  1728  leitete.  Offenbar  wurde  er  vom  Bonner  Hof  dem  Orden 
zugesandt  und  empfohlen;  der  Bau  des  Gymnasium  Tricoronatum  ist 
anscheinend  die  einzige  große  Aufgabe,  die  er  in  Köln  zu  lösen  hatte, 
die  letzte,  die  er  vom  Bonner  Hof  zugewiesen  bekam.  Später  war 
Schlaun  in  Münster  ansässig,  in  dessen  Nähe  er  1773  als  hoher 
Offizier  und  als  über  Westfalen  hinaus  berühmter  und  viel  zuge- 
zogener Architekt  auf  seinem  eigenen  Rittergut  Rüschhaus  starb. 


Das  Gymnasium  vor  dem  Umbau  von  1831  nach  der  Zeichnung 
des  Stadtbaumeisters  J.  P.  Weyer. 

Schlaun  hatte  bereits  1715  für  den  Jesuitenorden  Entwürfe 
geliefert,  und  zwar  zu  einem  Kolleg  und  zu  einer  Ordenskirche 
in  Büren  i.  W.,  die  aber  nicht  ausgeführt  wurden  auf  den  Widerstand 
hin,  den  die  Jesuiten  selbst  gegen  die  von  Schlaun  beabsichtigte 
Anordnung  leisteten.  Auch  die  Kölner  Patres  hatten  an  Schlauns 
Entwürfen  vieles  auszusetzen;  Hartzheim  beklagt  es  bitter,  daß 
die  Prüfung  der  Pläne  allein  durch  den  damaligen  Rektor  Johannes 
Wolff  in  Gemeinschaft  mit  dem  Provinzial  Dr.  Hermann  Wesseling 
in  Paderborn  erfolgte,  ohne  daß  ein  Mitglied  des  Kollegs  zugezogen 
wurde.  Die  Patres  glaubten,  daß  ein  Westflügel  mit  drei  Stockwerken 
oder  bei  Ausführung  der  beiden  von  Schlaun  beabsichtigten  Flügel 


278 


zwei  Stockwerke  genügten,  daß  die  Aula  mit  der  Bühne  besser 
im  Obergeschoß  als  unten  läge,  und  daß  die  Treppen  nicht  breit 
und  bequem  genug  würden. 

Haben  die  Kölner  am  Bauplan  manches  zu  tadeln,  so  sind 
sie  anderseits  über  die  fleiljige  und  schnelle  Bauausführung  des 
Lobes  voll.  Grund  zur  Eile  war  vorhanden;  denn  die  provisorische 
Unterbringung  der  verschiedenen  Klassen,  zum  Teil  in  den  stehen 
gebliebenen  Teilen  des  alten  Baues,  zum  Teil  im  Xaverianischen 
Konvikt  und  im  Kollegiengebäude,  bot  Schwierigkeiten  genug. 
Am  28.  April  1728  begann  der  Wiederaufbau;  Ostern  1729  war  der 
Mittelteil  bereits  für  zwei  Klassen  bezugsfähig;  im  November  des- 
selben Jahres  konnten  außer  der  Aula  schon  sieben  Klassen  in 
Benutzung  genommen  werden.  Und  das,  obwohl  noch  eine  Er- 
schwerung des  Baues  durch  einen  langwierigen  Prozeß  mit  dem 
rückwärts  anstoßenden  Dominikanerkloster  eintrat,  der  vom  Nuntius 
zu  Ungunsten  der  Jesuiten  entschieden  wurde;  diese  durften  ihre 
neue  rückwärtige  Mauer  nicht  an  die  Stelle  der  abgebrannten  hart 
an  der  Grundstücksgrenze  setzen,  sondern  mußten  drei  Fuß  von 
ihr  abbleiben. 

Der  Neubau  wurde  ausgeführt  von  dem  Stadtzimmermeister 
Jakob  Burscheid,  der  1729  eine  sinnreiche  Aufhängungskonstruktion 
für  die  weitgespannte  Auladecke  erfand  und  aufzeichnete;  als 
Steinmetz  war  wahrscheinlich  Meister  Dechen  beteiligt,  der  wenig- 
stens 1739  die  Steinarbeiten  für  die  Einfriedigung  lieferte  und  der 
bei  seinen  anderen  Bauten  in  der  Stadt  stark  von  Schlauns  Stil 
beeinflußt  erscheint.  Lebhaften  Anteil  an  dem  Bau  nahm  der  Rektor 
Johannes  Wolff,  der  1662  in  Titz  bei  Jülich  geboren  wurde  und 
1733  im  Kölner  Ordenshause  starb. 

Fenstergewände  und  Treppensteine  kamen  von  Andernach,  die 
Schiefer  für  die  Dachdeckung  von  Zell  an  der  Mosel,  das  Bauholz 
von  Mainz  den  Rhein  herab.  Für  die  Baumaterialien  wurde  vom 
Kurstaat  und  von  der  Stadt  Zollfreiheit  gewährt. 

Die  Grundsteinlegung  bot  Gelegenheit  zu  einer  würdigen  Feier. 
Der  Grundstein  wurde  in  die  Ecke  zwischen  dem  West-  und 
Nordflügel  gelegt;  er  nahm  eine  lateinische  Inschrift  auf,  die  der 
Rektor  selbst  verfaßt  hatte  und  die  Hartzheim  im  Wortlaut  über- 
liefert; sie  erwähnt  die  Regierung  des  Papstes  Benedikt  XIII.,  des 
Kaisers  Karl  VI.,  des  Kölner  Kurfürsten  Clemens  August,  den  Namen 
des  Nuntius  Cajetan  de  Casa  Croy,  der  stadtkölnischen  Würden- 
träger Weidenfeld,  von  Krufft,  von  Groote,  von  Wedigh,  von 
Herwegh,    von    Mylius,    des    Ordensgenerals    Michael    Angelus 

279 


Tamburinus,  des  Ordensprovinzials  Wesseling  und  des  Rektors 
selbst;  angefügt  sind  ein  Chronostichon,  das  auf  den  Brand  Bezug 
nimmt  und  die  Jahreszahlen  1727  und  1728  ergibt,  sowie  die 
Bildnisse   der   heiligen    drei   Könige   und  des   heiligen   Donatus. 

Aus  Hartzheims  Anmerkungen  können  wir  entnehmen,  daß 
zunächst  nur  zwei  Flügel  ausgeführt  werden  sollten,  der  neun- 
achsige  Mittelteil  des  heutigen  Gebäudes  und  der  vierachsige 
nördliche  Risalit.  Vom  heutigen  Bau  wich  der  ursprüngliche  in- 
sofern ab,  als  die  vier  schlanken,  mit  ionischen  Kapitalen  geschmück- 
ten Pfeiler,  welche  die  drei  mittleren  Fenster  einfassen,  nicht  wie 
heute  eine  Attika  trugen,  sondern  einen  Segmentgiebel,  der  vielleicht 
einmal  gleich  den  Giebeln  anderer  Kölner  Barockbauten  dieser 
Zeit  ein  Wappen  oder  ein  Symbol  enthielt,  das  während  der 
Revolutionszeit  zerstört  worden  sein  mag;  ferner  wich  der  ursprüng- 
liche Bau  dadurch  ab,  daß  der  nördliche  Risalit  weniger  weit  vortrat 
als  der  jetzige  und  im  Erdgeschoß  drei  flachbogige  Blenden 
enthielt,  wie  sie  der  Mittelteil  noch  heute  zeigt,  endlich  durch  das 
zierliche  Türmchen  mit  seinem  geschweiften  Helm,  das  wie  bei 
dem  Elffenschen  Bau  den  langen  Dachfirst  unterbrach  und  krönte. 
Wie  der  Nordrisalit  ursprünglich  oben  ausgebildet  war,  ob  er  wie 
heute  von  einem  geraden  Giebel  gekrönt  wurde,  geht  aus  den 
Plänen  nicht  hervor. 

Alles  weist  darauf  hin,  daß  Schlaun  ursprünglich  im  Sinne  der 
Zeit  einen  streng  symmetrischen  Bau  geplant  hat  und  daß  nach  ihm 
ein  Südrisalit  gleich  dem  nördlichen  gebaut  werden  sollte.  Allein 
dieser  wurde  erst  1733  bis  1739  hergestellt  und  nur  bis  an  den 
Fußboden  des  zweiten  Obergeschosses  hochgeführt;  hier  wurde 
er  von  einem  Mansardendach  abgeschlossen.  Während  im  19.  Jahr- 
hundert der  vordere  Teil  dieses  Risalits  dem  nördlichen  gleichgemacht 
wurde,  blieb  der  rückwärtige  Teil  in  seiner  alten  Gestalt  bis  heute 
bestehen.  Hier  war,  wie  man  an  der  Rückseite  noch  sehen  kann, 
das  Hauptdach  gerade  abgeschnitten;  die  ganze  Baugruppe  muß 
also  im  18.  Jahrhundert  einen  durchaus  unfertigen  Eindruck  gemacht 
haben,  der  auch  von  alten  Reiseschriftstellern  erwähnt  wird.  Das 
ist  wohl  auch  der  Grund,  weshalb  der  Bau,  dessen  Plan  doch 
durchaus  dem  Ideal  der  damaligen  Baukunst  entsprach,  von  seinen 
Zeitgenossen  so  wenig  beachtet  wurde  und  z.  B.  in  Köln  keine 
größere  vorbildliche  Wirkung  ausübte. 

Eine  reichere  Gliederung  und  architektonischer  Schmuck 
ist  auf  einige  wenige  Stellen  konzentriert,  auf  die  Mittelpartie 
mit  ihren  Pfeilern  und  mit  den  Blendbalustern  unter  den  Fenster- 


280 


brüstungen  und  auf  die  beiden  seitlichen  Portale  mit  ihren  zierlichen 
Oberlichtern  und  Giebelbekrönungen.  Die  ganze  Bauweise  läßt  wie 
die  der  meisten  damaligen  Bauten  am  Niederrhein  das  Streben  nach 
Sparsamkeit  erkennen;  so  bestanden  denn  auch  wie  bei  dem  Elffen- 
schen  Bau  nur  die  Architekturteile  und  die  Fenstergewände  aus 
Haustein,  während  die  Mauern  aus  Ziegelstein  hergestellt  und  ver- 
putzt wurden. 

Der  Grundriß  ist  sehr  einfach.  Der  Mittelteil  enthält  im  Erd- 
geschoß einen  großen  Saal  von  25  m  Länge  und  I2Y2  m  Breite, 
der  an  einer  Langseite  mit  sieben  großen  Fenstern  versehen  ist, 
die  Aula;  zu  beiden  Seiten  führen  ziemlich  schmale,  zweiläufige 
Steintreppen  in  die  Obergeschosse,  welche  die  Klassenzimmer 
enthalten,  und  in  den  großen  Speicherraum.  Im  Nordrisalit,  der 
im  Erdgeschoß  ebenfalls  nur  einen  Saal,  die  heutige  Turnhalle, 
enthielt,  befanden  sich  die  beiden  oberen  Klassen,  während  in 
dem  Südflügel,  der  an  das  Xaverianische  Konvikt  anstieß  und  mit 
ihm  sowie  mit  dem  Musikerseminar  durch  Türen  verbunden  war, 
die  Schlußfeiern  stattfanden  und  er  zu  diesem  Zwecke  im  Erd- 
geschoß ein  genügend  großes  und  für  die  Mitwirker  bequem  ein- 
gerichtetes Theater  besaß.  Im  Obergeschoß  lag  die  Physica,  nach 
der  der  Südflügel  den  Namen  erhielt. 

Von  der  alten  Ausstattung  des  Gebäudes  ist  nicht  viel  erhalten. 
Die  Aula  hat  zwar  noch  die  großartige  Raumwirkung,  die  ihr 
Schlaun  gab,  dagegen  dürften  die  Stuckdekorationen  an  Wänden 
und  Decke  in  ihrer  jetzigen  Form  neue  Schöpfungen  sein,  die 
bei  den  vielfachen  Wiederherstellungen  im  19.  Jahrhundert,  viel- 
leicht nicht  ohne  Anlehnung  an  alte  Reste,  entstanden  sind.  Von 
den  älteren  Bauten  wurden  die  meisten  der  Brustbilder  über- 
nommen, welche  die  Aula  an  beiden  Langseiten  schmücken,  zum 
Teil  gute  und  charakteristische  Porträts  berühmter  Kölner  Jesuiten 
und  Kartäuser  sowie  des  um  den  Orden  verdienten  Kardinals 
Gropper  und  der  gelehrten  Geschichtsschreiber  Johannes  und 
Aegidius  Gelenius,  zweier  aus  Kempen  stammender  Brüder,  die 
einflußreiche  geistliche  Stellungen  bekleideten;  an  künstlerischem 
Wert  werden  sie  von  den  beiden  großen  Gemälden  übertroffen, 
die  im  heutigen  Konferenzzimmer  hangen  und  wohl  Kessel  und 
Rhetius,  die  ersten  Regenten  der  Jesuitenanstalt,  in  ganzer  Figur 
darstellen.  Den  Porträts  der  Aula  schließen  sich  einige  ähnliche  in 
der  Bibliothek  an,  darunter  ein  Brustbild  des  mit  Rhetius  befreun- 
deten Kartäusers  Surius  und  das  des  Grafen  Tilly  (1559 — 1632). 
Dieser,  der  Sproß  eines  belgischen  Adelsgeschlechtes,  war  wahr- 

281 


scheinlich  zwischen  den  Jahren  1570  und  1583  Schüler  der 
Kölner  Jesuiten  gewesen;  sein  Bild  trägt  die  Umschrift:  „Joannes 
Tserclaes  comes  de  Tilli  S.  C.  Mai.  generalis  locum  tenens  aeris 
campani  basilicae  Coloniensis  soc.  Jesu  victoriosus  donator"  und 
wurde  zum  Danke  für  das  Geschenk  des  Feldherrn  der  Liga  nach 
der  Einnahme  von  Magdeburg  (1631)  aufgehängt,  übrigens  ein 
ganz  handwerksmäßiges  Machwerk.  Erwähnenswert  von  der  heuti- 
gen Ausstattung  des  Gymnasialgebäudes  ist    noch   der  aus   der 

Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts stammende, 
breite,  mit  zierlichem 
Schnitzwerk  und  Intar- 
sien versehene  Tisch 
im  Konferenzzimmer, 
ein  Musterbeispiel  des 
Kunstgewerbes  der  Ro- 
kokozeit. 

Das  Schönste  an 
dem  Gebäude  war  der 
Abschluß,  den  der  Vor- 
hof in  den  Jahren  1733 
—1737  nach  der  Straße 
zu  erhielt;  erwurde  von 
einem  steinernen  Sok- 
kel  und  einem  reichen 
schmiedeeisernen  Git- 
ter gebildet,  das  zwi- 
schen schlanken  Stein- 
pfeilern angebrachtwar 
und  enthielt  ein  Mittel- 
tor und  zwei  seitliche 
Tore.  Der  Annalist  des 
Ordens  fügt  der  Nachricht  von  der  Entstehung  dieses  Gitters  mit 
Stolz  den  kurzen  Satz  bei: 

Similis  in  tota  hac  urbe  non  videtur. 
Nach  der  Abbildung  bei  v.  Bianco,  Die  alte  Universität  Köln 
(vgl.  Abb.  S.  1 1)  ist  es  allerdings  ein  Meisterwerk  der  Schmiedekunst, 
gleichwertig  den  berühmten  Toren  der  Würzburger  Residenz  und 
anderen  bekannten  Kunstwerken  dieser  Art.  Besonderes  Leben 
verlieh  ihm  die  leichte  Schweifung  in  der  Mitte  nach  der  Innen- 
seite zu,  die  das  Mitteltor  noch  mehr  hervorhob.    Der  Verfertiger 


Porträt  des  Grafen  Tilly 
nach  dem  im  Gymnasium  befindlichen  Gemälde. 


282 


des  Gitters  ist  der  sonst  in  Köln  nicht  erwähnte  Schlossermeister 
Heinrich  Harz,  der  dafür  3372  Reichstaler  27  Alb.  4  Heller  empfing; 
mit  Einschluß  des  Steinwerks,  das  Meister  Dechen  lieferte,  kostete 
die  Einfriedigung  3535  Reichstaler.  Das  Gitter,  das  aus  sechs 
gleichen  Feldern,  den  drei  zweiflügligen  Toren  und  ihren  besonders 
reichen  geschweiften  Bekrönungen  bestand,  wog  insgesamt 
19965  Pfund,  wobei  auf  jedes  Feld  1552—1639  Pfund,  auf  die 
Seitentore  rund  2600  Pfund,  auf  das  Mitteltor  3850  Pfund,  auf  die 
Seitenbekrönungen  je  235  Pfund,  auf  die  Mittelbekrönung 
285  Pfund  entfielen.  Das  ganze  Werk  maß  in  der  Länge 
113  Fuß. 

Die  sechs  die  Tore  einfassenden  Pfeiler  erhielten  in  den  fol- 
genden Jahren   einen  schönen  Schmuck  durch  steinerne  Statuen. 

1741  wurde  am  Nordtor  die  elf  Fuß  hohe  Figur  des  heiligen 
Michael  aufgestellt,  nach  dem  Entwürfe  des  tüchtigen  Kölner 
Bildhauers  Helmont,  dessen  große  Arbeiten  wir  noch  in  den 
Kirchen  St.  Andreas,  St.  Kolumba  und  St.  Johannes  Baptist  finden. 

1742  folgen  die  Bildwerke  des  hl.  Aloysius  und  des  hl.  Stanislaus 
auf  den  beiden  Pfeilern  des  Mitteltors,  die  beiden  noch  erhaltenen, 
jetzt  vor  der  Kirche  stehenden  Figuren,  deren  Bildhauer  nicht 
erwähnt  ist,  die  aber  dem  Stil  nach  ebenfalls  Helmonts  Wirksam- 
keit zuzuzählen  sein  werden.  1753  wird  das  Südtor  mit  den 
Statuen  der  hl.  Ursula  und  der  hl.  Katharina  geschmückt,  die 
Alexander  Imhoff,  ein  Schüler  des  wohl  inzwischen  verstorbenen 
Helmont,  geschaffen,  ein  Nachbar  der  Jesuiten  auf  der  Marzellen- 
straße;  er  erhielt  dafür  166  Reichstaler  8  Alb.  Eine  sechste  Figur 
wird  nicht  genannt. 

Der  Abschluß  mit  seinen  Kunstwerken  wurde  in  den  dreißiger  oder 
vierziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  verkauft,  das  herrliche  Gitter  als 
altes  Eisen.  Nach  der  Überlieferung  wurde  es  mit  einigen  Erneuerun- 
gen und  Änderungen  vor  dem  Landsitze  der  Familie  Wendelstadt  in 
Godesberg  aufgestellt;  man  wird  aber  die  Richtigkeit  dieser  Über- 
lieferung wohl  anzweifeln  dürfen,  da  sich  das  Wendelstadtsche 
Gitter  von  dem  auf  der  Biancoschen  Abbildung  dargestellten  durch 
seine  geringere  Höhe,  durch  die  Zahl  der  Felder  und  durch  die 
andere  Form  der  Schweifung  unterscheidet.  Vielleicht  rührt  es 
nicht  vom  Gymnasium  her,  sondern  aus  dem  Jesuitenkolleg,  wo 
man  bei  der  Neubepflanzung  des  Gartens  im  französischen 
Geschmack  (1753)  einen  ähnlichen  Abschluß  schuf.  Von  dem 
schönen  Gitter  des  Gymnasiums  selbst  fehlt  jede  sichere  Spur; 
man  ersetzte  es   durch   einen   kunstlosen,  aus  eisernen  Stangen 

283 


bestehenden  Abschluß,  der  ein  beredter  Ausdruck  für  die  nüch- 
terne Sparsamkeit  und  Verstandesmäßigkeit  der  Zeit  seiner  Ent- 
stehung ist. 

Mit  dem  Abschlußgitter  wurde  der  Vorhof  noch  eines  weiteren 
Schmuckes  beraubt,  der  nicht  weniger  zu  dem  malerischen  Bilde 
der  Straße  gehörte,  der  beiden  herrlichen  alten  Kastanienbäume, 
die  sich  mit  ihren  Kronen  fast  berührten  und  zur  Zeit  der  Blüte 
einen  wundervollen  Anblick  gewährt  haben  müssen.  Wir  wollen 
die  Hoffnung  aussprechen,  daß  bei  der  Erhaltung  des  Gebäudes 
das  alte  Bild,  wenn  auch  nicht  in  dem  ehemaligen  Reichtum  der 
Formen,  doch  noch  einmal  wiederersteht 

Im  Jahre  1773  wurde  der  Jesuitenorden  aufgehoben;  die  Anstalt 
aber  bestand  in  den  Händen  der  bisherigen  Lehrer  bis  zum  An- 
bruch der  französischen  Herrschaft  fort.  Während  der  mannig- 
fachen Wandlungen,  die  der  Schulbetrieb  im  Laufe  der  nächsten 
zwanzig  Jahre  erfuhr,  ist  von  durchgreifenden  Erneuerungen  nicht 
die  Rede.  An  diese  ging  man  erst  im  Jahre  1828,  und  zwar  war 
es  der  Stadtbaumeister  J.  P.  Weyer,  ein  geborener  Kölner,  der  sie 
leitete  und  dem  Gebäude  im  wesentlichen  die  heutige  Gestalt  und 
Innendisposition  gab.  Er  traf  die  oben  bereits  erwähnten  Änderungen 
und  baute  den  Südrisalit  aus  —  sein  Entwurf  vom  Jahre  1831  mit 
der  Einzeichnung  des  früheren  Zustandes  wird  im  Historischen 
Museum  in  der  Eigelsteintorburg  aufbewahrt.  Dabei  erhielten  die 
beiden  Risalite  vier  Fensterachsen  statt  der  bisherigen  drei.  Im  all- 
gemeinen verstand  es  Weyer,  ein  Freund  und  Kenner  alter  Kölner 
Kunst,  sich  dem  Geiste  des  alten  Baues  anzupassen;  sein  Umbau 
gab,  wie  das  Gymnasialprogramm  von  1828  hervorhebt,  der  Anstalt 
erst  ein  einheitliches  Aussehen. 

Bald  darauf  war  eine  abermalige  Erneuerung  nötig,  da  der 
Bau  in  der  Nacht  vom  18.  auf  den  19.  März  1845  eine  gefährliche 
Feuersbrunst  zu  bestehen  hatte,  die  im  ersten  Obergeschoß  ent- 
stand, die  naturwissenschaftliche  Sammlung  bedrohte  und  besonders 
den  schönen  und  großen  Prüfungssaal  schädigte.  Nach  der  Er- 
neuerung in  den  Jahren  1845/46  ging  man  an  den  Bau  der  fünf 
Lehrerwohnungen  an  den  Dominikanern,  die  eine  nüchterne  und 
wenig  freundliche  Bauart  zeigen,  sowie  an  die  Einrichtung  des 
Prüfungssaales  zur  Aula  für  Schüleraufführungen  und  Ansprachen. 
Vorübergehend  hatte  die  Aula  auch  die  Bibliothek  aufzunehmen. 
Mehrfach  wurden  neue  Klassenräume  nötig,  die  u.  a.  1866/67 
durch  eine  Teilung  des  Gesangsaals  erzielt  wurden.  Eine  letzte 
große  Instandsetzung,  besonders  der  Aula,  erfolgte  1894. 

284 


Wenn  jetzt  das  Gymnasium  das  von  Stadtbauinspektor  Bolte 
entworfene  und  unter  seiner  Leitung  ausgeführte  moderne  Schui- 
gebäude  zwischen  Türmchenswall  und  Dagobertstraße  bezieht,  das 
dem  immer  mehr  fühlbaren  Raummangel  der  alten  Baulichkeiten 
Abhilfe  schafft,  so  wird  der  Wunsch  lebendig,  dass  das  der  Stadt  Köln 
gehörende  alte  Haus  mit  seiner  typischen,  einfach-klaren  und  wir- 
kungsvollen Bauart  erhalten  bleiben  möge  als  ein  steinernes  Doku- 
ment stadtkölnischer  Geschichte ;  ist  doch  die  Geschichte  der  Anstalt, 
die  es  während  fast  zweier  Jahrhunderte  beherbergte,  mit  der  der  Stadt 
eng  verwoben.  Wertvoll  wäre  die  Erhaltung  des  Gebäudes  aber 
auch  für  das  Straßenbild,  da  von  dem  Vorhofe  aus  die  macht- 
volle Fassade  der  Kirche  und  der  anstoßenden  alten  Jesuitenbauten 
am  schönsten  zur  Geltung  kommt  und  der  stille  Platz  mit  seinem 
grünen  Laub  in  der  nahe  am  Hauptbahnhof  gelegenen  engen 
Strafie  mit  ihrem  unruhigen  Verkehr  besonders  erfreulich  wirkt. 
Vor  allem  werden  den  Wunsch,  daß  der  Bau  erhalten  bleibe,  die 
ehemaligen  Schüler  der  ehrwürdigen  Anstalt  hegen,  die  in  ihrer 
Erinnerung  mit  der  Schule  selbst  auch  deren  altes  Gebäude  lieb- 
gewonnen haben. 

Literatur. 

A.Handschriften:  Kölner  Stadtarchiv:  Urkunde  Nr.  162.  —  Jesuiten- 
akten: Nr.  9,  12,  15.  44,  47,  61,  298.  —  Universitätsakten:  Nr.  599,  685,  687,  692. 
—  Schreinsbuch:  Nr.  259.  —  Zunftabteilung:  Nr.  31,  123,  178.  —  Geistliche 
Abteilung:  Nr.  204  (Annalen  von  St.  Pantaleon).  —  Plankammer:  Nr.  253.  — 
Kreutersche  Sammlung:  Tafel  39.  —  Alfftersche  Sammlung:  Band  44  und  47. 

B.  Druckwerke:  Braun,  Georg,  Novi  collegii  theologici descriptio, 

Köln  1578. —  Braun,  Josef,  Die  Kirchenbauten  der  deutschen  Jesuiten,  Ergänzungs- 
hefte der  Stimmen  aus  Maria-Laach  99/100,  Freiburg  1908.  —  Groote,  Geschichte 
des  Kölner  Waisenhauses.  —  Hartmann,  Heinrich,  Joh.  Konrad  Schlaun, 
Münstersche  Dissertation,  1909.  —  Höhlbaum  u.  Lau,  Das  Buch  Weinsberg, 
Bonn  1897/98.  —  Keußen,  H.,  Topographie  der  Stadt  Köln  im  Mittelalter, 
Köln  1910.  —  Krudewig,  in  den  Mitteilungen  aus  dem  Kölner  Stadtarchiv, 
Band 31  u.33.  —  v. Mehring-Reischert,  Die  Erzbischöfe  und  Bischöfe  von  Köln, 
Köln  1842/44.  —  Merlo,  J.  J.,  Kölnische  Künstler  in  alter  und  neuer  Zeit, 
Düsseldorf  1895.  —  Milz,  Geschichte  des  Gymnasiums  an  Marzellen,  Gymnasial- 
programme, 1886  ff.  —  Rahtgens,  in  der  Zeitschrift  des  Vereins  für  Denkmals- 
pflege und  Heimatschutz,  5.  Jahrgang,  1.  Heft  (Kölner  Heft),  S.  64  ff.  — • 
Villermont,  Tilly  ou  la  guerre  de  trente  ans.  —  Vogts,  Hans,  Das  Kölner 
Wohnhaus  bis  zum  19.  Jahrhundert  (noch  nicht  veröffentlicht).  —  Weyer,  J.  P., 
Kölns  Aufschwung  seit  der  Aufnahme  in  das  Preußische  Reich,  Köln  1852. 


28.^ 


VERZEICHNIS  DER  ABBILDUNGEN. 

Seite 

Aula  des  Marzellengymnasiums  nach  Photographie 6 

Katholisches  Gymnasium  zu  Köln  1836  nach  einem  Kupferstich  bei  v.  Bianco, 

Universität  Köln 11 

Zwei  Siegel  des  Gymnasium  Tricoronatum 13 

Philipp  Jakob  Ditges  nach  Photographie 18 

Heinrich  Milz               „                „             19 

Martin  Wetzel               „               „             20 

Georg  Wesener            ,,                „             21 

Bild  und  Lebensbeschreibung  des  J.  Velsius  aus  Pantaleons  Heldenbuch    ■  27 

Johannes  Rethius  nach  einem  Kupferstich  von  1657 37 

Leonard  Kessel  in  der  Vision  nach  einem  Kupferstich 39 

Heinrich  Sudermann  nach  einem  Kupferstich  im  Hahnentor 41 

Justus  Lipsius  nach  Ant.  van  Dyck 58 

Justus  Lipsius  mit  Hugo  Grotius  und  den  Gebrüdern  Rubens  nach  P.  P.  Rubens  68 

Georg  Braun  aus  Hartzheims  Bibl.  Col. 75 

Titelblatt  der  Annales  Trevirenses  von  Brower  und  Masen 90 

Christoph  Brower               nach  einem  Gemälde  in  der  Aula  des  Marz.-Gymn.  91 

Jacob  Masen                           „           „           „           „     „       „       „         „         „  98 

Cornelius  a  Lapide              „          ,,          „           „    ,,      „      „        „         „  108 

Friedrich  Spee                      .,          „          „           ,,    „      „      , 113 

Herm.  Jos.  von  Hartzheim    ,,          „          „           ,,    „      „      „        „         ,,  140 
Ferdinand  Franz  Wallraf  nach  einem  Gemälde  von  B.  Beckenkamp  1812  •    •  148 
Alte  astronomische  Instrumente  in  der  physikalischen  Sammlung  des  Marzellen- 
gymnasiums      150 

Friedrich  Schlegel,  Kupferstich  nach  Zeichnung  von  A.  Buttlar 159 

Karl  Friedr.  Aug.  Grashof  nach  einem  Gemälde  von  Otto  Grashof      •    •    •  161 

Georg  Simon  Ohm 165 

Ohms  Galvanometer 167 

Wilhelm  Smets  Lithographie  nach  Zeichnung  von  J.  C.  Baum 173 

Johann  Kreuser  nach  Photographie 186 

Theodor  Schwann  nach  dem  Porträt  bei  F.  Bosch,  Gesch.  der  Zellenlehre  •  197 

Eduard  Heis  nach  Photographie 206 

Christ.  Herm,  Voscn  nach  Photographie 215 

Adolf  Kolping  nach  einem  Kupferstich  von  F.  Keller 226 

Oberlehrer  Schaltenbrand  nach  Photographie 233 

Professor  Zons                       „              „             233 

Karl  Schurz  nach  seinem  Porträt  im  Besitze  der  „Frankonia"  in  Bonn    •    •  235 

Karl,  Gerhard,  Arthur  und  Emil  vom  Rath  nach  Photographieen 255 

Grundriß  des  Erdgeschosses  des  Gymnasium  Tricoronatum  an  der  Maximinen- 
straße nach  einem  Plan  des  18.  Jahrhs.  im  Stadtarchiv 270 

Johannes  Swolgen  nach  einem  Gemälde  im  Eigelsteintor 272 

Mariensäule  des  Tricoronatum  nach  dem  Stiche  des  Alex.  Voets 276 

Das  Gymnasium  vor  dem  Umbau  von  1831  nach  Zeichnung  von  J.  P.  Weyer  •  278 

Porträt  des  Grafen  Tilly  nach  einem  Gemälde  im  Gymnasium 282 


INHALT. 

Seite 

Vorwort 3 

Vorbericht  des  Herausgebers 7 

Zur  Geschichte  des  Marzellengymnasiutns 11 

Jacobus  Leichius  und  Justus  Velsius 22 

Johannes  Rethius 37 

Justus  Lipsius 58 

Georg  Braun 75 

Christoph  Brower  und  Jacob  Masen 91 

Cornelius  a  Lapide 108 

Friedrich  Spee 113 

Paulus  Aler 123 

Hermann  Joseph  von  Hartzheim 140 

Ferdinand  Franz  Wallraf 148 

Ohm,  der  große  Physiker 165 

Wilhelm  Smets 173 

Professor  Johann  Kreuser 186 

Theodor  Schwann 197 

Eduard  Heis 206 

Religionslehrer  Dr.  Christian  Hermann  Vosen  und  Gesellenvater 

Adolf  Kolping 215 

Karl  Schurz 234 

Die  Familie  vom  Rath     254 

Die  Bauten  des  Gymnasium  Tricoronatum 269 


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