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DAS
PROBLEM DER MATERIE
IN DER
GRIECHISCHEN PHILOSOPHIE.
Em] HISTORISCH-KRITISCHE WTERSüCHOTa
VON
CLEMENS BAEUMKER.
-'^^yzyzy^,^^-
MUNSTER, 1890.
Drück und vbrla.g der aschendoepfschbn büchhandlunö,
GermaTiT
DEM AOEIfKEIf
WILHELM JüNKMANN'S.
IMlNSTnUlL . •;.L STUDiES
TühiCNTO 5, CANADA.
31
Vorwort.
Die Aufgabe der philbsophiegeschichtlichen Forschung, darin
stimmen alle ihre Kenner überein, kann nicht bloss die sein,
perlschnurartig System an System zu reihen, nur verbunden
durch den Faden der zeitlichen Aufeinanderfolge oder irgendwel-
cher anderer rein äusserer Diadochenverhältnisse. Soweit die-
selbe geschichtliche Erkenntnis als selbständigen ersten Zweck
verfolgt und sich nicht darauf beschränkt, als blosse Handlan-
gerin für die sachliche Discussion der Probleme das Material an
Gründen pro und contra herbeizutragen, wird sie vielmehr in
vorderster Reihe darauf ausgehen müssen, das Werden der wech-
selnden philosophischen Anschauungen begreiflich zu machen.
Freilich ist. hierbei im Auge zu behalten, dass die bei geschicht-
lichen Thatsachen wirksame Causalität keine eindeutig bestimmte
ist und daher auch nicht einer allgemeinen Regel untersteht. Der
Versuch, aus irgendwelchen Kategorien die geschichtliche Ent-
wicklung a priori abzuleiten als etwas, das notwendig so erfolgen
musste, wie es geschehen ist, ist daher noch stets misslungen
und musste misslingen: denn der hier vorausgesetzte innere De-
terminismus besteht so wenig auf dem besondern Gebiete der
philosophischen Entwicklung, wie überhaupt auf irgend einem
der Menschengeschichte. Weder der logische Ternar von Thesis,
Antithesis, Synthesis, noch die psychologischen Bedingungen, die
in dem successiven Bekanntwerden mit andern Systemen gegeben
sind, noch irgendwelche sonst aufgestellte Umstände haben die
zwingende Gewalt, welche uns berechtigte, sie den Prämissen
eines apodictischen Schlusses gleichzustellen. Die philosophie-
geschichtliche Forschung muss sich deshalb begnügen, zu zeigen,
wie das Wirkliche wirklich \a erden konnte. Nicht zwingende,
wohl aber hinreichende Gründe hat sie aufzuweisen ; nicht wie
VI Vorwort.
ein System notwendig, wohl aber, wie es denkbar war imd wirk-
lich gedacht werden konnte, hat sie zu erklären.
Die Verschiedenheit der geschichtlich hervorgetretenen philo-
sophischen Weltauffassungen aber zeigt sich durch ein doppeltes
Moment bedingt, das eine objectiver Natur, subjectiver das andere.
Das erste liegt in den sich aufdrängenden Problemen selbst, die wegen
ihrer Compliciertheit der Betrachtung verschiedene Seiten darboten.
Das andere beruht auf der Verschiedenheit der Voraussetzungen
und angenommenen Meinungen, mit welchen die philosophischen
Forscher an die Lösung der Probleme" herantraten; denn die
ideale Forderung einer völlig voraussetzungslosen Untersuchung
haben auch diejenigen Forscher in Wirklichkeit niemals erfüllt,
welche in ihr ein notwendiges Erfordernis des Philosophierens
glaubten erblicken zu müssen.
Die Gesamtentwicklung der philosophischen Weltanschauung
setzt sich zusammen aus der Entwicklung der besondern Pro-
bleme, des Gottes-, Geistes- und Naturproblems und der darin
enthaltenen Einzelfragen, Wenngleich von einem systematischen
Kopf das eine Problem nicht ohne das andere angegriffen wird,
so hat doch auch die Einzelfrage ihre Geschichte, der nachzu-
forschen eine Sache ist, der Mühe der Arbeit wert. Eine solche
monographische Untersuchung, welche das Einzelproblem für sich
herausgreift, erlaubt es, die mannigfachen Fragen, welche in dem-
selben eingeschlossen sind, in eingehender Analyse zu entwickeln,
Sie giebt daher eine bessere Einsicht in die Gründe, aus denen
die Antworten so verschieden ausfielen, jenachdem diese oder
jene in der Sache liegende Schwierigkeit den Ausgangspunct des
Philosophierens bildete. Indem sie so das einzelne Problem,
dasselbe gleichsam hin und her werfend, durch den Wechsel sich
ablösender Lehrgebäude hindurch verfolgt, lehrt sie zugleich, mehr
als bei der zusammenhangenden Darstellung ganzer Systeme der
Fall ist, das sachlich Berechtigte und wahrhaft Bedeutsame von
dem sondern, was nur aus psychologischen Gründen, aus der in-
dividuellen Entwicklung der einzelnen Philosophen, seine nicht
absolute, sondern bloss relative Rechtfertigung erfährt. Gerade
die monographische Behandlung der Geschichte einzelner Probleme
dient so in hervorragendem Maasse neben dem historischen Zv/ecke
auch der sachlichen Einsicht, deren Förderung ebenso den natür-
lichen Lohn der philosophiegeschichtlichen Forschung bildet, wie die
Vorwort. VTT
Geschichte der politischen Gebilde uns die Kunst der Politik lehren
soll. Begreiflich erscheint es darum, dass das glänzende Beispiel
einer wahrhaft historischen doxographischen Monographie, wel-
ches Trendelenburg in seiner Geschichte der Kategorienlehre gab,
seitdem zahlreiche Nachfolger gefunden hat.
Einigermaassen befremdend kann es sein, dass bei diesen
Einzeluntersuchungen die Naturphilosophie im engern Sinne so
wenig Berücksichtigung gefunden hat. Namentlich der Grand-
begriff dieser, der Begriff der Materie, harrt noch immer einer
die Gesamtentwncklung berücksichtigenden Bearbeitung.
Wenn ich in der vorliegenden Schrift diese Lücke wenig-
stens zum Teil auszufüllen versuche, so bedarf es einer Rechtfer-
tigung wohl nur wegen der Begrenzung auf das Altertum, in der
ich den Gegenstand erfasst habe. Doch sprachen dafür verschie-
dene sachliche Gründe. Einmal hat die griechische Philosophie
innerhalb der von mir in der Einleitung bezeichneten Grenzen das
Problem der Materie in einer im ganzen abgeschlossenen Weise
behandelt. Eine wirkliche Weiterführung war nur möglich, wenn
ganz neue Aussichtspuncte erstiegen wurden, zu denen empor
erst ein viel später erfolgter Fortschritt der Einzel Wissenschaften
die Stufen hauen konnte. Zweitens aber wäre bei der Ausdeh-
nung meiner Untersuchung auf das Mittelalter und die Neuzeit
die Methode derselben und die Art der Darstellung eine vöUig
andere geworden. Die quellenkritische Forschung, der für das
Altertum ein breiter Raum angewiesen werden musste, und die
den Gharacter meiner ganzen Arbeit bestimmt, würde hier fort-
gefallen sein. An ihre Stelle mussten ausführliche Untersuchun-
gen über den Fortschritt der positiven physikalischen und chemi-
schen Wissenschaften treten. Fühlte ich mich zu diesen letztern
weniger berufen, so würde zudem jener Wechsel alle Einheit der
Composition aufgehoben und das Ganze in eine Reihe von Mono-
graphien aufgelöst haben. Macht doch selbst in Trendelen-
burg's Geschichte der Kategorienlehre, trotzdem hier die Erhe-
bung des thatsächlichen Materials für das Altertum weit weniger
umständlich war, dieser veränderte Cliaracter der Untersuchung
sich als Übelstand geltend, schon äusserlich, indem dem Alter-
tum 243, dem Mittelalter und der Neuzeit zusammen dagegen nur
136 Seiten eingeräumt sind.
6
VIII Vorwort.
Innerhalb der .so durch die Nalur der Sache angeratenen
Grenzen habe ich ein Vierfaches erstrebt.
Zunächst galt es, den Thatbestand im einzelnen festzustellen.
Eigentümliche Schwierigkeiten in dieser Hinsicht brachte die vor-
socratische Philosoj)hie mit sich. Weil das Problem der Materie
in derselben noch keine abgesonderte Behandlung erfahren hat,
trotzdem aber von vornherein — man denke nur gleich an den
Namen des ionischen Hylozoismus — sachlich nach den mannig-
fachsten Seiten hin gestreift wird, so war es einerseits nicht statt-
haft, diese Periode ganz zu übergehen; andererseits aber liess sich
der Umfang dessen, was heranzuziehen war, nicht so scharf ab-
grenzen, als dort möglich, wo das Problem bereits als solches
ins Auge gefasst wird. Da ich nun ausserdem bei der Unsicher-
heit, mit welcher die Erklärung der oft dunkeln und nur frag-
mentarisch erhaltenen Aussprüche dieser Männer verbunden ist,
mich fast an allen einschlägigen Puncten genötigt sah, zur bessern
Begründung meiner eigenen Auffassung weiter auszuholen, so ist der
Abschnitt etwas ausführlicher ausgefallen, als es an sich für eine
blosse Vorbereitungszeit erforderlich gewesen wäre. Ebenso nö-
tigte die Eruierung der platonischen Ansicht zu einer gewissen
Ausführlichkeit. Hier war es vor allem die Menge der sich leb-
haft bekämpfenden Ansichten aus alter und neuer Zeit, zu denen
Stellung genommen werden musste und die auf ihre urkundliche
Bestätigung oder Nichtbestätigung hin zu prüfen waren, was An-
lass zu Weiterungen gab. Textesinterpretation und andere Un-
tersuchungen mehr philologischen Characters nehmen infolge-
dessen viele Seiten ein. Einfacher war es in den folgenden Ab-
schnitten, den Thatbestand zu constatieren. Strittige Puncte, wie
z. B. der neuerdings bezweifelte Pantheismus des Stifters der
Stoa — eine Frage von Wichtigkeit für seine Auffassung des Ver-
hältnisses der Materie zur Gottheit — , die angebliche philonlsche
Lehre von der Materie als dem Nichtseienden und vieles Andere
der Art konnte in den Anmerkungen erledigt werden. Dass
daraus eine gewisse Ungleichheit der Behandlung in den einzel-
nen Abschnitten sich ergab, war mir unerwünscht, aber nicht zu
vermeiden. Im übrigen war ich in allen Abschnitten be-
strebt, das historische Material mit der mir erreichbaren Vollstän-
digkeit, durchaus aufgrund eigener Sammlungen unter Nachprü-
fung nach den Angaben Anderer, zusammenzustellen. An zahl-
Vorwort. IX
reichen Stellen hat infolgedessen der von Andern gesammelte
Citatenapparat Erweiterungen erfahren können. Freilich wider-
strebte es mir, auf solche Erweiterungen jedesmal ausdrücklich
hinzuweisen. Der kundige Forscher wird sie auch ohne derar-
tige Fingerzeige bemerken.
Zweitens habe ich mich bemüht, den innern Zusammenhang
und die logische Gliederung der einzelnen Theorien scharf her-
auszuarbeiten. Naturgemäss musste diese Seite um so mehr in
den Vordergrund treten, je mehr durchgeführt die betretfende
Theorie sich darstellt. Ein besonderes Gewicht fällt darum auf
sie erst von Aristoteles ab, von wo ab umgekehrt die auf die
Feststellung des Thatbestandes bezüglichen Untersuchungen mehr
zurücktreten durften. Für den Zweck dieser Analyse legte ich
vor allem Gewicht auf eine klare Disposition. Um dieselbe deut-
lich hervortreten zu lassen, habe ich mich nicht gescheut, ^vo es
nötig schien, die Ober- und Unterglieder ausdrücklich zu bezeich-
nen. Die Gesichtspuncte für die Anordnung waren aus dem In-
halte der jedesmaligen Theorie zu gewinnen. Die Disposition
konnte darum nicht überall nach dem gleichen Schema erfolgen.
Selbst wo bestimmte Rubriken wiederkehren, war ihnen doch
eine wechselnde Stellung anzuweisen. So musste die Frage nach
der sogenannten intelligibeln Materie und dem Verhältnis der
Körpermaterie zu ihr. die bei Plato, von seiner spätesten Zeit ab-
gesehen, und bei Aristoteles nicht sonderlich hervortritt und darum
bei der Besprechung ihrer Theorien anhangsweise behandelt wer-
den konnte, bei den Neuplatonikern, dem emanatistischen Gha-
racter ihres Systems entsprechend, viel mehr in den Vordergrund
gerückt werden.
Entsprechend dem, was oben über die Aufgabe der philo-
sophiegeschichtlichen P^orschung dargelegt wurde, musste ich an
dritter Stelle die historischen Bedingungen der einzelnen Systeme
und die gegenseitigen Beziehungen zwischen ihnen klarzustellen
trachten. Namenthch bei der nacharistotelischen Philosophie
waren die mannigfaltigen Fäden zu sondern, die hier für das Ge-
webe den Einschlag geliefert haben. Aber schon die aristotelische
Theorie der Materie, vor allem hinsichtlich der Beziehungen von
Materie und Substanz, Wesen, Natur, war völlig zu verstehen
nur wenn sie in durchgängigem Zusammenhange mit der plato-
nischen Lehre betrachtet wurde. Auf diese Art konnte zugleich
X Vorwort.
genauer, als es zum Teil in den bisherigen Darstellungen der Fall
war, ermittelt werden, was die Spätem Neues gebracht und aus
welchen Gründen sie es hinzugefügt haben. So ergab sich z. ß.,
dass Epicur, obwohl er im übrigen mit wenig Selbständigkeit die
Lehre Democrit's erneuert, doch durch die neue Erklärung der
Mischung, zu der er aufgrund der gegen die democritische von
Aristoteles erhobenen Einwendungen gelangte, die Atomistik in
einem nicht unwesentlichen Puncte verbessert, und vieles Andere
der Art.
Schon eine Art von sachlicher Kritik' ist es, wenn sich zeigen
lässt, dass bestimmte Lehrpuncte nicht rein aus der Sache selbst
lieraus, sondern nur aus ihren historischen Voraussetzungen ihre
Erklärung tinden. Die historische Kritik arbeitet hier der sach-
hchen Würdigung in die Hände. Doch konnte ich hierbei nicht
stehen bleiben. Wenigstens bei den bedeutsamsten historischen
Erscheinungen war der Versuch einer Würdigung von rein sach-
lichen Gesichtspuncten aus zu machen. Bei dieser meiner vierten
Aufgabe durfte ich mich im ganzen auf die beiden Systeme be-
schränken, welche auch für die Gegenwart ihre Bedeutung unge-
schwächt bewahrt haben, auf das atomistische und das aristote-
lische. Eine Kritik etwa des Thaies oder des Moderatus dagegen
vom Standpuncte der neuesten Wissenschaft aus Avird niemand
von einer Schrift, wie die vorliegende, erwarten, die in erster
Linie historischen Zwecken dienen will ; sie würde auch völlig
überflüssig sein. Selbst bei der Kritik des einen jener beiden Sy-
steme schien mir eine abermalige Einschränkung ratsam zu sein.
Eine philosophische Untersuchung über den Atonibegriff, wie sie
für unsere Zeit not thut, wird nicht mehr von der deraocritisch-
epicureischen, durch Petrus Gassendi erneuerten Atomistik aus-
gehen dürfen, sondern von derjenigen Form derselben, deren
Grundzüge Dalton entworfen hat. So konnten denn die sach-
lichen Bemerkungen über die Atomistik Democrit's und Epicur's
in der Hauptsache nur darauf ausgehen, die Unterschiede der an-
tiken und der modernen Lehre bestinnnt hervorzuheben. Eine
Prüfung der letzten Grundlagen der Atomistik dagegen würde,
weil sie von einem Eingehen auf die den positiven Wissenschaften
angehörenden Grundlagen der modernen Theorie nicht abtrenn-
bar ist, aus dem Rahmen meiner ganzen Untersuchung heraus-
gefallen sein.
Vorwort. XI
Die auf den Gegenstand bezügliche Litteratur hoffe ich in
ziemlicher Vollständigkeit benutzt zu haben. Mannigfache För-
derung verdanke ich von Hertling's Arbeit über Materie und Form
bei Aristoteles, die mir namentlich durch ihre Kritik der aristo-
telischen Theorie von hohem Werte war; sodann vor allem Zeller's
unvergleichlichem Geschichtswerk, von dem ich die ganze Ar-
beit hindurch den grössten Nutzen ziehen konnte. Mit aufrichtigem
Dank erwähne ich ferner die zahlreichen Arbeiten von Diels zur Ge-
schichte der Vorsocratiker, vorab seine Doxographie, ferner
Natorp's Forschungen zur Geschichte des Erkenntnisproblems,
Heinze's Werk über den Logos in der griechischen Philosophie und
H. F. Müller's Abhandlung über Plotin's Forschung nach der Materie.
Auch L. Stein's Psychologie der Stoa habe ich mehrfach heran-
gezogen. Die übrige Litteratur ist ihres Ortes erwähnt.
Wenn in der Benutzung der Litteratur zwischen den zwei er-
sten und den drei letzten Abschnitten in sofern ein Unterschied
hervortritt, als die in den letzten zwei Jahren erschienenen Aus-
gaben und Abhandlungen nur in der zweiten Hälfte des Werkes
berücksichtigt sind, so liegt der Grund davon in einem Miss-
geschick, das den Verfasser während der Vollendung seiner Arbeit
betroffen hat. Derselbe wurde, als die dreizehn ersten Bogen
bereits gesetzt waren, im Herbst 1887 von einer schweren Krank-
heit befallen, die ihn über ein Jahr lang von jeder selbst leichten
wissenschaftlichen Thätigkeit fern hielt. So konnte die mittler-
weile erschienene Litteratur nur für die zweite Hälfte noch be-
nutzt werden. Doch habe ich bei der nachträglichen Durch-
sicht des inzwischen Erschienenen auch für die erste Hälfte nichts
gefunden, was mir zu einer Modification der darin ausgesprochenen
Ansichten Veranlassung gäbe. Ich bedaure es nur, dass ich die
erste Abteilung von Zellers zweitem Bande nicht in der vierten
Auflage habe eitleren können.
Die Widmung des Buches zeigt den Namen meines verstor-
benen Freundes und Gollegen Wilhelm Junkmann. In seiner an-
regenden Unterhaltung ist mir so oft das Bild geistvoller und
gemütstiefer Behandlung der Geschichte aufgegangen. Möge die
vorhegende Arbeit seines Andenkens nicht ganz unwert sein !
Breslau, im September 1889.
Der Yerfassen
Inhalt.
Seite
Einleitung ■ 1
Das Problem der Materie. Die verschiedenen Betrachtungs-
weisen S. 1. Auffassung innerhalb der griechischen Philoso-
phie — 5. Entwicklung innerhalb der griechischen Philo-
sophie — 0.
Erster Abschnitt.
Die Vorsocratiker. Ansätze zu einer Theorie
der Materie.
1. Die älteren ionischen Naturphilosophen 8
Der ionische Hylozoismus — 8. Thaies — 9. Anaximander — 11.
Anaximenes — 15. Diogenes von Apollonia — 17. Heradit — 19.
2. Die Pythagoreer 33
Das materielle Princip als Zahl —33. Die Materie unbegrenzte
Ausdehnung — 37. Die Grenze 40. Der Körper bloss ma-
thematisch gefasst — 42. Historische Bedeutung ihrer Körper-
lehre — 44.
3. Die Eleaten 46
Ihre Bedeutung für das Problem der Materie — 46. Xenophanes
— 46. Keine Negation des Körperlichen bei ihm — 48. Par-
menides. Seine Beziehung zum Problem der Materie — 50.
Sein Noumenalismus — 52. Eigenschaften des Seienden — 53.
Melissus. Wieierannäherung an den Standpunct der Natur-
philosophie — .57. Zeno. Jede sinnliche Auffassung der Körper-
welt trügerisch — 60.
4. Die jüngeren Naturphilosophen 63
Ihr Standpunct — 63.
a) Empedocles. Verhältnis zu Parmenides — 67. Keine Nega-
tion des Körperlichen hinsichtlich des Sphairos — 68. Con-
tinuität des Stoffes — 68. Elementarische Constitution des-
selben — 69. Stoff und Kraft — 70. Verhältnis zur Ato-
mistik — 71.
b) Anaxagoras. Verhältnis zu Empedocles — 73. Constitution
des Stoffs — 74. Continuität des Stoffs — 77. Gegensatz
von Stoff und Geist — 78.
Inhalt Xril
Seite
c) Die Atomiker. Leucipp und Democrit — 79. Verhältnis zu
den Eleaten — 80. Atomistische Constitution der Materie
— 82. Unterschied der antiken und der modernen Atomi-
stik — 83. Atome in wieweit einfach — 85 und gleich-
artig — 86. Sinnesqualitäten - 92.
5. Die Sophistik 95
a) Protagoras und die Protagore^r des platonischen Theaetet.
Historischer Gharacter des platonischen Berichtes — 96. In-
halt desselben — 101. Keine substratlose Bewegung — 103.
b) Gorgias. Die Materie nichts — ■ 108.
Zweiter Abschnitt.
Plato. I>ie Materie als blosse Ausdehnung.
1. Notwendigkeit der .Materie im platonischen System. . . 110
Das Problem der Materie von Plato bestimmt formuliert — 110.
Stellung der Materie unter den platonischen Principien — 111.
Quellen für unsere Darstellung — 114.
2. Die Darstellung des Timaeus 115
Vernunft und Notwendigkeit ^ 115. Begriff der Notwendigkeit
— 117. Das rovTo und das rotomov — 126. Die ^Aufnehmerin"
des Werdenden — 129. Die drei Gattungen — 134. Der loyi-
a/j.6i v6&o( — 137. Der Raum — 139. Unbestimmtheit der Dar-
stellung - 140. Resultate — 141.
3. Die sogenannte „secundäre" Materie des Timaeus; ihr
mythischer Gharacter 142
Der Wortlaut und des en verschiedene Auffassungen — 142. Be-
weis (ür den mythischen Gharacter der „secundären Materie"
— 145.
4. Die „primäre" Materie des Timaeus 151
a) Die verschiedenen Ansichten — 151.
b) Die platonische Materie ist weder die qualitativ unbestimmte
körperliche Substanz — 156, noch die Möglichkeit der körper-
lichen Substanz — 175.
c) Die platonische Materie ist der leere Raum, d. h. die blosse
Ausdehnung — 177.
d) Unentstandenheit der platonischen Materie — 187.
5. Die angebliche Materie in Republik, Sophistes, Parmeni-
des und Philebus 189
Republik — 189. Sophistes — 191. Parmenides — 192. Phile-
bus — 193.
6. Die platonische Materie nach den aristotelischen Berichten
als das Gross- und Kleine. Die Academie 19ö
Bericht des Aristoteles. Die Materie das Gross- und Kleine — 196.
Die platonische Materie nach Aristoteles das Niclitseiende — 201,
XIV Inhalt.
Seite
Zeugnisse Hermodor's und Eudem's — 203. Die Materie und
das Üble — 205. Die ältere Academie — "lOü.
1. Die Zeitgenossen Plato's 207
Aristipp. Euclid — 208. Antisthenes — 209.
Dritter Abschnitt,
Aristoteles. Die Materie als Mögliclikeit.
Gharacter der aristotelischen Speculation über die Materie — 210.
1. Begriff der Materie 212
Ausgang für die aristotelische Begriffsbeätiminung — 212. Dop-
pelte Betrachtung der Materie — 213. Materialursache im all-
gemeinen und Materie des substantialen Werdens im beson-
dern — 214.
a) Die Materialursache im allgemeinen — 214.
b) Die Materie des substantialen Werdens. Ihr Begriff — 229.
Ihre Unkörperlichkeit — 241. Die erste Materie — 241. Die
Körperwelt — 242.
2. Kritik des aristotelischen Begriffs der Materie; Schwanken
des Aristoteles hinsichtlich derselben 247
3. Functionen der Materie 261
a) Materie und Form — 261.
b) Materie und Accidens — 264.
c) Allgemeine Functionen der Materie — 265. Ihre Passivität
— 265. Die Materie als Notwendigkeit — 267. Ihre Eigen-
wirkungen — 271. Die Materie als Individuationsprincip — 281.
4. Die intelligibele Materie 291
a) Die m.athematische Materie — 291.
b) Die begriffliche Materie — 293.
5. Die peripatetische Schule 294
Vierter Abschnitt.
Epicureer und l^itoiker.
Allgemeine Characteristik — 301.
1. Epicur. Die atomistische Constitution der Materie . . . 303
a) Das Atom an sich. Körper und Leeres — 304. Discontinuität
der Materie — 306. Die Atome. Gründe für ihre Annahme — 307.
Eigenschaften der Atome — 312. Die Sinnesqualitäten — 314.
Mischung und Entmischung — 317.
b) Die Bewegung der Atome — 319. Declination — 321. Welt-
entstehung und Weltuntergang — 324.
2. Die Stoiker. Die Materie als qualitätsloser Körper . . . 326
Entlehntes und Eigenes in der stoischen Theorie — 326.
Inhalt. XV
Seite
a) Die Materie an sicli. Beweise für dieselbe — 330. Begriffs-
bestimmung — 333. Die Materie Substanz — 336. Die Materie
passives Princip — 339. Gontinuität — 340 und unbegrenzte
Teilbarkeit der Materie — 315.
b) Materie und bewegende Ursache. Materie und Qualität — 346.
Der Logos in der Materie — 354. Die löyot antgixaxixoi — 356.
Stoff und Kraft — 350. Materie und Gottheit — 360. Der stoi-
sche Hylozoismus — 364.
c) Die Materie im Weltprocess — 366.
Fünfter Abschnitt.
Der ]¥eupIatoiiii!«iuus und dessen Torläufor.
Die Vorläufer des Neuplatonismus 371
Die jüngere Academie. Antiochus von Ascalon — 371.
a) Die Platoniker. Gharacteristik — 372. Begriff der Materie
— 373. Bildung der Materie — 376. Die Materie und das Üble.
— 377.
b) Philo. Begriff der Materie — 380. Die Materie ungeworden
— 384. Die Materie und das Böse — 385. Paeuma und '/.üyoi,
— 388.
c) Die Neupythagoreer. Zwei Gruppen derselben — 389. Erste
Gruppe. Der Begriff der Materie noch nicht aufgrund der spe-
culativen Zahlenfheoiie entwickelt — 389. Zweite Gruppe.
Der Begriff der Materie aufgrund der Zahlenspeculation — 391.
Intelligibele Materie. Ursprung derselben - 394. Die Materie
der Körperwelt — 398. Die Materie und das Böse — 401.
Der Neuplatonismu.s 402
a) Plotin. Notwendigkeit und Natur der Materie — 402. Die sinn-
fällige und die intelligibele Materie — 409. Ursprung der Ma-
terie — 411. Die Materie und das Böse -414.
b) Die spätem Neuplatoniker. Porphyrius —417. lamblich
— 418. Die Schrift von den ägyptischen Mysterien — 419.
Plutarcb von Athen. Hierocles. — 420. Syrian Proclus — 421.
Pericles der Lyder. Damascius — 427. Ammonius. Simpli-
cius. Macrobius. Ghalcidius. Marcianus Gapella. Boethius
— 428.
Einleitung.
Unter dem Problem der Materie*) pflegen wir die Summe
aller derjenigen Fragen zu begreifen^ welche sich auf das Vor-
handensein und die Natur des von unserm Bewusstsein verschie-
nen Grundes der in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen, un-
ter dem Namen der Körperwelt zusammengefassten Phänomene
beziehen.
Nur einseitig und bloss vom Standpuncte der Naturbetrach-
tung aus ist ursprünglich die Forschung an das Problem der Ma-
terie herangegangen. Erst im Fortgange der Untersuchung trat
dasselbe zu weiteren Problemen in Beziehung, sich dadurch fort-
schreitend complicierend.
Am nächsten liegt diejenige Betrachtung der Materie, welche
wir kurz als die physikalische bezeichnen können. Sie fasst die
Materie als den allgemeinen Grund der differenzierten körperlichen
Dinge. Noch rein physikalisch ist sie; denn sie beschäftigt sich
nur mit den körperlichen Dingen als solchen , ohne sie zu der
geistigen Substanz und zu den Inhalten des Bewusstseins in
einen Gegensatz zu bringen.
Jenen allgemeinen Grund der körperlichen Dinge nun kann diese
Betrachtungsart in doppelter Weise zu bestimmen suchen. Die erste
Weise geht aus von der Erwägung, dass alles Physische fortwähren-
dem Wandel in Entstehen und Vergehen unterworfen ist. Alles Ent-
stehen und Vergehen aber, soll es nicht Schöpfung aus Nichts und
Vernichtung ins Nichts sein, muss an einem Substrat erfolgen, das
'•) Johannes Huber, Die Forschung nach der Materie. München 1877.
Baeuiuker: Das Problem Jer Materie etc. 1
'i Einleitung.
jetzt in dieser, dann in jener Bestimmtheit erscheint. Dieses Substrat
ist die Materie. Es gilt, die Natur des Substrates klar zu legen,
wie sie angenommen werden muss, wenn jenes Substrat einen
jeglichen beobachteten Wechsel ermöglichen und vorbereiten soll.
Wir können diese Betrachtungsweise als die genetisch-physikalische
bezeichnen. Die ]\Iaterie ist ihi- das, woraus oder worin die
mannigfachen körperlichen Dinge werden. Diese Auffassung ist
es, welche das ganze Altertum beherrscht.
Die zweite Weise der rein physikalischen Betrachtung unter-
scheidet in dem Verhalten der Körper zu einander solche Verhal-
tungsweisen, die allen Körpern gemeinschaftlich sind, uud solche,
die nur bestimmten Classen derselben zukommen. Indem sie
nun in der materiellen Constitution der Körper den inneren Grund
für ihr Verhalten erblickt, sucht sie den Grund für jene allgemei-
nen Weisen des Verhaltens in der allgemeinen Natur der Materie,
im Gegensatz zu welcher sie die besondere Verhaltungsw'eise einer
einzelnen Art des Körperlichen auf die besondere Natur des be-
treffenden Elementes oder der betreffenden Elementenverbindung
zurückführt. Die moderne Physik ist bei ihren Theorien der Ma-
terie wesentlich von diesem Gesichtspunkte geleitet. Da er nicht
so sehr den Übergang des einen aus dem andern ^ als die con-
stante und bleibende Weise des Verhaltens ins Auge fasst, so
mag er im Gegensatz zum genetisch -physikalischen der ontisch-
physikalische heissen.
Von den Objecten der äusseren Erfahrung, welche wir unter
dem Namen der Körperwelt begreifen, und von den Vorgängen in die-
ser Körperwelt unterschieden, finden wir in unserm Bewusstsein
einen Kreis von Vorgängen, die von uns auf uns selbst bezogen
und darum als Inhalt innerer Erfahrung der äusseren Erfahrung
gegenübergestellt -werden. Wie die ]\Iaterie Wurzel und Träger
des äusseren Geschehens, so ist uns Wurzel und Träger jenes in-
nern Geschehens der Geist. Indem so der Begriff der Materie den
Gegensatz zum Geist mitbesagt, tritt diese nicht mehr bloss den
aus ihr hervorgegangenen Einzelgestaltungen des Körperlichen ge-
genüber, deren Grund sie bildet, sondern zugleich auch dem von
ihr grundverschiedenen Gebiete des Geistes, welches sie aus-
schliesst und von dem sie ausgeschlossen wird. Wir w^ollen den
Standpunct, um seine Rücksichtnahme beim Physischen auf das
Psychische auszudrücken, als den psychophysischen bezeichnen,
Einleitung. y,
wobei wir dem Ausdrucke freilich eine über den gewöhnlichen
Gebrauch hinausgehende Bedeutung geben müssen. Das Bestre-
ben der Forschung wird bei dieser Fragestellung zunächst darauf
gerichtet sein, die unterscheidenden Prädicate festzustellen, durch
welche die Materie im Gegensatz zum Geist ihre eigentümliche
Bestimmung erhält. Dann aber wird es sich darum handeln, fest-
zusetzen, wie diese durch ihre eigentümlichen Prädicate bestimm-
ten Naturen sich zu einander verhalten, ob wie zwei für sich be-
stehende Substanzen oder Glassen von Substanzen, oder wie zwei
verschiedene Ansichten ein und derselben Substanz — ein Gegen-
satz, den die Geschichte der Philosophie vornehmlich an die Na-
men Descartes und Spinoza zu knüpfen gewöhnt ist. Das Alter-
tum untersucht zwar das Verhältnis von Seele und Leib, beschäf-
tigt sich auch mit der Frage nach der Materialität oder Immate-
rialität des Geistes; aber wo der Begriff der Materie selber unter-
sucht werden soll, ist dasselbe niemals von ihrem Gegensatze
zum Geiste ausgegangen.
Wir setzten soeben die Vorgänge in der Körperwelt und die
Vorgänge in unserm Bewusstsein als Gegenstände äusserer und
innerer Erfahrung gegenüber. Allein diese Grundlage für die
Unterscheidung von Materie und Geist treffen ZAveifel. Keine äus-
seren Gegenstände können je als solche in unser Bewusstsein ein-
gehen; was wir in uns haben, sind nur Vorstellungen derselben.
Woher wissen wir denn, dass diesen überhaupt ein Objectives ent-
spricht? Könnte nicht auch Berkeley im Rechte sein, wenn er
nichts ausser den Geistern und den Ideen in ihnen als wirklich
anerkennt und deshalb die Annahme einer von den Geistern und
deren Ideen verschiedenen Körperwelt als materialistischen Irrtum
bei Seite schiebt? Oder Leibniz, wenn er in der Körpervvelt zwar
wohl fundierte, aber doch nur der verworrenen Auffassung des
Sinnes angehörige Erscheinungen erblickt? Solche und ähnliche
Fragen haben das Problem der Materie auf das erkenntnistheore-
tische Gebiet hinübergespielt. Der moderne Philosoph kann da-
her auch die Frage nach dem Wesen der Materie nicht mehr
losgelöst von den erkenntnistheoretischen Erörterungen behandeln,
welche sich an den Gegensatz von Realismus und Idealismus
knüpfen. Das Altertum dagegen kennt jenen Gegensatz noch
nicht. Sein Standpunct ist immer der des Realismus geblieben.
Nur missbräuchlich und ungenau redet man von einem erkennt-
1 *
4 Einleitung.
nistheorelischen Idealismus in der antiken Philosophie. Soll aber das
Wort „Idealismus" nicht jede bestimmte Bedeutung verlieren —
eine Gefahr, die ja freilich dadurch schon nahe genug gelegt
wird, dass man dasselbe auf ethischem Gebiete in ganz ande-
rein Sinne zu gebrauchen pflegt, als auf erkenntnistheoreti-
tischem — , soll jenes Wort nicht sogar auf dem beschränkten er-
kenntnistheoretischen Gebiete für die alte Philosophie in an-
derem Sinne verwendet werden als für die neuere, so werden wir
unter dem ferkenntnistheoretischen) Idealismus nur jene Systeme
begreifen dürfen, welche das Objective hur als Bewusstseinsinhalt
anerkennen. Wir werden, wenn wir von „Idealismus" reden,
consequent den modernen Sinn des Wortes „Idee" zugrunde le-
geU; also unter „Idee" unsere Vorstellung verstehen; nicht aber
werden wir bei dem Etymon des Woites „Idealismus" einmal an
den modernen Sinn von „Idee'', und dann wieder an den platoni-
schen Begriff, nach dem „Idee" so viel ist als die von der Er-
schüinung geschiedene Wesenheit, denken dürfen. Dieser Idealis-
mus nun , der das Reale nur in den Vorstellungen oder in den
Ideen unseres Geistes und der uns gleichartigen Geister findet
und ausserhalb des Bewusstseinsinhalts keine Wirklichkeit mehr
anerkennt, ist dem gesamten Altertum noch fremd. AVas man in
der alten Philosophie als (erkenntnistheoretischen) Idealismus be-
zeichnet, ist jene Denknugsai-t, welche in den Unterscheidungen und
Beziehungen, die an unsern Begriffen sich darbieten, ohne weiteres
den Ausdruck realer Unterscheidungen und Beziehungen erblickt.
In der That werden wir in einer solchen Objectivierung und Hypo-
stasierung allgemeinster Begriffe und Anschauungen eine der
Hauptgrundlagen nachzuweisen suchen, auf denen die antiken
Vorstellungen auch über die Materie vielfach erwachsen sind.
Allein diesen Standpunct werden wir zur Vermeidung von Zwei-
deutigkeiten nicht als Idealismus, sondern im Anschluss an die im
mittelalterlichen Universalienstreite hervorgetretenen Gegensätze
als Begritfsrealismus, und zwar, weil er ohne vorgängige kritische
Untersuchung das ganze Gefüge unserer Ideen oder Begriffe als
Abbild der Realität fasst, als naiven Begriffsrealismus bezeich-
nen. Wollten wir aber auch das Wort „Realismus" vermeiden^
um gewisse Nebengedanken fern zu hallen, welche seit Herbart
leicht an jenen Ausdruck sich knüpfen, so möchte sich der Name
„Noumenalismus" für jenen antiken Standpunct empfehlen. --
Einleitung. 5
Die Realität der Körperwelt ist also dem Altertum, einige ver-
einzelte mid vorübergehende Ansätze abgerechnet, noch nicht
zum Problem geworden. Es hat dasselbe darum auch keinen
Anlass genommen, sich mit der Frage zu beschäftigen , ob über-
haupt die Materie etwas von unserm Bewusstsein Verschiedenes
bedeute. Ihm ist es so selbstverständlich, dass der Materie eine
objective Natur zukomme, wie ihm das Gleiche für die zusam-
mengesetzte Körperwelt unzweifelhaft ist; denn auch da, wo es
thatsächlich die ganze Körperwelt in schemenhafte Abstractionen
auflöst, glaubt es in diesen Begriffen doch eine objective Wirk-
lichkeit zu erfassen.
Die Geschichte des Problems der Materie in dem zu anfang
entwickelten Sinne können wir bis an den Ursprung der grie-
chischen Philosophie zurückführen. Diese beginnt mit dem Auf-
suchen eines einheitlichen Urgrundes für die wechselnde Viel-
heit erscheinender Dinge. Schon Anaximander hat mit Bewusst-
sein diese Aufgabe erfasst ; denn das Unbegrenzte , aus dem er
die Dinge hervorgehen lässt, bezeichnet er ausdrücklich als den
„Anfang", das „Princip" («cx'i)0« ^^ einer Zeit, wo die Natur-
wissenschaften noch in ihren allerersten Anfängen lagen, konnten
nicht zwingende Thatsachen der Erfahrung zu dem Unternehmen
anregen, aus Einem Principe alles zu erklären , sondern nur das
transcendente Einheitsbedürfnis des menschlichen Geistes. Indem
aber diese Forschung zu anfang ausschliesslich der objectiven
Welt ausser uns sich zuwendet, die körperlich dem Sinne gegen-
übertritt, und deren Vielheit aus einem ihr zugrunde liegenden
geraeinsamen Princip zu begreifen sucht, erscheint die Frage nach
dem einheitlichen Urgründe zunächst als Frage nach dem Urstoff,
aus dem die einzelnen Körperdinge geworden sind und in den sie
wieder zurückkehren. Mit mancherlei Umbildungen und. Verschie-
denheiten, wie sie durch die wechselnden Grundvoraussetzungen
der sich ablösenden Systeme bedingt waren, blieb das doch im
wesentlichen die antike Gestalt des Problems der Materie. Im
Anschluss an unsere obigen Ausführungen können wir die antike
Fragestellung somit kurz dahin bestimmen : Was ist das Sub-
strat {vnoxaifisior) des Wechsels in der Körperwelt?
') Simplic. phys. I, p. 24, 15 — 16 Diels. Dass die Notiz aus Theophrast's
Geschichte der naturphilosophischen Lehrmeinungen entnommen ist, beweist
H. Diels, Rhein. Mus. Bd. XLII (1887) S. 8.
6 Einleitung.
Als Gegensland einer besondern Untersuchung im Kahmen der
Naturphilosophie erscheint das Problem der Materie zuerst bei
Plato. Allein schon die vorsocratische Philosophie bietet uns
eine Reihe von Einzelbestimmungen, die wir als Ansätze zu einer
Theorie der Materie bezeichnen müssen. Freilich gehen diese
Ansätze von sehr verschiedenen Gesichtspuncten aus und bieten
keineswegs das Bild einer in sich folgerichtigen Entwicklung.
Bedeutungslos sind sie indessen nicht für uns. Die wesentlichen
Grundlagen der späteren durchgeführten Theorien sind bereits
zerstreut in ihnen angedeutet. Dann abei' tritt in der ganzen Ent-
wickelung immer stärker ein Zug nach jener antiken Form abstrac-
ten Denkens hervor, die in Plato ihren für alle Zeit typischen
Urheber gefunden hat und die wir oben als System des Begriffs-
realismus oder des Noumenalismus dem subjectiven Idealis-
mus gegenübergestellt haben, welchem das Reale zu unserer
Idee, unserm Bewusstseinsinhalt wird. Neben diesen zu Plato 's
Lehre von der Materie hinführenden Gedankengängen verdient
besondere Hervorhebung der Atomismus des Leucipp und Democrit,
welcher, wenngleich aus anderen Erwägungen erwachsen, in sei-
ner Thesis doch mit der Grundanschauung unserer modernen
Physik und Chemie zusammentrifft.
Nach jenen Versuchen entwirft dann Plato aus dem Zusam-
menhange seines Systems heraus eine ausdrücklich formulierte
Theorie der Materie. Entsprechend dem Begriffsrealismus , wel-
cher die Grundlage seines Systems bildet, erscheint ihm das
Substrat des Werdens in der Form einer hypostasierten Anschau-
ung. Die Materie ist ihm nichts Anderes, als der Raum, d. h.
die blosse Ausdehnung, der erst von den Ideen bestimmten For-
mung und Gestaltung zufliesst.
Einen engeren Zusammenhang zwischen dem Substrat und
den an diesem hervortretenden Formbestimmtheiten und zugleich
ein höheres Maass von objectiver Realität für dasselbe sucht
Aristoteles, auf den auch der technische Gebrauch des Wortes
,,Materie" {rürj) zurückgeht, durch die Einführung des Begriffes des
möglichen Seins zu gewinnen. Die Materie ist ihm die Möglich-
keit zu allem; die Form bringt nichts Fremdes an sie heran, son-
dern verwirklicht nur das der Möglichkeit nach in ihr schon An-
gelegte. Freilich ist streng genommen auch diese allgemeine
Möglichkeit zu allem bestimmten physischen Sein nur Hyposta-
Einleitung. 7
sierung eines nllgemeinen Begriffs; denn reale Redoutung hat
der Begriff der Möglichkeit nur, insofern er ein wirkliches Sein
bezeichnet, welches die Vorbedingung oder eine der Vorbedingun-
gen für das Eintreten eines neuen Seins enthält.
Die Reaction gegen solche abstract begriffliche Fassungen
finden wir bei den Stoikern und Epicureern. Beiden ist die
Materie wirklicher körperlicher Stoff, mit allen den Bestimmtheiten
— aber auch nur mit diesen -, welche nach ihrer Ansicht von
dem Begriffe des Körpers unabtrennbar sind. So fassen die
Stoiker, den Gedanken des Aristoteles vergröbernd, die Materie,
welche sie mit der Substanz identificieren, als qualitätslosen Kör-
per, während die Epicureer zu der Atomistik Democrit's zurück-
kehren, freilich nicht ohne mancherlei Änderungen an derselben
vorzunehmen. Ist diese Reaction der stoischen und epicureischen
Schule gegen die Verflüchtigung der Grundlage des Körperlichen
in eine leere Abstraction auch durchaus berechtigt, so schiesst
sie doch dadurch über alles Maass hinaus, dass sie neben der
körperlichen, materiellen , durchaus keine andere Substanz an-
erkennen will.
Diesem Materialismus gegenüber flüchten die Vertreter einer
geistigeren Welt- und Lebensauffassung wieder zum Platonis-
mus zurück, den sie indes durch die Einfügung zahlreicher aristoteli-
scher Begriffe, daneben auch einiges stoischen Gutes, zu berei-
chern und durch die Lehre von dem stufenweisen Hervorgang
des Vielen aus dem Einen zu einem in sich völlig gegliederten
Systeme abzurunden trachten. In der durch P lotin ausgebauten
neuplatonischen Lehre findet diese schon lange vorbereitete
Richtung ihre Vollendung. Die Materie erscheint hier als das
Letzte und daher Unvollkommenste von allem, was aus dem Ur-
princip hervorgegangen ist. Sie wird nach Plato als das Nicht-
seiende, nach Aristoteles als das der Möglichkeit nach Seiende be-
trachtet und gewinnt zugleich engste Beziehung zu dem die Zeit
vor allem beschäftigenden Problem vom Ursprung des Bösen.
Erster Abschnitt.
Die Vorsocratiker. Ansätze zu einer Theorie der Materie.
1. Die älteren ionischen Natnrpliilosoplien.
Wie in der vorplatonischen Philosophie überhaupt nicht , so
dürfen wir auch in der ionischen Schule keine ausdrückliche
Behandlung des Begriffes der Materie erwarten. Gleichwohl sind
unverkennbar in ihren Gedankenreihen die Ansätze auch zu
dieser Frage thatsächlich bereits vorhanden. Wie bedeutsam
gerade dieses Problem für die Sonderart jener ganzen Denkrich-
tung ist, wird am deutlichsten dadurch bewiesen, dass man die-
selbe durch die Bezeichnung „Hylozoismus", d. h. System der leben-
digen Materie, am genauesten glaubte characterisieren zu können.
So hat denn auch bereits Aristoteles das Problem der Materie
bei jenen Philosophen vorausgesetzt, wenn er von der ionischen
Naturphilosophie behauptet, sie kenne von den vier Ursachen,
welche sein eigenes System annimmt, nur die materielle ^). Ebenso
beginnt der Doxograph Aetius, über dessen Werk und dessen Bezie-
hung zu Theophrast's Geschichte der Naturphilosophie die bahnbre-
chenden Untersuchungen von H, Diels ^) uns Aufschluss gebracht
haben , das Capitel über die Materie {rtsQi i'^c) mit dem Thaies
und seinen Nachfolgern. 3)
') Arist. nielaph. I 3, 984a 16: ty. ixev ovv toviatv növ^v n^ aniur rufxiatttv
äv Trjv IV vAris t'i'dei XeyofxeviiV. Vgl. phys. II 2, 194; a 18—24.
2) H. Diels, Doxographi Graeci. Beroliiii 1879. — =>) Plut. plac. 1 9, 2;
Stob. ecl. I p. 318 Heei-en; Theodoi-el. (liaec. affect. cui'at. IV J3 (vei-gl. Diels,
Duxogi-. p. 3U7}.
Erster Ab.sc'hiiitl. Vorsocraliker. 1. Die älteren lonier. 9
Müssen wir so bereits in der ionischen Philosophie die Frage
nach der Natur der Materie als einen jener centralen Puncte be-
trachten, um die sich auch da schon das bewusste Denken dreht,
wo sie selbst noch unentdeckt ausserhalb des Gesichtskreises blei-
ben, so steigt die Bedeutung jener alten Denker für unsere Un-
tersuchung deshalb noch höher, weil die Voraussetzungen, welche
ihren Ausführungen zugrunde liegen, keineswegs allezeit unter-
schiedslos die gleichen bleiben; vielmehr lassen dieselben, wie in
anderen Dingen, so auch da, wo sie sich mit der von uns zu be-
handelnden Frage berühren, bereits mehrere grundverschiedene
Lösungsversuche erkennen, so dass sie zum Teil wenigstens ein
Vorspiel der späteren Mannigfaltigkeit bieten.
Der „Ahnherr" der ionischen Philosophie ist Thaies aus
Milet. Freilich wissen wir von seinen philosophischen Anschau-
ungen viel zu wenig M , um eine zusammenhängende Vorstellung
von seinen Meinungen zu gewinnen. Nicht einmal das können
wir mit Sicherheit behaupten, dass ein solcher systematischer Zu-
sammenhang zwischen den einzelnen Äusserungen angenonmien
werden müsse, welche uns von ihm überliefert sind. Übrigens
ist es im Grunde nur ein einziger Satz von wirklich philosophi-
scher Bedeutung, welchen wir mit Sicherheit ihm zuschreiben
dürfen. Es ist die Lehre, dass aus dem Wasser alles ent-
standen sei.
Der Satz schhesst eine doppelte Aufstellung ein, einmal die
allgemeine Behauptung , dass ein gemeinschaftlicher Urstoff der
Weltbildung zugrunde liege , dann die besondere , dass dieser
Urstoff das Wasser sei. Letzteres ist nichts als eine missglückte
naturwissenschafthche Hypothese, über deren Gründe schon Ari-
stoteles nur Vermutungen anzugeben wusste ; in dem ersteren
aber liegt ein philosophischer, und zwar ein metaphysischer Ge-
danke, der dem Einheitsbedürfnis des menschlichen Geistes ent-
stammt. Durch ihn ist Thaies der Begründer der Philosophie
geworden. Schwäche freiUch ist es und schon von Aristoteles
getadelt, dass er dieses Eine Princip nur als Materialursache, nur
als Urstoff vorstellen kann. Hier musste die Folgezeit eine wei-
tere Entwickelung bringen. Anaxagoras unternahm den ersten
1)- Vergl. Zeller, Die Philosophie der Griechen, Bd. I, Aufl. 4;. S. 175 Anm. 2.
Diels, Doxographi p. 475 adn. cril. ad i.
10 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
wichtigen Schritt dazu , sofern ihm der Gedanke des weltordnen-
den Geistes aufleuchtete.
Den verschiedenen Graden des Wertes, welcher den in des
Thaies Satz enthaltenen einzelnen Elementen zukommt, entspricht
der Grad des Beifalls, welcher den Letzteren bei den Späteren
zuteil wurde. Mit der Annahme, das Wasser sei der Ursprung
aller Entwickelung, fand er nur an dem Naturforscher Hippo ei-
nen vereinzelten und späten Anhänger. Seine Auffassung des
Urgrundes als Urstoff teilt die ganze ionische Schule. Mit dem
Versuche einer einheitlichen Begründung der Welt überhaupt
hat er die gesamte Philosophie der Folgezeit auf seiner Seite, so-
weit sie nicht auf jegliche metaphysische Speculation ganz und
gar verzichtet.
Welche Eigenschaften Thaies seinem Urstoffe beigelegt, wie
er seine Wirkungsweise bei der Bildung des Einzelnen gedacht,
lässt sich nicht mehr mit Sicherheit ausmachen. Wir werden
zwar wohl nicht ganz fehlgreifen mit der herkömmlichen An-
nahme; dass die gemeinsame Überzeugung der folgenden lonier
von der Belebtheit der Materie, d. h. von ihrer Kraftbegabtheit
und selbständigen Entwickelungsfähigkeit, also der hylozoistische
Grundgedanke, bereits von Thaies, wenn auch nicht ausdrück-
lich ausgesprochen , so doch der Sache nach bereits aufgestellt
sei; allein mit Bestimmtheit beweisen lässt sich das nicht. Was
man dafür gewöhnlich anzuführen pflegt, ist teils blosse Mutmas-
sung des Aristoteles, welcher man trotz des berühmten Namens
ihres Urhebers doch nicht die Geltung eines historischen Zeugnis-
ses beilegen darf, teils beruht es gar auf einer missverständlichen
Verwendung aristotehscher Aussagen ').
*) Ersteres ist der Fall an der bekannten Stelle de an. I 5, 411 a 7—8: „Und
es behaupten Einige, sie (die Seele) sei dem All beigemischt; weshalb viel-
leicht {i'aws) auch Thaies meinte, dass alles voll von Göttern sei." Hier zeicht
die durch das Wörtchen „vielleicht" (/ör-s) ausgedrückte Einschränkung, dass
wir es mit einer blossen Vermutung des Aristoteles über Sinn und Absicht
jenes Thaletischen Ausspruchs zu thun haben; denn nicht die Authenticität
des Ausspruchs selbst, sondern seine im Vordersatz gegebene Deutung wird
dadurch als problematisch hingestellt. In der That aber erscheint die Nutzan-
wendung, welche Aristoteles von dem Satze macht, um einen philosophischen
Gedanken in ihm zu finden, ein wenig willkürlich, zum mindesten in keiner
Weise zwingend. Derselbe dürfte wohl eher auf einer Stufe stehen mit dem
Worte, das Heraclit den Freunden, die zögerten, ihn in der Küche aufzusuchen,
Thaies. Anaximander. 11
Mit voller Bestimmtheit können wir den hylozoistischen Grund-
gedanken nachweisen bei dem ersten Verfasser einer philosophi-
schen Schrift, Anaximander von Milet. ^ Das Princip aller
Dinge sieht derselbe im ÜTreigor, d. h. in dem als unendlich ge-
dachten Stoffe. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die vielen
Streitfragen einzugehen, welche sich an den Versuch geknüpft
haben, die Natur dieses anaximandrischen ccneigov näher zu be-
stimmen. Als erwiesen darf wohl angenommen werden, dass
Anaximander unter demselben weder ein Mittelding zwischen Luft
und Wasser, noch eine mechanische Mischung verschieden qua-
zurief (Aiist. de part. an. I 5, 645 a 17 — 21): , Tretet ein, denn auch hier sind
Götter." Bezeichnend wenigstens ist es, dass Themistius, Philoponus und So-
phonias in ihren Erklärungen die bekannten Verse des Aratus(Phänom. v. 2 f.):
voll vom Zeus sind jegliche Strassen,
Jeglicher Markt der Menschen
als Parallele heranziehen, in denen doch gerade von einer allgemeinen Be-
seeltheit des Alls nichts gelehrt wird.
Noch weniger beweist die zweite schon bei Diogenes Laert. I 24 für eine
Allbeseelung angeführte Stelle : „Es scheint aber," heisst es de an. I 2, 405 a 19—21,
,auch Thaies, nach dem, was man ron ihm berichtet, die Seele als etwas Be-
wegendes zu betrachten, da er ja behauptet, der Magnet habe eine Seele, weil
er das Eisen anziehe." Wenn hier von dem Philosophen dem Magneten des-
halb eine Seele zugeschrieben wird, weil er das Eisen bewege und nun Aristoteles
daraus folgert, dass Thaies das Wesen der Seele in ihrer Natur als Princip der Be-
wegung gesehen habe, so wird hier doch offenbar nicht allem Anorganischen,
sondern nur dem Magneten, und diesem eben nur um seiner besonderen
Eigenschaften und Kräfte willen, eine Seele beigelegt. Nicht dafür ist der
Magnet ein Beispiel, dass sich die Seele auch da finde , wo wir am wenigsten
Leben erwarten würden, in den Steinen nämlich, wie Decker, De Thalete
Milesio, Halle 1865, p. 75 meint, sondern dafür, dass die Seele, wo sie sich
findet, das Bewegende ist. Für eine allgemeine Beseelung kann diese Stelle
unmöglich angeführt werden, da eine solche im Gegenteil eher durch dieselbe
ausgeschlossen erscheint. Es ist damit genau so, wie wenn nach Arist. de an.
I 2, 404 a 17 — 19 einige Pythagoreer die Sonnenstäubchen, resp. das diese Be-
wegende, für Seelen hielten, was Aristoteles zum Beweise dafür anführt, dass
auch nach der Ansicht mancher früherer Philosophen die Seele das Bewegende
sei (403 b 28 f.). Auch darin darf man nicht , wie es ethnologischer-
seits geschehen ist , Spuren eines ursprünglichen allgemeinen Animismus
suchen. Die Sonnenstäubchen werden vielmehr offenbar nur deshalb als be-
seelt angesehen, weil sie sich anscheinend willkürlich umherbewegen.
') Vgl. Jos. Neuhaeuser, Anaximander Milesius. Bonn 1883. P. Natorp.
Über d. Princip u. d. Kosmol. Anaximander's. Philos. Monatsh. XX (1884)
S. 367—398.
12 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
lificierlei- Eleiiienlurtcilchen verstanden wissen will. Erstere An-
sicht stützt sich in letzter Instanz auf eine missverständliche Aus-
deutung aristotelischer Stellen, in denen in Wirklichkeit von
Anaximander gar nicht die Rede ist^); die letztere hat das be-
stiniinte Zeugnis des Theophrast gegen sich, welcher die von
Anaxagoras angenommene ursprüngliche Mischung der Homoe-
omerien ausdrücklich nur unter der Bedingung dem aneiQov des
Anaximander gleichsetzt, dass man von aller qualitativen Be-
stinmitheit der Bestandtheile absehe ^). Anaximander scheint sich
über die Natur des äneigov nicht näher ausgelassen zu haben ;
er hat dasselbe vielmehr wohl nur unbestimmt als das bezeich-
net, Avoraus alles Übrige, auch das von Thaies als Ursprung alles
Seienden aufgestellte Wasser, geworden sei ^). Eine Gonsequenz
dieser Anschauung wäre es gewesen, wenn Anaximander diesem
Urstofi" jede bestinmüe Qualität abgesprochen hätte. Man kann
diesen Gedanken in der von ihm für den Urstoff gewählten Be-
zeichnung 10 aneioov finden, und in der That hat Theophrast
den Sinn des uirtigor dahin erklärt, dass es sowohl die quanti-
tative wie die qualitative Unbegrenztheit bezeichne "*). Allein die
ganz aristoteUsche Terminologie Theophrast's ^) beweist, dass er
^) S. Vermeintliche Aristotelische Zeugnisse über Anaximander's chifi()oi\
Neue Jahrb. f. Philol. Bd. 131 (1885) S. 8^27—832.
^) Theophrast bei Simplic. phys. p. 154, 19—23 und, von Kleinigkei-
ten abgesehen, gleichlautend p. 27, 19 — 23 (Diels): el (fe r<> rijv iniir tij>v
änävTfop vnokäßoi ui'av ti'vai (fvoiv dö(itaTOV xai xaz' fidog xai y.ata /uryfthui , onfQ
av (fö^eie ßovkta&ni Xeyur, avfißaivft. ovo ra^ a('Jf"f at;r«J (dem Anaxagoras) ki'ynv
Tijv re tov a'^fiQOv (pvaiv xai rov vovv' wart nävtiüi (faivtrai xa aaiuaitxa. azoi^tia
jiaQaTtXriaiuii tiouov 'Jva^ti.iäv(f()ip
^) Simplic. phys. p. 24, 16 — 18 (nach Theophrast): ?.iyit <i' avzt]v («'(<-
XV») ß^ift r'tfü)() firjTf aX}.o zi tuiv xaXovjut'vü)» vvvl (so vermutet H. Usenef, Ana-
lecta Theophrastea p. 31, sehr ansprechend statt des handschriftlichen eü'ar)
azoi^tiiov, ak).' ht{iav ziva (ftiatv aJifi(iüv, fS t/s nnavzai; yiyvtaO-aL zuvi oi^navovi xai
zovg tv avioii xüii/tocs. Aus dem Umstände, dass hier nur das Wasser mit
Namen genannt wird, werden wir schliessen dürfen, dass Theophrast in der
Schrift des Anaximander nur eine Polemik gegen das von Thaies aufgestellte
Princip fand, welche er dann zu dem Gedanken erweiterte, dass Anaximander
auch jedem der übrigen seit Emj)edocles aufgestellten Elemente den Hang als
Princip streitig gemacht haben würde.
*) Vgl. oben Anm. 2: dÖQiazov xai xaz' (i(foi xai xazd ,ueycd-oe:.
®) Vgl. Arist. phys. I 4, 187 b 8—10: rö ijiv xazu Ti^ij&os ij xazd ij(yfx>oi
antiQov dyvwazov nöaov zi, zö ffi xaz' lidog antiQov dyvwatov noiöv zi.
Anaxiinander. Sein antiQov. i'6
hier nicht so sehr historisch referiert, als vielmehr durch ein Aus-
denken der Gedanken des Anaximander diese auf eine den Be-
griffen der eigenen Schule entsprechende Formel zu bringen sucht.
Vielmehr scheint Anaximander bei jener Bezeichnung vor allem
die räumliche Unendlichkeit, die unendliche Ausdehnung, ins
Auge gefasst zu haben. Andernfalls wäre es nicht recht verständlich,
wie auch Anaximenes sein Princip, die Luft, unbedenklich als ein
än^iQor bezeichnen konnte, obwohl er unter demselben keinen
qualitativ unbestimmten Stoff verstanden wissen wollte. Einen
wirklich philosophischen Begriff freilich vom Unendlichen und
eine Vorstellung von den grossen Schwierigkeiten, die in der An-
nahme einer realen unendhchen Ausdehnung liegen, hat Anaximan-
der schwerlich gehabt. Soweit wir sehen, ist Aristoteles der erste,
welcher dieses Problem mit kritischer Schärfe untersuchte , da-
durch aber zur Bestreitung der Möglichkeit einer actuellen unend-
lichen Ausdehnung geführt wurde '}.
Weshalb Anaximander unendliche Ausdehnung für den Ur-
stoff glaubte voraussetzen zu müssen, wissen wir nicht. Nach
einer Stelle des Aristoteles 2) , wo unter den Gründen , weshalb
von den früheren Philosophen ein Unendliches angenommen sei,
auch der angeführt wird, dass nur so der nötige Stoffvorrat für
die steten Neubildungen vorhanden wäre , hat man in dieser Ar-
gumentation den Ausgangspunct für Anaximander's Anschauung
vom Unendlichen erblicken wollen, indem man darauf hinwies,
dass dieser nach den Berichten jüngerer Schriftsteller ^) seine
Annahme vornehmlich daraus bewiesen habe, dass nur so das
Unendliche in den fortschreitenden Erzeugungen sich nicht er-
schöpfe. Da indessen diese Berichte wegen ihrer fast wörtlichen
Übereinstinnnung mit den fraglichen Ausführungen des Aristote-
les den dringenden Verdacht erregen, als habe die ihnen gemein-
same Quelle sich nicht auf eine selbständige Überlieferung ge-
') Arist. phys. 111 c. 4—8.
-) Allst, phys. III 4, 203 b 18—20; vgl. III 8, 208 a 8— 11.
'■^) Angefühlt bei Schleiermacher, Über Anaximandros. Werke, Abt. KI Bd. %
S. 178 Anni. ****), Zeller l\ IH'x 2. Doch ist von den dort citierten Zeugnissen Cic.
Acad. U 37, 118 zu streichen, da liier vielmehr der erste Satz des bei Plut.
plac. I 3, Stol). ed. I p. 292, Epiphan. de Graec, sect. III, Bd. 3 pag. .5H2,
23 — 26 Dind. und Hippel, refut. I G im wesentlichen gleichlautenden Berichtes
wiedergegeben wird.
14 Erster Abschnitt. Vor.socratiicei'.
stützt, sondei'ii nach eigener Vermutung die Worte des Aristote-
les auf den Anaxiniander bezogen, so ist auf diesen Umstand
nicht allzu viel zu geben. Mag jene Vermutung auch nicht ohne
innere Wahrscheinlichkeit sein: als historische Überlieferung kann
sie, mit Sicherheit wenigstens, nicht bezeichnet werden.
Aus dem Urstoffe gehen durch einen Ausscheidungsprocess ')
die Welten und alles in ihnen Enthaltene hervor. Der Grund für
diese Differenzierung des ursprünglich Einheitlichen liegt im Stoff
selber, welcher von Anaximander als lebend, d. h. das Princip
der Bewegung in sich selber tragend , gefasst wird. Wenn nach
zuverlässigen Berichterstattern Anaximander den Urstoff als et-
was Unsterbliches 2), nicht Alterndes •'') beschrieb, so hat er damit
den Hylozoismus, welchen wir dem Thaies wenigstens mit Sicher-
heit noch nicht beilegen konnten, principiell aufgestellt. Dieses
Leben offenbart sich in der ewigen Bewegung des Stoffes, die
zu jener Ausscheidung verschiedener Gestaltungen führt und so
die Entwickelung wie der Welten so auch der einzelnen Natur-
vorgänge bedingt ■*). Anzunehmen , dass Anaximander unter der
Bewegung etwas anderes verstanden habe , als die räumliche,
haben wir nach dem uns vorliegenden Material keine zwingende
Veranlassung.
Der Urstofl' und das aus ihm Gestaltete stehen sich sonach
wie Unendliches und Endliches gegenüber. Zugleich verbindet
sich mit diesem Gegensatz die Vorstellung eines Wertunterschie-
des. Die Einheit des Unendlichen ist das Seinsollende, das Her-
vortreten des Endlichen ist ein Unrecht, welches durch den
Kampf und die gegenseitige Vernichtung der Sonderexistenzen
gesühnt werden muss. „Woraus die Dinge entstehen , in eben
dasselbe müssen sie auch vergehen, nach der Notwendigkeit," so for-
muliert (nach Theophrast) Simplicius den Gedanken Anaximander's,
und er fügt den Grund mit Anaximander's eigenen Worten hinzu :
„denn sie zahlen einander Busse und Strafe für ihre Ungerechtig-
*) iy.y.(ilvta{>ai bei Arist. phys. 1 4, 187 a 20, thioy^iivKidai bei Theophrast
(Simplic. in phys. p. 24, 23—25; vgl. Hippolyt. refut. I 0).
*) ttti^dvarov, Arist. phys. III 4, 203 b 13.
^) äyr/Qw, Hippolyt. 1. c.
*) Simplic. in phys. p. 24, 23-24, p. 41, 18—19; Hippolyt. refut. I 6;
Hermias irris. gent. c. 10 (vgl. dazu Üiels, Doxogr. p. 263, 1). Quelle ist
Theophrast.
Anaximander. Aiiaximeneö. If)
keit nach der Ordnung der Zeit." ') Indem Anaximander so die
Gegensätze des sich in unablässigem Streit bekämpfenden End-
lichen stets wieder zurückfliessen lässt in die Einheit des nicht
alternden Unendlichen , ist er der Vorläufer einerseits der eleati-
schen Einheitslehre, deren erster Begründer, Xenophanes, nach
nicht unglaubwürdiger Angabe in einem Schülerverhältnis zu ihm
stand, ^) andererseits der Lehren seines ionischen Landsmannes
Heraclit von dem Streite als dem Vater aller Dinge^ von der Ein-
heit der Gegensätze und von der alles beherrschenden ^ifiaQi.isvrj
geworden.
Fassen wir die Anschauung des Anaximander vom Stoff in
Kürze zusammen, so erscheint ihm dieser als der unendliche, ewig
lebende, das vergängliche Endliche an Wert weit überragende
Naturgrund.
Mit Anaximander im wesentlichen auf demselben Boden steht
auch Anaximenes aus Milet, doch so, dass er in einigem wie-
der dem Thaies sich nähert^ während andere Gesichtspuncte, so
weit wir sehen können^ von ihm neu eröffnet werden. Auch
dem Anaximenes ist der Grund aller Dinge der ewig lebende,
mit ewiger Bewegung begabte Stoff, welchem zugleich nach dem
Vorgange des Anaximander räumliche Unendlichkeit zugeschrieben
wird, ä) Darin indes tritt Anaximenes wieder auf die Seite des
Thaies , dass er die Qualität des unendlichen Stoffes nicht unbe-
stimmt lässt, sondern ihn als einen qualitativ bestimmten denkt.
Die Luft ist ihm das Princip aller Dinge. Die Begründung dieser
Ansicht führt einen neuen Gedanken in die Philosophie : die Pro-
portion zwischen Mensch und Welt^ zwischen Microcosmus und
Macrocosmus. „Wie unsere Seele, welche Luft ist, uns zusam-
menhält," heisst es in einem uns erhaltenen Fragmente des Ana-
*j Simplic. phys. p. 24, 18—21. Der Schrift des Anaximander sind
wohl die Worte entnommen: . . . xard tu yof,U'' ihdurai yaQ avid ih'xt,v yui
riaiv äl/.Ti^.uis i^c dihyiac xarä i7]v tov j^qüvoi- jä^ir. Das in der Aldina feh-
lende, zuerst von Usener, Analecta Theophr. p. 31 nach den von Brandis ver-
glichenen Handschriften eingesetzte d/.'/.r,>.o(i zeigt, dass es sich bei dem (Uxriv
thJövai nicht um eine Aufhebung des EndUclien durch das Unendliche
handelt, wie noch G. Spicker, De dicto quodam Anaximandii philosophi. Ind.
lect. Monaster. Gue.-tphal. 188.3, S. 3 f. annimmt, sondern um Kämpfe zwischen
den Einzeldingen.
^) Diogen. Laert. IX 21 und dazu Diels, Doxographi p. 103 und 147 f.
«) Die Belege bei Zeller 1*, 220 f.
l<i Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
ximenes, „so uinfasst Hauch and Luft auch die ganze Well."')
Liegt in dieser Gedankenreihe der Grundfehler der hellenischen
Nalurauffassung , die anthropomorphistische Deutung der Natur
und des Naturgeschehens, schon deutlich ausgedrückt, so ist sie
doch andererseits als Versuch beachtenswert, in das der Beobach-
tung Unzugängliche durch die Analogie des Erfahrbaren Einsicht
zu gewinnen. Denn die Deutung der menschlichen Seele als Luft 2)
stützt sich offenbar auf die Wahrnehmung, dass der Mensch nur
so lange lebe, als er atme.
Aus dem Urprincip entwickelt sich alles durch die ewige Be-
wegung in dem doppelten Process der Verdünnung und der Ver-
dichtung. Die erstere führt Erwärmung, .die letztere Erkältung
herbei. Darum wird durch jene die Luft zu Feuer gewandelt,
durch diese in absteigender Stufenreihe zu Wind, Wolken, Was-
ser, Erde und Steinen, woraus dann weiter die zusammengesetz-
ten Körper entstehen. Auch bei dieser Ansicht stützt sich Ana-
ximenes auf eine ihm in der Erfahrung gegebene Analogie. Wenn
wir mit weit geöffnetem Munde den Atem ausströmen lassen, so
hat derselbe eine erwärmende Wirkung ; pressen wir ihn dagegen
zwischen den zusammengedrückten Lippen hindurch, so ruft der-
selbe eine Kälteempfmdung hervor. Hierin glaubte Anaximenes,
wie Plutarch berichtet^), die Thatsache zu sehen, dass das Zusam-
menpressen der Luft durch die Lippen , also deren Verdichtung,
») Plut. plac. I 3, 6. Stob. ed. I p. 296. Wenn Simplicius in Arist.
de caelo p. 274 a 1 (Karsten) in der leicliten Verändei'lichkeit der Luft den
Grund sieht, weshalb Anaximander dieses Element als Weltprincip betrachtet
habe, so ist das jedenfalls nur eine Vermutung. Den Anlass zu dieser moch
ten die kritischen Bemerkungen des Aristoteles phys. I 6, 189 b b — 8, geben.
Wenn man einmal eine gemeinschaftliche Natur allem unterlegen wolle, bemerkt
Aristoteles dort, so sei es am vernünftigsten, entweder jenes Mittlere dafür an-
zusehen, odei-, wenn nicht dieses, dann die Luft , indem diese am wenigsten
wahrnehmbare gegensätzliche Qualitäten aufweise, welche dem Übergang in
andere Gestaltungen gegenüberstehen würden. Es lag nahe, diesen von Aristoteles
hypothetisch ausgesprochenen Gedanken zum Motiv Anaximander's zu machen.
'-') Dass diese auch sonst Itei Orpliikern u. s. w. sich findende Vorstellung
(vergl. Lobeck Aglaophamus , Königsberg 1829, 1, S. 758) nicht schon dem
Anaximander mit Sicherheit beigelegt werden könne, s. N. Jahrb. f. Phil. Bd. 131
S. 828 A. 7.
^) Plut. de primo frigido cap. 7. Dass Plutarch hier aus guter Über-
lieferung schöpft, beweist schon die genaue und liestimmte Auskunft, welche
er über die Terminologie des Anaximenes giebt.
I
Anaximenes. Diogenes von Apollonia. 17
dieselbe kälter, die Verdünnung dagegen, welche sie bei der wei-
ten Öflfnung des Mundes erfahre, dieselbe wärmer mache. Ist
diese Ansicht auch naturwissenschaftlich unhaltbar, indem die
Wirkung der Verdichtung und Verdünnung gerade die umge-
kehrte und jenes Wärme- und Kältegefühl vielmehr, wie schon
Plutarch hervorhebt, ganz anders zu erklären ist, so dürfen wir
daraus dem alten Milesier doch um so weniger einen Vorwurf
machen, als auch die von Plutarch nach Aristoteles gegebene
Deutung keineswegs befriedigend ausgefallen ist.
So erscheint denn an dem Versuche des Anaximenes, denUrstoff
und die Weise seiner Entwickelung zu bestimmen, wenn wir ihn
mit der abstracteren, auf Heraclit hinweisenden Denkungsart Anaxi-
mander's zusammenhalten, besonders characteristisch das Bemühen,
für die immerhin noch recht phantastische Speculation einen Anhalt
zu finden an gewissen in der Erfahrung gegebenen Thatsachen.
Ein später Nachfolger des Anaximenes ist Diogenes von
Apollonia ^). Fast der jüngste unter den Naturphilosophen , wie
Simplicius 2) nach Theophrast ^) angiebt, kommt er mit dem Ana-
ximenes zwar darin überein, dass er die Luft als das gemeinsame
Princip aller Dinge bezeichnet (Fr. 5 u. 6)'*); aber, auch von den
Einzelheiten seiner Physik abgesehen , schon seine Bekämpfung
der Elementenlehre, der gegenüber er die Einheit des Urstoffes
betont (Fr. 2), sowie die Art und Weise, wie er aus der Ordnung
der Welt auf die Vernünftigkeit des Urstoffs schliesst (Fr. 4),
rücken ihn in die nächste Nähe eines Empedocles und Anaxa-
goras. Welcher Art sein Verhältnis zu diesen ist , ob das eines
Vorläufers, oder das eines Gegners, der zugleich das Gute, wel-
ches er bei dem von ihm Angegriffenen findet, im Sinne des al-
ten lonismus zu verwerten sucht , unterliegt der Gontroverse.
Doch scheint mir die polemische Beziehung auf Empedocles
zweifellos. ^)
') Die Fragmente citiere ich nach Scliorn, Anaxagorae Glazomenii et Bio-
genis ApoUoniatae Fragmenta (Bonnae 1829), womit die Zahlen hei Mullacli.
Fragm. phil. graec, ühereinstimmen.
') Simplic. phys. I, p. 25, 1. — S) Vgl. H. Diels, Rhein. Mus. XLII (1887)
S. 5—10 (gegen P. Natorp. Ehend. XLT. 1880. S. 350 ff.) — ") Die Angahen der
Alten hei F. Panzerhieter, Diogenes Apolloniates (Lipsiae 1830) S. 53 IT.
•'■) Ausdrücklich werden die von Empedocles aufgestellten vier Elemente
hekämpft in Fr. 2 nach dem von Diels aus den Handschriften vervollständig-
ten Texte: ei yuQ r« tv Twö't riu xöaitio inria vvr 7?) y.al riS(n(i xal ai^o xal 7zr/>
Baeumker: Das Problem der Materie ete. 2
18 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Was aber das Verhältnis der vörjOig ^) bei Diogenes und des
anaxagorischen vovg anlangt, so dürfte bei dem schon von Theo-
phrast ^) bezeugten eklektischen Verfahren des Apolloniaten
die Frage, ob hier überhaupt eine Abhängigkeit vorliegt 3),
eventuell ob dem Diogenes *) oder ob vielmehr dem Anaxa-
(die von Diels, Simpl. phys. I, p. 152, hinzugefügten Worte xal drjQ xal Trvp sind
übrigens schon Schorn, und nach diesem MuHach, aus einer von Brandis her-
angezogenen Handschrift bekannt) xal tu Ukku öaa ifah-eTca iv rixiäe tw xda/ua>
idvTa, ti TovT('o)v Ti ijv 'extQov jor heQov xt).. Auf Anaxagoras, an den Zeller 1'*
251 neben Empedodes denkt, weist in diesem Fragmente mit Notwendigkeit
wenigstens nichts.
*) Mit Unrecht hat Mullach den vovs in Fr. 6 des Diogenes hineingebracht.
Statt der verderbten Worte desselben bei Simpl. phys. 1 p. 152, 24: dno yd(i
/not lovTo e'&oi (i'oxii eivai, wofür Mullach ütto y«p /xai xoviov fi'oxcei vdos tivai ein-
setzt, vermuten mit weit grösserer Wahi'scheinlichkeit Panzerbieter: avrov yap
/xoi TovTov (tovto Dicls) (foxeT tS-os eivai, Usener: avro yd() fioi tovto S^fog ö'oxfT ei'vai.
2) Simplicius (phys. I, p.25, 1) berichtet nämlich — und zwar, wie Diels (an der
S. 17 Anm. .3 angefühilen Stelle) überzeugend nachweist, nach Theophrast — , dass
Diogenes hinsichtlich seines Hauptprincipes an Anaximander sich anschliesse, im
übrigen aber das Meiste eklektisch {acfxncif.oQ^i,uevoii) aus Anaxagoras und Leu-
cipp herübernehme. Für leucippisch hält z. B. Schleiermaclier (Gesch. d. Philos.
hrsg. V. Ritter, S. 77) und mit ihm Zeller 1*, 774, 2 die Demonstration, dass
nur von Gleichem auf Gleiches könne gewirkt werden. Wie die Erklärung des
Gewitters bei Diogenes sich als eine unselbständige Compilation aus den An-
sichten desiLeucipp, Anaxagoras (stattdessen man indes allenfalls an Empe-
dodes denken könnte, der gleichfalls die Ursache des Donners in einer t-'/UTirwö^f
nicht ex7iT(»aii sieht) und Anaximander oder Anaximenes darstellt , zeigt Diels,
Verhandl. der 3.5. Vers, deutscher Philologen zu Stettin 18S0, S. 97 Anm. 7;
Rhein. Mus. XLIl (1887) S. 10 f. Dass auch Aetius IV 9, 8 (Doxogr. p. 397,9):
Ol /X€p a}.Xoi if,vact td aia&ijTa, Atvximiog tff Jij/AÖx(tnog xal Jioyivr^i; vöuip auf den
Apolloniaten gehe, wie Diels Rh. Mus. XLII S. 11 Anm. 3 annimmt, ist mir
dagegen wenig wahrscheinlich ; vielmehr dürfte hier an den Atomiker Diogenes
(Zeller P, Sdl) zu denken sein, welchem Epiphanius adv. haeres. p. 1088 B (vol.
III p. 564, 19 Dind.) gleiche skeptische Sätze wie dem Protagoras beilegt. Arist.
de an, III 2, 42Ga20: aAA' oi thiÖtcqov fvaioXoy oi tovto ov xahZs i'Xeyov, ovO-tr
oiöfievoi ovre Xivxov oi-re fif?.av iiviu uvev oijjtoDs, welche Stelle man für den Apol-
loniaten anführen könnte, beweist nichts für diesen, da Aristoteles den Begriff
der Physiologen sehr weit ausdelmt; vgl. Trendelenburg zu der citierten Stelle,
p. 357 ff. der 2. Ausg.
^) Was Panzerbieter (a. a O. S. 19 f.) und Schaubach (Anaxagorae Gla-
zomenii fragmenta. Lipsiae 1827. S. 32) leugnen.
*) Wie Schleiermacher (Über Diogenes von Apollonia. Werke, Abt. III, Bd.
2, S. 156 f. 166 ff.), Braniss (Gesch. d. Philos. seit Kant. Breslau 1842 S. 128 ff. 134),
Krische (Forschungen zur (ieschichte dei- alten Philosophie. Göttingen 1840.
Öiogenes von Äpollonia. Heraclit. li)
goras^) die Originalität zukommt, doch nur im letzteren Sinne
zu entscheiden sein. Im übrigen sind neue, für unsern Gegen-
stand bedeutungsvolle Gedanken durch Diogenes nicht aufgestellt
worden.
Weit übertroffen an bleibender Bedeutung werden die Vor-
aufgehenden von dem tiefsinnigen Heraclit^). Der Grund für
die nachhaltige Wirkung, welche seine Speculation auf die Ent-
wicklung der Philosophie ausübte, liegt in der siegreichen Ge-
walt, mit welcher bei ihm das rein gedankliche Element, die philo-
sophische Abstraction, durchbricht, in der Gonsequenz ferner,
mit welcher er in festen Umrissen eine in sich zusammenhangende,
einheitliche Weltautfassung begründet, der gegenüber jeder der
Folgenden Stellung zu nehmen hatte. Während bei seinen Vor-
gängern das Interesse in erster Linie den einzelnen Erscheinungen
in der Welt zugekehrt ist, für welche sie durch naturwissenschaft-
liche Kosmogonien eine Erklärung suchen, und erst in zweiter
Linie den allgemeinen Fragen sich zuwendet, treten diese letzteren
bei Heraclit durchaus in den Vordergrund. Ihn kümmert das Ein-
zelne nicht als solches, sondern insofern es als Erläuterung und
empirische Bestätigung der intuitiv erfassten allgemeinen An-
schauung dient.
So Aveist Heraclit sowohl nach rückwärts , wie nach vorwärts.
Seine Philosophie vollendet einerseits die hylozoistische Natur-
betrachtung der voraufgehenden drei Milesier, speciell die des
Anaximander^), andererseits nimmt sie, indem sie alles ins ab-
S. 171 ff.), Natorp (Diogenes von Äpollonia, in: Rhein. Mus. XLI. 1886. S.
348 — 36.3) annehmen. Wenn Zeller l*, ä50, 4 behauptet , Schleierni acher habe
seine Ansicht hierüber später geändert, und sich hierfür auf dessen Geschichte
der Philosophie, hrsg. von Ritter, S. 77 beruft, so macht eine Anmerkung des
Herausgebers S. 30 **) (trotz des in der Vorrede S. 8 über das Jahr der Ab-
fassung Bemerkten) es wahrscheinlich, dass vielmehr umgekehrt die Darstel-
lung des von Ritter veröffentlichten Manuscriptes die frühere ist.
1) So Brandis, Handb. d. Gesch. d. griech.-röm. Philos. I, S. 272 ff., Phi-
lippson, "Ykii- dv&Qmnivr,. Berol. 1831. S. 198 ff. Zeller P, 249 ff. Siebeck,
Gesch. d. Psychol. la, S. 82 f. Übenveg-Heinze, Gesch. d. Phil, I', S. 47.
^) Schleiermacher , Herakleitos der Dunkle von Ephesos, Werke Abt. III,
Bd. 2, S. 1 — 146. Paul Schuster, Heraklit von Ephesus. Acta societat.
phil. Lipsiens. ed. Kitschelius. Bd. III, S. 1—394. Heracliti Ephesii reliquiae,
ed. Ingram Bywater, Oxonii 1877.
"•) Über die Beziehungen zwischen Anaximander und Heraclit vgl. Zeller,
l^ ö. 214. 218. 613. 667 f.
2 *
|^-«^-0■,^,M»Zv>^.
20 Erster Ahsclinitt.. Voi'socratiker.
stract Regriffliche hinüborspioit; das (Ti-undprobleiii der fol5:^'enden
Periode voraus. Wie es aber einseitig wäre , in der Lehre des
Heraclit nichts Weiteres zn sehen als eine neue Variation des
schon von Thaies angegebenen Themas, ebenso einseitig ist es,
seine Naturanschauung unter Aufgabe alles sinnlich concreten
Inhalts ganz ins Begriffliche, Dialektische zu verflüchtigen '). Eine
derartige Umdeutung thut nicht nur den Worten der Überlie-
ferung überall Gewalt an, sondern ist auch mit der ganzen histo-
rischen Stellung Heraclit's unvereinbar. >
Von der Art und Weise, wie wir die Grundanschauungen
Heraclit's bestimmen, hängt es ab, welche Stellung zum Problem
der Materie wir ihm zuzuschreiben haben. Es sei uns daher ge-
stattet, um die sichere Grundlage für die speciellere Frage zu ge-
winnen, eine allgemeine Erörterung vorauszuschicken.
Das System Heraclit's wurzelt noch im ionischen Ilylozoismus.
Mit den voraufgehenden loniern nimmt er als Grundprincip der Welt
einen kraftbegabten Urstoff an, der durch seine Umwandlungen
die Vielheit der Dinge entwickelt. Als solchen Urstoff bezeichnet
er das Feuer ^). Schon Aristoteles und Theophrast haben hierin
den Ausgangspunct für die Speculation Heraclit's gesehen. Ari-
stoteles stellt an der bekannten Stelle der Metaphysik, wo er einen
kritischen Überblick über die Principien der früheren Philosophen
giebt, den Heraclit mit den anderen loniern unbedenklich zusam-
men 3). Ebenso begann Theophrast, wie wir aus Diogenes von
Laerte ersehen, in seiner Geschichte der naturphilosophischen
Lehrmeinungen die Darlegung des heraclitischen Systems mit dem
Satze, dass das J'euer das Urelement und dass alles Andere Um-
wandlung des Feuers sei*).
Weshalb Heraclit gerade das Feuer als Urprincip betrachtete,
wird sich mit Gewissheit nicht bestimmen lassen. Aristoteles
scheint anzudeuten, dass er dabei an die bewegliche, stets fliessende
Natur des feurigen Dunstes gedacht habe'»). Näher liegt freilich
•) Eine verständige Kritik der neueren Meinungen über das physische
Princip Heraclit's giebt E. Souher, Eraclito Efesio. Roma 1885. S. 119—134.
■') Die Belege bei Zeller P, 585 ff.
3) Arist. metaph. I 3, 984 a 7—8.
■*) Diog. Laert. IX 8. Dass der mit den Woi'ten: xal ncria u/r /^r at'nZ
T(( d'oxorviu schliessende Abschnitt IX 8 — 11 ziemlich genau den \Vortlaut des
Theophrast wiedergiebt, zeigt Diels, Doxographi p. 163 — 105.
'-) Allst, de an. 1 % 405 a Ti .
Heraclit. Seine Stellung. Das Feuer. 21
die Erwägung, dass nach einer im ganzen Altertum weitverbreiteten
Annahme das erwärmende Feuer als da.? Urprincip des Lebens
erscheint 1). Ist uns auch nicht überliefert, welche Gründe zu
einer solchen Annahme führten , so kann über diese Gründe
doch kaum Zweifel sein. Der belebende Einlluss , den die Son-
nenwärme auf die ganze Natur ausübt , die erstarrende
Wirkung des Winterfrostes, die Totenkälte des Leichnams und
die Wärme des noch lebenden Körpers waren alltägliche Er-
fahrungen, die bei einigem Nachdenken auf jene Vorstellung von
dem Einfluss des Feuers führen konnten. Wenn nun Heraclit das
Feuer nachdrücklich als das ewig lebende {dsi^coov) bezeichnet,
(Fragm. -20 Bywater); so dürfen wir wohl annehmen, dass ihn
nicht so sehr oder doch nicht ausschliesslich die unruhige Bewe-
gung der flackernden Flamme, sondern viel mehr jener überall zu
Tage tretende belebende Einfluss des P'euers bestimmte, in diesem
den Urgrund der Weltentwicklung zu erblicken '^).
Durch welchen physikalischen Prozess sich aus dem Feuer
das Einzelne entwickelt, hat Heraclit nicht angegeben. Er be-
zeichnet alles Entstandene als Umwandlungen (dfioißaf, rgonaf)
des Feuers, ohne die Natur dieses Umwandlungsprocesses näher
zu bestimmen. Wenn Spätere denselben als Verdichtungs- und
Verdünnungsprocess deuten, herbeigeführt durch ein Nähertreten
resp. eine Dissociation der kleinsten Feuerteilchen 3), so hat doch
Theophrast, auf den diese Auffassung zurückgeht, offen einge-
standen, dass er derartiges in den Worten des Heraclit nicht ge-
funden habe*).
1) Vgl. z. B. Aristoteles de vita et ruorte 4, 469b 6—9. Weiteres bei
Siebeck, Geschichte der Psychologie, Ib, S. 13.5 ff.
"^) Dass ein alter Grieche auf eine solche Auffassung vom Feuer verfallen
konnte, erscheint uns vielleicht weniger befremdend, wenn wir sogar von ei-
nem sonst so besonnenen Forscher wie Tyndall hören, dass nicht nur die rohe-
ren Formen des infusorischen Lebens, nicht nur die Formen des Pferdes oder
Löwen, nicht nur der verfeinerte Mechanismus des menschlichen Körpeis, son-
dern auch der Geist des Menschen, Empiindung, Verstand, Wille, einst in
einer feurigen Wolke latent enthalten waren (Tyndall, Fragmente aus den Natur-
wissenschaften, Braunschweig 1874. S. 187). Vgl. auch Preyer, Naturwissen-
schaftliche Thatsachen und Probleme. Berlin 1880. S. 57. 63 f.
') Diog. Laert. IX 8. Simplic. phys. I, p. 24, 2. Plut. plac. I 3, 11. Stob.
I, p. 304. Hermias, irris, c. 13.
*) Diog. IX 8: nv(j tivai atoiytiov Xtti 71vq6s dßotßi]v tol iidvza, doaiaiaec xai
22 Purster Absclinitt. VorsoiTatiker.
Lässt so Heraclit die physikalische Natur des Processes,
durch welchen die Welt und alles in der Welt sich bildet^ völlig
im Unklaren, so durchdenkt er denselben um so mehr nach der
begrifflichen, abstract- metaphysischen Seite hin. Schon oben
wurde hervorgehoben, wie seine Bedeutung gerade darin begrün-
det ist, dass er, obwohl niemals die concrete, sinnlich-anschau-
liche Naturbetrachtung des loniers gänzhch verleugnend, doch
überall dieselbe zu einer principiellen, metaphysischen Speculation
hinüberführt. Indem Heraclit in dieser Allgemeinheit über die
concreten Dinge reflectiert, gelangt er zu dem Satze, dass alles in
steter Veränderung, oder, wie er es in Form eines anschaulichen
Bildes ausdrückt, in stetem Flusse befindlich sei ^). Damit hatte
der wichtige Begriff des Werdens seine schärfste Formulierung
gewonnen. Sehr weitreichend ist der Einfluss dieser hera-
clitischen Lehre. Noch für Plato bildet gerade das TxdvTa qsT,
wenn auch in der Beschränkung auf die Sinnen weit, einen
Fundamentalpunct seiner eigenen Überzeugungen, so dass wir
es begreifen, wie von ihm immer und immer wieder ge-
rade dieser Satz Heraclit's angeführt wird, während er die sein
Denken nicht weiter anregende, in den Bahnen der überwun-
denen altionischen Anschauungen sich bewegende Lehre vom
Feuer als dem Princip aller Dinge, abweichend von Aristoteles
und Theophrast, nicht einmal erwähnt hat ^').
Den Sinn des heraclitischen Satzes vom Fluss aller Dinge
darf man nicht mit Schuster 3) dahin abschwächen, dass „kein
Ding in der Welt dem schliesslichen Untergange entgehe". Zeller*)
hat diese Auffassung des genaueren widerlegt. Gegen dieselbe
spricht schon der Gesichtspunkt, unter dem Heraclit den Ver-
gleich mit einem Flusse durchführt; denn nicht dass dieser ein-
mal ins Meer einmündet, wird dabei als tertium comparationis
von ihm hervorgehoben, sondern dass wir nicht zweimal in den
nämlichen hinabsteigen können (Fr. 41. 81). Natürlich braucht
yivxv'oaii yivoixeva- aatpais ^ ovdtv exzi^tTUf. Dass die letzteren Worte nicht
eine Bemerkung des Diogenes, sondern seiner Quelle, des Theophrast, enthalten,
beweist Diels, Doxogr. p. 164 f. gegen Schuster.
1) Die Belege bei Zeller, I* 576 Anm. 1 u. ±
2) Die Anspielung Gratyl. 413 C ist sehr unsicher.
3) a. a. O. S. 2ül.
^j a. a. U. 1\ oll, 1.
Heraclit. Fluss aller Dinge. Einheit der Gegensätze. 23
darum Heraclit nicht gerade gemeint zu haben, dass jedes Ding
in jedem Augenbhcke mit jedem seiner Bestandteile ein anderes
werde ^). Solche ÜbertreÜDungen gehören erst der späteren Weiter-
bildung an, wo ja allerdings Gratylus behauptete, dass man
auch nicht einmal in denselben Fluss hinabsteigen könne^), und
wo der veränderliche Stof!" gelegentlich soweit verflüchtigt wird,
dass man zweifelhaft sein kann, ob für das unablässige Werden,
die stete Bewegung, überhaupt noch ein stoffliches Substrat fest-
gehalten werden soll ^). Heraclit selbst wollte wohl nur, mächtig
ergriffen von der Wandelbarkeit alles Irdischen_, den Gedanken
aussprechen, dass, wie die ganze Welt, so auch alles in ihr, in
oft langsamem und allmählichem , aber immer unaufhaltsamem
Gange vergehe, um für anderes Platz zu machen, das in gleicher
Weise vergehen wird.
Das Werden, die Veränderung aber besteht in einem fort-
währenden Hin- und Herwogen zwischen Gegensätzen. Bald
erreicht der eine Gegensatz seinen Höhepunkt, bald der andere.
Darum vergleicht Heraclit (Fr. 79) den ewigen Herrscher der Dinge
einem Knaben , der beim Brettspiele die Steine bald in dieser
Richtung, bald in der entgegengesetzten verschiebt. Noch deut-
licher macht seinen Gedanken die trotz aller fremdartigen Bei-
mischungen doch auf echt heraclitischer Grundlage ruhende pseudo-
hippocratische Schrift über die Diät. „Es wandeln aber," heisst
es dort (c. 5), „alle göttlichen und menschlichen Dinge nach oben
und nach unten im Wechsel Tag und Nacht kommen zu ihrem
Maximum und Minimum. So hat auch der Mond sein Maximum
und sein Minimum; das Feuer hat seinen Aufgang und das
Wasser; die Sonne gelangt zu ihrem Maximum und zu ihrem
Minimum." Bei diesem Hin- und Her wogen sind die Stufen des
Prozesses in beiden Richtungen die gleichen. Auf demselben
Wege, auf dem etwas erlöschend vom Feuer sich entfernt, wird
es, sich aufs neue entzündend, zum Feuer zurückkehren. „Der
Weg nach unten und nach oben ist Einer." (Fr. 69.)
Schon hier zeigt sich die wichtige Rolle, welche der Begriff
des Gegensatzes in der Theorie Heraclit's vom Werden spielt.
Aber weit darüber hinaus gewinnt derselbe eine fundamentale
*) Vgl. Zeller 1\ 579 unten. — "") Arist. Metaph. IV 5, 1010 a 12.
^) Vgl. Plato, Theaet. 156 A. Genaueres bei Besprechung des Protagoras.
24 Erster Absrhiiill. V^orsocraliker.
Bedeulim^' tiir sein System. Kein Gedanke kehrt so oft bei ilnn
wieder, wird in gleichem Maasse durch die verschiedenartigsten
Beispiele erläutert, als der, dass dasselbe Ding entgegengesetzte
Bestimmungen in sich vereine.
Der Sinn dieser Lehre ist ein viel umstrittener. Auf eine
Reihe von Aussprüchen gestützt, hat die besonders durch Hegel ')
und Lassalle 2) vertretene hyper-idealistische Auffassung darin
den Ausgangspunct der hegelschen Logik, die Identität von Sein
und Nichtsein, zu erkennen gemeint. Eine ähnliche Auffassung
scheint bei Aristoteles zugrunde zu liegen, wenn er den Hera-
clit deshalb tadelt, dass er glaube, dasselbe könne zugleich sein
und nicht sein ^). Doch deutet Aristoteles selbst bestimmt genug
an, dass seiner Ansicht nach dies allerdings nicht die eigentliche
Meinung Heraclits gewesen sei ^). Die hyper - idealistische Deu-
tung Hegel's und Lassalle's wird von Zeher schlagend wider-
legt. Er zeigt (S. 601 f.), dass für Heraclit keineswegs die
Gegensätze als solche identisch seien, sondern dass er nur Ent-
gegengesetztes in demselben Subjecte verbunden denke.
Freilich scheint es mir, als mache Zeller in der weiteren Aus-
führung seines Gedankens einige Goncessionen, zu welchen in
dem, was uns aus der Schrift Heraclit's überliefert ist, kein zwin-
gender Anlass vorhegt. Zeller hat für die Einheit der Gegensätze
eine doppelte Erklärung. Einmal sohen die Dinge für Heraclit
die Puncte sein, an denen „die entgegengesetzten Strömungen des
Naturlebens sich kreuzen" (S. 583 f.). „Der Schein des behaiT-
lichen Seins," wird dieses (S. 6^0) ausgeführt, „kann nur daraus
entstehen, dass die nach der einen Seite hin abgehenden Teile
durch Zuffuss von der andern in demselben Maasse ersetzt wer-
den : dem Wasser muss aus Feuer und Erde ebensoviel Feuch-
tigkeit zukommen, als es selbst an Feuer und Erde verliert,
u. s. w. . . . Jedes Ding ist mithin das, was es ist, nur dadurch.
1) Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philos. I, S. 3U5; Logik
I, S. 80.
2) Ferd. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunkeln von Ephesos
Berlin 1858. Bd. 1, S. 81 f.
3) Die Belege bei Zeller P, 600, 2. Bonitz, Ind. Arist. 320 a 3—6.
*) Metaph. IV 3, 1005 li 23: d(fvpaTov yap ovnvovv TttvTov 'V7To?.a,ußät'ttv tivai
xal fiTj fivtti, xad-äntQ rivei oi'ovTat le'ytcp 'UQaxleixov, WOZU man Vgl. Zeller I ,
•483, 1,
Heraclit. Einlieil der (legensätze. 25
dass die entgegengesetzten Strömungen der zu- und abfliesscnden
Stoffe in dieser bestimmten Richtung und unter diesem bestimm-
ten Verhältnis in ihm zusammentreffen." Wird hier die Hera-
clitische Einheit der Gegensätze darin gefunden, dass dasselbe
Ding entgegengesetzte Strömungen in sich vereinigt, so tritt
anderswo mit einer leichten Nuancierung des Gedankens an die
Stelle des Dinges der einzelne Moment des Werdeprocesses, wel-
cher entgegengesetzte Bestiummngen in sich verknüpft. „Jede
Veränderung", heisst es S. 595_, „ist ein Übergang von einem Zu-
stand in einen entgegengesetzten ; wenn alles sich verändert und
nur in dieser Veränderung existiert, so ist alles ein Mittleres zwi-
schen Entgegengesetztem, und welchen Punct man im Flusse des
Werdens ergreifen mag, immer hat man nur einen Übergangs-
und Grenzpunct, in welchem entgegengesetzte Eigenschaften und
Zustände sich berühren."
Um keine Schwierigkeit zu verschweigen, mögen zunächst
diejenigen Fragmente zusammengestellt werden, in denen sich die
Coincidenz der Gegensätze anscheinend ohne jede Einschrän-
kung ausgesprochen tindet. Es sind ihrer nicht wenige. „Gott
ist Tag und Nacht, Winter und Sommer, Krieg und Frieden, Sät-
tigung und Hunger", heisst es Fr. 36. „Tag und Nacht" (Fr. 35),
„Oberes und Unteres" i), „der Weg nach oben und nach un-
ten" (Fr. 69) sind Eins. Dasselbe ist „gut und böse" (Fr. 57 u.
58), „sterblich und unsterblich'' (Fr. 67), „lebend und tot, wachend
und schlafend, jung und alt" (Fr. 78), „Was auseinandergeht, geht
mit sich zusammen" (Fr. 45); verbinden soll man „Ganzes und
Nicht-Ganzes, Übereinkommendes und Abweichendes, Gleichklin-
gendes und Verschiedentönendes" (Fr. 59\
Gleichwohl dürfte, wie zum Teil schon P. Schuster ausführt,
eine genaue Prüfung der zahlreichen Beispiele, welche nach Philo's
Bericht gerade den Zweck hatten, den Satz von der Einheit der
Gegensätze zu erläutern 2), zu einer anderen, wenngleich weniger
tiefsinnigen, so doch vielleicht verständlicheren Deutung von He-
raclit's Gedanken anleiten.
Die Auffassung Zellers zunächst, als ob Heraclit den Schein
1) Hippol. refut. p. 282 Miller; s. u. S. 28.
-) Plülo, Qu. in Gen. IH 5, p. 178 Aucher. : Hinc Heraclitus liliros con-
scripsit de natura, a theologo nostro (von Moysesj mutualus sentenlias de con-
trariis, additis iiuniensis iisque laboriosis argumentis.
26 Erster Abschnitt. Vorsorratiker.
des Buharrens der einzelnen Dinge wie des Weltganzen dadurch
erkläre, dass entgegengesetzte Bewegungen sich die Wag^e hielten,
findet in den uns erhaltenen Fragmenten sowie in den Zeugnissen
der Alten keine Bestätigung^). Es scheint vielmehr, als kenne
Heraclit eine Einheit der Gegensätze nur in dem Sinne, dass
1. zwei entgegengesetzte Dinge (Vorgänge) sich in gegenseitiger
Ergänzung zu einer gemeinschaftlichen Wirkung verhinden,
i2. dass ein Ding (Vorgang) insofern entgegengesetzte Be-
stimmungen vereint, als es entweder
a) in Relation zu verschiedenen Dingen, oder
b) in verschiedenen Entwickelungsstufen betrachtet wird.
Ausgangspunct für den Zweifel an der Richtigkeit der ge-
wöhnlichen Auffassung bildet eine Reihe von Fragmenten , in
welchen die Vereinigung entgegengesetzter Bestimmungen in dem-
selben Subjecte offenbar dadurch begründet werden soll, dass
dasselbe Ding unter verschiedenen Beziehungen betrachtet wird.
„Das Meer," heisst es Fr. 52, „ist das reinste und schmutzigste
Wasser, für die Fische trinkbar und heilsam, für die Menschen
untrinkbar und verderbUch." Wenn Heraclit das gleiche Meer-
wasser als rein und schmutzig bezeichnet, so dürfte er schon
hier verschiedene Beziehungen desselben im Auge haben ; doch sagt
er das nicht ausdrücklich und deshalb soll hier davon abgesehen
werden. Mit bestimmten Worten aber legt er ihm die entgegen-
gesetzten Bestimmungen: trinkbar — untrinkbar, gesund — un-
gesund^ nur in dem Sinne bei, dass das eine für die Fische , das
andere für die Menschen gelte. Gewiss denselben Sinn hat Fr.
51, welches von Aristoteles 2) in diesem Zusammenhange angeführt
wird: „Verschieden ist die Lust des Pferdes, des Hundes und des
Menschen, wie Heraclit sagt, dass der Esel wohl Stoppeln eher
wählen würde als Gold; denn jene sind dem Esel angenehmer,
da sie ihm zur Nahrung dienen." Die Stoppeln, will er sagen,
sind dem Menschen wertlos, dem Esel wertvoll; umgekehrt ist
das Gold dem Menschen wertvoll, dem Esel wertlos. In densel-
^) Wenn Zeller I**, 6!2Ü, 1 eine solche in dem von Heraclit gewählten Ver-
gleich mit einem Flusse zu sehen glaubt, so l'elilt doch bei diesem Bilde gerade
das Wesentliche, die Gegenströmung zweier in verschiedener Richtung
erfolgender Bewegungen.
'^) Aristot. eth. Nicom. X 5, 1176 a 5—8.
Heraclit. Einheit der Gegensätze. 27
bell Gedankenkreis gehört ein anderes Fragment, weiches Bywater ^)
bei Albertus Magnus gefunden hat: „Die Kühe sind froh, wenn
sie Wicken finden" ''); denn die Wicken sind, wie uns Galen ^) be-
stätigt, wohlschmeckend für die Rinder, aber bitter für den Men-
schen." Die gleiche relative Betrachtungsweise begegnet uns in
Fr, 99 und 98, wo es heisst, im Vergleich zum Menschen sei der
schönste Affe hässlich, im Vergleich zur Gottheit aber der wei-
seste Mensch wie ein Affe (also unweise), und ganz ähnlich Fr. 97 :
„Der Mann heisst dem Gott einfältig, wie das Kind dem Manne." *)
Nicht anders ist es, wenn Fr. 50 der Weg, welchen die Walker-
bürste ^) beim Hinaufstreichen über den zu bearbeitenden Stoff
beschreibt, als ein zugleich gerader und schräger bezeichnet wird,
da das — wohl walzenförmig zu denkende — Instrument zugleich
nach oben und im Kreise sich bewege. Auch hier ist der Ge-
sichtspunct ein verschiedener; denn die geradlinige Bewegung
nach oben kommt der Bürste zu , insoweit die Ortsveränderung
der ganzen Bürste gegenüber ihrer Unterlage, die kreisförmige
Bewegung^ insoweit die Lagenveränderung der einzelnen Puncte
ihres Umkreises in Betracht gezogen wird^). Auch Pseudo-Hip-
pocrates stimmt überein. Wenn zwei Menschen, führt er aus,
einen Holzstamm zersägen, so ist ihre Thätigkeit, das gemein-
schaftliche Ziehen der Säge durch das Holz, ein und dieselbe und
doch eine verschiedene; denn was für den einen Ziehen ist, ist
für den andern Stossen, was für den einen Stossen ist, ist
für den andern Ziehen. Ebenso besteht der Eine Erfolg ihrer
Thätigkeit in Entgegengesetztem, in einem Kleinermachen und
einem Grössermachen. Der Stamm selbst, dürfen wir zur Erklä-
rung hinzusetzen, wird beim Zersägen in Stücke immer kleiner,
der Haufen des Kleinholzes dagegen immer grösser ^).
1) Journal of Philology. IX (1880) S. 230—234.
*) Albert. Magn. de vegetabilibus VI 401 p. 545 Meyer: Propter quod He-
raclitus dixit, quod, si esset felicitas in delectationibus corporis, boves feli-
ces diceremus, cum inveniant orobum.
") Galen. tiiqI tqo^wv dwduews I 29, p. 546 K.
*} Vgl. zu diesem Fragment E. Petersen, Hermes XIV (1879) S. 304—307.
^) Ich lese mit Duncker yva^eüo statt y^aiffiu).
^) Eine ähnliche Erklärung versucht Patin, Heraklits Einheitslehre, die
Grundlage seines Systems und der Anfang seines Buches (München 1885)
S. 36 ff.
') Ps.-Hippocr. Tie^l diairr/s 1 6 : n^iovaiv uv&qwtcoi {vXov, 6 ,uiv i'Xxti ö de
28 Erster Absclinill. Vorsocraliker.
Es ist zu erwarten, dass auch in den oben angeführten Frag,
menten die Einheit der Gegensätze teilweise nur in diesem rela-
tiven Sinne gemeint sei. Ohne Zweifel trifft das zu bei Fr. 57
und 58. Aristoteles zwar scheint so zu reden, als ob Ileradit ohne
weiteres Gut und Böse gleich gesetzt habe ^). Dass dieses indes-
sen keineswegs der Fall, zeigt die Begründung des Satzes, welche
Hippolytus uns überliefert hat 2): „Die Ärzte schneiden, brennen
und martern in jeder Art und fordern dann für sich Lohn von dem
Kranken, indem sie ein Gutes und Martern^) gleichmachen." Also:
was für den Kranken ein Schmerz, ist in anderer Hinsicht ein Gut.
Ebenso soll, wenn der Weg nach oben und der Weg nach unten als
einer bezeichnet wird, keineswegs die Richtung von unten nach oben
für identisch mit der Richtung von oben nach unten erklärt wer-
den; es soll vielmehr, wie Zeller hervorhebt ^\ nur gesagt wer-
den, dass dieselben Entwickelungsstufen in beiden entgegenge-
setzten Richtungen durchlaufen werden können. Dass aber Obe-
res und Unteres identisch seien, hat in dieser Form Heraclit al-
lem Anschein nach nicht einmal gesagt; es enthalten vielmehr
diese Worte, wie auch Zelter^) wahrscheinlich findet, nur eine
Folgerung; welche der Berichterstatter, Hippolyt, aus Heraclit's
Satz von der Einheit des Weges nach oben und des Weges nach
unten gezogen hat. Ein ähnlicher Relativismus würde den W^or-
ten: „Tag und Nacht sind eins" (Fr. 35) zugrunde liegen, wenn
die Ausführungen des Pseudo-Hippocrates (Über die Diät, c. 5):
„Licht für den Zeus (die Oberwelt), Dunkel für den Hades (die
Unterwelt); Licht für den Hades, Dunkel für den Zeus" eine echt
heraclitische Anschauung enthalten sollten *'). Indessen lässt sich
dagegen einwenden, dass Heraclit die Sonne sich jeden Morgen
neu entzünden lasse'). Freilich lässt er den Sonnenkahn wenig-
fi>&eei' z6 J"' avTu tovio noitovai, nituv (ft jioiiovtti 7c?.eibp noti'urai. Weiter aus-
geführt wird das Bild c. 7.
») Zeller P, 60Ü, 2.
2) Hippol. refut. p. 282 Miller.
^) Mit Bywater lese ich ßuaävovg statt vöaovi.
*) Zeller I, 618, 1.
5) a. a. 0. P, 582, 3.
*') Wie das mit guten Gründen verfochten wird von AI. Platin, Heraklits
Einheitslehre, S. 39 ff.
') Plat. i'epuhl. VI, 498 A. Arist. meteor. 11 % 355 a 14.
Heraclit. Einheit der Gegensätze. 29
stens fortdauern und muss ihn mithin in irgend einer Weise des
nachts unter dem Horizont von Westen nach Osten fortbewegt
denken ; gleichwohl werden wir hinsichtlich der Sonne selbst uns
bosser nach einer andern ErkLärung umsehen.
Eine solche ergiebt sich aus dem auch von Zeller *) zur Er-
läuterung herangezogenen Fragmente 30: „Gott ist Tag und
Nacht, Winter und Sommer etc.". Denn da Heraclit von einer
südlichen Halbkugel mit ihren den unsern entgegengesetzten Jah-
reszeiten nichts wusste ^), so kann er den Gott doch nur zu ver-
schiedenen Zeiten Sommer und Winter sein lassen, und das
Gleiche wird dann auch für das Verhältnis von Tag und Nacht
gelten. Freilich könnte man auch mit Zeller daran denken, dass
in dem Momente des Übergangs vom Tag in die Nacht , vom
Sommer in den Winter , beide Gegensätze mit einander verbun-
den sind. Gesagt ist von Heraclit das eine so wenig wie das
andere, und es ist darum nicht ganz consequent, wenn Zeller S.
602 die (von Schuster versuchte) erstere Erklärung zurückweist,
weil sich uns gerade darin bei Heraclit die Grenze seines Nach-
denkens zeige, dass er die Frage, imter welchen Bedingungen
und in welchem Sinne dieses Zusammensein der Gegensätze mög-
lich sei , noch nicht erhoben habe , an anderer Stelle (S. 595)
dagegen selbst die zweite Erklärung aufstellt, welche doch gleich-
falls darauf hinausläuft, Bedingungen anzugeben, unter denen das
Zusammensein der Gegensätze möglich sei. Indessen dürften doch
die in mehreren Fragmenten gegebenen Andeutungen, zusammen-
gestellt, genügende Indicien dafür liefern, dass dem Heraclit selbst
jene erste Anschauung in der That nicht fremd war, dass er
vielmehr, gleichwie er nachweisbar in zahlreichen Fällen demsel-
ben Gegenstande verschiedene Eigenschaften zuschreibt, jenach-
dem er mit verschiedenen anderen Gegenständen in Beziehung
tritt (wie das Meerwasser mit Menschen und mit Fischen), so in
anderen Fällen diese Einheit der Gegensätze dadurch begründet
denkt, dass dasselbe in der Entwickelung begriffene Subject in
verschiedenen Stufen seiner Entwickelung entgegengesetzte
>) a. a. 0. F, .581, 1.
*) So wenig wie von einem ^Südpol", den Schuster a. a. O. S. 257 ihm
zuschreibt. Vgl. Teichmiiller, Neue Studien zur Geschichte der Begriffe, J, S. 14.
30 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Bestimmungen aufweise. Fr. 78, welches bei Plutarch >) heisst:
„Und wie Heraclit sagt, ist dasselbe lebend und tot^ wachend und
schlafend, jung und alt; denn dieses ist umschlagend jenes, und
jenes wieder umschlagend dieses," will ich dafür nicht anziehen;
denn die letzten Worte bieten wohl eine (freilich sachlich rich-
tige) Ausführung Plutarch's, kein Gitat aus Heraclit's Schrift, könn-
ten auch immerhin noch im Sinne Zeller's dahin gedeutet wer-
den, dass gerade der Moment des Umschlagens Lebendes und To-
tes, Wachendes und Schlafendes, Junges und Altes vereine. Wenn
wir aber Fr. 67 hören: „Die Unsterblichen (d. h. Götter und Dä-
monen) sind Sterbliche (d. h. Menschenseelen), die Sterblichen
Unsterbliche, indem sie den Tod jener leben, das Leben jener ge-
storben sind," und damit verbinden Fr. 68: „den Seelen ist es
Tod, Wasser zu werden, dem Wasser Tod, Erde zu werden,"
Fr. 25: „Der Tod des Feuers ist die Geburt für die Luft, der Tod
der Luft Geburt für das Wasser" 2), so können wir doch nur den
Sinn darin finden : Altes und Junges, Wachendes und Schlafendes,
Unsterbliches und Sterbliches, Feuer und Luft sind darum dasselbe,
weil sie aus einander geworden sind, weil es dasselbe Subject ist, das
in der einen Zeit diese Bestimmtheit; in der andern Zeit, nach dem
Aufhören der ersteren Bestimmtheit, die entgegengesetzte hat. Da-
her ist, was in der einen Hinsicht lebt, tot in der andern, und
umgekehrt. Der Tod des einen ist die Entstehung des andern.
Warum der Untergang des einen zugleich den Ursprung des an-
dern bilde , hat Heraclit , soweit sich aus der immerhin recht
lückenhaften Überlieferung erkennen lässt; nicht gesagt. Wir werden
gleichwohl schwerlich fehlgreifen, wenn wir den Grund für diese An-
schauung in seiner Vorstellung von dem ewigen Leben des Feuers,
von dem nvg deiXoiov, suchen. Eben weil ihm die Natursubstanz
eine ewig lebende ist, darf das Zerbrechen einer Existenzform
nicht zum völligen Untergange führen, sondern muss zugleich der
Beginn eines neuen Lebens sein.
Noch einfacher liegt die Sache bei solchen Aussprüchen, wie :
*) Plutarch. consolat. ad Apollon. p. 329. Vgl. J. Bernays, Heralditische
Studien, in dessen Ges. Abhandl. I S. 47 ff., besonders S. 52.
^) Wenn auch der Text der beiden letzten Fi'agmente nicht ganz ur-
kundlicli ist, da ei' statt der drei heraclitischen Elemente Feuer, Wasser, Erde
die spätere Vierzabl voraussetzt, so ist der Gedanke doch jedenfalls echt. Vgl.
Zeller 1*, 615. Diels, Doxographi, p. Iö3, 2.
Heracllt. Einheit der Gegensätze. 3l
„Was auseinandergeht, geht mit sich zusammen" (Fr. 45), „Was
gegen einander strebt, stützt sich" (Fr. 46), „Man verbindet Gan-
zes und Nicht - Ganzes , Übereinkommendes und Abweichendes,
Gleichklingendes und Verschiedentönendes" (Fr. 59). Nicht einem
und demselben Gegenstande werden hier entgegengesetzte Bestim-
mungen zugeschrieben, nicht das einzelne Ding, indem es ein
anderes wird, geht mit sich zusammen, und wie dergleichen For-
meln mehr heissen mögen, bei denen niemand sich etwas Kla-
res denken kann; es sollen vielmehr zwei verschiedene
Dinge mit entgegengesetzten, widerstreitenden Eigenschaften sich
zu einem gemeinschaftlichen Werke verbinden. So erläutert auch
die endemische Ethik') den Gedanken: „Andere aber halten das
Entgegengesetzte (nicht, wie Empedocles, das Gleichartige) für
befreundet. Auch Heraclit tadelt das Dichterwort (IL XVIII, 107):
Möchte doch Jeghcher Streit hei Göttern und Menschen verschwinden;
denn es würde keine Harmonie da sein, gäbe es nicht hohe
und tiefe Töne, noch würden lebende Wesen da sein ohne den
Gegensatz des Weiblichen und Männlichen." Höhe und Tiefe kom-
men keineswegs einem einzigen Tone zu, ebensowenig als das
Männliche und das Weibliche in einem androgenen Zwitter
vereinigt sind, wie doch Heraclit folgern müsste, wenn jene Lehre
von der absoluten Coincidenz der Gegensätze die seine wäre.
Vielmehr bringen der hohe und der tiefe Ton, unter Wahrung
ihrer Verschiedenheit, die Empfindung der Harmonie als etwas
Neues hervor, gerade wie Männliches und Weibliches, indem sie,
ohne Aufgabe ihres Gegensatzes, zusammentreten, ein neues Le-
bendes hervorgehen lassen.
Aller Gegensatz, so fassen wir die voraufgehenden Erörterungen
zusammen, ist für Heraclit nur ein relativer. Was für den einen
schädlich^ ist für den andern nützlich. Der Untergang des einen ist
die Entstehung des andern. Das Verschiedene ergänzt sich ge-
genseitig und kann so ein Neues hervorbringen. Darum muss für
die höhere, göttliche Einsicht, welche die Dinge nicht mehr von
einem solchen beschränkten, relativen Standpuncte aus, sondern
vom absoluten Standpuncte der Gesamtheit betrachtet, aller
Gegensatz, der eben bloss ein relativer ist, verschwinden und als
die notwendige Form erscheinen, in der das ewige Leben des
») eth. Eud. VII 1, li>35a 25— i>8.
32 Erster Al)schnilt,. Vorsocratiker.
WeltoTiindes seine Mannigfaltigkeit ausbreitet. Was Streit und
Kampf ist für den beschränkten Standpunct, ist Gemeinschaft und
Friede für den absohüen; in sofern sind Streit und Friede das-
selbe fFr. rif). r>2). In diesem Sinne beruht auf entgegengesetzter
Spaiinung die Harmonie der Welt, wie die der Leyer und des
Bogens (Fr. 50), und aus allem relativen Gegensatz stellt sich
so die unsichtbare Harmonie her, welche besser ist als die
sichtbare ^).
Damit haben denn auch die letzten Aussprüche, in welchen
man die Goincidenz von nicht bloss relativen Gegensätzen fin-
den möchte, ihre anderweitige Erledigung gefunden.
Ist aber, so schliessen wir nunmehr, die Einheit der Gegensätze
keineswegs in dem von Lassalle u. a. verfochtenen hyper-idealisti-
schen Sinne zu deuten, so hat es noch weniger Berechtigimg, mit die-
sen Erklärern das Urfeuer selbst als etwas Immaterielles ansehen zu
wollen. Die Scheingründe Lassalle's sind von Zeller 2) überzeugend
zurückgewiesen; und wenn einmal Aristoteles •'') das Princip des
Heraclit als das am wenigsten körperliche {daamarohmov) be-
zeichnet, so macht er dasselbe dadurch doch ebensowenig zu einem
Un körperlichen, als etwa Plotin das Feuer darum für etwas Im-
materielles hält, weil er, um seinen Unterschied von der schwer-
massigen Erde hervorzuheben, von ihm sagt, dass es „sich bereits
der Natur des Körpers entziehe" *). Freilich fasst Heraclit das
Feuer zugleich als die Welt Vernunft (^oyoc) •''), als alles regie-
i-ende Einsicht (yrw//?;, d. h. Vernunft nach ionischem Sprach-
gebrauch''). Er identificiert dasselbe mit der Gottheit (Zeus,
Aeon) und dem Weltgesetz {df^iaQ/^urrj); er hält auch die Seele
^) Fr. 47: i'an yäg «q/j-oviij dfnvrjs y.avfot;( xQthTntv. Wenn Scliuster (S. 24)
im Anfange schreibt: k ii y«p .. .; (weshalb sollte ... sein?), so erinnert das
lebhaft an das Fragezeichen, durch welches Bernardino Ochino den Ausspruch
Augustin's: Qui te creavit sine te , non te salvabit sine te, in sein gerades
Gegenteil verkehrte.
2) a. a. 0. P, .591, 3.
^) Aristot. de an. I % 405 a 27.
") Plotin. enn. 111 6, 6. p. 226, 29 Müller: y.nl ify y.a, to nvQ (ffTynr v^ij
Ti]r aaniarng cfratr.
■') Vgl. Heinze, Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie.
Oldenburg 1872. S. 9 ff. Teichnn'iller, Neue Studien zur Geschichte der Begriffe.
Bd. I. Gotha 1S76. S. 1(17 ff.
^) Vgl, J. Bernays, Gesammelte Abhandlungen. Bd. I, S. 87 Anm. 1.
Heraclit. Die Pythagoreer. 33
für feurige Ausdünstung u. s. w. Der Grund dafür liegt indessen
keineswegs in der idealistischen Anschauung, als sei das anschei-
nend Körperliche in Wahrheit ein Geistiges, Gedankliches; er ist
vielmehr darin zu suchen, dass die ursprüngliche materialistische
Voraussetzung, als könnten dem Stoff in seiner Lebensentfaltung
zugleich die vernünftigen, geistigen Functionen zukommen, auch
bei Heraclit noch nicht überwunden ist.
2. Die Pythagoreer.
Wie die gesamte vorsocratische Philosophie, so ist auch die
Lehre der Pythagoreer im wesentlichen Philosophie der Na-
tur. Ihre Principien freilich haben sie, wie Aristoteles bemerkt,
bereits einem ferner hegenden Gebiete, nicht mehr dem des un-
mittelbar Sinnfälligen, entnommen; aber, wie derselbe betont; sie
verwenden jene in der Hauptsache nur dazu^ um die Entstehung
der Naturdinge, des Weltgebäudes und seiner Teile, zu erklären ^).
Stellen sie auch mancherlei Vorschriften ethischen und religiösen
Inhalts auf, so sind diese doch nicht durch ein engeres Band mit
ihren philosophischen Grandanschauungen verknüpft. Für die
Naturerklärung aber haben sie eine Reihe bedeutungsvoller Ge-
sichtspuncte gewonnen. Es sollen aus diesen diejenigen Mo-
mente hervorgehoben werden, welche die Stellung der Pythagoreer
zu dem Problem der Materie charakterisieren.
In den einleitenden Gapiteln des ersten Buches der Meta-
physik, in welchen Aristoteles eine Übersicht über die von seinen
Vorgängern aufgestellten Prinzipien giebt, stellt er die Pythagoreer
zu denen, welche über die Materialursache der Dinge nach-
gedacht hätten. Wie sie die formalen Bestimmungen der Dinge,
ihre Eigenschaften und Beschaffenheiten, auf Zahlen zurückge-
führt hätten, so hätten sie in diesen auch die Materie des Seien-
den erblickt^).
Den Ursprung dieser Vorstellungen führt Aristoteles auf die
») Aristot. metaph. I 8, 989 b 29—990 a 6.
") metaph. I 5, 986 a 15: (fahoviat th] xal oitoi t6v dQi&/j6v voisitovTti
d^yiiv fivai xal wf v?.i]V toTj; ovpi xal u>s nd&i] tf xal f?«<f. Eine ganz
bestimmte Ansicht übei- die Materie schreibt ein angebliches Fragment
des Aristoteles (fr. 201, p. 1514 a 24 = fr. 207 der kleinen Ausgabe , Lipsiae
1886). bei Damascius, de princ. (cod. Hanib. p. 4091^) dem Pythagoras
zu : '^ipiaTOTtlrii tfi iv roTg 'jQy^vteioii iarooti" xul Ih&uyüour a?.?.o tt/V r?.riV
Baeumker: Das Protlem der Materie etc. •>
34 Erstei- Abschnitt. Vorsocratiker.
Vorliebe der Pythagoreer für die mathemalischen DiscipUnen zu-
rück. Indem jene, ganz in mathematischen Anschauungen lebend,
auch überall in der Natur die mathematischen Zahlenverhältnisse
wiederfanden , wurden sie leicht dahingeführt , in den Zahlen
das Wesen der Dinge, in den Principien der Zahlen, als welche
sie das Begrenzte und das Unbegrenzte aufstellten, die Principien
der Dinge zu erblicken i).
Erscheint die aristotelische Darstellung dieser Gedankenreihe
auch ziemlich folgerecht, so erheben sich doch grosse Schwierig-
keiten, wenn man versucht, sich zu verdeutlichen, was die Pytha-
goreer unter jenen Zahlen, sowie unter dem Begrenzten und
dem Unbegrenzten eigentlich mögen verstanden haben. Der
Grund dieser Dunkelheit liegt einerseits in dem geringen Um-
fange an wirklich zuverlässigen Nachrichten über die pytha-
goreischen Lehren — die folgenden Ausführungen stützen sich
ausschliesslich auf die aristotelischen Berichte und auf dieje-
nigen Fragmente des Philolaos ^), deren Echtheit Zeller ^) dar-
gethan — ; andererseits liegt er in einem gewissen Schwan-
ken der pythagoreischen Lehren selbst. Die Schule des Py-
thagoras gehört keineswegs bloss der Urzeit der griechischen Philo-
sophie an ; der Erste, von dessen schriftstellerischer Thätigkeit uns
Bruchstücke Kunde geben, Philolaus, ist ein Zeitgenosse des So-
crates. Trotz der hohen Auctarität, welche die Schule ihrem
Begründer beilegte , konnte dieselbe darum auf einem Ge-
biete, innerhalb dessen höchstens einige Grundanschauungen
auf den Stifter selbst zurückgehen , in einem so langen Zeit-
y.aXtiv WS ^evaxr,v xal utl aklo '/i-/vö,ufvov. In der That scheint Plato, Tim. 49(!,
eine ähnliche Anschauung als vorhanden vorauszusetzen , ohne dass dort in-
dessen irgendwie auf die Pythagoreer hingewiesen wäre. Th. Henri Martin,
welcher (Etudes sur le Timee de Piaton, 11, p. 174, note 57) an die letzteren
denkt, kann dafür nur Ocellu.s Lucan. c. 1 §. 13; c. 2 §. 13 — 21 beibringen; allein
die Ausführungen dieses erweisen sich wegen ihrer offenbaren Abhängigkeit von
der aristotelischen Lehre vom Übergang der Elemente in einander als nicht
altpythagoreisch (vgl. Diels, Doxogr. p. 187). Die angebliche Schrift des Aristoteles
über Archytas aber unterliegt hinsichtlich ihrer Echtheit zu vielen Bedenken,
als dass wir sie als zuverlässige Quelle für die pythagoreische Lehre benutzen
dürften; vgl. Zeller P, 336, 3.
*) metaph. I 5 Anf.
-) A. Boeckh, Philolaos des Pythagoreers Leben nebst den Bruchstücken
seines Werkes. Berlin 1819.
») a. a. O. TS S. 261 f.
Die Pythagoreer. Das materielle Princip als Zahl. 3o
räume keineswegs völlig unberührt bleiben von der allgemei-
nen Entwickelung des philosophischen Denkens, und es ist des-
halb von vornherein nicht zu erwarten, dass die sämtlichen Über-
lieferungen über die Naturphilosophie der Pythagoreer sich zai
einer durchaus einheitlichen Anschauung zusammenschliessen ^).
Eine gewisse Dunkelheit schwebt gleich von vornherein über
der Frage, ob die pythagoreischen Zahlen körperlicher oder un-
körperlicher Natur sein sollen. Für das letztere scheint manches
zu sprechen. Werden doch rein geistige Dinge, wie die Gerech-
tigkeit, die Meinung u. s. w., genau in derselben Weise auf die
Zahl zurückgeführt, wie die körperliche Welt; und da weiter nach
Philolaos auf der Zahl die Erkennbarkeit der Dinge beruht % in
der Zahl aber auch das Wesen der Dinge besteht, so scheint sich
das ganze Wesen der Welt in Gedanken aufzulösen.
Allein in dieser Gleichsetzung von Geistigem und Körperlichem
liegt eine Unklarheit des Denkens, welche gerade die Eigentüm-
lichkeit des pythagoreischen Standpunctes, wie überhaupt der cäl-
teren Naturphilosophie ausmacht. So wenig wir den Pythago-
reern den Satz beilegen dürfen, Gerechtigkeit und Meinung
seien etwas Körperliches, weil sie beides genau wie die körper-
lichen Dinge durch Zahlengrössen definieren, ebensowenig dürfen
wir umgekehrt behaupten , die sichtbare Welt löse sich ihnen in
Immaterielles, wenigstens in unserm Sinne Immaterielles, auf, weil
sie dieselbe auf die gleichen Elemente zurückführen Avie rein gei-
stige Dinge. Der Unterschied zwischen Geistigem und Körperlichem
ist noch gar nicht gemacht, und deshalb werden ein und diesel-
ben Elemente von den Pythagoreern verwandt, bald um Geisti-
ges, bald um Körperliches zu erklären 3).
Wir sehen hier nun gänzlich ab von der Frage, welchen
Sinn die Pythagoreer mit der Zahl und den Zahlenverhältnissen
da verbinden mochten, wo sie dieselben zur Erklärung geistiger
Dinge verwerten, und beschränken uns unserer Aufgabe ge-
mäss darauf, zu untersuchen, in w-elchem Sinne die Zahl als
Princip, und zwar, wie Aristoteles sie bezeichnet, als materiel-
les Princip der körperlichen Dinge von den Pythagoreern
angesehen wird. Denn darüber, dass die ganze sichtbare Welt
') Vgl. Zeller I^ ö, 441 ff.
"-) Philolaos bei Stob. ecl. I p. 8 und 450.
^) Vgl. Zeller I^ S. 353.
3 *
36 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
(orp«roc bei Aristoteles) aus Zahlen bestehe, sind alle Pythagoreer
einigt). Diese Zahlen, aus denen das Weltgebäude besteht, wer-
den aber von ihnen als etwas den Dingen Immanentes be-
trachtet. Ausdrücklich hebt Aristoteles an verschiedenen Stellen
hervor, dass die Annahme von getrennt für sich bestehenden
Zahlen, zu welchen die Weiterbildung der pythagoreischen Lehre
bei Plato und der älteren Academie vom Standpunct der Ideen-
lehre aus führte, den Pythagoreern selbst noch fremd gewesen
sei 2). Wenn Brandis^) den Versuch gemacht hat, aus einigen in
ihrem Wortlaut nicht ganz bestimmten aristotelischen Äusserun-
gen zu beweisen, wenigstens ein Teil der Pythagoreer habe in
den Zahlen blosse Musterbilder der Dinge gesehen , so hat Zeller^j
die völlige Grundlosigkeit dieser Behauptung überzeugend dar-
1) Aristot. metaph. I 5, 986 a 3. 21; I 8, 989 b 34 ff.; 990 a 22; XIII 6,
1080 b 18—19; de caelo III 1, 300 a 15—17, Zwar heisst es an letzterer Stelle,
Einige Hessen die Natur ans Zahlen bestehen (ßantQ twv Tlv&ayoQÜvov ztves); aber
Zeller (P 318) zeigt, dass aus dem beschränkenden tivh keineswegs gefolgert
werden darf, die übrigen Pythagoreer hätten die Entstehung der Welt auf an-
dere Weise gedacht. Unter den von ihm für die einschränkende Ausdrucks-
weise des Aristoteles gegebenen Erklärungen ist mir die am wahrscheinlichsten,
dass Aristoteles so gesprochen habe, weil der Name der Pythagoreer ausser den
pythagoreischen Philosophen auch solche umfassen konnte, die, ohne mit
Naturphilosophie sich zu beschäftigen, zum pythagoreischen Bunde gehörten. —
Dass i'vioi (welches Wort Zeller mit dem de caelo III 1 stehenden nveg ver-
gleicht) von Aristoteles gelegentlich in behutsamer Ausdrucksweise auch da
gebraucht werde, wo die Behauptung eigentlich unbeschränkt gemeint ist, kann
ich Zeller freilich nicht zugeben. An der ersten der von ihm (a. a. 0. Anm. 5)
dafür beigebrachten Stellen, de gener. et corrupt. II 5, 332 a 4 — 5 : „denn wenn, wie
es auch einigen scheint, Wasser und Luft und dgl. die Materie der physischen
Körper ist . . .", steht Ivioi in seiner gewöhnlichen Bedeutung, da doch in der That,
nur einige der Philosophen, nämlich die ionischen Naturphilosophen, diese Ansicht
aufstellen. Ebenso ist an der zweiten Stelle, metaph. I 1, 981 b 2 : röiv d\pvy(i)v
ivia noisTv /uev, ovx eläöia 6t noieiv ü notti — WOZU Zeller bemerkt, dass man
aus dem i'ria doch nicht schliessen dürfe, Aristoteles lasse andere leblose Dinge
mit Bewusstsein wirken — das Wort deshalb ganz angebracht, weil doch nicht
allem Leblosen eine Wirksamkeit, ein nouTv, zugeschrieben werden kann.
2} metaph. I 6, 987 b 28; I 8, 990 a 2— 5. 18—22; XIII 6, 1080 b 3. 17—18;
XIII 8, 1083 b 10-13; XIV 3, 1090 a 23; phys. III 4, 203 a 6—7.
^) Über die Zahlenlehre der Pythagoreer und Platoniker, Rh. Mus. v.
Niebuhr u. Brandis II (1828) S. 211 ff.
") a. a 0. S. 318 ff.
Die Pythagoreer. Das materielle Princip als Zahl. 37
gethan. Nicht bloss nach dem Muster der Zahlen ist den Pytha-
goreern die Welt gebildet; sie ist vielmehr selbst ZahP).
Die Zahl aber erscheint ihrerseits bereits als ein Entwicklungs-
product ursprünglicher Elemente. Sie entsteht durch die Verbin-
dung der Grenze (oder des Begrenzten) mit dem Unbegrenzten 2).
Indem das Unbegrenzte durch die Grenze bestimmt wird, entsteht
zuerst die Eins, welche also Grenze und Unbegrenztes in sich be-
fasst; aus der Eins (durch deren Wiederholung) die Zahl; die
Zahlen aber bilden das Weltall 3)*
Es fragt sich also zunächst, was unter diesem Unbegrenz-
ten {cineigor) zu verstehen sei, wenn es von den Pythagoreern
zur Erklärung der sichtbaren Welt verwandt wird.
An mehreren Stellen *) sieht Aristoteles den Unterschied
zwischen der ionischen Ansicht vom Unbegrenzten und der-
jenigen der Pythagoreer und Plato's darin , dass die er-
steren die Unbegrenztheit als Eigenschaft eines qualita-
tiv bestimmten Stoffes , sei es Feuer , Wasser , Luft oder ein
mittleres Element, fassten, wohingegen die letztern in dem Unbe-
grenzten 5) die Substanz der Dinge erbhckten, indem sie, wie
er in seiner Terminologie es ausdrückt, das ansigov und das
dneigw shai, für identisch hielten Zugleich aber legt derselbe
dem Unbegrenzten der Pythagoreer räumliche Bestimmungen
bei. Er beschreibt es als ein unendlich Ausgedehntes und findet
gerade darin einen Widerspruch, dass eine solche Unendlichkeit
zugleich Substanz sein solle; denn wie jeder Teil des Wassers
wieder Wasser, so müsse jeder Teil einer solchen substantiellen
Unendlichkeit wieder unendlich sein ^), ein Widerspruch, den er
gegen das Unbegrenzte Plato's nirgendwo geltend macht. Er
*) Wenn Simplicius (phys. III, p. 453, 7—9) den Pythagoreern die Lehre
zuschreibt, die Zahlen und Oberhaupt das Mathematische könnten zwar für
sich gedacht werden, subsistierten aber nicht für sich, sondern nur im Sinn-
fälligen, so verwendet er zwar, wie schon Aristoles, begriffliche Unterscheidun-
gen, die erst einer späteren Zeit angehören; die innere Tendenz der pythago-
reischen Lehre aber dürfte er richtig bezeichnet haben.
2) Die Belege bei Zeller P, 323, 1.
3) Aristot. metaph. I 5, 986 a 17—21.
*) Aristot. phys. III 4, 203 a 4—6; III 5, 204 a 33; metaph. ( 5, 987 a
15—19.
^) gerade wie in dem Einen: metaph. III 1, 996 a 6; III 4, 1001 a9— 11
X 2, 1053 b 12—13.
«) phys. III 5, 204 a 20—34.
38 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
spricht ferner davon, dass nach den Pythayoreern sich das Un-
endliche ausserhalb des AVeltgebäudes befindet, wohingegen
Plato sage, ausserhalb der Welt sei weder etwas Körperliches,
noch die Ideen, da diesen überhaupt kein Wo zukäme ^). An einer
andern Stelle endlich, welche über die pythagoreische Lehre von
der Weltbildung handelt^ heisst es, nachdem einmal die centrale
Einheit sich gebildet, seien sofort die nächsten Teile des Un-
begrenzten {z6 k'YYioza Tov dTieiQov) in den Kreis der Entwickelung
hineingezogen 2). Mögen die Pythagoreet also, wenn sie Gerech-
tigkeit, Meinung u. dgl. auf Zahlen zurückführen, diese Zahlen
,wie immer gedacht haben: wo sie die letzteren zur Erklärung
der sinnfälligen Welt verwenden, erscheint ihnen das Unbegrenzte
als etwas Räumliches von unendlicher Ausdehnung. Verbinden
wir aber damit die andere von Aristoteles hervorgehobene Be-
stimmung, die Substantialität des Unbegrenzten, so giebt bei-
des vereinigt nur dann einen vollziehbaren Gedanken, wenn die
Pythagoreer unter diesem Unbegrenzten eben die unbegrenzte
Ausdehnung selbst verstanden. War für die ionischen
Naturphilosophen der materielle Urgrund der Welt ein be-
stimmter Stoff, wie Wasser oder Luft, dem sie die unendliche
Ausdehnung als Eigenschaft beilegten, so ist für die Pythagoreer
diese unendliche Ausdehnung das Erste, durch dessen nähere
Bestimmung erst die verschiedenen Stoffe entstehen.
Allerdings lässt sich nicht annehmen, dass der Begriff der
unendlichen Ausdehnung bei den Pylhagoreern gleich von vorn-
herein in seiner vollen mathematischen Abstractheit erfasst sei.
Darauf führt auch eine merkwürdige Nachricht des Aristoteles,
die gerade wegen ihrer Seltsamkeit nicht etwa eine erst von Ari-
stoteles aus pythagoreischen Lehren gezogene Folgerung darstellen
kann, sondern jedenfalls als ein historischer Bericht betrachtet
werden muss. Die Pythagoreer, heisst es bei ihm, nehmen gleich-
falls ein Leeres an und sagen, dasselbe trete aus dem unend-
lichen Hauche in die Welt ein, die gewissermassen es einatme^).
0 phys. III 4, 203 a 7-9.
') metaph. XIV 3, 1091 a 17.
^) P^y^- I^ ^'j 213 h 22 — 25: rh^a »f" 'Afnxiav y.ni o! TlrO-uyoQtwi xfvnv , xni.
intiaievai avio (1. avrw^ mit einer Bekker'schen Handschrift und den Codices bei
Slob. ecl. I, p. 880) t<~> ni'Qnvot ry tov ixtih'qov nv/vunroi o'tc dvanvc'ovTi [xai] to
xevov (die Fortsetzung s. Ö. 41 Anrn. 3).
Die Pythagoreer. Die unbegrenzte Ausdelinung. 39
Wenn dann fort^^efahren wird, dass dieses Leere zuerst in den
Zahlen sei und die Natur derselben trenne^), so zeigt sich hierin
deutlich die Unklarheit dieses ganzen altpythagoreischen Stand-
punctes, für welchen der Raum als die Form des Auseinander
zugleich auch als das die Zahlen Trennende erscheint. Stobaeus,
der diese Stelle des Aristoteles citiert ^), fügt eine ähnliche aus dem
ersten Buche seiner Schrift über die pythagoreische Philosophie
hinzu 2), nach welcher aus dem Unbegrenzten in die Welt eintrete
die Zeit, der Hauch und das Unbegrenzte, welches die Räume
trenne. Ein späterer Bericht^) erweitert die zuerst angeführte
aristotelische Nachricht dahin, dass die Welt, wie aus dem
Leeren ein-, so in das Leere ausatme. In jenen aristotelischen
Berichten wird nun aber das Unbegrenzte gleichgesetzt, einerseits
dem Leeren, andererseits dem unendlichen Hauche. Beides wider-
spricht sich auf dem Standpunkte jenes altertümlichen Denkens
keineswegs. Wenn z. B. Anaxagoras, um seine Verwerfung des
Leeren zu begründen, sich darauf beruft, dass bei zugebundenen
Schläuchen die darin enthaltene Luft ein völliges Zusammen-
pressen dieser hindre und dass das Wasser so lange nicht in die
Wasseruhr eintreten könne, bis der eingeschlossenen Luft ein
Ausweg geöffnet sei^), wenn er also, um den Begriff des Leeren
zu widerlegen, nachweist, dass die Luft ein Etwas sei, so liegt
dem der gleiche Mangel an Abstraction zugrunde.
Übrigens kann diese unvollkommene Vorstellung nur bei äl-
teren Pythagoreern geherrscht haben. In den Fragmenten des
Philolaus finden wir keine Spur mehr von derselben. Sie ist für
diesen vielmehr aus dem Grunde von vornherein ausgeschlossen,
weil er die Luft als eines der fünf Elemente betrachtet, welches
erst dadurch entsteht, dass durch die Verbindung des Unbegrenz-
ten mit dem Begrenzenden kleinste Elementarkörperchen von be-
stimmter Form sich bilden. Wegen ihres wenig ursprünglichen
■*) a. a. 0. 1) 26 — 27: xal tovt' eivai TTQtÖTov iv ro?f apiS^uoTs' t6 ydp xivov
JioQtZecv Tijv qivaiv avrcov. Vgl. S. 41 Anm. 3.
'^) Stob. ecl. 1, p. 380.
3) Aristot. fragm. 196, p. 1513 a 29 (fr. 201 der kleinern Ausgabe).
*) Plut. plac. II 9, 1; Stob. ecl. I, p. 390; vgl. Diels, Doxogr. p. 338, 13.
'") Arist. phys. IV 6, 213 a 22—27 sowie Simplicius und Themistius zu
der Stelle (Die xXnVvifQu findet eine gute Erläuterung durch Empedocles v
282-295 Karsten, 294—307 Stein).
4() Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Characters werden wir mit Zeller*) freilich diese ganze philolaische
Eiern entenlehre nicht als altpythagoreisch betrachten dürfen. Sie
scheint vielmehr die Lehre des Erapedocles von den Elementen
bereits vorauszusetzen. Was aber das allen bestimmten Stoffen
zugrunde hegende Unbegrenzte betrifft, so operiert wohl Philolaus
mit dem ererbten Begriffe, obwohl er bei ihm seine concrete Be-
stimmtheit verloren hat, doch wie mit einem Selbstverständlichen.
Andererseits ist ihm aber auch die Vorstellung einer unbestimmten
Potenzialität oder die eines qualitä-tslosen Stoffes im Sinne
der aristotehschen oder der stoischen Materie noch fremd. Wir wer-
, den daher seiner Welterklärung nur dann einen Sinn abge-
winnen können, wenn wir im Anschlüsse an den oben als
pythagoreisch erkannten Gedanken ihm die Ansicht beilegen, das
Unbegrenzte als das eine Princip der sichtbaren Welt sei die
Ausdehnung, und zwar die reine Ausdehnung. Unbegrenzt
ist diese aber in einem doppelten Sinne, einmal im Sinne der
Ausdehnbarkeit ins Unendliche, dann im Sinne der Teilbar-
keit ins Unendliche 2). — Hat Philolaus diese Ansicht auch wohl
nicht klar ausgesprochen, so bildet sie doch jedenfalls den
wahren Untergrund seiner naturphilosophischen Anschauungen.
Da also der Begriff des Unbegrenzten den Pythagoreern, wo
sie denselben zur Erklärung der physischen Welt verwerten,' auf
den der unbegrenzten Ausdehnung hinausläuft, so können sie
unter dem Begrenzenden, der Grenze, auf physischem Ge-
biete wenigstens, nichts Anderes verstehen als Begrenzung und
Bestimmung eben dieser an sich unbegrenzten Ausdehnung.
Die Begrenzung der Ausdehnung findet statt durch Flächen,
Linien und Puncte. Arithmetisch betrachtet, ist der Punct die
Einheit; von der blossen Zahleinheit oder der Monas unterschei-
det er sich aber dadurch, dass ihm eine bestimmte Lage zu-
kommt 3). Als einfachste Bestimmtheit innerhalb der unbegrenz-
») a. a. 0. P, S. 377 ff. Vgl. auch Diels, Sitzungsber. d. Berl. Akadem.
1884. S. 353.
^) Für das Erstere liegen die Belege in den S. 38 f. gegebenen aristotelischen
Ausführungen; das Letztere ergiebt sich daraus, dass nach zahlreichen Zeug-
nissen (vgl. Zeller P, 322, 2) die Pythagoreer das Geradzahlige eben wegen seiner
fortgesetzten Teilbarkeit dem aneiQov gleichsetzten.
^) Aristot. de an. I 4, 409 a 6: i^ any/jn^ fxovas tan ^iaiv i'^ovau. Vgl. al.
Die Pylhagoreer. Die Grenze. 41
ten Einheit vereinigt er zuerst in der Reihe des Zählbaren Un-
begrenztes und Begrenztes in sich. Zwei Puncte bestimmen eine
Linie, indem sie als die Enden einer unbegrenzten — d. h. hier ins
Unbegrenzte teilbaren — Ausdehnung erscheinen. Die beiden
Puncte bilden Anfang und Ende, das dazwischenliegende Unbe-
grenzte die Mitte — eine Dreiheit, auf welche die Pythagoreer
nach dem Zeugnis des Aristoteles ^) grosses Gewicht legten. In-
dem wenigstens drei Linien unter Winkeln sich verbinden, be-
stimmen sie innerhalb der unbegrenzten Ausdehnung die Fläche.
Mindestens vier unter Ecken zusammenstossende^) Flächen brin-
gen in der gleichen Weise durch Begrenzung der an sich nach
allen Richtungen unbegrenzten Ausdehnung den Körper hervor.
Überall müssen Grenze und Unbegrenztes zusammentreten. Die
zwei Puncte, welche mit dem Unbegrenzten die Linie bilden,
würden ohne das dazwischen liegende Unbegrenzte zusammen-
fallen, das Unbegrenzte ohne die zwei Puncte wi^irde weder Rich-
tung, noch Ausgang und Ziel erkennen lassen. Analoges gilt von
der Fläche und dem Körper ^). Da so, wenn wir das dazwischen-
tretende Unbegrenzte immer als selbstverständlich voraussetzen,
die Körper aus Flächen bestehen — natürlich nicht aus Flächen,
die aufeinandergelegt sind , sondern aus solchen , die unter Win-
posl. I 27, 86 a 37; I 32, 88 a 34; metaph. V 6, 1016 b 24-31 ; VIII 3, 1044
a 8—9; XIII 8, 1084 b 26—27.
') de caelo I 1, 268 a 10—13.
«) Vgl. Simplic. in Arist. de caelo 111, p. 256 b 23—27 Karsten.
■') Das Begrenzende kann nur dann bestimmte Formen hervorbringen,
wenn es nicht räumlich in eins zusammenfällt, d. h. wenn es durch einen
Abstand, ein Leeres auseinandergehalten wird. Ebenso erhalten die Zahlen
alle ihre Bestimmtheit durch die Einheiten, welche sie enthalten, sind aber
zugleich durch einen leeren Abstand von einander geschieden. Das ist wohl
der Sinn von Aristot. phys. IV 6, 213 b 24—27: (die Pythagoreer lehrten, es
sei) To xfvdv o dioQi^ei {nicht oQctei, was dem negag zukommen würde; vgl. de
caelo I 6, 217 a 14: ol ronoi logia/ie'voi xal ntTitpaOfievot) tas qivatis, wg ovrog xov
xtvov ^(jiQiaiiov Tivos Tijjv i(ft^iig xal rr,? äioQiaewg' xal rovr' ecvai ngcörov iv roTg
dgi&fioTg' TO yoLQ xevov (fiogiteiv xijV fvaiv avTcöv. Vgl. dazu Brandis, Rhein. Mus.
V. Niebuhr u. Brandis IT, 224, griechisch-römische Philosophie I, 453 (anders
Zeller l\ 355, 2) Wenn Porphyr, bei Simpl. phys. IV, p. 648, 20—22 behauptet, die
Pythagoreer hätten ein Leeres nur ausserhalb der Welt angenommen, die Welt
selbst aber für ein awr^ig gehalten, so ist das, wie man aus Simpl. ersieht,
eine Vermutung, welche sich auf die falsche Lesart äx"'>QiaTov statt y^ioQiatöv
bei Arist. phys. IV 6, 213 a 32 stützt.
42 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
kein zLisainmenslüsseii — die Flächen in der gleichen Weise aus
Linien, die Linien aus Puncten^ die Puncte aber Einheiten sind:
so ist alles Körperliche eine Summe von Einheiten; die Dinge
sind vieles, TtoXlü^), d. h. sind Zahl.
Zahlreiche Zeugnisse der Alten ^) vertreten mehr oder min-
der deutlich diese Auffassung der pythagoreischen Lehre. Zwar
entstammen dieselben durchweg erst der späteren Zeit ; aber dass
schon die altpythagoreische Lehre im wesentlichen damit über-
einstimmte, ergiebt sich, wie Zeller ^) 'des genaueren nachweist,
aus den Andeutungen des Aristoteles und den, wenngleich spär-
lichen , Resten der philolaischen Schrift. So belehrt uns Aristo-
teles, dass die Einheiten der Pythagoreer nicht monadische seien,
sondern dass sie Grösse hätten *). Letzteres ist nun freilich, wie
Ritter^) unter Zustimmung von Zeller '') darthut, nur ein Schluss
des Aristoteles, den dieser im Sinne der Pythagoreer zu machen
glaubt; jedenfalls aber beweist derselbe, dass auch Aristoteles
die von der pythagoreischen Physik gelehrte Einheit als eine räum-
liche fasste , d. h. also als Raumpunct , der ja stets der arithme-
tischen Monade als zweite Art der Einheit entgegengesetzt wird ''),
Denn mochte auch Aristoteles annehmen (worüber sogleich), die
Pythagoreer legten diesem Raumpunct, aus dem ja die ausgedehn-
ten Körper hervorgehen sollten, räumliche Ausdehnung bei, so bleibt
doch bestehen, dass er die pythagoreischen Einheiten als Puncte
fasste. Des weiteren berichtet uns Aristoteles, die Pythagoreer hät-
ten die Linie durch die Zweizahl definiert^), was sie nur darauf
^) So bezeichnet auch Xenocrates, der an die Stelle der Puncte die un-
teilbaren Linien setzt, alles eben wegen seiner Zusammensetzung aus solchen
als TioA/ß'; vgl. Alexander bei Simplic. phys. I, p. 138, 12.
«) Vgl. Zeller 1^ 375, 5.
3) a. a. 0. I, S. 374 f.
*j metaph. XIII (>, 1080 b 19—20; 30—33; XIII 8, 1083 b 14—17.
5) Gesch. d. Phil. I*, S. 405, 2.
") a. a. 0. [*, S. 351 f.
') Ausser den S. 40 Anm. 3 angeführten Stellen vgl. auch phys. V 3,
227 a 27. Zu dieser Stelle bemerkt ein Scholion des cod. Reg. 1853 bei Bran-
dis, Schol. :n Arist. 401 a 4: oi nv&ayÖQdoi rfjV anyitijv ?.f''/ovai fiovdffa d^eaiv tyovaav.
Doch ist das Zeugnis von wenig Gewicht, da bei Simplicius, der, wie der wei-
tere Verlauf des Scholions nahelegt, in demselben excerpiert wird, die Bezie-
hung auf die Pythagoreer fehlt.
®) metaph. VII 11, 1036 b 13. Dass die Stelle auf die Pythagoreer geht,
zeigt Zeller I*, 374, 2.
Die Pythagoreer. Der Körper l)loi«s mathematisch gefasst. 43
stützen konnten, dass die Linie durch zwei Puncto begrenzt wird.
Philolaus ferner erklärte die Vier für die Zahl des Körpers, und Plalo
scheint für die Drei- und Vierzahl die Namen „Zahl der Fläche, Zahl
des Körpers" schon vorgefunden zu haben ^). Endlich hat Philolaus
die Verschiedenheit der von ihm aufgestellten Elemente auf die
verschiedenen geometrischen Formen der kleinsten Elementarteil-
chen zurückgeführt, indem er die kleinsten Feuerteilchen als Te-
traeder, die Luftteilchen als Octaeder, die Wasserteilchen als
Icosaeder, die Erdteilchen als Würfel ;, die kleinsten Teilchen des
fünften Elementes als Dodecaeder dachte 2) , also auch hier die
verschiedene Zahl der die Körper begrenzenden Flächen, sowie
der diese Flächen begrenzenden Linien zur Erklärung heranzog.
Eine solche Ableitung konnte nur zum mathematischen Kör-
per führen ; für die Erklärung der physischen Körper mit ihren
sinnfälligen Qualitäten musste sie sich als unzureichend erweisen.
Ausdrücklich erhebt Aristoteles den Einwand gegen die pythago-
reische Theorie, dass sie die Leichtigkeit und Schwere der Körper,
also ihre wichtigsten physikalischen Eigenschaften, nicht begreiflich
mache. ^). Und selbst der Begriff des mathematischen Körpers,
wenn man ihn als Begrenzung der unbeschränkten Ausdehnung
fasste, war noch nicht von Schwierigkeiten frei; denn nun fragte
es sich, wie denn die Ausdehnung sich erzeuge. Die Linie z. B.
soll die von zwei Puncten begränzte Längenausdehnung sein. Nun
ist das Mittlere zwischen den zwei Puncten im Sinne der Pytha-
goreer unbegrenzt, d. h. ins Unbegrenzte teilbar ^). Die Teilung
aber kann nicht in das Leere hineinschneiden; sie setzt einen
Teilungspunct voraus. Da diese Teilung bis ins Unendliche fort-
gesetzt werden kann, so besteht also, scheint es, das Unbegrenzte,
welches die Pythagoreer als das trennende Leere zwischen zwei
Puncten dachten, in Wahrheit aus unendlich vielen Puncten. Hat
nun keiner dieser Puncte Grösse, so können sie auch alle zu-
sammen keine Grösse haben. Das Unbegrenzte wäre mithin in
Wahrheit unausgedehnt und es gäbe sonach auch keine ausgedehnte
Linie mehr. Soll aber eine ausgedehnte Linie existieren, so muss,
1) Vgl. Zeller I*, 374 f.
') Philol. bei Stob. ecl. I, p. 10. Hinsichtlich des fünften Elements (wo
übrigens C. Wachsmuth's Gonjectur o^xdva für öXxäs zu beachten) vgl. Zeller
1" 377, 4.
^) metapb. I 8. 990 a 1!2— 18; de caelo lll 1, 300 a 17—19. Vgl. auch
metaph. XIV 5, 109i2 b 15—16. — *) Vgl. S. 40 Anni. 2.
44 Erster Abschnitt,. Vorsocratiker.
scheint es, schon der Punct Grösse besitzen, und in der That fan-
den wir, dass Aristoteles aus der pythagoreischen Lehre diese
Folgerung zog '). »So verwickeln sich also die Pythagoreer bei
der Art, wie sie das Ausgedehnte als ein Vieles fassen, überall
in Schwierigkeiten. Hier ist der Punct, an dem wir die Kritik
der Eleaten, speciell die Zeno's, einsetzen sehen werden.
Den zuerst erwähnten Mangel haben die Pythagoreer aller-
dings zu heben gesucht. Aber wenn Philolaus z. B. die sinnfäl-
lige Qualität, speciell die Farbe , durch die Fünfzahl zu erklären
sucht, so ist das gerade so äusserlich, wie wenn andere für die
Sonne, weil sie, vom Fixsternhimmel aus gezählt, die siebente
Stelle einnimmt, die Siebenzahl als Dennition einführen. Derglei-
chen Erklärungen können, obschon sie in unserer Überlieferung
über die Pythagoreer allerdings einen verhältnismässig breiten
Raum einnehmen, doch nur als willkürliche Spielereien betrachtet
werden, welche geeignet sind, den eigentlichen Sinn jener
Lehre zu verdecken. Ob wir den scharfsinnigen Versuch des pla-
tonischen Timaeus, physikalische Eigenschaften der Körper auf
die geometrische Form der kleinsten Elementarteilchen zurück-
zuführen, z. B. die leichte Beweglichkeit des Feuers auf die
spitzige Tetraederform seiner Teilchen, die Stabilität der Erde auf
die feste Lage der Würfel, aus denen sie besteht 2), schon dem
Philolaus, dem ersten nachweisbarenVertreter jener geometrischen
Elementenlehre; zuschreiben dürfen, ist sehr fraglich. Altpy-
thagoreisch ist, wie schon oben bemerkt wurde , diese Elemen-
tenlehre in keinem Falle.
Das Gharacteristische in der Auffassung der Pythagoreer von
dem materiellen Urgrund der Dinge ist somit gegeben durch
zwei Momente.
Zunächst durch ihren Dualismus von Unbegrenztem und
Begrenzendem. War den älteren loniern monistisch der Stoff als
solcher zugleich Grund der Lebensentfaltung zum und im Kosmos,
so verlangt der Pythagoreismus ein besonderes Princip der Ord-
nung und Begrenzung des an sich Unbegrenzten. Erst durch
das Zusammenwirken beider entsteht die Harmonie des Univer-
sums, der Kosmos, mit welchem Worte die Pythagoreer zuerst,
wie die Ordnung der Welt, so die Welt selbst, bezeichneten 3).
1) S. 42 Anm. 4. — ') Plat. Tim. 55D — 56B.
») Plut. plac. II 1, 1. Stob. ecl. I, p. 450; cf. Diels, Doxographi p. 327.
Die Pythagoreer. Historische Bedeutung ihrer Körperlehre. 45
iSo ist durch sie der Dualismus von unbestimmter Materie und
bestimmender Form zuerst angeregt worden. Von Plato wird
derselbe wesentlich in der pythagoreischen Fassung aufgenommen,
von Aristoteles zwar umgestaltet, aber in seinen Grundzügen
gleichwohl festgehalten.
Zugleich aber liegt bei den Pythagoreern ein bedeutsamer
Keim jener noumena listischen Weltanschauung, jenes Be-
griff srealismus, welcher im Altertum das Gegenstück zum mo-
dernen Idealismus bildet '). Eine klare Erfassung dieses Standpunctes
zwar kann bei ihnen noch nicht erwartet werden. Denn weder unter-
scheiden sie bestimmt ein Geistiges und ein Körperliches, so dass
sie der überwiegenden Bedeutung des ersteren gegenüber dem
letzteren die wahre Realität hätten absprechen können, noch hal-
ten sie Sinnes- und Vernunfterkenntnis auseinander, so dass sie in
der letzteren im Gegensatz zur ersteren die allein in das wahre
Sein der Dinge eindringende Erkenntnisweise, in ihrem Object das
allein wahrhaft Seiende zu erblicken vermocht hätten. Niemals haben
sie auch die Realität der Welt der Sinne zu Gunsten einer Welt des
Gedankens in Abrede gestellt. Die physikalischen Eigenschaften
der Körper, die nicht in klare und deutliche Begriffe zu fassenden
Sinnesqualitäten, werden keineswegs für Täuschung und Sinnes-
trug erklärt, wie denn die Lehre der Pythagoreer in keiner Weise
irgend einer Nuancierung des modernen subjectiven Idealismus
verglichen werden kann. Aber das Hauptinteresse der Forschung
fällt auf die abstracten Bestimmungen, auf das, was durch ma-
thematisches Denken ableitbar ist. Nicht das empirisch Gegebene,
sondern das rationell zu Begründende bildet für sie die Richtschnur
der Forschung. Die Pythagoreer unternehmen es, das Sein der Welt
nicht aus irgend einem sinnfälligen, qualitativ bestimmten Stoffe
und aus den stofflichen Veränderungen desselben^ sondern aus dem
mathematischen Zahlbegriffe in seiner Anwendung auf die Anschau-
ungsform der Ausdehnung zu erklären, und so legen sie ohne eine
deutliche Einsicht in den Unterschied von vernünftigem Denken
und sinnlicher Erkenntnis gleichwohl das Wesentliche der körper-
lichen Welt in diejenigen Bestimmungen, welche thatsächlich
durch das abstracte Denken erfasst werden. Langsam freilich
erst und allmählich haben sich bei ihnen diese mathematischen
1) S. S. 3 ff.
4€ Erster Abschnitt. VorsokraUter.
Anschauungen von der sinnlichen VorsteHung losgelöst. Der
Gedanke der unbegrenzten Ausdehnung verquickt sich anfangs
noch ganz materialistisch mit der Vorstellung eines unendlichen
Hauches. Aber bei Philolaus ist diese sinnlich concrete Vor-
stellung völlig einer abstracten Betrachtungsweise gewichen i). So
weit hat sich zu seiner Zeit die pythagoreische Lehre von dem
ursprünglichen Materialismus entfernt, dass sie als unmittelbare Vor-
läuferin der Lehre Plato's betrachtet werden kann, der das wahre
Sein der Dinge in dem nur durch das Denken zu erfassenden Ideen-
reiche sucht und die Grundlage der sinnfälligen Welt auf den
Raum, d. h. auf die blosse Ausdehnung, zurückführt.
3. Die Eleaten.
Das Herauswachsen der Naturanschauung aus der concret
sinnlichen Vorstellung zu der mehr allgemein begrifflichen, ab-
stracten Fassung, welches die Entwickelung der ionischen Schule
von Thaies bis Heraclit charakterisiert und von dem sich Spuren
selbst innerhalb der im allgemeinen so fest geschlossenen pytha-
goreischen Schule nachweisen liessen, tritt uns am schärfsten in
der Schule der Eleaten entgegen.
Zwei Puncte sind es vor allem, in av eichen die alten Bericht-
erstatter das Wesentliche des Eleatischen Systems erblicken. Zu-
nächst die Einheit des Seienden, wie sie in der Formel: tV td
näiiu, oder synonymen, ausgedrückt wird; dann die Lehre von
der Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit des Seienden, im
Hinblick auf welche Plato^) die Eleaten, im Gegensatz zu den
„fliessenden" Heracliteern, den Qs'ovTsg, als die „Feststeller des
Alls", Ol Tov olov öraöiwxai^ characterisiert. Beide Puncte sind
auch für das Problem der Materie von hoher Bedeutung. Wenn
die Eleaten alles Seiende für eines erklären, wenn sie diesem ei-
nen Seienden ferner Unbeweglichkeit und Unveränderlichkeit bei-
legen, so können sie, scheint es, die veränderhche Welt der Kör-
per nur als Vorstellung in dem Einen betrachtet haben.
Die Lehre von der Unbeweglichkeit und Unveränderlich-
keit des Seienden nun ist dem Stifter der Schule, Xe-
nophanes^) aus Golophon, freilich noch fremd. Zwar be-
*) Vgl. Tannery in der Revue philosophique, XX (1885) S. 389.
«) Theaet. 181 a.
') Ich citiere die Bruchstöcke des Xenophanes nach der Ausga))e von
Die Eleaten. Xenophanes. 47
hauptet er von der Gottheit^ wie Parrnenides und Melissus
von dem Seienden, dass sie unbewegt an derselben Stelle
bleibe und dass es ihr nicht zieme, bald hierhin bald dorthin zu wan-
dern (Fr. 4) ^) ; aber unbefangen redet er davon, dass der Gott durch
die Kraft seines Denkens alles erschüttere (Fr. 3), und ebenso
eignet er sich ohne Bedenken die Vorstellungen eines Werdens
und Vergehens an (Fr. 8. 9. 10). Wohl aber nennt ihn Aristo-
Karsten (Philosophorum Giaecorum veterum praesertim qui ante Platonem
floruerunt operum reliquiae. Vol. I. Pars 1 : Xenophanis Colophonii carm.
leliqu. Bruxellis 1830), mit welcher die Zahlen bei Mullach (Fragm. philos.
Graec. I) genau übereinstimmen.
^) Xenophanes bei Simplicius in phys. I p. 23, 11:
aitl d' iv javTu) (u/tvft xirovuf i>ov (1. xivovfxevog) ovdi'r,
ovife fiiTf'Q)rfa^ai juiv ininQinfi aXXore ak^ji.
Von den Handschriften des Simplicius lesen zwar D E im ersten Verse ximriitvor,
wozu nur rd ov als Subject gedacht werden könnte, so dass die Lehre des Xe-
nophanes der des Parnienides ziemlich genähert würde; die Handschrift F aber
und die kostbaren Blätter von E, welche die Seiten 20,1— 30, 16 und 35, .30
—44,19 noch einmal nach einer ausgezeichneten alten Handschrift geben (E»;
vgl. Diels in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Simplicius S. VII), bieten
y.ivoL\ufvog, für welches nur »tag Subject l)ilden kann. In Übei'einstimmung
damit lesen dieselben Handschriften, hier auch von der Aldinischen Ausgabe
unterstützt, in der Erklärung dieses Verses Z. 13: oi' yard Tt]v r,Qtuiav Tqv dvti-
y.fi/iieviiV iji yiv)',an /.iivtiv avtö ifr,atv statt des Neutrums avTÖ das Masculinum
a^-ro'f. Da nun in der voraixfgehenden , der pseudo- aristotelischen Schrift de
Melisso entnommenen Erörterung von S. 22. 33 an überall im Anschluss an
das Subject n) üv das Neutrum steht, so begreift sich leicht, wie ein Abschrei-
ber durch Veränderung des Masculinums in das Neutrum Gleichheit mit dem
Voranstehenden herstellen wollte, während man nicht einsieht, wie aus einem
vorliegenden Neutrum an beiden Stellen das Masculinum hätte entstehen sollen.
Der Wechsel im Gebrauch des Masculinums und Neutrums bei Simplicius aber
wird dadurch gerechtfertigt, dass der in Frage stehende Abschnitt S. 23, 9 ff.
nicht, wie das Voraufgehende, der pseudo-aristotelischen Schrift de Xenophane
entnommen ist, sondern auf Theophrast zurückführt, aus dem schon S. 22,
26 — 31 einiges entnommen war (vgl. Diels, Doxographi S. 112. Doch stellt
J. Freudenthal, Über die Theologie des Xenophanes. Breslau 1886. S. 45
Anm. 26 in Abrede, dass auch die Worte Z. 31 — .33: öv ira. . . &t6>; dem Theo-
phrast entstammen).
Die Polemik, welche in dem zweiten der obigen Verse enthalten ist. rich-
tet sich jedenfalls gegen die anthropomorphistischen Vorstellungen der Dichter,
speciell des Homer, welcher z. B. den Poseidon sich aus dem Olymp entfernen
und zu den Aethiopen wandern lässt, um dort eine Hekatombe von Bindern
und Widdern entgegen zu nehmen: Odyss. I, 22 ft'.
4S Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
teles den Ersten, welcher alles zu einer Einheit zusammengezogen
habe. Auf das All hinblickend, habe Xenophanes das Eine als
Gott bezeichnet '). Wesentlich das Gleiche , wie man aus Sim-
plicius erfährt, berichtete im Anschluss an Aristoteles dessen
Schüler Theophrast*). Etwas ausführlicher lässt der Sillograph
Timon den Xenophanes denselben Gedanken folgender Maassen
aussprechen: „Wohin auch immer ich meinen Geist hinwendete: in
eins und dasselbe löste sich alles auf; jegliches Seiende trat zurück-
weichend stets und überall zu einer einzigen Natur zusammen" ^).
Wenn nun Xenophanes nach dem angeführten Zeugnisse
dieses Weltall der Gottheit gleichsetzte, so dürfen wir daraus nicht
etwa folgern, dass er jenem den körperlichen Character abge-
sprochen habe. Der Standpunct der älteren ionischen Natur-
philosophie, welche dem Stoffe zugleich geistige Eigenschaften
beilegte, ist auch bei ihm noch nicht überwunden. Der Geist ist
ihm zugleich raumfüllendes Wesen. Darauf deutet, wie Freuden-
thaH) mit Recht hervorhebt, schon hin, wenn Xenophanes in
einem noch erhaltenen Bruchstücke (Fr. 2) vom Gott sagt,
dass er ganz {ovÄag) sehe, ganz denke, ganz höre, oder wenn
Timon den Xenophanes die Gottheit als etwas nach allen Seiten
hin Gleichartiges hov dndvTf]^) bezeichnen lässt. Man könnte
ferner die auf Theophrast zurückgehende Nachricht anführen,
dass Xenophanes das Princip der Dinge, gleich seinem Nachfol-
^) Aristot. metaph. I 5, 986 b 21: Sevoifäv^s <U nQuitos rovtwv iviaas {6 yä(i
naQfxtvi(fr]i TOVTOc XeytTai yevsa&ai fia&ijrijs) ovdiv dieaaftjviatv, oväe TrjS (pvatoos
xovTwv oväereqai t'oixe ■d'i'/eTv, «AA* ttg tov oKov ovgavov aTtoßXs'ipae t6 ev tivai ifrjai
rot' &e6v. Unter dem olo? or^avöc ist natürlich nicht der ganze Himmel zu ver-
stehen, sondern die ganze Welt. So erklärt schon Asclepius (Brandis, Schol.
in Arist. 544 a 44 f.): iis t6v ö?.op ovpavdv «noßUxpag, xovreati jov xöafxov (andere
Gründe bei Freudenthal a. a. 0. S. 21).
*) Simplic. in phys. p. 22, 26—31 (Diels, Doxogr. 480, 4—8): /imv Ji ji,v
doyrjV ijioi tv tö ov xai näv xai ovxe neneQaanivov ovtt antiqov ovre xivov/uevor
ovfi ■ngffi.ovv Stvo(fdvi]v Tov Ko?.o(f,fuviov tov üaQ/^evidov (fiddaxakov vnoTt&ta&ai
wTjaiv 6 @t6ifQaaxog ro yd.Q (v tovto xal nav tov -d^tov eXtyev 6 Stvo(pdviqs.
8) Timon bei Sextus Empiricus, Pyrrh. hypotyp. 1, 224:
. . . önnji ydp i/jop vöov tl^vaai/j./,
eig ev ravxö xt nSv dvtf.vtxo' ndv 6" tov atei
Tidvxji dvt/.xöijitvov j-Liav tig ifcatv l'dxttif-^ ofjtolav.
*) a. a. O. S. 24.
") Sext. Emp. Pyrrli. hyp. I, 224.
Xenophfinei^. Keine Negntinn des Köi'peilicheii. 49
ger Parmenides, als begrenzt ') und kugelförmig ^) gedacht, wenn
dem ersteren nicht die Angabe des Aristoteles entgegenstände,
Xenophanes habe sich überhaupt nicht darüber geäussert, ob er
das Eine als begrenzt oder als unbegrenzt gedacht wissen wolle »),
woraus sich dann ergiebt, dass er es wenigstens mit ausdrück-
lichen Worten auch nicht als Kugel bezeichnet haben kann. Es
dürfte hier vielmehr eine Anticipation parmenideischer Lehren
vorliegen, die ebenso imhistorisch ist, wie wenn spätere Bericht-
erstatter dem Xenophanes die Ansicht beilegen, es gebe kein
Nichtseiendes und darum kein Werden aus dem Nichtseienden,
wie überhaupt kein Werden und Vergehen*). Gleichwohl kann
es keinem Zweifel unterliegen, dass Xenophanes das Weltgebäude
als etwas Stoffliches auffasste. Darauf weisen auch die wenigen
sichern Einzelbestimmungen ^ welche aus seiner Kosmologie uns
überliefert sind ^).
') Siuipüc. in phys. p. :23, !(>. Hippolyt. lefut. I 14, '2. Galen, liist. phil.
c. 7. p. 234 K. Theodoret. gr. affect. cur IV 5 Vgl. Diels, Doxogr. p. 112 u. 481.
•-'/ Simplic. in phys. p. 23, 16. Diog. Laert. IX 19. Hippolyt. refut. I 14,' 2.
Theodoret. gr. äff. cur. IV .5. "Sext. Pyrrh. hyp. T 225; III 218. Gic. Acad. II, 37, 118.
') Metaph. I .5, 986 b 23 (citiert S. 48 Anm. 1). Dass hier nicht bloss ge-
sagt werden soll, Xenophanes habe sich nicht darüber erklärt, ob er das Eine
als formales oder materiales Princip gedacht wissen wolle, sondern dass ihm
auch eine Bestimmung über Begrenztheit oder Unbegrenztheit desselben abge-
sprochen wird, zeigt Zeller P, 478, 1 (gegen Kern). Anlass zu dieser Bemerkung
gab dem Aristoteles vielleicht Fr. 12 des Xenophanes. wo es heisst, die Grenze
der Erde nach oben hin sähen' wir vor unsern Füssen, wo sie an die Luft an-
stosse, nach unten hin aber erstrecke sie sich ins Unbegrenzte. Denn ob nun
auch die Luft, und damit das ganze Weltall, ins Unbegrenzte sich erstrecke,
ist in diesem Fragment völlig unentschieden gelassen {ovdfv (htaaifijnaiv, Arist.
1. c.) Vgl. übi-igens Empedocles v. 199—201 Karst, und Zeller l* , 494 f., sowie
besonders Freudenthal a. a. 0. S. 42 ff.
*) Ps.-Plut. stromat. bei Euseh. praep. evang. I 7 (Diels, Doxogr. |).
Ö8Ü, 7—10).
^) Dahin gehören die Behauptungen, alles — d. h- alles Organische (vgl.
Zeller P, 497) — entstehe aus der Erde (Fr. 8), resp. aus Erde und Was.ser (Fr.
9. 10), und kehre wieder darein zurück; die Erde sei, wie die mitten im Lande,
selbst oben auf den Bergen gefundenen Versteinerungen von Schaltieren u.s. w.
bewiesen, ursprünglich in einem schlammförmigen Zustande gewesen und werde
durch Wasser wieder in Schlamm verwandelt werden (Hippolyt. refut. I 14, 5),
u. dgl.
Mit Unrecht ist Fr. 8: ix yair,s yuQ nnvia xal lU yT^v niivTtt Tf/.fvjii
(so Sextus adv. malh. X 313. Theodoret. gr. äff. cur. IV 5 bietet: *V
üafMiiiiker: Das Problem (ler Materie rtc 4
TiO Krster Abschnitt. Vorsdcratike.r.
Den Höhepunkt der Eleatischen Specnlation bezeichnet Par-
nionicles'). Indem er, ein metaphysisches Talent ersten Ranges,
mit eindringender Consequenz den Begriff des Seienden zum
Angelpuncte seiner Forschung macht, hat er seinen Nachfolgern
das Problem aufgenötigt, welches noch in der spätesten Zeit der
griechischen Speculation den Mitlelpunct des Denkens bildet, das
Problem : was ist das wahrhaft Seiende ?
So bedeutsam indessen die Lehre des Parmenides vom Sei-
enden in sachlicher wie in historischer Hinsicht sich erweist, so
scheint dieselbe gleichwohl zu dem Problem der Materie in kei-
ner unmittelbaren Beziehung zu stehen. Zwar dass Parmenides,
wie die älteste griechische Philosophie überhaupt, noch nicht zwi-
schen körperlichem und geistigem Sein unterscheidet, will wenig
bedeuten. Denn das von ihm gelehrte^, nur im Denken zu erfas-
7VS yi'O räö's 7iavTa y.al t. y. n, r., und SO sollte man aucli bei Stob. ed. I, p. ;294
schreiben, wo ex '/iji '/uq rd jiurta überliefert ist, mag auch die originale Form
des Verses immerhin von Sextus geboten werden von Meiners, Heeren, Kar-
sten, Mullach u. u. verdächtigt. Denn wenn, worauf z. B. Karsten p. 45 Ge-
wicht legt, Sextus adv. math. X 31o sagt, xai' ev/ovs lasse Xenophanes alles aus
Erde entstehen und dann unseren V^ers anlührt, so heisst es unmittelbar dar-
auf gerade so bei ihm, xar' svioi-i folge Xenophanes dem Homer, der Erde und
Wasser zu den Ursprüngen von allem mache, worauf dann zum Belege Fr. 9
herangezogen wird (vgl. die ganz ähnliche Ausdrucksweise adv. math. VJI 49).
Eine Verschiedenheit bestand also nicht hinsichtlich der Frage, ob die Worte
t'x yairii xtL von Xenophanes herrührten oder nicht; die Ansichten gingen viel-
mehr nur hinsiciitlich der Frage auseinander, was die eigentliche Meinung des
Xenophanes über das Piincip der Weltbildung sei, wobei eine jede der Parteien
sich auf einen Ausspruch desselben berief. Dass in Wirklichkeit indes-
sen beide Aussprüche mit einander sehr wohl vereinbar sind, zeigt das oben
aus Hippolyt Angeführte. — Wenn endlich Karsten zum Beweise dafür, dass
erst ein Späterer, welcher die Meinungen der alten Philosophen in bestimmte
Formeln bringen wollte, den angeblichen xenophaneischen Vei's geschmiedet
habe, sich aut den ganz analogen, bei Stob. ecl. I, p. !28i2 dem Heraclit beigeleg-
ten Pseudo-Vers: ex nv^os '/"(' '^^ ««n« xai eis nv(/ nävTu 7 fA< er« beruft, SO han-
delt es sicii dort nachweisbar um einen jirosaischcn Beiicht des Doxographen
Aetius (^vgi. Plut. plac. I 3. Diels, Doxogr. i2S4 a 1), aus dem ein Sätzchen von
Stobaeus irrtümlich für einen Hexameter gehalten wurde (Diels, Doxogr. p. 222),
während für den xenophaneischen Vers die Annahme einer solchen Entste-
llung in der Überlieferung keinerlei Anhalt findet.
') Vgl. meinen Aufsatz: „Die Einheit des parmenideischen Seienden'', in:
Neue Jahrb. f. Philol. u. Päd. Bd. 133 (188G), S. 541— ,ÖG1. Einzelne Modiüca-
lionen desselben wird die folgende Darstellung ergeben.
l^Tvmenides. Seine Beziehung zum Problem (ier Materie. 51
sende Sein ist in Wahrheit kein anderes, als eben dasjenige Sein,
von dem die Sinne uns ein trügerisches Bild bieten. In sofern würden
also gerade alle diejenigen Bestimmungen, durch welche er die Eigen-
tümlichkeiten des Seienden überhaupt auszudrücken glaubt, in den
Rahmen unserer Untersuchung fallen, welche einer Geschichte der
Vorstellungen vom Hruncie des körperlichen, sinnfälligen Seienden
gewidmet ist. Allein jenem Seienden legt Parmenides volle Un-
veränderlichkeit bei. Alle Veränderung ist nach ihm blosser Sin-
nenschein. Nun bestimmten wir aber den antiken Begriff der
Materie dahin, dass sie sei das Substrat des Wechsels in der
Körperwelt (S. 5). Für Parmenides giebt es also überhaupt keine
Materie im antiken Sinne mehr.
Dennoch können wir von einer Erörterung der parmen idei-
schen Lehre vom Seienden, sowie der Weiterführung dieser Lehre
durch Melissus und Zeno, nicht absehen. Zunächst schliesst sich,
wie bereits oben (S. 46) hervorgehoben wurde, an bestimmte
Sätze dieser Männer der Zweifel an, ob dieselben überhaupt eine
Körperwelt ausserhalb des Gedankens gelten lassen. Wäre der
Zweifel berechtigt, so würde sich die Frage erheben, ob nicht jene
erkenntnistheoretischen Bedenken hinsichtlich des Begriffs der
Materie, die wir in der Einleitung ( S. 3 ff.) dem Altertum abspra-
chen, wenigstens diesen Eleaten schon aufgestiegen seien. Noch
wichtiger aber ist der folgende Grund. Gerade in den Sätzen
der Eleaten von der Ewigkeit und Unveränderlichkeit des Seien-
den liegen die historischen Vorbedingungen für die Theorie
der Materie, welche die jüngeren Naturphilosophen aufstellen.
Was die Eleaten vom Seienden lehrten , das übertrugen jene auf
das bleibende Substrat der Veränderungen, d. h. auf die Materie.
In der Lehre des Parmenides vom Seienden liegen die Wurzeln
der Theorie der Materie bei Empedocles und Anaxagoras, wie
bei den Atomikern. Natürlich gilt dieses von dem ersten Teile
des parmenideischen Gedichtes , in welchem er seine eigene An-
sicht entwickelt, nicht von dem zweiten , in Avelchem er die her-
kömmlichen kosmologischen Anschauungen ausbaut, um sie zu
kritisieren. Auf den ersteren werden wir uns darum beschränken ').
\) Ich gebe die C.itate nach Karsten. Giaec. phil. rel. II) (dessen Zahlen
von V. 5!2 an hinter den Mullach'i^chen um eins zurückbleiben) und Stein (in:
Symbola jihii. Bonnens. in hon. Ritschelii coli. S. 7tö— S06i. mit stillscliwei-
4 *
55 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Das System des Pamienides entwickelt sicli im schroffsten
Gegensätze zu den ge\v(jhnlichen Meinungen vom Sein und
Werden der Dinge. Es scheint seine Spitzen gleichmässig gegen
die pythagoreische und ioru"sche Schule, wie gegen die Vor-
stellungen der unphilosophischen Menge und ihrer poetischen
Vertreter zu richten. Dieser polemische Gharacter ist der ele-
aüschen Schule von anfang an eigen'). Bei Xenophanes ist die
Kritik eine vorwiegend theologische, die gegen die unwürdigen Vor-
stellungen namentlich der Dichter von der Gottheit gerichtet ist 2).
Parmenides unterwirft die Grundlagen der bisherigen Naturerklärung
einer einschneidenden Kritik, um vom Standpuncte der Vernunft-
erkenntnis aus zu einer völlig neuen Weltanschauung zu gelangen.
In den wegen ihrer eindringenden Geistesschärfe bewunderungswür-
digen Argumenten Zeno's erreicht diese Polemik ihre vollste Aus-
bildung, freilich auch zur Eristik und Sophistik überführend.
Einen doppelten Weg der Forschung unterscheidet Parme-
nides, den Weg der überzeugenden Wahrheit und den der trü-
gerischen Meinung ^). Z.ur Wahrheit leitet allein die Vernunfter-
kenritnis (köyoc); der Sinn dagegen, Auge, Ohr und Zunge, stürzt
in Trug*). Es ist derselbe rationalistische Kanon, den der
Platonische Phaedo •'^) aufstellt: man solle sich nicht dadurch in
Blindheit stürzen , dass man sich bloss mit dem Auge und den
übrigen Sinnen an die Dinge {ngäyfiaia) heranmache, sondern
man solle viehnehr mit Hülfe der Vernunftschlüsse {dg rovg Xöyovg
xaiaifvyövTa) die Wahrheit des Seienden suchen.
Die Untersuchung durch die Vernunft führt zu einem ganz
anderen Weltbilde, als die Sinne es bieten. Es ist in seiner
Tendenz durchaus noumenalistisch und nähert sich einer Hypo-
stasierung des allgemeinsten Begriffes , des Begriffes des Seins.
Gerade bei Parmenides ist es hergebracht^ diesen Noumenahs-
mus oder Begriffsrealismus als Idealismus zu bezeichnen. Wir
gender Einführung derjenigen Veränderungen, welche durch Diels Ausgabe des
Simplicius an die Hand gegeben werden.
') Vgl. H. Diels, Über die ältesten Philosophenschulen der Griechen, in
der Festschrift zu E. Zeller's uOjähr. Doctorjubiläum, Leipzig 1887, S. -M) ff.
■') Vgl. Diog. Laert. IX 18.
=*) V. 29—32. 33—38, 109—111. K. 29—32. 43-48. 113—11'. St.
*) V. 54—55 K. 34—35 St.
») Plat. Phaed. 99 E.
Parmenides. Sein Noumenalismus. 53
behielten uns') den Namen für den subjectiven Idealismus
vor, der das Sein zum Gedanken macht. Dieser aber ist dem
Parmenides fremd. Denn wenn er auch sagt: „Dasselbe ist Denken
und Sein" 2), und an einer andern Stelle : „Dasselbe aber ist das
Denken und das, worauf das Denken geht" ^), so ist an diesen
Stellen, wenn wir genau das Einzelne betrachten, gar nicht be-
hauptet, dass das Sein Denken sei, sondern vielmehi* umgekehrt,
dass auch das Denken ein Sein sei. Beide Stellen richten sich
gegen diejenigen, welche dem von Parmenides negierten Nicht-
seienden eine Stätte wenigstens in unserm Vorstellen einräumen
möchten, und behaupten nur positiv, was der Philosoph anderswo
negativ ausdrückt, dass man ohne ein Sein als Gegenstand des
Gedankens nichts denken *), dass man das Nichtseiende auch nicht
denken könne ^). Trotz dieser noumenalistischen Tendenz indessen
gelingt es dem Parmenides nicht, alle der sinnlichen An-
schauung entstammenden Züge aus seinem Weltbilde zu elimi-
nieren. „Das Seiende des Parmenides", bemerkt treffend
Zeller *^) „ist kein metaphysischer Begriff ohne alle sinnliche
Beimischung, sondern ein Begriff, der sich zunächst aus der An-
schauung entwickelt hat und die Spuren dieses Ursprunges noch
deutlich an sich trägt."
Untersuchen wir im Folgenden die Vorstellungen des Parme-
nides von der Natur des Seienden unter dem Gesichtspuncte
einer Scheidung derjenigen Elemente, welche thatsächlich dem
Vernunftschluss entstammen^ von denen, welche auf sinnliche An-
schauung zurückgehen.
Der erste und wichtigste Satz jener Vernunfterkenntnis, den
zu wiederholen Parmenides nicht müde wird, ist der, dass es
neben dem Seienden kein Nichtseiendes giebt''). Die Wahrheit
») S. S. 4 f.
') V. 40 K. 50 St. : t6 yäp avro votiv iarcv te xal eivai.
^] V. 93 K. 96 St.: towiov ö'' iatl potlv rt xai ovvexe'v tati vüij/ia.
■*) V. 94 K. 97 St.: ov yäp avev Tov iüvjos, fv w Tieifanaße'vov iariv, (vpijatis
to vofir. Man vgl. damit Plat. rep. 476 E. 478 B; Theaet. 188 D ff.; Soph. 237 E;
Pai-m. 132 B. 142 A. 164 A.
") V. 39 K. 49 St.: ovcf yap äv yvolrji to ye jitj iöv ov '/«(/ ifixTÖv' ovte
s) Phil. d. Gr. \\ 517.
') V. 35-38. 43—44. .57. 63—64. 95-96. p. 48, 1 K. v. 45-48, 51 - 52. 63.
69—70. 99-100. 60 St.
54 Erster Al)sclmitl. Vorsocratiker.
liegt in (lor lOrivoniitiiis, da.ss nur das Seiende ist; nur auf Trug
dagegen l)eruht und zu Trug führt hin jene Ansicht, die an-
nimmt, neben dem Seienden sei ein Niclitseiendes, oder gar, wie
jene „Doppelköpfe", die Heracliteer ') meinen, Sein und Nichtsein
sei dasselbe und aucli nicht dasselbe. Der Beweis, welcher für
diese Grundlage des parmenideischen Systems geliefert wird, ent-
spricht ganz dem oben angeführten rationalistischen Kanon: das
Nichtseiende ist nicht, weil es nicht denkbar ist^); alles, was ge-
dacht wird, ist.
Hat aber das Nichtsein keine Realität, so kann das Seiende
— welches bei Parmenides das Körperliche noch ungeschieden
niitbefasst — weder entstehen noch vergehen ; es ist ewig 3). Auch
jede Veränderung, die ja Übergang von einem bestimmten Sein
zum Nichtsein desselben wäre, ist von ihm ausgeschlossen. Weder
Ort noch Farbe wechselt es. Alles dieses, was die Menschen ihm bei-
gelegt haben, ist nur Wort und leerer Name^). Ebenso ist das
Seiende, das ja kein Nichtseiendes oder eine Abnahme zum
Nichtseienden hin in sich einschliesst, ein einiges, ungeteiltes und
ungetrenntes •^). Kein Unterschied findet sich in ihm; ganz ist es
sich selbst gleich*^); denn — so dürfen wir ergänzen — wäre
') DaSS bei den liiy^urui .. . oig to nelttv xf y.al ox^y. fi'vni towt6]> vtvd/uiarai yov
luviov, TiävTüw de naUvjQon6i iati y.t'hr^os (v.47— 51 K. 55— 59 St.), erscheint mir
mit Bernays, Ges. Abliandl. I S. 62, 1 und Diels, Philosophenschulen S. 225 un-
zweifelhaft.
■■') V. 63 K. 69St. : ... or' yap «/«ror nrtif vnijov fdri OTim; ovx Vari. Vgl. V.
31) - 40 K. 49—50 St.
=>) V. 58. 61-76. 82-83. 10(J K. 64. 67—82; 88—89. 1U4 St.
*) V. 97— 1()() K. 101 — 104 St TW 7uhT' uvonaatai,
oaaa iigoroi y.are&evro innoid-öxti ttvai d?.ri&ii,
yiyvta&ni re xai oXKva&ai, tivai %i y.rtl ovxi,
y.al tÖTiov d'/.Xdaativ li'id rt yjföa (pavov (i/itii^tiv.
V. 97 K. 101 St. wird statt des von Simpl. pliys. I, p. 146, 1 1 gebotenen unme-
trischen mvoixuaTai nicht ovoi^C f'aitu , sondern, wie v. 121 K. 125 St., övö^aatai
einzusetzen sein. Im Unterschiede von i^dvat, if(,dt,(iv und deren Ableitungen,
wojnit der philosophisch richtige Sprachgebrauch bezeichnet wird (v. 40. 63.
94 K. 50. 69. 97 St.), gebraucht Parmenides das Verbum SvofidXtiv von der will-
kürlichen Namengebung der unphilosophischen Menge (v. 112. 121 K. 116.
125 St.). — Von der Unbeweglichkeit des Seienden ist auch v. 81. 84—86 K.
87. 90-92 St. die Rede.
ft| y ,;i;- 77—80. 90-92. 103—107 K. 67. 83—86. 38-4^. 107-111 St.
'') V. 77 K. 83 St.: nav ianv öiioiov.
Pannenities. Eigenschaften des Seienden. oo
etwas weniger seiend als anderes, so würde das eine Abnahme
y.um Nichtseienden hin bedeuten.
Freilich geht es zunächst nur auf das Seiende, d. h. den In-
begriff des Seienden, wenn Parnienides leugnet, dass es entstehe
und vergehe oder seinen Platz verändere *), dass es eins sei und
keine Teilung in sich befasse. Von dem späteren Probleme, ob
das einzelne Ding mehrere Eigenschaften in sich vereinigen könne,
oder ob dieses für das Denken einen Widerspruch einschliesse 2),
findet sich bei ihm noch keine nachweisliche Spur. Vielmehr
scheint Parmenides zunächst der thatsächlich bei den Griechen
vertretenen Meinung entgegenzutreten, dass eben alles geworden
sei. So stellt schon Aristoteles ^) die parmenideische Lehre dem
Satze des Hesiod entgegen, zuerst sei das uranfängliche Chaos
gew^orden^). Aber da Parmenides nirgendwo diesem Inbegriff des
Seienden gegenüber von einem verschiedenen Verhalten des ein-
zelnen Seienden redet, so dürfte es der inneren Tendenz seines
Gedankens entsprechen, das Werden und Vergehen, die ört-
liche und qualitative Veränderung überhaupt für Sinnenschein
oder, wie ein Moderner vielleicht sagen würde, für das Ergebnis
einer bloss zufälligen Ansicht zu erklären.
Wir sehen in diesen grundlegenden Erörterungen durchaus
die Tendenz gewahrt, nur das als wirklich gelten zu lassen, was
') Vgl. Plato Theaet. 180 E, wo es mit ausdrücklicher Bezugnahme auf
Farm. v. 97 K. 101 St. hei.sst: cüJ.oi nv tuvavTia rovrots (die Heracliteer sind
gemeint] dntfrjravro , olov axin/Tov xiXi&tiv (!) ndvi' ovo,u eivai xal aXka öaa Me-
'/.laaiii. ze xal IluQpKviö'ai fvavx lovfjiivoi ndai rovroii fuia)fvpiCovTai, co( i'v n nävta
tOTi xal, eUT^ixev avr o iv uvtw, ovx i'^or ^(i')()av, iv i] xivtltai.
2) Dass erst die aus dei' eleatischen Schule erwachsene Eristik die Frage
nach der Vereinbarkeit des Einen und Vielen auf das einzelne Ding bezog und
den Fragepunct dadurch verrückte, ist auch dem Simplicius nicht entgangen;
vgl. phys. I, p. 91, 4; 97, 22. Es .sind die raxsQoi tmv aQ-f^aimv, wie Aristoteles
[)hys. I 2, 185 b 2G sie im Gegensatz zu Parmenides, Melissus und Heraclit
genannt hat, w:elche mit grossem Lärm die Meinvmg bekämpften, als könne ein
und dasselbe zugleich eines und vieles sein. Kindisch und leicht zu lösen
nennt Plato ihre Sophismen (Phileb. 14 D); gleichwohl setzten sie Jung und
Alt in Verwirrung (^Plat. Phileb. 15 E). Dahin gehört der Gorgianer (Zeller IS
960, 3) Lycophro, der aus diesem Grunde nicht sagen wollte: ,der Mensch
ist bleich", sondern nur: ;,der Mensch bleicht" (Arist. phys. 1 2, 185 b 27 — 32).
3) Arist. de caelo III 1, 298 b 25—29. Vgl. Simpl. zu der Stelle.
*) Hes. theog. Ilti: 'i\%oi fxiv tiqwtiotu ^dos yivtt'.
56 Erster Absclinitt. Vorsocratiker,
sich aus dem Vernunttbegrilf der Wirklichkeit oder des Seins ab-
leiten lässt, alle sinnfälligen Eigenschaften dagegen zu blossem
Schein herabzudrücken. Gleichwohl gelingt es dem Pai-menides
nicht, diesen Standpunct unverrückt festzuhalten. Mit jenen be-
grifflichen Elementen verbinden sich in inniger Durchdrin-
gung andere, welche noch ganz den Standpunct der sinnlichen
Anschauung festhalten und das Seiende des Parmenides doch
auch wieder als ein körperliches erscheinen lassen '). Er bezeich-
net es als eine überall zusammenhangende 2), gleichartige Masse,
die nicht an einem Puncte mehr Sein enthalte als an einem an-
dern 3), von der vielmehr alles angefüllt sei ^), ja er spricht ihm sogar
ausdrücklich Kugelgestalt zu •^). Dass auch Aristoteles keine andere
Auffassung von dem eleatischen Seienden hatte, geht aus seiner
Äusserung hervor, es hätten Melissus und Parmenides mit ihrer
Schule kein anderes Sein neben den sinnfälligen Dingen angenom-
men*'). Ebenso erscheint die Einheit des Seienden an der ein-
zigen Stelle, wo sie von Parmenides ausdrücklich erwähnt wird,
in der Form eines räumlichen Continuums (l'i- ^t'i'fx4') ')•
Das Seiende, lehrt Parmenides an einer anderen Stelle, ist nicht
geleilt, sondern zusammenhangend und alles erfüllend*^). Wir
werden daher kaum fehlgreifen, wenn wir in Übereinstimmung
^) Vgl. P. Taunery, la physique deParmenide, Rev. philos. XVII I (1884i
S. 264 — 292; le concept scientitique du coitinu. Zenon d" Elee et Georg Gantor.
Ebend. XX (1885) S. 385-410.
») V. 78. 80. 90 K 84. 86. 38 St.
:.) V. 77—79. 103—107 K. 83—85. 107—111 St.
*) V. 79 K. 85 St.
ä) V. 101 — '03 K. 105—107 St. Dass diese wohlgeruiidete Kugel bei Par-
menides nicht die Geltung eines blossen mythischen Bildes hat, gleich dem
Weltei der orphisehen Kosmogonie, wie Simplic. in phys. 146, 31 ff. will: s, N.
Jahrb. Bd. 133 S. 543.
«) Arist. de caelo III 1, 298 b 21.
') V. 60 K. 66 St.: ov noi' iriv ovi)' f(Jiui, emi vvv iaiiv ofior nav.
Die räumliche Bedeutung von h-vtxts ergiebt sich aus v. 80 K. 86 St. {^wf/ii),
78 K. 84 St. {^vvtxtattaiX 90 K. 38 St. {eyja9ui).
') V. 90 K. 38 St.: ov yap ä7i0Ti.iTJ§ei tö ■/' iov tov iövrog t-j(ta&at,
V. 77 K. 83 St.: ovd'i diaignov taitv, tnti nuv iariv 6/jioioi\
ovtfe Ti i^ ,uük?.ov, TÖ y.tv eVQ'/oi uiv ^vvf-/^taO-at,
ovd'i Ti y^tiQihfQov' nur d' 'ifinkfov iaiiv eovtog'
T(S ^vvt^is Ticiv iOTiv, fov yap eövii Jitkä^it.
rjirnieiiides. Eigeiiscluiflen des Seienden. ö7
mit einer alten, schon durch Eudenuis i) bezeugten und anschei-
nend gebilligten Auslegung bei jenem kugelförmigen Seienden des
Parmenides an das Weltgebäiide denken, dem jener, wie spcäter
Plato und Aristoteles, im Gegensatz zu der anderweitig aufge-
stellten Meinung von seiner unendlichen Ausdehnung, wohl Be-
grenztheit und Kugelgestalt zuschreiben mochte. Neuplatonische
Schrirtsteller zwar, welche den platonischen Gedanken, dass
der besonderen Erkenntnisart auch ein besonderes Object ent-
spreche, schon bei Parmenides voraussetzen, wollen ihre eigene
Unterscheidung einer wahrJiaft seienden intelligibelen Welt und
der sinnfälligen Erscheinung bereits bei jenem wiederthiden '■').
identificieren gelegentlich sogar das eleatische Eine mit dem noch
über der intelligibelen Welt stehenden urwesentlichen Einen des
eigenen Systemes^) und gewinnen so für eine sinnfällige Er-
scheinungswelt neben dem von der Vernunft geforderten Realen
Platz. Allein dieses ist eine zu offenbare Hineiiideutung späterer
Gedanken, als dass es notwendig wäre, dergleichen noch beson-
ders zu widerlegen.
Scheinen die der sinnlichen Anschauung entstammenden Ele-
mente bei Parmenides mehr aus einem unbeabsichtigten Rück-
fall auf den Standpunct der Sinnenauffassung, denn aus einer;,
wenn auch nur relativen, Anerkennung dieses Standpunktes her-
vorgegangen, so finden wir bei dem Systematiker der eleatischen
Schule, Melissus von Samos, die eleatische Lehre in manchem
Betracht den gewöhnlichen naturphilosophischen Vorstellungen
wieder angenähert. Auch die abstract metaphysischen Begriffe,
welche Melissus von Parmenides herübernimmt, gewinnen bei ihm
eine mehr physische Bedeutung.
Zunächst freilich bieten die Beweise, in denen Melissus die An-
fangs- und Endlosigkeit des Seienden, seine Ewigkeit und Unverän-
') Eudemus bei Simplic. phys. I, p 133, 28 (vgl. p. 143, 4)
^) So (nacli dem teilweisen Vorgange von Plutarch. adv. Colot, c. 13) Plo-
lin, Ammonius, Proclus, Philoponus, Simplicius (wo er seine eigenen Ansich-
ten vorbringt, wie phys. I, p. 87, b ff. lüO, n ff. 120, 20 ff. 136, 28 ff. 144, 11 ff. de
caelolll, p. 250 a 7 ff. Karst, u. ö.) und andere spätere Zeugen, deren Aussagen
Karsten, Parmenidis El. carm. rel p. 204 f. zusammenstellt. Den von ihm Ange-
führten können noch beigefügt werden Syrian. in Arist. metaph. XIV. p. 860 a
21; 861 b 8; 929 a 3 Usener; Chalcid. in Tim. c. 350, p. 373, 19 Wrobel.
äj Procl. in Parm. col. 708, 7 Cousin^• Simpl. phys. I. p. 100, 22.
58 Krst(^i- Aliscluiitt. Vorsocrnlikcr.
dei-lichkeil (larlhut •), nur den Character einer Paraphrase der ent-
sprechenden Ausführungen des Parmenides. Wie dem Parmeni-
des, so sind auch ihm die Unterschiede von Erde, Wasser,
Luft, Feuer, von Lebendem, Totem, Schwarzem, Weissem u. s.w.
leere Namen und Sinnentrug ''^). Dabei tritt aber zugleich die Bezie-
hung auf das Physische klar zu Tage, wenn er das Nichtseiende aus-
drücklich mit dem Leeren {xsrföi) identihciert, dessen Existenz
er eben darum verwirft, weil das Leere als Nichtseiendes nicht
sein könne 3). Auf die Nichtexistenz eines leeren Raumes inner-
halb und ausserhalb der Welt stützt sich die Unmöglichkeit einer
Gontraction und Expansion des Alls^), überhaupt die Unmöglich-
keit einer Bewegung für dieses •^). Ausdrücklich aber nimmt Me-
lissus Anlass, diese Unbeweglichkeit des Seienden auf eine Be-
wegung des Alls in ein Seiendes oder ein Nichtseiendes zu be-
schränken. Mit unzweideutigen Worten sagt er, dass jener
Satz von der Unbeweglichkeit des Seienden keineswegs so
gemeint sei , als ob sich überhaupt gar nichts bewege —
es finde vielmehr Bewegung im Vollen statt — sondern
*) Meliss. fragm. 1. 4. 11. 12 Brandis (Gomment. Eleat. pars I, womit
die Zahlen bei Mullach übereinstimmen).
2) Meliss. tV. 17.
■') Meliss. fr. 5 u. 14 bei Siuipl. phys. I, p. 104, 4—15 und p. 80, 7 — 14
(Vgl. p. 40, 12—21; 112, 6—15).
Es möge dahingestellt bleiben, ob der Ausdruck „das Leere" von den Atomi-
kern zu Melissus gekommen, oder ob jene ihn ihrerseits dem Melissus entlehnt ha-
lben. Für das Letztere entscheidet sich Zeller 1', 852 f. Allein clironologisch steht
auch der ersteren Annahme nichts Entscheidendes im Wege, und dass Melissus ein
Schwachkopf sei, ist eine fable convenue. die man dem Aristoteles nachspriclit
welclier die Eleaten überhaupt nicht zu würdigen weiss und den Melissus speciell
nicht unbedeutend missveisteht (vgl. Zeller P, 554, 3 g. E.; Natorp, Forschun-
gen zur Geschichte des Erkenntnissproblems im Alterthum. Berlin 1885. S. 109 f.).
Übrigens hatte Melissus wenigstens für die Negation des Leeren innerhalb
des Weltalls einen Vorgänger an Empedocles, der v. 63 Karsten (91 Stein) sagt:
nv(h' Ti rov navTos y.eviov niXtL.
*) Meliss. fr. 14. Die Ausführung ist wohl gegen die nvxvwaig und
apai'otais gerichtet, welche in den kosmologischen Vorstellungen ilei' lonier eine
so grosse Rolle spielen. Auf eine ähnliclie Polemik scheinen übrigens
schon die Verse des Parmenides zu deuten, v. 90 ff. K, 38 ff. St.:
ov yu(i uTioTfiij^ei r6 y' iov rov iövzog i'^ead-ai,
ovTt axiävtt/xevov ndvtj) ndvirns xaici xüofiov
ovrf tJvriaTttuevov.
^) Meliss. ir. 5. Vgl. Arist. de gen. et corr. 1 8, 3z5 a 2—13.
Melissus. Wiederannäheiung an dfii Staiuliiuiicl der Xal urjiliilosophif. 59
vielmehr iiiu' dieses, dass das gesamte Seiende, das W^elt-
all , weder in ein Seiendes wandeln könne , denn es gebe
kein^ solches neben ihm, noch in ein Nichtseiendes, denn
das Nichtseiende existiere nicht ^). Wir werden diese beiden
Behauptungen des Melissus, die von der Unbeweglichkeit
des Alls und die von der Bewegung desselben im Vollen,
vielleicht so mit einander vereinen können, dass wir ihnen
eine ähnliche Anschauung zugrunde legen, wie wir sie später
bei Plato und dann bei Descartes finden. Beide halten trotz
ihrer Leugnung eines Leeren doch die Bewegung der Körper für
möglich, indem sie an die Stelle des sich fortbewegenden Kör-
pers in ri^ickläuügem Kreise die jedesmal benachbarten Stofiteile
treten lassen ^).
Bei einer solchen Sachlage begreifen wir es, wie Aristoteles
den Unterschied zwischen Parmenides und Melissus dahin prä-
cisieren konnte, dass er den ersteren das Sein als eine der begriff-
lichen, den letzteren als eine der materiellen sich nähernde Ein-
heit fassen lässt^). Zwar scheint Melissus, der doch ausdrücklich
dem Seienden Grösse, und zwar unendliche Grösse zuschreibt'),
demselben auffallender Weise an einer Stelle die volle Körper-
lichkeit doch wieder abzusprechen ■'^); allein bei genauerer Betrach-
zeigt sich, dass in dem betreffenden Fragmente von der Natur des
Seienden gar nicht die Rede ist*^).
') Melissus, fr. 5 (bei Simplic. in phys. p. 104, 12 — 15): li <<jv nn; tan y.t-
Vföv, avdyxij ji'Iijqiq ttvai' ei de roizo , jui) xiv£i0&ai' oi'x uti a i} ifwaror dcci
TikrjQios y.ivi'to-d-ai, ws ini tcöv aoinnTutv /.lyoiifr, «/./.' oti nap xo top ortf
li iov rfvvaTtti y.tvrj&'ijrtti' ov yä(/ iari ji nu.Q aviu' o'i'tt t\- tn /ir] tor' ov yä(i tan xo
/itj top.
*) Es ist Plato's von Aristoteles sogenannte dvxmfQiaxaaii (Arist. phys. IV
8, 215 a 15; VllI 10, 2t>7 a 16; vgl. Simplic. zu letzterer Stelle, Brandls, Schol.
in Arist. 452 a 30), die von diesem Tim. 79 B beschrieben wird; vgl. Martin,
Eludes sur le Timee, II, p. 256.
^) Arist. metaph. I 5, 986 b 18 — 20: llaQ^tvidr^i; fiiv yd() tor/.t tov y.atu
jih' }.6yov fpds-änxiadut, Mihaaos de xov y.axd x)]v vlrjV.
^) Meliss. fr. 8.
^) Meliss. fr. 16: il /.liv iov ei'r;, <i(i avxo ev ft'rai' tp de (6r , dti avTÜ amiia
UYi ey/iv' II de iyoi y[dyoi;, i'yoi dp uoqiu, y.al ovxiii sp ei't/.
^) Einmal steht nämlich bei Simpl. phys. I, p. 110, 1 in einem Teile iler
Handschriften, und darunter der besten, statt top vielmehr ovr. Sollte alier
auch e'ov zu lesen sein, so ist zu liemerken, dass sich in den Fragmenten des
Melissus als Subject vierzehnmal rd iov mit Artikel, kein einziges mal ohne
fiO Erster Abschnitt, Vorsorrntiker.
Bezeichnet innerhalb der eleatischen Schule die Anschauimg
des Melissus von der Natur dei" Körperwelt eine unverkennbare
Annäherung an den Realismus der sinnlichen Erfahrung,
so tritt bei Zeno dem Eleaten der ursprüngliche polemische
Gegensatz gegen die sinnliche Aullassung dieser Körperwelt mit
voller Schärfe und mit der ganzen Consequenz eines rücksichtslos
energischen Denkens hervor.
Die Polemik des Zeno richtet sich zunächst gegen die An-
nahme einer Vielheit. Wenn das Seiende Vieles wäre^ führt or
aus, so würde es hinsichtlich der Grösse unendlich klein und unend-
lich gross sein'); ersteres, da keine dieser Einheiten Grösse habe
und darum auch alle zusammen nicht 2); letzteres, da man in
der Halbierung einer Grösse, bei der doch Anfang und Ende von
einander abstehen müssen , bis ins Unendliche fortschreiten
könne, so dass vor jedem neuen Halbierungspuncte stets wieder
abermals ein neuer liege •'). Ebenso wäre es der Zahl nach be-
grenzt und imbegrenzt; ersteres, weil es gerade soviel an
Zahl wäre, als eben die Summe an Einheiten enthalten soll;
letzteres, weil bei jener ins Unendliche fortzusetzenden Zwei-
teilung stets wieder neue dazwischenliegende Puncte sich erge-
ben würden*).
Wenn wir es versuchen, diese Argumente gegen die Vielheit
nachzudenken, so werden wir finden, dass dieselben sich nicht
unmittelbar gegen die Vorstellungen des gemeinen Lebens von einer
Vielheit erscheinender Sinnendinge, z. B. einer Menge Menschen,
Pferde, Bäume u. s. w. wenden können. Auch jetzt noch
höchst beachtenswert dagegen sind diese Beweise, wenn wir sie
gegen die Vorstellung einer aus einer Vielheit von Puncteinheiten
bestehenden Ausdehnung gerichtet denken. So aber fassten die Py-
thagoreer die Ausdehnung^). Zeno, der auch, wie es scheint, gegen
denselben findet. Das Wort würde daher auch an unserer Stelle als Prädicat
eines nicht mehr zu ermittelnden Subjectsbegriffes anzusehen sein ; vgl. N.
Jahrb. f. Phil. Bd. 133 S. .^4.5.
') Simpl. phys. I, p. 139, 7—9.
^) Simpl. phys. I, p. 139, 10—15.
=*) Simpl. a. a. 0. p. 141, 1 — 8 (die Worte schliessen sich dem Gedanken
nach unmittelbar an die in der vorigen Anmerkung angeführte Stelle an).
*) Simpl. 140. 28—34.
*) ö. S. 43.
Zeno. Jede sinnliche Auffassung- dei' Körperwelt trügerisch. til
die Physik des Empedocles eine polemische Schrift verfasste '), traf
hier die Grundvorstellung der pythagoreischen Physik, die An-
nahme, dass durch Wiederholung einer Einheit die Vielheit ent-
stehe 2). Einen anderen Versuch aber, die Ausdehnung zu be-
greifen, als den pythagoreischen, sie aus der Addition von Punct-
einheiten abzuleiten, gab es in jener Zeit noch nicht. Indem also
Zeno jene Ableitung bekämpfte, bekämpfte er die Vorstellung von
der Ausdehnung des Seienden , d. h. also hier der Materie
überhaupt. Daraus ergiebt sich als selbstverständliche Conse-
quenz, dass überhaupt von einer Vielheit ausgedehnter Dinge
nicht geredet werden kann. Mit der Ausdehnung fällt auch die
auf ihr beruhende numerische Vielheit.
Auch die noch berühmteren zenonischen Beweise gegen die
Bewegung thun zunächst allerdings nur den Widersinn einer Be-
wegung dar, die nicht als continuierliches Fliessen gefasst wird;
aber sie w^enden sich doch gegen die Bewegung überhaupt. In
der That sind es unter anderm die von Zeno im Begriff der
Bewegung gefundenen Schwierigkeiten, welche uns veranlassen,
dem Begriff der Bewegung eine genauere Fassung zu geben.
Ob auch Zeno's Argument gegen den Raum ^) unmittelbar mit
seiner Bekämpfung der sinnlichen Ausdehnung zusanmienhängt,
ist nicht ganz sicher. Möglich ist auch ein anderer Zusammenhang,
auf den eine Bemerkung des platonischen Theaetet hinzuweisen
scheint. Parmenides und Melissus, heisst es dort, behaup-
teten, dass alles Eines sei und seinen Stand in sich behalte, da
es keinen Raum habe, in dem es sich bewegen könne*). Offen-
') die t^r,yi,ais 'E,u7ied'oy.?Jovs; vgl. Dielsin: Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1884
8. 359 Anm. 2
"-) Daher hat Eudemus ganz recht, wenn er den Zeno sogar das Eine
— nämlich jene pythagoreische Puncteinheit — negieren lässt (bei Sinipl. in
phys. p. 97, 11—16 und 138, 31-. 34). Wenn Simplicius dagegen erinnert,
dass Zeno durch die Bekämpfung der Vielheit doch gerade die Einheit des
Seienden — nämlich die parmenideische des .All-Einen — retten wolle (in phys.
138, 19 — 22; 141, 9 — 11), so trifft sein Tadel die Sache gar nicht, da es sich
beide mal nicht um dieselbe Art der Einheit handelt.
) SimpllC. phys. IV, p. 562, 3 — 6 : 6 Z^rwvoi Ao'/o» dvaiQtiv iifüxee Tov TU7I0V
t()u)Ttjüv ovTioi' „ti i'aTiv 6 rönos, tv riri 'iatai' näv '/uq or tv riri' t6 d'e i'v tcvi xal
ir TOTiü) . tarat «qu xai u rönos *i' tÖtiw, xal lorjo tu' aTifipov, ni'x li^a lartv o
') Plat. Theaet. 180E (ciliert S. 55 Anm. 1 1.
(i2 Erster Abschnitt Vorsocratiker.
bar ist hier oin von dem Seienden selbst unterschiedener Raum,
der Raum als ein das Sein Umfassendes, gemeint. Zeno kommt
dieser Behauptung zu Hülfe. Wenn sich das All in einem Orte
bewegen soll, erinnert er, so muss dieser Ort wieder irgendwo,
d. h. in einem anderen Orte sein, dieser Ort wieder in einem an-
dern, und so fort. Doch mag die Veranlassung des zenonischen
Argumentes welche auch immer gewesen sein, jedenfalls Hess es
sich gegen die Realität des Raumes und somit der Ausdehnung
überhaupt verwenden.
Rein negative Tendenzen verrät auch der dem Zeno zu-
geschriebenC; angeblich gegen Protagoras gerichtete Fangschluss,
welcher aus der Unmöglichkeit, den Schall eines einzelnen fallenden
Hirsekornes wahrzunehmen, die gleiche Unmöglichkeit für den
ganzen Haufen Hirse darthut und damit die Wahrheit der Gehörs-
wahrnehmung überhaupt untergräbt ').
So finden wir die Negation aller derjenigen Bestimmungen,
welche die sinnliche Wahrnehmung dem Seienden beilegt, bei
Zeno mit noch grösserer Bestimmtheit und in noch grösserem
Umfange durchgeführt, als bei Parmenides. Andererseits sehen
wir aber den Zeno, wo er gegen seine Gegner ankämpft,
von der Voraussetzung ausgehen, dass das, was weder Grösse
noch Dicke noch Masse habe, auch nicht wirkhch sei 2).
So begreifen wir, wie die Gonsequenz der eleatischen Lehre
schliesslich dahin führen musste, die Existenz eines körperlichen
Seienden überhaupt in Abrede zu stellen. Hörten wir doch schon
oben 3) von Aristoteles, dass auch Melissus und Parmenides neben
dem Sein der sinnfälligen Dinge kein zweites angenommen hätten.
So lange man aber kein anderes Sein kannte, als das der sinn-
fälligen Dinge, war mit der Negation des körperlichen Seienden der
vollendete Nihilismus proclamiert. Wir werden den letzteren bei ei-
nem den Eleaten sehr nahe stehenden Sophisten, beiGorgias, fin-
den und zugleich sehen, wie auch der Antipode des Eleatismus, der
Heraclitismus, bei seinem Eintritt in den Gesichtskreis der So-
phistik zu einer ähnlichen Verflüchtigung alles Sinnfälligen
hintrieb.
1) Vgl. Simpl. phys. VII, fol. 255 ed. Aid.
') Simpl. phys. I, p. 139, 9—11; 141. 1—3.
") S.S. r.(i.
68
4. Die jüngeren Xaturphilosophen.
Die Philosophie der Eleaten hatte ihre alleinige StJirke in der
Vernunfterkenntnis (Aöyoc). Den an Zahl zwar geringen aber an Be-
deutung schwerwiegenden Sätzen gegenüber, welche durch eine
auf allgemeine Vernunftbegriflfe gestützte Beweisführung gewonnen
wurden, tritt die Erklärung der einzelnen Naturerscheinungen,
mit welcher die älteren lonier vor allem sich beschäftigt hat-
ten, entschieden in den Hintergrund. Dergleichen wird von
Parmenides überhaupt nicht zu den Dingen gerechnet, über
welche man ein sicheres Wissen erlangen kann. Zw^ar muss auch
er sich anschicken, dem Verlangen der Zeitgenossen genüge zu
leisten, die vom Philosophen nun einmal Auskunft über alle
Dinge am Himmel und auf der Erde verlangten. Er thut dieses
durch physikalische, im Sinne des exoterischen Pythagoreismus und
der alten lonier gehaltene^) Naturerklärungen, also durch ein*-
blosses Referat über die Meinungen anderer. Dabei aber
deutet er verständlich genug an, welch geringen Wert er dieser
hergebrachten Aufgabe beilegt, indem er jene Ausführungen als
trügerischen Schmuck der Rede der gewissen Vernunfterkenntnis,
als blosse Menschenmeinung der göttliclien Wahrheit ent-
gegenstellt 2),
Anders die jüngeren Naturphilosophen, Empedocies, Leucipp,
und Democrit, Anaxagoras ^). Nicht nur Metaphysiker, sondern
auch Physiker, wenden sie sich aufs neue mit regem Interesse
einer detaillierten Naturerklärung zu. Einem von ihnen, dem
Empedocies, ist es nicht entgangen, wie sehr er sich da-
<lurch in Widerspruch zu den Eleaten setzt. Obschon auch er
gleich dem Parmenides*) auffordert, den Augen und Ohren nicht
*) Vgl. Tannery, la physiqiie de Paimenide. Rev. philos. XVIII, 1884,
S. !2(i4— 292. Zeller V, 52(j. Diels, Sitzungsbei-. d. Beil. Acad. 1884, S. 352.
■^) V. 1Ü9— 111 K. 11.3—115 St, (beim Beginn der döia):
iv rio 001 nat'(r) maröv /.öyov iiö't i-örifta
dfi(f.is dkr,&tir,?' (fö^ag d'' d/ro zov(f( ßgoreias
fidvä-avt, xda/uov ifiMV intwv d7iarr,}.6v dxovwv.
^) Was die gänzlich neue Datierung des Empedocies, Anaxagoras, Gorgias
anlangt, welche Unger (Sitzungsber. d. k. bayr. Acad. d. Wiss. . phil.-hist. Kl.
1883 S. 140 ff. Philologus, Suppl. IV 513 ff', kürzlich gegeben hat, so kann ich
mich dem Urteil von Diels, (Sitzungsber. d. Berl. Acad. d. Wiss. 1884. S. 344. 2)
nur anscldiessen.
^• Fiiriii. V. .".4 r. K. 34 t. Sl.
n4 Erster Absclinitt. VorHOcratiker
ZU viel zu verti-auen, sondern zu denken i), so leitet er doch in
bewusstem Gegensatze zu des Parmenides oben citiertem Aus-
spruch seine physikalischen Ausführungen mit der Aufforderung
ein, von ihm zu hören nicht -trügerischen Schmuck der Rede ^).
Ein so entschiedenes Naturinteresse konnte natürlich bei dem
eleatischen Satze von der Einheit und Unveränderlichkeit des
Seienden nicht stehen bleiben. Hatte doch dieser Satz die Eleaten
dahin geführt, alle die Erscheinungen, deren Erklärung jenen jüngeren
Philosophen gleich den alten loniern nicht zum wenigsten am Her-
zen lag, für trügerischen Sinnenschein zu halten. So galt es denn,
, wollte man zugleich Vernunft und Erfahrung befriedigen, nach
einer solchen Vernunfterklärung für das Seiende zu suchen,
welche die in der Erfahrung gegebenen Phänomene nicht aufhob,
sondern vielmehr begreiflich machte. Auf einen solclien Ausweg
musste schon der richtige geistige Instinct hinweisen, welcher da
nicht zu fehlen pflegt, wo die geschichtliche Entwickelung auf die
Lösung einer bestimmten Aufgabe hindrängt. Dass aber wenig-
stens der eine oder andere jener Philosophen auch mit bewusster
Einsicht in das zur Zeit Notwendige jenen Weg eingeschlagen,
erscheint um so wahrscheinlicher, als schon Aristoteles dem I^eu-
cipp derartige Erwägungen zugeschrieben hat '^).
Die Eleaten hatten in einer schwer zu widerlegenden Weise
dargethan, dass weder neues Sein aus Nichts entstehen, noch be-
stehendes Sein in Nichts vergehen könne. Indem nun die Jün-
gern Naturphilosophen an diesem eleatischen Satze festhalten,
suchen sie ihm doch eine solche Wendung zu geben, dass zu-
gleich die in der Erfahrung vorliegenden Erscheinungen des Ent-
stehens, sich Veränderns und Vergehens dabei bestehen bleiben
können*). So verschieden ihre Lösungsversuche auch im einzel-
>) Emped. v. .'"jO— 53 Karsten 20—30 Stein.
*) V. 113 K. 8() St.: oi- ti' axort käyinr arö/.or o r y. an ur ■ijXöv.
'j Arist. de gen. et corr. I 8, 325 a 23—25: AfvxiTiTioi: (V i'xfiv uitj^r/ Xöyors
oY Tifii TiQui T7jf ai'a&ijair 6fxo/.oy>i'/n(i'a ?.t'yorifi orx uriuQijaovaiv ot-Tf ysvtaiv ovTf
tf{><i(icir orTf y.iviiair xa'i xo 7i?.r,%hog itut' ovrioi;
■•) Es ist mir wenig wahrscheinlicli , dass die jüngere Naturphilosophie
aus dem Bestreben hervorgegangen sei. den Gegensatz zwischen Heraclit und
Pannenides zu überwinden. Den Begrill' des Werdens brauchte diesell)e gewiss
Die jüngeren Natuiphilosoplien. Ihr Ötandpunct. Ho
hon ausgefallen sind, so weisen sie doch gomcinsanie Grund-
eleinente auf. Da von der streng- festgehaltenen Einheit des Seien-
den seine Unveränderlichkeit unabtrennbar war, so wird an ihre
Stelle eine ursprüngliche Mehrheit verschieden gearteter 6iiu —
Elemente, Homoeomerien, Atome — gesetzt, denen gegenüber
der Begriff des ov thatsächlich nur noch die Bedeutung eines
Gattungsbegriffes hat. Jedes dieser ona hat für sich die Eigen-
schaften des eleatischen Seienden, ist unentstanden, unverändei--
lich, unvergänglich; aber indem diese in sich unveränderlichen
oria sich in der mannigfaltigsten Weise mischen und entmischen,
entsteht der Schein, den die gemeine Vorstellung als Werden
und Vergehen eines Seienden deutet^). Den Grund dieser Mi-
schung und Entmischung sucht man nicht mehr mit dem ioni-
schen Hylozoismus im Stoffe selbst; denn dieser wird mit den
Eleaten als unveränderlich gedacht und kann daher auch nicht die
Veränderungen aus sich hervorbringen. Man schreitet vielmehr
fort zu der Unterscheidung zwischen dem ungeordneten Stoffe
und zwischen den bewegenden Kräften, welche jenen ordnen. Nur
die Atomiker bleiben niit ihrer Annahme einer dem Stoffe von
Ewigkeit eigentümlichen Bewegung dem alten Standpuncte näher.
Das Problem der Matei'ie ist hier um einen guten Schritt
seiner Lösung näher gebracht. Ausser in der Unterscheidung von
Stoff und von bewegender Kraft, liegt der Gewinn vor allem in der
nicht eist dem Heradit zu entnehmen; viehiiehr knüpfen sowohl Empedocles
als Anaxagoras, wo sie denselben bekämpfen resp. in ihrem Sinne umdeuten,
ausdrücklich an die gewöhnliche Ausdrucksweise der Menschen, an die gemei-
nen Vorstellungen der Hellenen an; vgl. Emped. v. SO K. 39 St.: ifvo/s d' tTii
Toi\- ovofitt^fTiH är{h(,mnotai i: AnaxagOras fr. 17 Schorn: tÖ di yh-iaSm y.ui
chiö/lra&ai ovx o(}^(os vo/ucCox^ai oi "E/./.i,v e s (vgl. auch Zeller !•*, 87.5, 2). Von
der eigentümlichen Auffassung , welche der Begriff des Werdens bei Heraclit
über die gewöhnliche Vorstellung hinausgehend erfährt, findet sich weder in
dem, was sie als richtig annehmen, noch in dem, was sie bekämpfen, die ge-
ringste Spur. Auch Aristoteles an der S. 64 Anm. 3 citierten Stelle iilier den
Ursprung der atomistischen Lehre redet nicht davon. Die Aufgabe einer Syn-
these zwischen Parmenides und Heraclit hat vielmehr erst Plato, dessen Ent-
wickelungsgang durch beide beeinflusst war, ergriffen.
^j Vgl. Euripides fr. 83G Nauck:
^vfjoy.fi d' oviUv Twv '/c/ronivuiv,
(i'iaxQivöfjLtvov ö' a?.?.o tiqu; a).).u [a'yJ.to Bernays, u'/j.iiv Diels)
fXOQffljV STtQav UTlOlffl^et.
li.ieu.iikiT: D;is Problem dor Materie etc. .j
66 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Einsicht, dass in allen Veränderungen der Körperwelt die Summe der
Materie dieselbe bleibt. In dieser Erkenntnis von der Unvergäng-
lichkeit der IMaterie. welche ihrer Substanz nach durch keinerlei
Naturvorgänge erzeugt oder zerstört werden kann , liegt bereits
der Satz eingeschlossen^ welchen die Neuzeit als das Gesetz von
der Erhaltung der Materie dem Geselze von der Erhaltung der
Kraft zur Seite zu stellen pflegt. Freilich lehrten schon die Elea-
ten Beharrlichkeit des Seienden. Aber erst die jüngeren Natur-
philosophen, welche die Veränderungen der Phänomene nicht,
wie die Eleaten, als blossen Sinnestrug bezeichneten, sondern für
« dieselben im Wechsel der Verbindungen materieller Teilchen eine
objective Begründung suchten, haben die Erhaltung der Materie
in den Gegensatz zu jenem Wechsel ihrer Verbindungen gebracht.
Natürlich ist es noch ein weiter Weg von dieser alten, aus allgemein
begrifTlichen, apriorischen Erwägungen geschöpften Überzeugung bis
zu dem modernen Satze, der sich erst als reife Frucht einer unabläs-
sigen Befragung der Natur durch das physikalische und chemische
Experiment und einer stetig voranschreitenden denkenden Bear-
beitung der Resultate des letzteren ergeben konnte. Aber sind
auch die Motive, auf welche antike und moderne Anschauung sich
stützen, höchst verschiedener Natur, so bleibt es doch eine be-
merkenswerte Thatsache, dass uns fast beim Beginn der philo-
sophischen Naturforschung eine Vorstellimg begegnet, welche mit
den heutzutage geltenden Ansichten wenigstens in ihrer Thesis
identisch ist.
Auch im einzelnen haben die Systeme jener Denker zu einer
Theorie der Materie nicht unwichtige Bausteine geliefert. Empedocles
beherrscht durch seine Lehre von den vier Elementen die Physik des
Altertums und des Mittelalters, wohingegen Leucipp und Democrit
mit ihrer Atomenlehre im Groben die Anschauungen der Neuzeit an-
ticipieren. Anaxagoras hat durch seine folgenreiche Unterschei-
dung zwischen den körperlichen Stoffen und dem weltordnenden
Nus den Dualismus zwischen Materie und Geist eingeführt, den
die spätere Philosophie nm- innerhalb der verhältnismässig selt-
neren Systeme eniseitig materialistischen oder einseitig spiritua-
listischen Characters vorübergehend wiederum mit der rein moni-
stischen Auffassung des Seienden vertauscht hat. Es möge darum
gestattet sein , diejenigen eigentümlichen Momente in den Syste-
men dieser Männer herauszuheben, welche das uns beschäftigende
Die jüngeren Naturphilosophen. Gonstanz der Materie. Empedocles. G7
Problem berühren , um so die Stellung des einzelnen zu jener
Frage genauer zu bestinunen.
a. £uipo(locles.
Die eigentümliche Fassung, welche der Begriff von der sinn-
fälligen Welt und dem ihr zugrunde liegenden Hein bei Empe-
docles erfährt, begreift sich am besten durch seine Stellung zu
Parmenides. Von diesem nehmen seine abstract ontologischen
Ideen ihren Ausgang, freilich so, dass sie den parmenideischen
Standpunct wesentlich umbilden. Ebenso zeigen auch seine con-
cret physikalischen Vorstellungen eine weitgehende Anlehnung
an den Vorgänger; in dem Zuwachs aber, den sie erfahren,
tritt jene Veränderung des ontologischen Standpunctes, dem Par-
menides gegenüber, anschaulich zutage.
Schon oben wurde hervorgehoben, wie die parmenideische
Vorstellung von der Unmöglichkeit eines Werdens und Vergehens
des Seienden bei den jüngeren Naturphilosophen durchaus fest-
gehalten wird. So kann auch nach Empedocles zu dem seienden
All weder etwas hinzukommen, noch von ihm weggenommen wer-
den, und zwar aus eben den schon von Parmenides entwickelten,
auch von Empedocles kurz angedeuteten Gründen ^).
Dieses All nun stellte sich Parmenides als eine wohlgerundete,
überall gleichartige und überall im Gleichgewichte befindliche
Kugel vor 2). Auch Empedocles sieht in einem solchen Sein den
vollkommenen Zustand der Dinge ; derselbe ist ihm aber nur zeitweilig
verwirklicht, dann nämlich, wenn alle Elemente im Sphairos von
der Liebe in Eintracht und Ruhe geeint sind, der Hass dagegen
aus der Welt verbannt ist. ^J
') V. 77 K, 30 St. : ak?.o (ft rot i^tw' ifivaie ovrfevös iötiv änävicov
&vrjTcSv, ovtfe rtg ov/.o/ue'rov S-araToio ■it).tvTrl • • • •
V. 81 K. 4SSt. : ex re '/kq ovifäi.i' iövrog d/iijyavup tan ytvta&ai,
y.ai t' iov i^anoXia-O-ai dvr,vvaTov xai utivotov'
ahl ydp TttQiiarai önj) xe tis auv i^eiö'rj.
¥. 120 K 92 St.: tovto d' inav^ijane tÖ ndv il y.t xal nö&tv i/.&dv;
71 ji df xai tia7io?.oiaT\ tTtii rmi'tf ovdev tQr^^ov;
zum Text von v. 81—82 K. 48—49 St. vgl. Diels im Hermes XV (1880) S. 161 f.
-) S. S. 5G.
) V. .oJ oO K. 137 — 138 St.: nvimg äQiiovii^i /irxiliT, x{.vifn) t<JTij(jixTai
atfai(ioi xvx'/.ojfQi]i f.iovi'j; TTt^iY/ti' yatwv.
Ob der bei Karsten als v. fil aus Stobaeus. ed. I, p. 354 angeführte Vers dU
^ *
68 Erster Abschnitt. Vorsocratiker. Empe<locles.
Nach dem ganzen Gharacter der Lehre des Empedocles un-
terhe^t es keinem Zweifel, dass eine Negation des Körperhöhen
ihm selbst in Be/Aig auf den Spliairos fremd ist. Wie das Eine
des Parmenides, so ist auch sein Sphairos körperlicher Natur. Nen-
platonisclie Unkritik hat natürlich aucli bei ihm die eigene Unter-
scheidung der intelligibelen und der sinnKUligen Welt wiederfinden
wollen, indem sie den von der Liebe beherrschten Sphairos mit
der ersteren, den durch den Hass zur Vielheit entfalteten Kosmos
mit der letzteren idontificiert. So Syrian i), Proclus -); Simpli-
cius^), Asclepius*), Philoponus &) u. a. Einer Widerlegung be-
dürfen solche gewaltsame Umdeutungen kaum.
Auch darin stimmt Empedocles mit Parmenides überein, dass
er das All continuierlich vom Stoffe erfüllt denkt. Ein Leeres
wird von ihm gleichwie von den Eleaten verworfen. Zugleich
hat der Begriff des Leeren, welchen Parmenides zwar der Sache
nach kennt, aber nur durch Umschreibungen andeutet, bei Em-
pedocles seinen zutreffenden sprachlichen Ausdruck erhalten'").
ü-/f 7Tai'To»fr laos (twr) yal TJüuTiav cUfiriiov, welcher bei diesem Sammler ohne
Angabe eines Autornamens dem zweiten der eben citierten Verse voraufgeht,
wirklich dem Empedocles angehört, wie Karsten (Empedocles, p. 185) und Diels
(Doxogr. p. 313 b adnot.) anerkennen, Brandis (Comment. Eleat. p. 132) in Alf-
rede stellt, lüsst sich nicht ausmachen. Dem Parmenides, wie Brandis will,
kann er jedenfalls nicht angehören, da der Schluss des Verses mit Parm. v.
108 K. 11^ St.: fi yap närToatr laov o;uoi tv 7ieli>uai xtQf< in offenbarem "Wi-
derspruch steht und die von C. Wachsmuth zu Stob. 1. c. vorgeschlagene Än-
derung laos öfuüs d' ov nufxnav doch wolil zu gewaltthätig ist. Freilich ist
ebensowenig abzusehen, wie Empedocles den Sphairos zugleich als kugelförmig
{■/.i-yJ.ojtQri?) und als unbegrenzt [dTiiiQwv) soll vorgestellt haben.
1) Syrian. in Arist. metaph. III, p. 843 a 4 ff. üsener; p. 859 1) 14 l'f.;SGO
a 17; XIV. p. 938 a 21 ff.
-) Proclus in Tim. p. 100 D; in prior. Alcib. col. 414, IG f. Cous.-; in
Parmen. col. 723, 22 ff.
«) Simphc. in phys. I, p. 31, 18 ff.; VIII, fol. 258'- unten, f. 273v oben; vgl.
257^ unten; in Arist. de caelo I, p. ()4 a 38— b 9 Karsten ;p. 132 b4— 8; p. 139
b 16—18.
•*) Asclep. bei Brandis, Schob in Arist. 029 a 23 ff.
^) Philopon. in Arist. pliys. quat. a ful. 5^; quat. c fol, Iv; quat. f fol.
0^'; in Arist. de gen. et corr. fol. .5''.
") V. 03 K. 91 St.: ovih n rov TTcti-TÖg xfviuv niXei ocJe ntQiaaöv. Es ist
nicht ganz klar, ob das nav in diesem isoliert überlieferten Verse den Sphairos
oder die jetzt existierende Welt bedeuten soll Bei der ersteren Annahme
Keine Ncu;ali()n d. Köipeiliclieu. (lontiiniität u. elciiient. (loii.sliUili(in il. Stoffs. 69
Auf der anderen Seite nmsste der Versuch, aiicli für den
Schein des Werdens der körperlichen Dinge eine Erklärung zu
bieten, in den Ansichten über die Constitution des Stoffes man-
nigfache Abweichungen von Parnienides mit sich bringen. So
gehingte Ernpedocles zu der Scheidung der Materie in vier quaU-
tativ bestimmte Elemente, Eeuer, Luft, ^Vasser, Erde, die in sich
unveränderlich sind, aber durch den Wechsel ihrer Verbindungen
den Schein des Werdens hervorrufen *). Es ist eine ziemlich
müssige Frage, woher derselbe die vier Elemente entnommen
habe. Spielte doch jeder der von ihm aufgeführten Grundstoffe in
den vorangehenden Systemen schon eine Rolle'''), so dass er selbst
das Zerstreute nur zu sammeln brauchte. Zudem bieten sich, so-
bald man einmal zu classificieren anfängt, die Unterschiede des
Festen, Flüssigen, Luftartigen und Feurigen so von selbst, dass
man nicht absieht, welche anderen Elemente von seinem Stand-
puncte aus er denn eigentlich hätte aufstellen können 3).
In der Annahme, dass der Grundstoffe mehrere seien, und
dass jeder dieser Grundstoffe in sich unveränderlich sei, folgen
dem Empedocles auch die andern jüngeren Naturphilosophen.
Plato und Aristoteles dagegen, welche im übrigen seine Elemen-
würde Empedocles auch hier die Bestimmungen, welche Par.Tienides von
dem kugelförmigen Seienden giebt, zunächst auf seinen Sphairos ülier-
Iragen haben, ohne dass man indes daraus folgern dürfte, in der Welt der
Vielheit habe er die Existenz des leeren Raumes zugelassen. Letzteres ist ent-
schieden ausgeschlossen durch Arist. de caelo IV 2, 309 a 19—21, Theophrast.
de sensu §. 13 (Diels, Doxogr. p. 503, lU), welche den Empedocles überhaupt jedes
Leere verwerfen lassen.
1) Die Stellen bei Zeller P, G8(j, 1. Zu den Versen 124 ff. K. 96 ff. St. vgl.
Diels, Sitzungsberichte d. Berl. Ak. d. Wiss. 1884 S. 366. Der Na nie , Element"
(aToixft^oi-) scheint erst durch Plato eingeführt zu sein; vgl. Eudemus bei Simpl.
phys. I, p. 7, 13. Diog. Laert. III 24.
-j Die Erde bei Xenophanes ; s. S. 49 Anm. 5.
") Dieselben Elemente bei den Indern, freilich mit Hinzufügung des Äthers
(äkäca) als fünften Elements, der bei den Griechen zumeist mit der Luft in
eins gesetzt wird (Nach Weisungen z. B. bei Alfr. Weber, Indische Slud. II, 66.
L. V. Schroeder, Pythagoras und die Inder, Leipzig 1884. S. 62 ff. Ein Beispiel
aus volkstümlicher Jaina-Litteratur bei Alfr Weber, Über das Uttamacaritraka-
Ihänakam, Sitzungsber. d. Berl. Ak. d. Wiss. 1884 S. 293 f.). Doch zeigt Deussen,
Das System des Vedänta, Leipzig 1883, S. 249, dass der äkäqa nicht so sehr den
Äther bezeichne, als den körperlich aufgefassten, alldurchdringenden , allgegen-
wärtigen Piaum, und keineswegs mit den übrigen Elementen auf einer Stufe stehe.
70 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
[ tenlelire anneliincn, behaupten ein Übergehen des einen Elementes
I in das andere und zerstören dadurch im Grunde den Begriff des
1 Elementes wieder. Für Empedocles ist, wie für Anaxagoras und
Democrit, der Unterschied seiner Grundprincipien ein ursprüng-
hcher und unaufhebbarer. Brandis'), Ritter^), — in etwa auch
Karsten ^) — wollen zwar in gewissen Ausführungen des Aristoteles
' den Sinn ünden, dass Empedocles eigentlich allen vier Elementen
eine gemeinschaftliche Materie zugrunde lege, als welche er die
(filia betrachte. Doch zeigt Zeller*) überzeugend, dass an allen
diesen Stellen Aristoteles nicht über den historischen Sinn der
Lehre des Empedocles berichtet, sondern Consequenzen hinstellt,
zu welchen ein folgerichtiges Ausdenken derselben hinfüliren müsse.
Stehen also in diesem Betracht die empedocleischen Elemente
als letzte Urbestandteile den Homoeomerien des Anaxagoras
und den Atomen Democrit's näher, so unterscheiden sie sich von
den letzteren durch ihren erkenntnistheoretischen Wert. Denn
während sowohl die Theorie der Homoeomerien, wie die Atomen-
lehre zur Erklärung der Erscheinungen nicht wahrnehmbare Ur-
gründe der Dinge hypothetisch aufstellen, bieten die Elemente
des Empedocles nur eine oberflächliche Classification der in der
Erfahrung gegebenen Stoffe nach ihren allgemeinsten, in der Er-
fahrung vorliegenden Qualitäten des Festen, Flüssigen u. s. w.
Den Grund für die Verbindung und Trennung der an sich
ruhenden Stoffe sieht Empedocles in den bewegenden Kräften •'»)
der Liebe und des Hasses, von denen erstere die Vielheit der
Einheit des Sphairos entgegenführt, letzterer die Einheit zur Viel-
heit auseinanderreisst '*). Es ist diese seine Anschauung zwar noch
eine durchaus mythische. Getreu der Vermenschlichung der Na-
tur, welche die ganze griechische Naturphilosophie beherrscht, er-
weitert er, unter scharfem Tadel derer, welche nicht über das Men-
schengeschick hinausblicken ''), die Vorstellung von der die mensch-
') Gesch. (1. griech. röm. Phil. I, S. 200 t.
^) Gesch. d. Phil, l-, S. 533 f. Anm.
3) Empedocl. carm. rel. S. 319 ff.
*) Phil. d. Gr. l\ 691, 1.
*) Arist. de gen et corr. I 1, 314 a 17.
'■') Emped. v. 88—100 K. 61—73 St.
') Emp. V. 109 K. 82 St. bei Simplic. in phys. p. 158,21 (von der ifä.ÖTrn
rjTte xal -O-rrjToiai rofii^frat (/.nfvTog cl.Q&(ioig
1 ij le (fi^u ^(loveovoi xal a.(i\hniu f()'/a rtkovat.
Ein]iedocles. Stoff und Kraft. Verhältnis zur Atomistik. 71
liehen Herzen bewegenden Aphrodite zur Vor.stellung einer das All
durch waltenden Liebeskraft. Damit aber macht er, über Par-
nienides hinausgehend , bereits den Anfang zu einer Unterschei-
dung zwischen den an sich unbewegten Stoffen und der geistigen
Kraft, welche jenem den ersten Anstoss zur geordneten Bewe-
gung giebt. 80 hat er den durch Anaxagoras zuerst mit eini-
ger Bestimmtheit vorgetragenen Gegensatz zwischen Geist und
Materie vorbereitet.
In einer anderen Beziehung dagegen steht Empedocles den
Atomikern näher. Zwar dass er bereits ausdrücklich die Masse
eines jeden Elementes in kleinste Bruchstücke (^gavaficcta),
kleinste Massenteilchen {(.iixQOTfooi oyxoi) habe zerfallen lassen,
entsprechend den Atomen des Leucipp und Democrit, wird erst
von verhältnisnicässig späten Zeugen berichtet^) und findet
keine directe Bestätigung, in den empedocleischen Fragmenten.
Aber schon Aristoteles"^) hebt hervor, dass die Lehre des Empe-
docles in der That auf eine solche Lösung hindränge. Wenn in
allem Wechsel der Dinge die Elemente selbst doch stets unver-
ändert bleiben , wenn alle Verschiedenheit der Dinge nur
durch die verschiedenen Mischungsverhältnisse der Grundstoffe
bedingt wird 3), so dass sich z, B. Fleisch, Sehnen, Nägel, Kno-
chen nur durch die verschiedene Anzahl der Teile unterscheiden,
welche sie von jedem Elemente einschliessen ■^), so wird in der
yr,{hoavvr,v y.uXeuvifi fyitiivvuov rjö' 'JifQodittß''
Ttjv ovrii i-ifS-' o/.niaiv (so richtig Panzerbieterj f?.ioaoiifvtjv (hiiür^xt
Vgl. auch V, 35 37 K. 5-7 St.
') Ersteres Plut. plac. I 13. Stob. ecl. I, p.348 (Diels, Doxogr. p. 312); letz-
teres Plut. plac. I 17. Stob. ecl. I, p. 368 (Diels, Dox. p. 315). Solche &{>ai-auaza
werden Stob. ecl. I, p. 350 auch dem Pontiker Heradides, ^(inrarc'. aiuiyfin Sext
Ernp. Pyrrh. hyp. ]II 33 dem Arzt Asclepiades aus Bithynien beigelegt.
2) de gen. et corr. I 8, 325 b 5—10; vgl. de caelo III 6, 305 a 1—4.
3) Emped. v. 136 f. K. 108 f. St. :
avTci (die Elemente) yciQ tanv ravTa, dl' d).}.i]hi)v öl Oeorrc.
'/lyvfTai d).).oini7id' röcrov (fiä y.(>(ioi<; a,ufißii.
Zum letzten Verse vgl. Diels, Hermes XV (1880) S. 163 f.
*; Plut. plac. V 22 (Diels, Doxogr. p. 434), dessen Ausführungen we.
nigstens hinsichtlich der Zusammensetzung der Knochen durch Emped. v.
211—214 K. 198—202 St. (zum Text vgl. Diels, a. a. 0. S. 166) ihre volle Bestäti-
gung finden.
72 Efsler Abschnitt. Vur-socnitiker.
Tlial (l(!r V^ersuch, die Möglichkeit einer solchen Mischung sich
klar /AI machen, zu der Vorstc^llung führen, dass die Masse jedes
ICleinentes sich aus kleinen Teilchen zusammensetze, welche bei
der gegenseitigen Mischung der Elemente neben einander treten.
Darin ist freilich die wesentliche Eigenschaft, welche die Atomen-
lehre ihren Urbestandteilchen beilegt_, nämlich die Unteilbarkeit,
noch nicht ausdrücklich gefordert. Aber auch diese ergiebt sich
aus einer anderen physikalischen Vorstellung des Empedocles als
nalicliegcnde Folgerung. Von jedem Körper nämlich, lehrt die-
ser — und Leucipp ist ihm darin gefolgt — lösen sich Ausflüsse
XänooQoiai) ab ^) welche von ihm aus sich fortbewegen und in
die Poren {ttöqoi) anderer Körper eindringen. Hierauf beruht,
wie überhaupt alle gegenseitige Einwirkung der Körper auf ein-
ander, so auch die Möglichkeit einer Mischung derselben 2). Ob-
wohl nun Empedocles, wie es scheint, sich nicht weiter gefragt
hat, ob jene Poren als leer oder als mit Luft gefüllt vorzustellen
seien 3), so musste ein consequentes Ausdenken seiner Lehre doch
zu der ersteren Annahme führen. Denn nur für die ge-
dankenlose sinnliche Auffassung*) konnte die Luft als ein
Leeres, nicht eigentlich Seiendes erscheinen, welches dem Ein-
dringen der Ausflüsse keinen Widerstand entgegensetzte. Aber
schon des Empedocles Zeitgenosse Anaxagoras bewies durch
physikalische Versuche, dass eingeschlossene Luft sich niclil
völlig zusammendrücken lasse ^). So war denn das von
Empedocles im Anschluss^an die parmenideische Begriffsdialectik
principiell ausgeschlossene'^) Leere gewissermassen durch die
Hinterthiir der physikalischen Vorstellung wieder hereinge-
bracht. Der überall von Poren durchzogene Stoff löste sich auf
in ein discontinuierliches, durch leere Zwischenräume getrenntes
Aggregat in sich nicht mehr geschiedener Teile. Damit aber war die
Grundlage der Atomistik gewonnen. Auch für diese bildet den
Ausgangspunct die parmenideische Metaphysik; aber Empedocles
mit seiner Physik schlägt die Brücke zu ihr.
1) Emped. v. 2G7 K. i281 St.
•-) Arist. de gen. et corr. I S, 3ii4 b i!5— 35; 325 1) 1-2. Vgl. Plat. Meno
7ß G und dazu Diels , Sitzungsber. d. Berl. Ak. d. Wiss. 18S4. S. 343—368.
3) Vgl. Zellei- I^ 694, ± — *) Arist. de gen. et corr. I 3 318 b 29.
'•') S. Ö. 39. — ") S. S. 68.
Anaxaguras. Verliällnis zur Alüiui.sUk. T,]
l>. Aiiaxag'oras.
Mit Enipedocles leugnet auch Anaxagoras i), dass ein Werden
oder Vergeben möglich sei. Es ist alles. Weil es nun nicht
denkbar ist, dass es mehr geben sollte als alles, so kann zu dem
All nichts hinzutreten, ebensowenig als dasselbe vermindert wer-
den kann (Fr. 14)2). Hcm Ding entsteht oder vergeht, nur
Mischung aus den bestehenden Dingen und Entmischung aus
denselben giebt es. Was die Menschen Entstehen und Vergehen
nennen, ist in Wahrheit Mischung und Entmischung (Fr. 17). Die
in diesen Bestimmungen hervortretende Übereinstimmung mit Em-
pedocles, welche sich sogar bis auf das Einzelne des Ausdrucks
erstreckt 3), beweist, dass Anaxagoras das Lehrgedicht des Empe-
docles vor sich hatte und wenigstens in teilweiser Anlehnung an
dasselbe seine Gedanken- entwickelte ^).
Während aber Enipedocles die einzelnen qualitativ verschie-
denen Dinge dadurch sich bilden lässt, dass die Elemente des
Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde in verschiedenen
jMischungsverhältnissen zusammentreten^), betrachtet Anaxago-
ras die qualitativ verschiedenen Dinge {xQrißaxu) selbst als ur-
sprünglich '').
Wie aber kann, wenn alle Dinge gleich ursprünglich sind,
der Schein entstehen, als werde das eine aus dem andern ? Ana-
xagoras löste das Problem ''), indem er annahm, dass das schein-
■) Teil eitlere die Fragmente nach Guil. Schorn, Anaxagorae Clazonienii
et Diogenis Apolloniatae fragmenta. Bonnae tS"29(mit dem die Zahlen hei MuUacli
ühereinslimnien). unter sfillschwelgeüder Einführung der dui'ch Dlels' Simpll-
cius-Ausgal)e gehotenen Veränderungen.
-)Bei Slmplic. phys. I, p. 156, 10 — 12: ronimi- di ovro Stay.f/.niuiviov yi-
vioay.itv XQVi ^ti Tidvru oiuiev D.äaam tail oi'cfi ii'/.iio. oc yÜQ clvrOröv ndvrcnv /iXiio
f(Vrt^ äXXd Tiaria YfSn ahi.
^) Vgl. Anaxagor. Fr. 14 (ciliert Anm. i2j und Enipedocles v. 118—1:21 K.
90—93 St. (oitiert S. 67 Anm, 1); Anaxagor. Fr. 17 (citiert S. 64 Anm. 4)
und Empedocl. v. 36—39 St. 77—80 K. (citiert S. 67 Anm. 1 u. 64 Anm. 4).
■*) Dass nicht etwa umgekehrt Enipedocles von Anaxagoras altliängig ist,
zeigt Zeller P, 919. •
'") S. S. 71 f.
") Belege bei Zeller V, 876, 1.
') Zum Folgenden vgl. Arist. phys. I 4, 187 a 'ib — ii 7. Simplic. phys. l,
p. 162, 26-163, 8.
74 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
bar entstehende Neue in dem Alten bereits vorhanden war^),
jetzt dagegen erst für sich hervortrete. AVenn ]3ei dem Schmel-
zen des weissen Schnees dunkles Wasser sich bildet, so mussten
schon vorher dunkle Teilchen vorhanden sein, nur bis dahin un-
sichtbar wegen des Vorwaltens des Weissen 2). Allem sind Teile
von allem beigemischt (Fr. 5. 6. 16); in allem finden sich Samen
aller Dinge (ansQfiara ttcIcvtmv ^Qy^f^iücan), verschieden an Aus-
sehen, Farbe und Geschmack (Fr. 3). Wovon am meisten Teil-
chen sich in einem Dinge befinden, das scheint es zu sein (Fr. 6
Schluss). Aber wenn auch der eine Gegenstand mehr von dieser,
der andere mehr von jener Art enthält, so bleibt doch stets alles
in allem ; im Kleinen sind so vielerlei Teile enthalten als im
Grossen (Fr. G). Natürlich sind diese Teilchen — Homoeome-
rien nannte sie die spcätere Zeit mit einem aus der aristotelischen
Terminologie entwickelten Ausdruck 3) — , welche nur dann sicht-
bar werden, wenn sie in compacten Massen auftreten, jedes für
sich unsichtbar. Sie bilden also keinen Gegenstand der Erfah-
rung, sondern der Vernunfterkenntnis.
Nun entsteht aber nicht nur das eine Ding — scheinbar na-
türlich — aus dem andern; sie alle zusammen müssen, vom
Standpuncte der Anschauung aus, einmal einen Anfang genom-
men haben. Der ursprüngliche Zustand konnte daher nur der
einer völligen Mischung aller Dinge sein, in dem noch gar nichts
Besonderes und Bestimmtes hervortrat, weil noch alle Dinge, in
unendlich kleine Teilchen aufgelöst, aufs innigste mit einander ver-
bunden waren {ö(Xov 7r«VTa ;((>>; jaara i'^r Fr. 1). — So unglaublich es
ist, so hat doch ein Neuplatoniker es fertig gebracht, aus dieser
anfänglichen Einheit der Stoffe bei Anaxagoras die intelligibele
Welt seines eigenen Systems herauszulesen. Simplicius schreibt
an mehreren Stellen dem Anaxagoras die Unterscheidung- einer
1) Arist. phys. I 4, 187 a 31—32. Simplic. phys. III, p. 460, 12 ff.
") 8ext. Emp. Pyrrh. hyp. I 33. Die Deutung, welche der , schwarze Schnee"
des Anaxagoras kürzlich bei Herrn. Kothe, N. Jahrb. f. Phil. Bd. 133(1886) S. 768 f.
gefunden hat, dürfte schwerlich haltbar sein, da der Schnee im Dunkel höch-
stens grau, aber niemals schwarz erscheint.
'■') Über den Namen üiuoio,uf()nai vgl. Schleiermacher (Über Diogenes von
Apollonia , Werke, Abt. III, Bd. 2. S. 167), Ritter (Geschichte der Ionischen
Philosophie. Berlin 1821. S. 211. 269), Breier (Die Philosophie des Anaxago
ras von Clazomenä nach Aristoteles. Berlin 1840. S. 1—54), Zeller I*, 877 ff..
Anaxagoras. Constitution des Stoffs. 75
doppelten Welt, einer intelligibelen und einer sinnfälligen zu *),
ja, er legt") ihm hinsichtlich der ersteren sogar die Unter-
scheidung eines doppelten Zustandes bei, des Zustandes der in-
telligibelen Einheit aller Ideen ^) und des Zustandes der intelli-
gibelen Besonderung derselben *). Weiter darauf einzugehen, ist
überflüssig.
Jene ursprünglichen Teilchen der verschiedenen Stoffe sind we-
gen ihrer unbegrenzten Kleinheit unendlich an Zahl°). Aus dem-
selben Grunde entzieht sich das einzelne Teilchen der Wahrneh-
mung (Fr. 3). Gerade hierin liegt die Möglichkeit jener Besiim-
mungslosigkeit des anfänglichen Gemisches. Weil sich in dieser
ursprünglichen Einheit aller Stoffe noch nirgendwo Teilchen der-
selben Art in überwiegender Anzahl zusammengefunden hatten,
vielmehr alles, von Luft ") und Äther durchwaltet, eine unter-
schiedslose Masse bildete, so konnte in dieser Mischung noch
nichts Bestimmtes erkannt werden (Fr. 1). Die Qualitäten waren
zwar vorhanden, aber sie traten für die Erkenntnis noch nicht
zutage. Insofern kehrt auch in dieser ursprünglichen Einheit
des Anaxagoras, welche ebenso wie der Sphairos des Empedocles
die sinnliche Wahrnehmung ausschliesst, dasjenige Bild des
Seienden wieder, welches die Eleaten entworfen hatten. Ein
weiterer Schritt wäre es gewesen, auch das objective Vorhanden-
sein bestimmter Qualitäten dem Einheitszustande des Stoffes ab-
zusprechen. Es würde sich dann eine Vorstellung von der qua-
litätslosen Materie ergeben haben, ähnlich wie Plato und Ari-
stoteles oder noch mehr, wie die Stoiker sie ausbildeten. Schon
Aristoteles hebt hervor, dass die Lehre des Anaxagoras sich in
jener Weise durchdenken lasse ''). Für den Anaxagoras selbst war
1) Simplic. phys. p. 34, 18—35, 21; p. 157, 5—24; p. 461, 11—12; fol. 257v.
2) an der ersten der Anm. 1. citierten Stellen.
^) auf welche das öuov nävia (Fr. 1) gehen soll.
*) auf welche Fr. 3 und 10 bezogen werden.
*j Fr. 1. Vgl.Hippolyt. refut. I 8, 1, wo mit Diels, Dox. 561, 26 adn. crit., zu
lesen ist: xal xard Ti'iV auiXQÖrrja avi<7)V a-rtipa /.f'yei.
^) Hierbei scheint eine Anknüpfung an Anaximenes vorzuliegen, an den
auch das anetQov 7ifQii-/^ov (Fr. 2, bei Simpl. phys. 156, 1) oder noXv ntQiixov
Fr. 2, bei Simpl. phys. 155, 31. Fr. 12, bei Simpl. phys. 157, 8; vgl. Diels in
der adn. crit. zu Simpl. phys. I, p. 157, 7) erinnert.
') Arist. nietaph. I 8, 989 a 30— b 21. Vergl. Breier, Anaxagoras, S. 87 f.
70 Erster Ahsclinilt. Vorsocruüker.
(iicso AulTassiiuj; unmöglich, weil iliiu keine Ouelle zugebolr
stand, aus der er jene Bestimmungen in eine an sich bestimmungs-
lüse Materie hätte einführen sollen.
Aus der lückenhaften Überlieferung erhellt nicht mehr genau,
wie Anaxagoras den Fundamentalsatz seiner Körperlehre begrün-
dete, dass alles in allem sei — nicht nur im Zustande der ur-
sprünglichen Einheit aller Stoffe, sondern auch, nachdem die Ein-
zeldinge sich gebildet (Fr. 16). Indes scheint sich aus der Ver-
gleichung von Fr. 15 1) und Fr. 16 2) der-folgende Gedanke zu er-
geben. Nur unter zwei Bedingungen würde das Kleinere eine ge-
^■ingere Anzahl verschiedenartiger Stoffe einschliessen, als das Grös-
sere. Entweder müsste die Grössenverminderung zur Folge haben,
dass der eine oder andere der in dem betreffenden Gegenstande ent-
haltenen Stoffe, nachdem er auf das kleinste denkbare Maass redu-
ciert wäre, bei weiter fortgesetzter Abnahme völlig wegfiele, oder es
müsste bei der Grössen Vermehrung ein solcher Gi-ad erreicht wer-
den können, dass aller Stoff einer bestimmten Art von dem betretTen-
den Gegenstande absorbiert würde, so dass in anderen Gegen-
ständen nichts von ihm mehr vorhanden wäre. Beides aber ist
nicht der Fall; es giebt kein Kleinstes, hinter dem nicht ein noch
Kleineres, kein Grösstes, über das hinaus nicht ein noch Grösse-
res möglich wäre. — Ihre Bestätigung findet diese Auslegung durch
die Art und Weise, wie der Gedanke des i\.naxagoras durch Ari-
stoteles s) und Theophrast^) bekämpft wird.
') Aiiaxng-. bei Sinipl. pliys. I, i^. llii, 17— 2U und p. l(i(i, 15—16: orrf zot-
a/iiynor yt tnri lü yi t?My/aTov , a?./.' i/.aaaov ahl' to yäp luv ot'x ean tu fxi} {roii^
Zeller I*, 884. 3) ovx rirar d/j.d y.al Tov i(f'/d?.nc ahl. tan /je'Zor' xcu l'aov tari Tm
aiif/Qia Ti/S^Uog, TjQOi Hiu-To ()'f Fy.aaTÖv tau y.cu iir/a yxi aniyQÖr,
-) Anaxay. liei Sinip'. pbys. I, p. 101, .(i — 105, 1 : ycd Ük <fe laut iiol'^if'.i
flat TOV tt ßfyü'Aoi': y.al tov OfiiyQov n'/.fixhoi ^ xal orTucg äv (Tri *'•' ^uvti närTa' ov()'i
y">Qi? lOTi fi'vai, d'/.).ä TidvTa navTug liioi^av fifT^yfi. öre TOv?.dyiaTov firj i'aTi fi'vai, ovx dp
li'vrcuTo yrrifiin&^ii-ai , m'd' dv ttf imvTov yfvca&ut , «/./.' oyaiaTifQ nQyijv , fh'cu yai
vvv TidvTit i'iitnv. ii> Txdai (ff noX}.d 'evian, y.ni tiTiv duoy^iivoixivdiv i'aa 7T?.7/&Oi; iv rnhii
i(fX'>"i Tf y.ul f/.daaoai (d. h., wie Zeller P, 882,1 übersetzt: ..und in allem, auch
von den aus der ursprünglichen Mischung ausgeschiedenen, d. h. den Einzel-Dingen,
sind verschiedenartige Stoffe, in den kleineren soviel wie in den grösseren."
Vgl. den Anfang des Fragmentes.)
3) Arist. phys. I 4, 187 b 22-.34.
*) Theophr. fr. 26 Usener (aus der Schrift .hqI 'Jvagayö(,uv) bei Simpl.
phys. I, p. 166, 18—20.
Anaxagoras. Clonstitution iles Stoffs. 77
Anaxagoras nimmt also die Möglichkeit einer bis ins Unend-
liche fortgehenden Teilung des Stoffes an. Voraussetzung einer
solchen unbegrenzten Teilbarkeit ist die schon von Parme-
nides und Empedocles gelehrte Continuität des Stoffes'). Durch
beides miterscheidet er sich von der Atomistik. Ob dieser Un-
terschied indes aus einer Polemik gegen jene hervorgegangen
ist, wie Zeller-) annimmt, erscheint zweifelhaft 3).
Als treibende Kraft im Vorgang der Mischung und Ent-
mischung hatte Empedocles, ausdrücklich an die Verhältnisse des
Menschenlebens anknüpfend, die Liebe und den Hass bezeichnet ^).
Anaxagoras vertieft den Gedanken, Wie die wahre bewegende
^) Arist. phys. IV 0. 213 a 22-27.
-) A. a. 0. P 920.
•') Zeüer fasst a. a. 0. das Vertiältnis des Anaxagoras zur Atomistik da-
liin zusammen, dass zwar Democrit in manchen seiner astronomischen Annali-
men von Anaxagoras abhängig sei , dass dagegen umgekehrt dieser den
Leucipp bereits voraussetze. Denn wenn Anaxagoras die Annahme des leeren
Raumes ausführlich durch physikalische Versuche widerlege (Arist. phys. IV
6, 21,3 a 22—27; vgl. oben S. 39), wenn er die Einheit der Welt ausdrücklich
hervorhebe und gegen eine Trennung der Urstoffe Einspruch thue , so könne
er hierbei kaum andere Gegner im Auge halien, als die Atomistik.
Allein dass schon Parmenides und Empedocles das Leere bekämpfen, hebt
Zeller S. 921 selbst hervor. Nun ist aber wirklich nicht abzusehen, weshalb
nicht Anaxagoras ihren apriorischen Argumenten ein, wie er meinte, aus
der Erfahrung entnommenes sollte hinzugelügt haben, auch ohne dass gerade
das Auftreten eines neuen Oegners ihn zu dieser weiteien Beschäftigung mit der
Sache veranlasste. Ein überzeugender Beweis für den Einfluss der Atomistik
auf Anaxagoras wird sich daher auf diesen Umstand nicht stützen lassen.
— In Fragm. 13 (11 Schaubach) aber: oi- xtywpiarai d/.'/.ip.ojv (dieses Wort setzt
Diels, Simpl. phys. 176, 29 nach den Handscbriften hinzu) r« tp tm ivl xuapo)
uvii'f dnoy.iy.omai Tie'/.iy.H ocit jü On,uijf «,to lui- ipry^oc. ovie t6 xpvyQoe dnu rov
&(Quov, in welchen Zeller die anderen von ihm angegebenen Gegensätze zur
Atomistik findet, .sehe ich keine Polemik gegen die Vorstlelung, welche allein
der Atomistik entsprechen würde, als seien die einzelnen Stoffteilchen durch
ein Leeres -räumlich abgegrenzt. Der Vergleich mit Fr. 16: ün i)t roc-
'/.üyiaiui- . . . üuor (citiert S. 76 Anm. 3) scheint vielmehr zu zeigen, dass darin
nur die aus den Voraussetzungen des Systems naturgemäss sich ergebende
Lehre ausgesprochen ist, nach der auch bei der Ausscheidung der einzelnen Dinge
die Sonderung der Stoffe keine vollständige ist, sondern stets alles in allem
bleibt. So hat auch Simplicius das Fragment gefasst, wenn er phys. I. p. 175,
14 seinen Sinn dahin erklärt : or -/t'n f reu n tl/./xQus^ y.ait' avtü.
') S. S. 70-71.
78 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
und ordnende Kraft im Menschenleben nicht die mythische Aphro-
dite ist, sondern des Menschen eigener Sinn und Geist, so muss
auch im All die Bewegung des Stoffes, die zur Ausscheidung der
Einzeldinge und zur Entstehung des kunstvollen Baues der Welt
führt, das Werk des Geistes und der Vernunft, des Nus sein ^).
Mit diesem Satze trat Anaxagoras nach dem oft angeführten
Worte des Aristoteles ^) wie ein Nüchterner unter Stammelnde. Der
Gedanke war von höchster Bedeutung für die Psychologie, der
er eigentlich ihren Gegenstand und ihr gesondertes Feld zuerst
nachwies, wie für die Naturphilosophie, der er zuerst die bewe-
gende Ursache aufzeigte, und in welche er die teleologische Be-
trachtung einführte^). Doch ist eine weitere Ausführung aller jener
Beziehungen nicht dieses Ortes. Darin aber liegt der ge-
waltige Fortschritt_, den Anaxagoras auch für unsere Frage her-
beiführt, dass er zuerst den Gegensatz von Stoff und Geist
ausspricht. Der Geist, die weltbildende Vernunft ist allein für
sich {ßovvog avrog sc/ eiovtov, Fr. 6) ; denn wäre er auch nur ir-
gend einem Stoffe beigemischt, so würde er zugleich an allen Stoffen
teilhaben, da ja in jedem Stoffe Teile von allen andern Stoffen
enthalten sind; dadurch aber wäre er in seiner Herrschaft über
die Stoffe behindert (Fr. 6). Schärfer kann man den Unterschied
zwischen dem Geiste und den Stoffen nicht betonen. Natürlich
stehen dem Anaxagoras noch nicht gleich die passenden Aus-
drücke zugebote, welche die spätere Zeit zur Bezeichnung der
immateriellen Natur des Geistes gebildet hat. Er bezeichnet ihn
als das Feinste und Reinste (hnzÖTaTÖv re xal xa^agcSvaTov) un-
ter allen Dingen, weil er nichts Vorzüglicheres kennt als diese
Bestimmungen. Mögen jene Bezeichnungen auch ihren Ursprung
aus der sinnlichen Anschauung nicht verleugnen: wer deshalb
den Nus des Anaxagoras als einen Stoff glaubt deuten zu müs-
sen, wie die übrigen auch, nur feiner als diese ^), der verkennt
die im Anfange des Fragmentes deutlich ausgesprochene Absicht
1) Arist. metaph. I 3, 984 b 15—19.
«) A. a. 0.
^) Arist. metaph. I 3, 984 b 20-22.
*) Lewes, History of philosophy, b^ ed. London 1880 I, p. 80, und Grote
daselbst. Fr. Kern, Über Xenophanes von Kolophon. Stettin 1874. S. 24.
P.Natorp, Diogenes von Apollonia. Rh. Mus.XLI (1886) S. 361 Anni. 2. Natorp
legt u. a. auch Gewicht darauf, dass der roSf Fr. 6 von Anaxagoras bezeichnet werde
Anaxagoras. Gegensatz von Stoff und Geist. Die Atomiker. 79
des Philosophen, den Geist in Gegensatz zu stellen zu allen
Stoffen 1). Ebensowenig wird der Unterschied zwischen Geist
und Materie bei Anaxagoras dadurch verwischt, dass derselbe
(Fr. 5) den Nus manchen Dingen innewohnen lässt. Denn dass
der Geist dabei mit der Materie sich wie ein StofT vermische,
sagt Anaxagoras nirgendwo; von einem „Orte'' der Seele aber
spricht nach Freudenthal's 2) richtiger Bemerkung selbst der Spi-
ritualist Lotze.
c. Die Atomiker.
Liegt die Bedeutung des Anaxagoras für die Theorie der
Materie mehr in der Unterscheidung des Stoffes vom Geiste,
als in seiner ziemlich wertlosen Vorstellung von der letzten
Constitution des Stofflichen selbst, so haben dagegen die Atomiker,
welche jenen Unterschied übersahen, auf diesem Gebiete folgen-
reiche Anregung gegeben.
Es ist hier nicht der Ort^ auf den vor einigen Jahren mit
grosser Lebhaftigkeit geführten Streit über die Existenz des Phi-
losophen Leucippus Ucäher einzugehen 3). Allerdings dürfte es
schwer zu glauben sein, dass der gerade um die atomistische
Lehre so interessierte Aristoteles diese einer erdichteten Per-
sönlichkeit sollte zugeschrieben haben; aber für unsere specielle
Untersuchung ist diese historische Frage gleichgiltig. Der ganze
als X(7ijöraTov ndvTtov /()?; i( a'i w i' ; denn Tidvra y^Q/ißarn hiessen sonst bei Ana-
xagoras die Stoffe. Allein zu Eingang des Fragments heisst es: vöog iH . . .
/.lifuy.jai ovihvi x(."'if<ttri. T3anach kann das Wort xclf'"- ^^^ beiden Stellen nicht
im selben Sinne genommen sein; der vor<: wird vielmehr an der von Natorp
angezogenen Stelle als das Feinste aller Dinge, nicht aller Stoffe, bezeichnet.
') Vgl. Breier, Anaxagoras, S. 63; Kriscbe, Forschungen auf dem Gebiete
der alten Philosophie. Göttingen 1840. S. 61 ; Zeller I\ 888, 6; Siebeck, Ge-
schichte der Psychol. la, S. 75 — 80, und besonders Freudenthal, Theologie
des Xenophanes, S. 46 Anm. 31.
2) A. a. O. S. 46 Anm. 31.
3) Rolide, Über Leucipp und Democrit, in: Verhandlungen der 34. Ver-
samml. deutscher Philologen zu Trier 1879. S. 64—90. Dagegen, mit durch-
schlagenden Gründen, H. Diels, Über Leukipp und Demokrit, in: Verhandl.
der 35. Vers, deutscher Philol. zu Stettin 1880. S. 96-109. Replik von Hohde:
Nochmals Leukippos und Demokritos , Jahrb. f. Philol. u. Päd. Bd. 123 (1881)
S. 741—748. Wiederum H. Diels: Leukippos und Diogenes von Apollonia, Rh.
Mus. XLII (1887) S. 1 ff.
80 ■ Erster Abschnitt . Vorsocratiker.
Unterschied läuft darauf hinaus, dass wir die Gri^indung der atomi-
slischen Schule, wenn sie durch Leucippus geschehen, wohl an eine
etwas frühere Epoche des Eleatismus anknüpfen inüssten, als es mög-
lich wäre, wenn erst Democrit der Urheber dieser llichtung sein
sollte. Im letzteren Falle können wir ohne alles Bedenken bis auf
Melissus herabgehen. Übrigens dürfte ein Einlluss des Mclissus selbst
auf Leucipp, der ja als Schüler Zenons bezeichnet i) und dadurch
ziemlich tief hinabgerückt wird , nicht undenkbar sein , wenn
auch selbstverständlich Leucipp zu Melissus nicht in einem eigent-
lichen Schülerverhältnis gestanden haben kann-), sondern sich
dann gegen ihn als einen Mitforscher wenden würde.
Dass der Atomismus aus der eleatischen Lehre hervorgegan-
gen, indem er eben die von diesem von vornherein zurückgewie-
senen Annahmen als das den wirklichen Sachverhalt richtig Er-
klärende betrachtet, andere Grundanschauungen der Eleaten
aber, mit den aus jener Verschiebung des Standpunctes sich er-
gebenden Modificationen, herübernimmt, hat schon Aristoteles er-
kannt 2), mag er den Leucipp und den Democrit auch gelegentlich
ohne weitere Angabe des Ursprungs ihrer Lehre zusammen mit
Empedocles und Anaxagoras den Physikern beizählen *).
Bewegung und Vielheit, hatte Parmenides angedeutet und Me-
lissus weiter ausgeführt, können deshalb vor der Vernunft niclil
als wirklich bestehen, weil sie innerhalb und ausserhalb der
Welt ein Leeres, das heisst ein Nichtseiendes voraussetzen, die
Realität des Nicljtseienden aber einen Denkwiderspruch ein-
^j Hippolyt. refut. I 12, 1; Diog. Laert. prooem. 15; IX .30; Galen, bist,
pliil. c. ^. p. 229 Kuehn (nach Tlieophrast; vgl. Diels, Doxogr. p. 142). Dass
Leucipp bei Simplicius als persönlicher Schüler des Parmenides bezeichnet
uerde, wie mit andeien Zeller 1', 7(>(), 2, E. Rohde, Verb. d. 34. Piiilologenvers.
R. 80 wollen, liegt in den Worten phys. p. 28, 5: xoirni,)',ou^- lluQunlö'r, ti,^ ifi-
/.oiiiHf at.i: (IC ii]v avri,t' tßc'ahat Ua(_it.ifri<)'ri y.cd Snw(}.av(i {y.al Zrivwvi will Diels, DoX.
p. 483, 11 adn. crit. , hinzufügen) nt()l rmv oi-tmv oiföv noch nicht, da diescliien
vielmehr ganz allgemein seine sachliche Stellung zur eleatischen Lehre be-
zeichnen.
'-) Wie Tzetzes, Chil. II 980 angiebt, schwerlich auf Grund alter Überlie-
fei'ung.
■') Arist. de gen. et corr. I 8, 325 a 2 — b 5.
•*) Arist. phys. IV G, 213 a 34f.; respir. 4, 472 a 2: de gen. an. IV 3,709
a 18, vgl. mit a 7; metaph. XIII 4, 1078 1) 19.
Die Atomiker. Ihr Verhältnis zu den Eleaten. 81
schliesst. — Eben weil es in Wirklichkeit Bewegung und Vielheit
giebt, erwidert Leucipp, ist das von den Eleaten als Seiendes
Bezeichnete um nichts mehr als dasjenige, was sie ein Nicht-
seiendes nennen; das Seiende muss ein Nichtseiendes neben und
in sich haben, d. h, das Volle vom Leeren in eine Vielheit von
Teilen getrennt sein.
Das Seiende ist eines, d. h. ungeteilt, ein sv ^ws^sg^ weil es
innerhalb desselben kein Leeres giebt, hören wir von den Ele-
aten. — Jedes einzelne der ot'T«, folgern mit einer aus der Ver-
schiebung des Seinsbegriffes naturgemäss sich ergebenden leich-
ten Abänderung die Atomiker, ist etwas durch das Leere nicht
weiter Getrenntes, ist daher ein Unteilbares, ein arofiov.
Der Sinnenschein trügt, betonen die Eleaten; nur der Ver-
nunftschluss kann zur wahren Erkenntnis führen. — Allein die
von der Vernunft zur Erklärung der Erscheinungen angenomme-
nen Atome und das Leere sind in Wahrheit und in der Natur
der Dinge, lehren Leucipp und Üemocrit; die Qualitäten dagegen
sind nur Affectionen der Sinne, hervorgebracht durch die Einwir-
kung der verschiedengestalteten Atome auf unsere Organe').
Das Seiende, hatten die Eleaten gesagt, ist unentstanden, un-
vergänglich, unveränderlich. — Ein absolutes Entstehen und Ver-
gehen, geben die Atomiker zu, ist widersprechend; was uns als
Werden und Vergehen neuer Substanzen erscheint, ist vielmehr neue
Mischung oder Entmischung der in sich unveränderlichen Atome, die
scheinbare Entstehung neuer Qualitäten nur eine Veränderung in
den Lagenverhältnissen der Atome ^).
Das Seiende, lehren Parmenides und Melissus, ist überall
gleichartig, nicht hier anders als dort. — Die Atome, lehren Leu-
cipp und Democrit, sind zwar an Grösse und Gestalt verschieden,
qualitativ aber gleichartig, da alle Qualitäten eben nicht von Na-
tur, sondern nur in unsern Sinnen sind. ,
^) Democrit bei Sext. Emp. adv. matli. VII 135: vo/xw yXvxv, vofxtp thxqöv,
vöfiü) ■&tQfx6v, vöfitu ipvxpöv, vo'fio) XQOi'q' hef^ d'e arofia xal xevov, Arist. de gen.
et corr. I 2, 316 a 1—2; Stob. ecl. I, p. 364. Plotin. enn. III 6, 12 p. 234, 9
Müller und besonders Theophrast de sensu 60 ff.
') Arist. de gen. et corr. I 2, 315 b 6 — 9: Jitfiöxpiros <i'e xal /hvxinnos noii',-
aavres rd axijfiaTa (die verschiedenen Gestalten der Atome), d]» dkkoiuiaiv xal
vijv ysveaiv ex tovtuiv noiovai , d'iaxQiaei /nev xal avyxgian yivtaiv xal (pS-o^äv, rettet
tif xal -d-eafi d?.?.oi(o(rn\
Baeuuker: Das Probleiu der Materie etc. O
. . ». vi ^ ■ \P¥\4-^V>j-V «*-^^-*^ ^
■"- -^- /ÄJuJr^r*^ , a^aJJLjJU,
82 Erster Abschnitt. V'orsocratiker.
Deshalb, bemerkt Parmenides ^), ist eine Entstehung des Sei-
enden unm()giich , weil keine zwingende Kraft vorhanden ist,
welche einen Anfang des Seienden ans Nichtseiendem hätte iier-
beiführen kihmen. — Dass die Bewegung, welche als Mischung und
Entmischung den Schein des Werdens bewirkt, nicht durch irgend
eine Ursache in einem gewissen Zeitpuncte ZAierst hervorgerufen
sei, räumen die Atomiker ein; aber anstatt die Bewegung deshalb
zu leugnen, erklären sie dieselbe vielmehr mit den loniern für ewig
und für ursprünglich mit den Atomen verbunden ^).
So war trotz der Übernahme aller eleatischen Grundanschau-
ungen der Eleatismus dennoch überwunden, die begriffliche Be-
trachtung der Welt in Einklang gebracht mit den Erscheinungen
(den (faivöfieva) ^).
Heben wir diejenigen Momente heraus, in denen der eigen-
tümliche Standpunct, \velchen Leucipp und Democrit dem Problem
der Materie gegenüber einnehmen^ sich ausspricht.
Im Mittelpunct ihres Systems steht die Lehre von der ato-
misti sehen Constitution des Stoffes. Derselbe bildet nicht eine
continuierlich ausgedehnte Substanz, wie bei den Eleaten, sondern
ist in eine unendliche Zahl discontinuierlicher Teilchen zer-
legt, welche durch den leeren Raum von einander getrennt sind.
Wie sehr Empedocles dieser Anschauung vorgearbeitet, wurde
oben schon hervorgehoben ^). In geringerem Maasse haben wohl
auch die Einheiten der Pythagoreer und ihr Dualismus von Grenze
und Unbegrenztem, welcher in mancher Hinsicht dem Gegensatz
des Vollen und des Leeren entspricht, die Atome Leucipp's und
Democrit's vorbereiten helfen. Auch auf die Homoeomerien des
Anaxagoras ist vielleicht hinzuweisen •^).
Die Wichtigkeit der atomistischen Doctrin wird bezeugt durch
ihre Nachwirkungen. Dieselben gehen weiter, als es bei irgend
einer andern Naturphilosophie des Altertums der Fall. Epicur
nimmt die Lehre im Altertum wieder auf. Nachdem sie im Mit-
*) V. 64 K. 70 St. ',.... Ti d' civ /uiv xal jfpf'of (OQOtv
varifjov ij npoa&tv rov htjÖevos d^^dfievov g)vv.
*) Arist. metaph. XII 6, 1071 b 31—33; Hippolyt. refut. I 13, 2 (Diels
Dox. p. 565. 8); Simplic. phys. p. 28, 8 (die beiden letzteren nach Tlieophrast).
3) Vgl. Arist. de gen. et corr. 1 8, 325 a 23—28.
*) S. S. 71 f.
■') V^l. S. 77 Anm. 4.
Die Atomiker. Atomistische Constitution der Materie. 83
telalter hinter den aristotelischen Dnahsmus von Materie und
Form zurückgetreten, wird sie von Pierre Gassend in die neuere
Philosophie eingeführt. Durch DaUon gestaltet sie sich, wenn
auch auf andere Erwägungen als im Altertum gestützt, zu einer
Hauptgrundlage der modernen Chemie. In gleicher Weise be-
herrscht sie die moderne Physik. Nicht phantasievoller Be-
griffsdichtung ist sie entsprangen, sondern dem ernsten Stre-
ben, die Dinge auf solche Elemente zurückzuführen, die einerseits
den Anforderungen entsprechen, welche die Vernunft an das
wirklich Seiende zu stellen hat, und andererseits einen ausreichen-
den Erklärungsgrund für alle Besonderheiten der Erscheinungen
abgeben, welche aus ihnen abgeleitet werden sollen. Dass aber
der Atomismus diesen Anforderungen, soweit bloss die Bedürfnisse
der Naturwissenschaft in betracht kommen, in hervorragender Weise
genügt, thut schon die unverwüsthche Lebenskraft dar, mit der er
immer und immer wieder bei dem Versuche einer Naturerklärung
sich aufdrängt. Er erweist sich dadurch als eine jener Hypothesen,
aufweiche die Vernunft, die stets nach einer einheitlichen Erklärung
des in der Erfahrung Gegebenen trachtet, mit einer gewissen Not-
wendigkeit sich hingewiesen sieht. Namentlich da wird er sich
dem Denken als naheliegende Vermutung darbieten, wo für die
Verbindung der Stoffe eine Erklärung gesucht werden soll. Die-
ses war ebenso bei Leucipp und Democrit wie bei Dalton der
Fall. Die Gesetzmässigkeit, welche er bei den Verbindungen der
Elemente beobachtete, brachte Dalton zu seiner Theorie der
Atome. Ebenso sahen sich Leucipp und Democrit, welche alles
Werden und Vergehen auf Mischung und Entmischung zurück-
führten, nunmehr vor die Hauptaufgabe gestellt, eine Erklärung
für die Möglichkeit dieser Mischung und Entmischung zu geben.
So war auch für sie das Problem der Mischung Grund zur
Atomistik.
Nicht zu übersehen freilich sind die bedeutsamen Unter-
schiede zwischen dem philosophischen Atomismus des Altertums
und dem naturwissenschaftlichen der Neuzeit. Glaubt jener in
noch ungebrochenem Selbstvertrauen eine abschliessende Erklä-
rung der letzten Gründe der Dinge geben zu können, welche mit
voller Gewissheit in ihr wahres Sein einführt, so begnügt sich
dieser mit der bescheidenem Rolle einer naturwissenschaftlichen
g4 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Hypothese, welche nur soweit eine Erklärung bieten will, als die
Erscheinungen diese zunächst erfordern und zugleich an die Hand
geben; die abschliessenden Fragen über das objective Gorrelat
unserer Vorstellung von einer materiellen Substanz dagegen über-
lässt sie der Erkenntnistheorie zur weiteren Bearbeitung.
Diese Verschiedenheit des Gharacters beider Theorien erklärt
sich durch die Verschiedenheit des Ursprungs. Der Atomismus
Leucipp's, ein Kind der dogmatischen Metaphysik der eleatischen
Schule, hat die Spuren dieser seiner Abstammung, obwohl er im
Inhalt seiner Lehre von den Eleaten vielfach abweicht, doch nir-
'gendwo verleugnet. Ausgang und Mittelpunct seines Forschens
bildet, ganz wie bei den Eleaten, das Bemühen, vermittelst rein
begrifflicher Erkenntnis die Natur des wahrhaft Seienden festzu-
setzen. Zwar fassen auch die alten Atomiker, abweichend von
den Eleaten, zugleich die Erklärung der in der Erfahrung
gebotenen Erscheinungen in's Auge; aber sie beschränken sich
hierbei auf solche Thatsache]i, die ohne weitere Forschung einem
jeden Auge, das in die Nalur blickt, zu Tage liegen, nämlich dass
der Dinge mehrere sind und dass diese Dinge die Phänomene des
Werdens und Vergehens sowie der quantitativen und qualitativen
Veränderung aufweisen. Unendlich weiter ist der Kreis der Phä-
nomene, für welche die moderne Physik und Chemie in der
Theorie der Atome eine Erklärung suchen. Sie gehen aus von
den Erscheinungen der Lichtbrechung und der Polarisation, die
unter dem Gesichtspuncte der Undulationstheorie; von denen der
Wärmefortpflanzung, die unter dem der mechanischen Wärme-
theorie betrachtet werden, von den Erscheinungen der constan
ten Proportionen, der AUotropie, des Dimorphismus, der Ra-
tionalität der Krystallflächen u. s. w., also von Gesetzmässigkeiten,
deren Erkenntnis erst der angestrengtesten Arbeit auf dem Ge-
biete der Naturphänomene verdankt wird^). Ob aber der Be-
griff des Atoms, zu dem sie durch solche Erwägungen geführt
wird, wirklich ein in sich widerspruchsfreier, vor der Kritik
der Vernunft standhaltender sei, oder ob die atomistische
Vorstellung, wie einer der hervorragendsten Naturforscher un-
*) Fechner, Über die physikalisclie und philosophische Atomenlehre.
2. Aufl. Leipzig 1864.
Die Atomiker. Unterschied der antiken und der modernen Atomistik. 85
serer Tage^), nicht freilich ohne von verschiedenen Seiten
her Widerspruch zu finden , behauptet hat , wennschon für
den Zweck unserer mathematisch - physikahschen Überlegungen
höchst brauchbar , gleichwohl als Corpuscularphilosophie in
unlösliche Widersprüche führe: diese Frage pflegt die moderne
Naturwissenschaft als unfruchtbar bei Seite zu schieben. Ohne
weiter auf die Entwickelung und Begründung sowie auf die
verschiedenen Formen der modernen Atomistik einzugehen , was
nicht dieses Ortes ist, können wir sonach den Unterschied der al-
ten und der neuen Atomenlehre dahin zusammenfassen , dass die
erstere sich giebt als metaphysische Theorie, die letztere dagegen
als eine Hypothese, die nur für die nächsten Bedürfnisse der
Physik und Chemie durchgeführt ist. Was die alte Atomistik
voreilig schon zu besitzen glaubte, das schwebt der modernen
Naturwissenschaft als fernes Ziel vor: ein Begritf von der
Materie, welcher in einheitlicher Weise auf allen Gebieten
der Naturforschung zugrunde gelegt werden kann und zugleich
sich in Übereinstimmung befindet mit den Forderungen des phi-
losophischen Denkens.
Das Denken, welches überall nach möghchster Einheit der
Erklärung strebt, wird an das Atom, wenn es das letzte Element
der Körperconstitution vorstellen soll, zwei Hauptforderungen zu
stellen haben: Einfachheit und Gleichartigkeit^).
Wenn man die Forderung der Einfachheit anspannt, wird
man zu punctuellen Atomen gelangen, "wie solche, entsprechend
den starren Puncten der Mechanik, in neuerer Zeit in verschie-
denen Atomtheorien aufgestellt wurden ; ob mit Recht, möge hier
ununtersucht bleiben. Die alte Atomistik ist nicht so weit gegan-
gen. Wenn sie den Atomen verschiedene Grösse und Gestalt
zuschreibt, so liegt darin offenbar die auch durch Simplicius be-
stätigte^^) Anschauung eingeschlossen, dass den einzelnen Ato-
men noch eine gewisse Ausdehnung zukomme, also, mathematisch
betrachtet, auch Teile, nur dass letztere nicht mehr durch ein
*) E. Du Bois Reymond , Über die Grenzen des Naturerkennens. 6. Aufl.
Leipzig 1884. S. 20.
') Vgl. Wundt in seinem Aufsatz über die Theorie der Materie, Essays,
Leipzig 1885. S. 59.
*) Simplic. phys. I, p. 82, 1 („unteilbar" kann etwas in mehrfachem Sinne
heiSSen) ...'>} tw ßo^ia ßiv e)(tiv xai fiiye&os, dvia-d-es ifi eivai 6iä. attQQÖirjza xal
vaaiötiiia, xa&äneQ ixüairj imv Jri/jLoxgizov drö/j-Mv. Ähnlich phys. III, p. 462
86 Erster Al>schnitt. Vorsocratiker.
Leeres von einander getrennt sind und daher auch niclit von eis-
ander entfernt werden können.
Die zweite an das Atom zu stellende Anforderung bezog sich
auf die Gleichartigkeit der letzten Körperelemente. Die mo-
derne Chemie, welche es im ganzen verlernt hat, mit kühnen und
blendenden aber oft irreführenden Ideen den Thatsachen voran-
zueilen, die es vielmehr vorzieht, nur solche Schritte zu machen,
zu welchen sichere Data die Berechtigung an die Hand geben^ hcält
vorläufig noch an der ursprünglichen qualitativen Verschiedenheit
der Atome fest. Allerdings legen mancherlei Erscheinungen, wie
die Periodicität der Atomgewichte, die Mehrheit der Spectrallinien
für die einzelnen Elemente u. dgl., den Gedanken nahe, dass in den
chemischen Atomen noch nicht die letzten Einheiten der Materie
vorliegen, dass diese letzten Einheiten vielmehr absolut gleich-
artig zu denken seien und erst durch ihre räumliche Gruppierung
und ihre Bewegungsformen die qualitativen Verschiedenheiten
derjenigen Verbindungen begründen, die wir jetzt Elemente nen-
nen. Derartiges wird jedoch nur als Vermutung gelegentlich aus-
gesprochen; Wert legt man nicht darauf, da noch alle Mittel
der Verification fehlen.
Anders die antike Atomistik. Je enger noch der Kreis der vor-
liegenden Erfahrungen war, mit um so grösserer Entschiedenheit
verfolgte sie die begriffliche Festsetzung. Einsthnmig schreiben
die alten Berichterstatter dem Leucipp und dem Democrit die
Lehre zu, dass alle Atome homogen, von gleicher Qualität seien ^)
und sich nur durch ihre Gestalt, Ordnung und Lage 2) sowie durch
ihre Grösse 3) von einander unterscheiden. Alle qualitativen
Unterschiede werden auf räumliche Verhältnisse zurückgeführt.
.5—9. Über Missverständnisse der fraglichen Lehre s. Zeller l*. 778, 1; Diels,
Doxogr. S. 219.
») Arist. phys. 12, 184 b 21; III 4, 203 a 34; de caelo 17, 275 b 32.
Simplic. phys. I, p. 44, 3; p. 166, 7; TV, p. 462, 14.
«) Arist. metaph. I 4, 985 b 13—22; VII t 2, 1042 b 11—15; pbys. 1 5
188 a 23—24; de gen. et corr. 1 L 314 a 21—24; I 2, 315 b 35—316 a l; i 8,
325 b 18; 19, 327 a 18. Theophrast. de sensu 60 (Diels, Dox. 516, 19—20).
Simpl. phys. I, p. 28, 18—19; in categ. ^'fol. 3r (schob in Arist. 92 a 12).
3) Arist. phys. III 4, 203 b 1; de caelo III 4. 303 a 15 (vgl. de gen. et
corr. I 8, 326 a 9). Theophr. de sensu 60.
M-t
ft. ^
Die Atoiaiker. (ileicliartigkeit der Atome. 87
Es ist uns nicht bekannt, dass jene Philosophen durch eine
Analyse der objectiven Naturprocesse zu dieser Ansicht gekom-
men seien. Zeller ^) verweist zwar in dieser Hinsicht darauf,
dass nach Aristoteles und nach Theophrast Democrit den Satz
verfochten habe, nur Gleichartiges könne auf einander einwirken
und von einander leiden ^). Allein davon, dass Democrit nun
gerade von diesem Satze aus zu seiner Behauptung von der
qualitativen Gleichartigkeit der unzähligen Atome gelangt sei,
findet sich, wie übrigens auch Zeller zugesteht, weder bei Ari-
stoteles noch bei Theophrast etwas bemerkt. Hat dieser Satz
doch überhaupt im Munde jener Berichterstatter nicht das Maass
von Schärfe und Allgemeingültigkeitj bei dem allein er als Grund-
lage einer solchen Speculation über die Natur der Atome hätte
dienen können. Ausdrücklich giebt sowohl Aristoteles als Theo-
phrast zu, dass Democrit auch verschiedenartige Substanzen auf
einander einwirken lasse, wennschon nur in dem Grade^ als in
ihnen etwas Gleichartiges sicli finde ^). Eine derart beschränkte
Gleichartigkeit aber würde z. B. auch dann schon vorliegen, wenn
man in der Weise der älteren lonier oder des Diogenes von Apol-
lonia alles aus einem geraeinsamen, qualitativ bestimmten Urstoff
sich entwickeln liesse.
In Wahrheit dürften es erkenntnistheoretische Erwägungen
sein, von denen aus die Naturphilosophie der Atomisten zu jener
Zurückführung des Qualitativen auf das Quantitative gebracht
wurde. Durch die eleatische Schule und die aus ihr sich ent-
wickelnde Sophistik war der Glaube an jede Aussage der Sinne er-
schüttert. Mit jenen weist auch Democrit auf die Widersprüche
in den Aussagen der Sinne hin. Was den Menschen süss,
ist andern Lebewesen bitter*); die Geschmacksempfindungen der
Menschen unter einander sind verschieden; ja nicht einmal derselbe
Mensch hat von demselben Gegenstande zu jed^er Zeit die gleiche Em-
») Zeller 1*, 774, 2.
^) Arist. de gen. et corr. 1 7. 323 b 10—15. Theophrast. de sensu 49.
^) Arist. de gen. et corr. I 7, 323 b 13 — 15: dXXd xav ertga ovia noijj n
tii a}J.rjKa , ovjf j] tzega dXV ij raihöv ti vnaQy^ti , ravTj) tovto av^ßaivetv avToT(.
Darnach fast wörtlich Theophrast. de sensu 49 (Diels, Dox. p. 513, 14—15).
*) Man vgl. auch die ähnlichen Aussprüche Heraclit's, welche oben S. 26 f.
zusammengestellt sind.
Xt %t*u*vflJCu«-v- V :>-'^'^*^
<v(^<uO'v.~i-.V
88 Erster Ahsclinitt. Vorsocratiker.
pfindung '). Die Art der Begründung zeigt, dass die Verwerfung
des Sinnenzeugnisses bei den Atomikern nicht Folge ihrer spe-
culativen Untersuchungen über das Seiende und dessen Wir-
kungsweise ist, sondern dass dieselbe auf rein psychologische
Gründe sich stützt. Ist aber das Sinnenzeugnis unwahr, so giebt
es entweder überhaupt keine Wahrheit, oder dieselbe ist verbor-
gen 2); dem, was die Sinne zeigen, kommt als solchem keine
Wahrheit zu ^). Wenn Aristoteles gelegentlich behauptet, Demo-
crit identificiere die Vernunft schlechtweg mit dem Lebensprincip,
weil ihm „das Wahre das Erscheinende" sei*), er halte Denken
und Wahrnehmen für das Gleiche und müsse deshalb mit Not-
wendigkeit behaupten, „das der sinnlichen Wahrnehmung nach
Erscheinende sei wahr" ^), so handelt es sich hier, wie der Zu-
sammenhang beweist, um Folgerungen, die erst Aristoteles aus
der Lehre des Democrit gezogen hat. Weil Democrit, so können
wir seinen Schluss formulieren, psychologisch keinen Unterschied
macht zwischen dem Denkvermögen und dem Vermögen der
Wahrnehmung, so muss ihm auch erkenntnistheoretisch Wahr-
nehmen und Denken dasselbe und daher die durch das Denken
zu findende Wahrheit in der Wahrnehmung enthalten sein*').
>) Arist. metaph. IV 5, 1009 b ^2— 11 ; de gen. et corr. I 2, 315 b 12. Theophr.
de sensu 63.
«) Arist. metaph. IV 5, 1009 b 11—12.
^) Arist. metaph. IV -o, 1009 a 38 — b 2: oßolms (^e 1? ntgl tu tfuivöfitva
dyj&eia ivi'ois ix rmv alaS-tiTow eXtjlc&ev (dass hier Democrit gemeint, ergiebt sich
aus der völligen Übereinstimmung des von Aristoteles zur Begründung dieses
Satzes Angeführten mit dem bei Theophrast de sensu 63 von Democrit Berich-
teten, welch letzterer zudem b 11 auch ausdrücklich mit Namen genannt
wird). Sext. Emp. adv. math. VII 135: JtifiJxgitoe <fi ön /nev dvai^ei rd qiaivo-
jueva Tois uta&t^aeai, xal tovjoov ksyet fiijifiv (faivea&ai xar' d'/.rjd-ttav,
*) Arist. de an. I 2, 404 a 27—29.
«) Arist. metaph. IV 5, 1009 b 12—15.
^) Dass es sich bloss um einen Schluss des Aristoteles handelt, zeigt be-
sonders deutlich metaph. IV 5, wo das, was diese altern Philosophen nach ih-
ren Principien mit Notwendigkeit sagen müssen (mit Zeller I*, 822, 4, Hirzel,
Untersuchungen zu Gicero's philosophischen Schriften. Bd. I. Leipzig 1877.
S. 114 ist 1009 b 14 i^ dvdyxijs faalv zu verbinden) , nämlich t6 qiaiv6,ufvov
xaTu T%v ata&r,aiv dXrj&ec: tivai, ganz deutUch dem entgegengesetzt ist, was sie wirk-
lich sagen, infolge dessen ihnen v 7ieQi rd <faiv6jutva dhl&eta ix tiHv ata&rjrcSv iX-q-
kv»iv (1009 b 1).
Die Atomiker. (rleichartigkeit der Atome. 80
Dieser Sachverhalt ist bereits von Zeller ^) mit aller Klarheit aus-
gesprochen, und Natorp 2) hat die Ausführungen desselben eingehend
begründet. Was Hirzel ^) gegen Zeller geltend macht, ist durchaus
nicht geeignet^ diesen zu widerlegen *). Zu deutlich auch sind
die eigenen Aussprüche des Democrit, von denen Sextus Empiri-
cus eine Anzahl höchst bezeichnender zusammengestellt hat ^).
„Nur durch menschliche Festsetzung (vd/tw)", sagt er, „ist Süsses,
Bitteres, Warmes, Kaltes, Farbe" ^). „Wir erkennen", sagt derselbe
in den Kratynterien ''), „in Wahrheit nichts Sicherstehendes, son-
dern nach der Verfassung unseres Körpers wie des Eintretenden
und des Entgegenstrebenden sich Änderndes^)." Und in der
Schrift über die Gestalten der Atome (ttsqI i'SfMv) heisst es ^) :
„Es zeigt aber auch dieser Beweis, dass wir in Wahrheit von
nichts etwas wissen."
Unverkennbar haben diese Sätze sogar einen skeptischen
Klang. Gleichwohl empfanden bereits die alten Skeptiker selbst,
wie weit Democrit von aller Skepsis entfernt ist ^^). Hat derselbe
doch den Protagoras nachdrücklich bekämpft") und seiner Ab-
neigung gegen die Sophistik gelegentlich in Kraftausdrücken
Luft gemacht, wie „Phrasenjäger", „Zänker", „Riemenflechter"
u. dergl. 12). Nur die Aussagen der Sinne und damit die
sinnfälligen Qualitäten giebt er der eleatischen Kritik preis.
Allein neben dieser „dunklen Erkenntnis" der Sinne giebt es noch
ij a. a. O. P, 822.
*) Untersuchungen zur Gesch. d. Erkenntnissproblems im Alterthum. S. 164 ff.
») a. a. 0. S. 110—117.
*) Vgl. Natorp a. a. 0. S. 165, 1.
5) 8ext. Emp. adv. math. VII 135—139.
6) Bei Sext. Emp. adv. math. Vll 135 (citiert S. 81 Anm. 1).
') Bei Sext. Emp. adv. math. VII 136.
"*) fitraTicntov, dessen Sinn durch den Gegensatz zu nrnryt? klar wird. Das
Wort wird auch sonst von Democrit gebraucht; vgl. Theophr. de sensu 63
(Diels, Dox. 517, 11).
8) Bei Sext. Emp. adv. math. VII 137.
!<») Sext. Emp. Pyrrh. hyp. I 213—214; adv. math. VII 138-139.
") Plut. adv. Colot. 4, 1, p. 1108 F. Sext. Emp. adv. math. VII 389 f., wo dem
Democrit das gleiche Argument gegen den Protagoras zugeschrieben wird, wel-
ches auch Plato, Theaet. 170E-171G. vorbringt.
12) Clem. Alex, ström. 1 3, p. 279 D.
PO Erster Ahsclinitt. Vorporratiker.
eine andere, „cclile" '), welche uns zur Erfassung der den Phä-
nomenen zugrunde hegenden Wahrheit führt. Denn in den
Phänomenen ist Wahrheit ^) ; aber , wie Aristoteles scharf sich
ausdrückt, die Wahrheit hinsichtlich der Phänomene ist nicht
in dem dabei sinnlich Wahrgenommenen gelegen 5). Sie
ergiebt sich vielmehr erst durch die vernünftige Einsicht, welche
das den Sinnen Erscheinende in der richtigen Weise zu deuten
versteht.
Die vernünftige Einsicht nun, wenn sie die Phänomene des
Werdens, der Bewegung und der Vielheit auf ihren Wahrheits-
gehalt zurückführen soll, verlangt, dass es neben und innerhalb
des raumfüllendon Stoffes ein Leeres giebt, durch welches jener
in eine Vielheit von Elementarteilchen getrennt wird ^). Nur durch
den Verstand sind diese Elementarteilchen, die Atome, zu er-
schliessen ; dem Sinne bleiben sie verborgen. Insofern kann
Sextus Empiricus sie mit Recht als vot^tcc bezeichnen^).
Wie sollen sich nun diese von Democrit angenommenen
Elementarteilchen, die Atome, von einander unterscheiden? Das
ganze Altertum, soweit es nicht, wie Philolaus und Plato, die
Verschiedenheit der Elemente auf Unterschiede der räumlichen
Form zurückführt, weiss dieselben im wesentlichen nur durch die
Angabe der den einzelnen Elementen eigentümlichen sinnlichen
Qualitäten zu begründen. Selbst die Elementenlehre des Aristo-
teles ist über solche Qualitäten, nämlich die dem Gebiete des
Tast- und Temperatursinnes angehörigen Unterschiede des War-
men und Kalten, Trocknen und Nassen, nicht hinausgekommen.
') Demoer. bei Sext. Emp. adv. math. VII 130: yvw/iijs r^e rfvo ttnlv uUai,
jj fiiv yvrioli) rj rfe Oxotit;' xal axoriijs /uev täd'f OvftnavTa, oilßic axor} orJ//iJ yfvUig
ipavoig, 7, de yvrjaii], dnoxexQi/ntvrj d'e ravzrjg,
^) Arist. de gen. et corr. I 2, 315 b 9 — 10 (von Democrit und Leucipp):
inf'i. d' (oovTo talrt&h ev nu cpaivfoSai. Wenn die Stelle mit dem unmittelbar
vorher und mit dem unmittelbar nachher Gesagten nicht in vollem Wi-
derspruch stehen soll , so darf dieselbe nicht so verstanden werden , als ob
die ganze Erscheinung schon als solche Wahrheit sei; der Sinn kann vielmehr
nur sein, die Wahrheit „sei nicht von der Erscheinung losgerissen" (Natorp a.
a. 0. S. 164).
ä) Arist. metaph. IV 5, 1009 a 38— b2 (citiert S. 8« Anm. 4).
*) Arist. de gen. et corr. 1 8, 325 a 25—28 Sext. Emp. adv. math. Vfl 135
(citiert S. 81 Anm. 1).
^) Sext. Emp. adv. math. VIII 6.
Die Atoniiker. (ileichartigkeit der Atome. 91
Alle diese sinnlichen Qualitäten aber fallen für Democrit, wo es
sich um die Bestimmung des wahrhaft Seienden handelt, fort.
Es bleibt ihm daher nur der in sich gleichartige, durch das
Leere in kleine Teilchen zersplitterte Stoff. Die Atome sind inso-
fern der Qualität nach nicht verschieden.
Einen solchen Ursprung der democritischen Lehre von der
Gleichartigkeit der Atome hat schon Theophrast angenommen, wir
wissen nicht, ob auf Grund eigener Vermutung oder irgend welcher
Andeutungen in den democritischen Schriften. Die betreffende Stelle
aus der theophrastischen Geschichte der Naturphilosophie erschien
dem Simplicius so Avichtig, dass er in seinem Gommentar zur ari-
stotelischen Schrift über das Weltgebäude dreimal auf dieselbe zu-
rückkommt'). Democrit, heisst es bei Theophrast, habe die
Erklärung der Naturerscheinungen aus den Unterschieden des
Warmen, Kalten u. s. w. für unwissenschaftlich gehalten und
sei deshalb zu den Atomen aufgestiegen. Auch Theophrast er-
blickt also das Motiv, durch welches Democrit zur Atomenlehre
geführt wurde, in seinem Widerspruch gegen die sinnlichen
Qualitäten, in denen die sonst verbreitete Auffassung das we-
sentlich Unterscheidende der Grundbestandteile der Körperwelt
sehen wollte.
Also nicht aus einer Analyse des objectiven Verhaltens der
Körper entwickelt sich in der antiken Atomistik dieser Satz, wie
etwa dem modernen Chemiker Erwägungen über die Periodi-
cität der Atomgewichte die Gleichartigkeit der letzten Urbestand-
teile des Stoffes nahelegen würden , sondern aus allgemeinen er-
kenntnistheoretischen Motiven.
Doch war für die Atomiker mit dem allgemeinen Satze von der
Gleichartigkeit der Atome die Sache noch nicht abgethan. Nur
solche von der V^ernunft aufgestellte Principien haben für sie Gültig-
keit, welche mit den Phänomenen im Einklang bleiben ^ . Sie sahen
sich daher vor die Aufgabe gestellt, die Verschiedenheiten der
sinnhchen Erscheinung, die Unterschiede der sinnlichen Quali-
täten, aus der Natur der Atome und des Erkenntnisprocesses zu
erklären. Zur Lösung derselben bot sich ungesucht der Gedanke
1) Simplic. de caelo III, p. 252 b 40—43; 257 b 20—23; 284 b 20— 23 Kar-
sten. Vgl. Diels, Doxogr. p. 491.
2) Arisl. de gen. et corr. 1 8, 325 a :23— 26.
1)2 Erster Absclinift. Vorsocratiker.
dar, jene Unterschiede auf die Verschiedenheiten dieser Atome
nach Form, Lage, Gruppierung und Grösse zurückzuführen. Frei-
lich bleiben Atome von verschiedenen Gestalten und verschie-
denen Dimensionen noch hinter dem Ideal einer vollkommenen
Gleichförmigkeit der letzten Elementarteilchen zurück ; aber als
Hülfsmittel für die Erklärung der Phänomene boten diese Vor-
aussetzungen scheinbar grosse Vorteile.
Die Eigenschaften der Körper suchten die Atomiker in fol-
gender Weise aus den angeführten Elementen abzuleiten. Nur
ein Teil derselben ist unmittelbar mit jenen Elementen gegeben.
Diese Eigenschaften bestehen auch dann, wenn wir sie nicht
wahrnehmen; sie besitzen ein selbständiges Sein, eine (pvO ig oder
ovotce, wie Theophrast die Lehre Democrits in den ihm geläufi-
gen Ausdrücken formuliert *), d. h. sie haben objective Gültigkeit.
Solcher Art sind die Unterschiede des Leichten und Schweren,
Harten und W^eichen. Das Gewicht des einzelnen Atomes näm-
lich hängt ab von seiner Grösse, wobei die Gestalt desselben
gleichgültig ist. Das Gewicht des aus Atomen zusammengesetzten
Körpers ist um so grösser, je weniger leeren Raum derselbe bei
gleichem Volumen enthält. Die Unterschiede der Härte oder
Weichheit werden durch die grössere oder geringere Dichtigkeit
und Festigkeit der Atomverflechtungen bedingt 2). Ganz anders
die übrigen Qualitäten. Dieselben sind sämtlich blosse Affectionen
unserer Sinne s), verschieden je nach der Gestalt der Atome so-
wie der Disposition des empfindenden Subjectes ^). Wir begeg-
nen also hier zuerst der von Locke popularisierten Unterschei-
dung primärer und secundärer Eigenschaften^). Freilich war es
1) Theophr. de sensu 63. 71.
'*) Theophr. de sensu 61—62.
^) TiäS-i] T^e ala&^aeo)s (Theoplir. de sensu 60. 61. 63), xevojid&eiat (Sext.
Emp. adv. math. VIII 184).
*) Theophr. de sensu 63—64.
*) Vgl. Zeller 1*, 783, 1. - Gegen ihn sucht Natorp a. a. 0. S. 183 ff. in scharf-
sinniger Weise den Gedanken durchzuführen, dass der Realitätsunterschied der
Qualitäten bei Üeniocrit nicht in der Locke'schen Unterscheidung von primären
und secundären Qualitäten sein modernes Gegenbild finde, sondern vielmehr
der Position des Galilei, Descartes und Hobbes entspreche. Gleich diesen näm-
lich stütze Democrit den Realitätsunterschied der Qualitäten nicht auf irgendeinen
Vorzug einer Art Sinneswalirnehmung vor der andern , etwa den des zugleich
Sicht- und Tastbaren, sondern darauf, dass nur die Voraussetzung einer ob-
Die Atoiaiker. Sinnescfualitäten. 93
ein schwieriges, und, wie wir nach den durch die Sinnesphysio-
logie uns gebotenen Einsichten sagen müssen, von vornherein
aussichtsloses Unternehmen, die Ableitung dieser Qualitäten im
einzelnen durchführen zu wollen. Democrit hat es denn auch
nicht über einige oberflächliche Analogien hinausgebracht, die
jectiven Realität allein der „ersten" Beschaffenheiten ihm geeignet scheine,
Sein und Veränderung der Dinge mit den Ersclieinungen einstimmig zu erklä-
ren, Rechenschaft von ihnen zu geben aus begreiflichen Gründen. Kurz ge-
sagt, er begründe den Unterschied rational, nicht sensual (S. 183 f.). Ohne
Zweifel habe er Schwere, Härte und ihr Gegenteil für ebenso objective Be-
schaffenheiten der Körper gehalten, wie die Grösse und Gestalt der Atome, von
deren sie abhängig; aber er nehme sie für objectiv nicht als aia&tjiä, als ob
etwa die Wahrnehmung des Schweren , Leichten u. s. w. irgend weniger sub-
jectiv wäre als die der Farben und Töne (S. 186 f.). Wenn es bei Theophrast
de sensu 63 nach Anführung der vier Eigenschaften des Schweren, Leichten,
Harten, Weichen heisse : twi> de aXXov aia&ijTtuv ovti'tvos eivai (fvaiv, so sei das
eine blosse Ungenauigkeit des Ausdrucks (S. 187). In Wirklichkeit könne
Theophrast dem Democrit unmöglich die Ansicht beilegen, dass unter den Ob-
jecten der Sinne die einen an sich wahrgenommen würden, die andern nicht.
Allein die von Natorp (S. 184 f.) dafür geltend gemachten Gründe sind
nicht ganz stichhaltig. Dieselben sind folgende: Erstens sei aus der Sache
klar, dass Democrit die Wahrnehmung oder subjective Erscheinung {(fariuar'n)
des Schweren , Leichten u. s. w. nicht anders habe ableiten können , als die
der übrigen Beschaffenheiten; treffe doch die Begründung für ihre bloss sub-
jective Wirklichkeit, dass nämlich derselbe Gegenstand von verschiedenen Per-
sonen , ja von der gleichen Person zu verschiedenen Zeiten verschieden em-
pfunden werde, bei jeder Art von Wahrnehmung gleich sehr zu. — Indes, ob
Democrit letzteren Schluss wirklich gezogen , wissen wir nicht. Denkbar ist
auch das Gegenteil; denn während über den Geschmack z. B. nach dem alten
Spruch nicht zu streiten ist, pflegen die Menschen darüber, ob etwas leichter
oder schwerer, härter oder weicher ist, zumeist einig zu sein. Niemand be-
zweifelt, dass ein Stück Blei schwerer ist, als das gleiche Volum Federn , dass
Eisen härter ist als Wachs. Man kann zugeben, dass bei diesen Wahrneh-
mungen der Sinn gewissermassen eine objective Unterstützung erfährt. Um
zu beui'teilen, ob etwas süss oder sauer, weiss oder schwarz sei, sind wir aus-
schliesslich auf den betreffenden Sinn angewiesen; das Gewicht eines Körpers
dagegen zu bestimmen, haben wir Wagen, und von seiner Weichheit oder Härte
überzeugen wir uns, indem wir etwa mit dem Messer oder dem Meissel in
ihn einzudringen oder ihn zu bearbeiten versuchen. Aber selbst solche Erwägungen
würden über das Gebiet des sinnlich Wahrnehmbaren nicht hinausgegangen
sein; sie würden daher auch nicht die Begründung des Unterschiedes zu einer
rationalen im Sinne Natorp's machen.
Zweitens soll Theophrast, wenn er dem Democrit jene Ansicht beilege,
sich selbst widersprechen. Denn §. 64 sage er: ^ xal (fave^wr, üJ^- ij (häatatg
94 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
sich zudem, wie Theophrast in seiner Kritik der deniocritischen
Sinneslelire tadelnd hervorhebt'), im wesentlichen auf die Ge-
schmacks- und die Farbenempfindungen beschränken.
Damit dürften alle wesentlichen Züge zusammengetragen sein,
aus denen sich die Vorstellung von der Natur der Materie bei
Leucipp und Democrit zusammensetzt. Dass die weitere Ent-
wickelung dieses unbegrenzten Stoffes von ihnen auf eine ur-
sprüngliche Bewegung der Atome zurückgeführt wird, wurde
schon oben 2) berührt. Infolge der Unregelmässigkeiten, welche
durch das angenommene raschere Fallen der schwereren Atome
.sich ergaben, erzeugte diese vorausgesetzte ursprüngliche Bewe-
gung Seiten- und Wirbelbewegungen ^). Dadurch bildeten sich die
uhia rijs ipavtaatas' ankws fiev ovv negi ttJäv ata ■d'Tjt iSv ovrto iftiv vTioko/iißd-
i'fw, und vollends §. 69: dnXoös (fs rö fih a^Vf^^ ''"^* amö iari, to Ss yXvxv xal
tikoüi TO ata &r;r üv TiQog akXo xal tv a.k?.ois, wf ipTjaiv. — Aber auch dieser Grund
schlägt nicht recht durch. Nach §. (i3 führte Democrit die Unterschiede des Leichten
und Schweren auf die Grösse {/jiey£-(^oi)dev Atome zurück, wobei er die Gestalt der-
selben ausdrücklich für gleichgültig erklärt; ebenso §.04 die Unterschiede der Härte
und Schwere auf die Gruppierung (&tais) der Atome und auf die Verteilung der ein-
geschlossenen leeren Räume {tva7i6Xrjxi>ts tcSv xsvcov). An den beiden von Natorp
angeführten Stellen ist aber nur von solchen Empfmdungsvinterschieden die Rede,
welche durch die Gesiali {a^ijfjia) der Atome bedingt werden: denn auch §. 64wii'd
nach den citierten Worten fortgefahren : ov firjv d/./.' üantQ xal rd akka xal tama
dvai(iyr,ai roTg axrjfxaai. Es sind also, obwohl allgemein von den a/a*7/ra
die Rede ist, dennoch die besonders gearteten Unterschiede des Gewichts und
der Härte nicht mit eingeschlossen. Dann aber kommt der vermeintliche Wi-
derspruch in Wegfall.
Wir werden darum gut thun , hei dem Mangel aller Mittel zur Beantwor-
tung überhaupt die Fiage dahingestellt sein zu lassen , ob Democrit den Realitäts-
unterschied zwischen den Wahrnehmungen des Gewichts und des Härtegrades
einerseits und den übrigen Sinnesempfindungen andererseits rational oder sen-
sual begründet habe. Würde eine solche Frage sich doch selbst für Locke
nicht so einfach beantworten lassen. Denn dass dieser den Vorzug, den
die Vorstellungen der primäien Qualitäten vor denen der secundären besitzen,
nicht schlechtweg darauf zurückführt, dass die ersteren sowohl vom Ge.
sirhts- wie vOm Tastsinn wahrgenommen werden , ergiebt sich sofoit
daraus, dass er auch die Dichtheit (solidity) den primären Qualitäten beizählt
(Essay conc. hum. underst. b. IL eh. 8. §. 9), obwohl wir diese Idee nur durch
das Gefühl erhalten sollen (b. IL eh. 4. §. 1).
*) Theophr. de sensu 04 (Diels, Dox. p. 517, 20).
'^j S. 82.
'■') Vgl. Zeller V, 793 ff Fr. A. Lange, Geschichte des Materialismus. 2.
Aull Iserlülui 1873. IUI. 1. S. Ki Ü.
Die Atoiniker. — Die Sopliistik. 95
Welten. Der Zufall hat dabei keinen Platz; auf ihn beruft sich
nur der Unverstand M. Alles geschieht vielmehr mit mechani-
scher Notwendigkeit^). So ist von Democrit eine streng mecha-
nische Weltanschauung durchgeführt worden.
Aber woher die anfängliche Bewegung des an sich trägen
Stoffes^)? Und woher der Anstoss zu den Seitenbewegungen,
in denen der Ursprung der Weltbildungen gegeben sein soll?
Denn die Erklärung, welche Democrit für letztere gab, ist doch
ganz und gar hinfällig, da im leeren Räume der schwerere Körper
nicht schneller fällt als der leichtere.
Die Antwort darauf hatte schon vor Democrit Anaxagoras
mit seiner Lehre vom weltordnenden Geiste gefunden. Das Feh-
len der Antwort auf diese Frage ist die wesentlichste Lücke im
Systeme Democrits. Nur sehr unbefriedigend wurde dieselbe
durch Epicur ausgefüllt. Ist es doch der Mangel, an dem jedes
rein materiahstische System scheitern muss.
5. Die Sophistik.
Die Erkenntnis des wirklich Seienden, das war das gemein-
same Resultat der vorsocratischen Philosophie, wird nicht durch
die Sinne gewonnen, sondern nur durch das Denken. Die Aus-
sagen der Sinne führen irre ; nur die Vernunfterkenntnis gewährt^
eine sichere Einsicht in das wahrhaft Seiende, d. h. das objectiv
Gültige. Aber was ich nicht sehe, soll sicherer sein als dasjenige,
was mir klar vor Augen liegt? So lange der Unterschied von
Sinnen- und Vernunfterkenntnis weder nach der subjectiven Seite
durch Ajifweisung^. des psychologischen Ursprunges einer jeden
dieser Erkenntnisarten, noch nach der objectiven Seite durch
Aufdeckung des einer jeden derselben entsprechenden Objectes
gehörig begründet und zugleich auf das richtige Maass zurück-
geführt war — was alles in der vorsocratischen Philosophie,
einige schwächere Absätze abgerechnet, noch nicht einmal zum
1) Slob. ecl. II, p. 344.
') Bei Democrit als nWyxi? oder Ao'yof hezeiclinet: Stob. ecl. I, p. IGO (andere
Nachweisungen bei Zeller l^, 788, 1 ). Vgl. M. Heinze, Die Leine vom Logos in
der griechischen^ Philosophie. Oldenburg 187ii. S. 58.
Wie Aristoteles, metapli. I 4, 985 b 19 dem Democrit entgegenhält.
-^-*-lX - VvJL4^-, '^^-♦^ Jir^^.^i),^^,
96 Erster Absclinitt. Vorsocratiker.
Problem geworden, geschweige denn in befriedigender Weise er-
ledigt worden ist — , so lange musste der „gesunde Menschen-
verstand" gegen einen solchen Vernunftdogmatismus reagie-
ren. Bei einer zu Paradoxien geneigten Generation, welche
unter dem Scheine des Geistreichen alles Hergebrachte umzu-
stossen suchte, nahm diese Reaction natürlich extreme und ein-
seitige Form an. Darin liegt die naturgemässe Entstehung der
Sophistik. Bietet die Wahrnehmung, so kann man den Grund-
gedanken der mannigfach variierenden sophistischen Theorien
zusammenfassen, uns nichts objectiv Gültiges, an sich Seiendes,
so giebt es überhaupt kein solches An-sich. Dann aber ist ent-
weder, wie Gorgias sagt, überhaupt nichts, oder es ist doch alle
Gültigkeit, wie Protagoras lehrt, nur von relativem Werte, wech-
selnd je nach der Beschaffenheit des Wahrnehmenden. So löst
die Sophistik die einseitige Philosophie der vorsocratischen Zeit auf.
Dadurch aber erweckt sie das Interesse für neue Fragen und schafft,
obgleich arm an fruchtbringenden positiven Ideen, Platz für die
Gedanken, mit denen die von Socrates anhebende Entwickelungs-
reihe einen völligen Neubau in der Philosophie aufführen konnte.
Für uns kommt die Sophistik nur in soweit in Betracht, als
sie sich über die Natur der sinnlich wahrnehmbaren Dinge aus-
gesprochen hat. Derartige Untersuchungen knüpfen sich an zwei
Namen unter den Sophisten: Protagoras und Gorgias.
a. Protagoras und die Protagoreer des platouiscben
Tlieaetet.
Dem bekannten Satze des Protagoras, dass der Mensch
das Maass aller Dinge sei, der Seienden ^ dass sie sind^ und
der Nichtseienden , dass sie nicht sind , giebt der platonische
Tlieaetet zur Stütze einen der heraclitischen Physik entnommenen
Unterbau. Dass diese naturphilosophischen Speculationen, wenig-
stens ihrem ganzen Umfange nach , nicht in der Schrift des Pro-
tagoras selber enthalten waren, deutet, wie schon von mehreren ' )
1) Ritter, Gesch. d. Phil. I^ 631. G. Grote, Plato and the other compani-
ons of Sokrates. London 1865. Bd. II, S. 324 f. Schuster, Heraklit, S. 29 ff.
E. Laas, Idealismus und Positivismus. Bd. I.' Berlin 1879. S. 193 f. W. Hallj-
.--,„.,., -i..v^,<^. -rvvV-C U rvv C-v^üv>v-^'yVv<^v(-'t«^'':>
Protagotas ü. d. Protagoteer cl. piaton. Theaetet. 97
bemerkt und zuletzt von Natorp ') überzeugend dargethan ist,
Plato selber in einer für den aufmerksamen Leser nicht miss-
zuverstehenden Weise an. Es hat nämlich im platonischen
Theaetet (152 A — B) Socrates den Satz des Protagoras vom Men*
sehen als dem Maasse aller Dinge angeführt und durch den Hin-
weis auf Thatsachen, wie dass derselbe Wind dem einen warm,
dem andern kalt erscheine, erkemitnistheorelisch begründet. Ehe
er nun zu der metaphysischen Grundlegung vermittelst der hera-
clitischen Bewegungstheorie übergeht, bemerkt er (152 C): So
hat Protagoras wohl nur uns, dem grossen Haufen, es gesagt;
den Schülern aber hat er „im Geheimen" die Wahrheit dargelegt,
worauf dann (152 D) die Anknüpfung an die Lehre vom Fluss
aller Dinge folgt. Noch deutlicher redet er nach einer kürzeren
Unterbrechung dort, wo er in concisester Form den protagorei-
schen Satz aus dem Principe der allgemeinen Bewegung ab-
leitet. Ausdrücklich bezeichnet er hier (155 D— E) jene Aus-
einandersetzung als die „verborgene Wahrheit" der Lehre „des
Mannes oder vielmehr namhafter Männer," wo schon der nacli-
drücklich corrigierend gesetzte Plural „namhafter Männer" über
den Protagoras hinausweist. Er will „die Mysterien" von Män-
nern mitteilen, die weit scharfsichtiger (xofiiliÖTfooi) seien als die
Materialisten-), von denen er gerade vorher geredet hat. Von
einer Darlegung „im Geheimen", einer „verborgenen Wahrheit",
von „Mysterien" brauchte Plato aber doch nicht zu reden, wenn
jene Bezugnahme auf die heraclitische Lehre vom Fluss aller Dinge
in der Schrift des Protagoras selbst schon vorlag. Unterstützt
wird diese Beweisführung durch eine Stelle des Aristoteles ^).
fass, Die Berichte des Plato und Aristoteles über Protagoras mit besonderer
Bej-ücksichtigung seiner Erkenntnistheorie kritisch untersucht, in Jahrb. f. class.
Philol., 13. Supplementband, Leipzig 1882, S. 151—211. F. Dümmler, Antisthenica_
Halis [1882] S. 56. Auch Zeller, der im übrigen an dem Zusammenhang der
protagoreischen Erkenntnislehre mit der heraclitisclien Physik festhält (vgl_
Zeller l\ 978 f.), giebt L*, 983, 1 zu, dass Plato in der Begründung des prota-
goreischen Satzes sich nicht streng an die Darstellungsform des Sophisten ge-
halten habe.
1) Forschungen zur Geschichte des Erkenntnissproblems im Alterth., S. 21 it.
*) Antisthenes ist gemeint; vgl. Dünnnler, Antisthenica, S. 51 ff.
ä) Aristot. metaph. XI 6, lü()2 b 21 ff. An der Echtheit des XF. Buches
zu zweifeln, liegt, was die ersten sielien Kapitel betrifft, kein stichhaltiger
Grund vor.
Baeumkei: Das Problem der Materie etc. /
98 Erster Abschnitt. Voisocratiker.
Um nämlich den angeführten Satz des Protagoras zu wider-
legen; geht er im elften Buche der Metaphysik auch auf den
Ursprung desselben ein. Freilich kann er diesen nicht in be-
stimmter Weise angeben; er weiss nur zwei von anderen auf-
gestellte Meinungen dafür beizubringen. Einigen, berichtet er,
scheine derselbe aus der Meinung der Naturphilosophen erwach-
sen zu sein, dass nichts aus dem Nichtseienden, sondern alles
aus dem Seienden werde, anderen dagegen aus der Beobachtung,
dass von ein und demselben Gegenstande nicht alle die gleiche
Auffassung hätten, indem ein und dasselbe Ding dem einen süss,
dem andern sauer erscheine. Hier wird die platonische Zurück-
'führung auf die heraclitische Lehre vom Fluss aller Dinge gar
nicht einmal genannt; sie ist also von Aristoteles, dem der Theaetet
wohl bekannt ist *), wie es scheint, nicht als historische Darstel-
lung des Ursprungs der protagoreischen l^ehrc angesehen wor-
den. Von den verschiedenen Begründungen aber, welche Aristo-
teles erwähnt, findet die zweite, auf die Relativität der Sinnes-
urteile gehende, ihre Bestätigung durch eine Stelle des Theaetel,
welche nach der augenscheinlichen Absicht des Schriftstellers
das von Protagoras wirklich Ausgesprochene angiebt^). Die-
ser Gedanke indes bedurfte fürwahr nicht erst des Unterbaus
metaphysischer Speculationen über den beständigen und un-
ablässigen Fluss aller Dinge; er drückt eine Thatsache aus,
die auch der Nichtphiiosoph oder der philosophische Dilettant des
öftern zu beobachten die Gelegenheit hatte. Freilich weist das
Hervortreten eines so extremen Satzes, wie des protagoreischen
von der Relativität alles Seienden, auf eine skeptische Grund-
stimmung hin, und diese zu erzeugen war allerdings der Ilera-
clitismus bei denjenigen vorzüglich geeignet^ welche sich den
eigentlichen positiven Gehalt des Systemes nicht zu eigen mach-
ten 3). Unverkennbar hatte gerade der Milesier mit seiner Lehre,
dass dasselbe Ding entgegengesetzte Eigenschaften in sich ver-
einige, je nachdem es mit dem einen oder dem anderen in Beziehung
gesetzt werde, wie das Meerwasser heilsam sei für die Fische,
M Vgl. Bonitz, Index Aristolelicus p. 598 1) 40.
') Vgl. 152B: rj 7ifi(}üfifOa iw n(><,nu'/d(>u; Weiteres l)el Natorj), For-
schungen, S. 15.
') Man vergleiclio auch das chaiucteiistische Verhallen des Skeptikers
Aeiiesideni zu HtTacUl, woriil)er Nalorj», Fuiscliuugen, S. 75 -SS, 1{)'A l'H).
Protagoras u. d. Protagoreer des piaton. Theaetet. 9ö
Verderblich für die Menschen ^), die weitergehende Lehre des Pro-
tagoras vorbereitet, dass das einzehie Individuum Maassstab sei
für die Gültigkeit der Dinge. Aber selbst bei Heraclit finden wir
in den uns erhaltenen Fragmenten und den wirklich historischen
Darstellungen der Alten jene Lehre von der Einheit der Gegen-
sätze nirgendwo aus der Lehre vom Fluss aller Dinge ausdrücklich
uibgeleLtet. Um so weniger kann es verwundern, dass eine derartige
Begründung dem Protagoras fremd ist. Dieser dürfte vom Hera-
clitismus vielmehr nur das skeptische Misstrauen in das Sinnen-
zeugnis sowie die allgemeine relativistische Vorstellung hinüberge-
nommen haben, dass ein jedes Ding seine Bedeutung ändere, je
nachdem es zu diesem oder jenem in Beziehung gesetzt werde '").
') Heracl. fragm. 52. S. S. 26.
-) Ganz unwahrscheinlich ist die von Breier (Anaxagoras, S. 84j , Laas
(Positivismus und Idealismus I, 194, 1 ; Neuere Untersuchungen üher Protago-
ras, Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philos. VIII. 1884. S. 493 u. Anm. 2),
Halbtags a. a. 0. S. 163 f. u. a. angenommene Ahhiingigkeit des Protagoras von Ana-
xagoras. Ich gehe auf die Frage ein, weil, die Richtigkeit jener Annahme vor-
ausgesetzt, dem Protagoras eine ähnliche Vorstellung von der Materie zuzu-
schreiben wäre, wie dem Anaxagoras. Laas, zu dessen Gründen auch Halb-
fass nichts Wesentliches hinzugefügt hat, führt zwar eine gi-osse Menge
von Citaten dafür ins Feld; dieselben beweisen aber im Gi'unde sehr wenig
oder gar nichts. So ist bei Arist. phys. I 4, 187 b 2 ff. nicht gesagt, was
Laas herausliest, dass „Anaxagoras — wie die Epicureer — die Verschie-
denheit der Wahrnehmungen aus der Verschiedenhe't dessen, was an dem glei-
chen Object von den Individuen appi'ehendiert wird, erkläre" ; dort ist vielmehr
als anaxagoreisch die Lehre ausgesprochen, dass jedes Ding das zu sein
scheine, wovon es die meisten Teilchen einschliesse — nicht dem einen so,
dem andern so, wie Laas es auffasst, sondern allen in gleicher Weise. Ferner
heisst es bei Aristoteles (metaph. XI 6, 1063 b 25), wenn nach Anaxagoras al-
les in allem enthalten sei, so sage er, jedes Ding sei ebenso gut süss wie bittei',
und es könne also Entgegengesetztes von dem Selben ausgesagt werden. Offen-
bar handelt es sich hier indes um eine erst von Aristoteles aus der anaxagorei-
schen Lehre gezogene Consequenz. Umgekehrt werden metaph. IV 4, 1007
b 18 ff.; b 23 ff.; IV 5, 1009 a 26 ff. die Consequenzen aus der Lehre des Protagoras,
nicht diese Lehre selbst , der Lehre des Anaxagoras gleichgesetzt. Gic. acad.
II 23, 72, wo es heisst, nach Anaxagoras sei der Schnee schwarz (d. h. es
seien den weissen Teilchen schwarze beigemischt, die sich zeigen, wenn der
Schnee zu dunklem Wasser schmilzt; vgl. Sext. Pyrrh. 1 33 u. oben S. 74) kann man
nur dann zum Beweise einer Abhängigkeit des Anaxagoras von Heraclit be-
nutzen, wenn man der Stelle den falschen Sinn unterschiebt, dass der Schnee
dem einen weiss, dem andern schwarz erscheine. Bei Sext. Pyrrh. II 63 ist nur
von Democrit un<l Heraclit die Mtde. Heisst es fernerbei demsell)en Sextus, Pyrrh*
7*
100 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
Gleichwohl wird Plato jene Theorie schwerlich frei erfunden
haben. Dafür entwickelt er dieselbe zu eingehend, und wenn
man die Ausdrücke, mit denen die entgegens'ehenden Materia-
listen bezeichnet werden {axkrjQoi xal dvrhvnoi ar^QWTioi 155 E)
mit Recht auf eine bestimmte Person^ den Antisthenes ^), bezieht,
so wird auch gleich darauf (15G A) bei denen, welchen jene Ge-
heimlehre zugeschrieben wird, an bestimmte Persönlichkeiten zu
denken sein. Wie sehr selbst das Einzelne des Ausdrucks auf
solche bestimmte Vertreter hinweist, hat Natorp ^) dargethan.
Nicht leicht freilich wird es sich entscheiden lassen, welche sei-
ner Zeitgenossen Plato dabei im Auge hatte. Scheiermacher^),
Dümmler ■^), Natorp ^) denken an Aristipp. Dagegen sprechen sich
A. Wendt'') und Zeller '^j aus, während Peipers ^) eine vermittelnde
Stellung einnimmt. Leider wissen wir von der Lehre Aristipp's,
hyp. I 218. cla.ss nach Protagoras alle Ao'yot in der vAi? seien, so i.st das eine höchst
schiefe Fassung des protagoreischenGedankens(über den Sinn vgl. Zeller I*, 979, 2
g. E.), die sich schon durch ihre Terminologie richtet und daher für die hi-
storische Frage nach dem Ursprung der Lehre gar nicht herangezogen werden
kann. Ebenso wenig kann ich bei Arist. metaph. XI 6, 1062 b 20 ff. (vgl. S.
67 f.), wo derselbe zwei Meinungen über den Ursprung des protagoreischen Satzes
vom Menschen als dem Maasse aller Dinge anführt, einen Hinweis auf Ana-
xagoras finden; denn der eine Grund, dass nichts aus nichts werde, i.-t allen
Physiologen gemein ; bei dem andern Grunde aber, dass das , was dem einen
süss ersdieine, dem andern Intter sei, wird an dieser Stelle Anaxagoras übei'-
haupt nicht genannt, während der Gedanke 10G3 b 28 als eine erst aus der
Lehre des Anaxagoras zu ziehende Folgerung auftritt. Einzig und allein das
ä7i6(fj&ty/ua metaph. IV 5, 1009 b 25 könnte Laas mit einigem Hechte für sich
anführen, wonach Anaxagoras zu einigen seiner Bekannten gesagt haben solle,
ort ToiaSt' avToTs i'arai tu ovtu ota av v7io/.üßü>an\ Allein die Art, in welcher
der Ausspruch von Aristoteles eingeführt wird, beweist unzweifelhaft, dass der-
selbe in der Sclirift des Anaxagoras niclit enthalten war und in seinem Sy-
steme keine Rolle spielte, wie denn überhaupt auf ein solches ausserhalb alles
Zusammenhanges stehendes Wort wenig zu geben sein düifte.
^) Mit Unrecht dachten Schleiermacher, Peipers und andere an Üemocrit.
2) Forschungen S. 23 fl".
^) Einleitung zu seiner Übersetzung S. 127.
■*) Antisthenica S. 57 f.
^) Forschungen S. 25.
") De philosophia Gyrenaica, Abhandlungen der Göttinger Ges. d. Wiss.
1832—37, vol. VIII, S. 157-165.
') A. a. 0. IP a, 301, 4.
^) Untersuchungen über das System Plato's. 1. Theil: Die Erkenntniss-
theorie Plato's. Leipzig 1874. S. 268 ff.
Protagoras u. d. Protagoreer des platoii. Theaetet. 101
soweit sie hier in betracht kommt, mit Sicherheit nichts. Denn ob
wir das, was Sextus ^) von den Gyrenaikern anführt, schon dem
Aristipp zuschreiben dürfen, lässt sich nicht ausmachen. Zudem
fehlt, was das Wichtigste ist, in diesem Bericht des Sextus jede
Beziehung auf die herachtische Lehre, auf die es hier doch gerade
ankommt. Wir werden uns daher beim Mangel aller auch nur
einigermaassen sicherer Data mit dem Nichtwissen begnügen
müssen und darum die Vertreter der von Plato angeführten
Ansicht lieber schlechtweg als Protagoreer bezeichnen.
Diesen Protagoreern nun legt Plato einen extremen Heracli-
tismus bei. Als das Princip ihrer Lehre, durch welches auch
ihre Theorie der Erkenntnis gestützt wird, bezeichnet er den
Satz: ;,Das All war Bewegung_, und daneben nichts Anderes" 2).
Es werden dann zwei Arten der Bewegung unterschieden, eine
active und eine passive^ Thun und Leiden (L56 A). Durch das
Zusammentreffen beider Bewegungsarten entstehen paarweis
zusammengehörige Producte : das Wahrgenommene (atö^ryTÖr) und
die Wahrnehmung (aiod-rjoig)^). So in gegenseitiger Beziehung
') Sext. adv. math. VII 191—200.
'*) Theaet. 156 A: dgxv '^*'> *'f ■■?? ^''' ^ *''^v '^v e^-i'youev (vgl. 153 D ff.) jtdvTa
TJgTriTai, ijii'e avTwv, lög t6 näv xivrfOtg tjV y.ui a/.}.o TtaQO. roiTo orfffV.
') Üie ai'a9r,aig entspricht dem näayov, das ala&rjov dem noiovv, wie von
selbst klar und 159 D unzweideutig ausgesprochen ist. Auch 182 A ist die
Gleichstellung von noiovv. m\A noiöv (=^ ata&rjTÖv) sicher, und wenn an derselben
Stelle auch das näayov dem ala&i,t6v gleichgesetzt wird, so dürfte statt des letzteren
Wortes das von Heindorf vermutete aia&av6iJ.erov In den Text aufzunehmen sein. —
Natürlich sind die Begriffe noiovv und näayov ihrem Umfange nach weiter als
die Begriffe aia&rj6r und ai'ad^r^ais, wie Zeller 1*, 980, 1 und Peipers a. a. 0.
S. 287 f. gegen Schanz, Beiträge zur vorsokratischen Philosophie aus Piaton,
1. Heft: die Sophisten (Göttingen 1807) S. 72, ausführen. Mit Recht beruft
sich Zeller dafür auch auf die Bemerkung 1.57 A, dass das Gleiche, was im
Verhältnis zu dem einen ein Wii'kendes ist, zu anderem sich leidend verhalte.
Peipers , in der Sache mit Zeller einverstanden , sucht die Beweiskraft dieses
Argumentes zu entkräften, indem er an den besonderen Fall gedacht wissen
will, wo das auf anderes Wirkende selbst ein Sinnesorgan ist, z. B. ein Aug»,
welches passiv ist, insoweit es von einem Gegenstande zum Sehen gebracht
wird, und auch wieder activ, insofern es in dem Auge eines Gegenüberstehen-
den eine Gesichtsempfindung erregt. Allein wenn Plato diesen speciellen Fall
gemeint hätte, so würde er jedenfalls gesagt haben, dass das Leidende eventuell
auch ein Wirkendes sei, nicht aber, wie wir bei ihm lesen, dass das Wirkende
eventuell auch ein Leidendes sei. Denn das Sinnesorgan wird doch zunächst als ein
vom Objecte leidendes vorgestellt wei'den, nicht aber als ein thätiges, welches
selbst ein anderes Auge zur Wahrnehmung bringt. Dass übrigens Plato auf
102 Erster Abschnitt. Vorsociatiker.
Blick lind Farbe, Hören und Ton u. s. w. (15() A— C). Aber nur,
wenn solche Bewegungen zusainmenstossen, die sich entsprechen i),
erfolgen jene Vorgänge, die z. ß. als Sehen das Auge, als Weisse den
Gegenstand erfüllen, und so das Auge zu einem sehenden, den
Gegenstand zu etwas Weissem machen (loü D— E). Darum giebt
es nichts an sich Seiendes (aiho xad^ avrö 15G E), vielmehr ist
alles oder besser wird alles bloss relativ, nur im Zusammen-
treffen verschiedener Bewegungen. Selbst ob eine Bewegung activ
oder passiv sei, wird nur durch dieses gegenseitige Verhältnis
bestimmt 2). Eine Bewegung, die activ ist im Verhältniss zu dieser,
fet im Verhältnis zu jener passiv (157 A). Von einem Sein darf
durchaus nicht gesprochen werden; selbst die Ausdrücke „dieses"
oder „jenes" wären, wenn das möglich, zu vermeiden, da sie noch
immer etwas Bleibendes ausdrücken (157 B). In Wahrheit kommt
nichts je zum Stehen, weder ein Teil, noch ein Ganzes, wie
Mensch, Stein, Tier u. s. w., da ein solches Ganzes ja nur ein
Gonglomerat von vielen Teilen ist (157 B— G) ^).
Grosse Schwierigkeiten bereitet hier der erste Satz, welchen
Plato als das Princip der ganzen Lehre betrachtet, und welcher
zugleich für die Vorstellung, die jene Männer von der Materie
hatten, das Wesentlichste ist: „Das All war Bewegung und da-
neben nichts anderes" ^).
Nicht eben wichtig ist die Controverse, welche sich hier an
die Bedeutung des von Plato gewählten Imperfectums knüpft'^).
ein anderes Thun und Leiden, als die Bewegungen des alaOrjuv und der
cd'ij&iiai^-, nicht zu sprechen kommt, erklärt sich einfach daraus, dass ihm jene
ganze Bewegungstlieorie nur soweit in betracht kommt, als sie zur (irundlage
der protagoreisciien Ei'kenninistbeorie benutzt werden kann.
^) Theaet. 156D: tndi'idv oiv oiu/na xai aXko Ti Tüiv TO'VTU) ^v ,u fi£T Q MV nXrj-
aidoav '/tw^arj rrjV XevxÖTrjiä te xul ai'a&r,atv avTjj ^v/jnfvtov.
^) Theaet. 156 E: vTioXrimeov, avrd jufv y.ad-' avio /X'>j(ffv rn-ai . . ., iv (fi rjj
TiQos rifJ.i/Xa öfiiXia nccvra ylyvio&ai xal navTota dno tiji xivrjaeog.
s) Zur Deutung der Stelle vgl. Siebeck, Gesch. d. Psychol., Ia,S. !275. Anm.24.
^) Theaet. 15G A: tn nav xlviiaig ijv xal aXXo naQu tovto ovf^fv. Die unna-
tüiliche Gonstruction des Satzes bei A. J. Vitringa, Disquisitio de Protagorae
vita et philosophia, Groningae [1852J, S. 82 ff, welcher t6 nSv als Adverbium
= TÖ napdnav, xivi]ai? a's Subject Und v' als Existentialverbum fasst, ist von
Peipers a. a. 0. S. 281 f. genügend widerlegt.
^) „Das All Avar Bewegung" {r6 nav xlvr,aie ^v), ist die Lehre der Prota-
goreer. Jetzt nicht mehr? fragen wir. Zeigt doch die folgende Auseinander-
Die I'rotagoreer des Tlieaetel. Keine subslratlose Bewegung. 103
Eine andere Controverse dagegen ist von sachlichem In-
teresse. Wenn nach jenen Protagoreern das All nur Bewegung
war und daneben nichts, so wird damit, wie es scheint, eine sub-
stratlose Bewegung gelehrt. Vertauschen wir den Begriff der
Bewegung mit dem der Kraft, welch letzteren ja die neuere Zeit
zumeist auf den ersteren zuri^ickführt , so würden wir also
in jenen Protagoreern die ersten Vertreter derjenigen An-
sicht von der Materie fmden, welche wir als Dynamismus be-
zeichnen. Vertreten wird eine solche Auffassung der Theaetet-
setzung (z. B. 157 A— B) deutlich genug, dass auch für die spätere Zeil jede
Ruhe verbannt bleiben soll. Stallbaum (in seiner Ausgabe), Schanz (a. a. 0.
S. 70) und Sattig [Zeitschrift für Philosophie und philos. Kritik, Bd. 86, 1885,
S. 286) haben deshalb an ein didactisches Imperfectum gedacht, eine Erklärung,
die von Herrn. Schmidt (Jahrb. f. Philol. u. Päd Bd. 107, 1873, S. 209) und Peipers
(a. a. 0. S. 279 f.) aus grammatischen Gründen als unzuläs.sig zurückgewiesen
wird. Vitringa (a. a. 0. S. 83) dagegen hält an dem eigentlichen Imperfectum
fest; aber Plato solle dasselbe gebrauchen, nicht als ob nicht auch jetzt noch
alles in Bewegung sei, sondern weil hier nicht, wie im Voraufgehenden, der
jetzige Zustand der Dinge in Frage stehe, vielmehr das Princip und der Ur-
sprung, aus dem alles geflossen sei. Er erinnert dabei an den Anfang der
Schrift des Protagoras: 6,uov yQrjfiaTa nävTa i,v. Auch diese Auffassung be-
kämpft Peipers (S. 280 f.). Wenn der im ersten Satz beschriebene Zustand
der Dinge nach Protagoras nicht, wie bei Anaxagoras, ein plötzlich abgeschlos-
sener, von einem neuen verdrängter sein solle, sondern vielmehr ein auch in
alle Zukunft hinaus andauernder, so sei es undenkbar, dass Plato, wie um
den Leser irre zu führen, zuerst im Sinne des Anaxagoras sage: es war alles
Bewegung, wobei jeder hinzudenke: und ist es nicht mehr, und erst später
durch die Anwendung von präsentischen Verben {yiyvrrai, xivsZrai u. s. w.) die-
sen Zustand als noch fortdauernd bezeichne. Peipers stimmt daher der auch
von Campbell in seiner Theaetetausgabe (2. ed., Oxford 1883) acceptierten Er-
klärung Zeller's (P, 978, 1) bei , welcher in dem Imperfectum den Sinn findet,
alles sei seinem Wesen nach Bewegung, eine Bedeutung, die das Imperfec-
tum auch in dem aristotelischen rd rl |v elvM habe.
Aber eins, und zwar das Entscheidende, hat Peipers dabei übersehen. Wenn
Anaxagoras seine Schrift mit dem Satze beginnt: „Alles war zugleich", so will er
damit keineswegs, wie Peipers annimmt, einen plötzhch abgeschlossenen und von
einem neuen verdrängten Zustand der Dinge bezeichnen. Vielmehr heisst es
ausdrücklich in Fr. 16 der anaxagoreischen Schrift (citiert S. 76 Anm. 3), wie
im Anfange, so sei auch jetzt noch alles zugleich. So wenig also das Imper-
fectum am Anfange der anaxagoreischen Schrift ausschliesst , dass der gleiche
Zustand auch später noch fortbestand, ebensowenig ist dieses bei dem Satze
der Fall, welchen Plato dem Protagoras beilegt. Ja, man kann die Ähnlichkeit
zwischen beiden noch weiter durchführen. Das Imperfectum |v zu Eingang der
104 Erster Abschnitt. Vorsoccatiker.
stelle durch Frei'), U. Weber ''^), V^itringa^), Peipers^), Siebeck •'^),
während Zeller^), H. Schmidt'), Sättigt) u. a. in derselben nicht
eine Bewegung ohne Bewegtes^ eine reine Bewegung, finden,
sondern nur eine solche, deren Subject sich beständig ändert.
Eine Entscheidung ist hier schwer zu treffen, da sich sowohl
für die eine wie für die andere Ansicht verschiedene Indicien,
für keine aber durchschlagende Gründe anführen lassen.
Schrift des Anaxagoras nämlich ist deshalb gesetzt, weil liier der Zustand im
Anfange der Entwickelung geschildert werden soll, die innige Mischung aller
Dinge, derentwegen alles in allem war. Dieser Zustand ist auch bei der Wei-
terentwickelung geblieben; aber neben, oder besser gesagt in ihm, hat sich
zugleich ein Neues gebildet: die Einzeldinge, für welche zwar noch immer das
öftnv nüvia gilt, aber doch so, dass unter diesen zusammenseienden Stoffen ei-
ner vorwiegt und die Benennung des Gegenstandes bestimmt. Das blosse
ndvitt ufiuv war (Fr. 1); auch jetzt noch ist es (Fr. 16), aber in modificierter
Gestalt. Ganz ähnlich der platonische Bericht über die Lehre der Protagoreer.
Ursprünglich war alles nur Bewegung und nichts anderes daneben. Auch in
in der Weiterentwickelung bleibt alles noch Bewegung; aber es entwickelt sich
nunmehr durch das Zusammentreffen jener ursprünglichen BeAvegungen eine
neue Glasse bei Plato 156 A als i'xyova bezeichneter Bewegungen, welche nicht
mehr bloss Bewegungen sind und nichts anderes daneben {y.ivrjais xal üXXo 7ia(iä
TovTo or'fftV) , sondern Bewegungen besonderer Art , nämlich die Bewegungen
der ata&rjrä und der aia&rjaiii, die Wahrnehmungen und die nur in der Wahr-
nehmung existierenden Qualitäten. Es liegt also keinerlei Widerspruch darin,
wenn wir, sowohl bei Anaxagoras wie bei den Protagoreern, das yv als eigent-
liches Imperfectum fassen und gleichwohl daran festhalten, dass auch später
alles, wie bei jenem „zusammen", so bei diesen „Bewegung" sei.
Natürlich braucht trotz dieser Ähnlichkeiten zwischen Plato's Darstel-
lung der protagoreischen Lehre und zwischen der Schrift des Anaxagoras die
von Laas u. a. behauptete (s. S. 99 Anm. 2) inhaltliche Abhän-
gigkeit nicht zu bestehen. Jene Ähnlichkeiten sind vielmehr rein formaler
Natur. Sie beziehen sich nur auf Anordnung und Ausdruck der einzelnen Ge-
danken, ganz abgesehen davon , dass sich nicht ausmachen lässt , in wieweit
selbst diese Ähnlichkeiten auf Rechnung von Plato's Darstellung zu setzen sind.
*) Jos. Frei, Quaestiones Protagoreae. Bonnae 1845. S. 79.
^) 0. Weber, Quaestiones Protagoreae. Marb. 1850. S. 23 ff.
3) A. a. 0. S. 83 ff.
*) A. a. 0. S. 282.
*) H. Siebeck, Gesch. d. Psychol. I a, S. 157. ^
«) A. a. 0. P, 978, 1.
') H. Schmidt, Jahrbücher für class. Philol. Bd. 111. 187.5. S. 481—483.;
Supplementband IX. 1877—78. S. 457.
«) Zeitschr. f. Philos. u. philos. Kritik Bd. 86. S. 283 ff.
Die Protagoreer des Theaetet. Keine suli.straüose Bewegung. 105
Die Gegner der reinen Bewegung verweisen auf die zahl-
reichen Stellen des platonischen Berichtes über Protagoras und
seine „Geheimlehre", resp. der Kritik dieser Lehre, an welchen
OS heisst, dass nach ihm „alles" sich bewege {nävTa xirsTa^ai,
Theaet. 156 G, 180 D, 181 G, D, E) i), eine Ausdrucksweise, bei
welcher das grammatische Subject „alles" als Entsprechung auch
ein physisches Subject der Bewegung zu verlangen scheint. Indes
macht schon Peipers ^) darauf aufmerksam, dass die Schwierigkeit,
sich die Annahme einer reinen Bewegung vorstellig zu machen,
immer dahin führen musste, sich in dieser Weise auszudrücken ;
denn falls nicht in impersonal gesetzten Verben wie s'xivsho
xirfhai LI. s. w. geredet werden sollte, waren Subjectsbezeici-
nungen wie ravta, nävta nicht zu umgehen. Der Wortlaut aller
dieser Stellen liefert daher keinen Beweis dafür, dass der Bewe-
gung ein Substrat zugelegt werde.
Ebenso wenig aber beweist der Wortlaut des Satzes : „Alles
war Bewegung und daneben nichts anderes" für das Gegenteil.
Denn hier war der substantivische Ausdruck durch den Umstand
geboten, dass die im Folgenden (156 A — B) unterschiedenen bei-
den Arten der activen und passiven Bewegung unter einer ein-
zigen Bezeichnung zusammenzufassen waren, wozu das Verbum
mit seiner unvermeidlichen Differenzierung von activer oder
passiver Form nicht wohl geeignet war. Dieser sprachliche
Zwang würde den immerhin etwas starken Ausdruck: ndvzu
xirrjOig rjv auch bei der Anahme erklärlich machen, dass an
einem unbestimmten Substrate der Bewegung festgehalten Wer-
dens solle, dessen einzige Bestimmtheit eben in seiner Bewegung
besteht.
Eine neue Stütze für die Annahme einer absoluten Bewe-
gung hat Siebeck 3) in einer Stelle des Theaetet erblickt, welche
früher durch eine im 16. Jahrhundert von Janus Cornarius ge-
machte Interpolation entstellt wurde, deren mangelnde Berech-
tigung indes schon Vögelin*) und besonders Wohlrab^) und Pei-
') Die Stellen sind gesammelt bei Zeller I*, 978, 1.
2) A. a. 0. S. 282.
ä) A. a. O. S. 157 f. 274 f.
*) In der Vorrede der Züricher Ausgabe (II), Vol. III, 1844, p. VIII ff.
*) Jahrbücher für class. Philol. Bd. 97. 1868. S. 27-36.
106 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
persi) dargothan haben, weshalb der Zusatz denn auch von den
neueren Herausgebern, Campbell 2), Wohlrab, Schanz, mit Recht
wieder getilgt ist. Plato unterscheidet dort (156 G) langsame
und schnellere Bewegungen. Was langsam ist, bleibt am selben
Orte. Es ist, wie man aus dem Folgenden (156 D— E) ersieht,
das Organ, z. B. das Auge, und das ihm gegenüberstehende
Objecl, z. B. ein 8tück Holz oder ein Stein, gemeint. Diese lang-
sameren Bewegungen nun erzeugen die schnelleren, welche we-
sentlich in der Ortsveränderung {(^oga) bestehen 3). Dieselben be-
wegen sich zwischen dem Organ und seinem Gegenstande und
constituiercn in jenem die Empfindung, in diesem die Qualität.
Für das Auge z. B. ist die betreffende schnellere Bewegung der
Blick, welcher das Auge erst zu einem sehenden macht, für den
Gegenstand die Weisse, die ihn erst zu einem Weissen macht. — Wie
die Empfindungen und die Empfindungsqualitäten, so werden auch
hier, scheint es, die „Gegenstände" selbst auf blosse, substratlose
Bewegung zurückgeführt.
Indes dürfte auch dieser Stelle keine sonderliche Beweiskraft
zukommen. Dass den Dingen, abgesehen von unserer Wahrneh-
mung und von den Bewegungsformen, durch welche sie den ein-
zelnen Organen „symmetrisch" werden (156 D), irgendwelche
feste Eigenschaften zukommen, scheint allerdings durch dieselbe
ausgeschlossen zu sein. Unzulässig ist die Vorstellung, als ob
etwa für jene Protagoreer nur die Qualitäten (im späteren Sinne)
im steten Flusse befindlich wären, die Substanzen aber in Ruhe
sich befänden*). Aber — wie auch Peipers^) einräumt — , der
unbestimmte Begriff eines Etwas, das in fortwährender Verän-
derung begriffen ist, wird nirgendwo bestritten; vielmehr scheint
derselbe durch Ausdrucksweisen, wie „alles dieses wird bewegt;
1) A. a. 0. S. 300 ff. Auch F. Michelis, Piatons Theaetet (Freiburij i. Br.
1881) S. 52 ff. erklärt sich gegen den Zusatz.
^) Schon in der ersten Ausgabe, Oxford 18öl.
^) Theaet. 156 G: ßovltrai yctg di] Ityiiv, ms ravTa 7idvta fiiv, mOntQ ?.t'/o,U(v,
y.ivfnai, rn)ro( (fe xai ^QwlvTrii e'vi Tr, >:ivr,aii axhuiv. 'üaov uev oiv ß^adv , iv tw
avTü) y.al Tigog rd n'/.Tjatd^uvta rrjv y.ivrjOiv i'ayii xai ovia) <hj yevva, r« rff ytvvitifieva
(156 A hiess es i'xyova) [ovtw (fi}] (diese Worte tilgt Peipers S. 302 Anm *), wohl
mit Recht) OäTim toxi {fiQtzai yaQ yai iv ifOQci. avTinv ij xirr^aic ne'qvxrv.
*) Vgl. Siebeck a. a. 0. S. 274.
*) A. a. O. S. 283.
Die Protagoreer des Theaetet. Keine sujjslratlose Bewegung. 107
es ist aber Schnelligkeit und Langsamkeit in den Bewegungen
desselben" '), obwohl dieselben nicht streng beweisend sind,
doch immerhin mehr empfohlen zu werden als sein Gegenteil.
Der Ausdrucks weise: „alles war Bewegung", welche allerdings
den Gedanken an eine völlig substratlose Bewegung -nahelegt , be-
dient sich zudem die platonische Darstellung nur da, wo ein
ganz besonderer Grund dazu vorlagt), während sie im übrigen
solche Constructionen anwendet, bei denen die Vorstellung eines
unbestimmten Etwas, welches sich verändert, zwar nicht not-
wendig, wohl aber natürlich ist. Aus allen diesen Gründen
werden wir kein Bedenken tragen, der von Zeller vertretenen Auf-
fassung jener Lehre beizustimmen. Auch bei dieser liegt noch eine
unleugbare Weiterentwicklung des Standpunctes Heraclit's vor;
denn bei diesem ist es ein bestimmter Stoff, welcher sich zu
allem umsetzt, nämlich das Feuer, während von jenen nur noch
die für das Denken nicht wohl zu umgehende Vorstellung eines
unbestimmten, sich stetig ändernden Etwas festgehalten wird.
Ein jeder Versuch, die Gedankengänge jener Protagoreer noch
weiter nach Maassgabe späterer Problemstellungen zu fixieren,
dürfte vergeblich sein. Müsste doch das Unternehmen, noch un-
entwickelte Gedanken ihrer Unbestimmtheit zu entkleiden , selbst
dann als unhistorisch bezeichnet werden _, wenn auch die ge-
schichtliche Überlieferung jener Gedanken nicht zu so vielen kri-
tischen Bedenken Anlass gäbe, wie es bei dem platonischen
Bericht über diese protagoreische „Geheimlehre" der Fall ist.
Es möge darum auch nicht weiter untersucht werden, ob jene
Vorstellungen die Tendenz einschlössen, sich zu der Vorstel-
lung einer wirklich substratlosen Bewegung weiterzubilden,
oder ob sie auf dem Wege zu einer qualitätslosen, aber die
Keime zu alÄm einschliessenden, fliessenden Materie lagen, wie
Sextus Empiricus^) eine solche wenig historisch in stoischer Ter-
minologie dem Protagoras zuschreibt. Genug, dass die Lehre, trotz
des extremen Sensualismus, den sie begründen soll, im Gegensatz zu
dem am JSicht- und Tastbaren haftenden Materialismus, welchem
Plato sie ausdrücklich entgegenstellt^), einen Fortgang in jener Rich-
1) Theaet. 156 C, citiert S. 106 Anm. 3.
2j S. S. 105.
3) Pyrrh. hyp. I 217—218.
*) Theaet. 155 E.
108 Erster Abschnitt. Vorsocratiker.
tung bedeutet, welche dem sinnlich Erfassbaren mehr und mehr
die objective Geltung abspricht und es so immer mehr zu einem
Nichlseienden herabdrückt, welches gegenüber den von Piaton auf-
gestellten neuen Principien kein Gegengewicht bilden kann.
b* Gorgias.
Vollendet wird diese Skepsis an der Sinnenwelt durch Gor-
gias. Der Entwickelungsgang des Mannes ist durch die
Untersuchungen von Diels ') in überraschender Weise klar-
gestellt worden. Darnach geht Gorgias aus von der Physik
seines sicilischen Landsmannes Empedocles, bei welchem auch
schon fast alle stilistischen Eigentümlichkeiten der gorgianischen
Rede vorgebildet sind. Aus dieser Denkungsart, von welcher er
in einer optischen Schrift ein Denkmal hinterlassen hatte, wird
er etwa um die Mitte des fünften Jahrhunderts durch die mäch-
tige dialectische Strömung herausgerissen, welche von der
eleatischen Schule ausgeht. Dieser Periode gehört seine Schrift
„Über die Natur oder über das Nichtseiende" an. Um den An-
fang des peloponnesischen Krieges endlich widmet er sich der
Epideiktik und der Unterweisung der Jugend in dieser rhetori-
schen Technik, nicht ohne auch damals noch, wie man aus
Plato's Meno (76 G — D) ersieht, im Unterrichte gelegentlich auf
seine alten physikalischen Probleme zurückzukommen.
Für uns kommt nur die „nihilistische Brandschrift" in be-
tracht, in welcher Gorgias die letzten Gonsequenzen des Eleatis-
mus zog. Wie wir sahen, hatte bereits Zeno mit aller Bestimmt-
heit die Realität der Ausdehnung in Abrede gestellt, also dem Ei-
nen die Körperlichkeit abgesprochen ^). Andererseits hatte er das,
was weder Grösse noch Dicke, noch Masse habe, für nichtwirk-
lich erklärt 3). Gorgias verbindet beides. Weil das Eine, wenn
es wäre^ unkörperlich sein müsste, das Unkörperhche aber nichts
ist, so existiert das Eine nicht. Aber auch das Viele nicht, da
es ja aus Einheiten zusammengesetzt sein müsste. Es existiert
also überhaupt nichts*).
^) H, Diels, Gorgias und Empedocles. Sitzungsberichte der Berliner Aka-
demie der Wissenschaften. 1884. L S. 343—368.
') S. S. 60 f — 3) s. S. 62 Anm. 2.
"*) [Arist.] de Gorgia c. % Ö79 b 36: y.ui iv intv [ovx av tfvvaa&ai ti]pa/, oti
uamnarov av tl'ij to i'v' \t6 yaQ dawfiarov, q)]'>][aiv, ovd^ev, e)^o/nev[di] ye rov tov Zij-
Gorgias. Die Materie nichts. 1Ö§
So hat sich für Gorgias das Seiende aufgelöst in ein Schei-
nendes'). Die stoffliche Welt mit ihrem materiellen Untergrunde
ist in das Nichts der Illusion versunken.
Befriedigung konnte ein solcher dürrer Nihilismus nicht ge-
währen. Wer kann entscheiden, ob sein Urheber ihn zeitweise
als innerste Überzeugung angenommen^ oder ob er in der Ver-
zweiflung am Wissen ihn nur als keckes Paradoxon seiner dispu-
tiersüchtigen, dialectisch gestimmten Zeit hingeworfen hat? Je-
denfalls hat er bald Rettung aus demselben gesucht. In der Re-
dekunst fand er das Mittel, für die Überzeugung seiner Hörer
den Schein zur Wahrheit zu erheben.
Doch das war der sophistische Ausweg. Einen anderen schlug
Plato ein. Die Sinnenwelt betrachtet auch er mit dem Auge des
Zweifelnden, der nur Wahrscheinlichkeit, keine ewige Wahrheit
auf dem steter Veränderung unterworfenen Gebiete glaubt finden
zu können. Aber dieser Welt des Scheins stellt er das wahrhafte
Sein der Ideen gegenüber, aus dem auch alles, was die diessei-
tige Welt an Sicherem und Bestimmtem einschliesst, seinen Ur-
sprung nimmt.
Indem die sophistische Skepsis den Glauben an die Sinnen-
welt, sowie überhaupt an alles , was dem naiven Realismus
zweifellos gewiss ist, untergräbt, bildet sie somit gewissermaassen
die negative Vorstufe für die neue Position des platonischen
Noumenalismus.
vo)vog löyov' ivo? ^e fxi] ovrog (ytö" av no/.Xd n'vat (mit den Ergänzungen von
H. E. Foss). Vgl. Sext. adv. math. VI! 73. Isocrat. 10, 3; 15, 268.
') Gorgias (auf die Echtheitsfrage kann hier natürlich nicht eingegangen
werden) Palam. 24: t6 yt äo^üam xoivdv ünaai tkqI ndvirnv. Vgl. Isoer. 15, "111.
Zweiter Absclinitt.
Plato. Die Materie als blosse Ausdehnung.
1. Notwendigkeit der Materie im platonischen System.
So bedeutsam die Person des So erat es in der allgemeinen
Geschichte der Philosophie dasteht, indem er der sophistischen
Verflüchtigung aller objectiven Grundlegung der Wahrheit und
Sittlichkeit gegenüber in der durch Induction gewonnenen Deti-
nition^) eine neue Grundlegung des Wissens aufstellt, so findet
doch die von ihm begründete Denkrichtung auf das Gebiet der
Naturphilosophie erst bei seinem Schüler Plato Anwendung 2). Der
Meister selbst, unbefriedigt von der Naturphilosophie auch eines
Anaxagoras 3), wendet sich fast ausschliesslich ethischen Untersu-
chungen zu^) und widmet den Reichen der Natur nur in soweit
seine Aufmerksamkeit, als die in ihnen herrschende vernünftige
Ordnung das Walten einer das Gute bezweckenden göttlichen
Vernunft darthut ■''). In dem umfassenden Systeme Plato's da-
gegen wird auch den naturphilosophischen Problemen wieder
gebührende Beachtung zuteil. Unter ihnen hebt sich zum ersten-
mal in bestimmter Formulierung ab das Problem der
Materie^).
») Arist. melaph. XIII 4, 1078 1) 28.
-) Über die übrigen Socratiker, von denen keiner für das Problem der
Materie neue Gedanken beigebracht hat, wird am Schlüsse dieses Abschnittes
kurz gehandelt werden.
3) Plat. Phaed. 97 G ff.
*) Arist. metaph. XIII 4, 1078 b 17 ff.; Gic. acad. post. 14, 15.
6) Xen. mem. I 4, 2 ff.; Plat. Phaed. 97 G ff.
^) Ausser jetzt veralteten Schriften, wie Bessarion, In calumniatoreni
Plalunis libri quatuor, Hb. II. cap. 5. Venedig, Aldus, fol. 17^' - 19*. Moshoini zu
Zweiter Abschnitt. Plato. 111
Um den Begriff der Malerie bei Plato richtig würdigen zu
kcmnen, müssen wir ihn in seinem Verhältnis zu den Grund-
principien seiner Naturphilosophie betrachten.
Die beherrschende Grundvorstellung, wie des ganzen platoni-
schen Systems, so auch seiner Naturphilosophie, ist der Gegensatz
der sichtbaren Welt und der nur im Denken zu erfassenden Welt
der Ideen.
Gudvvorth, Systeraa intellectuale huius universi. Jenae 1733, p. 944 — 950.
W. G. Tennemann, System der Platonischen Philosophie. 4 Bde. Leipzig
1792—1795. Bd. III S. 25—37 und S. 175—178, und den bekannten allgemeinen
^Verken zur Geschichte der griecliischen Philosophie handeln über die plato-
nische Lehre von der Materie: Aug. Boeckh, Über die Bildung der
Weltseele im Timaeos des Piaton, in: Studien, hrsg. von G. Daub und
Fr. Creuzer. Bd. III. Heidelberg 1807; wiederabgedruckt in: Gesammelte
kleine Schriften III S. 109—180 (ich citiei'e nach der im Abdruck am
Rande angegebenen Original-Paginierung). Christ. Aug. Brand is, De perdilis
Aristotelis libris de ideis et de bono sive philosophia. Bonnae 1823, p. 21 — 43.
J. R. Lichtenstädt, Platon's Leliren auf dem Gebiete der Naturforschung und
der Heilkunde. Leipzig 1826. S. 54 — 58. Fr. W. Trendelenburg, Piatonis de
ideis et numeris doctrina. Lipsiae 1826. p. 48 sqq. Ast, Über die Materie im
platonischen Timaeos. Abhaudl. der Müncliener Akad. d. Wiss., philos.-philol.
Classe. Bd. 1. 1835. S. 43 — 54. Herrn. Bonitz, Disputationes Platonicae duae.
Programm des Vitzthum'schen Gymnasiums. Dresden 1837. S. 65 — 66. Godofr.
St all ha um, Piatonis opera omnia. "Vol. VII continens Timaeum et Critiam-
Gothae et Erfordiae 1838. Prolegomena cap. V (besonders S. 43 — 46) und zu
pag. 49 A (S. 205 ff.). Ders. Piatonis Parnieuides. Lipsiae 1839. S. 115 ff. 133
ff. Ed. Zeller, Platonische Studien. Tübingen 1839. S. 216—225. 248—257.
Th. Henri Martin, Etudes sur le Timee de Piaton. Paris 1841. Bd. I. p.
16—19. 174—175. 176—178. Bd. IL p. 180—189. J. S. Könitzer, Über
Verhältniss, Form und Wesen der Elementarkörper nach Piatons Timaios.
Gymn.-Progr. Neu-Ruppin 1846 (bes. S. 24—29). Francisc. Ebben, De Piatonis
idearum doctrina. Bonnae 1849. S. 28 — 58: De infinitio seu materia. G. Bode,
Materia qualem apud Platonem habeat vim atque naturam. Gymn.-Progr.
Neu-Ruppin 1853. F. Überweg, Über die platonische Weltseele. Rhein. Mus.
f. Phil. IX. 1853. S. 37— 84 (bes. S. 58 ff.). Franz SusemihI, Die genetische Ent-
Avickelung der Platonischen Philosophie. Bd. 11,2. Hälfte. Leipzig 1860. S. 404 — 412.
Sigurd Ribbing, Genetische Darstellung der Platonischen Ideenlehre. Bd. I.
Leipzig 1863. S.' 333— 335. P. Wohlstein, Materie und Weltseele in dem
platonischen Systeme. Marburg 1863. S. 1 — 21. Felix Bobertag, De materia
platonica quam fere vocant meletemata. Vratislaviae 1864. George Grote,
Plato and the other companions of Sokrates. London 1865. Vol. III p.
266 — 268. Gumlich, Beiträge zur Würdigung und zum Verständniss des Pla-
tonischen Timäus. Berlin 1869. S. 10 — 13. Alfred Fouillee, La philosophie
de Piaton. Exposition, histoire et critique de la theorie des idees. Paris 1869.
112 Zweiter Abschnitt. Platö.
Nur die Idee ist ein wahrhaft Seiendes, ein ovtok ov^). eine
ot'Oicc 2) ; nur sie besitzt ein sich stets gl eich verhaltendes, unver-
änderliches, ewiges Sein 3), und nur sie bildet darum den Gegen-
stand des Wissens *). Tief unter diesem unveränderlich Seienden,
dem Gebiete des Werdens Entnommenen, steht das immer
Werdende, niemals Seiende ■'^), dem Werden und Vergehen Unter-
worfene '^), welches, zwischen dem Sein und dem Nichtsein in der
Mitte befindlich^), sowohl am Sein wie am Nichtsein teilhat «)
und daher auch nur durch die zwischen Wissen und Nichtwissen
in der Mitte stehende Meinung erkennbar ist ^) ; denn was nicht
ist, sondern wird, entbehrt der innern Festigkeit (ß^ßatörrjc),
ohne welche nichts Gegenstand der Vernunfterkenntnis sein
kann'o). Das sinnliche Ding zeigt die Bestimmung nicht rein,
sondern gemischt mit dem Gegenteil. Was schön, was gleich,
was gross ist in der einen Beziehung, ist hässlich oder ungleich
oder klein in der andern^'), schlägt also zugleich um in sein Ge-
Bd. I, S. 551 — 553. Gustav Schneider, Das materielle Princip der Platonischen
Metaphysik. Gymn.-Progr. Gera 1872; in erweiterter Gestalt wieder abgedruckt
in : Die Platonische Metaphysik auf Grund der im Philebus gegebenen Princi-
pien in ihren wesentlichen Zügen dargestellt. Leipzig 1884. S. l — 44. Herm.
Siebeck, Untersuchungen zur Philosophie der Griechen. Halle 1873. S. 64 — 13G:
Plato's Lehre von der Materie. Gustav Teichmüller, Studien zur Geschichte
der Begrifife. Berlin 1874. S. 302—339. David Peipers, Ontologia Platonica.
Ad notionum terminorumque historiam symbola. Lipsiae 1883. p. 443. Jacob
Bassfreund, Über das zweite Princip des Sinnlichen oder die Materie bei
Plato. Breslau 1885. M. Sartorius, Die Reahtät der Materie bei Plato.
Philos. Monatshefte. Bd. XXIII, 188G. S. 129—167. Anderes wird gelegentlicli
angeführt werden.
') Phaedr. 247 E; rep. X, 597 D.
'') Cratyl. 386 D f.; Phaed. 78 D; 79 A; Parm. 135 A; Tim. 37 E.
3) Tim. 27 D; 38 A; Phaed. 78 D.
*) Phaedr. 247 G, rep. V, 477 B; 478 G; 479 E; Cratyl. 440 A—D; Phaed.
79 A; Tim. 51 D; Parm. 135 B— G; Phileb. 58 A; 59 A— G.
^J Tim. 27 D.
8) rep. VI, 508 D.
'J rep. V, 479 G.
") rep. V, 478 E.
"j rep. V, 478 G; 479 E; Tim. 51 D.
'») Phileb. 59 A— B; vgl. Soph. 249 B.
«') rep. V. 479 A; VII, 524 G.
NotwendiLtkeit der Materie im platonischen System. 113
genteil *). Ferner behält kein Ding eine bestimmte Eigenschaft
auf ewige Dauer; im Verlaufe der Zeit wird es zu entgegen-
gesetzten Bestimmungen übergehen '^). Das .Sinnliche, weil es
nicht unveränderlich ein Schönes, Gleiches, Grosses ist, kann also
den Innern Grund für jene Bestimmungen nicht in sich selbst
tragen; denn hätte es ihn in sich selbst, so würde die Bestim-
mung ihm auch unabänderlich zukommen. Es ist kein Schönes,
Gleiches, Grosses u. s. w. aus sich (x«.y ai'iö), sondern setzt
ein solches aus sich Schönes, Gleiches, Grosses, mit andern Wor-
ten die Idee des Schönen, Gleichen, Grossen, als seinen letzten
Grund voraus. Nur der Idee mithin kommt das ihr eigentüm-
liche Sein an und für sich zu; das Sinnfällige dagegen besitzt
die ihm zustehenden Bestimmungen nur durch Teilnahme^) an
den Ideen. Diese Teilnahme aber besteht dann^ dass das wer-
dende und vergehende Sinnfällige die Nachahmung, das Abbild
der Idee, die ewig seiende Idee das Muster und Urbild des Sinn-
fähigen darstellt. Das Sinnfällige ist nur vorübergehende Er-
scheinung (ein (favTaCöfisvov), Wiederschein des wahrhaft Seienden *\
Aber worin soll dieser Schein sich zeigen? Welches ist, um ^i&'^iZ'-
ein treffendes neuplatonisches ^) Bild zu gebrauchen, der Spiegel
zum Auffangen jener Bilder? Eine mehr subjectivistisch ge-
richtete Zeit würde hier vermutlich auf das erkennende Subject
selbst verweisen, in dessen unvollkommener Anschauung das ein-
heitlich Seiende nur gebrochen und mit einem trüglichen Schein
der Einbildung überzogen sich darstelle. Dem Realismus des
alten Hellenen ist ein solcher Ausweg fremd. Ihm kann der Ort
der Nachbilder, der dieselben auffangende Spiegel, nur ein ob-
jectiv Gegebenes sein. So ergiebt sich für Plato die Not-
wendigkeit eines zweiten Principes neben den Ideen für die Er-
klärung der Weltbildung. Es ist dasjenige Element der Wirklich-
') rep. VII, 523 B. — ') Phaed. 78 E; 103 B.
^) Tim. 48 E (bis jetzt haben wir zwei Gattungen des Seienden unter-
schieden:) iv fiiv löi nagad'ft'yiuaTOi tafos •v7ioTf-&e'v, voijzov xnl dfi xaia larrd ov,
uifiijfjia öl TtaQa^eiynaTog thvTfQov, ye'viaiv i'^ov xal ogaröv. Pai'm. 132 D (es
scheint sich so zu verhalten:) r« !.iev euhj rarra mansQ TTaQwhiyßaTa earärai iv
rfj (f'i'afi, rci (fe u).Xa Tovroig ioixevoLi xcü ti'vfti ö/notin/nuTu' xal •>/ ni&t^ii «rr/^ toT(
olXXots ytyvia&ai rdiv eidmv ovx aX?.// Tic: ?/ fi'xaa&TJrai avTOi's.
*) Tim. 49 E; 50 G. — ^) Plotin. enn. III 6, cap. 7. 9. 13. 14, p. 229, 9.
230, 15. -'36, 16. 227, 4 Müller.
Baeumker: Das Problem der Materie etc. 8
114 Zweiter Aljschnitt. Plato.
keit, welches er im Timaeus als das allgemeine Receptaculmn,
als Mutter und Pflegerin alles Werdenden bezeichnet, und wel-
ches wir nach dem Vorgange des Aristoteles mit einem aristote-
lischen, für Plato freilich nicht völlig zutreffenden Ausdrucke die
platonische Materie zu nennen gewöhnt sind i).
Um aber die idealen Urbilder in der Materie zum abbild-
lichen Ausdruck zu bringen, bedarf es einer bewegenden Kraft
^n oder neben den Ideen. Wo Plato populär spricht — wie es
um seine philosophische Lehrmeinung steht, mag hier dahinge-
stellt bleiben — bezeichnet er dieselbe als Gottheit. Daher die
im Altertum herkömmliche Fixierung seiner Principien auf diese
drei: Gott, die Ideen, die Materie 2),
Die einzige Stelle, an der Plato seine auf das Problem der
Materie bezüglichen Ansichten eingehender und im Zusammen-
hange entwickelt, findet sich im Timaeus. Erst in zweiter Linie
kommen bestimmte Ausführungen des Philebus in betracht.
Dieselben leiten zu der Form der Lehre über, welche Plato in
seinen mündlichen Vorträgen entwickelte, und für die in den ari-
stotelischen Berichten das älteste Zeugnis vorliegt. Sach-
lich wertvoll ist vor allem die im Timaeus dargestellte Lehre.
*) Dass der Name r/.»/ dem Plato fremd, hebt Chalcid. in Tim. c. 308 mit
Recht hervor. Der Ausdruck findet seine volle Erklärung als technischer Ter-
minus in der That erst aus dem aristotelischen Begriffe der Materie, als des
Gestaltbaren, Potenziellen. Für diesen allgemeinen Begriff des Gestaltbaren
bietet die Vorstellung des „Arbeitsmateriales", welche Bedeutung das Wort vh,
schon bei Plato hat (Phileb. 54 B; vgl. Tim. 69 A), ein passendes Bild; nicht
in gleichem Maasse für den platonischen Begritf von der Materie als dem A u f-
nehm enden. Wenn bei dem angeblichen Locrer Timaeus das Wort v).a des
öftern im technischen Sinne gebraucht wird (93 B; 94 A. B. G; 97 E), so giebt
dieser Umstand nur einen Beweis mehr ab für die Unechtheit der Schrift. Im
übrigen vgl. Zeller II' a, 6Ü5, 1.
*) Alexander Aphr. bei Simphc. phys. I. p. 43, 4—7 ; Plut. plac. I 3, l21 (Diels,
Doxogr. p. 287); Stob. eccl. I, p. 308; Justin, coh. adGraec. c.6, p. 7B; Theodoret.
Graecar. affect. curat. IV 11; Irenaeus adv. haer. 1118,3 Harveyll 14, 3 Massuet;
Cyrillus cont. Jul. imp. II, p. 48B Aubert (tom. VI, Paris, 1638); Hippolyt. refut.
I 19, 1; Epiphan. de haer. prooem. Vol. I, p. ^75, SDindorf; ibid. 1. III c. 8. Vol.
III, p. 565, 4 Dind.; anacephal. I, p. 234, 12 Dind.; Ambros. hexaem. 11,1; Joanu.
Damasc. de haeres. c. 6, p. 77 Lequien (I, 684 Migne); Chalcid. in Tim. c. 307
(ed. Wrobel). Dagegen führt Achilles (Tatius), isagoge in Arati phaenomena
c. 3 (bei Petavius, Uranologion, Paris. 1630, p. 125 B), als die drei Principien
an: Gott, die Materie, das dem Werden und Vergehen Unterworfene.
Darstellung des Timaeus. Vernunft und Notivcudigkeit. 115
Zugleich ist sie historisch die bedeutsamere. Hauptsächlich an
sie knüpft Aristoteles an und durch Vermittlung des letzteren
auch die Stoiker. Die alte Academie dagegen übernimmt die ab-
strusere Lehre des greisen Plato, kann ihr aber nur geringe Nach-
wirkung verleihen. Erst der neupythagoreische und neuplatonische
Syncretismus hat auch diese Elemente wieder hervorgezogen.
2. Die Darstellung des Timaeus.
Um eine sichere Grundlage für die Entscheidung der man-
nigfachen Streitfragen zu gewinnen, welche über die Natur der
platonischen Materie bestehen, haben wir zunächst den Ge-
dankengang des betreffenden Timaeusabschnittes einer Analyse
zu unterziehen.
Der Timaeus zerfällt in drei Hauptabschnitte. Nach ei-
ner voraufgeschickten Einleitung (p. 17 — 27 B) behandelt der
erste Abschnitt die Werke der Vernunft (27 G-47 E), der
zweite die Werke der Notwendigkeit (47 E — 69 A), der dritte
diejenigen Werke, bei denen sowohl der Vernunft wie der Not-
wendigkeit ein Anteil zukommt (69 A — 92 B).
Der vernünftige Gharacter der Welt ist darin begründet,
dass sie das stets werdende Abbild des immer seienden Vernunft-
reiches der Ideen darstellt. Der Timaeus leitet darum die Dar-
stellung der Naturphilosophie ein durch die Unterscheidung einer
zweifachen Gattung (27 D). Die erste ist das immer Seiende,
dem Werden Entnommene (rö öv a«, ysvsoiv Sk ovx k'xov), d. h.
die Ideen, die zweite das immer Werdende, niemals Seiende,
(ro yiyvöfxsvov (xkv dei\ ov öh ovöänore) d. h. die sinnlich wahrnehm-
bare Welt. Sind beide Gattungen auch von einander verschieden, so
sind sie doch nicht ohne Beziehung zu einander. Das Seiende ist
vielmehr Urbild des Werdenden , das Werdende Nachbildung des
Seienden (28 A). Die Ordnung der sichtbaren Welt aber nach dem
Vorbilde der Ideen ist das Werk der göttlichen Vernunft').
') Es ist dies der von Socrates aufgenommene Gedanke des Anaxagoras,
vgl. Plat.leg. XII, 967 B; Arist. met. 13, 984b 15—19; 14, 985u 1 8 ff. — Xenoph. me-
mor. I 4, i ff. Plat. Phaed. 97 G ff. — Was Plato (Phaed. 98 B ff 8.) in Übereinstim-
mung mit Arist. metaph. I 4, 985 a 18 — !2l ; phys. II 8, 198 b 16 an Anaxago-
ras tadelt, ist nur die mangelhafte Durchführung der Teleologie von selten des-
selben , an deren Stelle, sobald es sich um Erklärung des Einzelnen handele,
die mechanische Gausalität trete. Dass dies der Grund des Tadels, sieht man
ft ♦
in; Zweiter Abschnitt. Plato.
Indem sich Plato nun anschickt, zu erzählen, in welcher
Weise diese Ordnung des Weltalls vor sich gegangen, bestimmt
er zunächst (29 B — G) den wissenschaftlichen Gharacter, welchen
eine solche Darstellung seiner Überzeugung nach nur haben könne.
Dieser Gharacter, hebt er hervor, ist bedingt durch den Gegen-
stand der Darstellung, Nur von dem unveränderlich Seienden,
der Vernunfterkenntnis Zugänglichen, kann die Wissenschaft eine
sichere, jede Einrede abschneidende Rechenschaft geben; bei dem-
jenigen dagegen, was nur ein Bild jenes unveränderlichen Seien-
den darstellt, ist eine solche feste Bestimmung unmöglich. Hier
findet nur ein Glauben {rtimtg) statt ; denn wie das Werden zum
Sein, so verhält sich das Glauben zur Wahrheit ^). Wir müssen
uns bei einem solchen OlDJect mit wahrscheinlichen Reden
{dxÖTsg Xöyoi) begnügen und selbst dann zufrieden sein, wenn
es uns nicht gelingen will, stets die volle Übereinstimmung in
unsern Reden zu wahren 2). — Deutlicher als namentlich durch
die letzte Bestimmung konnte Plato in der That kaum zu ver-
stehen geben, dass die folgende Erzählung von der Weltbildung
nicht in allem dogmatisch zu nehmen sei, sondern dass sie viel-
fach in mythischer Hülle das für die Phantasie vorstellbar zu
machen suche, wovon eine streng begriffliche, ausschliesslich auf
Vernunftgründe gestützte Ableitung aus den eigentlich wissen-
schaftlichen Grundlagen seines Systemes geben zu können er für
unmöglich hielt.
Diese „wahrscheinliche Rede" hebt nun damit an, dass er-
zählt wird, wie der Bildner des Alls eine sichtbare, in regelloser
Bewegung befindliche Masse vorfindet, die er dann, getrieben von
seiner Güte, aus der Unordnung zur Ordnung führt (30 A). Es
ist die sogenannte „secundäre Materie", deren Besprechung
besonders deutlich an denn Phaed. 98 C — D gevvälalten Beispiel, durch welches
Socrates das Ungenügende in der Schrift des Anaxagoras klar zu machen sucht.
Mit Unrecht bezieht Sartorius a. a. 0. S. 183 den Tadel auf die Homoeonie-
rienlehre, an der Plato die Starrheit der Elementarteilchen auszusetzen gehabt
habe.
*) Tim. 29 G: o ri mg 7i(i6g yevifiiv ovala, tovto 7i()6g niartv dXrj&sia.
) Tim. 29 G: idv oiv . . . fxy) (fvvccTol yr/vwjue&a Tidviji TidvTrog ai'rovi eav-
tu?i uuuXoyucfxivoi'i ).6ynvi xal (i7iTjX()ißwjuevoi'C änoti'ovvai, jutj ^Kifiäarjc:. Über den
Sinn des Ausdrucks elxörn- Xöyoi, der durch die Übersetzung „wahrscheinliche
Reden" nur sehr inadäquat wiedergegeben wird, vgl. Susemihl II, 320 f.
Darstellung- des Tiiaaeus. Vernunft und Notwendigkeit. 117
einem spätem Orte aufbewahrt bleiben soll. Die einzelnen Stu-
fen, in welchen Plato jene Ordnung der Welt sicli vollziehen
lässt, und in deren Mittelpunct die Einführung mathematischer
Ordnung durch die Weltseele steht (34 B flf.), brauchen hier nicht
weiter verfolgt zu werden, da Bestimmungen über die Natur des
körperlich Seienden in ihnen nicht gegeben werden.
Der Vernunft, deren Werk der erste Abschnitt geschildert,
setzt der zweite Abschnitt die Notwendigkeit (dvdyxrj) zur
Seite (47 E). Denn die Entstehung der Welt ist nicht das aus-
schliessliche Werk der Vernunft, sondern ist bedingt durch das
Zusammentreten von Vernunft und Notwendigkeit. Nur dadurch,
dass die Vernunft über die Notwendigkeit siegte, indem sie die-
selbe überredete, von dem Werdenden das Meiste zum Besten zu
führen, wurde das All. Es ist also, soll anders die Darstellung
vom Werden der Welt eine vollständige sein, auch über diese
„umhersch^veifende Ursache" (rd rr^g Tr^avco/^isrrjg sidog ahiag) zu
sprechen (48 A). Der Ausdruck „umherschweifende Ursache"
weist uns auf den Beginn des ersten Abschnittes zurück. Dort
(30 A) war eine regellos bewegte sichtbare Masse als Stoff der
Weltbildung vorausgesetzt, die der Ordner des Alls vorfindet,
ohne dass nach den Gründen derselben weiter gefragt wäre^).
Jetzt aber soll die Untersuchung wieder zum Anfang zurück-
kehren und erwägen , wie vor der Entstehung des Kosmos die
Naturen von Feuer, Wasser, Luft und Erde wurden. Denn sehr
mit Unrecht betrachte man — die Naturphilosophen sind ge-
meint — Feuer, Wasser, Luft und Erde als die Elemente der
Weltbildung, ohne weiter nach ihrer Herkunft zu forschen, da die-
selben doch in Wahrheit nicht den Sprachelementen, d. h. den
Lauten, sondern erst den aus diesen zusammengesetzten Sylben
vergleichbar seien. Es ist also aufs neue nach den Principien
dieser körperlichen Naturen zu suchen. Ein völliger Abschluss
wird dabei, wie Plato meint, nicht zu erzielen sein ; vielmehr wird
sich die Untersuchung auch hier mit dem Wahrscheinlichen zu-
friedenstellen müssen (48 B — D).
Schwierigkeiten macht in dieser Darstellung vor allem der
Begriff der Notwendigkeit. Man pflegt freilich sehr leicht
^) So lässt die hesiodische Theogonie zuerst das Chaos dasein, ohne um
seine Herkunft weiter sich zu kümmern.
•'Xji,^-
118 Zweiter Abschnitt. Plato.
Über die Frage nach dem Sinn dieses platonischen Begrif-
fes hinwegzugehen und glaubt durch den Gegensatz von
Toleologie = Vernunft und mechanischer Causalität = Notwen-
digkeit alles erklärt zu haben. Allein was ist das für eine Not-
wendigkeit, die sich von der Vernunft soll überreden lassen —
ein Ausdruck, der von Plato noch einmal an einer späteren Stelle
wiederholt wird^)? Es wäre, scheint es, eine nicht notwendige,
weil abänderbare, Notwendigkeit, also eine contradictio in adiecto ^).
Suchen wir darum den Sinn dieser „Notwendigkeit" durch Ver-
gleichung derjenigen Stellen, in denen sie erwähnt wird, genauer
festzustellen.
Den Ausgangspunct dafür mögen die Worte bilden, mit denen
Plato am Schlüsse des zweiten Abschnittes die voraufgehenden
Erörterungen zusammenfasst. „Dieses alles aus Notwendigkeit
so Gewordene", heisst es dort (G8E — 60A), „übernahm damals der
Werkmeister des Schönen und Besten in dem Werdenden, als er
den sich selbst genügenden und höchst vollkommenen Gott (die
Welt nämlich) hervorbrachte, indem er sich der hierauf bezüg-
lichen mitwirkenden Ursachen {akiai vnriQstovOai) bediente,
selbst jedoch das Wohlgeratene (to «>) in allem Werdenden be-
wirkte. Demnach muss man zwei Gattungen von Ursachen unter-
scheiden, das Notwendige {dvayxmovY — man beachte, dass
das „Notwendige" hier ausdrücklich als Ursache bezeichnet
wird und also mit der eben genannten „Notwendigkeit" zusam-
menfällt — „und das Göttliche, das Göttliche aber in allem des
Besitzes eines glücklichen Lebens halber suchen, soweit es unsere
Natur gestattet, das Notwendige dagegen um jenes willen, indem man
erwägt, dass es ohne dieses nicht möglich ist, eben jenes, dem
wir nachstreben, allein zu begreifen oder zu erfassen oder seiner
sonst irgendwie teilhaftig zu werden." — Plato unterscheidet auch
hier eine doppelte Ursächlichkeit, die aus Notwendigkeit und die
als „göttliche" bezeichnete. Die Aufgabe der göttlichen Ur-
sächlichkeit ist es, das „Wohlgeratene" {x6 sv), d. h. also die
Ordnung des Regellosen, herbeizuführen. Die entgegenstehende
notwendige Ursächhchkeit cliaracterisiert sich durch folgende
*) 56 C: 071JJ 7if(i i] lijS ävri'/x^iC fxuvaa TruaiffiOci rt ifvats T7tt7xi.
') Nicht mit Unrecht bemerkt G. Grote, Plato III, 249, diese Notwendij^keit
Plato's sei, was die moderne Metaphysik als Willensfreiheit bezeichne.
Darstellung des Timaeus. Die Notwendigkeit. 119
Bestimmungen. Sie vermag die Ordnmig nicht aus sich herbei-
zuführen; wohl aber ist sie mitwirkende Ursache, indem sie
um jener ersteren Ursächlichkeit willen da ist ; denn ohne das
„Notwendige" ist es unmöglich, des „Göttlichen" teilhaftig zu
sein. Wir sehen, wie hier der Begriff der notwendigen Ur-
sache im wesentlichen auf den Begriff der Mittelursache, d. h.
des zur Erreichung bestinmiter höherer Erfolge notwendigen
Mittels, hinausläuft.
Ähnliche Betrachtungen finden wir auch am Schlüsse des
ersten Hauptabschnittes. Plato ist hier einen Augenblick über
den Kreis seiner Aufgabe hinausgegangen, indem er über den
Bau des menschlichen Körpers, über die physikalischen und phy-
siologischen Vorgänge beim Sehen, beim Traumvorstellen und
beim Erscheinen von Spiegelbildern einige Bemerkungen voraus-
genommen hat. „Alles das nun", fährt er fort, (46 G), „gehört zu
den Mitursachen {^vraiTia), deren sich Gott als dienender
(vTirjQSTovvra) bedient, indem er die Gestalt des Besten nach Mög-
lichkeit vollendet." Er hebt dann hervor, wie die meisten der-
gleichen nicht für Mitarsachen, sondern für die eigentlichen Ur-
sachen hielten, indem sie alles durch Erwärmung und Abkühlung,
Verdünnung und Verdichtung erklären wollten, da doch der Lieb-
haber der Vernunft zuerst nach den Ursachen der vernünftigen
Natur fragen müsste. — Hatte die eben besprochene Stelle
den Begriff der notwendigen Ursache dem Begriffe der Mitur-
sache gleichgesetzt, so erfahren wir aus dieser, dass die Gausa-
lität körperlicher Naturen als solche Mitursache zu betrach-
ten ist.
Einiges Weitere ersehen wir aus einer dritten Stelle des Ti-
maeus (76 D). Auch hier wird mit dem Begriffe der Mitursache
operiert, den wir schon oben dem der notwendigen Ursache
gleichgesetzt fanden. Es werden nämlich Sehnen, Haut und Kno-
chen als die Mitursachen {^vvaiTia) für die Entstehung des Fin-
gernagels bezeichnet, wogegen die eigentliche Ursache seiner Ent-
stehung darin liege, dass er von der Vernunft des Zukünftigen
wegen {saofxävwv yaQir) gebildet sei. — Die Mitursache wird an
diesem Orte der zwecksetzenden Vernunft entgegengestellt. Sie
befasst die materiellen Hülfsmittel, durch welche die Ziele der
Vernunft verwirklicht werden. Der Gegensatz der eigenthchen und der
120 Zweiter Abschnilt. Plato.
Mitursache ist hierauf den des vernünftigen Zweckes und
der materiellen Mittel Ursache zurückgeführt i).
Hier nun werden wir uns der bekannten Ausführungen des
Phaedo (97 G ff.) erinnern, in denen Socrates den Anaxagoras
tadelt, dass er, anstatt auch im einzelnen nach dem Zwecke der
Dinge zu fragen, bei der Erklärung des Einzelnen nicht mehr die
auf das Beste eines jeden Dinges abzielende Vernunft, sondern
Luft, Äther, Wasser u. s. w. als Ursache angebe. Das sei ge-
rade so, wie wenn jemand auf die Frage,- weshalb Socrates hier
im Gefängnisse sitze, antworten wolle : weil sein Leib Knochen
und Sehnen besitze, und weil die Knochen Gelenke- hätten, die
Sehnen aber sich ausdehnen und zusammenziehen könnten, und
Aveil eine Biegung der Knochen jn den Gelenken auch die Seh-
nen zusammenziehe und dadurch die Glieder krümme, so dass er
jetzt gekrümmt dort sitze; da er doch in Wahrheit deshalb hier
sitze, weil es, nachdem es den Athenern besser geschienen, so
über ihn zu beschliessen, ihm selber besser erschienen sei, hier
zu sitzen und die Strafe zu erleiden, welche jene beschlossen ; an-
dernfalls ihn jene Knochen und Sehnen längst nach Megara oder
Boeotien getragen hätten. Es sei daher sehr thöricht, dergleichen
wie Knochen, Sehnen u. s. w. als Ursache zu bezeichnen; viel-
mehr müsse man sagen, dass er^ ohne jenes zu besitzen, das,
was ihm gut scheine, nicht ausführen könne. Aber wie im
Dunkeln tappend bezeichne die Menge, eines ganz falschen Na-
mens sich bedienend, jenes als die Ursache und zeige durch
diese Verwechslung, dass sie nicht unterscheiden könne, „dass
etwas anderes ist die Ursache für das Seiende, etwas anderes
jenes, ohne welches die Ursache nicht Ursache wäre" ^).
Diese Phaedostelle giebt uns, indem sie die aus der zu-
erst besprochenen Stelle des Timaeus (68 E — G9A) gezogenen
Folgerungen bestätigt, bestimmte Auskunft darüber, in wel-
chem Sinne jenen Mittelursachen der Gharacter der Notwen-
digkeit zukomme. Dieselbe soll keineswegs die Unvermeidlichkeit
') Hieraus erklärt sich auch der BegrifY des ^wainov Polit. 281 E, wo
es die Kunst bezeichnet, welche die nötigen Hülfsmittel für diejenige Kunst
liefert, welche das Werk selbst schafft.
'^) Phaed. 99 B: tö yd(i ixi] d'ttkeaihai utöv t' ii'vai oti akXo jutv ti iazi t6
a'i'rtov TiZ ovTi, a'AAo rf' extivo avtv oi t6 airiov ovx av tiot' ti'rj aVtiov.
Darstellung des Timaeus. Die Notwendigkeit. 121
der Wirkung andeuten, was ja dadurch von vornherein ausge-
schlossen ist, dass der Timaeus die Notwendigkeit überredet wer-
den lässt. Sie betrifft überhaupt nicht die Verknüpfung von bewe-
gender Ursache und Wirkung, sondern deutet hin auf die Abhän-
gigkeit, in welcher der Zweck zu den Mitteln steht, die zu seiner Ver-
wirkUchung erforderlich sind. Die Notwendigkeit jener Ursache ist
keine innerliche, auf ihre eigene Wirkungsweise bezügliche; sie
beruht auf einer äussern Beziehung, indem jene Ursache die not-
wendige Voraussetzung für etwas anderes ausmacht. Die Ver-
nunft, ist die Meinung Plato's, kann ihre auf das Wohlverhalten,
d. h. auf die Ordnung, abzielenden Zwecke in der Welt nicht
rein aus sich verwirklichen; sie bedarf dazu als Mitursachen, d.
h, als Mittel, notwendig der materiellen Dinge. Die Einteilung
Plato's berührt sich also mit der modernen Unterscheidung von
teleologischer und mechanischer Gausalität, ohne sich mit der-
selben zu decken. Denn einmal übersieht sie, indem sie die
„notwendige" Ursache auf das Gebiet des Materiellen beschränkt,
dass auch auf rein geistigem Gebiete kein Zweck ohne die ent-
sprechende bewegende Ursache bewirkt werden kann. Dann
aber ist dem platonischen Begriffe der ,, notwendigen" Ursache
trotz des Namens gerade die Vorstellung einer unvermeidlichen,
eindeutigen Verknüpfung von Ursache und Wirkung fremd, welche
wir doch vor allem im Auge haben , wenn wir von mechani-
scher Gausalität sprechen. Das ,, Notwendige" erscheint viel-
mehr bei Plato gerade als das Regellose , Umherschweifende
(die n/.uvcofjitvrj ahiu 48 A) , in welches erst durch das Ein-
greifen der Vernunft feste Ordnung und regelndes Gesetz ge-
bracht wird.
Nicht im Widerspruch damit steht Tim. 46 D, wo es heisst,
der Liebhaber von Vernunft und Wissenschaft müsse die Ursa-
chen der vernünftigen Natur zuerst verfolgen, diejenigen aber,
welche stattfinden, wenn etwas von aussen bewegt wird und nun
anderes mit Notwendigkeit bewegt, erst zu zweit i). Inder
Notwendigkeit, mit der das Bewegte seinerseits etwas anderes be-
') Tim. 46 D: tdv d'i vor. xul t7naii'jfii,g tfjaaiijv di'dyxi/ ras rijs f,Uif.{iovoi;(fv-
aecos airiag npahag iitta^KÖxeir , ooai (fi vn aXXiov fxev xivovjuevmp, eie^a tfe i£
dvdyxrjs xivovvtwv yiyvovrai , (feviegas. Zu der Stelle vergl. Susemihl . ' Genet.
Entwickelung, II, S. 343.
122 Zweiter Abschnitt. Flato.
wegen soll, findet G. Schneider') die Lehre von unabänderhchen
Gesetzen ausgesprochen, an welche die Natur gebunden sei. Aber
eine der körperlichen Natur an sich innewohnende, mit Notwen-
digkeit wirkende Kraft, auf welche hier alles ankonnnt, würde
jene Stelle nur dann lehren, wenn sie den Umstand, dass ein
Körper, falls er von aussen bewegt wird, wieder einen andern in
Bewegung setzt, auf eine in der materiellen Natur selbst
gelegene Kraft zurückführte. Hier ist aber nur davon die Rede,
dass ein Körper, der von aussen bewegt wird, die Bewegung „mit
Notwendigkeit" weiter giebt. Der Grund dieser Notwendigkeit liegt
hier nicht so sehr in einer Kraft, welche dem gestossenen Körper
von Haus aus eigen wäre, als in der Natur des Anstosses, der
seiner Natur nach mit Notwendigkeit sich fortpflanzt. Dabei bleibt
gleichwohl bestehen, dass Plato jenen Körper als Ursache be-
zeichnen kann, nämlich als Ursache in zweiter Linie oder als
Mittelursache; denn nur durch ihn hindurch kann der Anstoss
zu dem weiterhin Bewegten fortschreiten , er ist also notwendige
Vorbedingung, d. h. Mitursache.
Ganz dieselbe Bedeutung, die wir so gewonnen haben, scheint
der Ausdruck ,, Notwendigkeit'' an dem uns beschäftigenden Orte (47
E f.) für den ersten Blick allerdings nicht zu haben. Wenn freilich
gleich anfangs dem durch die Vernunft Gebildeten das darchNotwen-
digkeit Gewordene gegenübergestellt wird (47 E), so ist es im-
merhin noch leicht, an jene relative Notwendigkeit zu denken, an
dasjenige, was mit Notwendigkeit dann werden musste, wenn die
^) Gust. Schneider, Die Piaton. Metaph. S. 22.
-') Eine älmliche Bedeutung der Notwendigkeit kennt auch Aristoteles. Er
unterscheidet das äjihos ävayxaiov und das i^ vnoütoKo^ nrayxaiov (phys. II 9,
199 b 34; de gen. et corr. II 11, 337 b 10. 26). Letzteres umfasst das zur Er-
reichung eines Zweckes notwendige Material. So ist es notwendig, dass das
Beil, wenn es spalten soll, von Eisen (phys. II 9, ^200 a 7 — 15; de part. an.
I 1, 642 a 9—11), und nicht etwa von Holz oder Wolle (met. VIII 4, 1U44 a
27 — 29) sei; wenn ein Haus gebaut werden soll, ist ein Fundament, zum
Zwecke des Fundamentes Lehm notwendig (de gen. et corr. II 11, 337 b 14—15).
Schon Simplicius (phys. II, p. 388, 11— 3U) hat die Verwandtschaft dieser Aus-
führungen mit den platonischen bemerkt. Zu phys. II 9 citiert er sogar zwei
von den oben behandelten platonischen Stellen (Tim. 68 E und Phaed. 99 B),
um dadurch seine Behauptung zu rechtfertigen, dass Aristoteles hier „plato-
nisch rede*.
Darstellung des Timaeus. Die Notwendigkeit. 123
Vernunft, d. h. die Idee, überhaupt ein Object ihres Wirkens haben
sollte. Aber im folgenden Satze wird die Notwendigkeit unverkenn-
bar personificiert und als besondere personificiert gedachte Kraft der
gleichfalls persönlich gefassten Vernunft gegenüber gestellt. War
oben die Wirkung der Notwendigkeit noch als ein unpersönliches
Geschehen dem persönlichen Bilden der Vernunft entgegenge-
stellt i), so wird hier ganz in persönlicher Weise gesagt^ dass die
Vernunft über die Notwendigkeit herrsche, indem sie dieselbe
überrede, von dem Werdenden das Meiste zum Besten hinzufüh-
ren, und dass so dadurch, dass die Notwendigkeit von der ver-
nünftigen Überredung besiegt wurde , im Anfang das All ent-
standen sei (48 A).
Man begreift, wie die hier der Notwendigkeit zugeschriebene
Rolle dazu verleiten konnte, in derselben ein wirkliches persön-
liches Princip zu erblicken. >So identificierte Plutarch von Ghae-
ronea ^) die ,. Notwendigkeit" des Timaeus mit der bösen Weltseele,
welche in dem uns vorliegenden Text der Gesetze gelehrt ist, und
er hat damit auch bei einigen Neueren Beifall gefunden. Doch
das. wird später zu besprechen und zu widerlegen sein. Für jetzt
möge auch ohne Beweis die gewöhnliche Ansicht, welche in
jener „Notwendigkeit" eine blosse Personification sieht, als rich-
tig angenommen werden. Dann fragt sich: Was wird hier in der
Gestalt der „Notwendigkeit" personificiert? Der ganze Zusam-
menhang, wie besonders die Gleichstellung der „Notwendigkeit"
mit der „umherschweifenden Ursache" {n:Xav(ofi£vrj akia 48 A),
zeigt uns, dass hier die regellos bewegte, sichtbare Masse in
Frage kommen muss, welche der Weltbildner nach der Darstel-
lung des Timaeus beim Antritt seiner ordnenden Thätigkeit vor-
findet und durch Einfügung der Seele der Vernunft teilhaftig
macht. Die „Notwendigkeit" personificiert also entweder diese
Masse selbst, oder die in ihr wirkenden, sie bewegenden Kräfte.
Letztere Annahme aber würde uns , da für Plato nur die Seele
Princip der Bewegung ist 3), wieder zu der abgewiesenen Vorstel-
lung von einer schon vor der Weltbildung existierenden Weltseele
zurückführen. Die „Notwendigkeit" {dvdyxr^) ist also nur ein my-
') 47 E: T« ö'id vov (ftifriUiuvQyiiUiva und T« ')/■" dvä'/xii^ yiyvtjufva.
*j Plut. de an. in Tim. proci-. c. 6, 2, p. 1014 D das Genauere u. s.).
') Phaedr. 245 C; leg. X, 892 A ff. 895 B — 898 A.
124 Zweiler Al)schniU. Plato.
thisch porsonificierender Ausdruck für die sich bewegende Masse
selbst. Sie bezeichnet nichts anderes als das „Notwendige" (drayicaTor),
ein Ausdruck, den wir ja auch in der Schlussstelle des ganzen Ab-
schnittes (08 E) mit dem Ausdrucke „Notwendigkeit" wechseln
sahen 1). Nun ist aber die Entwickelung und Bewegung inner-
halb dieser Masse , sofern von der sie regelnden Ordnung der
Vernunft abgesehen wird, so wenig eine notwendige, dass sie
nicht nur der „Überredung" der Vernunft nachgeben soll
(48 A), sondern dass sogar an einer spätem Stelle ausdrücklich
der Zufall als in ihr herrschend genannt wird 2). Als „notwendig"
kann sie daher bezeichnet werden, nicht in sich betrachtet, son-
dern nur insofern ihre Beziehung zur ordnenden Vernunft inbe-
tracht kommt; sie ist für die Vernunft notwendig als der Gegen-
stand, ohne den diese ihre ordnende Thätigkeit nicht ausüben
kann. Wir haben somit, wenn auch erst auf dem Umwege einer
Auflösung des personificierenden Bildes, denselben Sinn des Wor-
tes wiedergewonnen, den wir oben aus mehreren anderen Stellen
entwickelten.
Bezeichnet aber die „Notwendigkeit" das Körperliche, dessen
Vorhandensein die Vernunft notwendig voraussetzt, so ist das,
was „aus Notwendigkeit geworden", was durch die „von der ver-
nünftigen Überredung besiegte Notwendigkeit" „zum Besten geführt"
ist, die Summe der Momente in der körperlichen Natur, welche
nicht aus ihrer durch den göttlichen Weltbildner bewirkten Durch-
seelung vermittelst der Weltseele resultieren, sondern welche
jene notwendig vorauszusetzende körperliche Natur entweder
schon beim Beginn der Weltordnung mitbrachte, oder welche sie
doch selbst, freilich unter der „Überredung" , d. h. Leitung der
Vernunft, hervorbringen kann. Es ist also das „aus Notwendikeit
Gewordene" die Summe jener Momente der Ordnung, welchg die
körperliche Natur unabhängig von der Beseelung der Welt durch
die Weltseele betreffen 3).
^) S. S. 118.
') 69 B: TÖze ydg ovre tovtmv oOov /ii] r i^ )( jj ti /uertixif^ oi'rt rö naQanav
ovo/udaai T(ov vvv ovofjLat.Oßevorv d^iöXoyov r}v ovifev, oiov nvQ xai fcfuip xal il' ti Tmv>
aXkmv.
') Ihre Bestätigung findet diese Deutung durch die Klarheit und Einfach-
heit, welche sie in der Disposition des Tiniäus aufdeckt. Das Werk der Ver-
nunft, üher welches der erste Ahschnitt handelt, hesteht in der Beseelung
der Welt, durch welche dieser die Vernunft eingepflanzt wird. Denn da
Darstellun(j;' des Timaens. Die Notwendigkeit. 125
Wie das Werk der Notwendigkeit zu Stande gekommen,
um das es sicii für uns handelt, darüber sagf der Ausdruck
„Notwendigkeit" nach dem Entwickelten noch gar nichts. Nur
das Gebiet bezeichnet er, nicht die in ihm wirkende Ursache,
nur den sich entwickelnden Gegenstand, nicht die Gründe seiner
Entwickelung 1). Auskunft über diese Principien der körperlichen
Natur erhalten wir erst durch die folgenden Ausführungen, welche
uns noch einmal an den Ausgangspunct der ganzen Weltent-
wickelung zurückversetzen, um nunmehr die bis dahin versäumte
Angabe der Principien auch des Unbeseelten nachzuholen.
Den Ausgang für die Erklärung des Körperlichen, sinnlich
Wahrnehmbaren bildet eine Erweiterung der früher (ä7 D — 28 A)
gegebenen Einteilung des Seienden. — „Damals unterschieden wir",
beginnt Plato unter erneuter Anknüpfung an den Anfang des
ersten Hauptabschnittes seine Auseinandersetzung (48 E); „zwei
Gattungen; jetzt aber müssen wir noch eine andere dritte Art
kund machen. Denn bei dem früher Gesagten reichten zwei
der allgütige Bildner der Welt bei seiner Überlegung fand, „dass von dem sei-
ner Natur nach Sichtbai'en kein unvernünftiges Werk je, im ganzen genom-
men, schöner sein werde als das Vernunft Besitzende, dass aber Vernunft ohne
Seele unmöglich einem zuteil werden könne, so pflanzte er denn wegen die-
ser Überlegung die Vernunft in die Seele, die Seele aber in den Körper, und baute
so das AU" (30 A — B). Das Werk der Notwendigkeit, dem der zweite Abschnitt
gewidmet ist, stellt die in der Materie, dem Körperlichen an sich und unabhängig
von seiner Beseelung geschaffene Ordnung dar. Da nämlich die Vernunft ih-
ren eigentlichen Sitz nur im Seelischen (30 B), nur im Unsichtbaren (46 D)
hat, so ist die rein materielle Ordnung, mag sie auch im letzten Grunde nicht
ohne die weltgestaltende Vernunft zustande kommen — denn es heisst ja,
dass die Notwendigkeit, überredet von der Vernunft, das Werdende zum
Besten führe (48 A) — doch kein vernünftiges Werk im engeren Sinne. Sie
ist vielmehr ein Werk der Notwendigkeit, d. h. ein durch die Entwickelung
des Notwendigen — des Materiellen nämlich, das ja für die Entfaltung des
Vernünftigen. Seelischen die notwendige Voraussetzung bildet — herl)eige-
führtes "Werk. Nachdem so der erste Abschnitt die Ordnung des Psychischen
oder Vernünftigen, der zweite die des Materiellen oder Notwendigen behandelt,
kann nun der dritte zum Physiologischen übergehen, zur Vereinigung von Ver-
nunft und Notwendigkeit, d. li. von Psychischem und Materiellem.
*) Sind diese Ausführungen richtig, so fällt, was Tennemann (Gesch.
d. Phil. II, 373), Könitzer (a. a. 0. S. 19. 23), Brandis (Griech.-röm. Phil. 11 a,
S. 303), Überweg (a. a. 0. S. 60), Bassfreund (a. a. 0. S. 71) u. a. von der
dvdyx), als einem der Materie innewohnenden Bewegimgsprincip u. dgl.
regen Zeller u. a. geltend machen.
126 Zweiler Ahsclinitt. Plato.
Gattungen hin, die eine, die zugrunde liegende Gattung des
Vorbildes, nur 'mittelst der Vernunft zu begreifen und stets die-
selbe bleibend; die andere die Nachahmung des Urbildes, welche
ein Werden hat und sichtbar ist. Eine dritte unterschieden wir
damals nicht, im Glauben, dass die zwei ausreichten. .Jetzt aber
scheint uns der Vernunftschluss zu nötigen, dass wir eine schwer
zu erklärende, dunkle Gattung mit Worten zu beleuchten unter-
nehmen. Was für eine Wesensbeschaffenheit soll man ihr also
ihrer Natur nach beilegen? Doch vor allem eine solche, dass sie
wie eine Amme Aufnehmerin alles Werdens sei" ').
Doch diese mehr bildlichen als begrifflichen Bestimmungen
werden von Plato selbst als ungenügend bezeichnet. Es sei das
zwar richtig gesagt, bedürfe aber weiterer Aufhellung (49 A).
Um die nun folgende entscheidende Auseinandersetzung rich-
tig würdigen zu können und namentlich um Wert und Bedeu-
tung des Einzelnen abzuschätzen, müssen wir die Gliederung des
Ganzen beachten. Dieselbe ist aus den eigenen Andeutungen des
Schriftstellers unschwer abzuleiten, da derselbe durch Übergangs-
formeln die Wendepuncte der Untersuchung verständlich genug
angegeben hat.
Plato beginnt (49 B) mit einer Kritik der von ihm schon
kurz vorher (48 B) berührten gangbaren naturphilosophischen
Anschauungen^ nach denen eins der sogenannten Elemente: Feuer,
Wasser, Luft, Erde, oder auch alle zusammen, die eigentlichen
Urbestandteile ausmache. Hatte er diesen angeblichen Elemen-
ten oben ohne weiteren Beweis den Gharacter von Urbestand-
teilen abgestritten, so folgt nunmehr die Begründung des Wider-
spruchs. Wie Melissus 2), schliesst auch Plato aus den durch
zahlreiche Zwischenstufen des Verdichtungs- und Verdünnungs-
processes vermittelten Übergängen der Elemente in einander s),
) 49 A: llv orv e^ov ifvvauir xain (fvaiv avTÖ v7To/.ij7iTtoi'\ rotät'iif aäXiaja,
naaiii en'ai yn't'aeati vnod'oyijv avit]v oi'or Tt&ijvt/i\
») Meliss. fragin. §. 17; s. S. 58.
^) Wenn Plato bei der Darstellung der Entwickelungsstufen vom Wasser
ausgeht, so ist dieses natürlich nur beispielsweise gesetzt. Dass die Polemik
speciell gegen Thaies sich richte, wie Sartorius a. a- 0. S. 135 annimmt, ist
wenig wahrscheinlich , einmal weil Plato überhaupt nur gegen solche Philoso-
phen polemisiert, die entweder seine Zeitgenossen sind, oder doch für seine
Zeit Bedeutung haben ; dann, weil die hier bekämpfte, bis ins Einzelne durch-
geführte Lelire von den verschiedenen Stufen der Verdichtung und Verdünnung
Darstellung des Timaeus. Das tovto und das roiovrov. 127
dass man keinem einzigen eine bestimmte, bleibende Natur bei-
legen dürfe. Von keinem einzigen könne man sagen, dass es
eben dieses sei; es sei nur ein so beschaffenes; denn es
fehle ihm die Beständigkeit, welche das Wort dieses bedeute^).
Vielmehr dürfe man ~ und damit wird die erste bedeutsame Be-
stimmung über die „platonische Materie" gegeben — nur das,
worin ein jedes Ding entstehend erscheine und woraus es wieder
verschwinde, als dieses bezeichnen*).
Den Mittelpunct dieser Ausführungen bildet der Begriff des
dieses {lovto, töde) im Gegensatz zu dem des so beschaffenen
{loiovTov). Es fragt sich, was Plato unter beidem versteht. Man
könnte an den Gegensatz von Subject und Prädicat, von Sub-
stanz und Accidens ^), von Besonderem und Allgemeinem und
erst dem Anaximenes zugeschrieben wird. Martin, Etudes II, 174 (den Sarto-
rius S. 134, wo er meint, die Gonimentatoren enthielten keinerlei Auskunft
über die Frage nach dem von Plato bekämpften Gegner, übersehen hat) möchte
an irgendwelche Pythagoreer denken; aber die Auctorität, die er, wenn auch
nicht ohne eine leise Restriction, dafür anführt, Ocellus der Lucanier (c. 1 §. 13; c.
2 §. 13—21), ist eben gar keine (vgl. S. 33 Anm. 2 g. E.). — In Wirklichkeit
ist es nicht nötig, nicht einmal möglich, hier einen bestimmten Gegner zu nen-
nen. Die bekämpfte Ansicht bildet vielmehr einen gemeinsamen Grundzug der
gesamten älteren ionischen Naturphilosophie und der auf ihrem Boden stehen-
den Speculation. Sie ist daher von Plato ebenso im allgemeinen bekämpft,
wie ihr Melissus 1. c. als der gewöhnlichen Anschauung entgegentritt. Darum
ist es für unsere Stelle auch ganz belanglos, dass Plato, wie Bobertag S. 11
erinnert, später (.54 B f.) die Erde von dem allgemeinen Kreislauf ausnimmt. Es
ist das keine Einschränkung des hier Vorgetragenen; denn hier berichtet Plato
über die ionische Ansicht von der Verwandlung des Stoffs durch Verdichtung
und Verdünnung; dort handelt es sich um seine eigene Meinung von den durch
die wechselnde Gombination der Elementardreiecke erklärlichen Übergängen.
*) 49 D: daifaXtaraza /xaxQoJ tkqI Tovimv ri&f^evovg iixft Xe'ysiV dtl ö xu&oqoS-
fifv «AAoif aXXjj yr/vö/Ufrov , wf ^VQ, ßr, tovto dXXä t6 joiovtov exüarore nQoaa-
yoQfvtiv 7iv(j, fiij(^i vd'wQ tovto dkXd tu t o covt ov dei, /uijtfi aXXo noTt /jir^d'iv lug
Tivtt t'y^ov ßeßaiÖTijTa, oOa (feixvvvTtg Tai (nq/iuTi Tm TÖäs xal tovto nQoayi^Qiöj.ievoi
ffrjkovp ijyovjjit&d tl' tf.ir',tt yd() ovy 'vno/ne'vox< Tijv tov t ö if e xal tovto xai T'qv
T ui (f f xal nSaav oar/ ftövt/ua r/is,- ovtu avzd iviffixvi'Tat (fdaig.
*) 49 E: iv (11 <ie iyyiyvößtra dtl exnara avTtov (finvTn^iTat xal ndXiv tx(?0-ev
a7iö?.?^VTai, fxovov ixtcvo av nQoaayoQSViiv tu> Tt tovto xal Tai zödt ngoay^Qiüjjie-
vov>g ovofiaTi, to (ft otioiovovv ti, -O^tQ/uoi' r," Xfrxor ^ xal ÖTiorr tiöv ivavTimr,
xal TtdvO' üaa tx TOVTinv, jjir,i)'fv ixtiro av TOvimr xaXtTv. — AristotclCS hat vielleicht
auch unsere Stelle im Sinn, wenn er phys. I 7, 191 a 13—14; met. VII 3, 1029
a 28; VIII 1, 1042 a 27 u. ö. die Ansicht bestreitet, dass die Materie einroJ'* n sei.
«) Bassfreund a. a. 0. S. 23.
12S Zweiter Abschnitt. Plato.
noch an manches andere denken. Plato meint nichts von alle-
dem. Dass Feuer, Wasser u. s. w. kein „dieses", begründet
er damit, dass jene keine Festigkeit {ß^ßraorr^c) besässen, son-
dern rasch entflöhen , ohne für die Ausdrücke , welche , wie
die Wörter ToJf, rovro, rcoSf und ähnhche , ein bleibendes
Sein bezeichneten, stand zu halten. Der Gegensatz zwischen dem
Begriffe des „dieses" und dem des „so beschaffenen" deckt sich
für ihn also mit dem des Bleibenden und des Werdenden ^).
Nun handelt es sich in dem ganzen Abschnitt darum, die
Principien der materiellen, körperlichen Natur nachzuweisen. So
werden wir denn als den Obersatz der Beweisführung Plato's den
Gedanken zu betrachten haben, dass die wahren Principien, die
wahren Elemente der körperlichen Natur etwas Bleibendes, Un-
veränderliches seien. Die sogenannten Elemente aber, würde der
Untersatz lauten, sind nichts Bleibendes, Unveränderliches. Woraus
sich dann der Schlusssatz ergiebt, dass Feuer, Wasser u. dgl.
nicht als letzte Principien der körperlichen Natur betrachtet wer-
den können.
Indes wäre das nur die Negative. Nun aber wird von Plato
stillschweigend vorausgesetzt, dass das rniovror ein tovto ver-
lange. Damit ist der Weg zur positiven Beantwortung der Frage
nach den Principien offengehalten. Sind die vier Elemente ein
„so beschaffenes", so verlangen sie ein „dieses", in welches sie
eintreten, um zu erscheinen, und aus welchem sie wieder ver-
schwinden. Auf diese Weise ist die „Amme" und „Aufnehmerin"
alles Werdens, von der oben (49 A) die Rede, wieder eingeführt.
Zugleich erfährt sie in doppelter Beziehung weitere Bestim-
mungen. Im Anschluss an ihre obige Bezeichnung als „Aufneh-
merin" erscheint sie als das, worin Wärme, Kälte u. s. w. her-
vortreten; im Gegensatz zu den wechselnden Elementargestalten
bildet sie das Bleibende, Dauernde. Weiteres über die Natur der
Materie lässt sich aus den hier gegebenen Bestimmungen nicht
ableiten. Plato versucht es daher, dieser Dürftigkeit zunächst
durch einige Bilder nachzuhelfen.
') Vgl. Simpl. in phys. I, p. 226, 17 : xcd tniat^^aat «^lov, mi o fitv nXaroiv
xara t6 vnojufrfiv &twQ(uv rr/v vkr,v uvrij /la/Jor to rode ti tfüfioaiv , . . u (ff .-Iqi-
OTortXr,!; rn t ö fi' f ji xata rr^v finQifiTir ■0-fii)(>t!'u- ro/V F'i'ihai rrvTi) TKtQtyi^ti (wiederholt
von Bessarion in calumm Plat. II, (i, fol. 20^ suj) ed. Aid.).
Darstellung des Timaeus. Das tovio und das toiovtov. 129
Der Übergang zu dem neuen Gedankengliede und sein Ver-
hältnis zum Voraufgehenden ist vom Schriftsteller bestimmt her-
vorgehoben. ,,Wir müssen uns bestreben", sagt er (50 A), noch
deutlicher darüber abermals zu sprechen". Aber worüber? Of-
fenbar über das, was soeben auseinandergesetzt wurde , nämlich
dass Feuer, Wasser, Luft u. s. w. nicht eigentliche Principien seien,
sondern dass das wahre Princip der Körperlichkeit in etwas An-
derem, wirklich Unveränderlichem gesucht werden müsse. Dass
in der That dieser Gegensatz gegen die naturphilosophische
Gleichstellung der sogenannten Elemente mit den letzten Princi-
pien den leitenden Gesichtspunct auch dieses Abschnittes bildet,
zeigen besonders deutlich die 8chluss\vorte desselben (51 A).
Dieselben fassen in unverkennbarer Anknüpfung an den Eingang
des Abschnittes die gegebenen Ausführungen dahin zusammen,
dass die Mutter und Aufnehmerin alles Gewordenen weder
Erde noch Luft, weder Feuer noch Wasser sei, sondern eine an-
dere, schwer zu bestimmende Galtung. Es ist von Wichtig-
keit, diesen Zusammenhang festzuhalten. Gerade das Überse-
hen desselben hat dazu verleitet, aus einzelnen Bestimmungen
dieses Absatzes Folgerungen über die Natur der platonischen
Materie zu ziehen, welche nach dem ganzen Zusammenhange
unmöglich von Plato beabsichtigt sein können. Das gilt in be-
sonderem Maasse für das erste der Gleichnisse, durch welches
Plato nunmehr seine Ansicht verdeutlicht (50 A).
Wenn jemand alle möglichen Formen aus Gold bildete, indem
er jede entstandene Form sofort wieder umgestaltete, ohne in dieser
Umformung jemals einen Ruhepunct eintreten zu lassen, so
könnte man auf die Frage, was das sei; nur antworten: Gold^);
das Dreieck und die übrigen Figuren dagegen, welche, so wie sie
gesetzt sind , sofort wieder verschwinden , könnte man nicht als
Seiendes {wg ovxa) bezeichnen. Soweit das Bild. Dasselbe wird
nunmehr auf die „alles aufnehmende Natur" angewendet. Diese
ist es, welche stets als das Selbe bezeichnet werden muss. Denn
niemals geht sie aus ihrer Natur {dvvai.ui;) heraus, welche, wie
') Eine Kritik bei Aristoteles de gen. et corr. II 1, 329 a 15 — !21. Dieselbe
verkennt freilich das bloss Bildliche der platonischen Ausführungen durchaus
Baeuink«r: Das Problem der Materie eU. «7
130 Zweiter Abschnitt. Plato.
schon an früherer Stelle bemerkt wurde *), darin besteht, dass sie im-
mer alles aufnimmt. Niemals nimmt sie eine den aufgenomme-
nen Formen ähnliche Form an. Als „bildsame Masse" — wie
man das platonische t'xjitayfroi', freilich höchst unzureichend, zu
übersetzen pflegt '^) — bleibt sie vielmehr unverändert für alles offen
daliegen, nur vorübergehend bewegt und geformt von dem Ein-
tretenden, d. h. von den Nachbildern des wahrhaft Seienden, die
auf eine schwer zu beschreibende, später noch zu behandelnde
Art in ihr ausgeprägt werden und so bejvirken, dass sie, die un-
veränderliche, dennoch hier so, dort so erscheint 3).
Hier wird die „Aufnehmerin" als das unveränderlich Blei-
bende unterschieden von dem Veränderlichen, was in sie ein- und
aus ihr austritt, sie mit dem Schein des Mannigfaltigen umhül-
hüllend. Alles Schwergewicht der Vergleichung fällt darauf, zu
zeigen, dass die „Aufnehmerin" den wechselnden Gestaltungen
von Feuer, Wasser u. s. w. gegenüber das unveränderliche Prius
sei, dass sie, trotz aller in sie ein- und aus ihr austretenden Be-
stimmtheiten doch unter diesem Scheine der Mannigfaltigkeit
überall die ihr eigentümhche Natur bewahre, die eben darin be-
steht, Aufnehmerin von allem zu sein. Gänzlich verkannt wird
die Absicht des Vergleiches von allen denjenigen, welche mei-
nen^), weil Plato die „Aufnehmerin" mit dem Golde, also
1) 49 A, citiert S. 126 Anm. 1.
•) Der Sinn des ty/uaytTor , d. h. etwas zum Aufnehmen von Abdrücken
Geeigneten, ergiebt sich aus Theaet. 191 C— D, wo auch das mit dem hier ge-
brauchten TVTTnra^ui (50 D ixTvnovaOni) gleichbedeutende dnoTv-nova^ai vor-
vorkommt. Arist. met. 1 6 988 a 1 verwendet das Wort für die unbestimmte
Zweiheit, welche Plato später den Ideen als das eine Element zugrunde legt.
Vgl. über den Ausdruck übrigens Trendelenburg, Piatonis de ideis et numeris
doctrina, p. 79 sq.
') 50 B : 6 avTos (i'rj koyos yai ni^n T-iji rn nixvza (hj^ofievr/i aioßata (pvOKog.
Tttvrdv «t'TiJr dti nQoagiiTior' ex ydft liji f'avTijc rd naganav ovx f^ioTaTai ifwä/jew^.
(fe](eTai re yuQ dei td ndvra, xal nogifiifv oiufeiniav noxf ov(fevi tmv eiaiuvTtov o/uotav
tt2rjiftv ov(fa/j.]j ovita/j.(Ss' ix/uayeiov yäp if.voet navti xeTiat xivovfievuv it xal (haay^j-
fiaTil^ofievov vno twv eiaiövitor, (faiveiai »Jf (fi' ixiTva aXXott dXkinov' rd (fe tlaiovia xai
i^iövra rmv ovtoov dft. /Ltifxtj/xara, ixinM&ivTa an' aviwv T()Ö7ioi^ rivd tfvaifi^aatov xal
tf^av/naaror, öv eiOavO^ig finiftev.
*) Bassfreund, S. 17. Zutreffend sind dagegen die auf diese Stelle bezüglichen
gegen Teichmüller (Gesch. d. Begr. S. 317) gerichteten polemischen Bemferkun-
gen Bassfreund's S. 50 f.
Darstellung des Timaeus. Die „Aiifnehmeiin" des Werdenden. 131
einem Stoffe, vergleiche, so müsse er sie ebendeshalb auch
als Stoff gedacht haben. Wie es mit jener Ansicht von der stoff-
lichen Natur der platonischen Materie im übrigen auch stehen
möge — worüber später das Notwendige gesagt werden wird — ,
auf den Vergleich derselben mit dem Golde kann sie sich nicht
stützen.
Das in die „Aufnehmerin" Eintretende und wieder aus ihr Aus-
tretende ist zweifellos identisch mit dem „in ihr Werdenden" und
„aus ihr Verschwindenden", von dem zuvor (49 E) die Rede war.
Es muss also auch wie dieses die elementarischen Bestimmtheiten
bedeuten. In der That wird ja auch von diesen, was hier (50 Gj
versprochen, später gezeigt, in welcher Art sie nämlich „geprägt"
werden. Es geschieht das dort , wo Plato die Unterschiede der
Elemente auf die Verschiedenheiten in Form und Combination der
Dreiecke zurückführt, aus denen die kleinsten Elementarkörper-
chen gebildet sind. So begreifen wir auch, wie Susemihl ^) rich-
tig hervorhebt, weshalb Plato mit Vorausbeziehung auf die Er-
örterungen, die im folgenden Abschnitte über die Elementarflächen
und Elementarkörper gegeben werden, als Beispiel für die aus dem
Golde zu bildenden Figuren gerade das Dreieck wählt. Ebenso
werden in weiterer Hindeutung auf diese Erörterungen die ele-
mentarischen Bestimmtheiten als „Formen" bezeichnet, welche die
sie aufnehmende Natur „ausgestalten" {SiaaxrifiaxC^en) sollen.
Die angeblichen ,, Elemente" der Naturphilosophen haben sich
also bereits aufgelöst in jene „Formen" und die unveränderliche
„Aufnehmerin". Die Formen aber sind nichts Ursprüngliches,
sondern sie sind nur ein- und austretende Nachahmungen des
immer Seienden.
Den Rang von eigentlichen Principien für die körperliche
Natur haben daher von den oben - ; unterschiedenen drei Gattungen
nur diese zwei : die_Ideen^ und die Materie. Plato drückt dieses in
einem Bilde aus (50 A), indem er die Ursache, welche das Werdende
sich ähnlich macht und eben dadurch werden lässt, d. h. die Idee,
dem Vater, dasjenige, worin das Werdende entsteht, der Mutter,
das Werdende selbst als das aus jenen beiden Abgeleitete dem
Sohne gleichstellt. Eine kleine Unbestimmtheit in dem Begriffe
dieses Werdenden ist freilich nicht zu verkennen. Dasselbe wird
') Genet. Entwickel. II 409. — -) S. S. 125 f.
132 Zweiter Abschnitt. Plato.
als Nachbild der Idee betrachtet. Nachahmung der Idee aber sind
eigentlich diejenigen Merkmale an den Dingen, durch welche diese
in ihrem Wesen bestimmt werden; im weiteren Sinne indes auch
diese Dinge selbst. So kann Plato unter dem Werdenden bald
die sinnlichen Dinge, bald die ein- und austretenden Formen ver-
stehen, die Materie als Aufnehmerin bald der Körper (50 B)'), bald
der Formen schildern. Das eine ist mit dem andern gegeben*).
Hatte schon das Bild des Goldes, das unter allem Wechsel
der Formen seine Natur bewahrt , dazu 'gedient , die sich stets
gleichbleibende, durch die ein- und austretenden Formen inner-
lich nicht afficierte Natur der Materie zu erläutern, so wird die-
ser Gedanke durch zwei weitere Gleichnisse noch mehr veran-
schaulicht und zugleich in einer neuen Richtung vervollständigt.
Der vorige Vergleich nämlich zeigte uns, dass die Materie von dem,
was bereits in sie eingetreten ist, in sich nicht determiniert werde.
Nunmehr wird dargethan, dass dieselbe, um diese ihre Natur als
Aufnehmerin von allem bewahrheiten zu können, auch vor der Auf-
nahme der Formen nicht innerlich determiniert sein dürfe. Es wird
an die Salbenbereitung erinnert, bei der man das Öl, um ihm
einen beliebigen Wohlgeruch mitteilen zu können, möglichst ge-
ruchlos macht, ferner an das Verfahren beim Ausarbeiten eines
Reliefs aus einer weichen Masse, der man durch Glätten zuvor
jede störende Eigenform nimmt. So darf auch die „Aufnehmerin",
um alle Formen aufzunehmen und das ungetrübte Bild von al-
lem zeigen zu können, nicht bereits irgend eine Bestimmtheit
an sich tragen. Andernfalls würde neben und in der eingetre-
tenen Form die ihr eigentümliche Form miterscheinen und so
die Verähnlichung eine unvollkommene bleiben. Als dies un-
unbegrenzt Formbare muss die in Frage stehende Natur an sich
völlig formlos {afjbogqov 50 D), muss frei von allen Formen (51 A)
sein. Dann aber — und hiermit greift Plato auf den Ausgangs-
punct des Abschnittes zurück — „werden wir die Mutter und Auf-
nehmerin des gewordenen Sichtbaren und durchaus sinnlich
Wahrnehmbaren weder Erde, noch Luft, noch Feuer, noch Was-
ser nennen, noch irgend sonst mit dem Namen dessen, was dar-
*) Ein Ausdruck, der von Überweg a. a. 0. S. 60 richtig proleptisch
gedeutet wird: Formen annehmen, so dass dadurch Körper entstehen. Das
Nähere weiter unten.
') Vgl. Zeller II« a, 642, 1.
Darstellung des Timaeus. Die „Aufnehmerin" des Werdenden. 133
aus entstanden oder woraus dieses entstanden '), sondern wenn wir
behaupten, es sei ein unsichtbares, formloses, alles aufnehmen-
des Wesen , auf irgend eine schwer zu erklärende Weise des In-
telligiblen teilhaft ^) und sehr schwierig zu erfassen , so werden
wir keine irrige Behauptung aussprechen. Soweit es aber nach
dem Vorgesagten möglich ist, seine Natur zu treffen, würde man
so am besten sagen : als Feuer erscheine jedesmal sein feurig ge-
wordener Teil , der wässerig gewordene als Wasser ; Erde und
Luft aber, soweit es Nachbilder davon aufnimmt" ^).
So hat denn dieser Abschnitt, dessen innere Einheit sich
schon äusserlich in der Gleichheit seines Anfangs- und Schluss-
gedankens ankündigt, im wesentlichen nur gezeigt, was die Ma-
terie nicht ist, nicht, was sie ist. Die Aufnehmerin alles Wer-
denden, war in Kürze das Resultat, hat in sich selbst keine der Be-
stimmtheiten, welche als Nachbilder des wahrhaft Seienden in sie
eintreten. Ebensowenig wird sie durch die Aufnahme derselben in-
nerlich afficiert. Sie bleibt darum unveränderlich die für alles Auf-
nahmefähige. Aber was diese Natur, welche alles aufnimmt,
nun für sich ist, das ist noch nicht im geringsten deuthch
geworden. Zweimal zwar hiess es, die Wesensbeschaffenheit,
das Vermögen (Jvvafiig) der Materie bestehe darin, Aufneh-
merin von allem zu sein (49 A; 50 B)*); allein hier ist ihr Wesen
*) Auf die über die Deutung der letzten Worte zwischen Susemihl II, 405
und Zeller II' a, 610, 1 bestehende Meinungsverschiedenheit braucht hier aus
dem Grunde nicht näher eingegangen zu werden, weil dieselbe für unsere Absicht
ohne Belang ist.
*) Mit Unrecht sieht Bassfreund a. a. 0. S. 24 — und schon Überweg a.
a. 0. S. 58 scheint die Sache ähnlich zu fassen — hierin den Gedanken, die
Materie sei , „wenn auch in etwas anderer Weise als die Ideen", intelligibel.
Wie schon Zeller II* a, 641, 4 erinnert, zeigt 50 G, dass nicht von der Er-
kennbarkeit der Materie durch unsere Vernunft die Rede ist, sondern von
der „schwer zu sagenden" realen Gestaltung derselben, welche von den
Ideen ausgeht.
*) 51 Aj <fi6 rfij riji» Tov yry ovoTos öparov xai TtävTcos aia-9-tixov firjrspa xal
v7io(fo)^f,v |Ui?T* yijv /Jnj'rt dtpa fitJTt nvQ fii'^ri vdotQ Xeyu)fiev, flirre oaa ix xovxcov
fiiJTt i$ mv ravta yeyovev' dkX' ävo^arov eidöf ti xal oifiOQfpov , nuvdej^s's, fieraXafi-
ßdvov de dnoQüüTaTa nji tov vo7]Tov xai dvOaXonozaTOv avTo XeyovTts ov ipevaöfie-d-a,
xtt-&^ oaov &" ex tcSv n^eiQTjiuevmv dvvarov eif/ixveia-d-at rijs (fivaeto( avrov, r^(f av ti(
oQ-d-oraTa Xeyoi, nvQ /nev exüaroTt avrov t6 nenvQco/ue'vov fXEQOc (paivta-&ai, ro dt
vyQavS-iv vdooQ, yrjV dt xal dcQa, xad-' oaov av fxiiwijfiaTa Tovrotv de'^irai,
*) Das Missverständnis von Teichmüller, der (Stud. z. Gesch. d. Begr. S.
134 Zweiter Absclinitt. Plato.
nur bestimmt im Gegensatz zu dem in sie Eintretenden; eine für
sich verstündliche Bestimmung der Materie ist damit noch nicht
gegeben. So sagt auch Aristoteles von der Vernunft, ihre Natur
bestehe in nichts anderem, als darin, dass sie die Möglichkeit von
allem sei i), obwohl er von ihrem Wesen doch noch manche an-
derweitige Bestimmung zu geben weiss. Wir werden darum von
vornherein geneigt sein, von dem nächsten Abschnitt eine mehr
positive Gharacterisierung der Materie zu erwarten. Sollte aber
diesem Erwarten in der That entsprochen werden, so werden wir
keineswegs, wie das wohl geschehen ist 2), an dem verspäteten Auf-
treten einer solchen Bestimmung Anstoss nehmen und sie des-
halb für etwas bloss Nebensächliches erklären; wir werden viel-
mehr im Gegenteil eine künstlerische wie logische Notwendigkeit
darin erkennen, dass Plato mit der Hauptsache, mit der positiven
Lösung des Problems, erst zuletzt kommt.
Die fundamentale Bedeutung dieses, wiederum durch eine be-
sondere Übergangsformel markierten Abschnittes liegt vor allem
darin, dass derselbe die ganze Untersuchung in den engsten Zu-
sammenhang mit der eigenthchen Grundlage des gesamten plato-
nischen Systems, der Ideenlehre, bringt. Zwar hatten schon die
voraufgehenden Erörterungen mehrfach diese Lehre gestreift, in-
dem sie die ein- und austretenden Formen als Nachahmungen
des ewig Seienden bezeichneten (49 A; 50 G); aber den Aus-
gangspunct aller Untersuchungen jenes Abschnittes bildete doch
immer wieder der Gedanke, dass die sichtbaren Elemente den An-
forderungen an ein Princip der Körperhchkeit nicht genügten, und
dass dieses Princip daher im Gegensatz zu ihnen bestimmt wer-
den müsse. Jetzt aber wird die Frage nach der Existenz der
Ideen sofort in den Vordergrund gerückt. Nicht bloss stillschwei-
gend angenommen, wie im Vorigen, wird das Dasein dieser idea-
len Wesenheiten; es wird vielmehr in einer bedeutsamen Aus-
335 f.) in der ih'wnic: Tim. 50 B den aristotelischen Begriff der Möglichkeit fin-
den will, ist durch Zeller IP a, 615, 3 g. E. überzeugend zurückgewiesen. Tim.
49 A zeigt, dass (Irr«,«^- mit i^i-an gleichbedeutend; vgl. oben S. 126.
') Arist. de an. III 4, 429 a 21: ''^Oje «»,'<r arrar ti'rai (fvair iiijrff^i/ni- nkX'
ij r (tri 1,1- <ni liri-otTov. Vgl. Teichmüller , Stud. zur Geschichte der Begriffe.
S. 333 Anm.
») Bassfreund, S. 25 f.
Darstellung des Timaeus. Die drei Gattungen. 135
führung mit einer solchen eindringenden Gründlichheit bewiesen,
dass gerade diese Stelle von jeher als classischer Beleg für jene
platonische Lehre betrachtet worden ist. All diese Momente zei-
gen, dass nunmehr die endgültige Discussion eröffnet und die
eigentliche Entscheidung über das Wesen der Materie gefällt
werden soll.
Giebt es ein Feuer an sich, fragt Plato (51 B), und alles
dasjenige, wovon wir stets behaupten, dass jegliches an und für
sich sei, oder ist allein dasjenige vorhanden, was wir sehen und
sonst vermittelst des Körpers wahrnehmen? Wenn Wissen und
richtige Meinung, beantwortet Plato die Frage, zwei verschiedene
Gattungen bilden, so giebt es derartige, den Sinnen nicht zugäng-
liche, nur im Denken erfassbare Ideen; wenn nicht, so müssen
wir alles, was wir vermittelst des Körpers wahrnehmen, als ein
festes Sein ansehen^). Aber die wesenthche Verschiedenheit von
Wissen und richtigem Meinen wird dadurch erwiesen, dass das
erstere nur durch Belehrung, das zweite dagegen durch Über-
redung erzeugt wird. „Da das aber sich so verhält, so müssen
wir einräumen, dass Eines sei die sich selbst gleiche Idee^ ein
Unentstandenes und Unvergängliches, welches weder von anders-
woher etwas in sich aufnimmt, noch irgend in ein anderes ein-
geht, ein Unsichtbares, auch durch andere Sinne nicht Wahr-
nehmbares , dasjenige , dessen Betrachtung dem vernünftigen
Denken anheimfiel; ein Zweites aber sei das ihm Gleichnamige
und Ähnliche, sinnlich Wahrnehmbare, Gewordene, stets Wech-
selnde, an einem Orte {sv rivi tötim) Entstehende und von da
wieder Verschwindende, durch ein mit Sinneswahrnehmung ver-
bundenes Meinen Erfassbare ; eine dritte Gattung bilde ferner
stets das Räumliche (to irjg x^C"?, wofür 52 D schlechtweg x^Q'^Oy
des Vergehens nicht Fähige, allem, dem ein Entstehen zukommt,
eine Stelle [sögav) Gewährende, selbst aber ohne Sinneswahrneh-
mung durch ein gewisses unechtes Denken {loyia^w xivi vöit(p)
Erfassbare, kaum Glaubhafte" ^).
') Ähnlich peßawtaTu eh-ai von der Festigkeit der Ideen Phileb. 15 B; vgl.
Tim. 29 B.
') 51 E: TOVTOV fff ovTMS iy^ovrwv ößo}.oyr,Tiov iv ßiv etvai tÖ y.arä Tavrd ei-
(fo( f)(ov , äyev^vtjTov xal dvri')?.t&gov, ovrt fis eavTo eiade^6,uevov aX?.o äXXoS-tv ovre
avro eis aXXo noi löv , aögarov ife xal a?.?.u)s dvaia-d^fTov , xorro ü (fr} votjois ei'lrj^ev
imaxontiv' ro d' 6ß(6vvßov o/uotöv tt Ixtivw devrtQov, ala&r/Tov, '/ewr^rdv, ntifOQrjixi-
136
Zweiter Abschnitt. Plato.
Es werden hier also drei Gattungen unterschieden: 1. die
Idee; 2. das der Idee Ähnhche, d. h, die ein- und austretenden
Formen resp. die sinnlichen Dinge ') ; 3. die als das Räumliche
bezeichnete Gattung, unter der wir offenbar die „Aufnehmerin",
also die sogenannte platonische Materie, zu verstehen haben. Das
Verhältnis der drei Gattungen möge folgende Tabelle veran-
schaulichen :
Seinsweise :
Erkenntnis-
weise :
I. Die Idee,
stets gleicli
ungeworden
unvergänglich
weder aufnehmend,
noch eingehend.
(an keinem Orte 50 G)
nicht wahrnelimbar
durch Denken er-
fassbar
II. Das Gleichnamige. III. Der Raum.
(stets gleich 50 B)
stets wechselnd
geworden
vergänglich
(aus- und eingehend
52 G)
an einem Orte
wahrnehmbar
durch Meinung er-
fassbar.
V
unvergänglich
alles aufnehmend
Ort
nicht wahrnehmbar
durch ein Pseudo-
denken erfassbar.
Da die „Aufnehmerin" dieses Abschnittes als unsichtbar (51 A;
5:2 A. B) und stets gleich (50 B) beschrieben wird, so kann sie
mit der als sichtbar und bewegt geschilderten Masse, welche der
Weltordner beim Beginn seiner Thätigkeit übernahm (30 A) nicht
ohne weiteres zusammenfallen^), mag auch beides gelegentlich
für Plato in einander übergehen ^). Wir werden daher beide
Vorstellungen von der Materie mit einer von Stallbaum*), Martin^)
u. a. verwendeten Ausdrucksweise als primäre und secun-
vov dti, yiyvofievöv rt f'v tivi tönu) xai nälcv exti&ev dnoXXvfievov, ifö^j] fxex' ata&ij-
aeii)g neQiXrjnröv' TQitov ife av yevog ov t6 T'^g ^caQag dei, (p^o^dv ov 7iQoade)[6/Jicvov,
i'd^av <ie naqiy^ov ooa ey^ei yivtaiv naaiv, amn /fe nir' dvaiaS-rjoias dmov koyia/uw
TIVI vo&M, iinyi? niaTGv (das Komma richtig hinter Xnyiainj) nvi rn&w seitBekker).
*) Vgl. S. 132.
') AVenn Tennemann, Syst. der plat. Phil. III, 36 1. beides dadurch zu vereinigen
sucht, dass er dem op«^'"' 30 A den Sinn unterlegt: für Gott sichtbar, so
braucht auf eine solche Künstelei wohl nicht näher eingegangen zu werden.
*) Vgl. Tim. 88 D, wo der Tiaijvr, rur narTÜi , d. h. der primären Materie
die regellose Bewegung der secundären beigelegt wird.
*) In seiner Ausgabe des Timäus, proleg. c. 5 und zu p. 49 A.
») Etudes II, p. 204 u. ö.
Darstellung des Timaeus. Die drei Gattungen. Der Xoyia/x6s vö&os. 137
däre Materie von einander unterscheiden, ohne indes über das
gegenseitige Verhältnis dieser beiden Vorstellungen schon jetzt
irgend eine Bestimmung treffen, oder gar den von Stallbaum und
Martin mit jenen Ausdrücken verbundenen Sinn herübernehmen
zu wollen *). Ebenso müssen wir die Frage, was Plato eigentlich
meine, wenn er die primäre Materie, nunmehr einen bestimmten
Ausdruck für dieselbe einführend, als Raum bezeichnet, der fol-
genden Erörterung überlassen.
Nur auf eine Frage, zu welcher jene Beschreibung Anlass
giebt, möge schon hier eingegangen werden. Sie betrifft die
Natur des Denkprocesses, durch den wir die Materie erkennen
sollen. Plato bezeichnet denselben als „unechtes Denken", als
loyiOfidg vöd^og. Worin das Wesen dieses ;,unechten Denkens"
bestehe, hat er nicht näher ausgeführt. Die Neueren ^) denken dabei
zumeist an einen Analogieschluss, In der That stützt Aristoteles
seinen Begriff der Materie auf einen solchen. Wie zur Bild-
säule das Erz und zum Bett das Holz, heisst es bei ihm, so ver-
halte sich die Materie zur individuellen Substanz ^). Schon der
falsche Timaeus der Locrer hat den platonischen und den aristo-
telischen Ausdruck identificiert*), und ihm ist Alexander von
Aphrodisias ^) gefolgt. Allein jenes „unechte" Denken dürfte von
Plato in demselben Sinne einem ;,echten" entgegengesetzt sein,
wie derselbe auch sonst echte (yrrjöirj) und unechte (rdi^ry) Tu-
gend *'), echte und unechte Lust ^) u. dgl. gegenüberstellt. Bei
der unechten Tugend u. s. w. ist die Form die gleiche wie bei
*) Dass wir mit dieser Unterscheidung zweier Vorstellungen von der
Materie uns zu Zeller IP a, 611 f. nicht in sachlichem Widerspruch befinden,
wird sich später ergeben, wo gezeigt wird, dass beide Vorstellungen nur die-
selbe Sache bezeichnen, nämlich die eine in mythischer, die andere in phi-
losophischer Auffassung. S. S. 145 ff'.
') H. F. Richter, De ideis Piatonis lihellus (Lipsiae 1827) p. 45. Ritter IP,
362 Anm. *). Martin II, 177. Susemihl II, 408. Ribbing I, 334 Anm. Teich-
müUer, Stud. z. Gesch. d. Begr. S. 316 f. ; Literarische Fehden im vierten Jahr-
hundert V. Chr. Bd. I (Breslau 1881), S. 294. Schwegler-Kösthn, Griech. Phil.
3. Aufl. S. 212.
3) Arist. phys. I 7, 191 a 7—12.
*) Tim. Locr. 94 B.
*j Alex. Aphrod. quaest. nat. I 1, p. 14 Spengel.
«) Plat. rep. VII 536 A ; vgl. 535 C.
') Plat. rep. IX, 587 B.
138 Zweiter Absclinitl. Plato.
der echten; aber es fehlt ihr der Inhalt jener. Ein solcher Ge-
gensatz trifft beim Analogieschluss nicht zu; der Analogieschluss,
durch welchen Aristoteles auf den Begriff der Materie geführt
wird, ist vielmehr, so lange wir nur die Schlussweise und nicht
die besondere Natur des Begriffs der Materie ins Auge fassen,
ohne Zweifel ein wahrer und eigentlicher Schluss. Nicht der
Schluss aufs Analoge, sondern nur das Analogon des Schlusses
kann als unechter Schluss bezeichnet werden.
Nun hat aber für Plato das schliessende Denken (XoyiafAÖg),
welches zum empirischen im Gegensatze steht') und auch im
Timaeus die mehr apriorische Überlegung bezeichnet ^), sein Ge-
biet im Reiche des idealen Seins, nicht in dem der wahrnehm-
baren Welt 3). Ein „unechter" Schluss wird also da vorliegen,
wo die Form des schliessenden Denkens nicht auf das ideale Sein
angewendet wird, sondern wo sie die Negation des idealen Seins,
mithin, wenn wir den Begriff des Seienden auf jenes ideale Sein
beschränken, das Nichtseiende zu ihrem Gegenstande hat. So
fassen den Begriff dieses Pseudoschlusses mit Recht die Neupia-
toniker, indem sie daran erinnern, dass die Vernunft, wenn sie,
von ihrem Gegenstande, den Ideen, abgewendet denke, nur so
denke, wie das Auge die Finsternis sehe, ein uneigentliches, un-
echtes Denken, bei dem die Vernunft, aller Bestimmtheit entklei-
det und doch thätig, vielmehr Nicht- Vernunft, ihr Denken ein
Nicht-Denken sei*). Nichts anderes meint auch wohl G. Schnei-
der, wenn er unter dem Ausdruck die Abstraction verstanden
wissen will, d. h,, wenn ich recht verstehe, nicht die gesonderte
Auffassung einer mehreren Dingen gemeinsamen Bestimmung,
sondern das Absehen von aller Bestimmtheit^).
') Phileb. 57 A; vgl. 11 B; 21 C. — '') Tim. 30 B.
^) Parin. 129 E — 130 A (vgl. Stallbaum zu der Stelle). Die }.oy,aiJm )Mnpa.
fö,una haben hier ganz denselben Sinn, wie 135 E das, was durch den Ao'yof
erfasst und als Idee betrachtet wird.
*) Plotin. enn. II, 4, 10 (vgl. auch enn. 1 8, 9 und II 4, 12) und fast wört-
lich übereinstimmend Simplic. phys. I, p. 226, 28—29 (vgl. IV, p. 542, 20—22);
Damasc. de princ. c. 25, p. 61 Kopp; Ghalcid. in Tim. c. 335; 345. Proclus da-
gegen (in Tim. 79 A— B) denkt beim arnoyia/nöi vo»os an eine döia , welche
den koyos erfasst, aber ohne Einsicht in den Grund (vgl. Ghalcid. in Tim. c.
347 Schluss) ; doch lässt auch er die Erkenntnis des i'v, welche von ihm zu der
Erkenntnis der ?;.;, in Parallele gesetzt wird, durch einen //T;-i'o?f erfolgen (79 Bj.
*) G. Schneider, Die Piaton. Metaph. S. 8—9. Auch Siebeck, Forschungen
Darstellung des Timaeus. Der Xoyio/u6s vö&os. Der Raum. 139
Jene dritte Gattung nun ist es, „im Hinblick; auf welche wir
träumen und behaupten, jedes Seiende müsse an einem Orte («V
iivi TÖno)) sein und einen Raum (xoöqccv rtva) einnehmen; was
aber weder auf der Erde noch im Himmel sei, existiere überhaupt
nicht" 1). Das gelte nur vom Abbild, erwidert Plato, nicht von
der nicht erträumten, in Wahrheit bestehenden Wesenheit, die,
so lange sie von etwas verschieden, in diesem nicht sein könne
(5i^ B— C). Dass wir jene dritte Gattung selbst nur wie im Traume
erblickten, wie Teichmüller 2) meint, sagt Plato nicht. Das Träu-
men besteht vielmehr darin, dass man das nur für die Erschei-
nung Gültige — nämlich die Notwendigkeit, an einem Orte zu
sein — für etwas absolut Gültiges hält und es auch auf die Idee
überträgt. Auch die Republik vergleicht die Verwechselung der
Erscheinung mit dem an sich Seienden dem schlafenden oder
wachenden Träumen. 3). Ist es doch in der That die Eigentüm-
lichkeit des Traumes, dass er das Bild für die Wirklichkeit hält.
Noch einmal fasst Plato (52 D) seine Ausführungen zusam-
men, um dann wieder an die secundäre Materie, die „umher-
schweifende Ursache", anzuknüpfen, von der die Erörterung im
zweiten Hauptabschnitt ursprünglich ausgegangen war. Das
Seiende, der Ort und das Werden, recapituliert er, sind drei und
dreifach, noch bevor das Weltgebäude geworden war*). Die
S. 114 und H. F. Müller, Plotins Forschung nach der Materie, Berlin 1882, S. 5
scheinen eine ähnliche Auffassung zu vertreten. Unklar bleiben die Ausfüh-
rungen von Michelis, Philos. Piatons II, S. 161 f.
*) Wie Simplic. phys. IV, p. 521, 24 gesehen, ist hiergegen gerichtet Arist.
phys. IV 1, 208 a 29: rä n -/np ovra nnvrtg vnoXaßßävovai ehal nov' ril yap fxij
ov ovda/uov fi'vai' iror ya'(< tan T(jaye?.ai^o( rj atfiyS;
') Teichmüller , Stud. z. Gesch. d. Begr. S. 329. Ähnliches findet man
übrigens auch bei Jowett in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Timaeus
(The dialogues of Plato, translated intoEnglish, 2. ed. Oxford 1875, Bd. III S.573).
3) Plat. rep. V, 476 G.
*) 52 D: ovTOf fifv ort' fJ'i; TTa^d rij^ ^"^f <Urj(f.ov ?.oyia&fig iv xf(faXaiw cfe-
ih)a&iii ).ö'fog, (iv T( y.ai )^(i)pav xai yeveaiv fi'vai tqui T(tiyjj xai ttqIv ovQavov ye-
ve'a&ai. Die hier aufgeführte yeveaiv steht jedenfalls im Sinne des yr/roufvor 52 A,
ye'vfaiv e'xov 49 A, ähnlich wie bei Aristoteles de pari. an. 1 1, 641 b 31: yevt-
aig f.iev yuQ i6 a^re'Qua, ovai'a de rd liXog. — Natürlich ist diesG Stelle denen, welche
in der secundären Materie und dem zeitlichen Weltanfang bei Plato nur eine
mythische Einkleidung erblicken , keineswegs entgangen. Ganz ohne Grund
140 Zweiter Abschnitt. Plato.
Ammo des Werdens aber, und damit kehrt er zur secundären
Materie zurück, indem sie wässerig und feurig wird, die Formen
der Erde und der Luft aufnimmt, wird in ihren verschiedenen
Teilen sehr verschieden gestaltet. Dadurch ging das Gleich-
gewicht in ihr verloren; alles schwankte und ward regellos hin-
und hergeschüttelt, doch so, dass die gleichartigen Teilchen sich,
wie Korn und Spreu beim Worfeln in einer Getreideschwinge,
vorwiegend zu einander gesellten.
Augenscheinlich haben diese phantastischen Ausführungen
keinen andern Zweck, als zu zeigen, wie aus der unsichtbaren
primären Materie jene unregelmässig bewegte, sichtbare Masse
entstanden sei, die secundäre Materie, welcher der Weltbildner
durch die Weltseele Vernunft und Ordnung mitteilte.
Freilich tritt jetzt die Unklarheit, in welche eine derartige
mythische Darstellung verwickeln musste, deutlich zutage.
Konnte es im Eingange des zweiten Hauptabschnittes scheinen,
als solle die Entwickelung des unbeseelteii Stoffes als Werk der
Notwendigkeit dem Werke der Vernunft selbständig zur Seite ge-
stellt werden, so sehen wir hier den Plato dem Gedanken sich
nicht verschliessen, dass alle Ordnung, auch die in der körper-
lichen Welt als solcher, auf die göttliche Causalität, d. h. auf die
Vernunft, zurückzuführen sei. Dadurch erhält nun seine Dar-
stellung das merkwürdig Zwitterhafte, was schon oben in dem
Bilde der von der Vernunft überredeten Notwendigkeit zutage
trat '). Jene ungeregelte Masse, wie der Weltbildner sie vorfand,
soll doch wieder nur Spuren von Feuer, Wasser, Erde und Luft
aufgewiesen, sie soll an alle dem, wie es am Schluss des zweiten
schreibt Bassfrennd a. a. 0. S. 72: „Dass das Werden überhaupt . . . nach
Plato nicht erst mit der Weltbildung begann, wie Boeckh und Zeller offenbar
voraussetzen, darüber hätte sie, ausser andern Gründen, auch schon die aus-
drückliche Erklärung Plato's (52 D) belehren können, dass neben der Idee und
der Materie als Drittes die yiptaii bereits existiert hat, bevor noch die geord-
nete Welt entstanden war." Als ob nicht Boeckh a. a. 0. S. 33 und Zeller II' a,
611,2 (und lange vor ihnen der Cardinal Bessarion, In calumniatorern Piatonis
II 5, fol. 18r med. ed. Aid.) sich ausdrücklicli mit der Stelle auseinandersetz-
ten (vgl. auch Bobertag a. a. 0. S. 30). Übrigens hätte Bassfreund aus
Proclus in Tim. 87 G ersehen können, dass sein Einwand bereits von
dem Platoniker Atticus vorgebracht wurde, den Gegnern der Ansicht dieses
aber wenig Beschwerde bereitete.
1) S. S. 122 ff.
Darstellung des Timaeus. Das Unbestimmte derselben. 141
Hauptabschnittes (G9 B) heisst, nur durch Zufall teilgehabt haben,
so dass man doch eigentlich von Feuer, Wasser u. s. w. nicht
habe reden können. Darum habe Gott alles nach Formen und
Zahlen geordnet, indem er das Ungeordnete aufs beste ein-
richtete 1).
Damit ist der Übergang zu der auf Formen und Zahlen
beruhenden Bildung der Elementarkörper und Elementardreiecke
gegeben, welche uns später noch beschäftigen wird 2). Bei diesen
Elementardreiecken will die Auflösung des Materiellen im Ti-
maeus stehen bleiben, aber „dem Gott, und von den Menschen
dem, w:elcher ihm befreundet," seien noch weiter zurückliegende
Principien bekannt ^). In der That hat Plato später die Auflö-
sung noch weiter getrieben. Der Philebus bezeichnet als „Gabe
der Götter", die von einem Prometheus (d. h. Pythagoras) auf
die Erde gebracht und von den Alten, welche den Göttern noch
näher wohnten, überliefert wäre, die Einsicht, dass alles aus
Grenze und Unbegrenztem zusammengesetzt sei^).
Als Inhalt der „wahrscheinlichen" Reden hat sich uns also
Folgendes ergeben. Die geordnete Welt entsteht dadurch, dass
der Weltbildner die regellose sichtbare Masse, welche er vorfand
— die secundäre Materie — , mit der von ihm gebildeten Welt-
seele verband und ihr dadurch Vernunft und geordnete astrono-
mische Bewegung einpflanzte. Die secundäre Materie hat zu ihrer
Voraussetzung die unsichtbare „Aufnehmerin", die primäre Materie,
in welcher die Formen von Feuer, Wasser u. s. w. als Bilder der
entsprechenden Ideen entstehen und wieder verschwinden, nur in
Spuren und zufälhg ohne den Gott, in geordneter Weise erst durch
sein Eingreifen.
Gehen wir numehr auf eine Prüfung der einzelnen Puncte
ein, um aus der mythischen Einkleidung den philosophischen Kern
*) 53 B : ore <f entj^tiQtno xoOßtTa&ai t6 nS.v , nvg n^tSrov xai vtfivQ xal yr/v
yai äeQa, i)^vj] fiev e)[OVTa avrwv arra, nrzvrÜTiaai ye fiijv ifiaxei/ntva aianep fixog e][etv
anav, öjav änjj tivos i^fof, ovrto dr, rozt ntifoxÖTa ravra TiQüiiov äitay^rifintiaato
tVfhai tt xal dpiS-ßoi^. — *) S. S. 167 fif.
*) 53 D: xäf &' eri tovjwv ägX"^ avwS-ev S^tos oi(fe xai dvdgdiv ö'f av exeivw
'») Phileb. 16 C. vgl. 25 B— D. Mit Unrecht denkt Schneider, Piaton. Me-
taph. S. 138 f. bei den „noch höheren Principien" an die Tim. 53 B genannten
Zahlen.
14J Zweiter Abschnitt. Plato.
herauszuschcälen. Ich beginne mit der „secundären" Materie, als
derjenigen Bestimmung, bei welcher augenscheinlich das mythische
Element eine ganz hervorragende Rolle spielt.
3. Die sogeuannte „seciindäre" Materie des Timaeus; ihr my-
thischer Character.
Die Stellen des Timaeus, in welchen die sogenannte secun-
däre Materie, d. h. eine unabhängig von der Gottheit vor der
Weltbildung existierende ungeordnete, sichtbare Masse von Plato
soll gelehrt sein, haben bereits im Vorigen Erwähnung gefunden.
„Da nämlich der Gott" — schildert die erste (30 A) — „alles
gut, böse aber nichts nach Vermögen haben wollte, so übernahm
er alles Sichtbare, welches nicht in Ruhe befindlich, sondern be-
wegt war ohne Maass und Regel, und führte es zur Ordnung aus
der Unordnung, jenes besser durchaus erachtend als dieses."
Weitere Ausführungen bietet der Schluss des über die Materie han-
delnden Abschnitts (52 G— 53 B), sowie die kurze Recapitulation
am Schlüsse der zweiten Hauptabteilung (69 B). Beide wurden
im Voraufgehenden des genaueren analysiert ').
Dem Wortlaute nach wird an allen diesen Stellen überein-
stimmend eine vor der Weltbildung vorhandene, von Gott unab-
hängige 2) und daher ewige, sichtbare und körperliche Materie
gelehrt, die, an sich ungeordnet, von Gott in der Zeit zur Ord-
nung der Welt gefügt wird.
Diese ungewordene Materie als Substrat der Weltbildung
durch den Demiurgen ist denn auch schon im Altertum als inte-
grierender Teil der philosophischen Anschauung Plato 's betrachtet
worden. Bereits Aristoteles 3), hat in jener schon vor der Weltbil-
dung vorhandenen regellos bewegten Masse eine dogmatische Lehr-
bestimmung gefunden'*). Es sind ihm darin nicht wenige gefolgt,
>) S. S. 139-141.
*) Denn der Demiurg übernimmt dieselbe; vgl. 30 A: 77 « (> « ;.a/if,)'r, 68 E:
n aQeXdußavfr. Boeckh a. a. S. 16 übersetzt zwar das erstere dm'ch: „so um-
fasste er", als sollte ntQilaßwv gelesen werden; allein TiaQuhi^^ini- ist dm'ch die
angeführte Parallelstelle und durch Gitate wie ])ei Simpl. de cael. I, p. 136 b
35 K. (Schol. in Arist. 488 b 17) geschützt.
") Arist. de cael. III 2, 300 b 16—19.
*) Vgl. übrigens Zeller, Piaton. Stud. S. 199 ff. S. 207 ff.
Die „secundäre" Materie des Timaeus. 143
welche dadurch noch über ihn hinausgehen, dass sie jene Materie
ausdrücklich als ungeworden bezeichnen. So Plutarch von Ghae-
ronea'), der dieselbe übrigens mit der von uns als primärer be-
zeichneten Materie identificiert 2), Atticus 3), Albinus *) und andere
Platoniker •'^), Auch von manchen christlichen Schriftstellern, wie
Justinus ^), Theophilus ^), Tertullian^), Irenaeus^, Athanasius •*),
Epiphanius *i), wird gelegentlich dem Plato eine solche ungo wor-
dene Materie als Stoff der Weltbildung zugeschrieben, während
andere, wie Tatian^*), Athenagoras ^^3), Lactantius '*), Clemens
von Alexandrien '^), Maximus ^''), Origenes*''), Gregor von Nyssa '^),
*) Plut. de an. in Tim. proer. c. 5, p. 1014 B.
•) Plut. 1. c. 5, p. 1014 ü.
») Atticus bei Euseb. praep. ev. XV, 6,4; vgl. Procl. in Tim. 84F — 85A;
87 A; 99 G; 116 B. E; 119 B; 187 B. Stob. ecl. I, p. 894.
*) Alcinous (d. i. Albinus; vgl. Freudenthal, Hellenistische Studien, Heft
3, Berlin 1879, S. 275 ff.), ituiuay.ahxoi T'-n- nhUon'Oi ,foy,udTMv, c. 13 g. Ende.
») Procl. in Tim. 84 F. Vgl. Ghalcid. in Tim. c. 300. 352.
^) Justin, cohort. ad. Graec. c. 20, p. 19 A ; c. 23 p. 22 A. Die Authenticität der
Schrift ist zwar zweifelhaft, doch ist dieselbe jedenfalls älter, als von denen, die sie
für pseudo-justinisch halten, meistens angenommen wird ; vgl. Diels, Doxographi p.
17. Was die unbezweifelten Schriften Justin's angeht, so heisst es in der er-
sten Apologie (c. 59, p. 92 C) nur, dass nach Plato Gott die Welt gebildet habe,
indem er die gestaltlose Materie umwandelte, ohne dass hier auf die Frage
nach dem Entstanden- oder Unentstandensein der Materie selbst eingegangen
würde.
') Theophil, ad Autol. H. c. 4, p. 82 G.
^) TertuU. adv. Valent. c. 15 (vgl. adv. Hermog, c. 4). Damit steht apolo-
get. c. 11 nicht im Widerspruch.
^) Iren, contr. haer. II 14, 4Massuet; vgl. fragm. graec. 34 Mass. (32 Harvey)
aus der Schrift /r^pt rot' /ud] ttvat dyivvijTov ii]v v?.i,v , wo indes Plato nicht ge-
nannt ist.
'•*) Athanas. orat. de hum. nat. a Ghristo assumpta c. 2, tom. I p. 39 B.
ed. Maurin.
") Epiphan. de haeres. I 6, vol. I p. 293, 30 Dindorf.
") Tatian. orat. ad Graec. c. 5, p. 145 G; c. 12, p. 151 A.
") Athenagor. suppl. pro Christian, c. 4, p. 5 B.
'*) Lactant. Institut. Christ. II 8.
") Glem. Alex, ström. V 14, 89, p. 699 P. (vol. III, p. 70, 3—8 Dind.).
**) Maximus bei Euseb. praep. ev. VII 22 (vgl. Möller, Gesch. d. Kosmolo-
gie in der griech. Kirche, Halle 1860. S. 561—564).
") Origen. de princ. II 1, 4 p. 78 Delarue; comment. in gen. p. 2.
»«) Gregor. Nyss. de hom. opif. c. 23, vol. I, p, 210 D Migne.
144 Zweiter Abschnitt. Plato.
Basilius^), Augustinus 2) u. s. w., die vielgestaltige Ansicht von
einer ewigen Materie bekämpfen, aber ohne sie dem Plato beizu-
legen, vielmehr durchweg gegen gnostische und verwandte Irr-
lohren sich wendend ='), Dagegen verwarfen Porphyr und lam-
blich'*) eine solche wörtliche Auslegung und mit ihnen alle
diejenigen , welche den zeitlichen Ursprung der Welt bei Plato
als mythische Einkleidung zu bloss didactischem Zwecke ansehen.
Suchten die Neuplatoniker doch aus einer, freilich willkürlich
interpretierten, Stelle des Philebus zu erweisen, dass die Materie,
weit entfernt, etwa ewig neben der Gottheit zu existieren, viel-
mehr nach Plato's Lehre ein ewiges Werk der Gottheit sei^) —
eine Behauptung, welche von Hierocles*') sogar in der Weise zu-
gespitzt wurde, dass er dem Plato die Lehre beilegte, Gott habe
die Materie aus dem Nichts geschaffen. Wenn wir letztere An-
nahme nun auch als unhistorisch zurückweisen müssen, so ist
doch jedenfalls von den Neuplatonikern, namentlich von Proclus,
schlagend dargethan , wie sehr jene buchstäbliche Interpreta-
tion dem Geiste Plato's und sicheren Sätzen seines Systemes
widerstreitet. Gleichwohl hat dieselbe, um ältere Gelehrte, wie
Joh. Christoph Wolf), Christ. Meiners ^) u. a. zu übergehen,
auch bei manchen Neueren, wie Martin ^j, Könitzer i"), Über-
weg '1), Bassfreund ^2 j^ Köstlin ^3) u. s. w. Beifall gefunden, wäh*-
rend andere, wie namentlich Zeller **) und Susemihl*^), und
*) Basil. in hexaem. hom. II, c. % p. 13 Garner.
») August, de civ. Dei XII, 15.
") Damit dürfte Boeckh's Frage, a. a. 0. S. 27, genügend beantwortet sein.
*) Procl. in Tim. 116 G. Philopon. de aetern. mundi VI 2.
'•) Vgl. Procl. in Tim. 117 B, der sich auf Phileb. 23 G beruft.
") Hierocl. de provid., excerpiert bei Phot. cod. 251.
^ Jo. Christoph. Wolf, Manichaeismus ante Manichaeos, et in Ghristianismo
redivivus. Hamburg 1707. p. 124—133.
®) Christoph Meiners, Gesch. des Ursprungs, Fortgangs u. Verfalls d. Wis-
senschaften in Griechenland u. Rom. Bd. 2. Lemgo 1782. S. 710 f.
«) Etudes II, 181 ff.
") A. a. 0. S. 9.
") Rhein. Mus. IX S. 76 Anm. 40.
") A. a. 0. S. 72. 74.
»«) Köstlin-Schwegler S. 212 ff.
'*) Piaton. Stud. S. 209. Phil. d. Gr. W a, 611 f.
") Genet. Entw. II, 329.
Der mythische flhaiacter der „secundären Materie". 145
lange vor ihnen der einsichtige Cardinal Bessarion"), in dieser
Frage sich durchaus auf die Seite der Neuplatoniker stellen 2).
In der Thai ist unschwer einzusehen, dass die Vorstellung
einer solchen schon vor der Weltbildung vorhandenen bewegten
sichtbaren Materie, wenn wir in ihr mehr als die mythische Ver-
selbständigung eines ideellen Momentes erblicken wollen, mit si-
cheren Sätzen nicht nur des platonischen Systems überhaupt,
sondern sogar des Timaeus selbst unvereinbar ist. Denn :
1. Drückt jene Vorstellung die wahre Ansicht Plato's aus, so
muss die Bewegung, welche jener Materie beigelegt wird 3), ihren
Ursprung in dieser selbst haben. Nun ist aber für Plato das einzige
sich selbst Bewegende^ welches zugleich für alles andere, was be-
wegt wird, Quelle und Princip der Bewegung ist, die Seele*).
Diese aber gehört nach der Darstellung des Timaeus zu dem erst
bei der Weltbildung vom Demiurgen Hergestellten -^j. P ur eine
bereits vor der Bildung der Seele bestehende Materie fehlt es also
an jedem Princip der Bewegung.
Dem Gewichte dieses Grundes haben sich schon die alten
Verteidiger einer vor der Weltschöpfung vorhandenen ungeord-
neten Materie, Plutarch^) und Atticus') nicht entziehen können.
Sie leugnen deshalb unsern Untersatz, dass die Seele erst bei der
Weltbildung entstanden sei. Derselbe gelte nur für die gute, ge-
ordnete Weltseele, nicht aber auch für die in den Gesetzen ^) er-
wähnte böse, ungeordnete Weltseele ^). Nur die erstere sei ent-
standen; die letztere sei ewig. Wie nun die gute Weltseele Prin-
cip der geordneten Bewegungen des Kosmos, so sei die böse
Princip der ungeregelten Bewegung jener der Weltbildung vor-
') In calumn. Plat. II 5, fol, 18 ff.; III 21, toi. 5lv.
■') Ebenso Ast, Abh. d. Münch. Akad. 1835. S, 48. Fouillee, Philo:>ophie
de Piaton I, 542 — 553 und andere.
') xivorufvnv 30 A; Ygl. 5:2 E.
*) Phaedr. 245 CI: lUvj^r} naaa d-&äruToi . . . juürov ih; rö arro xifocr (die
Seele), «t* ovx dno/.iiJiov tavTÖj ov nojf xivoi\ufvoi\ d/.Xu xcti loii ä?.?.oii oaa xtreJ-
rat Toiro n%yr, xai änyi] xivr^anof. Vgl. leg. X, 892, A tf. 895 B — 896 A.
'-) Tim. 34 C. tf.
«) Plut. de an in Tim. proer. c. 6 p. 1U14 D ß.; quaest, Plat. IV p. 1003 A.
'j Procl. in Tim. IKi B; 119 B.
8) Plat. leg. X, 896 D ff. 897 D ff. 898 D ff'.
") Plut. de an. in Tim. proer. e. (i p 1014 E (vgl de Is. et Osir. c. 48 p.
370 F); Procl. in Tim. 116 C; C.haleid. in Tim. c. 31 u. 300.
Baenmker: Das Problem der Materie etc. 10
146 Zweiter Ahschnitt. Plato.
aufgehenden Materie *). Diese böse Weltseele sei unter der „Not-
wendigkeit" zu verstehen, von der nach dem Timaeus jene Masse
beherrscht werde. Eine weitere Spur derselben finde sich in
dem „Verhängnis" (etinaQiLis'vrj) und der „eingeborenen Begierde"
{^vix(fVTog snii^vinia), welche nach dem Politicus^) die Welt in
gewissen Perioden verleiten soll, sich in entgegengesetzter Rich-
tung zu der von Gott bewirkten geordneten Bewegung zu dre-
hen. 3). Das Verhältnis der unvernünftigen und der vernünftigen
Seele denkt Plutarch so, dass die unvernünftige, ungeordnete
Seele durch Teilnahme an der göttlichen Vernunft und Harmonie
selbst verständig werde ^) und nunmehr aus dem ungeordneten
Körper der Welt einen geordneten mache •^). So ist nur die Ord-
nung der Körperwelt und die nach Zahl und Verhältnis geord-
nete Seele Gottes Werk«*); die ungeordnete Materie dagegen
samt der sie bewegenden ungeordneten Seele steht dem Demiur-
gen als selbständiges Princip gegenüber.
Plutarch's Ausführungen, von Christ. Meiners ^) wiederholt und
von Tennemann '^) in sein System der platonischen Philosophie
aufgenommen, fanden einen scharfsinnigen Verteidiger an Mar-
tin'-'), dem dann auch Überweg ^o) und Könitzer^^) gefolgt sind.
Gleichwohl muss dieser Ausweg als durchaus unhaltbar zurück-
gewiesen werden. Denn:
a) Verwunderung müsste es zunächst erregen, dass im gan-
zen Timaeus von dieser bösen Weltseele nirgendwo die Rede ist.
Wenn derselben eine so bedeutsame Aufgabe zufällt, warum
') Ähnlich wohl Numenius ; vgl. Ghalcid. in Tim. c. 297 : Platonemque
idem Numenius laudat, quod duas mundi animas autumet, unam beneflcientis-
simam, malignam alteram, scilicet silvam.
''} Politic. 272 E.
') Flut, de an. in Tim. proer. c. 6, p. 1015 A, der für die sifinQfie'vrj des
Politicus ohne weiteres die dväyxij des Timaeus einschwärzt.
*) Plut. quaest. Plat. II, 2, p. 1001 G. ; IV, p. 1003 A.
<") Ebend. IV, p. 1003 A-B.
*) de an. proer. c. 5, p. 1014 G; c. 9, p. 1017 A.
') Ghristoph Meiners, Vermischte Philosophische Schriften. I. Theil. Leip-
zig 1775. S. 38 ff.
») A. a. 0. Bd. III, S. 175 ff.
«) Etudes I, .S55-357. II, 171 f. 182 f.
•») Rhein. Mus. IX, S. 76 Anm. 40.
•M A. a. 0. S. 18 f.
Der inylliisclie Cliiuacler der ^secuiulären Matei'ie." 147
spricht dann Plato nirgendwo von ihrV Man erinnert an
die „Notwendigkeit", welche an mehreren Stellen des Dialoges
der Vernunft entgegengesetzt wird. Aber schon oben wurde be-
wiesen, dass diese keineswegs im Sinne einer der Materie inne-
wohnenden Kraft gedeutet werden darf^). In Wirklichkeit redet
der Timaeus nur von einem in unordentlicher Bewegung befind-
lichen ,, Sichtbaren" (ogaröv 30 A), von einem durch die Verbin-
dung mit der Weltseele zur Ordnung gebrachten „Körperhchen"
Ooifiaxoaiöig 3G D — E), was doch beides auf die Seele nicht passt.
b) Fälschlich beruft sich jene Ansicht auf den Politicus. Denn
abgesehen davon, dass dort ganz augenscheinlich ein Mythus vor-
getragen wird, aus dem man nicht ohne weiteres Schlüsse auf das
philosophische System Plato 's ziehen kann, erscheint im Politi-
cus nicht eine böse Weltseele, sondern das Körperliche {Ocofia-
Tosidsg) selbst als Ursache der Unordnung^). Auch daran kann
erinnert werden, dass Plato die Ansicht daselbst ausdrücklich zu-
rückweist, als seien es zwei einander feindliche Götter, welche die
Welt in entgegengesetzten Richtungen bewegten ^). Eine von der
Gottheit nicht hervorgebrachte, gleich ihr ewige Weltseele würde
aber schliesslich auf eine solche dem guten Gotte gegenüber-
stehende böse Gottheit hinauslaufen.
c) Nicht einmal die böse Weltseele der Gesetze*) kann in
Wahrheit zu dem von Plutarch beabsichtigten Zwecke verwendet
werden. Ich will kein Gewicht darauf legen, dass die ganze
über die Weltseele handelnde Stelle gleich manchen anderen
in diesem nachgelassenen Werke Plato's den dringenden Ver-
dacht einer Interpolation durch den Herausgeber Philipp von
Opus erweckt^). Denn wie mehrere andere, eine gänzlich verdü-
sterte Lebensauffassung atmende Stellen, passt sie besser zu dem in
der Epinomis stark hervortretenden Pessimismus des Opuntiers, als
zu der ernsten, aber hoffenden Weltanschauung Plato's ^). Auch dem
•) S. S. 125 Anm. 1.
«) Politic. 273 B.
') Politic. 269 E.
*) über welclie man Zeller 11^ a, 828 ff., Susemihl II 598 ff. vergleiche.
") Vgl. Zeller IF a, 833, 3; phil. bist. Abbandl. d. Berl. Ak. d. Wissenscb.
1873. S. 97, 2.
*) Vgl. Ivo Bruns, Plato's Gesetze vor und nach ihrer Herausgabe durch
Philippos von Opus. Weimar 18S0. S. (\i u. bes. 95—105.
10 *
14<S Zweiter Abschnitt. Plato.
Umstände soll kein besonderer Wert beigelegt werden, dass die Aus-
führung in den Gesetzen die Deutung nicht ausschliesst, als werde
die Unterscheidung der bösen Weltseele im Gegensatz zu der
guten gleich anfangs nur als mögliche begriffliche Distinction ein-
geführt, deren eines Glied im Verlaufe der Untersuchung als
nicht stichhaltig sich erweist *). Allein auch zugegeben, es rühre
jene Ausführung wirklich von Plato her und sie enthalte in der
That eine positive Lehrbestinnnung, so besteht doch eine nicht
wegzuräumende Verschiedenheit zwischen der bösen Weltseele,
wie sie in den Gesetzen beschrieben wird, und der ungeordneten
Weltseele, wie Plutarch sie auf Grund der Angaben des Timaeus
postuliert hat und von seinem Standpunct aus hat postulieren
müssen. Die böse Weltseele der Gesetze, wenn sie überhaupt
exisfiert^ existiert nicht ohne die gute ; beide bestehen von vorn-
herein neben und unabhängig von einander. Die im Timaeus
gegebenen Bestimmungen dagegen lassen dem Plutarch in der
That keine Wahl. Er muss die ungeordnete Weltseele, welche das
bewegende Princip der vorweltlichen Materie bildet, als die frühere
bezeichnen und die geordnete Weltseele durch götthches Ein-
greifen seitens der weltordnenden Vernunft aus ihr hervorgehen
lassen. Nicht einmal in der bösen Seele der Gesetze findet
also jene in den Timaeus hineingetragene ungeordnete Weltseele
eine Entsprechung. Damit aber ist auch die letzte Stütze hin-
fällig geworden, an welche sich die Deutung der „Notwendigkeit"
als eines die ungeordnete Materie bewegenden seelischen Princips
lehnen könnte.
i. Ein weiterer Beweis für den mythischen Character jener
ungeordneten vorweltlichen Materie liegt in der Unmöglichkeit,
den Ursprung der Spuren von Formelementen, welche sie nach
Plato bereits einschliessen soll, aus den platonischen Prämissen
abzuleiten. Die Materie, welche an sich formlos ist (50 D; 51 A),
jeder Form entbehrt (52 E; 51 A), unsichtbar, überhaupt nicht
wahrnehmbar ist (51 A; 52 B), wird zur sichtbaren (30 A) se-
cundären Materie nur durch das Minimum von Form, die ,, Spu-
ren" von Feuer, Wasser, Erde, Luft (53 B), an denen sie durch
Zufall etwa Teil hat (69 B). Woher diese Formen? Die Ma-
0 Siel)eck, Gesch. d. P.syehol. I a. 279 f.
Der mythische Gharacter der „secundären Materie". 149
terie kann sie nicht aus sich hervorgebracht haben, wie Martin ')
will. Denn die primäre Materie ist nur Ort zur Aufnahme, selbst
kraftlos; die „Notwendigkeit" aber, auf die Martin sich beruft, ist
in dem von ihm gemeinten Sinne, wie oben gezeigt wurde, eine
Fiction. Ebenso ist es unrichtig, wenn Könitzer^) schon das
Sichtbar- und Tastbarwerden des der Weltbildung zugrunde
liegenden Substrates auf den Weltbildner zurückführt; denn von
der bereits als sichtbar und tastbar beschriebenen Materie sagt
Plato ausdrücklich, dass sie sich in einem Zustande befinde, wie
er zu erwarten sei , wo der Gott fern ist (53 B) , und anderswo
(30 A) heisst es von dem Gotte, dass er seiner Natur nach nur
das Schönste hervorbringen könne. Auch an die Ideen ist nicht
zu denken^). Wie sollte auch, wo die Ideen wirken, noch
für Unordnung und Zufall (61) B) Raum bleiben? Und ist
es für Plato nicht undenkbar, dass die Ideen, wo sie einmal als
Ursache auftreten, nichts weiter hervorbringen sollten, als blosse
„Spuren" (53 B)?*). Dem Timaeus völlig fremd aber ist die Art
und Weise, in welcher von Überweg ^) die Ideen zur Erklärung
jener Spuren von Formen herangezogen werden. Im An-
schluss an später zu besprechende Bestimmungen des Philebus
unterscheidet derselbe in den Ideen das Begrenzte und das Unbe-
grenzte. Indem nun dieses Unbegrenzte, welches in den Ideen
ist, auf die neben den Ideen existierende primitive Materie ein-
wirkte, entwickelte sich eine ungeordnete und regellos wechselnde
Figurenbildung, in Folge derer die primäre Materie in die secun-
däre Materie übergehe. Nicht übel ausgedacht — nur schade,
dass kein Wort davon im Timaeus steht. Zudem wäre es, wenn
einmal eine intelligibele Materie in den Ideen als Princip ange-
nommen werden soll, doch systematischer und natürlicher gewe-
1) Etudes II 182 f.
») A. a. 0. S. 9.
3) Bassfreund, S. 72.
*) Anders ist es, wenn wir die vor der Wellbildung existierende secundäre
Materie mit ihren „Spuren" als mythisch lietrachten, und nun fragen, woher
die primäre Materie zu den wohlausgebildeten Formen gelangt sei , ohne die
sie niclit ist. Wenn wir dafür die Ideen in Anspruch nehmen, so fallen eben
hier die Bedenken fort , auf welche bei der Frage nach dem Ursprung jener
, Spuren" der Abstand zwischen der Ursache und der ihrer unwürdigen
Wirkung führte. Bassfreund hat beides nicht genügend auseinander gehalten.
») Rhein. Mus. IX, S. 79 f.
150 Zweiler Abschnitt. Plato.
sen, nicht jene regellosen Formen aus ihr hervorgehen zu lassen,
für die, da sie docli immerhin Formen bleihen, das formale Ele-
ment in den Ideen eine näher liegende Erklärung gegeben hätte,
sondern mit den Neuplatonikern *) die primäre Materie als ihr Ab-
bild zu betrachten.
3. Nach Plutarch und Atticus, erinnert Proclus^), soll die
Ordnungslosigkeit vor der Weltbildung geherrscht haben ^). Nun
aber ist ,vor' eine Zeitbestimmung. Die Zeit indes lässt der
Timaeus erst mit der Einrichtung des Weltgebäudes entstanden
sein*); denn die intelligibele Welt, auf deren Dauer man verw^ei-
f?en könnte, existiert in zeitloser Ewigkeit, ohne die Unterschiede
von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu kennen^). Jenes
,vor' würde also eine Zeit vor der Zeit verlangen.
4. Ein vierter, gleichfalls schon von Proclus^) gegen Atticus
geltend gemachter Grund ist dieser. Die secundäre Materie wird
von Plato als sichtbar beschrieben (Tim. 30 A). Nach demselben
Plato aber ist alles Wahrnehmbare geworden (28 B. G). Jene
Materie kann also nicht als ewig und ungeworden der als zeitlich
gedachten Weltentstehung voraufgehen.
5. Man kann nicht einwenden, dass der Begriff des Geworden-
seins bloss die Abhängigkeit von einer äussern Ursache verlange,
eine zeitliche Entstehung aber nicht notwendig einschliesse.
Denn in diesem Falle müssten doch jedenfalls Materie und Welt-
bildung auf gleichem Fusse behandelt werden. Es darf nicht das
Gewordensein der Materie als zeitlose Abhängigkeit, das Gewor-
densein des Kosmos als zeitliche Entstehung gedeutet werden.
P^ür jene der Weltbildung voraufgehende secundäre Materie bleibt
also bei dieser Deutung des Begriffs ,ge worden' erst recht kein
Platz. Nun gehört in der That auch die Schilderung der zeit-
lichen Weltentstehung im Timaeus zu den mythischen Zügen des
Dialogs. Eine zeitliche Entstehung der Welt widerstreitet, wie
schon die maassgebenden Platoerklärer des Altertums erkannten.
'-) Plotin. enn. II 4, 15. Procl. in Tim. 117 B u. a.
^) Procl. in Tim. 85 A.
^) Vgl. Plut. de an. in Tim. proer. c. 5, p. 1014 B: cixoa,uia ydp ijv ra tiqo
rijS TOv y.oafiov yfvioKog.
*) ßtx' ovQavov 38 B.
*) Für den ahöv giebt es kein r,v, iati, 'iarai, Tim. 37 D — E.
6) Prod. in Tim. 87 B.
Der mythische Gharacter der „secundären" Materie. Die „primäre" Materie. 151
mehreren von Plato unzweideutig als dogmatisch ausgesproche-
nen Sätzen. Das Gewordensein der AVeit ist für ihn, wenn er
nicht in Widerspruch mit sich selbst geraten soll, nur als ewi-
ges Gewordensein denkbar '). Ist aber die Vorstellung von einer
zeitlichen Weltentstehung bei Plato blosser Mythus, so kann die
Vorstellung von einer vor der Weltbildung existierenden ungeord-
neten Materie, da sie jene andere Vorstellung zur unerlässlichen
Voraussetzung hat, gleichfalls nur einen ausschliesslich mythischen
Gharacter tragen. Darin darf uns der anscheinend lehrhafte Ton
nicht irre machen, in dem alle diese Dinge von Plato erzählt
werden. Sagt er doch, wie Zeller ^) erinnert, sogar von der offen-
bar erfundenen Atlantisfabel, sie sei nicht ein erdichteter My-
thus, sondern eine wahrhafte Rede ^).
So werden wir denn mit Zeller*), dessen Auffassung sich
uns in allen ihren Teilen bewährt hat, in dieser ungeregelten,
sichtbaren Masse vor der Weltbildung, der sogenannten secun-
dären Materie, nichts als eine vorübergehende Aufnahme der alten
Vorstellimg vom Chaos erblicken. So lange Plato rein mythisch
redet, verwertet er im Anschluss an alte Kosmologien dieselbe
zeitweilig, um sie, sobald er tiefer eindringt, durch eine mehr
wissenschaftliche Vorstellung zu ersetzen, die aus den Principien
seines eigenen Systemes sich ergiebt. Das aber ist die sogenannte
primäre Materie.
4. Die „primäre" Materie des Timaeus.
a. Die verschiedenen Ansichten.
Schon in unserer Analyse desjenigen Abschnittes des Timäus,
welcher die Lehre von der primären Materie enthält (48 E — 52 E),
wurde darauf hingewiesen, was den Hauptwiderstreit der Mei-
nungen ausmacht. Will Plato, das ist die Frage, wenn er jene dritte
Gattung als die des Raumes , als den Ort bezeichnet , damit eine
Wesensbestimmung der Materie geben , oder will er nur eine re-
^) Vgl. meinen Aufsatz über die Ewiglceit der Welt bei Plato in den
Philos. Monatsheften, Bd. XXIIl. 1887. S. 513 ff.
2) Phil. d. Gr. IF a 668, 1.
») Plat. Tim. 26 D.
*) Phil. d. Gr. IP a, 612.
152 Zweiter Abschnill. Pluto.
lativo Eigenschaft derselben anzeigen? Gehl ihm der Begriff der
M alerie ohne Rest in dem des leeren Raumes auf, oder denkt er,
unbeschadet jener Ausdrücke, die Materie als einen unabhängig
von der Idealwelt für sich bestehenden Stoff, der nur in Bezug
auf die in ihn eintretenden Formbestimmtheiten als deren „Ort"
oder „Raum" bezeichnet wird?
Die zwei Auffassungen , welche sich so gegenüber stehen^
sind wiederum in mehrfacher Weise modificiert worden. Diejeni-
gen, welche unter der platonischen Materie einen Stoff verstan-
den, fassten diesen entweder als den qualitätslosen Körper,
oder als die Möglichkeit der Körperwelt; diejenigen, welche
sie auf den Raum deuteten, sahen in diesem entweder eine bloss
subjective Erscheinung, oder aber eine, wenn auch wesenlose,
so doch objective Form. So ergaben sich vier verschiedene Auf-
fassungen. Die erste nähert den Plato der Stoa; die zweite legt
ihm aristotelische Auffassungen unter; die vierte macht ihn zu
einem subjectiven Idealisten des achtzehnten oder neunzehnten
Jahrhunderts; nur die dritte wird seiner Eigentümlichkeit gerecht.
Als qualitätslosen Körper {aw(xa äuotor) fassten, wohl
unter dem Einfluss verwandter Anschauungen in ihrer eigenen
Lehre, die Stoiker die platonische Lehre und nach ihrem Vor-
gange der Neuplatoniker Pericles aus Lydien, der Schüler des
Proclus '). Eine verwandte Auffassung begegnet uns bei denjeni-
gen Piatonikern, welche, wie Plutarch und Atticus, die se-
cundäre Materie mit der primären identincieren, in der Materie
also den formlosen Stoff im Sinne einer chaotischen körperlichen
Masse erblicken -). Ganz im Einklänge damit steht es, dass Plu-
tarch bei der Beschreibung der platonischen Materie sich der
stoischen Terminologie bedient, indem er die Ausdrücke Substanz
und Materie als gleichbedeutend verwendet 2).
') Simpl. phys. I, p. 227, 23: «AA' tnnd'tj Tirn xal ordt «! Tvyövtt^ iv (fiXo-
/.uOuifin TU nPToioi' fiitiua Ti]v n(i'int'aTi,r rAijr fivai i^aoi yai xard .■1(iiaT0if/.t;v xni
y.aia II ?.dT mi^a , tnanf(> tuiv fiiv naXaiinv oi ^Ttoixuf, nor i)i i'hhv UfQixÄfii n ^liutüf,
xahiig riv i'yoi fxvTTjV t7ii(Jxc'>lia(r{hai Tijv ifö^av.
') S. S. 143 Anm. 2.
^) Plut. de an. in Tim. proer. c. 5, p. 1014 B: r»;r ')/' (jrai((r xni 'i-h,i\ tS
•>i<r '/(yovfv. p. 1014 D : r/ LUV ovv aiöuarus ovoia liii XfyofuVTii vn' artav navthyort;
(fr(jfii>( y<f(>a( Tf x<(i Ti{yt]rr,c: twv yfvvrjdiv oi'y htQu rii; f'nrir. Dass die Materie
für Plutarch nicht mit dem Räume zusammenfällt, geht aus c. (i, p. 1014 E
hervor, wo es heisst. die Materie besitze Raum.
Die „primäre " Materie des Timaeus. Verschiedene Ansichten. 153
Nicht viel anders als jene Stoiker und Pericles der Lyder
scheint die grosse Zahl neuerer Schriftsteller die Sache sich vor-
gestellt zu haben , welche es immer und inmier wieder betonen,
dass die platonische Materie kein Nichtseiendes, nicht der blosse
Raum, sondern ein realer Stoff sei. So schon Tennemann'); fer-
ner HegeP), Bonitz^), Könitzer*), Ebben^), Strümpell*^),
Überweg'), Wohlstein^), Schneider''), Köstlin»"), Peipers'^),
Bassfreund '2), Sartorius '3). Bei einem Teile dieser Schrift-
steller, wie bei Überweg i^) und Bassfreund i-^), begegnen wir zwar
der Behauptung, jener platonische Urstoff sei, obwohl als real,
doch nicht als körperlich zu denken, da die Körperlichkeit bereits
eine Formbestimmtheit einschliesse. Allein da diese Schriftsteller
den aristotelischen Begriff der Materie als der blossen Möglich-
keit des Körperlichen mit Recht dem Plato noch nicht beilegen,
so bleibt ihnen, wollen sie anders mit der von ihnen verfochte-
nen Auffassung der platonischen Materie als eines realen Stoffes
irgend einen Sinn verbinden, in der That nichts anderes übrig,
als den qualitätlosen Körper der Stoiker und des Lyders Pericles
für die Materie Plato's anzusehen.
Die gewöhnliche Auffassung des Altertums ist eine andere.
Dieselbe entstammt dem späteren Syncretismus, welcher Platoni-
sches und Aristotelisches unbefangen verbindet. Darnach ist die
platonische Materie zwar an sich ein Nichts, aber ein solches
Nichts, welches zugleich der Möglichkeit nach alles ist. Unbe-
fangen wird hier der aristotelische Begriff des potentiellen Seins
schon auf Plato übertragen. Nur lässt man den Plato mehr, als es
») System der Piaton. Philos. HL S. 32.
■') Gesch. d. Philos. II, S. ;231 f.
^) Quaestion. Piaton. duae p. 65 f.
*) A. a. 0. S. 25 ffV
*) Fiat, de id. doctr. p. 57.
«) Gesch. d. theoret. Philos. d. Griechen. S, 144 f.
') Rhein. Mus. IX, S. 59 ff.
«) A. a. O. S. 13.
3) Die Piaton. Metaph. S. 20 ff. S. 151 ff.
") in Schwegler's Gesch d. griech. Philos. 3. Aufl. S. 212. 214.
") David Peipers, Ontologia Platonica, p. 433.
") A. a. O. S. 13 ff.
'n Philos. Monatsh. XXII, S, 141 ff.
») Rhein. Mus. IX, S. 58.
>^) A. a. 0. S. 59 f.
154 Zweiter Abschnitt. Plato.
bei Aristoteles der Fall, die Nichtigkeit der Materie betonen. Ist
die Materie nach Aristoteles fast ein Sein i), so soll sie bei Plato
mehr als Nichtsein ; denn als Sein gedacht werden '^). So stellt
die platonische Materie bei dieser Deutung nichts anderes dar,
als die noch mehr schattenhaft gewordene Hyle des Aristoteles.
Die Auffassung ist , von dem einzigen Pericles dem Lyder abge-
sehen , bei den Neuplatonikern die herrschende ^). Unter den
Neueren kommen ihr nahe: Stallbaum, welcher in der Ma-
terie die in dem höchsten Princip vorhandene doppelte Potenz
erbhckt, aus sich einmal die begrenzte intelligibele Natur, d. h.
die Ideen, dann deren Abbild, die Sinnenwelt, zu erzeugen*);
Fouillee, der sie-"") als die ideale Möglichkeit der Welt*^), d. i. als
die mit dem Vorhandensein des positiven Principes , des Guten,
von selbst gegebene Möglichkeit seines negativen Gegenteils, be-
trachtet'), sowie Teichmüller, nach dem die Materie ein positi-
ves Sein, nämlich das Vermögen (dvraiJiig) , d. h. die auf den
Zweck bezogene Natur, sein soll ^).
Den angeführten Auffassungen ist das miteinander gemein,
dass nach ihnen Plato, wenn er die Materie als den Raum be-
zeichnet, hierin nicht das Wesen der Materie, sondern nur eine
relative Eigenschaft derselben angiebt. Er soll sie so bezeich-
nen nur aufgrund ihres Verhaltens gegenüber den in sie eintre-
1) iyyvs ovaia ntog Arist. phys. I 9, 192 a 6.
^) Schon Aristoteles hatte den Unterschied der beiderseitigen Ansichten
dahin bestimmt; phys. 1 9, 192 a 3 ff.
^) Statt aller möge Ghaicidius genannt werden, der die platonische
Lehre (iuxta Platonici dogmatis auctoritatem, in Tim. c. 321) dahin erklärt:
Neque corpus neque incorporeum quiddam posse dici simpliciter puto (sc. sil-
vam), sed tarn corpus quam incorporeum possibilitate (in Tim. c. 319).
*) In seiner Ausgabe des Parmenides, S. 137 f. (Vgl. auch Jahn's Jahrb.
f. Phil. u. Päd. Bd. 35 (1842) S. 64 und die Ausgabe des Timaeus S. 44). Ganz
neuplatonisch wird dort eine doppelte Materie unterschieden , die intelligibele
und die der Sinnendinge , von denen die eine Mögliciikeit der Idee, die andere
Mögliclikeit der Sinnendinge ist. Im Unterschiede vom Neuplatonismus aber
werden beide Möglichkeiten mit der Schöpferkraft des ersten Principes iden
tificiert.
^) unter Berufung auf Theaet. 176 A.
®) Philos. de Piaton. I 547 : la matiere indeterminee, ou la possibilite ideale
du monde.
') A. a. O. S. 551—553.
«) Stud. z. Gesch. d. Begr. S. 332 ff.
Die „primäre" Materie des Timaeus. Verschiedene Ansicliten. 155
tenden Formen. Für diese bilden sie den Aufnahnieort , ohne
dass darum ihr Wesen im Begriffe des Raumes aufginge.
Dem gegenüber hat Boeckh den natürhehen Sinn von Plato's
Worten, an dem auch Aristoteles, der beste Gewährsmann, ent-
schieden festhält 1), energisch geltend gemacht. Nach ihm ist die
platonische Materie , dem Wortlaute des Timäus entsprechend,
eben nichts anderes als der Raum , in den die Dinge mit ihrer
körperlichen Form und ihrem körperlichen Stoff eintreten ^). Der
von Boeckh ausgesprochene Gedanke erfuhr in der Folgezeit ver-
schiedene Wendungen , je nachdem der Begriff des Raumes ge-
fasst wurde.
Einige wenige Historiker meinten, bei Plato bereits ähnliche
Speculationen über die Subjectivität unserer Raumanschauung vor-
aussetzen zu dürfen, wie sie in der modernen Philosophie hervor-
getreten sind. So schreckt Lichtenstädt nicht vor der Behaup-
tung zurück , es „sei in Kant's Beweise, dass die Begriffe von Zeit
und Raum ursprünglich einwohnend, kaum etwas enthalten, was
nicht in Plato's Darstellung ebenfalls aufgefasst wäre" ^). Dage-
gen nähert die Art und Weise, wie Ritter*) und nach ihm Fries ^)
die sinnliche Vorstellung bei Plato als etwas bloss Subjectives zu
erweisen suchen, diesen mehr dem Leibniz an.
Es wird nicht nötig sein, auf diese gänzlich unhistorische Ansicht,
die nichts in den platonischen Schriften für sich anführen kann,
des näheren einzugehen. Sie ist von mehreren genügend wider-
legt worden ^).
Boeckh's Gedanken in dem ursprünglichen Sinne dagegen ha-
ben namentlich Zeller'') und Susemihl*} weiter fortgeführt und
tiefer begründet. Mit ihnen stimmen im ganzen überein: Bran-
dis«). Steinhart 10), Bobertagi») , Ribbing '2), Siebeck i^),
') Vgl. Zeller IP a, 614 f.
') Weltseele im Tim. S. 26.
') Lichtenstädt, Plat. Lehren auf d. Geb. d. Naturf. S. 55.
*) Gesch. d. Philos. II, S. 374 ff.
5) Gesch. d. Philos. Bd. I (Halle 1837). S. 295. 306. 336. 357.
6) Vgl. Brandis, Griech.-röm. Phil. II a, 296 f. Zeller IP a, 616 ff.
') Piaton. Stud. S. 212, Phil. d. Gr. II» a, 609.
8) Genet. Entwickel. II, 405 ff.
«) Griech.-röm. Phil. II a, 301 fdoch vgl. S. 305 Anm. 11).
1«) Plato's Werke VI, 118.
") A. a. 0. S. 40.
") Genet. Darstell, d. Plat. Ideenlehre I, 333 f. — »") Forschungen S. 107 ff.
150 Zweiter Absclinitl. Plato.
Heinze'), wie es scheint auch Martin 2) und (teilweise)
Jackson ^).
h. Die platonische Materie ist weder die qualitativ uiibe-
stiiuiute körperlielie Substanz;, nocli die 9Iögliclikeit
der körperlichen Kubstanz.
Sowohl diejenigen, welche in der platonischen Materie die
qualitativ noch unbestimmte, aber substantial vollendete körper-
liche Substanz erblicken , als auch diejenigen , welche , wie Stall-
baum , Überweg , Bassfreund und Teichmüller , zwar die Körper-
keit der platonischen Materie bestreiten, indem sie ihren Begriff
mehr oder minder dem aristotelischen annähern, aber in dieser
Möglichkeit doch etwas vom leeren Räume zu Unterscheidendes
erblicken, können ihre Ansicht nur dann durchführen, wenn sie
nachweisen , dass der Materie eine von den Ideen sowohl wie
von der blossen Form der Räumlichkeit verschiedene Wesenheit
zukomme. Selbst die Neuplatoniker, denen jene Materie nur der
Wirklichkeit nach nichts, wohl aber der Möglichkeit nach ein
Sein ist, müssen in ihr irgend welche vom leeren Räume ver-
schiedene Eigentümlichkeit, oder wie immer man es nennen mag;
aufweisen.
In der That hat man verschiedene Gründe dafür vorgebracht,
dass Plato der Materie eine solche besondere Wesenheit beilege :
1. Die Materie wird von Plato ganz wie ein realer Stoff be-
schrieben. Sie soll ein ,, dieses", soll das den sogenannten Ele-
menten zugrunde liegende Unveränderliche und Bleibende sein
(49 B ff,); sie wird als bildsame Masse bezeichnet, die fähig sei.
Abdrücke in sich aufzunehmen (50 D); sie w^ird ferner verglichen
mit dem Golde, aus dem allerhand Figuren geformt, mit einer
') in Überweg's Gesch. d. Philos. 7. Aufl. Berlin 1886. S. 167.
») Etudes I, 17; 11, 176 f.
3) Im Journal of Philosophy XIII (1885) S. 18 will Jackson die Lehre des
Timaeus mit der des Philebus in dieser Weise combinieren: Space impressed
with certain regulär figures supplies indeterminate qualities, from which as
materials, certain quantities, acting as forms, develop organisms more or
less perfect according as those quantities more or less closely approximate to
certain Standards.
Die plat. Materie iiit-ht die qualitativ unhestiniiiite icörperl. Sul)stanz. 157
weichen Masse, aus der ein Bildwerk modelliert, mit dem Öle,
dem ein Wohlgeruch mitgeteilt werden soll (50 A ff.)')-
2. Wäre die Materie für Plato nicht eine positive Wesen-
heit, so müsste sie an Realität noch unter der Erscheinungswelt
stehen. Denn wenn schon die Erscheinungswelt die verschwin-
dende Realität, welche ihr zu eigen ist, nur durch die Teilnahme
an den Ideen erlangen soll , so nmss die Materie , falls sie nicht
aus sich eine eigentümliche Realität besitzt, aller Realität bar,
und deshalb eben so tief unter die Erscheinungswelt , wie diese
unter die Ideenwelt gestellt sein. In Wirklichkeit aber schreibt
der Timaeus der Materie einen ungleich höheren Grad von Rea-
lität zu als der Erscheinung. Sie ist Substanz (lovro), diese Acci-
dens (zoiovTov 49 D). Der wechselnden Erscheinung steht sie
als das Beharrliche und sich selbst Gleiche gegenüber (50 B).
Sie ist die Bedingung, diu'ch welche das Sein der Erscheinung
überhaupt erst möglich wird (52 C) *). .Ja, der Timaeus schreibt ihr
sogar, wie wenigstens Teichmüller ä) behauptet, ausdrücklich We-
sen (ovOia) zu.
3. Aber nicht nur der Erscheinung gegenüber legt Plato
der Materie einen höheren Grad von Realität bei; er stellt sie
sogar den Ideen , zwar nicht als ebenbürtig , aber doch als ver-
wandt zur Seite. Die Materie soll, wenn auch in etwas anderer
Weise als die Ideen, intelligibel und ausschliesslich durch eine
logische Operation erfassbar sein *). Ebenso hat sie ihre eigene
Kraft, die der Einwirkung des Weltbildners resp. der Ideen ge-
genüber durchaus selbständig sich geltend macht. Denn wenn
es von der Materie heisst, dass sie von der Vernunft überredet
wird, dass sie nur von der vernünftigen Überredung überwunden
das Meiste zum Guten führe (48 A. 56 G), so wird ihr damit eine
bis zu einem gewissen Grade selbständige Macht zugeschrieben.
Es ist dasselbe Verhältnis zwischen Vernunft und Notwendigkeit,
wie wenn der Mensch die Naturkräfte sich dienstbar macht , in-
>) Bonitz S. 65 Anm. 8. Überweg S. 60. Teichmüller S. 333 ff. Köstlin-
Schwegler S. 213. Schneider S. 21. Bassfreund S. 17. 52. Sartorius S. 151.
') Bassfreund S. 23. Sartorius S. 151. Vgl. Zeller IP a, 622.
") A. a. 0. S. 3.5.5.
*) Bassfreund S. 224, der sich dafür auf 51 B: ^l^^a/un^^llv<>^• <U djnux/tjaiii
II Ij zur fotito? und 52 B: «r'/ii Ufj' (ivaialhi^aim; ü/iiuv /.ir/tauiu riii vuDui Ijcruft.
ir)S Zweiter Ah.-chnitt. I'Jato.
dem er sich den Gesetzen derselben anpasst '). Wenn ferner die
Materie, das der Sinnenwelt zugrunde liegende Substrat, von
Plato als die mit den Ideen zusammenwirkende Mitursache be-
zeichnet wird (40 C. 68 E), so legt er derselben auch hier eine
eigene Kraft bei und bezeichnet sie dadurch offenbar als etwas
Wirkungskräftiges, Reales; denn wo die Wirkung — hier die
Sinnenwelt — etwas Reales ist, da muss auch die Ursache etwas
Reales sein ^). Unerklärlich endlich wäre es, wie die Bewegungen
der Seele durch die körperlichen Bewegungen gestört werden
sollen (43 A ff.), wenn der Stoff nicht eine dem Idealen, wozu
auch die Seele gehört, entgegengesetzte Kraft besässe ^).
Keiner dieser angeführten Gründe ist stichhaltig *). Der
Mehrzahl ist schon durch unsere obige Analyse des betreffenden
Timaeusabschnittes der Boden entzogen worden.
1. Die Behauptung, dass die Materie von Plato ganz wie ein
realer Stoff beschrieben werde, verkennt die Absichten, von wel-
chen gemäss dem Zusammenhange die angezogenen Ausführun-
gen geleitet werden. Aus Vergleichen presst man Lehrbestim-
mungen heraus, die über den Vergleichungspunct völlig hinausge-
hen; polemische Ausführungen beutet man in der Weise aus,
dass alle nicht mit ausdrücklichen Worten zurückgewiesenen Ele-
mente der bekämpften gegnerischen Anschauungen ohne weiteres
den positiven Überzeugungen Plato's zugerechnet werden; man-
chen Worten legt man eine in bestimmter Weise präcisierte Be-
deutung bei, wo doch der Zusammenhang entweder eine allge-
meinere Fassung oder wenigstens eine andere Nuancierung als die
angenommene an die Hand giebt.
Die Naturphilosophen bekämpft Plato zwar zunächst nur so,
dass er ihre Aufstellung bestreitet, ein bestimmtes Element oder
mehrere bestimmte Elemente seien letzter Urgrund des körper-
*) Schneider S. 22 ff. Vgl. A. Trendelenburg, Historische Beiträge zur
Philosophie, II, S. 128 f.
*) Schneider S. 21.
«) Schneider S. 151 f.
■*) Auf die Argumentationen von Teichmüller S. 337 f. näher einzugehen,
dürfte ül)erflüssig sein. Was er über Arianismus, Athanasianismus, Im-
maculata (lonceptio u. dgl. vorbringt, sind mit Gewalt herl)eigezogene, nichts
beweisende Analogien, die zumteil (das über die Immaculata Conceptio Ge-
sagte) die sonderbarsten Missverständnisse enthalten.
Die plat. Materie nicht Jie (jualitativ unbestimmte kürperl. Substanz. 159
liehen Seins, ohne dass er ihnen auch darüber hinaus noch ent-
gegen hielte, der letzte Urgrund sei überhaupt kein körperlicher
StofiF. Aber jenes konnte er aus dem eigenen Standpuncte der
fraglichen Philosophen darthun , die ja die fortwährenden Über-
gänge der Elemente, auf welche Plato seine Einwendungen stützt,
ausdrücklich anerkannten ^) ; dass dagegen das allen Stoffen zu-
grunde Liegende nicht selbst ein Stoff, sondern der Raum sei,
ergab sich erst aus der Anknüpfung an die Ideenlehre, brauchte
also bei jener immanenten Kritik noch nicht berücksichtigt zu
werden.
Wenn dann das allen Stoffen zugrunde Liegende als ein
dieses bezeichnet und als solches dem so beschaffenen ent-
gegengesetzt wird , so bedeutet das , wie oben *) gezeigt wurde,
nicht den Gegensatz von Substanz und Accidenz, sondern von
Bleibendem und Wechselndem. Das Bleibende , Unveränderliche
der Trägerin aller wechselnden Formen aber wird von Plato
ausdrücklich darein gesetzt, dass dieselbe in ihrer Aufnahmefähig-
keit für die in stetem Wechsel eintretenden Formen niemals eine
Einbusse erleide (49 B — G) ^). Es braucht wohl nicht erinnert
zu werden, dass alles das auf den leeren Raum eben so gut
oder besser noch Anwendung findet, als auf einen besonderen
raumerfüllenden Stoff.
Dasselbe ist der Fall, wenn Plato die Materie mit dem Golde
vergleicht, das alle möglichen Formen annehme, oder wenn er
sie figürlich als „bildsame Masse" {ix(^iayt:To%) bezeichnet. Denn
nicht in der Stofflichkeit liegt hier der Vergleichungspunct, son-
dern vielmehr darin ;, dass auf beiden Seiten die Aufnahmefähig-
keit für Neues unter allen Wandlungen unverändert gewahrt
bleibt *). Auch die Vergleiche mit dem geruchlosen Öl , das zur
Salbenbereitung benutzt wird, mit dem geglätteten weichen Stoffe,
dessen der Modellierer sich bedient, haben keinen anderen Zweck,
als zu zeigen, dass die zu untersuchende Grundlage des körper-
lichen Seins nur dann ihre Function, alle Formen aufzunehmen,
erfüllen könne , wenn sie nicht schon vor der Aufnahme eine
derartige Form besitze ^).
1) S. S. 126 Anm.3.
») S. S. 128 f.
^) S. S. 129 f. — *) S. S. 129 f. — ') S. S. 132.
KiO Zweiter Alischnitt. Pluto.
Dass freilich die secundüre Materie, der Sichtbarkeit und
unj^eregelte Bewegung zugelegt wird , bei Plato ganz als realer
Stofl' erscheint, soll nicht in Abrede gestellt werden. Aber dieselbe
ist ja weder mit der primären identisch, noch darf sie überhaupt,
wie oben gezeigt wurde, unter die eigentlich philosophischen
Begriffe des platonischen Systems gerechnet werden.
2. Ebenso ist es unrichtig, dass Plato der Materie einen hö-
heren Grad von Realität beilege, als der Erscheinungswelt. Be-
reits oben wurde bemerkt, dass der Gegensatz des „dieses" und
des „so beschaffenen" keineswegs mit dem von Substanz und
Accidenz gleichgesetzt werden dürfe. Die Beharrlichkeit und die
UnVeränderlichkeit der Materie aber ist von Plato selbst, wie
dort gleichfalls bemerkt wurde, dahin bestimmt worden, dass die
Materie durch keine aufgenommene Form innerlich determiniert
werde ; sondern unverändert ihre Natur bewahre, Aufnehmerin
von allem zu sein. Was steht nun höher, die niemals erfüllte,
stets nach der Form verlangende, in ihrer inneren Leere stets
sich gleichbleibende Materie, oder das Sinnending, welches doch
eine wenigstens zeitweilig bestehende Form, das Nachbild der
ewigen Idealformen, einschliesst?
Und ferner ist es freilich wahr , dass die Materie bei Plato
als Bedingung betrachtet wird, ohne welche das Sein der Erschei-
nung nicht möglich ist. Aber keineswegs muss darum diese Be-
dingung mehr Sein haben als das Bedingte, welchem sein
Sein vielmehr aus der Idee zuströmt. Eine helle Zeichnung ist
nur sichtbar auf dunklem Grunde ; und doch hat dieser , obwohl
Bedingung für die Sichtbarkeit der hellen Zeichnung, nicht etwa
mehr Licht als jene. Die Erscheinung als Abbild {slxwv)^ führt
Plato aus, hat nicht wie die Idee, das wahre Sein, nämlich das In-
sichsein ; ihr eignet die niedere Seinsstufe des Seins in einem
Anderen, dem Räume nämlich (52 B— G). Setzt somit die
Erscheinung dieses Andere — den Raum — in der That voraus,
so tritt dasselbe gleichwohl nicht als bewirkende Ursache des
Seins der Erscheinung auf. Nach dem alten Satze , dass nichts
in der Wirkung sich findet, was nicht auch in der Ursache ent-
halten ist, müsste es in diesem Falle freilich mehr Sein haben,
als die Erscheinung. Es ist vielmehr die Schranke, an welche
die Hervorbringung des Seins gebunden ist ; denn in dem Sein
in einem Andern , in der Räumlichkeit der Erscheinung besteht
Die plat, Materie nicht die ([ualitativ unheslimmte körperl. Substanz. IGl
nicht die Stärke, sondern die Schwäche ihres Seins. Jene Be-
weisführung ist also daritin fehlerhaft, weil sie für die Bedingung
des Wirkens geltend macht, was nur auf die bewirkende Ursache
zutrifft.
Indes sind diese Ausführungen noch immerhin beachtens-
wert. Wenn aber Teichmüller behauptet , dass Plato auch im
Timaeus der Materie Wesen (ovaia) zuschreibe, so misskennt er
den klaren Sinn einer Stelle, deren Bedeutung schon von Martin
gegen Cousin klargestellt war ').
3. Noch viel weniger ist es wahr, dass die Materie bei
Plato hinsichtlich ihrer Realität den Ideen angenäliert werde.
Schon die Behauptung, dass Plato die Materie hinsichtlich ihres
intelligibelen Gharacters nahezu den Ideen gleichsetze, stützt sich
auf übel gedeutete Stellen. Wie früher gezeigt wurde, ist an der
einen gar nicht von der Erkennbarkeit der Materie die Rede 2),
während die andere eher dafür spricht, dass Plato die Materie
als etwas Nichtseiendes, denn dass er sie als etwas Seiendes be-
trachte 3).
Dass aber alle die Stellen, an welchen das Materielle als die
von der Vernunft überredete Notwendigkeit, als Mitursache u.
dgl, bezeichnet wird, keineswegs auf eine der Materie innewoh-
wende Kraft hindeuten, ist oben*) weitläufig auseinandergesetzt
1) Teichmüller gieht zwar nicht an, auf welche Stelle des Timaeus er seine
Behauptung stützt; aller Wahrscheinlichkeit nach aber hat er Tim. 52 C: ovaiag
äfiaiQ yi nwg dvTexo,uevijv im Sinn. Zu dieser Stelle aber bemerkt sclion Mar-
tin (Etudes II, p. 178 note 62;: D'apres la traduction de M. Cousin, les mots
fjtfie'xovai Tr,s ovaiag (ungenaues Gitat!} signifieraient que les choses sensibles
participent ä la substance du lieu. Mais jamais Piaton ne s' est servi du
mot ovaia pour designer la substance indeterminee qu' il nomme lieu rönus,
Xc'Qc, vnoxd/xevor. Odei' sollte Teichmüller an Tim. 35 A denken, wo unter
den Elementen der Seele auch 7} 7it(>l r« aa\attTa yiyvoinevii {oi'aia) angeführt
wird? Aber hier ist unter dem Ausdruck nicht die Materie verstanden; vgl.
Susemihl, Genet. Entwickel. II, 352.
■') Tim. 51 B, wozu vgl. S. 133 Anm. 2.
^) Tim. 52 B, wozu vgl. 137 f. Der Gegner möge sagen, wie denn
Plato ein Nichtreales solle erkannt werden lassen. Man sieht es nicht; ei-
gentlich denken kann man es auch nicht, da alles Denken auf ein Etwas geht.
So bleibt nur eine nicht näher zu qualificierende Abart des Denkens: der Ao-
*) S. S. 117 ff. Vgl. auch Deuschle, der plat. Politikos, S. 26-28.
Baeumker: Das Problem der Materie etc. 11
163 Zweiter Abschnitt. Plalo.
worden. Es wurde dort gezeigt, dass jene Ausdrücke nicht besa-
gen, das Körperliche sei Wirkursache, sondern viehnehr, es sei
notwendige Voraussetzung für das Wirken des Geistigen.
Die körperlichen Bewegungen endlich , durch welche die rei-
nen Bewegungen der Seele gestört werden sollen — gemeint ist
der Strom des Werdens , dei' bei der Nahrungsaufnahme , beim
Wachsen und Abnehmen, bei der sinnlichen Wahrnehmung u. s.
w. den Körper durchfliesst *) — werden nicht unmittelbar aus
der Materie abgeleitet, sondern den durch das Eintreten der For-
men gebildeten Körpern zugeschrieben , deren körperliche Reali-
tät ja nicht in Frage steht. Sie können also als Beleg für eine
der blossen Materie, welche schon vorgängig zu jenen Formen
da ist, innewohnende Kraft nicht angeführt werden ^).
Keineswegs also steht für Plato die Materie über der Erschei-
nungswelt, den Ideen zunächst; vielmehr lässt sich umgekehrt
zeigen, dass er sie in Wahrheit sogar noch unter die Erschei-
nungswelt hinabdrückt. Sie ist ihm etwas schwer Erreichbares
{Sracikonoi' 51 B), kaum Glaubhaftes (f-iöyig thOtöv 5i2 B), eine
schwierige und dunkle Gattung {xakmöv xal df^iv^gov eUog 49 A),
nur durch einen unechten Schluss zu fassen (52 B), Unstreitig
steht also ihre Erkennbarkeit noch unter der Wahrnehmung und
Vorstellung, dem Glauben oder Meinen, wodurch die Sinnenwelt
erkannt werden soll. Nun verhalten sich aber nach einem von
Plato des öfteren, und zwar auch im Timaeus, eingeschärften
Grundsatze die 01)jecte der Erkenntnis zu einander^ wie die Er-
kenntnisarten , durch welche sie erfasst werden ^). Es muss also
auch die Materie , als Object der vom AVissen und Begreifen am
weitesten entfernten Erkenntnis , noch unter der Sinnenwelt ste-
hen, von der es doch noch wenigstens ein Meinen und Glauben
ffiebt *).
*) Vgl. Ps.-Hippocr. de diaeta I, c. 0 — 7.
^) Wollte man erwidern, nach unserer Auffassung seien diese Körper
doch nur mathematische Gebilde, könnten also auf die Seelenbewegungen kei-
nen störenden Einfluss ausüben, so wird später gezeigt werden, dass gerade in
dieser Gleichsetzung des mathematisclien und des physischen Körpers der aucii
von Aristoteles hervorgehobene Fehler Plato's besteht.
■') Tim. 20 B ff. 51 D und besonders rep. V, 477 ff.
*) Besonders schlagend ist folgender Gegensatz. Die Sinnenwelt soll nacli
Tim. 29 G 37 B (vgl. rep. VI, 511 E; 533 E) durch Tz/ar^- erkannt werden. Die
Materie dagegen bezeichnet derselbe Timaeus 52 B als /nöyK; maiüv.
Die plat. Materie nicht die qualitativ unbestimmte körperl. Substanz. 163
Die Gründe also , auf die hin man der platonischen Materie
ein vom Räume und von den Ideen verschiedenes Sein glaubte
beilegen zu müssen, haben sich uns sämtlich als unstichhaltig
erwiesen.
Aber nicht nur, dass jene Ansicht durch die Ausführungen
Plato's nicht gefördert wird; sie sieht vielmehr mit diesen in
mehrfachem Widerspruch. Am stärksten Verstössen natürlich
gegen Plato's Sinn und Geist nicht nur, sondern auch gegen seine
Worte diejenigen, welche unter seiner Materie den qualitätslosen
Körper verstehen; doch auch die, welche jene als die Möglich-
keit der Körper deuten, misskennen seine historische Stellung
und tragen Fremdes in ihn hinein.
Die platonische Materie ist nicht der qualitätslose Kör-
per. Denn
1. Wäre die Materie der bestimmungslose körperliche Stoff,
so wäre sie reale Substanz {ovOia). Wenn diese Substanz auch
der Qualitäten und der läumlichen Bestimmung entbehrte, so
würde sie andererseits dem Werden und Vergelien gänzlich ent-
nommen sein. Als solche aber stände sie hoch über den wech-
selnden und vergehenden Sinnendingen ; sie befände sich in der
nächsten Nachbarschaft der Ideen. Xun sahen wir zwar, dass
von den Anhängern jener Auffassung in der That diese Conse-
quenz gezogen und als platonische Lehre hingestellt ist. Oben
aber wurde die Unrichtigkeit dieser Behaujjtung nachgewiesen
und gezeigt, dass che Materie für Plato vielmehr umgekehrt noch
unter der Erscheinungswelt stehe.
2. Es lässt sich nicht leugnen , dass der Körper , mag er
auch qualitätslos gedacht werden, eine bestimmte Art des Seins
ist. Davon aber müsste es , wie schon Simplicius dem Pericles
einwendet ij, einen Begrilf, eine Definition, ein positives Denken
geben; von einem „unechten Denken" {avJdoyiOfxog rö^og) könnte
nicht mehr die Rede sein.
3. Plato bezeichnet die Materie ausdrücklich als das, was
alle Körper in sich aufnimmt (cfvOtg nüvxa zd aüinara Sexofxevr)
50 Bi. Mag auch dieser Gedanke immerhin proleptisch aufzufas-
sen sein: das, was die Formen aufnimmt, so dass dadurch die
Körper entstehen '^) \ jedenfalls beweist er, dass die Materie nicht
^) Simpl. phys. 1,'p 2^9, 1. — ^j S. S 132 Anm. 1.
11
164 Zweiter Ahsclinitl. Plato.
selbst K()ipei- sein kiJnue. Wenn ferner Plato, wie wiederum be-
reits Simplicins jj^eltend macht '), die Flächen den lu'u'pern ^'e^^en-
iibcr als das Frühere belraclitel (53 C), so würde auch damit
die Annahme, es sei schon die jene Flächen aufnehmende Ma-
terie Körper, im Widerspruch stehen.
4. Nicht ein stringenter Beweis , wuld aber ein Wahrschein-
lichkeitsgrund dürfte durch folgende Überlegung geboten werden.
Wir finden bei Plato die auffallende Beliauptung, dass Leichtig-
keit und Schwere keine absoluten, sond-ern nur relative Bestim-
mungen seien. Ivleinere Massen eines Elementes sollen sich näm-
lich stets nach der Hauptmasse desselben hinbewegen. Da nun
die Hauptmassen der Erde und des Feuers sich an entgegenge-
setzten Orten der Erde befinden; so müssen kleinere Erdteile, die
durch eine hebende Kraft von der Erde entfernt wurden, sich,
sobald sie nicht mehr unterstützt werden, auf diese zu bewegen
und daher, vom Standpuncte eines auf der Erde befindlichen Be-
obachters aus gerechnet, nach unten fallen, d. h. als schwer erschei-
nen. Ebenso müssen in der Erdnähe befindliche kleinere Massen Feuer
sich von der Erde weg zu dem Hauptsitz des Feuers begeben.
Für einen irdischen Beobachter also steigen sie nach oben, d. h.
erscheinen als leicht. Für einen am Himmel befindlichen Beob-
achter dagegen wäre umgekehrt die Erde das leichte, das Feuer
das schwere Element ; die Begriffe Leicht und Schwer, Oben und
Unten hätten für ihn die umgekehrte Geltung wie für den irdi-
schen Beobachter 2). — Man hat diese Theorie vielfach bewun-
dert und sie zu einer Vorausnahme des von Newton aufgestellten
allgemeinen Gesetzes von der Attraction aller Körper heraufge-
schraubt. Mit Unrecht; denn Plato lässt immer nur die ver-
sprengten Teile eines bestimmten Elementes zu der Hauptmasse
dieses sich hinbewegen. Vielmehr verrät sich besonders dadurch
in der platonischen Lehre die Willkür, dass sie es gänzhch un-
erklärt lässt , weshalb denn die Hauptmasse des Feuers am Um-
kreise, die der Erde in der Mitte der Welt ihren Platz gefunden
hat und behauptet. Nirgendwo hat Plato hierfür einen physika-
lischen Grund aufgestellt. Und doch hätte ein solcher unter der
1) Simpl. phys. I, p. 228, 17 ff.
2) Plat. Tim. 62 C. ff. Theophr. de sensu 83. Vgl. Martin, Etudes H,
2-72-278.
Die plat. Materie nicht die ijualitativ unbestinimte körperl. Substanz. 105
Voranssetzimg, dass die Materie ein kcirpeiiicher Stoff sei, gar nicht
so ferne gelegen. Wie andere Philosophen vor ihm und nach
ihm konnte er das Steigen und Fallen der Elemente und damit
auch die Übereinanderschichtung ihrer Hauptmassen auf stoff-
liche Unterschiede beziehen, sei es nun, dass er, wie Democrit^),
die grösseren Körperchen für die schwereren erklärt, oder dass
er, wie Aristoteles 2), die Gewichtsunterschiede auf eine Verschie-
denheit der stofflichen Beschaffenheit als solcher zurückgeführt
hätte. Allein darauf deutet bei Plato keine Spur 2). Hohe Wahr-
scheinlichkeit dürfte daher die Vermutung beanspruchen können,
1) Arist. fle gen. et corr. I 8, 326 a 9— 10; de caelo IV -2, 309 b 29-33.
Theophr. de sensu (51. 71.
-) Avist. de caelo IV 5, 312 a 22 ff. Vgl. Zeller IP b, 439 f.
') Auch nicht Tim. .5G A: lo Ufv orv i'/ov o'/j'/laxac; ßäait? ivxivriTÖTaiov
a'vuyxij Tififvxevat, riiiTjTiy.ühaTÖv rf xai dirraTor nv Tiävii, Tiürrnir ^ eri tf i).aif.QÖ-
TUTor ff d/.i yia T0)V ^rviOTog rmv arrwr {avTov bei Simpl. de Cael. III, p.
256 a 43; 257 b 35 Karsten) jut^uov (wozu vgl. was Simplicius de cael. 255 b
17 — 20 von den Piatonikern sagt). Vielleicht möchte man hier, um den sonst
unleugbaren Widerspruch dieser Stelle mit 63 C zu entfernen, dem i'/.atfQÖv die
Bedeutung beweglich beilegen; aber dem steht entgegen, dass dieser Begriff
schon vorher durch tryivTiTÖrarov gegeben wurde, während doch die Hinzufü-
gung einer neuen Begründung («f 6}.LyLa-cwv ^avtards xt?..) auch einen neuen Be-
griff erwarten lässt. So harmoniert die Stelle zwar nicht mit der 63 C gege-
benen Bestimmung des (?.utf.(,6v; aber für irgend welche Körperlichkeit des
Stoffes spricht auch sie nicht. Denn nach ihr wird das Feuer, und zwar nicht
schlechthin das Element des Feuers, sondern das einzelne Feuerkörperchen,
aus dem Grunde für leichter erklärt, als z. B. das einzelne Luft- oder Wasser-
körperchen, weil , wenn wir die Gesamtmasse des Feuers , der Luft und des
Wassers in ihre Teile, nämlich die Elementardreiecke, zerlegt haben, das Feuer
aus der geringsten Zahl seiner Teile, nämlich aus 4X6 Dreiecken , das Was-
ser aus der grössten Zahl seim r Teile, nämlich aus 20 X 6 Dreiecken, die
Luft aus der mittleren Anzahl, nämlich aus § X 6 Dreiecken, das einzelne
Elementarkörperchen entstehen lässt. Es wird auch hier die Leichtigkeit des
Feuers, die Schwere des Wassers nicht auf einen zwischen den Flächen be-
findlichen, raumfüllenden Stoff, sondern auf diese mathematischen Flächen
selbst zurückgeführt. Allerdings ist der Gedanke Plato's sachlich ein verfehl-
ter, gegen den sich mit Recht die Kritik des Aristoteles wendet. Mit Bezug-
nahme auf unsere Stelle sagt dieser nämlich (de caelo III 1, 299 b 31): iri ei
ufv nhi&ft ßctQVTfna rd aaiijuna ru (entweder m.it den Handschriften F H L M
zu tilgen, als durch Wiederholung der letzten Silbe von amiiaTu. entstanden, oder
in T(« zu verwandeln) rüiv ijimiätnv, /"lantg iv tv> Ti,uaiu) riioiQ/aTue, d'i,).ov ing i'^ei
X(u 1] ynufjLf.i')] y.td t) anyi^ir) ^Sägug' dvä/.o'/ov yuQ 7i(tui a/./.ijAa tyovaiv, uiantQ xul npo-
TiQov iiQr'ixuinv. Andererseits beweist aber gerade diese sachlich unmögliche An-
166 ■ ^ Zweiter Al>schnitt. Plato.
welche den ganzen Sachverhalt auf das natürlichste erklärt, dass
Hcämlich Plato eben deshalb zu jenoni naheliegenden Auskunfts-
mittel nicht gegriffen habe , weil er die Voraussetzung für das-
selbe, die Körperlichkeit der Materie, nicht teilte.
5. Wo Plato von der Materie redet, nennt er sie consequent
stets das, worin (*'»' w) die Dinge, die Nachbilder des Seienden
u. s. w Averden, niemals das, woraus (f-'^ ov) sie werden '). Wo
er dagegen einen wirklich körpei'lichen Stoff meint, bedient er
sich zwar gelegentlich auch des ersteren. Ausdruckes, fügt aber
dann stets den zweiten hinzu ^). Eine solche offenbare Absicht-
nahme wiederum auf das schlagendste, wie Plato in jeder Weise sich dagegen
sträuht, den Untei'schied der Leichtigkeit und Schwere in irgend welche Ver-
bindung mit einem körperlichen Stoffe zu hi'ingen. Übrigens zeigt die ange-
führte aristotelische Stelle de caelo III 1 , wie wenig Recht Überweg hat, zu
behaupten (Rheni. Mus. IX, S. 61 Anm. 2'i): „Noch entscheidender" (gegen die
blosse Raumnatur der platonischen Materie) „ist, dass Aristoteles den Fythago-
reern zwar häufig vorwirft, die sinnlichen Dinge, die doch Schwere haben, aus
bloss räumlichen Elementen, den geometrischen Zahlen, abzuleiten, welche ohne
Schwere seien (metaph I 8, §. 28 [980 a 12]; XIV 3, §. 5 [1090 a 32]; de caelo
III 1, 300 a 15), den Plato dagegen mit diesem Vorwurf gänzlich ver.'^chont."
Wäre Überweg an dem letzten der von ihm angeführten Orte nur einige Zei-
len zurückgegangen, so hätte er in den oben citierten Worten den gleichen
Vorwurf gegen Plato gerichtet gefunden.
*) 49 E: iv (11 t'yytyviilttra dfl t'y.aata arrcov (fnriät,tTtti xkI 7rü).iv ixfT&fv (ivtöXXr-
rai, 50 C: t6 iv u) yr/vnai. 50 D: tv in ixTvnovuevov (vgl. TV7i(oiherTn 50 G)
eviaraiae. 50 E; t6 ndvTU tv(h^6atvov i f avTw yevii. Vgl. aUCh 52 A Und R:
fv Tivi TÖnu). 52 G: fv iitQto ttvL ','iy i'f (T 1) ut (vom Abbild). 50 E: iv nai t/Hv /hu-
laxiüv axTiixara dnuitÜTTui- (in einem Vergleiche\ Dass dagegen an der einzigen
Stelle 50 A, auf welche Ueberweg a. a. 0. S. 60 sich steift , in einer blossen
Vergleichung ix yQrao? steht, beweist nichts, da Plato ja zweifellos das Gold
als einen körperlichen Stoff denkt, es nach dieser Seite hin aber, wie gezeigt
(s. S. 130 f.), mit der fraglichen Grundlage des körperlichen Seins überhaupt
nicht zusammenstellt. Vgl. übrigens Zeller IP' a, 613, 7. Siebeck a. a. 0. S.
108 f. Rassfreund S. 31.
") Politic. 286 D: to iU /taai toviuk; (Handwerkern) aiüfiara naQi^ov, i^ täv
xni iv oig ifijiiioi-Qyocatv öm'aai ruir ztyvinv rvv fi\)tjVTcii xt}.. Phllcb. 59 D — E:
Hl fiiv ilij if)Quvt'iae<i>g Tt xali'it)'nvtjg ni(tt nQÖg tijv dX).ij}jnv ßi^iv ft' Tis ifuiij xa&itnffif't
ifijiiiot^QyoTg rjuav, i^ lav ij iv oig (fei (hißiorgyfTv ti, TittQaxflflOai, xa?jiit; äv fw Xüyiu
(iittxnt,oi. Die von Stallbaum zu Politic. 588 D angeführten Stellen Phileb. 21 A:
uvxorv ir aol 7in(i(ni.itt}u ßaaarlCovTeg lavca und Soph. 235 D: ovd'ii' d'e^ to aaifs-
oTfQnv iv inoi axo^iHv, an denen iv allein, ohne iS steht, gehören nicht hieher,
da von einem körperlichen Stoffe an ihnen keine Rede ist. Über Tim. 50 D
aber: iv w ixxrnoiiiivuv iviaiaiut, was nach Überweg S. 60 mit dem ix )f(ir-aor
Die plat. Materie nicht Jie qualitativ unbestimmte körperl. Substanz. 107
lichkeit des Ausdrucks lässt sich nur dann begreifen, wenn Plato
die Grundlage des körperlichen Seins in der That nicht als kör-
perlichen Stoff betrachtet, sondern wenn sie ihm, um es schon
hier vorweg zu nehmen, mit dem leeren Räume zusammenfällt.
Das bestreitet freilich Bassfreund. Nachdem er sehr gut ge-
zeigt, dass die Materie für Plato nicht das sei, woraus, sondern
das, worin die Dinge werden '\ glaubt erden Sinn dieses Worin
auf das Inhärenzverhältnis beschränken zu sollen-). Die Materie
ist ihm die unveränderliche, allen Dingen zugrunde liegende Sub-
stanz, das allein Reale an den Dingen '^). Nur die Formen, nicht,
wie bei Aristoteles, das Compositum aus Materie und Form, sei
für Plato das Werdende-^); das Werden und Vergehen beruhe
also für ihn auf einem blossen Wechsel der Accidenzien^), näm-
lich der Formen, von dem die Substanz, das Reale an den Din-
gen, unberührt bleibe.
Aber kann das platonisch sein? Von den Ideen soll wirklich
nur der Wechsel, nur die V^eränderlichkeit der Dinge stammen?
Alle Realität in den Dingen ruht auf der behäbigen, soliden, all-
zeit beständigen Materie , was dagegen von den Ideen kommt,
ist nichts als eitel Spiegelfechterei? Die Lehre der materialisli-
schen Stoa mag hier annähernd von ßassfreund auseinanderge-
setzt sein, die Plato's nimmermehr. Wie missverständlich alle
Voraussetzungen sind, von denen Bassfreund's Deduclionen aus-
gehen — seine Deutung des „dieses" und der sich stets gleich-
bleibenden Natur der Materie , seine Benutzung der platonischen
Vergleiche u. s. w. — , wurde oben gezeigt. Nachdem dort die
Quelle des Irrtums verschüttet worden, dürfte es unnütz sein, gegen
den Irrtum, welcher daraus geflossen, noch einen besonderen
Damm zu errichten.
6. Völlig entscheidend endlich gegen die Annahme eines
vom leeren Piaume verschiedenen Stoffes ist die von Plato ge-
gleichbetleutend gebraucht sein soll (obwohl doch gerade der Wechsel zwischen
f'x, wo vom körperlichen Golde, und tv, wo von der Materie gesprochen wird,
ihn hätte stutzig machen sollen), vgl. Bassfreund S. 31 f., der S. 32 auch einige
andere, von Überweg für seine Behauptung, die platonische Materie sei nicht
nur das ev w, sondern auch das /.? oi-, angeführte Gründe als hinfällig erweist.
') S. vor. Anm.
• -) A. a 0. S. 43. — ■•') S. :rl. — ') S. 30-42. - '^) S. o±
168 Zweiter Ahsclinitt. Plato.
lehrte rein mathematische Construction der Elemente aus Flächen.
Zeller 1) sowohl wie Siiseuiihl-) haben auf das schärfste das hier-
aus zu entnehmende Argument betont ; aber unter den Gegnern
hat eigentlich nur Bassfreund ^) ernsthaft versucht, sich mit dem-
selben auseinander zu setzen.
In ähnlicher Weise wie Democrit, mit dem ihn deshalb auch
Aristoteles des öfteren zusamnienstellt^), lässt bekanntlich Plato
alle Körper aus kleinsten discreten Teilchen bestehen, welche sich
durch ihre Form von einander unterscheiden. Um diese Vorstel-
lung mit der Elementenlehre combinieren zu können, stellt er
vier reguläre Polyeder als Grundformen auf, von denen jedesmal
öine einem bestimmten Elemente entsprechen soll : das Tetraeder
dem Feuer, das Octaeder der Luft, das Icosaeder dem Wasser,
das Hexaeder der Erde (55Dff.), wahrend die fünfte jener Figuren,
das Dodecaeder, in Beziehung zum Bau des Weltganzen gebracht
wird (55 C) Die verschiedenen Arten des Flüssigen , Erdartigen
u. s. w. sollen sich dann wieder durch Modificationen dieser
Grundformen unterscheiden (58 D ff.). Zeigt sich schon in dieser
Bevorzugung der regulären geometrischen Figuren, welche gewiss
der durch den Pythagoreisraus grossgezogenen Vorliebe Plato's
für die Mathematik entstammt und an Philolaus einen Vorgänger
hat^), eine bedeutsame Abweichung von Democrit, so wird die
Verschiedenheit beider Anschauungen dadurch eine noch grössere,
dass das Atom Democrits eine nicht weiter zusammengesetzte,
unentstandene und unveränderliche Grösse darstellt, wohingegen
die Polyeder der platonischen Plijsik auf noch einfachere Ele-
mente, die Elementardreiecke, zurückgeführt und als wechselnde
Combination dieser betrachtet werden. Nur die Erde, weil die
quadratischen Flächen ihrer Kuben aus anders gestalteten Drei-
ecken zusammengesetzt sind, als die dreiseitigen Oberflächen der
übrigen Elementarteilchen, wird in den Kreislauf der Elemente
nicht aufgenommen; dagegen entstehen aus einem Teil Wasser
ein Teil Feuer und zwei Teile Luft, indem das Icosaeder zu 20
1) Phil. d. Gr. IP a, 6! 5.
2) Genet. Entwickel. II, 409.
3) A. a. O. S. 56—63.
*} Arist. de caelo III 8, 307 a 19; de gen. et corr. 12, 315 a 28 u. ö.
Vgl. Simplic. de caelo III, p. 252 b 4; 257 b 20 Karsten.
«) S. S. 39. 43.
Die plat. Materie nicht die qualitativ unhestinimte körperl. Suhstanz. 169
Flächen sich in ein Tetraeder zu 4 und 2 Octaeder zu je 8 Flä-
chen spaltet; ein Teil Luft mit 8 Flächen giebt 2 Teile Feuer mit
je 4 Flächen; ebenso 2 Teile Feuer einen Teil Luft, 2'/> Teile
Luft einen Teil Wasser (Tim. 56 D— E).
Wie man sieht, werden bei diesen Verwandlungen allein die
Flächen in Rechnung gebracht; auf den körperlichen Inhalt be-
zogen würden die Verhältnisse, nach denen Plato die Verwand-
lung erfolgen lässt, absolut falsch sein. Die Realität der sinn-
lichen Dinge stützt sich also für Plato allein auf die Flächen, aus
denen die Elementarteilchen zusammengesetzt sind; einen den Raum
zwischen diesen füllenden besonderen Stoff kennt er nicht. Die
ein- und austretenden Flächen aber sind Wirkungen der Ideen.
Denn das Mathematische ist für Plato Nachahmung des Idealen.
Gott , d. h. der Einfluss der Idee , hat die Elemente nach Form
und Zahl gestaltet '). So stammt das Reale in den Dingen nach
Plato's Ansicht aus den Ideen; eine an sich reale materielle
Substanz neben den Ideen kennt er nicht.
Es ist begreiflich , dass die Unmöglichkeit , eine solche Gon-
struction der Körper mit den gewöhnlichen Vorstellungen vom
Stoffe zu vereinigen, dahin führen musste, die Bedeutung jener
Theorie für das System Plato's möglichst abzuschwächen. Be-
reits lamblich und einige andere Exegeten fassten, wie wir von
Simplicius ^) erfahren, die Theorie bildlich {pvußohxwq) auf. Auch
Proclus^) treibt mit den platonischen Elementarflächen sein
Spiel. Im Nus, führt er aus, sei alles in Einheit, wie der Punct ;
dasselbe sei in der Psyche nach der Form der Linie ; in der
Physis sei es in der Weise der Fläche, „weshalb auch Plato die
physischen Begriffe , welche den Körpern ihr Wesen verleihen ^),
durch Flächen andeuten wollte"; in den Körpern endlich in kör-
perlicher Weise. Dem lamblich schhesst sich Simplicius an.
Wenn so Vieles in den hieher gehörigen Ausführungen Plato's
bildlich zu verstehen sei, meint dieser, was hindere, dass man
') Tim. 53 B: (hfa^^riiiariaaro i'nhai tt xcd d()i&,uoTc. Über die „Spuren" je-
ner Gestalten, welche nach der mythischen Darstellung bereits vor dem Ein-
greifen der Vernunft in der ungeordneten Materie sich fanden, s. S. 140 f. 148 ff.
-) Simpl. de cael. III, p. !252 b 23 Karsten.
') Procl. in Euclid. def. I, p. 91, 24 ff. Friedlein.
*) Tovi (pvatxovg köyove Tovi vTZoaraTixovi tuw aui/uäT(i)v p. 92, 9.
170 Zweiter Abschnitt. Plato.
auch seine Lehre von den Elementardreiecken bildhch {dvfxßoXixwq)
deute»)? Jedenfalls denke er bei diesen Flächen nicht an bloss
mathematische Gebilde 2); vielmehr habe Plato , wie sclion vor
ihm (he Pythagoreer, die Lehre wohl nur in dem Sinne aufge-
stellt, in dem auch die Astronomen so Manches, und zwar ver-
schiedene oft Entgegengesetztes, aufstellten: nicht als Wirklich-
keit, sondern als Hypothese (vnolftaic), aus der die Phänomene
sich rechtfertigen liessen-^).
Bildlich fasst auch Lichtenstädt •*) die Lehre. Sartorius •'') will
dagegen ihr die Spitze abbrechen, indem er zu zeigen versucht,
dass dieselbe völlig ausserhalb der platonischen Physik stehe, dass
sie nur als Fremdling, der ausschliesslich Plato's V^orliebe für
Mathematik und Pythagoreer seine Einschiebung verdanke, hin-
eingekommen sei und dass sie daher als unorganisches Einschieb-
sel Folgerungen auf Plato's physikalische Grundanschauungen
nicht gestatte.
Nun ist zuzugeben, was ja auch von uns geschah, dass der
Timaeus manche bildlich zu deutende Ausführungen enthält.
Aber wollen wir nicht aller Willkür Thür und Thor aufstellen,
so werden wir zu der Annahme von mythischen Vorstellungen nur
dann greifen dürfen , wenn entweder in Plato's Worten irgend
ein Hinweis auf eine solche Deutung liegt, oder wenn der Wider-
streit des Wortverstandes gegen sichere platonische Sätze zu der-
selben nötigt. Nichts von alle dem liegt hier vor, es .sei denn,
man begehe die petitio principii , die platonische Materie zuerst
für einen vom Räume verschiedenen Stoff zu erklären, um dann
die mathematische Gonstruction damit unvereinbar zu finden.
Wir haben also auch kein Recht, in den ausführlichen und in
streng wissenschaftlich abstractem Tone gehaltenen Erörterungen
über die Formverhältnisse der Elementarteilchen bloss bildliche
Redewendungen zu sehen.
') Simpl. de caelo III, p. 257 b 7—9 Karsten.
') p. 250 a 34—44; 258 a 18; b 34.
•'') p. !253 a 37 iL Den Anlass zu dieser Auffassung gab wolil Arist. de
cael. III 1, "iO^t a .">, wo es von den rd auiiiara f'$ tTUjinhov avriajai-Tfs heisst:
xaiiui diyiuor i^r i] fit', y.iriiv i] tiiOtoj t\i<iii; arra /.ijyoi^ yirfh- rnii' t-TioiytaffiiV, WOZU
v^l. Simpl. de cael. p. 2.52 a 18 ff. Karsten.
') A. a. O. S. 57 f.
*>) A. a. 0. S. 141-145.
Die plat. Materie nicht die qualitativ unbestimmte körperl. Substanz. 171
Ebenso grundlos aber ist die Behauptung von Sartorius, dass
jene Theorie sich wenig organiscli der gesamten Physik Plato's
einfüge. Plato macht viehiiehr von derselben ausgiebigen Ge-
brauch. Er benutzt sie in sinnreicher Weise, sowohl um die
Übergänge von drei Elementen in einander, wie um die Be-
ständigkeit des Erdigen zu erklären (56 D ff.) '). Namentlich im
physiologischen Teile kommt er jeden Augenblick auf dieselbe
zurück. Die Wärmeempfindung, welche das Feuer hervorruft, soll
darin ihre Ursache haben , dass die Feuerteilchen we^en ihrer
Feinheit und wegen der Schärfe ihrer Kanten den Körper schnei-
dend durchdringen (61 D ff.). Ebenso wird die erkältende Wir-
kung des Wassers durch die eigentümliche Gestalt der Wasser-
teilchen begründet (62 A— B)^). Auch für die Physiologie der
Atmung und Verdauung werden jene Voraussetzungen verwendet
(78 A — B), nicht minder für die Erklärung des Wachstums und
des Hinschwindens im Alter (81 B— D).
hides werden sich die (jtegner der Gleichsetzung von Raum
und Materie noch niclit zufrieden geben. Nur die äussere Form
der Elementai't eilchen , wenden dieselben gegen uns ^) ein , lasse
Plato aus Dreiecken gebildet werden; es hindere aber nichts,
anzunehmen, dass zu diesen begrenzenden Flächen, dem mathe-
matischen Moment, der füllende, Realität gebende Stoff, das ei-
gentlich materielle Moment, erst noch hinzutrete*). Übrigens
') Sehr mit Unrecht nimmt Sartorius a. a. 0. S. 149 Anstoss daran, dass
Plato (Tim. 58 D ff.) die Metalle als die Gattung des Schmelzbaren dem Ele-
mente des Wassers zurechnet. Dass die Anschauung auch sonst dem Altertum
nicht Iremd, zeigt Arist. metaph. V 4, 1015 a 9—10; V 24, 1023 a 28—29 (vgl.
V 6, 1016 a 22 — 24), wo ähnlich wie bei Plato dem Erz, überhaupt allem
Schmelzbaren, das Wasser als Materie gegeben wird. (Anders fieilich met. VIII
7, 1049 a 17—18. Doch bietet meteor. IV 8, 384 b 30-32 [vgl. c. 6] eine Ver-
mittelun^^)
") Vgl. Arist. de cael. III 8, 307 a 20 tf. und namentlich Theophr. de sensu 83.
3) Bassfreund S. 61 f. Sartorius S. 147.
*) Seine Ansicht, dass zu dem mathematischen Moment der Form das ei-
gentlich materielle Moment erst noch hinzukomme, sucht Sartorius S. 147 ge-
gen Zeller durch den Hinweis auf folgende zwei Stellen zu stützen: Tim. 53 G
lö (U ßc(t}u( (= TU aai/Lia) näoa ciyäyxrj rf,v tninedop 7i ( q i ( i Xi^if. i vni if v a i v
„einen Körper müssen Flächen begrenzen", und Tim. 53 D: tüq <)' hi tovjuiv
"P/f''f iiv(ni}ev i}KJi oiih y.ul dvÖQwi-' og av iy.iii'u) tfi?.og r,.
Allein hinsichtlich der letzteren Stelle wurde schon S. 141 f. gezeigt, dass
sie vielmehr auf den Unterschied von Grenze und Unbegrenztem hindeutet.
172 Zweiter At)schnit.t. Plato.
begegnen uns schon im Altertum iiluiliche Aufstellungen. Ale-
xander von Aphrodisias ') wendet sich gegen diejenigen Platoni-
ker, nach denen nur die Gestalten und Formen der Elementar-
körper, nicht diese Körper selbst, aus den Elementarflächen ent-
stehen sollten.
In Wahrheit hindert Vieles die Annahme einer besonderen
Materie innerhalb der umgrenzenden Formen.
a. Wie sollten wir bei einer solchen Auffassung jene be-
grenzenden Flächen uns eigentlich vorstellen? Plato beschreibt
ausführlich, wie dieselben sich in ihre Elementardreiecke auflösen
und aus diesen wieder in mannigfachen Combinationen zusam-
mentreten. Die Elementardreiecke sind ihm also etwas ^ was
bleibt und Bestand hat. Nur die Combinationen wechseln; die
Dreiecke selbst verändern ihre Realität nicht. Nun behaup-
ten aber jene modernen Ausleger Plato 's, dass allein die Materie
es sei, auf welche das Feste und Beständige der Dinge sich be-
schränke. Wir müssten also bereits jene Flächen als etwas
Materielles , als irgendwelche Goncretionen der Materie denken.
Damit wären wir denn bei den dünnen Plättchen angelangt, auf
die, nach dem Vorgange von Simphcius -) und Philoponus 3),
Martin^) verfallen ist. Nur insofern würde sich jene Vorstellung von
der Martin's unterscheiden, als ersterer diese Plättchen, was noch
Aus der ersteren Stelle aber (welche bereits von Michelis, Philosophie Piatons,
II, S. 154 Anm. **) gegen Zeller ins Feld geführt wurde) bedeutet ßä-O-og nicht
den materiellen Kürperinhalt im Gegensatz zu der mathematischen Begrenzung,
sondern einfach die Tiefe , d. h. die Ausdehnung nicht blos in zwei , sondern
auch in der dritten Dimension. Diese Tiefendimension wird aber Sartorius
auch dem liloss mathematischen Körper nicht absprechen wollen, welcher
dadurch entsteht, dass der leere Raum, d. h. die unerfüllte Ausdehnung, durch
Flächen begrenzt gedacht wird. So hat Plato allerdings einen Fehler began-
gen, indem er den mathematischen und den physischen Körper verwechselt
und dem blossen Raumgebilde physikalische Eigenschaften beilegt; aber
dieser auch von einem Descartes begangene Fehler wird von Aristoteles (de
caelo III 1, 299 b 31 ff.; vgl. S. 165 Anm. 3) bezeugt und hängt (s. u. S. ISo)
aufs innigste mit dem ganzen platonischen Standpuncte zusammen.
1) Alex. Aphrod. quaest. nat. 11 13, p. 1U7 Spengel ; vgl. Simpl. de caelo
III, p. 258 b 13 ff. Karsten.
2) Simpl. de cael. III, p. 2.52 b 11 ff. Karsten.
^) Philopon. in Arist. de gen. et cori'. fol. 47 oben.
") Etudes II, p. 241.
Die plat. Materie niclit die qualitativ uiiliestiuniite köriierl. Substanz. 178
eher zu ertragen, als leere Hülsen vorstellt, während Bassfreund
und Sartorius ein platonisches Elementarteilchen wie eine orga-
nische Zelle denken müssen, mit der Zellhaut drum und dem
Protoplasma drin.
Nun ist CS allerdings richtig, dass die Vorstellung von sol-
chen körperlichen Flächen sich im physiologischen Abschnitt des
Timaeus dem Plato gelegentlich unterschiebt. 80 wenn er von
einem Alt- und Schwachwerden der Elementardreiecke redet (81 G).
Aber das ist doch nur der Fall, wo die Unmöglichkeit , aus rein
mathematischen Formen physikalische Ersclieinungen zu erklären,
sich gar zu deutlich aufdrängte und daher naturgeni'ss zu einer
Vergröberung der ursprünglichen Anschauungen zwang. Wo
jene Theorie dagegen rein lür sich dargestellt wird , lindet sich
auch nicht der leiseste Hinweis auf solche Plättchen. Der eigent-
lich philosophischen Überzeugung Plato's gehören dieselben
nicht an.
b. Wenn Plato die Materie zu der mathematischen Umgren-
zung als das eigentlich reale Moment erst hinzutreten Hesse, so
würde es, was in ähnlicher Weise schon Alexander von Aphro-
disias betont *), nicht zu erklären sein , wie er die Erde von dem
Kreislauf der Elemente ausnehmen kann. Denn Feuer ist ihm der
Teil der Materie, welcher die Form des Feuers, Wasser der Teil
der ]\laterie, welcher die Form des Wassers, Erde derjenige Teil
derselben, welcher die Form der Erde angenommen hat (51 B.
52 D). W; re nun die Materie für Plato eine besondere Realität
neben der begrenzenden Gestalt , weshalb sollte da die Materie,
die in einer Feuerform eingeschlossen war, nicht auch in eine
Erdform fliessen können? Dann aber wäre der früher feurige
Teil der Materie zu einem erdigen, also Feuer zu Erde geworden ^).
c. Schon oben •^) wurde hervorgehoben, dass die Verhältniszah-
len; nach welchen Plato die Übergänge der Elemente in einander
erfolgen lässt, genau der Anzahl der Flächen entsprechen, von
denen die kleinsten Teilchen der betreffenden Elemente begrenzt
sein sollen. Auf den Kubikinhalt dieser Teilchen bezogen, wür-
den sie sämtlich falsch sein. Während z. B. die Flächenzahl ei-
^) Alex. Aphrod. quaest. nat. 11 13, p. 107 Spengel,
*) Vgl. Zeller IP a, 677, 1.
") S. 169.
174 Zweiter Abschnitt. Plato.
nes Luft-Octaeders thatsächlich der von zwei Feuer -Tetraedern
entspricht, ist der Kubikinhalt von zwei Tetraedern nicht unbe-
träclitUch kleiner als der eines Octaeders. Sartorius *) will diese
Schwierigkeit dadurch hinwegräumen, dass er der Materie Plato's
die Fähigkeit zuschreibt, sich nach Bedürfnis ein wenig auszu-
dehnen oder zusammenzudrücken, wie es gerade die begrenzende
Form erfordert. Aber auch dieses Auskunftsmittel erscheint we-
nig platonisch. Nirgendwo im Timaeus wird ein Zusammenrücken
des Stoffes auf die Elasticität der Materie zurückgeführt; stets
wird es durch ein Eindringen kleiner Elementarteilchen in die
von den grösseren gelassenen Zwischenräume, z. B. durch ein
Eindringen von Feuer- oder Luftteilchen in die zwischen den
grösseren Wasserteilchen leer gebliebenen Räume, erklärt (58 A.B.
GO E. Gl A. B).
Keine zu der Begrenzung durch mathematische Flächen hin-
zutretende körperliche Materie, sondern schon die Begrenzung
duich mathematische Fläcl.en schafft also für Plato den Körper.
Insofern löst er, wie Aristoteles an zahlreichen Stellen her-
vorhebt, den Körper in Flächen auf oder setzt ihn — genetisch
betrachtet — aus Flächen zusammen ^). Natürlich wird dabei,
wie in der verwandten pythagoreischen Theorie ^) , von ihm im-
mer als selbstverständlich vorausgesetzt, dass diese Flächen sich
nicht deckend aufeinander legen, sondern sich unter Winkeln
zusammenfügen. Nur dann wird durch die Verbindung von Flä-
chen ein Körper entstehen, wenn mit ihrem Zusammentreten zu-
gleich die Tiefendimension da ist. Da nun aber andererseits nach
der Darstellung Plato's mit den in dieser Weise zusammentreten-
den Flächen der Körper unmittelbar und ohne dass noch etwas
weiteres hinzukäme , gegeben ist , so kann unter der von den
Grenzflächen umfassten Tiefe ^) nur die leere, durch keinen von
ihr verschiedenen Stoff erfüllte Ausdehnung, nur der leere Kaum
— XooQu oder rÖTTog — bei Plato verstanden werden.
Nicht also durch die Formung eines vom Räume verschie-
de..en in sich realen Stoffes, so ist das Resultat unserer der pla-
') A. a. 0. S. 146.
2) Arist. de caelo III 1, 1298 b 34; 299 a 3 und 7; III 7, 3U5 a 35; 306 a 1;
de gen. et corr. I 2, 315 b 30—32; II 1, 319 a 22. Vgl. Martin II, p. 24U.
») S. S. 41 f.
*) ,-id&oi, Tim. 53 G.
Die platonische Materie nicljt die blosse Möglichkeit. 175
tonischen Construction der Elementarteilchen gewidmeten Unter-
suchung, sondern durch die Begrenzung der an sich unbestimm-
ten Ausdehnung, des leeren Raumes, entsteht für Plato der Körper.
Aber auch jetzt noch scheint sich ein Ausweg zu bieten. Wie,
wenn zwar nicht der Stoff zur Ausdehnung , wohl aber die Aus-
dehnung zu dem an sich noch unausgedehnten, bloss in der Po-
tenz zur Ausdehnung befindlichen Stoffe hinzuträte ? Würde bei
einer solchen Annahme nicht die doppelte Möglichkeit frei blei-
ben , einmal den Stoff als etwas von der blossen Ausdehnung
Unterschiedenes zu betrachten, und doch auch andererseits die
Bildung der Elementarkörperchen in der platonischen Weise zu
erklären? Es würde sich ja unter jener Voraussetzung die Quan-
tificierung der aus sich quantitätslosen Materie eben durch die
Annahme der Flächenformen vollziehen, so dass erst mit der
Aufnahme der Flächenformen die aus sich quantitäts- und aus-
dehnungslose Materie die bestimmte Grössenausdehnung erhielte.
Wenn aber die Quantität der Materie überhaupt erst aus der
Form resultiert, so würde dieselbe in jede der Formen hineinpassen,
welche von Plato für die verschiedenen Elemente angenommen
werden, ohne dass es einer räumlichen Laxation oder Gompression
bedürfte. Dabei würden die Verhältniszahlen , nach welchen die
Umwandlung der Elemente sich vollziehen soll, in der von Plato
aufgestellten AVeise durch die Anzahl der Flächen bedingt sein,
von denen die ganze Quantificierung ausgeht.
In dieser Weise werden diejenigen die Sache sich zu denken
haben, welche die platonische Materie als an sich unkörperlich und
als die blosse Möglichkeit des Körpers fassen. In der That
hat der neuplatonische Begriff der Materie die wesentlichen Puncte
einer solchen Vorstellungsweise in sich aufgenommen.
Gleichwohl ist er nicht der platonische. Die Grundlage dei"
ganzen Auffassung bildet der Begriff der Möglichkeit, der Poten-
zialität. Aber eben dieser Begriff des bloss möglichen Seins ist
in dem hier erforderlichen Sinne dem Plato noch fremd. Jene
Gegenüberstellung des Wirklichen und Möglichen, der Bethätigung
und ihrer Vorbedingung, gehört vielmehr erst der aristotelischen
Philosophie an, für welche dieselbe dann freilich eine Hauptstütze
176 Zweiler Absclinitl. Plato.
ausmacht'). Tcichniüller zwar hat Verschiedenes angeführt, um
den Begriff schon dem Phito zu vindicieren; aber seine Gitate
beweisen nichts ^).
Noch einiges andere lässt sich gegen eine solche dynamische
Auffassung der platonischen Materie geltend machen.
Auch bei ihr scheint es unerklärlich , weshalb unter den
Elementen einzig die Erde von der Kette der Verwandlungen aus-
genommen sein soll. Denn da die Grenzflächen nach der pla-
tonischen Darstellung festen Bestand in sich tragen sollen, so
sieht man nicht ein, weshalb es eher miiglich sein soll, dass
z. B. die jetzt von der Feuerform zu bestimmter Quantität entwickelte
Materie ein anderes mal von der Luftform determiniert werde, als
dass das Gleiche hinsichtlich eines erdig gewordenen Teiles der
Materie stattfindet.
Ebenso müsste eine derartige Materie, gleich der aristoteli-
schen; nicht nur das sein, worin die Dinge werden; sie wäre
zugleich das, woraus sie werden. Mit olTenbarer Absichtlich-
keit aber, sahen wir^ vermeidet Plato die letztere Ausdrucks weise;
ihm ist die Materie nie das Woraus, sondern stets nur das
Worin.
Damit hat sich uns endgültig die Annahme einer besonderen
Materie neben dem leeren Räume, mag diese nun als qualitäts-
loser, aber wirklicher Körper, oder mag sie als die blosse Mög-
lichkeit des Körperlichen betrachtet werden, als unplatonisch
erwiesen.
') Vgl. Susemihl, Genet. Enlwickel. 11 S. 334 u. 558.
^) Von dem was Teichmüller aus dem Timaeus anführt , wurde dieses
S. 131 Anm. 4 bemerkt. Auch rep. V, p. 477 G ist, wie sich Teichmüller selbst
nicht verhehlt (a. a. 0. S. 337), von der (fvrauis nur im Sinne acliver Kraft
die Rede, welche doch nicht einmal der secundären, geschweige denn der pri-
mären Materie zugeschrieben werden kann (vgl. S. 117—122. 161 f.) und zudem kei-
neswegs dem aristotelischen Begriff des (fvvd,ufi ov entspricht. An einer von
Teiciimüller nicht citierten Stelle, Soph. 247 D— E, 248 C, wird zwar eine i\v-
va/uig zum noieiv und eine ()'vvufn.; zum naayfiv unterschieden; aber die letztere
besteht nur darin, dass ein schon Bestehendes (es ist Rede von den Ideen) die
Möglichkeit in sich trägt, irgendwie afficiert zu werden. Eine Möglicbkeit da-
gegen, die noch gar nichts Wirkliches ist, wie die aristotelische Materie eine
solche darstellt und die platonische Materie nach TeichmüUer's Voraussetzun-
gen sie darstellen müsste , kann auch aus dieser Stelle nicht als platonischer
Begriff abgeleitet werden.
I
, l77
c. Die platoiiisclie Materie ist rter leere Kaum.
(1. Ii. die blosse Ausclehiinng.
Die vorstehenden Ausführungen haben uns mit Notwendigkeit
zu der Annahme gedrängt, dass Plato, wenn er die Aufnehrnerin
aller Formen als den Raum bezeichnet, damit in der That auch
den Raum, und zwar den Raum 'als solchen, die blosse Ausdeh-
nung, meine.
Dagegen ist nun eine Reihe von Einwürfen erhoben worden.
Wenn auch nur wenige von diesen ernsthafte Beachtung verdie-
nen, so möge, um jeden Zweifel zu entfernen, auch das Unbe-
deutendere kurz berührt werden.
1. Nur auf grammatisch unrichtiger Textesinterpretation be-
ruht es, wenn Teichmüller i) einwendet, nach Plato erblickten wir
die Materie wie im Traume-); den Raum aber erblickten wir doch
auch im Wachen,
2. Nicht viel mehr hat es auf sich , wenn Köstlin ^) meint,
den blossen Raum als dritte Gattung anzunehmen , würde dem
Plato nicht schwer gefallen sein, wohl aber habe er sich nur
schwer dazu entschliessen können, eine materielle Substanz als
selbständige Wesenheit neben der Idee aufzustellen.
Allein zunächst würde der Entschluss, neben den Ideen noch
eine selbständige materielle Wesenheit aufzustellen, für Plato nicht
nur, wie Köstlin annimmt^ schwer, sondern vielmehr, wie oben'')
gezeigt wurde, völlig unmöglich gewesen sein. Dann aber ist es
keineswegs richtig, dass der Begriff des Raumes für Plato etwas
so Selbstverständliches gewesen wäre, zu dessen Einführung als
dritter Gattung es aller der von ihm gebrauchten entschuldigen-
den Redewendungen nicht bedurft hätte. Im Gegenteil war ge-
rade dieser Begriff vor Plato noch wenig untersucht. Ausdrück-
lich bemerkt Aristoteles •"'), wenn auch alle die Existenz des Rau-
mes behaupteten, so habe doch zuerst Plato versucht, zu bestim-
men, was denn eigentlich sein Wesen sei. Ist es nun aber über-
haupt die Art Plato's nicht, deshalb, weil etwas von der gemei-
1) Stud. z. Gesch. d. Begr. S. 329.
^) Tim. 52 B. Teichniüller's Missverständnis ist bereits S. 139 zurück-
gewiesen.
3) In Schwegler's Gt^sdi. d. gr. Phil.« S. 213 Anm. 12 Ende.
*) S. S. 161 f.
") Arist. phys. IV 2. 20'.t 1. Ki-IT.
Baeuiiiker: Das Problem der Materie etc. 12
178 Zweiter Alisclmitt. Philo.
nen Meinung als wirklich behauptet wird, seine Wirklichkeit un-
besehen und ohne Untersuchung seines Wesens hin'/unehmen, so
kommt hier noch hinzu, dass alle die von Plato erhobenen Schwie-
rigkeiten sich nicht nur auf die Existenz der fraglichen Gattung,
sondern zugleich auch auf ihr Wesen mitbeziehen.
3. Auch darin liegt nichts Bedenkliches, dass Plato die Ma-
terie nicht gleich von vornherein als den Raum bezeichnet, son-
dern diese Benennung erst gegen Ende seiner Erörterung einführt \).
Denn der grössere erste Teil des fraglichen Abschnittes ist pole-
mischen und vorbereitenden Gharacters ; erst der Schluss bringt
die principielle Erledigung des Problems auf dem Boden von
Plato's eigenen Grundanschauungen-).
4. Von dem Räume kann man nicht sagen , dass er teils
wässerig, teils feurig geworden sei (52 D. 51 B)^), noch weniger
— Überweg *) hält diesen Umstand für völlig entscheidend — dass
er von den herantretenden Formen bewegt werde und diese hin-
wiederum bewege (50 G. 52 E)^).
Allein das erste ist eine potitio principii. Wenn man den
Raum von dem, was ihn erfüllt, unterscheidet, wird man freilich
nicht mehr sagen können, dass er feurig, wässerig u. s. w. werde.
Lässt man indessen mit Plato die kleinsten Teilchen des Feuers,
Wassers u. s. w. durch Begrenzung der an sich unbestimmten
Ausdehnung entstehen, so hat jene Vorstellung nichts Auffallen-
des. Wenigstens ist sie um nichts befremdender, als die von
Überweg gebilligte, dass eine vom Räume verschiedene Materie,
trotzdem sie ihre Natur, Aufnehmerin von allem zusein, d.h. ihre
Unbestimmtheit , unter jeder Form bewahi't (50 B), dennoch feu-
rig, wässerig u. s. w. geworden, d. h. in sich bestimmt sein soll '^).
Überweg's letzter Einwand aber kehrt sich gegen ihn selber.
Da er ausdrücklich die Materie für etwas Unkörperliches erklärt '),
so möge er es begreiflich machen, wie denn ein solches Unkör-
perliches von den herantretenden Formen bewegt werden und
») Bassfreund S. 25.
') S. S. 134.
^) Könitzer S. 'Jo f. Ütierweg S. (iO. 'IVicluiinller S. 329. Bassfreund S. 18.
•*) A. a. S. (il.
^) Zu diesen von I'bervveg cilieilen Stellen hätte er 88 D hinzufügen können.
•*) Vgl. Plutin. enn. 111 6, 12.
') A. a 0. S. 58.
Die plat. Materie der Raum. 179
diese hinwiederum gleich einer Futterschwinge bewegen könne.
Übrigens ist jener Einwand auch deshalb hinfällig , weil die Vor-
stellung einer räumlichen Bewegung nur mit der secundären
Materie verbunden wird , deren bloss mythischer Gharacter oben
nachgewiesen wurde ^).
5. Es wäre ungereimt, wenn Plato rein mathematischen Kuben,
Tetraedern u. s. w. eine solche Gonsistenz hätte beilegen wollen,
dass dieselben einander zerstossen, zerschneiden, zerstücken kön-
nen (50 D). Ebenso würde die Voraussetzung, dass jene Flächen-
elemente stets unter Winkeln und Flächen zusammentreten, eine
rein willkürliche sein. Warum legen sie sich niemals als blosse
Flächen neben oder auf einander, so dass das ganze All sich ei-
nes schönen Tages auf eine solche Fläche , oder auch auf ein
Quadrat und zwei Dreiecke reduciert repräsentierte -) ?
Indes Ähnliches könnte man ebensogut gegen die Elementen-
lehre des Philolaus geltend machen ^). Es ist ja richtig, dass eine
solche Anschauung den mathematischen und den physischen Kör-
per verwechselt; aber eben hierin beruht, wie schon des öfteren
hervorgehoben wurde, der Fehler, wie der Pythagoreer, so auch
Plato's. Die sachliche Widerlegung einer Ansicht Ihut nicht auch
deren historische Unmöglichkeit dar.
6. An zahlreichen Stellen des Timaeus schärft Plato ein,
dass es ein Leeres nicht gebe (58 A. 59 A. 60G-79B. 80 G).
Wenn nun Plato, der ja trotzdem das Vorhandensein kleinerer
leerer Zwischenräume {diuxsra) zwischen den nicht mit all ihren
Flächen an einander sich legenden Elementarteilchen zugiebt (58
B. 6ü E. 61 A. B) , auch dazu im Innern der Elementarteilchen
zwischen den Grenzflächen leeren Raum annähnn*, so würde zu-
*) Tim. 50 G heisst es zwar von der primären Materie: t'y.,uuyfiov yä()
ifviTfi Tiavrl xfhdi, x i r ov fi tr öv rt y.iu <ha(r^rj/iaTiCö,iifvnr rnn ri?)v fiaidviair, allein
dieses xirnnüru wird im Folgenden auf die Aufnahme und den Verlust der For-
men, der Nachbilder der Ideen, gedeutet. Schon Plato untersdieidet bekannt-
lich eine doppelte Art der y.ivr,au-: die qualitative und die ertliche Veränderung;
vgl. Theaet. 181 D ff. Parm. 138 B— C. Dass dagegen Tim. 52 D (wie auch
88 D) auf die secundäre Materie gehe, ist schon S.l39f. bemerkt worden (vgl-
auch S. 137 Anm. 1).
^) Sartorius 8. 146.
■') S S. 41 f.
12 *
180 Zweitor Al)sclinitt. Plato.
letzt alles leer sein; Plato's ursprünglicher Satz von der Nicht-
existenz des Leeren hätte sich in sein Gegenteil verkehrt ').
Indes versteht Plato thatsächlich unter dem Leeren nur die
Zwischenräume zwischen den Körpern. Diese Zwischenräume
lässt er, um kein Leeres annehmen zu müssen, dadurch ausge-
füllt werden, dass infolge des durch die Umdrehung der Well
herbeigeführten Druckes nach innen und aus anderen Gründen
die kleineren Körper in die von den gr()sseren gelassenen Lücken
nach Möglichkeit eindringen. Die von den Obei'flächen der Ele-
mentarteilchen einbegrenzte Ausdehnung dagegen (das ßä^og 53 C)
würde Plato selbst nicht als leer bezeichnen, da sein sachlicher
Fehler eben in der Verwechselung des mathematischen und des
physischen K()rpers besteht.
7. Wenn Boeckh und Zeller endlich besonderes Gewicht
darauf legen, dass doch Plato selbst die Materie als den Raum
bezeichne, so suchen die Gegner darzulhun, dass diese Benennung
nicht in absolutem, sondern nur in relativem Sinne gelte. Nicht
als den Raum als solchen wolle l^lato damit die Materie bezeich-
nen; es sei ihm vielmehr die Materie der Ijesondere Stoff, wel-
cher den in ihn eintretenden Ideen resp. deren Nachbildern Platz
und Raum gewähre 2).
Schon die Alten haben sich in dieser Weise mit dem Aus-
drucke abgefunden. Aristoteles hält an einer Stelle ^) dem Plato
vor, dass er die Materie als das an den Ideen Teilhabende be-
zeichne und sie zugleich mit dem Orte identificiere , gleichwohl
aber inconsequenter Weise behaupte 4), die Ideen seien nicht im
') Sai'torius S. 144 f. Vs;]. sclion Tennemann. Gesch. d. Philos. II, 401.
-) Könitzer S. 2(i. Überweg S. Ol. TeicIimüUer S. 330. Sarlorius S. 145.
156. 166. Bassfreund S. 26 f. Letzterer meint (S. 27), in dem Au.sdrucke yi'i()a
mehr als eine Mos.se Bezeichnung für die Beziehung der Materie zu erblicken
und ihn auf den leeren Raum zu deuten, iiätte nicht im geringsten mehr Be-
rechtigung, als wenn jemand l)ehauptete, die Materie des Aristoteles sei Hcdz,
weil er sie mit '^^Itj J)ezeiciine. — Aiier v?.y liei Aristoteles ist ein offenbarer
Tropus, ;f»)(*« dagegen ist auch in der Grundi)edeutung philosophischer termi-
nus technicus. Einen solchen aber wendet man doch wenigstens nicht ohne
besondere Veranlassung an, um etwas ganz anderes damit zu bezeichnen.
■') Arist. phys. IV 2, 209 b 33— 3(K) a 2.
") Vgl. Plat. Tim. 52 B— G Auch Arist. phys. III 4, 203 a 9 scheint sich
auf diese Stelle zu beziehen.
Die i)lal. .Materie der Raum. 181
Orte. Dazu bemerkt nun Pliiloponus '), Aristoteles halte sich bei
seinem Tadel, wie gewöhnlich, an den blossen Wortlaut-). In Wahr-
heit meine Plato, wenn er die Materie als Ort oder Raum be-
zeichne, damit nicht den von Aristoteles untersuchten Raum, d. h.
den Raum , welcher die aus Materie und Form zusammenge-
setzten Körper aufnehme. Sein Ausdruck sei vielmehr nur im
analogen Sinne {xar' äralnYi'av) zu verstehen; wie jeder aus Ma-
terie und Form zusammengesetzte physische Körper im Orte, so
sind die physischen Formen {(fvoixd eMij^); gemeint sind die
ein- und austretenden Nachbilder der rorjid ddrj, der Ideen) in
der Materie. So nenne ja auch Aristoteles, den Piatonikern zu-
stimmend, in seiner psychologischen Schrift selbst die Seele den
Ort der Ideen*). Wie aber die psychischen Formen zur Seele,
so verhalten sich die physischen Formen zur Materie. Nur in
analogem Sinne — das ist der von Philoponus wiederholt aus-
gesprochene Gedanke ^) — werde also die Materie von Plato als Ort
oder Raum bezeichnet. Fast genau dasselbe, mit Einschluss der
Beziehung auf das Wort von der Seele als dem Ort der Ideen,
hören wir bei Simplicius *'). Auch er leugnet, dass Plato den
von Aristoteles untersuchten Raum, d. h. den Ort der Körper,
meine. Über den Rauui in diesem Sinne habe sich Plato über-
haupt nicht ausgesprochen '). Nicht Ort der Körper sei für ihn
die xMaterie, sondern Ort der Formen ^), und zwar der physischen
Formen 3). So behaupte schon Alexander von Aphrodisias,
dass Plato nur bildlich {ixezuqoQixwc) die Materie als den Raum
bezeichne "^). Bloss bildlich, meint freilich Simplicius, sei der Ge-
*) Philopon. phys. quat. n fol. 4^ Z. 55 ff.
'^) t6 (fuivöinvov t'/.iyiMv. Der gleiche Vorwurf bei Simpl. phy.s. IV, p. 540,4;
de cael. III, p. 253 b 18 Karsten.
^) Vgl. ausser der Anni. 1 citierten Stelle auch ebend. fol. 6^ Z. 3 ff.
*) Arist. de an. III 4, 4!29 a 27.
*) Philopon. phys. quat. n fol. .5r Z. ± 49. fol. 6 Z. 6.
«) Simpl. phys. IV, p. 540, 3 ff.
■') A. a. 0. p. 541, 3.
*) p. 541, 3; ebenso in dem Corollarium über den Raum, p. 643, 5.
^) der svvla tV(fr, p 539, 10; 545, 27 (dasselbe wie Philopon's qr^aixd (i'tftj).
'*') p. 540, ^22. Weniger genau und mehr im Anschluss an Plato's Worte
sagt Simplicius phys. I, p. 231, 37 von der Materie, sie sei o/ov x'-k'^ r"'^' yf^i-
To)v i £ xal aia&fjTo'ir. Ähnlich Ghalcidius in Tim . c. 350: locum vero j^ropterea, quod
Silva receplaculum et corporum et qualitatum ceterorumque sensibilium (vgl.
182 Zweiter Ahscliiiitl. Plato.
brauch doch auch wieder nicht, da der IJcgrilT des Aufnehmen-
den in der Thal uiil dem Begriffe des l'laLzeinräumenden oder
des Raumes etwas gemein habe '). Wenn dagegen Plato im Phae-
drus (274 G) die Ideen an den „übcrweltlichen Ort" versetze , so
fasse er das Wort in einer völlig verschiedenen, freieren Bedeu-
tung, nämlich im »Sinne von Rangstufe 2). Wie Simplicius, lehrte
schon vor ihm Proclus, dass die Materie der Raum für die
Form sei =5), und ebenso mehite Themislius ''), dass Plato wohl
nur bildlich {fikxmjoQixwi;) sich des Wortes „Ort" bediene-''). Bis
zu dem Doxographen A e t i u s lässt sich diese Behauptung ver-
folgen, dass Plato nur metaphorisch die Materie als Raum be-
zeichne''). Dass schon Theophrast diese Deutung gegeben
habe, wie Sartorius '') ohne weiteres daraus folgert, dass sie von
auch c. 344: at vero locum vocat eani — sc. silvani — velut regionem quan-
darn suscipientem specierum incorporearum intelligihiliuinque siiiiulacra).
^) Siiupl. phys. IV, p. 540, 31: ft yd(> t6 /.ttxaXaiJliävov Tiro^ xai uQi^ößfvov
vn ariov (ifffiai exeivo ö (lies ov) fifTu?.a/nl-ittV(i , t6 li'e iff^ö/jnujv xa'i -^oyQOvv ario
■j[")ii(^ yivfTcii Tijv tyyiru/ifvoi\ ■tj äi X"'0" roVos Vfviifiiarai, ittTukuf^ißin'fi li'f tiTiV fuhnt^
if v?.tj, TOTTog civ fh] Tii)V fuhnv TiXi]V ov^ ">c anyur/Tnir. Die Bezcicll-
nung der Materie als zJjioe wird also erklärt durch die Gleiclisetzung von fie-
xaXafJiiuvov unil ihyn/ifvov , (1cj[<'ifx(i'ot und y<oQovv^ yjDQorp und yin(ia , yd^a und
Tonoi-, was den vollen Beifall von Sartorius (a. a. O. S. 166) findet. Solche
etymologisclie Spielereien mit /'"'c«, yciifjorv u. dergl. finden sich auch
sonst. So hat schon Aristoteles phys. IV 1 , 208 h 99 ff. das /«ot,- des Hesiod
mit ycioa und durch Vermittelung dieses Woiles mit TÖnng gleichgesetzt, wozu
Simplicius (p. 5'27, 17 ff.; vgl. 523, 17 ff.) mit weiterer Ausführung der Etymo-
logie bemerkt: coi- 'liai6d'of> tv if, hioyovin (v. 116} ktyovTOi' „riroi piev nQoniata
ydog ye'vfto , xai ror ydog and tov ^w QtjjiiuTOi d'oxovvTog yfyovivai xai tftd Tovro
ro y(i)() tjT i X ö 1-' (fi/Xoi'», üjU() lavtöv iati zw zmiixiti xzX, (zonog gleich yo^n/tixor
om/i((T',>v auch Simpl. phys. IV, p. 618, 9). Ebenso legt Arius Didymus bei Sto-
baeus ecl. I. p. 390 (Diels, Doxogr. p. 460, 24) dem Chrysipp die Erklärung von
/(.)()« (im Unterschied von tüthk-) als des y>(jovv ,afit:<n' aouxa bei. Auch Ast,
Abh. d. Müncii. Ak. 1835, S. 52 f., gefällt sich in derartigen Etymologien.
2) tili zd^ia.g clifjuQiafi.U phys. p. 522, 8; 541, 2-12; 641, 36.
3) )["^Qa Tcov fiö'rov xai iii.ioi Procl. in Tim. 117 D.
*) Wohl nach Alexander's Physik-Gommentar.
^) Themist. in Arist. phys. IV, p. 259, 28 Spengel.
*>) Flut. plac. 1 19, Stob. ecl. I, p. 390 (Diels, Doxogr. p. 317): ll/.,a,ov tov,uv
fivai To fifTahj/iTixöv (nach Arist. phys. IV 2, 209 b 12; bei Plato Tim. 51 A:
utTaXa/Lißdvov) rwv f/on'iv, oy'f^i f'i\n,xf inraifufiixmi: liji! 'olrjv xalhintfi ztvd Ti&ijvriV
xai rff^afifVijv.
') A. a. 0. S. 167.
Die plat. Materie der Raum. 183
Aetius aufgeslellt wird, ist durch diesen Umstand freilich noch
nicht erwiesen, ist viehnehr in hohem Grade unwahrscheinlich,
hides wenn es sich auch so verhielte, so wäre eine kritische Be-
merkung Theophrasl's zwar zu beachten; keineswegs aber würde
ihr die von Sartorius beanspruchte entscheidende Bedeutung zu-
kommen 1).
Dass Plato thatsächlich die Worte Raum , Ort und gleichbe-
deutende in bloss relativem Sinne verwende, sucht Bassfreund ^)
aus dem Sprach gebrauche des Philebus zu beweisen.
Es hätte dieses Hinweises nicht bedurft. Selbstverständlich
kann man jedes Ding, welches ein anderes in welcher AVeise auch
immer in sich aufninnnt, als den Ort des letzteren bezeichnen.
Wenn darum zwei Seinselemente in eine solche Beziehung zu
einander treten, dass das erste durch das zweite näher bestimmt
wird, so liegt es i^iberaus nahe, dieses Verhältnis dadurch an-
schaulich zu machen, dass man sagt, das erste gewähre dem
zweiten Raum oder Sitz u. dgl.
Aber nicht auf die Möglichkeit eines solchen Tropus kommt
es an. Es heisst, was die Gegner der Boeckh-Zeller'schen An-
sicht ganz übersehen, im Timaeus eben nicht, die xMaterie sei der
Ort oder der Sitz für die Formen, was allein der Ausdrucks-
weise des Philebus entsprechen würde ^), sondern ohne alle Be-
schränkung, die dritte Gattung sei der Raum -). Wenn man frei-
lich mit den Neuplatonikern unter dem Räume alles Mögliche
versteht, z. B. mit Proclus das Licht, und zwar das monadische,
über das triadische des Empyreums, des Äthers und der hyhschen
^) Vgl. Freudenthal, Über die Theologie des Xenophanes, S. 41.
^) Bassfreund S. '■21 Anm. 2: „Dass die Ausdrücke f'ffpf' und /'"'()« aucli sonst
von Plato in gleichem Sinne mit tfvait; (hyoiievi, geJjraucht werden, mag ein
analoges Beispiel aus dem Philebos zeigen. Dort wird (!^5 D) das laniQov nä-
her als eine tfi^ai^ tö nüllüv tt y.a'i ijTrof i)fx"ui:vi, bestimmt (vergl. daselbst
■124 E und 27 E), wofür kurz vorher (24 D) der Ausdruck 1] rur iia'/.'/.op yai
litiov . . . e(f()a und unmittelbar darauf auch x"'(>'' gebraucht wird."
^) Wie Phileb. 24 D t] luC- /lä/./.or y.ai i^rrov yif(in und ij kz'tiov yincia.
Das airnQov des Phllebus fällt ja auch nicht mit dem Räume zusammen, son-
dern ist der weitere Begriff, welcher den des Raumes mit unter sich befasst (s. u.).
*) 52 A: 16 Tiji yitiitai. 52 D werden als die drei Gattungen aufgezählt ox\
184 Zweiter Abschnitt. I^lato.
Natur erljabene Licht '), und ilaiiii deri^Meichen aucli als Lehre
Plato's angiebt ^) , so wird man allerdings von vornherein den
Gedanken, dass Plato unter der Materie nichts anderes als den
Kaum verstehe, abweisen oder ihn vielmehr gar nicht fassen kön-
nen. Aber was hindert uns, im Anschluss an Aristoteles anzu-
nehmen, dass Plato unter dem Räume eines Körpers die Ausdeh-
nung vorstehe, welche von seinen Oberflächen begrenzt ist ■^), un-
ter dem Räume als solchem also die Ausdehnung überhaupt?
So ergiebt sich eine vom platonischen ^tandpuncte aus in sich
durchaus widerspruchslose Anschauung.
Fassen wir das Resultat unserer Erörterungen zusammen.
Was man für eine vom leeren Räume, d. h. der blossen Aus-
dehnung, verschiedene Materie anführt, ist nicht stichhaltig. Was
man gegen die Ansicht, Plato identifiziei-e die Materie mit dem leeren
Raum, der blossen Ausdehnung, vorbringt, ist ebenso hinfällig. So-
nach bleibt nur die eine Möglichkeit: das, was bei Plato die
Stelle der von Aristoteles so genannten Materie vertritt^ ist der
leere Raum, die blosse Ausdehnung.
Die aus dem Timaeus selbst für diese Auffassung zu entneh-
menden Gründe wurden bereits im Voraufgehenden entwickelt.
Sie seien hier kurz zusammengestellt.
i. Plato bezeichnet die dritte Gattung ohne irgend eine Ein-
schränkung als den Raum. Durchschlagende Gründe, diese Aus-
drucksweise anders zu deuten, als nach ihrem natürlichen Sinne,
sind nicht beigebracht worden.
2. Die geometrische Gonstruction der Elemente lässt keine
vom leeren Räume verschiedene Materie zu. Die Versuche, jene
Theorie als bloss hypothetisch oder doch als ausser Zusammen-
hang mit den Grundanschauungen des Timaeus stehend zu erwei-
sen, sind misslungen.
Dazu kommt noch eine andere, mehr principielle Erwägung,
') Simpl. pliys. coroll. de loco p. 612, 29. Vgl. Proel. in Parm. VI, col.
1044 Gous-.
*) So stützt Proclus seine phantastische Theorie auf Plat. rep. X, 616 B;
vgl. Simplic. 1. c.
3) Arist. phys. IV 1, 209 b 6—9. Auch Sini])!. phys. IV, p. 571, 22—26 er-
wähnt, dass nach der Ansicht Einiger (die das wohl aus jener Stelle der ari-
.stotelischen Physik folgerten) der Raum bei Plato sei: ta öidair,(ia td /utra^v
T(öv fa^ci(<i)v Xiir yifQiiyurtog,
Die phit. Materie der Raum. 185
deren Prämissen ') wenigstens bereits durch Siinplicius ^) an die
Hand gegeben werden.
Der Begriff der Materie wird ein verschiedener sein, je iiacli
den Voraussetzungen , die zu ihm führen. Bei Aristoteles ent-
springt derselbe einer Analyse des Werdens. Alles Werden be-
wegt sich zwischen Gegensätzen. Diese Gegensätze aber verlan-
gen ein bleibendes Subject, dessen Bestimmungen sie sind, an
und aus dem sie sich entwickeln. Das Werden ferner ist einer-
seits kein Werden aus nichts, andererseits keine bloss qualitative
Veränderung; es verlangt daher als Vorbedingung die Möglichkeit
des substantialen Seins, d. h. die Materie. Hier erscheint also
das wirkliche Sein nicht als etwas getrennt neben und über der
Materie Stehendes; diese ist vielmehr die natürliche Grundlage,
welche im wirklichen Dinge aus ihrer alles umfassenden Anlage
zu einem bestimmten Sein geführt wird, zu dem sie von sich
aus bereits eine Beziehung einschliesst.
Anders bei Plato. Zwar geht auch er vom Werden aus,
wenn er in dem gegen die Naturphilosophen gerichteten polemi-
schen Teile des behandelten Timaeusabschnittes zeigt , dass
die von jenen aufgestellten Elemente aus dem Grunde nicht wahre
Urstoffe sein könnten , weil bei dieser Voraussetzung der von
ihnen angenommene Kreislauf der Elemente, d. h. die Erschei-
nungen des Werdens, keine ausreichende Erklärung finden würde.
Aber wo er seine eigene Meinung darlegt, verändert er völlig
Ausgang und Richtung des Gedankens. Nicht einer bloss imma-
nenten Analyse unterzieht er hier den Begriff des Werdens, um
aus der Natur des Werdens die Elemente des Werdenden her-
auszuschälen, sondern er stellt das Werdende auf die eine, das
wahrhaft Seiende auf die andere Seite und fragt, wie denn aus-
ser dem wahrhaft Seienden überhaupt ein Werdendes möglich
sei. Nicht wie aus einem Sinnendinge ein anderes entstehe, ist
hier Problem , sondern wie überhaupt Sinnendinge neben den
Ideen sich begründen lassen. Diese Möglichkeit aber rettet Plato
dadurch, dass er die Idee als beständiges Urbild, die Erscheinung
als wechselndes Abbild und Gleichnis betrachtet. Nun kann aber
') Denn den Schlussatz, dass der Begriff der Potenz dem Plato noch fremd
sei, stellt Simpl. phys. I, p. 242, 8 f. in Abrede.
^) Simpl. phys. I, p. 223, '27 ff.
186 Zweiter Al)sclinitl. l'liilo.
— uiitl duniil ist dcv eiilsclieidendc Grund ') für Plalo's drillu
Galluiig gegeben ein solches Abbild und Gleichnis nicht gedacht
werden ohne ein Substrat, in welchem die Nachformungen der
idealen Urformen ein- und austreten -)• Höchst schwierig muss
es sein, diese Gattung des Aufnehmenden ihrer Natur nach zu
beslinnnen. Als wirklicher Stoff darf dieselbe rjicht gedacht wer-
den; denn als seiend müsste ein solcher Stoff ein Sein schon von
der Idee empfangen haben; er würde also wieder einen anderen
Stoff voraussetzen, und so fort. Der Begriff des bloss möglichen
Seins, auf den Aristoteles das Wesen der Materie zu)'ückfiihrt, ist
dem i^lato noch fremd. So bleibt nur ein Sein, das in Wahrheit
kein Sein ist, nur die Form eines Seins: die unerfüllte Ausdeh-
nung, der leere Raum, hidem nun die an sich unbegrenzte Aus-
dehnung durch bestimmte Gestalten nach dem Muster der Ideen
begrenzt wird, entstehen die Körper, Alles Sein derselben, d. h-
alle ihre Bestimmtheit , resultiert also, wie es der unbezweifelte
Grundgedanke des entwickelten platonischen Systems verlangt,
aus den Ideen; nur das Auseinander, die Zerteilung des Körper-
licheU; ist Folge der Materie. Freilich ist es schwierig, einen sol-
chen Gedanken auszudenken. Wir werden den Neuplatonismus
darum in machtvollen Anstrengungen mit dem Probleme ringen
sehen , wie das Gleiche in der Idee in Einheit, im Materiellen in
Geteiltheit sein könne.
Man könnte es ferner widersinnig finden, dass der blossen
Form der Ausdehnung eine objective Bedeutung beigelegt werden
soll. Aber eine solche Hypostasierung entspricht durchaus dem
antiken Begriffe des Realismus. Sie ist in nichts befremdender,
als wenn dem Aristoteles der abstract- logische Begriff der Mög-
lichkeit eines physischen Seins zu einer realen Voraussetzung al-
les bestimmten körperlichen Daseins sich verdichtet. Man wende
darum auch nicht ein, dass auf diesem Wege erst der mathema-
tische Körper construiert werde. Gerade darin besteht nämlich
der leicht erklärliche, von Aristoteles bezeugte ^) Fehler des Nou-
menalisten Plato, dass er mit dem mathematischen Körper zu-
gleich schon den physischen gegeben glaubt. Hat er sich doch
redlich bemüht, auch die physikalischen Eigenschaften der Körper,
*) Die xrQKüidiii ania, Sliiipl. phys. I, p. 224, ''21.
2) S. S. 113. ~ s) S. S. 171 Anm. 4. g. E.
Die pkit. Materie der Ilauiii. Ihre Uneiilslaudeiilieil. IHl
die sinnlichen Qualitäten derselben, aus der mathenuitischen Ge-
stalt ihrer kleinsten Teilchen abzuleiten '). Nicht einmal allein
steht Plato mit dieser Verwechselung. Denselben Fehler haben
wir bei denjenigen gefunden, an welche Plato sich ijn Laufe der
Zeit immer inniger anschlüss, bei den späteren l^ythagoreern 2).
Dem Nihilismus eines Gorgias^) aber oder der extremen Fluss-
theorie der Protagoreei- des Theaelet ■*) gegenüber hat die Sinnen-
welt Plato's doch immerhin eine noch recht ansehnliche llealität.
Finden wir nun aber gar, dass noch Descartes und in etwas an-
derer Weise auch Spinoza das Wesen des Körpers in die blosse
Ausdehnung setzen, so dürften wir doch wohl gegen den Vorwurf
gesichert sein, als drückten wir den Plato auf einen allzu nie-
drigen Standpunct hinab, wenn wir ihm die Ansicht beilegen,
dass die Materie mit dem Räume , d. h. der Ausdehnung , iden-
tisch sei ^). .. .
c. Uueuti^taudeiilieit der platoiiiüiiclieu Materie.
Im Voraufgehenden sind wir auf die Frage näher eingegan-
gen, ob Plato die Materie dualistisch der Gottheit als unenlstan-
den und gewissermaassen als ihren negativen Gegenpol gegenüber-
stelle, oder ob er dieselbe aus der Gottheit, sei es ewig oder in
der Zeit, hervorgegangen denke.
Die Hauptstelle des Timaeus (51 E), welche hinsichtlich aller
übrigen Prädicate das Verhältnis der drei Gattungen : der Ideen,
der Sinnenwelt und der Materie, genau bestimmt, lässt ims hier
im Stich. Sie bezeichnet zwar die Idee als ungeworden, die Sin-
nenwelt als geworden; bei der dritten Gattung, der Materie, aber
ist die Frage, ob geworden oder ungeworden, völüg übergangen*').
Daraus hat nun Boeckh^) geschlossen, dass Plato die Materie als
geschaffen ansehe; denn wenn er sie als ewig betrachte, warum
sage es es denn nicht? Ein solches argumentum ex silentio in-
1) S. S. 171. — -) S. S. 37 f. 43.
ä) S. S. lOS. — ^) S. S. 96 ff.
^) Zwar nimmt Descartes (princ. philos. II, 21) eine unendliche, Plato eine
kugelförmig begrenzte (Tim. 33 B) Gestalt der Welt an; aber für Descartes ist
ja die wirkliche körperliche Substanz schon durch die blosse Ausdehnung gegeben,
wälirend Plato als weiteres Element der erscheinenden Wirklichkeit die be-
grenzende Form verlangt.
«) S. S. 136. — ') A. a. 0. S. 33.
188 Zweiter Abschnitt. Plato.
dessen wird von Könitzer^) mit gleichem Rechte in die Gegen-
frage umgekehrt: wenn Plato meine, die Materie sei geschaffen,
weshalb sage er es dann nicht?
Einen anderen Weg hat der Neiiplatoniker Proclus einge-
schlagen. Er beruft sich 2) auf eine Stelle des Philebus (23 G),
wo es heisst, dass der Gott das Seiende teils als Unbegrenztes,
teils als Begrenztes gezeigt habe ^). Jn der Verwertung dieser
Stelle sind ihm u. a. der Cardinal Bessarion '^) und Gale •^) ge-
folgt. Allein schon Mosheim ^'y bemerlct, dass: „er habe gezeigt"
{rhi^ai), nicht heisse: „er habe hervorgebracht" ''), und weiterhebt
Martin ^) mit Recht hervor , dass die Stelle deutlich ") auf eine
frühere (16 G) zurückweise, wo nur die Erkenntnis, das alles
aus Grenze und Unbegrenztem zusammengesetzt sei , als eine
durch Prometheus vermittelte Gabe der Götter bezeichnet werde**).
Dass in Wirklichkeit das platonische System einen ursprüngli-
chen dualistischen Gegensatz der Idee und der Materie verlangt, er-
giebt sich zweifellos aus der späteren Form der platonischen Lehre,
wie uns dieselbe namentlich aus den aristotelischen Berichten bekannt
ist. Hier treten die zwei Prinzipien, das Eine und das Unbe-
grenzte, überall als gleich ursprünglich auf. Eine Ableitung des
einen aus dem andern ist nicht nur dem Aristoteles gänzlich
fremd, sondern würde auch die ganze Lehre unverständlich
machen.
') A. a. 0. S. 27.
2) Procl. in Tim. 117 B.
^) Pllileb. i23 C: t6v &fdv ikeyainv /cov i6 iifv a7rn(iop ihT^ai tiTiv uvt">v , ro
■•) contr. calumn. Fiat. 1. 11 c. 5 (fol. 18^ inf. ed. Aid.).
*) lamhlicii. de uiyster. Aegypt. ed. Th. Gale, Oxon. 1678. p. 276.
") zu Cudvvorth, Systema intellecluale. Jenae 1733, p. 975.
') „in lucem protulisse", übersetzt Bessarion ausweicliend.
*-) Etudes 11, p. 185.
■') wegen der Worte: ikiyunev 7iuv.
'*) Mit mehr scheinbarem Recht könnte man sich auf Phileb. 27 B f. beru-
fen: Ovxuri- rd ,ucv y/yvu/xfva xnl t'^ ö)V yi'yvfKu (d. h. aUS Üjihqov und TifQag)
7iävTa Ja TQta 7iaQiay[fto ij/.ti» yevij ; Kai /tn?M. Tu (ff (h) nävra ravta (Ujfiiat-Q-
yovv If'yoiiev ittaQivv, ii]v ahiav. Indes ist hier Turia, wie Martin II, 186 er-
innert, nur auf r« ^y/Jafia, nicht auch auf das andere GHed der Einleitung,
zu beziehen.
Die Materie unentstamlen. Die anG^ehliche Materie der Republik. 189
4. Die angebliche Materie in Republik, Sophistes,
Parnienides und Philebns.
Als natiirphilosophischer Grundbegriff fand der BegriCf der
Materie seine ausführliche Behandlung in dem naturphilosophi-
scher Spcculation gewidmeten Timaeus. Schon neuplatonische
Schriftsteller indes wollten, wofür ein Beispiel uns soeben begeg-
nete, jenen Begriff unter verschiedenen Bezeichnungen auch in an-
deren Dialogen wiederfinden. Es gehören hieher Republik, So-
phistes, Parmenides und Philebus; denn was man*) im Politicus
gelegentlich auf die Materie mitbezieht 2), steht mit dieser einge-
standenermaassen jedenfalls in einem so losen Zusammenhange,
dass wir hier davon absehen dürfen.
Republik, Sophistes, Parmenides bilden, was die fraglichen
Ausführungen betrifft, eine Gruppe für sich. Sie würden, wenn
jene Deutung der Absicht Plato's entspräche^ den Gegensatz von
Materie und Idee noch schärfer imd tiefergreifend fassen, als die-
ses im Timaeus der Fall, indem sie der Idee als dem Seienden
die Materie als das Nichtseiende gegenüberstellen und so das
Werdende als Vereinigung von Sein, d. h. Idee, und Nichtsein,
d. h. Materie, erklären wäh'den. Der Philebus dagegen, welcher
eine Erklärung der Wirklichkeit auf Grund des Gegensatzes zwi-
schen Begrenztem und Unbegrenztem geben will, würde den Be-
griff der ]\laterie auf eine noch allgemeinere Bestimmung zurück-
führen.
a. Republik*
Aus der platonischen Republik hat man für die Lehre von
der Materie jene grundlegenden Erörterungen des fünften Buches
zu verwerten gesucht, welche den metaphysischen Gegensatz von
Sein, Werden und Nichtsein im Zusammenhange mit dem psycho-
logischen von Wissen, Meinen und Nichtwissen behandeln ^). Die
Erkenntnis, heisst es dort, geht auf das Seiende, die Meinung auf
das Werdende, das Nichtwissen auf das Nichtseiende. Wie nun
1) Susemihl, Genet. EntwicI^el. I, r!18 f. II, 511. Sieheck, Untersuchungen,
S. 118 f.
*) Politic, p. 283 £f.
^) Siebeck, Untersuchungen, S. 70 f. Vgl. Zeller IP a, 613. J. Huber,
Forsch, n. d. Mat. S. 6.
11)0 Zweitor Ahsclinitt. Plalo.
die Mi'iiiuiig millou zwischen dein Wissen und Nichtwissen, so
müsse au eil das Werdende mitten zwischen dem Sein imd dem
Nichtsein stehen '). Es hat Teil an beidem, am Sein wie am
Nichtsein ^), ist Seiendes und Nichtseiendes zugleich ^). Erinnern
wir uns nun daran, dass der Timaeus das Wordende als Abbil-
dung der Idee in der mii dem Räume identificierten Materie, d. h.
als Mischung von Idee und Raum, definiert, dass er ferner unsere
Erkenntnis der Materie ausdrücklicli als ein ,, unechtes" Schhessen
bezeichnet, so liegt es überaus nahe,. den unechten Schluss des
Timaeus mit der Unwissenheit der Republik^ die als Raum be-
zeichnete dritte Gattung des Timaeus mit dem Nichtseienden der
Republik gleichzusetzen.
Gleichwohl erheben sich gegen diese Fassung des Nichtseien-
den in der Republik schwere Redenken.
Plato selbst hat uns bestimmt genug angedeutet, dass unter
demselben etwas anderes zu verstehen ist. Jedes der in der Er-
scheinung gebotenen scheinen Dinge, führt er aus •*), ist zugleich
auch hässlicli, jedes gerechte zugleich auch ungerecht, jedes hei-
lige zugleich auch unheilig; das Doppelte ist zugleich ein Halbes,
das Grosse klein, das Leichte schwer und so fort. Eben wegen
dieser Relativität alles Erscheinenden, das ebenso gut nicht sei,
wie es sei, setzt Plato es zwischen Sein und Nichtsein in die Mitte ^).
Jener Satz von der Verbindung des Seins und Nichtseins enthält
also niclits weiter, als den echt platonischen Gedanken, dass „un-
ter den sinnlichen Dingen keines sei, das nicht zugleich das Ge-
genteil seiner selbst, dessen Sein nicht zugleich sein Nichtsein
wäre" ß). Unter einem solchen Nichtsein aber, welches nicht so
*) Plat. rep. V, 477 A: E/ d'i'i n ofzw? f')^ti oig tirai zt xal fiy ei'rai cv f.ifta-
^v av xcono rov fiÄixQiviog ovrog xal rov av i.irj(Utfjii] ovto^\ Meia^i\
^) rep. V, 479 E: t6 d/mf or e()0)v /uerf'xov, rov f(vai t€ xal (m) tivai.
^) Ebend. 478 D: nvxovv f'ifccfifv iv zoTi TiQÖa^fv, fi' n (faritrj olov ä /u u üv
Tf xal jur} UV , rö ToiovToi> fUTu^v xiio&ai luv (i^ixptv(i>s üvTog xal Tob Tjävt(i)(; fX)/
UVTOS.
*) rep. V, 479 A.
^) Ebend. 479 B: UöttQOv ovv tan juäX^ov ■!] ovx eattv exaarov rwv noXhov
xnvro, ü av rig t^fj arto ft'vni; roig iv rais foridafoiv, fif'r,, enaii^oreQitovaiv eoixf . . .
xal '/u(j rarra f7rct/uqoTf(>iXfiv, xal i)ri' fi'vai. ovT t fit] ti'vui fxtjiHv avTiZv i)'vvttt6v na-
yimQ vor^aai, orte djuifjoTiQa oi'ie ui'uh'i (qov. "Ej^if^ ovv avioTg^ -(jv <f' fy") o zi XC'/''"'
i] uTioi -thi'^ani; xaX)d(x) &f'aiv ziji fieza^v ovoiag zt xal zov jurj ei'vui; . . . ^y^krj&r/azazu.
«) Zeller !!■' a, G04.
Die angebliche Materie in Republilc und Sophistes. lÖl
sehr dem Sein der Idee, als dem Sein dos Sinnendinges entgegen-
gesetzt ist, und nichts anderes bedeutet, als die Negation der ei-
nem Sinnendinge bolgelegten Bestimmungen, wird man bei unge-
künstelter Interpretation nur das Nichtsein im gewöhnlichen Sinne,
nicht aber die Materie verstehen können.
b. Nopliistes.
Wenn man einmal das Nichtseiende der Republik mit der
Materie des Timaeus identificiert hatto^ so lag es nahe, mindestens
einen Hinweis auf die Materie auch in jenen bekannten Ausfüh-
rungen des Sophisten zu finden, in welchen gegenüber dem Grund-
dogma des Parmenides, dass nur das Seiende sei, die Annahme,
dass auch das Nichtseiende sei, als notwendig erwiesen wird.
Ausführlich hat Siebeck ') eine solche Bezugnahme zu begründen
versucht.
Das Nichtseiende, dessen Notwendigkeit der Sophistes erweist,
ist bekanntlich nicht das leere Nichts, sondern das Anderssein (das
tTfQov) ^). Ein liestimmler Begriff neben anderen bestimmten Be-
gi-iffen ist nur dadurcli möglich, dass dasjenige, was dieses Be-
stinmite ist, alles andere davon Verschiedene nicht ist ^). Ohne
ein solches Nichtsein würde alles zu unterschiedsloser Einheit zu-
sanmienfliessen. Was dagegen den absoluten Gegensatz (das
svccYTioy) des Seienden, d. h. das Nichts, anlangt, so erklärt Plato
im Folgenden, dass er inbetreff dieses schon lange die Frage habe
fahren lassen , ob es sei oder nicht sei *). Nach der Auffassung
Siebeck's soll Plato es hier noch offen lassen, ob neben dem re-
lativen Nichtseienden, d. h. dem Anderssein, auf der Teilnahme
an dem die Bestimmtheit der einzelnen Idee anderen Ideen gegen-
über beruht, auch ein Nichtseiendes als Gegensatz zu der Idee als
solcher als real anzusehen sei. Durch dieses Hinausschieben weise
Plato darauf hin, dass im Fortgange der Speculation neben jenen
relativen Gegensatz ein absoluter sich zu stellen im Begriff sei,
als Gegensatz nicht mehr einer Idee gegen die andere, sondern
') Untersucliungen z. Phil. d. Gr. S. 72 ff
-) Vgl. Soph. '^56 D- E. 257 B.
«) Soph. 257 A.
*) Soph. 2.58 E: /ji] loivrv tj/tui f^'^rrj rti; öri TovruvTt'ov rov ovroi; to in} (Vc
a7io(faivö/iifvoi joÄ/iiioi^itr Xfyeiv (/If iariv. t'i/ifi-: '/«(< ne^il luv ivaviiov rivog avrw
yaiQeiv ndXir kt'yofitr, th' iariv iTie /.ii].
19'i Zweiler Absclmitt. Plato.
ZU der Idoo als solcher, mit anderen Worten : die Materie '). Al-
liMn günstigsten falls ist inuc solclie Spur doch zu unsicher; als
dass irgendwelche Schlüsse darauf zu bauen wären. Zudem dürfte
es in Wahrheit nicht einmal in der Absicht Plato's liegen, die
Entscheidung darüber bloss hinausschieben, ob das Nichtseiende
auch im Sinne des Gegensatzes zu allem Sein (als h'arrio^ ), nicht
bloss im Sinne des Andersseins (als stsqüi), sei. Wenn wir die
in der Stelle enthaltene Rück Verweisung auf eine frühere beach-
ten, so W'Crden wir t'her geneigt sein, in ihr einen Hinweis darauf
zu erblicken, dass jene Auffassung des Nichtseienden längst abge-
than sei 2).
Historisch bedeutsam dagegen auch für den Begriff der Ma-
terie sind jene ausführlichen Erörterungen Plato's über das Nicht-
sein im Sinne des Andersseins geworden, durch w^elche er die
M()glichkeit einer Vielheit und weiterhin einer Gemeinschaft der
Begriffe zu stützen sucht. Die neuplatonische Lehre von der Ma-
terie, namentlich von der als Grund der Vielheit des Ideenreiches
betrachteten intelligibelen Materie, hat wesenthche Züge dorther
entlehnt.
c. Parnieiiides.
Die spätere Speculation, welche die im Sophisten offen gelas-
sene Frage zur positiven Entscheidung bringe, findet Siebeck-'') im
Parmenides. Schon die Alten, welche diesen rätselhaften Dialog
als das tiefsinnig verschleierte Grundbuch der platonischen Theo-
logie vom Hervorgang des Vielen aus dem Ur-Einen verehrten *),
glaubten unter seinen verschlungenen Gedankengängen auch einen
auf die Materie bezüglichen Abschnitt annehmen zu müssen.
Welche der „Hypothesen", in die man (auf Grund von Parm. 136
A) den zweiten Teil des Dialoges zerlegte, auf die Materie zu
deuten sei, war, wie die Begrenzung der Hypothesen überhaupt,
freilich Gegenstand des Streites; erst das Ansehen Syrian's konnte
>) A. a 0. S. 77. 79.
-) Soph. 258 E (s. V. S. Anm. 4): x"'Of'>' ndXiv Af'yo.ufr, was sich auf 257 B
ünöjav To /Liy ily Af'ywufr, ovx fvarriov ii kt'youfv tov ovtvx; , äXX' tTfQov fiövof
bezieht.
==) A. a. O. S. 79 ff.
^) Vgl. sclion Plotin, enn. V 1, 8 Ende.
Die Materie in Philebus. 193
hier eine gewisse Übereinstimmung begründen ^). Gleichwohl ha-
ben jene neuplatonischen Interpreten an Stallbaum '^) einen Nach-
folger gefunden.
Es muss indessen als ein verfehltes Unternehmen betrachtet
werden , wenn man in jeder Gedankenreihe dieser rein dialekti-
schen Erörterungen die positive Behandlung eines Gapitels aus der
Philosophie erblicken will. Schon aus der weitgreifenden Uneinig-
keit, welche unter den Vertretern dieser Auffassung über den
Sinn des Einzelnen herrscht, ergiebt sich die Unrichtigkeit einer
solchen im Grunde rein allegorischen Deutung. Mit Recht be-
schränkt Zeller in seiner grundlegenden Abhandlung über die
Composition des Parmenides ^) die Absicht der Antinomien des
zweiten Teiles durchaus auf eine abstract-begriffliche Erörterung
der Einheit und der Vielheit, der Idee und des Seins. Wer da-
her aus diesen Schlussreihen, in denen gewiss manches nach
Plato's eigenem Wort nur der Denkübung halber *) seinen Platz
gefunden hat, für bestimmte concrete Begriffe Folgerungen ziehen
will, wird über willkürliches Raten und gewaltsames Hineininter-
pretieren nicht hinauskommen.
d. Philebus.
Wie von den Neuplatonikern ^), so sind auch von den Neue-
ren die Bestimmungen, welche der Philebus von der Grenze
^) Vgl. Procl. in Farm. VI, col. 1052, 37 ff.; 1054, 5; 1055, 14 (die Deutun-
gen älterer Interpreten); col. 1057, 31 (die des Aristoteles aus Rhodos); col.
1059, 7; 1061, 6 (die Plutarch's des Atheners); col. 1064, 7 (die Syrian's).
Proclus stimmt dem Syrian bei; vgl. in Parm. VI, col. 1061, 22; in Piaton.
theol. T, c. 11, p. 310 (ed. Portus); ebenso Damascius; vgl. die Inhaltsangabe
seiner dnoQiai xal sTTih-atic: (über den Titel vgl. E. Heitz , Der Philosoph Da-
mascius, in : Strassburger Abhandlungen zur Philosophie, Eduard Zeller zu sei-
nem siebenzigsten Geburtstage. Freiburg i. Br. und Tübingen 1883. S. 13 u. 23)
bei Ruelle, Le philosophe Damascius, Revue archeologique, Nouvelle serie Bd.
I, 2 (1860) S. 120 und das Gitat aus cod. Farisin. 1989 in Gousin's zweiter
Proclus- Ausgabe col. 1297.
-) Stallbaum, Prolegom. zum Parmen. S. 133. Er bezieht Parm. 145 B— E
auf die Materie.
') Platonische Studien S. 159 ff. Ähnlich Peipers, Ontologia Platonica
p. .347—466.
*) yr/ircf(7i'as f'vfxn, Parm. 135 G. D. 136 A, was Proclus in Parm. I, col
634 f. VI, col. 1051 f. von seinem Standpuncte der Erklärung aus natürlich
nicht kann gelten lassen.
^) z. B. Procl, in Tim. 117 A; de nialor. subsist. col. 234, 13 u. s w.
Baeumker: Das Piiililem Jer Materie etc. 13
194 Zweiter AbscliniU. Plalo.
{ntQac) und dem Unbegren/.lon {ansiQor) als den Coniponenten
des durch die Ursache (ahi'a) liervorgerufenen gemischten Seins
(fxixTÖv) giebt; zumeist unbedenklich auf den Gegensatz der unbe-
stimmten Materie und der in sie eintretenden, das ideale Vorbild
nachahmenden Formbestimmtheiten bezogen worden ').
Gleichwohl wird man das Unbegrenzte des Philebus mit der
Materie des Timaeus nicht völlig identificieren dürfen. Denn wäh-
rend die Materie _, das w^as allem Werdenden Sitz gewährt =*), nur
eine ist für alle Körper, wird das Unbögrenzte von Plato als ein
vielgestaltiges, in vielerlei Arten gespaltenes beschrieben ^). In man-
cherlei Dingen wird dasselbe angenommen, in jedem auf andere
Art, nicht etwa nur in Substanzen, sondern auch in Verhältnissen
und Eigenschaften. So in Gesundheit und Krankheit (25 E. 31 C),
in Melodie und Rythmus (30 A), in Temperatur, Jahreszeiten
(26 A), in der Schönheit und Stärke des Leibes und der Seele (26 B),
in Lust und Schmerz (27 E. 31 A) und vielem Andern, was Plato
einzeln erklärt nicht aufzählen zu können (26 B) ■*).
Welchen Begriff aber verbindet der Philebus mit dem Unbe-
grenzten? Sowohl die allgemeine Beschreibung desselben, wie
der Umstand, dass bei den einzelnen zur Erläuterung aufgeführ-
ten Beispielen stets von Gradunterschieden die Rede, zeigen an,
dass dabei nicht an ein qualitativ Unbestimmtes zu denken ^);
vielmehr deutet alles auf das quantitativ Unbegrenzte, d. h. auf
das des bestimmten Maasses und der bestimmten Zahl Entbeh-
i'ende. Als Unbegrenztes wird bezeichnet, was kein Ziel {rs'Xog)
hat und daher unvollendet [disXa'g) ist (24B), was nichts ein be-
stimmtes Quantum {uoaöi) sein lässt (24 G. D), was Grade des
Mehr und Minder (24 A. G. E. 25 G. 27 E), der grösseren oder
geringeren Intensität (24 G. E) zulässt. Es wird durchweg gleich-
*) Eine Ausnahme bildet Bassfreund, a. a. 0. S. 63 ff.
') Tim. 52 B.
) Phlleb. 24 A: 'dn iff tqÖttoj' nvä tÖ (intiQor noXXä taK, vtfiQÜaoftat (fQÖZfiv.
23 E: 7io}.).a ixäiffjov (sc. aneiQov Und jreQac) tayiauevov. Vgl. 25 A.
*) Es könnte sogar befremden, dass alle diese Beispiele sich nur auf Eigen-
schaften, Verhältnisse u. dgl. beziehen , kein einziges auf selbständige Dinge,
für welche allein docli die Materie des Timaeus die Grundlage bilden kann.
Indes ist die Wahl dieser Beispiele offenbar unter dem Gesichtspuncte getrof-
fen, Analoga für den in Untersuchung stehenden Begriff der Lust zu geben.
*) Vgl. Bassfreund S. 65 f.
Die Materie im Pliilebus. 195
gesetzt mit der unbestimmten Vielheit, und zwar entweder so,
dass diese Vielheit als eine innere Gomponenle dos bestimmten
Seienden gedacht wird, welches Einheit und Vielheit, d. h. Be-
grenzung und Unbestimmtheit, in sich vereinigt'), oder so, dass
sie die der begrenzten Anzahl der Arten gegenüberstehende un-
begrenzte Vielheit der Individuen bezeichnet ^).
Ist also das „Unbestimmte" des Philebus ein solches, welches
der quantitativen Bestimmung entgegengehen soll, so folgt dar-
aus doch keineswegs 3), dass die sogenannte „Materie" des Timaeus,
weil ein qualitativ Unbestimmtes, diesem Begriffe nicht unter-
geordnet werden dürfe. Freilich, wer in der rein geometrischen
Gonstruction der Elementarteilchen und weiter in der Rückführung
qualitativer Unterschiede auf quantitative Verschiedenheiten nur
ein Ornament sieht, das den Kern der platonischen Gedanken
nicht trifft, wird auch die Materie des Timaeus nicht als quan-
titativ Unbestimmtes denken können. Anders, wenn wir unter
jener Materie die unbestimmte Ausdehnung verstehen, aus der
erst durch die quantitative Umgrenzung in geometrischen Formen
kleinste Körperteilchen mit ihren aus der Verschiedenheit der Ge-
stalt hervorgehenden qualitativen Unterschieden sich erzeugen.
Jetzt ist die quantitative Unbestimmtheit das Erste und Ursprüng-
liche, die Materie zunächst ein quantitativ und erst infolgedessen
auch ein qualitativ Unbestimmtes. Der Timaeus würde gerade
auf diese Weise im besten Einklänge mit dem Philebus stehen.
Und in Wahrheit, wenn nach dem Philebus ahes Seiende
aus Grenze und Unbegrenztem bestehen soll *), so muss dieser
Satz auch von dem einzelnen Sinnendinge gelten. Dass die von
*) Phileb. 16 G: ws t^ evos jxev xal ix 7ioXX(ov (IvTinv tu)v dtl Xeyo/iitruw tivai,
nsQag äe xal dntiQiav iv avioTs ^vjUKpvrov ey^ovTiüv, WO niQai und dneiQla Olienbar
Erklärung von ev und noV.ä. 15 B: iv tolg nolXoig xul aTieiQüig. Das dnti(i()V
der Sprache und des Gesanges, die stimm- und lautbildende Exspiration, wird
17 B als anetQuv nXi'iihei, 17 E als annQOV 7i?S/^oi, 18 B als liyinQOV, ot'x iv
bezeichnet. So wird denn auch an der öfters missverstandenen Stelle 26 D:
To (fe TQirov ii dfifoiv zovtoiv (nämlich ni^ag und dneiQov) e'v zl ^iifxßiayöfifvov,
wo die Natur des dnnfiov unbestimmt gelassen ist, dasselbe in Übereinstimmung
mit 16 G auf das quantitativ Unbestimmte zu deuten sein.
'') Phileb. 18 A. 19 A.
*j wie Bassfreund will a. a. 0. S. 64. 66. 71.
*) Phileb. 16 G; s. Anm. 1.
\o *
196 Zweiter Abschnitt,. Plato.
Plato herangezogenen Beispiele hierauf nicht ausdrücklich Rück-
sicht nehmen, darf uns nicht irre machen. Wie deutlich zuse-
hen ist, wird die Wahl dieser Beispiele durchweg von dem Ge-
sichtspuncte geleitet, dass dieselben das Wesen der Lust, die eben
nichts Substantielles ist, zu erläutern haben '). Dass aber die Ma-
terie des Timaeus, d. h. die durch die ein- und austretenden
Formen — Nachbilder der Ideen — zu umgrenzende, an sich un-
bestimmte Ausdehnung genau die Eigentümlichkeiten aufweist,
welche im Philebus dem Unbegrenzten- {unaigov) beigelegt wer-
den, ist soeben gezeigt worden.
Die Materie ist also ein Unbegrenztes {änaiQov). Aber, wie
schon vorhin hervorgehoben wurde, die Umfange beider Begriffe
decken sich nicht; dieses isl Gattungs-, jenes Artsbegriff. Die Ma-
terie ist eine der vielen Arten, welche der Philebus innerhalb der
Gattung des Unbegrenzten unterscheidet. Somit ist es eine Re-
duction auf höhere und allgemeinere Principien, wenn Plato den
Gegensatz von Materie (unbegrenzter Ausdehnung) und Form un-
ter den Gegensatz des Unbegrenzten und der Grenze subsumiert.
Wie Aristoteles den physischen Gegensatz von Materie und Form
auf den ontologischen, für alles Seiende gültigen Gegensatz von
Möglichkeit und Wirklichkeit zurückführt, so ist für den pythago-
reisierenden, überall von Zahl- und Maassbestimmungen ausge-
henden Standpunct, welchen Plato zur Zeit der Abfassung des
Philebus einnahm, die letzte Wurzel des Gegensatzes von Form
und Materie der alles durchziehende Gegensatz von Grenze und
Unbegrenztem ^).
(j. Die platonische Materie iiaeh den aristotelischen Berichten
als das Gross- und Kleine. Die Academie.
Die im Philebus vollzogene Einordnung alles natürlichen
Seins und Geschehens unter den Gegensatz des Begrenzten und
') S. S. 194 Anm. 4.
'^) Damit erliält zugleicli jene auf die Ahliandlung über die Materie folgende
Stelle des Timaeus (53 D) ihre rechte Bedeutung , an welcher Plato erklärt,
die noch weiter zurückliegenden Ursachen der Elementardreiecke seien nur
Gott und von den Menschen denen bekannt, welche ihm befreundet wären.
Wird ja, wie sclion S. 141 bemerkt wurde, gerade die Ansicht, dass alles aus
Grenze und Unbegrenztem zusammengesetzt sei, im Philebus als Gabe der Göt-
ter bezeichnet, die ein Prometheus auf die Erde gebracht habe und die dann
von den den Göttern noch näherstehenden Alten den Späteren übermittelt sei.
Bericht des Aristoteles. Die Materie das Gross- u. Kleine. 197
des Unbegrenzten zeigt uns, wie das platonische Denken inniier
weiter auf dem Wege einer Auflösung des Physischen und Con-
creten in metaphysische und mathematische Abstractionen voran-
schreitet. Schon die ursprüngliche Ideeniehre schiebt die erschei-
nende sinnliche Wirklichkeit zu Gunsten der allgemeinen Begriffe
als einer höheren Wirklichkeit bei Seite; dagegen trägt sie in die
Composition dieses erscheinenden Wirklichen selbst noch keine
allgemein begrifflichen Kategorien hinein. Den Übergang in letz-
terer Beziehung bildet der Timaeus, welcher in allem Sinnfälligen
den Gegensatz des aufnehmenden Raumes und der aufgenomme-
nen Form als des Nachbildes der Idee erkennt. Die engeren Be-
griffe von Raum und Form, welche ihre Anwendung nur auf
physischem Gebiete linden, werden im Philebus durch die umfas-
senderen von Grenze und Unbegrenztem ersetzt. Zum vollen
Durchbruch endlich gelangt diese Richtung in der späteren Ge-
stalt der platonischen Lehre, welche uns aus den aristotelischen
Berichten bekannt ist.
Nur gelegentlich gedenkt Aristoteles derjenigen Theorie der
Materie, welche von Plato im Timaeus vertreten wird. Meistens
hat er die spätere Gestalt derselben im Sinn. Sein Bericht be-
stätigt zunächst die Folgerungen, welche wir aus dem Philebus
auf die platonische Lehre von der Materie gezogen haben. Muss-
ten wir dabei betonen, dass einerseits in jenem Dialoge die Un-
terordnung der Materie unter den Begriff des Unbegrenzten nicht
ausdrücklich ausgesprochen sei, dass sie aber andererseits aus
den von demselben gebotenen Prämissen mit Notwendigkeit folge,
so sehen wir aus Aristoteles, dass Plato in seinen mündlichen
Vorträgen jene Gonsequenz wirklich gezogen hat. Nach ihm hat
Plato, gleich den Pythagoreern , als Materie das Unbegrenzte
{ansiQov) aufgestellt, unter dem aber nicht irgend ein Stoff zu
verstehen sei, dem die Unbegrenztheit als Eigenschaft zukäme,
sondern die Unbegrenztheit an sich ^). Dieses Unbegrenzte, diese
Materie, erfahren wir weiter, sei von Plato als das Gross- und
Kleine {ßsya xai /aw(>oi) bezeichnet 2), d. h. als ein Unbegrenztes,
welches sowohl hinsichtlich des Wachstums wie hinsichtlich der
») Arist. phys. III 4, 203 a 1—18. Vgl. S. 38 f.
«) Arist. phys. I 4, 187 a 18; I 9, 192 a 7 ; III 4, 203 a 16; metaph. I 6,
987 b 20; 988 a 13; I 7, 988 a 26; III 3, 998 b 10; XIII 8, 1083 b 24; XIV l',
1087 b 11; 1088 a 15 flf.
198 Zweiter Abschnitt. Plato.
Teilniig ein unbegrenztes Fortschreiten gestattet 0- Wenn Aristo-
teles gelegentlich von dem Grossen und dem Kleinen als zwei
verschiedenen Unbegrenzten redet 2), so muss die Vorstellung fern-
gehalten werden, als bildeten das unbeschränkt Grosse und das
unbeschränkt Kleine je eine eigene Materie für sich ^). Es ist
vielmehr, wie der Philebus'*) deutlich zeigt, nach Plato's Ansicht
ein und dieselbe Natur, welche sowohl unbegrenzter Zunahme
wie unbegrenzter Teilung fähig ist ^).
Dass auch in der Fassung als Gross- und Kleines die Materie
etwas Unkörperliches sei ^) und dass sie auch so eher einen ma-
thematischen als einen physischen Körper begründe '), hat Aristo-
teles zu bemerken nicht unterlassen.
Während der Timaeus die Gattung des Raumes oder die Ma-
terie nur innerlialb der Sinnendinge kennt und dieselbe ausdrück-
lich den Ideen als eine verschiedene Gattung gegenüberstellt, hat
Plato nach der Darstellung des Aristoteles in der späteren Zeit
auch innerhalb der Ideen selbst ein doppeltes Element angenom-
men: als Materie das Gross- und Kleine, als Wesensbestimmung
(oi'füia) das Eine. Weil nun die Ideen Ursache von allem sind,
so sollen ihre Elemente zugleich Elemente von allem seien »). Das
') Arist. phys. III 6, 206 b 27 — 29: llXdnov iha iovto ih^o laaneiQa inniijOtv,
öii xal enl ii]v av^r/v i'ioxfi V7if(i^'>ak).fiv xai iii anfiQov nvat , xul (jii. ti]v xa&aiQf-
aiv. phys. I 4, 187 a 16—17 (vgl. metaph. I 9, 992 b 6-7; XIV 1, 1087 b 18):
xaS-uXo'v if vTifQO'^i] xnl eXlti^tic:, üantQ tö jue'ya qj^jol TlXaiim- xal to fiixQÖv. Wie an
letzterer Stelle, scheint Aristoteles sich auch in der Schrift ntQ). rayad-ov ausge-
drückt zu haben; vgl. Alex. Aphrod. in Arist. metaph. I, p. 42, 8 — 9 Bonitz
und bei Simpl. phys. III, p. 454, 32 Diels. Umdeutende neuplatonische Aus-
legungen fehlen natürlich nicht. Nach Philoponus (in phys. I 4, quat.
c fol. 2^ Z. 34—36 [p. 93, 6—8 ed. Vitelli]; IV 2, quat. n fol. ö"- Z. 12—15)
ist die Materie deshalb von Plato als /ueya xal fiix^öv bezeichnet, weil, sobald
die Materie durch die Quantificierung zur Masse wird [oyxoriai), sie vor allen
Unterschieden den Gegensatz des Grossen und Kleinen aufnimmt. Simpli-
cius (phys. I, p. 150, 15 — 18) dagegen deutet das hixqov auf die Körperlosigkeit
und Grösselosigkeit der Materie, während sie ein ,«f'y« als Ursache aller Masse
[uyxoi) und alles Abstandes {(fiäaraaig) sei.
^) Arist. phys. III 4, 203 a 15; III 6,206 b 28. Vgl. auch metaph. 16,987 b 26.
«) Vgl. Zeller, Plat. Stud. S. 217 ff.
*) auf den auch Porphyrius bei Simpl. phys. III, p. 453, 31 ff. zurückgreift.
^) Vgl. Simpl. phys. I, p. 150, 12; Zeller, Plat. Stud. S. 217-219; Trende-
lenburg, Plat. de id. et num. doctr. S. 47 f. 52f. ; Susemihl, Gen. Entw. II, 512,
«) metaph. I 7, 988 a 23—26. — ') metaph. I 9, 992 b 1—4.
8) metaph. 1 6, 987 b 18-28.
Bericht des Aristoteles. Die Materie das Gross- u. Kleine 199
Unbegrenzte oder das Gross- und Kleine findet sich dem entspre-
chend sowohl in den Sinnendingen, wie in den Ideen ^). hi der
Sinnen weit findet es seine Bestimmung durch die Ideen, in den
Ideen durch das Eine -).
Ohne Frage hängt die Annahme eines solchen Substrates auch
in den Ideen ZAisammen mit der Zurückführung der letzteren auf
Idealzahlen '). Indem Plato die pythagoreische Reduction der
Dinge auf Zahlen und die Erklärung dieser Zahlen aus den Ele-
menten des Unbegrenzten und der Grenze herübernahm, gleich-
wohl aber an seiner urspriuiglichen Lehre von dem Getrenntsein
der Ideen und der Sinnendinge festhielt '^), ja zwischen diese als
besondere Gattung noch die eigentlich mathematischen Zahlen
einschob^), musste er zu der Anschauung gedrängt werden, dass
die Elemente der Zahl sich durch sämtliche ch-ei Gattungen des
Seienden hindurch erstreckten.
Vielfach erörtert ist die Frage nach dem Verhältnis, in wel-
chem das Unbegrenzte als Element der Ideen zu dem Unbegrenz-
ten als Element der sinnlichen Welt steht '^), Wenn Aristoteles
*) phys. III 4, 203 a 9 — 10. Nicht mit Sicherheit zu benutzen ist phys. III
6, 207 a 29—30, weil hier durch Veränderung der Interpunction auch ein an-
derer Sinn herausgebracht werden kann; vgl. Trendelenburg, Plat. de id. et
num. doctr. S. 60 f. Überhaupt nichts folgt aus phys. IV 2, 209 b 33 flf., wo
dem Plato die Inconsequenz vorgehalten wird, dass er das an den Ideen und
Zahlen Teilhabendeals den Ort bezeichne, und gleichwohl leugne, dass Ideen und
Zahlen an einem Orte seien. Denn dass dieser Vorwurf nur unter der Voraus-
setzung einen Sinn habe, dass das teilhabende Unbegrenzte auch in den Ideen
sei, wie Zeller, Plat. Stud. S. 217, Phil. d. Gr. 11» a, 633, 1 und Susemihl, Gen-
Entw. II, 513 annehmen, ist schon deshalb unrichtig, weil Aristoteles den Vor-
wurf nicht nur vom Standpuncte der späteren Theorie, sondern auch vom
Standpuncte des Timaeus aus erhebt (f?Vf rof /ueyäkuv xrü tov /ux^ioT- ui-Toi tot,
,ue&(xTixov fhf jj/s "/?;(,•, wanfQ tv Tut Ti,uruw yey()a7nai), der doch von einer sol-
chen Zusammensetzung der Idee aus zwei Elementen nichts weiss und auch
von Aristoteles nirgendwo in einem derartigen Sinne gedeutet wird.
*) metaph. I 6, 988 a 11—14.
") Vgl. Arist. met 1 6, 987 b 21—29.
*) Arist. met. I 6, 987 b 26—27.
^) Arist. met. I 6, 987 b 28—29. Vgl. Zeller, Plat. Stud. S. 225 ff.
®) Die Ansichten der Neueren stellt Susemihl 11, 550 ff. zusammen. Von de-
nen, die später hinzugetreten sind, folgen Siebeck, Unters. S. 127, und Stumpf,
Verh. d. piaton. Gotth. z. Idee d. Guten S. 23 ff., im ganzen der Ansicht
Überweg's.
200 Zweiter Altsclinilt. Philo.
schlechtweg sagt, „das Unbegrenzte" finde sich sowohl in den
Sinnendingen wie in den Ideen i), ohne dass er dabei auf eine
Verschiedenheit des Unbegrenzten in den Sinnendingen und des
Unbegrenzten in den Ideen die leiseste Hindeutung macht, so lässt
sich allerdings der Gedanke kaum abweisen, dass ihm von einem
solchen Unterschiede nichts bekannt war^). Ebensowenig scheint
ein Unterschied an der Stelle angedeutet zu sein, wo er die Ma-
terie das Substrat nennt, als dessen Bestimmung in der Sinnen-
weit die Idee, innerhalb der Ideen das Eine bezeichnet werde ^).
Gleichwohl wird durch eine genauere Erwägung gerade der
letzteren Stelle ein solcher Unterschied nahegelegt. Das Gross-
und Kleine in den Sinnendingen nämlich soll nach derselben durch
die Ideen bestimmt werden; diesen Ideen selbst aber soll wieder
das Gross- und Kleine zugrunde liegen. Wenn das Gross- und
Kleine in den Sinnendingen nun dasselbe wäre wie das Gross-
und Kleine in den Ideen, so würde hier dasselbe wenigstens teil-
weise durch sich selber bestimmt, eine Vorstellung, die dem Plato
doch nicht leicht zuzutrauen sein dürfte. In der That identificiert
Aristoteles die Materie oder das Gross- und Kleine nur dort mit
dem leeren Räume oder der blossen Ausdehnung, wo er von der
Materie der Sinnendinge spricht ■^). Andererseits scheint e]' die
^) phys. III 4, 203 a 9 — 10: xd /uevroi ämigov xal ev roTi ata&rjxoTs xai iv
ixelvati (den Ideen) frrai,
») Dass phys. JV 2, 209 1) 33 ff. von Zeller und Susemihl mit Unrecht für
die Identität heider Materien herangezogen wird , ergieht sich aus der S. 199
Anm. 1 hervorgehobenen Beziehung dieser Stelle auch aui' den Timaeus, dem
eine Materie der Ideen fremd ist.
*) metaph. I 6, 988 a 11 — 14: {(pavtQov) xal rle ij vItj iJ vnoxtiixivii, xa&' lyff
td tVift) fiiv inl t<T)v aia&riTfüv , tu iV tv ii> loii enhai Ä/'/f r«/ , ort ctvit] äväs eari,
t6 fis'ya y.ai i6 fiixijov. Auf das, was Sartorius a. a. 0. S. 158 ff. über diese
Stelle bemerkt, brauche ich wohl nicht näher einzugehen. Wenn er zur Er-
läuterung metaph. 1 9, 992 b 10 und Alexander's Gommentar dazu heranzieht,
wo es heisst, dass die Platoniker für jede Gattung von Dingen durch fy.flraii
ein i'v gewännen, so verwechselt er das iv, welches eine jede einzelne Idee als
Henade oder Monade bildet (Phileb. 15 A — B) — und nur von diesem ist me-
taph. I 9 die Rede — , mit dem i'v als dem Formalprincip der Idealzahlen, wel-
ches metaph. I 6 allein gemeint ist.
*) phys. IV 2, 209 b 33 ff. beweist nichts für eine Gleichsetzung der
Materie derldeen mit dem Räume, wie aus dem S. 199 Anm. 1 gelieferten
Nachweise hervorgebt, dass an dieser Stelle von einer Materie der Ideen über-
haupt nicht die Rede ist ; s. auch Anm. 2.
Bericht des Aristoteles. Die Materie das Gross- u. Kleine. 201
Bezeichnung der „unbestimmten Zweiheit" {6vdg dögiatog) ») nur
für die Materie als Princip der Zahlen, und zwar sowohl der ma-
thematischen 2) wie der Idealzahlen 3) , zu gebrauchen. Auch in
der Schrift über das Gute, aus welcher Alexander von Aphrodi-
sias uns einzelnes inhaltlich mitteilt^), hat die „unbestimmte Zwei-
heit" keine directe Beziehung zur physischen Welt. So würde
zwischen dem mehr arithmetischen Elemente der Idealzahlen und
dem mehr geometrischen der physischen Welt immerhin ein ge-
wisser Unterschied bestehen. Doch blieb Plato selbst wohl noch
in der alten Unklarheit der Pythagoreer stecken , welche den
Raum als die allgemeine Form des Auseinander zugleich auch
als das die Zahlen Trennende ansahen^), und gab so selber den
Anlass zu jenen Unebenheiten der aristotelischen Berichte.
Diese kurzen Bemerkungen über Plato's spätere Lehre von
der Materie mögen hier genügen. Nur zwei der von Aristoteles
gegebenen Bestimmungen bedürfen noch einer näheren Betrach-
tung. Dieselben bringen principielle Gesichtspuncte für die plato-
nische Lehre von der Materie, welche wir, wenigstens in dieser
Form, aus den platonischen Schriften nicht kennen lernten. Durch
die gesamte platonische Lehre geht der Gedanke hindurch, dass
ein wirkliches Sein nur in den Ideen zu finden sei. Schon das
Werdende ist kein wahrhaft Seiendes. Was bleibt da noch für
den dunklen, schwer zu erfassenden, nur durch einen unechten
Schluss zu erkennenden Untergrund des Werdens, die Materie?
Sie ist in noch höherem Maasse, als das Werdende^ ein Nicht-
seiendes. So bezeichnet sie ausdrücklich Aristoteles,, dessen Aus-
führungen freilich zunächst die spätere Form der platonischen
Lehre ins Auge fassen. Aristoteles nämlich bringt die platonische
^) Die , unbestimmte Zweiheit" als das materielle Princip ist wohl zu
untersclieiden von der Zweiheit materialer Prinzipien, des Grossen und des
Kleinen, welche Aristoteles an mehreren Stellen dem Plato zuschreibt (s.S. l'J8).
») Arist. met. XIV 3, 1091 a 4 f.
3) Arist. met. XIII 7, 1081 a 13-15; b 21; 25; 32; 1082 a 13; b 30.
*) Alex. Aphrod. in Arist. metaph. I, p. 41, 31—42, 24; 68, 18—19 (vgl.
184, 2) ßonitz; Alex, hei Simpl. pliys. I, p. 151, 6-8; III, p. 454, 19-455, 11.
Vgl. Arist. fragm. coUeg. V. Rose, fr. 28. Brandis, de perd. Arist. libr. p.
28—32. Zeller, Fiat. Stud. 220—223 und (mit teilweise veränderter Auffassung)
Phil. d. Gr. IF a, 805, 4.
6) Arist. phys. IV 6, 213 b 26 ff. Vgl. S. 39.
202 Zweiler Abschnitt. Plalo.
l^ehre von der Matei'ie mit seiner eigenen in Vergleicii. Auch er
nennt die Materie in gewissem Sinne etwas Nichtseiendes, insofern
ihr näniHch vor der Aufnahme einer Form das Beraiibtsein (dTsgrjOig^
privat io) von dieser Form eignet. Aber das Verhältnis dieser Ne-
gation zur Materie ist ein anderes bei ihm, als bei Plato. „Denn
wir" (d. h. Aristoteles) „sagen, die Materie und die Privation
seien verschieden, und das eine von diesen, nämlich die Materie,
sei ein Nichtseiendes nur per accidens, die Privation hingegen
an und für sich, und jene, die Materie, sei beinahe in gewissem
Sinne schon Substanz (ovOia), die Privation hingegen in keiner
Weise; jene dagegen machen das Grosse und das Kleine, sei es
beides zusanmien, oder jedes für sich, gleich sehr zum Nichtseien-
den'").
Es kann kein Zweifel sein, dass Aristoteles die platonische
Materie hier thatsächlich als Nichtseiendes bezeichnet. Kv findet
ja den Fehler Plato's darin, dass er zwischen der Materie und
zwischen der Privation oder dem Nichtseienden keinen begriffli-
chen Unterschied gemacht habe.
*) p. 192 a 3 — 8; »/^f/V lUfv yÜQ rXijV xal aii(ir,niv i'if(iüv (fuftd' n'vrxi, xil ror-
t(i)v II) fi(v ovx ov fi'rai y.aiä ai^f^i^f[^r^Xü<;, ti]v rXi/r^ iTJv li'e aiepyaiv xaih' urtijv, xal
rr/V fiff t'yyfi; xal m-aiav niog, ti]v vki/v, r i]v i)'e (JiFQr/aiv orifafiin^' oi i)'f to jui} uv
lo fif'/d xal 11/ fnx(i(ir öf^toiing, i] tu arraiuj i'it f(jiir i, rö ^wp/'f exäifQin'. Schneider,
Plat. Met. S. 34 Anrn. will zur Herstellung des Parallelismus zwischen den
Gliedern: r,ufi^ fuv und at lU vor r« iiiyn xal tö juix^ior ein xal einschieben:
„Wir sagen, dass Substrat und Privation verschieden sind — jene, dass das
Nichtseiende (entsprechend der Privation) und das Grosse und Kleine (entspre-
chend der Materie) in gleicher Weise .sei.'' Indes ist eine solche Textesverän-
derung durchaus überflüssig. Der Satz: ol de tu ftr] ov td /xiya xal ro fiixQor
(ifjuiioi steht nicht direct dem Satze: 7'jfxetg /.uv yoQ vhjv xal ateQTjaiv e'rtQov qia-
fifv (?vai gegenüber. Vielmehr hat sidi derselbe, wie nicht selten, der Form
nach weniger genau an die nachfolgende weitere Ausführung angeschlossen,
worin Aristoteles als seine eigene Überzeugung ausspricht, dass die zwei der
Form gegenüberstehenden Glieder der Trias von Principien nicht beide in glei-
cher Weise ein Nichtseiendes genannt werden könnten, sondern nur in ver-
schiedener Weise, nämlich das eine per se, das andere per accidens. Damit
durften auch die Ausführungen von Fr. Ebben , Plat. id. doctr. p. 41 ff., wider-
legt sein, der auffallenderweise zu jo in] uv aus Z. 6 oi'a^'ai' als Prädicat ergän-
zen will, wobei er sich nicht auf r-, magnumque parvumque similiter esse
(= f?ra(, sc. To iiii ov) hätte berufen sollen. Das Richtige bietet auch hier
Zeller, Plat. Stud. S. 224, dessen Übersetzung des fraglichen Satzes oben wie-
dergegeben wurde.
Die plat. Mat. nach Arist. das Nichtseiende. Zeugnisse Hermodor's u. Eudem's. 203
Bestätigt wird seine Aussage durch die Zeugnisse des Her-
modor, eines andern Schülers des Piato '), und des Eudeni^).
Herrn odor geht aus von einer Einteilung des Seienden nach
Plato 3). Nachdem ihn diese schliesslich zu der Classe des unbe-
stimmten Seienden (der dÖQiOTo) als dem letzten Einteilungsgliede
geführt hat, fährt er fort: „Und es habe (sagt Plato), was als ein
Grosses gegenüber dem Kleinen bezeichnet wird, alles das Mehr
und das Minder, in der Weise, dass es *) in dem ,noch mehr Grös-
ser' und ,noch mehr Kleiner' ins Unendliche fortschreiten könne;
ebenso aber wird auch das Breitere und Schmalere, Schwerere
und Leichtere bis ins Unendliche fortschreiten. Was aber als das
Gleiche und das Bleibende und das Passende bezeichnet werde,
habe nicht das Mehr und das Minder, wie das Gegenteil es habe ;
denn dieses (das Gegenteil) ist noch mehr ungleich als ein (ande-
res) Ungleiches; noch mehr bewegt als ein (anderes) Bewegtes,
noch mehr unpassend als ein (anderes) Unpassendes ^) . . . .
1) Dasselbe ist uns durch Simpl. phys. I, p. 248, 2-18; 256, 35—257, 14 nach
Porphyi'ius (vgl. Simpl. 247, 31), welcher selbst aus Dercyllides schöpfte (Simpl.
247, 31; 256, 34) seinem Wortlaute nach erhalten. Über dasselbe vgl. Zeller,
Diatribe de Hermodoro Ephesio et Hermodoro Platonico. Marburg 1859. S.
20 ff. Phil. d. Gr. IP a, 589, 7. Susemihl, Genet. Entw. 11, 522 ff. Schneider,
Plat. Met. S. 41 ff.
2) Bei Simpl. phys. III, p. 431, 8—16. — Schneider, Plat. Met. S. 41, sucht
vergebens die Glaubwürdigkeit Hermodor's zu erschüttern. p]r findet näm
lieh einen Widerspruch mit Aristoteles darin, wenn Hermodo)- beliauple, nach
den Piatonikern gebe es. eigentlich nur ein einziges Princip. Allein was Her-
modor p. 248, 15 (= 257, 1) als Begründung voraufschickt: (li,).oi yä^ »»f «Vr tqü-
7ior TU uiTiov y.viiiiüg xni (haift(iovTi i(jÖ7i(n ro Tiuiurv f'atir , orjto^ xcu UQyr,, ent-
spricht, wie auch Simpl. phys. 256, 28 f. erinnert , ganz genau Plato's eigenen
Ausführungen im Timaeus. wo allein die Vernunftcausalität als Ursache, die
Causalität der Materie dagegen als blosse Mitursache oder dienende Ursache
bezeichnet wird (Tim. 46 G, 68 E; vgl. 8. 118). Selbst dem Aristoteles ist der
— von ihm freilich anders begründete — Gedanke nicht fremd, dass das Gross-
und Kleine des Plato in Wahrheit kein Princip sei; cf. met. I 9, 990 b 19—22
und dazu Alex. Aphrod. p. 63, 28—30 Bonitz; met. XIV 1, 1087 b 3 ff. Vgl.
auch Simpl. phys. I, p. 204, 12 ff.
') Dieselbe schliesst sich in ihrem obersten Gesichtspuncte an Plat. Soph.
255 G an, ist aber wohl den sog. t^taiQtoHi entnommen; vgl. Zeller 11^ a, 380,4
g. E.
*) Nach Diels Verbesserung o'ii no uäD.ov statt üait fiäU.ov.
^) Den folgenden , für unsere Frage durchaus gleichgiltigen Satz habe ich
204 Zweiler Alischnitt. Plato.
So dass also das derart Beschaffene als unslät und gestalllos
und nichtseiend bezeichnet werde, mit Negation des Seins. Dem
derart Beschaffenen aber komme kein Anteil zU; weder am Prin-
cip, noch am Sein, sondern es bewege sich in einer gewissen
Unentschiedenheit" *),
Auch Eudem stellt das Gross- und Kleine mit dem Nicht-
seienden sls gleichbedeutend zusammen ^).
Kann so über den Satz kein Zweifel herrschen, so ist doch
der Sinn desselben nicht ohne weiteres klar. Dass das Gross-
und Kleine, wenn es als ein Nichtseiendes bezeichnet wird, damit
nicht zu einem völligen Nichts herabgesetzt werden soll , ist si-
cher. Das Nichts kann keine Bestimmung in sich aufnehmen,
nicht geformt werden, kein Mehr oder Minder zulassen; es lässt
sich ihm in keiner Weise eine „Natur" {(fvoig) beilegen, wie es
doch von Aristoteles geschieht^). Vielmehr setzen Hermodor^)
und Eudem ^) das Nichtseiende dem Unbestimmten, Unstäten,
Gestaltlosen, Ungeregelten gleich, d. h. demjenigen, welchem kein
bestimmtes Sein zukommt. Wenn aber Aristoteles es tadelt,
dass die platonische Materie mit der Privation zusammenfalle und
dieselbe deshalb in noch strengerem Sinne als Hermodor und
Eudem ein Nichtseiendes nennt ß), so ist natürlich nicht daran zu
denken, dass Plato Materie und Privation ausdrücklich gleichge-
setzt habe. Vielmehr zieht hier Aristoteles aus der mangelnden
Sonderung der beiden zuerst von ihm selber unterschiedenen Be-
griffe, wie so oft, erst selbst die Folgerung, die dann wesentlich
polemischem Zwecke dienen soll.
unübersetzt gelassen, weil seine kritische Herstellung bis jetzt noch nicht ge-
lungen ist.
^) Simpl. phys. I, p. 248, 13 ff. (= 256, 35 ff.): üoie <iatatuv xal anoQq.ov (cf.
Plat. Tim. 50 D) xal andQov xal ovx ov to zotovtov Xeyio&ai xar' änöifaaiv tov
ortog. Tu) Toinvrw df o?! nQoarjXeiv o'vit aQX^i^ °*'"' ovaiag dXk' tv dxQiaia rtvl (fc-
*) Simpl. phys. III, p. 431, 8 ff.: UIükov (fi t6 /ueya xal ßiy.Qov xal to fiiq ov
xal TO äviiifiaXov xal öaa tovtois enl ravio ifeQit tt,v xivtjaiv keyei... to <fe äÖQiarov
xaXiüis inl ti^v xivriaiv oi Uv&ayö^tioi xal o HXäTmv ennfCQovaiv .... dXkd ydn
oQiatt] ovx eati (sc. )J xivri<Jig), xal t6 dreXes (i'rj xal iti fti} ov' yiveiac yaQ , yivöfxt-
vov de ovx eoTiv (vgl. Zeller IF a, 808, 1),
») Arist. phys. I 9, 192 a 10. Vgl. Plat. Tim. 50 B: qivats rä ndvTa dexofievi].
*) S. Anm. 1.
*) S. Anm. 2 {/utj ov = dvn'maXov und yivofxerov).
«) Arist. phys. 19, 192 a 7 (s. S. 202 Anm. 1).
Die platonische Materie als das Nichtseiende. Die Materie und das Üble. 205
Als Nichtseiendes gilt somit die platonische Materie, insofern
sie nicht ein bestimmtes Seiendes ist ^).
Noch eine zweite bedeutsame Bestimmung erfahren wir durch
Aristoteles. Nach ihm liess Plato den Gegensatz des Einen und des
ihm gegenüberstehenden materiellen Elementes auch auf das ethische
und teleologische Gebiet in der Weise überspielen, dass er in dem
Einen die Ursache alles Guten und sich wohl Verhaltenden, in
der Materie die des Üblen oder des Bösen (xaxöv) erbhckte-).
Vielleicht schon Plato, sicher aber einige seiner Schüler — ver-
mutlich war Xenocrates unter ihnen — sind dann noch weiter
gegangen und haben die Materie geradezu mit dem Bösen iden-
tificiert, indem sie die Materie als die Natur (cfvaig) des Bösen be-
zeichneten 3).
In den platonischen Schriften findet sich die Lehre von der
Materie als dem Ursprünge des Üblen in dieser Form noch nicht.
Sie scheint erst im Zusammenhange mit der pythagoreisierenden
späteren Ideenlehre entstanden zu sein. Von den Pythagoreern
wissen wir ja durch das Zeugnis des Aristoteles, dass sie dem Ei-
nen und der Grenze einerseits, dem Vielen (wofür Plato das Gross-
und Kleine setzte) und dem Unbegrenzten andererseits in dersel-
ben Syzygie den Platz anwiesen wie einerseits dem Guten, ande-
rerseits dem Bösen ^). Vorbereitende Gedanken fehlen gleichwohl
auch in den Dialogen nicht. Ausdrückhch führt der Politicus
alle Unordnung^ alles Widrige und Unrechte in der Welt auf die
körperliche Natur (/o OdofiaxoeidsQ) derselben zurück, währender
ihr alles Gute von ihrem Schöpfer zukommen lässt^). Im Kör-
^) Vgl. auch Allst. XII 10, 1075 a 32 — 33, wo es von den Piatonikern heisst:
i'i ife TU tjiQov Twv tvavTiiiJV vXijv noiovaiv , üantQ td apiaov Tta l'aip ?/ tm ivi rd
jioXXd (also das Nicht-EineJ.
*) Arist. met. I 6, 988 a 14 — 15: in äi rijV rov iv xal inv xax(üi aiti'av ToTf
'iToi^eiois (den Ideen) dntihoy.tv iyarf^ois txaTi(}ar (vgl. auch metaph. ]X 9, 1051
a 18 und Bonitz zu der Stelle). Dasselbe berichtet Eudemus , welcher nach
Plut. de an. in Tim. proer. c. 7, p. 1015 D es ungereimt fand, dass Plato die
Materie „Mutter" und „Amme" nenne und sie doch zur Ursache und Wurzel
des Übels mache.
^) Arist, met. XII 10, 1075 a 34 — 36: iri anavia ruv tfarXov /iie&e^ei e'^u) tov
fvöq' 10 yuQ xaxdi» avTo ^^uTf^oi' i<ov atoiyi^iüuv. XIV 4, 1091 b 35: ol ()t Xtyovai
ir', uvtaov Tiijv TOV xaxov ifvaiv (wozu Vgl. Zeller, Plat. Stud. 279. Bonitz, Com-
ment. p. 588).
*) Arist. met. I 5, 986 a 23—26.
") Plat. Polit. 273 B.
^(M) Zweiter Ahschnilt. Plato.
perlichen sieht derselbe Dialog den Grund, weshalb das Weltge-
bäude nicht, wie das wahrhaft Göttliche, stets gleich und unver-
änderlich, sondern stetem Wechsel unterworfen sei *). Ebenso
ist es im Timaeus der Gott, welcher überall das Gute und sich
wohl Verhaltende hervorbringt ^) , während die „Notwendigkeit*^',
d. h. die materielle Natur, trotz der Überredung von Seiten der
Vernunft nur „das Meiste" zum Guten führt ^). — Diese Notwen-
digkeit ist das Hindernis, dessentwegen selbst der Gott nur „so-
weit es möglich war" Ordnung und Ebenmaass in der Welt her-
zustellen vermochte *). Auch der von Plato mehrfach ausgespro-
chene Gedanke, dass durch die vom Körper ausgehenden Bewe-
gungen die Seele in ihrer Reinheit und Klarheit getrübt werde •'>),
lässt sich hieher ziehen.
Bedeutsam ist endlich eine Stelle des Theaetet. Plato er-
klärt es hier für unmöglich, dass das Üble je aufhöre^ da das
Gute notwendig einen Gegensatz verlange. Weil nun das Üble
unter den Göttern keinen Sitz habe, so müsse es notwendig ,,die
sterbliche Natur und diese Stätte hier umwandeln '')". Wenn wir
aber fragen, weshalb das Gute das Üble als Gegensatz verlangt,
so werden wir mit den Neuplatonikern die Antwort auf einen Aus-
spruch des Timaeus stützen und daran erinnern, dass im Sinne
Plato's ohne eine solche Mannigfaltigkeit das Weltall, das schönste
Werk , unvollständig sein würde '^).
Ohne weiteren Einfluss auf die geschichtliche Fortentwicke-
lung, ohne Wert auch für das sachliche Problem als solches, sind
die kleinen Veränderungen, welche der Begriff der Materie in der
Schule Plato's, der älteren Academie, erfuhr. Wir vernehmen
1) Pkt. Polit. 269 D.
*) Plat. Tim. 68 E: t6 (fe tv itxraivöjjifvoi; tv 7iaai roTi '/lyvo/xivoig avtoQ.
3) Plat. Tim. 48 A.
*) Plat. Tim. 69 B: J i?f«f tv txdniw . . . (7n/tufi(_,i'a<; trfjjiihjafv, uaa<; xi
xai unji i\tyvaTijr r/v äväkoya yai ai'f^iijftfja n'fut.
"•) Phaed. 65 A f. 79 G. 66 B; rep. X 611 G ff.; Tim. 44 A.
«) Plat. Theaet. 176 A.
') Plat. lim. 41: tovtutv il't /my ye^'u/nfvinv or^uvüt; aifA?,V tojai. Wenn hier
auch zunächst die drei Gattungen der Luft-, Wasser- und Landbewohner ge-
meint sind, so liegt dieser speciellen Anwendung doch notwendig der im Text
angegebene allgemeine Gedante zugrunde, für den ihn auch Simpl. phys. I, p.
249, 32 ohne weiteres benutzt.
Die Materie und das Üble. Die Academie ül)er d. Materie. 20?
darüber einiges bei Aristoteles, wo freilich die Zuteilung der ohne
Namensnennung gegebenen Nachrichten an eine bestimmte Per-
son nicht immer leicht ist. So hören wir, dass Xenocrates
die Annahme unteilbarer Linien, welche bereits Plato in späterer
Zeit an die Stelle der unteilbaren Flächen als Grundlage der
Raumconstruction gesetzt hatte , von ihm herübernahm . sowie
dass er vermutlich zu denen gehörte, welche die Materie
als die Natur des Bösen bestimmten *). Nach Aetius bezeichnete
er als Principien des All das Eine und das „Stetsfliessende", un-
ter dem er die Materie wegen der in ihr liegenden Vielheit ver-
standen habe 2).
Entschieden auf den Pythagoreismus zurück ging Plato's
Schwestersohn und Nachfolger Speusipp. Wie derselbe mit
Preisgabe der Ideenlehre völlig die pythagoreische Zahlentheorie
wieder aufnahm, so bezeichnete er auch im Anschluss an die
pythagoreische Kategorientafel ^) das Eine und das Viele als Prin-
cipien aller Dinge*), indem er an die Stelle von Plato's unbe-
stimmter Zweiheit wieder den altpythagoreischen Gegensatz der
Vielheit einführte. Die platonische Verteilung des Guten an das
Eine, des Bösen an die Materie hat er verworfen ^).
7. Die Zeitgenossen Plato's.
Treten überhaupt Plato's grossartig originalem Geiste gegen-
über die übrigen socratischen Schulen so ziemlich in den Hinter-
grund, so kommen sie hinsichtlich des uns beschäftigenden Be-
griffs sogar noch weniger als anderswo inbetracht. Gewiss liegt
OS nicht bloss an der zufälligen Dürftigkeit der auf uns gekom-
menen Nachrichten, sondern an der einseitigen Bevorzugung er-
1) S. S. 205.
*) Stob. ecl. I, p. 294 (Aetius I 3, 23 bei Diels p. 288,15: Sevox^dtrn awt-
nidi-'ai ro nav -ix tuv evöi xal tov ätväov ^ deraov xi]v t'Af,»' aivnröfiivoi (fiu rov
.1 ?.ij\}ovs.
8) Arist. met. I 5, 986 a 24.
*) Vgl. Fei. Ravaisson, Speusippi de primis rerum principiis placita qualia
liiisse videantur ex Aristotele. Dissert. acad. Paris. 1838 S. 24 ff. Weitere
Helege bei Zeller IP a, 853, 2.
*) Arist. met. XIV 4, 1091 b 32—35; vgl. XII 10, 1075 a 36: 0/ ,r im.oi oiS'
ü(iydi TU liya&ov y.ni ii) xaxöv. Näberes bei Ravaisson a. a. 0. S. 14 — 17.
208 Zweiter Abschnitt. Plato.
kenntnistheoretischer und namenthch ethischer Untersuchungen,
wenn uns alle Mittel fehlen, die etwaigen naturphilosophischen
Anschauungen jener Männer soweit zu reconstruieren , dass
wir auch ihre Ansicht von der Materie des näheren bestimmen
könnten.
Am meisten gilt dieses für die Gyrenaiker. Indem sie von
der Ansicht ausgingen, dass all unser Wissen auf die eigenen
Empfindungen beschränkt sei, zu den Dingen aber nicht vordrin-
gen könne'), enthielten sie sich gänzlich der auf die Natur be-
züglichen Untersuchungen 2). Wenn Schleiermacher vermutet hat,
dass die in Plato's Theaetet als Geheimlehre des Protagoras be-
zeichnete Verbindung des protagoreischen Sensualismus mit der
heraclitischen Flusslehre dem Aristipp zuzulegen sei; so wurde
schon oben ^) die Unrichtigkeit dieser Vernmtung dargethan.
Einigermaassen bestimmtere Vorstellungen dagegen würden
wir uns von den naturphilosophischen Grundanschauungen der
megarischen und der cyni sehen Schule machen können, falls
man mit Recht gewisse Ausführungen Plato's auf den Euclid und
den Antisthenes bezieht.
Seit Schleiermacher pflegt man bei den „Ideenfreunden",
welche der platonische Sophistes den Materialisten entgegenstellt*),
zumeist an Euclid und die Seinen zu denken^). Es wird dort
jenen Männern ein Doppeltes zugeschrieben : dass sie das wahre
Sein in den vom Verstände erfassten unkörperlichen Begriffen
[ei'Sij) suchten, dass sie dagegen die Körper, welche von ihren
materialistischen Gegnern als das in Wahrheit Seiende betrachtet
würden, durch ihre Beweise Teil für Teil zerrieben und diesel-
ben nicht als Sein^ sondern nur als ein im Flusse befindliches
Werden wollten gelten lassen ''). In der Annahme wesenhafter
') Plut. adv. Colot. 24, 2, p. 1020. Cic. Acad. II 7, 20; 46, 142. Sext.
adv. math. VII 191 ff.
') Diog. Laert. II 92.
") S. S. 100 f.
*) Plat. Soph. 246 B-G.
') Vgl. Zeller, Phil. d. Gr. IP a, 214. Sitzungsberichte d. Berl. Akad. d. Wis-
sensch. 1887. S. 2f)9 f.
) Plat. Soph. 246 B: tu (f6 ixtiviov auixaza xal xrjV XeyojjtvrfV vn avKov dXt'/-
■^tiav xata nuiy.Qci (iia&Qavovi fc iv toii; Xoyoig '/tvtaiv upt' ovaiag iff QOfie'vfjv rivd
TT Qi>aity 11(^1 fviirfiir.
Die Zeitgenossen Piiito's. 20Ö
Begriffe finden wir eine bemerkenswerte Annäherung an den pla-
tonischen Standpimct, die, falls die naheliegende Beziehung der
Stelle auf den Euclid das Richtige trifft, am besten durch den
poi"sönlichen (ledankenaustausch der beiden befreundeten Männer
erklärt wird. In der „Zerreibung" des Körperlichen dagegen zeigt
sich ein Anschluss an die Beweisführungen Zeno's gegen die
Denkbarkeit einer räimilich ausgedehnten Körperwelt, welcher
sehr gut zu dem eristischon Charakter der megarischen Schule
passt •).
Bei den materialistischen Gegnern dieser IdeenfVeunde, welche
,, Körper und Substanz für dasselbe erklären und jeden gründlich
verachten, welcher die ^löglichkeit der Existenz eines Unkörper-
lichen behauptet" -), dürfte an den Stifter der cynischen Schule,
Antisthenes, zu denken sein, auf dessen Materialismus Piato
auch sonst gelegentlich anzuspielen scheint 3). Es würde in die-
sem falle auch hinsichtlich der naturphilosophischen Grundan-
schauung zwischen der Stoa und dem Gynismns ein ähnliches
Abhängigkeitsverhältnis bestehen, wie es hinsichtlich der ethischen
Lehre so augenfällig ist ^).
») Vgl. Zeller IP a, 218. 224.
-) Plat. Soph. 24<j A: favTuv am/^a xul ovaiav o^i^uuiror , Triii' (ff alhuv tl' Ti'i
li if),ai ftij adi/j-a i'yov n'vai, y.aTU(f^ovorvT(( t6 TtaQÜnai-,
») Plat. Theaet. 155 E. Phaed. 81 B. Vgl. Duemmler, Antislhenica, p. 51 ff.
Natorp, Forsch, zur Gesch. des Erkenntnisprobl. S, 198 ff.
*) Wie das von Natorp, Forschungen zur Gesch. des Erkenntnisproblems
S. 198 ff. sehr vvalirscheinlicli gemacht wird.
Baeumkür: Das Problem Jer AlatetiS etc.- 14
Dritter Abscljnitt.
Aristoteles.
Die Materie als Möglichkeit.
Aristoteles M ist es, welcher das Wort „Materie" {vhj) als
technische Bezeichnung in die Philosophie eingeführt hat 2).
Durch ihn findet auch der antike Begriff der Materie seine ty-
pische Ausprägung.
Die Methode der Forschung, durch welche Aristoteles den
Begriff der Materie gewinnt, ist im wesentlichen dieselbe, wie die
Plato's und des Altertums überhaupt. Einige allgemeinste, nicht
sonderlich tief gehende Beobachtungen unterzieht er einer scharf-
sinnigen dialektischen Bearbeitung durch gewisse allgemeine Be-
griffe und Grundsätze, die ihm als donknotwendig erscheinen, und
in denen er daher, den Voraussetzungen seines Systemes entspre-
chend, das Wesen der Dinge befasst glaubt.
Freilich möchte man gerade von Aristoteles erwarten, dass
er, der nicht nur als Philosoph, sondern auch als Naturforscher
so Hervorragendes leistete, seiner Theorie mehr als Plato eine
breite empirische Grundlage würde gegeben haben. Allein seine
exacten Studien auf dem Gebiete der Naturwissenschaften bewe-
^) G. Engel, Über die Bedeutung der I-At; bei Aristoteles. Rhein. Mus. f.
Phil. N. F. VII. 1850. S. 391—418. Georg Freih. v. Hertling, Materie und Form
und die Definition der Seele bei Aristoteles. Ein kritischer Beitrag zur Ge-
schichte der Philosophie. Bonn 1871.
-) S. S. 114 Aniu. 1. In seiner gewöhnlichen Bedeutung von Holz u. dgl.
kommt der Ausdruck fast nur in der Tiergeschichte vor; vgl. bist. an. V 18,
550 b S; V 23, 554 b 28; VI 1, 559 a 2; 14, 569 a 3 VIII 2, 591 b 12; 27, G05
b 19; IX 11, 615 a 15; 32, 618 b 21. 28; 40, 626 b 24. — polit. VII 5. 1327 a 8,
rhet. III 3, 1106 a 28.
Dritter Alisdinitt. Aristoteles, (lliarakter der arist. Speculalioii über d. Mat. 211
gen sich nicht in der Richtung, dass sie ffir die Speculation über
die Materie ein umfassendes Material an Thatsaclien hätten dar-
bieten können. Aristoteles ist gross in allem, was sich ohne Ex-
periment durch zergliedernde Naturbeobachtung gewinnen lässt.
Darum hat er in der Classification der Lebewesen, in der anato-
mischen Untersuchung ihres Baues, in der Beobachtung ihrer
Entwickelung, ihrer Lebensweise und ihrer Lebensfunctionen, auch
in der Beobachtung der meteorologischen Erscheinungen Muster-
giltiges geleistet. Die Natur aber auf die Weise zu befragen,
dass er die Naturdinge künstlich unter einfachen Verhältnissen
zusammenbrächte, um so die verwickelten Erscheinungen in ihre
einfachen Elemente zu zerlegen, dazu fühlte er den Trieb noch
nicht 1). Aus diesem Grunde ist er in der Physik und Chemie
nicht zum Bau der einfachsten Instrumente und damit auch nicht
zur Erkenntnis der mannigfaltigen physikalischen und chemischen
Kräfte und Gesetze gelangt.
Die physikalische und chemische Grundlegung der aristoteli-
schen Speculation über die Materie musste darum notwendig un-
zureichend sein. Keinen Ersatz für diesen Mangel bot es, wenn
Aristoteles das Schaffen der Natur durch die Analogie des künst-
lerischen Gestaltens zu erhellen suchte. Nach zwei Richtungen
drängte ein solches Verfahren auf Abwege. Einmal musste es
leicht zur Vermenschlichung der Natur verleiten. Zweitens brachte
es die Gefahr mit sich , die Wesensconstitution der Dinge nach
dem Bilde accidenteller Unterscheidungen zu denken.
Um so energischer und allseitiger sind dagegen die begriffli-
chen Elemente der aristotelischen Theorie durchdacht. Von den
wirklichen oder vermeintlichen Grundphänomenen , die er durch
seine Theorie der xMaterie zu erklären unternimmt, giebt er eine
im ganzen folgerichtige, an tiefen Gedanken und feinen Unter-
scheidungen reiche Lösung. Freilich lassen sich bei einer genau-
eren Analyse der von Aristoteles gegebenen Bestimmungen auch
in der begrifflichen Behandlung des Problems verschiedene Un-
klarheiten aufdecken. Allein diese treten durchweg da auf, wo die
Theorie über die allgemeinsten Phänomene hinaus zur Erklärung
der manniofacheren Erscheinungen verwertet werden soll. Hier
1) Vgl. R. Eucken, Die Metliode der aristotelischen Fmsciiunii-, Berlin 1872,
S. 1G2 ff. Zeller IP b, 247, 1.
11 *
2lä Dritter Abschnitt. Aristoteles.
zeigt sich die allgemeine Theorie dann freilich unzureichend und
ein unsicheres Schwanken isL unvermeidlich. Aber nicht die Un-
bestimmtheit dw rationellen Principien, sondern die Rücksicht
auf das empirisch Gegebene ist die Ursache dieser Unsicherheit.
Unsere Darstellung der aristotelischen Theorie der Materie
wird folgende Gesichtspuncte ins Auge fassen:
1. Begriff der Materie bei Aristoteles.
2. Sachliche und historische Kritik desselben.
3. Functionen der Materie.
4. Die intelligibele Materie.
Der Darstellung der aristotelisclien Materie werden dann noch
einige Bemcikungen über die Behandlung hinzuzufügen sein,
welche das Problem in der peripatetischen Schule gefunden hat.
1. Betriff der Materie.
Der aristotelische Begriff der Mateiie ist erwachsen aus einer
Analyse des Werdeprocesses. Die Materie ist auch bei Ari-
stoteles nicht der allgemeinste Gattungsbegriff des Sinnfälligen,
welcher die Merkmale umfasst, in denen alle Körper übereinkom-
men. Sie ist vielmehr das Substrat des Werdens für die
körperlichen Substanzen.
Die Schwierigkeiten, welche im Begriffe des Werdens liegen,
führt Aristoteles aus '), hatten die Alten dazu verleitet, die Rea-
lität des Werdens zu leugnen. Ein Werden, argumentierten sie,
fände entweder statt aus dem Seienden oder aus dem Nichtseien-
den. Nicht aus dem Seienden ; denn das Seiende sei und werde
nicht. Nicht aus dem Nichtseienden ; denn ein Werden aus et-
was verlange, dass etwas vorhanden sei.
Aristoteles löst die Aporie durch eine Distinction. Das Wer-
den erfolgt weder aus einem schlechtweg Seienden , noch aus ei-
nem schlechtweg Nichtseienden. Seine Voraussetzung ist vielmehr
ein Reales, welchem das Sein weder schlechtweg zu-, noch
schlechtweg abgesprochen werden darf, also ein Seiendes, welches
beziehungsweise ein Nichtseiendcs, oder auch ein Nichtseiendes,
welches beziehungsweise ein Seiendes ist.
Die so beschaffene Realität nun ist die Materie. Sein und
Nichtsein ist in ihr in doppelter Weise vereinigt.
" -4
') plijs I. 8, 191 a 23— b 34.
Begriff der Materie. Doppelte Betrachtung ilerselben. 213
Erstens ist sie ein Seiendes, welches beziehungsweise
ein Nichtseiendes ist. Seiend ist sie, insofern wir sie als
Substrat denken, welches schon vor dem Werden besteht, also
in sich ein Sein hat. Beziehungsweise nichtseiend i.st sie,
insofern dieses Substrat die Bestimmung noch nicht in sich trägt,
zu welcher es erst durch das Werden hingeführt werden soll, in-
sofern es also als ein so beschaffenes noch nicht ist.
Zweitens ist die Materie ein Nicht seien des, welches be-
ziehungsweise ein Seiendes ist. Woraus nämhch etwas wer-
den soll, das ist dieses in Wirklichkeit {sifoyaia, ivTtkex^ia)
noch nicht. Die Materie als das, woraus etwas wird, ist insofern
der Wirklichkeit nach ein Nichtseiendes. Aber als das, woraus
etwas wird, ist sie zugleich Voraussetzung des Werdens. Als
solche ermöglicht sie die Verwirklichung. Nun bezeichnet Ari-
stoteles mit einer kleinen Wendung des Gedankens das, was das
Sein ermöglicht, als das der Möglichkeit nach {dvvdfisi) Sei-
ende. Die Materie, obwohl ein Nichtseiendes ■ der Wirklichkeit
"^nach, ist also mögliches Seiendes, und somit wenigstens bezie-
hungsweise ein Seiendes.
Sonach ergiebt sich eine doppelte Betrachtung der Materie,
Die erste fasst dieselbe als vorhandenes Substrat, welches
einer Bestimmung entgegengeführt wird , die es zuvor noch nicht
besass. Hier erscheint die Materie als Substrat entgegenge-
setzter Zustände.
Die zweite Betrachtung dagegen sieht in der Materie das
Mögliche, welches durch den Werdeprocess verwirklicht
wird •).
^) phys. I 8, 191 b 13: rj^eTi (ff xal avioi (fainev ytyvta&ai /utv oviUv rinkcüi
ex ßij OVTOS, o/ucog uevTOi yiyvta&ai ex ,U); ovrog, oiov (d. h. nämlich; Vgl. Waitz
ZU org. 1 b 18. Bonitz zu met. 985 b 6) xaxa. avfißeßrjxös' ix yctg rijs aKQi'jaem?,
o eott, xaS- avzo ßi) ov , ovx ervnäQ^ovTO? yiyverai ri . . . b27: elg juev (fy tqotzos
oviog, aX).os (fore iv(fij(etai ravta Xeyeiv xaia rr^v dvvafiiv xal tiJv ive^yeiav. Sirnpl.
J)hys. I, p. 236, 15 — 20: ol juev dgialoi diu t6 ßr/rt ei livroq ß%T£ ix fit} ovrog dv-
vaa&ac ytve'a&ai t6 ov dvi^Qovv xr,v yiveatv. aviog ife ti}v dnoglav kvec dtioQiaijieviag
deixvrs ort dväyxr,T6 yivöfievov i^ ovrog xal ixt, ovtos yivfu&ai, rorienri njj nevlivcog
nij äe fiij ovrog. rovio de di^MS dwarov ke'yeiv' i} yd(t iio xa&' avzo xal xara avu-
ßfßtixfig ifiaifeQei ravra ij tio dvvd/nei xal ivfQyeia. Alexander von Aphrodisias hat
der Frage nach dem Sinn und dem Verhältnis dieser beiden Auffassungen eine
eigene Untersuchung gewidmet: quaest. natur. I 24 (p. 73— 76 ed. Spengel).
214 Dritter Ahscluiitl. Aristoteles.
Ob freilich der Begriff der Materie, wie er aus der ersten Be-
trachtungsweise abgeleitet wird, genau derselbe ist, wie der auf
dem zweiten Wege gewonnene , das wird später zu untersuchen
sein. Zuvor ist noch ein anderer Unterschied zu machen.
Der Begriff der Materie nämlich, welcher sich aus dieser dop-
pelten Betrachtungsweise ergiebt, kann wieder ein weiterer und
ein engerer sein. Da nämlich der Begriff der Materie von Ari-
stoteles durch Analyse des Begriffes des Werdens gewonnen wird,
so nmss eine ^Mehrdeutigkeit des Begrifft des Werdens auch eine
Mehrdeutigkeit des Begriffs der Materie herbeiführen. Der Be-
griff des Werdens aber wird in einer weitei-en und in einer enge-
ren Bedeutung genommen. In weiterer Bedeutung umfasst er so-
wohl das substantiale, wie das accidentale Werden; in engerer
Bedeutung ist er auf das substantiale Werden beschränkt. Dem-
entsprechend versteht Aristoteles unter der Materie im weiteren
Sinne das Substrat jedes Werdens und jeder Veränderung, nicht
bloss des substantialen Werdens, sondern auch der quantitativen,
qualitativen und localen Veränderung. Im engeren Sinne dage-
gen bedeutet die Materie das Substrat des substantialen Wer-
dens i). Wir werden beide Bedeutungen so unterscheiden, dass
wir die Materie im ersten Sinne als Materialursache im allgemei-
nen, die Materie im zweiten Sinne als Materie des substantialen
Werdens bezeichnen.
a. Die Materialiiri^aelie im allgeiiieiiien.
Der aristotelische Begriff der Malerialursacho, wie er ausführ-
lich in der Pliysik entwickelt wird ^), erwächst aus folgenden Vor-
aussetzungen :
1. Wie schon die alten Naturphilosophen erkannten 3), giebt
es kein Werden aus Nichts. Vielmehr setzt alles Werden ein
Vorhandenes {vnoxti'fifroi) voraus*), aus detn es wird, ist ein
Werden aus Etwas {f'x tirog)^).
1) Vgl. phys. I 7, 181) b 3U If.; inet. Xll 2. 10G9 b 15 ff.l
2) phys. I 4—9.
=>) phys. 1 4, 187 a 28. 34; vergl. de gen. et corr. I 3, 317 b 3(3; niet. III
4, 999 b 6; XI, 6 1062 b 25.
*) phys. I 7, 190 b. 13. 20; de cael. I 3, 270 a 15— Ifi; met. VII 7, 1032 b
1 XI 6, 1062 b 24.
») de gen. an. II 1, 733 b 25; niet. VII 7, 1032 a 17; 8, 1033 a 24; IX 8,
Begriff der Materie, a) Die Materialursache iiii allgemeinen. 215
2. Alles Entstehen und Vergehen, überhaupt alle Veränderung,
findet, wie gleichfalls die früheren Philosophen bereits erkannten,
zwischen Gegensätzen statt. Es kann nur werden, was vorher
noch nicht war ').
3. Beide Folgerungen, dass alles, was wird, aus einem Vorhan-
denen wird , und dass das , was wird , zuvor noch nicht da war,
werden dadurch vereinigt, dass beim Werdeprocess ein vorhande-
nes Substrat aus dem Zustande des Ermangeins einer Bestimmt-
heit {ötsQTjaic) in den entgegengesetzten des Besitzes dieser Be-
stimmtheit übergeführt wird ^).
Wir unterscheiden also das Vorhandene als das Substrat
des Werdeprocesses {vnoxfiitf^vov) , ferner das Nichtsein einer Be-
stimmung dieses Substrates, sowie das Sein derselben als die Ge-
gensätze (d}Ttxfif.iiva) beim Werden 3). Der Principien des Wer-
dens sind mithin drei: Materie (f'lry), Bei'Si\ihung(aT€Qr]aig) und
Form (fff^oc, fxogqrj^ Xöyoc) *). Von diesen Principien ist die Be-
raubung keine positive Realität. Sie besteht vielmehr in der Ab-
wesenheit der Form ^). In sofern reducieren sich jene drei Prin-
cipien auf zwei: Materie und Form ^).
1049 b 28. Aus de gen. et corr. 1 3, 317 a 33—34, wo das yiyv6/j,evov änXaSs
von dem yiyvöixtvov ex zivog unterschieden wird, darf man nicht folgern, dass
nach dieser Stelle das ylyvtad-ai äuhTis ein Substrat ausschliesse. Hier hat das
ex Ttvog yiyvea&ai , wie ausser den gleich darauf angeführten Beispielen auch
der ganze Zusammenhang zeigt, die besondere Bedeutung: aus einem schon
qualitativ Bestimmten werden.
1) phys. 1 5, 188 a 19 ff. b 29. III 5, 2ü5 a 6. V 1. 224 b 29; 3, 227 a 7;
VI 5, 235 b 13. 16; VI 10, 241 a 27; VIII 7, 261 a 33; de cael. I 3, 270 a 22;
IV 3, 310 a 25; de gen. et corr. II 4, 331 a 14; 5, 332 a 7—8; 8, 335 a 7; de
an. II 4, 416 a 34 ; de gen. an. I 18, 724 b 3; IV 1, 766 a 13—14; de interpr.
14, 23 b 14; met. I 5, 986 b 3; IV 2, 1004 b 30; 7, 1011 b 34; XI 11, 1067 b
13. 106S a 3; 12, 1069 a 3; XII 10, 1075 a 28.
2) phys. l 7, 191 a 5. Ebenso met. VllI 1, 1042 b 2—3. Der allgemeine
Satz, dass die Materie Träger der Gegensätze sei , wird an einer grossen Zahl
von Stellen ausgesprochen, z. B. phys. I 6, 189 a 28-29; met. XII 1, 1069 b 6;
10, 1075 a 27—34; XIV 1, 1087 a 35 b 1; categ. 10, 13 a 18; de cael. II 3, 286
a 25; de gen. et corr. I 1, 314 b 26; II 1, 329 a 31—32; de gen. an. I 18,
724 b 3-4.
3) phys. I 7, 190 b 13—15.
*) phys. I 7, 191 a 12—14; met. XII 2, 1069 b 33 -34; XII 4, 1070 b
18—19; 5, 1071 a 9-10.
-) phys. I 7, 191 a 6—7. - «) phys. I 7, 190 b 29 -30. 191 a 14-15.
21(i Dritter Abschnitt. Aristoteles.
Als Abwesenheit der Form ist die Beraubung in sich selbst
ein Nichlseiendos '). Da nun die Beraubung in der Materie ist
inid von dieser begrifflich unterschieden werden muss 2), so bil-
det sie ein Accidens der Materie '^). Der Fehler der Platoniker bestand
darin, dass sie zwischen jenem an sich Nichtseienden und der
Materie auch keinen begrifflichen Unterschied annahmen, vielmehr
das Nichtseiende als solches zur Materie machten^). Die Be-
raubung macht daher die Materie zu einem Nichtseienden per
accidens'^), und das Werden findet mithin statt aus einem Sei-
enden, welches beziehungsweise ein Nichtseiendes ist. Es ist die-
ses die erste der oben hervorgehobenen Lösungen, welche Aristo-
teles von dem Problem des Werdens giebt.
Den Beweis für die Notwendigkeit seiner drei , bezw. zwei
Principien führt Aristoteles zunächst durch eine Analyse des
sprachlichen Ausdrucks "). Wir sagen: „der Ungebildete wird
ein Gebildeter", und: „aus dem Ungebildeten wird ein Gebilde-
ter"; ferner mit zusammengesetztem Ausdruck: „der ungebildete
Mensch wird ein gebildeter", und: „aus dem ungebildeten Men-
schen wird ein gebildeter, aber nie: „aus dem Menschen wird
ein Gebildeter", sondern stets nur: „der Mensch wird ein Ge-
bildeter" ^). Der Grund dieser Verschiedenheit liegt in dem ver-
schiedenen Verhalten, welches die beiden Bestandteile des zusam-
1) phys. I 8, 191 b 15; II 9, 192 a 4.
^) phys. I 7, 190 b 23 — 24: ean <ff to vnoy.fiiitvov äQi&uip fxev er, t'ühi iff
fi'io. Vgl. 190 a 15 — 16. Statt fi'Jn stehen anderswo die synonymen Ausdrücive
Ao'ytü (190 a Iß), elvat (191 a 1), ffwa>« (I 9, 192 a 2).
^) phys. I 7. 190 b 27 : ij fi'f aregriaig xai ij ivuvxiu)aii avixßeßi)x6s,
■■) phys. I 9, 192 a 1-2. 6—8. Vgl. S. 202.
°) phys. I 9, 192 a 3 — 5: r,fieig fxev yaQ vXrjv xal aieQijaiv f'tfQov i^ajusv fivai, xai
TovTwv TO jjiiv ovx ov ftvai. xard ai\ußtßtjx6s, Tr]v öÄtjv, tijv i)i attQijaiv xa& ai^iijv.
«) phys. I 7, 189 b 32 ff.
') Ähnliches vom gesunden und kranken Menschen : de gen. et corr. I 7,
324 a 15 — 19. -.— Aristoteles muss freilich einräumen, dass dieser Sprachge-
brauch nicht immer streng eingehalten wird. Obwohl das Erz vkr;, nicht ats-
QTjais für die Bildsäule ist, sagen wir doch nicht, das Erz werde eine Bildsäule,
sondern aus Erz werde eine Bildsäule (phys. 1 7, 190 a 24—26). Diese Ab-
weichung des Sprachgebrauches aber hat darin ihren Grund, dass im Unter-
schiede vom Menschen, der aus einem ungebildeten ein gebildeter, aus einem
kranken ein gesunder wird, beim Erz, wie bei Holz und Stein u. dergl., die
attQTiais, der Mangel der Form im Erz, nicht auffällt (met. VII 7, 1033 a 11—16).
Begriff der Materie, a) Die JVIaterialursaclie im allgeiueinen. 217
mengeseizten Ausdrucks „uiigobildetor Mensch" in diesen Sätzen
zeigen. Wenn nämlich der „ungel)ildete Mensch" zu einem „ge-
bildeten Menschen" Avird, so bleibt der „Mensch" bestehen, die
Bestimmung „ungebildet" dagegen macht der Bestimmung „ge-
bildet" Platz, deren Negation sie ist. Wir haben also , entspre-
chend dem Verhalten des sprachlichen Ausdrucks, beim Werden
als physische Principien zu unterscheiden : das bleibende Substrat,
die Beraubung, und die Form, durch welche das Substrat anstelle
der Beraubung positiv bestimmt wird.
So die grammatisch-logische Begründung der Theorie.
Wo Aristoteles es unternimmt, die Gültigkeit des so gewonnenen
Begriffes der Materie auf thatsächlichem Gebiete aufzuzeigen,
kommt er über einige Andeutungen nicht hinaus, und selbst bei diesen
hält er sich noch teilweise an die Analogie sprachlicher Verhält-
nisse. Er unterscheidet das substantiale und das accidentale
Werden. Beides setzt eine Materie voraus. Am deutlichsten ist
dieses bei dem acci dentalen Werden. Nur die Substanz näm-
lich wird nicht von einem Andern als von ihrem Subjecte aus-
gesagt; die Accidentien dagegen, Quantität, Qualität, Relation,
Zeit- und Ortsverhältnisse u. s. w., bedürfen bei der Aussage ei-
nes solchen Subjectes. Nun entspricht dem grammatischen Prä-
dicationsverhältnis das physische Inhärenzverhältnis. Das Werden
der Accidentien geschieht also an und aus einem Subjecte, d. h.
es erfordert eine Materie. Aber auch das substantiale Werden
verlangt eine solche. Denn auch beim substantialen Werden ist
stets etwas vorhanden, woraus das Entstehende wird, wie z. B.
die Organismen aus dem Samen werden').
Das Schwergewicht des Beweises fällt ersichtlich auf die
grammatisch-logische Begründung. Nun könnte es freilich auffal-
len, dass hier eine ganze physikalische Theorie auf sprachliche
Untersuchungen gestützt wird. Allein dem liegt eine tiefere Ur-
sache zugrunde. Die „Beraubung", welche von Aristoteles als
physikalisches Prinzip aufgestellt und für die Begriffsbestimmung
der xMaterie verwertet wird, ist keine physische Realität, sondern
ein blosses Gedankending. Eben darum konnte nicht die Analyse
der Wirklichkeit zu ihr führen, sondern die Analyse der in der
Sprache verkörperten Begriffe.
') phys. I 7, 190 a 31— b 5. Die Ausführungen b 5—9 sind nicht klar.
Auch Alexander's Erklärung bei Sinipl. phys. p. 213, 19 tf genügt nicht.
218 DriUer Ali-^clmill. ArisLotdes.
Gleichwülil ist die Aufslellung eines solchen Principes für
Aristoteles kein leeres Spiel mit ßegrilTen. Das Problem, zu
dessen Lösung er dasselbe einführte, war von den voraufgehenden
Philosophen durchweg rein begrifflich und dialektisch behandelt
worden. Bei der Frage nach der Möglichkeit des Werdens ar-
beitete man fast ausschliesslich mit den beiden abstracten Begrif-
fen Sein und Nichtsein Von diesem Standpuncte aus war das
aristotelische Princip daher völlig gerechtfertigt. Aufgrund eben
dieses Begriffes der Beraubung, welche -die an sich seiende Ma-
terie zu einem beziehungsweise Nichtseienden macht, zeigt er,
dass die von den Gegnern gestellte Alternative: bein oder Nicht-
sein, vermieden werden könne.
Zu einer nutzbringenden Verwendung geeignet konnte freilich
der Begriff der Materie so lange nicht sein, als derselbe dieMaterie
unter dem rein negativen Gesiclitspuncte des Bei'aubtseins beti-ach-
tete. Durch die Natur der Sache nuisste Aristoteles dahin ge-
drängt werden, dem Begriffe durch eine neue Wendung frucht-
barere Seiten abzugewinnen. So sehen wir denn in der That,
wie Aristoteles an die Stelle jenes mhaltslosen Begriffes der Be-
raubung an anderen Stellen einen Begriff mit positivem Inhalt
setzt ^). Es ist das besonders in der Metaphysik der Fall, wäh-
rend die Physik durchweg die Beraubung in dem vorhin entwik-
kelten strengen Sinne versteht ^).
Ein Mangel oder eine Beraubung n.ämlich liegt nicht nur da
vor, wo überhaupt jede bestimmte Form fehlt oder weggedacht
wird, sondern auch dort, wo anstelle der vollkommneren
Form, die dasein könnte, nur eine minderwertige vorhanden ist.
So verhalten sich wie Form and Beraubung nicht nur die Be-
stimmungen Gebildet und Ungebildet-^), sondern auch Warm und
Kalt, Weiss und Schwarz, Oben und Unten, Leicht und Schwer,
Ausgewachsen und im Wachstum Begriffen, Licht und Dunkel,
Gesundheit und Krankheit u. s. w.*). Die Beraubung in diesem
Sinne ist nicht mehr bloss Negation, sondern sie bildet eine po-
') Vgl. Ad. Trendelenburg, Gesch. d. Kategorienlehre. Berlin 18-i6. S.
103—116 (bes. S. 113—115). Waitz zu categ. 10, p. 311. Bonitz zu metaph. V
12, 1019 b 7, p. 254.
■^) Doch findet sich ein Ansatz zu jener andern Betrachtung auch phys. I 7,
190 b 30—35.
■') phys. I 7, 189 b 35. Vgl. niet. V 22.
*) met. XII 4, 1070 b 12. 20^21.28; 5, 1071a 10;decael. II 3, 286 a 25— 2G
Begriff der Materie, a) Die Materialursache im allgemeinen. 219
sitive Realität. Sie ist selbst eine Art Form (iJ^ög no)c)^),
eine Art positiver Beschaffenheit (e^ig ncog) 2) , ein bestimmtes
Etwas (xd(ff) 3). Sie fällt darum nicht, wie die Materie, unter
den Begriff der Möglichkeit, sondern, wie die Form, unter den
der Wirklichkeit ^). Ebenso hat sie, wie die Form, eine bewir-
kende Ursache^). Als „Beraubung" wird sie nur aus dem Grunde
bezeichnet, weil das specifische Merkmal, durch welches ihr We-
sen constituiert wird, im Vergleich mit dem specifischen Merkmal,
welches die Form verleiht, etwas Mangelhafteres und UnvoU-
kommneres bezeichnet ^).
Die Bestimmung , welche als „Beraubung" bezeichnet wird,
gehört also derselben Gattung an, wie diejenige Bestimmung,
welche als „Form" bezeichnet wird. Die Bestimmungen „Schwarz"
(Beraubung) und „Weiss" (Form) z. B. fallen beide unter die
Gattung Farbe. Weil nun innerhalb der gemeinsamen Gattung
Form und Beraubung als das Vollkommene und Unvollkommene
sich gegenüberstehen, so werden sie in der Reihe der Arten den
oberen und unteren Endpunct bezeichnen. Sie bilden also unter
einander einen conträren (positiven) Gegensatz (sind ivavTia) ').
phys. lil 1, 201 a 5 8 (= met. XI '), 1065 h 11—13), auch phys. 17, 190 b
31—32.
') phys. 11 1, 193 b 19-20.
-) met. Y 12, 1019 b 7. Vgl. Gar. Butzki, De "Ecft Aristotelea. Halis 1881.
p. 6-10.
ä) phys. III 1, 201 a 3—5 (=- met. XI 9, 10(i5 b 9-11).
•*) met. Xtl 5, 1071 a 8—10, wozu vgl. Trendelenburg a. a. 0. S. 114. 191.
ßonitz zu met. p. 484. Die vom falschen Alexander p. 656, 8 If. (dessen Er-
klärung auch Schw^egler in seinem Commentar Bd. lY S. 247 f. sich zuzunei-
gen scheint) verkehrt construierte und daher miss verstandene Stelle war vom
echten Alexander anscheinend in richtiger Form gegeben; vgl. Freudenthal,
Die durch Averroes erhaltenen Fragmente Alexanders zur Metaphysik des Ari-
stoteles (Abhandl. d. Berliner Akad. d. Wissenschaften aus dem J. 1884), S. 98
Es gilt also bei dieser Auffassung der arfpijfftf gerade das Umgekehrte wie oben,
wo sie als das an sich Nichtseiende bezeichnet wurde; vgl. I 9, 192 a 5.
') anal. post. II 2, 90 a 15—18; 8, 93 a 23. a 29— b 7.
«) Vgl. de gen. et corr. I 3, 318 b 14—17 ; de cael. II 3, 286 a 25—28. Ein
gewisses unsicheres Schwanken des Aristoteles ist also schon hier nicht zu
verkennen; vgl. J. B. Meyer, Aristoteles Thierkunde. Berhn 1855. S. 421.
') de gen. et corr. II 5, 332 a 23—24 : aTiQr,ais t6 iregov tmv ivavziwv (näm-
lich Wasser im Gegensatz zur Luft, Luft im Gegensatz zum Feuer), met IV 2,
1004 b 27 : toSv evavziwv i) stequ avaToi^ia aregriaii. Ygl. met. IV 6, 1011 b 18;
IX 2, 1046 b 14 fl-.
220 Drilter Ahbchnill. Arisloleles.
Übrigens wird auch da, wo zwei Bestimmungen nicht gerade das
obere und untere Endghed in der Reihe der Arten bilden, immer
noch ein Unterschied der Vollkommenheit stattfinden. Es lässt
sich daher auch hier der Unterschied von Form und Beraubung
durchführen. Ebenso wird die Bezeichnung als Gegensätze in ei-
nem weiteren Sinne auch auf diese mittleren Arten Anwendung
linden ^).
Gehen wir jetzt auf den zweiten der obigen Sätze, von denen
die Üeduction der jMaterie ausging, zurück, auf den von sämtli-
chen Philosophen zugestandenen Satz, dass alles Werden zwi-
schen Entgegengesetztem (svarria) stattfinde 2). Als solchen Ge-
gensatz fanden wir von x\.ristoteles anfangs den der Form und
der Formlosigkeit, dann den conträrer positiver Formbestimmun-
gen aufgestellt^). Legen wir nunmehr die letztere Betrachtungs-
weise zugrunde, um so dem Begriff der Materie von einer ande-
ren Seite näher zu treten.
Bei dieser veränderten Fassung der Gegensätze nämlich, zwi-
schen denen das Werden sich bewegt^ beruht das letztere darauf,
dass eine positive Bestimmung mit einer ihr entgegengesetzten
positiven wechselt: mögen die beiden Gegensätze nun die äusser-
sten Endpuncte in der Reihe der Arten bilden, oder zu den mitt-
leren Gliedern zählen ^).
Der Wechsel zwischen den Gegensätzen aber kommt nach
aristotelischer Lehre zustande durch die Einwirkung der Gegen-
sätze auf einander'^).
Nun erhebt sich die Frage^ wie es möglich sei, einmal, dass
die Gegensätze auf einander einwirken, dann, dass die Gegen-
sätze in einander übergehen.
^) wie das z. R. de gen. et corr. II 5, 3312 a 20—24 geschieht. Ebenso
wird met. XII 1, 1069 b 4 — 5, während es erst heisst: ex iwv civzixeifxe'vMv ^ rwv
nera^v, gleich darauf einfach ex tov havtlov gesetzt.
2) S. S. 215.
•') Die Verschiedenheit dieser Betrachtungsweisen wird auch von Alex.
Aphrod. berührt, in der Untersuchung quaest. nat. 11 11, p. 102—105 Spengel:
did ti TU '/ryv6/J.lvov ix r^f aztQrjaewt: /.ierafid/.Xuv ci/na ex tov evavTiov avTOv ,ueTa-
^dkXei, ei yt /xtj Taihöv iOTiv tj aTegriOig xai t6 eravTtov;
*) met. XII 1, 1069 b 3—4.
s) phys. I 9, 192 a 21—22; de cael. II 3, 286 a 33—34; de long, et brev.
Vit. 3, 465 b 3—10; de gen. et corr. I 7, 324 a 2—3. 7—8; II 7, 334 b 20-24;
met. XIV 4, 1092 a 2-3.
Begi-iff der Materie a) Die Materialursache im allgemeinen. 2'21
Bei Aristoteles ist es ein feststehendes Princip , dass die
Gegensätze als solche nicht von einander afficiert werden
können'). Zwar das Kalte kann von dem Warmen, aber nicht
die Kälte von der Wärme eine Einwirkung erfahren. Der innere
Grund dieses Satzes liegt in der dem Aristoteles eigenen,
auf Plato zurückführenden Identificierung von Form und Begriff,
welche später noch mehrfach zu besprechen ist. Wir finden in
demselben die physikalische Kehrseite eines logischen Satzes
Plato's, des Satzes nämlich, dass entgegengesetzte Begriffe wohl
in demselben Dinge, aber nicht unter sich vereinbar seien. Unter
jener aristotelischen Voraussetzung nun ist eine Einwirkung der
Gegensätze auf einander nur denkbar, wenn die entgegengesetzten
Bestimmungen sich an einem Substrate finden, welciies selbst zu
keiner derselben in einem Gegensatze steht. Neben den Gegen-
sätzen ist darum noch ein Drittes erforderlich. Dieses ist die
Materie. Sie ist das wahre Object, welches unter der Einwirkung
der Gegensätze von der einen Bestimmung zur anderen überge-
führt wird 2).
Dasselbe Resultat ergiebt sich aus der Lösung der zweiten
Schwierigkeit. So wenig ein Gegensatz als solcher auf den an-
dern einwirken kann, so wenig kann er als solcher in den andern
übergehen 3). Es ist undenkbar, dass die Kälte je Wärme werde *).
Auch dieser Satz geht aus von der Identifizierung von Form und
Begriff, und giebt zu dem platonischen Satze, dass kein Begriff
je in sein Gegenteil umschlage, das physikalische Gegenbild. Nun
wird aber doch trotz dieses Satzes Entgegengesetztes aus Entge-
gengesetztem, z. B. das Warme aus dem Kalten. Die Gegensätze
als solche, Wärme und Kälte, sind daher zu denken als Bestim-
mungen eines Substrates , welches von der einen Bestimmung zu
einer entgegengesetzten gebracht wird. Dieses Substrat ist die
Materie ^).
^) met. XII 10, 1(175 a 30 — 31: dna&y yÜQ ra trariia vn uXkiikcor. EbenSO
phys. I 7, 190 h 33.
■^j met. XII 10, 1075 a 31-32; phy.s. I 7, 190 b 33—35.
») phys. I f) * 188 a 30. Vgl. met. X 7, 10.-.7 b 22—23.
■*) de gen. et corr. I G, 322 b 16-18. Vgl. die Ausführungen phys. V 1,
224 b 4 — 26, dass die tUtj (als solche wird b 13 auch die o^e^/nürrig aufgefülirt)
unbeweglich seien.
'-) de gen. et corr. I 6, 322 b 17; II 1, 329 a 31—32; met. XIV 1, 1087 a
36— b2; cat. 10, 13 a 18—19; de gen. an. I 18, 724 b 2-4.
222 Dritter Al)schnitt. Aristoteles.
Demselben Gedanken giebt Aristoteles auch folgende Wen-
dung. Wenn etwas von etwas wird, so muss bei diesem Vor-
gange etwas bleiben, welches wird. Der Gegensatz als solcher
aber bleibt nicht. Es giebt also ein Drittes neben den Gegen-
sätzen, nämlich die Materie ^).
Suchen wir nttnmehr den Bogriö' der Materie bestimmt zu
formulieren, wobei wir zugleich auf die früheren Ausführungen
zurückgreifen werden.
/ Die Materie ist das, woraus {s'^.ov) etwas wird 2). Sie
teilt diese Bestimmung mit der Beraubung; denn auch diese
bildet für das Werdende ein „Woraus" ^). Aber der Sinn dieses
„Woraus" ist bei beiden verschieden. Während die Beraubung —
nämlich die Beraubung im strengen Sinne oder die Formlosigkeit
— nicht in die Zusammensetzung des Dinges eingeht (sie ist ein
s'^ Ol! oi'x svvnÜQyorioc) *) , bleibt die Materie Bestandteil des
entstehenden Dinges (ist ein *J ov ewnuQyovToq)^). Wenn die
Darstellung in der aristotelischen Schrift über die Metaphysik
hiervon in etwa abweicht, indem sie auch die Beraubung zu den
constituierenden Prinzipien zählt ^) , so ist diese Verschiedenheit
nur eine scheinbare; denn die Beraubung, von der die Metaphy-
sik spricht, ist nicht die Beraubung im strengen Sinne, sondern
bezeichnet eine Art der Form ''). Nnn sagen wir aber von demje-
nigen im eigentlichen Sinne, dass aus ihm etwas werde, was
als bleibender Bestandteil zur Entstehung des Neuen beiträgt.
In diesem Sinne ist darum nicht die Beraubung, sondern die
Materie dasjenige, woraus das entstehende Ding wird ^). Dabei
ist indessen noch Folgendes zu bemerken. In vielen Fällen be-
1) met. XII 2, 1069 b 7—9.
2) phys. I 8, 191 a 34; 9, 192 a 29—30. 31—32; II 3, 194 b 24. 195 a
IG— 19; de gen. an. I 18, 724 a 23-2(J; II 1, 733 b 26; IV 1, 765 b 12;
met. I 5, 986 b 7; III 4, 999 b 7; V 24. 1023 a 26—27; VII 7, 1032 a 17. 1033
a -r. VII 8, 1033 a 2.'.— 26 u. ö.
^) phys. I 8, 191 b 1.5; de gen. an. I IS, 724 a 26—28 (wo au.sdrücklich die
Mehrdeutigkeit des t-| ov hervürgeho])en \A). Vgl. phys. I 7, 190 a 6. 23. 28 u. ö
*) phys. I 8, 191 b 15 16,
fi) phys. I 9, 192 a 29—30. 31—32; II 3, 194 b 24; de gen. an. 1 18, 724 a 25:
met. I 5, 986 b 7.
'^) met. XII 4, 1070 b 18—23, wo die drei Principien Form, Beranimng und
Materie als iwndQxovra «hia und aioiyfin der bewegenden Ursache als einem
ixTog ai'riov gegenii})ergestellt werden. — '') S. oben S. 218 f.
**) met. Vll 7, 1032 a 17: tu d" i| ov yiyvfTnt, ijv Xf'yojuiv vhiv.
Begriff der Materie, a) Die Materialui'sache im allyeiuoinen. 223
darf ein Stoff, damit er zur Entstehung eines Neuen das geeig-
nete Substrat abgiebt, erst einer weiteren Gestaltung. In diesem
Falle wird das Neue, um dessen Entstehung es sich handelt, im
eigentlichen Sinne nicht aus jenem entfernteren Substrate, wel-
ches die betreffende Umbildung noch nicht erfahren hat, sondern
aus demjenigen Substrate, welches unmittelbar in die Zusammen-
setzung des Neuen eingeht ^).
So gelangen wir denn zu der von Aristoteles gegebenen De-
finition der JVlaterie. Sie ist ihm: das einem jeden unmittel-
bar zugrunde Liegende, woraus etwas wird, als aus ei-
nem innerlich constituierenden Principe, und nicht
bloss accidenteller Weise 2).
Nachdem wir somit die Materie zunächst als das Beraubte,
d. h. der Form noch Ermangelnde, dann zweitens als innerlich
consti tuierendes, aufnehmendes Prinzip betrachtet haben,
müssen wir sie an dritter Stelle als das der Möglichkeit nach
Seiende ins Auge fassen. Wir gelangen dann zu dem zweiten
Lösungsversuche , den Aristoteles für das Problem des Werdens
gegeben hat.
Die Materie als das, woraus etwas wird, bildet eine Vor-
bedingung der Entstehung. Freilich ist sie nur eine der Vorbe-
dingungen. Damit etwas Bestimmtes wirklich entstehe, muss zu
dieser Vorbedingung als zweite noch die bewirkende Ursache hin-
zutreten ^). Das Vorhandensein der Vorbedingungen zu etwas be-
zeichnet aber Aristoteles als die Möglichkeit {dvrafxic, potentia)
davon. — Die Möglichkeit in diesem Sinne ist zu unterscheiden
von der logischen Denkbarkeit, d. h. von der Widerspruchsfrei-
heit *). Sie bezeichnet eine physische Fähigkeit , ein physisches
Vermögen. Entsprechend der Zweiheit der Vorbedingungen ist
') niet. VIII 4, 1044 b 1 — 3: (h? (fe tu (y/vrara curia }.syeiv, Tt'g tJ vkrj ; ur}
nvQ ij yijv, d'f.Xu rr/v lihor. Vgl. met. IX 7, 1049 a 17 — 18, WO es hinsichtlich der
ävva^it;, mit der die Materie zusammenfällt, heisst : ioaneo t'i n ovnw dvdQiäg ifvväfjur
fifTaßä/.'Aovaa ycifi earai yaXxog. Vgl. Trendelenburg ZU de anima, S. 246 der 2. Aufl.
'^) phys. I 9, 192 a 31 — 32: Xiyui yÜQ vkr/v xö nftwiov vTtoxfi/xevov exäaru), e^ 1/
ov yiyvsxai ti iv'onä{i-/^oVLui in] y.aiu acn^h^iixög. Vgl. phys. II 3, 194 b 23 — 26
(= met. V 5, 1013 a 24-26).
3) Vgl. de gen. et coi-r. II 9, 335 b 29—33 und zahlreiche andere Stellen.
*) met. V 12, 1019 b 2^2 ff. IX 1, 1046 a 6—9. Vgl. Trendelenburg zu de
anima-, p. 242. Bonitz zur Metaph., p. 255. 379 f.
224 Driftor Ahscimitt. Aristoteles.
diese physische Müglichkeil eine doppelte, eine active und eine
passive^). Die active Potenz ist das Vermögen der bewirkenden
Ursache, in etwas AnderiMii eine Voränderung hervorzurufen 2).
Die passive ist die Fähigkeit von etwas, in sich selbst eine pas-
sive Veränderung zu erfaliren 3), d. h. eine neue Bestinnnung auf-
zunehmen.
Die Materie befindet sich also in der Möglichkeit, und zwar
in der passiven Möglichkeit zu etwas Bestinmitenu Sie ist, wenn
wir sie zu dem , was aus ihr werden aoU , in Beziehung setzen,
ein der Möglichkeit nach Seiendes^). Das Werden selbst, über-
haupt eine jede Veränderimg, besteht in der Verwirklichung des
der Möglichkeit nach Seienden''). Dasselbe setzt mithin stets eine
Materie als das der MögHchkeit nach Seiende voraus. Das mög-
liche Seiende aber ist ein nicht schlechtweg, sondern beziehungs-
weise Seiendes '').
Auch in diesem zweiton Lösungsversuch, durch welchen Ari-
stoteles dem Dilemma der früheren Philosophen: Sein oderNicht-
') met. V 12, 1019 a 1.5-23; IX 1, 104(i a 9- 13 (vgl. Trendelenl.urg a. a. 0.
S. 244 V. Von der daselbst 1019 a 2(5 ff. 104() a 1.3 ff. angefühlten diütten Art
des Vermögens, der Widerstandsfähigkeit, können wir hier absehen.
'-) met. IX 1, 104(> a 11: tqiyi/ ,ufTa,^öA»7f fv a?J.w, ?} ä'A/lo. So ist die otxoJ'o.uAX)/
im Baumeister, ruft aber im Baumaterial eine Veränderung hervor: met. V 12,
1019 a 16—17.
■') met. IX 1. 104G a 11—13.
*) de an. II 1, 412 a 9: f'ari rJ" y /utv v}.rj ihhuimg. met. XII .'>, 1071 a 10:
dvvä,ufi öi ii Uti. Vgl. phys. II 1, 193 b 6—8; IV 9, 217 a 22—23. 34; de gen. et
corr. II 9, 335 a 32 -33. b 4—5; meteor. I 3, 340 b 15; de an. II 2, 414 a 16
III 5, 430 a 10—11; met. VII 7. 1032 a 20— 22; Villi, 1042 a 27-28; 2, 1042
9—10. 1043 a 15—16; 6, 1045 a 23-24. b 18-19; IX 8, 1050 a 15. b 27; XI
2, 1060 a 21 ; XII 2, 1069 b 14; 4, 1070 b 12; .5, 1071 alO; XIII 10, 1087 al6;
XIV 1, 108S b 1. 4; 1092 a 3—4 u. ö.
") met. XII 2, 1069 b 15 — 16: (ntl de (hrruv t6 <',v, iniTaßäkXti nuv ex rov
ö'vväfjfi üvTog: ftg x6 fvfQyfia ov.
'') J)hys. 18, 191 1) 27-29: di ufr <)'?/ T^ÜTiog oiiog, ciXkog ffuTt evd'i'jfeTai
ravTo. Xtyeiv y.ara tijV il'rru/uiiv y.ai Tr,v (i't\ty(iai\ met. XII 2, 1069 b 18 — 20: loaj'
ov /jovov xard avpßeßijxog tvffe'xffKi yiyvta&ui i'y. fit] livrog, dlXa xal t^ ovrog yi-
yverai narra, (fvvd.fxti /jevroi ovrog, tx /urj tivrog dt tvfQyda. met. IV .5, 1(X)9 a
32 — 36: To yÜQ ov ).tyfT(u ihyi^iug, i'nai' i'aziv üv rodyiov evifsj^erai yr/rtaD^ai tl tx toc
/Jij ovTog, fOTi ()' üv ov, xal äjua rti avTÖ eivai xal ov xal ixr/ ov, dXX' ov xard lat'cu
[o'rj. drrdf^tfi fjtv yuQ iv(fey(iai dua ravid tivai rd ivavria, evTtXtyiia li' ov. Vgl.
de gen. et corr. I 3. 317 b 13-18.
■ Begriil der Materie, a) Die Materialursaclic im alli^oineiiieii. ±2;')
sein , entgehen will , dürfen wir nicht , wie es oft geschehen ist,
ein leeres Spiel mit Begriffen erblicken. Aus Nichts kann das
Seiende nicht werden, hatten die Gegner eingewendet; denn
woraus ein Ding oder eine Bestimmung wird, das ist Etwas.
— Das Seiende wird in der That aus einem Etwas, erwidert
Aristoteles , nämlich aus einer Materie. — Aber aus dem Seien-
den kann das Seiende ebenso wenig werden , halten jene aufs
neue entgegen. In diesem Falle würde es nicht, sondern wäre
schon, — Das Seiende, aus dem das Entstehende wird, oder die
Materie, unterscheidet demgegenüber Aristoteles, ist auch nicht
das Entstehende selbst, sondern nur die Vorbedingung dazu; es
kann mithin etwas Neues aus ihm werden.
Man wird zugestehen, dass die abstract gehaltenen Einwen-
dungen von ihrem Standpuncte aus zutreffend geschlagen sind.
Ob die Lösung auch eine sachlich vollkommen befriedigende ist,
möge vorläufig ununtersucht bleiben. So lange es sich bloss um
ein accidentelles Werden handelt, so lange also ein wirklicher
Stoff zugleich Vorbedingung für etwas Neues ist, genügt sie frei-
lich vollkommen. Dagegen erheben sich grosse Schwierigkeiten,
wenn das substantiale Werden erklärt werden soll. Doch darüber
weiter unten.
Vorab muss noch der Umfang näher festgesetzt werden, auf
welchen das passive Vermögen der Materie sich erstreckt. — Wie
wir sahen i), ist die Materie nicht stets mit derselben Bestimmung
behaftet, sondern sie bildet das gemeinsame Substrat für entge-
gengesetzte Formbestimmungen. Sie ist also nicht zu einer be-
stimmten Form determiniert, sondern besitzt die Fähigkeit, inner-
halb der Gattung, für welche sie die Materie bildet, beide Gegen-
sätze, und natürlich auch deren Mittelstufen, in sich aufzunehmen.
Die Materie befindet sich mithin in Möglichkeit zu beiden
Gegensätzen 2), Ihre xVIöglichkeit erstreckt sich auf den ganzen
Umfang der Bestimmungen, die unter die betreffende Gattung
fallen. Es ist nicht eine besondere Materie für jeden der Gegen-
sätze erforderlich, sondern die Materie der Gegensätze ist eine").
') S. S. 221.
-) mel. XII 2, ]()G9 h 14 — 15: «rcr/x»; iW, uira^id'/J.nv triv vlr,v (frra!iivr,v uu(ff
XII 5, 1071 a 10 — 11: 6'rvdiifi i)i i) rh,' Tuvia '/üq tniiii) (i'ri'i<furi)ryr,rfal}(ui(infi
'■>) phys. IV 9, 217 a 22-2:5. Vgl. iiiet. XII 10, 1075 a 31.
liieu ni l;er : Das Problom der Materie etc. 15
22() Dritter Ahsfliuitt. Aristoteles.
80 hat es sich uns allseitig- besliitigl, dass der aristotelische
Begriff der Materie aus einer Analyse des Werdeprozesses ent-
wickelt ist. Um das Werden zu erklären, erscheint es für Ari-
stoteles erforderlich, eine Materie anzunehmen; aus der Natur des
Werdens ergeben sich die Eigentümlichkeiten der Materie.
Ist aber das Werden nur durch die Annahme einer Materie
zu erklären, die von der Form actualisiert wird, so folgt, dass,
wie nichts, was sich nicht verändert, Materie hat 1), ebenso umge-
kehrt alles, was sich verändert, Materie, einschliesst 2). So gelan-
gen wir zu dem für die aristoteli-sche Philosophie so überaus
wichtigen Satze, dass alles, was sich verändert, aus Materie und
Form zusammengesetzt ist^). Wandelbarkeit undZusannnen-
setzung aus Materie und Formelement sind für Aristoteles , wie
schon vor ihm für Plato, Wechselbegriffe. Und da Aristoteles
mit Plato auch darin übereinstimmt, dass alles Sinnfällige stetem
Wechsel unterworfen sei^), so ergiebt sich der weitere Satz, dass
alles Sinnfällige Materie enthält-'').
Aus der Abhängigkeit des Begriffes der Materie von dem
des Werdens folgt aber weiter, dass wir so viele Arten der
Materie zu unterscheiden haben, als es Arten des Werdens oder
der Veränderung giebt. Dieser Arten nun sind vier: die substan-
tiale Veränderung oder das substantiale Werden und Vergehen ;
die quantitative Veränderung oder das Wachstum und die Ab-
nahme; die qualitative Veränderung und endlich die Ortsverän-
derung"). Es ist deshalb auch eine vierfache Art der Materie
») met. VIII 5, 1044 b 27— '29. Vgl. met. XII (i, 1071 b 20—22.
-) met. XII 2, 1069 b 24 — 25: Tiävia 1)" vXrjv i'^n oaa (LifTajiä?J.f(. Ferner
met. VII 7, 1032 a 20; VIII r., 1044 b 27—29. Vgl. phys. I 7, 190 a 9— 10. If).
34. b 3—4; V 2, 226 a 10. Ähnlich met. VII 15, 1039 b 29-31; [XI 2, 1060
b 21] ; XII 1, 1069 b 3.
^) phys. I 7, 190 b 11: ro yr/vöuerov änav del awS-etöv ioTi . . . (20) yiyvtTui
ttjiav ex rt rov vnoxeifievov xal Tijg ,«o()(^»7f. met. VII 8, 1033 b 12 — 13: fhiiloei
ya(i tfia/^erov e^vni dtl t6 ytyrdufvov, xal eirai ro ßtv Toth t6 dt nUh, Xeycn 6'' üii
To /iiev vkrjv ro 6' eidog,
*) met. XII 2, 1069 b 3: ij (f a^aStjTilj ovala fieiaßlrjX'^.
'■•) de caelo I 9, 278 a 11; met. VIII 1, 1042 a 25—26.
') met. XII 2, 1069 b 9 — 13: al fitraßoXal retTaQti, ij" xarä tu ri y xaru to
Tioiuv ij noaov rj nov, xni yiviaig fiev ■^ ä7i?.ij xal (fOoQU ij xara tüift, ar^r,oig (ff xal
(f'S-iaie 71 xaitt TO TToaöv, üD.olwai; d'e tj xard ro näO-ot;, (fOQa lU i^ xaru rönov. de
gen. et corr. I 1, 319 b ,30-320 a 2; met. VIII 1, 1042 a 32-b3; vgl. XIV 1,
a) Die Materialursache im allgemeinen. Arten der Materie. 227
aufzustellen 1): eine Materie des Werdens und Vergehens 2) , eine
Materie der quantitativen Veränderung, eine Materie der qualita-
tiven Veränderung, eine Materie der Ortsbewegung =>).
Von diesen vier Arten der Materie ist die Materie des substan-
tialen Werdens und Vergehens in besonderem und eigentlichem Sinne
Materie *). Sie liegt ja demjenigen Werden zugrunde, welches
Werden im eigentlichen Sinne, an sich und nicht ])loss bezie-
hungsweise, ist.
Da ferner mit dem substantialen Werden notwendig auch die
übrigen Arten der Veränderung verbunden sind^ aber nicht um-
gekehrt, so ergiebt sich, dass das Vorhandensein der Materie des
substantialen Werdens auch das Vorhandensein der accidentellen
Materie einschliesst, dass aber das, worin die Materie z. B. der
Ortsveränderung sich findet, nicht schon deshalb auch die Materie
des substantialen Werdens zu enthalten braucht ■''), wie das bei
den ihrer Substanz nach unveränderlichen und nur der Ortsbewe-
gung unterworfenen Himmelskörpern nicht der Fall ist.
1088 a 31-33. Vgl. Kappe.s, Die Aristotelische Lehre über Be.^'riff u. Ursache
der xivr,aii. Bonn 1887. S. 14 ff. Zeller, Archiv für Gesch. der Philos. II
(18891 S. 281. Zur xivtjaig wird das substantiale Werden gewöhnlich nicht
gerechnet (vgl. phys. V 1. 225 a 20 — b 3; [met. XI 11, 1067 b 31—37]); daher
meistens drei y-ivriaen: phys. II 1, 192 b 14r~16; V 1, 225 b 7—9; V 2, 22G
a 24-25; VII 2, 243 a 6—7; VIII 7, 260 a 26-28; de cael. IV 3, 310 a 23— 24;
de an. I 3, 406 a 12 — 13 (hier ist die Zahl der xivr,atis nur darum auf vier
bestimmt, weil Wachstum und Abnahme gesondert gerechnet werden); met.
XI 12, 1068 a 9 — 10; aber auch vier, indem xivi,aii; als gleichbedeutend mit
ixtjaßoXri gebraucht wird (vgl. phys. IV 10, 218 b 19): phys. III 1, 200 b 32— 34.
201 a 11—15; VIII 7,261 a 33— 36 (vgl. auch de caelo I 2, 315 a 26—29). Vgl.
Zeller IP b 352. 389 ff. Prantl, Symbolae criticae in Aristotelis physicas aus-
cultationes. Berlin 1843. S. 9. Bonitz zur Metaph. S. 472.
') met. VIII 1, 1042 a 32 — b3: oriif forlv ovaia xal t, vXr,^ ifrj?.ov' h' Tidaaiiydp
raii dvTixtiUfpac; /ufTaßo/.ai's tari ri t6 vnuxfi'ittvov tu/'s fjitTaßo?.a7i; , olov xard to-
710V tÖ vvv fj.iv iviav&a, nd'/.iv &" d'/J.o&i, xai xat' av§r,aiv o vvv fiev zrjXixövd'i, nd-
?.iv if e'f.axTov t, ficitor, xai xai' d'/.).oiu>aiv o vvv juiv vyiig, 7id).iv de xdjuvov' ofioüo^
de xal xar' ovaiav o vvv uev iv yeviaei, ndXiv tf ev ip9oga, xal vvv fxev v7ioxti,ufvoi'
tu; Todt Ti, nd/.iv d' vnoxei/^fvov , «f xard are'Qrjaiv. met. XII 2, 1069 b 16 — 26.
de gen. et corr. I 4, 319 b ,30 - b5. Vgl. phys. I 7, 190 a 31 — bl. de gen. et
corr. I 1, 314 b 26-28. met. XIV 1, 1088 b 1-2.
■•') v?.'t] yevvr,TTjmei.\ll2, 1069 bi 6, yevvr,Ti] xal <fUa(,T,j met. V 111 1, KI42 b 6.
^) vi-r, TOTTixr'i met. villi, 1042 b 6, xard rÖTiov xivr/TTJ met. Vlll 4, 1044 b 8,
joi n69(v noi met. IX 8, 10.50 b 21—22; XII 2, 1069 b 26.
*) de gen. et corr. I 4, 320 a 2-5. — ^) met. VIII 1, 1042 b 3—6.
15 *
228 Dritter Abschnitt. Aristoteles.
Die Materie der accideiitellen Verruuleriing i.st ülirigens in den
Dingen, welche auch eines substantialen Wechsels fähig sind, nicht
in sofern von der Materie des letzteren verschieden, als ob sie et-
was Besonderes neben dieser ausmachte. Vielmehr ist die ganze
Substanz mit Einschluss der substantialen Materie das Subject der
accidentellen Veränderungen i). Aristoteles kann deshalb gelegent-
lich auch sagen, dass die substantiale Materie zugleich Materie
der Quantität und Qualität sei, dass daher beide nur dem Be-
griffe nach, nicht aber örtlich, d. h. nicht real, von einander ver-
schieden seien 2).
Dabei ist indessen zu beachten , dass nach der Consequenz
des Systems wie nach den klaren Worten des Aristoteles nicht
die formlose Materie der Substanz, sondern die von der substan-
tialen Form bereits actualisierte Materie das Substrat für die
Grössenveränderung u. s. w. ausmacht ^).
') phys. I 7, 190 a 33— bl.
'') de gen. et corr. I 5, 320 b 22—25. Vgl. 321 a 0—7. Nicht ganz mit
Recht, wie mir scheint, sieht von Hertling (Mat. 11. Form S. 23) met. VIII 4,
1044 b 8—20 den Gedanken ausgesprochen, dass doii, wo das Werdende nicht
selbst Substanz, sondern nur Affection einer Substanz ist, nach einer besonde-
ren Mateiie nicht gefragt werden dürfe. Diese Stelle dürfte vielmehr für un-
gern Gegenstand überhaupt nicht in betracht kommen, da in derselben nicht
von Affectionen im allgemeinen, sondern nur von negativen Hestimmun-
gen die Rede ist, die zwar ifvatt, aber nicht ovaia sind, d. h. keine positive
Realität haben.
■■*) Vgl., was de gen. et corr. I 5 über die av^r,ais ausgefüliit wird. Das
Wachstum des tierischen Körpers z. B. soll in folgender Weise vor sich gehen.
Mit der auQ^ noatj des Körpers kommt ein Quantum eines Nahrungsstoffes in
unmittelbare Berührung (322 a 11 — 10), welches der Möglichkeit nach ein be-
stimmtes (juantum Fleisch ist (322 a 19—22; im Text ist Z. 20 nach noaf/eein
Komma zu setzen und im übrigen gegen Prantl Bekker's Interpunction und
die Lesung der Handschriften beizubehalten). Dann wird durch die Kraft des
W^achstums, welche dem actuellen Fleische des wachsenden Körpers eignet
(durch das ev zw m'^avo/jevu) y.al ovri evTt?.txeia auQxi f rdi^ aJli^rfxoj', 322 a 11 — 12.
Von dem durchaus Unbefriedigenden dieser „Kraft", die in der That nur ein
leeres Wort ist, möge hier abgesehen werden), die Nahrung aus potentiellem
Fleische in ein bestimmtes Quantum actuellen Fleisches verwandelt, ebenso
wie durch das Feuer das von ihm eigriffene Holz in Flammen gesetzt wird
(322 a 10—1,3). Infolge dessen wächst der Körper. Bei dieser Zunahme wird
jeder Teil des Körpers vermehrt, ebenso wie bei der Abnahme jeder Teil
vermindert wird (321 a 2—5. 19-20. b 14—15). Eine solche Vermehrung je-
des einzelnen Teiles aber ist nicht in der Wei.se zu denken , als ob zu jedem
Begrif!' der Malerie. \>] Die Materie des suiistantiulen Werdens. 229
b. l>io Materie des subi^taiitialeii Werdens.
Es giobl nicht nur accidentellc Veränderungen, sondern auch
ein substanliales Werden, oder, wie Aristoteles sich ausdrückt,
es wird nicht nur etwas so beschaffenes, sondern es wird auch
schechthin etwas i). Dieses Werden schlechthin findet statt,
wenn nicht eine schon bestehende Substanz neue accidentelle Be-
stimmungen annimmt, sondern wenn die Substanz selbst neu
entsteht ^).
Für die Wirklichkeit eines derartigen substantialen ^Verdens
ausführlichen Beweis zu führen, hat Aristoteles nicht als nötig
angesehen. Schon die Übereinstimmung der früheren Philo-
sophen sprach dafür. Denn Avenn unter diesen auch einzelne
überhaupt jedes Werden leugneten ^), andere alles Werden als
bloss qualitative Veränderung betrachteten^), so setzte doch die
Teil der Materie etwas hinzuträte; vielmehr ist es die Form (vgl. Alex.
Aphrod. quaest. nat. I 5, pag. 29 f. Spengel: iftd ri y av^rjais y.ard t6 fi'ifos ,«o'-
vov, dXk' ov^i xai xazä xrjv v/.tjv), und zwar die quantitativ bestimmte Form {axijua
y.al ti(?og 321 b 27 — 28; dieselbe Bedeutung von fn-J'of phys.IV2, 209 bS), welche
in jedem ihrer Teile eine solche Zunahme erfährt (321 b 22 — 24. 33—34. Das
Gleiche folgt aus II 4, 335 a 15 — 16, wonach tj ,uoQif.i} xal t6 t?(foi das TQfif6,us-
vov ist. Nach de gen. et corr. I 5, 322 a 25—28 und de an. II 4, 41G b 11—13
sind nämlich die av^riOii: und die zQOif.t^ der Sache nach dasselbe und nur dem
Sein oder dem Begriffe nach verschieden , insofern z. B. derselbe Nahrungsstoff
als dvväjufi noar, aäg^ vergrössert, als blosse ffwä/xsi aäp§ nährt). Damit aber
räumt .Aristoteles ein, dass nicht die Materie des Köi-pers es ist, auf welche
die Grössenveränderuna unmittelbar einwiikt, sondern dessen Form. Nicht die
Materie der Substanz für sich allein bildet mithin die Materie des Wachstums,
sondern die ganze Substanz, die formierte substantielle Materie.
^) Aristoteles setzt entgegen yiyvfaSai und rodf ti yiyvfa&ai (phys. I 7, 190
a 32), dnkms yiyvea&at und tI yiyvtad-ai (de gen. et corr. I 3, 319 a 13 — 14;
vgl. met. VIII 1, 1042 b 7 ; I 3, 983 b 14), üti^ ye'veats und tIs ysveaig (phys. V
1, 225 a 14 [= met. XI 11, 10(>7 b 23]; de gen. et corr. I 3, 317 b 3—5. Vgl.
phys. II 1, 193 b 21; de gen. et corr. I 2, 315 a 26 ; I 3, 3l7 a 17; meteor.
IV 1, 378 b 28. 32; met. XII 2, 10()9 b 10), yiyvöfievov dnXws xal (fß-eiQ6,uevov
und €x Tivos xal ri (de gen. et. corr. I 3, 317 a 33-34. Vgl. übrigens S. 214
Anm. 5 Schi.). Das dnAcHs yiyvta&ai wird nur von dem Werden einer Substanz
gesagt (phys. I 7, 190 a 32-33; de gen. et corr. I 3, 319 a 13—14; met. XII
2, 1069 b 11).
2) de gen. et corr. I 1, 314 b 1-4; 2, 317 a 20—28; 4, 319 b 6—21.30 ff.
5, 320 a 13—15.
3) de cael. III 1, 298 b 12-15.
*) de gen. et corr. I 1, 314 a 6— 7.
230 Driller Absdinill. Arisloleles.
überwii-geiide Mehrzahl ein Werden, und zwar ein von der qua-
litativen Verändei-ung unterschiedenes Werden voraus ^).
Was Aristoteles sonst zur Begründung vorbringt, ist von niin-
derni (icwicht. Gelegentlich erläutert er den Unterschied der sub-
stantialcn und der accidentalen Veränderung durch ein Beispiel 2),
ohne dasselbe hinsichtlich seiner allgemeineren Beweiskraft einer
Prüfung zu unterziehen. Namentlich gilt ihm die Neuentstehung der
Elemente, die er mit Plato 3) gegen Empedocles'^) annimmt und —
darin über Plato hinausgehend^) — auf alle vier Elemente ausdehnt,
als Beweis für das substantiale Werden "). Der durchschlagende
Grund für seinen Glauben an die objective Realität desselben lag
wohl darin, dass er dasselbe aus seinen Principien erklären konnte.
Der Begriff der substantialen Materie nun ergiebt sich
aus dem Begriff des substantialen Werdens in derselben Weise,
wie Aristoteles den Begriff der Materialursache im allgemeinen
aus dem Begriffe des Werdens im allgemeinen ableitet.
Einmal setzt, wie alles Werden, so auch das substantiale
Werden etwas voraus, woraus es wird.
Andererseits muss, wenn alles Werdende aus einem noch
nicht Seienden wird, das schlechthin Werdende aus einem
schlechthin Nichtseienden entstehen'').
Die Materie des substantialen Werdens muss also als Etwas
gedacht werden, welches zugleich ein schlechthin Nicht-
seiendes ist.
Der Begriff des „schlechthin" Nichtseienden kann aber ein
doppelter sein. Einmal nennen wir „schelchthin" Nichtseiend,
was nicht dem beziehungsweise Seienden^ d. h. dem Accidens,
sondern dem Seienden im ursprünglichen und vollen Sinne, der
Substanz, gegenübersteht, also die Negation des substantialen
Seins; zweitens das, was den Begriff des Seins in seinem vol-
len Umfange negiert. Beides kommt indes auf dasselbe hin-
aus. Denn was keine Substanz ist, dem können auch keine
Accidentien eignen. Anderenfalls müssten ja die Accidentien
ohne eine Substanz existieren, der sie inhäricrten ^'*).
^) de gen. et corr. I 2, 315 b 15 — l(j.
'-) de gen. et corr. I 3, 319 a 10—11, wo als Beispiel für das tI yiyvta&at
angeführt wird, wenn jemand verständig wird, als Beispiel für das nnhnc
yiyvfa-d-ai, wenn etwas aus der Erde hervorwächsl.
3) S. S, 126. — *) S. S. 69 f. — 5) S. S. 168. — ') S. S. 237.
') de gen. et corr. I 3, 317 b 3—5. — ") de gen. et corr. I 3, 317 b5— 13.
Begriff der Materie. 1j) Die Materie des subslantialeii Werdens. 231
Die Materie des .substaiilialen Werdens ist also ein Nicht-
seicndes im vollen Umfange des Seinsbegriffes i). Die „Berau-
bung" erstreckt sich bei ihr auf jegliche Art von beslinnnteni
Sein. Sie i.st weder Substanz, noch Accidens. Daher die Defi-
nition: Ich nenne Materie, was an sich weder als
Etwas, noch als Quantum^ noch als sonst eine der Gat-
tungen des Seienden zu bezeichnen ist^).
1) vgl. de gen. et corr. I 3, 317 b 5~-l<S (der Schluss citiert S. 232 Anm. 2),
wo ktyofievov dfifcTe^me auf die beiden Arten des änhös fiv ov geht.
^) met. VII 3, 1029 a 20 — 21 : Xiym <f vXijV, i? xath' avTijV ßtJTf Ti fiTjTe noaov
,urJTt akXo piij(ffv Xiyitai oig (ögiarai xo or. Die Erklärung des Ti giebt a 23 — 25:
rd fiiv ydg ä'AAa T'^s ovaidg xaTtiyoQtnai, avTt] (fe T'^f i'Ai;?. äars ro ea^arov xaS-'
arro ovTt 11 ovzs noaov ovze a}lo ov(h'v tariv. Es ist darunter also nicht, wie
an den S. 229 Anm. 1 cilierten Stellen, eine bloss accidentelle Bestimmung
verstanden, sondern ?/ steht, wie in den Ausdrücken t6 xl iaxi, x6 ri %v tivai,
nach einem auch sonst nicht ganz seltenen Gebrauche synonym mit ovaia ;
vgl. anal. post. I 24, 85 b 20; met. I 8, 989 b 12 ; VI 2, 1026 a 36; IX 1. 1045
b 33; X 2, 1054 a 18 ; XII 2, 1069 b 9; XIV 2, 1089 b 8; eth. Nie. I 4, 1096
a 24. Sonst sagt Aristoteles statt dessen gewöhnlich, die Materie sei kein
roV* Tt, z. B. phys. I 7, 1-91 a 13; de an. II 1, 412 a 7-8; met. V 8, 1017
b 23—25; VII 3, 1029 a 28; VIII 1, 1042 a 27 ; IX 7, 1049 a 35; vgl. auch
de part. an. I 1, 640 b 8 — 10 (üljer den Sinn des Ausdrucks s. Waitz zu categ.
5, 3 b 10]. Er tadelt darum den Plato, dass er (s. oben S. 129) die alles auf-
nehmende Materie dem Golde vergleiche, aus dem die verschiedenartigsten
Bildwerke gefertigt würden ; denn woraus etwas werde, das könne man nur
dann mit einem bestimmten Namen bezeichnen, wenn es sich um eine bloss
qualitative Veriinderung handele (de gen. et corr. II 1, 329 a 17 — 20).
Bei der völligen Übereinstimmung aller dieser Stellen ist es auffallend, dass
Aristoteles met. XII 3, 1070 a 9 — 13 sagt : ovoiai ifi xQtTs ' t] /nev vXtj xdJe
XI ovaa zw (paivta-d-ai {oaa yÜQ iativ äipfj xal ßij avfnf,vait, vXrj xal vnoxtljjievov),
Tj de (f/vaie xal xöde xt, tlg tjv, xal e^ts xii'exi XQizri r/ ex xovxoov ij xa-d-' i'xaaxa. Doch
erklärt sich der Sinn dieser, zuletzt von Freudenthal (Die durch Averroes er-
haltenen Fragm. Alexanders zur Met. d. Arist. S. 45 f.) behandelten Stelle aus
met. VII 16, 1040 b 5 — 10: ifavepdv rf* oxi xal xmv ffoxovacüv eivai ovOkov ai
nXfTaxai ifvvdfieis elai, xd xe noQia xmv t,(ü<i)v [ovö'ev yuQ xfj^aiQiaße'vov aihiZv taxiv.
öxnr (fe ^rto^iaS-^, xal xöxt ovxa ws i'A); 7rctj>ra), xal yij xal nvQ xal drJQ ' ovdev ydg ai'xcav
e'v iaxiv, a/.A* oiov i'j o^QÖi tiqIv ij neif&fi xal yivqxai xi f| avxwv ev, womit ZU
vergleichen met. VII 17, 1041 b 11 — 12: i'tkI de x6 ex xivog avvß-exov ovxws
üiax£ £v livai x6 ndv, dXkd ßrj <n s acoQos, dkX' o5f Xj aoXkaß'ij xxX. Unter der
vXvi ist darnach an unserer Stelle nicht die letzte Urmaterie verstanden, son-
dern der unmittelbare Stoff, z. B. die einzelnen Glieder eines Organismus.
Schon als Stoff ist dieser dem Anschein nach etwas Einheitliches und darum
auch dem Anschein nach ein töih n; denn auch unabhängig von der Form
232 Dritter Absclmit!. Aristoldes.
Gleichwuhl soll die Materie kein völliges Nichts vorstellen.
Als Mittelstufe /.wischen dem wirklich Seienden und dein Nichts
schiebt Aristoteles auch hier das der Möglichkeil nach Sei-
ende ein'). Aber während die Materie der accidentalen Verän-
derungen eine bestehende Substanz ist, welche nur in Beziehung
auf eine neue accidentelle Bestimmung sich im Zustande der
Möglichkeit befindet, ist die Materie des substantiellen Werdens
in keiner Weise etwas Wirkliches. Sie ist in jeder Beziehung nur
der Möglichkeit nach Seiendes'^). Auch S.ub stanz ist sie nur der
Möglichkeit nach 2).
Der entwickelten Ableitung tritt noch eine zweite, etwas mo-
dificierte, zur Seite. Beide unterscheiden sich namentlich durch
ihren Ausgangspunct. Dass von dem Begriffe der Materie alles
wirkliche Sein auszuschliessen sei, folgerte die erste daraus, dass
die Materie das ist, was dem Sein vorausgeht. Die zweite da-
gegen zeigt, dass auch in dem bestehenden Dinge eine Beziehung
berühren sich die Stoffteile wenigstens äusserlich und liilden ein zusammen-
hängendes Ganzes. Aber die innere Einheit derselben und das wahre rodf n
liegt doch erst dann vor, wenn die sich bis jetzt nur äusserlich berührenden
Teile von der Form ergriffen werden und dadurch zu einer inneren Einheit
zusammenwachsen. — Das scheint auch der Sinn der dritten von Alexander
bei Averroes gegebenen Erklärungen (Freudenthal a. a. 0. S. 85, in der Aus-
gabe des Aristoteles mit den Kommentaren des Averroes in lateinischer Über-
setzung, Bd. VIII, Venedig 15()0, fol. 322 F) zu sein. Ähnlich hat auch Alber-
tus Magnus, summa de creaturis I, tr. 1. qu. 2. a. 2. n. 1 (Opera, ed. Jammy,
Lyon 1651, Bd. XIX, p. 8 b) die Stelle aufgefasst, dessen Erklärung von Hert-
ling (Albertus Magnus. Beiträge zu seiner Würdigung. Köln 1880. S.96Anm. 4)
mit Unrecht zu Gunsten der von Thomas von Aquino gegebenen verwirft.
Ahnlich wie mit dieser Stelle verhält es sich auch mit met. IX 7, 1010 a 27,
wo das Feuer als rXrj npohij w? rörfe n xal ovaia für die Luft bezeichnet wird.
Auch hier handelt es sicli nicht um die wahre Urmaterie, sondern um eine
bereits gestaltete Materie.
1) Vgl. die S. 221 Anm. 5 und 6 citierte Stelle met. XII 2, 10G9 a 15-20,
welche sich auch auf das substantiale Werden mitbezieht.
'') de gen. et corr. I 3, 317 b 13—18: niQi ,uev ovv tovtcüv ev HlXoti te (fitjnö-
QijTui y.ai (hinQiaTai to?s Xoyois inl nkelov (phys. I (! ff.) ' owTÖiiwi tU y.al vvv
Xexreovj oti tqÖtiuv fxiv Tiva ix fiTj ovrog ttTihSe yiyvsTac, tqotiov (fi akkov i^ ovrog
ttci ' zu yccQ (tvväßfi ov ivTeXe)(sia «ff fir) ov dvdyxij TiQovndQyr^tiv Xeyofxevov dftifjo-
TEQwg (zum letzteren vgl. S. 231 Anm. 1).
^) Die Materie der Möglichkeit nach ovaia: de gen. et corr. I 5, 320 a 13;
met. VIII 2, 1012 b !) -11; r6,h n: met. VII 1, 104^2 a 27—28. Vgl. de gen.
et corr. II 1, 329 a 33 (die Materie der Möglichkeit nach atofxa ata»r,r6v).
Begriff der Materie. 1)) Uie Materie des .sulislantialen Werdens. '2.'53
auf das Nichtsein vorhanden sei, und sucht hierfür den Grund in
der Natur des einen seiner Elemente, der Materie. Der Beweis
wird von Aristoteles folgendermaassen geführt.
Alle Dinge in der subl unarischen Welt sind dem Werden und
Vergehen unterworfen. Was aber wird und vergeht, mit dessen
Existenz hat es eine solche Bewandtnis: weder muss es notwen-
dig sein, wie die ewigen Substanzen, noch muss es notwendig
nicht sein, wie das, was dem Notwendigen widerspricht. Für
eine derartige vergängliche Substanz ist also weder das Sein,
noch das Nichtsein unmöglich; vielmehr ist ihr möglich, sowohl
zu sein, wie nicht zu sein.
Nun fragt sich, worauf jene Möglichkeit in dem betreffenden
Dinge sich stützt. Eine weniger begriffs-realistische Zeit würde
den Grund vermutlich eben in dem beschränkten Sein des Dinges
sehen und jene Möglichkeit nur dem Begriffe, aber nicht auch
der Sache nach von dem Sein des Dinges unterscheiden. Anders
Aristoteles. Die Möglichkeit, nicht nur zu sein, sondern auch
nicht zu sein, kann das Ding seiner Ueberzeugung nach nicht von
demselben Principe haben, von dem es sein Sein, seine Wirk-
lichkeit besitzt V). Er unterscheidet daher die Form, welche dem
Dinge das Sein verleiht, von der Materie, welche die Möglichkeit
zum Sein und Nichtsein mit sich bringt^). Die Materie an sich.
^) Für diese Objectivierung begrifflicher Unterschiede giebt ein charakteri-
stisches Beisjjiel niet. VII 10, 1034 b 20 — 22 : insl tU 6 6^ia,u6s koyog iari, naq
(f( Xöyog fiipijfyci, (og ö'^ ö }.üyos Tigog x6 Tigay/ma, xal to jus'pos rov koyov ngog
t6 fiiQos Tov nQciy fiar n; ouoiog f;ff«. Vgl. phys. I 7, 190 b 20—23. Aller-
dings warnt Aristoteles, wo er ein actu unendliches Ausgedehntes bekämpft,
dem Denken nicht falsches Vertrauen zu schenken, wenn die Wirklichkeit in
Frage stehe (phys. III 8, 208 a 14—19, was sich auf III 4, 203 b 22—25 be-
zieht). Aber dort handelt es sich nicht um Unterscheidungen, welche das Den-
ken am Realen notwendig machen muss, sondern um das bloss Denk-
mögliche. Zudem hat Aristoteles in der Frage nach einer actu unendlichen
Zeit die gleiche, für seinen Beweis von der Ewigkeit der Welt den Grund
legende Objectivierung eingeschlagen (phys. VIII. 1, 251 b 12 ff.), obwohl ihm
sogar das Subjective in der Entstehung unserer Zeitvorstellung nicht entgangen
iet (phys. IV 11, 219 a 21 ff.).
■-) de gen. et corr. II 9, 335 a 24 : inti d" eailv evia yivr^To. xal tp&UQrä, xal
1] yeveai; Tvyj^äveL oi-aa. Iv toi niQi t6 fie'aov tötiu), kexriov nfQi näar,g yfvi'aemg
ußoiutg Tioaai Tf xal rivec at'rijg ai ii.Qf^ai .... a 82: (J? pi(V ovv vXr, ToTg yevtj-
roTs iffTiv a'i'xiov Tod'wazov tivat xal jui] eivai. rd fttv ydn i^ dväyxijg iariv,
oiov xd. di'ifia, tä (}'^ f^ dvdyxr,g ovx iaiiv . tui'tcov dt td /utv dd'vvaiuv ixi] ei'vai
2:54 Diiltrr Alisclitiilt. Aristoteles.
ohne die Kuriii, isl iiiilhiii ein l)lo.ss Mö^^liclios, in dessen Bereich
es hegt, als wirkhche Substanz sowohl zu sein, wie nicht
zu sein ^).
Sehen wir vorläufig von einer Kritik dieser Begriffsbestim-
niungen ab, um zu dem gemeinschaftlichen Grundgedanken zu-
rückzukehren, auf den beide Ableitungen führen. Wir können
ihn in dem Satze zusammenfassen: die Materie ist die mögliche
Substanz, welche in Wirklichkeit noch nicht Substanz ist. Die
wirkliche Substanz entsteht vielmehr erst aus dieser möglichen
Substanz. Das substantiale Werden ist eben der Übergang von
der möglichen Substanz zu der wirklichen Substanz 2). Die mög-
liche Substanz muss also schon vor der wirklichen Substanz
vorhanden sein ^).
Nun fragt es sich aber, ob eine solche potentielle Substanz
die schon vor der wirklichen Substanz vorhanden ist, denn über-
haupt zulässig sei. Aristoteles macht selbst auf einige Schwie-
rigkeiten aufmerksam ^). Jener möglichen Substanz, führt er aus,
indem er schon Abgelehntes noch einmal teilweise wieder als
denkbar aufninnnt, kommt entweder überhaupt keine Be-
stimmung in Wirklichkeit zu, oder es wird ihr bloss in der Ka-
tegorie der Substanz, nicht aber in einer oder mehreren acciden-
tellen Kategorien das wirkliche Sein abgesprochen. Im ersteren
Falle hätten wir ein für sich bestehendes Sein, welches kein So-
sein wäre-''), oder kämen vielmehr — da ein solches allgemeines^
zd (fi ddvvatov fcvai tfid t6 fxt] iv(h')^fa&ai naQa za dvayxaiuv akhog s^tiv. i'via (fs
y.ai tivai xal fiij fivai th-vaTÜ, onfQ toxi lo '/ivrjTuv , xal (^&aQTÖv ' note fJ.6V yaQ
taiL TovTO, nozi if ovx t'aziv. ijiai' vvdyxrj 'jiviaiv eivai xal if&o(idv tkqI t6 ävva-
tov eivai xal fjiij eivac (.Vgl. met. IX 8, 1050 b 12 — 14: z6 ife ifvvazov ßij
eivai ivJexezat fit] iivai ' z6 <f' iv6f)(^6fifvov firj eivai (pd-uQzöv, ferner met. XII (J,
1071 b 18—19; XIV i2, 1088 b 19 — 20), d'tu xul (t',g /nsv vXij zovz' iazlv aVziov
zoTs yevrjzoTe, ms tfi zu ov evfxtv t] /.io(i(f)} xal z6 tt(fos ' zovzo if' iazlv o AJyof
o zrjg ixdatov ovaiag (zum letzteren vgl. met. VII 17, 1041 b 7 — 9: zu ahiov
CTjzihat zijs SAij^ ■ zovzo ö' iatl zu eid'og tu zi taziv ' zovzo li" i] ovala). Ganz
ähnliche Au.stuhrungen met. VII 7, 1032 a 20—22: änavza ö'i cd ytyvd/utva 1]
tfvati 7j zi'^vji fjrft vXrjv ' d'cvazdv yu(i xal fivai xal ixi) tivat f'xaazov ui'ztnv, zovzo
ff iazlv r, ixdaim vXrj,
1) met. VII 15, 1039 b 29—30. — -') de gen. et corr. I 5, 320 a 13.
■') de gen. et corr. I 3, 317 b IG— 18. — •*) S. S. 230 unten.
•'') So glaube ich die Worte 317 b 28 — 30: ^u)()iaz6v ze av/ußaivn zd /.17}
u'iims UV auH'assen zu mü.s.sen. Denselben Siini giehl Tranll S. 491 Anm. 19
Begrifl" der Materie. 1)1 Die Materie des sulislantialen Werdens. 235
für sich bestehendes Sein unmöglich ist — auf die schon von
den Alten so gefluchtete Entstehung aus nichts zurück; im letz-
teren niüssten Accidentien ohne eine actuelle Substanz als ihren
Träger existieren, was gleichfalls nicht angehe i).
Aristoteles sucht dieser Schwierigkeit durch den Hinweis
darauf zu entgehen, dass jene an sich bestimmungslose Materie
niemals rein für sich und ohne bestimmende Form existiere. Es
ist dieselbe Wendung des Gedankens, welche uns schon bei der
Entwickelung des allgemeinen Begriffs der Materie begegnete.
Wie dort die Vorstellung eines Übergangs aus dem Zustand der
Beraubung in den Zustand der Bestimmung sich umsetzte in die
Vorstellung eines Übergangs von dem einen positiven Gegensatz
zu dem andern 2), so auch hier. Die Entstehung einer Sub-
stanz, erinnert Aristoteles, ist immer zugleich der Untergang
einer andern, und umgekehrt^). Auch die Materie des sub-
stantialen Werdens ist darum das Substrat, welches von einer
Formbestimnnnig zu einer entgegengesetzten übergeht^), weil es
zu beiden in Möglichkeit sich befindet ^). Wenn z. B. Erde
in Feuer verwandelt wird und so Feuer neu entsteht, so wird
das Feuer freilich aus einem Nichtseienden, nämlich der Materie
der Erde ; denn solange diese Erde ist, ist sie nicht Feuer ^).
Aber dieses Nichtseiende ist doch nur als Feuer nicht, als
Erde ist es.
seiner Ausgabe, Leipzig 1857. Unrichtig Barthelemy-Saint-Hilaire, Traite de la
production et de la destruction des clioses d'Aristote, Paris 18GG, S. 30 :
le non-etre ainsicompris peut avoir une existence separee.
') de gen. et corr. I 3, 317 b 18—33.
2) S. S. 218 ff.
3) de gen. et corr. I 3, 318 a 23—25. Vgl. phys. III 8, 208 a 8—11 ; de
gen. et corr. I 3, 319 a 5—7. 20—22. 28—29; [met. II 2, 994 b 5-B].
*) iiifTa,3/.r,Ttx6v tl; Tavapria, de gen. et corr. I 3, 319 a 20.
äj Vgl. met. VIII 5, 1044 b 34—1045 a G, wo ausgeführt wird, dass nicht
die Substanz, aus der die neue entsteht, sondern deren Materie sich in der
Möglichkeit zu beiden Gegensätzen befinde. Wenn auch aus dem Lebenden
ein Toter und aus dem Wein Essig wird, so sagen wir doch nicht, dass der
Lebende der Möglichkeit nach ein Toter, der Wein der Möglichkeit nach Essig
sei; denn nicht der Lebende wird eigentlich tot, der Wein Essig, sondern die
Materie des Lebenden, die Materie des Essigs. Während nämlich die Materie
unter beiden Bestimmungen bleibt, vergeht der Gegensatz, und es wird das
Gegenteil aus ihm nur wie die Nacht aus dem Tage.
") de gen. et corr. I 3, 319 a 29—33.
236 Üiitlcr ALscImiü. Arisloleles.
Allerdings b(>lraclilel die ^cwitluiliclic licde Entslclien und
Vergehen nichl inniicr als (lurrelale. Wenn z, B. etwas Festes
in Luflartiges übergeht, so redet der gemeine Spracligebrauch
nur von einem Vergehen des Festen, nielit von einer Entstehung
des Luftartigen. Der Grund liegt darin, dass die gev\^öhnliche
Meinung sehr mit Unrecht nur das Sicht- und Tastbare als ein
Seiendes betrachtet ^). Indes lässt sich jener Ausdrucksweise auch
eine philosophische Seite abgewinnen. Die specifischen Diffe-
renzen, durch welche entgegengesetzte Substanzen sich unter-
scheiden, sind nicht gleichwertig, sondern unterscheiden sich wie
Vollkommnes und UnvoUkommnes. Die eine besagt darum mehr
etwas Positives, die andere mehr etwas Negatives. Das ist z. B.
bei der Wärme und Kälte der Fall, durch welche Feuer und Erde
sich unterscheiden 2). Den Übergang von der Erde zum Feuer
werden wir darum an sich ein Entstehen und ein nur be-
ziehungsweises Vergehen nennen können^). Ähnliches gilt auch
für alle übrigen Kategorien ^).
Doch geschieht durch diesen besonderen Sprachgebrauch dem
allgemeinen Satze kein Abbruch, dass eine neue Substanz immer
nur aus einer schon bestehenden hervorgeht. Die Materie des
substantialen Werdens, welche sich zu beiden Gegensätzen (sowie
deren Zwischenstufen) in der Möglichkeit befindet, existiert immer
nur unter der Form eines der Gegensätze. Eine gesonderte
Existenz hat sie niemals (sie ist ov %u)QiaTrj)% Das Bedenken,
dass kein Sein für sich bestehen könne, welches kein So-sein
wäre"), ist damit behoben.
Die Materie, welche den körperlichen Substanzen zugrunde
liegt, ist in der ganzen, dem Werden und Vergehen untenvor-
') a. a. 0. 318 b 18—33; 31i) a 1-3. 23—25.
-j a. a. 0. 318 b 12-18 (vgl. S. 218.). Auch dem Beispiel vom Werden
des Toten aus dem Lebenden (S. 235 Anm. 5) Hesse sich eine solche Wen-
dung geben.
=') a. a. 0. 318 a 35— b 18; 319 a 1. 15- IG.
■*) a. a. O. 319 a 14—17.
") de gen. et corr. II 1, 329 a 24—26. Vgl. phys. IV 2, 209 b 22—23; 4,
212 a 1; 7, 214 a 14—15; de gen. et corr. I 5, 32U b IG— 17. 22—25; II 1, 329
a 10. 30—31; 5, 332 b 1; met. VII 3, 1029 a 27—30; 10, 1035 a 8—9; U,
1036 b 23; 12, 1038 a 5-8 auch phys. II 1, 193 b 3—5 und dazu Simpl.
p. 277, 2—5.
«) S. S. 234.
b. DieMat. d. sub.sl. Wenlens. Einheit, potentielleT^neiicliichkeit u.Rwi^'k der«. 2/57
fenen Köiperwelt nur eine. Wenn auch naoh ihrer jedesmaligen Exi-
stenzform wechsehid und insofern in den verschiedenen Dingen
verschieden, bleibt sie, bloss als Substrat betrachtet, der Zahl
nach dieselbe i). Denn wenn es überhaupt eine substantiale Ent-
stehung giebt, deren Sulistrat die Materie ist — und dass dem so
sei, bezweifelt Aristoteles nicht — , so betrifft dieselbe zunächst die
vier einfachen Körper oder Elemente: Wasser, Feuer, Erde, Luft,
aus denen alles andere zusannnengesetzt ist ^). Diese Elemente
aber gehen sämtlich in stetem Kreislauf 3) aus einander hervor^).
Sie haben darum eine einzige gemeinsame Materie. Diogenes von
ApoUonia hat Recht mit seiner Behauptung-^); wenn nicht aus
einem alles wäre, so würde kein gegenseitiges Thun und Leiden
unter den Dingen möglich sein ^).
Diese Materie ist unendlich oder unbegrenzt {untigoc)
dem Vermögen nach; denn trotz alles Werdens geht sie nie-
mals aus und führt darum niemals ein Ende der Neuentstehungen
herbei'^). Keineswegs aber ist sie etwas in Wirklichkeit Un-
endliches, wie jene annahmen, welche glaubten, dass nur aus
einem Ursloff von unendlicher Masse ein Entstehen ohne Auf-
hören erklärt werden könne s); denn die Elemente entstehen aus
einander in rücklaufender Kreisbewegung ^).
Als letzte Grundlage alles Werdens ist die Materie ferner un-
ge worden und unvergänglich. Denn wäre sie entstanden,
so müsste sie aus etwas entstanden sein; könnte sie vergehen,
so müsste sie in etwas vergehen. In beiden Fällen aber würde
sie nicht mehr letzte Grundlage sein^'^).
1) de gen. et corr. I 3, 319 a 33; 5, 320 b 12—14: met. YIII 4, 1044 a
15—17. Auch phys. IV 9, 217 a 25 — 2G lässt sich hieher ziehen.
•-) de cael. III 1, 298 b 9—11. — =») de gen. et corr. I 3, 318 a 13-25.
•*) de gen. et corr. II 4, 331 a 12 — 21, eine Auseinandeisetzung, die 20—21
dahin zusammengefasst wird : äare .... tfaveQov un näv ix navtög '/iyvr-
atyai 7itifi-y.tr.
■') Diog. Apoll, fragm. 2 Schorn bei Sinipl. phys. I, p. 151, 31 IT.
'') de gen. et corr. I G, 322 b 13 — 15.
■) phys. III (), 20(3 b 14—15. Vgl. Simpl. phys. lil, p. 497, 20 ff.
^) phys. III 4, 203 b 18— i20. Die Conimentatoren denken dabei an Anaxi-
mander; s. S. 13 f.
■•) phys. III 8, 208 a 8—11; de gen. et corr. II 10. 337 a 5-6. Vgl. anal.
post. II 12, 95 b 38 ; [met. II 2, 994 b 5].
'") pl.ys. I 9, 192 a 25-34; met. XII 3, 10(39 b 35— 3G. Vgl. met. VII S.
1033 a 28—29: VllI 1, 1042 a 2(5—31. Auf die durchaus unhaltbare An-sichl
iiSS Dritter Abschnitt. Aristoteles.
Weil (erner die Maturic in sich ein viillig Bestimiimngloses
ist, so bezeichnet Aristoteles sie mit Plato i) auch als das Un-
bestimmte {äögiOToy) ^).
Als solches ist sie, wie Aristoteles wiederum in Überein-
stimmung mit Plato 3) lehrt, weder wah rnehmb ar^) noch in sich
erkennbar, d. h. nicht diu'ch einen eigenen Begriff zu er-
fassen •'■'). Denn nur bestimmte Qualitäten lassen sich wahrneh-
men, nur bestimmte Wesensformen in Begriffe fassen. Wir kön-
nen die Materie vielmehr nur durch . einen Analogieschluss
erkennen "), „denn wie zur Bildsäule das Erz oder zum Bett das
Holz oder zu irgend einem andern, was Gestaltung hat, der
Stoff, so verhält sich diese zugrunde liegende Natur zum Wesen
und zu dem bestimmten Etwas und zum Seienden" ').
Die Materie ist endlich etwas Un körperlich es. Aus der
ganzen Ent Wickelung, welche zum Begriffe der ersten Materie
führte, geht deutlich hervor, dass unter ihr nicht etwa die kör-
perliche Natur im allgemeinen, der Gattungsbegriff, welcher
das allen Körpern Gemeinsame umfasst, verstanden werden darf,
wie das im Altertum von den Stoikern und von Pericles dem
BuUinger's (Aristoteles Erhabenheit über allen Dualismus und die vermeint-
lichen Schwierigkeiten seiner Geistes- und Unsterblichkeitslehre. München
187'S. S. 2 ff.), bei Aristoteles sei die Materie ein Werk der Gottheit, kann hier
nicht näher eingegangen werden.
') S. S. 201. 203.
2) phys. IV 2, 20f) b 9; met. IV 4, 1(X)7 b 28-29; VII 11, 10.37 a 27; XIII
10, 1087 a IG- 17. Vgl. auch de gen. an. IV 10, 778 a G; met. IX 7, 1049 b
1—2; ferner de cael. HI 8, 30(5 b KJ — 19, wo unter Berufung auf den platoni-
schen Tiniaeus das Tiardexn als .teitit.; und ciiiuQCfor bezeichnet wird.
') S. S. 135 ff.
■*) de gen. et corr. II 5, 332 a 35: ?/ ydp vltj ... dvaia9rjoi oiaa. a2(j: nr,(lliv
aia&iitöv . . TiQÖTfQov Tothfüv (vor den Elementen). — Zwar unterscheidet Aristoteles
t'Ai; aia9%rij und v?.rj vor,T7j (met. VII Kl, 103G a 9 — 10 u. ö. ; siehe u.); aber
unter der vhi ala&tjtrj ist nicht eine Materie verstanden, die selber sinnlich
wahrnehmbar wäre, sondern die Materie des sinnlich Wahrnehmbaren.
■') met. VII 10, 103G a 8: r, li" vkij ayvoatos y.ai^' avTr,v. 1035 a 8 — 9: to
if vhxöv oväinoTt xa{y' ixizo Kty.ttov. Vgl. pliys. III G, 207 a 25 — 2G. Die Ma-
terie ist die Ursache der Undefinierbarkeit und Unbeweisbarkeit des Indivi-
duellen: met. VII 15, 1039 b 27-30.
") phys. I 7, 191 a 7 — 8 : % if vnoxetftevri (fvaiq (die Materie) i/itaTr,Ti] x«r'
ava'/.uyiav. Dass Plato's '/.uyiauöi vü&oi nicht Analogieschluss s. S. 137.
') a. a. O. 8—10.
b) Die Materiedes sulist. Werdens. Artilirer Erkeaahuric. ; Unkör|perli(;lik. ders. 23!)
Lyder behauptet ^) und auch in neuerer Zeit wieder aufgestellt
wurde ^). Ausdrücklich spricht Aristoteles an einer Stelle, die
schon von Simplicius dagegen geltend gemacht wurde •''), von
einer Materie des Körpers, die zugleich Materie der Quantität
und der Qualität ist"^). Nach seiner bestimmten Erklärung ist
die Materie noch nicht Körper •"'), sondern erst der Möglichkeit
nach Körper "). Er bezeichnet es als einen Irrtum der Natur-
philosophen, dass sie als Grundstoff der Welt eine von den Ele-
menten verschiedene, für sich bestehende körperliche Materie an-
nahmen '').
Weshalb Aristoteles die Materie nicht als Körper bezeichnen
kann, wird uns klar werden, wenn wir seinen Begriff des Kör-
pers näher ins Auge fassen. Physischer Körper nämlich ist nur
das, was sinnlich wahrnehmbar, oder, da der l'astsinn der allen
empfindenden Wesen gemeinsame Grundsinn ist ^), was tastbar
^) Simpl phys. 1, p. 227, 23 ff. Dass die Stoiker und Pericles die gleiche
Auffassung auch füi- die platonische Materie durchzuführen suchten, wurde
schon S. 152 bemerkt. Die Gründe, welche jene für diese Auffassung anführ-
ten, sind nicht historisch beweisend, sondern enthalten eine sachliche Kritik.
-) So von Engel, Rh. Mus. VII (1850) S. 395 (doch nur als eine mögliche
Auffassung).
») a. a 0. p. 228, 30.
■') de gen. et COrr. I 5, 320 b 22 — 23 : ind (f latl y.al ovaias rhj amjuaTixijt;,
a(i')fiaTOS ifildtj TOiovdi, . . . i] avTi} y.a'i ßtyed-ovg xai 7iä-&ovg ioxi. Das Gltat bei
Simplicius ist ungenau; doch scheint mir eher die angeführte Stelle gemeint
zu sein, als die von Diels in der adn. crit. angezogenen met. I 6, 988 a ; phys.
IV 2, 209 b 35.
^) de cael. III G, 305 a 22 — '1\\ dXM /.tt^v ord' ex (idiaazöi jivoi t7X"'Q^'
'/i'yvea&ai r« aroiyi^tJa ' (J'vixßi'jattai yÜQ aXXo aco/ua TiQÜTiQor' n'vni Kiiv aTut^finnu
Man könnte sich auch auf de gen. et corr. I 5,320 b 23: a(o,ua yuQ xoivov (n'ih'v,
l)erufen; doch scheint hier vielmehr die Reahtät eines Körpers ohne indivi-
duelle Grösse und ohne individuelle 7iä!}tj in Frage zu stehen,
'^) Vgl. de gen. et corr. II 1, 329 a 33, wo die Materie als rö <hv(i,ufi
aw/Lift aia&riTÖv bezeichnet wird. Im Widerspruch damit scbeint de gen. et corr
I 5, 321 a 9-17 zu stehen, wo der Körper als das Gemeinschaftliche hinge-
stellt wird, welches beim Ul)ergange eines kleineren Quantums Wasser in ein
grösseres Quantum Luft i)estehen bleibt und darum das eigentlich Zunehmende
ist. Allein die hiermit versuchte Erklärung der Zunahme wird a 17 ff. aus-
drücklich verwoi-fen.
') de gen. et corr. II 1, 329 a 8—11. Vgl. met. I 8, 988 b 22-24.
«) de an. II 3, 414 b 3; III 12, 434 b 23-24; 13, 435 b 2; de sensu 1, 43i;
1. 13-15; de somn. 2, 455 a 7: bist. an. I 3, 489 a 17—18; IV 8, 533 a 17-
18. 535 a 4—5 ; de part. an. II 8, G53 b 22—24.
24(1 Dritter Alischnitt. Aristoteles.
ist ^), Dadurch unterscheidet sich der physische Körper von dem
mathematischen 2). Was aber tastbar ist, dem kommt auch eine
der lastl)aren QuaHtätcn zu. Es muss warm oder kalt, trocken
oder nass sein ^). Was aber so bescliaflen ist, das ist bereits eines
der Elemente, da diese gerade durch jene Unterschiede constitu-
iert werden ^). Es ist also nicht mehr blosse Materie, sondern
bereits geformte Materie.
Das Gleiche ergiebt sich auch aus folgender Erwägung &).
Wenn die Materie schon Körper wäre,, wx^nn also die Elemente
aus etwas Körperlichem entständen, so würde dieser Körper ent-
weder Leichtigkeit, beziehungsweise Schwere, haben, oder er be-
sässe überhaupt kein Gewicht, Im ersteren Falle würde dieser
Körper selbst eins der Elemente sein ^). Im letzteren wäre
er kein physischer, sondern ein mathematischer Körper und als
solcher nicht im Orte ■*). Da nun aber das, was aus der Materie
wird, im Orte ist, so muss auch die Materie selbst im Orte
sein. Sonn't ist die Materie weder physischer, noch mathema-
tischer Körper.
So ist also die Materie, um welche es sich im Vorigen handelte,
die letzte gemeinsame, ungewordene Grundlage der dem
Werden und Vergehen unterworfenen Körper, welche, in
') de an. III 12, 434 h 1"J : (^/(a »iV ÜTiav änrür. Vgl. de an. II 11,423 h 2G—
27: ämal . . . (lalr ul li'iaifonid ror ain/xaros ■ß aiojua. Dai'Uni ist auijuuTiotffg .SOviel
wie consislent u. dg!.; vgl. hist. an. III 20, 521 b 27, wo es den käsigen Be-
standteil der Milch im Gegensatz zu der wässerigen Molke bezeichnet; de gen.
an. III 11, 7G1 a .'»4. b D (das Meer in höherem Grade ao^ixaTmiftg als das Süss-
wasser) : meteor. 11 3, 35!) a 15 (sehr salziges Wasser aooaaxüiihe fast wie
Scldaiiun): de gen. an. V 2, 781 b 21 {ai,)uaTu)(hi= ycndu). Vgl. ferner de part.
an. II 1, Ml a 20; III 2, G63 b 24; de gen. an. II 3, 737 a 3,^); 4, 739 b 2G;
III 11, 7G1 a 34; de .sonm. 3, 458 a 12.
•-) met. XIII 3, 1077 b 22. 1078 a 2—5. Wenn es de gen. et corr. I G, 3i23
a 2 bei-sst, dass auch den niatheuiati.schen Gebilden ät^i] zukomme, so ist da-
bei natürlich nicht in irgend einer Weise an den Tastsinn, sondern an die
Conlinuitäl der Ausdehnung zu denken.
3) Die Nachweisungen bei Gl. Baeumker, Des Aristoteles Lehre v. d. äussern
u. Innern Sinnesvermögen. Leipzig 1S75. S. 35.
■') S.S. '242.2GO. — ") decaeloIiIG,305a22— 3L - '•) S. S. 242 Anm. G Schi.
') Im Gegensatz zu unserer Stelle heisst es zwar de gen. et corr. I (5, 323
a 2 (vgl. Anm. 2), dass den matheuiatischen Körpern auch Raum {tötio?) zu-
käme. Allein hier ist nur die Ausdehnung als solche gemeint, nicht der Raum
als Ort, d. h. als physische Umgrenzung {tu neQu^ tov nt^ie^oviog aui/naTos,
phys. IV 4, 212 a 5, t6 tov nfQtexovmg jitQK^ üxlrtjov ttqiotov, ebd. 212 a 20).
b) D. Mat. d.sul)st. Wurdeiiti. lhreUnköri)orli(:lik.; Uiiterscli. v. riato.ErsleMat. Ü4l
sich völlig unbestimmt und*blosse Möglichkeit, alle Be-
stimmtheit und alle Wirklichkeit nur durch die Form
e r h ä 1 1.
Trotz der durchaus veränderten Beweisführung kommt also
Aristoteles bei der Beschreibung der Materie in den meisten Be-
stimmungen mit Plato überein. Der Hauptunterschied, welcher
zwischen beiden bestehen ])leibt, liegt darin, dass an die Stelle
der unbegrenzten Ausdehnung, mit der Plato die Materie iden-
tificierl, bei Aristoteles der Begriff der Möglichkeit, also an-
stelle der geometrischen die dynamische Betrachtung, ge-
treten ist.
Man pflegt jene erste Grundlage der Körperwelt unter Be-
nutzung eines aristotelischen Ausdrucks als erste Materie
{jTQMii] [''/z^, materia prima) zu bezeichnen. Dabei ist freilich zu
bemerken, dass Aristoteles selbst gerade für die allererste Grund-
lage aller substantialen Veränderung das Wort „erste Materie"
an keiner Stelle gebraucht. Er selbst bezeichnet als „erste Ma-
terie" im Gegensatz zur „letzten Materie" {eaxdrri vXrj, materia
proxima) 1) vielmehr immer nur das ursprüngliche körperliche
Element, aus welchem etwas entstanden ist, also eine sclion ge-
formte Materie. So ist für die Bildsäule letzte Materie das Erz,
erste das Wasser, aus dem das schmelzbare Erz seinerseits
M Allerdings können die Ausdrücke ngon^i v'/.r, und tayärij rXtj auch im um-
gekehrten Sinne gebraucht werden. Die Materie nämlich, welche, wenn wir die
Entstehung eines Körpers vom Urspi'unge an verfolgen, die erste ist, ist die
letzte, auf welche wir bei der rückschreitenden Analyse stossen. Ebenso ist
umgekehrt die Materie, welche beim synthetischen Verfahren als letzte die letzte
Form aufnimmt, beim analytischen Verfahren die erste. Vgl. niet. V 4, 1015
a 7—10; 2(3, 10^23 a 2(5—29. Zeller 11^ b, 320, 2. Bonitz zu met. V (5, lOlG a
17—24 (p. 235). Dieser umgekehrte Sprachgebrauch findet sich phys. II 1, 193
a 29; met. V 4, 1014 b 32; VIII 4, 1044 a 18 (die von Schwegler und Christ
athetierten Worte nQiörr, rhrj werden von Bonitz mit Recht verteidigt), wo
TipwVt; vhj die letzte Materie vor der Form bedeutet; met. XII 3, 10G9 b 3.') —
3(), wo taydir, vM/ im Sinne der ursprünglichen Materie steht. Vgl. auch met.
V (5, 101(3 a 19 — !20, zusammengehalten mit a i23, wo die Ausdrücke ngintov
v7ioxei,u(Vüv und it/.evtawv oder iaycaov vnoy.ei'ucvov gleichfalls in umgekehrter Be-
deutung gebraucht werden. Dagegen nQtihi) vÄrj für die ursprüngliche Materie :
met. V 4, lOlö a 7: IX 7, 1049 a 25, taxdttj 'iln als eigentümliche Materie
(jihoi vln met. VIII 4, 1044 b 3, oly.da l'A>; meteor. IV 2, 379 b 20: de an. U
2, 414 a 2(3): met. VIII (3, 104;') b 18; als individuelle Materie: met. VII 10
1035 b 30. Vgl. met. XII 3, 1U7() a 20—21 (reltcxaLa <:;.»;).
Baeuinker: Das Problem der Materie etc. 16
'2i'2 l)ritter Alit;clinitt. Aristoteles.
geworden ist i). Doch findet aitc.li Jene andere Verwendung
des Ausdrucks wenigstens einige Anhaltspuncte hei Aristoteles 2).
Über dieser gemeinsamen ersten Materie nun haut sich die
dem Werden und V^'rgehen unterwoi-fene Körper weit folgender-
maassen auf.
Zunächst entstehen aus der Materie die vier Grundkörper
oder Elemente: Feuer, Luft, Wasser, Erde^). Dieselben erhalten
ihre eigentümliche Bestimmung durch Differenzen, welche Ob-
jecte des Tastsinns bilden*); denn körperlich ist das Tastbare'').
Die (irunddifleronzen des Tastbaren aber sind die zwei Gegen-
satzpaaro: warm und kalt, trocken und feuciit *^). Dem entspre-
*) met, V 4, 101.'") a 7-11. Wie hier das Wasser ausdrücklich als 7ip<,',u,
vkrj für alles Schmelzhare hezeichnet wird (vi;l. S. 171 Anin. 1), so ähnlich
met. V 24, 1023 a 27 — 21) als dessen «A?/ xaiä tu /fpwror y/rof (vyl. met. V (!,
101(5 a 22 — 24, wo es als la-^arov i'inoxtifitvov für Ol, Wein und das Schmelz-
hare ausgeführt wird). Das Feuer JU?; n()i>nij: nu^t. IX 7, 104!) a 24 — 27.
'■') met. VIII 1, 1044a If) — 18: ti/qI (f^ r^i vXiy.iji ovaiag (hT ,uij )Mv{yäfKV öri
f? y.ai tx rov avTuv nüvrct n^airov y tinv utUuir f'x; ti^h'itov (durcll welchen ZusatZ
freilich die Benulzharkeit des voraufj^ehendcn /niuynir sehr vermindert wird)
xdi 1} «CK; vXrj "If "QXV ^"'■^ yyi'out'roii; xT?..\ met. XII 3, 10(59 h 35 — 3(1: /(fn!
tavta ölt ov yi'yvftai orri i; v?.7/ uri f iCi fnfuc, Hyio ifi ru i'ayuTu (woZU Vfj;'l.
S. 241 Anm. 1).
^) Weil schon aus Materie und Form zusammengesetzt, also nicht mein-
absolut einfach, heissen sie hei Aristoteles de part. an. II 1, t)4(i a 13 ,,ilie von
einigen so genannten Elemente."
*) de gen. et corr. II 2, 329 h 7—1(5.
^) vgl. S. 240 Anm. 1.
«) de gen. et corr. II 2, 329 h 17—330 a 29; de an. II 11, 42;! h 2«; de part.
an. II 1, (54(5 a 1(5—18; G47 a 18—19 u. ö.
Der tastbaren Qualitäten sind freilich noch mehr als diese vier. Auch die
Gegensätze von Schwer Leicht, Hart Weich, Klebrig Spröde, Rauh Glatt, Dick
Fein, Dicht Locker u. s. w. Itilden Ciegenstand des Tastsinns (de gen. et corr.
K 2, 329 b 19-20; de part. an. II 1, (54G a 18-19). Aber diese Qualitcäten
lassen sich aus den vier Grunddifferenzen ableiten (,de gen. et corr. II 2, 329 b
32—330 a 25; de part. an. II 1, G46 a 17—20), während diese selbst keine
weitere Reduction zulassen (de gen. et corr. II 2, 330 a 25 — 29. Zum Vorauf-
gehenden vgl. .1. B. Meyer, Aristoteles Thierkunde, S. 401 ff. ; Baeumker, a. a. 0.
S. .35 f.) Darum dienen nur diese vier Differenzen zur Bildung der Elemente,
indem sie in vier Gombinationeu sich mit einander verbinden (von den sechs
denkliaren Gombinationen fallen zwei aas, weil die Gegensätze selbst nicht ge-
paart sein können: de gen. et corr. II 3, 330 a 31—33; II 5, 332 b 3-5).
Die Unterschiede des Leichten und des Sciiweren insbesondere können
b) Die Materie d. suhst. Werdens. Erste Materie. Eleiuenie. 243
cliend giebt es vier Elemente, das warme und trockene Feuer,
die warme und feuchte Luft, das kalte und feuchte Wasser, die
kalte und trockene Erde^).
Aus den Elementen entstehen durch Mischung (fiT^g) die
zusammengesetzten Körper. Eine solche Mischung ist nicht,
wie Empedocles wollte, ein einfaches Gemenge bloss mechanisch
verbundener kleinster Teilchen verschiedener Stofie, etwa wie
Gerste und Weizen in einem Getreidehaufen, Steine und Mörtel
in einer Mauer verbunden sind 2). Vielmehr ist der durch Mi-
schung gebildete Stoff bis in seine kleinsten Teile etwas durch-
nicht die specifischen Differenzen verschiedener Elemente ausmachen, weil sie
einer bestimmten Bedingung nicht entsprechen, welche an solche speciflsche
Differenzen der Elemente gestellt werden muss. Da nämlich die Elemente sich
mit einander vermischen (wofür auch de gen. et corr. I 10, 328 a 19 ff. zu
vgl.) und in einander verwandeln sollen, so müssen sie aufeinander einwiiken
können, müssen noirjTixd und naOijixd sein. Hierfür machen Leichtigkeit und
Schwere nicht geeignet, wohl aber Wärme und Kälte, Feuchtigkeit und Trocken-
heit. Denn Wärme und Kälte wirken zusammentreibend auf das Gleichartige
letztei-e auch auf das Ungleichartige. Das Feuchte ferner bildet eine aus sich
nicht begrenzte, dagegen von aussen leicht zu begrenzende Masse (also ein
nad-rjixöv); das Trockne umgekehrt (de gen. et corr. II 2, 329 b 20—33. Vgl.
auch meteor. IV 11, 389 a 29 — 31, wo das Trockne und das Feuchte als Lei-
dendes, das Warme und das Kalte als Wirkendes bezeichnet wird. Hinsiciit-
lich des Kalten freilich erfährt dies nach meteor. IV 5, i382 b 4 — 10 eine nicht
unbedeutende Modification).
Mit dem zuletzt Ausgeführten befindet sich übrigens de gen. et corr. I G,
323 a9 flf. anscheinend im Widerspruch. Im Gegensatz zu II 2, 329 b 21 nämlich
wendet diese Stelle den Unterschied des noiijnxöv und des Tiu^rinxöv auch auf
das Leichte und das Schwere an. Der Widerspruch ist durch Prantl, S. 498
Anm. 47 seiner Ausgabe, nicht entfernt. Es scheint hier vielmehr eine andere
Anschauung zugrunde zu liegen, nach welcher der Unterschied der Elemente
durch die räumlichen Unterschiede gegeben ist (vgl. de caelo III 6, 305 a 28 —
29). Bei dieser räumlichen Verschiedenheit soll nämlich jedesmal das obere
Element zu dem unteren, weil es die Begrenzung (öpof) für dieses ist, sich wie
die Form zur M«terie verhalten (de caelo IV 3, 310 b 14—15; de gen. et corr.
II 8, 335 a 16-21. Vgl. auch de caelo IV 4, 312 a 12—13). Das leichtere und
das schwerere Element unterscheiden sich hiernach also wie Form und Ma-
terie, also auch, da die Form etwas Actives, die Materie etwas Passives ist,
wie 7ioir,TiX(jv und nattiiiixöv.
1) de gen. et corr. II 3. 3:30 a 30 -b 7.
•-) de gen. et corr. I 10, 327 b 31—3^28 a 18; II 7, 334 a 2<i-b 1.
16 *
1>44 Dritter Alisciniitl. Arlslutoleh'.
aus C!leicliaiiiy[es (of^toioiitgtc), so dass /,. H. aucli das kleinste
Teilchen des Fleisches wieder Fleisch ist ')•
Eine derartige Mischung aber kommt dadurch zustande, dass
über dem gemeinsamen Substrat, der Materie 2), die entgegen-
gesetzten Qualitäten der verschiedenen Elemente sich nicht gänz-
lich auriiebeii, sondern sich (hirch ihre gegenseitige Einwirkung
auf ein gewisses mittleres Maass reducieren^) Die Elemente blei-
ben sonach nicht actuell, sondern potentiell in der Mischung*).
Die gleicht eil igen Stoffe (f)^oto/i*ß^), welche auf diese
Weise durch Mischung gebildet werden, sind teils unorganischer
Natur (die ßeiaXl^vöf^ieva)^ teils finden sie sich in Pflanzen und
Tieren. Unorganische Stoffe solcher Art sind z. B. Gold, Kup-
fer, Silber, Zinn, Eisen, Steine u. s. \v. Dem Pflanzenreiche da-
gegen gehören an Holz, Rinde, Blatt- und Wurzelsubstanz.
Gleichteilige tierisclie Stoffe endlich sind Fleisch, Knochen, Ner-
ven, flaut, Gedärme, tfaare. Sehnen, Adern u. s. w. ^)
Aus den gleichteiligen Stoffen (den oiioiofxeQri) entsteht dann
die coniplicierteste Klasse zusammengesetzter Substanzen. Es sind
die ungleicliteiligen Körpei-gebilde (die drofioiof^ifQfj) '^), d. h.
diejenigen Gebilde, bei denen die Teile nicht mehr gleich dem
Ganzen sind. Derart sind z. B. Gesicht, Hand, Fuss; denn die
Teile des Gesichtes sind nicht wieder Gesichter, die der Hand
nicht wieder Hände u. s, w. ').
Ein Körper, der aus Gleichteiligem und Ungleichteiligem zu-
sammengesetzt ist, erfüllt die Voraussetzungen, deren die Seele be-
1) de gen. et coir. I 10, .'>28 a 3—5; II 7, 334 b 28—30; liist. an. I 1,
486 a .')— 6.
"-) de gen, et corr. II 7, 334 b 2 ff. Nur was gleiche Materie hat, kann
gegenseitig auf einander einwirken und dadurch gemischt werden ; dagegen
sind z. B. Heilkunst und Körper aus diesem Grunde nicht mischbar mit ein-
ander: de gen. et corr. 1 10, 328 a 18 — 23.
3) .le gen. et corr. II 7, 334 b 8—30.
*) de gen. et corr. I 10, 327 b 22—31.
^) meteor. IV 10, 388 a 13—20; de part. an. II 1, 646 a 12—22. Zu be-
merken ist, dass an letzterer Stelle nur die Bestandteile der Pflanzen und
Tiere zu den o/uoio/jeQ'^ gezählt werden, während die unorganischen Elementen-
verbindungen als eine Glasse für sich gezählt werden. — Genaueres über
die Zusammensetzung der gemischten Stoffe bei Meyer, Arist. Thierkunde,
S. 407 ff.
6) meteor. IV 10, .388 a 18—20; de part. an. II 1, (;46 a 22-2
') bist. an. I 1, 486 a 6—8.
b) Die Mat. des subst. Werdens. Gleicliteilige u. ungleichteil. Körper. 245
darf, um für die Ausübung der Lebensfunctionen die nötigen
Hülfsmittel zu finden ^). Nach aristotelischer Redewei.se ist ein
solcher Körper also der Möghchkeit nach ein Lebendes 2). Eine
derartige complicierte Gestaltung macht das Stoffliche taliig, auf-
nehmendes Subject eines neuen Principes , des Seelischen,
zu sein.
In solcher Art baut sich über der ersten Materie in fort-
schreitender Complicierung die Welt des Werdens und Ver-
gehens auf.
Über derselben befindet sich die der Entstehung und dem
Untergange entnommene Welt der Gestirne. Ihr Element ist der
Äther-''), das erste*), ewige und unveränderliche'') Element. Weil
derselbe an dem Kreislauf der Elemente nicht teilnimmt, so hat
er und haben die aus ihm bestehenden Gestirne keinen Teil an
der ersten Materie^ über der die .sublunasische Welt sich aufbaut.
Körper freilich sind die Gestirne ß) sowohl, wie der Äther ^), aus
dem sie bestehen. Sie sind ja sichtbar durch ihr Licht, fühlbar
durch ihre Wärme s), sind im Orte und der Ortsbewegung unter-
worfen»). Falsch würde es darum sein, sie als unstofflich, den
Äther als „unstofflichen Stoff" zu bezeichnen i"); denn unser Wort
'). Hinsichtlich der Tiere vgl. de part. an, II 1, (347 a 2 — (i, hinsichtlich
der Pflanzen ebd. K 10, 655 b 37— b 2 (vgl. de an. II 1, 412 b 1—4).
2) de an. II 1, 412 a 27-28. — - ») (je cael. II 7, 289 a 11—19.
*) meteor. I 1, 338 b 21; vgl. de cael. III 1, 298 b 6. Als avo> aroiytlov
wird der Äther meteor. I 3, 341 a 3, bezeichnet.
ä) de cael. II 3, 270 b 2; III 1, 298 b 7 u. ö.
6) &tia aw/iaza de cael. II 12, 292 b 32; met. XII 8, 1074 a 30.
') de cael. I 2, 2(>9 b 4; 3, 269 b 30. 270 b 3. 11. 21; II 7, 289 a m-,
meteor. I 3, 340 a 20; de an. II 6, 418 b 9. 13.
*) Licht und Wärme der Gestirne soll durch deren Reibung an der Luft
bei ihrer raschen Bewegung an derselben vorbei bewirkt werden : de cael. II
7, 289 a 19—33 (Ein sonderbares Missverständnis dieser Stelle, resp. der Aus-
führungen von Thomas Aqu., quaest. disp. de pot. q. .'ia.7ad 19, welche auf un-
sere Stelle Bezug nehmen, bei T. Pesch, Die grossen Welträthsel. Freiburg
i. Breisgau 1883. Bd. I. S. 218 Anm. 6, nach welchem bereits die Peripate-
tiker in der Wärme eine Qualität erblickten, „die sich wesentlich in Bewe-
gungszuständen äussere").
") Dass diese Bewegung zunächst die Sphären betrifft, in denen die Ge-
stirne sich befinden (de cael. II 8, 289 b 30 ff.), kommt hier natürlich nicht
inbetracht
'") Fr. Ferd. Kampe, Die Erkenntnisslehre des Aristoteles. Leipzig 1870. S. 31.
Vgl. dagegen Zeller IF b, 438 Anm.
24(j Dritter Alisclmitt. Arisloldes.
„Slüff eiilspriclil nicht dem anstotcliscliou BeyrilTe der Materie,
sondern bezeichnet den Körper, aus dem etwas besteht. Ja
selbst als zusanmiengesetzt aus Form und Materie — nämlich aus
dem Äther und der Kugelform i) — können dieselben bezeichnet
werden 2). Aber diese Bezeichnung des Elementes der Gestirne
als ihrer Materie ist doch nur in dem später noch näher zu be-
sprechenden weiteren Sinne zu nehmen, in welchem das Wort auf
alles angewendet wird, was, auch ohne einen physischen Werde-
process, irgendwie determiniert ist; denn die Gestaltung der Ge-
stirne ist nicht geworden und macht nicht einer andern Platz ^).
Eine Materie im eigentlichen Sinne dagegen kommt den Gestir-
nen, wie Aristoteles wiederholt einschärft, nur in soweit zu, als
in ihnen das Substrat der Ortsbewegung von ihrem wechselnden
Orte unterschieden werden muss ^). Sie haben also wohl eine
locale, aber keine substantiale Materie. Eine solche spricht ihnen
Aristoteles vielmehr ausdrücklich ab '^).
Die unvergängliche Welt der Gestirne zusammen mit der dem
Werden und Vergehen unterworfenen Welt unter dem Monde bil-
den das gesamte Weltgebäude. Dieses aber ist Eines; denn
es umfasst die gesamte Materie*^) (unter der also hier die Materie
'). de cael. II 7, 289 a 11—19; 11, 291 b 11—23.
^) de gen. et corr. II 9, 33.5 a 28 — 30 : ilalv oiv xai töv d()i&/iöv l'aai xai
TU) yevet «/ avTcu (sc. 7i(i(it,g '/(viataii ai. d())[ai) a/Vtfp ev Tuig d'itfioti; Tt xai
TiQuÖToti. Unter .uo^ftj wird man hier kaum das wechselnde Ortsverhältnis
(vgl. Anm. 4) verstehen können. Es dürfte vielmehr in gleicher Welse die
äussere Gestalt als Wesensform betrachtet sein, wie de gen. et corr. I 5,
821 b 28—31 die Gestalt der Hand u. dgl.
") met. XII 2, 1069 b 25 (cltlert Anm. 5). Vgl. de cael. III 1, 298 a 26-27 ;
met. I 9, 991 a 10; XII 1, 1069 a 31 u. ö.
") met. VIII 4, 1044 b 7-8; IX 8, lOoO b 21; XII 2, 1069 b 28 (cltiert
Anm. 5). Vgl. IX 8, 1050 b 15; XII 7, 1072 b 6. Die In ewiger gleichmässiger
Bewegung befindlichen Hinmielskörper sind Indessen nicht in Möglichkeit zur
Bewegung oder Nichtbewegung, wie die vergänglichen Dinge, sondern nur zu
den verschiedenen Puncten der von ihnen zu durchlaufenden Bahn. Darum
ist der ganze Himmel stets in Bewegung, ohne stillzustehen oder zu ermüden :
met. IX 8, 1050 b 20-28; vgl. de cael. II 1, 284 a 14—15.
^) met. XII 2, 1069 b 24—26: Tiüvra J" vKijv e'x^i üaa /xezaßäXket, dkl'
i'itQa hefiav ' xai rmv did'luiv uaa fir/ '/tvvrjtd xivrjtu (fe (foga, dkl' ov ytvvrjxrjv, dkXd
no&sv noT. Ferner met. VIII 4, 1044 b 7. Vgl. IX 8, 1050 b 16—17; XII 7.
1072 b 7; auch de cael. I 3, 270 b 1 ff.
«) de cael. I 9, 278 a 25— b 8.
b) Die Mat. d. subsl. Werdens. Gestirne. Wellgehäude. -- Kritik. 247
der vier Elemente zusammen mit dem Äther begriffen ist). Es
ist ferner der Ausdehnung nach begrenzt i) ; denn auch die Ma-
terie ist nicht unendHch ihrer Masse nach 2). Es ist endUch ein
räumliches Continuum ; denn es giebt keinen leeren Raum, der
die Teile der Materie von einander trennen könnte^).
2. Kritik des aristotelischen Begriffs der Materie; Schwanken
des Aristoteles hinsichtlich desselben.
Wenn wir es im Folgenden versuchen, einige Bemerkungen
zur Kritik des aristotelischen Begriffes der Materie zu geben, so
mögen diese als blosse Andeutungen angesehen sein, keineswegs
als irgendwie erschöpfende Ausführungen.
Den aristotelischen Begriff der Materie können wir in einer
doppelten Anwendung betrachten : einmal als die in sich jeder
Wirklichkeit entbehrende, bloss mögliche „erste Materie" ; dann
als das actuelle .Seiende, welches die Vorbedingungen für die wei-
tere Entwickelung in sich enthält.
Fassen wir den Begriff der Materie zunächst im letztern
Sinne ins Auge, so ist dem Begriffe hohe Bedeutung nicht ab-
zusprechen.
Innerhalb des Naturgeschehens nämlich ist eine Wirkung
niemals Resultat einer einzigen Ursache. Erst durch das Zu-
sannnentreten mehrerer Bedingungen wird die neue Wirklichkeit
erzeugt. Das Verhältnis dieser Bedingungen aber zu einander
und zu der Wirkung ist ein verschiedenes. Von einer der Be-
stimmungen (oder von einem Complex derselben) geht der un-
mittelbare Antrieb zur Thätigkeit, die Auslösung der Wirkung,
aus. So ist der Feuerfunke, der in die Pulvertonne fällt, un-
mittelbarer Anlass zur Explosion. Aber damit die wirkende Ur-
sache in Thätigkeit treten kann, muss etwas vorhanden sein,
worauf sich ihre Thätigkeit richtet. Es ist die Bedingung (oder
der Bedingungscomplex), welchen Aristoteles als die Material -
Ursache bezeichnet. Nur dadurch, dass in diesem Vorhandenen
durch die bewirkende Ursache ein neuer Zustand hervorgerufen
wird — das Wort „Zustand" in seinem allgemeinsten Sinne ge-
^) de cael. 1 5 — 7 u. ö.
2) S. S. 237.
3) phys. IV 6-9 u. ö.
24S Dritter Absclmill. Aristoteles.
noiiiiiH'ii — (Milslclit das Neue. Im'.sI diircli die Vcrbiiidiing bei-
der Bedingungen (oder Bediiiguiigscomplexe) isl die volle Ur-
sache gegeben.
Beide Arten von Bedingungen sind an der Entstehung des
Neuen in ihrer eigentümlichen Weise beteiligt. Auch die „Ma-
lerialursache". Demi nicht wie in einem leeren Gefässe, das sich
gegen den aufzunehmenden Inhalt gleichgiltig verhielte, ruft die
bewirkende Ursache den neuen Zustand in ihr hervor, sondern
dieser neue Zustand ist, wie durch die bewirkende Ursache, so
auch durch die voraufgehende Zuständlichkeit dessen bewirkt,
worauf jene sich richtet. Nicht jeder Zustand kann in dem letz-
teren hervorgerufen werden, sondern nur derjenige, welcher durch
den bereits bestehenden vorausbestimmt ist. Es ist nicht nur die
Iiohe Temperatur des einschlagenden Funkens, sondern ebenso-
sehr die eigentümliche Natur des Pulvers und seiner vergasbaren
Bestandteile, durch welche die Explosion bedingt wird. Die Ma-
terialursache enthält somit in ihrer eigentümlichen Beschafrenheit
die Vorbedingung für das Eintreten der Wirkung, oder aristote-
lisch ausgedrückt: sie ist die Möglichkeit der Wirkung. Aber
diese Möglichkeit ist nicht die vage Möglichkeit zu Entgegen-
gesetztem, sie ist vielmehr verstanden im Sinne der Anlage zu
einer ganz bestimmten Wirklichkeit.
Worin dieser Zusannnenhang des gegenwärtigen mit dem
künftigen Zustande besteht, wie es kommt, dass unter der Ein-
wirkung der bewirkenden Ursache jene Entwickelung stattfindet,
das entzieht sich freilich im letzten Grunde unserer beschränkten
Erkenntnis. Diese muss sich bescheiden , das Sein und Werden
als ein Gegebenes hinzunehmen, ohne einzusehen, was das Sein
ist und wie es gemacht wird. Hierüber geben auch die aristote-
lischen Ausdrücke „Möglichkeit" und „Wirklichkeit^' keinen Auf-
schluss: sie sind vielmehr nur bequeme Bezeichnungen für ein
thatsächlich bestehendes Verhältnis, dessen inneres Wesen uns
trotz ihrer unbekannt bleibt.
Steht hier der Begriff der Materialursache dem der bewir-
kenden Ursache gegenüber, so gewinnt er eine neue Bedeutung
auf dem Gebiete des Organischen, indem er hier dem der Form
gegenübertritt.
Es ist ein nicht mehr umzustossendes Resultat der biolo-
gischen Forschung, dass die organischen Functionen sich voll-
Kritik des aristotelischen Begrifls der ^faterie. 249
ziehen durch dieselben Natiirkrätlo, welche auch in der anorgani-
schen Natur wirksam sind. Aber die Wirkungsweise dieser Na-
lurkräfte im Organismus ist doch eine eigentümliche. In der an-
organischen Natur lässt sich die Ursache eines jeden Natur-
vorganges ohne Rest auflösen in eine Summe von Einzelbedin-
gungen. Wenn dieselben bei ihrem Zusammentreffen sich gegen-
seitig bestimmen, so folgen sie dabei doch nur dem Gesetze ihrer
eigenen Natur. Im Organismus dagegen erscheinen die Stoffe
und Kräfte constant auf ein bestimmtes Ziel, auf die Auswirkung
eines bleibenden Typus, gerichtet. Der Organismus erzeugt und
erneuert sich nach einem stets identischen Organisationsplan.
Die chemischen und physikalischen Kräfte in ihm sind in einer
solchen Weise combiniert, dass durch sie eine innere Einheit
ausgebildet und erhalten wird. Diese einheitliche B.egel der Ge-
staltung wird man schwerlich noch durch die blosse mechanische
Durchkreuzung der Stoffe und ihrer physikalischen und ehemi-
schen Kräfte erklären können. Sie weist hin auf ein centrales
Princip als den Grund jener inneren Einheit in der Zielrichtung
der combinierten Kräfte.
Schon Aristoteles" stellt diese centrale Ursache des Organis-
mus als die Form den Stoffen desselben als der Materie gegen-
i^iber. Sie ist ihm der innnanente Zweck, auf dessen Verw'irk-
lichung der ganze Organismus angelegt ist ^).
Nicht aus dem Stoffe selbst entwickelt sich dieses Princip.
Denn wie es auch um den er.sten Ursprung des Organischen ste-
hen mag, was zu entscheiden nicht dieses Ortes ist: für die
jetzige Natur gilt der Satz, dass nur aus einem schon bestehen-
den Organisnuts ein neuer hervorgehen kann. „Der Mensch er-
zeugt den Menschen", ist das stehende Beispiel des Aristo-
teles dafür 2).
1) Vgl. was de an. II 4, 41.'. b 10—12. 15—20; de pari. an. I 1, 641 a
27 ; I 5, 645 b 14 — 20 von der Seele, d. h. der Form des lebenden Organismus,
als dem Zwecke des Leibes ausgeführt wird.
•■') phys. II 1, 19.3 b 8. 12; 2, 194 b 13; 7, 198 a 26—27: III ^2, 202
a 11—12; de gen. et corr. I 5, .320 1) 20; II 6, 3.33 b 7—8; de pari. an. I 1,
640 a 25; II 1, 646 a 33: de gen. an. II 1. 735 a 21; met. VII 7, 1032 a 25;
8, 10ä3 b 32; 9, 1034 b 2; [XI 8, 1049 b 25]; XII 3, 1070 a 8. 28;
4, 1070 b 31. .34; XIV 5, 1092 a 16 u. ö. Die Pflanze erzeugt die Ptlanze: de
part. an. II 1, (546 a 31; der Weizen den Weizen: de gen. et curr. II 6,
333 b 8.
250 Dritter Ali.'^clinitt. Aristolcles.
])i(' Malcrie alxT, welche diesem Forinpi'incip gegenüber-
slelil, ist wiedenmi nicht (he hesliiiiiiiuiigslose blosse Möghchkeit
des Körpers. Sie ist auch hier ein wirkliches, bestimmtes Seien-
des mit eigenen Kräften, welches gerade durch diese Eigentüm-
lichkeit die Vorbedingungen für ein höheres Princip und dessen
Thätigkeit bietet.
So hat sich uns nach zwei Seiten hin der hohe Wert
des aristotelischen Begriffes der Materialursache ergeben. Er
hat seine volle Bedeutung auf dem ganzen Naturgebiete im
Gegensatz zur bewegenden Ursache, in besonderer Weise aber,
nämlich im Gegensatze zum Begriffe der Form, auf dem Gebiete
des Organischen.
Aristoteles selbst indes beschränkt den Gegensatz von Form
und Materie nicht auf das Reich des Organischen. Er nhnmt,
wie wir sahen, auch für das Anorganische ein substantiales Wer-
den an und erklärt dieses durch die Unterscheidung von Materie
und Form. Auch die von ihm aufgestellten „Elemente" sollen
eine derartige Zusammensetzung aus der jedem eigentümlichen
Form und der allen gemeinsamen Materie aufweisen. Weil es
sich bei diesen Elementen um die Frage nach der Zusammen-
setzung der einfachsten Körper und um das Werden der Sub-
stanz selbst handelte, so sollte diese Materie in sich völlig be-
slimumngslos, reine Möglichkeit ohne Wirklichkeit, sein.
Gerade diese Wendung des Begriffs der Materie nun ist es,
welche für unsere Untersuchung in Betracht kommt; denn in
dieser Gestalt sucht Aristoteles das uns beschäftigende Problem
nach der letzten (Jrundlage alles Körperlichen zu lösen.
Der modernen Naturwissenschaft ist ein solcher Begriff, wie
Aristoteles ihn hier aufstellt, fremd. Was Aristoteles von seinen
Elementen behauptet, dass sie in einander übergehen, so dass
die Materie bleibe, die Form aber wechsele, das leugnet sie von
den ihrigen. Und wenn jener, mn die Ähnlichkeit zwischen der
Entstehung seiner Elemente und der Entstehung des Organischen
voll zu machen, behauptet, dass, wie der Mensch den Menschen,
so das Feuer das Feuer erzeuge^), so gilt von unsern chemischen
Elementen nicht, dass etwa Eisen Eisen und Quecksilber Queck-
silber hervorbringe. Freilich weist auch der moderne Chemiker
^) de gen. et corr. I 5, 320 )i 2<).
Kritik des aristotelischen Begriffs der Materie. 251
und Physiker den Gedanken nicht V(jllig ab, dass vielleicht
den sämtlichen Elementen eine Urmaterie zugrnnde liege ^). Aber
diese Urmaterie würde er nicht als etwas völlig Bestimnumgsloses,
in sich durchaus Unwirkliches betrachten. Er würde in ihr viel-
mehr die objective Grundlage der allen Körpern gemeinschaft-
lichen Bestimmungen erblicken, also nicht die Potenz des Kör-
pers, sondern einen wirklichen Körper, „StofT" im modernen
Sinne des Wortes. Eine solche Urmaterie wäre wohl mit der
Materie der Stoiker zu vergleichen; mit der des Aristoteles hätte
sie dagegen keinerlei Verw^andtschaft -).
So bietet also die moderne chemische Theorie der Elemente
keinen Anlass zur Bildung des aristotelischen BegrüTes der er-
sten Materie. Aber dieser Begrifi* ist auch in sich bestreitbar.
Dass ein Seiendes Vorbedingung für etwas Weiteres sei, ist ein
sehr wohl begründeter Gedanke. Wie aber etwas Vorbedingung,
Substrat u. s. w. sein könne, ohne überhaupt zu sein, ist nicht
abzusehen. Das wäre aber bei jener ersten Materie der Fall.
Sie ist ein unmögliches Mittleres zwischen Sein und Nichtsein.
Nur ein Girkel ist es, wenn man sagt, eben das Mögliche, die
,,Realpotenz", liege zwischen dem Sein und dem Nichtsein in der
Mitte; das Mögliche sei nur actuell nichts, potentiell aber ein
Seiendes. Denn dann sagt man, das Mögliche sei ein Seiendes,
weil es ein mögliches Seiendes sei, und vergisst, dass gerade die
Denkbarkeit dieses bloss möglichen Seienden in Frage steht ^).
i)"S. S. 86.
*) Es würde nicht schwer sein, zu zeigen, dass auch die piiilusuphisclien
Vertreter der „morijhologisclien" oder , form istischen " Tlieorie in neuerer Zeit
da, wo sie nicht bloss überlieferte Schulformeln weiterführen, in der That
eher die stoische, als die aristotelische Theorie der Materie vertreten.
*) M. Glossner im Jahrbuch für Philosophie und speculative Theologie,
hrsg. von Gomnier, I 1H87, S. ö(K) ff. will durch den bekannten Lotze'schen Be-
griff des Geltens eine neue Stütze für die „Realpotenz" der Materie gewin-
nen. Das mögliche Sein lasse sich nicht anschauen; es sei weder Sauer- noch
Wasserstoff, weder Atom noch Monade; aber es sei Objectives, es gelte.
Nun kann man mit Lotze (vgl. Logik, 2. Aufl. S. 511. 516 unten) wohl von
einer inhaltlich bestimmten Wahrheit — in einem gewissen Sinne — sagen,
dass sie gelte, auch wenn sie in der empirischen Welt gerade nicht ver-
wirklicht ist; wie aber etwas gelten könne, was gar nicht Bestimmtes weder
ist noch behauptet, hat Glossner nicht dargethan. In Wahrheit würde jene
völlig bestimmungslose Möglichkeit nach Glosser's Voraussetzungen den Unbe-
252 Dritter Ahscliiiitt. Aristoteles.
Auch der vun ArisLuLeks selbst aii[,'edeiilete ') Ausweg, dass
die Materie ja doch niemals ohne Form bestehe, und dass sie
aus diesem Grunde stets etwas Wirkliches sei, führt nicht zum
Ziele. Denn so lange jene erste Materie noch ein von der Form
objectiv unterschiedenes Princip bleiben soll, so lange ist sie,
für sich betrachtet, die bestimmungslose Möglichkeit, welcher
wir keinerlei Art von objectiver Realität zugestehen konnten.
In Wahrheit scheint der aristotelische Begriff der ersten
Materie das Erzeugnis einerseits eines zu.weit gehenden Realismus,
anderseits eines nicht völlig zutreffenden Analogieschlusses zu sein.
Der eigentliche Ausgang für die aristotelische Theorie liegt
in der anthropomorphistischen Gleichsetzung des Naturgeschehens
mit dem künstlerischen Gestalten '^). In stets neuen Wendungen
erläutert er an dem Verhältnis des Stoffes, der dem Künstler vor-
liegt, und der durch den Kün.stler bewirkten Gestaltung desselben
das Verhältnis von Form und Materie in den Naturdingen 3). So
griff einer völlig bestimmungslosen Giltigkeit bedeuten, ein blosses Gelten, ohne
dass etwas wäre, was gälte. Denn wenn die Giltigkeit der Materie die Giltig-
keit von etwas besagte, so wäre ja die Materie ganz gegen Aristoteles schon
ein rode n. Und diese völlig bestimmungslose Giltigkeit wäre noch obendrein
das bleibende Substrat der wechselnden Wirklichkeiten.
Dazu kommt, dass die Glossner'sche Auffassung zu einer Gonsequenz führt,
gegen die zwar nicht Aristoteles, wohl aber Glossner selbst, mit Recht Ein-
spruch erheben würde. Was gilt, gilt ewig. Wenn also das Sein der Materie
ein Gelten ist, so ist sie ewig.
Ü])rigens ist die Unhaltbarkeit einer solchen Potentialität, die alles Sein
nur von der Form erhalten soll, auch von mehreren scholastischen Vertretern
des Aristotelismus zugegeben. Von den älteren seien Heinrich von Gent,
({uodl. 1. (\u. 10; quodl. 4. qu. 16 und Duns Scolus, sent. 1. 2. dist. 12. qu. 1.
n. 2., von späteren sei Suarez, metaph. disp. 12. sect. 4 und 5, genannt.
1) S. S. 235.
^) Über diese Gleichsetzung vgl. v. Hertling, Mal. u. Form, S. 94 ff. und
die Nachweisungen bei Bonitz, Ind. Arist. 836 b 10 ff.
^) Am häufigsten dienen zum Vergleiche die Bildsäule, die aus Erz (phys.
I 7, 190 b 6. 191 a 9; II 3, 194 b 25. 195 a 6. b 8; III 6, 207 a 28; met. V 2.
1013a 25. b7; 4, 1014 b29; VII 3, 1029 a 4; 10, 10.35 a 6; 1X7, 1049 a 18
u. ö.), das Haus, welches aus Steinen, Lehm und Holz besteht (phys. I 4, 188
a 15; 7, 190 b 8; II 9, 200 a 26; de partibus animalium I 5, 645 a
34; n 1, 646 a 27; met. VOl 2, 1043 a 8 u. ö.). Andere Vergleiche sind: das
Ruhebett (phys. I 7, 191 a 9; II l, 193 a 14. .34; de part. an. I 1, 640 b 23; de
gen. an. I 21, 729 b 17) und der Kasten (de gen. an. H 6, 743 a 25; met. IX
7, 1049 a 23) aus Holz, das Hermesbild aus Stein (phys. 17, 190 b 7; met. III 5,
Kritik lies aristotelisclien BeLrriffs dei' Matoiio. äöä
soll auch der Analogieschluss von dem Stoffe der Kunsterzeug-
nisse auf die Materie der Naturdinge führen : denn wie zur Bild-
säule das Erz oder zum Bette das Holz, so verhält sich die Ma-
terie zur Wesensform ^). Das Kunsterzeugnis aber entstellt un-
ter dem Einflüsse der bewegenden Ursache und aus einem
solchen Stoffe, welcher in seiner wirklichen Natur und in seinen
wirklichen Zuständen die Vorbedingungen dafür bietet, dass durch
die Verbindung mit einer andern Bedingung in ihm ein neuer
Zustand entwickelt werde und so etwas Neues entstehe. Die
Möglichkeit dieses neuen Zustandes ist, abgesehen von der bewir-
kenden Ursache, in nichts Anderem begründet, als in der wirk-
lichen Natur, den wirklichen Zuständen des bestehenden Kör-
pers, Nur unser Denken^ welches von der Wirkung rückwärts
zur Ursache schaut, hebt diese Möglichkeit zu einem Neuen, ob-
schon sie nur in der wirklichen Natur des Bestehenden begrün-
det ist, als etwas Gesondertes, Eigentümliches heraus. So lange
das Denken sich dabei bewusst bleibt, dass diese gesonderte Er-
fassung nur seiner eigenen Abstraction angehört, liegt darin keine
b'reführung. Anders aber Aristoteles. Sein begriffs-realistisches Den-
ken giebt der Möglichkeit unvermerkt die Geltung einer eigenen Rea-
lität. Nicht so sehr in der wirklichen Natur des Bestehenden,
als in der hinzugedachten Möglichkeit, erblickt er den Grund
des Neuen ^).
Diese Hypostasierung der Möglichkeit gestattet es dem Ari-
stoteles nun auch, die Analogie des künstlerischen Gestaltens auf
die Entstehung der Natursubstanzen anzuwenden. Weil die Mög-
lichkeit für ihn zu einer selbständigen Realität und damit zu
einem Realgrund geworden ist, so kann er in ihr das Material
sehen, woraus die wirkliche Substanz geworden ist. Weil aber
sämtliche Elementarkörper, wie überhaupt sämtliche Natursub-
stanzen in voranschreitendem und rücklaufendem Flusse auf ein-
1002 a 22 ; V 7, 1017 b 7) oder Holz (met. IX 6, 1048 a 33), die Scliale aus
Silber (phys. Il' 3, 194 b 25; met. V 2, 1013 a 25), die Schwelle aus Holz oder
Stein (met. VIII 2, 1043 a 7), das Gerät aus Metall oder Holz (met. V 4, 1014
b 29—30), die Kugel aus Wachs (de gen. an. I 21, 729 b 17), der Ring aus Erz
(met. VII 10, 1035 a 13) u. s. w.
') S. S. 238.
"-) Vgl. hierzu die eingehenden und scharfsinnigen Bemerkungen von Hert-
ling's a. a. 0. S. 87 ff.
254 Dritter Al)selinitt. Aristoteles.
ander folgen, so fasst er jene M()glic]ikeit des Anderswerdens an
ilnicn als ihr lileihendes Substrat auf, welches zu allen Substan-
zen die Möglichkeit in sich trägt, oder welclies vielmehr die Mög-
lichkeit zu allem selber ist.
Das Schwankende des aristotelischen Begriffs der Materie
nmssle zutage treten, wenn derselbe mit anderen Begriffen in
Verbindung gebracht oder zur Erklärung des Goncreten verwandt
werden sollte. Die Unsicherheit des Aristoteles in diesen Fällen,
die mannigfachen Modificationen des * ursprünglichen Begriffes,
welche sich seiner Darstellimg unbemerkt unterschieben: alles das
übt eine bedeutsame Kritik an jenem Begriffe selbst.
Das wahrhaft Seiende ist für Aristoteles die Substanz
(ovOia). Er definiert dieselbe als das Sein, welches weder von
einem Subjecte prädiciert wird (logisch), noch einem Subjecte in-
häriert (physisch) '). Kann auch die Materie als Substanz be-
zeichnet werden ? '^) Zahlreich sind die St'ellen, an denen Ari-
stoteles die Frage bejalit. Kommen der Materie doch die beiden
Merkmale zu, durch welclte das eigentümliche Sein der Substanz
im Gegensatz zum Accidens bestimmt wird. Sie ist das Substrat
der Form, für welches kein anderes Substrat mehr erforderlich
ist ^). Sie ist ferner das Subject, von dem die weiteren Bestim-
mungen ausgesagt werden '^). Sie ist darum Substanz ''), wie die
Form und wie das aus Materie und Form Zusammengesetzte"). Aber
wenn der Materie auch die Eigentümlichkeiten des substan-
tialen Seins zukommen, so fehlt ihr doch das eine: sie ist über-
haupt kein Sein im vollen Sinne. Dieses giebt vielmehr erst die
verwirklichende Form. Aus diesem Grunde ist die Form, bezw.
') cat. 5, 2 a 11-13. Vgl. Waitz zu .1. Stelle (p. 281-284). Trendelen-
burg, Gesch. (1. Kategorienlehre, S. 53 ff. Zeller, 11-'' b, 30.") f.
-) Oscar. Weissenfeis, De casu et substantia Aristotelis. Berlin 1846. S. 15 -
34: De materiae et substantiae Aristoteleae nexu.
•') uiet. VIII 2, Km h 9-10. Vgl. met. I 4, 985 b 10; 9,992 b 1; VIII 1,
1042 a 13; phys. II 1, 193 a 9-28.
■*) met. VII 3, 1029 a 23-24. Vgl. VIII 2, 1043 a G.
") Vgl., ausser den Anni. 3—4 und Anm. 6 citierten Stellen, inet. VIII 4,
1044 a 15; IX 7, 1049 a 35-31;; S. 1050 b 27; XIII 2, 1077 a ,35"3(;; auch de
gen. et corr. I 5, 321 b 19 ff.
«) de an. II 1. 412 a 7—9; 2, 414 a 15-1(3; met. VII 3, 1029 a 2-3:
10, 1035 a 2; VIII 2, 1043 a 5-19. 26—28; XII 3, 1070 a 9—13 (wozu vgl. S.
231 Anm. 2). b 13-14.
Kritik il. aristotelischen Begr. ']. iVIal ; das Sciiwaiiken des Arist. 25.')
da.s aus Materie und Fonu Zusaiiinieijge.setzte, in liühereni Maa.sse
Substanz als die Materie ^). Darum werden an anderen Stellen
die Begriffe Substanz und Materie einander entgegengestellt ^)
und bloss zwei Bedeutungen der Substanz anerkannt, die Form
und das aus Materie und Form Zusammengesetzte ^).
Freilich sucht Aristoteles zu vermitteln. Er verwendet auch
hier die Unterscheidung des wirklichen und des möglichen Seins,
welche ihm zur bequemen Formel geworden ist. Die Materie
ist Substanz der Möglichkeit nach^). Aber was sollen wir uns
unter einer bloss potentiellen Substanz, einem Anundfürsich-
seienden, welchem die Wirklichkeit noch fehlt, denken?"')
In der That hat auch Aristoteles, wo er die Materie als
Substanz bezeichnet, gewöhnlich nicht eine solche bloss poten-
tielle Substanz im Sinne. Gerade an der Hauptstelle, an welcher
er zeigen will, dass auch die Materie Substanz sei, gebraucht er
als Beispiel Holz und Stein, welche für die Schwelle, Ziegel und
Holz, welche für das Hans, das Wasser, welches für das Eis Ma-
terie sei; ferner die Luft, in der die Luftstille, das ]\Ieer, in dem
die Meeresruhe sich finde''). Ahnlich ist es an den übrigen Orten "').
An die Stelle der wahren materia prima, die nur unbestimmtes
mögliches Sein ist, ist hier also bereits ein concreter Stoff getre-
ten, d. h. ein wirkliches Seiendes, welches nur in Beziehung auf
eine Aveitere Stufe der Entwickelung als Materie- bezeichnet wer-
den kann.
1) met. VII 3, 1029 a 27—30. Vgl. phys. I 9, 192 a 5, wo Aristoteles die
Materie syyvs y.ul ova/ai- Tims nennt.
-) de cael. I 9, 278 a 19; meteor. IV 12, 389 b 28-29. 390 a f. (]; de
part. an. 1 1, G41 a 26-27; met. IX G, 1048 b 9; XII[ 8, 1084 b 19-20.
•') met. VII 15, 1039 b 20-22.
■•) metaph. Vill 1, 1042 a 26: iati (f ovaln t6 vTroxeijuevor, ü/J.iog juev i;
"•^1], . . , a'AAfj)f ()■' ö Aoyoc xal i] fiOQ^tj, . . . tqitov (fe lo ix tovti»i\ C. 2, 1042 b 9
iTTti iV tj iLtfv WC r,7oy.fiii£vr) xal wg v?.tj oi'ai'n 6ino?.oyf7Tai, cu'tt, if iariv i] ih-i'd ii n ,
?.oi7i<'n' tjjv (()s ii'f(>'ynai' orai'uv Tcnv aiaffi^Tiüv fi/if?r ii\' tcijiv.
") Zeller 11'=' b, 349.
**) met. VIII 2, 1043 a 7 ff. Man beachte, dass Aristoteles nach AnCülirung
dieser Beispiele schliesst (a 2(>): ifarf^rh- ilt) tx löiv tiftrmtvmr ris i) ula&iiTi]
ura/u ioil y.ai Tiing, woraul' die Dreiteilung der Substanz wie in Anni. 4 fulgt.
') Z. B. met. VII 3, 1029 a 23 ff. vgl. mit a 3 ff.: das Erz als Materie für
die Bildsäule; met. I 4, 985 b 10: der Urstuff im Sinne der lonier; met. IX 7,
1049 a 35-3(5, vgl. mit a 17 ff. (Holz, Erde, Luft) etc.
25G Dritter Alisclmht. Aristoteles.
Nur ein einziges Mal wird der Begriff der möglichen Sub-
stanz auf die Ict/Je Grundlage alles Körperlichen, die blos poten-
tielle Materie, angewendet i). Aber hier wusste Aristoteles die
Substantialität der Materie nur durch den Hinweis darauf zu
retten, dass dieselbe ja niemals ohne Form existiere ^). Darin
aber liegt das Zugeständnis, dass die erste Materie als solche
überhaupt keine Substanz sei.
Demselben Schwanken begegnen wir hinsichtlich des Begriffes
des Nat urp rincipes , der (pvöig^). Stellen, an denen die Ma-
terie neben der Form als Naturprincip bezeichnet wird*), stehen
andere gegenüber, an denen ihr ausdrücklich dieser Charakter
abgesprochen wird. AVo aber der Materie die Geltung als Natur-
princip zuerkannt wird, hat Aristoteles wiederum durchweg die
Materie im Sinne eines concreten Stoffes im Auge •''). Nur zwei-
mal scheint er die völlig bestimmungslose erste Materie als die
der Form „zugrundeliegende Natur" [r] tinoxfifurrj (fvoig) zu be-
zeichnen ^). Doch dürfte hier das Wort „Natur" welches auch
sonst seine eigentümliche Bedeutung gänzlich verloren hat und
zur blossen Umschreibung verwandt wird '), wohl als Ausdruck
der Verlegenheit zu betrachten sein, wozu Aristoteles, da er
die Sache doch einmal bezeichnen musste, als zu dem allgemein-
sten und unbestimmtesten griff. Den Begriff des Naturprincipes
») de gen. et corr. I 3, 317 b 23 ff.
') S. S. 235 tr. 2h±
'■') Vgl. E. Hardy, Der Begriff der Physis in der griet-hischen Pliilosopliie.
1. Tlieil. Berlin 1884. S. 19(5 f. J. Schmitz, De if,raKOi apud Aristotelem nu-
tione eiusque ad animam ratione. Bonn. 1884. S. 10 ff.
') pliys. II 2, 194 a 12—13; 8, 199 a 30- 31. Vgl. Anm. 5.
'■) Vgl. phys. 11 1, 193 a 9. 28 (Holz, Wasser, Erde u. dgl); de an. II 7,
418 i. 31 (das Durchsichtige); de respir. 14, 477 h 1(5. 19 (Wachs, Eis); met. 1
8, 988 b 22 (Urstoff der lonier) ; V 4, 1014 b 2G. 33 (Erz, Holz u. s. w.) ;
1015 a 7 (Was.'^er); "2(5, 1024 a 4 (Wachs, Wasser). Ebenso ist auch phys. II
2, 194 a 12-13 (s. die vorige Anmerkung) das concret Stoffliche im Gegen-
satz zur mathematischen Form gemeint. Auch phys. I 8, 191 b 34 und II
8, 199 a 30—31 (s. vor. Anm.) ist mindestens an das körperlich Stoffliche mit-
gedacht, da in dem ganzen Zusammenhange der betreffenden Stellen diese
Auffassung herrscht.
^) de gen. et corr. I (3, 322 b 19; phys. I 7, 191 a 8. Aber selbst bei die-
sen Stellen ist die ausschliessliche Beziehung auf die materia prima nicht
durchaus sichei-.
"; Vgl. Bonitz, Index Aristotel. 838 a 8 ff.
Kritik des arist. Begr. d. Materie; das Scliwanlcen des Arist. 2ä7
im eigentlichen Sinne, d. h. als des inneren Piincipes der Thä-
tigkeit ^), kann er dagegen auf ein solches völlig bestimmungs-
loses Etwas nicht anwenden. Derselbe nuiss vielmehr der Form
und dem durch diese bereits bestimmten Seienden vorbehal-
ten bleiben 2).
Unzulänglich ist der Versuch des Aristoteles, auch hier durch
eine Unterscheidung zu vermitteln. Naturprincip im eigentlichen
Sinne soll die Form sein, die Materie dagegen, insoweit sie die
Form aufnimmt ^). Er erkennt damit an, dass die Materie nicht
an sich, sondern als Teil der zusammengesetzten Substanz Natur-
princip sei. Das aber steht nicht in Frage, sondern was die Ma-
terie an sich ist.
So zeigt sich hier, dass die zwei Versuche, das Problem
des Werdens zu lösen, von denen Aristoteles im ersten Buche
der Physik spricht 4), nicht zu einem einstimmigen Resultate füh-
ren. Wenn nach dem einen die Materie ein an sich Seiendes
und nur beziehungsweise Nichtseiendes, nach dem andern ein an
sich Nichtseiendes und nur der Möglichkeit nach Seiendes war,
so hat sicli nunmehr ergeben, dass beide Auffassungen nicht mit
einander vereinbar sind. Nach der ersten Auffassung wäre
die Materie bestimmungsloser, aber an sich schon wirklicher
Stoff, gleich dem Stoffe, welcher dem Künstler zur Gestaltung
vorliegt ; nach der zweiten wäre sie an sich überhaupt noch
nichts Reales. Zugleich hat sich gezeigt, das nur die letztere
Auffassung von der Consecfuenz der Theorie zugelassen wird,
während die erste, wenn wir folgerichtig denken wollen, durch-
aus zurückgewiesen werden muss. Allein in Wirkliclikeit, fanden
wir, wird Aristoteles durch die Natur der Sache doch immer
wieder auf diesen ersteren Begriff zurückgedrängt.
In besonderem Maasse ist das nun der Fall, wenn er den
Begritf der Materie zur Erklärung des Einzelnen in der Natur
verwenden will. Hier ist er nicht imstande, weder an dem
1) phys. 11 1, 192 b 20—23. Vgl. II 7, 198 a 35 ff.; de cael. I 2, 2ü8 b
16; III 5, 304 b 13-14; de an. 11 1, 412 b 16—17; met. V 4, 1015 a 13-15.
-) phys. 11 1, 193 a 36— b 3; de part. an. I 1, 640 b 28-29. 642 a 17—22.
Vgl. auch phys. II 2, 194 a 28—30, wo die ifraii als Tf'Aof und ov i'vexa be-
zeichnet wird, was beides nnt der Form zusammenfällt.
■') met. V 4, 1015 a 13-16.
*) S. S. 212 f.
Baeuiiiker; Das Problem cl>^r Materie etc, 17
'258 Dritter Al.sclinitt. ArisLcteles.
Sein der Materie als einer blossen Mös^Miclikeit, noch an ihrem
Verhalten als einem bloss passiven feslzuhalton.
Am dentlichslen hegl das Erste zutage. Obschon Aristoteles
den Bcgrilf der Materie als eines bloss möglichen Seienden tlieo-
retiscli mit voller Klarheit entwickelt, so vernachlässigt er ihn
praktisch doch fast vollständig. Es ist in der That auffällig, dass
derjenige Begriff der Materie, welchem jede systematische Dai-
stellung seiner Philosophie eine fundamentale Bedeutung zuschrei-
ben muss, bei ihm selbst so überaus selten wirklich Verwen-
dung findet. Ohne weitere Bemerkung wird vielmehr jener Be-
griff in weitaus den meisten Fällen durch die fassbarero Vor-
stellung eines concreten Stoffes ersetzt. Beispiele für diese Ver-
dichtung des Begriffes liegen in Fülle vor^).
Mann könnte einwenden, dass hier nur von der unmittelba-
ren Materie {saxärrj vXrj) die Bede sei. Allein wir sahen, dass
') Ausser dem Vielen, was in der Art schon vorgekommen ist (s. z. B.
S. 255 Anm. G ii. 7, S. 25(5 Anm. 5), sei auf folgende Stellen aufmerksam ge-
macht: de gen. et ctUT. I 5, 321 1) 19—21: sowohl die Materie, wie die Form
werden Fleisch, Knochen u. dgl. genannt. Ehd. b 28—31: bei den äi-uaon,-
/ntQij ist die Form deutlicher von der Materie verschieden, als bei den
6/uioio,ut(>'ij. Ebd. 1 7, 324 b 6 ff: die Materie (vgl. a 21) ist bei Gegensätzen
als gemeinschaftliche Gattung dieselbe, wie z. B. (323 b .33) die Gattun-
gen aööiua, ;fy,"ü'f, YX"^n<^'- Meteor. IV 11, 389 a 29 — 31: das Trockene und Nasse
ist als Tia&tiTixo'v Materie für das Warme und Kalte. Metaph. Vit 17, 1041 b
5—7: Steine Materie für das Haus. Met. VIII 4, 1014 a 18-19: das Süsse und
Fette Materie für den Schleim, das Bittere für die Galle. Ebd. 1044 b 31—32.
1045 a 2: das Wasser, nicht iler Wein, Materie des Essigs, das Wasser Materie
für Wein und Essig (nach der strengen Consequenz dürfte doch auch nicht
das Wasser, sondern nur die bestimmungslose materia prima dafür in An-
spruch genommen werden). Ferner die Beispiele für die Materie met. XII 4,
1070 b 19-21. 28— 29 (Oberfläche, Luft, Körper, Steine). Die Materie' des
Menschen bilden nach met. Xlt i"), 1071 a 13—14 Feuer und Erde, nach de
cael. I 9, 278 a 33 Fleisch und Knochen (nach Aristoteles informiert die Seele
keineswegs unmittelbar die materia prima) ; nach anderer Auffassung die Ka-
tamenien (met. VIII 4, 1044 a 35; XII (>, 1071 b 31; de gen. an. I 19, 727 b
31-32; 20, 729 a 28—34; II 1, 732 a 9; 4, 738 b 20 u. ().). — Hierher gehört
es auc.li, wenn nach Aristoteles die Teile eines Organismus, überhaupt eines
Zusammengesetzten, sich wie dessen Materie verhalten und durch die Form
nur ihre innere Einheit gewinnen sollen; vgl. VI! 16, 1040 b 6—10; XIV 2,
lOSS b 14—16. 27 (^s. oben S. 231 Anm. 2).
Kritik lies arist. BeKV. <1. Materie; das Schwanken des Arisl. 2;")!»
Aristoteles ganz gegen die Gonsequenz seiner Theorie auch als
erste Materie überall einen körperlichen Stoff aufführt ^).
Dieser concrete Stoff aber ist verschieden je nach den Din-
gen, um deren Hervorbmgung es sich handelt ^). Nicht jedes
kann in jedes umgewandelt werden, sondern nur das, was seiner
Natur nach dazu geeignet ist 3). Die Materie ist, wie Aristoteles sich
ausdrückt, etwas Relatives'^). Dem Empedocles gegenüber'') be-
tont er, dass jedes nur aus seinem eigentümlichen Keime ent-
stehe, aus dem einen ein Ölbaum, aus dem andern ein Mensch f').
Gegen die platonische Lehre von der Seelenwanderung macht er
geltend, dass für jeden Körper eine eigentümliche Wesensform
bestimmt sei "').
Offenbar ist die Anschauung, als liege dem Werden eine be-
stimmungslose, indifferente Möglichkeit zugrunde, die von der
einen Wesensform zu einer andern ihr ebenmässig gleichgiltigen
übergeführt wird, hier völlig verlassen. Der Beitrag, welchen die
Materialursache am Wei'den leistet, beruht nicht auf ihrer be-
stinnnungslosen Möglichkeit, sondern auf ihrem wirklichen Sein^).
Man möchte vielleicht sagen, die Notwendigkeit einer be-
stimmten Materie für ein bestimmtes Product habe ihren Grund
in einem Naturgesetz, nach welchem die einander aus der materia
prima verdrängenden Wesensformen der Dinge nur in einer
festen Ordnung einander ablösen. Allein von diesem — sach-
') S. S. 211 f.
^) niet. VIII 4, 1044 a 17 — 18: ean m oixeüt {v/~i]) exüarov. V|,'l. de an. II,
2, 414 a 2.5—27; de pari. an. II 1, 64G a .34—35; niet. XIT 5, 1071 b 1 und
Bcnitz z. d St (p. 487); auch nieteor. IV 2, 379 b 20.
••') Vgl. de gen. an. II G, 743 a ;2l-22.
■*) phys. II 2, 194 b 9: rmr tiqÜ? n 7; vir,' aüxp '/«(< u<Ut a'/lr, vir,. Ülier
den Sinn die.ser .Stelle vgl. Fr. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung des
Seienden nach Aristoteles, Freiburg i. Br. 18G2. S. 209.
'") de part. an. 1 1, CiO a 19—23.
■■) phys. II 4, 19G a 31-.33; de part. an. I 1, G41 b 2G— 28; II 1 GlG
a .33—35. Andere Beispiele im folgenden Abschnitt, S. 2G7 f., 272 f.
') de an. I 3, 407 b 23-24. Vgl, II 2, 414 a 25-27. Ebenso das _ 'id,ov
(nfos des Menschen, met. XII .">, 1071 a 14.
■'*) Zum Vorstehenden vgl. auch Gust. Schneider, de causa finali Aristotelea.
Berolin. 18G5. S. 44 ff. B. Kucken, Meth. d. Aristotel. Forsch. S. 70 ff.
17*
'2tiÖ britter Abschnill. Aiisloleies.
lieh ril)ng('ns iiir/.ulünglichen — Ausweg vermittelst der Berufung
auf ein unerklärbares, grundloses Naturgesetz, den Spätere ein-
schlugen, fhidet sich bei Aristoteles keinerlei Andeutung,
Der Verdichtung der Materie zuni körperlichen Stoff ent-
si)richt die VerfUichtigung der Wesensform zur blossen Qualität»
Es ist bedeutsam, dass diese Unklarheit gerade da sich einstellt,
wo der Begriff der ersten Materie im Sinne einer gänzlich be-
st innuimgslosen Möghchkeit einmal wirkhch inbetracht konunt,
nämlich bei der Frage nach der Constitution der Elemente. Diese
sollen aus der gemeinschaftlichen Materie durch die Unterschiede
des Warmen und Kalten, Trocknen und Nassen gebildet wer-
den ^), also durch blosse Qualitäten ^). Der ursprüngliche Begriff
der Materie wird hierdurch zerstört. Denn sind die Differenzen
der Elemente blosse Qualitätsunterschiede, so müsste nach ari-
stotelischen Principien das, was ihnen zugrunde liegt, schon Sub-
stanz und Körper, der Wandel der Elemente —wie Aristoteles
gelegentlich zugiebt^)— bloss qualitative Veränderung sein. So
liegt die stoische Auffassung der Materie als des qualitätslosen
Körpers, obwohl sie von Aristoteles im voraus zurückgewiesen
wurde, doch in der Consequenz seiner Theorie der Elemente ^),
Spätere Anhänger der aristotelischen Lehre haben dieser
Consequenz freilich zu entgehen gesucht. Jene Qualitäten sollen
nicht die Wesensform selbst sein, sondern die Art, i.i welcher
die Wesensform sich äussert. Allein ein solches Auskunftsmittel
widerstreitet den bestimmten Worten des Aristoteles, in denen er
jene Qualitäten als die Form selber bezeichnet •'•).
Es ist also dem Aristoteles nicht möglich gewesen, den Be-
') S. S. 242 f.
■^) 7Ztt&7„ de gen. et corr. I 4, 319 b 21.
•') Es steht in der That mit jener Fassung der Differenzen der Elemente
als Qualitätsunterscliiede, welche in der Fassung der speciflschen Artsmerkmale
als Qualitäten ein Analogen findet (vgl. Trendelenburg, Gesch. der Kate-
gorienlehre S. öG ff.) ganz im Einklänge, wenn Aristoteles gelegentlich für
die Entstehung der Elemente aus einander den Namen d'/loimaii, qualitative
Veränderung, gebraucht: de gen. et corr. II 4, 331 a 10 (umgekehrt wird de
cael. IV 3, 310 a 24 die d'/loimaii als i) y.ui' fuloQ xivr,aiQ bezeichnet).
') S. 238 ff.
^) met. XII 4 lUTO 1) 11: unv lu'attiiimi' aiDUÜKoi- m^ fjfr f i if u <; 10 &i(ifiöv.
de gen. et corr. I 3, 311S b l(j: tu lur Oiouih^ y.aTi,yo(>ia m yal fufos. Vgl. ebd.
I 7, 324 bl7- 19.
Kritik des arist. Hcltp. d. Materie. Functidiien der Mat. 2<)1
griff der Materie irn .Sinne eines potentiellen Seins fest/.niiallon.
Eine Analyse der Functionen, welche von ihm der JMaterie bei-
gelegt werden, wird zeigen, dass ihm dieses auch hinsichtlich
ihres Verhaltens nicht gelungen ist, dass er vielmehr der Ma-
terie, wie ein eigenes Sein, so auch eine eigentümliche Wirkungs-
weise zuschreibt.
Damit aber hat uns Aristoteles zu derjenigen, von der ur-
sprünglichen durchaus abweichenden, Auffassung geführt, in wel-
cher wir zu Anfang dieses Abschnittes den bleibenden Siim seines
Begriffes der Materie erblickten.
3. Functionen der 3Iaterie.
Die Functionen, welche Aristoteles der Materie zuschreibt,
beziehen sich teils auf ihr Verhältnis zu dem andern Bestandteil
der Substanz, der Form, sowie zum Accidens, teils sind sie all-
gemeinerer Natur und betreffen das ganze Naturding. Soweit die
dahin gehörigen Sätze des Aristoteles ihre Begründung in den
voraufgehenden Erörterungen über den Begriff der Materie bereits
gefunden haben, werden wir uns möglichst kurz fassen, um desto
mehr Raum für die Puncte zu gewinnen, welche unserm bis-
herigen Entwürfe neue Züge hinzufügen.
a. Materie und Forui.
1. Materie und Form verhalten sich, wie das Aufneh-
mende (^exTixöi) und das Aufgenommene i), oder mit einem
amlern Bilde : das Verhältnis von Materie und Form gleicht dem
des Begrenzten oder ümfassten [rtegiexf^ineroi') und des Be-
grenzenden oder Umfassenden (rreQu'xor) ^).
2. Weil die Materie Vorbedingung der Form ist, so ver-
halten sich beide wie ^Möglichkeit und Wirklichkeit»).
3. Sowenig die Materie ohne Form (als xf^Q^Oröv) existieren
') de gen. et corr. I 4, 320 a 2-4 ; 10, 328 b 11; de an. II 2, 414 a 9—
10; met, X 4, 105.Ö a 29—30. - De cael. III 8, 30G b 19 wird der im Timaeus
(.51 A) gebrauchte Au.sdnick rJ navtffyfc gebilligt.
■'] phys. III 7. 207 a 3.5-b 1; IV 2, 209 b 1 11; 4, 211 b 10-12; de cael.
IV 4, 312 a 12—13.
^) de an. II 1, 412 a 9—10: fVrrt rf ■,] ßiv vlti ifvvai.iis, t6 ä' eidog hxeXs-
Xfia. phys. 11,193 b6-8; de an. 2, 41 416-17: inet. VIII 2, 1042 b 9—11 u. ö.
2(i2 Dritler Ahsdiiiilt. Arisluldcs.
kann '), süwcnij^ kann in den der Veränderung unlerworrenen
Sinnendingen eine Form ohne Materie bestehen ^).
4) Materie und Form dürfen nicht als für sich bestehende
Substanzen betrachtet werden^ die nur üusserlich zusannnentreten.
Anderenfalls könnte kein einheitliches Ding {töö's n) aus ihnen
entstehen ^).
5. Weil die Eigentümlichkeit von Materie und Form darin
besteht, dass beide gegenseitig auf einander hingeordnet sind '"'),
so sind ])eide nur Teil [)rincipien, welche durch ihr Zusammen-
treten die Gesamtsubstanz bilden'*). Diese Gesamtsubstanz
ist eine wahre Einheit, weil die (unmittelbare) Materie der
Möghchkeit nach dasselbe ist, was die Form der WirkHchkeit
nach ist").
1) S. S. 2.37.
■') phys. IV 2, 200 1) 2;J; de gen. et coir. I 7, S'ii h 18—22.
Nalürlich verstösst es nicht gegen unsern Satz, wenn Ari.stoteles den
Formen ein vor- oder nachbildliclies Sein ohne Materie im er-
kennenden Geiste zuschreil)t (vgl. z. B. met. VII 7. 1032 1) 12; de
an. III 8, 4SI b 29. 432 a 10); denn dort existiert die Form nicht als sinn-
fälliges Ding. Ebensowenig gehört die Frage nach der selbständigen Existenz
des vovi hieher. Eher könnte man einwenden, dass nach de gen. et corr. I
10, 328 b 8—13 bei der Mischung von Kupfer und Zinn zu Messing das Zinn
sich als eufos verhalten und w? ncx&os n avew vkijg — ;dso als für sich be-
stehende Form - bei der Mischung fast gänzlich verschwinden soll, nachdem
es dem Kupfer nur eine andere Färbung gegeben. Allein hier ist das Zinn
nur als nä&os ohne eigene vlti bezeichnet; sein dexrixöv ist nach Zeile 11
eben das Kupfer. — Auf die ganz corrupte Stelle de gen. et corr. I 5, 322 a
28—31, an der von einem e?(Us apiv vlrjt; beim Wachstum die Rede ist, kann
ich hier nicht eingehen.
3) met. VII 8, 1033 b 1<J— 24. Vgl. Bonitz z. d. St., p. 327.
*) met. VIII 6, 1045 a 33 und Bonitz z. d. St., p. 375.
'') met. VII 11, 1037 a 30: t' avvolog ovaia (die von Bekker gegen Alexan-
der festgehaltene Lesart von A^ avvotios ist mit Bonitz u. (Ihrist zii verwerfen).
^) met. VIII 6, 1045 b 17 n. : ean d', manfQ (VQr,Tai,rj laydrij rkrjxal'i^ ixoQtfjijTavTo
xal ev, x6 ,uev (fvvä/utt, z6 tf' tvfQyfia (Text nach Bonitz). Darum ist es dasselbe, zu
untersuchen, was Ursache des Einen sei, und was Ursache, dass das Eine ist;
i'v yÜQ Ti ex-xaro», xal ro (fwciimit xal t6 IvtQytia ev jKni iötiv. Ursache der Ein-
heit wie des Seins ist darum die bewegende Ursache, welche das Ding aus
der Möglichkeit zur Wirklichkeit führt. - Natürlich will Aristoteles damit
nicht sagen, dass zwischen der letzten Materie und der Form kein sachlicher
Unterschied stattfinde, dass vielmehr Materie und Form etwa nur zwei
Auffassungsweisen von demselben Dinge seien. Das würde seinem ganzen
Systeme wie bestimmten Aussprüchen (z. B. met. VIII 3, 1043 1) 10—13 ; vgl.
Bonitz z. d. St., p. 368) widerstreiten. Nach ihm sind vielmehr Materie und
Functionen der Materie, a) Materie und Form. 263
(i. Das gegenseitige Werl verliüll nis von Form und Materie
ist dieses, dass die Fonn gegeni^iber der Materie in allen Bezie-
iiungen das Vorzüglicliere ist. Sie ist mehr Sein^), inetir Sub-
stanz 2), mehr Natur 3), mehr Ursache-^ ) als die Materie, ist ihr
gegenüber etwas Besseres und Göttliches-''). Wenn Aristoteles
auch die Ansicht der Platoniker, dass die Materie das Böse (;«<xf>j)
selber sei, verwiift, da dann das Böse die Potenz des Guten sein
müsse *5), so sollen doch Form und Materie wie das Schöne und
das Ilässliche gegenüberstehen'^). Wegen dieses ihres höheren
Wertes ist die Form für die Materie etwas Begehrens wertes ^),
wie Aristoteles, den Begriff der Materie verdichtend und die Na-
tur vermenschlichend, sich ausdrückt. Die Materie begehrt
nach der Form") als ihrer Ergänzung, wie das Weibliche nach
dem Männlichen '0).
Es ist das ein Punct von fundamentaler Wichtigkeit fiir das
aristotelische System. Da die Gottheit als lautere Energie die
oberste der Formen ist ' '), geht aus jenem Begehren der Materie
nach der Form das Verlangen hervor, mit dem die ganze Welt
der Gottheit als dem Geliebten sich entgegenbewegt, und in dem
das Wirken der Gottheit auf die Welt besteht i^).
Form dasselbe in sachlicii verschiedener Weise, die Form als Wirklich-
keil, und die als SubjecL der Form auch unter dieser noch bleibende Materie
als Möy;lichkeit.
') met. VII 3, 1029 a 5 — 6: rd fuloi; tTjs vkr,? n^ÖTUiav y.al fxaXXov ov.
') s. S. 255 Anm. 1.
•■') s. S. 257 Anm. 1 u. 2.
*) de gen. et corr. II 9, 335 b 34—35.
"•) phys. I 9, 192 a 16—17; de gen. an. II 1, 732 a 3-4.
«) met. XIV 4, 1091 b 32-1092 a 5.
') phys. I 9, 192 a 23.
s) Ebd. a 17.
») Ebd. a 18—19. 20—23. Dieses , Begehren" der Materie hat die Ausleger
vielfach beschäftigt. Giovanni Francesco Pico da Mirandola, des bekannteren
Giovanni Pico Nette, hat eine eigene Schrift, De appetitu primae materiae
libellus, verfasst, in welcher er die Ansichten des Themistius, Simplicius,
Avicenna, Averroes, Albertus und Thomas über diesen Punct bespricht (in:
loannis Pici opera. Basil. KiOl, Bd. II. S. lOG— 114).
^0) phys. I 9, 182 a 2^—^25.
"} met. XII 8, 1074 a 35 — 36: to de xi »jv tivai ovx eyii vXr,v t6 ngwrov,
1-) met. XU 7, 1072 a 26— b 14. Vgl. Zeller II ^ b, 373 ff. Ein Eingehen
auf die misslungenen Versuche, dem aristotelischen Gotte noch eine andere
Art des Wirkens zu vindicieren, ist nicht dieses Ortes.
264 Dritter Abschnitt. Aristoteles.
I>. Materie und Acci<lens.
1 . Wie nicht ohne Fürni, so kann die Materie nicht ohne
Accidenlicn sein, inid zwar:
a) nicht ohne ({nalitative ßestinini ungen (rcdl^tj)^),
b) nicht ohne eine bestimmte Quantität (fxtyeO^og)^).
^. Die Quantität ist nicht eine feste Eigenschaft der Ma-
terie in der Art, dass derselben Materie stets die gleiche Quan-
tität, zukäme. Dieselbe wird vielmehr durch die Form bedingt
oder doch mitbedingt. Wenn aus einem^ kleinem Quantum Wasser
ein grosses Quantum Luft entsteht, so ist das Grössenwachstum
nicht durch Ilinzunahme eines weiteren Quantums Materie erfolgt,
sondern es ist die vorher actuell kleine Materie durch die Annahme
der neuen Wesensform aus einer potentiell grossen zu einer
actuell grossen geworden =*).
3. Das Verhältnis von Materie und Quantität ist verschieden
beim substantialen Werden (yersaig und (fOoQd), beim Wachsen
und Abnehmen (av^riOig und (fl>iGig), bei der Verdichtung und
Verdünnung {tivkvwOiq und fiarojaig).
a) Bei der substantialen Veränderung beruht die Entste-
hung des bestinnnten Quantums auf der Actuierung der völlig
quantitätslosen Materie {df.i€Ys0^rjg vXrj) durch eine bestimmte
Quantität. Wenn z. B. aus Wasser Luft entsteht, so geht mit
^) de gen. et COrr. I 5, 320 b 16 — 17: rj vXt], ijv oviUnoi' ävev nä&ovg oiöv
t£ (Lvcu ovif avfv iJiOQ^iTj?. Vgl. auch Anm. 2.
^) de gen. et COrr. 1 5, 320 b 22 — 25 : hiei d'' iarl xal ovaia^ vXtj amfiniix^g,
ao'ijuarog rf' ijdtj roiovdi (ffw/^ia yaQ xoivuv ov(fev), ij avry xal fieye&ovg xai Ttä&ovs
tati, TiS jUfV Xöym ^loQidTi}, zÖtiui (f' ov imQiaxri, et fjLrj xal za nä&tj j^w^iard. Jeder
Körper hat drei Dimensionen : de an. II 11, 423 a 21 — 22.
^) phys. IV 9, 217 a 26—31. Man wird hier einwenden, dass aus wenigem
Wasser auch eine kleinere Quantität Luft hervorgeht, als aus vielem Wasser,
was doch nicht ausschliesslich auf Rechnung der Form gesetzt werden kann.
Indes würde Aristoteles wahrscheinlich entscheiden, das geringere Quantum
Wasser sei in Potenz zu einem geringeren Quantum Luft, das grössere zu
einem grösseren, und damit dann die Sache für abgethan erachten. In der
That beruliigt er sich in einem analogen Falle, bei der Frage, warum aus
einem l^estimmten Quantum Nahrungsstoff beim Wachstum ein bestimmtes
Quantum Fleisch oder dgl. werde (de gen. et corr. I 5, 322 a 19—22), bei die-
ser bequemen Formel — wenn man nicht etwa die Constatierung der That-
sache, dass keine allgemeine Quantität existiere, sondern nur bestimmte
Quanta (a. a. 0. a 16—18), für eine Erklärung auch dafür halten will, dass
der neu entstehende Stoff gerade in dieser bestimmten Quantität auftrete.
Functionen der Materie, h) Materie und Accidens. 265
der Form des Wassers auch die QuauUtäl desselben verloren,
und die Quantität der Luft ist darum eine völlig neue, erst mit
der Form der Luft gegebene ^).
b) Beim Wachsen findet eine Zugabe zu der bereits beste-
henden Quantität statt. Wenn z. B. das Fleisch des Körpers
wächst, so geht die schon bestehende Quantität des Fleisches
ebensowenig verloren, wie die schon bestehende Form des Flei-
sches. Aber die aufgenommene Nahrung selbst verliert die Quan-
tität, welche ihr in ihrer früheren Form eigen war, und wird
durch die „Vermehrungskraft" des Körpers in ein bestimmtes
Quantum Fleisch verwandelt 2).
c) Bei der Verdünnung endlich wird, ähnlich wie bei der
suhstantialen Veränderung, ohne Hinzunahme neuen Stoffes die
vorher potentiell grosse Materie zu einer actuell grossen. Ent-
sprechendes gilt von der Verdichtung "').
4. Wenngleich die Materie an sich grösselos ist, so wendet
Aristoteles die Begriffe des Ganzen und der Teile doch auf
dieselbe an. Es geschieht das namentlich in seiner Lehre von
der Materie als dem Individuationsprincip*).
c. Allgeuieine Fiiuetioueii der Materie.
1. Schon aus der Ableitung des Begriffs der Materie ergab
sich''), dass dieselbe, weil sie zu entgegengesetzten Formen in
Möglichkeit sich befindet, Ursache des Werdens und Verge-
hens'^), der Vergänglichkeit '^) ist.
:2. Die Materie ist ferner passives^) Princip und als solches
1) de gen. et corr. I 5, 320 b32— 33.
') Vgl. S. 228 Anm. 3. Dort wurde auch bereits bemerkt, das.s die Grössen-
zunalime auf jedes Teilchen des Körpers Bezug hat, aber so, dass diese
gleichniässige Verteilung derselljen die Form, nicht die Materie des wachsen-
den Körpers betritft.
ä) phys. IV 9, 217 a 31 b 12.
*) S. unten S. 283 f. — ■'^j S. S. 225 ff. 235.
«) met. Viri5, 1039 b 27—31; VIII 5, 1044 b 27—29; [XI 12, 1068 b 10—
11]; phys. II 7, 198 a 20 u. ö.
') met. XI 2, 1060 b 25: r« '/ ev vltj (fdaQrd Trdrra. VII 15, 1039 b 30.
'^) de gen. et corr. I 7, 324 b IS : ?; (f vXr, ji vXrj 7iaa-r,riy.6v Ebd. 1 1 9,
o35 b 29 — 30: r^? ixev yäp r'/.rjc: t6 nda'^eiv iari xal to y.ivcTad-ai. Wie der Un-
terschied des Activen und Passiven auf die vier Elemente verteilt wird, s.S. 242
Anm. 6, 25S Anm. 1.
2(;(; Dritter Aliscliiiill. Arisfotoles.
7>ugleich Ursache der rassiviläl oder der A ITi ciorbarkeil der
Krirper*). Demi iiic.lil die <iei,aMisälze als solche werden nach
arislulehscher Lehre, wie wir sahen, vun einander atticicrt; viel-
mehr kann der eine Gegensal/. seine Wirknng nnr in dem Sub-
jccte des andern äussern, welches als unbeslitnmte Potenz auch
für eine andere Bestimmung, als die jedesmal vorhandene, die
Aufnahmefähigkeit besitzt '^).
Wetm so die Materie überhaupt das l'riticip der Aflicierbar-
keit nn allgemeinen ist, so liegt es in der besonderen Natur des
jedesmaligen Stotles ])egründet, dass der eine Körper in dieser,
der andere in jener Weise leidenstahig ist. Das Ölige ist brenn-
bar, das Weiche zusammendrückbar u. s. w. ^). Es begegnet uns
also auch hier die schon so oft hervorgehobene Verdichtung des
Begriffes des Materie,
Ein gegenseitiges Aiticieren, bei dem jeder Factor dem
andern gegenüber sowohl thätig wie leidend sich verhält, ist nur
bei solchen Dingen mr)glich, welche eine gemeinsame Materie
besitzen-^). Was dagegen mit dem Leidenden nicht dieselbe Ma-
terie hat, ist activ, ohne selbst zu leiden, wie z.B. die Heilkunst;
denn diese bewirkt die Gesundheit, ohne von dem Gesundeten
selbst eine Bückwirkung zu erfahren'').
Ist aber die Materie bloss aufnehmendes, leidendes Princip,
so kann sie die Form sicli nicht selber geben. Sie kann sich
nicht selbst aus der Möglichkeit zur Wirklichkeit führen, sondern
bedarf hierzu der bewirkenden Ursache. Nicht das Bolz
macht ein Bett aus sich, oder das Erz eine Bildsäule, sondern
der Künstler").
3. So wenig aber Aristoteles das Sein der Materie im
Sinne der blossen MögUchkeit festhalten konnte, so wenig bleibt
') de gen. et corr. 1 7, .324 b 5— (k öaa ff" iv v?.tj, Tiafh/nxci.
. -) S. S. 221. — '} met. IX 1, 104(i a 22— 2(;.
') de gen. et corr. I 7, 324 a .34 — b 10. Da die Miischung versrhiedeiier
Stoffe auf einer gegenseitigen Affection derselJjcn ;iuf einander beruht, kann
sie auch nur bei solchen Dingen slatltinden, deren Materie die gleiche ist:
ebd. I 10, 328 a 19—23.
*) de gen. et corr. I 7, 324 a 35— b 1. Darum isl iiucli die Heilivunst dem
Körper nicht i)eigemischt : ebd. 1 10, 328 a 23.
6) met. I 3, 1)84 a 21—27; de gen. et corr. II •.), 330 1) 24-35. Vgl. de gen.
an. II (J, 743 a 2(;: met. H G, 1071 1) 20-31.
(•) AllLifincinc FiiiK'liuiien der Malcrio Ihre ^^ls^-ivit;it. 207
ci-, wie sclioii oljcn lic'i'vorgehübeii wurdet), bei diesem rein pas-
siven Veiliallen der Materie stehen. AVie die blosse Möglich-
keit des Seins sich verdichtete zu einem wirklichen Sein, welches
die Vorbedingung für ein neues Sein enthält, so das rein passive
Vermögen des Leidens und Aufnehmens zu dem activen Ver-
mögen eigener Kraftäusserung.
Schon oben wurde hervorgehoben, dass nach Aristoteles
einer bestimmten r4attung von Dingen eine bestimmte Materie
entspricht. Der Grund war, dass nicht jedes Beliebige zur Um-
wandlung in ein Bestinnntes geeignet ist '^) Eine neue Stütze
erwächst jenem Satze, wenn das Ding in Beziehung zu seinem
Zwecke betrachtet wird, welcher seine Wesensform bestinmit,
ja welcher von Aristoteles gelegentlich mit der Wesensform sel-
ber identificiert wird-'). Damit nämlich das Ding seinen Zweck
erreichen und die ihm eigentümliche Thätigkeit vollziehen kann,
muss es aus einem Materiale bestehen, welches zur Erreichung
dieses Zweckes dienlich ist. So bedarf die Säge, welche das
Holz durchschneiden soll, scharfer und fester Zähne; diese können
nur aus Eisen oder einem ähnlichen Materiale und nicht etwa aus
Wolle oder Holz '^) hergestellt werden •'*). Das Beil, welches wir zum
Zerspalten benutzen, wird zu diesem Zwecke aus hartem Stoff,
wie Eisen oder dgl. '^) verfertigt. Ebenso sind für ein Haus und
die übrigen Werke der Technik, damit sie ihre Aufgabe erfüllen,
bestimmte Materialien erforderlich ''). Was aber von diesen Kunst-
gegenständen gilt, findet auch auf die Naturdinge Anwendung.
Auch der animalische Körper z. B. muss, um seine Functionen
vollziehen zu können, aus bestimmten Stoffen zusammengesetzt
1) S. S. 261.
■') S. S. 259 f.
•') phys. II 7, U>8 a 25—26; 9, 2(M) a 11-15; de an. II 4, 415 b 10—11.
Darum ist der Zweck (,das ov i'vfxa) um .so weniger offenbar, je mehi' der Cha-
rakter des Materiellen überwiegt. Die letzte Materie schliesst keinerlei Zweck
ein; dagegen tritt, derselbe um so mehr zu Tage, je höher die Form des be-
tretlenden Körpers steht: meleor. IV 12, 389 b 28-390 a 9. wozu vgl. J. B.
Meyer, Aristoteles Thierk'unde, S. 474 f.
*) met. VIII 4, 1044 a 27— 2fi.
«^ phys. II 9, 2(K) a 10—13; 28-29: b 5-8.
«) de part. an. I 1, 642 a 9—11.
') de part. an. I 1, 639 b 24-30.
268 Dritler Ali.sclinitl. Aristoteles.
sein '). Überhaupt Ix'durl' alles, was einem Zwecke dienen soll,
einer bestimmten Materie, die durch die ihr eigentümliche Wir-
kungsweise die Erreichung jenes Zweckes ermöglicht 2),
Aus dem Gesagten ergeben sich zwei Folgerungen. Einmal,
dass die Materie etwas zwar nicht an sich, wohl aber zur Errei-
chung eines Zweckes Notwendiges, eine conditio sine qua non ^),
ist. Aristoteles bezeichnet sie darum als das bedingungsweise
Notwendige (V? imoi/eOtMc ärayxaTov) ■*), im Gegensatz zu dem
schlechthin Notwendigen, d. h. dem, was immer ist und immer
gilt. Er kommt so auf die Ausdruc'kswelse des platonischen
Timaeus zurück, in welchem die Materie gleichfalls als die „Not-
wendigkeit", als das „Notwendige" eingeführl wurde ^). Mit Plato ^')
stimmt Aristoteles auch darin überein, dass er in diesem bedin-
gungsweise Notwendigen die Mitursache {avvaiziov) erblickt,
welche dem Zwecke als der eigentlichen Ursache zur Seite steht').
Wenn aber, so ergiebt sich zweitens, die Materie durch ihre
eigentümliche Bestimmtheit die Erreichung des Zweckes ermög-
licht, so ist dieses „Ermöglichen" bei Aristoteles nicht mehr die
bloss passive Potenz zum Aufnehmen einer Bestimmung ^). Es ist
im Gegenteil eine der Materie innewohnende Kraft, ein actives
Vermögen gemeint. Hatte Aristoteles ursprünglich active und
passive Potenz in der Art geschieden, dass die erstere der be-
^) de part. an. I 1, 642 a 11—13. Für manche Organe sind harte, für an-
dere weiche Stoffe notwendig (de part. an. II 1, 646 b 16—19; de gen. an. 116,
743 a 36 — b .'iy ; die Zähne z. B. müssen, um ihren Zweck zu erfüllen, aus
festen und erdigen Stoffen bestehen (de part. an. II 0, 655 b 8—12), u. s. w.
Vgl. auch unten S. 272 f.
2j phys. II 9, 200 a 30 32; de part. an. I 1, 6.39 b 26 ff. ; IV iJ, 677 a 17-19.
'^) de part an II, 642 a 8: o^y oiöv r' uviv rartin sivai. inet. V 0,1015
a 20: ov civev ovx ivfUtyiTai. Etwas abweichend inet. XII 7, 1072 b 12: ro ov
ovx avfv zu IV, wozu vgl. de gen. an. I 4, 717 a 15: 7iuv 7} <fvais 'ij ö'in tu
dvayxaiov noifT ij thn tu ßikTinv.
*) phys. II 9, 200 a 13-15. Vgl. de part. an. I 1, 639 b 21-26. Über den
Begriff der Notwendigkeit : Ferd. Kuettner, Quaestio, necessitatis quam detini-
tionem quem fontem ultimum Aristoteles statuerit.Berolin. lS.ö3.Eug. Pappenheim,
Quaestionis de necessitatis ajiud Aristotelem notione partes quaedam. Berolin.
1856. Zeller ir' b, 330 ff. 428 ff. Waitz zu Org. 83 b 38, II p. 3.58 ff Bonitz
zur Metaph. p. 231-233. S. auch oben S. 122, 2.
•'^) S. S. 117-124. — «) S. S. 119 f.
■) inet. V 5, 1015 a 20 b 3.
**) Wie das bei den Ausführungen S. 224 die ständige Vorau.ssetzung bildete.
c) Alk'. Fuin-tioncn ricr Mut. Die Mat. als Notwendigkeit. 2(')it
wegenden, die letztere der Materialursache beigelegt werden sollte ^),
so zeigt sich nunmehr, wie diese Scheidung nicht durchzuführen
ist. Vielmehr wird auch derjenigen Bedingung, Avelche als Mate-
rialursache auftritt, ein activer Anteil an dem Product zugeschrie-
ben, welches durch das gemeinschaftliche Zusammenwirken der
verschiedenen Bedingungen entsteht -).
Diese Thätigkeit der Materie nun unterscheidet sich von der
Tliätigkeit, welche von der Form ausgeht, dadurch, dass sie nicht
wie diese auf einen Zweck gerichtet ist. Sie erfolgt nicht, da-
mit etwas zustande komme, sondern weil es so geschelien muss.
Sie geht nicht aus dem Zweck, sondern aus Notwendigkeit
hervor ^). Es ist der Gegensalz, welchen wir in moderner Ter-
minologie als den der teleologischen und der mechanischen Wirk-
samkeit bezeichnen könnten. Wie also die Materie selbst etwas
bedingungsweise Notwendiges ist. so ist in anderm Sinne auch
ihre Wirksamkeit eine notwendige. Da Aristoteles nun sowohl
die Form, wie die Materie — freilich nicht die wahre materia
prima — als ,, Natur" (f/rö^c) bezeichnet •*), so kann er mithin von
einer doppelten Naturthätigkeit reden, von einer auf den Zweck
gerichteten und von einer notwendigen ^). Insofern aber im ei-
gentlichen und besondern Sinne nur die Form als „Natur" be-
zeichnet wird ^), steht die notwendige Thätigkeit als selbständi-
ges Einteilungsglied der Natur gegenüber '').
Wenn wir jene Thätigkeit, welche aus der Materie ohne
Rücksicht auf irgend einen Zweck mit Notwendigkeit entspringt,
genauer bestimmen wollen, so dürfte sie wohl unter diejenige
Art des Notwendigen zu rechnen sein, welche Aristoteles als die
Notwendigkeit des innern Antriebes {oq/^h^) bezeichnet und der
1) S. S. 224.
-j Vgl. Bonilz zur Metayjhysik, p. 379. Zeller IP b, 320, 1. Das Gleiche
ist auch der Fall, wenn Aristoteles betont, dass der Keim des pflanzlichen
oder tierischen Organismus für einen jeden ein besonderer ist ; s. S. 259 Anm. (j.
^) de gen. an. V 1, 778 a 30 - b 1. Vgl. ebd. IV 8. 776 a 25— 2(i; V 8
789 b 2—5. 19-20.
••) S. S. 256.
») anal. post. II 11, 94 b 36—37. Vgl. de part. an. III 2, 663 b 22-24
6) S, S. 257 Anm. 2.
") phys. II 8, 198 h 10 ff. 199 b 32—33; 9, 200 a 8-9; etli. Nie III
5, 1112 a -24—25.
270 Dritter Al)srliiiitt. Arislnteles.
Notwendigkeit durch äussern Zwang (ßia) gegenüberstellt ^). Zwar
setzt er jenes aus dem Innern Triebe hervorgehende Wirken als
das naturgemässe dem durch Zwang abgedrängten, naturwidrigen,
gegenüber ^). Aber darum braucht die Wirkungsweise der Ma-
terie vom Umfange jenes Begriffes nicht ausgenommen zu sein.
Denn als „Natur" wird von Aristoteles, wie noch soeben bemerkt
wurde, im weitern Sinne auch die Materie betrachtet.
In den zuletzt ausgeführten Bestimmungen geht Aristoteles ent-
schieden über Plato hinaus. Für Plato -ist die Materie nur insoweit
notwendig, als ohne sie die Vernunft kein Object ihrer ordnenden
Thätigkeit fände. Sie ist nur bedingungsweise notwendig.
Aristoteles, welcher den Begriff der Notwendigkeit in dieser Form
von Plato übernimmt ^), fügt zugleich eine zweite Art der Not-
wendigkeit hinzu. Die der Materie eigentümliche Art des Wir-
kens soll nach ihm eine mit Notwendigkeit sich vollziehende sein.
War für Plato die Materie das Regellose und Umherschweifende,
welchem erst durch das Eingreifen der Vernunft ein notwendiges
Gesetz eingepflanzt ist *), so findet Aristoteles in den materiellen
Dingen selbst eine notwendige Weise ihrer Bethätigung.
Freilich verengt sich bei genauerem Zusehen der Abstand
zwischen Plalo und Aristoteles beträchtlich. Darin stimmen beide
vollkommen überein, dass nur die Zweckursache die wahre Ur-
sache sei ■'). Und wenn Aristoteles auch der Materialursache
eine Kraft, und zwar eine mit Notwendigkeit sich bethätigende
Kraft, beilegt, so hat er nicht die unkörperliche letzte Grundlage
alles körperlichen Seins im Sinn, sondern einen bestimmten kör-
l)eilichen Stoff. Jene letzte Grundlage ist dagegen für ihn wie
für Plalo etwas alles Aufnehmendes, in sich Unbestinmites und
Kraftloses. Und wenn er an dieser letzten Grundlage alles sinn-
fälligen Seins, die sich jeder Vorstellung und jedem bestimmten
') anal. post. II 11, U4 h 37 f. ihet. I 10, 13(;s 1, 35-37. Vgl. de pari,
an. I 1, (J42 a 32-3,5; phys. II !), W,) h .34—200 a 1 Die Notwendigkeit im
Sinne des gegen den Innern Antrieb gerichteten Zwanges auch met. V 5,
1015 a 2(5—27. %. h 2; VI 2, 102G b 28; XII 7. 1072 b 12.
-) anal. post. II 11, 5)4 b 37: rbet. I 10. 13r„S b 35. .37.
■') S. S. 122 Anm. 2.
*) S. S. 121.
') S S. 120.
(•) Allypiii. Functionen der Mut. Die Mal. als Nolwendiykoit. 27l
Denken völlig entzieht, nicht festzuhalten vermag, so findet sieh
Entsprechendes auch bei Plato. Allerdings ist bei beiden das-
jenige, was sich dem von der Gonsequenz geforderten Begriffe
unterschiebt, in charakteristischer Weise verschieden. Phito, der
Philosoph und Dichter, personificiert das Notwendige, so dass es
aus dem Gesichtspuncte der Phantasie als nötigende Macht er-
scheint. Aristoteles, der Naturforscher und Philosoph, setzt an
die Stelle jenes unfruchtbaren Phantasiegebildes dasjenige, was bei
jeder naturwissenschaftlichen Beobachtung sich aufdrängt, nämlich
den Begriff einer realen Bedingung, w'elche mit ihrer l)estimm-
len Natur und ihren bestimmten Kriiften in das Product eingeht
— eine Vorstelkmg, die bei Plato zwar gelegentlich gestreift '),
aber nirgendwo consequent verfolgt wird. Jene mythische Vor-
stellung Plato's lässt sich leicht auf ihren wahren Sinn zurück-
führen, nach welchem der unbestimmten Materie keinerlei selb-
ständige Kraft zugeschrieben werden darf. Die Wendung dage-
gen, welche Aristoteles dem Begrifl' der Materie giebt, erscheint
als eine sachgemässe Concession, welche die wissenschaftlichen
Bedürfnisse der Naturerklärung unvermerkt dem unzureichenden
philosophischen Standpuncte abgerungen haben, und welche dar-
um nicht einfach als ausserwcsentlich bei Seite gelassen werden
darf. Aber auch so entbehren die aristotelische und die plato-
nische Anschauung nicht des Innern Zusammenhanges. „Aus
Notwendigkeit geworden" ist für Plato alles dasjenige, was zwar
nicht ohne den Einfluss der weltordnenden Vernunft, d. h. der
Idee, entstanden, was aber doch von der Durchseelung der Natur
durch die Weltseele unabhängig ist '-). Ebenso geht jene not-
wendige Wirksamkeit der Materie bei Aristoteles nicht von der
absolut formlosen j\iaterie aus, sondern von der durch eine Form
— welche der platonischen Idee entspricht — bereits bestimmten,
und hat, wie bei Plato, ihr Gebiet auf dem Felde des rein kör-
perlichen, der Beseelung Voraufgehenden.
Betrachten wir die der Materie eigene notwendige Wirkung
in Beziehung zu der zweckstrebenden Thäligkeit, welche von der
Form ausgeht, so kann jene in dreifacher Weise sich äussern:
mitwirkend, selb st wirkend und gegen wirkend.
') z. B. Phaed. 97 G fl'.; s. S. 120.
■') S. S. 124.
272 Dritter Abschnitt. Aristoteles.
a) Im ersteren Falle, der bi.s jetzt allein Berücksiclitigung
fand, tritt die der Materie eigene Araft unter Leitung der Form
in Thätigkeit. Sie wird von der zwecksetzenden Form benutzt
und dadurch dem Zwecke dienstbar gemacht ^). Die Materie
erscheint hier neben der Form als Mitursache.
Belege dafür geben die oben 2) schon angezogenen Beispiele,
bei denen ein kfinstliches histrument oder ein natürliches Organ
zur Erreichung eines bestimmten Zweckes aus einer bestimmten,
für gewisse Kraftwirkungen tauglichen Materie hergestellt sein
muss. Reich an Belegen aus dem Gebiete der Natur sind beson-
ders die Schriften über die Teile und über die Entstehung der
Tiere. An vielen Beispielen wird hier gezeigt, wie eine bestimmte
Einrichtung Zweck und Notwendigkeit in sich vereine ^). Einer-
seits nämlich soll sie einem bestimmten Zwecke dienen, welcher
im Organisationsplane des animalischen Wesens begründet ist.
Andererseits aber wird sie auf die Notwendigkeit zurückgeführt,
welche aus der besonderen Beschaffenheit des Stoffes folgt, den
die Natur wie ein weiser Künstler für diesen Zweck ausgewählt
hat ^). Wenn z. B. bei der Bildung des animalischen Keimes
unter dem Einflüsse des Spermas in den Katamenien die festen
Bestandteile zu umschliessenden Membranen zusammentreten, welche
die gleichzeitig gesonderten flüssigen Bestandteile in sich befassen,
so ist der Zweck, die passenden Existenzbedingungen für das
sich entwickelnde Lebewesen zu schaffen; die notwendige Ur-
sache aber liegt darin, dass die Zusammensetzung der Katame-
nien die gleiche ist, wie die der Milch, welche durch Lab gleich-
falls zum Gerinnen gebracht wird '•>). Das Ausfallen des Geweihs
beim Hirsche, dessen Zweck die Erleichterung des Tieres ist, hat
seine notwendige Ursache in der Schwere jenes iiu Innern ge-
diegenen Ansatzes •=). Ebenso sind die Nieren fettig sowohl zu
einem bestimmten Zwecke, wie wegen einer in den Stoffen des
Körpers begründeten Notwendigkeit "'). Dieselbe Benutzung des
') de part. an. II 2, GG3 b 22—24.
*) S. S. 2G7 f.
•') Vgl. anal. post. II, 11, M h 27.
*) de part. an. IV 10. 687 a UV- 12.
^} de gen. an. II 4, 739 b 20—30.
ß) de part. an. III % 663 b 12-14.
') de part. an. III 9, 672 a 13 16.
cj Allgem. Functionen der Mut. Uue Ei^en\viikiint>on. 273
Notwendigen zugleich zu bestimmtem Zweck zeigt sich ferner in
der Einrichtung der Zähne ^), der Brust ^) u. s. w.
b) Wirkungen, die aus der Natur des Stoffes mit Notwendig-
keit hervorgehen, werden auch dort erfolgen müssen, wo sie nicht
von einem centralen Formprincip für die Erreichung bestimmter
Zwecke verwertet werden. In der That legt Aristoteles der Ma-
terie auch eine solche, ausschliesslich der Notwendigkeit gehor-
chende Thätigkeit, ein Selb st wirken, bei.
u) Auf einer derartigen Notwendigkeit beruhen zunächst die
Bewegungen der Elemente.
Diese Bewegungen sollen nämlich ihren (irund in den Unter-
schieden des Gewichtes haben, welches den verschiedenen Ele-
menten eigentümlich ist. Den vier qualitativ bestimmenden
Eigenschaften des Warmen und Kalten, Trocknen und Nassen
treten die zwei ortsbe.stimmenden Eigenschaften der Leichtigkeit
und der Schwere zu Seite. Das Feuer ist an sich leicht, die Erde
an sich schwer. Luft und W^asser sind — in verschiedenem
Grade — beziehungsw^eise schwer ^). Leichtigkeit und Schwere
der Elemente aber sind Eigenschaften, welche nach Aristoteles
nicht etwa in der Masse der Stotfteilchen oder dgl., sondern dar-
in ihren Grund haben, ob das fragliche Element seinen „natür-
lichen Ort" -i) oben oder unten besitzt''). Die (absolute) Schwere
besteht darin, dass das betreffende Element seinen Ort unter,
die (absolute) Leichtigkeit, dass es denselben über allem hat ^).
Actuell leicht ist darum dasjenige, was wirklich oben sich befin-
det '). Befindet sich dagegen von dem diesbezüglichen Element
ein Teil unten, so ist derselbe nur potentiell leicht ^). Eine solche
Versetzung an den nicht naturgemässen Ort aber, wie sie hier
angenommen wurde, kann einen doppelten Grund haben. Ent-
weder ist das leichtere Element aus dem unten befind-
lichen schwereren, das schwerere aus dem oben befindlichen
') de gen. an. Y 8, 788 b 3 ft". 781) a 8-14.
2) de gen. an. IV 8, 776 1) 31—33.
=») de cael. IV 4, 311 a IG- 29; '>, 312 h 14-19.
*) Tonoi oixtioQ phys. VIII 3, 253 b 34; 4, 255 a 3; de cael. I 7, 276 a 12.
5) Vgl. de gen. et coit. 1 6, 323 a 6-9. Vul. oben S. 242 Anni. 6 Sclil.
«) de cael. IV 4, 311 a 16-18.
') phys. VIII 4, 255 b 11. 15—17; de cael. IV 3, 311 a 3.
«) de cael. IV 3, 311 a 4; vgl. phys. VIII 4, 255 b 17—21.
Baeumker : Das Problem der -Materie etc. ^
274 Dritter Altsclmitl. Aristoteles.
leiclit(M-on entstanden, oder ein äusserer Zwang hat das Element
aus seinem natürlichen Orte entfernt und hält es an dem ihm
fremden fest. Eingeleitet wird diese Verschiebung der Elemente
durch die ewige gleichmässige Bewegung des Himmels, der ihre
Grenze nach oben bildet ').
Wie wird nun, fragt es sich jetzt, dies potentiell I^eichte zu
einem actuell Leichten, dies potentiell Schwere zu einem actuell
Schweren? Mit andern Worten: wie kommt es, dass dasLeichl-^
nach oben steigt, das Schwere nach unten fällt 2)?
Aristoteles weist hier 2) zunächst auf die bewegende Ursache
hin, die z. B. das Wasser in Luft verwandelt und darum auch
Grund seiner Aufwärtsbewegung sein soll, oder die — in dem andern
der beiden oben genannten Fälle — das Hindernis entfernt,
z.B. die Säule umstürzt, welche bis dahin ihre Belastung am Hin-
absinken hinderte, oder die Steine hinwegnimmt, welche einen
mit Luft gefüllten Schlauch unter Wasser festhielten *). Durch
diesen Hinweis glaubt er den Widerspruch zwischen der anschei-
nenden Selbstbewegung der Elemente und seinem Satze, dass
nur Lebendes sich selbst bewege (d. h. ein Teil den andern) zu
entfernen ^). Er meint dadurch zu zeigen , dass die Elemente
zwar ein Princip der Bewegung in sich hätten, aber nicht der
activen, sondern der passiven Bewegung ''). Die Bewegung weide in
gleicher Weise von jener bewirkenden Ursache hervorgebracht,
wie etwa die Rückwärtsbewegung eines Balles, der von der Mauer
zurückprallt, auf den Werfenden zurückzuführen sei '').
Indessen lässt sich nicht verkennen, dass dieser Vergleich
1) meteor. I 2, 339 a 30—32. Vgl. de gen. et corr. II 10, 330 a 15. ff.
■') de cael. IV 3, 311 a 1-6.
") phys. VIII 4, 256 a 1—2; de cael. IV 3, 311 a 9—10.
') phys. VIII 4, 255 b 25-26.
'■) phys. VIIl 4, 255 b 29; de cael. IV 3, 311 a 11—12.
") phys. VIII 4, 255 b 30-31.
') phys. VIII 4, 255 b 27—29; vgl. de cael. IV 3, 311 a 10-11. Dass in-
folge dieses Anstosses das Feuer sich nach oben, die Erde sich nach unten
bewege, davon liege der Grund eben darin, dass das Feuer sich zu diesem, die
Erde zu jenem Orte in Potenz ])eiindo Nach einem weitern Grunde verlan-
gen, sei ähnlich, wie wenn man frage, weshalb das der Möglichkeit nach Ge-
sunde, wenn es eine Veränderung erfährt, gesund, und nicht etwa weiss wird,
weshalb das des Wachstums Fähige, wenn es verändert wird, nicht zur Ge-
sundheit, sondern zur Grösse gelangt (de cael. IV 3, 310 b 16—19).
c) Alltrem. Functionen der Mal. Ihre Eiäxenwirkungen. 275
sehr wenig zutreffend, und dass jene Ursache in Wahrheit nur
Veranlassung für die Bewegung ist. So lange daher Aristoteles
nicht in den Elementen selbst eine active Kraft der Aufwärts-
bezw. Abwärtsbewegung zu ihrem natürlichen Ort annimmt und
nicht bloss eine passive Potenz, fehlt ihm auf seinem Standpuncte
die zureichende Ursache jener Ortsveränderung.
In der That aber legt er ihnen, in teilweisem Widerspruch
mit den oben angeführten Äusserungen, an andern Stellen unver-
kennbar ein solches actives Vermögen bei. Was anders soll es
heissen, wenn er das Aufstreben der aus dem Wasser entstehenden
Luft mit dem Zustande eines Menschen vergleicht, welcher die
Wissenschaft bereits erworben hat und nun jeden ihrer Sätze be-
trachten kann, falls keine anderweitigeBehinderung vorhanden, wäh-
rend das noch nicht in Luft verwandelte Wasser in der Weise in
Potenz zu dem obern Ort sich befindet, wie der noch Lernende
der Möglichkeit nach ein Wissender ist ^j? Denn die Potenz des
Wissenden ist doch ein actives Vermögen, nicht bloss passive
Veränderungsfähigkeit ^). So werden wir denn nicht mehr eine
blosse Ungenauigkeit darin erblicken, wenn Aristoteles z. B. die
Abwärtsbewegung des Steines auf einen notwendigen Antrieb
{oQixri) zurückführt und dieselbe ausdrücklich als eine Art von
„Notwendigkeit" bezeichnet ^).
Das Letztere erhält noch eine anderweitige Bestätigung. Bei
seiner Polemik gegen eine rein mechanische und ateleologische
Naturauffassung geht Aristoteles von der Frage aus, was die
Natur hindere, dass sie bei ihrem Wirken nicht etwa ohne Zweck
und ohne Rücksicht darauf, weil es so besser ist, verfahre, etwa
') phys. VIII 4, 255 a 30 -b 5.
^) Auch kann angeführt werden, dass nach de cael. IV 3, 310 b 24—26
zwar das Schwere und Leichte, aber nicht das ryiaaröv und ttvir,r6v, ein Prin-
cip des Wandels in sich zu haben scheine. Denn ein passives Princip
schliessen doch auch die letztern beiden ein. Wenn aber Aristoteles a. a. O.
310 b 31 ff. die leichtere Veränderlichkeit des sinkenden Schweren und des auf-
steigenden Leichten gegenüber dem nicht so leicht zu actualisierenden potentiell
Gesunden dadurch erklärt, dass die Materie des Schweren und Leichten dem
formalen Sein {ovaia) zunächst sei (wozu vgl. Simpl. p. 310 b 24—29 Karsten), so
zeigt die schwankende Stellung zwischen Materie und Form, welche dem Ele-
ment beigelegt wird, wie weit hier der ursprüngliche Begriff der Materie ver-
lassen ist. — Vgl. fei'ner met. VII I», 1034 a 10-19 und Bonitz z. d. St., p.328.
=*) anal, po.-^t. H 11, 95 a 1 - :i
18 *
270 Dritter AliscliiüLl. Aristoteles.
SO, wie es regnet, nicht, damit das Getreide wachse; sondern
aus Notwendigkeit; denn in dem letzlern Falle sei €S ja etwas
Notwendiges, dass der in die Höhe geführle Wasserduiisl sich
ahkiihle und; nachdem er zu Wasser geworden, heral)falle ' ).
Hier wird von Aristoteles in dem zum Vergleiche herangezo-
genen Beispiele; entsprechend dein, was wir soeben über die Be-
wegungen der Elemente entwickelten, das Aufsteigen des Wasser-
dunstes, an welches die Abkühlung sich anschliesst, sowie das
Herabfallen der Regentropfen, als eine- notwendige Wirkung
des Stoffes der auf den Zweck gerichteten Wirkung der gestal-
tenden Natur entgegengesetzt.
So sehen wir, wenn wir davon die Anwendung auf analoge
Frdle machen, wie das Spiel der Elementarkräfte nach Aristoteles
sich als eine selbständige Wirkung der ihnen iimewohnenden
Notwendigkeit erweist, bei der neben der Materie selbst zwar die
bewegende Ursache, aber keine zwecksetzende Formalursache,
beteiligt ist.
,/) Auch innerhalb solcher Substanzen, welche im übrigen
durch die Form bestimmt werden, zeigt sich die selbständige
Kraft der Materie darin, dass auf ihr die individuellen und
darum zufälligen Eigenschaften des Dinges beruhen 2). Aus der
Form nämlich gehen diejenigen Bestimmungen hervor, welche der
ganzen Art wesentlich sind und daher bei einem jeden hidividuum
sich finden müssen. Da aber die Form bald in dieser, bald in
jener Materie verwirklicht ist, so werden die verschiedenen In-
dividuen ausser den gemeinschaftlichen Bestinnnungen; welche der
gleichen Form in ihnen entstammen; auch besondere Eigentüm-
lichkeiten aufweisen, welche in der jedesmaligen Materie begrün-
det sind. So ist es für bestimmte Lebewesen wesentlich, Augen
zu haben. Das Auge nämlich dient zu einem Zwecke. Sein Be-
sitz ergiebt sich daher mit der Form und ist aus diesem Grunde
allen Individuen gemein. Aber dass diese Augen etwa graublau
sind, ist nicht wesentlich und bildet daher auch keine gemein-
schaftliche Eigentümlichkeit aller Individuen der Art, — denn in
diesem Falle wäirde auch die graublaue Farbe zum Wesen ge-
hören — , sondern hat seinen Grund in der Materie des Auges.
Schliesst nämlich das Auge viel Feuchtigkeit ein, so ist es dun-
1) phy.s. II 8, KlH 1j U\~Id.
-) Vgl. auch unten, S. 281 lt.: die Materie als Individuatiouspi incip.
c) Allgein. Functionen d. Mal. Ihre Eigenwirkungen. 277
kel; im entgegengesetzten Falle graublau *). Ähnlicher Art ist
der Unterschied des Weissen vom Neger ^) u. s. w.
Die Materie also ist der Grund der zufälligen Eigenschaften.
Sie bildet das allumfassende Receptaculum. Neben den Bestim-
gen, welche aus der Form hervorgehen und daher bei allen In-
dividuen derselben Art sich finden, bietet sie auch für die ausser-
wesentlichen Bestimmungen den Platz ^). Aus der Natur des
jedesmaligen Stoffes aber gehen diese ausserwesentlichen Bestim-
mungen mit Notwendigkeit hervor. Sie sind darum, wenngleich
nicht für die Art, so doch für das Individuum notwendig,
solange seine Materie di^ gleiche bleibt. So löst sich der an-
scheinende Widerspruch, dass, vom Standpuncte der Artseigen-
tümlichkeiten aus bemessen, nicht die notwendigen, sondern die
zufälligen Eigenschaften aus der Notwendigkeit der Materie her-
vorgehen; denn was zufällig ist für die Art, kann doch in an-
derer Art, nämlich für das Individuum, notwendig sein"*).
Gehen somit die zufälligen, nur für die verschiedenen Indi-
viduen charakteristischen Eigenschaften daraus hervor, dass
innerhalb derselben Art für verschiedene Individuen die jedes-
malige Materie eine verschiedene ist, so steht die Wahl gerade
dieser Materie für dieses, jener Materie für jenes Individuum in
Abhängigkeit von der bewirkenden Ursache. Die bewirkende
Ursache ist es ja, welche in dem jedesmaligen Falle die Ausbil-
dung der Form gerade in dieser Matei'ie herbeiführt. Sonach ist
auch das kein Widerspruch in der Lehre des Aristoteles, wenn
wir neben dem Satze: die Materie ist Grund der zufälligen
Eigenschaften, auch der Behauptung begegnen, die bewegende
Ursache sei Grund derselben'').
y) Auch das spontane \Yevden{yiyifö0^ai,dTi6TavtofjLdTov)'^)
führt Aristoteles auf eine der Materie eigene Kraft zurück.
Der Regel nach wird der Materie irgend eine Bestimmung
durch die bewegende Ursache mitgeteilt, welch letztere die Bestim-
') de gen. an. Y 1, 778 a 32- h 19; 1) 28—30.
■-) niet. X 0, 1058 a 34— b 12. Auch die Verschiedenheit der Geschlechter
geliört hierlier. Docli wird darüber unten, S. 280, noch weiter zu sprechen sein.
^) met. VI 2, 1027 a 13- 15.
*) Vgl. de gen. an. V 1, 778 b 17—19.
5) de gen. an. V 1, 778 b 1; 8, 789 b 20. Vgl. met. VI % 1027 b 15—16.
^, tber das xavröuazov vgl. Zeller 11 •' j), 335.
278 Diiticr Ahsdinilt. A risloleles.
muni,^ in sich selbst bereits besitzt, sei es in iiuilerieller, oder —
bei Kunstwerken — in immaterieller Weise, und welctie aus die-
sem Grunde jene Bestimmung auch in etwas Anderem hervorru-
fen kann '). Diese Mitteilung der Bestimmung an die Materie
seitens der bewegenden Ursache geschieht nun in vielen Fällen
dadurch, dass in der Materie ein Princip hervorgebracht wird,
welches von der betreffenden Bestimmung entweder schon ein
Teil ist, oder an welches die betreffende Bestimmung sich un-
niiltelbur anschliesst. So bringt der Ar/i dadurch die Gesundheit
hervor, dass er den Kranken sich bewegen und dadurch in Wärme
geraten lässt. Hier ist die Wärme das Princip, welches entweder
schon ein Teil der Gesundheit selber ist, oder aus welchem doch
die Gesundheit unmittelbar folgt 2). In ähnlicher W^eise ist bei
der Hervorbringung eines pflanzlichen oder tierischen Organismus
der Samen das Princip, durch dessen Vermittelung die Naturur-
sache, d. h. der erzeugende Organismus, eine der seinen gleiche
Wesensform entstehen lässt 3),
In den Fällen des spontanen Werdens dagegen soll die
]\laterie jenes Princip der Veränderung in sich selbst tragen und
so von sich aus in gleicher Weise bewegt und zu der gleichen
Bestimmung geführt werden, wie sonst durch die künstlerische
oder die Naturursache^). SO; wenn der Kranke von selbst ge-
sund wird, weil infolge der Bewegung seines Körpers in diesem
das gleiche Princip vorhanden ist, die Wärme nämlich, durch
welches sonst der Arzt ihm die Gesundheit mitteilt °). Oder
wenn bei der von Aristoteles angenommenen spontanen Entste-
hung von Organismen die Materie wegen ihrer eigentümlichen
Constitution die Fähigkeit hat, aus sich .Selbst solche Verände-
rungen zu erfahren, die zur Ausbildung einer Form führen^, wie
sonst der Befruchtungsstoff sie in ihr entwickelt ^).
') met. VII 9, 1034 a 21—24.
-j met. VII 7, 1032 b 25—30: fl, 1034 a 26— ]> 7 (wegen des Textes
s. Bonitz p. 330).
") met. VII 9, 1034 a 33— h 1. — *) met. VII 9, 1034 a 10-18.
^) met. VII 7, 1032 b 23—28; 9, 1034 a 21—30.
«) met. VII 9, 1034 b 0—6. Vgl. bist. an. V 1, 539 a 15—18. Die Urzeu-
gung soll nämlich nach Aristoteles de gen. an. III 11, 7G2 a 9—27 dadurch
bewirkt werden, dass unter dem Einfluss der Lebenswärme {d^egnorijs >pvxty.ij,
wo die ii^v^rj natürlich nicht bewusste Seele, sondern Lebensprincip ist), welciie,
c) Allgeni. FiincliniK'ii d. Mal. [lue Eiiroiiw irkuniron. Ü7f)
So sehen wir, wie die iiuLweiRlige W'irlcuiij,' der .Alaterie in
dreifacher Art der Formwirkung selbständig parallel läuft. Sie ist
derselben analog in dem Spiel der Elementarkräf te. Sie
ergänzt dieselbe, insoweit auf ihr die zufälligen Eigenschaften
beruhen, welche neben den von der Form ausgehenden allgemei-
nen Eigenschaften die individuelle Substanz bestimmen. Sie
vertritt dieselbe bei dem spontanen Werden.
c) Endlich kann die Materie der Form auch hemmend ent-
gegentreten. Sie ist insofern Ursache der Unvoll komm enh ei t.
Der Gedanke ist im Grunde platonisch i). Aber während
Plato ihn vorwiegend ins Ethische wendet, verfolgt Aristoteles
ihn auf naturwissenschaftlichem Gebiet.
Die zweckthätige Natur, führt Aristoteles diesen Gedanken aus,
findet bei ihrem Bestreben, durch die Form in der Materie Zwecke
zu verwirklichen, an der Materie vielfach ein Hindernis. Entweder
hemmt der Stoff die volle Auswirkung der bezweckten Form,
oder er bewirkt, dass neben der zweckvollen Form auch zweck-
lose Nebenwirkungen entstehen.
Zwecklose Nebenwirkungen, die bei der Ausbildung und der
Ernährung der Organismen sich ergeben, sind z. B. die Aus-
scheidungstoffe, wie die Galle und dgl. '^). Einem guten Haus-
verwalter gleich, der auch nichts Minderwertiges verkommen
lässt, benutzt freilich die Natur auch wohl solche Ausscheidun-
gen noch weiter^); aber darum beruht ihre Entstehung um nichts
mehr auf einem Zweck ^).
Auf dem Widerstand der Materie gegen die Auswirkung der
wie Aristoteles mit dem alten Hylozoismus annimmt, in der ganzen Natur ver-
breitet ist (vgl. H. Siebeck, Die Lehre des Aristoteles von dem Leben imd der
Beseelung des Universums, Zeitschr. f. Phil. u. Philos. Krit., N. F. Bd. 60. 1872.
S. 1 — 39), aus dem Gemisch erdiger und wässeriger Bestandteile sich ein
schaumiges Bläschen bildet, in welchem die eingeschlossene Wärme den Gar-
kochungsprocess hervorruft, der sonst (s. S. 280) von dem befruchtenden Samen
herbeigeführt wird (vgl. G. H. Lewes, Aristoteles. Ein Abschnitt aus einer Ge-
schichte der Wissenschaften. Übers, v. J. V. Garus. Leipzig 1865. S. 374 ff.).
1) S. S. 205 f.
2) de part. an. IV 2, 677 a 12—15.
3) de gen. an. II 6, 744 b 16-— 17 ; de part. an. IV 2, 677 a 16—17. Die
Natur fertigt aus jenen nfQi-cxa'iaaza Knochen, Sehnen, Haare, Klauen u. dgl.;
de gen. an. II 6, 744 b 24—26.
■*) de part. an. IV 2, 677 a 17— 1!>.
280 Driller Ahschnill. Arisloleles.
Form iilicr bcriilil es^ dass das IJorvoräJ^cbrachte iiiclil seilen hin-
ter dem lleivoi'bringendcn hinsichtlich der V^olikonmienlieit seiner
Form zurückbleibt. Sowohl auf dorn Gebiete der Kunst, wie auf
dem der Natur, linden sich derartige Fehlversuche '). Solche
Fehlgriffe der Natur, durch eine unvollkounuene BeWcältigung der
Materie herbeigeführt, sind z. B. die Missgo^burten -). In andern
Fällen ist doA' Abstand von der vollendeten Form weniger bedeu-
tend. So, wenn das Pferd ein Maultier hervorbringt '^). Eine
Unvollkonunenheil, eine Art von Missg^eburt *), eine Verstüunne-
lung •''), ist es auch, wenn das Männliche ein Weibliches er-
zeugt. Obwold nämlich der Unterschied der (leschlechter von
der grössten Bedeutung ist, da der Fortbestand der Art auf ihm
beruht '''), so wird derselbe von Aristoteles doch nicht mit der
Wesensform, sondern mit der Materie in Beziehung gebracht ').
Das Weibliche entsteht, wenn der männliche BildungsstotY, der
das neue Wesen durch eine Art von Garkochung in dem weib-
lichen Bildungssloff heranbildest, über diese Materie nicht völlig
Herr werden kann ^).
Eine letzte Folge der schlechten Beschaffenheit der Materie
endlich ist es, dass die Perioden des Entstehens und des Verge-
1) phys. II 8, 19!» a ;33— li 4.
2) de gen. an. iV 4, 770 J) 9-17. Vgl. ebd. 3, 7G9 b 7—13.
••) mel. VJI 9, 1034 b 3—4.
*) de gen. an. IV 3, 7(57 b 5— (5.
5) de gen. an. II 3, 737 a 27—28. Vgl. Plat. Tim. 42 A-B. 90 E.
") de gen. an. IV 3, 7(J7 b 8—10.
') niet. X 9, 1058 a 29 ff. Eine Erläulerung dieser Stelle iiei Alexander
von Aphrodisias, de an. lil). II, Suppl. Aristolel., ed. Acad. lill. reg. Boruss.,
II b, p. 1(J8, 22 ff
*) de gen. an. IV 1, 766 a 16 — 21. — Die Entstehung der besonderen Or-
gane beim Männchen und beim Weibchen suchl Aristoteles dadurch zu er-
klären, dass die Nalur beiden Geschlechtern verschiedene Fähigkeiten verlie-
hen habe. Mit der Fähigkeit nämlich sei auch das Organ gegeben. Beides
bilde sich gemeinschaftlich und in gegenseitiger Abhängigkeit aus. So sei auch
die Fähigkeit zu sehen an das Auge, aber ebenso umgekehrt die volle Ent-
wicklung des Auges an das Sehen gebunden. Wenn aber e i n wichtiger Teil
sich umwandele, so trete auch eine Verschiedenheit der Gestalt in dem Ge-
samtbau des Tieres ein, wie man an den Eunuchen mit ihrem weibischen
Gesamlhabitus sehen könne (de gen. an. IV 1, 766 a 3—10. 22 — 28). — So be-
achtenswert diese Bemerkungen an sich sind, so machen sie doch die der Materie
zuueschriejiene Kulle um nichts klarer.
c) Allgeni. Functionen d. Mal. Ihre Eii.'-enwirkuntren. 281
hens nicht so gloichrnässig verleill sind, wie sie entsi)rL'chend der
Ebenniässigkeit der in der Ekliptik verlaufenden Sonnenbahn , von
welcher der Wechsel der Jahreszeiten abhängt, es sein sollten.
Durch die Mischung der Stoffe unter einander nämlich wird die
Materie, welche der Form zugrunde liegt, vielfach verunreinigt.
Diese Verunreinigung der Jlaterie aber führt in vielen Fällen
einen rascheren Zerfall herbei, als er ohne eine solche Un-
regelmässigkeit der stofflichen Grundlage eingetreten sein
würde *).
4. Die Materie als Individuationsprincip.
Bereits oben 2) wurde hervorgclioben, dass die Materie nach
Aristoteles die Quelle ist, aus welcher die zufälligen und individu-
ellen Eigenschaften fliessen. Aber die Bedeutung der Materie für
das Individuum ist dadurch noch nicht erschöpft, dass dieselben
Ursache seiner individuellen Eigenschaften ist; sie ist vielmehr
überhaupt Ursache seiner I ndividuation.
Um eine historische Würdigung dieser Theorie des Aristoteles
zu ermöglichen, müssen wir auf ihre Voraussetzungen und deren
Zusammenhang mit platonischen Gedanken zurückgehen.
Aus dem Begriffe des Wissens als einer festen und uner-
schütterlichen, stets sich gleichen und ewig giltigen Erkenntnis
hatte Plato gefolgert, dass auch das Sein, welches das Object
dieser Erkenntnis bilde, ein ewiges, stets sich gleiches und unver-
änderliches sein müsse.
Aristoteles übernimmt diesen erkenntnistheoretisch-metaphy-
sischen Grundsalz Plato's. Auch er beschreibt das Wissen als
eine feste =*), durch nichts zu erschütternde ^), stets wahre '") Er-
kenntnis. Mit Plato verlangt er demgemäss für das Wissen ein
Object, welches, notwendig in sich '^), jeder Möglichkeit des An-
dersseins "') oder des Untergangs ^) entnommen ist.
1) de gen. et corr. II 10, 33G b 20—24.
2) S. S. 276' f.
■■') top. V 3, 131 a 23.
') top. V 2, 130 b Vi; 4, 133 b 29—31; 5, 134 b 16—17; VI 8, 146 b 2.
') anal. post. IV 19, 100 b 7—8.
") eth. Nie. VI 6, 1140 b 31—32.
') anal. post. I 2, 71 b 15—16; 4, 73 a 21 ; 6, 74 b 6.
^) anal. post. I 8, 75 b 24-25.
2K2 Diilfri- Ahsclinitl. Arislolelos.
Nun bcsiclil liiii.sic'lillicli eines jeden Dinges das WisscMi darin,
dass wir das Wesen desselben, das was es ist (ro li rjv dvai),
angeben können '). Mithin muss, wegen dieser Entsprechung von
f]rkenntnis und Erkanntem, das Wesen des Dinges, d. h. dasjenige,
in wek'hem sein eigentüniHches Sein bestellt, etwas stets sich
Gleiches, Unveninderiiches und Unvergängliches sein. Dieses
Wiesen ist, wenn wir es als Object unseres Wissens bctracliten,
Begritr {koyoc). Das reale Ding aber erhält sein Wesen durch die
Form {sUog, fiogcpi), ja diese ist sein reales Wesen (ovai'a). Dabei
ist es für den Realismus des Aristoteles selbstverständlich, dass
Begriffswesen und Sachwesen zusammenfallen. Die Form ist
zugleich Begriff (loyfic) 2). — Wie die platonische Idee, ist also
auch bei Aristoteles die zugleich reale und begriffliche Form als
Object des Wissens in sich jedem Wechsel entnommen.
Das gilt nun in doppelter Hinsicht.
Einmal lässt die Form keinerlei Abänderung ihres Bestandes
zu. Sie kann nicht in etwas anderes umschlagen. Denn wäre
dieses der Fall, so würde sie nicht mehr diese bestimmte Weise
des Seins, sondern eine ganz andere begründen ^). Oder begriff-
lich gefasst: wenn wir die Formen, d. li. die begrifflichen Wesen-
heiten, aufgrund ihrer gemeinschaftlichen und unterschiedenen
Merkmale in ein abgestuftes System von Gattungen bringen, ent-
sprechend dem platonischen System der Ideen, so wird jede Ver-
schiedenheit der Form eine Art constituieren •^).
ZAveitens ist die Form, gleich der platonischen Idee, unent-
standen und unvergänglich ^). Denn wäre sie geworden, so wäre
1) met. VII G, 1031 b 6—7.
-) Vgl. z. B. de caelo I 9, 277 h 30— 27<S a 4, wo n'ifoi (species), (io(^nft'/
(forma), to ti -t/v ilvai (quiditas) und lö'/og (ratio) y,leichliedeutend gebrauchl
werden. Für fi(fo?=ovain (essentia, substantia) s. Bonitz, Ind. Aristot. 21!» a
41 ff. Dass aber Aristoteles in der That die physische Fortn mit dem be-
grifflichen Wesen identificiert, ergiebt sich aus den Stellen, wo nicht der mehr-
deutige Ausdruck e?(fos, sondern der bestimmtere Terminus uoQifij synonym
mit solchen Ausdrücken verwandt wird, die ztir Bezeichnung des begrifflichen
Wesens dienen; vgl. met. VIII 1, 1042 a 29; de an. II 2, 414 a 9; de gen. et
corr. II 9, .335 b 7 (Ao'yof); de gen. et corr. II 9, 335 b 35 (tö ri i/v thmi).
■■') met. IV 4, 1007 a 23—27.
■*) met. X 9, 1058 1> 1 — 2: uaut /xiv Iv tu) kö'/n) iiolv tfavTioTrjTes, eiiift
noiovdiv ifiaifondv.
ä) met. VII 8, 1033 b 14—17; 9, 1034 b Ö; VIII 3, 1043 b 17 5, 1044 li
22- -24 ; XII 3, 1069 b 35. 1070 a 15.
c) Alli?. Funclioiien d. Mat. Dio Mal. als Imlividualionspl'lncip. 'Jh3
sie, wie alles, was wird i), aus etwas geworden. Sie iiiüsste also
aus Materie und Form bestehen. Diese letztere Form bestände
wieder aus Materie und Form, und so weiter ohne Aufliören ^).
Auf denselben Denkwiderspruch würde auch die Annahme eines
Vergehens der Form führen ^). — Wie dem Werden mid Verge-
hen, so ist die Form überhaupt jeder Bewegung entnommen ■*).
Alles dieses aber gilt sowohl für die substantialen, wie für die
accidentalen Formen ^).
Obschon also die Form etwas Einheitliches und Unveränder-
liches ist, so bietet uns gleichwohl die sinnliche Wahrnehmung
von jeder Art mehrere Dinge, von denen zugleich ein jedes ent-
steht und vergeht. Der Einheit und UnVeränderlichkeit der Form,
welche das Object des vernünftigen Wissens bildet, steht die Viel-
heit und die Veränderlichkeit der Individuen gegenüber, welche
die sinnliche Wahrnehmung uns zeigt. Beide Bestimmungen,
Mehrheit und Unbeständigkeit, bilden die charakteristische Eigen-
tümlichkeit des Individuellen, im Gegensatz zu dem einen und
bleibenden Wesen der Art.
Der Grund jener Vielheit nun kann offenbar nicht in der
Form liegen; denn jeder Formunterschied ist Artsunterschied, und
die letzte Art ist logisch nicht weiter teilbar ^). Dasselbe gilt von
der Veränderlichkeit der Individuen. Auch sie kann nicht auf
die unveränderliche Form zurückgeführt werden.
Aber das sinnfällige Individuum schhesst, neben der Form,
als zweiten Factor die Materie ein. Es fragt sich daher, ob die
Vielheit und Veränderlichkeit der Individuen in dieser ihren Grund
haben kann.
AVas nun die Materie in der That zum Princip der Individu-
alion geeignet macht, ist der Umstand, dass sie als blosse Mög-
lichkeit nichts in sich hat, was der Teilung widerstritte '^). Da
1) S. S. 214 u.
') met. VI! <S, 1033 a 34— b 16; XII 3, 1070 a 2—4.
■■') met. VII 15, 103'J b 20—27.
*) phys. V 1, 224 b 4—13; met. XI 11, 1067 b 9—11.
-■>) met. VII 9, 10.34 b 13—16.
ß) met. VII 8, 1084 a 8: arofiov yap t6 ii(foi.Xl 9, 10,58 b 9—10: roiio (der
Begriff „Mensch") d" iatl t6 ioxarov ato/nov. Vgl. III 3, 998 b 28-29; X 8,
1058 a 18-21; auch anal. post. II 13, 97 a 18—19.
') S. S. 265.
284 Drillcr Al>si'liiiitl. Aristoteles.
sicli nun die Matorio wie das AuCncliniciide zur Form verlifUt, so
steht von ihrer Seite nichts im Wege, dass dieselhe Form mit
mehreren Teilen der Materie in Bezichnng trete. ErmögUcht
die Materie so eine Mehrheit von hidividnen, so begründet sie
zugleich die Vergänglichkeit des Individuellen dadurch, dass
sie als indeterminierte Möglichkeit zu keiner bestimmten Form in
einem notwendigen Verhältnis steht.
Das Erste führt Aristoteles besonders deutlich da aus, wo er
die Frage nach der Möglichkeit mehrerer Welten untersucht. Ob-
wohl auch hinsichtlich der Welt der Unterschied von Form und
Materie zu machen sei, so soll doch aus dem Grunde nur eine
einzige Welt möglich sein, weil diese eine Welt schon alle j\laterie
in sich befasse. So würde auch, wenn aus allem Fleische ein
Fleisch würde und wenn dieses eine Fleisch als Materie dann die
Krummnasigkeit aufnähme, nur eine einzige gewaltige krunmie
Nase existieren; ebenso nur ein Mensch, wenn derselbe allen
Fleisch- und Knochenstoif in sich vereinigte ^). - Unverkennbar
wird hier die Möglichkeit mehrerer Individuen derselben Art da-
von abhängig gemacht, dass die teilbare Materie in verschiedenen
ihrer Teile die gleiche Form aufnehme ^). Auf diese Weise wird
das aus Form und Materie bestehende Ganze {ovroXor) verschie-
den sein, ohne dass die Form als solche einen Unterschied auf-
wiese 3). Der Unterschied zwischen dem Gallias und dem Socra-
tes beruht, wie Aristoteles anderswo ausführt, darauf, dass dieser
bestimmte Artsbegriff dort von diesem Fleisch und diesen Knochen,
hier von jenem Fleisch und jenen Knochen aufgenommen ist.
Beide unterscheiden sich durch die verschiedene Materie, während
die begriffliche Form als unteilbare Art dieselbe ist ^).
1) de cael. I f>, 278 a 22—35.
-') Mit Unreclit iindet Zeller 11 •' b, 341 Aimi. auch in met. \n 8, 1033 b
18 — 19: SV navTi Ttt) yiyvofievm vkrj evtaii, xai satt, (Zeller Übersetzt: und deshallj
ist) ro ßfv rode tö rff rodt den Sinn, dass nur der Stoff Grund der Individuali-
tät sei. Die Worte xal ean xt'/. bedeuten vielinelu-, dass der eine Bestandteil
Form, der andere Materie sei; vgl. Zeile 12: ihi'ian yd(> if/aifffrov tivai dei ro
yiyvößtvov, xal eivai. ro fjiev rode ro (fe röih, Xiytt) ()' vii ro fiev vXtjV, ro ö'
tidog. de an. 111 4, 429 b 14: «AA' wOtkq rü aijuöv röd'e t'v r<ü£J'f.
3) met. X 9, 1058 b 8—10.
*) met. VII 8, 1034 a 5—8. Vgl. met. IX 7, 1049 a 23—24; 1 (j, 988
a 1-7.
c) Allg. Functionen J. Mut. Die Mal. als Indiviiluationspiinc-ip. 285
Ebenso betont Aristoteles wiederholt, dass die Entstehung
weder die Form noch die Materie als solche betreffe, sondern nur
die Vereinigung; {öwodog) beider i), nur das aus Form und
Materie Zusammengesetzte ^). Weder das Erz, noch die Kugel-
form wird, sondern die eherne Kugel '^). Nicht das Haus — ■ die
begriffliche Form — entsteht, sondern dieses Haus, d. h. die
Verbindung der Form mit einer bestimmten Materie *).
Der Grundgedanke dieser Theorie führt auf Plato zurück.
Auch das platonische System lüsst die wechselnden Einzeldinge
durch die Verbindung der beiden in sicli unveränderlichen Prin-
cipien, der Idee und der „Aufnehmerin", d. h. der Malerie, zu-
stande kommen. Aber dieser Abhängigkeit des Aristoteles von
Plato tritt ein tiefgreifender Unterschied gegenüber. Das Ver-
hältnis des begrifflichen oder formellen Factors zur Materie ist bei
Aristoteles ein anderes als bei Plato.
Nach Plato existiert die Idee gesondert von den Individuen.
Was in die Materie eintritt und mit der Materie zusammen das
Individuum ausmacht, ist nicht die Idee selbst, sondern das Ab-
bild der Idee. Für Plato bleibt darum die Idee selbst eine ein-
zige, wie gross auch die Zahl der Individuen sein möge, die nach
ihrem Master entstanden sind. Die Einheit des abstracten Denk-
begriffs ist hier auch für die Kealität consequent festgehalten.
Die Idee ist Monade ^).
Aristoteles bekämpft an der platonischen Ideenlehre vor allem
die gesonderte Existenz jener begrifflichen Wesenheiten. Er be-
tont dem gegenübel', dass die Form sowenig wie die Materie •')
gesondert existieren könne "'). Was das Individuum als gestalten-
des Princip einschliesst, ist darum nicht das Abbild einer geson-
dert existierenden Idee, sondern die AVesensform selber. Darum
ist es auch nicht eine über den Individuen stehende gemeinschaft-
liche Idee, welche bei der Entstehung eines neuen Individuums
') met. yil 8, 1033 b If]— 18. (Dagegen gehört niet. VII 11, 1037 a 30 nicht
iiieher; vgl. S. 2(52 Anni. 5).
"-) 10 ty. Torroiv niet. VIII 3, 1043 b 18.
•'') met. VIT 8, 1033 a 30. 32. 1) KJ; 9, 1034 1) 11 ; XII 3, 1070 a 3.
Vgl. VII [ 5, 1044 b 23 (das weisse Holz, nicht die Weisse, wird).
■■) met. VII 15, 1039 b 24-25.
") /.luvcci Plat. Phileb. 1.') B; iväs ebd. 15 A.
'•) S. S. 230. — 'j S. S 262 Anm. 2.
28f) Driller Ahsclinitl. Aristoteles.
das Formeleinoiit in dieses einlreleu lässt. Diese Mitteilung er-
i'ülgt vielmehr von seilen eines bereits bestehenden, Individuums.
Nicht die Idee bringt den Menschen hervor, sondern das eine,
aus Form und Materie bestehende, Individuum das andere, Peleus
den Achilleus u. s. \v. ^). Alles wird von einer synonymen Ur-
sache ^), d. h. einer solchen, welche die betreffende Form, nach
der das neu Entstehende begrifflich gedacht und benannt wird,
bereits in sich trägt. Es gilt das sowohl für die Wirksamkeit der
Natur, wie für die der Kunst, wenn auch nicht ganz in derselben
Weise. Wo nämlich etwas von Natur wird, besitzt die betreffende
Ursache die gleiche Form in ihrem physischen Sein. So, wenn
der Mensch den Menschen erzeugt ^). Wo dagegen etwas durch
Kunst entsteht, hat der Kün.stler die betretfende Form immateri-
eller Weise in seinem Geiste. 80, wenn der Baumeister vermöge
der Kunst des Häuserbaus, die in seinem Geiste ist, den Bau-
nuiterialien die Form des Hauses mitteilt, oder wenn der Arzt
vermöge seines Wissens von der Gesundheit dem Körper die Ge-
sundheit verschafft ^).
Diese principielle Abweichung aber zwang den Aristoteles,
die Einheit und Unveränderlichkeit der Form in dem Sinne, in
welchem Plato der Idee die Einheit und Unveränderlichkeit bei-
legte, aufzugeben. Nach ihm ist die gleiche Form in den ver-
schiedenen Individuen derselben Art real vervielfältigt. „Wie
die Materie in dir, so ist auch die Form in dir eine andere als
die meinige" ^), Natürlich sind diese Formen nicht durch ihren
Inhalt oder durch ihre Wesensbestimniungen, sondern nur hin-
sichtlich ihrer Existenz, nur der Zahl nach, verschieden. Wenn
1) niet. XII 5, 1071 a 19—24. Vgl. VII 8, 1033 b 26—33. 1034 a 2—5;
IX 8, 1049 b 24-29.
'-) met. XII 3, 1070 a 4 — 5: exuartj ex awmvvfJLOv 'jl'/vfxai i] ovaia. VII 9,
1034 a 22: nävTa yiyvtTat i^ öfiwvvfxov (Über den wechselnden Gebrauch von
ouMwixos und avruivvfiog Vgl. Bonitz p. 330). Die bewirkende Ursache ist
ipvais ömoeufrjs'. met. VII 7, 1032 a 24.
3)8. S. 249. Anm. iJ.
*) met. VII 7, 1032 a 2G— b 14; 9, 1034 a 21—24. 30— b 4. Die
lazQtxij ist nämlich Ao'yoi; tiji vyieius, vgl. met. XII 3, 1070 a 30; 10,
1075 b 10.
'') met. XII ft, 1071 a 27- — 29: xai imv iv Twcny fldH tTf(iu (sc. ui'na xitl aiui'
Xfnt), urx ti'ihi, dXk' liii lutv xaih' i'xaaiov ü)J.o, i\ it at] rXij xni tu fi'ii'os xui lü
xivi^aai.' xa.1 i] t,ui/, Ku xa&u/.or dt /.üyai lavid
c) Allg. Functionen d. Mat. Die Mat. als Indivifluationsprincip. 287
auch überall da, wo die Form oder Wesenheit nur in der Materie
Bestand hat, eine unbegrenzte Anzahl von Individuen möglich
ist, so eignet diesen allen doch eine Form von überall gleicher
Reschatfenheit (sie sind 6[.io£i6rj) ^).
Wenn aber das neu entstandene Individuum neben seiner
individuellen Materie auch seine eigene individuelle Form einschliesst,
welche von derjenigen der bewirkenden Ursache der Zahl oder
Existenz nach verschieden ist, so lässt sich dieser Form das Wer-
den und Vergehen nicht mehr länger absprechen. In der That
giebt Aristoteles zu, dass die Form nicht vor, sondern gleich-
zeitig mit dem Einzelding sei, und dass sie, mit Ausnahme der
vernünftigen Seele, nicht länger bestehen bleibe, als das Einzel-
ding dauere. Die Gesundheit z. B. soll nur dann vorhanden sein,
wenn der Mensch gesund ist; ebenso die Gestalt der runden Ku-
gel nur zugleich mit dieser ganzen runden Kugel selbst 2). Ist
also nach Aristoteles die Form jetzt da, während sie früher nicht
war und später nicht sein wird, so muss er auch ein Entstehen
und Vergehen für dieselbe einräumen. Hier kann die Ewig-
keit der Art nur darin liegen, dass in dem ewigen Laufe der
Welt, die nach Aristoteles ja unentstanden ist, das Individuum
durch die Zeugung seine Wesensforni in einem andern Individuum
stets wieder erneuert ^).
Damit aber ist die ursprüngliche, dem Piatonismus entstam-
mende Behauptung, nicht die Form werde und vergehe, sondern
nur die Vereinigung (avvodoc) von Form und Materie, völlig ver-
lassen. Aristoteles freilich sucht diese Lücke künstlich zu über-
brücken. Die Form soll nicht an sich, sondern nur in acciden-
teller Weise entstehen, insofern nämlich, als das Ganze entstehe,
zu dem sie gehöre *). Allein eine solche accidentelle Entstehung
der Form würde doch nur dann keine Entstehung der Form selbst
sein, wenn diese Form nur äusserhch, nur in accidenteller Weise,
bald zu diesem, bald zu jenem Teile der Materie in Beziehung
') de cael. I 9, 278 a 18-20.
») met. XII 3, 1070 a 21—27.
•■') de an. II 4, 415 a 25— b 2; de gen. an. II 1, 731 b.31— 7o2 a 1. Ähnliches
gilt auch von dem ewigen Kreislauf der Elemente: de gen. et corr. II 11,
338 b 16—18. Auch jener Gedanke ist übrigens bereits [ilalonisch; vgl.
synipos. 207 D.
■•) met. VII 8, 1033 a 28—30.
28S Driltcr Alisclmilt. Aristoteles.
träte, in sich aber gleich der platonischen Idee als eine specifisch
und numerisch identische verharrte. Wenn aber die Form, weil
sie nicht getrennt, sondern nur in der Materie existiert, aus
diesem (inmde auch nur in der Materie, nur als Teil des
Individuums, wird, so hört darum ihr Werden doch nicht auf,
ein Werden zu sein.
So liegt hier in der That ein Widerspruch des aristote-
lischen Systemes vor ^). Den Grund desselben dürfen wir wohl
in dem Umstände suchen, dass hier vei'schiedene Gedankenreihen
zusammentreffen, welche völlig auszugleichen dem Aristoteles nicht
gelungen ist.
Wenn Aristoteles die Form, wie Plato die Idee, als unent-
standen und unvergänglich, sowie aller Veränderung entnommen
bezeichnet, so hat er den abstracten Begriff der Art im Sinne,
der ja alle Individuen in seiner Einheit befasst und nicht mit den
Individuen wird und vergeht. Wenn er dagegen die Form mit
den Individuen sich vervielfältigen, wenn er dieselbe nur mit den
Individuen, nicht vor oder nach ihnen existieren lässt, so geht
das auf die Form als physischen Bestandteil des Individuums,
Beides aber wird von Aristoteles in diesem /.usammenhange ganz
und gar niclit geschieden 2). Der eine, unveränderliche Begriff
wird von ihm, dem realistischen Grundzug des antiken Denkens
entsprechend ^), zu etwas Realem hypostasiert *). Aber nicht,
') Der wahre Ausgleich dieses Widerspruches wird erst möglich durch
eine riditige Verbindung platonischer Gedanken — in der umgebildeten Form,
in der sie namentlich durch Augustinus der cliristlichen Philosophie zuge-
lührt wurden — mit den aristotelischen. Ewig ist die Idee als bleibender
Typus, aber nicht eine, man weiss nicht wo, gewissermassen in der Luft über
den Erscheinungen schwebende, sondern die Idee als Gottesgedanke; stets er-
neuert ist ihr Abbild in der Welt des Endlichen.
-') Hier scheidet sich die vorstehende Entwickelung von den Ausführungen
von Hertling's a. a. 0. S. 48 ff., mit denen sie sich sonst in den Hauptpuncten
berührt. Schon das Verhältnis des Aristoteles zu Plato scheint mir mit
Zeller IP b, 342, 1 eine ursprüngliche Gleichsetzung von Form und Wesen zu
verlangen (s. o. S. 282 Anm. 2), für deren urspningliche Trennung kein ein
ziger Ausspruch des Aristoteles angeführt werden kann.
3) Vgl. V. Hertling a. a. 0. S. 94 ff.
■•) Vgl. Z. B. met. Vll 11, 103t) a 26 — 29: djioQfhai 1)' tixunos xal noTa Tov
tl'(fovs lneQtl xat noia ov, aAAä ror avvfi?.>ju/Liei'ov. xaiioi loi'ioiy ftt'j rf^/Aoc
ovTog 01'x fOTiv OQiaaO&at i'y.uaruv' jiiv yä(i y.aO-üXoc xal zov tlifuog ü o(jiafitJi;.
Hier wird das fi'd'os als rd xK&oko,-, auf welches die Definition geht — also der
c) Allgeni. Functionen d. Mat. Die Mat. als Individiiatinnsprinciii. '2H9
wie es consequent gewesen wäre, zu der in sich ungeschiedenen,
über den hidividuen stehenden platonischen Idee; denn diese er-
scheint für die Naturerklärung überflüssig; sondern zu der imma-
nenten Wesensform des Individuums. Darum muss die Individu-
ation, welche Aristoteles, wie Plato, von der Materie ausgehen
lässt, das tiöog in sich selber betreffen^ es real vervielfältigen; das
tt'dog muss kommen und gehen, w'ie bei Plato die Bilder der Idee
in die Materie ein- und aus ihr austreten. Weil nun aber der
ursprüngliche platonische Gedankenkreis auch bei Aristoteles zu
fest haftet, um völlig ausgemerzt zu werden, so bleiben jene Sätze
von dem unentstandenen und unvergänglichen Sein der Form
stehen, obschon diese eigentlich nur für den abstrahierten logischen
Allgemeinbegritf Geltung haben, den er doch anderswo von der
realen Substanz richtig unterscheidet.
Noch in anderer Weise otTenbart sich dieser innere Gegen-
satz der Principien. Es fragt sich, ob die Materie, welche den
Grund der Individuation bildet, auch zum Wesen (cd ti rjv enai,
Xöyoc, ovoia) gehört. Offenbar nicht, da ja die aristotelische
Lehre, ihrem Ursprünge aus der platonischen gemäss, Form und
Wesen zusammenfallen lassen muss. In der That wird auch an
zahlreichen Stellen von Aristoteles ausdrücklich gelehrt, dass die
Materie zwar einen Teil der zusammengesetzten Einzelsubstanz,
aber nicht auch des Wesens bilde ^). Andererseils aber lässt sich
Ai'tsbegrifT — ohne jede weitere Bemerkung mit dem iidoi als Teil des arv-
ii/.ri,uiuivov — also der Form des Individuums — identificiert.
*) met. VII 11, 1037 a 24 — 2i): Zum ?.öyos der ovaia gehören nicht die
Teile, welche die Materie bilden, da diese vielmehr nur einen Teil der zu-
sammengesetzten Einzelsubstanz ausmachen. Darum giebt es von der indivi-
duellen Einzelsubstanz mit Einschluss der Materie nur in gewisser Weise einen
AJyo*,- (d. h. hier eine Definition). Wohl aber ist ein solcher hinsichtlich der
TjQo'nr, ovaia (d. h. hier der Form) vorhanden, wie beim Menschen hinsichtlich
der Seele. — Ebd. VII 10, 1035 b 11 — 16: Die Seele ist xatd rdv Xoyov ovaia
und 10 ti liv tivai für den beseelten Körper. — Ebd. VII 10, 1035 a 18 — 21:
Knochen, Sehnen, Fleisch sind beim Menschen nicht Teile der ovaia, auf
welche der lo'io? geht, sondern des aivoXov (ebenso VII 11, 1036 b 3 — 8. 1037
a 32 — 33). Nur das avviihr,iiuivuv, wie z. B. das Individuum (lallias, vergeht
darum in Fleisch und Knochen (met. VII 10, 1035 a 25 — 33). Darum wird
auch met. VIII 3, 1043 a 34-36 (vgl. VII 10, 1036 a 16-25) gefragt, ob die
Seele im Körjjer oder die Seele allein (wie unter den mittelalterlichen Ari.sto-
telikern Averroes lehrte, nach dem die Materie des Menschen nur in der
Pseudo-Definition des Individuums, nicht in der eigentliclien Definition vor-
Baenmker, Das Problem der Materie etc. 1 y
290 Dritter Alischiiitt. Aristoteles.
iiiclil k'U^^neii, dass tlci- alliiciiiciiH' Hc^i-ilT alles das umfassen
muss, worin die sänitliclien Inilividiicn ül)ereinstiiinnen '). Nun
stiiniuen aber die menschlichen Individuen nichl nur darin über-
ein, dass sie ehie Seele besitzen, welche die Form des Menschen
ist, sondern auch darin, dass sie einen Leib haben, welcher die
Materie dieser Form bildet. So hören wir denn von Aristoteles
auch wieder, dass in den Allgemeinbegriff auch die Materie im
allgemeinen aufgenommen werden müsse "), also z. B. in den
Allgemeinbegriff des Menschen zwar n.icht diese Knochen und
dieses Fleisch, wohl aber Knochen und Fleisch im allgemeinen^),
und dass daher die sinnfälligen Substanzen, welche das Object
des Naturphilosophen bilden und denen es wesentlich ist, Ver-
änderungen zu erleiden, aus diesem Grunde nicht ohne ihre
Materie definiert werden können ^). Vielmehr müsse hier die
Materie in die Definition aufgenommen werden, ebenso wie man
wohl die Krummheit, aber nicht die Krummnasigkeit, ohne die
Nase definieren könne, welche in diesem Falle der Krunmdieif
als Materie diene •').
Solche Widersprüche, wie sie uns hier entgegentreten, wollen
historisch liegriffen, nicht durch unzulängliche Interpretations-
künste überdeckt werden. Zu beachten aber ist, dass auch diese
in die Definition aufgenonmiene Materie wiederimi nicht die un-
konimt: vgl. met. VII, comm. 34, fol. 222 E der S. 231 Aiiin. 2 Schi, citierlen
Ausgabe) das Lebewesen ausniaclie. — Ferner de cael. I !•, 277 h 30 — 278 a 4:
In allen Natur- oder Kunstgegenständen ist die Furni an sich und die mit
der Materie verbundene Form zu unterscheiden, z. B. die Gestalt der Kugel
und die eherne oder goldene Kugel, die Foiiu des Kreises und der eherne
oder hölzerne Kreis. Denn wenn wir das Wesen der Kugel oder des Kreises
{to Ti 7;i' (rvai aifatQct. 7/ xvyJ.u)) angeben, führen wir in dem ?.öyog das Gold oder
das Erz nicht auf.
". Vgl. anal. post. 11 13, lt7 b 7—8.
-) met. VII 10, 1035 b 27 — 31 (wozu vgl. Bonitz, Gomrnent. p. 330; ganz ver-
fehlt ist die Erklärung der Stelle bei Fs. -Alexander, p. 477, 8 ff. Bonitz) ;
met. VII 11, 1037 a 5-7.
ä) das Beispiel nach met. VII 8, 1034 a 5—8.
') met. VII 11, 1036 b 28— .30; [XI 7, 10(54 a !!»— 30]. Vgl. phys. II 2.
194 a 12; de an. I 1, 403 a 29 ff.
") met. V 1, 1025 b 31—34; [Xl 2, 10(14 a 21— 2(i|. Die aiuÖT,,^ als xoüJn.i
der Nase ist ein unzählige Male von Aristoteles wiederholtes und variiertes
Beispiel; vgl. soph. el. 13, 173 h Kt-ll: 31, 182 a i~(i; pliys. I 3, 18('. b
22—23; 11 2, 191 a (i-7; de an. 111 4, 429 1. 11: 7, 4:U b i;!~l5; VII 5,
1030 b 17-18. 30—34; 10, 103.5 a 4 -(j u. o.
(•) Allyeui. Fuiicliducn il. Mal. Die Mal. als IiKlividualiiiiisjuiiiciii. 'JWl
bcstimnite Möi^rlichkolt aller Formen ist, sondern ein heslininiter
StolT, der in den von Aristoteles ge^'^ebenen Beispielen sogar als
ein ber(Mts organisiin'ter (E'leisch, Knocben nnd dgl.) erscheint.
4. Die infelligibele M.iterie.
Der Begriff' der Materie ist für Aristoteles znnächst ein natnr-
pliilosophischer. Er ist erwachsen aus dem Bedürfnis, die Ver-
änderungen innerhalb der physischen Welt zu erklären.
Aber dieser Begriff gewinnt eine weitere Bedeutung. Wie in
der spätem Lehre Plato's die Kategorien der Grenze und des Un-
begrenzten nicht nur auf die physische Welt, sondern auch auf das
Mathematiscbe und auf die abstracten Begriffe angewendet wer-
den, so in der aristotelischen Philosophie der Gegensatz von
Form und Materie. Der sinnlichen Materie (vltj cdölf^rjTr'j), d.h.
der Materie des sinnlich Wahrnehmbaren ^), tritt die intelligibele
Materie (vhj lotjitj zur Seite. Diese aber ist wiederum eine
mathematische und eine begriffliche.
a) Die iiiatlieiiiatiscbo Materie-).
Die Geometrie behandelt nicht, wie die Platoniker meinen,
etwas von den sinnfälligen , veränderlichen Körpern gesondert
Existierendes. Aber wenn ihr Object auch nicht real von dem
Objecte des Physikers, nämlich dem der Veränderung unterwor-
fenen Körper («Jw/ia xirijTÖr)^ getrennt ist, so ist es doch durch
die Abstraction des Denkens von demselben unterschieden '^).
Der Mathematiker beschäftigt sich mit den Körpern nicht, soweit
diese der Veränderung unterworfen sind *). Er abstraliiert von
allen sinnfälligen Qualitäten und betrachtet seine Objecte lediglich
als continuierliche Grössen •'').
') 8. S. 238 Anni, 4.
*) Tiof iia&tjfiariy.wp vh] wird sie in dem allerdings erst nacharistotelischen
XI. Buche der Metaphysik, c.l, 1059 h IG, genannt. Vgl. ehd. VII 10, lOSfJall— 12.
^) de an. III 7, 431 h IT) — 16: t« [xa&ijuaTty.a oi' xe^oögiafisva ais xtytDp/auii'a
roti: (der vovs). Vgl. phys. II % 193 b 22—35; met. XIII 3, 1077 b 17-1078 a 30.
•») phys. II 2, 193 b .34; niet. V 1, 102(1 a 9. 15; [XI 7, 10G4 a 32]; XIII
3, 1077 b 28.
■') met. XI 3, 1061 a 28 — 33: xaxyänfQ <)' ö /^iaxhi/.iaTix6i; 7if(ii zä t'S difui^ii-
niwg (vgl. de cael. III 1, 299 a 16; de pnrf, an. I 1, 641 1) 10-11; auch de
an. I 1, 103 b 15: anal. post. I IS, ,S1 li 3. Trendelenburg zu de an., p. 393 ff.
der 2. Autl.) /;,*' Omtijiiti' 7iuifhai' Ji f(itt).<r,r yi((i ndvia rä ui'aäijid t^Kn(tfT,oiov
19 *
2\)-2 Dritter Absclmilt. Aristoteles.
Wenn aber das matheniatisclie Gel)ildo von aller Veränderung
und allen .sinnlichen Qualitäten absieht, so ist es als solches auch
ohne sinnliche Materie.
Daraus folgt indessen nicht, dass es nun auch ohne alle
Materie wäre. Denn mag auch z. B. die Kreisform mit dem
Wesen zusammenfallen, so mu.ss doch der individuelle Kreis
von diesem Wesen noch unterschieden werden. Es gilt das niclit
nur für den Kreis von Metall oder Holz, sondern auch fiir den
mathematischen Kreis. Auch dieser bestimmte mathematische
Ki-eis ist daher aus der Wesensform und der Materie zusammen-
»gesetzt 1). Da aber diese Materie dem Kreise in einer Beziehung
zukommt, nach der ihn die abstrahierende Thätigkeit des Ver-
standes betrachtet, so ist sie intelligibele Materie '^).
Was unter dieser mathematischen Materie der Körper ver-
standen werden soll, hat Aristoteles nicht ausdrücklich auseinan-
dergesetzt. Wir können es aber aus beiläufigen Bemerkungen
ableiten. Nicht die Wesensform, lehrt er, sondern nur das aus
Form und Materie zusammengesetzte Individuum wird bei der
Zerstörimg auf seine materiellen Teile reduciert. Wenn man also
von dem Kreise sage, dass er in seine Teile zerfalle, so sei der
aus Kreisform und ]\Iaterie zusammengesetzte individuelle Kreis
gemeint. Der Schein, als ob auch das Wesen des Kreises solche
Teile einschliesse, entstehe nur dadurch, weil es für den indi-
viduellen Kreis keine besondere Bezeichnung gebe, wie für die
menschUchen Individuen die Namen Gallias und dgl. ^). Nicht
der allgemeine Begriff des Kreises — variiert er den Gedanken
— hat Halbkreise zu Teilen, sondern nur der individuelle Kreis,
welcher neben der Form auch Materie, und zwar intelligibele
Materie, einschliesst *).
Materie des Kreises ist also das, woran eine Teilung vorge-
nommen werden kann. Das aber ist die jedesmalige Ausdehnung,
welche nach einem allgemeinen Begriff, nämlich der Fornt (oder
Formel, wie ein Moderner sagen würde) des Kreises bestinunt ist.
ßcifjui y.ai y.ortpoTrjia y.ui axXi-iQÜTi,T(i xai Tni'variiuv, iii ()'t xal \}f(tfjii)ri,iu xul iliv-
^^Kiii^TU y.ul T«f (D.Xas r«s" itia&ifidi; tvariidtafK;, /nüvor ifi xaiuXtlud ii) noauv xal
airiyi\; xtl. Ist auch nicht das Budi, so doch der Geilunke aristoteHsch.
M met. VII 10, 103G a 1-5.
•) met. VII 10, 103Ü a 9—12.
'') met. VII 10, 1035 a 30-b 4 (vyl. audi a 7—14).
'; met. VII 11, 103G b 32-1037 a 5.
Die inlelligiliele Materie. 293
Die abstract gedachte Ausdehnung also ist die genieinsaine
Materie der mathematischen KcU'per; individuelle Materie das jedes-
malige (juantuni dorsellMMi. in dem das allgemeine Foi'mgesetz
verwirklicht erscheint ^).
l>) l>it' bogriifliohe Materie.
Wie die physische Materie als reale Möglichkeit durcli ent-
gegengesetzte Formen ihre nähere Bestinnnung erf;ihrt, so verhält
sich auf logischem Gebiete die Gattung zu ihren spezifischen Diffe-
renzen 2). Die Gattung, für sich gedacht, ist noch unbestimmte
Möglichkeit, welche durch die specifischen Differenzen ihre nähere
Determination erfährt. Darum setzt sich der ArtsbegrifT, wenn
wir ihn bei der Definition in seine Bestandteile zerlegen, aus
der Gattung als (intelligil^eler) Materie imd dem artbildenden
Merkmal als Form zusammen ^). Die Gattung ist die Materie
der Art ^).
Umgekehrt lässt sich die Materie als bleibendes Substrat der
Gegensätze dem Gattung-sbegfiff vergleichen ^). Ja dieselbe wird
gelegentlich von Aristoteles, indem er Begriffliches und Reales
identificiert, als die Gattung selbst bezeichnet *'). Darin kehrt
dann die schon oben '') hervorgehobene Unklarheit wieder, dass
die Materie, die sonst als blosser Teil des Individuums vom Wesen
ausgeschlossen erscheint, als Gattung dem Wesen wieder zuge-
rechnet wird.
^) Bei der Besprechung des Proclus wird sich noch einmal Gelegenheit
bieten, auf die „mathematische Materie" des nähern zurückzukommen.
2) met. Y 6, 1016 a 26-28. — '') met. VIII 6, 1045 a 33—35.
'') met. X 8, 1058 a 23: t6 de yevos vItj oi Ir/etai yivos. Vgl. V 21, 1023 b
1—2; 28, 1021 a 36— b 9 (zu der nicht ganz klaren Stelle s. Bonitz. p. 271);
VII 7, 1033 a 1—5; 12, 1038 a 5-0 ; X 8, 1058 a 1. — Die obersten Gattun-
gen, wie die Begriffe des Seienden, der Substanz, der Eigenschaft, der Grösse,
welche nicht weiter in Gattung und artbildendes Merkmal zerlegbar sind, ha-
ben aus diesem Grunde auch keine intelligibele Materie.
*; de gen. et corr. I 7, 321 b 6—7 : t7]v uev yaQ v"/.r,v /.iyoiitv ö/no/o^s '•'>?
tiJiftv r-^v avTT/V fh-ai tu>v driixftueviov onoTfQoi-ovv, uiOntQ yivog o r.
*) Vgl. de gen. et corr. I 10, ,328 a 19-23, wo es heisst, dass nur dasjenige
sich zugleich activ und passiv zu einander verhalten könne, was dieseli>e t'Ai?
habe, und 1 7, 323 b 29— .324 a 2, wo dafür das gleiche yivo^- gefordert wird;
ferner met, V 24, 1023 a 26—29, wo das Wasser für alles Schmelzbare als
ii oi (ÖS vk-iig und zugleich als nnmtov yivug aufgeführt \vird.
') S. S, 289 f.
294 Dritter Abschnitt. Aristoteles.
5. Die peripatetische Schule.
Die |)('fi[)ai('lisclie Schule l)(Miaii(l('ll das l'i-oblcin dt-r .Materie
durehau.s nacli den von Afisloteles L;ebuleiieii Clesiclit.spiinclen.
Man versncht, seine Leine in einzelnen Dingen näher zu be-
slinniien, ohne aber die Grundgedanken derselben zu verlassen.
Theophrast, überhaupt nielit blind für die Schwierigkeilen
der aristotelischen Lehre ^). hebt in seinen nietaphy.sischen Aporien
richtig die Unklarheit hervor, welche iji dem aristotelischen Be-
griffe der Materie enthalten ist. Er giebt zwei xVuftassungen des
Verhältnisses von Form und Materie, zwischen denen eine Ent-
scheidung zu treffen sei. Es sind im Grunde die beiden unter sich
unvereinbaren Formulierungen des Begriffes der Materie, die sich
schon bei Aristoteles ergaben, jenachdem wir den einen oder den
andern der l)eiden Wege einschlugen, auf denen er im ersten
Buche der Physik die von den Alten im Begriffe des AVerdens
gefundenen Schwierigkeiten überwinden will 2). Nach der einen
Auffassung, welche nur in der Form ein Seiendes erblickt, ist die
Materie noch nicht Seiendes, sondern erst der Möglichkeit nach
Seiendes, und das Werden besteht demgemäss in einer Überfüh-
rung aus dieser blossen Möglichkeit zur Wirklichkeit. Nach der
zweiten ist dagegen auch die Materie ein. Seiendes, aber, wie der
Stoff, welchen der Künstler gestaltet, ein noch unbestimmtes Sei-
endes, und das AVerden besteht dai'in, dass dieses unbestinnnte
Seiende, dem jedesmaligen Begritf entsprechend, geformt wird ^).
Bei dieser Auffassung ist auch die Materie wahrhaft am Sein be-
teiligt; es würde nichts werden, weim sie nicht wäre; aber dieses
Seiii; was sie giebt, ist, wie Aristoteles es von der Materie ver-
langt, weder bestinnnte Substanz, noch Quantität, noch Qualität;
es ist unbestimmt der Art nach und nur der Mögliclikeit nach
etwas Bestimmtes ^). — Der Consequenz des aristotelischen Ge-
dankens entspricht nur die erste Deutung; die zweite enthält eine
An})assung an die gewöhnlichen Vorstellungen vom Stoff, die
dem Aristoteles sehr geläufig ist und von den Stoikern weiter aus-
1) Vgl. Zeller II'' b, H2(3. Diels, Doxogr. j). 164.
2) S. S. 213 t. und S. 257.
■'') Theophr. met. §. 17, wozu vgl. Usener, Hb. Mus. XVI. 1«(31. S. 277
(<)'i'r«',/'f' ''' "'' statt . . . i-v.)
*) Theopbr. a. a. 0.
Die iieriinilpt. Schulf. Tlicnpliiast. Eudem. Strato. 205
getülirt wird. Für wciclio AuirassiinLr Theoplirast sich (Milsehiotl,
wissen wir niclil. Doch scheint er mehr der zweiten zuzuneigen;
denn er verlangt, dass jene Frage nach der Analogie der Kunst
— und dem Stoffe des Kunstwerkes verglich er ja jenes unbe-
stimmte wirkliche Seiende — beantwortet v/erden müsse '). Wo
Theophrast in seinen naturwissenschaftlichen Schriften von der
Materie spricht, versteht er darunter, wie Aristoteles in seinen
naturwissenschaftlichen Werken, stets einen bestinmiten Stolf ^).
Wie Theophrast, scheintauch Eudemus sich von der aristo-
telischen Theorie nicht entfernt zu haben ^).
Ob Strato von Lampsacus. auf dem Gebiete der Physik der
selbständigste unter den Peripatelikern, auch auf das Problem der
Materie eingegangen sei, lässt sich aus dem vorliegenden Materiale
nicht ersehen *).
1) Theoptir. a. a. 0.
■') v).7i Nährstoff für die PlUiiizen (de caiiH. i)]ant. 1 10,8; IV 3, 4; VI 17, VI).
für Feuer (de igne 4) und Wind ^de vent. '2\). Die Materie für Blätter und
Schossen weniger rein als für Fnichte und Pflanzensäfte (de e. ])1. I 14, .'5;
VI 12, f>), und <1aruni das Verhältnis von Pflanzen- und Fruchtsaft wie das von
Materie und Form thist. pl." I 12, 2). Das Feuchte Materie für die Pllnn/.en-
säfte (de c. pl. VI 7, 1); ehenso für das Warme bei der spontanen Entstehung
von Maden u. s. w. (de c. pl. 11 1 22, o. Vgl. Arist. de gen. an. III 11, 7(i2 a
f>— 27; s.S. 278 Anm. (!); das Saure Materie für den Wein, weshalb er darein
auch wieder umsclüägt (de c. pl. VI 7, 0) ; das Wasser, mit dem der Kalk
übergössen ist, für das Feuer (de igne tö).
■■*) Was wir von Bestimmungen des Eudem über die Materie wissen, ist
Folgendes. Die Materie ist, als etwas in sich Gestaltloses, Substrat der vier
Elemente und von diesen verschieden {h. 32 Spengel bei Simpl. phys. III, p.
4.S(>, 20 f.). Sie ist nicht amna, sondern ai»fxutofi<N,g (fr. KJ, Simpl. phys. I, p.
201, 21)). Vom Raum ist sie zu unterscheiden, da sie beweglich, dieser unbe-
weglich ist (fr. 40, Simpl. phys. IV, p. 550, 34). Die Formen sind in ihr (fr. 41,
Simpl. jihys. IV, p. 552, 25 f.), und dabei verhalten sich die arfQijasi^ ähnlich wie
etwas real Vorhandenes (fr. 54, Simpl. phys. V, fol. 192 "*' ). Sie ist daher eine der
Ursachen. Das Erz z. B. erweist sich als Ursache dadurch, dass es dem Kunst-
werk seine lange Dauer verleiht (fr. 2, Simpl. phys. I, p. 10, 13 ff.). Auch ^vais
ist sie, weil sie Ursache der Bewegung ist, z. B. das Blei für die Abwärts-
bewegung (fr. 19, Simpl. phys. II, p. 2H4, 34 ff.). Man sieht, wie auch bei
Eudemus die Materie unter der Haud zum kraftbegabten Stoffe wird.
') Im Unterschiede von Aristoteles (s. S. 247 Anm. 3) stimmte Strato dem
Demokrit wenigstens darin zu, dass innerhalb des Weltganzen leere Zwi-
schenräume — also Discontinuität der Materie — anzunehmen seien.
Anders glaui)te er das Durchdringen des Liclites und der Wärme durch die
Körper nicht erklären zu können. Vgl. Simpl. phys. IV, p. 693, 11— IH. Eine
andere Bemerkung Strato's s. S. 307 Anm. 2.
206 Dritter Abschnitt. Aristoteles.
Uiilci" den spülern Peripaletikern niihert sich Boethus aus
Sidon in bedenklicher Weise der sloisclion Lehre i),
Alexander von Aphrodisias dagegen, der „Exegel", kehrt
zu der ursi)rünglichen aristotelischen Theorie zurück, die er, unter
Ausscheidung einiger platonischer Elemente, mit grosser Klarheit,
aber ohne aul" die Schwierigkeiten ihrer letzten Grundlagen ein-
zugehen, schulmässig vorträgt und gegen den Sloicisnuis vertei-
digt 2).
') Nacli Simpl. in Categ. fol. 20 r ed. Kasil. 1551 (bei Brandis, scliol. in
Arist. p. 50 a 10, fehlt gerade die entscheidende Stelle) lehrte er, dass nur die
' Materie und das aus Materie und Form Zusammengesetzte — und zwar in er-
ster Linie die Materie — Substanz seien ; denn nur sie würden von keinem
andern ausgesagt und seien in keinem andern. Die Form dagegen falle unter
die Kategorie der Qualität oder der Quantität oder eine ähnliche. (Solche
.Annäherungen des Peripatetikers Boethus an die Stoiker finden sich auch
sonst, selbst in auffallenden Eigentümlichkeiten der Stoiker, wie hinsichtlich
des Unterschiedes von T/poV n und 7r()ös n nwg ey^ov ; vgl. Simpl. in categ. fol.
43 B). Nach Themist. phys. I, p. 145, 13 ff. Spengel, Simpl. phys. I,p.211,15 —
18 unterschied er vXr, und vTioxfi/iifvov. Der Name vkrj bezeichne den noch ge-
staltlosen Stoff vor Aufnahme der Form ; rnoxfifievov sei der »Stoff als Träger
der Form, d.h. (vgl kowv bei Themisl. Z. 14 und ftVo? Z. 17 gleichbedeutend) der
Qualität. Das widerspricht indes dem eben aus Simplicius in cat. Angeführten.
Vermutlich gebrauchte Boethus den Namen vlij als allgemeine Bezeichnung
des Stoffes sowohl vor als nach der Aufnahme der Form, während der Name
vnoxeijufvov dem letztern Zustande vorbehalten blieb. Er konnte dann — ganz
ebenso wie Alexander von Aphrodisias de an II, p. 120, 2U — 23 ed. Bruns
(Suppl. Aristotel. ed. Acad. litt. reg. Boruss. vol. II pars 1) den Stoff vor Auf-
nahme des fi'ffos nur als v?.7] — nicht als vTioxelfxevov — bezeichnen, woraus
Themistius macht, er habe nur den noch un geformten Stoff so
bezeichnet.
^) Eine ausführliche und sehr klare Darstellung der aristotelischen Lehre
von Materie und Form findet sich besonders de an. I, p. 2, 25—7,8 ed. Bruns;
vgl. auch lib. II, \). 101, 18—102, 1>. Dieselbe bietet indessen kaum einen
eigentümlichen Gedanken. Sonst möchte ausser dem, was S. 213 Anm. 1,
S. 219 Anm. 4, S. 220 Anm. 3, S. 231 Anm. i> g. E., S. 280 Anm. 7 angeführt
wurde, etwa Folgendes bemerkenswert sein.
Wie Alexander (nach dem Vorgange des Boethus, vgl. Dexipp. in categ.
pg. 45, 12 — 24 Busse; Schol. in Arist. 50 b 15—31) durch die Behauptung,
das Einzelne sei nicht bloss für uns, sondern auch an sich früher als das All-
gemeine, aus der aristotelischen Erkenntnistheorie einen unorganischen plato-
nischen Bestandteil ausscheidet (Simpl. categ. 21 B. Dexipp. 1. c. Vgl. Zeller
IIP a, 794), so führt er auch die Lehre von den ewka tt(fi] (der Ausdiuck
i'vvXoi Irjyot schon bei Arist. de an. l, 403 a 2.')) consequenter in einem mehr
Die peiipaletische Sfliule. Boinliu.<. Alexander. 297
nominalistischen Sinne durch. Er scheidet scharf zwischen der realen Einzel-
form und der durch die Abstraction des Verstandes gewonnenen allgemeinen
Form (de an. I, p. fK), 1—10). Ausdrücklich erkennt er an, dass das tirfos
fi-r/.ov, sobald es aus der Materie weiclie, zugrunde gehe (de an. 81*, 13 — 15).
Aber auch die allgemeine Form besteht nur dann als solche, wenn sie wirk-
lich von einem Verstände gedacht wird (ebd. 88, 14 — 15; 91, 2 — 5). Ihre Un-
vergänglichkeit beruht auf ihrer fortwährenden Erneuerung in stets anderen
Individuen (Alex, bei Simpl. phys. 1, p. 234, 17 — 19. Dass hier Zeile 24 ff.
der auch von Aristoteles selbst gebotene Ausweg angeführt wird, nicht das
tidoi, sondern das at^rai^mÖTfQov vergehe, ist allerdings inconsequent). Für den
Satz, dass nicht die Form an sich entstehe, kann Alexander darum nicht mit
dem hier platonisierenden Aristoteles als Beweis anführen. Form oder Materie ent-
ständen überhaupt nicht, sondern nur das Zusammentreten (avvoffo?) beider
(Arisi. met. VII 8, 1033 b 16-18; vgl. S. 285). Er leugnet vielmehr ein sol-
ches gesondertes Zusammentreten (de an. II, p. 121, 32 f.) und sieht im An-
schluss an andere aristotelische Gedanken den Grund jenes Satzes ausschliess-
lich in der Untrennbarkeit von Form und Materie, deretwegen stets das ganze
Compositum aus einem andern Compositum werde (ebd. p. 121, 35 ff.).
Ebenso unterscheidet Alexander schärfei' als Aristoteles zwischen Gattung
und Materie (quaest. nat. 11 28). Wenn beide darin auch übereinstimmen,
dass sie, jedes auf seinem Gebiet, etwas Gemeinsames sind, welches durch
Aufnahme einer Differenz besondert wird, so ist die Materie doch etwas Ob-
jectives (ein npäyija), welches zum realen Sein der existierenden Dinge bei-
trägt; die Gattung als solche aber ist ein blosser Name und hat ihr Gemein-
sam-Sein nur im Denken, nicht in irjend einer Wirklichkeit(quaest. nat. II 28, p. 148,
14: ff) <U ye'voi «h- yfVof kafjißaröjuevov ov Trpay.u« ti iativ vnoxelu(Vov, nXXa fiovov
ijvnua, xai iv tiIj vocla&ai t6 xotvdv tivai f)[ov ot'x ev vTcnOTäaei rivi),
Dass auch dem fünften Element und den daraus bestehenden Himmels-
körpern (s. S. 245 f.l eine Materie als erstes Substrat zukomme, erscheint Alexan-
der darum notwendig, weil jene Körper physische, nicht mathematische Kör-
per seien: denn für den physischen Körper sei die Zusammensetzung aus Ma-
terie und Form wesentlich. Diese Materie sei aber von der der Elemente
verschieden, da sie nicht, wie die letztere, entgegengesetzte Bestimmungen auf-
nehmen könne. Unstichhaltig sei der Einwand, eine Materie, die von einer
andern verschieden sei, müsse sich von dieser dui-cli eine bestimmte Eigentüm-
lichkeit unterscheiden ; sie könne darum weder einfach, noch qualitätslos sein, son-
dern sei aus der gemeinschaftlichen Gattung und dem bestimmten artbildenden
Merkmal zusammengesetzt. Alexander hält entgegen, dass auch sonst Dinge, die
nicht unter eine, gemeinsame Gattung fallen, durch ihr ganzes Wesen ver-
schieden seien, wie Sein und Nichtsein, ferner die obersten Gattungen des
Seienden (zu denen ja der Begriff des Seienden nicht höchste Gattung ist;
vgl. Arist. met. III 3, 998 b 22—27), auch Form und Materie (quaest. nat. I 10,
p. 43 ff. Spengel; ebd. I 15, p. 54 ff.).
Die Materie der Elemente hat, obgleich entgegesetzte Formen nicht gleich-
zeitig in ihr zu sein vermögen, doch gleichzeitig das Vermögen zu Ent-
gegengesetztem (quaest. nat. I 19, p. 66, 12 ff.; II 15, p. 112, 16 ff.). Die-
2i>.S Dritter Alisdiiiitt. Aristoteles.
ses Vermögen al)er diirf niclit als eine der Materie accidentelle Qualität
(noiÖTr/i.) lietraclilet werden, sondern es iiildet das Wesen der Materie (([uaest.
nat. I 15, p. 51;, 7 fl'.).
Ursache des Übels ist die Materie wegen dn- ihr anharienden Heraniiung
{arf'Qi/<u^) deretwegen sie die Ordnung des Ewigen der Hiininelskörperl nicht
erlangen kann (Sirapl. phys. I, p. 249, 12—14).
Zu l)eacliten ist Alexander's Polemik gegen die st oi s c h e Auffassung der Ma-
terie. Gegenühei'der Gleichsetzung von Materie und Kör])er bei den Stoikern und
ihrer Behauptung, dass alles Unkörperliche unwirklich sei, sucht er durch Analo-
gien begreillich zu niarhen, wie dei- Köiper aus Unkörperlichem werden könne
(de an. I, p. (i, •! IT.; vgl. II, p. Hl, 27— .'{O).
Entgegen der, auch von Hoetlius geteilten. Gleichsetzung von ovaia, vXtj,
■r.iiiyfi'iifviiv sucht er zu erweisen, dass die Materie nicht ! no/.dnevov der
Form, und dass also die Form nicht in der Materie (•')<; fv vnoxti/nEvm sei
(quaest. nat. I 8 und 17; de an. II, p. W-K 21—122. Ib. Quae-st. nat. I S
nimmt zu Anfang Bezug auf I 17; vgl. z. B. p. 37, IS— l'.l uml '!1, IS— i;)i.
Dabei ist aber nicht zu übersehen, dass das Wort vTioy.tii^in-ov hit^ nicht in
dem allgemeineren Sinne genommen wird, in welchem Aiistoteles (wie Alexan-
der de an. IT, p. 120, 33 ff. selbst anmerkt) von der Form sagt, dass sie iv vnoxnuh'oi
sei (.\rist. phys. II 1, 192 b 34; s. auch ohenS. 215), und in welchem auch Alexander
das Wort unbedenklich von der Materie gebraucht (z. B. de an. 1, p. 89, 15;
q.nat. II 2>s, p. 147, 23; 148, 2\ Es ist hier unter vnoxsinsvov vielmehr etwas
verstanden, was, da Nichtseiendes auch nichts aufnehmen kann, selbst ein
röiU Ti, seihst tvfQyeia ist, und dem nicht erst von dem, was in ihm ist, zum
Sein verhülfen wird (de an. II, p. 119, 35 f.; q. nat. 1 8, p. 39, 5—8; p. 40,
8—10; 1 17, ([. ()0, 9 ff. 16 tf.). Das vno/.sUnvov in diesem Sinne darf zwar
Änderungen ei-fahren, aber nur solche, bei denen es seine eigene Natur und
sein eigenes W^sen bewahrt (de an. II, )). 120, 2i) f. ; ([. nat. I 8, p. 39, 14).
Den Beweis dafür, dass die Materie kein solches vnoxdutvov sei, macht
sich Alexander freilich leicht, indem er nicht den stoischen Begriff derselben,
sondern den aristotelischen zugrunde legt. Die Materie ist nicht roäe n und
nicht trur/fia Vorhandenes, sondern liedarf, um zu existieren und ein %6ih tt
zu sein, der Form (de an. II, p. 12(1, «-9; ([. nat. I S, p. 40, 3 ff. I 17, p. HO,
9 If. 1 2(), p. .SO, 22 ff). Wenn man dagegen einwenden will, da.ss Gestalt,
Farbe u. s. w., die doch in einem vnoxeiufvov seien, gleichwohl zum Sein die-
ses vTioxfiufvov beitrügen — denn kein Körper kann ohne Gestalt, Farbe
u. s. w. existieren — und dass daher auch die Notwendigkeit der Foi-m für
die Existenz der Materie die.ser den Charakter als inoxtitxtvov nicht raul)e, so
ist zu erwidern, dass Gestalt, Farbe u. s. w. wohl zu der Realität des vnoxii-
IjLfvov, aber nicht zu dessen TÖd'f n beitragen. Denn trotz alles Wechsels
jener Eigenschaften bleibt das Substrat das, was es ist; der Wechsel der
Form aber führt auch in dem zoiU n elvai einen Wechsel lierbei (q. nat. I 8,
p. 37, 12 ff. 39, !> ff). Durch die Aufnahme der Form erfährt die Materie
wirklich eine innere Alfection , sie ist nicht etwas in sich Unwandelbares,
wie die Platoniker im Anschluss an den Timaeus behaupteten (Alex, bei Sirnpl.
phys. II, p. 320, 20—21; vgl. 23-2.5). So ist also die Form in der Materie
Die peripalelisclie Schule. Alexander. 299
nicht wie in einem vjroxfiitfror. Selhslversliindlich gilt das nur von dem
(froixov n'ihii, nicht von dem durch künstlerisches Schaffen hervorgehrach-
len, wie denn üheriiiin|il das Vei'hältnis von Form und Materie in diesen liei-
den Fällen ein durciiaus verschiedenes ist (vgl. de an. I, p. 1, 20—"), !>. \). (i,
5— <>; {{. nat. I "2(), p. Sl, 21-2(>). Denn der Stoff, den der Künstler hciuheitet,
schliesst die Wesensform bereits ein (de an II. p. 120, 5 11'.).
Die Art, wie die Form in der Materie ist, ist also nicht die des Ent-
haltenseins (>)e er r/toxfif.itvo), sondern eine andere Art des iv nri (de an. II,
]). 119, 81— ;52). Was in einem andern als einem selbständigen tvioxfliifvor
sich befindet, gehört niclit zu dessen Wesen und ist deshalb niciit y.aih' uvrii,
sondern xcnd avjjißf{ir,xüi in ihm (über diesen Sinn des ep ■yTroz^^^wi) vgl. Zeller 11^
b, 308 Anm. 1). Die Form, die in der Materie nicht wie in einem inQy.d^tvov
ist, muss in der That xaty' ahö in derselben sein, weil andernfalls die Ein-
heit von Form und Materie keine substantiale, sondern eine accidentale wäre
(q. nat. I 2(;, p. «1, 21—26).
Freilich erhebt sich dagegen ein Bedenken. Wenn die Form y.a^' uvt6
in der Materie i.st, also zu deren oiaia gehcirt, so muss die Materie, scheint
es, mit der Form zugrunde gehen (q. nat. I 2(5, p 80, 22 ff.). Demgegenüber
bemerkt Alexander (p. 82, 18 ff.), dass nach Aristoteles (anal. post. I 4, 73 a
24— b 3; 22, 84 a 12 — 17) und Theophrast auf doppelte Weise xad-' amo etwas in
etwas sein könne. Die eine Art sei die, wo das Erste in der Definition des Zwei-
ten, die andere, wo umgekehrt das Zweite in der Definition des Ersten ent-
halten sei. Auf die letzte Art sei z. B. das Geradzahlige oder das Ungei'ad-
zahlige xa»" uinö in der Zahl; denn in der Definition des Geradzahligen oder
des Ungeradzahligen konnne die Zahl vor. Die neuere Logik wüixle die erste
Art als Enthaltensein im Inhalt, die zweite als Enthaltensein im Umfang be-
zeichnen. Nun sei aber, führt Alexander weiter aus, in der Definition eines
jeden evrXov e?'i'os die Beziehung auf die Materie enthalten. So könne die
Seele nicht ohne Beziehung auf das aw,«« qjvaixov ÖQyavixöv definiert werden.
Die Form ist also in der Materie in der zweiten Weise jenes xa&' avtn.
Daraus ergeben sich dann weitere Anwendungen. Nicht jede Zahl ist
gerade, auch nicht jede Zahl ungerade, wohl aber jedes Geradzahlige und
jedes Ungeradzahlige Zahl. Ebenso ist zwar nicht jede Materie mit dieser
bestimmten Form begabt; wol aber ist jedes ewXov f/Vo? in der Materie. Ferner
vergeht bei der Umwandelung einer geraden Zahl in eine ungerade, oder um-
gekehrt, wohl die Bestimmung , gerade" oder „ungerade", nicht aber auch die
„Zahl". So braucht denn auch bei dem Wechsel der Form nicht die Materie
mit jener zu vergehen, sondern bleibt, wie die „Zahl" bei dem Übergange des
Geraden in das Ungerade ((j. nat. 1. c).
Damit ist das anfänglich erhobene Bedenken gegen die Möglichkeit einer
Zugehörigkeit der Form zum Sein der Materie beseitigt. Freilich geschah
das nur durcli die Fiction, dass die Materie in der Wesensform, die Wesens-
form in der Materie wie die Gattung in der Art, die Art in der Gattung ent-
halten sei. Die Materie wurde als Teilinhalt der Form, die Form als Teil-
umfang der Materie Ijetrachlet. Damit aber setzt sicli Alexander mit seinen
300 Dritter Aliscliiiilt. Aristoteles.
eigenen Aiisi'üliruiitien über den Llntorsrhied von Materie und Gattung
in Widers]>rn(ii,
So fällt auch derjenige Peripateliker, welcher die dem platonischen
Begrifl'srealisnius enlsla nunenden Eleuiente sonst ziemlich, consequent aus
der ai'istolelisclien Philosophie entfernt, bei der Rechtfertigung des aristote-
lischen Begriffs der Materie als einer blossen Potenz, zu deren otiaia schon die
Form gehört, schliesslich doch wieder in jenen Begriffsrealismus zurück. Er
beweist dadurch aufs schlagendste, dass der Ursprung jenes Begriffs wirklich
in einem solchen Begriffsrealisiiius zu suchen ist.
A i e r t e r Abschnitt.
Epikureer und Stoiker.
Die Fülle an schöpferischer Kraft, mit der wir auf imserm
Wege von Thaies his Aristoteles den philosophierenden Geist für
(las Problem der Materie stets neue Fragestellungen sowohl wie
völlig neue Vei'suche der Lösung gewinnen sahen, ist in der nach-
arislolelischen Periode — um dieselbe vorläufig noch als Einheit 7.U
betrachten, — soweit die Naturphilosophie inbetracht konmit, er-
lahmt. Hier frisclit Epicur den alten Atomismus wieder auf, ver-
knüpft die Stoa Heraclit mit Aristoteles, während der Neuplatonis-
mus und seine Vorläufer für die Leinte von der Materie in noch
vcrschlungnerer Verkettung das Product der stoischen Synthese
der eigenen Gombination platonischer und aristotelischer Gedanken
einweben i).
Gleichwohl führt uns die geschichtliche Betrachtung jener
Schulen nicht zu blossen Wiederholungen. Epicur freilich be-
schränkt sich im ganzen auf eine einfache Repristination seines
Vorgängers Democrit, an dessen Lehre er nur im einzelnen man-
cherlei zu ändern und nachzubessern versucht. Die Stoa aber
hat ebenso wie die dem Neuplatonismus vorangehenden Richtun-
gen und in noch höherem Maasse der Neuplatonismus selbst aus
der Verbindung der übernommenen Elemente diu-ch Modification
und WeiterlDÜdung derselben eine charakteristische Gesamtanschau-
ung erwachsen lassen. Das Eigentümliche dieser Gesamtanschau-
ung liegt vor allem darin begründet, dass von jenen nacharistote-
') Dass die jjlatonisclie und die aristolelisclie Lelire von der Materie duicli
weg dieselbe sei, beliauplet Sinijil. in ptiys. I, p. '22b, IG fl'.
302 Vierter Abscluiitt. Epicureer und Stoiker.
lisclicii I*liilüs()i)licii crcwisso Seiten ;iii ilireii Voi'<,nuiLrerii, die dort
iKicli iiiiciilwickcll eine iiiclir iiiilci'ireordnele Rolle spiclfii, molir
in den Mitlclpnnct des Systems ,^erückl werden und infolgedessen
ancli die Ansclianung von der Materie bedeutsam umgestalten.
Bei den Stoikern wird der Materialismus ein solcher Gentralpunct.
Denn wenn, gleich den übrigen Philosophen vor Socratos, auch
Heraclit die materialistische Anschauung noch nicht überwunden
hat *), so hat er sie doch nicht, wie die Stoiker, in bewussten
Gegensatz /u der dualistischen Lehre von der Verschiedenheit
zwischen Körper und Geist, Materie und Ix'grilTlichcm Wesen ge-
stellt. Ebenso ist dem Plato der Gedanke nicht fremd, den Ur-
sprung des Üblen im Körperlichen, in der Materie zu suchen ^).
Aber ersl die neuere platoniselie und die neuplatonische Pvicli-
tung setzten die naturphiloso})hisclie Untei"Fuchung zu dem alles be-
herrschenden ethischen und religionsi)liilosophischen Problem vom
Ursprung des Bösen in jene durchgängige enge Abhängigkeit,
welche auch ihrer Lehre von der Materie die charakteristische
Eigenart mitteilt.
Wenn so jene Tlieorien durch die Einfi^ihrung eines neuen
Princips auch vor einem schwächlichen Eklekticisimis einiger-
maassen geschützt wurden, so sind sie — es gilt das namentlich
von der Stoa — einer andern Gefahr nicht entgangen. Die über-
nommenen Gedanken, sehr verschiedenen Stufen der philoso-
phischen Entwicklung angehörig, fügten sich nicht immer der Ein-
heit des Systems, sondein Itrachten mehrfach ein unklares Schwan-
ken hervor.
Abhängigkeit . wie Selbständigkeit der nacharistotelischen
Theorien der Materie wird die Eiir/.elbetrachtung ergeben, zu der
wir nunmehr übergehen.
Wir stellen dabei die Epicureer voran, um die Stoa als den
einen der Ströme, die sich schliesslich in dem umfassenden Systeme
des Xeuplatonisnuis verlieren, im Zusanunenhange nüt den andern
Vorläufern dieses für das Altertum abschliessenden Systems be-
handeln zu können. Um aber auf der andern Seite den Unter-
schied der sensualistisch- materialistischen Naturbetrachtung der
Epicureer und Stoiker von der rein noumenalistischen, av eiche
') S. S. 32 f.
-) S. S. 200 f.
Allgemeine (!lKir:ikl(Mi>lik. lipii iir. 303
durch die liückkflir zu Platü erzou<.d wird, auch ;inssorHch her-
vortreten zu hissen, werden wir der k'lztern, (L h. dem Neu-
})latonisnuis mit seinen unniittel])aren pkitoniscli-pythagoreischen
Vorläufern , einen eiü:enen Abschnitt zuweisen.
1. E j) i c 11 r.
Die atoniistische Constitution der Materie.
So verschieden auch der Gesichtspunct ist, unter dem Demo-
crit und Epicur ^) an die Erforschung der Natur herantreten —
jener will „eine Erklärung der natürlichen Erscheinungen aus na-
türlichen Ursachen, eine Naturwissenschaft rein um ihrer selbst
willen"^ dieser „eine Naturansicht, welche ihm den Dienst leistet,
von dem innern Leben des Menschen störende Vorstellungen fern
zu halten" 2) — so kommen doch beide in dem thatsächlichen
Inhalt ihrer Naturorklärung fast vollständig überein ^). Wir wer-
den darum auch hinsichtlich des Problems der Materie nur wenige
Abänderungen im einzelnen finden, durch welche Epicur seine
Selbständigkeit Democrit gegenüber zu beweisen sucht. Noch ge-
ringer ist das Maass an Selbständigkeit innerhalb der epicure-
ischen Schule *). Unbedenklich werden wir daher zur Feststellung
der Lehre Epicur's das ausführliche Lehrgedicht des T. Lucretius
Carus mit heranziehen dürfen '"). Bei der Darstellung dieser
') Die Citate werde icli im folgenden geben nach H. Usener, Epieurea.
Lipsiae 1887. Für die Geschichte der epiciueischen Philosophie, speciell seiner
Lehre von der Materie, ist ausser den im Folgenden citierten neuern Abhand-
lungen noch immer von "Wert die umfassende Darstellung von Petrus Gassendi,
Physicae sectio prima, in Bd. I. seiner Opera omnia Lugduni 1()58.
■') Zeller IIF a, 475 f.
^) Über Epicur's Beziehungen zu Democrit vgl. Zeller Iir' a 4(l0 ff. Hirzel,
Untersuchungen zu Cicero"s philos. Schriften I, 132 ff. (wozu aber Zeller III -'
473, 1 u. 2 zu vgl.). Xatorp, Forschungen zur Gesch. d. Erkennüiissprolil. im
Alterth. S. 209 ff.
') Zeller IIP a, 378 ff. Was Hirzel I, 98 ff. als Beweis für Verschieden-
iieiten innerhalb- der epicureischen Schule beibringt, ist nicht sehr bedeutsam
und betrifft wenigstens nicht das Problem der Mateiie. Betreffs dieser nimmt
nur der Arzt Asclepiades aus Bithynien eine eigentümliche Stellung ein (s. u.
S. 23;") Anm. 4). Derselbe gehört aber nicht zu der engern Schule.
'•') Die Verszählung des Lucrez gebe ich nach der Lachmann'schen Aus-
gabe. - Die atomistische Theorie des Lucrez in ihrem Verhältnis zur mmlci-
nen Atomistik: l>ehandeln J. Veitch, Lucretius and the atomic theory. Ldiidon
187.'!, und John Massoii, The atomic theory of Lucretiu.s conlrasted with modern
304 Vierter Al)selinitt. Kpicureer und Stoiker.
epicureischen Theorie werden wir zn sprechen haben zunächst
von den Atomen an sich, dann von der Bewegung der Atome.
a) I>a8 Atom an ^icli.
Von Domocrit entnimmt Epicur den obersten Grundsatz seiner
Naturlehre, dass das All aus Körpern i) und dem Leeren be-
stehe 2). Die Existenz der Körper wird durch die Wahrnehmung
bewiesen ^). Die des Raumes oder des Leeren *) ergiebt sich aus
der Erwägung, dass ohne einen Raum die Körper nicht hätten,
wo sie sein und wodurch sie sich bewegen könnten, da doch die
Bewegung selbst durch die Wahrnehmung als eine Thatsache
bezeugt wird ^). Ausser den Körpern und dem Leeren und den
Eigenschaften dieser giebt es nichts. Eine unkörperliche geistige
Substanz ist zu verwerfen "). So erfordert es der epicureische
Sensualismus, der nur das, aber alles das, als wirklich annimmt,
doctrines of atonis and evolution. London 1884. Sein Verhältnis zu Epicur unter-
sucht J. Woltjer, Lucretii philosophia cum fontibus comparata. Specimen Htte-
rarium quo inquiritur quatenus Epicuri philosophiam tradiderit Lucretius.
Groningae 1877. Vgl. auch Ivo Bruns, Lucrez-Studien. Freiburg i. Br. u. Tü-
bingen 1884. S. (if) ff.
') ao'>(uaTa, unter denen hier noch nicht bloss die corpora prima (Atome),
sondern auch deren Verflechtungen verstanden sind.
-) Epic. epist. ad Herod. bei Diogen. X, 39; ep. ad Pythocl. ebd. X 80; fr.
74. 7r». 7G. 92 Usener. tt. yw. 1. incert., Vol. Herc' X col. 9 (Gomperz, Wiener
Studien J, 1879, S. 28, 15. Usener p. 345, 24). Lucr. I 418—442. Philodem. n.
fvat;-^. fr. 81, p. 111, 1 Gomperz, wo mit Usener, p. 121 Anm. zu Z. 11, amfiaia
xai lonov ZU lesen ist. Andere Belege bei Usener, Epicurea S. 37").
=') ep. ad Hernd. §. 39. Lucr. L 422 - 425.
■*) ep. ad Herod. §. 40: tÜttoi; . . ., ö'r yivöv y.al Y^uiftav xai dva<fi7, (fi^aiv
dvofjccZoutv. Vgl. Aet. I 20, 2 (Dox. p. 318) bei Stob. ecl. I, p. 388. Sext. Emp.
adv. math. X 2 (dagegen legt Ps.-Plut. plac. 1 20, Dox. p. 317, dem Epicur
dieselben Unterscheidungen bei, wie die Stoiker sie machten; s. S. 334, Anm. 4).
"^j ep. ad Herod. §. 39—40. fr. 272. Lucr. I 42(J- 4'29; 329—397. Sext. adv.
math. VII 213; VIII 329. Philodem. n. arißiimv col. 8, 2() ff. col. 12, 7 ff. Es
ist die Form des Beweises, welche Sextus 1. c. VII 214, Philodem. 1. cit.
dvaaxtvt] nennen (wenn A in Gedanken aufgehoben wird, ist B mit aufgeho-
ben. Dass die Sext. adv. matii. VIII 329 dem Epicur beigelegte positive Form
nicht die Worte dieses wiedergiebt, bemerkt Usener, Epicurea, p. 193 Anm. zu Z..3),
während Epicur selbst sie als m'x dvt(i,iaQTVQr,aii; (Sext. 1. c. VIl 213; vgl. Epic.
ad Herod. §. 55: 'i'ra ,«»; td if(tiri'i,ufrit dvitua(,jr(,fj) bezeichnet zu haben scheint
(vgl. Natorp a. a. 0. S. 244).
•>) ep. ad Herod. §. 40. (53. (17. Lucr. I 430—482; III IGI— 17G.
Epicur. a] Das Atom an sich. Körper und Lei rös. oOö
was entweder durch die sinnliche Wahrnehmung hezcugt wird
— die (fcavoi-iera i) — oder zur Erklärung der Wahrnehnuing
notwendig angenonuiien werden muss, also an der Wahrnehmung
gemessen werden kann — die «d"/;/« ^). Von diesem Standpuncte
aus ergab es sich als natürliche Folge, dass Epicur den aus dem
Eleatismus stammenden rein metaphysischen Unterbau der demo-
critischen Speculation fallen liess und von der Gleichsetzung des
Vollen mit dem Seienden, des Leeren mit dem Nichtseienden still-
schweigend Abstand nahm. Ohne weitere Reflexion fasst er den
Körper als die thätige und leidende Substanz 3), den leeren Raum
als die unkörperliche Natur, welche weder thun noch leiden kann,
sondern allein den Körpern Bewegung durch sich hindurch ge-
währt. Eine geistige Substanz dagegen, d. h. eine Substanz, die
thun und leiden könnte und doch kein Körper wäre, erscheint
seinem Sensualismus undenkbar^).
Die Körper und das Leere sind unentstanden und unvergäng-
lich^); denn aus nichts wird nichts ß) und in nichts vergeht
nichts '). Das All, d. h. die Gesamtmenge des Seienden, die
Körper und das Leere ^), ist immer so gewesen, wie es ist, und
wird immer so sein ^) ; wie das Leere, so ist auch die Masse der
') Natürlich nicht so viel als Sinnenschein. Es ist die den Sinnen er-
scheinende, sich kundthuende, Wirklichkeit gemeint.
■'; Zeller IIP a, 380 ff. Natorp 210 ff.
^) xo xa&' iarrö (ep. ad Her. §. 07,, 1? xa&' eavTijV tfvatg (ebd. §.08; vgl. §.71),
per se natura (Lucr. I 419.445), ij ö/j, yv<r«>- (§. 40), tö vTToxtiucvov (%.b0.12; viel-
leicht gehört hieher auch tu vifiaTr,x6g, Philodem. n. ala-d-tju. (?), col. 0, 14, hei
Scott, Fragmenta Herculanensia. Oxford 1885. p. 202; vgl. p. 301), im Gegen-
satz zu den Eigenschaften, die entweder wesentliche — avfjLß(ßr,x6Ta, bei Lu-
crez coniuncta — oder wechselnde — avuntnuiaja, bei Lucrez eventa — sind
lebd. §. 71. 40. Lucr. I 44!»-458. Sext. adv. rnath. X 221—2211 Über den
Unterschied von a>-ußfßr,y.6Ta und arujiro'uaTa bei Epicur vgl. Woltjer a. a. O.
S. 21, 5 gegen Munro zu Luci-ez I 449) und (gegen Munro und gegen Brieger.
Epicur's Brief an Herod., S. 7) Natorp, Forschungen, S. 228 ff.
') ep. ad Her. §. (w. Lucr. I 440—448.
"') ep. ad Her. §. 39.
«) ep. ad Her. §. 38. Lucr. 1 1:50—214.
', ep. ad Her. §. 39. Lucr. I 215— 2G4.
^} Sext. adv. malh. IX 333. Etwas abweichend Gneissc, Der Begriff des
omne bei Lucretius, Jahrb. für class. Philol. 1880. S. 837 — 844.
'•') ep. ad Her. §. 39 (vgL §. 44 Schi.) fr. 290. bei Plut. adv. Colot. c. 13,
p. 1114 A. Lucr. II 294—307.
Baeumker: Das ProLlom der Materie etc. 20
30(1 Vierter Alisclinilt.. Eplciiroor und Sluiker.
Körper, die Materie, constant. Und wie der Zeit nach, so ist
beides auch der Ausdehnung nach unbegrenzt i).
Da Epicur den Körper als das Raumfüllende, das Leere als
das Raumgebende betrachtet, so setzt er die wesentliche Bestim-
mung des Körpers in die Widerstandsfähigkeit oder Undurch-
dringlichkeit {dvTixv7iia\ die des Leeren in die Widerstandslosig-
keit {eT^ic) 2). Der Körper ist das dreifach ausgedehnte Undurch-
dringliche ^), oder, mit Aufnahme einiger weiterer Bestimmungen,
dasjenige, was wir durch die vcreim'gten Merkmale der Grösse,
Gestalt, Widerstandsfähigkeit und Schwere denken ^). Seine Un-
durchdringlichkeit macht ihn zu einem Tastbaren '"). Das Leere
dagegen ist das widerstandslose und darum untastbare Wirkliche ^).
Den körperliclien Stoff oder die Materie "') lässt Epicur mit
Democrit aus unzerlegbaren Teilchen oder Atomen bestehen.
Bei der Begründung dieses Satzes werden wir zwei Stufen unter-
scheiden. Zuerst nämlich soll die Discontinuität der Materie im
allgemeinen^ dann die Einfachheit und Unteilbarkeit der letzten
Teile der Materie betrachtet werden.
Dass die Materie kein Continuum darstelle, sondern aus
Teilen bestehe, die durch leere Zwischenräume getrennt sind,
folgerte Epicur vor allem aus der Thatsache, dass die uns erschei-
nenden Körper sich bewegen ^). Eine Bewegung durchs Volle,
wie Plato, Aristoteles und die Stoiker, vielleicht schon Melissus,
1) ep. ad Herod. §. 41 (zum Text vgl. Usener, Epicurea, praefat. p. XVIIIj;
fr. 297 bei Gic. de divin. II 50, 113. Lucr. 1 951— 1(M)7; II 1048—10.^)1.
"-) Sext. adv. math. X 221 f. Vgl. Plut. adv. Golot. c. 16, p. 11 IG D.
3) ro TQixÜ (i'ttorarov fitTd dvinvnlag Sexl. adv. matli. I 21; XI 22G; vgl.
Pyrrii. liyp. III 39.
^) Sext. adv. math. I 21; X 240. 257; XI 226.
'■) Philodem. n. arj/uilmv col. 18, 5—7 p. 23 Gomperz. Philod. n. aia^yaeois (?)
col. 20, 5—21 bei Scott a. a. O. p. 276—277.
c) dvaif^i (fvoiQ bei Epic. ep. ad Her. §. 40; ad Pythocl. §. 86. Vgl. Lucr. 1 334.
437. 4.o4 (letzterer Vers von Lachmann wegen des grammatisch unmöglichen
Nominativs intactus, wie schon V. 334, getilgt). Sext. adv. math. X 2. Vgl.
Plut. adv. Golot. c. 16, p. 1116 D. i^'öciq tlxtix^j bei Philodem. tt. arj/ificov col.
18, 1—2 (p. 23 Gomp.).
') Epicur scheint das Wort tSA'/j nicht technisch zu verwenden. Um so
häufiger ist dagegen materies bei Lucrez. Ebenso v?.i^ bei Hippolyt. ref. haer.
l 22, 1 (Dox. p. 571, 28) in seinem Bericht über Epicur.
s) S. S. 304 Anm. 5.
Epicur. a) Das Atom an sich. DiscontiimitiU der Materie. 307
sie annahmen i) (die ävTinsgCorttöiq)^ betrachtet er als iinmöglieh ^).
Die Gewichtsunterschiede der Körper ferner glaubte er, auch hierin
dem Democril sich anschliessend ^j, nur aus der Annahme grösse-
rer Zwischenräume in den leichten, kleinerer in den schweren er-
klären zu können *), und ebenso suchte er in der scheinbaren
Durchdringung der Körper, die in Wahrheit ein Eingehen des
einen in die Poren des andern sei, eine Stütze jener Annahme '"").
Eine solche actuelle Geteiltheit des Stoffes durch leere Zwischen-
räume betrachtet er endlich mit Democrit auch deshalb als not-
wendig, weil andernfalls kein Körper zerbrochen oder gespalten
werden könne. Teilung nämlich erscheint ihm nur denkbar, als
ein Voneinandernehmen actuell bereits vorhandener Teile '^), —
Aus allen diesen Gründen schloss Epicur, dass auch die anschei-
nend continuierlichen Körper als ein Gonglomerat discreter Teile
aufzufassen seien '^).
Diese Teile aber sind nicht weiter zerlegbar, sind Atome
{dioßoi oder aro/na). Denn da die Teilung für Epicur, wie eben
bemerkt wurde, nur in dem gesonderten Hervortreten bereits vor-
handener Teile besteht, so kann dasjenige nicht weiter geteilt werden,
was keine leeren Zwischenräume mehr einschlies.st s). Solche
einfache, absolut solide y) Teilchen aber müssen wir als Urbestand-
') S. S. 59 Anm. 2. Betreffs des Aristoteles vgl. phys. lY 7, 214 a 28-32.
Über die gleiche stoische Ansicht s. u. S. 341 f.
-) Lucr. I 370 — 397. Das von Lucrez benutzte Beispiel von Fischen, die
sich im Wasser durch das Volle bew^egen, wurde von Strato aus Lanipsacus
vorgebracht; vgl. Sinipl. in phys. IV" p. 659, 22 — 27 Diels.
ä) S. S. 92.
*) Lucr. I 358—367.
") Lucr. I 346—357. 534—537 (vgl. 489-496). Auch dies geht auf Demo-
crit zurück.
") Lucr. I 532 f. : nam neque conlidi sine inani posse videtur | quic-
quam nee frangi nee findi in bina secando. Vgl. Themist. in phys. IV, p. 284,
4 — 8 Spengel. Simpl. in Aiist. de cael. I, p. 109 b 46 f. Karsten (sehol. in Aiüst.
484 a 26 f.).
') ep. ad Herod. §. 40; fr. 77. 282. Lucr. I 483—484.
") Aetius I 3, 18 (Dox. p. 286) bei Plut. plac. I 3; Stob. ecl. I, p. 306:
{i'QijTai tfe arofios oi']^ ött tariv i/.uyiazr,, u).k' oii ov (Hvvarai Tur/d-ijvai, dnai}i](;.
oraa xal äjueTü^og y.evov,
") E]nc. ep. ad Herod. §. 44 : ?/ arfQtotrjg ij vndQ^ovaa aihaTg (sc. dtöfxoi?).
Lucr. I 609: sunt igitur solida primordia simplicilate. Vgl. I 4s5 f.;
II 88. Epic. fr. 282. Lactanl. de oplf. Dei c. 2 Sciil. Simplic. in Arist.
20 *
yu8 Vierter Abschnitt. Epinireer und Stoiker.
teile der Dinge („priiuordia remiii" Liier.) annelmien. Eine dop-
pelte Reihe von (Iründen — wenn wir uns aiü' die Hauptsachen
beschränken wollen — wird für die Notwendigkeil der Atnnie
angeführt ^). Die erste geht aus vom Begriff der Teilung, niiinnt
also ihren Ausgang von der dem Democrit und Epicur eigentüm-
lichen Auffassung des Stoffes als eines discontinuierlichen Aus-
gedehnten. Die zweite geht aus von der Veränderung in der
physischen Welt einerseits und der Gesetzmässigkeit in diesem
Wechsel andererseits; sie sucht das -bleibende Substrat des
Wechsels in der Körperwelt und zugleich den Grund der Ver-
«schiedenheit und des Wechsels, welcher in dem verschiedenen
Verhalten dieses bleibenden Substrates gegeben ist; sie steht dar-
um auf demselben Boden, auf welchem auch sonst die anlike
Speculation über die Materie sich bewegt ^). Die erste Betrach-
tung zeigt das Atom als das kleinste, nicht weiter teilbare
Ausgedehnte, die zweite als das unveränderliche Ele-
ment des Veränderlichen.
1. Die Teilung kann nicht ins Unendliche fortschreiten 3).
Durch eine solche ins Unendliche weitergehende Zerlegung wür-
den die Körper, meint Epicur, immer weiter geschwächt, bis sie
zuletzt in lauter Nichts aufgelöst wären. Das aber verstiesse
ebenso gegen den Satz, dass kein Seiendes zu Nichts werde, wie
die Annahme, aus diesem Nichts würden neue Körper, gegen den
Satz, dass kein Seiendes aus Nichts entstehe*). Diese Auflösung
in Nichts wäre um so weniger zu vermeiden, als unendlich kleine
Teilchen unmöglich den seit Ewigkeit fortdauernden Stössen hät-
ten Stand halten können ^). Wenn ferner die Teilung nicht bei
unteilbaren Elementen von einer gewissen Grösse aufhörte , so
de cael. I, p. 109 b 45 Karst.; auch Cic. de tin. I G, 18 (Epic. fr. 281). Darum
bezeichnet Epicur die Atome als 7iA7;()i?(ep. adHerod. §. 41)oder j«f(JTo:'(el)d. §. 42).
') Eine Analyse der Beweise des Lucrez für die Notwendigkeit der Atome
bei Woltjer, S. 23 ff.; Mas.son, S, 19 ff. und be.sonders bei J. Bernays, Com-
mentarius in Lucreti lil)iuiu I, Ges. Abliandl., hrsg. v. Usener, Bd. II. Berlin
1885. S. 53-G3.
2) .S. S. 4.
^) Lucr. I 74ß— 752. 844. Anderes in den folgenden Anmerkungen,
*) ep. ad Herod. §. 5G ; vgl. §• 41. Lucr. I 551— .%4.
^ Lucr. I 577 583. Hierbei wird übersehen, dass in diesem Falle auch
die stossenden Teilchen unendlich kloin, die Gewalt der Stösse also unendlich
gering sein müsste.
Epif'ur. ii) Das Aloin an sich. Giüiide für dasselhe. 309
würde eine jede begrenzte Grösse aus unendlich vielen Teilen be-
stehen, also der Ausdehnung nach zugleich endlich und unend-
lich sein '). Dieses Argument gilt für alles Ausgedehnte, wie lur
den Körper, so auch für Raum und Zeit. Auch hier lassen
daher die Epicureer, im Unterschiede von den Stoikern -), die Tei-
lung bei nicht mehr zerlegbaren Teilen aufhören ^). Endlich soll
auch aus der ursprünglichen Verschiedenheit von Körper und
Leerem gefolgert werden, dass es, wie ein Leeres, in dem kein
Körper, so auch Körper geben müsse, in denen kein Leeres mehr
ist ^), die mithin nicht weiter geteilt werden kfhmen.
Obwolil aber nicht unendlich klein, so sind die Ur-Teilchen
des Körpers doch von einer jeder Wahrnehmung sich entziehen-
den Kleinheit ■''). Die Atome gehören, wie das Leere, zu den
adr^Xa, zu deren Annahme das Bedürfnis, die Phänomene zu er-
klären, uns nötigt ^).
Die Betrachtung des Körpers als eines zerlegbaren Ausge-
dehnten, können wir den Gedankengang Epicur's zusammenfassen,
führt uns also zu discreten, absolut vollen, kleinsten Teilchen,
deren Grösse zwar eine verschwindend kleine, jeder Wahrneh-
mung sich entziehende ist, denen aber keineswegs eine bloss
punctuelle Raumbeziehung eignet. Nicht weil eine weitergehende
Teilung des Ausgedehnten nicht mehr vorstellbar wäre, sind diese
Ur-Teilchen nicht weiter zerlegbar, sondern weil ihre absolute
') ep. ad Herod. §. 57. Lucr. I G15— 626. Vgl. auch §. 57 Schl.-58 und
Lucr. I 599—614. — ^) S. S. 342 f.
■') Sext. adv. niatll. X 142: oi yiävra (sc. ainfiaza, tÖtiovs, yoöi'ori) fig duf(iii
xaTal)jyeivv7[eiX7i(fÖTee.\'g\.S\m]>\. inphys. VI, fol.218^' (Usener, Epicurea p. 198, IG),
wo auch die hieraus sich ergebenden Schwierigkeiten behandelt werden. — Wie
erst durch den von Leibniz eingeführten Begriff des Differentials die wahre
Grundlage für eine befriedigende Theorie des Gontinuums geschaffen, kann
hier nicht weiter verfolgt werden. Es seien aus der reichhaltigen mathema-
tischen und philosophischen Litteratur nur zwei auf verschiedenem philoso-
phischem Standpunct stehende Abhandlungen genannt: die eingehende Arbeit
von Cohen, Das Princip der Infinitcsimalmethode u. s. Geschichte. Berlin
1883, und: Pohle, Über die objective Bedeutung des unendlich Kleinen als der
philos. Grundlage der Differentialrechnung. Fhilos. Jahrbuch. I. 1888. S. 56—78.
*) Lucr. I 503—510.
•') ep. ad Herod. §. ö:)~hiu Vgl. Lucr. IV, 110—126.
'■) ep. ad Herod. §. 38.
310 Vierter Al)scliiiiU. Epiciirecr uml Stoiker.
Vollheit 1) jede Briu-hflüche , d. li. jeden leeren Zwischenraum,
ausschliesst, also der Zerteilung, die, rein mathematisch betrachtet,
denkbar bleibt 2), ein physisches Hindernis entgegensetzt ^).
So weit wir sehen, ist bei den alten Atomikern dieser Unterschied
noch nicht betont worden ^). Epicur will damit, Avie es scheint,
den Ausführungen des Aristoteles entgehen, durch welche dieser
— dem die Stoiker hierin folgten -') — die Möglichkeit eines der
Potenz nach unendlichen Fortschreitens in der Teilung darzuthun
versucht hatte ''). In wieweit hiermit der einen Hauptforderung,
welche das Denken an das Urelement des Körperlichen zu stellen
hat, der der Einfachheit nämlich, genügt ist, das ist schon oben '^)
bei Besprechung der democritischen Atomistik erörtert und soll
hier nicht wiederholt werden.
2. Wenn Epicur ferner zur Erklärung der Veränderungen
der Dinge die Annahme von Atomen als notwendig betrachtet,
so geht er aus von der alten naturphilosophischen Anschauung, dass
Werden und \'ergchen in Mischung {ai'Yxgiüig) und Entmischung
[dictxgioic) bestehe **). Der platonisch-aristotelischen Anschauung
von Formen nämlich, die über der Materie schweben, stand er,
der nicht einmal für die Functionen des bewussten hmenlebens
1) S. S. 307 Anm. 9. — -) ep. ad Herod. §. 57.
■^) Cic. de fin. 16, 17: atomos . . id est, corpora individua propter 00-
liditatem (diese zunächst dem Democrit beigelegte Bestimmung soll nachdem
ganzen Zusammenhange der Stelle auch von Epicur gelten; vgl. 6, 18=; fr. 281).
Philopon. in phys. I, p. 25, 7 Vitelli: ddiaigera (hd axhiQ('nr,r(x. Lucr. I 532—539.
*) Daher wohl die Behauptung Galen's de elem. sec. Hippocr. I 2, Bd. I,
p. 41S K. (Epie. t'r. 288): Einige sagen, die Atome seien vnu axlrjQÖT^Tos
a&QavOTa, xa&äncQ oi 7i((ii tov 'Eniy.ovQov' i'vioi (fe vtio a/jix^ÖTTjTus difiaiQfia,
wie die Anhänger Leucipp's. Dasselbe trägt Simplicius, in phys. VI, fol.
21Gr (schol. in Arist. 405 a 10 ff.) vor, nach dem Epicur aus Rücksicht
auf die Polemik des Aristoteles jene Änderung gegen Democrit und Leuciitp
vorgenommen haben soll; fernei', ohne namentliche Anführung der von
Epicur Abweichenden, Theodoret. Graec. affect. cur. IV 9. — Der Unter-
schied wird hier wohl ein wenig zu stark betont. Auch Democrit spricht
seinen Atomen nui' solche Teile ab, die durch ein Leeres getrennt wären. Erst
Epicur indes dürfte diesen Unterschied zwischen physischen und mathemati-
schen Teilen, oder wie immer er sich ausgedrückt hat, bestimmter hervor-
gehoben haben. Vgl. auch die S. 85 Anm. 3 aus Simphcius citierten Stellen.
*) S. S. 345.
«) Arist. phys. VI 1, 231 b 15 ff.; de gen. et corr. I 3, 318 a 20 u. ö.
') S. 85 f.
**) Galen, de elem. sec. Hippocr. I 9, Bd. I, p. 483 Kühn (Epic. fr. 292.
Ei)icur. a) Das Alom an bicli. ürüiide lür dasselbe. 311
eine eigene immaterielle Substanz will gelten lassen, völlig fern.
Ebenso schien ihm ^) die Entwickelung der vielgestaltigen Dinge
aus einem einzigen qualitativ bestimmten Urstoft' durch Weiter-
bildung und Rückbildung undenkbar ^). Denn Avenn dieser Ur-
stoff einmal seine Bestimmtheit verloren hat, wenn das Feuer z. B.
erloschen ist, so würde die Rückkehr aus dieser Unbestimmtheit
zur Bestimmtheit eine Entstehung aus dem Nichts bedeuten ^). A])cr
auch die Annahme von zwei oder, wie bei Empedocles, von vier
Elementen, auf deren Mischung und Entmischung das Entstehen
und Vergehen der verschieden gestalteten Dinge beruhen soll,
reicht für die Erklärung des letztern nicht aus^). Denn abgesehen
davon, dass jene Theorien, die kein Leeres neben dem Stoffe kennen,
die Bewegung nicht erklären, wäre es Jiicht zu begreifen, wie
jene nach der Ansicht ihrer Vertreter ins Unendliche teilbaren und
erfahrungsgernäss so vergänglichen Elemente nicht schon längst
infolge des gegenseitigen Widerstreits der Vernichtung sollten an-
heimgefallen sein ^). Endlich sprechen auch gegen die Homoeo-
merien des Anaxagoras ^) gewichtige Gründe, von denen für Epi-
cur wohl am wichtigsten waren einmal der Ausschluss des Leeren
und die Annahme einer unendlichen Teilbarkeit des Stoffes bei
Anaxagoras ''), dann der Einwand, dass Ur-Teilchen. welche den
c{ualitativ bestimmten Stoffen völlig gleichartig wären, ebenso
vergänglich sein müssten, wie diese s). Sonach bleibt nach Ausschluss
der übrigen Erklärungen nur die atomistische Erklärung des Werdens
und Vergehens. Allem Werden und Vergehen müssen absolut
unveränderliche^ nicht weiter zerlegbare, wegen ihrer Kleinheit
unsichtbare Teilchen zugrunde liegen, durch deren Gestaltsunter-
schiede und v/echselnde Verbindungen die V^erschiedenartigkeit
und der Wechsel der erscheinenden leblosen und belebten Körper
sich erklärt. Suchen wir die Natur dieser Atome genauer zu be-
stimmen.
^) denn was Lucretius ausfülirt, dürfte auch hier auf Epicair zurückgehen.
^) Lucr. I 635 ff. (gegen Heraclit); allgemein v. 705 ff.
3) Ebd. 665—671.
•") Ebd. 712 ff. Sext. adv. math. VIII 336".
») Lucr. I 742—762.
«) Ebd. V. SoO ff.
■) Ebd. V. <S43- .S46.
«) Ebd. V. 847—858.
■'512 Vierler Absclinill. Epic urecr uik) SInikcr.
Die Aloiuc, tlio letzten Elemente dos Veränderliclieii, luüssen
zunächst in sicli unveränderlich sein. — Einem jeden Orsj^anis-
mus, tuiu't Liicrez mit chchterischer Anschaulichkeit den Gedan-
ken aus, ist das Maass seines Wachstums und seiner Dauer ge-
steckt, sind seine Functionen bestimmt. Alles in der Natur kehrt
stets in gleicher Art und in gleicher Frische wieder, selbst die
Zeichnung im Federkleid der Vögel. Falls aber die Urgründe der
Dinge irgendwie verändert würden, wie sollte da noch festbleiben,
was entstehen kann und was nicht, oder wie weit die Kraft und
das Wachstum eines jeden Dinges gehen mag? Wie sollte ^'s in
diesem Falle noch möglich sein, dass die folgenden Generationen
Natur, Lebenseigentümlichkeiten, Lebensweise, Bewegungen der
frühern immer wieder erneuern ^) ? Es muss also in allem Wech-
sel etwas l'nveränderliches übrig bleiben 2), die Atome.
Den Atomen als dem Unveränderlichen werden diejenigen Be-
stimmungen an sich beizulegen sein, welche in allen Veränderun-
gen der Körper unverändert bleiben Es sind das diejenigen Be-
stimmungen, welche allgemein die körperliche Natur kennzeichnen.
Diese Gattungsmerkmale der körperlichen Natur bestehen in der
dreifachen Ausdehnung, der Widerstandsfähigkeit und der Schwere.
Das Maass jener Bestimmungen kann wechseln; aber ohne Aus-
dehnung, Widerstandsfähigkeit, Schwere ist kein Körper denkbar,
da jenes nach Epicur seüie definitorischen Merkmale sind ^). Da-
gegen sind die sinnlichen Qualitäten des Geschmacks, Schalls, der
Wärme und Kälte, der Belebtheit u. s. w. veränderlich;
sie entstehen und vergehen ^). Daraus ergiebt sich , dass
Ausdehnung, Grösse und Schwere ■''), ebenso die Widerstandsfähig-
1) Lucr. I 584—598. Vgl. auch v. 215— 2(;4.
^) Ebd. I 790 : immutabile enim quiddam superare necesse est.
«) S. S. 306.
■•) Über diesen Unterschied primärer und secundärer Eigenschaften bei De-
mocrit s. S. 92 mit Anm. 5.
') ep. ad Herod. §. 54. Lucr. I 358—307; 11 184-215. 333-521; 111 186-
202. Aet. I 3, 18 (Dox. p. 285 f.) bei Ps.-Plut. plac. I 3. Plut. adv. Colot. c. 8,
p. 1110 F. Vgl. Sext. adv. math. 1 21. X 240. 257. XI i>2(5. — Wenn einige
Nachrichten in der Hinzufügung der Schwere eine Neuerung Epicur's sehen,
so ist das irrig; s. Diels, Doxogr. S. 219. Der Erklärung des Irrtums aber,
welche Brieger, Die Urbewegung der Atome u. d. Weltenstehung bei Leucipp
u. Demokrit. Progr. Halle 1884. S. 12 f. giebl, kann ich nicht beistimmen.
Vielmehr dürfte jener Irrtum darin seinen historischen Grund haben, dass
Epiciir. ;i' Das Atom an sali. Seine Eigenschaften. .313
koit '), mit allein, was aus ihnen fulgt, weil /mn Bet,'riiYe des
Körpers gehörig, aneh den iiiivoränderüchen Urbeslandteileii au-
kuninien müssen. Es begegnet uns hier /um ersten Male diejenige
Auffassung der Materie, welche in ihr die allgemeinen Gattungs-
merkmale des Körpers befasst. Solche Eigenschaften dagegen,
wie Farbe, Geschmack, Schall, Wärme und Kälte und dergl.,
also die sinnlichen Qualitäten im engern Siime, ebenso Be-
stimmungen, wie die des Belebtseins und des Unbelebten 2), kön-
nen, da sie veränderlich sind, nicht den unveränderlichen Atomen
selbst anhaften ^).
Obwohl aber diese verschiedenen sinnlichen Qualitäten der
Dinge nicht auch den Atomen zukommen, so müssen sie doch
durch die letztern begründet sein. Denn bei Epicur, wie bei
Democrit, soll das Transcendente (das aöi]Xov) das Erscheinende
(das (fjairöfxevor) erklären.— Um die zahllosen Verschiedenheiten
der erscheinenden Dinge ableiten zu können, meint Epicur mit
Democrit Atome der verschiedenartigsten Gestalt, Grösse und
Aristoteles, obwolil er de gen. et corr. 1 8, 32G a 9 ausdrücklich bemerkt,
nach Democrit sei das grössere Atom auch das schweiere, docli phys. III 4,
203 b 1 (vgl. de cael. III 4, 303 a 10—15) allein die Gestalt und die Grö.sse
als Eigenschaften der demoer i tischen Atome anführt.
^) Lucr. II 87: durissima quae sint | ponderibus solidis. Ebenso Plut. adv.
Colot. c. 9, p. 1111 E {ax?.rtQ(JTTjs xal. dvTnvnia). Vgl. auch Lucr. I 753 — 758. 847.
Galen, de elem. sec. Hippocr. I 2. Bd. I p. 418 K. [axlTjQÖxiq?). — Die Wider-
standskralt der festen Körper setzt ausser der Undurchdringlichkeit der ein-
zelnen Atome auch einen festen Zusammenhang zwischen diesen voraus. Epi-
cur, dem die Adhäsion und Gohäsion unbekannt war, erklärt denselben da-
durch, dass manche Atome mit Häkchen versehen seien, vermöge derer sie
sich mit einander verflechten und so auch den zwischen ihnen eingeschlos-
senen glatten Atomen Zusammenhalt geben: Lactant. divin. instit. III 17.
Vgl. Gic. de nat. deor. I 24, W (s. auch das acad. pr. II 38, 121 von Democrit
Gesagte).
^) Lucr. II 865—1022. Simpl. in categ. fol. 5(> B.
■') Epic. ep. ad Herod. §. ,54. Vgl. das ethische Fragment, Vol. Herc.- XI,
f. 20 ff., col. 13, wiederhergestellt bei Comparetti, Bivista di filologia VII (1879)
S. 416, Museo ital. di antich. class. 1 (1885) S. 75. u. bes. von Usener, Epic.
p. XLIX. Ebenso Lucr. II 730—1022 Specieh von der Farbe: Epic. fi-. 29. 30. Vgl.
ferner Lactant. div. instit. III 17. Galen, de constitut. artis medicae c. 7. Bd. I.
p. 246 Kühn; de elem. sec. Hippocr. I 2, Bd. I, p. 418 K. Simpl. in categ. fol.
5G B. 109 (verdruckt 209) B. Alex, quaest. nat. I 13, p. 52 f. Spengel.
314 Vierter Ahsclinill. Epicureer und Stoiker.
Schwere i) annehmen zu müsen. Dazu treten dann, wie bei
Democrit, die Unterscliiede in der Lage und Anordnung der
in einem Atomencomplex enthaltenen Einzelatome 2). Auf letztere
Unterschiede legt Epicur noch mehr Gewicht als Democrit. Wie
die unbegrenzte Verschiedenartigkeit der Wörter durch die man-
nigfachen Verbindungen einer verhältnismässig nur geringen Zahl
von Sprachlanten entsteht, so soll auch nicht eine wirklich un-
endliche Zahl von Gestaltungsunterschieden nötig sein, um die
Verschiedenartigkeit der erscheinenden Körper zu erklären »), wie
Democrit annahm ■^). Es genügt schof], wenn dieser Verschieden-
heiten nur unbestimmbar viele {dn:fQi2i]7TToi) sind •''). hnierhalb
einer jeden Gestaltungsart soll die Zahl der zugehörigen Atome
dann eine wirklich unendliche sein ^). — Die Unterschiede der
Gestalt u. s. w. sollen es nun bewirken, dass die von den Kör-
pern ausgehenden bewegten Bilder unsere Sinnesorgane in ver-
schiedener Weise treffen ^). So hat Epicur n.it Democrit die qua-
litativen Verschiedenheiten der sichtbaren Körper auf die absolu-
ten und relativen Raumbeziehungen zurückgeführt.
Aber sein Sensualismus zwingt den Epicur, im Gegensatz zu
Democrit, der hier princlpiell verlassenen Ansicht vdu der Objec-
tivität der Sinnesqualitäten sofort wieder ein weitgehendes Zuge-
ständnis zu machen, durch das der ganze Charakter seiner Ato-
1) Epic. ep. ad Herod. §. 55. 61. Lucr. II 225 ff. 381—397. Simpl. 1. c. und
in pliys. VI, fol. 219 v o.
-) Luer. I 814-822. II G95- G99 {vgl. I (;84-(389. 907—914). Philodem. ,t.
aca&. col. 21, 3— (), p. 277 Scott. Plut. adv. Colot. c. 7, p. IIIU G. Siuipl. de
cael. I. p. 110 a 2—3 Karsten; in categ. fol. 109 B.
«) Lucr. I 822.; II (;88-(;94. Dass dieser Vergleich der Atome mit Buch-
stahen schon von Epicur herrührt, scheint aus Lactant. div. instit. III 17 zu
folgen. An denselben knüpft auch die bekannte Kritik der epicureischen Lehre
vom Ursprung der Welt bei Cic. de nat. deor. 11 37, 93 an. Ja schon die Lehre
Democrit 's von den durch che Verschiedenheiten der Gestalt, Lage und Ver-
bindung der Atome bedingten Unterschieden des Seienden war von Aristoteles
met. I 4, 985 b 17 — 19 an dem Beispiele der verschiedenen Buchstaben und
Buchstabenverbindungen erläutert.
*) Vgl. Arist. de gen. et corr. I 1, 314 a 22—24. Theopiir. phys. op. fr. 8
(Dox. p. 484, 11-13) bei simpl. in phys. 1, p. 28, 25—26.
5) Epic. ep. ad Herod. §. 42. Lucr. II 333 ff. 478 ff. Aet. I 3, 27 (Dox. p.
286) bei Plut. plac. I 3. Alex, bei Philopon. in Arist. de gen. et corr. II, 1,
fol. 3^' 0. Cic. de nat. deoi-. II 24, G6.
''I Epir. 1. c. Luci-. U rr_'2-r)68. — ■) Vgl. z. B. Lucr. II 813—816.
Ejjicur. a) Das Alom an sich. Die Sinnes(iualiläteii. 315
mistik ein anderer wird. Es ist das V^erdienst Natorp's, diesen
Unterschied zwischen Epicur und Democrit nachdrückUch erwie-
sen zu haben ^). — Während nämlich Democrit den sinnlichen
Quahtäten die objective Wirkhchkeit gänzlich absprach und sie
als blosse Sinnesaftectionen fasste 2), unterscheidet Epicur zwischen
dem, was den unveränderlichen Atomen, und dem, was den aus
diesen zusammengesetzten Körpern wirklich zukommt ^). Auch
solche Eigenschaften, wie die von Epicur ausdrücklich genannte
Farbe, haben objective Wirklichkeit und sind keineswegs bloss
;o,ufr), wie Democrit gelehrt hatte ^). Wenn derselbe Gegenstand
dem einen so, dem andern anders erscheint, derselbe Wein z. B.
dem einen wärmend, dem andern kältend, so folgt daraus nicht,
was Democrit geschlossen hatte, dass keiner dieser Eigenschaften
objective Wahrheit zukomme. Vielmehr ergiebt sich hieraus nur,
dass sowohl die wärmende, wie die kältende Natur in dem Weine
enthalten sind, von denen der eine diese, der andere jene auf-
fasst •'•). Ebenso kann die Farbe zwar nicht als unablösbar ver-
wachsen i') mit dem Körper bezeichnet werden, da ja die zwi-
schen dem Gegenstande und dem Auge liegenden Luftschichten,
der Grad der Helligkeit u. s. w. die Farbe verändern, völ-
liges Dunkel sie gänzlich verschwinden lässt "'}. Aber auch hier
wird nur betont, dass die Farben nicht bloss von dem gesehenen
*) Foi'schungen zur Gesch. d. Erkenntnissprobl. S. 209 — 234.
2) S. S. 92 ff.
'^) ep. ad Her. §. 68: «AAä jlitjv y.al rn a/ijuara y.ui zd y^QuifiUTa xai r« us-
yi'&Tj xai rä ßägr] y.al oaa ak?,a y.aT7;','0(>thai amiiaros o'iauvtl avixßeßrixöia (die aucll
nacli § 40 nur keine ö A a t (fvatig — also doch immerhin fvaeis — sind) ij
iräaiv (d. h. den Atomen und deren avyxgioeig) ^ jcli uqutoTs y.al xaia rijv
ala&tiOiv att'if.iaios yvoaTÜ, ov&' w f xaxh' eavTcis etai (f v a e 1 1; (fo^aarc'oi' {01' ydfi
(i'rvaiöv iTiivorjaai tovto), ovt e o/.tn; <i) g ovx ela Cv xt?.. Wie hier von Epicur
die Farbe zu den avjußfßijxöia, nicht zu den avumo^taTa, gerechnet wird, so
Lucr. I 453 die Wärme des Feuers zu den coniuncta, nicht zu den eventa.
') Plut. adv. Golot. c. 8, p. 1111 B.
'=) Plut adv. Golot. c. 7, p. 1110 A; conviv. disp. III, 5, p. »352 A und
dazu Natorp S. 218. Vgl. adv. Gol. c. 5, p. 1109 G — D, wo das Gleiche von den
Farben gesagt wird. — Ferner Sext. adv. math. VII ^OG— 210.
") Denn das soll es heissen, wenn Plut. adv. Golot. c. 7, p. 1110 G sagt,
Epicur behaupte, ovx eivai avu(fi'ij rd )r()o>,uaTa tuT; aui/itaaiv, — nicht, dass
den Farben keine q,vais zukomme.
') Plut. adv. Golot. c. 7, p. 1110 G— D. Wyttenbach hat an dieser Stelle
die Worte Epicur's und die Kritik Plutarch's nicht richtig gesondert; vgl. Use-
ner, Epicurea p. 103, Anm. zu 4; Natorp S. 219.
316 Vioricr Alisclinill. K|)iciiret'r und Stoiker.
Körper, sondorn auch vom I^iclilo, dessen liichlung u. s. w. ab-
hängig seien ; denn durch alle diese Umstände wird das Bild modi-
ficiert, welches unser Sehorgan trifft ^). Die objective Wirklichkeit
derselben wird hier so wenig wie sonst geleugnet ^). In der That
würde der ganze Sensualismus Epicur's, der eben in der Wahr-
nehmung das Kriterium aller Cewissheii erblickt, hinfällig, wenn
auch er mit Democrit den Sinncscjualitäten die objective Geltung
hätte nehmen wollen. Weil er aber jene Qualitäten ebensowenig
wie Democrit den unveränderlichen Atomen beilegen konnte, so
blieb nur der Ausweg, anzunehmen, ctass die Atome mit den ihnen
eigenen Bestimmungen der Gestalt, Grösse und Schwere zwar das
allein Unzerstörbare in den Dingen, aber nicht das allein
Wirkliche seien. Wie den Atomen-''), d. h. der Materie,
die unveränderlichen Eigenschaften der Gestalt, Grösse und Schwere
zukommen, so den daraus gebildeten Körpern'^) die Qualitäten
der Farbe, Wärme u. s. w.
Wie aber die Unterschiede in den Eigenschaften der Dinge
in den Unterschieden der Atome und ihrer mannigfachen Verbin-
dungen begründet sind, so die Veränderlichkeit und der
Wechsel dieser Eigenschaften in der Veränderlichkeit jener Ver-
bindungen ^). Alle qualitative Veränderung — und als solche
erscheint dem Epicur, wie dem Democrit, auch diejenige, welche
Aristoteles als substantiales Werden betrachtet **) — wird von Epi-
cur in der Weise Democrit's auf ein räumliches Umsetzen der
Atome zurückgeführt ■*).
Oder mit andern Worten: die qualitative Veränderung der
Dinge beruht auf der Mischung {ovyxQioic) und Entmischung {öm-
») Sext. adv. math. I 207.
"") Nalorp S. 218 f. — ^ Nalorp S. 220.
■^) und durch die Atome auch den zusauuiiengesetzten Körpern, also
T,7Taaiv"' (ep. ad Herod. §. 68: s. S. 315 Anm. 3).
*) zo7s oQUTOig awfiaac, ebd.
") Hier ist natürlich nicht von dem Wechsel in der Auffassung die Rede,
deren epicureische Erklärung oben S. 315 erwähnt wurde, sondern von einer
Veränderung an den Dingen selbst.
«) ep. ad Her. §. 54. Nach Sext. adv. math. X 42 ff. fasst Epicur die
1.1(1 aßhjTLxrj xivr,aig als eine Art der tokixv, xal nexaßartx'^ xivr,ais; vgl. Simpl. in
categ. f. 109 B.
') Vgl. z.B. Lucr. I 081 iL TUT If. 'JU7 iL
Epicur. a) Das Atom an sich. Miscliuujj;' und Entmischung. 3l7
xQtot.,) der Atome ^). — Die Möglichkeit so maimigfacher Ül)er-
gänge der Dinge in einander aber, wie die iMfahiiing sie /.eigt,
erklärt sich, wie ähnlich schon Anaxagoras annainn, leicht darans,
dass einem jeden Dinge Alorne der verschiedensicn Art beige-
iiiischt sind "). Bei lelzlerrn will Epicur indes die Vorstellung
fern gell alten sehen, als seien die verschiedenen Stoffe als solche
rnit einander vermischt 2), wie wenn z. B. das Feuer, welches
durch Reibung aus dem Holze hervorgelockt wird, schon als Feuer
in demselben w;ire *^). Nur Samen ■'•) der mannigfachsten Art
sind in allem enthalten, d. h. solche Atome, welche, von den an-
dern losgelöst und unter sich verbunden, den betreffenden neuen
Körper erzeugen.
Das leitet uns auf die Art, wie Epicur die Mischung ver-
schiedener Stoffe erklärt. Diese soll nicht so zu denken sein, als
ob sich bei derselben Teilchen des einen Stoffes neben Teilchen
des andern, z. B. Teilchen Wein neben Teilchen Wasser, lagerten.
Vielmehr sei eine Reduction bis auf die ursprünglichen Atome
anzunehmen, derart, dass die besondern Stoffe, welche erst infolge
des Zusammentretens gleichartiger Atome hervortreten, aufhören,
indem sich die verschiedenartigen Atome, z. B. die wassererzeu-
genden und die weinerzeugenden, unmittelbar mit einander zu
dem neuen Mischstoffe verbinden s). Durch diese schärfere Fas-
sung des Begriffes der Mischung, mit welcher P]picur in beach-
tenswerter Weise über Democrit hinausging "'), sucht er mit Glück
dem von Aristoteles erhobenen Einwände zu entgehen, dass eine
Nebeneinanderlagerung von kleinsten Teilchen des einen Stoffes
neben kleinsten Teilchen des andern in Wahrheit keine (chemische)
Mischung, sondern für das Auge eines Lynkeus immer nur ein
blosses (mechanisches) Gemenge sei ^). Sein Fehler liegt nur
*) Galen, de elem. sec. Hippocr. I 9, Bd. I, p. 483 Kulm.
') Vgl. Lucr. I 814—816. 895; II (378-79 u. ö.
3) Lucr. I 894—90.
*) Lucr. I 897—906.
^) semina: I 895. 902; 902. II 079. primordia: 1 815.
*') Alex, de mixtione fol. 140 v (p. 591 Ideler; Usener, Epicurea p. 207),
wozu vgl. Gassendi, Phy.s. .sect. I. lib. 7. c. 2., Opera vol. I, p. 464 sq.
') Nach Alex. a. a. 0. lehrte Democrit, die scheinbare Mischung sei eine
TictQÜOiaii; aiiiuocTdiv ä?.?.i',?.oi; y.aia uix^ä, ain^^öiniof urriov txdmov ri,v oly.iiav ifvaii-,
'') Alis!, de gen. et corr. I 10, 328 a 5—18.
318 Vicrier Alisclmill. I']|)icurc'er und Slnik(>r.
darin, dass er das notwendige Zwischenglied zwischen Molo und
Atom, die Molekel, noch niclit erkannt.
I») I>i«' ISeweguiig der Atome.
Wir sahen, dass Epicur alle Veränderung als räumliche Be-
wegung fasst 1). Epicur spricht hier, freilich ohne jede wirklich
naturwissenscliafÜiche ßegrün(hmg, einen Gedanken aus, hinsicht-
lich dessen er die neuere Physik und (Ihemie im ganzen auf sei-
ner Seite hat. Dass er die wirklich fruchthringende Verwendung
dieses Gedankens nicht erkannt liat und nicht erkennen konnte,
ihn z. B. nicht für die Erklärung des Lichtes, der Wärme, der
ihm noch nicht hekannten Elektricität u. s. w. verwandte, Ijrauchl
als von vornherein selbstverständlich wohl kaum besonders be-
merkt zu werden. Ihm dient das Princip dazu, zu zeigen, einmal,
wie sich überhaupt aus der ursprünglichen Atomenmasse bestimmte
Dinge liilden konnten, dann, wie aus Süss Bitter, aus Weiss
Schwarz, aus Hart ^Veich, aus Weich Hart wird u. s. w. 2),
Letzteres Problemstellungen, welche der modernen Naturwissenschaft
sehr fremdartig und kindlich klingen. Uberhaui)t fehlt bei Ei)icur
jede naturwissenschaftlich irgendwie befriedigende Reflexion über
das Verhältnis von Kraft und Bewegung, durch die jener allge-
meine Gedanke erst Bedeutung für eine reale Naturerklärung ge-
winnen koimle. Zu der letztern konnte Epicur um so weniger
gelangen, als ihm der rechte Begrifl" der potentiellen Energie im
Unterschiede von der kinetischen verschlossen blieb.
Die Bewegung ist, wie Epicur mit Democrit annimmt, eine
ursprüngliche Bestimmung des Stoffes. Sie ist den Atomen
nicht durch einen über der Welt stehenden ersten Beweger mit-
geteilt, sondern eignet ihnen von Ewigkeit ^). Ebenso wenig fin-
det ein Aufhören der Atombewegung statt "^j. Die Richtung
und die Geschwindigkeit der Atombewegungen erfährt zwar durch
') S. S. 31G. Wie der Begriff der Bewegung von Epicur bestimmt wurde,
wird uns niclit ausdrücklich mitgeteilt (Zeller IIF a, 406, 3). Aber die Defini-
tion derselben bei Sextus adv. math. X 50: xivr,aiq ian /aerd^^aais chio lönuv
tis TÖTiov, bei der Epicur zwar nicht genannt ist, scheint doch mit Gassendi,
Phys. sect. I. lib. 5. cap. 1. ip. 338) auf ihn bezogen werden zu müssen.
-) Sext. adv. math. X 43—44.
^) ep. ad Herod. §. 43: xivovvtai. re avvey^<og a! cctoilioi tuv aluiva,
*) Ausser der Anm. 3 citierten Stelle vgl. Lucr. II 9.5. 297-299
Epicur. b) Die Bewegung der Atome. 319
den Znsammenstoss der Atome die verschiedensten Veranden int^cn,
aber die Bewegung selbst wird nicht 7AI Nichte. Auch in der
Tiefe der scheinbar ruhenden Körper lassen die Atome von ihrer
Bewegung und den gegenseitig erteilten Anstössen nicht ab ^). —
Mit der letztern Bestimmung, durch welche das Ganze erst seinen
Abschluss erhält, schein! Epicur über Democrit hinaus die Theorie
fortgebildet zu haben ^).
In rohen Zügen ist iiiennit das Princip von der Erhaltung
der Kraft ausgesprochen. Aber wie weit ist E[)icur noch von
der richtigen Erkenntnis entfernt! Während die modei-ne Theo-
rie die Summe der in dem Naturganzen vorhandenen kinetischen
und potentiellen Energie als constant betrachtet, kennt Epicur
nur die actuelle Bewegung. Während nach der modernen Theo-
rie ferner nur die Summe dieser Kraft stets gleichbleibt, im Ein-
zelnen dagegen ein fortwährender Ausgleich zwischen den ver-
schiedenen Posten dieser Summe stattfindet, indem nicht nur die
einzelnen Kräfte in einander übergehen, sondern auch die Kraft
von dem einen Körper auf einen andern übertragen werden kann,
gilt für Epicur die Bewegung des einzelnen Atom es als unzerstör-
bar ■^). Und wie sehr schwebt jene Theorie, aller empirischen
Grundlage entbehrend, bei Epicur noch in der Luft! Was Helm-
holtz nicht mit Unrecht noch von der Zeit Robert Mayer's be-
merkt, das gilt in erhöhtem Maasse von der Zeit Epicur's: „Jetzt,
wo man den grossen Zusammenhang der Arbeitsäquivalente des
Weltahs kennt und in weitem Umfange empirisch nachgewiesen
hat, kann man sagen, dass sie als Ens, welches nicht zu Nichts
werden und nicht aus nichts entstehen könne, gefasst werden
dürfen. Dazu war aber doch kein Recht da, ehe ilu'e Beständig-
keit erfahrungsmässig nachgewiesen war" •*).
') Plut. adv. C-olot. C. IG, p. lllß C: che (h} y.al t/uv tv ßa&ti ror av/xQi-
/Ltaroi dTijfto)v orderroTf P.'^^ai xivijatroi ovd'e TiukfxiSv TiQog uX}.i]).a li'rvaufviov, mantQ
nihoi ?.t'yovair. Vgl. auch Lucr. II 125—128 und VI 1034—40 (wo freilich nur von
der in testen Körpern eingeschlossenen bewegten Luft die Uede ist).
'') Democrit legte nach Arist. de an. I 3, 406 b 15— 22 den runden Seelen-
atomen beständige Bewegung bei, durch welche sie auch den — an sich also
ruhenden — Körper mit sich schleppen sollen (etwas ähnliches Lucr. IV
883-888).
^) wie das Fleeming Jenkin, The Atomic Theory of Lucretius, North
Briti.'^h Rewiew. vol. XLVIII, angefühii bei Massoii, a. a. 0. S. 55 f., hervorhebt.
-•) Vorträge und Reden. Braunschweig 1884. Bd. I. S. 70.
820 Vierter Ahschnitt. Kpiciireer uml Stoiker.
Die iirspriingliclie Bewegung der Atome ^) im Leeren, durch
die iliiicii eigene Schwere erzeugt, ist die senkreclite und daher
bei allen Atomen parallele Abwärtsbewegun g ^j, d. h. eine
Bewegung in der Bichtung von unscrm Kopfe unter unsere Füs?e
hinab ^). Wegen der Unendlichkeit des Baumes ist dieselbe als
eine nach ol)en wie nach unten hin unendliche zu denken, d. h.
als eine solche, die aus unendlicher Ferne kommt und in unend-
liche Ferne geht *). Da ihr nichts Widerstand leistet — denn
das Leere ist ja von einer absoluten Nachgiebigkeit •') — , so lallen
alle Atome im Leeren gleichschnoll "). Epicur giebt damit den
1) Vgl. Ad. Brieger, De atnmoruiri Epiciirearuiii motu principali, in: Plii-
lologische Abhandlungen. Martin Hertz zum siebzigsten Gelturtstage von ehe-
maligen Schülern dargebracht. Berlin 1888 S. 21.'i^228. Scharfsinnige, wenn-
gleich nur zum Teil haltbare Ausführungen giebt auch M. Guyau, La morale
d'I'jpicure et ses rapport avec les doctrines contemporaines. Pari? 1878. chap.
2. p. 71 — 102: contingence et liberte.
') ep. ad Herod. §. (!1 : ov&' ij aro ov&' i] di t6 nhlyior (ha rmv xpotrlfoi'
ifOQÜ, ov>&' i] y.ÜTo) (i'id iu)v i(fiü)v ßaQiov. Lucr. II 83: nam quoniam per
inane vaganlur cuncta, nece.^se est | aut gravitate sua ferri primonlia re-
ruiii, ! aut ictu forte alterius. Aet. I 12, 5 (Dox. p. 314) Itei Flut. plac. I 12;
Stob. ecl. I, p. o4(). Flut, de Stoic. rep. c. 44, p. 10.54 H. Simpl. de cael. I,
p. 121 1) 33 Karsten u. a.
•') ep. ad Her. §. 00. Flut, de defectu oraculor. c. 28, p. 425 D. Vgl. Zeller
Iir'a, 407. Massen a. a. 0. S. HOf. ■- Den oft gemachten Einwand dagegen : da Be-
wegung nur als relative Ortsveränderung gedacht werden könne, so sei die
gleichschnelle Bewegung aller Atome in derselben Richtung in Wahrheil keine
Bewegung, sondern Ruhe, wird man vom Standpuncte Epicur 's aus
nicht als berechtigt anerkennen. Denn der leere Raum ist ja für ihn — frei-
lich mit Unrecht — ein wirkliches, selbständiges Seiendes neben dem raum-
fülienden Stoff. Es kann also auch nach dieser seiner Anschauung eine aut
den absoluten Raum bezogene Bewegung stattfinden.
■*) ep. ad Herod. §. GO. — Nur infolge eines Missverständnisses (anschei-
nend ist auch Guyau a. a. O. S. 74 Anm. 0 Schi, nicht ganz frei von demsel-
ben) haben Einzelne aus dieser Stelle, die nur von einer, nach oben (als
ternunus a quo) und unten (als tei'minus ad quem) unendlichen Bewegung
spricht, die Behauptung einer doppelten unendlichen Bewegung, einer nach
ol)en hin und einer nach unten hin gei'ichteten, herausgelesen.
'-) S. S. 30(3.
«) ep. ad Herod. §. Gl (vgl. Schol. zu §. 43). Lucr. II 225-239. Sext. adv.
math. X 129 (Flut, de comm. not. c. 49, p. 1082 E und Simpl. phys. VI, fol.
219 V o, von Zeller IIP a, 407, G citiert, gehören nicht hieher). Epicur stützt sich
hier wohl auf die kritischen Ausführungen des Aristoteles, besonders auf
phys. IV, 8, 215 a 24 ff.
Epicair. h) Die Bewegung der Atome. Declinatiou :>2l
Satz Democrit's oder späterer Anhänger Democrit's ^) auf, dass
die Geschwindigkeit eine Function der Schwere sei 2). Er muss
daher nach einer neuen Erklärung für den Zusammenprall der
Atome und die infolge desselben entstehenden weltbildenden Wir-
bel suchen.
Diese findet Epicur darin, dass die Atome bei ihrem Fall um
ein kleinstes ^) von der senkrechten Linie abweichen sollen. Denn
wenn auch kein schwerer Körper beim freien Fall eine schräge
Linie beschreibt, so soll doch durch keine Erfahrung erwiesen
werden, dass der fallende Körper nicht auch um ein solches Mi-
.nimum sich von der Richtung seines Weges ablenken könne '^).
Die Annahme dieser spontanen Richtungsänderung erscheint
Epicur auch deshalb unerlässlich, weil andernfalls diemenschliche
Willensfreiheit unerklärlich sei. Dass wir nicht in allem einem Fa-
tum unterworfen sind, dass wir z. B, gehen können, wie uns be-
liebt, uns bewegen können, wie wir wollen: alles das setzt nach
dem Satze, dass nichts aus dem Nichts entsteht, eine solche par-
tielle Bewegungsfreiheit bereits in den Urgründen, d. h. den Ato-
men voraus ^).
') Man könnte vielleicht an Nansiphanes, den Lehrer Epicur's, denken.
') Nach Zeller V, 794, 1 und Iir' a, 407 hat die Polemik des Epicur (ep.
ad lierod. §. 61) und Lucrez (II 225: quod si forte aliquis credit etc.) Demo-
crit im Sinn; s. o. S. 04. Neuestens hat Brieger, dessen Programmabhand-
hing über die Urbewegung der Atome und die Weltentstehung bei Leucipp u.
Democrit, Halle 1884, mir erst nach Abfassung des Abschnitts über die democriti-
scheAtomistik zugegangen ist, gewichtige Gründe dafür geltend gemacht, dass jene
Ableitung der Prallbewegungen dem Democrit noch fremd war. Was ich an
diesen eindringenden Untersuchungen Brieger's aber Democrit auszustellen habe,
kann icli hier nicht weiter ausführen, da die Sache mehr Raum beanspruchen
würde, als für den mit meiner Aufgabe nur lose zusammenhangenden Gegen-
stand mir zugebote steht.
^) nee plus quam minimum Lucr. II 244; iXä^tarov Cic. de fato 10, 22;
ini Torkä-j^ioTov PJut. de sollert. an. c. 7, p. 964 G; dxa^es Plut. de an. proer. in
Tim. c 6, p. 1015 G; perpaulum, quo nihil posset fieri minus, Gic. de fin. 16, 19.
■*) Lucr. II 243-250. Gic. de fato 10, 22. Vgl. ebd. 20, 46-47; de fin. 16,19.
Plut. de an. proer. in Tim. c. 6, p. 1015 G; de sollert. animal. c. 7, p. 964 G.
Galen, de Hippocr. et Plat. dogm. IV 4, p, 361, 14 Muell. August, contr.
Aead. III c. 10 n. 23. t. I p. 284 F. ed. Maur. Paris. 1689 ff. Aet. I 12, 5 (Dox.
p.all) bei Plut. pl. I 12; Stob. ecl. I, p. 346 (vgl. p. 394): xivciaaai de tu äro,ua
ro're ßfv xard aTciS;urjv rdre ife xatä n a q eyxX la iv (declinatio, oder, wie bei
Lucr. II 292, clinamen), tu de ariD xivov/utva xard nXijyr,v xal dnonukfiüv.
"} Lucr. 11 251-293. Ebenso Gic. de fato 9, IS; 10, 22—23; i>0, 4(') Plut.de
üuoti 111 kcr: Üus Problem dor .Matfiiu ctr. 21
;i22 Vierter Al)sclinit,f. Ej)icurecr und Stoiker.
Es ist eine schon im AltertLini ]e])liaft getadelte Hypothese^
welche Epicur hier aufstellt. Er selbst scheint sich nicht weiter
klar gemacht zu haben, welche Vorausset7Aingcn in derselben ent-
sollert. animal. c. 7, p. 9()4 G. — Brieger (Urbeweg. d. Atome S. 8 f. ; vgl.
Philol. Abh. S. 220 ff.) polemisiert schart gegen Cicero, der sich einer argen
Gedankenlosigkeit schuldig mache, wenn er den Epicur auf den Gedanken
kommen lasse, ohne die Declination würden wir der Willensfreiheit entbehren,
da doch nach dem selben Cicero ohne die Declination überhau{)t keine zusam-
mengesetzten Wesen, also auch wir nicht, existieren würden ; ebenso gegen
Lucrez, der sich „in derselben Verdammnis befinde", gegen Epicur, der an
dieser Confusion bis zu einem gewissen Grade selbst schuldig sein und
irgendwo gesagt haben müsse, selbst wenn die Declination zur Erklärung der
Dinge nicht nötig wäre, so würde sich doch ohne sie die Willensfreiheit niclit
erklären lassen, was aber ein blosser Advocatenkniff sei, da Epicur dort, wo er
von der Willensfreiheit handele, die Declination gar nicht erwähnt habe;
s. Lucr. IV 877 ff. (es hätte auch auf die von Gomperz, Neue Bruchstücke
Epicur's, insbesondere über die Willensfrage. Sitzungsber. der Wiener Akad.
d. Wissensch. Phil.-hist Cl. Bd. 83. 1876. S. 87—98, aufs neue behandelt in:
Wiener Studien f. class. Philol. Bd. 1. 1880. S. 27—31, verwiesen werden
können).
Auf das Letztere hat schon Diebitsch, Die Sittenlehre des Lucrez. Progr.
Ostrowo 1886. S. 3 Anm. 3 zu antworten gesucht. Sonst möchte etwa Folgen-
des zu erwidern sein. Wenn Epicur wirklich gesagt hat, was auch Brieger
ihn sagen lässt — und es dürfte das ohne Zweifel seine Meinung gewesen
sein — , so verdient Cicero, dessen Zeugnis Brieger auch hinsichthch Demo-
crit's maasslos herabsetzt, wegen seines Berichts nicht mehr den Vorwurf der
Gedankenlosigkeit. Einen blossen „Advocatenkniff aber, eine Ausrede, an
deren Wahrheit Epicur selbst nicht recht geglaubt hätte (Abhandl. S. 221 :
„Quod si fecit, temere fecit, paene dixi non serio"), möchte ich in jenem Ge-
danken nicht sehen. Lucrez setzt die Selbstbestimmung der Urgiünde nur
deshalb als notwendig voraus, weil er andernfalls die freiwillige Bewegung
unser selbst ohne voraufgehende Bewegung als dei'en determinierende Ur-
sache nicht glaubt erklären zu können. Nun ist es richtig, dass Epicur nicht
die Ursachlo si gkeit menschlicher Willensacte behauptet; „als sittlich frei
gilt ihm vielmehr derjenige, dessen Handlungen durch seine Überzeugungen
{(h'iS''.') bestimmt werden* (Gomperz, Sitzungsber. a. a. 0. S. 95). Auch betont
Lucrez, dass wir keine Bewegung wollen können, ohne dass die Vorstellung
dieser Bewegung unsere Seele getroffen hätte (Lucr. IV 881 - 88.'); zu v. 886
vgl. Munro's Erklärung). Aber die erregte Vorstellung des Gehens ist
noch nicht der Wille des Gehens und nicht der Anfang des Gehens
selber (die Innervation der motoiischen Nerven). So lange man also
nicht etwa das Wollen als eine Entwicklung der Vorstellung selbst fasst
— ein moderner Gedanke, welcher Epicur und Luoez fremd ist —
wird man, wenn an die Vorstellung der ausführende Wille sich an-
schliesst, hierin den Anfang einer neuen, von der Seele selbst ausgehenden
Ejjicur. h) Die Bewegung der Atome. Declinalioii. ij'2o
halten sind und zu welchen, auch seine ganze Lehre von der Ma-
terie umgestaltenden, Consequenzen sie führen nuisste. Hätte er
das Letztere gelhan, so würde er wahrscheinlich zu der Theorie
gekommen sein, die Guyau ihm kürzlich beigelegt hat, und deren
Inhalt kurz dahin zusammengefasst werden kann, dass der Not-
wendigkeit als zweite Ursächlichkeit eine aus der „Declination"
der Atome sich ergebende universelle Spontaneität gegenüberzu-
stellen sei, die mit der Weltbildung nicht aufhört, sondern sich im
Zufall (tvx^,) einerseits, im freien Willen andererseits äussert ^). Allein
diese gänzliche Durchlöcherung der mechanischen Weltanschauung
liegt, bestimmten Aussprüchen gemäss, ihm doch durchaus fern ^).
Ebenso hätte er erkennen müssen, dass in der Annahme einer
willkürlichen Bewegung seitens der Atome die Voraussetzung ein-
geschlossen hegt, dass der Materie Wille zukommt Damit aber
wäre sein Materialismus mit einer auch aus der neuesten Ge-
schichte dieser W^eltanschauung bekannten Wendung in einen
Bewegung sehen müssen, welche von der Bewegung des Vorstellungshildes
(ii'iini'/.or, imago) der Art nach verschieden ist. Und in der That sagt Lucrez
nach dem oben Gitierten v. 886 — 888: ergo animus cum sese ita commo-
vet, ut velit ire | inque gredi, ferit extemplo quae in corpore toto | per
membra atque arlus animai dissita vis est Nach ihm soll also der freie
Willensentschluss dadurch zustande kommen, dass die Seele sich selbst
bewegt, um das Vorgestellte auszuführen; davon, dass die Vorstellung den
Willen bewege, ist nicht die Rede. Aber, fragt es sich, wie kann die Seele
ihre von der Vorstellung zu unterscheidende motorische Bewegung aus sich
anfangen, da doch sonst jede Bewegung durch eine voiaufgehende örtliche
Bewegung gleicher Art determiniert ist? Hier nun bietet sich die Stelle, an
der die Theorie der Declination von Epicur eingefügt werden konnte, auch
liier als eine, wenngleich sachlich ungenügende, so doch im vollen Ernste und
nicht als blosser ^Advocatenkniff gegebene Lösung.
') Etwas Ähnliches wird in der That vom Plutarch, de sollcrt. anim. c. 7,
p. 9G4: G berichtet: oi'^f yäp uvtoI t«} 'Etiixovqw ö'uföaaip v^ifQ nSv ufyiaxtav,
aij.ixQ6v ovxm nQayfia xal if.ar/.uv^ oi/jiat, üiouov naQtyyJ.lvcu fuap t7ii. rovldyiaiov,
uncoi aaiQu xal ^üia xal tvxrj naQeiaek&ij xal t6 iif' r//jiTv ui] cLiu/.ijiai (Über die
zi-Xri bei Epicur vgl. ep. ad Menoec. §. 133—134. xi'n. (»o^. 16 bei Diog. X 1-14.
Aet. I 29, 6, Dox. p. 326, bei Plut. plac.129,2; Stob. ecl. I,p.218; ferner fr. eth.
Gomparetti c. 15; Philodem. serm. de vita et nior. excerpt. e Zenon. de libert-
dicendi, Vol. Herc. ' V 2, fr. 6).
-) S. Zeller IIF a, 408, 1. Masson, An examination of M. Guyau's chapter
on atomic dechnation. Journal of Philology, XI. 1S82, und wiederholt in: The
atomic theory of Lucretius, p. 207 ff. Ül)er die Anm. 1 angeführte Plutarch-
stelle ebd. S. 'iCG f.
•21 ='=
324 Vierter Ahsclinitt. Epicureer und Stoiker.
Panpsychismus umgeschlagen, der, namentlich wenn wir die Will-
kür der Atome mit Guyau als eine stets fortbestehende Sponta-
neität in der gesamten Natnr fassen, nach Masson's i) richtiger
Bemerkung mit Schopenhauer's Willenslehre einige nicht allzu
ferne Ähnlichkeit hätte. Jene Voraussetzung seiner Theorie der
„Declination" scheint indes Epicur ganz entgangen zu sein. Denn
das Erkennen und die Empfindung wenigstens, die notwendige
Voraussetzung des Wollens 2), werden von seinem Interpreten Lucrez
den Atomen mit aller Bestimmtheit abgestritten 2).
Nach ihrem Zusammenstoss, der durch diese willkürliche
Abweichung herbeigeführt wird; prallen die Atome infolge ihrer
' absoluten Härte von einander ab ^).
Indem der Abprall die Atome seitwärts und auch aufwärts
treibt ^), wird die Gesamtmasse des unendlichen Stoffs in dem
unendlichen R.aume im Ganzen genommen an derselben Stelle
festgehalten ''). Wirbelbewegungen, die innerhalb desselben in-
folge des Zusammenpralls der Atome sich bilden, lassen zaldlose
Welten entstehen '^). Innerhalb einer Welt finden sich diejenigen
Atome zusammen, die in Bezug auf Gestalt, Grösse, Lage und
Ordnung zu einander passen ^). Solche verflechten sich zu einem
zusammengesetzten Körper '**). Wie daraus die Himmelskörper,
Pflanzen, Tiere u. s. w. wurden, braucht hier nicht verfolgt zu
werden.
i) A. a. 0. S. 232.
2) Lucr. IV 881 ff.
3) Lucr. II 973 ff. Vgl. Simpl. in catet?. fol. 5G B. — S. oben S. 3l3.
*) ep. ad Herod. §. 44. Vgl. S. 3U7 Anm. 9. Die Frage, ob die hier an-
genommene Mechanik der Atome u^it den Gesetzen des Stosses unelastischer
starrer Körper im Einklänge steht, möge ausser Betracht bleiben; um so mehr,
als auch die neuere physikalische Atomistik hinsichtlich derselben noch durch-
aus in einen Widerstreit der Meinungen verstrickt ist. Man findet darüber
das Nötige bei Isenkrahe, Das Räthsel von der Schwerkraft. Biaunschweig
1879, und in ähnlichen Schritten.
^) ep. ad Herod. §. 61.
'') Lucr. I 995-- 997 (vgl. Munro z. d. St.). Mit Unrecht zieht Masson,
a. a. 0. S. 48 Anm. 3 auch I 1036 und 1049 heran, wo das suborii-i nicht ein
Hinzukommen von unten her, sondern das allmähliche Nachwachsen
bedeutet.
') S. Zeller IIP a, 408 f. Masson, eh. 4 (p. 56 ff.): the birth of the world.
®) Simpl. de cael. I, p. 110 a 5 Karsten.
") ovyx()tais, bei Lucrez conciliiioi (s. Beniays a. a. O. zu Lucr. I 183).
Epicur. b) Die Bewegung der Atome. Weltenlstehung u. Weltuntergang. 325
In der Welt i.st alles in fortwährendem Flusse begriffen.
Derselbe zeigt sich einmal in dem unaufhörlichen Wandel der
Einzeldinge innerhalb der Welt i), der durch das stete Hinzukom-
men von Atomen, das stete Entweichen von solchen und die stete
Veränderung in deren Anordnung bewirkt wird 2). Aber auch un-
sere Welt als Ganzes ist in den unaufhörlichen Fluss der Materie
hineingezogen. Ohne Unterlass gehen Teilchen von ihr ab und
werden wieder ersetzt durch solche, die aus dem unendlichen
Räume ihr zukommen '■^). So geht ein unablässiger Strom von
8toff und Bewegung durch dieselbe hindurch, bis sie einst
wieder in eine losgelöst umherschweifende Atomenmenge sich
auflösen wird *).
1) Lucr. II <i7— 76. Vgl. Hieron. in Arnos cap. 6, T. VI, p. 313 Vallars. :
res saeculi et omnia corpora, iuxta Epicurum, per momenta fluunt et abeunt
et nihil in suo eonsistit statu ; sed vel crescunt omnia vel decrescunt et
aquarum more torrentium labuntur in praeceps (bei Usener übergangen).
'^) Lucr. I 675 ff. Vgl. v. 797—802. Diog. X 54, var. lect.: .ueTaS^eaeis] ev
noXXoTs' TivMV ^i xal 7iQoa6(fovg xal difodove.
^) Lucr. I 1035—1051. II 1144-1149.
^) Unter den Denkern welche zwar nicht der epicureischen Schule ange-
hören, aber doch von ihr beeinflusst sind, verdient eine besondere Erwähnung
der dem Cicero befreundete (Gic. de or. 114, 62) Arzt Asclepi a des aus
Bithynien, über dessen Leben zuletzt H. Bruns (Quaestiones Asclepiadeae
de vinorum diversis generibus. Parchim 1884. S. 40 ff.) gehandelt hat, von
dessen Philosophie ausser bei Zeller IIP a, 549 ff. und in der Monographie von
Chr. G. Gumpert (Asclepiadis Bithyni fragmenta. Weimar 1794. S. 58 ff.: phi-
losophiae elementa) eine eingehende Darstellung bei K. Lasswitz, Die Er-
neuerung der Atomistik in Deutschland durch Daniel Sennert und sein Zu-
sammenhang mit Asclepiades in Bithynien (Vierteljahrsschr. f. wissenschaftl.
Philos. 111. 1879. S. 408-434, s. bes. S. 425-430) sich findet.
Asclepiades betrachtete, wie der Pontiker Heraclides (s. S. 71 Amn. 1; als
Grundbestandteile aller Dinge kleine, unzusammenhangende Massenteilchen oder
Körperchen [avagfioL oyxot Sext. Pyrrh. hyp, III 32; adv. raath. X 3l8. Dionys.
Alexandr. bei Euseb. praep. ev. XIV 23, 4. p. 773 B— G. Ps.-Galen. bist. phil. .T XIX,
]j. 244 K., Dox. p. 610, 22. aroixtTa avuQiia Galen, de differ. morbor.c. 2, T. VI p.
839 f. K.; oyxoi auch Galen, de usu partium XI 8, T. III, p. 873 K.; Clemens
Rom. recognit. c. 15 p. 569« Coteler. »fo/t's Chalcid. in Tim. c. 215 Wrobel. Die
richtige, jetzt auch von Zeller IIP a, 551, 5 gebilligte Erklärung von avag^o?
hat schon Le Giere, Hist. de med. IIP, 5, citiert bei Gumpert a. a. 0. S. 61
Anm. n, der aroixeTa avaQfxa als „elements detaches", daneben freilich unrich-
tig auch als: „qui ne s'accordent pas" fasst). Von Ewigkeit in Bewegung, zer-
splittern dieselben einander durch die fortwährenden Zusammenstösse in un-
32G Vierler Al)scliiiit,t. Epicureer und Sloiker.
2. Die Stoiker.
Die xVIaterie als qualitätsloser Körper.
Die stoische Theorie der Materie beruht, wie schon früher
zählige Bruchstücke, die nach Grösse und Gestalt verschieden sind (Caelius
Aurelianus, de morbis acutis et chronicis, üb. I. c. 14 §. 105, ed. Amman, Amstel.
1722, p. 41; &(>uvtJTu aroiytta auch Sext. Pyrrh. hyp. Ilf 33; oyxot &Qavatä
Ps.-Galen. introducl. c. 9, T. XIV, 698 K. ; oyxui <h' atmvog ävijQe'fUjTui Sext.
ailv. math. III 5). Diese Körperchen sind also nicht unveränderlich, wie die
Atome Democrit's und Epicur's, sondern afficierbar {na&rjTol Sext. adv. math.
VIII 318.) Sie sind durch die Vernunft erkennbar (Aoyoj ^tM^n/ioc Sext. adv. math.
.III 5; votjToi oyxoL ebd. VIII 220; corpiiscula intellectu sensa Gael. Aurel. I. c);
dagegen entbehren sie der wahrnehmbaren sinnlichen Qualitäten, welche den
aus ihnen zusammengesetzten Körpern eigen sind. Dass sonach Qualitätsloses
den qualitativ bestimmten Körper constituiert, enthält keinen Widerspruch, da
von den Teilen nicht dieselben Bestimmungen gelten, wie vom Ganzen
(Gael. Aurel. 1. c. §. lOG, p. 42. Wenn es bei Sextus, Pyrrh. hyp. III 33heis.st:
Tois ncQi 'Aay.Xt]niä(f'qv . . . -d-gavaia fivai id aiof^tTa ?.£yorat xal noid, SO kann
ich das mit der be.stimmten Aussage des Aurelian nur durch die immerhin an-
fechtbare Annahme vereinen, dass bei Sextus unter den atoif^ua. hier nicht die
oyxoL selbst, sondern die durch die Vereinigung solcher oyy.oi gebildeten Ele-
mente des Feuers, Wassers u. s. w gemeint seien).
Die so entstehenden sinnfälligen Körper sind einer fortwährenden Verän-
derung unterworfen, indem hinsichtlich der Grösse, Menge, Gestalt und Ordnung
der Elementarkörperchen ein beständiger Wechsel stattfindet (Gael. Aurel. § 105).
Mit besonderm Nachdruck betont Asclepiades diesen unaufhaltsamen Fluss
aller Dinge. Nicht zweimal, sagt er, an Heraclit anknüpfend, könne man das-
selbe Ding vorzeigen (Sext. adv. math. VIII 7).
Die Körper , welche durch die Verbindung der kleinsten Stoffteilchen
entstehen, sind von Poren (nÖQoi, viae) durchzogen, welche, verschieden
an Grösse und Gestalt, bei den organischen Wesen den Säften einen
Durchgang gewähren (Gael. Aurel. §. lOG. Galen. Theriac. ad Pis. c. 11, T.XIV,
2:)0 K.; vgl. Ps.-Galen. introd. c. 9, T. XIV, G98 K.). Aber nicht nur die orga-
nischen Körper, sondern die gesamte stoffliche Substanz schliesst leere Zwi-
schenräume ein [x'OQai xtval Galen, in Hippocr. epidem. VI comm. IV 10,
T. XVII 2, p. 162 K.: de simpl. medic. I 14, T. XI, p. 405 K.).
Augenscheinlich weist unter diesen Bestimmungen Vieles auf die Atomi-
stik hin. Aus dem Gedankenkreise dieser stammen die erkenntnistheoretischen
Anschauungen über das Verhältnis der nur nach Gestalt, Grösse u. s. w. un-
terschiedenen, nur der Vernunft zugänglichen Elementarkörperchen zu den
sinnlich wahrnehmbaren, qualitativ bestimmten Dingen. Die eigentlich physi-
kalischen Gi-undanschauungen der Theorie unsers Mediciners dagegen, die
kleinsten Bruchstücke oder Massenteilchen und vielleicht auch die Poren,
führen, was nicht genügend beachtet wurde, (Lasswitz a. a. 0. S. 424 f. führt
als Vorgänger des Asclepiades neben Epicur nur Heraclides und, zweifelnd,
Stoiker. Entlehntes und Eigenes in ihrer Tlieurie. o27
bemerkt wurde ^), auf einem Gompromiss zwischen der alten Xa-
ti'.rpliilosophie und der aristotelischen Lehre, entbehrt aber dane-
ben nicht eines eigenen, relativ neuen centralen Gedankens, durch
den sie über einen blossen Eklekticismus hinausgeführt wird. Der
vorsocratischen Physik, speciell der He raclit 's 2), entnimmt sie
die kosmogonische Grundanschauung vom UrstofT und dessen Ent-
wicklung durch die ihm immanente körperliche Weltvernunft.
Auf Aristoteles gehen fast alle Begriffe zurück, vermittelst
derer Stoff" und Kraft in sich wie in ihrem gegenseitigen Verhält-
nis näher bestimmt und metaphysisch durchdacht werden. Beide
Elemente verhalten sich wie concrete Anschauung und abstracter
Begriff. Das den Stoikern eigentümliche Princip endlich ist
ihr ausgesprochener principieller Materialismus.
In diesem Materialismus kommen die Stoiker mit den Epi-
cureern überein, nur dass ihr Materialismus nicht, wie der epicu-
reische, ein mechanischer, sondern ein dynamischer ist ^). Sie
verteidigen denselben wie Epicur ^) durch das Argument, dass
nur das Körperliche die Fähigkeit zum Thun oder Leiden besitze =>).
Indes dürfte wohl nicht so sehr in diesem einzelnen dürftigen
Vernunftgrunde der Ursprung des stoischen Materialismus zu su-
auch Ecphantus an), vielmehr auf Empedocles, den naturphilophischen
Priesteiarzt, oder doch auf diejenigen Gonsequenzen der empedocleischen Lehre
die bereits Aristoteles aus derselben gezogen hat, wie das seines Orts von uns
auseinandei'gesetzt Avorden ist (s. S. 71).
•) S. S. 301 f.
^) Über Zeno's Beziehungen zu Heraclit vgl. Ludw. Stein, Die Psychologie
der Stoa. Erster Band. Metaphysisch-anthropologischer Teil. Berhn, 1886 'in
Zukunft citiert als Stein I), S. 8 tf. Hirzel, Untersuchungen zu Gicero's philos.
Schriften, II 38 ff.
^) Zeller IIP a, 130. L. Stein. Die Erkenntnistheorie der Stoa (zweiter Band
der Psychologie). Berlin 1888 (in Zukunft citiert als Stein II). S. 201.
*) S. S. 305.
'■") Plut. de COmm. not. C. 30 p. 1073 E: ovrrf yaq juova rd amfxaza y.a?.ovaiv,
iniuh] ovTOi tu noifiv Tt y.al näayeiv. Weitere Belege bei Zeller III ^ a, 117 f.,
zu denen hinzuzufügen: Sext. Emp. adv. math. VIII 404 (vgl. Pyrrh. hyp. III
38); Alex. Aphrod. de sensu p. 153, 9—10 Thurot; ferner für den stoischen Materia-
lismus überhaupt, ohne die angegebene Begründung: Biotin, enn. 114, l.p. 104,1
Müller. Dexipp. in categ. II 22, p. 50, 32 Busse. Asclep. in met. YII 1, p. 377,
30 Hayduck. Syrian. in met. XIII, p. 892 a 5 Usener. Olympiodor. prol. in Plat.
phil. c. 9. — Über die vier iauißara bei den Stoikern: Raum, Ort, Zeit und
Gedankending, v-l. Zeller IIP a. 122 f.
328 Vierter Ahsclmill. Epicurcier und Stuiker.
cheii sein, sondern in der ganzen Denkweise des Stifters der Sloa
und seiner hervorragendsten Anhänger. Der rein metaphysischen
Speculation gleicli Epicnr abhold, wendet sich auch die Stoa
überall dem Anschaulichen und Gemeinverständlichen zu und verfällt
darum, wie jener, einem erkenntnistheoretischen Sensualismus,
dessen metaphysisches Correlat der Materialismus ist ^). Aus dem
Heraclitismus Zeno's lässt sich dessen Materialismus nicht erklä-
ren, da vielmehr umgekehrt nach Zeller's ^) zutreffender Bemer-
kung die Hinneigung zu diesem aus der lebendigen Überlieferung
der Philosophie längst geschwundenen System die materialistische
Weltanschauung schon voraussetzt. Eher dürfte man , wenn
man nach einer äussern Anlehnung sucht, an denjenigen unter
den Socratikern denken, welcher auch der stoischen Ethik die
Grundgedanken angab. Denn schon Antisthenes hat, wenn an-
ders wir che Anspielungen des platonischen Sophistes richtig
deuteten, die Begriffe Substanz (oiiOia) und Körper {iiö}f.u() iden-
tificiert ^).
Auf diesen Grundlagen nun haben die Stoiker eine trotz allen
Anschlusses an die Früheren doch eigenartige Theorie der Ma-
terie entwickelt. Aber die Verschiedenheit der übernommenen
Elemente war zu gross, als dass sie zu einer wirklich einheitlichen
Verschmelzung hätten gebracht werden können. Die der alten
Naturphilosophie entnommenen concreten Anschauungen fügen
sich nicht völlig den abstracten aristotelischen Begriffen, welche
ihre Fassung bilden sollen. Sie verschieben und verzerren die
ihnen aufgedrungene Form bis zu deren völliger Zersprengung.
Schon der Gedanke einer kosmogonischen Entwicklung aus
einem bestimmten Urstoff, bei welcher aufgrund eines Innern
Lebensgesetzes die verschiedenen Elemente und deren complicier-
*) Vgl. Zeller III •' a, 124 f. — Dass eine solche materialistische Auffassung
dem gemeinen Bewusstsein nahe liegt, bemerkt schon Aristoteles met. VII 2,
1028 b 8: (foxeTö''^ ovala vndg'^dv (pavtQojTUTu fiev roTg amfxaatv' dio tct rt
Cua xal TU (fvtd xal ra fioQia avrüJv ovaiag tivai (pafxtv U. S. W. Eine Solche
vereinzelte Stelle, an der Aristoteles nicht seiner eigenen philosophisciien An-
sicht Ausdruck giebt, sondern über anderswo verbreitete Meinungen referiert,
wird man indes nicht mit Siebeck, Unters, z. Phiios. d. Gr., S. 27U, zum Be-
weise dafür benutzen können, dass die Stoa auch hier von Aristoteles
a u s g e li t.
■') A. a. O. S. 121.
») S. S. 2üi».
Sloiker. Enllelinles und Eitjenes in ihrer Tiieorie. ;>2{>
tere Ciestaltuugen in dor unorganischen und der organischen Welt
erst nach und nach hervortreten, befindet sich in einem schwer
zu überwindenden Gegensatze zu der aristotehschen Denkart,
welche einer von jeher bestehenden, m sich bestimmungslosen
Materie ein gleichfalls ewiges, von Anfang an fertiges System von
Formen gegenüberstellt. Dort Umwandlung durch Auswirkung
von innen heraus in rythniischem "Wechsel der Weltperioden, hier
stete Erneuerung innerhalb der als Ganzes ewigen AVeit durch
immerfort wechselndes Zusammentreten (Ovrodoc) i) der zwei
gleich ursprünglichen und gleich unvergänglichen Principien des
substantiellen Seins.
Dazu tritt ein zweites, grösseres Hindernis des Innern Aus-
gleichs. Jene aristotelischen Begriffe von Materie und Form ent-
stammen einer durchaus dualistischen Betrachtungsweise, welche
dem Stoffe die begriffliche, unstoffliche Form als höhere Wirk-
lichkeit gegenüberstellt. Die kosmogonische Grundlage des Systems
dagegen geht aus von einem materialistischen Monismus, der im
Körperlichen das einzige Seiende erblickt. Dieser Materialismus
ist überdies von den Stoikern recht geflissentlich in den Vorder-
grund ihres Systems gerückt worden, hifolge dieses Materialis-
mus wird der Begriff der Materie sowohl wie derjenige der die
Materie bestimmenden Kraft in gleicher Weise vergröbert. Damit
aber verwischt sich der anfängliche Gegensatz zwischen diesen
beiden Principien, und es tritt in vielen Beziehungen ein unklares
Schwanken zwischen den ursprünglich dualistischen und den mo-
nistischen Elementen ein.
hl den folgenden Auseinandersetzungen ist zu betrachten
a) die Materie an sich,
b) die Materie in ihrem Verhältnis zur Kraft,
c) die Materie im Weltprocess.
Abweichend von einem neuerdings mehrfach beliebten Ver-
fahren werden wir bei unserer Darstellung Verzicht darauf leisten,
überall den Anteil der einzelnen Schulhäupter genau zu sondera.
Bei der Beschaffenheit unserer Überlieferung über die stoische Lehre
muss es genügen, eine solche individualisierende Behandlung hin-
sichtlich der wenigen Puncte zu versuchen, für welche die Quellen
.■j3() Vicilcr Alisclinitt. Eiiiciirecr und Stoiker.
grössero Verschiedonheileii iimcrhall) der Schule crkciiiicn lassen,
und im übrigen diese als Gan/.es zu behandeln. Ein ande-
res Vorgehen wiirde wenigstens hinsichtlich des Problems der
Materie zu mehr scheinbaren als wahrscheinlichen Combinationen
führen ').
a. Die Materie an nicU,
Der stoische Begriff der Materie ^) knüpft an den aristote-
lischen an. Von Aristoteles übernahm die Stoa, wie den Namen
„Materie" (v^rj)^ so auch die ganze Problemstellung und den
allgemeinen Begriff. Unsere Discussion der stoischen Theorie
wird darum zunächst nicht von den auf Heraclit zurückweisenden
kosmogonisch-monistischen Anschauungen mnerhalb des stoischen
Systems, sondern von dem Kreise von Gedanken, der dem ari-
stotelischen Dualismus entstammt, ihren Ausgang nehmen müssen.
Der Gedankengang, welcher die Stoiker zur Aufstellung einer
allem Körperlichen gemeinsamen Materie führt, ist ein doppelter.
Den einen teilt die Stoa mit der at'istotelischen Philosophie 3),
ohne Frage aufgrund einer Entlehnung aus der letztern. Wie
der ehernen oder silbernen Bildsäule das ungeformte Erz oder
Silber voraufgeht, so setzen hinwiederum Erz und Silber, als schon
cjualitativ bestimmte Körper, ein allem zugrunde liegendes, aus
sich selbst bestimmungsloses, in alles wandelbares Substrat vor-
aus ^). Es ist die Materie (r^ry), oder, wenn wir jene qualitativ
schon bestimmten Stoffe, aus denen das bestimmt geformte Ding
entsteht, gleichfalls als Materie bezeichnen wollen, die erste Ma-
') Auch Hiizel hat in seinen Untersuchungen über die Entwicklung der
stoischen Philosophie (Unters, z. Gicero's philos. Schriften, Teil II Abt. 1) nicht
versucht, hinsichtlich des Problems der Materie eine solche Entwicklung im
einzelnen nachweisen.
^) Unter den Stoikern hatten eigene Schriften über die Materie {Titpl ovaias)
verfasst unter andern Zeno (Diog. VII 134) und Antipater (in mindestens zwei
Büchern, Diog. VII 150, vgl. Fabric. Bibl. Gr. III 538 Harless».
•■') S. S. 229 ff. 252 f.
*) Ghalcid. in Tim. c. 289 Wrobel. Auch mit dem Thon oder dem
Wachs wird die Materie verglichen, woraus der Künstler bald ein Pferd,
bald einen Hund, bald wieder ein anderes Gebilde herstellt. Mnesarch bei
Arius Didym. fr. 27 (Dox. p. 4G3) bei Stob. ecl. I, p. 436. Antonin. VII 23.
Vgl. Plut. cons. ad Apoll, c. 10, p. 10(3 E- F. Ps.-Alex. probl. 1. q. 49 (die
ähnlichen Gleichnisse Plato's, Tim 50 A ff., s. S. 129 ff.).
Stoiker, a") Die Materie an sicii. -- Beweise für ilieselltc. .'l.'il
teric {tiqojttj vXtj) ^). — Die Materie wird hier also von den
Stoikern, ganz in Übereinstimmung mit Aristoteles, als das unbe-
stimmte, form- und qualitätslose Substrat der qualitativ verschie-
deneii Stoffe gefasst, das durch allen Wechsel der letztern hin-
durchgeht 2).
Eine andere Ableitung der Materie dagegen, welche in den
Ausführungen der Stoiker ungleich mehr hervortritt, als jene aristo-
telische, ergab sich aus dem Gegensatze des Thätigen und des
Leidenden. Wie die Stoa für das Thätige in Gott das Princip
erblickt, so für das Leidende in der Materie ^). Auch dieser
Gedanke weist auf Aristoteles zurück*). Während aber Ari-
stoteles die Materie in erster Linie im Gegensatz zu der be-
stimmenden Form betrachtet, neben welchem Gegensatz der des
Activen und des Passiven erst in zweiter Reihe inbetracht kommt,
liegt bei den Stoikern die Sache umgekehrt. Weil, wie wir sehen
werden, der Begriff der Formalursache ihnen in den der thätigen
Kraft sich auflöst, so ist ihnen die Materie vor allem das Leidende.
Aber das Leiden der Materie ist Bestimmtwerden ^). So laufen
denn beide Betrachtungsweisen, die dem Aristoteles entnommene
und die specifisch stoiscTie, der Sache nach auf dasselbe hinaus.
Weil ohne eigene Kraft der Thätigkeit, ist die IMaterie auch ohne
eigene Bestimmtheit, und umgekehrt.
Die Ableitung der Materie hat uns zugleich das erste Merk-
mal im Inhalt ihres Begriffes ergeben. Sie ist, als Substrat aller
') Arius Didym. fr. ^20 (Dox. p. 457 f.) bei Stob. ecl. I, p. 322 (von Zeno):
o^ai'av tff (ivat ti}v twv ovrcov nävToiv ti^mtijv v?.r,v. p. 324 (von Ghryslpp) : tmv
xatä notÖTTjxa vifiaTafjie'vmv TiQoitTiv v?.i]v (sc. ovat'av eivai^, Chalcid. c. 293
(p. 322, 15 Wrobel) : princeps silva. Simpl. in phys. I, p. 227, 23: ngwTiazr, t'?.r;.
■) Sext. Emp. adv. niath. X 312 (excerpiert bei Hippolyt. refut. haeres. X 6,
p. 311 Miller). Vgl. Diogen. VIT 150. Aetius I 9, 2 (Dox. p. 307) bei Plut. plac.
I 9; Stob. ecl. 1, p. 318.
3) Sext. Emp. adv. math. IX 11. Aetius I 3, 25 (Dox. p. 289) bei Plut.
plac. I 3 (vgl. Achill. Tat. isag. p. 124 E). Diog. VII 134. Alex. Aphrod. de
mixt. f. 144r (p. 60(i ed. Ideler, in: Arist. meteor. Bd. II. Leipzig 1836). Athenag.
suppl. pro Christ, c. 19 p. 314 B ed. Maurin. \'enet. 1747. Lactanl. instit. VII3,
p. 741 A Migne. Plotin. VI 1, 27, p. 258, 15 Müller; ehd. c. 29, p. 260, 27.
Chalcid. c. 289. 293 u. s. w.
*) S. S. 265 f.
5} Vgl. Sext. Emp. adv. math. IX 11 : ndayur tt y.al iQenfa&at. Diog. VII 150:
xai na-d-qr-^ Je eaiiv . . , tt ya.Q qv uTQtnTog, ovx civ rd yivöfieva c'^ arrijs
tyiveto.
:]:]-2 Vierter Alisclniill. K|iicinc('r uml Stoiker.
Veränderungen, selbst ohne alle Besliiiunthcii, form- und cigen-
schaftslos (af.ioQ(fog und ccTtoiog) ^).
Wühroud aber, nach Plato's Vorgange, Aristoteles mit der
Qualilätslosigkoit der Materie vollen Ernst zu machen sich be-
müht und sie wenigstens principiell als blosse Potenz zu einem
bestimmten Sein fasst, sind die Stoiker nicht imstande, ihm bei
einer solchen unanschaulichen Abstraction zu folgen. Lagen doch
bereits in der aristotelischen Lehre von den Elementen Mo-
mente genug, die zu einer vergröbernden Auffassung der Materie
hindrängten 2). Den Stoikern vollends verbot ihr Materialismus,
in der Natur etwas als wirklich anzunehmen, was nicht Körper
wäre. Darum muss auch die Materie Körper sein '•^). Fassen sie
') Arius Didymus fr. 20 (Dox. p. i:>S) bei Stob. ecl. I, p. 324: e(fijat tft J
Tloai td' invio? rrjv z(ov oloxv ovaiav xai v?.r;v anoiov y.al a/noQfov eivai. Diogen. VII
134. 137. Plut. comm. not. c. 34, p. 107(5 C. c. 48, p. 1085 B—G. c. 50, p. 1086 A.
Sext. Emp. adv. math. IX 11. Galen, q. qualit. s. incorp. C, XIX p. 478 Kühn.
Ghalcid. in Tim. c. 292 Wrobel: (Zeno) . . . neque formam neque figurani nee
uUam omnino qualitatem propriam fore censet fundamenti rerum omniuni
silvae. Vgl. ebd. c 280. 290. 297.
•■') S. S. 260.
^) Aetius I 9, 7 (Dox. p. 308) bei Stob. ecl. I, p. 324: 0/ ItmixoI aioua ttjv
vkr,v anoifaivovrat. Vgl. Theodoret. Graec. affect. curat. IV 14. Alex. Aphrod.
de an. I, p. 17, 15— l(i Bruns. Sext. Einp. adv. math. X 312. Plot. enn. II 4, 1. p. 104,
8; IV 7, 9. p. 114, 18; VI 1, 2(5. p. 257, 25. Ghalc.c. 289, p,320, (5. 18Wr. Aristocles
(bei Stein I, 2(3 Anm. 31 steht durch ein Versehen Hierocles) bei Euseb. praep.
evang. XV 14, 1. p. SIGD: aTO(yfTov etvai (faai itov ovroyp z6 tivq, xaO-äiieQ 'Hqü-
xXinos, TovTov (f uQxas vh;v xai. ^'tfov, oK Tlh'T'^u- (der Vergleich bezieht sich nur
auf die letzten Worte ; über die herkömmliche Aufzählung der platonischen Prin-
cipien d/^oV, ''/■?;, /()>'« s. S. 114 Anui. 2). d).).' oinoi (sc. ZxmLxo'i) a,u(f(,} (das im
Folgenden epexegetisch hinzugesetzte xai tu noiovv xai x6 nda^ov) aw/xarä (}.aaiv
eivai, xai ro noiovv xai tö ndayr^ov, exeivov (sc. nkärmvos) x6 Tigunov noiovv (sC.
■&e6v) alttov daiüixarov eivai Xeyovrog {ovtoi — (pauiv statt ovrog — iprjaiv mit
Heinze, Die Lehre vom Logos in d. griech. Philcs. Oldenburg 1872, S. 91 Anm. 2;
wenn aus dem Schweigen bei Gaisford geschlossen werden darf, so hat sich
wenigstens das faalv in den codd. EEG erhalten. Durch die in Klammer ge-
gebenen Erklärungen dürfte auch der Anlass zu dem dreimaligen sie beseitigt
sein, das Stein a. a. 0. zu nidroii; of/xi^w und daMiiaxor beifügt. Natürlich ist
am Schluss der Stelle keyovios zu lesen, nicht '/J'/ovtes, wie bei Stein verdruckt ist).
Damit scheint nun im Widerspruch zu stehen Diogen. VII 134, wo es bei
Gebet heisst: ö'iufefjeiv (fe ifaaiv dpyds xai azoiytia • - • d'/J.a xai damjxdrovi
elvai ras dpyds xai d/iioptfovs, tu J'f i.u/LioQ(f(oai)-ai. Allein statt des nach Suidas
s. Y. aQxv in den Text aufgenommenen daco/ndTov; bieten die Handschriften
am/nara, uiid an dieser Lesart glaube ich im Gegensatz /.u R. Hirzel, Untersu-
Stoiker, a) Die Materie an sich. — Bef,Tiir derselben. 33ii
auch, durch Aristoteles belehrt, die Materie nicht mehr, wie ihre
ionischen Vorgänger, als einen bestimmten Körper, so bleiben
sie doch insofern in dem Gedankenkreise der letztern stehen, als
sie wenigstens von den allgemeinen Wesensbestimmungen des
Körperlichen bei derselben nicht abstrahieren.
Beide Momente, die Bestimmungslosigkeit der Materie auf der
einen, ihre Körperlichkeit auf der andern Seite, ergeben die stoi-
sche Definition der Materie als des qualitätslosen Körpers ^).
Was nun den genaueren Sinn beider Teile dieser Definition
betrifft, so kann über die Bedeutung des ersten Teils kein Zweifel
sein. Die Qualitätslosigkeit der Materie muss gemäss der Ab-
leitung des Begriffs die Forderung einschliessen, jede bestimmte
Gestalt und jede bestimmte Eigenschaft von ihr wegzudenken.
Es kann daher nur als eine Umdeutung betrachtet werden, wenn
einige Stoiker, vermutlich um den Einwendungen gegen die Mög-
lichkeit eines Seins, das kein So-Sein wäre, zu entgehen, die
chungen zu Gicero\s philos. Sclii-iften, II (1882), S. 756 Anm. 1 mit J. Lipsius,
Pliysiologia Stoicorum, lib. II dissert. 5 (ed. Paris. 1604 p. 6b), 0. Heine,
N. Jahrb. f. Phil. u. Päd. Bd. 99 (1869) S. 617. M. Heinze, Lehre vom Logos,
S. 91, festhalten zu müssen. Hirzel a. a. 0. sieht einen Widerspruch darin,
dass etwas zugleich als awua und als a.fjLOQ(f.ov bezeichnet werde. Dieser Wider-
spruch sei um so auffälliger, weil ,nach Diogenes in den unmittelbar folgen-
den Worten (13.5) jedem aöä/xa, da es doch ohne inKpdvtia nicht denkbar ist,
ein Tif'paff gegeben ist und damit ihm auch eine gewisse Gestalt zuge-
sprochen ist". — Allein die in §. 135 von Diogenes gegebenen Aus-
führungen über Fläche, Linie und Punct sind für den Sinn des aw^a (resp.
dauy^ärovg) y.at d/.ioQifovs in §. 134 nicht entscheidend. Wie man aus den von
Diogenes gegebenen Anführungen ersieht, entstammen jene einem ganz andern
Zusammenhange, in dem von der Materie nicht die Rede war. Posidonius
z. ß. ist für die Lehre von der Materie mit dem 2. Buche seiner Physik, für
die Bestimmungen über Fläche etc. mit dem 3. Buche seiner Meteorologie an-
gezogen. Was für §. 134 inbetracht kommt, ist also nicht die Vorstellung
von einem bestimmten Körper als einem von bestimmten Flächen umschlosse-
nen Gebilde, sondern die — weiter unten im Text — zu besprechende allge-
meine stoische Definition des Körpers als eines dreifach Ausgedehnten. Ein
solches Ausgedehntes aber konnten die Stoiker von ihrem Standpuncte aus
ebenso wohl ein „Gestaltloses"' nennen, weil es aus sich keine bestimmte
Gestalt hat, wie sie es als ein „ Eigenschaftsloses " bezeichneten, da es, obzwar
in sich nie ohne bestimmte Eigenschaft, diese doch nicht aus sich besitzt.
^) Simpl. in phys. I, p. 227, 23: t6 dnoiov arH/ia ti^v nQoniaTrjv vXtjv tivai
(faai . . , Tmv fxev nalaiwv oi ^Tony.oi. Sext. Emp. adv. math. X 312 (excerpiert
bei Hippolyt. refut. haer. X6, p. 311 Miller). Chalcid. c. 289, p. 320, 18—19 Wr. Plut.
comm. not. c. 50, p. 1086 A. Plotin. enn. 11 4, 1. p. 104, 8; lY 7, 9. p. 114, 18 u. ü. (s. u.).
.034 Vierlor Alisclmill. Epiriircer Und Stoiker.
Qualitätslosigkeit der Materie nicht in dem Sinne verstanden wis-
sen wollten, als habe die Materie überhaupt aus sich keine Qua-
lität, sondern so, dass sie alle Qualitäten zumal und darum keine
bestimmte einzelne besitze ^).
Unter dem Körper aber verstehen die Stoiker das dreifach
Ausgedehnte ^). Dieses dreifach Ausgedehnte fällt ihnen keines-
wegs mit dem Räume zusammen; vielmehr kommen wir nach
ihnen erst vom Begriffe des Körpers aus durch eine Abstraction
zu dem des Raumes ^). Die stoische Lehre von der Materie ist
') Plut. comni. not. c. ."lO, p. lOSß A. — Hieher gehört es auch wohl, wenn
bei Diog. Laert. VII 137 die vier Elemente als vlt] bezeichnet werden.
-) Diog. VII l.')5 (nach Apollodor) : au>,ua d' lailv . . , t6 tqixü (fiaaraiov,
tts /Jrjxoi, fi\ nXdiog, dg ßädug' tovto de xai arigeuv a(n,ua y.aXfiTai. Aus dem
Letztern darf nicht mit Heinze, Lehre vom Logos, S. 87, gefolgert werden,
dass jene Definition sich nur auf den festen Körper beziehe, und dass daher
im übrigen der Begriff des ainjua von den Stoikern etwas weiter gefasst werde,
als es sonst zu geschehen pflegt. Denn als an^eöv i.st das ff^J.u« bezeichnet nur
im Gegensatz zur Fläche; vgl. Euclid. elem. XI def. 1 (ed. Heiberg): oTioeüv tan
t6 juijxos xai nkäiog xai ßä&os eyov. — Dieselbe Definition des fföi^a AriusDidym.
fr. 19 (Dox. p. 4;')?, 17) bei Stob. ecl. I, p. 350. Ebenso liegt sie den Ausfüh-
rungen von Nemes. de nat. hom. c 2. p. 30 ed. Antverp. (p. 71 Matthaei) zu-
grunde. — Übrigens ist allein das dreidimensionale Gebilde Körper. Fläche und
Linie sind ein daüinatov (Cleomedes, meteor. I 7), au'iixari ngoaeoixds (Aet. I IG, 4,
Dox. p. 31.5, bei Stob. ecl. I, p. 344), nur xca' inivotav ipthiv bestehend (Procl.
in Euch 24. 4. p. 89, 15 Friedl.). Vgl. auch Plut. de comm. not. c. 40, p. 1080 E
und unten S. 342 f.
^) Die Stoiker unterscheiden Ort [lönos), Raum (x"»'?«) und Leeres {xevör).
Ersterer ist das vom Körper Eingenommene (Aetius 1 20, 1, Dox. p. 317, bei
Plut. plac. I 20 u. Stob. ecl. I, p. 382; eben.so Arius Didym. fr. 25, Dox. p. 460
bei Stob. ed. I, p. 390—39!^; Cleomedes, meteor. I, c. 2) oder, wie es in Über-
einstimmung mit Aristoteles auch heisst, der Abstand zwischen den äussersten
Grenzen des Umgehenden (Sinipl. phys. IV, p. 571, 22-25. Themist. phys. IV,
p. 268, 24 ff. Sp. [von Ghrysijtp]. Sext. Emp., Pyrrh. hyp. III 124; adv. math. X,
3—4); Raum {xmqo) der vom Körper teilweise eingenommene Abstand (Aetius,
Ar. Did., Sext. a. a. 0.) ; Leeres da.s überhaupt nicht Eingenommene (Aet., Ar.
Did , Sext., Gleom. a. a. 0.). Sie unterscheiden also, wie schon hieraus hervor-
geht und uns überdies durch Simplicius ausdrücklich bestätigt wird, jenen Ab-
stand {(fiäoT7ijua) von den Körpern ; wenn derselbe auch niemals ohne Körper
ist, so ist er doch nicht dasselbe mit ihnen (Simpl. phys. IV, p. 571, 27 ff.). Der
Raum im allgemeinen Sinne existiert erst mit den Körpern {nagv^iaraTai roig
awfxaaiv 6 tünog, Simpl. in categ. fol. 91 zl); er wird darum nach stoischer
Lehre von jenen begrenzt, wälirend die, welche ihm ein eigenes Wesen bei-
legen, wie (Pseudo-)Archytas, durch den Raum die Körper begrenzt werden
lassen (Simpl. 1. c).
Stoiker, a) Die Malerie an sich. — BegrilT denselben. 335
al.so keineswegs mit der pythagoreisch-platonischen verwandt,
welche das Wesen der Materie in der blossen Ausdehnung er-
blickt. Die Materie kann nach ihnen vielmehr nur als das Ilaum-
füllende betrachtet werden.
Damit ist zugleich ausgesprochen, dass nach stoischer An-
schauung die Materie, wenn sie als dreifach Ausgedehntes be-
zeichnet wird, mehr ist, als blosser mathematischer Kör-
per. Aber dm-ch welche Eigenart, fragen wir, soll sie von dem-
selben unterschieden sein i) ? Dreifache Ausdehnung kommt auch
dem mathematischen Körper zu; weitere Bestimmungen aber
würden mit der behaupteten Qualitätslo-sigkeit der Materie nicht
wohl zu vereinbaren sein.
Wie es scheint, hat wenigstens ein Teil der Stoa hier zu einem
Auskunftsmittel gegriffen^ das mit den begrifflichen Grundlagen
des Systems freilich nicht im Einklänge steht. Wenn wir aus der
gegen die stoische Lehre von der Materie gerichteten Polemik
Plotin's historische Folgerungen ziehen dürfen, so haben manche
Stoiker, hierin in Übereinstimmung mit der epicureischen Schule 2),
das Unterscheidungsmerkmal des physischen Körpers vom mathe-
matischen in die Widerstandsfähigkeit {(am i\ti'u , weniger
genau „ündurchdringlichkeit") gesetzt s). Freilich kann innerhalb
des stoischen Systems diese Widerstandsfähigkeit nur als eine
relative, bloss gegen mechanischen Druck gerichtete, angesehen
worden sein. Andernfalls wäre nicht zu erklären, wie die Stoiker jene
völlige Durchmischung der Körper, bei der die Teile sich gegen-
') wie Plütin. enn. VI 1, 2i;. p. 257, 28 M. mit Recht den Stoikern ent-
gegenhält.
■') S. S. 30(1
•') Vgl. Plotin. enn. VI 1, 2(5. p. 257, 20 Müller: tl d'e /ntTci dvinvTilag t6
TQixfh ovf_ ev ?Jyovai (nämlich den mathematischen und den physischen Körper).
Auch im Fortgange dieser Kritik wird vorausgesetzt, dass die tlnncTiia zum
stoischen Begriff des Körpers gehöre; ebenso c. 28, p. 260, 16 M., wo den
Stoikern (vgl. c. 26, p. 2hl, 30 ff.) entgegengehallen wird, dass das dmtvTiti
eine Qualität sei. (Die dvtnvnia hat natürlich mit der TV7iwr,ii, dem , ste-
henden stoischen Terminus", nichts zu schaffen. Stein II, S. 118, Anm. Mitte,
bringt beides in eine mir nicht verständliche Beziehung.).
Bekanntlich wird auch von Locke die ,solidity-' neben der Ausdehnung
u. .«. w. zu den , primären'' Eigen^ichaften der Korper gerechnet (Essay conc,
hum. underst. b. II eh. 9).
330 Vierter Alischnitt. Epicureer und Stoiker.
seitig güir/licli durchdringen {xQäotg di" oXcdv) i), noch hätten für
möghch halten sollen. Und doch ist gerade die letztere Aufstel-
lung eine der Unterscheidungslehren ihres Systems.
Aber wie dorn auch sein mag, so viel ist sicher, dass die
Stoiker unter der Materie das bestimmter Form und Qualität noch
entbehrende, ausgedehnte und darum raumfüllende Substrat ver-
stehen, von dem alle bestimmten Körper die Differenzierungen
darstellen. Die Materie ist für den Stoiker das, was übrig bleibt,
wenn wir von den einzelnen Körpern jede Besonderheit hinweg-
denken, der allgemeine Gattungsbegriff des (physischen) Ivör-
pers, „Stoff" in dem modernen Sinne des Wortes 2).
Diese Fassung des Begriffs , die nur Missverständnis dem
Plato und dem Aristoteles unterlegen konnte ^), ist für den Stoi-
cismus charakteristisch. Einen gewissen Anhaltspunct freilich
fand dieselbe bereits in der spätem Form der platonischen Lehre
und bei Aristoteles, insofern auch hier die unbestimmte Gattung
den differenzierenden Merkmalen gegenüber als Materie bezeichnet
wird ^). Aber bei Plato und Aristoteles handelt es sich in diesem
Falle nur um die Materie in den Begriffen, nicht um die Ma-
terie in der physischen Welt 0), Für sie ist die Gattung eine
Art von Materie, für die Stoiker dagegen ist dve physische Ma-
terie zugleich der hihalt des allgemeinsten Gattungsbegriffes von
realen Dingen.
In jener Bestimmung der Materie liegt eine zweite Grundan-
schauung der stoischen Lehre schon eingeschlossen. Trotz alles
sonstigen Nominalismus ist die Stoa von dem aristotelischen
Grundsatz nicht abgegangen, dass die allgemeinen Bestimmungen
das Wesentliche sind und, den wechselnden Accidentien gegen-
über, das Substantielle enthalten. Ist somit die Materie der all-
gemeine Gattungsbegriff der körperhchen Natur, so ist sie zugleich
das ursprünglich Substantielle. Die Materie ist Substanz {oi>aia)<^).
^) Über dieselbe vgl. Zeller III« a, 127, 1.
2} Vgl. Plotin. enn. II 6, 2. p. 125, 6-12 Müller.
«) S. S. 152 f. 163 ff. 238 ff.
*) S. S. 199 f. S. 293.
") Die vereinzelten Ungenauigkeiten bei Aristoteles, über die S.293Anm.r),
kommen seinem sonstigen, folgerichtigen Gebrauch gegenüber nicht inbetraclit.
'■) Diog. VII 15') : ovoiav tH ifaac twv ovtmv änävtcov T'^v tiqmtt/V v^t/V. Vgl.
Diogen. VII 134. Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 457 f.) bei Stob. ecl. I, p. 322-324,
Stoiker, a) Die Materie an sich. — Die Materie Substanz. 337
Dieselbe veränderte Wertstellimg der Materie ergab .sich übri-
gens, wie bereits Plotin hervorhebt i), aus dem materialistischen
Standpunct der Stoa. Entgegen dem Begriffsrealismus des Plato
und Aristoteles erblickt der Sensualismus der Stoiker nur in dem
Tast- und Sichtbaren ein Seiendes. Darin aber, dass das v/ahre
Seiende in dem Bleibenden und Unveränderlichen zu suchen sei,
kommen sie mit nahezu der gesamten Philosophie des Altertums
überein. Das eigentlich Seiende an den wechselnden und in ein-
ander sich wandelnden Dingen muss also in denjenigen tast- und
sichtbaren Bestimmungen gelegen sein, welche in allen Verände-
rungen verharren, mit andern Worten: in der Körperlichkeit als
solcher oder in der Materie.
So ist also der Stoff' nach stoischer Anschauung nicht, wie
bei Aristoteles, nur ein Teil der Substanz von fraglicher Berech-
tigung, der nur beziehungsweise auch selbst als Sub.stanz bezeich-
net wird ^), sondern das erste Seiende (ro ov) selbst 3). Dass
freilich aufgrund anderer Gedankenreihen auch innerhalb des
Stoicismus eine davon verschiedene Auffassung Platz greift, wird
sich später zeigen '^).
Aristoteles, der die Wurzel des substantialen Seins in dem
begrifflichen Formelement sieht, muss so viele Arten von Sub-
stanzen annehmen, als es begrifflich verschiedene Formen giebt ^).
Die Stoa, welche die Entwicklung des Seienden aus der körper-
lichen Grundlage anheben lässt, lehrt mit der Einheit der Materie
auch die Einheit der Substanz. Es giebt nur Eine Welt"),
(citierl S. 331 Anm. 1 und S. 332 Anm. 1). Plut. conira. not. c. 50, p. 1085 F.
Plotin. enn. II 6, 2. p. 125, 12; VI 1, 27. p. 2r)9, 17. Ghalcid. in Tim. c. 289.
290. So schon Zeno: Diog. und Ai-. Did. a. a. 0. Ghalcid. c. 290. Zwischen der
Substanz und der Materie findet, wie Posidonius lehrt, nur ein begrifflicher,
kein realer Unterschied statt ; vgl. Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 458, 10—11)
hei Stob. ecl. I, p. 324: (hai).eQeiv de T-r^v ovaiav TTje v/.7ji rrjv ovaav (von Heeren
gestrichen, nicht, wie Stein I 19, 25 Ende schreibt, hinzugesetzt) xard tiJv
vTiöaraaiv (so die Handschriften; Ungenaues bei Stein a. a. 0.) imvoia ,uüvov.
1) Plotin. enn. VI 1, 28. p. 259, 33 ff.
^) S. S. 254 ff.
3) Numenius bei Euseb. praep. ev. XV 17, 2. p. 819 B. Plotin. enn. VI 1,
27. p. 258, 20 ff. p. 259, 17 f. c. 28, p. 259, 33 ff. Simpl. in categ. fol. 44 J-
*) S. S. 354. - s) S. S. 282 ff.
«) Aetius I 5, 1 (Dox. p. 291) bei Plut. plac. 1 5; Stob. ecl. I, p. 49G. Cornut
theol. c. 26, p. 49, 13 Lang.
15a euiiiker: Das Probloni der Materie etc. *"-'
3.'}8 Vierter Abschnitt . Epicureer und Stoiker.
und darum auch nur eine einzige all den zahllosen qualitativ
verschiedenen Dingen gemeinsame Weltsubstanz i). Die Materie
ist nicht eine Subtanz, sondern als oberste, alles befassende
Gattung ist sie die Substanz ^).
Bei dieser, dem Piatonismus und Aristotelismus gegenüber
so durchaus abweichenden Schätzung der Materie erscheint es
begreiflich, dass die Stoiker für sie die Bezeichnung „Substanz"
(oi^ot'a) dem Namen „Materie" (v^rj) vorzogen. Zeno und Ghrysipp
wollten den letztern Ausdruck sogar überhaupt nicht auf jene
gemeinschaftliche Grundlage alles Seienden angewandt wissen,
sondern ihn auf die c{ualitativ schon bestimmten Stoffe, wie Erz,
Gold, Eisen u. s. w., beschränken =^). Doch sahen wir schon
oben *), dass die Stoa schliesslich auch hier in der aristotelischen
Unterscheidung von „erster" und „zweiter" Materie einen Ausweg
gefunden hat. Posidonius fasst darum „Substanz" und „Materie"
als sachlich identisch und nur dem Begriffe nach verschieden auf ^).
Schon die Bezeichnung der Materie als „Substanz" hat che-
selbe in Beziehung zur Kategorienlehre gebracht. Doch gehört
das Wort „Substanz" (ovoia) der aristotelischen, nicht der stoi-
schen Kategorienlehre an. Der aristotelischen Kategorie der Sub-
stanz entspricht in der stoischen Terminologie das „Substrat^
[imoxsi'i^ievor), ohne dass dieses freilich ganz mit jener zusammen-
fiele ^). Nun ist auch für Aristoteles die Materie Substrat {imo-
xeffisror') der Form ''). Aber nicht in dem Sinne, als ob dieses
Substrat schon aus sich ein Sein besässe. Dagegen geben die
Stoiker dem Worte gerade den letztern Sinn ^), indem sie das
^) Antonin. XII 30 : fiia ovala xoiv^, xSv (fteiQyrjTai Iffimg noioTg Ouijuaat
ixvQiois. So schon Zeno : Chalcid. in Tim. c. 289. 292. Vgl. ferner Sext.
Emp. adv. math. X 312. Plotin. enn. VI 1, c. 25 Schlu.ss, und dazu Tren-
delenburg, Gesch. der Kategorienlehre, S. 221.
2) Vgl. z. B. Diog. VII 150.
"") Chalcid. in Tim. c. 290, p. 321 Wrobel, 243 (nicht 342, wie Stein I, 53,
Anm. 73) schreibt) Mullach. Vgl. Diog. VII 150, wo der Unterschied von ovaia
und t'Ai? dahin bestimmt wird, dass erstere i? rmv Tiavtior, letztere i] rulv tnl
HfQovs sei. — Noch Anderes Chalcid. 1. c, cap. 291.
^) S. S. 331 Anm. 1.
^) Posidonius bei Arius Didym. fr. 20, Dox. p. 458 (Stob. ecl. I, p. 324 ; zum
Text vgl. Hirzel, Unters. II. S. 759 Anm. 1).
^) Vgl. Trendelenburg, Gesch. der Kategorienlehre, S. 227.
') Arist. phys. II 1, 192 b 34. S. o. S. 215. 298.
^) Simpl. in categ. f. 44 J.
Stoiker, a) Die Materie an sich. Die Mat. Substanz u. passives Princip. ."vJO
Substrat als aus sich und nicht erst durch die Form wirkliche
Substanz fassen. Sie unterscheiden zwar, ohne Frage in Abhän-
gigkeit von der aristotelischen Terminologie, ein erstes und zwei-
tes Substrat i) ; aber auch das erste Substrat ist bei ihnen nicht,
wie bei Aristoteles, eine der Actualität noch entbehrende blosse
Potenz. Wenn daher die Stoiker die Materie als Substrat {vnv-
xsifisvov) — natürlich ist das erste Substrat gemeint '^) — be-
zeichnen ^), so mussten die spätem Peripatetiker diese Lehre,
trotzdem sie mit der ihren das Wort gemein hat, bekämpfen '^).
Wir haben an einer früheren Stelle ^) zwei Momente im In-
halte des stoischen Begriffs der Materie unterschieden : sieistqua=
litcätslos und sie ist Körper, d. h. dreifach Ausgedehntes.
Nach beiden Seiten ergeben sich nähere Bestimmungen und Folge-
rungen. In der erstem Beziehung ist die Art des Anschlusses an
Aristoteles, in der letztern der Gegensatz gegen Epicur von histo-
rischem Interesse.
Die Materie als das Unbestimmte, aber Bestimmbare ist, wie
die Stoa mit Aristoteles *5) lehrt, das passive Princip, die Ursache
des Leidens in allen Dingen '').
Die Passivität der Materie ist eins mit ihrer Veränderlich-
keit^). — Die Betonung dieser Veränderlichkeit ist eine stärkere
') Porphyr, bei Simpl. in categ. f. 12 .-/ (vgl. dazu Petersen, Stoicorum, ini-
priniis Chrysippi, de categoriis seu summis generibus doctrina. Hamburg. 1827.
p. 44 ff.) Dexipp. in categ. 23, 25—30 Busse. Vgl. Trendelenburg, Gesch. der
Kategorienlehre, S. 226 f.
^) Simpl. und Dexipp. a. a. 0.
') Ausser den Anni. 1 citierten Stellen vgl. Plotin. enn. VI 1, 20. p. 256,
19—21. c. 27. p. 258, 20. 259, 17 Müller.
*) S. S. 298 f.
5) S. S. 333.
6) S. S. 265 f.
') Aetius I 3, 25 (Dox. p. 289) bei Plut. plac. I 3 (vgl. Achill. Tat. isag. p.
124 E): ZrjvoDV . . . äg^dg U(v töv &f6v xul Tt]v vlrjV, oäv 6 juiv tan tov notnv
aiTioi, t'i (i'£ TOV nda^sir. Vgl. Seneca epist. 65, 2 und die S. 331 Anni.3 citier-
ten Stellen.
**) S. S. 331 Anm. 5. Die Materie geht oder fliesst durch alles hindurch:
Aetius I 9, 2 (Dox. p. 307) bei Stob. ecl. I, p. 318 (vgl. Plut. plac. I 9). Sexl.
Empir. adv. math. X 312. Athenag. legat. pro Ohrist. c. 19, p. 314 B ed. Maur,
Venet. 1747. flhalcid. in Tim. c. 29^2. 293.
22*
340 Vierter Abschnilt. Epicureer und Stoiker.
in der Stoa als bei Aristoteles. Der besondere Nachdruck, wel-
chen sie auf die Vergänglichkeit aller Gestaltungen der Materie
legt, ist wohl auf Rechnung des heraclitischen Elementes in ihr
zu setzen. Darum erscheint sie am schärfsten hervorgehoben bei
dem auch sonst stark heraclitisierenden Antonin ').
Da die Materie bei jenem fortwährenden Wechsel sich passiv
verhält und sich nicht aus sich bewegen kann, sondern hierzu
der bewegenden Kraft bedarf 2), so schreibt man derselben Träg-
heit zu 3). Weil ferner jene bewegende Kraft eins ist mit der
ordnenden Vernunft, so ist die Materie selbst etwas Vernunft-
loses (ein aXoyor)^).
Was das zweite Element der stoischen Begriffsbestimmung,
die dreifache Ausdehnung der Materie, anlangt, so wird sich die
nähere Durchführung vor allem mit der Frage zu beschäftigen
haben, ob diese Ausdehnung des Stoffes als eine conti nuier -
liehe oder eine discontinuierliche zu fassen sei.
Epicur hatte im Anschluss an die vorsocratische Atomistik
seine Ansicht von der Discontinuität des Stoffes dahin formuliert,
dass der Stoff nur in Form kleinster, durch leere Zwischen-
räume getrennter, nicht weiter zerlegbarer Teilchen im Räume
verbreitet sei •'"). Dagegen behauptet die Stoa: es giebt kein Lee-
res in der Welt; der Stoffi st nicht actuell geteilt, sondern ist con-
tinuierlich; die Teilbarkeit der Körper geht ins Unbegrenzte '^).
^) Antonin. VII 23. Häufig sind bei Antonin Stellen, an denen er hinsicht-
lich der tfratg betont, wie sie rasch von Einem zum Andern eilt, z. B. IV 3G,
VII 75, auch II 17. Ähnhch Seneea epist. 58, 22. Plut. de Stoic. rep. c. .34, p. 1050 B.
— Übrigens erneuert schon Chrysipp den heraclitischen (fr. 84 Byw.) Ver-
gleich der ewigen Bewegung der Welt mit einem Mischtrank ; vgl. Plut. de
Stoic. rep. c. 34, p. 1049 F. Philodem, de piet. VII, p. 81, 18 Gomperz, wo mit
Petersen xvxhü zu ergänzen (bei Antonin. IV 27, VI 10, IX 39 dagegen wird der
xvxeu)v der von den Stoikern gepriesenen Ordnung der Welt gegenübergestellt).
— Hieher gehört auch, was die Stoiker von dem rastlosen Eilen der Welt zur
ixTTVQMais und von da zurück lehren ; vgl. Heinze, Lehre vom Logos, S. 1U4.
*) Das Genauere darüber weiter unten S. 346 ff.
") Seneea epist. 65, 2: materia iacet iners.
*) Plut. comm. not. c. 48, p. 1085 B.
*) S. S. 306 ff.
®) Für die beiden letzten Behauptungen erscheint flhrysipp, soweit ich
Bebe, in unsern Quellen als der frülieste ausdrücklieb genannte Gewährsmann.
Stoiker, a) Die Materie an sich. — liire GontinuiliU. .'541
1) Es giebt kein Lcoros in der Welt, d. h. keinen Abstand
innerhalb derselben, der von einem Körper eingenommen werden
könnte, aber nicht eingenommen wird ^) So die übereinstim-
mende Ansicht aller Stoiker 2), die schon von Zeno ausgesprochen
wurde ^). Ausserhalb der Welt zwar erstreckt sich das Leere *),
dessen die Stoiker bedurften, um für die millionenfache Ausdeh-
nung des Stoffs im Feuerzustande Platz zu haben ^) — unbegrenzt,
wie die comnmnis sententia der Schale ß), begrenzt, wie Posido-
nius annahm "'). Aber innerhalb der Welt ist jeder Abstand vom
Stoffe erfüllt. Wenn die Gegner glauben, die Bewegung sei nur
unter der Annahme von leeren Zwischenräumen erklärbar, so
haben sie nicht alle Möglichkeiten der Erklärung erschöpft. Auch
im Vollen ist eine Bewegung möglich, indem durch eine in rück-
läufigem Kreise erfolgende Wirbelbewegung der Teile (die dvii-
nsQfmaoic) ^) jedesmal das voranrückende Teilchen ohne zeitliche
') Sext. Emp. Pyrrh. hyp. III 124; adv. math. X 3. Aetius I 20, 1 (Dox.
p. 317) bei Plut. pl. I 20 ; Stob. ecl. I, p. 382. Diogen. VII 140. S. S. 334
Anm. 3.
2) Diogen. Vit 140. Aetius I 18, 5 (Dox. p. 316) bei Plut. pl. I 18; Stob,
ed. I, p. 382. Arius Didym. iv. 29 (Dox. p. 464, 13) bei Euseb. praep. ev. XV
15, 1. P.817C. Sext. Emp. adv. math. VII 214. Plut. decomm. not.c. 37,p. 1077 E.
Cleomed. meteor. I 4. Hippolyt. adv. haer. I 21, 5. Themist. phys. IV, p. 284,
8—11 Spengel. Philopon. phys. IV, p. 613, 23—27 Vitelli. Simpl. phys. IV,
p. 571, 31.
^) Bei Aetius I 18, 5 heisst es (wenigstens bei Stob. ecl. I, p. 382): Ziqvwv
y.al OL dn' avTOv.
*) Arius Didym. fr. 23 (Dox. p. 459. 23) bei Stob. ecl. I, p. 406 (von Zeno);
fr. 2'y (Dox. p. 460, 24. 27) bei Stob. ecl. I, p. 392 (von Ghrysipp). Vgl.
Diogen. VII 140. Aet. I 18, 5 (Dox. p. 316) ; II 9, 2 (Dox. p. 338) bei Plut.
pl. II 9, Euseb. praep. ev. XV 40, \ und Stob. ecl. I, p. 390. Plut. de comm.
not. c. 30, p. 1073 E ; de Stoic. rep. c. 44, p. 1054 B. Alexander Aphr. bei
Simpl. phys. IV, p. 671, 5. ThemLst. phys. IV, p. 284, 8—11. 294, 15 ff. Sp.
Philopon. phys. IV, p. 613, 23 — 27 Vit. und besonders Cleomed. meteor. I, c. 2— 8,
wo die Sache ausführlich behandelt wird. — Daher der Unterschied von näv
und öXov. Ersteres ist die Welt mit dem umgebenden Leeren, letzteres ohne
dasselbe: Aet. II 1, 7 ^Dox. p. 328) bei Plut. pl. II 1; Stob. ecl. I, p. 442;
vgl. Diogen. VII 143. Ersteres ist darum, weil es das unkörperliche Leere
einschliesst, weder aöifxa noch dam^azov. Plut. comm. not. c. 30, p. 1073 E.
°) Vgl. Aet. II 9, 2 (s. v. Anm.); Cleomedes meteor. I, 3 u. s. w. Das Nä-
here weiter unten S. 367.
^) Vgl. die Anm. 4 citierten Stellen.
') Aetius II 9, 3 (Dox. p. 3.38) bei Plut. pl. II 9; Stob. ecl. I, p. 390.
") S. S. 59 Anm. 2; S. 295 Anm. 1; S. 306 f.
342 Vierler Ali.sclmill. Ei)icureor und Sloiker.
Unterbrechung^ sofort durch ein nachfolgendes an seinem ( )rle er-
setzt wird 1). Der Grund, auf den hin die Stoiker ihrerseits den
Ausschluss alles Leeren aus der Welt behaupten, ist die Vorstel-
lung von einem Drucke, den die äussern, himmlischen Teile des
kugelförmigen Weltalls gegen die innern, irdischen Teile ausüben ^).
Dieser Druck findet wiederum seine letzte Begründung darin, dass
nach stoischem System die kraftbegabte Luft das ganze Weltge-
bäude zusammenhält ^).
2) Giebt es kein Leeres in der Welt, so bildet diese ein
continuierliches Ganzes ^). Darum muss auch die Materie, die
Weltsubstanz, ein solches Conti nuum bilden^). Der Begriff des
Gontinuum aber schliesst für die Stoiker nicht nur trennende leere
Zwischenräume, sondern auch Zusammensetzung aus actuellen
letzten Teilchen aus, wie die Atomiker und Epicureer sie an-
nahmen ''). Solche unteilbare kleinste Teilchen, wendet Ghrysipp
ein, würden sich überhaupt nicht berühren können; es würde
also aus ihnen niemals ein zusammenhangender Körper entstehen.
Denn wenn sie einander berühren sollen, so müssten sie sich
entweder gegenseitig mit ihren Gesamtmassen, oder nur mit je
1) Seneca, nat. quaest. II 7. Aetius IV 19, 4 (Dox. p. 409) bei Plut. pl. IV
19. Vgl. Cic. Äcad. pr. II 40, 125. Über die Polemik der Epicureer hiergegen
s. S. 306 f.
2) Diogen. VII 140. Vgl. auch, was Arius Didym. fr. 23 (Dox. p. 459) bei
Stob. ecl. 1, p. 406 von dem centripetalen Streben zum Weltmittelpunct hin
bemerkt, u. zw. schon als Ansicht Zeno's.
^) Plut. de comm. not. c. 49, p. 1085G— D. Cleomed. meteor 1 4. Alex. Aphr.
de mixt. fol. 142r med. (p. .594 Ideler). Cic. Acad. post. I 6, 24 : neque enim ma-
teriam ipsam cohaerere potuisse, si nuUa \^ contineretur.' — Andere Gründe
gegen das Vorhandensein eines Leeren in der Welt bei Gleomedes a. a. 0.
(leere Zwischenräume würden die Sympathie aller Teile der Welt aufheben,
Hören und Sehen unmöglich machen u. s. w.).
*) Diog. VII 140. Dionys. Alex, bei Euseb. praep. evang. XIV 23, 1. p. 772 D.
^) Chalcid. in Tim. c. 289. 293. Cic. Acad. post. I 7, 28. Plut. de comm.
not. c. 37, p. 1077 E. Piotin. enn. VI 1, 25 Schluss.
Dieser allgemeinen Übereinstimmung gegenüber kommt es nicht inbetracht,
wenn Chalcidius (in Tim. c. 279) von solchen Stoikern spiicht — er nennt
einen Diodor unter ihnen — , nach denen die Materie aus einer unendlichen
Anzahl kleinster unteilbarer Körperchen bestehe, die nach Zufall sich verbinden
und trennen sollen Hier handelt es sich um eine unorganische Verbindung der
stoischen mit der epicureischen Lehre.
«) Vgl. Chrysipp bei Aetius I 16, 4 (Dox. p. 315, Stob. ecl. I, p. 344).
Stoiker, a) Die Materie an .sich. — Ihre Coiilinuität. 313
ihren äussersten Teilen berühren. Ersteres aber wäre Mischung,
nicht Berührung; letzteres widerstritte dem Begriff eines nicht
weiter teilbaren letzten Teiles ^). Es giebt also ebensowenig
Atome, wie ein unteilbares Jetzt als einfachstes Element des Zeit-
continuums zu denken ist '^).
Wie die Gesamtmaterie, so bilden auch deren Teile nicht
Aggregate kleinster Körperchen {^gavO/naTa, corpuscula), sondern
continuierliche Massen. Das gilt auch von demjenigen Elemente,
welches am wenigsten festen Zusammenhang zu haben scheint,
da es allem den leichtesten Durchgang gestattet, von der Luft ^).
Die der Luft eigene Spannung (zöroc, intensio) nämlich, durch
welche diese sich und alles zusammenhält, wäre nicht möglich,
wenn dieselbe aus discreten Teilchen bestände; denn es fehlte
ihr in diesem Falle der innere Zusammenhang, ohne den ein sol-
ches Gespanntsein nicht denkbar wäre ^). Da nun auf den Zu-
sammenhalt, welchen die Luft gewährt, auf den centripetalen
Druck, den sie im Weltgebäude hervorruft, die Unmöglichkeit
sich stützt, dass je ein leerer Zwischenraum sich in das letztere
eindränge ^), so ist die Gontinuität der Luft der letzte Grund für
die unzerreissbare Gontinuität des Stoffes überhaupt.
Was nun durch jene Beweisgänge zurückgewiesen wird, ist
nicht jede Teilung des Stoffes, sondern nur deren Zusammen-
setzung aus nicht w^eiter teilbaren actuellen letzten Teilchen. Es
erscheint den Stoikern überhaupt widersprechend, ein Gontinuum
aus discreten letzten Elementen entstehen zu lassen. Sie weisen
darum die Frage, ob ein bestimmtes Gontinuum, z. B. der mensch-
liche Körper, aus unendlich vielen kleinsten Teilchen oder aus
einer begrenzten Anzahl derselben bestehe, mit der Bemerkung
zurück, dass dasselbe überhaupt nicht aus letzten Teilen zusam-
mengesetzt sei ^). Daraus erklären sich auch manche scheinbare
1) Plut. de comm. not. c. 40, p. 1080 E. Vgl. Sext. Pyirh. hyp. III 42.
■^) Plut. de comm. not. c. 41. p. 1081 G. Arius Didym. fr. 26 (Dox. p. 461,
30} bei Stob. ecl. I, p. 260.
«) Aetius IV 19, 4 (Dox. p. 409) bei Plut. pl. I 19. Seneca nat. quaest. II 6.
*) Seneca nat. quaest. II 6.
-) S. S. 342.
«) Plut. de comm. not. c. 38, 5, p. 1079 B. §. 7, p. 1079 G. Vgl. G. Giesen,
De Plutarchi contra Stoicos disputationibus. Monaster. 1889. p. .33 f. — Die
gleiche Ansicht, dass das Gontinuum weder aus unendlich vielen, noch aus
344 Vierler Ahsclmitl. Kj)icureer und Sldiker.
stoische Paradoxien, z. 13. class der Mensch nicht mehr Teile als
der Finger, die Welt nicht mehr als der Mensch habe ^) — weil
eben beide gar keine haben.
Teile dagegen, die erst durch eine Zerlegung des Continuums
entstehen, die also dieses als das Prius voraussetzen, haben
die Stoiker, wie sich von selbst versteht, nicht geleugnet. Eine
solche Teilung der Weltsubstanz liegt schon in ihrer Ent-
wicklung zu verschiedenen Elementen und in der Bildung der
verschiedenen Dinge vor. Ebenso ist eine Teilung da vorhanden,
wo ein Körper an verschiedenen Orten seiner Ausdehnung eine
verschiedene Gestaltung zeigt, wie der menschliche Körper, der
aus Kopf, Rumpf und Extremitäten besteht 2), Auch das Zer-
schneiden eines ausgedehnten Körpers und dgl. brauchten die
Stoiker durchaus nicht für Sinnenschein zu erklären. Nur ist
festzuhalten, dass nach stoischer Anschauung die Continuität der
Allmaterie dabei nirgends aufgehoben werden darf. Wo der Stoff
von einander getrennt \\ird, tritt in einer nur logischen, nicht
zeitlichen, Folge sofort anderer Stoff, und mag es auch nur die
Luft sein, in die Lücke =*).
Das Nebeneinander verschiedener Körper aber hebt die Con-
tinuität des Stoffs ebenso wenig auf. Solche Körper berühren sich
weder in ihren Gesamtmassen, noch in ihren äussersten Teilen; bei
ihrer Berührung fallen vielmehr die Grenzen zusammen, die selbst
nicht mehr Körper sind ^). Da das, was nicht Körper ist, über-
haupt nicht ist, so ergiebt sich hier das neue stoische Paradoxon,
dass die Körper sich zwar einander berühren, aber durch nichts
berühren ^).
3) Aus der stoischen Lehre, dass die continuierliche Materie
nicht aus unteilbaren letzten Teilchen zusammengesetzt sei, son-
dern dass umgekehrt das Continuum als das Frühere, die Teilung
einer endlictien Anzatil von Teilen, sondern aus gar keinen Teilen be-
stehe, vertritt auch Thomas von Aiiuino; vgl. G. Gantor, Grundlagen einer
allgemeinen Mannigfaltigkeitslehre. Leipzig 1883. S. 28.
») Plut. de comm. not. c. 38, p. 1079 A.
^) Das oloaxeQis im Gegensatz zu den {'ayaia /mcQ?], Plut. de comm. not. c. 38,
p. 1079 B (Gitat aus Ghrysipp). — ') S. S. 311 f.
*) Plut. de comm. not. c. 40, p. 1080 E. Dass die Grenzen, d. h. Oljer-
fläche, Linie, Punct, nach den Stoikern nicht mehr Körper sind, wurde schon
S. 334 Anrn. 2 durch Gitate belegt.
5) Plut. de comm. not. c. 40, p. 1080 D.
Stoiker. Die Materie an sidi. — Ihre ual)et:renzte Teilharkt-il. 315
als das Nachfolgende betrachtet werden müsse, ergab sich als
dritter Gegensatz gegen den Atomismus die Behauptung, dass der
Stoff bis ins Unendliche teilbar sei i). Diese unbegrenzte Teil-
barkeit gilt von dem Continuum als solchem 2); sie muss also
für den Körper ebenso wohl behauptet werden, als für alles dem
Körper Ähnliche, wie Fläche, Linie, Ort, Zeit und Leeres ^). Auch
hier bildet der stoische Satz das Gegenstück der epicureischen
Lehre ^). So wenig als von Aristoteles =), wird aber die unend-
liche Teilbarkeit von den Stoikern in dem Sinne verstanden, als
ob eine actuell inieiidliche Teilung wirklich ausführbar wäre.
Was sie sagen wollen, und was wenigstens Chrysipp in Überein-
stimmung mit Aristoteles auch in aller Bestimmtheit ausgedrückt
hat, ist vielmehr dieses, dass die continuierliche Materie der Tei-
lung nirgend eine Grenze setze, über die hinaus jene nicht mehr
fortgesetzt werden könne (co/jirj c(y.aTc'ch]xToc) ^).
Obwohl nach innen ins Unendliche teilbar, ist die Materie
doch nicht auch nach aussen hin unendlich ausgedehnt. Nach
stoischer, der epicureischen auch hier entgegengesetzter Lehre
muss die Materie hinsichtlich ihrer Masse als begrenzt betrachtet
werden "').
>) Aetius I 16, 4 (Dox. p. 315) bei Stob. ecl. I, p. 344 (von Chrysippl
Diogen. VII 150 (von ApoUodor). Plut.de comni. not. c. 38, p. 1078 E; 1079 A;
c. 40, p. 1080 D. Sext. Emp. adv. math. X 142. XI 229.
2) Arius Didym. fr. 26 (Dox. p. 461, 30) bei Stob. ecl. I, p. 260 (von Chry-
sipp): tli aneiQov ^ tofxrj tüov avveyövxuiv eaxi,
^) Aetius I 16, 4 (s. A. 1). Sext. Emp. adv. math. X 142 (von Körper, Raum
und Zeit). Von der Zeit und dem Leeren: Arius Didym. fr. 26 (Dox. p. 4<31,
27 — 29) bei Stob. ecl. I, p. 260. Von der Zeit allein : Plut. de comm not. c. 41,
p. 1081 G.
*) S. S. m) Anra. 2.
5) Arist. de gen. et corr. I 3, 318 a 20—23. Vgl. S. 310 Anm. 6.
^) Diogen. VII 150. Diogenes bringt die Ansicht Ghrysipp's in Gegensatz zu
der ApoUodor's von der rou-q etg uTieioov, die doch nach Aetius I 16, 4 und
Arius Didym. fr. 26 auch von Ghrysipp vertreten wird. Hier liegt entweder,
was das Wahrscheinlichere ist, ein Missvenständnis des Diogenes vor, das durch
die im Texte gemachte Unterscheidung gelöst ist, oder Apollodor gehörte zu
denjenigen Stoikern, die nach Ghalcid. in Tim. c. 279 (s. S. 342 Anm. 5 Schi.)
den Stoff aus einer unendlichen Anzahl unteilbarer kleinster Körperchen zu-
sammengesetzt sein Hessen.
0 Diog. VII 150. Ghalcid. in Tim. c. 292 Vgl. ebd. c. 295. Ps.-Galen.
bist. phil. c. 17, XIX 242 K. (Dox. p. 609, 17).
Sid Vierter Ahscliiiilt. Epicurcer uod Stoikei'.
b) Materie und bewegeiicle Ursache.
(Stoff und Kraft).
Das Fundament des aristotelischen Dualismus, dass die an
sich form- und eigcnschaftslose Materie die Bestimmung sich nicht
aus sich geben kann, sondern hierzu eines bestimmenden Prin-
cipes bedarf, geht auch in das stoische System über.
Das bestinnnende Princip ist bei Aristoteles, wie schon bei
Plato, ein doppeltes: die bewegende und die Formal Ursache.
Jene steht ausser dem gewordenen Ding., diese ist ihm innerlich, ist
ein Teil von ihm. Beides greifen die Stoiker auf, um es in ihrer
Weise umzubilden. Der bewegenden Ursache des Plato und des
Aristoteles entspricht bei ihnen die Gottheit als die Urkraft und
Urvernunft (Iöyoc) und das System der von ihr ausgehenden ab-
geleiteten Keimkräfte (löyoi); den in die Materie ein- und aus
ihr austretenden Formen, wie der Timaeus sie lehrt, den substan-
tialen Formen des Aristoteles, entsprechen die Qualitäten, ge-
nauer die wesentlichen Qualitäten. Ohne jene und diese wäre
keine Gestaltung, keine Entwicklung der an sich trägen Materie,
die als solche sich selbst nicht bewegen kann ^). Während aber
bei Plato und Aristoteles bewegende und Formalursache trotz
ihres gelegentlichen Zusammenfallens der Sache nach doch durch-
aus verschiedene Begriffe bleiben, stehen ihre stoischen Correlate
in so engem Zusanmienhange, dass der Gegensatz sich auf den
von Stoff und Kraft reduciert.
1) Materie und Qualität. Der Begriffsrealismus, wie der
platonischen, so auch der aristotelischen Philosophie brachte es
mit sich, dass das Wesen der Dinge in deren begrifflich erfass-
baren Elemente gesetzt wurde. Das Wesen eines Dinges ist dar-
um für Aristoteles in der Form beschlossen, zu der die Materie
nur ein Accessorium bildet ^). Ebenso ist der Hauptteil der Sub-
') Plut. de comni. not. c. 34, p. 107(5 G f. (nach Cltirysipp): anoioi yd^
tan (sc. r/ vXti) xai vidaag uaas Aiyeiat (ha(f;OQdg vnd zov x lvovvt o g avtrjv xal
avtj/uaTiXovTog fOjff ' xivt? (ff aviijV 6 köyug tvi'7rdg][(ov xai ayujfiariZft ,"^/f* xivflv
eavTijv ,utJTf ayriuaTi^eiv nifvxfTav. — Für das Zweite ebd. de Stoic. rep. c. 43,
p. 1054 A: xaiToi navTayov zi]v v^.rjv d^yor ii eavT-^g xal dxivr/Tov viioxcTa-d-ai zaTg
noiÖTijatv dno(fa(vovaiv, rag (ff TioioTtjrag Tivivfiara oraag xal tövotyg dtgoidiig
olg dv iyyivan'Tai ^lifttOi rijg vh^g fcil'onoifh' i'xaaTa xal iJ^ijUiaril^dv.. Vgl. Plot.
enn. lY 7, I. p. 114. 18 Müller.
') S. S. 289 f.
Stoiker, b) Slufl' u. Knill. — Materie u. Qualität. 347
stanz in der bogriflliclien Form, nicht in der Materie^ zu suchen i).
Im Stoicismus dagegen erscheint nicht die Form als das Frühere,
welches die Materie ergreift und von ihr Besitz nimmt. Wie wir
sahen 2), ist hier umgekehrt die Materie das Prius. Sie ist das
aus sich bestehende, feste Substrat (v7iox6i'f.ievo%% die Substanz
{oi)Oia), welche die nähern Bestimmungen trägt und ihnen erst
Bestand giebt. Wenn aber jene nähern Bestimmungen zu der
schon bestehenden Substanz hinzutreten, so sind sie nicht mehr
Inhalt dieser, sondern müssen schon als Qualitäten {noiÖTr-Tsg,
s'^fig) bezeichnet werden.
Das ist in der That die stoische Lehre. Schon Aristoteles
hatte da, wo das Bedürfnis der realen Naturerklärung ihn zur
Angabe des concreten Inhalts einer substantialen Form zwang,
namentlich in seiner Lehre von den Elementen, jenen Inhalt ge-
legentlich in rein qualitative Bestimmungen gesetzt ^). Es begeg-
net ihm auch an vereinzelten Stellen, dass er das substantiale
Werden und Vergehen auf eine blosse qualitative Veränderung
(dXloiwaig) zurückführt •^). Was bei Aristoteles Aushilfe der Ver-
legenheit oder Inconsequenz ist, wird bei den Stoikern zum Prin-
cip. Aus den beiden von xlristoteles unterschiedenen constitutiven
Elementen der Substanz , nämlich der Materie und der Form,
werden bei ihnen die beiden Kategorien: Substrat tmd Qualität
{noiÖTTig)^ genauer: wesentliche Qualität, im Unterschied von
den wechselnden, bloss zufälligen Eigenschaften (dem nuig eyov) •'').
Im Zusammenhange damit bezeichnen sie ganz allgemein das
substantiale Entstehen und Vergehen als qualitative Verände-
rung {dlXoiwoig) ^). Deutlich tritt hier jene von Aristoteles be-
kämpfte alte naturphilosophische Ansicht '') wieder hervor, dass
es im Grunde kein Werden, sondern nur eine Veränderunsr gebe.
') S. S. 254 f. — 2) 336 f. — ') S. S. 260. — *) S. S. 260 Anm. 3.
'") Vgl. die stoische Definition der Qualität bei Simpl. in categ. 57 E (mit
Petersen, Trendelenburg, Piantl und Heinze, Lehre vom Logos, S. 119, 3 gegen
Brandis und Zeller IIP a, 96, 2 ist dort iyWijda statt i'v vöijua zu lesen, wie sich
aus der weiter unten folgenden Gleichstellung von ev röriua (1. ivv6r,ijia) xal
i(f(6Tr,T-x und ivvoia xal täi6rr,Ti ergiebt). — Vgl. ferner Flut, de Stoic. rep.
c. 43, p. I()ö4 A. wo den 7tot6Tr,Ttg das (t(fonoit?v zugeschrieben wiid. —
Über das Verhältnis des aristotelischen titfog zur stoischen ttoiöit,? s. Zeller
IIF a, 98. Trendelenburg, Gesch. d. Kategorienlehre, S. 222 f.
^) Vgl. Posidonius bei Arius Didym. fr. 27. (Dox. p. 462) bei Stob. ecl.
p. 434.
') S. S. 229 f.
34:S Vierler Alisdinill. Epicureer und Sloikor.
J)ic Zui'ückfühmng des die Malerie beslimmendeii Foniiele-
menls auf eine andere Kategorie ist die erste bedeutsame Ab-
weichung, welche bei der weitem Durchbildung jenes aristotelischen
Dualismus von Form und Materie im stoischen System das erste
Glied des Gegensatzes erführt. Diesem logisch-metaphysischen
Momente tritt ein physisches zur Seite.
Der Inhalt der Form läuft bei Aristoteles, der Tendenz seines
Systems entsprechend, auf rein begriffliche Bestimmungen hin-
aus. Alle sinnliche Anschauung nämlich, die ja nicht auf das
Allgemeine, sondern auf das Individuelle geht, hat zu ihrer Vor-
aussetzung die Individuation des Erkenntnisobjects. Diese aber
ist der Form nicht aus sich eigen, sondern ist erst Resultat der
Verbindung von Form und Materie. — Die Stoiker dagegen, welche
schon das positive Merkmal der Materie in etwas sinnlich An-
schaulichem, der dreifachen Ausdehnung, erblicken, suchen auch die
wesentlichen Eigenschaften der Dinge in deren sinnlich wahr-
nehmbaren Qualitäten. Diesen legen sie mit den Epicureern
ohne weitere Untersuchung objective Giltigkeit bei, wie denn
Zeno in den Farben die ursprünglichste Bestimmung findet,
durch welche die an sich qualitätslose Materie ihre Ausgestaltung
erhält »).
1) Aetius I 15, (; (Dox. p. 318) bei PliU. pl;ic. I 15; Stob. ed. I, p. 364. Vgl.
auch Ps.-Galen. liist. phil. XIX 258 K. (Dox. p. GIG). — Bei Plotin. VI 1, 30.
p. 262, 2 ersicheint das levxöv zwar unter dem nms i'xov. Aber es ist zu be-
merken, dass, wie schon Arist. eth. Nicom. I 4, lOOG b 23 bemerkt, und Plotin.
enn. 11 (j, 1 g. E. wiederholt, die weisse Farbe bei manchen Naturgegenstän-
den, wie ])eim Schnee und Bleiweiss, eine notwendige Eigenschaft bildet. Vgl.
auch Simpl. in categ. 54 /; der die weisse Farbe in diesen Fällen gleichfalls
als ovaiMÖrig bezeichnen will, und Plot. 1. c , der im Anschluss an das eben
erwähnte Beispiel das Quäle in ein oikimihg, d. h. eine «JtoVi;? rijg ovaiag, und
ein blosses noiov zerlegen will.
Unverständlich ist mir, wie Stein II, S. 295 f. schreiben kann: ,Nur
meine man nicht, die Stoiker hätten das Ding an sich und dessen Erscheinung
planlos durcheinandergewürfelt. Wenn dieser erst durcli Kant zu klassischer
Formulierung gelangte Unterschied in der antiken Philosophie überhaupt ge-
hörig erfasst worden ist, dann gewiss in erster Linie von den Stoikern. Diese
haben die Aussendinge {TvyxdvovTo) von ihrem Begriff scharf auseinander-
gehalten, indem sie die Behauptung aufstellten, der Begriff bringe das Wesen
der Dinge zum Ausdruck." Stein citiert dafür lo. Philopon. ad anal. pr. ed.
Ven. 1536 cap. 60 (gemeint ist fol. 60; die Stelle findet sich auch bei Brandis,
Schob in Ar. 170 a 2—6): oi (fe Itwixol xaivoTtQav ßuSiiovng ta fifv nQäyfxaja
Stoiker, b) Slolf u. Kraft. — Materie u. Qualität. 349
Die sinnlichen Qualitäten aber kann der stoische Materialis-
mus ebenso wie die Materie nur als etwas Körperliches den-
ken 1). Sie entstehen dadurch, dass die gestaltende Luft oder
das Pneuma, der warme Lufthauch, die Körper gänzlich durch-
dringt und ihnen so ihre Bestimmtheiten verleiht ^) — die Härte
dem Eisen, die Dichtigkeit dem Stein, die Weisse dem Silber u.s.w.^).
Indem sich die heraclitische Lehre vom Feuerhauch mit der
aristotelischen Elementenlehre verbindet, wird diese Anschauung
bei einzelnen Stoikern dahin umgebildet, dass die beiden im
Pneuma enthaltenen Elemente Feuer und Luft als die gestalten-
den oder activen den beiden passiven Elementen des Wassers
und der Erde gegenübergestellt werden *). Namentlich dem
t c'jy^civovca lovö/uaOuv, diöii Tuiv ngay/udrcov tf^eTv ßov?.öiJie-&a' zd de poij/naTa txtfo-
(iixä' (fioTi aniQ iv iavToTs voovfxtv, Tuvra fig x6 i'^co nQOiftQOßev, Allein abge-
selien davon, dass hier nQäyßara und voiifiara, zvyyr^ävovia und ixifOQiXtt, nicht
ivyxävovTa und voijuaja, wie Stein will, gegenüberstehen, so besagen jene
Worte doch nur, die Begriffe seien von den Stoikern tx^oQixd genannt, weil
wir, was wir in uns {iv iavtoTg; vgl. Krüger. Gr. Gr. §. 51, 2, 15) den-
ken, nach aussen hin kund thun; von einer Unterscheidung des Innern und
Äussern in den Dingen ist nicht die Rede; da müsste doch wenigstens iv
aihois stehen.
Noch auffallender ist es, wenn Stein II 151 1'. der richtigen Bemerkung,
Zeho halle die Farben für die ursprüngliche Eigenschaft der Materie erklärt,
woraus doch klar erhelle, dass er von der Ansicht ausging, die Dinge könnten
von uns in ihrer wahren Beschaffenheit erkannt werden, die Be.schränkung
hinzufügt: „Kleanthes freilich scheint seine leisen Zweifel darüber geäussert
zu haben, ob sich die Vorgänge in Wahrheit nothwendig so abspielen, wie sie
uns erscheinen." Die dafür angeführte Stelle, Epictet. diss. II 19, 2: ov näv de
7iaQf?.r,?.v&6g d}.r,-d-eg dvayxaiöv iarC xa&dnto oi thqI K?.edv&tjv if(Qea&at duxovaiv,
einer Auseinandersetzung über den bekannten KvQin^mv entnommen, hat es
doch nur mit der Frage zu thun, ob das, was wirklich vorgegangen ist,
notwendig sei. Stein scheint die grammatische Construction nicht riciitig
zu fassen.
^) Simpl pliys. IV, p. 530, 12; in categ. fol. 69 r. Plut. de comm. not.
c. 50, p. 1085 E. lamblich. protrept. p. 352 Kiessl., wo die „Jüngeren' vorn
schol., p. 130 ed. Pistelli, richtig als Stoiker erklärt werden.
-) Zeller IIP a, 99—118. 128, 2 g. E.
'') Plut. de Stoic. rep. c. 43, p. 1053 F.
•*) Plut. de comm. not. c. 49, p. 1085 C — D. Nemes. de nat. hom c. G. p.
72 ed. Antverp., p. 164 Matth. Cic. Acad. post. I 7, 26.
350 Vierter Al)sclinitt. Ej)icureor und Stoiker.
Posidonius wird diese aristotelisierende i) Ansicht zuge-
schrieben 2).
Die Lnft gestaltet den Stoff nicht nur als äussere Grenze
desselben 3), sondern indem sie denselben innerlich durchdringt ^).
Diese Durchdringung beruht auf der schon von Zeno ^) angenom-
menen totalen Durchmischung {xQäaig öi' oXan), kraft derer zwei
Körper ganz an demselben Orte zugegen sein können. Eine
solche Annahme macht es den Stoikern auch möglich, das Zu-
sammensein mehrerer Eigenschaften in einem Substrat durch
das gleichzeitige Vorhandensein verschiedener Luftströmungen zu
erklären '^).
Wie die Form es anfängt, um die Materie zu bestimmen,
das hatte Aristoteles nicht ausgeführt und konnte er seiner gan-
zen Richtung nach, die in dem Qualitativen ein Ursprüngliches
sieht, nicht näher ausführen. Den Versuch Plato's, die Besonder-
heit der Elemente aus der geometrischen Formung der Materie
zu verschiedengestalteten Elementarkörperchen, also aus quanti-
tativen Verhältnissen, abzuleiten, hat er nicht übernommen. An-
ders die Stoiker. Von dem Streben nach Anschaulichkeit, wie
es scheint, geleitet, suchen sie alle qualitative Differenzierung der
Materie auf ein anschauliches Moment zurückzuführen. Als
solches bietet sich ihnen die Bewegung des gestaltenden Pneu-
ma oder der Luft. Strömungen der Luft sind es also, die das
bestimmte Sein und alle Eigenschaften der Körper bewirken ').
^) Unterschied der activen und passiven Elemente: Arist. de gen. et corr.
I 6, 3"23 a G--10; IT 2, 329 b 24—27; meteor. IV 5, 382 b 2-5; 11, 389 a
29—31. Die obern Elemente als die begrenzenden verhalten sich zu den un-
tern wie die Form zur Materie: de cael. IV 3, 310 b 14—15; de gen. et corr.
II 8, 335 a 16—21 ; s. o. S. 242, 6. 258, 1. 265, 8. Vgl. Siebeck, Unters, z. Phil,
d. Griechen. 2. Aufl. Freiburg 1888. S. 246 ff.
2) Sirnpl. de cael. IV 3, p. 309 a 43— b 3. Die Stelle spricht, was Siebeck
a. a. 0. entgangen ist, ausdrücklich die Abhängigkeit des Posidonius von
Aristoteles aus.
^) wie bei Aristoteles an den S. 242 Anm. 6 Schi, citierten Stellen.
*) Plut. de comm. not. c. 49, p. 1085 D, wonach Feuer und Luft, toTq
(fvalv ixeivois (Wasser und Erde) i'/xex^a,ut'va. ihnen Bestand und bestimmtes
Sein geben.
") Wachsmuth, De Zenone Gitiensi, Gotting. 1874, S. 9.
^) Zeller III ^ a, 99. Heinze, Lehre vom Logos, 120.
') Plut. de Stoic. rep. c. 43, p. 1053 F— 1054 A. Dies gilt auch von den
Stoiker, h) Stolf n. Kraft. — Materie u. Oualitüt. 3.51
Diese Bewegung vollzieht .sich in einer Doppelrichtung, von aussen
nach innen, und von innen nach aussen. Mit Recht erinnert
Zeller i) an die Expansiv- und Attractivkraft, aus der moderne
Naturphilosophen, hierin die Stoiicer noch i^iberbietend, sogar die
Materie selbst construieren wollten. Die erste Bewegung für sich
allein würde verdünnen, die zweite verdichten. In dem Zusam-
menwirken beider giebt letztere die Einheit und das feste Sein,
erstere Grösse und Eigenschaft 2). So ist es also in letzter In-
stanz das Gegenspiel der beiden entgegengesetzten, einander das
Gleichgewicht haltenden Kräfte, mit einem andern Worte : die
Spannung (lörog) des die Materie durchströmenden luftartigen
Pneuma, was die letztere bestimmt ^).
geistigen Eigenschaften, s. Zeller III" a, 119. Es ist wie eine Anticipation de.s
Hobbes'schen Satzes, dass nnr die Körper und die Bewegungen der Körper
wirklich seien.
') a. a. 0. IIP a, 131. Vgl. auch Stehi I, S. 32, der aber (Anm. 40) hier,
wo es sich um das Zusammen spiel der beiden Kräfte handelt, nicht Philo
de incorr. mundi §. 1!) [T. II, p. 507 Mangey, p. 258 Bernays) heranziehen
durfte, wo von dem ausschliesslichen Wirken der einen oder der andern Kraft
in verschiedenen Weltperioden gesprochen wird.
^) Simp. in categ. ßS E. Nemes. de nat. hom. c. 2. p. 29. ed. Antverp.
(p. 70 sq. Matth.) Vgl. Arius Didyrn. fr. 28 (Dox. p. 463) bei Stob. ecl. I, p.
374, wo es zunächst vom Urpneuma heisst: Xqvo innoq d'f Toiovtuv n d'ia-
fitfSuiovTo' eivai to ov nvtvfia xtvovv eavto tiqos eavio xal ff avTov, ij Tivevjua iavTo
xirovv TtQoai» xal dnlaw' nvfvjua ife ft'kfiTiTat (fia lö keyto&ac avTo tivai deQct. xivovfievov'
dräXoyov ifi yivra&ai xcini tov acS^e'()OS, ("xJre xal eig xoivnv ?,6yov ntofiv avzä \d.\x. dä-S
Ur-Seiende oder der Äther wird als Pneuma gefasst, weil man als „Pneuma"
(Wind) die bewegte Luft bezeichnet, etwas Ähnliches (die oben angegebene
Doppelbewegung) aber auch beim Äther stattfindet (vgl. Gornut. theol. c. 1,
p. 2, 13 — 14 Lang), so dass beides (nämlich das Pneuma und der Äther als das
Ur-Seiende) unter denselben Begriff (nämlich der bewegten Masse) fällt (eii zov
avTuv Xöyov ninriiv im Sinne von „unter denselben Begriff fallen", wie xoivov
avfxnTMfia amfiäiuiv xal daoo/uäToiv Simpl. in categ. 57 E.). Durch diese Erklä-
rung wird HirzeTs — a. a. 0. 11, 752 — , von Wachsmuth aufgenommene
Gonjectur amov überflüssig, seine Folgerungen hinfällig.].
Ferner: Philo, qu. deus s. imm. §. 7 (T. I p. 278 Mangey) Seneca nat.
quaest. II 6. Plut. de Stoic. rep. c. 43, p. 1053 F ; de comm. not. c. 49, p. 1085
C— D. Alex. Aphrod. de mixt. fol. 144 1' (p. 605 med. Ideler).
=*) Plut. de Stoic. rep. c. 43, p. 1054 A. Nemes. a. a. 0. — Über den
Tonus im allgemeinen vgl. Zeller IIT^ a, 119, 2. Hirzel a. a. 0. II 118.
Stein 1 31, Anm. 38; II 12;>, Anm. 252. Heinze a. a. 0. 94 f. Den von
diesen gesammelten Stehen ist hinzuzufügen Alex. Aphrod. de an. II, p. 115,
352 Vierter Alisclmitt. Epiciireer und Stoiker.
Die verschiedenartige Spannung der Luft l)edingt die Ver-
schiedenartigkeit jener Strömungen, durch welche die an sich
gleichartige Luft so mannigfache Wirkungen in der Materie her-
vorbringt.
Dieselbe Tendenz nach Anschaulichkeit, kraft derer die Stoa
die Wirkungsweise des gestaltenden Princips in eine innere
Spannung und Bewegung setzte, liegt auch zugrunde, wenn sie
das Gestalten als ein Zusammenhalten vorstellt. Was schon
Anaximenes von dem beseelten Leibe und nach dessen Analogie
von der als Organismus gedachten Gesamtwelt gelehrt hatte i),
das gilt nach den Stoikern von allen Dingen in der Welt. Wie
für die Welt im ganzen 2), so ist die Luft oder das Pneuma auch
innerhalb derselben überall die „zusammenhaltende Kraft" {awix-
Tixrj Sinafiig), das Zusanunenhaltende {avrsxTixö^) für die Einzel-
dinge 2).
Bewegung, Spannung, Zusammenhalten aber sind nicht mehr
bloss ruhende Eigenschaften oder Wesensbestimnmngen, es sind
Thätigkeiten. Die Thätigkeit geht schon nach aristotelischer
Anschauung aus von einer bewegenden Ursache, d. h. von
einer Kraft. So lag auch in jener den Stoikern eigentümlichen
Bestimmung der Wirkungsweise des gestaltenden Princips für
diese ein Grund, die aristotelische Formalursache als eine beson-
dere Ursache neben der bewirkenden zu verwerfen *). Die we-
9 — 12 Bruns. — Stein II 129 verfolgt die Vorgeschichte des Terminus rdvog
bis auf Hippocrates, der tovos und vevQov synonym gebraucht. Zu der von ihm
citierten Stelle Galen, de plac. Hippocr. et Plat. V, 205 K., 162 M. hätte er
aber noch viele andere aus den Hippocratica und aus Galen hinzufügen kön-
nen, die zum Teil schon in der Didot'schen Ausgabe des Thesaurus Graec.
lingu. VII 2288 f. zusammengestellt sind. Auch auf Herodot. VJI 36 konnte
hingewiesen werden, wo TÖvog zweimal die Spannung des Schiffstaues be-
zeichnet.
1) S. S. 15 f.
^) Alex. Aphrod. de mixt. fol. 142 r med., p. 594 Ideler (zum Text vgl.
Zeller IIP a, 118, 5; Apelt, Philologus XLV. 1886. S. 84.); 144i- med., p. 606 Id.
(zum Text: Apelt a. a. O. S. 87). Gic. de nat. deor. II 7, 19. Seneca, cons. ad
Helv. 8, 3; quaest. nat. II 6.
•') Plut. de Stoic. rep. c. 43. p. 1053 r (aus Ghrysipp nt^l t'^emv). Vgl. c. 49,
p. 1085 G— D. Simpl. in categ. f. .55 E. Sext. Emp. adv. math. IX 81. Seneca
a. a. 0. Philo, de mundi opif. 45 (T. I, 31 Mangey).
*) Über die Polemik der Stoiker gegen die platonisch-aristotelische Lehre
von den Ursachen vgl. Zeller IIF a, 132 ff.
Stoiker. StolT u. Kral't. — Materie u. Qualität. 353
sentliche Beschaffenheit (e^ic, noiörrjc) ist bewegende Ursache.
Nicht aus Materie und artbestimmender Form {t'iöog), wie bei
Aristoteles ^), besteht darum nach den Stoil^ern das Individuum,
sondern aus dem Materiellen {vhj oder vXixor) und dem Ursäch-
lichen («tV/cödfg, auch öATtor) 2). Stoff und Kraft sind die beiden
den Dingen immanenten Principien.
So gut auf dem engern Gebiete bei den Stoikern das eine
aus dem andern folgt, wenn sie aufgrund ihres Materialismus
und Sensualismus die begriffliche Form des Aristoteles zu der
Lehre von der Luft als dem gestaltenden Kraftprincip umbilden,
so lässt sich doch nicht verkennen, dass diese Umbildung das
Verhältnis des gestaltenden Princips zur Materie und dadurch
den Begriff der letztern selbst gestört hat. Nach Aristoteles ist
die Form in sich ohne Materie und enthält nur die begrifflichen
Elemente des substantialen Ganzen. Folgerichtig hätten die
Stoiker in ihrer Umbildung der aristotelischen Lehre die ver-
schiedenen Formen der Bewegung als solche für das Gestal-
tende erklären und ihr zum Substrat unmittelbar die unbestimmte
Materie geben sollen. Die Qualitäten waren dann zwar keine
Körper mehr, wohl aber als etwas am Körper körperlich;
die ganze Lehre wäre der modern materialistischen von Kraft und
Stoff nahe verwandt gewesen. Statt dessen geben sie der Bewe-
gung zunächst ein besonderes Substrat, die Luft, und lassen sie
erst durch dessen Vermittelung die eigenschaftslose Materie ge-
stalten. Da nun aber die Luft nichts Anderes ist, als ein beson-
ders geeigenschafteter Stoff, so bleiben sie in dem Widerspruch
stecken, dass der Stoff zwar qualitätslos, die Qualitäten aber nicht
stofflos seien ^). Es ist in der That, wie wenn nach Plotin's
^) Ganz unstoisch heisst es bei Diogenes VII 133, dass in der stoischen
Lehre vom Weltgebäude untersucht werde xal tt J r,hos y.al ol daze^es e| vkijs
y.al et'dfoe. Mit Recht sind die Worte, welche schon durch die aufgelöste Form
ei'cffoi Anstoss erregen, von Gebet als Interpolation ausgeschieden.
■-') Die Belege sind besonders zahlreich bei Antonin ; vgl. IV 21 (Schi), V
13, VII 29, VM 11, XII 2ü {ahM,hs), 1X25. 37, XIIIS {ahtov).— Die e^is wird
als ifvvafitg bezeichnet Simpl. in categ. 68 E, ebenso die TiowTrjs Plotin.
enn. VI 1, 10. p. 210, 27 (worauf Simpl. in cat. 57 E Bezug nimmt). Ein diotxiiv
schreibt der i'^is Plutarch. virt. mor. c. 12, p. 451 B zu.
■') Vgl. die hier zutreffende Polemik Plutarch's, de comm. not. c. 49, p.
1085 G— E und besonders c. 50, p. 1085 E— 1086 B. Ähnlich Albinus, öidaaxa.
hy.6i c. 11, p. 166, 21—23 Hermann.
liauuuiker: Das Problem der Materie etc. ■""
354 Vierler Abschnitt. Epicuieer und Stoiker.
Bemerkung jemand die Wissenschaft in die Grammatik einteilen
wollte und in ein Zweites, was Granmiatik und noch etwas an-
deres ist 1). In ihrer Lehre von der xqüoic di' olwv 2) hat die
Stoa nun allerdings ein künstliches Mittel gefunden, um zu er-
klären, wie ein in sich bestimmter Stoff den noch unbestimmten
durchdringen und dadurch jenen innerlich gestalten könne; aber
diese ganze Lehre ist im Grunde nur ein dem Erklärenden zu
Liebe angenommenes Postulat, um dessen anderweitige natur-
wissenschaftliche Begründung es sehr schwach bestellt war ^).
Ist aber das „Ursächliche" als gestaltendes Princip der iMa-
terie nicht die blosse Bewegung in der Materie, sondern ein be-
sonderer, die Materie beherrschender Stoff, so wird auch der Satz
ins Schwanken geraten, dass die Materie das wahre Seiende sei.^)
In der That fehlt es nicht an Stellen, an denen umgekehrt das
Pneuma, die Luft, gerade so als das Seiende bezeichnet wird, wie
Aristoteles das wahre Sein der Form beilegt ^).
2. Der Logos in der Materie, Mit Plato und Aristoteles
stellt der Stoicisraus neben die vernunftlose Materie als den Grund
aller Ordnung die Gottheit oder die Urvernunft (Aoyog, vovo).
Die zu harmonischer Einheit sich fügende Mannigfaltigkeit des
Weltalls ist nicht, wie der Atomismus Democrit's und Epicur's
will, Werk der Materie und der in ihr waltenden mechanischen
Notwendigkeit, sondern sie ist die Bethätigung und für den erken-
nenden Geist der Beweis für das Dasein einer alles beherrschen-
den vernünftigen Kraft, die über der Materie steht. Die Vernunft
aber ist nicht etwas Unkörperliches, gleichwie Aristoteles die
Gottheit als reine Form dachte, sie ist körperlicher Natur,
Pneuma, Äther, künstlerisch bildendes Feuer, Wärme, (warme)
Luft_, oder wie sonst die Bezeichnungen lauten ^). Ebenso steht
1) Plot. enn. VI 1, 29. p. 260, 31-33 M.; vgl. auch iV 7, 9. p. 114, 20.
^) an die Giesen a. a. O. S. 30 gegen Plutarch erinnert. Vgl. Alex, de
mixt. f. 144 r (p. ßOG med. Ideler).
») Zeller IIP a, 127 ff. - ••) S. S. 337.
'•>) Vgl. Ghrysipp bei Stob. ecl. I, 374 (Arius Did. fr. 28, s. S. 351 Aniii. 2),
wo das in der Doppelrichtung nach vorwärts und rückwärts sich bewegende
Pneuma als das ov bezeichnet wird; Plut. de comm. not. c. 49, p. 1085 D,
wonach Luft und Feuer den andern beiden Elementen das ovaioSiffs geben.
«) Zeller IIP a, 142. Heinze 95-9(5. Stein I 2() ff. 68. 70 f. — Auf diese
Schriften verweise ich auch für die im Folgenden durch Citate nicht belegten
Puncte.
I
Stoiker, b) Stoff und Kraft. — Der Logos in d. Materie. 355
die Gottheil nicht, wie bei Aristoteles, ausserhalb der Welt, son-
dern geht durch alle Dinge in der Welt hindurch i), selbst durch
das Gemeinste und Niedrigste 2). Gott ist das alles zusammen-
haltende Pneuma, die Seele des Alls, die demselben immanente
gestaltende Kraft oder die Natur {(fvßic =: natura naturans).
Hatte Aristoteles, an den die Stoa auch hier anknüpfen konnte,
die Natur als die immanente, den Stoff gestaltende Kraft neben
den ausserweltlichen ersten Beweger gestellt, so identificiert die
Stoa beides 3). Wir werden den Grund für diese Thätigkeit des mit
der Urvernunft identischen Urpneuma in seiner Spannung (rövog)
suchen. Setzt doch eine gewisse Aufzählung der stoischen Prin-
cipien diese Spannung ohne weiteres an die Stelle der sonst neben
der Materie genannten Gottheit *). Eben darauf weist es auch
1) Aetius I 7, 33 (Dox. p. 306) bei Plut. plac. I 7 und Stob. ecl. I, p. 66.
Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 458) bei Stob. ecl. I, p. 322. Diogen. VII 138.
Philodem, de piet. fr. 11, p. 77 Gomperz. Gic. de nat. deor. I 14, 36. Seneca
de benef. IV 7, 1. Antonin. V 32. Alex. Aphrod. de mixt. f. 144^ (606 Ideler).
Athenag. legat. pro Christ, c. 22, p. 318 B ed. Maur. Tatian. orat. ad Gr. c.
4, p. 260 B ed. Maur. Tertull. adv. Hermog. 44; adv. nat. II 4. Hippolyt.
refut. haer. I 21, 1 (Dox. p. 571, 10. Chrysipp. fr. 8 Gercke). Clemens Alex,
protrept. 5, 66 (vol. I, p. 72, 10 Dindorf); stromat. V 14, 89 (vol. III 69, 22
Dind.). Chalcid. in Tim. c. 293 (p. 322, 15 Wrobel); c. 294 (p. 323, 22).
Epiphan. adv. haer. III, T. III, p, 567, 2 Dindorf; Dox. p. 592, 24. Procl.
in Parm. IV, col. 921, 15. 955, 27 Cousin ^ in Tim. p. 126 B. 299 G. Schol.
ad Arat. phaenom. v. 1. Plut. de Is. c. 40, p. 367C. — Zu beachten ist, dass Ci-
cero, Arius Didymus, Epiphanius an den angef. St. und Tertullian adv. nat. II,
4 die fragliche Lehre bereits dem Zeno zuschreiben. Und dass Zeno unter
dem die Materie durchziehenden All-Logos nicht etwa nur die gottgewirkte
Ordnung versteht, wie Hirzel II, 213 f. anzunehmen scheint, zeigt der Zusatz
bei Arius Didymus: olov neg xai iv tjj yov^ to anigiia.
'') Seneca consol. ad Helv. 8, 3—4. Sext. Emp. Pyrrh. hyp. III 218.
Lucian. Hermotim.81, T. I, p. 826 Reitz. Tatian. or. ad Gr. c. 3, p. 259 C. Origen.
contr. Gels. VI, 71. dem. Alex, ström. I 11, 51 (vol. II, 43, 15 Dind ). Alex.
Aphrod. de an. II, p. 113, 12 Bruns.
') Diese Beziehung der Stoa zu Aristoteles' Lehre von der (f.vai{ wird
von Siebeck, Untersuchungen ^ 220 ff. mit Recht hervoigehoben. Vgl. auch
Krische, Forschungen I, 281. Hardy, Der Begriff der Physis in der griechischen
Philosophie. I. Berlin 1884. S. 199.
*) Censorin. fragm. c. 1. p. 75 Jahn: Initia rerum eadem elenienta et
principia dicuntur (was freilich nach Diogen. VII 134 für die Stoiker nicht
zutrifft). Ea Stoici credunt tenorem (d. h. zövov, nicht s^tv, wie Trendelenburg,
Gesch. d. Kategorienl. 225, 1 es fasst) atque materiam. Tenorem, qui rare-
scente materia a medio tendat ad summum, eadem concrescente rursus a summo
referatur ad medium. 23 *
356 Vierler Abscliiiitl. Epiciueer und Stoiker.
hin, wenn von dem göttlichen Pneuma gesagt wird, dass es
durch alles gleicherweise mit seiner Spannung sich verbreite i),
und anderswo, dass bei dem periodischen Wechsel von Weltent-
wicklung aus dem Feuer und Rückbildung in dasselbe die Span-
nung in der Allsubstanz nie aufhöre 2).
Die Einwirkung der vernünftigen Urkraft auf die Materie in
den mannigfachen Abstufungen und Gestaltungen ihrer Wirksam-
keit vollzieht sich durch die Vermittelung der einzelnen Keim-
oder Samenkräfte (löyoi, ansQi.iaiixoi), welche in jener einbe-
schlossen sind °). Die Wellvernunft ist der Ursame'^); aus ihr
kommen und in sie kehren zurück die einzelnen Keimkräfte '•).
Die einzelne Keimkraft enthält einen bestimmten Gedanken, den
sie, Element der vernünftigen Weltordnung und doch, gleich dem
1) Seneca cons. ad. Helv. 8, 3. Zum Sinn der Stelle vgl. Heinze 93, 3.
-) Arius Did. fr. 38 (Dox. p. 470) bei Stob. ed. I, p. 372: Gleantb
(fr. pliys. 13, II, p. 11 Wachsm.) lelire : xal zoiavTijv mgiot^ov alel xat thaxö-
ajur/aiv noiovue'vov tot' ev rfj zmv uXwv ovaia tovov /«■>; naveaS-ai. Stein I 33, 41
bemerkt hierzu : „Die Korrektur Meinecke's (lies : Meineke's) : rov rövor zie-
hen wir dem Diels'chen Text: t6v — tovov vor, weil dieser Nachsatz eine Be-
gründung ausdrücken soll, die durch den Genit. absol. rov rövov juij -tavea&ai
am besten ausgedrückt wird". Aber 1) ist rov tövov nicht Correctur Meineke's,
sondern Lesart der Handschriften F P bei Wachsm. , 2) ist rov tuvov nicht
bloss der „Diels'sche Text"; viehnehr ist gerade dies die (richtige) Gonjectur
von Meineke ; 3) ist ein Gen. absol. rov tövov i^t] navia&ai mit dem Infinitiv
als Prädicat ein Unding. — Ebenso Ghalcid. in Tim. c. 292.
3j Aetius I 7, 33 (Dox. p. 305 f.) bei Flut. plac.I 7 und Stob. ecl.I, p. 64— 6G
(Vgl. Philo de deo 6, T.II,p.ßl6 Aucher.). Diogen. Vit 148. Vgl. Cornutus theol.
c. 26 vom Atlas (= y.öafAos) und c. 27 vom Pan (= Weltall'.
■*) Das Feuer ist ror xöa/uov ayce^nu : Ghrysipp. bei Plut. de comm. not. c.
35, p. 1077 B; Pä.-Philo de incorr. m. 19 (II, 5i)(3M., p. 255 Bern.); vgl. Aristocles
bei Euseb. praep. ev. XV 14, 2. p. 817 A. — Arius Didym. fr. 36 (Dox. 468;
Ghrysipp. fr. 16 Gercke) bei Stob. ecl. I, p. 414 und Euseb. praep. ev. XV 18, 3.
p. 820 A: nach Zeno, Gleanth und Ghrysipp wandelt sich die ovaia olov th
OTT (Qua TU nvQ (Stein I, 51 Anm. missfällt es, dass Diels die Heeren'sche Gon-
jectur tti nvQ „ohne Grundangabe" veiwirft. Indes dürfte gegenüber Krüger,
Gr. Gr. §. 68, 8 eine solche auch nicht erforderlich sein). Vgl. Antonin IV 21.
'") Antonin. IV 21, wo dies zunächst von den f^eelen gesagt ist. Ebd. IV
14. Vgl. Heinze W^l f. — In einem Herabilde zu Samos fand Ghrysipp den
Sinn, dass die Materie die Xöyoi antQfianxoi von Gott empfangen habe; Orig.
c. Gels. IV 48; vgl. Üiog. VE 187: Theophil, ad Autol. III 8, p. 412 D ed.
Maur.; Glemens Rom. homil. V 18; T. I, p. 667 Goteler.
Stoiker, h) Stoff u. Kraft. — Der Logos u. die loyoi anf^ßanxoi. Sf)?
vernünftigen Urpneuma, körperlicher Natura), als gestaltendes
Princip auswirkt 2). Innerhalb des organischen Gebietes ist der
Träger der Keimkräfte der Samen, von dem jene ihren Namen
tragen. Dieser, der ja nach stoischer Lehre von allen Teilen
des Organismus ausgeschieden wird s), trägt von einem jeden
der Teile die entsprechenden Keimkräfte in sich Dieselben lässt
er dadurch zur Fülle gelangen, dass er immer mehr von dem be-
reitliegenden Stoffe an sich zieht und so, entsprechend den in
ihm enthaltenen Kräften, alle einzelnen Teile nach einander zur
ausgeprägten Gestaltung bringt *). Dabei wirkt der Samen durch
die in ihm enthaltene Spannung {tövoc) der Luft oder des Pneu-
ma ^). Ja auch auf das anorganische Gebiet lässt der BegrifT
des Samens sich anwenden ^). In der Entfaltung der Keimkräfte
nach dem Gesetze der Gesamtheit, d. h. entsprechend der Innern
notwendigen Natur der Allvernunft oder dem Verhängnis {et^uQ-
lievr')^ besteht die geordnete Entwicklung der Welt ').
Die Keimkräfte sind als Teilinhalt der Allvernunft ewig und
unvergänglich wie diese ^). Sie bilden sonach ein materielles
Kehrbild zu den ewigen Ideen Plato's ^) sowie zu den ungewor-
denen und unvergänglichen Formen, von denen Aristoteles redet,
1) Procl. in Parni. IV, col. 883, 29—31 Cous.^.
') Die }.6yoi antQfianxoi sind Sv.väfisis (Antonin. IX 1. Gornut. tlieol. c. 27,
p. 50, 19 f. Lang, wozu Plot. enn. III 6, 19. p. 243, 25-26 ; Porphyr, bei Euseb.
praep. ev. III 11, 42. p. 114 D zu vgl.), ahiai (Aristocles bei Eus. pr. ev. XV 14,
2 p. 817 A), vis omnium seminum singula prope flgurans (Seneca epist. 90, 29).
^) So wenigstens ol Tztgl t6v IwaiQov : Diog. VII 159.
■*) Simpl. in categ. fol. 78B. — Heinze a. a. 0. S. 114 Anm. 3 zieht zur Ver-
gleichung heran Hieron. ad Pammach. adv. errores Joannis Hieros. II, 172
ed. Bas. Doch ist zu bemerken, dass dort (es ist T. II, p. 432 Vallars., T. II,
p. 376 D Migne) die Ansicht des Origenes vorgetragen wird. Ähnliche
Stellen aus Augustinus verzeichnen Güttier, Lorenz Oken u. s. Verh. zur
modernen Entwickelungslehre. Leipzig 1884. S. 10 Anm. 2, und Grassmann,
Die Schöpfungslehre des hl. Augustinus und Darwin's. Regensburg 1889, S. 16 ff.
— Natürlich sind bei Hieronymus und Augustinus diese ,rationes seminales"
(im Unterschiede von den rationes aeternae oder den göttlichen Ideen) ein
Product der schaffenden göttlichen Allmacht.
^) Seneca nat. quaest. II 6.
«) Vgl. Antonin. IV 36.
') Antonin. IX 1. Diogen. VII 148. Plut. comm. not. c. 35, p. 1077 B (d.izu
vgl. Heinze 116).
«) Procl. in Parm. IV, col. 887, 36 ff.
"j Vgl. Procl. in Parm. II, col. 731, 30.
358 Vierler Abschnitl. Epicureer und Stoiker.
WO er platonisierl i). Ihre Gesamtheit aber in ihrem Verhältnis
zur Urvernunft giebt das materielle Gegenstück ab zu dem Ent-
haltensein der Ideen im göttlichen Verstände, wie es die spätem
Platoniker und die Neuplatoniker lehren.
Sind es die Keimkräfte, vermittelst welcher die alles durch-
waltende Vernunft den Stoff zu seiner wechselnden Gestaltung
führt, so treten dieselben in die engste Beziehung zu den We-
sensqualitäten, in denen wir oben das stoische Bestimmungs-
princip der Materie fanden. Denn gleichwie die Allvernunft
oder das Urpneuma jene samenhaften Einzelbegriffe in sich schliesst,
so ist es auch dasselbe vernünftige Urpneuma oder die Gottheit,
welche sich, den Stoff durchziehend, in die verschiedenen Quali-
täten besondert ^). Da nun, wie wir sahen, die löyoi OnsQfxaTixoi
nicht über den Dingen stehende Ideen vorstellen, sondern Kräfte,
welche in den Stoff selbst eingehen ^), da ferner diese Samen-
kräfte, wenn sie den Begriff in der Materie zur Entfaltung ge-
bracht haben, nicht untergehen, sondern sogar noch nach der
Zerstörung des Dinges fortbestehen ^), so bleibt neben den Xöyoi
OnsQi-iaTixoi kein Raum für besondere Wesensqualitäten, die von
jenen dem Sein nach verschieden wären. Der Unterschied der
beiden Gestaltungsprincipien kann sonach nur ein relativer sein ^).
Dasselbe gestaltende Pneuma, welches, als fertige Bestimmtheit
eines individuellen Dinges gedacht, Wesenseigenschaft heisst, führt
als das Princip der Entwickelung zu dieser Bestimmtheit den
Namen eines Xöyoq ansQ/xatixög ^). Darum kann auch von den
Qualitäten ohne Widerspruch gesagt werden, bald, dass sie un-
vergänglich ''), bald, dass sie vergänglich sind s) ; jenes, insoweit
sie als bleibende Keimkräfte in der sich stets verjüngenden Natur
den Wandel der Individuen überdauern, dieses, insofern sie als
1) S. S. 282 f. Vgl. auch Heinze 124-125.
2) Themist. de an. I 5, fol. 72 ^ (p. 64, 25 Spengel). Diog. VII 138 f. Sext.
Emp. adv. math. IX 81—85.
3) S. S. 357 Anm. 2.
*) S. S. 357 Anm. 8.
5) Vgl. Heinze a. a. 0. S. 112 f.
^) Auch Plotin setzt beides gleich : enn. VI 1, 29. p. 2(30, 23.
') Vgl. Antonin. V 13, wo dies vom alntSäts (= e^is) gesagt wird.
«) Arius Didymus fr. 27 (Dox. p. 462) bei Stob. ecl. I, p. 436 (nach Po-
sidonius).
Stoiker, b) Stoff u. Kraft. — Qualitäten u. löyoi. 359
Qualitäten eines bestimmten Individuums mit diesem entstehen
und vergehen.
3) Stoff und Kraft. Die voraufgehenden Erörterungen
haben uns gezeigt, wie die platonische Trilogie: Gott, Idee, Ma-
terie, und die aristotelische: bewegende Ursache, Formalursache,
Materie, im Stoicismus zu der Dichotomie von Kraft und Stoff
sich zusammenzieht,
Kraft und Stoff aber sind nach den Stoikern untrennbar.
Das Thätige kann so wenig ohne das Leidende sein, wie dieses
ohne jenes i), die Materie so wenig ohne Qualität existieren 2),
wie die Qualität ohne Materie 3), Gott sowenig abgesondert vom
Stoff, wie der Stoff abgesondert von Gott ^). Beide sind in ihrem
Sein aufeinander angewiesen. Die Kraft bedarf des Stoffes als
1) Lactant. institut. christ. VII 3, p. 741 A Migne. Syrian. in met. II, p. 841
a 4 — 5 Usener. Procl. in Alcib. prior, col. 422, 34 Cous^ Vgl. auch die stoisch
gehaltene Ausführung bei Gic. Acad. post. I 6, !24.
-) Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 458) bei Stob. ecl. I, p. 324. Ghalcid. in Tim.
c. 292 Wrobel. Procl. a. a. 0.
3) Vgl. Porphyr, bei Simpl. categ. 12 J (zum Texte vgl. Heinze a. a. 0.
S. 119 Anm. 2).
*j Ghalcid. c 294 (p. 323, 20 Wrobel). Asclep. in met. III 1, p. 146, 13—16
Hayduck. Procl. in Tim. 81 F. 126 B. 299 G ; in Parm. IV col. 921, 13 Gous.^
Damit scheint es im Widerspruch zu stehen, wenn Tertullian. adv. nat.
II 4 sagt: Ecce enim Zeno quoque materiam mundialem a deo sepa-
rat vel eum per illam tamquam mel per favos transisse dicit; itaque
materia et deus duo vocabula, duae res. Pro discrimine vocabulorum
etiam res separantur, etiam materiae condicio vocabulum sequitur. Stein
I 64, 88 g. E. legt besondern Wert auf diese Stelle als Beweis „für eine
schärfere dualistische Scheidung Zeno's von Gott und Materie." Allein hier
weist das vel darauf hin, dass wir in dem ersten Teile des Satzes nur eine
Schlussfolgerung Tertullian's aus den folgenden allein zenonischen (und allein
als stoisch auch durch adv. Hermog. 44 bezeugten) Worten vor uns haben;
,Zeno trennt die Weltmaterie von Gott, oder er sagt doch wenigstens,
dass er durch sie hindurchgehe, wie Honig durch die Waben, was doch
heisst, Materie und Gott seien zwei Wörter, zwei Dinge". Die wirklich zeno-
nischen Worte aber sind nur ein treffendes Bild für die an zahlreichen Stellen
ausgesprochene allgemein stoische Ansicht vom Hindurchgang Gottes durch
die Materie; vgl. S. 355 Anm. 1 und 2. — Auch sonst hat Tertullian den stoi-
schen Gott in unzulässiger Weise als einen transcendenten von der Welt ge-
trennt ; vgl. Apolog. 47 : positum vero extra mundum Stoici, qui figuli modo ex-
trinsecus torqueat molem hanc — was doch eher die aristotelische Lehre ist. Es
ist die sachliche Gorrectur, welche der christliche Stoiker unbewusst an der
Schuldoctrin vornimmt. Ganz verfehlt ist, was Stein I 34 Anm. g. E. con-
360 Vierter Abschnitt. Epicureer und Stoiker.
ihres Substrates {ovoiu), der Stoff der Kraft als des ihn zusam-
menhaltenden Gestaltungsprincipes ^).
Durch eine solche Fassung des Verhältnisses von Gott und
Materie oder von Kraft und Stoff wird der noch verbliebene
Dualismus sachlich wieder zum Monismus der ionischen Physio-
logen zurückgeführt. Dies in doppelter Hinsicht. Gehen v/ir
aus von dem activen Gliede, so ist Gott die Welt. Die Materie
aber, das passive Glied, erscheint wieder als kraftbegabt und
lebendig.
Gott ist die Welt. Zunächst zwar werden die entwickelten
Voraussetzungen zu dem Satze führen, dass das Universum aus
Gott und der Materie bestehe, die sich wie Seele und Leib des
Menschen verhalten 2). W'eil aber das Bewirkende vor dem bloss
Leidenden den Vorrang behauptet ^), so ist Gott „der bessere
Teil" seines Werkes, der Welt ^). Und noch mehr: Gott ist auch
die Dinge. Denn nicht nach dem Stoff werden die Dinge be-
nannt, sondern nach der wesentlichen Beschaffenheit. Diese we-
sentliche Beschaffenheit nun erhalten die Dinge durch Gott oder
das vernünftige Pneuma. An sich ohne bestimmte Gestalt, wan-
delt sich Gott in was er will und wird allem gleich •''), weshalb
er denn nach der jedesmaligen Bestimmung, die er der Materie
jiciert, um den Widerspruch zu entfernen: ultra inundioii, wobei „an jenen
Gott-Äther zu denken, tler am äussersten Endpunct des Himmels thront."
Hiergegen spricht ganz entschieden sowohl das exfrinsecus, wie was gleich
darauf folgt: intra mundum Platonici, qui gubernatoris exemplo intra id ma-
neat quod regat.
^) Wie die Kraft in ihrem Bestände unablöslich an die Materie gebunden
ist, so ist auch ihre Wirksamkeit in jedem Falle durch die Materie räum-
lich localisiert. Die Materie kann nur da wirken, wo sie sich räumlich be-
findet. Die Stoiker lassen darum keine andere Wirkung zu, als die Nahe-
wirkung. Berührung des Activen und Passiven ist die Voraussetzung alles
Wirkens; Stoss und Druck sind die Hauptarten der Thätigkeit (vgl. Sinipl. incateg.
77 B — r, der dagegen als Beispiel einer Fernwirkung die Resonanz der Saiten,
Entzündung von weitem u. dgl. anführen will). So kann auch die Gottheit
nur wirken durch Berührung und Stoss und räumliche Gegenwart in allem
(Procl. in Parm. IV, col. 955, 27—29; vgl. Olympiodor. prol. in Plat. phil. c. 9).
'-) Seneca epist. 65, 23.
•^) Seneca a. a. 0.
*) Seneca nat. quaest. VII 30.
•'*) Aetius I G, 1 (Dox. p. 292) bei Plut. plat. I (5. Cyrill. c. lul. II, p. 51 E.
Vgl. Aetius I 7, 19 »Dox. 302 b 22) bei Stob. ecl. I, p. 58, wo die I G als ge-
meinstuisch bezeichnete Lehre dem Posidonius beigelegt wird.
<
Stoiker, b) Stoff u. Kraft. — Materie ii. Gottheit. 361
verleiht, den Namen führt '). Ist also Gott jedesmal, als das Be-
stimmende in dem Dinge, das Einzelding selbst, so ist Gott, als
Gesamtheit gefasst, die AVeit. Dieser Satz wird an zahlreichen Stel-
len von Stoikern ausgesprochen oder den Stoikern zugeschrieben ^).
Er scheint in dieser vollen Schärfe erst von Cleanth formuliert
zu sein ^); die pantheistische Grundanschauung indes geht ent-
schieden schon auf Zeno zurück*).
1) Athenag. legat. pro Christ, c. 22. p. 318 B ed. Maur. Aetius I 7, 33
(Dox. 306) bei Plut. plac. I 7, Stob. ecl. I, p. 64—66 undEuseb. praep. ev. XIV
16, 9. p. 755 A (zum Text vgl. Diels Dox. p. .^>1). Vgl. auch Aet. III 7, 2 (Dox.
p. 374) bei Plut. pl. III 7.
'-) Seneca nat. quaest. II 45. Cic. de nat. deor. I, 14, 37 und 39 (von
Cleanth); II 13, 34. Diogen. VII 137. Aetius I 7, 24 (Dox. p. 303) hei Stob,
ecl. I, p. 60. Arius Didym. fr. 29 (Dox. p. 464) bei Euseb. praep. ev. XV 15,
1 und 3. p. 817 B— C; fr. 31 (Dox. p. 465) bei Stob. ecl. I, p. 444 Epiphan.
adv. haer. prooem., Dox. p. 587, 15—16. — Über die Ansicht des Stoikers Boe-
thus von Sidon, der von dem S. 296 behandelten Peripatetiker Boethus von
Sidon zu unterscheiden ist, vgl. Hirzel II, "221 ff.
*) Cic. 1. c. Vgl. Stein I 67, 98, der mit Recht Hirzel gegenüber auf diese
Stelle Gewicht legt.
^) Stein I, 63 ff bestreitet, dass der Hylozoismus und Pantheismus bereits
bei Zeno zum vollen Durchbruch gekommen sei. Es finde sich keine einzige
beglaubigte zenonische Notiz, in der eine Identification von Gott und Welt
auch nur leise angedeutet sei ; dagegen begegne man solchen Wendungen, die
einen gewissen Gegensatz zwischen *foV und r?.rj verraten. Zeno's Auffassung der
Gottheit stimme noch nicht mit jenem Urpneuma der spätem Stoa zusammen,
aus dem das All geworden und in das sich unser Weltganzes wieder auflöse.
Nur die Einzelgötter oder Einzelkräfte lasse er bei dem periodischen Welt-
brand sich in den Eingott ZfiV auflösen, nicht aber den Einzelstoff; dieser
sinke vielmehr in die Urmaterie zurück.
Indes überspannt Stein wohl die Verschiedenheit zwischen Zeno und den
Spätem. Wenigstens hören wir bei Arius Did. fr. 36 (s. S. 356 Anm. 4), dass
Zeno gerade wie Cleanth und Chrysipp die <v0t« beim AA^eltbrand in das Ur-
feuer als den Samen der neuen Weltbildung sich auflösen lasse. Wenn Stein
S. 63 Anm. 88 Gewicht darauf legt, dass bei Theodoret. Gr. äff. cur. IV 1"2, p.
902 Migne, Ach. Tat. isag. in Arat. 3, p. 124 E, Diog. Laert. VII 134, Philo de
de provid. I 12 Aucher. (wozu Diels Dox. p. 2 zu vergl.), Plut. plac. phil. I 4
(lies: I 3) = Stob. I 306 (Aet. Diels. 289) S^sös und vÄi, als die beiden Princi-
pien Zeno's bezeichnet würden, er also als klassischer Vertreter jenes Dualis-
mus erscheine, der in das System der spätem Stoa nur mit grossen Opfern
hineingefügt werden konnte, so übersieht er, dass dieser j.Dualismus" in völlig
gleicher Weise auch den Stoikern überhaupt zugeschrieben wird (z. B. Sext.
Emp. IX 11. Athenag. legat. pro Christ, c. 19. Alex, de mixt. fol. 144 r, p. 606
Ideler. Giern. Alex, ström. V 14, 89 (vol. III p. 70, 4 Bind.). Simpl.phys. I, p. 25,
16—18. Ghalcid. in Tim. c. 289), obwohl sich doch der Pantheismus der
362 Vierter Abschnitt. E])icureer und Stoiker.
Trotzdem aber die Gottheit von den Stoikern mit der Welt
identificiert wird, so kann man doch nicht ohne Einschränkung
sagen, dass nach ihnen auch die Materie ein Teil der Gottheit
oder etwas aus der Gottheit Abgeleitetes sei. Gott als Individuum
(idioK TTOiöv) ist identisch mit der Welt, diese als lebendes Indi-
viduum gedacht i); denn er ist das Individuum, welches die ge-
samte Substanz in sich befasst und diese nach Perioden ganz in
seine göttliche Feuernatur wandelt und wieder aus dieser Feuer-
natur entlässt 2), Aber wenn auch das Individuum (noiov tJ/wc),
stoischen Schule nicht bezweifeln lässt. Gott als Individuum {tdimq noiöv)
besteht eben, wie weiter unter (S. 303) näher zu zeigen, gleich der entwickel-
ten Welt und dem noch unentwickelten Urfeuer), aus den zwei untrennbaren,
aber nicht das eine aus dem andern abzuleitenden Principien: ß-tog im Sinne
von Kraft und vXt].
Recht befremdend ist das Gitat: Epiphan. adv. haer. I 6: tlnt yäp noit (sc.
Zi'iVMv) xal av'/y Qovov iivai zw it-ew rr/v vXriv, in welchem Stein a. a. 0. gleich-
falls „eine schärfere dualistische Scheidung Zeno's von Gott und Materie" be-
zeugt findet. Die Stelle (T. I, p. 293, 30 Dindorf; vgl. Dox. p. 588, 29, wo in
der Anm. auf die Parahelstelle Hippolyt. refut. haer. I 19, 4. Dox. p. 5G7, 18
hingewiesen ist) handelt nämlich überhaupt nicht von Zeno. sondern von
Plato. Auf Zeno dagegen geht die von Stein übersehene Stelle Epiphan. adv.
haer. I 5 (T. I, p. 291, 29 Dind. ; Dox. p. 588, 17): (fdaxit ovv xal ovto? ttjv
vki]v avyypovov y.aXmv tco ß^ew l'aa raii ukXatg aiQtaeai. Allein auch hier ist &c6g
nicht als ovaia Miuyg noiä, sondern als die tioiöttis an der ovaia neben die Ma-
terie als gleich ursprünglich gestellt. — Dass ferner bei Tertullian. adv. nat. 114
nicht alles, was Stein a. a. 0. als zenonisch beansprucht, wirklich von Zeno
herrührt, wurde schon S. 359 Anm. 4 nachgewiesen.
Sehr mit Unrecht endlich beruft sich Stein a. 0. auf Ps. -Galen h. ph.
XIX 241 K: TDmtwv ,U£V ovv xal Ztjvmv 6 ÜTonxoi tkqIt-^s ovo iagrov S-fov duXr/Xv&o-
res ov xoa/xov, äXkd TiaQo. ravTa iftavoij&rjaäv zt akXo, WO dem Zeno der Pan-
theismus rundweg abgesprochen sei. Hätte sich Stein nur nicht auf den jäm-
merlichen Kühn'schen Text beschränken wollen! Denn schon 1870 hat hier
Diels in seiner Dissertation De Galeni historia philosopha statt ov x6a,uov xzL
scharfsinnig conjiciert, was die Handschriften dann glänzend bestätigten (cf.
Doxogr. p. ()08) ; ovy öfioims 7it()l zavzijs (havor,d-riaav, äXX' 6 fiiv FlXäzüJv ■d-eov
daohiazov, Zrjvwv (fe aöißa. Nicht Über die Identität von Gott und Welt also
handelt die Stelle, sondern nur über die Körperlichkeit oder Unkörperlichkeit
der Gottheit.
') Über diese Bedeutung von x6a/xos vgl. Diog. VII 138. Arius Didym. fr.
29 (Dox. p. 464, 14) bei Euseb. praep. ev. XV, 15, 1. p. 817 G mit der Diels'schen
Ergänzung. Clemens Alex, ström. V 14, 105 (vol. III, p.85, 7 Dind.).
■^) Diog. VII 137 (Ghrysipp. fr. 17 Gercke). Arius Didym. fr. 29 (Dox. 464,
13 f. u. 17 f.) bei Euseb. pr. ev. XV 15, 1. 3. p. 817 G.
Stoiker, b^ Stoff u. Kraft. — Materie u. Gottheit. 363
und sein Substrat (die ovüi'a) nicht verschiedene Dinge sind,
so sind sie doch auch nicht dasselbe ^). Gott und sein Sub-
strat sind darum nicht geschieden, wohl aber unterschieden. Als
oifOitt idmq noiä schliesst er das Substrat oder die Materie ein;
als blosser rroiög (sc. Xöyog) gedacht, steht er dagegen dieser als
zweites Princip gegenüber 2). Freilich kehrt auch hier eine schon
von den antiken Kritikern ^) hervorgehobene Schwierigkeit wieder,
die nun einmal von dem stoischen System, in dem nur für Kör-
per Raum bleibt, unabtrennbar ist. Wie die Stoiker auf dem
physikalischen Gebiete keine Qualität am Körper denken können,
die nicht selbst wieder ein feinerer Körper wäre ^), so ist ihnen
auch die Gottheit für sich Körper, müsste also neben der Materie,
welche ihr Substrat bildet, consequenter Weise noch eine eigene
Materie einschliessen, durch die ihre Körperlichkeit in sich con-
stituiert wird.
Aber nicht nur der Stoff ist nach stoischer Lehre von der
Kraft, die Welt von Gott unabtrennbar; es kann auch ebensowenig
die Kraft von der JMaterie genommen werden. Trotz der logi-
schen Unterscheidung beider Principien bleibt doch physisch die
Materie stets mit der Kraft zur Einheit verbunden. So kehrt der
Stoicismus, wie schon die Alten hervorheben, vom aristotelischen
Duahsmus der Sache nach auf den Standpunct des Hylozois-
mus zurück^). Wenn nicht mehr eine erste Ursache ausser
der Materie angenommen wird, so hört die Materie auf, in Wahr-
^) Arius Didym. fr. 27 (Dox. p. 463) bei Stob. ecl. I, p. 43ti (nacb Posido-
nixis) : obgleich nicht ravTÖ, sind noiov Idi'oyg und ovaia doch nicht fzt^a, da sie
ja denselben Raum einnehmen und da das noiov Idicos einen Teil der oi'ala
bildet (der Teil ist nämlich nach stoischer Lehre weder verschieden vom Gan-
zen, noch identisch mit ihm: Sext. Enip. adv. math. 1X336; XI 24). Letztere
Bestimmung gilt natürlich nur von den Kinzelindividuen, die einen Tei der
allgemeinen Substanz ausmachen. Der All-Gott als das die gesamte Welt-
substanz in sich befassende Individuum muss die ganze, dui'cli den Aoyoc be-
stimmte ovaia sein.
2) Vgl. über dies Verhältnis der stoischen Kategorien Trendelen bürg, Gesch.
d. Kategorienlehre, S. 220 f.
3) Vgl. Plut. de cornm. not. 48, p. 1085 G. Plot. enn. VI 1, '2i5 27. p. 257,
19. 258, 19 — 20 Müller (an ersterer Stelle ist or nach aäifia zu stellen). Al-
binus, öiäaaxalixos, c. 10 Schi.
*) S. S, 349.
*) Vgl. Simpl. in categ. fol. 78 B und die in den folgenden Anmerkungen
citierten Stellen.
SM Viertor Absclinitt. Epicuroer und Stoiker.
holt (logen st and ciiior göltliclieii Thüligkeit zu sein. Sie bildet
dann nach einer treffenden Bemerkung Plotin's alles aus sich,
wie der Tänzer aus sich selbst heraus die verschiedenen Tanz-
liguren formt ^). Sie ist es, die auf sich selbst wirkt und sich
selbst vollendet ^). Die von den Keimkräften durchzogene Materie
der Stoiker verhält sich nicht mehr, wie die platonische und
aristotelische, als das Aufnehmende gegenüber den Formen, gleich
dem Wachs, in welches das »Siegel eingedrückt wird; sie lässt
vielmehr selbst aus ihrem Schoogse die Formen hervor-
spriessen ^).
Unter diesen Verhältnissen konnten die Stoiker um so weni-
ger an der Folgerung festhalten, in welcher der platonisch-aristo-
telische Dualismus seinen schärfsten Ausdruck fand ^), dass die
Materie als das Unvernünftige, blinder Notwendigkeit Unterliegende
für die Vernunft den Widerpart bilde, dass sie das erst zu über-
windende Unvollkommene, der Ursprung mancherlei Übels,
sei. Sie bestreiten dieses in physischer, wie in ethischer Bezie-
hung. Weder setzt die Materie der gestaltenden Vernunft einen
Widerstand entgegen, infolge dessen diese den unfolgsamen Stoff
nur unvollkommen bewältigen kann, noch ist sie als Grund einer
Trübung des Geistes, den die Stoiker ja selbst körperlich fassen,
Urquell des Bösen. Freilich ist die Materie, die in sich ja noch
aller Gestaltung entbehrt, auch noch nichts positiv Gutes; viel-
mehr ist sie als das noch Unbestimmte weder gut noch böse,
sondern indifferent •\). Aber dieser unbestimmte Weltstoff ist
bildungsfähig und folgsam gegen die aihvaltende Vernunft, die
als gute nur Gutes aus ihm hervorbringen kann ^). Spricht auch
Seneca gelegentlich sich dahin aus, dass Gott nichtalle Übel zu be-
seitigen vermöge, weil er die xMaterie nicht habe umwandeln können "'),
1) Plot. enn. VI 1, 27. p. 2.i8, 20—2.59, (!.
2) Procl. in Alcib. pr. col. 422, 31—34 Cous^.
«) Ghaicid. in Tim. c. 321, p. 34.5, 13 -IG Wrobel.
*) S. S. 205. 207. 2(;3. 279 ff.
^) Plut. de comm. not. c. 34, p. 1076 G — D. Numenius (Thedinga p. 50 f.)
bei Chalcid. c. 296. p. 325, 8—10 Wrobel; c. 297, p. 325, 17—19; 326, 2—3.
") Antonin. VII 1. Seneca epist. 65, 2.
') Seneca de prov. 5, 9 (vgl. 6, 6); nat. quaest. I pro]. 16. Anders Ghrysipp
hei Plut. de Stoic. rep. c. 36. p. 1051 B und l)ei Gell. noct. Att. VII [VI] 1, 10;
s. d. folg. Anm.
1
Stoiker, b) Stoff u. Kraft. Stoischer Hylozoisnius. Die Materie u. d. Böse. 365
SO ist das ein vorübergehendes Platonisieren i), das gegenüber
der festen Schuldoctriii nicht ins Gewicht fällt ^).
So schliesst die Durchführung der stoischen Lehre von Stoff
und Kraft mit dem vollen Durchbruch des naiven pantheistischen
Hylozoisnius durch alle dem aristotelischen Dualisnms entlehnten
'} Heinze a. a. 0. S. 138.
*) Die Fragenach dem Ursprung des Übels und des Bösen liat für die Stoiker
überhaupt nicht die Wichtigkeit, wie für die mehr auf das Religiöse gerichteten
Platoniker und Neuplatoniker. Um ihren Pantheismus und sittlichen Deter-
minismus nicht Lügen strafen zu müssen, suchen sie durch eine oft seltsame
Teleologie die Wirklichkeit desselben möglichst wegzudisputieren (Zeller III* a,
171 ff.). Da dieses nun aber doch nicht vollständig gelingen konnte, sahen sie
sich genötigt, zu zeigen, wie die Existenz des Bösen mit der vernünftigen Ein-
richtung der Welt im Einklänge stehe (Flut, de comm. not. c. 13, p. 1065 B ;
de rep. Stoic. c. 35, p. 1050 F). Namentlich Ghrysipp hatte sich in seiner
Schrift über die Vorsehung mit diesem Problem beschäftigt (die einschlägigen
Fragmente bei A. Gercke, Ghrysippea. Jahrb. f. class. Phil. XIV. Suppl.-Bd.
1885. S. 712 f.). Er sucht die Notwendigkeit des Bösen daraus zu erweisen,
dass das Gute ohne diesen seinen Gegensatz nicht existieren könne. So sei
die Gerechtigkeit anschaulich nur denkbar als Negation der Ungerechtigkeit, die
Tapferkeit als Negation der Feigheit u. s. w. (Ghrysipp bei Gellius, noct. Att. VII
[VI] 1, 3-4; vgl. Plut. de rep. Stoic. c. 36, p. 1051 B; de comm. not. c. 13, p.
1065 B; c. 16, p. 1066 D. Schon Plutarch hat richtig hervorgehoben, dass hier
die Notwendigkeit des Denkens und die Notwendigkeit des Seins verwechselt
werde ; vgl. die von ihm de comm. not. c. 13, p. 1065 B gegebenen Beispiele).
Ferner erinnert Ghrysipp daran, dass, was vom Standpuncte des Einzelnen aus
übel und böse erscheint, doch für das Ganze seine Bedeutung habe (Plut. de
Stoic. rep. c. 44, p. 1054 F; c. 47, p. 10.i6 E); wie ein Komödientitel oft an
sich lächerlich erscheine, mit dem Ganzen zusammengehalten aber dessen
ästhetischen Eindruck steigere i^Plut. de comm. not. c. 14, p. 1065 D). Aber
woher kommt denn dieses Übel, welches in der Welt einen notwendigen Be-
standteil bildet? Denn dass die göttliche Vorsehung es positiv verursache,
durfte auch Ghrysipp nicht zugeben. Der von Eudemus dem Plato beigelegten
(Plut. de an. in Tim. proer. c. 7, p. 1015 D; s. oben 8. 205 Anm. 2) Ansicht,
dass die bestimmungslose Materie Grund der Unvollkommenheit sei, wider-
spricht Ghrysipp ; denn das Bestimmungslose könne nicht bestimmende Ur-
sache sein (de Stoic. rep. c. 34, p. 1076 G— D; mit Unrecht will Zeller IIU^ b,
170 aus de an. proer. in Tim. c. 6, 4 f. p. 1014 f. folgern, dass auch die Stoiker jene an-
geblich platonische Anschauung geteilt hätten). Er selbst fasst die Un Voll-
kommenheiten in den Wirkungen der Natur als etwas, was nicht in deren
Absicht liegt, sondern nur als Nebenerfolg (xarü na(iay.oXov&r,an-, Gell. noct. Att.
VII [VI] 1, 9 — Ghrys. fr. 28 Gercke; vgl. Plut. de an. proer. in Tim. c. 6, p.
1015 B) ihr "W erk begleitet. Daraus z. B., dass die Natur manche Knochen
des Kopfes, um sie für die hohen Functionen desselben geeignet zu machen,
3(')() Vierler Abschnitt. Epicureer und Stoiker.
Begriffe. Noch bestimm Icr zeigt sicli dieser Rückschlag in der
stoischen Kosmogonic und der Stellung, welche die Materie
in dieser einnimmt.
c. Die Materie im Weltprocess.
Da den Stoikern ein Werden aus nichts so unmöglic?i er-
scheint, wie ein Vergehen in nichts, so muss die Materie in
gleicher Weise unentstanden und unvergänglich sein, wie
die Kraft i). Denn der Ausweg, dass Gott die Materie bilde,
den Seneca einmal als eine mögliche Annahme streift 2), ist der
Stoa als solcher gänzlich fremd.
So wenig die Materie im Ganzen entsteht oder vergeht, so
wenig ein Teil derselben. Die Menge des Stoffes, d. h. der Sub-
stanz nach stoischer Kategorienlehre, bleibt daher stets dieselbe.
sehr fein und klein gestaltete, ergiebt sich als Nebenfolge die leichte Verletz-
barkeit derselben (Gell. a. a. 0. c. 1, 7—13). Für das moralisch Böse war
damit indes noch keine Erklärung gegeben. Hier gilt der Vorwurf des Chal-
cidius (in Tim. c. 297; vgl. c. 298), die Stoiker sähen in der , Verkehrtheit"
(perversitas) die Brutstätte alles Übels; woher aber diese Verkehrtheit käme,
zeigten sie nicht. — Wenn nun aber jener „Nebenerfolg" weder aus der Ab-
sicht der bewirkenden Ursache, noch aus der Natur des Stoffes (was nur
Seneca lehrte; s. o. S. 364 Anin. 7j sich ergiebt, so hat er überhaupt kei-
nen Grund. Nach der realistischen Anschauung des Altertums ausgedrückt,
hiess das: die Stoiker suchen den Grund des Bösen im Nichtseienden (Plut.
de an. proer. in Tim. c. 6, p. 1015 B; de comm. not. c. 84. p. 107G D). Machte
man Ernst aus dieser Anschauung, so führte dieselbe durch leicht zu verfol-
gende Zwischenglieder zu der Lehre, dass das Böse überhaupt etwas Negatives,
die Beraubung des Guten, sei. Diese Ansicht liegt zugrunde, wenn die Stoiker
nach Simplicius in categ. fol. 58A^B das Wesen des Bösen in eine Kraft-
losigkeit, ein Unvermögen {ailrvu/Lun) setzten. Freilich wird Hoyer (De An-
tiocho Ascalonita. Bonnae 1883. p. 55) Becht haben mit der Behauptung, dass
diese Bestimmung des Bösen auf die spätere Entwicklung der Stoa von Anti-
pater ab zu beschränken sei, wo die Schule sich mehr dem Piatonismus näherte.
1) Ghalcid. in Tim. c. 289. 292. 293. Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 457) bei
Stob. ecl. I, p. 322 (von Zeno); fr. 37 (Dox. p. 4G9) bei Euseb. praep. ev.
XV 19, 2—3. p. 821 A— B. Antonin. V 13. Galen, qu. qualit. s. incorp. c. 6.
XIX 478 med. Kühn.
-) Seneca. nat. quaest. 1 prol. g. E.: quam utile existimas ista cognoscere
. . . quantum deus possit, materiam ipse sibi formet, an data utatur.
Vgl. Baur, Drei Abhandlungen zur Gesch. d. alten Philos., hrsg. v. Zeller Leip-
zig 1875. S. 457.
Stoiker, c) Die Materie im Weltprocess. 367
Was ZU- oder abnimmt, sind nur die Individuen; die Gesamt-
substanz dagegen bleibt in allem Wechsel constant i).
Bleibt aber auch die Materie ihrer Masse nach unveränder-
lich, so sind ihre Zustände doch in fortwährendem Wechsel be-
griffen 2). Das gilt für das Einzelne innerhalb unserei- Weltzeit, wie
für den Wechsel der Weltperioden. Den Ausgang der jedesma-
ligen Weltentwicklmig bildet das Urfeuer oder Urpneuma, wel-
ches die beiden Principien, die gestaltende Kraft oder die Gott-
heit und den bildsamen Stoff oder die Materie, als Einheit in sich
einschliesst ^). In diesem Zustande ist der gesamte Weltstoff
Feuer und insofern in die Gottheit zurückgezogen. Das Urpneu-
ma bildet, wie die stoische Kosmogonie, teilweise wenigstens in
Viberraschendem Anklang an moderne Theorien, annimmt, eine
ungeheure feurige Dunstmasse, welche an Ausdehnung die des
jetzigen Weltgebäudes um viele tausend mal übertrifft, indem sie
sich weithin auch durch den Raum erstreckt, der jetzt als Leeres
unsere Welt umgiebt*). Aus dem Urfeuer bildet sich die Welt,
indem dasselbe, wie die Stoiker ganz in der Weise der alten
Physiologen erzählen, zuerst in Luft^ dann in Wasser sich wandelt.
Aus dem Wasser, welches durch die darin verbliebenen, dem
Urfeuer entstammenden Keimkräfte befruchtet war, haben sich dann
die vier Elemente unserer Welt gebildet, indem das Schwerste
als Erde niedersank, während von dem Übrigbleibenden ein Teil
als Wasser verblieb, ein anderer zu Luft verdunstete^ und diese
wieder durch teilweise Verdünnung zu Feuer sich entzündete •"').
Durch die Verbindungen der Elemente unter einander und ihre
•) Diog. VII 150. Arius Didym. fr. 20 (Dox. p. 457 f.) bei Stob. ecl. I, p.
322—324 (von Zeno und Chrysippj, fr. 27 (Dox. p. 462) bei Stob. ecl. I, p. 434— 438
(vonPosidon und Mne.sarch). Piut.de comm. not. c. 44, p. 1083G (wozu vgl. Zeller
IIP a, 95 Anm.). Ghalcid. in Tim. c. 29ä. Vgl. aucb Aetius II 4, 14 (Dox. p.
332) bei Stob. ecl. I, p. 44:2; Alex. Aphrod. nat. quaest. I 5.
-) S. S. 339 f.
^) Aristodes bei Euseb. praep. ev. XV 14, 1. p. 816 D. Vgl. Epiphan. adv.
haer. I 5 (s. S. 364 Anm. 4).
■•j Gleomedes meteor. 13, p. 4 ed, Bake. Plut. de comm. not. c. 35, p.
1077 B. Vgl. Aet. U 4, 14 (Dox. p. 332 b 14) bei Stob. ecl. I, p. 442. Ebd.
II 9, 2-3 (Dox. p. 338) bei Plut. pl. II 9; Stob. ecl. J,p. 390; Euseb. pr. ev. XV, 40,
2-3. p. 844 D. Arius Didym. fr. 37 (Dox. p. 469) bei Eus. pr. ev. XV 19, 1,
p. 820 B. Ps.-Galen. bist. pbil. c. 17. XIX 242 Kühn (Dox. p. 6(l9).
^; Zeller IIF a, 149 ff.
iiG8 Viertel- Al)scliiiitt. Epicureer und Stoiker.
Waiidlimf,'on sind die übrigen Stoffe der Dinge entstanden i). Nur
ein liest des Ürieuers gelit nicht in diesen Wandlungsprocess
ein. Er bleibt als Äther am Umfang der Welt und bildet das
i]y{-liorix6r dieser ^).
Gehen wir nälio- auf die Art des Hervorgangs des Einzelnen
aus dem Urfeuer ein, so zeigt sich hier ein unverkennbares
Schwanken zwischen der alten physiologischen und der aristote-
lischen Anschauiuig. Der alten Naturphilosophie entspricht es,
wenn das Feuer als das Element x«i' e'^oxr^v bezeichnet wird,
aus dem alles geworden sei 2), dem' aristotelischen Dualismus
von Form und Materie, wenn es heisst, durch Wandlung der
Substanz (ovoi'a), d. h. der qualitätslosen Materie^), bildeten
sich aus dem Feuer die vier Elemente ^). Ebenso gehört es wie-
') Stein I 30 vgl. aucli S. 32) nimmt an, das Elementarfeuer
sei nacti stoisclier Lelire die erste Wandlungsform des künstlerischen Feuers.
Es gehe das ("Anrn. 34) ganz unzweideutig aus einer bisher nicht beachteten
Stelle hervor, Origenes philosophum. p. 311 ed. Miller: dnoiov /xev oi-v xui iv6g
aiöauTog ti]v r/nv ö).'nv arvfom'jauvio ytvfaiv ol Zrcuy.ol. apy-ij yaQ tmv okuiv xut'
uvtovg iOTiv (Stein mit Miller aiiors tariv) r/ anniog vkri y.al äi oXoyp rQenei ' /x(-
Taßa?J.or'a7]g d'i avrrjg yivfrai tttq m]Q rätDQ yij. Auf die Vertrautheit des Orige-
nes aber mit der stoischen Pliilosophie und Terminologie mache auch Eucken,
Gesch. d phil. Terminol. S 45, aufmerksam. — Diese Anmerkung Stein's ent-
hält mehreie Ungenauigkeiten. Denn 1) hat die fragliche Schrift, von der
übrigens nur das erste Buch den Namen „Philosophumena" führte (Diels,
Doxogr. p. 144, 1), jedenfalls nicht Origenes, sondern wahrscheinlich Hippoly-
tus zum Verfasser, weshalb "J ilie Berufung auf die Vertrautheit des Origenes
mit der stoischen Philosophie und Terminologie ohne Belang ist. Ferner ist
3) die betreffende Stelle, wie auch Miller in der Anmerkung bemerkt, nichts
als ein Excerpt aus Sextus Emp. adv. math. X 312 (nach dem i^ dnoior und
TQSTTTri zu verbessern), in dieser Gestalt aber 4) nicht „bisher nicht beachtet",
sondern z. B. von Zeller IIP a, 130,2 gehörigen Orts vermerkt. Endlich
folgt 5) aus derselben überhaupt nicht, was Stein aus ihr ableitet. Denn wie
wir von vorn herein als möglich und gegenüber den ausdrücklichen Angaben
von Arius Didym. fr. 38 als wirklich annehmen müssen, soll bei Hippolyt die
Beihenfolge der Elemente nicht eine genetische sein, sondern die Elemente
sind ihrer innern Verwnndtschaft nach logisch geordnet.
-) Vgl. Zeller IW a, 151, 1. Stein I 33 f.
') Arius Didym. fr. 21 (Dox. p. 458, 15-17) bei Stob. ecl. I, p. 312 (nach
Ghrysipp). Die Alhetese auch dieser Stelle bei Hirzel II, 740 f. wird mit Recht
von Wachsmuth in seiner Ausgabe verworfen.
*) die Sext. Emp. adv. math. X 312 (vor dem S. 3G7 Anm. 5 Gitiertenj
ausdrücklich genannt wird.
'') Diogen. VII 136. 142. Zeno bei Arius Didym. fr. 38; vgl. Aet. I 7, i24
Stoiker, c) Die Materie im \\'eltprocess. ä69
derum ganz in den Kreis der alten naturphilosophischen Anschau-
ungen, wenn die Bildung der Erde als Verdichtungs-, die der
Luft und des elementarischen Feuers als Verdünnungsprocess ge-
fasst wird ^). Zugleich fügt sich beides der stoischen Tonuslehre
aufs beste ein. Von den zwei Bewegungen des Pneuma, der
contractiven und expansiven 2), wiegt im Urzustände die letztere
durchaus über und giebt dem Urpneuma jene ungeheure Ausdeh-
nung ^). Ein Nachlassen derselben muss eine w^enigstens teilweise
Gontraction und infolge dessen eine teilweise Umbildung in die
dichteren und schwereren Elemente herbeiführen *). Wenn so
die Bildung der Elemente in der Weise des Anaximenes und an-
derer Physiologen durch Verdichtung und Verdünnung eines qua-
litativ bestimmten Urstofts erklärt wird, so ist die dem Aristote-
les entnommene qnalitätslose Materie eigentlich überflüssig. Auf
diesem Standpuncte gewannt der Gegensatz von Form und Mate-
rie reale Bedeutung erst in in dem Gegenspiel der schon gebil-
deten Elemente, von denen Feuer und Luft als die activen, ge-
staltenden erscheinen, Wasser und Erde als die passiven, die da-
her jenen als die Materie gegenüberstehen •^).
Aus dem Zustande der Gontraction und der Entfaltung kehrt
der Stoff dereinst beim Weltenbrand [sxnvQwaig) in den ursprüng-
lichen Feuerzustand zurück ^). Diese Katastrophe tritt ein, wenn
der Stoff' für Neubildungen versagt und auch die Kraft dazu nicht
reicht '). So verlangt es wenigstens das stoische Schuldogma,
mochte auch immerhin Panaetius mit einigen Andern ^) dem ent-
(Dox. p. 303) bei Stob. ecl. I, p. 60, auch wohl Epiphan. adv. haer. prooem.
(T. I, p. 275, 19 Dindorf; Dox. p. 587, 16).
1) Arius Didym. fr. 38. Gornut. theol. c. 17, p. 28, 13—15 Lang.
^) S. S. 351.
») S. S. 367.
*) Gensorin. fr. c. 1. p. l'^ Jahn (citiert S. 355. Anm. 4). Zum Ganzen
vgl. Stein I 50 f.
°) S. S. 349 f.
^) Über die ixnvQwais s. Zeller IIP a, 1.52 ff.
'•) Ps. -Galen, bist. phil. c. 17, XIX 242 Kühn (Dox. p. 609, 15-18).
") Boethus aus Sidon und Diogenes von Babylon in seinem Alter (nicht
in seiner Jugend, wie Stein I 79 will); vgl. Ps.-Philo de incorrupt. mundi
p. 248 Bernays. Auch Zeno von Tarsus war zweifelhaft: Arius Didym. fr. 36
(Dox. p. 469j bei Euseb. praep. ev. XV 18, 3. p. 820 B.
Biieumkei': Da« Problem der Materie etc. 24
370 Vierter Abschnitt. Epicureer und Stoiker.
gegengesetzten platonischen ') Dogma von der Ewigkeit der Welt
zustimmen -). Indem die Weltverbrennung wieder zu einer un-
geheuren explosiven Ausdehnung führt, wird die Uhr aufs neue
aufgezogen. Darum versagt in der ryihniischen Abwechslung
von (lontraction und Expansion des Alls ^) niemals die Spannung,
durch w^elche die Entfaltung der VVellsubstanz oder der Materie
bewerkstelligt wird *).
') Über die Abliängigkeit des Panaetius von Plato vgl Hirzel II 2.")7 f.
33:3 ff. — Wenn aber Proclus in Tim. I, p. b(> B schreibt: TlavaiTiot; /xh x<d
alloi xivii TiZv nXarmvixinv, SO rechnet er den Panaetius nicht zu den Plat ni-
kern, wie Stein II 218, Anm. 212 anzunehmen scheint (.,das aXloi nvf; t^iv
nXarwvixinv wirft ein grelles Schlaglicht auf das Verhältnis des Panaetius zu
Plato"). Vielmehr ist hier nach Krüger, Gr. Gr. i;. 50, 4, 11 zu übersetzen:
Panaetius und ausserdem einige der Platoniker.
*) Van Lynden, Disp. hist.-crit. de l'anuetio lihodio, Lugd. Bat. 1802, p.
68; Zeller IIP a, 500 ff.; Stein I 78 ff. (der aber den S. 80 Anm. 121 als Zeu-
gen angeführten Epiphanius nicht zum Epiphanes hätte machen sollen).
') Vgl. Aet. II 4, 14 (Dox. p. 332 b 14) bei Stob. ed. I, p. 442.
•') Die Belege S. 350, Anm. 2.
rüiifter Abschnitt.
Der leuplatoDisinus und dessen Vorläufer.
1. Die Vorläufer des Neuplatouismns.
So kräftig die mittlere Academie mit ihrer kühlen, halb-
skeptischen Kritik der dogmatischen Systeme auf der einen, ihrer
Theorie der Wahrscheinlichkeit auf der andern Seite in die Ent-
wicklung der Erkenntniskritik eingegriffen hat, so hat sie für
die positive Weiterführung des Problems der Materie doch so
wenig geleistet, wie die volle Skepsis der alten in:id neuen Pyrrho-
neer und die Erfahrungslehre der Empiriker. Aber auch selbst
die negative Kritik dieser Schulen hat beim Begriffe der Materie
noch nicht eingesetzt ';. Für unsere Darstellung kommen diesel-
ben daher nicht inbetracht.
Innerhalb der platonischen Schule vollendet sich die durch
Philo von Larissa vorbereitete Abkehr vom Skepticismus durch
Antiochus von Ascalon. Gegenüber der skeptischen Taktik,
welche das eine System durch das andere bestritt und so diesel-
ben sich gegenseitig aufheben liess, sucht er die positive Wahr-
heit in der Übereinstimumng der Systeme ^). Dieser zerfahrene
Eklekticismus, bei dem factisch der in den zeitgenössischen Schu-
len noch lebende Stoicismus obenan bleibt ^), giebt auch seiner
Lehre von der Materie den Character. Nach der Darstellung des
*) In den beiden Werken des Sext us Empirien s z. B. findet sich kein
Ansatz zu einer eigentlich erkenntnistheoretischen Kritik dieses Begriffes im
allgemeinen, die über einzelne Bemerkungen gegen specielle Behauptungen der
verschiedenen dogmatischen Schulen hinausginge.
ä) Zeiler IIP a, 602 1 und 2.
•\) Gic. Acad. prior. II 43, 132.
24 *
372 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Varro bei Cicero ') unterscheidet Antiochus ganz in stoischer
Weise die thätige und die leidende Natur oder Kraft und Materie.
Beide werden, gemäss dem stoischen Materiahsmus, aber sehr
unplatonisch, als untrennbar betrachtet; denn wie die Materie
ohne Kraft keinen Zusammenhalt^ so habe die Kraft ohne Materie
keinen Ort, würde also nirgendwo, d. h. nicht wirklich sein.
Hinsichtlich der vier Elemente, die in bewegende und leidende
unterschieden werden, schliesst sich Antiochus ganz an die zeit-
genössische stoische Lehre — über deren Beziehung zu Aristote-
les oben 2) gehandelt wurde — an. Ebenso hinsichtlich der nä-
hern Bestimmung der Materie, die als das allem Besondern zu-
grundeliegende, an sich form- und qualitätslose, unvergängliche,
ins Unendliche teilbare Substrat gefasst wird, aus dem durch die
hin und her sich bewegende Kraft (vis) oder Qualität (qualitas)
die qualitativ bestimmten Körper (qualia) gebildet werden. In
der so entstandenen Welt, wird mit den Stoikern gelehrt, ist
aller Stoff beschlossen und zu ununterbrochenem Zusammenhan-
ge verbunden (Continuität der Materie); sie ist darum in Wahr-
heit Eine Welt.
Das Wenige, was in diesen Ausführungen des Antiochus mit
Plato sich berührt, dürfte der Hauptsache nach von den Stoikern
übernommen sein, die jene Lohrbestandteile ihrerseits durch die
Vermittelung des Aristoteles empfangen hatten. Die specifisch
platonischen Gedanken traten erst dann aufs neue mehr in den
Vordergrund, als ein eifrigeres Studium der platonischen Werke
selbst, welches in der Abfassung von zahlreichen Erläuterungs-
schriften zu platonisclien Dialogen, speciell auch zum Timaeus,
seinen Ausdruck fand, die ursprünglichen platonischen Anschau-
ungen wieder in ihrer Reinheit kennen lehrte.
a. Die Platouiker.
Im allgemeinen haben auch diejenigen Vorläufer des Neupla-
tonismus, welche man im engern Sinne die „Platoniker" nennt 2), ein
Eudorus, Albinus, Atticus, Taurus , Plutarch, Maximus,
Apul ejus und Andere, es über einen synkretistischen Eklekticismus
1) Acad. post. I (3, 24—7, 28.
■'') S. 349 f.
■') Über ihre Lehre von der Materie vgl. auch Möller, Gesch. d. Kosmologie
in d. griech. Kirche bis auf Origenes. Halle 18G0. S. 36 if.
I
Antiochus von Ascalon. — Die Platoniker. Charakteristik. 373
nicht hinausgebracht. Auch bei ihnen verbinden sich mit den
platonischen peripatetische und stoische Anschauungen, zu denen
sich mehrfach auch neupythagoreische Elemente gesellen. Selbst
denjenigen unter ihnen, welche, wie Atticus, gegen die Vermen-
gung peripatetischer und platonischer Lehren eifern, ist der Ver-
such, sich vom Eklekticismus wirklich frei zu machen, in Wirk-
lichkeit doch nicht völlig gelungen ').
Für das Problem der Materie indessen, welches uns hier be-
schäftigt, tritt jener eklektische Standpunct nicht so stark hervor,
wie anderswo. Hier wird im ganzen die Lehre des platonischen
Timaeus wiederholt. Betrachten wir zunächst die wirklichen
oder scheinbaren Abweichungen.
Wenn von jenen Piatonikern die Ausdrücke „Materie" (t'Ary)
und Form {ndog) ganz in der Weise des Aristoteles gebraucht
werden 2), so liegt darin noch nichts der Sache nach Unplatoni-
sches^). Wohl aber ist dieses der Fall, wenn sie, wie schon bei
Besprechung der „primären" Materie des Timaeus hervorge-
hoben *), das Verhältnis der Materie zum Raum im platonischen
1) Zeller III » a, 809 f.
'-) Z. B. Albinus, (li^aay.ahxo? c. 10, p. 166, 3 Hermann (Vgl. Freuden-
thal, Hellenistische Studien. Heft 3: Der Platoniker Albinos u. d. falsche Al-
kinoos. Berlin 1871t. S. 279). Plutarch. de def. orac. c. 35, p. 429 A; de an.
proer. in Tim. c. 3, p. 1013 G, u. ö.
■') Der Gebrauch des Wortes f/Vlo? im Gegensatz zu vh^ führt, wie zuge-
!>tanden werden muss, bei Albinus allerdings zu einer Modiflcation auch des
Gedankens. Dieselbe betrifft indes nicht so sehr die Lehre von der Materie,
als die Ideenlehre. Denn während Plato Mia und ti(io? synonym gebraucht,
will Albinus unter ersterer die — als Gedanken der Gottheit gefasste (a. a. 0.
c. 9, p. 163, 29 — 31) - Idee, unter n'i)'og dagegen die von der Materie untrenn-
bare, im Artsbegriff erfasste Form vei stehen (,a. a. 0. c. 3, p. 155, 34: ziZv
voijroSv TU fifv TiQuna vndQyti, o'is at Ifi's'at, ra (fi (feviiQa, oog rä f i'(fi] td ini
Tji vXj] d)[o')piaTa ovia rijs ('Aj;?). Ähnlich auch Philo (s. Heinze, Lehre vom Logos,
222, 3), Seneca, ep. 18, 18 ff., der angebliche Locrer Timaeus (s. S.390 Anm. 5)
und manche Neuere. Vgl. Zeller II ^ 552, 2, der das Unplatonische dieser Un-
terscheidung nachweist.
■*) S. S. 152. Auch bei Albinus a. a. 0. c. 10 ff. findet sich keine
Spur von einer Einsicht in den tiefern Sinn der platonischen Lehre. Es ist
das um so auffallender, als er c. 13, p. 1()8, 10 ff^ die geometrische Construction
der Elementarkörperchen aus Flächen (s. o. S. 167 — 174) in ganz dogmatischem
Tone wiedergiebt. Die Abweichung von Plato ist auch Simplicius nicht ent-
gangen, vgl. phys. IV, p. 601, 17—23 (über den Begriff der dort genannten
„Platoniker" bei Simplicius s. S. 37.^) Anm. 1).
374 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
System verkennen und in derselben vielmehr den noch formlosen
raumfüllenden Stoff erblicken. Sie tragen damit stoische An-
schauungen in die platonische Lehre hinein. Dem entspricht es
auch, dass Plutarch gelegentlich nach stoischem Sprachge-
brauch Materie (vhj) und Sub.stanz (oiiüi'a) gleichbedeutend setzt ').
Hier bleiben Albinus und Apulejus dem platonischen Gedanken
treuer, wenn sie, im Anschluss an die aristotelische Terminologie 2),
die Materie wieder körperlich, noch unkörperlich, sondern der
Möglichkeit nach Körper nennen wollen ^). Dem Stoicismus
macht Plutarch übrigens noch ein anderes Zugeständnis. Ob-
schon er im ganzen an der platonischen Ideenlehre festhält und
ein wahres Sein nur dem Ewigen und Unveränderlichen *), dem
Veränderlichen und stets Werdenden dagegen einen blossen
Schein des Seins zuschreibt ^), so erklärt er doch andererseits
dieses Werden in der Materie, das Bild und die Nachahmung des
Seins ß), analog den stoischen ^öyoi oneQf.iarixoi ') durch ein Hin-
eintreten befruchtender Ausflüsse aus der Gottheit in die Materie ^).
Gleichwohl hindern diese Zugeständnisse den Plutarch nicht, dass
er an anderer Stelle wieder die abstracteste Fassung, welche der
Begriff der ^(aterie gefunden, zu der seinen macht. In Überein-
stimmung mit der spätem Form der platonischen Lehre und im
Anschluss an die Neupythagoreer, denen er ja auch sonst in
manchem folgt, bezeichnet er die Materie als die unbestimmte
Zweiheit, welche als das Princip der Unbestimmtheit, Formlo-
sigkeit, Teilbarkeit, der Unordnung u. s. w, dem Einen als dem
Princip der Form und Ordnung entgegengesetzt ist ").
») Plut. de an. proer. in Tim. c. 5, p. 1014 B. D (vgl. c. 3, p. 1013 C); de
def. orac. c. 25, p. 424 A; s. o. S. 152 Anm.S. Vgl. auch Möller a. a.O. S. 37— 40.
Zu bemerken ist indes, dass die Materie, von der Plutarch hier spricht, schon
als beseelt durch die Weltseele gedacht ist; s. S. 145 f. und u. S. 378 f.
2) S. S 239 Anm. 6.
3j Albin. a. ?. 0. c. 8, p. 1G3, 7. Apul. de dogm. Plat. I 5, p. 67, 10 Gold-
bacher: ideo non putat corpus, . . . sed vi et ratione . . corpoream.
*) de EI Delphico c. 19, p. 392 E.
s) ebd. c. 18, p. 392 A.
6) de Is. c. 53, p. 372 F.
■>) Zeller IIF b, 172.
*) de Is. c. 53, p. 372 F (damit vgl. die Erklärung, vv^elche Ghrysipp von
dem Herabilde zu Samos gab: Orig. c. Gels. IV 48 ; s. o. S. 356 Anm. 5);
c. 54, p. 373 A.
»; Plut. de def. orac. c. 35, p. 428 F tf.
Die Platoniker. Begriff der Materie. 375
Wenn sonach die Platoniker mit den Stoikern den Stoff und
den — als obj^ctiv real gedachten — Raum unterscheiden, so
folgen sie diesen auch in der Ansicht, dass der Raum, d. h. der
Abstand {didoii-f.ia) innerhalb des Weltganzen, niemals ohne Kör-
per sei. Innerhalb der Welt, behaupten sie mit den Stoikern
gegen die Epicureer, giebt es kein Leeres i). In diesem Satze
treffen sie zugleich wieder mit der Lehre des Timaeus zusammen 2),
welche sie, wie nunmehr zu zeigen, auch im übrigen aufnehmen
und dem Neuplatonismus zuführen.
Als echte Schüler Plato's und Vorläufer der Neuplatoniker
zeigen sich diese Philosophen in dem Kampfe gegen alle Ansich-
ten, welche der Materie im Gebiete des Seienden mehr als den
untersten Platz einräumen. Dem Materialismus der Stoiker,
den noch Antiochus von Ascalon unbedenklich übernommen
hatte ^), treten sie mit aller Entschiedenheit entgegen. Weder ist
Gott körperhch zu denken, führt Albinus aus, da er dann ja
aus Materie und Form bestehen müsste, also etwas Abgeleitetes
und nicht mehr Princip wäre ^), noch die Qualitäten (TroiÖTrjTsg),
da dann ausser andern Widersprüchen ein Körper in einem an-
dern als seinem Substrate wäre •'•). Vielmehr ist, wie der Stoff
als qualitätslos, so die Qualität als stofflos zu denken ^).
Aufgrund des Timaeus '') entwickeln die Platoniker die gleich-
falls von den Neuplatonikern aufgenommene Lehre, dass die Ma-
terie bei allem Wechsel der von ihr aufgenommenen Formen
doch unwandelbar {argsmog) bleibe. Diese Aufnahme sich
ablösender Formen bringe nicht auch für die Materie eine Ver-
änderung {ccXXoiuiOig) herbei, wie eine solche die Peripatetiker ^)
annahmen. Denn wie solle das Qualitätsiose seine Qualität än-
») Simpl. in phys. IV, p. 571, 29—31; vgl. p. 601, 22-23. Kann hier der
Ausdruck n?Mtwvty-oi auch weiter gefasst sein (lambl. I>ei Stob. ecl. I, p. 898
rechnet z. B. den Porphyr dazu;, so zeigt doch Albinus a. a. 0. c. 13, p. 169,
10 — 11, dass damit auch die Platoniker in unserni Sinne mitgemeint sind.
2) S. S. 179 f,
3) S. S. 372.
*) Albinus a. a. 0. c. 10 Ende.
5) A. a. 0. c. 11.
6) A. a. 0. c. 11, p. 166, 21—23. S. oben S. 353 Anm. 3.
') Plat. Tim. 50 B. Vgl. oben S. 130 Anm. 3.
*) Vgl. das S. 298 unten über Alexander von Aphrodisias Angeführte.
876 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonisnius und dessen Vorläufer.
dem 1)? Darum wollten sie auch nicht, wie die Peripatetiker,
sagen, der zusammengesetzte Körper bestehe aus Materie und
Form, da ja nicht beides mit einander sich verändere. Er be-
stehe vielmehr aus der Form in der Materie ^).
Nur zu Wiederholungen würde es führen, wenn alles im
einzelnen aufgezählt werden sollte, was die Platoniker ohne wei-
tere Veränderung aus dem Timaeus übernonunen haben, wie den
Vergleich der qualitätslosen Materie mit dem geruchlosen Öl, das
zur Salbenbereitung dient, oder mit den Stoffen des Bildners,
Wachs und Thon ^) u. dgl. Selb-st die platonische Gonstruction
der Elementarkörperchen aus dreieckigen Flächen wird ganz dog-
matisch wiederholt ^).
Kommen in diesen Dingen, soweit wir sehen, alle Platoniker
untereinander überein, so bestehen, wie schon bei Besprechung
der platonischen Lehre berührt wurde •^), verschiedene Meinungen
hinsichtlich der Frage, ob die Darstellung des Timaeus von der
zeitlichen Bildung der Welt aus einer voraufgehenden chao-
tischen Masse im eigentlichen Sinne, wie die Meisten annahmen,
oder ob sie als Mythus zu fassen sei, was Eudorus als wahr-
scheinlich betrachtete ^). Dieselbe, jedenfalls aus einer Hinnei-
^) Simpl. in phys. II, p. 320, 20—30, wo auch die betr. Tiniaeusstelle
citiert ist.
^) Simpl. 1. c Z. 30—32. Dazu stimmt freilich nicht Albinus a. a. 0.
c. 10, p. 166, 3, wo es ganz aristotelisch heisst: nav aöi/ja acv()'iiaafiä xi ilvui ix
ze vXijs xai zov avv avrfj ei'dovg.
3) Albinus a. a. 0. c. 8, p. 162, 37—163, 2. Plut. consol. ad Apoll, c. 10,
p. 106 E (vgl. oben S. 330 Anm. 4).
*) Albinus a. a. 0. c. 13 (s. oben S. 373 Anm. 4). Plutarch. de an.
proer. in Tim. c. 22, p. 1023 C; de def. orac. c. 22, p 422 B; c. 31—34, p. 426
F ff.; c. 37, p. 430 A— B. Apuleius de dogm. Plat. 1 7. — Plutarch fügt
übrigens im Gegensatz zu Atticus (bei Euseb. praep. ev. XV 7, p 469 B ff.) den vier
von Plato angenommenen Elementen mit Aristoteles als fünftes den Äther hinzu
und baut auf diese Fünfzahl der Elemente eine wunderliche Theorie von fünf
Welten, deren jede je einem Elemente entspreche; vgl. Zeller III'* b, 180 f.;
Volkmann, Leben, Schriften u. Philos. des Plutarch v. Ghaeronea. Berhn 1869.
Bd. II, S. 274 f^-. Nach de def. orac. c. 34, p. 428 B-E entsprechen die fünf
geometrischen Grundformen der sinnfälligen Substanz den fünf von Plato im
Sophistes aufgestellten Principien der intelligibeln Substanz, der Gubus der
Piuhe, die Pyramide der Bewegung, das Dodecaeder dem Seienden, das Icosaeder
dem Andern und das Octaeder dem Selben.
") S. S. 143.
^) Vgl. meinen Aufsatz über die Ewigkeit der Welt bei Plato, Philos. Monatsh.
I
Die Platoniker. Bildung der Materie. 377
gung zum Neupythagoreismus hervorgehende Sonderstellung des
Eudorus tritt auch hinsichtlich der Frage nach der Herkunft der
Materie hervor. Die überwiegende Mehrzahl der Platoniker teilt
die dualistische Voraussetzung des Timaeus, dass die Materie un-
geworden sei '). Nur Eudorus scheint, hiervon abweichend,
nach der Weise eines Teils der Neupythagoreer in dem Ur-Einen
oder der Gottheit den gemeinsamen Grund der Ideen und der
Materie gesehen zu haben 2).
Auch darüber herrscht keine Einigkeit, welche Stellung der
Materie bei der Frage nach dein Ursprung des Üblen in der
Welt zuzuweisen sei. Den Grund des Bösen sieht z. B. Harpo-
cratio im Körper ^). Maximus der Tyrier leitet das physische
Übel ab aus der Materie, aus der bei der Einwirkung des Welt-
bildners auf sie mit Notwendigkeit Nebenwirkungen sich ergeben,
die, wenn man sich nicht auf den Standpunct der Gesamtheit
erhebt, als Übel erscheinen ^). Das moralische Übel dagegen (die
lnox^r]Qia) soll sich von einem Überwiegen der Begierlichkeit oder
des Zornes, also der sinnlichen, vom Körper abhängigen Natur,
über die Vernunft und den freien Willen herschreiben ^). In der
Materie sieht die Wurzel aller Vergänglichkeit und alles Übels
auch der gewiss nicht den Epicureern, sondern den Piatonikern
beizuzählende Ghristenfeind Gelsus ^), gegen den Origenes eine
Verteidigung des Christentums geschrieben hat.
Alles dieses bevvegt sich im echt platonischen Gedankenkreis ').
Eine durchaus verschiedene Ansicht dagegen stellt Plutarch
XXIII, 1887, S. 518. Den dort gegebenen Nachweisungen ist hinzuzufügen :
Schol. zu Procl. in Plat. rempubl , ed. Schoell (in: Anecdota varia Graeca et
Latina, ediderunt Rud. Schoell et Guil. Studeniund, Vol. II. Berol. 1886), p. 18,
26 (über Atticus und Harpocratio), wodurch auch Zeller IIP b, 223 f. er-
gänzt wird.
') So Alticus (Procl. in Tim. p. 87 A), Plutarch ,de an. proer. in Tim. c.
5, p. 1014 B) u. a.
■} S. Zeller IIP a, 612, 3. Vgl. unten S. 395.
■') lamblich. bei Stob. ecl. I, p. 896. 912.
■*) Maxim, dissert. XLI, 4. Dazu vgl, was S. 365 Anm. über C.hrysipp aus-
geführt wurde.
'") A. a. 0. §. 5. Das dort gebrauchte Bild des Wagenlenkers nach Plat.
Phaedr. 246 A ff.
^) Orig. c. Gels. IV 65. Über Gelsus' Lehre von der Materie vgl. Rede-
pennig, Origenes. Bd. II. Bonn 1846. S. 135.
') S. S. 205—207.
378 Fünfter Al)srhnitt. Der Neu])lalonismus und dessen Vorläufer.
auf ^). Einmal zwar macht er die Materie, welche in der Priva-
tion bestehe, dafür verantwortlich, dass sie oft das, was von einer
bessern Ursache vollbracht werden solle, wieder verjage und auf-
löse 2). Aber w'o er den Gegenstand tiefer untersucht, stinmit er
den Stoikern •') darin bei, dass die eigenschaftslose Materie, die
jeder Kraft entbehrt, eben deshalb auch nicht Ursache des Üblen
sein könne ^). Noch weniger könne der Weltbildner Ursache
des Üblen sein; denn er ist selbst gut und sucht alles nach Mög-
lichkeit sich zu veriihnlichen ^). Auch, kann man das Übel nicht
mit den Stoikern ^) aus dem Nichtseienden ableiten. Wie sollte
es denkbar sein, dass so viel Böses und Übles, so viele Unvoll-
kommenheiten in der Körperwelt in keiner realen Ursache be-
gründet seien, sondern nur so nebenbei erfolgen '')? Deshalb ist
neben Gott und der Materie ein drittes Princip als Ursache des
Üblen anzunehmen, wie dieses auch Plato nicht übersehen habe ^),
nämlich die bewegende Kraft, welche in der noch ungeordneten
Materie herrscht und sie regellos hin- und herbewegt. Diese ist
es, welche der Timaeus als „Notwendigkeit" einführt, auf die der
Politicus hinweist, wenn er von einem zum Unrechten verleitenden
Verhängnis und einer eingeborenen Begierde der Welt redet, und
die der gereifte Plato in den Gesetzen klar und deutlich als Welt-
seele bezeichnet ^). Schon früher ist nachgewiesen, wie wenig
') Gerade diese ethisch-religiöse Seite des Prohlems der Materie hat für
Plutarch, seiner ganzen Richtung gemäss idie u. a. von Hausrath, Neutesta-
mentl. Zeitgesch. 2. Aufl. Heidelberg 1877. IV, 309 ff. in lebendigen Zügen ge-
zeichnet ist), ein besonderes Interesse. Wie gleichgiltig er sonst jener Theorie
gegenübersteht, verrät er einmal unwillkürlich. Diejenigen, bemerkt er de def.
orac.c.lO, p. 414 F— 415 A, die entdeckt haben, dass ein Geschlecht von Dämonen
zwischen Menschen und Göttern in der Mitte steht und beide mit einander
verbindet und im Zusammenhange erhält (mag nun diese Lehre aus der Schule
Zoroaster's, von Orpheus, aus Aegypten oder Phrygien stammen) haben mehr
und grössere Schwierigkeiten gelöst, als Plato durch seine Theorie von
der Materie.
2) Plut. de def. orac. c. 9, p. 414 D.
3) de comm. not. c. 34, p. 1076 G— D; vgl. S. 365 Anm.
*) de an. proer. in Tim. c. 6—7, p. 1015 A-B. D.
*) ebd. c. 6, p. 1015 B.
«) S. S. 364.
') S. oben S. 365 Anm.
*) de an. proer. in Tim. c. 6, p. 1015 B.
") S. oben S. 145. Volkmann a. a. 0. Bd. II, S. 65 f.
Die Platonlker. Die Materie und das Üble. 379
dem Sinne Plato's gemäss die Auffassung ist, welche Plutarch
— mit dem hinsichtlich der Annahme einer bösen Weltseele
Atticus 1) und Numenius 2) übereinstimmen — hier von dem Ur-
sprung der Unordnung in der Körper- und Sinnenwelt entwickelt ^).
Noch weniger als diese, immerhin in philosophischen Begriffen
sich bewegende Erklärung entsprechen dem Geiste nüchterner
Forschung die orientalisierenden Speculaiionen Plutarch's über
den Ursprung des Bösen. Jenen Streit eines guten und eines
bösen Principes in dieser sublunarischen Welt will Plutarch, wie
in allen Systemen der Philosophen, so auch in allen Beligionen aus-
gedrückt finden. Ormuzd und Ahriman bei den Persern, der
olympische Zeus und Hades bei den Griechen, Osiris und Typho
bei den Ägyptern besagen nichts anders, als was Heraclit andeu-
tet, wenn er vom Krieg als dem Vater aller Dinge redet, was
Empedocles als Liebe und Hass, die Pythagoreer als Gutes und
Böses, als das Eine und die Zweiheit u. s. w., was Anaxagoras
als Vernunft und Bestimmungsloses, Aristoteles als Form und
Beraubung, Plato als das Selbe und das Andere oder deutlicher
als gute und böse Weltseele bezeichnet"^). Dieser Streit aber spielt
sich ab in der Materie, die Plato als Wärterin und Aufnehme-
rin von allem bezeichnet. Sie fällt zusammen mit der ägyptischen
Isis ^); ebenso mit der Penia des platonischen ^) Mythus von der
Geburt des Eros '), in welcher auch die Neuplatoniker ein Bild
der Materie sehen ^). Natürlich ist es nicht der seelenlose, aller
Eigenschaften bare, unthätige, von der Vernunft nicht erfassbare
Körperstoff der Philosophen, den Plutai-ch hier unter dem Bilde
einer Gottheit vorstellt ^). Sie ist ihm ,,das Weibliche in der
') S. S. 145 Anm. 7.
') S. S. 146 Anm. 1.
') S. S. 146 ff.
*) de Is. c. 45—48.
ä) de Is. c. 53, p. 372 E. Mit der Isis — neben vielen andern Göttinnen —
verglich die (fvd; oder die Materie auch Nicomachus von Gerasa in seiner
Theologia arithmetica; Phot. cod. 187, p. 143 b 10 Bekker. Vgl. Anatolius bei
lambl. theologum. arithm. II, p. 12 o. Ast.; lambl. in Nicom. arithm. introd.
p. 14 D Tennul.
«) Fiat, conviv. 203 B.
') Plut. de Is. c. 57, p. 374 G.
») Plotin. enn. IIL 5, c. 8 ff., bes. c. 10 Schi. Vgl. III 6, 14. p. 237, 12 ff.
II 4, 16. p. 117, 18.
") Plut. de Is. c. 58, p. 374 E.
380 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Natur, welches alles Werden in sich aufnimmt" i), mit andern
Worten, die persönlich gedachte fruchtbare Natur. Obwohl diese
i\laterie sowohl der Ort des Bösen wie der des (iuten ist 2), so
ist sie doch weder an sich böse, noch führt sie zum Bösen.
Vielmehr ist ihr, wie es ja dem Isis-Mythus sowohl wie dem pla-
tonischen von der Penia entspricht, die Liebe und Sehnsucht
nach dem Guten eingeboren ^). Bedürftig des Guten, flieht sie
das Böse und wendet sich dem guten Principe — Osiris, Porös
— zu, um von diesem selbst mit dem Guten erfüllt zu werden '*),
Nur in den letzten Teilen der Materie, den irdischen Stoffen,
herrscht der Einfluss des zerstörenden Princips; Nephthys ist dem
Typho vermahlt und kann nur heimlich vom Osiris besucht wer-
den ^). — Ihrer Grundidee nach nehmen diese Ausführungen Plu-
tarch's von dem Begehren der Materie nach dem Guten den
schönen aristotelischen Gedanken von der Sehnsucht der Materie
nach der Form wieder auf, infolge derer die ganze Welt sich der
lautern Form oder der Gottheit als dem obersten Gut zubewegen
soll ö). Aber was bei Aristoteles, wenn es auch nicht ganz frei
ist von personißcierender Anschauung, im ganzen doch auf klare
Begriffe gestützt wird, das erscheint bei Plutarch, der so ganz
verschiedenen Gemütsart beider Männer entsprechend, verhüllt
durch den mysteriösen Schleier einer exotischen Mythologie.
b. Philo.
Einen verwandten Standpunct nimmt der alexandrinische
Jude Philo ') ein. Nur ist bei diesem Syncretisten, derauf dem
1) ebd. c. 53, p. 372 E.
*) dfKfOiV fifv ovaa yc'iQa xal vXrj^ ebd. C. 53, p. 372 F.
■■) avuqivTog fquis, ebd. c. 53, p. 372 F.
*) ebd. c. 53, p. 372 F; c. 57, p. 374 D.
5) ebd. c. 59, p. 375 B.
«) S. S. 263.
'') Über Philo's Lehre von der Materie geben, ausser den mehr gelegent-
lichen Bemerkungen in den bekannten Werken von Gförer (Kritische Gesch.
d. Urchristenthums. I. Philo u. d. Alex. Theosophie. Stuttgart 1831), Keferstein
(Philo's Lehre von den göttl. Mittelwesen. Leipzig 184G) und Siegfried (Philo
von Alexandrien als Ausleger des A. T., Jena 1875). ausführliche Darstellun-
gen Zeller IIP b, 386 ff. Dähne, Geschichtl. Darstellung der jüdisch-alexandr.
Religionsphilos. Bd. I Halle 1834. S. 170-202. James Drummond, Philo Ju-
daeus; or, The Jewish-Alexandrian Philosophy in its development and comple-
tion. Vol. I London 1888, p. 297-313.
.
Die Platoniker. — Philo. Begriff der Materie. S81
Wege allegorischer Schritterklärung iiellenische Gedanken mit
Moyses' Wort zu vereinen trachtet, neben den platonischen Ele-
menten der Einfluss der Stoa ein noch weiter gehender.
Stoisch ist gleich die Unterscheidung, von welcher Philo bei
der Darstellung des Schöpfungswerkes in der diesem gewidmeten
Schrift ausgeht. Moyses, heisst es dort, der sowohl in der Phi-
losophie den höchsten Gipfel erstiegen hat, als auch durch gött-
liche Inspiration über die meisten und tiefsten Fragen der Natur
belehrt war, hat erkannt, dass es für das Seiende eine thätige
und eine leidende Ursache geben müsse: die Vernunft und die
Materie ^). Das Wesen der Materie bestimmt der alexandrinische
Philosoph sonach durch diejenige Ableitung, welche gerade den
Stoikern eigentümlich ist ^). Sie ist das Leidende, im Gegensatz
zu Gott oder der Vernunft als der thätigen Ursache ^). Von dem
aristotelischen Begriffe der Materie dagegen als dem Möglichen,
in Potenz zu allem Befindlichen, finden sich bei Philo nur Spu-
ren *). Die weitere Beschreibung der Materie bei Philo schliesst
sich an, einmal an die Schilderung, welche der platonische Ti-
maeus von der secundären Materie giebt, dann an die stoische
Auffassung der Materie als eines unbestimmten Stoffes. Beiden
Quellen gemein ist die Bestimmung der Materie als des Eigen-
schafts-, Form- und GestaUlosen °). Auf den Timaeus allein geht
es zurück, wenn die Materie als ungeordnete, unharmonische,
regellos zusammengemischte, tote und unbeseelte Masse geschil-
dert wird ß), welche erst durch die weltbildende Kraft Gottes
1) Philo de mundi opif. §.2 ed. Richter (T.I, p. 2 Mangey,p. 2, 15-23 Cohn).
*) S. S. 331.
•^) Über die stoische Gleichsetzung der Gottheit und der wirkenden Kraft
bei PhUo vgl. Zeller II r' b, 358.
■*) de mundi opif. 5 (I, 5 M., p. G, 11 Cohn) heisst es von der Materie:
fir,(ffv (^ avziii iyovOTj y.a/.or, Avvauevri ti'i ndvza. y i v ta 0 at.
^) anoios de m. opif. 5 (I, 5 M., p. ß. 12 C); de creat. princ. 7 (II, 3G7) ; de
prof. 2 (1, 547) ; quisrer.div. haer. 27 Schi. (1,492); de somn. II 6 (I, 665). a>0(-
voff: de sacrif. I 3 {11, 261); qu. rer. div. haer. 27 Schi. (I, 492). äveühog: De
mutat. nom. 23 (I, 598); de prof. 2 (1, 547). daxr,,uäTtaTos -. de prof. 1. c; de
somn. II 6 (I, 665). aivTiunog: de somn. 1. c. aar,fj,oi : de prof. 1 c.
^) ornxrof: de m. opif. 5(1, 5M..p.6, 12C.); de plantat. Noe 1 (1,329). «V/).««/«?:
qu. rer. div. haer. 32 (I, 49ö). avtaos : qu. rer. div. haer. 1. c. ; de creat. princ. 7
(II, 367). dv6,uotoi: de creat. pr. 1. c. ^t /.?,,« «^Ar/?: qu. rer. div. hAer.l.c. äräp/.ioaToi:
de creat. pr, 1. c. ; de mundi opif. ") (T, 5M., p. 6, 13 C). nKf^vQixhr,: de sacrif. 13
B82 Füiiltor Ahsclinitt. L)er Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
aus der Unordnung zur Ordnung, aus der Unbestimmtheit zur
Bestimmung, aus der Entzweiung zur Selbigkeit, aus der Zwie-
tracht zur Harmonie, aus dem Dunkel zum Lichte geführt Avird ^).
(II, 261). av'/y.fyivfievri: de plant. Noe 1 (I, 329). Untifios: de sacrif. 1. c. axpv^og:
de m. opif. 1. c. vtxgov. de prof. 36 \\, 57b).
') de mundi opif. 5 (I, 5 M., p. 6, 13-16 C); de creat. princ. 7(11, 367);
de somn. IIG (1,665); de plantat. Noe 1 (I, 329); de sacrif. 13 (II, 261).
Dass die Materie bei Philo auch als das Nichtseiende bezeichnet werde,
kann ich Dähne (a. a. 0. 1, 185) und Zeller (IIU' b 387, 5; vgl. auch Keferstein, S.5;
ebensowenig zugeben, wie ich Zeller hinsichtlich der Deutung des fir] ov der
platonischen Republik auf die Materie (dort freilich aus andern. Grunde) zustim-
men konnte; s. o. S. 189 ff. An den von Zeller angeführten Stellen de m. opif. 26
(I,19M.,p.30, 9Gohn); leg. alleg. III 3 (I, 89); de creat. princ. 7 (II, 367) — es
konnte auch auf die gleichartigen Stellen de mutat. nom. 5 (1, .585); de somn.
I 13 Schi. (I, 632); de vita Moys. III 8 (II, 1.50) und III 36 (II, 176) hingewie-
sen weiden — ist nämlich nichts weiter gesagt, als dass Goit Dinge ins Sein
rief, die zuvor nicht waren. Ebenso heisst es im zweiten Macchabäerbuche
(VII 28): fl ovx ovTiitv inokjatv avrv. Dass nun Philo (während das Maccha-
bäerbuch hiervon nichts lehrt) die Materie als einen schon vorhandenen Stoff
der Weltbildung voraufgehen lässt (s. u. S. 384), beweist nicht, dass er diese Ma-
terie als „das Nichtseiende" betrachtet. Denn Philo sagt überhaupt nicht,
dass Gott die Dinge „aus dem Nichtseienden" bildete, derart, dass dieses Nicht-
seiende als die Materie der Weltbildung bezeichnet werden soll. Es heisst
vielmehr bei ihm, Gott habe „das Nichtseiende" (rä iw^ ovia, d. h. die nichtseien-
den Dinge, de creat. pr. 7; de vit. Moys. III 8; de mut. nom. 5; de m. op. 26),
„das was vorher nicht war" (a nQÖTtgov ovx r/v, de somn. I 13) gemacht, ins
Sein gerufen oder dgl., er habe die gesamten Dinge „aus nichtseienden" {ix
ui] ovTwv — man beachte den Plural — , leg. all. III 3) zum Bestehen gebracht
Das Nichtsein bezieht sich also nicht auf die der Weltbildung voraufgehende
Materie als deren Eigenschaft, sondern auf die vor ihrer Bildung noch nicht
bestehenden bestimmten Dinge. Die einzige Stelle, welche anders gedeutet
werden könnte, ist de vit. Moys. III 36 (II, 176): ix rov fxr] ovzos tlg t6
eirai t6 Tekfiöraiov eQ-/ov rov xüafiov dviifqvf. Gegenüber der grossen Zahl völlig
übereinstimmender Aussprüche wird indes auch diese Stelle ohne Zweifel so
zu verstehen sein, dass bei ix rov /j?] ovtos nicht an die Materie, sondern an
das Nichtsein der Welt gedacht ist. — Gegen Zeller's Auffassung spricht auch
noch ein anderer Giund. Nach stoischer Weise, aber ganz im Gegensatz zu
Plato, bezeichnet Philo die Materie gewöhnlich als ovaia (s. u. S. 383 Anm. 4).
Nun sind bei jenem nicht eben hervorragend klaren Syncretisten zwar Unaus-
geglichenheiten, ja Widersprüche, nicht gerade allzu selten ; der Widerspruch
aber, dass die ovaia ein //i; or genannt würde, dürfte doch selbst ihm
nicht zuzutrauen sein.
Ebenso scheint Zeller's Behauptung, dass Philo die Materie auch wohl
als das Leere und Bedürftige schildere, obwohl sie sich von dem Geiste
Philo. Begriff der Materie. 383
Dass aber dieses Gestaltlose als eine ungeordnete Masse ge-
fasst wird, hat seinen Grund zunächst darin, dass Philo, gleich
Plutarch, Attieus und andern Piatonikern i), die „secundäre Ma-
terie" des Timaeus unter Verkennung ihres bloss mythischen
Characters im dogmatischen Sinne in sein System aufnimmt.
Noch wichtiger aber war es für ihn, dass er für jene Vor-
stellung an dem stoischen Begriff der Materie als des unbestimm-
ten körperlichen Stoffes eine Anknüpfung fand. Obgleich ihm der
aristotelische Ausdruck vXrj nicht fremd ist 2), so bezeichnet er
doch an zahlreichen Stellen — wiederum in Übereinstimmung
mit Plutarch ^) — die Materie mit den Stoikern als Substanz
{ovaio) ■i). Nun ist freilich beides, der stoische Begriff der Sub-
stanz wie die den mythischen Bestandteilen des Timaeus ange-
hörende Vorstellung einer chaotischen Masse, mit dem platonisch-
aristotelischen Begriff eines gänzlich qualitätslosen, unkörperlichen
Substrats als der blossen Vorbedingung der Körperwelt nicht
vereinbar. Aus dieser Unausgeglichenheit erklären sich manche
Schwankungen der philonischen Darstellung ">).
der philonischen Philosophie, nicht entfernt, doch historisch nicht ganz ge-
rechtfertigt zu sein. Denn leg. alleg. I 14 (I, 52 M.), worauf Zeller III'' b,
387, 6 verweist, ist nicht speciell von der Materie die Rede, sondern allgemein
von der Welt.
1) S. S. 143. 376.
-) So steht v?.ri de plantal. Noe 2 (I, 330); de sacrif. 13 (II, 261); de provid.
18; II 48 (materia) u. s. \v.
3) S S. 374 Anm. 1.
*) de m. opit. 5 (I, 5 M., p. 6, 11 C); de plantat. Noe 1 (I, 329; §. 2 steht
r/f/; de creat. princ. 7 (II, .367); qu. rer. div. haer. 27 (I, 492, zweimal): de
prof. 2 (1, 547); de somn. II 6 (I, 665); de sacrif. 13 (II, 241, Z. 42; Z. 45 steht
gleichbedeutend v/.ij) ; de prov. I 8, u. viele a. SL.
^) Vgl. unten S. 386 u. 387. — Ein ähnliches Schwanken hinsichtlich des
Begriffs der Materie liegt auch vor, wenn Philo, wie die Stoiker (s. S. 334
Anm. 1) bei mehr populärer Ausdrucksweise die vier Elemente als den Stoff
der Weltbildung bezeichnet; de Cherub. 35 (I 162): v?.r,v 'i'i tu xeoaaQa atoiy/^eia.
Philo's eigentliche Ansicht erhellt aus de sacrif. 13 (11, 261): ngog ttjv dvm-
vigav ziov oioi-itiixiv oi'aiav, iriv u.uoQifiav (zum Text Vgl. Mangey's Note).
Es ist indes nicht nötig, mit Dähne (I, 189 ff.) und Siegfried (a, a. 0. S. 232)
hier einen eigentlichen Widerspruch anzunehmen. Vielmehr wird mit Zeller
IIF b, 387, 1 und Drummond I, 307—309 zu sagen sein, dass Philo an der er
sten Stelle bei dem Näherliegenden stehen geblieben und seine letzte philoso-
phische Meinung nicht ausgesprochen hat. — Interessant ist es es übrigens,
Ö84 Fünfler i^bschnitt. Der Neuplatonisiiius und dessen Vorläufer.
Die Materie der Woltbildung fasst Philo mit Plato ^) und der
Stoa 2) als ungeworden. Zwei Gründe füiiren ihn dazu, diesen
iinbibhschen und unjüdischen Duahsmus zweier Principien aus
der hellenischen Philosopliie ohne weitere Reflexion hinüber zu
nehmen. Einmal kann Philo mit der Stoa die thätige Ursache
nicht ohne eine leidende denken. Die göttliche w'eltbildende Thä-
tigkeit setzt darum eine bereits vorhandene Materie als Object
ihrer Wirksamkeit voraus ^). Dann aber ist durch die Annahme
Philo's, dass Golt als der Selige mit der unreinen Materie nicht
in unmittelbare Berührung treten köhne *), die Annahme einer
Schöpfung der Ur-Materie durch Gott ausgeschlossen. Denn ver-
mittelnde Annahmen, wie die eines dunklen Grundes in Gott,
aus dem die Materie entsprungen wäre, oder von stufenweisen
Emanationen, deren Vollkommenheit so lange stets abnimmt, bis
die letzte, der obersten Ursache fernste, die Materie, erscheint,
sind dem Philo fremd ">). Selbst auf den „Weltbildner", der doch
aus der Erzählung Augustin's (confess. XII, c. 4 ff.) zu hören, welche Mühe es
auch diesem grossen Denker gekostet, sich von der Vorstellung des Chans
zu dem wahren platonischen Begriff der materia informis durchzuringen.
>) S. S. 187 f.
2) S. S. 359 ff. 366.
•■') Vgl. de m. opif. 2 (I, 2 M., p. 2, 15 ff. C). Auch an zahlreichen andern
Stellen ist nur von dem Ordnen der schon vorhandenen Materie durch den Welt-
bildner die Rede. So de plantat. Noel(I, 329); 2(1,330); quoddet. pot. ins. sol. 4'2
I, 220); qu. rer. div. haer. 27 (I, 492); de deo 6 (p. 616 Auch.). Mehr aristotehsch
heisst es de Cherub. 35 (1, 100—161) : zur Entstehung eines Dinges müssen viele
Ursachen zusammentreten: t6 vf otf, to 4| ov, t6 di ov, t6 th' ö. Das Erste
ist die bewirkende Ursache {t6 ahiov), das Zweite die Materie (vAij), d^s Dritte
die Instrumentalursache, das Vierte der Beweggrund [ahla; Drummond a. a. 0.
I, 3(X.) giebt es ungenau mit purpose statt mit motive wieder). Für den
Kosmos nun ist bewirkende Ursache Gott, Materie die vier Elemente (s. o.
S. 383 Anm. 5), Instrumentalursache der göttliche Logos, Beweggrund die Güte
des Weltbildners. — Auch hier ist die Materie also der bewirkenden Ursache
neb engeordnet.
*) de sacrif. 13 (II, 261).
") Es finden sich zwar mancherlei Ausdrücke bei Philo, welche anschei-
nend eine Schöpfung aus Nichts, wie die Möglichkeit eines Untergangs ins
Nichts, voraussetzen. So heisst es qu. rer. div. haer. 32 (I, 495), dass Gott am
siebenten Tage gelobt habe ov njr ärj fiiovQytjd^sTaav v?.7]v, rt^v aipvx"^ '""'
7i?.r/,u/utl'^ xttl thähinov, (tt lU (fi&aQTijv i^ eavTije. Ebenso wird de sornn.
II 38 (I, 692) gegenübergestellt &eöi und t; ytvijTi] xal (f^a^iij ovaia naaa.
Man wird indes Drummond a. a. 0. I, 301 f. recht geben müssen, dass nach
Philo. Die Materie ungeworden. 385
an Würde unter Gott steht, wird von Philo nur das Vollkommne
in der Welt, ihre Ordnung, zurückgeführt, nicht aber das Unvoll-
kommne und nach Philo's Ansicht Unreine, die Materie.
Diese ist etwas durchaus Ausser- und Widergöttliches, Als
solches ist sie der göttlichen Vollko mmenheit entgegenge-
setzt. Philo bezeichnet sie als das Dunkle, Tote, als eine in
stetem Streit befindliche, ungeregelte, übel gemischte Masse i).
Während Gott der absolut Freie ist, herrscht in ihr eine blinde
dem ganzen Zusammenhange der philonischen Lehre hier nicht an jene erste
Bedingung alles Werdens und Vergehens gedacht sein kann, sondern an die
Gesamtheit der in dieser Form erst bei der Weltbildung entstandenen und in
stetem Flusse befindlichen bestimmten Stoffe. — Wenn ferner Philo an
mehreren, schon oben S. 382 Anm. 1 gesammelten Stellen die weltbildende
Thätigkeit Gottes dahin bestimmt, dass er durch dieselbe das Nichtseiende ins
Sein rief, so ist auch damit nach seiner Ansicht das Vorhandensein jener Be-
dingung alles Werdens bestimmter Dinge, der Materie, nicht ausgeschlossen.
Es erhellt das klar aus de creat. princ. 7 (II, 367): „Denn das Nichtseiende
rief er ins Sein, indem er Ordnung aus Unordnung, aus dem Eigen-
schafts losen bestimmte Eigenschaften, aus dem Unähnlichen Ähnlichkeiten,
aus den Verschiedenheiten Selbigkeiten, aus dem Gemeinschaftslosen und
Zwieträchtigen Gemeinschaft und Harmonie, aus der Ungleichheit Gleichheit,
aus dem Dunkel Licht schaffte". Weiteres bei Drummond, S. 302 f. — Dass
Philo, wenigstens gelegentlich, eine eigentliche Schöpfung aus Nichts annehme,
haben mehrei'e Gelehrte (Keferstein, S. 5 f. Siegfried, S. 232. Heinze, Lehre vom
Logos, S. 210, 1. Dähne I, 199 f.) auch aus de somn. I 13 (I, 632) und de
monarch. I 3 (II, 216) gefolgert, wo von der Thätigkeit des d'ruxiovgyüg die des
xxiatr,e (an der ersten Stelle recht scharf) unterschieden wird. Allein auch
hier bieten sich andere Erklärungen. Drummond (I, 304) und wohl auch schon
Vacherot (Histoire critique de l'ecole d'Alexandrie. Paris 1846. I, S. 151 f.) be-
ziehen ö'TjfiiovQyoe auf die Bildung der sichtbaren, y.ziartjs auf die Begründung
der urbildlichen Welt. Anderes bei H. Soulier. La doctrine du Logos chez Philon
d'Alexandrie. Turin 1876. p. 23 f. Dem Zusammenhange der ersten Stelle ist es viel-
leicht noch angemessener, das eine Wort auf die Bildung der zusammengesetzten
Dinge aus den Elementen, das andere auf die Bildung der Elemente, die den
unmittelbaren Stoff für die körperlichen Dinge abgeben, aus der Urmaterie zu
beziehen. Durch diese Erklärung würden sich gleichfalls die Stellen aus den ar-
menisch erhaltenen Schriften am einfachsten erledigen, auf die Grossmann (Quae-
stionesPhiloneae. I.Lipsiae 1829. p. 90) zuerst aufmerksam gemacht hat, deprovid.II
§.48—50 (§. 50 im Urtext bei Euseb. praep. ev. VII 21, p. 336 Bflf.); §. 55, besonders
§.49: non solum creare et edere materiam proprium est providentiae, verum
etiam conservare moderarique, und de deo 6 (II, 616 Aucher.) : natura qua creatur
formaturque materia. Drummond I, 304 — 307, wo namentlich auf den bloss hypo-
thetischen Charakter der ganzen Ausführung de provid. II 48 ff. Gewicht gelegt ist.
') S. S. 381 Anm. 5 u. 6. Vgl. auch de creat. princ. 7 (II, 367 : r, ^fie^'v uraia^
Baeumker: Das Problem der Materie ete 25
386 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Notwendigkeit ^). Was in der materiellen Welt Gutes sich findet,
hat die Materie durch Gott erhalten. Die göttliche Weltbildung
besteht in der Überwindung jener, der Materie aus sich eigenen
Unordnung durch die Gestallung nach dem Vorbilde der gött-
lichen Ideen ^). Denn obgleich dieselbe aus sich nichts Gutes
hat, so ist sie doch für die göttliche Einwirkung empfänglich.
Wie Philo mit Aristoteles und den Stoikern, der Sache nach auch
schon mit Plato, lehrt, ist sie in der Potenz zu allem Guten '^).
— Auch in diesen Ausführungen Philo 's ^) führt die Vermengung
der ersten und der zweiten Materie des Timaeus zu einer unleug-
baren Verwirrung. Unordnung, wirre Vermischung und dgl. kön-
nen nur einer chaotischen Masse, der secundären Materie des
Timaeus, beigelegt werden, nicht aber der letzten Grundlage des
Körperlichen. Denn da diese noch aller Bestimmungen entbehrt,
so kann sie auch keinen Kampf dieser Bestimmungen unter
einander kennen^). Dagegen ist es umgekehrt jene erste Materie, der
die Möglichkeit zu allem ursprünglich zugeschrieben werden muss.
Weil so der Stoff für Philo etwas Widergöttliches ist, so er-
scheint er ihm mit den Neupythagoreern und vielen Piatonikern
zugleich als das Unreine. Darum darf Gott nicht unmittelbar mit
der Materie in Verbindung treten *5). Weitere Anwendung findet jene
Auffassung von der Materie auf psychologischem und ethischem
Gebiet. Hierher gehört alles, was Philo im Anschluss an die
Pythagoreer und an Plato, sowie an den allegorisch gedeuteten
biblischen Bericht vom Sündenfall über die Befleckung der Seele
durch das Hinabsteigen in den Körper lehrt; ebenso seine ganze
Bestimmung des Verhältnisses von Geist und Sinnhchkeit '').
1) de somn. II 38 (I, 692). — •') S. S. 382 Anm. 1.
■'') de m. op. 5 (I, 5 M., p. 6, 11 Cohn): ovai'a /nrjö'tv i^ aviijs i';fo^•(T;; y.aXöv,
(fvva/jevj] li'i nävra yiveaiyai.
*) S. schon oben S. 383 mit Anm. 5.
^) Drummond, I 310 ff. führt dieses mit Recht gegen Dähne I, 196 (ebenso
Grimm, Gommentar über das Buch der Weisheit. Leipzig 1837. S. 266) aus,
nach dem Philo die Materie als „die wirkende Ursache" der Un-
vollkommenheiten in der Welt betrachtet. Nur tritt bei Drummond nicht ge-
nügend hervor, dass Philo in der That durch den Mangel einer scharfen Un-
terscheidung zwischen jener chaotisch ungeordneten Masse und der ersten Ma-
terie zu dieser Auffassung allen Grund gegeben hat.
«) de sacrif. 13 (II, 261); s. o. S. 384 und unten S. 387,
') Vgl. Zeller IIP b, 393 f. 399 ff. Heinze, 261. 265. Auch diese Bezie-
Philo. Die Materie und das Böse. 387
Die Art und Weise, wie Philo die Gestaltung der Welt aus
dem ursprünglichen Chaos mi einzelnen schildert, ist wichtiger
für seine Lehre vom Logos, als für die von der Materie. — '^Ba
Gott als der über alles Erhabene und Selige mit der unreinen Materie
nicht in unmittelbare Berührung treten kann i), wird ihre Gestal-
tung durch den Logos vollzogen, in dem die platonischen Ideen
und die weltordnende vernünftige Kraft der Stoiker, unter Aus-
scheidung des materialistischen 2) und pantheistischen ^) Elements
der stoischen Lehre, zu einer Einheit verbunden erscheinen *).
Entsprechend seiner Anschauung von der Weltmaterie als einer
ungeordneten, wirr gemengten Masse schildert er die Bildung der
Welt durch den Logos als eine Scheidung oder Trennung der
Gegensätze ^). Der Begriff der Materie erscheint hier, noch über
den Mythos des Timaeus hinaus, aufs höchste verdichtet. Den
nächsten Anlass zu jener Fassung mochten die Worte der Gene-
sis bieten, nach denen Gott bei der Weltschöpfung die Wasser
von den Wassern schied ^). Aber mit dem philosophischen Be-
griff des Plato und Aristoteles von der materia prima ist jene
Auffassung so unverträglich, wie mit dem stoischen. — Durch eine
solche Scheidung nun werden zuerst die vier Elemente gebildet,
deren Qualitäten nach den Stoikern bestimmt werden ''); aus die-
sen das Weltgebäude. Die Menge der Materie ist eine dem Be-
dürfnis genau angemessene, so dass sie niemals im Überfluss
vorhanden ist und niemals ausgeht 8).
hungen der Materie zum Ursprung des Übels sind von Drummond a. a. 0. mit
Unrecht bei Seite gelassen. — i) S. S. 386 Anm. 6.
^) Über unausgeschiedene Reste des stoischen Materialismus auch in der
philonischen Logoslehre vgl. Zeller III ^ b, 385, 1; Heinze, 241 f.
^) Fi'eilich bezeichnet auch Philo Gott gelegentlich als \pvxii (leg. alleg. I
29, T. I, 62 M.) oder povg tmv Uoov (de m. opif. 2, I,j2 M., p. 2, 18 C; de migr.
Abr. .35 (I, 466 M.). Vgl. Heinze, 208 f. 280. Siegfried a. a. 0. S. 205.
■*) Schon der Stoiker Boethus (vgl. ZeUer IIP a, 554 f.) und die pseudo-
aristotelische Schrift ufQi xoafiov (vgl. ZellerUIF a, 637 f.) lassen die ausser-
weltliche Gottheit nur vermittelst ihrer Kraft die Welt durchdringen, vFobei
ihnen aber die philonische Fassung dieser Kraft als einer dem Wesen nach
göttlichen Hypostase noch fremd ist.
') qu. rer. div. haer. 27 (I, 492). Vgl. quaest. in Gen. I 64 (II 44 Auch.).
*=) Gen. J, 6. 7. — ') qu. rer. div. haer. a. a. 0.
•*) de provid. II 50 (T. II, p. 79 Aucher. ; griechisch bei Euseb. praep. ev.
VII 21, 1-4. p. 336 C— 337A). Vgl. das S. 227 und 404 über Aristoteles und
Plotin gesagte.
25 *
388 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonisinus und dessen Vorläufer.
Die Qualitäten der Dinge führt Philo wiederum mit den
Stoikern auf Strömungen des Pneuma zurück, welche.s in der
Doppelbewegung von aussen nach innen und von innen nach
aussen den Stoff durchdringt und so den Dingen Zusammenhalt
giebt 1), So natürlich diese Anschauung sich aus der materiali-
stischen Pneuma-Lehre der Stoiker ergab, so seltsam stellt sich
die Entlehnung zu dem aus der platonischen Ideenlehre geflosse-
nen Spiritualismus der philonischen Logoslehre. Die stoische
Lehre von den Keimkräften {Xöyoi arciQf.iaTixoi) dagegen hat
Philo, wenigstens auf naturphilosophischem Gebiete, nicht ver-
wertet 2). Hier mochte auch ihm der materialistische Charakter
zu deutlich entgegentreten. Für eine Umbildung im spiritualisti-
schen Sinne aber, wie er sie sonst mit der stoischen Logoslehre
im Anschluss an die Ideenlehre Plato's vorgenommen, fehlte ihm
hier der Vorgänger, an den er sich hätte anlehnen können ^).
So bietet uns Philo's Lehre von der Materie ein ziemlich
verworrenes Bild, aus dem nur wenige von Schwanken freie
Puncte mit Bestimmtheit heraustreten. Vor allem sticht der Ge-
danke hervor, in dem die hiteressen der Kosmologie und der
Ethik sich begegnen, dass nur durch die göttliche Kraft der aus
sich regellose Stoff zur Ordnung geführt werden kann. Neben
ihm tritt die metaphysische Durchführung des Begriffs der Ma-
terie selbst ganz und gar in den Hintergrund.
^) Die Stellen s. oben S. 351 Anm. 2; S. 352 Anm. 3. Vgl. auch Kefer-
stein, S. 1G2. Heinze, S. 242 f.
-) wie Däline, I, 2(34 Anm. 204 Schi, irriger Weise angieljt.
^) Über den l6yos anfg/janyö? auf ethischem Gebiete vgl. Heinze, 240.
Für die Verwertung des Begriffs auf naturphilosophischem Gebiete dagegen findet
sich nur eine einzige Andeutung bei Philo, de m. op. 13 (1,9 M., p. 13, IOC). Hier
heisst es, dass in den von den Früchten eingeschlossenen Samen (aviffjfiarixal
ovai'ai) die kdyoi der ganzen Pflanze unsichtbar enthalten seien, welche zu der
Zeit der Entwicklung offenbar würden. Also auch hier ist der Ausdruck
lü'yoi antQfiuiixoi vermieden. Nichts beweisend dagegen ist legat. ad Gai. 8
(II, 553 f.), wo gesagt wird, vermittelst der Xöyoi antQuarixal, die mit den phy-
sischen Samenbestandteilen identificiert werden, würden die Ähnlichkeiten des
Leibes und der Seele in Gestalt, Hallung, Bewegungen, Neigungen und Thaten
von den Eltern auf die Kinder vererbt, und so auch die Ähnlichkeit in der
Herrscheranlage. Diesen Gedanken nämlich legt Philo dem Caligula in den
Mund, der durch denselben beweisen will, dass er als geborener Herrscher sich
von keinem Untergebenen brauche belehren zu lassen. Für Philo's eigene An-
sicht lässt sich aus dieser Satire in keinem Sinne etwas folgern.
Philo. Pneuma und Xöyoi. — Neupythagoreer. Zwei Gruppen derselben. 389
c. Die Xeupytliagoreer.
Nicht so ausschliesslich auf das Religiös-Ethische gerichtet
sind die Speculationen der Neupythagoreer über die Materie.
Wir können die Neupythagoreer für unsern Zweck in zwei
(Truppen sondern. Die erste befasst einige, unter altpythagore-
ischeni Namen gehende, aber erst der neupythagoreischen Zeit
entstammende Schriften kosmologischen Inhalts. Es gehören
hieher die Abhandlung von der Weltseele, welche dem Locrer
Timaeus beigelegt wird, sowie die Schrift des angeblichen
Ocellus über das Weltganze. Auch Einzelnes, was dem Archy-
tas zugeschrieben wird, fällt in diesen Gedankenkreis ■). — Hin-
sichtlich der Lehre von der Materie linden wir bei diesen Män-
nern einen Eklekticismus, der sich neben Plato auf Aristoteles
und die Stoa stützt. Die pythagoreische Zahlenlehre dagegen
ist hier mit dem Problem der Materie noch nicht in Verbindung
gebracht.
Zu einer zweiten, grössern, Gruppe ziehen wir diejenigen
Schriften, welche das Problem der Materie auf dem Grunde der
pythagoreischen Zahlenspeculation erörtern.
Wenig Gharacteristisches bieten die Schriftsteller der ersten
Gruppe. Aus dem platonischen Timaeus wird die Schilderung
der Materie als einer form- und eigenschaftslosen 2), bildsamen
Masse {äxfiayeioi) '^) übernommen, welche die bestimmten Gestal-
tungen in sich aufnimmt und so die Mutter und Wärterin der
sinnfälligen Körperwelt darstellt ^). Die platonische Benennung
der Materie als «Ort" oder „Raum" wird von dem angebhchen
Locrer Timaeus wiederholt, aber in einer Form, aus der man
ersieht, wie wenig er sich über das Gewicht dieser platonischen
Bezeichnung klar war ^). Vielmehr scheint schon er die Materie
in der durch die Stoiker verbreiteten Weise als Substanz {oram)
zu denken ^). Freilich knüpft sein xA.usdruck zunächst bei Aristo-
teles an, nämlich an dessen Dreiteilung der Substanz, wie denn
überhaupt eine Einwirkung der Stoa neben der des Aristoteles
') Über diese Schriften vgl. Zeller IS 266 f. IIP b, 99 ff.
2) Tim. Locr. 94 A. Archyt. bei Stob. ecl. I, 714.
') Tim. Locr. 94 A. Ocell. de univ. nat. 2, 3.
*) a. a. 0.
^) Tim. Locr 94 B: n ot w/ cgt vo v t i de tüv vXav lonov xai ^toQav.
*') Tiia. Locr. 94 A ist das Sinnfälliue als dritte ovaia bezeichnet.
390 Fünfter Abschnitt. Der Neiiplatonismus und dessen Vorläufer.
bei ihm mit Sicherheit noch nicht nachzuweisen ist. Ein ent-
schiedener Anschluss an die stoische Vorstellung findet sich da-
gegen bei Ocellus. Ihm ist die Materie, ganz wie jenen, der un-
bestimmte Körper >). Wieder auf Aristoteles werden wir aucli
bei Ocellus zurückgeführt, wenn derselbe die gegensätzlichen Be-
stimmungen, durch welche die Elemente und die übrigen Dinge
ihr bestimmtes Sein erhalten, der Potenz nach in der Materie
enthalten denkt 2). Diese der Materie innewohnenden Potenzen
(dvrdßfig) aber werden von ihm dann zugleich in der Weise der
stoischen Xöyoi oneQfxarixol als Kräfte gefasst, die, im Unterschied
von den actuellen Eigenschaften selbst, weder werden noch ver-
gehen. Dabei sollen dieselben indessen nicht, wie die stoischen Xoyoi^
als etwas Körperliches gedacht werden, sondern gleich den aristote-
lischen löyoi^ d. h. begrifflichen Formen, als etwas Unkörperliches ^).
Der gleiche weitere Fortgang zu einem verwickeiteren Eklekticisnius
zeigt sich auch sonst im Verhältnis des Ocellus zu dem Locrer.
Während der letztere an der platonischen Dreiheit der Idee, der
Materie und dem Product beider, dem Sinnfälligen, im ganzen
festhält *) und nur Anklänge an die aristotelische Auffassung
hat 5), schiebt Ocellus (und ebenso auch Pseudo- Archytas) an
deren Stelle die aristotelische Dreiheit Materie, Form und (zusam-
mengesetzte) Substanz ein^). Ebenso zeigt die Elementenlehre
des Ocellus sich gänzlich von Aristoteles und der Stoa abhängig "').
Aristotelisch ist die Lehre des Ocellus von der Ewigkeit der
Welt *). Aristotelisch und zugleich stoisch ist es ferner, wenn
Ocellus, entsprechend der aristotelischen Unterscheidung von erster
und zweiter Materie, neben der Materie „im ersten Sinn"
1) odSfia, Ocell. de univ. nat. 2, 3; tiqmtov acZ/na ebd. 2, 7; vnoxtliitvov aöofia
ebd. 2, 12.
") a. a. 0. 2, 3; 2, 7. Der Begriff der dvvuuig ausserdem 2, 6 und 2, 12.
^) loyoi dacofiaroi, a. a. 0. 2, 5.
*) Tim. Locr. 93 B.
^) Tim. Locr. 97 E: oig-^al /uev lav tiHv yevv'i)fi£Vüav cag ixiv vnoxtißtvov a vka,
wg (fe Xöyoi fiogipac ro sidos' aTioyevvä/uaTa rfe xovretov iml rd autfiaTce. Auch
94 B gebraucht derselbe tMo?, wo von der Verbindung mit der Materie die
Rede ist, während er die Idee als Urbild uh'a nennt (93 B ; 94 B — C u. ö.).
Doch ist der Unterschied bei ihm nicht so ausgeprägt wie bei Albinus (vgl.
S. 373 Anm. 3).
") Ocell. de univ. nat. 2, 3 — 5. 6. Archyt. bei Simpl. in cat. f. 23 F.
') a. a. 0. 2, 6 ff. Die Qualitäten 2, 6 stoisch, 2, 11. 16 aristotelisch.
8) Ocell. de nat. univ. 1, 2 ff.
Neupythagoreer. Erste Gruppe. Fehlen der Zahlenspeculation. 391
[irgoiTcog vX7]) auch eine qualitativ schon bestimmte Materie kennt,
die Elemente des Wassers und der Erde nämlich, welche sich zu
denen des Feuers und der Luft wie der Stoff zur Form, wie das
Leidende zum Thätigcn und zur bewegenden Ursache verhalten *).
Auch die Frage, wie die Materie durch die Formelemente
bestimmt werde, Vv'ird von jenen Schriftstellern nicht aufgrund der
pythagoreischen Zahlenlehre, sondern aufgrund platonischer und
stoischer Anschauungen beantwortet. Neben der Idee und der
Materie stellt der Locrer Timaeus als dritte der Weltbildung vor-
aufgehende Ursache mit dem platonischen Dialog den Demiurgen
auf 2). Schon vor dem Eingreifen dieses hatte die Materie — so
lehrt der Locrer in einer seltsamen Verkennung des platonischen
Timaeus, die freilich von modernen Missverständnissen nicht allzu
weit absteht ^) — zwar in ungeordneter Weise an den Ideen teil,
die einen regellosen Wechsel in ihr hervorbrachten. Das Werk
des Demiurgen ist es, aus diesem willkürlichen Schweifen sie zu
einem geordneten Wechsel der Verbindungen geführt zu haben*).
Mit den Stoikern dagegen unterscheidet Pseudo-Archytas das
Wirkende und das Leidende in der Natur, Gott und die jMaterie^).
In mehr naturalistischer Weise wendet Ocellus, im Anschluss an
gewisse Elemente der immanenten aristotelischen Naturbetrach-
tung, die gleiche Unterscheidung an auf das Verhältnis der un-
veränderlichen supralunarischen und der wandelbaren subluna-
rischen Welt ^').
Ganz anders die zweite Gruppe ''). Zu derselben zählen, ausser
manchen Andern, die gelegentlich zu berücksichtigen sind, na-
mentUch die Pythagoreer des Alexander Polyhistor^) und
') Ocell. a. a. 0. 2, 6. Vgl. oben S. 349. 369.
2) Tim. Locr. 93 B— C.
s) S. S. 149.
*) a. a. 0. 93 G.
*) Archyt. bei Simpl. in cat. 84 B.
*) Ocell. de univ. nat. 2, 1. 23. Die stoische Gleichsetzung des Wirken-
den und Leidenden mit Gott und der Materie, die Zeller IIP b, 115, 3 dem
Ocellus aufgrund dieser Stellen zuschreibt, ist darin nicht ausgesprochen.
') Bei der Lückenhaftigkeit unserer Überlieferung empfiehlt sich auch hier
eine concordistische Darstellung, aus der wir nur im Falle grösserer Abwei-
chungen die Einzelnen besonders hervorheben.
") bei Diog. Laert. VIII 24 ff. Vgl. Zellor I^ 337, 1. III ^ b, 88—93.
392 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
des Sextus Empiriciis ^); ferner Moderatus, Nicomachus
und was lamblichus und Philoponus in ihren Erläuterungs-
schriften zu den Werken des letztern als pythagoreisch beibrin-
gen ; endlich Numenius^), Gronius, die aber dem Plato noch
mehr entnehmen, als der neupythagoreischen Schule, sowie der
schon oben behandelte Platoniker Plutarch von Ghaeronea hin-
sichtlich einzelner Bestimnuuigen, in denen er den Neupythago-
reern folgt. In weiterer Entfernung schliessen sich auch die
sogen, hermetischen Schriften diesem Kreise an 3).
Wohl der bedeutsamste Zug der ' neupythagoreischen Welt-
hetrachtung, soweit dieselbe theoretischer Art ist, ein Zug, der
zugleich auch ihre Lehre von der Materie bestimmt, liegt darin,
dass sie die Gesamtheit des Seienden aus den selben gedanklichen
Principien ableiten wollen. Schon die alten Pythagoreer, und
ebenso Plato, namentlich in seiner spätem Zeit, ferner die alte
Academie, sind ihnen hierin vorangegangen; ebenso in materia-
listischer Wendung die Stoiker. Aber die straffe Durchführung
jenes logischen Monismus scheint als ihr Eigentum betrachtet wer-
den zu müssen. Sie haben hierdurch in einem wichtigen Puncle
die neuplatonische Lehre vorbereitet.
Mit der überwiegenden Mehrzahl ihrer Vorgänger stimmen
unsere Neupythagoreer darin überein, dass die Principien der
uns umgebenden Erscheinungswelt nicht in etwas Sinnfälligem
gesucht werden dürfen ^). Auch die Annahme von Atomen, Ho-
moeomerien u. s. w. genügt noch nicht, da derartige Principien,
obgleich nur durch das Denken erfassbar, doch noch körperlicher
Natur wären. Denn wie die Elemente der Wörter sebst keine
Wörter, so dürfen auch die Elemente der Körper selbst keine
') adv. math. X 250 ff. Pyrrh. hyp. III 152 K Vgl. Zeller I*, 337, 1.
■^) Die Fragmente des Numenius bei Thedinga, de Numenio philosopho.
Bonnae 1871. Über seine Lehre, ausser Zeller IIP b, 216 ff.: Möller, Gesch.
der Kosmologie i. d. griech. Kirche bis auf Origenes. Halle 1860. S. 91—108.
— Dass der nach Miller's Catalogue des manuscrits grecs de la bibliotheque
de l'Escurial, p. 158, in der Bibliothek des Escorial befindliche angebliche
Tractat des Numenius nt^l vXt^g in Wahrheit ein Stück aus Plotin. enn. III 6
sei, habe ich in: Hermes XXII. 1887. S. 1.5ß ff. („Eine angebt. Schrift u. ein
vermeintl. Fragment des Numenius") gezeigt.
^) Zwar nicht die Bezeichnung der Materie als der äd^iaios (fväs, aber doch
die Gottes als der Monas ist ihnen eigen ; vgl. Zeller III ^ b, 226.
^) Sext. Emp. adv. math. X 250; Pyrrh. hyp. III 152.
Neupythagoreer. Zweite Gruppe. Begriff der Mal. aufgrund d. Zahlenspeculation. 393
Körper mehr sein ^). Selbst die platonischen Ideen erfüllen noch
nicht die Aufgabe letzter Principien. Jede Idee nämlich ist für
sich Eines, mit andern Ideen verbunden Zwei oder Drei oder Vier.
Die Zahlen also, folgert man hieraus, stehen noch über den
Ideen 2). Unter den Zahlen aber ist wieder die Eins das Oberste,
da die Zwei eine Zwei, die Drei eine Drei u. s. w. ist 3).
Die letztern Bemerkungen, deren hohe Bedeutung für die
Würdigung der neupythagoreischen Lehre in den bisherigen Ge-
schichtsdarstellungen nicht genügend hervortritt, führen uns über
die arithmetischen Spielereien, bei deren Seltsamkeit die geschicht-
liche Betrachtung so leicht haften bleibt, hinaus tief in die ei-
genthche Absicht der Schule. — Aus dem Grunde soll, wie wir
sahen, den Ideen nicht der Rang von Principien zukommen, weil
sich die Zahlen von ihnen prädicieren lassen ; ebenso darum
nicht sämtlichen Zahlen, weil sich die Einheit von allen andern
aussagen lässt. Eine Bestimmung aber, die von einem andern
ausgesagt wird, verhält sich zu diesem, wie das Allgemeine zum
Besondern, wie die Gattung zur Art. Wenn also die Neupytha-
goreer die Einheit deshalb als oberstes Princip aufstellen,
weil sie das allgemeinste Prädicat von allem bildet, so liegt dem,
wie wir nunmehr sehen, die Anschauung zugrunde, dass das
höchste Princip in dem allgemeinsten Begriffe gesucht werden
müsse. Es ist ein verwandter Standpunct, wie der der hegel'schen
Logik, die in dem allgemeinsten Begriffe des Seins das oberste
Princip der Gottes- und Weltentwicklung erblickt.
Mit der hegel'schen Logik geht der Neupythagoreismus
auch darin zusammen, dass er die Gesamtheit der Dinge als eine
Selbstentwicklung des allgemeinsten Anfanges fasst, zuerst in
dem Gebiete des Gedankenhaften, dann in dem des Körperlich-
Concreten. Diese Entwicklung aber kommt dadurch zustande,
dass an der ursprünglichen Einheit sich ein Moment des Anders-
1) Sext. adv. math. X 252 f. Pyrrh. hyp. III 152.
-') Sext. adv. math. X 258; Pyrrh. hyp. III 153.
^/ Sext. adv. math. X 258—260. Der Gedanke wird von Pythagoreern und
Neuplatonikern oft vi^iederholt; vgl. z. B. lainbl. theologum. arithm. c. 1, p. 4
ed. Ast. Ders. in Nicomach, arith. introd. p. 104 A ed. Tennulius (Arnheim
1668. Zum stark vernachlässigten Texte der Schrift vgl. Horcher, Hermes VI.
1872. S. 59—67). Procl. in Eucl. def. I, p. 96, 4 Friedlein. Damasc. de princ.
c. 53. p. 140, u. s. w.
394 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
seins {StsQÖTrjc) oder der Entzweiung zeigt — denn „Anderssein"
heisst: ein Zweites sein. Es ist die unbestimmte Zwei-
heil (dögiOTog Jrac), der wir auch bei Plato i) und in der altern
Academie 2) als dem zweiten Princip begegneten. Sie verhält sich
als Grund des Auseinander und der Entzweiung zu der fest-
gestaltenden Einheit wie die Materie 3) zur Form 4) oder zur
bewirkenden Ursache^) — zwei Ausdrücke, welche dem An-
schluss, der eine an die aristotelische, der andere an die stoische
Auffassung entstammen. Da jene Einheit als oberste Gattung,
und darum auch jene Materie, das Anderssein, als das differen-
zierende Moment an der Gattung zunächst noch ganz der begriff-
lichen Sphäre angehören, so haben wir in dieser Materie zu-
nächst die Erneuerung der intelligibelen Materie, zu deren
Aufstellung Plato bei der pythagoreischen Umbildung seiner
Ideenlehre gelangte '^), und von der auch bei Aristoteles die Nach-
wirkungen zu bemerken waren ''). Sie ist dann, gewiss nicht
ohne den Einfluss des Neupythagoreismus, auch von den Neu-
platonikern beibehalten.
Ob die unbestimmte Zweiheit oder die (intelligibele) Materie
als gleich ursprüngliches Princip neben der Einheit zu betrachten
sei, über diese Frage sind die Neupythagoreer sich nicht einig.
Die Einen nämlich, denen auch Numenius beistimmte, bleiben
bei dem hergebrachten DuaUsmus von Einheit und unbestimmter
') S. 201.
2) S. 207.
^) Aristides Quintil. de music, Mus. Graec. III p. 121 Meibom. Numenius
fr. 14 Thed. bei Chalc. in Tim. c. 295, p. 324, 3-4 Wrobel. lambl. theol.
arithm. c. 1, p. 7 Ast. Anatolius bei lambl. ebd. c. 2, p. 9. Numen. fr. 26 bei
Euseb. praep. ev. XI 18, 3. p. 537 A. Asciep. in met. I, p. 35, 8 Hayduck.
^) Eudor. bei Simpl. phys. I, p. 181, 18. lambl. in Nicom. arith. intr. p. 109
G. 110 G. Vgl. Asdep. in met. I, p. 137, 34. Ebenso Plut. de def. orac. c. 35,
p. 428 F tf., s. 0. S. 374.
5) Alex. Polyhist. bei Diog. VIII, 25. Sext. adv. math. X 277. Aet. I 3, 8
(Dox. p. 281) bei Plut. plac. 1 3 und Stob. ed. I, p. 300 (wo beide Gegensätze, der
stoische des tioii^tixov ahiuv und des na&rjTixöv und der aristotelische des
eldixov und des vXixöv, verbunden sind). Asciep. in met. I, p. 43 16.
«) S. S. 198 ff.
') S. S. 291 ff. Die Bezeichnung <hd? wird übrigens in völlig gleicher
Weise wie auf die inteUigibele, so auch auf die körperUche Materie angewen-
det, weshalb bei den Quellenbelegen Anm. 3—5 die Belege für Beides unge-
schieden zusammengestellt smd.
\
Neupythagoreer. Intelligibele Materie. Ihr Ursprung. 395
Zweiheit stehen. Wenngleich die Zweiheit durch Verdoppelung
der Zahl Eins gebildet werde i), so setze doch der Begriff einer
solchen Verdoppelung den Begriff der Zweiheit schon voraus.
Wenn also auch nicht die Zahl Zwei, so müsse doch die unbe-
stimmte Zweiheit bereits als ursprüngliches Princip vorhanden
sein 2). — Andere wollen auch jenes zweite Princip überhaupt
aus der ursprünglichen Einheit ableiten. Aus der Monas, berichtet
Alexander Polyhistor als neupythagoreische Lehre, schlage
sich die unbestimmte Zweiheit als Materie für die Monas nieder,
welche Jetztere die bewirkende Ursache sei ^). Einen ähnlichen
Bericht finden wir bei Eudorus-*). Die Einheit wird deshalD von
Nicomachus, wie als Form, so auch in gewissem Sinne als Ma-
terie bezeichnet ^). Anderswo heisst sie das unerzeugte Princip,
dem die Zweiheit und die übrigen Zahlen als das erzeugte Prin-
cip gegenüberstehen ^). Die Art jenes Hervorganges der 3Iaterie
aus der Einheit wird genauer von Moderatus beschrieben. Die
(intelhgibele) Materie entsteht dadurch, dass die Einheit sich selbst
der bestimmten Quantität beraube und so die unbestimmte Quan-
tität von sich sondere, die ihr als Materie diene '^). Denselben
^) wie das auch bei Sext. adv. math. X 261 als pythagoreische Lehre ange-
geben ist.
2) Sext. adv. math. X 276. 282. Ebenso meint Numenius (fr. 14Thedinga)
bei Chalcid. in Plat. Tim. c. 295 (p. 324, 11 ff. Wrobel) : nonnuHos Pythagoreos,
vim sententiae non recte adsecutos, putasse dici etiam illam indeterminatam
et immensam duitatem ab unica singularitate institutam, recedente a natura
sua singularitate, et in duitatis habitum migrante: non recte, ut quae erat
singularitas esse desineret, quae non erat duitas subsisterel, atque ex deo silva
et ex singularitate immensa et indeterminata duitas converteretur. S. auch
S. 399 Anm. 4.
3) Diog. Laert. VI II 25.
*) Eudor. bei Simpl. in phys. I, p. 181, 10—30. Vgl. ferner die schon
Anm. 1 citierte Stelle des Sextus Empiricus, adv. math. X 261.
*) Nicom. theologum. arithm. bei Photius cod. 187, p. 143 a 22. 31 Bekker.
6) Hippol. refut. VI 23.
') Moderat. bei Simpl. in phys. I, p. 231, 5 ff. (nach Porphyr.). Zeller IIP b,
126, 2 bestreitet gegen Vacherot, Histoire de l'ecole d'Alexandrie (Paris 1846)
I, 309, dass diese wichtige Stelle, p. 231, 7 ff., sowie auch das voraufgehende
Gitat p. 230, 36 ff. Worte des Moderatus enthalte. Er will in ihnen die eigene
Auffassung des Porphyr erblicken. Hinsichtlich der Stelle p. 230, 36 fif. ist zu-
zugeben, dass hier ein Referat des Porphyrius über die platonische, mit
der pythagoreischen als gleichbedeutend gefasste Lehre vorliegt, welches zwar
auf Moderatus zurückgehen dürfte (wie auch Zeller S 128 Anm. 2 mit einigen
39ß Fünfter Abschnitt. Der Neuplalonismus und dessen Vorläufer.
Standpunct finden wir auf einem begrenzteren Gebiete bei
derjenigen Partei der Pythagoreer, welche die Körper ohne Zu-
hilfenahme der Zweilicit allein aus der Puncteinheit ableiten woll-
ten. Nach diesen sollte der Punct allein durch seine Bewegung
die Linie, dann diese durch ihre Bewegung d e Fläche, endlich die
letztere auf gleiche Weise den Körper hervorbringen i).
Eine weitere Folge dieser Ableitung der Zweiheit aus der
Einheit, der Materie (zunächst der intelligibelen) aus der Form
war es, dass man anfing, zwischen der noch nicht gespaltenen
Ureinheit und der Einheit als Gegensatz der Zweiheit zu unter-
scheiden 2). Jene über den Gegensatz der Principien hinaus-
gerückte Ursache wird dann mit der Gottheit identificiert ^).
Wenngleich so über das Verhältnis von Monas und unbe-
stimmter Zweiheit bei den Neupythagoreern keine Einigkeit be-
steht, so gehen doch auch bereits diejenigen, welche die Zweiheit
Einschränkungen einräumt), aber schwerlich in allem die Worte desselben
wiedergiebt. Für p. 231, 7 ff. dagegen kann ich, nach dem Bekanntwerden
eines bessern Textes als Vacherot und Zeller ihn hatten. Zeller nicht zustim-
men. Zeller wendet gegen Vacherot ein, dass man, um die fraglichen Worte
dem Moderatus beilegen zu können, p. 221, 5: xal lama rff 6 nogtf.vpio? iv ru7
(fevrtQii) rJe^l v^r/s tu tov Mod'fQurov nnQa&eßfvoc yt''/()aqfv erklären müsse: „Und
auch diese Worte des Moderatus beifügend, schreibt Porphyrius", was eine
unnatürliche Ausdrucksweise und auch deshalb unzulässig sei, weil in diesem
Falle statt na^a&lufvoi vielmehr das Präsens na(>aTi&s,utvos stehen müsse. Es
sei deshalb zu übersetzen: „Und auch dieses schreibt Porphyr im zweiten Buche
von der Materie, nachdem er die Aussage des Moderatus beigefügt hat". —
Allein jenes naQa&epifvos Z. 6 ist irrige Lesart der Aldina, für welche Diels als
die Lesart der Handschriften eben das Präsens TiapuTi&i/nevog wieder hergestellt
hat. Ich übersetze den Satz: „Und auch dieses schreibt Porphyrius, die Worte
des Moderatus beifügend". Zum Gedanken des Moderatus vgl. die S. 395 Anm. 2
citierte Stelle des Numenius, auch die einigermaassen verwandten Ausführun-
gen des lamblichus in Nicom. arithm. intr. p. 310 A.
1) Sext. Emp. adv. math. X 281. Vgl. lambl. in Nie. ar. intr. p. 80 G.
2) wobei bald das h\ bald die fioväg als das Obei-ste gefasst wird ; vgl. Theo
Smyrn. expos. rer. math. c. 3, p. 19, 18—22; c. 4, p. 20, 19-20; 21, 7—14.
lambl. in Nie. ar. intr. p. 12 A. Syrian. in met. XIII, p. 917 b 3—7. XIV,
p. 927 b 28 ff. Us. Asclep. in met. I, p. 35, 16 Hayduck. Damasc. de princ.
C.43. p. 115 f. Kopp; c. 46, p. 121 f.; c. 52, p. 138 m., und v. a. St.
^) Simpl. in phys. I, p. 181, 8. Eudorus ebd. p. 181, 10—13. 17-19. 22—23.
27—29. Syrian. in met. XIV, p. 927 b 28. Damascius an den in der vor.
Anm. citierten Stellen. Weiteres bei Zeller I*, 334 f. (bei Hippol. refut. 1,2,6,
Dox. p. 556, 8 ff. ist aber der Text unsicher.)
Neupythagoreer. Intelli^ibele Materie. Ihr Ursprung. 397
als zwar untergeordnetes, aber doch gleich ursprüngliches Princip
neben der Einheit festhalten, so gut über den Standpunct des
alten Pythagoreismus hinaus, wie diejenigen, welche sie aus der
Einheit ableiten. Denn wie schon Moderatus und Theo bemerk-
ten, haben die alten Pythagoreer als Principien nicht nur die Ein-
und Zweizahl, sondern alle Zahlenreihen betrachtet, durch deren
Heraussetzung sich das Gerad- und Ungeradzahlige im Denken ab-
leiten lässt ^).
Aus der (Jr-Monas nun und der unbestimmten Zweiheit oder
der (intelligibelen) Materie entwickeln sich die Zahlen von der
Zahl Eins an ; dann die mathematischen Figuren, endlich die
festen Körper ^). In der Monas nämlich^ so sagen die Neupytha-
goreer in Übereinstimmung mit der stoischen Ausdrucksweise
und nach Analogie der stoischen Lehre vom Urfeuer, sind alle
weitern Bestimmungen samenhaft enthalten ^), Zuerst entwickeln
sich im Denken der Gottheit oder der Ur-Monas die Zahlen als
Musterbilder oder vorbildliche Gedanken*). Aus den arithmeti-
schen Zahlen werden dadurch die geometrischen Figuren, dass
die unbestinunte Zweiheit als Ausdehnung, die Einheit als Punct
gefasst wird. Aber woher diese neue Gestalt der Unbestimmtheit
und damit der Einheit? Woher die Lage, durch deren Hinzu-
nahme der Punct sich von der Einheit unterscheidet ^) ? Eine
^) Moderatus (fr. 2 Mullach) bei Stob. ecl. I, p. 20. Theo Srnyrn. expos.
rar. math. c. 4, p. 20, 5—8 Hiller. Ebenso Ps.-Alexander in met. XIV, p. 775,
29. 776, 9 Bon. Syrian zu ders. Stelle, p. 926 a 1.5—17 Usener. Zu dem Aus-
drucke ai rwv oQü)v t/.&iaeiQ bei Moderatus und Theo vergleicht Wachsmuth
(adn. in Stob.) Nicomach, arithm. intr. I 8, 10. p. 81 Ast.
^J Sext. Emp. adv. math. X 283.
^) Nicomach, theol. arithm. bei Photius cod. 187, p. 143, 32 Bekker {antg-
ixariTiü loyos). lambl. theol. arithm. c. 1, p. 3 Ast ; in Nicom. ar. intr. p. 11 A
(vgl. 12B). Nach Syrian. in met. XIII, p. 912 b 8 Usener sind in der Einheit
die Zahlen (T;r£(^,«ar«xwf, als aTHQUariy.oi löyoi.
*) Nicom. ar. intr. I 4, 2. G, 1. — Über diese neupythagoreische Lehre,
welche von der altpythagoreischen dadurch abweicht, dass sie die Zahlen nicht
als die Substanz der Dinge, sondern als deren Mustei'bilder fasst, während sie
sich von der platonischen Ideenlehre dadurch unterscheidet, dass die Idealzah-
len — wie die Ideen bei Albinus, s. S. 37oAnm.3 — aus für sich subsistierenden
Wesenheiten zu Gedanken der Gottheit geworden sind, vgl. ZeUerU, 320; III ', b
120—122.
°) Procl. in Euch def. I, p. 95, 22 Friedlein, u. v. a. St.
398 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonisnius und dessen Vorläufer.
apriorische Erklärung dafür haben che Neupythagoreer nicht ge-
geben, Ihr Apriorismus kann eben, gerade wie der Spinoza's
und Hegel's, nicht anders vorankommen, als durch fortwährende
Anleihen bei der Empirie.
Eine gleiche stillschweigende Aufnahme neuer empirisch ge-
gebener Bestimmungen, wie hier bei der geometrischen Materie,
finden wir abermals bei der Erklärung der physischen, körper-
lichen Natur. Das geordnete Weltganze ist entstanden dadurch,
dass die iMaterie der körperlichen Dinge i), welche in sich durch
und durch wandelbar und veränderlich 2) und dadurch auch der
Grund des unablässigen Flusses der körperlichen Dinge ist ^),
durch die Teilnahme an den Zahlen, welche hier die Stelle der
platonischen Ideen einnehmen, zu bestimmter Gestaltung geführt
wird ^). Mehr dem Wortlaut des platonischen Timäus gemäss
setzen die hermetischen Schriften dafür ein Formen der gestalt-
losen Materie durch die Gottheit 5). Der formlose Zustand der
Materie geht der Gestaltung indes nur der Natur^ nicht auch der
Zeit nach voran. Nach dem Voraufgange des Ocellus ^) überneh-
men auch die übrigen Neupythagoreer die aristotelische Lehre
von der Ewigkeit der Welt ■*). Nur vereinzelte Ausnahmen finden
^) ij T(2v ao},udzMv vXv, Moderatus bei Simpl. in phys. I, p. 231, 17.
2) Nicom. ar. intr. I 1, 3. Ebenso Aet. 19,2 (Dox. p. 307) bei Plut. plac.
I 7, Stob. ecl. I,p. 318 und Euseb. praep. ev. XV i44, 2. p. 845 D. Numen. fr. 11
bei Euseb. praep. ev. XV, 17, 2. p. 819 B; fr. 26, ebd. XI, 18, 3. p. 537 B (vgl.
Chalcid. in Tim. c. 296, p. 325, 7—8 Wrobel). So hatte schon Xenocrates die
stets fiiessende Natur als Gegensatz des Einen aufgestellt; s. S. 207.
^) Nicom. ar. intr. I 1, 3.
■') Nicom. ar. intr. I 1, 2. Nunienius fr. 14 Thed. bei Chalcid. in Tim. c.
295, p. 324, 4—11. 325, 3—5 Wrobel. lambl. in Nie. ar. intr. p. 105 A-B.
») Stob. ecl. I, p. 316-318. Poem. c. 8, 3. Vgl. Asclep. c. 17, p. 39, 32
Goldbacher lin: Apulei opusc. quae sunt de philos. Rec. Goldbacher. Vindobon.
1876). Derselbe Asclepius stellt im Anschlüsse an die Stoiker das Pneuma
(Spiritus I als den Träger auf, der die Formen in die Welt einführt (c. 17 Anf.).
Gleichfalls mit den Stoikern (s. S. 364 Anm. 2) legt er dieser vom Pneuma
durchzogenen Materie Fruchtbarkeit und Zeugekraft bei (c. 16, p. 38, 24 ff. 39, 7).
Andererseits erscheint die Materie nach dem Timaeus als receptaculum (c. 17,
p. 39, 33), das nur durch die in ihm ausgeprägten Formen sichtbar wird, an
sich aber unsichtbar ist (c. 17, p. 40, 9—12).
«) s. S. 390.
') Vgl. Zeller III''' b, 131 f.
Neupythagoreer. Die Materie in der Körperwelt. S90
sich. So wenn in den hermetischen Schriften der Weit ein
zeitlicher Anfang, aber eine ewige Dauer beigelegt wird ^).
Diese Materie der Icörperlichen Dinge wird von Moderatus
als Abbild der idealen Materie gefasst. Sie ist, wie die letztere,
Quantität — d. h. nicht Quantität als eine bestimmte Form, son-
dern als Auflösung, Ausspannung, Zerstreuung ^) — und geht,
wie jene, aus der Ur-Monas auf dem Wege der Negation aller
Bestimmtheit hervor 3). Andere leugnen diesen Hervorgang und
betrachten sie als ursprüngliches Princip *). Viele Mühe geben
sich die Neupythagoreer, zu zeigen, dass auch die körperliche
Materie auf den Begriff der unbestimmten Zweiheit (üÖQiaiog 6väg)
zurückzuführen sei^).
') Poem. c. 8, 3. 10, 10. Asclep. c. 15, p. 39, 5 Goldb. — Eine scheinbare
Abweichung findet Zeller IIP b, 228, 3 bei Asclep. c. '26, p. 49, 13 Goldb., wo es
heisst: genilura uiundi . . . quae est et fuit sine initio sempiterna. Indes ist die
Beziehung des Kelativsatzes auf genitura mundi jedenfalls unrichtig , da geni-
tura hier im Sinne von nu?.iyyiviaca steht {renaissance übersetzt Mesnard, Her-
mes Trismegiste. -J. ed. Paris 1867, p. 150, Wiedergeburt ßernays, Apuleius'
Dialog Asclepius. Ges. Abb. S. 335). Bernays a. a. 0. bezieht ihn auf das vor-
aufgehende natura. Allen Anstoss beseitigt Goldbacher's Einschiebung von vo-
luntate, durch die der Satz eine mit dem Folgenden übereinstimmende Bezie-
hung gefunden hat.
'■') Simpl. in phys. I, p. 231, 19 — 20. 22 — 24. Vgl. 232, 25: zu dJ^-iaiuv nuaüv.
^) Moderatus (s. o. S. 395 Anm. 7) bei Simpl. in phys. I, p. 231, 15 — 21.
*) lambl. in Nie. ar. intr. p. 111 C; vgl. o. S. 395 Anm. 2.
") Es möge genügen, von diesen wunderlichen Zahlenspeculalionen eine
Probe zu geben. — So finden wir bei lamblichus in seiner Erläuterungsschrift zur
arithmetica introductio des Nicomachus Folgendes als pythagoreische Lehre.
Alles in der Weit ist von Gegensätzen beherrscht, die durch die Harmonie
zur Einheit geführt werden (,p. 103 B— Gj. So Beschaffenes aber lässt sich
nicht durch die Quadratzahlen {rttQÜywva.; das Wort steht hier zugleich im
geometrischen und im arithmetischen Sinne) ausdrücken, sondern nur durch
die im engern Sinne so genannten Rechteckszahlen {itfQofxily.-i,), d. h. durch
die Producte zweier Seilen, von denen die eine um eine Einheit länger ist
als die andere (p. 105 B-GJ. Denn nicht die Quadrate, die ja aus gleichmal
gleich bestehen, sondern die Rechteckszahlen enthalten Entgegengesetztes,
nämlich Parzählig und Unparzählig, zur harmonischeu Einheit des Productes
verbunden. Nun entstehen zwar die Quadrate aus der Einheit allein, jene
Rechlecke dagegen, deren Seilen um eine Einheit verschieden sind, kommen
dadurch zustande, dass die Einheit sich in die Zweizahl verliert, lamblich
zeigt dieses auf doppelte Art: geometrisch und aritiinielijch. Freieres
4()() Fünfter Altsrlinitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Als das Unbestimmte ist die Materie, wie in Übereinstimmung
mit Piato gelelirt wird, an sich für das Denken unerfass-
a
b
b
l
a = fxovag
h 4- b + 1) = ■/"
a b
a b
b b
b -(- b -|- b -}- b = yvc) fiu>v
ist die Bildung der Quadrate und Rechtecke durch Gnomonen, letzteres die
durch Zusammenzählung [iTnaiDQfi'a).
Um das Quadrat 4 (= 2X 2) geom etrisch durch den Gnomon 3 zu bilden, ist
ein Quadrat — also die ^or«? — erforderlich, an welches jener Gnomon, der
aus 3 jenem ersten Quadrate glei-
chen und in der Form eines Winkel-
hakens verbundenen Quadraten be-
steht, dann angelegt werden kann
(107 A). Um dagegen z. B. das
Rechteck 6 mit den Seiten 2 und 3 durch Umlegung eines solchen Gnomons
(mit ungleich langen Schenkeln)
bilden zu können, müssen zuvor * ^ a -|- a = <)-üas
'i aneinandergesetzte Quadrate —
also die rf««'? — hingelegt werden
(p. 109 A.) Dasselbe ergiebt sich
bei der arithmetischen Bildung
jener Quadrat- und Kechteckszahlen
durch Zusammenzählung. lamblichus vergleicht dieses Verfahren dem Doppel-
lauf in der Rennbahn. Bei demse'ben gleicht die Eins, von der ab gezählt
wird, den Schranken. Von der Eins geht die Zählung weiter bis zu der Zahl,
um deren Quadrat, resp. bis zu den Zahlen, um deren Product es sich han-
delt. Diese Zahl, resp. diese Zahlen, werden der Säule verglichen, an der
beim Doppellauf die Wendung stattfindet. Ist dieses Ziel erreicht, so beginnt
der zweite, rückläufige Teil der Zahlenreihen. Er i^t verschieden für die
Quadrat- und für die Rechteckszahlen. Bei jenen langt er wieder bei der
Eins, bei diesen bei der Zweizahl an. So entsteht z. B. das Quadrat 4
(=2X2) durch die Suniniierung {IniauiQdu) folgender Reihe:" 1 + 2 -)- 1,
das Quadrat IG (=4X4) aus der Reihe : l + 2 + 3 + 4 + 3-f2 + l
(pag. 107 B-108 D). Die Rechteckszahl 12 (= 3 X 4) entsteht aus 1 + 2 + 3
+ 4 + 2, die Rechteckszahl 20 (=4X5) aus 1 + 2 + 3 + 4 + 5+3+2
(pag. 109 A — B). Dass in den beiden letztern Fällen nicht das vollkommne
Quadrat, sondern das unvollkommne , mangelhafte Rechteck entstand, liegt
darin begründet, dass der zweite Teil der Reihe nicht zu der Einheit zurück-
kehrte, von welcher der erste ausgegangen war, sondern bei der Zweizahl
stehen blieb (p. 109 C). Da nun die vollkommne Hälfte der Reihe bis zu der
höchsten Ziffer dieser aus der Einheit durch deren successive Selbstaddition
entsteht (2= 1 + 1, 3=2 + 1 u.s.w.), so ist die Einheit in der Natur der
Grund der Vollkommenheit und giebt allem die Form (ftd'o?). Grund der
Auflösung aber, d. h. die Ursache, we.shalb die zweite Hälfte der Reihe im
Vergleich mit der ersten als trümmerhaft und unvollständig erscheint, Grund
der Ungleichheit und Unbestimmtheit ist die Zweiheit. Sie ist darum der
Ausdruck für die bestimmungslose Materie der Naturdinge (p. 109 C— 111 G.
e Neupythagoreer. Unerkennbarkeit der Materie. Die Mat. das Ül)le. 401
bar 1). Sie ist nur vorzustellen als das Leere, was nach Abs-
traction von allen bestimmten Formen und Körpern übrig bleibt 2).
Weil die Materie Ursache der Unbeständigkeit und der Ent-
zweiung ist, so ist sie der Grund des Bösen *). In diesem Puncto
treffen die Neupythagoreer mit den Piatonikern aller Schattierun-
gen zusammen. Nur die hermetischen Schriften nähern sich
auch hier mehr der stoischen Auffassung ^). Dagegen führt jenen
Gedanken in voller Schärfe und zugleich in bewusstem Anschluss
an Plato der für die Entwicklung des Neuplatonismus auch
sonst nicht unwichtige Numenius durch •'^) , der hierin an
(Ähnlicher pseudo-mathem atischer Aberwitz bei Proclus in Eucl. elem., def. 26,
p. 168, 20 -22, wo die Materie für die Ungleichheit des ungleichschenkligen
Dieiecks verantwortlich gemacht wird).
^) Num. fr. 12 bei Euseb. praep. ev. XV 17, 3.
») Num. fr. 18 bei Chalcid. c. 299, p. 328, 3—8 Wrobel.
^) Moderat. bei Simpl. in phys. I, p. 231, 21 ; vgl. ders. bei Porphyr, vit.
Pyth. §. 50. Eudorus bei Simpl. in phys. I, p. 181, 14-15. 25-27. Theo
Smyrn. expos. rer. math. c. 5, p. 22, 13- 15 Hiller. Aetius I 7, 18 (Dox. p. 302)
bei Plut. plac. I 7 und Stob. ecl. I, p. 58. Ps.-Archyt. bei Stob. ecl. I, p. 712.
Ps.-Plut. de Vit. et poes. Hom. c. 145. p. 1183 B. Porphyr, vit. Pyth. §. 38
(nach Antonius Diogenes; vgl. E. Rohde, die Quellen lamblich's in s. Biogr.
d. Pyth., Rh. Mus. XXVI, 1871, S. 574) u. v. a. Stellen.
*) Die Materie, lehrt der Trismegistos den Asclepius, ist, wie an Gutem,
so auch an Schlimmem fruchtbar (malignitatis fecunda, c. 15 Schi.). Auf-
gabe des Menschen ist es, sich durch die vom höchsten Gott ihm verliehene
Vernunft vor der Verwicklung in das Böse zu hüten (c. 16).
^) Die Materie ist nicht, wie die Stoiker wollen, indifferent, sondern gänz-
lich böse (fr. 15. 16. 17. bei Chalcid. in Tim. c. 296. 297. 298, p. 325, 10. 14 ;
326, 7. 23 ; 327, 9 Wrobel) und daher auch Ursache des Bösen in der Welt,
wie Gott Ursache des Guten in ihr (fr. 15, Ghalc. 1. c. c. 296, p. 325, 12). Der
göttlichen Vernunft steht sie als die Notwendigkeit gegenüber (fr. 15, Ghalc.
c. 296, p. 325, 14-16. fr. 18, ebend. c. 299, p. 328, 8; vgl. oben S. 117 ff.),
während anderswo der blinde Zufall auf sie zurückgeführt wird (fr. 17, Ghalc-
c. 298, p. 327, 9 — 13). Die Bewegung, welche schon vor der Weltbildung in
ihr herrschte, lässt sich nur aus einem seelischen Princip ableiten, welches we-
gen der Ordnungslosigkeit der von ihm hervorgebrachten Fluctuationen als
böse Wehseele zu denken ist (fr. 16, Ghalc. c. 297, p. 326, 13—17. Ebenso
Plutarch und Atticus ; s. S. 146 Anm. 1. S. 378 f.). Wegen der Schlechtigkeit
der Materie konnte der höchste Gott bei der Weltbildung nicht unmittell^ar
mit ihr in Berührung treten; darym ist die Weltbildung das Werk des vom
höchsten Gott verschiedenen zweiten Gottes, des Demiurgen (fr. 26. 27 bei
Euseb. praep. ev.XI 18,3. 8f. p. 537 A. G. Vgl. das S. 384 u. 386 über Philo Ausge-
führte). Durch das ordnende Eingreifen des Demiurgen kann das aus der
ßaeuiukur: Das Problem der Materie etc. 2t)
402 Fiinfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Gronius einen Gefährten hatte i).
2. Die Neiiplatoniker.
a. Plotiii.
Plotin's Lehre von der Materie 2), deren allgemeiner Gharacter
schon oben gezeichnet wurde ^), können wir nach folgenden Ge-
sichtspiincten betrachten :
1) Notwendigkeit und Natur der Materie;
2) die sinnfällige und die intelligibele Materie;
3) Ursprung der Materie;
4) die Materie und das Böse.
1. Die Notwendigkeit, als Substrat der sinnfälligen Körper
eine gemeinsame Materie anzunehmen, ergiebt sich für Plolin aus
einer doppelten Gedankenreihe. Die eme wiederholt aristote-
lische Gründe, die andere führt auf Plato zurück.
Mit Aristoteles erschliesst Plotin aus dem Übergange der Ele-
mente in einander, dass sie aus der wechselnden Form ^) und
Materie entspringende Übel wohl eingeschränkt, aber nicht ausgerottet wer-
den ; denn sonst würde die Natur der Materie selbst vernichtet (fr 17. 18,
Chalcid. c. 298. 299, p. 327, 13-17. 18—20). Deshalb ist das Übel notwendig
in der Welt (fr. 16, Ghalc. 297, p. 326, 3—7: vgl. das S. 206 über Plato Ge-
sagte). Nichts Gewordenes ist frei von Fehlern, sei es nun durch Menschen-
kunst oder von Natur entstanden (fr. 18, c. 299, p. 327, 25—328, 3). Durch die
böse Weltseele wohnt der Materie die Begierlichkeit inne (fr. 26, Euseb. praep.
ev. XI, 18, 3, p. 537B). Darum stammt auch für unsere Seele alles Böse aus der
Materie (fr. 49, Stob. ecl. I, p. 896. Vgl. oben S. 377. 386 f.), und ist es über-
haupt ein Unglück für die Seele, mit dem Leibe bekleidet zu sein (die fvarnfiä-
rwair, fr. 50, Stob. ecl. 1, p. 910).
1) An den beiden in der vor. Anm. zuletzt cifierten Stellen wird neben
Numenius auch Gronius, an der letzten daneben auch Harpocratio angeführt
(über diesen vgl. S. 376 Anm. (i. S. 377).
^) Über Plotin's Lehre von der Materie handeln H. F. Müller, Plotin's For-
schung nach der Materie, im Zusammenhang dargestellt. Berlin 1882. Jules
Simon, Histoire de l'ecole d'Alexandrie. Bd. I. Paris 1845. S. 390—429.
E. Vacherot, Histoire critique de l'ecole d'Alexandrie. B. I. Paris 1846. S. 445 —
458. 481 ff. G. H. Kirchner, Die Philosophie des Plotin. Halle 1854. S. 106 ff.
Bouillet, Les Enneades de Plotin. Bd. I. Paris 1857. S. 4H1 ff. Heinze, Lehre
vom Logos, S. 314 ff. Zeller III ^ b, .',25 f. 544 ff.
■') s. S. 301 f.
•*) .Ausser den aristotelischen Ausdrücken fxoQtfi und fuUg und dem aristo-
telisch-stoisclien köyog hat Plotin dafür auch die in diesem Sinne specifisch
Die Neuplatoniker. flotin. Notwendigkeit und Natur der Materie. 40S
deren bleibendem Substrate, der Materie , zusammengesetzt
seien 1).
Mit Plato ist Plotin davon überzeugt, dass das Sinnfällige
nur einen Wiederschein des wahrhaft Seienden, d. h. der intelli-
gibeln Welt, darstelle 2). Dieser Wiederschein aber bedarf zu
seiner Entstehung eines andern, in dem er sich zeigt, wie das
Spiegelbild im Spiegel 3). Jener Spiegel ist nicht etwa der er-
kennende Geist. Ein solcher subjectiver Idealismus liegt dem
Plotin so fern, wie dem Plato *). Er ist etwas Objectives, ausserhalb
des Geistes Bestehendes, nämlich die Materie.
Bei der nähern Entwicklung des Wesens der Materie lässt
es Plotin sich vor allem angelegen sein, die völlige Bestimmungs-
losigkeit derselben, den Mangel aller positiven Merkmale an ihr,
zu wahren. Seine Ausführungen erscheinen als die rückhaltlose
Gonsequenz der platonischen und aristotelischen Lehre. Sie
haben dazu mitgewirkt, dass sich namentlich auch von der ari-
stotelischen Lehre ein schärferes und einheitlicheres Bild in der
Auffassung der Folgezeit festsetzte, als wir es in den Schriften
des Aristoteles selber fanden.
Vor allem tritt Plotin der Auffassung der Stoiker entgegen,
als sei die Materie der qualitätslose Körper. Der Körper muss
vielmehr mit Aristoteles schon als Zusammensetzung aus Form
und Materie betrachtet werden '"*). Natürlich findet auch die Ato-
mistik Democrit's und Epicur's seinen Beifall nicht. Mit Aristo-
stoische Bezeichnung t^is (enn. 114,16. p. 117, 3 Müller, wo der Ausdruck aller-
dings durch die Rücksicht auf den Gegensatz aTSQr,aie mitbedingt wird).
1) enn. H 4, G. p. 107, 10 ff.
■') S. o. S. 113.
=>) enn. III 6, 7. t). 13. 14. p. 229, 9. 230, 15. 236, 16. ii37, 4. Vgl. Plat.
Tim. 52 G.
') Es kann nur irre führen, wenn man mit Müller (a. a. 0. S. 11. 19. 25, 1
u. ö.) von einem ,subjectiven Idealismus" bei Plotin spricht; vgl. oben S. 3ff.
Mit Leibniz, dem Müller Plotin's Ansicht von der Materie ziemlich nahe bringt,
hat diese so gut- wie nichts gemein.
'•') enn. II 4, 1. 8. 9. 12. p. 104, 1 ff. 108, 24 f. 109, 27. 113, 24 ff. III 6, 7.
p. 2-28, 3 ff. IV 7, 9. p. 114, 18. VI 1, 26. p. 257, 25 fi'. Vgl. oben S. 333. 335. 353 f.
363, 2. Simpl. in phys. I, p. 229, 11 ff. nimmt mehrfach auf diese Ausführungen
des Plotin Bezug. — Natürlich ist hier von der auXing t-Aij die Rede; materiase-
cunda ist ein bestimmter Körper, wie z.B. der Lehm für den Töpfer: enn. II
4, 8. p. 108, 25—28.
26*
404 * Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
teles und den Stoikern hält er ihr entgegen, dass es für die Tei-
lung des Körpers keine Grenze gebe i). — 'Aber auch die blosse
Grösse an sich darf nicht als die aller bestimmten Umgren-
zung zugrunde liegende Materie gefasst werden. Der Neupytha-
goreer Moderatus hatte, vvie wir sahen, sich dieser Ansicht genä-
hert 2) und auch Numenius sie berücksichtigt 3). Die Grösse, wen-
det Plotin dagegen ein, ist, da sie Maass und Zahl ist, bereits
eine Form, und daher nicht das Aufnehmende ^). Der Materie
in ihrer Ganzheit kommt sie dadurch zu, dass die Grösse an sich
in ihr sich wiederspiegelt ^), während die bestimmte Grösse eines
materiellen Einzeldinges, z. B. die des Menschen, Pferdes u. s. w.,
wie mit Aristoteles gelehrt wird '*), ihr durch die Form gegeben
wird'). Erst durch die Form wird die Materie zur Masse (oyxoc).
Weil sie sich immer unter einer Grössenbestimmung darstellt, so
hat es freilich den Schein, als sei die Materie selbst schon Masse;
aber dieser Schein ist, weil er ihr nicht aus ihr selber zukommt,
nur ein erborgter und darum lügenhafter **). Nur insofern ist der
Materie eine Beziehung zur Quantität eigen, als sie nirgendwo,
weder im Ganzen, noch in irgend einem Teile, der Form, wenn
diese von ilir Besitz ergreifen will, ausgeht ■'). Weil sie sonach
immer in hinreichender Menge vorhanden ist un(i sich, als
in sich grösselos, keiner Expansion oder Gontraction ent-
zieht, vielmehr unter der grösseverleihenden Form jede Grösse
durchläuft, konnte sie Plato als das Gross- und -Kleine be-
zeichnen ^'').
So ist die Materie an sich körperlos, grösselos, und na-
türlich auch eigenschaftslos 1^).
1) enn. II 4, 7. p. 108, 14 ff.
'^) S. S. 395. 399. Nach Moderatus sohle jenes noaov freihch kein eu^og
sein ; s. S. 399 Anm. 2.
3) S. S. 395 Anm. 2.
*) enn. III 6, 17. p. 240, 6 ff. II 4, 8. p. 109, 12—14.
5) enn. III 6, 17. p. 240, 21 (mil E. Seidel, De usu praepositionum Ploti-
niano. Dissert. Breslau 1886, p. 33 isl hier zu lesen tiqü^ avroi xov /xe'ya).
«) S. S. 264.
') enn. II 4, 8. p. 109, 15—19. III 6, l(i. 17. p. 239, 9—16. 240, 19-20.
Vgl. auch Simpl. in phys. I, p. 229, 27 ff.
«) enn. II 4, 11. p. 112, 4. III 6, 7. 17. 18. p. 228, 13. 240, 11-16.241,24-27.
») enn. III 6, 18. p. 241, 27 ff. Vgl. Aristoteles (S. 237) und Philo (S. 387).
■") enn. li 4, 11. p. 112, 6—21. Vgl. III 6, 7. p. 228, 17. VI 6, 3. p. 350, 14.
") Für das letzere vgl. enn. I 8, 10. p. 67, 5. II, 4, 8. 13 u. ö.
Plotin. Natur der Materie. 405
Weil jeder Form entbehrend, ist die Materie das Unbe-
stimmte oder Maas s lose {äneiQov, doQiori'a), die Beraubung
{OTSQyoig) 1). Beides knüpft an Plato, zum Teil schon an die
Pythagoreer an. Maasslosigkeit und Beraubung sind indessen
nicht als Accidentien der Materie zu fassen, sondern machen ihre
Natur, ihr Wesen aus, soweit bei dem Wesenlosen von einem
Wesen gesprochen werden kann 2). Denn Accidens kann nur
sein, was ein bestimmtes positives Merkmal (Aoyoc) enthält. Und
ferner: wenn die Unbestimmtheit erst als Accidens zu der Materie
käme, so müsste diese in sich etwas Begrenztes sein. Das aber
widerspricht ihrem Begriff ^).
Als Beraubung und Unbestimmtheit ist die Materie das
Nichtseiende [jir] or)^). Die Bezeichnung enthält ihren Sinn
durch den Gegensatz. Nicht in dem Sinne ist die Materie ein
Nichtseiendes, als ob sie überhaupt nicht wäre, sondern weil sie
von dem Seienden — d. h. dem in Wahrheit Seienden oder dem
Unveränderhchen, auf welches schon die Eleaten den Begriff des
Seienden beschränkt hatten — verschieden ist ^). Indes ist die
Materie auch nicht etwa bloss in der Weise ein Nichtseiendes,
wie die Bewegung, welche sich als das noch nicht Seiende, als
Übergang zum Sein darstellt und von Plotin als ein in acciden-
teller Weise Seiendes ^) bezeichnet wird. Sie ist ganz aus dem
Sein hinausgeschleudert, nur ein Bild des Seienden, ja noch we-
niger als ein solches ''). Sie wird dai'um auch mit der P e n i a
des platonischen Mythos von der Geburt des Eros zusammen-
gestellt, welche schon Plutarch auf die Materie deutete ^).
Diese ihre negative Natur bewahrt die Materie auch unter
den Formen, die in sie eintreten. Sie wird durch dieselben nicht
innerlich erfüllt, sondern bleibt auch unter jenen Bestimmungen
1) enn. II 4, 13—16 u. ö.
*) enn. II 4, 13—15.
■') enn. II 4, 15. p. 116, 4-10.
") enn. I 8, 3. II 5, 4. 5. III 3, 6. 7. 17 u. ö.
") enn. I 8, 3. p. 58, 22 : .teij Sv di ovrt t6 navreXöäs ^17 ov, dXX^ eregov juövov
rov ovTOs.
6) enn. II 6, 1. p. 123, 4.
') enn. I 8, 3. p. 58, 24—25. II 5, 4. 5. p, 121, 17—29. 122, 5—10. III 6, 7.
p. 228, 11-14.
8) S. S. 379. Die Citate aus Plotin ebd. Anm. 8.
f06 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonisnius und dessen Vorläufer.
in sich unbestimmt und blo?se Beraubung^). Jene Formen näm-
lich sind, da das Seiende kein Seiendes aus sich fort entlässt, nur der
Wiederschein des wahrhaft Seienden. Der Wiederschein muss in
etwas anderm aufgefangen werden, da in sich selber nur das
wahrhaft Seiende Bestand hat. Aber dieses Aufnehmende hat
dem Bilde nur Raum zu gewähren. Es wird durch dasselbe in
sich so wenig bestimmt, wie der Spiegel durch die Bilder in ihm,
wie der Fels durch das Echo, das von seiner glatten Fläche ab-
gleitet 2). Wenn die Materie durch den Eintritt der Form in sich
eine Veränderung {aXloibcOic) erführe, 'so würde sie ihr AVesen
verlieren und nicht mehr die alles Aufnehmende {navStyriig) sein,
die sie nicht bloss accidenteller Weise, sondern ihrem Wesen nach
ist ^) und als welche sie Plato im Timaeus beschreibt ^). So wenig aber
die Ideen ihre Natur als wesenhafte Substanzen {ovoicci\ so wenig
kann auf der andern Seite die Materie jene ihr eigentümliche
Natur verändern ^). Plotin legt besonderes Gewicht auf diesen
Punct, den wir schon als eine Unterscheidungslehre zwischen
Peripatetikern und Piatonikern kennen lernten ß), und der sich
ausserdem wohl auch gegen die stoische Gegenüberstellung von
Materie und Ursache als des Leidenden und des Wirkenden
richtet 'i. Er drückt den Gedanken auch in dem Satze aus, dass
die Materie unafficierbar {äjiad-ric) sei. Weil dieselbe den in
sie eindringenden Formen nur Raum gewährt, nicht durch sie
innerlich bestimmt wird; so kann sie durch den Gegensatz dieser
Formen auch nichts erleiden. Nur die Gegensätze selber, d. h.
die entgegengesetzten Qualitäten, oder auch die Gomposita aus
Form und Materie, die Körper, bekämpfen und zerstören einan-
der. Die Materie dagegen wird durch diesen gegenseitigen Kampf
der in ihr befindlichen Spiegelbilder so wenig betroffen, als die
Kämpfer das Haus oder die Luft verwunden, worin sie fechten ^).
Bleiben so die Formen, welche in die Materie eintreten, da
•) enn. II 4, 16. p. 117, 1 ff.
*) enn. III 6, 14. Vgl. III 6, 7. 11.
^) So hatte Alexander von Aphrosidias auch die aristotelische Lehre
präcisiert ; s. S. 297 f.
*) enn. III G, 10. p. 231, 12—30. — ») enn. III 6, 10. p. 232, 1—6.
•') S. S. 298 u. 375. Die entgegengesetzte Meinung des Aristoteles s. S. 221.
265 Anm. 2. — ') S. S. 331.
^) enn. III 6, 7—10. 19. Plotin giebt sich viele Mühe, zu zeigen, dass die-
ses auch Plato's wahre Meinung sei : enn. III, 6, 11 — 13.
Plotin. Natur der Materie. 407
sie dieselbe nicht innerlich erfüllen, in Wahrheit ausser ihr, so
ist auch die Teilnahme der Materie an dem Sein in Wahrheit
keine Teilnahme. Nicht teilhabend hat sie teil '). Selbst Plotin
findet diesen Satz einigermaassen verwunderlich '^).
Aber wie kann die Materie überhaupt noch gedacht werden,
wenn ihr Begriff nur durch negative Bestimmungen umschrieben
wird? Plotin und mit ihm andere Neuplatoniker greifen hierauf
das Auskunftsmittel zurück, dessen schon Plato im Timaeus sich
bedient hatte. Es ist ein „unechtes Denken" {GvXXoyiOfxog vö^og),
ein „nichtdenkendes Denken", durch welches die Vernunft die
Materie erfasst, d. h. die Vernunft ist hier thätig, ohne dass sie
ein Seiendes zu ihrem Objecte hätte, gleich dem Auge, wenn es
die Finsternis sieht ^). Wie die Empfindung der Finsternis näm-
lich, obwohl nicht durch einen positiven äussern Reiz verursacht,
doch eine wirkliche Empfindung ist, sehr verschieden etwa von
der Blindheit der Hand, so bleibt auch jene aller Bestimmtheit
entkleidete Denkthätigkeit doch inmier noch ein wirklicher Ge-
danke, sehr verschieden von dem Nichtdenken im Sinne der völ-
ligen Unthätigkeit.
Soweit steht die Lehre Plotin's durchaus auf platonischer
Grundlage. Damit aber wird zugleich der Begriff in Verbindung
gesetzt, welcher den Mittelpunct der aristotelischen Lehre von der
Materie bildet: der Begriff der Möglichkeit. — Plotin unter-
scheidet mit scharfer Fixierung aristotelischer Begriffe ^) zwischen
dem Vermögen {Svvafiic) und dem der Möglichkeit nach Seienden
{t6 dvväfiei). Ersteres ist die Kraft zur Thätigkeit, als die active
Potenz; letzteres wird von dem gesagt, was eine — sei es ver-
vollkommnende oder zerstörende — Form in sich aufnehmen
kann, also von der passiven, bloss receptiven Potenz ^). Ebenso
ist zu unterscheiden zwischen dem Act [svagyeia) und dem im
Act Befindlichen {z6 sregyeia). Ersteres ist die Form, letzteres
') enn. III 6, 14, p. 237, 23 ff.
^) a a. 0. d-rtvjxa To XQ'tjßa yivsTUL.
^) Vgl. üben S. 138, wo auch Anm. 4 die Citate aus Plotin, Sirnplicius,
Ghalcidius und Damascius gegeben sind. Über die abweichende Auffassung
des avkkoyia/uüs vod-os bei Proclus ebend.
*) S. S. 224.
°) enn. II 5, 1.
408 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
das Compositum aus dem Subject ^) und der darin befindlichen
Form 2). Das in der Potenz Befindliche kann wieder ein dop-
peltes Verhalten zeigen. Das Subject einer Form nämlich, wel-
ches in Rücksicht auf die Aufnahme dieser sich in der Potenz
befindet, kann in anderer Beziehung etwas Actuelles sein, wie
das Erz, welches actuelles Erz, aber der Möglichkeit nach eine
Bildsäule ist '^). Das trifft zu für alle bestimmten Stoffe. Nur
die (erste) Materie, welche nicht bloss dieses oder jenes, sondern
alles der Möglichkeit nach ist, ist der Wirklichkeit nach nichts
aus dem Gebiete des Seienden-*). Sie "ist nicht ein Seiendes in
Möglichkeit zu einem andern Sein, sondern sie ist schlechtweg
in der Möglichkeit zum Sein, welches sie erst aufnimmt. Oder bild-
lich ausgedrückt: sie ist das blosse Verlangen nach dem Sein •'^).
In sich ist und bleibt sie das Nichtseiende.
Als blosse Möglichkeit ist die Materie endlich das absolut
Unkräftige "). Sie tritt dadurch in den contradictorischen Ge-
gensatz zu dem Urwesen und zu den Ideen, welche von Plotin
mit der gleichen Aimäherung an stoische Begriffe, wie wir sie bei
Philo fanden ''), vorwiegend als wirkende Kräfte gefasst werden ^).
Um nun die Widerstandsfähigkeit und Festigkeit der Körper, ihr
Gewicht und ihren Druck, ihre Gewalt beim Stoss u. s. w. nicht
als einen Beweis dafür gelten lassen zu müssen, dass der Materie
eigenes Wirken und demnach wahres Sein zukomme, erklärt er
diese Erscheinungen nicht für Kraft, sondern für Unkraft, für das
Unvermögen, sich in sich selbst zu halten. Darum sei das be-
wegliche Feuer, welches sich der Natur des Körperlichen beinahe
entziehe, weit mehr ein Seiendes, als die nur leidende Erde ^).
So gelingt es der plotinischen Dialektik, den platonischen
und den aristotelischen Begriff der Materie mit einander zu ver-
^) vnoxiißtvov, t6 dvvdfisi.
2) enn. II 5, 2. p. 119, 26 ff.
■•') enn. II 5, 2. p. 119, 3 ff.
') enn. II 5, 4. 5. S. auch S. 403 Anm. 5.
^) vnoaiäattüi Itftau, enn. III 6, 7. p. 228, 14.
«) enn. II 9, 8. p. 142, 30-31.
') S. S. 381.
^) Vgl. Zeller IIP b, 528 f.
9) enn. III 6, 6. p. 226, 21 ff. Vgl. übrigens schon Arist. de gen. et corr.
I 3, 318 b 29—33; II 8, 335 a 18 ff.
Plotin. Natur der Materie. Die sinnfällige u. d. intelligibele Materie. 409
einigen. Freilich fallen alle die sachlichen Bedenken, welche
gegen den aristotelischen Begriff der Materie erhoben wurden i),
diesem plotin ischen gegenüber doppelt schwer in das Gewicht.
Hatte Aristoteles, durch das Bedürfnis einer concreten Natur-
erklärung gezwungen, den Begriff einer absoluten Potenz, einer
Vorbedingung, die, ohne wirklich zu sein, doch etwas Anderes
bedingt, bei der Einzeldurchführung wesentlich modificiert ^), so
tritt an Plotin jenes Bedürfnis überhaupt nicht heran. Der wissen-
schaftlichen Naturforschung völlig fremd, ringt er ausschliesslich
mit dem Probleme, die Stellung des Endlichen zum Unendlichen und
den Hervorgang des Sinnfälligen aus dem Intelligibeln zu bestim-
men. Darum ist er zufrieden, wenn er die vermeintliche sub-
stantiale Wirklichkeit der körperhchen Natur, in welcher Materia-
lismus und Sensualismus das einzige Sein erblickten, möglichst
aller Beahtät entkleidet hat. Dass die eigentümliche Wirkungs-
weise der sinnlich erscheinenden Körper auch in der Eigentüm-
lichkeit ihres materiellen Substrates begründet sein müsse, dieser
Gedanke liegt ihm um so ferner, da er diese ganze Körperwelt
zu einem blossen Schattenspiel verflüchtigt. Noch deutlicher
wird dieses werden, wenn wir die Art des Hervorganges der Ma-
terie betrachten. Zuvor indes möge die Lehre Plotin's von der
intelligibeln Materie kurz gestreift werden. Im Systeme Plotin's
ist die Bedeutung der intelligibeln Materie eine weit höhere, als im
ursprünglichen Piatonismus oder bei Aristoteles. Sie verträgt
darum nicht eine bloss anhangsweise Betrachtung.
2. Wie Plato, die ältere Academie und die Neupythagoreer
in den Ideen bezw. Idealzahlen, Aristoteles in den Begriffen ein
unbestimmtes und ein beslimmtes Element unterschieden und
beide als Materie und Form entgegensetzten , so unterscheidet
auch Plotin in der intelligibeln Welt das Unbestimmte und
Gemeinsame oder die Materie und das Besondere oder die Form ^).
Jene ist das Unbestimmte und Ungeformte, welches übrig bleibt,
wenn wir von der Vielförmigkeit der Idealwelt abstrahieren, und
welches daher diesen Formen als das zwar nicht zeitlich, wohl
aber der Natur nach Frühere vorangeht *). Wie überhaupt die
intelligibele Welt Urbild der Sinnenwelt ist, so muss auch die
1) S. S. 250 ff. — 2) S. S. 257 ff. — «) enn. II 4, 4.
■*) enn. II 4, 4, p. 105, 31 : rd tzqo tovtoüv afj.og'fov y.al dögiazov.
410 Fünfter Absclinitt. Der Neuplalonismus unJ dessen Vorläufer.
diesseitige Materie in einer jenseitigen ihr Vorbild haben i). Es
ist dieselbe Auffassung, zu der man von den gleichen Voraus-
setzungen aus schon in der neupythagoreischen Schule gelangt
war 2). Auch die Fassung der Materie in den Ideen und (Ideal-)
Zahlen als der unbestimmten Zweiheit, der Form in ihnen als des
Einen, ist dem Plotin nicht fremd ^).
Beide Materien zeigen im übrigen die Unterschiede des
Idealbildes und der Nachahmung. Jener dunkle Grund*) der
Idealwelt ist im Gegensatz zu der Materie des Sinnfälligen in
Wahrheit seiend. Denn was der Materie des Diesseits voraufgeht,
ist das Seiende; sie selbst als verschieden vom Seienden, und
zwar nach unten hin verschieden, ist darum ein Nichtseiendes.
Was dagegen der intelligibeln Materie voraufgeht, ist ein Über-
seiendes, jenseits des Seienden Liegendes, sie selbst als das dem
Range nach Nächstfolgende darum ein Seiendes ^). Ebenso
ist nur die diesseitige Materie Substrat des Wandels und der
Veränderung, die jenseitige dagegen ist in wandelloser Ruhe von
den idealen Formen erfüllt, denen sie sich ganz hingegeben hat,
und die ihr selbst intelligibeles Leben verleihen "). Eine Tren-
nung der Form von der Materie ist bei ihr nur durch die Abs-
traction des Denkens möglich. Dort findet nicht, wie im Dies-
seits, eine Überführung d(!r Möglichkeit in die Wirklichkeit statt,
sondern alles ist ewiges Leben, ewige Energie ^). An dieser in-
telligibeln Materie haben auch die Dämonen, wie Eros, Anteil,
die von den groben Körperstoffen frei sind ^). Damit berührt es
sich, wenn Plotin auch der Seele eine Art von Lichthülle zu-
1) enn. II 4, 4. 15. p. 105, 19-21. 116, 15. — ') S. S. 394.
") enn. V 4, 2. p. 179, 10. Über die Zahlenlehre des Plotin vgl. Zeller
IIP b, 52Gf. — ■*) enn II 4, 5. p. 106, 4—12.
") enn. II 4, 1(5. p. 117, 22 — 25 (statt ertpov Sv ngSs rw xaXw ist mit Seidel
a. a. 0. S. 37 f. zu lesen : uqos t6 xätm). Die intelligibele Materie ist darum
oiaia, was die Stoiker fälschlich von der Materie der Körperwelt behaupteten :
enn. II 4, 5. p. 106, 20—23.
6) enn. II 4, 3. 5. p. 104, 27-31. 106, 15—19. 23—28.
') enn. II 5, 3. Wenn es enn. III 8, 11. p. 275, 16 heisst, der Nus sei eine
ifvvaiuis eci; ivc'gyeiav sX&ovaa, SO ist das zunächst nur von der menschlichen
Veriiunft gesagt, wie der Vergleich mit dem Sehvermögen zeigt, und findet
auf den absoluten Nus nur im Sinne einer logischen Zerlegung Anwendung.
Ausserdem ist hier der von Plotin zwischen rfvvafiie und tu dwäfiti gemachte
Unterschied (S. S. 407) zu beachten.
8) enn. III 5, 6. p. 213, 27—214, 10 (vgl. auch III 5, 7).
Plotin. Die sinnfällige u. die inteUigibele Materie. Ursprung der Materie. 411
schreibt, die leuchtend und wärmend aus ihr ausstrahle und den
materiellen Körper gestalte. Der moderne Spiritismus hat hier für
eine seiner Grundansichten antike Vorgänger an den Neuplato-
nikern ; noch mehr freilich als an Plotin an den gleich zu behan-
delnden spätem Anhängern der Schule ^).
3. Die Frage nach dem Ursprung der Materie beant-
wortet Plotin abweichend von Plato und Aristoteles. Sein Sy-
stem des dynamischen Emanatismus 2) bietet, wie das System
der Stoiker und das der Neupythagorcer, auch für die Ablei-
tung der Materie aus dem Einen Platz. Aus dem obersten
Einen stammt als dessen erstes Erzeugnis der Nus, in welchem
an die Stelle der ewigen Ruhe des Ersten, welches, über das geteilte
Denken erhaben, sich gewissermaassen in sich selbst fühlt, eine
in bewusstem Denken sich vollziehende Erfa.ssung des Ursprungs
tritt 3). Aus dem Einen müssen daher auch die beiden Elemente
der Idealwelt, die unbestimmte Materie und die Vielförmigkeit
dieser, als Entfaltung des dort in absoluter Einheit Verbundenen
stammen. Wir brauchen hier nicht weiter zu verfolgen^ wie
Plotin den unendlichen Reichtum der idealen Formen aus dem
Abgrunde des ersten Ursprungs hervorgehen lässt. Für uns
kommt nur seine Lehre vom Ursprung der Materie inbetracht.
Die Unbegrenztheit des Seins, welche das Wesen der idealen
Materie ausmacht, erscheint ihm als das Erzeugnis der Unbe-
grenztheit der flacht und Ewigkeit des Einen ^). Aus dem Nus geht
auf dem Stufenwege vom VoUkommnen zum UnvoUkommneren ^)
die Weltseele, aus dieser die Sinnenwelt hervor *'). Jede Kraft
jnuss durch eine notwendige Naturwirkung '^) eine minder mächtige
Kraft erzeugen. Das Erzeugnis wnrd um so unkräftiger sein, je
weiter es von der obersten Ursache absteht. So wird die letzte
Stufe absolute Unkraft sein, unter der es kein Schwächeres mehr
giebt und bei der deshalb das Hinabsteigen ein Ende findet ^).
Oder in einem, auch andern emanatistischen Systemen geläufigen
Bilde : wie das Licht, das rings um eine Lichtquelle aufleuchtet.
') enn. I 1, 6. p. 7, 28-8, 2. ebd. c. 8, p. 9,3— G. VI, 4, 15. p. 322, 32-31.
S. unten S. 418. — -) vgl. Zeller IIP b, 506 ff.
=*) enn. V 4, 2. — *) enn. II 4, 15. p. IIG, 11—13.
*) ein Grundprincip der neuplatonischen Weltanschauung, das sich im
Keime schon bei Aristoteles findet; vgl. de gen. et corr. II 10, .3.36 b 26 ff.
^) die ja auch bei Plato der Seele gegenüber das Spätere ist ; Tim. p. 36 D.
') vgl. enn. II D, 8. p. 142, 31-32. — «) enn. II U, 8. p. 142, 30-31.
412 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonianus und dessen Vorläufer.
mit der zunehmenden Entfernung innner mehr an Helligkeit ab-
nimmt, bis es zuletzt in Finsternis übergeht, so muss auch das
letzte Erzeugnis in der Entwicklung des Seienden Finsternis, d. h.
völlige Be.stimmungslosigkeit, sein i). Diese absolute Unkraft,
diese Finsternis, ist die Materie der Sinnenwelt.
Der Process, durch den die Materie aus der Weltseele hervor-
geht, hat aber seinen Grund in dem Verlangen der Seele, sich einen
Körper zu erzeugen. Denn da sie, von der Einheit noch weiter
entfernt als der Nus, der Vielheit zustrebt, so begehrt sie nach
einem körperlichen Ort, in welchem sie sein und das in ihr Ent-
haltene auch räumlich auseinander legen könne. Je weiter näm-
lich die Entwicklung sich von dem Einen entfernt, desto grösser
wird der Trieb zur Vielheit und zur Zerleilung. Nachdem diese
Mannigfaltigkeit auf dem Gebiete des intellectuellen Seins
ihren höchsten Grad in der Seele erlangt hat, ist eine weitere
Zerteilung nur noch dadurch möglich, dass die Begriffe räum-
lich ausgedehnt und räumlich vervielfältigt werden. Darum muss
jetzt aus der Seele die Körperwelt hervorgehen. Um diesen Über-
gang des Immateriellen in das Materielle noch mehr zu vermit-
teln und über den Widerspruch hinwegzutäuschen, der darin liegt,
dass blosse Intensitätsunterschiede eine qualitative Verschieden-
heit bewirken sollen, unterscheidet Plotin eine doppelte Seele, die
obere, die dem Nus zugewandt ist, und die niedere oder die Na-
tur {(fvOiq), von der die Körperwelt ausgeht 2). — Körper aber
sind nicht möglich ohne die Materie als ihr Substrat. Nur an
der Materie können die Formen in räumlicher Ausdehnung
erscheinen ; ohne sie würden dieselben unräumliche Begriffe
bleiben ^).
So bringt das Verlangen der Natur zuerst — in unzeitlichem
Prius ^) — die Materie als den Ort ihrer Wirksamkeit hervor. In-
^) enn. IV 3, 9. p. 18, 21—23. Vgl. III 6, 18. p. 242, 16 u. ö.
') Vgl. Zeller IIP b, 539 ff.
3) Vgl. enn. IV 3, 9. p. 18, 17 ff., ferner enn. II 4, 12. p. 112,32 ff. II 7,3.
p. 1.30, 14 ff. III 6, 17. 18. p. 240, 8 ff. 242, 9 tf. IV 7, 18. p. 122, 16 ff. u. s. w.
Der Gedanke des Plotin wird erläutert durch Simpl. in phys. I, p. 231, 30.
Der Begriff einer Grösse von drei Ellen, heisst es dort, ist nicht selbst schon
gross, der der Dreizahl nicht discontinuierlich. Masse und das Auseinander
kommt jenen Xöyoi erst durch den Fortgang {yniäoAug) zum Werden und zur
äussersten Stufe zu, d. h. durch den Eintritt in die Materie.
') enn. IV 3, 9. p. 18, 14,
Plotin. Ursprung der Materie. 4l3
dem sie dann das Dunkel des Stoffes durch ihr Licht erhellt,
entsteht die Sinnenwelt. Die Natur nämlich, als ein vernünftiges
Wesen {löync) ^), sucht zu schauen. Da sie aber schwächer ist
als die Seele, kann sie nicht, wie diese, durch die reine Betrach-
tung {!){-MQia) zum Schauen gelangen ; sie schaut, indem sie
schafft {rrga^ic), wie wenn der Mathematiker dadurch betrachtet,
dass er die Umrisse der Figur im Betrachten zieht 2). Dieses
Bilden und Schauen der Natur ist nicht, wie das Schauen der
Seele, ein helles Denken. Es gleicht der Traumphantasie des
Schlafenden ^). Bei demselben geht die Natur nicht aus sich
heraus, sondern bei ihrem Schauen gleiten die Umrisse der Kör-
per von selbst ins Dasein *j, wie denn überhaupt nach Plotin's
Lehre das Niedere aus dem Höhern hervorgeht, nicht dadarch,
dass dieses aus sich herausgeht, sondern als dessen mit Notwen-
digkeit zum Bestände kommender Wiederschein.
Durch jene schaffende Thätigkeit der Natur nun werden die
Begriffe in der Materie verwirkhcht ^). Diese in der Materie be-
findlichen, von den abstracten Verstandesbegriffen, welche in den
Definitionen auseinandergelegt werden, verschiedenen ^) schaffen-
den Begriffe ') entsprechen im ganzen den /.öyoi öttsqucctixoi der
Stoiker ^). Nur erscheinen sie bei Plotin minder wesenhaft, als bei
jenen und werden nicht körperlich, sondern unkörperlich gefasst.
Als Spiegelbilder nämhch bestehen sie nicht in sich, sondern nur
durch die stets erneute Ausstrahlung der Ideen. Unkörperlich
aber sind sie, da nach Plotin auch die Körper durch unkörper-
liche Kräfte wirken ^j. Denn jene Begriffe und Kräfte, obgleich
an der Materie, schliessen doch nicht selbst wieder Materie in
sich ein, wie die Pneumaströmungen, in denen die Stoiker das
Wesen der Kraft sahen.
') enn. III 8, 2. p. 265, 1.5. — ^) enn. III 8, 4. p. 26ß, 19.
^) enn. III 8, 4. p. 267, 1—3. Moderne Analogien drängen sich von selbst
auf. Sie sind zumeist direct oder indirect vom Neuplatonismus beeinflusst.
*j enn. IV 8, 4. p. 2m, 20—21.
*) enn, IV 3, 11. p. 20, 31 fi".
«) enn. II 7, 3. p. 130, 14-16.
') '/evvr,Ttxol köyoi enn. 11 3, 16. p. 100, 3-2 f. Auch von den h anegi-iaai
Xöyoi (i.B. IV 3, 10. p. 19, 27), dem Xoyog anfQßUTixos (z. B. V 9, 9. p. 224, 31)
u. dergl. ist bei Plotin die Rede, doch mit Beschränkung auf das Organische.
«) Vgl. Zeller III ^ b, 555 f. Heinze, S. 315— 321.' Bouillet I 101, 1. 188. 189.
«) enn. iV 7, 9. p. 114, 1 ff.
414 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und desser Vorläufer.
Weil so die Welt aus der Weltseele entsprungen ist^ so ruht
sie in ihr, die sie trägt. Nicht die Welt beherrscht die Seele,
sondern diese jene ^). Die nach ewigem Gesetze erfolgende Ent-
wicklung der Seelenwelt bleibt in Harmonie mit der Entwicklung
der Körperwelt ^).
Auch in der Lehre Plotin's von dem Hervorgange der Materie
zeigt sich dasselbe Unvermögen des Rationalismus, mit den Mit-
teln der menschlichen Vernunft aus dem einen Princip alles als
notwendige Entwicklung desselben zu deducieren, welches wir
schon beim Neupythagoreismus constatieren mussten ^). Dass
über die Vielheit der Begriffe hinaus noch die an die Materie ge-
bundene räumliche Ausdehnung und individuelle Vielheit möglich
sei, ist eine Thatsache, die Plotin stillschweigend aus der Erfah-
rung herübernimmt und für sein System verwertet, ohne dass es
ihm gelänge, ihre innere Notwendigkeit a priori abzuleiten. Und
dass nun gar infolge des Verlangens der Seele oder der Natur,
sich mit ihrem Formeninhalt räumlich auszudehnen, die Materie
als Aufnahmeort plötzlich da ist, erinnert einigermaassen an jene
Theorien, denen die Lunge die Objectivation des Atmungs-
bedürfnisses, der Magen die Objectivation des Verdauungsbedürf-
nisses ist. Zu solchen Auskunftsmitteln nmsste Plotin greifen,
weil er die Schöpfung nur als Naturnotwendigkeit^), nicht als
Wirkung der bewussten und freien Thätigkeit Gottes zu fassen
weiss. Von dem innerlich Widersprechenden des so gewonnenen
BegrüTes der Materie, auf das schon oben hingewiesen wurde,
soll hier nicht weiter geredet werden.
4. Aus der Stellung, welche die Materie in der Entwicklung
des Seienden einnimmt, erklärt sich das Wertverhältnis, welches
ihr bei Plotin zugelegt wird. Weil sie, verschieden vom Seienden,
das Nichtseiende ist, so muss sie, da das Gute mit dem Sei-
enden identisch ist, ja noch über ihm steht, das Böse sein ^).
1) enn. IV 3, 9. p. 18, 33 ff.
2) enn. IV 3, 12. p. 21, 28 ff.
=*) S. S. 397 f.
*) Vgl. Zeller III ^ b, 496 f.
") enn. I 8, 3. p. 58, 16 ff. VI 7, 28. Zum Folgenden vgl. auch Harle.ss,
Das Buch von den ägyptischen Mysterien. München 1858. S 127 ff.
Plotin. Urspruni,' der Materie Die Materie und das Böse. 415
Und da nur das Gestaltete schön ist, so ist die Materie das
Hässliche ^).
Das Böse nämlich sieht Plotin in dem Maasslosen und Unbe-
ständigen, in dem Mangel und der Bedürftigkeit, in dem Fehlen
einer festen Begründung in sich, wie sie dem wahrhaft Seienden
eigen ist und durch die völlige Selbsthingabe an jenes auch von
dem Niedrigerstehenden gewonnen wird ^). Die Materie, die ihrem
Wesen nach Maasslosigkeit und Unbeständigkeit ist, ist darum
auch ihrem Wesen nach böse. Das Böse ist keine Eigenschaft
an ihr, sondern ihre Natur ^). Darum bleibt die Materie, die auch
unter der Form ihre Natur als Maasslosigkeit und Beraubung bei-
behält^), auch unter der Form böse und hässlich '").
Aus der Materie als dem Urbösen stammt alles Üble und
Böse, wie aus der Gottheit alles Gute. Während sie das Böse
ist, sagen wir, dass das Andere durch sie böse werde '^), indem
es von ihr Maasslosigkeit und Unbestimmtheit annimmt, von
ihrem Dunkel verdunk(>lt wird "'). Darum ist die Materie der
Grund des Übels und des Bösen zunächst in der Körperwelt ^).
Durch ihre Schwäche verdirbt sie die begrifflichen Formen, welche
aus der Weltseele in sie eintreten ^) Ebenso hat in der Seele
das Böse nicht ursprünglich seinen Sitz. Reine Geistessünden,
wie z. B. den Hochmut, kennt Plotin nicht, behandelt sie wenig-
stens nicht und sucht sie nicht zu erklären. Auch der Seele er-
wächst das Böse nur durch die Hinneigung zur Körperwelt ^").
Die Materie behindert und schwächt die Seele und lässt sie nicht
zur vollen Entfaltung ihrer Kräfte kommen ^^). Wir sind nicht
böse durch uns selbst, sondern das Böse ist vor uns da ^^).
') enn. I 6, 2. p. 45, 33 ff.
•") enn. I 8, 3. p. 58, 29 ff. I 8, 5. p. 61, 6 ff. u. ö.
ä) enn. I 8, 3. 10. p. 59, 2-4. 67, 15—20.
*) S. S. 405 f.
'") enn. II 4, 16. p. 117, 13-22.
«) enn. I 8, 3. p. 59, 4-6.
') enn. I 8, 8. p. 66, 1—5.
*) enn. I 8, 4. p. 59, 27 ff., wo die Worte ov ngolrov von Müller und Volk-
mann mit Unrecht als interpoliert betrachtet werden.
8) enn. II 3, 16. p. 101, 8-9.
") enn. I 8, 4. 8. 12. p. 60, 1 ff. 66, 5-8. 68, 13-14.
") enn. I 8, 14. p. 70, 19—29. Über den anscheinenden Widerspruch damit
in der Abhandlung gegen die Gnostiker (enn. II 9, 4) vgl. Zeller IIP b, 552, 6,
1^) I 8, 5. p. 61, 25-27. Vgl. I 8, 14. p. 70, 29 f,
4lß Der Neiiplatonisiiius und dessen Vorliiufer.
Durch das Böse in der Welt aber wird deren Vollkommen-
lieit, die Plotin gegen die Gnostiker ausführlich verteidigt ^),
nicht aufgehoben. Denn ohne Gegensätze wäre die Welt nicht
möglich. Darum muss sie gemischt sein aus der Vernunft^ die
das Gute, und der Notwendigkeit oder der Materie, die das Üble
bringt '^). Und ferner, wenn das Gute nicht allein sein will, so
muss es aus sich herausgehen; dieses Herausgehen aber muss
wieder bei dem Bösen, der Materie, enden, da ja auf jedes Erste
ein Letztes folgen muss ^). Jener den Göttern verhasste *) Ab-
grund des Bösen und Hässlichen, die Materie, liegt ja auch nicht
offen vor Augen. Er ist überdeckt durch die Formen, die aus
dem Guten gekommen sind. Das Böse ist so, wie ein Gefange-
ner, mit goldenen Fesseln umgeben, damit die Götter es nicht
sehen, die Menschen aber durch die Bilder des Schönen zur Er-
innerung an das Schöne erhoben werden ^). So strebt doch
alles nach dem Guten. Ja die Materie selbst, wenn sie em-
pfinden könnte^ würde nach dem Guten und damit nach ihrer
Selbstvernichtung verlangen ^).
Die Lehre Plotin's von der Materie als dem Urbösen bestimmt
nun auch seine ganze Ethik. .,Das Entscheidende für den sitt-
lichen Zustand des Menschen ist die Abkehr vom Sinnlichen ; mit
dieser ist die Hinwendung zum Übersinnlichen unmittelbar,
als ihre natürliche Folge, gegeben, und es bedarf keiner beson-
dern Einwirkung des Willens auf sich selbst, keines weitern In-
nern Processes, um dieselbe hervorzubringen, sondern sobald das
Hindernis Aveggeräumt wird, welches die sinnliche Neigung der
naturgemässen Thätigkeit der Seele in den Weg legt, so tritt
diese wieder ein, und die Seele nimmt die Richtung auf's Über-
sinnliche mit der gleichen Sicherheit und Notwendigkeit, mit der
etwa ein Luftballon in die Höhe steigt, wenn man die Stricke
löst, welche ihn zurückhielten" '^).
1) enn. II 9.
^) enn. I 8, 7. p. 64, 1 ff. ^nach Plat. Theaet. 17G A und Tim. 48 A).
«) enn. I 8, 7. p. 64, 17-23.
*) enn. V 1, 2. p. 143. 4—5.
"•) enn. I 8, 15 Schi.
•*) enn. VI 7, 28. p. 399, 17 ff. Es ist eine poetische Ausmalung aristote-
lischer Gedanken; vgl. ohen S. 2G3 und die Ausführungen Plutarch's, S. 380.
') Zeller III" b, 599.
Plotin. Die Materie u. d. Böse. — Die spätem Neuplatoniker. Porphyr. 417
So ist die ethische Betrachtung der Materie, welche wir bei
Plato begonnen, bei Philo, den Piatonikern und Neupythagoreern
fortgeführt fanden, bei Plotin zu ihrer vollen Entfaltung gelangt,
ohne dass indes bei ihm, wie bei Philo und dessen Geistesver-
wandten, die metaphysische Durcharbeitung des Begriffes vernach-
lässigt würde.
b. Die spätem Xeiiplatouiker.
Über Plotin ist die neuplatonische Schule im wesentlichen
nicht hinausgekommen. Die Begriffsmythologie der Emanations-
stufen zwar und die trübe Beimischung theurgischen Aberwitzes
sind von den Spätem bekanntlich immer weiter auf die Spitze
getrieben ; aber neue grundlegende philosophische Gedanken su-
chen wir bei diesen vergebens.
Über den Begriff der Materie hatte Porphyrius, der Lieb-
lingssehüler Plotin's, ein eigenes Werk in sechs Büchern geschrie-
ben 1). Er scheint darin seinen Gegenstand, wie Aristoteles und
zum Teil auch Plotin es liebten, nicht nur systematisch, sondern
auch historisch-kritisch behandelt zu haben. So weit wir aus den
unbedeutenden Trümmern dieser Schrift und aus sonstigen gele-
gentlichen Bemerkungen ersehen, beschränkte sich Porphyr auch
hier darauf, die Ansichten seines Lehrers schlicht und klar aus-
einanderzusetzen 2). Wenn Plotin den Dämonen Anteil an der
^) Suidas s. v. Ilop^rgios. — Aus der Schrift ist uns bei Simpl. phys. I,
p. 230, 3G ff. und 231, 7— 24 Einiges teils auszüglich, teils wörtlich erhalten, letz-
teres, wie schon oben S. 395 Anm. 7 gezeigt wurde, ein Gitat des Porphyrius aus
Moderatus. Aus unserer Schrift ist wohl auch die Anführung des Porphyrius über
die platonische Materie bei Simpl. in phys. III, p. 453, 31 — 454, 1(3 entnommen
(wo aber die Worte iv tü> <Pihjßw schon in das Gitat zu ziehen sind).
*) Vgl. Zeller IIP b, 646. Eine kurze Zusammenfassung der plotinischen Lehre
von der Materie giebt Porphyr, sent. ad intell. duc. 21, wozu Greuzer (Vorrede
zur Didot'schen Plotin-Ausgabe, S. XXVIII) die hauptsächlichsten Parallelen
aus Plotin zusammengestellt hat. Gegen Atticus suchte Porphyr zu beweisen,
dass Gott nicht erst in der Zeit eine ungeordnete Materie geordnet habe
(Procl. in Tim. 119 B fi.; vgl. 116 G. Philopon. de aetern. mund. VI 8. 10.
14. 25. Vgl. Schäfers, Über ein Fragment nus dem Gommentar des Por-
phyrius zu Plato's Timaeus. Progr. von Hedingen. Sigmaringen 1884.) Die-
selbe stammt vielmehr aus dem voijtöv als dessen letzter Niederschlag (Procl.
a. a. 0. 133 F); Gott ist Ursache auch der Materie (Procl. a. a. 0. 139 A.
119 B ff,). Diese Materie des Sinnfälligen ist ein Schatten der intelligibeln
Materie; sie hat nicht mehr, wie jene, wahrhaft teil an dem Einen und den
Ideen, sondern ist nur durch die Abspiegelung der letztern geschmückt (^Simpl. in
Baeumker: Das Problem der Materie etc. ^ '
418 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
intelligibeln Materie zuschrieb ') und auch die Seele durch Licht-
und Wärmeausstrahlung den Körper formen Hess, so kommt
Porphyr zu der Vorstellung von einem pneumatischen Licht-
leib, welcher unsere Seelen umgebe, und den dieselben bei
ihrem hinabsteigen aus den Sternsphären mitgebracht haben
sollen 2). lamblich 3), Hierocles*), Syrian •''), Proclus ^) u.a.
sind ihm hierin gefolgt.
Mit der plotinischen Lehre von der Materie verbindet lam-
blich den Neupythagoreismus '). Wie dieser, führt er die Ma-
terie des Sinnfälligen auf die Zweiheit -zurück »). Von der sinn-
lichen Materie unterscheidet er, wie Porphyr •'), neben der intelli-
gibeln auch eine mathematische Materie i"), welcher gleichfalls die
Prädicate des Bösen und Hässlichen noch nicht zukommen ").
phys. I, p. 231, 2 — 5). Durch die formlose Materie ist auch die Welt dunkel,
durch die Verbindung mit den Ideen schön und begehrenswert (de antro
nymph. 5—0). In den Begriffen verhält sich die Gattung zur Differenz, wie die
Materie zur Form (Porphyr, isag. p. 11, 12—17. 15, 6—7 Busse. Vgl. Philopon.
in phys. I, p. 130, 11 — 12 Vitelli). Auch über die mathematische Materie hatte
Porphyr gehandelt (Procl. in Euch elem., prol. II, p. 5G, -li Friedlein).
'j S. S. 411. Vgl. auch schon Plutarch de fac. in orb.lun. c. 28, p. 943 A,
wo als Teile des Menschen Geist, Seele und Leib unterschieden werden, von
denen der letztere der Erde, die zweite dem Monde und der erste der Sonne
entstammt. Über jene ätherischen Mondbewohner ebd. c. ^5, p. 940 B ff.
) Porphyr, sent. 32. Procl. in Tim. 311 A.
■') Procl. in Tim. 311 B. 321 A. 321 D.
*) Hierocl. in carm. aur. c. 26 u. 27, bei Mullach. Fragm. phil. Graec. I,
p. 478 f. 483. — *) Syrian. in met. XIII, 881 a 36— b 13. b 28-32.
•-) Vgl. Zeller lir' b, 814.
') in Nicom. arithm. intr. p. 4 D Tennul. versichert lamblich, er wolle
nichts Neues bringen, sondern nur die alle pythagoreische Weisheit. — Vgh
Zeller IIP b, 700 ff. - «; Vgl. oben S. 399 Anm. 5. — ■') S.S. 417 Anm.2Schl.
'") lambl. negi rij; xoivrjs fialti]/j.aTtx-ijs tntarij/JTji köyoe tqizoi bei Villoison,
Anecdot. Graec. II (Venet. 1781), p. 190 o. (hier ist zwar vom mntQaa^ivov
und aneiQov im Intelhgibeln, Mathematischen und Sinnfälligen die Rede; aber
wenigstens das mathematische Unbegrenzte wird p. 191 und 192 auch als vir)
bezeichnet). Über die unsichere Stellung des Mathematischen hei lamblich
vgl. Zeher III ^ b, 701.
") lambl. a. a. 0. p. 191. 192: das Princip der Vieüieit in den Zahlen ist
nicht böse oder hässlich, ebensowenig wie das Eine, das über dem Schönen
und Guten sowie über dem Seienden steht. Alles dieses tritt erst in dem auf,
was von diesen Princijien abgeleitet ist; zuerst das Sein in den Zahlen, dann
Schönheit und Güte in den geometrischen Wesenheilen, die xaxia endlich erst
in dem, was an vierter und fünfter Stelle folgt (es ist niclit klar, ob damit
Die spätem Neuplatoniker. Porphyr. lamblich. Die Schrift v. d. Mysterien. 419
Den Ursprung der sinnlichen Materie scheint lamblich nicht mit
Plotin aus einer Abschwächung der untersten geistigen Kraft,
sondern, wie später Proclus, unmiltolbar aus dem obersten intel-
ligibeln Sein herzuleiten i). Dieselbe Auffassung vom Ursprung
der Materie begegnet uns in der Schrift von den ägyptischen
Mysterien, welche von Proclus dem lamblich zugeschrieben
wird '^). Diese Sclirift redet auch von einer reinen und gött-
Seele und Körper gemeint sind, oder die Zahlen in der Musik und der Astro-
nomie, die a. a. 0. p. 192 unten, 193 m., in Nicom. ar. intr. p. 8 A ff. auf die
der Arithmetik und der Geometrie folgen). — Dagegen ist der materielle Kör-
per eine Fessel der Seele: protrept. c. 21, p. 358 Kiessling (das Fragment des
lambl. bei Stob. ecl. I, p. 882 ff. berichtet p. 89G nur über die Ansichten des
Numenius u. s. w., ohne die eigene Meinung des lamblich anzugeben).
*) Das ergiebt sich aus folgender Gombination. lambl. in Nicom. ar. intr.
p. 111 G leugnet, dass der Demiurg (über denselben vgl. Zeller III ^ b, 692, 2)
die Materie erzeugt habe; vielmehr habe er dieselbe, die gleichfalls ewig sei,
übernommen und nach dem Vorbild der Zahlen durch Formen und Begriffe
gestaltet (d. h. von Ewigkeit her; vgl. Procl. in Tim. 116 G). Andererseits aber
ist nicht zu bezweifeln, dass lamblich, wie alle Neuplatoniker, auch die Ma-
terie zu dem rechnet, was aus dem Ersten hervorgegangen ist. Ist also die
Materie nach lamblich nicht, eine spätere Entwicklungsstufe als der Demiurg,
andererseits aber doch dem wahi'haft Seienden entstammt, so kann er sie nur
aus den allgemeinen Principien des Intelligibeln abgeleitet haben. — Ihre volle
Bestätigung würde diese Ansicht finden, wenn wir die Schrift von den Myste-
rien mit Proclus wirklich dem lamblich zuschreiben dürften; s. folg. Anm.
■') De myster. VIII 3, p. 265, 5—10 Parihey (vgl. VIII 1, p. 260, 8):
flDie Materie hat der Gott hervorgebracht, indem er von der ovai.üxi,g die
vköjia abspaltete. Diese übernalmi dann der Demiurg und bildete von ihr,
der Itbensfähigen, zum Teil die einfachen und leidenslosen Gestirnsphären,
während er den äussersten Teil derselben zu den dem Werden und Ver-
gehen unterworfenen Körpern formte." So der angebliche ägyptisclie Hermes.
Nun berichtet Proclus in Tim. 117 F, lamblich erzähle, dass auch Hermes
die ovainTr,g von der rX6tr,s ableite. Neben der von Thomas Gale in seiner
Ausgabe (Oxford 1678) zu Anfang der Testimonia abgedruckten handschrift-
lichen Notiz (die sich aber nicht bloss in Einer Handschrift findet, wie Zeller
IIP b, 715, 1 annimmt, sondern nach Bandini I, p. 496 b im cod. Laur. plut.
X, 82 — A bei Parthey — , nach Parthey p. VI seiner Ausgabe im Voss. 22,
nach Fabricius Bibl. Lat. ed. Harless V, p 762 Note r im Taurinensis und Vin-
dobonensis, und so wahrscheinlich auch noch in andern), nach welcher Proclus
in seinem Gommentar zu den Enneaden des Plotin das fragliche Werk dem
lamblich beilegte, haben wir hier also ein neues, übrigens schon von Ghristoph
Meiners (der freilich lamblich's Urheberschaft bekämpft) in den Gomment. soc
Heg. Gottingens. IV (1782) p. 77 beachletes Zeugnis dafür, dass Proclus wirklich
ene Ansicht über die Provenienz der Schrift hegte.
27*
420 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
liehen Materie in der Welt, die von dem Vater des Alls her-
stammt und darum — in Tempeln und Opfergaben — einen
würdigen" Aufenthalt der Götter abgiebt '). Gegenüber der An-
sicht Plotin's von der Materie als dem Urbösen zeigt sich hier
eine Wendung in der Wertschätzung der Materie, welche die
Ansicht des Proclus vorbereitet.
In vereinfachter Gestalt, auf die Grundzüge beschränkt, be-
gegnet uns die neuplatonische Lehre von der Materie bei dem
Alexandriner Hierocles, dem Schüler Plutarch's von Athen 2).
Hierocles bekämpft vor allem die dualistische Ansicht mancher
Platoniker, dass der Weltbildner die Welt aus einer neben ihm
von Ewigkeit her vorhandenen Materie in der Zeit geformt habe ^).
Die Welt mit Einschluss der Materie ist ihm ein ewiges Erzeugnis
Gottes. Folgt er hierin der gewöhnlichen neuplatonischen An-
sicht, so geht er über diese hinaus durch die Bestimmung, dass
der Bestand der Welt und also auch der Materie ein Werk des
göttlichen Willens sei*). Principiell freilich verwirft auch er
nicht die Anschauung Plotin's ■'^), welcher die Schöpfung als einen
naturnotwendigen Act betrachtet ^). Im übrigen legt Hierocles
besonderes Gewicht auf die ethische Seite der Lehre. Durch
Wahrheit und Tugend sollen wir unsere Seele und den dieselbe
umgebenden Lichtleib ') reinigen von dem irdischen Rost, der
sich infolge der Berührung mit der Materie ansetzt ^).
') de myster. V 23, p. 232, 16—233, 9. Natürlich hält auch unsere Schrift
im übrigen an der Ansicht fest, dass Vergänglichkeit und Unvollkommenheil
von dem Eintritt in die Materie herrühre; vgl. l 18. p. 55, 3-56, 5.
^) Dass Plutarch mit vielen andern neuplatonischen Interpreten auch die
Lehre von der Materie im platonischen Parmenides dargestellt fand, ist schon
S. 193 Anm. 1 bemerkt vs^orden.
ä) in der Schrift über die Vorsehung, PLot. cod. 214, p. 172 a 22-26. cod.
251, p. 460 b 23—461 a 23. 461 b 6—9. 463 b 34—38 Bekker; in carm. aur.
c. 1, p. 419 b f. Mullach. S. oben S. 144.
^) Phot. cod. 214, p. 172 a 25 - 26. cod. 251, p. 4()1 b 8—9. Hierocl. in
carm. aur. c. 1 p. 419 b oben.
«) S. S. 414.
") Das ergiebt sich aus den Gründen, die Hierocles bei Phot. cod. 251
p. 461 a 8—14 gegen die Zeitlichkeit der Welttiildung anführt, die eine Ver-
änderung in dem Willen Gottes voraussetze.
') S. S. 418 Anm. 4.
^) in carm. aur. prooem. p. 416 a. 417 a; c. £6, p. 478 b u. ö.
Die spätem Neuplatoniker. Plutarcli von Athen. Hierocles. Syrian. Proclus. 421
Ihren formalen Abschluss erhält die neiiplatonische Lehre durch
Proclus, den Schüler Syrian's i). Seine Theorie der Mate-
rie 2) schliesst sich im ganzen an die Plotin's an. Doch vertritt er in
Einzelnem diesem gegenüber eine abweichende Stellung. Frei-
lich ist er auch hier nicht völhg selbständig, sondern hat
seine Vorgänger teils an den spätem Neuplatonikern, teils an
Aristoteles.
Mit Plotin nimmt Proclus auch im Intelligibeln eine Ma-
terie an. Er identificiert dieselbe mit dem Unbegrenzten des Phi-
lebus, welchem er den Sitz in der ersten intelligibeln Trias an-
weist 3). Wenn aber jenes Unbegrenzte als intelligibele Materie
bezeichnet ward, so soll das Missverständnis ferngehalten werden,
als gebe es in der intelligibeln Substanz ein form- und gestalt-
loses Substrat, wie in der sinnfälligen Welt. Das Unbegrenzte
bezeichnet dort nicht etwas der Möglichkeit nach Seiendes (ro
dncqitt), sondern, wie schon Plotin sagte, die unendliche Kraft *),
die — für sich bestehende — Allmacht, durch deren Begrenzung
das Sein entsteht ^), und die darum unbegrenzt heisst, weil sie
niemals ausgehen kann ^). Es geht hindurch auch durch die
beiden andern intelligibeln Triaden ') und so weiter hinab durch
alle Entwicklungen aus dem Urwesen bis zu der Materie der
Sinnenwelt ^). Natürlich ist das Unbegrenzte ebensowenig ein
ursprüngliches Princip, wie die Grenze. Es ist, wie diese, aus
dem Einen % oder, wie es anderswo heisst, aus Gott lo) hervor-
^) Dass Syrian eine Hypothesis des platonischen ParmeniJes (die letzte
der von ihm angenommenen fünf) auf die Materie bezog — welche, der ide-
alen Henaden unteilhaftig, doch von der überwesentHchen und einzigen Mo-
nade ihren Bestand erhalten habe und erleuchtet werde (Procl. in Parm. VI,
col. 1064, 7 — 12 Cous."^) — wurde schon S. 193 Anm. 1 angemerkt. — Über den
„Lichtleib" s. S. 418 Anm. 5.
'') Über dieselbe vgl. Jules Simon, Histoire de l'ecole d'Alex. 11, 438, 569 f.
Vacherot II, 282 ff. 344 ff. Berger bei Bouillet, Les enneades de Plotin, I, 484 f.
Zeller IIP b, 798 f. 808 f.
3) Zeller III J* b, 798.
*) in Eucl. elem. def. I, p. 88, 21—22. 25—26 Friedlein. Vgl. ob.n S. 410.
5) instit. theol. 92; in Plat. theol. 111 9, p. 137 u. 138 o. Portus; in Eucl.
1. c. p. 88, 22—24. — 6) Vgl. instit. theol. 94.
■) in Plat. theol. III 21 Anf., p. 157. — «) in Tim. 117 C. instit. theol. 89 ff.
") de malor. subsist. col. 234, 13—15 Cousin ^
•") in Tim. 117 B; in Plat. theol. ill 7, p. 132 m. Vgl. de malor. subsist.
col. 235, 25.
422 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufei'.
gegangen. Durch eine gekünstelte Exegese suchte Proclus diese
Auffassung auch in den platonischen Philebus hineinzuinter-
pretieren 1).
Ist das Unbegrenzte innerhalb der Idealwelt nur im analogi-
schen Sinne als Materie zu bezeichnen 2), so findet diese Bezeich-
nung im eigentlichen Sinne Anwendung auf die intelligibele
Materie der Mathematik 3), der Proclus, wie schon Porphyr
und lamblich, eine besondere Beachtung schenkt. Hinsichtlich
ihrer schliesst er sich im ganzen an Aristoteles *) an, doch mit
denjenigen Veränderungen, welche sich aus der abweichenden pla-
tonischen Ansicht über die mittlere Stellung des Mathematischen
und den Ursprung der mathematischen Formen in unserm Den-
ken ergeben. Gegen Aristoteles nämlich behauptet er, dass die
geometrischen Figuren nicht durch Abstraction von den sinnfälli-
gen Dingen gewonnen seien ^). Dem widerspreche ausser andern
Gründen ^) die absolute Genauigkeit der mathematischen Figuren,
im Gegensatz zu der bloss annähernden Richtigkeit körperlicher
Dreiecke, Kreise u. s. w. ; ferner die apodiktische Gewissheit ma-
thematischer Sätze ''). Noch weniger seien Linien, Puncte u. s. w.
mit den Stoikern als leere Gedankengebilde zu fassen; vielmehr
beweise die Rolle, welche das Weltcentrum, die Weltachse, die
Himmelspole spielten, handgreiflich ihre objective Natur und wir-
kende Kraft ^). Die mathematischen Gebilde, und zwar sov^ohl
die in unserm Denken befindlichen, wie die in der Körperwelt
verwirklichten, müssen darum als Producte der idealen Ver-
standesbegriffe gefasst werden. Die Seele enthält in sich die
Fülle der Begriffe, die von den intellectuellen Urbildern in sie
1) S. S. 188.
^) in Plat. theol III 9, p. 137 u.
3) vo^jr^ vkij-. in Eucl. p. 5.3, 1. '21; 78, 19; 87, 13; 96, 8; 142, 15; yewMf-
TQiy.y] vXri : ebd. p. 50, 7 ; 56, 23 (vgl. 48, 16) ; (favTaaTixr, vXri : ebd, 55. 5 ; vkij
Twv (pavtaaTÖiv : p. 51, 16 ; 86, 12. — Ich spreche etwas ausführlicher über diese
mathematische Materie, weil dieselbe bei Zeller keine Berücksichtigung ge-
funden hat.
"1 S. S. 291 ff.
5j in Eucl. p. 12, 9 ; 139, 24.
6) Vgl. z. B. a. a. 0. p. 49, 7—12.
") ebd. p. 12, 14; 49, 17; 140, 4. Man beachte die Übereinstimmung des
Grundgedankens mit Kant.
8) ebd. p. 89, 15-90, 11; 91, 21-23. S. oben S. 333. Anm. 2 Schi.
Die spätem Neuplatoniker. Pioclus. 423
gelangt sind ^). Sie ist keine leere Tafel, sondern immer be-
schrieben, indem sie selbst schreibt und vom Nus beschrieben
wird 2 . Aber diese Begriffe sind noch nicht die Figm^en der
Geometrie. Während der Begriff des Kreises einer und in Ein-
heit ist, unausgedehnt und unteilbar, sind die geometrischen
Kreise viele an Zahl , verschieden an Grösse, ausgedehnt und
teilbar ^). Woher diese Zerteilung ? Sie ist nur dadurch mög-
lich, dass der einheitliche Begriff in eine Materie als das indivi-
duierende Princip der Vielheit und Zerteilung eingetreten ist. Da
diese Materie innerhalb des Denkens — d. h. hier allgemein der
innern Seelenthätigkeit im Gegensatz zur äussern Wahrnehmung
— sich findet, so ist sie intelligibele Materie. Andererseits
kann sie nicht dem höhern Denkvermögen, dem Verstände, ange-
hören ; denn in diesem giebt es keine bloss numerische Verviel-
fältigung und keine Zerlegung in räumliche Teile. So kommen
wir auf diejenige Seelenkraft, welche zwischen Verstand und sinn-
licher Wahrnehmung vermittelt, die Phantasie. Weil diese
nicht, wie der Verstand, unabhängig vom Körper besteht, son-
dern ihr Sein im Körper hat, so ist ihr Object ausgedehnt, hat
Teile und räumhche Umgrenzung *). Dabei ist das Verhältnis
von Verstand und Phantasie folgendes. Der Verstand hat die
Begriffe des Kreises u. s. w. in sich, aber noch unentwickelt und
compliciert {ovv£mvy(.isvoig). Er kann dieselben darum noch
nicht anschauen. Deshalb führt er sie, um sie zu entwickeln
{drsh'TTfiv), in die Phantasie ein, die „an seiner Schwelle liegt",
d. h. in Einem Bewusstsein mit ihm verbunden ist. Hier bleiben
die Begriffe zwar von der Materie des Sinnfälligen noch abge-
trennt, finden aber in der (farraOTixij vkrj Vervielfältigung und
Ausdehnung '").
Proclus hat uns nicht näher ausgeführt, worin jene Materie
innerhalb der Phantasie oder, wie er sich ausdrückt ^), jener
1) ebd. p. 16, 4-9; 55, 18.
2) ebd. p. 16, 9—13. Vgl. in Alcib. pr. col. 542, 20-23.
^) ebd. p. 49, 24 ff. 54, 21 — 22. Der Gedanke ist, wie auch die folgenden
Ausführungen, aristotelisch ; s. oben S. 292.
") ebd. p. 51, 20—52, 8; 52, 22 ff.
6) ebd. p. 54, 27 ff". Vgl. 52, 22 ff. 55, 8 ff.
«) ebd. p. 141, 5 ff.
424 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
Spiegel in ihr, der die mathematischen Begriffe auffängt, bestehe.
Wenn wir es aber versuchen, seinen Gedanken uns nahe zu brin-
gen, so können wir darin nur die leere Form der Ausdehnung
sehen. Da nun nach Proclus diese blosse Form der Ausdehnung
nicht von den ausgedehnten Objecten der Sinnenwelt genommen,
sondern dem anschaulichen Vorstellen der Phantasie aus sich
eigen ist, so erscheint sie als antikes Seitenstück zu der Lehre
Kant's von der Raumanschauung als apriorischer Form unseres
anschauenden Bewusstseins. Freilich mit vielen einschneidenden,
hier nicht weiter zu verfolgenden Unterschieden, die zuletzt alle
darin wurzeln, dass dem Proclus trotz seines Apriorisinus doch
jede Form des subjectiven Idealismus fremd, das Erkennen
vielmehr im Parallelismus zur objectiven Wirklichkeit bleibt.
Die sinnfällige Materie endlich bildet die unterste Stufe
des Unbegrenzten. Sie wird von Proclus nicht, wie von Plotin,
als das letzte Ghed einer Stufenleiter gefasst, in der bei steter
Abnahme der Vollkommenheit das jedesmal niedere Glied aus
dem nächst höhern hervorgeht. Nach dem Vorgange des lamblich,
wie es scheint ^), zieht er vielmehr aus der von Plotin aufge-
stellten Proportion zwischen der sinnfälligen und der intelligibeln
Materie die Gonsequenz, dass, wie die Formen innerhalb der Er-
scheinungswelt dem begrenzenden Elemente der intelligibeln Welt,
so ihre Materie dem Unbegrenzten in jener entstammen müsse.
Aus der Unbegrenztheit, welche in der obersten intelligibeln Trias
ihren Sitz hat, resultiert, wie alle Unbestimmtheit, so auch die
letzte Unbestimmtheit oder die Materie des Sinnfälligen ^). Gleich
der intelligibeln Materie ist darum auch die aus jener hervor-
gegangene Materie der Sinnnenwelt ein Werk Gottes ; aber nicht
des Demiurgen, sondern eines höhern Gottes, der noch über dem
Begrenzten und dem Unbegrenzten steht. Der Demiurg findet ja
nach dem Timaeus die Materie zur Weltbildung bereits vor '^). —
So hat Proclus den Philebus und den Timaeus mit einander in
Einklang gesetzt. Deutlich verrät sich hier die unfreie Art seines
Philosophierens, welches im künstlichen Ausgleich selbstgewählter
Autoritäten die Wahrheit zu finden vermeint.
1) S. S. 419 Anm. 1.
■') in Tim. 117 A. B. C. 119 D; in Pann. IV, col. 845, 2 ff. ; de malor.
subsist. col. 234, 13 ff.
ä) in Tim. 117 A; in Parm. IV, col. 844, 14—15.
Die spätem Neuplatoniker. Proclus. 42r)
Das Bestreben des Proclus, allen Mythen, nicht nur des
Volksglaubens, sondern auch der platonischen Dialoge, unter den
Begriffen seines Systems eine Stelle anzuweisen, führt zu einer
weitern Begriffsspaltung, welche den Hervorgang der Materie aus
der Gottheit näher bestimmen soll. Es wird innerhalb der bewir-
kenden, erzeugenden Urkraft unterschieden: der unsagbare in-
telligibele Vater, der Vater und Schöpfer, der Schöpfer und Vater,
der Schöpfer schlechtweg ^). Dem erstem entstammt die Materie,
welche vor aller Formung als das Allesaufnehmende, Formlose da war
(die primäre Materie desTimaeus) ; von dem zweiten kommt die un-
regelmässig bewegte Materie (die secundäre Materie des Timaeus) ; von
dem dritten der Gesamtbau der Welt ; von dem vierten ihre Erfüllung
mit den verschiedensten Arten der Lebewesen ^). Was nämlich
innerhalb der Sinnenwelt am weitesten sich erstreckt, das muss
von der höchsten Ursache herrühren, deren Kraft am weitesten
reicht. So ahmt die Materie, welche alles durchzieht und in der
Potenz zu allem ist, das unsagbare Sein der höchsten Ursache
nach , deren Kraft über alles geht ^). — Von dieser Darstellung
weicht eine andere nur scheinbar ab. Da jene vier Ursachen von
einander nicht getrennt sind, so kann Proclus an einer andern
Stelle sagen, der Weltbildner sei Ursache der Materie kraft der
Ur-Einheif, die in ihm ist und durch die er auch Gott sei; durch
seine weltbildende Kraft dagegen sei er nicht Ursache der Materie,
sondern nur der aus der Materie gebildeten Körper*).
Entschiedenen Widerspruch erhebt Proclus gegen die ploti-
nische Lehre von der Materie als dem Urbösen. Hier steht er
dem Tyrier Maximus ^) näher als dem Plotin. Jene Ansicht führe
dazu, entweder zwei erste Principien anzunehmen, was dem Be-
griffe des Ersten widerstreite, oder Gott zur Ursache des Bösen
zu machen ß). Da die Materie aus Gott stammt und zur Welt-
bildung notwendig ist, so ist sie nicht böse. Andererseits ist sie,
welche die unterste Stelle von allem einnimmt und daher für nichts
Gegenstand des Strebens bilden kann, auch kein Gut. Sie ist
^) Diese Unterscheidungen sind durch Ausdeutung von Plat. Tim. 18 G:
TÖv noiT/T'^v xal narega Tov(h tov navröc gewonnen.
2) in Parm. IV, col. 844, 13—21.
^) in Parm. IV, col. 845, 2 — 15. Über jenen allgemeinen Satz von der
Wirkung des Höhern vgl. in Tim. 117 E— F. Zelter III'' b, 791.
*) in Tim. 117 E. — ^) S. S. 377.
^) de malor. subsist. col. 230, 27—231, 24.
426 Fünfter Abschnitt. Der Neuplatonismus und dessen Vorläufer.
mithin — nach der stoischen Formel — weder böse noch gut;
sie gehört vieln;ehr zu dem Notwendigen '). Denn ohne die
Materie wäre eine Weltbildung nicht mtigiich, weshalb sie auch
Plato als Mutter, Wärterin und Mitursache bezeichne 2). Die
Maasslosigkeit der Materie aber macht sie nicht zu einem Bö-
sen, weil dieselbe, obgleich selbst des Maasses entbehrend, sich
diesem doch nicht widersetzt, vielmehr nach ihm verlangt ^)-
Dieses Verlangen der Materie nach der Form oder dem Guten,
diese unendliche Mannigfaltigkeit ihrer Aufnahmefähigkeit, eignet
der Materie von ihrem Ursprünge her, in welchem die Überfülle
der schöpferischen Kräfte sich findet *). Gerade dadurch ist die-
selbe neben der weltbildenden Kraft der Ideen — Proclus geht,
gleich Plotin ^), durch die Fassung dieser als wirkender Kräfte,
über Plato hinaus — und neben der Güte, welche als Ursache
der Einung das Wirkende und das Aufnehmende zusammenbringt,
eine der drei Ursachen, welche die Teilnahme der Sinnenwelt an
den Ideen herbeiführen ^). So erklärt sich auch der Wechsel in
den sinnfälligen Dingen; denn da die Materie, die der MögHchkeit
nach alles Seiende ist, nach allem Seienden verlangt, gleichwohl
aber nicht überall an allem wirklich teilhaben kann, so nimmt sie
bald diese, bald jene Gestaltung an^). — Die Ursache des Üblen
aber ist überhaupt nicht eine, wie Gott die eine Ursache alles
Guten ist; sie ist verschieden für die Seelen und die Kör-
per 8). Die Schwäche und der Fall der Seelen aber rühren, ob-
wohl nach Proclus alle Übel der Seele von aussen kommen
sollen ^), doch nicht von der Materie her. Jener Fall erfolgte vor
der Verbindung mit der Materie ^^). — Diese Bestimmungen hin-
dern indes den Proclus nicht, nach der gewöhnhchen neuplatoni-
0 in rempuhl. p..'158 unten, ed. Grynaeus; de malor. subsist. col. 231, 24 ff.
234, 13 ff. 23ß, f) 12; 233, 4 ff. 239, 19 ff.
') de malor. subsist. col. 234, 1. Damit vsjl. man die Abschwächung dieser
platonischen Ausdrücke bti Plotin. enn. III 6, 19. p. 243, 15 ff.
») de malor. subsist. col. 232, 8-31.
*) in Parm. IV, col. 845, 10—15. - ^) S. S. 408.
*) in Parm. IV, col. 845, 25—29. Vgl. die ganze col. 842, 15" anhebende
Ausführung. - ') in Parm. IV, col. 843, 18 ff.
*) de malor. subsist. col. 250, G ff. ; in rempubl. p. 359 oben, ed. Gryn. Das
Weitere über das Übel bei Zeller IIP b, 811 f.
9) in .\lcib. pr. col. 544, 21—23.
1») de malor. subsist. col. 232, 32—233, 15.
Die spätem Neuplatoniker. Proclus. Pcricles. Damascius. 427
sehen Auffassung in der Materie, deren Hässlichkeit nur durch erborg-
ten Schmuck überkleidet isli), doch auch wieder die Ursache der
Schwächung und Verunreinigung der reinen Formen zu erblicken '^).
Hatte sich Proclus durch diese naturalistische Rehabilitierung
der Materie gegenüber der ganz vorn ethischen Interesse be-
herrschten Auffassung Plotin's einigermaassen dem Stoicismus ge-
nähert, so erscheint es begreiflich, dass auch der physische
Begriff des Stoicismus von der Materie unter seinen Schülern einen
Anhänger fand. Es ist der schon früher genannte Pericles der
Lyder, welcher die Materie mit den Stoikern als qualitätslosen
Körper fasst und darin auch die Meinung des Plato und des
Aristoteles erblickt^). Doch steht derselbe mit dieser Ansicht
ganz vereinzelt in der neuplatonischen Schule.
Den Gedanken des Proclus, dass der Demiurg nur durch das
Eine in ihm die Materie hervorbringe *), finden wir variiert bei
Damascius. Nach diesem ist die über dem Demiurgen stehende
„vorbildliche Ursache" Princip der Materie kraft des Einen in ihr •'').
Der Widerspruch des Proclus gegen die Lehre von der Ma-
terie als dem Urbösen wirkt auch auf die Folgezeit nach. We-
nigstens die dualistische Gegenüberstellung Gottes als des guten,
der Materie als des bösen Prineips wird auf das entschiedenste
») de mal. subsist. col. 226, 25-28 (vgl. Plot. enn. I 8, 15; s. o. S.416).
^) in rempubl. p. .S8, 35; 39, 30 Scholl (in: Anecdota varia Graeca et La-
tina, ediderunt Rud. Schoell et Guil. Studemund. Vol. IL Berol. 1886) ; in Euch
p. 130, 3 u. ö.
8) Simpl. in phys. I, p. 227, 23 ff. S. S. 152, 1. — *) S. S. 152 238.
*) Damasc. dnoglai y.ai iniXvang (s. S. 193 Anm 1) bei Eyssenhardt, Mit-
theilungen aus der Stadtbibliothek zu Hamburg I (1884) S. 25 (vgl. de princ.
c. 36, p. 100 Kopp. c. 86, p. 249). — Von den sonstigen Ausführungen des
Damascius über die Materie möge ausser dem S. 193 Anm. 1 Berichteten noch
Folgendes angemerkt sein. Die Materie ist, als unterste Einheit, der Gegen-
satz der obersten, über alles erhabenen (de princ. c. 7, p. 20; c. 91, p. 281).
Obwohl in sich bestimmungslos, ist sie doch von der Form verschieden, da
die letztere eine unterscheidende Bestimmung einschliesst (ebd. c. 28, p. 70 —
71. c. 38, p. 1Q3. Vgl. Plotin. enn. I 8, 6). Wegen dieser ihrer Beziehung zur
Form geht sie als Grundlage der letztern aus derselben Ordnung hervor, wie
jene (ebd. c. 40, p. 109; vgl. c. 38, p. 100) — wenn auch nicht aus der
gleichen formalen Seite dieser, wie die zu .\nfang dieser Anm. citierte
Stelle lehrt. Der Syncretismus dieses Ausläufers des Neuplatonismus zeigt sich,
wenn er zwischen den Bezeichnungen der Principien als aovä; und <fväg dÖQioTos
oder ntQai und antigor oder i'v und no/lä beliebig wählen lässt (ebd. c 43,
p. 115 und c 51 p. 136).
428 Fünfter Alischnitt. Der Neuplatonismiis und dessen Vorläufer.
bekämpft. Mitgewirkt hat dabei der Gegensatz gegen orientalische
Religionssysteme. War schon Plotin den gnostischen Neigungen
einiger seiner neuplatonischen Freunde entgegengetreten^ so eifert
Ammonius, der Schüler des Proclus, auf das lebhafteste gegen
die „unseligen", „gottverhassten" Manichäer, die neben dem
guten ein böses Princip in der Welt annahmen ^). Ist hier nicht
ausdrücklich die Ansicht angegriffen, dass gerade die Materie das
Urböse sei, so richtet sich gegen diese mit aller Deutlichkeit die
Polemik des Simplicius. Dieser bekämpft die „Heterodoxen",
welche, indem sie ihre eigenen gottlosen Meinungen mit den Leh-
ren der Alten verquicken, die Materie als das ungewordene, dem
•Guten sich entgegenstemmende und es bekämpfende Princip des
Bösen betrachten ^). Mit Proclus und gegen Plotin betont er,
dass das letzte in der Entwicklung des Guten nicht ein Böses sei,
sondern ein Notwendiges. Obwohl nicht an sich begehrenswert,
seien Materie und Beraubung für das Ganze doch ebenso notwendig,
wie unter Umständen Schröpfen und Brennen für die Gesundheit 3).
Innerhalb der westlichen Hälfte des Römerreiches dagegen
bleibt der Neuplatonismus bei der innerhalb des Piatonismus her-
gebrachten Auffassung von der Materie als dem Grunde des Bö-
sen stehen. So Macrobius-*) und Ghalcidius 5). Es lag das
um so näher, als jene Männer ß), ebenso wie Marcianus Ga-
pella ^) und Boethius ^), mit dem neuplatonischen ein starkes
neupythagoreisches Element verbinden.
M Asclep. in met. IV, p. 292, 37 Hayduck. Vgl. ebd. p. 271, 33.
■') Simpl. in phys. I, p. 249, 14-250, 5; p. 256, 25—28.
=>) Ebd. p. 249, 19—26.
*) Macrob. in somn. Scip. I 6, 9; 12, 7. 10. 12.
^) Chalcid. in Tim. c. 297, p. 325 Wrobel.
«) Macrob. in somn. Scip. I 6, 7 ff. Ghalcid. in Tim. 295 fif.
') Marc. Gap. lib. VII (de arithm.) §. 733.
*) Boeth. de arithm. an zahlreichen Stellen. — Eigentümliches bietet die
Lehre des Boethius von der Materie nicht. Mit Aristoteles lehrt er, dass die
Materie nichts actu, alles potestate sei {jitgi igfi. ed. secund. III 9, T. II, p.238,
10 Meiser). Daher kommt aus ihr, was an den Dingen Potentielles ist (ebd.
p. 238, 21—22 229, 14). Nicht durch einen eigentlichen Begriff ist sie zu er-
fassen, sondern, wie Gott, nur aliquo modo, nämlich ceterarum rerum priva-
tione (contr. Eutychen et Nestorium c. 1, p. 189, 12— 14 Peiper. MitUsenerund
Krieg halte ich die Schrift für echt). Den Neupythagoreern folgt er, wenn er
de arithm. I 27 aus dem Unbegrenzten (infinitum) alles Üble ableitet.
Verzeichnis
einiger kritisch oder exegetisch behandelten Stellen.
Anaxag'oras
fr. 13 Schorn
fr. 16
Aristocles
bei Euseb. praep. ev. XV 14, 1.
p. 816 D.
Aristoteles
phys. IV 6, 213 b 22—25
de caelo III 1, 299 b 31 ff.
, „ III 1, 300 a 15-17
de gen. et corr. I 5, 322 a
19 -"22
de an. I 2, 404 a 17—19
„ , 12, 405 a 19-21
, „ I 5, 411 a 7—8
metaph. XII 3, 1070 a 9-13
Arius Didymus
fr. 28 bei Stob. ed. I, p. 374
fr. 36 bei Stob. ecl. I, p. 414
S. 77,3.
, 102,5.
332,
Dioffenes Laert.
VII 133
VII 134
Empedocles
V. 61 Karsten
38,3.
165,3.
36„.
228,3.
10„.
231,.,.
3.51,2.
356,1.
353,1.
332,3.
67,3.
Melissus
fr. 16 Brandis
S. 59,e
Parmenides
V. 97 Karsten 101 Stein , 54,4.
Plato
Theaetet. 156 A S. 101. 102,5. 103 ff.
Tim. 47 E ff. S. 117 ff.
, 51 E
, 137 ff.
„ 56 A
, 16:>,3.
Plotiu
enn. I 8, 4. T. I, p. 59, 28
Müller
. 415,8.
enn. VI 1, 26. T. II. p. 257,
20 Müller
, 363,3.
Simplleius
in Arist. categ. 57 E
. 347,4.
in phys. in. p. 453, 31
, 417,1.
Tertullian
Apolog. 47
adv. nat. II 4
Xenonhaues
fr. 4 Karsten
fr. 8
359,,.
47,,.
49,5.
Kamen- und Sacli-Register.
Academie, die ältere 3G. 115. 206—
207. 392.
— die mittlere 371.
— die jüngere 371—372.
Act 6 f. 407. s. auch Potenz.
'Aegyptische Mysterien. Die Schrift von
den 418—419.
Aetius 8. 182.
Albinus 143. 353,3. 372 ff.
Alexander von Aphrodisias 172. 173.
181. 213,1. 296-300.
Alexander Polyhistor, über die Pytha-
goreer 391. 395.
Ammonius 57,0. 428.
Anaxagoras. Lehre von der Materie
73 — 79. Von Aristoteles den Phy-
sikern zugerechnet 80. Verhältnis
zu den Eleaten 51. (33. zu Empe-
docles 70. 73. Verhältnis der Ate.
miker 82, des Protagoras 99,2 und
des Socrates zu ihm 110. 115. 120.
Von Epicur (Lucrez) bekämpft 311.
Urheber des Dualismus 66. 77 ff. 95.
Homoeomerienlehre, s. unter Hö-
rn oeomerien.
Ananimander 11 — 15. 18, o. 19.
Anaximenes 13. 15—18. 18,2. 75, g.
12G,3. 369.
Antiochus von Ascalon 371—372.
Antipater 365,8 Schi.
Antislhenes 97,2 100. 209.
Antonin 340. 353,2.
Apollodor 345, e.
Aratus 10, j.
Archytas, (Pseudo-) 389—391.
Aristipp 100 f. 20 S.
Aristoteles. Seine Lehre von der Ma-
terie 6 f. 45. 75. 210—293. Gegner
des Anaxagoras 76. Über Democrit
hO. 310. 317. über Plato 122,,. 180.
197 ff. Verhältnis zu Plato 185. 230.
238. 241. 270 f. 281 ff. 291. Ver-
hältnis der peripatetischen Schule
294—300, der Stoiker — s. unter
Stoiker — , der Platoniker 373 ff., der
Neupythagoreer389-391. 394. Philo's
381. Plotin's zu ihm 402f. 407. 411, j.
Sein Dualismus 45. 83. 196. 215 ff.
237. 261 ff. Über die Notwendig-
keit 122,2. 268 ff. Vgl. Act, Ele-
mente, Materie, Potenz.
Aristoteles aus Rhodos 193, i.
Asclepiades aus Bithynien 71, i. 303,4.
325,.
Athanasius 143.
Athenagoras 143. ,
Atom 65. 82 K 306 ff. Unterschied
des antiken und des modernen Be-
griffs 83 ff. 91. 318 f. Bewegung der
Atome 82. 94 f. 318 ff.
Atomiker. Leucipp's und Democrit's
Lehre von der Materie 79 — 95. Ver-
hältnis zu den Eleaten 51. 80 f.
zu Empedocles 70. 71 — 72. zu Ana-
xagoras 77,3. Verhältnis Epicur's zu
ihnen, s. Epicur.
Atticus 139,4 Schi. 143. 145. 150. 152.
372. 379. 383.
Augustinus 144. 383, 5.
Ausdehnung, bei den Pythagoreern
38 ff. 60. bei den Eleaten 60 f. bei
Plato 177 ff. bei Epicur 308 f. den
Stoikern 334 ff. den Neupythagoreern
397. bei Proclus 424.
Basilius 144.
Boethius 428.
Boethus aus Sidon, der Peripatetiker
296. 298.
Boethus aus Sidon, der Stoiker 361,0.
369, G. 387,5.
Celsus 377
Namen- und Sach-Register.
481
Chalcidius 57,2. 154,3 428.
Chrysipp, heschräiikt den Gebrauch
des Terminus r/.ij 338. Continuität
der Materie 340, e. Unendliclie Teil-
barkeil derselben 340,6- 342. 345, «.
Leeres ausserhalb der Welt 341,4.
Das Pneuma ov 354, 4. Verhalten der
Materie beim Weltbrand 361 4. Ur-
sprung des Üblen 365 Anm.
Cicero 322 Anm.
Gleanth 356,2. 361.
Clemens von Alexandrien 143.
Cratylus 23.
Cronius 392. 402.
Cyniker 208 f.
Cyrenaiker 208.
öalton 83.
Damascius 193, 1. 427.
Democrit 6.3. G6. 79—95. 168. s. auch
Atomiker.
Descartes 187.
Diodor 342, 5.
Diogenes von Apollonia 17 — 19.
Diogenes, der Atomiker, 18,2.
Diogenes von Babylon 369, e-
Du Bois-Reymond 85, j.
Duns Scotus 251,3 Schi.
Ecphantus 325 Anm. 4 g. E.
Eleaten. Lehre von der Materie 46—
62. Begritf des Seienden nach ihnen
.50 ff. 40.\ Verhältnis zu den Pytha-
goreern 44. 60 f. Verhältnis der
Jüngern Naturphilosophen 63. 64 —
65, speciell der Atomiker, zu den
Eleaten 80—82. 84. 87.
Elemente, bei Philolaus 39 f. 43. 44.
179. Empedocles 12,3. 17. 3. 65. 66.
69—70. 311. Plalo70. 117. li>6-127.
164 flf. 167 ff. 179. Aristoteles 70.
230. 242. ^250. 260. 273 tf. Alexan-
der von Aplirosidias 297. bei den
Stoikern 349. 367 f. bei Antiochus
von Ascalon 372. Albinus 373,4.
Plutarch 376,4-. Philo 383,5. 3S4,5g.E.
387. Ocellus 300. Plotin 402 f.
Empedocles 67 — 72. Von Aristoteles
zu den Physikern gezählt 80. Ver-
hältnis zu Diogenes von Apollonia
17. zu. den Eleaten 51. 61. 63 t.
67 f. zu Anaxagoras 73. 75. zur
Atomistik 71 f. 77 mit Anm. 3. 82.
zu Asclepiades aus Bithvnien 325,4
g. E.
Empiriker 371.
Epicur, Lehre von der Materie 7. 303 —
325. Verhältnis zur democritischen
Atomistik 82. 301. 303. 304. 308.
312, 5. 314 f. 316. 317. 321. Verhält-
nis zu den Stoikern, s. Stoiker. Vgl.
auch unter Leeres, Raum.
Epiphanius 143.
I Eristik 52. 55, ,.
Euclid, der Mathematiker .334,.,.
Euclid von Megara 20S - 209.
Eudemus 204. 205,2. 295. 365 Anm.
Eudorus 372. 376 f. 395.
Fechner 84,4.
Form, s. Materie.
Gassend, Pierre 83. 303, 1.
Geist 3. 66. 78 f. 305.
Gorgias 62. 96. 108—109. 187-.
Gregor von Nyssa 143.
Harpocratio 376,6. 377. 402, 1.
Hegel 393, 398.
Heinrich von Gent 251,:, Schi.
Helmholtz 319.
Heraclides der Pontiker 71, 1. 325, 4.
Heraclit 19—33. 45,5 g- E. 54. 55,.^. 62.
Der angebliche Heraclitismus des
Protagoras 96 ff. Verhältnis der
Stoiker zu ihm, s. Stoiker.
Hermes Trismegistos 392. .398 f. 401
Herrn odor 203 f.
Hesiod 117, j. 182,i.
Hierocles 144. 418. 420.
Hieronymus 3.^7,4.
Homoeomerien 65. 70. 74 — 76. 82.
115i. 311. .392.
Hylozoismus, beiden loniern 8. 10.
11. 19. 20. 65. bei den Stoikern
363 f.
lambhch, über Plato 144. 169. über
die Pythagoreer 392. Lehre von der
Materie 418—419. Lichtleib 418.
Idealismus 4. 55. 52.
Inder 69, 3.
Ionische Naturphilosophie, ältere 8—
33. 52. 58,4. ö3. 126,3. 213. 239.
irenaeus 143.
.Jus Linus 143.
432
Namen- und Sacli-Hegister.
Kant 422,7. 424.
Körper, sein Begriff' nach Aristoteles
239 f. Epicur 3()G. 312 f. den Stoikern
332,:,. 334. Verwechslung von ma-
thematischem und physischem Kör-
per bei den Pythagoreern 37 f. 43.
187. beiPlatü K!.'),,,. 179. 186 f. Ver-
hältnis beider bei den Stoikern 335.
Die Materie bei Plato nicht die qua-
litätslose körperliche Substanz 156ff.
336. ebensowenig bei Aristoteles 238.
336 , Albinus und Apuleius 374.
wohl bei den Stoikern 332 ff. Pole-
mik Alexander's 298. und Plotin's
, dagegen 403 f. Lichtleib bei den
Neuplatonikern 410 f. 418.
Kraft 65. 77. 267 ff. 319. 346 ff. 360.
381,3.
liactantius 143.
Leeres bei den Pythagoreern 38 f.
58 f. den Eleaten ö8 f. bei Ernpedo-
cles 53,3. 68. bei Anaxagoras 77 mit
Anm 3. den Atomikern 81 f. 90. bei
Plato 179 f. Aristoteles 307,,. Strato
307,.,. bei den Epicureern 304 ff.
Stoikern 341 f. 345. Piatonikern 375.
Leibniz 3. 155. 309,3. 403,4.
Leucipp 18,,. 63. 64. 66 79—95.
Locke 92 mit Anm. 5.
L o g 0 s und A 07 o ; bei den Stoikern 356 ff.
364. 374. 390. bei Philo 388. den
Neupythagoreern 397,;!. Plotin 413.
Lotze 2.")1,3.
Lucretius Carus 303 ff. gegen Hera-
clit 311,2. gegen Empedocles und
Anaxagoras 311.
Lycophro 55,2.
Macrobius 428.
Marcianus Gapella 428.
Materialismus 46. 209. 302. 323 f.
327 f. 353. 375. 409.
Materie. Der Terminus 114,i. 210,2.
306, V. 330. Ihr Begriff 1. 223. 231.
240 f. 230 ff. 247 ff. Verschiedene
Auffassungen 1 ff. Fassung in der
alten Philosophie 5. 210. Die Ma-
terie als unbegrenzte Ausdehnung
37 ff. 174. 177 ff. 389. als das Unbe-
grenzte, Unbestimmte 37 ff. 196. 197.
405. 426. als das Gross- und Kleine
196 ff. 404. als Möglichkeit 6 f. 114,i.
175 f. 185.196. 213. 233 ff. 232ff.251flF.
257 ff. 261. 407. als Substrat entgegen-
gesetzter Zustände 215 ff. 235. als unbe-
stimmte körperliche Substanz 156 ff.
238. 298. 3,32 ff. 372. 373 f. 390. 403 f.
alsdasNichtseiende 201 ff. 382,i.405.
als das Üble 206 f. 207. 279 ff. 298.
364. 385 ff. 401. 414 ff. 420. 425 ff. 428.
als das Leidende 265. 331. 339. 372.
381. als unbe.stimmte Zweiheit, s.
unter Zweiheit. Atomistische Con-
stitution 82 ff. 306 ff. Materie und
Form 83. 196. 249 f. 2.59.f. 261—263.
282 ff. 297. 299. 310. 329. 348. 350.
369. 373. 376. 394. 402 f. 427,6.
Materie und Qualität und Quantität
75. 87 ff. 264. 312 fif. 332 ff. 346 ff.
382. 388. 404. Materie und Körper,
s. unter Körper. Gontinuität oder
Discontinuität der Materie 43. 56.
60 f. 68. 77. 81. 90. 179 f. .306 ff. 340ff.
372. Materie und Substanz 254 ff.
33(3 ff. 346 f. 374. 383. 389. Materie
und Wesen 289 f. Materie und Kraft
65. 268 ff. 319. 346. .359 ff. 372.;
Die Materie als Individuationsprincip
281 ff. Ihre Teilbarkeit 77. 307 ff.
342 ff. 372. 404 Ihre Erkennbarkeit
137 ff. -238. 400 f. Substantiale und
accidentale Materie 226 ff. 229 ff. Pri-
märe und secundäre Materie bei Plato
136 f. 139 f. 142 ff. 151 ff. 160. 3a3.
386 f. Aristoteles 241 f. 258 f. den
Stoikern .330 ff. Neupythagoreern 390 f.
bei Plotin 4035. 408. Materie der
Gestirne 245 f. Gonstanz der Ma-
terie 66. 227. 367. 404. Ursprung der
Materie 187 ff. 237. 362. 366. 376 f.
384 f. 394 ff. 399. 411 ff. Materie und
Geist 2 f. 78 f. 305. Materie u. Gottheit
bei den Stoikern 362 f. Intelligibele
Materie 198 ff. 238,4. 293. 297. 336.
394. 399. 409 ff. Mathematische Ma-
terie 291 ff. 397 f. 417,2 Schi. 418.
422 — 424. Schriften über die Materie,
von Stoikern 330,2. von Porphyrius
417. angebliche des Numenius 392, o.
Maximus 143. 372. 377.
Mayer, Robert 319.
Namen- uml Sacli-Ret^i^ter.
433
Megariker 208.
Melissus 47. 55, o. 57-59. 80—82. mi.
Moderatus 392. 395. 397. 399. 4ü4.
K^aturphilosophie, die ältere: s. loni-
nische Naturphilosophie.
Naturphilosophie, die jüngere 51. 63 —
95. 117. 12G. 213. 239.
Neuplatoniker 7. 115. 144. 154. 156.
175. 183. 186. 192. 193. 206. 301.
402—428. Verhältnis zu den Plato-
nikern 375. zu den Neupythagoreern
392. 393,3. 394.
Neupythagoreer 115. 377. 389-402. Zwei
Gruppen unter ihnen 389. Verhält-
nis zu den Altpythagoreern 392. 397,4.
zu Plato 389. 393. 398. zu Aristote-
les 389— 391. 394. 398. den Stoikern
389 tl 394. 397. zu den Neuplatoni-
kern, s. diese.
Nicomachus vonGerasa 379,5. 392.395.
Nüumenalismus 4. 45. 52flf. 109.
18G. 302.
Numenius. Angebliche Schrift tk^I vhj?
392,..,. Zweiheit nicht aus der Ein-
heit hervorgegangen 394 f. Böse Welt-
seele 14(), ,. 379. 401,5. Materie das
Böse 401.
Ocellus der Lucanier 33,2 g. E. 126,3 m.
389—391. 398.
Origenes 143. 354, 4.
Panaetius 369.
Parmenides 47. 50—57. 59. 62. Stellung
der Jüngern Naturphilosophie 63, im
besondern des Empedocles 67 ff. 71,
Anaxagoras 77 ,3 und der Atomiker
zu ihm 80—82.
Pericles der Lyder 152. 154. 238. 427.
Peripatetiker 294—300. 339. 375.
Philipp von Opus 147.
Philo von Alexandrien. Lehre von der
Materie 380—390. Die Ideen 373,3
Verhältnis zu Plato 381 ff. Aristote-
les 381. den Stoikern 381. 383 f. 386
388. 408.
Philo von Larissa 371.
Philolaus 34. 35. 39f. 42. 43. 44. 46. 179.
PhilopoDus 57,.,. 181. 392.
Plato. Seine Lehre von der Materie
6. 75. 110—206. Verhältnis zu He-
raclit 22. zu den Pythagoreern
Baeuniker: Das Problem der Materie elc.
36. 45. zu Parmenides 52. zu den
Sophisten 109. zu Aristoteles 230.
231,2 238. 241. 270 f. 281 ff. 291. zu
den Stoikern 152. 334 f. 357. 364. zu
den Piatonikern 373 ff. zu Philo
381 ff. zu den Neupythagoreern 389.
393. zu Plotin, s. diesen. Bewegung
durch das Volle 59. S. auch unter Aus-
dehnung, Leeres, Materie, Raum.
Platoniker 143. 372—380.
Plotin. Lehre von der Materie 7. 402—
417. Über Parmenides 57,2. Gegen
die Atomistik 403. gegen die Neu-
pythagoreer 404. Verhältnis zu Plato
403. 405. 408. zu Aristoteles 402 f.
407 mit Anm. 9. 411, 5. zu den Stoi-
kern 408. Polemik gegen die letztern
333. 335,1 «.3. 353 f. 403.
Plutarch aus Athen 193, j. 420,,.
Plutarch aus Ghaeronea. Lehre von der
Materie 372—380. Über Parmenides
57,0. über die „secundäre" Materie
Plato's 143. 145 f. 150. 152. 383. Ma-
terie als Isis 379 f. als Penia des
platonischen Mythus 379. 405. Über
die böse Weltseele 145 f. 378 ff. Mond-
bewohner 418,,. Gegen die Stoiker
343,6. 353,3. 365 Anm. 378. Neupy-
thagoreisches bei ihm 392.
Pneuma, bei den Stoikern 349 ff.
354 f. 367. bei Philo 388. Hermes
Trismegistos 398,5.
Porphyrius 144. 417—418.
Posidonius 336,6- 338. 341. 350.
Potenz 6 f. 223 f. 294. 407.
Proclus. Seine Lehre von der Materie
420-427. die „secundäi-e" Materie
Plato's mythisch zu verstehen 144. 150.
Er fasst die Elementenlehre Plato's
bildlich 169. verkennt die platonische
Gleichsetzung von Materie und Raum
182. Proclus' Auffassung vom Raum
183. Mathematische Materie 293, 1.
4-22—424. Lichtleib 418. Über Par-
menides 57, 2U.3. über den platoni-
schen Philebus 188 und Parmenides
193, 1.
Protagoras 18,2. 62. 89. 96— lOS. 187.
Pyrrhoneer 371.
Pythagoreer, die alten. Lehre von der
28
434
Namen- und Sach-Register.
Materie 33—46. 405. Gegensatz der
Pythagoreer und Eleaten r)2. 60 f. 63.
Verhältnis der Atomiker 82 und
Plato's zu ihnen 126, 3. 170. 174. 201.
Verhältnis zu den Neupythagoreern
392. Die Materie das Böse 205. Ver-
wechslung des physischen und ma-
thematischen Körpers 37 f. 43. 187.
Pythagoreeer, die Jüngern, s. Neu-
pythagoreer.
Raum, bei den Pythagoreern 38 ff.
Indern 69, 3. Eleaten 56 f. 61. Plato
151fr. 177 ff. Aristoteles 334,3- Eu-
demus 2953. Epicur 304. 309. beiden
■ Stoikern 334. Neupythagoreern 389.
Proclus 183.
Realismus 4. 45. 113. 2.o2ff.
Seneca 364. .366. 373.3.
Sextus Empiricus 371, j. 392.
Simplicius 428. Über Parmenides 57,9.
über Anaxagoras 74 f. über die pla-
tonische Materie 163. 181. 185. 373,4.
die platonische Elementenlehre 169.
über die aristotelische Materie 213.,.
239. über Epicur 309,3. 310,4.
Skeptiker 89. 371.
Socrates 110. 115, j.
Sophisten 52. ()2. S7. 95—109.
Hpeusipp 207.
Spinoza 187. 398.
Stoiker. Lehre von der Materie 7. .301
,303. 326-370. Verhältnis zu Hera-
clit 301. 327-329. 340. .349 und zur
aUen Naturphilosophie im allgemei-
nen 327— 329. 3()8 f. zu Anaxagoras 75.
Plato 152. 334 f. 357. 364. Antisthe-
nes 209. Ai-istoteles 238. 310. 327.
3301. 336. 339 f. 346 f. 349. 355. 357.
364. 369. zu den Epicureern 327.
329. 340 ff. .354. den Pia tonikern 358-
.374 f. Philo .381. 383 f. 386. 388. 408.
den Neupythagoreern 389 ff. 394. 397.
401,5. und Neuplatonikern 302. .358.
408.
Strato von Lampsacus 295. .307, 2.
Suarez 251,3 Schi.
Syrian 57,,. 192. 193,,. 418. 421i.
Tatian 143.
Taurus 372.
Tertullran 143. 359,4. 361,4.
Thaies 9-10. 12,3. 126,3.
Themistius 1S2.
Theo 397.
Theophilus 143.
Theophrast 8. 76. 182. 294-295.
Thomas von Aquino 343,6.
Timaeus der Locrer 389 -391.
Varro 372.
Wundt 85„.
Xenocrates 42, 1. 205. 207.
Xenophanes 46 — 49. 52.
Zeit 309.
Zeno von Gitium, Schrift über die Ma t e
rie3o0,2. Er beschränkt den Gebrauch
des Terminus v)-i\ 338. Die Materie
Substanz 336,6. Leeres ausserhalb
der Welt 341,4. Farben die ursprüng-
lichen Qualitäten 348. Gottheit und
Materie 355, 1. 359,4. Pantheismus 861
mit Anm. 4.
Zeno, der Eleat44. 52. 60-62. 108.
Zeno von Tarsus .369,,;.
Zweiheit, unbestimmte, bei Plato
201. 207. Plutarch 374, 379. den
Neupythagoreern 379,3. .392,3. 394 ff.
399.-,. bei Plotin410. Iamblich4l8.
Vcrbesseningen und Zusätze.
S. XI Z. 9 statt Doxographie lies: Doxographi.
„ XV T, 4 V. u. hinter „Syiian" setze ein Punctum.
„ 6 Z. 12 V. u. statt: bestimmten lies: bestimmte.
„ 16 Anm. 1 Z. 3 statt Anaximander lies: Anaximenes; letzte Z. statt;
Anaximander's lies: des Anaximenes.
, 17 Z. 3 T. u. statt: ^) lies: ^).
,40 , 1 V. u. statt: al. lies: anal.
, 48 Anm. 1 zu dem Gitat aus Asciepius füge hinzu: p. 41, 30 ed. Hayduck
(Berol. -888).
„ 50 Anm. Z. 3 v. o. Hinter , geboten werden" ist die Schlussklammer aus-
gefallen.
„ 58 Anm. 3. Z. 5 statt: Letztere lies: Erstere; Z. 6 statt: ersteren
lies : letzteren.
„ .59 Z. 1 hinter , dieses'' ergänze: bedeute.
,59 ,9 hinter ,Plato" ergänze: und den Stoikern.
, 64 Anm. 1 lies: v. 20—23 Stein.
„ 67 Z. 1 V. u. lies: ä?J.'.
, 73 Überschrift lies: Verhältnis zu Empedocles
„ 77 Z. 10 V. u. lies: Vorstellung.
, 94 Anm. 3. Vgl. dazu auch S. 321 Anm. 2.
„ 110 , 6. Zu den Litteraturangaben ist jetzt hinzuzufügen J. A. Kilb,
Platon's Lehre von der Materie. Marburg 1887. Die Aufstellungen
dieser Schrift haben bereits von Zeller, Archiv f. Gesch. d.
Philos. II. 1889. S. 700-702 ihre Widerlegung erfahren.
„ 114 , 1. Auch Plutarch. de def. orac. c. 10, p. 414 F bemerkt, dass
der Name v/.r] erst nachplatonisch ist (ö vtv v).r,v /.al tfvaiv
xaXovai).
„ 128 Z. 1 V. u. statt: calumm. lies: calumn.
r, 152 „ 17 V. o. statt: vierte lies: dritte; Z. 19 statt: dritte lies: vierte.
„ 169. Auch Syrian wollte die platonische Theorie der Elementarkörper nicht
mathematisch gefasst, sondern auf die schöpferischen Naturki'äfte
bezogen wissen; vgl. Syrian. in Arist. metaph. XIII, p. 881 b 24 —
27 Usener.
„ 181 Anm. 1. Zu dem Gitat aus Philoponus füge hinzu: p. 516, 3 Vitelli
(Berol. 1888). Ebd. Anm. 3 füge hinzu: p. 524, 13 Vitelh, ebenso
Anm. 5: p. 516, 7. 518. 15. 524, 15 Vitelli.
. 187 Z. 17 v. 0. muss die Überschritt die Bezeichnung d haben.
36 ^ \) v^ '}• X J. Verbesserungen und Zusätze.
436
S. 187 Z. 21 V. o. statt: es es lies: er es.
, 189 „ 2 V. 0. statt: 4. lies: 5.
„ 193 Anm. 1. Z. 5 statt: p. 310 lies: p. 31.
„ 21(t , 1. Zu den Litteraturangaben kann noch nachgetragen werden:
Jüh. Scher 1er, Darstellung und Würdigung des Begriffs der Ma-
terie bei Aristoteles. Dissert. von Jena. Potsdam 1873.
„ 241 Anm. 1 letzte Z. statt: ausgeführt lies: aufgeführt.
, 245 Z. IG V. 0. statt: sublunasischen lies: sul)lunarischen.
„ 272 Anm. 1 .statt: 237 lies: 236.
, 30.0 , 3 Z. 1 lies: r6.
, 30;') ,, 9,1 ist das Punctum hinter fr. 39(; zu streichen.
. , 307 , 8 ,. 2 ist das Punctum hinter (hiai}r}i: zu streichen.
„ 318 , 1 „ 2 V. u. lies: ek.
% 325 , 4 , 6 V. u. hinter ^iCoteler." füge hinzu: ed Glericus. .\m-
stel. 1724.
,341 ,8 statt: S. 295 Anm. 1 lies: Anm. 4.
, 352 , 3 Z. 1 statt: p. 1053 r lies : p. 1053 F.
„ , „ „ „ 2 statt: f. 55 E lies : f. 55 r
, 356 , 5 Z. 1. V. u. ist dieselbe Ausgabe der Cotelier'schen Arbeit ge-
meint, wie S. 325 Anm. 4.
„ 402 „ 2. Bei den Litteraturangaben ist ausgefallen: Arthur Bichter,
Neuplatonische Studien. Darstellung des Lebens und der Philosophie
des Plotin. 1867. Heft II. S. 42—43; Heft III S. 94—103; Heft V
S. 16—20.
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3^
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Baeumker 6 - Das roblem der Materie
.in der griechischen Philoroühia.
pont^ical m.;... of ^Acd;aev^l S.udies
113 ST. JOSEPH GTRE^
TORONTO. ONT., GANADA M5S 1J4
332^