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Full text of "Das problem der materie in der griechischen philosophie"

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DAS 


PROBLEM  DER  MATERIE 


IN  DER 


GRIECHISCHEN  PHILOSOPHIE. 


Em]  HISTORISCH-KRITISCHE  WTERSüCHOTa 


VON 


CLEMENS  BAEUMKER. 


-'^^yzyzy^,^^- 


MUNSTER,    1890. 

Drück  und  vbrla.g  der  aschendoepfschbn  büchhandlunö, 


GermaTiT 


DEM  AOEIfKEIf 
WILHELM  JüNKMANN'S. 


IMlNSTnUlL  .  •;.L  STUDiES 

TühiCNTO  5,  CANADA. 


31 


Vorwort. 

Die  Aufgabe  der  philbsophiegeschichtlichen  Forschung,  darin 
stimmen  alle  ihre  Kenner  überein,  kann  nicht  bloss  die  sein, 
perlschnurartig  System  an  System  zu  reihen,  nur  verbunden 
durch  den  Faden  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  oder  irgendwel- 
cher anderer  rein  äusserer  Diadochenverhältnisse.  Soweit  die- 
selbe geschichtliche  Erkenntnis  als  selbständigen  ersten  Zweck 
verfolgt  und  sich  nicht  darauf  beschränkt,  als  blosse  Handlan- 
gerin für  die  sachliche  Discussion  der  Probleme  das  Material  an 
Gründen  pro  und  contra  herbeizutragen,  wird  sie  vielmehr  in 
vorderster  Reihe  darauf  ausgehen  müssen,  das  Werden  der  wech- 
selnden philosophischen  Anschauungen  begreiflich  zu  machen. 
Freilich  ist.  hierbei  im  Auge  zu  behalten,  dass  die  bei  geschicht- 
lichen Thatsachen  wirksame  Causalität  keine  eindeutig  bestimmte 
ist  und  daher  auch  nicht  einer  allgemeinen  Regel  untersteht.  Der 
Versuch,  aus  irgendwelchen  Kategorien  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung a  priori  abzuleiten  als  etwas,  das  notwendig  so  erfolgen 
musste,  wie  es  geschehen  ist,  ist  daher  noch  stets  misslungen 
und  musste  misslingen:  denn  der  hier  vorausgesetzte  innere  De- 
terminismus besteht  so  wenig  auf  dem  besondern  Gebiete  der 
philosophischen  Entwicklung,  wie  überhaupt  auf  irgend  einem 
der  Menschengeschichte.  Weder  der  logische  Ternar  von  Thesis, 
Antithesis,  Synthesis,  noch  die  psychologischen  Bedingungen,  die 
in  dem  successiven  Bekanntwerden  mit  andern  Systemen  gegeben 
sind,  noch  irgendwelche  sonst  aufgestellte  Umstände  haben  die 
zwingende  Gewalt,  welche  uns  berechtigte,  sie  den  Prämissen 
eines  apodictischen  Schlusses  gleichzustellen.  Die  philosophie- 
geschichtliche Forschung  muss  sich  deshalb  begnügen,  zu  zeigen, 
wie  das  Wirkliche  wirklich  \a erden  konnte.  Nicht  zwingende, 
wohl  aber  hinreichende  Gründe   hat    sie  aufzuweisen  ;    nicht    wie 


VI  Vorwort. 

ein  System  notwendig,   wohl  aber,  wie  es  denkbar  war  imd  wirk- 
lich gedacht  werden  konnte,  hat  sie  zu  erklären. 

Die  Verschiedenheit  der  geschichtlich  hervorgetretenen  philo- 
sophischen Weltauffassungen  aber  zeigt  sich  durch  ein  doppeltes 
Moment  bedingt,  das  eine  objectiver  Natur,  subjectiver  das  andere. 
Das  erste  liegt  in  den  sich  aufdrängenden  Problemen  selbst,  die  wegen 
ihrer  Compliciertheit  der  Betrachtung  verschiedene  Seiten  darboten. 
Das  andere  beruht  auf  der  Verschiedenheit  der  Voraussetzungen 
und  angenommenen  Meinungen,  mit  welchen  die  philosophischen 
Forscher  an  die  Lösung  der  Probleme"  herantraten;  denn  die 
ideale  Forderung  einer  völlig  voraussetzungslosen  Untersuchung 
haben  auch  diejenigen  Forscher  in  Wirklichkeit  niemals  erfüllt, 
welche  in  ihr  ein  notwendiges  Erfordernis  des  Philosophierens 
glaubten  erblicken  zu  müssen. 

Die  Gesamtentwicklung  der  philosophischen  Weltanschauung 
setzt  sich  zusammen  aus  der  Entwicklung  der  besondern  Pro- 
bleme, des  Gottes-,  Geistes-  und  Naturproblems  und  der  darin 
enthaltenen  Einzelfragen,  Wenngleich  von  einem  systematischen 
Kopf  das  eine  Problem  nicht  ohne  das  andere  angegriffen  wird, 
so  hat  doch  auch  die  Einzelfrage  ihre  Geschichte,  der  nachzu- 
forschen eine  Sache  ist,  der  Mühe  der  Arbeit  wert.  Eine  solche 
monographische  Untersuchung,  welche  das  Einzelproblem  für  sich 
herausgreift,  erlaubt  es,  die  mannigfachen  Fragen,  welche  in  dem- 
selben eingeschlossen  sind,  in  eingehender  Analyse  zu  entwickeln, 
Sie  giebt  daher  eine  bessere  Einsicht  in  die  Gründe,  aus  denen 
die  Antworten  so  verschieden  ausfielen,  jenachdem  diese  oder 
jene  in  der  Sache  liegende  Schwierigkeit  den  Ausgangspunct  des 
Philosophierens  bildete.  Indem  sie  so  das  einzelne  Problem, 
dasselbe  gleichsam  hin  und  her  werfend,  durch  den  Wechsel  sich 
ablösender  Lehrgebäude  hindurch  verfolgt,  lehrt  sie  zugleich,  mehr 
als  bei  der  zusammenhangenden  Darstellung  ganzer  Systeme  der 
Fall  ist,  das  sachlich  Berechtigte  und  wahrhaft  Bedeutsame  von 
dem  sondern,  was  nur  aus  psychologischen  Gründen,  aus  der  in- 
dividuellen Entwicklung  der  einzelnen  Philosophen,  seine  nicht 
absolute,  sondern  bloss  relative  Rechtfertigung  erfährt.  Gerade 
die  monographische  Behandlung  der  Geschichte  einzelner  Probleme 
dient  so  in  hervorragendem  Maasse  neben  dem  historischen  Zv/ecke 
auch  der  sachlichen  Einsicht,  deren  Förderung  ebenso  den  natür- 
lichen Lohn  der  philosophiegeschichtlichen  Forschung  bildet,  wie  die 


Vorwort.  VTT 

Geschichte  der  politischen  Gebilde  uns  die  Kunst  der  Politik  lehren 
soll.  Begreiflich  erscheint  es  darum,  dass  das  glänzende  Beispiel 
einer  wahrhaft  historischen  doxographischen  Monographie,  wel- 
ches Trendelenburg  in  seiner  Geschichte  der  Kategorienlehre  gab, 
seitdem  zahlreiche  Nachfolger  gefunden  hat. 

Einigermaassen  befremdend  kann  es  sein,  dass  bei  diesen 
Einzeluntersuchungen  die  Naturphilosophie  im  engern  Sinne  so 
wenig  Berücksichtigung  gefunden  hat.  Namentlich  der  Grand- 
begriff dieser,  der  Begriff  der  Materie,  harrt  noch  immer  einer 
die  Gesamtentwncklung  berücksichtigenden   Bearbeitung. 

Wenn  ich  in  der  vorliegenden  Schrift  diese  Lücke  wenig- 
stens zum  Teil  auszufüllen  versuche,  so  bedarf  es  einer  Rechtfer- 
tigung wohl  nur  wegen  der  Begrenzung  auf  das  Altertum,  in  der 
ich  den  Gegenstand  erfasst  habe.  Doch  sprachen  dafür  verschie- 
dene sachliche  Gründe.  Einmal  hat  die  griechische  Philosophie 
innerhalb  der  von  mir  in  der  Einleitung  bezeichneten  Grenzen  das 
Problem  der  Materie  in  einer  im  ganzen  abgeschlossenen  Weise 
behandelt.  Eine  wirkliche  Weiterführung  war  nur  möglich,  wenn 
ganz  neue  Aussichtspuncte  erstiegen  wurden,  zu  denen  empor 
erst  ein  viel  später  erfolgter  Fortschritt  der  Einzel  Wissenschaften 
die  Stufen  hauen  konnte.  Zweitens  aber  wäre  bei  der  Ausdeh- 
nung meiner  Untersuchung  auf  das  Mittelalter  und  die  Neuzeit 
die  Methode  derselben  und  die  Art  der  Darstellung  eine  vöUig 
andere  geworden.  Die  quellenkritische  Forschung,  der  für  das 
Altertum  ein  breiter  Raum  angewiesen  werden  musste,  und  die 
den  Gharacter  meiner  ganzen  Arbeit  bestimmt,  würde  hier  fort- 
gefallen sein.  An  ihre  Stelle  mussten  ausführliche  Untersuchun- 
gen über  den  Fortschritt  der  positiven  physikalischen  und  chemi- 
schen Wissenschaften  treten.  Fühlte  ich  mich  zu  diesen  letztern 
weniger  berufen,  so  würde  zudem  jener  Wechsel  alle  Einheit  der 
Composition  aufgehoben  und  das  Ganze  in  eine  Reihe  von  Mono- 
graphien aufgelöst  haben.  Macht  doch  selbst  in  Trendelen- 
burg's  Geschichte  der  Kategorienlehre,  trotzdem  hier  die  Erhe- 
bung des  thatsächlichen  Materials  für  das  Altertum  weit  weniger 
umständlich  war,  dieser  veränderte  Cliaracter  der  Untersuchung 
sich  als  Übelstand  geltend,  schon  äusserlich,  indem  dem  Alter- 
tum 243,  dem  Mittelalter  und  der  Neuzeit  zusammen  dagegen  nur 
136  Seiten  eingeräumt  sind. 

6 


VIII  Vorwort. 

Innerhalb  der  .so  durch  die  Nalur  der  Sache  angeratenen 
Grenzen  habe  ich  ein  Vierfaches  erstrebt. 

Zunächst  galt  es,  den  Thatbestand  im  einzelnen  festzustellen. 
Eigentümliche  Schwierigkeiten  in  dieser  Hinsicht  brachte  die  vor- 
socratische  Philosoj)hie  mit  sich.  Weil  das  Problem  der  Materie 
in  derselben  noch  keine  abgesonderte  Behandlung  erfahren  hat, 
trotzdem  aber  von  vornherein  —  man  denke  nur  gleich  an  den 
Namen  des  ionischen  Hylozoismus  —  sachlich  nach  den  mannig- 
fachsten Seiten  hin  gestreift  wird,  so  war  es  einerseits  nicht  statt- 
haft, diese  Periode  ganz  zu  übergehen;  andererseits  aber  liess  sich 
der  Umfang  dessen,  was  heranzuziehen  war,  nicht  so  scharf  ab- 
grenzen, als  dort  möglich,  wo  das  Problem  bereits  als  solches 
ins  Auge  gefasst  wird.  Da  ich  nun  ausserdem  bei  der  Unsicher- 
heit, mit  welcher  die  Erklärung  der  oft  dunkeln  und  nur  frag- 
mentarisch erhaltenen  Aussprüche  dieser  Männer  verbunden  ist, 
mich  fast  an  allen  einschlägigen  Puncten  genötigt  sah,  zur  bessern 
Begründung  meiner  eigenen  Auffassung  weiter  auszuholen,  so  ist  der 
Abschnitt  etwas  ausführlicher  ausgefallen,  als  es  an  sich  für  eine 
blosse  Vorbereitungszeit  erforderlich  gewesen  wäre.  Ebenso  nö- 
tigte die  Eruierung  der  platonischen  Ansicht  zu  einer  gewissen 
Ausführlichkeit.  Hier  war  es  vor  allem  die  Menge  der  sich  leb- 
haft bekämpfenden  Ansichten  aus  alter  und  neuer  Zeit,  zu  denen 
Stellung  genommen  werden  musste  und  die  auf  ihre  urkundliche 
Bestätigung  oder  Nichtbestätigung  hin  zu  prüfen  waren,  was  An- 
lass  zu  Weiterungen  gab.  Textesinterpretation  und  andere  Un- 
tersuchungen mehr  philologischen  Characters  nehmen  infolge- 
dessen viele  Seiten  ein.  Einfacher  war  es  in  den  folgenden  Ab- 
schnitten, den  Thatbestand  zu  constatieren.  Strittige  Puncte,  wie 
z.  B.  der  neuerdings  bezweifelte  Pantheismus  des  Stifters  der 
Stoa  —  eine  Frage  von  Wichtigkeit  für  seine  Auffassung  des  Ver- 
hältnisses der  Materie  zur  Gottheit  — ,  die  angebliche  philonlsche 
Lehre  von  der  Materie  als  dem  Nichtseienden  und  vieles  Andere 
der  Art  konnte  in  den  Anmerkungen  erledigt  werden.  Dass 
daraus  eine  gewisse  Ungleichheit  der  Behandlung  in  den  einzel- 
nen Abschnitten  sich  ergab,  war  mir  unerwünscht,  aber  nicht  zu 
vermeiden.  Im  übrigen  war  ich  in  allen  Abschnitten  be- 
strebt, das  historische  Material  mit  der  mir  erreichbaren  Vollstän- 
digkeit, durchaus  aufgrund  eigener  Sammlungen  unter  Nachprü- 
fung nach  den  Angaben  Anderer,  zusammenzustellen.      An   zahl- 


Vorwort.  IX 

reichen  Stellen  hat  infolgedessen  der  von  Andern  gesammelte 
Citatenapparat  Erweiterungen  erfahren  können.  Freilich  wider- 
strebte es  mir,  auf  solche  Erweiterungen  jedesmal  ausdrücklich 
hinzuweisen.  Der  kundige  Forscher  wird  sie  auch  ohne  derar- 
tige Fingerzeige  bemerken. 

Zweitens  habe  ich  mich  bemüht,  den  innern  Zusammenhang 
und  die  logische  Gliederung  der  einzelnen  Theorien  scharf  her- 
auszuarbeiten. Naturgemäss  musste  diese  Seite  um  so  mehr  in 
den  Vordergrund  treten,  je  mehr  durchgeführt  die  betretfende 
Theorie  sich  darstellt.  Ein  besonderes  Gewicht  fällt  darum  auf 
sie  erst  von  Aristoteles  ab,  von  wo  ab  umgekehrt  die  auf  die 
Feststellung  des  Thatbestandes  bezüglichen  Untersuchungen  mehr 
zurücktreten  durften.  Für  den  Zweck  dieser  Analyse  legte  ich 
vor  allem  Gewicht  auf  eine  klare  Disposition.  Um  dieselbe  deut- 
lich hervortreten  zu  lassen,  habe  ich  mich  nicht  gescheut,  ^vo  es 
nötig  schien,  die  Ober-  und  Unterglieder  ausdrücklich  zu  bezeich- 
nen. Die  Gesichtspuncte  für  die  Anordnung  waren  aus  dem  In- 
halte der  jedesmaligen  Theorie  zu  gewinnen.  Die  Disposition 
konnte  darum  nicht  überall  nach  dem  gleichen  Schema  erfolgen. 
Selbst  wo  bestimmte  Rubriken  wiederkehren,  war  ihnen  doch 
eine  wechselnde  Stellung  anzuweisen.  So  musste  die  Frage  nach 
der  sogenannten  intelligibeln  Materie  und  dem  Verhältnis  der 
Körpermaterie  zu  ihr.  die  bei  Plato,  von  seiner  spätesten  Zeit  ab- 
gesehen, und  bei  Aristoteles  nicht  sonderlich  hervortritt  und  darum 
bei  der  Besprechung  ihrer  Theorien  anhangsweise  behandelt  wer- 
den konnte,  bei  den  Neuplatonikern,  dem  emanatistischen  Gha- 
racter  ihres  Systems  entsprechend,  viel  mehr  in  den  Vordergrund 
gerückt  werden. 

Entsprechend  dem,  was  oben  über  die  Aufgabe  der  philo- 
sophiegeschichtlichen P^orschung  dargelegt  wurde,  musste  ich  an 
dritter  Stelle  die  historischen  Bedingungen  der  einzelnen  Systeme 
und  die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  ihnen  klarzustellen 
trachten.  Namenthch  bei  der  nacharistotelischen  Philosophie 
waren  die  mannigfaltigen  Fäden  zu  sondern,  die  hier  für  das  Ge- 
webe den  Einschlag  geliefert  haben.  Aber  schon  die  aristotelische 
Theorie  der  Materie,  vor  allem  hinsichtlich  der  Beziehungen  von 
Materie  und  Substanz,  Wesen,  Natur,  war  völlig  zu  verstehen 
nur  wenn  sie  in  durchgängigem  Zusammenhange  mit  der  plato- 
nischen Lehre  betrachtet  wurde.     Auf  diese  Art   konnte    zugleich 


X  Vorwort. 

genauer,  als  es  zum  Teil  in  den  bisherigen  Darstellungen  der  Fall 
war,  ermittelt  werden,  was  die  Spätem  Neues  gebracht  und  aus 
welchen  Gründen  sie  es  hinzugefügt  haben.  So  ergab  sich  z.  ß., 
dass  Epicur,  obwohl  er  im  übrigen  mit  wenig  Selbständigkeit  die 
Lehre  Democrit's  erneuert,  doch  durch  die  neue  Erklärung  der 
Mischung,  zu  der  er  aufgrund  der  gegen  die  democritische  von 
Aristoteles  erhobenen  Einwendungen  gelangte,  die  Atomistik  in 
einem  nicht  unwesentlichen  Puncte  verbessert,  und  vieles  Andere 
der  Art. 

Schon  eine  Art  von  sachlicher  Kritik' ist  es,  wenn  sich  zeigen 
lässt,  dass  bestimmte  Lehrpuncte  nicht  rein  aus  der  Sache  selbst 
lieraus,  sondern  nur  aus  ihren  historischen  Voraussetzungen  ihre 
Erklärung  tinden.  Die  historische  Kritik  arbeitet  hier  der  sach- 
hchen  Würdigung  in  die  Hände.  Doch  konnte  ich  hierbei  nicht 
stehen  bleiben.  Wenigstens  bei  den  bedeutsamsten  historischen 
Erscheinungen  war  der  Versuch  einer  Würdigung  von  rein  sach- 
lichen Gesichtspuncten  aus  zu  machen.  Bei  dieser  meiner  vierten 
Aufgabe  durfte  ich  mich  im  ganzen  auf  die  beiden  Systeme  be- 
schränken, welche  auch  für  die  Gegenwart  ihre  Bedeutung  unge- 
schwächt bewahrt  haben,  auf  das  atomistische  und  das  aristote- 
lische. Eine  Kritik  etwa  des  Thaies  oder  des  Moderatus  dagegen 
vom  Standpuncte  der  neuesten  Wissenschaft  aus  Avird  niemand 
von  einer  Schrift,  wie  die  vorliegende,  erwarten,  die  in  erster 
Linie  historischen  Zwecken  dienen  will ;  sie  würde  auch  völlig 
überflüssig  sein.  Selbst  bei  der  Kritik  des  einen  jener  beiden  Sy- 
steme schien  mir  eine  abermalige  Einschränkung  ratsam  zu  sein. 
Eine  philosophische  Untersuchung  über  den  Atonibegriff,  wie  sie 
für  unsere  Zeit  not  thut,  wird  nicht  mehr  von  der  deraocritisch- 
epicureischen,  durch  Petrus  Gassendi  erneuerten  Atomistik  aus- 
gehen dürfen,  sondern  von  derjenigen  Form  derselben,  deren 
Grundzüge  Dalton  entworfen  hat.  So  konnten  denn  die  sach- 
lichen Bemerkungen  über  die  Atomistik  Democrit's  und  Epicur's 
in  der  Hauptsache  nur  darauf  ausgehen,  die  Unterschiede  der  an- 
tiken und  der  modernen  Lehre  bestinnnt  hervorzuheben.  Eine 
Prüfung  der  letzten  Grundlagen  der  Atomistik  dagegen  würde, 
weil  sie  von  einem  Eingehen  auf  die  den  positiven  Wissenschaften 
angehörenden  Grundlagen  der  modernen  Theorie  nicht  abtrenn- 
bar ist,  aus  dem  Rahmen  meiner  ganzen  Untersuchung  heraus- 
gefallen sein. 


Vorwort.  XI 

Die  auf  den  Gegenstand  bezügliche  Litteratur  hoffe  ich  in 
ziemlicher  Vollständigkeit  benutzt  zu  haben.  Mannigfache  För- 
derung verdanke  ich  von  Hertling's  Arbeit  über  Materie  und  Form 
bei  Aristoteles,  die  mir  namentlich  durch  ihre  Kritik  der  aristo- 
telischen Theorie  von  hohem  Werte  war;  sodann  vor  allem  Zeller's 
unvergleichlichem  Geschichtswerk,  von  dem  ich  die  ganze  Ar- 
beit hindurch  den  grössten  Nutzen  ziehen  konnte.  Mit  aufrichtigem 
Dank  erwähne  ich  ferner  die  zahlreichen  Arbeiten  von  Diels  zur  Ge- 
schichte der  Vorsocratiker,  vorab  seine  Doxographie,  ferner 
Natorp's  Forschungen  zur  Geschichte  des  Erkenntnisproblems, 
Heinze's  Werk  über  den  Logos  in  der  griechischen  Philosophie  und 
H.  F.  Müller's  Abhandlung  über  Plotin's  Forschung  nach  der  Materie. 
Auch  L.  Stein's  Psychologie  der  Stoa  habe  ich  mehrfach  heran- 
gezogen.    Die  übrige  Litteratur    ist  ihres  Ortes  erwähnt. 

Wenn  in  der  Benutzung  der  Litteratur  zwischen  den  zwei  er- 
sten und  den  drei  letzten  Abschnitten  in  sofern  ein  Unterschied 
hervortritt,  als  die  in  den  letzten  zwei  Jahren  erschienenen  Aus- 
gaben und  Abhandlungen  nur  in  der  zweiten  Hälfte  des  Werkes 
berücksichtigt  sind,  so  liegt  der  Grund  davon  in  einem  Miss- 
geschick, das  den  Verfasser  während  der  Vollendung  seiner  Arbeit 
betroffen  hat.  Derselbe  wurde,  als  die  dreizehn  ersten  Bogen 
bereits  gesetzt  waren,  im  Herbst  1887  von  einer  schweren  Krank- 
heit befallen,  die  ihn  über  ein  Jahr  lang  von  jeder  selbst  leichten 
wissenschaftlichen  Thätigkeit  fern  hielt.  So  konnte  die  mittler- 
weile erschienene  Litteratur  nur  für  die  zweite  Hälfte  noch  be- 
nutzt werden.  Doch  habe  ich  bei  der  nachträglichen  Durch- 
sicht des  inzwischen  Erschienenen  auch  für  die  erste  Hälfte  nichts 
gefunden,  was  mir  zu  einer  Modification  der  darin  ausgesprochenen 
Ansichten  Veranlassung  gäbe.  Ich  bedaure  es  nur,  dass  ich  die 
erste  Abteilung  von  Zellers  zweitem  Bande  nicht  in  der  vierten 
Auflage  habe  eitleren  können. 

Die  Widmung  des  Buches  zeigt  den  Namen  meines  verstor- 
benen Freundes  und  Gollegen  Wilhelm  Junkmann.  In  seiner  an- 
regenden Unterhaltung  ist  mir  so  oft  das  Bild  geistvoller  und 
gemütstiefer  Behandlung  der  Geschichte  aufgegangen.  Möge  die 
vorhegende  Arbeit  seines  Andenkens  nicht  ganz  unwert  sein  ! 

Breslau,  im  September  1889. 

Der  Yerfassen 


Inhalt. 

Seite 
Einleitung ■ 1 

Das  Problem  der  Materie.  Die  verschiedenen  Betrachtungs- 
weisen S.  1.  Auffassung  innerhalb  der  griechischen  Philoso- 
phie —  5.  Entwicklung  innerhalb  der  griechischen  Philo- 
sophie —  0. 

Erster  Abschnitt. 

Die  Vorsocratiker.     Ansätze  zu  einer  Theorie 

der  Materie. 

1.  Die  älteren  ionischen  Naturphilosophen 8 

Der  ionische  Hylozoismus  —  8.  Thaies  —  9.  Anaximander  — 11. 
Anaximenes  —  15.  Diogenes  von  Apollonia  —  17.  Heradit  —  19. 

2.  Die  Pythagoreer 33 

Das  materielle  Princip  als  Zahl  —33.  Die  Materie  unbegrenzte 
Ausdehnung  —  37.  Die  Grenze  40.  Der  Körper  bloss  ma- 
thematisch gefasst  —  42.  Historische  Bedeutung  ihrer  Körper- 
lehre —  44. 

3.  Die  Eleaten 46 

Ihre  Bedeutung  für  das  Problem  der  Materie  —  46.  Xenophanes 
—  46.  Keine  Negation  des  Körperlichen  bei  ihm  —  48.  Par- 
menides.  Seine  Beziehung  zum  Problem  der  Materie  —  50. 
Sein  Noumenalismus  —  52.  Eigenschaften  des  Seienden  —  53. 
Melissus.  Wieierannäherung  an  den  Standpunct  der  Natur- 
philosophie —  .57.  Zeno.  Jede  sinnliche  Auffassung  der  Körper- 
welt trügerisch  —  60. 

4.  Die  jüngeren  Naturphilosophen 63 

Ihr  Standpunct  —  63. 

a)  Empedocles.  Verhältnis  zu  Parmenides  —  67.  Keine  Nega- 
tion des  Körperlichen  hinsichtlich  des  Sphairos  —  68.  Con- 
tinuität  des  Stoffes  —  68.  Elementarische  Constitution  des- 
selben —  69.  Stoff  und  Kraft  —  70.  Verhältnis  zur  Ato- 
mistik —  71. 

b)  Anaxagoras.  Verhältnis  zu  Empedocles  —  73.  Constitution 
des  Stoffs  —  74.  Continuität  des  Stoffs  —  77.  Gegensatz 
von  Stoff  und  Geist  —  78. 


Inhalt  Xril 

Seite 
c)   Die  Atomiker.    Leucipp  und  Democrit  —  79.    Verhältnis  zu 

den  Eleaten  —  80.    Atomistische    Constitution    der    Materie 
—  82.    Unterschied    der    antiken   und  der  modernen  Atomi- 
stik —  83.      Atome    in    wieweit  einfach  —  85     und  gleich- 
artig —  86.     Sinnesqualitäten  -    92. 
5.  Die  Sophistik 95 

a)  Protagoras  und  die  Protagore^r  des  platonischen  Theaetet. 
Historischer  Gharacter  des  platonischen  Berichtes  —  96.  In- 
halt desselben  —  101.    Keine  substratlose   Bewegung  — 103. 

b)  Gorgias.     Die  Materie  nichts  — ■  108. 

Zweiter  Abschnitt. 
Plato.    I>ie  Materie  als  blosse  Ausdehnung. 

1.  Notwendigkeit  der  .Materie  im  platonischen  System.     .     .     110 

Das  Problem  der  Materie  von  Plato  bestimmt  formuliert  —  110. 
Stellung  der  Materie  unter  den  platonischen  Principien  —  111. 
Quellen  für  unsere  Darstellung  —  114. 

2.  Die  Darstellung  des  Timaeus 115 

Vernunft  und  Notwendigkeit  ^  115.  Begriff  der  Notwendigkeit 
— 117.  Das  rovTo  und  das  rotomov  — 126.  Die  ^Aufnehmerin" 
des  Werdenden  —  129.  Die  drei  Gattungen  —  134.  Der  loyi- 
a/j.6i  v6&o(  —  137.  Der  Raum  —  139.  Unbestimmtheit  der  Dar- 
stellung   -  140.    Resultate  —  141. 

3.  Die  sogenannte    „secundäre"    Materie    des   Timaeus;     ihr 
mythischer  Gharacter 142 

Der  Wortlaut  und  des  en  verschiedene  Auffassungen  —  142.  Be- 
weis (ür  den  mythischen  Gharacter  der  „secundären  Materie" 
—  145. 

4.  Die  „primäre"  Materie  des  Timaeus 151 

a)  Die  verschiedenen  Ansichten  —  151. 

b)  Die  platonische  Materie  ist  weder  die  qualitativ  unbestimmte 
körperliche  Substanz  —  156,  noch  die  Möglichkeit  der  körper- 
lichen Substanz  —  175. 

c)  Die  platonische  Materie  ist  der  leere  Raum,  d.  h.  die  blosse 
Ausdehnung  —  177. 

d)  Unentstandenheit  der  platonischen  Materie  —  187. 

5.  Die  angebliche  Materie  in   Republik,  Sophistes,    Parmeni- 

des  und  Philebus 189 

Republik  —  189.  Sophistes  —  191.  Parmenides  —  192.  Phile- 
bus —  193. 

6.  Die  platonische  Materie  nach  den  aristotelischen  Berichten 

als  das  Gross-  und  Kleine.     Die  Academie 19ö 

Bericht  des  Aristoteles.  Die  Materie  das  Gross-  und  Kleine  — 196. 
Die  platonische  Materie  nach  Aristoteles  das  Niclitseiende  — 201, 


XIV  Inhalt. 

Seite 
Zeugnisse  Hermodor's   und  Eudem's  —  203.    Die  Materie  und 

das  Üble  —  205.     Die  ältere  Academie  —  "lOü. 

1.  Die  Zeitgenossen  Plato's 207 

Aristipp.    Euclid  —  208.    Antisthenes  —  209. 

Dritter  Abschnitt, 
Aristoteles.    Die  Materie  als  Mögliclikeit. 

Gharacter  der  aristotelischen  Speculation  über  die  Materie  —  210. 

1.  Begriff  der  Materie 212 

Ausgang  für  die  aristotelische  Begriffsbeätiminung  —  212.  Dop- 
pelte Betrachtung  der  Materie  —  213.  Materialursache  im  all- 
gemeinen und  Materie  des  substantialen  Werdens  im  beson- 
dern —  214. 

a)  Die  Materialursache  im  allgemeinen  —  214. 

b)  Die  Materie  des  substantialen  Werdens.  Ihr  Begriff  —  229. 
Ihre  Unkörperlichkeit  —  241.  Die  erste  Materie  —  241.  Die 
Körperwelt  —  242. 

2.  Kritik  des  aristotelischen  Begriffs  der  Materie;  Schwanken 

des  Aristoteles  hinsichtlich  derselben 247 

3.  Functionen  der  Materie 261 

a)  Materie  und  Form  —  261. 

b)  Materie  und  Accidens  —  264. 

c)  Allgemeine  Functionen  der  Materie  —  265.  Ihre  Passivität 
—  265.  Die  Materie  als  Notwendigkeit  —  267.  Ihre  Eigen- 
wirkungen —  271.    Die  Materie  als  Individuationsprincip  — 281. 

4.  Die  intelligibele  Materie 291 

a)  Die  m.athematische  Materie  —  291. 

b)  Die  begriffliche  Materie  —  293. 

5.  Die  peripatetische  Schule 294 

Vierter  Abschnitt. 
Epicureer  und  l^itoiker. 

Allgemeine  Characteristik  —  301. 

1.  Epicur.   Die  atomistische  Constitution  der  Materie    .     .     .     303 

a)  Das  Atom  an  sich.  Körper  und  Leeres  —  304.  Discontinuität 
der  Materie  — 306.  Die  Atome.  Gründe  für  ihre  Annahme — 307. 
Eigenschaften  der  Atome  —  312.  Die  Sinnesqualitäten  —  314. 
Mischung  und  Entmischung  —  317. 

b)  Die  Bewegung  der  Atome  —  319.  Declination  —  321.  Welt- 
entstehung und  Weltuntergang  —  324. 

2.  Die  Stoiker.    Die  Materie  als  qualitätsloser  Körper  .     .     .     326 

Entlehntes  und  Eigenes  in  der  stoischen  Theorie  —  326. 


Inhalt.  XV 

Seite 

a)  Die  Materie  an  sicli.  Beweise  für  dieselbe  — 330.  Begriffs- 
bestimmung —  333.  Die  Materie  Substanz  —  336.  Die  Materie 
passives  Princip  —  339.  Gontinuität  —  340  und  unbegrenzte 
Teilbarkeit  der  Materie  —  315. 

b)  Materie  und  bewegende  Ursache.  Materie  und  Qualität  —  346. 
Der  Logos  in  der  Materie  — 354.  Die  löyot  antgixaxixoi  — 356. 
Stoff  und  Kraft  —  350.  Materie  und  Gottheit  —  360.  Der  stoi- 
sche Hylozoismus  —  364. 

c)  Die  Materie  im  Weltprocess  —  366. 

Fünfter  Abschnitt. 
Der  ]¥eupIatoiiii!«iuus  und  dessen  Torläufor. 

Die  Vorläufer  des  Neuplatonismus 371 

Die  jüngere  Academie.    Antiochus  von  Ascalon  —  371. 

a)  Die    Platoniker.     Gharacteristik  — 372.      Begriff    der     Materie 

—  373.    Bildung  der  Materie  —  376.     Die  Materie  und  das  Üble. 

—  377. 

b)  Philo.    Begriff  der    Materie  —  380.     Die    Materie    ungeworden 

—  384.    Die  Materie  und  das  Böse  — 385.     Paeuma  und    '/.üyoi, 

—  388. 

c)  Die  Neupythagoreer.  Zwei  Gruppen  derselben  —  389.  Erste 
Gruppe.  Der  Begriff  der  Materie  noch  nicht  aufgrund  der  spe- 
culativen  Zahlenfheoiie  entwickelt  —  389.  Zweite  Gruppe. 
Der  Begriff  der  Materie  aufgrund  der  Zahlenspeculation  —  391. 
Intelligibele  Materie.  Ursprung  derselben  -  394.  Die  Materie 
der  Körperwelt  — 398.    Die  Materie  und  das  Böse  — 401. 

Der  Neuplatonismu.s 402 

a)  Plotin.  Notwendigkeit  und  Natur  der  Materie  — 402.  Die  sinn- 
fällige und  die  intelligibele  Materie  — 409.  Ursprung  der  Ma- 
terie —  411.     Die   Materie  und  das  Böse    -414. 

b)  Die    spätem     Neuplatoniker.       Porphyrius   —417.       lamblich 

—  418.  Die  Schrift  von  den  ägyptischen  Mysterien  — 419. 
Plutarcb  von  Athen.  Hierocles.  — 420.  Syrian  Proclus  — 421. 
Pericles  der  Lyder.  Damascius  —  427.  Ammonius.  Simpli- 
cius.     Macrobius.     Ghalcidius.       Marcianus    Gapella.    Boethius 

—  428. 


Einleitung. 


Unter  dem  Problem  der  Materie*)  pflegen  wir  die  Summe 
aller  derjenigen  Fragen  zu  begreifen^  welche  sich  auf  das  Vor- 
handensein und  die  Natur  des  von  unserm  Bewusstsein  verschie- 
nen  Grundes  der  in  der  sinnlichen  Wahrnehmung  gegebenen,  un- 
ter dem  Namen  der  Körperwelt  zusammengefassten  Phänomene 
beziehen. 

Nur  einseitig  und  bloss  vom  Standpuncte  der  Naturbetrach- 
tung aus  ist  ursprünglich  die  Forschung  an  das  Problem  der  Ma- 
terie herangegangen.  Erst  im  Fortgange  der  Untersuchung  trat 
dasselbe  zu  weiteren  Problemen  in  Beziehung,  sich  dadurch  fort- 
schreitend complicierend. 

Am  nächsten  liegt  diejenige  Betrachtung  der  Materie,  welche 
wir  kurz  als  die  physikalische  bezeichnen  können.  Sie  fasst  die 
Materie  als  den  allgemeinen  Grund  der  differenzierten  körperlichen 
Dinge.  Noch  rein  physikalisch  ist  sie;  denn  sie  beschäftigt  sich 
nur  mit  den  körperlichen  Dingen  als  solchen ,  ohne  sie  zu  der 
geistigen  Substanz  und  zu  den  Inhalten  des  Bewusstseins  in 
einen  Gegensatz  zu  bringen. 

Jenen  allgemeinen  Grund  der  körperlichen  Dinge  nun  kann  diese 
Betrachtungsart  in  doppelter  Weise  zu  bestimmen  suchen.  Die  erste 
Weise  geht  aus  von  der  Erwägung,  dass  alles  Physische  fortwähren- 
dem Wandel  in  Entstehen  und  Vergehen  unterworfen  ist.  Alles  Ent- 
stehen und  Vergehen  aber,  soll  es  nicht  Schöpfung  aus  Nichts  und 
Vernichtung  ins  Nichts  sein,  muss  an  einem  Substrat  erfolgen,  das 


'•)  Johannes  Huber,  Die  Forschung  nach  der  Materie.    München  1877. 

Baeuiuker:    Das  Problem  Jer  Materie  etc.  1 


'i  Einleitung. 

jetzt  in  dieser,  dann  in  jener  Bestimmtheit  erscheint.  Dieses  Substrat 
ist  die  Materie.  Es  gilt,  die  Natur  des  Substrates  klar  zu  legen, 
wie  sie  angenommen  werden  muss,  wenn  jenes  Substrat  einen 
jeglichen  beobachteten  Wechsel  ermöglichen  und  vorbereiten  soll. 
Wir  können  diese  Betrachtungsweise  als  die  genetisch-physikalische 
bezeichnen.  Die  ]\Iaterie  ist  ihi-  das,  woraus  oder  worin  die 
mannigfachen  körperlichen  Dinge  werden.  Diese  Auffassung  ist 
es,  welche  das  ganze  Altertum  beherrscht. 

Die  zweite  Weise  der  rein  physikalischen  Betrachtung  unter- 
scheidet in  dem  Verhalten  der  Körper  zu  einander  solche  Verhal- 
tungsweisen, die  allen  Körpern  gemeinschaftlich  sind,  uud  solche, 
die  nur  bestimmten  Classen  derselben  zukommen.  Indem  sie 
nun  in  der  materiellen  Constitution  der  Körper  den  inneren  Grund 
für  ihr  Verhalten  erblickt,  sucht  sie  den  Grund  für  jene  allgemei- 
nen Weisen  des  Verhaltens  in  der  allgemeinen  Natur  der  Materie, 
im  Gegensatz  zu  welcher  sie  die  besondere  Verhaltungsw'eise  einer 
einzelnen  Art  des  Körperlichen  auf  die  besondere  Natur  des  be- 
treffenden Elementes  oder  der  betreffenden  Elementenverbindung 
zurückführt.  Die  moderne  Physik  ist  bei  ihren  Theorien  der  Ma- 
terie wesentlich  von  diesem  Gesichtspunkte  geleitet.  Da  er  nicht 
so  sehr  den  Übergang  des  einen  aus  dem  andern  ^  als  die  con- 
stante  und  bleibende  Weise  des  Verhaltens  ins  Auge  fasst,  so 
mag  er  im  Gegensatz  zum  genetisch -physikalischen  der  ontisch- 
physikalische  heissen. 

Von  den  Objecten  der  äusseren  Erfahrung,  welche  wir  unter 
dem  Namen  der  Körperwelt  begreifen,  und  von  den  Vorgängen  in  die- 
ser Körperwelt  unterschieden,  finden  wir  in  unserm  Bewusstsein 
einen  Kreis  von  Vorgängen,  die  von  uns  auf  uns  selbst  bezogen 
und  darum  als  Inhalt  innerer  Erfahrung  der  äusseren  Erfahrung 
gegenübergestellt  -werden.  Wie  die  ]\Iaterie  Wurzel  und  Träger 
des  äusseren  Geschehens,  so  ist  uns  Wurzel  und  Träger  jenes  in- 
nern  Geschehens  der  Geist.  Indem  so  der  Begriff  der  Materie  den 
Gegensatz  zum  Geist  mitbesagt,  tritt  diese  nicht  mehr  bloss  den 
aus  ihr  hervorgegangenen  Einzelgestaltungen  des  Körperlichen  ge- 
genüber, deren  Grund  sie  bildet,  sondern  zugleich  auch  dem  von 
ihr  grundverschiedenen  Gebiete  des  Geistes,  welches  sie  aus- 
schliesst  und  von  dem  sie  ausgeschlossen  wird.  Wir  w^ollen  den 
Standpunct,  um  seine  Rücksichtnahme  beim  Physischen  auf  das 
Psychische  auszudrücken,    als   den   psychophysischen  bezeichnen, 


Einleitung.  y, 

wobei  wir  dem  Ausdrucke  freilich  eine  über  den  gewöhnlichen 
Gebrauch  hinausgehende  Bedeutung  geben  müssen.  Das  Bestre- 
ben der  Forschung  wird  bei  dieser  Fragestellung  zunächst  darauf 
gerichtet  sein,  die  unterscheidenden  Prädicate  festzustellen,  durch 
welche  die  Materie  im  Gegensatz  zum  Geist  ihre  eigentümliche 
Bestimmung  erhält.  Dann  aber  wird  es  sich  darum  handeln,  fest- 
zusetzen, wie  diese  durch  ihre  eigentümlichen  Prädicate  bestimm- 
ten Naturen  sich  zu  einander  verhalten,  ob  wie  zwei  für  sich  be- 
stehende Substanzen  oder  Glassen  von  Substanzen,  oder  wie  zwei 
verschiedene  Ansichten  ein  und  derselben  Substanz  —  ein  Gegen- 
satz, den  die  Geschichte  der  Philosophie  vornehmlich  an  die  Na- 
men Descartes  und  Spinoza  zu  knüpfen  gewöhnt  ist.  Das  Alter- 
tum untersucht  zwar  das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib,  beschäf- 
tigt sich  auch  mit  der  Frage  nach  der  Materialität  oder  Immate- 
rialität  des  Geistes;  aber  wo  der  Begriff  der  Materie  selber  unter- 
sucht werden  soll,  ist  dasselbe  niemals  von  ihrem  Gegensatze 
zum  Geiste  ausgegangen. 

Wir  setzten  soeben  die  Vorgänge  in  der  Körperwelt  und  die 
Vorgänge  in  unserm  Bewusstsein  als  Gegenstände  äusserer  und 
innerer  Erfahrung  gegenüber.  Allein  diese  Grundlage  für  die 
Unterscheidung  von  Materie  und  Geist  treffen  ZAveifel.  Keine  äus- 
seren Gegenstände  können  je  als  solche  in  unser  Bewusstsein  ein- 
gehen; was  wir  in  uns  haben,  sind  nur  Vorstellungen  derselben. 
Woher  wissen  wir  denn,  dass  diesen  überhaupt  ein  Objectives  ent- 
spricht? Könnte  nicht  auch  Berkeley  im  Rechte  sein,  wenn  er 
nichts  ausser  den  Geistern  und  den  Ideen  in  ihnen  als  wirklich 
anerkennt  und  deshalb  die  Annahme  einer  von  den  Geistern  und 
deren  Ideen  verschiedenen  Körperwelt  als  materialistischen  Irrtum 
bei  Seite  schiebt?  Oder  Leibniz,  wenn  er  in  der  Körpervvelt  zwar 
wohl  fundierte,  aber  doch  nur  der  verworrenen  Auffassung  des 
Sinnes  angehörige  Erscheinungen  erblickt?  Solche  und  ähnliche 
Fragen  haben  das  Problem  der  Materie  auf  das  erkenntnistheore- 
tische Gebiet  hinübergespielt.  Der  moderne  Philosoph  kann  da- 
her auch  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Materie  nicht  mehr 
losgelöst  von  den  erkenntnistheoretischen  Erörterungen  behandeln, 
welche  sich  an  den  Gegensatz  von  Realismus  und  Idealismus 
knüpfen.  Das  Altertum  dagegen  kennt  jenen  Gegensatz  noch 
nicht.  Sein  Standpunct  ist  immer  der  des  Realismus  geblieben. 
Nur   missbräuchlich   und  ungenau  redet  man  von  einem  erkennt- 

1  * 


4  Einleitung. 

nistheorelischen  Idealismus  in  der  antiken  Philosophie.  Soll  aber  das 
Wort  „Idealismus"  nicht  jede  bestimmte  Bedeutung  verlieren  — 
eine  Gefahr,  die  ja  freilich  dadurch  schon  nahe  genug  gelegt 
wird,  dass  man  dasselbe  auf  ethischem  Gebiete  in  ganz  ande- 
rein Sinne  zu  gebrauchen  pflegt,  als  auf  erkenntnistheoreti- 
tischem  — ,  soll  jenes  Wort  nicht  sogar  auf  dem  beschränkten  er- 
kenntnistheoretischen Gebiete  für  die  alte  Philosophie  in  an- 
derem Sinne  verwendet  werden  als  für  die  neuere,  so  werden  wir 
unter  dem  ferkenntnistheoretischen)  Idealismus  nur  jene  Systeme 
begreifen  dürfen,  welche  das  Objective  hur  als  Bewusstseinsinhalt 
anerkennen.  Wir  werden,  wenn  wir  von  „Idealismus"  reden, 
consequent  den  modernen  Sinn  des  Wortes  „Idee"  zugrunde  le- 
geU;  also  unter  „Idee"  unsere  Vorstellung  verstehen;  nicht  aber 
werden  wir  bei  dem  Etymon  des  Woites  „Idealismus"  einmal  an 
den  modernen  Sinn  von  „Idee'',  und  dann  wieder  an  den  platoni- 
schen Begriff,  nach  dem  „Idee"  so  viel  ist  als  die  von  der  Er- 
schüinung  geschiedene  Wesenheit,  denken  dürfen.  Dieser  Idealis- 
mus nun  ,  der  das  Reale  nur  in  den  Vorstellungen  oder  in  den 
Ideen  unseres  Geistes  und  der  uns  gleichartigen  Geister  findet 
und  ausserhalb  des  Bewusstseinsinhalts  keine  Wirklichkeit  mehr 
anerkennt,  ist  dem  gesamten  Altertum  noch  fremd.  AVas  man  in 
der  alten  Philosophie  als  (erkenntnistheoretischen)  Idealismus  be- 
zeichnet, ist  jene  Denknugsai-t,  welche  in  den  Unterscheidungen  und 
Beziehungen,  die  an  unsern  Begriffen  sich  darbieten,  ohne  weiteres 
den  Ausdruck  realer  Unterscheidungen  und  Beziehungen  erblickt. 
In  der  That  werden  wir  in  einer  solchen  Objectivierung  und  Hypo- 
stasierung  allgemeinster  Begriffe  und  Anschauungen  eine  der 
Hauptgrundlagen  nachzuweisen  suchen,  auf  denen  die  antiken 
Vorstellungen  auch  über  die  Materie  vielfach  erwachsen  sind. 
Allein  diesen  Standpunct  werden  wir  zur  Vermeidung  von  Zwei- 
deutigkeiten nicht  als  Idealismus,  sondern  im  Anschluss  an  die  im 
mittelalterlichen  Universalienstreite  hervorgetretenen  Gegensätze 
als  Begritfsrealismus,  und  zwar,  weil  er  ohne  vorgängige  kritische 
Untersuchung  das  ganze  Gefüge  unserer  Ideen  oder  Begriffe  als 
Abbild  der  Realität  fasst,  als  naiven  Begriffsrealismus  bezeich- 
nen. Wollten  wir  aber  auch  das  Wort  „Realismus"  vermeiden^ 
um  gewisse  Nebengedanken  fern  zu  hallen,  welche  seit  Herbart 
leicht  an  jenen  Ausdruck  sich  knüpfen,  so  möchte  sich  der  Name 
„Noumenalismus"   für  jenen   antiken    Standpunct    empfehlen.   -- 


Einleitung.  5 

Die  Realität  der  Körperwelt  ist  also  dem  Altertum,  einige  ver- 
einzelte mid  vorübergehende  Ansätze  abgerechnet,  noch  nicht 
zum  Problem  geworden.  Es  hat  dasselbe  darum  auch  keinen 
Anlass  genommen,  sich  mit  der  Frage  zu  beschäftigen ,  ob  über- 
haupt die  Materie  etwas  von  unserm  Bewusstsein  Verschiedenes 
bedeute.  Ihm  ist  es  so  selbstverständlich,  dass  der  Materie  eine 
objective  Natur  zukomme,  wie  ihm  das  Gleiche  für  die  zusam- 
mengesetzte Körperwelt  unzweifelhaft  ist;  denn  auch  da,  wo  es 
thatsächlich  die  ganze  Körperwelt  in  schemenhafte  Abstractionen 
auflöst,  glaubt  es  in  diesen  Begriffen  doch  eine  objective  Wirk- 
lichkeit zu  erfassen. 

Die  Geschichte  des  Problems  der  Materie  in  dem  zu  anfang 
entwickelten  Sinne  können  wir  bis  an  den  Ursprung  der  grie- 
chischen Philosophie  zurückführen.  Diese  beginnt  mit  dem  Auf- 
suchen eines  einheitlichen  Urgrundes  für  die  wechselnde  Viel- 
heit erscheinender  Dinge.  Schon  Anaximander  hat  mit  Bewusst- 
sein diese  Aufgabe  erfasst ;  denn  das  Unbegrenzte ,  aus  dem  er 
die  Dinge  hervorgehen  lässt,  bezeichnet  er  ausdrücklich  als  den 
„Anfang",  das  „Princip"  («cx'i)0«  ^^  einer  Zeit,  wo  die  Natur- 
wissenschaften noch  in  ihren  allerersten  Anfängen  lagen,  konnten 
nicht  zwingende  Thatsachen  der  Erfahrung  zu  dem  Unternehmen 
anregen,  aus  Einem  Principe  alles  zu  erklären ,  sondern  nur  das 
transcendente  Einheitsbedürfnis  des  menschlichen  Geistes.  Indem 
aber  diese  Forschung  zu  anfang  ausschliesslich  der  objectiven 
Welt  ausser  uns  sich  zuwendet,  die  körperlich  dem  Sinne  gegen- 
übertritt, und  deren  Vielheit  aus  einem  ihr  zugrunde  liegenden 
geraeinsamen  Princip  zu  begreifen  sucht,  erscheint  die  Frage  nach 
dem  einheitlichen  Urgründe  zunächst  als  Frage  nach  dem  Urstoff, 
aus  dem  die  einzelnen  Körperdinge  geworden  sind  und  in  den  sie 
wieder  zurückkehren.  Mit  mancherlei  Umbildungen  und. Verschie- 
denheiten, wie  sie  durch  die  wechselnden  Grundvoraussetzungen 
der  sich  ablösenden  Systeme  bedingt  waren,  blieb  das  doch  im 
wesentlichen  die  antike  Gestalt  des  Problems  der  Materie.  Im 
Anschluss  an  unsere  obigen  Ausführungen  können  wir  die  antike 
Fragestellung  somit  kurz  dahin  bestimmen :  Was  ist  das  Sub- 
strat {vnoxaifisior)  des  Wechsels  in  der  Körperwelt? 


')  Simplic.  phys.  I,  p.  24,  15 — 16  Diels.  Dass  die  Notiz  aus  Theophrast's 
Geschichte  der  naturphilosophischen  Lehrmeinungen  entnommen  ist,  beweist 
H.  Diels,  Rhein.  Mus.  Bd.  XLII  (1887)  S.  8. 


6  Einleitung. 

Als  Gegensland  einer  besondern  Untersuchung  im  Kahmen  der 
Naturphilosophie  erscheint  das  Problem  der  Materie  zuerst  bei 
Plato.  Allein  schon  die  vorsocratische  Philosophie  bietet  uns 
eine  Reihe  von  Einzelbestimmungen,  die  wir  als  Ansätze  zu  einer 
Theorie  der  Materie  bezeichnen  müssen.  Freilich  gehen  diese 
Ansätze  von  sehr  verschiedenen  Gesichtspuncten  aus  und  bieten 
keineswegs  das  Bild  einer  in  sich  folgerichtigen  Entwicklung. 
Bedeutungslos  sind  sie  indessen  nicht  für  uns.  Die  wesentlichen 
Grundlagen  der  späteren  durchgeführten  Theorien  sind  bereits 
zerstreut  in  ihnen  angedeutet.  Dann  abei'  tritt  in  der  ganzen  Ent- 
wickelung  immer  stärker  ein  Zug  nach  jener  antiken  Form  abstrac- 
ten  Denkens  hervor,  die  in  Plato  ihren  für  alle  Zeit  typischen 
Urheber  gefunden  hat  und  die  wir  oben  als  System  des  Begriffs- 
realismus oder  des  Noumenalismus  dem  subjectiven  Idealis- 
mus gegenübergestellt  haben,  welchem  das  Reale  zu  unserer 
Idee,  unserm  Bewusstseinsinhalt  wird.  Neben  diesen  zu  Plato 's 
Lehre  von  der  Materie  hinführenden  Gedankengängen  verdient 
besondere  Hervorhebung  der  Atomismus  des  Leucipp  und  Democrit, 
welcher,  wenngleich  aus  anderen  Erwägungen  erwachsen,  in  sei- 
ner Thesis  doch  mit  der  Grundanschauung  unserer  modernen 
Physik  und  Chemie  zusammentrifft. 

Nach  jenen  Versuchen  entwirft  dann  Plato  aus  dem  Zusam- 
menhange seines  Systems  heraus  eine  ausdrücklich  formulierte 
Theorie  der  Materie.  Entsprechend  dem  Begriffsrealismus  ,  wel- 
cher die  Grundlage  seines  Systems  bildet,  erscheint  ihm  das 
Substrat  des  Werdens  in  der  Form  einer  hypostasierten  Anschau- 
ung. Die  Materie  ist  ihm  nichts  Anderes,  als  der  Raum,  d.  h. 
die  blosse  Ausdehnung,  der  erst  von  den  Ideen  bestimmten  For- 
mung und  Gestaltung  zufliesst. 

Einen  engeren  Zusammenhang  zwischen  dem  Substrat  und 
den  an  diesem  hervortretenden  Formbestimmtheiten  und  zugleich 
ein  höheres  Maass  von  objectiver  Realität  für  dasselbe  sucht 
Aristoteles,  auf  den  auch  der  technische  Gebrauch  des  Wortes 
,,Materie"  {rürj)  zurückgeht,  durch  die  Einführung  des  Begriffes  des 
möglichen  Seins  zu  gewinnen.  Die  Materie  ist  ihm  die  Möglich- 
keit zu  allem;  die  Form  bringt  nichts  Fremdes  an  sie  heran,  son- 
dern verwirklicht  nur  das  der  Möglichkeit  nach  in  ihr  schon  An- 
gelegte. Freilich  ist  streng  genommen  auch  diese  allgemeine 
Möglichkeit    zu   allem   bestimmten  physischen  Sein  nur  Hyposta- 


Einleitung.  7 

sierung  eines  nllgemeinen  Begriffs;  denn  reale  Redoutung  hat 
der  Begriff  der  Möglichkeit  nur,  insofern  er  ein  wirkliches  Sein 
bezeichnet,  welches  die  Vorbedingung  oder  eine  der  Vorbedingun- 
gen für  das  Eintreten  eines  neuen  Seins  enthält. 

Die  Reaction  gegen  solche  abstract  begriffliche  Fassungen 
finden  wir  bei  den  Stoikern  und  Epicureern.  Beiden  ist  die 
Materie  wirklicher  körperlicher  Stoff,  mit  allen  den  Bestimmtheiten 
—  aber  auch  nur  mit  diesen  -,  welche  nach  ihrer  Ansicht  von 
dem  Begriffe  des  Körpers  unabtrennbar  sind.  So  fassen  die 
Stoiker,  den  Gedanken  des  Aristoteles  vergröbernd,  die  Materie, 
welche  sie  mit  der  Substanz  identificieren,  als  qualitätslosen  Kör- 
per, während  die  Epicureer  zu  der  Atomistik  Democrit's  zurück- 
kehren, freilich  nicht  ohne  mancherlei  Änderungen  an  derselben 
vorzunehmen.  Ist  diese  Reaction  der  stoischen  und  epicureischen 
Schule  gegen  die  Verflüchtigung  der  Grundlage  des  Körperlichen 
in  eine  leere  Abstraction  auch  durchaus  berechtigt,  so  schiesst 
sie  doch  dadurch  über  alles  Maass  hinaus,  dass  sie  neben  der 
körperlichen,  materiellen ,  durchaus  keine  andere  Substanz  an- 
erkennen will. 

Diesem  Materialismus  gegenüber  flüchten  die  Vertreter  einer 
geistigeren  Welt-  und  Lebensauffassung  wieder  zum  Platonis- 
mus  zurück,  den  sie  indes  durch  die  Einfügung  zahlreicher  aristoteli- 
scher Begriffe,  daneben  auch  einiges  stoischen  Gutes,  zu  berei- 
chern und  durch  die  Lehre  von  dem  stufenweisen  Hervorgang 
des  Vielen  aus  dem  Einen  zu  einem  in  sich  völlig  gegliederten 
Systeme  abzurunden  trachten.  In  der  durch  P lotin  ausgebauten 
neuplatonischen  Lehre  findet  diese  schon  lange  vorbereitete 
Richtung  ihre  Vollendung.  Die  Materie  erscheint  hier  als  das 
Letzte  und  daher  Unvollkommenste  von  allem,  was  aus  dem  Ur- 
princip  hervorgegangen  ist.  Sie  wird  nach  Plato  als  das  Nicht- 
seiende,  nach  Aristoteles  als  das  der  Möglichkeit  nach  Seiende  be- 
trachtet und  gewinnt  zugleich  engste  Beziehung  zu  dem  die  Zeit 
vor  allem  beschäftigenden  Problem  vom  Ursprung  des  Bösen. 


Erster  Abschnitt. 

Die  Vorsocratiker.    Ansätze  zu  einer  Theorie  der  Materie. 

1.    Die  älteren  ionischen  Natnrpliilosoplien. 

Wie  in  der  vorplatonischen  Philosophie  überhaupt  nicht ,  so 
dürfen  wir  auch  in  der  ionischen  Schule  keine  ausdrückliche 
Behandlung  des  Begriffes  der  Materie  erwarten.  Gleichwohl  sind 
unverkennbar  in  ihren  Gedankenreihen  die  Ansätze  auch  zu 
dieser  Frage  thatsächlich  bereits  vorhanden.  Wie  bedeutsam 
gerade  dieses  Problem  für  die  Sonderart  jener  ganzen  Denkrich- 
tung ist,  wird  am  deutlichsten  dadurch  bewiesen,  dass  man  die- 
selbe durch  die  Bezeichnung  „Hylozoismus",  d.  h.  System  der  leben- 
digen Materie,  am  genauesten  glaubte  characterisieren  zu  können. 
So  hat  denn  auch  bereits  Aristoteles  das  Problem  der  Materie 
bei  jenen  Philosophen  vorausgesetzt,  wenn  er  von  der  ionischen 
Naturphilosophie  behauptet,  sie  kenne  von  den  vier  Ursachen, 
welche  sein  eigenes  System  annimmt,  nur  die  materielle  ^).  Ebenso 
beginnt  der  Doxograph  Aetius,  über  dessen  Werk  und  dessen  Bezie- 
hung zu  Theophrast's  Geschichte  der  Naturphilosophie  die  bahnbre- 
chenden Untersuchungen  von  H,  Diels  ^)  uns  Aufschluss  gebracht 
haben ,  das  Capitel  über  die  Materie  {rtsQi  i'^c)  mit  dem  Thaies 
und  seinen  Nachfolgern.  3) 


')  Arist.  nielaph.  I  3,  984a  16:  ty.  ixev  ovv  toviatv  növ^v  n^  aniur  rufxiatttv 
äv  Trjv  IV  vAris  t'i'dei  XeyofxeviiV.      Vgl.  phys.  II  2,   194;  a  18—24. 

2)  H.  Diels,  Doxographi  Graeci.  Beroliiii  1879.  —  =>)  Plut.  plac.  1  9,  2; 
Stob.  ecl.  I  p.  318  Heei-en;  Theodoi-el.  (liaec.  affect.  cui'at.  IV  J3  (vei-gl.  Diels, 
Duxogi-.  p.  3U7}. 


Erster  Ab.sc'hiiitl.     Vorsocraliker.     1.    Die  älteren   lonier.  9 

Müssen  wir  so  bereits  in  der  ionischen  Philosophie  die  Frage 
nach  der  Natur  der  Materie  als  einen  jener  centralen  Puncte  be- 
trachten, um  die  sich  auch  da  schon  das  bewusste  Denken  dreht, 
wo  sie  selbst  noch  unentdeckt  ausserhalb  des  Gesichtskreises  blei- 
ben, so  steigt  die  Bedeutung  jener  alten  Denker  für  unsere  Un- 
tersuchung deshalb  noch  höher,  weil  die  Voraussetzungen,  welche 
ihren  Ausführungen  zugrunde  liegen,  keineswegs  allezeit  unter- 
schiedslos die  gleichen  bleiben;  vielmehr  lassen  dieselben,  wie  in 
anderen  Dingen,  so  auch  da,  wo  sie  sich  mit  der  von  uns  zu  be- 
handelnden Frage  berühren,  bereits  mehrere  grundverschiedene 
Lösungsversuche  erkennen,  so  dass  sie  zum  Teil  wenigstens  ein 
Vorspiel  der  späteren  Mannigfaltigkeit  bieten. 

Der  „Ahnherr"  der  ionischen  Philosophie  ist  Thaies  aus 
Milet.  Freilich  wissen  wir  von  seinen  philosophischen  Anschau- 
ungen viel  zu  wenig  M ,  um  eine  zusammenhängende  Vorstellung 
von  seinen  Meinungen  zu  gewinnen.  Nicht  einmal  das  können 
wir  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  ein  solcher  systematischer  Zu- 
sammenhang zwischen  den  einzelnen  Äusserungen  angenonmien 
werden  müsse,  welche  uns  von  ihm  überliefert  sind.  Übrigens 
ist  es  im  Grunde  nur  ein  einziger  Satz  von  wirklich  philosophi- 
scher Bedeutung,  welchen  wir  mit  Sicherheit  ihm  zuschreiben 
dürfen.  Es  ist  die  Lehre,  dass  aus  dem  Wasser  alles  ent- 
standen sei. 

Der  Satz  schhesst  eine  doppelte  Aufstellung  ein,  einmal  die 
allgemeine  Behauptung ,  dass  ein  gemeinschaftlicher  Urstoff  der 
Weltbildung  zugrunde  liege ,  dann  die  besondere ,  dass  dieser 
Urstoff  das  Wasser  sei.  Letzteres  ist  nichts  als  eine  missglückte 
naturwissenschafthche  Hypothese,  über  deren  Gründe  schon  Ari- 
stoteles nur  Vermutungen  anzugeben  wusste ;  in  dem  ersteren 
aber  liegt  ein  philosophischer,  und  zwar  ein  metaphysischer  Ge- 
danke, der  dem  Einheitsbedürfnis  des  menschlichen  Geistes  ent- 
stammt. Durch  ihn  ist  Thaies  der  Begründer  der  Philosophie 
geworden.  Schwäche  freiUch  ist  es  und  schon  von  Aristoteles 
getadelt,  dass  er  dieses  Eine  Princip  nur  als  Materialursache,  nur 
als  Urstoff  vorstellen  kann.  Hier  musste  die  Folgezeit  eine  wei- 
tere Entwickelung  bringen.      Anaxagoras   unternahm   den  ersten 


1)- Vergl.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen,  Bd.  I,  Aufl.  4;.  S.  175  Anm.  2. 
Diels,  Doxographi  p.  475  adn.  cril.  ad  i. 


10  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker. 

wichtigen  Schritt  dazu ,    sofern  ihm  der  Gedanke  des  weltordnen- 
den Geistes  aufleuchtete. 

Den  verschiedenen  Graden  des  Wertes,  welcher  den  in  des 
Thaies  Satz  enthaltenen  einzelnen  Elementen  zukommt,  entspricht 
der  Grad  des  Beifalls,  welcher  den  Letzteren  bei  den  Späteren 
zuteil  wurde.  Mit  der  Annahme,  das  Wasser  sei  der  Ursprung 
aller  Entwickelung,  fand  er  nur  an  dem  Naturforscher  Hippo  ei- 
nen vereinzelten  und  späten  Anhänger.  Seine  Auffassung  des 
Urgrundes  als  Urstoff  teilt  die  ganze  ionische  Schule.  Mit  dem 
Versuche  einer  einheitlichen  Begründung  der  Welt  überhaupt 
hat  er  die  gesamte  Philosophie  der  Folgezeit  auf  seiner  Seite,  so- 
weit sie  nicht  auf  jegliche  metaphysische  Speculation  ganz  und 
gar  verzichtet. 

Welche  Eigenschaften  Thaies  seinem  Urstoffe  beigelegt,  wie 
er  seine  Wirkungsweise  bei  der  Bildung  des  Einzelnen  gedacht, 
lässt  sich  nicht  mehr  mit  Sicherheit  ausmachen.  Wir  werden 
zwar  wohl  nicht  ganz  fehlgreifen  mit  der  herkömmlichen  An- 
nahme; dass  die  gemeinsame  Überzeugung  der  folgenden  lonier 
von  der  Belebtheit  der  Materie,  d.  h.  von  ihrer  Kraftbegabtheit 
und  selbständigen  Entwickelungsfähigkeit,  also  der  hylozoistische 
Grundgedanke,  bereits  von  Thaies,  wenn  auch  nicht  ausdrück- 
lich ausgesprochen ,  so  doch  der  Sache  nach  bereits  aufgestellt 
sei;  allein  mit  Bestimmtheit  beweisen  lässt  sich  das  nicht.  Was 
man  dafür  gewöhnlich  anzuführen  pflegt,  ist  teils  blosse  Mutmas- 
sung  des  Aristoteles,  welcher  man  trotz  des  berühmten  Namens 
ihres  Urhebers  doch  nicht  die  Geltung  eines  historischen  Zeugnis- 
ses beilegen  darf,  teils  beruht  es  gar  auf  einer  missverständlichen 
Verwendung  aristotehscher  Aussagen  '). 


*)  Ersteres  ist  der  Fall  an  der  bekannten  Stelle  de  an.  I  5,  411  a  7—8:  „Und 
es  behaupten  Einige,  sie  (die  Seele)  sei  dem  All  beigemischt;  weshalb  viel- 
leicht {i'aws)  auch  Thaies  meinte,  dass  alles  voll  von  Göttern  sei."  Hier  zeicht 
die  durch  das  Wörtchen  „vielleicht"  (/ör-s)  ausgedrückte  Einschränkung,  dass 
wir  es  mit  einer  blossen  Vermutung  des  Aristoteles  über  Sinn  und  Absicht 
jenes  Thaletischen  Ausspruchs  zu  thun  haben;  denn  nicht  die  Authenticität 
des  Ausspruchs  selbst,  sondern  seine  im  Vordersatz  gegebene  Deutung  wird 
dadurch  als  problematisch  hingestellt.  In  der  That  aber  erscheint  die  Nutzan- 
wendung, welche  Aristoteles  von  dem  Satze  macht,  um  einen  philosophischen 
Gedanken  in  ihm  zu  finden,  ein  wenig  willkürlich,  zum  mindesten  in  keiner 
Weise  zwingend.  Derselbe  dürfte  wohl  eher  auf  einer  Stufe  stehen  mit  dem 
Worte,  das  Heraclit  den  Freunden,  die  zögerten,  ihn  in  der  Küche  aufzusuchen, 


Thaies.     Anaximander.  11 

Mit  voller  Bestimmtheit  können  wir  den  hylozoistischen  Grund- 
gedanken nachweisen  bei  dem  ersten  Verfasser  einer  philosophi- 
schen Schrift,  Anaximander  von  Milet.  ^  Das  Princip  aller 
Dinge  sieht  derselbe  im  ÜTreigor,  d.  h.  in  dem  als  unendlich  ge- 
dachten Stoffe.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  näher  auf  die  vielen 
Streitfragen  einzugehen,  welche  sich  an  den  Versuch  geknüpft 
haben,  die  Natur  dieses  anaximandrischen  ccneigov  näher  zu  be- 
stimmen. Als  erwiesen  darf  wohl  angenommen  werden,  dass 
Anaximander  unter  demselben  weder  ein  Mittelding  zwischen  Luft 
und  Wasser,    noch  eine  mechanische  Mischung  verschieden  qua- 


zurief  (Aiist.  de  part.  an.  I  5,  645  a  17 — 21):  , Tretet  ein,  denn  auch  hier  sind 
Götter."  Bezeichnend  wenigstens  ist  es,  dass  Themistius,  Philoponus  und  So- 
phonias  in  ihren  Erklärungen  die  bekannten  Verse  des  Aratus(Phänom.  v.  2  f.): 

voll  vom  Zeus  sind  jegliche  Strassen, 

Jeglicher  Markt  der  Menschen 

als  Parallele  heranziehen,  in  denen  doch  gerade  von  einer  allgemeinen  Be- 
seeltheit des  Alls  nichts  gelehrt  wird. 

Noch  weniger  beweist  die  zweite  schon  bei  Diogenes  Laert.  I  24  für  eine 
Allbeseelung  angeführte  Stelle :  „Es  scheint  aber,"  heisst  es  de  an.  I  2,  405  a  19—21, 
,auch  Thaies,  nach  dem,  was  man  ron  ihm  berichtet,  die  Seele  als  etwas  Be- 
wegendes zu  betrachten,  da  er  ja  behauptet,  der  Magnet  habe  eine  Seele,  weil 
er  das  Eisen  anziehe."  Wenn  hier  von  dem  Philosophen  dem  Magneten  des- 
halb eine  Seele  zugeschrieben  wird,  weil  er  das  Eisen  bewege  und  nun  Aristoteles 
daraus  folgert,  dass  Thaies  das  Wesen  der  Seele  in  ihrer  Natur  als  Princip  der  Be- 
wegung gesehen  habe,  so  wird  hier  doch  offenbar  nicht  allem  Anorganischen, 
sondern  nur  dem  Magneten,  und  diesem  eben  nur  um  seiner  besonderen 
Eigenschaften  und  Kräfte  willen,  eine  Seele  beigelegt.  Nicht  dafür  ist  der 
Magnet  ein  Beispiel,  dass  sich  die  Seele  auch  da  finde ,  wo  wir  am  wenigsten 
Leben  erwarten  würden,  in  den  Steinen  nämlich,  wie  Decker,  De  Thalete 
Milesio,  Halle  1865,  p.  75  meint,  sondern  dafür,  dass  die  Seele,  wo  sie  sich 
findet,  das  Bewegende  ist.  Für  eine  allgemeine  Beseelung  kann  diese  Stelle 
unmöglich  angeführt  werden,  da  eine  solche  im  Gegenteil  eher  durch  dieselbe 
ausgeschlossen  erscheint.  Es  ist  damit  genau  so,  wie  wenn  nach  Arist.  de  an. 
I  2,  404  a  17 — 19  einige  Pythagoreer  die  Sonnenstäubchen,  resp.  das  diese  Be- 
wegende, für  Seelen  hielten,  was  Aristoteles  zum  Beweise  dafür  anführt,  dass 
auch  nach  der  Ansicht  mancher  früherer  Philosophen  die  Seele  das  Bewegende 
sei  (403  b  28  f.).  Auch  darin  darf  man  nicht ,  wie  es  ethnologischer- 
seits  geschehen  ist ,  Spuren  eines  ursprünglichen  allgemeinen  Animismus 
suchen.  Die  Sonnenstäubchen  werden  vielmehr  offenbar  nur  deshalb  als  be- 
seelt angesehen,  weil  sie  sich  anscheinend  willkürlich  umherbewegen. 

')  Vgl.  Jos.  Neuhaeuser,  Anaximander  Milesius.  Bonn  1883.  P.  Natorp. 
Über  d.  Princip  u.  d.  Kosmol.  Anaximander's.  Philos.  Monatsh.  XX  (1884) 
S.  367—398. 


12  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker. 

lificierlei-  Eleiiienlurtcilchen  verstanden  wissen  will.  Erstere  An- 
sicht stützt  sich  in  letzter  Instanz  auf  eine  missverständliche  Aus- 
deutung aristotelischer  Stellen,  in  denen  in  Wirklichkeit  von 
Anaximander  gar  nicht  die  Rede  ist^);  die  letztere  hat  das  be- 
stiniinte  Zeugnis  des  Theophrast  gegen  sich,  welcher  die  von 
Anaxagoras  angenommene  ursprüngliche  Mischung  der  Homoe- 
omerien  ausdrücklich  nur  unter  der  Bedingung  dem  aneiQov  des 
Anaximander  gleichsetzt,  dass  man  von  aller  qualitativen  Be- 
stinmitheit  der  Bestandtheile  absehe  ^).  Anaximander  scheint  sich 
über  die  Natur  des  äneigov  nicht  näher  ausgelassen  zu  haben ; 
er  hat  dasselbe  vielmehr  wohl  nur  unbestimmt  als  das  bezeich- 
net, Avoraus  alles  Übrige,  auch  das  von  Thaies  als  Ursprung  alles 
Seienden  aufgestellte  Wasser,  geworden  sei  ^).  Eine  Gonsequenz 
dieser  Anschauung  wäre  es  gewesen,  wenn  Anaximander  diesem 
Urstofi"  jede  bestinmüe  Qualität  abgesprochen  hätte.  Man  kann 
diesen  Gedanken  in  der  von  ihm  für  den  Urstoff  gewählten  Be- 
zeichnung 10  aneioov  finden,  und  in  der  That  hat  Theophrast 
den  Sinn  des  uirtigor  dahin  erklärt,  dass  es  sowohl  die  quanti- 
tative wie  die  qualitative  Unbegrenztheit  bezeichne  "*).  Allein  die 
ganz   aristoteUsche  Terminologie  Theophrast's ^)  beweist,  dass  er 


^)  S.  Vermeintliche  Aristotelische  Zeugnisse  über  Anaximander's  chifi()oi\ 
Neue  Jahrb.  f.  Philol.  Bd.  131  (1885)  S.  8^27—832. 

^)  Theophrast  bei  Simplic.  phys.  p.  154,  19—23  und,  von  Kleinigkei- 
ten  abgesehen,    gleichlautend    p.   27,    19 — 23    (Diels):    el  (fe   r<>  rijv  iniir  tij>v 

änävTfop  vnokäßoi  ui'av  ti'vai  (fvoiv  dö(itaTOV  xai  xaz'  fidog  xai  y.ata  /uryfthui ,  onfQ 
av  (fö^eie  ßovkta&ni  Xeyur,  avfißaivft.  ovo  ra^  a('Jf"f  at;r«J  (dem  Anaxagoras)  ki'ynv 
Tijv  re  tov  a'^fiQOv  (pvaiv  xai  rov  vovv'  wart  nävtiüi  (faivtrai  xa  aaiuaitxa.  azoi^tia 
jiaQaTtXriaiuii   tiouov  'Jva^ti.iäv(f()ip 

^)  Simplic.  phys.  p.  24,  16 — 18  (nach  Theophrast):  ?.iyit  <i'  avzt]v  («'(<- 
XV»)  ß^ift  r'tfü)()  firjTf  aX}.o  zi  tuiv  xaXovjut'vü)»  vvvl  (so  vermutet  H.  Usenef,  Ana- 
lecta  Theophrastea  p.  31,  sehr   ansprechend   statt    des  handschriftlichen  eü'ar) 

azoi^tiiov,  ak).'  ht{iav  ziva   (ftiatv  aJifi(iüv,  fS   t/s   nnavzai;  yiyvtaO-aL  zuvi  oi^navovi  xai 

zovg  tv  avioii  xüii/tocs.  Aus  dem  Umstände,  dass  hier  nur  das  Wasser  mit 
Namen  genannt  wird,  werden  wir  schliessen  dürfen,  dass  Theophrast  in  der 
Schrift  des  Anaximander  nur  eine  Polemik  gegen  das  von  Thaies  aufgestellte 
Princip  fand,  welche  er  dann  zu  dem  Gedanken  erweiterte,  dass  Anaximander 
auch  jedem  der  übrigen  seit  Emj)edocles  aufgestellten  Elemente  den  Hang  als 
Princip  streitig  gemacht  haben  würde. 

*)  Vgl.  oben  Anm.   2:   dÖQiazov  xai  xaz'  (i(foi   xai  xazd  ,ueycd-oe:. 
®)  Vgl.  Arist.  phys.   I   4,   187   b  8—10:   rö    ijiv  xazu   Ti^ij&os  ij  xazd   ij(yfx>oi 
antiQov  dyvwazov  nöaov  zi,  zö   ffi  xaz'  lidog  antiQov  dyvwatov  noiöv  zi. 


Anaxiinander.    Sein  antiQov.  i'6 

hier  nicht  so  sehr  historisch  referiert,  als  vielmehr  durch  ein  Aus- 
denken der  Gedanken  des  Anaximander  diese  auf  eine  den  Be- 
griffen der  eigenen  Schule  entsprechende  Formel  zu  bringen  sucht. 
Vielmehr  scheint  Anaximander  bei  jener  Bezeichnung  vor  allem 
die  räumliche  Unendlichkeit,  die  unendliche  Ausdehnung,  ins 
Auge  gefasst  zu  haben.  Andernfalls  wäre  es  nicht  recht  verständlich, 
wie  auch  Anaximenes  sein  Princip,  die  Luft,  unbedenklich  als  ein 
än^iQor  bezeichnen  konnte,  obwohl  er  unter  demselben  keinen 
qualitativ  unbestimmten  Stoff  verstanden  wissen  wollte.  Einen 
wirklich  philosophischen  Begriff  freilich  vom  Unendlichen  und 
eine  Vorstellung  von  den  grossen  Schwierigkeiten,  die  in  der  An- 
nahme einer  realen  unendhchen  Ausdehnung  liegen,  hat  Anaximan- 
der schwerlich  gehabt.  Soweit  wir  sehen,  ist  Aristoteles  der  erste, 
welcher  dieses  Problem  mit  kritischer  Schärfe  untersuchte ,  da- 
durch aber  zur  Bestreitung  der  Möglichkeit  einer  actuellen  unend- 
lichen Ausdehnung  geführt  wurde  '}. 

Weshalb  Anaximander  unendliche  Ausdehnung  für  den  Ur- 
stoff  glaubte  voraussetzen  zu  müssen,  wissen  wir  nicht.  Nach 
einer  Stelle  des  Aristoteles  2) ,  wo  unter  den  Gründen ,  weshalb 
von  den  früheren  Philosophen  ein  Unendliches  angenommen  sei, 
auch  der  angeführt  wird,  dass  nur  so  der  nötige  Stoffvorrat  für 
die  steten  Neubildungen  vorhanden  wäre ,  hat  man  in  dieser  Ar- 
gumentation den  Ausgangspunct  für  Anaximander's  Anschauung 
vom  Unendlichen  erblicken  wollen,  indem  man  darauf  hinwies, 
dass  dieser  nach  den  Berichten  jüngerer  Schriftsteller  ^)  seine 
Annahme  vornehmlich  daraus  bewiesen  habe,  dass  nur  so  das 
Unendliche  in  den  fortschreitenden  Erzeugungen  sich  nicht  er- 
schöpfe. Da  indessen  diese  Berichte  wegen  ihrer  fast  wörtlichen 
Übereinstinnnung  mit  den  fraglichen  Ausführungen  des  Aristote- 
les den  dringenden  Verdacht  erregen,  als  habe  die  ihnen  gemein- 
same Quelle  sich  nicht  auf  eine   selbständige   Überlieferung  ge- 


')  Arist.  phys.  111  c.  4—8. 

-)  Allst,  phys.  III  4,  203  b  18—20;  vgl.  III  8,  208  a  8— 11. 

'■^)  Angefühlt  bei  Schleiermacher,  Über  Anaximandros.  Werke,  Abt. KI  Bd.  % 
S.  178  Anni.  ****),  Zeller  l\  IH'x  2.  Doch  ist  von  den  dort  citierten  Zeugnissen  Cic. 
Acad.  U  37,  118  zu  streichen,  da  liier  vielmehr  der  erste  Satz  des  bei  Plut. 
plac.  I  3,  Stol).  ed.  I  p.  292,  Epiphan.  de  Graec,  sect.  III,  Bd.  3  pag.  .5H2, 
23 — 26  Dind.  und  Hippel,  refut.  I  G  im  wesentlichen  gleichlautenden  Berichtes 
wiedergegeben  wird. 


14  Erster  Abschnitt.    Vor.socratiicei'. 

stützt,  sondei'ii  nach  eigener  Vermutung  die  Worte  des  Aristote- 
les auf  den  Anaxiniander  bezogen,  so  ist  auf  diesen  Umstand 
nicht  allzu  viel  zu  geben.  Mag  jene  Vermutung  auch  nicht  ohne 
innere  Wahrscheinlichkeit  sein:  als  historische  Überlieferung  kann 
sie,  mit  Sicherheit  wenigstens,  nicht  bezeichnet  werden. 

Aus  dem  Urstoffe  gehen  durch  einen  Ausscheidungsprocess  ') 
die  Welten  und  alles  in  ihnen  Enthaltene  hervor.  Der  Grund  für 
diese  Differenzierung  des  ursprünglich  Einheitlichen  liegt  im  Stoff 
selber,  welcher  von  Anaximander  als  lebend,  d.  h.  das  Princip 
der  Bewegung  in  sich  selber  tragend ,  gefasst  wird.  Wenn  nach 
zuverlässigen  Berichterstattern  Anaximander  den  Urstoff  als  et- 
was Unsterbliches  2),  nicht  Alterndes  •'')  beschrieb,  so  hat  er  damit 
den  Hylozoismus,  welchen  wir  dem  Thaies  wenigstens  mit  Sicher- 
heit noch  nicht  beilegen  konnten,  principiell  aufgestellt.  Dieses 
Leben  offenbart  sich  in  der  ewigen  Bewegung  des  Stoffes,  die 
zu  jener  Ausscheidung  verschiedener  Gestaltungen  führt  und  so 
die  Entwickelung  wie  der  Welten  so  auch  der  einzelnen  Natur- 
vorgänge bedingt  ■*).  Anzunehmen ,  dass  Anaximander  unter  der 
Bewegung  etwas  anderes  verstanden  habe ,  als  die  räumliche, 
haben  wir  nach  dem  uns  vorliegenden  Material  keine  zwingende 
Veranlassung. 

Der  Urstofl'  und  das  aus  ihm  Gestaltete  stehen  sich  sonach 
wie  Unendliches  und  Endliches  gegenüber.  Zugleich  verbindet 
sich  mit  diesem  Gegensatz  die  Vorstellung  eines  Wertunterschie- 
des. Die  Einheit  des  Unendlichen  ist  das  Seinsollende,  das  Her- 
vortreten des  Endlichen  ist  ein  Unrecht,  welches  durch  den 
Kampf  und  die  gegenseitige  Vernichtung  der  Sonderexistenzen 
gesühnt  werden  muss.  „Woraus  die  Dinge  entstehen ,  in  eben 
dasselbe  müssen  sie  auch  vergehen,  nach  der  Notwendigkeit,"  so  for- 
muliert (nach  Theophrast)  Simplicius  den  Gedanken  Anaximander's, 
und  er  fügt  den  Grund  mit  Anaximander's  eigenen  Worten  hinzu : 
„denn  sie  zahlen  einander  Busse  und  Strafe  für  ihre  Ungerechtig- 


*)  iy.y.(ilvta{>ai  bei  Arist.  phys.  1  4,  187  a  20,  thioy^iivKidai  bei  Theophrast 
(Simplic.  in  phys.  p.  24,  23—25;  vgl.  Hippolyt.  refut.  I  0). 

*)  ttti^dvarov,  Arist.  phys.  III  4,  203  b  13. 

^)  äyr/Qw,  Hippolyt.  1.  c. 

*)  Simplic.  in  phys.  p.  24,  23-24,  p.  41,  18—19;  Hippolyt.  refut.  I  6; 
Hermias  irris.  gent.  c.  10  (vgl.  dazu  Üiels,  Doxogr.  p.  263,  1).  Quelle  ist 
Theophrast. 


Anaximander.    Aiiaximeneö.  If) 

keit  nach  der  Ordnung  der  Zeit."  ')  Indem  Anaximander  so  die 
Gegensätze  des  sich  in  unablässigem  Streit  bekämpfenden  End- 
lichen stets  wieder  zurückfliessen  lässt  in  die  Einheit  des  nicht 
alternden  Unendlichen ,  ist  er  der  Vorläufer  einerseits  der  eleati- 
schen  Einheitslehre,  deren  erster  Begründer,  Xenophanes,  nach 
nicht  unglaubwürdiger  Angabe  in  einem  Schülerverhältnis  zu  ihm 
stand,  ^)  andererseits  der  Lehren  seines  ionischen  Landsmannes 
Heraclit  von  dem  Streite  als  dem  Vater  aller  Dinge^  von  der  Ein- 
heit der  Gegensätze  und  von  der  alles  beherrschenden  ^ifiaQi.isvrj 
geworden. 

Fassen  wir  die  Anschauung  des  Anaximander  vom  Stoff  in 
Kürze  zusammen,  so  erscheint  ihm  dieser  als  der  unendliche,  ewig 
lebende,  das  vergängliche  Endliche  an  Wert  weit  überragende 
Naturgrund. 

Mit  Anaximander  im  wesentlichen  auf  demselben  Boden  steht 
auch  Anaximenes  aus  Milet,  doch  so,  dass  er  in  einigem  wie- 
der dem  Thaies  sich  nähert^  während  andere  Gesichtspuncte,  so 
weit  wir  sehen  können^  von  ihm  neu  eröffnet  werden.  Auch 
dem  Anaximenes  ist  der  Grund  aller  Dinge  der  ewig  lebende, 
mit  ewiger  Bewegung  begabte  Stoff,  welchem  zugleich  nach  dem 
Vorgange  des  Anaximander  räumliche  Unendlichkeit  zugeschrieben 
wird,  ä)  Darin  indes  tritt  Anaximenes  wieder  auf  die  Seite  des 
Thaies ,  dass  er  die  Qualität  des  unendlichen  Stoffes  nicht  unbe- 
stimmt lässt,  sondern  ihn  als  einen  qualitativ  bestimmten  denkt. 
Die  Luft  ist  ihm  das  Princip  aller  Dinge.  Die  Begründung  dieser 
Ansicht  führt  einen  neuen  Gedanken  in  die  Philosophie :  die  Pro- 
portion zwischen  Mensch  und  Welt^  zwischen  Microcosmus  und 
Macrocosmus.  „Wie  unsere  Seele,  welche  Luft  ist,  uns  zusam- 
menhält," heisst  es  in  einem  uns  erhaltenen  Fragmente  des  Ana- 


*j  Simplic.    phys.    p.    24,    18—21.      Der    Schrift   des    Anaximander   sind 

wohl     die    Worte    entnommen:     .   .   .   xard    tu    yof,U''     ihdurai    yaQ  avid   ih'xt,v   yui 

riaiv  äl/.Ti^.uis  i^c  dihyiac  xarä  i7]v  tov  j^qüvoi-  jä^ir.  Das  in  der  Aldina  feh- 
lende, zuerst  von  Usener,  Analecta  Theophr.  p.  31  nach  den  von  Brandis  ver- 
glichenen Handschriften  eingesetzte  d/.'/.r,>.o(i  zeigt,  dass  es  sich  bei  dem  (Uxriv 
thJövai  nicht  um  eine  Aufhebung  des  EndUclien  durch  das  Unendliche 
handelt,  wie  noch  G.  Spicker,  De  dicto  quodam  Anaximandii  philosophi.  Ind. 
lect.  Monaster.  Gue.-tphal.  188.3,  S.  3  f.  annimmt,  sondern  um  Kämpfe  zwischen 
den  Einzeldingen. 

^)  Diogen.  Laert.  IX  21  und  dazu  Diels,  Doxographi  p.  103  und  147  f. 

«)  Die  Belege  bei  Zeller  1*,  220  f. 


l<i  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

ximenes,  „so  uinfasst  Hauch  and  Luft  auch  die  ganze  Well."') 
Liegt  in  dieser  Gedankenreihe  der  Grundfehler  der  hellenischen 
Nalurauffassung ,  die  anthropomorphistische  Deutung  der  Natur 
und  des  Naturgeschehens,  schon  deutlich  ausgedrückt,  so  ist  sie 
doch  andererseits  als  Versuch  beachtenswert,  in  das  der  Beobach- 
tung Unzugängliche  durch  die  Analogie  des  Erfahrbaren  Einsicht 
zu  gewinnen.  Denn  die  Deutung  der  menschlichen  Seele  als  Luft 2) 
stützt  sich  offenbar  auf  die  Wahrnehmung,  dass  der  Mensch  nur 
so  lange  lebe,  als  er  atme. 

Aus  dem  Urprincip  entwickelt  sich  alles  durch  die  ewige  Be- 
wegung in  dem  doppelten  Process  der  Verdünnung  und  der  Ver- 
dichtung. Die  erstere  führt  Erwärmung,  .die  letztere  Erkältung 
herbei.  Darum  wird  durch  jene  die  Luft  zu  Feuer  gewandelt, 
durch  diese  in  absteigender  Stufenreihe  zu  Wind,  Wolken,  Was- 
ser, Erde  und  Steinen,  woraus  dann  weiter  die  zusammengesetz- 
ten Körper  entstehen.  Auch  bei  dieser  Ansicht  stützt  sich  Ana- 
ximenes  auf  eine  ihm  in  der  Erfahrung  gegebene  Analogie.  Wenn 
wir  mit  weit  geöffnetem  Munde  den  Atem  ausströmen  lassen,  so 
hat  derselbe  eine  erwärmende  Wirkung ;  pressen  wir  ihn  dagegen 
zwischen  den  zusammengedrückten  Lippen  hindurch,  so  ruft  der- 
selbe eine  Kälteempfmdung  hervor.  Hierin  glaubte  Anaximenes, 
wie  Plutarch  berichtet^),  die  Thatsache  zu  sehen,  dass  das  Zusam- 
menpressen der  Luft  durch  die  Lippen ,    also    deren  Verdichtung, 


»)  Plut.  plac.  I  3,  6.  Stob.  ed.  I  p.  296.  Wenn  Simplicius  in  Arist. 
de  caelo  p.  274  a  1  (Karsten)  in  der  leicliten  Verändei'lichkeit  der  Luft  den 
Grund  sieht,  weshalb  Anaximander  dieses  Element  als  Weltprincip  betrachtet 
habe,  so  ist  das  jedenfalls  nur  eine  Vermutung.  Den  Anlass  zu  dieser  moch 
ten  die  kritischen  Bemerkungen  des  Aristoteles  phys.  I  6,  189  b  b — 8,  geben. 
Wenn  man  einmal  eine  gemeinschaftliche  Natur  allem  unterlegen  wolle,  bemerkt 
Aristoteles  dort,  so  sei  es  am  vernünftigsten,  entweder  jenes  Mittlere  dafür  an- 
zusehen, odei-,  wenn  nicht  dieses,  dann  die  Luft ,  indem  diese  am  wenigsten 
wahrnehmbare  gegensätzliche  Qualitäten  aufweise,  welche  dem  Übergang  in 
andere  Gestaltungen  gegenüberstehen  würden.  Es  lag  nahe,  diesen  von  Aristoteles 
hypothetisch  ausgesprochenen  Gedanken  zum  Motiv  Anaximander's  zu  machen. 

'-')  Dass  diese  auch  sonst  Itei  Orpliikern  u.  s.  w.  sich  findende  Vorstellung 
(vergl.  Lobeck  Aglaophamus ,  Königsberg  1829,  1,  S.  758)  nicht  schon  dem 
Anaximander  mit  Sicherheit  beigelegt  werden  könne,  s.  N.  Jahrb.  f.  Phil.  Bd.  131 
S.  828  A.  7. 

^)  Plut.  de  primo  frigido  cap.  7.  Dass  Plutarch  hier  aus  guter  Über- 
lieferung schöpft,  beweist  schon  die  genaue  und  liestimmte  Auskunft,  welche 
er  über  die  Terminologie  des  Anaximenes  giebt. 


I 


Anaximenes.    Diogenes  von  Apollonia.  17 

dieselbe  kälter,  die  Verdünnung  dagegen,  welche  sie  bei  der  wei- 
ten Öflfnung  des  Mundes  erfahre,  dieselbe  wärmer  mache.  Ist 
diese  Ansicht  auch  naturwissenschaftlich  unhaltbar,  indem  die 
Wirkung  der  Verdichtung  und  Verdünnung  gerade  die  umge- 
kehrte und  jenes  Wärme-  und  Kältegefühl  vielmehr,  wie  schon 
Plutarch  hervorhebt,  ganz  anders  zu  erklären  ist,  so  dürfen  wir 
daraus  dem  alten  Milesier  doch  um  so  weniger  einen  Vorwurf 
machen,  als  auch  die  von  Plutarch  nach  Aristoteles  gegebene 
Deutung  keineswegs  befriedigend  ausgefallen  ist. 

So  erscheint  denn  an  dem  Versuche  des  Anaximenes,  denUrstoff 
und  die  Weise  seiner  Entwickelung  zu  bestimmen,  wenn  wir  ihn 
mit  der  abstracteren,  auf  Heraclit  hinweisenden  Denkungsart  Anaxi- 
mander's  zusammenhalten,  besonders  characteristisch  das  Bemühen, 
für  die  immerhin  noch  recht  phantastische  Speculation  einen  Anhalt 
zu  finden  an  gewissen  in  der  Erfahrung  gegebenen  Thatsachen. 

Ein  später  Nachfolger  des  Anaximenes  ist  Diogenes  von 
Apollonia  ^).  Fast  der  jüngste  unter  den  Naturphilosophen  ,  wie 
Simplicius  2)  nach  Theophrast  ^)  angiebt,  kommt  er  mit  dem  Ana- 
ximenes zwar  darin  überein,  dass  er  die  Luft  als  das  gemeinsame 
Princip  aller  Dinge  bezeichnet  (Fr.  5  u.  6)'*);  aber,  auch  von  den 
Einzelheiten  seiner  Physik  abgesehen ,  schon  seine  Bekämpfung 
der  Elementenlehre,  der  gegenüber  er  die  Einheit  des  Urstoffes 
betont  (Fr.  2),  sowie  die  Art  und  Weise,  wie  er  aus  der  Ordnung 
der  Welt  auf  die  Vernünftigkeit  des  Urstoffs  schliesst  (Fr.  4), 
rücken  ihn  in  die  nächste  Nähe  eines  Empedocles  und  Anaxa- 
goras.  Welcher  Art  sein  Verhältnis  zu  diesen  ist ,  ob  das  eines 
Vorläufers,  oder  das  eines  Gegners,  der  zugleich  das  Gute,  wel- 
ches er  bei  dem  von  ihm  Angegriffenen  findet,  im  Sinne  des  al- 
ten lonismus  zu  verwerten  sucht ,  unterliegt  der  Gontroverse. 
Doch  scheint  mir  die  polemische  Beziehung  auf  Empedocles 
zweifellos.  ^) 


')  Die  Fragmente  citiere  ich  nach  Scliorn,  Anaxagorae  Glazomenii  et  Bio- 
genis ApoUoniatae  Fragmenta  (Bonnae  1829),  womit  die  Zahlen  hei  Mullacli. 
Fragm.  phil.  graec,  ühereinstimmen. 

')  Simplic.  phys.  I,  p.  25,  1.  —  S)  Vgl.  H.  Diels,  Rhein.  Mus.  XLII  (1887) 
S.  5—10  (gegen  P.  Natorp.  Ehend.  XLT.  1880.  S.  350  ff.)  —  ")  Die  Angahen  der 
Alten  hei  F.  Panzerhieter,  Diogenes  Apolloniates  (Lipsiae  1830)  S.  53  IT. 

•'■)  Ausdrücklich  werden  die  von  Empedocles  aufgestellten  vier  Elemente 
hekämpft  in  Fr.  2  nach  dem  von  Diels  aus  den  Handschriften  vervollständig- 
ten Texte:  ei  yuQ  r«  tv  Twö't  riu  xöaitio  inria  vvr  7?)  y.al  riS(n(i  xal  ai^o  xal  7zr/> 
Baeumker:  Das  Problem  der  Materie  ete.  2 


18  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Was  aber  das  Verhältnis  der  vörjOig  ^)  bei  Diogenes  und  des 
anaxagorischen  vovg  anlangt,  so  dürfte  bei  dem  schon  von  Theo- 
phrast  ^)  bezeugten  eklektischen  Verfahren  des  Apolloniaten 
die  Frage,  ob  hier  überhaupt  eine  Abhängigkeit  vorliegt  3), 
eventuell   ob    dem   Diogenes  *)     oder    ob    vielmehr    dem   Anaxa- 


(die  von  Diels,  Simpl.  phys.  I,  p.  152,  hinzugefügten  Worte  xal  drjQ  xal  Trvp  sind 
übrigens  schon  Schorn,  und  nach  diesem  MuHach,  aus  einer  von  Brandis  her- 
angezogenen Handschrift  bekannt)  xal  tu  Ukku  öaa  ifah-eTca  iv  rixiäe  tw  xda/ua> 
idvTa,  ti  TovT('o)v  Ti  ijv  'extQov  jor  heQov  xt)..  Auf  Anaxagoras,  an  den  Zeller  1'* 
251  neben  Empedodes  denkt,  weist  in  diesem  Fragmente  mit  Notwendigkeit 
wenigstens  nichts. 

*)  Mit  Unrecht  hat  Mullach  den  vovs  in  Fr.  6  des  Diogenes  hineingebracht. 
Statt  der  verderbten  Worte  desselben  bei  Simpl.  phys.  1  p.   152,   24:   dno  yd(i 

/not  lovTo  e'&oi  (i'oxii  eivai,  wofür  Mullach  ütto  y«p  /xai  xoviov  fi'oxcei  vdos  tivai  ein- 
setzt, vermuten  mit  weit  grösserer  Wahi'scheinlichkeit  Panzerbieter:  avrov  yap 
/xoi  TovTov  (tovto  Dicls)  (foxeT  tS-os  eivai,  Usener:  avro  yd()  fioi  tovto  S^fog  ö'oxfT  ei'vai. 
2)  Simplicius  (phys.  I,  p.25, 1)  berichtet  nämlich  —  und  zwar,  wie  Diels  (an  der 
S.  17  Anm.  .3  angefühilen  Stelle)  überzeugend  nachweist,  nach  Theophrast  — ,  dass 
Diogenes  hinsichtlich  seines  Hauptprincipes  an  Anaximander  sich  anschliesse,  im 
übrigen  aber  das  Meiste  eklektisch  {acfxncif.oQ^i,uevoii)  aus  Anaxagoras  und  Leu- 
cipp  herübernehme.  Für  leucippisch  hält  z.  B.  Schleiermaclier  (Gesch.  d.  Philos. 
hrsg.  V.  Ritter,  S.  77)  und  mit  ihm  Zeller  1*,  774,  2  die  Demonstration,  dass 
nur  von  Gleichem  auf  Gleiches  könne  gewirkt  werden.  Wie  die  Erklärung  des 
Gewitters  bei  Diogenes  sich  als  eine  unselbständige  Compilation  aus  den  An- 
sichten desiLeucipp,  Anaxagoras  (stattdessen  man  indes  allenfalls  an  Empe- 
dodes denken  könnte,  der  gleichfalls  die  Ursache  des  Donners  in  einer  t-'/UTirwö^f 
nicht  ex7iT(»aii  sieht)  und  Anaximander  oder  Anaximenes  darstellt ,  zeigt  Diels, 
Verhandl.  der  3.5.  Vers,  deutscher  Philologen  zu  Stettin  18S0,  S.  97  Anm.  7; 
Rhein.  Mus.  XLIl  (1887)  S.  10  f.  Dass  auch  Aetius  IV  9,  8  (Doxogr.  p.  397,9): 
Ol  /X€p  a}.Xoi  if,vact  td  aia&ijTa,  Atvximiog  tff  Jij/AÖx(tnog  xal   Jioyivr^i;  vöuip  auf  den 

Apolloniaten  gehe,  wie  Diels  Rh.  Mus.  XLII  S.  11  Anm.  3  annimmt,  ist  mir 
dagegen  wenig  wahrscheinlich ;  vielmehr  dürfte  hier  an  den  Atomiker  Diogenes 
(Zeller  P,  Sdl)  zu  denken  sein,  welchem  Epiphanius  adv.  haeres.  p.  1088 B  (vol. 
III  p.  564,  19  Dind.)  gleiche  skeptische  Sätze  wie  dem  Protagoras  beilegt.  Arist. 
de  an,  III  2,  42Ga20:  aAA'  oi  thiÖtcqov  fvaioXoy  oi  tovto  ov  xahZs  i'Xeyov,  ovO-tr 
oiöfievoi  ovre  Xivxov  oi-re  fif?.av  iiviu  uvev  oijjtoDs,  welche  Stelle  man  für  den  Apol- 
loniaten anführen  könnte,  beweist  nichts  für  diesen,  da  Aristoteles  den  Begriff 
der  Physiologen  sehr  weit  ausdelmt;  vgl.  Trendelenburg  zu  der  citierten  Stelle, 
p.  357  ff.  der  2.  Ausg. 

^)  Was  Panzerbieter  (a.  a  O.  S.  19  f.)  und  Schaubach  (Anaxagorae  Gla- 
zomenii  fragmenta.    Lipsiae  1827.  S.  32)  leugnen. 

*)  Wie  Schleiermacher  (Über  Diogenes  von  Apollonia.  Werke,  Abt.  III,  Bd. 
2,  S.  156  f.  166  ff.),  Braniss  (Gesch.  d.  Philos.  seit  Kant.  Breslau  1842  S.  128  ff.  134), 
Krische   (Forschungen  zur  (ieschichte  dei-  alten  Philosophie.    Göttingen  1840. 


Öiogenes  von  Äpollonia.    Heraclit.  li) 

goras^)  die  Originalität  zukommt,  doch  nur  im  letzteren  Sinne 
zu  entscheiden  sein.  Im  übrigen  sind  neue,  für  unsern  Gegen- 
stand bedeutungsvolle  Gedanken  durch  Diogenes  nicht  aufgestellt 
worden. 

Weit  übertroffen  an  bleibender  Bedeutung  werden  die  Vor- 
aufgehenden von  dem  tiefsinnigen  Heraclit^).  Der  Grund  für 
die  nachhaltige  Wirkung,  welche  seine  Speculation  auf  die  Ent- 
wicklung der  Philosophie  ausübte,  liegt  in  der  siegreichen  Ge- 
walt, mit  welcher  bei  ihm  das  rein  gedankliche  Element,  die  philo- 
sophische Abstraction,  durchbricht,  in  der  Gonsequenz  ferner, 
mit  welcher  er  in  festen  Umrissen  eine  in  sich  zusammenhangende, 
einheitliche  Weltautfassung  begründet,  der  gegenüber  jeder  der 
Folgenden  Stellung  zu  nehmen  hatte.  Während  bei  seinen  Vor- 
gängern das  Interesse  in  erster  Linie  den  einzelnen  Erscheinungen 
in  der  Welt  zugekehrt  ist,  für  welche  sie  durch  naturwissenschaft- 
liche Kosmogonien  eine  Erklärung  suchen,  und  erst  in  zweiter 
Linie  den  allgemeinen  Fragen  sich  zuwendet,  treten  diese  letzteren 
bei  Heraclit  durchaus  in  den  Vordergrund.  Ihn  kümmert  das  Ein- 
zelne nicht  als  solches,  sondern  insofern  es  als  Erläuterung  und 
empirische  Bestätigung  der  intuitiv  erfassten  allgemeinen  An- 
schauung dient. 

So  Aveist  Heraclit  sowohl  nach  rückwärts ,  wie  nach  vorwärts. 
Seine  Philosophie  vollendet  einerseits  die  hylozoistische  Natur- 
betrachtung der  voraufgehenden  drei  Milesier,  speciell  die  des 
Anaximander^),   andererseits  nimmt  sie,   indem   sie  alles  ins   ab- 


S.  171  ff.),  Natorp  (Diogenes  von  Äpollonia,  in:  Rhein.  Mus.  XLI.  1886.  S. 
348 — 36.3)  annehmen.  Wenn  Zeller  l*,  ä50,  4  behauptet ,  Schleierni acher  habe 
seine  Ansicht  hierüber  später  geändert,  und  sich  hierfür  auf  dessen  Geschichte 
der  Philosophie,  hrsg.  von  Ritter,  S.  77  beruft,  so  macht  eine  Anmerkung  des 
Herausgebers  S.  30  **)  (trotz  des  in  der  Vorrede  S.  8  über  das  Jahr  der  Ab- 
fassung Bemerkten)  es  wahrscheinlich,  dass  vielmehr  umgekehrt  die  Darstel- 
lung des  von  Ritter  veröffentlichten  Manuscriptes  die  frühere  ist. 

1)  So  Brandis,  Handb.  d.  Gesch.  d.  griech.-röm.  Philos.  I,  S.  272  ff.,  Phi- 
lippson,  "Ykii-  dv&Qmnivr,.  Berol.  1831.  S.  198  ff.  Zeller  P,  249  ff.  Siebeck, 
Gesch.  d.  Psychol.  la,  S.  82  f.    Übenveg-Heinze,  Gesch.  d.  Phil,  I',  S.  47. 

^)  Schleiermacher ,  Herakleitos  der  Dunkle  von  Ephesos,  Werke  Abt.  III, 
Bd.  2,  S.  1 — 146.  Paul  Schuster,  Heraklit  von  Ephesus.  Acta  societat. 
phil.  Lipsiens.  ed.  Kitschelius.  Bd.  III,  S.  1—394.  Heracliti  Ephesii  reliquiae, 
ed.  Ingram  Bywater,  Oxonii  1877. 

"•)  Über  die  Beziehungen  zwischen  Anaximander  und  Heraclit  vgl.  Zeller, 
l^  ö.  214.  218.  613.  667  f. 

2  * 


|^-«^-0■,^,M»Zv>^. 


20  Erster  Ahsclinitt..     Voi'socratiker. 

stract  Regriffliche  hinüborspioit;  das  (Ti-undprobleiii  der  fol5:^'enden 
Periode  voraus.  Wie  es  aber  einseitig  wäre ,  in  der  Lehre  des 
Heraclit  nichts  Weiteres  zn  sehen  als  eine  neue  Variation  des 
schon  von  Thaies  angegebenen  Themas,  ebenso  einseitig  ist  es, 
seine  Naturanschauung  unter  Aufgabe  alles  sinnlich  concreten 
Inhalts  ganz  ins  Begriffliche,  Dialektische  zu  verflüchtigen ').  Eine 
derartige  Umdeutung  thut  nicht  nur  den  Worten  der  Überlie- 
ferung überall  Gewalt  an,  sondern  ist  auch  mit  der  ganzen  histo- 
rischen Stellung  Heraclit's  unvereinbar.  > 

Von  der  Art  und  Weise,  wie  wir  die  Grundanschauungen 
Heraclit's  bestimmen,  hängt  es  ab,  welche  Stellung  zum  Problem 
der  Materie  wir  ihm  zuzuschreiben  haben.  Es  sei  uns  daher  ge- 
stattet, um  die  sichere  Grundlage  für  die  speciellere  Frage  zu  ge- 
winnen, eine  allgemeine  Erörterung  vorauszuschicken. 

Das  System  Heraclit's  wurzelt  noch  im  ionischen  Ilylozoismus. 
Mit  den  voraufgehenden  loniern  nimmt  er  als  Grundprincip  der  Welt 
einen  kraftbegabten  Urstoff  an,  der  durch  seine  Umwandlungen 
die  Vielheit  der  Dinge  entwickelt.  Als  solchen  Urstoff  bezeichnet 
er  das  Feuer  ^).  Schon  Aristoteles  und  Theophrast  haben  hierin 
den  Ausgangspunct  für  die  Speculation  Heraclit's  gesehen.  Ari- 
stoteles stellt  an  der  bekannten  Stelle  der  Metaphysik,  wo  er  einen 
kritischen  Überblick  über  die  Principien  der  früheren  Philosophen 
giebt,  den  Heraclit  mit  den  anderen  loniern  unbedenklich  zusam- 
men 3).  Ebenso  begann  Theophrast,  wie  wir  aus  Diogenes  von 
Laerte  ersehen,  in  seiner  Geschichte  der  naturphilosophischen 
Lehrmeinungen  die  Darlegung  des  heraclitischen  Systems  mit  dem 
Satze,  dass  das  J'euer  das  Urelement  und  dass  alles  Andere  Um- 
wandlung des  Feuers  sei*). 

Weshalb  Heraclit  gerade  das  Feuer  als  Urprincip  betrachtete, 
wird  sich  mit  Gewissheit  nicht  bestimmen  lassen.  Aristoteles 
scheint  anzudeuten,  dass  er  dabei  an  die  bewegliche,  stets  fliessende 
Natur  des  feurigen  Dunstes  gedacht  habe'»).    Näher  liegt  freilich 


•)  Eine  verständige  Kritik  der  neueren  Meinungen  über  das  physische 
Princip  Heraclit's  giebt  E.  Souher,    Eraclito  Efesio.    Roma  1885.     S.  119—134. 

■')  Die  Belege  bei  Zeller  P,  585  ff. 

3)  Arist.  metaph.  I  3,  984  a  7—8. 

■*)  Diog.  Laert.  IX  8.  Dass  der  mit  den  Woi'ten:  xal  ncria  u/r  /^r  at'nZ 
T((  d'oxorviu  schliessende  Abschnitt  IX  8 — 11  ziemlich  genau  den  \Vortlaut  des 
Theophrast  wiedergiebt,  zeigt  Diels,  Doxographi  p.  163 — 105. 

'-)  Allst,  de  an.  1  %  405  a  Ti . 


Heraclit.    Seine  Stellung.     Das  Feuer.  21 

die  Erwägung,  dass  nach  einer  im  ganzen  Altertum  weitverbreiteten 
Annahme  das  erwärmende  Feuer  als  da.?  Urprincip  des  Lebens 
erscheint  1).  Ist  uns  auch  nicht  überliefert,  welche  Gründe  zu 
einer  solchen  Annahme  führten ,  so  kann  über  diese  Gründe 
doch  kaum  Zweifel  sein.  Der  belebende  Einlluss ,  den  die  Son- 
nenwärme auf  die  ganze  Natur  ausübt  ,  die  erstarrende 
Wirkung  des  Winterfrostes,  die  Totenkälte  des  Leichnams  und 
die  Wärme  des  noch  lebenden  Körpers  waren  alltägliche  Er- 
fahrungen, die  bei  einigem  Nachdenken  auf  jene  Vorstellung  von 
dem  Einfluss  des  Feuers  führen  konnten.  Wenn  nun  Heraclit  das 
Feuer  nachdrücklich  als  das  ewig  lebende  {dsi^coov)  bezeichnet, 
(Fragm.  -20  Bywater);  so  dürfen  wir  wohl  annehmen,  dass  ihn 
nicht  so  sehr  oder  doch  nicht  ausschliesslich  die  unruhige  Bewe- 
gung der  flackernden  Flamme,  sondern  viel  mehr  jener  überall  zu 
Tage  tretende  belebende  Einfluss  des  P'euers  bestimmte,  in  diesem 
den  Urgrund  der  Weltentwicklung  zu  erblicken  '^). 

Durch  welchen  physikalischen  Prozess  sich  aus  dem  Feuer 
das  Einzelne  entwickelt,  hat  Heraclit  nicht  angegeben.  Er  be- 
zeichnet alles  Entstandene  als  Umwandlungen  (dfioißaf,  rgonaf) 
des  Feuers,  ohne  die  Natur  dieses  Umwandlungsprocesses  näher 
zu  bestimmen.  Wenn  Spätere  denselben  als  Verdichtungs-  und 
Verdünnungsprocess  deuten,  herbeigeführt  durch  ein  Nähertreten 
resp.  eine  Dissociation  der  kleinsten  Feuerteilchen  3),  so  hat  doch 
Theophrast,  auf  den  diese  Auffassung  zurückgeht,  offen  einge- 
standen, dass  er  derartiges  in  den  Worten  des  Heraclit  nicht  ge- 
funden habe*). 


1)  Vgl.  z.  B.  Aristoteles  de  vita  et  ruorte  4,  469b  6—9.  Weiteres  bei 
Siebeck,  Geschichte  der  Psychologie,  Ib,  S.  13.5  ff. 

"^)  Dass  ein  alter  Grieche  auf  eine  solche  Auffassung  vom  Feuer  verfallen 
konnte,  erscheint  uns  vielleicht  weniger  befremdend,  wenn  wir  sogar  von  ei- 
nem sonst  so  besonnenen  Forscher  wie  Tyndall  hören,  dass  nicht  nur  die  rohe- 
ren Formen  des  infusorischen  Lebens,  nicht  nur  die  Formen  des  Pferdes  oder 
Löwen,  nicht  nur  der  verfeinerte  Mechanismus  des  menschlichen  Körpeis,  son- 
dern auch  der  Geist  des  Menschen,  Empiindung,  Verstand,  Wille,  einst  in 
einer  feurigen  Wolke  latent  enthalten  waren  (Tyndall,  Fragmente  aus  den  Natur- 
wissenschaften, Braunschweig  1874.  S.  187).  Vgl.  auch  Preyer,  Naturwissen- 
schaftliche Thatsachen  und  Probleme.    Berlin  1880.    S.  57.  63  f. 

')  Diog.  Laert.  IX  8.  Simplic.  phys.  I,  p.  24,  2.  Plut.  plac.  I  3,  11.  Stob. 
I,  p.  304.  Hermias,  irris,  c.  13. 

*)   Diog.  IX  8:      nv(j    tivai    atoiytiov  Xtti  71vq6s  dßotßi]v  tol  iidvza,  doaiaiaec  xai 


22  Purster  Absclinitt.    VorsoiTatiker. 

Lässt  so  Heraclit  die  physikalische  Natur  des  Processes, 
durch  welchen  die  Welt  und  alles  in  der  Welt  sich  bildet^  völlig 
im  Unklaren,  so  durchdenkt  er  denselben  um  so  mehr  nach  der 
begrifflichen,  abstract- metaphysischen  Seite  hin.  Schon  oben 
wurde  hervorgehoben,  wie  seine  Bedeutung  gerade  darin  begrün- 
det ist,  dass  er,  obwohl  niemals  die  concrete,  sinnlich-anschau- 
liche Naturbetrachtung  des  loniers  gänzhch  verleugnend,  doch 
überall  dieselbe  zu  einer  principiellen,  metaphysischen  Speculation 
hinüberführt.  Indem  Heraclit  in  dieser  Allgemeinheit  über  die 
concreten  Dinge  reflectiert,  gelangt  er  zu  dem  Satze,  dass  alles  in 
steter  Veränderung,  oder,  wie  er  es  in  Form  eines  anschaulichen 
Bildes  ausdrückt,  in  stetem  Flusse  befindlich  sei  ^).  Damit  hatte 
der  wichtige  Begriff  des  Werdens  seine  schärfste  Formulierung 
gewonnen.  Sehr  weitreichend  ist  der  Einfluss  dieser  hera- 
clitischen  Lehre.  Noch  für  Plato  bildet  gerade  das  TxdvTa  qsT, 
wenn  auch  in  der  Beschränkung  auf  die  Sinnen  weit,  einen 
Fundamentalpunct  seiner  eigenen  Überzeugungen,  so  dass  wir 
es  begreifen,  wie  von  ihm  immer  und  immer  wieder  ge- 
rade dieser  Satz  Heraclit's  angeführt  wird,  während  er  die  sein 
Denken  nicht  weiter  anregende,  in  den  Bahnen  der  überwun- 
denen altionischen  Anschauungen  sich  bewegende  Lehre  vom 
Feuer  als  dem  Princip  aller  Dinge,  abweichend  von  Aristoteles 
und  Theophrast,  nicht  einmal  erwähnt  hat  ^'). 

Den  Sinn  des  heraclitischen  Satzes  vom  Fluss  aller  Dinge 
darf  man  nicht  mit  Schuster 3)  dahin  abschwächen,  dass  „kein 
Ding  in  der  Welt  dem  schliesslichen  Untergange  entgehe".  Zeller*) 
hat  diese  Auffassung  des  genaueren  widerlegt.  Gegen  dieselbe 
spricht  schon  der  Gesichtspunkt,  unter  dem  Heraclit  den  Ver- 
gleich mit  einem  Flusse  durchführt;  denn  nicht  dass  dieser  ein- 
mal ins  Meer  einmündet,  wird  dabei  als  tertium  comparationis 
von  ihm  hervorgehoben,  sondern  dass  wir  nicht  zweimal  in  den 
nämlichen    hinabsteigen  können  (Fr.  41.  81).     Natürlich    braucht 


yivxv'oaii  yivoixeva-  aatpais  ^  ovdtv  exzi^tTUf.  Dass  die  letzteren  Worte  nicht 
eine  Bemerkung  des  Diogenes,  sondern  seiner  Quelle,  des  Theophrast,  enthalten, 
beweist  Diels,  Doxogr.  p.  164  f.  gegen  Schuster. 

1)  Die  Belege  bei   Zeller,   I*  576   Anm.   1  u.  ± 

2)  Die  Anspielung  Gratyl.  413  C  ist  sehr  unsicher. 

3)  a.  a.  O.  S.  2ül. 

^j  a.  a.  U.  1\  oll,  1. 


Heraclit.     Fluss  aller  Dinge.     Einheit  der  Gegensätze.  23 

darum  Heraclit  nicht  gerade  gemeint  zu  haben,  dass  jedes  Ding 
in  jedem  Augenbhcke  mit  jedem  seiner  Bestandteile  ein  anderes 
werde  ^).  Solche  ÜbertreÜDungen  gehören  erst  der  späteren  Weiter- 
bildung an,  wo  ja  allerdings  Gratylus  behauptete,  dass  man 
auch  nicht  einmal  in  denselben  Fluss  hinabsteigen  könne^),  und 
wo  der  veränderliche  Stof!"  gelegentlich  soweit  verflüchtigt  wird, 
dass  man  zweifelhaft  sein  kann,  ob  für  das  unablässige  Werden, 
die  stete  Bewegung,  überhaupt  noch  ein  stoffliches  Substrat  fest- 
gehalten werden  soll  ^).  Heraclit  selbst  wollte  wohl  nur,  mächtig 
ergriffen  von  der  Wandelbarkeit  alles  Irdischen_,  den  Gedanken 
aussprechen,  dass,  wie  die  ganze  Welt,  so  auch  alles  in  ihr,  in 
oft  langsamem  und  allmählichem ,  aber  immer  unaufhaltsamem 
Gange  vergehe,  um  für  anderes  Platz  zu  machen,  das  in  gleicher 
Weise  vergehen  wird. 

Das  Werden,  die  Veränderung  aber  besteht  in  einem  fort- 
währenden Hin-  und  Herwogen  zwischen  Gegensätzen.  Bald 
erreicht  der  eine  Gegensatz  seinen  Höhepunkt,  bald  der  andere. 
Darum  vergleicht  Heraclit  (Fr.  79)  den  ewigen  Herrscher  der  Dinge 
einem  Knaben ,  der  beim  Brettspiele  die  Steine  bald  in  dieser 
Richtung,  bald  in  der  entgegengesetzten  verschiebt.  Noch  deut- 
licher macht  seinen  Gedanken  die  trotz  aller  fremdartigen  Bei- 
mischungen doch  auf  echt  heraclitischer  Grundlage  ruhende  pseudo- 
hippocratische  Schrift  über  die  Diät.  „Es  wandeln  aber,"  heisst 
es  dort  (c.  5),  „alle  göttlichen  und  menschlichen  Dinge  nach  oben 
und  nach  unten  im  Wechsel  Tag  und  Nacht  kommen  zu  ihrem 
Maximum  und  Minimum.  So  hat  auch  der  Mond  sein  Maximum 
und  sein  Minimum;  das  Feuer  hat  seinen  Aufgang  und  das 
Wasser;  die  Sonne  gelangt  zu  ihrem  Maximum  und  zu  ihrem 
Minimum."  Bei  diesem  Hin-  und  Her  wogen  sind  die  Stufen  des 
Prozesses  in  beiden  Richtungen  die  gleichen.  Auf  demselben 
Wege,  auf  dem  etwas  erlöschend  vom  Feuer  sich  entfernt,  wird 
es,  sich  aufs  neue  entzündend,  zum  Feuer  zurückkehren.  „Der 
Weg  nach  unten  und  nach  oben  ist  Einer."     (Fr.  69.) 

Schon  hier  zeigt  sich  die  wichtige  Rolle,  welche  der  Begriff 
des  Gegensatzes  in  der  Theorie  Heraclit's  vom  Werden  spielt. 
Aber  weit  darüber   hinaus    gewinnt    derselbe    eine    fundamentale 


*)  Vgl.  Zeller  1\  579  unten.  —  "")  Arist.  Metaph.  IV  5,  1010  a  12. 

^)  Vgl.  Plato,  Theaet.  156  A.    Genaueres  bei  Besprechung  des  Protagoras. 


24  Erster  Absrhiiill.     V^orsocraliker. 

Bedeulim^'  tiir  sein  System.  Kein  Gedanke  kehrt  so  oft  bei  ilnn 
wieder,  wird  in  gleichem  Maasse  durch  die  verschiedenartigsten 
Beispiele  erläutert,  als  der,  dass  dasselbe  Ding  entgegengesetzte 
Bestimmungen  in  sich  vereine. 

Der  Sinn  dieser  Lehre  ist  ein  viel  umstrittener.  Auf  eine 
Reihe  von  Aussprüchen  gestützt,  hat  die  besonders  durch  Hegel ') 
und  Lassalle  2)  vertretene  hyper-idealistische  Auffassung  darin 
den  Ausgangspunct  der  hegelschen  Logik,  die  Identität  von  Sein 
und  Nichtsein,  zu  erkennen  gemeint.  Eine  ähnliche  Auffassung 
scheint  bei  Aristoteles  zugrunde  zu  liegen,  wenn  er  den  Hera- 
clit  deshalb  tadelt,  dass  er  glaube,  dasselbe  könne  zugleich  sein 
und  nicht  sein  ^).  Doch  deutet  Aristoteles  selbst  bestimmt  genug 
an,  dass  seiner  Ansicht  nach  dies  allerdings  nicht  die  eigentliche 
Meinung  Heraclits  gewesen  sei  ^).  Die  hyper  -  idealistische  Deu- 
tung Hegel's  und  Lassalle's  wird  von  Zeher  schlagend  wider- 
legt. Er  zeigt  (S.  601  f.),  dass  für  Heraclit  keineswegs  die 
Gegensätze  als  solche  identisch  seien,  sondern  dass  er  nur  Ent- 
gegengesetztes in  demselben  Subjecte  verbunden  denke. 

Freilich  scheint  es  mir,  als  mache  Zeller  in  der  weiteren  Aus- 
führung seines  Gedankens  einige  Goncessionen,  zu  welchen  in 
dem,  was  uns  aus  der  Schrift  Heraclit's  überliefert  ist,  kein  zwin- 
gender Anlass  vorhegt.  Zeller  hat  für  die  Einheit  der  Gegensätze 
eine  doppelte  Erklärung.  Einmal  sohen  die  Dinge  für  Heraclit 
die  Puncte  sein,  an  denen  „die  entgegengesetzten  Strömungen  des 
Naturlebens  sich  kreuzen"  (S.  583  f.).  „Der  Schein  des  behaiT- 
lichen  Seins,"  wird  dieses  (S.  6^0)  ausgeführt,  „kann  nur  daraus 
entstehen,  dass  die  nach  der  einen  Seite  hin  abgehenden  Teile 
durch  Zuffuss  von  der  andern  in  demselben  Maasse  ersetzt  wer- 
den :  dem  Wasser  muss  aus  Feuer  und  Erde  ebensoviel  Feuch- 
tigkeit zukommen,  als  es  selbst  an  Feuer  und  Erde  verliert, 
u.  s.  w.  .  .  .    Jedes  Ding  ist  mithin  das,  was  es  ist,  nur  dadurch. 


1)  Hegel,  Vorlesungen  über  die  Geschichte  der  Philos.  I,  S.  3U5;  Logik 
I,  S.  80. 

2)  Ferd.  Lassalle,  Die  Philosophie  Herakleitos  des  Dunkeln  von  Ephesos 
Berlin  1858.    Bd.  1,  S.  81  f. 

3)  Die  Belege  bei  Zeller  P,  600,  2.    Bonitz,  Ind.  Arist.  320  a  3—6. 

*)  Metaph.  IV  3,  1005 li  23:  d(fvpaTov  yap  ovnvovv  TttvTov  'V7To?.a,ußät'ttv  tivai 
xal  fiTj  fivtti,  xad-äntQ  rivei  oi'ovTat  le'ytcp  'UQaxleixov,  WOZU  man  Vgl.  Zeller  I  , 
•483,   1, 


Heraclit.     Einlieil  der  (legensätze.  25 

dass  die  entgegengesetzten  Strömungen  der  zu-  und  abfliesscnden 
Stoffe  in  dieser  bestimmten  Richtung  und  unter  diesem  bestimm- 
ten Verhältnis  in  ihm  zusammentreffen."  Wird  hier  die  Hera- 
clitische  Einheit  der  Gegensätze  darin  gefunden,  dass  dasselbe 
Ding  entgegengesetzte  Strömungen  in  sich  vereinigt,  so  tritt 
anderswo  mit  einer  leichten  Nuancierung  des  Gedankens  an  die 
Stelle  des  Dinges  der  einzelne  Moment  des  Werdeprocesses,  wel- 
cher entgegengesetzte  Bestiummngen  in  sich  verknüpft.  „Jede 
Veränderung",  heisst  es  S.  595_,  „ist  ein  Übergang  von  einem  Zu- 
stand in  einen  entgegengesetzten ;  wenn  alles  sich  verändert  und 
nur  in  dieser  Veränderung  existiert,  so  ist  alles  ein  Mittleres  zwi- 
schen Entgegengesetztem,  und  welchen  Punct  man  im  Flusse  des 
Werdens  ergreifen  mag,  immer  hat  man  nur  einen  Übergangs- 
und Grenzpunct,  in  welchem  entgegengesetzte  Eigenschaften  und 
Zustände  sich  berühren." 

Um  keine  Schwierigkeit  zu  verschweigen,  mögen  zunächst 
diejenigen  Fragmente  zusammengestellt  werden,  in  denen  sich  die 
Coincidenz  der  Gegensätze  anscheinend  ohne  jede  Einschrän- 
kung ausgesprochen  tindet.  Es  sind  ihrer  nicht  wenige.  „Gott 
ist  Tag  und  Nacht,  Winter  und  Sommer,  Krieg  und  Frieden,  Sät- 
tigung und  Hunger",  heisst  es  Fr.  36.  „Tag  und  Nacht"  (Fr.  35), 
„Oberes  und  Unteres"  i),  „der  Weg  nach  oben  und  nach  un- 
ten" (Fr.  69)  sind  Eins.  Dasselbe  ist  „gut  und  böse"  (Fr.  57  u. 
58),  „sterblich  und  unsterblich''  (Fr.  67),  „lebend  und  tot,  wachend 
und  schlafend,  jung  und  alt"  (Fr.  78),  „Was  auseinandergeht,  geht 
mit  sich  zusammen"  (Fr.  45);  verbinden  soll  man  „Ganzes  und 
Nicht-Ganzes,  Übereinkommendes  und  Abweichendes,  Gleichklin- 
gendes und  Verschiedentönendes"  (Fr.  59\ 

Gleichwohl  dürfte,  wie  zum  Teil  schon  P.  Schuster  ausführt, 
eine  genaue  Prüfung  der  zahlreichen  Beispiele,  welche  nach  Philo's 
Bericht  gerade  den  Zweck  hatten,  den  Satz  von  der  Einheit  der 
Gegensätze  zu  erläutern  2),  zu  einer  anderen,  wenngleich  weniger 
tiefsinnigen,  so  doch  vielleicht  verständlicheren  Deutung  von  He- 
raclit's  Gedanken  anleiten. 

Die  Auffassung  Zellers  zunächst,  als  ob  Heraclit   den  Schein 


1)  Hippol.  refut.  p.  282  Miller;  s.  u.  S.  28. 

-)  Plülo,  Qu.  in  Gen.  IH  5,  p.  178  Aucher. :  Hinc  Heraclitus  liliros  con- 
scripsit  de  natura,  a  theologo  nostro  (von  Moysesj  mutualus  sentenlias  de  con- 
trariis,  additis  iiuniensis  iisque  laboriosis  argumentis. 


26  Erster  Abschnitt.     Vorsorratiker. 

des  Buharrens  der  einzelnen  Dinge  wie  des  Weltganzen  dadurch 
erkläre,  dass  entgegengesetzte  Bewegungen  sich  die  Wag^e  hielten, 
findet  in  den  uns  erhaltenen  Fragmenten  sowie  in  den  Zeugnissen 
der  Alten  keine  Bestätigung^).  Es  scheint  vielmehr,  als  kenne 
Heraclit  eine  Einheit  der  Gegensätze  nur  in  dem  Sinne,  dass 

1.  zwei  entgegengesetzte  Dinge  (Vorgänge)  sich  in  gegenseitiger 
Ergänzung  zu  einer  gemeinschaftlichen  Wirkung  verhinden, 

i2.  dass  ein  Ding  (Vorgang)  insofern  entgegengesetzte  Be- 
stimmungen vereint,   als  es  entweder 

a)  in  Relation  zu  verschiedenen  Dingen,  oder 

b)  in  verschiedenen  Entwickelungsstufen  betrachtet  wird. 
Ausgangspunct  für  den  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der  ge- 
wöhnlichen Auffassung  bildet  eine  Reihe  von  Fragmenten ,  in 
welchen  die  Vereinigung  entgegengesetzter  Bestimmungen  in  dem- 
selben Subjecte  offenbar  dadurch  begründet  werden  soll,  dass 
dasselbe  Ding  unter  verschiedenen  Beziehungen  betrachtet  wird. 
„Das  Meer,"  heisst  es  Fr.  52,  „ist  das  reinste  und  schmutzigste 
Wasser,  für  die  Fische  trinkbar  und  heilsam,  für  die  Menschen 
untrinkbar  und  verderbUch."  Wenn  Heraclit  das  gleiche  Meer- 
wasser als  rein  und  schmutzig  bezeichnet,  so  dürfte  er  schon 
hier  verschiedene  Beziehungen  desselben  im  Auge  haben  ;  doch  sagt 
er  das  nicht  ausdrücklich  und  deshalb  soll  hier  davon  abgesehen 
werden.  Mit  bestimmten  Worten  aber  legt  er  ihm  die  entgegen- 
gesetzten Bestimmungen:  trinkbar  —  untrinkbar,  gesund  —  un- 
gesund^ nur  in  dem  Sinne  bei,  dass  das  eine  für  die  Fische ,  das 
andere  für  die  Menschen  gelte.  Gewiss  denselben  Sinn  hat  Fr. 
51,  welches  von  Aristoteles  2)  in  diesem  Zusammenhange  angeführt 
wird:  „Verschieden  ist  die  Lust  des  Pferdes,  des  Hundes  und  des 
Menschen,  wie  Heraclit  sagt,  dass  der  Esel  wohl  Stoppeln  eher 
wählen  würde  als  Gold;  denn  jene  sind  dem  Esel  angenehmer, 
da  sie  ihm  zur  Nahrung  dienen."  Die  Stoppeln,  will  er  sagen, 
sind  dem  Menschen  wertlos,  dem  Esel  wertvoll;  umgekehrt  ist 
das  Gold  dem  Menschen  wertvoll,  dem  Esel  wertlos.     In  densel- 


^)  Wenn  Zeller  I**,  6!2Ü,  1  eine  solche  in  dem  von  Heraclit  gewählten  Ver- 
gleich mit  einem  Flusse  zu  sehen  glaubt,  so  l'elilt  doch  bei  diesem  Bilde  gerade 
das  Wesentliche,  die  Gegenströmung  zweier  in  verschiedener  Richtung 
erfolgender  Bewegungen. 

'^)  Aristot.  eth.  Nicom.  X  5,  1176  a  5—8. 


Heraclit.    Einheit  der  Gegensätze.  27 

bell  Gedankenkreis  gehört  ein  anderes  Fragment,  weiches  Bywater  ^) 
bei  Albertus  Magnus  gefunden  hat:  „Die  Kühe  sind  froh,  wenn 
sie  Wicken  finden" '');  denn  die  Wicken  sind,  wie  uns  Galen  ^)  be- 
stätigt, wohlschmeckend  für  die  Rinder,  aber  bitter  für  den  Men- 
schen." Die  gleiche  relative  Betrachtungsweise  begegnet  uns  in 
Fr,  99  und  98,  wo  es  heisst,  im  Vergleich  zum  Menschen  sei  der 
schönste  Affe  hässlich,  im  Vergleich  zur  Gottheit  aber  der  wei- 
seste Mensch  wie  ein  Affe  (also  unweise),  und  ganz  ähnlich  Fr.  97 : 
„Der  Mann  heisst  dem  Gott  einfältig,  wie  das  Kind  dem  Manne."  *) 
Nicht  anders  ist  es,  wenn  Fr.  50  der  Weg,  welchen  die  Walker- 
bürste ^)  beim  Hinaufstreichen  über  den  zu  bearbeitenden  Stoff 
beschreibt,  als  ein  zugleich  gerader  und  schräger  bezeichnet  wird, 
da  das  —  wohl  walzenförmig  zu  denkende  —  Instrument  zugleich 
nach  oben  und  im  Kreise  sich  bewege.  Auch  hier  ist  der  Ge- 
sichtspunct  ein  verschiedener;  denn  die  geradlinige  Bewegung 
nach  oben  kommt  der  Bürste  zu ,  insoweit  die  Ortsveränderung 
der  ganzen  Bürste  gegenüber  ihrer  Unterlage,  die  kreisförmige 
Bewegung^  insoweit  die  Lagenveränderung  der  einzelnen  Puncte 
ihres  Umkreises  in  Betracht  gezogen  wird^).  Auch  Pseudo-Hip- 
pocrates  stimmt  überein.  Wenn  zwei  Menschen,  führt  er  aus, 
einen  Holzstamm  zersägen,  so  ist  ihre  Thätigkeit,  das  gemein- 
schaftliche Ziehen  der  Säge  durch  das  Holz,  ein  und  dieselbe  und 
doch  eine  verschiedene;  denn  was  für  den  einen  Ziehen  ist,  ist 
für  den  andern  Stossen,  was  für  den  einen  Stossen  ist,  ist 
für  den  andern  Ziehen.  Ebenso  besteht  der  Eine  Erfolg  ihrer 
Thätigkeit  in  Entgegengesetztem,  in  einem  Kleinermachen  und 
einem  Grössermachen.  Der  Stamm  selbst,  dürfen  wir  zur  Erklä- 
rung hinzusetzen,  wird  beim  Zersägen  in  Stücke  immer  kleiner, 
der  Haufen  des  Kleinholzes  dagegen  immer  grösser  ^). 


1)  Journal  of  Philology.    IX  (1880)  S.  230—234. 

*)  Albert.  Magn.  de  vegetabilibus  VI  401  p.  545  Meyer:  Propter  quod  He- 
raclitus  dixit,  quod,  si  esset  felicitas  in  delectationibus  corporis,  boves  feli- 
ces  diceremus,  cum  inveniant  orobum. 

")  Galen.  tiiqI  tqo^wv  dwduews  I  29,  p.  546  K. 

*}  Vgl.  zu  diesem  Fragment  E.  Petersen,  Hermes  XIV  (1879)  S.  304—307. 

^)  Ich  lese  mit  Duncker  yva^eüo  statt  y^aiffiu). 

^)  Eine  ähnliche  Erklärung  versucht  Patin,  Heraklits  Einheitslehre,  die 
Grundlage  seines  Systems  und  der  Anfang  seines  Buches  (München  1885) 
S.  36  ff. 

')  Ps.-Hippocr.   Tie^l   diairr/s  1  6 :    n^iovaiv   uv&qwtcoi  {vXov,    6  ,uiv  i'Xxti  ö  de 


28  Erster  Absclinill.    Vorsocraliker. 

Es  ist  zu  erwarten,  dass  auch  in  den  oben  angeführten  Frag, 
menten  die  Einheit  der  Gegensätze  teilweise  nur  in  diesem  rela- 
tiven Sinne  gemeint  sei.  Ohne  Zweifel  trifft  das  zu  bei  Fr.  57 
und  58.  Aristoteles  zwar  scheint  so  zu  reden,  als  ob  Ileradit  ohne 
weiteres  Gut  und  Böse  gleich  gesetzt  habe  ^).  Dass  dieses  indes- 
sen keineswegs  der  Fall,  zeigt  die  Begründung  des  Satzes,  welche 
Hippolytus  uns  überliefert  hat  2):  „Die  Ärzte  schneiden,  brennen 
und  martern  in  jeder  Art  und  fordern  dann  für  sich  Lohn  von  dem 
Kranken,  indem  sie  ein  Gutes  und  Martern^)  gleichmachen."  Also: 
was  für  den  Kranken  ein  Schmerz,  ist  in  anderer  Hinsicht  ein  Gut. 
Ebenso  soll,  wenn  der  Weg  nach  oben  und  der  Weg  nach  unten  als 
einer  bezeichnet  wird,  keineswegs  die  Richtung  von  unten  nach  oben 
für  identisch  mit  der  Richtung  von  oben  nach  unten  erklärt  wer- 
den; es  soll  vielmehr,  wie  Zeller  hervorhebt ^\  nur  gesagt  wer- 
den, dass  dieselben  Entwickelungsstufen  in  beiden  entgegenge- 
setzten Richtungen  durchlaufen  werden  können.  Dass  aber  Obe- 
res und  Unteres  identisch  seien,  hat  in  dieser  Form  Heraclit  al- 
lem Anschein  nach  nicht  einmal  gesagt;  es  enthalten  vielmehr 
diese  Worte,  wie  auch  Zelter^)  wahrscheinlich  findet,  nur  eine 
Folgerung;  welche  der  Berichterstatter,  Hippolyt,  aus  Heraclit's 
Satz  von  der  Einheit  des  Weges  nach  oben  und  des  Weges  nach 
unten  gezogen  hat.  Ein  ähnlicher  Relativismus  würde  den  W^or- 
ten:  „Tag  und  Nacht  sind  eins"  (Fr.  35)  zugrunde  liegen,  wenn 
die  Ausführungen  des  Pseudo-Hippocrates  (Über  die  Diät,  c.  5): 
„Licht  für  den  Zeus  (die  Oberwelt),  Dunkel  für  den  Hades  (die 
Unterwelt);  Licht  für  den  Hades,  Dunkel  für  den  Zeus"  eine  echt 
heraclitische  Anschauung  enthalten  sollten  *').  Indessen  lässt  sich 
dagegen  einwenden,  dass  Heraclit  die  Sonne  sich  jeden  Morgen 
neu  entzünden  lasse').    Freilich  lässt  er  den  Sonnenkahn   wenig- 


fi>&eei'  z6  J"'  avTu  tovio  noitovai,  nituv  (ft  jioiiovtti  7c?.eibp  noti'urai.  Weiter  aus- 
geführt wird  das  Bild  c.  7. 

»)  Zeller  P,  60Ü,  2. 

2)  Hippol.  refut.  p.  282  Miller. 

^)  Mit  Bywater  lese  ich  ßuaävovg  statt  vöaovi. 

*)  Zeller  I,  618,  1. 

5)  a.  a.  0.  P,  582,  3. 

*')  Wie  das  mit  guten  Gründen  verfochten  wird  von  AI.  Platin,  Heraklits 
Einheitslehre,  S.  39  ff. 

')  Plat.  i'epuhl.  VI,  498  A.     Arist.  meteor.  11  %  355  a  14. 


Heraclit.    Einheit  der  Gegensätze.  29 

stens  fortdauern  und  muss  ihn  mithin  in  irgend  einer  Weise  des 
nachts  unter  dem  Horizont  von  Westen  nach  Osten  fortbewegt 
denken ;  gleichwohl  werden  wir  hinsichtlich  der  Sonne  selbst  uns 
bosser  nach  einer  andern  ErkLärung  umsehen. 

Eine  solche  ergiebt  sich  aus  dem  auch  von  Zeller  *)   zur  Er- 
läuterung   herangezogenen    Fragmente    30:      „Gott   ist    Tag    und 
Nacht,  Winter  und  Sommer  etc.".    Denn    da  Heraclit   von   einer 
südlichen  Halbkugel  mit  ihren  den  unsern  entgegengesetzten  Jah- 
reszeiten nichts  wusste  ^),  so  kann  er  den  Gott  doch  nur  zu  ver- 
schiedenen  Zeiten   Sommer  und  Winter  sein  lassen,   und  das 
Gleiche  wird  dann  auch  für  das   Verhältnis   von  Tag   und  Nacht 
gelten.    Freilich  könnte  man  auch  mit  Zeller  daran  denken,  dass 
in  dem  Momente  des   Übergangs   vom    Tag    in   die  Nacht ,    vom 
Sommer  in  den  Winter ,    beide    Gegensätze  mit  einander  verbun- 
den sind.     Gesagt  ist  von  Heraclit   das    eine   so   wenig  wie    das 
andere,   und  es  ist  darum  nicht  ganz  consequent,  wenn  Zeller  S. 
602  die  (von  Schuster  versuchte)    erstere  Erklärung   zurückweist, 
weil  sich  uns  gerade  darin   bei  Heraclit  die  Grenze  seines  Nach- 
denkens zeige,    dass   er  die  Frage,    imter  welchen    Bedingungen 
und  in  welchem  Sinne  dieses  Zusammensein  der  Gegensätze  mög- 
lich   sei ,    noch   nicht  erhoben  habe ,    an    anderer   Stelle  (S.  595) 
dagegen  selbst  die  zweite  Erklärung  aufstellt,  welche  doch  gleich- 
falls darauf  hinausläuft,  Bedingungen  anzugeben,  unter  denen  das 
Zusammensein  der  Gegensätze  möglich  sei.   Indessen  dürften  doch 
die  in  mehreren  Fragmenten  gegebenen  Andeutungen,  zusammen- 
gestellt, genügende  Indicien  dafür  liefern,  dass  dem  Heraclit  selbst 
jene  erste  Anschauung    in   der  That    nicht    fremd   war,   dass   er 
vielmehr,  gleichwie  er  nachweisbar  in  zahlreichen  Fällen  demsel- 
ben Gegenstande  verschiedene  Eigenschaften    zuschreibt,  jenach- 
dem  er  mit   verschiedenen    anderen   Gegenständen   in   Beziehung 
tritt  (wie  das  Meerwasser  mit  Menschen  und  mit  Fischen),  so  in 
anderen  Fällen   diese   Einheit   der  Gegensätze  dadurch  begründet 
denkt,    dass  dasselbe    in  der  Entwickelung    begriffene  Subject  in 
verschiedenen   Stufen    seiner   Entwickelung     entgegengesetzte 


>)  a.  a.  0.  F,  .581,  1. 

*)  So   wenig  wie   von  einem  ^Südpol",  den  Schuster  a.  a.  O.  S.  257  ihm 
zuschreibt.    Vgl.  Teichmiiller,  Neue  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe,  J,  S.  14. 


30  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Bestimmungen  aufweise.  Fr.  78,  welches  bei  Plutarch  >)  heisst: 
„Und  wie  Heraclit  sagt,  ist  dasselbe  lebend  und  tot^  wachend  und 
schlafend,  jung  und  alt;  denn  dieses  ist  umschlagend  jenes,  und 
jenes  wieder  umschlagend  dieses,"  will  ich  dafür  nicht  anziehen; 
denn  die  letzten  Worte  bieten  wohl  eine  (freilich  sachlich  rich- 
tige) Ausführung  Plutarch's,  kein  Gitat  aus  Heraclit's  Schrift,  könn- 
ten auch  immerhin  noch  im  Sinne  Zeller's  dahin  gedeutet  wer- 
den, dass  gerade  der  Moment  des  Umschlagens  Lebendes  und  To- 
tes, Wachendes  und  Schlafendes,  Junges  und  Altes  vereine.  Wenn 
wir  aber  Fr.  67  hören:  „Die  Unsterblichen  (d.  h.  Götter  und  Dä- 
monen) sind  Sterbliche  (d.  h.  Menschenseelen),  die  Sterblichen 
Unsterbliche,  indem  sie  den  Tod  jener  leben,  das  Leben  jener  ge- 
storben sind,"  und  damit  verbinden  Fr.  68:  „den  Seelen  ist  es 
Tod,  Wasser  zu  werden,  dem  Wasser  Tod,  Erde  zu  werden," 
Fr.  25:  „Der  Tod  des  Feuers  ist  die  Geburt  für  die  Luft,  der  Tod 
der  Luft  Geburt  für  das  Wasser"  2),  so  können  wir  doch  nur  den 
Sinn  darin  finden :  Altes  und  Junges,  Wachendes  und  Schlafendes, 
Unsterbliches  und  Sterbliches,  Feuer  und  Luft  sind  darum  dasselbe, 
weil  sie  aus  einander  geworden  sind,  weil  es  dasselbe  Subject  ist,  das 
in  der  einen  Zeit  diese  Bestimmtheit;  in  der  andern  Zeit,  nach  dem 
Aufhören  der  ersteren  Bestimmtheit,  die  entgegengesetzte  hat.  Da- 
her ist,  was  in  der  einen  Hinsicht  lebt,  tot  in  der  andern,  und 
umgekehrt.  Der  Tod  des  einen  ist  die  Entstehung  des  andern. 
Warum  der  Untergang  des  einen  zugleich  den  Ursprung  des  an- 
dern bilde ,  hat  Heraclit ,  soweit  sich  aus  der  immerhin  recht 
lückenhaften  Überlieferung  erkennen  lässt;  nicht  gesagt.  Wir  werden 
gleichwohl  schwerlich  fehlgreifen,  wenn  wir  den  Grund  für  diese  An- 
schauung in  seiner  Vorstellung  von  dem  ewigen  Leben  des  Feuers, 
von  dem  nvg  deiXoiov,  suchen.  Eben  weil  ihm  die  Natursubstanz 
eine  ewig  lebende  ist,  darf  das  Zerbrechen  einer  Existenzform 
nicht  zum  völligen  Untergange  führen,  sondern  muss  zugleich  der 
Beginn  eines  neuen  Lebens  sein. 

Noch  einfacher  liegt  die  Sache  bei  solchen  Aussprüchen,  wie : 


*)  Plutarch.  consolat.  ad  Apollon.  p.  329.  Vgl.  J.  Bernays,  Heralditische 
Studien,  in  dessen  Ges.  Abhandl.  I  S.  47  ff.,  besonders  S.  52. 

^)  Wenn  auch  der  Text  der  beiden  letzten  Fi'agmente  nicht  ganz  ur- 
kundlicli  ist,  da  ei'  statt  der  drei  heraclitischen  Elemente  Feuer,  Wasser,  Erde 
die  spätere  Vierzabl  voraussetzt,  so  ist  der  Gedanke  doch  jedenfalls  echt.  Vgl. 
Zeller  1*,  615.    Diels,  Doxographi,  p.  Iö3,  2. 


Heracllt.    Einheit  der  Gegensätze.  3l 

„Was  auseinandergeht,  geht  mit  sich  zusammen"  (Fr.  45),  „Was 
gegen  einander  strebt,  stützt  sich"  (Fr.  46),  „Man  verbindet  Gan- 
zes und  Nicht  -  Ganzes ,  Übereinkommendes  und  Abweichendes, 
Gleichklingendes  und  Verschiedentönendes"  (Fr.  59).  Nicht  einem 
und  demselben  Gegenstande  werden  hier  entgegengesetzte  Bestim- 
mungen zugeschrieben,  nicht  das  einzelne  Ding,  indem  es  ein 
anderes  wird,  geht  mit  sich  zusammen,  und  wie  dergleichen  For- 
meln mehr  heissen  mögen,  bei  denen  niemand  sich  etwas  Kla- 
res denken  kann;  es  sollen  vielmehr  zwei  verschiedene 
Dinge  mit  entgegengesetzten,  widerstreitenden  Eigenschaften  sich 
zu  einem  gemeinschaftlichen  Werke  verbinden.  So  erläutert  auch 
die  endemische  Ethik')  den  Gedanken:  „Andere  aber  halten  das 
Entgegengesetzte  (nicht,  wie  Empedocles,  das  Gleichartige)  für 
befreundet.    Auch  Heraclit  tadelt  das  Dichterwort   (IL  XVIII,  107): 

Möchte  doch  Jeghcher  Streit  hei  Göttern  und  Menschen  verschwinden; 
denn  es  würde  keine  Harmonie  da  sein,  gäbe  es  nicht  hohe 
und  tiefe  Töne,  noch  würden  lebende  Wesen  da  sein  ohne  den 
Gegensatz  des  Weiblichen  und  Männlichen."  Höhe  und  Tiefe  kom- 
men keineswegs  einem  einzigen  Tone  zu,  ebensowenig  als  das 
Männliche  und  das  Weibliche  in  einem  androgenen  Zwitter 
vereinigt  sind,  wie  doch  Heraclit  folgern  müsste,  wenn  jene  Lehre 
von  der  absoluten  Coincidenz  der  Gegensätze  die  seine  wäre. 
Vielmehr  bringen  der  hohe  und  der  tiefe  Ton,  unter  Wahrung 
ihrer  Verschiedenheit,  die  Empfindung  der  Harmonie  als  etwas 
Neues  hervor,  gerade  wie  Männliches  und  Weibliches,  indem  sie, 
ohne  Aufgabe  ihres  Gegensatzes,  zusammentreten,  ein  neues  Le- 
bendes hervorgehen  lassen. 

Aller  Gegensatz,  so  fassen  wir  die  voraufgehenden  Erörterungen 
zusammen,  ist  für  Heraclit  nur  ein  relativer.  Was  für  den  einen 
schädlich^  ist  für  den  andern  nützlich.  Der  Untergang  des  einen  ist 
die  Entstehung  des  andern.  Das  Verschiedene  ergänzt  sich  ge- 
genseitig und  kann  so  ein  Neues  hervorbringen.  Darum  muss  für 
die  höhere,  göttliche  Einsicht,  welche  die  Dinge  nicht  mehr  von 
einem  solchen  beschränkten,  relativen  Standpuncte  aus,  sondern 
vom  absoluten  Standpuncte  der  Gesamtheit  betrachtet,  aller 
Gegensatz,  der  eben  bloss  ein  relativer  ist,  verschwinden  und  als 
die  notwendige  Form  erscheinen,    in    der    das    ewige  Leben   des 


»)  eth.  Eud.  VII  1,  li>35a  25— i>8. 


32  Erster  Al)schnilt,.    Vorsocratiker. 

WeltoTiindes  seine  Mannigfaltigkeit  ausbreitet.  Was  Streit  und 
Kampf  ist  für  den  beschränkten  Standpunct,  ist  Gemeinschaft  und 
Friede  für  den  absohüen;  in  sofern  sind  Streit  und  Friede  das- 
selbe fFr.  rif).  r>2).  In  diesem  Sinne  beruht  auf  entgegengesetzter 
Spaiinung  die  Harmonie  der  Welt,  wie  die  der  Leyer  und  des 
Bogens  (Fr.  50),  und  aus  allem  relativen  Gegensatz  stellt  sich 
so  die  unsichtbare  Harmonie  her,  welche  besser  ist  als  die 
sichtbare  ^). 

Damit  haben  denn  auch  die  letzten  Aussprüche,  in  welchen 
man  die  Goincidenz  von  nicht  bloss  relativen  Gegensätzen  fin- 
den möchte,  ihre  anderweitige  Erledigung  gefunden. 

Ist  aber,  so  schliessen  wir  nunmehr,  die  Einheit  der  Gegensätze 
keineswegs  in  dem  von  Lassalle  u.  a.  verfochtenen  hyper-idealisti- 
schen  Sinne  zu  deuten,  so  hat  es  noch  weniger  Berechtigimg,  mit  die- 
sen Erklärern  das  Urfeuer  selbst  als  etwas  Immaterielles  ansehen  zu 
wollen.  Die  Scheingründe  Lassalle's  sind  von  Zeller  2)  überzeugend 
zurückgewiesen;  und  wenn  einmal  Aristoteles •'')  das  Princip  des 
Heraclit  als  das  am  wenigsten  körperliche  {daamarohmov)  be- 
zeichnet, so  macht  er  dasselbe  dadurch  doch  ebensowenig  zu  einem 
Un körperlichen,  als  etwa  Plotin  das  Feuer  darum  für  etwas  Im- 
materielles hält,  weil  er,  um  seinen  Unterschied  von  der  schwer- 
massigen Erde  hervorzuheben,  von  ihm  sagt,  dass  es  „sich  bereits 
der  Natur  des  Körpers  entziehe"  *).  Freilich  fasst  Heraclit  das 
Feuer  zugleich  als  die  Welt  Vernunft  (^oyoc)  •''),  als  alles  regie- 
i-ende  Einsicht  (yrw//?;,  d.  h.  Vernunft  nach  ionischem  Sprach- 
gebrauch''). Er  identificiert  dasselbe  mit  der  Gottheit  (Zeus, 
Aeon)  und  dem  Weltgesetz  {df^iaQ/^urrj);     er  hält  auch  die  Seele 


^)  Fr.  47:  i'an  yäg  «q/j-oviij  dfnvrjs  y.avfot;(  xQthTntv.  Wenn  Scliuster  (S.  24) 
im  Anfange  schreibt:  k  ii  y«p  ..  .;  (weshalb  sollte  ...  sein?),  so  erinnert  das 
lebhaft  an  das  Fragezeichen,  durch  welches  Bernardino  Ochino  den  Ausspruch 
Augustin's:  Qui  te  creavit  sine  te ,  non  te  salvabit  sine  te,  in  sein  gerades 
Gegenteil  verkehrte. 

2)  a.  a.  0.  P,  .591,  3. 

^)  Aristot.  de  an.  I  %  405  a  27. 

")  Plotin.  enn.  111  6,  6.  p.  226,  29  Müller:  y.nl  ify  y.a,  to  nvQ  (ffTynr  v^ij 
Ti]r  aaniarng  cfratr. 

■')  Vgl.  Heinze,  Die  Lehre  vom  Logos  in  der  griechischen  Philosophie. 
Oldenburg  1872.  S.  9  ff.  Teichnn'iller,  Neue  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe. 
Bd.  I.  Gotha  1S76.  S.  1(17  ff. 

^)  Vgl,  J.  Bernays,  Gesammelte  Abhandlungen.   Bd.  I,  S.  87  Anm.  1. 


Heraclit.    Die  Pythagoreer.  33 

für  feurige  Ausdünstung  u.  s.  w.  Der  Grund  dafür  liegt  indessen 
keineswegs  in  der  idealistischen  Anschauung,  als  sei  das  anschei- 
nend Körperliche  in  Wahrheit  ein  Geistiges,  Gedankliches;  er  ist 
vielmehr  darin  zu  suchen,  dass  die  ursprüngliche  materialistische 
Voraussetzung,  als  könnten  dem  Stoff  in  seiner  Lebensentfaltung 
zugleich  die  vernünftigen,  geistigen  Functionen  zukommen,  auch 
bei  Heraclit  noch  nicht  überwunden  ist. 

2.  Die  Pythagoreer. 

Wie  die  gesamte  vorsocratische  Philosophie,  so  ist  auch  die 
Lehre  der  Pythagoreer  im  wesentlichen  Philosophie  der  Na- 
tur. Ihre  Principien  freilich  haben  sie,  wie  Aristoteles  bemerkt, 
bereits  einem  ferner  hegenden  Gebiete,  nicht  mehr  dem  des  un- 
mittelbar Sinnfälligen,  entnommen;  aber,  wie  derselbe  betont;  sie 
verwenden  jene  in  der  Hauptsache  nur  dazu^  um  die  Entstehung 
der  Naturdinge,  des  Weltgebäudes  und  seiner  Teile,  zu  erklären  ^). 
Stellen  sie  auch  mancherlei  Vorschriften  ethischen  und  religiösen 
Inhalts  auf,  so  sind  diese  doch  nicht  durch  ein  engeres  Band  mit 
ihren  philosophischen  Grandanschauungen  verknüpft.  Für  die 
Naturerklärung  aber  haben  sie  eine  Reihe  bedeutungsvoller  Ge- 
sichtspuncte  gewonnen.  Es  sollen  aus  diesen  diejenigen  Mo- 
mente hervorgehoben  werden,  welche  die  Stellung  der  Pythagoreer 
zu  dem  Problem  der  Materie  charakterisieren. 

In  den  einleitenden  Gapiteln  des  ersten  Buches  der  Meta- 
physik, in  welchen  Aristoteles  eine  Übersicht  über  die  von  seinen 
Vorgängern  aufgestellten  Prinzipien  giebt,  stellt  er  die  Pythagoreer 
zu  denen,  welche  über  die  Materialursache  der  Dinge  nach- 
gedacht hätten.  Wie  sie  die  formalen  Bestimmungen  der  Dinge, 
ihre  Eigenschaften  und  Beschaffenheiten,  auf  Zahlen  zurückge- 
führt hätten,  so  hätten  sie  in  diesen  auch  die  Materie  des  Seien- 
den erblickt^). 

Den  Ursprung  dieser  Vorstellungen   führt  Aristoteles   auf  die 


»)  Aristot.  metaph.  I  8,  989  b  29—990  a  6. 

")  metaph.  I  5,  986    a     15:    (fahoviat    th]    xal    oitoi    t6v    dQi&/j6v    voisitovTti 
d^yiiv    fivai     xal     wf    v?.i]V    toTj;     ovpi     xal     u>s      nd&i]      tf      xal     f?«<f.       Eine     ganz 

bestimmte  Ansicht  übei-  die  Materie  schreibt  ein  angebliches  Fragment 
des  Aristoteles  (fr.  201,  p.  1514  a  24  =  fr.  207  der  kleinen  Ausgabe ,  Lipsiae 
1886).  bei   Damascius,    de    princ.    (cod.    Hanib.    p.    4091^)    dem    Pythagoras 

zu :     '^ipiaTOTtlrii    tfi    iv    roTg    'jQy^vteioii    iarooti"    xul     Ih&uyüour    a?.?.o     tt/V     r?.riV 
Baeumker:     Das  Protlem  der  Materie  etc.  •> 


34  Erstei-  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Vorliebe  der  Pythagoreer  für  die  mathemalischen  DiscipUnen  zu- 
rück. Indem  jene,  ganz  in  mathematischen  Anschauungen  lebend, 
auch  überall  in  der  Natur  die  mathematischen  Zahlenverhältnisse 
wiederfanden ,  wurden  sie  leicht  dahingeführt ,  in  den  Zahlen 
das  Wesen  der  Dinge,  in  den  Principien  der  Zahlen,  als  welche 
sie  das  Begrenzte  und  das  Unbegrenzte  aufstellten,  die  Principien 
der  Dinge  zu  erblicken  i). 

Erscheint  die  aristotelische  Darstellung  dieser  Gedankenreihe 
auch  ziemlich  folgerecht,  so  erheben  sich  doch  grosse  Schwierig- 
keiten, wenn  man  versucht,  sich  zu  verdeutlichen,  was  die  Pytha- 
goreer unter  jenen  Zahlen,  sowie  unter  dem  Begrenzten  und 
dem  Unbegrenzten  eigentlich  mögen  verstanden  haben.  Der 
Grund  dieser  Dunkelheit  liegt  einerseits  in  dem  geringen  Um- 
fange an  wirklich  zuverlässigen  Nachrichten  über  die  pytha- 
goreischen Lehren  —  die  folgenden  Ausführungen  stützen  sich 
ausschliesslich  auf  die  aristotelischen  Berichte  und  auf  dieje- 
nigen Fragmente  des  Philolaos  ^),  deren  Echtheit  Zeller  ^)  dar- 
gethan  — ;  andererseits  liegt  er  in  einem  gewissen  Schwan- 
ken der  pythagoreischen  Lehren  selbst.  Die  Schule  des  Py- 
thagoras  gehört  keineswegs  bloss  der  Urzeit  der  griechischen  Philo- 
sophie an ;  der  Erste,  von  dessen  schriftstellerischer  Thätigkeit  uns 
Bruchstücke  Kunde  geben,  Philolaus,  ist  ein  Zeitgenosse  des  So- 
crates.  Trotz  der  hohen  Auctarität,  welche  die  Schule  ihrem 
Begründer  beilegte ,  konnte  dieselbe  darum  auf  einem  Ge- 
biete, innerhalb  dessen  höchstens  einige  Grundanschauungen 
auf  den   Stifter    selbst    zurückgehen ,    in   einem   so  langen    Zeit- 

y.aXtiv  WS  ^evaxr,v  xal  utl  aklo  '/i-/vö,ufvov.  In  der  That  scheint  Plato,  Tim.  49(!, 
eine  ähnliche  Anschauung  als  vorhanden  vorauszusetzen  ,  ohne  dass  dort  in- 
dessen irgendwie  auf  die  Pythagoreer  hingewiesen  wäre.  Th.  Henri  Martin, 
welcher  (Etudes  sur  le  Timee  de  Piaton,  11,  p.  174,  note  57)  an  die  letzteren 
denkt,  kann  dafür  nur  Ocellu.s  Lucan.  c.  1  §.  13;  c.  2  §.  13 — 21  beibringen;  allein 
die  Ausführungen  dieses  erweisen  sich  wegen  ihrer  offenbaren  Abhängigkeit  von 
der  aristotelischen  Lehre  vom  Übergang  der  Elemente  in  einander  als  nicht 
altpythagoreisch  (vgl.  Diels,  Doxogr.  p.  187).  Die  angebliche  Schrift  des  Aristoteles 
über  Archytas  aber  unterliegt  hinsichtlich  ihrer  Echtheit  zu  vielen  Bedenken, 
als  dass  wir  sie  als  zuverlässige  Quelle  für  die  pythagoreische  Lehre  benutzen 
dürften;  vgl.  Zeller  P,  336,  3. 

*)  metaph.  I  5  Anf. 

-)  A.  Boeckh,  Philolaos  des  Pythagoreers  Leben  nebst  den  Bruchstücken 
seines  Werkes.    Berlin  1819. 

»)  a.  a.  O.  TS  S.  261  f. 


Die  Pythagoreer.    Das  materielle  Princip  als  Zahl.  3o 

räume  keineswegs  völlig  unberührt  bleiben  von  der  allgemei- 
nen Entwickelung  des  philosophischen  Denkens,  und  es  ist  des- 
halb von  vornherein  nicht  zu  erwarten,  dass  die  sämtlichen  Über- 
lieferungen über  die  Naturphilosophie  der  Pythagoreer  sich  zai 
einer  durchaus  einheitlichen  Anschauung  zusammenschliessen  ^). 

Eine  gewisse  Dunkelheit  schwebt  gleich  von  vornherein  über 
der  Frage,  ob  die  pythagoreischen  Zahlen  körperlicher  oder  un- 
körperlicher Natur  sein  sollen.  Für  das  letztere  scheint  manches 
zu  sprechen.  Werden  doch  rein  geistige  Dinge,  wie  die  Gerech- 
tigkeit, die  Meinung  u.  s.  w.,  genau  in  derselben  Weise  auf  die 
Zahl  zurückgeführt,  wie  die  körperliche  Welt;  und  da  weiter  nach 
Philolaos  auf  der  Zahl  die  Erkennbarkeit  der  Dinge  beruht  %  in 
der  Zahl  aber  auch  das  Wesen  der  Dinge  besteht,  so  scheint  sich 
das  ganze  Wesen  der  Welt  in  Gedanken  aufzulösen. 

Allein  in  dieser  Gleichsetzung  von  Geistigem  und  Körperlichem 
liegt  eine  Unklarheit  des  Denkens,  welche  gerade  die  Eigentüm- 
lichkeit des  pythagoreischen  Standpunctes,  wie  überhaupt  der  cäl- 
teren  Naturphilosophie  ausmacht.  So  wenig  wir  den  Pythago- 
reern  den  Satz  beilegen  dürfen,  Gerechtigkeit  und  Meinung 
seien  etwas  Körperliches,  weil  sie  beides  genau  wie  die  körper- 
lichen Dinge  durch  Zahlengrössen  definieren,  ebensowenig  dürfen 
wir  umgekehrt  behaupten ,  die  sichtbare  Welt  löse  sich  ihnen  in 
Immaterielles,  wenigstens  in  unserm  Sinne  Immaterielles,  auf,  weil 
sie  dieselbe  auf  die  gleichen  Elemente  zurückführen  Avie  rein  gei- 
stige Dinge.  Der  Unterschied  zwischen  Geistigem  und  Körperlichem 
ist  noch  gar  nicht  gemacht,  und  deshalb  werden  ein  und  diesel- 
ben Elemente  von  den  Pythagoreern  verwandt,  bald  um  Geisti- 
ges, bald  um  Körperliches   zu  erklären  3). 

Wir  sehen  hier  nun  gänzlich  ab  von  der  Frage,  welchen 
Sinn  die  Pythagoreer  mit  der  Zahl  und  den  Zahlenverhältnissen 
da  verbinden  mochten,  wo  sie  dieselben  zur  Erklärung  geistiger 
Dinge  verwerten,  und  beschränken  uns  unserer  Aufgabe  ge- 
mäss darauf,  zu  untersuchen,  in  w-elchem  Sinne  die  Zahl  als 
Princip,  und  zwar,  wie  Aristoteles  sie  bezeichnet,  als  materiel- 
les Princip  der  körperlichen  Dinge  von  den  Pythagoreern 
angesehen  wird.    Denn  darüber,   dass   die   ganze    sichtbare  Welt 


')  Vgl.  Zeller  I^  ö,  441  ff. 

"-)  Philolaos  bei  Stob.  ecl.  I  p.  8  und  450. 

^)  Vgl.  Zeller  I^  S.  353. 

3  * 


36  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

(orp«roc  bei  Aristoteles)  aus  Zahlen  bestehe,  sind  alle  Pythagoreer 
einigt).  Diese  Zahlen,  aus  denen  das  Weltgebäude  besteht,  wer- 
den aber  von  ihnen  als  etwas  den  Dingen  Immanentes  be- 
trachtet. Ausdrücklich  hebt  Aristoteles  an  verschiedenen  Stellen 
hervor,  dass  die  Annahme  von  getrennt  für  sich  bestehenden 
Zahlen,  zu  welchen  die  Weiterbildung  der  pythagoreischen  Lehre 
bei  Plato  und  der  älteren  Academie  vom  Standpunct  der  Ideen- 
lehre aus  führte,  den  Pythagoreern  selbst  noch  fremd  gewesen 
sei  2).  Wenn  Brandis^)  den  Versuch  gemacht  hat,  aus  einigen  in 
ihrem  Wortlaut  nicht  ganz  bestimmten  aristotelischen  Äusserun- 
gen zu  beweisen,  wenigstens  ein  Teil  der  Pythagoreer  habe  in 
den  Zahlen  blosse  Musterbilder  der  Dinge  gesehen ,  so  hat  Zeller^j 
die  völlige  Grundlosigkeit   dieser    Behauptung    überzeugend    dar- 


1)  Aristot.  metaph.  I  5,  986  a  3.  21;  I  8,  989  b  34  ff.;  990  a  22;  XIII  6, 
1080  b  18—19;  de  caelo  III  1,  300  a  15—17,  Zwar  heisst  es  an  letzterer  Stelle, 
Einige  Hessen  die  Natur  ans  Zahlen  bestehen  (ßantQ  twv  Tlv&ayoQÜvov  ztves);  aber 
Zeller  (P  318)  zeigt,  dass  aus  dem  beschränkenden  tivh  keineswegs  gefolgert 
werden  darf,  die  übrigen  Pythagoreer  hätten  die  Entstehung  der  Welt  auf  an- 
dere Weise  gedacht.  Unter  den  von  ihm  für  die  einschränkende  Ausdrucks- 
weise des  Aristoteles  gegebenen  Erklärungen  ist  mir  die  am  wahrscheinlichsten, 
dass  Aristoteles  so  gesprochen  habe,  weil  der  Name  der  Pythagoreer  ausser  den 
pythagoreischen  Philosophen  auch  solche  umfassen  konnte,  die,  ohne  mit 
Naturphilosophie  sich  zu  beschäftigen,  zum  pythagoreischen  Bunde  gehörten.  — 
Dass  i'vioi  (welches  Wort  Zeller  mit  dem  de  caelo  III  1  stehenden  nveg  ver- 
gleicht) von  Aristoteles  gelegentlich  in  behutsamer  Ausdrucksweise  auch  da 
gebraucht  werde,  wo  die  Behauptung  eigentlich  unbeschränkt  gemeint  ist,  kann 
ich  Zeller  freilich  nicht  zugeben.  An  der  ersten  der  von  ihm  (a.  a.  0.  Anm.  5) 
dafür  beigebrachten  Stellen,  de  gener.  et  corrupt.  II 5, 332  a  4 — 5 :  „denn  wenn,  wie 
es  auch  einigen  scheint,  Wasser  und  Luft  und  dgl.  die  Materie  der  physischen 
Körper  ist .  . .",  steht  Ivioi  in  seiner  gewöhnlichen  Bedeutung,  da  doch  in  der  That, 
nur  einige  der  Philosophen,  nämlich  die  ionischen  Naturphilosophen,  diese  Ansicht 
aufstellen.  Ebenso  ist  an  der  zweiten  Stelle,  metaph.  I  1,  981  b  2 :  röiv  d\pvy(i)v 
ivia  noisTv  /uev,  ovx  eläöia  6t  noieiv  ü  notti  —  WOZU  Zeller  bemerkt,  dass  man 
aus  dem  i'ria  doch  nicht  schliessen  dürfe,  Aristoteles  lasse  andere  leblose  Dinge 
mit  Bewusstsein  wirken  —  das  Wort  deshalb  ganz  angebracht,  weil  doch  nicht 
allem  Leblosen  eine  Wirksamkeit,  ein  nouTv,  zugeschrieben  werden  kann. 

2}  metaph.  I  6,  987  b  28;  I  8,  990  a  2— 5.  18—22;  XIII  6, 1080  b  3. 17—18; 
XIII  8,  1083  b  10-13;  XIV  3,  1090  a  23;  phys.  III  4,  203  a  6—7. 

^)  Über  die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  und  Platoniker,  Rh.  Mus.  v. 
Niebuhr  u.  Brandis  II  (1828)  S.  211  ff. 

")  a.  a    0.  S.  318  ff. 


Die  Pythagoreer.     Das  materielle  Princip  als  Zahl.  37 

gethan.  Nicht  bloss  nach  dem  Muster  der  Zahlen  ist  den  Pytha- 
goreern  die  Welt  gebildet;  sie  ist  vielmehr  selbst  ZahP). 

Die  Zahl  aber  erscheint  ihrerseits  bereits  als  ein  Entwicklungs- 
product  ursprünglicher  Elemente.  Sie  entsteht  durch  die  Verbin- 
dung der  Grenze  (oder  des  Begrenzten)  mit  dem  Unbegrenzten  2). 
Indem  das  Unbegrenzte  durch  die  Grenze  bestimmt  wird,  entsteht 
zuerst  die  Eins,  welche  also  Grenze  und  Unbegrenztes  in  sich  be- 
fasst;  aus  der  Eins  (durch  deren  Wiederholung)  die  Zahl;  die 
Zahlen  aber  bilden  das  Weltall  3)* 

Es  fragt  sich  also  zunächst,  was  unter  diesem  Unbegrenz- 
ten {cineigor)  zu  verstehen  sei,  wenn  es  von  den  Pythagoreern 
zur  Erklärung  der  sichtbaren  Welt  verwandt  wird. 

An  mehreren  Stellen  *)  sieht  Aristoteles  den  Unterschied 
zwischen  der  ionischen  Ansicht  vom  Unbegrenzten  und  der- 
jenigen der  Pythagoreer  und  Plato's  darin ,  dass  die  er- 
steren  die  Unbegrenztheit  als  Eigenschaft  eines  qualita- 
tiv bestimmten  Stoffes ,  sei  es  Feuer ,  Wasser ,  Luft  oder  ein 
mittleres  Element,  fassten,  wohingegen  die  letztern  in  dem  Unbe- 
grenzten 5)  die  Substanz  der  Dinge  erbhckten,  indem  sie,  wie 
er  in  seiner  Terminologie  es  ausdrückt,  das  ansigov  und  das 
dneigw  shai,  für  identisch  hielten  Zugleich  aber  legt  derselbe 
dem  Unbegrenzten  der  Pythagoreer  räumliche  Bestimmungen 
bei.  Er  beschreibt  es  als  ein  unendlich  Ausgedehntes  und  findet 
gerade  darin  einen  Widerspruch,  dass  eine  solche  Unendlichkeit 
zugleich  Substanz  sein  solle;  denn  wie  jeder  Teil  des  Wassers 
wieder  Wasser,  so  müsse  jeder  Teil  einer  solchen  substantiellen 
Unendlichkeit  wieder  unendlich  sein  ^),  ein  Widerspruch,  den  er 
gegen   das   Unbegrenzte    Plato's    nirgendwo   geltend    macht.    Er 

*)  Wenn  Simplicius  (phys.  III,  p.  453,  7—9)  den  Pythagoreern  die  Lehre 
zuschreibt,  die  Zahlen  und  Oberhaupt  das  Mathematische  könnten  zwar  für 
sich  gedacht  werden,  subsistierten  aber  nicht  für  sich,  sondern  nur  im  Sinn- 
fälligen, so  verwendet  er  zwar,  wie  schon  Aristoles,  begriffliche  Unterscheidun- 
gen, die  erst  einer  späteren  Zeit  angehören;  die  innere  Tendenz  der  pythago- 
reischen Lehre  aber  dürfte  er  richtig  bezeichnet  haben. 

2)  Die  Belege  bei  Zeller  P,  323,  1. 

3)  Aristot.  metaph.  I  5,  986  a  17—21. 

*)  Aristot.  phys.  III  4,  203  a  4—6;  III  5,  204  a  33;  metaph.  (  5,  987  a 
15—19. 

^)  gerade  wie  in  dem  Einen:  metaph.  III  1,  996  a  6;  III 4,  1001  a9— 11 
X  2,  1053  b  12—13. 

«)  phys.  III  5,  204  a  20—34. 


38  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

spricht  ferner  davon,  dass  nach  den  Pythayoreern  sich  das  Un- 
endliche ausserhalb  des  AVeltgebäudes  befindet,  wohingegen 
Plato  sage,  ausserhalb  der  Welt  sei  weder  etwas  Körperliches, 
noch  die  Ideen,  da  diesen  überhaupt  kein  Wo  zukäme  ^).  An  einer 
andern  Stelle  endlich,  welche  über  die  pythagoreische  Lehre  von 
der  Weltbildung  handelt^  heisst  es,  nachdem  einmal  die  centrale 
Einheit  sich  gebildet,  seien  sofort  die  nächsten  Teile  des  Un- 
begrenzten {z6  k'YYioza  Tov  dTieiQov)  in  den  Kreis  der  Entwickelung 
hineingezogen  2).  Mögen  die  Pythagoreet  also,  wenn  sie  Gerech- 
tigkeit, Meinung  u.  dgl.  auf  Zahlen  zurückführen,  diese  Zahlen 
,wie  immer  gedacht  haben:  wo  sie  die  letzteren  zur  Erklärung 
der  sinnfälligen  Welt  verwenden,  erscheint  ihnen  das  Unbegrenzte 
als  etwas  Räumliches  von  unendlicher  Ausdehnung.  Verbinden 
wir  aber  damit  die  andere  von  Aristoteles  hervorgehobene  Be- 
stimmung, die  Substantialität  des  Unbegrenzten,  so  giebt  bei- 
des vereinigt  nur  dann  einen  vollziehbaren  Gedanken,  wenn  die 
Pythagoreer  unter  diesem  Unbegrenzten  eben  die  unbegrenzte 
Ausdehnung  selbst  verstanden.  War  für  die  ionischen 
Naturphilosophen  der  materielle  Urgrund  der  Welt  ein  be- 
stimmter Stoff,  wie  Wasser  oder  Luft,  dem  sie  die  unendliche 
Ausdehnung  als  Eigenschaft  beilegten,  so  ist  für  die  Pythagoreer 
diese  unendliche  Ausdehnung  das  Erste,  durch  dessen  nähere 
Bestimmung  erst  die  verschiedenen  Stoffe  entstehen. 

Allerdings  lässt  sich  nicht  annehmen,  dass  der  Begriff  der 
unendlichen  Ausdehnung  bei  den  Pylhagoreern  gleich  von  vorn- 
herein in  seiner  vollen  mathematischen  Abstractheit  erfasst  sei. 
Darauf  führt  auch  eine  merkwürdige  Nachricht  des  Aristoteles, 
die  gerade  wegen  ihrer  Seltsamkeit  nicht  etwa  eine  erst  von  Ari- 
stoteles aus  pythagoreischen  Lehren  gezogene  Folgerung  darstellen 
kann,  sondern  jedenfalls  als  ein  historischer  Bericht  betrachtet 
werden  muss.  Die  Pythagoreer,  heisst  es  bei  ihm,  nehmen  gleich- 
falls ein  Leeres  an  und  sagen,  dasselbe  trete  aus  dem  unend- 
lichen Hauche  in  die  Welt  ein,  die  gewissermassen  es  einatme^). 


0  phys.  III  4,  203  a  7-9. 
')  metaph.  XIV  3,  1091  a  17. 

^)  P^y^-  I^  ^'j   213   h  22 — 25:    rh^a     »f"    'Afnxiav    y.ni   o!  TlrO-uyoQtwi   xfvnv ,    xni. 

intiaievai  avio  (1.  avrw^  mit  einer  Bekker'schen  Handschrift  und  den  Codices  bei 

Slob.  ecl.  I,  p.  880)    t<~>    ni'Qnvot  ry    tov    ixtih'qov  nv/vunroi  o'tc  dvanvc'ovTi  [xai]  to 

xevov  (die  Fortsetzung  s.  Ö.  41  Anrn.  3). 


Die  Pythagoreer.    Die  unbegrenzte  Ausdelinung.  39 

Wenn  dann  fort^^efahren  wird,  dass  dieses   Leere    zuerst    in   den 
Zahlen  sei  und  die  Natur  derselben  trenne^),  so  zeigt  sich  hierin 
deutlich  die  Unklarheit  dieses   ganzen  altpythagoreischen    Stand- 
punctes,  für  welchen  der  Raum    als   die  Form    des  Auseinander 
zugleich  auch  als  das  die  Zahlen  Trennende  erscheint.  Stobaeus, 
der  diese  Stelle  des  Aristoteles  citiert  ^),  fügt  eine  ähnliche  aus  dem 
ersten  Buche   seiner  Schrift  über  die  pythagoreische  Philosophie 
hinzu  2),  nach  welcher  aus  dem  Unbegrenzten  in  die  Welt  eintrete 
die   Zeit,   der   Hauch   und   das  Unbegrenzte,    welches  die  Räume 
trenne.    Ein   späterer    Bericht^)   erweitert  die    zuerst   angeführte 
aristotelische    Nachricht    dahin,    dass    die   Welt,    wie    aus    dem 
Leeren  ein-,   so   in   das  Leere  ausatme.    In  jenen  aristotelischen 
Berichten  wird  nun  aber  das  Unbegrenzte  gleichgesetzt,  einerseits 
dem  Leeren,  andererseits  dem  unendlichen  Hauche.  Beides  wider- 
spricht sich  auf  dem   Standpunkte  jenes   altertümlichen  Denkens 
keineswegs.     Wenn  z.  B.  Anaxagoras,  um  seine   Verwerfung   des 
Leeren  zu  begründen,  sich  darauf  beruft,    dass  bei  zugebundenen 
Schläuchen    die    darin   enthaltene    Luft    ein  völliges    Zusammen- 
pressen dieser  hindre  und  dass  das  Wasser  so  lange  nicht  in  die 
Wasseruhr  eintreten   könne,    bis    der    eingeschlossenen    Luft  ein 
Ausweg  geöffnet  sei^),  wenn  er  also,    um  den  Begriff  des  Leeren 
zu  widerlegen,  nachweist,  dass  die  Luft  ein   Etwas   sei,   so   liegt 
dem  der  gleiche  Mangel  an  Abstraction  zugrunde. 

Übrigens  kann  diese  unvollkommene  Vorstellung  nur  bei  äl- 
teren Pythagoreern  geherrscht  haben.  In  den  Fragmenten  des 
Philolaus  finden  wir  keine  Spur  mehr  von  derselben.  Sie  ist  für 
diesen  vielmehr  aus  dem  Grunde  von  vornherein  ausgeschlossen, 
weil  er  die  Luft  als  eines  der  fünf  Elemente  betrachtet,  welches 
erst  dadurch  entsteht,  dass  durch  die  Verbindung  des  Unbegrenz- 
ten mit  dem  Begrenzenden  kleinste  Elementarkörperchen  von  be- 
stimmter Form  sich  bilden.     Wegen   ihres   wenig  ursprünglichen 


■*)  a.  a.  0.  1)  26 — 27:  xal  tovt'  eivai  TTQtÖTov  iv  ro?f  apiS^uoTs'  t6  ydp  xivov 
JioQtZecv  Tijv  qivaiv  avrcov.     Vgl.  S.  41  Anm.  3. 

'^)  Stob.  ecl.  1,  p.  380. 

3)  Aristot.  fragm.  196,  p.  1513  a  29  (fr.  201  der  kleinern  Ausgabe). 

*)  Plut.  plac.  II  9,  1;    Stob.  ecl.  I,  p.  390;  vgl.  Diels,  Doxogr.  p.  338,  13. 

'")  Arist.  phys.  IV  6,  213  a  22—27  sowie  Simplicius  und  Themistius  zu 
der  Stelle  (Die  xXnVvifQu  findet  eine  gute  Erläuterung  durch  Empedocles  v 
282-295  Karsten,  294—307  Stein). 


4()  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Characters  werden  wir  mit  Zeller*)  freilich  diese  ganze  philolaische 
Eiern entenlehre  nicht  als  altpythagoreisch  betrachten  dürfen.  Sie 
scheint  vielmehr  die  Lehre  des  Erapedocles  von  den  Elementen 
bereits  vorauszusetzen.  Was  aber  das  allen  bestimmten  Stoffen 
zugrunde  hegende  Unbegrenzte  betrifft,  so  operiert  wohl  Philolaus 
mit  dem  ererbten  Begriffe,  obwohl  er  bei  ihm  seine  concrete  Be- 
stimmtheit verloren  hat,  doch  wie  mit  einem  Selbstverständlichen. 
Andererseits  ist  ihm  aber  auch  die  Vorstellung  einer  unbestimmten 
Potenzialität  oder  die  eines  qualitä-tslosen  Stoffes  im  Sinne 
der  aristotehschen  oder  der  stoischen  Materie  noch  fremd.  Wir  wer- 
,  den  daher  seiner  Welterklärung  nur  dann  einen  Sinn  abge- 
winnen können,  wenn  wir  im  Anschlüsse  an  den  oben  als 
pythagoreisch  erkannten  Gedanken  ihm  die  Ansicht  beilegen,  das 
Unbegrenzte  als  das  eine  Princip  der  sichtbaren  Welt  sei  die 
Ausdehnung,  und  zwar  die  reine  Ausdehnung.  Unbegrenzt 
ist  diese  aber  in  einem  doppelten  Sinne,  einmal  im  Sinne  der 
Ausdehnbarkeit  ins  Unendliche,  dann  im  Sinne  der  Teilbar- 
keit ins  Unendliche  2).  —  Hat  Philolaus  diese  Ansicht  auch  wohl 
nicht  klar  ausgesprochen,  so  bildet  sie  doch  jedenfalls  den 
wahren  Untergrund  seiner  naturphilosophischen  Anschauungen. 
Da  also  der  Begriff  des  Unbegrenzten  den  Pythagoreern,  wo 
sie  denselben  zur  Erklärung  der  physischen  Welt  verwerten,'  auf 
den  der  unbegrenzten  Ausdehnung  hinausläuft,  so  können  sie 
unter  dem  Begrenzenden,  der  Grenze,  auf  physischem  Ge- 
biete wenigstens,  nichts  Anderes  verstehen  als  Begrenzung  und 
Bestimmung  eben  dieser  an  sich  unbegrenzten  Ausdehnung. 
Die  Begrenzung  der  Ausdehnung  findet  statt  durch  Flächen, 
Linien  und  Puncte.  Arithmetisch  betrachtet,  ist  der  Punct  die 
Einheit;  von  der  blossen  Zahleinheit  oder  der  Monas  unterschei- 
det er  sich  aber  dadurch,  dass  ihm  eine  bestimmte  Lage  zu- 
kommt 3).    Als  einfachste  Bestimmtheit  innerhalb  der  unbegrenz- 


»)  a.  a.  0.  P,  S.  377  ff.  Vgl.  auch  Diels,  Sitzungsber.  d.  Berl.  Akadem. 
1884.  S.  353. 

^)  Für  das  Erstere  liegen  die  Belege  in  den  S.  38  f.  gegebenen  aristotelischen 
Ausführungen;  das  Letztere  ergiebt  sich  daraus,  dass  nach  zahlreichen  Zeug- 
nissen (vgl.  Zeller  P,  322,  2)  die  Pythagoreer  das  Geradzahlige  eben  wegen  seiner 
fortgesetzten  Teilbarkeit  dem  aneiQov  gleichsetzten. 

^)  Aristot.  de  an.  I  4,  409  a  6:  i^  any/jn^  fxovas  tan  ^iaiv  i'^ovau.  Vgl.   al. 


Die  Pylhagoreer.    Die  Grenze.  41 

ten  Einheit  vereinigt  er  zuerst  in  der  Reihe  des  Zählbaren  Un- 
begrenztes und  Begrenztes  in  sich.  Zwei  Puncte  bestimmen  eine 
Linie,  indem  sie  als  die  Enden  einer  unbegrenzten  —  d.  h.  hier  ins 
Unbegrenzte  teilbaren  —  Ausdehnung  erscheinen.  Die  beiden 
Puncte  bilden  Anfang  und  Ende,  das  dazwischenliegende  Unbe- 
grenzte die  Mitte  —  eine  Dreiheit,  auf  welche  die  Pythagoreer 
nach  dem  Zeugnis  des  Aristoteles  ^)  grosses  Gewicht  legten.  In- 
dem wenigstens  drei  Linien  unter  Winkeln  sich  verbinden,  be- 
stimmen sie  innerhalb  der  unbegrenzten  Ausdehnung  die  Fläche. 
Mindestens  vier  unter  Ecken  zusammenstossende^)  Flächen  brin- 
gen in  der  gleichen  Weise  durch  Begrenzung  der  an  sich  nach 
allen  Richtungen  unbegrenzten  Ausdehnung  den  Körper  hervor. 
Überall  müssen  Grenze  und  Unbegrenztes  zusammentreten.  Die 
zwei  Puncte,  welche  mit  dem  Unbegrenzten  die  Linie  bilden, 
würden  ohne  das  dazwischen  liegende  Unbegrenzte  zusammen- 
fallen, das  Unbegrenzte  ohne  die  zwei  Puncte  wi^irde  weder  Rich- 
tung, noch  Ausgang  und  Ziel  erkennen  lassen.  Analoges  gilt  von 
der  Fläche  und  dem  Körper  ^).  Da  so,  wenn  wir  das  dazwischen- 
tretende Unbegrenzte  immer  als  selbstverständlich  voraussetzen, 
die  Körper  aus  Flächen  bestehen  —  natürlich  nicht  aus  Flächen, 
die  aufeinandergelegt  sind ,   sondern  aus  solchen ,  die  unter  Win- 


posl.  I  27,  86  a  37;  I  32,  88  a  34;  metaph.  V  6,  1016  b  24-31 ;  VIII  3,  1044 
a  8—9;  XIII  8,  1084  b  26—27. 

')  de  caelo  I  1,  268  a  10—13. 

«)  Vgl.  Simplic.  in  Arist.  de  caelo  111,  p.  256  b  23—27  Karsten. 

■')  Das  Begrenzende  kann  nur  dann  bestimmte  Formen  hervorbringen, 
wenn  es  nicht  räumlich  in  eins  zusammenfällt,  d.  h.  wenn  es  durch  einen 
Abstand,  ein  Leeres  auseinandergehalten  wird.  Ebenso  erhalten  die  Zahlen 
alle  ihre  Bestimmtheit  durch  die  Einheiten,  welche  sie  enthalten,  sind  aber 
zugleich  durch  einen  leeren  Abstand  von  einander  geschieden.  Das  ist  wohl 
der  Sinn  von  Aristot.  phys.  IV  6,  213  b  24—27:  (die  Pythagoreer  lehrten,  es 
sei)  To  xfvdv  o  dioQi^ei  {nicht  oQctei,  was  dem  negag  zukommen  würde;   vgl.  de 

caelo  I  6,  217  a  14:  ol  ronoi  logia/ie'voi  xal  ntTitpaOfievot)  tas  qivatis,  wg  ovrog  xov 
xtvov  ^(jiQiaiiov  Tivos  Tijjv  i(ft^iig    xal    rr,?    äioQiaewg'    xal    rovr'  ecvai  ngcörov  iv  roTg 

dgi&fioTg'  TO  yoLQ  xevov  (fiogiteiv  xijV  fvaiv  avTcöv.  Vgl.  dazu  Brandis,  Rhein.  Mus. 
V.  Niebuhr  u.  Brandis  IT,  224,  griechisch-römische  Philosophie  I,  453  (anders 
Zeller  l\  355,  2)  Wenn  Porphyr,  bei  Simpl.  phys.  IV,  p.  648,  20—22  behauptet,  die 
Pythagoreer  hätten  ein  Leeres  nur  ausserhalb  der  Welt  angenommen,  die  Welt 
selbst  aber  für  ein  awr^ig  gehalten,  so  ist  das,  wie  man  aus  Simpl.  ersieht, 
eine  Vermutung,  welche  sich  auf  die  falsche  Lesart  äx"'>QiaTov  statt  y^ioQiatöv 
bei  Arist.  phys.  IV  6,  213  a  32  stützt. 


42  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

kein  zLisainmenslüsseii  —  die  Flächen  in  der  gleichen  Weise  aus 
Linien,  die  Linien  aus  Puncten^  die  Puncte  aber  Einheiten  sind: 
so  ist  alles  Körperliche  eine  Summe  von  Einheiten;  die  Dinge 
sind  vieles,  TtoXlü^),  d.  h.  sind  Zahl. 

Zahlreiche  Zeugnisse  der  Alten  ^)  vertreten  mehr  oder  min- 
der deutlich  diese  Auffassung  der  pythagoreischen  Lehre.  Zwar 
entstammen  dieselben  durchweg  erst  der  späteren  Zeit ;  aber  dass 
schon  die  altpythagoreische  Lehre  im  wesentlichen  damit  über- 
einstimmte, ergiebt  sich,  wie  Zeller  ^) 'des  genaueren  nachweist, 
aus  den  Andeutungen  des  Aristoteles  und  den,  wenngleich  spär- 
lichen ,  Resten  der  philolaischen  Schrift.  So  belehrt  uns  Aristo- 
teles, dass  die  Einheiten  der  Pythagoreer  nicht  monadische  seien, 
sondern  dass  sie  Grösse  hätten  *).  Letzteres  ist  nun  freilich,  wie 
Ritter^)  unter  Zustimmung  von  Zeller '')  darthut,  nur  ein  Schluss 
des  Aristoteles,  den  dieser  im  Sinne  der  Pythagoreer  zu  machen 
glaubt;  jedenfalls  aber  beweist  derselbe,  dass  auch  Aristoteles 
die  von  der  pythagoreischen  Physik  gelehrte  Einheit  als  eine  räum- 
liche fasste ,  d.  h.  also  als  Raumpunct ,  der  ja  stets  der  arithme- 
tischen Monade  als  zweite  Art  der  Einheit  entgegengesetzt  wird ''), 
Denn  mochte  auch  Aristoteles  annehmen  (worüber  sogleich),  die 
Pythagoreer  legten  diesem  Raumpunct,  aus  dem  ja  die  ausgedehn- 
ten Körper  hervorgehen  sollten,  räumliche  Ausdehnung  bei,  so  bleibt 
doch  bestehen,  dass  er  die  pythagoreischen  Einheiten  als  Puncte 
fasste.  Des  weiteren  berichtet  uns  Aristoteles,  die  Pythagoreer  hät- 
ten die  Linie  durch  die  Zweizahl  definiert^),  was  sie  nur  darauf 


^)  So  bezeichnet  auch  Xenocrates,  der  an  die  Stelle  der  Puncte  die  un- 
teilbaren Linien  setzt,  alles  eben  wegen  seiner  Zusammensetzung  aus  solchen 
als  TioA/ß';  vgl.  Alexander  bei  Simplic.  phys.  I,  p.  138,  12. 

«)  Vgl.  Zeller  1^  375,  5. 

3)  a.  a.  0.  I,  S.  374  f. 

*j  metaph.  XIII  (>,  1080  b  19—20;  30—33;  XIII  8,  1083  b  14—17. 

5)  Gesch.  d.  Phil.  I*,  S.  405,  2. 

")  a.  a.  0.  [*,  S.  351  f. 

')  Ausser  den  S.  40  Anm.  3  angeführten  Stellen  vgl.  auch  phys.  V  3, 
227  a  27.    Zu  dieser  Stelle  bemerkt  ein  Scholion  des  cod.  Reg.  1853  bei  Bran- 

dis,  Schol.  :n  Arist.  401  a  4:  oi  nv&ayÖQdoi  rfjV  anyitijv  ?.f''/ovai  fiovdffa  d^eaiv  tyovaav. 

Doch  ist  das  Zeugnis  von  wenig  Gewicht,  da  bei  Simplicius,  der,  wie  der  wei- 
tere Verlauf  des  Scholions  nahelegt,  in  demselben  excerpiert  wird,  die  Bezie- 
hung auf  die  Pythagoreer  fehlt. 

®)  metaph.  VII  11,  1036  b  13.  Dass  die  Stelle  auf  die  Pythagoreer  geht, 
zeigt  Zeller  I*,  374,  2. 


Die  Pythagoreer.     Der  Körper  l)loi«s  mathematisch  gefasst.  43 

stützen  konnten,  dass  die  Linie  durch  zwei  Puncto  begrenzt  wird. 
Philolaus  ferner  erklärte  die  Vier  für  die  Zahl  des  Körpers,  und  Plalo 
scheint  für  die  Drei-  und  Vierzahl  die  Namen  „Zahl  der  Fläche,  Zahl 
des  Körpers"  schon  vorgefunden  zu  haben  ^).  Endlich  hat  Philolaus 
die  Verschiedenheit  der  von  ihm  aufgestellten  Elemente  auf  die 
verschiedenen  geometrischen  Formen  der  kleinsten  Elementarteil- 
chen zurückgeführt,  indem  er  die  kleinsten  Feuerteilchen  als  Te- 
traeder, die  Luftteilchen  als  Octaeder,  die  Wasserteilchen  als 
Icosaeder,  die  Erdteilchen  als  Würfel ;,  die  kleinsten  Teilchen  des 
fünften  Elementes  als  Dodecaeder  dachte  2) ,  also  auch  hier  die 
verschiedene  Zahl  der  die  Körper  begrenzenden  Flächen,  sowie 
der  diese  Flächen  begrenzenden  Linien  zur  Erklärung  heranzog. 

Eine  solche  Ableitung  konnte  nur  zum  mathematischen  Kör- 
per führen ;  für  die  Erklärung  der  physischen  Körper  mit  ihren 
sinnfälligen  Qualitäten  musste  sie  sich  als  unzureichend  erweisen. 
Ausdrücklich  erhebt  Aristoteles  den  Einwand  gegen  die  pythago- 
reische Theorie,  dass  sie  die  Leichtigkeit  und  Schwere  der  Körper, 
also  ihre  wichtigsten  physikalischen  Eigenschaften,  nicht  begreiflich 
mache.  ^).  Und  selbst  der  Begriff  des  mathematischen  Körpers, 
wenn  man  ihn  als  Begrenzung  der  unbeschränkten  Ausdehnung 
fasste,  war  noch  nicht  von  Schwierigkeiten  frei;  denn  nun  fragte 
es  sich,  wie  denn  die  Ausdehnung  sich  erzeuge.  Die  Linie  z.  B. 
soll  die  von  zwei  Puncten  begränzte  Längenausdehnung  sein.  Nun 
ist  das  Mittlere  zwischen  den  zwei  Puncten  im  Sinne  der  Pytha- 
goreer unbegrenzt,  d.  h.  ins  Unbegrenzte  teilbar  ^).  Die  Teilung 
aber  kann  nicht  in  das  Leere  hineinschneiden;  sie  setzt  einen 
Teilungspunct  voraus.  Da  diese  Teilung  bis  ins  Unendliche  fort- 
gesetzt werden  kann,  so  besteht  also,  scheint  es,  das  Unbegrenzte, 
welches  die  Pythagoreer  als  das  trennende  Leere  zwischen  zwei 
Puncten  dachten,  in  Wahrheit  aus  unendlich  vielen  Puncten.  Hat 
nun  keiner  dieser  Puncte  Grösse,  so  können  sie  auch  alle  zu- 
sammen keine  Grösse  haben.  Das  Unbegrenzte  wäre  mithin  in 
Wahrheit  unausgedehnt  und  es  gäbe  sonach  auch  keine  ausgedehnte 
Linie  mehr.  Soll  aber  eine  ausgedehnte  Linie  existieren,  so  muss, 

1)  Vgl.  Zeller  I*,  374  f. 

')  Philol.  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  10.  Hinsichtlich  des  fünften  Elements  (wo 
übrigens  C.  Wachsmuth's  Gonjectur  o^xdva  für  öXxäs  zu  beachten)  vgl.  Zeller 
1"   377,  4. 

^)  metapb.  I  8.  990  a  1!2— 18;  de  caelo  lll  1,  300  a  17—19.  Vgl.  auch 
metaph.  XIV  5,  109i2  b  15—16.  —  *)  Vgl.  S.  40  Anni.  2. 


44  Erster  Abschnitt,.    Vorsocratiker. 

scheint  es,  schon  der  Punct  Grösse  besitzen,  und  in  der  That  fan- 
den wir,  dass  Aristoteles  aus  der  pythagoreischen  Lehre  diese 
Folgerung  zog ').  »So  verwickeln  sich  also  die  Pythagoreer  bei 
der  Art,  wie  sie  das  Ausgedehnte  als  ein  Vieles  fassen,  überall 
in  Schwierigkeiten.  Hier  ist  der  Punct,  an  dem  wir  die  Kritik 
der  Eleaten,   speciell    die  Zeno's,  einsetzen  sehen  werden. 

Den  zuerst  erwähnten  Mangel  haben  die  Pythagoreer  aller- 
dings zu  heben  gesucht.  Aber  wenn  Philolaus  z.  B.  die  sinnfäl- 
lige Qualität,  speciell  die  Farbe ,  durch  die  Fünfzahl  zu  erklären 
sucht,  so  ist  das  gerade  so  äusserlich,  wie  wenn  andere  für  die 
Sonne,  weil  sie,  vom  Fixsternhimmel  aus  gezählt,  die  siebente 
Stelle  einnimmt,  die  Siebenzahl  als  Dennition  einführen.  Derglei- 
chen Erklärungen  können,  obschon  sie  in  unserer  Überlieferung 
über  die  Pythagoreer  allerdings  einen  verhältnismässig  breiten 
Raum  einnehmen,  doch  nur  als  willkürliche  Spielereien  betrachtet 
werden,  welche  geeignet  sind,  den  eigentlichen  Sinn  jener 
Lehre  zu  verdecken.  Ob  wir  den  scharfsinnigen  Versuch  des  pla- 
tonischen Timaeus,  physikalische  Eigenschaften  der  Körper  auf 
die  geometrische  Form  der  kleinsten  Elementarteilchen  zurück- 
zuführen, z.  B.  die  leichte  Beweglichkeit  des  Feuers  auf  die 
spitzige  Tetraederform  seiner  Teilchen,  die  Stabilität  der  Erde  auf 
die  feste  Lage  der  Würfel,  aus  denen  sie  besteht 2),  schon  dem 
Philolaus,  dem  ersten  nachweisbarenVertreter  jener  geometrischen 
Elementenlehre;  zuschreiben  dürfen,  ist  sehr  fraglich.  Altpy- 
thagoreisch ist,  wie  schon  oben  bemerkt  wurde ,  diese  Elemen- 
tenlehre in  keinem  Falle. 

Das  Gharacteristische  in  der  Auffassung  der  Pythagoreer  von 
dem  materiellen  Urgrund  der  Dinge  ist  somit  gegeben  durch 
zwei  Momente. 

Zunächst  durch  ihren  Dualismus  von  Unbegrenztem  und 
Begrenzendem.  War  den  älteren  loniern  monistisch  der  Stoff  als 
solcher  zugleich  Grund  der  Lebensentfaltung  zum  und  im  Kosmos, 
so  verlangt  der  Pythagoreismus  ein  besonderes  Princip  der  Ord- 
nung und  Begrenzung  des  an  sich  Unbegrenzten.  Erst  durch 
das  Zusammenwirken  beider  entsteht  die  Harmonie  des  Univer- 
sums, der  Kosmos,  mit  welchem  Worte  die  Pythagoreer  zuerst, 
wie  die  Ordnung  der   Welt,    so    die  Welt  selbst,  bezeichneten  3). 

1)  S.  42  Anm.  4.  —  ')  Plat.  Tim.  55D  — 56B. 

»)  Plut.  plac.  II  1,   1.    Stob.  ecl.  I,  p.  450;  cf.  Diels,  Doxographi  p.  327. 


Die  Pythagoreer.    Historische  Bedeutung  ihrer  Körperlehre.  45 

iSo  ist  durch  sie  der  Dualismus  von  unbestimmter  Materie  und 
bestimmender  Form  zuerst  angeregt  worden.  Von  Plato  wird 
derselbe  wesentlich  in  der  pythagoreischen  Fassung  aufgenommen, 
von  Aristoteles  zwar  umgestaltet,  aber  in  seinen  Grundzügen 
gleichwohl  festgehalten. 

Zugleich   aber  liegt  bei   den    Pythagoreern    ein   bedeutsamer 
Keim    jener   noumena listischen    Weltanschauung,   jenes  Be- 
griff srealismus,  welcher  im  Altertum  das  Gegenstück  zum  mo- 
dernen Idealismus  bildet ').  Eine  klare  Erfassung  dieses  Standpunctes 
zwar  kann  bei  ihnen  noch  nicht  erwartet  werden.  Denn  weder  unter- 
scheiden sie  bestimmt  ein  Geistiges  und  ein  Körperliches,  so  dass 
sie   der  überwiegenden   Bedeutung  des    ersteren   gegenüber   dem 
letzteren  die  wahre  Realität  hätten  absprechen  können,  noch  hal- 
ten sie  Sinnes-  und  Vernunfterkenntnis  auseinander,  so  dass  sie  in 
der  letzteren  im  Gegensatz  zur  ersteren   die  allein   in  das   wahre 
Sein  der  Dinge  eindringende  Erkenntnisweise,  in  ihrem  Object  das 
allein  wahrhaft  Seiende  zu  erblicken  vermocht  hätten.  Niemals  haben 
sie  auch  die  Realität  der  Welt  der  Sinne  zu  Gunsten  einer  Welt  des 
Gedankens  in  Abrede  gestellt.     Die   physikalischen  Eigenschaften 
der  Körper,  die  nicht  in  klare  und  deutliche  Begriffe  zu  fassenden 
Sinnesqualitäten,  werden  keineswegs   für  Täuschung  und   Sinnes- 
trug erklärt,  wie  denn  die  Lehre  der  Pythagoreer  in  keiner  Weise 
irgend    einer  Nuancierung  des  modernen  subjectiven   Idealismus 
verglichen  werden  kann.  Aber  das  Hauptinteresse  der  Forschung 
fällt  auf  die  abstracten  Bestimmungen,  auf  das,   was  durch  ma- 
thematisches Denken  ableitbar  ist.  Nicht  das  empirisch  Gegebene, 
sondern  das  rationell  zu  Begründende  bildet  für  sie  die  Richtschnur 
der  Forschung.   Die  Pythagoreer  unternehmen  es,  das  Sein  der  Welt 
nicht  aus  irgend  einem  sinnfälligen,    qualitativ  bestimmten  Stoffe 
und  aus  den  stofflichen  Veränderungen  desselben^  sondern  aus  dem 
mathematischen  Zahlbegriffe  in  seiner  Anwendung  auf  die  Anschau- 
ungsform der  Ausdehnung  zu  erklären,  und  so  legen  sie  ohne  eine 
deutliche  Einsicht  in  den  Unterschied  von   vernünftigem    Denken 
und  sinnlicher  Erkenntnis  gleichwohl  das  Wesentliche  der  körper- 
lichen   Welt    in    diejenigen   Bestimmungen,    welche    thatsächlich 
durch   das    abstracte   Denken    erfasst   werden.     Langsam  freilich 
erst  und  allmählich    haben    sich  bei  ihnen  diese  mathematischen 

1)  S.  S.  3  ff. 


4€  Erster  Abschnitt.    VorsokraUter. 

Anschauungen  von  der  sinnlichen  VorsteHung  losgelöst.  Der 
Gedanke  der  unbegrenzten  Ausdehnung  verquickt  sich  anfangs 
noch  ganz  materialistisch  mit  der  Vorstellung  eines  unendlichen 
Hauches.  Aber  bei  Philolaus  ist  diese  sinnlich  concrete  Vor- 
stellung völlig  einer  abstracten  Betrachtungsweise  gewichen  i).  So 
weit  hat  sich  zu  seiner  Zeit  die  pythagoreische  Lehre  von  dem 
ursprünglichen  Materialismus  entfernt,  dass  sie  als  unmittelbare  Vor- 
läuferin der  Lehre  Plato's  betrachtet  werden  kann,  der  das  wahre 
Sein  der  Dinge  in  dem  nur  durch  das  Denken  zu  erfassenden  Ideen- 
reiche sucht  und  die  Grundlage  der  sinnfälligen  Welt  auf  den 
Raum,  d.  h.  auf  die  blosse  Ausdehnung,  zurückführt. 

3.  Die  Eleaten. 

Das  Herauswachsen  der  Naturanschauung  aus  der  concret 
sinnlichen  Vorstellung  zu  der  mehr  allgemein  begrifflichen,  ab- 
stracten Fassung,  welches  die  Entwickelung  der  ionischen  Schule 
von  Thaies  bis  Heraclit  charakterisiert  und  von  dem  sich  Spuren 
selbst  innerhalb  der  im  allgemeinen  so  fest  geschlossenen  pytha- 
goreischen Schule  nachweisen  liessen,  tritt  uns  am  schärfsten  in 
der  Schule  der  Eleaten  entgegen. 

Zwei  Puncte  sind  es  vor  allem,  in  av eichen  die  alten  Bericht- 
erstatter das  Wesentliche  des  Eleatischen  Systems  erblicken.  Zu- 
nächst die  Einheit  des  Seienden,  wie  sie  in  der  Formel:  tV  td 
näiiu,  oder  synonymen,  ausgedrückt  wird;  dann  die  Lehre  von 
der  Unbeweglichkeit  und  Unveränderlichkeit  des  Seienden,  im 
Hinblick  auf  welche  Plato^)  die  Eleaten,  im  Gegensatz  zu  den 
„fliessenden"  Heracliteern,  den  Qs'ovTsg,  als  die  „Feststeller  des 
Alls",  Ol  Tov  olov  öraöiwxai^  characterisiert.  Beide  Puncte  sind 
auch  für  das  Problem  der  Materie  von  hoher  Bedeutung.  Wenn 
die  Eleaten  alles  Seiende  für  eines  erklären,  wenn  sie  diesem  ei- 
nen Seienden  ferner  Unbeweglichkeit  und  Unveränderlichkeit  bei- 
legen, so  können  sie,  scheint  es,  die  veränderhche  Welt  der  Kör- 
per nur  als  Vorstellung  in  dem  Einen  betrachtet  haben. 

Die  Lehre  von  der  Unbeweglichkeit  und  Unveränderlich- 
keit des  Seienden  nun  ist  dem  Stifter  der  Schule,  Xe- 
nophanes^)    aus   Golophon,   freilich    noch   fremd.      Zwar    be- 

*)  Vgl.  Tannery  in  der  Revue  philosophique,  XX  (1885)  S.  389. 

«)  Theaet.  181  a. 

')  Ich   citiere   die  Bruchstöcke    des  Xenophanes    nach  der  Ausga))e  von 


Die  Eleaten.    Xenophanes.  47 

hauptet  er  von  der  Gottheit^  wie  Parrnenides  und  Melissus 
von  dem  Seienden,  dass  sie  unbewegt  an  derselben  Stelle 
bleibe  und  dass  es  ihr  nicht  zieme,  bald  hierhin  bald  dorthin  zu  wan- 
dern (Fr.  4)  ^) ;  aber  unbefangen  redet  er  davon,  dass  der  Gott  durch 
die  Kraft  seines  Denkens  alles  erschüttere  (Fr.  3),  und  ebenso 
eignet  er  sich  ohne  Bedenken  die  Vorstellungen  eines  Werdens 
und  Vergehens  an  (Fr.  8.  9.  10).    Wohl    aber  nennt  ihn  Aristo- 


Karsten  (Philosophorum  Giaecorum  veterum  praesertim  qui  ante  Platonem 
floruerunt  operum  reliquiae.  Vol.  I.  Pars  1 :  Xenophanis  Colophonii  carm. 
leliqu.  Bruxellis  1830),  mit  welcher  die  Zahlen  bei  Mullach  (Fragm.  philos. 
Graec.  I)  genau  übereinstimmen. 

^)  Xenophanes  bei  Simplicius  in  phys.  I  p.  23,  11: 

aitl  d'  iv  javTu)   (u/tvft   xirovuf i>ov  (1.  xivovfxevog)  ovdi'r, 
ovife  fiiTf'Q)rfa^ai  juiv  ininQinfi  aXXore  ak^ji. 

Von  den  Handschriften  des  Simplicius  lesen  zwar  D  E  im  ersten  Verse  ximriitvor, 
wozu  nur  rd  ov  als  Subject  gedacht  werden  könnte,  so  dass  die  Lehre  des  Xe- 
nophanes der  des  Parnienides  ziemlich  genähert  würde;  die  Handschrift  F  aber 
und  die  kostbaren  Blätter  von  E,  welche  die  Seiten  20,1— 30, 16  und  35,  .30 
—44,19  noch  einmal  nach  einer  ausgezeichneten  alten  Handschrift  geben  (E»; 
vgl.  Diels  in  der  Vorrede  zu  seiner  Ausgabe  des  Simplicius  S.  VII),  bieten 
y.ivoL\ufvog,  für  welches  nur  »tag  Subject  l)ilden  kann.  In  Übei'einstimmung 
damit  lesen  dieselben  Handschriften,  hier  auch  von  der  Aldinischen  Ausgabe 
unterstützt,  in  der  Erklärung  dieses  Verses  Z.  13:  oi'  yard  Tt]v  r,Qtuiav  Tqv  dvti- 
y.fi/iieviiV  iji  yiv)',an  /.iivtiv  avtö  ifr,atv  statt  des  Neutrums  avTÖ  das  Masculinum 
a^-ro'f.  Da  nun  in  der  voraixfgehenden ,  der  pseudo- aristotelischen  Schrift  de 
Melisso  entnommenen  Erörterung  von  S.  22.  33  an  überall  im  Anschluss  an 
das  Subject  n)  üv  das  Neutrum  steht,  so  begreift  sich  leicht,  wie  ein  Abschrei- 
ber durch  Veränderung  des  Masculinums  in  das  Neutrum  Gleichheit  mit  dem 
Voranstehenden  herstellen  wollte,  während  man  nicht  einsieht,  wie  aus  einem 
vorliegenden  Neutrum  an  beiden  Stellen  das  Masculinum  hätte  entstehen  sollen. 
Der  Wechsel  im  Gebrauch  des  Masculinums  und  Neutrums  bei  Simplicius  aber 
wird  dadurch  gerechtfertigt,  dass  der  in  Frage  stehende  Abschnitt  S.  23,  9  ff. 
nicht,  wie  das  Voraufgehende,  der  pseudo-aristotelischen  Schrift  de  Xenophane 
entnommen  ist,  sondern  auf  Theophrast  zurückführt,  aus  dem  schon  S.  22, 
26 — 31  einiges  entnommen  war  (vgl.  Diels,  Doxographi  S.  112.  Doch  stellt 
J.  Freudenthal,  Über  die  Theologie  des  Xenophanes.  Breslau  1886.  S.  45 
Anm.  26  in  Abrede,  dass  auch  die  Worte  Z.  31 — .33:  öv  ira.  . .  &t6>;  dem  Theo- 
phrast entstammen). 

Die  Polemik,  welche  in  dem  zweiten  der  obigen  Verse  enthalten  ist.  rich- 
tet sich  jedenfalls  gegen  die  anthropomorphistischen  Vorstellungen  der  Dichter, 
speciell  des  Homer,  welcher  z.  B.  den  Poseidon  sich  aus  dem  Olymp  entfernen 
und  zu  den  Aethiopen  wandern  lässt,  um  dort  eine  Hekatombe  von  Bindern 
und  Widdern  entgegen  zu  nehmen:     Odyss.  I,  22  ft'. 


4S  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

teles  den  Ersten,  welcher  alles  zu  einer  Einheit  zusammengezogen 
habe.  Auf  das  All  hinblickend,  habe  Xenophanes  das  Eine  als 
Gott  bezeichnet ').  Wesentlich  das  Gleiche ,  wie  man  aus  Sim- 
plicius  erfährt,  berichtete  im  Anschluss  an  Aristoteles  dessen 
Schüler  Theophrast*).  Etwas  ausführlicher  lässt  der  Sillograph 
Timon  den  Xenophanes  denselben  Gedanken  folgender  Maassen 
aussprechen:  „Wohin  auch  immer  ich  meinen  Geist  hinwendete:  in 
eins  und  dasselbe  löste  sich  alles  auf;  jegliches  Seiende  trat  zurück- 
weichend stets  und  überall  zu  einer  einzigen  Natur  zusammen"  ^). 
Wenn  nun  Xenophanes  nach  dem  angeführten  Zeugnisse 
dieses  Weltall  der  Gottheit  gleichsetzte,  so  dürfen  wir  daraus  nicht 
etwa  folgern,  dass  er  jenem  den  körperlichen  Character  abge- 
sprochen habe.  Der  Standpunct  der  älteren  ionischen  Natur- 
philosophie,  welche  dem  Stoffe  zugleich  geistige  Eigenschaften 
beilegte,  ist  auch  bei  ihm  noch  nicht  überwunden.  Der  Geist  ist 
ihm  zugleich  raumfüllendes  Wesen.  Darauf  deutet,  wie  Freuden- 
thaH)  mit  Recht  hervorhebt,  schon  hin,  wenn  Xenophanes  in 
einem  noch  erhaltenen  Bruchstücke  (Fr.  2)  vom  Gott  sagt, 
dass  er  ganz  {ovÄag)  sehe,  ganz  denke,  ganz  höre,  oder  wenn 
Timon  den  Xenophanes  die  Gottheit  als  etwas  nach  allen  Seiten 
hin  Gleichartiges  hov  dndvTf]^)  bezeichnen  lässt.  Man  könnte 
ferner  die  auf  Theophrast  zurückgehende  Nachricht  anführen, 
dass  Xenophanes  das  Princip  der  Dinge,  gleich  seinem    Nachfol- 


^)  Aristot.  metaph.  I  5,  986  b  21:  Sevoifäv^s  <U  nQuitos  rovtwv  iviaas  {6  yä(i 
naQfxtvi(fr]i  TOVTOc  XeytTai  yevsa&ai  fia&ijrijs)  ovdiv  dieaaftjviatv,  oväe  TrjS  (pvatoos 
xovTwv  oväereqai  t'oixe  ■d'i'/eTv,  «AA*  ttg  tov  oKov  ovgavov  aTtoßXs'ipae  t6  ev  tivai  ifrjai 
rot'  &e6v.  Unter  dem  olo?  or^avöc  ist  natürlich  nicht  der  ganze  Himmel  zu  ver- 
stehen, sondern  die  ganze  Welt.  So  erklärt  schon  Asclepius  (Brandis,  Schol. 
in  Arist.  544  a  44  f.):  iis  t6v  ö?.op  ovpavdv  «noßUxpag,  xovreati  jov  xöafxov  (andere 
Gründe  bei  Freudenthal  a.  a.  0.  S.  21). 

*)  Simplic.  in  phys.  p.  22,  26—31  (Diels,   Doxogr.  480,  4—8):    /imv  Ji  ji,v 

doyrjV    ijioi    tv    tö    ov    xai  näv    xai  ovxe  neneQaanivov  ovtt  antiqov  ovre  xivov/uevor 
ovfi   ■ngffi.ovv   Stvo(fdvi]v  Tov  Ko?.o(f,fuviov   tov    üaQ/^evidov    (fiddaxakov     vnoTt&ta&ai 

wTjaiv  6  @t6ifQaaxog ro  yd.Q  (v  tovto  xal  nav  tov  -d^tov  eXtyev  6  Stvo(pdviqs. 

8)  Timon  bei  Sextus  Empiricus,  Pyrrh.  hypotyp.  1,  224: 
.  .  .  önnji  ydp  i/jop  vöov  tl^vaai/j./, 
eig  ev  ravxö  xt  nSv  dvtf.vtxo'  ndv  6"  tov  atei 
Tidvxji  dvt/.xöijitvov  j-Liav  tig  ifcatv  l'dxttif-^  ofjtolav. 

*)  a.  a.  O.  S.  24. 

")  Sext.  Emp.  Pyrrli.  hyp.  I,  224. 


Xenophfinei^.    Keine  Negntinn  des  Köi'peilicheii.  49 

ger  Parmenides,  als  begrenzt ')  und  kugelförmig  ^)  gedacht,  wenn 
dem  ersteren  nicht  die  Angabe  des  Aristoteles  entgegenstände, 
Xenophanes  habe  sich  überhaupt  nicht  darüber  geäussert,  ob  er 
das  Eine  als  begrenzt  oder  als  unbegrenzt  gedacht  wissen  wolle »), 
woraus  sich  dann  ergiebt,  dass  er  es  wenigstens  mit  ausdrück- 
lichen Worten  auch  nicht  als  Kugel  bezeichnet  haben  kann.  Es 
dürfte  hier  vielmehr  eine  Anticipation  parmenideischer  Lehren 
vorliegen,  die  ebenso  imhistorisch  ist,  wie  wenn  spätere  Bericht- 
erstatter dem  Xenophanes  die  Ansicht  beilegen,  es  gebe  kein 
Nichtseiendes  und  darum  kein  Werden  aus  dem  Nichtseienden, 
wie  überhaupt  kein  Werden  und  Vergehen*).  Gleichwohl  kann 
es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  Xenophanes  das  Weltgebäude 
als  etwas  Stoffliches  auffasste.  Darauf  weisen  auch  die  wenigen 
sichern  Einzelbestimmungen  ^  welche  aus  seiner  Kosmologie  uns 
überliefert  sind  ^). 


')  Siuipüc.  in  phys.  p.  :23,  !(>.  Hippolyt.  lefut.  I  14,  '2.  Galen,  liist.  phil. 
c.  7.  p.  234  K.   Theodoret.  gr.  affect.  cur    IV  5    Vgl.  Diels,  Doxogr.  p.  112  u.  481. 

•-'/  Simplic.  in  phys.  p.  23,  16.  Diog.  Laert.  IX  19.  Hippolyt.  refut.  I  14,' 2. 
Theodoret.  gr.  äff.  cur.  IV  .5.  "Sext.  Pyrrh.  hyp.  T  225;  III 218.  Gic.  Acad.  II,  37, 118. 

')  Metaph.  I  .5,  986  b  23  (citiert  S.  48  Anm.  1).  Dass  hier  nicht  bloss  ge- 
sagt werden  soll,  Xenophanes  habe  sich  nicht  darüber  erklärt,  ob  er  das  Eine 
als  formales  oder  materiales  Princip  gedacht  wissen  wolle,  sondern  dass  ihm 
auch  eine  Bestimmung  über  Begrenztheit  oder  Unbegrenztheit  desselben  abge- 
sprochen wird,  zeigt  Zeller  P,  478,  1  (gegen  Kern).  Anlass  zu  dieser  Bemerkung 
gab  dem  Aristoteles  vielleicht  Fr.  12  des  Xenophanes.  wo  es  heisst,  die  Grenze 
der  Erde  nach  oben  hin  sähen'  wir  vor  unsern  Füssen,  wo  sie  an  die  Luft  an- 
stosse,  nach  unten  hin  aber  erstrecke  sie  sich  ins  Unbegrenzte.  Denn  ob  nun 
auch  die  Luft,  und  damit  das  ganze  Weltall,  ins  Unbegrenzte  sich  erstrecke, 
ist  in  diesem  Fragment  völlig  unentschieden  gelassen  {ovdfv  (htaaifijnaiv,  Arist. 
1.  c.)  Vgl.  übi-igens  Empedocles  v.  199—201  Karst,  und  Zeller  l* ,  494  f.,  sowie 
besonders  Freudenthal  a.  a.  0.  S.  42  ff. 

*)  Ps.-Plut.  stromat.  bei  Euseh.  praep.  evang.  I  7  (Diels,  Doxogr.  |). 
Ö8Ü,  7—10). 

^)  Dahin  gehören  die  Behauptungen,  alles  —  d.  h-  alles  Organische  (vgl. 
Zeller  P,  497)  —  entstehe  aus  der  Erde  (Fr.  8),  resp.  aus  Erde  und  Was.ser  (Fr. 
9.  10),  und  kehre  wieder  darein  zurück;  die  Erde  sei,  wie  die  mitten  im  Lande, 
selbst  oben  auf  den  Bergen  gefundenen  Versteinerungen  von  Schaltieren  u.s.  w. 
bewiesen,  ursprünglich  in  einem  schlammförmigen  Zustande  gewesen  und  werde 
durch  Wasser  wieder  in  Schlamm  verwandelt  werden  (Hippolyt.  refut.  I  14,  5), 
u.  dgl. 

Mit  Unrecht  ist  Fr.  8:  ix  yair,s  yuQ  nnvia  xal  lU  yT^v  niivTtt  Tf/.fvjii 
(so    Sextus    adv.    malh.    X   313.     Theodoret.   gr.    äff.    cur.   IV    5   bietet:    *V 

üafMiiiiker:  Das  Problem  (ler  Materie  rtc  4 


TiO  Krster  Abschnitt.    Vorsdcratike.r. 

Den  Höhepunkt  der  Eleatischen  Specnlation  bezeichnet  Par- 
nionicles').  Indem  er,  ein  metaphysisches  Talent  ersten  Ranges, 
mit  eindringender  Consequenz  den  Begriff  des  Seienden  zum 
Angelpuncte  seiner  Forschung  macht,  hat  er  seinen  Nachfolgern 
das  Problem  aufgenötigt,  welches  noch  in  der  spätesten  Zeit  der 
griechischen  Speculation  den  Mitlelpunct  des  Denkens  bildet,  das 
Problem :   was  ist  das  wahrhaft  Seiende  ? 

So  bedeutsam  indessen  die  Lehre  des  Parmenides  vom  Sei- 
enden in  sachlicher  wie  in  historischer  Hinsicht  sich  erweist,  so 
scheint  dieselbe  gleichwohl  zu  dem  Problem  der  Materie  in  kei- 
ner unmittelbaren  Beziehung  zu  stehen.  Zwar  dass  Parmenides, 
wie  die  älteste  griechische  Philosophie  überhaupt,  noch  nicht  zwi- 
schen körperlichem  und  geistigem  Sein  unterscheidet,  will  wenig 
bedeuten.     Denn  das  von  ihm  gelehrte^,  nur  im  Denken  zu  erfas- 


7VS  yi'O  räö's  7iavTa  y.al  t.  y.  n,  r.,  und  SO  sollte  man  aucli  bei  Stob.  ed.  I,  p.  ;294 
schreiben,  wo  ex  '/iji  '/uq  rd  jiurta  überliefert  ist,  mag  auch  die  originale  Form 
des  Verses  immerhin  von  Sextus  geboten  werden  von  Meiners,  Heeren,  Kar- 
sten, Mullach  u.  u.  verdächtigt.  Denn  wenn,  worauf  z.  B.  Karsten  p.  45  Ge- 
wicht legt,  Sextus  adv.  math.  X  31o  sagt,  xai'  ev/ovs  lasse  Xenophanes  alles  aus 
Erde  entstehen  und  dann  unseren  V^ers  anlührt,  so  heisst  es  unmittelbar  dar- 
auf gerade  so  bei  ihm,  xar'  svioi-i  folge  Xenophanes  dem  Homer,  der  Erde  und 
Wasser  zu  den  Ursprüngen  von  allem  mache,  worauf  dann  zum  Belege  Fr.  9 
herangezogen  wird  (vgl.  die  ganz  ähnliche  Ausdrucksweise  adv.  math.  VJI  49). 
Eine  Verschiedenheit  bestand  also  nicht  hinsichtlich  der  Frage,  ob  die  Worte 
t'x  yairii  xtL  von  Xenophanes  herrührten  oder  nicht;  die  Ansichten  gingen  viel- 
mehr nur  hinsiciitlich  der  Frage  auseinander,  was  die  eigentliche  Meinung  des 
Xenophanes  über  das  Piincip  der  Weltbildung  sei,  wobei  eine  jede  der  Parteien 
sich  auf  einen  Ausspruch  desselben  berief.  Dass  in  Wirklichkeit  indes- 
sen beide  Aussprüche  mit  einander  sehr  wohl  vereinbar  sind,  zeigt  das  oben 
aus  Hippolyt  Angeführte.  —  Wenn  endlich  Karsten  zum  Beweise  dafür,  dass 
erst  ein  Späterer,  welcher  die  Meinungen  der  alten  Philosophen  in  bestimmte 
Formeln  bringen  wollte,  den  angeblichen  xenophaneischen  Vei's  geschmiedet 
habe,  sich  aut  den  ganz  analogen,  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  !28i2  dem  Heraclit  beigeleg- 
ten Pseudo-Vers:  ex  nv^os  '/"('  '^^  ««n«  xai  eis  nv(/  nävTu  7 fA< er«  beruft,  SO  han- 
delt es  sicii  dort  nachweisbar  um  einen  jirosaischcn  Beiicht  des  Doxographen 
Aetius  (^vgi.  Plut.  plac.  I  3.  Diels,  Doxogr.  i2S4  a  1),  aus  dem  ein  Sätzchen  von 
Stobaeus  irrtümlich  für  einen  Hexameter  gehalten  wurde  (Diels,  Doxogr. p.  222), 
während  für  den  xenophaneischen  Vers  die  Annahme  einer  solchen  Entste- 
llung in  der  Überlieferung  keinerlei  Anhalt  findet. 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz:  „Die  Einheit  des  parmenideischen  Seienden'',  in: 
Neue  Jahrb.  f.  Philol.  u.  Päd.  Bd.  133  (188G),  S.  541— ,ÖG1.  Einzelne  Modiüca- 
lionen  desselben  wird  die  folgende  Darstellung  ergeben. 


l^Tvmenides.     Seine  Beziehung  zum  Problem  (ier  Materie.  51 

sende  Sein  ist  in  Wahrheit  kein  anderes,  als  eben  dasjenige  Sein, 
von  dem  die  Sinne  uns  ein  trügerisches  Bild  bieten.  In  sofern  würden 
also  gerade  alle  diejenigen  Bestimmungen,  durch  welche  er  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  Seienden  überhaupt  auszudrücken  glaubt,  in  den 
Rahmen  unserer  Untersuchung  fallen,  welche  einer  Geschichte  der 
Vorstellungen  vom  Hruncie  des  körperlichen,  sinnfälligen  Seienden 
gewidmet  ist.  Allein  jenem  Seienden  legt  Parmenides  volle  Un- 
veränderlichkeit  bei.  Alle  Veränderung  ist  nach  ihm  blosser  Sin- 
nenschein. Nun  bestimmten  wir  aber  den  antiken  Begriff  der 
Materie  dahin,  dass  sie  sei  das  Substrat  des  Wechsels  in  der 
Körperwelt  (S.  5).  Für  Parmenides  giebt  es  also  überhaupt  keine 
Materie  im  antiken  Sinne  mehr. 

Dennoch  können  wir  von  einer  Erörterung  der  parmen idei- 
schen Lehre  vom  Seienden,  sowie  der  Weiterführung  dieser  Lehre 
durch  Melissus  und  Zeno,  nicht  absehen.  Zunächst  schliesst  sich, 
wie  bereits  oben  (S.  46)  hervorgehoben  wurde,  an  bestimmte 
Sätze  dieser  Männer  der  Zweifel  an,  ob  dieselben  überhaupt  eine 
Körperwelt  ausserhalb  des  Gedankens  gelten  lassen.  Wäre  der 
Zweifel  berechtigt,  so  würde  sich  die  Frage  erheben,  ob  nicht  jene 
erkenntnistheoretischen  Bedenken  hinsichtlich  des  Begriffs  der 
Materie,  die  wir  in  der  Einleitung  ( S.  3  ff.)  dem  Altertum  abspra- 
chen, wenigstens  diesen  Eleaten  schon  aufgestiegen  seien.  Noch 
wichtiger  aber  ist  der  folgende  Grund.  Gerade  in  den  Sätzen 
der  Eleaten  von  der  Ewigkeit  und  Unveränderlichkeit  des  Seien- 
den liegen  die  historischen  Vorbedingungen  für  die  Theorie 
der  Materie,  welche  die  jüngeren  Naturphilosophen  aufstellen. 
Was  die  Eleaten  vom  Seienden  lehrten ,  das  übertrugen  jene  auf 
das  bleibende  Substrat  der  Veränderungen,  d.  h.  auf  die  Materie. 
In  der  Lehre  des  Parmenides  vom  Seienden  liegen  die  Wurzeln 
der  Theorie  der  Materie  bei  Empedocles  und  Anaxagoras,  wie 
bei  den  Atomikern.  Natürlich  gilt  dieses  von  dem  ersten  Teile 
des  parmenideischen  Gedichtes ,  in  welchem  er  seine  eigene  An- 
sicht entwickelt,  nicht  von  dem  zweiten ,  in  Avelchem  er  die  her- 
kömmlichen kosmologischen  Anschauungen  ausbaut,  um  sie  zu 
kritisieren.  Auf  den  ersteren  werden  wir  uns  darum  beschränken  '). 


\)  Ich  gebe  die  C.itate  nach  Karsten.  Giaec.  phil.  rel.  II)  (dessen  Zahlen 
von  V.  5!2  an  hinter  den  Mullach'i^chen  um  eins  zurückbleiben)  und  Stein  (in: 
Symbola  jihii.  Bonnens.  in  hon.  Ritschelii    coli.    S.  7tö— S06i.   mit   stillscliwei- 

4  * 


55  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Das  System  des  Pamienides  entwickelt  sicli  im  schroffsten 
Gegensätze  zu  den  ge\v(jhnlichen  Meinungen  vom  Sein  und 
Werden  der  Dinge.  Es  scheint  seine  Spitzen  gleichmässig  gegen 
die  pythagoreische  und  ioru"sche  Schule,  wie  gegen  die  Vor- 
stellungen der  unphilosophischen  Menge  und  ihrer  poetischen 
Vertreter  zu  richten.  Dieser  polemische  Gharacter  ist  der  ele- 
aüschen  Schule  von  anfang  an  eigen').  Bei  Xenophanes  ist  die 
Kritik  eine  vorwiegend  theologische,  die  gegen  die  unwürdigen  Vor- 
stellungen namentlich  der  Dichter  von  der  Gottheit  gerichtet  ist  2). 
Parmenides  unterwirft  die  Grundlagen  der  bisherigen  Naturerklärung 
einer  einschneidenden  Kritik,  um  vom  Standpuncte  der  Vernunft- 
erkenntnis aus  zu  einer  völlig  neuen  Weltanschauung  zu  gelangen. 
In  den  wegen  ihrer  eindringenden  Geistesschärfe  bewunderungswür- 
digen Argumenten  Zeno's  erreicht  diese  Polemik  ihre  vollste  Aus- 
bildung, freilich  auch  zur  Eristik  und  Sophistik  überführend. 

Einen  doppelten  Weg  der  Forschung  unterscheidet  Parme- 
nides, den  Weg  der  überzeugenden  Wahrheit  und  den  der  trü- 
gerischen Meinung  ^).  Z.ur  Wahrheit  leitet  allein  die  Vernunfter- 
kenritnis  (köyoc);  der  Sinn  dagegen,  Auge,  Ohr  und  Zunge,  stürzt 
in  Trug*).  Es  ist  derselbe  rationalistische  Kanon,  den  der 
Platonische  Phaedo  •'^)  aufstellt:  man  solle  sich  nicht  dadurch  in 
Blindheit  stürzen ,  dass  man  sich  bloss  mit  dem  Auge  und  den 
übrigen  Sinnen  an  die  Dinge  {ngäyfiaia)  heranmache,  sondern 
man  solle  viehnehr  mit  Hülfe  der  Vernunftschlüsse  {dg  rovg  Xöyovg 
xaiaifvyövTa)  die  Wahrheit  des  Seienden  suchen. 

Die  Untersuchung  durch  die  Vernunft  führt  zu  einem  ganz 
anderen  Weltbilde,  als  die  Sinne  es  bieten.  Es  ist  in  seiner 
Tendenz  durchaus  noumenalistisch  und  nähert  sich  einer  Hypo- 
stasierung  des  allgemeinsten  Begriffes ,  des  Begriffes  des  Seins. 
Gerade  bei  Parmenides  ist  es  hergebracht^  diesen  Noumenahs- 
mus    oder  Begriffsrealismus  als   Idealismus   zu   bezeichnen.     Wir 


gender  Einführung  derjenigen  Veränderungen,  welche  durch  Diels  Ausgabe  des 
Simplicius  an  die  Hand  gegeben  werden. 

')  Vgl.  H.  Diels,  Über  die  ältesten  Philosophenschulen  der  Griechen,  in 
der  Festschrift  zu  E.  Zeller's  uOjähr.  Doctorjubiläum,  Leipzig  1887,  S.  -M)  ff. 

■')  Vgl.  Diog.  Laert.  IX  18. 

=*)  V.  29—32.  33—38,  109—111.  K.  29—32.  43-48.  113—11'.  St. 

*)  V.  54—55  K.  34—35  St. 

»)  Plat.  Phaed.  99  E. 


Parmenides.     Sein  Noumenalismus.  53 

behielten  uns')  den  Namen  für  den  subjectiven  Idealismus 
vor,  der  das  Sein  zum  Gedanken  macht.  Dieser  aber  ist  dem 
Parmenides  fremd.  Denn  wenn  er  auch  sagt:  „Dasselbe  ist  Denken 
und  Sein"  2),  und  an  einer  andern  Stelle :  „Dasselbe  aber  ist  das 
Denken  und  das,  worauf  das  Denken  geht"  ^),  so  ist  an  diesen 
Stellen,  wenn  wir  genau  das  Einzelne  betrachten,  gar  nicht  be- 
hauptet, dass  das  Sein  Denken  sei,  sondern  vielmehi*  umgekehrt, 
dass  auch  das  Denken  ein  Sein  sei.  Beide  Stellen  richten  sich 
gegen  diejenigen,  welche  dem  von  Parmenides  negierten  Nicht- 
seienden  eine  Stätte  wenigstens  in  unserm  Vorstellen  einräumen 
möchten,  und  behaupten  nur  positiv,  was  der  Philosoph  anderswo 
negativ  ausdrückt,  dass  man  ohne  ein  Sein  als  Gegenstand  des 
Gedankens  nichts  denken  *),  dass  man  das  Nichtseiende  auch  nicht 
denken  könne ^).  Trotz  dieser  noumenalistischen  Tendenz  indessen 
gelingt  es  dem  Parmenides  nicht,  alle  der  sinnlichen  An- 
schauung entstammenden  Züge  aus  seinem  Weltbilde  zu  elimi- 
nieren. „Das  Seiende  des  Parmenides",  bemerkt  treffend 
Zeller *^)  „ist  kein  metaphysischer  Begriff  ohne  alle  sinnliche 
Beimischung,  sondern  ein  Begriff,  der  sich  zunächst  aus  der  An- 
schauung entwickelt  hat  und  die  Spuren  dieses  Ursprunges  noch 
deutlich  an  sich  trägt." 

Untersuchen  wir  im  Folgenden  die  Vorstellungen  des  Parme- 
nides von  der  Natur  des  Seienden  unter  dem  Gesichtspuncte 
einer  Scheidung  derjenigen  Elemente,  welche  thatsächlich  dem 
Vernunftschluss  entstammen^  von  denen,  welche  auf  sinnliche  An- 
schauung zurückgehen. 

Der  erste  und  wichtigste  Satz  jener  Vernunfterkenntnis,  den 
zu  wiederholen  Parmenides  nicht  müde  wird,  ist  der,  dass  es 
neben   dem  Seienden  kein  Nichtseiendes   giebt'').     Die    Wahrheit 


»)  S.  S.  4  f. 

')  V.  40  K.  50  St. :  t6  yäp  avro  votiv  iarcv  te  xal  eivai. 

^]   V.  93  K.  96  St.:  towiov  ö''  iatl  potlv  rt  xai  ovvexe'v  tati  vüij/ia. 

■*)  V.  94  K.  97  St.:  ov  yäp  avev  Tov  iüvjos,  fv  w  Tieifanaße'vov  iariv,  (vpijatis 
to  vofir.  Man  vgl.  damit  Plat.  rep.  476  E.  478  B;  Theaet.  188  D  ff.;  Soph.  237  E; 
Pai-m.  132  B.  142  A.  164  A. 

")  V.  39  K.  49  St.:    ovcf    yap    äv    yvolrji    to    ye    jitj    iöv    ov  '/«(/   ifixTÖv'  ovte 

s)  Phil.  d.  Gr.  \\  517. 

')  V.  35-38.  43—44.  .57.  63—64.  95-96.  p.  48,  1  K.  v.  45-48,  51  -  52.  63. 
69—70.  99-100.  60  St. 


54  Erster  Al)sclmitl.     Vorsocratiker. 

liegt  in  (lor  lOrivoniitiiis,  da.ss  nur  das  Seiende  ist;  nur  auf  Trug 
dagegen  l)eruht  und  zu  Trug  führt  hin  jene  Ansicht,  die  an- 
nimmt, neben  dem  Seienden  sei  ein  Niclitseiendes,  oder  gar,  wie 
jene  „Doppelköpfe",  die  Heracliteer  ')  meinen,  Sein  und  Nichtsein 
sei  dasselbe  und  aucli  nicht  dasselbe.  Der  Beweis,  welcher  für 
diese  Grundlage  des  parmenideischen  Systems  geliefert  wird,  ent- 
spricht ganz  dem  oben  angeführten  rationalistischen  Kanon:  das 
Nichtseiende  ist  nicht,  weil  es  nicht  denkbar  ist^);  alles,  was  ge- 
dacht wird,  ist. 

Hat  aber  das  Nichtsein  keine  Realität,  so  kann  das  Seiende 
—  welches  bei  Parmenides  das  Körperliche  noch  ungeschieden 
niitbefasst  —  weder  entstehen  noch  vergehen ;  es  ist  ewig  3).  Auch 
jede  Veränderung,  die  ja  Übergang  von  einem  bestimmten  Sein 
zum  Nichtsein  desselben  wäre,  ist  von  ihm  ausgeschlossen.  Weder 
Ort  noch  Farbe  wechselt  es.  Alles  dieses,  was  die  Menschen  ihm  bei- 
gelegt haben,  ist  nur  Wort  und  leerer  Name^).  Ebenso  ist  das 
Seiende,  das  ja  kein  Nichtseiendes  oder  eine  Abnahme  zum 
Nichtseienden  hin  in  sich  einschliesst,  ein  einiges,  ungeteiltes  und 
ungetrenntes •^).  Kein  Unterschied  findet  sich  in  ihm;  ganz  ist  es 
sich    selbst   gleich*^);   denn  —  so   dürfen    wir    ergänzen  —  wäre 


')  DaSS  bei  den  liiy^urui  .. .  oig  to  nelttv  xf  y.al  ox^y.  fi'vni  towt6]>  vtvd/uiarai  yov 
luviov,  TiävTüw  de  naUvjQon6i  iati  y.t'hr^os  (v.47— 51  K.  55— 59  St.),  erscheint  mir 
mit  Bernays,  Ges.  Abliandl.  I  S.  62, 1  und  Diels,  Philosophenschulen  S.  225  un- 
zweifelhaft. 

■■')   V.   63  K.   69St. :    ...  or'  yap   «/«ror   nrtif    vnijov  fdri   OTim;  ovx  Vari.      Vgl.  V. 

31)  -  40  K.  49—50  St. 

=>)  V.  58.  61-76.  82-83.  10(J  K.  64.  67—82;  88—89.  1U4  St. 

*)   V.   97— 1()()  K.   101  —  104  St TW   7uhT'  uvonaatai, 

oaaa  iigoroi  y.are&evro  innoid-öxti  ttvai  d?.ri&ii, 
yiyvta&ni  re  xai   oXKva&ai,  tivai  %i  y.rtl  ovxi, 
y.al  tÖTiov  d'/.Xdaativ   li'id  rt  yjföa  (pavov  (i/itii^tiv. 

V.  97  K.  101  St.  wird  statt  des  von  Simpl.  pliys.  I,  p.  146,  1 1  gebotenen  unme- 
trischen mvoixuaTai  nicht  ovoi^C  f'aitu ,  sondern,  wie  v.  121  K.  125  St.,  övö^aatai 
einzusetzen  sein.  Im  Unterschiede  von  i^dvat,  if(,dt,(iv  und  deren  Ableitungen, 
wojnit  der  philosophisch  richtige  Sprachgebrauch  bezeichnet  wird  (v.  40.  63. 
94  K.  50.  69.  97  St.),  gebraucht  Parmenides  das  Verbum  SvofidXtiv  von  der  will- 
kürlichen Namengebung  der  unphilosophischen  Menge  (v.  112.  121  K.  116. 
125  St.).  —  Von  der  Unbeweglichkeit  des  Seienden  ist  auch  v.  81.  84—86  K. 
87.  90-92  St.  die  Rede. 

ft|  y   ,;i;-  77—80.  90-92.  103—107  K.  67.  83—86.  38-4^.  107-111  St. 

'')   V.   77  K.  83  St.:   nav  ianv  öiioiov. 


Pannenities.    Eigenschaften  des  Seienden.  oo 

etwas  weniger  seiend  als  anderes,   so   würde   das  eine  Abnahme 
y.um  Nichtseienden  hin  bedeuten. 

Freilich  geht  es  zunächst  nur  auf  das  Seiende,  d.  h.  den  In- 
begriff des  Seienden,  wenn  Parnienides  leugnet,  dass  es  entstehe 
und  vergehe  oder  seinen  Platz  verändere  *),  dass  es  eins  sei  und 
keine  Teilung  in  sich  befasse.  Von  dem  späteren  Probleme,  ob 
das  einzelne  Ding  mehrere  Eigenschaften  in  sich  vereinigen  könne, 
oder  ob  dieses  für  das  Denken  einen  Widerspruch  einschliesse  2), 
findet  sich  bei  ihm  noch  keine  nachweisliche  Spur.  Vielmehr 
scheint  Parmenides  zunächst  der  thatsächlich  bei  den  Griechen 
vertretenen  Meinung  entgegenzutreten,  dass  eben  alles  geworden 
sei.  So  stellt  schon  Aristoteles  ^)  die  parmenideische  Lehre  dem 
Satze  des  Hesiod  entgegen,  zuerst  sei  das  uranfängliche  Chaos 
gew^orden^).  Aber  da  Parmenides  nirgendwo  diesem  Inbegriff  des 
Seienden  gegenüber  von  einem  verschiedenen  Verhalten  des  ein- 
zelnen Seienden  redet,  so  dürfte  es  der  inneren  Tendenz  seines 
Gedankens  entsprechen,  das  Werden  und  Vergehen,  die  ört- 
liche und  qualitative  Veränderung  überhaupt  für  Sinnenschein 
oder,  wie  ein  Moderner  vielleicht  sagen  würde,  für  das  Ergebnis 
einer  bloss  zufälligen  Ansicht  zu  erklären. 

Wir  sehen  in  diesen  grundlegenden  Erörterungen  durchaus 
die  Tendenz  gewahrt,  nur  das  als  wirklich  gelten  zu  lassen,  was 


')  Vgl.  Plato  Theaet.  180 E,  wo  es  mit  ausdrücklicher  Bezugnahme  auf 
Farm.  v.  97  K.  101  St.  hei.sst:  cüJ.oi  nv  tuvavTia  rovrots  (die  Heracliteer  sind 
gemeint]  dntfrjravro ,  olov  axin/Tov  xiXi&tiv  (!)  ndvi'  ovo,u  eivai  xal  aXka  öaa  Me- 
'/.laaiii.  ze  xal  IluQpKviö'ai  fvavx lovfjiivoi  ndai  rovroii  fuia)fvpiCovTai,  co(  i'v  n  nävta 
tOTi    xal,    eUT^ixev   avr  o    iv    uvtw,    ovx    i'^or    ^(i')()av,    iv    i]    xivtltai. 

2)  Dass  erst  die  aus  dei'  eleatischen  Schule  erwachsene  Eristik  die  Frage 
nach  der  Vereinbarkeit  des  Einen  und  Vielen  auf  das  einzelne  Ding  bezog  und 
den  Fragepunct  dadurch  verrückte,  ist  auch  dem  Simplicius  nicht  entgangen; 
vgl.  phys.  I,  p.  91,  4;  97,  22.  Es  .sind  die  raxsQoi  tmv  aQ-f^aimv,  wie  Aristoteles 
[)hys.  I  2,  185  b  2G  sie  im  Gegensatz  zu  Parmenides,  Melissus  und  Heraclit 
genannt  hat,  w:elche  mit  grossem  Lärm  die  Meinvmg  bekämpften,  als  könne  ein 
und  dasselbe  zugleich  eines  und  vieles  sein.  Kindisch  und  leicht  zu  lösen 
nennt  Plato  ihre  Sophismen  (Phileb.  14  D);  gleichwohl  setzten  sie  Jung  und 
Alt  in  Verwirrung  (^Plat.  Phileb.  15  E).  Dahin  gehört  der  Gorgianer  (Zeller  IS 
960,  3)  Lycophro,  der  aus  diesem  Grunde  nicht  sagen  wollte:  ,der  Mensch 
ist  bleich",  sondern  nur:  ;,der  Mensch  bleicht"  (Arist.  phys.  1  2,  185  b  27 — 32). 

3)  Arist.  de  caelo  III  1,  298  b  25—29.    Vgl.  Simpl.  zu  der  Stelle. 
*)  Hes.  theog.  Ilti:   'i\%oi  fxiv  tiqwtiotu  ^dos  yivtt'. 


56  Erster  Absclinitt.     Vorsocratiker, 

sich  aus  dem  Vernunttbegrilf  der  Wirklichkeit  oder  des  Seins  ab- 
leiten lässt,  alle  sinnfälligen  Eigenschaften  dagegen  zu  blossem 
Schein  herabzudrücken.  Gleichwohl  gelingt  es  dem  Pai-menides 
nicht,  diesen  Standpunct  unverrückt  festzuhalten.  Mit  jenen  be- 
grifflichen Elementen  verbinden  sich  in  inniger  Durchdrin- 
gung andere,  welche  noch  ganz  den  Standpunct  der  sinnlichen 
Anschauung  festhalten  und  das  Seiende  des  Parmenides  doch 
auch  wieder  als  ein  körperliches  erscheinen  lassen ').  Er  bezeich- 
net es  als  eine  überall  zusammenhangende  2),  gleichartige  Masse, 
die  nicht  an  einem  Puncte  mehr  Sein  enthalte  als  an  einem  an- 
dern 3),  von  der  vielmehr  alles  angefüllt  sei  ^),  ja  er  spricht  ihm  sogar 
ausdrücklich  Kugelgestalt  zu  •^).  Dass  auch  Aristoteles  keine  andere 
Auffassung  von  dem  eleatischen  Seienden  hatte,  geht  aus  seiner 
Äusserung  hervor,  es  hätten  Melissus  und  Parmenides  mit  ihrer 
Schule  kein  anderes  Sein  neben  den  sinnfälligen  Dingen  angenom- 
men*'). Ebenso  erscheint  die  Einheit  des  Seienden  an  der  ein- 
zigen Stelle,  wo  sie  von  Parmenides  ausdrücklich  erwähnt  wird, 
in  der  Form  eines  räumlichen  Continuums  (l'i-  ^t'i'fx4') ')• 
Das  Seiende,  lehrt  Parmenides  an  einer  anderen  Stelle,  ist  nicht 
geleilt,  sondern  zusammenhangend  und  alles  erfüllend*^).  Wir 
werden  daher  kaum    fehlgreifen,    wenn    wir  in  Übereinstimmung 


^)  Vgl.  P.  Taunery,  la  physique  deParmenide,  Rev.  philos.  XVII I  (1884i 
S.  264 — 292;  le  concept  scientitique  du  coitinu.  Zenon  d"  Elee  et  Georg  Gantor. 
Ebend.  XX  (1885)  S.  385-410. 

»)  V.  78.  80.  90  K  84.  86.  38  St. 

:.)  V.  77—79.  103—107  K.  83—85.  107—111  St. 

*)  V.  79  K.  85  St. 

ä)  V.  101 — '03  K.  105—107  St.  Dass  diese  wohlgeruiidete  Kugel  bei  Par- 
menides nicht  die  Geltung  eines  blossen  mythischen  Bildes  hat,  gleich  dem 
Weltei  der  orphisehen  Kosmogonie,  wie  Simplic.  in  phys.  146,  31  ff.  will:  s,  N. 
Jahrb.  Bd.  133  S.  543. 

«)  Arist.  de  caelo  III  1,  298  b  21. 

')  V.  60  K.  66  St.:   ov  noi'  iriv  ovi)'  f(Jiui,  emi  vvv  iaiiv   ofior  nav. 

Die  räumliche  Bedeutung  von  h-vtxts  ergiebt  sich  aus  v.  80  K.  86  St.  {^wf/ii), 

78  K.  84  St.  {^vvtxtattaiX  90  K.  38  St.   {eyja9ui). 

')  V.  90  K.  38  St.:   ov  yap  ä7i0Ti.iTJ§ei  tö  ■/'  iov  tov  iövrog  t-j(ta&at, 
V.  77  K.  83  St.:  ovd'i  diaignov  taitv,  tnti  nuv  iariv  6/jioioi\ 

ovtfe  Ti  i^  ,uük?.ov,  TÖ  y.tv  eVQ'/oi  uiv  ^vvf-/^taO-at, 
ovd'i  Ti  y^tiQihfQov'  nur  d'  'ifinkfov  iaiiv  eovtog' 
T(S  ^vvt^is  Ticiv  iOTiv,  fov  yap  eövii  Jitkä^it. 


rjirnieiiides.     Eigeiiscluiflen  des  Seienden.  ö7 

mit  einer  alten,  schon  durch  Eudenuis  i)  bezeugten  und  anschei- 
nend gebilligten  Auslegung  bei  jenem  kugelförmigen  Seienden  des 
Parmenides  an  das  Weltgebäiide  denken,  dem  jener,  wie  spcäter 
Plato  und  Aristoteles,  im  Gegensatz  zu  der  anderweitig  aufge- 
stellten Meinung  von  seiner  unendlichen  Ausdehnung,  wohl  Be- 
grenztheit und  Kugelgestalt  zuschreiben  mochte.  Neuplatonische 
Schrirtsteller  zwar,  welche  den  platonischen  Gedanken,  dass 
der  besonderen  Erkenntnisart  auch  ein  besonderes  Object  ent- 
spreche, schon  bei  Parmenides  voraussetzen,  wollen  ihre  eigene 
Unterscheidung  einer  wahrJiaft  seienden  intelligibelen  Welt  und 
der  sinnfälligen  Erscheinung  bereits  bei  jenem  wiederthiden '■'). 
identificieren  gelegentlich  sogar  das  eleatische  Eine  mit  dem  noch 
über  der  intelligibelen  Welt  stehenden  urwesentlichen  Einen  des 
eigenen  Systemes^)  und  gewinnen  so  für  eine  sinnfällige  Er- 
scheinungswelt neben  dem  von  der  Vernunft  geforderten  Realen 
Platz.  Allein  dieses  ist  eine  zu  offenbare  Hineiiideutung  späterer 
Gedanken,  als  dass  es  notwendig  wäre,  dergleichen  noch  beson- 
ders zu  widerlegen. 

Scheinen  die  der  sinnlichen  Anschauung  entstammenden  Ele- 
mente bei  Parmenides  mehr  aus  einem  unbeabsichtigten  Rück- 
fall auf  den  Standpunct  der  Sinnenauffassung,  denn  aus  einer;, 
wenn  auch  nur  relativen,  Anerkennung  dieses  Standpunktes  her- 
vorgegangen, so  finden  wir  bei  dem  Systematiker  der  eleatischen 
Schule,  Melissus  von  Samos,  die  eleatische  Lehre  in  manchem 
Betracht  den  gewöhnlichen  naturphilosophischen  Vorstellungen 
wieder  angenähert.  Auch  die  abstract  metaphysischen  Begriffe, 
welche  Melissus  von  Parmenides  herübernimmt,  gewinnen  bei  ihm 
eine  mehr  physische  Bedeutung. 

Zunächst  freilich  bieten  die  Beweise,  in  denen  Melissus  die  An- 
fangs- und  Endlosigkeit  des  Seienden,  seine  Ewigkeit  und  Unverän- 


')  Eudemus  bei  Simplic.  phys.  I,  p  133,  28  (vgl.  p.  143,  4) 
^)  So  (nacli  dem  teilweisen  Vorgange  von  Plutarch.  adv.  Colot,  c.  13)  Plo- 
lin,  Ammonius,  Proclus,  Philoponus,  Simplicius  (wo  er  seine  eigenen  Ansich- 
ten vorbringt,  wie  phys.  I,  p.  87,  b  ff.  lüO,  n  ff.  120,  20  ff.  136,  28  ff.  144,  11  ff.  de 
caelolll,  p.  250  a  7  ff.  Karst,  u.  ö.)  und  andere  spätere  Zeugen,  deren  Aussagen 
Karsten,  Parmenidis  El.  carm.  rel  p.  204  f.  zusammenstellt.  Den  von  ihm  Ange- 
führten können  noch  beigefügt  werden  Syrian.  in  Arist.  metaph.  XIV.  p.  860  a 
21;  861  b  8;  929  a  3  Usener;  Chalcid.  in  Tim.  c.  350,  p.  373,  19  Wrobel. 
äj  Procl.  in  Parm.  col.  708,  7  Cousin^•  Simpl.  phys.  I.  p.  100,  22. 


58  Krst(^i-  Aliscluiitt.     Vorsocrnlikcr. 

dei-lichkeil  (larlhut  •),  nur  den  Character  einer  Paraphrase  der  ent- 
sprechenden Ausführungen  des  Parmenides.  Wie  dem  Parmeni- 
des,  so  sind  auch  ihm  die  Unterschiede  von  Erde,  Wasser, 
Luft,  Feuer,  von  Lebendem,  Totem,  Schwarzem,  Weissem  u.  s.w. 
leere  Namen  und  Sinnentrug  ''^).  Dabei  tritt  aber  zugleich  die  Bezie- 
hung auf  das  Physische  klar  zu  Tage,  wenn  er  das  Nichtseiende  aus- 
drücklich mit  dem  Leeren  {xsrföi)  identihciert,  dessen  Existenz 
er  eben  darum  verwirft,  weil  das  Leere  als  Nichtseiendes  nicht 
sein  könne  3).  Auf  die  Nichtexistenz  eines  leeren  Raumes  inner- 
halb und  ausserhalb  der  Welt  stützt  sich  die  Unmöglichkeit  einer 
Gontraction  und  Expansion  des  Alls^),  überhaupt  die  Unmöglich- 
keit einer  Bewegung  für  dieses  •^).  Ausdrücklich  aber  nimmt  Me- 
lissus  Anlass,  diese  Unbeweglichkeit  des  Seienden  auf  eine  Be- 
wegung des  Alls  in  ein  Seiendes  oder  ein  Nichtseiendes  zu  be- 
schränken. Mit  unzweideutigen  Worten  sagt  er,  dass  jener 
Satz  von  der  Unbeweglichkeit  des  Seienden  keineswegs  so 
gemeint  sei ,  als  ob  sich  überhaupt  gar  nichts  bewege  — 
es   finde  vielmehr  Bewegung   im  Vollen  statt  —    sondern 


*)  Meliss.  fragm.  1.  4.  11.  12  Brandis  (Gomment.  Eleat.  pars  I,  womit 
die  Zahlen  bei  Mullach  übereinstimmen). 

2)  Meliss.  tV.  17. 

■')  Meliss.  fr.  5  u.  14  bei  Siuipl.  phys.  I,  p.  104,  4—15  und  p.  80,  7 — 14 
(Vgl.  p.  40,  12—21;  112,  6—15). 

Es  möge  dahingestellt  bleiben,  ob  der  Ausdruck  „das  Leere"  von  den  Atomi- 
kern  zu  Melissus  gekommen,  oder  ob  jene  ihn  ihrerseits  dem  Melissus  entlehnt  ha- 
lben. Für  das  Letztere  entscheidet  sich  Zeller  1',  852  f.  Allein  clironologisch  steht 
auch  der  ersteren  Annahme  nichts  Entscheidendes  im  Wege,  und  dass  Melissus  ein 
Schwachkopf  sei,  ist  eine  fable  convenue.  die  man  dem  Aristoteles  nachspriclit 
welclier  die  Eleaten  überhaupt  nicht  zu  würdigen  weiss  und  den  Melissus  speciell 
nicht  unbedeutend  missveisteht  (vgl.  Zeller  P,  554,  3  g.  E.;  Natorp,  Forschun- 
gen zur  Geschichte  des  Erkenntnissproblems  im  Alterthum.  Berlin  1885.  S.  109  f.). 
Übrigens  hatte  Melissus  wenigstens  für  die  Negation  des  Leeren  innerhalb 
des  Weltalls  einen  Vorgänger  an  Empedocles,  der  v.  63  Karsten  (91  Stein)  sagt: 
nv(h'  Ti  rov  navTos  y.eviov  niXtL. 

*)  Meliss.    fr.    14.      Die    Ausführung    ist   wohl    gegen   die    nvxvwaig   und 
apai'otais  gerichtet,  welche  in  den  kosmologischen  Vorstellungen  ilei'  lonier  eine 
so    grosse    Rolle    spielen.       Auf    eine   ähnliclie    Polemik    scheinen     übrigens 
schon  die  Verse  des  Parmenides  zu  deuten,  v.  90  ff.  K,  38  ff.  St.: 
ov  yu(i  uTioTfiij^ei  r6  y'  iov  rov  iövzog  i'^ead-ai, 
ovTt  axiävtt/xevov  ndvtj)  ndvirns  xaici  xüofiov 
ovrf  tJvriaTttuevov. 

^)  Meliss.  ir.  5.     Vgl.  Arist.  de  gen.  et  corr.  1  8,  3z5  a  2—13. 


Melissus.     Wiederannäheiung   an  dfii  Staiuliiuiicl  der  Xal  urjiliilosophif.       59 

vielmehr  iiiu'  dieses,  dass  das  gesamte  Seiende,  das  W^elt- 
all ,  weder  in  ein  Seiendes  wandeln  könne ,  denn  es  gebe 
kein^  solches  neben  ihm,  noch  in  ein  Nichtseiendes,  denn 
das  Nichtseiende  existiere  nicht  ^).  Wir  werden  diese  beiden 
Behauptungen  des  Melissus,  die  von  der  Unbeweglichkeit 
des  Alls  und  die  von  der  Bewegung  desselben  im  Vollen, 
vielleicht  so  mit  einander  vereinen  können,  dass  wir  ihnen 
eine  ähnliche  Anschauung  zugrunde  legen,  wie  wir  sie  später 
bei  Plato  und  dann  bei  Descartes  finden.  Beide  halten  trotz 
ihrer  Leugnung  eines  Leeren  doch  die  Bewegung  der  Körper  für 
möglich,  indem  sie  an  die  Stelle  des  sich  fortbewegenden  Kör- 
pers in  ri^ickläuügem  Kreise  die  jedesmal  benachbarten  Stofiteile 
treten  lassen  ^). 

Bei  einer  solchen  Sachlage  begreifen  wir  es,  wie  Aristoteles 
den  Unterschied  zwischen  Parmenides  und  Melissus  dahin  prä- 
cisieren  konnte,  dass  er  den  ersteren  das  Sein  als  eine  der  begriff- 
lichen, den  letzteren  als  eine  der  materiellen  sich  nähernde  Ein- 
heit fassen  lässt^).  Zwar  scheint  Melissus,  der  doch  ausdrücklich 
dem  Seienden  Grösse,  und  zwar  unendliche  Grösse  zuschreibt'), 
demselben  auffallender  Weise  an  einer  Stelle  die  volle  Körper- 
lichkeit doch  wieder  abzusprechen  ■'^);  allein  bei  genauerer  Betrach- 
zeigt  sich,  dass  in  dem  betreffenden  Fragmente  von  der  Natur  des 
Seienden  gar  nicht  die  Rede  ist*^). 


')  Melissus,  fr.  5  (bei  Simplic.  in  phys.  p.  104,    12 — 15):    li  <<jv  nn;  tan  y.t- 

Vföv,  avdyxij  ji'Iijqiq  ttvai'  ei  de  roizo ,  jui)  xiv£i0&ai'  oi'x  uti  a  i}  ifwaror  dcci 
TikrjQios  y.ivi'to-d-ai,  ws  ini  tcöv  aoinnTutv  /.lyoiifr,  «/./.'  oti  nap  xo  top  ortf 
li  iov  rfvvaTtti  y.tvrj&'ijrtti'  ov  yä(/  iari  ji  nu.Q  aviu'  o'i'tt  t\-  tn  /ir]  tor'  ov  yä(i  tan  xo 
/itj  top. 

*)  Es  ist  Plato's  von  Aristoteles  sogenannte  dvxmfQiaxaaii  (Arist.  phys.  IV 
8,  215  a  15;  VllI  10,  2t>7  a  16;  vgl.  Simplic.  zu  letzterer  Stelle,  Brandls,  Schol. 
in  Arist.  452  a  30),  die  von  diesem  Tim.  79  B  beschrieben  wird;  vgl.  Martin, 
Eludes  sur  le  Timee,  II,  p.  256. 

^)  Arist.    metaph.    I    5,    986    b    18 — 20:      llaQ^tvidr^i;   fiiv  yd()  tor/.t   tov  y.atu 
jih'  }.6yov  fpds-änxiadut,  Mihaaos   de  xov  y.axd   x)]v  vlrjV. 
^)  Meliss.  fr.  8. 

^)  Meliss.  fr.  16:  il  /.liv  iov  ei'r;,  <i(i  avxo  ev  ft'rai'  tp  de  (6r  ,  dti  avTÜ  amiia 
UYi   ey/iv'  II   de   iyoi   y[dyoi;,  i'yoi   dp   uoqiu,  y.al  ovxiii   sp   ei't/. 

^)  Einmal  steht  nämlich  bei  Simpl.  phys.  I,  p.  110,  1  in  einem  Teile  iler 
Handschriften,  und  darunter  der  besten,  statt  top  vielmehr  ovr.  Sollte  alier 
auch  e'ov  zu  lesen  sein,  so  ist  zu  liemerken,  dass  sich  in  den  Fragmenten  des 
Melissus  als  Subject  vierzehnmal  rd  iov  mit  Artikel,  kein   einziges  mal   ohne 


fiO  Erster  Abschnitt,     Vorsorrntiker. 

Bezeichnet  innerhalb  der  eleatischen  Schule  die  Anschauimg 
des  Melissus  von  der  Natur  dei"  Körperwelt  eine  unverkennbare 
Annäherung  an  den  Realismus  der  sinnlichen  Erfahrung, 
so  tritt  bei  Zeno  dem  Eleaten  der  ursprüngliche  polemische 
Gegensatz  gegen  die  sinnliche  Aullassung  dieser  Körperwelt  mit 
voller  Schärfe  und  mit  der  ganzen  Consequenz  eines  rücksichtslos 
energischen  Denkens  hervor. 

Die  Polemik  des  Zeno  richtet  sich  zunächst  gegen  die  An- 
nahme einer  Vielheit.  Wenn  das  Seiende  Vieles  wäre^  führt  or 
aus,  so  würde  es  hinsichtlich  der  Grösse  unendlich  klein  und  unend- 
lich gross  sein');  ersteres,  da  keine  dieser  Einheiten  Grösse  habe 
und  darum  auch  alle  zusammen  nicht  2);  letzteres,  da  man  in 
der  Halbierung  einer  Grösse,  bei  der  doch  Anfang  und  Ende  von 
einander  abstehen  müssen ,  bis  ins  Unendliche  fortschreiten 
könne,  so  dass  vor  jedem  neuen  Halbierungspuncte  stets  wieder 
abermals  ein  neuer  liege  •').  Ebenso  wäre  es  der  Zahl  nach  be- 
grenzt und  imbegrenzt;  ersteres,  weil  es  gerade  soviel  an 
Zahl  wäre,  als  eben  die  Summe  an  Einheiten  enthalten  soll; 
letzteres,  weil  bei  jener  ins  Unendliche  fortzusetzenden  Zwei- 
teilung stets  wieder  neue  dazwischenliegende  Puncte  sich  erge- 
ben würden*). 

Wenn  wir  es  versuchen,  diese  Argumente  gegen  die  Vielheit 
nachzudenken,  so  werden  wir  finden,  dass  dieselben  sich  nicht 
unmittelbar  gegen  die  Vorstellungen  des  gemeinen  Lebens  von  einer 
Vielheit  erscheinender  Sinnendinge,  z.  B.  einer  Menge  Menschen, 
Pferde,  Bäume  u.  s.  w.  wenden  können.  Auch  jetzt  noch 
höchst  beachtenswert  dagegen  sind  diese  Beweise,  wenn  wir  sie 
gegen  die  Vorstellung  einer  aus  einer  Vielheit  von  Puncteinheiten 
bestehenden  Ausdehnung  gerichtet  denken.  So  aber  fassten  die  Py- 
thagoreer  die  Ausdehnung^).  Zeno,  der  auch,  wie  es  scheint,  gegen 


denselben  findet.  Das  Wort  würde  daher  auch  an  unserer  Stelle  als  Prädicat 
eines  nicht  mehr  zu  ermittelnden  Subjectsbegriffes  anzusehen  sein ;  vgl.  N. 
Jahrb.  f.  Phil.  Bd.  133  S.  .^4.5. 

')  Simpl.  phys.  I,  p.  139,  7—9. 

^)  Simpl.  phys.  I,  p.  139,  10—15. 

=*)  Simpl.  a.  a.  0.  p.  141,  1 — 8  (die  Worte  schliessen  sich  dem  Gedanken 
nach  unmittelbar  an  die  in  der  vorigen  Anmerkung  angeführte  Stelle  an). 

*)  Simpl.  140.  28—34. 

*)  ö.  S.  43. 


Zeno.     Jede  sinnliche  Auffassung-  dei'  Körperwelt  trügerisch.  til 

die  Physik  des  Empedocles  eine  polemische  Schrift  verfasste  '),  traf 
hier  die  Grundvorstellung  der  pythagoreischen  Physik,  die  An- 
nahme, dass  durch  Wiederholung  einer  Einheit  die  Vielheit  ent- 
stehe 2).  Einen  anderen  Versuch  aber,  die  Ausdehnung  zu  be- 
greifen, als  den  pythagoreischen,  sie  aus  der  Addition  von  Punct- 
einheiten  abzuleiten,  gab  es  in  jener  Zeit  noch  nicht.  Indem  also 
Zeno  jene  Ableitung  bekämpfte,  bekämpfte  er  die  Vorstellung  von 
der  Ausdehnung  des  Seienden ,  d.  h.  also  hier  der  Materie 
überhaupt.  Daraus  ergiebt  sich  als  selbstverständliche  Conse- 
quenz,  dass  überhaupt  von  einer  Vielheit  ausgedehnter  Dinge 
nicht  geredet  werden  kann.  Mit  der  Ausdehnung  fällt  auch  die 
auf  ihr  beruhende  numerische  Vielheit. 

Auch  die  noch  berühmteren  zenonischen  Beweise  gegen  die 
Bewegung  thun  zunächst  allerdings  nur  den  Widersinn  einer  Be- 
wegung dar,  die  nicht  als  continuierliches  Fliessen  gefasst  wird; 
aber  sie  w^enden  sich  doch  gegen  die  Bewegung  überhaupt.  In 
der  That  sind  es  unter  anderm  die  von  Zeno  im  Begriff  der 
Bewegung  gefundenen  Schwierigkeiten,  welche  uns  veranlassen, 
dem  Begriff  der  Bewegung  eine  genauere  Fassung  zu  geben. 

Ob  auch  Zeno's  Argument  gegen  den  Raum  ^)  unmittelbar  mit 
seiner  Bekämpfung  der  sinnlichen  Ausdehnung  zusanmienhängt, 
ist  nicht  ganz  sicher.  Möglich  ist  auch  ein  anderer  Zusammenhang, 
auf  den  eine  Bemerkung  des  platonischen  Theaetet  hinzuweisen 
scheint.  Parmenides  und  Melissus,  heisst  es  dort,  behaup- 
teten, dass  alles  Eines  sei  und  seinen  Stand  in  sich  behalte,  da 
es  keinen  Raum  habe,    in  dem  es  sich  bewegen  könne*).  Offen- 


')  die  t^r,yi,ais  'E,u7ied'oy.?Jovs;  vgl.  Dielsin:  Sitzungsber.  d.  Berl.  Akad.  1884 
8.  359  Anm.  2 

"-)  Daher  hat  Eudemus  ganz  recht,  wenn  er  den  Zeno  sogar  das  Eine 
—  nämlich  jene  pythagoreische  Puncteinheit  —  negieren  lässt  (bei  Sinipl.  in 
phys.  p.  97,  11—16  und  138,  31-. 34).  Wenn  Simplicius  dagegen  erinnert, 
dass  Zeno  durch  die  Bekämpfung  der  Vielheit  doch  gerade  die  Einheit  des 
Seienden  —  nämlich  die  parmenideische  des  .All-Einen  —  retten  wolle  (in  phys. 
138,  19 — 22;  141,  9 — 11),  so  trifft  sein  Tadel  die  Sache  gar  nicht,  da  es  sich 
beide  mal  nicht  um  dieselbe  Art  der  Einheit  handelt. 

)  SimpllC.  phys.  IV,  p.  562,  3 — 6 :  6  Z^rwvoi  Ao'/o»  dvaiQtiv  iifüxee  Tov  TU7I0V 
t()u)Ttjüv  ovTioi'  „ti  i'aTiv  6  rönos,  tv  riri  'iatai'  näv  '/uq  or  tv  riri'  t6  d'e  i'v  tcvi  xal 
ir  TOTiü) .    tarat    «qu    xai    u    rönos    *i'    tÖtiw,     xal  lorjo   tu'  aTifipov,  ni'x    li^a  lartv  o 

')  Plat.  Theaet.  180E  (ciliert  S.  55  Anm.  1 1. 


(i2  Erster  Abschnitt      Vorsocratiker. 

bar  ist  hier  oin  von  dem  Seienden  selbst  unterschiedener  Raum, 
der  Raum  als  ein  das  Sein  Umfassendes,  gemeint.  Zeno  kommt 
dieser  Behauptung  zu  Hülfe.  Wenn  sich  das  All  in  einem  Orte 
bewegen  soll,  erinnert  er,  so  muss  dieser  Ort  wieder  irgendwo, 
d.  h.  in  einem  anderen  Orte  sein,  dieser  Ort  wieder  in  einem  an- 
dern, und  so  fort.  Doch  mag  die  Veranlassung  des  zenonischen 
Argumentes  welche  auch  immer  gewesen  sein,  jedenfalls  Hess  es 
sich  gegen  die  Realität  des  Raumes  und  somit  der  Ausdehnung 
überhaupt  verwenden. 

Rein  negative  Tendenzen  verrät  auch  der  dem  Zeno  zu- 
geschriebenC;  angeblich  gegen  Protagoras  gerichtete  Fangschluss, 
welcher  aus  der  Unmöglichkeit,  den  Schall  eines  einzelnen  fallenden 
Hirsekornes  wahrzunehmen,  die  gleiche  Unmöglichkeit  für  den 
ganzen  Haufen  Hirse  darthut  und  damit  die  Wahrheit  der  Gehörs- 
wahrnehmung überhaupt  untergräbt '). 

So  finden  wir  die  Negation  aller  derjenigen  Bestimmungen, 
welche  die  sinnliche  Wahrnehmung  dem  Seienden  beilegt,  bei 
Zeno  mit  noch  grösserer  Bestimmtheit  und  in  noch  grösserem 
Umfange  durchgeführt,  als  bei  Parmenides.  Andererseits  sehen 
wir  aber  den  Zeno,  wo  er  gegen  seine  Gegner  ankämpft, 
von  der  Voraussetzung  ausgehen,  dass  das,  was  weder  Grösse 
noch  Dicke  noch  Masse  habe,  auch  nicht  wirkhch  sei 2). 
So  begreifen  wir,  wie  die  Gonsequenz  der  eleatischen  Lehre 
schliesslich  dahin  führen  musste,  die  Existenz  eines  körperlichen 
Seienden  überhaupt  in  Abrede  zu  stellen.  Hörten  wir  doch  schon 
oben  3)  von  Aristoteles,  dass  auch  Melissus  und  Parmenides  neben 
dem  Sein  der  sinnfälligen  Dinge  kein  zweites  angenommen  hätten. 
So  lange  man  aber  kein  anderes  Sein  kannte,  als  das  der  sinn- 
fälligen Dinge,  war  mit  der  Negation  des  körperlichen  Seienden  der 
vollendete  Nihilismus  proclamiert.  Wir  werden  den  letzteren  bei  ei- 
nem den  Eleaten  sehr  nahe  stehenden  Sophisten,  beiGorgias,  fin- 
den und  zugleich  sehen,  wie  auch  der  Antipode  des  Eleatismus,  der 
Heraclitismus,  bei  seinem  Eintritt  in  den  Gesichtskreis  der  So- 
phistik  zu  einer  ähnlichen  Verflüchtigung  alles  Sinnfälligen 
hintrieb. 


1)  Vgl.  Simpl.  phys.  VII,  fol.  255  ed.  Aid. 
')  Simpl.  phys.  I,  p.  139,  9—11;  141.  1—3. 

")  S.S.  r.(i. 


68 

4.  Die  jüngeren  Xaturphilosophen. 

Die  Philosophie  der  Eleaten  hatte  ihre  alleinige  StJirke  in  der 
Vernunfterkenntnis  (Aöyoc).  Den  an  Zahl  zwar  geringen  aber  an  Be- 
deutung schwerwiegenden  Sätzen  gegenüber,  welche  durch  eine 
auf  allgemeine  Vernunftbegriflfe  gestützte  Beweisführung  gewonnen 
wurden,  tritt  die  Erklärung  der  einzelnen  Naturerscheinungen, 
mit  welcher  die  älteren  lonier  vor  allem  sich  beschäftigt  hat- 
ten, entschieden  in  den  Hintergrund.  Dergleichen  wird  von 
Parmenides  überhaupt  nicht  zu  den  Dingen  gerechnet,  über 
welche  man  ein  sicheres  Wissen  erlangen  kann.  Zw^ar  muss  auch 
er  sich  anschicken,  dem  Verlangen  der  Zeitgenossen  genüge  zu 
leisten,  die  vom  Philosophen  nun  einmal  Auskunft  über  alle 
Dinge  am  Himmel  und  auf  der  Erde  verlangten.  Er  thut  dieses 
durch  physikalische,  im  Sinne  des  exoterischen  Pythagoreismus  und 
der  alten  lonier  gehaltene^)  Naturerklärungen,  also  durch  ein*- 
blosses  Referat  über  die  Meinungen  anderer.  Dabei  aber 
deutet  er  verständlich  genug  an,  welch  geringen  Wert  er  dieser 
hergebrachten  Aufgabe  beilegt,  indem  er  jene  Ausführungen  als 
trügerischen  Schmuck  der  Rede  der  gewissen  Vernunfterkenntnis, 
als  blosse  Menschenmeinung  der  göttliclien  Wahrheit  ent- 
gegenstellt 2), 

Anders  die  jüngeren  Naturphilosophen,  Empedocies,  Leucipp, 
und  Democrit,  Anaxagoras  ^).  Nicht  nur  Metaphysiker,  sondern 
auch  Physiker,  wenden  sie  sich  aufs  neue  mit  regem  Interesse 
einer  detaillierten  Naturerklärung  zu.  Einem  von  ihnen,  dem 
Empedocies,  ist  es  nicht  entgangen,  wie  sehr  er  sich  da- 
<lurch  in  Widerspruch  zu  den  Eleaten  setzt.  Obschon  auch  er 
gleich  dem  Parmenides*)  auffordert,  den  Augen  und  Ohren  nicht 

*)  Vgl.  Tannery,  la  physiqiie  de  Paimenide.  Rev.  philos.  XVIII,  1884, 
S.  !2(i4— 292.    Zeller  V,  52(j.    Diels,  Sitzungsbei-.  d.  Beil.  Acad.  1884,  S.  352. 

■^)  V.  1Ü9— 111  K.  11.3—115  St,  (beim  Beginn  der  döia): 
iv  rio  001  nat'(r)  maröv  /.öyov  iiö't   i-örifta 
dfi(f.is  dkr,&tir,?'  (fö^ag  d''  d/ro  zov(f(  ßgoreias 
fidvä-avt,   xda/uov  ifiMV  intwv  d7iarr,}.6v  dxovwv. 

^)  Was  die  gänzlich  neue  Datierung  des  Empedocies,  Anaxagoras,  Gorgias 
anlangt,  welche  Unger  (Sitzungsber.  d.  k.  bayr.  Acad.  d.  Wiss. .  phil.-hist.  Kl. 
1883  S.  140  ff.  Philologus,  Suppl.  IV  513  ff',  kürzlich  gegeben  hat,  so  kann  ich 
mich  dem  Urteil  von  Diels,  (Sitzungsber.  d.  Berl.  Acad.  d.  Wiss.  1884.  S.  344.  2) 
nur  anscldiessen. 

^•  Fiiriii.  V.  .".4  r.  K.  34  t.  Sl. 


n4  Erster  Absclinitt.     VorHOcratiker 

ZU  viel  zu  verti-auen,  sondern  zu  denken  i),  so  leitet  er  doch  in 
bewusstem  Gegensatze  zu  des  Parmenides  oben  citiertem  Aus- 
spruch seine  physikalischen  Ausführungen  mit  der  Aufforderung 
ein,  von  ihm  zu  hören  nicht -trügerischen  Schmuck  der  Rede  ^). 

Ein  so  entschiedenes  Naturinteresse  konnte  natürlich  bei  dem 
eleatischen  Satze  von  der  Einheit  und  Unveränderlichkeit  des 
Seienden  nicht  stehen  bleiben.  Hatte  doch  dieser  Satz  die  Eleaten 
dahin  geführt,  alle  die  Erscheinungen,  deren  Erklärung  jenen  jüngeren 
Philosophen  gleich  den  alten  loniern  nicht  zum  wenigsten  am  Her- 
zen lag,  für  trügerischen  Sinnenschein  zu  halten.  So  galt  es  denn, 
,  wollte  man  zugleich  Vernunft  und  Erfahrung  befriedigen,  nach 
einer  solchen  Vernunfterklärung  für  das  Seiende  zu  suchen, 
welche  die  in  der  Erfahrung  gegebenen  Phänomene  nicht  aufhob, 
sondern  vielmehr  begreiflich  machte.  Auf  einen  solclien  Ausweg 
musste  schon  der  richtige  geistige  Instinct  hinweisen,  welcher  da 
nicht  zu  fehlen  pflegt,  wo  die  geschichtliche  Entwickelung  auf  die 
Lösung  einer  bestimmten  Aufgabe  hindrängt.  Dass  aber  wenig- 
stens der  eine  oder  andere  jener  Philosophen  auch  mit  bewusster 
Einsicht  in  das  zur  Zeit  Notwendige  jenen  Weg  eingeschlagen, 
erscheint  um  so  wahrscheinlicher,  als  schon  Aristoteles  dem  I^eu- 
cipp  derartige  Erwägungen  zugeschrieben  hat  '^). 

Die  Eleaten  hatten  in  einer  schwer  zu  widerlegenden  Weise 
dargethan,  dass  weder  neues  Sein  aus  Nichts  entstehen,  noch  be- 
stehendes Sein  in  Nichts  vergehen  könne.  Indem  nun  die  Jün- 
gern Naturphilosophen  an  diesem  eleatischen  Satze  festhalten, 
suchen  sie  ihm  doch  eine  solche  Wendung  zu  geben,  dass  zu- 
gleich die  in  der  Erfahrung  vorliegenden  Erscheinungen  des  Ent- 
stehens, sich  Veränderns  und  Vergehens  dabei  bestehen  bleiben 
können*).    So  verschieden  ihre  Lösungsversuche  auch  im   einzel- 


>)  Emped.  v.  .'"jO— 53  Karsten  20—30  Stein. 

*)   V.    113    K.    8()    St.:     oi-    ti'    axort    käyinr    arö/.or  o  r  y.   an  ur  ■ijXöv. 

'j  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  8,  325  a  23—25:  AfvxiTiTioi:  (V  i'xfiv  uitj^r/  Xöyors 

oY  Tifii  TiQui  T7jf  ai'a&ijair  6fxo/.oy>i'/n(i'a  ?.t'yorifi  orx  uriuQijaovaiv  ot-Tf  ysvtaiv  ovTf 
tf{><i(icir  orTf    y.iviiair   xa'i   xo   7i?.r,%hog  itut'  ovrioi; 

■•)  Es  ist  mir  wenig  wahrscheinlicli ,  dass  die  jüngere  Naturphilosophie 
aus  dem  Bestreben  hervorgegangen  sei.  den  Gegensatz  zwischen  Heraclit  und 
Pannenides  zu  überwinden.    Den  Begrill'  des  Werdens  brauchte  diesell)e  gewiss 


Die  jüngeren  Natuiphilosoplien.     Ihr  Ötandpunct.  Ho 

hon  ausgefallen  sind,  so  weisen  sie  doch  gomcinsanie  Grund- 
eleinente  auf.  Da  von  der  streng-  festgehaltenen  Einheit  des  Seien- 
den seine  Unveränderlichkeit  unabtrennbar  war,  so  wird  an  ihre 
Stelle  eine  ursprüngliche  Mehrheit  verschieden  gearteter  6iiu  — 
Elemente,  Homoeomerien,  Atome  —  gesetzt,  denen  gegenüber 
der  Begriff  des  ov  thatsächlich  nur  noch  die  Bedeutung  eines 
Gattungsbegriffes  hat.  Jedes  dieser  ona  hat  für  sich  die  Eigen- 
schaften des  eleatischen  Seienden,  ist  unentstanden,  unverändei-- 
lich,  unvergänglich;  aber  indem  diese  in  sich  unveränderlichen 
oria  sich  in  der  mannigfaltigsten  Weise  mischen  und  entmischen, 
entsteht  der  Schein,  den  die  gemeine  Vorstellung  als  Werden 
und  Vergehen  eines  Seienden  deutet^).  Den  Grund  dieser  Mi- 
schung und  Entmischung  sucht  man  nicht  mehr  mit  dem  ioni- 
schen Hylozoismus  im  Stoffe  selbst;  denn  dieser  wird  mit  den 
Eleaten  als  unveränderlich  gedacht  und  kann  daher  auch  nicht  die 
Veränderungen  aus  sich  hervorbringen.  Man  schreitet  vielmehr 
fort  zu  der  Unterscheidung  zwischen  dem  ungeordneten  Stoffe 
und  zwischen  den  bewegenden  Kräften,  welche  jenen  ordnen.  Nur 
die  Atomiker  bleiben  niit  ihrer  Annahme  einer  dem  Stoffe  von 
Ewigkeit  eigentümlichen  Bewegung  dem  alten  Standpuncte  näher. 
Das  Problem  der  Matei'ie  ist  hier  um  einen  guten  Schritt 
seiner  Lösung  näher  gebracht.  Ausser  in  der  Unterscheidung  von 
Stoff  und  von  bewegender  Kraft,  liegt  der  Gewinn  vor  allem  in  der 


nicht  eist  dem  Heradit  zu  entnehmen;  viehiiehr  knüpfen  sowohl  Empedocles 
als  Anaxagoras,  wo  sie  denselben  bekämpfen  resp.  in  ihrem  Sinne  umdeuten, 
ausdrücklich  an  die  gewöhnliche  Ausdrucksweise  der  Menschen,  an  die  gemei- 
nen Vorstellungen  der  Hellenen  an;   vgl.    Emped.  v.  SO  K.  39  St.:  ifvo/s  d'  tTii 

Toi\-    ovofitt^fTiH    är{h(,mnotai  i:     AnaxagOras    fr.   17   Schorn:   tÖ   di  yh-iaSm   y.ui 

chiö/lra&ai  ovx  o(}^(os  vo/ucCox^ai  oi  "E/./.i,v e s  (vgl.  auch  Zeller  !•*,  87.5,  2).  Von 
der  eigentümlichen  Auffassung ,  welche  der  Begriff  des  Werdens  bei  Heraclit 
über  die  gewöhnliche  Vorstellung  hinausgehend  erfährt,  findet  sich  weder  in 
dem,  was  sie  als  richtig  annehmen,  noch  in  dem,  was  sie  bekämpfen,  die  ge- 
ringste Spur.  Auch  Aristoteles  an  der  S.  64  Anm.  3  citierten  Stelle  iilier  den 
Ursprung  der  atomistischen  Lehre  redet  nicht  davon.  Die  Aufgabe  einer  Syn- 
these zwischen  Parmenides  und  Heraclit  hat  vielmehr  erst  Plato,  dessen  Ent- 
wickelungsgang  durch  beide  beeinflusst  war,  ergriffen. 
^j  Vgl.  Euripides  fr.  83G  Nauck: 

^vfjoy.fi  d'  oviUv  Twv  '/c/ronivuiv, 

(i'iaxQivöfjLtvov  ö'  a?.?.o  tiqu;  a).).u  [a'yJ.to  Bernays,  u'/j.iiv  Diels) 

fXOQffljV    STtQav    UTlOlffl^et. 
li.ieu.iikiT:  D;is  Problem  dor  Materie  etc.  .j 


66  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Einsicht,  dass  in  allen  Veränderungen  der  Körperwelt  die  Summe  der 
Materie  dieselbe  bleibt.  In  dieser  Erkenntnis  von  der  Unvergäng- 
lichkeit  der  IMaterie.  welche  ihrer  Substanz  nach  durch  keinerlei 
Naturvorgänge  erzeugt  oder  zerstört  werden  kann ,  liegt  bereits 
der  Satz  eingeschlossen^  welchen  die  Neuzeit  als  das  Gesetz  von 
der  Erhaltung  der  Materie  dem  Geselze  von  der  Erhaltung  der 
Kraft  zur  Seite  zu  stellen  pflegt.  Freilich  lehrten  schon  die  Elea- 
ten  Beharrlichkeit  des  Seienden.  Aber  erst  die  jüngeren  Natur- 
philosophen, welche  die  Veränderungen  der  Phänomene  nicht, 
wie  die  Eleaten,  als  blossen  Sinnestrug  bezeichneten,  sondern  für 
«  dieselben  im  Wechsel  der  Verbindungen  materieller  Teilchen  eine 
objective  Begründung  suchten,  haben  die  Erhaltung  der  Materie 
in  den  Gegensatz  zu  jenem  Wechsel  ihrer  Verbindungen  gebracht. 
Natürlich  ist  es  noch  ein  weiter  Weg  von  dieser  alten,  aus  allgemein 
begrifTlichen,  apriorischen  Erwägungen  geschöpften  Überzeugung  bis 
zu  dem  modernen  Satze,  der  sich  erst  als  reife  Frucht  einer  unabläs- 
sigen Befragung  der  Natur  durch  das  physikalische  und  chemische 
Experiment  und  einer  stetig  voranschreitenden  denkenden  Bear- 
beitung der  Resultate  des  letzteren  ergeben  konnte.  Aber  sind 
auch  die  Motive,  auf  welche  antike  und  moderne  Anschauung  sich 
stützen,  höchst  verschiedener  Natur,  so  bleibt  es  doch  eine  be- 
merkenswerte Thatsache,  dass  uns  fast  beim  Beginn  der  philo- 
sophischen Naturforschung  eine  Vorstellimg  begegnet,  welche  mit 
den  heutzutage  geltenden  Ansichten  wenigstens  in  ihrer  Thesis 
identisch  ist. 

Auch  im  einzelnen  haben  die  Systeme  jener  Denker  zu  einer 
Theorie  der  Materie  nicht  unwichtige  Bausteine  geliefert.  Empedocles 
beherrscht  durch  seine  Lehre  von  den  vier  Elementen  die  Physik  des 
Altertums  und  des  Mittelalters,  wohingegen  Leucipp  und  Democrit 
mit  ihrer  Atomenlehre  im  Groben  die  Anschauungen  der  Neuzeit  an- 
ticipieren.  Anaxagoras  hat  durch  seine  folgenreiche  Unterschei- 
dung zwischen  den  körperlichen  Stoffen  und  dem  weltordnenden 
Nus  den  Dualismus  zwischen  Materie  und  Geist  eingeführt,  den 
die  spätere  Philosophie  nm-  innerhalb  der  verhältnismässig  selt- 
neren Systeme  eniseitig  materialistischen  oder  einseitig  spiritua- 
listischen  Characters  vorübergehend  wiederum  mit  der  rein  moni- 
stischen Auffassung  des  Seienden  vertauscht  hat.  Es  möge  darum 
gestattet  sein ,  diejenigen  eigentümlichen  Momente  in  den  Syste- 
men dieser  Männer  herauszuheben,  welche  das  uns  beschäftigende 


Die  jüngeren  Naturphilosophen.    Gonstanz  der  Materie.    Empedocles.      G7 

Problem   berühren ,   um    so   die  Stellung  des  einzelnen    zu   jener 
Frage  genauer  zu  bestinunen. 


a.  £uipo(locles. 

Die  eigentümliche  Fassung,  welche  der  Begriff  von  der  sinn- 
fälligen Welt  und  dem  ihr  zugrunde  liegenden  Hein  bei  Empe- 
docles erfährt,  begreift  sich  am  besten  durch  seine  Stellung  zu 
Parmenides.  Von  diesem  nehmen  seine  abstract  ontologischen 
Ideen  ihren  Ausgang,  freilich  so,  dass  sie  den  parmenideischen 
Standpunct  wesentlich  umbilden.  Ebenso  zeigen  auch  seine  con- 
cret  physikalischen  Vorstellungen  eine  weitgehende  Anlehnung 
an  den  Vorgänger;  in  dem  Zuwachs  aber,  den  sie  erfahren, 
tritt  jene  Veränderung  des  ontologischen  Standpunctes,  dem  Par- 
menides gegenüber,  anschaulich  zutage. 

Schon  oben  wurde  hervorgehoben,  wie  die  parmenideische 
Vorstellung  von  der  Unmöglichkeit  eines  Werdens  und  Vergehens 
des  Seienden  bei  den  jüngeren  Naturphilosophen  durchaus  fest- 
gehalten wird.  So  kann  auch  nach  Empedocles  zu  dem  seienden 
All  weder  etwas  hinzukommen,  noch  von  ihm  weggenommen  wer- 
den, und  zwar  aus  eben  den  schon  von  Parmenides  entwickelten, 
auch  von  Empedocles  kurz  angedeuteten  Gründen  ^). 

Dieses  All  nun  stellte  sich  Parmenides  als  eine  wohlgerundete, 
überall  gleichartige  und  überall  im  Gleichgewichte  befindliche 
Kugel  vor  2).  Auch  Empedocles  sieht  in  einem  solchen  Sein  den 
vollkommenen  Zustand  der  Dinge ;  derselbe  ist  ihm  aber  nur  zeitweilig 
verwirklicht,  dann  nämlich,  wenn  alle  Elemente  im  Sphairos  von 
der  Liebe  in  Eintracht  und  Ruhe  geeint  sind,  der  Hass  dagegen 
aus  der  Welt  verbannt  ist.  ^J 


')  V.  77  K,  30  St. :     ak?.o  (ft  rot  i^tw'  ifivaie  ovrfevös  iötiv  änävicov 

&vrjTcSv,  ovtfe  rtg  ov/.o/ue'rov  S-araToio  ■it).tvTrl  •   •   •  • 

V.  81    K.    4SSt. :      ex   re  '/kq   ovifäi.i'  iövrog  d/iijyavup  tan  ytvta&ai, 
y.ai  t'  iov  i^anoXia-O-ai  dvr,vvaTov  xai  utivotov' 
ahl  ydp  TttQiiarai  önj)  xe  tis  auv  i^eiö'rj. 

¥.   120  K  92  St.:      tovto   d'  inav^ijane  tÖ   ndv  il  y.t  xal   nö&tv  i/.&dv; 
71  ji  df  xai  tia7io?.oiaT\  tTtii  rmi'tf  ovdev  tQr^^ov; 

zum  Text  von  v.  81—82  K.  48—49  St.  vgl.  Diels  im  Hermes  XV  (1880)  S.  161  f. 
-)  S.  S.  5G. 

)   V.  .oJ     oO  K.   137 — 138  St.:    nvimg  äQiiovii^i   /irxiliT,  x{.vifn)  t<JTij(jixTai 
atfai(ioi  xvx'/.ojfQi]i  f.iovi'j;  TTt^iY/ti'  yatwv. 
Ob  der  bei  Karsten  als  v.  fil  aus  Stobaeus.  ed.   I,  p.   354  angeführte  Vers  dU 


^   * 


68  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker.    Empe<locles. 

Nach  dem  ganzen  Gharacter  der  Lehre  des  Empedocles  un- 
terhe^t  es  keinem  Zweifel,  dass  eine  Negation  des  Körperhöhen 
ihm  selbst  in  Be/Aig  auf  den  Spliairos  fremd  ist.  Wie  das  Eine 
des  Parmenides,  so  ist  auch  sein  Sphairos  körperlicher  Natur.  Nen- 
platonisclie  Unkritik  hat  natürlich  aucli  bei  ihm  die  eigene  Unter- 
scheidung der  intelligibelen  und  der  sinnKUligen  Welt  wiederfinden 
wollen,  indem  sie  den  von  der  Liebe  beherrschten  Sphairos  mit 
der  ersteren,  den  durch  den  Hass  zur  Vielheit  entfalteten  Kosmos 
mit  der  letzteren  idontificiert.  So  Syrian  i),  Proclus  -);  Simpli- 
cius^),  Asclepius*),  Philoponus  &)  u.  a.  Einer  Widerlegung  be- 
dürfen solche  gewaltsame  Umdeutungen  kaum. 

Auch  darin  stimmt  Empedocles  mit  Parmenides  überein,  dass 
er  das  All  continuierlich  vom  Stoffe  erfüllt  denkt.  Ein  Leeres 
wird  von  ihm  gleichwie  von  den  Eleaten  verworfen.  Zugleich 
hat  der  Begriff  des  Leeren,  welchen  Parmenides  zwar  der  Sache 
nach  kennt,  aber  nur  durch  Umschreibungen  andeutet,  bei  Em- 
pedocles seinen  zutreffenden  sprachlichen  Ausdruck  erhalten'"). 


ü-/f  7Tai'To»fr  laos  (twr)  yal  TJüuTiav  cUfiriiov,  welcher  bei  diesem  Sammler  ohne 
Angabe  eines  Autornamens  dem  zweiten  der  eben  citierten  Verse  voraufgeht, 
wirklich  dem  Empedocles  angehört,  wie  Karsten  (Empedocles,  p.  185)  und  Diels 
(Doxogr.  p.  313  b  adnot.)  anerkennen,  Brandis  (Comment.  Eleat.  p.  132)  in  Alf- 
rede stellt,  lüsst  sich  nicht  ausmachen.  Dem  Parmenides,  wie  Brandis  will, 
kann  er  jedenfalls  nicht  angehören,  da  der  Schluss  des  Verses  mit  Parm.  v. 
108  K.  11^  St.:  fi  yap  närToatr  laov  o;uoi  tv  7ieli>uai  xtQf<  in  offenbarem  "Wi- 
derspruch steht  und  die  von  C.  Wachsmuth  zu  Stob.  1.  c.  vorgeschlagene  Än- 
derung laos  öfuüs  d'  ov  nufxnav  doch  wolil  zu  gewaltthätig  ist.  Freilich  ist 
ebensowenig  abzusehen,  wie  Empedocles  den  Sphairos  zugleich  als  kugelförmig 
{■/.i-yJ.ojtQri?)  und  als  unbegrenzt  [dTiiiQwv)  soll  vorgestellt  haben. 

1)  Syrian.  in  Arist.  metaph.  III,  p.  843  a  4  ff.  üsener;  p.  859  1)  14  l'f.;SGO 
a  17;  XIV.  p.  938  a  21  ff. 

-)  Proclus  in  Tim.  p.  100  D;  in  prior.  Alcib.  col.  414,  IG  f.  Cous.-;  in 
Parmen.  col.  723,  22  ff. 

«)  Simphc.  in  phys.  I,  p.  31,  18  ff.;  VIII,  fol.  258'-  unten,  f.  273v  oben;  vgl. 
257^  unten;  in  Arist.  de  caelo  I,  p.  ()4  a  38— b  9  Karsten ;p.  132  b4— 8;  p.  139 
b  16—18. 

•*)  Asclep.  bei  Brandis,  Schob  in  Arist.  029  a  23  ff. 

^)  Philopon.  in  Arist.  pliys.  quat.  a  ful.  5^;  quat.  c  fol,  Iv;  quat.  f  fol. 
0^';  in  Arist.  de  gen.  et  corr.  fol.  .5''. 

")  V.  03  K.  91  St.:  ovih  n  rov  TTcti-TÖg  xfviuv  niXei  ocJe  ntQiaaöv.  Es  ist 
nicht  ganz  klar,  ob  das  nav  in  diesem  isoliert  überlieferten  Verse  den  Sphairos 
oder   die  jetzt   existierende    Welt   bedeuten    soll     Bei    der   ersteren    Annahme 


Keine  Ncu;ali()n  d.  Köipeiliclieu.  (lontiiniität  u.  elciiient.  (loii.sliUili(in  il.  Stoffs.  69 

Auf  der  anderen  Seite  nmsste  der  Versuch,  aiicli  für  den 
Schein  des  Werdens  der  körperlichen  Dinge  eine  Erklärung  zu 
bieten,  in  den  Ansichten  über  die  Constitution  des  Stoffes  man- 
nigfache Abweichungen  von  Parnienides  mit  sich  bringen.  So 
gehingte  Ernpedocles  zu  der  Scheidung  der  Materie  in  vier  quaU- 
tativ  bestimmte  Elemente,  Eeuer,  Luft,  ^Vasser,  Erde,  die  in  sich 
unveränderlich  sind,  aber  durch  den  Wechsel  ihrer  Verbindungen 
den  Schein  des  Werdens  hervorrufen  *).  Es  ist  eine  ziemlich 
müssige  Frage,  woher  derselbe  die  vier  Elemente  entnommen 
habe.  Spielte  doch  jeder  der  von  ihm  aufgeführten  Grundstoffe  in 
den  vorangehenden  Systemen  schon  eine  Rolle'''),  so  dass  er  selbst 
das  Zerstreute  nur  zu  sammeln  brauchte.  Zudem  bieten  sich,  so- 
bald man  einmal  zu  classificieren  anfängt,  die  Unterschiede  des 
Festen,  Flüssigen,  Luftartigen  und  Feurigen  so  von  selbst,  dass 
man  nicht  absieht,  welche  anderen  Elemente  von  seinem  Stand- 
puncte   aus  er  denn  eigentlich  hätte  aufstellen  können  3). 

In  der  Annahme,  dass  der  Grundstoffe  mehrere  seien,  und 
dass  jeder  dieser  Grundstoffe  in  sich  unveränderlich  sei,  folgen 
dem  Empedocles  auch  die  andern  jüngeren  Naturphilosophen. 
Plato  und  Aristoteles  dagegen,  welche  im  übrigen  seine  Elemen- 


würde  Empedocles  auch  hier  die  Bestimmungen,  welche  Par.Tienides  von 
dem  kugelförmigen  Seienden  giebt,  zunächst  auf  seinen  Sphairos  ülier- 
Iragen  haben,  ohne  dass  man  indes  daraus  folgern  dürfte,  in  der  Welt  der 
Vielheit  habe  er  die  Existenz  des  leeren  Raumes  zugelassen.  Letzteres  ist  ent- 
schieden ausgeschlossen  durch  Arist.  de  caelo  IV  2,  309  a  19—21,  Theophrast. 
de  sensu  §.  13  (Diels,  Doxogr.  p.  503,  lU),  welche  den  Empedocles  überhaupt  jedes 
Leere  verwerfen  lassen. 

1)  Die  Stellen  bei  Zeller  P,  G8(j,  1.  Zu  den  Versen  124  ff.  K.  96  ff.  St.  vgl. 
Diels,  Sitzungsberichte  d.  Berl.  Ak.  d.  Wiss.  1884  S.  366.  Der  Na  nie  , Element" 
(aToixft^oi-)  scheint  erst  durch  Plato  eingeführt  zu  sein;  vgl.  Eudemus  bei  Simpl. 
phys.  I,  p.  7,  13.  Diog.  Laert.  III  24. 

-j  Die  Erde  bei  Xenophanes ;  s.  S.  49  Anm.  5. 

")  Dieselben  Elemente  bei  den  Indern,  freilich  mit  Hinzufügung  des  Äthers 
(äkäca)  als  fünften  Elements,  der  bei  den  Griechen  zumeist  mit  der  Luft  in 
eins  gesetzt  wird  (Nach Weisungen  z.  B.  bei  Alfr.  Weber,  Indische  Slud.  II,  66. 
L.  V.  Schroeder,  Pythagoras  und  die  Inder,  Leipzig  1884.  S.  62  ff.  Ein  Beispiel 
aus  volkstümlicher  Jaina-Litteratur  bei  Alfr  Weber,  Über  das  Uttamacaritraka- 
Ihänakam,  Sitzungsber.  d.  Berl.  Ak.  d.  Wiss.  1884  S.  293  f.).  Doch  zeigt  Deussen, 
Das  System  des  Vedänta,  Leipzig  1883,  S.  249,  dass  der  äkäqa  nicht  so  sehr  den 
Äther  bezeichne,  als  den  körperlich  aufgefassten,  alldurchdringenden ,  allgegen- 
wärtigen Piaum,  und  keineswegs  mit  den  übrigen  Elementen  auf  einer  Stufe  stehe. 


70  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker. 

[  tenlelire  anneliincn,  behaupten  ein  Übergehen  des  einen  Elementes 
I  in  das  andere  und  zerstören  dadurch  im  Grunde  den  Begriff  des 
1  Elementes  wieder.  Für  Empedocles  ist,  wie  für  Anaxagoras  und 
Democrit,  der  Unterschied  seiner  Grundprincipien  ein  ursprüng- 
hcher  und  unaufhebbarer.  Brandis'),  Ritter^),  —  in  etwa  auch 
Karsten  ^)  —  wollen  zwar  in  gewissen  Ausführungen  des  Aristoteles 
'  den  Sinn  ünden,  dass  Empedocles  eigentlich  allen  vier  Elementen 
eine  gemeinschaftliche  Materie  zugrunde  lege,  als  welche  er  die 
(filia  betrachte.  Doch  zeigt  Zeller*)  überzeugend,  dass  an  allen 
diesen  Stellen  Aristoteles  nicht  über  den  historischen  Sinn  der 
Lehre  des  Empedocles  berichtet,  sondern  Consequenzen  hinstellt, 
zu  welchen  ein  folgerichtiges  Ausdenken  derselben  hinfüliren  müsse. 
Stehen  also  in  diesem  Betracht  die  empedocleischen  Elemente 
als  letzte  Urbestandteile  den  Homoeomerien  des  Anaxagoras 
und  den  Atomen  Democrit's  näher,  so  unterscheiden  sie  sich  von 
den  letzteren  durch  ihren  erkenntnistheoretischen  Wert.  Denn 
während  sowohl  die  Theorie  der  Homoeomerien,  wie  die  Atomen- 
lehre zur  Erklärung  der  Erscheinungen  nicht  wahrnehmbare  Ur- 
gründe der  Dinge  hypothetisch  aufstellen,  bieten  die  Elemente 
des  Empedocles  nur  eine  oberflächliche  Classification  der  in  der 
Erfahrung  gegebenen  Stoffe  nach  ihren  allgemeinsten,  in  der  Er- 
fahrung vorliegenden  Qualitäten  des  Festen,  Flüssigen  u.  s.  w. 

Den  Grund  für  die  Verbindung  und  Trennung  der  an  sich 
ruhenden  Stoffe  sieht  Empedocles  in  den  bewegenden  Kräften  •'») 
der  Liebe  und  des  Hasses,  von  denen  erstere  die  Vielheit  der 
Einheit  des  Sphairos  entgegenführt,  letzterer  die  Einheit  zur  Viel- 
heit auseinanderreisst '*).  Es  ist  diese  seine  Anschauung  zwar  noch 
eine  durchaus  mythische.  Getreu  der  Vermenschlichung  der  Na- 
tur, welche  die  ganze  griechische  Naturphilosophie  beherrscht,  er- 
weitert er,  unter  scharfem  Tadel  derer,  welche  nicht  über  das  Men- 
schengeschick  hinausblicken  ''),  die  Vorstellung  von  der  die  mensch- 


')  Gesch.  (1.  griech.  röm.  Phil.  I,  S.  200  t. 

^)  Gesch.  d.  Phil,  l-,  S.  533  f.  Anm. 

3)  Empedocl.  carm.  rel.  S.  319  ff. 

*)  Phil.  d.  Gr.  l\  691,  1. 

*)  Arist.  de  gen   et  corr.  I  1,  314  a  17. 

'■')  Emped.  v.  88—100  K.  61—73  St. 

')  Emp.  V.  109  K.  82  St.  bei  Simplic.  in  phys.  p.  158,21  (von  der  ifä.ÖTrn 

rjTte  xal  -O-rrjToiai  rofii^frat  (/.nfvTog  cl.Q&(ioig 
1  ij   le  (fi^u  ^(loveovoi  xal  a.(i\hniu  f()'/a  rtkovat. 


Ein]iedocles.     Stoff  und  Kraft.     Verhältnis  zur  Atomistik.  71 

liehen  Herzen  bewegenden  Aphrodite  zur  Vor.stellung  einer  das  All 
durch  waltenden  Liebeskraft.  Damit  aber  macht  er,  über  Par- 
nienides  hinausgehend ,  bereits  den  Anfang  zu  einer  Unterschei- 
dung zwischen  den  an  sich  unbewegten  Stoffen  und  der  geistigen 
Kraft,  welche  jenem  den  ersten  Anstoss  zur  geordneten  Bewe- 
gung giebt.  80  hat  er  den  durch  Anaxagoras  zuerst  mit  eini- 
ger Bestimmtheit  vorgetragenen  Gegensatz  zwischen  Geist  und 
Materie  vorbereitet. 

In  einer  anderen  Beziehung  dagegen  steht  Empedocles  den 
Atomikern  näher.  Zwar  dass  er  bereits  ausdrücklich  die  Masse 
eines  jeden  Elementes  in  kleinste  Bruchstücke  (^gavaficcta), 
kleinste  Massenteilchen  {(.iixQOTfooi  oyxoi)  habe  zerfallen  lassen, 
entsprechend  den  Atomen  des  Leucipp  und  Democrit,  wird  erst 
von  verhältnisnicässig  späten  Zeugen  berichtet^)  und  findet 
keine  directe  Bestätigung,  in  den  empedocleischen  Fragmenten. 
Aber  schon  Aristoteles"^)  hebt  hervor,  dass  die  Lehre  des  Empe- 
docles in  der  That  auf  eine  solche  Lösung  hindränge.  Wenn  in 
allem  Wechsel  der  Dinge  die  Elemente  selbst  doch  stets  unver- 
ändert bleiben ,  wenn  alle  Verschiedenheit  der  Dinge  nur 
durch  die  verschiedenen  Mischungsverhältnisse  der  Grundstoffe 
bedingt  wird  3),  so  dass  sich  z,  B.  Fleisch,  Sehnen,  Nägel,  Kno- 
chen nur  durch  die  verschiedene  Anzahl  der  Teile  unterscheiden, 
welche  sie  von  jedem  Elemente  einschliessen  ■^),    so    wird   in  der 


yr,{hoavvr,v  y.uXeuvifi  fyitiivvuov  rjö'  'JifQodittß'' 

Ttjv  ovrii  i-ifS-'  o/.niaiv  (so  richtig  Panzerbieterj  f?.ioaoiifvtjv  (hiiür^xt 

Vgl.  auch  V,  35    37  K.  5-7  St. 

')  Ersteres  Plut.  plac.  I  13.  Stob.  ecl.  I,  p.348  (Diels,  Doxogr.  p.  312);  letz- 
teres Plut.  plac.  I  17.  Stob.  ecl.  I,  p.  368  (Diels,  Dox.  p.  315).  Solche  &{>ai-auaza 
werden  Stob.  ecl.  I,  p.  350  auch  dem  Pontiker  Heradides,  ^(inrarc'.  aiuiyfin  Sext 
Ernp.  Pyrrh.  hyp.  ]II  33  dem  Arzt  Asclepiades  aus  Bithynien  beigelegt. 

2)  de  gen.  et  corr.  I  8,  325  b  5—10;  vgl.  de  caelo  III  6,  305  a  1—4. 

3)  Emped.  v.  136  f.  K.  108  f.  St. : 

avTci    (die  Elemente)   yciQ  tanv  ravTa,    dl'  d).}.i]hi)v   öl    Oeorrc. 
'/lyvfTai  d).).oini7id'  röcrov  (fiä  y.(>(ioi<;  a,ufißii. 

Zum  letzten  Verse  vgl.  Diels,  Hermes  XV  (1880)  S.  163  f. 

*;  Plut.  plac.  V  22  (Diels,  Doxogr.  p.  434),  dessen  Ausführungen  we. 
nigstens  hinsichtlich  der  Zusammensetzung  der  Knochen  durch  Emped.  v. 
211—214  K.  198—202  St.  (zum  Text  vgl.  Diels,  a.  a.  0.  S.  166)  ihre  volle  Bestäti- 
gung finden. 


72  Efsler  Abschnitt.     Vur-socnitiker. 

Tlial  (l(!r  V^ersuch,  die  Möglichkeit  einer  solchen  Mischung  sich 
klar  /AI  machen,  zu  der  Vorstc^llung  führen,  dass  die  Masse  jedes 
ICleinentes  sich  aus  kleinen  Teilchen  zusammensetze,  welche  bei 
der  gegenseitigen  Mischung  der  Elemente  neben  einander  treten. 
Darin  ist  freilich  die  wesentliche  Eigenschaft,  welche  die  Atomen- 
lehre ihren  Urbestandteilchen  beilegt_,  nämlich  die  Unteilbarkeit, 
noch  nicht  ausdrücklich  gefordert.  Aber  auch  diese  ergiebt  sich 
aus  einer  anderen  physikalischen  Vorstellung  des  Empedocles  als 
nalicliegcnde  Folgerung.  Von  jedem  Körper  nämlich,  lehrt  die- 
ser —  und  Leucipp  ist  ihm  darin  gefolgt  —  lösen  sich  Ausflüsse 
XänooQoiai)  ab  ^)  welche  von  ihm  aus  sich  fortbewegen  und  in 
die  Poren  {ttöqoi)  anderer  Körper  eindringen.  Hierauf  beruht, 
wie  überhaupt  alle  gegenseitige  Einwirkung  der  Körper  auf  ein- 
ander, so  auch  die  Möglichkeit  einer  Mischung  derselben  2).  Ob- 
wohl nun  Empedocles,  wie  es  scheint,  sich  nicht  weiter  gefragt 
hat,  ob  jene  Poren  als  leer  oder  als  mit  Luft  gefüllt  vorzustellen 
seien  3),  so  musste  ein  consequentes  Ausdenken  seiner  Lehre  doch 
zu  der  ersteren  Annahme  führen.  Denn  nur  für  die  ge- 
dankenlose sinnliche  Auffassung*)  konnte  die  Luft  als  ein 
Leeres,  nicht  eigentlich  Seiendes  erscheinen,  welches  dem  Ein- 
dringen der  Ausflüsse  keinen  Widerstand  entgegensetzte.  Aber 
schon  des  Empedocles  Zeitgenosse  Anaxagoras  bewies  durch 
physikalische  Versuche,  dass  eingeschlossene  Luft  sich  niclil 
völlig  zusammendrücken  lasse  ^).  So  war  denn  das  von 
Empedocles  im  Anschluss^an  die  parmenideische  Begriffsdialectik 
principiell  ausgeschlossene'^)  Leere  gewissermassen  durch  die 
Hinterthiir  der  physikalischen  Vorstellung  wieder  hereinge- 
bracht. Der  überall  von  Poren  durchzogene  Stoff  löste  sich  auf 
in  ein  discontinuierliches,  durch  leere  Zwischenräume  getrenntes 
Aggregat  in  sich  nicht  mehr  geschiedener  Teile.  Damit  aber  war  die 
Grundlage  der  Atomistik  gewonnen.  Auch  für  diese  bildet  den 
Ausgangspunct  die  parmenideische  Metaphysik;  aber  Empedocles 
mit  seiner  Physik  schlägt  die  Brücke  zu  ihr. 


1)  Emped.  v.  2G7  K.  i281  St. 

•-)  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  S,  3ii4  b  i!5— 35;  325  1)  1-2.     Vgl.  Plat.  Meno 
7ß  G  und  dazu  Diels ,  Sitzungsber.   d.   Berl.  Ak.  d.  Wiss.  18S4.  S.  343—368. 
3)  Vgl.  Zellei-  I^  694,  ±  —  *)  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  3   318  b  29. 

'•')  S.  Ö.  39.  —  ")  S.  S.  68. 


Anaxaguras.     Verliällnis  zur  Alüiui.sUk.  T,] 

l>.  Aiiaxag'oras. 

Mit  Enipedocles  leugnet  auch  Anaxagoras  i),  dass  ein  Werden 
oder  Vergeben  möglich  sei.  Es  ist  alles.  Weil  es  nun  nicht 
denkbar  ist,  dass  es  mehr  geben  sollte  als  alles,  so  kann  zu  dem 
All  nichts  hinzutreten,  ebensowenig  als  dasselbe  vermindert  wer- 
den kann  (Fr.  14)2).  Hcm  Ding  entsteht  oder  vergeht,  nur 
Mischung  aus  den  bestehenden  Dingen  und  Entmischung  aus 
denselben  giebt  es.  Was  die  Menschen  Entstehen  und  Vergehen 
nennen,  ist  in  Wahrheit  Mischung  und  Entmischung  (Fr.  17).  Die 
in  diesen  Bestimmungen  hervortretende  Übereinstimmung  mit  Em- 
pedocles,  welche  sich  sogar  bis  auf  das  Einzelne  des  Ausdrucks 
erstreckt  3),  beweist,  dass  Anaxagoras  das  Lehrgedicht  des  Empe- 
docles  vor  sich  hatte  und  wenigstens  in  teilweiser  Anlehnung  an 
dasselbe  seine  Gedanken-  entwickelte  ^). 

Während  aber  Enipedocles  die  einzelnen  qualitativ  verschie- 
denen Dinge  dadurch  sich  bilden  lässt,  dass  die  Elemente  des 
Feuers,  der  Luft,  des  Wassers  und  der  Erde  in  verschiedenen 
jMischungsverhältnissen  zusammentreten^),  betrachtet  Anaxago- 
ras die  qualitativ  verschiedenen  Dinge  {xQrißaxu)  selbst  als  ur- 
sprünglich ''). 

Wie  aber  kann,  wenn  alle  Dinge  gleich  ursprünglich  sind, 
der  Schein  entstehen,  als  werde  das  eine  aus  dem  andern  ?  Ana- 
xagoras löste  das  Problem ''),  indem  er  annahm,  dass  das  schein- 


■)  Teil  eitlere  die  Fragmente  nach  Guil.  Schorn,  Anaxagorae  Clazonienii 
et  Diogenis  Apolloniatae  fragmenta.  Bonnae  tS"29(mit  dem  die  Zahlen  hei  MuUacli 
ühereinslimnien).  unter  sfillschwelgeüder  Einführung  der  dui'ch  Dlels'  Simpll- 
cius-Ausgal)e  gehotenen  Veränderungen. 

-)Bei  Slmplic.  phys.  I,  p.  156,  10 — 12:  ronimi-  di  ovro  Stay.f/.niuiviov  yi- 
vioay.itv  XQVi  ^ti  Tidvru  oiuiev  D.äaam  tail  oi'cfi  ii'/.iio.  oc  yÜQ  clvrOröv  ndvrcnv  /iXiio 
f(Vrt^  äXXd  Tiaria  YfSn  ahi. 

^)  Vgl.  Anaxagor.  Fr.  14  (ciliert  Anm.  i2j  und  Enipedocles  v.  118—1:21  K. 
90—93  St.  (oitiert  S.  67  Anm,  1);  Anaxagor.  Fr.  17  (citiert  S.  64  Anm.  4) 
und  Empedocl.  v.  36—39  St.  77—80  K.  (citiert  S.  67  Anm.  1  u.  64  Anm.  4). 

■*)  Dass  nicht  etwa  umgekehrt  Enipedocles  von  Anaxagoras  altliängig  ist, 
zeigt  Zeller  P,  919.    • 

'")  S.  S.  71  f. 

")  Belege  bei  Zeller  V,  876,  1. 

')  Zum  Folgenden  vgl.  Arist.  phys.  I  4,  187  a  'ib — ii  7.  Simplic.  phys.  l, 
p.  162,  26-163,  8. 


74  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

bar  entstehende  Neue  in  dem  Alten  bereits  vorhanden  war^), 
jetzt  dagegen  erst  für  sich  hervortrete.  AVenn  ]3ei  dem  Schmel- 
zen des  weissen  Schnees  dunkles  Wasser  sich  bildet,  so  mussten 
schon  vorher  dunkle  Teilchen  vorhanden  sein,  nur  bis  dahin  un- 
sichtbar wegen  des  Vorwaltens  des  Weissen  2).  Allem  sind  Teile 
von  allem  beigemischt  (Fr.  5.  6.  16);  in  allem  finden  sich  Samen 
aller  Dinge  (ansQfiara  ttcIcvtmv  ^Qy^f^iücan),  verschieden  an  Aus- 
sehen, Farbe  und  Geschmack  (Fr.  3).  Wovon  am  meisten  Teil- 
chen sich  in  einem  Dinge  befinden,  das  scheint  es  zu  sein  (Fr.  6 
Schluss).  Aber  wenn  auch  der  eine  Gegenstand  mehr  von  dieser, 
der  andere  mehr  von  jener  Art  enthält,  so  bleibt  doch  stets  alles 
in  allem ;  im  Kleinen  sind  so  vielerlei  Teile  enthalten  als  im 
Grossen  (Fr.  G).  Natürlich  sind  diese  Teilchen  —  Homoeome- 
rien  nannte  sie  die  spcätere  Zeit  mit  einem  aus  der  aristotelischen 
Terminologie  entwickelten  Ausdruck  3)  — ,  welche  nur  dann  sicht- 
bar werden,  wenn  sie  in  compacten  Massen  auftreten,  jedes  für 
sich  unsichtbar.  Sie  bilden  also  keinen  Gegenstand  der  Erfah- 
rung, sondern  der  Vernunfterkenntnis. 

Nun  entsteht  aber  nicht  nur  das  eine  Ding  —  scheinbar  na- 
türlich —  aus  dem  andern;  sie  alle  zusammen  müssen,  vom 
Standpuncte  der  Anschauung  aus,  einmal  einen  Anfang  genom- 
men haben.  Der  ursprüngliche  Zustand  konnte  daher  nur  der 
einer  völligen  Mischung  aller  Dinge  sein,  in  dem  noch  gar  nichts 
Besonderes  und  Bestimmtes  hervortrat,  weil  noch  alle  Dinge,  in 
unendlich  kleine  Teilchen  aufgelöst,  aufs  innigste  mit  einander  ver- 
bunden waren  {ö(Xov  7r«VTa  ;((>>; jaara  i'^r  Fr.  1). —  So  unglaublich  es 
ist,  so  hat  doch  ein  Neuplatoniker  es  fertig  gebracht,  aus  dieser 
anfänglichen  Einheit  der  Stoffe  bei  Anaxagoras  die  intelligibele 
Welt  seines  eigenen  Systems  herauszulesen.  Simplicius  schreibt 
an  mehreren  Stellen  dem  Anaxagoras    die   Unterscheidung-  einer 


1)  Arist.  phys.  I  4,  187  a  31—32.    Simplic.  phys.  III,  p.  460,  12  ff. 

")  8ext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I  33.  Die  Deutung,  welche  der  , schwarze  Schnee" 
des  Anaxagoras  kürzlich  bei  Herrn.  Kothe,  N.  Jahrb.  f.  Phil.  Bd.  133(1886)  S.  768  f. 
gefunden  hat,  dürfte  schwerlich  haltbar  sein,  da  der  Schnee  im  Dunkel  höch- 
stens grau,  aber  niemals  schwarz  erscheint. 

'■')  Über  den  Namen  üiuoio,uf()nai  vgl.  Schleiermacher  (Über  Diogenes  von 
Apollonia  ,  Werke,  Abt.  III,  Bd.  2.  S.  167),  Ritter  (Geschichte  der  Ionischen 
Philosophie.  Berlin  1821.  S.  211.  269),  Breier  (Die  Philosophie  des  Anaxago 
ras  von  Clazomenä  nach  Aristoteles.     Berlin  1840.  S.  1—54),  Zeller  I*,  877  ff.. 


Anaxagoras.    Constitution  des  Stoffs.  75 

doppelten  Welt,  einer  intelligibelen  und  einer  sinnfälligen  zu  *), 
ja,  er  legt")  ihm  hinsichtlich  der  ersteren  sogar  die  Unter- 
scheidung eines  doppelten  Zustandes  bei,  des  Zustandes  der  in- 
telligibelen Einheit  aller  Ideen  ^)  und  des  Zustandes  der  intelli- 
gibelen Besonderung  derselben  *).  Weiter  darauf  einzugehen,  ist 
überflüssig. 

Jene  ursprünglichen  Teilchen  der  verschiedenen  Stoffe  sind  we- 
gen ihrer  unbegrenzten  Kleinheit  unendlich  an  Zahl°).  Aus  dem- 
selben Grunde  entzieht  sich  das  einzelne  Teilchen  der  Wahrneh- 
mung (Fr.  3).  Gerade  hierin  liegt  die  Möglichkeit  jener  Besiim- 
mungslosigkeit  des  anfänglichen  Gemisches.  Weil  sich  in  dieser 
ursprünglichen  Einheit  aller  Stoffe  noch  nirgendwo  Teilchen  der- 
selben Art  in  überwiegender  Anzahl  zusammengefunden  hatten, 
vielmehr  alles,  von  Luft ")  und  Äther  durchwaltet,  eine  unter- 
schiedslose Masse  bildete,  so  konnte  in  dieser  Mischung  noch 
nichts  Bestimmtes  erkannt  werden  (Fr.  1).  Die  Qualitäten  waren 
zwar  vorhanden,  aber  sie  traten  für  die  Erkenntnis  noch  nicht 
zutage.  Insofern  kehrt  auch  in  dieser  ursprünglichen  Einheit 
des  Anaxagoras,  welche  ebenso  wie  der  Sphairos  des  Empedocles 
die  sinnliche  Wahrnehmung  ausschliesst,  dasjenige  Bild  des 
Seienden  wieder,  welches  die  Eleaten  entworfen  hatten.  Ein 
weiterer  Schritt  wäre  es  gewesen,  auch  das  objective  Vorhanden- 
sein bestimmter  Qualitäten  dem  Einheitszustande  des  Stoffes  ab- 
zusprechen. Es  würde  sich  dann  eine  Vorstellung  von  der  qua- 
litätslosen Materie  ergeben  haben,  ähnlich  wie  Plato  und  Ari- 
stoteles oder  noch  mehr,  wie  die  Stoiker  sie  ausbildeten.  Schon 
Aristoteles  hebt  hervor,  dass  die  Lehre  des  Anaxagoras  sich  in 
jener  Weise  durchdenken  lasse '').  Für  den  Anaxagoras  selbst  war 


1)  Simplic.  phys.  p.  34,  18—35,  21;  p.  157,  5—24;  p.  461,  11—12;  fol.  257v. 

2)  an  der  ersten  der  Anm.  1.  citierten  Stellen. 

^)  auf  welche  das  öuov  nävia  (Fr.  1)  gehen  soll. 

*)  auf  welche  Fr.  3  und  10  bezogen  werden. 

*j  Fr.  1.  Vgl.Hippolyt.  refut.  I  8,  1,  wo  mit  Diels,  Dox.  561,  26  adn.  crit.,  zu 

lesen   ist:   xal   xard   Ti'iV  auiXQÖrrja  avi<7)V  a-rtipa  /.f'yei. 

^)  Hierbei  scheint  eine  Anknüpfung  an  Anaximenes  vorzuliegen,  an  den 
auch  das  anetQov  7ifQii-/^ov  (Fr.  2,  bei  Simpl.  phys.  156,  1)  oder  noXv  ntQiixov 
Fr.  2,  bei  Simpl.  phys.  155,  31.  Fr.  12,  bei  Simpl.  phys.  157,  8;  vgl.  Diels  in 
der  adn.  crit.  zu  Simpl.  phys.  I,  p.  157,  7)  erinnert. 

')  Arist.  nietaph.  I  8,  989  a  30— b  21.     Vergl.  Breier,  Anaxagoras,  S.  87  f. 


70  Erster  Ahsclinilt.     Vorsocruüker. 

(iicso  AulTassiiuj;  unmöglich,  weil  iliiu  keine  Ouelle  zugebolr 
stand,  aus  der  er  jene  Bestimmungen  in  eine  an  sich  bestimmungs- 
lüse  Materie  hätte  einführen  sollen. 

Aus  der  lückenhaften  Überlieferung  erhellt  nicht  mehr  genau, 
wie  Anaxagoras  den  Fundamentalsatz  seiner  Körperlehre  begrün- 
dete, dass  alles  in  allem  sei  —  nicht  nur  im  Zustande  der  ur- 
sprünglichen Einheit  aller  Stoffe,  sondern  auch,  nachdem  die  Ein- 
zeldinge sich  gebildet  (Fr.  16).  Indes  scheint  sich  aus  der  Ver- 
gleichung  von  Fr.  15 1)  und  Fr.  16  2)  der-folgende  Gedanke  zu  er- 
geben. Nur  unter  zwei  Bedingungen  würde  das  Kleinere  eine  ge- 
^■ingere  Anzahl  verschiedenartiger  Stoffe  einschliessen,  als  das  Grös- 
sere. Entweder  müsste  die  Grössenverminderung  zur  Folge  haben, 
dass  der  eine  oder  andere  der  in  dem  betreffenden  Gegenstande  ent- 
haltenen Stoffe,  nachdem  er  auf  das  kleinste  denkbare  Maass  redu- 
ciert  wäre,  bei  weiter  fortgesetzter  Abnahme  völlig  wegfiele,  oder  es 
müsste  bei  der  Grössen  Vermehrung  ein  solcher  Gi-ad  erreicht  wer- 
den können,  dass  aller  Stoff  einer  bestimmten  Art  von  dem  betretTen- 
den  Gegenstande  absorbiert  würde,  so  dass  in  anderen  Gegen- 
ständen nichts  von  ihm  mehr  vorhanden  wäre.  Beides  aber  ist 
nicht  der  Fall;  es  giebt  kein  Kleinstes,  hinter  dem  nicht  ein  noch 
Kleineres,  kein  Grösstes,  über  das  hinaus  nicht  ein  noch  Grösse- 
res möglich  wäre.  —  Ihre  Bestätigung  findet  diese  Auslegung  durch 
die  Art  und  Weise,  wie  der  Gedanke  des  i\.naxagoras  durch  Ari- 
stoteles s)  und  Theophrast^)  bekämpft  wird. 


')  Aiiaxng-.  bei  Sinipl.  pliys.  I,  i^.  llii,  17— 2U  und  p.  l(i(i,  15—16:  orrf  zot- 
a/iiynor  yt  tnri  lü  yi  t?My/aTov ,  a?./.'  i/.aaaov  ahl'  to  yäp  luv  ot'x  ean  tu  fxi}  {roii^ 
Zeller  I*,  884.  3)  ovx  rirar  d/j.d  y.al  Tov  i(f'/d?.nc  ahl.  tan  /je'Zor'  xcu  l'aov  tari  Tm 
aiif/Qia   Ti/S^Uog,   TjQOi  Hiu-To   ()'f   Fy.aaTÖv  tau   y.cu    iir/a  yxi  aniyQÖr, 

-)  Anaxay.  liei  Sinip'.  pbys.  I,  p.  101,  .(i — 105,  1  :  ycd  Ük  <fe  laut  iiol'^if'.i 
flat  TOV  tt  ßfyü'Aoi':  y.al  tov  OfiiyQov  n'/.fixhoi  ^  xal  orTucg  äv  (Tri  *'•'  ^uvti  närTa'  ov()'i 
y">Qi?  lOTi  fi'vai,  d'/.).ä  TidvTa  navTug  liioi^av  fifT^yfi.  öre  TOv?.dyiaTov  firj  i'aTi  fi'vai,  ovx  dp 
li'vrcuTo  yrrifiin&^ii-ai ,  m'd'  dv  ttf  imvTov  yfvca&ut ,  «/./.'  oyaiaTifQ  nQyijv ,  fh'cu  yai 
vvv   TidvTit  i'iitnv.   ii>   Txdai   (ff   noX}.d   'evian,   y.ni  tiTiv  duoy^iivoixivdiv  i'aa  7T?.7/&Oi;  iv  rnhii 

i(fX'>"i  Tf  y.ul  f/.daaoai  (d.  h.,  wie  Zeller  P,  882,1  übersetzt:  ..und  in  allem,  auch 
von  den  aus  der  ursprünglichen  Mischung  ausgeschiedenen,  d.  h.  den  Einzel-Dingen, 
sind  verschiedenartige  Stoffe,  in  den  kleineren  soviel  wie  in  den  grösseren." 
Vgl.  den  Anfang  des  Fragmentes.) 

3)  Arist.  phys.  I  4,  187  b  22-.34. 

*)  Theophr.  fr.  26  Usener  (aus  der  Schrift  .hqI  'Jvagayö(,uv)  bei  Simpl. 
phys.  I,  p.  166,  18—20. 


Anaxagoras.     Clonstitution  iles  Stoffs.  77 

Anaxagoras  nimmt  also  die  Möglichkeit  einer  bis  ins  Unend- 
liche fortgehenden  Teilung  des  Stoffes  an.  Voraussetzung  einer 
solchen  unbegrenzten  Teilbarkeit  ist  die  schon  von  Parme- 
nides  und  Empedocles  gelehrte  Continuität  des  Stoffes').  Durch 
beides  miterscheidet  er  sich  von  der  Atomistik.  Ob  dieser  Un- 
terschied indes  aus  einer  Polemik  gegen  jene  hervorgegangen 
ist,  wie  Zeller-)  annimmt,  erscheint  zweifelhaft 3). 

Als  treibende  Kraft  im  Vorgang  der  Mischung  und  Ent- 
mischung hatte  Empedocles,  ausdrücklich  an  die  Verhältnisse  des 
Menschenlebens  anknüpfend,  die  Liebe  und  den  Hass  bezeichnet  ^). 
Anaxagoras  vertieft  den  Gedanken,     Wie  die  wahre    bewegende 


^)  Arist.  phys.  IV  0.  213  a  22-27. 

-)  A.  a.  0.  P  920. 

•')  Zeüer  fasst  a.  a.  0.  das  Vertiältnis  des  Anaxagoras  zur  Atomistik  da- 
liin  zusammen,  dass  zwar  Democrit  in  manchen  seiner  astronomischen  Annali- 
men  von  Anaxagoras  abhängig  sei ,  dass  dagegen  umgekehrt  dieser  den 
Leucipp  bereits  voraussetze.  Denn  wenn  Anaxagoras  die  Annahme  des  leeren 
Raumes  ausführlich  durch  physikalische  Versuche  widerlege  (Arist.  phys.  IV 
6,  21,3  a  22—27;  vgl.  oben  S.  39),  wenn  er  die  Einheit  der  Welt  ausdrücklich 
hervorhebe  und  gegen  eine  Trennung  der  Urstoffe  Einspruch  thue ,  so  könne 
er  hierbei  kaum  andere  Gegner  im  Auge  halien,  als  die  Atomistik. 

Allein  dass  schon  Parmenides  und  Empedocles  das  Leere  bekämpfen,  hebt 
Zeller  S.  921  selbst  hervor.  Nun  ist  aber  wirklich  nicht  abzusehen,  weshalb 
nicht  Anaxagoras  ihren  apriorischen  Argumenten  ein,  wie  er  meinte,  aus 
der  Erfahrung  entnommenes  sollte  hinzugelügt  haben,  auch  ohne  dass  gerade 
das  Auftreten  eines  neuen  Oegners  ihn  zu  dieser  weiteien  Beschäftigung  mit  der 
Sache  veranlasste.  Ein  überzeugender  Beweis  für  den  Einfluss  der  Atomistik 
auf  Anaxagoras  wird  sich  daher  auf  diesen  Umstand  nicht  stützen  lassen. 
—  In  Fragm.  13  (11  Schaubach)  aber:  oi-  xtywpiarai  d/.'/.ip.ojv  (dieses  Wort  setzt 
Diels,    Simpl.  phys.  176,  29  nach  den  Handscbriften  hinzu)   r«  tp  tm  ivl  xuapo) 

uvii'f  dnoy.iy.omai   Tie'/.iy.H    ocit  jü    On,uijf  «,to    lui-   ipry^oc.    ovie  t6    xpvyQoe  dnu  rov 

&(Quov,  in  welchen  Zeller  die  anderen  von  ihm  angegebenen  Gegensätze  zur 
Atomistik  findet,  .sehe  ich  keine  Polemik  gegen  die  Vorstlelung,  welche  allein 
der  Atomistik  entsprechen  würde,  als  seien  die  einzelnen  Stoffteilchen  durch 
ein  Leeres  -räumlich  abgegrenzt.  Der  Vergleich  mit  Fr.  16:  ün  i)t  roc- 
'/.üyiaiui-  .  . .  üuor  (citiert  S.  76  Anm.  3)  scheint  vielmehr  zu  zeigen,  dass  darin 
nur  die  aus  den  Voraussetzungen  des  Systems  naturgemäss  sich  ergebende 
Lehre  ausgesprochen  ist,  nach  der  auch  bei  der  Ausscheidung  der  einzelnen  Dinge 
die  Sonderung  der  Stoffe  keine  vollständige  ist,  sondern  stets  alles  in  allem 
bleibt.  So  hat  auch  Simplicius  das  Fragment  gefasst,  wenn  er  phys.  I.  p.  175, 
14  seinen  Sinn  dahin  erklärt :  or  -/t'n  f  reu  n  tl/./xQus^  y.ait'  avtü. 
')  S.  S.  70-71. 


78  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker. 

und  ordnende  Kraft  im  Menschenleben  nicht  die  mythische  Aphro- 
dite ist,  sondern  des  Menschen  eigener  Sinn  und  Geist,  so  muss 
auch  im  All  die  Bewegung  des  Stoffes,  die  zur  Ausscheidung  der 
Einzeldinge  und  zur  Entstehung  des  kunstvollen  Baues  der  Welt 
führt,  das  Werk  des  Geistes  und  der  Vernunft,  des  Nus  sein  ^). 
Mit  diesem  Satze  trat  Anaxagoras  nach  dem  oft  angeführten 
Worte  des  Aristoteles  ^)  wie  ein  Nüchterner  unter  Stammelnde.  Der 
Gedanke  war  von  höchster  Bedeutung  für  die  Psychologie,  der 
er  eigentlich  ihren  Gegenstand  und  ihr  gesondertes  Feld  zuerst 
nachwies,  wie  für  die  Naturphilosophie,  der  er  zuerst  die  bewe- 
gende Ursache  aufzeigte,  und  in  welche  er  die  teleologische  Be- 
trachtung einführte^).  Doch  ist  eine  weitere  Ausführung  aller  jener 
Beziehungen  nicht  dieses  Ortes.  Darin  aber  liegt  der  ge- 
waltige Fortschritt_,  den  Anaxagoras  auch  für  unsere  Frage  her- 
beiführt, dass  er  zuerst  den  Gegensatz  von  Stoff  und  Geist 
ausspricht.  Der  Geist,  die  weltbildende  Vernunft  ist  allein  für 
sich  {ßovvog  avrog  sc/  eiovtov,  Fr.  6) ;  denn  wäre  er  auch  nur  ir- 
gend einem  Stoffe  beigemischt,  so  würde  er  zugleich  an  allen  Stoffen 
teilhaben,  da  ja  in  jedem  Stoffe  Teile  von  allen  andern  Stoffen 
enthalten  sind;  dadurch  aber  wäre  er  in  seiner  Herrschaft  über 
die  Stoffe  behindert  (Fr.  6).  Schärfer  kann  man  den  Unterschied 
zwischen  dem  Geiste  und  den  Stoffen  nicht  betonen.  Natürlich 
stehen  dem  Anaxagoras  noch  nicht  gleich  die  passenden  Aus- 
drücke zugebote,  welche  die  spätere  Zeit  zur  Bezeichnung  der 
immateriellen  Natur  des  Geistes  gebildet  hat.  Er  bezeichnet  ihn 
als  das  Feinste  und  Reinste  (hnzÖTaTÖv  re  xal  xa^agcSvaTov)  un- 
ter allen  Dingen,  weil  er  nichts  Vorzüglicheres  kennt  als  diese 
Bestimmungen.  Mögen  jene  Bezeichnungen  auch  ihren  Ursprung 
aus  der  sinnlichen  Anschauung  nicht  verleugnen:  wer  deshalb 
den  Nus  des  Anaxagoras  als  einen  Stoff  glaubt  deuten  zu  müs- 
sen, wie  die  übrigen  auch,  nur  feiner  als  diese  ^),  der  verkennt 
die  im  Anfange  des  Fragmentes  deutlich  ausgesprochene  Absicht 


1)  Arist.  metaph.  I  3,  984  b  15—19. 

«)  A.  a.  0. 

^)  Arist.  metaph.  I  3,  984  b  20-22. 

*)  Lewes,  History  of  philosophy,  b^  ed.  London  1880  I,  p.  80,  und  Grote 
daselbst.  Fr.  Kern,  Über  Xenophanes  von  Kolophon.  Stettin  1874.  S.  24. 
P.Natorp,  Diogenes  von  Apollonia.  Rh.  Mus.XLI  (1886)  S.  361  Anni.  2.  Natorp 
legt  u.  a.  auch  Gewicht  darauf,  dass  der  roSf  Fr.  6  von  Anaxagoras  bezeichnet  werde 


Anaxagoras.    Gegensatz  von  Stoff  und  Geist.    Die  Atomiker.  79 

des  Philosophen,  den  Geist  in  Gegensatz  zu  stellen  zu  allen 
Stoffen  1).  Ebensowenig  wird  der  Unterschied  zwischen  Geist 
und  Materie  bei  Anaxagoras  dadurch  verwischt,  dass  derselbe 
(Fr.  5)  den  Nus  manchen  Dingen  innewohnen  lässt.  Denn  dass 
der  Geist  dabei  mit  der  Materie  sich  wie  ein  StofT  vermische, 
sagt  Anaxagoras  nirgendwo;  von  einem  „Orte''  der  Seele  aber 
spricht  nach  Freudenthal's  2)  richtiger  Bemerkung  selbst  der  Spi- 
ritualist Lotze. 

c.  Die  Atomiker. 

Liegt  die  Bedeutung  des  Anaxagoras  für  die  Theorie  der 
Materie  mehr  in  der  Unterscheidung  des  Stoffes  vom  Geiste, 
als  in  seiner  ziemlich  wertlosen  Vorstellung  von  der  letzten 
Constitution  des  Stofflichen  selbst,  so  haben  dagegen  die  Atomiker, 
welche  jenen  Unterschied  übersahen,  auf  diesem  Gebiete  folgen- 
reiche Anregung  gegeben. 

Es  ist  hier  nicht  der  Ort^  auf  den  vor  einigen  Jahren  mit 
grosser  Lebhaftigkeit  geführten  Streit  über  die  Existenz  des  Phi- 
losophen Leucippus  Ucäher  einzugehen 3).  Allerdings  dürfte  es 
schwer  zu  glauben  sein,  dass  der  gerade  um  die  atomistische 
Lehre  so  interessierte  Aristoteles  diese  einer  erdichteten  Per- 
sönlichkeit sollte  zugeschrieben  haben;  aber  für  unsere  specielle 
Untersuchung  ist  diese  historische  Frage  gleichgiltig.     Der  ganze 


als  X(7ijöraTov  ndvTtov  /()?;  i(  a'i  w  i' ;  denn  Tidvra  y^Q/ißarn  hiessen  sonst  bei  Ana- 
xagoras die  Stoffe.  Allein  zu  Eingang  des  Fragments  heisst  es:  vöog  iH  .  .  . 
/.lifuy.jai  ovihvi  x(."'if<ttri.  T3anach  kann  das  Wort  xclf'"-  ^^^  beiden  Stellen  nicht 
im  selben  Sinne  genommen  sein;  der  vor<:  wird  vielmehr  an  der  von  Natorp 
angezogenen  Stelle  als  das  Feinste  aller  Dinge,  nicht  aller  Stoffe,  bezeichnet. 
')  Vgl.  Breier,  Anaxagoras,  S.  63;  Kriscbe,  Forschungen  auf  dem  Gebiete 
der  alten  Philosophie.  Göttingen  1840.  S.  61 ;  Zeller  I\  888,  6;  Siebeck,  Ge- 
schichte der  Psychol.  la,  S.  75 — 80,  und  besonders  Freudenthal,  Theologie 
des  Xenophanes,  S.  46  Anm.  31. 

2)  A.  a.  O.  S.  46  Anm.  31. 

3)  Rolide,  Über  Leucipp  und  Democrit,  in:  Verhandlungen  der  34.  Ver- 
samml.  deutscher  Philologen  zu  Trier  1879.  S.  64—90.  Dagegen,  mit  durch- 
schlagenden Gründen,  H.  Diels,  Über  Leukipp  und  Demokrit,  in:  Verhandl. 
der  35.  Vers,  deutscher  Philol.  zu  Stettin  1880.  S.  96-109.  Replik  von  Hohde: 
Nochmals  Leukippos  und  Demokritos ,  Jahrb.  f.  Philol.  u.  Päd.  Bd.  123  (1881) 
S.  741—748.  Wiederum  H.  Diels:  Leukippos  und  Diogenes  von  Apollonia,  Rh. 
Mus.  XLII  (1887)  S.  1  ff. 


80  ■  Erster  Abschnitt .    Vorsocratiker. 

Unterschied  läuft  darauf  hinaus,  dass  wir  die  Gri^indung  der  atomi- 
slischen  Schule,  wenn  sie  durch  Leucippus  geschehen,  wohl  an  eine 
etwas  frühere  Epoche  des  Eleatismus  anknüpfen  inüssten,  als  es  mög- 
lich wäre,  wenn  erst  Democrit  der  Urheber  dieser  llichtung  sein 
sollte.  Im  letzteren  Falle  können  wir  ohne  alles  Bedenken  bis  auf 
Melissus  herabgehen.  Übrigens  dürfte  ein  Einlluss  des  Mclissus  selbst 
auf  Leucipp,  der  ja  als  Schüler  Zenons  bezeichnet  i)  und  dadurch 
ziemlich  tief  hinabgerückt  wird ,  nicht  undenkbar  sein ,  wenn 
auch  selbstverständlich  Leucipp  zu  Melissus  nicht  in  einem  eigent- 
lichen Schülerverhältnis  gestanden  haben  kann-),  sondern  sich 
dann  gegen  ihn  als  einen  Mitforscher  wenden  würde. 

Dass  der  Atomismus  aus  der  eleatischen  Lehre  hervorgegan- 
gen, indem  er  eben  die  von  diesem  von  vornherein  zurückgewie- 
senen Annahmen  als  das  den  wirklichen  Sachverhalt  richtig  Er- 
klärende betrachtet,  andere  Grundanschauungen  der  Eleaten 
aber,  mit  den  aus  jener  Verschiebung  des  Standpunctes  sich  er- 
gebenden Modificationen,  herübernimmt,  hat  schon  Aristoteles  er- 
kannt 2),  mag  er  den  Leucipp  und  den  Democrit  auch  gelegentlich 
ohne  weitere  Angabe  des  Ursprungs  ihrer  Lehre  zusammen  mit 
Empedocles  und  Anaxagoras  den  Physikern  beizählen  *). 

Bewegung  und  Vielheit,  hatte  Parmenides  angedeutet  und  Me- 
lissus weiter  ausgeführt,  können  deshalb  vor  der  Vernunft  niclil 
als  wirklich  bestehen,  weil  sie  innerhalb  und  ausserhalb  der 
Welt  ein  Leeres,  das  heisst  ein  Nichtseiendes  voraussetzen,  die 
Realität    des    Nicljtseienden    aber     einen    Denkwiderspruch     ein- 


^j  Hippolyt.  refut.  I  12,  1;  Diog.  Laert.  prooem.  15;  IX  .30;  Galen,  bist, 
pliil.  c.  ^.  p.  229  Kuehn  (nach  Tlieophrast;  vgl.  Diels,  Doxogr.  p.  142).  Dass 
Leucipp  bei  Simplicius  als  persönlicher  Schüler  des  Parmenides  bezeichnet 
uerde,  wie  mit  andeien  Zeller  1',  7(>(),  2,  E.  Rohde,  Verb.  d.  34.  Piiilologenvers. 
R.  80  wollen,  liegt  in  den  Worten  phys.  p.  28,  5:  xoirni,)',ou^-   lluQunlö'r,  ti,^  ifi- 

/.oiiiHf  at.i:   (IC   ii]v  avri,t'  tßc'ahat  Ua(_it.ifri<)'ri  y.cd  Snw(}.av(i  {y.al  Zrivwvi  will   Diels,   DoX. 

p.  483,  11  adn.  crit. ,  hinzufügen)  nt()l  rmv  oi-tmv  oiföv  noch  nicht,  da  diescliien 
vielmehr  ganz  allgemein  seine  sachliche  Stellung  zur  eleatischen  Lehre  be- 
zeichnen. 

'-)  Wie  Tzetzes,  Chil.  II  980  angiebt,  schwerlich  auf  Grund  alter  Überlie- 
fei'ung. 

■')  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  8,  325  a  2  —  b  5. 

•*)  Arist.  phys.  IV  G,  213  a  34f.;  respir.  4,  472  a  2:  de  gen.  an.  IV  3,709 
a  18,  vgl.  mit  a  7;  metaph.  XIII  4,  1078  1)  19. 


Die  Atomiker.    Ihr  Verhältnis  zu  den  Eleaten.  81 

schliesst.  —  Eben  weil  es  in  Wirklichkeit  Bewegung  und  Vielheit 
giebt,  erwidert  Leucipp,  ist  das  von  den  Eleaten  als  Seiendes 
Bezeichnete  um  nichts  mehr  als  dasjenige,  was  sie  ein  Nicht- 
seiendes  nennen;  das  Seiende  muss  ein  Nichtseiendes  neben  und 
in  sich  haben,  d.  h,  das  Volle  vom  Leeren  in  eine  Vielheit  von 
Teilen  getrennt   sein. 

Das  Seiende  ist  eines,  d.  h.  ungeteilt,  ein  sv  ^ws^sg^  weil  es 
innerhalb  desselben  kein  Leeres  giebt,  hören  wir  von  den  Ele- 
aten. —  Jedes  einzelne  der  ot'T«,  folgern  mit  einer  aus  der  Ver- 
schiebung des  Seinsbegriffes  naturgemäss  sich  ergebenden  leich- 
ten Abänderung  die  Atomiker,  ist  etwas  durch  das  Leere  nicht 
weiter  Getrenntes,  ist  daher  ein  Unteilbares,   ein  arofiov. 

Der  Sinnenschein  trügt,  betonen  die  Eleaten;  nur  der  Ver- 
nunftschluss  kann  zur  wahren  Erkenntnis  führen.  —  Allein  die 
von  der  Vernunft  zur  Erklärung  der  Erscheinungen  angenomme- 
nen Atome  und  das  Leere  sind  in  Wahrheit  und  in  der  Natur 
der  Dinge,  lehren  Leucipp  und  Üemocrit;  die  Qualitäten  dagegen 
sind  nur  Affectionen  der  Sinne,  hervorgebracht  durch  die  Einwir- 
kung der  verschiedengestalteten  Atome  auf  unsere  Organe'). 

Das  Seiende,  hatten  die  Eleaten  gesagt,  ist  unentstanden,  un- 
vergänglich, unveränderlich.  —  Ein  absolutes  Entstehen  und  Ver- 
gehen, geben  die  Atomiker  zu,  ist  widersprechend;  was  uns  als 
Werden  und  Vergehen  neuer  Substanzen  erscheint,  ist  vielmehr  neue 
Mischung  oder  Entmischung  der  in  sich  unveränderlichen  Atome,  die 
scheinbare  Entstehung  neuer  Qualitäten  nur  eine  Veränderung  in 
den  Lagenverhältnissen  der  Atome  ^). 

Das  Seiende,  lehren  Parmenides  und  Melissus,  ist  überall 
gleichartig,  nicht  hier  anders  als  dort.  —  Die  Atome,  lehren  Leu- 
cipp und  Democrit,  sind  zwar  an  Grösse  und  Gestalt  verschieden, 
qualitativ  aber  gleichartig,  da  alle  Qualitäten  eben  nicht  von  Na- 
tur, sondern  nur  in  unsern  Sinnen  sind.  , 


^)  Democrit  bei  Sext.  Emp.  adv.  matli.  VII  135:  vo/xw  yXvxv,  vofxtp  thxqöv, 

vöfiü)   ■&tQfx6v,    vöfitu  ipvxpöv,  vo'fio)  XQOi'q'  hef^   d'e  arofia  xal  xevov,     Arist.  de  gen. 

et  corr.  I  2,  316   a   1—2;    Stob.  ecl.  I,  p.  364.   Plotin.  enn.  III  6,  12  p.  234,  9 
Müller  und  besonders  Theophrast  de  sensu  60  ff. 

')  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  2,  315  b  6 — 9:  Jitfiöxpiros  <i'e  xal  /hvxinnos  noii',- 
aavres  rd  axijfiaTa  (die  verschiedenen  Gestalten  der  Atome),  d]»  dkkoiuiaiv  xal 
vijv  ysveaiv  ex  tovtuiv  noiovai ,  d'iaxQiaei  /nev  xal  avyxgian  yivtaiv  xal  (pS-o^äv,  rettet 
tif   xal  -d-eafi  d?.?.oi(o(rn\ 

Baeuuker:   Das  Probleiu  der  Materie  etc.  O 

.     .  ».  vi    ^  ■    \P¥\4-^V>j-V  «*-^^-*^      ^ 


■"-  -^-       /ÄJuJr^r*^  ,  a^aJJLjJU, 


82  Erster  Abschnitt.     V'orsocratiker. 

Deshalb,  bemerkt  Parmenides  ^),  ist  eine  Entstehung  des  Sei- 
enden unm()giich ,  weil  keine  zwingende  Kraft  vorhanden  ist, 
welche  einen  Anfang  des  Seienden  ans  Nichtseiendem  hätte  iier- 
beiführen  kihmen.  —  Dass  die  Bewegung,  welche  als  Mischung  und 
Entmischung  den  Schein  des  Werdens  bewirkt,  nicht  durch  irgend 
eine  Ursache  in  einem  gewissen  Zeitpuncte  ZAierst  hervorgerufen 
sei,  räumen  die  Atomiker  ein;  aber  anstatt  die  Bewegung  deshalb 
zu  leugnen,  erklären  sie  dieselbe  vielmehr  mit  den  loniern  für  ewig 
und  für  ursprünglich  mit  den  Atomen  verbunden  ^). 

So  war  trotz  der  Übernahme  aller  eleatischen  Grundanschau- 
ungen der  Eleatismus  dennoch  überwunden,  die  begriffliche  Be- 
trachtung der  Welt  in  Einklang  gebracht  mit  den  Erscheinungen 
(den  (faivöfieva)  ^). 

Heben  wir  diejenigen  Momente  heraus,  in  denen  der  eigen- 
tümliche Standpunct,  \velchen  Leucipp  und  Democrit  dem  Problem 
der  Materie  gegenüber  einnehmen^  sich  ausspricht. 

Im  Mittelpunct  ihres  Systems  steht  die  Lehre  von  der  ato- 
misti sehen  Constitution  des  Stoffes.  Derselbe  bildet  nicht  eine 
continuierlich  ausgedehnte  Substanz,  wie  bei  den  Eleaten,  sondern 
ist  in  eine  unendliche  Zahl  discontinuierlicher  Teilchen  zer- 
legt, welche  durch  den  leeren  Raum  von  einander  getrennt  sind. 
Wie  sehr  Empedocles  dieser  Anschauung  vorgearbeitet,  wurde 
oben  schon  hervorgehoben  ^).  In  geringerem  Maasse  haben  wohl 
auch  die  Einheiten  der  Pythagoreer  und  ihr  Dualismus  von  Grenze 
und  Unbegrenztem,  welcher  in  mancher  Hinsicht  dem  Gegensatz 
des  Vollen  und  des  Leeren  entspricht,  die  Atome  Leucipp's  und 
Democrit's  vorbereiten  helfen.  Auch  auf  die  Homoeomerien  des 
Anaxagoras  ist  vielleicht  hinzuweisen  •^). 

Die  Wichtigkeit  der  atomistischen  Doctrin  wird  bezeugt  durch 
ihre  Nachwirkungen.  Dieselben  gehen  weiter,  als  es  bei  irgend 
einer  andern  Naturphilosophie  des  Altertums  der  Fall.  Epicur 
nimmt  die  Lehre  im  Altertum  wieder  auf.    Nachdem  sie  im  Mit- 


*)  V.  64  K.   70  St. ',....  Ti  d'  civ  /uiv  xal  jfpf'of  (OQOtv 

varifjov  ij  npoa&tv  rov  htjÖevos  d^^dfievov  g)vv. 
*)  Arist.  metaph.  XII   6,    1071  b  31—33;    Hippolyt.   refut.  I  13,  2  (Diels 
Dox.  p.  565.  8);    Simplic.  phys.  p.  28,  8  (die  beiden  letzteren  nach  Tlieophrast). 
3)  Vgl.  Arist.  de  gen.  et  corr.  1  8,  325  a  23—28. 
*)  S.  S.  71  f. 
■')  V^l.  S.  77  Anm.  4. 


Die  Atomiker.    Atomistische  Constitution  der  Materie.  83 

telalter  hinter  den  aristotelischen  Dnahsmus  von  Materie  und 
Form  zurückgetreten,  wird  sie  von  Pierre  Gassend  in  die  neuere 
Philosophie  eingeführt.  Durch  DaUon  gestaltet  sie  sich,  wenn 
auch  auf  andere  Erwägungen  als  im  Altertum  gestützt,  zu  einer 
Hauptgrundlage  der  modernen  Chemie.  In  gleicher  Weise  be- 
herrscht sie  die  moderne  Physik.  Nicht  phantasievoller  Be- 
griffsdichtung ist  sie  entsprangen,  sondern  dem  ernsten  Stre- 
ben, die  Dinge  auf  solche  Elemente  zurückzuführen,  die  einerseits 
den  Anforderungen  entsprechen,  welche  die  Vernunft  an  das 
wirklich  Seiende  zu  stellen  hat,  und  andererseits  einen  ausreichen- 
den Erklärungsgrund  für  alle  Besonderheiten  der  Erscheinungen 
abgeben,  welche  aus  ihnen  abgeleitet  werden  sollen.  Dass  aber 
der  Atomismus  diesen  Anforderungen,  soweit  bloss  die  Bedürfnisse 
der  Naturwissenschaft  in  betracht  kommen,  in  hervorragender  Weise 
genügt,  thut  schon  die  unverwüsthche  Lebenskraft  dar,  mit  der  er 
immer  und  immer  wieder  bei  dem  Versuche  einer  Naturerklärung 
sich  aufdrängt.  Er  erweist  sich  dadurch  als  eine  jener  Hypothesen, 
aufweiche  die  Vernunft,  die  stets  nach  einer  einheitlichen  Erklärung 
des  in  der  Erfahrung  Gegebenen  trachtet,  mit  einer  gewissen  Not- 
wendigkeit sich  hingewiesen  sieht.  Namentlich  da  wird  er  sich 
dem  Denken  als  naheliegende  Vermutung  darbieten,  wo  für  die 
Verbindung  der  Stoffe  eine  Erklärung  gesucht  werden  soll.  Die- 
ses war  ebenso  bei  Leucipp  und  Democrit  wie  bei  Dalton  der 
Fall.  Die  Gesetzmässigkeit,  welche  er  bei  den  Verbindungen  der 
Elemente  beobachtete,  brachte  Dalton  zu  seiner  Theorie  der 
Atome.  Ebenso  sahen  sich  Leucipp  und  Democrit,  welche  alles 
Werden  und  Vergehen  auf  Mischung  und  Entmischung  zurück- 
führten, nunmehr  vor  die  Hauptaufgabe  gestellt,  eine  Erklärung 
für  die  Möglichkeit  dieser  Mischung  und  Entmischung  zu  geben. 
So  war  auch  für  sie  das  Problem  der  Mischung  Grund  zur 
Atomistik. 

Nicht  zu  übersehen  freilich  sind  die  bedeutsamen  Unter- 
schiede zwischen  dem  philosophischen  Atomismus  des  Altertums 
und  dem  naturwissenschaftlichen  der  Neuzeit.  Glaubt  jener  in 
noch  ungebrochenem  Selbstvertrauen  eine  abschliessende  Erklä- 
rung der  letzten  Gründe  der  Dinge  geben  zu  können,  welche  mit 
voller  Gewissheit  in  ihr  wahres  Sein  einführt,  so  begnügt  sich 
dieser  mit  der  bescheidenem  Rolle  einer  naturwissenschaftlichen 


g4  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Hypothese,  welche  nur  soweit  eine  Erklärung  bieten  will,  als  die 
Erscheinungen  diese  zunächst  erfordern  und  zugleich  an  die  Hand 
geben;  die  abschliessenden  Fragen  über  das  objective  Gorrelat 
unserer  Vorstellung  von  einer  materiellen  Substanz  dagegen  über- 
lässt  sie  der  Erkenntnistheorie  zur  weiteren  Bearbeitung. 

Diese  Verschiedenheit  des  Gharacters  beider  Theorien  erklärt 
sich  durch  die  Verschiedenheit   des  Ursprungs.     Der   Atomismus 
Leucipp's,  ein  Kind  der  dogmatischen  Metaphysik  der  eleatischen 
Schule,  hat  die  Spuren  dieser  seiner  Abstammung,  obwohl  er  im 
Inhalt  seiner  Lehre  von  den  Eleaten  vielfach  abweicht,  doch  nir- 
'gendwo    verleugnet.     Ausgang  und  Mittelpunct  seines  Forschens 
bildet,  ganz  wie  bei  den  Eleaten,   das  Bemühen,  vermittelst  rein 
begrifflicher  Erkenntnis  die  Natur  des  wahrhaft  Seienden  festzu- 
setzen.    Zwar  fassen  auch  die  alten   Atomiker,   abweichend    von 
den    Eleaten,     zugleich    die     Erklärung    der    in    der    Erfahrung 
gebotenen    Erscheinungen   in's  Auge;    aber  sie  beschränken  sich 
hierbei  auf  solche  Thatsache]i,  die  ohne  weitere  Forschung  einem 
jeden  Auge,  das  in  die  Nalur  blickt,  zu  Tage  liegen,  nämlich  dass 
der  Dinge  mehrere  sind  und  dass  diese  Dinge  die  Phänomene  des 
Werdens  und  Vergehens  sowie  der  quantitativen  und  qualitativen 
Veränderung  aufweisen.    Unendlich  weiter  ist  der  Kreis  der  Phä- 
nomene,   für  welche   die   moderne   Physik   und  Chemie  in  der 
Theorie  der  Atome   eine   Erklärung   suchen.     Sie   gehen  aus  von 
den  Erscheinungen  der  Lichtbrechung  und  der  Polarisation,   die 
unter  dem  Gesichtspuncte  der  Undulationstheorie;  von  denen  der 
Wärmefortpflanzung,    die  unter  dem  der  mechanischen  Wärme- 
theorie betrachtet   werden,   von  den  Erscheinungen  der  constan 
ten    Proportionen,    der  AUotropie,    des   Dimorphismus,   der  Ra- 
tionalität der  Krystallflächen  u.  s.  w.,  also  von  Gesetzmässigkeiten, 
deren  Erkenntnis  erst  der   angestrengtesten   Arbeit  auf  dem    Ge- 
biete der  Naturphänomene  verdankt  wird^).     Ob  aber  der  Be- 
griff des  Atoms,    zu  dem  sie  durch  solche  Erwägungen  geführt 
wird,    wirklich  ein    in    sich   widerspruchsfreier,   vor   der   Kritik 
der    Vernunft    standhaltender     sei,     oder     ob    die    atomistische 
Vorstellung,   wie   einer   der    hervorragendsten  Naturforscher  un- 


*)  Fechner,     Über    die    physikalisclie    und    philosophische    Atomenlehre. 
2.  Aufl.     Leipzig  1864. 


Die  Atomiker.     Unterschied  der  antiken  und  der  modernen  Atomistik.     85 

serer  Tage^),  nicht  freilich  ohne  von  verschiedenen  Seiten 
her  Widerspruch  zu  finden ,  behauptet  hat ,  wennschon  für 
den  Zweck  unserer  mathematisch  -  physikahschen  Überlegungen 
höchst  brauchbar ,  gleichwohl  als  Corpuscularphilosophie  in 
unlösliche  Widersprüche  führe:  diese  Frage  pflegt  die  moderne 
Naturwissenschaft  als  unfruchtbar  bei  Seite  zu  schieben.  Ohne 
weiter  auf  die  Entwickelung  und  Begründung  sowie  auf  die 
verschiedenen  Formen  der  modernen  Atomistik  einzugehen ,  was 
nicht  dieses  Ortes  ist,  können  wir  sonach  den  Unterschied  der  al- 
ten und  der  neuen  Atomenlehre  dahin  zusammenfassen ,  dass  die 
erstere  sich  giebt  als  metaphysische  Theorie,  die  letztere  dagegen 
als  eine  Hypothese,  die  nur  für  die  nächsten  Bedürfnisse  der 
Physik  und  Chemie  durchgeführt  ist.  Was  die  alte  Atomistik 
voreilig  schon  zu  besitzen  glaubte,  das  schwebt  der  modernen 
Naturwissenschaft  als  fernes  Ziel  vor:  ein  Begritf  von  der 
Materie,  welcher  in  einheitlicher  Weise  auf  allen  Gebieten 
der  Naturforschung  zugrunde  gelegt  werden  kann  und  zugleich 
sich  in  Übereinstimmung  befindet  mit  den  Forderungen  des  phi- 
losophischen Denkens. 

Das  Denken,  welches  überall  nach  möghchster  Einheit  der 
Erklärung  strebt,  wird  an  das  Atom,  wenn  es  das  letzte  Element 
der  Körperconstitution  vorstellen  soll,  zwei  Hauptforderungen  zu 
stellen  haben:  Einfachheit  und  Gleichartigkeit^). 

Wenn  man  die  Forderung  der  Einfachheit  anspannt,  wird 
man  zu  punctuellen  Atomen  gelangen,  "wie  solche,  entsprechend 
den  starren  Puncten  der  Mechanik,  in  neuerer  Zeit  in  verschie- 
denen Atomtheorien  aufgestellt  wurden ;  ob  mit  Recht,  möge  hier 
ununtersucht  bleiben.  Die  alte  Atomistik  ist  nicht  so  weit  gegan- 
gen. Wenn  sie  den  Atomen  verschiedene  Grösse  und  Gestalt 
zuschreibt,  so  liegt  darin  offenbar  die  auch  durch  Simplicius  be- 
stätigte^^)  Anschauung  eingeschlossen,  dass  den  einzelnen  Ato- 
men noch  eine  gewisse  Ausdehnung  zukomme,  also,  mathematisch 
betrachtet,  auch  Teile,   nur  dass   letztere  nicht  mehr    durch    ein 

*)  E.  Du  Bois  Reymond ,  Über  die  Grenzen  des  Naturerkennens.  6.  Aufl. 
Leipzig  1884.    S.  20. 

')  Vgl.  Wundt  in  seinem  Aufsatz  über  die  Theorie  der  Materie,  Essays, 
Leipzig   1885.    S.   59. 

*)  Simplic.  phys.  I,  p.  82,  1  („unteilbar"  kann  etwas  in  mehrfachem  Sinne 

heiSSen)  ...'>}  tw  ßo^ia  ßiv  e)(tiv  xai  fiiye&os,  dvia-d-es  ifi  eivai  6iä.  attQQÖirjza  xal 
vaaiötiiia,    xa&äneQ    ixüairj    imv    Jri/jLoxgizov    drö/j-Mv.     Ähnlich  phys.    III,  p.   462 


86  Erster  Al>schnitt.     Vorsocratiker. 

Leeres  von  einander  getrennt  sind  und  daher  auch  niclit  von  eis- 
ander  entfernt  werden  können. 

Die  zweite  an  das  Atom  zu  stellende  Anforderung  bezog  sich 
auf  die  Gleichartigkeit  der  letzten  Körperelemente.  Die  mo- 
derne Chemie,  welche  es  im  ganzen  verlernt  hat,  mit  kühnen  und 
blendenden  aber  oft  irreführenden  Ideen  den  Thatsachen  voran- 
zueilen, die  es  vielmehr  vorzieht,  nur  solche  Schritte  zu  machen, 
zu  welchen  sichere  Data  die  Berechtigung  an  die  Hand  geben^  hcält 
vorläufig  noch  an  der  ursprünglichen  qualitativen  Verschiedenheit 
der  Atome  fest.  Allerdings  legen  mancherlei  Erscheinungen,  wie 
die  Periodicität  der  Atomgewichte,  die  Mehrheit  der  Spectrallinien 
für  die  einzelnen  Elemente  u.  dgl.,  den  Gedanken  nahe,  dass  in  den 
chemischen  Atomen  noch  nicht  die  letzten  Einheiten  der  Materie 
vorliegen,  dass  diese  letzten  Einheiten  vielmehr  absolut  gleich- 
artig zu  denken  seien  und  erst  durch  ihre  räumliche  Gruppierung 
und  ihre  Bewegungsformen  die  qualitativen  Verschiedenheiten 
derjenigen  Verbindungen  begründen,  die  wir  jetzt  Elemente  nen- 
nen. Derartiges  wird  jedoch  nur  als  Vermutung  gelegentlich  aus- 
gesprochen; Wert  legt  man  nicht  darauf,  da  noch  alle  Mittel 
der  Verification  fehlen. 

Anders  die  antike  Atomistik.  Je  enger  noch  der  Kreis  der  vor- 
liegenden Erfahrungen  war,  mit  um  so  grösserer  Entschiedenheit 
verfolgte  sie  die  begriffliche  Festsetzung.  Einsthnmig  schreiben 
die  alten  Berichterstatter  dem  Leucipp  und  dem  Democrit  die 
Lehre  zu,  dass  alle  Atome  homogen,  von  gleicher  Qualität  seien  ^) 
und  sich  nur  durch  ihre  Gestalt,  Ordnung  und  Lage  2)  sowie  durch 
ihre  Grösse  3)  von  einander  unterscheiden.  Alle  qualitativen 
Unterschiede  werden  auf  räumliche  Verhältnisse  zurückgeführt. 


.5—9.  Über  Missverständnisse  der  fraglichen  Lehre  s.  Zeller  l*.  778,  1;  Diels, 
Doxogr.  S.  219. 

»)  Arist.  phys.  12,  184  b  21;  III  4,  203  a  34;  de  caelo  17,  275  b  32. 
Simplic.  phys.  I,  p.  44,  3;  p.  166,  7;  TV,  p.  462,  14. 

«)  Arist.  metaph.  I  4,  985  b  13—22;  VII t  2,  1042  b  11—15;  pbys.  1  5 
188  a  23—24;  de  gen.  et  corr.  1  L  314  a  21—24;  I  2,  315  b  35—316  a  l;  i  8, 
325  b  18;  19,  327  a  18.  Theophrast.  de  sensu  60  (Diels,  Dox.  516,  19—20). 
Simpl.  phys.  I,  p.  28,  18—19;  in  categ.  ^'fol.  3r  (schob  in  Arist.  92  a  12). 

3)  Arist.  phys.  III  4,  203  b  1;  de  caelo  III  4.  303  a  15  (vgl.  de  gen.  et 
corr.  I  8,  326  a  9).    Theophr.  de  sensu  60. 


M-t 


ft.  ^ 


Die  Atoiaiker.     (ileicliartigkeit  der  Atome.  87 

Es  ist  uns  nicht  bekannt,  dass  jene  Philosophen  durch  eine 
Analyse  der  objectiven  Naturprocesse  zu  dieser  Ansicht  gekom- 
men seien.  Zeller  ^)  verweist  zwar  in  dieser  Hinsicht  darauf, 
dass  nach  Aristoteles  und  nach  Theophrast  Democrit  den  Satz 
verfochten  habe,  nur  Gleichartiges  könne  auf  einander  einwirken 
und  von  einander  leiden  ^).  Allein  davon,  dass  Democrit  nun 
gerade  von  diesem  Satze  aus  zu  seiner  Behauptung  von  der 
qualitativen  Gleichartigkeit  der  unzähligen  Atome  gelangt  sei, 
findet  sich,  wie  übrigens  auch  Zeller  zugesteht,  weder  bei  Ari- 
stoteles noch  bei  Theophrast  etwas  bemerkt.  Hat  dieser  Satz 
doch  überhaupt  im  Munde  jener  Berichterstatter  nicht  das  Maass 
von  Schärfe  und  Allgemeingültigkeitj  bei  dem  allein  er  als  Grund- 
lage einer  solchen  Speculation  über  die  Natur  der  Atome  hätte 
dienen  können.  Ausdrücklich  giebt  sowohl  Aristoteles  als  Theo- 
phrast zu,  dass  Democrit  auch  verschiedenartige  Substanzen  auf 
einander  einwirken  lasse,  wennschon  nur  in  dem  Grade^  als  in 
ihnen  etwas  Gleichartiges  sicli  finde  ^).  Eine  derart  beschränkte 
Gleichartigkeit  aber  würde  z.  B.  auch  dann  schon  vorliegen,  wenn 
man  in  der  Weise  der  älteren  lonier  oder  des  Diogenes  von  Apol- 
lonia  alles  aus  einem  geraeinsamen,  qualitativ  bestimmten  Urstoff 
sich  entwickeln  liesse. 

In  Wahrheit  dürften  es  erkenntnistheoretische  Erwägungen 
sein,  von  denen  aus  die  Naturphilosophie  der  Atomisten  zu  jener 
Zurückführung  des  Qualitativen  auf  das  Quantitative  gebracht 
wurde.  Durch  die  eleatische  Schule  und  die  aus  ihr  sich  ent- 
wickelnde Sophistik  war  der  Glaube  an  jede  Aussage  der  Sinne  er- 
schüttert. Mit  jenen  weist  auch  Democrit  auf  die  Widersprüche 
in  den  Aussagen  der  Sinne  hin.  Was  den  Menschen  süss, 
ist  andern  Lebewesen  bitter*);  die  Geschmacksempfindungen  der 
Menschen  unter  einander  sind  verschieden;  ja  nicht  einmal  derselbe 
Mensch  hat  von  demselben  Gegenstande  zu  jed^er  Zeit  die  gleiche  Em- 


»)  Zeller  1*,  774,  2. 

^)  Arist.  de  gen.  et  corr.  1  7.  323  b  10—15.     Theophrast.  de  sensu  49. 
^)  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  7,  323  b  13 — 15:    dXXd  xav  ertga  ovia  noijj  n 
tii  a}J.rjKa ,    ovjf  j]   tzega  dXV  ij  raihöv  ti   vnaQy^ti ,    ravTj)    tovto    av^ßaivetv    avToT(. 

Darnach  fast  wörtlich  Theophrast.  de  sensu  49  (Diels,  Dox.  p.  513,  14—15). 

*)  Man  vgl.  auch  die  ähnlichen  Aussprüche  Heraclit's,  welche  oben  S.  26  f. 
zusammengestellt  sind. 


Xt  %t*u*vflJCu«-v-  V  :>-'^'^*^ 


<v(^<uO'v.~i-.V 


88  Erster  Ahsclinitt.     Vorsocratiker. 

pfindung ').  Die  Art  der  Begründung  zeigt,  dass  die  Verwerfung 
des  Sinnenzeugnisses  bei  den  Atomikern  nicht  Folge  ihrer  spe- 
culativen  Untersuchungen  über  das  Seiende  und  dessen  Wir- 
kungsweise ist,  sondern  dass  dieselbe  auf  rein  psychologische 
Gründe  sich  stützt.  Ist  aber  das  Sinnenzeugnis  unwahr,  so  giebt 
es  entweder  überhaupt  keine  Wahrheit,  oder  dieselbe  ist  verbor- 
gen 2);  dem,  was  die  Sinne  zeigen,  kommt  als  solchem  keine 
Wahrheit  zu  ^).  Wenn  Aristoteles  gelegentlich  behauptet,  Demo- 
crit  identificiere  die  Vernunft  schlechtweg  mit  dem  Lebensprincip, 
weil  ihm  „das  Wahre  das  Erscheinende"  sei*),  er  halte  Denken 
und  Wahrnehmen  für  das  Gleiche  und  müsse  deshalb  mit  Not- 
wendigkeit behaupten,  „das  der  sinnlichen  Wahrnehmung  nach 
Erscheinende  sei  wahr"  ^),  so  handelt  es  sich  hier,  wie  der  Zu- 
sammenhang beweist,  um  Folgerungen,  die  erst  Aristoteles  aus 
der  Lehre  des  Democrit  gezogen  hat.  Weil  Democrit,  so  können 
wir  seinen  Schluss  formulieren,  psychologisch  keinen  Unterschied 
macht  zwischen  dem  Denkvermögen  und  dem  Vermögen  der 
Wahrnehmung,  so  muss  ihm  auch  erkenntnistheoretisch  Wahr- 
nehmen und  Denken  dasselbe  und  daher  die  durch  das  Denken 
zu    findende   Wahrheit    in    der  Wahrnehmung  enthalten    sein*'). 


>)  Arist.  metaph.  IV  5, 1009  b  ^2— 11 ;  de  gen.  et  corr.  I  2,  315  b  12.  Theophr. 
de  sensu  63. 

«)  Arist.  metaph.  IV  5,  1009  b  11—12. 

^)  Arist.  metaph.  IV  -o,  1009  a  38 — b  2:  oßolms  (^e  1?  ntgl  tu  tfuivöfitva 
dyj&eia  ivi'ois  ix  rmv  alaS-tiTow  eXtjlc&ev  (dass  hier  Democrit  gemeint,  ergiebt  sich 
aus  der  völligen  Übereinstimmung  des  von  Aristoteles  zur  Begründung  dieses 
Satzes  Angeführten  mit  dem  bei  Theophrast  de  sensu  63  von  Democrit  Berich- 
teten,  welch    letzterer    zudem    b    11   auch    ausdrücklich   mit  Namen  genannt 

wird).  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII  135:  JtifiJxgitoe  <fi  ön  /nev  dvai^ei  rd  qiaivo- 
jueva  Tois  uta&t^aeai,  xal  tovjoov  ksyet  fiijifiv  (faivea&ai  xar'  d'/.rjd-ttav, 

*)  Arist.  de  an.  I  2,  404  a  27—29. 

«)  Arist.  metaph.  IV  5,  1009  b  12—15. 

^)  Dass  es  sich  bloss  um  einen  Schluss  des  Aristoteles  handelt,  zeigt  be- 
sonders deutlich  metaph.  IV  5,  wo  das,  was  diese  altern  Philosophen  nach  ih- 
ren Principien  mit  Notwendigkeit  sagen  müssen  (mit  Zeller  I*,  822,  4,  Hirzel, 
Untersuchungen  zu  Gicero's  philosophischen  Schriften.  Bd.  I.  Leipzig  1877. 
S.  114  ist  1009  b  14  i^  dvdyxijs  faalv  zu  verbinden) ,  nämlich  t6  qiaiv6,ufvov 
xaTu  T%v  ata&r,aiv  dXrj&ec:  tivai,  ganz  deutUch  dem  entgegengesetzt  ist,  was  sie  wirk- 
lich sagen,  infolge  dessen  ihnen  v  7ieQi  rd  <faiv6jutva  dhl&eta  ix  tiHv  ata&rjrcSv  iX-q- 
kv»iv  (1009  b  1). 


Die  Atomiker.    (rleichartigkeit  der  Atome.  80 

Dieser  Sachverhalt  ist  bereits  von  Zeller  ^)  mit  aller  Klarheit  aus- 
gesprochen, und  Natorp  2)  hat  die  Ausführungen  desselben  eingehend 
begründet.  Was  Hirzel  ^)  gegen  Zeller  geltend  macht,  ist  durchaus 
nicht  geeignet^  diesen  zu  widerlegen  *).  Zu  deutlich  auch  sind 
die  eigenen  Aussprüche  des  Democrit,  von  denen  Sextus  Empiri- 
cus  eine  Anzahl  höchst  bezeichnender  zusammengestellt  hat  ^). 
„Nur  durch  menschliche  Festsetzung  (vd/tw)",  sagt  er,  „ist  Süsses, 
Bitteres,  Warmes,  Kaltes,  Farbe"  ^).  „Wir  erkennen",  sagt  derselbe 
in  den  Kratynterien ''),  „in  Wahrheit  nichts  Sicherstehendes,  son- 
dern nach  der  Verfassung  unseres  Körpers  wie  des  Eintretenden 
und  des  Entgegenstrebenden  sich  Änderndes^)."  Und  in  der 
Schrift  über  die  Gestalten  der  Atome  (ttsqI  i'SfMv)  heisst  es  ^) : 
„Es  zeigt  aber  auch  dieser  Beweis,  dass  wir  in  Wahrheit  von 
nichts  etwas  wissen." 

Unverkennbar  haben  diese  Sätze  sogar  einen  skeptischen 
Klang.  Gleichwohl  empfanden  bereits  die  alten  Skeptiker  selbst, 
wie  weit  Democrit  von  aller  Skepsis  entfernt  ist  ^^).  Hat  derselbe 
doch  den  Protagoras  nachdrücklich  bekämpft")  und  seiner  Ab- 
neigung gegen  die  Sophistik  gelegentlich  in  Kraftausdrücken 
Luft  gemacht,  wie  „Phrasenjäger",  „Zänker",  „Riemenflechter" 
u.  dergl.  12).  Nur  die  Aussagen  der  Sinne  und  damit  die 
sinnfälligen  Qualitäten  giebt  er  der  eleatischen  Kritik  preis. 
Allein  neben  dieser  „dunklen  Erkenntnis"  der  Sinne  giebt  es  noch 


ij  a.  a.  O.  P,  822. 

*)  Untersuchungen  zur  Gesch.  d.  Erkenntnissproblems  im  Alterthum.  S.  164  ff. 

»)  a.  a.  0.  S.  110—117. 

*)  Vgl.  Natorp  a.  a.  0.  S.  165,  1. 

5)  8ext.  Emp.  adv.  math.  VII  135—139. 

6)  Bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  Vll  135  (citiert  S.  81   Anm.  1). 
')  Bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII  136. 

"*)  fitraTicntov,  dessen  Sinn  durch  den  Gegensatz  zu  nrnryt?  klar  wird.  Das 
Wort  wird  auch  sonst  von  Democrit  gebraucht;  vgl.  Theophr.  de  sensu  63 
(Diels,  Dox.  517,  11). 

8)  Bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII  137. 

!<»)  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  I  213—214;  adv.  math.  VII  138-139. 

")  Plut.  adv.  Colot.  4, 1,  p.  1108  F.  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII 389  f.,  wo  dem 
Democrit  das  gleiche  Argument  gegen  den  Protagoras  zugeschrieben  wird,  wel- 
ches auch  Plato,  Theaet.  170E-171G.  vorbringt. 
12)  Clem.  Alex,  ström.  1  3,  p.  279  D. 


PO  Erster  Ahsclinitt.     Vorporratiker. 

eine  andere,  „cclile"  '),  welche  uns  zur  Erfassung  der  den  Phä- 
nomenen zugrunde  hegenden  Wahrheit  führt.  Denn  in  den 
Phänomenen  ist  Wahrheit  ^) ;  aber ,  wie  Aristoteles  scharf  sich 
ausdrückt,  die  Wahrheit  hinsichtlich  der  Phänomene  ist  nicht 
in  dem  dabei  sinnlich  Wahrgenommenen  gelegen 5).  Sie 
ergiebt  sich  vielmehr  erst  durch  die  vernünftige  Einsicht,  welche 
das  den  Sinnen  Erscheinende  in  der  richtigen  Weise  zu  deuten 
versteht. 

Die  vernünftige  Einsicht  nun,  wenn  sie  die  Phänomene  des 
Werdens,  der  Bewegung  und  der  Vielheit  auf  ihren  Wahrheits- 
gehalt zurückführen  soll,  verlangt,  dass  es  neben  und  innerhalb 
des  raumfüllendon  Stoffes  ein  Leeres  giebt,  durch  welches  jener 
in  eine  Vielheit  von  Elementarteilchen  getrennt  wird  ^).  Nur  durch 
den  Verstand  sind  diese  Elementarteilchen,  die  Atome,  zu  er- 
schliessen ;  dem  Sinne  bleiben  sie  verborgen.  Insofern  kann 
Sextus  Empiricus  sie  mit  Recht  als  vot^tcc  bezeichnen^). 

Wie  sollen  sich  nun  diese  von  Democrit  angenommenen 
Elementarteilchen,  die  Atome,  von  einander  unterscheiden?  Das 
ganze  Altertum,  soweit  es  nicht,  wie  Philolaus  und  Plato,  die 
Verschiedenheit  der  Elemente  auf  Unterschiede  der  räumlichen 
Form  zurückführt,  weiss  dieselben  im  wesentlichen  nur  durch  die 
Angabe  der  den  einzelnen  Elementen  eigentümlichen  sinnlichen 
Qualitäten  zu  begründen.  Selbst  die  Elementenlehre  des  Aristo- 
teles ist  über  solche  Qualitäten,  nämlich  die  dem  Gebiete  des 
Tast-  und  Temperatursinnes  angehörigen  Unterschiede  des  War- 
men und  Kalten,   Trocknen  und  Nassen,  nicht  hinausgekommen. 


')  Demoer.  bei  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII  130:    yvw/iijs  r^e  rfvo  ttnlv  uUai, 

jj  fiiv  yvrioli)  rj  rfe  Oxotit;'  xal  axoriijs  /uev  täd'f  OvftnavTa,  oilßic  axor}  orJ//iJ  yfvUig 
ipavoig,  7,   de  yvrjaii],  dnoxexQi/ntvrj  d'e  ravzrjg, 

^)  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  2,  315  b  9 — 10  (von  Democrit  und  Leucipp): 
inf'i.  d'  (oovTo  talrt&h  ev  nu  cpaivfoSai.  Wenn  die  Stelle  mit  dem  unmittelbar 
vorher  und  mit  dem  unmittelbar  nachher  Gesagten  nicht  in  vollem  Wi- 
derspruch stehen  soll ,  so  darf  dieselbe  nicht  so  verstanden  werden  ,  als  ob 
die  ganze  Erscheinung  schon  als  solche  Wahrheit  sei;  der  Sinn  kann  vielmehr 
nur  sein,  die  Wahrheit  „sei  nicht  von  der  Erscheinung  losgerissen"  (Natorp  a. 
a.  0.  S.  164). 

ä)  Arist.  metaph.  IV  5,  1009  a  38— b2  (citiert  S.  8«  Anm.  4). 

*)  Arist.  de  gen.  et  corr.  1  8,  325  a  25—28  Sext.  Emp.  adv.  math.  Vfl  135 
(citiert  S.  81  Anm.  1). 

^)  Sext.  Emp.  adv.  math.  VIII  6. 


Die  Atoniiker.     (ileichartigkeit  der  Atome.  91 

Alle  diese  sinnlichen  Qualitäten  aber  fallen  für  Democrit,  wo  es 
sich  um  die  Bestimmung  des  wahrhaft  Seienden  handelt,  fort. 
Es  bleibt  ihm  daher  nur  der  in  sich  gleichartige,  durch  das 
Leere  in  kleine  Teilchen  zersplitterte  Stoff.  Die  Atome  sind  inso- 
fern der  Qualität  nach  nicht  verschieden. 

Einen  solchen  Ursprung  der  democritischen  Lehre  von  der 
Gleichartigkeit  der  Atome  hat  schon  Theophrast  angenommen,  wir 
wissen  nicht,  ob  auf  Grund  eigener  Vermutung  oder  irgend  welcher 
Andeutungen  in  den  democritischen  Schriften.  Die  betreffende  Stelle 
aus  der  theophrastischen  Geschichte  der  Naturphilosophie  erschien 
dem  Simplicius  so  Avichtig,  dass  er  in  seinem  Gommentar  zur  ari- 
stotelischen Schrift  über  das  Weltgebäude  dreimal  auf  dieselbe  zu- 
rückkommt'). Democrit,  heisst  es  bei  Theophrast,  habe  die 
Erklärung  der  Naturerscheinungen  aus  den  Unterschieden  des 
Warmen,  Kalten  u.  s.  w.  für  unwissenschaftlich  gehalten  und 
sei  deshalb  zu  den  Atomen  aufgestiegen.  Auch  Theophrast  er- 
blickt also  das  Motiv,  durch  welches  Democrit  zur  Atomenlehre 
geführt  wurde,  in  seinem  Widerspruch  gegen  die  sinnlichen 
Qualitäten,  in  denen  die  sonst  verbreitete  Auffassung  das  we- 
sentlich Unterscheidende  der  Grundbestandteile  der  Körperwelt 
sehen  wollte. 

Also  nicht  aus  einer  Analyse  des  objectiven  Verhaltens  der 
Körper  entwickelt  sich  in  der  antiken  Atomistik  dieser  Satz,  wie 
etwa  dem  modernen  Chemiker  Erwägungen  über  die  Periodi- 
cität  der  Atomgewichte  die  Gleichartigkeit  der  letzten  Urbestand- 
teile  des  Stoffes  nahelegen  würden ,  sondern  aus  allgemeinen  er- 
kenntnistheoretischen Motiven. 

Doch  war  für  die  Atomiker  mit  dem  allgemeinen  Satze  von  der 
Gleichartigkeit  der  Atome  die  Sache  noch  nicht  abgethan.  Nur 
solche  von  der  V^ernunft  aufgestellte  Principien  haben  für  sie  Gültig- 
keit, welche  mit  den  Phänomenen  im  Einklang  bleiben  ^  .  Sie  sahen 
sich  daher  vor  die  Aufgabe  gestellt,  die  Verschiedenheiten  der 
sinnhchen  Erscheinung,  die  Unterschiede  der  sinnlichen  Quali- 
täten, aus  der  Natur  der  Atome  und  des  Erkenntnisprocesses  zu 
erklären.    Zur  Lösung  derselben  bot  sich  ungesucht  der  Gedanke 


1)  Simplic.  de  caelo  III,  p.  252  b  40—43;  257  b  20—23;  284  b  20— 23  Kar- 
sten.    Vgl.  Diels,  Doxogr.  p.  491. 

2)  Arisl.  de  gen.  et  corr.  1  8,  325  a  :23— 26. 


1)2  Erster  Absclinift.    Vorsocratiker. 

dar,  jene  Unterschiede  auf  die  Verschiedenheiten  dieser  Atome 
nach  Form,  Lage,  Gruppierung  und  Grösse  zurückzuführen.  Frei- 
lich bleiben  Atome  von  verschiedenen  Gestalten  und  verschie- 
denen Dimensionen  noch  hinter  dem  Ideal  einer  vollkommenen 
Gleichförmigkeit  der  letzten  Elementarteilchen  zurück ;  aber  als 
Hülfsmittel  für  die  Erklärung  der  Phänomene  boten  diese  Vor- 
aussetzungen scheinbar  grosse  Vorteile. 

Die  Eigenschaften  der  Körper  suchten  die  Atomiker  in  fol- 
gender Weise  aus  den  angeführten  Elementen  abzuleiten.  Nur 
ein  Teil  derselben  ist  unmittelbar  mit  jenen  Elementen  gegeben. 
Diese  Eigenschaften  bestehen  auch  dann,  wenn  wir  sie  nicht 
wahrnehmen;  sie  besitzen  ein  selbständiges  Sein,  eine  (pvO ig  oder 
ovotce,  wie  Theophrast  die  Lehre  Democrits  in  den  ihm  geläufi- 
gen Ausdrücken  formuliert  *),  d.  h.  sie  haben  objective  Gültigkeit. 
Solcher  Art  sind  die  Unterschiede  des  Leichten  und  Schweren, 
Harten  und  W^eichen.  Das  Gewicht  des  einzelnen  Atomes  näm- 
lich hängt  ab  von  seiner  Grösse,  wobei  die  Gestalt  desselben 
gleichgültig  ist.  Das  Gewicht  des  aus  Atomen  zusammengesetzten 
Körpers  ist  um  so  grösser,  je  weniger  leeren  Raum  derselbe  bei 
gleichem  Volumen  enthält.  Die  Unterschiede  der  Härte  oder 
Weichheit  werden  durch  die  grössere  oder  geringere  Dichtigkeit 
und  Festigkeit  der  Atomverflechtungen  bedingt  2).  Ganz  anders 
die  übrigen  Qualitäten.  Dieselben  sind  sämtlich  blosse  Affectionen 
unserer  Sinne  s),  verschieden  je  nach  der  Gestalt  der  Atome  so- 
wie der  Disposition  des  empfindenden  Subjectes  ^).  Wir  begeg- 
nen also  hier  zuerst  der  von  Locke  popularisierten  Unterschei- 
dung primärer  und  secundärer  Eigenschaften^).     Freilich    war  es 


1)  Theophr.  de  sensu  63.  71. 

'*)  Theophr.  de  sensu  61—62. 

^)  TiäS-i]  T^e  ala&^aeo)s  (Theoplir.  de  sensu  60.  61.  63),  xevojid&eiat  (Sext. 
Emp.  adv.  math.  VIII  184). 

*)  Theophr.  de  sensu  63—64. 

*)  Vgl.  Zeller  1*,  783, 1.  -  Gegen  ihn  sucht  Natorp  a.  a.  0.  S.  183  ff.  in  scharf- 
sinniger Weise  den  Gedanken  durchzuführen,  dass  der  Realitätsunterschied  der 
Qualitäten  bei  Üeniocrit  nicht  in  der  Locke'schen  Unterscheidung  von  primären 
und  secundären  Qualitäten  sein  modernes  Gegenbild  finde,  sondern  vielmehr 
der  Position  des  Galilei,  Descartes  und  Hobbes  entspreche.  Gleich  diesen  näm- 
lich stütze  Democrit  den  Realitätsunterschied  der  Qualitäten  nicht  auf  irgendeinen 
Vorzug  einer  Art  Sinneswalirnehmung  vor  der  andern ,  etwa  den  des  zugleich 
Sicht-  und  Tastbaren,   sondern  darauf,   dass  nur  die  Voraussetzung  einer  ob- 


Die  Atoiaiker.    Sinnescfualitäten.  93 

ein  schwieriges,  und,  wie  wir  nach  den  durch  die  Sinnesphysio- 
logie uns  gebotenen  Einsichten  sagen  müssen,  von  vornherein 
aussichtsloses  Unternehmen,  die  Ableitung  dieser  Qualitäten  im 
einzelnen  durchführen  zu  wollen.  Democrit  hat  es  denn  auch 
nicht  über    einige    oberflächliche  Analogien  hinausgebracht,    die 


jectiven  Realität  allein  der  „ersten"  Beschaffenheiten  ihm  geeignet  scheine, 
Sein  und  Veränderung  der  Dinge  mit  den  Ersclieinungen  einstimmig  zu  erklä- 
ren, Rechenschaft  von  ihnen  zu  geben  aus  begreiflichen  Gründen.  Kurz  ge- 
sagt, er  begründe  den  Unterschied  rational,  nicht  sensual  (S.  183  f.).  Ohne 
Zweifel  habe  er  Schwere,  Härte  und  ihr  Gegenteil  für  ebenso  objective  Be- 
schaffenheiten der  Körper  gehalten,  wie  die  Grösse  und  Gestalt  der  Atome,  von 
deren  sie  abhängig;  aber  er  nehme  sie  für  objectiv  nicht  als  aia&tjiä,  als  ob 
etwa  die  Wahrnehmung  des  Schweren ,  Leichten  u.  s.  w.  irgend  weniger  sub- 
jectiv  wäre  als  die  der  Farben  und  Töne  (S.  186  f.).  Wenn  es  bei  Theophrast 
de  sensu  63  nach  Anführung  der  vier  Eigenschaften  des  Schweren,  Leichten, 
Harten,  Weichen  heisse :  twi>  de  aXXov  aia&ijTtuv  ovti'tvos  eivai  (fvaiv,  so  sei  das 
eine  blosse  Ungenauigkeit  des  Ausdrucks  (S.  187).  In  Wirklichkeit  könne 
Theophrast  dem  Democrit  unmöglich  die  Ansicht  beilegen,  dass  unter  den  Ob- 
jecten  der  Sinne  die  einen  an  sich  wahrgenommen  würden,    die  andern  nicht. 

Allein  die  von  Natorp  (S.  184  f.)  dafür  geltend  gemachten  Gründe  sind 
nicht  ganz  stichhaltig.  Dieselben  sind  folgende:  Erstens  sei  aus  der  Sache 
klar,  dass  Democrit  die  Wahrnehmung  oder  subjective  Erscheinung  {(fariuar'n) 
des  Schweren ,  Leichten  u.  s.  w.  nicht  anders  habe  ableiten  können  ,  als  die 
der  übrigen  Beschaffenheiten;  treffe  doch  die  Begründung  für  ihre  bloss  sub- 
jective Wirklichkeit,  dass  nämlich  derselbe  Gegenstand  von  verschiedenen  Per- 
sonen ,  ja  von  der  gleichen  Person  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  em- 
pfunden werde,  bei  jeder  Art  von  Wahrnehmung  gleich  sehr  zu.  —  Indes,  ob 
Democrit  letzteren  Schluss  wirklich  gezogen  ,  wissen  wir  nicht.  Denkbar  ist 
auch  das  Gegenteil;  denn  während  über  den  Geschmack  z.  B.  nach  dem  alten 
Spruch  nicht  zu  streiten  ist,  pflegen  die  Menschen  darüber,  ob  etwas  leichter 
oder  schwerer,  härter  oder  weicher  ist,  zumeist  einig  zu  sein.  Niemand  be- 
zweifelt, dass  ein  Stück  Blei  schwerer  ist,  als  das  gleiche  Volum  Federn ,  dass 
Eisen  härter  ist  als  Wachs.  Man  kann  zugeben,  dass  bei  diesen  Wahrneh- 
mungen der  Sinn  gewissermassen  eine  objective  Unterstützung  erfährt.  Um 
zu  beui'teilen,  ob  etwas  süss  oder  sauer,  weiss  oder  schwarz  sei,  sind  wir  aus- 
schliesslich auf  den  betreffenden  Sinn  angewiesen;  das  Gewicht  eines  Körpers 
dagegen  zu  bestimmen,  haben  wir  Wagen,  und  von  seiner  Weichheit  oder  Härte 
überzeugen  wir  uns,  indem  wir  etwa  mit  dem  Messer  oder  dem  Meissel  in 
ihn  einzudringen  oder  ihn  zu  bearbeiten  versuchen.  Aber  selbst  solche  Erwägungen 
würden  über  das  Gebiet  des  sinnlich  Wahrnehmbaren  nicht  hinausgegangen 
sein;  sie  würden  daher  auch  nicht  die  Begründung  des  Unterschiedes  zu  einer 
rationalen  im  Sinne  Natorp's  machen. 

Zweitens  soll  Theophrast,  wenn  er  dem  Democrit  jene  Ansicht  beilege, 
sich  selbst  widersprechen.    Denn   §.   64   sage   er:    ^  xal  (fave^wr,  üJ^-  ij  (häatatg 


94  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

sich  zudem,  wie  Theophrast  in  seiner  Kritik  der  deniocritischen 
Sinneslelire  tadelnd  hervorhebt'),  im  wesentlichen  auf  die  Ge- 
schmacks- und  die  Farbenempfindungen  beschränken. 

Damit  dürften  alle  wesentlichen  Züge  zusammengetragen  sein, 
aus  denen  sich  die  Vorstellung  von  der  Natur  der  Materie  bei 
Leucipp  und  Democrit  zusammensetzt.  Dass  die  weitere  Ent- 
wickelung  dieses  unbegrenzten  Stoffes  von  ihnen  auf  eine  ur- 
sprüngliche Bewegung  der  Atome  zurückgeführt  wird,  wurde 
schon  oben 2)  berührt.  Infolge  der  Unregelmässigkeiten,  welche 
durch  das  angenommene  raschere  Fallen  der  schwereren  Atome 
.sich  ergaben,  erzeugte  diese  vorausgesetzte  ursprüngliche  Bewe- 
gung Seiten-  und  Wirbelbewegungen  ^).   Dadurch  bildeten  sich  die 


uhia  rijs  ipavtaatas'  ankws  fiev  ovv  negi  ttJäv  ata ■d'Tjt iSv  ovrto  iftiv  vTioko/iißd- 
i'fw,  und  vollends  §.  69:  dnXoös  (fs  rö  fih  a^Vf^^  ''"^*  amö  iari,  to  Ss  yXvxv  xal 
tikoüi  TO  ata  &r;r  üv  TiQog  akXo  xal  tv  a.k?.ois,  wf  ipTjaiv.  — Aber  auch  dieser  Grund 
schlägt  nicht  recht  durch.  Nach  §.  (i3  führte  Democrit  die  Unterschiede  des  Leichten 
und  Schweren  auf  die  Grösse  {/jiey£-(^oi)dev  Atome  zurück,  wobei  er  die  Gestalt  der- 
selben ausdrücklich  für  gleichgültig  erklärt;  ebenso  §.04  die  Unterschiede  der  Härte 
und  Schwere  auf  die  Gruppierung  (&tais)  der  Atome  und  auf  die  Verteilung  der  ein- 
geschlossenen leeren  Räume  {tva7i6Xrjxi>ts  tcSv  xsvcov).  An  den  beiden  von  Natorp 
angeführten  Stellen  ist  aber  nur  von  solchen  Empfmdungsvinterschieden  die  Rede, 
welche  durch  die  Gesiali  {a^ijfjia)  der  Atome  bedingt  werden:  denn  auch  §.  64wii'd 
nach  den  citierten  Worten  fortgefahren :  ov  firjv  d/./.'  üantQ  xal  rd  akka  xal  tama 
dvai(iyr,ai  roTg  axrjfxaai.  Es  sind  also,  obwohl  allgemein  von  den  a/a*7/ra 
die  Rede  ist,  dennoch  die  besonders  gearteten  Unterschiede  des  Gewichts  und 
der  Härte  nicht  mit  eingeschlossen.  Dann  aber  kommt  der  vermeintliche  Wi- 
derspruch in  Wegfall. 

Wir  werden  darum  gut  thun  ,  hei  dem  Mangel  aller  Mittel  zur  Beantwor- 
tung überhaupt  die  Fiage  dahingestellt  sein  zu  lassen ,  ob  Democrit  den  Realitäts- 
unterschied zwischen  den  Wahrnehmungen  des  Gewichts  und  des  Härtegrades 
einerseits  und  den  übrigen  Sinnesempfindungen  andererseits  rational  oder  sen- 
sual  begründet  habe.  Würde  eine  solche  Frage  sich  doch  selbst  für  Locke 
nicht  so  einfach  beantworten  lassen.  Denn  dass  dieser  den  Vorzug,  den 
die  Vorstellungen  der  primäien  Qualitäten  vor  denen  der  secundären  besitzen, 
nicht  schlechtweg  darauf  zurückführt,  dass  die  ersteren  sowohl  vom  Ge. 
sirhts-  wie  vOm  Tastsinn  wahrgenommen  werden ,  ergiebt  sich  sofoit 
daraus,  dass  er  auch  die  Dichtheit  (solidity)  den  primären  Qualitäten  beizählt 
(Essay  conc.  hum.  underst.  b.  IL  eh.  8.  §.  9),  obwohl  wir  diese  Idee  nur  durch 
das  Gefühl  erhalten  sollen  (b.  IL  eh.  4.  §.  1). 

*)  Theophr.  de  sensu  04  (Diels,  Dox.  p.  517,  20). 

'^j  S.  82. 

'■')  Vgl.  Zeller  V,  793  ff  Fr.  A.  Lange,  Geschichte  des  Materialismus.  2. 
Aull      Iserlülui   1873.     IUI.   1.  S.   Ki  Ü. 


Die  Atoiniker.  —  Die  Sopliistik.  95 

Welten.  Der  Zufall  hat  dabei  keinen  Platz;  auf  ihn  beruft  sich 
nur  der  Unverstand  M.  Alles  geschieht  vielmehr  mit  mechani- 
scher Notwendigkeit^).  So  ist  von  Democrit  eine  streng  mecha- 
nische Weltanschauung  durchgeführt  worden. 

Aber  woher  die  anfängliche  Bewegung  des  an  sich  trägen 
Stoffes^)?  Und  woher  der  Anstoss  zu  den  Seitenbewegungen, 
in  denen  der  Ursprung  der  Weltbildungen  gegeben  sein  soll? 
Denn  die  Erklärung,  welche  Democrit  für  letztere  gab,  ist  doch 
ganz  und  gar  hinfällig,  da  im  leeren  Räume  der  schwerere  Körper 
nicht  schneller  fällt  als  der  leichtere. 

Die  Antwort  darauf  hatte  schon  vor  Democrit  Anaxagoras 
mit  seiner  Lehre  vom  weltordnenden  Geiste  gefunden.  Das  Feh- 
len der  Antwort  auf  diese  Frage  ist  die  wesentlichste  Lücke  im 
Systeme  Democrits.  Nur  sehr  unbefriedigend  wurde  dieselbe 
durch  Epicur  ausgefüllt.  Ist  es  doch  der  Mangel,  an  dem  jedes 
rein  materiahstische  System  scheitern  muss. 

5.  Die  Sophistik. 

Die  Erkenntnis  des  wirklich  Seienden,  das  war  das  gemein- 
same Resultat  der  vorsocratischen  Philosophie,  wird  nicht  durch 
die  Sinne  gewonnen,  sondern  nur  durch  das  Denken.  Die  Aus- 
sagen der  Sinne  führen  irre ;  nur  die  Vernunfterkenntnis  gewährt^ 
eine  sichere  Einsicht  in  das  wahrhaft  Seiende,  d.  h.  das  objectiv 
Gültige.  Aber  was  ich  nicht  sehe,  soll  sicherer  sein  als  dasjenige, 
was  mir  klar  vor  Augen  liegt?  So  lange  der  Unterschied  von 
Sinnen-  und  Vernunfterkenntnis  weder  nach  der  subjectiven  Seite 
durch  Ajifweisung^.  des  psychologischen  Ursprunges  einer  jeden 
dieser  Erkenntnisarten,  noch  nach  der  objectiven  Seite  durch 
Aufdeckung  des  einer  jeden  derselben  entsprechenden  Objectes 
gehörig  begründet  und  zugleich  auf  das  richtige  Maass  zurück- 
geführt war  —  was  alles  in  der  vorsocratischen  Philosophie, 
einige   schwächere   Absätze  abgerechnet,   noch  nicht  einmal  zum 


1)  Slob.  ecl.  II,  p.  344. 

')  Bei  Democrit  als  nWyxi?  oder  Ao'yof  hezeiclinet:  Stob.  ecl.  I,  p.  IGO  (andere 
Nachweisungen  bei  Zeller  l^,  788,  1 ).  Vgl.  M.  Heinze,  Die  Leine  vom  Logos  in 
der  griechischen^  Philosophie.     Oldenburg  187ii.  S.  58. 

Wie  Aristoteles,  metapli.  I  4,  985  b  19  dem  Democrit  entgegenhält. 


-^-*-lX    -  VvJL4^-,  '^^-♦^  Jir^^.^i),^^, 


96  Erster  Absclinitt.    Vorsocratiker. 

Problem  geworden,  geschweige  denn  in  befriedigender  Weise  er- 
ledigt worden  ist  — ,  so  lange  musste  der  „gesunde  Menschen- 
verstand" gegen  einen  solchen  Vernunftdogmatismus  reagie- 
ren. Bei  einer  zu  Paradoxien  geneigten  Generation,  welche 
unter  dem  Scheine  des  Geistreichen  alles  Hergebrachte  umzu- 
stossen  suchte,  nahm  diese  Reaction  natürlich  extreme  und  ein- 
seitige Form  an.  Darin  liegt  die  naturgemässe  Entstehung  der 
Sophistik.  Bietet  die  Wahrnehmung,  so  kann  man  den  Grund- 
gedanken der  mannigfach  variierenden  sophistischen  Theorien 
zusammenfassen,  uns  nichts  objectiv  Gültiges,  an  sich  Seiendes, 
so  giebt  es  überhaupt  kein  solches  An-sich.  Dann  aber  ist  ent- 
weder, wie  Gorgias  sagt,  überhaupt  nichts,  oder  es  ist  doch  alle 
Gültigkeit,  wie  Protagoras  lehrt,  nur  von  relativem  Werte,  wech- 
selnd je  nach  der  Beschaffenheit  des  Wahrnehmenden.  So  löst 
die  Sophistik  die  einseitige  Philosophie  der  vorsocratischen  Zeit  auf. 
Dadurch  aber  erweckt  sie  das  Interesse  für  neue  Fragen  und  schafft, 
obgleich  arm  an  fruchtbringenden  positiven  Ideen,  Platz  für  die 
Gedanken,  mit  denen  die  von  Socrates  anhebende  Entwickelungs- 
reihe  einen  völligen  Neubau  in  der  Philosophie  aufführen  konnte. 

Für  uns  kommt  die  Sophistik  nur  in  soweit  in  Betracht,  als 
sie  sich  über  die  Natur  der  sinnlich  wahrnehmbaren  Dinge  aus- 
gesprochen hat.  Derartige  Untersuchungen  knüpfen  sich  an  zwei 
Namen  unter  den  Sophisten:  Protagoras  und  Gorgias. 


a.  Protagoras  und  die  Protagoreer  des  platouiscben 

Tlieaetet. 

Dem  bekannten  Satze  des  Protagoras,  dass  der  Mensch 
das  Maass  aller  Dinge  sei,  der  Seienden ^  dass  sie  sind^  und 
der  Nichtseienden ,  dass  sie  nicht  sind ,  giebt  der  platonische 
Tlieaetet  zur  Stütze  einen  der  heraclitischen  Physik  entnommenen 
Unterbau.  Dass  diese  naturphilosophischen  Speculationen,  wenig- 
stens ihrem  ganzen  Umfange  nach ,  nicht  in  der  Schrift  des  Pro- 
tagoras selber  enthalten  waren,  deutet,  wie  schon  von  mehreren ' ) 


1)  Ritter,  Gesch.  d.  Phil.  I^  631.  G.  Grote,  Plato  and  the  other  compani- 
ons  of  Sokrates.  London  1865.  Bd.  II,  S.  324  f.  Schuster,  Heraklit,  S.  29  ff. 
E.  Laas,  Idealismus  und  Positivismus.    Bd.  I.'  Berlin  1879.  S.  193  f.    W.  Hallj- 

.--,„.,.,  -i..v^,<^.    -rvvV-C     U    rvv  C-v^üv>v-^'yVv<^v(-'t«^'':> 


Protagotas  ü.  d.  Protagoteer  cl.  piaton.  Theaetet.  97 

bemerkt  und  zuletzt  von  Natorp ')  überzeugend  dargethan  ist, 
Plato  selber  in  einer  für  den  aufmerksamen  Leser  nicht  miss- 
zuverstehenden Weise  an.  Es  hat  nämlich  im  platonischen 
Theaetet  (152  A — B)  Socrates  den  Satz  des  Protagoras  vom  Men* 
sehen  als  dem  Maasse  aller  Dinge  angeführt  und  durch  den  Hin- 
weis auf  Thatsachen,  wie  dass  derselbe  Wind  dem  einen  warm, 
dem  andern  kalt  erscheine,  erkemitnistheorelisch  begründet.  Ehe 
er  nun  zu  der  metaphysischen  Grundlegung  vermittelst  der  hera- 
clitischen  Bewegungstheorie  übergeht,  bemerkt  er  (152  C):  So 
hat  Protagoras  wohl  nur  uns,  dem  grossen  Haufen,  es  gesagt; 
den  Schülern  aber  hat  er  „im  Geheimen"  die  Wahrheit  dargelegt, 
worauf  dann  (152  D)  die  Anknüpfung  an  die  Lehre  vom  Fluss 
aller  Dinge  folgt.  Noch  deutlicher  redet  er  nach  einer  kürzeren 
Unterbrechung  dort,  wo  er  in  concisester  Form  den  protagorei- 
schen  Satz  aus  dem  Principe  der  allgemeinen  Bewegung  ab- 
leitet. Ausdrücklich  bezeichnet  er  hier  (155  D— E)  jene  Aus- 
einandersetzung als  die  „verborgene  Wahrheit"  der  Lehre  „des 
Mannes  oder  vielmehr  namhafter  Männer,"  wo  schon  der  nacli- 
drücklich  corrigierend  gesetzte  Plural  „namhafter  Männer"  über 
den  Protagoras  hinausweist.  Er  will  „die  Mysterien"  von  Män- 
nern mitteilen,  die  weit  scharfsichtiger  (xofiiliÖTfooi)  seien  als  die 
Materialisten-),  von  denen  er  gerade  vorher  geredet  hat.  Von 
einer  Darlegung  „im  Geheimen",  einer  „verborgenen  Wahrheit", 
von  „Mysterien"  brauchte  Plato  aber  doch  nicht  zu  reden,  wenn 
jene  Bezugnahme  auf  die  heraclitische  Lehre  vom  Fluss  aller  Dinge 
in  der  Schrift  des  Protagoras  selbst  schon  vorlag.  Unterstützt 
wird    diese    Beweisführung    durch    eine  Stelle    des   Aristoteles  ^). 


fass,  Die  Berichte  des  Plato  und  Aristoteles  über  Protagoras  mit  besonderer 
Bej-ücksichtigung  seiner  Erkenntnistheorie  kritisch  untersucht,  in  Jahrb.  f.  class. 
Philol.,  13.  Supplementband,  Leipzig  1882,  S.  151—211.  F.  Dümmler,  Antisthenica_ 
Halis  [1882]  S.  56.  Auch  Zeller,  der  im  übrigen  an  dem  Zusammenhang  der 
protagoreischen  Erkenntnislehre  mit  der  heraclitisclien  Physik  festhält  (vgl_ 
Zeller  l\  978  f.),  giebt  L*,  983,  1  zu,  dass  Plato  in  der  Begründung  des  prota- 
goreischen Satzes  sich  nicht  streng  an  die  Darstellungsform  des  Sophisten  ge- 
halten habe. 

1)  Forschungen  zur  Geschichte  des  Erkenntnissproblems  im  Alterth.,  S.  21  it. 

*)  Antisthenes  ist  gemeint;  vgl.  Dünnnler,  Antisthenica,  S.  51  ff. 

ä)  Aristot.  metaph.  XI  6,  lü()2  b  21  ff.  An  der  Echtheit  des  XF.  Buches 
zu  zweifeln,  liegt,  was  die  ersten  sielien  Kapitel  betrifft,  kein  stichhaltiger 
Grund  vor. 

Baeumkei:     Das  Problem  der  Materie  etc.  / 


98  Erster  Abschnitt.    Voisocratiker. 

Um  nämlich  den  angeführten  Satz  des  Protagoras  zu  wider- 
legen; geht  er  im  elften  Buche  der  Metaphysik  auch  auf  den 
Ursprung  desselben  ein.  Freilich  kann  er  diesen  nicht  in  be- 
stimmter Weise  angeben;  er  weiss  nur  zwei  von  anderen  auf- 
gestellte Meinungen  dafür  beizubringen.  Einigen,  berichtet  er, 
scheine  derselbe  aus  der  Meinung  der  Naturphilosophen  erwach- 
sen zu  sein,  dass  nichts  aus  dem  Nichtseienden,  sondern  alles 
aus  dem  Seienden  werde,  anderen  dagegen  aus  der  Beobachtung, 
dass  von  ein  und  demselben  Gegenstande  nicht  alle  die  gleiche 
Auffassung  hätten,  indem  ein  und  dasselbe  Ding  dem  einen  süss, 
dem  andern  sauer  erscheine.  Hier  wird  die  platonische  Zurück- 
'führung  auf  die  heraclitische  Lehre  vom  Fluss  aller  Dinge  gar 
nicht  einmal  genannt;  sie  ist  also  von  Aristoteles,  dem  der  Theaetet 
wohl  bekannt  ist  *),  wie  es  scheint,  nicht  als  historische  Darstel- 
lung des  Ursprungs  der  protagoreischen  l^ehrc  angesehen  wor- 
den. Von  den  verschiedenen  Begründungen  aber,  welche  Aristo- 
teles erwähnt,  findet  die  zweite,  auf  die  Relativität  der  Sinnes- 
urteile gehende,  ihre  Bestätigung  durch  eine  Stelle  des  Theaetel, 
welche  nach  der  augenscheinlichen  Absicht  des  Schriftstellers 
das  von  Protagoras  wirklich  Ausgesprochene  angiebt^).  Die- 
ser Gedanke  indes  bedurfte  fürwahr  nicht  erst  des  Unterbaus 
metaphysischer  Speculationen  über  den  beständigen  und  un- 
ablässigen Fluss  aller  Dinge;  er  drückt  eine  Thatsache  aus, 
die  auch  der  Nichtphiiosoph  oder  der  philosophische  Dilettant  des 
öftern  zu  beobachten  die  Gelegenheit  hatte.  Freilich  weist  das 
Hervortreten  eines  so  extremen  Satzes,  wie  des  protagoreischen 
von  der  Relativität  alles  Seienden,  auf  eine  skeptische  Grund- 
stimmung hin,  und  diese  zu  erzeugen  war  allerdings  der  Ilera- 
clitismus  bei  denjenigen  vorzüglich  geeignet^  welche  sich  den 
eigentlichen  positiven  Gehalt  des  Systemes  nicht  zu  eigen  mach- 
ten 3).  Unverkennbar  hatte  gerade  der  Milesier  mit  seiner  Lehre, 
dass  dasselbe  Ding  entgegengesetzte  Eigenschaften  in  sich  ver- 
einige, je  nachdem  es  mit  dem  einen  oder  dem  anderen  in  Beziehung 
gesetzt  werde,  wie  das  Meerwasser    heilsam    sei   für   die    Fische, 


M  Vgl.  Bonitz,  Index  Aristolelicus  p.  598  1)  40. 

')  Vgl.  152B:  rj  7ifi(}üfifOa  iw  n(><,nu'/d(>u;  Weiteres  l)el  Natorj),  For- 
schungen, S.  15. 

')  Man  vergleiclio  auch  das  chaiucteiistische  Verhallen  des  Skeptikers 
Aeiiesideni  zu  HtTacUl,  woriil)er  Nalorj»,  Fuiscliuugen,  S.  75 -SS,   1{)'A     l'H). 


Protagoras  u.  d.  Protagoreer  des  piaton.  Theaetet.  9ö 

Verderblich  für  die  Menschen  ^),  die  weitergehende  Lehre  des  Pro- 
tagoras  vorbereitet,  dass  das  einzehie  Individuum  Maassstab  sei 
für  die  Gültigkeit  der  Dinge.  Aber  selbst  bei  Heraclit  finden  wir 
in  den  uns  erhaltenen  Fragmenten  und  den  wirklich  historischen 
Darstellungen  der  Alten  jene  Lehre  von  der  Einheit  der  Gegen- 
sätze nirgendwo  aus  der  Lehre  vom  Fluss  aller  Dinge  ausdrücklich 
uibgeleLtet.  Um  so  weniger  kann  es  verwundern,  dass  eine  derartige 
Begründung  dem  Protagoras  fremd  ist.  Dieser  dürfte  vom  Hera- 
clitismus  vielmehr  nur  das  skeptische  Misstrauen  in  das  Sinnen- 
zeugnis sowie  die  allgemeine  relativistische  Vorstellung  hinüberge- 
nommen haben,  dass  ein  jedes  Ding  seine  Bedeutung  ändere,  je 
nachdem  es  zu  diesem  oder  jenem  in  Beziehung  gesetzt  werde  '"). 


')  Heracl.  fragm.  52.     S.  S.  26. 

-)  Ganz  unwahrscheinlich  ist  die  von  Breier  (Anaxagoras,  S.  84j ,  Laas 
(Positivismus  und  Idealismus  I,  194,  1 ;  Neuere  Untersuchungen  üher  Protago- 
ras, Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftl.  Philos.  VIII.  1884.  S.  493  u.  Anm.  2), 
Halbtags  a.  a.  0.  S.  163  f.  u.  a.  angenommene  Ahhiingigkeit  des  Protagoras  von  Ana- 
xagoras. Ich  gehe  auf  die  Frage  ein,  weil,  die  Richtigkeit  jener  Annahme  vor- 
ausgesetzt, dem  Protagoras  eine  ähnliche  Vorstellung  von  der  Materie  zuzu- 
schreiben wäre,  wie  dem  Anaxagoras.  Laas,  zu  dessen  Gründen  auch  Halb- 
fass  nichts  Wesentliches  hinzugefügt  hat,  führt  zwar  eine  gi-osse  Menge 
von  Citaten  dafür  ins  Feld;  dieselben  beweisen  aber  im  Gi'unde  sehr  wenig 
oder  gar  nichts.  So  ist  bei  Arist.  phys.  I  4,  187  b  2  ff.  nicht  gesagt,  was 
Laas  herausliest,  dass  „Anaxagoras  —  wie  die  Epicureer  —  die  Verschie- 
denheit der  Wahrnehmungen  aus  der  Verschiedenhe't  dessen,  was  an  dem  glei- 
chen Object  von  den  Individuen  appi'ehendiert  wird,  erkläre"  ;  dort  ist  vielmehr 
als  anaxagoreisch  die  Lehre  ausgesprochen,  dass  jedes  Ding  das  zu  sein 
scheine,  wovon  es  die  meisten  Teilchen  einschliesse  —  nicht  dem  einen  so, 
dem  andern  so,  wie  Laas  es  auffasst,  sondern  allen  in  gleicher  Weise.  Ferner 
heisst  es  bei  Aristoteles  (metaph.  XI  6,  1063  b  25),  wenn  nach  Anaxagoras  al- 
les in  allem  enthalten  sei,  so  sage  er,  jedes  Ding  sei  ebenso  gut  süss  wie  bittei', 
und  es  könne  also  Entgegengesetztes  von  dem  Selben  ausgesagt  werden.  Offen- 
bar handelt  es  sich  hier  indes  um  eine  erst  von  Aristoteles  aus  der  anaxagorei- 
schen  Lehre  gezogene  Consequenz.  Umgekehrt  werden  metaph.  IV  4,  1007 
b  18  ff.;  b  23  ff.;  IV  5,  1009  a  26 ff.  die  Consequenzen  aus  der  Lehre  des  Protagoras, 
nicht  diese  Lehre  selbst ,  der  Lehre  des  Anaxagoras  gleichgesetzt.  Gic.  acad. 
II  23,  72,  wo  es  heisst,  nach  Anaxagoras  sei  der  Schnee  schwarz  (d.  h.  es 
seien  den  weissen  Teilchen  schwarze  beigemischt,  die  sich  zeigen,  wenn  der 
Schnee  zu  dunklem  Wasser  schmilzt;  vgl.  Sext.  Pyrrh.  1 33  u.  oben  S.  74)  kann  man 
nur  dann  zum  Beweise  einer  Abhängigkeit  des  Anaxagoras  von  Heraclit  be- 
nutzen, wenn  man  der  Stelle  den  falschen  Sinn  unterschiebt,  dass  der  Schnee 
dem  einen  weiss,  dem  andern  schwarz  erscheine.  Bei  Sext.  Pyrrh.  II  63  ist  nur 
von  Democrit  un<l  Heraclit  die  Mtde.  Heisst  es  fernerbei  demsell)en  Sextus,  Pyrrh* 

7* 


100  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

Gleichwohl  wird  Plato  jene  Theorie  schwerlich  frei  erfunden 
haben.  Dafür  entwickelt  er  dieselbe  zu  eingehend,  und  wenn 
man  die  Ausdrücke,  mit  denen  die  entgegens'ehenden  Materia- 
listen bezeichnet  werden  {axkrjQoi  xal  dvrhvnoi  ar^QWTioi  155  E) 
mit  Recht  auf  eine  bestimmte  Person^  den  Antisthenes  ^),  bezieht, 
so  wird  auch  gleich  darauf  (15G  A)  bei  denen,  welchen  jene  Ge- 
heimlehre zugeschrieben  wird,  an  bestimmte  Persönlichkeiten  zu 
denken  sein.  Wie  sehr  selbst  das  Einzelne  des  Ausdrucks  auf 
solche  bestimmte  Vertreter  hinweist,  hat  Natorp  ^)  dargethan. 
Nicht  leicht  freilich  wird  es  sich  entscheiden  lassen,  welche  sei- 
ner Zeitgenossen  Plato  dabei  im  Auge  hatte.  Scheiermacher^), 
Dümmler  ■^),  Natorp  ^)  denken  an  Aristipp.  Dagegen  sprechen  sich 
A.  Wendt'')  und  Zeller '^j  aus,  während  Peipers  ^)  eine  vermittelnde 
Stellung  einnimmt.     Leider  wissen  wir  von  der  Lehre  Aristipp's, 


hyp.  I  218.  cla.ss  nach  Protagoras  alle  Ao'yot  in  der  vAi?  seien,  so  i.st  das  eine  höchst 
schiefe  Fassung  des  protagoreischenGedankens(über  den  Sinn  vgl.  Zeller  I*,  979,  2 
g.  E.),  die  sich  schon  durch  ihre  Terminologie  richtet  und  daher  für  die  hi- 
storische Frage  nach  dem  Ursprung  der  Lehre  gar  nicht  herangezogen  werden 
kann.  Ebenso  wenig  kann  ich  bei  Arist.  metaph.  XI  6,  1062  b  20  ff.  (vgl.  S. 
67  f.),  wo  derselbe  zwei  Meinungen  über  den  Ursprung  des  protagoreischen  Satzes 
vom  Menschen  als  dem  Maasse  aller  Dinge  anführt,  einen  Hinweis  auf  Ana- 
xagoras  finden;  denn  der  eine  Grund,  dass  nichts  aus  nichts  werde,  i.-t  allen 
Physiologen  gemein ;  bei  dem  andern  Grunde  aber,  dass  das ,  was  dem  einen 
süss  ersdieine,  dem  andern  Intter  sei,  wird  an  dieser  Stelle  Anaxagoras  übei'- 
haupt  nicht  genannt,  während  der  Gedanke  10G3  b  28  als  eine  erst  aus  der 
Lehre  des  Anaxagoras  zu  ziehende  Folgerung  auftritt.  Einzig  und  allein  das 
ä7i6(fj&ty/ua  metaph.  IV  5,  1009  b  25  könnte  Laas  mit  einigem  Hechte  für  sich 
anführen,  wonach  Anaxagoras  zu  einigen  seiner  Bekannten  gesagt  haben  solle, 
ort  ToiaSt'  avToTs  i'arai  tu  ovtu  ota  av  v7io/.üßü>an\  Allein  die  Art,  in  welcher 
der  Ausspruch  von  Aristoteles  eingeführt  wird,  beweist  unzweifelhaft,  dass  der- 
selbe in  der  Sclirift  des  Anaxagoras  niclit  enthalten  war  und  in  seinem  Sy- 
steme keine  Rolle  spielte,  wie  denn  überhaupt  auf  ein  solches  ausserhalb  alles 
Zusammenhanges  stehendes  Wort  wenig  zu  geben  sein  düifte. 

^)  Mit  Unrecht  dachten  Schleiermacher,  Peipers  und  andere  an  Üemocrit. 

2)  Forschungen  S.  23  fl". 

^)  Einleitung  zu  seiner  Übersetzung  S.  127. 

■*)  Antisthenica  S.  57  f. 

^)  Forschungen  S.  25. 

")  De  philosophia  Gyrenaica,  Abhandlungen  der  Göttinger  Ges.  d.  Wiss. 
1832—37,  vol.  VIII,  S.  157-165. 

')  A.  a.  0.  IP  a,  301,  4. 

^)  Untersuchungen  über  das  System  Plato's.  1.  Theil:  Die  Erkenntniss- 
theorie Plato's.    Leipzig  1874.    S.  268  ff. 


Protagoras  u.  d.  Protagoreer  des  platoii.  Theaetet.  101 

soweit  sie  hier  in  betracht  kommt,  mit  Sicherheit  nichts.  Denn  ob 
wir  das,  was  Sextus  ^)  von  den  Gyrenaikern  anführt,  schon  dem 
Aristipp  zuschreiben  dürfen,  lässt  sich  nicht  ausmachen.  Zudem 
fehlt,  was  das  Wichtigste  ist,  in  diesem  Bericht  des  Sextus  jede 
Beziehung  auf  die  herachtische  Lehre,  auf  die  es  hier  doch  gerade 
ankommt.  Wir  werden  uns  daher  beim  Mangel  aller  auch  nur 
einigermaassen  sicherer  Data  mit  dem  Nichtwissen  begnügen 
müssen  und  darum  die  Vertreter  der  von  Plato  angeführten 
Ansicht  lieber  schlechtweg  als  Protagoreer  bezeichnen. 

Diesen  Protagoreern  nun  legt  Plato  einen  extremen  Heracli- 
tismus  bei.  Als  das  Princip  ihrer  Lehre,  durch  welches  auch 
ihre  Theorie  der  Erkenntnis  gestützt  wird,  bezeichnet  er  den 
Satz:  ;,Das  All  war  Bewegung_,  und  daneben  nichts  Anderes" 2). 
Es  werden  dann  zwei  Arten  der  Bewegung  unterschieden,  eine 
active  und  eine  passive^  Thun  und  Leiden  (L56  A).  Durch  das 
Zusammentreffen  beider  Bewegungsarten  entstehen  paarweis 
zusammengehörige  Producte :  das  Wahrgenommene  (atö^ryTÖr)  und 
die  Wahrnehmung  (aiod-rjoig)^).     So    in   gegenseitiger   Beziehung 

')  Sext.  adv.  math.  VII  191—200. 

'*)  Theaet.  156  A:  dgxv  '^*'>  *'f  ■■??  ^'''  ^  *''^v  '^v  e^-i'youev  (vgl.  153  D  ff.)  jtdvTa 

TJgTriTai,  ijii'e  avTwv,  lög  t6   näv  xivrfOtg  tjV   y.ui  a/.}.o   TtaQO.   roiTo  orfffV. 

')  Üie  ai'a9r,aig  entspricht  dem  näayov,  das  ala&rjov  dem  noiovv,  wie  von 
selbst  klar  und  159  D  unzweideutig  ausgesprochen  ist.  Auch  182  A  ist  die 
Gleichstellung  von  noiovv.  m\A  noiöv  (=^  ata&rjTÖv)  sicher,  und  wenn  an  derselben 
Stelle  auch  das  näayov  dem  ala&i,t6v  gleichgesetzt  wird,  so  dürfte  statt  des  letzteren 
Wortes  das  von  Heindorf  vermutete  aia&av6iJ.erov  In  den  Text  aufzunehmen  sein.  — 
Natürlich  sind  die  Begriffe  noiovv  und  näayov  ihrem  Umfange  nach  weiter  als 
die  Begriffe  aia&rj6r  und  ai'ad^r^ais,  wie  Zeller  1*,  980,  1  und  Peipers  a.  a.  0. 
S.  287  f.  gegen  Schanz,  Beiträge  zur  vorsokratischen  Philosophie  aus  Piaton, 
1.  Heft:  die  Sophisten  (Göttingen  1807)  S.  72,  ausführen.  Mit  Recht  beruft 
sich  Zeller  dafür  auch  auf  die  Bemerkung  1.57  A,  dass  das  Gleiche,  was  im 
Verhältnis  zu  dem  einen  ein  Wii'kendes  ist,  zu  anderem  sich  leidend  verhalte. 
Peipers ,  in  der  Sache  mit  Zeller  einverstanden ,  sucht  die  Beweiskraft  dieses 
Argumentes  zu  entkräften,  indem  er  an  den  besonderen  Fall  gedacht  wissen 
will,  wo  das  auf  anderes  Wirkende  selbst  ein  Sinnesorgan  ist,  z.  B.  ein  Aug», 
welches  passiv  ist,  insoweit  es  von  einem  Gegenstande  zum  Sehen  gebracht 
wird,  und  auch  wieder  activ,  insofern  es  in  dem  Auge  eines  Gegenüberstehen- 
den eine  Gesichtsempfindung  erregt.  Allein  wenn  Plato  diesen  speciellen  Fall 
gemeint  hätte,  so  würde  er  jedenfalls  gesagt  haben,  dass  das  Leidende  eventuell 
auch  ein  Wirkendes  sei,  nicht  aber,  wie  wir  bei  ihm  lesen,  dass  das  Wirkende 
eventuell  auch  ein  Leidendes  sei.  Denn  das  Sinnesorgan  wird  doch  zunächst  als  ein 
vom  Objecte  leidendes  vorgestellt  wei'den,  nicht  aber  als  ein  thätiges,  welches 
selbst  ein  anderes  Auge   zur  Wahrnehmung  bringt.    Dass  übrigens  Plato  auf 


102  Erster  Abschnitt.     Vorsociatiker. 

Blick  lind  Farbe,  Hören  und  Ton  u.  s.  w.  (15()  A— C).  Aber  nur, 
wenn  solche  Bewegungen  zusainmenstossen,  die  sich  entsprechen  i), 
erfolgen  jene  Vorgänge,  die  z.  ß.  als  Sehen  das  Auge,  als  Weisse  den 
Gegenstand  erfüllen,  und  so  das  Auge  zu  einem  sehenden,  den 
Gegenstand  zu  etwas  Weissem  machen  (loü  D— E).  Darum  giebt 
es  nichts  an  sich  Seiendes  (aiho  xad^  avrö  15G  E),  vielmehr  ist 
alles  oder  besser  wird  alles  bloss  relativ,  nur  im  Zusammen- 
treffen verschiedener  Bewegungen.  Selbst  ob  eine  Bewegung  activ 
oder  passiv  sei,  wird  nur  durch  dieses  gegenseitige  Verhältnis 
bestimmt  2).  Eine  Bewegung,  die  activ  ist  im  Verhältniss  zu  dieser, 
fet  im  Verhältnis  zu  jener  passiv  (157  A).  Von  einem  Sein  darf 
durchaus  nicht  gesprochen  werden;  selbst  die  Ausdrücke  „dieses" 
oder  „jenes"  wären,  wenn  das  möglich,  zu  vermeiden,  da  sie  noch 
immer  etwas  Bleibendes  ausdrücken  (157  B).  In  Wahrheit  kommt 
nichts  je  zum  Stehen,  weder  ein  Teil,  noch  ein  Ganzes,  wie 
Mensch,  Stein,  Tier  u.  s.  w.,  da  ein  solches  Ganzes  ja  nur  ein 
Gonglomerat  von  vielen  Teilen  ist  (157  B— G)  ^). 

Grosse  Schwierigkeiten  bereitet  hier  der  erste  Satz,  welchen 
Plato  als  das  Princip  der  ganzen  Lehre  betrachtet,  und  welcher 
zugleich  für  die  Vorstellung,  die  jene  Männer  von  der  Materie 
hatten,  das  Wesentlichste  ist:  „Das  All  war  Bewegung  und  da- 
neben nichts  anderes"  ^). 

Nicht  eben  wichtig  ist  die  Controverse,  welche  sich  hier  an 
die  Bedeutung  des  von  Plato   gewählten  Imperfectums    knüpft'^). 


ein  anderes  Thun  und  Leiden,  als  die  Bewegungen  des  alaOrjuv  und  der 
cd'ij&iiai^-,  nicht  zu  sprechen  kommt,  erklärt  sich  einfach  daraus,  dass  ihm  jene 
ganze  Bewegungstlieorie  nur  soweit  in  betracht  kommt,  als  sie  zur  (irundlage 
der  protagoreisciien  Ei'kenninistbeorie  benutzt  werden  kann. 

^)  Theaet.  156D:  tndi'idv  oiv  oiu/na  xai  aXko  Ti  Tüiv  TO'VTU)  ^v  ,u  fi£T  Q  MV  nXrj- 
aidoav  '/tw^arj  rrjV  XevxÖTrjiä  te  xul  ai'a&r,atv  avTjj  ^v/jnfvtov. 

^)  Theaet.  156  E:  vTioXrimeov,  avrd  jufv  y.ad-'  avio  /X'>j(ffv  rn-ai  .  .  .,  iv  (fi  rjj 
TiQos  rifJ.i/Xa  öfiiXia  nccvra  ylyvio&ai  xal  navTota  dno  tiji  xivrjaeog. 

s)  Zur  Deutung  der  Stelle  vgl.  Siebeck,  Gesch.  d.  Psychol.,  Ia,S.  !275.  Anm.24. 

^)  Theaet.  15G  A:  tn  nav  xlviiaig  ijv  xal  aXXo  naQu  tovto  ovf^fv.  Die  unna- 
tüiliche  Gonstruction  des  Satzes  bei  A.  J.  Vitringa,  Disquisitio  de  Protagorae 
vita  et  philosophia,  Groningae  [1852J,  S.  82  ff,  welcher  t6  nSv  als  Adverbium 
=  TÖ  napdnav,  xivi]ai?  a's  Subject  Und  v'  als  Existentialverbum  fasst,  ist  von 
Peipers  a.  a.  0.  S.  281  f.  genügend  widerlegt. 

^)  „Das  All  Avar  Bewegung"  {r6  nav  xlvr,aie  ^v),  ist  die  Lehre  der  Prota- 
goreer.    Jetzt  nicht  mehr?   fragen  wir.     Zeigt   doch  die  folgende  Auseinander- 


Die  I'rotagoreer  des  Tlieaetel.    Keine  subslratlose  Bewegung.  103 

Eine  andere  Controverse  dagegen  ist  von  sachlichem  In- 
teresse. Wenn  nach  jenen  Protagoreern  das  All  nur  Bewegung 
war  und  daneben  nichts,  so  wird  damit,  wie  es  scheint,  eine  sub- 
stratlose Bewegung  gelehrt.  Vertauschen  wir  den  Begriff  der 
Bewegung  mit  dem  der  Kraft,  welch  letzteren  ja  die  neuere  Zeit 
zumeist  auf  den  ersteren  zuri^ickführt ,  so  würden  wir  also 
in  jenen  Protagoreern  die  ersten  Vertreter  derjenigen  An- 
sicht von  der  Materie  fmden,  welche  wir  als  Dynamismus  be- 
zeichnen.    Vertreten  wird  eine  solche  Auffassung    der    Theaetet- 


setzung  (z.  B.  157  A— B)  deutlich  genug,  dass  auch  für  die  spätere  Zeil  jede 
Ruhe  verbannt  bleiben  soll.  Stallbaum  (in  seiner  Ausgabe),  Schanz  (a.  a.  0. 
S.  70)  und  Sattig  [Zeitschrift  für  Philosophie  und  philos.  Kritik,  Bd.  86,  1885, 
S.  286)  haben  deshalb  an  ein  didactisches  Imperfectum  gedacht,  eine  Erklärung, 
die  von  Herrn.  Schmidt  (Jahrb.  f.  Philol.  u.  Päd  Bd.  107,  1873,  S.  209)  und  Peipers 
(a.  a.  0.  S.  279  f.)  aus  grammatischen  Gründen  als  unzuläs.sig  zurückgewiesen 
wird.  Vitringa  (a.  a.  0.  S.  83)  dagegen  hält  an  dem  eigentlichen  Imperfectum 
fest;  aber  Plato  solle  dasselbe  gebrauchen,  nicht  als  ob  nicht  auch  jetzt  noch 
alles  in  Bewegung  sei,  sondern  weil  hier  nicht,  wie  im  Voraufgehenden,  der 
jetzige  Zustand  der  Dinge  in  Frage  stehe,  vielmehr  das  Princip  und  der  Ur- 
sprung, aus  dem  alles  geflossen  sei.  Er  erinnert  dabei  an  den  Anfang  der 
Schrift  des  Protagoras:  6,uov  yQrjfiaTa  nävTa  i,v.  Auch  diese  Auffassung  be- 
kämpft Peipers  (S.  280  f.).  Wenn  der  im  ersten  Satz  beschriebene  Zustand 
der  Dinge  nach  Protagoras  nicht,  wie  bei  Anaxagoras,  ein  plötzlich  abgeschlos- 
sener, von  einem  neuen  verdrängter  sein  solle,  sondern  vielmehr  ein  auch  in 
alle  Zukunft  hinaus  andauernder,  so  sei  es  undenkbar,  dass  Plato,  wie  um 
den  Leser  irre  zu  führen,  zuerst  im  Sinne  des  Anaxagoras  sage:  es  war  alles 
Bewegung,  wobei  jeder  hinzudenke:  und  ist  es  nicht  mehr,  und  erst  später 
durch  die  Anwendung  von  präsentischen  Verben  {yiyvrrai,  xivsZrai  u.  s.  w.)  die- 
sen Zustand  als  noch  fortdauernd  bezeichne.  Peipers  stimmt  daher  der  auch 
von  Campbell  in  seiner  Theaetetausgabe  (2.  ed.,  Oxford  1883)  acceptierten  Er- 
klärung Zeller's  (P,  978,  1)  bei ,  welcher  in  dem  Imperfectum  den  Sinn  findet, 
alles  sei  seinem  Wesen  nach  Bewegung,  eine  Bedeutung,  die  das  Imperfec- 
tum auch  in  dem  aristotelischen  rd  rl  |v  elvM  habe. 

Aber  eins,  und  zwar  das  Entscheidende,  hat  Peipers  dabei  übersehen.  Wenn 
Anaxagoras  seine  Schrift  mit  dem  Satze  beginnt:  „Alles  war  zugleich",  so  will  er 
damit  keineswegs,  wie  Peipers  annimmt,  einen  plötzhch  abgeschlossenen  und  von 
einem  neuen  verdrängten  Zustand  der  Dinge  bezeichnen.  Vielmehr  heisst  es 
ausdrücklich  in  Fr.  16  der  anaxagoreischen  Schrift  (citiert  S.  76  Anm.  3),  wie 
im  Anfange,  so  sei  auch  jetzt  noch  alles  zugleich.  So  wenig  also  das  Imper- 
fectum am  Anfange  der  anaxagoreischen  Schrift  ausschliesst ,  dass  der  gleiche 
Zustand  auch  später  noch  fortbestand,  ebensowenig  ist  dieses  bei  dem  Satze 
der  Fall,  welchen  Plato  dem  Protagoras  beilegt.  Ja,  man  kann  die  Ähnlichkeit 
zwischen  beiden  noch  weiter  durchführen.    Das  Imperfectum  |v  zu  Eingang  der 


104  Erster  Abschnitt.    Vorsoccatiker. 

stelle  durch  Frei'),  U.  Weber ''^),  V^itringa^),  Peipers^),  Siebeck •'^), 
während  Zeller^),  H.  Schmidt'),  Sättigt)  u.  a.  in  derselben  nicht 
eine  Bewegung  ohne  Bewegtes^  eine  reine  Bewegung,  finden, 
sondern  nur  eine  solche,  deren  Subject  sich  beständig  ändert. 

Eine  Entscheidung  ist  hier  schwer  zu  treffen,  da  sich  sowohl 
für  die  eine  wie  für  die  andere  Ansicht  verschiedene  Indicien, 
für  keine  aber  durchschlagende  Gründe  anführen  lassen. 


Schrift  des  Anaxagoras  nämlich  ist  deshalb  gesetzt,  weil  liier  der  Zustand  im 
Anfange  der  Entwickelung  geschildert  werden  soll,  die  innige  Mischung  aller 
Dinge,  derentwegen  alles  in  allem  war.  Dieser  Zustand  ist  auch  bei  der  Wei- 
terentwickelung geblieben;  aber  neben,  oder  besser  gesagt  in  ihm,  hat  sich 
zugleich  ein  Neues  gebildet:  die  Einzeldinge,  für  welche  zwar  noch  immer  das 
öftnv  nüvia  gilt,  aber  doch  so,  dass  unter  diesen  zusammenseienden  Stoffen  ei- 
ner vorwiegt  und  die  Benennung  des  Gegenstandes  bestimmt.  Das  blosse 
ndvitt  ufiuv  war  (Fr.  1);  auch  jetzt  noch  ist  es  (Fr.  16),  aber  in  modificierter 
Gestalt.  Ganz  ähnlich  der  platonische  Bericht  über  die  Lehre  der  Protagoreer. 
Ursprünglich  war  alles  nur  Bewegung  und  nichts  anderes  daneben.  Auch  in 
in  der  Weiterentwickelung  bleibt  alles  noch  Bewegung;  aber  es  entwickelt  sich 
nunmehr  durch  das  Zusammentreffen  jener  ursprünglichen  BeAvegungen  eine 
neue  Glasse  bei  Plato  156  A  als  i'xyova  bezeichneter  Bewegungen,  welche  nicht 
mehr  bloss  Bewegungen  sind  und  nichts  anderes  daneben  {y.ivrjais  xal  üXXo  7ia(iä 
TovTo  or'fftV) ,  sondern  Bewegungen  besonderer  Art ,  nämlich  die  Bewegungen 
der  ata&rjrä  und  der  aia&rjaiii,  die  Wahrnehmungen  und  die  nur  in  der  Wahr- 
nehmung existierenden  Qualitäten.  Es  liegt  also  keinerlei  Widerspruch  darin, 
wenn  wir,  sowohl  bei  Anaxagoras  wie  bei  den  Protagoreern,  das  yv  als  eigent- 
liches Imperfectum  fassen  und  gleichwohl  daran  festhalten,  dass  auch  später 
alles,  wie  bei  jenem  „zusammen",    so  bei  diesen  „Bewegung"  sei. 

Natürlich  braucht  trotz  dieser  Ähnlichkeiten  zwischen  Plato's  Darstel- 
lung der  protagoreischen  Lehre  und  zwischen  der  Schrift  des  Anaxagoras  die 
von  Laas  u.  a.  behauptete  (s.  S.  99  Anm.  2)  inhaltliche  Abhän- 
gigkeit nicht  zu  bestehen.  Jene  Ähnlichkeiten  sind  vielmehr  rein  formaler 
Natur.  Sie  beziehen  sich  nur  auf  Anordnung  und  Ausdruck  der  einzelnen  Ge- 
danken, ganz  abgesehen  davon ,  dass  sich  nicht  ausmachen  lässt ,  in  wieweit 
selbst  diese  Ähnlichkeiten  auf  Rechnung  von  Plato's  Darstellung  zu  setzen  sind. 

*)  Jos.  Frei,  Quaestiones  Protagoreae.    Bonnae  1845.     S.  79. 

^)  0.  Weber,  Quaestiones  Protagoreae.    Marb.  1850.    S.  23  ff. 

3)  A.  a.  0.  S.  83  ff. 

*)  A.  a.  0.  S.  282. 

*)  H.  Siebeck,  Gesch.  d.  Psychol.  I  a,  S.  157.  ^ 

«)  A.  a.  0.  P,  978,  1. 

')  H.  Schmidt,  Jahrbücher  für  class.  Philol.  Bd.  111.  187.5.  S.  481—483.; 
Supplementband  IX.  1877—78.  S.  457. 

«)  Zeitschr.  f.  Philos.  u.  philos.    Kritik  Bd.  86.  S.  283  ff. 


Die  Protagoreer  des  Theaetet.     Keine  suli.straüose  Bewegung.  105 

Die  Gegner  der  reinen  Bewegung  verweisen  auf  die  zahl- 
reichen Stellen  des  platonischen  Berichtes  über  Protagoras  und 
seine  „Geheimlehre",  resp.  der  Kritik  dieser  Lehre,  an  welchen 
OS  heisst,  dass  nach  ihm  „alles"  sich  bewege  {nävTa  xirsTa^ai, 
Theaet.  156  G,  180  D,  181  G,  D,  E)  i),  eine  Ausdrucksweise,  bei 
welcher  das  grammatische  Subject  „alles"  als  Entsprechung  auch 
ein  physisches  Subject  der  Bewegung  zu  verlangen  scheint.  Indes 
macht  schon  Peipers  ^)  darauf  aufmerksam,  dass  die  Schwierigkeit, 
sich  die  Annahme  einer  reinen  Bewegung  vorstellig  zu  machen, 
immer  dahin  führen  musste,  sich  in  dieser  Weise  auszudrücken  ; 
denn  falls  nicht  in  impersonal  gesetzten  Verben  wie  s'xivsho 
xirfhai  LI.  s.  w.  geredet  werden  sollte,  waren  Subjectsbezeici- 
nungen  wie  ravta,  nävta  nicht  zu  umgehen.  Der  Wortlaut  aller 
dieser  Stellen  liefert  daher  keinen  Beweis  dafür,  dass  der  Bewe- 
gung ein  Substrat  zugelegt  werde. 

Ebenso  wenig  aber  beweist  der  Wortlaut  des  Satzes :  „Alles 
war  Bewegung  und  daneben  nichts  anderes"  für  das  Gegenteil. 
Denn  hier  war  der  substantivische  Ausdruck  durch  den  Umstand 
geboten,  dass  die  im  Folgenden  (156  A — B)  unterschiedenen  bei- 
den Arten  der  activen  und  passiven  Bewegung  unter  einer  ein- 
zigen Bezeichnung  zusammenzufassen  waren,  wozu  das  Verbum 
mit  seiner  unvermeidlichen  Differenzierung  von  activer  oder 
passiver  Form  nicht  wohl  geeignet  war.  Dieser  sprachliche 
Zwang  würde  den  immerhin  etwas  starken  Ausdruck:  ndvzu 
xirrjOig  rjv  auch  bei  der  Anahme  erklärlich  machen,  dass  an 
einem  unbestimmten  Substrate  der  Bewegung  festgehalten  Wer- 
dens solle,  dessen  einzige  Bestimmtheit  eben  in  seiner  Bewegung 
besteht. 

Eine  neue  Stütze  für  die  Annahme  einer  absoluten  Bewe- 
gung hat  Siebeck  3)  in  einer  Stelle  des  Theaetet  erblickt,  welche 
früher  durch  eine  im  16.  Jahrhundert  von  Janus  Cornarius  ge- 
machte Interpolation  entstellt  wurde,  deren  mangelnde  Berech- 
tigung indes  schon  Vögelin*)  und  besonders  Wohlrab^)   und  Pei- 


')  Die  Stellen  sind  gesammelt  bei  Zeller  I*,  978,  1. 

2)  A.  a.  0.  S.  282. 

ä)  A.  a.  O.  S.  157  f.  274  f. 

*)  In  der  Vorrede  der  Züricher  Ausgabe  (II),  Vol.  III,  1844,  p.  VIII  ff. 

*)  Jahrbücher  für  class.  Philol.   Bd.  97.  1868.  S.  27-36. 


106  Erster  Abschnitt.     Vorsocratiker. 

persi)  dargothan  haben,  weshalb  der  Zusatz  denn  auch  von  den 
neueren  Herausgebern,  Campbell 2),  Wohlrab,  Schanz,  mit  Recht 
wieder  getilgt  ist.  Plato  unterscheidet  dort  (156  G)  langsame 
und  schnellere  Bewegungen.  Was  langsam  ist,  bleibt  am  selben 
Orte.  Es  ist,  wie  man  aus  dem  Folgenden  (156  D— E)  ersieht, 
das  Organ,  z.  B.  das  Auge,  und  das  ihm  gegenüberstehende 
Objecl,  z.  B.  ein  8tück  Holz  oder  ein  Stein,  gemeint.  Diese  lang- 
sameren Bewegungen  nun  erzeugen  die  schnelleren,  welche  we- 
sentlich in  der  Ortsveränderung  {(^oga)  bestehen  3).  Dieselben  be- 
wegen sich  zwischen  dem  Organ  und  seinem  Gegenstande  und 
constituiercn  in  jenem  die  Empfindung,  in  diesem  die  Qualität. 
Für  das  Auge  z.  B.  ist  die  betreffende  schnellere  Bewegung  der 
Blick,  welcher  das  Auge  erst  zu  einem  sehenden  macht,  für  den 
Gegenstand  die  Weisse,  die  ihn  erst  zu  einem  Weissen  macht.  —  Wie 
die  Empfindungen  und  die  Empfindungsqualitäten,  so  werden  auch 
hier,  scheint  es,  die  „Gegenstände"  selbst  auf  blosse,  substratlose 
Bewegung  zurückgeführt. 

Indes  dürfte  auch  dieser  Stelle  keine  sonderliche  Beweiskraft 
zukommen.  Dass  den  Dingen,  abgesehen  von  unserer  Wahrneh- 
mung und  von  den  Bewegungsformen,  durch  welche  sie  den  ein- 
zelnen Organen  „symmetrisch"  werden  (156  D),  irgendwelche 
feste  Eigenschaften  zukommen,  scheint  allerdings  durch  dieselbe 
ausgeschlossen  zu  sein.  Unzulässig  ist  die  Vorstellung,  als  ob 
etwa  für  jene  Protagoreer  nur  die  Qualitäten  (im  späteren  Sinne) 
im  steten  Flusse  befindlich  wären,  die  Substanzen  aber  in  Ruhe 
sich  befänden*).  Aber  —  wie  auch  Peipers^)  einräumt  — ,  der 
unbestimmte  Begriff  eines  Etwas,  das  in  fortwährender  Verän- 
derung begriffen  ist,  wird  nirgendwo  bestritten;  vielmehr  scheint 
derselbe  durch  Ausdrucksweisen,  wie  „alles  dieses  wird  bewegt; 


1)  A.  a.  0.  S.  300  ff.  Auch  F.  Michelis,  Piatons  Theaetet  (Freiburij  i.  Br. 
1881)  S.  52  ff.  erklärt  sich  gegen  den  Zusatz. 

^)  Schon  in  der  ersten  Ausgabe,  Oxford  18öl. 

^)  Theaet.  156  G:  ßovltrai  yctg  di]  Ityiiv,  ms  ravTa  7idvta  fiiv,  mOntQ  ?.t'/o,U(v, 
y.ivfnai,  rn)ro(  (fe  xai  ^QwlvTrii  e'vi  Tr,  >:ivr,aii  axhuiv.  'üaov  uev  oiv  ß^adv ,  iv  tw 
avTü)   y.al  Tigog  rd   n'/.Tjatd^uvta  rrjv  y.ivrjOiv  i'ayii  xai  ovia)  <hj  yevva,  r«  rff  ytvvitifieva 

(156  A  hiess  es  i'xyova)  [ovtw  (fi}]  (diese  Worte  tilgt  Peipers  S.  302  Anm  *),  wohl 

mit  Recht)   OäTim  toxi  {fiQtzai  yaQ   yai   iv  ifOQci.   avTinv  ij   xirr^aic   ne'qvxrv. 

*)  Vgl.  Siebeck  a.  a.  0.  S.  274. 
*)  A.  a.  O.  S.  283. 


Die  Protagoreer  des  Theaetet.    Keine  sujjslratlose  Bewegung.  107 

es  ist  aber  Schnelligkeit  und  Langsamkeit  in  den  Bewegungen 
desselben" '),  obwohl  dieselben  nicht  streng  beweisend  sind, 
doch  immerhin  mehr  empfohlen  zu  werden  als  sein  Gegenteil. 
Der  Ausdrucks  weise:  „alles  war  Bewegung",  welche  allerdings 
den  Gedanken  an  eine  völlig  substratlose  Bewegung  -nahelegt ,  be- 
dient  sich  zudem  die  platonische  Darstellung  nur  da,  wo  ein 
ganz  besonderer  Grund  dazu  vorlagt),  während  sie  im  übrigen 
solche  Constructionen  anwendet,  bei  denen  die  Vorstellung  eines 
unbestimmten  Etwas,  welches  sich  verändert,  zwar  nicht  not- 
wendig, wohl  aber  natürlich  ist.  Aus  allen  diesen  Gründen 
werden  wir  kein  Bedenken  tragen,  der  von  Zeller  vertretenen  Auf- 
fassung jener  Lehre  beizustimmen.  Auch  bei  dieser  liegt  noch  eine 
unleugbare  Weiterentwicklung  des  Standpunctes  Heraclit's  vor; 
denn  bei  diesem  ist  es  ein  bestimmter  Stoff,  welcher  sich  zu 
allem  umsetzt,  nämlich  das  Feuer,  während  von  jenen  nur  noch 
die  für  das  Denken  nicht  wohl  zu  umgehende  Vorstellung  eines 
unbestimmten,  sich  stetig  ändernden  Etwas  festgehalten  wird. 

Ein  jeder  Versuch,  die  Gedankengänge  jener  Protagoreer  noch 
weiter  nach  Maassgabe  späterer  Problemstellungen  zu  fixieren, 
dürfte  vergeblich  sein.  Müsste  doch  das  Unternehmen,  noch  un- 
entwickelte Gedanken  ihrer  Unbestimmtheit  zu  entkleiden ,  selbst 
dann  als  unhistorisch  bezeichnet  werden  _,  wenn  auch  die  ge- 
schichtliche Überlieferung  jener  Gedanken  nicht  zu  so  vielen  kri- 
tischen Bedenken  Anlass  gäbe,  wie  es  bei  dem  platonischen 
Bericht  über  diese  protagoreische  „Geheimlehre"  der  Fall  ist. 
Es  möge  darum  auch  nicht  weiter  untersucht  werden,  ob  jene 
Vorstellungen  die  Tendenz  einschlössen,  sich  zu  der  Vorstel- 
lung einer  wirklich  substratlosen  Bewegung  weiterzubilden, 
oder  ob  sie  auf  dem  Wege  zu  einer  qualitätslosen,  aber  die 
Keime  zu  alÄm  einschliessenden,  fliessenden  Materie  lagen,  wie 
Sextus  Empiricus^)  eine  solche  wenig  historisch  in  stoischer  Ter- 
minologie dem  Protagoras  zuschreibt.  Genug,  dass  die  Lehre,  trotz 
des  extremen  Sensualismus,  den  sie  begründen  soll,  im  Gegensatz  zu 
dem  am  JSicht-  und  Tastbaren  haftenden  Materialismus,  welchem 
Plato  sie  ausdrücklich  entgegenstellt^),  einen  Fortgang  in  jener  Rich- 


1)  Theaet.  156  C,  citiert  S.  106  Anm.  3. 

2j  S.  S.  105. 

3)  Pyrrh.  hyp.  I  217—218. 

*)  Theaet.  155  E. 


108  Erster  Abschnitt.    Vorsocratiker. 

tung  bedeutet,  welche  dem  sinnlich  Erfassbaren  mehr  und  mehr 
die  objective  Geltung  abspricht  und  es  so  immer  mehr  zu  einem 
Nichlseienden  herabdrückt,  welches  gegenüber  den  von  Piaton  auf- 
gestellten neuen  Principien  kein  Gegengewicht  bilden  kann. 

b*    Gorgias. 

Vollendet  wird  diese  Skepsis  an  der  Sinnenwelt  durch  Gor- 
gias.  Der  Entwickelungsgang  des  Mannes  ist  durch  die 
Untersuchungen  von  Diels ')  in  überraschender  Weise  klar- 
gestellt worden.  Darnach  geht  Gorgias  aus  von  der  Physik 
seines  sicilischen  Landsmannes  Empedocles,  bei  welchem  auch 
schon  fast  alle  stilistischen  Eigentümlichkeiten  der  gorgianischen 
Rede  vorgebildet  sind.  Aus  dieser  Denkungsart,  von  welcher  er 
in  einer  optischen  Schrift  ein  Denkmal  hinterlassen  hatte,  wird 
er  etwa  um  die  Mitte  des  fünften  Jahrhunderts  durch  die  mäch- 
tige dialectische  Strömung  herausgerissen,  welche  von  der 
eleatischen  Schule  ausgeht.  Dieser  Periode  gehört  seine  Schrift 
„Über  die  Natur  oder  über  das  Nichtseiende"  an.  Um  den  An- 
fang des  peloponnesischen  Krieges  endlich  widmet  er  sich  der 
Epideiktik  und  der  Unterweisung  der  Jugend  in  dieser  rhetori- 
schen Technik,  nicht  ohne  auch  damals  noch,  wie  man  aus 
Plato's  Meno  (76  G — D)  ersieht,  im  Unterrichte  gelegentlich  auf 
seine  alten  physikalischen  Probleme  zurückzukommen. 

Für  uns  kommt  nur  die  „nihilistische  Brandschrift"  in  be- 
tracht,  in  welcher  Gorgias  die  letzten  Gonsequenzen  des  Eleatis- 
mus  zog.  Wie  wir  sahen,  hatte  bereits  Zeno  mit  aller  Bestimmt- 
heit die  Realität  der  Ausdehnung  in  Abrede  gestellt,  also  dem  Ei- 
nen die  Körperlichkeit  abgesprochen  ^).  Andererseits  hatte  er  das, 
was  weder  Grösse  noch  Dicke,  noch  Masse  habe,  für  nichtwirk- 
lich erklärt  3).  Gorgias  verbindet  beides.  Weil  das  Eine,  wenn 
es  wäre^  unkörperlich  sein  müsste,  das  Unkörperhche  aber  nichts 
ist,  so  existiert  das  Eine  nicht.  Aber  auch  das  Viele  nicht,  da 
es  ja  aus  Einheiten  zusammengesetzt  sein  müsste.  Es  existiert 
also  überhaupt  nichts*). 

^)  H,  Diels,  Gorgias  und  Empedocles.  Sitzungsberichte  der  Berliner  Aka- 
demie der  Wissenschaften.  1884.  L  S.  343—368. 

')  S.  S.  60  f  —  3)  s.  S.  62  Anm.  2. 

"*)  [Arist.]  de  Gorgia  c.  %  Ö79  b  36:  y.ui  iv  intv  [ovx  av  tfvvaa&ai  ti]pa/,  oti 
uamnarov  av  tl'ij  to   i'v'  \t6  yaQ  dawfiarov,  q)]'>][aiv,  ovd^ev,  e)^o/nev[di]  ye  rov  tov  Zij- 


Gorgias.    Die  Materie  nichts.  1Ö§ 

So  hat  sich  für  Gorgias  das  Seiende  aufgelöst  in  ein  Schei- 
nendes'). Die  stoffliche  Welt  mit  ihrem  materiellen  Untergrunde 
ist  in  das  Nichts  der  Illusion  versunken. 

Befriedigung  konnte  ein  solcher  dürrer  Nihilismus  nicht  ge- 
währen. Wer  kann  entscheiden,  ob  sein  Urheber  ihn  zeitweise 
als  innerste  Überzeugung  angenommen^  oder  ob  er  in  der  Ver- 
zweiflung am  Wissen  ihn  nur  als  keckes  Paradoxon  seiner  dispu- 
tiersüchtigen,  dialectisch  gestimmten  Zeit  hingeworfen  hat?  Je- 
denfalls hat  er  bald  Rettung  aus  demselben  gesucht.  In  der  Re- 
dekunst fand  er  das  Mittel,  für  die  Überzeugung  seiner  Hörer 
den  Schein  zur  Wahrheit  zu  erheben. 

Doch  das  war  der  sophistische  Ausweg.  Einen  anderen  schlug 
Plato  ein.  Die  Sinnenwelt  betrachtet  auch  er  mit  dem  Auge  des 
Zweifelnden,  der  nur  Wahrscheinlichkeit,  keine  ewige  Wahrheit 
auf  dem  steter  Veränderung  unterworfenen  Gebiete  glaubt  finden 
zu  können.  Aber  dieser  Welt  des  Scheins  stellt  er  das  wahrhafte 
Sein  der  Ideen  gegenüber,  aus  dem  auch  alles,  was  die  diessei- 
tige Welt  an  Sicherem  und  Bestimmtem  einschliesst,  seinen  Ur- 
sprung nimmt. 

Indem  die  sophistische  Skepsis  den  Glauben  an  die  Sinnen- 
welt, sowie  überhaupt  an  alles ,  was  dem  naiven  Realismus 
zweifellos  gewiss  ist,  untergräbt,  bildet  sie  somit  gewissermaassen 
die  negative  Vorstufe  für  die  neue  Position  des  platonischen 
Noumenalismus. 


vo)vog  löyov'   ivo?  ^e  fxi]  ovrog  (ytö"  av  no/.Xd   n'vat    (mit    den    Ergänzungen    von 
H.  E.  Foss).    Vgl.  Sext.  adv.  math.  VI!  73.    Isocrat.  10,  3;  15,  268. 

')  Gorgias   (auf  die  Echtheitsfrage  kann  hier  natürlich  nicht  eingegangen 
werden)  Palam.  24:  t6  yt  äo^üam  xoivdv  ünaai  tkqI  ndvirnv.    Vgl.  Isoer.  15,  "111. 


Zweiter  Absclinitt. 

Plato.    Die  Materie  als  blosse  Ausdehnung. 

1.  Notwendigkeit  der  Materie  im  platonischen  System. 

So  bedeutsam  die  Person  des  So  erat  es  in  der  allgemeinen 
Geschichte  der  Philosophie  dasteht,  indem  er  der  sophistischen 
Verflüchtigung  aller  objectiven  Grundlegung  der  Wahrheit  und 
Sittlichkeit  gegenüber  in  der  durch  Induction  gewonnenen  Deti- 
nition^)  eine  neue  Grundlegung  des  Wissens  aufstellt,  so  findet 
doch  die  von  ihm  begründete  Denkrichtung  auf  das  Gebiet  der 
Naturphilosophie  erst  bei  seinem  Schüler  Plato  Anwendung  2).  Der 
Meister  selbst,  unbefriedigt  von  der  Naturphilosophie  auch  eines 
Anaxagoras  3),  wendet  sich  fast  ausschliesslich  ethischen  Untersu- 
chungen zu^)  und  widmet  den  Reichen  der  Natur  nur  in  soweit 
seine  Aufmerksamkeit,  als  die  in  ihnen  herrschende  vernünftige 
Ordnung  das  Walten  einer  das  Gute  bezweckenden  göttlichen 
Vernunft  darthut  ■'').  In  dem  umfassenden  Systeme  Plato's  da- 
gegen wird  auch  den  naturphilosophischen  Problemen  wieder 
gebührende  Beachtung  zuteil.  Unter  ihnen  hebt  sich  zum  ersten- 
mal in  bestimmter  Formulierung  ab  das  Problem  der 
Materie^). 


»)  Arist.  melaph.  XIII  4,  1078  1)  28. 

-)  Über  die  übrigen  Socratiker,  von  denen  keiner  für  das  Problem  der 
Materie  neue  Gedanken  beigebracht  hat,  wird  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes 
kurz  gehandelt  werden. 

3)  Plat.  Phaed.  97  G  ff. 

*)  Arist.  metaph.  XIII  4,   1078  b  17  ff.;  Gic.  acad.  post.  14,  15. 

6)  Xen.  mem.  I  4,  2  ff.;  Plat.  Phaed.  97  G  ff. 

^)  Ausser  jetzt  veralteten  Schriften,  wie  Bessarion,  In  calumniatoreni 
Plalunis  libri  quatuor,  Hb.  II.  cap.  5.  Venedig,  Aldus,  fol.  17^' -  19*.    Moshoini  zu 


Zweiter  Abschnitt.     Plato.  111 

Um  den  Begriff  der  Malerie  bei  Plato  richtig  würdigen  zu 
kcmnen,  müssen  wir  ihn  in  seinem  Verhältnis  zu  den  Grund- 
principien  seiner  Naturphilosophie   betrachten. 

Die  beherrschende  Grundvorstellung,  wie  des  ganzen  platoni- 
schen Systems,  so  auch  seiner  Naturphilosophie,  ist  der  Gegensatz 
der  sichtbaren  Welt  und  der  nur  im  Denken  zu  erfassenden  Welt 
der  Ideen. 


Gudvvorth,  Systeraa  intellectuale  huius  universi.  Jenae  1733,  p.  944 — 950. 
W.  G.  Tennemann,  System  der  Platonischen  Philosophie.  4  Bde.  Leipzig 
1792—1795.  Bd.  III  S.  25—37  und  S.  175—178,  und  den  bekannten  allgemeinen 
^Verken  zur  Geschichte  der  griecliischen  Philosophie  handeln  über  die  plato- 
nische Lehre  von  der  Materie:  Aug.  Boeckh,  Über  die  Bildung  der 
Weltseele  im  Timaeos  des  Piaton,  in:  Studien,  hrsg.  von  G.  Daub  und 
Fr.  Creuzer.  Bd.  III.  Heidelberg  1807;  wiederabgedruckt  in:  Gesammelte 
kleine  Schriften  III  S.  109—180  (ich  citiei'e  nach  der  im  Abdruck  am 
Rande  angegebenen  Original-Paginierung).  Christ.  Aug.  Brand is,  De  perdilis 
Aristotelis  libris  de  ideis  et  de  bono  sive  philosophia.  Bonnae  1823,  p.  21 — 43. 
J.  R.  Lichtenstädt,  Platon's  Leliren  auf  dem  Gebiete  der  Naturforschung  und 
der  Heilkunde.  Leipzig  1826.  S.  54 — 58.  Fr.  W.  Trendelenburg,  Piatonis  de 
ideis  et  numeris  doctrina.  Lipsiae  1826.  p.  48  sqq.  Ast,  Über  die  Materie  im 
platonischen  Timaeos.  Abhaudl.  der  Müncliener  Akad.  d.  Wiss.,  philos.-philol. 
Classe.  Bd.  1.  1835.  S.  43 — 54.  Herrn.  Bonitz,  Disputationes  Platonicae  duae. 
Programm  des  Vitzthum'schen  Gymnasiums.  Dresden  1837.  S.  65 — 66.  Godofr. 
St  all  ha  um,  Piatonis  opera  omnia.  "Vol.  VII  continens  Timaeum  et  Critiam- 
Gothae  et  Erfordiae  1838.  Prolegomena  cap.  V  (besonders  S.  43 — 46)  und  zu 
pag.  49  A  (S.  205  ff.).  Ders.  Piatonis  Parnieuides.  Lipsiae  1839.  S.  115  ff.  133 
ff.  Ed.  Zeller,  Platonische  Studien.  Tübingen  1839.  S.  216—225.  248—257. 
Th.  Henri  Martin,  Etudes  sur  le  Timee  de  Piaton.  Paris  1841.  Bd.  I.  p. 
16—19.  174—175.  176—178.  Bd.  IL  p.  180—189.  J.  S.  Könitzer,  Über 
Verhältniss,  Form  und  Wesen  der  Elementarkörper  nach  Piatons  Timaios. 
Gymn.-Progr.  Neu-Ruppin  1846  (bes.  S.  24—29).  Francisc.  Ebben,  De  Piatonis 
idearum  doctrina.  Bonnae  1849.  S.  28 — 58:  De  infinitio  seu  materia.  G.  Bode, 
Materia  qualem  apud  Platonem  habeat  vim  atque  naturam.  Gymn.-Progr. 
Neu-Ruppin  1853.  F.  Überweg,  Über  die  platonische  Weltseele.  Rhein.  Mus. 
f.  Phil.  IX.  1853.  S.  37— 84  (bes.  S.  58  ff.).  Franz  SusemihI,  Die  genetische  Ent- 
Avickelung  der  Platonischen  Philosophie.  Bd.  11,2.  Hälfte.  Leipzig  1860.  S.  404 — 412. 
Sigurd  Ribbing,  Genetische  Darstellung  der  Platonischen  Ideenlehre.  Bd.  I. 
Leipzig  1863.  S.' 333— 335.  P.  Wohlstein,  Materie  und  Weltseele  in  dem 
platonischen  Systeme.  Marburg  1863.  S.  1 — 21.  Felix  Bobertag,  De  materia 
platonica  quam  fere  vocant  meletemata.  Vratislaviae  1864.  George  Grote, 
Plato  and  the  other  companions  of  Sokrates.  London  1865.  Vol.  III  p. 
266 — 268.  Gumlich,  Beiträge  zur  Würdigung  und  zum  Verständniss  des  Pla- 
tonischen Timäus.  Berlin  1869.  S.  10 — 13.  Alfred  Fouillee,  La  philosophie 
de  Piaton.    Exposition,  histoire  et  critique  de  la  theorie  des  idees.     Paris  1869. 


112  Zweiter  Abschnitt.    Platö. 

Nur  die  Idee  ist  ein  wahrhaft  Seiendes,  ein  ovtok  ov^).  eine 
ot'Oicc  2) ;  nur  sie  besitzt  ein  sich  stets  gl  eich  verhaltendes,  unver- 
änderliches, ewiges  Sein  3),  und  nur  sie  bildet  darum  den  Gegen- 
stand des  Wissens  *).  Tief  unter  diesem  unveränderlich  Seienden, 
dem  Gebiete  des  Werdens  Entnommenen,  steht  das  immer 
Werdende,  niemals  Seiende  ■'^),  dem  Werden  und  Vergehen  Unter- 
worfene '^),  welches,  zwischen  dem  Sein  und  dem  Nichtsein  in  der 
Mitte  befindlich^),  sowohl  am  Sein  wie  am  Nichtsein  teilhat «) 
und  daher  auch  nur  durch  die  zwischen  Wissen  und  Nichtwissen 
in  der  Mitte  stehende  Meinung  erkennbar  ist  ^) ;  denn  was  nicht 
ist,  sondern  wird,  entbehrt  der  innern  Festigkeit  (ß^ßatörrjc), 
ohne  welche  nichts  Gegenstand  der  Vernunfterkenntnis  sein 
kann'o).  Das  sinnliche  Ding  zeigt  die  Bestimmung  nicht  rein, 
sondern  gemischt  mit  dem  Gegenteil.  Was  schön,  was  gleich, 
was  gross  ist  in  der  einen  Beziehung,  ist  hässlich  oder  ungleich 
oder  klein  in  der  andern^'),  schlägt  also  zugleich  um  in  sein  Ge- 


Bd.  I,  S.  551 — 553.  Gustav  Schneider,  Das  materielle Princip  der  Platonischen 
Metaphysik.  Gymn.-Progr.  Gera  1872;  in  erweiterter  Gestalt  wieder  abgedruckt 
in  :  Die  Platonische  Metaphysik  auf  Grund  der  im  Philebus  gegebenen  Princi- 
pien  in  ihren  wesentlichen  Zügen  dargestellt.  Leipzig  1884.  S.  l — 44.  Herm. 
Siebeck,  Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Griechen.  Halle  1873.  S.  64 — 13G: 
Plato's  Lehre  von  der  Materie.  Gustav  Teichmüller,  Studien  zur  Geschichte 
der  Begrifife.  Berlin  1874.  S.  302—339.  David  Peipers,  Ontologia  Platonica. 
Ad  notionum  terminorumque  historiam  symbola.  Lipsiae  1883.  p.  443.  Jacob 
Bassfreund,  Über  das  zweite  Princip  des  Sinnlichen  oder  die  Materie  bei 
Plato.  Breslau  1885.  M.  Sartorius,  Die  Reahtät  der  Materie  bei  Plato. 
Philos.  Monatshefte.  Bd.  XXIII,  188G.  S.  129—167.  Anderes  wird  gelegentlicli 
angeführt  werden. 

')  Phaedr.  247  E;  rep.  X,  597  D. 

'')  Cratyl.  386  D  f.;  Phaed.  78  D;  79  A;  Parm.  135  A;  Tim.  37  E. 
3)  Tim.  27  D;  38  A;  Phaed.  78  D. 

*)  Phaedr.  247  G,  rep.  V,  477  B;  478  G;  479  E;  Cratyl.  440  A—D;  Phaed. 
79  A;  Tim.  51  D;  Parm.  135  B— G;  Phileb.  58  A;  59  A— G. 
^J  Tim.  27  D. 
8)  rep.  VI,  508  D. 
'J  rep.  V,  479  G. 
")  rep.  V,  478  E. 

"j  rep.  V,  478  G;  479  E;  Tim.  51  D. 
'»)  Phileb.  59  A— B;  vgl.  Soph.  249  B. 
«')  rep.  V.  479  A;  VII,  524  G. 


NotwendiLtkeit  der  Materie  im  platonischen  System.  113 

genteil  *).  Ferner  behält  kein  Ding  eine  bestimmte  Eigenschaft 
auf  ewige  Dauer;  im  Verlaufe  der  Zeit  wird  es  zu  entgegen- 
gesetzten Bestimmungen  übergehen  '^).  Das  .Sinnliche,  weil  es 
nicht  unveränderlich  ein  Schönes,  Gleiches,  Grosses  ist,  kann  also 
den  Innern  Grund  für  jene  Bestimmungen  nicht  in  sich  selbst 
tragen;  denn  hätte  es  ihn  in  sich  selbst,  so  würde  die  Bestim- 
mung ihm  auch  unabänderlich  zukommen.  Es  ist  kein  Schönes, 
Gleiches,  Grosses  u.  s.  w.  aus  sich  (x«.y  ai'iö),  sondern  setzt 
ein  solches  aus  sich  Schönes,  Gleiches,  Grosses,  mit  andern  Wor- 
ten die  Idee  des  Schönen,  Gleichen,  Grossen,  als  seinen  letzten 
Grund  voraus.  Nur  der  Idee  mithin  kommt  das  ihr  eigentüm- 
liche Sein  an  und  für  sich  zu;  das  Sinnfällige  dagegen  besitzt 
die  ihm  zustehenden  Bestimmungen  nur  durch  Teilnahme^)  an 
den  Ideen.  Diese  Teilnahme  aber  besteht  dann^  dass  das  wer- 
dende und  vergehende  Sinnfällige  die  Nachahmung,  das  Abbild 
der  Idee,  die  ewig  seiende  Idee  das  Muster  und  Urbild  des  Sinn- 
fähigen  darstellt.  Das  Sinnfällige  ist  nur  vorübergehende  Er- 
scheinung (ein  (favTaCöfisvov),  Wiederschein  des  wahrhaft  Seienden  *\ 

Aber  worin  soll  dieser  Schein  sich  zeigen?  Welches  ist,  um  ^i&'^iZ'- 
ein  treffendes  neuplatonisches  ^)  Bild  zu  gebrauchen,  der  Spiegel 
zum  Auffangen  jener  Bilder?  Eine  mehr  subjectivistisch  ge- 
richtete Zeit  würde  hier  vermutlich  auf  das  erkennende  Subject 
selbst  verweisen,  in  dessen  unvollkommener  Anschauung  das  ein- 
heitlich Seiende  nur  gebrochen  und  mit  einem  trüglichen  Schein 
der  Einbildung  überzogen  sich  darstelle.  Dem  Realismus  des 
alten  Hellenen  ist  ein  solcher  Ausweg  fremd.  Ihm  kann  der  Ort 
der  Nachbilder,  der  dieselben  auffangende  Spiegel,  nur  ein  ob- 
jectiv  Gegebenes  sein.  So  ergiebt  sich  für  Plato  die  Not- 
wendigkeit eines  zweiten  Principes  neben  den  Ideen  für  die  Er- 
klärung der  Weltbildung.  Es  ist  dasjenige  Element  der  Wirklich- 


')  rep.  VII,  523  B.  —  ')  Phaed.  78  E;  103  B. 

^)  Tim.  48  E  (bis  jetzt  haben  wir  zwei  Gattungen  des  Seienden  unter- 
schieden:) iv  fiiv  löi  nagad'ft'yiuaTOi  tafos  •v7ioTf-&e'v,  voijzov  xnl  dfi  xaia  larrd  ov, 
uifiijfjia  öl  TtaQa^eiynaTog  thvTfQov,  ye'viaiv  i'^ov  xal  ogaröv.  Pai'm.  132  D  (es 
scheint  sich  so  zu  verhalten:)  r«  !.iev  euhj  rarra  mansQ  TTaQwhiyßaTa  earärai  iv 
rfj  (f'i'afi,  rci  (fe  u).Xa  Tovroig  ioixevoLi  xcü  ti'vfti  ö/notin/nuTu'  xal  •>/  ni&t^ii  «rr/^  toT( 
olXXots  ytyvia&ai  rdiv  eidmv  ovx   aX?.//   Tic:  ?/   fi'xaa&TJrai   avTOi's. 

*)  Tim.  49  E;  50  G.  —  ^)  Plotin.  enn.  III  6,  cap.  7.  9.  13.  14,  p.  229,  9. 
230,  15.  -'36,  16.  227,  4  Müller. 

Baeumker:  Das  Problem  der  Materie  etc.  8 


114  Zweiter  Aljschnitt.     Plato. 

keit,  welches  er  im  Timaeus  als  das  allgemeine  Receptaculmn, 
als  Mutter  und  Pflegerin  alles  Werdenden  bezeichnet,  und  wel- 
ches wir  nach  dem  Vorgange  des  Aristoteles  mit  einem  aristote- 
lischen, für  Plato  freilich  nicht  völlig  zutreffenden  Ausdrucke  die 
platonische  Materie  zu  nennen  gewöhnt  sind  i). 

Um  aber  die  idealen  Urbilder  in  der  Materie  zum  abbild- 
lichen Ausdruck  zu  bringen,  bedarf  es  einer  bewegenden  Kraft 
^n  oder  neben  den  Ideen.  Wo  Plato  populär  spricht  —  wie  es 
um  seine  philosophische  Lehrmeinung  steht,  mag  hier  dahinge- 
stellt bleiben  —  bezeichnet  er  dieselbe  als  Gottheit.  Daher  die 
im  Altertum  herkömmliche  Fixierung  seiner  Principien  auf  diese 
drei:  Gott,  die  Ideen,  die  Materie  2), 

Die  einzige  Stelle,  an  der  Plato  seine  auf  das  Problem  der 
Materie  bezüglichen  Ansichten  eingehender  und  im  Zusammen- 
hange entwickelt,  findet  sich  im  Timaeus.  Erst  in  zweiter  Linie 
kommen  bestimmte  Ausführungen  des  Philebus  in  betracht. 
Dieselben  leiten  zu  der  Form  der  Lehre  über,  welche  Plato  in 
seinen  mündlichen  Vorträgen  entwickelte,  und  für  die  in  den  ari- 
stotelischen Berichten  das  älteste  Zeugnis  vorliegt.  Sach- 
lich   wertvoll    ist  vor  allem   die  im  Timaeus  dargestellte  Lehre. 


*)  Dass  der  Name  r/.»/  dem  Plato  fremd,  hebt  Chalcid.  in  Tim.  c.  308  mit 
Recht  hervor.  Der  Ausdruck  findet  seine  volle  Erklärung  als  technischer  Ter- 
minus in  der  That  erst  aus  dem  aristotelischen  Begriffe  der  Materie,  als  des 
Gestaltbaren,  Potenziellen.  Für  diesen  allgemeinen  Begriff  des  Gestaltbaren 
bietet  die  Vorstellung  des  „Arbeitsmateriales",  welche  Bedeutung  das  Wort  vh, 
schon  bei  Plato  hat  (Phileb.  54  B;  vgl.  Tim.  69  A),  ein  passendes  Bild;  nicht 
in  gleichem  Maasse  für  den  platonischen  Begritf  von  der  Materie  als  dem  A  u  f- 
nehm enden.  Wenn  bei  dem  angeblichen  Locrer  Timaeus  das  Wort  v).a  des 
öftern  im  technischen  Sinne  gebraucht  wird  (93  B;  94  A.  B.  G;  97  E),  so  giebt 
dieser  Umstand  nur  einen  Beweis  mehr  ab  für  die  Unechtheit  der  Schrift.  Im 
übrigen  vgl.  Zeller  II'  a,  6Ü5,  1. 

*)  Alexander  Aphr.  bei  Simphc.  phys.  I.  p.  43,  4—7  ;  Plut.  plac.  I  3,  l21  (Diels, 
Doxogr.  p.  287);  Stob.  eccl.  I,  p.  308;  Justin,  coh.  adGraec.  c.6,  p.  7B;  Theodoret. 
Graecar.  affect.  curat.  IV  11;  Irenaeus  adv.  haer.  1118,3  Harveyll  14,  3  Massuet; 
Cyrillus  cont.  Jul.  imp.  II,  p.  48B  Aubert  (tom.  VI,  Paris,  1638);  Hippolyt.  refut. 
I  19,  1;  Epiphan.  de  haer.  prooem.  Vol.  I,  p.  ^75,  SDindorf;  ibid.  1.  III  c.  8.  Vol. 
III,  p.  565,  4  Dind.;  anacephal.  I,  p.  234,  12  Dind.;  Ambros.  hexaem.  11,1;  Joanu. 
Damasc.  de  haeres.  c.  6,  p.  77  Lequien  (I,  684  Migne);  Chalcid.  in  Tim.  c.  307 
(ed.  Wrobel).  Dagegen  führt  Achilles  (Tatius),  isagoge  in  Arati  phaenomena 
c.  3  (bei  Petavius,  Uranologion,  Paris.  1630,  p.  125  B),  als  die  drei  Principien 
an:  Gott,  die  Materie,  das  dem  Werden  und  Vergehen  Unterworfene. 


Darstellung  des  Timaeus.     Vernunft  und  Notivcudigkeit.  115 

Zugleich  ist  sie  historisch  die  bedeutsamere.  Hauptsächlich  an 
sie  knüpft  Aristoteles  an  und  durch  Vermittlung  des  letzteren 
auch  die  Stoiker.  Die  alte  Academie  dagegen  übernimmt  die  ab- 
strusere Lehre  des  greisen  Plato,  kann  ihr  aber  nur  geringe  Nach- 
wirkung verleihen.  Erst  der  neupythagoreische  und  neuplatonische 
Syncretismus  hat  auch  diese  Elemente  wieder  hervorgezogen. 

2.  Die  Darstellung  des  Timaeus. 

Um  eine  sichere  Grundlage  für  die  Entscheidung  der  man- 
nigfachen Streitfragen  zu  gewinnen,  welche  über  die  Natur  der 
platonischen  Materie  bestehen,  haben  wir  zunächst  den  Ge- 
dankengang des  betreffenden  Timaeusabschnittes  einer  Analyse 
zu  unterziehen. 

Der  Timaeus  zerfällt  in  drei  Hauptabschnitte.  Nach  ei- 
ner voraufgeschickten  Einleitung  (p.  17 — 27  B)  behandelt  der 
erste  Abschnitt  die  Werke  der  Vernunft  (27  G-47  E),  der 
zweite  die  Werke  der  Notwendigkeit  (47  E — 69  A),  der  dritte 
diejenigen  Werke,  bei  denen  sowohl  der  Vernunft  wie  der  Not- 
wendigkeit ein  Anteil  zukommt  (69  A — 92  B). 

Der  vernünftige  Gharacter  der  Welt  ist  darin  begründet, 
dass  sie  das  stets  werdende  Abbild  des  immer  seienden  Vernunft- 
reiches der  Ideen  darstellt.  Der  Timaeus  leitet  darum  die  Dar- 
stellung der  Naturphilosophie  ein  durch  die  Unterscheidung  einer 
zweifachen  Gattung  (27  D).  Die  erste  ist  das  immer  Seiende, 
dem  Werden  Entnommene  (rö  öv  a«,  ysvsoiv  Sk  ovx  k'xov),  d.  h. 
die  Ideen,  die  zweite  das  immer  Werdende,  niemals  Seiende, 
(ro  yiyvöfxsvov  (xkv  dei\  ov  öh  ovöänore)  d.  h.  die  sinnlich  wahrnehm- 
bare Welt.  Sind  beide  Gattungen  auch  von  einander  verschieden,  so 
sind  sie  doch  nicht  ohne  Beziehung  zu  einander.  Das  Seiende  ist 
vielmehr  Urbild  des  Werdenden ,  das  Werdende  Nachbildung  des 
Seienden  (28  A).  Die  Ordnung  der  sichtbaren  Welt  aber  nach  dem 
Vorbilde  der  Ideen  ist  das  Werk  der  göttlichen  Vernunft'). 


')  Es  ist  dies  der  von  Socrates  aufgenommene  Gedanke  des  Anaxagoras, 
vgl.  Plat.leg.  XII,  967  B;  Arist.  met.  13,  984b  15—19;  14,  985u  1 8 ff.  —  Xenoph.  me- 
mor.  I  4,  i  ff.  Plat.  Phaed.  97  G  ff.  —  Was  Plato  (Phaed.  98  B  ff  8.)  in  Übereinstim- 
mung mit  Arist.  metaph.  I  4,  985  a  18 — !2l  ;  phys.  II  8,  198  b  16  an  Anaxago- 
ras tadelt,  ist  nur  die  mangelhafte  Durchführung  der  Teleologie  von  selten  des- 
selben ,  an  deren  Stelle,  sobald  es  sich  um  Erklärung  des  Einzelnen  handele, 
die  mechanische  Gausalität  trete.     Dass    dies  der  Grund  des  Tadels,    sieht  man 

ft  ♦ 


in;  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

Indem  sich  Plato  nun  anschickt,  zu  erzählen,  in  welcher 
Weise  diese  Ordnung  des  Weltalls  vor  sich  gegangen,  bestimmt 
er  zunächst  (29  B — G)  den  wissenschaftlichen  Gharacter,  welchen 
eine  solche  Darstellung  seiner  Überzeugung  nach  nur  haben  könne. 
Dieser  Gharacter,  hebt  er  hervor,  ist  bedingt  durch  den  Gegen- 
stand der  Darstellung,  Nur  von  dem  unveränderlich  Seienden, 
der  Vernunfterkenntnis  Zugänglichen,  kann  die  Wissenschaft  eine 
sichere,  jede  Einrede  abschneidende  Rechenschaft  geben;  bei  dem- 
jenigen dagegen,  was  nur  ein  Bild  jenes  unveränderlichen  Seien- 
den darstellt,  ist  eine  solche  feste  Bestimmung  unmöglich.  Hier 
findet  nur  ein  Glauben  {rtimtg)  statt ;  denn  wie  das  Werden  zum 
Sein,  so  verhält  sich  das  Glauben  zur  Wahrheit  ^).  Wir  müssen 
uns  bei  einem  solchen  OlDJect  mit  wahrscheinlichen  Reden 
{dxÖTsg  Xöyoi)  begnügen  und  selbst  dann  zufrieden  sein,  wenn 
es  uns  nicht  gelingen  will,  stets  die  volle  Übereinstimmung  in 
unsern  Reden  zu  wahren  2).  —  Deutlicher  als  namentlich  durch 
die  letzte  Bestimmung  konnte  Plato  in  der  That  kaum  zu  ver- 
stehen geben,  dass  die  folgende  Erzählung  von  der  Weltbildung 
nicht  in  allem  dogmatisch  zu  nehmen  sei,  sondern  dass  sie  viel- 
fach in  mythischer  Hülle  das  für  die  Phantasie  vorstellbar  zu 
machen  suche,  wovon  eine  streng  begriffliche,  ausschliesslich  auf 
Vernunftgründe  gestützte  Ableitung  aus  den  eigentlich  wissen- 
schaftlichen Grundlagen  seines  Systemes  geben  zu  können  er  für 
unmöglich  hielt. 

Diese  „wahrscheinliche  Rede"  hebt  nun  damit  an,  dass  er- 
zählt wird,  wie  der  Bildner  des  Alls  eine  sichtbare,  in  regelloser 
Bewegung  befindliche  Masse  vorfindet,  die  er  dann,  getrieben  von 
seiner  Güte,  aus  der  Unordnung  zur  Ordnung  führt  (30  A).  Es 
ist  die  sogenannte  „secundäre  Materie",     deren    Besprechung 


besonders  deutlich  an  denn  Phaed.  98  C — D  gevvälalten  Beispiel,  durch  welches 
Socrates  das  Ungenügende  in  der  Schrift  des  Anaxagoras  klar  zu  machen  sucht. 
Mit  Unrecht  bezieht  Sartorius  a.  a.  0.  S.  183  den  Tadel  auf  die  Homoeonie- 
rienlehre,  an  der  Plato  die  Starrheit  der  Elementarteilchen  auszusetzen  gehabt 
habe. 

*)  Tim.  29  G:  o  ri  mg  7i(i6g  yevifiiv  ovala,  tovto   7i()6g  niartv  dXrj&sia. 

)  Tim.  29  G:  idv  oiv  .  .  .  fxy)  (fvvccTol  yr/vwjue&a  Tidviji  TidvTrog  ai'rovi  eav- 
tu?i   uuuXoyucfxivoi'i  ).6ynvi  xal  (i7iTjX()ißwjuevoi'C  änoti'ovvai,  jutj   ^Kifiäarjc:.      Über  den 

Sinn  des  Ausdrucks  elxörn-  Xöyoi,  der  durch  die  Übersetzung  „wahrscheinliche 
Reden"  nur  sehr  inadäquat  wiedergegeben  wird,  vgl.  Susemihl  II,  320  f. 


Darstellung-  des  Tiiaaeus.     Vernunft  und  Notwendigkeit.  117 

einem  spätem  Orte  aufbewahrt  bleiben  soll.  Die  einzelnen  Stu- 
fen, in  welchen  Plato  jene  Ordnung  der  Welt  sicli  vollziehen 
lässt,  und  in  deren  Mittelpunct  die  Einführung  mathematischer 
Ordnung  durch  die  Weltseele  steht  (34  B  flf.),  brauchen  hier  nicht 
weiter  verfolgt  zu  werden,  da  Bestimmungen  über  die  Natur  des 
körperlich  Seienden  in  ihnen  nicht  gegeben  werden. 

Der  Vernunft,  deren  Werk  der  erste  Abschnitt  geschildert, 
setzt  der  zweite  Abschnitt  die  Notwendigkeit  (dvdyxrj)  zur 
Seite  (47  E).  Denn  die  Entstehung  der  Welt  ist  nicht  das  aus- 
schliessliche Werk  der  Vernunft,  sondern  ist  bedingt  durch  das 
Zusammentreten  von  Vernunft  und  Notwendigkeit.  Nur  dadurch, 
dass  die  Vernunft  über  die  Notwendigkeit  siegte,  indem  sie  die- 
selbe überredete,  von  dem  Werdenden  das  Meiste  zum  Besten  zu 
führen,  wurde  das  All.  Es  ist  also,  soll  anders  die  Darstellung 
vom  Werden  der  Welt  eine  vollständige  sein,  auch  über  diese 
„umhersch^veifende  Ursache"  (rd  rr^g  Tr^avco/^isrrjg  sidog  ahiag)  zu 
sprechen  (48  A).  Der  Ausdruck  „umherschweifende  Ursache" 
weist  uns  auf  den  Beginn  des  ersten  Abschnittes  zurück.  Dort 
(30  A)  war  eine  regellos  bewegte  sichtbare  Masse  als  Stoff  der 
Weltbildung  vorausgesetzt,  die  der  Ordner  des  Alls  vorfindet, 
ohne  dass  nach  den  Gründen  derselben  weiter  gefragt  wäre^). 
Jetzt  aber  soll  die  Untersuchung  wieder  zum  Anfang  zurück- 
kehren und  erwägen ,  wie  vor  der  Entstehung  des  Kosmos  die 
Naturen  von  Feuer,  Wasser,  Luft  und  Erde  wurden.  Denn  sehr 
mit  Unrecht  betrachte  man  —  die  Naturphilosophen  sind  ge- 
meint —  Feuer,  Wasser,  Luft  und  Erde  als  die  Elemente  der 
Weltbildung,  ohne  weiter  nach  ihrer  Herkunft  zu  forschen,  da  die- 
selben doch  in  Wahrheit  nicht  den  Sprachelementen,  d.  h.  den 
Lauten,  sondern  erst  den  aus  diesen  zusammengesetzten  Sylben 
vergleichbar  seien.  Es  ist  also  aufs  neue  nach  den  Principien 
dieser  körperlichen  Naturen  zu  suchen.  Ein  völliger  Abschluss 
wird  dabei,  wie  Plato  meint,  nicht  zu  erzielen  sein ;  vielmehr  wird 
sich  die  Untersuchung  auch  hier  mit  dem  Wahrscheinlichen  zu- 
friedenstellen müssen  (48  B — D). 

Schwierigkeiten  macht  in  dieser  Darstellung  vor  allem  der 
Begriff    der  Notwendigkeit.     Man    pflegt    freilich    sehr    leicht 


^)  So  lässt  die  hesiodische  Theogonie  zuerst  das  Chaos  dasein,    ohne  um 
seine  Herkunft  weiter  sich  zu  kümmern. 


•'Xji,^- 


118  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

Über  die  Frage  nach  dem  Sinn  dieses  platonischen  Begrif- 
fes hinwegzugehen  und  glaubt  durch  den  Gegensatz  von 
Toleologie  =  Vernunft  und  mechanischer  Causalität  =  Notwen- 
digkeit alles  erklärt  zu  haben.  Allein  was  ist  das  für  eine  Not- 
wendigkeit, die  sich  von  der  Vernunft  soll  überreden  lassen  — 
ein  Ausdruck,  der  von  Plato  noch  einmal  an  einer  späteren  Stelle 
wiederholt  wird^)?  Es  wäre,  scheint  es,  eine  nicht  notwendige, 
weil  abänderbare,  Notwendigkeit,  also  eine  contradictio  in  adiecto  ^). 
Suchen  wir  darum  den  Sinn  dieser  „Notwendigkeit"  durch  Ver- 
gleichung  derjenigen  Stellen,  in  denen  sie  erwähnt  wird,  genauer 
festzustellen. 

Den  Ausgangspunct  dafür  mögen  die  Worte  bilden,  mit  denen 
Plato  am  Schlüsse  des  zweiten  Abschnittes  die  voraufgehenden 
Erörterungen  zusammenfasst.  „Dieses  alles  aus  Notwendigkeit 
so  Gewordene",  heisst  es  dort  (G8E  — 60A),  „übernahm  damals  der 
Werkmeister  des  Schönen  und  Besten  in  dem  Werdenden,  als  er 
den  sich  selbst  genügenden  und  höchst  vollkommenen  Gott  (die 
Welt  nämlich)  hervorbrachte,  indem  er  sich  der  hierauf  bezüg- 
lichen mitwirkenden  Ursachen  {akiai  vnriQstovOai)  bediente, 
selbst  jedoch  das  Wohlgeratene  (to  «>)  in  allem  Werdenden  be- 
wirkte. Demnach  muss  man  zwei  Gattungen  von  Ursachen  unter- 
scheiden, das  Notwendige  {dvayxmovY  —  man  beachte,  dass 
das  „Notwendige"  hier  ausdrücklich  als  Ursache  bezeichnet 
wird  und  also  mit  der  eben  genannten  „Notwendigkeit"  zusam- 
menfällt —  „und  das  Göttliche,  das  Göttliche  aber  in  allem  des 
Besitzes  eines  glücklichen  Lebens  halber  suchen,  soweit  es  unsere 
Natur  gestattet,  das  Notwendige  dagegen  um  jenes  willen,  indem  man 
erwägt,  dass  es  ohne  dieses  nicht  möglich  ist,  eben  jenes,  dem 
wir  nachstreben,  allein  zu  begreifen  oder  zu  erfassen  oder  seiner 
sonst  irgendwie  teilhaftig  zu  werden."  —  Plato  unterscheidet  auch 
hier  eine  doppelte  Ursächlichkeit,  die  aus  Notwendigkeit  und  die 
als  „göttliche"  bezeichnete.  Die  Aufgabe  der  göttlichen  Ur- 
sächlichkeit ist  es,  das  „Wohlgeratene"  {x6  sv),  d.  h.  also  die 
Ordnung  des  Regellosen,  herbeizuführen.  Die  entgegenstehende 
notwendige  Ursächhchkeit  cliaracterisiert    sich    durch   folgende 


*)  56  C:   071JJ   7if(i  i]   lijS   ävri'/x^iC  fxuvaa   TruaiffiOci  rt   ifvats  T7tt7xi. 

')  Nicht  mit  Unrecht  bemerkt  G.  Grote,  Plato  III,  249,  diese  Notwendij^keit 
Plato's  sei,  was  die  moderne  Metaphysik  als  Willensfreiheit  bezeichne. 


Darstellung  des  Timaeus.    Die  Notwendigkeit.  119 

Bestimmungen.  Sie  vermag  die  Ordnmig  nicht  aus  sich  herbei- 
zuführen; wohl  aber  ist  sie  mitwirkende  Ursache,  indem  sie 
um  jener  ersteren  Ursächlichkeit  willen  da  ist ;  denn  ohne  das 
„Notwendige"  ist  es  unmöglich,  des  „Göttlichen"  teilhaftig  zu 
sein.  Wir  sehen,  wie  hier  der  Begriff  der  notwendigen  Ur- 
sache im  wesentlichen  auf  den  Begriff  der  Mittelursache,  d.  h. 
des  zur  Erreichung  bestinmiter  höherer  Erfolge  notwendigen 
Mittels,  hinausläuft. 

Ähnliche  Betrachtungen  finden  wir  auch  am  Schlüsse  des 
ersten  Hauptabschnittes.  Plato  ist  hier  einen  Augenblick  über 
den  Kreis  seiner  Aufgabe  hinausgegangen,  indem  er  über  den 
Bau  des  menschlichen  Körpers,  über  die  physikalischen  und  phy- 
siologischen Vorgänge  beim  Sehen,  beim  Traumvorstellen  und 
beim  Erscheinen  von  Spiegelbildern  einige  Bemerkungen  voraus- 
genommen hat.  „Alles  das  nun",  fährt  er  fort,  (46  G),  „gehört  zu 
den  Mitursachen  {^vraiTia),  deren  sich  Gott  als  dienender 
(vTirjQSTovvra)  bedient,  indem  er  die  Gestalt  des  Besten  nach  Mög- 
lichkeit vollendet."  Er  hebt  dann  hervor,  wie  die  meisten  der- 
gleichen nicht  für  Mitarsachen,  sondern  für  die  eigentlichen  Ur- 
sachen hielten,  indem  sie  alles  durch  Erwärmung  und  Abkühlung, 
Verdünnung  und  Verdichtung  erklären  wollten,  da  doch  der  Lieb- 
haber der  Vernunft  zuerst  nach  den  Ursachen  der  vernünftigen 
Natur  fragen  müsste.  —  Hatte  die  eben  besprochene  Stelle 
den  Begriff  der  notwendigen  Ursache  dem  Begriffe  der  Mitur- 
sache gleichgesetzt,  so  erfahren  wir  aus  dieser,  dass  die  Gausa- 
lität  körperlicher  Naturen  als  solche  Mitursache  zu  betrach- 
ten ist. 

Einiges  Weitere  ersehen  wir  aus  einer  dritten  Stelle  des  Ti- 
maeus (76  D).  Auch  hier  wird  mit  dem  Begriffe  der  Mitursache 
operiert,  den  wir  schon  oben  dem  der  notwendigen  Ursache 
gleichgesetzt  fanden.  Es  werden  nämlich  Sehnen,  Haut  und  Kno- 
chen als  die  Mitursachen  {^vvaiTia)  für  die  Entstehung  des  Fin- 
gernagels bezeichnet,  wogegen  die  eigentliche  Ursache  seiner  Ent- 
stehung darin  liege,  dass  er  von  der  Vernunft  des  Zukünftigen 
wegen  {saofxävwv  yaQir)  gebildet  sei.  —  Die  Mitursache  wird  an 
diesem  Orte  der  zwecksetzenden  Vernunft  entgegengestellt.  Sie 
befasst  die  materiellen  Hülfsmittel,  durch  welche  die  Ziele  der 
Vernunft  verwirklicht  werden.  Der  Gegensatz  der  eigenthchen  und  der 


120  Zweiter  Abschnilt.    Plato. 

Mitursache  ist  hierauf  den  des  vernünftigen  Zweckes  und 
der  materiellen  Mittel  Ursache  zurückgeführt  i). 

Hier  nun  werden  wir  uns  der  bekannten  Ausführungen  des 
Phaedo  (97  G  ff.)  erinnern,  in  denen  Socrates  den  Anaxagoras 
tadelt,  dass  er,  anstatt  auch  im  einzelnen  nach  dem  Zwecke  der 
Dinge  zu  fragen,  bei  der  Erklärung  des  Einzelnen  nicht  mehr  die 
auf  das  Beste  eines  jeden  Dinges  abzielende  Vernunft,  sondern 
Luft,  Äther,  Wasser  u.  s.  w.  als  Ursache  angebe.  Das  sei  ge- 
rade so,  wie  wenn  jemand  auf  die  Frage,-  weshalb  Socrates  hier 
im  Gefängnisse  sitze,  antworten  wolle :  weil  sein  Leib  Knochen 
und  Sehnen  besitze,  und  weil  die  Knochen  Gelenke-  hätten,  die 
Sehnen  aber  sich  ausdehnen  und  zusammenziehen  könnten,  und 
Aveil  eine  Biegung  der  Knochen  jn  den  Gelenken  auch  die  Seh- 
nen zusammenziehe  und  dadurch  die  Glieder  krümme,  so  dass  er 
jetzt  gekrümmt  dort  sitze;  da  er  doch  in  Wahrheit  deshalb  hier 
sitze,  weil  es,  nachdem  es  den  Athenern  besser  geschienen,  so 
über  ihn  zu  beschliessen,  ihm  selber  besser  erschienen  sei,  hier 
zu  sitzen  und  die  Strafe  zu  erleiden,  welche  jene  beschlossen ;  an- 
dernfalls ihn  jene  Knochen  und  Sehnen  längst  nach  Megara  oder 
Boeotien  getragen  hätten.  Es  sei  daher  sehr  thöricht,  dergleichen 
wie  Knochen,  Sehnen  u.  s.  w.  als  Ursache  zu  bezeichnen;  viel- 
mehr müsse  man  sagen,  dass  er^  ohne  jenes  zu  besitzen,  das, 
was  ihm  gut  scheine,  nicht  ausführen  könne.  Aber  wie  im 
Dunkeln  tappend  bezeichne  die  Menge,  eines  ganz  falschen  Na- 
mens sich  bedienend,  jenes  als  die  Ursache  und  zeige  durch 
diese  Verwechslung,  dass  sie  nicht  unterscheiden  könne,  „dass 
etwas  anderes  ist  die  Ursache  für  das  Seiende,  etwas  anderes 
jenes,  ohne  welches  die  Ursache  nicht  Ursache  wäre"  ^). 

Diese  Phaedostelle  giebt  uns,  indem  sie  die  aus  der  zu- 
erst besprochenen  Stelle  des  Timaeus  (68  E  —  G9A)  gezogenen 
Folgerungen  bestätigt,  bestimmte  Auskunft  darüber,  in  wel- 
chem Sinne  jenen  Mittelursachen  der  Gharacter  der  Notwen- 
digkeit zukomme.     Dieselbe  soll  keineswegs  die  Unvermeidlichkeit 


')  Hieraus  erklärt  sich  auch  der  BegrifY  des  ^wainov  Polit.  281  E,  wo 
es  die  Kunst  bezeichnet,  welche  die  nötigen  Hülfsmittel  für  diejenige  Kunst 
liefert,  welche  das  Werk  selbst  schafft. 

'^)  Phaed.  99  B:  tö  yd(i  ixi]  d'ttkeaihai  utöv  t'  ii'vai  oti  akXo  jutv  ti  iazi  t6 
a'i'rtov  TiZ  ovTi,  a'AAo   rf'  extivo   avtv   oi  t6   airiov  ovx  av   tiot'  ti'rj  aVtiov. 


Darstellung  des  Timaeus.     Die  Notwendigkeit.  121 

der  Wirkung  andeuten,  was  ja  dadurch  von  vornherein  ausge- 
schlossen ist,  dass  der  Timaeus  die  Notwendigkeit  überredet  wer- 
den lässt.  Sie  betrifft  überhaupt  nicht  die  Verknüpfung  von  bewe- 
gender Ursache  und  Wirkung,  sondern  deutet  hin  auf  die  Abhän- 
gigkeit, in  welcher  der  Zweck  zu  den  Mitteln  steht,  die  zu  seiner  Ver- 
wirkUchung  erforderlich  sind.  Die  Notwendigkeit  jener  Ursache  ist 
keine  innerliche,  auf  ihre  eigene  Wirkungsweise  bezügliche;  sie 
beruht  auf  einer  äussern  Beziehung,  indem  jene  Ursache  die  not- 
wendige Voraussetzung  für  etwas  anderes  ausmacht.  Die  Ver- 
nunft, ist  die  Meinung  Plato's,  kann  ihre  auf  das  Wohlverhalten, 
d.  h.  auf  die  Ordnung,  abzielenden  Zwecke  in  der  Welt  nicht 
rein  aus  sich  verwirklichen;  sie  bedarf  dazu  als  Mitursachen,  d. 
h,  als  Mittel,  notwendig  der  materiellen  Dinge.  Die  Einteilung 
Plato's  berührt  sich  also  mit  der  modernen  Unterscheidung  von 
teleologischer  und  mechanischer  Gausalität,  ohne  sich  mit  der- 
selben zu  decken.  Denn  einmal  übersieht  sie,  indem  sie  die 
„notwendige"  Ursache  auf  das  Gebiet  des  Materiellen  beschränkt, 
dass  auch  auf  rein  geistigem  Gebiete  kein  Zweck  ohne  die  ent- 
sprechende bewegende  Ursache  bewirkt  werden  kann.  Dann 
aber  ist  dem  platonischen  Begriffe  der  ,, notwendigen"  Ursache 
trotz  des  Namens  gerade  die  Vorstellung  einer  unvermeidlichen, 
eindeutigen  Verknüpfung  von  Ursache  und  Wirkung  fremd,  welche 
wir  doch  vor  allem  im  Auge  haben ,  wenn  wir  von  mechani- 
scher Gausalität  sprechen.  Das  ,, Notwendige"  erscheint  viel- 
mehr bei  Plato  gerade  als  das  Regellose ,  Umherschweifende 
(die  n/.uvcofjitvrj  ahiu  48  A) ,  in  welches  erst  durch  das  Ein- 
greifen der  Vernunft  feste  Ordnung  und  regelndes  Gesetz  ge- 
bracht wird. 

Nicht  im  Widerspruch  damit  steht  Tim.  46  D,  wo  es  heisst, 
der  Liebhaber  von  Vernunft  und  Wissenschaft  müsse  die  Ursa- 
chen der  vernünftigen  Natur  zuerst  verfolgen,  diejenigen  aber, 
welche  stattfinden,  wenn  etwas  von  aussen  bewegt  wird  und  nun 
anderes  mit  Notwendigkeit  bewegt,  erst  zu  zweit  i).  Inder 
Notwendigkeit,  mit  der  das  Bewegte  seinerseits  etwas  anderes  be- 


')   Tim.   46  D:   tdv  d'i   vor.  xul  t7naii'jfii,g  tfjaaiijv  di'dyxi/  ras   rijs   f,Uif.{iovoi;(fv- 
aecos    airiag    npahag    iitta^KÖxeir ,     ooai     (fi   vn     aXXiov    fxev    xivovjuevmp,   eie^a  tfe  i£ 

dvdyxrjs  xivovvtwv  yiyvovrai ,  (feviegas.    Zu  der   Stelle    vergl.   Susemihl . '  Genet. 
Entwickelung,  II,  S.  343. 


122  Zweiter  Abschnitt.     Flato. 

wegen  soll,  findet  G.  Schneider')  die  Lehre  von  unabänderhchen 
Gesetzen  ausgesprochen,  an  welche  die  Natur  gebunden  sei.  Aber 
eine  der  körperlichen  Natur  an  sich  innewohnende,  mit  Notwen- 
digkeit wirkende  Kraft,  auf  welche  hier  alles  ankonnnt,  würde 
jene  Stelle  nur  dann  lehren,  wenn  sie  den  Umstand,  dass  ein 
Körper,  falls  er  von  aussen  bewegt  wird,  wieder  einen  andern  in 
Bewegung  setzt,  auf  eine  in  der  materiellen  Natur  selbst 
gelegene  Kraft  zurückführte.  Hier  ist  aber  nur  davon  die  Rede, 
dass  ein  Körper,  der  von  aussen  bewegt  wird,  die  Bewegung  „mit 
Notwendigkeit"  weiter  giebt.  Der  Grund  dieser  Notwendigkeit  liegt 
hier  nicht  so  sehr  in  einer  Kraft,  welche  dem  gestossenen  Körper 
von  Haus  aus  eigen  wäre,  als  in  der  Natur  des  Anstosses,  der 
seiner  Natur  nach  mit  Notwendigkeit  sich  fortpflanzt.  Dabei  bleibt 
gleichwohl  bestehen,  dass  Plato  jenen  Körper  als  Ursache  be- 
zeichnen kann,  nämlich  als  Ursache  in  zweiter  Linie  oder  als 
Mittelursache;  denn  nur  durch  ihn  hindurch  kann  der  Anstoss 
zu  dem  weiterhin  Bewegten  fortschreiten ,  er  ist  also  notwendige 
Vorbedingung,  d.  h.  Mitursache. 

Ganz  dieselbe  Bedeutung,  die  wir  so  gewonnen  haben,  scheint 
der  Ausdruck  ,, Notwendigkeit''  an  dem  uns  beschäftigenden  Orte  (47 
E  f.)  für  den  ersten  Blick  allerdings  nicht  zu  haben.  Wenn  freilich 
gleich  anfangs  dem  durch  die  Vernunft  Gebildeten  das  darchNotwen- 
digkeit  Gewordene  gegenübergestellt  wird  (47  E),  so  ist  es  im- 
merhin noch  leicht,  an  jene  relative  Notwendigkeit  zu  denken,  an 
dasjenige,  was  mit  Notwendigkeit  dann  werden  musste,  wenn  die 


^)  Gust.  Schneider,  Die  Piaton.  Metaph.  S.  22. 

-')  Eine  älmliche  Bedeutung  der  Notwendigkeit  kennt  auch  Aristoteles.  Er 
unterscheidet  das  äjihos  ävayxaiov  und  das  i^  vnoütoKo^  nrayxaiov  (phys.  II  9, 
199  b  34;  de  gen.  et  corr.  II  11,  337  b  10.  26).  Letzteres  umfasst  das  zur  Er- 
reichung eines  Zweckes  notwendige  Material.  So  ist  es  notwendig,  dass  das 
Beil,  wenn  es  spalten  soll,  von  Eisen  (phys.  II  9,  ^200  a  7 — 15;  de  part.  an. 
I  1,  642  a  9—11),  und  nicht  etwa  von  Holz  oder  Wolle  (met.  VIII  4,  1U44  a 
27 — 29)  sei;  wenn  ein  Haus  gebaut  werden  soll,  ist  ein  Fundament,  zum 
Zwecke  des  Fundamentes  Lehm  notwendig  (de  gen.  et  corr.  II  11,  337  b  14—15). 
Schon  Simplicius  (phys.  II,  p.  388,  11— 3U)  hat  die  Verwandtschaft  dieser  Aus- 
führungen mit  den  platonischen  bemerkt.  Zu  phys.  II  9  citiert  er  sogar  zwei 
von  den  oben  behandelten  platonischen  Stellen  (Tim.  68  E  und  Phaed.  99  B), 
um  dadurch  seine  Behauptung  zu  rechtfertigen,  dass  Aristoteles  hier  „plato- 
nisch rede*. 


Darstellung  des  Timaeus.     Die  Notwendigkeit.  123 

Vernunft,  d.  h.  die  Idee,  überhaupt  ein  Object  ihres  Wirkens  haben 
sollte.  Aber  im  folgenden  Satze  wird  die  Notwendigkeit  unverkenn- 
bar personificiert  und  als  besondere  personificiert  gedachte  Kraft  der 
gleichfalls  persönlich  gefassten  Vernunft  gegenüber  gestellt.  War 
oben  die  Wirkung  der  Notwendigkeit  noch  als  ein  unpersönliches 
Geschehen  dem  persönlichen  Bilden  der  Vernunft  entgegenge- 
stellt i),  so  wird  hier  ganz  in  persönlicher  Weise  gesagt^  dass  die 
Vernunft  über  die  Notwendigkeit  herrsche,  indem  sie  dieselbe 
überrede,  von  dem  Werdenden  das  Meiste  zum  Besten  hinzufüh- 
ren, und  dass  so  dadurch,  dass  die  Notwendigkeit  von  der  ver- 
nünftigen Überredung  besiegt  wurde ,  im  Anfang  das  All  ent- 
standen sei  (48  A). 

Man  begreift,  wie  die  hier  der  Notwendigkeit  zugeschriebene 
Rolle  dazu  verleiten  konnte,  in  derselben  ein  wirkliches  persön- 
liches Princip  zu  erblicken.  >So  identificierte  Plutarch  von  Ghae- 
ronea  ^)  die  ,. Notwendigkeit"  des  Timaeus  mit  der  bösen  Weltseele, 
welche  in  dem  uns  vorliegenden  Text  der  Gesetze  gelehrt  ist,  und 
er  hat  damit  auch  bei  einigen  Neueren  Beifall  gefunden.  Doch 
das.  wird  später  zu  besprechen  und  zu  widerlegen  sein.  Für  jetzt 
möge  auch  ohne  Beweis  die  gewöhnliche  Ansicht,  welche  in 
jener  „Notwendigkeit"  eine  blosse  Personification  sieht,  als  rich- 
tig angenommen  werden.  Dann  fragt  sich:  Was  wird  hier  in  der 
Gestalt  der  „Notwendigkeit"  personificiert?  Der  ganze  Zusam- 
menhang, wie  besonders  die  Gleichstellung  der  „Notwendigkeit" 
mit  der  „umherschweifenden  Ursache"  {n:Xav(ofi£vrj  akia  48  A), 
zeigt  uns,  dass  hier  die  regellos  bewegte,  sichtbare  Masse  in 
Frage  kommen  muss,  welche  der  Weltbildner  nach  der  Darstel- 
lung des  Timaeus  beim  Antritt  seiner  ordnenden  Thätigkeit  vor- 
findet und  durch  Einfügung  der  Seele  der  Vernunft  teilhaftig 
macht.  Die  „Notwendigkeit"  personificiert  also  entweder  diese 
Masse  selbst,  oder  die  in  ihr  wirkenden,  sie  bewegenden  Kräfte. 
Letztere  Annahme  aber  würde  uns ,  da  für  Plato  nur  die  Seele 
Princip  der  Bewegung  ist  3),  wieder  zu  der  abgewiesenen  Vorstel- 
lung von  einer  schon  vor  der  Weltbildung  existierenden  Weltseele 
zurückführen.   Die  „Notwendigkeit"  {dvdyxr^)  ist  also  nur  ein  my- 


')   47   E:   T«    ö'id    vov    (ftifriUiuvQyiiUiva   und   T«   ')/■"  dvä'/xii^   yiyvtjufva. 

*j  Plut.  de  an.  in  Tim.  proci-.  c.  6,  2,  p.  1014  D  das  Genauere  u.  s.). 
')  Phaedr.  245  C;  leg.  X,  892  A  ff.  895  B  — 898  A. 


124  Zweiler  Al)schniU.     Plato. 

thisch  porsonificierender  Ausdruck  für  die  sich  bewegende  Masse 
selbst.  Sie  bezeichnet  nichts  anderes  als  das  „Notwendige"  (drayicaTor), 
ein  Ausdruck,  den  wir  ja  auch  in  der  Schlussstelle  des  ganzen  Ab- 
schnittes (08  E)  mit  dem  Ausdrucke  „Notwendigkeit"  wechseln 
sahen  1).  Nun  ist  aber  die  Entwickelung  und  Bewegung  inner- 
halb dieser  Masse ,  sofern  von  der  sie  regelnden  Ordnung  der 
Vernunft  abgesehen  wird,  so  wenig  eine  notwendige,  dass  sie 
nicht  nur  der  „Überredung"  der  Vernunft  nachgeben  soll 
(48  A),  sondern  dass  sogar  an  einer  spätem  Stelle  ausdrücklich 
der  Zufall  als  in  ihr  herrschend  genannt  wird  2).  Als  „notwendig" 
kann  sie  daher  bezeichnet  werden,  nicht  in  sich  betrachtet,  son- 
dern nur  insofern  ihre  Beziehung  zur  ordnenden  Vernunft  inbe- 
tracht  kommt;  sie  ist  für  die  Vernunft  notwendig  als  der  Gegen- 
stand, ohne  den  diese  ihre  ordnende  Thätigkeit  nicht  ausüben 
kann.  Wir  haben  somit,  wenn  auch  erst  auf  dem  Umwege  einer 
Auflösung  des  personificierenden  Bildes,  denselben  Sinn  des  Wor- 
tes wiedergewonnen,  den  wir  oben  aus  mehreren  anderen  Stellen 
entwickelten. 

Bezeichnet  aber  die  „Notwendigkeit"  das  Körperliche,  dessen 
Vorhandensein  die  Vernunft  notwendig  voraussetzt,  so  ist  das, 
was  „aus  Notwendigkeit  geworden",  was  durch  die  „von  der  ver- 
nünftigen Überredung  besiegte  Notwendigkeit"  „zum  Besten  geführt" 
ist,  die  Summe  der  Momente  in  der  körperlichen  Natur,  welche 
nicht  aus  ihrer  durch  den  göttlichen  Weltbildner  bewirkten  Durch- 
seelung  vermittelst  der  Weltseele  resultieren,  sondern  welche 
jene  notwendig  vorauszusetzende  körperliche  Natur  entweder 
schon  beim  Beginn  der  Weltordnung  mitbrachte,  oder  welche  sie 
doch  selbst,  freilich  unter  der  „Überredung" ,  d.  h.  Leitung  der 
Vernunft,  hervorbringen  kann.  Es  ist  also  das  „aus  Notwendikeit 
Gewordene"  die  Summe  jener  Momente  der  Ordnung,  welchg  die 
körperliche  Natur  unabhängig  von  der  Beseelung  der  Welt  durch 
die  Weltseele  betreffen  3). 

^)  S.  S.  118. 

')  69  B:  TÖze  ydg  ovre  tovtmv  oOov  /ii]  r  i^ )( jj  ti  /uertixif^  oi'rt  rö  naQanav 
ovo/udaai  T(ov  vvv  ovofjLat.Oßevorv  d^iöXoyov  r}v  ovifev,  oiov  nvQ  xai  fcfuip  xal  il'  ti  Tmv> 
aXkmv. 

')  Ihre  Bestätigung  findet  diese  Deutung  durch  die  Klarheit  und  Einfach- 
heit, welche  sie  in  der  Disposition  des  Tiniäus  aufdeckt.  Das  Werk  der  Ver- 
nunft, üher  welches  der  erste  Ahschnitt  handelt,  hesteht  in  der  Beseelung 
der    Welt,    durch    welche    dieser    die    Vernunft    eingepflanzt    wird.      Denn  da 


Darstellun(j;'  des  Timaens.     Die  Notwendigkeit.  125 

Wie  das  Werk  der  Notwendigkeit  zu  Stande  gekommen, 
um  das  es  sicii  für  uns  handelt,  darüber  sagf  der  Ausdruck 
„Notwendigkeit"  nach  dem  Entwickelten  noch  gar  nichts.  Nur 
das  Gebiet  bezeichnet  er,  nicht  die  in  ihm  wirkende  Ursache, 
nur  den  sich  entwickelnden  Gegenstand,  nicht  die  Gründe  seiner 
Entwickelung  1).  Auskunft  über  diese  Principien  der  körperlichen 
Natur  erhalten  wir  erst  durch  die  folgenden  Ausführungen,  welche 
uns  noch  einmal  an  den  Ausgangspunct  der  ganzen  Weltent- 
wickelung zurückversetzen,  um  nunmehr  die  bis  dahin  versäumte 
Angabe  der  Principien  auch  des  Unbeseelten  nachzuholen. 

Den  Ausgang  für  die  Erklärung  des  Körperlichen,  sinnlich 
Wahrnehmbaren  bildet  eine  Erweiterung  der  früher  (ä7  D — 28  A) 
gegebenen  Einteilung  des  Seienden.  —  „Damals  unterschieden  wir", 
beginnt  Plato  unter  erneuter  Anknüpfung  an  den  Anfang  des 
ersten  Hauptabschnittes  seine  Auseinandersetzung  (48  E);  „zwei 
Gattungen;  jetzt  aber  müssen  wir  noch  eine  andere  dritte  Art 
kund    machen.     Denn     bei    dem    früher    Gesagten    reichten    zwei 


der  allgütige  Bildner  der  Welt  bei  seiner  Überlegung  fand,  „dass  von  dem  sei- 
ner Natur  nach  Sichtbai'en  kein  unvernünftiges  Werk  je,  im  ganzen  genom- 
men, schöner  sein  werde  als  das  Vernunft  Besitzende,  dass  aber  Vernunft  ohne 
Seele  unmöglich  einem  zuteil  werden  könne,  so  pflanzte  er  denn  wegen  die- 
ser Überlegung  die  Vernunft  in  die  Seele,  die  Seele  aber  in  den  Körper,  und  baute 
so  das  AU"  (30  A — B).  Das  Werk  der  Notwendigkeit,  dem  der  zweite  Abschnitt 
gewidmet  ist,  stellt  die  in  der  Materie,  dem  Körperlichen  an  sich  und  unabhängig 
von  seiner  Beseelung  geschaffene  Ordnung  dar.  Da  nämlich  die  Vernunft  ih- 
ren eigentlichen  Sitz  nur  im  Seelischen  (30  B),  nur  im  Unsichtbaren  (46  D) 
hat,  so  ist  die  rein  materielle  Ordnung,  mag  sie  auch  im  letzten  Grunde  nicht 
ohne  die  weltgestaltende  Vernunft  zustande  kommen  —  denn  es  heisst  ja, 
dass  die  Notwendigkeit,  überredet  von  der  Vernunft,  das  Werdende  zum 
Besten  führe  (48  A)  —  doch  kein  vernünftiges  Werk  im  engeren  Sinne.  Sie 
ist  vielmehr  ein  Werk  der  Notwendigkeit,  d.  h.  ein  durch  die  Entwickelung 
des  Notwendigen  —  des  Materiellen  nämlich,  das  ja  für  die  Entfaltung  des 
Vernünftigen.  Seelischen  die  notwendige  Voraussetzung  bildet  —  herl)eige- 
führtes  "Werk.  Nachdem  so  der  erste  Abschnitt  die  Ordnung  des  Psychischen 
oder  Vernünftigen,  der  zweite  die  des  Materiellen  oder  Notwendigen  behandelt, 
kann  nun  der  dritte  zum  Physiologischen  übergehen,  zur  Vereinigung  von  Ver- 
nunft und  Notwendigkeit,  d.  li.  von  Psychischem  und  Materiellem. 

*)  Sind  diese  Ausführungen  richtig,  so  fällt,  was  Tennemann  (Gesch. 
d.  Phil.  II,  373),  Könitzer  (a.  a.  0.  S.  19.  23),  Brandis  (Griech.-röm.  Phil.  11  a, 
S.  303),  Überweg  (a.  a.  0.  S.  60),  Bassfreund  (a.  a.  0.  S.  71)  u.  a.  von  der 
dvdyx),  als  einem  der  Materie  innewohnenden  Bewegimgsprincip  u.  dgl. 
regen  Zeller  u.  a.  geltend  machen. 


126  Zweiler  Ahsclinitt.     Plato. 

Gattungen  hin,  die  eine,  die  zugrunde  liegende  Gattung  des 
Vorbildes,  nur 'mittelst  der  Vernunft  zu  begreifen  und  stets  die- 
selbe bleibend;  die  andere  die  Nachahmung  des  Urbildes,  welche 
ein  Werden  hat  und  sichtbar  ist.  Eine  dritte  unterschieden  wir 
damals  nicht,  im  Glauben,  dass  die  zwei  ausreichten.  .Jetzt  aber 
scheint  uns  der  Vernunftschluss  zu  nötigen,  dass  wir  eine  schwer 
zu  erklärende,  dunkle  Gattung  mit  Worten  zu  beleuchten  unter- 
nehmen. Was  für  eine  Wesensbeschaffenheit  soll  man  ihr  also 
ihrer  Natur  nach  beilegen?  Doch  vor  allem  eine  solche,  dass  sie 
wie  eine  Amme  Aufnehmerin  alles  Werdens  sei"  '). 

Doch  diese  mehr  bildlichen  als  begrifflichen  Bestimmungen 
werden  von  Plato  selbst  als  ungenügend  bezeichnet.  Es  sei  das 
zwar  richtig  gesagt,  bedürfe  aber  weiterer  Aufhellung  (49  A). 

Um  die  nun  folgende  entscheidende  Auseinandersetzung  rich- 
tig würdigen  zu  können  und  namentlich  um  Wert  und  Bedeu- 
tung des  Einzelnen  abzuschätzen,  müssen  wir  die  Gliederung  des 
Ganzen  beachten.  Dieselbe  ist  aus  den  eigenen  Andeutungen  des 
Schriftstellers  unschwer  abzuleiten,  da  derselbe  durch  Übergangs- 
formeln die  Wendepuncte  der  Untersuchung  verständlich  genug 
angegeben  hat. 

Plato  beginnt  (49  B)  mit  einer  Kritik  der  von  ihm  schon 
kurz  vorher  (48  B)  berührten  gangbaren  naturphilosophischen 
Anschauungen^  nach  denen  eins  der  sogenannten  Elemente:  Feuer, 
Wasser,  Luft,  Erde,  oder  auch  alle  zusammen,  die  eigentlichen 
Urbestandteile  ausmache.  Hatte  er  diesen  angeblichen  Elemen- 
ten oben  ohne  weiteren  Beweis  den  Gharacter  von  Urbestand- 
teilen  abgestritten,  so  folgt  nunmehr  die  Begründung  des  Wider- 
spruchs. Wie  Melissus  2),  schliesst  auch  Plato  aus  den  durch 
zahlreiche  Zwischenstufen  des  Verdichtungs-  und  Verdünnungs- 
processes  vermittelten  Übergängen   der    Elemente    in    einander  s), 

)  49  A:  llv  orv  e^ov  ifvvauir  xain  (fvaiv  avTÖ  v7To/.ij7iTtoi'\  rotät'iif  aäXiaja, 
naaiii  en'ai  yn't'aeati   vnod'oyijv  avit]v  oi'or  Tt&ijvt/i\ 

»)  Meliss.  fragin.  §.  17;  s.  S.  58. 

^)  Wenn  Plato  bei  der  Darstellung  der  Entwickelungsstufen  vom  Wasser 
ausgeht,  so  ist  dieses  natürlich  nur  beispielsweise  gesetzt.  Dass  die  Polemik 
speciell  gegen  Thaies  sich  richte,  wie  Sartorius  a.  a-  0.  S.  135  annimmt,  ist 
wenig  wahrscheinlich ,  einmal  weil  Plato  überhaupt  nur  gegen  solche  Philoso- 
phen polemisiert,  die  entweder  seine  Zeitgenossen  sind,  oder  doch  für  seine 
Zeit  Bedeutung  haben ;  dann,  weil  die  hier  bekämpfte,  bis  ins  Einzelne  durch- 
geführte Lelire  von  den  verschiedenen  Stufen  der  Verdichtung  und  Verdünnung 


Darstellung  des  Timaeus.     Das  tovto  und  das  roiovrov.  127 

dass  man  keinem  einzigen  eine  bestimmte,  bleibende  Natur  bei- 
legen dürfe.  Von  keinem  einzigen  könne  man  sagen,  dass  es 
eben  dieses  sei;  es  sei  nur  ein  so  beschaffenes;  denn  es 
fehle  ihm  die  Beständigkeit,  welche  das  Wort  dieses  bedeute^). 
Vielmehr  dürfe  man  ~  und  damit  wird  die  erste  bedeutsame  Be- 
stimmung über  die  „platonische  Materie"  gegeben  —  nur  das, 
worin  ein  jedes  Ding  entstehend  erscheine  und  woraus  es  wieder 
verschwinde,  als  dieses  bezeichnen*). 

Den  Mittelpunct  dieser  Ausführungen  bildet  der  Begriff  des 
dieses  {lovto,  töde)  im  Gegensatz  zu  dem  des  so  beschaffenen 
{loiovTov).  Es  fragt  sich,  was  Plato  unter  beidem  versteht.  Man 
könnte  an  den  Gegensatz  von  Subject  und  Prädicat,  von  Sub- 
stanz und  Accidens  ^),    von   Besonderem    und    Allgemeinem    und 

erst  dem  Anaximenes  zugeschrieben  wird.  Martin,  Etudes  II,  174  (den  Sarto- 
rius  S.  134,  wo  er  meint,  die  Gonimentatoren  enthielten  keinerlei  Auskunft 
über  die  Frage  nach  dem  von  Plato  bekämpften  Gegner,  übersehen  hat)  möchte 
an  irgendwelche  Pythagoreer  denken;  aber  die  Auctorität,  die  er,  wenn  auch 
nicht  ohne  eine  leise  Restriction,  dafür  anführt,  Ocellus  der  Lucanier  (c.  1  §.  13;  c. 
2  §.  13—21),  ist  eben  gar  keine  (vgl.  S.  33  Anm.  2  g.  E.).  —  In  Wirklichkeit 
ist  es  nicht  nötig,  nicht  einmal  möglich,  hier  einen  bestimmten  Gegner  zu  nen- 
nen. Die  bekämpfte  Ansicht  bildet  vielmehr  einen  gemeinsamen  Grundzug  der 
gesamten  älteren  ionischen  Naturphilosophie  und  der  auf  ihrem  Boden  stehen- 
den Speculation.  Sie  ist  daher  von  Plato  ebenso  im  allgemeinen  bekämpft, 
wie  ihr  Melissus  1.  c.  als  der  gewöhnlichen  Anschauung  entgegentritt.  Darum 
ist  es  für  unsere  Stelle  auch  ganz  belanglos,  dass  Plato,  wie  Bobertag  S.  11 
erinnert,  später  (.54  B  f.)  die  Erde  von  dem  allgemeinen  Kreislauf  ausnimmt.  Es 
ist  das  keine  Einschränkung  des  hier  Vorgetragenen;  denn  hier  berichtet  Plato 
über  die  ionische  Ansicht  von  der  Verwandlung  des  Stoffs  durch  Verdichtung 
und  Verdünnung;  dort  handelt  es  sich  um  seine  eigene  Meinung  von  den  durch 
die  wechselnde  Gombination  der  Elementardreiecke  erklärlichen  Übergängen. 

*)  49  D:  daifaXtaraza  /xaxQoJ  tkqI  Tovimv  ri&f^evovg  iixft  Xe'ysiV  dtl  ö  xu&oqoS- 
fifv  «AAoif  aXXjj  yr/vö/Ufrov ,  wf  ^VQ,  ßr,  tovto  dXXä  t6  joiovtov  exüarore  nQoaa- 
yoQfvtiv  7iv(j,  fiij(^i  vd'wQ  tovto  dkXd  tu  t  o  covt  ov  dei,  /uijtfi  aXXo  noTt  /jir^d'iv  lug 
Tivtt  t'y^ov  ßeßaiÖTijTa,  oOa  (feixvvvTtg  Tai  (nq/iuTi  Tm  TÖäs  xal  tovto  nQoayi^Qiöj.ievoi 
ffrjkovp  ijyovjjit&d  tl'  tf.ir',tt  yd()  ovy  'vno/ne'vox<  Tijv  tov  t  ö  if  e  xal  tovto  xai  T'qv 
T  ui  (f  f   xal   nSaav  oar/   ftövt/ua  r/is,-  ovtu  avzd  iviffixvi'Tat   (fdaig. 

*)  49  E:  iv  (11  <ie  iyyiyvößtra  dtl  exnara  avTtov  (finvTn^iTat  xal  ndXiv  tx(?0-ev 
a7iö?.?^VTai,  fxovov  ixtcvo  av  nQoaayoQSViiv  tu>  Tt  tovto  xal  Tai  zödt  ngoay^Qiüjjie- 
vov>g  ovofiaTi,  to  (ft  otioiovovv  ti,  -O^tQ/uoi'  r,"  Xfrxor  ^  xal  ÖTiorr  tiöv  ivavTimr, 
xal    TtdvO'  üaa   tx  TOVTinv,   jjir,i)'fv   ixtiro   av  TOvimr  xaXtTv.   —   AristotclCS  hat  vielleicht 

auch  unsere  Stelle  im  Sinn,  wenn  er  phys.  I  7,  191  a  13—14;  met.  VII  3,  1029 
a  28;  VIII  1,  1042  a  27  u.  ö.  die  Ansicht  bestreitet,  dass  die  Materie  einroJ'*  n  sei. 
«)  Bassfreund  a.  a.  0.  S.  23. 


12S  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

noch  an  manches  andere  denken.  Plato  meint  nichts  von  alle- 
dem. Dass  Feuer,  Wasser  u.  s.  w.  kein  „dieses",  begründet 
er  damit,  dass  jene  keine  Festigkeit  {ß^ßraorr^c)  besässen,  son- 
dern rasch  entflöhen ,  ohne  für  die  Ausdrücke ,  welche ,  wie 
die  Wörter  ToJf,  rovro,  rcoSf  und  ähnhche ,  ein  bleibendes 
Sein  bezeichneten,  stand  zu  halten.  Der  Gegensatz  zwischen  dem 
Begriffe  des  „dieses"  und  dem  des  „so  beschaffenen"  deckt  sich 
für  ihn  also  mit  dem  des  Bleibenden  und  des  Werdenden  ^). 

Nun  handelt  es  sich  in  dem  ganzen  Abschnitt  darum,  die 
Principien  der  materiellen,  körperlichen  Natur  nachzuweisen.  So 
werden  wir  denn  als  den  Obersatz  der  Beweisführung  Plato's  den 
Gedanken  zu  betrachten  haben,  dass  die  wahren  Principien,  die 
wahren  Elemente  der  körperlichen  Natur  etwas  Bleibendes,  Un- 
veränderliches seien.  Die  sogenannten  Elemente  aber,  würde  der 
Untersatz  lauten,  sind  nichts  Bleibendes,  Unveränderliches.  Woraus 
sich  dann  der  Schlusssatz  ergiebt,  dass  Feuer,  Wasser  u.  dgl. 
nicht  als  letzte  Principien  der  körperlichen  Natur  betrachtet  wer- 
den können. 

Indes  wäre  das  nur  die  Negative.  Nun  aber  wird  von  Plato 
stillschweigend  vorausgesetzt,  dass  das  rniovror  ein  tovto  ver- 
lange. Damit  ist  der  Weg  zur  positiven  Beantwortung  der  Frage 
nach  den  Principien  offengehalten.  Sind  die  vier  Elemente  ein 
„so  beschaffenes",  so  verlangen  sie  ein  „dieses",  in  welches  sie 
eintreten,  um  zu  erscheinen,  und  aus  welchem  sie  wieder  ver- 
schwinden. Auf  diese  Weise  ist  die  „Amme"  und  „Aufnehmerin" 
alles  Werdens,  von  der  oben  (49  A)  die  Rede,  wieder  eingeführt. 
Zugleich  erfährt  sie  in  doppelter  Beziehung  weitere  Bestim- 
mungen. Im  Anschluss  an  ihre  obige  Bezeichnung  als  „Aufneh- 
merin" erscheint  sie  als  das,  worin  Wärme,  Kälte  u.  s.  w.  her- 
vortreten; im  Gegensatz  zu  den  wechselnden  Elementargestalten 
bildet  sie  das  Bleibende,  Dauernde.  Weiteres  über  die  Natur  der 
Materie  lässt  sich  aus  den  hier  gegebenen  Bestimmungen  nicht 
ableiten.  Plato  versucht  es  daher,  dieser  Dürftigkeit  zunächst 
durch  einige  Bilder  nachzuhelfen. 


')  Vgl.  Simpl.  in  phys.  I,  p.  226,  17  :  xcd  tniat^^aat  «^lov,  mi  o  fitv  nXaroiv 
xara  t6  vnojufrfiv  &twQ(uv  rr/v  vkr,v  uvrij  /la/Jor  to  rode  ti  tfüfioaiv  ,  .  .  u  (ff  .-Iqi- 
OTortXr,!;  rn  t  ö  fi' f   ji  xata  rr^v  finQifiTir  ■0-fii)(>t!'u-   ro/V   F'i'ihai    rrvTi)    TKtQtyi^ti   (wiederholt 

von  Bessarion  in  calumm    Plat.  II,  (i,  fol.  20^  suj)   ed.  Aid.). 


Darstellung  des  Timaeus.    Das  tovio  und  das  toiovtov.  129 

Der  Übergang  zu  dem  neuen  Gedankengliede  und  sein  Ver- 
hältnis zum  Voraufgehenden  ist  vom  Schriftsteller  bestimmt  her- 
vorgehoben. ,,Wir  müssen  uns  bestreben",  sagt  er  (50  A),  noch 
deutlicher  darüber  abermals  zu  sprechen".  Aber  worüber?  Of- 
fenbar über  das,  was  soeben  auseinandergesetzt  wurde  ,  nämlich 
dass  Feuer,  Wasser,  Luft  u.  s.  w.  nicht  eigentliche  Principien  seien, 
sondern  dass  das  wahre  Princip  der  Körperlichkeit  in  etwas  An- 
derem, wirklich  Unveränderlichem  gesucht  werden  müsse.  Dass 
in  der  That  dieser  Gegensatz  gegen  die  naturphilosophische 
Gleichstellung  der  sogenannten  Elemente  mit  den  letzten  Princi- 
pien den  leitenden  Gesichtspunct  auch  dieses  Abschnittes  bildet, 
zeigen  besonders  deutlich  die  8chluss\vorte  desselben  (51  A). 
Dieselben  fassen  in  unverkennbarer  Anknüpfung  an  den  Eingang 
des  Abschnittes  die  gegebenen  Ausführungen  dahin  zusammen, 
dass  die  Mutter  und  Aufnehmerin  alles  Gewordenen  weder 
Erde  noch  Luft,  weder  Feuer  noch  Wasser  sei,  sondern  eine  an- 
dere, schwer  zu  bestimmende  Galtung.  Es  ist  von  Wichtig- 
keit, diesen  Zusammenhang  festzuhalten.  Gerade  das  Überse- 
hen desselben  hat  dazu  verleitet,  aus  einzelnen  Bestimmungen 
dieses  Absatzes  Folgerungen  über  die  Natur  der  platonischen 
Materie  zu  ziehen,  welche  nach  dem  ganzen  Zusammenhange 
unmöglich  von  Plato  beabsichtigt  sein  können.  Das  gilt  in  be- 
sonderem Maasse  für  das  erste  der  Gleichnisse,  durch  welches 
Plato  nunmehr  seine  Ansicht  verdeutlicht  (50  A). 

Wenn  jemand  alle  möglichen  Formen  aus  Gold  bildete,  indem 
er  jede  entstandene  Form  sofort  wieder  umgestaltete,  ohne  in  dieser 
Umformung  jemals  einen  Ruhepunct  eintreten  zu  lassen,  so 
könnte  man  auf  die  Frage,  was  das  sei;  nur  antworten:  Gold^); 
das  Dreieck  und  die  übrigen  Figuren  dagegen,  welche,  so  wie  sie 
gesetzt  sind ,  sofort  wieder  verschwinden  ,  könnte  man  nicht  als 
Seiendes  {wg  ovxa)  bezeichnen.  Soweit  das  Bild.  Dasselbe  wird 
nunmehr  auf  die  „alles  aufnehmende  Natur"  angewendet.  Diese 
ist  es,  welche  stets  als  das  Selbe  bezeichnet  werden  muss.  Denn 
niemals  geht  sie  aus  ihrer  Natur  {dvvai.ui;)  heraus,  welche,   wie 


')  Eine  Kritik  bei  Aristoteles  de  gen.  et  corr.  II  1,  329  a  15 — !21.  Dieselbe 
verkennt  freilich  das  bloss  Bildliche  der  platonischen  Ausführungen  durchaus 

Baeuink«r:  Das  Problem  der  Materie  eU.  «7 


130  Zweiter  Abschnitt.    Plato. 

schon  an  früherer  Stelle  bemerkt  wurde  *),  darin  besteht,  dass  sie  im- 
mer alles  aufnimmt.  Niemals  nimmt  sie  eine  den  aufgenomme- 
nen Formen  ähnliche  Form  an.  Als  „bildsame  Masse"  —  wie 
man  das  platonische  t'xjitayfroi',  freilich  höchst  unzureichend,  zu 
übersetzen  pflegt  '^)  —  bleibt  sie  vielmehr  unverändert  für  alles  offen 
daliegen,  nur  vorübergehend  bewegt  und  geformt  von  dem  Ein- 
tretenden, d.  h.  von  den  Nachbildern  des  wahrhaft  Seienden,  die 
auf  eine  schwer  zu  beschreibende,  später  noch  zu  behandelnde 
Art  in  ihr  ausgeprägt  werden  und  so  bejvirken,  dass  sie,  die  un- 
veränderliche, dennoch  hier  so,  dort  so  erscheint  3). 

Hier  wird  die  „Aufnehmerin"  als  das  unveränderlich  Blei- 
bende unterschieden  von  dem  Veränderlichen,  was  in  sie  ein-  und 
aus  ihr  austritt,  sie  mit  dem  Schein  des  Mannigfaltigen  umhül- 
hüllend.  Alles  Schwergewicht  der  Vergleichung  fällt  darauf,  zu 
zeigen,  dass  die  „Aufnehmerin"  den  wechselnden  Gestaltungen 
von  Feuer,  Wasser  u.  s.  w.  gegenüber  das  unveränderliche  Prius 
sei,  dass  sie,  trotz  aller  in  sie  ein-  und  aus  ihr  austretenden  Be- 
stimmtheiten doch  unter  diesem  Scheine  der  Mannigfaltigkeit 
überall  die  ihr  eigentümhche  Natur  bewahre,  die  eben  darin  be- 
steht, Aufnehmerin  von  allem  zu  sein.  Gänzlich  verkannt  wird 
die  Absicht  des  Vergleiches  von  allen  denjenigen,  welche  mei- 
nen^),   weil    Plato    die    „Aufnehmerin"    mit    dem    Golde,    also 


1)  49  A,  citiert  S.  126  Anm.  1. 

•)  Der  Sinn  des  ty/uaytTor ,  d.  h.  etwas  zum  Aufnehmen  von  Abdrücken 
Geeigneten,  ergiebt  sich  aus  Theaet.  191  C— D,  wo  auch  das  mit  dem  hier  ge- 
brauchten TVTTnra^ui  (50  D  ixTvnovaOni)  gleichbedeutende  dnoTv-nova^ai  vor- 
vorkommt. Arist.  met.  1  6  988  a  1  verwendet  das  Wort  für  die  unbestimmte 
Zweiheit,  welche  Plato  später  den  Ideen  als  das  eine  Element  zugrunde  legt. 
Vgl.  über  den  Ausdruck  übrigens  Trendelenburg,  Piatonis  de  ideis  et  numeris 
doctrina,  p.  79  sq. 

')  50  B :  6  avTos  (i'rj  koyos  yai  ni^n  T-iji  rn  nixvza  (hj^ofievr/i  aioßata  (pvOKog. 
Tttvrdv  «t'TiJr  dti  nQoagiiTior'  ex  ydft  liji  f'avTijc  rd  naganav  ovx  f^ioTaTai  ifwä/jew^. 
(fe](eTai  re  yuQ  dei  td  ndvra,  xal  nogifiifv  oiufeiniav  noxf  ov(fevi  tmv  eiaiuvTtov  o/uotav 
tt2rjiftv  ov(fa/j.]j  ovita/j.(Ss'  ix/uayeiov  yäp  if.voet  navti  xeTiat  xivovfievuv  it  xal  (haay^j- 
fiaTil^ofievov  vno  twv  eiaiövitor,  (faiveiai  »Jf  (fi'  ixiTva  aXXott  dXkinov'  rd  (fe  tlaiovia  xai 
i^iövra  rmv  ovtoov  dft.  /Ltifxtj/xara,  ixinM&ivTa  an'  aviwv  T()Ö7ioi^  rivd  tfvaifi^aatov  xal 
tf^av/naaror,  öv  eiOavO^ig  finiftev. 

*)  Bassfreund,  S.  17.  Zutreffend  sind  dagegen  die  auf  diese  Stelle  bezüglichen 
gegen  Teichmüller  (Gesch.  d.  Begr.  S.  317)  gerichteten  polemischen  Bemferkun- 
gen  Bassfreund's  S.  50  f. 


Darstellung  des  Timaeus.    Die  „Aiifnehmeiin"  des  Werdenden.  131 

einem  Stoffe,  vergleiche,  so  müsse  er  sie  ebendeshalb  auch 
als  Stoff  gedacht  haben.  Wie  es  mit  jener  Ansicht  von  der  stoff- 
lichen Natur  der  platonischen  Materie  im  übrigen  auch  stehen 
möge  —  worüber  später  das  Notwendige  gesagt  werden  wird  — , 
auf  den  Vergleich  derselben  mit  dem  Golde  kann  sie  sich  nicht 
stützen. 

Das  in  die  „Aufnehmerin"  Eintretende  und  wieder  aus  ihr  Aus- 
tretende ist  zweifellos  identisch  mit  dem  „in  ihr  Werdenden"  und 
„aus  ihr  Verschwindenden",  von  dem  zuvor  (49  E)  die  Rede  war. 
Es  muss  also  auch  wie  dieses  die  elementarischen  Bestimmtheiten 
bedeuten.  In  der  That  wird  ja  auch  von  diesen,  was  hier  (50  Gj 
versprochen,  später  gezeigt,  in  welcher  Art  sie  nämlich  „geprägt" 
werden.  Es  geschieht  das  dort ,  wo  Plato  die  Unterschiede  der 
Elemente  auf  die  Verschiedenheiten  in  Form  und  Combination  der 
Dreiecke  zurückführt,  aus  denen  die  kleinsten  Elementarkörper- 
chen  gebildet  sind.  So  begreifen  wir  auch,  wie  Susemihl  ^)  rich- 
tig hervorhebt,  weshalb  Plato  mit  Vorausbeziehung  auf  die  Er- 
örterungen, die  im  folgenden  Abschnitte  über  die  Elementarflächen 
und  Elementarkörper  gegeben  werden,  als  Beispiel  für  die  aus  dem 
Golde  zu  bildenden  Figuren  gerade  das  Dreieck  wählt.  Ebenso 
werden  in  weiterer  Hindeutung  auf  diese  Erörterungen  die  ele- 
mentarischen Bestimmtheiten  als  „Formen"  bezeichnet,  welche  die 
sie  aufnehmende  Natur  „ausgestalten"  {SiaaxrifiaxC^en)  sollen. 

Die  angeblichen  ,, Elemente"  der  Naturphilosophen  haben  sich 
also  bereits  aufgelöst  in  jene  „Formen"  und  die  unveränderliche 
„Aufnehmerin".  Die  Formen  aber  sind  nichts  Ursprüngliches, 
sondern  sie  sind  nur  ein-  und  austretende  Nachahmungen  des 
immer  Seienden. 

Den  Rang  von  eigentlichen  Principien  für  die  körperliche 
Natur  haben  daher  von  den  oben  - ;  unterschiedenen  drei  Gattungen 
nur  diese  zwei :  die_Ideen^  und  die  Materie.  Plato  drückt  dieses  in 
einem  Bilde  aus  (50  A),  indem  er  die  Ursache,  welche  das  Werdende 
sich  ähnlich  macht  und  eben  dadurch  werden  lässt,  d.  h.  die  Idee, 
dem  Vater,  dasjenige,  worin  das  Werdende  entsteht,  der  Mutter, 
das  Werdende  selbst  als  das  aus  jenen  beiden  Abgeleitete  dem 
Sohne  gleichstellt.  Eine  kleine  Unbestimmtheit  in  dem  Begriffe 
dieses  Werdenden  ist  freilich  nicht  zu  verkennen.     Dasselbe  wird 


')  Genet.  Entwickel.  II  409.  —  -)  S.  S.  125  f. 


132  Zweiter  Abschnitt.    Plato. 

als  Nachbild  der  Idee  betrachtet.  Nachahmung  der  Idee  aber  sind 
eigentlich  diejenigen  Merkmale  an  den  Dingen,  durch  welche  diese 
in  ihrem  Wesen  bestimmt  werden;  im  weiteren  Sinne  indes  auch 
diese  Dinge  selbst.  So  kann  Plato  unter  dem  Werdenden  bald 
die  sinnlichen  Dinge,  bald  die  ein-  und  austretenden  Formen  ver- 
stehen, die  Materie  als  Aufnehmerin  bald  der  Körper  (50  B)'),  bald 
der  Formen  schildern.     Das  eine  ist  mit  dem  andern  gegeben*). 

Hatte  schon  das  Bild  des  Goldes,  das  unter  allem  Wechsel 
der  Formen  seine  Natur  bewahrt ,  dazu  'gedient ,  die  sich  stets 
gleichbleibende,  durch  die  ein-  und  austretenden  Formen  inner- 
lich nicht  afficierte  Natur  der  Materie  zu  erläutern,  so  wird  die- 
ser Gedanke  durch  zwei  weitere  Gleichnisse  noch  mehr  veran- 
schaulicht und  zugleich  in  einer  neuen  Richtung  vervollständigt. 
Der  vorige  Vergleich  nämlich  zeigte  uns,  dass  die  Materie  von  dem, 
was  bereits  in  sie  eingetreten  ist,  in  sich  nicht  determiniert  werde. 
Nunmehr  wird  dargethan,  dass  dieselbe,  um  diese  ihre  Natur  als 
Aufnehmerin  von  allem  bewahrheiten  zu  können,  auch  vor  der  Auf- 
nahme der  Formen  nicht  innerlich  determiniert  sein  dürfe.  Es  wird 
an  die  Salbenbereitung  erinnert,  bei  der  man  das  Öl,  um  ihm 
einen  beliebigen  Wohlgeruch  mitteilen  zu  können,  möglichst  ge- 
ruchlos macht,  ferner  an  das  Verfahren  beim  Ausarbeiten  eines 
Reliefs  aus  einer  weichen  Masse,  der  man  durch  Glätten  zuvor 
jede  störende  Eigenform  nimmt.  So  darf  auch  die  „Aufnehmerin", 
um  alle  Formen  aufzunehmen  und  das  ungetrübte  Bild  von  al- 
lem zeigen  zu  können,  nicht  bereits  irgend  eine  Bestimmtheit 
an  sich  tragen.  Andernfalls  würde  neben  und  in  der  eingetre- 
tenen Form  die  ihr  eigentümliche  Form  miterscheinen  und  so 
die  Verähnlichung  eine  unvollkommene  bleiben.  Als  dies  un- 
unbegrenzt Formbare  muss  die  in  Frage  stehende  Natur  an  sich 
völlig  formlos  {afjbogqov  50  D),  muss  frei  von  allen  Formen  (51  A) 
sein.  Dann  aber  —  und  hiermit  greift  Plato  auf  den  Ausgangs- 
punct  des  Abschnittes  zurück  —  „werden  wir  die  Mutter  und  Auf- 
nehmerin des  gewordenen  Sichtbaren  und  durchaus  sinnlich 
Wahrnehmbaren  weder  Erde,  noch  Luft,  noch  Feuer,  noch  Was- 
ser nennen,  noch  irgend  sonst  mit  dem  Namen  dessen,  was  dar- 


*)  Ein  Ausdruck,  der  von  Überweg  a.  a.  0.  S.  60  richtig  proleptisch 
gedeutet  wird:  Formen  annehmen,  so  dass  dadurch  Körper  entstehen.  Das 
Nähere  weiter  unten. 

')  Vgl.  Zeller  II«  a,  642,  1. 


Darstellung  des  Timaeus.   Die  „Aufnehmerin"  des  Werdenden.  133 

aus  entstanden  oder  woraus  dieses  entstanden '),  sondern  wenn  wir 
behaupten,  es  sei  ein  unsichtbares,  formloses,  alles  aufnehmen- 
des Wesen ,  auf  irgend  eine  schwer  zu  erklärende  Weise  des  In- 
telligiblen  teilhaft  ^)  und  sehr  schwierig  zu  erfassen ,  so  werden 
wir  keine  irrige  Behauptung  aussprechen.  Soweit  es  aber  nach 
dem  Vorgesagten  möglich  ist,  seine  Natur  zu  treffen,  würde  man 
so  am  besten  sagen :  als  Feuer  erscheine  jedesmal  sein  feurig  ge- 
wordener Teil ,  der  wässerig  gewordene  als  Wasser ;  Erde  und 
Luft  aber,  soweit  es  Nachbilder  davon  aufnimmt"  ^). 

So  hat  denn  dieser  Abschnitt,  dessen  innere  Einheit  sich 
schon  äusserlich  in  der  Gleichheit  seines  Anfangs-  und  Schluss- 
gedankens ankündigt,  im  wesentlichen  nur  gezeigt,  was  die  Ma- 
terie nicht  ist,  nicht,  was  sie  ist.  Die  Aufnehmerin  alles  Wer- 
denden, war  in  Kürze  das  Resultat,  hat  in  sich  selbst  keine  der  Be- 
stimmtheiten, welche  als  Nachbilder  des  wahrhaft  Seienden  in  sie 
eintreten.  Ebensowenig  wird  sie  durch  die  Aufnahme  derselben  in- 
nerlich afficiert.  Sie  bleibt  darum  unveränderlich  die  für  alles  Auf- 
nahmefähige. Aber  was  diese  Natur,  welche  alles  aufnimmt, 
nun  für  sich  ist,  das  ist  noch  nicht  im  geringsten  deuthch 
geworden.  Zweimal  zwar  hiess  es,  die  Wesensbeschaffenheit, 
das  Vermögen  (Jvvafiig)  der  Materie  bestehe  darin,  Aufneh- 
merin von  allem  zu  sein  (49  A;  50  B)*);  allein  hier  ist  ihr  Wesen 


*)  Auf  die  über  die  Deutung  der  letzten  Worte  zwischen  Susemihl  II,  405 
und  Zeller  II'  a,  610,  1  bestehende  Meinungsverschiedenheit  braucht  hier  aus 
dem  Grunde  nicht  näher  eingegangen  zu  werden,  weil  dieselbe  für  unsere  Absicht 
ohne  Belang  ist. 

*)  Mit  Unrecht  sieht  Bassfreund  a.  a.  0.  S.  24  —  und  schon  Überweg  a. 
a.  0.  S.  58  scheint  die  Sache  ähnlich  zu  fassen  —  hierin  den  Gedanken,  die 
Materie  sei ,  „wenn  auch  in  etwas  anderer  Weise  als  die  Ideen",  intelligibel. 
Wie  schon  Zeller  II*  a,  641,  4  erinnert,  zeigt  50  G,  dass  nicht  von  der  Er- 
kennbarkeit der  Materie  durch  unsere  Vernunft  die  Rede  ist,  sondern  von 
der  „schwer  zu  sagenden"  realen  Gestaltung  derselben,  welche  von  den 
Ideen  ausgeht. 

*)  51  Aj  <fi6  rfij  riji»  Tov  yry ovoTos  öparov  xai  TtävTcos  aia-9-tixov  firjrspa  xal 
v7io(fo)^f,v  |Ui?T*  yijv  /Jnj'rt  dtpa  fitJTt  nvQ  fii'^ri  vdotQ  Xeyu)fiev,  flirre  oaa  ix  xovxcov 
fiiJTt  i$  mv  ravta  yeyovev'  dkX'  ävo^arov  eidöf  ti  xal  oifiOQfpov ,  nuvdej^s's,  fieraXafi- 
ßdvov  de  dnoQüüTaTa  nji  tov  vo7]Tov  xai  dvOaXonozaTOv  avTo  XeyovTts  ov  ipevaöfie-d-a, 
xtt-&^  oaov  &"  ex  tcSv  n^eiQTjiuevmv  dvvarov  eif/ixveia-d-at  rijs  (fivaeto(  avrov,  r^(f  av  ti( 
oQ-d-oraTa  Xeyoi,  nvQ  /nev  exüaroTt  avrov  t6  nenvQco/ue'vov  fXEQOc  (paivta-&ai,  ro  dt 
vyQavS-iv  vdooQ,  yrjV  dt  xal  dcQa,  xad-'  oaov  av    fxiiwijfiaTa  Tovrotv  de'^irai, 

*)  Das   Missverständnis  von   Teichmüller,  der  (Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.  S. 


134  Zweiter  Absclinitt.     Plato. 

nur  bestimmt  im  Gegensatz  zu  dem  in  sie  Eintretenden;  eine  für 
sich  verstündliche  Bestimmung  der  Materie  ist  damit  noch  nicht 
gegeben.  So  sagt  auch  Aristoteles  von  der  Vernunft,  ihre  Natur 
bestehe  in  nichts  anderem,  als  darin,  dass  sie  die  Möglichkeit  von 
allem  sei  i),  obwohl  er  von  ihrem  Wesen  doch  noch  manche  an- 
derweitige Bestimmung  zu  geben  weiss.  Wir  werden  darum  von 
vornherein  geneigt  sein,  von  dem  nächsten  Abschnitt  eine  mehr 
positive  Gharacterisierung  der  Materie  zu  erwarten.  Sollte  aber 
diesem  Erwarten  in  der  That  entsprochen  werden,  so  werden  wir 
keineswegs,  wie  das  wohl  geschehen  ist  2),  an  dem  verspäteten  Auf- 
treten einer  solchen  Bestimmung  Anstoss  nehmen  und  sie  des- 
halb für  etwas  bloss  Nebensächliches  erklären;  wir  werden  viel- 
mehr im  Gegenteil  eine  künstlerische  wie  logische  Notwendigkeit 
darin  erkennen,  dass  Plato  mit  der  Hauptsache,  mit  der  positiven 
Lösung  des  Problems,  erst  zuletzt  kommt. 

Die  fundamentale  Bedeutung  dieses,  wiederum  durch  eine  be- 
sondere Übergangsformel  markierten  Abschnittes  liegt  vor  allem 
darin,  dass  derselbe  die  ganze  Untersuchung  in  den  engsten  Zu- 
sammenhang mit  der  eigenthchen  Grundlage  des  gesamten  plato- 
nischen Systems,  der  Ideenlehre,  bringt.  Zwar  hatten  schon  die 
voraufgehenden  Erörterungen  mehrfach  diese  Lehre  gestreift,  in- 
dem sie  die  ein-  und  austretenden  Formen  als  Nachahmungen 
des  ewig  Seienden  bezeichneten  (49  A;  50  G);  aber  den  Aus- 
gangspunct  aller  Untersuchungen  jenes  Abschnittes  bildete  doch 
immer  wieder  der  Gedanke,  dass  die  sichtbaren  Elemente  den  An- 
forderungen an  ein  Princip  der  Körperhchkeit  nicht  genügten,  und 
dass  dieses  Princip  daher  im  Gegensatz  zu  ihnen  bestimmt  wer- 
den müsse.  Jetzt  aber  wird  die  Frage  nach  der  Existenz  der 
Ideen  sofort  in  den  Vordergrund  gerückt.  Nicht  bloss  stillschwei- 
gend angenommen,  wie  im  Vorigen,  wird  das  Dasein  dieser  idea- 
len   Wesenheiten;    es   wird    vielmehr  in  einer  bedeutsamen  Aus- 


335  f.)  in  der  ih'wnic:  Tim.  50 B  den  aristotelischen  Begriff  der  Möglichkeit  fin- 
den will,  ist  durch  Zeller  IP  a,  615,  3  g.  E.  überzeugend  zurückgewiesen.  Tim. 
49  A  zeigt,  dass  (Irr«,«^-  mit  i^i-an  gleichbedeutend;  vgl.  oben  S.  126. 

')   Arist.   de   an.    III    4,   429   a    21:      ''^Oje    «»,'<r   arrar   ti'rai    (fvair    iiijrff^i/ni-   nkX' 

ij  r (tri  1,1-  <ni  liri-otTov.  Vgl.  Teichmüller ,  Stud.  zur  Geschichte  der  Begriffe. 
S.  333  Anm. 

»)  Bassfreund,  S.  25  f. 


Darstellung  des  Timaeus.     Die  drei  Gattungen.  135 

führung  mit  einer  solchen  eindringenden  Gründlichheit  bewiesen, 
dass  gerade  diese  Stelle  von  jeher  als  classischer  Beleg  für  jene 
platonische  Lehre  betrachtet  worden  ist.  All  diese  Momente  zei- 
gen, dass  nunmehr  die  endgültige  Discussion  eröffnet  und  die 
eigentliche  Entscheidung  über  das  Wesen  der  Materie  gefällt 
werden  soll. 

Giebt  es  ein  Feuer  an  sich,  fragt  Plato  (51  B),  und  alles 
dasjenige,  wovon  wir  stets  behaupten,  dass  jegliches  an  und  für 
sich  sei,  oder  ist  allein  dasjenige  vorhanden,  was  wir  sehen  und 
sonst  vermittelst  des  Körpers  wahrnehmen?  Wenn  Wissen  und 
richtige  Meinung,  beantwortet  Plato  die  Frage,  zwei  verschiedene 
Gattungen  bilden,  so  giebt  es  derartige,  den  Sinnen  nicht  zugäng- 
liche, nur  im  Denken  erfassbare  Ideen;  wenn  nicht,  so  müssen 
wir  alles,  was  wir  vermittelst  des  Körpers  wahrnehmen,  als  ein 
festes  Sein  ansehen^).  Aber  die  wesenthche  Verschiedenheit  von 
Wissen  und  richtigem  Meinen  wird  dadurch  erwiesen,  dass  das 
erstere  nur  durch  Belehrung,  das  zweite  dagegen  durch  Über- 
redung erzeugt  wird.  „Da  das  aber  sich  so  verhält,  so  müssen 
wir  einräumen,  dass  Eines  sei  die  sich  selbst  gleiche  Idee^  ein 
Unentstandenes  und  Unvergängliches,  welches  weder  von  anders- 
woher etwas  in  sich  aufnimmt,  noch  irgend  in  ein  anderes  ein- 
geht, ein  Unsichtbares,  auch  durch  andere  Sinne  nicht  Wahr- 
nehmbares ,  dasjenige ,  dessen  Betrachtung  dem  vernünftigen 
Denken  anheimfiel;  ein  Zweites  aber  sei  das  ihm  Gleichnamige 
und  Ähnliche,  sinnlich  Wahrnehmbare,  Gewordene,  stets  Wech- 
selnde, an  einem  Orte  {sv  rivi  tötim)  Entstehende  und  von  da 
wieder  Verschwindende,  durch  ein  mit  Sinneswahrnehmung  ver- 
bundenes Meinen  Erfassbare ;  eine  dritte  Gattung  bilde  ferner 
stets  das  Räumliche  (to  irjg  x^C"?,  wofür  52  D  schlechtweg  x^Q'^Oy 
des  Vergehens  nicht  Fähige,  allem,  dem  ein  Entstehen  zukommt, 
eine  Stelle  [sögav)  Gewährende,  selbst  aber  ohne  Sinneswahrneh- 
mung durch  ein  gewisses  unechtes  Denken  {loyia^w  xivi  vöit(p) 
Erfassbare,  kaum  Glaubhafte"  ^). 


')  Ähnlich  peßawtaTu  eh-ai  von  der  Festigkeit  der  Ideen  Phileb.  15  B;  vgl. 
Tim.  29  B. 

')  51  E:  TOVTOV  fff  ovTMS  iy^ovrwv  ößo}.oyr,Tiov  iv  ßiv  etvai  tÖ  y.arä  Tavrd  ei- 
(fo(  f)(ov ,  äyev^vtjTov  xal  dvri')?.t&gov,  ovrt  fis  eavTo  eiade^6,uevov  aX?.o  äXXoS-tv  ovre 
avro  eis  aXXo  noi  löv ,  aögarov  ife  xal  a?.?.u)s  dvaia-d^fTov ,  xorro  ü  (fr}  votjois  ei'lrj^ev 
imaxontiv'  ro   d'  6ß(6vvßov  o/uotöv  tt  Ixtivw   devrtQov,  ala&r/Tov,  '/ewr^rdv,   ntifOQrjixi- 


136 


Zweiter  Abschnitt.     Plato. 


Es  werden  hier  also  drei  Gattungen  unterschieden:  1.  die 
Idee;  2.  das  der  Idee  Ähnhche,  d.  h,  die  ein-  und  austretenden 
Formen  resp.  die  sinnlichen  Dinge ') ;  3.  die  als  das  Räumliche 
bezeichnete  Gattung,  unter  der  wir  offenbar  die  „Aufnehmerin", 
also  die  sogenannte  platonische  Materie,  zu  verstehen  haben.  Das 
Verhältnis  der  drei  Gattungen  möge  folgende  Tabelle  veran- 
schaulichen : 


Seinsweise : 


Erkenntnis- 
weise : 


I.     Die  Idee, 
stets  gleicli 

ungeworden 

unvergänglich 

weder  aufnehmend, 
noch  eingehend. 

(an  keinem  Orte  50  G) 

nicht  wahrnelimbar 

durch      Denken     er- 
fassbar 


II.  Das  Gleichnamige.    III.  Der  Raum. 
(stets  gleich  50  B) 


stets  wechselnd 

geworden 

vergänglich 

(aus-  und  eingehend 
52  G) 

an  einem  Orte 

wahrnehmbar 

durch  Meinung   er- 
fassbar. 


V 
unvergänglich 
alles  aufnehmend 

Ort 

nicht  wahrnehmbar 

durch   ein   Pseudo- 
denken  erfassbar. 


Da  die  „Aufnehmerin"  dieses  Abschnittes  als  unsichtbar (51  A; 
5:2  A.  B)  und  stets  gleich  (50  B)  beschrieben  wird,  so  kann  sie 
mit  der  als  sichtbar  und  bewegt  geschilderten  Masse,  welche  der 
Weltordner  beim  Beginn  seiner  Thätigkeit  übernahm  (30  A)  nicht 
ohne  weiteres  zusammenfallen^),  mag  auch  beides  gelegentlich 
für  Plato  in  einander  übergehen  ^).  Wir  werden  daher  beide 
Vorstellungen  von  der  Materie  mit  einer  von  Stallbaum*),  Martin^) 
u.   a.   verwendeten    Ausdrucksweise    als   primäre   und   secun- 


vov  dti,  yiyvofievöv  rt  f'v  tivi  tönu)  xai  nälcv  exti&ev  dnoXXvfievov,  ifö^j]  fxex'  ata&ij- 
aeii)g  neQiXrjnröv'  TQitov  ife  av  yevog  ov  t6  T'^g  ^caQag  dei,  (p^o^dv  ov  7iQoade)[6/Jicvov, 
i'd^av  <ie  naqiy^ov  ooa  ey^ei  yivtaiv  naaiv,    amn    /fe    nir'    dvaiaS-rjoias    dmov  koyia/uw 

TIVI  vo&M,  iinyi?  niaTGv  (das  Komma  richtig  hinter  Xnyiainj)  nvi  rn&w  seitBekker). 

*)  Vgl.  S.  132. 

')  AVenn  Tennemann,  Syst.  der  plat.  Phil.  III,  36 1.  beides  dadurch  zu  vereinigen 
sucht,  dass  er  dem  op«^'"'  30  A  den  Sinn  unterlegt:  für  Gott  sichtbar,  so 
braucht  auf  eine  solche  Künstelei  wohl  nicht  näher  eingegangen  zu  werden. 

*)  Vgl.  Tim.  88  D,  wo  der  Tiaijvr,  rur  narTÜi ,  d.  h.  der  primären  Materie 
die  regellose  Bewegung  der  secundären  beigelegt  wird. 

*)  In  seiner  Ausgabe  des  Timäus,  proleg.  c.  5  und  zu  p.  49  A. 

»)  Etudes  II,  p.  204  u.  ö. 


Darstellung  des  Timaeus.     Die  drei  Gattungen.     Der  Xoyia/x6s  vö&os.     137 

däre  Materie  von  einander  unterscheiden,  ohne  indes  über  das 
gegenseitige  Verhältnis  dieser  beiden  Vorstellungen  schon  jetzt 
irgend  eine  Bestimmung  treffen,  oder  gar  den  von  Stallbaum  und 
Martin  mit  jenen  Ausdrücken  verbundenen  Sinn  herübernehmen 
zu  wollen  *).  Ebenso  müssen  wir  die  Frage,  was  Plato  eigentlich 
meine,  wenn  er  die  primäre  Materie,  nunmehr  einen  bestimmten 
Ausdruck  für  dieselbe  einführend,  als  Raum  bezeichnet,  der  fol- 
genden Erörterung  überlassen. 

Nur  auf  eine  Frage,  zu  welcher  jene  Beschreibung  Anlass 
giebt,  möge  schon  hier  eingegangen  werden.  Sie  betrifft  die 
Natur  des  Denkprocesses,  durch  den  wir  die  Materie  erkennen 
sollen.  Plato  bezeichnet  denselben  als  „unechtes  Denken",  als 
loyiOfidg  vöd^og.  Worin  das  Wesen  dieses  ;,unechten  Denkens" 
bestehe,  hat  er  nicht  näher  ausgeführt.  Die  Neueren  ^)  denken  dabei 
zumeist  an  einen  Analogieschluss,  In  der  That  stützt  Aristoteles 
seinen  Begriff  der  Materie  auf  einen  solchen.  Wie  zur  Bild- 
säule das  Erz  und  zum  Bett  das  Holz,  heisst  es  bei  ihm,  so  ver- 
halte sich  die  Materie  zur  individuellen  Substanz  ^).  Schon  der 
falsche  Timaeus  der  Locrer  hat  den  platonischen  und  den  aristo- 
telischen Ausdruck  identificiert*),  und  ihm  ist  Alexander  von 
Aphrodisias  ^)  gefolgt.  Allein  jenes  „unechte"  Denken  dürfte  von 
Plato  in  demselben  Sinne  einem  ;,echten"  entgegengesetzt  sein, 
wie  derselbe  auch  sonst  echte  (yrrjöirj)  und  unechte  (rdi^ry)  Tu- 
gend *'),  echte  und  unechte  Lust  ^)  u.  dgl.  gegenüberstellt.  Bei 
der  unechten  Tugend  u.  s.  w.  ist  die  Form  die  gleiche   wie    bei 


*)  Dass  wir  mit  dieser  Unterscheidung  zweier  Vorstellungen  von  der 
Materie  uns  zu  Zeller  IP  a,  611  f.  nicht  in  sachlichem  Widerspruch  befinden, 
wird  sich  später  ergeben,  wo  gezeigt  wird,  dass  beide  Vorstellungen  nur  die- 
selbe Sache  bezeichnen,  nämlich  die  eine  in  mythischer,  die  andere  in  phi- 
losophischer Auffassung.     S.  S.  145  ff'. 

')  H.  F.  Richter,  De  ideis  Piatonis  lihellus  (Lipsiae  1827)  p.  45.  Ritter  IP, 
362  Anm.  *).  Martin  II,  177.  Susemihl  II,  408.  Ribbing  I,  334  Anm.  Teich- 
müUer,  Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.  S.  316  f. ;  Literarische  Fehden  im  vierten  Jahr- 
hundert V.  Chr.  Bd.  I  (Breslau  1881),  S.  294.  Schwegler-Kösthn,  Griech.  Phil. 
3.  Aufl.    S.  212. 

3)  Arist.  phys.  I  7,  191  a  7—12. 

*)  Tim.  Locr.  94  B. 

*j  Alex.  Aphrod.  quaest.  nat.  I  1,  p.  14  Spengel. 

«)  Plat.  rep.  VII  536  A ;  vgl.  535  C. 

')  Plat.  rep.  IX,  587  B. 


138  Zweiter  Absclinitl.     Plato. 

der  echten;  aber  es  fehlt  ihr  der  Inhalt  jener.  Ein  solcher  Ge- 
gensatz trifft  beim  Analogieschluss  nicht  zu;  der  Analogieschluss, 
durch  welchen  Aristoteles  auf  den  Begriff  der  Materie  geführt 
wird,  ist  vielmehr,  so  lange  wir  nur  die  Schlussweise  und  nicht 
die  besondere  Natur  des  Begriffs  der  Materie  ins  Auge  fassen, 
ohne  Zweifel  ein  wahrer  und  eigentlicher  Schluss.  Nicht  der 
Schluss  aufs  Analoge,  sondern  nur  das  Analogon  des  Schlusses 
kann  als  unechter  Schluss  bezeichnet  werden. 

Nun  hat  aber  für  Plato  das  schliessende  Denken  (XoyiafAÖg), 
welches  zum  empirischen  im  Gegensatze  steht')  und  auch  im 
Timaeus  die  mehr  apriorische  Überlegung  bezeichnet  ^),  sein  Ge- 
biet im  Reiche  des  idealen  Seins,  nicht  in  dem  der  wahrnehm- 
baren Welt  3).  Ein  „unechter"  Schluss  wird  also  da  vorliegen, 
wo  die  Form  des  schliessenden  Denkens  nicht  auf  das  ideale  Sein 
angewendet  wird,  sondern  wo  sie  die  Negation  des  idealen  Seins, 
mithin,  wenn  wir  den  Begriff  des  Seienden  auf  jenes  ideale  Sein 
beschränken,  das  Nichtseiende  zu  ihrem  Gegenstande  hat.  So 
fassen  den  Begriff  dieses  Pseudoschlusses  mit  Recht  die  Neupia- 
toniker,  indem  sie  daran  erinnern,  dass  die  Vernunft,  wenn  sie, 
von  ihrem  Gegenstande,  den  Ideen,  abgewendet  denke,  nur  so 
denke,  wie  das  Auge  die  Finsternis  sehe,  ein  uneigentliches,  un- 
echtes Denken,  bei  dem  die  Vernunft,  aller  Bestimmtheit  entklei- 
det und  doch  thätig,  vielmehr  Nicht- Vernunft,  ihr  Denken  ein 
Nicht-Denken  sei*).  Nichts  anderes  meint  auch  wohl  G.  Schnei- 
der, wenn  er  unter  dem  Ausdruck  die  Abstraction  verstanden 
wissen  will,  d.  h,,  wenn  ich  recht  verstehe,  nicht  die  gesonderte 
Auffassung  einer  mehreren  Dingen  gemeinsamen  Bestimmung, 
sondern  das  Absehen  von  aller  Bestimmtheit^). 


')  Phileb.  57  A;  vgl.  11  B;  21  C.  —  '')  Tim.  30  B. 

^)  Parin.  129  E  — 130  A  (vgl.  Stallbaum  zu  der  Stelle).  Die  }.oy,aiJm  )Mnpa. 
fö,una  haben  hier  ganz  denselben  Sinn,  wie  135  E  das,  was  durch  den  Ao'yof 
erfasst  und  als  Idee  betrachtet  wird. 

*)  Plotin.  enn.  II,  4,  10  (vgl.  auch  enn.  1  8,  9  und  II  4,  12)  und  fast  wört- 
lich übereinstimmend  Simplic.  phys.  I,  p.  226,  28—29  (vgl.  IV,  p.  542,  20—22); 
Damasc.  de  princ.  c.  25,  p.  61  Kopp;  Ghalcid.  in  Tim.  c.  335;  345.  Proclus  da- 
gegen (in  Tim.  79  A— B)  denkt  beim  arnoyia/nöi  vo»os  an  eine  döia ,  welche 
den  koyos  erfasst,  aber  ohne  Einsicht  in  den  Grund  (vgl.  Ghalcid.  in  Tim.  c. 
347  Schluss) ;  doch  lässt  auch  er  die  Erkenntnis  des  i'v,  welche  von  ihm  zu  der 
Erkenntnis  der  ?;.;,  in  Parallele  gesetzt  wird,  durch  einen //T;-i'o?f  erfolgen  (79 Bj. 

*)  G.  Schneider,  Die  Piaton.  Metaph.  S.  8—9.    Auch  Siebeck,  Forschungen 


Darstellung  des  Timaeus.     Der  Xoyio/u6s  vö&os.    Der  Raum.  139 

Jene  dritte  Gattung  nun  ist  es,  „im  Hinblick;  auf  welche  wir 
träumen  und  behaupten,  jedes  Seiende  müsse  an  einem  Orte  («V 
iivi  TÖno))  sein  und  einen  Raum  (xoöqccv  rtva)  einnehmen;  was 
aber  weder  auf  der  Erde  noch  im  Himmel  sei,  existiere  überhaupt 
nicht"  1).  Das  gelte  nur  vom  Abbild,  erwidert  Plato,  nicht  von 
der  nicht  erträumten,  in  Wahrheit  bestehenden  Wesenheit,  die, 
so  lange  sie  von  etwas  verschieden,  in  diesem  nicht  sein  könne 
(5i^  B— C).  Dass  wir  jene  dritte  Gattung  selbst  nur  wie  im  Traume 
erblickten,  wie  Teichmüller  2)  meint,  sagt  Plato  nicht.  Das  Träu- 
men besteht  vielmehr  darin,  dass  man  das  nur  für  die  Erschei- 
nung Gültige  —  nämlich  die  Notwendigkeit,  an  einem  Orte  zu 
sein  —  für  etwas  absolut  Gültiges  hält  und  es  auch  auf  die  Idee 
überträgt.  Auch  die  Republik  vergleicht  die  Verwechselung  der 
Erscheinung  mit  dem  an  sich  Seienden  dem  schlafenden  oder 
wachenden  Träumen.  3).  Ist  es  doch  in  der  That  die  Eigentüm- 
lichkeit des  Traumes,   dass  er  das  Bild  für  die  Wirklichkeit  hält. 

Noch  einmal  fasst  Plato  (52  D)  seine  Ausführungen  zusam- 
men, um  dann  wieder  an  die  secundäre  Materie,  die  „umher- 
schweifende Ursache",  anzuknüpfen,  von  der  die  Erörterung  im 
zweiten  Hauptabschnitt  ursprünglich  ausgegangen  war.  Das 
Seiende,  der  Ort  und  das  Werden,  recapituliert  er,  sind  drei  und 
dreifach,   noch  bevor   das    Weltgebäude    geworden   war*).     Die 


S.  114  und  H.  F.  Müller,  Plotins  Forschung  nach  der  Materie,  Berlin  1882,  S.  5 
scheinen  eine  ähnliche  Auffassung  zu  vertreten.  Unklar  bleiben  die  Ausfüh- 
rungen von  Michelis,  Philos.  Piatons  II,  S.  161  f. 

*)  Wie  Simplic.  phys.  IV,  p.  521,  24  gesehen,  ist  hiergegen  gerichtet  Arist. 

phys.  IV  1,  208  a  29:  rä  n  -/np  ovra  nnvrtg  vnoXaßßävovai  ehal  nov'  ril  yap  fxij 
ov  ovda/uov   fi'vai'   iror  ya'(<   tan   T(jaye?.ai^o(  rj   atfiyS; 

')  Teichmüller ,  Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.  S.  329.  Ähnliches  findet  man 
übrigens  auch  bei  Jowett  in  der  Einleitung  zu  seiner  Übersetzung  des  Timaeus 
(The  dialogues  of  Plato,  translated  intoEnglish,  2.  ed.  Oxford  1875,  Bd.  III  S.573). 

3)  Plat.  rep.  V,  476  G. 

*)  52  D:  ovTOf  fifv  ort'  fJ'i;  TTa^d  rij^  ^"^f  <Urj(f.ov  ?.oyia&fig  iv  xf(faXaiw  cfe- 
ih)a&iii    ).ö'fog,    (iv    T(   y.ai   )^(i)pav    xai    yeveaiv  fi'vai   tqui  T(tiyjj   xai   ttqIv  ovQavov  ye- 

ve'a&ai.  Die  hier  aufgeführte  yeveaiv  steht  jedenfalls  im  Sinne  des  yr/roufvor  52  A, 
ye'vfaiv  e'xov  49  A,  ähnlich  wie  bei  Aristoteles  de  pari.  an.  1  1,  641  b  31:  yevt- 
aig  f.iev  yuQ  i6  a^re'Qua,  ovai'a  de  rd  liXog.  —  Natürlich  ist  diesG  Stelle  denen,  welche 
in  der  secundären  Materie  und  dem  zeitlichen  Weltanfang  bei  Plato  nur  eine 
mythische  Einkleidung  erblicken  ,    keineswegs  entgangen.     Ganz   ohne    Grund 


140  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

Ammo  des  Werdens  aber,  und  damit  kehrt  er  zur  secundären 
Materie  zurück,  indem  sie  wässerig  und  feurig  wird,  die  Formen 
der  Erde  und  der  Luft  aufnimmt,  wird  in  ihren  verschiedenen 
Teilen  sehr  verschieden  gestaltet.  Dadurch  ging  das  Gleich- 
gewicht in  ihr  verloren;  alles  schwankte  und  ward  regellos  hin- 
und  hergeschüttelt,  doch  so,  dass  die  gleichartigen  Teilchen  sich, 
wie  Korn  und  Spreu  beim  Worfeln  in  einer  Getreideschwinge, 
vorwiegend  zu  einander  gesellten. 

Augenscheinlich  haben  diese  phantastischen  Ausführungen 
keinen  andern  Zweck,  als  zu  zeigen,  wie  aus  der  unsichtbaren 
primären  Materie  jene  unregelmässig  bewegte,  sichtbare  Masse 
entstanden  sei,  die  secundäre  Materie,  welcher  der  Weltbildner 
durch  die  Weltseele  Vernunft  und  Ordnung  mitteilte. 

Freilich  tritt  jetzt  die  Unklarheit,  in  welche  eine  derartige 
mythische  Darstellung  verwickeln  musste,  deutlich  zutage. 
Konnte  es  im  Eingange  des  zweiten  Hauptabschnittes  scheinen, 
als  solle  die  Entwickelung  des  unbeseelteii  Stoffes  als  Werk  der 
Notwendigkeit  dem  Werke  der  Vernunft  selbständig  zur  Seite  ge- 
stellt werden,  so  sehen  wir  hier  den  Plato  dem  Gedanken  sich 
nicht  verschliessen,  dass  alle  Ordnung,  auch  die  in  der  körper- 
lichen Welt  als  solcher,  auf  die  göttliche  Causalität,  d.  h.  auf  die 
Vernunft,  zurückzuführen  sei.  Dadurch  erhält  nun  seine  Dar- 
stellung das  merkwürdig  Zwitterhafte,  was  schon  oben  in  dem 
Bilde  der  von  der  Vernunft  überredeten  Notwendigkeit  zutage 
trat ').  Jene  ungeregelte  Masse,  wie  der  Weltbildner  sie  vorfand, 
soll  doch  wieder  nur  Spuren  von  Feuer,  Wasser,  Erde  und  Luft 
aufgewiesen,  sie  soll  an  alle  dem,  wie  es  am  Schluss  des  zweiten 


schreibt  Bassfrennd  a.  a.  0.  S.  72:  „Dass  das  Werden  überhaupt  .  .  .  nach 
Plato  nicht  erst  mit  der  Weltbildung  begann,  wie  Boeckh  und  Zeller  offenbar 
voraussetzen,  darüber  hätte  sie,  ausser  andern  Gründen,  auch  schon  die  aus- 
drückliche Erklärung  Plato's  (52  D)  belehren  können,  dass  neben  der  Idee  und 
der  Materie  als  Drittes  die  yiptaii  bereits  existiert  hat,  bevor  noch  die  geord- 
nete Welt  entstanden  war."  Als  ob  nicht  Boeckh  a.  a.  0.  S.  33  und  Zeller  II' a, 
611,2  (und  lange  vor  ihnen  der  Cardinal  Bessarion,  In  calumniatorern  Piatonis 
II  5,  fol.  18r  med.  ed.  Aid.)  sich  ausdrücklicli  mit  der  Stelle  auseinandersetz- 
ten (vgl.  auch  Bobertag  a.  a.  0.  S.  30).  Übrigens  hätte  Bassfreund  aus 
Proclus  in  Tim.  87  G  ersehen  können,  dass  sein  Einwand  bereits  von 
dem  Platoniker  Atticus  vorgebracht  wurde,  den  Gegnern  der  Ansicht  dieses 
aber  wenig  Beschwerde  bereitete. 
1)  S.  S.  122  ff. 


Darstellung  des  Timaeus.     Das  Unbestimmte  derselben.  141 

Hauptabschnittes  (G9  B)  heisst,  nur  durch  Zufall  teilgehabt  haben, 
so  dass  man  doch  eigentlich  von  Feuer,  Wasser  u.  s.  w.  nicht 
habe  reden  können.  Darum  habe  Gott  alles  nach  Formen  und 
Zahlen  geordnet,  indem  er  das  Ungeordnete  aufs  beste  ein- 
richtete 1). 

Damit  ist  der  Übergang  zu  der  auf  Formen  und  Zahlen 
beruhenden  Bildung  der  Elementarkörper  und  Elementardreiecke 
gegeben,  welche  uns  später  noch  beschäftigen  wird  2).  Bei  diesen 
Elementardreiecken  will  die  Auflösung  des  Materiellen  im  Ti- 
maeus stehen  bleiben,  aber  „dem  Gott,  und  von  den  Menschen 
dem,  w:elcher  ihm  befreundet,"  seien  noch  weiter  zurückliegende 
Principien  bekannt  ^).  In  der  That  hat  Plato  später  die  Auflö- 
sung noch  weiter  getrieben.  Der  Philebus  bezeichnet  als  „Gabe 
der  Götter",  die  von  einem  Prometheus  (d.  h.  Pythagoras)  auf 
die  Erde  gebracht  und  von  den  Alten,  welche  den  Göttern  noch 
näher  wohnten,  überliefert  wäre,  die  Einsicht,  dass  alles  aus 
Grenze  und  Unbegrenztem  zusammengesetzt  sei^). 

Als  Inhalt  der  „wahrscheinlichen"  Reden  hat  sich  uns  also 
Folgendes  ergeben.  Die  geordnete  Welt  entsteht  dadurch,  dass 
der  Weltbildner  die  regellose  sichtbare  Masse,  welche  er  vorfand 
—  die  secundäre  Materie  — ,  mit  der  von  ihm  gebildeten  Welt- 
seele verband  und  ihr  dadurch  Vernunft  und  geordnete  astrono- 
mische Bewegung  einpflanzte.  Die  secundäre  Materie  hat  zu  ihrer 
Voraussetzung  die  unsichtbare  „Aufnehmerin",  die  primäre  Materie, 
in  welcher  die  Formen  von  Feuer,  Wasser  u.  s.  w.  als  Bilder  der 
entsprechenden  Ideen  entstehen  und  wieder  verschwinden,  nur  in 
Spuren  und  zufälhg  ohne  den  Gott,  in  geordneter  Weise  erst  durch 
sein  Eingreifen. 

Gehen  wir  numehr  auf  eine  Prüfung  der  einzelnen  Puncte 
ein,  um  aus  der  mythischen  Einkleidung  den  philosophischen  Kern 


*)  53  B :  ore  <f  entj^tiQtno  xoOßtTa&ai  t6  nS.v ,  nvg  n^tSrov  xai  vtfivQ  xal  yr/v 
yai  äeQa,  i)^vj]  fiev  e)[OVTa  avrwv  arra,  nrzvrÜTiaai  ye  fiijv  ifiaxei/ntva  aianep  fixog  e][etv 
anav,  öjav  änjj  tivos  i^fof,  ovrto  dr,  rozt  ntifoxÖTa  ravra  TiQüiiov  äitay^rifintiaato 
tVfhai  tt  xal  dpiS-ßoi^.  —  *)  S.  S.   167  fif. 

*)  53  D:    xäf    &'    eri    tovjwv    ägX"^  avwS-ev  S^tos  oi(fe  xai  dvdgdiv  ö'f  av  exeivw 

'»)  Phileb.  16  C.  vgl.  25  B— D.  Mit  Unrecht  denkt  Schneider,  Piaton.  Me- 
taph.  S.  138  f.  bei  den  „noch  höheren  Principien"  an  die  Tim.  53  B  genannten 
Zahlen. 


14J  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

herauszuschcälen.  Ich  beginne  mit  der  „secundären"  Materie,  als 
derjenigen  Bestimmung,  bei  welcher  augenscheinlich  das  mythische 
Element  eine  ganz  hervorragende  Rolle  spielt. 

3.  Die  sogeuannte  „seciindäre"  Materie  des  Timaeus;  ihr  my- 
thischer Character. 

Die  Stellen  des  Timaeus,  in  welchen  die  sogenannte  secun- 
däre  Materie,  d.  h.  eine  unabhängig  von  der  Gottheit  vor  der 
Weltbildung  existierende  ungeordnete,  sichtbare  Masse  von  Plato 
soll  gelehrt  sein,  haben  bereits  im  Vorigen  Erwähnung  gefunden. 
„Da  nämlich  der  Gott"  —  schildert  die  erste  (30  A)  —  „alles 
gut,  böse  aber  nichts  nach  Vermögen  haben  wollte,  so  übernahm 
er  alles  Sichtbare,  welches  nicht  in  Ruhe  befindlich,  sondern  be- 
wegt war  ohne  Maass  und  Regel,  und  führte  es  zur  Ordnung  aus 
der  Unordnung,  jenes  besser  durchaus  erachtend  als  dieses." 
Weitere  Ausführungen  bietet  der  Schluss  des  über  die  Materie  han- 
delnden Abschnitts  (52  G— 53  B),  sowie  die  kurze  Recapitulation 
am  Schlüsse  der  zweiten  Hauptabteilung  (69  B).  Beide  wurden 
im  Voraufgehenden  des  genaueren  analysiert '). 

Dem  Wortlaute  nach  wird  an  allen  diesen  Stellen  überein- 
stimmend eine  vor  der  Weltbildung  vorhandene,  von  Gott  unab- 
hängige 2)  und  daher  ewige,  sichtbare  und  körperliche  Materie 
gelehrt,  die,  an  sich  ungeordnet,  von  Gott  in  der  Zeit  zur  Ord- 
nung   der  Welt  gefügt  wird. 

Diese  ungewordene  Materie  als  Substrat  der  Weltbildung 
durch  den  Demiurgen  ist  denn  auch  schon  im  Altertum  als  inte- 
grierender Teil  der  philosophischen  Anschauung  Plato 's  betrachtet 
worden.  Bereits  Aristoteles  3),  hat  in  jener  schon  vor  der  Weltbil- 
dung vorhandenen  regellos  bewegten  Masse  eine  dogmatische  Lehr- 
bestimmung gefunden'*).   Es  sind  ihm  darin  nicht  wenige  gefolgt, 


>)  S.  S.  139-141. 

*)  Denn  der  Demiurg  übernimmt  dieselbe;  vgl.  30  A:  77 « (> « ;.a/if,)'r,  68  E: 
n  aQeXdußavfr.  Boeckh  a.  a.  S.  16  übersetzt  zwar  das  erstere  dm'ch:  „so  um- 
fasste  er",  als  sollte  ntQilaßwv  gelesen  werden;  allein  TiaQuhi^^ini-  ist  dm'ch  die 
angeführte  Parallelstelle  und  durch  Gitate  wie  ])ei  Simpl.  de  cael.  I,  p.  136  b 
35  K.  (Schol.  in  Arist.  488  b  17)  geschützt. 

")  Arist.  de  cael.  III  2,  300  b  16—19. 

*)  Vgl.  übrigens  Zeller,  Piaton.  Stud.  S.  199  ff.  S.  207  ff. 


Die  „secundäre"  Materie  des  Timaeus.  143 

welche  dadurch  noch  über  ihn  hinausgehen,  dass  sie  jene  Materie 
ausdrücklich  als  ungeworden  bezeichnen.  So  Plutarch  von  Ghae- 
ronea'),  der  dieselbe  übrigens  mit  der  von  uns  als  primärer  be- 
zeichneten Materie  identificiert  2),  Atticus  3),  Albinus  *)  und  andere 
Platoniker  •'^),  Auch  von  manchen  christlichen  Schriftstellern,  wie 
Justinus  ^),  Theophilus  ^),  Tertullian^),  Irenaeus^,  Athanasius  •*), 
Epiphanius  *i),  wird  gelegentlich  dem  Plato  eine  solche  ungo wor- 
dene Materie  als  Stoff  der  Weltbildung  zugeschrieben,  während 
andere,  wie  Tatian^*),  Athenagoras  ^^3),  Lactantius '*),  Clemens 
von  Alexandrien  '^), Maximus  ^''),  Origenes*''),  Gregor  von  Nyssa  '^), 


*)  Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  5,  p.  1014  B. 

•)  Plut.  1.  c.  5,  p.  1014  ü. 

»)  Atticus  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV,  6,4;  vgl.  Procl.  in  Tim.  84F  — 85A; 
87  A;  99  G;  116  B.  E;  119  B;  187  B.     Stob.  ecl.  I,  p.  894. 

*)  Alcinous  (d.  i.  Albinus;  vgl.  Freudenthal,  Hellenistische  Studien,  Heft 
3,  Berlin  1879,  S.  275  ff.),  ituiuay.ahxoi  T'-n-  nhUon'Oi  ,foy,udTMv,  c.  13  g.  Ende. 

»)  Procl.  in  Tim.  84  F.    Vgl.  Ghalcid.  in  Tim.  c.  300.  352. 

^)  Justin,  cohort.  ad.  Graec.  c.  20,  p.  19  A ;  c.  23  p.  22  A.  Die  Authenticität  der 
Schrift  ist  zwar  zweifelhaft,  doch  ist  dieselbe  jedenfalls  älter,  als  von  denen,  die  sie 
für  pseudo-justinisch  halten,  meistens  angenommen  wird ;  vgl.  Diels,  Doxographi  p. 
17.  Was  die  unbezweifelten  Schriften  Justin's  angeht,  so  heisst  es  in  der  er- 
sten Apologie  (c.  59,  p.  92  C)  nur,  dass  nach  Plato  Gott  die  Welt  gebildet  habe, 
indem  er  die  gestaltlose  Materie  umwandelte,  ohne  dass  hier  auf  die  Frage 
nach  dem  Entstanden-  oder  Unentstandensein  der  Materie  selbst  eingegangen 
würde. 

')  Theophil,  ad  Autol.  H.  c.  4,  p.  82  G. 

^)  TertuU.  adv.  Valent.  c.  15  (vgl.  adv.  Hermog,  c.  4).  Damit  steht  apolo- 
get.  c.  11  nicht  im  Widerspruch. 

^)  Iren,  contr.  haer.  II  14,  4Massuet;  vgl.  fragm.  graec.  34  Mass.  (32  Harvey) 
aus  der  Schrift  /r^pt  rot'  /ud]  ttvat  dyivvijTov  ii]v  v?.i,v ,  wo  indes  Plato  nicht  ge- 
nannt ist. 

'•*)  Athanas.  orat.  de  hum.  nat.  a  Ghristo  assumpta  c.  2,  tom.  I  p.  39  B. 
ed.  Maurin. 

")  Epiphan.  de  haeres.  I  6,  vol.  I  p.  293,  30  Dindorf. 

")  Tatian.  orat.  ad  Graec.  c.  5,  p.  145  G;  c.  12,  p.  151  A. 

")  Athenagor.  suppl.  pro  Christian,  c.  4,  p.  5  B. 

'*)  Lactant.  Institut.  Christ.  II  8. 

")  Glem.  Alex,  ström.  V  14,  89,  p.  699  P.  (vol.  III,  p.  70,  3—8  Dind.). 

**)  Maximus  bei  Euseb.  praep.  ev.  VII  22  (vgl.  Möller,  Gesch.  d.  Kosmolo- 
gie in  der  griech.  Kirche,  Halle  1860.  S.  561—564). 

")  Origen.  de  princ.  II  1,  4  p.  78  Delarue;  comment.  in  gen.  p.  2. 

»«)  Gregor.  Nyss.  de  hom.  opif.  c.  23,  vol.  I,  p,  210  D  Migne. 


144  Zweiter  Abschnitt.    Plato. 

Basilius^),  Augustinus  2)  u.  s.  w.,  die  vielgestaltige  Ansicht  von 
einer  ewigen  Materie  bekämpfen,  aber  ohne  sie  dem  Plato  beizu- 
legen, vielmehr  durchweg  gegen  gnostische  und  verwandte  Irr- 
lohren sich  wendend  ='),  Dagegen  verwarfen  Porphyr  und  lam- 
blich'*)  eine  solche  wörtliche  Auslegung  und  mit  ihnen  alle 
diejenigen ,  welche  den  zeitlichen  Ursprung  der  Welt  bei  Plato 
als  mythische  Einkleidung  zu  bloss  didactischem  Zwecke  ansehen. 
Suchten  die  Neuplatoniker  doch  aus  einer,  freilich  willkürlich 
interpretierten,  Stelle  des  Philebus  zu  erweisen,  dass  die  Materie, 
weit  entfernt,  etwa  ewig  neben  der  Gottheit  zu  existieren,  viel- 
mehr nach  Plato's  Lehre  ein  ewiges  Werk  der  Gottheit  sei^)  — 
eine  Behauptung,  welche  von  Hierocles*')  sogar  in  der  Weise  zu- 
gespitzt wurde,  dass  er  dem  Plato  die  Lehre  beilegte,  Gott  habe 
die  Materie  aus  dem  Nichts  geschaffen.  Wenn  wir  letztere  An- 
nahme nun  auch  als  unhistorisch  zurückweisen  müssen,  so  ist 
doch  jedenfalls  von  den  Neuplatonikern,  namentlich  von  Proclus, 
schlagend  dargethan ,  wie  sehr  jene  buchstäbliche  Interpreta- 
tion dem  Geiste  Plato's  und  sicheren  Sätzen  seines  Systemes 
widerstreitet.  Gleichwohl  hat  dieselbe,  um  ältere  Gelehrte,  wie 
Joh.  Christoph  Wolf),  Christ.  Meiners  ^)  u.  a.  zu  übergehen, 
auch  bei  manchen  Neueren,  wie  Martin  ^j,  Könitzer  i"),  Über- 
weg '1),  Bassfreund  ^2 j^  Köstlin  ^3)  u.  s.  w.  Beifall  gefunden,  wäh*- 
rend    andere,    wie    namentlich    Zeller **)    und   Susemihl*^),    und 


*)  Basil.  in  hexaem.  hom.  II,  c.  %  p.  13  Garner. 

»)  August,  de  civ.  Dei  XII,  15. 

")  Damit  dürfte  Boeckh's  Frage,  a.  a.  0.  S.  27,  genügend  beantwortet  sein. 

*)  Procl.  in  Tim.  116  G.     Philopon.  de  aetern.  mundi  VI  2. 

'•)  Vgl.  Procl.  in  Tim.  117  B,  der  sich  auf  Phileb.  23  G  beruft. 

")  Hierocl.  de  provid.,  excerpiert  bei  Phot.  cod.  251. 

^  Jo.  Christoph.  Wolf,  Manichaeismus  ante  Manichaeos,  et  in  Ghristianismo 
redivivus.    Hamburg  1707.  p.  124—133. 

®)  Christoph  Meiners,  Gesch.  des  Ursprungs,  Fortgangs  u.  Verfalls  d.  Wis- 
senschaften in  Griechenland  u.  Rom.    Bd.  2.    Lemgo  1782.    S.  710  f. 

«)  Etudes  II,  181  ff. 
")  A.  a.  0.  S.  9. 

")  Rhein.  Mus.  IX  S.  76  Anm.  40. 
")  A.  a.  0.  S.  72.  74. 
»«)  Köstlin-Schwegler  S.  212  ff. 
'*)  Piaton.  Stud.  S.  209.  Phil.  d.  Gr.  W  a,  611  f. 
")  Genet.  Entw.  II,  329. 


Der  mythische  flhaiacter  der  „secundären  Materie".  145 

lange  vor    ihnen    der   einsichtige   Cardinal  Bessarion"),  in   dieser 
Frage  sich  durchaus  auf  die  Seite  der  Neuplatoniker  stellen  2). 

In  der  Thai  ist  unschwer  einzusehen,  dass  die  Vorstellung 
einer  solchen  schon  vor  der  Weltbildung  vorhandenen  bewegten 
sichtbaren  Materie,  wenn  wir  in  ihr  mehr  als  die  mythische  Ver- 
selbständigung eines  ideellen  Momentes  erblicken  wollen,  mit  si- 
cheren Sätzen  nicht  nur  des  platonischen  Systems  überhaupt, 
sondern  sogar  des  Timaeus   selbst  unvereinbar  ist.     Denn  : 

1.  Drückt  jene  Vorstellung  die  wahre  Ansicht  Plato's  aus,  so 
muss  die  Bewegung,  welche  jener  Materie  beigelegt  wird  3),  ihren 
Ursprung  in  dieser  selbst  haben.  Nun  ist  aber  für  Plato  das  einzige 
sich  selbst  Bewegende^  welches  zugleich  für  alles  andere,  was  be- 
wegt wird,  Quelle  und  Princip  der  Bewegung  ist,  die  Seele*). 
Diese  aber  gehört  nach  der  Darstellung  des  Timaeus  zu  dem  erst 
bei  der  Weltbildung  vom  Demiurgen  Hergestellten  -^j.  P  ur  eine 
bereits  vor  der  Bildung  der  Seele  bestehende  Materie  fehlt  es  also 
an  jedem  Princip  der  Bewegung. 

Dem  Gewichte  dieses  Grundes  haben  sich  schon  die  alten 
Verteidiger  einer  vor  der  Weltschöpfung  vorhandenen  ungeord- 
neten Materie,  Plutarch^)  und  Atticus')  nicht  entziehen  können. 
Sie  leugnen  deshalb  unsern  Untersatz,  dass  die  Seele  erst  bei  der 
Weltbildung  entstanden  sei.  Derselbe  gelte  nur  für  die  gute,  ge- 
ordnete Weltseele,  nicht  aber  auch  für  die  in  den  Gesetzen  ^)  er- 
wähnte böse,  ungeordnete  Weltseele  ^).  Nur  die  erstere  sei  ent- 
standen; die  letztere  sei  ewig.  Wie  nun  die  gute  Weltseele  Prin- 
cip der  geordneten  Bewegungen  des  Kosmos,  so  sei  die  böse 
Princip  der  ungeregelten  Bewegung  jener   der    Weltbildung    vor- 


')  In  calumn.  Plat.  II  5,  fol,  18  ff.;  III  21,  toi.  5lv. 

■')  Ebenso  Ast,    Abh.  d.    Münch.   Akad.  1835.  S,  48.  Fouillee,  Philo:>ophie 
de  Piaton  I,  542 — 553  und  andere. 
')  xivorufvnv  30  A;  Ygl.  5:2  E. 

*)  Phaedr.  245  CI:  lUvj^r}  naaa  d-&äruToi  .  .  .  juürov  ih;  rö  arro  xifocr  (die 
Seele),  «t*  ovx  dno/.iiJiov  tavTÖj  ov  nojf  xivoi\ufvoi\  d/.Xu  xcti  loii  ä?.?.oii  oaa  xtreJ- 
rat   Toiro   n%yr,    xai  änyi]   xivr^anof.      Vgl.  leg.   X,   892,   A   tf.  895 B — 896  A. 

'-)  Tim.  34  C.  tf. 

«)  Plut.  de  an    in  Tim.  proer.  c.  6  p.  1U14  D  ß.;  quaest,  Plat.  IV  p.  1003  A. 
'j  Procl.  in  Tim.  IKi  B;  119  B. 
8)  Plat.  leg.  X,  896  D  ff.     897  D  ff.     898  D  ff'. 

")  Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  e.  (i  p  1014  E  (vgl  de  Is.  et  Osir.  c.  48  p. 
370  F);  Procl.  in  Tim.  116  C;  C.haleid.  in  Tim.  c.  31   u.  300. 

Baenmker:  Das  Problem  der  Materie  etc.  10 


146  Zweiter  Ahschnitt.     Plato. 

aufgehenden  Materie  *).  Diese  böse  Weltseele  sei  unter  der  „Not- 
wendigkeit" zu  verstehen,  von  der  nach  dem  Timaeus  jene  Masse 
beherrscht  werde.  Eine  weitere  Spur  derselben  finde  sich  in 
dem  „Verhängnis"  (etinaQiLis'vrj)  und  der  „eingeborenen  Begierde" 
{^vix(fVTog  snii^vinia),  welche  nach  dem  Politicus^)  die  Welt  in 
gewissen  Perioden  verleiten  soll,  sich  in  entgegengesetzter  Rich- 
tung zu  der  von  Gott  bewirkten  geordneten  Bewegung  zu  dre- 
hen. 3).  Das  Verhältnis  der  unvernünftigen  und  der  vernünftigen 
Seele  denkt  Plutarch  so,  dass  die  unvernünftige,  ungeordnete 
Seele  durch  Teilnahme  an  der  göttlichen  Vernunft  und  Harmonie 
selbst  verständig  werde  ^)  und  nunmehr  aus  dem  ungeordneten 
Körper  der  Welt  einen  geordneten  mache  •^).  So  ist  nur  die  Ord- 
nung der  Körperwelt  und  die  nach  Zahl  und  Verhältnis  geord- 
nete Seele  Gottes  Werk«*);  die  ungeordnete  Materie  dagegen 
samt  der  sie  bewegenden  ungeordneten  Seele  steht  dem  Demiur- 
gen  als  selbständiges  Princip  gegenüber. 

Plutarch's  Ausführungen,  von  Christ.  Meiners  ^)  wiederholt  und 
von  Tennemann '^)  in  sein  System  der  platonischen  Philosophie 
aufgenommen,  fanden  einen  scharfsinnigen  Verteidiger  an  Mar- 
tin'-'),  dem  dann  auch  Überweg  ^o)  und  Könitzer^^)  gefolgt  sind. 
Gleichwohl  muss  dieser  Ausweg  als  durchaus  unhaltbar  zurück- 
gewiesen werden.    Denn: 

a)  Verwunderung  müsste  es  zunächst  erregen,  dass  im  gan- 
zen Timaeus  von  dieser  bösen  Weltseele  nirgendwo  die  Rede  ist. 
Wenn    derselben    eine    so    bedeutsame    Aufgabe    zufällt,    warum 


')  Ähnlich  wohl  Numenius  ;  vgl.  Ghalcid.  in  Tim.  c.  297 :  Platonemque 
idem  Numenius  laudat,  quod  duas  mundi  animas  autumet,  unam  beneflcientis- 
simam,  malignam  alteram,  scilicet  silvam. 

''}  Politic.  272  E. 

')  Flut,  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  6,  p.  1015  A,  der  für  die  sifinQfie'vrj  des 
Politicus  ohne  weiteres  die  dväyxij  des  Timaeus  einschwärzt. 

*)  Plut.  quaest.  Plat.  II,  2,  p.  1001  G. ;  IV,  p.  1003  A. 

<")  Ebend.  IV,  p.  1003  A-B. 

*)  de  an.  proer.  c.  5,  p.  1014  G;  c.  9,  p.  1017  A. 

')  Ghristoph  Meiners,  Vermischte  Philosophische  Schriften.  I.  Theil.  Leip- 
zig 1775.  S.  38  ff. 

»)  A.  a.  0.  Bd.  III,  S.  175  ff. 

«)  Etudes  I,  .S55-357.    II,  171  f.  182  f. 

•»)  Rhein.  Mus.  IX,  S.  76  Anm.  40. 

•M  A.  a.  0.  S.  18  f. 


Der  inylliisclie  Cliiuacler  der  ^secuiulären  Matei'ie."  147 

spricht  dann  Plato  nirgendwo  von  ihrV  Man  erinnert  an 
die  „Notwendigkeit",  welche  an  mehreren  Stellen  des  Dialoges 
der  Vernunft  entgegengesetzt  wird.  Aber  schon  oben  wurde  be- 
wiesen, dass  diese  keineswegs  im  Sinne  einer  der  Materie  inne- 
wohnenden Kraft  gedeutet  werden  darf^).  In  Wirklichkeit  redet 
der  Timaeus  nur  von  einem  in  unordentlicher  Bewegung  befind- 
lichen ,, Sichtbaren"  (ogaröv  30  A),  von  einem  durch  die  Verbin- 
dung mit  der  Weltseele  zur  Ordnung  gebrachten  „Körperhchen" 
Ooifiaxoaiöig  3G  D — E),  was  doch  beides  auf  die  Seele  nicht  passt. 

b)  Fälschlich  beruft  sich  jene  Ansicht  auf  den  Politicus.  Denn 
abgesehen  davon,  dass  dort  ganz  augenscheinlich  ein  Mythus  vor- 
getragen wird,  aus  dem  man  nicht  ohne  weiteres  Schlüsse  auf  das 
philosophische  System  Plato 's  ziehen  kann,  erscheint  im  Politi- 
cus nicht  eine  böse  Weltseele,  sondern  das  Körperliche  {Ocofia- 
Tosidsg)  selbst  als  Ursache  der  Unordnung^).  Auch  daran  kann 
erinnert  werden,  dass  Plato  die  Ansicht  daselbst  ausdrücklich  zu- 
rückweist, als  seien  es  zwei  einander  feindliche  Götter,  welche  die 
Welt  in  entgegengesetzten  Richtungen  bewegten  ^).  Eine  von  der 
Gottheit  nicht  hervorgebrachte,  gleich  ihr  ewige  Weltseele  würde 
aber  schliesslich  auf  eine  solche  dem  guten  Gotte  gegenüber- 
stehende böse  Gottheit  hinauslaufen. 

c)  Nicht  einmal  die  böse  Weltseele  der  Gesetze*)  kann  in 
Wahrheit  zu  dem  von  Plutarch  beabsichtigten  Zwecke  verwendet 
werden.  Ich  will  kein  Gewicht  darauf  legen,  dass  die  ganze 
über  die  Weltseele  handelnde  Stelle  gleich  manchen  anderen 
in  diesem  nachgelassenen  Werke  Plato's  den  dringenden  Ver- 
dacht einer  Interpolation  durch  den  Herausgeber  Philipp  von 
Opus  erweckt^).  Denn  wie  mehrere  andere,  eine  gänzlich  verdü- 
sterte Lebensauffassung  atmende  Stellen,  passt  sie  besser  zu  dem  in 
der  Epinomis  stark  hervortretenden  Pessimismus  des  Opuntiers,  als 
zu  der  ernsten,  aber  hoffenden  Weltanschauung  Plato's  ^).  Auch  dem 


•)  S.  S.  125  Anm.  1. 

«)  Politic.  273  B. 

')  Politic.  269  E. 

*)  über  welclie  man  Zeller  11^  a,  828  ff.,  Susemihl  II  598  ff.  vergleiche. 

")  Vgl.  Zeller  IF  a,  833,  3;  phil.  bist.  Abbandl.  d.  Berl.  Ak.  d.  Wissenscb. 
1873.  S.  97,  2. 

*)  Vgl.  Ivo  Bruns,    Plato's  Gesetze  vor  und  nach  ihrer  Herausgabe  durch 
Philippos  von  Opus.     Weimar  18S0.     S.  (\i  u.  bes.  95—105. 

10  * 


14<S  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

Umstände  soll  kein  besonderer  Wert  beigelegt  werden,  dass  die  Aus- 
führung in  den  Gesetzen  die  Deutung  nicht  ausschliesst,  als  werde 
die  Unterscheidung  der  bösen  Weltseele  im  Gegensatz  zu  der 
guten  gleich  anfangs  nur  als  mögliche  begriffliche  Distinction  ein- 
geführt, deren  eines  Glied  im  Verlaufe  der  Untersuchung  als 
nicht  stichhaltig  sich  erweist  *).  Allein  auch  zugegeben,  es  rühre 
jene  Ausführung  wirklich  von  Plato  her  und  sie  enthalte  in  der 
That  eine  positive  Lehrbestinnnung,  so  besteht  doch  eine  nicht 
wegzuräumende  Verschiedenheit  zwischen  der  bösen  Weltseele, 
wie  sie  in  den  Gesetzen  beschrieben  wird,  und  der  ungeordneten 
Weltseele,  wie  Plutarch  sie  auf  Grund  der  Angaben  des  Timaeus 
postuliert  hat  und  von  seinem  Standpunct  aus  hat  postulieren 
müssen.  Die  böse  Weltseele  der  Gesetze,  wenn  sie  überhaupt 
exisfiert^  existiert  nicht  ohne  die  gute  ;  beide  bestehen  von  vorn- 
herein neben  und  unabhängig  von  einander.  Die  im  Timaeus 
gegebenen  Bestimmungen  dagegen  lassen  dem  Plutarch  in  der 
That  keine  Wahl.  Er  muss  die  ungeordnete  Weltseele,  welche  das 
bewegende  Princip  der  vorweltlichen  Materie  bildet,  als  die  frühere 
bezeichnen  und  die  geordnete  Weltseele  durch  götthches  Ein- 
greifen seitens  der  weltordnenden  Vernunft  aus  ihr  hervorgehen 
lassen.  Nicht  einmal  in  der  bösen  Seele  der  Gesetze  findet 
also  jene  in  den  Timaeus  hineingetragene  ungeordnete  Weltseele 
eine  Entsprechung.  Damit  aber  ist  auch  die  letzte  Stütze  hin- 
fällig geworden,  an  welche  sich  die  Deutung  der  „Notwendigkeit" 
als  eines  die  ungeordnete  Materie  bewegenden  seelischen  Princips 
lehnen  könnte. 

i.  Ein  weiterer  Beweis  für  den  mythischen  Character  jener 
ungeordneten  vorweltlichen  Materie  liegt  in  der  Unmöglichkeit, 
den  Ursprung  der  Spuren  von  Formelementen,  welche  sie  nach 
Plato  bereits  einschliessen  soll,  aus  den  platonischen  Prämissen 
abzuleiten.  Die  Materie,  welche  an  sich  formlos  ist  (50  D;  51  A), 
jeder  Form  entbehrt  (52  E;  51  A),  unsichtbar,  überhaupt  nicht 
wahrnehmbar  ist  (51  A;  52  B),  wird  zur  sichtbaren  (30  A)  se- 
cundären  Materie  nur  durch  das  Minimum  von  Form,  die  ,, Spu- 
ren" von  Feuer,  Wasser,  Erde,  Luft  (53  B),  an  denen  sie  durch 
Zufall    etwa    Teil    hat    (69  B).     Woher  diese   Formen?    Die  Ma- 


0  Siel)eck,  Gesch.  d.  P.syehol.  I  a.  279  f. 


Der  mythische  Gharacter  der  „secundären  Materie".  149 

terie  kann  sie  nicht  aus  sich  hervorgebracht  haben,  wie  Martin ') 
will.  Denn  die  primäre  Materie  ist  nur  Ort  zur  Aufnahme,  selbst 
kraftlos;  die  „Notwendigkeit"  aber,  auf  die  Martin  sich  beruft,  ist 
in  dem  von  ihm  gemeinten  Sinne,  wie  oben  gezeigt  wurde,  eine 
Fiction.  Ebenso  ist  es  unrichtig,  wenn  Könitzer^)  schon  das 
Sichtbar-  und  Tastbarwerden  des  der  Weltbildung  zugrunde 
liegenden  Substrates  auf  den  Weltbildner  zurückführt;  denn  von 
der  bereits  als  sichtbar  und  tastbar  beschriebenen  Materie  sagt 
Plato  ausdrücklich,  dass  sie  sich  in  einem  Zustande  befinde,  wie 
er  zu  erwarten  sei ,  wo  der  Gott  fern  ist  (53  B) ,  und  anderswo 
(30  A)  heisst  es  von  dem  Gotte,  dass  er  seiner  Natur  nach  nur 
das  Schönste  hervorbringen  könne.  Auch  an  die  Ideen  ist  nicht 
zu  denken^).  Wie  sollte  auch,  wo  die  Ideen  wirken,  noch 
für  Unordnung  und  Zufall  (61)  B)  Raum  bleiben?  Und  ist 
es  für  Plato  nicht  undenkbar,  dass  die  Ideen,  wo  sie  einmal  als 
Ursache  auftreten,  nichts  weiter  hervorbringen  sollten,  als  blosse 
„Spuren"  (53  B)?*).  Dem  Timaeus  völlig  fremd  aber  ist  die  Art 
und  Weise,  in  welcher  von  Überweg  ^)  die  Ideen  zur  Erklärung 
jener  Spuren  von  Formen  herangezogen  werden.  Im  An- 
schluss  an  später  zu  besprechende  Bestimmungen  des  Philebus 
unterscheidet  derselbe  in  den  Ideen  das  Begrenzte  und  das  Unbe- 
grenzte. Indem  nun  dieses  Unbegrenzte,  welches  in  den  Ideen 
ist,  auf  die  neben  den  Ideen  existierende  primitive  Materie  ein- 
wirkte, entwickelte  sich  eine  ungeordnete  und  regellos  wechselnde 
Figurenbildung,  in  Folge  derer  die  primäre  Materie  in  die  secun- 
däre  Materie  übergehe.  Nicht  übel  ausgedacht  —  nur  schade, 
dass  kein  Wort  davon  im  Timaeus  steht.  Zudem  wäre  es,  wenn 
einmal  eine  intelligibele  Materie  in  den  Ideen  als  Princip  ange- 
nommen werden  soll,  doch  systematischer  und  natürlicher  gewe- 


1)  Etudes  II  182  f. 

»)  A.  a.  0.  S.  9. 

3)  Bassfreund,  S.  72. 

*)  Anders  ist  es,  wenn  wir  die  vor  der  Wellbildung  existierende  secundäre 
Materie  mit  ihren  „Spuren"  als  mythisch  lietrachten,  und  nun  fragen,  woher 
die  primäre  Materie  zu  den  wohlausgebildeten  Formen  gelangt  sei ,  ohne  die 
sie  niclit  ist.  Wenn  wir  dafür  die  Ideen  in  Anspruch  nehmen,  so  fallen  eben 
hier  die  Bedenken  fort ,  auf  welche  bei  der  Frage  nach  dem  Ursprung  jener 
, Spuren"  der  Abstand  zwischen  der  Ursache  und  der  ihrer  unwürdigen 
Wirkung  führte.    Bassfreund  hat  beides  nicht  genügend  auseinander   gehalten. 

»)  Rhein.  Mus.  IX,  S.  79  f. 


150  Zweiler  Abschnitt.     Plato. 

sen,  nicht  jene  regellosen  Formen  aus  ihr  hervorgehen  zu  lassen, 
für  die,  da  sie  docli  immerhin  Formen  bleihen,  das  formale  Ele- 
ment in  den  Ideen  eine  näher  liegende  Erklärung  gegeben  hätte, 
sondern  mit  den  Neuplatonikern  *)  die  primäre  Materie  als  ihr  Ab- 
bild zu  betrachten. 

3.  Nach  Plutarch  und  Atticus,  erinnert  Proclus^),  soll  die 
Ordnungslosigkeit  vor  der  Weltbildung  geherrscht  haben  ^).  Nun 
aber  ist  ,vor'  eine  Zeitbestimmung.  Die  Zeit  indes  lässt  der 
Timaeus  erst  mit  der  Einrichtung  des  Weltgebäudes  entstanden 
sein*);  denn  die  intelligibele  Welt,  auf  deren  Dauer  man  verw^ei- 
f?en  könnte,  existiert  in  zeitloser  Ewigkeit,  ohne  die  Unterschiede 
von  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft  zu  kennen^).  Jenes 
,vor'  würde  also  eine  Zeit  vor  der  Zeit  verlangen. 

4.  Ein  vierter,  gleichfalls  schon  von  Proclus^)  gegen  Atticus 
geltend  gemachter  Grund  ist  dieser.  Die  secundäre  Materie  wird 
von  Plato  als  sichtbar  beschrieben  (Tim.  30  A).  Nach  demselben 
Plato  aber  ist  alles  Wahrnehmbare  geworden  (28  B.  G).  Jene 
Materie  kann  also  nicht  als  ewig  und  ungeworden  der  als  zeitlich 
gedachten  Weltentstehung  voraufgehen. 

5.  Man  kann  nicht  einwenden,  dass  der  Begriff  des  Geworden- 
seins bloss  die  Abhängigkeit  von  einer  äussern  Ursache  verlange, 
eine  zeitliche  Entstehung  aber  nicht  notwendig  einschliesse. 
Denn  in  diesem  Falle  müssten  doch  jedenfalls  Materie  und  Welt- 
bildung auf  gleichem  Fusse  behandelt  werden.  Es  darf  nicht  das 
Gewordensein  der  Materie  als  zeitlose  Abhängigkeit,  das  Gewor- 
densein des  Kosmos  als  zeitliche  Entstehung  gedeutet  werden. 
P^ür  jene  der  Weltbildung  voraufgehende  secundäre  Materie  bleibt 
also  bei  dieser  Deutung  des  Begriffs  ,ge worden'  erst  recht  kein 
Platz.  Nun  gehört  in  der  That  auch  die  Schilderung  der  zeit- 
lichen Weltentstehung  im  Timaeus  zu  den  mythischen  Zügen  des 
Dialogs.  Eine  zeitliche  Entstehung  der  Welt  widerstreitet,  wie 
schon  die  maassgebenden  Platoerklärer  des  Altertums  erkannten. 


'-)  Plotin.  enn.  II  4,  15.    Procl.  in  Tim.  117  B  u.  a. 

^)  Procl.  in  Tim.  85  A. 

^)  Vgl.  Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  5,  p.  1014  B:   cixoa,uia  ydp  ijv  ra  tiqo 

rijS  TOv  y.oafiov  yfvioKog. 

*)   ßtx'  ovQavov  38  B. 

*)  Für  den  ahöv  giebt  es  kein  r,v,  iati,  'iarai,  Tim.  37  D — E. 
6)  Prod.  in  Tim.  87  B. 


Der  mythische  Gharacter  der  „secundären"  Materie.    Die  „primäre"  Materie.    151 

mehreren  von  Plato  unzweideutig  als  dogmatisch  ausgesproche- 
nen Sätzen.  Das  Gewordensein  der  AVeit  ist  für  ihn,  wenn  er 
nicht  in  Widerspruch  mit  sich  selbst  geraten  soll,  nur  als  ewi- 
ges Gewordensein  denkbar ').  Ist  aber  die  Vorstellung  von  einer 
zeitlichen  Weltentstehung  bei  Plato  blosser  Mythus,  so  kann  die 
Vorstellung  von  einer  vor  der  Weltbildung  existierenden  ungeord- 
neten Materie,  da  sie  jene  andere  Vorstellung  zur  unerlässlichen 
Voraussetzung  hat,  gleichfalls  nur  einen  ausschliesslich  mythischen 
Gharacter  tragen.  Darin  darf  uns  der  anscheinend  lehrhafte  Ton 
nicht  irre  machen,  in  dem  alle  diese  Dinge  von  Plato  erzählt 
werden.  Sagt  er  doch,  wie  Zeller  ^)  erinnert,  sogar  von  der  offen- 
bar erfundenen  Atlantisfabel,  sie  sei  nicht  ein  erdichteter  My- 
thus, sondern  eine  wahrhafte  Rede  ^). 

So  werden  wir  denn  mit  Zeller*),  dessen  Auffassung  sich 
uns  in  allen  ihren  Teilen  bewährt  hat,  in  dieser  ungeregelten, 
sichtbaren  Masse  vor  der  Weltbildung,  der  sogenannten  secun- 
dären  Materie,  nichts  als  eine  vorübergehende  Aufnahme  der  alten 
Vorstellimg  vom  Chaos  erblicken.  So  lange  Plato  rein  mythisch 
redet,  verwertet  er  im  Anschluss  an  alte  Kosmologien  dieselbe 
zeitweilig,  um  sie,  sobald  er  tiefer  eindringt,  durch  eine  mehr 
wissenschaftliche  Vorstellung  zu  ersetzen,  die  aus  den  Principien 
seines  eigenen  Systemes  sich  ergiebt.  Das  aber  ist  die  sogenannte 
primäre   Materie. 

4.    Die  „primäre"  Materie  des  Timaeus. 

a.  Die  verschiedenen  Ansichten. 

Schon  in  unserer  Analyse  desjenigen  Abschnittes  des  Timäus, 
welcher  die  Lehre  von  der  primären  Materie  enthält  (48  E  —  52 E), 
wurde  darauf  hingewiesen,  was  den  Hauptwiderstreit  der  Mei- 
nungen ausmacht.  Will  Plato,  das  ist  die  Frage,  wenn  er  jene  dritte 
Gattung  als  die  des  Raumes ,  als  den  Ort  bezeichnet ,  damit  eine 
Wesensbestimmung  der  Materie  geben ,  oder  will  er  nur  eine  re- 


^)  Vgl.    meinen    Aufsatz  über   die    Ewiglceit    der    Welt    bei  Plato  in  den 
Philos.  Monatsheften,  Bd.  XXIIl.  1887.  S.  513  ff. 
2)  Phil.  d.  Gr.  IF  a  668,  1. 
»)  Plat.  Tim.  26  D. 
*)  Phil.  d.  Gr.  IP  a,  612. 


152  Zweiter  Abschnill.     Pluto. 

lativo  Eigenschaft  derselben  anzeigen?  Gehl  ihm  der  Begriff  der 
M  alerie  ohne  Rest  in  dem  des  leeren  Raumes  auf,  oder  denkt  er, 
unbeschadet  jener  Ausdrücke,  die  Materie  als  einen  unabhängig 
von  der  Idealwelt  für  sich  bestehenden  Stoff,  der  nur  in  Bezug 
auf  die  in  ihn  eintretenden  Formbestimmtheiten  als  deren  „Ort" 
oder  „Raum"  bezeichnet  wird? 

Die  zwei  Auffassungen ,  welche  sich  so  gegenüber  stehen^ 
sind  wiederum  in  mehrfacher  Weise  modificiert  worden.  Diejeni- 
gen, welche  unter  der  platonischen  Materie  einen  Stoff  verstan- 
den, fassten  diesen  entweder  als  den  qualitätslosen  Körper, 
oder  als  die  Möglichkeit  der  Körperwelt;  diejenigen,  welche 
sie  auf  den  Raum  deuteten,  sahen  in  diesem  entweder  eine  bloss 
subjective  Erscheinung,  oder  aber  eine,  wenn  auch  wesenlose, 
so  doch  objective  Form.  So  ergaben  sich  vier  verschiedene  Auf- 
fassungen. Die  erste  nähert  den  Plato  der  Stoa;  die  zweite  legt 
ihm  aristotelische  Auffassungen  unter;  die  vierte  macht  ihn  zu 
einem  subjectiven  Idealisten  des  achtzehnten  oder  neunzehnten 
Jahrhunderts;  nur  die  dritte  wird  seiner  Eigentümlichkeit  gerecht. 

Als  qualitätslosen  Körper  {aw(xa  äuotor)  fassten,  wohl 
unter  dem  Einfluss  verwandter  Anschauungen  in  ihrer  eigenen 
Lehre,  die  Stoiker  die  platonische  Lehre  und  nach  ihrem  Vor- 
gange der  Neuplatoniker  Pericles  aus  Lydien,  der  Schüler  des 
Proclus  ').  Eine  verwandte  Auffassung  begegnet  uns  bei  denjeni- 
gen Piatonikern,  welche,  wie  Plutarch  und  Atticus,  die  se- 
cundäre  Materie  mit  der  primären  identincieren,  in  der  Materie 
also  den  formlosen  Stoff  im  Sinne  einer  chaotischen  körperlichen 
Masse  erblicken  -).  Ganz  im  Einklänge  damit  steht  es,  dass  Plu- 
tarch bei  der  Beschreibung  der  platonischen  Materie  sich  der 
stoischen  Terminologie  bedient,  indem  er  die  Ausdrücke  Substanz 
und  Materie  als  gleichbedeutend  verwendet  2). 

')  Simpl.  phys.  I,  p.  227,  23:  «AA'  tnnd'tj  Tirn  xal  ordt  «!  Tvyövtt^  iv  (fiXo- 
/.uOuifin  TU  nPToioi'  fiitiua  Ti]v  n(i'int'aTi,r  rAijr  fivai  i^aoi  yai  xard  .■1(iiaT0if/.t;v  xni 
y.aia  II ?.dT mi^a ,  tnanf(>  tuiv  fiiv  naXaiinv  oi  ^Ttoixuf,  nor  i)i  i'hhv  UfQixÄfii  n  ^liutüf, 
xahiig  riv  i'yoi   fxvTTjV  t7ii(Jxc'>lia(r{hai   Tijv   ifö^av. 

')  S.  S.  143  Anm.  2. 

^)  Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  5,  p.  1014  B:  r»;r  ')/'  (jrai((r  xni  'i-h,i\   tS 

•>i<r  '/(yovfv.   p.  1014  D :   r/    LUV   ovv  aiöuarus    ovoia   liii  XfyofuVTii   vn'  artav   navthyort; 
(fr(jfii>(    y<f(>a(    Tf    x<(i    Ti{yt]rr,c:   twv  yfvvrjdiv   oi'y   htQu  rii;   f'nrir.      Dass   die   Materie 

für  Plutarch  nicht  mit  dem  Räume  zusammenfällt,    geht    aus  c.  (i,    p.    1014  E 
hervor,  wo  es  heisst.  die  Materie  besitze  Raum. 


Die  „primäre "  Materie  des  Timaeus.     Verschiedene  Ansichten.  153 

Nicht  viel  anders  als  jene  Stoiker  und  Pericles  der  Lyder 
scheint  die  grosse  Zahl  neuerer  Schriftsteller  die  Sache  sich  vor- 
gestellt zu  haben ,  welche  es  immer  und  inmier  wieder  betonen, 
dass  die  platonische  Materie  kein  Nichtseiendes,  nicht  der  blosse 
Raum,  sondern  ein  realer  Stoff  sei.  So  schon  Tennemann');  fer- 
ner HegeP),  Bonitz^),  Könitzer*),  Ebben^),  Strümpell*^), 
Überweg'),  Wohlstein^),  Schneider''),  Köstlin»"),  Peipers'^), 
Bassfreund '2),  Sartorius '3).  Bei  einem  Teile  dieser  Schrift- 
steller, wie  bei  Überweg  i^)  und  Bassfreund  i-^),  begegnen  wir  zwar 
der  Behauptung,  jener  platonische  Urstoff  sei,  obwohl  als  real, 
doch  nicht  als  körperlich  zu  denken,  da  die  Körperlichkeit  bereits 
eine  Formbestimmtheit  einschliesse.  Allein  da  diese  Schriftsteller 
den  aristotelischen  Begriff  der  Materie  als  der  blossen  Möglich- 
keit des  Körperlichen  mit  Recht  dem  Plato  noch  nicht  beilegen, 
so  bleibt  ihnen,  wollen  sie  anders  mit  der  von  ihnen  verfochte- 
nen  Auffassung  der  platonischen  Materie  als  eines  realen  Stoffes 
irgend  einen  Sinn  verbinden,  in  der  That  nichts  anderes  übrig, 
als  den  qualitätlosen  Körper  der  Stoiker  und  des  Lyders  Pericles 
für  die  Materie  Plato's  anzusehen. 

Die  gewöhnliche  Auffassung  des  Altertums  ist  eine  andere. 
Dieselbe  entstammt  dem  späteren  Syncretismus,  welcher  Platoni- 
sches und  Aristotelisches  unbefangen  verbindet.  Darnach  ist  die 
platonische  Materie  zwar  an  sich  ein  Nichts,  aber  ein  solches 
Nichts,  welches  zugleich  der  Möglichkeit  nach  alles  ist.  Unbe- 
fangen wird  hier  der  aristotelische  Begriff  des  potentiellen  Seins 
schon  auf  Plato  übertragen.    Nur  lässt  man  den  Plato  mehr,  als  es 


»)  System  der  Piaton.  Philos.  HL  S.  32. 
■')  Gesch.  d.  Philos.  II,  S.  ;231  f. 
^)  Quaestion.  Piaton.  duae  p.  65  f. 
*)  A.  a.  0.  S.  25  ffV 
*)  Fiat,  de  id.  doctr.  p.  57. 

«)  Gesch.  d.  theoret.  Philos.  d.  Griechen.  S,  144  f. 
')  Rhein.  Mus.  IX,  S.  59  ff. 
«)  A.  a.  O.  S.  13. 

3)  Die  Piaton.  Metaph.  S.  20  ff.  S.  151  ff. 

")  in  Schwegler's  Gesch   d.  griech.  Philos.  3.  Aufl.  S.  212.  214. 
")  David  Peipers,  Ontologia  Platonica,  p.  433. 
")  A.  a.  O.  S.  13  ff. 
'n  Philos.  Monatsh.  XXII,  S,  141  ff. 
»)  Rhein.  Mus.  IX,  S.  58. 
>^)  A.  a.  0.  S.  59  f. 


154  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

bei  Aristoteles  der  Fall,  die  Nichtigkeit  der  Materie  betonen.  Ist 
die  Materie  nach  Aristoteles  fast  ein  Sein  i),  so  soll  sie  bei  Plato 
mehr  als  Nichtsein ;  denn  als  Sein  gedacht  werden  '^).  So  stellt 
die  platonische  Materie  bei  dieser  Deutung  nichts  anderes  dar, 
als  die  noch  mehr  schattenhaft  gewordene  Hyle  des  Aristoteles. 
Die  Auffassung  ist ,  von  dem  einzigen  Pericles  dem  Lyder  abge- 
sehen ,  bei  den  Neuplatonikern  die  herrschende  ^).  Unter  den 
Neueren  kommen  ihr  nahe:  Stallbaum,  welcher  in  der  Ma- 
terie die  in  dem  höchsten  Princip  vorhandene  doppelte  Potenz 
erbhckt,  aus  sich  einmal  die  begrenzte  intelligibele  Natur,  d.  h. 
die  Ideen,  dann  deren  Abbild,  die  Sinnenwelt,  zu  erzeugen*); 
Fouillee,  der  sie-"")  als  die  ideale  Möglichkeit  der  Welt*^),  d.  i.  als 
die  mit  dem  Vorhandensein  des  positiven  Principes ,  des  Guten, 
von  selbst  gegebene  Möglichkeit  seines  negativen  Gegenteils,  be- 
trachtet'), sowie  Teichmüller,  nach  dem  die  Materie  ein  positi- 
ves Sein,  nämlich  das  Vermögen  (dvraiJiig) ,  d.  h.  die  auf  den 
Zweck  bezogene  Natur,  sein  soll  ^). 

Den  angeführten  Auffassungen  ist  das  miteinander  gemein, 
dass  nach  ihnen  Plato,  wenn  er  die  Materie  als  den  Raum  be- 
zeichnet, hierin  nicht  das  Wesen  der  Materie,  sondern  nur  eine 
relative  Eigenschaft  derselben  angiebt.  Er  soll  sie  so  bezeich- 
nen  nur    aufgrund   ihres  Verhaltens  gegenüber  den  in  sie  eintre- 


1)  iyyvs  ovaia  ntog  Arist.  phys.  I  9,  192  a  6. 

^)  Schon  Aristoteles  hatte  den  Unterschied  der  beiderseitigen  Ansichten 
dahin  bestimmt;  phys.  1  9,  192  a  3  ff. 

^)  Statt  aller  möge  Ghaicidius  genannt  werden,  der  die  platonische 
Lehre  (iuxta  Platonici  dogmatis  auctoritatem,  in  Tim.  c.  321)  dahin  erklärt: 
Neque  corpus  neque  incorporeum  quiddam  posse  dici  simpliciter  puto  (sc.  sil- 
vam),  sed  tarn  corpus  quam  incorporeum  possibilitate  (in  Tim.  c.  319). 

*)  In  seiner  Ausgabe  des  Parmenides,  S.  137  f.  (Vgl.  auch  Jahn's  Jahrb. 
f.  Phil.  u.  Päd.  Bd.  35  (1842)  S.  64  und  die  Ausgabe  des  Timaeus  S.  44).  Ganz 
neuplatonisch  wird  dort  eine  doppelte  Materie  unterschieden ,  die  intelligibele 
und  die  der  Sinnendinge ,  von  denen  die  eine  Mögliciikeit  der  Idee,  die  andere 
Mögliclikeit  der  Sinnendinge  ist.  Im  Unterschiede  vom  Neuplatonismus  aber 
werden  beide  Möglichkeiten  mit  der  Schöpferkraft  des  ersten  Principes  iden 
tificiert. 

^)  unter  Berufung  auf  Theaet.  176  A. 

®)  Philos.  de  Piaton.  I  547 :  la  matiere  indeterminee,  ou  la  possibilite  ideale 
du  monde. 

')  A.  a.  O.  S.  551—553. 

«)  Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.  S.  332  ff. 


Die  „primäre"  Materie  des  Timaeus.     Verschiedene  Ansicliten.  155 

tenden  Formen.     Für  diese   bilden   sie    den   Aufnahnieort ,    ohne 
dass  darum  ihr  Wesen  im  Begriffe  des  Raumes  aufginge. 

Dem  gegenüber  hat  Boeckh  den  natürhehen  Sinn  von  Plato's 
Worten,  an  dem  auch  Aristoteles,  der  beste  Gewährsmann,  ent- 
schieden festhält  1),  energisch  geltend  gemacht.  Nach  ihm  ist  die 
platonische  Materie ,  dem  Wortlaute  des  Timäus  entsprechend, 
eben  nichts  anderes  als  der  Raum  ,  in  den  die  Dinge  mit  ihrer 
körperlichen  Form  und  ihrem  körperlichen  Stoff  eintreten  ^).  Der 
von  Boeckh  ausgesprochene  Gedanke  erfuhr  in  der  Folgezeit  ver- 
schiedene Wendungen ,  je  nachdem  der  Begriff  des  Raumes  ge- 
fasst  wurde. 

Einige  wenige  Historiker  meinten,  bei  Plato  bereits  ähnliche 
Speculationen  über  die  Subjectivität  unserer  Raumanschauung  vor- 
aussetzen zu  dürfen,  wie  sie  in  der  modernen  Philosophie  hervor- 
getreten sind.  So  schreckt  Lichtenstädt  nicht  vor  der  Behaup- 
tung zurück  ,  es  „sei  in  Kant's  Beweise,  dass  die  Begriffe  von  Zeit 
und  Raum  ursprünglich  einwohnend,  kaum  etwas  enthalten,  was 
nicht  in  Plato's  Darstellung  ebenfalls  aufgefasst  wäre"  ^).  Dage- 
gen nähert  die  Art  und  Weise,  wie  Ritter*)  und  nach  ihm  Fries  ^) 
die  sinnliche  Vorstellung  bei  Plato  als  etwas  bloss  Subjectives  zu 
erweisen  suchen,  diesen  mehr  dem  Leibniz  an. 

Es  wird  nicht  nötig  sein,  auf  diese  gänzlich  unhistorische  Ansicht, 
die  nichts  in  den  platonischen  Schriften  für  sich  anführen  kann, 
des  näheren  einzugehen.  Sie  ist  von  mehreren  genügend  wider- 
legt worden  ^). 

Boeckh's  Gedanken  in  dem  ursprünglichen  Sinne  dagegen  ha- 
ben namentlich  Zeller'')  und  Susemihl*}  weiter  fortgeführt  und 
tiefer  begründet.  Mit  ihnen  stimmen  im  ganzen  überein:  Bran- 
dis«).   Steinhart  10),    Bobertagi») ,  Ribbing '2),  Siebeck  i^), 

')  Vgl.  Zeller  IP  a,  614  f. 

')  Weltseele  im  Tim.  S.  26. 

')  Lichtenstädt,  Plat.  Lehren  auf  d.  Geb.  d.  Naturf.    S.  55. 

*)  Gesch.  d.  Philos.  II,  S.  374  ff. 

5)  Gesch.  d.  Philos.  Bd.  I  (Halle  1837).  S.  295.  306.  336.  357. 

6)  Vgl.  Brandis,  Griech.-röm.  Phil.  II  a,  296  f.    Zeller  IP  a,  616  ff. 
')  Piaton.  Stud.  S.  212,  Phil.  d.  Gr.  II»  a,  609. 

8)  Genet.  Entwickel.  II,  405  ff. 

«)  Griech.-röm.  Phil.  II  a,  301  fdoch  vgl.  S.  305  Anm.  11). 
1«)  Plato's  Werke  VI,  118. 
")  A.  a.  0.  S.  40. 
")  Genet.  Darstell,  d.  Plat.  Ideenlehre  I,  333  f.  —  »")  Forschungen  S.  107  ff. 


150  Zweiter  Absclinitl.     Plato. 

Heinze'),     wie     es    scheint     auch     Martin  2)     und    (teilweise) 
Jackson  ^). 

h.  Die  platonische  Materie  ist  weder  die  qualitativ  uiibe- 

stiiuiute  körperlielie  Substanz;,    nocli   die  9Iögliclikeit 

der  körperlichen  Kubstanz. 

Sowohl  diejenigen,  welche  in  der  platonischen  Materie  die 
qualitativ  noch  unbestimmte,  aber  substantial  vollendete  körper- 
liche Substanz  erblicken ,  als  auch  diejenigen ,  welche ,  wie  Stall- 
baum ,  Überweg ,  Bassfreund  und  Teichmüller ,  zwar  die  Körper- 
keit  der  platonischen  Materie  bestreiten,  indem  sie  ihren  Begriff 
mehr  oder  minder  dem  aristotelischen  annähern,  aber  in  dieser 
Möglichkeit  doch  etwas  vom  leeren  Räume  zu  Unterscheidendes 
erblicken,  können  ihre  Ansicht  nur  dann  durchführen,  wenn  sie 
nachweisen ,  dass  der  Materie  eine  von  den  Ideen  sowohl  wie 
von  der  blossen  Form  der  Räumlichkeit  verschiedene  Wesenheit 
zukomme.  Selbst  die  Neuplatoniker,  denen  jene  Materie  nur  der 
Wirklichkeit  nach  nichts,  wohl  aber  der  Möglichkeit  nach  ein 
Sein  ist,  müssen  in  ihr  irgend  welche  vom  leeren  Räume  ver- 
schiedene Eigentümlichkeit,  oder  wie  immer  man  es  nennen  mag; 
aufweisen. 

In  der  That  hat  man  verschiedene  Gründe  dafür  vorgebracht, 
dass  Plato  der  Materie  eine  solche  besondere  Wesenheit  beilege : 

1.  Die  Materie  wird  von  Plato  ganz  wie  ein  realer  Stoff  be- 
schrieben. Sie  soll  ein  ,, dieses",  soll  das  den  sogenannten  Ele- 
menten zugrunde  liegende  Unveränderliche  und  Bleibende  sein 
(49  B  ff,);  sie  wird  als  bildsame  Masse  bezeichnet,  die  fähig  sei. 
Abdrücke  in  sich  aufzunehmen  (50  D);  sie  w^ird  ferner  verglichen 
mit  dem  Golde,    aus  dem  allerhand  Figuren  geformt,    mit    einer 


')  in  Überweg's  Gesch.  d.  Philos.  7.  Aufl.  Berlin  1886.  S.  167. 

»)  Etudes  I,  17;  11,  176  f. 

3)  Im  Journal  of  Philosophy  XIII  (1885)  S.  18  will  Jackson  die  Lehre  des 
Timaeus  mit  der  des  Philebus  in  dieser  Weise  combinieren:  Space  impressed 
with  certain  regulär  figures  supplies  indeterminate  qualities,  from  which  as 
materials,  certain  quantities,  acting  as  forms,  develop  organisms  more  or 
less  perfect  according  as  those  quantities  more  or  less  closely  approximate  to 
certain  Standards. 


Die  plat.  Materie  iiit-ht  die  qualitativ  unhestiniiiite  icörperl.  Sul)stanz.      157 

weichen  Masse,    aus    der   ein  Bildwerk  modelliert,   mit  dem  Öle, 
dem  ein  Wohlgeruch  mitgeteilt  werden  soll  (50  A  ff.)')- 

2.  Wäre  die  Materie  für  Plato  nicht  eine  positive  Wesen- 
heit, so  müsste  sie  an  Realität  noch  unter  der  Erscheinungswelt 
stehen.  Denn  wenn  schon  die  Erscheinungswelt  die  verschwin- 
dende Realität,  welche  ihr  zu  eigen  ist,  nur  durch  die  Teilnahme 
an  den  Ideen  erlangen  soll ,  so  nmss  die  Materie ,  falls  sie  nicht 
aus  sich  eine  eigentümliche  Realität  besitzt,  aller  Realität  bar, 
und  deshalb  eben  so  tief  unter  die  Erscheinungswelt ,  wie  diese 
unter  die  Ideenwelt  gestellt  sein.  In  Wirklichkeit  aber  schreibt 
der  Timaeus  der  Materie  einen  ungleich  höheren  Grad  von  Rea- 
lität zu  als  der  Erscheinung.  Sie  ist  Substanz  (lovro),  diese  Acci- 
dens  (zoiovTov  49  D).  Der  wechselnden  Erscheinung  steht  sie 
als  das  Beharrliche  und  sich  selbst  Gleiche  gegenüber  (50  B). 
Sie  ist  die  Bedingung,  diu'ch  welche  das  Sein  der  Erscheinung 
überhaupt  erst  möglich  wird  (52  C)  *).  .Ja,  der  Timaeus  schreibt  ihr 
sogar,  wie  wenigstens  Teichmüller  ä)  behauptet,  ausdrücklich  We- 
sen (ovOia)  zu. 

3.  Aber  nicht  nur  der  Erscheinung  gegenüber  legt  Plato 
der  Materie  einen  höheren  Grad  von  Realität  bei;  er  stellt  sie 
sogar  den  Ideen ,  zwar  nicht  als  ebenbürtig ,  aber  doch  als  ver- 
wandt zur  Seite.  Die  Materie  soll,  wenn  auch  in  etwas  anderer 
Weise  als  die  Ideen,  intelligibel  und  ausschliesslich  durch  eine 
logische  Operation  erfassbar  sein  *).  Ebenso  hat  sie  ihre  eigene 
Kraft,  die  der  Einwirkung  des  Weltbildners  resp.  der  Ideen  ge- 
genüber durchaus  selbständig  sich  geltend  macht.  Denn  wenn 
es  von  der  Materie  heisst,  dass  sie  von  der  Vernunft  überredet 
wird,  dass  sie  nur  von  der  vernünftigen  Überredung  überwunden 
das  Meiste  zum  Guten  führe  (48  A.  56  G),  so  wird  ihr  damit  eine 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständige  Macht  zugeschrieben. 
Es  ist  dasselbe  Verhältnis  zwischen  Vernunft  und  Notwendigkeit, 
wie  wenn  der  Mensch  die  Naturkräfte  sich   dienstbar  macht ,  in- 


>)  Bonitz  S.  65  Anm.  8.    Überweg  S.  60.     Teichmüller  S.  333  ff.    Köstlin- 
Schwegler  S.  213.    Schneider  S.  21.     Bassfreund  S.  17.  52.     Sartorius  S.  151. 
')  Bassfreund  S.  23.    Sartorius  S.  151.    Vgl.  Zeller  IP  a,  622. 
")  A.  a.  0.  S.  3.5.5. 
*)  Bassfreund  S.  224,  der  sich  dafür  auf  51  B:    ^l^^a/un^^llv<>^•  <U  djnux/tjaiii 

II Ij   zur    fotito?   und   52   B:    «r'/ii    Ufj'   (ivaialhi^aim;   ü/iiuv   /.ir/tauiu    riii    vuDui    Ijcruft. 


ir)S  Zweiter  Ah.-chnitt.     I'Jato. 

dem  er  sich  den  Gesetzen  derselben  anpasst ').  Wenn  ferner  die 
Materie,  das  der  Sinnenwelt  zugrunde  liegende  Substrat,  von 
Plato  als  die  mit  den  Ideen  zusammenwirkende  Mitursache  be- 
zeichnet wird  (40  C.  68  E),  so  legt  er  derselben  auch  hier  eine 
eigene  Kraft  bei  und  bezeichnet  sie  dadurch  offenbar  als  etwas 
Wirkungskräftiges,  Reales;  denn  wo  die  Wirkung  —  hier  die 
Sinnenwelt  —  etwas  Reales  ist,  da  muss  auch  die  Ursache  etwas 
Reales  sein  ^).  Unerklärlich  endlich  wäre  es,  wie  die  Bewegungen 
der  Seele  durch  die  körperlichen  Bewegungen  gestört  werden 
sollen  (43  A  ff.),  wenn  der  Stoff  nicht  eine  dem  Idealen,  wozu 
auch  die  Seele  gehört,  entgegengesetzte  Kraft  besässe  ^). 

Keiner  dieser  angeführten  Gründe  ist  stichhaltig  *).  Der 
Mehrzahl  ist  schon  durch  unsere  obige  Analyse  des  betreffenden 
Timaeusabschnittes  der  Boden  entzogen  worden. 

1.  Die  Behauptung,  dass  die  Materie  von  Plato  ganz  wie  ein 
realer  Stoff  beschrieben  werde,  verkennt  die  Absichten,  von  wel- 
chen gemäss  dem  Zusammenhange  die  angezogenen  Ausführun- 
gen geleitet  werden.  Aus  Vergleichen  presst  man  Lehrbestim- 
mungen heraus,  die  über  den  Vergleichungspunct  völlig  hinausge- 
hen; polemische  Ausführungen  beutet  man  in  der  Weise  aus, 
dass  alle  nicht  mit  ausdrücklichen  Worten  zurückgewiesenen  Ele- 
mente der  bekämpften  gegnerischen  Anschauungen  ohne  weiteres 
den  positiven  Überzeugungen  Plato's  zugerechnet  werden;  man- 
chen Worten  legt  man  eine  in  bestimmter  Weise  präcisierte  Be- 
deutung bei,  wo  doch  der  Zusammenhang  entweder  eine  allge- 
meinere Fassung  oder  wenigstens  eine  andere  Nuancierung  als  die 
angenommene  an  die  Hand  giebt. 

Die  Naturphilosophen  bekämpft  Plato  zwar  zunächst  nur  so, 
dass  er  ihre  Aufstellung  bestreitet,  ein  bestimmtes  Element  oder 
mehrere  bestimmte  Elemente  seien  letzter  Urgrund    des  körper- 


*)  Schneider  S.  22  ff.  Vgl.  A.  Trendelenburg,  Historische  Beiträge  zur 
Philosophie,  II,  S.  128  f. 

*)  Schneider  S.  21. 

«)  Schneider  S.  151  f. 

■*)  Auf  die  Argumentationen  von  Teichmüller  S.  337  f.  näher  einzugehen, 
dürfte  ül)erflüssig  sein.  Was  er  über  Arianismus,  Athanasianismus,  Im- 
maculata (lonceptio  u.  dgl.  vorbringt,  sind  mit  Gewalt  herl)eigezogene,  nichts 
beweisende  Analogien,  die  zumteil  (das  über  die  Immaculata  Conceptio  Ge- 
sagte) die  sonderbarsten  Missverständnisse  enthalten. 


Die  plat.  Materie  nicht  Jie  (jualitativ  unbestimmte  kürperl.  Substanz.     159 

liehen  Seins,  ohne  dass  er  ihnen  auch  darüber  hinaus  noch  ent- 
gegen hielte,  der  letzte  Urgrund  sei  überhaupt  kein  körperlicher 
StofiF.  Aber  jenes  konnte  er  aus  dem  eigenen  Standpuncte  der 
fraglichen  Philosophen  darthun ,  die  ja  die  fortwährenden  Über- 
gänge der  Elemente,  auf  welche  Plato  seine  Einwendungen  stützt, 
ausdrücklich  anerkannten  ^) ;  dass  dagegen  das  allen  Stoffen  zu- 
grunde Liegende  nicht  selbst  ein  Stoff,  sondern  der  Raum  sei, 
ergab  sich  erst  aus  der  Anknüpfung  an  die  Ideenlehre,  brauchte 
also  bei  jener  immanenten  Kritik  noch  nicht  berücksichtigt  zu 
werden. 

Wenn  dann  das  allen  Stoffen  zugrunde  Liegende  als  ein 
dieses  bezeichnet  und  als  solches  dem  so  beschaffenen  ent- 
gegengesetzt wird ,  so  bedeutet  das ,  wie  oben  *)  gezeigt  wurde, 
nicht  den  Gegensatz  von  Substanz  und  Accidenz,  sondern  von 
Bleibendem  und  Wechselndem.  Das  Bleibende ,  Unveränderliche 
der  Trägerin  aller  wechselnden  Formen  aber  wird  von  Plato 
ausdrücklich  darein  gesetzt,  dass  dieselbe  in  ihrer  Aufnahmefähig- 
keit für  die  in  stetem  Wechsel  eintretenden  Formen  niemals  eine 
Einbusse  erleide  (49  B — G)  ^).  Es  braucht  wohl  nicht  erinnert 
zu  werden,  dass  alles  das  auf  den  leeren  Raum  eben  so  gut 
oder  besser  noch  Anwendung  findet,  als  auf  einen  besonderen 
raumerfüllenden  Stoff. 

Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  Plato  die  Materie  mit  dem  Golde 
vergleicht,  das  alle  möglichen  Formen  annehme,  oder  wenn  er 
sie  figürlich  als  „bildsame  Masse"  {ix(^iayt:To%)  bezeichnet.  Denn 
nicht  in  der  Stofflichkeit  liegt  hier  der  Vergleichungspunct,  son- 
dern vielmehr  darin ;,  dass  auf  beiden  Seiten  die  Aufnahmefähig- 
keit für  Neues  unter  allen  Wandlungen  unverändert  gewahrt 
bleibt  *).  Auch  die  Vergleiche  mit  dem  geruchlosen  Öl ,  das  zur 
Salbenbereitung  benutzt  wird,  mit  dem  geglätteten  weichen  Stoffe, 
dessen  der  Modellierer  sich  bedient,  haben  keinen  anderen  Zweck, 
als  zu  zeigen,  dass  die  zu  untersuchende  Grundlage  des  körper- 
lichen Seins  nur  dann  ihre  Function,  alle  Formen  aufzunehmen, 
erfüllen  könne ,  wenn  sie  nicht  schon  vor  der  Aufnahme  eine 
derartige  Form  besitze  ^). 


1)  S.  S.  126  Anm.3. 

»)  S.  S.  128  f. 

^)  S.  S.  129  f.  —  *)  S.  S.  129  f.  —  ')  S.  S.  132. 


KiO  Zweiter  Alischnitt.     Pluto. 

Dass  freilich  die  secundüre  Materie,  der  Sichtbarkeit  und 
unj^eregelte  Bewegung  zugelegt  wird ,  bei  Plato  ganz  als  realer 
Stofl'  erscheint,  soll  nicht  in  Abrede  gestellt  werden.  Aber  dieselbe 
ist  ja  weder  mit  der  primären  identisch,  noch  darf  sie  überhaupt, 
wie  oben  gezeigt  wurde,  unter  die  eigentlich  philosophischen 
Begriffe  des  platonischen  Systems  gerechnet  werden. 

2.  Ebenso  ist  es  unrichtig,  dass  Plato  der  Materie  einen  hö- 
heren Grad  von  Realität  beilege,  als  der  Erscheinungswelt.  Be- 
reits oben  wurde  bemerkt,  dass  der  Gegensatz  des  „dieses"  und 
des  „so  beschaffenen"  keineswegs  mit  dem  von  Substanz  und 
Accidenz  gleichgesetzt  werden  dürfe.  Die  Beharrlichkeit  und  die 
UnVeränderlichkeit  der  Materie  aber  ist  von  Plato  selbst,  wie 
dort  gleichfalls  bemerkt  wurde,  dahin  bestimmt  worden,  dass  die 
Materie  durch  keine  aufgenommene  Form  innerlich  determiniert 
werde ;  sondern  unverändert  ihre  Natur  bewahre,  Aufnehmerin 
von  allem  zu  sein.  Was  steht  nun  höher,  die  niemals  erfüllte, 
stets  nach  der  Form  verlangende,  in  ihrer  inneren  Leere  stets 
sich  gleichbleibende  Materie,  oder  das  Sinnending,  welches  doch 
eine  wenigstens  zeitweilig  bestehende  Form,  das  Nachbild  der 
ewigen  Idealformen,  einschliesst? 

Und  ferner  ist  es  freilich  wahr ,  dass  die  Materie  bei  Plato 
als  Bedingung  betrachtet  wird,  ohne  welche  das  Sein  der  Erschei- 
nung nicht  möglich  ist.  Aber  keineswegs  muss  darum  diese  Be- 
dingung mehr  Sein  haben  als  das  Bedingte,  welchem  sein 
Sein  vielmehr  aus  der  Idee  zuströmt.  Eine  helle  Zeichnung  ist 
nur  sichtbar  auf  dunklem  Grunde ;  und  doch  hat  dieser ,  obwohl 
Bedingung  für  die  Sichtbarkeit  der  hellen  Zeichnung,  nicht  etwa 
mehr  Licht  als  jene.  Die  Erscheinung  als  Abbild  {slxwv)^  führt 
Plato  aus,  hat  nicht  wie  die  Idee,  das  wahre  Sein,  nämlich  das  In- 
sichsein ;  ihr  eignet  die  niedere  Seinsstufe  des  Seins  in  einem 
Anderen,  dem  Räume  nämlich  (52  B— G).  Setzt  somit  die 
Erscheinung  dieses  Andere  —  den  Raum  —  in  der  That  voraus, 
so  tritt  dasselbe  gleichwohl  nicht  als  bewirkende  Ursache  des 
Seins  der  Erscheinung  auf.  Nach  dem  alten  Satze ,  dass  nichts 
in  der  Wirkung  sich  findet,  was  nicht  auch  in  der  Ursache  ent- 
halten ist,  müsste  es  in  diesem  Falle  freilich  mehr  Sein  haben, 
als  die  Erscheinung.  Es  ist  vielmehr  die  Schranke,  an  welche 
die  Hervorbringung  des  Seins  gebunden  ist ;  denn  in  dem  Sein 
in  einem  Andern ,    in    der  Räumlichkeit   der  Erscheinung  besteht 


Die  plat,   Materie  nicht  die  ([ualitativ  unheslimmte  körperl.  Substanz.     IGl 

nicht  die  Stärke,  sondern  die  Schwäche  ihres  Seins.  Jene  Be- 
weisführung ist  also  daritin  fehlerhaft,  weil  sie  für  die  Bedingung 
des  Wirkens  geltend  macht,  was  nur  auf  die  bewirkende  Ursache 
zutrifft. 

Indes  sind  diese  Ausführungen  noch  immerhin  beachtens- 
wert. Wenn  aber  Teichmüller  behauptet ,  dass  Plato  auch  im 
Timaeus  der  Materie  Wesen  (ovaia)  zuschreibe,  so  misskennt  er 
den  klaren  Sinn  einer  Stelle,  deren  Bedeutung  schon  von  Martin 
gegen  Cousin  klargestellt  war  '). 

3.  Noch  viel  weniger  ist  es  wahr,  dass  die  Materie  bei 
Plato  hinsichtlich  ihrer  Realität  den  Ideen  angenäliert  werde. 
Schon  die  Behauptung,  dass  Plato  die  Materie  hinsichtlich  ihres 
intelligibelen  Gharacters  nahezu  den  Ideen  gleichsetze,  stützt  sich 
auf  übel  gedeutete  Stellen.  Wie  früher  gezeigt  wurde,  ist  an  der 
einen  gar  nicht  von  der  Erkennbarkeit  der  Materie  die  Rede  2), 
während  die  andere  eher  dafür  spricht,  dass  Plato  die  Materie 
als  etwas  Nichtseiendes,  denn  dass  er  sie  als  etwas  Seiendes  be- 
trachte 3). 

Dass  aber  alle  die  Stellen,  an  welchen  das  Materielle  als  die 
von  der  Vernunft  überredete  Notwendigkeit,  als  Mitursache  u. 
dgl,  bezeichnet  wird,  keineswegs  auf  eine  der  Materie  innewoh- 
wende  Kraft  hindeuten,    ist    oben*)  weitläufig  auseinandergesetzt 


1)  Teichmüller  gieht  zwar  nicht  an,  auf  welche  Stelle  des  Timaeus  er  seine 
Behauptung  stützt;  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  aber  hat  er  Tim.  52  C:  ovaiag 
äfiaiQ  yi  nwg  dvTexo,uevijv  im  Sinn.  Zu  dieser  Stelle  aber  bemerkt  sclion  Mar- 
tin (Etudes  II,  p.  178  note  62;:  D'apres  la  traduction  de  M.  Cousin,  les  mots 
fjtfie'xovai  Tr,s  ovaiag  (ungenaues  Gitat!}  signifieraient  que  les  choses  sensibles 
participent  ä  la  substance  du  lieu.  Mais  jamais  Piaton  ne  s'  est  servi  du 
mot  ovaia  pour  designer  la  substance  indeterminee  qu'  il  nomme  lieu  rönus, 
Xc'Qc,  vnoxd/xevor.  Odei'  sollte  Teichmüller  an  Tim.  35  A  denken,  wo  unter 
den  Elementen  der  Seele  auch  7}  7it(>l  r«  aa\attTa  yiyvoinevii  {oi'aia)  angeführt 
wird?  Aber  hier  ist  unter  dem  Ausdruck  nicht  die  Materie  verstanden;  vgl. 
Susemihl,  Genet.  Entwickel.  II,  352. 

■')  Tim.  51  B,  wozu  vgl.  S.  133  Anm.  2. 

^)  Tim.  52  B,  wozu  vgl.  137  f.  Der  Gegner  möge  sagen,  wie  denn 
Plato  ein  Nichtreales  solle  erkannt  werden  lassen.  Man  sieht  es  nicht;  ei- 
gentlich denken  kann  man  es  auch  nicht,  da  alles  Denken  auf  ein  Etwas  geht. 
So  bleibt  nur  eine  nicht  näher  zu  qualificierende  Abart  des  Denkens:    der   Ao- 

*)  S.  S.  117  ff.    Vgl.  auch  Deuschle,  der  plat.  Politikos,  S.  26-28. 

Baeumker:    Das  Problem  der  Materie  etc.  11 


163  Zweiter  Abschnitt.     Plalo. 

worden.  Es  wurde  dort  gezeigt,  dass  jene  Ausdrücke  nicht  besa- 
gen, das  Körperliche  sei  Wirkursache,  sondern  viehnehr,  es  sei 
notwendige  Voraussetzung  für  das  Wirken  des  Geistigen. 

Die  körperlichen  Bewegungen  endlich ,  durch  welche  die  rei- 
nen Bewegungen  der  Seele  gestört  werden  sollen  —  gemeint  ist 
der  Strom  des  Werdens ,  dei'  bei  der  Nahrungsaufnahme  ,  beim 
Wachsen  und  Abnehmen,  bei  der  sinnlichen  Wahrnehmung  u.  s. 
w.  den  Körper  durchfliesst  *)  —  werden  nicht  unmittelbar  aus 
der  Materie  abgeleitet,  sondern  den  durch  das  Eintreten  der  For- 
men gebildeten  Körpern  zugeschrieben ,  deren  körperliche  Reali- 
tät ja  nicht  in  Frage  steht.  Sie  können  also  als  Beleg  für  eine 
der  blossen  Materie,  welche  schon  vorgängig  zu  jenen  Formen 
da  ist,  innewohnende  Kraft  nicht  angeführt  werden  ^). 

Keineswegs  also  steht  für  Plato  die  Materie  über  der  Erschei- 
nungswelt, den  Ideen  zunächst;  vielmehr  lässt  sich  umgekehrt 
zeigen,  dass  er  sie  in  Wahrheit  sogar  noch  unter  die  Erschei- 
nungswelt hinabdrückt.  Sie  ist  ihm  etwas  schwer  Erreichbares 
{Sracikonoi'  51  B),  kaum  Glaubhaftes  (f-iöyig  thOtöv  5i2  B),  eine 
schwierige  und  dunkle  Gattung  {xakmöv  xal  df^iv^gov  eUog  49  A), 
nur  durch  einen  unechten  Schluss  zu  fassen  (52  B),  Unstreitig 
steht  also  ihre  Erkennbarkeit  noch  unter  der  Wahrnehmung  und 
Vorstellung,  dem  Glauben  oder  Meinen,  wodurch  die  Sinnenwelt 
erkannt  werden  soll.  Nun  verhalten  sich  aber  nach  einem  von 
Plato  des  öfteren,  und  zwar  auch  im  Timaeus,  eingeschärften 
Grundsatze  die  01)jecte  der  Erkenntnis  zu  einander^  wie  die  Er- 
kenntnisarten ,  durch  welche  sie  erfasst  werden  ^).  Es  muss  also 
auch  die  Materie ,  als  Object  der  vom  AVissen  und  Begreifen  am 
weitesten  entfernten  Erkenntnis ,  noch  unter  der  Sinnenwelt  ste- 
hen, von  der  es  doch  noch  wenigstens  ein  Meinen  und  Glauben 
ffiebt  *). 


*)  Vgl.  Ps.-Hippocr.  de  diaeta  I,  c.  0 — 7. 

^)  Wollte  man  erwidern,  nach  unserer  Auffassung  seien  diese  Körper 
doch  nur  mathematische  Gebilde,  könnten  also  auf  die  Seelenbewegungen  kei- 
nen störenden  Einfluss  ausüben,  so  wird  später  gezeigt  werden,  dass  gerade  in 
dieser  Gleichsetzung  des  mathematisclien  und  des  physischen  Körpers  der  aucii 
von  Aristoteles  hervorgehobene  Fehler  Plato's  besteht. 

■')  Tim.  20  B  ff.  51  D  und  besonders  rep.  V,  477  ff. 

*)  Besonders  schlagend  ist  folgender  Gegensatz.  Die  Sinnenwelt  soll  nacli 
Tim.  29  G  37  B  (vgl.  rep.  VI,  511  E;  533  E)  durch  Tz/ar^- erkannt  werden.  Die 
Materie  dagegen  bezeichnet  derselbe  Timaeus  52  B  als  /nöyK;  maiüv. 


Die  plat.  Materie  nicht  die  qualitativ  unbestimmte  körperl.  Substanz.     163 

Die  Gründe  also ,  auf  die  hin  man  der  platonischen  Materie 
ein  vom  Räume  und  von  den  Ideen  verschiedenes  Sein  glaubte 
beilegen  zu  müssen,  haben  sich  uns  sämtlich  als  unstichhaltig 
erwiesen. 

Aber  nicht  nur,  dass  jene  Ansicht  durch  die  Ausführungen 
Plato's  nicht  gefördert  wird;  sie  sieht  vielmehr  mit  diesen  in 
mehrfachem  Widerspruch.  Am  stärksten  Verstössen  natürlich 
gegen  Plato's  Sinn  und  Geist  nicht  nur,  sondern  auch  gegen  seine 
Worte  diejenigen,  welche  unter  seiner  Materie  den  qualitätslosen 
Körper  verstehen;  doch  auch  die,  welche  jene  als  die  Möglich- 
keit der  Körper  deuten,  misskennen  seine  historische  Stellung 
und  tragen  Fremdes  in  ihn  hinein. 

Die  platonische  Materie  ist  nicht  der  qualitätslose  Kör- 
per.   Denn 

1.  Wäre  die  Materie  der  bestimmungslose  körperliche  Stoff, 
so  wäre  sie  reale  Substanz  {ovOia).  Wenn  diese  Substanz  auch 
der  Qualitäten  und  der  läumlichen  Bestimmung  entbehrte,  so 
würde  sie  andererseits  dem  Werden  und  Vergelien  gänzlich  ent- 
nommen sein.  Als  solche  aber  stände  sie  hoch  über  den  wech- 
selnden und  vergehenden  Sinnendingen ;  sie  befände  sich  in  der 
nächsten  Nachbarschaft  der  Ideen.  Xun  sahen  wir  zwar,  dass 
von  den  Anhängern  jener  Auffassung  in  der  That  diese  Conse- 
quenz  gezogen  und  als  platonische  Lehre  hingestellt  ist.  Oben 
aber  wurde  die  Unrichtigkeit  dieser  Behaujjtung  nachgewiesen 
und  gezeigt,  dass  che  Materie  für  Plato  vielmehr  umgekehrt  noch 
unter  der  Erscheinungswelt  stehe. 

2.  Es  lässt  sich  nicht  leugnen ,  dass  der  Körper ,  mag  er 
auch  qualitätslos  gedacht  werden,  eine  bestimmte  Art  des  Seins 
ist.  Davon  aber  müsste  es  ,  wie  schon  Simplicius  dem  Pericles 
einwendet  ij,  einen  Begrilf,  eine  Definition,  ein  positives  Denken 
geben;  von  einem  „unechten  Denken"  {avJdoyiOfxog  rö^og)  könnte 
nicht  mehr  die  Rede  sein. 

3.  Plato  bezeichnet  die  Materie  ausdrücklich  als  das,  was 
alle  Körper  in  sich  aufnimmt  (cfvOtg  nüvxa  zd  aüinara  Sexofxevr) 
50  Bi.  Mag  auch  dieser  Gedanke  immerhin  proleptisch  aufzufas- 
sen sein:  das,  was  die  Formen  aufnimmt,  so  dass  dadurch  die 
Körper  entstehen  '^)  \   jedenfalls  beweist  er,  dass  die  Materie  nicht 


^)  Simpl.  phys.  1,'p   2^9,  1.  —  ^j  S.  S    132  Anm.  1. 

11 


164  Zweiter  Ahsclinitl.     Plato. 

selbst  K()ipei-  sein  kiJnue.  Wenn  ferner  Plato,  wie  wiederum  be- 
reits Simplicins  jj^eltend  macht '),  die  Flächen  den  lu'u'pern  ^'e^^en- 
iibcr  als  das  Frühere  belraclitel  (53  C),  so  würde  auch  damit 
die  Annahme,  es  sei  schon  die  jene  Flächen  aufnehmende  Ma- 
terie Körper,  im  Widerspruch  stehen. 

4.  Nicht  ein  stringenter  Beweis ,  wuld  aber  ein  Wahrschein- 
lichkeitsgrund dürfte  durch  folgende  Überlegung  geboten  werden. 
Wir  finden  bei  Plato  die  auffallende  Beliauptung,  dass  Leichtig- 
keit und  Schwere  keine  absoluten,  sond-ern  nur  relative  Bestim- 
mungen seien.  Ivleinere  Massen  eines  Elementes  sollen  sich  näm- 
lich stets  nach  der  Hauptmasse  desselben  hinbewegen.  Da  nun 
die  Hauptmassen  der  Erde  und  des  Feuers  sich  an  entgegenge- 
setzten Orten  der  Erde  befinden;  so  müssen  kleinere  Erdteile,  die 
durch  eine  hebende  Kraft  von  der  Erde  entfernt  wurden,  sich, 
sobald  sie  nicht  mehr  unterstützt  werden,  auf  diese  zu  bewegen 
und  daher,  vom  Standpuncte  eines  auf  der  Erde  befindlichen  Be- 
obachters aus  gerechnet,  nach  unten  fallen,  d.  h.  als  schwer  erschei- 
nen. Ebenso  müssen  in  der  Erdnähe  befindliche  kleinere  Massen  Feuer 
sich  von  der  Erde  weg  zu  dem  Hauptsitz  des  Feuers  begeben. 
Für  einen  irdischen  Beobachter  also  steigen  sie  nach  oben,  d.  h. 
erscheinen  als  leicht.  Für  einen  am  Himmel  befindlichen  Beob- 
achter dagegen  wäre  umgekehrt  die  Erde  das  leichte,  das  Feuer 
das  schwere  Element ;  die  Begriffe  Leicht  und  Schwer,  Oben  und 
Unten  hätten  für  ihn  die  umgekehrte  Geltung  wie  für  den  irdi- 
schen Beobachter  2).  —  Man  hat  diese  Theorie  vielfach  bewun- 
dert und  sie  zu  einer  Vorausnahme  des  von  Newton  aufgestellten 
allgemeinen  Gesetzes  von  der  Attraction  aller  Körper  heraufge- 
schraubt. Mit  Unrecht;  denn  Plato  lässt  immer  nur  die  ver- 
sprengten Teile  eines  bestimmten  Elementes  zu  der  Hauptmasse 
dieses  sich  hinbewegen.  Vielmehr  verrät  sich  besonders  dadurch 
in  der  platonischen  Lehre  die  Willkür,  dass  sie  es  gänzhch  un- 
erklärt lässt ,  weshalb  denn  die  Hauptmasse  des  Feuers  am  Um- 
kreise, die  der  Erde  in  der  Mitte  der  Welt  ihren  Platz  gefunden 
hat  und  behauptet.  Nirgendwo  hat  Plato  hierfür  einen  physika- 
lischen Grund  aufgestellt.     Und  doch  hätte  ein  solcher  unter  der 


1)  Simpl.  phys.  I,  p.  228,  17  ff. 

2)  Plat.  Tim.  62  C.  ff.      Theophr.   de   sensu   83.     Vgl.  Martin,   Etudes   H, 
2-72-278. 


Die  plat.  Materie  nicht  die  ijualitativ  unbestinimte  körperl.  Substanz.     105 

Voranssetzimg,  dass  die  Materie  ein  kcirpeiiicher  Stoff  sei,  gar  nicht 
so  ferne  gelegen.  Wie  andere  Philosophen  vor  ihm  und  nach 
ihm  konnte  er  das  Steigen  und  Fallen  der  Elemente  und  damit 
auch  die  Übereinanderschichtung  ihrer  Hauptmassen  auf  stoff- 
liche Unterschiede  beziehen,  sei  es  nun,  dass  er,  wie  Democrit^), 
die  grösseren  Körperchen  für  die  schwereren  erklärt,  oder  dass 
er,  wie  Aristoteles  2),  die  Gewichtsunterschiede  auf  eine  Verschie- 
denheit der  stofflichen  Beschaffenheit  als  solcher  zurückgeführt 
hätte.  Allein  darauf  deutet  bei  Plato  keine  Spur  2).  Hohe  Wahr- 
scheinlichkeit  dürfte  daher  die  Vermutung  beanspruchen  können, 


1)  Arist.  fle  gen.  et  corr.  I  8,  326  a  9— 10;  de  caelo  IV  -2,  309  b  29-33. 
Theophr.  de  sensu  (51.  71. 

-)  Avist.  de  caelo  IV  5,  312  a  22  ff.     Vgl.  Zeller  IP  b,  439  f. 

')  Auch  nicht  Tim.  .5G  A:  lo  Ufv  orv  i'/ov  o'/j'/laxac;  ßäait?  ivxivriTÖTaiov 
a'vuyxij  Tififvxevat,  riiiTjTiy.ühaTÖv  rf  xai  dirraTor  nv  Tiävii,  Tiürrnir ^  eri  tf  i).aif.QÖ- 
TUTor  ff  d/.i  yia  T0)V  ^rviOTog  rmv  arrwr    {avTov    bei   Simpl.   de  Cael.   III,   p. 

256  a  43;  257  b  35  Karsten)  jut^uov  (wozu  vgl.  was  Simplicius  de  cael.  255  b 
17 — 20  von  den  Piatonikern  sagt).  Vielleicht  möchte  man  hier,  um  den  sonst 
unleugbaren  Widerspruch  dieser  Stelle  mit  63  C  zu  entfernen,  dem  i'/.atfQÖv  die 
Bedeutung  beweglich  beilegen;  aber  dem  steht  entgegen,  dass  dieser  Begriff 
schon  vorher  durch  tryivTiTÖrarov  gegeben  wurde,  während  doch  die  Hinzufü- 
gung einer  neuen  Begründung  («f  6}.LyLa-cwv  ^avtards  xt?..)  auch  einen  neuen  Be- 
griff erwarten  lässt.  So  harmoniert  die  Stelle  zwar  nicht  mit  der  63  C  gege- 
benen Bestimmung  des  (?.utf.(,6v;  aber  für  irgend  welche  Körperlichkeit  des 
Stoffes  spricht  auch  sie  nicht.  Denn  nach  ihr  wird  das  Feuer,  und  zwar  nicht 
schlechthin  das  Element  des  Feuers,  sondern  das  einzelne  Feuerkörperchen, 
aus  dem  Grunde  für  leichter  erklärt,  als  z.  B.  das  einzelne  Luft-  oder  Wasser- 
körperchen,  weil ,  wenn  wir  die  Gesamtmasse  des  Feuers ,  der  Luft  und  des 
Wassers  in  ihre  Teile,  nämlich  die  Elementardreiecke,  zerlegt  haben,  das  Feuer 
aus  der  geringsten  Zahl  seiner  Teile,  nämlich  aus  4X6  Dreiecken ,  das  Was- 
ser aus  der  grössten  Zahl  seim  r  Teile,  nämlich  aus  20  X  6  Dreiecken,  die 
Luft  aus  der  mittleren  Anzahl,  nämlich  aus  §  X  6  Dreiecken,  das  einzelne 
Elementarkörperchen  entstehen  lässt.  Es  wird  auch  hier  die  Leichtigkeit  des 
Feuers,  die  Schwere  des  Wassers  nicht  auf  einen  zwischen  den  Flächen  be- 
findlichen, raumfüllenden  Stoff,  sondern  auf  diese  mathematischen  Flächen 
selbst  zurückgeführt.  Allerdings  ist  der  Gedanke  Plato's  sachlich  ein  verfehl- 
ter, gegen  den  sich  mit  Recht  die  Kritik  des  Aristoteles  wendet.  Mit  Bezug- 
nahme auf  unsere  Stelle  sagt  dieser  nämlich  (de  caelo  III  1,  299  b  31):  iri  ei 
ufv  nhi&ft  ßctQVTfna  rd  aaiijuna  ru  (entweder  m.it  den  Handschriften  F  H  L  M 
zu  tilgen,  als  durch  Wiederholung  der  letzten  Silbe  von  amiiaTu.  entstanden,  oder 

in  T(«  zu  verwandeln)  rüiv  ijimiätnv,  /"lantg  iv  tv>  Ti,uaiu)  riioiQ/aTue,  d'i,).ov  ing  i'^ei 
X(u  1]  ynufjLf.i')]   y.td  t)   anyi^ir)  ^Sägug'   dvä/.o'/ov  yuQ   7i(tui  a/./.ijAa  tyovaiv,  uiantQ  xul  npo- 

TiQov  iiQr'ixuinv.  Andererseits  beweist  aber  gerade  diese  sachlich  unmögliche  An- 


166       ■       ^  Zweiter  Al>schnitt.    Plato. 

welche  den  ganzen  Sachverhalt  auf  das  natürlichste  erklärt,  dass 
Hcämlich  Plato  eben  deshalb  zu  jenoni  naheliegenden  Auskunfts- 
mittel nicht  gegriffen  habe ,  weil  er  die  Voraussetzung  für  das- 
selbe, die  Körperlichkeit  der  Materie,  nicht  teilte. 

5.  Wo  Plato  von  der  Materie  redet,  nennt  er  sie  consequent 
stets  das,  worin  (*'»'  w)  die  Dinge,  die  Nachbilder  des  Seienden 
u.  s.  w  Averden,  niemals  das,  woraus  (f-'^  ov)  sie  werden  ').  Wo 
er  dagegen  einen  wirklich  körpei'lichen  Stoff  meint,  bedient  er 
sich  zwar  gelegentlich  auch  des  ersteren. Ausdruckes,  fügt  aber 
dann  stets  den  zweiten  hinzu  ^).     Eine  solche  offenbare  Absicht- 


nahme  wiederum  auf  das  schlagendste,  wie  Plato  in  jeder  Weise  sich  dagegen 
sträuht,  den  Untei'schied  der  Leichtigkeit  und  Schwere  in  irgend  welche  Ver- 
bindung mit  einem  körperlichen  Stoffe  zu  hi'ingen.  Übrigens  zeigt  die  ange- 
führte aristotelische  Stelle  de  caelo  III  1 ,  wie  wenig  Recht  Überweg  hat,  zu 
behaupten  (Rheni.  Mus.  IX,  S.  61  Anm.  2'i):  „Noch  entscheidender"  (gegen  die 
blosse  Raumnatur  der  platonischen  Materie)  „ist,  dass  Aristoteles  den  Fythago- 
reern  zwar  häufig  vorwirft,  die  sinnlichen  Dinge,  die  doch  Schwere  haben,  aus 
bloss  räumlichen  Elementen,  den  geometrischen  Zahlen,  abzuleiten,  welche  ohne 
Schwere  seien  (metaph  I  8,  §.  28  [980  a  12];  XIV  3,  §.  5  [1090  a  32];  de  caelo 
III  1,  300  a  15),  den  Plato  dagegen  mit  diesem  Vorwurf  gänzlich  ver.'^chont." 
Wäre  Überweg  an  dem  letzten  der  von  ihm  angeführten  Orte  nur  einige  Zei- 
len zurückgegangen,  so  hätte  er  in  den  oben  citierten  Worten  den  gleichen 
Vorwurf  gegen  Plato  gerichtet  gefunden. 

*)  49  E:  iv  (11  t'yytyviilttra  dfl  t'y.aata  arrcov  (fnriät,tTtti  xkI  7rü).iv  ixfT&fv  (ivtöXXr- 
rai,  50  C:  t6  iv  u)  yr/vnai.  50  D:  tv  in  ixTvnovuevov  (vgl.  TV7i(oiherTn  50  G) 
eviaraiae.     50   E;    t6    ndvTU    tv(h^6atvov    i f  avTw  yevii.      Vgl.    aUCh  52  A   Und  R: 

fv  Tivi  TÖnu).  52  G:  fv  iitQto  ttvL  ','iy i'f (T 1) ut  (vom  Abbild).  50  E:  iv  nai  t/Hv  /hu- 
laxiüv  axTiixara  dnuitÜTTui-  (in  einem  Vergleiche\  Dass  dagegen  an  der  einzigen 
Stelle  50  A,  auf  welche  Ueberweg  a.  a.  0.  S.  60  sich  steift ,  in  einer  blossen 
Vergleichung  ix  yQrao?  steht,  beweist  nichts,  da  Plato  ja  zweifellos  das  Gold 
als  einen  körperlichen  Stoff  denkt,  es  nach  dieser  Seite  hin  aber,  wie  gezeigt 
(s.  S.  130 f.),  mit  der  fraglichen  Grundlage  des  körperlichen  Seins  überhaupt 
nicht  zusammenstellt.  Vgl.  übrigens  Zeller  IP'  a,  613,  7.  Siebeck  a.  a.  0.  S. 
108  f.    Rassfreund  S.  31. 

")  Politic.  286  D:  to  iU  /taai  toviuk;  (Handwerkern)  aiüfiara  naQi^ov,  i^  täv 
xni  iv  oig  ifijiiioi-Qyocatv  öm'aai  ruir  ztyvinv  rvv  fi\)tjVTcii  xt}..  Phllcb.  59  D — E: 
Hl  fiiv  ilij  if)Quvt'iae<i>g  Tt  xali'it)'nvtjg  ni(tt  nQÖg  tijv  dX).ij}jnv  ßi^iv  ft' Tis  ifuiij  xa&itnffif't 
ifijiiiot^QyoTg  rjuav,  i^  lav  ij  iv  oig  (fei   (hißiorgyfTv  ti,  TittQaxflflOai,   xa?jiit;   äv  fw  Xüyiu 

(iittxnt,oi.  Die  von  Stallbaum  zu  Politic.  588  D  angeführten  Stellen  Phileb.  21  A: 
uvxorv  ir  aol  7in(i(ni.itt}u  ßaaarlCovTeg  lavca  und  Soph.  235  D:  ovd'ii'  d'e^  to  aaifs- 
oTfQnv  iv  inoi  axo^iHv,  an  denen  iv  allein,  ohne  iS  steht,  gehören  nicht  hieher, 
da  von  einem  körperlichen  Stoffe  an  ihnen  keine  Rede  ist.  Über  Tim.  50  D 
aber:  iv  w  ixxrnoiiiivuv  iviaiaiut,  was  nach  Überweg  S.  60  mit  dem  ix  )f(ir-aor 


Die  plat.  Materie  nicht  Jie  qualitativ  unbestimmte  körperl.  Substanz.      107 

lichkeit  des  Ausdrucks  lässt  sich  nur  dann  begreifen,  wenn  Plato 
die  Grundlage  des  körperlichen  Seins  in  der  That  nicht  als  kör- 
perlichen Stoff  betrachtet,  sondern  wenn  sie  ihm,  um  es  schon 
hier  vorweg  zu  nehmen,  mit  dem  leeren  Räume  zusammenfällt. 

Das  bestreitet  freilich  Bassfreund.  Nachdem  er  sehr  gut  ge- 
zeigt, dass  die  Materie  für  Plato  nicht  das  sei,  woraus,  sondern 
das,  worin  die  Dinge  werden '\  glaubt  erden  Sinn  dieses  Worin 
auf  das  Inhärenzverhältnis  beschränken  zu  sollen-).  Die  Materie 
ist  ihm  die  unveränderliche,  allen  Dingen  zugrunde  liegende  Sub- 
stanz, das  allein  Reale  an  den  Dingen  '^).  Nur  die  Formen,  nicht, 
wie  bei  Aristoteles,  das  Compositum  aus  Materie  und  Form,  sei 
für  Plato  das  Werdende-^);  das  Werden  und  Vergehen  beruhe 
also  für  ihn  auf  einem  blossen  Wechsel  der  Accidenzien^),  näm- 
lich der  Formen,  von  dem  die  Substanz,  das  Reale  an  den  Din- 
gen, unberührt  bleibe. 

Aber  kann  das  platonisch  sein?  Von  den  Ideen  soll  wirklich 
nur  der  Wechsel,  nur  die  V^eränderlichkeit  der  Dinge  stammen? 
Alle  Realität  in  den  Dingen  ruht  auf  der  behäbigen,  soliden,  all- 
zeit beständigen  Materie ,  was  dagegen  von  den  Ideen  kommt, 
ist  nichts  als  eitel  Spiegelfechterei?  Die  Lehre  der  materialisli- 
schen  Stoa  mag  hier  annähernd  von  ßassfreund  auseinanderge- 
setzt sein,  die  Plato's  nimmermehr.  Wie  missverständlich  alle 
Voraussetzungen  sind,  von  denen  Bassfreund's  Deduclionen  aus- 
gehen —  seine  Deutung  des  „dieses"  und  der  sich  stets  gleich- 
bleibenden Natur  der  Materie ,  seine  Benutzung  der  platonischen 
Vergleiche  u.  s.  w.  — ,  wurde  oben  gezeigt.  Nachdem  dort  die 
Quelle  des  Irrtums  verschüttet  worden,  dürfte  es  unnütz  sein,  gegen 
den  Irrtum,  welcher  daraus  geflossen,  noch  einen  besonderen 
Damm  zu  errichten. 

6.  Völlig  entscheidend  endlich  gegen  die  Annahme  eines 
vom  leeren  Piaume   verschiedenen    Stoffes   ist  die  von  Plato    ge- 


gleichbetleutend  gebraucht  sein  soll  (obwohl  doch  gerade  der  Wechsel  zwischen 
f'x,  wo  vom  körperlichen  Golde,  und  tv,  wo  von  der  Materie  gesprochen  wird, 
ihn  hätte  stutzig  machen  sollen),  vgl.  Bassfreund  S.  31  f.,  der  S.  32  auch  einige 
andere,  von  Überweg  für  seine  Behauptung,  die  platonische  Materie  sei  nicht 
nur  das  ev  w,  sondern  auch  das  /.?  oi-,  angeführte  Gründe  als  hinfällig  erweist. 
')  S.  vor.  Anm. 
• -)  A.  a    0.  S.  43.  —  ■•')  S.  :rl.  —  ')  S.  30-42.   -  '^)  S.  o± 


168  Zweiter  Ahsclinitt.     Plato. 

lehrte  rein  mathematische  Construction  der  Elemente  aus  Flächen. 
Zeller  1)  sowohl  wie  Siiseuiihl-)  haben  auf  das  schärfste  das  hier- 
aus zu  entnehmende  Argument  betont ;  aber  unter  den  Gegnern 
hat  eigentlich  nur  Bassfreund  ^)  ernsthaft  versucht,  sich  mit  dem- 
selben auseinander  zu  setzen. 

In  ähnlicher  Weise  wie  Democrit,  mit  dem  ihn  deshalb  auch 
Aristoteles  des  öfteren  zusamnienstellt^),  lässt  bekanntlich  Plato 
alle  Körper  aus  kleinsten  discreten  Teilchen  bestehen,  welche  sich 
durch  ihre  Form  von  einander  unterscheiden.  Um  diese  Vorstel- 
lung mit  der  Elementenlehre  combinieren  zu  können,  stellt  er 
vier  reguläre  Polyeder  als  Grundformen  auf,  von  denen  jedesmal 
öine  einem  bestimmten  Elemente  entsprechen  soll :  das  Tetraeder 
dem  Feuer,  das  Octaeder  der  Luft,  das  Icosaeder  dem  Wasser, 
das  Hexaeder  der  Erde  (55Dff.),  wahrend  die  fünfte  jener  Figuren, 
das  Dodecaeder,  in  Beziehung  zum  Bau  des  Weltganzen  gebracht 
wird  (55  C)  Die  verschiedenen  Arten  des  Flüssigen ,  Erdartigen 
u.  s.  w.  sollen  sich  dann  wieder  durch  Modificationen  dieser 
Grundformen  unterscheiden  (58  D  ff.).  Zeigt  sich  schon  in  dieser 
Bevorzugung  der  regulären  geometrischen  Figuren,  welche  gewiss 
der  durch  den  Pythagoreisraus  grossgezogenen  Vorliebe  Plato's 
für  die  Mathematik  entstammt  und  an  Philolaus  einen  Vorgänger 
hat^),  eine  bedeutsame  Abweichung  von  Democrit,  so  wird  die 
Verschiedenheit  beider  Anschauungen  dadurch  eine  noch  grössere, 
dass  das  Atom  Democrits  eine  nicht  weiter  zusammengesetzte, 
unentstandene  und  unveränderliche  Grösse  darstellt,  wohingegen 
die  Polyeder  der  platonischen  Plijsik  auf  noch  einfachere  Ele- 
mente, die  Elementardreiecke,  zurückgeführt  und  als  wechselnde 
Combination  dieser  betrachtet  werden.  Nur  die  Erde,  weil  die 
quadratischen  Flächen  ihrer  Kuben  aus  anders  gestalteten  Drei- 
ecken zusammengesetzt  sind,  als  die  dreiseitigen  Oberflächen  der 
übrigen  Elementarteilchen,  wird  in  den  Kreislauf  der  Elemente 
nicht  aufgenommen;  dagegen  entstehen  aus  einem  Teil  Wasser 
ein  Teil  Feuer  und  zwei  Teile  Luft,    indem    das  Icosaeder  zu  20 


1)  Phil.  d.  Gr.  IP  a,  6!  5. 

2)  Genet.  Entwickel.  II,  409. 

3)  A.  a.  O.  S.  56—63. 

*}  Arist.  de  caelo  III  8,  307  a  19;    de    gen.  et  corr.  12,    315  a  28  u.  ö. 
Vgl.  Simplic.  de  caelo  III,  p.  252  b  4;  257  b  20  Karsten. 
«)  S.  S.  39.  43. 


Die  plat.  Materie  nicht  die  qualitativ  unhestinimte  körperl.  Suhstanz.     169 

Flächen  sich  in  ein  Tetraeder  zu  4  und  2  Octaeder  zu  je  8  Flä- 
chen spaltet;  ein  Teil  Luft  mit  8  Flächen  giebt  2  Teile  Feuer  mit 
je  4  Flächen;  ebenso  2  Teile  Feuer  einen  Teil  Luft,  2'/>  Teile 
Luft  einen  Teil  Wasser  (Tim.  56  D— E). 

Wie  man  sieht,  werden  bei  diesen  Verwandlungen  allein  die 
Flächen  in  Rechnung  gebracht;  auf  den  körperlichen  Inhalt  be- 
zogen würden  die  Verhältnisse,  nach  denen  Plato  die  Verwand- 
lung erfolgen  lässt,  absolut  falsch  sein.  Die  Realität  der  sinn- 
lichen Dinge  stützt  sich  also  für  Plato  allein  auf  die  Flächen,  aus 
denen  die  Elementarteilchen  zusammengesetzt  sind;  einen  den  Raum 
zwischen  diesen  füllenden  besonderen  Stoff  kennt  er  nicht.  Die 
ein-  und  austretenden  Flächen  aber  sind  Wirkungen  der  Ideen. 
Denn  das  Mathematische  ist  für  Plato  Nachahmung  des  Idealen. 
Gott ,  d.  h.  der  Einfluss  der  Idee ,  hat  die  Elemente  nach  Form 
und  Zahl  gestaltet ').  So  stammt  das  Reale  in  den  Dingen  nach 
Plato's  Ansicht  aus  den  Ideen;  eine  an  sich  reale  materielle 
Substanz  neben  den  Ideen  kennt  er  nicht. 

Es  ist  begreiflich ,  dass  die  Unmöglichkeit ,  eine  solche  Gon- 
struction  der  Körper  mit  den  gewöhnlichen  Vorstellungen  vom 
Stoffe  zu  vereinigen,  dahin  führen  musste,  die  Bedeutung  jener 
Theorie  für  das  System  Plato's  möglichst  abzuschwächen.  Be- 
reits lamblich  und  einige  andere  Exegeten  fassten,  wie  wir  von 
Simplicius  ^)  erfahren,  die  Theorie  bildlich  {pvußohxwq)  auf.  Auch 
Proclus^)  treibt  mit  den  platonischen  Elementarflächen  sein 
Spiel.  Im  Nus,  führt  er  aus,  sei  alles  in  Einheit,  wie  der  Punct ; 
dasselbe  sei  in  der  Psyche  nach  der  Form  der  Linie ;  in  der 
Physis  sei  es  in  der  Weise  der  Fläche,  „weshalb  auch  Plato  die 
physischen  Begriffe ,  welche  den  Körpern  ihr  Wesen  verleihen  ^), 
durch  Flächen  andeuten  wollte";  in  den  Körpern  endlich  in  kör- 
perlicher Weise.  Dem  lamblich  schhesst  sich  Simplicius  an. 
Wenn  so  Vieles  in  den  hieher  gehörigen  Ausführungen  Plato's 
bildlich  zu  verstehen  sei,  meint  dieser,    was  hindere,    dass  man 


')  Tim.  53  B:  (hfa^^riiiariaaro  i'nhai  tt  xcd  d()i&,uoTc.  Über  die  „Spuren"  je- 
ner Gestalten,  welche  nach  der  mythischen  Darstellung  bereits  vor  dem  Ein- 
greifen der  Vernunft  in  der  ungeordneten  Materie  sich  fanden,  s.  S.  140  f.  148  ff. 

-)  Simpl.  de  cael.  III,  p.  !252  b  23  Karsten. 

')  Procl.  in  Euclid.  def.  I,  p.  91,  24  ff.  Friedlein. 

*)  Tovi  (pvatxovg  köyove   Tovi  vTZoaraTixovi  tuw  aui/uäT(i)v  p.  92,  9. 


170  Zweiter  Abschnitt.    Plato. 

auch  seine  Lehre  von  den  Elementardreiecken  bildhch  {dvfxßoXixwq) 
deute»)?  Jedenfalls  denke  er  bei  diesen  Flächen  nicht  an  bloss 
mathematische  Gebilde  2);  vielmehr  habe  Plato ,  wie  sclion  vor 
ihm  (he  Pythagoreer,  die  Lehre  wohl  nur  in  dem  Sinne  aufge- 
stellt, in  dem  auch  die  Astronomen  so  Manches,  und  zwar  ver- 
schiedene oft  Entgegengesetztes,  aufstellten:  nicht  als  Wirklich- 
keit, sondern  als  Hypothese  (vnolftaic),  aus  der  die  Phänomene 
sich  rechtfertigen  liessen-^). 

Bildlich  fasst  auch  Lichtenstädt  •*)  die  Lehre.  Sartorius  •'')  will 
dagegen  ihr  die  Spitze  abbrechen,  indem  er  zu  zeigen  versucht, 
dass  dieselbe  völlig  ausserhalb  der  platonischen  Physik  stehe,  dass 
sie  nur  als  Fremdling,  der  ausschliesslich  Plato's  V^orliebe  für 
Mathematik  und  Pythagoreer  seine  Einschiebung  verdanke,  hin- 
eingekommen sei  und  dass  sie  daher  als  unorganisches  Einschieb- 
sel Folgerungen  auf  Plato's  physikalische  Grundanschauungen 
nicht  gestatte. 

Nun  ist  zuzugeben,  was  ja  auch  von  uns  geschah,  dass  der 
Timaeus  manche  bildlich  zu  deutende  Ausführungen  enthält. 
Aber  wollen  wir  nicht  aller  Willkür  Thür  und  Thor  aufstellen, 
so  werden  wir  zu  der  Annahme  von  mythischen  Vorstellungen  nur 
dann  greifen  dürfen ,  wenn  entweder  in  Plato's  Worten  irgend 
ein  Hinweis  auf  eine  solche  Deutung  liegt,  oder  wenn  der  Wider- 
streit des  Wortverstandes  gegen  sichere  platonische  Sätze  zu  der- 
selben nötigt.  Nichts  von  alle  dem  liegt  hier  vor,  es  .sei  denn, 
man  begehe  die  petitio  principii ,  die  platonische  Materie  zuerst 
für  einen  vom  Räume  verschiedenen  Stoff  zu  erklären,  um  dann 
die  mathematische  Gonstruction  damit  unvereinbar  zu  finden. 
Wir  haben  also  auch  kein  Recht,  in  den  ausführlichen  und  in 
streng  wissenschaftlich  abstractem  Tone  gehaltenen  Erörterungen 
über  die  Formverhältnisse  der  Elementarteilchen  bloss  bildliche 
Redewendungen  zu  sehen. 


')  Simpl.  de  caelo  III,  p.  257  b  7—9  Karsten. 
')  p.  250  a  34—44;  258  a  18;  b  34. 

•'')  p.  !253  a  37  iL     Den    Anlass    zu   dieser   Auffassung  gab  wolil  Arist.  de 
cael.  III  1,    "iO^t    a  .">,   wo  es  von  den  rd  auiiiara  f'$  tTUjinhov  avriajai-Tfs  heisst: 

xaiiui    diyiuor   i^r    i]   fit',    y.iriiv    i]   tiiOtoj  t\i<iii;   arra   /.ijyoi^   yirfh-   rnii'   t-TioiytaffiiV,   WOZU 

v^l.  Simpl.  de  cael.  p.  2.52  a  18  ff.  Karsten. 
')  A.  a.  O.  S.  57  f. 
*>)  A.  a.  0.  S.   141-145. 


Die  plat.  Materie  nicht  die  qualitativ  unbestimmte  körperl.  Substanz.     171 

Ebenso  grundlos  aber  ist  die  Behauptung  von  Sartorius,  dass 
jene  Theorie  sich  wenig  organiscli  der  gesamten  Physik  Plato's 
einfüge.  Plato  macht  viehiiehr  von  derselben  ausgiebigen  Ge- 
brauch. Er  benutzt  sie  in  sinnreicher  Weise,  sowohl  um  die 
Übergänge  von  drei  Elementen  in  einander,  wie  um  die  Be- 
ständigkeit des  Erdigen  zu  erklären  (56  D  ff.)  ').  Namentlich  im 
physiologischen  Teile  kommt  er  jeden  Augenblick  auf  dieselbe 
zurück.  Die  Wärmeempfindung,  welche  das  Feuer  hervorruft,  soll 
darin  ihre  Ursache  haben ,  dass  die  Feuerteilchen  we^en  ihrer 
Feinheit  und  wegen  der  Schärfe  ihrer  Kanten  den  Körper  schnei- 
dend durchdringen  (61  D  ff.).  Ebenso  wird  die  erkältende  Wir- 
kung des  Wassers  durch  die  eigentümliche  Gestalt  der  Wasser- 
teilchen begründet  (62  A— B)^).  Auch  für  die  Physiologie  der 
Atmung  und  Verdauung  werden  jene  Voraussetzungen  verwendet 
(78  A — B),  nicht  minder  für  die  Erklärung  des  Wachstums  und 
des  Hinschwindens  im  Alter  (81  B— D). 

hides  werden  sich  die  (jtegner  der  Gleichsetzung  von  Raum 
und  Materie  noch  niclit  zufrieden  geben.  Nur  die  äussere  Form 
der  Elementai't eilchen  ,  wenden  dieselben  gegen  uns  ^)  ein ,  lasse 
Plato  aus  Dreiecken  gebildet  werden;  es  hindere  aber  nichts, 
anzunehmen,  dass  zu  diesen  begrenzenden  Flächen,  dem  mathe- 
matischen Moment,  der  füllende,  Realität  gebende  Stoff,  das  ei- 
gentlich  materielle    Moment,    erst    noch   hinzutrete*).     Übrigens 


')  Sehr  mit  Unrecht  nimmt  Sartorius  a.  a.  0.  S.  149  Anstoss  daran,  dass 
Plato  (Tim.  58  D  ff.)  die  Metalle  als  die  Gattung  des  Schmelzbaren  dem  Ele- 
mente des  Wassers  zurechnet.  Dass  die  Anschauung  auch  sonst  dem  Altertum 
nicht  Iremd,  zeigt  Arist.  metaph.  V  4,  1015  a  9—10;  V  24,  1023  a  28—29  (vgl. 
V  6,  1016  a  22 — 24),  wo  ähnlich  wie  bei  Plato  dem  Erz,  überhaupt  allem 
Schmelzbaren,  das  Wasser  als  Materie  gegeben  wird.  (Anders  fieilich  met.  VIII 
7,  1049  a  17—18.  Doch  bietet  meteor.  IV  8,  384  b  30-32  [vgl.  c.  6]  eine  Ver- 
mittelun^^) 

")  Vgl.  Arist.  de  cael.  III  8,  307  a  20  tf.  und  namentlich  Theophr.  de  sensu  83. 

3)  Bassfreund  S.  61  f.    Sartorius  S.  147. 

*)  Seine  Ansicht,  dass  zu  dem  mathematischen  Moment  der  Form  das  ei- 
gentlich materielle  Moment  erst  noch  hinzukomme,  sucht  Sartorius  S.  147  ge- 
gen Zeller  durch  den  Hinweis  auf  folgende  zwei  Stellen  zu  stützen:   Tim.  53  G 

lö    (U    ßc(t}u(    (=   TU  aai/Lia)   näoa  ciyäyxrj  rf,v   tninedop   7i  (  q  i  (  i  Xi^if.  i  vni    if  v  a  i  v 

„einen  Körper  müssen  Flächen  begrenzen",  und  Tim.  53  D:    tüq   <)'   hi   tovjuiv 

"P/f''f  iiv(ni}ev   i}KJi   oiih   y.ul  dvÖQwi-'  og  av   iy.iii'u)   tfi?.og   r,. 

Allein  hinsichtlich  der  letzteren  Stelle  wurde  schon  S.  141  f.  gezeigt,  dass 
sie  vielmehr  auf  den    Unterschied    von   Grenze    und    Unbegrenztem    hindeutet. 


172  Zweiter  At)schnit.t.     Plato. 

begegnen  uns  schon  im  Altertum  iiluiliche  Aufstellungen.  Ale- 
xander von  Aphrodisias ')  wendet  sich  gegen  diejenigen  Platoni- 
ker,  nach  denen  nur  die  Gestalten  und  Formen  der  Elementar- 
körper, nicht  diese  Körper  selbst,  aus  den  Elementarflächen  ent- 
stehen sollten. 

In  Wahrheit  hindert  Vieles  die  Annahme  einer  besonderen 
Materie  innerhalb  der  umgrenzenden  Formen. 

a.  Wie  sollten  wir  bei  einer  solchen  Auffassung  jene  be- 
grenzenden Flächen  uns  eigentlich  vorstellen?  Plato  beschreibt 
ausführlich,  wie  dieselben  sich  in  ihre  Elementardreiecke  auflösen 
und  aus  diesen  wieder  in  mannigfachen  Combinationen  zusam- 
mentreten. Die  Elementardreiecke  sind  ihm  also  etwas ^  was 
bleibt  und  Bestand  hat.  Nur  die  Combinationen  wechseln;  die 
Dreiecke  selbst  verändern  ihre  Realität  nicht.  Nun  behaup- 
ten aber  jene  modernen  Ausleger  Plato 's,  dass  allein  die  Materie 
es  sei,  auf  welche  das  Feste  und  Beständige  der  Dinge  sich  be- 
schränke. Wir  müssten  also  bereits  jene  Flächen  als  etwas 
Materielles ,  als  irgendwelche  Goncretionen  der  Materie  denken. 
Damit  wären  wir  denn  bei  den  dünnen  Plättchen  angelangt,  auf 
die,  nach  dem  Vorgange  von  Simphcius -)  und  Philoponus 3), 
Martin^)  verfallen  ist.  Nur  insofern  würde  sich  jene  Vorstellung  von 
der  Martin's  unterscheiden,  als  ersterer  diese  Plättchen,  was  noch 


Aus  der  ersteren  Stelle  aber  (welche  bereits  von  Michelis,  Philosophie  Piatons, 

II,  S.  154  Anm.  **)  gegen  Zeller  ins  Feld  geführt  wurde)  bedeutet  ßä-O-og  nicht 
den  materiellen  Kürperinhalt  im  Gegensatz  zu  der  mathematischen  Begrenzung, 
sondern  einfach  die  Tiefe ,  d.  h.  die  Ausdehnung  nicht  blos  in  zwei ,  sondern 
auch  in  der  dritten  Dimension.  Diese  Tiefendimension  wird  aber  Sartorius 
auch  dem  liloss  mathematischen  Körper  nicht  absprechen  wollen,  welcher 
dadurch  entsteht,  dass  der  leere  Raum,  d.  h.  die  unerfüllte  Ausdehnung,  durch 
Flächen  begrenzt  gedacht  wird.  So  hat  Plato  allerdings  einen  Fehler  began- 
gen, indem  er  den  mathematischen  und  den  physischen  Körper  verwechselt 
und  dem  blossen  Raumgebilde  physikalische  Eigenschaften  beilegt;  aber 
dieser  auch  von  einem  Descartes  begangene  Fehler  wird  von  Aristoteles  (de 
caelo  III  1,  299  b  31  ff.;  vgl.  S.  165  Anm.  3)  bezeugt  und  hängt  (s.  u.  S.  ISo) 
aufs  innigste  mit  dem  ganzen  platonischen  Standpuncte  zusammen. 

1)  Alex.  Aphrod.  quaest.  nat.  11  13,  p.  1U7  Spengel ;    vgl.   Simpl.  de  caelo 

III,  p.  258  b  13  ff.  Karsten. 

2)  Simpl.  de  cael.  III,  p.  2.52  b  11  ff.  Karsten. 

^)  Philopon.  in  Arist.  de  gen.  et  cori'.  fol.  47  oben. 
")  Etudes  II,  p.  241. 


Die  plat.  Materie  niclit  die  qualitativ  uiiliestiuniite  köriierl.  Substanz.     178 

eher  zu  ertragen,  als  leere  Hülsen  vorstellt,  während  Bassfreund 
und  Sartorius  ein  platonisches  Elementarteilchen  wie  eine  orga- 
nische Zelle  denken  müssen,  mit  der  Zellhaut  drum  und  dem 
Protoplasma  drin. 

Nun  ist  CS  allerdings  richtig,  dass  die  Vorstellung  von  sol- 
chen körperlichen  Flächen  sich  im  physiologischen  Abschnitt  des 
Timaeus  dem  Plato  gelegentlich  unterschiebt.  80  wenn  er  von 
einem  Alt-  und  Schwachwerden  der  Elementardreiecke  redet  (81  G). 
Aber  das  ist  doch  nur  der  Fall,  wo  die  Unmöglichkeit ,  aus  rein 
mathematischen  Formen  physikalische  Ersclieinungen  zu  erklären, 
sich  gar  zu  deutlich  aufdrängte  und  daher  naturgeni'ss  zu  einer 
Vergröberung  der  ursprünglichen  Anschauungen  zwang.  Wo 
jene  Theorie  dagegen  rein  lür  sich  dargestellt  wird ,  lindet  sich 
auch  nicht  der  leiseste  Hinweis  auf  solche  Plättchen.  Der  eigent- 
lich philosophischen  Überzeugung  Plato's  gehören  dieselben 
nicht  an. 

b.  Wenn  Plato  die  Materie  zu  der  mathematischen  Umgren- 
zung als  das  eigentlich  reale  Moment  erst  hinzutreten  Hesse,  so 
würde  es,  was  in  ähnlicher  Weise  schon  Alexander  von  Aphro- 
disias  betont  *),  nicht  zu  erklären  sein ,  wie  er  die  Erde  von  dem 
Kreislauf  der  Elemente  ausnehmen  kann.  Denn  Feuer  ist  ihm  der 
Teil  der  Materie,  welcher  die  Form  des  Feuers,  Wasser  der  Teil 
der  ]\laterie,  welcher  die  Form  des  Wassers,  Erde  derjenige  Teil 
derselben,  welcher  die  Form  der  Erde  angenommen  hat  (51  B. 
52  D).  W;  re  nun  die  Materie  für  Plato  eine  besondere  Realität 
neben  der  begrenzenden  Gestalt ,  weshalb  sollte  da  die  Materie, 
die  in  einer  Feuerform  eingeschlossen  war,  nicht  auch  in  eine 
Erdform  fliessen  können?  Dann  aber  wäre  der  früher  feurige 
Teil  der  Materie  zu  einem  erdigen,  also  Feuer  zu  Erde  geworden  ^). 

c.  Schon  oben  •^)  wurde  hervorgehoben,  dass  die  Verhältniszah- 
len; nach  welchen  Plato  die  Übergänge  der  Elemente  in  einander 
erfolgen  lässt,  genau  der  Anzahl  der  Flächen  entsprechen,  von 
denen  die  kleinsten  Teilchen  der  betreffenden  Elemente  begrenzt 
sein  sollen.  Auf  den  Kubikinhalt  dieser  Teilchen  bezogen,  wür- 
den sie  sämtlich  falsch  sein.     Während  z.  B.  die  Flächenzahl   ei- 


^)  Alex.  Aphrod.  quaest.  nat.  11  13,  p.  107  Spengel, 
*)  Vgl.  Zeller  IP  a,  677,  1. 
")  S.  169. 


174  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

nes  Luft-Octaeders  thatsächlich  der  von  zwei  Feuer -Tetraedern 
entspricht,  ist  der  Kubikinhalt  von  zwei  Tetraedern  nicht  unbe- 
träclitUch  kleiner  als  der  eines  Octaeders.  Sartorius  *)  will  diese 
Schwierigkeit  dadurch  hinwegräumen,  dass  er  der  Materie  Plato's 
die  Fähigkeit  zuschreibt,  sich  nach  Bedürfnis  ein  wenig  auszu- 
dehnen oder  zusammenzudrücken,  wie  es  gerade  die  begrenzende 
Form  erfordert.  Aber  auch  dieses  Auskunftsmittel  erscheint  we- 
nig platonisch.  Nirgendwo  im  Timaeus  wird  ein  Zusammenrücken 
des  Stoffes  auf  die  Elasticität  der  Materie  zurückgeführt;  stets 
wird  es  durch  ein  Eindringen  kleiner  Elementarteilchen  in  die 
von  den  grösseren  gelassenen  Zwischenräume,  z.  B.  durch  ein 
Eindringen  von  Feuer-  oder  Luftteilchen  in  die  zwischen  den 
grösseren  Wasserteilchen  leer  gebliebenen  Räume,  erklärt  (58  A.B. 
GO  E.  Gl  A.  B). 

Keine  zu  der  Begrenzung  durch  mathematische  Flächen  hin- 
zutretende körperliche  Materie,  sondern  schon  die  Begrenzung 
duich  mathematische  Fläcl.en  schafft  also  für  Plato  den  Körper. 
Insofern  löst  er,  wie  Aristoteles  an  zahlreichen  Stellen  her- 
vorhebt, den  Körper  in  Flächen  auf  oder  setzt  ihn  —  genetisch 
betrachtet  —  aus  Flächen  zusammen  ^).  Natürlich  wird  dabei, 
wie  in  der  verwandten  pythagoreischen  Theorie  ^) ,  von  ihm  im- 
mer als  selbstverständlich  vorausgesetzt,  dass  diese  Flächen  sich 
nicht  deckend  aufeinander  legen,  sondern  sich  unter  Winkeln 
zusammenfügen.  Nur  dann  wird  durch  die  Verbindung  von  Flä- 
chen ein  Körper  entstehen,  wenn  mit  ihrem  Zusammentreten  zu- 
gleich die  Tiefendimension  da  ist.  Da  nun  aber  andererseits  nach 
der  Darstellung  Plato's  mit  den  in  dieser  Weise  zusammentreten- 
den Flächen  der  Körper  unmittelbar  und  ohne  dass  noch  etwas 
weiteres  hinzukäme ,  gegeben  ist ,  so  kann  unter  der  von  den 
Grenzflächen  umfassten  Tiefe  ^)  nur  die  leere,  durch  keinen  von 
ihr  verschiedenen  Stoff  erfüllte  Ausdehnung,  nur  der  leere  Kaum 
—  XooQu  oder  rÖTTog  —  bei  Plato  verstanden  werden. 

Nicht  also  durch  die  Formung  eines  vom  Räume  verschie- 
de..en  in  sich  realen  Stoffes,  so  ist  das  Resultat  unserer  der  pla- 


')  A.  a.  0.  S.  146. 

2)  Arist.  de  caelo  III  1,  1298  b  34;  299  a  3  und  7;  III  7,  3U5  a  35;  306  a  1; 
de  gen.  et  corr.  I  2,  315  b  30—32;  II   1,  319  a  22.     Vgl.  Martin  II,  p.  24U. 
»)  S.  S.  41  f. 
*)  ,-id&oi,  Tim.  53  G. 


Die  platonische  Materie  nicljt  die  blosse  Möglichkeit.  175 

tonischen  Construction  der  Elementarteilchen  gewidmeten  Unter- 
suchung, sondern  durch  die  Begrenzung  der  an  sich  unbestimm- 
ten Ausdehnung,  des  leeren  Raumes,  entsteht  für  Plato  der  Körper. 


Aber  auch  jetzt  noch  scheint  sich  ein  Ausweg  zu  bieten.  Wie, 
wenn  zwar  nicht  der  Stoff  zur  Ausdehnung ,  wohl  aber  die  Aus- 
dehnung zu  dem  an  sich  noch  unausgedehnten,  bloss  in  der  Po- 
tenz zur  Ausdehnung  befindlichen  Stoffe  hinzuträte  ?  Würde  bei 
einer  solchen  Annahme  nicht  die  doppelte  Möglichkeit  frei  blei- 
ben ,  einmal  den  Stoff  als  etwas  von  der  blossen  Ausdehnung 
Unterschiedenes  zu  betrachten,  und  doch  auch  andererseits  die 
Bildung  der  Elementarkörperchen  in  der  platonischen  Weise  zu 
erklären?  Es  würde  sich  ja  unter  jener  Voraussetzung  die  Quan- 
tificierung  der  aus  sich  quantitätslosen  Materie  eben  durch  die 
Annahme  der  Flächenformen  vollziehen,  so  dass  erst  mit  der 
Aufnahme  der  Flächenformen  die  aus  sich  quantitäts-  und  aus- 
dehnungslose Materie  die  bestimmte  Grössenausdehnung  erhielte. 
Wenn  aber  die  Quantität  der  Materie  überhaupt  erst  aus  der 
Form  resultiert,  so  würde  dieselbe  in  jede  der  Formen  hineinpassen, 
welche  von  Plato  für  die  verschiedenen  Elemente  angenommen 
werden,  ohne  dass  es  einer  räumlichen  Laxation  oder  Gompression 
bedürfte.  Dabei  würden  die  Verhältniszahlen ,  nach  welchen  die 
Umwandlung  der  Elemente  sich  vollziehen  soll,  in  der  von  Plato 
aufgestellten  AVeise  durch  die  Anzahl  der  Flächen  bedingt  sein, 
von  denen  die  ganze  Quantificierung  ausgeht. 

In  dieser  Weise  werden  diejenigen  die  Sache  sich  zu  denken 
haben,  welche  die  platonische  Materie  als  an  sich  unkörperlich  und 
als  die  blosse  Möglichkeit  des  Körpers  fassen.  In  der  That 
hat  der  neuplatonische  Begriff  der  Materie  die  wesentlichen  Puncte 
einer  solchen  Vorstellungsweise  in  sich  aufgenommen. 

Gleichwohl  ist  er  nicht  der  platonische.  Die  Grundlage  dei" 
ganzen  Auffassung  bildet  der  Begriff  der  Möglichkeit,  der  Poten- 
zialität.  Aber  eben  dieser  Begriff  des  bloss  möglichen  Seins  ist 
in  dem  hier  erforderlichen  Sinne  dem  Plato  noch  fremd.  Jene 
Gegenüberstellung  des  Wirklichen  und  Möglichen,  der  Bethätigung 
und  ihrer  Vorbedingung,  gehört  vielmehr  erst  der  aristotelischen 
Philosophie  an,  für  welche  dieselbe  dann  freilich  eine  Hauptstütze 


176  Zweiler  Absclinitl.     Plato. 

ausmacht').  Tcichniüller  zwar  hat  Verschiedenes  angeführt,  um 
den  Begriff  schon  dem  Phito  zu  vindicieren;  aber  seine  Gitate 
beweisen  nichts  ^). 

Noch  einiges  andere  lässt  sich  gegen  eine  solche  dynamische 
Auffassung  der  platonischen  Materie  geltend  machen. 

Auch  bei  ihr  scheint  es  unerklärlich ,  weshalb  unter  den 
Elementen  einzig  die  Erde  von  der  Kette  der  Verwandlungen  aus- 
genommen sein  soll.  Denn  da  die  Grenzflächen  nach  der  pla- 
tonischen Darstellung  festen  Bestand  in  sich  tragen  sollen,  so 
sieht  man  nicht  ein,  weshalb  es  eher  miiglich  sein  soll,  dass 
z.  B.  die  jetzt  von  der  Feuerform  zu  bestimmter  Quantität  entwickelte 
Materie  ein  anderes  mal  von  der  Luftform  determiniert  werde,  als 
dass  das  Gleiche  hinsichtlich  eines  erdig  gewordenen  Teiles  der 
Materie  stattfindet. 

Ebenso  müsste  eine  derartige  Materie,  gleich  der  aristoteli- 
schen; nicht  nur  das  sein,  worin  die  Dinge  werden;  sie  wäre 
zugleich  das,  woraus  sie  werden.  Mit  olTenbarer  Absichtlich- 
keit aber,  sahen  wir^  vermeidet  Plato  die  letztere  Ausdrucks  weise; 
ihm  ist  die  Materie  nie  das  Woraus,  sondern  stets  nur  das 
Worin. 

Damit  hat  sich  uns  endgültig  die  Annahme  einer  besonderen 
Materie  neben  dem  leeren  Räume,  mag  diese  nun  als  qualitäts- 
loser, aber  wirklicher  Körper,  oder  mag  sie  als  die  blosse  Mög- 
lichkeit des  Körperlichen  betrachtet  werden,  als  unplatonisch 
erwiesen. 


')  Vgl.  Susemihl,  Genet.  Enlwickel.  11  S.  334  u.  558. 

^)  Von  dem  was  Teichmüller  aus  dem  Timaeus  anführt ,  wurde  dieses 
S.  131  Anm.  4  bemerkt.  Auch  rep.  V,  p.  477  G  ist,  wie  sich  Teichmüller  selbst 
nicht  verhehlt  (a.  a.  0.  S.  337),  von  der  (fvrauis  nur  im  Sinne  acliver  Kraft 
die  Rede,  welche  doch  nicht  einmal  der  secundären,  geschweige  denn  der  pri- 
mären Materie  zugeschrieben  werden  kann  (vgl.  S.  117—122.  161  f.)  und  zudem  kei- 
neswegs dem  aristotelischen  Begriff  des  (fvvd,ufi  ov  entspricht.  An  einer  von 
Teiciimüller  nicht  citierten  Stelle,  Soph.  247  D— E,  248  C,  wird  zwar  eine  i\v- 
va/uig  zum  noieiv  und  eine  ()'vvufn.;  zum  naayfiv  unterschieden;  aber  die  letztere 
besteht  nur  darin,  dass  ein  schon  Bestehendes  (es  ist  Rede  von  den  Ideen)  die 
Möglichkeit  in  sich  trägt,  irgendwie  afficiert  zu  werden.  Eine  Möglicbkeit  da- 
gegen, die  noch  gar  nichts  Wirkliches  ist,  wie  die  aristotelische  Materie  eine 
solche  darstellt  und  die  platonische  Materie  nach  TeichmüUer's  Voraussetzun- 
gen sie  darstellen  müsste ,  kann  auch  aus  dieser  Stelle  nicht  als  platonischer 
Begriff  abgeleitet  werden. 


I 


,    l77 

c.    Die  platoiiisclie  Materie  ist  rter  leere  Kaum. 
(1.  Ii.  die  blosse  Ausclehiinng. 

Die  vorstehenden  Ausführungen  haben  uns  mit  Notwendigkeit 
zu  der  Annahme  gedrängt,  dass  Plato,  wenn  er  die  Aufnehrnerin 
aller  Formen  als  den  Raum  bezeichnet,  damit  in  der  That  auch 
den  Raum,  und  zwar  den  Raum  'als  solchen,  die  blosse  Ausdeh- 
nung, meine. 

Dagegen  ist  nun  eine  Reihe  von  Einwürfen  erhoben  worden. 
Wenn  auch  nur  wenige  von  diesen  ernsthafte  Beachtung  verdie- 
nen, so  möge,  um  jeden  Zweifel  zu  entfernen,  auch  das  Unbe- 
deutendere kurz  berührt  werden. 

1.  Nur  auf  grammatisch  unrichtiger  Textesinterpretation  be- 
ruht es,  wenn  Teichmüller  i)  einwendet,  nach  Plato  erblickten  wir 
die  Materie  wie  im  Traume-);  den  Raum  aber  erblickten  wir  doch 
auch  im  Wachen, 

2.  Nicht  viel  mehr  hat  es  auf  sich ,  wenn  Köstlin  ^)  meint, 
den  blossen  Raum  als  dritte  Gattung  anzunehmen ,  würde  dem 
Plato  nicht  schwer  gefallen  sein,  wohl  aber  habe  er  sich  nur 
schwer  dazu  entschliessen  können,  eine  materielle  Substanz  als 
selbständige  Wesenheit  neben  der  Idee  aufzustellen. 

Allein  zunächst  würde  der  Entschluss,  neben  den  Ideen  noch 
eine  selbständige  materielle  Wesenheit  aufzustellen,  für  Plato  nicht 
nur,  wie  Köstlin  annimmt^  schwer,  sondern  vielmehr,  wie  oben'') 
gezeigt  wurde,  völlig  unmöglich  gewesen  sein.  Dann  aber  ist  es 
keineswegs  richtig,  dass  der  Begriff  des  Raumes  für  Plato  etwas 
so  Selbstverständliches  gewesen  wäre,  zu  dessen  Einführung  als 
dritter  Gattung  es  aller  der  von  ihm  gebrauchten  entschuldigen- 
den Redewendungen  nicht  bedurft  hätte.  Im  Gegenteil  war  ge- 
rade dieser  Begriff  vor  Plato  noch  wenig  untersucht.  Ausdrück- 
lich bemerkt  Aristoteles  •"'),  wenn  auch  alle  die  Existenz  des  Rau- 
mes behaupteten,  so  habe  doch  zuerst  Plato  versucht,  zu  bestim- 
men, was  denn  eigentlich  sein  Wesen  sei.  Ist  es  nun  aber  über- 
haupt die  Art  Plato's  nicht,  deshalb,    weil  etwas  von  der  gemei- 


1)  Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.  S.  329. 

^)  Tim.  52  B.     Teichniüller's   Missverständnis   ist    bereits    S.    139  zurück- 
gewiesen. 

3)  In  Schwegler's  Gt^sdi.  d.  gr.  Phil.«  S.  213  Anm.  12  Ende. 

*)  S.  S.  161  f. 

")  Arist.  phys.  IV  2.  20'.t  1.  Ki-IT. 

Baeuiiiker:  Das  Problem  der  Materie  etc.  12 


178  Zweiter  Alisclmitt.     Philo. 

nen  Meinung  als  wirklich  behauptet  wird,  seine  Wirklichkeit  un- 
besehen und  ohne  Untersuchung  seines  Wesens  hin'/unehmen,  so 
kommt  hier  noch  hinzu,  dass  alle  die  von  Plato  erhobenen  Schwie- 
rigkeiten sich  nicht  nur  auf  die  Existenz  der  fraglichen  Gattung, 
sondern  zugleich  auch  auf  ihr  Wesen  mitbeziehen. 

3.  Auch  darin  liegt  nichts  Bedenkliches,  dass  Plato  die  Ma- 
terie nicht  gleich  von  vornherein  als  den  Raum  bezeichnet,  son- 
dern diese  Benennung  erst  gegen  Ende  seiner  Erörterung  einführt  \). 
Denn  der  grössere  erste  Teil  des  fraglichen  Abschnittes  ist  pole- 
mischen und  vorbereitenden  Gharacters ;  erst  der  Schluss  bringt 
die  principielle  Erledigung  des  Problems  auf  dem  Boden  von 
Plato's  eigenen  Grundanschauungen-). 

4.  Von  dem  Räume  kann  man  nicht  sagen ,  dass  er  teils 
wässerig,  teils  feurig  geworden  sei  (52  D.  51  B)^),  noch  weniger 
—  Überweg  *)  hält  diesen  Umstand  für  völlig  entscheidend  —  dass 
er  von  den  herantretenden  Formen  bewegt  werde  und  diese  hin- 
wiederum bewege  (50  G.  52  E)^). 

Allein  das  erste  ist  eine  potitio  principii.  Wenn  man  den 
Raum  von  dem,  was  ihn  erfüllt,  unterscheidet,  wird  man  freilich 
nicht  mehr  sagen  können,  dass  er  feurig,  wässerig  u.  s.  w.  werde. 
Lässt  man  indessen  mit  Plato  die  kleinsten  Teilchen  des  Feuers, 
Wassers  u.  s.  w.  durch  Begrenzung  der  an  sich  unbestimmten 
Ausdehnung  entstehen,  so  hat  jene  Vorstellung  nichts  Auffallen- 
des. Wenigstens  ist  sie  um  nichts  befremdender,  als  die  von 
Überweg  gebilligte,  dass  eine  vom  Räume  verschiedene  Materie, 
trotzdem  sie  ihre  Natur,  Aufnehmerin  von  allem  zusein,  d.h.  ihre 
Unbestimmtheit ,  unter  jeder  Form  bewahi't  (50  B),  dennoch  feu- 
rig, wässerig  u.  s.  w.  geworden,  d.  h.  in  sich  bestimmt  sein  soll '^). 

Überweg's  letzter  Einwand  aber  kehrt  sich  gegen  ihn  selber. 
Da  er  ausdrücklich  die  Materie  für  etwas  Unkörperliches  erklärt '), 
so  möge  er  es  begreiflich  machen,  wie  denn  ein  solches  Unkör- 
perliches von  den  herantretenden    Formen    bewegt    werden   und 


»)  Bassfreund  S.  25. 

')  S.  S.  134. 

^)  Könitzer  S.  'Jo  f.    Ütierweg  S.  (iO.   'IVicluiinller  S.  329.   Bassfreund  S.  18. 

•*)  A.  a.  S.  (il. 

^)  Zu  diesen  von  I'bervveg  cilieilen  Stellen  hätte  er  88  D  hinzufügen  können. 

•*)  Vgl.  Plutin.  enn.  111  6,  12. 

')  A.  a    0.  S.  58. 


Die  plat.  Materie  der  Raum.  179 

diese  hinwiederum  gleich  einer  Futterschwinge  bewegen  könne. 
Übrigens  ist  jener  Einwand  auch  deshalb  hinfällig ,  weil  die  Vor- 
stellung einer  räumlichen  Bewegung  nur  mit  der  secundären 
Materie  verbunden  wird ,  deren  bloss  mythischer  Gharacter  oben 
nachgewiesen  wurde  ^). 

5.  Es  wäre  ungereimt,  wenn  Plato  rein  mathematischen  Kuben, 
Tetraedern  u.  s.  w.  eine  solche  Gonsistenz  hätte  beilegen  wollen, 
dass  dieselben  einander  zerstossen,  zerschneiden,  zerstücken  kön- 
nen (50  D).  Ebenso  würde  die  Voraussetzung,  dass  jene  Flächen- 
elemente stets  unter  Winkeln  und  Flächen  zusammentreten,  eine 
rein  willkürliche  sein.  Warum  legen  sie  sich  niemals  als  blosse 
Flächen  neben  oder  auf  einander,  so  dass  das  ganze  All  sich  ei- 
nes schönen  Tages  auf  eine  solche  Fläche ,  oder  auch  auf  ein 
Quadrat  und  zwei  Dreiecke  reduciert  repräsentierte  -)  ? 

Indes  Ähnliches  könnte  man  ebensogut  gegen  die  Elementen- 
lehre des  Philolaus  geltend  machen  ^).  Es  ist  ja  richtig,  dass  eine 
solche  Anschauung  den  mathematischen  und  den  physischen  Kör- 
per verwechselt;  aber  eben  hierin  beruht,  wie  schon  des  öfteren 
hervorgehoben  wurde,  der  Fehler,  wie  der  Pythagoreer,  so  auch 
Plato's.  Die  sachliche  Widerlegung  einer  Ansicht  Ihut  nicht  auch 
deren  historische  Unmöglichkeit  dar. 

6.  An  zahlreichen  Stellen  des  Timaeus  schärft  Plato  ein, 
dass  es  ein  Leeres  nicht  gebe  (58  A.  59  A.  60G-79B.  80  G). 
Wenn  nun  Plato,  der  ja  trotzdem  das  Vorhandensein  kleinerer 
leerer  Zwischenräume  {diuxsra)  zwischen  den  nicht  mit  all  ihren 
Flächen  an  einander  sich  legenden  Elementarteilchen  zugiebt  (58 
B.  6ü  E.  61  A.  B)  ,  auch  dazu  im  Innern  der  Elementarteilchen 
zwischen  den  Grenzflächen  leeren  Raum  annähnn*,  so  würde  zu- 


*)  Tim.  50  G  heisst  es  zwar  von  der  primären  Materie:    t'y.,uuyfiov   yä() 

ifviTfi    Tiavrl   xfhdi,   x  i  r  ov  fi  tr  öv  rt   y.iu   <ha(r^rj/iaTiCö,iifvnr  rnn  ri?)v  fiaidviair,  allein 

dieses  xirnnüru  wird  im  Folgenden  auf  die  Aufnahme  und  den  Verlust  der  For- 
men, der  Nachbilder  der  Ideen,  gedeutet.  Schon  Plato  untersdieidet  bekannt- 
lich eine  doppelte  Art  der  y.ivr,au-:  die  qualitative  und  die  ertliche  Veränderung; 
vgl.  Theaet.  181  D  ff.  Parm.  138  B— C.  Dass  dagegen  Tim.  52  D  (wie  auch 
88  D)  auf  die  secundäre  Materie  gehe,  ist  schon  S.l39f.  bemerkt  worden  (vgl- 
auch  S.  137  Anm.  1). 

^)  Sartorius  8.  146. 

■')  S    S.  41  f. 

12  * 


180  Zweitor  Al)sclinitt.     Plato. 

letzt  alles  leer  sein;    Plato's  ursprünglicher    Satz  von  der  Nicht- 
existenz  des  Leeren  hätte  sich  in  sein  Gegenteil  verkehrt '). 

Indes  versteht  Plato  thatsächlich  unter  dem  Leeren  nur  die 
Zwischenräume  zwischen  den  Körpern.  Diese  Zwischenräume 
lässt  er,  um  kein  Leeres  annehmen  zu  müssen,  dadurch  ausge- 
füllt werden,  dass  infolge  des  durch  die  Umdrehung  der  Well 
herbeigeführten  Druckes  nach  innen  und  aus  anderen  Gründen 
die  kleineren  Körper  in  die  von  den  gr()sseren  gelassenen  Lücken 
nach  Möglichkeit  eindringen.  Die  von  den  Obei'flächen  der  Ele- 
mentarteilchen einbegrenzte  Ausdehnung  dagegen  (das  ßä^og  53  C) 
würde  Plato  selbst  nicht  als  leer  bezeichnen,  da  sein  sachlicher 
Fehler  eben  in  der  Verwechselung  des  mathematischen  und  des 
physischen  K()rpers  besteht. 

7.  Wenn  Boeckh  und  Zeller  endlich  besonderes  Gewicht 
darauf  legen,  dass  doch  Plato  selbst  die  Materie  als  den  Raum 
bezeichne,  so  suchen  die  Gegner  darzulhun,  dass  diese  Benennung 
nicht  in  absolutem,  sondern  nur  in  relativem  Sinne  gelte.  Nicht 
als  den  Raum  als  solchen  wolle  l^lato  damit  die  Materie  bezeich- 
nen; es  sei  ihm  vielmehr  die  Materie  der  Ijesondere  Stoff,  wel- 
cher den  in  ihn  eintretenden  Ideen  resp.  deren  Nachbildern  Platz 
und  Raum  gewähre  2). 

Schon  die  Alten  haben  sich  in  dieser  Weise  mit  dem  Aus- 
drucke abgefunden.  Aristoteles  hält  an  einer  Stelle  ^)  dem  Plato 
vor,  dass  er  die  Materie  als  das  an  den  Ideen  Teilhabende  be- 
zeichne und  sie  zugleich  mit  dem  Orte  identificiere ,  gleichwohl 
aber  inconsequenter  Weise  behaupte  4),    die  Ideen  seien  nicht  im 


')  Sai'torius  S.  144  f.     Vs;].  sclion  Tennemann.  Gesch.  d.  Philos.  II,  401. 

-)  Könitzer  S.  2(i.  Überweg  S.  Ol.  TeicIimüUer  S.  330.  Sarlorius  S.  145. 
156.  166.  Bassfreund  S.  26  f.  Letzterer  meint  (S.  27),  in  dem  Au.sdrucke  yi'i()a 
mehr  als  eine  Mos.se  Bezeichnung  für  die  Beziehung  der  Materie  zu  erblicken 
und  ihn  auf  den  leeren  Raum  zu  deuten,  iiätte  nicht  im  geringsten  mehr  Be- 
rechtigung, als  wenn  jemand  l)ehauptete,  die  Materie  des  Aristoteles  sei  Hcdz, 
weil  er  sie  mit  '^^Itj  J)ezeiciine.  —  Aiier  v?.y  liei  Aristoteles  ist  ein  offenbarer 
Tropus,  ;f»)(*«  dagegen  ist  auch  in  der  Grundi)edeutung  philosophischer  termi- 
nus  technicus.  Einen  solchen  aber  wendet  man  doch  wenigstens  nicht  ohne 
besondere  Veranlassung  an,  um  etwas  ganz  anderes  damit  zu  bezeichnen. 

■')  Arist.  phys.  IV  2,  209  b  33— 3(K)  a  2. 

")  Vgl.  Plat.  Tim.  52  B— G  Auch  Arist. phys.  III  4,  203  a  9  scheint  sich 
auf  diese  Stelle  zu  beziehen. 


Die  i)lal.  .Materie  der  Raum.  181 

Orte.  Dazu  bemerkt  nun  Pliiloponus '),  Aristoteles  halte  sich  bei 
seinem  Tadel,  wie  gewöhnlich,  an  den  blossen  Wortlaut-).  In  Wahr- 
heit meine  Plato,  wenn  er  die  Materie  als  Ort  oder  Raum  be- 
zeichne, damit  nicht  den  von  Aristoteles  untersuchten  Raum,  d.  h. 
den  Raum ,  welcher  die  aus  Materie  und  Form  zusammenge- 
setzten Körper  aufnehme.  Sein  Ausdruck  sei  vielmehr  nur  im 
analogen  Sinne  {xar'  äralnYi'av)  zu  verstehen;  wie  jeder  aus  Ma- 
terie und  Form  zusammengesetzte  physische  Körper  im  Orte,  so 
sind  die  physischen  Formen  {(fvoixd  eMij^);  gemeint  sind  die 
ein-  und  austretenden  Nachbilder  der  rorjid  ddrj,  der  Ideen)  in 
der  Materie.  So  nenne  ja  auch  Aristoteles,  den  Piatonikern  zu- 
stimmend, in  seiner  psychologischen  Schrift  selbst  die  Seele  den 
Ort  der  Ideen*).  Wie  aber  die  psychischen  Formen  zur  Seele, 
so  verhalten  sich  die  physischen  Formen  zur  Materie.  Nur  in 
analogem  Sinne  —  das  ist  der  von  Philoponus  wiederholt  aus- 
gesprochene Gedanke  ^)  —  werde  also  die  Materie  von  Plato  als  Ort 
oder  Raum  bezeichnet.  Fast  genau  dasselbe,  mit  Einschluss  der 
Beziehung  auf  das  Wort  von  der  Seele  als  dem  Ort  der  Ideen, 
hören  wir  bei  Simplicius  *').  Auch  er  leugnet,  dass  Plato  den 
von  Aristoteles  untersuchten  Raum,  d.  h.  den  Ort  der  Körper, 
meine.  Über  den  Rauui  in  diesem  Sinne  habe  sich  Plato  über- 
haupt nicht  ausgesprochen  ').  Nicht  Ort  der  Körper  sei  für  ihn 
die  xMaterie,  sondern  Ort  der  Formen  ^),  und  zwar  der  physischen 
Formen 3).  So  behaupte  schon  Alexander  von  Aphrodisias, 
dass  Plato  nur  bildlich  {ixezuqoQixwc)  die  Materie  als  den  Raum 
bezeichne  "^).   Bloss  bildlich,  meint  freilich  Simplicius,  sei  der  Ge- 


*)  Philopon.  phys.  quat.  n  fol.  4^  Z.  55  ff. 

'^)  t6  (fuivöinvov  t'/.iyiMv.  Der  gleiche  Vorwurf  bei  Simpl.  phy.s.  IV,  p.  540,4; 
de  cael.  III,  p.  253  b  18  Karsten. 

^)  Vgl.  ausser  der  Anni.  1  citierten  Stelle  auch  ebend.  fol.  6^  Z.  3  ff. 

*)  Arist.  de  an.  III  4,  4!29  a  27. 

*)  Philopon.  phys.  quat.  n  fol.  .5r  Z.  ±  49.  fol.  6  Z.  6. 

«)  Simpl.  phys.  IV,  p.  540,  3  ff. 

■')  A.  a.  0.  p.  541,  3. 

*)  p.  541,  3;  ebenso  in  dem  Corollarium  über  den  Raum,  p.  643,  5. 

^)  der  svvla  tV(fr,  p   539,  10;  545,  27  (dasselbe  wie  Philopon's  qr^aixd  (i'tftj). 

'*')  p.  540,  ^22.    Weniger  genau  und   mehr  im   Anschluss  an  Plato's  Worte 

sagt  Simplicius  phys.  I,  p.  231,  37  von  der  Materie,  sie  sei  o/ov  x'-k'^  r"'^'  yf^i- 

To)v  i  £  xal  aia&fjTo'ir.  Ähnlich  Ghalcidius  in  Tim .  c.  350:  locum  vero  j^ropterea,  quod 

Silva  receplaculum  et  corporum   et    qualitatum    ceterorumque   sensibilium  (vgl. 


182  Zweiter  Ahscliiiitl.     Plato. 

brauch  doch  auch  wieder  nicht,  da  der  IJcgrilT  des  Aufnehmen- 
den in  der  Thal  uiil  dem  Begriffe  des  l'laLzeinräumenden  oder 
des  Raumes  etwas  gemein  habe ').  Wenn  dagegen  Plato  im  Phae- 
drus  (274  G)  die  Ideen  an  den  „übcrweltlichen  Ort"  versetze ,  so 
fasse  er  das  Wort  in  einer  völlig  verschiedenen,  freieren  Bedeu- 
tung, nämlich  im  »Sinne  von  Rangstufe  2).  Wie  Simplicius,  lehrte 
schon  vor  ihm  Proclus,  dass  die  Materie  der  Raum  für  die 
Form  sei  =5),  und  ebenso  mehite  Themislius ''),  dass  Plato  wohl 
nur  bildlich  {fikxmjoQixwi;)  sich  des  Wortes  „Ort"  bediene-'').  Bis 
zu  dem  Doxographen  A  e  t  i  u  s  lässt  sich  diese  Behauptung  ver- 
folgen, dass  Plato  nur  metaphorisch  die  Materie  als  Raum  be- 
zeichne'').  Dass  schon  Theophrast  diese  Deutung  gegeben 
habe,  wie  Sartorius '')  ohne  weiteres  daraus  folgert,  dass  sie  von 


auch  c.  344:  at  vero  locum  vocat  eani  —  sc.  silvani  —  velut  regionem  quan- 
darn  suscipientem  specierum  incorporearum  intelligihiliuinque  siiiiulacra). 

^)  Siiupl.  phys.  IV,  p.  540,  31:  ft  yd(>  t6  /.ttxaXaiJliävov  Tiro^  xai  uQi^ößfvov 
vn  ariov  (ifffiai  exeivo  ö  (lies  ov)  fifTu?.a/nl-ittV(i ,  t6  li'e  iff^ö/jnujv  xa'i  -^oyQOvv  ario 
■j[")ii(^  yivfTcii  Tijv  tyyiru/ifvoi\  ■tj  äi  X"'0"  roVos  Vfviifiiarai,  ittTukuf^ißin'fi  li'f  tiTiV  fuhnt^ 
if    v?.tj,  TOTTog     civ      fh]     Tii)V     fuhnv      TiXi]V     ov^    ">c     anyur/Tnir.        Die      Bezcicll- 

nung  der  Materie  als  zJjioe  wird  also   erklärt   durch   die  Gleiclisetzung  von  fie- 

xaXafJiiuvov    unil    ihyn/ifvov ,     (1cj[<'ifx(i'ot  und    y<oQovv^   yjDQorp  und   yin(ia ,     yd^a  und 

Tonoi-,  was  den  vollen  Beifall  von  Sartorius  (a.  a.  O.  S.  166)  findet.  Solche 
etymologisclie  Spielereien  mit  /'"'c«,  yciifjorv  u.  dergl.  finden  sich  auch 
sonst.  So  hat  schon  Aristoteles  phys.  IV  1 ,  208  h  99  ff.  das  /«ot,-  des  Hesiod 
mit  ycioa  und  durch  Vermittelung  dieses  Woiles  mit  TÖnng  gleichgesetzt,  wozu 
Simplicius  (p.  5'27,  17  ff.;  vgl.  523,  17  ff.)  mit  weiterer  Ausführung  der  Etymo- 
logie bemerkt:  coi-  'liai6d'of>  tv  if,  hioyovin  (v.  116}  ktyovTOi'  „riroi  piev  nQoniata 
ydog  ye'vfto  ,  xai  ror  ydog  and  tov  ^w  QtjjiiuTOi  d'oxovvTog  yfyovivai  xai  tftd  Tovro 
ro   y(i)()  tjT  i  X  ö  1-'  (fi/Xoi'»,    üjU()   lavtöv  iati  zw   zmiixiti   xzX,   (zonog  gleich   yo^n/tixor 

om/i((T',>v  auch  Simpl.  phys.  IV,  p.  618,  9).  Ebenso  legt  Arius  Didymus  bei  Sto- 
baeus  ecl.  I.  p.  390  (Diels,  Doxogr.  p.  460,  24)  dem  Chrysipp  die  Erklärung  von 
/(.)()«  (im  Unterschied  von  tüthk-)  als  des  y>(jovv  ,afit:<n'  aouxa  bei.  Auch  Ast, 
Abh.  d.  Müncii.  Ak.  1835,  S.  52  f.,  gefällt  sich  in  derartigen  Etymologien. 

2)  tili  zd^ia.g  clifjuQiafi.U  phys.  p.  522,  8;  541,  2-12;  641,  36. 

3)  )["^Qa  Tcov  fiö'rov  xai  iii.ioi  Procl.  in  Tim.  117  D. 
*)  Wohl  nach  Alexander's  Physik-Gommentar. 

^)  Themist.  in  Arist.  phys.  IV,  p.  259,  28  Spengel. 

*>)  Flut.  plac.  1  19,  Stob.  ecl.  I,  p.  390  (Diels,  Doxogr.  p.  317):  ll/.,a,ov  tov,uv 
fivai  To  fifTahj/iTixöv  (nach  Arist.  phys.  IV  2,  209  b  12;   bei   Plato  Tim.  51  A: 

utTaXa/Lißdvov)  rwv  f/on'iv,  oy'f^i  f'i\n,xf  inraifufiixmi:  liji!  'olrjv  xalhintfi  ztvd  Ti&ijvriV 
xai   rff^afifVijv. 

')  A.  a.  0.  S.  167. 


Die  plat.  Materie  der  Raum.  183 

Aetius  aufgeslellt  wird,  ist  durch  diesen  Umstand  freilich  noch 
nicht  erwiesen,  ist  viehnehr  in  hohem  Grade  unwahrscheinlich, 
hides  wenn  es  sich  auch  so  verhielte,  so  wäre  eine  kritische  Be- 
merkung Theophrasl's  zwar  zu  beachten;  keineswegs  aber  würde 
ihr  die  von  Sartorius  beanspruchte  entscheidende  Bedeutung  zu- 
kommen 1). 

Dass  Plato  thatsächlich  die  Worte  Raum ,  Ort  und  gleichbe- 
deutende in  bloss  relativem  Sinne  verwende,  sucht  Bassfreund  ^) 
aus  dem  Sprach  gebrauche  des  Philebus  zu  beweisen. 

Es  hätte  dieses  Hinweises  nicht  bedurft.  Selbstverständlich 
kann  man  jedes  Ding,  welches  ein  anderes  in  welcher  AVeise  auch 
immer  in  sich  aufninnnt,  als  den  Ort  des  letzteren  bezeichnen. 
Wenn  darum  zwei  Seinselemente  in  eine  solche  Beziehung  zu 
einander  treten,  dass  das  erste  durch  das  zweite  näher  bestimmt 
wird,  so  liegt  es  i^iberaus  nahe,  dieses  Verhältnis  dadurch  an- 
schaulich zu  machen,  dass  man  sagt,  das  erste  gewähre  dem 
zweiten  Raum  oder  Sitz  u.  dgl. 

Aber  nicht  auf  die  Möglichkeit  eines  solchen  Tropus  kommt 
es  an.  Es  heisst,  was  die  Gegner  der  Boeckh-Zeller'schen  An- 
sicht ganz  übersehen,  im  Timaeus  eben  nicht,  die  xMaterie  sei  der 
Ort  oder  der  Sitz  für  die  Formen,  was  allein  der  Ausdrucks- 
weise des  Philebus  entsprechen  würde  ^),  sondern  ohne  alle  Be- 
schränkung, die  dritte  Gattung  sei  der  Raum  -).  Wenn  man  frei- 
lich mit  den  Neuplatonikern  unter  dem  Räume  alles  Mögliche 
versteht,  z.  B.  mit  Proclus  das  Licht,  und  zwar  das  monadische, 
über  das  triadische  des  Empyreums,  des  Äthers  und  der  hyhschen 


^)  Vgl.  Freudenthal,  Über  die  Theologie  des  Xenophanes,  S.  41. 

^)  Bassfreund  S.  '■21  Anm.  2:  „Dass  die  Ausdrücke  f'ffpf' und /'"'()«  aucli  sonst 
von  Plato  in  gleichem  Sinne  mit  tfvait;  (hyoiievi,  geJjraucht  werden,  mag  ein 
analoges  Beispiel  aus  dem  Philebos  zeigen.  Dort  wird  (!^5  D)  das  laniQov  nä- 
her als  eine  tfi^ai^  tö  nüllüv  tt  y.a'i  ijTrof  i)fx"ui:vi,  bestimmt  (vergl.  daselbst 
■124  E  und  27  E),  wofür  kurz  vorher  (24  D)  der  Ausdruck  1]  rur  iia'/.'/.op  yai 
litiov  .  .  .  e(f()a  und  unmittelbar  darauf  auch  x"'(>''  gebraucht  wird." 

^)   Wie   Phileb.    24   D    t]     luC-     /lä/./.or     y.ai    i^rrov    yif(in   und    ij   kz'tiov   yincia. 

Das  airnQov  des  Phllebus  fällt  ja  auch  nicht  mit  dem  Räume  zusammen,   son- 
dern ist  der  weitere  Begriff,  welcher  den  des  Raumes  mit  unter  sich  befasst  (s.  u.). 

*)  52  A:  16  Tiji  yitiitai.    52  D  werden  als  die  drei  Gattungen  aufgezählt  ox\ 


184  Zweiter  Abschnitt.     I^lato. 

Natur  erljabene  Licht  '),  und  ilaiiii  deri^Meichen  aucli  als  Lehre 
Plato's  angiebt  ^) ,  so  wird  man  allerdings  von  vornherein  den 
Gedanken,  dass  Plato  unter  der  Materie  nichts  anderes  als  den 
Kaum  verstehe,  abweisen  oder  ihn  vielmehr  gar  nicht  fassen  kön- 
nen. Aber  was  hindert  uns,  im  Anschluss  an  Aristoteles  anzu- 
nehmen, dass  Plato  unter  dem  Räume  eines  Körpers  die  Ausdeh- 
nung vorstehe,  welche  von  seinen  Oberflächen  begrenzt  ist  ■^),  un- 
ter dem  Räume  als  solchem  also  die  Ausdehnung  überhaupt? 
So  ergiebt  sich  eine  vom  platonischen  ^tandpuncte  aus  in  sich 
durchaus  widerspruchslose  Anschauung. 

Fassen  wir  das  Resultat  unserer  Erörterungen  zusammen. 
Was  man  für  eine  vom  leeren  Räume,  d.  h.  der  blossen  Aus- 
dehnung, verschiedene  Materie  anführt,  ist  nicht  stichhaltig.  Was 
man  gegen  die  Ansicht,  Plato  identifiziei-e  die  Materie  mit  dem  leeren 
Raum,  der  blossen  Ausdehnung,  vorbringt,  ist  ebenso  hinfällig.  So- 
nach bleibt  nur  die  eine  Möglichkeit:  das,  was  bei  Plato  die 
Stelle  der  von  Aristoteles  so  genannten  Materie  vertritt^  ist  der 
leere  Raum,  die  blosse  Ausdehnung. 

Die  aus  dem  Timaeus  selbst  für  diese  Auffassung  zu  entneh- 
menden Gründe  wurden  bereits  im  Voraufgehenden  entwickelt. 
Sie  seien  hier  kurz  zusammengestellt. 

i.  Plato  bezeichnet  die  dritte  Gattung  ohne  irgend  eine  Ein- 
schränkung als  den  Raum.  Durchschlagende  Gründe,  diese  Aus- 
drucksweise anders  zu  deuten,  als  nach  ihrem  natürlichen  Sinne, 
sind  nicht  beigebracht  worden. 

2.  Die  geometrische  Gonstruction  der  Elemente  lässt  keine 
vom  leeren  Räume  verschiedene  Materie  zu.  Die  Versuche,  jene 
Theorie  als  bloss  hypothetisch  oder  doch  als  ausser  Zusammen- 
hang mit  den  Grundanschauungen  des  Timaeus  stehend  zu  erwei- 
sen, sind  misslungen. 

Dazu  kommt  noch  eine  andere,    mehr  principielle  Erwägung, 


')  Simpl.  pliys.  coroll.  de  loco  p.  612,  29.  Vgl.  Proel.  in  Parm.  VI,  col. 
1044  Gous-. 

*)  So  stützt  Proclus  seine  phantastische  Theorie  auf  Plat.  rep.  X,  616  B; 
vgl.  Simplic.  1.  c. 

3)  Arist.  phys.  IV  1,  209  b  6—9.  Auch  Sini])!.  phys.  IV,  p.  571,  22—26  er- 
wähnt, dass  nach  der  Ansicht  Einiger  (die  das  wohl  aus  jener  Stelle  der  ari- 
.stotelischen  Physik  folgerten)  der  Raum  bei  Plato  sei:    ta    öidair,(ia   td   /utra^v 

T(öv   fa^ci(<i)v   Xiir    yifQiiyurtog, 


Die  phit.  Materie  der  Raum.  185 

deren  Prämissen ')  wenigstens  bereits  durch   Siinplicius  ^)   an  die 
Hand  gegeben  werden. 

Der  Begriff  der  Materie  wird  ein  verschiedener  sein,  je  iiacli 
den  Voraussetzungen ,  die  zu  ihm  führen.  Bei  Aristoteles  ent- 
springt derselbe  einer  Analyse  des  Werdens.  Alles  Werden  be- 
wegt sich  zwischen  Gegensätzen.  Diese  Gegensätze  aber  verlan- 
gen ein  bleibendes  Subject,  dessen  Bestimmungen  sie  sind,  an 
und  aus  dem  sie  sich  entwickeln.  Das  Werden  ferner  ist  einer- 
seits kein  Werden  aus  nichts,  andererseits  keine  bloss  qualitative 
Veränderung;  es  verlangt  daher  als  Vorbedingung  die  Möglichkeit 
des  substantialen  Seins,  d.  h.  die  Materie.  Hier  erscheint  also 
das  wirkliche  Sein  nicht  als  etwas  getrennt  neben  und  über  der 
Materie  Stehendes;  diese  ist  vielmehr  die  natürliche  Grundlage, 
welche  im  wirklichen  Dinge  aus  ihrer  alles  umfassenden  Anlage 
zu  einem  bestimmten  Sein  geführt  wird,  zu  dem  sie  von  sich 
aus  bereits  eine  Beziehung  einschliesst. 

Anders  bei  Plato.  Zwar  geht  auch  er  vom  Werden  aus, 
wenn  er  in  dem  gegen  die  Naturphilosophen  gerichteten  polemi- 
schen Teile  des  behandelten  Timaeusabschnittes  zeigt ,  dass 
die  von  jenen  aufgestellten  Elemente  aus  dem  Grunde  nicht  wahre 
Urstoffe  sein  könnten ,  weil  bei  dieser  Voraussetzung  der  von 
ihnen  angenommene  Kreislauf  der  Elemente,  d.  h.  die  Erschei- 
nungen des  Werdens,  keine  ausreichende  Erklärung  finden  würde. 
Aber  wo  er  seine  eigene  Meinung  darlegt,  verändert  er  völlig 
Ausgang  und  Richtung  des  Gedankens.  Nicht  einer  bloss  imma- 
nenten Analyse  unterzieht  er  hier  den  Begriff  des  Werdens,  um 
aus  der  Natur  des  Werdens  die  Elemente  des  Werdenden  her- 
auszuschälen, sondern  er  stellt  das  Werdende  auf  die  eine,  das 
wahrhaft  Seiende  auf  die  andere  Seite  und  fragt,  wie  denn  aus- 
ser dem  wahrhaft  Seienden  überhaupt  ein  Werdendes  möglich 
sei.  Nicht  wie  aus  einem  Sinnendinge  ein  anderes  entstehe,  ist 
hier  Problem ,  sondern  wie  überhaupt  Sinnendinge  neben  den 
Ideen  sich  begründen  lassen.  Diese  Möglichkeit  aber  rettet  Plato 
dadurch,  dass  er  die  Idee  als  beständiges  Urbild,  die  Erscheinung 
als  wechselndes  Abbild  und  Gleichnis  betrachtet.    Nun  kann  aber 


')  Denn  den  Schlussatz,   dass  der  Begriff  der  Potenz  dem  Plato  noch  fremd 
sei,  stellt  Simpl.  phys.  I,  p.  242,  8  f.  in  Abrede. 
^)  Simpl.  phys.  I,  p.  223,  '27  ff. 


186  Zweiter  Al)sclinitl.     l'liilo. 

—  uiitl  duniil  ist  dcv  eiilsclieidendc  Grund  ')  für  Plalo's  drillu 
Galluiig  gegeben  ein  solches  Abbild  und  Gleichnis  nicht  gedacht 
werden  ohne  ein  Substrat,  in  welchem  die  Nachformungen  der 
idealen  Urformen  ein-  und  austreten  -)•  Höchst  schwierig  muss 
es  sein,  diese  Gattung  des  Aufnehmenden  ihrer  Natur  nach  zu 
beslinnnen.  Als  wirklicher  Stoff  darf  dieselbe  rjicht  gedacht  wer- 
den; denn  als  seiend  müsste  ein  solcher  Stoff  ein  Sein  schon  von 
der  Idee  empfangen  haben;  er  würde  also  wieder  einen  anderen 
Stoff  voraussetzen,  und  so  fort.  Der  Begriff  des  bloss  möglichen 
Seins,  auf  den  Aristoteles  das  Wesen  der  Materie  zu)'ückfiihrt,  ist 
dem  i^lato  noch  fremd.  So  bleibt  nur  ein  Sein,  das  in  Wahrheit 
kein  Sein  ist,  nur  die  Form  eines  Seins:  die  unerfüllte  Ausdeh- 
nung, der  leere  Raum,  hidem  nun  die  an  sich  unbegrenzte  Aus- 
dehnung durch  bestimmte  Gestalten  nach  dem  Muster  der  Ideen 
begrenzt  wird,  entstehen  die  Körper,  Alles  Sein  derselben,  d.  h- 
alle  ihre  Bestimmtheit ,  resultiert  also,  wie  es  der  unbezweifelte 
Grundgedanke  des  entwickelten  platonischen  Systems  verlangt, 
aus  den  Ideen;  nur  das  Auseinander,  die  Zerteilung  des  Körper- 
licheU;  ist  Folge  der  Materie.  Freilich  ist  es  schwierig,  einen  sol- 
chen Gedanken  auszudenken.  Wir  werden  den  Neuplatonismus 
darum  in  machtvollen  Anstrengungen  mit  dem  Probleme  ringen 
sehen ,  wie  das  Gleiche  in  der  Idee  in  Einheit,  im  Materiellen  in 
Geteiltheit  sein  könne. 

Man  könnte  es  ferner  widersinnig  finden,  dass  der  blossen 
Form  der  Ausdehnung  eine  objective  Bedeutung  beigelegt  werden 
soll.  Aber  eine  solche  Hypostasierung  entspricht  durchaus  dem 
antiken  Begriffe  des  Realismus.  Sie  ist  in  nichts  befremdender, 
als  wenn  dem  Aristoteles  der  abstract- logische  Begriff  der  Mög- 
lichkeit eines  physischen  Seins  zu  einer  realen  Voraussetzung  al- 
les bestimmten  körperlichen  Daseins  sich  verdichtet.  Man  wende 
darum  auch  nicht  ein,  dass  auf  diesem  Wege  erst  der  mathema- 
tische Körper  construiert  werde.  Gerade  darin  besteht  nämlich 
der  leicht  erklärliche,  von  Aristoteles  bezeugte  ^)  Fehler  des  Nou- 
menalisten  Plato,  dass  er  mit  dem  mathematischen  Körper  zu- 
gleich schon  den  physischen  gegeben  glaubt.  Hat  er  sich  doch 
redlich  bemüht,  auch  die  physikalischen  Eigenschaften  der  Körper, 


*)  Die  xrQKüidiii  ania,  Sliiipl.  phys.  I,  p.  224,  ''21. 
2)  S.  S.  113.  ~  s)  S.  S.  171  Anm.  4.  g.  E. 


Die  pkit.  Materie  der  Ilauiii.     Ihre  Uneiilslaudeiilieil.  IHl 

die  sinnlichen  Qualitäten  derselben,  aus  der  mathenuitischen  Ge- 
stalt ihrer  kleinsten  Teilchen  abzuleiten ').  Nicht  einmal  allein 
steht  Plato  mit  dieser  Verwechselung.  Denselben  Fehler  haben 
wir  bei  denjenigen  gefunden,  an  welche  Plato  sich  ijn  Laufe  der 
Zeit  immer  inniger  anschlüss,  bei  den  späteren  l^ythagoreern  2). 
Dem  Nihilismus  eines  Gorgias^)  aber  oder  der  extremen  Fluss- 
theorie der  Protagoreei-  des  Theaelet  ■*)  gegenüber  hat  die  Sinnen- 
welt Plato's  doch  immerhin  eine  noch  recht  ansehnliche  llealität. 
Finden  wir  nun  aber  gar,  dass  noch  Descartes  und  in  etwas  an- 
derer Weise  auch  Spinoza  das  Wesen  des  Körpers  in  die  blosse 
Ausdehnung  setzen,  so  dürften  wir  doch  wohl  gegen  den  Vorwurf 
gesichert  sein,  als  drückten  wir  den  Plato  auf  einen  allzu  nie- 
drigen Standpunct  hinab,  wenn  wir  ihm  die  Ansicht  beilegen, 
dass  die  Materie  mit  dem  Räume ,  d.  h.  der  Ausdehnung ,  iden- 
tisch sei  ^).   .. . 

c.    Uueuti^taudeiilieit  der  platoiiiüiiclieu  Materie. 

Im  Voraufgehenden  sind  wir  auf  die  Frage  näher  eingegan- 
gen, ob  Plato  die  Materie  dualistisch  der  Gottheit  als  unenlstan- 
den  und  gewissermaassen  als  ihren  negativen  Gegenpol  gegenüber- 
stelle, oder  ob  er  dieselbe  aus  der  Gottheit,  sei  es  ewig  oder  in 
der  Zeit,  hervorgegangen  denke. 

Die  Hauptstelle  des  Timaeus  (51  E),  welche  hinsichtlich  aller 
übrigen  Prädicate  das  Verhältnis  der  drei  Gattungen :  der  Ideen, 
der  Sinnenwelt  und  der  Materie,  genau  bestimmt,  lässt  ims  hier 
im  Stich.  Sie  bezeichnet  zwar  die  Idee  als  ungeworden,  die  Sin- 
nenwelt als  geworden;  bei  der  dritten  Gattung,  der  Materie,  aber 
ist  die  Frage,  ob  geworden  oder  ungeworden,  völüg  übergangen*'). 
Daraus  hat  nun  Boeckh^)  geschlossen,  dass  Plato  die  Materie  als 
geschaffen  ansehe;  denn  wenn  er  sie  als  ewig  betrachte,  warum 
sage  es  es  denn  nicht?     Ein  solches   argumentum  ex  silentio  in- 


1)  S.  S.  171.  —  -)  S.  S.  37  f.  43. 

ä)  S.  S.  lOS.  —  ^)  S.  S.  96  ff. 

^)  Zwar  nimmt  Descartes  (princ.  philos.  II,  21)  eine  unendliche,  Plato  eine 
kugelförmig  begrenzte  (Tim.  33  B)  Gestalt  der  Welt  an;  aber  für  Descartes  ist 
ja  die  wirkliche  körperliche  Substanz  schon  durch  die  blosse  Ausdehnung  gegeben, 
wälirend  Plato  als  weiteres  Element  der  erscheinenden  Wirklichkeit  die  be- 
grenzende Form  verlangt. 

«)  S.  S.  136.  —  ')  A.  a.  0.  S.  33. 


188  Zweiter  Abschnitt.    Plato. 

dessen  wird  von  Könitzer^)  mit  gleichem  Rechte  in  die  Gegen- 
frage umgekehrt:  wenn  Plato  meine,  die  Materie  sei  geschaffen, 
weshalb  sage  er  es  dann  nicht? 

Einen  anderen  Weg  hat  der  Neiiplatoniker  Proclus  einge- 
schlagen. Er  beruft  sich  2)  auf  eine  Stelle  des  Philebus  (23  G), 
wo  es  heisst,  dass  der  Gott  das  Seiende  teils  als  Unbegrenztes, 
teils  als  Begrenztes  gezeigt  habe  ^).  Jn  der  Verwertung  dieser 
Stelle  sind  ihm  u.  a.  der  Cardinal  Bessarion  '^)  und  Gale  •^)  ge- 
folgt. Allein  schon  Mosheim  ^'y  bemerlct,  dass:  „er  habe  gezeigt" 
{rhi^ai),  nicht  heisse:  „er  habe  hervorgebracht" ''),  und  weiterhebt 
Martin  ^)  mit  Recht  hervor ,  dass  die  Stelle  deutlich ")  auf  eine 
frühere  (16  G)  zurückweise,  wo  nur  die  Erkenntnis,  das  alles 
aus  Grenze  und  Unbegrenztem  zusammengesetzt  sei ,  als  eine 
durch  Prometheus  vermittelte  Gabe  der  Götter  bezeichnet  werde**). 

Dass  in  Wirklichkeit  das  platonische  System  einen  ursprüngli- 
chen dualistischen  Gegensatz  der  Idee  und  der  Materie  verlangt,  er- 
giebt  sich  zweifellos  aus  der  späteren  Form  der  platonischen  Lehre, 
wie  uns  dieselbe  namentlich  aus  den  aristotelischen  Berichten  bekannt 
ist.  Hier  treten  die  zwei  Prinzipien,  das  Eine  und  das  Unbe- 
grenzte, überall  als  gleich  ursprünglich  auf.  Eine  Ableitung  des 
einen  aus  dem  andern  ist  nicht  nur  dem  Aristoteles  gänzlich 
fremd,  sondern  würde  auch  die  ganze  Lehre  unverständlich 
machen. 


')  A.  a.  0.  S.  27. 

2)  Procl.  in  Tim.  117  B. 

^)  Pllileb.  i23  C:    t6v  &fdv  ikeyainv   /cov  i6   iifv  a7rn(iop  ihT^ai    tiTiv   uvt">v  ,    ro 

■•)  contr.  calumn.  Fiat.  1.  11  c.  5  (fol.  18^  inf.  ed.  Aid.). 

*)  lamhlicii.  de  uiyster.  Aegypt.  ed.  Th.  Gale,  Oxon.  1678.  p.  276. 

")  zu  Cudvvorth,  Systema  intellecluale.  Jenae  1733,  p.  975. 

')  „in  lucem  protulisse",  übersetzt  Bessarion  ausweicliend. 

*-)  Etudes  11,  p.  185. 

■')  wegen  der  Worte:  ikiyunev  7iuv. 

'*)  Mit  mehr  scheinbarem  Recht  könnte  man  sich  auf  Phileb.  27  B  f.  beru- 
fen: Ovxuri-  rd  ,ucv  y/yvu/xfva  xnl  t'^  ö)V  yi'yvfKu  (d.  h.  aUS  Üjihqov  und  TifQag) 
7iävTa  Ja  TQta  7iaQiay[fto  ij/.ti»  yevij ;    Kai  /tn?M.     Tu   (ff    (h)    nävra  ravta  (Ujfiiat-Q- 

yovv  If'yoiiev  ittaQivv,  ii]v  ahiav.  Indes  ist  hier  Turia,  wie  Martin  II,  186  er- 
innert, nur  auf  r«  ^y/Jafia,  nicht  auch  auf  das  andere  GHed  der  Einleitung, 
zu  beziehen. 


Die  Materie  unentstamlen.    Die  anG^ehliche  Materie  der  Republik.        189 

4.    Die  angebliche  Materie  in  Republik,  Sophistes, 
Parnienides  und  Philebns. 

Als  natiirphilosophischer  Grundbegriff  fand  der  BegriCf  der 
Materie  seine  ausführliche  Behandlung  in  dem  naturphilosophi- 
scher Spcculation  gewidmeten  Timaeus.  Schon  neuplatonische 
Schriftsteller  indes  wollten,  wofür  ein  Beispiel  uns  soeben  begeg- 
nete, jenen  Begriff  unter  verschiedenen  Bezeichnungen  auch  in  an- 
deren Dialogen  wiederfinden.  Es  gehören  hieher  Republik,  So- 
phistes, Parmenides  und  Philebus;  denn  was  man*)  im  Politicus 
gelegentlich  auf  die  Materie  mitbezieht  2),  steht  mit  dieser  einge- 
standenermaassen  jedenfalls  in  einem  so  losen  Zusammenhange, 
dass  wir  hier  davon  absehen  dürfen. 

Republik,  Sophistes,  Parmenides  bilden,  was  die  fraglichen 
Ausführungen  betrifft,  eine  Gruppe  für  sich.  Sie  würden,  wenn 
jene  Deutung  der  Absicht  Plato's  entspräche^  den  Gegensatz  von 
Materie  und  Idee  noch  schärfer  imd  tiefergreifend  fassen,  als  die- 
ses im  Timaeus  der  Fall,  indem  sie  der  Idee  als  dem  Seienden 
die  Materie  als  das  Nichtseiende  gegenüberstellen  und  so  das 
Werdende  als  Vereinigung  von  Sein,  d.  h.  Idee,  und  Nichtsein, 
d.  h.  Materie,  erklären  wäh'den.  Der  Philebus  dagegen,  welcher 
eine  Erklärung  der  Wirklichkeit  auf  Grund  des  Gegensatzes  zwi- 
schen Begrenztem  und  Unbegrenztem  geben  will,  würde  den  Be- 
griff der  ]\laterie  auf  eine  noch  allgemeinere  Bestimmung  zurück- 
führen. 

a.    Republik* 

Aus  der  platonischen  Republik  hat  man  für  die  Lehre  von 
der  Materie  jene  grundlegenden  Erörterungen  des  fünften  Buches 
zu  verwerten  gesucht,  welche  den  metaphysischen  Gegensatz  von 
Sein,  Werden  und  Nichtsein  im  Zusammenhange  mit  dem  psycho- 
logischen von  Wissen,  Meinen  und  Nichtwissen  behandeln  ^).  Die 
Erkenntnis,  heisst  es  dort,  geht  auf  das  Seiende,  die  Meinung  auf 
das  Werdende,  das  Nichtwissen   auf  das  Nichtseiende.    Wie  nun 


1)  Susemihl,  Genet.  EntwicI^el.  I,  r!18  f.  II,  511.  Sieheck,  Untersuchungen, 
S.  118  f. 

*)  Politic,  p.  283  £f. 

^)  Siebeck,  Untersuchungen,  S.  70  f.  Vgl.  Zeller  IP  a,  613.  J.  Huber, 
Forsch,  n.  d.  Mat.  S.  6. 


11)0  Zweitor   Ahsclinitt.     Plalo. 

die  Mi'iiiuiig  millou  zwischen  dein  Wissen  und  Nichtwissen,  so 
müsse  au  eil  das  Werdende  mitten  zwischen  dem  Sein  imd  dem 
Nichtsein  stehen  ').  Es  hat  Teil  an  beidem,  am  Sein  wie  am 
Nichtsein  ^),  ist  Seiendes  und  Nichtseiendes  zugleich  ^).  Erinnern 
wir  uns  nun  daran,  dass  der  Timaeus  das  Wordende  als  Abbil- 
dung der  Idee  in  der  mii  dem  Räume  identificierten  Materie,  d.  h. 
als  Mischung  von  Idee  und  Raum,  definiert,  dass  er  ferner  unsere 
Erkenntnis  der  Materie  ausdrücklicli  als  ein  ,, unechtes"  Schhessen 
bezeichnet,  so  liegt  es  überaus  nahe,. den  unechten  Schluss  des 
Timaeus  mit  der  Unwissenheit  der  Republik^  die  als  Raum  be- 
zeichnete dritte  Gattung  des  Timaeus  mit  dem  Nichtseienden  der 
Republik  gleichzusetzen. 

Gleichwohl  erheben  sich  gegen  diese  Fassung  des  Nichtseien- 
den in  der  Republik  schwere  Redenken. 

Plato  selbst  hat  uns  bestimmt  genug  angedeutet,  dass  unter 
demselben  etwas  anderes  zu  verstehen  ist.  Jedes  der  in  der  Er- 
scheinung gebotenen  scheinen  Dinge,  führt  er  aus  •*),  ist  zugleich 
auch  hässlicli,  jedes  gerechte  zugleich  auch  ungerecht,  jedes  hei- 
lige zugleich  auch  unheilig;  das  Doppelte  ist  zugleich  ein  Halbes, 
das  Grosse  klein,  das  Leichte  schwer  und  so  fort.  Eben  wegen 
dieser  Relativität  alles  Erscheinenden,  das  ebenso  gut  nicht  sei, 
wie  es  sei,  setzt  Plato  es  zwischen  Sein  und  Nichtsein  in  die  Mitte  ^). 
Jener  Satz  von  der  Verbindung  des  Seins  und  Nichtseins  enthält 
also  niclits  weiter,  als  den  echt  platonischen  Gedanken,  dass  „un- 
ter den  sinnlichen  Dingen  keines  sei,  das  nicht  zugleich  das  Ge- 
genteil seiner  selbst,  dessen  Sein  nicht  zugleich  sein  Nichtsein 
wäre"  ß).    Unter    einem  solchen  Nichtsein  aber,  welches  nicht  so 


*)  Plat.  rep.  V,  477  A:  E/  d'i'i  n  ofzw?  f')^ti  oig  tirai  zt  xal  fiy  ei'rai  cv  f.ifta- 
^v    av  xcono  rov  fiÄixQiviog  ovrog   xal  rov  av  i.irj(Utfjii]   ovto^\   Meia^i\ 

^)  rep.  V,   479  E:  t6  d/mf  or  e()0)v  /uerf'xov,  rov  f(vai  t€  xal  (m)   tivai. 

^)  Ebend.  478  D:  nvxovv  f'ifccfifv  iv  zoTi  TiQÖa^fv,  fi'  n  (faritrj  olov  ä /u  u  üv 
Tf   xal  jur}   UV  ,    rö    ToiovToi>    fUTu^v    xiio&ai   luv   (i^ixptv(i>s  üvTog   xal   Tob   Tjävt(i)(;  fX)/ 

UVTOS. 

*)  rep.  V,  479  A. 

^)  Ebend.  479  B:  UöttQOv  ovv  tan  juäX^ov  ■!]  ovx  eattv  exaarov  rwv  noXhov 
xnvro,  ü  av  rig  t^fj  arto  ft'vni;  roig  iv  rais  foridafoiv,  fif'r,,  enaii^oreQitovaiv  eoixf  . .  . 
xal  '/u(j  rarra  f7rct/uqoTf(>iXfiv,  xal  i)ri'  fi'vai.  ovT t  fit]  ti'vui  fxtjiHv  avTiZv  i)'vvttt6v  na- 
yimQ  vor^aai,  orte  djuifjoTiQa  oi'ie  ui'uh'i (qov.  "Ej^if^  ovv  avioTg^  -(jv  <f'  fy")  o  zi  XC'/''"' 
i]  uTioi  -thi'^ani;  xaX)d(x)  &f'aiv  ziji  fieza^v   ovoiag  zt  xal  zov  jurj   ei'vui;   .  .  .  ^y^krj&r/azazu. 

«)  Zeller  !!■'  a,  G04. 


Die  angebliche  Materie  in  Republilc  und  Sophistes.  lÖl 

sehr  dem  Sein  der  Idee,  als  dem  Sein  dos  Sinnendinges  entgegen- 
gesetzt ist,  und  nichts  anderes  bedeutet,  als  die  Negation  der  ei- 
nem Sinnendinge  bolgelegten  Bestimmungen,  wird  man  bei  unge- 
künstelter Interpretation  nur  das  Nichtsein  im  gewöhnlichen  Sinne, 
nicht  aber  die  Materie  verstehen  können. 

b.    Nopliistes. 

Wenn  man  einmal  das  Nichtseiende  der  Republik  mit  der 
Materie  des  Timaeus  identificiert  hatto^  so  lag  es  nahe,  mindestens 
einen  Hinweis  auf  die  Materie  auch  in  jenen  bekannten  Ausfüh- 
rungen des  Sophisten  zu  finden,  in  welchen  gegenüber  dem  Grund- 
dogma des  Parmenides,  dass  nur  das  Seiende  sei,  die  Annahme, 
dass  auch  das  Nichtseiende  sei,  als  notwendig  erwiesen  wird. 
Ausführlich  hat  Siebeck  ')  eine  solche  Bezugnahme  zu  begründen 
versucht. 

Das  Nichtseiende,  dessen  Notwendigkeit  der  Sophistes  erweist, 
ist  bekanntlich  nicht  das  leere  Nichts,  sondern  das  Anderssein  (das 
tTfQov)  ^).  Ein  liestimmler  Begriff  neben  anderen  bestimmten  Be- 
gi-iffen  ist  nur  dadurcli  möglich,  dass  dasjenige,  was  dieses  Be- 
stinmite  ist,  alles  andere  davon  Verschiedene  nicht  ist  ^).  Ohne 
ein  solches  Nichtsein  würde  alles  zu  unterschiedsloser  Einheit  zu- 
sanmienfliessen.  Was  dagegen  den  absoluten  Gegensatz  (das 
svccYTioy)  des  Seienden,  d.  h.  das  Nichts,  anlangt,  so  erklärt  Plato 
im  Folgenden,  dass  er  inbetreff  dieses  schon  lange  die  Frage  habe 
fahren  lassen ,  ob  es  sei  oder  nicht  sei  *).  Nach  der  Auffassung 
Siebeck's  soll  Plato  es  hier  noch  offen  lassen,  ob  neben  dem  re- 
lativen Nichtseienden,  d.  h.  dem  Anderssein,  auf  der  Teilnahme 
an  dem  die  Bestimmtheit  der  einzelnen  Idee  anderen  Ideen  gegen- 
über beruht,  auch  ein  Nichtseiendes  als  Gegensatz  zu  der  Idee  als 
solcher  als  real  anzusehen  sei.  Durch  dieses  Hinausschieben  weise 
Plato  darauf  hin,  dass  im  Fortgange  der  Speculation  neben  jenen 
relativen  Gegensatz  ein  absoluter  sich  zu  stellen  im  Begriff  sei, 
als  Gegensatz   nicht    mehr  einer  Idee    gegen  die  andere,   sondern 


')  Untersucliungen  z.  Phil.  d.  Gr.   S.  72  ff 
-)  Vgl.  Soph.  '^56  D-   E.  257  B. 
«)  Soph.  257  A. 

*)  Soph.  2.58  E:  /ji]  loivrv  tj/tui  f^'^rrj  rti;  öri  TovruvTt'ov  rov  ovroi;  to  in}  (Vc 
a7io(faivö/iifvoi  joÄ/iiioi^itr  Xfyeiv  (/If  iariv.  t'i/ifi-:  '/«(<  ne^il  luv  ivaviiov  rivog  avrw 
yaiQeiv   ndXir  kt'yofitr,   th'  iariv   iTie  /.ii]. 


19'i  Zweiler  Absclmitt.     Plato. 

ZU  der  Idoo  als  solcher,  mit  anderen  Worten :  die  Materie  ').  Al- 
liMn  günstigsten  falls  ist  inuc  solclie  Spur  doch  zu  unsicher;  als 
dass  irgendwelche  Schlüsse  darauf  zu  bauen  wären.  Zudem  dürfte 
es  in  Wahrheit  nicht  einmal  in  der  Absicht  Plato's  liegen,  die 
Entscheidung  darüber  bloss  hinausschieben,  ob  das  Nichtseiende 
auch  im  Sinne  des  Gegensatzes  zu  allem  Sein  (als  h'arrio^ ),  nicht 
bloss  im  Sinne  des  Andersseins  (als  stsqüi),  sei.  Wenn  wir  die 
in  der  Stelle  enthaltene  Rück  Verweisung  auf  eine  frühere  beach- 
ten, so  W'Crden  wir  t'her  geneigt  sein,  in  ihr  einen  Hinweis  darauf 
zu  erblicken,  dass  jene  Auffassung  des  Nichtseienden  längst  abge- 
than  sei  2). 

Historisch  bedeutsam  dagegen  auch  für  den  Begriff  der  Ma- 
terie sind  jene  ausführlichen  Erörterungen  Plato's  über  das  Nicht- 
sein im  Sinne  des  Andersseins  geworden,  durch  w^elche  er  die 
M()glichkeit  einer  Vielheit  und  weiterhin  einer  Gemeinschaft  der 
Begriffe  zu  stützen  sucht.  Die  neuplatonische  Lehre  von  der  Ma- 
terie, namentlich  von  der  als  Grund  der  Vielheit  des  Ideenreiches 
betrachteten  intelligibelen  Materie,  hat  wesenthche  Züge  dorther 
entlehnt. 

c.    Parnieiiides. 

Die  spätere  Speculation,  welche  die  im  Sophisten  offen  gelas- 
sene Frage  zur  positiven  Entscheidung  bringe,  findet  Siebeck-'')  im 
Parmenides.  Schon  die  Alten,  welche  diesen  rätselhaften  Dialog 
als  das  tiefsinnig  verschleierte  Grundbuch  der  platonischen  Theo- 
logie vom  Hervorgang  des  Vielen  aus  dem  Ur-Einen  verehrten  *), 
glaubten  unter  seinen  verschlungenen  Gedankengängen  auch  einen 
auf  die  Materie  bezüglichen  Abschnitt  annehmen  zu  müssen. 
Welche  der  „Hypothesen",  in  die  man  (auf  Grund  von  Parm.  136 
A)  den  zweiten  Teil  des  Dialoges  zerlegte,  auf  die  Materie  zu 
deuten  sei,  war,  wie  die  Begrenzung  der  Hypothesen  überhaupt, 
freilich  Gegenstand  des  Streites;  erst  das  Ansehen  Syrian's  konnte 


>)  A.  a    0.  S.  77.  79. 

-)  Soph.  258  E  (s.  V.  S.  Anm.  4):  x"'Of'>'  ndXiv  Af'yo.ufr,  was  sich  auf  257  B 

ünöjav  To   /Liy   ily  Af'ywufr,     ovx    fvarriov    ii     kt'youfv    tov  ovtvx; ,    äXX'    tTfQov    fiövof 

bezieht. 

==)  A.  a.  O.  S.  79  ff. 

^)  Vgl.  sclion  Plotin,  enn.  V   1,  8  Ende. 


Die  Materie  in  Philebus.  193 

hier  eine  gewisse  Übereinstimmung  begründen  ^).  Gleichwohl  ha- 
ben jene  neuplatonischen  Interpreten  an  Stallbaum  '^)  einen  Nach- 
folger gefunden. 

Es  muss  indessen  als  ein  verfehltes  Unternehmen  betrachtet 
werden  ,  wenn  man  in  jeder  Gedankenreihe  dieser  rein  dialekti- 
schen Erörterungen  die  positive  Behandlung  eines  Gapitels  aus  der 
Philosophie  erblicken  will.  Schon  aus  der  weitgreifenden  Uneinig- 
keit, welche  unter  den  Vertretern  dieser  Auffassung  über  den 
Sinn  des  Einzelnen  herrscht,  ergiebt  sich  die  Unrichtigkeit  einer 
solchen  im  Grunde  rein  allegorischen  Deutung.  Mit  Recht  be- 
schränkt Zeller  in  seiner  grundlegenden  Abhandlung  über  die 
Composition  des  Parmenides  ^)  die  Absicht  der  Antinomien  des 
zweiten  Teiles  durchaus  auf  eine  abstract-begriffliche  Erörterung 
der  Einheit  und  der  Vielheit,  der  Idee  und  des  Seins.  Wer  da- 
her aus  diesen  Schlussreihen,  in  denen  gewiss  manches  nach 
Plato's  eigenem  Wort  nur  der  Denkübung  halber  *)  seinen  Platz 
gefunden  hat,  für  bestimmte  concrete  Begriffe  Folgerungen  ziehen 
will,  wird  über  willkürliches  Raten  und  gewaltsames  Hineininter- 
pretieren nicht  hinauskommen. 

d.    Philebus. 

Wie  von  den  Neuplatonikern  ^),  so  sind  auch  von  den  Neue- 
ren   die    Bestimmungen,    welche   der    Philebus    von    der   Grenze 

^)  Vgl.  Procl.  in  Farm.  VI,  col.  1052,  37  ff.;  1054,  5;  1055,  14  (die  Deutun- 
gen älterer  Interpreten);  col.  1057,  31  (die  des  Aristoteles  aus  Rhodos);  col. 
1059,  7;  1061,  6  (die  Plutarch's  des  Atheners);  col.  1064,  7  (die  Syrian's). 
Proclus  stimmt  dem  Syrian  bei;  vgl.  in  Parm.  VI,  col.  1061,  22;  in  Piaton. 
theol.  T,  c.  11,  p.  310  (ed.  Portus);  ebenso  Damascius;  vgl.  die  Inhaltsangabe 
seiner  dnoQiai  xal  sTTih-atic:  (über  den  Titel  vgl.  E.  Heitz ,  Der  Philosoph  Da- 
mascius, in :  Strassburger  Abhandlungen  zur  Philosophie,  Eduard  Zeller  zu  sei- 
nem siebenzigsten  Geburtstage.  Freiburg  i.  Br.  und  Tübingen  1883.  S.  13  u.  23) 
bei  Ruelle,  Le  philosophe  Damascius,  Revue  archeologique,  Nouvelle  serie  Bd. 
I,  2  (1860)  S.  120  und  das  Gitat  aus  cod.  Farisin.  1989  in  Gousin's  zweiter 
Proclus- Ausgabe  col.  1297. 

-)  Stallbaum,  Prolegom.  zum  Parmen.  S.  133.  Er  bezieht  Parm.  145  B— E 
auf  die  Materie. 

')  Platonische  Studien  S.  159  ff.  Ähnlich  Peipers,  Ontologia  Platonica 
p.  .347—466. 

*)  yr/ircf(7i'as  f'vfxn,  Parm.  135  G.  D.  136  A,  was  Proclus  in  Parm.  I,  col 
634  f.  VI,  col.  1051  f.  von  seinem  Standpuncte  der  Erklärung  aus  natürlich 
nicht  kann  gelten  lassen. 

^)  z.  B.  Procl,  in  Tim.  117  A;  de  nialor.  subsist.  col.  234,  13  u.  s    w. 

Baeumker:  Das  Piiililem  Jer  Materie  etc.  13 


194  Zweiter  AbscliniU.     Plalo. 

{ntQac)  und  dem  Unbegren/.lon  {ansiQor)  als  den  Coniponenten 
des  durch  die  Ursache  (ahi'a)  liervorgerufenen  gemischten  Seins 
(fxixTÖv)  giebt;  zumeist  unbedenklich  auf  den  Gegensatz  der  unbe- 
stimmten Materie  und  der  in  sie  eintretenden,  das  ideale  Vorbild 
nachahmenden  Formbestimmtheiten  bezogen  worden  '). 

Gleichwohl  wird  man  das  Unbegrenzte  des  Philebus  mit  der 
Materie  des  Timaeus  nicht  völlig  identificieren  dürfen.  Denn  wäh- 
rend die  Materie _,  das  w^as  allem  Werdenden  Sitz  gewährt  =*),  nur 
eine  ist  für  alle  Körper,  wird  das  Unbögrenzte  von  Plato  als  ein 
vielgestaltiges,  in  vielerlei  Arten  gespaltenes  beschrieben  ^).  In  man- 
cherlei Dingen  wird  dasselbe  angenommen,  in  jedem  auf  andere 
Art,  nicht  etwa  nur  in  Substanzen,  sondern  auch  in  Verhältnissen 
und  Eigenschaften.  So  in  Gesundheit  und  Krankheit  (25  E.  31  C), 
in  Melodie  und  Rythmus  (30  A),  in  Temperatur,  Jahreszeiten 
(26  A),  in  der  Schönheit  und  Stärke  des  Leibes  und  der  Seele  (26  B), 
in  Lust  und  Schmerz  (27  E.  31  A)  und  vielem  Andern,  was  Plato 
einzeln  erklärt  nicht  aufzählen  zu  können  (26  B)  ■*). 

Welchen  Begriff  aber  verbindet  der  Philebus  mit  dem  Unbe- 
grenzten? Sowohl  die  allgemeine  Beschreibung  desselben,  wie 
der  Umstand,  dass  bei  den  einzelnen  zur  Erläuterung  aufgeführ- 
ten Beispielen  stets  von  Gradunterschieden  die  Rede,  zeigen  an, 
dass  dabei  nicht  an  ein  qualitativ  Unbestimmtes  zu  denken  ^); 
vielmehr  deutet  alles  auf  das  quantitativ  Unbegrenzte,  d.  h.  auf 
das  des  bestimmten  Maasses  und  der  bestimmten  Zahl  Entbeh- 
i'ende.  Als  Unbegrenztes  wird  bezeichnet,  was  kein  Ziel  {rs'Xog) 
hat  und  daher  unvollendet  [disXa'g)  ist  (24B),  was  nichts  ein  be- 
stimmtes Quantum  {uoaöi)  sein  lässt  (24  G.  D),  was  Grade  des 
Mehr  und  Minder  (24  A.  G.  E.  25  G.  27  E),  der  grösseren  oder 
geringeren  Intensität  (24  G.  E)  zulässt.    Es  wird  durchweg  gleich- 


*)  Eine  Ausnahme  bildet  Bassfreund,  a.  a.  0.  S.  63  ff. 
')  Tim.  52  B. 

)   Phlleb.   24  A:   'dn   iff  tqÖttoj'  nvä  tÖ  (intiQor  noXXä  taK,  vtfiQÜaoftat   (fQÖZfiv. 
23  E:   7io}.).a   ixäiffjov  (sc.   aneiQov  Und   jreQac)  tayiauevov.      Vgl.    25  A. 

*)  Es  könnte  sogar  befremden,  dass  alle  diese  Beispiele  sich  nur  auf  Eigen- 
schaften, Verhältnisse  u.  dgl.  beziehen ,  kein  einziges  auf  selbständige  Dinge, 
für  welche  allein  docli  die  Materie  des  Timaeus  die  Grundlage  bilden  kann. 
Indes  ist  die  Wahl  dieser  Beispiele  offenbar  unter  dem  Gesichtspuncte  getrof- 
fen, Analoga  für  den  in  Untersuchung  stehenden  Begriff  der  Lust  zu  geben. 

*)  Vgl.  Bassfreund  S.  65  f. 


Die  Materie  im  Pliilebus.  195 

gesetzt  mit  der  unbestimmten  Vielheit,  und  zwar  entweder  so, 
dass  diese  Vielheit  als  eine  innere  Gomponenle  dos  bestimmten 
Seienden  gedacht  wird,  welches  Einheit  und  Vielheit,  d.  h.  Be- 
grenzung und  Unbestimmtheit,  in  sich  vereinigt'),  oder  so,  dass 
sie  die  der  begrenzten  Anzahl  der  Arten  gegenüberstehende  un- 
begrenzte Vielheit  der  Individuen  bezeichnet  ^). 

Ist  also  das  „Unbestimmte"  des  Philebus  ein  solches,  welches 
der  quantitativen  Bestimmung  entgegengehen  soll,  so  folgt  dar- 
aus doch  keineswegs  3),  dass  die  sogenannte  „Materie"  des  Timaeus, 
weil  ein  qualitativ  Unbestimmtes,  diesem  Begriffe  nicht  unter- 
geordnet werden  dürfe.  Freilich,  wer  in  der  rein  geometrischen 
Gonstruction  der  Elementarteilchen  und  weiter  in  der  Rückführung 
qualitativer  Unterschiede  auf  quantitative  Verschiedenheiten  nur 
ein  Ornament  sieht,  das  den  Kern  der  platonischen  Gedanken 
nicht  trifft,  wird  auch  die  Materie  des  Timaeus  nicht  als  quan- 
titativ Unbestimmtes  denken  können.  Anders,  wenn  wir  unter 
jener  Materie  die  unbestimmte  Ausdehnung  verstehen,  aus  der 
erst  durch  die  quantitative  Umgrenzung  in  geometrischen  Formen 
kleinste  Körperteilchen  mit  ihren  aus  der  Verschiedenheit  der  Ge- 
stalt hervorgehenden  qualitativen  Unterschieden  sich  erzeugen. 
Jetzt  ist  die  quantitative  Unbestimmtheit  das  Erste  und  Ursprüng- 
liche, die  Materie  zunächst  ein  quantitativ  und  erst  infolgedessen 
auch  ein  qualitativ  Unbestimmtes.  Der  Timaeus  würde  gerade 
auf  diese  Weise  im  besten  Einklänge  mit  dem  Philebus  stehen. 

Und  in  Wahrheit,  wenn  nach  dem  Philebus  ahes  Seiende 
aus  Grenze  und  Unbegrenztem  bestehen  soll  *),  so  muss  dieser 
Satz  auch  von  dem  einzelnen   Sinnendinge  gelten.    Dass   die  von 


*)  Phileb.  16  G:  ws  t^  evos  jxev  xal  ix  7ioXX(ov  (IvTinv  tu)v  dtl  Xeyo/iitruw  tivai, 
nsQag  äe  xal  dntiQiav  iv  avioTs  ^vjUKpvrov  ey^ovTiüv,  WO  niQai  und  dneiQla  Olienbar 
Erklärung  von  ev  und   noV.ä.      15  B:     iv    tolg    nolXoig   xul   aTieiQüig.      Das  dnti(i()V 

der  Sprache  und  des  Gesanges,  die  stimm-  und  lautbildende  Exspiration,  wird 

17   B   als  anetQuv   nXi'iihei,    17    E   als  annQOV   7i?S/^oi,     18    B    als  liyinQOV,    ot'x   iv 

bezeichnet.    So  wird  denn  auch   an  der  öfters  missverstandenen  Stelle  26  D: 

To  (fe  TQirov  ii  dfifoiv  zovtoiv  (nämlich  ni^ag  und  dneiQov)  e'v  zl  ^iifxßiayöfifvov, 
wo  die  Natur  des  dnnfiov  unbestimmt  gelassen  ist,  dasselbe  in  Übereinstimmung 
mit  16  G  auf  das  quantitativ  Unbestimmte  zu  deuten  sein. 

'')  Phileb.  18  A.  19  A. 

*j  wie  Bassfreund  will  a.  a.  0.  S.  64.  66.  71. 

*)  Phileb.  16  G;  s.  Anm.  1. 

\o   * 


196  Zweiter  Abschnitt,.     Plato. 

Plato  herangezogenen  Beispiele  hierauf  nicht  ausdrücklich  Rück- 
sicht nehmen,  darf  uns  nicht  irre  machen.  Wie  deutlich  zuse- 
hen ist,  wird  die  Wahl  dieser  Beispiele  durchweg  von  dem  Ge- 
sichtspuncte  geleitet,  dass  dieselben  das  Wesen  der  Lust,  die  eben 
nichts  Substantielles  ist,  zu  erläutern  haben  ').  Dass  aber  die  Ma- 
terie des  Timaeus,  d.  h.  die  durch  die  ein-  und  austretenden 
Formen  —  Nachbilder  der  Ideen  —  zu  umgrenzende,  an  sich  un- 
bestimmte Ausdehnung  genau  die  Eigentümlichkeiten  aufweist, 
welche  im  Philebus  dem  Unbegrenzten-  {unaigov)  beigelegt  wer- 
den, ist  soeben  gezeigt  worden. 

Die  Materie  ist  also  ein  Unbegrenztes  {änaiQov).  Aber,  wie 
schon  vorhin  hervorgehoben  wurde,  die  Umfange  beider  Begriffe 
decken  sich  nicht;  dieses  isl  Gattungs-,  jenes  Artsbegriff.  Die  Ma- 
terie ist  eine  der  vielen  Arten,  welche  der  Philebus  innerhalb  der 
Gattung  des  Unbegrenzten  unterscheidet.  Somit  ist  es  eine  Re- 
duction  auf  höhere  und  allgemeinere  Principien,  wenn  Plato  den 
Gegensatz  von  Materie  (unbegrenzter  Ausdehnung)  und  Form  un- 
ter den  Gegensatz  des  Unbegrenzten  und  der  Grenze  subsumiert. 
Wie  Aristoteles  den  physischen  Gegensatz  von  Materie  und  Form 
auf  den  ontologischen,  für  alles  Seiende  gültigen  Gegensatz  von 
Möglichkeit  und  Wirklichkeit  zurückführt,  so  ist  für  den  pythago- 
reisierenden,  überall  von  Zahl-  und  Maassbestimmungen  ausge- 
henden Standpunct,  welchen  Plato  zur  Zeit  der  Abfassung  des 
Philebus  einnahm,  die  letzte  Wurzel  des  Gegensatzes  von  Form 
und  Materie  der  alles  durchziehende  Gegensatz  von  Grenze  und 
Unbegrenztem  ^). 

(j.    Die   platonische  Materie  iiaeh  den  aristotelischen   Berichten 
als  das  Gross-  und  Kleine.    Die  Academie. 

Die  im  Philebus  vollzogene  Einordnung  alles  natürlichen 
Seins    und  Geschehens  unter  den  Gegensatz  des  Begrenzten  und 


')  S.  S.  194  Anm.  4. 

'^)  Damit  erliält  zugleicli  jene  auf  die  Ahliandlung  über  die  Materie  folgende 
Stelle  des  Timaeus  (53  D)  ihre  rechte  Bedeutung ,  an  welcher  Plato  erklärt, 
die  noch  weiter  zurückliegenden  Ursachen  der  Elementardreiecke  seien  nur 
Gott  und  von  den  Menschen  denen  bekannt,  welche  ihm  befreundet  wären. 
Wird  ja,  wie  sclion  S.  141  bemerkt  wurde,  gerade  die  Ansicht,  dass  alles  aus 
Grenze  und  Unbegrenztem  zusammengesetzt  sei,  im  Philebus  als  Gabe  der  Göt- 
ter bezeichnet,  die  ein  Prometheus  auf  die  Erde  gebracht  habe  und  die  dann 
von  den  den  Göttern  noch  näherstehenden  Alten  den  Späteren  übermittelt  sei. 


Bericht  des  Aristoteles.     Die  Materie  das  Gross-  u.  Kleine.  197 

des  Unbegrenzten  zeigt  uns,  wie  das  platonische  Denken  inniier 
weiter  auf  dem  Wege  einer  Auflösung  des  Physischen  und  Con- 
creten  in  metaphysische  und  mathematische  Abstractionen  voran- 
schreitet. Schon  die  ursprüngliche  Ideeniehre  schiebt  die  erschei- 
nende sinnliche  Wirklichkeit  zu  Gunsten  der  allgemeinen  Begriffe 
als  einer  höheren  Wirklichkeit  bei  Seite;  dagegen  trägt  sie  in  die 
Composition  dieses  erscheinenden  Wirklichen  selbst  noch  keine 
allgemein  begrifflichen  Kategorien  hinein.  Den  Übergang  in  letz- 
terer Beziehung  bildet  der  Timaeus,  welcher  in  allem  Sinnfälligen 
den  Gegensatz  des  aufnehmenden  Raumes  und  der  aufgenomme- 
nen Form  als  des  Nachbildes  der  Idee  erkennt.  Die  engeren  Be- 
griffe von  Raum  und  Form,  welche  ihre  Anwendung  nur  auf 
physischem  Gebiete  linden,  werden  im  Philebus  durch  die  umfas- 
senderen von  Grenze  und  Unbegrenztem  ersetzt.  Zum  vollen 
Durchbruch  endlich  gelangt  diese  Richtung  in  der  späteren  Ge- 
stalt der  platonischen  Lehre,  welche  uns  aus  den  aristotelischen 
Berichten  bekannt  ist. 

Nur  gelegentlich  gedenkt  Aristoteles  derjenigen  Theorie  der 
Materie,  welche  von  Plato  im  Timaeus  vertreten  wird.  Meistens 
hat  er  die  spätere  Gestalt  derselben  im  Sinn.  Sein  Bericht  be- 
stätigt zunächst  die  Folgerungen,  welche  wir  aus  dem  Philebus 
auf  die  platonische  Lehre  von  der  Materie  gezogen  haben.  Muss- 
ten  wir  dabei  betonen,  dass  einerseits  in  jenem  Dialoge  die  Un- 
terordnung der  Materie  unter  den  Begriff  des  Unbegrenzten  nicht 
ausdrücklich  ausgesprochen  sei,  dass  sie  aber  andererseits  aus 
den  von  demselben  gebotenen  Prämissen  mit  Notwendigkeit  folge, 
so  sehen  wir  aus  Aristoteles,  dass  Plato  in  seinen  mündlichen 
Vorträgen  jene  Gonsequenz  wirklich  gezogen  hat.  Nach  ihm  hat 
Plato,  gleich  den  Pythagoreern ,  als  Materie  das  Unbegrenzte 
{ansiQov)  aufgestellt,  unter  dem  aber  nicht  irgend  ein  Stoff  zu 
verstehen  sei,  dem  die  Unbegrenztheit  als  Eigenschaft  zukäme, 
sondern  die  Unbegrenztheit  an  sich  ^).  Dieses  Unbegrenzte,  diese 
Materie,  erfahren  wir  weiter,  sei  von  Plato  als  das  Gross-  und 
Kleine  {ßsya  xai  /aw(>oi)  bezeichnet  2),  d.  h.  als  ein  Unbegrenztes, 
welches  sowohl  hinsichtlich  des  Wachstums  wie  hinsichtlich  der 


»)  Arist.  phys.  III  4,  203  a  1—18.    Vgl.  S.  38  f. 

«)  Arist.  phys.  I  4,  187  a  18;  I  9,  192  a  7 ;  III  4,  203  a  16;  metaph.  I  6, 
987  b  20;  988  a  13;  I  7,  988  a  26;  III  3,  998  b  10;  XIII  8,  1083  b  24;  XIV  l', 
1087  b  11;  1088  a  15  flf. 


198  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

Teilniig  ein  unbegrenztes  Fortschreiten  gestattet  0-  Wenn  Aristo- 
teles gelegentlich  von  dem  Grossen  und  dem  Kleinen  als  zwei 
verschiedenen  Unbegrenzten  redet  2),  so  muss  die  Vorstellung  fern- 
gehalten werden,  als  bildeten  das  unbeschränkt  Grosse  und  das 
unbeschränkt  Kleine  je  eine  eigene  Materie  für  sich  ^).  Es  ist 
vielmehr,  wie  der  Philebus'*)  deutlich  zeigt,  nach  Plato's  Ansicht 
ein  und  dieselbe  Natur,  welche  sowohl  unbegrenzter  Zunahme 
wie  unbegrenzter  Teilung  fähig  ist  ^). 

Dass  auch  in  der  Fassung  als  Gross-  und  Kleines  die  Materie 
etwas  Unkörperliches  sei  ^)  und  dass  sie  auch  so  eher  einen  ma- 
thematischen als  einen  physischen  Körper  begründe '),  hat  Aristo- 
teles zu  bemerken  nicht  unterlassen. 

Während  der  Timaeus  die  Gattung  des  Raumes  oder  die  Ma- 
terie nur  innerlialb  der  Sinnendinge  kennt  und  dieselbe  ausdrück- 
lich den  Ideen  als  eine  verschiedene  Gattung  gegenüberstellt,  hat 
Plato  nach  der  Darstellung  des  Aristoteles  in  der  späteren  Zeit 
auch  innerhalb  der  Ideen  selbst  ein  doppeltes  Element  angenom- 
men: als  Materie  das  Gross-  und  Kleine,  als  Wesensbestimmung 
(oi'füia)  das  Eine.  Weil  nun  die  Ideen  Ursache  von  allem  sind, 
so  sollen  ihre  Elemente  zugleich  Elemente  von  allem  seien »).    Das 

')  Arist.  phys.  III  6,  206  b  27 — 29:  llXdnov  iha  iovto  ih^o  laaneiQa  inniijOtv, 
öii   xal  enl  ii]v  av^r/v  i'ioxfi   V7if(i^'>ak).fiv  xai    iii  anfiQov    nvat ,    xul  (jii.  ti]v   xa&aiQf- 

aiv.    phys.  I  4,  187  a  16—17  (vgl.  metaph.  I  9,  992  b  6-7;  XIV  1,  1087  b  18): 

xaS-uXo'v  if  vTifQO'^i]  xnl  eXlti^tic:,  üantQ  tö  jue'ya  qj^jol  TlXaiim-  xal  to  fiixQÖv.  Wie  an 
letzterer  Stelle,  scheint  Aristoteles  sich  auch  in  der  Schrift  ntQ).  rayad-ov  ausge- 
drückt zu  haben;  vgl.  Alex.  Aphrod.  in  Arist.  metaph.  I,  p.  42,  8 — 9  Bonitz 
und  bei  Simpl.  phys.  III,  p.  454,  32  Diels.  Umdeutende  neuplatonische  Aus- 
legungen fehlen  natürlich  nicht.  Nach  Philoponus  (in  phys.  I  4,  quat. 
c  fol.  2^  Z.  34—36  [p.  93,  6—8  ed.  Vitelli];  IV  2,  quat.  n  fol.  ö"-  Z.  12—15) 
ist  die  Materie  deshalb  von  Plato  als  /ueya  xal  fiix^öv  bezeichnet,  weil,  sobald 
die  Materie  durch  die  Quantificierung  zur  Masse  wird  [oyxoriai),  sie  vor  allen 
Unterschieden  den  Gegensatz  des  Grossen  und  Kleinen  aufnimmt.  Simpli- 
cius  (phys.  I,  p.  150,  15 — 18)  dagegen  deutet  das  hixqov  auf  die  Körperlosigkeit 
und  Grösselosigkeit  der  Materie,  während  sie  ein  ,«f'y«  als  Ursache  aller  Masse 
[uyxoi)  und  alles  Abstandes  {(fiäaraaig)  sei. 

^)  Arist.  phys.  III  4,  203  a  15;  III  6,206  b  28.  Vgl.  auch  metaph.  16,987  b  26. 

«)  Vgl.  Zeller,  Plat.  Stud.  S.  217  ff. 

*)  auf  den  auch  Porphyrius  bei  Simpl.  phys.  III,  p.  453,  31  ff.  zurückgreift. 

^)  Vgl.  Simpl.  phys.  I,  p.  150,  12;  Zeller,  Plat.  Stud.  S.  217-219;  Trende- 
lenburg, Plat.  de  id.  et  num.  doctr.  S.  47  f.  52f. ;  Susemihl,  Gen.  Entw.  II,  512, 

«)  metaph.  I  7,  988  a  23—26.  —  ')  metaph.  I  9,  992  b  1—4. 

8)  metaph.  1  6,  987  b  18-28. 


Bericht  des  Aristoteles.     Die  Materie  das  Gross-  u.  Kleine  199 

Unbegrenzte  oder  das  Gross-  und  Kleine  findet  sich  dem  entspre- 
chend sowohl  in  den  Sinnendingen,  wie  in  den  Ideen  ^).  hi  der 
Sinnen  weit  findet  es  seine  Bestimmung  durch  die  Ideen,  in  den 
Ideen  durch  das  Eine  -). 

Ohne  Frage  hängt  die  Annahme  eines  solchen  Substrates  auch 
in  den  Ideen  ZAisammen  mit  der  Zurückführung  der  letzteren  auf 
Idealzahlen  ').  Indem  Plato  die  pythagoreische  Reduction  der 
Dinge  auf  Zahlen  und  die  Erklärung  dieser  Zahlen  aus  den  Ele- 
menten des  Unbegrenzten  und  der  Grenze  herübernahm,  gleich- 
wohl aber  an  seiner  urspriuiglichen  Lehre  von  dem  Getrenntsein 
der  Ideen  und  der  Sinnendinge  festhielt  '^),  ja  zwischen  diese  als 
besondere  Gattung  noch  die  eigentlich  mathematischen  Zahlen 
einschob^),  musste  er  zu  der  Anschauung  gedrängt  werden,  dass 
die  Elemente  der  Zahl  sich  durch  sämtliche  ch-ei  Gattungen  des 
Seienden  hindurch  erstreckten. 

Vielfach  erörtert  ist  die  Frage  nach  dem  Verhältnis,  in  wel- 
chem das  Unbegrenzte  als  Element  der  Ideen  zu  dem  Unbegrenz- 
ten als  Element  der   sinnlichen  Welt  steht  '^),    Wenn    Aristoteles 


*)  phys.  III  4,  203  a  9 — 10.  Nicht  mit  Sicherheit  zu  benutzen  ist  phys.  III 
6,  207  a  29—30,  weil  hier  durch  Veränderung  der  Interpunction  auch  ein  an- 
derer Sinn  herausgebracht  werden  kann;  vgl.  Trendelenburg,  Plat.  de  id.  et 
num.  doctr.  S.  60  f.  Überhaupt  nichts  folgt  aus  phys.  IV  2,  209  b  33  flf.,  wo 
dem  Plato  die  Inconsequenz  vorgehalten  wird,  dass  er  das  an  den  Ideen  und 
Zahlen  Teilhabendeals  den  Ort  bezeichne,  und  gleichwohl  leugne,  dass  Ideen  und 
Zahlen  an  einem  Orte  seien.  Denn  dass  dieser  Vorwurf  nur  unter  der  Voraus- 
setzung einen  Sinn  habe,  dass  das  teilhabende  Unbegrenzte  auch  in  den  Ideen 
sei,  wie  Zeller,  Plat.  Stud.  S.  217,  Phil.  d.  Gr.  11»  a,  633,  1  und  Susemihl,  Gen- 
Entw.  II,  513  annehmen,  ist  schon  deshalb  unrichtig,  weil  Aristoteles  den  Vor- 
wurf nicht  nur  vom  Standpuncte  der  späteren  Theorie,  sondern  auch  vom 
Standpuncte  des  Timaeus  aus  erhebt  (f?Vf  rof  /ueyäkuv  xrü  tov  /ux^ioT-  ui-Toi  tot, 
,ue&(xTixov  fhf  jj/s  "/?;(,•,  wanfQ  tv  Tut  Ti,uruw  yey()a7nai),  der  doch  von  einer  sol- 
chen Zusammensetzung  der  Idee  aus  zwei  Elementen  nichts  weiss  und  auch 
von  Aristoteles  nirgendwo  in  einem  derartigen  Sinne  gedeutet  wird. 

*)  metaph.  I  6,  988  a  11—14. 

")  Vgl.  Arist.  met  1  6,  987  b  21—29. 

*)  Arist.  met.  I  6,  987  b  26—27. 

^)  Arist.  met.  I  6,  987  b  28—29.     Vgl.  Zeller,  Plat.  Stud.  S.  225  ff. 

®)  Die  Ansichten  der  Neueren  stellt  Susemihl  11,  550  ff.  zusammen.  Von  de- 
nen, die  später  hinzugetreten  sind,  folgen  Siebeck,  Unters.  S.  127,  und  Stumpf, 
Verh.  d.  piaton.  Gotth.  z.  Idee  d.  Guten  S.  23  ff.,  im  ganzen  der  Ansicht 
Überweg's. 


200  Zweiter  Altsclinilt.     Philo. 

schlechtweg  sagt,  „das  Unbegrenzte"  finde  sich  sowohl  in  den 
Sinnendingen  wie  in  den  Ideen  i),  ohne  dass  er  dabei  auf  eine 
Verschiedenheit  des  Unbegrenzten  in  den  Sinnendingen  und  des 
Unbegrenzten  in  den  Ideen  die  leiseste  Hindeutung  macht,  so  lässt 
sich  allerdings  der  Gedanke  kaum  abweisen,  dass  ihm  von  einem 
solchen  Unterschiede  nichts  bekannt  war^).  Ebensowenig  scheint 
ein  Unterschied  an  der  Stelle  angedeutet  zu  sein,  wo  er  die  Ma- 
terie das  Substrat  nennt,  als  dessen  Bestimmung  in  der  Sinnen- 
weit  die  Idee,  innerhalb  der  Ideen  das  Eine  bezeichnet  werde  ^). 

Gleichwohl  wird  durch  eine  genauere  Erwägung  gerade  der 
letzteren  Stelle  ein  solcher  Unterschied  nahegelegt.  Das  Gross- 
und Kleine  in  den  Sinnendingen  nämlich  soll  nach  derselben  durch 
die  Ideen  bestimmt  werden;  diesen  Ideen  selbst  aber  soll  wieder 
das  Gross-  und  Kleine  zugrunde  liegen.  Wenn  das  Gross-  und 
Kleine  in  den  Sinnendingen  nun  dasselbe  wäre  wie  das  Gross- 
und Kleine  in  den  Ideen,  so  würde  hier  dasselbe  wenigstens  teil- 
weise durch  sich  selber  bestimmt,  eine  Vorstellung,  die  dem  Plato 
doch  nicht  leicht  zuzutrauen  sein  dürfte.  In  der  That  identificiert 
Aristoteles  die  Materie  oder  das  Gross-  und  Kleine  nur  dort  mit 
dem  leeren  Räume  oder  der  blossen  Ausdehnung,  wo  er  von  der 
Materie  der    Sinnendinge   spricht  ■^).     Andererseits    scheint    e]'  die 


^)  phys.  III  4,  203  a  9 — 10:  xd  /uevroi  ämigov  xal  ev  roTi  ata&rjxoTs  xai  iv 
ixelvati  (den  Ideen)  frrai, 

»)  Dass  phys.  JV  2,  209  1)  33  ff.  von  Zeller  und  Susemihl  mit  Unrecht  für 
die  Identität  heider  Materien  herangezogen  wird ,  ergieht  sich  aus  der  S.  199 
Anm.  1  hervorgehobenen  Beziehung  dieser  Stelle  auch  aui'  den  Timaeus,  dem 
eine  Materie  der  Ideen  fremd  ist. 

*)  metaph.  I  6,  988  a  11 — 14:  {(pavtQov)  xal  rle  ij  vItj  iJ  vnoxtiixivii,  xa&'  lyff 
td   tVift)  fiiv  inl  t<T)v  aia&riTfüv ,    tu   iV  tv  ii>  loii  enhai  Ä/'/f r«/ ,    ort    ctvit]    äväs  eari, 

t6  fis'ya  y.ai  i6  fiixijov.  Auf  das,  was  Sartorius  a.  a.  0.  S.  158  ff.  über  diese 
Stelle  bemerkt,  brauche  ich  wohl  nicht  näher  einzugehen.  Wenn  er  zur  Er- 
läuterung metaph.  1  9,  992  b  10  und  Alexander's  Gommentar  dazu  heranzieht, 
wo  es  heisst,  dass  die  Platoniker  für  jede  Gattung  von  Dingen  durch  fy.flraii 
ein  i'v  gewännen,  so  verwechselt  er  das  iv,  welches  eine  jede  einzelne  Idee  als 
Henade  oder  Monade  bildet  (Phileb.  15  A — B)  —  und  nur  von  diesem  ist  me- 
taph. I  9  die  Rede  — ,  mit  dem  i'v  als  dem  Formalprincip  der  Idealzahlen,  wel- 
ches metaph.  I  6  allein  gemeint  ist. 

*)  phys.  IV  2,  209  b  33  ff.  beweist  nichts  für  eine  Gleichsetzung  der 
Materie  derldeen  mit  dem  Räume,  wie  aus  dem  S.  199  Anm.  1  gelieferten 
Nachweise  hervorgebt,  dass  an  dieser  Stelle  von  einer  Materie  der  Ideen  über- 
haupt   nicht  die  Rede  ist ;  s.  auch  Anm.  2. 


Bericht  des  Aristoteles.     Die  Materie  das  Gross-  u.  Kleine.  201 

Bezeichnung  der  „unbestimmten  Zweiheit"  {6vdg  dögiatog) »)  nur 
für  die  Materie  als  Princip  der  Zahlen,  und  zwar  sowohl  der  ma- 
thematischen 2)  wie  der  Idealzahlen  3) ,  zu  gebrauchen.  Auch  in 
der  Schrift  über  das  Gute,  aus  welcher  Alexander  von  Aphrodi- 
sias  uns  einzelnes  inhaltlich  mitteilt^),  hat  die  „unbestimmte  Zwei- 
heit" keine  directe  Beziehung  zur  physischen  Welt.  So  würde 
zwischen  dem  mehr  arithmetischen  Elemente  der  Idealzahlen  und 
dem  mehr  geometrischen  der  physischen  Welt  immerhin  ein  ge- 
wisser Unterschied  bestehen.  Doch  blieb  Plato  selbst  wohl  noch 
in  der  alten  Unklarheit  der  Pythagoreer  stecken ,  welche  den 
Raum  als  die  allgemeine  Form  des  Auseinander  zugleich  auch 
als  das  die  Zahlen  Trennende  ansahen^),  und  gab  so  selber  den 
Anlass  zu  jenen  Unebenheiten  der  aristotelischen  Berichte. 

Diese  kurzen  Bemerkungen  über  Plato's  spätere  Lehre  von 
der  Materie  mögen  hier  genügen.  Nur  zwei  der  von  Aristoteles 
gegebenen  Bestimmungen  bedürfen  noch  einer  näheren  Betrach- 
tung. Dieselben  bringen  principielle  Gesichtspuncte  für  die  plato- 
nische Lehre  von  der  Materie,  welche  wir,  wenigstens  in  dieser 
Form,  aus  den  platonischen  Schriften  nicht  kennen  lernten.  Durch 
die  gesamte  platonische  Lehre  geht  der  Gedanke  hindurch,  dass 
ein  wirkliches  Sein  nur  in  den  Ideen  zu  finden  sei.  Schon  das 
Werdende  ist  kein  wahrhaft  Seiendes.  Was  bleibt  da  noch  für 
den  dunklen,  schwer  zu  erfassenden,  nur  durch  einen  unechten 
Schluss  zu  erkennenden  Untergrund  des  Werdens,  die  Materie? 
Sie  ist  in  noch  höherem  Maasse,  als  das  Werdende^  ein  Nicht- 
seiendes.  So  bezeichnet  sie  ausdrücklich  Aristoteles,,  dessen  Aus- 
führungen freilich  zunächst  die  spätere  Form  der  platonischen 
Lehre  ins  Auge  fassen.    Aristoteles  nämlich  bringt  die  platonische 


^)  Die  ,  unbestimmte  Zweiheit"  als  das  materielle  Princip  ist  wohl  zu 
untersclieiden  von  der  Zweiheit  materialer  Prinzipien,  des  Grossen  und  des 
Kleinen,  welche  Aristoteles  an  mehreren  Stellen  dem  Plato  zuschreibt  (s.S.  l'J8). 

»)  Arist.  met.  XIV  3,  1091  a  4  f. 

3)  Arist.  met.  XIII  7,  1081  a  13-15;  b  21;  25;  32;  1082  a  13;  b  30. 

*)  Alex.  Aphrod.  in  Arist.  metaph.  I,  p.  41,  31—42,  24;  68,  18—19  (vgl. 
184,  2)  ßonitz;  Alex,  hei  Simpl.  pliys.  I,  p.  151,  6-8;  III,  p.  454,  19-455,  11. 
Vgl.  Arist.  fragm.  coUeg.  V.  Rose,  fr.  28.  Brandis,  de  perd.  Arist.  libr.  p. 
28—32.  Zeller,  Fiat.  Stud.  220—223  und  (mit  teilweise  veränderter  Auffassung) 
Phil.  d.  Gr.  IF  a,  805,  4. 

6)  Arist.  phys.  IV  6,  213  b  26  ff.    Vgl.  S.  39. 


202  Zweiler  Abschnitt.     Plalo. 

l^ehre  von  der  Matei'ie  mit  seiner  eigenen  in  Vergleicii.  Auch  er 
nennt  die  Materie  in  gewissem  Sinne  etwas  Nichtseiendes,  insofern 
ihr  näniHch  vor  der  Aufnahme  einer  Form  das  Beraiibtsein  (dTsgrjOig^ 
privat io)  von  dieser  Form  eignet.  Aber  das  Verhältnis  dieser  Ne- 
gation zur  Materie  ist  ein  anderes  bei  ihm,  als  bei  Plato.  „Denn 
wir"  (d.  h.  Aristoteles)  „sagen,  die  Materie  und  die  Privation 
seien  verschieden,  und  das  eine  von  diesen,  nämlich  die  Materie, 
sei  ein  Nichtseiendes  nur  per  accidens,  die  Privation  hingegen 
an  und  für  sich,  und  jene,  die  Materie,  sei  beinahe  in  gewissem 
Sinne  schon  Substanz  (ovOia),  die  Privation  hingegen  in  keiner 
Weise;  jene  dagegen  machen  das  Grosse  und  das  Kleine,  sei  es 
beides  zusanmien,  oder  jedes  für  sich,  gleich  sehr  zum  Nichtseien- 
den'"). 

Es  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  Aristoteles  die  platonische 
Materie  hier  thatsächlich  als  Nichtseiendes  bezeichnet.  Kv  findet 
ja  den  Fehler  Plato's  darin,  dass  er  zwischen  der  Materie  und 
zwischen  der  Privation  oder  dem  Nichtseienden  keinen  begriffli- 
chen Unterschied  gemacht  habe. 


*)  p.  192  a  3 — 8;  »/^f/V  lUfv  yÜQ  rXijV  xal  aii(ir,niv  i'if(iüv  (fuftd'  n'vrxi,  xil  ror- 
t(i)v  II)  fi(v  ovx  ov  fi'rai  y.aiä  ai^f^i^f[^r^Xü<;,  ti]v  rXi/r^  iTJv  li'e  aiepyaiv  xaih'  urtijv,  xal 
rr/V  fiff  t'yyfi;  xal  m-aiav  niog,  ti]v  vki/v,  r i]v  i)'e  (JiFQr/aiv  orifafiin^'  oi  i)'f  to  jui}  uv 
lo    fif'/d   xal   11/    fnx(i(ir   öf^toiing,   i]   tu    arraiuj  i'it f(jiir    i,    rö   ^wp/'f   exäifQin'.      Schneider, 

Plat.  Met.  S.  34  Anrn.  will  zur  Herstellung  des  Parallelismus  zwischen  den 
Gliedern:  r,ufi^  fuv  und  at  lU  vor  r«  iiiyn  xal  tö  juix^ior  ein  xal  einschieben: 
„Wir  sagen,  dass  Substrat  und  Privation  verschieden  sind  —  jene,  dass  das 
Nichtseiende  (entsprechend  der  Privation)  und  das  Grosse  und  Kleine  (entspre- 
chend der  Materie)  in  gleicher  Weise  .sei.''  Indes  ist  eine  solche  Textesverän- 
derung durchaus  überflüssig.  Der  Satz:  ol  de  tu  ftr]  ov  td  /xiya  xal  ro  fiixQor 
(ifjuiioi  steht  nicht  direct  dem  Satze:  7'jfxetg  /.uv  yoQ  vhjv  xal  ateQTjaiv  e'rtQov  qia- 
fifv  (?vai  gegenüber.  Vielmehr  hat  sidi  derselbe,  wie  nicht  selten,  der  Form 
nach  weniger  genau  an  die  nachfolgende  weitere  Ausführung  angeschlossen, 
worin  Aristoteles  als  seine  eigene  Überzeugung  ausspricht,  dass  die  zwei  der 
Form  gegenüberstehenden  Glieder  der  Trias  von  Principien  nicht  beide  in  glei- 
cher Weise  ein  Nichtseiendes  genannt  werden  könnten,  sondern  nur  in  ver- 
schiedener Weise,  nämlich  das  eine  per  se,  das  andere  per  accidens.  Damit 
durften  auch  die  Ausführungen  von  Fr.  Ebben ,  Plat.  id.  doctr.  p.  41  ff.,  wider- 
legt sein,  der  auffallenderweise  zu  jo  in]  uv  aus  Z.  6  oi'a^'ai' als  Prädicat  ergän- 
zen will,  wobei  er  sich  nicht  auf  r-,  magnumque  parvumque  similiter  esse 
(=  f?ra(,  sc.  To  iiii  ov)  hätte  berufen  sollen.  Das  Richtige  bietet  auch  hier 
Zeller,  Plat.  Stud.  S.  224,  dessen  Übersetzung  des  fraglichen  Satzes  oben  wie- 
dergegeben wurde. 


Die  plat.  Mat.  nach  Arist.  das  Nichtseiende.  Zeugnisse  Hermodor's  u.  Eudem's.   203 

Bestätigt  wird  seine  Aussage  durch  die  Zeugnisse  des  Her- 
modor,  eines  andern  Schülers  des  Piato  '),  und  des  Eudeni^). 

Herrn  odor  geht  aus  von  einer  Einteilung  des  Seienden  nach 
Plato  3).  Nachdem  ihn  diese  schliesslich  zu  der  Classe  des  unbe- 
stimmten Seienden  (der  dÖQiOTo)  als  dem  letzten  Einteilungsgliede 
geführt  hat,  fährt  er  fort:  „Und  es  habe  (sagt  Plato),  was  als  ein 
Grosses  gegenüber  dem  Kleinen  bezeichnet  wird,  alles  das  Mehr 
und  das  Minder,  in  der  Weise,  dass  es  *)  in  dem  ,noch  mehr  Grös- 
ser' und  ,noch  mehr  Kleiner'  ins  Unendliche  fortschreiten  könne; 
ebenso  aber  wird  auch  das  Breitere  und  Schmalere,  Schwerere 
und  Leichtere  bis  ins  Unendliche  fortschreiten.  Was  aber  als  das 
Gleiche  und  das  Bleibende  und  das  Passende  bezeichnet  werde, 
habe  nicht  das  Mehr  und  das  Minder,  wie  das  Gegenteil  es  habe ; 
denn  dieses  (das  Gegenteil)  ist  noch  mehr  ungleich  als  ein  (ande- 
res) Ungleiches;  noch  mehr  bewegt  als  ein  (anderes)  Bewegtes, 
noch   mehr    unpassend    als    ein    (anderes)    Unpassendes  ^)  .  .  .  . 


1)  Dasselbe  ist  uns  durch  Simpl.  phys.  I,  p.  248,  2-18;  256,  35—257,  14  nach 
Porphyi'ius  (vgl.  Simpl.  247,  31),  welcher  selbst  aus  Dercyllides  schöpfte  (Simpl. 
247,  31;  256,  34)  seinem  Wortlaute  nach  erhalten.  Über  dasselbe  vgl.  Zeller, 
Diatribe  de  Hermodoro  Ephesio  et  Hermodoro  Platonico.  Marburg  1859.  S. 
20  ff.  Phil.  d.  Gr.  IP  a,  589,  7.  Susemihl,  Genet.  Entw.  11,  522  ff.  Schneider, 
Plat.  Met.  S.  41  ff. 

2)  Bei  Simpl.  phys.  III,  p.  431,  8—16.  —  Schneider,  Plat.  Met.  S.  41,  sucht 
vergebens    die   Glaubwürdigkeit    Hermodor's   zu  erschüttern.      p]r  findet  näm 
lieh  einen  Widerspruch  mit  Aristoteles  darin,  wenn  Hermodo)-  beliauple,  nach 
den  Piatonikern  gebe  es.  eigentlich  nur  ein  einziges  Princip.     Allein    was  Her- 
modor  p.  248,  15  (=  257,  1)  als  Begründung  voraufschickt:  (li,).oi  yä^  »»f  «Vr  tqü- 

7ior  TU  uiTiov  y.viiiiüg  xni  (haift(iovTi  i(jÖ7i(n  ro  Tiuiurv  f'atir  ,  orjto^  xcu  UQyr,,  ent- 
spricht, wie  auch  Simpl.  phys.  256,  28  f.  erinnert ,  ganz  genau  Plato's  eigenen 
Ausführungen  im  Timaeus.  wo  allein  die  Vernunftcausalität  als  Ursache,  die 
Causalität  der  Materie  dagegen  als  blosse  Mitursache  oder  dienende  Ursache 
bezeichnet  wird  (Tim.  46  G,  68  E;  vgl.  8.  118).  Selbst  dem  Aristoteles  ist  der 
—  von  ihm  freilich  anders  begründete  —  Gedanke  nicht  fremd,  dass  das  Gross- 
und Kleine  des  Plato  in  Wahrheit  kein  Princip  sei;  cf.  met.  I  9,  990  b  19—22 
und  dazu  Alex.  Aphrod.  p.  63,  28—30  Bonitz;  met.  XIV  1,  1087  b  3  ff.  Vgl. 
auch  Simpl.  phys.  I,  p.  204,  12  ff. 

')  Dieselbe  schliesst  sich  in  ihrem  obersten  Gesichtspuncte  an  Plat.  Soph. 
255  G  an,  ist  aber  wohl  den  sog.  t^taiQtoHi  entnommen;  vgl.  Zeller  11^  a,  380,4 
g.  E. 

*)  Nach  Diels  Verbesserung  o'ii  no  uäD.ov  statt  üait  fiäU.ov. 

^)  Den  folgenden ,   für   unsere  Frage  durchaus  gleichgiltigen  Satz  habe  ich 


204  Zweiler  Alischnitt.     Plato. 

So  dass  also  das  derart  Beschaffene  als  unslät  und  gestalllos 
und  nichtseiend  bezeichnet  werde,  mit  Negation  des  Seins.  Dem 
derart  Beschaffenen  aber  komme  kein  Anteil  zU;  weder  am  Prin- 
cip,  noch  am  Sein,  sondern  es  bewege  sich  in  einer  gewissen 
Unentschiedenheit"  *), 

Auch  Eudem  stellt  das  Gross-  und  Kleine  mit  dem  Nicht- 
seienden  sls  gleichbedeutend  zusammen  ^). 

Kann  so  über  den  Satz  kein  Zweifel  herrschen,  so  ist  doch 
der  Sinn  desselben  nicht  ohne  weiteres  klar.  Dass  das  Gross- 
und Kleine,  wenn  es  als  ein  Nichtseiendes  bezeichnet  wird,  damit 
nicht  zu  einem  völligen  Nichts  herabgesetzt  werden  soll ,  ist  si- 
cher. Das  Nichts  kann  keine  Bestimmung  in  sich  aufnehmen, 
nicht  geformt  werden,  kein  Mehr  oder  Minder  zulassen;  es  lässt 
sich  ihm  in  keiner  Weise  eine  „Natur"  {(fvoig)  beilegen,  wie  es 
doch  von  Aristoteles  geschieht^).  Vielmehr  setzen  Hermodor^) 
und  Eudem  ^)  das  Nichtseiende  dem  Unbestimmten,  Unstäten, 
Gestaltlosen,  Ungeregelten  gleich,  d.  h.  demjenigen,  welchem  kein 
bestimmtes  Sein  zukommt.  Wenn  aber  Aristoteles  es  tadelt, 
dass  die  platonische  Materie  mit  der  Privation  zusammenfalle  und 
dieselbe  deshalb  in  noch  strengerem  Sinne  als  Hermodor  und 
Eudem  ein  Nichtseiendes  nennt  ß),  so  ist  natürlich  nicht  daran  zu 
denken,  dass  Plato  Materie  und  Privation  ausdrücklich  gleichge- 
setzt habe.  Vielmehr  zieht  hier  Aristoteles  aus  der  mangelnden 
Sonderung  der  beiden  zuerst  von  ihm  selber  unterschiedenen  Be- 
griffe, wie  so  oft,  erst  selbst  die  Folgerung,  die  dann  wesentlich 
polemischem  Zwecke  dienen  soll. 


unübersetzt  gelassen,    weil  seine  kritische  Herstellung    bis  jetzt  noch  nicht  ge- 
lungen ist. 

^)  Simpl.  phys.  I,  p.  248,  13  ff.  (=  256, 35 ff.):  üoie  <iatatuv  xal  anoQq.ov  (cf. 
Plat.  Tim.  50  D)  xal  andQov  xal  ovx  ov  to  zotovtov  Xeyio&ai  xar'  änöifaaiv  tov 
ortog.  Tu)  Toinvrw  df  o?!  nQoarjXeiv    o'vit    aQX^i^    °*'"'  ovaiag  dXk'  tv  dxQiaia  rtvl  (fc- 

*)  Simpl.   phys.   III,   p.  431,  8  ff.:   UIükov  (fi  t6  /ueya  xal  ßiy.Qov  xal  to   fiiq   ov 

xal  TO  äviiifiaXov  xal  öaa  tovtois  enl  ravio  ifeQit   tt,v  xivtjaiv   keyei...  to  <fe  äÖQiarov 

xaXiüis  inl    ti^v    xivriaiv     oi    Uv&ayö^tioi    xal    o    HXäTmv  ennfCQovaiv  ....  dXkd  ydn 

oQiatt]  ovx  eati  (sc.   )J   xivri<Jig),   xal  t6   dreXes   (i'rj   xal  iti   fti}   ov'  yiveiac    yaQ ,    yivöfxt- 

vov  de  ovx  eoTiv  (vgl.  Zeller  IF  a,  808,  1), 

»)  Arist.  phys.  I  9,  192  a  10.  Vgl.  Plat.  Tim.  50  B:  qivats  rä  ndvTa  dexofievi]. 
*)  S.  Anm.  1. 

*)  S.   Anm.  2  {/utj  ov  =   dvn'maXov  und  yivofxerov). 

«)  Arist.  phys.  19,  192  a  7  (s.  S.  202  Anm.  1). 


Die  platonische  Materie  als  das  Nichtseiende.    Die  Materie  und  das  Üble.     205 

Als  Nichtseiendes  gilt  somit  die  platonische  Materie,  insofern 
sie  nicht  ein  bestimmtes  Seiendes  ist  ^). 

Noch  eine  zweite  bedeutsame  Bestimmung  erfahren  wir  durch 
Aristoteles.  Nach  ihm  liess  Plato  den  Gegensatz  des  Einen  und  des 
ihm  gegenüberstehenden  materiellen  Elementes  auch  auf  das  ethische 
und  teleologische  Gebiet  in  der  Weise  überspielen,  dass  er  in  dem 
Einen  die  Ursache  alles  Guten  und  sich  wohl  Verhaltenden,  in 
der  Materie  die  des  Üblen  oder  des  Bösen  (xaxöv)  erbhckte-). 
Vielleicht  schon  Plato,  sicher  aber  einige  seiner  Schüler  —  ver- 
mutlich war  Xenocrates  unter  ihnen  —  sind  dann  noch  weiter 
gegangen  und  haben  die  Materie  geradezu  mit  dem  Bösen  iden- 
tificiert,  indem  sie  die  Materie  als  die  Natur  (cfvaig)  des  Bösen  be- 
zeichneten 3). 

In  den  platonischen  Schriften  findet  sich  die  Lehre  von  der 
Materie  als  dem  Ursprünge  des  Üblen  in  dieser  Form  noch  nicht. 
Sie  scheint  erst  im  Zusammenhange  mit  der  pythagoreisierenden 
späteren  Ideenlehre  entstanden  zu  sein.  Von  den  Pythagoreern 
wissen  wir  ja  durch  das  Zeugnis  des  Aristoteles,  dass  sie  dem  Ei- 
nen und  der  Grenze  einerseits,  dem  Vielen  (wofür  Plato  das  Gross- 
und Kleine  setzte)  und  dem  Unbegrenzten  andererseits  in  dersel- 
ben Syzygie  den  Platz  anwiesen  wie  einerseits  dem  Guten,  ande- 
rerseits dem  Bösen  ^).  Vorbereitende  Gedanken  fehlen  gleichwohl 
auch  in  den  Dialogen  nicht.  Ausdrückhch  führt  der  Politicus 
alle  Unordnung^  alles  Widrige  und  Unrechte  in  der  Welt  auf  die 
körperliche  Natur  (/o  OdofiaxoeidsQ)  derselben  zurück,  währender 
ihr    alles  Gute    von  ihrem   Schöpfer  zukommen  lässt^).     Im  Kör- 

^)  Vgl.  auch  Allst.  XII  10,  1075  a  32 — 33,  wo  es  von  den  Piatonikern  heisst: 

i'i  ife  TU  tjiQov  Twv  tvavTiiiJV  vXijv  noiovaiv ,  üantQ  td  apiaov  Tta  l'aip  ?/  tm  ivi  rd 
jioXXd  (also  das  Nicht-EineJ. 

*)   Arist.   met.   I  6,   988  a   14 — 15:    in    äi   rijV  rov   iv   xal   inv   xax(üi   aiti'av  ToTf 

'iToi^eiois  (den  Ideen)  dntihoy.tv  iyarf^ois  txaTi(}ar  (vgl.  auch  metaph.  ]X  9,  1051 
a  18  und  Bonitz  zu  der  Stelle).  Dasselbe  berichtet  Eudemus ,  welcher  nach 
Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  7,  p.  1015  D  es  ungereimt  fand,  dass  Plato  die 
Materie  „Mutter"  und  „Amme"  nenne  und  sie  doch  zur  Ursache  und  Wurzel 
des  Übels  mache. 

^)  Arist,  met.  XII  10,  1075  a  34 — 36:  iri  anavia  ruv  tfarXov  /iie&e^ei  e'^u)  tov 
fvöq'  10  yuQ  xaxdi»  avTo  ^^uTf^oi'  i<ov  atoiyi^iüuv.  XIV  4,  1091  b  35:  ol  ()t  Xtyovai 
ir',  uvtaov  Tiijv  TOV  xaxov  ifvaiv  (wozu  Vgl.  Zeller,  Plat.  Stud.  279.  Bonitz,  Com- 
ment.  p.  588). 

*)  Arist.  met.  I  5,  986  a  23—26. 

")  Plat.  Polit.  273  B. 


^(M)  Zweiter  Ahschnilt.    Plato. 

perlichen  sieht  derselbe  Dialog  den  Grund,  weshalb  das  Weltge- 
bäude nicht,  wie  das  wahrhaft  Göttliche,  stets  gleich  und  unver- 
änderlich, sondern  stetem  Wechsel  unterworfen  sei  *).  Ebenso 
ist  es  im  Timaeus  der  Gott,  welcher  überall  das  Gute  und  sich 
wohl  Verhaltende  hervorbringt  ^) ,  während  die  „Notwendigkeit*^', 
d.  h.  die  materielle  Natur,  trotz  der  Überredung  von  Seiten  der 
Vernunft  nur  „das  Meiste"  zum  Guten  führt  ^).  —  Diese  Notwen- 
digkeit ist  das  Hindernis,  dessentwegen  selbst  der  Gott  nur  „so- 
weit es  möglich  war"  Ordnung  und  Ebenmaass  in  der  Welt  her- 
zustellen vermochte  *).  Auch  der  von  Plato  mehrfach  ausgespro- 
chene Gedanke,  dass  durch  die  vom  Körper  ausgehenden  Bewe- 
gungen die  Seele  in  ihrer  Reinheit  und  Klarheit  getrübt  werde  •'>), 
lässt  sich  hieher  ziehen. 

Bedeutsam  ist  endlich  eine  Stelle  des  Theaetet.  Plato  er- 
klärt es  hier  für  unmöglich,  dass  das  Üble  je  aufhöre^  da  das 
Gute  notwendig  einen  Gegensatz  verlange.  Weil  nun  das  Üble 
unter  den  Göttern  keinen  Sitz  habe,  so  müsse  es  notwendig  ,,die 
sterbliche  Natur  und  diese  Stätte  hier  umwandeln  '')".  Wenn  wir 
aber  fragen,  weshalb  das  Gute  das  Üble  als  Gegensatz  verlangt, 
so  werden  wir  mit  den  Neuplatonikern  die  Antwort  auf  einen  Aus- 
spruch des  Timaeus  stützen  und  daran  erinnern,  dass  im  Sinne 
Plato's  ohne  eine  solche  Mannigfaltigkeit  das  Weltall,  das  schönste 
Werk ,  unvollständig  sein  würde  '^). 

Ohne  weiteren  Einfluss  auf  die  geschichtliche  Fortentwicke- 
lung, ohne  Wert  auch  für  das  sachliche  Problem  als  solches,  sind 
die  kleinen  Veränderungen,  welche  der  Begriff  der  Materie  in  der 
Schule  Plato's,  der  älteren  Academie,  erfuhr.    Wir  vernehmen 


1)  Pkt.  Polit.  269  D. 

*)  Plat.  Tim.  68  E:  t6   (fe  tv  itxraivöjjifvoi;  tv  7iaai  roTi  '/lyvo/xivoig  avtoQ. 
3)  Plat.  Tim.  48  A. 

*)  Plat.  Tim.  69  B:  J  i?f«f  tv  txdniw  .  .  .  (7n/tufi(_,i'a<;  trfjjiihjafv,  uaa<;  xi 
xai  unji   i\tyvaTijr  r/v  äväkoya  yai   ai'f^iijftfja   n'fut. 

"•)  Phaed.  65  A  f.  79  G.  66  B;  rep.  X  611  G  ff.;  Tim.  44  A. 

«)  Plat.  Theaet.  176  A. 

')  Plat.  lim.  41:  tovtutv  il't  /my  ye^'u/nfvinv  or^uvüt;  aifA?,V  tojai.  Wenn  hier 
auch  zunächst  die  drei  Gattungen  der  Luft-,  Wasser-  und  Landbewohner  ge- 
meint sind,  so  liegt  dieser  speciellen  Anwendung  doch  notwendig  der  im  Text 
angegebene  allgemeine  Gedante  zugrunde,  für  den  ihn  auch  Simpl.  phys.  I,  p. 
249,  32  ohne  weiteres  benutzt. 


Die  Materie  und  das  Üble.     Die  Academie  ül)er  d.  Materie.  20? 

darüber  einiges  bei  Aristoteles,  wo  freilich  die  Zuteilung  der  ohne 
Namensnennung  gegebenen  Nachrichten  an  eine  bestimmte  Per- 
son nicht  immer  leicht  ist.  So  hören  wir,  dass  Xenocrates 
die  Annahme  unteilbarer  Linien,  welche  bereits  Plato  in  späterer 
Zeit  an  die  Stelle  der  unteilbaren  Flächen  als  Grundlage  der 
Raumconstruction  gesetzt  hatte ,  von  ihm  herübernahm .  sowie 
dass  er  vermutlich  zu  denen  gehörte,  welche  die  Materie 
als  die  Natur  des  Bösen  bestimmten  *).  Nach  Aetius  bezeichnete 
er  als  Principien  des  All  das  Eine  und  das  „Stetsfliessende",  un- 
ter dem  er  die  Materie  wegen  der  in  ihr  liegenden  Vielheit  ver- 
standen habe  2). 

Entschieden  auf  den  Pythagoreismus  zurück  ging  Plato's 
Schwestersohn  und  Nachfolger  Speusipp.  Wie  derselbe  mit 
Preisgabe  der  Ideenlehre  völlig  die  pythagoreische  Zahlentheorie 
wieder  aufnahm,  so  bezeichnete  er  auch  im  Anschluss  an  die 
pythagoreische  Kategorientafel  ^)  das  Eine  und  das  Viele  als  Prin- 
cipien aller  Dinge*),  indem  er  an  die  Stelle  von  Plato's  unbe- 
stimmter Zweiheit  wieder  den  altpythagoreischen  Gegensatz  der 
Vielheit  einführte.  Die  platonische  Verteilung  des  Guten  an  das 
Eine,  des  Bösen  an  die  Materie  hat  er  verworfen  ^). 

7.    Die  Zeitgenossen  Plato's. 

Treten  überhaupt  Plato's  grossartig  originalem  Geiste  gegen- 
über die  übrigen  socratischen  Schulen  so  ziemlich  in  den  Hinter- 
grund, so  kommen  sie  hinsichtlich  des  uns  beschäftigenden  Be- 
griffs sogar  noch  weniger  als  anderswo  inbetracht.  Gewiss  liegt 
OS  nicht  bloss  an  der  zufälligen  Dürftigkeit  der  auf  uns  gekom- 
menen Nachrichten,  sondern  an   der  einseitigen  Bevorzugung  er- 


1)  S.  S.  205. 

*)  Stob.  ecl.  I,  p.  294  (Aetius  I  3,   23  bei  Diels  p.  288,15:  Sevox^dtrn  awt- 

nidi-'ai    ro     nav   -ix  tuv  evöi  xal  tov    ätväov  ^    deraov    xi]v    t'Af,»'  aivnröfiivoi   (fiu  rov 
.1  ?.ij\}ovs. 

8)  Arist.  met.  I  5,  986  a  24. 

*)  Vgl.  Fei.  Ravaisson,  Speusippi  de  primis  rerum  principiis  placita  qualia 
liiisse  videantur  ex  Aristotele.  Dissert.  acad.  Paris.  1838  S.  24  ff.  Weitere 
Helege  bei  Zeller  IP  a,  853,  2. 

*)  Arist.  met.  XIV  4,  1091  b  32—35;  vgl.  XII  10,  1075  a  36:  0/  ,r  im.oi  oiS' 
ü(iydi  TU  liya&ov  y.ni  ii)  xaxöv.    Näberes  bei  Ravaisson  a.  a.  0.  S.  14 — 17. 


208  Zweiter  Abschnitt.     Plato. 

kenntnistheoretischer  und  namenthch  ethischer  Untersuchungen, 
wenn  uns  alle  Mittel  fehlen,  die  etwaigen  naturphilosophischen 
Anschauungen  jener  Männer  soweit  zu  reconstruieren ,  dass 
wir  auch  ihre  Ansicht  von  der  Materie  des  näheren  bestimmen 
könnten. 

Am  meisten  gilt  dieses  für  die  Gyrenaiker.  Indem  sie  von 
der  Ansicht  ausgingen,  dass  all  unser  Wissen  auf  die  eigenen 
Empfindungen  beschränkt  sei,  zu  den  Dingen  aber  nicht  vordrin- 
gen könne'),  enthielten  sie  sich  gänzlich  der  auf  die  Natur  be- 
züglichen Untersuchungen  2).  Wenn  Schleiermacher  vermutet  hat, 
dass  die  in  Plato's  Theaetet  als  Geheimlehre  des  Protagoras  be- 
zeichnete Verbindung  des  protagoreischen  Sensualismus  mit  der 
heraclitischen  Flusslehre  dem  Aristipp  zuzulegen  sei;  so  wurde 
schon  oben  ^)  die  Unrichtigkeit  dieser  Vernmtung  dargethan. 

Einigermaassen  bestimmtere  Vorstellungen  dagegen  würden 
wir  uns  von  den  naturphilosophischen  Grundanschauungen  der 
megarischen  und  der  cyni sehen  Schule  machen  können,  falls 
man  mit  Recht  gewisse  Ausführungen  Plato's  auf  den  Euclid  und 
den  Antisthenes  bezieht. 

Seit  Schleiermacher  pflegt  man  bei  den  „Ideenfreunden", 
welche  der  platonische  Sophistes  den  Materialisten  entgegenstellt*), 
zumeist  an  Euclid  und  die  Seinen  zu  denken^).  Es  wird  dort 
jenen  Männern  ein  Doppeltes  zugeschrieben :  dass  sie  das  wahre 
Sein  in  den  vom  Verstände  erfassten  unkörperlichen  Begriffen 
[ei'Sij)  suchten,  dass  sie  dagegen  die  Körper,  welche  von  ihren 
materialistischen  Gegnern  als  das  in  Wahrheit  Seiende  betrachtet 
würden,  durch  ihre  Beweise  Teil  für  Teil  zerrieben  und  diesel- 
ben nicht  als  Sein^  sondern  nur  als  ein  im  Flusse  befindliches 
Werden   wollten   gelten   lassen  '').     In    der  Annahme  wesenhafter 


')  Plut.  adv.  Colot.  24,  2,  p.  1020.  Cic.  Acad.  II  7,  20;  46,  142.  Sext. 
adv.  math.  VII  191  ff. 

')  Diog.  Laert.  II  92. 

")  S.  S.  100  f. 

*)  Plat.  Soph.  246  B-G. 

')  Vgl.  Zeller,  Phil.  d.  Gr.  IP  a,  214.  Sitzungsberichte  d.  Berl.  Akad.  d.  Wis- 
sensch.    1887.    S.  2f)9  f. 

)  Plat.  Soph.  246  B:  tu  (f6  ixtiviov  auixaza  xal  xrjV  XeyojjtvrfV  vn  avKov  dXt'/- 
■^tiav  xata  nuiy.Qci  (iia&Qavovi fc  iv  toii;  Xoyoig  '/tvtaiv  upt'  ovaiag  iff QOfie'vfjv  rivd 
TT  Qi>aity  11(^1  fviirfiir. 


Die  Zeitgenossen  Piiito's.  20Ö 

Begriffe  finden  wir  eine  bemerkenswerte  Annäherung  an  den  pla- 
tonischen Standpimct,  die,  falls  die  naheliegende  Beziehung  der 
Stelle  auf  den  Euclid  das  Richtige  trifft,  am  besten  durch  den 
poi"sönlichen  (ledankenaustausch  der  beiden  befreundeten  Männer 
erklärt  wird.  In  der  „Zerreibung"  des  Körperlichen  dagegen  zeigt 
sich  ein  Anschluss  an  die  Beweisführungen  Zeno's  gegen  die 
Denkbarkeit  einer  räimilich  ausgedehnten  Körperwelt,  welcher 
sehr  gut  zu  dem  eristischon  Charakter  der  megarischen  Schule 
passt  •). 

Bei  den  materialistischen  Gegnern  dieser  IdeenfVeunde,  welche 
,, Körper  und  Substanz  für  dasselbe  erklären  und  jeden  gründlich 
verachten,  welcher  die  ^löglichkeit  der  Existenz  eines  Unkörper- 
lichen behauptet"  -),  dürfte  an  den  Stifter  der  cynischen  Schule, 
Antisthenes,  zu  denken  sein,  auf  dessen  Materialismus  Piato 
auch  sonst  gelegentlich  anzuspielen  scheint  3).  Es  würde  in  die- 
sem falle  auch  hinsichtlich  der  naturphilosophischen  Grundan- 
schauung zwischen  der  Stoa  und  dem  Gynismns  ein  ähnliches 
Abhängigkeitsverhältnis  bestehen,  wie  es  hinsichtlich  der  ethischen 
Lehre  so  augenfällig  ist  ^). 


»)  Vgl.  Zeller  IP  a,  218.  224. 

-)  Plat.  Soph.  24<j  A:  favTuv  am/^a  xul  ovaiav  o^i^uuiror ,  Triii'  (ff  alhuv  tl'  Ti'i 
li  if),ai   ftij  adi/j-a  i'yov  n'vai,  y.aTU(f^ovorvT((  t6   TtaQÜnai-, 

»)  Plat.  Theaet.  155  E.  Phaed.  81  B.  Vgl.  Duemmler,  Antislhenica,  p.  51  ff. 
Natorp,  Forsch,  zur  Gesch.  des  Erkenntnisprobl.  S,  198  ff. 

*)  Wie  das  von  Natorp,  Forschungen  zur  Gesch.  des  Erkenntnisproblems 
S.  198  ff.  sehr  vvalirscheinlicli  gemacht  wird. 


Baeumkür:    Das  Problem  Jer  AlatetiS  etc.-  14 


Dritter  Abscljnitt. 

Aristoteles. 
Die  Materie  als  Möglichkeit. 

Aristoteles  M  ist  es,  welcher  das  Wort  „Materie"  {vhj)  als 
technische  Bezeichnung  in  die  Philosophie  eingeführt  hat  2). 
Durch  ihn  findet  auch  der  antike  Begriff  der  Materie  seine  ty- 
pische Ausprägung. 

Die  Methode  der  Forschung,  durch  welche  Aristoteles  den 
Begriff  der  Materie  gewinnt,  ist  im  wesentlichen  dieselbe,  wie  die 
Plato's  und  des  Altertums  überhaupt.  Einige  allgemeinste,  nicht 
sonderlich  tief  gehende  Beobachtungen  unterzieht  er  einer  scharf- 
sinnigen dialektischen  Bearbeitung  durch  gewisse  allgemeine  Be- 
griffe und  Grundsätze,  die  ihm  als  donknotwendig  erscheinen,  und 
in  denen  er  daher,  den  Voraussetzungen  seines  Systemes  entspre- 
chend, das  Wesen  der  Dinge  befasst  glaubt. 

Freilich  möchte  man  gerade  von  Aristoteles  erwarten,  dass 
er,  der  nicht  nur  als  Philosoph,  sondern  auch  als  Naturforscher 
so  Hervorragendes  leistete,  seiner  Theorie  mehr  als  Plato  eine 
breite  empirische  Grundlage  würde  gegeben  haben.  Allein  seine 
exacten  Studien   auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  bewe- 


^)  G.  Engel,  Über  die  Bedeutung  der  I-At;  bei  Aristoteles.  Rhein.  Mus.  f. 
Phil.  N.  F.  VII.  1850.  S.  391—418.  Georg  Freih.  v.  Hertling,  Materie  und  Form 
und  die  Definition  der  Seele  bei  Aristoteles.  Ein  kritischer  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Philosophie.     Bonn  1871. 

-)  S.  S.  114  Aniu.  1.  In  seiner  gewöhnlichen  Bedeutung  von  Holz  u.  dgl. 
kommt  der  Ausdruck  fast  nur  in  der  Tiergeschichte  vor;  vgl.  bist.  an.  V  18, 
550  b  S;  V  23,  554  b  28;  VI  1,  559  a  2;  14,  569  a  3  VIII  2,  591  b  12;  27,  G05 
b  19;  IX  11,  615  a  15;  32,  618  b  21.  28;  40,  626  b  24.  —  polit.  VII  5.  1327  a  8, 
rhet.  III  3,  1106  a  28. 


Dritter  Alisdinitt.    Aristoteles,   (lliarakter  der  arist.  Speculalioii  über  d.  Mat.   211 

gen  sich  nicht  in  der  Richtung,  dass  sie  ffir  die  Speculation  über 
die  Materie  ein  umfassendes  Material  an  Thatsaclien  hätten  dar- 
bieten können.  Aristoteles  ist  gross  in  allem,  was  sich  ohne  Ex- 
periment durch  zergliedernde  Naturbeobachtung  gewinnen  lässt. 
Darum  hat  er  in  der  Classification  der  Lebewesen,  in  der  anato- 
mischen Untersuchung  ihres  Baues,  in  der  Beobachtung  ihrer 
Entwickelung,  ihrer  Lebensweise  und  ihrer  Lebensfunctionen,  auch 
in  der  Beobachtung  der  meteorologischen  Erscheinungen  Muster- 
giltiges  geleistet.  Die  Natur  aber  auf  die  Weise  zu  befragen, 
dass  er  die  Naturdinge  künstlich  unter  einfachen  Verhältnissen 
zusammenbrächte,  um  so  die  verwickelten  Erscheinungen  in  ihre 
einfachen  Elemente  zu  zerlegen,  dazu  fühlte  er  den  Trieb  noch 
nicht  1).  Aus  diesem  Grunde  ist  er  in  der  Physik  und  Chemie 
nicht  zum  Bau  der  einfachsten  Instrumente  und  damit  auch  nicht 
zur  Erkenntnis  der  mannigfaltigen  physikalischen  und  chemischen 
Kräfte  und  Gesetze  gelangt. 

Die  physikalische  und  chemische  Grundlegung  der  aristoteli- 
schen Speculation  über  die  Materie  musste  darum  notwendig  un- 
zureichend sein.  Keinen  Ersatz  für  diesen  Mangel  bot  es,  wenn 
Aristoteles  das  Schaffen  der  Natur  durch  die  Analogie  des  künst- 
lerischen Gestaltens  zu  erhellen  suchte.  Nach  zwei  Richtungen 
drängte  ein  solches  Verfahren  auf  Abwege.  Einmal  musste  es 
leicht  zur  Vermenschlichung  der  Natur  verleiten.  Zweitens  brachte 
es  die  Gefahr  mit  sich ,  die  Wesensconstitution  der  Dinge  nach 
dem  Bilde  accidenteller  Unterscheidungen  zu  denken. 

Um  so  energischer  und  allseitiger  sind  dagegen  die  begriffli- 
chen Elemente  der  aristotelischen  Theorie  durchdacht.  Von  den 
wirklichen  oder  vermeintlichen  Grundphänomenen ,  die  er  durch 
seine  Theorie  der  xMaterie  zu  erklären  unternimmt,  giebt  er  eine 
im  ganzen  folgerichtige,  an  tiefen  Gedanken  und  feinen  Unter- 
scheidungen reiche  Lösung.  Freilich  lassen  sich  bei  einer  genau- 
eren Analyse  der  von  Aristoteles  gegebenen  Bestimmungen  auch 
in  der  begrifflichen  Behandlung  des  Problems  verschiedene  Un- 
klarheiten aufdecken.  Allein  diese  treten  durchweg  da  auf,  wo  die 
Theorie  über  die  allgemeinsten  Phänomene  hinaus  zur  Erklärung 
der    manniofacheren  Erscheinungen   verwertet   werden  soll.    Hier 


1)  Vgl.  R.  Eucken,  Die  Metliode  der  aristotelischen  Fmsciiunii-,  Berlin  1872, 
S.  1G2  ff.  Zeller  IP  b,  247,  1. 

11   * 


2lä  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

zeigt  sich  die  allgemeine  Theorie  dann  freilich  unzureichend  und 
ein  unsicheres  Schwanken  isL  unvermeidlich.  Aber  nicht  die  Un- 
bestimmtheit dw  rationellen  Principien,  sondern  die  Rücksicht 
auf  das  empirisch  Gegebene  ist  die  Ursache  dieser  Unsicherheit. 

Unsere  Darstellung  der  aristotelischen  Theorie  der  Materie 
wird  folgende  Gesichtspuncte  ins  Auge  fassen: 

1.  Begriff  der  Materie  bei  Aristoteles. 

2.  Sachliche  und  historische  Kritik  desselben. 

3.  Functionen  der  Materie. 

4.  Die  intelligibele  Materie. 

Der  Darstellung  der  aristotelisclien  Materie  werden  dann  noch 
einige  Bemcikungen  über  die  Behandlung  hinzuzufügen  sein, 
welche   das  Problem  in  der  peripatetischen   Schule  gefunden  hat. 

1.    Betriff  der  Materie. 

Der  aristotelische  Begriff  der  Mateiie  ist  erwachsen  aus  einer 
Analyse  des  Werdeprocesses.  Die  Materie  ist  auch  bei  Ari- 
stoteles nicht  der  allgemeinste  Gattungsbegriff  des  Sinnfälligen, 
welcher  die  Merkmale  umfasst,  in  denen  alle  Körper  übereinkom- 
men. Sie  ist  vielmehr  das  Substrat  des  Werdens  für  die 
körperlichen  Substanzen. 

Die  Schwierigkeiten,  welche  im  Begriffe  des  Werdens  liegen, 
führt  Aristoteles  aus  '),  hatten  die  Alten  dazu  verleitet,  die  Rea- 
lität des  Werdens  zu  leugnen.  Ein  Werden,  argumentierten  sie, 
fände  entweder  statt  aus  dem  Seienden  oder  aus  dem  Nichtseien- 
den.  Nicht  aus  dem  Seienden ;  denn  das  Seiende  sei  und  werde 
nicht.  Nicht  aus  dem  Nichtseienden ;  denn  ein  Werden  aus  et- 
was verlange,  dass  etwas  vorhanden  sei. 

Aristoteles  löst  die  Aporie  durch  eine  Distinction.  Das  Wer- 
den erfolgt  weder  aus  einem  schlechtweg  Seienden ,  noch  aus  ei- 
nem schlechtweg  Nichtseienden.  Seine  Voraussetzung  ist  vielmehr 
ein  Reales,  welchem  das  Sein  weder  schlechtweg  zu-,  noch 
schlechtweg  abgesprochen  werden  darf,  also  ein  Seiendes,  welches 
beziehungsweise  ein  Nichtseiendcs,  oder  auch  ein  Nichtseiendes, 
welches  beziehungsweise  ein  Seiendes  ist. 

Die  so  beschaffene  Realität  nun  ist  die  Materie.  Sein  und 
Nichtsein  ist  in  ihr  in  doppelter  Weise  vereinigt. 

" -4 

')  plijs  I.  8,  191  a  23— b  34. 


Begriff  der  Materie.     Doppelte  Betrachtung  ilerselben.  213 

Erstens  ist  sie  ein  Seiendes,  welches  beziehungsweise 
ein  Nichtseiendes  ist.  Seiend  ist  sie,  insofern  wir  sie  als 
Substrat  denken,  welches  schon  vor  dem  Werden  besteht,  also 
in  sich  ein  Sein  hat.  Beziehungsweise  nichtseiend  i.st  sie, 
insofern  dieses  Substrat  die  Bestimmung  noch  nicht  in  sich  trägt, 
zu  welcher  es  erst  durch  das  Werden  hingeführt  werden  soll,  in- 
sofern es  also  als  ein  so  beschaffenes  noch  nicht  ist. 

Zweitens  ist  die  Materie  ein  Nicht  seien  des,  welches  be- 
ziehungsweise ein  Seiendes  ist.  Woraus  nämhch  etwas  wer- 
den soll,  das  ist  dieses  in  Wirklichkeit  {sifoyaia,  ivTtkex^ia) 
noch  nicht.  Die  Materie  als  das,  woraus  etwas  wird,  ist  insofern 
der  Wirklichkeit  nach  ein  Nichtseiendes.  Aber  als  das,  woraus 
etwas  wird,  ist  sie  zugleich  Voraussetzung  des  Werdens.  Als 
solche  ermöglicht  sie  die  Verwirklichung.  Nun  bezeichnet  Ari- 
stoteles mit  einer  kleinen  Wendung  des  Gedankens  das,  was  das 
Sein  ermöglicht,  als  das  der  Möglichkeit  nach  {dvvdfisi)  Sei- 
ende. Die  Materie,  obwohl  ein  Nichtseiendes ■  der  Wirklichkeit 
"^nach,  ist  also  mögliches  Seiendes,  und  somit  wenigstens  bezie- 
hungsweise ein  Seiendes. 

Sonach  ergiebt  sich  eine  doppelte  Betrachtung  der  Materie, 

Die  erste  fasst  dieselbe  als  vorhandenes  Substrat,  welches 
einer  Bestimmung  entgegengeführt  wird ,  die  es  zuvor  noch  nicht 
besass.  Hier  erscheint  die  Materie  als  Substrat  entgegenge- 
setzter Zustände. 

Die  zweite  Betrachtung  dagegen  sieht  in  der  Materie  das 
Mögliche,    welches    durch    den    Werdeprocess    verwirklicht 

wird  •). 


^)  phys.  I  8,  191  b  13:  rj^eTi  (ff  xal  avioi  (fainev  ytyvta&ai  /utv  oviUv  rinkcüi 
ex  ßij  OVTOS,  o/ucog  uevTOi  yiyvta&ai  ex  ,U);  ovrog,  oiov  (d.  h.  nämlich;  Vgl.  Waitz 
ZU  org.  1  b  18.  Bonitz  zu  met.  985  b  6)  xaxa.  avfißeßrjxös'  ix  yctg  rijs  aKQi'jaem?, 
o  eott,  xaS-  avzo  ßi)  ov  ,  ovx  ervnäQ^ovTO?  yiyverai  ri  .  .  .  b27:  elg  juev  (fy  tqotzos 
oviog,  aX).os  (fore  iv(fij(etai  ravta  Xeyeiv  xaia  rr^v  dvvafiiv  xal  tiJv  ive^yeiav.  Sirnpl. 
J)hys.  I,  p.  236,  15 — 20:  ol  juev  dgialoi  diu  t6  ßr/rt  ei  livroq  ß%T£  ix  fit}  ovrog  dv- 
vaa&ac  ytve'a&ai  t6  ov  dvi^Qovv  xr,v  yiveatv.  aviog  ife  ti}v  dnoglav  kvec  dtioQiaijieviag 
deixvrs  ort  dväyxr,T6  yivöfievov  i^  ovrog  xal  ixt,  ovtos  yivfu&ai,  rorienri  njj  nevlivcog 
nij  äe  fiij  ovrog.  rovio  de  di^MS  dwarov  ke'yeiv'  i}  yd(t  iio  xa&'  avzo  xal  xara  avu- 
ßfßtixfig  ifiaifeQei  ravra  ij  tio  dvvd/nei  xal  ivfQyeia.  Alexander  von  Aphrodisias  hat 
der  Frage  nach  dem  Sinn  und  dem  Verhältnis  dieser  beiden  Auffassungen  eine 
eigene  Untersuchung  gewidmet:  quaest.  natur.  I  24  (p.  73— 76  ed.  Spengel). 


214  Dritter  Ahscluiitl.     Aristoteles. 

Ob  freilich  der  Begriff  der  Materie,  wie  er  aus  der  ersten  Be- 
trachtungsweise abgeleitet  wird,  genau  derselbe  ist,  wie  der  auf 
dem  zweiten  Wege  gewonnene ,  das  wird  später  zu  untersuchen 
sein.     Zuvor  ist  noch  ein  anderer  Unterschied  zu  machen. 

Der  Begriff  der  Materie  nämlich,  welcher  sich  aus  dieser  dop- 
pelten Betrachtungsweise  ergiebt,  kann  wieder  ein  weiterer  und 
ein  engerer  sein.  Da  nämlich  der  Begriff  der  Materie  von  Ari- 
stoteles durch  Analyse  des  Begriffes  des  Werdens  gewonnen  wird, 
so  nmss  eine  ^Mehrdeutigkeit  des  Begrifft  des  Werdens  auch  eine 
Mehrdeutigkeit  des  Begriffs  der  Materie  herbeiführen.  Der  Be- 
griff des  Werdens  aber  wird  in  einer  weitei-en  und  in  einer  enge- 
ren Bedeutung  genommen.  In  weiterer  Bedeutung  umfasst  er  so- 
wohl das  substantiale,  wie  das  accidentale  Werden;  in  engerer 
Bedeutung  ist  er  auf  das  substantiale  Werden  beschränkt.  Dem- 
entsprechend versteht  Aristoteles  unter  der  Materie  im  weiteren 
Sinne  das  Substrat  jedes  Werdens  und  jeder  Veränderung,  nicht 
bloss  des  substantialen  Werdens,  sondern  auch  der  quantitativen, 
qualitativen  und  localen  Veränderung.  Im  engeren  Sinne  dage- 
gen bedeutet  die  Materie  das  Substrat  des  substantialen  Wer- 
dens i).  Wir  werden  beide  Bedeutungen  so  unterscheiden,  dass 
wir  die  Materie  im  ersten  Sinne  als  Materialursache  im  allgemei- 
nen, die  Materie  im  zweiten  Sinne  als  Materie  des  substantialen 
Werdens  bezeichnen. 

a.    Die  Materialiiri^aelie  im  allgeiiieiiien. 

Der  aristotelische  Begriff  der  Malerialursacho,  wie  er  ausführ- 
lich in  der  Pliysik  entwickelt  wird  ^),  erwächst  aus  folgenden  Vor- 
aussetzungen : 

1.  Wie  schon  die  alten  Naturphilosophen  erkannten  3),  giebt 
es  kein  Werden  aus  Nichts.  Vielmehr  setzt  alles  Werden  ein 
Vorhandenes  {vnoxti'fifroi)  voraus*),  aus  detn  es  wird,  ist  ein 
Werden  aus  Etwas  {f'x  tirog)^). 


1)  Vgl.  phys.  I  7,  181)  b  3U  If.;  inet.  Xll  2.  10G9  b  15  ff.l 

2)  phys.  I  4—9. 

=>)  phys.  1  4,  187  a  28.  34;    vergl.  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  3(3;    niet.  III 
4,  999  b  6;  XI,  6  1062  b  25. 

*)  phys.  I  7,  190  b.  13.  20;  de  cael.  I  3,  270  a  15— Ifi;   met.  VII  7,  1032  b 
1     XI  6,  1062  b  24. 

»)  de  gen.  an.  II  1,   733  b  25;  niet.  VII  7,  1032  a  17;  8,  1033  a  24;    IX  8, 


Begriff  der  Materie,     a)  Die  Materialursache  iiii  allgemeinen.  215 

2.  Alles  Entstehen  und  Vergehen,  überhaupt  alle  Veränderung, 
findet,  wie  gleichfalls  die  früheren  Philosophen  bereits  erkannten, 
zwischen  Gegensätzen  statt.  Es  kann  nur  werden,  was  vorher 
noch  nicht  war  '). 

3.  Beide  Folgerungen,  dass  alles,  was  wird,  aus  einem  Vorhan- 
denen wird ,  und  dass  das ,  was  wird ,  zuvor  noch  nicht  da  war, 
werden  dadurch  vereinigt,  dass  beim  Werdeprocess  ein  vorhande- 
nes Substrat  aus  dem  Zustande  des  Ermangeins  einer  Bestimmt- 
heit {ötsQTjaic)  in  den  entgegengesetzten  des  Besitzes  dieser  Be- 
stimmtheit übergeführt  wird  ^). 

Wir  unterscheiden  also  das  Vorhandene  als  das  Substrat 
des  Werdeprocesses  {vnoxfiitf^vov) ,  ferner  das  Nichtsein  einer  Be- 
stimmung dieses  Substrates,  sowie  das  Sein  derselben  als  die  Ge- 
gensätze (d}Ttxfif.iiva)  beim  Werden  3).  Der  Principien  des  Wer- 
dens sind  mithin  drei:  Materie  (f'lry),  Bei'Si\ihung(aT€Qr]aig)  und 
Form  (fff^oc,  fxogqrj^  Xöyoc)  *).  Von  diesen  Principien  ist  die  Be- 
raubung keine  positive  Realität.  Sie  besteht  vielmehr  in  der  Ab- 
wesenheit der  Form  ^).  In  sofern  reducieren  sich  jene  drei  Prin- 
cipien auf  zwei:  Materie  und  Form  ^). 


1049  b  28.  Aus  de  gen.  et  corr.  1  3,  317  a  33—34,  wo  das  yiyv6/j,evov  änXaSs 
von  dem  yiyvöixtvov  ex  zivog  unterschieden  wird,  darf  man  nicht  folgern,  dass 
nach  dieser  Stelle  das  ylyvtad-ai  äuhTis  ein  Substrat  ausschliesse.  Hier  hat  das 
ex  Ttvog  yiyvea&ai ,  wie  ausser  den  gleich  darauf  angeführten  Beispielen  auch 
der  ganze  Zusammenhang  zeigt,  die  besondere  Bedeutung:  aus  einem  schon 
qualitativ  Bestimmten  werden. 

1)  phys.  1  5,  188  a  19  ff.  b  29.  III  5,  2ü5  a  6.  V  1.  224  b  29;  3,  227  a  7; 
VI  5,  235  b  13.  16;  VI  10,  241  a  27;  VIII  7,  261  a  33;  de  cael.  I  3,  270  a  22; 
IV  3,  310  a  25;  de  gen.  et  corr.  II  4,  331  a  14;  5,  332  a  7—8;  8,  335  a  7;  de 
an.  II  4,  416  a  34 ;  de  gen.  an.  I  18,  724  b  3;  IV  1,  766  a  13—14;  de  interpr. 
14,  23  b  14;  met.  I  5,  986  b  3;  IV  2,  1004  b  30;  7,  1011  b  34;  XI  11,  1067  b 
13.    106S   a  3;    12,   1069  a  3;    XII    10,   1075  a  28. 

2)  phys.  l  7,  191  a  5.  Ebenso  met.  VllI  1,  1042  b  2—3.  Der  allgemeine 
Satz,  dass  die  Materie  Träger  der  Gegensätze  sei ,  wird  an  einer  grossen  Zahl 
von  Stellen  ausgesprochen,  z.  B.  phys.  I  6,  189  a  28-29;  met.  XII  1,  1069  b  6; 
10,  1075  a  27—34;  XIV  1,  1087  a  35  b  1;  categ.  10,  13  a  18;  de  cael.  II  3,  286 
a  25;  de  gen.  et  corr.  I  1,  314  b  26;  II  1,  329  a  31—32;  de  gen.  an.  I  18, 
724  b  3-4. 

3)  phys.  I  7,  190  b  13—15. 

*)  phys.  I  7,  191  a  12—14;  met.  XII  2,  1069  b  33  -34;  XII  4,  1070  b 
18—19;  5,  1071  a  9-10. 

-)  phys.  I  7,  191  a  6—7.  -  «)  phys.  I  7,  190  b  29  -30.  191  a  14-15. 


21(i  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

Als  Abwesenheit  der  Form  ist  die  Beraubung  in  sich  selbst 
ein  Nichlseiendos  ').  Da  nun  die  Beraubung  in  der  Materie  ist 
inid  von  dieser  begrifflich  unterschieden  werden  muss  2),  so  bil- 
det sie  ein  Accidens  der  Materie  '^).  Der  Fehler  der  Platoniker  bestand 
darin,  dass  sie  zwischen  jenem  an  sich  Nichtseienden  und  der 
Materie  auch  keinen  begrifflichen  Unterschied  annahmen,  vielmehr 
das  Nichtseiende  als  solches  zur  Materie  machten^).  Die  Be- 
raubung macht  daher  die  Materie  zu  einem  Nichtseienden  per 
accidens'^),  und  das  Werden  findet  mithin  statt  aus  einem  Sei- 
enden, welches  beziehungsweise  ein  Nichtseiendes  ist.  Es  ist  die- 
ses die  erste  der  oben  hervorgehobenen  Lösungen,  welche  Aristo- 
teles von  dem  Problem  des  Werdens  giebt. 

Den  Beweis  für  die  Notwendigkeit  seiner  drei ,  bezw.  zwei 
Principien  führt  Aristoteles  zunächst  durch  eine  Analyse  des 
sprachlichen  Ausdrucks ").  Wir  sagen:  „der  Ungebildete  wird 
ein  Gebildeter",  und:  „aus  dem  Ungebildeten  wird  ein  Gebilde- 
ter"; ferner  mit  zusammengesetztem  Ausdruck:  „der  ungebildete 
Mensch  wird  ein  gebildeter",  und:  „aus  dem  ungebildeten  Men- 
schen wird  ein  gebildeter,  aber  nie:  „aus  dem  Menschen  wird 
ein  Gebildeter",  sondern  stets  nur:  „der  Mensch  wird  ein  Ge- 
bildeter" ^).  Der  Grund  dieser  Verschiedenheit  liegt  in  dem  ver- 
schiedenen Verhalten,  welches  die  beiden  Bestandteile  des  zusam- 


1)  phys.  I  8,  191  b  15;  II  9,  192  a  4. 

^)  phys.    I   7,   190  b  23 — 24:     ean    <ff    to    vnoy.fiiitvov    äQi&uip  fxev  er,  t'ühi   iff 

fi'io.  Vgl.  190  a  15 — 16.     Statt  fi'Jn  stehen  anderswo  die  synonymen  Ausdrücive 
Ao'ytü  (190  a  Iß),  elvat  (191  a  1),  ffwa>«  (I  9,  192  a  2). 

^)  phys.  I  7.   190  b  27  :  ij  fi'f  aregriaig  xai  ij  ivuvxiu)aii  avixßeßi)x6s, 

■■)  phys.  I  9,  192  a  1-2.  6—8.    Vgl.  S.  202. 

°)  phys.  I  9,  192  a  3 — 5:  r,fieig  fxev  yaQ  vXrjv  xal  aieQijaiv  f'tfQov  i^ajusv  fivai,  xai 
TovTwv  TO  jjiiv  ovx  ov  ftvai.  xard  ai\ußtßtjx6s,  Tr]v    öÄtjv,  tijv  i)i   attQijaiv  xa&    ai^iijv. 

«)  phys.  I  7,  189  b  32  ff. 

')  Ähnliches  vom  gesunden  und  kranken  Menschen  :  de  gen.  et  corr.  I  7, 
324  a  15 — 19.  -.—  Aristoteles  muss  freilich  einräumen,  dass  dieser  Sprachge- 
brauch nicht  immer  streng  eingehalten  wird.  Obwohl  das  Erz  vkr;,  nicht  ats- 
QTjais  für  die  Bildsäule  ist,  sagen  wir  doch  nicht,  das  Erz  werde  eine  Bildsäule, 
sondern  aus  Erz  werde  eine  Bildsäule  (phys.  1  7,  190  a  24—26).  Diese  Ab- 
weichung des  Sprachgebrauches  aber  hat  darin  ihren  Grund,  dass  im  Unter- 
schiede vom  Menschen,  der  aus  einem  ungebildeten  ein  gebildeter,  aus  einem 
kranken  ein  gesunder  wird,  beim  Erz,  wie  bei  Holz  und  Stein  u.  dergl.,  die 
attQTiais,  der  Mangel  der  Form  im  Erz,  nicht  auffällt  (met.  VII  7,  1033  a  11—16). 


Begriff  der  Materie,     a)  Die  JVIaterialursaclie  im  allgeiueinen.  217 

mengeseizten  Ausdrucks  „uiigobildetor  Mensch"  in  diesen  Sätzen 
zeigen.  Wenn  nämlich  der  „ungel)ildete  Mensch"  zu  einem  „ge- 
bildeten Menschen"  Avird,  so  bleibt  der  „Mensch"  bestehen,  die 
Bestimmung  „ungebildet"  dagegen  macht  der  Bestimmung  „ge- 
bildet" Platz,  deren  Negation  sie  ist.  Wir  haben  also ,  entspre- 
chend dem  Verhalten  des  sprachlichen  Ausdrucks,  beim  Werden 
als  physische  Principien  zu  unterscheiden :  das  bleibende  Substrat, 
die  Beraubung,  und  die  Form,  durch  welche  das  Substrat  anstelle 
der  Beraubung  positiv  bestimmt  wird. 

So  die  grammatisch-logische  Begründung  der  Theorie. 
Wo  Aristoteles  es  unternimmt,  die  Gültigkeit  des  so  gewonnenen 
Begriffes  der  Materie  auf  thatsächlichem  Gebiete  aufzuzeigen, 
kommt  er  über  einige  Andeutungen  nicht  hinaus,  und  selbst  bei  diesen 
hält  er  sich  noch  teilweise  an  die  Analogie  sprachlicher  Verhält- 
nisse. Er  unterscheidet  das  substantiale  und  das  accidentale 
Werden.  Beides  setzt  eine  Materie  voraus.  Am  deutlichsten  ist 
dieses  bei  dem  acci dentalen  Werden.  Nur  die  Substanz  näm- 
lich wird  nicht  von  einem  Andern  als  von  ihrem  Subjecte  aus- 
gesagt; die  Accidentien  dagegen,  Quantität,  Qualität,  Relation, 
Zeit-  und  Ortsverhältnisse  u.  s.  w.,  bedürfen  bei  der  Aussage  ei- 
nes solchen  Subjectes.  Nun  entspricht  dem  grammatischen  Prä- 
dicationsverhältnis  das  physische  Inhärenzverhältnis.  Das  Werden 
der  Accidentien  geschieht  also  an  und  aus  einem  Subjecte,  d.  h. 
es  erfordert  eine  Materie.  Aber  auch  das  substantiale  Werden 
verlangt  eine  solche.  Denn  auch  beim  substantialen  Werden  ist 
stets  etwas  vorhanden,  woraus  das  Entstehende  wird,  wie  z.  B. 
die  Organismen  aus  dem  Samen  werden'). 

Das  Schwergewicht  des  Beweises  fällt  ersichtlich  auf  die 
grammatisch-logische  Begründung.  Nun  könnte  es  freilich  auffal- 
len, dass  hier  eine  ganze  physikalische  Theorie  auf  sprachliche 
Untersuchungen  gestützt  wird.  Allein  dem  liegt  eine  tiefere  Ur- 
sache zugrunde.  Die  „Beraubung",  welche  von  Aristoteles  als 
physikalisches  Prinzip  aufgestellt  und  für  die  Begriffsbestimmung 
der  xMaterie  verwertet  wird,  ist  keine  physische  Realität,  sondern 
ein  blosses  Gedankending.  Eben  darum  konnte  nicht  die  Analyse 
der  Wirklichkeit  zu  ihr  führen,  sondern  die  Analyse  der  in  der 
Sprache  verkörperten  Begriffe. 

')  phys.  I  7,  190  a  31— b  5.  Die  Ausführungen  b  5—9  sind  nicht  klar. 
Auch  Alexander's  Erklärung  bei  Sinipl.  phys.  p.  213,  19  tf  genügt  nicht. 


218  DriUer  Ali-^clmill.     ArisLotdes. 

Gleichwülil  ist  die  Aufslellung  eines  solchen  Principes  für 
Aristoteles  kein  leeres  Spiel  mit  ßegrilTen.  Das  Problem,  zu 
dessen  Lösung  er  dasselbe  einführte,  war  von  den  voraufgehenden 
Philosophen  durchweg  rein  begrifflich  und  dialektisch  behandelt 
worden.  Bei  der  Frage  nach  der  Möglichkeit  des  Werdens  ar- 
beitete man  fast  ausschliesslich  mit  den  beiden  abstracten  Begrif- 
fen Sein  und  Nichtsein  Von  diesem  Standpuncte  aus  war  das 
aristotelische  Princip  daher  völlig  gerechtfertigt.  Aufgrund  eben 
dieses  Begriffes  der  Beraubung,  welche  -die  an  sich  seiende  Ma- 
terie zu  einem  beziehungsweise  Nichtseienden  macht,  zeigt  er, 
dass  die  von  den  Gegnern  gestellte  Alternative:  bein  oder  Nicht- 
sein, vermieden  werden  könne. 

Zu  einer  nutzbringenden  Verwendung  geeignet  konnte  freilich 
der  Begriff  der  Materie  so  lange  nicht  sein,  als  derselbe  dieMaterie 
unter  dem  rein  negativen  Gesiclitspuncte  des  Bei'aubtseins  beti-ach- 
tete.  Durch  die  Natur  der  Sache  nuisste  Aristoteles  dahin  ge- 
drängt werden,  dem  Begriffe  durch  eine  neue  Wendung  frucht- 
barere Seiten  abzugewinnen.  So  sehen  wir  denn  in  der  That, 
wie  Aristoteles  an  die  Stelle  jenes  mhaltslosen  Begriffes  der  Be- 
raubung an  anderen  Stellen  einen  Begriff  mit  positivem  Inhalt 
setzt  ^).  Es  ist  das  besonders  in  der  Metaphysik  der  Fall,  wäh- 
rend die  Physik  durchweg  die  Beraubung  in  dem  vorhin  entwik- 
kelten  strengen  Sinne  versteht  ^). 

Ein  Mangel  oder  eine  Beraubung  n.ämlich  liegt  nicht  nur  da 
vor,  wo  überhaupt  jede  bestimmte  Form  fehlt  oder  weggedacht 
wird,  sondern  auch  dort,  wo  anstelle  der  vollkommneren 
Form,  die  dasein  könnte,  nur  eine  minderwertige  vorhanden  ist. 
So  verhalten  sich  wie  Form  and  Beraubung  nicht  nur  die  Be- 
stimmungen Gebildet  und  Ungebildet-^),  sondern  auch  Warm  und 
Kalt,  Weiss  und  Schwarz,  Oben  und  Unten,  Leicht  und  Schwer, 
Ausgewachsen  und  im  Wachstum  Begriffen,  Licht  und  Dunkel, 
Gesundheit  und  Krankheit  u.  s.  w.*).  Die  Beraubung  in  diesem 
Sinne  ist  nicht  mehr  bloss  Negation,  sondern  sie  bildet  eine  po- 


')  Vgl.  Ad.  Trendelenburg,  Gesch.  d.  Kategorienlehre.  Berlin  18-i6.  S. 
103—116  (bes.  S.  113—115).  Waitz  zu  categ.  10,  p.  311.  Bonitz  zu  metaph.  V 
12,  1019  b  7,  p.  254. 

■^)  Doch  findet  sich  ein  Ansatz  zu  jener  andern  Betrachtung  auch  phys.  I  7, 
190  b  30—35. 

■')  phys.  I  7,  189  b  35.     Vgl.  niet.  V  22. 

*)  met.  XII  4,  1070  b  12.  20^21.28;  5,  1071a  10;decael.  II  3, 286  a  25— 2G 


Begriff  der  Materie,     a)  Die  Materialursache  im  allgemeinen.  219 

sitive  Realität.  Sie  ist  selbst  eine  Art  Form  (iJ^ög  no)c)^), 
eine  Art  positiver  Beschaffenheit  (e^ig  ncog)  2) ,  ein  bestimmtes 
Etwas  (xd(ff)  3).  Sie  fällt  darum  nicht,  wie  die  Materie,  unter 
den  Begriff  der  Möglichkeit,  sondern,  wie  die  Form,  unter  den 
der  Wirklichkeit  ^).  Ebenso  hat  sie,  wie  die  Form,  eine  bewir- 
kende Ursache^).  Als  „Beraubung"  wird  sie  nur  aus  dem  Grunde 
bezeichnet,  weil  das  specifische  Merkmal,  durch  welches  ihr  We- 
sen constituiert  wird,  im  Vergleich  mit  dem  specifischen  Merkmal, 
welches  die  Form  verleiht,  etwas  Mangelhafteres  und  UnvoU- 
kommneres  bezeichnet  ^). 

Die  Bestimmung  ,  welche  als  „Beraubung"  bezeichnet  wird, 
gehört  also  derselben  Gattung  an,  wie  diejenige  Bestimmung, 
welche  als  „Form"  bezeichnet  wird.  Die  Bestimmungen  „Schwarz" 
(Beraubung)  und  „Weiss"  (Form)  z.  B.  fallen  beide  unter  die 
Gattung  Farbe.  Weil  nun  innerhalb  der  gemeinsamen  Gattung 
Form  und  Beraubung  als  das  Vollkommene  und  Unvollkommene 
sich  gegenüberstehen,  so  werden  sie  in  der  Reihe  der  Arten  den 
oberen  und  unteren  Endpunct  bezeichnen.  Sie  bilden  also  unter 
einander  einen  conträren    (positiven)  Gegensatz   (sind  ivavTia) '). 


phys.  lil  1,  201  a  5  8  (=  met.  XI  '),  1065  h  11—13),  auch  phys.  17,  190  b 
31—32. 

')  phys.  11  1,  193  b  19-20. 

-)  met.  Y  12,  1019  b  7.  Vgl.  Gar.  Butzki,  De  "Ecft  Aristotelea.  Halis  1881. 
p.  6-10. 

ä)  phys.  III  1,  201  a  3—5  (=-  met.  XI  9,  10(i5  b  9-11). 

•*)  met.  Xtl  5,  1071  a  8—10,  wozu  vgl.  Trendelenburg  a.  a.  0.  S.  114.  191. 
ßonitz  zu  met.  p.  484.  Die  vom  falschen  Alexander  p.  656,  8  If.  (dessen  Er- 
klärung auch  Schw^egler  in  seinem  Commentar  Bd.  lY  S.  247  f.  sich  zuzunei- 
gen scheint)  verkehrt  construierte  und  daher  miss verstandene  Stelle  war  vom 
echten  Alexander  anscheinend  in  richtiger  Form  gegeben;  vgl.  Freudenthal, 
Die  durch  Averroes  erhaltenen  Fragmente  Alexanders  zur  Metaphysik  des  Ari- 
stoteles (Abhandl.  d.  Berliner  Akad.  d.  Wissenschaften  aus  dem  J.  1884),  S.  98 
Es  gilt  also  bei  dieser  Auffassung  der  arfpijfftf  gerade  das  Umgekehrte  wie  oben, 
wo  sie  als  das  an  sich  Nichtseiende  bezeichnet  wurde;  vgl.  I  9,  192  a  5. 

')  anal.  post.  II  2,  90  a  15—18;    8,  93  a  23.  a  29— b  7. 

«)  Vgl.  de  gen.  et  corr.  I  3,  318  b  14—17  ;  de  cael.  II  3,  286  a  25—28.  Ein 
gewisses  unsicheres  Schwanken  des  Aristoteles  ist  also  schon  hier  nicht  zu 
verkennen;  vgl.  J.  B.  Meyer,  Aristoteles  Thierkunde.     Berhn  1855.     S.  421. 

')  de  gen.  et  corr.  II  5,  332  a  23—24 :  aTiQr,ais  t6  iregov  tmv  ivavziwv  (näm- 
lich Wasser  im  Gegensatz  zur  Luft,  Luft  im  Gegensatz  zum  Feuer),  met  IV  2, 
1004  b  27  :  toSv  evavziwv  i)  stequ  avaToi^ia  aregriaii.  Ygl.  met.  IV  6,  1011  b  18; 
IX  2,  1046  b  14  fl-. 


220  Drilter  Ahbchnill.     Arisloleles. 

Übrigens  wird  auch  da,  wo  zwei  Bestimmungen  nicht  gerade  das 
obere  und  untere  Endghed  in  der  Reihe  der  Arten  bilden,  immer 
noch  ein  Unterschied  der  Vollkommenheit  stattfinden.  Es  lässt 
sich  daher  auch  hier  der  Unterschied  von  Form  und  Beraubung 
durchführen.  Ebenso  wird  die  Bezeichnung  als  Gegensätze  in  ei- 
nem weiteren  Sinne  auch  auf  diese  mittleren  Arten  Anwendung 
linden  ^). 

Gehen  wir  jetzt  auf  den  zweiten  der  obigen  Sätze,  von  denen 
die  Üeduction  der  jMaterie  ausging,  zurück,  auf  den  von  sämtli- 
chen Philosophen  zugestandenen  Satz,  dass  alles  Werden  zwi- 
schen Entgegengesetztem  (svarria)  stattfinde  2).  Als  solchen  Ge- 
gensatz fanden  wir  von  x\.ristoteles  anfangs  den  der  Form  und 
der  Formlosigkeit,  dann  den  conträrer  positiver  Formbestimmun- 
gen aufgestellt^).  Legen  wir  nunmehr  die  letztere  Betrachtungs- 
weise zugrunde,  um  so  dem  Begriff  der  Materie  von  einer  ande- 
ren Seite  näher  zu  treten. 

Bei  dieser  veränderten  Fassung  der  Gegensätze  nämlich,  zwi- 
schen denen  das  Werden  sich  bewegt^  beruht  das  letztere  darauf, 
dass  eine  positive  Bestimmung  mit  einer  ihr  entgegengesetzten 
positiven  wechselt:  mögen  die  beiden  Gegensätze  nun  die  äusser- 
sten  Endpuncte  in  der  Reihe  der  Arten  bilden,  oder  zu  den  mitt- 
leren Gliedern  zählen  ^). 

Der  Wechsel  zwischen  den  Gegensätzen  aber  kommt  nach 
aristotelischer  Lehre  zustande  durch  die  Einwirkung  der  Gegen- 
sätze auf  einander'^). 

Nun  erhebt  sich  die  Frage^  wie  es  möglich  sei,  einmal,  dass 
die  Gegensätze  auf  einander  einwirken,  dann,  dass  die  Gegen- 
sätze in  einander  übergehen. 


^)  wie  das  z.  R.  de  gen.  et  corr.  II  5,  3312  a  20—24  geschieht.  Ebenso 
wird  met.  XII  1,  1069  b  4 — 5,  während  es  erst  heisst:  ex  iwv  civzixeifxe'vMv  ^  rwv 
nera^v,  gleich  darauf  einfach  ex  tov  havtlov  gesetzt. 

2)  S.  S.  215. 

•')  Die  Verschiedenheit  dieser  Betrachtungsweisen  wird  auch  von  Alex. 
Aphrod.  berührt,    in  der  Untersuchung  quaest.  nat.  11  11,  p.  102—105  Spengel: 

did    ti   TU    '/ryv6/J.lvov  ix  r^f  aztQrjaewt:  /.ierafid/.Xuv  ci/na  ex  tov  evavTiov  avTOv  ,ueTa- 
^dkXei,   ei  yt  /xtj  Taihöv  iOTiv  tj  aTegriOig  xai  t6    eravTtov; 

*)  met.  XII  1,  1069  b  3—4. 

s)  phys.  I  9,  192  a  21—22;  de  cael.  II  3,  286  a  33—34;  de  long,  et  brev. 
Vit.  3,  465  b  3—10;  de  gen.  et  corr.  I  7,  324  a  2—3.  7—8;  II  7,  334  b  20-24; 
met.  XIV  4,  1092  a  2-3. 


Begi-iff  der  Materie     a)  Die  Materialursache  im  allgemeinen.  2'21 

Bei  Aristoteles  ist  es  ein  feststehendes  Princip ,  dass  die 
Gegensätze  als  solche  nicht  von  einander  afficiert  werden 
können').  Zwar  das  Kalte  kann  von  dem  Warmen,  aber  nicht 
die  Kälte  von  der  Wärme  eine  Einwirkung  erfahren.  Der  innere 
Grund  dieses  Satzes  liegt  in  der  dem  Aristoteles  eigenen, 
auf  Plato  zurückführenden  Identificierung  von  Form  und  Begriff, 
welche  später  noch  mehrfach  zu  besprechen  ist.  Wir  finden  in 
demselben  die  physikalische  Kehrseite  eines  logischen  Satzes 
Plato's,  des  Satzes  nämlich,  dass  entgegengesetzte  Begriffe  wohl 
in  demselben  Dinge,  aber  nicht  unter  sich  vereinbar  seien.  Unter 
jener  aristotelischen  Voraussetzung  nun  ist  eine  Einwirkung  der 
Gegensätze  auf  einander  nur  denkbar,  wenn  die  entgegengesetzten 
Bestimmungen  sich  an  einem  Substrate  finden,  welciies  selbst  zu 
keiner  derselben  in  einem  Gegensatze  steht.  Neben  den  Gegen- 
sätzen ist  darum  noch  ein  Drittes  erforderlich.  Dieses  ist  die 
Materie.  Sie  ist  das  wahre  Object,  welches  unter  der  Einwirkung 
der  Gegensätze  von  der  einen  Bestimmung  zur  anderen  überge- 
führt wird  2). 

Dasselbe  Resultat  ergiebt  sich  aus  der  Lösung  der  zweiten 
Schwierigkeit.  So  wenig  ein  Gegensatz  als  solcher  auf  den  an- 
dern einwirken  kann,  so  wenig  kann  er  als  solcher  in  den  andern 
übergehen  3).  Es  ist  undenkbar,  dass  die  Kälte  je  Wärme  werde  *). 
Auch  dieser  Satz  geht  aus  von  der  Identifizierung  von  Form  und 
Begriff,  und  giebt  zu  dem  platonischen  Satze,  dass  kein  Begriff 
je  in  sein  Gegenteil  umschlage,  das  physikalische  Gegenbild.  Nun 
wird  aber  doch  trotz  dieses  Satzes  Entgegengesetztes  aus  Entge- 
gengesetztem, z.  B.  das  Warme  aus  dem  Kalten.  Die  Gegensätze 
als  solche,  Wärme  und  Kälte,  sind  daher  zu  denken  als  Bestim- 
mungen eines  Substrates ,  welches  von  der  einen  Bestimmung  zu 
einer  entgegengesetzten  gebracht  wird.  Dieses  Substrat  ist  die 
Materie  ^). 


^)    met.   XII   10,   1(175  a    30  —  31:    dna&y    yÜQ  ra   trariia   vn    uXkiikcor.      EbenSO 

phys.  I  7,  190  h  33. 

■^j  met.  XII  10,  1075  a  31-32;  phy.s.  I  7,  190  b  33—35. 

»)  phys.  I  f)  *  188  a  30.     Vgl.  met.  X  7,  10.-.7  b  22—23. 

■*)  de  gen.  et  corr.  I  G,  322  b  16-18.  Vgl.  die  Ausführungen  phys.  V  1, 
224  b  4 — 26,  dass  die  tUtj  (als  solche  wird  b  13  auch  die  o^e^/nürrig  aufgefülirt) 
unbeweglich  seien. 

'-)  de  gen.  et  corr.  I  6,  322  b  17;  II  1,  329  a  31—32;  met.  XIV  1,  1087  a 
36— b2;  cat.  10,  13  a  18—19;  de  gen.  an.  I  18,  724  b  2-4. 


222  Dritter  Al)schnitt.     Aristoteles. 

Demselben  Gedanken  giebt  Aristoteles  auch  folgende  Wen- 
dung. Wenn  etwas  von  etwas  wird,  so  muss  bei  diesem  Vor- 
gange etwas  bleiben,  welches  wird.  Der  Gegensatz  als  solcher 
aber  bleibt  nicht.  Es  giebt  also  ein  Drittes  neben  den  Gegen- 
sätzen, nämlich  die  Materie  ^). 

Suchen  wir  nttnmehr  den  Bogriö'  der  Materie  bestimmt  zu 
formulieren,  wobei  wir  zugleich  auf  die  früheren  Ausführungen 
zurückgreifen  werden. 
/  Die  Materie  ist  das,  woraus  {s'^.ov)  etwas  wird  2).  Sie 
teilt  diese  Bestimmung  mit  der  Beraubung;  denn  auch  diese 
bildet  für  das  Werdende  ein  „Woraus"  ^).  Aber  der  Sinn  dieses 
„Woraus"  ist  bei  beiden  verschieden.  Während  die  Beraubung  — 
nämlich  die  Beraubung  im  strengen  Sinne  oder  die  Formlosigkeit 
—  nicht  in  die  Zusammensetzung  des  Dinges  eingeht  (sie  ist  ein 
s'^  Ol!  oi'x  svvnÜQyorioc)  *) ,  bleibt  die  Materie  Bestandteil  des 
entstehenden  Dinges  (ist  ein  *J  ov  ewnuQyovToq)^).  Wenn  die 
Darstellung  in  der  aristotelischen  Schrift  über  die  Metaphysik 
hiervon  in  etwa  abweicht,  indem  sie  auch  die  Beraubung  zu  den 
constituierenden  Prinzipien  zählt  ^) ,  so  ist  diese  Verschiedenheit 
nur  eine  scheinbare;  denn  die  Beraubung,  von  der  die  Metaphy- 
sik spricht,  ist  nicht  die  Beraubung  im  strengen  Sinne,  sondern 
bezeichnet  eine  Art  der  Form '').  Nnn  sagen  wir  aber  von  demje- 
nigen im  eigentlichen  Sinne,  dass  aus  ihm  etwas  werde,  was 
als  bleibender  Bestandteil  zur  Entstehung  des  Neuen  beiträgt. 
In  diesem  Sinne  ist  darum  nicht  die  Beraubung,  sondern  die 
Materie  dasjenige,  woraus  das  entstehende  Ding  wird  ^).  Dabei 
ist  indessen  noch  Folgendes  zu  bemerken.     In    vielen    Fällen  be- 

1)  met.  XII  2,  1069  b  7—9. 

2)  phys.  I  8,  191  a  34;  9,  192  a  29—30.  31—32;  II  3,  194  b  24.  195  a 
IG— 19;  de  gen.  an.  I  18,  724  a  23-2(J;  II  1,  733  b  26;  IV  1,  765  b  12; 
met.  I  5,  986  b  7;  III  4,  999  b  7;  V  24.  1023  a  26—27;  VII  7,  1032  a  17.  1033 
a  -r.  VII  8,  1033  a  2.'.— 26  u.  ö. 

^)  phys.  I  8,  191  b  1.5;  de  gen.  an.  I  IS,  724  a  26—28  (wo  au.sdrücklich  die 
Mehrdeutigkeit  des  t-|  ov  hervürgeho])en  \A).  Vgl.  phys.  I  7,  190  a  6.  23.  28  u.  ö 

*)  phys.  I  8,  191  b  15     16, 

fi)  phys.  I  9,  192  a  29—30.  31—32;  II  3,  194  b  24;  de  gen.  an.  1 18,  724  a  25: 
met.  I  5,  986  b  7. 

'^)  met.  XII  4,  1070  b  18—23,  wo  die  drei  Principien  Form,  Beranimng  und 
Materie  als  iwndQxovra  «hia  und  aioiyfin  der  bewegenden  Ursache  als  einem 
ixTog  ai'riov  gegenii})ergestellt  werden.  —  '')  S.  oben  S.  218  f. 

**)  met.  Vll   7,   1032  a  17:   tu   d"  i|  ov  yiyvfTnt,  ijv  Xf'yojuiv  vhiv. 


Begriff  der  Materie,     a)  Die  Materialui'sache  im  allyeiuoinen.  223 

darf  ein  Stoff,  damit  er  zur  Entstehung  eines  Neuen  das  geeig- 
nete Substrat  abgiebt,  erst  einer  weiteren  Gestaltung.  In  diesem 
Falle  wird  das  Neue,  um  dessen  Entstehung  es  sich  handelt,  im 
eigentlichen  Sinne  nicht  aus  jenem  entfernteren  Substrate,  wel- 
ches die  betreffende  Umbildung  noch  nicht  erfahren  hat,  sondern 
aus  demjenigen  Substrate,  welches  unmittelbar  in  die  Zusammen- 
setzung des  Neuen  eingeht  ^). 

So  gelangen  wir  denn  zu  der  von  Aristoteles  gegebenen  De- 
finition der  JVlaterie.  Sie  ist  ihm:  das  einem  jeden  unmittel- 
bar zugrunde  Liegende,  woraus  etwas  wird,  als  aus  ei- 
nem innerlich  constituierenden  Principe,  und  nicht 
bloss  accidenteller  Weise  2). 

Nachdem  wir  somit  die  Materie  zunächst  als  das  Beraubte, 
d.  h.  der  Form  noch  Ermangelnde,  dann  zweitens  als  innerlich 
consti tuierendes,  aufnehmendes  Prinzip  betrachtet  haben, 
müssen  wir  sie  an  dritter  Stelle  als  das  der  Möglichkeit  nach 
Seiende  ins  Auge  fassen.  Wir  gelangen  dann  zu  dem  zweiten 
Lösungsversuche ,  den  Aristoteles  für  das  Problem  des  Werdens 
gegeben  hat. 

Die  Materie  als  das,  woraus  etwas  wird,  bildet  eine  Vor- 
bedingung der  Entstehung.  Freilich  ist  sie  nur  eine  der  Vorbe- 
dingungen. Damit  etwas  Bestimmtes  wirklich  entstehe,  muss  zu 
dieser  Vorbedingung  als  zweite  noch  die  bewirkende  Ursache  hin- 
zutreten ^).  Das  Vorhandensein  der  Vorbedingungen  zu  etwas  be- 
zeichnet aber  Aristoteles  als  die  Möglichkeit  {dvrafxic,  potentia) 
davon.  —  Die  Möglichkeit  in  diesem  Sinne  ist  zu  unterscheiden 
von  der  logischen  Denkbarkeit,  d.  h.  von  der  Widerspruchsfrei- 
heit *).  Sie  bezeichnet  eine  physische  Fähigkeit ,  ein  physisches 
Vermögen.    Entsprechend    der   Zweiheit  der  Vorbedingungen    ist 


')  niet.   VIII  4,  1044   b    1 — 3:     (h?    (fe  tu  (y/vrara  curia  }.syeiv,     Tt'g  tJ  vkrj ;     ur} 

nvQ  ij  yijv,  d'f.Xu  rr/v  lihor.  Vgl.  met.  IX  7,  1049  a  17 — 18,  WO  es  hinsichtlich  der 
ävva^it;,  mit  der  die  Materie  zusammenfällt,  heisst :  ioaneo  t'i  n  ovnw  dvdQiäg  ifvväfjur 
fifTaßä/.'Aovaa  ycifi  earai  yaXxog.  Vgl.  Trendelenburg  ZU  de  anima,  S.  246  der  2.  Aufl. 

'^)  phys.  I  9,   192  a  31 — 32:     Xiyui  yÜQ  vkr/v  xö   nftwiov  vTtoxfi/xevov  exäaru),    e^  1/ 

ov  yiyvsxai  ti  iv'onä{i-/^oVLui    in]    y.aiu     acn^h^iixög.     Vgl.    phys.   II  3,   194  b  23 — 26 

(=  met.  V  5,  1013  a  24-26). 

3)  Vgl.  de  gen.  et  coi-r.  II  9,  335  b  29—33  und  zahlreiche  andere  Stellen. 

*)  met.  V  12,  1019  b  2^2  ff.  IX  1,  1046  a  6—9.    Vgl.    Trendelenburg    zu  de 
anima-,  p.  242.     Bonitz  zur  Metaph.,  p.  255.  379  f. 


224  Driftor  Ahscimitt.     Aristoteles. 

diese  physische  Müglichkeil  eine  doppelte,  eine  active  und  eine 
passive^).  Die  active  Potenz  ist  das  Vermögen  der  bewirkenden 
Ursache,  in  etwas  AnderiMii  eine  Voränderung  hervorzurufen  2). 
Die  passive  ist  die  Fähigkeit  von  etwas,  in  sich  selbst  eine  pas- 
sive Veränderung  zu  erfaliren  3),  d.  h.  eine  neue  Bestinnnung  auf- 
zunehmen. 

Die  Materie  befindet  sich  also  in  der  Möglichkeit,  und  zwar 
in  der  passiven  Möglichkeit  zu  etwas  Bestinmitenu  Sie  ist,  wenn 
wir  sie  zu  dem ,  was  aus  ihr  werden  aoU  ,  in  Beziehung  setzen, 
ein  der  Möglichkeit  nach  Seiendes^).  Das  Werden  selbst,  über- 
haupt eine  jede  Veränderimg,  besteht  in  der  Verwirklichung  des 
der  Möglichkeit  nach  Seienden'').  Dasselbe  setzt  mithin  stets  eine 
Materie  als  das  der  MögHchkeit  nach  Seiende  voraus.  Das  mög- 
liche Seiende  aber  ist  ein  nicht  schlechtweg,  sondern  beziehungs- 
weise Seiendes ''). 

Auch  in  diesem  zweiton  Lösungsversuch,  durch  welchen  Ari- 
stoteles dem  Dilemma  der  früheren  Philosophen:  Sein  oderNicht- 


')  met.  V  12,  1019  a  1.5-23;  IX  1,  104(i  a  9- 13  (vgl.  Trendelenl.urg  a.  a.  0. 
S.  244  V.  Von  der  daselbst  1019  a  2(5  ff.  104()  a  1.3  ff.  angefühlten  diütten  Art 
des  Vermögens,  der  Widerstandsfähigkeit,  können  wir  hier  absehen. 

'-)  met.  IX  1,  104(>  a  11:  tqiyi/  ,ufTa,^öA»7f  fv  a?J.w,  ?}  ä'A/lo.  So  ist  die  otxoJ'o.uAX)/ 
im  Baumeister,  ruft  aber  im  Baumaterial  eine  Veränderung  hervor:  met.  V  12, 
1019  a  16—17. 

■')  met.  IX  1.  104G  a  11—13. 

*)  de  an.  II  1,  412  a  9:  f'ari  rJ"  y  /utv  v}.rj  ihhuimg.  met.  XII  .'>,  1071  a  10: 
dvvä,ufi  öi  ii  Uti.  Vgl.  phys.  II  1,  193  b  6—8;  IV  9,  217  a  22—23.  34;  de  gen.  et 
corr.  II  9,  335  a  32  -33.  b  4—5;  meteor.  I  3,  340  b  15;  de  an.  II  2,  414  a  16 
III  5,  430  a  10—11;  met.  VII  7.  1032  a  20— 22;  Villi,  1042  a  27-28;  2,  1042 
9—10.  1043  a  15—16;  6,  1045  a  23-24.  b  18-19;  IX  8,  1050  a  15.  b  27;  XI 
2,  1060  a  21  ;  XII  2,  1069  b  14;  4,  1070  b  12;  .5,  1071  alO;  XIII  10,  1087  al6; 
XIV  1,  108S  b  1.  4;  1092  a  3—4  u.  ö. 

")  met.  XII  2,  1069  b  15 — 16:  (ntl  de  (hrruv  t6  <',v,  iniTaßäkXti  nuv  ex  rov 
ö'vväfjfi   üvTog:  ftg  x6  fvfQyfia  ov. 

'')  J)hys.  18,  191  1)  27-29:  di  ufr  <)'?/  T^ÜTiog  oiiog,  ciXkog  ffuTt  evd'i'jfeTai 
ravTo.  Xtyeiv  y.ara  tijV  il'rru/uiiv  y.ai  Tr,v  (i't\ty(iai\  met.  XII  2,  1069  b  18 — 20:  loaj' 
ov  /jovov  xard  avpßeßijxog  tvffe'xffKi  yiyvta&ui  i'y.  fit]  livrog,  dlXa  xal  t^  ovrog  yi- 
yverai  narra,  (fvvd.fxti  /jevroi  ovrog,  tx  /urj  tivrog  dt  tvfQyda.  met.  IV  .5,  1(X)9  a 
32 — 36:  To  yÜQ  ov  ).tyfT(u  ihyi^iug,  i'nai'  i'aziv  üv  rodyiov  evifsj^erai  yr/rtaD^ai  tl  tx  toc 
/Jij  ovTog,  fOTi  ()'  üv  ov,  xal  äjua  rti  avTÖ  eivai  xal  ov  xal  ixr/  ov,  dXX'  ov  xard  lat'cu 
[o'rj.  drrdf^tfi  fjtv  yuQ  iv(fey(iai  dua  ravid  tivai  rd  ivavria,  evTtXtyiia  li'  ov.  Vgl. 
de  gen.  et  corr.  I  3.  317  b  13-18. 


■    Begriil  der  Materie,  a)  Die  Materialursaclic   im  alli^oineiiieii.  ±2;') 

sein ,  entgehen  will ,  dürfen  wir  nicht ,  wie  es  oft  geschehen  ist, 
ein  leeres  Spiel  mit  Begriffen  erblicken.  Aus  Nichts  kann  das 
Seiende  nicht  werden,  hatten  die  Gegner  eingewendet;  denn 
woraus  ein  Ding  oder  eine  Bestimmung  wird,  das  ist  Etwas. 
—  Das  Seiende  wird  in  der  That  aus  einem  Etwas,  erwidert 
Aristoteles ,  nämlich  aus  einer  Materie.  —  Aber  aus  dem  Seien- 
den kann  das  Seiende  ebenso  wenig  werden ,  halten  jene  aufs 
neue  entgegen.  In  diesem  Falle  würde  es  nicht,  sondern  wäre 
schon,  —  Das  Seiende,  aus  dem  das  Entstehende  wird,  oder  die 
Materie,  unterscheidet  demgegenüber  Aristoteles,  ist  auch  nicht 
das  Entstehende  selbst,  sondern  nur  die  Vorbedingung  dazu;  es 
kann  mithin  etwas  Neues  aus  ihm  werden. 

Man  wird  zugestehen,  dass  die  abstract  gehaltenen  Einwen- 
dungen von  ihrem  Standpuncte  aus  zutreffend  geschlagen  sind. 
Ob  die  Lösung  auch  eine  sachlich  vollkommen  befriedigende  ist, 
möge  vorläufig  ununtersucht  bleiben.  So  lange  es  sich  bloss  um 
ein  accidentelles  Werden  handelt,  so  lange  also  ein  wirklicher 
Stoff  zugleich  Vorbedingung  für  etwas  Neues  ist,  genügt  sie  frei- 
lich vollkommen.  Dagegen  erheben  sich  grosse  Schwierigkeiten, 
wenn  das  substantiale  Werden  erklärt  werden  soll.  Doch  darüber 
weiter  unten. 

Vorab  muss  noch  der  Umfang  näher  festgesetzt  werden,  auf 
welchen  das  passive  Vermögen  der  Materie  sich  erstreckt.  —  Wie 
wir  sahen  i),  ist  die  Materie  nicht  stets  mit  derselben  Bestimmung 
behaftet,  sondern  sie  bildet  das  gemeinsame  Substrat  für  entge- 
gengesetzte Formbestimmungen.  Sie  ist  also  nicht  zu  einer  be- 
stimmten Form  determiniert,  sondern  besitzt  die  Fähigkeit,  inner- 
halb der  Gattung,  für  welche  sie  die  Materie  bildet,  beide  Gegen- 
sätze, und  natürlich  auch  deren  Mittelstufen,  in  sich  aufzunehmen. 
Die  Materie  befindet  sich  mithin  in  Möglichkeit  zu  beiden 
Gegensätzen 2),  Ihre  xVIöglichkeit  erstreckt  sich  auf  den  ganzen 
Umfang  der  Bestimmungen,  die  unter  die  betreffende  Gattung 
fallen.  Es  ist  nicht  eine  besondere  Materie  für  jeden  der  Gegen- 
sätze erforderlich,  sondern  die  Materie  der  Gegensätze  ist  eine"). 


')  S.  S.  221. 

-)  mel.  XII  2,    ]()G9  h  14 — 15:   «rcr/x»;   iW,    uira^id'/J.nv  triv   vlr,v   (frra!iivr,v  uu(ff 
XII  5,    1071  a  10 — 11:    6'rvdiifi  i)i   i)  rh,'   Tuvia  '/üq  tniiii)  (i'ri'i<furi)ryr,rfal}(ui(infi 

'■>)  phys.  IV  9,  217  a  22-2:5.    Vgl.  iiiet.  XII  10,  1075  a  31. 

liieu  ni  l;er :    Das  Problom  der  Materie  etc.  15 


22()  Dritter  Ahsfliuitt.     Aristoteles. 

80  hat  es  sich  uns  allseitig-  besliitigl,  dass  der  aristotelische 
Begriff  der  Materie  aus  einer  Analyse  des  Werdeprozesses  ent- 
wickelt ist.  Um  das  Werden  zu  erklären,  erscheint  es  für  Ari- 
stoteles erforderlich,  eine  Materie  anzunehmen;  aus  der  Natur  des 
Werdens  ergeben  sich  die  Eigentümlichkeiten  der  Materie. 

Ist  aber  das  Werden  nur  durch  die  Annahme  einer  Materie 
zu  erklären,  die  von  der  Form  actualisiert  wird,  so  folgt,  dass, 
wie  nichts,  was  sich  nicht  verändert,  Materie  hat  1),  ebenso  umge- 
kehrt alles,  was  sich  verändert,  Materie,  einschliesst 2).  So  gelan- 
gen wir  zu  dem  für  die  aristoteli-sche  Philosophie  so  überaus 
wichtigen  Satze,  dass  alles,  was  sich  verändert,  aus  Materie  und 
Form  zusammengesetzt  ist^).  Wandelbarkeit  undZusannnen- 
setzung  aus  Materie  und  Formelement  sind  für  Aristoteles ,  wie 
schon  vor  ihm  für  Plato,  Wechselbegriffe.  Und  da  Aristoteles 
mit  Plato  auch  darin  übereinstimmt,  dass  alles  Sinnfällige  stetem 
Wechsel  unterworfen  sei^),  so  ergiebt  sich  der  weitere  Satz,  dass 
alles  Sinnfällige  Materie  enthält-''). 

Aus  der  Abhängigkeit  des  Begriffes  der  Materie  von  dem 
des  Werdens  folgt  aber  weiter,  dass  wir  so  viele  Arten  der 
Materie  zu  unterscheiden  haben,  als  es  Arten  des  Werdens  oder 
der  Veränderung  giebt.  Dieser  Arten  nun  sind  vier:  die  substan- 
tiale  Veränderung  oder  das  substantiale  Werden  und  Vergehen  ; 
die  quantitative  Veränderung  oder  das  Wachstum  und  die  Ab- 
nahme; die  qualitative  Veränderung  und  endlich  die  Ortsverän- 
derung").     Es    ist  deshalb   auch   eine  vierfache   Art   der   Materie 


»)  met.  VIII  5,  1044  b  27— '29.     Vgl.  met.  XII  (i,  1071  b  20—22. 

-)  met.  XII  2,  1069  b  24  —  25:  Tiävia  1)"  vXrjv  i'^n  oaa  (LifTajiä?J.f(.  Ferner 
met.  VII  7,  1032  a  20;  VIII  r.,  1044  b  27—29.  Vgl.  phys.  I  7,  190  a  9— 10.  If). 
34.  b  3—4;  V  2,  226  a  10.  Ähnlich  met.  VII  15,  1039  b  29-31;  [XI  2,  1060 
b  21] ;  XII  1,  1069  b  3. 

^)  phys.  I  7,  190  b  11:  ro  yr/vöuerov  änav  del  awS-etöv  ioTi  .  .  .  (20)  yiyvtTui 
ttjiav  ex  rt  rov  vnoxeifievov  xal  Tijg  ,«o()(^»7f.  met.  VII  8,  1033  b  12 — 13:  fhiiloei 
ya(i  tfia/^erov  e^vni  dtl  t6  ytyrdufvov,  xal  eirai  ro  ßtv  Toth  t6  dt  nUh,  Xeycn  6''  üii 
To  /iiev  vkrjv  ro   6'  eidog, 

*)  met.  XII  2,  1069  b  3:  ij  (f  a^aStjTilj  ovala  fieiaßlrjX'^. 

'■•)  de  caelo  I  9,  278  a  11;  met.  VIII  1,  1042  a  25—26. 

')  met.  XII  2,  1069  b  9 — 13:  al  fitraßoXal  retTaQti,  ij"  xarä  tu  ri  y  xaru  to 
Tioiuv  ij  noaov  rj  nov,  xni  yiviaig  fiev  ■^  ä7i?.ij  xal  (fOoQU  ij  xara  tüift,  ar^r,oig  (ff  xal 
(f'S-iaie  71  xaitt  TO  TToaöv,  üD.olwai;  d'e  tj  xard  ro  näO-ot;,  (fOQa  lU  i^  xaru  rönov.  de 
gen.  et  corr.  I  1,  319  b  ,30-320  a  2;  met.  VIII  1,  1042  a  32-b3;    vgl.  XIV  1, 


a)  Die  Materialursache  im  allgemeinen.     Arten   der  Materie.  227 

aufzustellen  1):  eine  Materie  des  Werdens  und  Vergehens  2) ,  eine 
Materie  der  quantitativen  Veränderung,  eine  Materie  der  qualita- 
tiven Veränderung,  eine  Materie  der  Ortsbewegung  =>). 

Von  diesen  vier  Arten  der  Materie  ist  die  Materie  des  substan- 
tialen  Werdens  und  Vergehens  in  besonderem  und  eigentlichem  Sinne 
Materie  *).  Sie  liegt  ja  demjenigen  Werden  zugrunde,  welches 
Werden  im  eigentlichen  Sinne,  an  sich  und  nicht  ])loss  bezie- 
hungsweise, ist. 

Da  ferner  mit  dem  substantialen  Werden  notwendig  auch  die 
übrigen  Arten  der  Veränderung  verbunden  sind^  aber  nicht  um- 
gekehrt, so  ergiebt  sich,  dass  das  Vorhandensein  der  Materie  des 
substantialen  Werdens  auch  das  Vorhandensein  der  accidentellen 
Materie  einschliesst,  dass  aber  das,  worin  die  Materie  z.  B.  der 
Ortsveränderung  sich  findet,  nicht  schon  deshalb  auch  die  Materie 
des  substantialen  Werdens  zu  enthalten  braucht  ■''),  wie  das  bei 
den  ihrer  Substanz  nach  unveränderlichen  und  nur  der  Ortsbewe- 
gung unterworfenen  Himmelskörpern  nicht  der  Fall  ist. 


1088  a  31-33.  Vgl.  Kappe.s,  Die  Aristotelische  Lehre  über  Be.^'riff  u.  Ursache 
der  xivr,aii.  Bonn  1887.  S.  14  ff.  Zeller,  Archiv  für  Gesch.  der  Philos.  II 
(18891  S.  281.  Zur  xivtjaig  wird  das  substantiale  Werden  gewöhnlich  nicht 
gerechnet  (vgl.  phys.  V  1.  225  a  20  — b 3;  [met.  XI  11,  1067  b  31—37]);  daher 
meistens  drei  y-ivriaen:  phys.  II  1,  192  b  14r~16;  V  1,  225  b  7—9;  V  2,  22G 
a  24-25;  VII  2,  243  a  6—7;  VIII  7,  260  a  26-28;  de  cael.  IV  3,  310  a  23— 24; 
de  an.  I  3,  406  a  12 — 13  (hier  ist  die  Zahl  der  xivr,atis  nur  darum  auf  vier 
bestimmt,  weil  Wachstum  und  Abnahme  gesondert  gerechnet  werden);  met. 
XI  12,  1068  a  9 — 10;  aber  auch  vier,  indem  xivi,aii;  als  gleichbedeutend  mit 
ixtjaßoXri  gebraucht  wird  (vgl.  phys.  IV  10,  218  b  19):  phys.  III  1,  200  b  32— 34. 
201  a  11—15;  VIII  7,261  a  33— 36  (vgl.  auch  de  caelo  I  2,  315  a  26—29).  Vgl. 
Zeller  IP  b  352.  389  ff.  Prantl,  Symbolae  criticae  in  Aristotelis  physicas  aus- 
cultationes.  Berlin  1843.  S.  9.    Bonitz  zur  Metaph.  S.  472. 

')  met.  VIII  1,  1042  a  32  —  b3:  oriif  forlv  ovaia  xal  t,  vXr,^  ifrj?.ov' h'  Tidaaiiydp 
raii  dvTixtiUfpac;  /ufTaßo/.ai's  tari  ri  t6  vnuxfi'ittvov  tu/'s  fjitTaßo?.a7i; ,  olov  xard  to- 
710V  tÖ  vvv  fj.iv  iviav&a,  nd'/.iv  &"  d'/J.o&i,  xai  xat'  av§r,aiv  o  vvv  fiev  zrjXixövd'i,  nd- 
?.iv  if  e'f.axTov  t,  ficitor,  xai  xai'  d'/.).oiu>aiv  o  vvv  juiv  vyiig,  7id).iv  de  xdjuvov'  ofioüo^ 
de  xal  xar'  ovaiav  o  vvv  uev  iv  yeviaei,  ndXiv  tf  ev  ip9oga,  xal  vvv  fxev  v7ioxti,ufvoi' 
tu;  Todt  Ti,  nd/.iv  d'  vnoxei/^fvov ,  «f  xard  are'Qrjaiv.  met.  XII  2,  1069  b  16 — 26. 
de  gen.  et  corr.  I  4,  319  b  ,30  -  b5.  Vgl.  phys.  I  7,  190  a  31  — bl.  de  gen.  et 
corr.  I  1,  314  b  26-28.    met.  XIV  1,  1088  b  1-2. 

■•')  v?.'t]  yevvr,TTjmei.\ll2,  1069  bi 6,  yevvr,Ti]  xal  <fUa(,T,j  met.  V 111  1,  KI42  b  6. 

^)  vi-r,  TOTTixr'i  met.  villi,  1042  b  6,  xard  rÖTiov  xivr/TTJ  met.  Vlll  4,  1044  b  8, 
joi  n69(v  noi  met.  IX  8,  10.50  b  21—22;  XII  2,  1069  b  26. 

*)  de  gen.  et  corr.  I  4,  320  a  2-5.     —    ^)  met.  VIII  1,  1042  b  3—6. 

15  * 


228  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

Die  Materie  der  accideiitellen  Verruuleriing  i.st  ülirigens  in  den 
Dingen,  welche  auch  eines  substantialen  Wechsels  fähig  sind,  nicht 
in  sofern  von  der  Materie  des  letzteren  verschieden,  als  ob  sie  et- 
was Besonderes  neben  dieser  ausmachte.  Vielmehr  ist  die  ganze 
Substanz  mit  Einschluss  der  substantialen  Materie  das  Subject  der 
accidentellen  Veränderungen  i).  Aristoteles  kann  deshalb  gelegent- 
lich auch  sagen,  dass  die  substantiale  Materie  zugleich  Materie 
der  Quantität  und  Qualität  sei,  dass  daher  beide  nur  dem  Be- 
griffe nach,  nicht  aber  örtlich,  d.  h.  nicht  real,  von  einander  ver- 
schieden seien  2). 

Dabei  ist  indessen  zu  beachten ,  dass  nach  der  Consequenz 
des  Systems  wie  nach  den  klaren  Worten  des  Aristoteles  nicht 
die  formlose  Materie  der  Substanz,  sondern  die  von  der  substan- 
tialen Form  bereits  actualisierte  Materie  das  Substrat  für  die 
Grössenveränderung  u.  s.  w.  ausmacht  ^). 


')  phys.  I  7,  190  a  33— bl. 

'')  de  gen.  et  corr.  I  5,  320  b  22—25.  Vgl.  321  a  0—7.  Nicht  ganz  mit 
Recht,  wie  mir  scheint,  sieht  von  Hertling  (Mat.  11.  Form  S.  23)  met.  VIII  4, 
1044  b  8—20  den  Gedanken  ausgesprochen,  dass  doii,  wo  das  Werdende  nicht 
selbst  Substanz,  sondern  nur  Affection  einer  Substanz  ist,  nach  einer  besonde- 
ren Mateiie  nicht  gefragt  werden  dürfe.  Diese  Stelle  dürfte  vielmehr  für  un- 
gern Gegenstand  überhaupt  nicht  in  betracht  kommen,  da  in  derselben  nicht 
von  Affectionen  im  allgemeinen,  sondern  nur  von  negativen  Hestimmun- 
gen  die  Rede  ist,  die  zwar  ifvatt,  aber  nicht  ovaia  sind,  d.  h.  keine  positive 
Realität  haben. 

■■*)  Vgl.,  was  de  gen.  et  corr.  I  5  über  die  av^r,ais  ausgefüliit  wird.  Das 
Wachstum  des  tierischen  Körpers  z.  B.  soll  in  folgender  Weise  vor  sich  gehen. 
Mit  der  auQ^  noatj  des  Körpers  kommt  ein  Quantum  eines  Nahrungsstoffes  in 
unmittelbare  Berührung  (322  a  11  —  10),  welches  der  Möglichkeit  nach  ein  be- 
stimmtes (juantum  Fleisch  ist  (322  a  19—22;  im  Text  ist  Z.  20  nach  noaf/eein 
Komma  zu  setzen  und  im  übrigen  gegen  Prantl  Bekker's  Interpunction  und 
die  Lesung  der  Handschriften  beizubehalten).  Dann  wird  durch  die  Kraft  des 
W^achstums,  welche  dem  actuellen  Fleische  des  wachsenden  Körpers  eignet 
(durch  das  ev  zw  m'^avo/jevu)  y.al  ovri  evTt?.txeia  auQxi  f rdi^  aJli^rfxoj',  322  a  11 — 12. 
Von  dem  durchaus  Unbefriedigenden  dieser  „Kraft",  die  in  der  That  nur  ein 
leeres  Wort  ist,  möge  hier  abgesehen  werden),  die  Nahrung  aus  potentiellem 
Fleische  in  ein  bestimmtes  Quantum  actuellen  Fleisches  verwandelt,  ebenso 
wie  durch  das  Feuer  das  von  ihm  eigriffene  Holz  in  Flammen  gesetzt  wird 
(322  a  10—1,3).  Infolge  dessen  wächst  der  Körper.  Bei  dieser  Zunahme  wird 
jeder  Teil  des  Körpers  vermehrt,  ebenso  wie  bei  der  Abnahme  jeder  Teil 
vermindert  wird  (321  a  2—5.  19-20.  b  14—15).  Eine  solche  Vermehrung  je- 
des einzelnen  Teiles  aber  ist  nicht  in  der  Wei.se  zu  denken ,    als    ob   zu  jedem 


Begrif!'  der  Malerie.     \>]  Die  Materie  des  suiistantiulen    Werdens.        229 

b.   l>io  Materie  des  subi^taiitialeii  Werdens. 

Es  giobl  nicht  nur  accidentellc  Veränderungen,  sondern  auch 
ein  substanliales  Werden,  oder,  wie  Aristoteles  sich  ausdrückt, 
es  wird  nicht  nur  etwas  so  beschaffenes,  sondern  es  wird  auch 
schechthin  etwas  i).  Dieses  Werden  schlechthin  findet  statt, 
wenn  nicht  eine  schon  bestehende  Substanz  neue  accidentelle  Be- 
stimmungen annimmt,  sondern  wenn  die  Substanz  selbst  neu 
entsteht  ^). 

Für  die  Wirklichkeit  eines  derartigen  substantialen  ^Verdens 
ausführlichen  Beweis  zu  führen,  hat  Aristoteles  nicht  als  nötig 
angesehen.  Schon  die  Übereinstimmung  der  früheren  Philo- 
sophen sprach  dafür.  Denn  Avenn  unter  diesen  auch  einzelne 
überhaupt  jedes  Werden  leugneten  ^),  andere  alles  Werden  als 
bloss  qualitative  Veränderung  betrachteten^),    so    setzte  doch  die 


Teil  der  Materie  etwas  hinzuträte;  vielmehr  ist  es  die  Form  (vgl.  Alex. 
Aphrod.  quaest.  nat.  I  5,  pag.  29  f.  Spengel:  iftd  ri  y  av^rjais  y.ard  t6  fi'ifos  ,«o'- 
vov,  dXk'  ov^i  xai  xazä  xrjv  v/.tjv),  und  zwar  die  quantitativ  bestimmte  Form  {axijua 
y.al  ti(?og  321  b  27 — 28;  dieselbe  Bedeutung  von  fn-J'of  phys.IV2,  209  bS),  welche 
in  jedem  ihrer  Teile  eine  solche  Zunahme  erfährt  (321  b  22 — 24.  33—34.  Das 
Gleiche  folgt  aus  II  4,  335  a  15 — 16,  wonach  tj  ,uoQif.i}  xal  t6  t?(foi  das  TQfif6,us- 
vov  ist.  Nach  de  gen.  et  corr.  I  5,  322  a  25—28  und  de  an.  II  4,  41G  b  11—13 
sind  nämlich  die  av^riOii:  und  die  zQOif.t^  der  Sache  nach  dasselbe  und  nur  dem 
Sein  oder  dem  Begriffe  nach  verschieden ,  insofern  z.  B.  derselbe  Nahrungsstoff 
als  dvväjufi  noar,  aäg^  vergrössert,  als  blosse  ffwä/xsi  aäp§  nährt).  Damit  aber 
räumt  .Aristoteles  ein,  dass  nicht  die  Materie  des  Köi-pers  es  ist,  auf  welche 
die  Grössenveränderuna  unmittelbar  einwiikt,  sondern  dessen  Form.  Nicht  die 
Materie  der  Substanz  für  sich  allein  bildet  mithin  die  Materie  des  Wachstums, 
sondern  die  ganze  Substanz,  die  formierte  substantielle  Materie. 

^)  Aristoteles  setzt  entgegen  yiyvfaSai  und  rodf  ti  yiyvfa&ai  (phys.  I  7,  190 
a  32),  dnkms  yiyvea&at  und  tI  yiyvtad-ai  (de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  13 — 14; 
vgl.  met.  VIII  1,  1042  b  7 ;  I  3,  983  b  14),  üti^  ye'veats  und  tIs  ysveaig  (phys.  V 
1,  225  a  14  [=  met.  XI  11,  10(>7  b  23];  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  3—5.  Vgl. 
phys.  II  1,  193  b  21;  de  gen.  et  corr.  I  2,  315  a  26 ;  I  3,  3l7  a  17;  meteor. 
IV  1,  378  b  28.  32;  met.  XII  2,  10()9  b  10),  yiyvöfievov  dnXws  xal  (fß-eiQ6,uevov 
und  €x  Tivos  xal  ri  (de  gen.  et.  corr.  I  3,  317  a  33-34.  Vgl.  übrigens  S.  214 
Anm.  5  Schi.).  Das  dnAcHs  yiyvta&ai  wird  nur  von  dem  Werden  einer  Substanz 
gesagt  (phys.  I  7,  190  a  32-33;  de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  13—14;  met.  XII 
2,  1069  b  11). 

2)  de  gen.  et  corr.  I  1,  314  b  1-4;  2,  317  a  20—28;  4,  319  b  6—21.30  ff. 
5,  320  a  13—15. 

3)  de  cael.  III  1,  298  b  12-15. 

*)  de  gen.  et  corr.  I  1,  314  a  6— 7. 


230  Driller  Absdinill.     Arisloleles. 

überwii-geiide  Mehrzahl  ein  Werden,  und  zwar  ein  von  der  qua- 
litativen Verändei-ung  unterschiedenes  Werden  voraus  ^). 

Was  Aristoteles  sonst  zur  Begründung  vorbringt,  ist  von  niin- 
derni  (icwicht.  Gelegentlich  erläutert  er  den  Unterschied  der  sub- 
stantialcn  und  der  accidentalen  Veränderung  durch  ein  Beispiel  2), 
ohne  dasselbe  hinsichtlich  seiner  allgemeineren  Beweiskraft  einer 
Prüfung  zu  unterziehen.  Namentlich  gilt  ihm  die  Neuentstehung  der 
Elemente,  die  er  mit  Plato  3)  gegen  Empedocles'^)  annimmt  und  — 
darin  über  Plato  hinausgehend^)  —  auf  alle  vier  Elemente  ausdehnt, 
als  Beweis  für  das  substantiale  Werden ").  Der  durchschlagende 
Grund  für  seinen  Glauben  an  die  objective  Realität  desselben  lag 
wohl  darin,  dass  er  dasselbe  aus  seinen  Principien  erklären  konnte. 

Der  Begriff  der  substantialen  Materie  nun  ergiebt  sich 
aus  dem  Begriff  des  substantialen  Werdens  in  derselben  Weise, 
wie  Aristoteles  den  Begriff  der  Materialursache  im  allgemeinen 
aus  dem  Begriffe  des  Werdens  im  allgemeinen  ableitet. 

Einmal  setzt,  wie  alles  Werden,  so  auch  das  substantiale 
Werden  etwas  voraus,  woraus  es  wird. 

Andererseits  muss,  wenn  alles  Werdende  aus  einem  noch 
nicht  Seienden  wird,  das  schlechthin  Werdende  aus  einem 
schlechthin   Nichtseienden  entstehen''). 

Die  Materie  des  substantialen  Werdens  muss  also  als  Etwas 
gedacht  werden,  welches  zugleich  ein  schlechthin  Nicht- 
seiendes  ist. 

Der  Begriff  des  „schlechthin"  Nichtseienden  kann  aber  ein 
doppelter  sein.  Einmal  nennen  wir  „schelchthin"  Nichtseiend, 
was  nicht  dem  beziehungsweise  Seienden^  d.  h.  dem  Accidens, 
sondern  dem  Seienden  im  ursprünglichen  und  vollen  Sinne,  der 
Substanz,  gegenübersteht,  also  die  Negation  des  substantialen 
Seins;  zweitens  das,  was  den  Begriff  des  Seins  in  seinem  vol- 
len Umfange  negiert.  Beides  kommt  indes  auf  dasselbe  hin- 
aus. Denn  was  keine  Substanz  ist,  dem  können  auch  keine 
Accidentien  eignen.  Anderenfalls  müssten  ja  die  Accidentien 
ohne  eine  Substanz  existieren,  der  sie  inhäricrten  ^'*). 

^)  de  gen.  et  corr.  I  2,  315  b  15 — l(j. 

'-)  de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  10—11,  wo  als  Beispiel  für  das  tI  yiyvta&at 
angeführt  wird,  wenn  jemand  verständig  wird,  als  Beispiel  für  das  nnhnc 
yiyvfa-d-ai,  wenn  etwas  aus  der  Erde  hervorwächsl. 

3)  S.  S,  126.  —  *)  S.  S.  69  f.  —  5)  S.  S.  168.  —  ')  S.  S.  237. 

')  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  3—5.  —    ")  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b5— 13. 


Begriff  der  Materie.     1j)  Die  Materie  des  subslantialeii  Werdens.        231 

Die  Materie  des  .substaiilialen  Werdens  ist  also  ein  Nicht- 
seicndes  im  vollen  Umfange  des  Seinsbegriffes  i).  Die  „Berau- 
bung" erstreckt  sich  bei  ihr  auf  jegliche  Art  von  beslinnnteni 
Sein.  Sie  i.st  weder  Substanz,  noch  Accidens.  Daher  die  Defi- 
nition: Ich  nenne  Materie,  was  an  sich  weder  als 
Etwas,  noch  als  Quantum^  noch  als  sonst  eine  der  Gat- 
tungen  des  Seienden    zu   bezeichnen  ist^). 


1)  vgl.  de  gen.  et  corr.  I  3, 317  b  5~-l<S  (der  Schluss  citiert  S.  232  Anm.  2), 
wo  ktyofievov  dfifcTe^me  auf  die  beiden  Arten  des  änhös  fiv  ov  geht. 

^)  met.  VII  3,  1029  a  20 — 21  :  Xiym  <f  vXijV,  i?  xath'  avTijV  ßtJTf  Ti  fiTjTe  noaov 
,urJTt  akXo  piij(ffv  Xiyitai  oig  (ögiarai  xo  or.  Die  Erklärung  des  Ti  giebt  a  23 — 25: 
rd  fiiv  ydg  ä'AAa  T'^s  ovaidg  xaTtiyoQtnai,  avTt]  (fe  T'^f  i'Ai;?.  äars  ro  ea^arov  xaS-' 
arro  ovTt  11  ovzs  noaov  ovze  a}lo  ov(h'v  tariv.  Es  ist  darunter  also  nicht,  wie 
an  den  S.  229  Anm.  1  cilierten  Stellen,  eine  bloss  accidentelle  Bestimmung 
verstanden,  sondern  ?/  steht,  wie  in  den  Ausdrücken  t6  xl  iaxi,  x6  ri  %v  tivai, 
nach  einem  auch  sonst  nicht  ganz  seltenen  Gebrauche  synonym  mit  ovaia  ; 
vgl.  anal.  post.  I  24,  85  b  20;  met.  I  8,  989  b  12  ;  VI  2,  1026  a  36;  IX  1.  1045 
b  33;  X  2,  1054  a  18  ;  XII  2,  1069  b  9;  XIV  2,  1089  b  8;  eth.  Nie.  I  4,  1096 
a  24.  Sonst  sagt  Aristoteles  statt  dessen  gewöhnlich,  die  Materie  sei  kein 
roV*  Tt,  z.  B.  phys.  I  7,  1-91  a  13;  de  an.  II  1,  412  a  7-8;  met.  V  8,  1017 
b  23—25;  VII  3,  1029  a  28;  VIII  1,  1042  a  27 ;  IX  7,  1049  a  35;  vgl.  auch 
de  part.  an.  I  1,  640  b  8 — 10  (üljer  den  Sinn  des  Ausdrucks  s.  Waitz  zu  categ. 
5,  3  b  10].  Er  tadelt  darum  den  Plato,  dass  er  (s.  oben  S.  129)  die  alles  auf- 
nehmende Materie  dem  Golde  vergleiche,  aus  dem  die  verschiedenartigsten 
Bildwerke  gefertigt  würden ;  denn  woraus  etwas  werde,  das  könne  man  nur 
dann  mit  einem  bestimmten  Namen  bezeichnen,  wenn  es  sich  um  eine  bloss 
qualitative  Veriinderung  handele  (de  gen.  et  corr.  II  1,  329  a  17 — 20). 

Bei  der  völligen  Übereinstimmung  aller  dieser  Stellen  ist  es  auffallend,  dass 
Aristoteles  met.  XII  3,  1070  a  9 — 13  sagt  :  ovoiai  ifi  xQtTs  '  t]  /nev  vXtj  xdJe 
XI  ovaa  zw  (paivta-d-ai  {oaa  yÜQ  iativ  äipfj  xal  ßij  avfnf,vait,  vXrj  xal  vnoxtljjievov), 
Tj  de  (f/vaie  xal  xöde  xt,  tlg  tjv,  xal  e^ts  xii'exi  XQizri  r/  ex  xovxoov  ij  xa-d-'  i'xaaxa.  Doch 
erklärt  sich  der  Sinn  dieser,  zuletzt  von  Freudenthal  (Die  durch  Averroes  er- 
haltenen Fragm.  Alexanders  zur  Met.  d.  Arist.  S.  45  f.)  behandelten  Stelle  aus 
met.  VII  16,  1040  b  5  —  10:  ifavepdv  rf*  oxi  xal  xmv  ffoxovacüv  eivai  ovOkov  ai 
nXfTaxai  ifvvdfieis  elai,  xd  xe  noQia  xmv  t,(ü<i)v  [ovö'ev  yuQ  xfj^aiQiaße'vov  aihiZv  taxiv. 
öxnr  (fe  ^rto^iaS-^,  xal  xöxt  ovxa  ws  i'A);  7rctj>ra),  xal  yij  xal  nvQ  xal  drJQ  '  ovdev  ydg  ai'xcav 
e'v  iaxiv,  a/.A*  oiov  i'j  o^QÖi  tiqIv  ij  neif&fi  xal  yivqxai  xi  f|  avxwv  ev,  womit  ZU 
vergleichen  met.  VII  17,  1041  b  11  —  12:  i'tkI  de  x6  ex  xivog  avvß-exov  ovxws 
üiax£  £v  livai  x6  ndv,  dXkd  ßrj  <n s  acoQos,  dkX'  o5f  Xj  aoXkaß'ij  xxX.  Unter  der 
vXvi  ist  darnach  an  unserer  Stelle  nicht  die  letzte  Urmaterie  verstanden,  son- 
dern der  unmittelbare  Stoff,  z.  B.  die  einzelnen  Glieder  eines  Organismus. 
Schon  als  Stoff  ist  dieser  dem  Anschein  nach  etwas  Einheitliches  und  darum 
auch  dem  Anschein  nach  ein  töih  n;    denn    auch    unabhängig    von  der  Form 


232  Dritter  Absclmit!.     Aristoldes. 

Gleichwuhl  soll  die  Materie  kein  völliges  Nichts  vorstellen. 
Als  Mittelstufe  /.wischen  dem  wirklich  Seienden  und  dein  Nichts 
schiebt  Aristoteles  auch  hier  das  der  Möglichkeil  nach  Sei- 
ende ein').  Aber  während  die  Materie  der  accidentalen  Verän- 
derungen eine  bestehende  Substanz  ist,  welche  nur  in  Beziehung 
auf  eine  neue  accidentelle  Bestimmung  sich  im  Zustande  der 
Möglichkeit  befindet,  ist  die  Materie  des  substantiellen  Werdens 
in  keiner  Weise  etwas  Wirkliches.  Sie  ist  in  jeder  Beziehung  nur 
der  Möglichkeit  nach  Seiendes'^).  Auch  S.ub stanz  ist  sie  nur  der 
Möglichkeit  nach  2). 

Der  entwickelten  Ableitung  tritt  noch  eine  zweite,  etwas  mo- 
dificierte,  zur  Seite.  Beide  unterscheiden  sich  namentlich  durch 
ihren  Ausgangspunct.  Dass  von  dem  Begriffe  der  Materie  alles 
wirkliche  Sein  auszuschliessen  sei,  folgerte  die  erste  daraus,  dass 
die  Materie  das  ist,  was  dem  Sein  vorausgeht.  Die  zweite  da- 
gegen zeigt,  dass  auch  in  dem  bestehenden  Dinge  eine  Beziehung 


berühren  sich  die  Stoffteile  wenigstens  äusserlich  und  liilden  ein  zusammen- 
hängendes Ganzes.  Aber  die  innere  Einheit  derselben  und  das  wahre  rodf  n 
liegt  doch  erst  dann  vor,  wenn  die  sich  bis  jetzt  nur  äusserlich  berührenden 
Teile  von  der  Form  ergriffen  werden  und  dadurch  zu  einer  inneren  Einheit 
zusammenwachsen.  —  Das  scheint  auch  der  Sinn  der  dritten  von  Alexander 
bei  Averroes  gegebenen  Erklärungen  (Freudenthal  a.  a.  0.  S.  85,  in  der  Aus- 
gabe des  Aristoteles  mit  den  Kommentaren  des  Averroes  in  lateinischer  Über- 
setzung, Bd.  VIII,  Venedig  15()0,  fol.  322  F)  zu  sein.  Ähnlich  hat  auch  Alber- 
tus Magnus,  summa  de  creaturis  I,  tr.  1.  qu.  2.  a.  2.  n.  1  (Opera,  ed.  Jammy, 
Lyon  1651,  Bd.  XIX,  p.  8  b)  die  Stelle  aufgefasst,  dessen  Erklärung  von  Hert- 
ling  (Albertus  Magnus.  Beiträge  zu  seiner  Würdigung.  Köln  1880.  S.96Anm.  4) 
mit    Unrecht   zu   Gunsten   der   von  Thomas  von  Aquino  gegebenen  verwirft. 

Ahnlich  wie  mit  dieser  Stelle  verhält  es  sich  auch  mit  met.  IX  7,  1010  a  27, 
wo  das  Feuer  als  rXrj  npohij  w?  rörfe  n  xal  ovaia  für  die  Luft  bezeichnet  wird. 
Auch  hier  handelt  es  sicli  nicht  um  die  wahre  Urmaterie,  sondern  um  eine 
bereits  gestaltete  Materie. 

1)  Vgl.  die  S.  221  Anm.  5  und  6  citierte  Stelle  met.  XII  2,  10G9  a  15-20, 
welche  sich  auch  auf  das  substantiale  Werden  mitbezieht. 

'')  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  13—18:  niQi  ,uev  ovv  tovtcüv  ev  HlXoti  te  (fitjnö- 
QijTui  y.ai  (hinQiaTai  to?s  Xoyois  inl  nkelov  (phys.  I  (!  ff.)  '  owTÖiiwi  tU  y.al  vvv 
Xexreovj  oti  tqÖtiuv  fxiv  Tiva  ix  fiTj  ovrog  ttTihSe  yiyvsTac,  tqotiov  (fi  akkov  i^  ovrog 
ttci  '  zu  yccQ  (tvväßfi  ov  ivTeXe)(sia  «ff  fir)  ov  dvdyxij  TiQovndQyr^tiv  Xeyofxevov  dftifjo- 
TEQwg  (zum  letzteren  vgl.  S.  231  Anm.  1). 

^)  Die  Materie  der  Möglichkeit  nach  ovaia:  de  gen.  et  corr.  I  5,  320  a  13; 
met.  VIII  2,  1012  b  !)  -11;  r6,h  n:  met.  VII  1,  104^2  a  27—28.  Vgl.  de  gen. 
et  corr.  II  1,  329  a  33  (die  Materie  der  Möglichkeit  nach   atofxa  ata»r,r6v). 


Begriff  der  Materie.     1))  Uie  Materie  des   .sulislantialen  Werdens.  '2.'53 

auf  das  Nichtsein  vorhanden  sei,  und  sucht  hierfür  den  Grund  in 
der  Natur  des  einen  seiner  Elemente,  der  Materie.  Der  Beweis 
wird  von  Aristoteles  folgendermaassen  geführt. 

Alle  Dinge  in  der  subl unarischen  Welt  sind  dem  Werden  und 
Vergehen  unterworfen.  Was  aber  wird  und  vergeht,  mit  dessen 
Existenz  hat  es  eine  solche  Bewandtnis:  weder  muss  es  notwen- 
dig sein,  wie  die  ewigen  Substanzen,  noch  muss  es  notwendig 
nicht  sein,  wie  das,  was  dem  Notwendigen  widerspricht.  Für 
eine  derartige  vergängliche  Substanz  ist  also  weder  das  Sein, 
noch  das  Nichtsein  unmöglich;  vielmehr  ist  ihr  möglich,  sowohl 
zu  sein,  wie  nicht  zu  sein. 

Nun  fragt  sich,  worauf  jene  Möglichkeit  in  dem  betreffenden 
Dinge  sich  stützt.  Eine  weniger  begriffs-realistische  Zeit  würde 
den  Grund  vermutlich  eben  in  dem  beschränkten  Sein  des  Dinges 
sehen  und  jene  Möglichkeit  nur  dem  Begriffe,  aber  nicht  auch 
der  Sache  nach  von  dem  Sein  des  Dinges  unterscheiden.  Anders 
Aristoteles.  Die  Möglichkeit,  nicht  nur  zu  sein,  sondern  auch 
nicht  zu  sein,  kann  das  Ding  seiner  Ueberzeugung  nach  nicht  von 
demselben  Principe  haben,  von  dem  es  sein  Sein,  seine  Wirk- 
lichkeit besitzt  V).  Er  unterscheidet  daher  die  Form,  welche  dem 
Dinge  das  Sein  verleiht,  von  der  Materie,  welche  die  Möglichkeit 
zum  Sein  und  Nichtsein  mit  sich  bringt^).     Die  Materie    an  sich. 


^)  Für  diese  Objectivierung  begrifflicher  Unterschiede  giebt  ein  charakteri- 
stisches Beisjjiel  niet.  VII  10,  1034  b  20 — 22  :  insl  tU  6  6^ia,u6s  koyog  iari,  naq 
(f(  Xöyog  fiipijfyci,  (og  ö'^ ö  }.üyos  Tigog  x6  Tigay/ma,  xal  to  jus'pos  rov  koyov  ngog 
t6  fiiQos  Tov  nQciy fiar n;  ouoiog  f;ff«.  Vgl.  phys.  I  7,  190  b  20—23.  Aller- 
dings warnt  Aristoteles,  wo  er  ein  actu  unendliches  Ausgedehntes  bekämpft, 
dem  Denken  nicht  falsches  Vertrauen  zu  schenken,  wenn  die  Wirklichkeit  in 
Frage  stehe  (phys.  III  8,  208  a  14—19,  was  sich  auf  III  4,  203  b  22—25  be- 
zieht). Aber  dort  handelt  es  sich  nicht  um  Unterscheidungen,  welche  das  Den- 
ken am  Realen  notwendig  machen  muss,  sondern  um  das  bloss  Denk- 
mögliche. Zudem  hat  Aristoteles  in  der  Frage  nach  einer  actu  unendlichen 
Zeit  die  gleiche,  für  seinen  Beweis  von  der  Ewigkeit  der  Welt  den  Grund 
legende  Objectivierung  eingeschlagen  (phys.  VIII.  1,  251  b  12  ff.),  obwohl  ihm 
sogar  das  Subjective  in  der  Entstehung  unserer  Zeitvorstellung  nicht  entgangen 
iet  (phys.  IV  11,  219  a  21  ff.). 

■-)  de  gen.  et  corr.  II  9,  335  a  24  :  inti  d"  eailv  evia  yivr^To.  xal  tp&UQrä,  xal 
1]  yeveai;  Tvyj^äveL  oi-aa.  Iv  toi  niQi  t6  fie'aov  tötiu),  kexriov  nfQi  näar,g  yfvi'aemg 
ußoiutg  Tioaai  Tf  xal  rivec  at'rijg  ai  ii.Qf^ai  ....  a  82:  (J?  pi(V  ovv  vXr,  ToTg  yevtj- 
roTs  iffTiv  a'i'xiov  Tod'wazov  tivat  xal  jui]  eivai.  rd  fttv  ydn  i^  dväyxijg  iariv, 
oiov  xd.    di'ifia,   tä   (}'^  f^    dvdyxr,g   ovx  iaiiv  .    tui'tcov     dt     td    /utv     dd'vvaiuv     ixi]   ei'vai 


2:54  Diiltrr  Alisclitiilt.     Aristoteles. 

ohne  die  Kuriii,  isl  iiiilhiii  ein  l)lo.ss  Mö^^liclios,  in  dessen  Bereich 
es  hegt,  als  wirkhche  Substanz  sowohl  zu  sein,  wie  nicht 
zu    sein  ^). 

Sehen  wir  vorläufig  von  einer  Kritik  dieser  Begriffsbestim- 
niungen  ab,  um  zu  dem  gemeinschaftlichen  Grundgedanken  zu- 
rückzukehren, auf  den  beide  Ableitungen  führen.  Wir  können 
ihn  in  dem  Satze  zusammenfassen:  die  Materie  ist  die  mögliche 
Substanz,  welche  in  Wirklichkeit  noch  nicht  Substanz  ist.  Die 
wirkliche  Substanz  entsteht  vielmehr  erst  aus  dieser  möglichen 
Substanz.  Das  substantiale  Werden  ist  eben  der  Übergang  von 
der  möglichen  Substanz  zu  der  wirklichen  Substanz  2).  Die  mög- 
liche Substanz  muss  also  schon  vor  der  wirklichen  Substanz 
vorhanden  sein  ^). 

Nun  fragt  es  sich  aber,  ob  eine  solche  potentielle  Substanz 
die  schon  vor  der  wirklichen  Substanz  vorhanden  ist,  denn  über- 
haupt zulässig  sei.  Aristoteles  macht  selbst  auf  einige  Schwie- 
rigkeiten aufmerksam  ^).  Jener  möglichen  Substanz,  führt  er  aus, 
indem  er  schon  Abgelehntes  noch  einmal  teilweise  wieder  als 
denkbar  aufninnnt,  kommt  entweder  überhaupt  keine  Be- 
stimmung in  Wirklichkeit  zu,  oder  es  wird  ihr  bloss  in  der  Ka- 
tegorie der  Substanz,  nicht  aber  in  einer  oder  mehreren  acciden- 
tellen  Kategorien  das  wirkliche  Sein  abgesprochen.  Im  ersteren 
Falle  hätten  wir  ein  für  sich  bestehendes  Sein,  welches  kein  So- 
sein wäre-''),  oder  kämen  vielmehr  —  da  ein  solches    allgemeines^ 


zd  (fi  ddvvatov  fcvai  tfid  t6  fxt]  iv(h')^fa&ai  naQa  za  dvayxaiuv  akhog  s^tiv.  i'via  (fs 
y.ai  tivai  xal  fiij  fivai  th-vaTÜ,  onfQ  toxi  lo  '/ivrjTuv ,  xal  (^&aQTÖv  '  note  fJ.6V  yaQ 
taiL  TovTO,  nozi  if  ovx  t'aziv.  ijiai'  vvdyxrj  'jiviaiv  eivai  xal  if&o(idv  tkqI  t6  ävva- 
tov  eivai  xal  fjiij  eivac  (.Vgl.  met.  IX  8,  1050  b  12 — 14:  z6  ife  ifvvazov  ßij 
eivai  ivJexezat  fit]  iivai  '  z6  <f'  iv6f)(^6fifvov  firj  eivai  (pd-uQzöv,  ferner  met.  XII  (J, 
1071  b  18—19;  XIV  i2,  1088  b  19 — 20),  d'tu  xul  (t',g  /nsv  vXij  zovz'  iazlv  aVziov 
zoTs  yevrjzoTe,  ms  tfi  zu  ov  evfxtv  t]  /.io(i(f)}  xal  z6  tt(fos  '  zovzo  if'  iazlv  o  AJyof 
o  zrjg  ixdatov  ovaiag  (zum  letzteren  vgl.  met.  VII  17,  1041  b  7 — 9:  zu  ahiov 
CTjzihat  zijs  SAij^  ■  zovzo  ö'  iatl  zu  eid'og  tu  zi  taziv  '  zovzo  li"  i]  ovala).  Ganz 
ähnliche  Au.stuhrungen  met.  VII  7,  1032  a  20—22:    änavza    ö'i    cd    ytyvd/utva    1] 

tfvati  7j  zi'^vji  fjrft  vXrjv  '  d'cvazdv  yu(i  xal  fivai  xal  ixi)  tivat  f'xaazov  ui'ztnv,  zovzo 
ff  iazlv  r,  ixdaim  vXrj, 

1)  met.  VII  15,  1039  b  29—30.    —    -')  de  gen.  et  corr.  I  5,  320  a  13. 

■')  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  IG— 18.    —    •*)  S.  S.  230  unten. 

•'')  So  glaube  ich  die  Worte  317  b  28 — 30:  ^u)()iaz6v  ze  av/ußaivn  zd  /.17} 
u'iims  UV  auH'assen  zu  mü.s.sen.     Denselben    Siini    giehl    Tranll    S.  491  Anm.   19 


Begrifl"  der  Materie.  1)1  Die  Materie  des  sulislantialen  Werdens.         235 

für  sich  bestehendes  Sein  unmöglich  ist  —  auf  die  schon  von 
den  Alten  so  gefluchtete  Entstehung  aus  nichts  zurück;  im  letz- 
teren niüssten  Accidentien  ohne  eine  actuelle  Substanz  als  ihren 
Träger  existieren,  was  gleichfalls  nicht  angehe  i). 

Aristoteles  sucht  dieser  Schwierigkeit  durch  den  Hinweis 
darauf  zu  entgehen,  dass  jene  an  sich  bestimmungslose  Materie 
niemals  rein  für  sich  und  ohne  bestimmende  Form  existiere.  Es 
ist  dieselbe  Wendung  des  Gedankens,  welche  uns  schon  bei  der 
Entwickelung  des  allgemeinen  Begriffs  der  Materie  begegnete. 
Wie  dort  die  Vorstellung  eines  Übergangs  aus  dem  Zustand  der 
Beraubung  in  den  Zustand  der  Bestimmung  sich  umsetzte  in  die 
Vorstellung  eines  Übergangs  von  dem  einen  positiven  Gegensatz 
zu  dem  andern  2),  so  auch  hier.  Die  Entstehung  einer  Sub- 
stanz, erinnert  Aristoteles,  ist  immer  zugleich  der  Untergang 
einer  andern,  und  umgekehrt^).  Auch  die  Materie  des  sub- 
stantialen  Werdens  ist  darum  das  Substrat,  welches  von  einer 
Formbestimnnnig  zu  einer  entgegengesetzten  übergeht^),  weil  es 
zu  beiden  in  Möglichkeit  sich  befindet  ^).  Wenn  z.  B.  Erde 
in  Feuer  verwandelt  wird  und  so  Feuer  neu  entsteht,  so  wird 
das  Feuer  freilich  aus  einem  Nichtseienden,  nämlich  der  Materie 
der  Erde ;  denn  solange  diese  Erde  ist,  ist  sie  nicht  Feuer  ^). 
Aber  dieses  Nichtseiende  ist  doch  nur  als  Feuer  nicht,  als 
Erde  ist  es. 


seiner  Ausgabe,  Leipzig  1857.     Unrichtig  Barthelemy-Saint-Hilaire,  Traite  de  la 
production    et     de    la  destruction    des    clioses    d'Aristote,     Paris  18GG,     S.  30 : 
le    non-etre    ainsicompris  peut  avoir  une  existence  separee. 
')  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  18—33. 

2)  S.  S.  218  ff. 

3)  de  gen.  et  corr.  I  3,  318  a  23—25.  Vgl.  phys.  III  8,  208  a  8—11 ;  de 
gen.  et  corr.  I  3,  319  a  5—7.    20—22.     28—29;   [met.  II  2,  994  b  5-B]. 

*)  iiifTa,3/.r,Ttx6v  tl;  Tavapria,  de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  20. 

äj  Vgl.  met.  VIII  5,  1044  b  34—1045  a  G,  wo  ausgeführt  wird,  dass  nicht 
die  Substanz,  aus  der  die  neue  entsteht,  sondern  deren  Materie  sich  in  der 
Möglichkeit  zu  beiden  Gegensätzen  befinde.  Wenn  auch  aus  dem  Lebenden 
ein  Toter  und  aus  dem  Wein  Essig  wird,  so  sagen  wir  doch  nicht,  dass  der 
Lebende  der  Möglichkeit  nach  ein  Toter,  der  Wein  der  Möglichkeit  nach  Essig 
sei;  denn  nicht  der  Lebende  wird  eigentlich  tot,  der  Wein  Essig,  sondern  die 
Materie  des  Lebenden,  die  Materie  des  Essigs.  Während  nämlich  die  Materie 
unter  beiden  Bestimmungen  bleibt,  vergeht  der  Gegensatz,  und  es  wird  das 
Gegenteil  aus  ihm  nur  wie  die  Nacht  aus  dem  Tage. 

")  de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  29—33. 


236  Üiitlcr  ALscImiü.     Arisloleles. 

Allerdings  b(>lraclilel  die  ^cwitluiliclic  licde  Entslclien  und 
Vergehen  nichl  inniicr  als  (lurrelale.  Wenn  z,  B.  etwas  Festes 
in  Luflartiges  übergeht,  so  redet  der  gemeine  Spracligebrauch 
nur  von  einem  Vergehen  des  Festen,  nielit  von  einer  Entstehung 
des  Luftartigen.  Der  Grund  liegt  darin,  dass  die  gev\^öhnliche 
Meinung  sehr  mit  Unrecht  nur  das  Sicht-  und  Tastbare  als  ein 
Seiendes  betrachtet  ^).  Indes  lässt  sich  jener  Ausdrucksweise  auch 
eine  philosophische  Seite  abgewinnen.  Die  specifischen  Diffe- 
renzen, durch  welche  entgegengesetzte  Substanzen  sich  unter- 
scheiden, sind  nicht  gleichwertig,  sondern  unterscheiden  sich  wie 
Vollkommnes  und  UnvoUkommnes.  Die  eine  besagt  darum  mehr 
etwas  Positives,  die  andere  mehr  etwas  Negatives.  Das  ist  z.  B. 
bei  der  Wärme  und  Kälte  der  Fall,  durch  welche  Feuer  und  Erde 
sich  unterscheiden  2).  Den  Übergang  von  der  Erde  zum  Feuer 
werden  wir  darum  an  sich  ein  Entstehen  und  ein  nur  be- 
ziehungsweises Vergehen  nennen  können^).  Ähnliches  gilt  auch 
für  alle  übrigen  Kategorien  ^). 

Doch  geschieht  durch  diesen  besonderen  Sprachgebrauch  dem 
allgemeinen  Satze  kein  Abbruch,  dass  eine  neue  Substanz  immer 
nur  aus  einer  schon  bestehenden  hervorgeht.  Die  Materie  des 
substantialen  Werdens,  welche  sich  zu  beiden  Gegensätzen  (sowie 
deren  Zwischenstufen)  in  der  Möglichkeit  befindet,  existiert  immer 
nur  unter  der  Form  eines  der  Gegensätze.  Eine  gesonderte 
Existenz  hat  sie  niemals  (sie  ist  ov  %u)QiaTrj)%  Das  Bedenken, 
dass  kein  Sein  für  sich  bestehen  könne,  welches  kein  So-sein 
wäre"),  ist  damit  behoben. 

Die  Materie,  welche  den  körperlichen  Substanzen  zugrunde 
liegt,    ist  in  der  ganzen,    dem  Werden    und    Vergehen    untenvor- 


')  a.  a.  0.  318  b  18—33;  31i)  a  1-3.  23—25. 

-j  a.  a.  0.  318  b  12-18  (vgl.  S.  218.).  Auch  dem  Beispiel  vom  Werden 
des  Toten  aus  dem  Lebenden  (S.  235  Anm.  5)  Hesse  sich  eine  solche  Wen- 
dung geben. 

=')  a.  a.  0.  318  a  35— b  18;  319  a  1.  15- IG. 

■*)  a.  a.  O.  319  a  14—17. 

")  de  gen.  et  corr.  II  1,  329  a  24—26.  Vgl.  phys.  IV  2,  209  b  22—23;  4, 
212  a  1;  7,  214  a  14—15;  de  gen.  et  corr.  I  5,  32U  b  IG— 17.  22—25;  II  1,  329 
a  10.  30—31;  5,  332  b  1;  met.  VII  3,  1029  a  27—30;  10,  1035  a  8—9;  U, 
1036  b  23;  12,  1038  a  5-8  auch  phys.  II  1,  193  b  3—5  und  dazu  Simpl. 
p.  277,  2—5. 

«)  S.  S.  234. 


b.  DieMat.  d.  sub.sl.  Wenlens.  Einheit,  potentielleT^neiicliichkeit  u.Rwi^'k  der«.    2/57 

fenen  Köiperwelt  nur  eine.  Wenn  auch  naoh  ihrer  jedesmaligen  Exi- 
stenzform wechsehid  und  insofern  in  den  verschiedenen  Dingen 
verschieden,  bleibt  sie,  bloss  als  Substrat  betrachtet,  der  Zahl 
nach  dieselbe  i).  Denn  wenn  es  überhaupt  eine  substantiale  Ent- 
stehung giebt,  deren  Sulistrat  die  Materie  ist  —  und  dass  dem  so 
sei,  bezweifelt  Aristoteles  nicht  — ,  so  betrifft  dieselbe  zunächst  die 
vier  einfachen  Körper  oder  Elemente:  Wasser,  Feuer,  Erde,  Luft, 
aus  denen  alles  andere  zusannnengesetzt  ist  ^).  Diese  Elemente 
aber  gehen  sämtlich  in  stetem  Kreislauf  3)  aus  einander  hervor^). 
Sie  haben  darum  eine  einzige  gemeinsame  Materie.  Diogenes  von 
ApoUonia  hat  Recht  mit  seiner  Behauptung-^);  wenn  nicht  aus 
einem  alles  wäre,  so  würde  kein  gegenseitiges  Thun  und  Leiden 
unter  den  Dingen  möglich  sein  ^). 

Diese  Materie  ist  unendlich  oder  unbegrenzt  {untigoc) 
dem  Vermögen  nach;  denn  trotz  alles  Werdens  geht  sie  nie- 
mals aus  und  führt  darum  niemals  ein  Ende  der  Neuentstehungen 
herbei'^).  Keineswegs  aber  ist  sie  etwas  in  Wirklichkeit  Un- 
endliches, wie  jene  annahmen,  welche  glaubten,  dass  nur  aus 
einem  Ursloff  von  unendlicher  Masse  ein  Entstehen  ohne  Auf- 
hören erklärt  werden  könne  s);  denn  die  Elemente  entstehen  aus 
einander  in  rücklaufender  Kreisbewegung  ^). 

Als  letzte  Grundlage  alles  Werdens  ist  die  Materie  ferner  un- 
ge worden  und  unvergänglich.  Denn  wäre  sie  entstanden, 
so  müsste  sie  aus  etwas  entstanden  sein;  könnte  sie  vergehen, 
so  müsste  sie  in  etwas  vergehen.  In  beiden  Fällen  aber  würde 
sie  nicht  mehr  letzte  Grundlage  sein^'^). 


1)  de  gen.  et  corr.  I  3,  319  a  33;  5,  320  b  12—14:  met.  YIII  4,  1044  a 
15—17.     Auch  phys.  IV  9,  217  a  25 — 2G  lässt  sich  hieher  ziehen. 

•-)  de  cael.  III  1,  298  b  9—11.  —   =»)  de  gen.  et  corr.  I  3,  318  a  13-25. 

•*)  de  gen.  et  corr.  II  4,  331  a  12 — 21,  eine  Auseinandeisetzung,  die  20—21 
dahin    zusammengefasst    wird  :    äare   ....    tfaveQov   un    näv    ix    navtög    '/iyvr- 

atyai    7itifi-y.tr. 

■')  Diog.  Apoll,  fragm.  2  Schorn  bei  Sinipl.  phys.  I,  p.  151,  31  IT. 

'')  de  gen.  et  corr.  I  G,  322  b   13 — 15. 

■)  phys.  III  (),  20(3  b  14—15.    Vgl.  Simpl.  phys.  lil,  p.  497,  20  ff. 

^)  phys.  III  4,  203  b  18— i20.  Die  Conimentatoren  denken  dabei  an  Anaxi- 
mander;  s.  S.  13  f. 

■•)  phys.  III  8,  208  a  8—11;  de  gen.  et  corr.  II  10.  337  a  5-6.  Vgl.  anal. 
post.  II  12,  95  b  38 ;  [met.  II  2,  994  b  5]. 

'")  pl.ys.  I  9,  192  a  25-34;  met.  XII  3,  10(39  b  35— 3G.  Vgl.  met.  VII  S. 
1033  a  28—29:  VllI  1,  1042  a  2(5—31.     Auf  die   durchaus    unhaltbare    An-sichl 


iiSS  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

Weil  (erner  die  Maturic  in  sich  ein  viillig  Bestimiimngloses 
ist,  so  bezeichnet  Aristoteles  sie  mit  Plato  i)  auch  als  das  Un- 
bestimmte {äögiOToy)  ^). 

Als  solches  ist  sie,  wie  Aristoteles  wiederum  in  Überein- 
stimmung mit  Plato  3)  lehrt,  weder  wah  rnehmb  ar^)  noch  in  sich 
erkennbar,  d.  h.  nicht  diu'ch  einen  eigenen  Begriff  zu  er- 
fassen •'■').  Denn  nur  bestimmte  Qualitäten  lassen  sich  wahrneh- 
men, nur  bestimmte  Wesensformen  in  Begriffe  fassen.  Wir  kön- 
nen die  Materie  vielmehr  nur  durch  .  einen  Analogieschluss 
erkennen  "),  „denn  wie  zur  Bildsäule  das  Erz  oder  zum  Bett  das 
Holz  oder  zu  irgend  einem  andern,  was  Gestaltung  hat,  der 
Stoff,  so  verhält  sich  diese  zugrunde  liegende  Natur  zum  Wesen 
und  zu  dem  bestimmten  Etwas  und  zum  Seienden"  '). 

Die  Materie  ist  endlich  etwas  Un  körperlich  es.  Aus  der 
ganzen  Ent Wickelung,  welche  zum  Begriffe  der  ersten  Materie 
führte,  geht  deutlich  hervor,  dass  unter  ihr  nicht  etwa  die  kör- 
perliche Natur  im  allgemeinen,  der  Gattungsbegriff,  welcher 
das  allen  Körpern  Gemeinsame  umfasst,  verstanden  werden  darf, 
wie  das  im  Altertum    von  den  Stoikern    und    von    Pericles    dem 


BuUinger's  (Aristoteles  Erhabenheit  über  allen  Dualismus  und  die  vermeint- 
lichen Schwierigkeiten  seiner  Geistes-  und  Unsterblichkeitslehre.  München 
187'S.  S.  2  ff.),  bei  Aristoteles  sei  die  Materie  ein  Werk  der  Gottheit,  kann  hier 
nicht  näher  eingegangen  werden. 

')  S.  S.  201.  203. 

2)  phys.  IV  2,  20f)  b  9;  met.  IV  4,  1(X)7  b  28-29;  VII  11,  10.37  a  27;  XIII 
10,  1087  a  IG- 17.  Vgl.  auch  de  gen.  an.  IV  10,  778  a  G;  met.  IX  7,  1049  b 
1—2;  ferner  de  cael.  HI  8,  30(5  b  KJ — 19,  wo  unter  Berufung  auf  den  platoni- 
schen Tiniaeus  das  Tiardexn  als  .teitit.;  und  ciiiuQCfor  bezeichnet  wird. 

')  S.  S.  135  ff. 

■*)  de  gen.  et  corr.  II  5,  332  a  35:  ?/  ydp  vltj  ...  dvaia9rjoi  oiaa.  a2(j:  nr,(lliv 
aia&iitöv  . .  TiQÖTfQov  Tothfüv  (vor  den  Elementen).  —  Zwar  unterscheidet  Aristoteles 
t'Ai;  aia9%rij  und  v?.rj  vor,T7j  (met.  VII  Kl,  103G  a  9 — 10  u.  ö. ;  siehe  u.);  aber 
unter  der  vhi  ala&tjtrj  ist  nicht  eine  Materie  verstanden,  die  selber  sinnlich 
wahrnehmbar  wäre,  sondern  die  Materie  des  sinnlich  Wahrnehmbaren. 

■')  met.  VII  10,  103G  a  8:  r,  li"  vkij  ayvoatos  y.ai^'  avTr,v.  1035  a  8 — 9:  to 
if  vhxöv  oväinoTt  xa{y'  ixizo  Kty.ttov.  Vgl.  pliys.  III  G,  207  a  25 — 2G.  Die  Ma- 
terie ist  die  Ursache  der  Undefinierbarkeit  und  Unbeweisbarkeit  des  Indivi- 
duellen: met.  VII  15,  1039  b  27-30. 

")  phys.  I  7,  191  a  7 — 8 :  %  if  vnoxetftevri  (fvaiq  (die  Materie)  i/itaTr,Ti]  x«r' 
ava'/.uyiav.     Dass  Plato's  '/.uyiauöi   vü&oi   nicht  Analogieschluss   s.  S.  137. 

')  a.  a.  O.  8—10. 


b)  Die  Materiedes  sulist.  Werdens.  Artilirer  Erkeaahuric. ;  Unkör|perli(;lik.  ders.     23!) 

Lyder  behauptet  ^)  und  auch  in  neuerer  Zeit  wieder  aufgestellt 
wurde  ^).  Ausdrücklich  spricht  Aristoteles  an  einer  Stelle,  die 
schon  von  Simplicius  dagegen  geltend  gemacht  wurde  •''),  von 
einer  Materie  des  Körpers,  die  zugleich  Materie  der  Quantität 
und  der  Qualität  ist"^).  Nach  seiner  bestimmten  Erklärung  ist 
die  Materie  noch  nicht  Körper  •"'),  sondern  erst  der  Möglichkeit 
nach  Körper ").  Er  bezeichnet  es  als  einen  Irrtum  der  Natur- 
philosophen, dass  sie  als  Grundstoff  der  Welt  eine  von  den  Ele- 
menten verschiedene,  für  sich  bestehende  körperliche  Materie  an- 
nahmen ''). 

Weshalb  Aristoteles  die  Materie  nicht  als  Körper  bezeichnen 
kann,  wird  uns  klar  werden,  wenn  wir  seinen  Begriff  des  Kör- 
pers näher  ins  Auge  fassen.  Physischer  Körper  nämlich  ist  nur 
das,  was  sinnlich  wahrnehmbar,  oder,  da  der  l'astsinn  der  allen 
empfindenden  Wesen  gemeinsame    Grundsinn    ist  ^),    was    tastbar 


^)  Simpl  phys.  1,  p.  227,  23  ff.  Dass  die  Stoiker  und  Pericles  die  gleiche 
Auffassung  auch  füi-  die  platonische  Materie  durchzuführen  suchten,  wurde 
schon  S.  152  bemerkt.  Die  Gründe,  welche  jene  für  diese  Auffassung  anführ- 
ten, sind  nicht  historisch  beweisend,  sondern  enthalten  eine  sachliche  Kritik. 

-)  So  von  Engel,  Rh.  Mus.  VII  (1850)  S.  395  (doch  nur  als  eine  mögliche 
Auffassung). 

»)  a.  a  0.  p.  228,  30. 

■')  de  gen.  et  COrr.  I  5,  320  b  22 — 23  :  ind  (f  latl  y.al  ovaias  rhj  amjuaTixijt;, 
a(i')fiaTOS  ifildtj  TOiovdi,  .   .   .   i]  avTi}   y.a'i  ßtyed-ovg  xai    7iä-&ovg  ioxi.      Das     Gltat    bei 

Simplicius  ist  ungenau;  doch  scheint  mir  eher  die  angeführte  Stelle  gemeint 
zu  sein,  als  die  von  Diels  in  der  adn.  crit.  angezogenen  met.  I  6,  988  a ;  phys. 
IV  2,  209  b  35. 

^)  de  cael.  III  G,  305  a  22 — '1\\  dXM  /.tt^v  ord'  ex  (idiaazöi  jivoi  t7X"'Q^' 
'/i'yvea&ai  r«  aroiyi^tJa  '  (J'vixßi'jattai  yÜQ  aXXo  aco/ua  TiQÜTiQor'  n'vni  Kiiv  aTut^finnu 
Man  könnte  sich  auch  auf  de  gen.  et  corr.  I  5,320  b  23:  a(o,ua  yuQ  xoivov  (n'ih'v, 
l)erufen;  doch  scheint  hier  vielmehr  die  Reahtät  eines  Körpers  ohne  indivi- 
duelle Grösse  und  ohne  individuelle  7iä!}tj  in  Frage  zu  stehen, 

'^)  Vgl.  de  gen.  et  corr.  II  1,  329  a  33,  wo  die  Materie  als  rö  <hv(i,ufi 
aw/Lift  aia&riTÖv  bezeichnet  wird.  Im  Widerspruch  damit  scbeint  de  gen.  et  corr 
I  5,  321  a  9-17  zu  stehen,  wo  der  Körper  als  das  Gemeinschaftliche  hinge- 
stellt wird,  welches  beim  Ul)ergange  eines  kleineren  Quantums  Wasser  in  ein 
grösseres  Quantum  Luft  i)estehen  bleibt  und  darum  das  eigentlich  Zunehmende 
ist.  Allein  die  hiermit  versuchte  Erklärung  der  Zunahme  wird  a  17  ff.  aus- 
drücklich verwoi-fen. 

')  de  gen.  et  corr.  II  1,  329  a  8—11.     Vgl.  met.   I  8,  988  b  22-24. 

«)  de  an.  II  3,  414  b  3;  III  12,  434  b  23-24;  13,  435  b  2;  de  sensu  1,  43i; 
1.  13-15;  de  somn.  2,  455  a  7:  bist.  an.  I  3,  489  a  17—18;  IV  8,  533  a  17- 
18.    535  a  4—5 ;  de  part.  an.  II  8,  G53  b  22—24. 


24(1  Dritter  Alischnitt.     Aristoteles. 

ist  ^),  Dadurch  unterscheidet  sich  der  physische  Körper  von  dem 
mathematischen  2).  Was  aber  tastbar  ist,  dem  kommt  auch  eine 
der  lastl)aren  QuaHtätcn  zu.  Es  muss  warm  oder  kalt,  trocken 
oder  nass  sein  ^).  Was  aber  so  bescliaflen  ist,  das  ist  bereits  eines 
der  Elemente,  da  diese  gerade  durch  jene  Unterschiede  constitu- 
iert  werden  ^).  Es  ist  also  nicht  mehr  blosse  Materie,  sondern 
bereits  geformte  Materie. 

Das  Gleiche  ergiebt  sich  auch  aus  folgender  Erwägung  &). 
Wenn  die  Materie  schon  Körper  wäre,,  wx^nn  also  die  Elemente 
aus  etwas  Körperlichem  entständen,  so  würde  dieser  Körper  ent- 
weder Leichtigkeit,  beziehungsweise  Schwere,  haben,  oder  er  be- 
sässe  überhaupt  kein  Gewicht,  Im  ersteren  Falle  würde  dieser 
Körper  selbst  eins  der  Elemente  sein  ^).  Im  letzteren  wäre 
er  kein  physischer,  sondern  ein  mathematischer  Körper  und  als 
solcher  nicht  im  Orte  ■*).  Da  nun  aber  das,  was  aus  der  Materie 
wird,  im  Orte  ist,  so  muss  auch  die  Materie  selbst  im  Orte 
sein.  Sonn't  ist  die  Materie  weder  physischer,  noch  mathema- 
tischer Körper. 

So  ist  also  die  Materie,  um  welche  es  sich  im  Vorigen  handelte, 
die  letzte  gemeinsame,  ungewordene  Grundlage  der  dem 
Werden  und  Vergehen   unterworfenen  Körper,  welche,  in 


')  de  an.  III  12,  434  h  1"J :  (^/(a  »iV  ÜTiav  änrür.  Vgl.  de  an.  II  11,423  h  2G— 

27:   ämal  .  .  .     (lalr  ul  li'iaifonid   ror  ain/xaros  ■ß   aiojua.     Dai'Uni   ist   auijuuTiotffg  .SOviel 

wie  consislent  u.  dg!.;  vgl.  hist.  an.  III  20,  521  b  27,  wo  es  den  käsigen  Be- 
standteil der  Milch  im  Gegensatz  zu  der  wässerigen  Molke  bezeichnet;  de  gen. 
an.  III  11,  7G1  a  .'»4.  b  D  (das  Meer  in  höherem  Grade  ao^ixaTmiftg  als  das  Süss- 
wasser) :  meteor.  11  3,  35!)  a  15  (sehr  salziges  Wasser  aooaaxüiihe  fast  wie 
Scldaiiun):  de  gen.  an.  V  2,  781  b  21  {ai,)uaTu)(hi=  ycndu).  Vgl.  ferner  de  part. 
an.  II  1,  Ml  a  20;  III  2,  G63  b  24;  de  gen.  an.  II  3,  737  a  3,^);  4,  739  b  2G; 
III  11,  7G1  a  34;  de  .sonm.  3,  458  a  12. 

•-)  met.  XIII  3,  1077  b  22.  1078  a  2—5.  Wenn  es  de  gen.  et  corr.  I  G,  3i23 
a  2  bei-sst,  dass  auch  den  niatheuiati.schen  Gebilden  ät^i]  zukomme,  so  ist  da- 
bei natürlich  nicht  in  irgend  einer  Weise  an  den  Tastsinn,  sondern  an  die 
Conlinuitäl  der  Ausdehnung  zu  denken. 

3)  Die  Nachweisungen  bei  Gl.  Baeumker,  Des  Aristoteles  Lehre  v.  d.  äussern 
u.  Innern  Sinnesvermögen.     Leipzig  1S75.  S.  35. 

■')  S.S. '242.2GO.  —  ")  decaeloIiIG,305a22— 3L   -    '•)  S.  S.  242  Anm.  G  Schi. 

')  Im  Gegensatz  zu  unserer  Stelle  heisst  es  zwar  de  gen.  et  corr.  I  (5,  323 
a  2  (vgl.  Anm.  2),  dass  den  matheuiatischen  Körpern  auch  Raum  {tötio?)  zu- 
käme. Allein  hier  ist  nur  die  Ausdehnung  als  solche  gemeint,  nicht  der  Raum 
als  Ort,  d.  h.  als  physische  Umgrenzung  {tu  neQu^  tov  nt^ie^oviog  aui/naTos, 
phys.  IV  4,  212  a  5,  t6  tov   nfQtexovmg  jitQK^  üxlrtjov  ttqiotov,  ebd.  212  a  20). 


b)  D.  Mat.  d.sul)st.  Wurdeiiti.  lhreUnköri)orli(:lik.;  Uiiterscli.  v.  riato.ErsleMat.    Ü4l 

sich  völlig  unbestimmt  und*blosse  Möglichkeit,  alle  Be- 
stimmtheit und  alle  Wirklichkeit  nur  durch  die  Form 
e  r  h  ä  1 1. 

Trotz  der  durchaus  veränderten  Beweisführung  kommt  also 
Aristoteles  bei  der  Beschreibung  der  Materie  in  den  meisten  Be- 
stimmungen mit  Plato  überein.  Der  Hauptunterschied,  welcher 
zwischen  beiden  bestehen  ])leibt,  liegt  darin,  dass  an  die  Stelle 
der  unbegrenzten  Ausdehnung,  mit  der  Plato  die  Materie  iden- 
tificierl,  bei  Aristoteles  der  Begriff  der  Möglichkeit,  also  an- 
stelle der  geometrischen  die  dynamische  Betrachtung,  ge- 
treten ist. 

Man  pflegt  jene  erste  Grundlage  der  Körperwelt  unter  Be- 
nutzung eines  aristotelischen  Ausdrucks  als  erste  Materie 
{jTQMii]  [''/z^,  materia  prima)  zu  bezeichnen.  Dabei  ist  freilich  zu 
bemerken,  dass  Aristoteles  selbst  gerade  für  die  allererste  Grund- 
lage aller  substantialen  Veränderung  das  Wort  „erste  Materie" 
an  keiner  Stelle  gebraucht.  Er  selbst  bezeichnet  als  „erste  Ma- 
terie" im  Gegensatz  zur  „letzten  Materie"  {eaxdrri  vXrj,  materia 
proxima)  1)  vielmehr  immer  nur  das  ursprüngliche  körperliche 
Element,  aus  welchem  etwas  entstanden  ist,  also  eine  sclion  ge- 
formte Materie.  So  ist  für  die  Bildsäule  letzte  Materie  das  Erz, 
erste    das    Wasser,    aus    dem    das    schmelzbare    Erz    seinerseits 


M  Allerdings  können  die  Ausdrücke  ngon^i  v'/.r,  und  tayärij  rXtj  auch  im  um- 
gekehrten Sinne  gebraucht  werden.  Die  Materie  nämlich,  welche,  wenn  wir  die 
Entstehung  eines  Körpers  vom  Urspi'unge  an  verfolgen,  die  erste  ist,  ist  die 
letzte,  auf  welche  wir  bei  der  rückschreitenden  Analyse  stossen.  Ebenso  ist 
umgekehrt  die  Materie,  welche  beim  synthetischen  Verfahren  als  letzte  die  letzte 
Form  aufnimmt,  beim  analytischen  Verfahren  die  erste.  Vgl.  niet.  V  4,  1015 
a  7—10;  2(3,  10^23  a  2(5—29.  Zeller  11^  b,  320,  2.  Bonitz  zu  met.  V  (5,  lOlG  a 
17—24  (p.  235).  Dieser  umgekehrte  Sprachgebrauch  findet  sich  phys.  II  1,  193 
a  29;  met.  V  4,  1014  b  32;  VIII  4,  1044  a  18  (die  von  Schwegler  und  Christ 
athetierten  Worte  nQiörr,  rhrj  werden  von  Bonitz  mit  Recht  verteidigt),  wo 
TipwVt;  vhj  die  letzte  Materie  vor  der  Form  bedeutet;  met.  XII  3,  10G9  b  3.') — 
3(),  wo  taydir,  vM/  im  Sinne  der  ursprünglichen  Materie  steht.  Vgl.  auch  met. 
V  (5,  101(3  a  19 — !20,  zusammengehalten  mit  a  i23,  wo  die  Ausdrücke  ngintov 
v7ioxei,u(Vüv  und  it/.evtawv  oder  iaycaov  vnoy.ei'ucvov  gleichfalls  in  umgekehrter  Be- 
deutung gebraucht  werden.  Dagegen  nQtihi)  vÄrj  für  die  ursprüngliche  Materie  : 
met.  V  4,  lOlö  a  7:  IX  7,  1049  a  25,  taxdttj  'iln  als  eigentümliche  Materie 
(jihoi  vln  met.  VIII  4,  1044  b  3,  oly.da  l'A>;  meteor.  IV  2,  379  b  20:  de  an.  U 
2,  414  a  2(3):  met.  VIII  (3,  104;')  b  18;  als  individuelle  Materie:  met.  VII  10 
1035  b  30.     Vgl.  met.  XII  3,  1U7()  a  20—21  (reltcxaLa  <:;.»;). 

Baeuinker:     Das  Problem  der  Materie  etc.  16 


'2i'2  l)ritter  Alit;clinitt.     Aristoteles. 

geworden  ist  i).  Doch  findet  aitc.li  Jene  andere  Verwendung 
des  Ausdrucks  wenigstens  einige  Anhaltspuncte    hei  Aristoteles 2). 

Über  dieser  gemeinsamen  ersten  Materie  nun  haut  sich  die 
dem  Werden  und  V^'rgehen  unterwoi-fene  Körper  weit  folgender- 
maassen  auf. 

Zunächst  entstehen  aus  der  Materie  die  vier  Grundkörper 
oder  Elemente:  Feuer,  Luft,  Wasser,  Erde^).  Dieselben  erhalten 
ihre  eigentümliche  Bestimmung  durch  Differenzen,  welche  Ob- 
jecte  des  Tastsinns  bilden*);  denn  körperlich  ist  das  Tastbare''). 
Die  (irunddifleronzen  des  Tastbaren  aber  sind  die  zwei  Gegen- 
satzpaaro:    warm  und  kalt,  trocken  und  feuciit  *^).     Dem    entspre- 


*)  met,  V  4,  101.'")  a  7-11.  Wie  hier  das  Wasser  ausdrücklich  als  7ip<,',u, 
vkrj  für  alles  Schmelzhare  hezeichnet  wird  (vi;l.  S.  171  Anin.  1),  so  ähnlich 
met.  V  24,  1023  a  27 — 21)  als  dessen  «A?/  xaiä  tu  /fpwror  y/rof  (vyl.  met.  V  (!, 
101(5  a  22 — 24,  wo  es  als  la-^arov  i'inoxtifitvov  für  Ol,  Wein  und  das  Schmelz- 
hare ausgeführt  wird).     Das  Feuer  JU?;  n()i>nij:  nu^t.  IX  7,  104!)  a  24 — 27. 

'■')  met.  VIII  1,  1044a  If) — 18:  ti/qI  (f^  r^i  vXiy.iji  ovaiag  (hT  ,uij  )Mv{yäfKV  öri 
f?  y.ai  tx  rov   avTuv   nüvrct  n^airov  y   tinv  utUuir  f'x;  ti^h'itov  (durcll  welchen  ZusatZ 

freilich  die  Benulzharkeit  des  voraufj^ehendcn  /niuynir  sehr  vermindert  wird) 
xdi  1}  «CK;  vXrj  "If  "QXV  ^"'■^  yyi'out'roii;  xT?..\  met.  XII  3,  10(59  h  35 — 3(1:  /(fn! 
tavta    ölt    ov    yi'yvftai     orri     i;    v?.7/   uri f   iCi    fnfuc,    Hyio   ifi   ru   i'ayuTu     (woZU   Vfj;'l. 

S.  241  Anm.  1). 

^)  Weil  schon  aus  Materie  und  Form  zusammengesetzt,  also  nicht  mein- 
absolut  einfach,  heissen  sie  hei  Aristoteles  de  part.  an.  II  1,  t)4(i  a  13  ,,ilie  von 
einigen  so  genannten  Elemente." 

*)  de  gen.  et  corr.  II  2,  329  h  7—1(5. 

^)  vgl.  S.  240  Anm.  1. 

«)  de  gen.  et  corr.  II  2,  329  h  17—330  a  29;  de  an.  II  11,  42;!  h  2«;  de  part. 
an.  II  1,  (54(5  a  1(5—18;  G47  a  18—19  u.  ö. 

Der  tastbaren  Qualitäten  sind  freilich  noch  mehr  als  diese  vier.  Auch  die 
Gegensätze  von  Schwer  Leicht,  Hart  Weich,  Klebrig  Spröde,  Rauh  Glatt,  Dick 
Fein,  Dicht  Locker  u.  s.  w.  Itilden  Ciegenstand  des  Tastsinns  (de  gen.  et  corr. 
K  2,  329  b  19-20;  de  part.  an.  II  1,  (54G  a  18-19).  Aber  diese  Qualitcäten 
lassen  sich  aus  den  vier  Grunddifferenzen  ableiten  (,de  gen.  et  corr.  II  2,  329  b 
32—330  a  25;  de  part.  an.  II  1,  G46  a  17—20),  während  diese  selbst  keine 
weitere  Reduction  zulassen  (de  gen.  et  corr.  II  2,  330  a  25 — 29.  Zum  Vorauf- 
gehenden vgl.  .1.  B.  Meyer,  Aristoteles  Thierkunde,  S.  401  ff. ;  Baeumker,  a.  a.  0. 
S.  .35  f.)  Darum  dienen  nur  diese  vier  Differenzen  zur  Bildung  der  Elemente, 
indem  sie  in  vier  Gombinationeu  sich  mit  einander  verbinden  (von  den  sechs 
denkliaren  Gombinationen  fallen  zwei  aas,  weil  die  Gegensätze  selbst  nicht  ge- 
paart sein  können:  de  gen.  et  corr.  II  3,  330  a  31—33;  II  5,  332  b  3-5). 

Die    Unterschiede    des   Leichten    und    des    Sciiweren   insbesondere   können 


b)  Die  Materie  d.  suhst.  Werdens.     Erste  Materie.     Eleiuenie.  243 

cliend  giebt  es  vier  Elemente,  das  warme  und  trockene  Feuer, 
die  warme  und  feuchte  Luft,  das  kalte  und  feuchte  Wasser,  die 
kalte  und  trockene  Erde^). 

Aus  den  Elementen  entstehen  durch  Mischung  (fiT^g)  die 
zusammengesetzten  Körper.  Eine  solche  Mischung  ist  nicht, 
wie  Empedocles  wollte,  ein  einfaches  Gemenge  bloss  mechanisch 
verbundener  kleinster  Teilchen  verschiedener  Stofie,  etwa  wie 
Gerste  und  Weizen  in  einem  Getreidehaufen,  Steine  und  Mörtel 
in  einer  Mauer  verbunden  sind  2).  Vielmehr  ist  der  durch  Mi- 
schung gebildete  Stoff  bis  in  seine  kleinsten    Teile   etwas    durch- 


nicht  die  specifischen  Differenzen  verschiedener  Elemente  ausmachen,  weil  sie 
einer  bestimmten  Bedingung  nicht  entsprechen,  welche  an  solche  speciflsche 
Differenzen  der  Elemente  gestellt  werden  muss.  Da  nämlich  die  Elemente  sich 
mit  einander  vermischen  (wofür  auch  de  gen.  et  corr.  I  10,  328  a  19  ff.  zu 
vgl.)  und  in  einander  verwandeln  sollen,  so  müssen  sie  aufeinander  einwiiken 
können,  müssen  noirjTixd  und  naOijixd  sein.  Hierfür  machen  Leichtigkeit  und 
Schwere  nicht  geeignet,  wohl  aber  Wärme  und  Kälte,  Feuchtigkeit  und  Trocken- 
heit. Denn  Wärme  und  Kälte  wirken  zusammentreibend  auf  das  Gleichartige 
letztei-e  auch  auf  das  Ungleichartige.  Das  Feuchte  ferner  bildet  eine  aus  sich 
nicht  begrenzte,  dagegen  von  aussen  leicht  zu  begrenzende  Masse  (also  ein 
nad-rjixöv);  das  Trockne  umgekehrt  (de  gen.  et  corr.  II  2,  329  b  20—33.  Vgl. 
auch  meteor.  IV  11,  389  a  29 — 31,  wo  das  Trockne  und  das  Feuchte  als  Lei- 
dendes, das  Warme  und  das  Kalte  als  Wirkendes  bezeichnet  wird.  Hinsiciit- 
lich  des  Kalten  freilich  erfährt  dies  nach  meteor.  IV  5,  i382  b  4 — 10  eine  nicht 
unbedeutende  Modification). 

Mit  dem  zuletzt  Ausgeführten  befindet  sich  übrigens  de  gen.  et  corr.  I  G, 
323  a9  flf.  anscheinend  im  Widerspruch.  Im  Gegensatz  zu  II  2,  329  b  21  nämlich 
wendet  diese  Stelle  den  Unterschied  des  noiijnxöv  und  des  Tiu^rinxöv  auch  auf 
das  Leichte  und  das  Schwere  an.  Der  Widerspruch  ist  durch  Prantl,  S.  498 
Anm.  47  seiner  Ausgabe,  nicht  entfernt.  Es  scheint  hier  vielmehr  eine  andere 
Anschauung  zugrunde  zu  liegen,  nach  welcher  der  Unterschied  der  Elemente 
durch  die  räumlichen  Unterschiede  gegeben  ist  (vgl.  de  caelo  III  6,  305  a  28 — 
29).  Bei  dieser  räumlichen  Verschiedenheit  soll  nämlich  jedesmal  das  obere 
Element  zu  dem  unteren,  weil  es  die  Begrenzung  (öpof)  für  dieses  ist,  sich  wie 
die  Form  zur  M«terie  verhalten  (de  caelo  IV  3,  310  b  14—15;  de  gen.  et  corr. 
II  8,  335  a  16-21.  Vgl.  auch  de  caelo  IV  4,  312  a  12—13).  Das  leichtere  und 
das  schwerere  Element  unterscheiden  sich  hiernach  also  wie  Form  und  Ma- 
terie, also  auch,  da  die  Form  etwas  Actives,     die    Materie    etwas  Passives   ist, 

wie   7ioir,TiX(jv  und    nattiiiixöv. 

1)  de  gen.  et  corr.  II  3.  3:30  a  30 -b  7. 

•-)  de  gen.  et  corr.  I  10,  327  b  31—3^28  a  18;  II  7,  334  a  2<i-b  1. 

16   * 


1>44  Dritter  Alisciniitl.     Arlslutoleh'. 

aus  C!leicliaiiiy[es  (of^toioiitgtc),  so  dass  /,.  H.  aucli  das  kleinste 
Teilchen  des  Fleisches  wieder  Fleisch  ist  ')• 

Eine  derartige  Mischung  aber  kommt  dadurch  zustande,  dass 
über  dem  gemeinsamen  Substrat,  der  Materie  2),  die  entgegen- 
gesetzten Qualitäten  der  verschiedenen  Elemente  sich  nicht  gänz- 
lich auriiebeii,  sondern  sich  (hirch  ihre  gegenseitige  Einwirkung 
auf  ein  gewisses  mittleres  Maass  reducieren^)  Die  Elemente  blei- 
ben sonach  nicht  actuell,  sondern  potentiell  in  der  Mischung*). 

Die  gleicht  eil  igen  Stoffe  (f)^oto/i*ß^),  welche  auf  diese 
Weise  durch  Mischung  gebildet  werden,  sind  teils  unorganischer 
Natur  (die  ßeiaXl^vöf^ieva)^  teils  finden  sie  sich  in  Pflanzen  und 
Tieren.  Unorganische  Stoffe  solcher  Art  sind  z.  B.  Gold,  Kup- 
fer, Silber,  Zinn,  Eisen,  Steine  u.  s.  \v.  Dem  Pflanzenreiche  da- 
gegen gehören  an  Holz,  Rinde,  Blatt-  und  Wurzelsubstanz. 
Gleichteilige  tierisclie  Stoffe  endlich  sind  Fleisch,  Knochen,  Ner- 
ven, flaut,  Gedärme,  tfaare.  Sehnen,  Adern   u.  s.  w.  ^) 

Aus  den  gleichteiligen  Stoffen  (den  oiioiofxeQri)  entsteht  dann 
die  coniplicierteste  Klasse  zusammengesetzter  Substanzen.  Es  sind 
die  ungleicliteiligen  Körpei-gebilde  (die  drofioiof^ifQfj) '^),  d.  h. 
diejenigen  Gebilde,  bei  denen  die  Teile  nicht  mehr  gleich  dem 
Ganzen  sind.  Derart  sind  z.  B.  Gesicht,  Hand,  Fuss;  denn  die 
Teile  des  Gesichtes  sind  nicht  wieder  Gesichter,  die  der  Hand 
nicht  wieder  Hände  u.  s,  w.  '). 

Ein  Körper,  der  aus  Gleichteiligem  und  Ungleichteiligem  zu- 
sammengesetzt ist,  erfüllt  die  Voraussetzungen,  deren  die  Seele  be- 


1)  de  gen.  et  coir.  I  10,  .'>28  a  3—5;  II  7,  334  b  28—30;  liist.  an.  I  1, 
486  a  .')— 6. 

"-)  de  gen,  et  corr.  II  7,  334  b  2  ff.  Nur  was  gleiche  Materie  hat,  kann 
gegenseitig  auf  einander  einwirken  und  dadurch  gemischt  werden ;  dagegen 
sind  z.  B.  Heilkunst  und  Körper  aus  diesem  Grunde  nicht  mischbar  mit  ein- 
ander: de  gen.  et  corr.  1  10,  328  a  18 — 23. 

3)  .le  gen.  et  corr.  II  7,  334  b  8—30. 

*)  de  gen.  et  corr.  I  10,  327  b  22—31. 

^)  meteor.  IV  10,  388  a  13—20;  de  part.  an.  II  1,  646  a  12—22.  Zu  be- 
merken ist,  dass  an  letzterer  Stelle  nur  die  Bestandteile  der  Pflanzen  und 
Tiere  zu  den  o/uoio/jeQ'^  gezählt  werden,  während  die  unorganischen  Elementen- 
verbindungen als  eine  Glasse  für  sich  gezählt  werden.  —  Genaueres  über 
die  Zusammensetzung  der  gemischten  Stoffe  bei  Meyer,  Arist.  Thierkunde, 
S.  407  ff. 

6)  meteor.  IV  10,  .388  a  18—20;  de  part.  an.  II  1,  (;46  a  22-2 

')  bist.  an.  I  1,  486  a  6—8. 


b)  Die  Mat.  des  subst.  Werdens.     Gleicliteilige  u.  ungleichteil.  Körper.     245 

darf,  um  für  die  Ausübung  der  Lebensfunctionen  die  nötigen 
Hülfsmittel  zu  finden  ^).  Nach  aristotelischer  Redewei.se  ist  ein 
solcher  Körper  also  der  Möghchkeit  nach  ein  Lebendes 2).  Eine 
derartige  complicierte  Gestaltung  macht  das  Stoffliche  taliig,  auf- 
nehmendes Subject  eines  neuen  Principes ,  des  Seelischen, 
zu    sein. 

In  solcher  Art  baut  sich  über  der  ersten  Materie  in  fort- 
schreitender Complicierung  die  Welt  des  Werdens  und  Ver- 
gehens   auf. 

Über  derselben  befindet  sich  die  der  Entstehung  und  dem 
Untergange  entnommene  Welt  der  Gestirne.  Ihr  Element  ist  der 
Äther-''),  das  erste*),  ewige  und  unveränderliche'')  Element.  Weil 
derselbe  an  dem  Kreislauf  der  Elemente  nicht  teilnimmt,  so  hat 
er  und  haben  die  aus  ihm  bestehenden  Gestirne  keinen  Teil  an 
der  ersten  Materie^  über  der  die  .sublunasische  Welt  sich  aufbaut. 
Körper  freilich  sind  die  Gestirne  ß)  sowohl,  wie  der  Äther  ^),  aus 
dem  sie  bestehen.  Sie  sind  ja  sichtbar  durch  ihr  Licht,  fühlbar 
durch  ihre  Wärme  s),  sind  im  Orte  und  der  Ortsbewegung  unter- 
worfen»). Falsch  würde  es  darum  sein,  sie  als  unstofflich,  den 
Äther  als  „unstofflichen  Stoff"  zu  bezeichnen  i");  denn  unser  Wort 


').  Hinsichtlich  der  Tiere  vgl.  de  part.  an,  II  1,  (347  a  2 — (i,  hinsichtlich 
der  Pflanzen  ebd.  K  10,  655  b  37— b  2  (vgl.  de  an.  II  1,  412  b  1—4). 

2)  de  an.  II  1,  412  a  27-28.   — -     »)  (je  cael.  II  7,  289  a  11—19. 

*)  meteor.  I  1,  338  b  21;  vgl.  de  cael.  III  1,  298  b  6.  Als  avo>  aroiytlov 
wird  der  Äther  meteor.  I  3,  341  a  3,  bezeichnet. 

ä)  de  cael.  II  3,  270  b  2;     III  1,  298  b  7  u.  ö. 

6)  &tia  aw/iaza  de  cael.  II  12,  292  b  32;    met.  XII  8,  1074  a  30. 

')  de  cael.  I  2,  2(>9  b  4;  3,  269  b  30.  270  b  3.  11.  21;  II  7,  289  a  m-, 
meteor.  I  3,  340  a  20;    de  an.  II  6,  418  b  9.  13. 

*)  Licht  und  Wärme  der  Gestirne  soll  durch  deren  Reibung  an  der  Luft 
bei  ihrer  raschen  Bewegung  an  derselben  vorbei  bewirkt  werden :  de  cael.  II 
7,  289  a  19—33  (Ein  sonderbares  Missverständnis  dieser  Stelle,  resp.  der  Aus- 
führungen von  Thomas  Aqu.,  quaest.  disp.  de  pot.  q.  .'ia.7ad  19,  welche  auf  un- 
sere Stelle  Bezug  nehmen,  bei  T.  Pesch,  Die  grossen  Welträthsel.  Freiburg 
i.  Breisgau  1883.  Bd.  I.  S.  218  Anm.  6,  nach  welchem  bereits  die  Peripate- 
tiker  in  der  Wärme  eine  Qualität  erblickten,  „die  sich  wesentlich  in  Bewe- 
gungszuständen  äussere"). 

")  Dass  diese  Bewegung  zunächst  die  Sphären  betrifft,  in  denen  die  Ge- 
stirne sich  befinden  (de  cael.  II  8,  289  b  30  ff.),  kommt  hier  natürlich  nicht 
inbetracht 

'")  Fr.  Ferd.  Kampe,  Die  Erkenntnisslehre  des  Aristoteles.  Leipzig  1870.  S. 31. 
Vgl.  dagegen  Zeller  IF  b,  438  Anm. 


24(j  Dritter  Alisclmitt.     Arisloldes. 

„Slüff  eiilspriclil  nicht  dem  anstotcliscliou  BeyrilTe  der  Materie, 
sondern  bezeichnet  den  Körper,  aus  dem  etwas  besteht.  Ja 
selbst  als  zusanmiengesetzt  aus  Form  und  Materie  —  nämlich  aus 
dem  Äther  und  der  Kugelform  i)  —  können  dieselben  bezeichnet 
werden  2).  Aber  diese  Bezeichnung  des  Elementes  der  Gestirne 
als  ihrer  Materie  ist  doch  nur  in  dem  später  noch  näher  zu  be- 
sprechenden weiteren  Sinne  zu  nehmen,  in  welchem  das  Wort  auf 
alles  angewendet  wird,  was,  auch  ohne  einen  physischen  Werde- 
process,  irgendwie  determiniert  ist;  denn  die  Gestaltung  der  Ge- 
stirne ist  nicht  geworden  und  macht  nicht  einer  andern  Platz  ^). 
Eine  Materie  im  eigentlichen  Sinne  dagegen  kommt  den  Gestir- 
nen, wie  Aristoteles  wiederholt  einschärft,  nur  in  soweit  zu,  als 
in  ihnen  das  Substrat  der  Ortsbewegung  von  ihrem  wechselnden 
Orte  unterschieden  werden  muss  ^).  Sie  haben  also  wohl  eine 
locale,  aber  keine  substantiale  Materie.  Eine  solche  spricht  ihnen 
Aristoteles  vielmehr  ausdrücklich  ab  '^). 

Die  unvergängliche  Welt  der  Gestirne  zusammen  mit  der  dem 
Werden  und  Vergehen  unterworfenen  Welt  unter  dem  Monde  bil- 
den das  gesamte  Weltgebäude.  Dieses  aber  ist  Eines;  denn 
es  umfasst  die  gesamte  Materie*^)  (unter  der  also  hier  die  Materie 


').  de  cael.  II  7,  289  a  11—19;  11,  291  b  11—23. 

^)  de  gen.  et  corr.  II  9,  33.5  a  28 — 30 :     ilalv    oiv    xai   töv    d()i&/iöv    l'aai  xai 

TU)   yevet   «/  avTcu      (sc.   7i(i(it,g    '/(viataii  ai.  d())[ai)      a/Vtfp   ev  Tuig    d'itfioti;    Tt   xai 

TiQuÖToti.  Unter  .uo^ftj  wird  man  hier  kaum  das  wechselnde  Ortsverhältnis 
(vgl.  Anm.  4)  verstehen  können.  Es  dürfte  vielmehr  in  gleicher  Welse  die 
äussere  Gestalt  als  Wesensform  betrachtet  sein,  wie  de  gen.  et  corr.  I  5, 
821  b  28—31  die  Gestalt  der  Hand  u.  dgl. 

")  met.  XII  2,  1069  b  25  (cltlert  Anm.  5).  Vgl.  de  cael.  III  1,  298  a  26-27 ; 
met.  I  9,  991  a  10;  XII  1,  1069  a  31  u.  ö. 

")  met.  VIII  4,  1044  b  7-8;  IX  8,  lOoO  b  21;  XII  2,  1069  b  28  (cltiert 
Anm.  5).  Vgl.  IX  8,  1050  b  15;  XII  7,  1072  b  6.  Die  In  ewiger  gleichmässiger 
Bewegung  befindlichen  Hinmielskörper  sind  Indessen  nicht  in  Möglichkeit  zur 
Bewegung  oder  Nichtbewegung,  wie  die  vergänglichen  Dinge,  sondern  nur  zu 
den  verschiedenen  Puncten  der  von  ihnen  zu  durchlaufenden  Bahn.  Darum 
ist  der  ganze  Himmel  stets  in  Bewegung,  ohne  stillzustehen  oder  zu  ermüden : 
met.  IX  8,  1050  b  20-28;    vgl.  de  cael.  II  1,  284  a  14—15. 

^)  met.  XII  2,  1069  b  24—26:  Tiüvra  J"  vKijv  e'x^i  üaa  /xezaßäXket,  dkl' 
i'itQa  hefiav  '  xai  rmv  did'luiv  uaa  fir/  '/tvvrjtd  xivrjtu  (fe  (foga,  dkl'  ov  ytvvrjxrjv,  dkXd 
no&sv  noT.  Ferner  met.  VIII  4,  1044  b  7.  Vgl.  IX  8,  1050  b  16—17;  XII  7. 
1072  b  7;  auch  de  cael.  I  3,  270  b  1  ff. 

«)  de  cael.  I  9,  278  a  25— b  8. 


b)  Die  Mat.  d.  subsl.  Werdens.     Gestirne.     Wellgehäude.  --  Kritik.        247 

der  vier  Elemente  zusammen  mit  dem  Äther  begriffen  ist).  Es 
ist  ferner  der  Ausdehnung  nach  begrenzt  i) ;  denn  auch  die  Ma- 
terie ist  nicht  unendHch  ihrer  Masse  nach  2).  Es  ist  endUch  ein 
räumliches  Continuum ;  denn  es  giebt  keinen  leeren  Raum,  der 
die  Teile  der  Materie  von  einander  trennen  könnte^). 

2.  Kritik  des  aristotelischen  Begriffs   der   Materie;    Schwanken 
des  Aristoteles  hinsichtlich  desselben. 

Wenn  wir  es  im  Folgenden  versuchen,  einige  Bemerkungen 
zur  Kritik  des  aristotelischen  Begriffes  der  Materie  zu  geben,  so 
mögen  diese  als  blosse  Andeutungen  angesehen  sein,  keineswegs 
als  irgendwie  erschöpfende  Ausführungen. 

Den  aristotelischen  Begriff  der  Materie  können  wir  in  einer 
doppelten  Anwendung  betrachten :  einmal  als  die  in  sich  jeder 
Wirklichkeit  entbehrende,  bloss  mögliche  „erste  Materie"  ;  dann 
als  das  actuelle  .Seiende,  welches  die  Vorbedingungen  für  die  wei- 
tere Entwickelung  in  sich  enthält. 

Fassen  wir  den  Begriff  der  Materie  zunächst  im  letztern 
Sinne  ins  Auge,  so  ist  dem  Begriffe  hohe  Bedeutung  nicht  ab- 
zusprechen. 

Innerhalb  des  Naturgeschehens  nämlich  ist  eine  Wirkung 
niemals  Resultat  einer  einzigen  Ursache.  Erst  durch  das  Zu- 
sannnentreten  mehrerer  Bedingungen  wird  die  neue  Wirklichkeit 
erzeugt.  Das  Verhältnis  dieser  Bedingungen  aber  zu  einander 
und  zu  der  Wirkung  ist  ein  verschiedenes.  Von  einer  der  Be- 
stimmungen (oder  von  einem  Complex  derselben)  geht  der  un- 
mittelbare Antrieb  zur  Thätigkeit,  die  Auslösung  der  Wirkung, 
aus.  So  ist  der  Feuerfunke,  der  in  die  Pulvertonne  fällt,  un- 
mittelbarer Anlass  zur  Explosion.  Aber  damit  die  wirkende  Ur- 
sache in  Thätigkeit  treten  kann,  muss  etwas  vorhanden  sein, 
worauf  sich  ihre  Thätigkeit  richtet.  Es  ist  die  Bedingung  (oder 
der  Bedingungscomplex),  welchen  Aristoteles  als  die  Material - 
Ursache  bezeichnet.  Nur  dadurch,  dass  in  diesem  Vorhandenen 
durch  die  bewirkende  Ursache  ein  neuer  Zustand  hervorgerufen 
wird  —  das  Wort  „Zustand"    in  seinem  allgemeinsten   Sinne  ge- 


^)  de  cael.  1  5 — 7  u.  ö. 

2)  S.  S.  237. 

3)  phys.  IV  6-9  u.  ö. 


24S  Dritter  Absclmill.     Aristoteles. 

noiiiiiH'ii  —  (Milslclit  das  Neue.  Im'.sI  diircli  die  Vcrbiiidiing  bei- 
der Bedingungen  (oder  Bediiiguiigscomplexe)  isl  die  volle  Ur- 
sache gegeben. 

Beide  Arten  von  Bedingungen  sind  an  der  Entstehung  des 
Neuen  in  ihrer  eigentümlichen  Weise  beteiligt.  Auch  die  „Ma- 
lerialursache".  Demi  nicht  wie  in  einem  leeren  Gefässe,  das  sich 
gegen  den  aufzunehmenden  Inhalt  gleichgiltig  verhielte,  ruft  die 
bewirkende  Ursache  den  neuen  Zustand  in  ihr  hervor,  sondern 
dieser  neue  Zustand  ist,  wie  durch  die  bewirkende  Ursache,  so 
auch  durch  die  voraufgehende  Zuständlichkeit  dessen  bewirkt, 
worauf  jene  sich  richtet.  Nicht  jeder  Zustand  kann  in  dem  letz- 
teren hervorgerufen  werden,  sondern  nur  derjenige,  welcher  durch 
den  bereits  bestehenden  vorausbestimmt  ist.  Es  ist  nicht  nur  die 
Iiohe  Temperatur  des  einschlagenden  Funkens,  sondern  ebenso- 
sehr die  eigentümliche  Natur  des  Pulvers  und  seiner  vergasbaren 
Bestandteile,  durch  welche  die  Explosion  bedingt  wird.  Die  Ma- 
terialursache enthält  somit  in  ihrer  eigentümlichen  Beschafrenheit 
die  Vorbedingung  für  das  Eintreten  der  Wirkung,  oder  aristote- 
lisch ausgedrückt:  sie  ist  die  Möglichkeit  der  Wirkung.  Aber 
diese  Möglichkeit  ist  nicht  die  vage  Möglichkeit  zu  Entgegen- 
gesetztem, sie  ist  vielmehr  verstanden  im  Sinne  der  Anlage  zu 
einer  ganz  bestimmten  Wirklichkeit. 

Worin  dieser  Zusannnenhang  des  gegenwärtigen  mit  dem 
künftigen  Zustande  besteht,  wie  es  kommt,  dass  unter  der  Ein- 
wirkung der  bewirkenden  Ursache  jene  Entwickelung  stattfindet, 
das  entzieht  sich  freilich  im  letzten  Grunde  unserer  beschränkten 
Erkenntnis.  Diese  muss  sich  bescheiden ,  das  Sein  und  Werden 
als  ein  Gegebenes  hinzunehmen,  ohne  einzusehen,  was  das  Sein 
ist  und  wie  es  gemacht  wird.  Hierüber  geben  auch  die  aristote- 
lischen Ausdrücke  „Möglichkeit"  und  „Wirklichkeit^'  keinen  Auf- 
schluss:  sie  sind  vielmehr  nur  bequeme  Bezeichnungen  für  ein 
thatsächlich  bestehendes  Verhältnis,  dessen  inneres  Wesen  uns 
trotz  ihrer     unbekannt  bleibt. 

Steht  hier  der  Begriff  der  Materialursache  dem  der  bewir- 
kenden Ursache  gegenüber,  so  gewinnt  er  eine  neue  Bedeutung 
auf  dem  Gebiete  des  Organischen,  indem  er  hier  dem  der  Form 
gegenübertritt. 

Es  ist  ein  nicht  mehr  umzustossendes  Resultat  der  biolo- 
gischen Forschung,    dass  die  organischen    Functionen    sich    voll- 


Kritik  des  aristotelischen  Begrifls   der  ^faterie.  249 

ziehen  durch  dieselben  Natiirkrätlo,  welche  auch  in  der  anorgani- 
schen Natur  wirksam  sind.  Aber  die  Wirkungsweise  dieser  Na- 
lurkräfte  im  Organismus  ist  doch  eine  eigentümliche.  In  der  an- 
organischen Natur  lässt  sich  die  Ursache  eines  jeden  Natur- 
vorganges ohne  Rest  auflösen  in  eine  Summe  von  Einzelbedin- 
gungen. Wenn  dieselben  bei  ihrem  Zusammentreffen  sich  gegen- 
seitig bestimmen,  so  folgen  sie  dabei  doch  nur  dem  Gesetze  ihrer 
eigenen  Natur.  Im  Organismus  dagegen  erscheinen  die  Stoffe 
und  Kräfte  constant  auf  ein  bestimmtes  Ziel,  auf  die  Auswirkung 
eines  bleibenden  Typus,  gerichtet.  Der  Organismus  erzeugt  und 
erneuert  sich  nach  einem  stets  identischen  Organisationsplan. 
Die  chemischen  und  physikalischen  Kräfte  in  ihm  sind  in  einer 
solchen  Weise  combiniert,  dass  durch  sie  eine  innere  Einheit 
ausgebildet  und  erhalten  wird.  Diese  einheitliche  B.egel  der  Ge- 
staltung wird  man  schwerlich  noch  durch  die  blosse  mechanische 
Durchkreuzung  der  Stoffe  und  ihrer  physikalischen  und  ehemi- 
schen Kräfte  erklären  können.  Sie  weist  hin  auf  ein  centrales 
Princip  als  den  Grund  jener  inneren  Einheit  in  der  Zielrichtung 
der  combinierten  Kräfte. 

Schon  Aristoteles"  stellt  diese  centrale  Ursache  des  Organis- 
mus als  die  Form  den  Stoffen  desselben  als  der  Materie  gegen- 
i^iber.  Sie  ist  ihm  der  innnanente  Zweck,  auf  dessen  Verw'irk- 
lichung  der  ganze  Organismus  angelegt  ist  ^). 

Nicht  aus  dem  Stoffe  selbst  entwickelt  sich  dieses  Princip. 
Denn  wie  es  auch  um  den  er.sten  Ursprung  des  Organischen  ste- 
hen mag,  was  zu  entscheiden  nicht  dieses  Ortes  ist:  für  die 
jetzige  Natur  gilt  der  Satz,  dass  nur  aus  einem  schon  bestehen- 
den Organisnuts  ein  neuer  hervorgehen  kann.  „Der  Mensch  er- 
zeugt den  Menschen",  ist  das  stehende  Beispiel  des  Aristo- 
teles dafür  2). 


1)  Vgl.  was  de  an.  II  4,  41.'.  b  10—12.  15—20;  de  pari.  an.  I  1,  641  a 
27 ;  I  5,  645  b  14 — 20  von  der  Seele,  d.  h.  der  Form  des  lebenden  Organismus, 
als  dem  Zwecke  des  Leibes  ausgeführt  wird. 

•■')  phys.  II  1,  19.3  b  8.  12;  2,  194  b  13;  7,  198  a  26—27:  III  ^2,  202 
a  11—12;  de  gen.  et  corr.  I  5,  .320  1)  20;  II  6,  3.33  b  7—8;  de  pari.  an.  I  1, 
640  a  25;  II  1,  646  a  33:  de  gen.  an.  II  1.  735  a  21;  met.  VII  7,  1032  a  25; 
8,  10ä3  b  32;  9,  1034  b  2;  [XI  8,  1049  b  25];  XII  3,  1070  a  8.  28; 
4,  1070  b  31.  .34;  XIV  5,  1092  a  16  u.  ö.  Die  Pflanze  erzeugt  die  Ptlanze:  de 
part.  an.  II  1,  (546  a  31;  der  Weizen  den  Weizen:  de  gen.  et  curr.  II  6, 
333  b  8. 


250  Dritter   Ali.'^clinitt.     Aristolcles. 

])i('  Malcrie  alxT,  welche  diesem  Forinpi'incip  gegenüber- 
slelil,  ist  wiedenmi  nicht  (he  hesliiiiiiiuiigslose  blosse  Möghchkeit 
des  Körpers.  Sie  ist  auch  hier  ein  wirkliches,  bestimmtes  Seien- 
des mit  eigenen  Kräften,  welches  gerade  durch  diese  Eigentüm- 
lichkeit die  Vorbedingungen  für  ein  höheres  Princip  und  dessen 
Thätigkeit  bietet. 

So  hat  sich  uns  nach  zwei  Seiten  hin  der  hohe  Wert 
des  aristotelischen  Begriffes  der  Materialursache  ergeben.  Er 
hat  seine  volle  Bedeutung  auf  dem  ganzen  Naturgebiete  im 
Gegensatz  zur  bewegenden  Ursache,  in  besonderer  Weise  aber, 
nämlich  im  Gegensatze  zum  Begriffe  der  Form,  auf  dem  Gebiete 
des  Organischen. 

Aristoteles  selbst  indes  beschränkt  den  Gegensatz  von  Form 
und  Materie  nicht  auf  das  Reich  des  Organischen.  Er  nhnmt, 
wie  wir  sahen,  auch  für  das  Anorganische  ein  substantiales  Wer- 
den an  und  erklärt  dieses  durch  die  Unterscheidung  von  Materie 
und  Form.  Auch  die  von  ihm  aufgestellten  „Elemente"  sollen 
eine  derartige  Zusammensetzung  aus  der  jedem  eigentümlichen 
Form  und  der  allen  gemeinsamen  Materie  aufweisen.  Weil  es 
sich  bei  diesen  Elementen  um  die  Frage  nach  der  Zusammen- 
setzung der  einfachsten  Körper  und  um  das  Werden  der  Sub- 
stanz selbst  handelte,  so  sollte  diese  Materie  in  sich  völlig  be- 
slimumngslos,  reine  Möglichkeit  ohne  Wirklichkeit,   sein. 

Gerade  diese  Wendung  des  Begriffs  der  Materie  nun  ist  es, 
welche  für  unsere  Untersuchung  in  Betracht  kommt;  denn  in 
dieser  Gestalt  sucht  Aristoteles  das  uns  beschäftigende  Problem 
nach  der  letzten  (Jrundlage  alles  Körperlichen  zu  lösen. 

Der  modernen  Naturwissenschaft  ist  ein  solcher  Begriff,  wie 
Aristoteles  ihn  hier  aufstellt,  fremd.  Was  Aristoteles  von  seinen 
Elementen  behauptet,  dass  sie  in  einander  übergehen,  so  dass 
die  Materie  bleibe,  die  Form  aber  wechsele,  das  leugnet  sie  von 
den  ihrigen.  Und  wenn  jener,  mn  die  Ähnlichkeit  zwischen  der 
Entstehung  seiner  Elemente  und  der  Entstehung  des  Organischen 
voll  zu  machen,  behauptet,  dass,  wie  der  Mensch  den  Menschen, 
so  das  Feuer  das  Feuer  erzeuge^),  so  gilt  von  unsern  chemischen 
Elementen  nicht,  dass  etwa  Eisen  Eisen  und  Quecksilber  Queck- 
silber hervorbringe.     Freilich  weist  auch  der   moderne    Chemiker 


^)  de  gen.  et  corr.  I  5,  320  )i  2<). 


Kritik  des  aristotelischen  Begriffs  der  Materie.  251 

und  Physiker  den  Gedanken  nicht  V(jllig  ab,  dass  vielleicht 
den  sämtlichen  Elementen  eine  Urmaterie  zugrnnde  liege  ^).  Aber 
diese  Urmaterie  würde  er  nicht  als  etwas  völlig  Bestimnumgsloses, 
in  sich  durchaus  Unwirkliches  betrachten.  Er  würde  in  ihr  viel- 
mehr die  objective  Grundlage  der  allen  Körpern  gemeinschaft- 
lichen Bestimmungen  erblicken,  also  nicht  die  Potenz  des  Kör- 
pers, sondern  einen  wirklichen  Körper,  „StofT"  im  modernen 
Sinne  des  Wortes.  Eine  solche  Urmaterie  wäre  wohl  mit  der 
Materie  der  Stoiker  zu  vergleichen;  mit  der  des  Aristoteles  hätte 
sie  dagegen  keinerlei  Verw^andtschaft  -). 

So  bietet  also  die  moderne  chemische  Theorie  der  Elemente 
keinen  Anlass  zur  Bildung  des  aristotelischen  BegrüTes  der  er- 
sten Materie.  Aber  dieser  Begrifi*  ist  auch  in  sich  bestreitbar. 
Dass  ein  Seiendes  Vorbedingung  für  etwas  Weiteres  sei,  ist  ein 
sehr  wohl  begründeter  Gedanke.  Wie  aber  etwas  Vorbedingung, 
Substrat  u.  s.  w.  sein  könne,  ohne  überhaupt  zu  sein,  ist  nicht 
abzusehen.  Das  wäre  aber  bei  jener  ersten  Materie  der  Fall. 
Sie  ist  ein  unmögliches  Mittleres  zwischen  Sein  und  Nichtsein. 
Nur  ein  Girkel  ist  es,  wenn  man  sagt,  eben  das  Mögliche,  die 
,,Realpotenz",  liege  zwischen  dem  Sein  und  dem  Nichtsein  in  der 
Mitte;  das  Mögliche  sei  nur  actuell  nichts,  potentiell  aber  ein 
Seiendes.  Denn  dann  sagt  man,  das  Mögliche  sei  ein  Seiendes, 
weil  es  ein  mögliches  Seiendes  sei,  und  vergisst,  dass  gerade  die 
Denkbarkeit  dieses  bloss  möglichen  Seienden  in  Frage  steht  ^). 


i)"S.  S.  86. 

*)  Es  würde  nicht  schwer  sein,  zu  zeigen,  dass  auch  die  piiilusuphisclien 
Vertreter  der  „morijhologisclien"  oder  ,  form  istischen "  Tlieorie  in  neuerer  Zeit 
da,  wo  sie  nicht  bloss  überlieferte  Schulformeln  weiterführen,  in  der  That 
eher  die  stoische,  als  die  aristotelische  Theorie  der  Materie  vertreten. 

*)  M.  Glossner  im  Jahrbuch  für  Philosophie  und  speculative  Theologie, 
hrsg.  von  Gomnier,  I  1H87,  S.  ö(K)  ff.  will  durch  den  bekannten  Lotze'schen  Be- 
griff des  Geltens  eine  neue  Stütze  für  die  „Realpotenz"  der  Materie  gewin- 
nen. Das  mögliche  Sein  lasse  sich  nicht  anschauen;  es  sei  weder  Sauer-  noch 
Wasserstoff,  weder  Atom  noch  Monade;    aber  es  sei  Objectives,  es  gelte. 

Nun  kann  man  mit  Lotze  (vgl.  Logik,  2.  Aufl.  S.  511.  516  unten)  wohl  von 
einer  inhaltlich  bestimmten  Wahrheit  —  in  einem  gewissen  Sinne  —  sagen, 
dass  sie  gelte,  auch  wenn  sie  in  der  empirischen  Welt  gerade  nicht  ver- 
wirklicht ist;  wie  aber  etwas  gelten  könne,  was  gar  nicht  Bestimmtes  weder 
ist  noch  behauptet,  hat  Glossner  nicht  dargethan.  In  Wahrheit  würde  jene 
völlig  bestimmungslose  Möglichkeit  nach  Glosser's  Voraussetzungen  den   Unbe- 


252  Dritter  Ahscliiiitt.      Aristoteles. 

Auch  der  vun  ArisLuLeks  selbst  aii[,'edeiilete  ')  Ausweg,  dass 
die  Materie  ja  doch  niemals  ohne  Form  bestehe,  und  dass  sie 
aus  diesem  Grunde  stets  etwas  Wirkliches  sei,  führt  nicht  zum 
Ziele.  Denn  so  lange  jene  erste  Materie  noch  ein  von  der  Form 
objectiv  unterschiedenes  Princip  bleiben  soll,  so  lange  ist  sie, 
für  sich  betrachtet,  die  bestimmungslose  Möglichkeit,  welcher 
wir  keinerlei  Art  von  objectiver  Realität  zugestehen    konnten. 

In  Wahrheit  scheint  der  aristotelische  Begriff  der  ersten 
Materie  das  Erzeugnis  einerseits  eines  zu.weit  gehenden  Realismus, 
anderseits  eines  nicht  völlig  zutreffenden  Analogieschlusses  zu  sein. 

Der  eigentliche  Ausgang  für  die  aristotelische  Theorie  liegt 
in  der  anthropomorphistischen  Gleichsetzung  des  Naturgeschehens 
mit  dem  künstlerischen  Gestalten  '^).  In  stets  neuen  Wendungen 
erläutert  er  an  dem  Verhältnis  des  Stoffes,  der  dem  Künstler  vor- 
liegt, und  der  durch  den  Kün.stler  bewirkten  Gestaltung  desselben 
das  Verhältnis  von  Form  und  Materie  in  den  Naturdingen  3).    So 


griff  einer  völlig  bestimmungslosen  Giltigkeit  bedeuten,  ein  blosses  Gelten,  ohne 
dass  etwas  wäre,  was  gälte.  Denn  wenn  die  Giltigkeit  der  Materie  die  Giltig- 
keit von  etwas  besagte,  so  wäre  ja  die  Materie  ganz  gegen  Aristoteles  schon 
ein  rode  n.  Und  diese  völlig  bestimmungslose  Giltigkeit  wäre  noch  obendrein 
das  bleibende  Substrat  der  wechselnden  Wirklichkeiten. 

Dazu  kommt,  dass  die  Glossner'sche  Auffassung  zu  einer  Gonsequenz  führt, 
gegen  die  zwar  nicht  Aristoteles,  wohl  aber  Glossner  selbst,  mit  Recht  Ein- 
spruch erheben  würde.  Was  gilt,  gilt  ewig.  Wenn  also  das  Sein  der  Materie 
ein  Gelten  ist,  so  ist  sie  ewig. 

Ü])rigens  ist  die  Unhaltbarkeit  einer  solchen  Potentialität,  die  alles  Sein 
nur  von  der  Form  erhalten  soll,  auch  von  mehreren  scholastischen  Vertretern 
des  Aristotelismus  zugegeben.  Von  den  älteren  seien  Heinrich  von  Gent, 
({uodl.  1.  (\u.  10;  quodl.  4.  qu.  16  und  Duns  Scolus,  sent.  1.  2.  dist.  12.  qu.  1. 
n.  2.,     von  späteren  sei  Suarez,  metaph.  disp.  12.  sect.  4  und  5,  genannt. 

1)  S.  S.  235. 

^)  Über  diese  Gleichsetzung  vgl.  v.  Hertling,  Mal.  u.  Form,  S.  94  ff.  und 
die  Nachweisungen  bei  Bonitz,  Ind.  Arist.  836  b  10  ff. 

^)  Am  häufigsten  dienen  zum  Vergleiche  die  Bildsäule,  die  aus  Erz  (phys. 
I  7,  190  b  6.  191  a  9;  II  3,  194  b  25.  195  a  6.  b  8;  III  6,  207  a  28;  met.  V  2. 
1013a 25.  b7;  4,  1014  b29;  VII  3,  1029  a  4;  10,  10.35  a  6;  1X7,  1049  a  18 
u.  ö.),  das  Haus,  welches  aus  Steinen,  Lehm  und  Holz  besteht  (phys.  I  4,  188 
a  15;  7,  190  b  8;  II  9,  200  a  26;  de  partibus  animalium  I  5,  645  a 
34;  n  1,  646  a  27;  met.  VOl  2,  1043  a  8  u.  ö.).  Andere  Vergleiche  sind:  das 
Ruhebett  (phys.  I  7,  191  a  9;  II  l,  193  a  14.  .34;  de  part.  an.  I  1,  640  b  23;  de 
gen.  an.  I  21,  729  b  17)  und  der  Kasten  (de  gen.  an.  H  6,  743  a  25;  met.  IX 
7,  1049  a  23)  aus  Holz,  das  Hermesbild  aus  Stein   (phys.  17,  190  b  7;  met.  III  5, 


Kritik  lies  aristotelisclien  BeLrriffs  dei'  Matoiio.  äöä 

soll  auch  der  Analogieschluss  von  dem  Stoffe  der  Kunsterzeug- 
nisse auf  die  Materie  der  Naturdinge  führen :  denn  wie  zur  Bild- 
säule das  Erz  oder  zum  Bette  das  Holz,  so  verhält  sich  die  Ma- 
terie zur  Wesensform  ^).  Das  Kunsterzeugnis  aber  entstellt  un- 
ter dem  Einflüsse  der  bewegenden  Ursache  und  aus  einem 
solchen  Stoffe,  welcher  in  seiner  wirklichen  Natur  und  in  seinen 
wirklichen  Zuständen  die  Vorbedingungen  dafür  bietet,  dass  durch 
die  Verbindung  mit  einer  andern  Bedingung  in  ihm  ein  neuer 
Zustand  entwickelt  werde  und  so  etwas  Neues  entstehe.  Die 
Möglichkeit  dieses  neuen  Zustandes  ist,  abgesehen  von  der  bewir- 
kenden Ursache,  in  nichts  Anderem  begründet,  als  in  der  wirk- 
lichen Natur,  den  wirklichen  Zuständen  des  bestehenden  Kör- 
pers, Nur  unser  Denken^  welches  von  der  Wirkung  rückwärts 
zur  Ursache  schaut,  hebt  diese  Möglichkeit  zu  einem  Neuen,  ob- 
schon  sie  nur  in  der  wirklichen  Natur  des  Bestehenden  begrün- 
det ist,  als  etwas  Gesondertes,  Eigentümliches  heraus.  So  lange 
das  Denken  sich  dabei  bewusst  bleibt,  dass  diese  gesonderte  Er- 
fassung nur  seiner  eigenen  Abstraction  angehört,  liegt  darin  keine 
b'reführung.  Anders  aber  Aristoteles.  Sein  begriffs-realistisches  Den- 
ken giebt  der  Möglichkeit  unvermerkt  die  Geltung  einer  eigenen  Rea- 
lität. Nicht  so  sehr  in  der  wirklichen  Natur  des  Bestehenden, 
als  in  der  hinzugedachten  Möglichkeit,  erblickt  er  den  Grund 
des  Neuen  ^). 

Diese  Hypostasierung  der  Möglichkeit  gestattet  es  dem  Ari- 
stoteles nun  auch,  die  Analogie  des  künstlerischen  Gestaltens  auf 
die  Entstehung  der  Natursubstanzen  anzuwenden.  Weil  die  Mög- 
lichkeit für  ihn  zu  einer  selbständigen  Realität  und  damit  zu 
einem  Realgrund  geworden  ist,  so  kann  er  in  ihr  das  Material 
sehen,  woraus  die  wirkliche  Substanz  geworden  ist.  Weil  aber 
sämtliche  Elementarkörper,  wie  überhaupt  sämtliche  Natursub- 
stanzen in  voranschreitendem  und  rücklaufendem  Flusse   auf  ein- 


1002  a  22 ;  V  7,  1017  b  7)  oder  Holz  (met.  IX  6,  1048  a  33),  die  Scliale  aus 
Silber  (phys.  Il'  3,  194  b  25;  met.  V  2,  1013  a  25),  die  Schwelle  aus  Holz  oder 
Stein  (met.  VIII  2,  1043  a  7),  das  Gerät  aus  Metall  oder  Holz  (met.  V  4,  1014 
b  29—30),  die  Kugel  aus  Wachs  (de  gen.  an.  I  21,  729  b  17),  der  Ring  aus  Erz 
(met.  VII  10,  1035  a  13)  u.  s.  w. 

')  S.  S.  238. 

"-)  Vgl.  hierzu  die  eingehenden  und  scharfsinnigen  Bemerkungen  von  Hert- 
ling's  a.  a.  0.  S.  87  ff. 


254  Dritter  Al)selinitt.     Aristoteles. 

ander  folgen,  so  fasst  er  jene  M()glic]ikeit  des  Anderswerdens  an 
ilnicn  als  ihr  lileihendes  Substrat  auf,  welches  zu  allen  Substan- 
zen die  Möglichkeit  in  sich  trägt,  oder  welclies  vielmehr  die  Mög- 
lichkeit zu  allem  selber  ist. 

Das  Schwankende  des  aristotelischen  Begriffs  der  Materie 
nmssle  zutage  treten,  wenn  derselbe  mit  anderen  Begriffen  in 
Verbindung  gebracht  oder  zur  Erklärung  des  Goncreten  verwandt 
werden  sollte.  Die  Unsicherheit  des  Aristoteles  in  diesen  Fällen, 
die  mannigfachen  Modificationen  des  *  ursprünglichen  Begriffes, 
welche  sich  seiner  Darstellimg  unbemerkt  unterschieben:  alles  das 
übt  eine  bedeutsame  Kritik  an  jenem  Begriffe  selbst. 

Das  wahrhaft  Seiende  ist  für  Aristoteles  die  Substanz 
(ovOia).  Er  definiert  dieselbe  als  das  Sein,  welches  weder  von 
einem  Subjecte  prädiciert  wird  (logisch),  noch  einem  Subjecte  in- 
häriert  (physisch)  ').  Kann  auch  die  Materie  als  Substanz  be- 
zeichnet werden  ?  '^)  Zahlreich  sind  die  St'ellen,  an  denen  Ari- 
stoteles die  Frage  bejalit.  Kommen  der  Materie  doch  die  beiden 
Merkmale  zu,  durch  welclte  das  eigentümliche  Sein  der  Substanz 
im  Gegensatz  zum  Accidens  bestimmt  wird.  Sie  ist  das  Substrat 
der  Form,  für  welches  kein  anderes  Substrat  mehr  erforderlich 
ist  ^).  Sie  ist  ferner  das  Subject,  von  dem  die  weiteren  Bestim- 
mungen ausgesagt  werden  '^).  Sie  ist  darum  Substanz  ''),  wie  die 
Form  und  wie  das  aus  Materie  und  Form  Zusammengesetzte").  Aber 
wenn  der  Materie  auch  die  Eigentümlichkeiten  des  substan- 
tialen  Seins  zukommen,  so  fehlt  ihr  doch  das  eine:  sie  ist  über- 
haupt kein  Sein  im  vollen  Sinne.  Dieses  giebt  vielmehr  erst  die 
verwirklichende  Form.     Aus  diesem  Grunde  ist  die  Form,    bezw. 


')  cat.  5,  2  a  11-13.  Vgl.  Waitz  zu  .1.  Stelle  (p.  281-284).  Trendelen- 
burg,   Gesch.  (1. Kategorienlehre,  S.  53  ff.     Zeller,  11-''    b,  30.")  f. 

-)  Oscar.  Weissenfeis,  De  casu  et  substantia  Aristotelis.  Berlin  1846.  S.  15  - 
34:  De  materiae  et  substantiae  Aristoteleae  nexu. 

•')  uiet.  VIII  2,  Km  h  9-10.  Vgl.  met.  I  4,  985  b  10;  9,992  b  1;  VIII  1, 
1042  a  13;  phys.  II     1,  193  a  9-28. 

■*)  met.  VII  3,    1029  a  23-24.     Vgl.  VIII  2,  1043  a  G. 

")  Vgl.,  ausser  den  Anni.  3—4  und  Anm.  6  citierten  Stellen,  inet.  VIII  4, 
1044  a  15;  IX  7,  1049  a  35-31;;  S.  1050  b  27;  XIII  2,  1077  a  ,35"3(;;  auch  de 
gen.  et  corr.  I  5,  321  b  19  ff. 

«)  de  an.  II  1.  412  a  7—9;  2,  414  a  15-1(3;  met.  VII  3,  1029  a  2-3: 
10,  1035  a  2;  VIII  2,  1043  a  5-19.  26—28;  XII  3,  1070  a  9—13  (wozu  vgl.  S. 
231  Anm.  2).  b  13-14. 


Kritik  il.  aristotelischen  Begr.  '].  iVIal  ;    das  Sciiwaiiken  des  Arist.         25.') 

da.s  aus  Materie  und  Fonu  Zusaiiinieijge.setzte,  in  liühereni  Maa.sse 
Substanz  als  die  Materie  ^).  Darum  werden  an  anderen  Stellen 
die  Begriffe  Substanz  und  Materie  einander  entgegengestellt  ^) 
und  bloss  zwei  Bedeutungen  der  Substanz  anerkannt,  die  Form 
und  das  aus  Materie  und  Form  Zusammengesetzte  ^). 

Freilich  sucht  Aristoteles  zu  vermitteln.  Er  verwendet  auch 
hier  die  Unterscheidung  des  wirklichen  und  des  möglichen  Seins, 
welche  ihm  zur  bequemen  Formel  geworden  ist.  Die  Materie 
ist  Substanz  der  Möglichkeit  nach^).  Aber  was  sollen  wir  uns 
unter  einer  bloss  potentiellen  Substanz,  einem  Anundfürsich- 
seienden,  welchem  die  Wirklichkeit  noch  fehlt,  denken?"') 

In  der  That  hat  auch  Aristoteles,  wo  er  die  Materie  als 
Substanz  bezeichnet,  gewöhnlich  nicht  eine  solche  bloss  poten- 
tielle Substanz  im  Sinne.  Gerade  an  der  Hauptstelle,  an  welcher 
er  zeigen  will,  dass  auch  die  Materie  Substanz  sei,  gebraucht  er 
als  Beispiel  Holz  und  Stein,  welche  für  die  Schwelle,  Ziegel  und 
Holz,  welche  für  das  Hans,  das  Wasser,  welches  für  das  Eis  Ma- 
terie sei;  ferner  die  Luft,  in  der  die  Luftstille,  das  ]\Ieer,  in  dem 
die  Meeresruhe  sich  finde'').  Ahnlich  ist  es  an  den  übrigen  Orten  "'). 
An  die  Stelle  der  wahren  materia  prima,  die  nur  unbestimmtes 
mögliches  Sein  ist,  ist  hier  also  bereits  ein  concreter  Stoff  getre- 
ten, d.  h.  ein  wirkliches  Seiendes,  welches  nur  in  Beziehung  auf 
eine  Aveitere  Stufe  der  Entwickelung  als  Materie-  bezeichnet  wer- 
den   kann. 


1)  met.  VII  3,  1029  a  27—30.  Vgl.  phys.  I  9,  192  a  5,  wo  Aristoteles  die 
Materie  syyvs  y.ul  ova/ai-  Tims  nennt. 

-)  de  cael.  I  9,  278  a  19;  meteor.  IV  12,  389  b  28-29.  390  a  f.  (];  de 
part.  an.  1  1,  G41  a  26-27;  met.  IX  G,  1048  b  9;  XII[  8,  1084  b  19-20. 

•')  met.  VII  15,  1039  b  20-22. 

■•)  metaph.  Vill  1,  1042  a  26:  iati  (f  ovaln  t6  vTroxeijuevor,  ü/J.iog  juev  i; 
"•^1],  .  .  ,  a'AAfj)f  ()■'  ö  Aoyoc  xal  i]  fiOQ^tj,  .  .  .  tqitov  (fe  lo  ix  tovti»i\  C.  2,  1042  b  9 
iTTti  iV  tj  iLtfv  WC  r,7oy.fiii£vr)  xal  wg  v?.tj  oi'ai'n  6ino?.oyf7Tai,  cu'tt,  if  iariv  i]  ih-i'd ii n , 
?.oi7i<'n'  tjjv  (()s    ii'f(>'ynai'  orai'uv  Tcnv  aiaffi^Tiüv  fi/if?r  ii\'  tcijiv. 

")  Zeller  11'='  b,  349. 

**)  met.  VIII  2,  1043  a  7  ff.  Man  beachte,  dass  Aristoteles  nach  AnCülirung 
dieser  Beispiele  schliesst  (a  2(>):  ifarf^rh-  ilt)  tx  löiv  tiftrmtvmr  ris  i)  ula&iiTi] 
ura/u  ioil  y.ai  Tiing,  woraul'  die  Dreiteilung  der  Substanz  wie  in  Anni.  4  fulgt. 

')  Z.  B.  met.  VII  3,  1029  a  23  ff.  vgl.  mit  a  3  ff.:  das  Erz  als  Materie  für 
die  Bildsäule;  met.  I  4,  985  b  10:  der  Urstuff  im  Sinne  der  lonier;  met.  IX  7, 
1049  a  35-3(5,    vgl.  mit   a  17  ff.  (Holz,  Erde,  Luft)  etc. 


25G  Dritter  Alisclmht.     Aristoteles. 

Nur  ein  einziges  Mal  wird  der  Begriff  der  möglichen  Sub- 
stanz auf  die  Ict/Je  Grundlage  alles  Körperlichen,  die  blos  poten- 
tielle Materie,  angewendet  i).  Aber  hier  wusste  Aristoteles  die 
Substantialität  der  Materie  nur  durch  den  Hinweis  darauf  zu 
retten,  dass  dieselbe  ja  niemals  ohne  Form  existiere  ^).  Darin 
aber  liegt  das  Zugeständnis,  dass  die  erste  Materie  als  solche 
überhaupt  keine  Substanz  sei. 

Demselben  Schwanken  begegnen  wir  hinsichtlich  des  Begriffes 
des  Nat  urp  rincipes ,  der  (pvöig^).  Stellen,  an  denen  die  Ma- 
terie neben  der  Form  als  Naturprincip  bezeichnet  wird*),  stehen 
andere  gegenüber,  an  denen  ihr  ausdrücklich  dieser  Charakter 
abgesprochen  wird.  AVo  aber  der  Materie  die  Geltung  als  Natur- 
princip zuerkannt  wird,  hat  Aristoteles  wiederum  durchweg  die 
Materie  im  Sinne  eines  concreten  Stoffes  im  Auge  •'').  Nur  zwei- 
mal scheint  er  die  völlig  bestimmungslose  erste  Materie  als  die 
der  Form  „zugrundeliegende  Natur"  [r]  tinoxfifurrj  (fvoig)  zu  be- 
zeichnen ^).  Doch  dürfte  hier  das  Wort  „Natur"  welches  auch 
sonst  seine  eigentümliche  Bedeutung  gänzlich  verloren  hat  und 
zur  blossen  Umschreibung  verwandt  wird  '),  wohl  als  Ausdruck 
der  Verlegenheit  zu  betrachten  sein,  wozu  Aristoteles,  da  er 
die  Sache  doch  einmal  bezeichnen  musste,  als  zu  dem  allgemein- 
sten und  unbestimmtesten  griff.     Den  Begriff  des    Naturprincipes 


»)  de  gen.  et  corr.  I  3,  317  b  23  ff. 

')  S.  S.  235  tr.    2h± 

'■')  Vgl.  E.  Hardy,   Der    Begriff   der  Physis  in  der  griet-hischen  Pliilosopliie. 

1.  Tlieil.  Berlin  1884.  S.  19(5  f.  J.  Schmitz,  De  if,raKOi  apud  Aristotelem  nu- 
tione  eiusque  ad  animam  ratione.    Bonn.  1884.  S.  10  ff. 

')  pliys.  II  2,  194  a  12—13;    8,  199  a  30-  31.    Vgl.  Anm.  5. 

'■)  Vgl.  phys.  11  1,  193  a  9.  28  (Holz,  Wasser,  Erde  u.  dgl);  de  an.  II  7, 
418  i.  31  (das  Durchsichtige);  de  respir.  14,  477  h  1(5.  19  (Wachs,  Eis);  met.  1 
8,  988  b  22  (Urstoff  der  lonier) ;  V  4,  1014  b  2G.  33  (Erz,  Holz  u.  s.  w.) ; 
1015  a  7  (Was.'^er);    "2(5,  1024  a  4  (Wachs,    Wasser).     Ebenso  ist  auch  phys.  II 

2,  194  a  12-13  (s.  die  vorige  Anmerkung)  das  concret  Stoffliche  im  Gegen- 
satz zur  mathematischen  Form  gemeint.  Auch  phys.  I  8,  191  b  34  und  II 
8,  199  a  30—31  (s.  vor.  Anm.)  ist  mindestens  an  das  körperlich  Stoffliche  mit- 
gedacht, da  in  dem  ganzen  Zusammenhange  der  betreffenden  Stellen  diese 
Auffassung  herrscht. 

^)  de  gen.  et  corr.  I  (3,  322  b  19;  phys.  I  7,  191  a  8.  Aber  selbst  bei  die- 
sen Stellen  ist  die  ausschliessliche  Beziehung  auf  die  materia  prima  nicht 
durchaus  sichei-. 

";  Vgl.  Bonitz,  Index  Aristotel.  838  a  8  ff. 


Kritik  des  arist.  Begr.  d.  Materie;     das  Scliwanlcen  des  Arist.  2ä7 

im  eigentlichen  Sinne,  d.  h.  als  des  inneren  Piincipes  der  Thä- 
tigkeit  ^),  kann  er  dagegen  auf  ein  solches  völlig  bestimmungs- 
loses Etwas  nicht  anwenden.  Derselbe  nuiss  vielmehr  der  Form 
und  dem  durch  diese  bereits  bestimmten  Seienden  vorbehal- 
ten bleiben  2). 

Unzulänglich  ist  der  Versuch  des  Aristoteles,  auch  hier  durch 
eine  Unterscheidung  zu  vermitteln.  Naturprincip  im  eigentlichen 
Sinne  soll  die  Form  sein,  die  Materie  dagegen,  insoweit  sie  die 
Form  aufnimmt  ^).  Er  erkennt  damit  an,  dass  die  Materie  nicht 
an  sich,  sondern  als  Teil  der  zusammengesetzten  Substanz  Natur- 
princip sei.  Das  aber  steht  nicht  in  Frage,  sondern  was  die  Ma- 
terie an  sich  ist. 

So  zeigt  sich  hier,  dass  die  zwei  Versuche,  das  Problem 
des  Werdens  zu  lösen,  von  denen  Aristoteles  im  ersten  Buche 
der  Physik  spricht  4),  nicht  zu  einem  einstimmigen  Resultate  füh- 
ren. Wenn  nach  dem  einen  die  Materie  ein  an  sich  Seiendes 
und  nur  beziehungsweise  Nichtseiendes,  nach  dem  andern  ein  an 
sich  Nichtseiendes  und  nur  der  Möglichkeit  nach  Seiendes  war, 
so  hat  sicli  nunmehr  ergeben,  dass  beide  Auffassungen  nicht  mit 
einander  vereinbar  sind.  Nach  der  ersten  Auffassung  wäre 
die  Materie  bestimmungsloser,  aber  an  sich  schon  wirklicher 
Stoff,  gleich  dem  Stoffe,  welcher  dem  Künstler  zur  Gestaltung 
vorliegt ;  nach  der  zweiten  wäre  sie  an  sich  überhaupt  noch 
nichts  Reales.  Zugleich  hat  sich  gezeigt,  das  nur  die  letztere 
Auffassung  von  der  Consecfuenz  der  Theorie  zugelassen  wird, 
während  die  erste,  wenn  wir  folgerichtig  denken  wollen,  durch- 
aus zurückgewiesen  werden  muss.  Allein  in  Wirkliclikeit,  fanden 
wir,  wird  Aristoteles  durch  die  Natur  der  Sache  doch  immer 
wieder  auf  diesen  ersteren  Begriff  zurückgedrängt. 

In  besonderem  Maasse  ist  das  nun  der  Fall,  wenn  er  den 
Begritf  der  Materie  zur  Erklärung  des  Einzelnen  in  der  Natur 
verwenden    will.     Hier    ist    er   nicht    imstande,    weder   an    dem 


1)  phys.  11  1,  192  b  20—23.  Vgl.  II  7,  198  a  35  ff.;  de  cael.  I  2,  2ü8  b 
16;  III  5,  304  b  13-14;  de  an.  11  1,  412  b  16—17;  met.  V  4,  1015  a  13-15. 

-)  phys.  11  1,  193  a  36— b  3;  de  part.  an.  I  1,  640  b  28-29.  642  a  17—22. 
Vgl.  auch  phys.  II  2,  194  a  28—30,  wo  die  ifraii  als  Tf'Aof  und  ov  i'vexa  be- 
zeichnet wird,  was  beides  nnt  der  Form  zusammenfällt. 

■')  met.  V  4,  1015  a  13-16. 

*)  S.  S.  212    f. 

Baeuiiiker;    Das  Problem  cl>^r  Materie  etc,  17 


'258  Dritter  Al.sclinitt.     ArisLcteles. 

Sein  der  Materie  als  einer  blossen  Mös^Miclikeit,    noch    an    ihrem 
Verhalten   als  einem  bloss  passiven  feslzuhalton. 

Am  dentlichslen  hegl  das  Erste  zutage.  Obschon  Aristoteles 
den  Bcgrilf  der  Materie  als  eines  bloss  möglichen  Seienden  tlieo- 
retiscli  mit  voller  Klarheit  entwickelt,  so  vernachlässigt  er  ihn 
praktisch  doch  fast  vollständig.  Es  ist  in  der  That  auffällig,  dass 
derjenige  Begriff  der  Materie,  welchem  jede  systematische  Dai- 
stellung  seiner  Philosophie  eine  fundamentale  Bedeutung  zuschrei- 
ben muss,  bei  ihm  selbst  so  überaus  selten  wirklich  Verwen- 
dung findet.  Ohne  weitere  Bemerkung  wird  vielmehr  jener  Be- 
griff in  weitaus  den  meisten  Fällen  durch  die  fassbarero  Vor- 
stellung eines  concreten  Stoffes  ersetzt.  Beispiele  für  diese  Ver- 
dichtung des  Begriffes  liegen  in  Fülle  vor^). 

Mann  könnte  einwenden,  dass  hier  nur  von  der  unmittelba- 
ren Materie   {saxärrj  vXrj)    die  Bede  sei.     Allein  wir   sahen,    dass 


')  Ausser  dem  Vielen,  was  in  der  Art  schon  vorgekommen  ist  (s.  z.  B. 
S.  255  Anm.  G  ii.  7,  S.  25(5  Anm.  5),  sei  auf  folgende  Stellen  aufmerksam  ge- 
macht:  de  gen.  et  ctUT.  I  5,  321  1)  19—21:  sowohl  die  Materie,  wie  die  Form 
werden  Fleisch,  Knochen  u.  dgl.  genannt.  Ehd.  b  28—31:  bei  den  äi-uaon,- 
/ntQij  ist  die  Form  deutlicher  von  der  Materie  verschieden,  als  bei  den 
6/uioio,ut(>'ij.  Ebd.  1  7,  324  b  6  ff:  die  Materie  (vgl.  a  21)  ist  bei  Gegensätzen 
als  gemeinschaftliche  Gattung  dieselbe,  wie  z.  B.  (323  b  .33)  die  Gattun- 
gen aööiua,  ;fy,"ü'f,  YX"^n<^'-  Meteor.  IV  11,  389  a  29  —  31:  das  Trockene  und  Nasse 
ist  als  Tia&tiTixo'v  Materie  für  das  Warme  und  Kalte.  Metaph.  Vit  17,  1041  b 
5—7:  Steine  Materie  für  das  Haus.  Met.  VIII  4,  1014  a  18-19:  das  Süsse  und 
Fette  Materie  für  den  Schleim,  das  Bittere  für  die  Galle.  Ebd.  1044  b  31—32. 
1045  a  2:  das  Wasser,  nicht  iler  Wein,  Materie  des  Essigs,  das  Wasser  Materie 
für  Wein  und  Essig  (nach  der  strengen  Consequenz  dürfte  doch  auch  nicht 
das  Wasser,  sondern  nur  die  bestimmungslose  materia  prima  dafür  in  An- 
spruch genommen  werden).  Ferner  die  Beispiele  für  die  Materie  met.  XII  4, 
1070  b  19-21.  28— 29  (Oberfläche,  Luft,  Körper,  Steine).  Die  Materie'  des 
Menschen  bilden  nach  met.  Xlt  i"),  1071  a  13—14  Feuer  und  Erde,  nach  de 
cael.  I  9,  278  a  33  Fleisch  und  Knochen  (nach  Aristoteles  informiert  die  Seele 
keineswegs  unmittelbar  die  materia  prima)  ;  nach  anderer  Auffassung  die  Ka- 
tamenien  (met.  VIII  4,  1044  a  35;  XII  (>,  1071  b  31;  de  gen.  an.  I  19,  727  b 
31-32;  20,  729  a  28—34;  II  1,  732  a  9;  4,  738  b  20  u.  ().).  —  Hierher  gehört 
es  auc.li,  wenn  nach  Aristoteles  die  Teile  eines  Organismus,  überhaupt  eines 
Zusammengesetzten,  sich  wie  dessen  Materie  verhalten  und  durch  die  Form 
nur  ihre  innere  Einheit  gewinnen  sollen;  vgl.  VI!  16,  1040  b  6—10;  XIV  2, 
lOSS  b  14—16.  27  (^s.  oben  S.  231    Anm.  2). 


Kritik  lies  arist.  BeKV.  <1.  Materie;     das  Schwanken  des  Arisl.  2;")!» 

Aristoteles  ganz  gegen  die  Gonsequenz  seiner   Theorie    auch    als 
erste  Materie  überall  einen  körperlichen   Stoff  aufführt ^). 

Dieser  concrete  Stoff  aber  ist  verschieden  je  nach  den  Din- 
gen,  um  deren  Hervorbmgung  es  sich  handelt  ^).  Nicht  jedes 
kann  in  jedes  umgewandelt  werden,  sondern  nur  das,  was  seiner 
Natur  nach  dazu  geeignet  ist  3).  Die  Materie  ist,  wie  Aristoteles  sich 
ausdrückt,  etwas  Relatives'^).  Dem  Empedocles  gegenüber'')  be- 
tont er,  dass  jedes  nur  aus  seinem  eigentümlichen  Keime  ent- 
stehe, aus  dem  einen  ein  Ölbaum,  aus  dem  andern  ein  Mensch  f'). 
Gegen  die  platonische  Lehre  von  der  Seelenwanderung  macht  er 
geltend,  dass  für  jeden  Körper  eine  eigentümliche  Wesensform 
bestimmt  sei  "'). 

Offenbar  ist  die  Anschauung,  als  liege  dem  Werden  eine  be- 
stimmungslose, indifferente  Möglichkeit  zugrunde,  die  von  der 
einen  Wesensform  zu  einer  andern  ihr  ebenmässig  gleichgiltigen 
übergeführt  wird,  hier  völlig  verlassen.  Der  Beitrag,  welchen  die 
Materialursache  am  Wei'den  leistet,  beruht  nicht  auf  ihrer  be- 
stinnnungslosen  Möglichkeit,  sondern  auf  ihrem  wirklichen  Sein^). 

Man  möchte  vielleicht  sagen,  die  Notwendigkeit  einer  be- 
stimmten Materie  für  ein  bestimmtes  Product  habe  ihren  Grund 
in  einem  Naturgesetz,  nach  welchem  die  einander  aus  der  materia 
prima  verdrängenden  Wesensformen  der  Dinge  nur  in  einer 
festen  Ordnung   einander    ablösen.     Allein  von    diesem    —    sach- 


')  S.  S.  211   f. 

^)  niet.  VIII  4,  1044  a  17 — 18:  ean  m  oixeüt  {v/~i])  exüarov.  V|,'l.  de  an.  II, 
2,  414  a  2.5—27;  de  pari.  an.  II  1,  64G  a  .34—35;  niet.  XIT  5,  1071  b  1  und 
Bcnitz  z.  d    St    (p.  487);  auch  nieteor.  IV  2,  379  b  20. 

••')  Vgl.  de  gen.  an.  II  G,  743  a  ;2l-22. 

■*)  phys.   II   2,    194   b   9:    rmr  tiqÜ?  n  7;   vir,'      aüxp  '/«(<    u<Ut   a'/lr,    vir,.     Ülier 

den  Sinn  die.ser  .Stelle  vgl.  Fr.  Brentano,  Von  der  mannigfachen  Bedeutung  des 
Seienden  nach  Aristoteles,  Freiburg  i.  Br.    18G2.  S.  209. 

'")  de  part.  an.  1  1,  CiO  a  19—23. 

■■)  phys.  II  4,  19G  a  31-.33;  de  part.  an.  I  1,  G41  b  2G— 28;  II  1  GlG 
a  .33—35.    Andere   Beispiele  im  folgenden  Abschnitt,  S.  2G7  f.,  272  f. 

')  de  an.  I  3,  407  b  23-24.  Vgl,  II  2,  414  a  25-27.  Ebenso  das  _  'id,ov 
(nfos  des  Menschen,    met.  XII  .">,    1071  a  14. 

■'*)  Zum  Vorstehenden  vgl.  auch  Gust.  Schneider,  de  causa  finali  Aristotelea. 
Berolin.  18G5.  S.  44  ff.  B.  Kucken,  Meth.  d.  Aristotel.  Forsch.  S.  70  ff. 

17* 


'2tiÖ  britter  Abschnill.     Aiisloleies. 

lieh  ril)ng('ns  iiir/.ulünglichen  —  Ausweg  vermittelst  der  Berufung 
auf  ein  unerklärbares,  grundloses  Naturgesetz,  den  Spätere  ein- 
schlugen, fhidet  sich  bei  Aristoteles  keinerlei  Andeutung, 

Der  Verdichtung  der  Materie  zuni  körperlichen  Stoff  ent- 
si)richt  die  VerfUichtigung  der  Wesensform  zur  blossen  Qualität» 
Es  ist  bedeutsam,  dass  diese  Unklarheit  gerade  da  sich  einstellt, 
wo  der  Begriff  der  ersten  Materie  im  Sinne  einer  gänzlich  be- 
st innuimgslosen  Möghchkeit  einmal  wirkhch  inbetracht  konunt, 
nämlich  bei  der  Frage  nach  der  Constitution  der  Elemente.  Diese 
sollen  aus  der  gemeinschaftlichen  Materie  durch  die  Unterschiede 
des  Warmen  und  Kalten,  Trocknen  und  Nassen  gebildet  wer- 
den ^),  also  durch  blosse  Qualitäten  ^).  Der  ursprüngliche  Begriff 
der  Materie  wird  hierdurch  zerstört.  Denn  sind  die  Differenzen 
der  Elemente  blosse  Qualitätsunterschiede,  so  müsste  nach  ari- 
stotelischen Principien  das,  was  ihnen  zugrunde  liegt,  schon  Sub- 
stanz und  Körper,  der  Wandel  der  Elemente  —wie  Aristoteles 
gelegentlich  zugiebt^)— bloss  qualitative  Veränderung  sein.  So 
liegt  die  stoische  Auffassung  der  Materie  als  des  qualitätslosen 
Körpers,  obwohl  sie  von  Aristoteles  im  voraus  zurückgewiesen 
wurde,  doch  in  der  Consequenz  seiner  Theorie   der   Elemente  ^), 

Spätere  Anhänger  der  aristotelischen  Lehre  haben  dieser 
Consequenz  freilich  zu  entgehen  gesucht.  Jene  Qualitäten  sollen 
nicht  die  Wesensform  selbst  sein,  sondern  die  Art,  i.i  welcher 
die  Wesensform  sich  äussert.  Allein  ein  solches  Auskunftsmittel 
widerstreitet  den  bestimmten  Worten  des  Aristoteles,  in  denen  er 
jene  Qualitäten  als  die  Form  selber  bezeichnet  •'•). 

Es  ist  also  dem  Aristoteles  nicht  möglich  gewesen,    den    Be- 


')  S.  S.  242  f. 

■^)  7Ztt&7„  de  gen.  et  corr.  I  4,  319  b  21. 

•')  Es  steht  in  der  That  mit  jener  Fassung  der  Differenzen  der  Elemente 
als  Qualitätsunterscliiede,  welche  in  der  Fassung  der  speciflschen  Artsmerkmale 
als  Qualitäten  ein  Analogen  findet  (vgl.  Trendelenburg,  Gesch.  der  Kate- 
gorienlehre S.  öG  ff.)  ganz  im  Einklänge,  wenn  Aristoteles  gelegentlich  für 
die  Entstehung  der  Elemente  aus  einander  den  Namen  d'/loimaii,  qualitative 
Veränderung,  gebraucht:  de  gen.  et  corr.  II  4,  331  a  10  (umgekehrt  wird  de 
cael.  IV  3,  310  a  24  die  d'/loimaii  als  i)  y.ui'  fuloQ  xivr,aiQ  bezeichnet). 

')  S.  238  ff. 

^)  met.  XII  4  lUTO  1)  11:  unv  lu'attiiimi'  aiDUÜKoi-  m^  fjfr  f  i  if  u  <;  10  &i(ifiöv. 
de  gen.  et  corr.  I  3,  311S  b  l(j:  tu  lur  Oiouih^  y.aTi,yo(>ia  m  yal  fufos.  Vgl.  ebd. 
I  7,  324  bl7-  19. 


Kritik  des  arist.  Hcltp.  d.  Materie.     Functidiien   der  Mat.  2<)1 

griff  der  Materie  irn  .Sinne  eines  potentiellen  Seins  fest/.niiallon. 
Eine  Analyse  der  Functionen,  welche  von  ihm  der  JMaterie  bei- 
gelegt werden,  wird  zeigen,  dass  ihm  dieses  auch  hinsichtlich 
ihres  Verhaltens  nicht  gelungen  ist,  dass  er  vielmehr  der  Ma- 
terie, wie  ein  eigenes  Sein,  so  auch  eine  eigentümliche  Wirkungs- 
weise zuschreibt. 

Damit  aber  hat  uns  Aristoteles  zu  derjenigen,  von  der  ur- 
sprünglichen durchaus  abweichenden,  Auffassung  geführt,  in  wel- 
cher wir  zu  Anfang  dieses  Abschnittes  den  bleibenden  Siim  seines 
Begriffes  der  Materie  erblickten. 

3.  Functionen  der  3Iaterie. 

Die  Functionen,  welche  Aristoteles  der  Materie  zuschreibt, 
beziehen  sich  teils  auf  ihr  Verhältnis  zu  dem  andern  Bestandteil 
der  Substanz,  der  Form,  sowie  zum  Accidens,  teils  sind  sie  all- 
gemeinerer Natur  und  betreffen  das  ganze  Naturding.  Soweit  die 
dahin  gehörigen  Sätze  des  Aristoteles  ihre  Begründung  in  den 
voraufgehenden  Erörterungen  über  den  Begriff  der  Materie  bereits 
gefunden  haben,  werden  wir  uns  möglichst  kurz  fassen,  um  desto 
mehr  Raum  für  die  Puncte  zu  gewinnen,  welche  unserm  bis- 
herigen   Entwürfe  neue  Züge  hinzufügen. 

a.  Materie  und  Forui. 

1.  Materie  und  Form  verhalten  sich,  wie  das  Aufneh- 
mende (^exTixöi)  und  das  Aufgenommene  i),  oder  mit  einem 
amlern  Bilde :  das  Verhältnis  von  Materie  und  Form  gleicht  dem 
des  Begrenzten  oder  ümfassten  [rtegiexf^ineroi')  und  des  Be- 
grenzenden oder  Umfassenden  (rreQu'xor)  ^). 

2.  Weil  die  Materie  Vorbedingung  der  Form  ist,  so  ver- 
halten sich  beide  wie  ^Möglichkeit  und   Wirklichkeit»). 

3.  Sowenig  die  Materie  ohne    Form    (als  xf^Q^Oröv)   existieren 


')  de  gen.  et  corr.  I  4,  320  a  2-4  ;  10,  328  b  11;  de  an.  II  2,  414  a  9— 
10;  met,  X  4,  105.Ö  a  29—30.  -  De  cael.  III  8,  30G  b  19  wird  der  im  Timaeus 
(.51  A)  gebrauchte  Au.sdnick  rJ  navtffyfc  gebilligt. 

■']  phys.  III  7.  207  a  3.5-b  1;  IV  2,  209  b  1  11;  4,  211  b  10-12;  de  cael. 
IV  4,  312  a  12—13. 

^)  de  an.   II   1,  412  a  9—10:     fVrrt     rf    ■,]    ßiv  vlti   ifvvai.iis,    t6  ä'  eidog  hxeXs- 

Xfia.  phys.   11,193  b6-8;  de  an.  2,  41  416-17:  inet.  VIII  2,  1042  b  9—11  u.  ö. 


2(i2  Dritler  Ahsdiiiilt.     Arisluldcs. 

kann  '),  süwcnij^  kann  in  den  der  Veränderung  unlerworrenen 
Sinnendingen  eine  Form  ohne  Materie  bestehen  ^). 

4)  Materie  und  Form  dürfen  nicht  als  für  sich  bestehende 
Substanzen  betrachtet  werden^  die  nur  üusserlich  zusannnentreten. 
Anderenfalls  könnte  kein  einheitliches  Ding  {töö's  n)  aus  ihnen 
entstehen  ^). 

5.  Weil  die  Eigentümlichkeit  von  Materie  und  Form  darin 
besteht,  dass  beide  gegenseitig  auf  einander  hingeordnet  sind  '"'), 
so  sind  ])eide  nur  Teil  [)rincipien,  welche  durch  ihr  Zusammen- 
treten die  Gesamtsubstanz  bilden'*).  Diese  Gesamtsubstanz 
ist  eine  wahre  Einheit,  weil  die  (unmittelbare)  Materie  der 
Möghchkeit  nach  dasselbe  ist,  was  die  Form  der  WirkHchkeit 
nach  ist"). 

1)  S.  S.  2.37. 

■')  phys.  IV  2,  200  1)  2;J;  de  gen.  et  coir.  I  7,  S'ii  h  18—22. 
Nalürlich  verstösst  es  nicht  gegen  unsern  Satz,  wenn  Ari.stoteles  den 
Formen  ein  vor-  oder  nachbildliclies  Sein  ohne  Materie  im  er- 
kennenden Geiste  zuschreil)t  (vgl.  z.  B.  met.  VII  7.  1032  1)  12;  de 
an.  III  8,  4SI  b  29.  432  a  10);  denn  dort  existiert  die  Form  nicht  als  sinn- 
fälliges Ding.  Ebensowenig  gehört  die  Frage  nach  der  selbständigen  Existenz 
des  vovi  hieher.  Eher  könnte  man  einwenden,  dass  nach  de  gen.  et  corr.  I 
10,  328  b  8—13  bei  der  Mischung  von  Kupfer  und  Zinn  zu  Messing  das  Zinn 
sich  als  eufos  verhalten  und  w?  ncx&os  n  avew  vkijg  —  ;dso  als  für  sich  be- 
stehende Form  -  bei  der  Mischung  fast  gänzlich  verschwinden  soll,  nachdem 
es  dem  Kupfer  nur  eine  andere  Färbung  gegeben.  Allein  hier  ist  das  Zinn 
nur  als  nä&os  ohne  eigene  vlti  bezeichnet;  sein  dexrixöv  ist  nach  Zeile  11 
eben  das  Kupfer.  —  Auf  die  ganz  corrupte  Stelle  de  gen.  et  corr.  I  5,  322  a 
28—31,  an  der  von  einem  e?(Us  apiv  vlrjt;  beim  Wachstum  die  Rede  ist,  kann 
ich  hier  nicht  eingehen. 

3)  met.  VII  8,  1033  b  1<J— 24.    Vgl.  Bonitz  z.  d.  St.,  p.  327. 

*)  met.  VIII  6,  1045  a  33  und  Bonitz  z.  d.  St.,  p.  375. 

'')  met.  VII  11,  1037  a  30:  t'  avvolog  ovaia  (die  von  Bekker  gegen  Alexan- 
der festgehaltene  Lesart  von  A^  avvotios  ist  mit  Bonitz  u.  (Ihrist  zii  verwerfen). 

^)  met.  VIII  6, 1045  b  17  n. :  ean  d',  manfQ  (VQr,Tai,rj  laydrij  rkrjxal'i^  ixoQtfjijTavTo 
xal  ev,  x6  ,uev  (fvvä/utt,  z6  tf'  tvfQyfia  (Text  nach  Bonitz).  Darum  ist  es  dasselbe,  zu 
untersuchen,  was  Ursache  des  Einen  sei,  und  was  Ursache,  dass  das  Eine  ist; 
i'v  yÜQ  Ti  ex-xaro»,  xal  ro  (fwciimit  xal  t6  IvtQytia  ev  jKni  iötiv.  Ursache  der  Ein- 
heit wie  des  Seins  ist  darum  die  bewegende  Ursache,  welche  das  Ding  aus 
der  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  führt.  -  Natürlich  will  Aristoteles  damit 
nicht  sagen,  dass  zwischen  der  letzten  Materie  und  der  Form  kein  sachlicher 
Unterschied  stattfinde,  dass  vielmehr  Materie  und  Form  etwa  nur  zwei 
Auffassungsweisen  von  demselben  Dinge  seien.  Das  würde  seinem  ganzen 
Systeme  wie  bestimmten  Aussprüchen  (z.  B.  met.  VIII  3,  1043  1)  10—13 ;  vgl. 
Bonitz  z.  d.  St.,  p.  368)  widerstreiten.    Nach    ihm    sind  vielmehr    Materie    und 


Functionen  der  Materie,     a)  Materie  und  Form.  263 

(i.  Das  gegenseitige  Werl  verliüll  nis  von  Form  und  Materie 
ist  dieses,  dass  die  Fonn  gegeni^iber  der  Materie  in  allen  Bezie- 
iiungen  das  Vorzüglicliere  ist.  Sie  ist  mehr  Sein^),  inetir  Sub- 
stanz 2),  mehr  Natur  3),  mehr  Ursache-^ )  als  die  Materie,  ist  ihr 
gegenüber  etwas  Besseres  und  Göttliches-'').  Wenn  Aristoteles 
auch  die  Ansicht  der  Platoniker,  dass  die  Materie  das  Böse  (;«<xf>j) 
selber  sei,  verwiift,  da  dann  das  Böse  die  Potenz  des  Guten  sein 
müsse *5),  so  sollen  doch  Form  und  Materie  wie  das  Schöne  und 
das  Ilässliche  gegenüberstehen'^).  Wegen  dieses  ihres  höheren 
Wertes  ist  die  Form  für  die  Materie  etwas  Begehrens  wertes  ^), 
wie  Aristoteles,  den  Begriff  der  Materie  verdichtend  und  die  Na- 
tur vermenschlichend,  sich  ausdrückt.  Die  Materie  begehrt 
nach  der  Form")  als  ihrer  Ergänzung,  wie  das  Weibliche  nach 
dem  Männlichen '0). 

Es  ist  das  ein  Punct  von  fundamentaler  Wichtigkeit  fiir  das 
aristotelische  System.  Da  die  Gottheit  als  lautere  Energie  die 
oberste  der  Formen  ist ' '),  geht  aus  jenem  Begehren  der  Materie 
nach  der  Form  das  Verlangen  hervor,  mit  dem  die  ganze  Welt 
der  Gottheit  als  dem  Geliebten  sich  entgegenbewegt,  und  in  dem 
das  Wirken  der  Gottheit  auf  die  Welt  besteht  i^). 


Form  dasselbe  in  sachlicii  verschiedener  Weise,  die  Form  als  Wirklich- 
keil, und  die  als  SubjecL  der  Form  auch  unter  dieser  noch  bleibende  Materie 
als  Möy;lichkeit. 

')   met.  VII  3,    1029   a  5  —  6:    rd   fuloi;  tTjs  vkr,?  n^ÖTUiav   y.al  fxaXXov  ov. 

')  s.  S.  255  Anm.  1. 

•■')  s.  S.  257  Anm.  1  u.  2. 

*)  de  gen.  et  corr.  II  9,  335  b  34—35. 

"•)  phys.  I  9,  192  a  16—17;  de  gen.  an.  II  1,  732  a  3-4. 

«)  met.  XIV  4,  1091  b  32-1092  a  5. 

')  phys.  I  9,  192  a  23. 

s)  Ebd.  a  17. 

»)  Ebd.  a  18—19.  20—23.  Dieses  , Begehren"  der  Materie  hat  die  Ausleger 
vielfach  beschäftigt.  Giovanni  Francesco  Pico  da  Mirandola,  des  bekannteren 
Giovanni  Pico  Nette,  hat  eine  eigene  Schrift,  De  appetitu  primae  materiae 
libellus,  verfasst,  in  welcher  er  die  Ansichten  des  Themistius,  Simplicius, 
Avicenna,  Averroes,  Albertus  und  Thomas  über  diesen  Punct  bespricht  (in: 
loannis  Pici  opera.  Basil.  KiOl,  Bd.  II.  S.   lOG— 114). 

^0)  phys.  I  9,  182  a  2^—^25. 

"}  met.  XII  8,  1074  a   35 — 36:  to  de  xi  »jv  tivai  ovx  eyii  vXr,v   t6   ngwrov, 

1-)  met.  XU  7,  1072  a  26— b  14.  Vgl.  Zeller  II  ^  b,  373  ff.  Ein  Eingehen 
auf  die  misslungenen  Versuche,  dem  aristotelischen  Gotte  noch  eine  andere 
Art  des  Wirkens  zu  vindicieren,  ist  nicht  dieses  Ortes. 


264  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

I>.  Materie  und  Acci<lens. 

1 .  Wie  nicht  ohne  Fürni,  so  kann  die  Materie  nicht  ohne 
Accidenlicn  sein,  inid  zwar: 

a)  nicht  ohne  ({nalitative  ßestinini  ungen  (rcdl^tj)^), 

b)  nicht  ohne  eine  bestimmte  Quantität  (fxtyeO^og)^). 

^.  Die  Quantität  ist  nicht  eine  feste  Eigenschaft  der  Ma- 
terie in  der  Art,  dass  derselben  Materie  stets  die  gleiche  Quan- 
tität, zukäme.  Dieselbe  wird  vielmehr  durch  die  Form  bedingt 
oder  doch  mitbedingt.  Wenn  aus  einem^  kleinem  Quantum  Wasser 
ein  grosses  Quantum  Luft  entsteht,  so  ist  das  Grössenwachstum 
nicht  durch  Ilinzunahme  eines  weiteren  Quantums  Materie  erfolgt, 
sondern  es  ist  die  vorher  actuell  kleine  Materie  durch  die  Annahme 
der  neuen  Wesensform  aus  einer  potentiell  grossen  zu  einer 
actuell  grossen  geworden  =*). 

3.  Das  Verhältnis  von  Materie  und  Quantität  ist  verschieden 
beim  substantialen  Werden  (yersaig  und  (fOoQd),  beim  Wachsen 
und  Abnehmen  (av^riOig  und  (fl>iGig),  bei  der  Verdichtung  und 
Verdünnung  {tivkvwOiq  und  fiarojaig). 

a)  Bei  der  substantialen  Veränderung  beruht  die  Entste- 
hung des  bestinnnten  Quantums  auf  der  Actuierung  der  völlig 
quantitätslosen  Materie  {df.i€Ys0^rjg  vXrj)  durch  eine  bestimmte 
Quantität.     Wenn  z.  B.  aus  Wasser  Luft    entsteht,    so    geht    mit 


^)   de  gen.   et   COrr.   I  5,  320   b    16 — 17:     rj  vXt],  ijv  oviUnoi'  ävev   nä&ovg  oiöv 

t£  (Lvcu  ovif  avfv  iJiOQ^iTj?.    Vgl.  auch  Anm.  2. 

^)  de  gen.  et  COrr.  1  5,  320  b  22 — 25 :  hiei  d''  iarl  xal  ovaia^  vXtj  amfiniix^g, 
ao'ijuarog  rf'  ijdtj  roiovdi  (ffw/^ia  yaQ  xoivuv  ov(fev),  ij  avry  xal  fieye&ovg  xai  Ttä&ovs 
tati,   TiS  jUfV  Xöym  ^loQidTi},   zÖtiui   (f'  ov  imQiaxri,   et  fjLrj   xal  za   nä&tj  j^w^iard.      Jeder 

Körper  hat  drei  Dimensionen  :  de  an.  II  11,  423  a  21 — 22. 

^)  phys.  IV  9,  217  a  26—31.  Man  wird  hier  einwenden,  dass  aus  wenigem 
Wasser  auch  eine  kleinere  Quantität  Luft  hervorgeht,  als  aus  vielem  Wasser, 
was  doch  nicht  ausschliesslich  auf  Rechnung  der  Form  gesetzt  werden  kann. 
Indes  würde  Aristoteles  wahrscheinlich  entscheiden,  das  geringere  Quantum 
Wasser  sei  in  Potenz  zu  einem  geringeren  Quantum  Luft,  das  grössere  zu 
einem  grösseren,  und  damit  dann  die  Sache  für  abgethan  erachten.  In  der 
That  beruliigt  er  sich  in  einem  analogen  Falle,  bei  der  Frage,  warum  aus 
einem  l^estimmten  Quantum  Nahrungsstoff  beim  Wachstum  ein  bestimmtes 
Quantum  Fleisch  oder  dgl.  werde  (de  gen.  et  corr.  I  5,  322  a  19—22),  bei  die- 
ser bequemen  Formel  —  wenn  man  nicht  etwa  die  Constatierung  der  That- 
sache,  dass  keine  allgemeine  Quantität  existiere,  sondern  nur  bestimmte 
Quanta  (a.  a.  0.  a  16—18),  für  eine  Erklärung  auch  dafür  halten  will,  dass 
der  neu  entstehende  Stoff  gerade   in   dieser    bestimmten  Quantität  auftrete. 


Functionen  der  Materie,     h)  Materie  und  Accidens.  265 

der  Form  des  Wassers  auch  die  QuauUtäl  desselben  verloren, 
und  die  Quantität  der  Luft  ist  darum  eine  völlig  neue,  erst  mit 
der  Form  der  Luft  gegebene  ^). 

b)  Beim  Wachsen  findet  eine  Zugabe  zu  der  bereits  beste- 
henden Quantität  statt.  Wenn  z.  B.  das  Fleisch  des  Körpers 
wächst,  so  geht  die  schon  bestehende  Quantität  des  Fleisches 
ebensowenig  verloren,  wie  die  schon  bestehende  Form  des  Flei- 
sches. Aber  die  aufgenommene  Nahrung  selbst  verliert  die  Quan- 
tität, welche  ihr  in  ihrer  früheren  Form  eigen  war,  und  wird 
durch  die  „Vermehrungskraft"  des  Körpers  in  ein  bestimmtes 
Quantum   Fleisch   verwandelt  2). 

c)  Bei  der  Verdünnung  endlich  wird,  ähnlich  wie  bei  der 
suhstantialen  Veränderung,  ohne  Hinzunahme  neuen  Stoffes  die 
vorher  potentiell  grosse  Materie  zu  einer  actuell  grossen.  Ent- 
sprechendes gilt  von  der  Verdichtung  "'). 

4.  Wenngleich  die  Materie  an  sich  grösselos  ist,  so  wendet 
Aristoteles  die  Begriffe  des  Ganzen  und  der  Teile  doch  auf 
dieselbe  an.  Es  geschieht  das  namentlich  in  seiner  Lehre  von 
der  Materie  als  dem  Individuationsprincip*). 

c.  Allgeuieine  Fiiuetioueii  der  Materie. 

1.  Schon  aus  der  Ableitung  des  Begriffs  der  Materie  ergab 
sich''),  dass  dieselbe,  weil  sie  zu  entgegengesetzten  Formen  in 
Möglichkeit  sich  befindet,  Ursache  des  Werdens  und  Verge- 
hens'^),  der  Vergänglichkeit '^)  ist. 

:2.  Die  Materie  ist  ferner  passives^)  Princip  und  als  solches 


1)  de  gen.  et  corr.  I  5,  320  b32— 33. 

')  Vgl.  S.  228  Anm.  3.  Dort  wurde  auch  bereits  bemerkt,  das.s  die  Grössen- 
zunalime  auf  jedes  Teilchen  des  Körpers  Bezug  hat,  aber  so,  dass  diese 
gleichniässige  Verteilung  derselljen  die  Form,  nicht  die  Materie  des  wachsen- 
den Körpers  betritft. 

ä)  phys.  IV  9,  217  a  31     b  12. 

*)  S.  unten  S.  283  f.  —    ■'^j  S.  S.  225  ff.  235. 

«)  met.  Viri5,  1039  b  27—31;  VIII  5,  1044  b  27—29;  [XI  12,  1068  b  10— 
11];  phys.  II  7,  198  a  20  u.  ö. 

')  met.  XI  2,  1060  b  25:  r«  '/  ev  vltj  (fdaQrd   Trdrra.  VII  15,   1039  b  30. 

'^)  de  gen.  et  corr.  I  7,  324  b  IS :  ?;  (f  vXr,  ji  vXrj  7iaa-r,riy.6v  Ebd.  1 1  9, 
o35  b  29 — 30:  r^?  ixev  yäp  r'/.rjc:  t6  nda'^eiv  iari  xal  to  y.ivcTad-ai.  Wie  der  Un- 
terschied des  Activen  und  Passiven  auf  die  vier  Elemente  verteilt  wird,  s.S.  242 
Anm.  6,    25S  Anm.  1. 


2(;(;  Dritter  Aliscliiiill.     Arisfotoles. 

7>ugleich  Ursache  der  rassiviläl  oder  der  A  ITi  ciorbarkeil  der 
Krirper*).  Demi  iiic.lil  die  <iei,aMisälze  als  solche  werden  nach 
arislulehscher  Lehre,  wie  wir  sahen,  vun  einander  atticicrt;  viel- 
mehr kann  der  eine  Gegensal/.  seine  Wirknng  nnr  in  dem  Sub- 
jccte  des  andern  äussern,  welches  als  unbeslitnmte  Potenz  auch 
für  eine  andere  Bestimmung,  als  die  jedesmal  vorhandene,  die 
Aufnahmefähigkeit  besitzt  '^). 

Wetm  so  die  Materie  überhaupt  das  l'riticip  der  Aflicierbar- 
keit  nn  allgemeinen  ist,  so  liegt  es  in  der  besonderen  Natur  des 
jedesmaligen  Stotles  ])egründet,  dass  der  eine  Körper  in  dieser, 
der  andere  in  jener  Weise  leidenstahig  ist.  Das  Ölige  ist  brenn- 
bar, das  Weiche  zusammendrückbar  u.  s.  w.  ^).  Es  begegnet  uns 
also  auch  hier  die  schon  so  oft  hervorgehobene  Verdichtung  des 
Begriffes  des  Materie, 

Ein  gegenseitiges  Aiticieren,  bei  dem  jeder  Factor  dem 
andern  gegenüber  sowohl  thätig  wie  leidend  sich  verhält,  ist  nur 
bei  solchen  Dingen  mr)glich,  welche  eine  gemeinsame  Materie 
besitzen-^).  Was  dagegen  mit  dem  Leidenden  nicht  dieselbe  Ma- 
terie hat,  ist  activ,  ohne  selbst  zu  leiden,  wie  z.B.  die  Heilkunst; 
denn  diese  bewirkt  die  Gesundheit,  ohne  von  dem  Gesundeten 
selbst  eine  Bückwirkung  zu  erfahren''). 

Ist  aber  die  Materie  bloss  aufnehmendes,  leidendes  Princip, 
so  kann  sie  die  Form  sicli  nicht  selber  geben.  Sie  kann  sich 
nicht  selbst  aus  der  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  führen,  sondern 
bedarf  hierzu  der  bewirkenden  Ursache.  Nicht  das  Bolz 
macht  ein  Bett  aus  sich,  oder  das  Erz  eine  Bildsäule,  sondern 
der  Künstler"). 

3.  So  wenig  aber  Aristoteles  das  Sein  der  Materie  im 
Sinne  der  blossen  MögUchkeit  festhalten  konnte,    so   wenig  bleibt 


')  de  gen.  et  corr.  1  7,  .324  b  5— (k  öaa  ff"  iv  v?.tj,  Tiafh/nxci. 
.     -)  S.  S.  221.  —    '}  met.  IX  1,  104(i  a  22— 2(;. 

')  de  gen.  et  corr.  I  7,  324  a  .34 — b  10.  Da  die  Miischung  versrhiedeiier 
Stoffe  auf  einer  gegenseitigen  Affection  derselJjcn  ;iuf  einander  beruht,  kann 
sie  auch  nur  bei  solchen  Dingen  slatltinden,  deren  Materie  die  gleiche  ist: 
ebd.  I  10,  328  a  19—23. 

*)  de  gen.  et  corr.  I  7,  324  a  35— b  1.  Darum  isl  iiucli  die  Heilivunst  dem 
Körper  nicht  i)eigemischt :  ebd.  1  10,  328  a   23. 

6)  met.  I  3,  1)84  a  21—27;  de  gen.  et  corr.  II  •.),  330  1)  24-35.  Vgl.  de  gen. 
an.  II  (J,  743  a  2(;:  met.  H  G,  1071  1)  20-31. 


(•)  AllLifincinc  FiiiK'liuiien  der  Malcrio    Ihre  ^^ls^-ivit;it.  207 

ci-,  wie  sclioii  oljcn  lic'i'vorgehübeii  wurdet),  bei  diesem  rein  pas- 
siven Veiliallen  der  Materie  stehen.  AVie  die  blosse  Möglich- 
keit des  Seins  sich  verdichtete  zu  einem  wirklichen  Sein,  welches 
die  Vorbedingung  für  ein  neues  Sein  enthält,  so  das  rein  passive 
Vermögen  des  Leidens  und  Aufnehmens  zu  dem  activen  Ver- 
mögen eigener  Kraftäusserung. 

Schon  oben  wurde  hervorgehoben,  dass  nach  Aristoteles 
einer  bestimmten  r4attung  von  Dingen  eine  bestimmte  Materie 
entspricht.  Der  Grund  war,  dass  nicht  jedes  Beliebige  zur  Um- 
wandlung in  ein  Bestinnntes  geeignet  ist  '^)  Eine  neue  Stütze 
erwächst  jenem  Satze,  wenn  das  Ding  in  Beziehung  zu  seinem 
Zwecke  betrachtet  wird,  welcher  seine  Wesensform  bestinmit, 
ja  welcher  von  Aristoteles  gelegentlich  mit  der  Wesensform  sel- 
ber identificiert  wird-').  Damit  nämlich  das  Ding  seinen  Zweck 
erreichen  und  die  ihm  eigentümliche  Thätigkeit  vollziehen  kann, 
muss  es  aus  einem  Materiale  bestehen,  welches  zur  Erreichung 
dieses  Zweckes  dienlich  ist.  So  bedarf  die  Säge,  welche  das 
Holz  durchschneiden  soll,  scharfer  und  fester  Zähne;  diese  können 
nur  aus  Eisen  oder  einem  ähnlichen  Materiale  und  nicht  etwa  aus 
Wolle  oder  Holz '^)  hergestellt  werden  •'*).  Das  Beil,  welches  wir  zum 
Zerspalten  benutzen,  wird  zu  diesem  Zwecke  aus  hartem  Stoff, 
wie  Eisen  oder  dgl.  '^)  verfertigt.  Ebenso  sind  für  ein  Haus  und 
die  übrigen  Werke  der  Technik,  damit  sie  ihre  Aufgabe  erfüllen, 
bestimmte  Materialien  erforderlich  '').  Was  aber  von  diesen  Kunst- 
gegenständen gilt,  findet  auch  auf  die  Naturdinge  Anwendung. 
Auch  der  animalische  Körper  z.  B.  muss,  um  seine  Functionen 
vollziehen    zu  können,    aus   bestimmten  Stoffen    zusammengesetzt 


1)  S.  S.  261. 

■')  S.  S.  259  f. 

•')  phys.  II  7,  U>8  a  25—26;  9,  2(M)  a  11-15;  de  an.  II  4,  415  b  10—11. 
Darum  ist  der  Zweck  (,das  ov  i'vfxa)  um  .so  weniger  offenbar,  je  mehi' der  Cha- 
rakter des  Materiellen  überwiegt.  Die  letzte  Materie  schliesst  keinerlei  Zweck 
ein;  dagegen  tritt, derselbe  um  so  mehr  zu  Tage,  je  höher  die  Form  des  be- 
tretlenden  Körpers  steht:  meleor.  IV  12,  389  b  28-390  a  9.  wozu  vgl.  J.  B. 
Meyer,  Aristoteles  Thierk'unde,  S.  474  f. 

*)  met.  VIII  4,  1044  a  27— 2fi. 

«^  phys.  II  9,  2(K)  a  10—13;  28-29:  b  5-8. 

«)  de  part.  an.  I  1,  642  a  9—11. 

')  de  part.  an.  I  1,  639  b  24-30. 


268  Dritler  Ali.sclinitl.     Aristoteles. 

sein  ').  Überhaupt  Ix'durl'  alles,  was  einem  Zwecke  dienen  soll, 
einer  bestimmten  Materie,  die  durch  die  ihr  eigentümliche  Wir- 
kungsweise die  Erreichung  jenes  Zweckes  ermöglicht  2), 

Aus  dem  Gesagten  ergeben  sich  zwei  Folgerungen.  Einmal, 
dass  die  Materie  etwas  zwar  nicht  an  sich,  wohl  aber  zur  Errei- 
chung eines  Zweckes  Notwendiges,  eine  conditio  sine  qua  non  ^), 
ist.  Aristoteles  bezeichnet  sie  darum  als  das  bedingungsweise 
Notwendige  (V?  imoi/eOtMc  ärayxaTov)  ■*),  im  Gegensatz  zu  dem 
schlechthin  Notwendigen,  d.  h.  dem,  was  immer  ist  und  immer 
gilt.  Er  kommt  so  auf  die  Ausdruc'kswelse  des  platonischen 
Timaeus  zurück,  in  welchem  die  Materie  gleichfalls  als  die  „Not- 
wendigkeit", als  das  „Notwendige"  eingeführl  wurde  ^).  Mit  Plato  ^') 
stimmt  Aristoteles  auch  darin  überein,  dass  er  in  diesem  bedin- 
gungsweise Notwendigen  die  Mitursache  {avvaiziov)  erblickt, 
welche  dem  Zwecke  als  der  eigentlichen  Ursache  zur  Seite  steht'). 

Wenn  aber,  so  ergiebt  sich  zweitens,  die  Materie  durch  ihre 
eigentümliche  Bestimmtheit  die  Erreichung  des  Zweckes  ermög- 
licht, so  ist  dieses  „Ermöglichen"  bei  Aristoteles  nicht  mehr  die 
bloss  passive  Potenz  zum  Aufnehmen  einer  Bestimmung  ^).  Es  ist 
im  Gegenteil  eine  der  Materie  innewohnende  Kraft,  ein  actives 
Vermögen  gemeint.  Hatte  Aristoteles  ursprünglich  active  und 
passive   Potenz  in    der  Art    geschieden,  dass  die  erstere   der  be- 


^)  de  part.  an.  I  1,  642  a  11—13.  Für  manche  Organe  sind  harte,  für  an- 
dere weiche  Stoffe  notwendig  (de  part.  an.  II  1,  646  b  16—19;  de  gen.  an.  116, 
743  a  36  — b  .'iy ;  die  Zähne  z.  B.  müssen,  um  ihren  Zweck  zu  erfüllen,  aus 
festen  und  erdigen  Stoffen  bestehen  (de  part.  an.  II  0,  655  b  8—12),  u.  s.  w. 
Vgl.  auch  unten  S.  272  f. 

2j  phys.  II  9,  200  a  30    32;  de  part.  an.  I  1,  6.39  b  26  ff. ;   IV  iJ,  677  a  17-19. 

'^)  de  part  an  II,  642  a  8:  o^y  oiöv  r'  uviv  rartin  sivai.  inet.  V  0,1015 
a  20:  ov  civev  ovx  ivfUtyiTai.  Etwas  abweichend  inet.  XII  7,  1072  b  12:  ro  ov 
ovx  avfv  zu  IV,  wozu  vgl.  de  gen.  an.  I  4,  717  a  15:  7iuv  7}  <fvais  'ij  ö'in  tu 
dvayxaiov  noifT  ij  thn    tu   ßikTinv. 

*)  phys.  II  9,  200  a  13-15.  Vgl.  de  part.  an.  I  1,  639  b  21-26.  Über  den 
Begriff  der  Notwendigkeit :  Ferd.  Kuettner,  Quaestio,  necessitatis  quam  detini- 
tionem  quem  fontem  ultimum  Aristoteles  statuerit.Berolin.  lS.ö3.Eug.  Pappenheim, 
Quaestionis  de  necessitatis  ajiud  Aristotelem  notione  partes  quaedam.  Berolin. 
1856.  Zeller  ir'  b,  330  ff.  428  ff.  Waitz  zu  Org.  83  b  38,  II  p.  3.58  ff  Bonitz 
zur  Metaph.  p.  231-233.    S.  auch  oben  S.  122,  2. 

•'^)  S.  S.  117-124.    —     «)  S.  S.  119   f. 

■)  inet.  V  5,  1015  a  20  b  3. 

**)  Wie  das  bei  den  Ausführungen  S.  224  die  ständige  Vorau.ssetzung  bildete. 


c)  Alk'.  Fuin-tioncn  ricr  Mut.     Die  Mat.  als  Notwendigkeit.  2(')it 

wegenden,  die  letztere  der  Materialursache  beigelegt  werden  sollte  ^), 
so  zeigt  sich  nunmehr,  wie  diese  Scheidung  nicht  durchzuführen 
ist.  Vielmehr  wird  auch  derjenigen  Bedingung,  Avelche  als  Mate- 
rialursache auftritt,  ein  activer  Anteil  an  dem  Product  zugeschrie- 
ben, welches  durch  das  gemeinschaftliche  Zusammenwirken  der 
verschiedenen  Bedingungen  entsteht  -). 

Diese  Thätigkeit  der  Materie  nun  unterscheidet  sich  von  der 
Tliätigkeit,  welche  von  der  Form  ausgeht,  dadurch,  dass  sie  nicht 
wie  diese  auf  einen  Zweck  gerichtet  ist.  Sie  erfolgt  nicht,  da- 
mit etwas  zustande  komme,  sondern  weil  es  so  geschelien  muss. 
Sie  geht  nicht  aus  dem  Zweck,  sondern  aus  Notwendigkeit 
hervor  ^).  Es  ist  der  Gegensalz,  welchen  wir  in  moderner  Ter- 
minologie als  den  der  teleologischen  und  der  mechanischen  Wirk- 
samkeit bezeichnen  könnten.  Wie  also  die  Materie  selbst  etwas 
bedingungsweise  Notwendiges  ist.  so  ist  in  anderm  Sinne  auch 
ihre  Wirksamkeit  eine  notwendige.  Da  Aristoteles  nun  sowohl 
die  Form,  wie  die  Materie  —  freilich  nicht  die  wahre  materia 
prima  —  als  ,, Natur"  (f/rö^c)  bezeichnet  •*),  so  kann  er  mithin  von 
einer  doppelten  Naturthätigkeit  reden,  von  einer  auf  den  Zweck 
gerichteten  und  von  einer  notwendigen  ^).  Insofern  aber  im  ei- 
gentlichen und  besondern  Sinne  nur  die  Form  als  „Natur"  be- 
zeichnet wird  ^),  steht  die  notwendige  Thätigkeit  als  selbständi- 
ges Einteilungsglied  der  Natur  gegenüber  ''). 

Wenn  wir  jene  Thätigkeit,  welche  aus  der  Materie  ohne 
Rücksicht  auf  irgend  einen  Zweck  mit  Notwendigkeit  entspringt, 
genauer  bestimmen  wollen,  so  dürfte  sie  wohl  unter  diejenige 
Art  des  Notwendigen  zu  rechnen  sein,  welche  Aristoteles  als  die 
Notwendigkeit  des  innern  Antriebes  {oq/^h^)  bezeichnet  und  der 


1)  S.  S.  224. 

-j  Vgl.  Bonilz  zur  Metayjhysik,  p.  379.  Zeller  IP  b,  320,  1.  Das  Gleiche 
ist  auch  der  Fall,  wenn  Aristoteles  betont,  dass  der  Keim  des  pflanzlichen 
oder  tierischen  Organismus  für  einen  jeden  ein  besonderer  ist ;  s.  S.  259  Anm.  (j. 

^)  de  gen.  an.  V  1,  778  a  30  -  b  1.  Vgl.  ebd.  IV  8.  776  a  25— 2(i;  V  8 
789  b  2—5.     19-20. 

••)  S.  S.  256. 

»)  anal.  post.  II  11,  94  b  36—37.     Vgl.  de  part.  an.  III  2,  663  b  22-24 

6)  S,  S.  257  Anm.  2. 

")  phys.  II  8,  198  h  10  ff.  199  b  32—33;  9,  200  a  8-9;  etli.  Nie  III 
5,  1112  a  -24—25. 


270  Dritter  Al)srliiiitt.     Arislnteles. 

Notwendigkeit  durch  äussern  Zwang  (ßia)  gegenüberstellt  ^).  Zwar 
setzt  er  jenes  aus  dem  Innern  Triebe  hervorgehende  Wirken  als 
das  naturgemässe  dem  durch  Zwang  abgedrängten,  naturwidrigen, 
gegenüber  ^).  Aber  darum  braucht  die  Wirkungsweise  der  Ma- 
terie vom  Umfange  jenes  Begriffes  nicht  ausgenommen  zu  sein. 
Denn  als  „Natur"  wird  von  Aristoteles,  wie  noch  soeben  bemerkt 
wurde,  im  weitern  Sinne  auch  die  Materie  betrachtet. 

In  den  zuletzt  ausgeführten  Bestimmungen  geht  Aristoteles  ent- 
schieden über  Plato  hinaus.  Für  Plato  -ist  die  Materie  nur  insoweit 
notwendig,  als  ohne  sie  die  Vernunft  kein  Object  ihrer  ordnenden 
Thätigkeit  fände.  Sie  ist  nur  bedingungsweise  notwendig. 
Aristoteles,  welcher  den  Begriff  der  Notwendigkeit  in  dieser  Form 
von  Plato  übernimmt  ^),  fügt  zugleich  eine  zweite  Art  der  Not- 
wendigkeit hinzu.  Die  der  Materie  eigentümliche  Art  des  Wir- 
kens soll  nach  ihm  eine  mit  Notwendigkeit  sich  vollziehende  sein. 
War  für  Plato  die  Materie  das  Regellose  und  Umherschweifende, 
welchem  erst  durch  das  Eingreifen  der  Vernunft  ein  notwendiges 
Gesetz  eingepflanzt  ist  *),  so  findet  Aristoteles  in  den  materiellen 
Dingen  selbst  eine  notwendige  Weise  ihrer  Bethätigung. 

Freilich  verengt  sich  bei  genauerem  Zusehen  der  Abstand 
zwischen  Plalo  und  Aristoteles  beträchtlich.  Darin  stimmen  beide 
vollkommen  überein,  dass  nur  die  Zweckursache  die  wahre  Ur- 
sache sei  ■').  Und  wenn  Aristoteles  auch  der  Materialursache 
eine  Kraft,  und  zwar  eine  mit  Notwendigkeit  sich  bethätigende 
Kraft,  beilegt,  so  hat  er  nicht  die  unkörperliche  letzte  Grundlage 
alles  körperlichen  Seins  im  Sinn,  sondern  einen  bestimmten  kör- 
l)eilichen  Stoff.  Jene  letzte  Grundlage  ist  dagegen  für  ihn  wie 
für  Plalo  etwas  alles  Aufnehmendes,  in  sich  Unbestinmites  und 
Kraftloses.  Und  wenn  er  an  dieser  letzten  Grundlage  alles  sinn- 
fälligen Seins,    die    sich  jeder  Vorstellung  und  jedem  bestimmten 


')  anal.  post.  II  11,  U4  h  37  f.  ihet.  I  10,  13(;s  1,  35-37.  Vgl.  de  pari, 
an.  I  1,  (J42  a  32-3,5;  phys.  II  !),  W,)  h  .34—200  a  1  Die  Notwendigkeit  im 
Sinne  des  gegen  den  Innern  Antrieb  gerichteten  Zwanges  auch  met.  V  5, 
1015  a  2(5—27.  %.     h  2;  VI  2,  102G  b  28;  XII  7.  1072  b  12. 

-)  anal.  post.  II  11,  5)4  b  37:     rbet.  I  10.  13r„S  b  35.  .37. 

■')  S.  S.  122  Anm.  2. 

*)  S.  S.  121. 

')  S    S.  120. 


(•)  Allypiii.  Functionen  der  Mut.     Die  Mal.   als  Nolwendiykoit.  27l 

Denken  völlig  entzieht,  nicht  festzuhalten  vermag,  so  findet  sieh 
Entsprechendes  auch  bei  Plato.  Allerdings  ist  bei  beiden  das- 
jenige, was  sich  dem  von  der  Gonsequenz  geforderten  Begriffe 
unterschiebt,  in  charakteristischer  Weise  verschieden.  Phito,  der 
Philosoph  und  Dichter,  personificiert  das  Notwendige,  so  dass  es 
aus  dem  Gesichtspuncte  der  Phantasie  als  nötigende  Macht  er- 
scheint. Aristoteles,  der  Naturforscher  und  Philosoph,  setzt  an 
die  Stelle  jenes  unfruchtbaren  Phantasiegebildes  dasjenige,  was  bei 
jeder  naturwissenschaftlichen  Beobachtung  sich  aufdrängt,  nämlich 
den  Begriff  einer  realen  Bedingung,  w'elche  mit  ihrer  l)estimm- 
len  Natur  und  ihren  bestimmten  Kriiften  in  das  Product    eingeht 

—  eine  Vorstelkmg,  die  bei  Plato  zwar  gelegentlich  gestreift  '), 
aber  nirgendwo  consequent  verfolgt  wird.  Jene  mythische  Vor- 
stellung Plato's  lässt  sich  leicht  auf  ihren  wahren  Sinn  zurück- 
führen, nach  welchem  der  unbestimmten  Materie  keinerlei  selb- 
ständige Kraft  zugeschrieben  werden  darf.  Die  Wendung  dage- 
gen, welche  Aristoteles  dem  Begrifl'  der  Materie  giebt,  erscheint 
als  eine  sachgemässe  Concession,  welche  die  wissenschaftlichen 
Bedürfnisse  der  Naturerklärung  unvermerkt  dem  unzureichenden 
philosophischen  Standpuncte  abgerungen  haben,  und  welche  dar- 
um nicht  einfach  als  ausserwcsentlich  bei  Seite  gelassen  werden 
darf.  Aber  auch  so  entbehren  die  aristotelische  und  die  plato- 
nische Anschauung  nicht  des  Innern  Zusammenhanges.  „Aus 
Notwendigkeit  geworden"  ist  für  Plato  alles  dasjenige,  was  zwar 
nicht  ohne  den  Einfluss  der  weltordnenden  Vernunft,  d.  h.  der 
Idee,  entstanden,  was  aber  doch  von  der  Durchseelung  der  Natur 
durch  die  Weltseele  unabhängig  ist  '-).  Ebenso  geht  jene  not- 
wendige Wirksamkeit  der  Materie  bei  Aristoteles  nicht  von  der 
absolut  formlosen  j\iaterie  aus,  sondern  von  der  durch  eine  Form 

—  welche  der  platonischen  Idee  entspricht  —  bereits  bestimmten, 
und  hat,  wie  bei  Plato,  ihr  Gebiet  auf  dem  Felde  des  rein  kör- 
perlichen, der  Beseelung  Voraufgehenden. 

Betrachten  wir  die  der  Materie  eigene  notwendige  Wirkung 
in  Beziehung  zu  der  zweckstrebenden  Thäligkeit,  welche  von  der 
Form  ausgeht,  so  kann  jene  in  dreifacher  Weise  sich  äussern: 
mitwirkend,  selb  st  wirkend  und  gegen  wirkend. 


')  z.  B.  Phaed.  97  G  fl'.;     s.  S.   120. 
■')  S.  S.  124. 


272  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

a)  Im  ersteren  Falle,  der  bi.s  jetzt  allein  Berücksiclitigung 
fand,  tritt  die  der  Materie  eigene  Araft  unter  Leitung  der  Form 
in  Thätigkeit.  Sie  wird  von  der  zwecksetzenden  Form  benutzt 
und  dadurch  dem  Zwecke  dienstbar  gemacht  ^).  Die  Materie 
erscheint  hier  neben  der  Form  als  Mitursache. 

Belege  dafür  geben  die  oben  2)  schon  angezogenen  Beispiele, 
bei  denen  ein  kfinstliches  histrument  oder  ein  natürliches  Organ 
zur  Erreichung  eines  bestimmten  Zweckes  aus  einer  bestimmten, 
für  gewisse  Kraftwirkungen  tauglichen  Materie  hergestellt  sein 
muss.  Reich  an  Belegen  aus  dem  Gebiete  der  Natur  sind  beson- 
ders die  Schriften  über  die  Teile  und  über  die  Entstehung  der 
Tiere.  An  vielen  Beispielen  wird  hier  gezeigt,  wie  eine  bestimmte 
Einrichtung  Zweck  und  Notwendigkeit  in  sich  vereine  ^).  Einer- 
seits nämlich  soll  sie  einem  bestimmten  Zwecke  dienen,  welcher 
im  Organisationsplane  des  animalischen  Wesens  begründet  ist. 
Andererseits  aber  wird  sie  auf  die  Notwendigkeit  zurückgeführt, 
welche  aus  der  besonderen  Beschaffenheit  des  Stoffes  folgt,  den 
die  Natur  wie  ein  weiser  Künstler  für  diesen  Zweck  ausgewählt 
hat  ^).  Wenn  z.  B.  bei  der  Bildung  des  animalischen  Keimes 
unter  dem  Einflüsse  des  Spermas  in  den  Katamenien  die  festen 
Bestandteile  zu  umschliessenden  Membranen  zusammentreten,  welche 
die  gleichzeitig  gesonderten  flüssigen  Bestandteile  in  sich  befassen, 
so  ist  der  Zweck,  die  passenden  Existenzbedingungen  für  das 
sich  entwickelnde  Lebewesen  zu  schaffen;  die  notwendige  Ur- 
sache aber  liegt  darin,  dass  die  Zusammensetzung  der  Katame- 
nien die  gleiche  ist,  wie  die  der  Milch,  welche  durch  Lab  gleich- 
falls zum  Gerinnen  gebracht  wird  '•>).  Das  Ausfallen  des  Geweihs 
beim  Hirsche,  dessen  Zweck  die  Erleichterung  des  Tieres  ist,  hat 
seine  notwendige  Ursache  in  der  Schwere  jenes  iiu  Innern  ge- 
diegenen Ansatzes  •=).  Ebenso  sind  die  Nieren  fettig  sowohl  zu 
einem  bestimmten  Zwecke,  wie  wegen  einer  in  den  Stoffen  des 
Körpers    begründeten   Notwendigkeit  "').    Dieselbe   Benutzung  des 


')  de  part.  an.  II  2,  GG3  b  22—24. 
*)  S.  S.  2G7  f. 

•')  Vgl.  anal.  post.  II,  11,  M  h  27. 
*)  de  part.  an.  IV  10.  687  a  UV- 12. 
^}  de  gen.  an.  II  4,  739  b  20—30. 
ß)  de  part.  an.  III  %  663  b  12-14. 
')  de  part.  an.  III  9,  672  a  13     16. 


cj  Allgem.  Functionen  der  Mut.    Uue  Ei^en\viikiint>on.  273 

Notwendigen  zugleich  zu  bestimmtem  Zweck  zeigt  sich  ferner  in 
der  Einrichtung  der  Zähne  ^),  der  Brust  ^)  u.  s.  w. 

b)  Wirkungen,  die  aus  der  Natur  des  Stoffes  mit  Notwendig- 
keit hervorgehen,  werden  auch  dort  erfolgen  müssen,  wo  sie  nicht 
von  einem  centralen  Formprincip  für  die  Erreichung  bestimmter 
Zwecke  verwertet  werden.  In  der  That  legt  Aristoteles  der  Ma- 
terie auch  eine  solche,  ausschliesslich  der  Notwendigkeit  gehor- 
chende Thätigkeit,  ein  Selb  st  wirken,  bei. 

u)  Auf  einer  derartigen  Notwendigkeit  beruhen  zunächst  die 
Bewegungen  der  Elemente. 

Diese  Bewegungen  sollen  nämlich  ihren  (irund  in  den  Unter- 
schieden des  Gewichtes  haben,  welches  den  verschiedenen  Ele- 
menten eigentümlich  ist.  Den  vier  qualitativ  bestimmenden 
Eigenschaften  des  Warmen  und  Kalten,  Trocknen  und  Nassen 
treten  die  zwei  ortsbe.stimmenden  Eigenschaften  der  Leichtigkeit 
und  der  Schwere  zu  Seite.  Das  Feuer  ist  an  sich  leicht,  die  Erde 
an  sich  schwer.  Luft  und  W^asser  sind  —  in  verschiedenem 
Grade  —  beziehungsw^eise  schwer  ^).  Leichtigkeit  und  Schwere 
der  Elemente  aber  sind  Eigenschaften,  welche  nach  Aristoteles 
nicht  etwa  in  der  Masse  der  Stotfteilchen  oder  dgl.,  sondern  dar- 
in ihren  Grund  haben,  ob  das  fragliche  Element  seinen  „natür- 
lichen Ort"  -i)  oben  oder  unten  besitzt'').  Die  (absolute)  Schwere 
besteht  darin,  dass  das  betreffende  Element  seinen  Ort  unter, 
die  (absolute)  Leichtigkeit,  dass  es  denselben  über  allem  hat  ^). 
Actuell  leicht  ist  darum  dasjenige,  was  wirklich  oben  sich  befin- 
det ').  Befindet  sich  dagegen  von  dem  diesbezüglichen  Element 
ein  Teil  unten,  so  ist  derselbe  nur  potentiell  leicht  ^).  Eine  solche 
Versetzung  an  den  nicht  naturgemässen  Ort  aber,  wie  sie  hier 
angenommen  wurde,  kann  einen  doppelten  Grund  haben.  Ent- 
weder ist  das  leichtere  Element  aus  dem  unten  befind- 
lichen   schwereren,    das    schwerere    aus    dem    oben     befindlichen 


')  de  gen.  an.  Y  8,  788  b  3  ft".    781)  a  8-14. 

2)  de  gen.  an.  IV  8,  776  1)  31—33. 

=»)  de  cael.  IV  4,  311  a  IG- 29;    '>,  312  h  14-19. 

*)  Tonoi   oixtioQ  phys.    VIII    3,    253  b  34;    4,  255  a  3;     de  cael.  I  7,  276  a  12. 

5)  Vgl.  de  gen.  et  coit.  1  6,  323  a  6-9.  Vul.  oben  S.  242  Anni.  6  Sclil. 

«)  de  cael.  IV  4,  311  a  16-18. 

')  phys.  VIII  4,  255  b  11.  15—17;  de  cael.  IV  3,  311  a  3. 

«)  de  cael.  IV  3,  311  a  4;   vgl.  phys.  VIII  4,  255  b  17—21. 

Baeumker  :    Das  Problem  der  -Materie  etc.  ^ 


274  Dritter  Altsclmitl.     Aristoteles. 

leiclit(M-on  entstanden,  oder  ein  äusserer  Zwang  hat  das  Element 
aus  seinem  natürlichen  Orte  entfernt  und  hält  es  an  dem  ihm 
fremden  fest.  Eingeleitet  wird  diese  Verschiebung  der  Elemente 
durch  die  ewige  gleichmässige  Bewegung  des  Himmels,  der  ihre 
Grenze  nach  oben  bildet  '). 

Wie  wird  nun,  fragt  es  sich  jetzt,  dies  potentiell  I^eichte  zu 
einem  actuell  Leichten,  dies  potentiell  Schwere  zu  einem  actuell 
Schweren?  Mit  andern  Worten:  wie  kommt  es,  dass  dasLeichl-^ 
nach  oben  steigt,  das  Schwere  nach  unten  fällt  2)? 

Aristoteles  weist  hier  2)  zunächst  auf  die  bewegende  Ursache 
hin,  die  z.  B.  das  Wasser  in  Luft  verwandelt  und  darum  auch 
Grund  seiner  Aufwärtsbewegung  sein  soll,  oder  die  —  in  dem  andern 
der  beiden  oben  genannten  Fälle  —  das  Hindernis  entfernt, 
z.B.  die  Säule  umstürzt,  welche  bis  dahin  ihre  Belastung  am  Hin- 
absinken hinderte,  oder  die  Steine  hinwegnimmt,  welche  einen 
mit  Luft  gefüllten  Schlauch  unter  Wasser  festhielten  *).  Durch 
diesen  Hinweis  glaubt  er  den  Widerspruch  zwischen  der  anschei- 
nenden Selbstbewegung  der  Elemente  und  seinem  Satze,  dass 
nur  Lebendes  sich  selbst  bewege  (d.  h.  ein  Teil  den  andern)  zu 
entfernen  ^).  Er  meint  dadurch  zu  zeigen ,  dass  die  Elemente 
zwar  ein  Princip  der  Bewegung  in  sich  hätten,  aber  nicht  der 
activen,  sondern  der  passiven  Bewegung  '').  Die  Bewegung  weide  in 
gleicher  Weise  von  jener  bewirkenden  Ursache  hervorgebracht, 
wie  etwa  die  Rückwärtsbewegung  eines  Balles,  der  von  der  Mauer 
zurückprallt,  auf  den  Werfenden  zurückzuführen  sei  ''). 

Indessen   lässt  sich    nicht    verkennen,    dass   dieser   Vergleich 


1)  meteor.  I  2,  339  a  30—32.    Vgl.  de  gen.  et  corr.  II  10,  330  a  15.  ff. 

■')  de  cael.  IV  3,  311  a  1-6. 

")  phys.  VIII  4,  256  a  1—2;    de  cael.  IV  3,  311  a  9—10. 

')  phys.  VIII  4,  255  b  25-26. 

'■)  phys.  VIIl  4,  255  b  29;  de  cael.  IV  3,  311  a  11—12. 

")  phys.  VIII  4,  255  b  30-31. 

')  phys.  VIII  4,  255  b  27—29;  vgl.  de  cael.  IV  3,  311  a  10-11.  Dass  in- 
folge dieses  Anstosses  das  Feuer  sich  nach  oben,  die  Erde  sich  nach  unten 
bewege,  davon  liege  der  Grund  eben  darin,  dass  das  Feuer  sich  zu  diesem,  die 
Erde  zu  jenem  Orte  in  Potenz  ])eiindo  Nach  einem  weitern  Grunde  verlan- 
gen, sei  ähnlich,  wie  wenn  man  frage,  weshalb  das  der  Möglichkeit  nach  Ge- 
sunde, wenn  es  eine  Veränderung  erfährt,  gesund,  und  nicht  etwa  weiss  wird, 
weshalb  das  des  Wachstums  Fähige,  wenn  es  verändert  wird,  nicht  zur  Ge- 
sundheit, sondern  zur  Grösse  gelangt  (de  cael.  IV  3,  310  b  16—19). 


c)  Alltrem.  Functionen  der    Mal.     Ihre    Eiäxenwirkungen.  275 

sehr  wenig  zutreffend,  und  dass  jene  Ursache  in  Wahrheit  nur 
Veranlassung  für  die  Bewegung  ist.  So  lange  daher  Aristoteles 
nicht  in  den  Elementen  selbst  eine  active  Kraft  der  Aufwärts- 
bezw.  Abwärtsbewegung  zu  ihrem  natürlichen  Ort  annimmt  und 
nicht  bloss  eine  passive  Potenz,  fehlt  ihm  auf  seinem  Standpuncte 
die  zureichende  Ursache  jener  Ortsveränderung. 

In  der  That  aber  legt  er  ihnen,  in  teilweisem  Widerspruch 
mit  den  oben  angeführten  Äusserungen,  an  andern  Stellen  unver- 
kennbar ein  solches  actives  Vermögen  bei.  Was  anders  soll  es 
heissen,  wenn  er  das  Aufstreben  der  aus  dem  Wasser  entstehenden 
Luft  mit  dem  Zustande  eines  Menschen  vergleicht,  welcher  die 
Wissenschaft  bereits  erworben  hat  und  nun  jeden  ihrer  Sätze  be- 
trachten kann,  falls  keine  anderweitigeBehinderung  vorhanden,  wäh- 
rend das  noch  nicht  in  Luft  verwandelte  Wasser  in  der  Weise  in 
Potenz  zu  dem  obern  Ort  sich  befindet,  wie  der  noch  Lernende 
der  Möglichkeit  nach  ein  Wissender  ist  ^j?  Denn  die  Potenz  des 
Wissenden  ist  doch  ein  actives  Vermögen,  nicht  bloss  passive 
Veränderungsfähigkeit  ^).  So  werden  wir  denn  nicht  mehr  eine 
blosse  Ungenauigkeit  darin  erblicken,  wenn  Aristoteles  z.  B.  die 
Abwärtsbewegung  des  Steines  auf  einen  notwendigen  Antrieb 
{oQixri)  zurückführt  und  dieselbe  ausdrücklich  als  eine  Art  von 
„Notwendigkeit"  bezeichnet  ^). 

Das  Letztere  erhält  noch  eine  anderweitige  Bestätigung.  Bei 
seiner  Polemik  gegen  eine  rein  mechanische  und  ateleologische 
Naturauffassung  geht  Aristoteles  von  der  Frage  aus,  was  die 
Natur  hindere,  dass  sie  bei  ihrem  Wirken  nicht  etwa  ohne  Zweck 
und  ohne  Rücksicht  darauf,  weil  es  so  besser  ist,  verfahre,  etwa 


')  phys.  VIII  4,  255  a  30  -b  5. 

^)  Auch  kann  angeführt  werden,  dass  nach  de  cael.  IV  3,  310  b  24—26 
zwar  das  Schwere  und  Leichte,  aber  nicht  das  ryiaaröv  und  ttvir,r6v,  ein  Prin- 
cip  des  Wandels  in  sich  zu  haben  scheine.  Denn  ein  passives  Princip 
schliessen  doch  auch  die  letztern  beiden  ein.  Wenn  aber  Aristoteles  a.  a.  O. 
310  b  31  ff.  die  leichtere  Veränderlichkeit  des  sinkenden  Schweren  und  des  auf- 
steigenden Leichten  gegenüber  dem  nicht  so  leicht  zu  actualisierenden  potentiell 
Gesunden  dadurch  erklärt,  dass  die  Materie  des  Schweren  und  Leichten  dem 
formalen  Sein  {ovaia)  zunächst  sei  (wozu  vgl.  Simpl.  p.  310  b  24—29  Karsten),  so 
zeigt  die  schwankende  Stellung  zwischen  Materie  und  Form,  welche  dem  Ele- 
ment beigelegt  wird,  wie  weit  hier  der  ursprüngliche  Begriff  der  Materie  ver- 
lassen ist.  —  Vgl.  fei'ner  met.  VII  I»,  1034  a  10-19  und  Bonitz  z.  d.  St.,  p.328. 

=*)  anal,  po.-^t.  H  11,  95  a   1  -  :i 

18   * 


270  Dritter  AliscliiüLl.     Aristoteles. 

SO,  wie  es  regnet,  nicht,  damit  das  Getreide  wachse;  sondern 
aus  Notwendigkeit;  denn  in  dem  letzlern  Falle  sei  €S  ja  etwas 
Notwendiges,  dass  der  in  die  Höhe  geführle  Wasserduiisl  sich 
ahkiihle  und;  nachdem  er  zu  Wasser  geworden,  heral)falle  ' ). 

Hier  wird  von  Aristoteles  in  dem  zum  Vergleiche  herangezo- 
genen Beispiele;  entsprechend  dein,  was  wir  soeben  über  die  Be- 
wegungen der  Elemente  entwickelten,  das  Aufsteigen  des  Wasser- 
dunstes,  an  welches  die  Abkühlung  sich  anschliesst,  sowie  das 
Herabfallen  der  Regentropfen,  als  eine- notwendige  Wirkung 
des  Stoffes  der  auf  den  Zweck  gerichteten  Wirkung  der  gestal- 
tenden Natur  entgegengesetzt. 

So  sehen  wir,  wenn  wir  davon  die  Anwendung  auf  analoge 
Frdle  machen,  wie  das  Spiel  der  Elementarkräfte  nach  Aristoteles 
sich  als  eine  selbständige  Wirkung  der  ihnen  iimewohnenden 
Notwendigkeit  erweist,  bei  der  neben  der  Materie  selbst  zwar  die 
bewegende  Ursache,  aber  keine  zwecksetzende  Formalursache, 
beteiligt  ist. 

,/)  Auch  innerhalb  solcher  Substanzen,  welche  im  übrigen 
durch  die  Form  bestimmt  werden,  zeigt  sich  die  selbständige 
Kraft  der  Materie  darin,  dass  auf  ihr  die  individuellen  und 
darum  zufälligen  Eigenschaften  des  Dinges  beruhen  2).  Aus  der 
Form  nämlich  gehen  diejenigen  Bestimmungen  hervor,  welche  der 
ganzen  Art  wesentlich  sind  und  daher  bei  einem  jeden  hidividuum 
sich  finden  müssen.  Da  aber  die  Form  bald  in  dieser,  bald  in 
jener  Materie  verwirklicht  ist,  so  werden  die  verschiedenen  In- 
dividuen ausser  den  gemeinschaftlichen  Bestinnnungen;  welche  der 
gleichen  Form  in  ihnen  entstammen;  auch  besondere  Eigentüm- 
lichkeiten aufweisen,  welche  in  der  jedesmaligen  Materie  begrün- 
det sind.  So  ist  es  für  bestimmte  Lebewesen  wesentlich,  Augen 
zu  haben.  Das  Auge  nämlich  dient  zu  einem  Zwecke.  Sein  Be- 
sitz ergiebt  sich  daher  mit  der  Form  und  ist  aus  diesem  Grunde 
allen  Individuen  gemein.  Aber  dass  diese  Augen  etwa  graublau 
sind,  ist  nicht  wesentlich  und  bildet  daher  auch  keine  gemein- 
schaftliche Eigentümlichkeit  aller  Individuen  der  Art,  —  denn  in 
diesem  Falle  wäirde  auch  die  graublaue  Farbe  zum  Wesen  ge- 
hören — ,  sondern  hat  seinen  Grund  in  der  Materie  des  Auges. 
Schliesst  nämlich    das  Auge   viel  Feuchtigkeit   ein,  so  ist  es  dun- 


1)  phy.s.  II  8,  KlH  1j    U\~Id. 

-)  Vgl.  auch  unten,  S.  281  lt.:    die  Materie  als  Individuatiouspi  incip. 


c)  Allgein.  Functionen  d.   Mal.     Ihre  Eigenwirkungen.  277 

kel;  im  entgegengesetzten  Falle  graublau  *).  Ähnlicher  Art  ist 
der  Unterschied  des  Weissen  vom  Neger  ^)  u.  s.  w. 

Die  Materie  also  ist  der  Grund  der  zufälligen  Eigenschaften. 
Sie  bildet  das  allumfassende  Receptaculum.  Neben  den  Bestim- 
gen,  welche  aus  der  Form  hervorgehen  und  daher  bei  allen  In- 
dividuen derselben  Art  sich  finden,  bietet  sie  auch  für  die  ausser- 
wesentlichen  Bestimmungen  den  Platz  ^).  Aus  der  Natur  des 
jedesmaligen  Stoffes  aber  gehen  diese  ausserwesentlichen  Bestim- 
mungen mit  Notwendigkeit  hervor.  Sie  sind  darum,  wenngleich 
nicht  für  die  Art,  so  doch  für  das  Individuum  notwendig, 
solange  seine  Materie  di^  gleiche  bleibt.  So  löst  sich  der  an- 
scheinende Widerspruch,  dass,  vom  Standpuncte  der  Artseigen- 
tümlichkeiten  aus  bemessen,  nicht  die  notwendigen,  sondern  die 
zufälligen  Eigenschaften  aus  der  Notwendigkeit  der  Materie  her- 
vorgehen; denn  was  zufällig  ist  für  die  Art,  kann  doch  in  an- 
derer Art,  nämlich  für  das  Individuum,  notwendig  sein"*). 

Gehen  somit  die  zufälligen,  nur  für  die  verschiedenen  Indi- 
viduen charakteristischen  Eigenschaften  daraus  hervor,  dass 
innerhalb  derselben  Art  für  verschiedene  Individuen  die  jedes- 
malige Materie  eine  verschiedene  ist,  so  steht  die  Wahl  gerade 
dieser  Materie  für  dieses,  jener  Materie  für  jenes  Individuum  in 
Abhängigkeit  von  der  bewirkenden  Ursache.  Die  bewirkende 
Ursache  ist  es  ja,  welche  in  dem  jedesmaligen  Falle  die  Ausbil- 
dung der  Form  gerade  in  dieser  Matei'ie  herbeiführt.  Sonach  ist 
auch  das  kein  Widerspruch  in  der  Lehre  des  Aristoteles,  wenn 
wir  neben  dem  Satze:  die  Materie  ist  Grund  der  zufälligen 
Eigenschaften,  auch  der  Behauptung  begegnen,  die  bewegende 
Ursache  sei  Grund  derselben''). 

y)  Auch  das  spontane  \Yevden{yiyifö0^ai,dTi6TavtofjLdTov)'^) 
führt  Aristoteles  auf  eine  der  Materie  eigene  Kraft  zurück. 

Der  Regel  nach  wird  der  Materie  irgend  eine  Bestimmung 
durch  die  bewegende  Ursache  mitgeteilt,  welch  letztere  die  Bestim- 


')  de  gen.  an.  Y  1,  778  a  32-  h  19;  1)  28—30. 

■-)  niet.  X  0,  1058  a  34— b  12.    Auch  die  Verschiedenheit   der  Geschlechter 
geliört  hierlier.    Docli  wird  darüber  unten,  S.  280,  noch  weiter  zu  sprechen  sein. 
^)  met.  VI  2,  1027  a  13-  15. 
*)  Vgl.  de  gen.  an.  V  1,  778  b  17—19. 

5)  de  gen.  an.  V  1,  778  b  1;    8,  789  b  20.  Vgl.  met.  VI  %  1027  b  15—16. 
^,  tber  das  xavröuazov  vgl.  Zeller  11  •'  j),  335. 


278  Diiticr  Ahsdinilt.     A risloleles. 

muni,^  in  sich  selbst  bereits  besitzt,  sei  es  in  iiuilerieller,  oder  — 
bei  Kunstwerken  —  in  immaterieller  Weise,  und  welctie  aus  die- 
sem Grunde  jene  Bestimmung  auch  in  etwas  Anderem  hervorru- 
fen kann ').  Diese  Mitteilung  der  Bestimmung  an  die  Materie 
seitens  der  bewegenden  Ursache  geschieht  nun  in  vielen  Fällen 
dadurch,  dass  in  der  Materie  ein  Princip  hervorgebracht  wird, 
welches  von  der  betreffenden  Bestimmung  entweder  schon  ein 
Teil  ist,  oder  an  welches  die  betreffende  Bestimmung  sich  un- 
niiltelbur  anschliesst.  So  bringt  der  Ar/i  dadurch  die  Gesundheit 
hervor,  dass  er  den  Kranken  sich  bewegen  und  dadurch  in  Wärme 
geraten  lässt.  Hier  ist  die  Wärme  das  Princip,  welches  entweder 
schon  ein  Teil  der  Gesundheit  selber  ist,  oder  aus  welchem  doch 
die  Gesundheit  unmittelbar  folgt  2).  In  ähnlicher  W^eise  ist  bei 
der  Hervorbringung  eines  pflanzlichen  oder  tierischen  Organismus 
der  Samen  das  Princip,  durch  dessen  Vermittelung  die  Naturur- 
sache, d.  h.  der  erzeugende  Organismus,  eine  der  seinen  gleiche 
Wesensform  entstehen  lässt  3), 

In  den  Fällen  des  spontanen  Werdens  dagegen  soll  die 
]\laterie  jenes  Princip  der  Veränderung  in  sich  selbst  tragen  und 
so  von  sich  aus  in  gleicher  Weise  bewegt  und  zu  der  gleichen 
Bestimmung  geführt  werden,  wie  sonst  durch  die  künstlerische 
oder  die  Naturursache^).  SO;  wenn  der  Kranke  von  selbst  ge- 
sund wird,  weil  infolge  der  Bewegung  seines  Körpers  in  diesem 
das  gleiche  Princip  vorhanden  ist,  die  Wärme  nämlich,  durch 
welches  sonst  der  Arzt  ihm  die  Gesundheit  mitteilt  °).  Oder 
wenn  bei  der  von  Aristoteles  angenommenen  spontanen  Entste- 
hung von  Organismen  die  Materie  wegen  ihrer  eigentümlichen 
Constitution  die  Fähigkeit  hat,  aus  sich  .Selbst  solche  Verände- 
rungen zu  erfahren,  die  zur  Ausbildung  einer  Form  führen^,  wie 
sonst  der  Befruchtungsstoff  sie  in  ihr  entwickelt  ^). 


')  met.  VII  9,  1034  a  21—24. 

-j  met.  VII  7,  1032  b  25—30:  fl,  1034  a  26— ]>  7  (wegen  des  Textes 
s.  Bonitz  p.  330). 

")  met.  VII  9,  1034  a  33— h   1.  —     *)  met.  VII  9,  1034  a  10-18. 

^)  met.  VII  7,  1032  b  23—28;    9,  1034  a  21—30. 

«)  met.  VII  9,  1034  b  0—6.  Vgl.  bist.  an.  V  1,  539  a  15—18.  Die  Urzeu- 
gung soll  nämlich  nach  Aristoteles  de  gen.  an.  III  11,  7G2  a  9—27  dadurch 
bewirkt  werden,  dass  unter  dem  Einfluss  der  Lebenswärme  {d^egnorijs  >pvxty.ij, 
wo  die  ii^v^rj  natürlich  nicht  bewusste  Seele,  sondern  Lebensprincip  ist),  welciie, 


c)  Allgeni.  FiincliniK'ii  d.  Mal.     [lue  Eiiroiiw  irkuniron.  Ü7f) 

So  sehen  wir,  wie  die  iiuLweiRlige  W'irlcuiij,'  der  .Alaterie  in 
dreifacher  Art  der  Formwirkung  selbständig  parallel  läuft.  Sie  ist 
derselben  analog  in  dem  Spiel  der  Elementarkräf te.  Sie 
ergänzt  dieselbe,  insoweit  auf  ihr  die  zufälligen  Eigenschaften 
beruhen,  welche  neben  den  von  der  Form  ausgehenden  allgemei- 
nen Eigenschaften  die  individuelle  Substanz  bestimmen.  Sie 
vertritt  dieselbe  bei  dem  spontanen  Werden. 

c)  Endlich  kann  die  Materie  der  Form  auch  hemmend  ent- 
gegentreten.    Sie  ist  insofern  Ursache  der  Unvoll  komm enh ei  t. 

Der  Gedanke  ist  im  Grunde  platonisch  i).  Aber  während 
Plato  ihn  vorwiegend  ins  Ethische  wendet,  verfolgt  Aristoteles 
ihn  auf  naturwissenschaftlichem  Gebiet. 

Die  zweckthätige  Natur,  führt  Aristoteles  diesen  Gedanken  aus, 
findet  bei  ihrem  Bestreben,  durch  die  Form  in  der  Materie  Zwecke 
zu  verwirklichen,  an  der  Materie  vielfach  ein  Hindernis.  Entweder 
hemmt  der  Stoff  die  volle  Auswirkung  der  bezweckten  Form, 
oder  er  bewirkt,  dass  neben  der  zweckvollen  Form  auch  zweck- 
lose Nebenwirkungen  entstehen. 

Zwecklose  Nebenwirkungen,  die  bei  der  Ausbildung  und  der 
Ernährung  der  Organismen  sich  ergeben,  sind  z.  B.  die  Aus- 
scheidungstoffe,  wie  die  Galle  und  dgl.  '^).  Einem  guten  Haus- 
verwalter gleich,  der  auch  nichts  Minderwertiges  verkommen 
lässt,  benutzt  freilich  die  Natur  auch  wohl  solche  Ausscheidun- 
gen noch  weiter^);  aber  darum  beruht  ihre  Entstehung  um  nichts 
mehr  auf  einem  Zweck  ^). 

Auf  dem  Widerstand  der  Materie  gegen  die  Auswirkung   der 


wie  Aristoteles  mit  dem  alten  Hylozoismus  annimmt,  in  der  ganzen  Natur  ver- 
breitet ist  (vgl.  H.  Siebeck,  Die  Lehre  des  Aristoteles  von  dem  Leben  imd  der 
Beseelung  des  Universums,  Zeitschr.  f.  Phil.  u.  Philos.  Krit.,  N.  F.  Bd.  60.  1872. 
S.  1 — 39),  aus  dem  Gemisch  erdiger  und  wässeriger  Bestandteile  sich  ein 
schaumiges  Bläschen  bildet,  in  welchem  die  eingeschlossene  Wärme  den  Gar- 
kochungsprocess  hervorruft,  der  sonst  (s.  S.  280)  von  dem  befruchtenden  Samen 
herbeigeführt  wird  (vgl.  G.  H.  Lewes,  Aristoteles.  Ein  Abschnitt  aus  einer  Ge- 
schichte der  Wissenschaften.    Übers,  v.  J.  V.  Garus.  Leipzig  1865.  S.  374  ff.). 

1)  S.  S.  205  f. 

2)  de  part.  an.  IV  2,  677  a  12—15. 

3)  de  gen.  an.  II  6,  744  b  16-— 17  ;  de  part.  an.  IV  2,  677  a  16—17.  Die 
Natur  fertigt  aus  jenen  nfQi-cxa'iaaza  Knochen,  Sehnen,  Haare,  Klauen  u.  dgl.; 
de  gen.  an.  II  6,  744  b  24—26. 

■*)  de  part.  an.  IV  2,  677  a  17— 1!>. 


280  Driller  Ahschnill.     Arisloleles. 

Form  iilicr  bcriilil  es^  dass  das  IJorvoräJ^cbrachte  iiiclil  seilen  hin- 
ter dem  lleivoi'bringendcn  hinsichtlich  der  V^olikonmienlieit  seiner 
Form  zurückbleibt.  Sowohl  auf  dorn  Gebiete  der  Kunst,  wie  auf 
dem  der  Natur,  linden  sich  derartige  Fehlversuche  ').  Solche 
Fehlgriffe  der  Natur,  durch  eine  unvollkounuene  BeWcältigung  der 
Materie  herbeigeführt,  sind  z.  B.  die  Missgo^burten  -).  In  andern 
Fällen  ist  doA'  Abstand  von  der  vollendeten  Form  weniger  bedeu- 
tend. So,  wenn  das  Pferd  ein  Maultier  hervorbringt  '^).  Eine 
Unvollkonunenheil,  eine  Art  von  Missg^eburt  *),  eine  Verstüunne- 
lung  •''),  ist  es  auch,  wenn  das  Männliche  ein  Weibliches  er- 
zeugt. Obwold  nämlich  der  Unterschied  der  (leschlechter  von 
der  grössten  Bedeutung  ist,  da  der  Fortbestand  der  Art  auf  ihm 
beruht  '''),  so  wird  derselbe  von  Aristoteles  doch  nicht  mit  der 
Wesensform,  sondern  mit  der  Materie  in  Beziehung  gebracht '). 
Das  Weibliche  entsteht,  wenn  der  männliche  BildungsstotY,  der 
das  neue  Wesen  durch  eine  Art  von  Garkochung  in  dem  weib- 
lichen Bildungssloff  heranbildest,  über  diese  Materie  nicht  völlig 
Herr  werden  kann  ^). 

Eine    letzte    Folge    der  schlechten  Beschaffenheit  der  Materie 
endlich  ist  es,  dass  die  Perioden  des  Entstehens  und    des  Verge- 


1)  phys.  II  8,  19!»   a  ;33— li  4. 

2)  de  gen.  an.  iV  4,  770  J)  9-17.     Vgl.  ebd.  3,  7G9  b  7—13. 
••)  mel.  VJI  9,  1034  b  3—4. 

*)  de  gen.  an.  IV  3,  7(57  b  5— (5. 

5)  de  gen.  an.  II  3,  737  a  27—28.    Vgl.  Plat.  Tim.  42  A-B.  90  E. 

")  de  gen.  an.  IV  3,  7(J7  b  8—10. 

')  niet.  X  9,  1058  a  29  ff.  Eine  Erläulerung  dieser  Stelle  iiei  Alexander 
von  Aphrodisias,  de  an.  lil).  II,  Suppl.  Aristolel.,  ed.  Acad.  lill.  reg.  Boruss., 
II  b,  p.  1(J8,  22  ff 

*)  de  gen.  an.  IV  1,  766  a  16 — 21.  —  Die  Entstehung  der  besonderen  Or- 
gane beim  Männchen  und  beim  Weibchen  suchl  Aristoteles  dadurch  zu  er- 
klären, dass  die  Nalur  beiden  Geschlechtern  verschiedene  Fähigkeiten  verlie- 
hen habe.  Mit  der  Fähigkeit  nämlich  sei  auch  das  Organ  gegeben.  Beides 
bilde  sich  gemeinschaftlich  und  in  gegenseitiger  Abhängigkeit  aus.  So  sei  auch 
die  Fähigkeit  zu  sehen  an  das  Auge,  aber  ebenso  umgekehrt  die  volle  Ent- 
wicklung des  Auges  an  das  Sehen  gebunden.  Wenn  aber  e  i  n  wichtiger  Teil 
sich  umwandele,  so  trete  auch  eine  Verschiedenheit  der  Gestalt  in  dem  Ge- 
samtbau des  Tieres  ein,  wie  man  an  den  Eunuchen  mit  ihrem  weibischen 
Gesamlhabitus  sehen  könne  (de  gen.  an.  IV  1,  766  a  3—10.  22 — 28).  —  So  be- 
achtenswert diese  Bemerkungen  an  sich  sind,  so  machen  sie  doch  die  der  Materie 
zuueschriejiene  Kulle  um  nichts  klarer. 


c)  Allgeni.  Functionen  d.  Mal.     Ihre   Eii.'-enwirkuntren.  281 

hens  nicht  so  gloichrnässig  verleill  sind,  wie  sie  entsi)rL'chend  der 
Ebenniässigkeit  der  in  der  Ekliptik  verlaufenden  Sonnenbahn  ,  von 
welcher  der  Wechsel  der  Jahreszeiten  abhängt,  es  sein  sollten. 
Durch  die  Mischung  der  Stoffe  unter  einander  nämlich  wird  die 
Materie,  welche  der  Form  zugrunde  liegt,  vielfach  verunreinigt. 
Diese  Verunreinigung  der  Jlaterie  aber  führt  in  vielen  Fällen 
einen  rascheren  Zerfall  herbei,  als  er  ohne  eine  solche  Un- 
regelmässigkeit der  stofflichen  Grundlage  eingetreten  sein 
würde  *). 

4.  Die  Materie  als  Individuationsprincip. 
Bereits  oben  2)  wurde  hervorgclioben,  dass  die  Materie  nach 
Aristoteles  die  Quelle  ist,  aus  welcher  die  zufälligen  und  individu- 
ellen Eigenschaften  fliessen.  Aber  die  Bedeutung  der  Materie  für 
das  Individuum  ist  dadurch  noch  nicht  erschöpft,  dass  dieselben 
Ursache  seiner  individuellen  Eigenschaften  ist;  sie  ist  vielmehr 
überhaupt  Ursache  seiner  I  ndividuation. 

Um  eine  historische  Würdigung  dieser  Theorie  des  Aristoteles 
zu  ermöglichen,  müssen  wir  auf  ihre  Voraussetzungen  und  deren 
Zusammenhang  mit  platonischen  Gedanken  zurückgehen. 

Aus  dem  Begriffe  des  Wissens  als  einer  festen  und  uner- 
schütterlichen, stets  sich  gleichen  und  ewig  giltigen  Erkenntnis 
hatte  Plato  gefolgert,  dass  auch  das  Sein,  welches  das  Object 
dieser  Erkenntnis  bilde,  ein  ewiges,  stets  sich  gleiches  und  unver- 
änderliches sein  müsse. 

Aristoteles  übernimmt  diesen  erkenntnistheoretisch-metaphy- 
sischen Grundsalz  Plato's.  Auch  er  beschreibt  das  Wissen  als 
eine  feste  =*),  durch  nichts  zu  erschütternde  ^),  stets  wahre  '")  Er- 
kenntnis. Mit  Plato  verlangt  er  demgemäss  für  das  Wissen  ein 
Object,  welches,  notwendig  in  sich  '^),  jeder  Möglichkeit  des  An- 
dersseins "')  oder  des  Untergangs  ^)  entnommen  ist. 


1)  de  gen.  et  corr.  II  10,  33G  b  20—24. 

2)  S.  S.  276' f. 

■■')  top.  V  3,  131  a  23. 

')  top.  V  2,  130  b  Vi;     4,  133  b  29—31;    5,  134  b  16—17;  VI  8, 146  b  2. 

')  anal.  post.  IV  19,  100  b  7—8. 

")  eth.  Nie.  VI  6,  1140  b  31—32. 

')  anal.  post.  I  2,  71  b   15—16;      4,  73  a  21 ;     6,  74  b  6. 

^)  anal.  post.  I  8,  75  b  24-25. 


2K2  Diilfri-  Ahsclinitl.     Arislolelos. 

Nun  bcsiclil  liiii.sic'lillicli  eines  jeden  Dinges  das  WisscMi  darin, 
dass  wir  das  Wesen  desselben,  das  was  es  ist  (ro  li  rjv  dvai), 
angeben  können  ').  Mithin  muss,  wegen  dieser  Entsprechung  von 
f]rkenntnis  und  Erkanntem,  das  Wesen  des  Dinges,  d.  h.  dasjenige, 
in  wek'hem  sein  eigentüniHches  Sein  bestellt,  etwas  stets  sich 
Gleiches,  Unveninderiiches  und  Unvergängliches  sein.  Dieses 
Wiesen  ist,  wenn  wir  es  als  Object  unseres  Wissens  bctracliten, 
Begritr  {koyoc).  Das  reale  Ding  aber  erhält  sein  Wesen  durch  die 
Form  {sUog,  fiogcpi),  ja  diese  ist  sein  reales  Wesen  (ovai'a).  Dabei 
ist  es  für  den  Realismus  des  Aristoteles  selbstverständlich,  dass 
Begriffswesen  und  Sachwesen  zusammenfallen.  Die  Form  ist 
zugleich  Begriff  (loyfic)  2).  —  Wie  die  platonische  Idee,  ist  also 
auch  bei  Aristoteles  die  zugleich  reale  und  begriffliche  Form  als 
Object  des  Wissens  in  sich  jedem  Wechsel  entnommen. 

Das  gilt  nun  in  doppelter  Hinsicht. 

Einmal  lässt  die  Form  keinerlei  Abänderung  ihres  Bestandes 
zu.  Sie  kann  nicht  in  etwas  anderes  umschlagen.  Denn  wäre 
dieses  der  Fall,  so  würde  sie  nicht  mehr  diese  bestimmte  Weise 
des  Seins,  sondern  eine  ganz  andere  begründen  ^).  Oder  begriff- 
lich gefasst:  wenn  wir  die  Formen,  d.  li.  die  begrifflichen  Wesen- 
heiten, aufgrund  ihrer  gemeinschaftlichen  und  unterschiedenen 
Merkmale  in  ein  abgestuftes  System  von  Gattungen  bringen,  ent- 
sprechend dem  platonischen  System  der  Ideen,  so  wird  jede  Ver- 
schiedenheit der  Form  eine  Art  constituieren  •^). 

ZAveitens  ist  die  Form,  gleich  der  platonischen  Idee,  unent- 
standen  und  unvergänglich  ^).     Denn  wäre  sie  geworden,  so  wäre 


1)  met.  VII  G,  1031  b  6—7. 

-)  Vgl.  z.  B.  de  caelo  I  9,  277  h  30— 27<S  a  4,  wo  n'ifoi  (species),  (io(^nft'/ 
(forma),  to  ti  -t/v  ilvai  (quiditas)  und  lö'/og  (ratio)  y,leichliedeutend  gebrauchl 
werden.  Für  fi(fo?=ovain  (essentia,  substantia)  s.  Bonitz,  Ind.  Aristot.  21!»  a 
41  ff.  Dass  aber  Aristoteles  in  der  That  die  physische  Fortn  mit  dem  be- 
grifflichen Wesen  identificiert,  ergiebt  sich  aus  den  Stellen,  wo  nicht  der  mehr- 
deutige Ausdruck  e?(fos,  sondern  der  bestimmtere  Terminus  uoQifij  synonym 
mit  solchen  Ausdrücken  verwandt  wird,  die  ztir  Bezeichnung  des  begrifflichen 
Wesens  dienen;  vgl.  met.  VIII  1,  1042  a  29;  de  an.  II  2,  414  a  9;  de  gen.  et 
corr.  II  9,  .335  b  7  (Ao'yof);    de  gen.   et  corr.  II  9,  335  b  35  (tö  ri  i/v  thmi). 

■■')  met.  IV  4,  1007  a  23—27. 

■*)  met.  X  9,  1058  1>  1 — 2:  uaut  /xiv  Iv  tu)  kö'/n)  iiolv  tfavTioTrjTes,  eiiift 
noiovdiv  ifiaifondv. 

ä)  met.  VII  8,  1033  b  14—17;  9,  1034  b  Ö;  VIII  3,  1043  b  17  5,  1044  li 
22-  -24 ;  XII  3,  1069  b  35.  1070  a  15. 


c)  Alli?.  Funclioiien  d.  Mat.     Dio  Mal.  als  Imlividualionspl'lncip.         'Jh3 

sie,  wie  alles,  was  wird  i),  aus  etwas  geworden.  Sie  iiiüsste  also 
aus  Materie  und  Form  bestehen.  Diese  letztere  Form  bestände 
wieder  aus  Materie  und  Form,  und  so  weiter  ohne  Aufliören  ^). 
Auf  denselben  Denkwiderspruch  würde  auch  die  Annahme  eines 
Vergehens  der  Form  führen  ^).  —  Wie  dem  Werden  mid  Verge- 
hen, so  ist  die  Form  überhaupt  jeder  Bewegung  entnommen  ■*). 
Alles  dieses  aber  gilt  sowohl  für  die  substantialen,  wie  für  die 
accidentalen  Formen  ^). 

Obschon  also  die  Form  etwas  Einheitliches  und  Unveränder- 
liches ist,  so  bietet  uns  gleichwohl  die  sinnliche  Wahrnehmung 
von  jeder  Art  mehrere  Dinge,  von  denen  zugleich  ein  jedes  ent- 
steht und  vergeht.  Der  Einheit  und  UnVeränderlichkeit  der  Form, 
welche  das  Object  des  vernünftigen  Wissens  bildet,  steht  die  Viel- 
heit und  die  Veränderlichkeit  der  Individuen  gegenüber,  welche 
die  sinnliche  Wahrnehmung  uns  zeigt.  Beide  Bestimmungen, 
Mehrheit  und  Unbeständigkeit,  bilden  die  charakteristische  Eigen- 
tümlichkeit des  Individuellen,  im  Gegensatz  zu  dem  einen  und 
bleibenden  Wesen  der  Art. 

Der  Grund  jener  Vielheit  nun  kann  offenbar  nicht  in  der 
Form  liegen;  denn  jeder  Formunterschied  ist  Artsunterschied,  und 
die  letzte  Art  ist  logisch  nicht  weiter  teilbar  ^).  Dasselbe  gilt  von 
der  Veränderlichkeit  der  Individuen.  Auch  sie  kann  nicht  auf 
die  unveränderliche  Form  zurückgeführt  werden. 

Aber  das  sinnfällige  Individuum  schhesst,  neben  der  Form, 
als  zweiten  Factor  die  Materie  ein.  Es  fragt  sich  daher,  ob  die 
Vielheit  und  Veränderlichkeit  der  Individuen  in  dieser  ihren  Grund 
haben  kann. 

AVas  nun  die  Materie  in  der  That  zum  Princip  der  Individu- 
alion  geeignet  macht,  ist  der  Umstand,  dass  sie  als  blosse  Mög- 
lichkeit nichts   in   sich   hat,    was   der  Teilung  widerstritte  '^).    Da 


1)  S.  S.  214  u. 

')  met.  VI!  <S,  1033  a  34— b  16;  XII  3,  1070  a  2—4. 

■■')   met.  VII  15,  103'J  b  20—27. 

*)   phys.  V  1,  224  b  4—13;  met.  XI  11,  1067  b  9—11. 

-■>)  met.  VII  9,  10.34  b  13—16. 

ß)  met.  VII  8,  1084  a  8:  arofiov  yap  t6  ii(foi.Xl  9,  10,58  b  9—10:  roiio  (der 
Begriff  „Mensch")  d"  iatl  t6  ioxarov  ato/nov.  Vgl.  III  3,  998  b  28-29;  X  8, 
1058  a  18-21;  auch  anal.  post.  II  13,  97  a  18—19. 

')  S.  S.  265. 


284  Drillcr  Al>si'liiiitl.      Aristoteles. 

sicli  nun  die  Matorio  wie  das  AuCncliniciide  zur  Form  verlifUt,  so 
steht  von  ihrer  Seite  nichts  im  Wege,  dass  dieselhe  Form  mit 
mehreren  Teilen  der  Materie  in  Bezichnng  trete.  ErmögUcht 
die  Materie  so  eine  Mehrheit  von  hidividnen,  so  begründet  sie 
zugleich  die  Vergänglichkeit  des  Individuellen  dadurch,  dass 
sie  als  indeterminierte  Möglichkeit  zu  keiner  bestimmten  Form  in 
einem  notwendigen  Verhältnis  steht. 

Das  Erste  führt  Aristoteles  besonders  deutlich  da  aus,  wo  er 
die  Frage  nach  der  Möglichkeit  mehrerer  Welten  untersucht.  Ob- 
wohl auch  hinsichtlich  der  Welt  der  Unterschied  von  Form  und 
Materie  zu  machen  sei,  so  soll  doch  aus  dem  Grunde  nur  eine 
einzige  Welt  möglich  sein,  weil  diese  eine  Welt  schon  alle  j\laterie 
in  sich  befasse.  So  würde  auch,  wenn  aus  allem  Fleische  ein 
Fleisch  würde  und  wenn  dieses  eine  Fleisch  als  Materie  dann  die 
Krummnasigkeit  aufnähme,  nur  eine  einzige  gewaltige  krunmie 
Nase  existieren;  ebenso  nur  ein  Mensch,  wenn  derselbe  allen 
Fleisch-  und  Knochenstoif  in  sich  vereinigte  ^).  -  Unverkennbar 
wird  hier  die  Möglichkeit  mehrerer  Individuen  derselben  Art  da- 
von abhängig  gemacht,  dass  die  teilbare  Materie  in  verschiedenen 
ihrer  Teile  die  gleiche  Form  aufnehme  ^).  Auf  diese  Weise  wird 
das  aus  Form  und  Materie  bestehende  Ganze  {ovroXor)  verschie- 
den sein,  ohne  dass  die  Form  als  solche  einen  Unterschied  auf- 
wiese 3).  Der  Unterschied  zwischen  dem  Gallias  und  dem  Socra- 
tes  beruht,  wie  Aristoteles  anderswo  ausführt,  darauf,  dass  dieser 
bestimmte  Artsbegriff  dort  von  diesem  Fleisch  und  diesen  Knochen, 
hier  von  jenem  Fleisch  und  jenen  Knochen  aufgenommen  ist. 
Beide  unterscheiden  sich  durch  die  verschiedene  Materie,  während 
die  begriffliche  Form  als  unteilbare  Art  dieselbe  ist  ^). 


1)  de  cael.  I  f>,  278  a  22—35. 

-')  Mit  Unreclit  iindet  Zeller  11  •'  b,  341  Aimi.  auch  in  met.  \n  8,  1033  b 
18 — 19:  SV  navTi  Ttt)  yiyvofievm  vkrj  evtaii,  xai  satt,  (Zeller  Übersetzt:  und  deshallj 
ist)  ro  ßfv  rode  tö  rff  rodt  den  Sinn,  dass  nur  der  Stoff  Grund  der  Individuali- 
tät sei.  Die  Worte  xal  ean  xt'/.  bedeuten  vielinelu-,  dass  der  eine  Bestandteil 
Form,  der  andere  Materie  sei;  vgl.  Zeile  12:  ihi'ian  yd(>  if/aifffrov  tivai  dei  ro 
yiyvößtvov,  xal  eivai.  ro  fjiev  rode  ro  (fe  röih,  Xiytt)  ()'  vii  ro  fiev  vXtjV,  ro  ö' 
tidog.  de  an.  111  4,  429  b   14:  «AA'  wOtkq  rü  aijuöv   röd'e  t'v  r<ü£J'f. 

3)  met.  X  9,  1058  b  8—10. 

*)  met.  VII  8,  1034  a  5—8.  Vgl.  met.  IX  7,  1049  a  23—24;  1  (j,  988 
a  1-7. 


c)  Allg.  Functionen  J.  Mut.    Die  Mal.  als  Indiviiluationspiinc-ip.  285 

Ebenso  betont  Aristoteles  wiederholt,  dass  die  Entstehung 
weder  die  Form  noch  die  Materie  als  solche  betreffe,  sondern  nur 
die  Vereinigung;  {öwodog)  beider  i),  nur  das  aus  Form  und 
Materie  Zusammengesetzte  ^).  Weder  das  Erz,  noch  die  Kugel- 
form wird,  sondern  die  eherne  Kugel  '^).  Nicht  das  Haus  — ■  die 
begriffliche  Form  —  entsteht,  sondern  dieses  Haus,  d.  h.  die 
Verbindung  der  Form  mit  einer  bestimmten  Materie  *). 

Der  Grundgedanke  dieser  Theorie  führt  auf  Plato  zurück. 
Auch  das  platonische  System  lüsst  die  wechselnden  Einzeldinge 
durch  die  Verbindung  der  beiden  in  sicli  unveränderlichen  Prin- 
cipien,  der  Idee  und  der  „Aufnehmerin",  d.  h.  der  Malerie,  zu- 
stande kommen.  Aber  dieser  Abhängigkeit  des  Aristoteles  von 
Plato  tritt  ein  tiefgreifender  Unterschied  gegenüber.  Das  Ver- 
hältnis des  begrifflichen  oder  formellen  Factors  zur  Materie  ist  bei 
Aristoteles  ein  anderes  als  bei  Plato. 

Nach  Plato  existiert  die  Idee  gesondert  von  den  Individuen. 
Was  in  die  Materie  eintritt  und  mit  der  Materie  zusammen  das 
Individuum  ausmacht,  ist  nicht  die  Idee  selbst,  sondern  das  Ab- 
bild der  Idee.  Für  Plato  bleibt  darum  die  Idee  selbst  eine  ein- 
zige, wie  gross  auch  die  Zahl  der  Individuen  sein  möge,  die  nach 
ihrem  Master  entstanden  sind.  Die  Einheit  des  abstracten  Denk- 
begriffs ist  hier  auch  für  die  Kealität  consequent  festgehalten. 
Die  Idee  ist  Monade  ^). 

Aristoteles  bekämpft  an  der  platonischen  Ideenlehre  vor  allem 
die  gesonderte  Existenz  jener  begrifflichen  Wesenheiten.  Er  be- 
tont dem  gegenübel',  dass  die  Form  sowenig  wie  die  Materie  •') 
gesondert  existieren  könne  "').  Was  das  Individuum  als  gestalten- 
des Princip  einschliesst,  ist  darum  nicht  das  Abbild  einer  geson- 
dert existierenden  Idee,  sondern  die  AVesensform  selber.  Darum 
ist  es  auch  nicht  eine  über  den  Individuen  stehende  gemeinschaft- 
liche Idee,    welche    bei    der  Entstehung   eines  neuen  Individuums 


')  met.  yil  8,  1033  b  If]— 18.  (Dagegen  gehört  niet.  VII  11,  1037  a  30  nicht 
iiieher;     vgl.  S.  2(52  Anni.  5). 

"-)  10  ty.  Torroiv  niet.  VIII  3,  1043  b  18. 

•'')  met.  VIT  8,  1033  a  30.  32.  1)  KJ;  9,  1034  1)  11  ;  XII  3,  1070  a  3. 
Vgl.  VII [  5,  1044  b  23  (das  weisse  Holz,  nicht  die  Weisse,   wird). 

■■)  met.  VII  15,  1039  b  24-25. 

")  /.luvcci  Plat.  Phileb.  1.')  B;  iväs  ebd.  15  A. 

'•)  S.  S.  230.     —      'j  S.  S   262  Anm.  2. 


28f)  Driller  Ahsclinitl.     Aristoteles. 

das  Formeleinoiit  in  dieses  einlreleu  lässt.  Diese  Mitteilung  er- 
i'ülgt  vielmehr  von  seilen  eines  bereits  bestehenden,  Individuums. 
Nicht  die  Idee  bringt  den  Menschen  hervor,  sondern  das  eine, 
aus  Form  und  Materie  bestehende,  Individuum  das  andere,  Peleus 
den  Achilleus  u.  s.  \v.  ^).  Alles  wird  von  einer  synonymen  Ur- 
sache ^),  d.  h.  einer  solchen,  welche  die  betreffende  Form,  nach 
der  das  neu  Entstehende  begrifflich  gedacht  und  benannt  wird, 
bereits  in  sich  trägt.  Es  gilt  das  sowohl  für  die  Wirksamkeit  der 
Natur,  wie  für  die  der  Kunst,  wenn  auch  nicht  ganz  in  derselben 
Weise.  Wo  nämlich  etwas  von  Natur  wird,  besitzt  die  betreffende 
Ursache  die  gleiche  Form  in  ihrem  physischen  Sein.  So,  wenn 
der  Mensch  den  Menschen  erzeugt  ^).  Wo  dagegen  etwas  durch 
Kunst  entsteht,  hat  der  Kün.stler  die  betretfende  Form  immateri- 
eller Weise  in  seinem  Geiste.  80,  wenn  der  Baumeister  vermöge 
der  Kunst  des  Häuserbaus,  die  in  seinem  Geiste  ist,  den  Bau- 
nuiterialien  die  Form  des  Hauses  mitteilt,  oder  wenn  der  Arzt 
vermöge  seines  Wissens  von  der  Gesundheit  dem  Körper  die  Ge- 
sundheit verschafft  ^). 

Diese  principielle  Abweichung  aber  zwang  den  Aristoteles, 
die  Einheit  und  Unveränderlichkeit  der  Form  in  dem  Sinne,  in 
welchem  Plato  der  Idee  die  Einheit  und  Unveränderlichkeit  bei- 
legte, aufzugeben.  Nach  ihm  ist  die  gleiche  Form  in  den  ver- 
schiedenen Individuen  derselben  Art  real  vervielfältigt.  „Wie 
die  Materie  in  dir,  so  ist  auch  die  Form  in  dir  eine  andere  als 
die  meinige"  ^),  Natürlich  sind  diese  Formen  nicht  durch  ihren 
Inhalt  oder  durch  ihre  Wesensbestimniungen,  sondern  nur  hin- 
sichtlich   ihrer  Existenz,   nur   der  Zahl  nach,  verschieden.     Wenn 


1)  niet.  XII  5,  1071  a  19—24.  Vgl.  VII  8,  1033  b  26—33.  1034  a  2—5; 
IX  8,  1049  b  24-29. 

'-)  met.  XII  3,  1070  a  4 — 5:  exuartj  ex  awmvvfJLOv  'jl'/vfxai  i]  ovaia.  VII  9, 
1034  a  22:  nävTa  yiyvtTat  i^  öfiwvvfxov  (Über  den  wechselnden  Gebrauch  von 
ouMwixos  und  avruivvfiog  Vgl.  Bonitz  p.  330).  Die  bewirkende  Ursache  ist 
ipvais  ömoeufrjs'.  met.  VII  7,  1032  a  24. 

3)8.     S.  249.  Anm.  iJ. 

*)  met.  VII  7,  1032  a  2G— b  14;  9,  1034  a  21—24.  30— b  4.  Die 
lazQtxij  ist  nämlich  Ao'yoi;  tiji  vyieius,  vgl.  met.  XII  3,  1070  a  30;  10, 
1075  b  10. 

'')  met.  XII  ft,  1071  a  27- — 29:  xai  imv  iv  Twcny  fldH  tTf(iu  (sc.  ui'na  xitl  aiui' 
Xfnt),  urx  ti'ihi,  dXk'  liii  lutv  xaih'  i'xaaiov  ü)J.o,  i\  it  at]  rXij  xni  tu  fi'ii'os  xui  lü 
xivi^aai.'    xa.1    i]  t,ui/,   Ku   xa&u/.or   dt    /.üyai   lavid 


c)  Allg.  Functionen  d.  Mat.    Die  Mat.  als  Indivifluationsprincip.  287 

auch  überall  da,  wo  die  Form  oder  Wesenheit  nur  in  der  Materie 
Bestand  hat,  eine  unbegrenzte  Anzahl  von  Individuen  möglich 
ist,  so  eignet  diesen  allen  doch  eine  Form  von  überall  gleicher 
Reschatfenheit  (sie  sind  6[.io£i6rj)  ^). 

Wenn  aber  das  neu  entstandene  Individuum  neben  seiner 
individuellen  Materie  auch  seine  eigene  individuelle  Form  einschliesst, 
welche  von  derjenigen  der  bewirkenden  Ursache  der  Zahl  oder 
Existenz  nach  verschieden  ist,  so  lässt  sich  dieser  Form  das  Wer- 
den und  Vergehen  nicht  mehr  länger  absprechen.  In  der  That 
giebt  Aristoteles  zu,  dass  die  Form  nicht  vor,  sondern  gleich- 
zeitig mit  dem  Einzelding  sei,  und  dass  sie,  mit  Ausnahme  der 
vernünftigen  Seele,  nicht  länger  bestehen  bleibe,  als  das  Einzel- 
ding dauere.  Die  Gesundheit  z.  B.  soll  nur  dann  vorhanden  sein, 
wenn  der  Mensch  gesund  ist;  ebenso  die  Gestalt  der  runden  Ku- 
gel nur  zugleich  mit  dieser  ganzen  runden  Kugel  selbst  2).  Ist 
also  nach  Aristoteles  die  Form  jetzt  da,  während  sie  früher  nicht 
war  und  später  nicht  sein  wird,  so  muss  er  auch  ein  Entstehen 
und  Vergehen  für  dieselbe  einräumen.  Hier  kann  die  Ewig- 
keit der  Art  nur  darin  liegen,  dass  in  dem  ewigen  Laufe  der 
Welt,  die  nach  Aristoteles  ja  unentstanden  ist,  das  Individuum 
durch  die  Zeugung  seine  Wesensforni  in  einem  andern  Individuum 
stets  wieder  erneuert  ^). 

Damit  aber  ist  die  ursprüngliche,  dem  Piatonismus  entstam- 
mende Behauptung,  nicht  die  Form  werde  und  vergehe,  sondern 
nur  die  Vereinigung  (avvodoc)  von  Form  und  Materie,  völlig  ver- 
lassen. Aristoteles  freilich  sucht  diese  Lücke  künstlich  zu  über- 
brücken. Die  Form  soll  nicht  an  sich,  sondern  nur  in  acciden- 
teller  Weise  entstehen,  insofern  nämlich,  als  das  Ganze  entstehe, 
zu  dem  sie  gehöre  *).  Allein  eine  solche  accidentelle  Entstehung 
der  Form  würde  doch  nur  dann  keine  Entstehung  der  Form  selbst 
sein,  wenn  diese  Form  nur  äusserhch,  nur  in  accidenteller  Weise, 
bald   zu    diesem,    bald   zu   jenem  Teile    der  Materie  in  Beziehung 


')  de  cael.  I  9,  278  a  18-20. 

»)  met.  XII  3,  1070  a  21—27. 

•■')  de  an.  II  4,  415  a  25— b  2;  de  gen.  an.  II  1,  731  b.31— 7o2  a  1.  Ähnliches 
gilt  auch  von  dem  ewigen  Kreislauf  der  Elemente:  de  gen.  et  corr.  II  11, 
338  b  16—18.  Auch  jener  Gedanke  ist  übrigens  bereits  [ilalonisch;  vgl. 
synipos.  207  D. 

■•)  met.  VII  8,  1033  a  28—30. 


28S  Driltcr  Alisclmilt.     Aristoteles. 

träte,  in  sich  aber  gleich  der  platonischen  Idee  als  eine  specifisch 
und  numerisch  identische  verharrte.  Wenn  aber  die  Form,  weil 
sie  nicht  getrennt,  sondern  nur  in  der  Materie  existiert,  aus 
diesem  (inmde  auch  nur  in  der  Materie,  nur  als  Teil  des 
Individuums,  wird,  so  hört  darum  ihr  Werden  doch  nicht  auf, 
ein  Werden  zu  sein. 

So  liegt  hier  in  der  That  ein  Widerspruch  des  aristote- 
lischen Systemes  vor  ^).  Den  Grund  desselben  dürfen  wir  wohl 
in  dem  Umstände  suchen,  dass  hier  vei'schiedene  Gedankenreihen 
zusammentreffen,  welche  völlig  auszugleichen  dem  Aristoteles  nicht 
gelungen  ist. 

Wenn  Aristoteles  die  Form,  wie  Plato  die  Idee,  als  unent- 
standen  und  unvergänglich,  sowie  aller  Veränderung  entnommen 
bezeichnet,  so  hat  er  den  abstracten  Begriff  der  Art  im  Sinne, 
der  ja  alle  Individuen  in  seiner  Einheit  befasst  und  nicht  mit  den 
Individuen  wird  und  vergeht.  Wenn  er  dagegen  die  Form  mit 
den  Individuen  sich  vervielfältigen,  wenn  er  dieselbe  nur  mit  den 
Individuen,  nicht  vor  oder  nach  ihnen  existieren  lässt,  so  geht 
das  auf  die  Form  als  physischen  Bestandteil  des  Individuums, 
Beides  aber  wird  von  Aristoteles  in  diesem  /.usammenhange  ganz 
und  gar  niclit  geschieden  2).  Der  eine,  unveränderliche  Begriff 
wird  von  ihm,  dem  realistischen  Grundzug  des  antiken  Denkens 
entsprechend  ^),    zu    etwas    Realem    hypostasiert  *).     Aber    nicht, 


')  Der  wahre  Ausgleich  dieses  Widerspruches  wird  erst  möglich  durch 
eine  riditige  Verbindung  platonischer  Gedanken  —  in  der  umgebildeten  Form, 
in  der  sie  namentlich  durch  Augustinus  der  cliristlichen  Philosophie  zuge- 
lührt  wurden  —  mit  den  aristotelischen.  Ewig  ist  die  Idee  als  bleibender 
Typus,  aber  nicht  eine,  man  weiss  nicht  wo,  gewissermassen  in  der  Luft  über 
den  Erscheinungen  schwebende,  sondern  die  Idee  als  Gottesgedanke;  stets  er- 
neuert ist  ihr  Abbild   in  der  Welt  des  Endlichen. 

-')  Hier  scheidet  sich  die  vorstehende  Entwickelung  von  den  Ausführungen 
von  Hertling's  a.  a.  0.  S.  48  ff.,  mit  denen  sie  sich  sonst  in  den  Hauptpuncten 
berührt.  Schon  das  Verhältnis  des  Aristoteles  zu  Plato  scheint  mir  mit 
Zeller  IP  b,  342,  1  eine  ursprüngliche  Gleichsetzung  von  Form  und  Wesen  zu 
verlangen  (s.  o.  S.  282  Anm.  2),  für  deren  urspningliche  Trennung  kein  ein 
ziger  Ausspruch  des  Aristoteles  angeführt  werden  kann. 

3)  Vgl.  V.  Hertling  a.  a.  0.  S.  94  ff. 

■•)  Vgl.  Z.  B.  met.  Vll  11,  103t)  a  26 — 29:  djioQfhai  1)'  tixunos  xal  noTa  Tov 
tl'(fovs  lneQtl  xat  noia  ov,  aAAä  ror  avvfi?.>ju/Liei'ov.  xaiioi  loi'ioiy  ftt'j  rf^/Aoc 
ovTog  01'x  fOTiv  OQiaaO&at  i'y.uaruv'  jiiv  yä(i  y.aO-üXoc  xal  zov  tlifuog  ü  o(jiafitJi;. 
Hier  wird  das  fi'd'os  als  rd  xK&oko,-,  auf  welches  die  Definition  geht  —  also  der 


c)  Allgeni.  Functionen  d.   Mat.    Die  Mat.  als  Individiiatinnsprinciii.       '2H9 

wie  es  consequent  gewesen  wäre,  zu  der  in  sich  ungeschiedenen, 
über  den  hidividuen  stehenden  platonischen  Idee;  denn  diese  er- 
scheint für  die  Naturerklärung  überflüssig;  sondern  zu  der  imma- 
nenten Wesensform  des  Individuums.  Darum  muss  die  Individu- 
ation,  welche  Aristoteles,  wie  Plato,  von  der  Materie  ausgehen 
lässt,  das  tiöog  in  sich  selber  betreffen^  es  real  vervielfältigen;  das 
tt'dog  muss  kommen  und  gehen,  w'ie  bei  Plato  die  Bilder  der  Idee 
in  die  Materie  ein-  und  aus  ihr  austreten.  Weil  nun  aber  der 
ursprüngliche  platonische  Gedankenkreis  auch  bei  Aristoteles  zu 
fest  haftet,  um  völlig  ausgemerzt  zu  werden,  so  bleiben  jene  Sätze 
von  dem  unentstandenen  und  unvergänglichen  Sein  der  Form 
stehen,  obschon  diese  eigentlich  nur  für  den  abstrahierten  logischen 
Allgemeinbegritf  Geltung  haben,  den  er  doch  anderswo  von  der 
realen  Substanz  richtig  unterscheidet. 

Noch  in  anderer  Weise  otTenbart  sich  dieser  innere  Gegen- 
satz der  Principien.  Es  fragt  sich,  ob  die  Materie,  welche  den 
Grund  der  Individuation  bildet,  auch  zum  Wesen  (cd  ti  rjv  enai, 
Xöyoc,  ovoia)  gehört.  Offenbar  nicht,  da  ja  die  aristotelische 
Lehre,  ihrem  Ursprünge  aus  der  platonischen  gemäss,  Form  und 
Wesen  zusammenfallen  lassen  muss.  In  der  That  wird  auch  an 
zahlreichen  Stellen  von  Aristoteles  ausdrücklich  gelehrt,  dass  die 
Materie  zwar  einen  Teil  der  zusammengesetzten  Einzelsubstanz, 
aber  nicht  auch  des  Wesens  bilde  ^).     Andererseils  aber  lässt  sich 


Ai'tsbegrifT  —  ohne  jede  weitere  Bemerkung    mit    dem    iidoi   als   Teil  des  arv- 
ii/.ri,uiuivov  —  also  der  Form  des  Individuums  —  identificiert. 

*)  met.  VII  11,  1037  a  24 — 2i):  Zum  ?.öyos  der  ovaia  gehören  nicht  die 
Teile,  welche  die  Materie  bilden,  da  diese  vielmehr  nur  einen  Teil  der  zu- 
sammengesetzten Einzelsubstanz  ausmachen.  Darum  giebt  es  von  der  indivi- 
duellen Einzelsubstanz  mit  Einschluss  der  Materie  nur  in  gewisser  Weise  einen 
AJyo*,-  (d.  h.  hier  eine  Definition).  Wohl  aber  ist  ein  solcher  hinsichtlich  der 
TjQo'nr,  ovaia  (d.  h.  hier  der  Form)  vorhanden,  wie  beim  Menschen  hinsichtlich 
der  Seele.  —  Ebd.  VII  10,  1035  b  11 — 16:  Die  Seele  ist  xatd  rdv  Xoyov  ovaia 
und  10  ti  liv  tivai  für  den  beseelten  Körper.  —  Ebd.  VII  10,  1035  a  18 — 21: 
Knochen,  Sehnen,  Fleisch  sind  beim  Menschen  nicht  Teile  der  ovaia,  auf 
welche  der  lo'io?  geht,  sondern  des  aivoXov  (ebenso  VII  11,  1036  b  3 — 8.  1037 
a  32 — 33).  Nur  das  avviihr,iiuivuv,  wie  z.  B.  das  Individuum  (lallias,  vergeht 
darum  in  Fleisch  und  Knochen  (met.  VII  10,  1035  a  25 — 33).  Darum  wird 
auch  met.  VIII  3,  1043  a  34-36  (vgl.  VII  10,  1036  a  16-25)  gefragt,  ob  die 
Seele  im  Körjjer  oder  die  Seele  allein  (wie  unter  den  mittelalterlichen  Ari.sto- 
telikern  Averroes  lehrte,  nach  dem  die  Materie  des  Menschen  nur  in  der 
Pseudo-Definition  des  Individuums,    nicht    in  der  eigentliclien    Definition    vor- 

Baenmker,  Das  Problem  der  Materie  etc.  1  y 


290  Dritter  Alischiiitt.      Aristoteles. 

iiiclil  k'U^^neii,  dass  tlci-  alliiciiiciiH'  Hc^i-ilT  alles  das  umfassen 
muss,  worin  die  sänitliclien  Inilividiicn  ül)ereinstiiinnen  ').  Nun 
stiiniuen  aber  die  menschlichen  Individuen  nichl  nur  darin  über- 
ein, dass  sie  ehie  Seele  besitzen,  welche  die  Form  des  Menschen 
ist,  sondern  auch  darin,  dass  sie  einen  Leib  haben,  welcher  die 
Materie  dieser  Form  bildet.  So  hören  wir  denn  von  Aristoteles 
auch  wieder,  dass  in  den  Allgemeinbegriff  auch  die  Materie  im 
allgemeinen  aufgenommen  werden  müsse  "),  also  z.  B.  in  den 
Allgemeinbegriff  des  Menschen  zwar  n.icht  diese  Knochen  und 
dieses  Fleisch,  wohl  aber  Knochen  und  Fleisch  im  allgemeinen^), 
und  dass  daher  die  sinnfälligen  Substanzen,  welche  das  Object 
des  Naturphilosophen  bilden  und  denen  es  wesentlich  ist,  Ver- 
änderungen zu  erleiden,  aus  diesem  Grunde  nicht  ohne  ihre 
Materie  definiert  werden  können  ^).  Vielmehr  müsse  hier  die 
Materie  in  die  Definition  aufgenommen  werden,  ebenso  wie  man 
wohl  die  Krummheit,  aber  nicht  die  Krummnasigkeit,  ohne  die 
Nase  definieren  könne,  welche  in  diesem  Falle  der  Krunmdieif 
als  Materie  diene  •'). 

Solche  Widersprüche,  wie  sie  uns  hier  entgegentreten,  wollen 
historisch  liegriffen,  nicht  durch  unzulängliche  Interpretations- 
künste überdeckt  werden.  Zu  beachten  aber  ist,  dass  auch  diese 
in  die  Definition  aufgenonmiene  Materie  wiederimi  nicht    die    un- 


konimt:  vgl.  met.  VII,  comm.  34,  fol.  222  E  der  S.  231  Aiiin.  2  Schi,  citierlen 
Ausgabe)  das  Lebewesen  ausniaclie.  —  Ferner  de  cael.  I  !•,  277  h  30 — 278  a  4: 
In  allen  Natur-  oder  Kunstgegenständen  ist  die  Furni  an  sich  und  die  mit 
der  Materie  verbundene  Form  zu  unterscheiden,  z.  B.  die  Gestalt  der  Kugel 
und  die  eherne  oder  goldene  Kugel,  die  Foiiu  des  Kreises  und  der  eherne 
oder  hölzerne  Kreis.  Denn  wenn  wir  das  Wesen  der  Kugel  oder  des  Kreises 
{to  Ti  7;i'  (rvai  aifatQct.  7/  xvyJ.u))  angeben,  führen  wir  in  dem  ?.öyog  das  Gold  oder 
das  Erz  nicht  auf. 

".  Vgl.  anal.  post.  11  13,  lt7  b  7—8. 

-)  met.  VII  10,  1035  b  27 — 31  (wozu  vgl.  Bonitz,  Gomrnent.  p.  330;  ganz  ver- 
fehlt ist  die  Erklärung  der  Stelle  bei  Fs. -Alexander,  p.  477,  8  ff.  Bonitz) ; 
met.  VII  11,  1037  a  5-7. 

ä)  das  Beispiel  nach  met.  VII  8,  1034  a  5—8. 

')  met.  VII  11,  1036  b  28— .30;  [XI  7,  10(54  a  !!»— 30].  Vgl.  phys.  II  2. 
194  a  12;  de  an.  I  1,  403  a  29  ff. 

")  met.  V  1,  1025  b  31—34;  [Xl  2,  10(14  a  21— 2(i|.  Die  aiuÖT,,^  als  xoüJn.i 
der  Nase  ist  ein  unzählige  Male  von  Aristoteles  wiederholtes  und  variiertes 
Beispiel;  vgl.  soph.  el.  13,  173  h  Kt-ll:  31,  182  a  i~(i;  pliys.  I  3,  18('.  b 
22—23;  11  2,  191  a  (i-7;  de  an.  111  4,  429  1.  11:  7,  4:U  b  i;!~l5;  VII  5, 
1030  b  17-18.  30—34;     10,  103.5  a  4  -(j  u.  o. 


(•)   Allyeui.  Fuiicliducn  il.  Mal.    Die  Mal.  als  IiKlividualiiiiisjuiiiciii.         'JWl 

bcstimnite  Möi^rlichkolt  aller  Formen  ist,  sondern  ein  heslininiter 
StolT,  der  in  den  von  Aristoteles  ge^'^ebenen  Beispielen  sogar  als 
ein   ber(Mts  organisiin'ter  (E'leisch,  Knocben  nnd  dgl.)  erscheint. 

4.  Die  infelligibele  M.iterie. 

Der  Begriff' der  Materie  ist  für  Aristoteles  znnächst  ein  natnr- 
pliilosophischer.  Er  ist  erwachsen  aus  dem  Bedürfnis,  die  Ver- 
änderungen innerhalb  der  physischen  Welt  zu  erklären. 

Aber  dieser  Begriff  gewinnt  eine  weitere  Bedeutung.  Wie  in 
der  spätem  Lehre  Plato's  die  Kategorien  der  Grenze  und  des  Un- 
begrenzten nicht  nur  auf  die  physische  Welt,  sondern  auch  auf  das 
Mathematiscbe  und  auf  die  abstracten  Begriffe  angewendet  wer- 
den, so  in  der  aristotelischen  Philosophie  der  Gegensatz  von 
Form  und  Materie.  Der  sinnlichen  Materie  (vltj  cdölf^rjTr'j),  d.h. 
der  Materie  des  sinnlich  Wahrnehmbaren  ^),  tritt  die  intelligibele 
Materie  (vhj  lotjitj  zur  Seite.  Diese  aber  ist  wiederum  eine 
mathematische  und  eine  begriffliche. 

a)   Die  iiiatlieiiiatiscbo  Materie-). 

Die  Geometrie  behandelt  nicht,  wie  die  Platoniker  meinen, 
etwas  von  den  sinnfälligen ,  veränderlichen  Körpern  gesondert 
Existierendes.  Aber  wenn  ihr  Object  auch  nicht  real  von  dem 
Objecte  des  Physikers,  nämlich  dem  der  Veränderung  unterwor- 
fenen Körper  («Jw/ia  xirijTÖr)^  getrennt  ist,  so  ist  es  doch  durch 
die  Abstraction  des  Denkens  von  demselben  unterschieden  '^). 
Der  Mathematiker  beschäftigt  sich  mit  den  Körpern  nicht,  soweit 
diese  der  Veränderung  unterworfen  sind  *).  Er  abstraliiert  von 
allen  sinnfälligen  Qualitäten  und  betrachtet  seine  Objecte  lediglich 
als  continuierliche  Grössen  •''). 


')  8.  S.  238  Anni,  4. 

*)  Tiof  iia&tjfiariy.wp  vh]  wird  sie  in  dem  allerdings  erst  nacharistotelischen 
XI.  Buche  der  Metaphysik,  c.l,  1059  h  IG,  genannt.  Vgl.  ehd.  VII  10,  lOSfJall— 12. 

^)  de  an.  III  7,  431  h  IT) — 16:  t«  [xa&ijuaTty.a  oi'  xe^oögiafisva  ais  xtytDp/auii'a 
roti:  (der  vovs).     Vgl.  phys.  II  %  193  b  22—35;  met.  XIII  3,  1077  b  17-1078  a  30. 

•»)  phys.  II  2,  193  b  .34;  niet.  V  1,  102(1  a  9.  15;  [XI  7,  10G4  a  32];  XIII 
3,  1077  b  28. 

■')   met.   XI   3,   1061    a   28 — 33:     xaxyänfQ   <)'   ö    /^iaxhi/.iaTix6i;   7if(ii   zä   t'S  difui^ii- 

niwg  (vgl.  de  cael.  III  1,  299  a  16;  de  pnrf,  an.  I  1,  641  1)  10-11;  auch  de 
an.  I  1,  103  b  15:  anal.  post.  I  IS,  ,S1  li  3.  Trendelenburg  zu  de  an.,  p.  393  ff. 
der  2.   Autl.)    /;,*'    Omtijiiti'   7iuifhai'     Ji f(itt).<r,r     yi((i    ndvia     rä   ui'aäijid    t^Kn(tfT,oiov 

19  * 


2\)-2  Dritter  Absclmilt.     Aristoteles. 

Wenn  aber  das  matheniatisclie  Gel)ildo  von  aller  Veränderung 
und  allen  .sinnlichen  Qualitäten  absieht,  so  ist  es  als  solches  auch 
ohne  sinnliche  Materie. 

Daraus  folgt  indessen  nicht,  dass  es  nun  auch  ohne  alle 
Materie  wäre.  Denn  mag  auch  z.  B.  die  Kreisform  mit  dem 
Wesen  zusammenfallen,  so  mu.ss  doch  der  individuelle  Kreis 
von  diesem  Wesen  noch  unterschieden  werden.  Es  gilt  das  niclit 
nur  für  den  Kreis  von  Metall  oder  Holz,  sondern  auch  fiir  den 
mathematischen  Kreis.  Auch  dieser  bestimmte  mathematische 
Ki-eis  ist  daher  aus  der  Wesensform  und  der  Materie  zusammen- 
»gesetzt  1).  Da  aber  diese  Materie  dem  Kreise  in  einer  Beziehung 
zukommt,  nach  der  ihn  die  abstrahierende  Thätigkeit  des  Ver- 
standes betrachtet,  so  ist  sie  intelligibele  Materie  '^). 

Was  unter  dieser  mathematischen  Materie  der  Körper  ver- 
standen werden  soll,  hat  Aristoteles  nicht  ausdrücklich  auseinan- 
dergesetzt. Wir  können  es  aber  aus  beiläufigen  Bemerkungen 
ableiten.  Nicht  die  Wesensform,  lehrt  er,  sondern  nur  das  aus 
Form  und  Materie  zusammengesetzte  Individuum  wird  bei  der 
Zerstörimg  auf  seine  materiellen  Teile  reduciert.  Wenn  man  also 
von  dem  Kreise  sage,  dass  er  in  seine  Teile  zerfalle,  so  sei  der 
aus  Kreisform  und  ]\Iaterie  zusammengesetzte  individuelle  Kreis 
gemeint.  Der  Schein,  als  ob  auch  das  Wesen  des  Kreises  solche 
Teile  einschliesse,  entstehe  nur  dadurch,  weil  es  für  den  indi- 
viduellen Kreis  keine  besondere  Bezeichnung  gebe,  wie  für  die 
menschUchen  Individuen  die  Namen  Gallias  und  dgl.  ^).  Nicht 
der  allgemeine  Begriff  des  Kreises  —  variiert  er  den  Gedanken 
—  hat  Halbkreise  zu  Teilen,  sondern  nur  der  individuelle  Kreis, 
welcher  neben  der  Form  auch  Materie,  und  zwar  intelligibele 
Materie,  einschliesst  *). 

Materie  des  Kreises  ist  also  das,  woran  eine  Teilung  vorge- 
nommen werden  kann.  Das  aber  ist  die  jedesmalige  Ausdehnung, 
welche  nach  einem  allgemeinen  Begriff,  nämlich  der  Fornt  (oder 
Formel,  wie  ein  Moderner  sagen  würde)  des  Kreises  bestinunt  ist. 


ßcifjui  y.ai  y.ortpoTrjia  y.ui  axXi-iQÜTi,T(i  xai  Tni'variiuv,  iii  ()'t  xal  \}f(tfjii)ri,iu  xul  iliv- 
^^Kiii^TU  y.ul  T«f  (D.Xas  r«s"  itia&ifidi;  tvariidtafK;,  /nüvor  ifi  xaiuXtlud  ii)  noauv  xal 
airiyi\;   xtl.     Ist   auch  nicht  das  Budi,    so  doch  der  Geilunke  aristoteHsch. 

M  met.  VII  10,  103G  a  1-5. 

•)  met.  VII  10,  103Ü  a  9—12. 

'')  met.  VII  10,  1035  a  30-b  4  (vyl.  audi  a  7—14). 

';  met.  VII  11,  103G  b  32-1037  a  5. 


Die  inlelligiliele  Materie.  293 

Die  abstract  gedachte  Ausdehnung  also  ist  die  genieinsaine 
Materie  der  mathematischen  KcU'per;  individuelle  Materie  das  jedes- 
malige (juantuni  dorsellMMi.  in  dem  das  allgemeine  Foi'mgesetz 
verwirklicht  erscheint  ^). 

l>)  l>it'  bogriifliohe  Materie. 

Wie  die  physische  Materie  als  reale  Möglichkeit  durcli  ent- 
gegengesetzte Formen  ihre  nähere  Bestinnnung  erf;ihrt,  so  verhält 
sich  auf  logischem  Gebiete  die  Gattung  zu  ihren  spezifischen  Diffe- 
renzen 2).  Die  Gattung,  für  sich  gedacht,  ist  noch  unbestimmte 
Möglichkeit,  welche  durch  die  specifischen  Differenzen  ihre  nähere 
Determination  erfährt.  Darum  setzt  sich  der  ArtsbegrifT,  wenn 
wir  ihn  bei  der  Definition  in  seine  Bestandteile  zerlegen,  aus 
der  Gattung  als  (intelligil^eler)  Materie  imd  dem  artbildenden 
Merkmal  als  Form  zusammen  ^).  Die  Gattung  ist  die  Materie 
der  Art  ^). 

Umgekehrt  lässt  sich  die  Materie  als  bleibendes  Substrat  der 
Gegensätze  dem  Gattung-sbegfiff  vergleichen  ^).  Ja  dieselbe  wird 
gelegentlich  von  Aristoteles,  indem  er  Begriffliches  und  Reales 
identificiert,  als  die  Gattung  selbst  bezeichnet  *').  Darin  kehrt 
dann  die  schon  oben  '')  hervorgehobene  Unklarheit  wieder,  dass 
die  Materie,  die  sonst  als  blosser  Teil  des  Individuums  vom  Wesen 
ausgeschlossen  erscheint,  als  Gattung  dem  Wesen  wieder  zuge- 
rechnet wird. 


^)  Bei  der  Besprechung  des  Proclus  wird  sich  noch  einmal  Gelegenheit 
bieten,  auf  die  „mathematische  Materie"  des  nähern  zurückzukommen. 

2)  met.  Y  6,  1016  a  26-28.  —    '')  met.  VIII  6,  1045  a  33—35. 

'')  met.  X  8,  1058  a  23:  t6  de  yevos  vItj  oi  Ir/etai  yivos.  Vgl.  V  21,  1023  b 
1—2;  28,  1021  a  36— b  9  (zu  der  nicht  ganz  klaren  Stelle  s.  Bonitz.  p.  271); 
VII  7,  1033  a  1—5;  12,  1038  a  5-0  ;  X  8,  1058  a  1.  —  Die  obersten  Gattun- 
gen, wie  die  Begriffe  des  Seienden,  der  Substanz,  der  Eigenschaft,  der  Grösse, 
welche  nicht  weiter  in  Gattung  und  artbildendes  Merkmal  zerlegbar  sind,  ha- 
ben aus  diesem  Grunde  auch  keine  intelligibele  Materie. 

*;  de  gen.  et  corr.  I  7,  321  b  6—7  :  t7]v  uev  yaQ  v"/.r,v  /.iyoiitv  ö/no/o^s  '•'>? 
tiJiftv  r-^v  avTT/V  fh-ai  tu>v  driixftueviov  onoTfQoi-ovv,  uiOntQ  yivog  o  r. 

*)  Vgl.  de  gen.  et  corr.  I  10,  ,328  a  19-23,  wo  es  heisst,  dass  nur  dasjenige 
sich  zugleich  activ  und  passiv  zu  einander  verhalten  könne,  was  dieseli>e  t'Ai? 
habe,  und  1  7,  323  b  29— .324  a  2,  wo  dafür  das  gleiche  yivo^-  gefordert  wird; 
ferner  met,  V  24,  1023  a  26—29,  wo  das  Wasser  für  alles  Schmelzbare  als 
ii  oi  (ÖS  vk-iig  und  zugleich  als  nnmtov  yivug  aufgeführt  \vird. 

')  S.  S,  289  f. 


294  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

5.  Die  peripatetische  Schule. 

Die  |)('fi[)ai('lisclie  Schule  l)(Miaii(l('ll  das  l'i-oblcin  dt-r  .Materie 
durehau.s  nacli  den  von  Afisloteles  L;ebuleiieii  Clesiclit.spiinclen. 
Man  versncht,  seine  Leine  in  einzelnen  Dingen  näher  zu  be- 
slinniien,  ohne  aber  die  Grundgedanken  derselben  zu  verlassen. 

Theophrast,  überhaupt  nielit  blind  für  die  Schwierigkeilen 
der  aristotelischen  Lehre  ^).  hebt  in  seinen  nietaphy.sischen  Aporien 
richtig  die  Unklarheit  hervor,  welche  iji  dem  aristotelischen  Be- 
griffe der  Materie  enthalten  ist.  Er  giebt  zwei  xVuftassungen  des 
Verhältnisses  von  Form  und  Materie,  zwischen  denen  eine  Ent- 
scheidung zu  treffen  sei.  Es  sind  im  Grunde  die  beiden  unter  sich 
unvereinbaren  Formulierungen  des  Begriffes  der  Materie,  die  sich 
schon  bei  Aristoteles  ergaben,  jenachdem  wir  den  einen  oder  den 
andern  der  l)eiden  Wege  einschlugen,  auf  denen  er  im  ersten 
Buche  der  Physik  die  von  den  Alten  im  Begriffe  des  AVerdens 
gefundenen  Schwierigkeiten  überwinden  will  2).  Nach  der  einen 
Auffassung,  welche  nur  in  der  Form  ein  Seiendes  erblickt,  ist  die 
Materie  noch  nicht  Seiendes,  sondern  erst  der  Möglichkeit  nach 
Seiendes,  und  das  Werden  besteht  demgemäss  in  einer  Überfüh- 
rung aus  dieser  blossen  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit.  Nach  der 
zweiten  ist  dagegen  auch  die  Materie  ein.  Seiendes,  aber,  wie  der 
Stoff,  welchen  der  Künstler  gestaltet,  ein  noch  unbestimmtes  Sei- 
endes, und  das  AVerden  besteht  dai'in,  dass  dieses  unbestinnnte 
Seiende,  dem  jedesmaligen  Begritf  entsprechend,  geformt  wird  ^). 
Bei  dieser  Auffassung  ist  auch  die  Materie  wahrhaft  am  Sein  be- 
teiligt; es  würde  nichts  werden,  weim  sie  nicht  wäre;  aber  dieses 
Seiii;  was  sie  giebt,  ist,  wie  Aristoteles  es  von  der  Materie  ver- 
langt, weder  bestinnnte  Substanz,  noch  Quantität,  noch  Qualität; 
es  ist  unbestimmt  der  Art  nach  und  nur  der  Mögliclikeit  nach 
etwas  Bestimmtes  ^).  —  Der  Consequenz  des  aristotelischen  Ge- 
dankens entspricht  nur  die  erste  Deutung;  die  zweite  enthält  eine 
An})assung  an  die  gewöhnlichen  Vorstellungen  vom  Stoff,  die 
dem  Aristoteles  sehr  geläufig  ist  und  von  den  Stoikern  weiter  aus- 


1)  Vgl.  Zeller  II'' b,  H2(3.     Diels,  Doxogr.  j).  164. 

2)  S.  S.  213  t.  und  S.  257. 

■'')  Theophr.  met.  §.    17,    wozu    vgl.   Usener,    Hb.  Mus.    XVI.    1«(31.    S.    277 
(<)'i'r«',/'f'   '''  "''  statt   .   .   .   i-v.) 
*)  Theopbr.  a.  a.  0. 


Die  iieriinilpt.  Schulf.     Tlicnpliiast.  Eudem.  Strato.  205 

getülirt  wird.  Für  wciclio  AuirassiinLr  Theoplirast  sich  (Milsehiotl, 
wissen  wir  niclil.  Doch  scheint  er  mehr  der  zweiten  zuzuneigen; 
denn  er  verlangt,  dass  jene  Frage  nach  der  Analogie  der  Kunst 
—  und  dem  Stoffe  des  Kunstwerkes  verglich  er  ja  jenes  unbe- 
stimmte wirkliche  Seiende  —  beantwortet  v/erden  müsse  ').  Wo 
Theophrast  in  seinen  naturwissenschaftlichen  Schriften  von  der 
Materie  spricht,  versteht  er  darunter,  wie  Aristoteles  in  seinen 
naturwissenschaftlichen  Werken,   stets   einen   bestinmiten   Stolf  ^). 

Wie  Theophrast,  scheintauch  Eudemus  sich  von  der  aristo- 
telischen Theorie  nicht  entfernt  zu  haben  ^). 

Ob  Strato  von  Lampsacus.  auf  dem  Gebiete  der  Physik  der 
selbständigste  unter  den  Peripatelikern,  auch  auf  das  Problem  der 
Materie  eingegangen  sei,  lässt  sich  aus  dem  vorliegenden  Materiale 
nicht  ersehen  *). 

1)  Theoptir.  a.  a.  0. 

■')  v).7i  Nährstoff  für  die  PlUiiizen  (de  caiiH.  i)]ant.  1  10,8;  IV  3,  4;  VI  17,  VI). 
für  Feuer  (de  igne  4)  und  Wind  ^de  vent.  '2\).  Die  Materie  für  Blätter  und 
Schossen  weniger  rein  als  für  Fnichte  und  Pflanzensäfte  (de  e.  ])1.  I  14,  .'5; 
VI  12,  f>),  und  <1aruni  das  Verhältnis  von  Pflanzen-  und  Fruchtsaft  wie  das  von 
Materie  und  Form  thist.  pl."  I  12,  2).  Das  Feuchte  Materie  für  die  Pllnn/.en- 
säfte  (de  c.  pl.  VI  7,  1);  ehenso  für  das  Warme  bei  der  spontanen  Entstehung 
von  Maden  u.  s.  w.  (de  c.  pl.  11 1  22,  o.  Vgl.  Arist.  de  gen.  an.  III  11,  7(i2  a 
f>— 27;  s.S.  278  Anm.  (!);  das  Saure  Materie  für  den  Wein,  weshalb  er  darein 
auch  wieder  umsclüägt  (de  c.  pl.  VI  7,  0) ;  das  Wasser,  mit  dem  der  Kalk 
übergössen  ist,  für  das  Feuer  (de  igne  tö). 

■■*)  Was  wir  von  Bestimmungen  des  Eudem  über  die  Materie  wissen,  ist 
Folgendes.  Die  Materie  ist,  als  etwas  in  sich  Gestaltloses,  Substrat  der  vier 
Elemente  und  von  diesen  verschieden  {h.  32  Spengel  bei  Simpl.  phys.  III,  p. 
4.S(>,  20  f.).  Sie  ist  nicht  amna,  sondern  ai»fxutofi<N,g  (fr.  KJ,  Simpl.  phys.  I,  p. 
201,  21)).  Vom  Raum  ist  sie  zu  unterscheiden,  da  sie  beweglich,  dieser  unbe- 
weglich ist  (fr.  40,  Simpl.  phys.  IV,  p.  550,  34).  Die  Formen  sind  in  ihr  (fr.  41, 
Simpl.  jihys.  IV,  p.  552,  25  f.),  und  dabei  verhalten  sich  die  arfQijasi^  ähnlich  wie 
etwas  real  Vorhandenes  (fr.  54,  Simpl.  phys.  V,  fol.  192  "*' ).  Sie  ist  daher  eine  der 
Ursachen.  Das  Erz  z.  B.  erweist  sich  als  Ursache  dadurch,  dass  es  dem  Kunst- 
werk seine  lange  Dauer  verleiht  (fr.  2,  Simpl.  phys.  I,  p.  10,  13  ff.).  Auch  ^vais 
ist  sie,  weil  sie  Ursache  der  Bewegung  ist,  z.  B.  das  Blei  für  die  Abwärts- 
bewegung (fr.  19,  Simpl.  phys.  II,  p.  2H4,  34  ff.).  Man  sieht,  wie  auch  bei 
Eudemus    die    Materie    unter   der  Haud  zum  kraftbegabten  Stoffe  wird. 

')  Im  Unterschiede  von  Aristoteles  (s.  S.  247  Anm.  3)  stimmte  Strato  dem 
Demokrit  wenigstens  darin  zu,  dass  innerhalb  des  Weltganzen  leere  Zwi- 
schenräume —  also  Discontinuität  der  Materie  —  anzunehmen  seien. 
Anders  glaui)te  er  das  Durchdringen  des  Liclites  und  der  Wärme  durch  die 
Körper  nicht  erklären  zu  können.  Vgl.  Simpl.  phys.  IV,  p.  693,  11— IH.  Eine 
andere  Bemerkung  Strato's  s.  S.  307  Anm.  2. 


206  Dritter  Abschnitt.     Aristoteles. 

Uiilci"  den  spülern  Peripaletikern  niihert  sich  Boethus  aus 
Sidon  in  bedenklicher  Weise  der  sloisclion  Lehre  i), 

Alexander  von  Aphrodisias  dagegen,  der  „Exegel",  kehrt 
zu  der  ursi)rünglichen  aristotelischen  Theorie  zurück,  die  er,  unter 
Ausscheidung  einiger  platonischer  Elemente,  mit  grosser  Klarheit, 
aber  ohne  aul"  die  Schwierigkeiten  ihrer  letzten  Grundlagen  ein- 
zugehen, schulmässig  vorträgt  und  gegen  den  Sloicisnuis  vertei- 
digt 2). 


')  Nacli  Simpl.  in  Categ.  fol.  20  r  ed.  Kasil.  1551  (bei  Brandis,  scliol.  in 
Arist.  p.  50  a  10,  fehlt  gerade  die  entscheidende  Stelle)  lehrte  er,  dass  nur  die 
'  Materie  und  das  aus  Materie  und  Form  Zusammengesetzte  —  und  zwar  in  er- 
ster Linie  die  Materie  —  Substanz  seien  ;  denn  nur  sie  würden  von  keinem 
andern  ausgesagt  und  seien  in  keinem  andern.  Die  Form  dagegen  falle  unter 
die  Kategorie  der  Qualität  oder  der  Quantität  oder  eine  ähnliche.  (Solche 
.Annäherungen  des  Peripatetikers  Boethus  an  die  Stoiker  finden  sich  auch 
sonst,  selbst  in  auffallenden  Eigentümlichkeiten  der  Stoiker,  wie  hinsichtlich 
des  Unterschiedes  von  T/poV  n  und  7r()ös  n  nwg  ey^ov ;  vgl.  Simpl.  in  categ.  fol. 
43  B).  Nach  Themist.  phys.  I,  p.  145,  13  ff.  Spengel,  Simpl.  phys.  I,p.211,15  — 
18  unterschied  er  vXr,  und  vTioxfi/iifvov.  Der  Name  vkrj  bezeichne  den  noch  ge- 
staltlosen Stoff  vor  Aufnahme  der  Form  ;  rnoxfifievov  sei  der  »Stoff  als  Träger 
der  Form,  d.h.  (vgl  kowv  bei  Themisl.  Z.  14  und  ftVo?  Z.  17  gleichbedeutend)  der 
Qualität.  Das  widerspricht  indes  dem  eben  aus  Simplicius  in  cat.  Angeführten. 
Vermutlich  gebrauchte  Boethus  den  Namen  vlij  als  allgemeine  Bezeichnung 
des  Stoffes  sowohl  vor  als  nach  der  Aufnahme  der  Form,  während  der  Name 
vnoxeijufvov  dem  letztern  Zustande  vorbehalten  blieb.  Er  konnte  dann  —  ganz 
ebenso  wie  Alexander  von  Aphrodisias  de  an  II,  p.  120,  2U — 23  ed.  Bruns 
(Suppl.  Aristotel.  ed.  Acad.  litt.  reg.  Boruss.  vol.  II  pars  1)  den  Stoff  vor  Auf- 
nahme des  fi'ffos  nur  als  v?.7]  —  nicht  als  vTioxelfxevov  —  bezeichnen,  woraus 
Themistius  macht,  er  habe  nur  den  noch  un geformten  Stoff  so 
bezeichnet. 

^)  Eine  ausführliche  und  sehr  klare  Darstellung  der  aristotelischen  Lehre 
von  Materie  und  Form  findet  sich  besonders  de  an.  I,  p.  2,  25—7,8  ed.  Bruns; 
vgl.  auch  lib.  II,  \).  101,  18—102,  1>.  Dieselbe  bietet  indessen  kaum  einen 
eigentümlichen  Gedanken.  Sonst  möchte  ausser  dem,  was  S.  213  Anm.  1, 
S.  219  Anm.  4,  S.  220  Anm.  3,  S.  231  Anm.  i>  g.  E.,  S.  280  Anm.  7  angeführt 
wurde,    etwa   Folgendes  bemerkenswert  sein. 

Wie  Alexander  (nach  dem  Vorgange  des  Boethus,  vgl.  Dexipp.  in  categ. 
pg.  45,  12 — 24  Busse;  Schol.  in  Arist.  50  b  15—31)  durch  die  Behauptung, 
das  Einzelne  sei  nicht  bloss  für  uns,  sondern  auch  an  sich  früher  als  das  All- 
gemeine, aus  der  aristotelischen  Erkenntnistheorie  einen  unorganischen  plato- 
nischen Bestandteil  ausscheidet  (Simpl.  categ.  21  B.  Dexipp.  1.  c.  Vgl.  Zeller 
IIP  a,  794),  so  führt  er  auch  die  Lehre  von  den  ewka  tt(fi]  (der  Ausdiuck 
i'vvXoi  Irjyot  schon  bei  Arist.  de  an.  l,  403  a  2.'))    consequenter   in    einem  mehr 


Die  peiipaletische  Sfliule.     Boinliu.<.     Alexander.  297 

nominalistischen  Sinne  durch.  Er  scheidet  scharf  zwischen  der  realen  Einzel- 
form und  der  durch  die  Abstraction  des  Verstandes  gewonnenen  allgemeinen 
Form  (de  an.  I,  p.  fK),  1—10).  Ausdrücklich  erkennt  er  an,  dass  das  tirfos 
fi-r/.ov,  sobald  es  aus  der  Materie  weiclie,  zugrunde  gehe  (de  an.  81*,  13 — 15). 
Aber  auch  die  allgemeine  Form  besteht  nur  dann  als  solche,  wenn  sie  wirk- 
lich von  einem  Verstände  gedacht  wird  (ebd.  88,  14 — 15;  91,  2 — 5).  Ihre  Un- 
vergänglichkeit  beruht  auf  ihrer  fortwährenden  Erneuerung  in  stets  anderen 
Individuen  (Alex,  bei  Simpl.  phys.  1,  p.  234,  17 — 19.  Dass  hier  Zeile  24  ff. 
der  auch  von  Aristoteles  selbst  gebotene  Ausweg  angeführt  wird,  nicht  das 
tidoi,  sondern  das  at^rai^mÖTfQov  vergehe,  ist  allerdings  inconsequent).  Für  den 
Satz,  dass  nicht  die  Form  an  sich  entstehe,  kann  Alexander  darum  nicht  mit 
dem  hier  platonisierenden  Aristoteles  als  Beweis  anführen.  Form  oder  Materie  ent- 
ständen überhaupt  nicht,  sondern  nur  das  Zusammentreten  (avvoffo?)  beider 
(Arisi.  met.  VII  8,  1033  b  16-18;  vgl.  S.  285).  Er  leugnet  vielmehr  ein  sol- 
ches gesondertes  Zusammentreten  (de  an.  II,  p.  121,  32  f.)  und  sieht  im  An- 
schluss  an  andere  aristotelische  Gedanken  den  Grund  jenes  Satzes  ausschliess- 
lich in  der  Untrennbarkeit  von  Form  und  Materie,  deretwegen  stets  das  ganze 
Compositum  aus  einem  andern  Compositum  werde  (ebd.  p.  121,   35  ff.). 

Ebenso  unterscheidet  Alexander  schärfei'  als  Aristoteles  zwischen  Gattung 
und  Materie  (quaest.  nat.  11  28).  Wenn  beide  darin  auch  übereinstimmen, 
dass  sie,  jedes  auf  seinem  Gebiet,  etwas  Gemeinsames  sind,  welches  durch 
Aufnahme  einer  Differenz  besondert  wird,  so  ist  die  Materie  doch  etwas  Ob- 
jectives  (ein  npäyija),  welches  zum  realen  Sein  der  existierenden  Dinge  bei- 
trägt; die  Gattung  als  solche  aber  ist  ein  blosser  Name  und  hat  ihr  Gemein- 
sam-Sein  nur  im  Denken,  nicht  in  irjend  einer  Wirklichkeit(quaest.  nat.  II  28, p.  148, 
14:  ff)  <U  ye'voi  «h-  yfVof  kafjißaröjuevov  ov  Trpay.u«  ti  iativ  vnoxelu(Vov,  nXXa  fiovov 
ijvnua,  xai  iv  tiIj  vocla&ai  t6  xotvdv  tivai  f)[ov  ot'x  ev  vTcnOTäaei  rivi), 

Dass  auch  dem  fünften  Element  und  den  daraus  bestehenden  Himmels- 
körpern (s.  S.  245  f.l  eine  Materie  als  erstes  Substrat  zukomme,  erscheint  Alexan- 
der darum  notwendig,  weil  jene  Körper  physische,  nicht  mathematische  Kör- 
per seien:  denn  für  den  physischen  Körper  sei  die  Zusammensetzung  aus  Ma- 
terie und  Form  wesentlich.  Diese  Materie  sei  aber  von  der  der  Elemente 
verschieden,  da  sie  nicht,  wie  die  letztere,  entgegengesetzte  Bestimmungen  auf- 
nehmen könne.  Unstichhaltig  sei  der  Einwand,  eine  Materie,  die  von  einer 
andern  verschieden  sei,  müsse  sich  von  dieser  dui-cli  eine  bestimmte  Eigentüm- 
lichkeit unterscheiden  ;  sie  könne  darum  weder  einfach,  noch  qualitätslos  sein,  son- 
dern sei  aus  der  gemeinschaftlichen  Gattung  und  dem  bestimmten  artbildenden 
Merkmal  zusammengesetzt.  Alexander  hält  entgegen,  dass  auch  sonst  Dinge,  die 
nicht  unter  eine,  gemeinsame  Gattung  fallen,  durch  ihr  ganzes  Wesen  ver- 
schieden seien,  wie  Sein  und  Nichtsein,  ferner  die  obersten  Gattungen  des 
Seienden  (zu  denen  ja  der  Begriff  des  Seienden  nicht  höchste  Gattung  ist; 
vgl.  Arist.  met.  III  3,  998  b  22—27),  auch  Form  und  Materie  (quaest.  nat.  I  10, 
p.  43  ff.  Spengel;  ebd.  I  15,  p.  54  ff.). 

Die  Materie  der  Elemente  hat,  obgleich  entgegesetzte  Formen  nicht  gleich- 
zeitig in  ihr  zu  sein  vermögen,  doch  gleichzeitig  das  Vermögen  zu  Ent- 
gegengesetztem (quaest.  nat.  I  19,  p.  66,  12  ff.;    II  15,  p.  112,   16  ff.).    Die- 


2i>.S  Dritter  Alisdiiiitt.      Aristoteles. 

ses  Vermögen  al)er  diirf  niclit  als  eine  der  Materie  accidentelle  Qualität 
(noiÖTr/i.)  lietraclilet  werden,  sondern  es  iiildet  das  Wesen  der  Materie  (([uaest. 
nat.  I  15,  p.  51;,  7  fl'.). 

Ursache  des  Übels  ist  die  Materie  wegen  dn-  ihr  anharienden  Heraniiung 
{arf'Qi/<u^)  deretwegen  sie  die  Ordnung  des  Ewigen  der  Hiininelskörperl  nicht 
erlangen  kann  (Sirapl.  phys.  I,  p.  249,  12—14). 

Zu  l)eacliten  ist  Alexander's  Polemik  gegen  die  st  oi  s  c  h e  Auffassung  der  Ma- 
terie. Gegenühei'der  Gleichsetzung  von  Materie  und  Kör])er  bei  den  Stoikern  und 
ihrer  Behauptung,  dass  alles  Unkörperliche  unwirklich  sei,  sucht  er  durch  Analo- 
gien begreillich  zu  niarhen,  wie  dei-  Köiper  aus  Unkörperlichem  werden  könne 
(de  an.  I,  p.  (i,  •!  IT.;  vgl.  II,  p.  Hl,  27— .'{O). 

Entgegen  der,  auch  von  Hoetlius  geteilten.  Gleichsetzung  von  ovaia,  vXtj, 
■r.iiiyfi'iifviiv  sucht  er  zu  erweisen,  dass  die  Materie  nicht  ! no/.dnevov  der 
Form,  und  dass  also  die  Form  nicht  in  der  Materie  (•')<;  fv  vnoxti/nEvm  sei 
(quaest.  nat.  I  8  und  17;  de  an.  II,  p.  W-K  21—122.  Ib.  Quae-st.  nat.  I  S 
nimmt  zu  Anfang  Bezug  auf  I  17;  vgl.  z.  B.  p.  37,  IS— l'.l  uml  '!1,  IS— i;)i. 
Dabei  ist  aber  nicht  zu  übersehen,  dass  das  Wort  vTioy.tii^in-ov  hit^  nicht  in 
dem  allgemeineren  Sinne  genommen  wird,  in  welchem  Aiistoteles  (wie  Alexan- 
der de  an.  IT,  p.  120,  33  ff.  selbst  anmerkt)  von  der  Form  sagt,  dass  sie  iv  vnoxnuh'oi 
sei  (.\rist.  phys.  II 1,  192  b  34;  s.  auch  ohenS.  215),  und  in  welchem  auch  Alexander 
das  Wort  unbedenklich  von  der  Materie  gebraucht  (z.  B.  de  an.  1,  p.  89,  15; 
q.nat.  II  2>s,  p.  147,  23;  148,  2\  Es  ist  hier  unter  vnoxsinsvov  vielmehr  etwas 
verstanden,  was,  da  Nichtseiendes  auch  nichts  aufnehmen  kann,  selbst  ein 
röiU  Ti,  seihst  tvfQyeia  ist,  und  dem  nicht  erst  von  dem,  was  in  ihm  ist,  zum 
Sein  verhülfen  wird  (de  an.  II,  p.  119,  35  f.;  q.  nat.  1  8,  p.  39,  5—8;  p.  40, 
8—10;  1  17,  ([.  ()0,  9  ff.  16  tf.).  Das  vno/.sUnvov  in  diesem  Sinne  darf  zwar 
Änderungen  ei-fahren,  aber  nur  solche,  bei  denen  es  seine  eigene  Natur  und 
sein  eigenes   W^sen  bewahrt  (de  an.  II,  )).   120,   2i)  f. ;  ([.  nat.  I  8,  p.  39,  14). 

Den  Beweis  dafür,  dass  die  Materie  kein  solches  vnoxdutvov  sei,  macht 
sich  Alexander  freilich  leicht,  indem  er  nicht  den  stoischen  Begriff  derselben, 
sondern  den  aristotelischen  zugrunde  legt.  Die  Materie  ist  nicht  roäe  n  und 
nicht  trur/fia  Vorhandenes,  sondern  liedarf,  um  zu  existieren  und  ein  %6ih  tt 
zu  sein,  der  Form  (de  an.  II,  p.  12(1,  «-9;  ([.  nat.  I  S,  p.  40,  3  ff.  I  17,  p.  HO, 
9  If.  1  2(),  p.  .SO,  22  ff).  Wenn  man  dagegen  einwenden  will,  da.ss  Gestalt, 
Farbe  u.  s.  w.,  die  doch  in  einem  vnoxeiufvov  seien,  gleichwohl  zum  Sein  die- 
ses vTioxfiufvov  beitrügen  —  denn  kein  Körper  kann  ohne  Gestalt,  Farbe 
u.  s.  w.  existieren  —  und  dass  daher  auch  die  Notwendigkeit  der  Foi-m  für 
die  Existenz  der  Materie  die.ser  den  Charakter  als  inoxtitxtvov  nicht  raul)e,  so 
ist  zu  erwidern,  dass  Gestalt,  Farbe  u.  s.  w.  wohl  zu  der  Realität  des  vnoxii- 
IjLfvov,  aber  nicht  zu  dessen  TÖd'f  n  beitragen.  Denn  trotz  alles  Wechsels 
jener  Eigenschaften  bleibt  das  Substrat  das,  was  es  ist;  der  Wechsel  der 
Form  aber  führt  auch  in  dem  zoiU  n  elvai  einen  Wechsel  lierbei  (q.  nat.  I  8, 
p.  37,  12  ff.  39,  !>  ff).  Durch  die  Aufnahme  der  Form  erfährt  die  Materie 
wirklich  eine  innere  Alfection ,  sie  ist  nicht  etwas  in  sich  Unwandelbares, 
wie  die  Platoniker  im  Anschluss  an  den  Timaeus  behaupteten  (Alex,  bei  Sirnpl. 
phys.  II,  p.  320,  20—21;  vgl.  23-2.5).     So    ist    also    die   Form     in   der   Materie 


Die   peripalelisclie  Schule.     Alexander.  299 

nicht  wie  in  einem  vjroxfiitfror.  Selhslversliindlich  gilt  das  nur  von  dem 
(froixov  n'ihii,  nicht  von  dem  durch  künstlerisches  Schaffen  hervorgehrach- 
len,  wie  denn  üheriiiin|il  das  Vei'hältnis  von  Form  und  Materie  in  diesen  liei- 
den  Fällen  ein  durciiaus  verschiedenes  ist  (vgl.  de  an.  I,  p.  1,  20—"),  !>.  \).  (i, 
5— <>;  {{.  nat.  I  "2(),  p.  Sl,  21-2(>).  Denn  der  Stoff,  den  der  Künstler  hciuheitet, 
schliesst  die  Wesensform  bereits  ein  (de  an  II.  p.  120,  5  11'.). 

Die  Art,  wie  die  Form  in  der  Materie  ist,  ist  also  nicht  die  des  Ent- 
haltenseins (>)e  er  r/toxfif.itvo),  sondern  eine  andere  Art  des  iv  nri  (de  an.  II, 
]).  119,  81— ;52).  Was  in  einem  andern  als  einem  selbständigen  tvioxfliifvor 
sich  befindet,  gehört  niclit  zu  dessen  Wesen  und  ist  deshalb  niciit  y.aih'  uvrii, 
sondern  xcnd  avjjißf{ir,xüi  in  ihm  (über  diesen  Sinn  des  ep  ■yTroz^^^wi)  vgl.  Zeller  11^ 
b,  308  Anm.  1).  Die  Form,  die  in  der  Materie  nicht  wie  in  einem  inQy.d^tvov 
ist,  muss  in  der  That  xaty'  ahö  in  derselben  sein,  weil  andernfalls  die  Ein- 
heit von  Form  und  Materie  keine  substantiale,  sondern  eine  accidentale  wäre 
(q.  nat.  I  2(;,  p.  «1,  21—26). 

Freilich  erhebt  sich  dagegen  ein  Bedenken.  Wenn  die  Form  y.a^'  uvt6 
in  der  Materie  i.st,  also  zu  deren  oiaia  gehcirt,  so  muss  die  Materie,  scheint 
es,  mit  der  Form  zugrunde  gehen  (q.  nat.  I  2(5,  p  80,  22  ff.).  Demgegenüber 
bemerkt  Alexander  (p.  82,  18  ff.),  dass  nach  Aristoteles  (anal.  post.  I  4,  73  a 
24— b  3;  22,  84  a  12 — 17)  und  Theophrast  auf  doppelte  Weise  xad-' amo  etwas  in 
etwas  sein  könne.  Die  eine  Art  sei  die,  wo  das  Erste  in  der  Definition  des  Zwei- 
ten, die  andere,  wo  umgekehrt  das  Zweite  in  der  Definition  des  Ersten  ent- 
halten sei.  Auf  die  letzte  Art  sei  z.  B.  das  Geradzahlige  oder  das  Ungei'ad- 
zahlige  xa»"  uinö  in  der  Zahl;  denn  in  der  Definition  des  Geradzahligen  oder 
des  Ungeradzahligen  konnne  die  Zahl  vor.  Die  neuere  Logik  wüixle  die  erste 
Art  als  Enthaltensein  im  Inhalt,  die  zweite  als  Enthaltensein  im  Umfang  be- 
zeichnen. Nun  sei  aber,  führt  Alexander  weiter  aus,  in  der  Definition  eines 
jeden  evrXov  e?'i'os  die  Beziehung  auf  die  Materie  enthalten.  So  könne  die 
Seele  nicht  ohne  Beziehung  auf  das  aw,««  qjvaixov  ÖQyavixöv  definiert  werden. 
Die  Form  ist  also  in  der  Materie  in  der  zweiten  Weise  jenes  xa&'  avtn. 

Daraus  ergeben  sich  dann  weitere  Anwendungen.  Nicht  jede  Zahl  ist 
gerade,  auch  nicht  jede  Zahl  ungerade,  wohl  aber  jedes  Geradzahlige  und 
jedes  Ungeradzahlige  Zahl.  Ebenso  ist  zwar  nicht  jede  Materie  mit  dieser 
bestimmten  Form  begabt;  wol  aber  ist  jedes  ewXov  f/Vo?  in  der  Materie.  Ferner 
vergeht  bei  der  Umwandelung  einer  geraden  Zahl  in  eine  ungerade,  oder  um- 
gekehrt, wohl  die  Bestimmung  , gerade"  oder  „ungerade",  nicht  aber  auch  die 
„Zahl".  So  braucht  denn  auch  bei  dem  Wechsel  der  Form  nicht  die  Materie 
mit  jener  zu  vergehen,  sondern  bleibt,  wie  die  „Zahl"  bei  dem  Übergange  des 
Geraden  in  das  Ungerade  ((j.  nat.   1.  c). 

Damit  ist  das  anfänglich  erhobene  Bedenken  gegen  die  Möglichkeit  einer 
Zugehörigkeit  der  Form  zum  Sein  der  Materie  beseitigt.  Freilich  geschah 
das  nur  durcli  die  Fiction,  dass  die  Materie  in  der  Wesensform,  die  Wesens- 
form in  der  Materie  wie  die  Gattung  in  der  Art,  die  Art  in  der  Gattung  ent- 
halten sei.  Die  Materie  wurde  als  Teilinhalt  der  Form,  die  Form  als  Teil- 
umfang der  Materie  Ijetrachlet.     Damit  aber  setzt    sicli    Alexander    mit  seinen 


300  Dritter  Aliscliiiilt.     Aristoteles. 

eigenen     Aiisi'üliruiitien     über    den     Llntorsrhied     von     Materie     und    Gattung 
in    Widers]>rn(ii, 

So  fällt  auch  derjenige  Peripateliker,  welcher  die  dem  platonischen 
Begrifl'srealisnius  enlsla nunenden  Eleuiente  sonst  ziemlich,  consequent  aus 
der  ai'istolelisclien  Philosophie  entfernt,  bei  der  Rechtfertigung  des  aristote- 
lischen Begriffs  der  Materie  als  einer  blossen  Potenz,  zu  deren  otiaia  schon  die 
Form  gehört,  schliesslich  doch  wieder  in  jenen  Begriffsrealismus  zurück.  Er 
beweist  dadurch  aufs  schlagendste,  dass  der  Ursprung  jenes  Begriffs  wirklich 
in  einem  solchen  Begriffsrealisiiius  zu  suchen  ist. 


A  i  e  r  t  e  r   Abschnitt. 

Epikureer  und  Stoiker. 

Die  Fülle  an  schöpferischer  Kraft,  mit  der  wir  auf  imserm 
Wege  von  Thaies  his  Aristoteles  den  philosophierenden  Geist  für 
(las  Problem  der  Materie  stets  neue  Fragestellungen  sowohl  wie 
völlig  neue  Vei'suche  der  Lösung  gewinnen  sahen,  ist  in  der  nach- 
arislolelischen  Periode  —  um  dieselbe  vorläufig  noch  als  Einheit  7.U 
betrachten,  —  soweit  die  Naturphilosophie  inbetracht  konmit,  er- 
lahmt. Hier  frisclit  Epicur  den  alten  Atomismus  wieder  auf,  ver- 
knüpft die  Stoa  Heraclit  mit  Aristoteles,  während  der  Neuplatonis- 
mus  und  seine  Vorläufer  für  die  Leinte  von  der  Materie  in  noch 
vcrschlungnerer  Verkettung  das  Product  der  stoischen  Synthese 
der  eigenen  Gombination  platonischer  und  aristotelischer  Gedanken 
einweben  i). 

Gleichwohl  führt  uns  die  geschichtliche  Betrachtung  jener 
Schulen  nicht  zu  blossen  Wiederholungen.  Epicur  freilich  be- 
schränkt sich  im  ganzen  auf  eine  einfache  Repristination  seines 
Vorgängers  Democrit,  an  dessen  Lehre  er  nur  im  einzelnen  man- 
cherlei zu  ändern  und  nachzubessern  versucht.  Die  Stoa  aber 
hat  ebenso  wie  die  dem  Neuplatonismus  vorangehenden  Richtun- 
gen und  in  noch  höherem  Maasse  der  Neuplatonismus  selbst  aus 
der  Verbindung  der  übernommenen  Elemente  diu-ch  Modification 
und  WeiterlDÜdung  derselben  eine  charakteristische  Gesamtanschau- 
ung erwachsen  lassen.  Das  Eigentümliche  dieser  Gesamtanschau- 
ung liegt  vor  allem  darin  begründet,  dass  von  jenen  nacharistote- 


')  Dass  die  jjlatonisclie  und  die  aristolelisclie  Lelire  von  der  Materie  duicli 
weg  dieselbe  sei,  beliauplet  Sinijil.  in  ptiys.  I,  p.  '22b,  IG  fl'. 


302  Vierter  Abscluiitt.     Epicureer  und  Stoiker. 

lisclicii  I*liilüs()i)licii  crcwisso  Seiten  ;iii  ilireii  Voi'<,nuiLrerii,  die  dort 
iKicli  iiiiciilwickcll  eine  iiiclir  iiiilci'ireordnele  Rolle  spiclfii,  molir 
in  den  Mitlclpnnct  des  Systems  ,^erückl  werden  und  infolgedessen 
ancli  die  Ansclianung  von  der  Materie  bedeutsam  umgestalten. 
Bei  den  Stoikern  wird  der  Materialismus  ein  solcher  Gentralpunct. 
Denn  wenn,  gleich  den  übrigen  Philosophen  vor  Socratos,  auch 
Heraclit  die  materialistische  Anschauung  noch  nicht  überwunden 
hat  *),  so  hat  er  sie  doch  nicht,  wie  die  Stoiker,  in  bewussten 
Gegensatz  /u  der  dualistischen  Lehre  von  der  Verschiedenheit 
zwischen  Körper  und  Geist,  Materie  und  Ix'grilTlichcm  Wesen  ge- 
stellt. Ebenso  ist  dem  Plato  der  Gedanke  nicht  fremd,  den  Ur- 
sprung des  Üblen  im  Körperlichen,  in  der  Materie  zu  suchen  ^). 
Aber  ersl  die  neuere  platoniselie  und  die  neuplatonische  Pvicli- 
tung  setzten  die  naturphiloso})hisclie  Untei"Fuchung  zu  dem  alles  be- 
herrschenden ethischen  und  religionsi)liilosophischen  Problem  vom 
Ursprung  des  Bösen  in  jene  durchgängige  enge  Abhängigkeit, 
welche  auch  ihrer  Lehre  von  der  Materie  die  charakteristische 
Eigenart  mitteilt. 

Wenn  so  jene  Tlieorien  durch  die  Einfi^ihrung  eines  neuen 
Princips  auch  vor  einem  schwächlichen  Eklekticisimis  einiger- 
maassen  geschützt  wurden,  so  sind  sie  —  es  gilt  das  namentlich 
von  der  Stoa  —  einer  andern  Gefahr  nicht  entgangen.  Die  über- 
nommenen Gedanken,  sehr  verschiedenen  Stufen  der  philoso- 
phischen Entwicklung  angehörig,  fügten  sich  nicht  immer  der  Ein- 
heit des  Systems,  sondein  Itrachten  mehrfach  ein  unklares  Schwan- 
ken hervor. 

Abhängigkeit  .  wie  Selbständigkeit  der  nacharistotelischen 
Theorien  der  Materie  wird  die  Eiir/.elbetrachtung  ergeben,  zu  der 
wir  nunmehr  übergehen. 

Wir  stellen  dabei  die  Epicureer  voran,  um  die  Stoa  als  den 
einen  der  Ströme,  die  sich  schliesslich  in  dem  umfassenden  Systeme 
des  Xeuplatonisnuis  verlieren,  im  Zusanunenhange  nüt  den  andern 
Vorläufern  dieses  für  das  Altertum  abschliessenden  Systems  be- 
handeln zu  können.  Um  aber  auf  der  andern  Seite  den  Unter- 
schied der  sensualistisch- materialistischen  Naturbetrachtung  der 
Epicureer  und    Stoiker    von    der   rein    noumenalistischen,    av eiche 


')  S.  S.  32  f. 
-)  S.  S.  200  f. 


Allgemeine  (!lKir:ikl(Mi>lik.     lipii  iir.  303 

durch  die  liückkflir  zu  Platü  erzou<.d  wird,  auch  ;inssorHch  her- 
vortreten zu  hissen,  werden  wir  der  k'lztern,  (L  h.  dem  Neu- 
})latonisnuis  mit  seinen  unniittel])aren  pkitoniscli-pythagoreischen 
Vorläufern  ,    einen    eiü:enen    Abschnitt  zuweisen. 

1.    E  j)  i  c  11  r. 

Die  atoniistische  Constitution   der  Materie. 

So  verschieden  auch  der  Gesichtspunct  ist,  unter  dem  Demo- 
crit  und  Epicur  ^)  an  die  Erforschung  der  Natur  herantreten  — 
jener  will  „eine  Erklärung  der  natürlichen  Erscheinungen  aus  na- 
türlichen Ursachen,  eine  Naturwissenschaft  rein  um  ihrer  selbst 
willen"^  dieser  „eine  Naturansicht,  welche  ihm  den  Dienst  leistet, 
von  dem  innern  Leben  des  Menschen  störende  Vorstellungen  fern 
zu  halten"  2)  —  so  kommen  doch  beide  in  dem  thatsächlichen 
Inhalt  ihrer  Naturorklärung  fast  vollständig  überein  ^).  Wir  wer- 
den darum  auch  hinsichtlich  des  Problems  der  Materie  nur  wenige 
Abänderungen  im  einzelnen  finden,  durch  welche  Epicur  seine 
Selbständigkeit  Democrit  gegenüber  zu  beweisen  sucht.  Noch  ge- 
ringer ist  das  Maass  an  Selbständigkeit  innerhalb  der  epicure- 
ischen  Schule  *).  Unbedenklich  werden  wir  daher  zur  Feststellung 
der  Lehre  Epicur's  das  ausführliche  Lehrgedicht  des  T.  Lucretius 
Carus    mit   heranziehen   dürfen  '").     Bei    der    Darstellung    dieser 


')  Die  Citate  werde  icli  im  folgenden  geben  nach  H.  Usener,  Epieurea. 
Lipsiae  1887.  Für  die  Geschichte  der  epiciueischen  Philosophie,  speciell  seiner 
Lehre  von  der  Materie,  ist  ausser  den  im  Folgenden  citierten  neuern  Abhand- 
lungen noch  immer  von  "Wert  die  umfassende  Darstellung  von  Petrus  Gassendi, 
Physicae  sectio  prima,  in  Bd.  I.  seiner  Opera   omnia    Lugduni  1()58. 

■')  Zeller  IIF  a,  475  f. 

^)  Über  Epicur's  Beziehungen  zu  Democrit  vgl.  Zeller  Iir'  a  4(l0  ff.  Hirzel, 
Untersuchungen  zu  Cicero"s  philos.  Schriften  I,  132  ff.  (wozu  aber  Zeller  III -' 
473,  1  u.  2  zu  vgl.).  Xatorp,  Forschungen  zur  Gesch.  d.  Erkennüiissprolil.  im 
Alterth.  S.  209  ff. 

')  Zeller  IIP  a,  378  ff.  Was  Hirzel  I,  98  ff.  als  Beweis  für  Verschieden- 
iieiten  innerhalb- der  epicureischen  Schule  beibringt,  ist  nicht  sehr  bedeutsam 
und  betrifft  wenigstens  nicht  das  Problem  der  Mateiie.  Betreffs  dieser  nimmt 
nur  der  Arzt  Asclepiades  aus  Bithynien  eine  eigentümliche  Stellung  ein  (s.  u. 
S.  23;")  Anm.  4).    Derselbe  gehört  aber  nicht  zu  der  engern  Schule. 

'•')  Die  Verszählung  des  Lucrez  gebe  ich  nach  der  Lachmann'schen  Aus- 
gabe. -  Die  atomistische  Theorie  des  Lucrez  in  ihrem  Verhältnis  zur  mmlci- 
nen  Atomistik:  l>ehandeln  J.  Veitch,  Lucretius  and  the  atomic  theory.  Ldiidon 
187.'!,  und  John  Massoii,  The  atomic  theory  of  Lucretiu.s  conlrasted  with  modern 


304  Vierter  Al)selinitt.     Kpicureer  und  Stoiker. 

epicureischen    Theorie  werden    wir  zn   sprechen  haben    zunächst 
von  den  Atomen  an  sich,  dann  von  der  Bewegung  der  Atome. 

a)  I>a8  Atom  an  ^icli. 

Von  Domocrit  entnimmt  Epicur  den  obersten  Grundsatz  seiner 
Naturlehre,  dass  das  All  aus  Körpern  i)  und  dem  Leeren  be- 
stehe 2).  Die  Existenz  der  Körper  wird  durch  die  Wahrnehmung 
bewiesen  ^).  Die  des  Raumes  oder  des  Leeren  *)  ergiebt  sich  aus 
der  Erwägung,  dass  ohne  einen  Raum  die  Körper  nicht  hätten, 
wo  sie  sein  und  wodurch  sie  sich  bewegen  könnten,  da  doch  die 
Bewegung  selbst  durch  die  Wahrnehmung  als  eine  Thatsache 
bezeugt  wird  ^).  Ausser  den  Körpern  und  dem  Leeren  und  den 
Eigenschaften  dieser  giebt  es  nichts.  Eine  unkörperliche  geistige 
Substanz  ist  zu  verwerfen  ").  So  erfordert  es  der  epicureische 
Sensualismus,  der  nur  das,  aber  alles  das,  als  wirklich    annimmt, 


doctrines  of  atonis  and  evolution.  London  1884.  Sein  Verhältnis  zu  Epicur  unter- 
sucht J.  Woltjer,  Lucretii  philosophia  cum  fontibus  comparata.  Specimen  Htte- 
rarium  quo  inquiritur  quatenus  Epicuri  philosophiam  tradiderit  Lucretius. 
Groningae  1877.  Vgl.  auch  Ivo  Bruns,  Lucrez-Studien.  Freiburg  i.  Br.  u.  Tü- 
bingen 1884.  S.  (if)  ff. 

')  ao'>(uaTa,  unter  denen  hier  noch  nicht  bloss  die  corpora  prima  (Atome), 
sondern  auch  deren  Verflechtungen  verstanden  sind. 

-)  Epic.  epist.  ad  Herod.  bei  Diogen.  X,  39;  ep.  ad  Pythocl.  ebd.  X  80;  fr. 
74.  7r».  7G.  92  Usener.  tt.  yw.  1.  incert.,  Vol.  Herc'  X  col.  9  (Gomperz,  Wiener 
Studien  J,  1879,  S.  28,  15.  Usener  p.  345,  24).  Lucr.  I  418—442.  Philodem.  n. 
fvat;-^.  fr.  81,  p.  111,  1  Gomperz,  wo  mit  Usener,  p.  121  Anm.  zu  Z.  11,  amfiaia 
xai  lonov  ZU  lesen  ist.     Andere  Belege  bei    Usener,  Epicurea  S.  37"). 

=')  ep.  ad  Hernd.  §.  39.    Lucr.  L  422  -  425. 

■*)   ep.   ad   Herod.     §.    40:     tÜttoi;   .   .   .,    ö'r    yivöv     y.al     Y^uiftav    xai    dva<fi7,     (fi^aiv 

dvofjccZoutv.  Vgl.  Aet.  I  20,  2  (Dox.  p.  318)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  388.  Sext.  Emp. 
adv.  math.  X  2  (dagegen  legt  Ps.-Plut.  plac.  1  20,  Dox.  p.  317,  dem  Epicur 
dieselben  Unterscheidungen  bei,  wie  die  Stoiker  sie  machten;  s.  S.  334,  Anm. 4). 

"^j  ep.  ad  Herod.  §.  39—40.  fr.  272.  Lucr.  I  42(J-  4'29;  329—397.  Sext.  adv. 
math.  VII  213;  VIII  329.  Philodem.  n.  arißiimv  col.  8,  2()  ff.  col.  12,  7  ff.  Es 
ist  die  Form  des  Beweises,  welche  Sextus  1.  c.  VII  214,  Philodem.  1.  cit. 
dvaaxtvt]  nennen  (wenn  A  in  Gedanken  aufgehoben  wird,  ist  B  mit  aufgeho- 
ben. Dass  die  Sext.  adv.  matii.  VIII  329  dem  Epicur  beigelegte  positive  Form 
nicht  die  Worte  dieses  wiedergiebt,  bemerkt  Usener,  Epicurea,  p.  193  Anm.  zu  Z..3), 
während  Epicur  selbst  sie  als  m'x  dvt(i,iaQTVQr,aii;  (Sext.  1.  c.  VIl  213;  vgl.  Epic. 
ad  Herod.  §.  55:  'i'ra  ,«»;  td  if(tiri'i,ufrit  dvitua(,jr(,fj)  bezeichnet  zu  haben  scheint 
(vgl.  Natorp  a.  a.  0.  S.  244). 

•>)  ep.  ad  Herod.  §.  40.  (53.  (17.  Lucr.   I  430—482;    III  IGI— 17G. 


Epicur.     a]  Das  Atom  an  sich.     Körper  und  Lei  rös.  oOö 

was  entweder  durch  die  sinnliche  Wahrnehmung  hezcugt  wird 
—  die  (fcavoi-iera  i)  —  oder  zur  Erklärung  der  Wahrnehnuing 
notwendig  angenonuiien  werden  muss,  also  an  der  Wahrnehmung 
gemessen  werden  kann  —  die  «d"/;/«  ^).  Von  diesem  Standpuncte 
aus  ergab  es  sich  als  natürliche  Folge,  dass  Epicur  den  aus  dem 
Eleatismus  stammenden  rein  metaphysischen  Unterbau  der  demo- 
critischen  Speculation  fallen  liess  und  von  der  Gleichsetzung  des 
Vollen  mit  dem  Seienden,  des  Leeren  mit  dem  Nichtseienden  still- 
schweigend Abstand  nahm.  Ohne  weitere  Reflexion  fasst  er  den 
Körper  als  die  thätige  und  leidende  Substanz  3),  den  leeren  Raum 
als  die  unkörperliche  Natur,  welche  weder  thun  noch  leiden  kann, 
sondern  allein  den  Körpern  Bewegung  durch  sich  hindurch  ge- 
währt. Eine  geistige  Substanz  dagegen,  d.  h.  eine  Substanz,  die 
thun  und  leiden  könnte  und  doch  kein  Körper  wäre,  erscheint 
seinem  Sensualismus  undenkbar^). 

Die  Körper  und  das  Leere  sind  unentstanden  und  unvergäng- 
lich^); denn  aus  nichts  wird  nichts  ß)  und  in  nichts  vergeht 
nichts  ').  Das  All,  d.  h.  die  Gesamtmenge  des  Seienden,  die 
Körper  und  das  Leere  ^),  ist  immer  so  gewesen,  wie  es  ist,  und 
wird  immer  so  sein  ^) ;  wie  das  Leere,   so  ist  auch   die  Masse  der 


')  Natürlich  nicht  so  viel  als  Sinnenschein.  Es  ist  die  den  Sinnen  er- 
scheinende, sich  kundthuende,  Wirklichkeit  gemeint. 

■';  Zeller  IIP  a,  380  ff.     Natorp  210  ff. 

^)  xo  xa&'  iarrö  (ep.  ad  Her.  §.  07,,  1?  xa&'  eavTijV  tfvatg  (ebd.  §.08;  vgl.  §.71), 
per  se  natura  (Lucr.  I  419.445),  ij  ö/j,  yv<r«>- (§.  40),  tö  vTToxtiucvov  (%.b0.12;  viel- 
leicht gehört  hieher  auch  tu  vifiaTr,x6g,  Philodem.  n.  ala-d-tju.  (?),  col.  0,  14,  hei 
Scott,  Fragmenta  Herculanensia.  Oxford  1885.  p.  202;  vgl.  p.  301),  im  Gegen- 
satz zu  den  Eigenschaften,  die  entweder  wesentliche  —  avfjLß(ßr,x6Ta,  bei  Lu- 
crez  coniuncta  —  oder  wechselnde  —  avuntnuiaja,  bei  Lucrez  eventa  —  sind 
lebd.  §.  71.  40.  Lucr.  I  44!»-458.  Sext.  adv.  rnath.  X  221—2211  Über  den 
Unterschied  von  a>-ußfßr,y.6Ta  und  arujiro'uaTa  bei  Epicur  vgl.  Woltjer  a.  a.  O. 
S.  21,  5  gegen  Munro  zu  Luci-ez  I  449)  und  (gegen  Munro  und  gegen  Brieger. 
Epicur's  Brief  an  Herod.,  S.  7)  Natorp,  Forschungen,  S.  228  ff. 

')  ep.  ad  Her.  §.  (w.  Lucr.  I  440—448. 

"')  ep.  ad  Her.  §.  39. 

«)  ep.  ad  Her.  §.  38.  Lucr.  1  1:50—214. 

',  ep.  ad  Her.  §.  39.  Lucr.  I  215— 2G4. 

^}  Sext.  adv.  malh.  IX  333.  Etwas  abweichend  Gneissc,  Der  Begriff  des 
omne  bei  Lucretius,  Jahrb.  für  class.  Philol.  1880.  S.   837 — 844. 

'•')  ep.  ad  Her.  §.  39  (vgL  §.  44  Schi.)  fr.  290.  bei  Plut.  adv.  Colot.  c.  13, 
p.    1114  A.     Lucr.  II  294—307. 

Baeumker:    Das   ProLlom  der  Materie  etc.  20 


30(1  Vierter  Alisclinilt..     Eplciiroor  und  Sluiker. 

Körper,  die  Materie,  constant.  Und  wie  der  Zeit  nach,  so  ist 
beides  auch  der  Ausdehnung  nach  unbegrenzt  i). 

Da  Epicur  den  Körper  als  das  Raumfüllende,  das  Leere  als 
das  Raumgebende  betrachtet,  so  setzt  er  die  wesentliche  Bestim- 
mung des  Körpers  in  die  Widerstandsfähigkeit  oder  Undurch- 
dringlichkeit {dvTixv7iia\  die  des  Leeren  in  die  Widerstandslosig- 
keit  {eT^ic)  2).  Der  Körper  ist  das  dreifach  ausgedehnte  Undurch- 
dringliche ^),  oder,  mit  Aufnahme  einiger  weiterer  Bestimmungen, 
dasjenige,  was  wir  durch  die  vcreim'gten  Merkmale  der  Grösse, 
Gestalt,  Widerstandsfähigkeit  und  Schwere  denken  ^).  Seine  Un- 
durchdringlichkeit macht  ihn  zu  einem  Tastbaren  '").  Das  Leere 
dagegen  ist  das  widerstandslose  und  darum  untastbare  Wirkliche  ^). 

Den  körperliclien  Stoff  oder  die  Materie  "')  lässt  Epicur  mit 
Democrit  aus  unzerlegbaren  Teilchen  oder  Atomen  bestehen. 
Bei  der  Begründung  dieses  Satzes  werden  wir  zwei  Stufen  unter- 
scheiden. Zuerst  nämlich  soll  die  Discontinuität  der  Materie  im 
allgemeinen^  dann  die  Einfachheit  und  Unteilbarkeit  der  letzten 
Teile  der  Materie  betrachtet  werden. 

Dass  die  Materie  kein  Continuum  darstelle,  sondern  aus 
Teilen  bestehe,  die  durch  leere  Zwischenräume  getrennt  sind, 
folgerte  Epicur  vor  allem  aus  der  Thatsache,  dass  die  uns  erschei- 
nenden Körper  sich  bewegen  ^).  Eine  Bewegung  durchs  Volle, 
wie  Plato,  Aristoteles   und    die  Stoiker,   vielleicht   schon  Melissus, 


1)  ep.  ad  Herod.  §.  41  (zum  Text  vgl.  Usener,  Epicurea,  praefat.  p.  XVIIIj; 
fr.  297    bei  Gic.  de  divin.  II  50,  113.     Lucr.  1  951— 1(M)7;  II  1048—10.^)1. 

"-)  Sext.  adv.  math.  X  221  f.     Vgl.  Plut.  adv.  Golot.  c.  16,  p.  11  IG  D. 

3)  ro  TQixÜ  (i'ttorarov  fitTd  dvinvnlag  Sexl.  adv.  matli.  I  21;  XI  22G;  vgl. 
Pyrrii.  liyp.  III  39. 

^)  Sext.  adv.  math.  I  21;  X  240.  257;  XI  226. 

'■)  Philodem.  n.  arj/uilmv  col.  18,  5—7  p.  23  Gomperz.  Philod.  n.  aia^yaeois  (?) 
col.  20,    5—21  bei  Scott  a.  a.  O.  p.  276—277. 

c)  dvaif^i  (fvoiQ  bei  Epic.  ep.  ad  Her.  §.  40;  ad  Pythocl.  §.  86.  Vgl.  Lucr.  1 334. 
437.  4.o4  (letzterer  Vers  von  Lachmann  wegen  des  grammatisch  unmöglichen 
Nominativs  intactus,  wie  schon  V.  334,  getilgt).  Sext.  adv.  math.  X  2.  Vgl. 
Plut.  adv.  Golot.  c.  16,  p.  1116  D.  i^'öciq  tlxtix^j  bei  Philodem.  tt.  arj/ificov  col. 
18,  1—2  (p.  23  Gomp.). 

')  Epicur  scheint  das  Wort  tSA'/j  nicht  technisch  zu  verwenden.  Um  so 
häufiger  ist  dagegen  materies  bei  Lucrez.  Ebenso  v?.i^  bei  Hippolyt.  ref.  haer. 
l  22,  1  (Dox.  p.  571,  28)  in  seinem  Bericht  über  Epicur. 

s)  S.  S.  304  Anm.  5. 


Epicur.  a)  Das  Atom  an  sich.     DiscontiimitiU  der  Materie.  307 

sie  annahmen  i)  (die  ävTinsgCorttöiq)^  betrachtet  er  als  iinmöglieh  ^). 
Die  Gewichtsunterschiede  der  Körper  ferner  glaubte  er,  auch  hierin 
dem  Democril  sich  anschliessend  ^j,  nur  aus  der  Annahme  grösse- 
rer Zwischenräume  in  den  leichten,  kleinerer  in  den  schweren  er- 
klären zu  können  *),  und  ebenso  suchte  er  in  der  scheinbaren 
Durchdringung  der  Körper,  die  in  Wahrheit  ein  Eingehen  des 
einen  in  die  Poren  des  andern  sei,  eine  Stütze  jener  Annahme  '""). 
Eine  solche  actuelle  Geteiltheit  des  Stoffes  durch  leere  Zwischen- 
räume betrachtet  er  endlich  mit  Democrit  auch  deshalb  als  not- 
wendig, weil  andernfalls  kein  Körper  zerbrochen  oder  gespalten 
werden  könne.  Teilung  nämlich  erscheint  ihm  nur  denkbar,  als 
ein  Voneinandernehmen  actuell  bereits  vorhandener  Teile '^),  — 
Aus  allen  diesen  Gründen  schloss  Epicur,  dass  auch  die  anschei- 
nend continuierlichen  Körper  als  ein  Gonglomerat  discreter  Teile 
aufzufassen  seien  '^). 

Diese  Teile  aber  sind  nicht  weiter  zerlegbar,  sind  Atome 
{dioßoi  oder  aro/na).  Denn  da  die  Teilung  für  Epicur,  wie  eben 
bemerkt  wurde,  nur  in  dem  gesonderten  Hervortreten  bereits  vor- 
handener Teile  besteht,  so  kann  dasjenige  nicht  weiter  geteilt  werden, 
was  keine  leeren  Zwischenräume  mehr  einschlies.st  s).  Solche 
einfache,  absolut  solide  y)  Teilchen  aber  müssen  wir  als  Urbestand- 


')  S.  S.  59  Anm.  2.  Betreffs  des  Aristoteles  vgl.  phys.  lY  7,  214  a  28-32. 
Über  die  gleiche  stoische  Ansicht  s.  u.   S.  341  f. 

-)  Lucr.  I  370 — 397.  Das  von  Lucrez  benutzte  Beispiel  von  Fischen,  die 
sich  im  Wasser  durch  das  Volle  bew^egen,  wurde  von  Strato  aus  Lanipsacus 
vorgebracht;  vgl.  Sinipl.  in  phys.  IV"  p.  659,  22 — 27  Diels. 

ä)  S.  S.  92. 

*)  Lucr.  I  358—367. 

")  Lucr.  I  346—357.  534—537  (vgl.  489-496).  Auch  dies  geht  auf  Demo- 
crit zurück. 

")  Lucr.  I  532  f. :  nam  neque  conlidi  sine  inani  posse  videtur  |  quic- 
quam  nee  frangi  nee  findi  in  bina  secando.  Vgl.  Themist.  in  phys.  IV,  p.  284, 
4 — 8  Spengel.  Simpl.  in  Aiist. de  cael.  I,  p.  109  b  46  f.  Karsten  (sehol.  in  Aiüst. 
484  a  26  f.). 

')  ep.  ad    Herod.    §.    40;     fr.  77.  282.    Lucr.  I  483—484. 

")  Aetius  I  3,  18  (Dox.    p.  286)    bei    Plut.    plac.   I  3;    Stob.    ecl.  I,  p.  306: 

{i'QijTai     tfe     arofios     oi']^    ött   tariv  i/.uyiazr,,     u).k'    oii   ov   (Hvvarai  Tur/d-ijvai,  dnai}i](;. 
oraa  xal  äjueTü^og  y.evov, 

")  E]nc.  ep.  ad  Herod.  §.  44 :  ?/  arfQtotrjg  ij  vndQ^ovaa  aihaTg  (sc.  dtöfxoi?). 
Lucr.  I  609:  sunt  igitur  solida  primordia  simplicilate.  Vgl.  I  4s5  f.; 
II   88.     Epic.    fr.   282.     Lactanl.    de    oplf.    Dei    c.    2    Sciil.     Simplic.    in    Arist. 

20  * 


yu8  Vierter  Abschnitt.    Epinireer  und  Stoiker. 

teile  der  Dinge  („priiuordia  remiii"  Liier.)  annelmien.  Eine  dop- 
pelte Reihe  von  (Iründen  —  wenn  wir  uns  aiü'  die  Hauptsachen 
beschränken  wollen  —  wird  für  die  Notwendigkeil  der  Atnnie 
angeführt  ^).  Die  erste  geht  aus  vom  Begriff  der  Teilung,  niiinnt 
also  ihren  Ausgang  von  der  dem  Democrit  und  Epicur  eigentüm- 
lichen Auffassung  des  Stoffes  als  eines  discontinuierlichen  Aus- 
gedehnten. Die  zweite  geht  aus  von  der  Veränderung  in  der 
physischen  Welt  einerseits  und  der  Gesetzmässigkeit  in  diesem 
Wechsel  andererseits;  sie  sucht  das  -bleibende  Substrat  des 
Wechsels  in  der  Körperwelt  und  zugleich  den  Grund  der  Ver- 
«schiedenheit  und  des  Wechsels,  welcher  in  dem  verschiedenen 
Verhalten  dieses  bleibenden  Substrates  gegeben  ist;  sie  steht  dar- 
um auf  demselben  Boden,  auf  welchem  auch  sonst  die  anlike 
Speculation  über  die  Materie  sich  bewegt  ^).  Die  erste  Betrach- 
tung zeigt  das  Atom  als  das  kleinste,  nicht  weiter  teilbare 
Ausgedehnte,  die  zweite  als  das  unveränderliche  Ele- 
ment des    Veränderlichen. 

1.  Die  Teilung  kann  nicht  ins  Unendliche  fortschreiten  3). 
Durch  eine  solche  ins  Unendliche  weitergehende  Zerlegung  wür- 
den die  Körper,  meint  Epicur,  immer  weiter  geschwächt,  bis  sie 
zuletzt  in  lauter  Nichts  aufgelöst  wären.  Das  aber  verstiesse 
ebenso  gegen  den  Satz,  dass  kein  Seiendes  zu  Nichts  werde,  wie 
die  Annahme,  aus  diesem  Nichts  würden  neue  Körper,  gegen  den 
Satz,  dass  kein  Seiendes  aus  Nichts  entstehe*).  Diese  Auflösung 
in  Nichts  wäre  um  so  weniger  zu  vermeiden,  als  unendlich  kleine 
Teilchen  unmöglich  den  seit  Ewigkeit  fortdauernden  Stössen  hät- 
ten Stand  halten  können  ^).  Wenn  ferner  die  Teilung  nicht  bei 
unteilbaren   Elementen   von    einer    gewissen   Grösse   aufhörte ,  so 


de  cael.  I,  p.  109  b  45  Karst.;  auch  Cic.  de  tin.  I  G,  18  (Epic.  fr.  281).  Darum 
bezeichnet  Epicur  die  Atome  als  7iA7;()i?(ep.  adHerod.  §.  41)oder  j«f(JTo:'(el)d.  §.  42). 

')  Eine  Analyse  der  Beweise  des  Lucrez  für  die  Notwendigkeit  der  Atome 
bei  Woltjer,  S.  23  ff.;  Mas.son,  S,  19  ff.  und  be.sonders  bei  J.  Bernays,  Com- 
mentarius  in  Lucreti  lil)iuiu  I,  Ges.  Abliandl.,  hrsg.  v.  Usener,  Bd.  II.  Berlin 
1885.  S.  53-G3. 

2)  .S.  S.  4. 

^)  Lucr.  I  74ß— 752.    844.     Anderes  in  den  folgenden    Anmerkungen, 

*)  ep.  ad  Herod.  §.  5G ;     vgl.  §•  41.  Lucr.  I  551— .%4. 

^  Lucr.  I  577  583.  Hierbei  wird  übersehen,  dass  in  diesem  Falle  auch 
die  stossenden  Teilchen  unendlich  kloin,  die  Gewalt  der  Stösse  also  unendlich 
gering  sein  müsste. 


Epif'ur.     ii)  Das  Aloin  an  sich.     Giüiide  für  dasselhe.  309 

würde  eine  jede  begrenzte  Grösse  aus  unendlich  vielen  Teilen  be- 
stehen, also  der  Ausdehnung  nach  zugleich  endlich  und  unend- 
lich sein  ').  Dieses  Argument  gilt  für  alles  Ausgedehnte,  wie  lur 
den  Körper,  so  auch  für  Raum  und  Zeit.  Auch  hier  lassen 
daher  die  Epicureer,  im  Unterschiede  von  den  Stoikern  -),  die  Tei- 
lung bei  nicht  mehr  zerlegbaren  Teilen  aufhören  ^).  Endlich  soll 
auch  aus  der  ursprünglichen  Verschiedenheit  von  Körper  und 
Leerem  gefolgert  werden,  dass  es,  wie  ein  Leeres,  in  dem  kein 
Körper,  so  auch  Körper  geben  müsse,  in  denen  kein  Leeres  mehr 
ist  ^),  die  mithin  nicht  weiter  geteilt  werden  kfhmen. 

Obwolil  aber  nicht  unendlich  klein,  so  sind  die  Ur-Teilchen 
des  Körpers  doch  von  einer  jeder  Wahrnehmung  sich  entziehen- 
den Kleinheit  ■'').  Die  Atome  gehören,  wie  das  Leere,  zu  den 
adr^Xa,  zu  deren  Annahme  das  Bedürfnis,  die  Phänomene  zu  er- 
klären, uns  nötigt  ^). 

Die  Betrachtung  des  Körpers  als  eines  zerlegbaren  Ausge- 
dehnten, können  wir  den  Gedankengang  Epicur's  zusammenfassen, 
führt  uns  also  zu  discreten,  absolut  vollen,  kleinsten  Teilchen, 
deren  Grösse  zwar  eine  verschwindend  kleine,  jeder  Wahrneh- 
mung sich  entziehende  ist,  denen  aber  keineswegs  eine  bloss 
punctuelle  Raumbeziehung  eignet.  Nicht  weil  eine  weitergehende 
Teilung  des  Ausgedehnten  nicht  mehr  vorstellbar  wäre,  sind  diese 
Ur-Teilchen    nicht    weiter  zerlegbar,    sondern    weil   ihre  absolute 


')  ep.  ad  Herod.  §.  57.    Lucr.  I  G15— 626.     Vgl.  auch  §.  57  Schl.-58    und 
Lucr.  I  599—614.    —    ^)  S.  S.  342  f. 

■')   Sext.   adv.    niatll.   X   142:    oi   yiävra   (sc.    ainfiaza,  tÖtiovs,  yoöi'ori)    fig     duf(iii 

xaTal)jyeivv7[eiX7i(fÖTee.\'g\.S\m]>\.  inphys.  VI,  fol.218^'  (Usener,  Epicurea p.  198,  IG), 
wo  auch  die  hieraus  sich  ergebenden  Schwierigkeiten  behandelt  werden.  —  Wie 
erst  durch  den  von  Leibniz  eingeführten  Begriff  des  Differentials  die  wahre 
Grundlage  für  eine  befriedigende  Theorie  des  Gontinuums  geschaffen,  kann 
hier  nicht  weiter  verfolgt  werden.  Es  seien  aus  der  reichhaltigen  mathema- 
tischen und  philosophischen  Litteratur  nur  zwei  auf  verschiedenem  philoso- 
phischem Standpunct  stehende  Abhandlungen  genannt:  die  eingehende  Arbeit 
von  Cohen,  Das  Princip  der  Infinitcsimalmethode  u.  s.  Geschichte.  Berlin 
1883,  und:  Pohle,  Über  die  objective  Bedeutung  des  unendlich  Kleinen  als  der 
philos.  Grundlage  der  Differentialrechnung.  Fhilos.  Jahrbuch.  I.  1888.  S.  56—78. 

*)  Lucr.  I  503—510. 

•')  ep.  ad  Herod.  §.  ö:)~hiu     Vgl.  Lucr.  IV,  110—126. 

'■)  ep.  ad  Herod.  §.  38. 


310  Vierter    Al)scliiiiU.     Epiciirecr  uml  Stoiker. 

Vollheit  1)  jede  Briu-hflüche ,  d.  li.  jeden  leeren  Zwischenraum, 
ausschliesst,  also  der  Zerteilung,  die,  rein  mathematisch  betrachtet, 
denkbar  bleibt  2),  ein  physisches  Hindernis  entgegensetzt  ^). 
So  weit  wir  sehen,  ist  bei  den  alten  Atomikern  dieser  Unterschied 
noch  nicht  betont  worden  ^).  Epicur  will  damit,  Avie  es  scheint, 
den  Ausführungen  des  Aristoteles  entgehen,  durch  welche  dieser 
—  dem  die  Stoiker  hierin  folgten  -')  —  die  Möglichkeit  eines  der 
Potenz  nach  unendlichen  Fortschreitens  in  der  Teilung  darzuthun 
versucht  hatte  '').  In  wieweit  hiermit  der  einen  Hauptforderung, 
welche  das  Denken  an  das  Urelement  des  Körperlichen  zu  stellen 
hat,  der  der  Einfachheit  nämlich,  genügt  ist,  das  ist  schon  oben  '^) 
bei  Besprechung  der  democritischen  Atomistik  erörtert  und  soll 
hier  nicht  wiederholt  werden. 

2.  Wenn  Epicur  ferner  zur  Erklärung  der  Veränderungen 
der  Dinge  die  Annahme  von  Atomen  als  notwendig  betrachtet, 
so  geht  er  aus  von  der  alten  naturphilosophischen  Anschauung,  dass 
Werden  und  \'ergchen  in  Mischung  {ai'Yxgiüig)  und  Entmischung 
[dictxgioic)  bestehe  **).  Der  platonisch-aristotelischen  Anschauung 
von  Formen  nämlich,  die  über  der  Materie  schweben,  stand  er, 
der  nicht    einmal   für    die  Functionen    des  bewussten  hmenlebens 


1)  S.  S.  307  Anm.  9.    —     -)  ep.  ad  Herod.  §.  57. 

■^)  Cic.  de  fin.  16,  17:  atomos  .  .  id  est,  corpora  individua  propter  00- 
liditatem  (diese  zunächst  dem  Democrit  beigelegte  Bestimmung  soll  nachdem 
ganzen  Zusammenhange  der  Stelle  auch  von  Epicur  gelten;  vgl.  6, 18=; fr. 281). 
Philopon.  in  phys.  I,  p.  25,  7  Vitelli:  ddiaigera  (hd  axhiQ('nr,r(x.  Lucr.  I  532—539. 

*)  Daher  wohl  die  Behauptung  Galen's  de  elem.  sec.  Hippocr.  I  2,  Bd.  I, 
p.  41S  K.  (Epie.  t'r.  288):     Einige    sagen,     die    Atome    seien    vnu    axlrjQÖT^Tos 

a&QavOTa,   xa&äncQ    oi    7i((ii    tov    'Eniy.ovQov'     i'vioi      (fe     vtio     a/jix^ÖTTjTus    difiaiQfia, 

wie  die  Anhänger  Leucipp's.  Dasselbe  trägt  Simplicius,  in  phys.  VI,  fol. 
21Gr  (schol.  in  Arist.  405  a  10  ff.)  vor,  nach  dem  Epicur  aus  Rücksicht 
auf  die  Polemik  des  Aristoteles  jene  Änderung  gegen  Democrit  und  Leuciitp 
vorgenommen  haben  soll;  fernei',  ohne  namentliche  Anführung  der  von 
Epicur  Abweichenden,  Theodoret.  Graec.  affect.  cur.  IV  9.  —  Der  Unter- 
schied wird  hier  wohl  ein  wenig  zu  stark  betont.  Auch  Democrit  spricht 
seinen  Atomen  nui'  solche  Teile  ab,  die  durch  ein  Leeres  getrennt  wären.  Erst 
Epicur  indes  dürfte  diesen  Unterschied  zwischen  physischen  und  mathemati- 
schen Teilen,  oder  wie  immer  er  sich  ausgedrückt  hat,  bestimmter  hervor- 
gehoben haben.     Vgl.  auch  die  S.  85  Anm.  3  aus  Simphcius    citierten    Stellen. 

*)  S.  S.  345. 

«)  Arist.  phys.  VI  1,  231  b  15  ff.;     de  gen.  et  corr.  I  3,  318  a  20  u.  ö. 

')  S.  85  f. 

**)  Galen,  de  elem.  sec.  Hippocr.  I  9,  Bd.  I,  p.  483  Kühn  (Epic.  fr.  292. 


Ei)icur.     a)  Das  Alom  an  bicli.     ürüiide  lür  dasselbe.  311 

eine  eigene  immaterielle  Substanz  will  gelten  lassen,  völlig  fern. 
Ebenso  schien  ihm  ^)  die  Entwickelung  der  vielgestaltigen  Dinge 
aus  einem  einzigen  qualitativ  bestimmten  Urstoft'  durch  Weiter- 
bildung und  Rückbildung  undenkbar  ^).  Denn  Avenn  dieser  Ur- 
stoff  einmal  seine  Bestimmtheit  verloren  hat,  wenn  das  Feuer  z.  B. 
erloschen  ist,  so  würde  die  Rückkehr  aus  dieser  Unbestimmtheit 
zur  Bestimmtheit  eine  Entstehung  aus  dem  Nichts  bedeuten  ^).  A])cr 
auch  die  Annahme  von  zwei  oder,  wie  bei  Empedocles,  von  vier 
Elementen,  auf  deren  Mischung  und  Entmischung  das  Entstehen 
und  Vergehen  der  verschieden  gestalteten  Dinge  beruhen  soll, 
reicht  für  die  Erklärung  des  letztern  nicht  aus^).  Denn  abgesehen 
davon,  dass  jene  Theorien,  die  kein  Leeres  neben  dem  Stoffe  kennen, 
die  Bewegung  nicht  erklären,  wäre  es  Jiicht  zu  begreifen,  wie 
jene  nach  der  Ansicht  ihrer  Vertreter  ins  Unendliche  teilbaren  und 
erfahrungsgernäss  so  vergänglichen  Elemente  nicht  schon  längst 
infolge  des  gegenseitigen  Widerstreits  der  Vernichtung  sollten  an- 
heimgefallen sein  ^).  Endlich  sprechen  auch  gegen  die  Homoeo- 
merien  des  Anaxagoras  ^)  gewichtige  Gründe,  von  denen  für  Epi- 
cur  wohl  am  wichtigsten  waren  einmal  der  Ausschluss  des  Leeren 
und  die  Annahme  einer  unendlichen  Teilbarkeit  des  Stoffes  bei 
Anaxagoras  ''),  dann  der  Einwand,  dass  Ur-Teilchen.  welche  den 
c{ualitativ  bestimmten  Stoffen  völlig  gleichartig  wären,  ebenso 
vergänglich  sein  müssten,  wie  diese  s).  Sonach  bleibt  nach  Ausschluss 
der  übrigen  Erklärungen  nur  die  atomistische  Erklärung  des  Werdens 
und  Vergehens.  Allem  Werden  und  Vergehen  müssen  absolut 
unveränderliche^  nicht  weiter  zerlegbare,  wegen  ihrer  Kleinheit 
unsichtbare  Teilchen  zugrunde  liegen,  durch  deren  Gestaltsunter- 
schiede und  v/echselnde  Verbindungen  die  V^erschiedenartigkeit 
und  der  Wechsel  der  erscheinenden  leblosen  und  belebten  Körper 
sich  erklärt.  Suchen  wir  die  Natur  dieser  Atome  genauer  zu  be- 
stimmen. 


^)  denn  was  Lucretius  ausfülirt,  dürfte  auch  hier  auf  Epicair   zurückgehen. 

^)  Lucr.  I  635  ff.  (gegen  Heraclit);    allgemein  v.  705  ff. 

3)  Ebd.  665—671. 

•")  Ebd.  712  ff.     Sext.  adv.  math.  VIII  336". 

»)  Lucr.  I  742—762. 

«)  Ebd.  V.  SoO  ff. 

■)  Ebd.   V.  <S43-  .S46. 

«)  Ebd.  V.  847—858. 


■'512  Vierler   Absclinill.     Epic  urecr  uik)  SInikcr. 

Die  Aloiuc,  tlio  letzten  Elemente  dos  Veränderliclieii,  luüssen 
zunächst  in  sicli  unveränderlich  sein.  —  Einem  jeden  Orsj^anis- 
mus,  tuiu't  Liicrez  mit  chchterischer  Anschaulichkeit  den  Gedan- 
ken aus,  ist  das  Maass  seines  Wachstums  und  seiner  Dauer  ge- 
steckt, sind  seine  Functionen  bestimmt.  Alles  in  der  Natur  kehrt 
stets  in  gleicher  Art  und  in  gleicher  Frische  wieder,  selbst  die 
Zeichnung  im  Federkleid  der  Vögel.  Falls  aber  die  Urgründe  der 
Dinge  irgendwie  verändert  würden,  wie  sollte  da  noch  festbleiben, 
was  entstehen  kann  und  was  nicht,  oder  wie  weit  die  Kraft  und 
das  Wachstum  eines  jeden  Dinges  gehen  mag?  Wie  sollte  ^'s  in 
diesem  Falle  noch  möglich  sein,  dass  die  folgenden  Generationen 
Natur,  Lebenseigentümlichkeiten,  Lebensweise,  Bewegungen  der 
frühern  immer  wieder  erneuern  ^)  ?  Es  muss  also  in  allem  Wech- 
sel etwas  l'nveränderliches  übrig  bleiben  2),  die  Atome. 

Den  Atomen  als  dem  Unveränderlichen  werden  diejenigen  Be- 
stimmungen an  sich  beizulegen  sein,  welche  in  allen  Veränderun- 
gen der  Körper  unverändert  bleiben  Es  sind  das  diejenigen  Be- 
stimmungen, welche  allgemein  die  körperliche  Natur  kennzeichnen. 
Diese  Gattungsmerkmale  der  körperlichen  Natur  bestehen  in  der 
dreifachen  Ausdehnung,  der  Widerstandsfähigkeit  und  der  Schwere. 
Das  Maass  jener  Bestimmungen  kann  wechseln;  aber  ohne  Aus- 
dehnung, Widerstandsfähigkeit,  Schwere  ist  kein  Körper  denkbar, 
da  jenes  nach  Epicur  seüie  definitorischen  Merkmale  sind  ^).  Da- 
gegen sind  die  sinnlichen  Qualitäten  des  Geschmacks,  Schalls,  der 
Wärme  und  Kälte,  der  Belebtheit  u.  s.  w.  veränderlich; 
sie  entstehen  und  vergehen  ^).  Daraus  ergiebt  sich ,  dass 
Ausdehnung,  Grösse  und  Schwere  ■''),  ebenso  die  Widerstandsfähig- 


1)  Lucr.  I  584—598.  Vgl.  auch  v.  215— 2(;4. 

^)  Ebd.  I  790 :  immutabile  enim  quiddam    superare  necesse  est. 

«)  S.  S.  306. 

■•)  Über  diesen  Unterschied  primärer  und  secundärer  Eigenschaften  bei  De- 
mocrit  s.  S.  92  mit  Anm.  5. 

')  ep.  ad  Herod.  §.  54.  Lucr.  I  358—307;  11  184-215.  333-521;  111  186- 
202.  Aet.  I  3,  18  (Dox.  p.  285  f.)  bei  Ps.-Plut.  plac.  I  3.  Plut.  adv.  Colot.  c.  8, 
p.  1110  F.  Vgl.  Sext.  adv.  math.  1  21.  X  240.  257.  XI  i>2(5.  —  Wenn  einige 
Nachrichten  in  der  Hinzufügung  der  Schwere  eine  Neuerung  Epicur's  sehen, 
so  ist  das  irrig;  s.  Diels,  Doxogr.  S.  219.  Der  Erklärung  des  Irrtums  aber, 
welche  Brieger,  Die  Urbewegung  der  Atome  u.  d.  Weltenstehung  bei  Leucipp 
u.  Demokrit.  Progr.  Halle  1884.  S.  12  f.  giebl,  kann  ich  nicht  beistimmen. 
Vielmehr  dürfte  jener  Irrtum  darin   seinen    historischen     Grund    haben,     dass 


Epiciir.     ;i'  Das  Atom  an  sali.    Seine  Eigenschaften.  .313 

koit  '),  mit  allein,  was  aus  ihnen  fulgt,  weil  /mn  Bet,'riiYe  des 
Körpers  gehörig,  aneh  den  iiiivoränderüchen  Urbeslandteileii  au- 
kuninien  müssen.  Es  begegnet  uns  hier  /um  ersten  Male  diejenige 
Auffassung  der  Materie,  welche  in  ihr  die  allgemeinen  Gattungs- 
merkmale des  Körpers  befasst.  Solche  Eigenschaften  dagegen, 
wie  Farbe,  Geschmack,  Schall,  Wärme  und  Kälte  und  dergl., 
also  die  sinnlichen  Qualitäten  im  engern  Siime,  ebenso  Be- 
stimmungen, wie  die  des  Belebtseins  und  des  Unbelebten  2),  kön- 
nen, da  sie  veränderlich  sind,  nicht  den  unveränderlichen  Atomen 
selbst  anhaften  ^). 

Obwohl  aber  diese  verschiedenen  sinnlichen  Qualitäten  der 
Dinge  nicht  auch  den  Atomen  zukommen,  so  müssen  sie  doch 
durch  die  letztern  begründet  sein.  Denn  bei  Epicur,  wie  bei 
Democrit,  soll  das  Transcendente  (das  aöi]Xov)  das  Erscheinende 
(das  (fjairöfxevor)  erklären.— Um  die  zahllosen  Verschiedenheiten 
der  erscheinenden  Dinge  ableiten  zu  können,  meint  Epicur  mit 
Democrit  Atome  der  verschiedenartigsten  Gestalt,   Grösse    und 


Aristoteles,  obwolil  er  de  gen.  et  corr.  1  8,  32G  a  9  ausdrücklich  bemerkt, 
nach  Democrit  sei  das  grössere  Atom  auch  das  schweiere,  docli  phys.  III  4, 
203  b  1  (vgl.  de  cael.  III  4,  303  a  10—15)  allein  die  Gestalt  und  die  Grö.sse 
als  Eigenschaften  der  demoer i tischen  Atome  anführt. 

^)  Lucr.  II  87:  durissima  quae  sint  |  ponderibus  solidis.  Ebenso  Plut.  adv. 
Colot.  c.  9,  p.  1111  E  {ax?.rtQ(JTTjs  xal.  dvTnvnia).  Vgl.  auch  Lucr.  I  753 — 758.  847. 
Galen,  de  elem.  sec.  Hippocr.  I  2.  Bd.  I  p.  418  K.  [axlTjQÖxiq?).  —  Die  Wider- 
standskralt der  festen  Körper  setzt  ausser  der  Undurchdringlichkeit  der  ein- 
zelnen Atome  auch  einen  festen  Zusammenhang  zwischen  diesen  voraus.  Epi- 
cur, dem  die  Adhäsion  und  Gohäsion  unbekannt  war,  erklärt  denselben  da- 
durch, dass  manche  Atome  mit  Häkchen  versehen  seien,  vermöge  derer  sie 
sich  mit  einander  verflechten  und  so  auch  den  zwischen  ihnen  eingeschlos- 
senen glatten  Atomen  Zusammenhalt  geben:  Lactant.  divin.  instit.  III  17. 
Vgl.  Gic.  de  nat.  deor.  I  24,  W  (s.  auch  das  acad.  pr.  II  38,  121  von  Democrit 
Gesagte). 

^)  Lucr.  II  865—1022.     Simpl.  in  categ.  fol.  5(>  B. 

■')  Epic.  ep.  ad  Herod.  §.  ,54.  Vgl.  das  ethische  Fragment,  Vol.  Herc.-  XI, 
f.  20  ff.,  col.  13,  wiederhergestellt  bei  Comparetti,  Bivista  di  filologia  VII  (1879) 
S.  416,  Museo  ital.  di  antich.  class.  1  (1885)  S.  75.  u.  bes.  von  Usener,  Epic. 
p.  XLIX.  Ebenso  Lucr.  II  730—1022  Specieh  von  der  Farbe:  Epic.  fi-.  29.  30.  Vgl. 
ferner  Lactant.  div.  instit.  III  17.  Galen,  de  constitut.  artis  medicae  c.  7.  Bd. I. 
p.  246  Kühn;  de  elem.  sec.  Hippocr.  I  2,  Bd.  I,  p.  418  K.  Simpl.  in  categ.  fol. 
5G  B.  109    (verdruckt  209)  B.    Alex,  quaest.  nat.  I  13,  p.  52  f.  Spengel. 


314  Vierter  Ahsclinill.     Epicureer  und  Stoiker. 

Schwere  i)  annehmen  zu  müsen.  Dazu  treten  dann,  wie  bei 
Democrit,  die  Unterscliiede  in  der  Lage  und  Anordnung  der 
in  einem  Atomencomplex  enthaltenen  Einzelatome  2).  Auf  letztere 
Unterschiede  legt  Epicur  noch  mehr  Gewicht  als  Democrit.  Wie 
die  unbegrenzte  Verschiedenartigkeit  der  Wörter  durch  die  man- 
nigfachen Verbindungen  einer  verhältnismässig  nur  geringen  Zahl 
von  Sprachlanten  entsteht,  so  soll  auch  nicht  eine  wirklich  un- 
endliche Zahl  von  Gestaltungsunterschieden  nötig  sein,  um  die 
Verschiedenartigkeit  der  erscheinenden  Körper  zu  erklären  »),  wie 
Democrit  annahm  ■^).  Es  genügt  schof],  wenn  dieser  Verschieden- 
heiten nur  unbestimmbar  viele  {dn:fQi2i]7TToi)  sind  •'').  hnierhalb 
einer  jeden  Gestaltungsart  soll  die  Zahl  der  zugehörigen  Atome 
dann  eine  wirklich  unendliche  sein  ^).  —  Die  Unterschiede  der 
Gestalt  u.  s.  w.  sollen  es  nun  bewirken,  dass  die  von  den  Kör- 
pern ausgehenden  bewegten  Bilder  unsere  Sinnesorgane  in  ver- 
schiedener Weise  treffen  ^).  So  hat  Epicur  n.it  Democrit  die  qua- 
litativen Verschiedenheiten  der  sichtbaren  Körper  auf  die  absolu- 
ten und  relativen  Raumbeziehungen    zurückgeführt. 

Aber  sein  Sensualismus  zwingt  den  Epicur,  im  Gegensatz  zu 
Democrit,  der  hier  princlpiell  verlassenen  Ansicht  vdu  der  Objec- 
tivität  der  Sinnesqualitäten  sofort  wieder  ein  weitgehendes  Zuge- 
ständnis zu  machen,  durch  das  der  ganze  Charakter    seiner  Ato- 


1)  Epic.  ep.  ad  Herod.  §.  55.  61.  Lucr.  II  225  ff.  381—397.  Simpl.  1.  c.  und 
in  pliys.  VI,  fol.  219 v  o. 

-)  Luer.  I  814-822.  II  G95-  G99  {vgl.  I  (;84-(389.  907—914).  Philodem.  ,t. 
aca&.  col.  21,  3— (),  p.  277  Scott.  Plut.  adv.  Colot.  c.  7,  p.  IIIU  G.  Siuipl.  de 
cael.  I.  p.  110  a  2—3  Karsten;  in  categ.  fol.  109  B. 

«)  Lucr.  I  822.;  II  (;88-(;94.  Dass  dieser  Vergleich  der  Atome  mit  Buch- 
stahen  schon  von  Epicur  herrührt,  scheint  aus  Lactant.  div.  instit.  III  17  zu 
folgen.  An  denselben  knüpft  auch  die  bekannte  Kritik  der  epicureischen  Lehre 
vom  Ursprung  der  Welt  bei  Cic.  de  nat.  deor.  11  37,  93  an.  Ja  schon  die  Lehre 
Democrit 's  von  den  durch  che  Verschiedenheiten  der  Gestalt,  Lage  und  Ver- 
bindung der  Atome  bedingten  Unterschieden  des  Seienden  war  von  Aristoteles 
met.  I  4,  985  b  17 — 19  an  dem  Beispiele  der  verschiedenen  Buchstaben  und 
Buchstabenverbindungen  erläutert. 

*)  Vgl.  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  1,  314  a  22—24.  Theopiir.  phys.  op.  fr.  8 
(Dox.  p.  484,  11-13)  bei  simpl.  in  phys.  1,  p.  28,  25—26. 

5)  Epic.  ep.  ad  Herod.  §.  42.  Lucr.  II  333  ff.  478  ff.  Aet.  I  3,  27  (Dox.  p. 
286)  bei  Plut.  plac.  I  3.  Alex,  bei  Philopon.  in  Arist.  de  gen.  et  corr.  II,  1, 
fol.  3^'  0.  Cic.  de  nat.  deoi-.  II  24,  G6. 

''I  Epir.  1.  c.  Luci-.  U  rr_'2-r)68.     —     ■)  Vgl.  z.  B.  Lucr.  II  813—816. 


Ejjicur.    a)  Das  Alom  an  sich.  Die  Sinnes(iualiläteii.  315 

mistik  ein  anderer  wird.  Es  ist  das  V^erdienst  Natorp's,  diesen 
Unterschied  zwischen  Epicur  und  Democrit  nachdrückUch  erwie- 
sen zu  haben  ^).  —  Während  nämlich  Democrit  den  sinnlichen 
Quahtäten  die  objective  Wirkhchkeit  gänzlich  absprach  und  sie 
als  blosse  Sinnesaftectionen  fasste  2),  unterscheidet  Epicur  zwischen 
dem,  was  den  unveränderlichen  Atomen,  und  dem,  was  den  aus 
diesen  zusammengesetzten  Körpern  wirklich  zukommt  ^).  Auch 
solche  Eigenschaften,  wie  die  von  Epicur  ausdrücklich  genannte 
Farbe,  haben  objective  Wirklichkeit  und  sind  keineswegs  bloss 
;o,ufr),  wie  Democrit  gelehrt  hatte  ^).  Wenn  derselbe  Gegenstand 
dem  einen  so,  dem  andern  anders  erscheint,  derselbe  Wein  z.  B. 
dem  einen  wärmend,  dem  andern  kältend,  so  folgt  daraus  nicht, 
was  Democrit  geschlossen  hatte,  dass  keiner  dieser  Eigenschaften 
objective  Wahrheit  zukomme.  Vielmehr  ergiebt  sich  hieraus  nur, 
dass  sowohl  die  wärmende,  wie  die  kältende  Natur  in  dem  Weine 
enthalten  sind,  von  denen  der  eine  diese,  der  andere  jene  auf- 
fasst  •'•).  Ebenso  kann  die  Farbe  zwar  nicht  als  unablösbar  ver- 
wachsen i')  mit  dem  Körper  bezeichnet  werden,  da  ja  die  zwi- 
schen dem  Gegenstande  und  dem  Auge  liegenden  Luftschichten, 
der  Grad  der  Helligkeit  u.  s.  w.  die  Farbe  verändern,  völ- 
liges Dunkel  sie  gänzlich  verschwinden  lässt  "'}.  Aber  auch  hier 
wird  nur  betont,  dass  die  Farben  nicht  bloss  von  dem  gesehenen 


*)  Foi'schungen  zur  Gesch.  d.  Erkenntnissprobl.  S.  209  —  234. 
2)  S.  S.  92  ff. 

'^)  ep.  ad  Her.  §.  68:  «AAä  jlitjv  y.al  rn  a/ijuara  y.ui  zd  y^QuifiUTa  xai  r«  us- 
yi'&Tj   xai   rä  ßägr]  y.al  oaa  ak?,a  y.aT7;','0(>thai   amiiaros   o'iauvtl  avixßeßrixöia    (die   aucll 

nacli  §  40  nur  keine  ö  A  a  t  (fvatig  —  also  doch  immerhin  fvaeis  —  sind)  ij 
iräaiv  (d.  h.  den  Atomen  und  deren  avyxgioeig)  ^  jcli  uqutoTs  y.al  xaia  rijv 
ala&tiOiv  att'if.iaios  yvoaTÜ,  ov&'  w  f  xaxh'  eavTcis  etai  (f  v  a  e  1 1;  (fo^aarc'oi'  {01'  ydfi 
(i'rvaiöv  iTiivorjaai  tovto),  ovt  e  o/.tn;  <i) g  ovx  ela Cv  xt?..  Wie  hier  von  Epicur 
die  Farbe  zu  den  avjußfßijxöia,  nicht  zu  den  avumo^taTa,  gerechnet  wird,  so 
Lucr.  I  453  die  Wärme  des  Feuers  zu  den  coniuncta,  nicht  zu  den  eventa. 

')  Plut.  adv.  Golot.  c.  8,  p.  1111  B. 

'=)  Plut  adv.  Golot.  c.  7,  p.  1110  A;  conviv.  disp.  III,  5,  p.  »352  A  und 
dazu  Natorp  S.  218.  Vgl.  adv.  Gol.  c.  5,  p.  1109  G — D,  wo  das  Gleiche  von  den 
Farben  gesagt  wird.  —  Ferner  Sext.  adv.  math.  VII  ^OG— 210. 

")  Denn  das  soll  es  heissen,  wenn  Plut.  adv.  Golot.  c.  7,  p.  1110  G  sagt, 
Epicur  behaupte,  ovx  eivai  avu(fi'ij  rd  )r()o>,uaTa  tuT;  aui/itaaiv,  —  nicht,  dass 
den  Farben  keine  q,vais  zukomme. 

')  Plut.  adv.  Golot.  c.  7,  p.  1110  G— D.  Wyttenbach  hat  an  dieser  Stelle 
die  Worte  Epicur's  und  die  Kritik  Plutarch's  nicht  richtig  gesondert;  vgl.  Use- 
ner,  Epicurea  p.  103,  Anm.  zu  4;  Natorp  S.  219. 


316  Vioricr  Alisclinill.     K|)iciiret'r  und  Stoiker. 

Körper,  sondorn  auch  vom  I^iclilo,  dessen  liichlung  u.  s.  w.  ab- 
hängig seien ;  denn  durch  alle  diese  Umstände  wird  das  Bild  modi- 
ficiert,  welches  unser  Sehorgan  trifft  ^).  Die  objective  Wirklichkeit 
derselben  wird  hier  so  wenig  wie  sonst  geleugnet  ^).  In  der  That 
würde  der  ganze  Sensualismus  Epicur's,  der  eben  in  der  Wahr- 
nehmung das  Kriterium  aller  Cewissheii  erblickt,  hinfällig,  wenn 
auch  er  mit  Democrit  den  Sinncscjualitäten  die  objective  Geltung 
hätte  nehmen  wollen.  Weil  er  aber  jene  Qualitäten  ebensowenig 
wie  Democrit  den  unveränderlichen  Atomen  beilegen  konnte,  so 
blieb  nur  der  Ausweg,  anzunehmen,  ctass  die  Atome  mit  den  ihnen 
eigenen  Bestimmungen  der  Gestalt,  Grösse  und  Schwere  zwar  das 
allein  Unzerstörbare  in  den  Dingen,  aber  nicht  das  allein 
Wirkliche  seien.  Wie  den  Atomen-''),  d.  h.  der  Materie, 
die  unveränderlichen  Eigenschaften  der  Gestalt,  Grösse  und  Schwere 
zukommen,  so  den  daraus  gebildeten  Körpern'^)  die  Qualitäten 
der  Farbe,  Wärme  u.  s.  w. 

Wie  aber  die  Unterschiede  in  den  Eigenschaften  der  Dinge 
in  den  Unterschieden  der  Atome  und  ihrer  mannigfachen  Verbin- 
dungen begründet  sind,  so  die  Veränderlichkeit  und  der 
Wechsel  dieser  Eigenschaften  in  der  Veränderlichkeit  jener  Ver- 
bindungen ^).  Alle  qualitative  Veränderung  —  und  als  solche 
erscheint  dem  Epicur,  wie  dem  Democrit,  auch  diejenige,  welche 
Aristoteles  als  substantiales  Werden  betrachtet  **)  —  wird  von  Epi- 
cur in  der  Weise  Democrit's  auf  ein  räumliches  Umsetzen  der 
Atome  zurückgeführt  ■*). 

Oder  mit  andern  Worten:  die  qualitative  Veränderung  der 
Dinge  beruht  auf  der  Mischung  {ovyxQioic)  und  Entmischung  {öm- 


»)  Sext.  adv.  math.  I  207. 

"")  Nalorp  S.  218  f.     —    ^  Nalorp  S.  220. 

■^)  und  durch  die  Atome  auch  den  zusauuiiengesetzten  Körpern,  also 
T,7Taaiv"'  (ep.  ad  Herod.    §.  68:  s.  S.  315  Anm.  3). 

*)  zo7s  oQUTOig  awfiaac,  ebd. 

")  Hier  ist  natürlich  nicht  von  dem  Wechsel  in  der  Auffassung  die  Rede, 
deren  epicureische  Erklärung  oben  S.  315  erwähnt  wurde,  sondern  von  einer 
Veränderung  an  den  Dingen  selbst. 

«)  ep.  ad  Her.  §.  54.  Nach  Sext.  adv.  math.  X  42  ff.  fasst  Epicur  die 
1.1(1  aßhjTLxrj  xivr,aig  als  eine  Art  der  tokixv,  xal  nexaßartx'^  xivr,ais;  vgl.  Simpl.  in 
categ.  f.  109  B. 

')  Vgl.  z.B.  Lucr.  I  081  iL  TUT  If.  'JU7  iL 


Epicur.     a)  Das  Atom  an  sich.     Miscliuujj;'  und  Entmischung.  3l7 

xQtot.,)  der  Atome  ^).  —  Die  Möglichkeit  so  maimigfacher  Ül)er- 
gänge  der  Dinge  in  einander  aber,  wie  die  iMfahiiing  sie  /.eigt, 
erklärt  sich,  wie  ähnlich  schon  Anaxagoras  annainn,  leicht  darans, 
dass  einem  jeden  Dinge  Alorne  der  verschiedensicn  Art  beige- 
iiiischt  sind  ").  Bei  lelzlerrn  will  Epicur  indes  die  Vorstellung 
fern  gell  alten  sehen,  als  seien  die  verschiedenen  Stoffe  als  solche 
rnit  einander  vermischt  2),  wie  wenn  z.  B.  das  Feuer,  welches 
durch  Reibung  aus  dem  Holze  hervorgelockt  wird,  schon  als  Feuer 
in  demselben  w;ire  *^).  Nur  Samen  ■'•)  der  mannigfachsten  Art 
sind  in  allem  enthalten,  d.  h.  solche  Atome,  welche,  von  den  an- 
dern losgelöst  und  unter  sich  verbunden,  den  betreffenden  neuen 
Körper  erzeugen. 

Das  leitet  uns  auf  die  Art,  wie  Epicur  die  Mischung  ver- 
schiedener Stoffe  erklärt.  Diese  soll  nicht  so  zu  denken  sein,  als 
ob  sich  bei  derselben  Teilchen  des  einen  Stoffes  neben  Teilchen 
des  andern,  z.  B.  Teilchen  Wein  neben  Teilchen  Wasser,  lagerten. 
Vielmehr  sei  eine  Reduction  bis  auf  die  ursprünglichen  Atome 
anzunehmen,  derart,  dass  die  besondern  Stoffe,  welche  erst  infolge 
des  Zusammentretens  gleichartiger  Atome  hervortreten,  aufhören, 
indem  sich  die  verschiedenartigen  Atome,  z.  B.  die  wassererzeu- 
genden und  die  weinerzeugenden,  unmittelbar  mit  einander  zu 
dem  neuen  Mischstoffe  verbinden  s).  Durch  diese  schärfere  Fas- 
sung des  Begriffes  der  Mischung,  mit  welcher  P]picur  in  beach- 
tenswerter Weise  über  Democrit  hinausging  "'),  sucht  er  mit  Glück 
dem  von  Aristoteles  erhobenen  Einwände  zu  entgehen,  dass  eine 
Nebeneinanderlagerung  von  kleinsten  Teilchen  des  einen  Stoffes 
neben  kleinsten  Teilchen  des  andern  in  Wahrheit  keine  (chemische) 
Mischung,  sondern  für  das  Auge  eines  Lynkeus  immer  nur  ein 
blosses    (mechanisches)    Gemenge    sei  ^).     Sein   Fehler    liegt    nur 


*)  Galen,  de  elem.  sec.  Hippocr.  I  9,  Bd.  I,  p.  483  Kulm. 
')  Vgl.  Lucr.  I  814—816.  895;    II  (378-79  u.  ö. 
3)  Lucr.  I  894—90. 
*)  Lucr.  I  897—906. 

^)  semina:  I  895.  902;    902.     II  079.    primordia:  1  815. 
*')  Alex,  de  mixtione  fol.  140 v    (p.  591  Ideler;     Usener,    Epicurea    p.   207), 
wozu  vgl.  Gassendi,  Phy.s.  .sect.  I.  lib.  7.  c.  2.,   Opera  vol.  I,  p.  464  sq. 

')  Nach  Alex.  a.  a.  0.  lehrte  Democrit,  die   scheinbare  Mischung    sei    eine 

TictQÜOiaii;    aiiiuocTdiv   ä?.?.i',?.oi;  y.aia    uix^ä,  ain^^öiniof  urriov  txdmov   ri,v  oly.iiav  ifvaii-, 

'')  Alis!,  de  gen.  et  corr.  I  10,  328  a  5—18. 


318  Vicrier  Alisclmill.    I']|)icurc'er  und  Slnik(>r. 

darin,  dass  er  das  notwendige  Zwischenglied  zwischen  Molo    und 
Atom,  die  Molekel,  noch  niclit  erkannt. 

I»)  I>i«'  ISeweguiig  der  Atome. 

Wir  sahen,  dass  Epicur  alle  Veränderung  als  räumliche  Be- 
wegung fasst  1).  Epicur  spricht  hier,  freilich  ohne  jede  wirklich 
naturwissenscliafÜiche  ßegrün(hmg,  einen  Gedanken  aus,  hinsicht- 
lich dessen  er  die  neuere  Physik  und  (Ihemie  im  ganzen  auf  sei- 
ner Seite  hat.  Dass  er  die  wirklich  fruchthringende  Verwendung 
dieses  Gedankens  nicht  erkannt  liat  und  nicht  erkennen  konnte, 
ihn  z.  B.  nicht  für  die  Erklärung  des  Lichtes,  der  Wärme,  der 
ihm  noch  nicht  hekannten  Elektricität  u.  s.  w.  verwandte,  Ijrauchl 
als  von  vornherein  selbstverständlich  wohl  kaum  besonders  be- 
merkt zu  werden.  Ihm  dient  das  Princip  dazu,  zu  zeigen,  einmal, 
wie  sich  überhaupt  aus  der  ursprünglichen  Atomenmasse  bestimmte 
Dinge  liilden  konnten,  dann,  wie  aus  Süss  Bitter,  aus  Weiss 
Schwarz,  aus  Hart  ^Veich,  aus  Weich  Hart  wird  u.  s.  w.  2), 
Letzteres  Problemstellungen,  welche  der  modernen  Naturwissenschaft 
sehr  fremdartig  und  kindlich  klingen.  Uberhaui)t  fehlt  bei  Ei)icur 
jede  naturwissenschaftlich  irgendwie  befriedigende  Reflexion  über 
das  Verhältnis  von  Kraft  und  Bewegung,  durch  die  jener  allge- 
meine Gedanke  erst  Bedeutung  für  eine  reale  Naturerklärung  ge- 
winnen koimle.  Zu  der  letztern  konnte  Epicur  um  so  weniger 
gelangen,  als  ihm  der  rechte  Begrifl"  der  potentiellen  Energie  im 
Unterschiede  von  der  kinetischen  verschlossen  blieb. 

Die  Bewegung  ist,  wie  Epicur  mit  Democrit  annimmt,  eine 
ursprüngliche  Bestimmung  des  Stoffes.  Sie  ist  den  Atomen 
nicht  durch  einen  über  der  Welt  stehenden  ersten  Beweger  mit- 
geteilt, sondern  eignet  ihnen  von  Ewigkeit  ^).  Ebenso  wenig  fin- 
det ein  Aufhören  der  Atombewegung  statt  "^j.  Die  Richtung 
und  die  Geschwindigkeit  der  Atombewegungen  erfährt  zwar  durch 


')  S.  S.  31G.  Wie  der  Begriff  der  Bewegung  von  Epicur  bestimmt  wurde, 
wird  uns  niclit  ausdrücklich  mitgeteilt  (Zeller  IIF  a,  406,  3).  Aber  die  Defini- 
tion derselben  bei  Sextus  adv.  math.  X  50:  xivr,aiq  ian  /aerd^^aais  chio  lönuv 
tis  TÖTiov,  bei  der  Epicur  zwar  nicht  genannt  ist,  scheint  doch  mit  Gassendi, 
Phys.  sect.   I.  lib.  5.  cap.  1.  ip.  338)  auf  ihn  bezogen  werden  zu  müssen. 

-)  Sext.  adv.  math.  X  43—44. 

^)   ep.   ad   Herod.   §.  43:     xivovvtai.  re  avvey^<og  a!  cctoilioi  tuv  aluiva, 

*)  Ausser  der  Anm.  3  citierten  Stelle  vgl.  Lucr.  II  9.5.     297-299 


Epicur.    b)  Die  Bewegung  der  Atome.  319 

den  Znsammenstoss  der  Atome  die  verschiedensten  Veranden int^cn, 
aber  die  Bewegung  selbst  wird  nicht  7AI  Nichte.  Auch  in  der 
Tiefe  der  scheinbar  ruhenden  Körper  lassen  die  Atome  von  ihrer 
Bewegung  und  den  gegenseitig  erteilten  Anstössen  nicht  ab  ^).  — 
Mit  der  letztern  Bestimmung,  durch  welche  das  Ganze  erst  seinen 
Abschluss  erhält,  schein!  Epicur  über  Democrit  hinaus  die  Theorie 
fortgebildet  zu  haben  ^). 

In  rohen  Zügen  ist  iiiennit  das  Princip  von  der  Erhaltung 
der  Kraft  ausgesprochen.  Aber  wie  weit  ist  E[)icur  noch  von 
der  richtigen  Erkenntnis  entfernt!  Während  die  modei-ne  Theo- 
rie die  Summe  der  in  dem  Naturganzen  vorhandenen  kinetischen 
und  potentiellen  Energie  als  constant  betrachtet,  kennt  Epicur 
nur  die  actuelle  Bewegung.  Während  nach  der  modernen  Theo- 
rie ferner  nur  die  Summe  dieser  Kraft  stets  gleichbleibt,  im  Ein- 
zelnen dagegen  ein  fortwährender  Ausgleich  zwischen  den  ver- 
schiedenen Posten  dieser  Summe  stattfindet,  indem  nicht  nur  die 
einzelnen  Kräfte  in  einander  übergehen,  sondern  auch  die  Kraft 
von  dem  einen  Körper  auf  einen  andern  übertragen  werden  kann, 
gilt  für  Epicur  die  Bewegung  des  einzelnen  Atom  es  als  unzerstör- 
bar ■^).  Und  wie  sehr  schwebt  jene  Theorie,  aller  empirischen 
Grundlage  entbehrend,  bei  Epicur  noch  in  der  Luft!  Was  Helm- 
holtz  nicht  mit  Unrecht  noch  von  der  Zeit  Robert  Mayer's  be- 
merkt, das  gilt  in  erhöhtem  Maasse  von  der  Zeit  Epicur's:  „Jetzt, 
wo  man  den  grossen  Zusammenhang  der  Arbeitsäquivalente  des 
Weltahs  kennt  und  in  weitem  Umfange  empirisch  nachgewiesen 
hat,  kann  man  sagen,  dass  sie  als  Ens,  welches  nicht  zu  Nichts 
werden  und  nicht  aus  nichts  entstehen  könne,  gefasst  werden 
dürfen.  Dazu  war  aber  doch  kein  Recht  da,  ehe  ilu'e  Beständig- 
keit erfahrungsmässig  nachgewiesen  war"  •*). 


')  Plut.  adv.  C-olot.  C.  IG,  p.  lllß  C:  che  (h}  y.al  t/uv  tv  ßa&ti  ror  av/xQi- 
/Ltaroi  dTijfto)v  orderroTf  P.'^^ai  xivijatroi  ovd'e  TiukfxiSv  TiQog  uX}.i]).a  li'rvaufviov,  mantQ 
nihoi  ?.t'yovair.  Vgl.  auch  Lucr.  II  125—128  und  VI  1034—40  (wo  freilich  nur  von 
der  in  testen  Körpern  eingeschlossenen  bewegten  Luft  die  Uede  ist). 

'')  Democrit  legte  nach  Arist.  de  an.  I  3,  406  b  15— 22  den  runden  Seelen- 
atomen  beständige  Bewegung  bei,  durch  welche  sie  auch  den  —  an  sich  also 
ruhenden  —  Körper  mit  sich  schleppen  sollen  (etwas  ähnliches  Lucr.  IV 
883-888). 

^)  wie  das  Fleeming  Jenkin,  The  Atomic  Theory  of  Lucretius,  North 
Briti.'^h  Rewiew.  vol.  XLVIII,  angefühii  bei  Massoii,  a.  a.  0.  S.  55  f.,  hervorhebt. 

-•)  Vorträge  und  Reden.     Braunschweig  1884.  Bd.  I.  S.  70. 


820  Vierter  Ahschnitt.     Kpiciireer  uml  Stoiker. 

Die  iirspriingliclie  Bewegung  der  Atome  ^)  im  Leeren,  durch 
die  iliiicii  eigene  Schwere  erzeugt,  ist  die  senkreclite  und  daher 
bei  allen  Atomen  parallele  Abwärtsbewegun  g  ^j,  d.  h.  eine 
Bewegung  in  der  Bichtung  von  unscrm  Kopfe  unter  unsere  Füs?e 
hinab  ^).  Wegen  der  Unendlichkeit  des  Baumes  ist  dieselbe  als 
eine  nach  ol)en  wie  nach  unten  hin  unendliche  zu  denken,  d.  h. 
als  eine  solche,  die  aus  unendlicher  Ferne  kommt  und  in  unend- 
liche Ferne  geht  *).  Da  ihr  nichts  Widerstand  leistet  —  denn 
das  Leere  ist  ja  von  einer  absoluten  Nachgiebigkeit  •')  — ,  so  lallen 
alle  Atome   im  Leeren    gleichschnoll  ").     Epicur    giebt    damit    den 


1)  Vgl.  Ad.  Brieger,  De  atnmoruiri  Epiciirearuiii  motu  principali,  in:  Plii- 
lologische  Abhandlungen.  Martin  Hertz  zum  siebzigsten  Gelturtstage  von  ehe- 
maligen Schülern  dargebracht.  Berlin  1888  S.  21.'i^228.  Scharfsinnige,  wenn- 
gleich nur  zum  Teil  haltbare  Ausführungen  giebt  auch  M.  Guyau,  La  morale 
d'I'jpicure  et  ses  rapport  avec  les  doctrines  contemporaines.  Pari?  1878.  chap. 
2.  p.  71 — 102:  contingence  et  liberte. 

')   ep.   ad    Herod.   §.   (!1  :      ov&'    ij    aro   ov&'   i]  di  t6   nhlyior   (ha   rmv  xpotrlfoi' 

ifOQÜ,  ov>&'  i]  y.ÜTo)  (i'id  iu)v  i(fiü)v  ßaQiov.  Lucr.  II  83:  nam  quoniam  per 
inane  vaganlur  cuncta,  nece.^se  est  |  aut  gravitate  sua  ferri  primonlia  re- 
ruiii,  !  aut  ictu  forte  alterius.  Aet.  I  12,  5  (Dox.  p.  314)  Itei  Flut.  plac.  I  12; 
Stob.  ecl.  I,  p.  o4().  Flut,  de  Stoic.  rep.  c.  44,  p.  10.54  H.  Simpl.  de  cael.  I, 
p.  121  1)  33  Karsten  u.  a. 

•')  ep.  ad  Her.  §.  00.  Flut,  de  defectu  oraculor.  c.  28,  p.  425  D.  Vgl.  Zeller 
Iir'a,  407.  Massen  a.  a.  0.  S.  HOf.  ■-  Den  oft  gemachten  Einwand  dagegen  :  da  Be- 
wegung nur  als  relative  Ortsveränderung  gedacht  werden  könne,  so  sei  die 
gleichschnelle  Bewegung  aller  Atome  in  derselben  Richtung  in  Wahrheil  keine 
Bewegung,  sondern  Ruhe,  wird  man  vom  Standpuncte  Epicur 's  aus 
nicht  als  berechtigt  anerkennen.  Denn  der  leere  Raum  ist  ja  für  ihn  —  frei- 
lich mit  Unrecht  —  ein  wirkliches,  selbständiges  Seiendes  neben  dem  raum- 
fülienden  Stoff.  Es  kann  also  auch  nach  dieser  seiner  Anschauung  eine  aut 
den  absoluten  Raum  bezogene  Bewegung  stattfinden. 

■*)  ep.  ad  Herod.  §.  GO.  —  Nur  infolge  eines  Missverständnisses  (anschei- 
nend ist  auch  Guyau  a.  a.  O.  S.  74  Anm.  0  Schi,  nicht  ganz  frei  von  demsel- 
ben) haben  Einzelne  aus  dieser  Stelle,  die  nur  von  einer,  nach  oben  (als 
ternunus  a  quo)  und  unten  (als  tei'minus  ad  quem)  unendlichen  Bewegung 
spricht,  die  Behauptung  einer  doppelten  unendlichen  Bewegung,  einer  nach 
ol)en  hin  und  einer  nach  unten  hin  gei'ichteten,  herausgelesen. 

'-)  S.  S.  30(3. 

«)  ep.  ad  Herod.  §.  Gl  (vgl.  Schol.  zu  §.  43).  Lucr.  II  225-239.  Sext.  adv. 
math.  X  129  (Flut,  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1082  E  und  Simpl.  phys.  VI,  fol. 
219  V  o,  von  Zeller  IIP  a,  407,  G  citiert,  gehören  nicht  hieher).  Epicur  stützt  sich 
hier  wohl  auf  die  kritischen  Ausführungen  des  Aristoteles,  besonders  auf 
phys.  IV,   8,  215  a  24  ff. 


Epicair.    h)  Die  Bewegung  der  Atome.     Declinatiou  :>2l 

Satz  Democrit's  oder  späterer  Anhänger  Democrit's  ^)  auf,  dass 
die  Geschwindigkeit  eine  Function  der  Schwere  sei  2).  Er  muss 
daher  nach  einer  neuen  Erklärung  für  den  Zusammenprall  der 
Atome  und  die  infolge  desselben  entstehenden  weltbildenden  Wir- 
bel suchen. 

Diese  findet  Epicur  darin,  dass  die  Atome  bei  ihrem  Fall  um 
ein  kleinstes  ^)  von  der  senkrechten  Linie  abweichen  sollen.  Denn 
wenn  auch  kein  schwerer  Körper  beim  freien  Fall  eine  schräge 
Linie  beschreibt,  so  soll  doch  durch  keine  Erfahrung  erwiesen 
werden,  dass  der  fallende  Körper  nicht  auch  um  ein  solches  Mi- 
.nimum  sich  von  der  Richtung  seines  Weges  ablenken  könne  '^). 

Die  Annahme  dieser  spontanen  Richtungsänderung  erscheint 
Epicur  auch  deshalb  unerlässlich,  weil  andernfalls  diemenschliche 
Willensfreiheit  unerklärlich  sei.  Dass  wir  nicht  in  allem  einem  Fa- 
tum  unterworfen  sind,  dass  wir  z.  B,  gehen  können,  wie  uns  be- 
liebt, uns  bewegen  können,  wie  wir  wollen:  alles  das  setzt  nach 
dem  Satze,  dass  nichts  aus  dem  Nichts  entsteht,  eine  solche  par- 
tielle Bewegungsfreiheit  bereits  in  den  Urgründen,  d.  h.  den  Ato- 
men voraus  ^). 


')  Man  könnte  vielleicht  an  Nansiphanes,  den  Lehrer  Epicur's,  denken. 

')  Nach  Zeller  V,  794,  1  und  Iir'  a,  407  hat  die  Polemik  des  Epicur  (ep. 
ad  lierod.  §.  61)  und  Lucrez  (II  225:  quod  si  forte  aliquis  credit  etc.)  Demo- 
crit  im  Sinn;  s.  o.  S.  04.  Neuestens  hat  Brieger,  dessen  Programmabhand- 
hing  über  die  Urbewegung  der  Atome  und  die  Weltentstehung  bei  Leucipp  u. 
Democrit,  Halle  1884,  mir  erst  nach  Abfassung  des  Abschnitts  über  die  democriti- 
scheAtomistik  zugegangen  ist,  gewichtige  Gründe  dafür  geltend  gemacht,  dass  jene 
Ableitung  der  Prallbewegungen  dem  Democrit  noch  fremd  war.  Was  ich  an 
diesen  eindringenden  Untersuchungen  Brieger's  aber  Democrit  auszustellen  habe, 
kann  icli  hier  nicht  weiter  ausführen,  da  die  Sache  mehr  Raum  beanspruchen 
würde,  als  für  den  mit  meiner  Aufgabe  nur  lose  zusammenhangenden  Gegen- 
stand mir  zugebote  steht. 

^)  nee  plus  quam  minimum  Lucr.  II  244;  iXä^tarov  Cic.  de  fato  10,  22; 
ini  Torkä-j^ioTov  PJut.  de  sollert.  an.  c.  7,  p.  964  G;  dxa^es  Plut.  de  an.  proer.  in 
Tim.  c  6,  p.  1015  G;  perpaulum,  quo  nihil  posset  fieri  minus,  Gic.  de  fin.  16, 19. 
■*)  Lucr.  II  243-250.  Gic.  de  fato  10,  22.  Vgl.  ebd.  20,  46-47;  de  fin.  16,19. 
Plut.  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6,  p.  1015  G;  de  sollert.  animal.  c.  7,  p.  964  G. 
Galen,  de  Hippocr.  et  Plat.  dogm.  IV  4,  p,  361,  14  Muell.  August,  contr. 
Aead.  III  c.  10  n.  23.  t.  I  p.  284  F.  ed.  Maur.  Paris.  1689  ff.  Aet.  I  12,  5  (Dox. 
p.all)  bei  Plut.  pl.  I  12;  Stob.  ecl.  I,  p.  346  (vgl.  p.  394):  xivciaaai  de  tu  äro,ua 
ro're  ßfv  xard  aTciS;urjv  rdre  ife  xatä  n  a  q  eyxX  la  iv  (declinatio,  oder,  wie  bei 
Lucr.   II  292,   clinamen),   tu     de  ariD  xivov/utva   xard   nXijyr,v  xal  dnonukfiüv. 

"}  Lucr.  11  251-293.     Ebenso  Gic.  de  fato  9,  IS;  10,  22—23;  i>0,  4(')   Plut.de 

üuoti  111  kcr:    Üus  Problem  dor  .Matfiiu  ctr.  21 


;i22  Vierter  Al)sclinit,f.     Ej)icurecr  und  Stoiker. 

Es  ist  eine  schon  im  AltertLini  ]e])liaft  getadelte  Hypothese^ 
welche  Epicur  hier  aufstellt.  Er  selbst  scheint  sich  nicht  weiter 
klar  gemacht  zu  haben,  welche  Vorausset7Aingcn  in  derselben  ent- 


sollert.  animal.  c.  7,  p.  9()4  G.  —  Brieger  (Urbeweg.  d.  Atome  S.  8  f. ;  vgl. 
Philol.  Abh.  S.  220  ff.)  polemisiert  schart  gegen  Cicero,  der  sich  einer  argen 
Gedankenlosigkeit  schuldig  mache,  wenn  er  den  Epicur  auf  den  Gedanken 
kommen  lasse,  ohne  die  Declination  würden  wir  der  Willensfreiheit  entbehren, 
da  doch  nach  dem  selben  Cicero  ohne  die  Declination  überhau{)t  keine  zusam- 
mengesetzten Wesen,  also  auch  wir  nicht,  existieren  würden  ;  ebenso  gegen 
Lucrez,  der  sich  „in  derselben  Verdammnis  befinde",  gegen  Epicur,  der  an 
dieser  Confusion  bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbst  schuldig  sein  und 
irgendwo  gesagt  haben  müsse,  selbst  wenn  die  Declination  zur  Erklärung  der 
Dinge  nicht  nötig  wäre,  so  würde  sich  doch  ohne  sie  die  Willensfreiheit  niclit 
erklären  lassen,  was  aber  ein  blosser  Advocatenkniff  sei,  da  Epicur  dort,  wo  er 
von  der  Willensfreiheit  handele,  die  Declination  gar  nicht  erwähnt  habe; 
s.  Lucr.  IV  877  ff.  (es  hätte  auch  auf  die  von  Gomperz,  Neue  Bruchstücke 
Epicur's,  insbesondere  über  die  Willensfrage.  Sitzungsber.  der  Wiener  Akad. 
d.  Wissensch.  Phil.-hist  Cl.  Bd.  83.  1876.  S.  87—98,  aufs  neue  behandelt  in: 
Wiener  Studien  f.  class.  Philol.  Bd.  1.  1880.  S.  27—31,  verwiesen  werden 
können). 

Auf  das  Letztere  hat  schon  Diebitsch,  Die  Sittenlehre  des  Lucrez.  Progr. 
Ostrowo  1886.  S.  3  Anm.  3  zu  antworten  gesucht.  Sonst  möchte  etwa  Folgen- 
des zu  erwidern  sein.  Wenn  Epicur  wirklich  gesagt  hat,  was  auch  Brieger 
ihn  sagen  lässt  —  und  es  dürfte  das  ohne  Zweifel  seine  Meinung  gewesen 
sein  — ,  so  verdient  Cicero,  dessen  Zeugnis  Brieger  auch  hinsichthch  Demo- 
crit's  maasslos  herabsetzt,  wegen  seines  Berichts  nicht  mehr  den  Vorwurf  der 
Gedankenlosigkeit.  Einen  blossen  „Advocatenkniff  aber,  eine  Ausrede,  an 
deren  Wahrheit  Epicur  selbst  nicht  recht  geglaubt  hätte  (Abhandl.  S.  221 : 
„Quod  si  fecit,  temere  fecit,  paene  dixi  non  serio"),  möchte  ich  in  jenem  Ge- 
danken nicht  sehen.  Lucrez  setzt  die  Selbstbestimmung  der  Urgiünde  nur 
deshalb  als  notwendig  voraus,  weil  er  andernfalls  die  freiwillige  Bewegung 
unser  selbst  ohne  voraufgehende  Bewegung  als  dei'en  determinierende  Ur- 
sache nicht  glaubt  erklären  zu  können.  Nun  ist  es  richtig,  dass  Epicur  nicht 
die  Ursachlo  si  gkeit  menschlicher  Willensacte  behauptet;  „als  sittlich  frei 
gilt  ihm  vielmehr  derjenige,  dessen  Handlungen  durch  seine  Überzeugungen 
{(h'iS''.')  bestimmt  werden*  (Gomperz,  Sitzungsber.  a.  a.  0.  S.  95).  Auch  betont 
Lucrez,  dass  wir  keine  Bewegung  wollen  können,  ohne  dass  die  Vorstellung 
dieser  Bewegung  unsere  Seele  getroffen  hätte  (Lucr.  IV  881  -  88.');  zu  v.  886 
vgl.  Munro's  Erklärung).  Aber  die  erregte  Vorstellung  des  Gehens  ist 
noch  nicht  der  Wille  des  Gehens  und  nicht  der  Anfang  des  Gehens 
selber  (die  Innervation  der  motoiischen  Nerven).  So  lange  man  also 
nicht  etwa  das  Wollen  als  eine  Entwicklung  der  Vorstellung  selbst  fasst 
—  ein  moderner  Gedanke,  welcher  Epicur  und  Luoez  fremd  ist  — 
wird  man,  wenn  an  die  Vorstellung  der  ausführende  Wille  sich  an- 
schliesst,    hierin    den    Anfang    einer  neuen,    von  der  Seele  selbst  ausgehenden 


Ejjicur.     h)  Die  Bewegung  der  Atome.     Declinalioii.  ij'2o 

halten  sind  und  zu  welchen,  auch  seine  ganze  Lehre  von  der  Ma- 
terie umgestaltenden,  Consequenzen  sie  führen  nuisste.  Hätte  er 
das  Letztere  gelhan,  so  würde  er  wahrscheinlich  zu  der  Theorie 
gekommen  sein,  die  Guyau  ihm  kürzlich  beigelegt  hat,  und  deren 
Inhalt  kurz  dahin  zusammengefasst  werden  kann,  dass  der  Not- 
wendigkeit als  zweite  Ursächlichkeit  eine  aus  der  „Declination" 
der  Atome  sich  ergebende  universelle  Spontaneität  gegenüberzu- 
stellen sei,  die  mit  der  Weltbildung  nicht  aufhört,  sondern  sich  im 
Zufall  (tvx^,)  einerseits,  im  freien  Willen  andererseits  äussert  ^).  Allein 
diese  gänzliche  Durchlöcherung  der  mechanischen  Weltanschauung 
liegt,  bestimmten  Aussprüchen  gemäss,  ihm  doch  durchaus  fern  ^). 
Ebenso  hätte  er  erkennen  müssen,  dass  in  der  Annahme  einer 
willkürlichen  Bewegung  seitens  der  Atome  die  Voraussetzung  ein- 
geschlossen hegt,  dass  der  Materie  Wille  zukommt  Damit  aber 
wäre  sein  Materialismus  mit  einer  auch  aus  der  neuesten  Ge- 
schichte   dieser   W^eltanschauung    bekannten    Wendung    in    einen 


Bewegung  sehen  müssen,  welche  von  der  Bewegung  des  Vorstellungshildes 
(ii'iini'/.or,  imago)  der  Art  nach  verschieden  ist.  Und  in  der  That  sagt  Lucrez 
nach  dem  oben  Gitierten  v.  886 — 888:  ergo  animus  cum  sese  ita  commo- 
vet,  ut  velit  ire  |  inque  gredi,  ferit  extemplo  quae  in  corpore  toto  |  per 
membra  atque  arlus  animai  dissita  vis  est  Nach  ihm  soll  also  der  freie 
Willensentschluss  dadurch  zustande  kommen,  dass  die  Seele  sich  selbst 
bewegt,  um  das  Vorgestellte  auszuführen;  davon,  dass  die  Vorstellung  den 
Willen  bewege,  ist  nicht  die  Rede.  Aber,  fragt  es  sich,  wie  kann  die  Seele 
ihre  von  der  Vorstellung  zu  unterscheidende  motorische  Bewegung  aus  sich 
anfangen,  da  doch  sonst  jede  Bewegung  durch  eine  voiaufgehende  örtliche 
Bewegung  gleicher  Art  determiniert  ist?  Hier  nun  bietet  sich  die  Stelle,  an 
der  die  Theorie  der  Declination  von  Epicur  eingefügt  werden  konnte,  auch 
liier  als  eine,  wenngleich  sachlich  ungenügende,  so  doch  im  vollen  Ernste  und 
nicht  als  blosser  ^Advocatenkniff  gegebene  Lösung. 

')  Etwas  Ähnliches  wird  in  der  That  vom  Plutarch,    de  sollcrt.  anim.  c.  7, 

p.  9G4:  G  berichtet:  oi'^f  yäp  uvtoI  t«}  'Etiixovqw  ö'uföaaip  v^ifQ  nSv  ufyiaxtav, 
aij.ixQ6v  ovxm  nQayfia  xal  if.ar/.uv^  oi/jiat,  üiouov  naQtyyJ.lvcu  fuap  t7ii.  rovldyiaiov, 
uncoi  aaiQu  xal  ^üia  xal  tvxrj  naQeiaek&ij  xal  t6  iif'  r//jiTv  ui]  cLiu/.ijiai  (Über  die 
zi-Xri  bei  Epicur  vgl.  ep.  ad  Menoec.  §.  133—134.  xi'n.  (»o^.  16  bei  Diog.  X  1-14. 
Aet.  I  29,  6,  Dox.  p.  326,  bei  Plut.  plac.129,2;  Stob.  ecl.  I,p.218;  ferner  fr.  eth. 
Gomparetti  c.  15;  Philodem.  serm.  de  vita  et  nior.  excerpt.  e  Zenon.  de  libert- 
dicendi,   Vol.   Herc. '  V  2,  fr.  6). 

-)  S.  Zeller  IIF  a,  408,  1.  Masson,  An  examination  of  M.  Guyau's  chapter 
on  atomic  dechnation.  Journal  of  Philology,  XI.  1S82,  und  wiederholt  in:  The 
atomic  theory  of  Lucretius,  p.  207  ff.  Ül)er  die  Anm.  1  angeführte  Plutarch- 
stelle  ebd.  S.  'iCG  f. 

•21  ='= 


324  Vierter  Ahsclinitt.     Epicureer  und  Stoiker. 

Panpsychismus  umgeschlagen,  der,  namentlich  wenn  wir  die  Will- 
kür der  Atome  mit  Guyau  als  eine  stets  fortbestehende  Sponta- 
neität in  der  gesamten  Natnr  fassen,  nach  Masson's  i)  richtiger 
Bemerkung  mit  Schopenhauer's  Willenslehre  einige  nicht  allzu 
ferne  Ähnlichkeit  hätte.  Jene  Voraussetzung  seiner  Theorie  der 
„Declination"  scheint  indes  Epicur  ganz  entgangen  zu  sein.  Denn 
das  Erkennen  und  die  Empfindung  wenigstens,  die  notwendige 
Voraussetzung  des  Wollens  2),  werden  von  seinem  Interpreten  Lucrez 
den  Atomen  mit  aller  Bestimmtheit  abgestritten  2). 

Nach  ihrem  Zusammenstoss,  der  durch  diese  willkürliche 
Abweichung  herbeigeführt  wird;  prallen  die  Atome  infolge  ihrer 
'  absoluten  Härte  von  einander  ab  ^). 

Indem  der  Abprall  die  Atome  seitwärts  und  auch  aufwärts 
treibt  ^),  wird  die  Gesamtmasse  des  unendlichen  Stoffs  in  dem 
unendlichen  R.aume  im  Ganzen  genommen  an  derselben  Stelle 
festgehalten  '').  Wirbelbewegungen,  die  innerhalb  desselben  in- 
folge des  Zusammenpralls  der  Atome  sich  bilden,  lassen  zaldlose 
Welten  entstehen  '^).  Innerhalb  einer  Welt  finden  sich  diejenigen 
Atome  zusammen,  die  in  Bezug  auf  Gestalt,  Grösse,  Lage  und 
Ordnung  zu  einander  passen  ^).  Solche  verflechten  sich  zu  einem 
zusammengesetzten  Körper  '**).  Wie  daraus  die  Himmelskörper, 
Pflanzen,  Tiere  u.  s.  w.  wurden,  braucht  hier  nicht  verfolgt  zu 
werden. 


i)  A.  a.  0.  S.  232. 

2)  Lucr.  IV  881  ff. 

3)  Lucr.  II  973  ff.    Vgl.  Simpl.  in  catet?.  fol.  5G  B.  —  S.  oben  S.  3l3. 

*)  ep.  ad  Herod.  §.  44.  Vgl.  S.  3U7  Anm.  9.  Die  Frage,  ob  die  hier  an- 
genommene Mechanik  der  Atome  u^it  den  Gesetzen  des  Stosses  unelastischer 
starrer  Körper  im  Einklänge  steht,  möge  ausser  Betracht  bleiben;  um  so  mehr, 
als  auch  die  neuere  physikalische  Atomistik  hinsichtlich  derselben  noch  durch- 
aus in  einen  Widerstreit  der  Meinungen  verstrickt  ist.  Man  findet  darüber 
das  Nötige  bei  Isenkrahe,  Das  Räthsel  von  der  Schwerkraft.  Biaunschweig 
1879,  und  in  ähnlichen  Schritten. 

^)  ep.  ad  Herod.  §.  61. 

'')  Lucr.  I  995-- 997  (vgl.  Munro  z.  d.  St.).  Mit  Unrecht  zieht  Masson, 
a.  a.  0.  S.  48  Anm.  3  auch  I  1036  und  1049  heran,  wo  das  suborii-i  nicht  ein 
Hinzukommen  von  unten  her,  sondern  das  allmähliche  Nachwachsen 
bedeutet. 

')  S.  Zeller  IIP  a,  408  f.    Masson,  eh.  4  (p.  56  ff.):  the  birth  of  the  world. 

®)  Simpl.  de  cael.  I,  p.  110  a  5  Karsten. 

")  ovyx()tais,  bei  Lucrez  conciliiioi  (s.  Beniays  a.  a.  O.  zu  Lucr.  I  183). 


Epicur.    b)  Die  Bewegung  der  Atome.     Weltenlstehung  u.  Weltuntergang.    325 

In  der  Welt  i.st  alles  in  fortwährendem  Flusse  begriffen. 
Derselbe  zeigt  sich  einmal  in  dem  unaufhörlichen  Wandel  der 
Einzeldinge  innerhalb  der  Welt  i),  der  durch  das  stete  Hinzukom- 
men von  Atomen,  das  stete  Entweichen  von  solchen  und  die  stete 
Veränderung  in  deren  Anordnung  bewirkt  wird  2).  Aber  auch  un- 
sere Welt  als  Ganzes  ist  in  den  unaufhörlichen  Fluss  der  Materie 
hineingezogen.  Ohne  Unterlass  gehen  Teilchen  von  ihr  ab  und 
werden  wieder  ersetzt  durch  solche,  die  aus  dem  unendlichen 
Räume  ihr  zukommen  '■^).  So  geht  ein  unablässiger  Strom  von 
8toff  und  Bewegung  durch  dieselbe  hindurch,  bis  sie  einst 
wieder  in  eine  losgelöst  umherschweifende  Atomenmenge  sich 
auflösen  wird  *). 


1)  Lucr.  II  <i7—  76.  Vgl.  Hieron.  in  Arnos  cap.  6,  T.  VI,  p.  313  Vallars. : 
res  saeculi  et  omnia  corpora,  iuxta  Epicurum,  per  momenta  fluunt  et  abeunt 
et  nihil  in  suo  eonsistit  statu ;  sed  vel  crescunt  omnia  vel  decrescunt  et 
aquarum  more  torrentium  labuntur  in  praeceps  (bei  Usener  übergangen). 

'^)  Lucr.  I  675  ff.  Vgl.  v.  797—802.  Diog.  X  54,  var.  lect.:  .ueTaS^eaeis]  ev 
noXXoTs'  TivMV  ^i  xal  7iQoa6(fovg  xal  difodove. 

^)  Lucr.  I  1035—1051.    II  1144-1149. 

^)  Unter  den  Denkern  welche  zwar  nicht  der  epicureischen  Schule  ange- 
hören, aber  doch  von  ihr  beeinflusst  sind,  verdient  eine  besondere  Erwähnung 
der  dem  Cicero  befreundete  (Gic.  de  or.  114,  62)  Arzt  Asclepi  a  des  aus 
Bithynien,  über  dessen  Leben  zuletzt  H.  Bruns  (Quaestiones  Asclepiadeae 
de  vinorum  diversis  generibus.  Parchim  1884.  S.  40  ff.)  gehandelt  hat,  von 
dessen  Philosophie  ausser  bei  Zeller  IIP  a,  549  ff.  und  in  der  Monographie  von 
Chr.  G.  Gumpert  (Asclepiadis  Bithyni  fragmenta.  Weimar  1794.  S.  58  ff.:  phi- 
losophiae  elementa)  eine  eingehende  Darstellung  bei  K.  Lasswitz,  Die  Er- 
neuerung der  Atomistik  in  Deutschland  durch  Daniel  Sennert  und  sein  Zu- 
sammenhang mit  Asclepiades  in  Bithynien  (Vierteljahrsschr.  f.  wissenschaftl. 
Philos.  111.  1879.    S.  408-434,  s.  bes.  S.  425-430)  sich  findet. 

Asclepiades  betrachtete,  wie  der  Pontiker  Heraclides  (s.  S.  71  Amn.  1;  als 
Grundbestandteile  aller  Dinge  kleine,  unzusammenhangende  Massenteilchen  oder 
Körperchen  [avagfioL  oyxot  Sext.  Pyrrh.  hyp,  III  32;  adv.  raath.  X  3l8.  Dionys. 
Alexandr.  bei  Euseb.  praep.  ev.  XIV  23,  4.  p.  773  B— G.  Ps.-Galen.  bist.  phil.  .T  XIX, 
]j.  244  K.,  Dox.  p.  610,  22.  aroixtTa  avuQiia  Galen,  de  differ.  morbor.c.  2,  T.  VI  p. 
839  f.  K.;  oyxoi  auch  Galen,  de  usu  partium  XI  8,  T.  III,  p.  873  K.;  Clemens 
Rom.  recognit.  c.  15  p.  569«  Coteler.  »fo/t's  Chalcid.  in  Tim.  c.  215  Wrobel.  Die 
richtige,  jetzt  auch  von  Zeller  IIP  a,  551,  5  gebilligte  Erklärung  von  avag^o? 
hat  schon  Le  Giere,  Hist.  de  med.  IIP,  5,  citiert  bei  Gumpert  a.  a.  0.  S.  61 
Anm.  n,  der  aroixeTa  avaQfxa  als  „elements  detaches",  daneben  freilich  unrich- 
tig auch  als:  „qui  ne  s'accordent  pas"  fasst).  Von  Ewigkeit  in  Bewegung,  zer- 
splittern dieselben  einander  durch  die  fortwährenden  Zusammenstösse    in    un- 


32G  Vierler  Al)scliiiit,t.     Epicureer  und  Sloiker. 

2.  Die  Stoiker. 

Die  xVIaterie  als  qualitätsloser  Körper. 
Die    stoische  Theorie   der  Materie    beruht,    wie   schon  früher 


zählige  Bruchstücke,  die  nach  Grösse  und  Gestalt  verschieden  sind  (Caelius 
Aurelianus,  de  morbis  acutis  et  chronicis,  üb.  I.  c.  14  §.  105,  ed.  Amman,  Amstel. 
1722,  p.  41;  &(>uvtJTu  aroiytta  auch  Sext.  Pyrrh.  hyp.  Ilf  33;  oyxot  &Qavatä 
Ps.-Galen.  introducl.  c.  9,  T.  XIV,  698  K. ;  oyxui  <h'  atmvog  ävijQe'fUjTui  Sext. 
ailv.  math.  III  5).  Diese  Körperchen  sind  also  nicht  unveränderlich,  wie  die 
Atome  Democrit's  und  Epicur's,  sondern  afficierbar  {na&rjTol  Sext.  adv.  math. 
VIII  318.)  Sie  sind  durch  die  Vernunft  erkennbar  (Aoyoj  ^tM^n/ioc  Sext.  adv.  math. 
.III  5;  votjToi  oyxoL  ebd.  VIII  220;  corpiiscula  intellectu  sensa  Gael.  Aurel.  I.  c); 
dagegen  entbehren  sie  der  wahrnehmbaren  sinnlichen  Qualitäten,  welche  den 
aus  ihnen  zusammengesetzten  Körpern  eigen  sind.  Dass  sonach  Qualitätsloses 
den  qualitativ  bestimmten  Körper  constituiert,  enthält  keinen  Widerspruch,  da 
von  den  Teilen  nicht  dieselben  Bestimmungen  gelten,  wie  vom  Ganzen 
(Gael.  Aurel.  1.  c.  §.  lOG,  p.  42.    Wenn  es  bei  Sextus,  Pyrrh.  hyp.  III  33heis.st: 

Tois  ncQi  'Aay.Xt]niä(f'qv  .  .  .  -d-gavaia  fivai  id  aiof^tTa  ?.£yorat  xal  noid,  SO  kann 
ich  das  mit  der  be.stimmten  Aussage  des  Aurelian  nur  durch  die  immerhin  an- 
fechtbare Annahme  vereinen,  dass  bei  Sextus  unter  den  atoif^ua.  hier  nicht  die 
oyxoL  selbst,  sondern  die  durch  die  Vereinigung  solcher  oyy.oi  gebildeten  Ele- 
mente des  Feuers,  Wassers  u.  s.  w  gemeint  seien). 

Die  so  entstehenden  sinnfälligen  Körper  sind  einer  fortwährenden  Verän- 
derung unterworfen,  indem  hinsichtlich  der  Grösse,  Menge,  Gestalt  und  Ordnung 
der  Elementarkörperchen  ein  beständiger  Wechsel  stattfindet  (Gael.  Aurel.  §  105). 
Mit  besonderm  Nachdruck  betont  Asclepiades  diesen  unaufhaltsamen  Fluss 
aller  Dinge.  Nicht  zweimal,  sagt  er,  an  Heraclit  anknüpfend,  könne  man  das- 
selbe Ding  vorzeigen  (Sext.  adv.  math.  VIII  7). 

Die  Körper ,  welche  durch  die  Verbindung  der  kleinsten  Stoffteilchen 
entstehen,  sind  von  Poren  (nÖQoi,  viae)  durchzogen,  welche,  verschieden 
an  Grösse  und  Gestalt,  bei  den  organischen  Wesen  den  Säften  einen 
Durchgang  gewähren  (Gael.  Aurel.  §.  lOG.  Galen.  Theriac.  ad  Pis.  c.  11,  T.XIV, 
2:)0  K.;  vgl.  Ps.-Galen.  introd.  c.  9,  T.  XIV,  G98  K.).  Aber  nicht  nur  die  orga- 
nischen Körper,  sondern  die  gesamte  stoffliche  Substanz  schliesst  leere  Zwi- 
schenräume ein  [x'OQai  xtval  Galen,  in  Hippocr.  epidem.  VI  comm.  IV  10, 
T.  XVII  2,  p.  162  K.:  de  simpl.  medic.   I    14,  T.  XI,  p.  405  K.). 

Augenscheinlich  weist  unter  diesen  Bestimmungen  Vieles  auf  die  Atomi- 
stik hin.  Aus  dem  Gedankenkreise  dieser  stammen  die  erkenntnistheoretischen 
Anschauungen  über  das  Verhältnis  der  nur  nach  Gestalt,  Grösse  u.  s.  w.  un- 
terschiedenen, nur  der  Vernunft  zugänglichen  Elementarkörperchen  zu  den 
sinnlich  wahrnehmbaren,  qualitativ  bestimmten  Dingen.  Die  eigentlich  physi- 
kalischen Gi-undanschauungen  der  Theorie  unsers  Mediciners  dagegen,  die 
kleinsten  Bruchstücke  oder  Massenteilchen  und  vielleicht  auch  die  Poren, 
führen,  was  nicht  genügend  beachtet  wurde,  (Lasswitz  a.  a.  0.  S.  424  f.  führt 
als  Vorgänger  des  Asclepiades  neben   Epicur   nur   Heraclides    und,   zweifelnd, 


Stoiker.     Entlehntes  und  Eigenes  in  ihrer  Tlieurie.  o27 

bemerkt  wurde  ^),  auf  einem  Gompromiss  zwischen  der  alten  Xa- 
ti'.rpliilosophie  und  der  aristotelischen  Lehre,  entbehrt  aber  dane- 
ben nicht  eines  eigenen,  relativ  neuen  centralen  Gedankens,  durch 
den  sie  über  einen  blossen  Eklekticismus  hinausgeführt  wird.  Der 
vorsocratischen  Physik,  speciell  der  He  raclit 's  2),  entnimmt  sie 
die  kosmogonische  Grundanschauung  vom  UrstofT  und  dessen  Ent- 
wicklung durch  die  ihm  immanente  körperliche  Weltvernunft. 
Auf  Aristoteles  gehen  fast  alle  Begriffe  zurück,  vermittelst 
derer  Stoff"  und  Kraft  in  sich  wie  in  ihrem  gegenseitigen  Verhält- 
nis näher  bestimmt  und  metaphysisch  durchdacht  werden.  Beide 
Elemente  verhalten  sich  wie  concrete  Anschauung  und  abstracter 
Begriff.  Das  den  Stoikern  eigentümliche  Princip  endlich  ist 
ihr    ausgesprochener  principieller  Materialismus. 

In  diesem  Materialismus  kommen  die  Stoiker  mit  den  Epi- 
cureern  überein,  nur  dass  ihr  Materialismus  nicht,  wie  der  epicu- 
reische,  ein  mechanischer,  sondern  ein  dynamischer  ist  ^).  Sie 
verteidigen  denselben  wie  Epicur  ^)  durch  das  Argument,  dass 
nur  das  Körperliche  die  Fähigkeit  zum  Thun  oder  Leiden  besitze  =>). 
Indes  dürfte  wohl  nicht  so  sehr  in  diesem  einzelnen  dürftigen 
Vernunftgrunde  der  Ursprung  des  stoischen  Materialismus  zu   su- 


auch  Ecphantus  an),  vielmehr  auf  Empedocles,  den  naturphilophischen 
Priesteiarzt,  oder  doch  auf  diejenigen  Gonsequenzen  der  empedocleischen  Lehre 
die  bereits  Aristoteles  aus  derselben  gezogen  hat,  wie  das  seines  Orts  von  uns 
auseinandei'gesetzt  Avorden  ist  (s.  S.  71). 

•)  S.  S.  301  f. 

^)  Über  Zeno's  Beziehungen  zu  Heraclit  vgl.  Ludw.  Stein,  Die  Psychologie 
der  Stoa.  Erster  Band.  Metaphysisch-anthropologischer  Teil.  Berhn,  1886  'in 
Zukunft  citiert  als  Stein  I),  S.  8  tf.  Hirzel,  Untersuchungen  zu  Gicero's  philos. 
Schriften,  II  38  ff. 

^)  Zeller  IIP  a,  130.  L.  Stein.  Die  Erkenntnistheorie  der  Stoa  (zweiter  Band 
der  Psychologie).    Berlin  1888  (in  Zukunft  citiert  als  Stein  II).  S.  201. 

*)  S.  S.  305. 

'■")   Plut.   de   COmm.   not.   C.   30  p.   1073   E:      ovrrf   yaq  juova  rd    amfxaza  y.a?.ovaiv, 

iniuh]  ovTOi  tu  noifiv  Tt  y.al  näayeiv.  Weitere  Belege  bei  Zeller  III ^  a,  117  f., 
zu  denen  hinzuzufügen:  Sext.  Emp.  adv.  math.  VIII  404  (vgl.  Pyrrh.  hyp.  III 
38);  Alex.  Aphrod.  de  sensu  p.  153,  9—10  Thurot;  ferner  für  den  stoischen  Materia- 
lismus überhaupt,  ohne  die  angegebene  Begründung:  Biotin,  enn.  114,  l.p.  104,1 
Müller.  Dexipp.  in  categ.  II  22,  p.  50,  32  Busse.  Asclep.  in  met.  YII 1,  p.  377, 
30  Hayduck.  Syrian.  in  met.  XIII,  p.  892  a  5  Usener.  Olympiodor.  prol.  in  Plat. 
phil.  c.  9.  —  Über  die  vier  iauißara  bei  den  Stoikern:  Raum,  Ort,  Zeit  und 
Gedankending,  v-l.  Zeller  IIP  a.  122  f. 


328  Vierter  Ahsclmill.     Epicurcier  und  Stuiker. 

cheii  sein,  sondern  in  der  ganzen  Denkweise  des  Stifters  der  Sloa 
und  seiner  hervorragendsten  Anhänger.  Der  rein  metaphysischen 
Speculation  gleicli  Epicnr  abhold,  wendet  sich  auch  die  Stoa 
überall  dem  Anschaulichen  und  Gemeinverständlichen  zu  und  verfällt 
darum,  wie  jener,  einem  erkenntnistheoretischen  Sensualismus, 
dessen  metaphysisches  Correlat  der  Materialismus  ist  ^).  Aus  dem 
Heraclitismus  Zeno's  lässt  sich  dessen  Materialismus  nicht  erklä- 
ren, da  vielmehr  umgekehrt  nach  Zeller's  ^)  zutreffender  Bemer- 
kung die  Hinneigung  zu  diesem  aus  der  lebendigen  Überlieferung 
der  Philosophie  längst  geschwundenen  System  die  materialistische 
Weltanschauung  schon  voraussetzt.  Eher  dürfte  man ,  wenn 
man  nach  einer  äussern  Anlehnung  sucht,  an  denjenigen  unter 
den  Socratikern  denken,  welcher  auch  der  stoischen  Ethik  die 
Grundgedanken  angab.  Denn  schon  Antisthenes  hat,  wenn  an- 
ders wir  che  Anspielungen  des  platonischen  Sophistes  richtig 
deuteten,  die  Begriffe  Substanz  (oiiOia)  und  Körper  {iiö}f.u()  iden- 
tificiert  ^). 

Auf  diesen  Grundlagen  nun  haben  die  Stoiker  eine  trotz  allen 
Anschlusses  an  die  Früheren  doch  eigenartige  Theorie  der  Ma- 
terie entwickelt.  Aber  die  Verschiedenheit  der  übernommenen 
Elemente  war  zu  gross,  als  dass  sie  zu  einer  wirklich  einheitlichen 
Verschmelzung  hätten  gebracht  werden  können.  Die  der  alten 
Naturphilosophie  entnommenen  concreten  Anschauungen  fügen 
sich  nicht  völlig  den  abstracten  aristotelischen  Begriffen,  welche 
ihre  Fassung  bilden  sollen.  Sie  verschieben  und  verzerren  die 
ihnen  aufgedrungene  Form  bis  zu  deren  völliger  Zersprengung. 

Schon  der  Gedanke  einer  kosmogonischen  Entwicklung  aus 
einem  bestimmten  Urstoff,  bei  welcher  aufgrund  eines  Innern 
Lebensgesetzes  die  verschiedenen  Elemente  und  deren  complicier- 


*)  Vgl.  Zeller  III  •'  a,  124  f.  —  Dass  eine  solche  materialistische  Auffassung 
dem  gemeinen  Bewusstsein  nahe  liegt,  bemerkt  schon  Aristoteles  met.  VII  2, 
1028  b  8:  (foxeTö''^  ovala  vndg'^dv  (pavtQojTUTu  fiev  roTg  amfxaatv'  dio  tct  rt 
Cua  xal  TU   (fvtd   xal  ra  fioQia  avrüJv    ovaiag     tivai  (pafxtv     U.   S.   W.        Eine     Solche 

vereinzelte  Stelle,  an  der  Aristoteles  nicht  seiner  eigenen  philosophisciien  An- 
sicht Ausdruck  giebt,  sondern  über  anderswo  verbreitete  Meinungen  referiert, 
wird  man  indes  nicht  mit  Siebeck,  Unters,  z.  Phiios.  d.  Gr.,  S.  27U,  zum  Be- 
weise dafür  benutzen  können,  dass  die  Stoa  auch  hier  von  Aristoteles 
a  u  s  g  e  li  t. 

■')  A.  a.  O.  S.  121. 

»)  S.  S.  2üi». 


Sloiker.     Enllelinles  und  Eitjenes  in  ihrer  Tiieorie.  ;>2{> 

tere  Ciestaltuugen  in  dor  unorganischen  und  der  organischen  Welt 
erst  nach  und  nach  hervortreten,  befindet  sich  in  einem  schwer 
zu  überwindenden  Gegensatze  zu  der  aristotehschen  Denkart, 
welche  einer  von  jeher  bestehenden,  m  sich  bestimmungslosen 
Materie  ein  gleichfalls  ewiges,  von  Anfang  an  fertiges  System  von 
Formen  gegenüberstellt.  Dort  Umwandlung  durch  Auswirkung 
von  innen  heraus  in  rythniischem  "Wechsel  der  Weltperioden,  hier 
stete  Erneuerung  innerhalb  der  als  Ganzes  ewigen  AVeit  durch 
immerfort  wechselndes  Zusammentreten  (Ovrodoc)  i)  der  zwei 
gleich  ursprünglichen  und  gleich  unvergänglichen  Principien  des 
substantiellen  Seins. 

Dazu  tritt  ein  zweites,  grösseres  Hindernis  des  Innern  Aus- 
gleichs. Jene  aristotelischen  Begriffe  von  Materie  und  Form  ent- 
stammen einer  durchaus  dualistischen  Betrachtungsweise,  welche 
dem  Stoffe  die  begriffliche,  unstoffliche  Form  als  höhere  Wirk- 
lichkeit gegenüberstellt.  Die  kosmogonische  Grundlage  des  Systems 
dagegen  geht  aus  von  einem  materialistischen  Monismus,  der  im 
Körperlichen  das  einzige  Seiende  erblickt.  Dieser  Materialismus 
ist  überdies  von  den  Stoikern  recht  geflissentlich  in  den  Vorder- 
grund ihres  Systems  gerückt  worden,  hifolge  dieses  Materialis- 
mus wird  der  Begriff  der  Materie  sowohl  wie  derjenige  der  die 
Materie  bestimmenden  Kraft  in  gleicher  Weise  vergröbert.  Damit 
aber  verwischt  sich  der  anfängliche  Gegensatz  zwischen  diesen 
beiden  Principien,  und  es  tritt  in  vielen  Beziehungen  ein  unklares 
Schwanken  zwischen  den  ursprünglich  dualistischen  und  den  mo- 
nistischen Elementen  ein. 

hl  den  folgenden  Auseinandersetzungen  ist  zu  betrachten 

a)  die  Materie  an  sich, 

b)  die  Materie  in  ihrem  Verhältnis  zur  Kraft, 

c)  die  Materie  im  Weltprocess. 

Abweichend  von  einem  neuerdings  mehrfach  beliebten  Ver- 
fahren werden  wir  bei  unserer  Darstellung  Verzicht  darauf  leisten, 
überall  den  Anteil  der  einzelnen  Schulhäupter  genau  zu  sondera. 
Bei  der  Beschaffenheit  unserer  Überlieferung  über  die  stoische  Lehre 
muss  es  genügen,  eine  solche  individualisierende  Behandlung  hin- 
sichtlich der  wenigen  Puncte  zu  versuchen,  für  welche  die  Quellen 


.■j3()  Vicilcr   Alisclinitt.     Eiiiciirecr  und  Stoiker. 

grössero  Verschiedonheileii  iimcrhall)  der  Schule  crkciiiicn  lassen, 
und  im  übrigen  diese  als  Gan/.es  zu  behandeln.  Ein  ande- 
res Vorgehen  wiirde  wenigstens  hinsichtlich  des  Problems  der 
Materie  zu  mehr  scheinbaren  als  wahrscheinlichen  Combinationen 
führen  '). 

a.    Die  Materie  an  nicU, 

Der  stoische  Begriff  der  Materie  ^)  knüpft  an  den  aristote- 
lischen an.  Von  Aristoteles  übernahm  die  Stoa,  wie  den  Namen 
„Materie"  (v^rj)^  so  auch  die  ganze  Problemstellung  und  den 
allgemeinen  Begriff.  Unsere  Discussion  der  stoischen  Theorie 
wird  darum  zunächst  nicht  von  den  auf  Heraclit  zurückweisenden 
kosmogonisch-monistischen  Anschauungen  mnerhalb  des  stoischen 
Systems,  sondern  von  dem  Kreise  von  Gedanken,  der  dem  ari- 
stotelischen Dualismus  entstammt,  ihren  Ausgang  nehmen  müssen. 

Der  Gedankengang,  welcher  die  Stoiker  zur  Aufstellung  einer 
allem  Körperlichen  gemeinsamen  Materie  führt,  ist  ein  doppelter. 
Den  einen  teilt  die  Stoa  mit  der  at'istotelischen  Philosophie  3), 
ohne  Frage  aufgrund  einer  Entlehnung  aus  der  letztern.  Wie 
der  ehernen  oder  silbernen  Bildsäule  das  ungeformte  Erz  oder 
Silber  voraufgeht,  so  setzen  hinwiederum  Erz  und  Silber,  als  schon 
cjualitativ  bestimmte  Körper,  ein  allem  zugrunde  liegendes,  aus 
sich  selbst  bestimmungsloses,  in  alles  wandelbares  Substrat  vor- 
aus ^).  Es  ist  die  Materie  (r^ry),  oder,  wenn  wir  jene  qualitativ 
schon  bestimmten  Stoffe,  aus  denen  das  bestimmt  geformte  Ding 
entsteht,  gleichfalls  als  Materie  bezeichnen  wollen,  die  erste  Ma- 


')  Auch  Hiizel  hat  in  seinen  Untersuchungen  über  die  Entwicklung  der 
stoischen  Philosophie  (Unters,  z.  Gicero's  philos.  Schriften,  Teil  II  Abt.  1)  nicht 
versucht,  hinsichtlich  des  Problems  der  Materie  eine  solche  Entwicklung  im 
einzelnen  nachweisen. 

^)  Unter  den  Stoikern  hatten  eigene  Schriften  über  die  Materie  {Titpl  ovaias) 
verfasst  unter  andern  Zeno  (Diog.  VII  134)  und  Antipater  (in  mindestens  zwei 
Büchern,    Diog.  VII  150,  vgl.  Fabric.  Bibl.  Gr.  III  538  Harless». 

•■')  S.  S.  229  ff.    252  f. 

*)  Ghalcid.  in  Tim.  c.  289  Wrobel.  Auch  mit  dem  Thon  oder  dem 
Wachs  wird  die  Materie  verglichen,  woraus  der  Künstler  bald  ein  Pferd, 
bald  einen  Hund,  bald  wieder  ein  anderes  Gebilde  herstellt.  Mnesarch  bei 
Arius  Didym.  fr.  27  (Dox.  p.  4G3)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  436.  Antonin.  VII  23. 
Vgl.  Plut.  cons.  ad  Apoll,  c.  10,  p.  10(3  E- F.  Ps.-Alex.  probl.  1.  q.  49  (die 
ähnlichen    Gleichnisse   Plato's,    Tim    50  A  ff.,    s.  S.  129  ff.). 


Stoiker,     a")  Die  Materie  an  sicii.  --  Beweise   für  ilieselltc.  .'l.'il 

teric  {tiqojttj  vXtj)  ^).  —  Die  Materie  wird  hier  also  von  den 
Stoikern,  ganz  in  Übereinstimmung  mit  Aristoteles,  als  das  unbe- 
stimmte, form-  und  qualitätslose  Substrat  der  qualitativ  verschie- 
deneii  Stoffe  gefasst,  das  durch  allen  Wechsel  der  letztern  hin- 
durchgeht 2). 

Eine  andere  Ableitung  der  Materie  dagegen,  welche  in  den 
Ausführungen  der  Stoiker  ungleich  mehr  hervortritt,  als  jene  aristo- 
telische, ergab  sich  aus  dem  Gegensatze  des  Thätigen  und  des 
Leidenden.  Wie  die  Stoa  für  das  Thätige  in  Gott  das  Princip 
erblickt,  so  für  das  Leidende  in  der  Materie  ^).  Auch  dieser 
Gedanke  weist  auf  Aristoteles  zurück*).  Während  aber  Ari- 
stoteles die  Materie  in  erster  Linie  im  Gegensatz  zu  der  be- 
stimmenden Form  betrachtet,  neben  welchem  Gegensatz  der  des 
Activen  und  des  Passiven  erst  in  zweiter  Reihe  inbetracht  kommt, 
liegt  bei  den  Stoikern  die  Sache  umgekehrt.  Weil,  wie  wir  sehen 
werden,  der  Begriff  der  Formalursache  ihnen  in  den  der  thätigen 
Kraft  sich  auflöst,  so  ist  ihnen  die  Materie  vor  allem  das  Leidende. 
Aber  das  Leiden  der  Materie  ist  Bestimmtwerden  ^).  So  laufen 
denn  beide  Betrachtungsweisen,  die  dem  Aristoteles  entnommene 
und  die  specifisch  stoiscTie,  der  Sache  nach  auf  dasselbe  hinaus. 
Weil  ohne  eigene  Kraft  der  Thätigkeit,  ist  die  IMaterie  auch  ohne 
eigene  Bestimmtheit,  und  umgekehrt. 

Die  Ableitung  der  Materie  hat  uns  zugleich  das  erste  Merk- 
mal im  Inhalt  ihres  Begriffes  ergeben.     Sie  ist,  als  Substrat   aller 


')  Arius  Didym.  fr.  ^20  (Dox.  p.  457  f.)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  322  (von  Zeno): 

o^ai'av  tff  (ivat  ti}v  twv  ovrcov  nävToiv  ti^mtijv  v?.r,v.  p.  324  (von  Ghryslpp) :  tmv 
xatä  notÖTTjxa  vifiaTafjie'vmv  TiQoitTiv  v?.i]v  (sc.  ovat'av  eivai^,  Chalcid.  c.  293 
(p.  322,  15  Wrobel) :  princeps  silva.    Simpl.  in  phys.  I,  p.  227,  23:  ngwTiazr,  t'?.r;. 

■)  Sext.  Emp.  adv.  niath.  X  312  (excerpiert  bei  Hippolyt.  refut.  haeres.  X  6, 
p.  311  Miller).  Vgl.  Diogen.  VIT  150.  Aetius  I  9,  2  (Dox.  p.  307)  bei  Plut.  plac. 
I  9;  Stob.  ecl.  1,  p.  318. 

3)  Sext.  Emp.  adv.  math.  IX  11.  Aetius  I  3,  25  (Dox.  p.  289)  bei  Plut. 
plac.  I  3  (vgl.  Achill.  Tat.  isag.  p.  124  E).  Diog.  VII  134.  Alex.  Aphrod.  de 
mixt.  f.  144r  (p.  60(i  ed.  Ideler,  in:  Arist.  meteor.  Bd.  II.  Leipzig  1836).  Athenag. 
suppl.  pro  Christ,  c.  19  p.  314  B  ed.  Maurin.  \'enet.  1747.  Lactanl.  instit.  VII3, 
p.  741  A  Migne.  Plotin.  VI  1,  27,  p.  258,  15  Müller;  ehd.  c.  29,  p.  260,  27. 
Chalcid.  c.  289.  293  u.  s.  w. 

*)  S.  S.  265  f. 

5}  Vgl.  Sext.  Emp.  adv.  math.  IX  11 :  ndayur  tt  y.al  iQenfa&at.  Diog.  VII  150: 
xai  na-d-qr-^  Je  eaiiv  .  .  ,  tt  ya.Q  qv  uTQtnTog,  ovx  civ  rd  yivöfieva  c'^  arrijs 
tyiveto. 


:]:]-2  Vierter  Alisclniill.     K|iicinc('r  uml  Stoiker. 

Veränderungen,  selbst  ohne  alle  Besliiiunthcii,  form-  und  cigen- 
schaftslos  (af.ioQ(fog  und  ccTtoiog)  ^). 

Wühroud  aber,  nach  Plato's  Vorgange,  Aristoteles  mit  der 
Qualilätslosigkoit  der  Materie  vollen  Ernst  zu  machen  sich  be- 
müht und  sie  wenigstens  principiell  als  blosse  Potenz  zu  einem 
bestimmten  Sein  fasst,  sind  die  Stoiker  nicht  imstande,  ihm  bei 
einer  solchen  unanschaulichen  Abstraction  zu  folgen.  Lagen  doch 
bereits  in  der  aristotelischen  Lehre  von  den  Elementen  Mo- 
mente genug,  die  zu  einer  vergröbernden  Auffassung  der  Materie 
hindrängten  2).  Den  Stoikern  vollends  verbot  ihr  Materialismus, 
in  der  Natur  etwas  als  wirklich  anzunehmen,  was  nicht  Körper 
wäre.     Darum  muss  auch  die  Materie  Körper  sein  '•^).     Fassen  sie 


')  Arius  Didymus  fr.  20  (Dox.  p.  i:>S)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  324:    e(fijat    tft  J 

Tloai  td' invio?  rrjv  z(ov  oloxv  ovaiav   xai   v?.r;v  anoiov   y.al  a/noQfov  eivai.   Diogen.  VII 

134.  137.  Plut.  comm.  not.  c.  34,  p.  107(5  C.  c.  48,  p.  1085  B—G.  c.  50,  p.  1086  A. 
Sext.  Emp.  adv.  math.  IX  11.  Galen,  q.  qualit.  s.  incorp.  C,  XIX  p.  478  Kühn. 
Ghalcid.  in  Tim.  c.  292  Wrobel:  (Zeno)  .  .  .  neque  formam  neque  figurani  nee 
uUam  omnino  qualitatem  propriam  fore  censet  fundamenti  rerum  omniuni 
silvae.    Vgl.  ebd.  c   280.  290.  297. 

•■')  S.  S.  260. 

^)  Aetius  I  9,  7  (Dox.  p.  308)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  324:  0/  ItmixoI  aioua  ttjv 
vkr,v  anoifaivovrat.  Vgl.  Theodoret.  Graec.  affect.  curat.  IV  14.  Alex.  Aphrod. 
de  an.  I,  p.  17, 15— l(i  Bruns.  Sext.  Einp.  adv.  math.  X  312.  Plot.  enn.  II 4, 1.  p.  104, 
8;  IV  7,  9.  p.  114,  18;  VI  1,  2(5.  p. 257, 25.  Ghalc.c.  289,  p,320,  (5.  18Wr.  Aristocles 
(bei  Stein  I,  2(3  Anm.  31  steht  durch  ein  Versehen  Hierocles)  bei  Euseb.  praep. 
evang.  XV  14,  1.  p.  SIGD:  aTO(yfTov  etvai  (faai  itov  ovroyp  z6  tivq,  xaO-äiieQ  'Hqü- 
xXinos,  TovTov  (f  uQxas  vh;v  xai.  ^'tfov,  oK  Tlh'T'^u-  (der  Vergleich  bezieht  sich  nur 
auf  die  letzten  Worte ;  über  die  herkömmliche  Aufzählung  der  platonischen  Prin- 
cipien  d/^oV,  ''/■?;,  /()>'«  s.  S.  114  Anui.  2).  d).).'  oinoi  (sc.  ZxmLxo'i)  a,u(f(,}  (das  im 
Folgenden  epexegetisch  hinzugesetzte  xai  tu  noiovv  xai  x6  nda^ov)  aw/xarä  (}.aaiv 
eivai,  xai  ro  noiovv  xai  tö  ndayr^ov,  exeivov  (sc.  nkärmvos)  x6  Tigunov  noiovv  (sC. 
■&e6v)  alttov  daiüixarov  eivai  Xeyovrog  {ovtoi  —  (pauiv  statt  ovrog  —  iprjaiv  mit 
Heinze,  Die  Lehre  vom  Logos  in  d.  griech.  Philcs.  Oldenburg  1872,  S.  91  Anm.  2; 
wenn  aus  dem  Schweigen  bei  Gaisford  geschlossen  werden  darf,  so  hat  sich 
wenigstens  das  faalv  in  den  codd.  EEG  erhalten.  Durch  die  in  Klammer  ge- 
gebenen Erklärungen  dürfte  auch  der  Anlass  zu  dem  dreimaligen  sie  beseitigt 
sein,  das  Stein  a.  a.  0.  zu  nidroii;  of/xi^w  und  daMiiaxor  beifügt.  Natürlich  ist 
am  Schluss  der  Stelle  keyovios  zu  lesen,  nicht  '/J'/ovtes,  wie  bei  Stein  verdruckt  ist). 

Damit  scheint  nun  im  Widerspruch  zu  stehen  Diogen.  VII  134,  wo  es  bei 
Gebet  heisst:  ö'iufefjeiv  (fe  ifaaiv  dpyds  xai  azoiytia  •  -  •  d'/J.a  xai  damjxdrovi 
elvai  ras  dpyds  xai  d/iioptfovs,  tu  J'f  i.u/LioQ(f(oai)-ai.  Allein  statt  des  nach  Suidas 
s.  Y.  aQxv  in  den  Text  aufgenommenen  daco/ndTov;  bieten  die  Handschriften 
am/nara,  uiid  an  dieser  Lesart  glaube  ich  im  Gegensatz    /.u  R.    Hirzel,    Untersu- 


Stoiker,     a)  Die  Materie  an  sich.  —  Bef,Tiir  derselben.  33ii 

auch,  durch  Aristoteles  belehrt,  die  Materie  nicht  mehr,  wie  ihre 
ionischen  Vorgänger,  als  einen  bestimmten  Körper,  so  bleiben 
sie  doch  insofern  in  dem  Gedankenkreise  der  letztern  stehen,  als 
sie  wenigstens  von  den  allgemeinen  Wesensbestimmungen  des 
Körperlichen  bei  derselben  nicht  abstrahieren. 

Beide  Momente,  die  Bestimmungslosigkeit  der  Materie  auf  der 
einen,  ihre  Körperlichkeit  auf  der  andern  Seite,  ergeben  die  stoi- 
sche Definition  der  Materie  als  des   qualitätslosen  Körpers  ^). 

Was  nun  den  genaueren  Sinn  beider  Teile  dieser  Definition 
betrifft,  so  kann  über  die  Bedeutung  des  ersten  Teils  kein  Zweifel 
sein.  Die  Qualitätslosigkeit  der  Materie  muss  gemäss  der  Ab- 
leitung des  Begriffs  die  Forderung  einschliessen,  jede  bestimmte 
Gestalt  und  jede  bestimmte  Eigenschaft  von  ihr  wegzudenken. 
Es  kann  daher  nur  als  eine  Umdeutung  betrachtet  werden,  wenn 
einige  Stoiker,  vermutlich  um  den  Einwendungen  gegen  die  Mög- 
lichkeit   eines   Seins,   das    kein    So-Sein  wäre,    zu  entgehen,    die 


chungen  zu  Gicero\s  philos.  Sclii-iften,  II  (1882),  S.  756  Anm.  1  mit  J.  Lipsius, 
Pliysiologia  Stoicorum,  lib.  II  dissert.  5  (ed.  Paris.  1604  p.  6b),  0.  Heine, 
N.  Jahrb.  f.  Phil.  u.  Päd.  Bd.  99  (1869)  S.  617.  M.  Heinze,  Lehre  vom  Logos, 
S.  91,  festhalten  zu  müssen.  Hirzel  a.  a.  0.  sieht  einen  Widerspruch  darin, 
dass  etwas  zugleich  als  awua  und  als  a.fjLOQ(f.ov  bezeichnet  werde.  Dieser  Wider- 
spruch sei  um  so  auffälliger,  weil  ,nach  Diogenes  in  den  unmittelbar  folgen- 
den Worten  (13.5)  jedem  aöä/xa,  da  es  doch  ohne  inKpdvtia  nicht  denkbar  ist, 
ein  Tif'paff  gegeben  ist  und  damit  ihm  auch  eine  gewisse  Gestalt  zuge- 
sprochen ist".  —  Allein  die  in  §.  135  von  Diogenes  gegebenen  Aus- 
führungen über  Fläche,  Linie  und  Punct  sind  für  den  Sinn  des  aw^a  (resp. 
dauy^ärovg)  y.at  d/.ioQifovs  in  §.  134  nicht  entscheidend.  Wie  man  aus  den  von 
Diogenes  gegebenen  Anführungen  ersieht,  entstammen  jene  einem  ganz  andern 
Zusammenhange,  in  dem  von  der  Materie  nicht  die  Rede  war.  Posidonius 
z.  ß.  ist  für  die  Lehre  von  der  Materie  mit  dem  2.  Buche  seiner  Physik,  für 
die  Bestimmungen  über  Fläche  etc.  mit  dem  3.  Buche  seiner  Meteorologie  an- 
gezogen. Was  für  §.  134  inbetracht  kommt,  ist  also  nicht  die  Vorstellung 
von  einem  bestimmten  Körper  als  einem  von  bestimmten  Flächen  umschlosse- 
nen Gebilde,  sondern  die  —  weiter  unten  im  Text  —  zu  besprechende  allge- 
meine stoische  Definition  des  Körpers  als  eines  dreifach  Ausgedehnten.  Ein 
solches  Ausgedehntes  aber  konnten  die  Stoiker  von  ihrem  Standpuncte  aus 
ebenso  wohl  ein  „Gestaltloses"'  nennen,  weil  es  aus  sich  keine  bestimmte 
Gestalt  hat,  wie  sie  es  als  ein  „ Eigenschaftsloses "  bezeichneten,  da  es,  obzwar 
in  sich  nie  ohne  bestimmte  Eigenschaft,  diese  doch  nicht  aus  sich  besitzt. 

^)  Simpl.  in  phys.  I,  p.  227,  23:  t6  dnoiov  arH/ia  ti^v  nQoniaTrjv  vXtjv  tivai 
(faai  .  .  ,  Tmv  fxev  nalaiwv  oi  ^Tony.oi.  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  312  (excerpiert 
bei  Hippolyt.  refut.  haer.  X6,  p.  311  Miller).  Chalcid.  c.  289,  p.  320, 18—19  Wr.  Plut. 
comm.  not.  c.  50,  p.  1086  A.  Plotin.  enn.  11  4, 1.  p.  104,  8;  lY  7,  9.  p.  114, 18  u.  ü.  (s.  u.). 


.034  Vierlor  Alisclmill.     Epiriircer  Und  Stoiker. 

Qualitätslosigkeit  der  Materie  nicht  in  dem  Sinne  verstanden  wis- 
sen wollten,  als  habe  die  Materie  überhaupt  aus  sich  keine  Qua- 
lität, sondern  so,  dass  sie  alle  Qualitäten  zumal  und  darum  keine 
bestimmte  einzelne  besitze  ^). 

Unter  dem  Körper  aber  verstehen  die  Stoiker  das  dreifach 
Ausgedehnte  ^).  Dieses  dreifach  Ausgedehnte  fällt  ihnen  keines- 
wegs mit  dem  Räume  zusammen;  vielmehr  kommen  wir  nach 
ihnen  erst  vom  Begriffe  des  Körpers  aus  durch  eine  Abstraction 
zu  dem   des  Raumes  ^).     Die    stoische  Lehre    von   der  Materie  ist 


')  Plut.  comni.  not.  c.  ."lO,  p.  lOSß  A.  —  Hieher  gehört  es  auch  wohl,  wenn 
bei    Diog.  Laert.  VII  137  die  vier  Elemente  als  vlt]  bezeichnet  werden. 

-)  Diog.  VII  l.')5  (nach  Apollodor) :     au>,ua  d'  lailv  .  .  ,  t6  tqixü    (fiaaraiov, 

tts    /Jrjxoi,    fi\     nXdiog,     dg    ßädug'     tovto   de   xai  arigeuv  a(n,ua  y.aXfiTai.      Aus   dem 

Letztern  darf  nicht  mit  Heinze,  Lehre  vom  Logos,  S.  87,  gefolgert  werden, 
dass  jene  Definition  sich  nur  auf  den  festen  Körper  beziehe,  und  dass  daher 
im  übrigen  der  Begriff  des  ainjua  von  den  Stoikern  etwas  weiter  gefasst  werde, 
als  es  sonst  zu  geschehen  pflegt.  Denn  als  an^eöv  i.st  das  ff^J.u«  bezeichnet  nur 
im  Gegensatz  zur  Fläche;  vgl.  Euclid.  elem.  XI  def.  1  (ed.  Heiberg):  oTioeüv  tan 
t6  juijxos  xai  nkäiog  xai  ßä&os  eyov.  —  Dieselbe  Definition  des  fföi^a  AriusDidym. 
fr.  19  (Dox.  p.  4;')?,  17)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  350.  Ebenso  liegt  sie  den  Ausfüh- 
rungen von  Nemes.  de  nat.  hom.  c  2.  p.  30  ed.  Antverp.  (p.  71  Matthaei)  zu- 
grunde. —  Übrigens  ist  allein  das  dreidimensionale  Gebilde  Körper.  Fläche  und 
Linie  sind  ein  daüinatov  (Cleomedes,  meteor.  I  7),  au'iixari  ngoaeoixds  (Aet.  I  IG,  4, 
Dox.  p.  31.5,  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  344),  nur  xca'  inivotav  ipthiv  bestehend  (Procl. 
in  Euch  24.  4.  p.  89,  15  Friedl.).  Vgl.  auch  Plut.  de  comm.  not.  c.  40,  p.  1080  E 
und  unten  S.  342  f. 

^)  Die  Stoiker  unterscheiden  Ort  [lönos),  Raum  (x"»'?«)  und  Leeres  {xevör). 
Ersterer  ist  das  vom  Körper  Eingenommene  (Aetius  1  20,  1,  Dox.  p.  317,  bei 
Plut.  plac.  I  20  u.  Stob.  ecl.  I,  p.  382;  eben.so  Arius  Didym.  fr.  25,  Dox.  p.  460 
bei  Stob.  ed.  I,  p.  390—39!^;  Cleomedes,  meteor.  I,  c.  2)  oder,  wie  es  in  Über- 
einstimmung mit  Aristoteles  auch  heisst,  der  Abstand  zwischen  den  äussersten 
Grenzen  des  Umgehenden  (Sinipl.  phys.  IV,  p.  571,  22-25.  Themist.  phys.  IV, 
p.  268,  24  ff.  Sp.  [von  Ghrysijtp].  Sext.  Emp.,  Pyrrh.  hyp.  III  124;  adv.  math.  X, 
3—4);  Raum  {xmqo)  der  vom  Körper  teilweise  eingenommene  Abstand  (Aetius, 
Ar.  Did.,  Sext.  a.  a.  0.) ;  Leeres  da.s  überhaupt  nicht  Eingenommene  (Aet.,  Ar. 
Did  ,  Sext.,  Gleom.  a.  a.  0.).  Sie  unterscheiden  also,  wie  schon  hieraus  hervor- 
geht und  uns  überdies  durch  Simplicius  ausdrücklich  bestätigt  wird,  jenen  Ab- 
stand {(fiäoT7ijua)  von  den  Körpern ;  wenn  derselbe  auch  niemals  ohne  Körper 
ist,  so  ist  er  doch  nicht  dasselbe  mit  ihnen  (Simpl.  phys.  IV,  p.  571,  27  ff.).  Der 
Raum  im  allgemeinen  Sinne  existiert  erst  mit  den  Körpern  {nagv^iaraTai  roig 
awfxaaiv  6  tünog,  Simpl.  in  categ.  fol.  91  zl);  er  wird  darum  nach  stoischer 
Lehre  von  jenen  begrenzt,  wälirend  die,  welche  ihm  ein  eigenes  Wesen  bei- 
legen, wie  (Pseudo-)Archytas,  durch  den  Raum  die  Körper  begrenzt  werden 
lassen  (Simpl.  1.  c). 


Stoiker,     a)  Die  Malerie  an  sich.  —    BegrilT denselben.  335 

al.so  keineswegs  mit  der  pythagoreisch-platonischen  verwandt, 
welche  das  Wesen  der  Materie  in  der  blossen  Ausdehnung  er- 
blickt. Die  Materie  kann  nach  ihnen  vielmehr  nur  als  das  Ilaum- 
füllende betrachtet  werden. 

Damit  ist  zugleich  ausgesprochen,  dass  nach  stoischer  An- 
schauung die  Materie,  wenn  sie  als  dreifach  Ausgedehntes  be- 
zeichnet wird,  mehr  ist,  als  blosser  mathematischer  Kör- 
per. Aber  dm-ch  welche  Eigenart,  fragen  wir,  soll  sie  von  dem- 
selben unterschieden  sein  i)  ?  Dreifache  Ausdehnung  kommt  auch 
dem  mathematischen  Körper  zu;  weitere  Bestimmungen  aber 
würden  mit  der  behaupteten  Qualitätslo-sigkeit  der  Materie  nicht 
wohl  zu  vereinbaren  sein. 

Wie  es  scheint,  hat  wenigstens  ein  Teil  der  Stoa  hier  zu  einem 
Auskunftsmittel  gegriffen^  das  mit  den  begrifflichen  Grundlagen 
des  Systems  freilich  nicht  im  Einklänge  steht.  Wenn  wir  aus  der 
gegen  die  stoische  Lehre  von  der  Materie  gerichteten  Polemik 
Plotin's  historische  Folgerungen  ziehen  dürfen,  so  haben  manche 
Stoiker,  hierin  in  Übereinstimmung  mit  der  epicureischen  Schule  2), 
das  Unterscheidungsmerkmal  des  physischen  Körpers  vom  mathe- 
matischen in  die  Widerstandsfähigkeit  {(am i\ti'u ,  weniger 
genau  „ündurchdringlichkeit")  gesetzt  s).  Freilich  kann  innerhalb 
des  stoischen  Systems  diese  Widerstandsfähigkeit  nur  als  eine 
relative,  bloss  gegen  mechanischen  Druck  gerichtete,  angesehen 
worden  sein.  Andernfalls  wäre  nicht  zu  erklären,  wie  die  Stoiker  jene 
völlige  Durchmischung   der  Körper,   bei  der  die  Teile  sich  gegen- 


')  wie  Plütin.  enn.  VI  1,  2i;.  p.  257,  28  M.  mit  Recht  den  Stoikern  ent- 
gegenhält. 

■')  S.  S.  30(1 

•')  Vgl.  Plotin.  enn.  VI  1,  2(5.  p.  257,  20  Müller:  tl  d'e  /ntTci  dvinvTilag  t6 
TQixfh  ovf_  ev  ?Jyovai  (nämlich  den  mathematischen  und  den  physischen  Körper). 
Auch  im  Fortgange  dieser  Kritik  wird  vorausgesetzt,  dass  die  tlnncTiia  zum 
stoischen  Begriff  des  Körpers  gehöre;  ebenso  c.  28,  p.  260,  16  M.,  wo  den 
Stoikern  (vgl.  c.  26,  p.  2hl,  30  ff.)  entgegengehallen  wird,  dass  das  dmtvTiti 
eine  Qualität  sei.  (Die  dvtnvnia  hat  natürlich  mit  der  TV7iwr,ii,  dem  , ste- 
henden stoischen  Terminus",  nichts  zu  schaffen.  Stein  II,  S.  118,  Anm.  Mitte, 
bringt  beides  in  eine  mir  nicht  verständliche  Beziehung.). 

Bekanntlich  wird  auch  von  Locke  die  ,solidity-'  neben  der  Ausdehnung 
u.  .«.  w.  zu  den  , primären''  Eigen^ichaften  der  Korper  gerechnet  (Essay  conc, 
hum.  underst.  b.  II  eh.  9). 


330  Vierter  Alischnitt.     Epicureer  und  Stoiker. 

seitig  güir/licli  durchdringen  {xQäotg  di"  oXcdv)  i),  noch  hätten  für 
möghch  halten  sollen.  Und  doch  ist  gerade  die  letztere  Aufstel- 
lung eine  der  Unterscheidungslehren  ihres  Systems. 

Aber  wie  dorn  auch  sein  mag,  so  viel  ist  sicher,  dass  die 
Stoiker  unter  der  Materie  das  bestimmter  Form  und  Qualität  noch 
entbehrende,  ausgedehnte  und  darum  raumfüllende  Substrat  ver- 
stehen, von  dem  alle  bestimmten  Körper  die  Differenzierungen 
darstellen.  Die  Materie  ist  für  den  Stoiker  das,  was  übrig  bleibt, 
wenn  wir  von  den  einzelnen  Körpern  jede  Besonderheit  hinweg- 
denken, der  allgemeine  Gattungsbegriff  des  (physischen)  Ivör- 
pers,  „Stoff"  in  dem  modernen  Sinne  des  Wortes  2). 

Diese  Fassung  des  Begriffs ,  die  nur  Missverständnis  dem 
Plato  und  dem  Aristoteles  unterlegen  konnte  ^),  ist  für  den  Stoi- 
cismus  charakteristisch.  Einen  gewissen  Anhaltspunct  freilich 
fand  dieselbe  bereits  in  der  spätem  Form  der  platonischen  Lehre 
und  bei  Aristoteles,  insofern  auch  hier  die  unbestimmte  Gattung 
den  differenzierenden  Merkmalen  gegenüber  als  Materie  bezeichnet 
wird  ^).  Aber  bei  Plato  und  Aristoteles  handelt  es  sich  in  diesem 
Falle  nur  um  die  Materie  in  den  Begriffen,  nicht  um  die  Ma- 
terie in  der  physischen  Welt  0),  Für  sie  ist  die  Gattung  eine 
Art  von  Materie,  für  die  Stoiker  dagegen  ist  dve  physische  Ma- 
terie zugleich  der  hihalt  des  allgemeinsten  Gattungsbegriffes  von 
realen  Dingen. 

In  jener  Bestimmung  der  Materie  liegt  eine  zweite  Grundan- 
schauung der  stoischen  Lehre  schon  eingeschlossen.  Trotz  alles 
sonstigen  Nominalismus  ist  die  Stoa  von  dem  aristotelischen 
Grundsatz  nicht  abgegangen,  dass  die  allgemeinen  Bestimmungen 
das  Wesentliche  sind  und,  den  wechselnden  Accidentien  gegen- 
über, das  Substantielle  enthalten.  Ist  somit  die  Materie  der  all- 
gemeine Gattungsbegriff  der  körperhchen  Natur,  so  ist  sie  zugleich 
das  ursprünglich  Substantielle.  Die  Materie  ist  Substanz  {oi>aia)<^). 


^)  Über  dieselbe  vgl.  Zeller  III«  a,  127,  1. 
2}  Vgl.  Plotin.  enn.  II  6,  2.  p.  125,  6-12  Müller. 
«)  S.  S.  152  f.  163  ff.  238  ff. 
*)  S.  S.  199  f.  S.  293. 

")  Die  vereinzelten  Ungenauigkeiten  bei  Aristoteles,  über  die  S.293Anm.r), 

kommen  seinem  sonstigen,  folgerichtigen  Gebrauch  gegenüber  nicht  inbetraclit. 

'■)   Diog.  VII  15')  :   ovoiav  tH  ifaac  twv    ovtmv  änävtcov  T'^v    tiqmtt/V    v^t/V.     Vgl. 

Diogen.  VII  134.   Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  457  f.)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  322-324, 


Stoiker,     a)  Die   Materie  an  sich.  —  Die  Materie  Substanz.  337 

Dieselbe  veränderte  Wertstellimg  der  Materie  ergab  .sich  übri- 
gens, wie  bereits  Plotin  hervorhebt  i),  aus  dem  materialistischen 
Standpunct  der  Stoa.  Entgegen  dem  Begriffsrealismus  des  Plato 
und  Aristoteles  erblickt  der  Sensualismus  der  Stoiker  nur  in  dem 
Tast-  und  Sichtbaren  ein  Seiendes.  Darin  aber,  dass  das  v/ahre 
Seiende  in  dem  Bleibenden  und  Unveränderlichen  zu  suchen  sei, 
kommen  sie  mit  nahezu  der  gesamten  Philosophie  des  Altertums 
überein.  Das  eigentlich  Seiende  an  den  wechselnden  und  in  ein- 
ander sich  wandelnden  Dingen  muss  also  in  denjenigen  tast-  und 
sichtbaren  Bestimmungen  gelegen  sein,  welche  in  allen  Verände- 
rungen verharren,  mit  andern  Worten:  in  der  Körperlichkeit  als 
solcher  oder  in  der  Materie. 

So  ist  also  der  Stoff'  nach  stoischer  Anschauung  nicht,  wie 
bei  Aristoteles,  nur  ein  Teil  der  Substanz  von  fraglicher  Berech- 
tigung, der  nur  beziehungsweise  auch  selbst  als  Sub.stanz  bezeich- 
net wird  ^),  sondern  das  erste  Seiende  (ro  ov)  selbst  3).  Dass 
freilich  aufgrund  anderer  Gedankenreihen  auch  innerhalb  des 
Stoicismus  eine  davon  verschiedene  Auffassung  Platz  greift,  wird 
sich  später  zeigen '^). 

Aristoteles,  der  die  Wurzel  des  substantialen  Seins  in  dem 
begrifflichen  Formelement  sieht,  muss  so  viele  Arten  von  Sub- 
stanzen annehmen,  als  es  begrifflich  verschiedene  Formen  giebt  ^). 
Die  Stoa,  welche  die  Entwicklung  des  Seienden  aus  der  körper- 
lichen Grundlage  anheben  lässt,  lehrt  mit  der  Einheit  der  Materie 
auch  die  Einheit    der  Substanz.    Es    giebt   nur   Eine   Welt"), 


(citierl  S.  331  Anm.  1  und  S.  332  Anm.  1).  Plut.  conira.  not.  c.  50,  p.  1085  F. 
Plotin.  enn.  II  6,  2.  p.  125,  12;  VI  1,  27.  p.  2r)9,  17.  Ghalcid.  in  Tim.  c.  289. 
290.  So  schon  Zeno:  Diog.  und  Ai-.  Did.  a.  a.  0.  Ghalcid.  c.  290.  Zwischen  der 
Substanz  und  der  Materie  findet,  wie  Posidonius  lehrt,  nur  ein  begrifflicher, 
kein  realer  Unterschied  statt  ;  vgl.  Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  458,  10—11) 
hei  Stob.  ecl.  I,  p.  324:  (hai).eQeiv  de  T-r^v  ovaiav  TTje  v/.7ji  rrjv  ovaav  (von  Heeren 
gestrichen,  nicht,  wie  Stein  I  19,  25  Ende  schreibt,  hinzugesetzt)  xard  tiJv 
vTiöaraaiv  (so  die  Handschriften;  Ungenaues  bei  Stein  a.  a.   0.)   imvoia   ,uüvov. 

1)  Plotin.  enn.  VI  1,  28.  p.  259,  33  ff. 

^)  S.  S.  254  ff. 

3)  Numenius  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  17,  2.  p.  819  B.  Plotin.  enn.  VI  1, 
27.  p.  258,  20  ff.  p.  259,  17  f.    c.  28,  p.  259,  33  ff.    Simpl.    in    categ.  fol.  44  J- 

*)  S.  S.  354.  -  s)  S.  S.  282  ff. 

«)  Aetius  I  5,  1  (Dox.  p.  291)  bei  Plut.  plac.  1  5;  Stob.  ecl.  I,  p.  49G.  Cornut 
theol.  c.  26,  p.  49,  13  Lang. 

15a   euiiiker:    Das  Probloni  der  Materie  etc.  *"-' 


3.'}8  Vierter  Abschnitt .     Epicureer  und  Stoiker. 

und  darum  auch  nur  eine  einzige  all  den  zahllosen  qualitativ 
verschiedenen  Dingen  gemeinsame  Weltsubstanz  i).  Die  Materie 
ist  nicht  eine  Subtanz,  sondern  als  oberste,  alles  befassende 
Gattung  ist  sie  die  Substanz  ^). 

Bei  dieser,  dem  Piatonismus  und  Aristotelismus  gegenüber 
so  durchaus  abweichenden  Schätzung  der  Materie  erscheint  es 
begreiflich,  dass  die  Stoiker  für  sie  die  Bezeichnung  „Substanz" 
(oi^ot'a)  dem  Namen  „Materie"  (v^rj)  vorzogen.  Zeno  und  Ghrysipp 
wollten  den  letztern  Ausdruck  sogar  überhaupt  nicht  auf  jene 
gemeinschaftliche  Grundlage  alles  Seienden  angewandt  wissen, 
sondern  ihn  auf  die  c{ualitativ  schon  bestimmten  Stoffe,  wie  Erz, 
Gold,  Eisen  u.  s.  w.,  beschränken  =^).  Doch  sahen  wir  schon 
oben  *),  dass  die  Stoa  schliesslich  auch  hier  in  der  aristotelischen 
Unterscheidung  von  „erster"  und  „zweiter"  Materie  einen  Ausweg 
gefunden  hat.  Posidonius  fasst  darum  „Substanz"  und  „Materie" 
als  sachlich  identisch  und  nur  dem  Begriffe  nach  verschieden  auf  ^). 

Schon  die  Bezeichnung  der  Materie  als  „Substanz"  hat  che- 
selbe  in  Beziehung  zur  Kategorienlehre  gebracht.  Doch  gehört 
das  Wort  „Substanz"  (ovoia)  der  aristotelischen,  nicht  der  stoi- 
schen Kategorienlehre  an.  Der  aristotelischen  Kategorie  der  Sub- 
stanz entspricht  in  der  stoischen  Terminologie  das  „Substrat^ 
[imoxsi'i^ievor),  ohne  dass  dieses  freilich  ganz  mit  jener  zusammen- 
fiele ^).  Nun  ist  auch  für  Aristoteles  die  Materie  Substrat  {imo- 
xeffisror')  der  Form  '').  Aber  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  dieses 
Substrat  schon  aus  sich  ein  Sein  besässe.  Dagegen  geben  die 
Stoiker    dem  Worte   gerade   den    letztern   Sinn  ^),    indem  sie  das 

^)  Antonin.    XII  30 :      fiia    ovala     xoiv^,    xSv    (fteiQyrjTai     Iffimg     noioTg    Ouijuaat 

ixvQiois.  So  schon  Zeno :  Chalcid.  in  Tim.  c.  289.  292.  Vgl.  ferner  Sext. 
Emp.  adv.  math.  X  312.  Plotin.  enn.  VI  1,  c.  25  Schlu.ss,  und  dazu  Tren- 
delenburg, Gesch.  der  Kategorienlehre,    S.  221. 

2)  Vgl.  z.  B.  Diog.  VII  150. 

"")  Chalcid.  in  Tim.  c.  290,  p.  321  Wrobel,  243  (nicht  342,  wie  Stein  I,  53, 
Anm.  73)  schreibt)  Mullach.  Vgl.  Diog.  VII  150,  wo  der  Unterschied  von  ovaia 
und  t'Ai?  dahin  bestimmt  wird,  dass  erstere  i?  rmv  Tiavtior,  letztere  i]  rulv  tnl 
HfQovs  sei.   —    Noch  Anderes  Chalcid.  1.  c,  cap.  291. 

^)  S.  S.  331  Anm.  1. 

^)  Posidonius  bei  Arius  Didym.  fr.  20,  Dox.  p.  458  (Stob.  ecl.  I,  p.  324 ;  zum 
Text  vgl.  Hirzel,  Unters.  II.  S.  759  Anm.  1). 

^)  Vgl.  Trendelenburg,  Gesch.  der  Kategorienlehre,  S.  227. 

')  Arist.  phys.  II  1,  192  b  34.  S.  o.  S.  215.    298. 

^)  Simpl.  in  categ.  f.  44  J. 


Stoiker,     a)  Die  Materie  an  sich.     Die  Mat.  Substanz  u.  passives  Princip.      ."vJO 

Substrat  als  aus  sich  und  nicht  erst  durch  die  Form  wirkliche 
Substanz  fassen.  Sie  unterscheiden  zwar,  ohne  Frage  in  Abhän- 
gigkeit von  der  aristotelischen  Terminologie,  ein  erstes  und  zwei- 
tes Substrat  i) ;  aber  auch  das  erste  Substrat  ist  bei  ihnen  nicht, 
wie  bei  Aristoteles,  eine  der  Actualität  noch  entbehrende  blosse 
Potenz.  Wenn  daher  die  Stoiker  die  Materie  als  Substrat  {vnv- 
xsifisvov)  —  natürlich  ist  das  erste  Substrat  gemeint  '^)  —  be- 
zeichnen ^),  so  mussten  die  spätem  Peripatetiker  diese  Lehre, 
trotzdem   sie  mit   der   ihren  das  Wort  gemein  hat,  bekämpfen  '^). 

Wir  haben  an  einer  früheren  Stelle  ^)  zwei  Momente  im  In- 
halte des  stoischen  Begriffs  der  Materie  unterschieden :  sieistqua= 
litcätslos  und  sie  ist  Körper,  d.  h.  dreifach  Ausgedehntes. 
Nach  beiden  Seiten  ergeben  sich  nähere  Bestimmungen  und  Folge- 
rungen. In  der  erstem  Beziehung  ist  die  Art  des  Anschlusses  an 
Aristoteles,  in  der  letztern  der  Gegensatz  gegen  Epicur  von  histo- 
rischem Interesse. 

Die  Materie  als  das  Unbestimmte,  aber  Bestimmbare  ist,  wie 
die  Stoa  mit  Aristoteles  *5)  lehrt,  das  passive  Princip,  die  Ursache 
des  Leidens  in  allen  Dingen  ''). 

Die  Passivität  der  Materie  ist  eins  mit  ihrer  Veränderlich- 
keit^). —  Die  Betonung  dieser  Veränderlichkeit  ist  eine  stärkere 


')  Porphyr,  bei  Simpl.  in  categ.  f.  12  .-/  (vgl.  dazu  Petersen,  Stoicorum,  ini- 
priniis  Chrysippi,  de  categoriis  seu  summis  generibus  doctrina.  Hamburg.  1827. 
p.  44  ff.)  Dexipp.  in  categ.  23,  25—30  Busse.  Vgl.  Trendelenburg,  Gesch.  der 
Kategorienlehre,  S.  226  f. 

^)  Simpl.  und  Dexipp.  a.  a.  0. 

')  Ausser  den  Anni.  1  citierten  Stellen  vgl.  Plotin.  enn.  VI  1,  20.  p.  256, 
19—21.  c.  27.  p.  258,  20.  259,  17  Müller. 

*)  S.  S.  298  f. 

5)  S.  S.  333. 

6)  S.  S.  265  f. 

')  Aetius  I  3,  25  (Dox.  p.  289)  bei  Plut.  plac.  I  3  (vgl.  Achill.  Tat.  isag.  p. 

124  E):  ZrjvoDV  .  .  .  äg^dg  U(v  töv  &f6v  xul  Tt]v  vlrjV,  oäv  6  juiv  tan  tov  notnv 
aiTioi,  t'i  (i'£  TOV  nda^sir.  Vgl.  Seneca  epist.  65,  2  und  die  S.  331  Anni.3  citier- 
ten Stellen. 

**)  S.  S.  331  Anm.  5.  Die  Materie  geht  oder  fliesst  durch  alles  hindurch: 
Aetius  I  9,  2  (Dox.  p.  307)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  318  (vgl.  Plut.  plac.  I  9).  Sexl. 
Empir.  adv.  math.  X  312.  Athenag.  legat.  pro  Ohrist.  c.  19,  p.  314  B  ed.  Maur, 
Venet.  1747.    flhalcid.  in  Tim.  c.  29^2.  293. 

22* 


340  Vierter  Abschnilt.     Epicureer  und  Stoiker. 

in  der  Stoa  als  bei  Aristoteles.  Der  besondere  Nachdruck,  wel- 
chen sie  auf  die  Vergänglichkeit  aller  Gestaltungen  der  Materie 
legt,  ist  wohl  auf  Rechnung  des  heraclitischen  Elementes  in  ihr 
zu  setzen.  Darum  erscheint  sie  am  schärfsten  hervorgehoben  bei 
dem  auch  sonst  stark  heraclitisierenden  Antonin  '). 

Da  die  Materie  bei  jenem  fortwährenden  Wechsel  sich  passiv 
verhält  und  sich  nicht  aus  sich  bewegen  kann,  sondern  hierzu 
der  bewegenden  Kraft  bedarf  2),  so  schreibt  man  derselben  Träg- 
heit zu  3).  Weil  ferner  jene  bewegende  Kraft  eins  ist  mit  der 
ordnenden  Vernunft,  so  ist  die  Materie  selbst  etwas  Vernunft- 
loses (ein  aXoyor)^). 

Was  das  zweite  Element  der  stoischen  Begriffsbestimmung, 
die  dreifache  Ausdehnung  der  Materie,  anlangt,  so  wird  sich  die 
nähere  Durchführung  vor  allem  mit  der  Frage  zu  beschäftigen 
haben,  ob  diese  Ausdehnung  des  Stoffes  als  eine  conti nuier - 
liehe  oder  eine  discontinuierliche  zu  fassen  sei. 

Epicur  hatte  im  Anschluss  an  die  vorsocratische  Atomistik 
seine  Ansicht  von  der  Discontinuität  des  Stoffes  dahin  formuliert, 
dass  der  Stoff  nur  in  Form  kleinster,  durch  leere  Zwischen- 
räume getrennter,  nicht  weiter  zerlegbarer  Teilchen  im  Räume 
verbreitet  sei  •'").  Dagegen  behauptet  die  Stoa:  es  giebt  kein  Lee- 
res in  der  Welt;  der  Stoffi  st  nicht  actuell  geteilt,  sondern  ist  con- 
tinuierlich;  die  Teilbarkeit  der  Körper  geht  ins  Unbegrenzte  '^). 


^)  Antonin.  VII  23.  Häufig  sind  bei  Antonin  Stellen,  an  denen  er  hinsicht- 
lich der  tfratg  betont,  wie  sie  rasch  von  Einem  zum  Andern  eilt,  z.  B.  IV  3G, 
VII 75,  auch  II  17.  Ähnhch  Seneea  epist.  58,  22.  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  .34,  p.  1050  B. 

—  Übrigens  erneuert  schon  Chrysipp  den  heraclitischen  (fr.  84  Byw.)  Ver- 
gleich der  ewigen  Bewegung  der  Welt  mit  einem  Mischtrank ;  vgl.  Plut.  de 
Stoic.  rep.  c.  34,  p.  1049  F.  Philodem,  de  piet.  VII,  p.  81,  18  Gomperz,  wo  mit 
Petersen  xvxhü  zu  ergänzen  (bei  Antonin.  IV  27,  VI  10,  IX  39  dagegen  wird  der 
xvxeu)v  der  von  den  Stoikern  gepriesenen  Ordnung  der  Welt  gegenübergestellt). 

—  Hieher  gehört  auch,  was  die  Stoiker  von  dem  rastlosen  Eilen  der  Welt  zur 
ixTTVQMais  und  von  da  zurück  lehren ;   vgl.  Heinze,  Lehre  vom  Logos,  S.  1U4. 

*)  Das  Genauere  darüber  weiter  unten  S.  346  ff. 
")  Seneea  epist.  65,  2:  materia  iacet  iners. 
*)  Plut.  comm.  not.  c.  48,  p.  1085  B. 
*)  S.  S.  306  ff. 

®)  Für  die  beiden  letzten  Behauptungen  erscheint  flhrysipp,  soweit  ich 
Bebe,  in  unsern  Quellen  als  der  frülieste  ausdrücklieb  genannte  Gewährsmann. 


Stoiker,     a)  Die  Materie  an  sich.  —  liire  GontinuiliU.  .'541 

1)  Es  giebt  kein  Lcoros  in  der  Welt,  d.  h.  keinen  Abstand 
innerhalb  derselben,  der  von  einem  Körper  eingenommen  werden 
könnte,  aber  nicht  eingenommen  wird  ^)  So  die  übereinstim- 
mende Ansicht  aller  Stoiker  2),  die  schon  von  Zeno  ausgesprochen 
wurde  ^).  Ausserhalb  der  Welt  zwar  erstreckt  sich  das  Leere  *), 
dessen  die  Stoiker  bedurften,  um  für  die  millionenfache  Ausdeh- 
nung des  Stoffs  im  Feuerzustande  Platz  zu  haben  ^)  —  unbegrenzt, 
wie  die  comnmnis  sententia  der  Schale  ß),  begrenzt,  wie  Posido- 
nius  annahm  "').  Aber  innerhalb  der  Welt  ist  jeder  Abstand  vom 
Stoffe  erfüllt.  Wenn  die  Gegner  glauben,  die  Bewegung  sei  nur 
unter  der  Annahme  von  leeren  Zwischenräumen  erklärbar,  so 
haben  sie  nicht  alle  Möglichkeiten  der  Erklärung  erschöpft.  Auch 
im  Vollen  ist  eine  Bewegung  möglich,  indem  durch  eine  in  rück- 
läufigem Kreise  erfolgende  Wirbelbewegung  der  Teile  (die  dvii- 
nsQfmaoic)  ^)  jedesmal  das  voranrückende  Teilchen  ohne  zeitliche 


')  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  III  124;  adv.  math.  X  3.  Aetius  I  20,  1  (Dox. 
p.  317)  bei  Plut.  pl.  I  20  ;  Stob.  ecl.  I,  p.  382.  Diogen.  VII  140.  S.  S.  334 
Anm.  3. 

2)  Diogen.  Vit  140.  Aetius  I  18,  5  (Dox.  p.  316)  bei  Plut.  pl.  I  18;  Stob, 
ed.  I,  p.  382.  Arius  Didym.  iv.  29  (Dox.  p.  464,  13)  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV 
15,  1.  P.817C.  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII  214.  Plut.  decomm.  not.c.  37,p.  1077  E. 
Cleomed.  meteor.  I  4.  Hippolyt.  adv.  haer.  I  21,  5.  Themist.  phys.  IV,  p.  284, 
8—11  Spengel.  Philopon.  phys.  IV,  p.  613,  23—27  Vitelli.  Simpl.  phys.  IV, 
p.  571,  31. 

^)  Bei  Aetius  I  18,   5  heisst  es  (wenigstens  bei  Stob.  ecl.  I,  p.    382):  Ziqvwv 

y.al  OL  dn'  avTOv. 

*)  Arius  Didym.  fr.  23  (Dox.  p.  459.  23)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  406  (von  Zeno); 
fr.  2'y  (Dox.  p.  460,  24.  27)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  392  (von  Ghrysipp).  Vgl. 
Diogen.  VII  140.  Aet.  I  18,  5  (Dox.  p.  316) ;  II  9,  2  (Dox.  p.  338)  bei  Plut. 
pl.  II  9,  Euseb.  praep.  ev.  XV  40,  \  und  Stob.  ecl.  I,  p.  390.  Plut.  de  comm. 
not.  c.  30,  p.  1073  E ;  de  Stoic.  rep.  c.  44,  p.  1054  B.  Alexander  Aphr.  bei 
Simpl.  phys.  IV,  p.  671,  5.  ThemLst.  phys.  IV,  p.  284,  8—11.  294,  15  ff.  Sp. 
Philopon.  phys.  IV, p.  613,  23 — 27  Vit.  und  besonders  Cleomed.  meteor.  I,  c.  2— 8, 
wo  die  Sache  ausführlich  behandelt  wird.  —  Daher  der  Unterschied  von  näv 
und  öXov.  Ersteres  ist  die  Welt  mit  dem  umgebenden  Leeren,  letzteres  ohne 
dasselbe:  Aet.  II  1,  7  ^Dox.  p.  328)  bei  Plut.  pl.  II  1;  Stob.  ecl.  I,  p.  442; 
vgl.  Diogen.  VII  143.  Ersteres  ist  darum,  weil  es  das  unkörperliche  Leere 
einschliesst,  weder  aöifxa  noch  dam^azov.  Plut.  comm.  not.  c.  30,  p.  1073  E. 

°)  Vgl.  Aet.  II  9,  2  (s.  v.  Anm.);  Cleomedes  meteor.  I,  3  u.  s.  w.  Das  Nä- 
here weiter  unten  S.  367. 

^)  Vgl.  die  Anm.  4  citierten  Stellen. 

')  Aetius  II  9,  3  (Dox.  p.  3.38)  bei  Plut.  pl.  II  9;  Stob.  ecl.  I,  p.  390. 

")  S.  S.  59  Anm.  2;    S.  295  Anm.  1;  S.  306  f. 


342  Vierler  Ali.sclmill.     Ei)icureor  und  Sloiker. 

Unterbrechung^  sofort  durch  ein  nachfolgendes  an  seinem  ( )rle  er- 
setzt wird  1).  Der  Grund,  auf  den  hin  die  Stoiker  ihrerseits  den 
Ausschluss  alles  Leeren  aus  der  Welt  behaupten,  ist  die  Vorstel- 
lung von  einem  Drucke,  den  die  äussern,  himmlischen  Teile  des 
kugelförmigen  Weltalls  gegen  die  innern,  irdischen  Teile  ausüben  ^). 
Dieser  Druck  findet  wiederum  seine  letzte  Begründung  darin,  dass 
nach  stoischem  System  die  kraftbegabte  Luft  das  ganze  Weltge- 
bäude zusammenhält  ^). 

2)  Giebt  es  kein  Leeres  in  der  Welt,  so  bildet  diese  ein 
continuierliches  Ganzes  ^).  Darum  muss  auch  die  Materie,  die 
Weltsubstanz,  ein  solches  Conti  nuum  bilden^).  Der  Begriff  des 
Gontinuum  aber  schliesst  für  die  Stoiker  nicht  nur  trennende  leere 
Zwischenräume,  sondern  auch  Zusammensetzung  aus  actuellen 
letzten  Teilchen  aus,  wie  die  Atomiker  und  Epicureer  sie  an- 
nahmen '').  Solche  unteilbare  kleinste  Teilchen,  wendet  Ghrysipp 
ein,  würden  sich  überhaupt  nicht  berühren  können;  es  würde 
also  aus  ihnen  niemals  ein  zusammenhangender  Körper  entstehen. 
Denn  wenn  sie  einander  berühren  sollen,  so  müssten  sie  sich 
entweder  gegenseitig    mit  ihren    Gesamtmassen,   oder  nur  mit  je 


1)  Seneca,  nat.  quaest.  II  7.  Aetius  IV  19,  4  (Dox.  p.  409)  bei  Plut.  pl.  IV 
19.  Vgl.  Cic.  Äcad.  pr.  II  40,  125.  Über  die  Polemik  der  Epicureer  hiergegen 
s.  S.  306  f. 

2)  Diogen.  VII  140.  Vgl.  auch,  was  Arius  Didym.  fr.  23  (Dox.  p.  459)  bei 
Stob.  ecl.  1,  p.  406  von  dem  centripetalen  Streben  zum  Weltmittelpunct  hin 
bemerkt,  u.  zw.  schon  als  Ansicht  Zeno's. 

^)  Plut.  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1085G— D.  Cleomed.  meteor  1 4.  Alex.  Aphr. 
de  mixt.  fol.  142r  med.  (p.  .594  Ideler).  Cic.  Acad.  post.  I  6,  24 :  neque  enim  ma- 
teriam  ipsam  cohaerere  potuisse,  si  nuUa  \^  contineretur.'  —  Andere  Gründe 
gegen  das  Vorhandensein  eines  Leeren  in  der  Welt  bei  Gleomedes  a.  a.  0. 
(leere  Zwischenräume  würden  die  Sympathie  aller  Teile  der  Welt  aufheben, 
Hören  und  Sehen  unmöglich  machen  u.  s.  w.). 

*)  Diog.  VII  140.  Dionys.  Alex,  bei  Euseb.  praep.  evang.  XIV  23,  1.  p.  772  D. 

^)  Chalcid.  in  Tim.  c.  289.  293.  Cic.  Acad.  post.  I  7,  28.  Plut.  de  comm. 
not.  c.  37,  p.  1077  E.     Piotin.  enn.  VI  1,    25  Schluss. 

Dieser  allgemeinen  Übereinstimmung  gegenüber  kommt  es  nicht  inbetracht, 
wenn  Chalcidius  (in  Tim.  c.  279)  von  solchen  Stoikern  spiicht  —  er  nennt 
einen  Diodor  unter  ihnen  — ,  nach  denen  die  Materie  aus  einer  unendlichen 
Anzahl  kleinster  unteilbarer  Körperchen  bestehe,  die  nach  Zufall  sich  verbinden 
und  trennen  sollen  Hier  handelt  es  sich  um  eine  unorganische  Verbindung  der 
stoischen  mit  der  epicureischen  Lehre. 

«)  Vgl.  Chrysipp  bei  Aetius  I  16,  4   (Dox.  p.  315,  Stob.  ecl.  I,  p.  344). 


Stoiker,    a)  Die  Materie  an  .sich.  —  Ihre  Coiilinuität.  313 

ihren  äussersten  Teilen  berühren.  Ersteres  aber  wäre  Mischung, 
nicht  Berührung;  letzteres  widerstritte  dem  Begriff  eines  nicht 
weiter  teilbaren  letzten  Teiles  ^).  Es  giebt  also  ebensowenig 
Atome,  wie  ein  unteilbares  Jetzt  als  einfachstes  Element  des  Zeit- 
continuums  zu  denken  ist  '^). 

Wie  die  Gesamtmaterie,  so  bilden  auch  deren  Teile  nicht 
Aggregate  kleinster  Körperchen  {^gavO/naTa,  corpuscula),  sondern 
continuierliche  Massen.  Das  gilt  auch  von  demjenigen  Elemente, 
welches  am  wenigsten  festen  Zusammenhang  zu  haben  scheint, 
da  es  allem  den  leichtesten  Durchgang  gestattet,  von  der  Luft  ^). 
Die  der  Luft  eigene  Spannung  (zöroc,  intensio)  nämlich,  durch 
welche  diese  sich  und  alles  zusammenhält,  wäre  nicht  möglich, 
wenn  dieselbe  aus  discreten  Teilchen  bestände;  denn  es  fehlte 
ihr  in  diesem  Falle  der  innere  Zusammenhang,  ohne  den  ein  sol- 
ches Gespanntsein  nicht  denkbar  wäre  ^).  Da  nun  auf  den  Zu- 
sammenhalt, welchen  die  Luft  gewährt,  auf  den  centripetalen 
Druck,  den  sie  im  Weltgebäude  hervorruft,  die  Unmöglichkeit 
sich  stützt,  dass  je  ein  leerer  Zwischenraum  sich  in  das  letztere 
eindränge  ^),  so  ist  die  Gontinuität  der  Luft  der  letzte  Grund  für 
die  unzerreissbare  Gontinuität  des  Stoffes  überhaupt. 

Was  nun  durch  jene  Beweisgänge  zurückgewiesen  wird,  ist 
nicht  jede  Teilung  des  Stoffes,  sondern  nur  deren  Zusammen- 
setzung aus  nicht  w^eiter  teilbaren  actuellen  letzten  Teilchen.  Es 
erscheint  den  Stoikern  überhaupt  widersprechend,  ein  Gontinuum 
aus  discreten  letzten  Elementen  entstehen  zu  lassen.  Sie  weisen 
darum  die  Frage,  ob  ein  bestimmtes  Gontinuum,  z.  B.  der  mensch- 
liche Körper,  aus  unendlich  vielen  kleinsten  Teilchen  oder  aus 
einer  begrenzten  Anzahl  derselben  bestehe,  mit  der  Bemerkung 
zurück,  dass  dasselbe  überhaupt  nicht  aus  letzten  Teilen  zusam- 
mengesetzt sei  ^).     Daraus  erklären  sich  auch  manche  scheinbare 


1)  Plut.  de  comm.  not.  c.  40,  p.  1080  E.    Vgl.  Sext.  Pyirh.  hyp.  III  42. 

■^)  Plut.  de  comm.  not.  c.  41.  p.  1081  G.  Arius  Didym.  fr.  26  (Dox.  p.  461, 
30}  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  260. 

«)  Aetius  IV  19,  4  (Dox.  p.  409)  bei  Plut.  pl.  I  19.    Seneca   nat.  quaest.  II  6. 

*)  Seneca  nat.  quaest.  II  6. 

-)  S.  S.  342. 

«)  Plut.  de  comm.  not.  c.  38,  5,  p.  1079  B.  §.  7,  p.  1079  G.  Vgl.  G.  Giesen, 
De  Plutarchi  contra  Stoicos  disputationibus.  Monaster.  1889.  p.  .33  f.  —  Die 
gleiche  Ansicht,  dass  das  Gontinuum  weder    aus    unendlich   vielen,    noch    aus 


344  Vierler  Ahsclmitl.     Kj)icureer  und  Sldiker. 

stoische  Paradoxien,  z.  13.  class  der  Mensch  nicht  mehr  Teile  als 
der  Finger,  die  Welt  nicht  mehr  als  der  Mensch  habe  ^)  —  weil 
eben  beide  gar  keine  haben. 

Teile  dagegen,  die  erst  durch  eine  Zerlegung  des  Continuums 
entstehen,  die  also  dieses  als  das  Prius  voraussetzen,  haben 
die  Stoiker,  wie  sich  von  selbst  versteht,  nicht  geleugnet.  Eine 
solche  Teilung  der  Weltsubstanz  liegt  schon  in  ihrer  Ent- 
wicklung zu  verschiedenen  Elementen  und  in  der  Bildung  der 
verschiedenen  Dinge  vor.  Ebenso  ist  eine  Teilung  da  vorhanden, 
wo  ein  Körper  an  verschiedenen  Orten  seiner  Ausdehnung  eine 
verschiedene  Gestaltung  zeigt,  wie  der  menschliche  Körper,  der 
aus  Kopf,  Rumpf  und  Extremitäten  besteht  2),  Auch  das  Zer- 
schneiden eines  ausgedehnten  Körpers  und  dgl.  brauchten  die 
Stoiker  durchaus  nicht  für  Sinnenschein  zu  erklären.  Nur  ist 
festzuhalten,  dass  nach  stoischer  Anschauung  die  Continuität  der 
Allmaterie  dabei  nirgends  aufgehoben  werden  darf.  Wo  der  Stoff 
von  einander  getrennt  \\ird,  tritt  in  einer  nur  logischen,  nicht 
zeitlichen,  Folge  sofort  anderer  Stoff,  und  mag  es  auch  nur  die 
Luft  sein,  in  die  Lücke  =*). 

Das  Nebeneinander  verschiedener  Körper  aber  hebt  die  Con- 
tinuität des  Stoffs  ebenso  wenig  auf.  Solche  Körper  berühren  sich 
weder  in  ihren  Gesamtmassen,  noch  in  ihren  äussersten  Teilen;  bei 
ihrer  Berührung  fallen  vielmehr  die  Grenzen  zusammen,  die  selbst 
nicht  mehr  Körper  sind  ^).  Da  das,  was  nicht  Körper  ist,  über- 
haupt nicht  ist,  so  ergiebt  sich  hier  das  neue  stoische  Paradoxon, 
dass  die  Körper  sich  zwar  einander  berühren,  aber  durch  nichts 
berühren  ^). 

3)  Aus  der  stoischen  Lehre,  dass  die  continuierliche  Materie 
nicht  aus  unteilbaren  letzten  Teilchen  zusammengesetzt  sei,  son- 
dern dass  umgekehrt  das  Continuum  als  das  Frühere,  die  Teilung 


einer  endlictien  Anzatil  von  Teilen,  sondern  aus  gar  keinen  Teilen  be- 
stehe, vertritt  auch  Thomas  von  Aiiuino;  vgl.  G.  Gantor,  Grundlagen  einer 
allgemeinen  Mannigfaltigkeitslehre.  Leipzig  1883.  S.  28. 

»)  Plut.  de  comm.  not.  c.  38,  p.   1079  A. 

^)  Das  oloaxeQis  im  Gegensatz  zu  den  {'ayaia /mcQ?],  Plut.  de  comm.  not.  c.  38, 
p.  1079  B  (Gitat  aus  Ghrysipp).     —     ')  S.  S.  311  f. 

*)  Plut.  de  comm.  not.  c.  40,  p.  1080  E.  Dass  die  Grenzen,  d.  h.  Oljer- 
fläche,  Linie,  Punct,  nach  den  Stoikern  nicht  mehr  Körper  sind,  wurde  schon 
S.  334  Anrn.  2  durch   Gitate   belegt. 

5)  Plut.  de  comm.  not.  c.  40,  p.  1080  D. 


Stoiker.     Die  Materie  an  sidi.  —   Ihre  ual)et:renzte  Teilharkt-il.         315 

als  das  Nachfolgende  betrachtet  werden  müsse,  ergab  sich  als 
dritter  Gegensatz  gegen  den  Atomismus  die  Behauptung,  dass  der 
Stoff  bis  ins  Unendliche  teilbar  sei  i).  Diese  unbegrenzte  Teil- 
barkeit gilt  von  dem  Continuum  als  solchem  2);  sie  muss  also 
für  den  Körper  ebenso  wohl  behauptet  werden,  als  für  alles  dem 
Körper  Ähnliche,  wie  Fläche,  Linie,  Ort,  Zeit  und  Leeres  ^).  Auch 
hier  bildet  der  stoische  Satz  das  Gegenstück  der  epicureischen 
Lehre  ^).  So  wenig  als  von  Aristoteles  =),  wird  aber  die  unend- 
liche Teilbarkeit  von  den  Stoikern  in  dem  Sinne  verstanden,  als 
ob  eine  actuell  inieiidliche  Teilung  wirklich  ausführbar  wäre. 
Was  sie  sagen  wollen,  und  was  wenigstens  Chrysipp  in  Überein- 
stimmung mit  Aristoteles  auch  in  aller  Bestimmtheit  ausgedrückt 
hat,  ist  vielmehr  dieses,  dass  die  continuierliche  Materie  der  Tei- 
lung nirgend  eine  Grenze  setze,  über  die  hinaus  jene  nicht  mehr 
fortgesetzt  werden  könne  (co/jirj  c(y.aTc'ch]xToc)  ^). 

Obwohl  nach  innen  ins  Unendliche  teilbar,  ist  die  Materie 
doch  nicht  auch  nach  aussen  hin  unendlich  ausgedehnt.  Nach 
stoischer,  der  epicureischen  auch  hier  entgegengesetzter  Lehre 
muss  die  Materie  hinsichtlich  ihrer  Masse  als  begrenzt  betrachtet 
werden  "'). 


>)  Aetius  I  16,  4  (Dox.  p.  315)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  344  (von  Chrysippl 
Diogen.  VII  150  (von  ApoUodor).  Plut.de  comni.  not.  c.  38,  p.  1078  E;  1079  A; 
c.  40,  p.  1080  D.    Sext.  Emp.  adv.  math.  X  142.  XI  229. 

2)  Arius  Didym.  fr.  26  (Dox.  p.  461,  30)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  260  (von  Chry- 
sipp): tli  aneiQov  ^  tofxrj  tüov  avveyövxuiv  eaxi, 

^)  Aetius  I  16,  4  (s.  A.  1).  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  142  (von  Körper,  Raum 
und  Zeit).  Von  der  Zeit  und  dem  Leeren:  Arius  Didym.  fr.  26  (Dox.  p.  4<31, 
27 — 29)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  260.  Von  der  Zeit  allein :  Plut.  de  comm  not.  c.  41, 
p.  1081   G. 

*)  S.  S.  m)  Anra.  2. 

5)  Arist.  de  gen.  et  corr.  I  3,  318  a  20—23.    Vgl.  S.  310  Anm.  6. 

^)  Diogen.  VII  150.  Diogenes  bringt  die  Ansicht  Ghrysipp's  in  Gegensatz  zu 
der  ApoUodor's  von  der  rou-q  etg  uTieioov,  die  doch  nach  Aetius  I  16,  4  und 
Arius  Didym.  fr.  26  auch  von  Ghrysipp  vertreten  wird.  Hier  liegt  entweder, 
was  das  Wahrscheinlichere  ist,  ein  Missvenständnis  des  Diogenes  vor,  das  durch 
die  im  Texte  gemachte  Unterscheidung  gelöst  ist,  oder  Apollodor  gehörte  zu 
denjenigen  Stoikern,  die  nach  Ghalcid.  in  Tim.  c.  279  (s.  S.  342  Anm.  5  Schi.) 
den  Stoff  aus  einer  unendlichen  Anzahl  unteilbarer  kleinster  Körperchen  zu- 
sammengesetzt sein  Hessen. 

0  Diog.  VII  150.  Ghalcid.  in  Tim.  c.  292  Vgl.  ebd.  c.  295.  Ps.-Galen. 
bist.  phil.  c.  17,  XIX  242  K.  (Dox.  p.  609,  17). 


Sid  Vierter  Ahscliiiilt.     Epicurcer  uod  Stoikei'. 

b)  Materie  und  bewegeiicle  Ursache. 

(Stoff  und    Kraft). 

Das  Fundament  des  aristotelischen  Dualismus,  dass  die  an 
sich  form-  und  eigcnschaftslose  Materie  die  Bestimmung  sich  nicht 
aus  sich  geben  kann,  sondern  hierzu  eines  bestimmenden  Prin- 
cipes  bedarf,  geht  auch  in  das  stoische  System  über. 

Das  bestinnnende  Princip  ist  bei  Aristoteles,  wie  schon  bei 
Plato,  ein  doppeltes:  die  bewegende  und  die  Formal  Ursache. 
Jene  steht  ausser  dem  gewordenen  Ding.,  diese  ist  ihm  innerlich,  ist 
ein  Teil  von  ihm.  Beides  greifen  die  Stoiker  auf,  um  es  in  ihrer 
Weise  umzubilden.  Der  bewegenden  Ursache  des  Plato  und  des 
Aristoteles  entspricht  bei  ihnen  die  Gottheit  als  die  Urkraft  und 
Urvernunft  (Iöyoc)  und  das  System  der  von  ihr  ausgehenden  ab- 
geleiteten Keimkräfte  (löyoi);  den  in  die  Materie  ein-  und  aus 
ihr  austretenden  Formen,  wie  der  Timaeus  sie  lehrt,  den  substan- 
tialen  Formen  des  Aristoteles,  entsprechen  die  Qualitäten,  ge- 
nauer die  wesentlichen  Qualitäten.  Ohne  jene  und  diese  wäre 
keine  Gestaltung,  keine  Entwicklung  der  an  sich  trägen  Materie, 
die  als  solche  sich  selbst  nicht  bewegen  kann  ^).  Während  aber 
bei  Plato  und  Aristoteles  bewegende  und  Formalursache  trotz 
ihres  gelegentlichen  Zusammenfallens  der  Sache  nach  doch  durch- 
aus verschiedene  Begriffe  bleiben,  stehen  ihre  stoischen  Correlate 
in  so  engem  Zusanmienhange,  dass  der  Gegensatz  sich  auf  den 
von  Stoff  und  Kraft  reduciert. 

1)  Materie  und  Qualität.  Der  Begriffsrealismus,  wie  der 
platonischen,  so  auch  der  aristotelischen  Philosophie  brachte  es 
mit  sich,  dass  das  Wesen  der  Dinge  in  deren  begrifflich  erfass- 
baren Elemente  gesetzt  wurde.  Das  Wesen  eines  Dinges  ist  dar- 
um für  Aristoteles  in  der  Form  beschlossen,  zu  der  die  Materie 
nur  ein  Accessorium  bildet  ^).    Ebenso  ist  der  Hauptteil  der  Sub- 


')  Plut.  de  comni.  not.  c.  34,  p.  107(5  G  f.   (nach    Cltirysipp):    anoioi  yd^ 

tan  (sc.  r/  vXti)  xai  vidaag  uaas  Aiyeiat  (ha(f;OQdg  vnd  zov  x  lvovvt  o  g  avtrjv  xal 
avtj/uaTiXovTog  fOjff  '  xivt?  (ff  aviijV  6   köyug  tvi'7rdg][(ov   xai    ayujfiariZft     ,"^/f*     xivflv 

eavTijv  ,utJTf  ayriuaTi^eiv  nifvxfTav.  —  Für  das  Zweite  ebd.  de  Stoic.  rep.  c.  43, 
p.  1054  A:  xaiToi  navTayov  zi]v  v^.rjv  d^yor  ii  eavT-^g  xal  dxivr/Tov  viioxcTa-d-ai  zaTg 
noiÖTijatv  dno(fa(vovaiv,  rag  (ff  TioioTtjrag  Tivivfiara  oraag  xal  tövotyg  dtgoidiig 
olg  dv    iyyivan'Tai    ^lifttOi    rijg    vh^g    fcil'onoifh'    i'xaaTa    xal    iJ^ijUiaril^dv..      Vgl.   Plot. 

enn.  lY  7,  I.  p.  114.  18  Müller. 

')  S.  S.  289  f. 


Stoiker,     b)  Slufl'  u.  Knill.  —  Materie  u.  Qualität.  347 

stanz  in  der  bogriflliclien  Form,  nicht  in  der  Materie^  zu  suchen  i). 
Im  Stoicismus  dagegen  erscheint  nicht  die  Form  als  das  Frühere, 
welches  die  Materie  ergreift  und  von  ihr  Besitz  nimmt.  Wie  wir 
sahen  2),  ist  hier  umgekehrt  die  Materie  das  Prius.  Sie  ist  das 
aus  sich  bestehende,  feste  Substrat  (v7iox6i'f.ievo%%  die  Substanz 
{oi)Oia),  welche  die  nähern  Bestimmungen  trägt  und  ihnen  erst 
Bestand  giebt.  Wenn  aber  jene  nähern  Bestimmungen  zu  der 
schon  bestehenden  Substanz  hinzutreten,  so  sind  sie  nicht  mehr 
Inhalt  dieser,  sondern  müssen  schon  als  Qualitäten  {noiÖTr-Tsg, 
s'^fig)  bezeichnet  werden. 

Das  ist  in  der  That  die  stoische  Lehre.  Schon  Aristoteles 
hatte  da,  wo  das  Bedürfnis  der  realen  Naturerklärung  ihn  zur 
Angabe  des  concreten  Inhalts  einer  substantialen  Form  zwang, 
namentlich  in  seiner  Lehre  von  den  Elementen,  jenen  Inhalt  ge- 
legentlich in  rein  qualitative  Bestimmungen  gesetzt  ^).  Es  begeg- 
net ihm  auch  an  vereinzelten  Stellen,  dass  er  das  substantiale 
Werden  und  Vergehen  auf  eine  blosse  qualitative  Veränderung 
(dXloiwaig)  zurückführt  •^).  Was  bei  Aristoteles  Aushilfe  der  Ver- 
legenheit oder  Inconsequenz  ist,  wird  bei  den  Stoikern  zum  Prin- 
cip.  Aus  den  beiden  von  xlristoteles  unterschiedenen  constitutiven 
Elementen  der  Substanz ,  nämlich  der  Materie  und  der  Form, 
werden  bei  ihnen  die  beiden  Kategorien:  Substrat  tmd  Qualität 
{noiÖTTig)^  genauer:  wesentliche  Qualität,  im  Unterschied  von 
den  wechselnden,  bloss  zufälligen  Eigenschaften  (dem  nuig  eyov)  •''). 
Im  Zusammenhange  damit  bezeichnen  sie  ganz  allgemein  das 
substantiale  Entstehen  und  Vergehen  als  qualitative  Verände- 
rung {dlXoiwoig)  ^).  Deutlich  tritt  hier  jene  von  Aristoteles  be- 
kämpfte alte  naturphilosophische  Ansicht  '')  wieder  hervor,  dass 
es  im  Grunde  kein  Werden,  sondern  nur  eine  Veränderunsr  gebe. 


')  S.  S.  254  f.    —    2)  336  f.    —     ')  S.  S.  260.    —    *)  S.  S.  260  Anm.  3. 

'")  Vgl.  die  stoische  Definition  der  Qualität  bei  Simpl.  in  categ.  57  E  (mit 
Petersen,  Trendelenburg,  Piantl  und  Heinze,  Lehre  vom  Logos,  S.  119,  3 gegen 
Brandis  und  Zeller  IIP  a,  96,  2  ist  dort  iyWijda  statt  i'v  vöijua  zu  lesen,  wie  sich 
aus  der  weiter  unten  folgenden  Gleichstellung  von  ev  röriua  (1.  ivv6r,ijia)  xal 
i(f(6Tr,T-x  und  ivvoia  xal  täi6rr,Ti  ergiebt).  —  Vgl.  ferner  Flut,  de  Stoic.  rep. 
c.  43,  p.  I()ö4  A.  wo  den  7tot6Tr,Ttg  das  (t(fonoit?v  zugeschrieben  wiid.  — 
Über  das  Verhältnis  des  aristotelischen  titfog  zur  stoischen  ttoiöit,?  s.  Zeller 
IIF  a,  98.    Trendelenburg,  Gesch.  d.  Kategorienlehre,  S.  222  f. 

^)  Vgl.  Posidonius  bei  Arius  Didym.  fr.  27.  (Dox.  p.  462)  bei  Stob.  ecl. 
p.  434. 

')  S.  S.  229  f. 


34:S  Vierler  Alisdinill.     Epicureer  und  Sloikor. 

J)ic  Zui'ückfühmng  des  die  Malerie  beslimmendeii  Foniiele- 
menls  auf  eine  andere  Kategorie  ist  die  erste  bedeutsame  Ab- 
weichung, welche  bei  der  weitem  Durchbildung  jenes  aristotelischen 
Dualismus  von  Form  und  Materie  im  stoischen  System  das  erste 
Glied  des  Gegensatzes  erführt.  Diesem  logisch-metaphysischen 
Momente  tritt  ein  physisches  zur  Seite. 

Der  Inhalt  der  Form  läuft  bei  Aristoteles,  der  Tendenz  seines 
Systems  entsprechend,  auf  rein  begriffliche  Bestimmungen  hin- 
aus. Alle  sinnliche  Anschauung  nämlich,  die  ja  nicht  auf  das 
Allgemeine,  sondern  auf  das  Individuelle  geht,  hat  zu  ihrer  Vor- 
aussetzung die  Individuation  des  Erkenntnisobjects.  Diese  aber 
ist  der  Form  nicht  aus  sich  eigen,  sondern  ist  erst  Resultat  der 
Verbindung  von  Form  und  Materie.  —  Die  Stoiker  dagegen,  welche 
schon  das  positive  Merkmal  der  Materie  in  etwas  sinnlich  An- 
schaulichem, der  dreifachen  Ausdehnung,  erblicken,  suchen  auch  die 
wesentlichen  Eigenschaften  der  Dinge  in  deren  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Qualitäten.  Diesen  legen  sie  mit  den  Epicureern 
ohne  weitere  Untersuchung  objective  Giltigkeit  bei,  wie  denn 
Zeno  in  den  Farben  die  ursprünglichste  Bestimmung  findet, 
durch  welche  die  an  sich  qualitätslose  Materie  ihre  Ausgestaltung 
erhält  »). 


1)  Aetius  I  15,  (;  (Dox.  p.  318)  bei  PliU.  pl;ic.  I  15;  Stob.  ed.  I,  p.  364.  Vgl. 
auch  Ps.-Galen.  liist.  phil.  XIX  258  K.  (Dox.  p.  GIG).  —  Bei  Plotin.  VI  1,  30. 
p.  262,  2  ersicheint  das  levxöv  zwar  unter  dem  nms  i'xov.  Aber  es  ist  zu  be- 
merken, dass,  wie  schon  Arist.  eth.  Nicom.  I  4,  lOOG  b  23  bemerkt,  und  Plotin. 
enn.  11  (j,  1  g.  E.  wiederholt,  die  weisse  Farbe  bei  manchen  Naturgegenstän- 
den, wie  ])eim  Schnee  und  Bleiweiss,  eine  notwendige  Eigenschaft  bildet.  Vgl. 
auch  Simpl.  in  categ.  54  /;  der  die  weisse  Farbe  in  diesen  Fällen  gleichfalls 
als  ovaiMÖrig  bezeichnen  will,  und  Plot.  1.  c  ,  der  im  Anschluss  an  das  eben 
erwähnte  Beispiel  das  Quäle  in  ein  oikimihg,  d.  h.  eine  «JtoVi;?  rijg  ovaiag,  und 
ein  blosses  noiov  zerlegen  will. 

Unverständlich  ist  mir,  wie  Stein  II,  S.  295  f.  schreiben  kann:  ,Nur 
meine  man  nicht,  die  Stoiker  hätten  das  Ding  an  sich  und  dessen  Erscheinung 
planlos  durcheinandergewürfelt.  Wenn  dieser  erst  durcli  Kant  zu  klassischer 
Formulierung  gelangte  Unterschied  in  der  antiken  Philosophie  überhaupt  ge- 
hörig erfasst  worden  ist,  dann  gewiss  in  erster  Linie  von  den  Stoikern.  Diese 
haben  die  Aussendinge  {TvyxdvovTo)  von  ihrem  Begriff  scharf  auseinander- 
gehalten, indem  sie  die  Behauptung  aufstellten,  der  Begriff  bringe  das  Wesen 
der  Dinge  zum  Ausdruck."  Stein  citiert  dafür  lo.  Philopon.  ad  anal.  pr.  ed. 
Ven.  1536  cap.  60  (gemeint  ist  fol.  60;  die  Stelle  findet  sich  auch  bei  Brandis, 
Schob    in   Ar.    170  a  2—6):    oi  (fe   Itwixol  xaivoTtQav    ßuSiiovng   ta  fifv   nQäyfxaja 


Stoiker,     b)  Slolf  u.  Kraft.  —  Materie  u.  Qualität.  349 

Die  sinnlichen  Qualitäten  aber  kann  der  stoische  Materialis- 
mus ebenso  wie  die  Materie  nur  als  etwas  Körperliches  den- 
ken 1).  Sie  entstehen  dadurch,  dass  die  gestaltende  Luft  oder 
das  Pneuma,  der  warme  Lufthauch,  die  Körper  gänzlich  durch- 
dringt und  ihnen  so  ihre  Bestimmtheiten  verleiht  ^)  —  die  Härte 
dem  Eisen,  die  Dichtigkeit  dem  Stein,  die  Weisse  dem  Silber  u.s.w.^). 
Indem  sich  die  heraclitische  Lehre  vom  Feuerhauch  mit  der 
aristotelischen  Elementenlehre  verbindet,  wird  diese  Anschauung 
bei  einzelnen  Stoikern  dahin  umgebildet,  dass  die  beiden  im 
Pneuma  enthaltenen  Elemente  Feuer  und  Luft  als  die  gestalten- 
den oder  activen  den  beiden  passiven  Elementen  des  Wassers 
und    der     Erde    gegenübergestellt    werden  *).      Namentlich     dem 


t c'jy^civovca  lovö/uaOuv,  diöii  Tuiv  ngay/udrcov  tf^eTv  ßov?.öiJie-&a'  zd  de  poij/naTa  txtfo- 
(iixä'  (fioTi  aniQ  iv  iavToTs  voovfxtv,  Tuvra  fig  x6  i'^co  nQOiftQOßev,  Allein  abge- 
selien  davon,  dass  hier  nQäyßara  und  voiifiara,  zvyyr^ävovia  und  ixifOQiXtt,  nicht 
ivyxävovTa  und  voijuaja,  wie  Stein  will,  gegenüberstehen,  so  besagen  jene 
Worte  doch  nur,  die  Begriffe  seien  von  den  Stoikern  tx^oQixd  genannt,  weil 
wir,  was  wir  in  uns  {iv  iavtoTg;  vgl.  Krüger.  Gr.  Gr.  §.  51,  2,  15)  den- 
ken, nach  aussen  hin  kund  thun;  von  einer  Unterscheidung  des  Innern  und 
Äussern  in  den  Dingen  ist  nicht  die  Rede;  da  müsste  doch  wenigstens  iv 
aihois  stehen. 

Noch  auffallender  ist  es,  wenn  Stein  II  151  1'.  der  richtigen  Bemerkung, 
Zeho  halle  die  Farben  für  die  ursprüngliche  Eigenschaft  der  Materie  erklärt, 
woraus  doch  klar  erhelle,  dass  er  von  der  Ansicht  ausging,  die  Dinge  könnten 
von  uns  in  ihrer  wahren  Beschaffenheit  erkannt  werden,  die  Be.schränkung 
hinzufügt:  „Kleanthes  freilich  scheint  seine  leisen  Zweifel  darüber  geäussert 
zu  haben,  ob  sich  die  Vorgänge  in  Wahrheit  nothwendig  so  abspielen,  wie  sie 
uns  erscheinen."  Die  dafür  angeführte  Stelle,  Epictet.  diss.  II  19,  2:  ov  näv  de 
7iaQf?.r,?.v&6g  d}.r,-d-eg  dvayxaiöv  iarC  xa&dnto  oi  thqI  K?.edv&tjv  if(Qea&at  duxovaiv, 
einer  Auseinandersetzung  über  den  bekannten  KvQin^mv  entnommen,  hat  es 
doch  nur  mit  der  Frage  zu  thun,  ob  das,  was  wirklich  vorgegangen  ist, 
notwendig  sei.  Stein  scheint  die  grammatische  Construction  nicht  riciitig 
zu  fassen. 

^)  Simpl  pliys.  IV,  p.  530,  12;  in  categ.  fol.  69  r.  Plut.  de  comm.  not. 
c.  50,  p.  1085  E.  lamblich.  protrept.  p.  352  Kiessl.,  wo  die  „Jüngeren'  vorn 
schol.,  p.  130  ed.  Pistelli,  richtig  als  Stoiker  erklärt  werden. 

-)  Zeller  IIP  a,  99—118.    128,  2  g.  E. 

'')  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  43,  p.  1053  F. 

•*)  Plut.  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1085  C — D.  Nemes.  de  nat.  hom  c.  G.  p. 
72  ed.  Antverp.,  p.  164  Matth.    Cic.   Acad.  post.  I  7,  26. 


350  Vierter  Al)sclinitt.     Ej)icureor  und  Stoiker. 

Posidonius  wird  diese  aristotelisierende  i)  Ansicht  zuge- 
schrieben 2). 

Die  Lnft  gestaltet  den  Stoff  nicht  nur  als  äussere  Grenze 
desselben  3),  sondern  indem  sie  denselben  innerlich  durchdringt  ^). 
Diese  Durchdringung  beruht  auf  der  schon  von  Zeno  ^)  angenom- 
menen totalen  Durchmischung  {xQäaig  öi'  oXan),  kraft  derer  zwei 
Körper  ganz  an  demselben  Orte  zugegen  sein  können.  Eine 
solche  Annahme  macht  es  den  Stoikern  auch  möglich,  das  Zu- 
sammensein mehrerer  Eigenschaften  in  einem  Substrat  durch 
das  gleichzeitige  Vorhandensein  verschiedener  Luftströmungen  zu 
erklären  '^). 

Wie  die  Form  es  anfängt,  um  die  Materie  zu  bestimmen, 
das  hatte  Aristoteles  nicht  ausgeführt  und  konnte  er  seiner  gan- 
zen Richtung  nach,  die  in  dem  Qualitativen  ein  Ursprüngliches 
sieht,  nicht  näher  ausführen.  Den  Versuch  Plato's,  die  Besonder- 
heit der  Elemente  aus  der  geometrischen  Formung  der  Materie 
zu  verschiedengestalteten  Elementarkörperchen,  also  aus  quanti- 
tativen Verhältnissen,  abzuleiten,  hat  er  nicht  übernommen.  An- 
ders die  Stoiker.  Von  dem  Streben  nach  Anschaulichkeit,  wie 
es  scheint,  geleitet,  suchen  sie  alle  qualitative  Differenzierung  der 
Materie  auf  ein  anschauliches  Moment  zurückzuführen.  Als 
solches  bietet  sich  ihnen  die  Bewegung  des  gestaltenden  Pneu- 
ma  oder  der  Luft.  Strömungen  der  Luft  sind  es  also,  die  das 
bestimmte  Sein    und    alle  Eigenschaften    der  Körper  bewirken  '). 


^)  Unterschied  der  activen  und  passiven  Elemente:     Arist.  de  gen.  et  corr. 

I  6,  3"23  a  G--10;  IT  2,  329  b  24—27;  meteor.  IV  5,  382  b  2-5;  11,  389  a 
29—31.  Die  obern  Elemente  als  die  begrenzenden  verhalten  sich  zu  den  un- 
tern wie  die  Form  zur  Materie:  de  cael.  IV  3,  310  b    14—15;    de  gen.  et  corr. 

II  8,  335  a  16—21  ;  s.  o.  S.  242,  6.  258,  1.  265,  8.  Vgl.  Siebeck,  Unters,  z.  Phil, 
d.  Griechen.  2.  Aufl.  Freiburg  1888.  S.  246  ff. 

2)  Sirnpl.  de  cael.  IV  3,  p.  309  a  43— b  3.  Die  Stelle  spricht,  was  Siebeck 
a.  a.  0.  entgangen  ist,  ausdrücklich  die  Abhängigkeit  des  Posidonius  von 
Aristoteles  aus. 

^)  wie  bei  Aristoteles  an  den  S.  242  Anm.  6  Schi,  citierten  Stellen. 

*)  Plut.  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1085  D,  wonach  Feuer  und  Luft,  toTq 
(fvalv  ixeivois  (Wasser  und  Erde)  i'/xex^a,ut'va.  ihnen  Bestand  und  bestimmtes 
Sein  geben. 

")  Wachsmuth,  De  Zenone  Gitiensi,    Gotting.  1874,  S.  9. 

^)  Zeller  III  ^  a,  99.     Heinze,  Lehre  vom  Logos,  120. 

')  Plut.   de    Stoic.    rep.  c.  43,  p.  1053    F— 1054  A.     Dies  gilt  auch  von  den 


Stoiker,     h)  Stolf  n.  Kraft.  —  Materie  u.  Oualitüt.  3.51 

Diese  Bewegung  vollzieht  .sich  in  einer  Doppelrichtung,  von  aussen 
nach  innen,  und  von  innen  nach  aussen.  Mit  Recht  erinnert 
Zeller  i)  an  die  Expansiv-  und  Attractivkraft,  aus  der  moderne 
Naturphilosophen,  hierin  die  Stoiicer  noch  i^iberbietend,  sogar  die 
Materie  selbst  construieren  wollten.  Die  erste  Bewegung  für  sich 
allein  würde  verdünnen,  die  zweite  verdichten.  In  dem  Zusam- 
menwirken beider  giebt  letztere  die  Einheit  und  das  feste  Sein, 
erstere  Grösse  und  Eigenschaft  2).  So  ist  es  also  in  letzter  In- 
stanz das  Gegenspiel  der  beiden  entgegengesetzten,  einander  das 
Gleichgewicht  haltenden  Kräfte,  mit  einem  andern  Worte :  die 
Spannung  (lörog)  des  die  Materie  durchströmenden  luftartigen 
Pneuma,  was  die  letztere  bestimmt  ^). 


geistigen  Eigenschaften,  s.  Zeller  III"  a,  119.  Es  ist  wie  eine  Anticipation  de.s 
Hobbes'schen  Satzes,  dass  nnr  die  Körper  und  die  Bewegungen  der  Körper 
wirklich  seien. 

')  a.  a.  0.  IIP  a,  131.  Vgl.  auch  Stehi  I,  S.  32,  der  aber  (Anm.  40)  hier, 
wo  es  sich  um  das  Zusammen  spiel  der  beiden  Kräfte  handelt,  nicht  Philo 
de  incorr.  mundi  §.  1!)  [T.  II,  p.  507  Mangey,  p.  258  Bernays)  heranziehen 
durfte,  wo  von  dem  ausschliesslichen  Wirken  der  einen  oder  der  andern  Kraft 
in  verschiedenen    Weltperioden  gesprochen  wird. 

^)  Simp.  in  categ.  ßS  E.  Nemes.  de  nat.  hom.  c.  2.  p.  29.  ed.  Antverp. 
(p.  70  sq.  Matth.)  Vgl.  Arius  Didyrn.  fr.  28  (Dox.  p.  463)  bei  Stob.  ecl.  I,  p. 
374,  wo  es  zunächst  vom  Urpneuma  heisst:  Xqvo innoq  d'f  Toiovtuv  n  d'ia- 
fitfSuiovTo'  eivai  to  ov  nvtvfia  xtvovv  eavto  tiqos  eavio  xal  ff  avTov,  ij  Tivevjua  iavTo 
xirovv  TtQoai»  xal  dnlaw'  nvfvjua  ife  ft'kfiTiTat  (fia  lö  keyto&ac  avTo  tivai  deQct.  xivovfievov' 
dräXoyov   ifi  yivra&ai   xcini  tov  acS^e'()OS,  ("xJre  xal  eig  xoivnv  ?,6yov  ntofiv  avzä  \d.\x.  dä-S 

Ur-Seiende  oder  der  Äther  wird  als  Pneuma  gefasst,  weil  man  als  „Pneuma" 
(Wind)  die  bewegte  Luft  bezeichnet,  etwas  Ähnliches  (die  oben  angegebene 
Doppelbewegung)  aber  auch  beim  Äther  stattfindet  (vgl.  Gornut.  theol.  c.  1, 
p.  2,  13 — 14  Lang),  so  dass  beides  (nämlich  das  Pneuma  und  der  Äther  als  das 
Ur-Seiende)  unter  denselben  Begriff  (nämlich  der  bewegten  Masse)  fällt  (eii  zov 
avTuv  Xöyov  ninriiv  im  Sinne  von  „unter  denselben  Begriff  fallen",  wie  xoivov 
avfxnTMfia  amfiäiuiv  xal  daoo/uäToiv  Simpl.  in  categ.  57  E.).  Durch  diese  Erklä- 
rung wird  HirzeTs  —  a.  a.  0.  11,  752  — ,  von  Wachsmuth  aufgenommene 
Gonjectur  amov  überflüssig,  seine  Folgerungen  hinfällig.]. 

Ferner:  Philo,  qu.  deus  s.  imm.  §.  7  (T.  I  p.  278  Mangey)  Seneca  nat. 
quaest.  II  6.  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  43,  p.  1053  F ;  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1085 
C— D.     Alex.  Aphrod.  de  mixt.  fol.  144 1'  (p.  605  med.  Ideler). 

=*)  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  43,  p.  1054  A.  Nemes.  a.  a.  0.  —  Über  den 
Tonus  im  allgemeinen  vgl.  Zeller  IIT^  a,  119,  2.  Hirzel  a.  a.  0.  II  118. 
Stein  1  31,  Anm.  38;  II  12;>,  Anm.  252.  Heinze  a.  a.  0.  94  f.  Den  von 
diesen  gesammelten  Stehen  ist  hinzuzufügen  Alex.  Aphrod.    de    an.    II,  p.  115, 


352  Vierter  Alisclmitt.     Epiciireer  und  Stoiker. 

Die  verschiedenartige  Spannung  der  Luft  l)edingt  die  Ver- 
schiedenartigkeit jener  Strömungen,  durch  welche  die  an  sich 
gleichartige  Luft  so  mannigfache  Wirkungen  in  der  Materie  her- 
vorbringt. 

Dieselbe  Tendenz  nach  Anschaulichkeit,  kraft  derer  die  Stoa 
die  Wirkungsweise  des  gestaltenden  Princips  in  eine  innere 
Spannung  und  Bewegung  setzte,  liegt  auch  zugrunde,  wenn  sie 
das  Gestalten  als  ein  Zusammenhalten  vorstellt.  Was  schon 
Anaximenes  von  dem  beseelten  Leibe  und  nach  dessen  Analogie 
von  der  als  Organismus  gedachten  Gesamtwelt  gelehrt  hatte  i), 
das  gilt  nach  den  Stoikern  von  allen  Dingen  in  der  Welt.  Wie 
für  die  Welt  im  ganzen  2),  so  ist  die  Luft  oder  das  Pneuma  auch 
innerhalb  derselben  überall  die  „zusammenhaltende  Kraft"  {awix- 
Tixrj  Sinafiig),  das  Zusanunenhaltende  {avrsxTixö^)  für  die  Einzel- 
dinge 2). 

Bewegung,  Spannung,  Zusammenhalten  aber  sind  nicht  mehr 
bloss  ruhende  Eigenschaften  oder  Wesensbestimnmngen,  es  sind 
Thätigkeiten.  Die  Thätigkeit  geht  schon  nach  aristotelischer 
Anschauung  aus  von  einer  bewegenden  Ursache,  d.  h.  von 
einer  Kraft.  So  lag  auch  in  jener  den  Stoikern  eigentümlichen 
Bestimmung  der  Wirkungsweise  des  gestaltenden  Princips  für 
diese  ein  Grund,  die  aristotelische  Formalursache  als  eine  beson- 
dere Ursache  neben  der  bewirkenden  zu  verwerfen  *).     Die    we- 


9 — 12  Bruns.  —  Stein  II  129  verfolgt  die  Vorgeschichte  des  Terminus  rdvog 
bis  auf  Hippocrates,  der  tovos  und  vevQov  synonym  gebraucht.  Zu  der  von  ihm 
citierten  Stelle  Galen,  de  plac.  Hippocr.  et  Plat.  V,  205  K.,  162  M.  hätte  er 
aber  noch  viele  andere  aus  den  Hippocratica  und  aus  Galen  hinzufügen  kön- 
nen, die  zum  Teil  schon  in  der  Didot'schen  Ausgabe  des  Thesaurus  Graec. 
lingu.  VII  2288  f.  zusammengestellt  sind.  Auch  auf  Herodot.  VJI  36  konnte 
hingewiesen  werden,  wo  TÖvog  zweimal  die  Spannung  des  Schiffstaues  be- 
zeichnet. 

1)  S.  S.  15  f. 

^)  Alex.  Aphrod.  de  mixt.  fol.  142 r  med.,  p.  594  Ideler  (zum  Text  vgl. 
Zeller  IIP  a,  118,  5;  Apelt,  Philologus  XLV.  1886.  S.  84.);  144i-  med.,  p.  606  Id. 
(zum  Text:  Apelt  a.  a.  O.  S.  87).  Gic.  de  nat.  deor.  II  7,  19.  Seneca,  cons.  ad 
Helv.  8,  3;  quaest.  nat.  II  6. 

•')  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  43.  p.  1053  r  (aus  Ghrysipp  nt^l  t'^emv).  Vgl.  c.  49, 
p.  1085  G— D.  Simpl.  in  categ.  f.  .55  E.  Sext.  Emp.  adv.  math.  IX  81.  Seneca 
a.  a.  0.  Philo,  de  mundi  opif.  45  (T.  I,  31  Mangey). 

*)  Über  die  Polemik  der  Stoiker  gegen  die  platonisch-aristotelische  Lehre 
von  den  Ursachen  vgl.  Zeller  IIF  a,  132  ff. 


Stoiker.     StolT  u.  Kral't.  —  Materie  u.   Qualität.  353 

sentliche  Beschaffenheit  (e^ic,  noiörrjc)  ist  bewegende  Ursache. 
Nicht  aus  Materie  und  artbestimmender  Form  {t'iöog),  wie  bei 
Aristoteles  ^),  besteht  darum  nach  den  Stoil^ern  das  Individuum, 
sondern  aus  dem  Materiellen  {vhj  oder  vXixor)  und  dem  Ursäch- 
lichen («tV/cödfg,  auch  öATtor)  2).  Stoff  und  Kraft  sind  die  beiden 
den  Dingen  immanenten  Principien. 

So  gut  auf  dem  engern  Gebiete  bei  den  Stoikern  das  eine 
aus  dem  andern  folgt,  wenn  sie  aufgrund  ihres  Materialismus 
und  Sensualismus  die  begriffliche  Form  des  Aristoteles  zu  der 
Lehre  von  der  Luft  als  dem  gestaltenden  Kraftprincip  umbilden, 
so  lässt  sich  doch  nicht  verkennen,  dass  diese  Umbildung  das 
Verhältnis  des  gestaltenden  Princips  zur  Materie  und  dadurch 
den  Begriff  der  letztern  selbst  gestört  hat.  Nach  Aristoteles  ist 
die  Form  in  sich  ohne  Materie  und  enthält  nur  die  begrifflichen 
Elemente  des  substantialen  Ganzen.  Folgerichtig  hätten  die 
Stoiker  in  ihrer  Umbildung  der  aristotelischen  Lehre  die  ver- 
schiedenen Formen  der  Bewegung  als  solche  für  das  Gestal- 
tende erklären  und  ihr  zum  Substrat  unmittelbar  die  unbestimmte 
Materie  geben  sollen.  Die  Qualitäten  waren  dann  zwar  keine 
Körper  mehr,  wohl  aber  als  etwas  am  Körper  körperlich; 
die  ganze  Lehre  wäre  der  modern  materialistischen  von  Kraft  und 
Stoff  nahe  verwandt  gewesen.  Statt  dessen  geben  sie  der  Bewe- 
gung zunächst  ein  besonderes  Substrat,  die  Luft,  und  lassen  sie 
erst  durch  dessen  Vermittelung  die  eigenschaftslose  Materie  ge- 
stalten. Da  nun  aber  die  Luft  nichts  Anderes  ist,  als  ein  beson- 
ders geeigenschafteter  Stoff,  so  bleiben  sie  in  dem  Widerspruch 
stecken,  dass  der  Stoff  zwar  qualitätslos,  die  Qualitäten  aber  nicht 
stofflos  seien  ^).     Es    ist    in    der  That,    wie   wenn   nach    Plotin's 


^)  Ganz  unstoisch  heisst  es  bei  Diogenes  VII  133,  dass  in  der  stoischen 
Lehre  vom  Weltgebäude  untersucht  werde  xal  tt  J  r,hos  y.al  ol  daze^es  e|  vkijs 
y.al  et'dfoe.  Mit  Recht  sind  die  Worte,  welche  schon  durch  die  aufgelöste  Form 
ei'cffoi  Anstoss  erregen,  von  Gebet  als  Interpolation   ausgeschieden. 

■-')  Die  Belege  sind  besonders  zahlreich  bei  Antonin ;  vgl.  IV  21  (Schi),  V 
13,  VII  29,  VM  11,  XII  2ü  {ahM,hs),  1X25.  37,  XIIIS  {ahtov).—  Die  e^is  wird 
als  ifvvafitg  bezeichnet  Simpl.  in  categ.  68  E,  ebenso  die  TiowTrjs  Plotin. 
enn.  VI  1,  10.  p.  210,  27  (worauf  Simpl.  in  cat.  57  E  Bezug  nimmt).  Ein  diotxiiv 
schreibt   der  i'^is  Plutarch.  virt.  mor.  c.  12,  p.  451  B  zu. 

■')  Vgl.  die  hier  zutreffende  Polemik  Plutarch's,  de  comm.  not.  c.  49,  p. 
1085  G— E  und  besonders  c.  50,  p.  1085  E— 1086  B.  Ähnlich  Albinus,  öidaaxa. 
hy.6i  c.    11,  p.  166,  21—23  Hermann. 

liauuuiker:    Das  Problem  der  Materie  etc.  ■"" 


354  Vierler  Abschnitt.     Epicuieer  und  Stoiker. 

Bemerkung  jemand  die  Wissenschaft  in  die  Grammatik  einteilen 
wollte  und  in  ein  Zweites,  was  Granmiatik  und  noch  etwas  an- 
deres ist  1).  In  ihrer  Lehre  von  der  xqüoic  di'  olwv  2)  hat  die 
Stoa  nun  allerdings  ein  künstliches  Mittel  gefunden,  um  zu  er- 
klären, wie  ein  in  sich  bestimmter  Stoff  den  noch  unbestimmten 
durchdringen  und  dadurch  jenen  innerlich  gestalten  könne;  aber 
diese  ganze  Lehre  ist  im  Grunde  nur  ein  dem  Erklärenden  zu 
Liebe  angenommenes  Postulat,  um  dessen  anderweitige  natur- 
wissenschaftliche Begründung  es  sehr  schwach  bestellt  war  ^). 

Ist  aber  das  „Ursächliche"  als  gestaltendes  Princip  der  iMa- 
terie  nicht  die  blosse  Bewegung  in  der  Materie,  sondern  ein  be- 
sonderer, die  Materie  beherrschender  Stoff,  so  wird  auch  der  Satz 
ins  Schwanken  geraten,  dass  die  Materie  das  wahre  Seiende  sei.^) 
In  der  That  fehlt  es  nicht  an  Stellen,  an  denen  umgekehrt  das 
Pneuma,  die  Luft,  gerade  so  als  das  Seiende  bezeichnet  wird,  wie 
Aristoteles  das  wahre  Sein  der  Form  beilegt  ^). 

2.  Der  Logos  in  der  Materie,  Mit  Plato  und  Aristoteles 
stellt  der  Stoicisraus  neben  die  vernunftlose  Materie  als  den  Grund 
aller  Ordnung  die  Gottheit  oder  die  Urvernunft  (Aoyog,  vovo). 
Die  zu  harmonischer  Einheit  sich  fügende  Mannigfaltigkeit  des 
Weltalls  ist  nicht,  wie  der  Atomismus  Democrit's  und  Epicur's 
will,  Werk  der  Materie  und  der  in  ihr  waltenden  mechanischen 
Notwendigkeit,  sondern  sie  ist  die  Bethätigung  und  für  den  erken- 
nenden Geist  der  Beweis  für  das  Dasein  einer  alles  beherrschen- 
den vernünftigen  Kraft,  die  über  der  Materie  steht.  Die  Vernunft 
aber  ist  nicht  etwas  Unkörperliches,  gleichwie  Aristoteles  die 
Gottheit  als  reine  Form  dachte,  sie  ist  körperlicher  Natur, 
Pneuma,  Äther,  künstlerisch  bildendes  Feuer,  Wärme,  (warme) 
Luft_,  oder   wie   sonst  die  Bezeichnungen  lauten  ^).     Ebenso  steht 


1)  Plot.  enn.  VI  1,  29.  p.  260,  31-33  M.;  vgl.  auch  iV  7,  9.  p.  114,  20. 

^)  an  die  Giesen  a.  a.  O.  S.  30  gegen  Plutarch  erinnert.  Vgl.  Alex,  de 
mixt.  f.  144  r     (p.  ßOG  med.  Ideler). 

»)  Zeller  IIP  a,  127  ff.     -    ••)  S.  S.  337. 

'•>)  Vgl.  Ghrysipp  bei  Stob.  ecl.  I,  374  (Arius  Did.  fr.  28,  s.  S.  351  Aniii.  2), 
wo  das  in  der  Doppelrichtung  nach  vorwärts  und  rückwärts  sich  bewegende 
Pneuma  als  das  ov  bezeichnet  wird;  Plut.  de  comm.  not.  c.  49,  p.  1085  D, 
wonach  Luft  und  Feuer  den  andern  beiden  Elementen  das  ovaioSiffs  geben. 

«)  Zeller  IIP  a,  142.  Heinze  95-9(5.  Stein  I  2()  ff.  68.  70  f.  —  Auf  diese 
Schriften  verweise  ich  auch  für  die  im  Folgenden  durch  Citate  nicht  belegten 
Puncte. 


I 


Stoiker,     b)  Stoff  und  Kraft.  —  Der  Logos  in  d.  Materie.  355 

die  Gottheil  nicht,  wie  bei  Aristoteles,  ausserhalb  der  Welt,  son- 
dern geht  durch  alle  Dinge  in  der  Welt  hindurch  i),  selbst  durch 
das  Gemeinste  und  Niedrigste  2).  Gott  ist  das  alles  zusammen- 
haltende Pneuma,  die  Seele  des  Alls,  die  demselben  immanente 
gestaltende  Kraft  oder  die  Natur  {(fvßic  =:  natura  naturans). 
Hatte  Aristoteles,  an  den  die  Stoa  auch  hier  anknüpfen  konnte, 
die  Natur  als  die  immanente,  den  Stoff  gestaltende  Kraft  neben 
den  ausserweltlichen  ersten  Beweger  gestellt,  so  identificiert  die 
Stoa  beides  3).  Wir  werden  den  Grund  für  diese  Thätigkeit  des  mit 
der  Urvernunft  identischen  Urpneuma  in  seiner  Spannung  (rövog) 
suchen.  Setzt  doch  eine  gewisse  Aufzählung  der  stoischen  Prin- 
cipien  diese  Spannung  ohne  weiteres  an  die  Stelle  der  sonst  neben 
der  Materie    genannten   Gottheit  *).     Eben    darauf  weist    es  auch 

1)  Aetius  I  7,  33  (Dox.  p.  306)  bei  Plut.  plac.  I  7  und  Stob.  ecl.  I,  p.  66. 
Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  458)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  322.  Diogen.  VII  138. 
Philodem,  de  piet.  fr.  11,  p.  77  Gomperz.  Gic.  de  nat.  deor.  I  14,  36.  Seneca 
de  benef.  IV  7,  1.  Antonin.  V  32.  Alex.  Aphrod.  de  mixt.  f.  144^  (606  Ideler). 
Athenag.  legat.  pro  Christ,  c.  22,  p.  318  B  ed.  Maur.  Tatian.  orat.  ad  Gr.  c. 
4,  p.  260  B  ed.  Maur.  Tertull.  adv.  Hermog.  44;  adv.  nat.  II  4.  Hippolyt. 
refut.  haer.  I  21,  1  (Dox.  p.  571,  10.  Chrysipp.  fr.  8  Gercke).  Clemens  Alex, 
protrept.  5,  66  (vol.  I,  p.  72,  10  Dindorf);  stromat.  V  14,  89  (vol.  III  69,  22 
Dind.).  Chalcid.  in  Tim.  c.  293  (p.  322,  15  Wrobel);  c.  294  (p.  323,  22). 
Epiphan.  adv.  haer.  III,  T.  III,  p,  567,  2  Dindorf;  Dox.  p.  592,  24.  Procl. 
in  Parm.  IV,  col.  921,  15.  955,  27  Cousin  ^  in  Tim.  p.  126  B.  299  G.  Schol. 
ad  Arat.  phaenom.  v.  1.  Plut.  de  Is.  c.  40,  p.  367C. —  Zu  beachten  ist,  dass  Ci- 
cero, Arius  Didymus,  Epiphanius  an  den  angef.  St.  und  Tertullian  adv.  nat.  II, 
4  die  fragliche  Lehre  bereits  dem  Zeno  zuschreiben.  Und  dass  Zeno  unter 
dem  die  Materie  durchziehenden  All-Logos  nicht  etwa  nur  die  gottgewirkte 
Ordnung  versteht,  wie  Hirzel  II,  213  f.  anzunehmen  scheint,  zeigt  der  Zusatz 
bei  Arius  Didymus:  olov  neg  xai  iv  tjj  yov^  to  anigiia. 

'')  Seneca  consol.  ad  Helv.  8,  3—4.  Sext.  Emp.  Pyrrh.  hyp.  III  218. 
Lucian.  Hermotim.81,  T.  I,  p.  826  Reitz.  Tatian.  or.  ad  Gr.  c.  3,  p.  259  C.  Origen. 
contr.  Gels.  VI,  71.  dem.  Alex,  ström.  I  11,  51  (vol.  II,  43,  15  Dind ).  Alex. 
Aphrod.  de  an.  II,  p.  113,  12  Bruns. 

')  Diese  Beziehung  der  Stoa  zu  Aristoteles'  Lehre  von  der  (f.vai{  wird 
von  Siebeck,  Untersuchungen  ^  220  ff.  mit  Recht  hervoigehoben.  Vgl.  auch 
Krische,  Forschungen  I,  281.  Hardy,  Der  Begriff  der  Physis  in  der  griechischen 
Philosophie.  I.  Berlin  1884.  S.  199. 

*)  Censorin.  fragm.  c.  1.  p.  75  Jahn:  Initia  rerum  eadem  elenienta  et 
principia  dicuntur  (was  freilich  nach  Diogen.  VII  134  für  die  Stoiker  nicht 
zutrifft).  Ea  Stoici  credunt  tenorem  (d.  h.  zövov,  nicht  s^tv,  wie  Trendelenburg, 
Gesch.  d.  Kategorienl.  225,  1  es  fasst)  atque  materiam.  Tenorem,  qui  rare- 
scente  materia  a  medio  tendat  ad  summum,  eadem  concrescente  rursus  a  summo 
referatur  ad  medium.  23  * 


356  Vierler  Abscliiiitl.     Epiciueer   und  Stoiker. 

hin,  wenn  von  dem  göttlichen  Pneuma  gesagt  wird,  dass  es 
durch  alles  gleicherweise  mit  seiner  Spannung  sich  verbreite  i), 
und  anderswo,  dass  bei  dem  periodischen  Wechsel  von  Weltent- 
wicklung aus  dem  Feuer  und  Rückbildung  in  dasselbe  die  Span- 
nung in  der  Allsubstanz  nie  aufhöre  2). 

Die  Einwirkung  der  vernünftigen  Urkraft  auf  die  Materie  in 
den  mannigfachen  Abstufungen  und  Gestaltungen  ihrer  Wirksam- 
keit vollzieht  sich  durch  die  Vermittelung  der  einzelnen  Keim- 
oder  Samenkräfte  (löyoi,  ansQi.iaiixoi),  welche  in  jener  einbe- 
schlossen sind  °).  Die  Wellvernunft  ist  der  Ursame'^);  aus  ihr 
kommen  und  in  sie  kehren  zurück  die  einzelnen  Keimkräfte  '•). 
Die  einzelne  Keimkraft  enthält  einen  bestimmten  Gedanken,  den 
sie,  Element  der  vernünftigen  Weltordnung  und  doch,  gleich  dem 


1)  Seneca  cons.  ad.  Helv.  8,  3.     Zum  Sinn  der  Stelle  vgl.  Heinze  93,  3. 

-)  Arius  Did.  fr.  38  (Dox.  p.  470)  bei  Stob.  ed.  I,  p.  372:  Gleantb 
(fr.  pliys.  13,  II,  p.  11  Wachsm.)  lelire  :  xal  zoiavTijv  mgiot^ov  alel  xat  thaxö- 
ajur/aiv    noiovue'vov  tot'  ev  rfj  zmv  uXwv  ovaia  tovov  /«■>;  naveaS-ai.      Stein  I    33,  41 

bemerkt  hierzu  :  „Die  Korrektur  Meinecke's  (lies :  Meineke's) :  rov  rövor  zie- 
hen wir  dem  Diels'chen  Text:  t6v  —  tovov  vor,  weil  dieser  Nachsatz  eine  Be- 
gründung ausdrücken  soll,  die  durch  den  Genit.  absol.  rov  rövov  juij  -tavea&ai 
am  besten  ausgedrückt  wird".  Aber  1)  ist  rov  tövov  nicht  Correctur  Meineke's, 
sondern  Lesart  der  Handschriften  F  P  bei  Wachsm.  ,  2)  ist  rov  tuvov  nicht 
bloss  der  „Diels'sche  Text";  viehnehr  ist  gerade  dies  die  (richtige)  Gonjectur 
von  Meineke ;  3)  ist  ein  Gen.  absol.  rov  tövov  i^t]  navia&ai  mit  dem  Infinitiv 
als  Prädicat  ein  Unding.  —  Ebenso  Ghalcid.  in  Tim.  c.  292. 

3j  Aetius  I  7,  33  (Dox.  p.  305  f.)  bei  Flut.  plac.I  7  und  Stob.  ecl.I,  p.  64— 6G 
(Vgl.  Philo  de  deo  6,  T.II,p.ßl6  Aucher.).  Diogen.  Vit  148.  Vgl.  Cornutus  theol. 
c.  26  vom  Atlas  (=  y.öafAos)  und  c.  27  vom  Pan  (=  Weltall'. 

■*)  Das  Feuer  ist  ror  xöa/uov  ayce^nu  :  Ghrysipp.  bei  Plut.  de  comm.  not.  c. 
35,  p.  1077  B;  Pä.-Philo  de  incorr.  m.  19  (II,  5i)(3M.,  p.  255 Bern.);  vgl.  Aristocles 
bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  14,  2.  p.  817  A.  —  Arius  Didym.  fr.  36  (Dox.  468; 
Ghrysipp.  fr.  16  Gercke)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  414  und  Euseb.  praep.  ev.  XV  18,  3. 
p.  820  A:  nach  Zeno,  Gleanth  und  Ghrysipp  wandelt  sich  die  ovaia  olov  th 
OTT  (Qua  TU  nvQ  (Stein  I,  51  Anm.  missfällt  es,  dass  Diels  die  Heeren'sche  Gon- 
jectur tti  nvQ  „ohne  Grundangabe"  veiwirft.  Indes  dürfte  gegenüber  Krüger, 
Gr.  Gr.  §.  68,  8  eine  solche  auch  nicht  erforderlich  sein).    Vgl.  Antonin  IV  21. 

'")  Antonin.  IV  21,  wo  dies  zunächst  von  den  f^eelen  gesagt  ist.  Ebd.  IV 
14.  Vgl.  Heinze  W^l  f.  —  In  einem  Herabilde  zu  Samos  fand  Ghrysipp  den 
Sinn,  dass  die  Materie  die  Xöyoi  antQfianxoi  von  Gott  empfangen  habe;  Orig. 
c.  Gels.  IV  48;  vgl.  Üiog.  VE  187:  Theophil,  ad  Autol.  III  8,  p.  412  D  ed. 
Maur.;  Glemens  Rom.  homil.  V  18;  T.  I,  p.  667  Goteler. 


Stoiker,     h)  Stoff  u.  Kraft.    —  Der  Logos  u.  die  loyoi  anf^ßanxoi.         Sf)? 

vernünftigen  Urpneuma,  körperlicher  Natura),  als  gestaltendes 
Princip  auswirkt  2).  Innerhalb  des  organischen  Gebietes  ist  der 
Träger  der  Keimkräfte  der  Samen,  von  dem  jene  ihren  Namen 
tragen.  Dieser,  der  ja  nach  stoischer  Lehre  von  allen  Teilen 
des  Organismus  ausgeschieden  wird  s),  trägt  von  einem  jeden 
der  Teile  die  entsprechenden  Keimkräfte  in  sich  Dieselben  lässt 
er  dadurch  zur  Fülle  gelangen,  dass  er  immer  mehr  von  dem  be- 
reitliegenden Stoffe  an  sich  zieht  und  so,  entsprechend  den  in 
ihm  enthaltenen  Kräften,  alle  einzelnen  Teile  nach  einander  zur 
ausgeprägten  Gestaltung  bringt  *).  Dabei  wirkt  der  Samen  durch 
die  in  ihm  enthaltene  Spannung  {tövoc)  der  Luft  oder  des  Pneu- 
ma  ^).  Ja  auch  auf  das  anorganische  Gebiet  lässt  der  BegrifT 
des  Samens  sich  anwenden  ^).  In  der  Entfaltung  der  Keimkräfte 
nach  dem  Gesetze  der  Gesamtheit,  d.  h.  entsprechend  der  Innern 
notwendigen  Natur  der  Allvernunft  oder  dem  Verhängnis  {et^uQ- 
lievr')^  besteht  die  geordnete  Entwicklung  der   Welt  '). 

Die  Keimkräfte  sind  als  Teilinhalt  der  Allvernunft  ewig  und 
unvergänglich  wie  diese  ^).  Sie  bilden  sonach  ein  materielles 
Kehrbild  zu  den  ewigen  Ideen  Plato's  ^)  sowie  zu  den  ungewor- 
denen  und  unvergänglichen  Formen,  von  denen  Aristoteles  redet, 


1)  Procl.  in  Parni.  IV,  col.  883,  29—31  Cous.^. 

')  Die  }.6yoi  antQfianxoi  sind  Sv.väfisis  (Antonin.  IX  1.  Gornut.  tlieol.  c.  27, 
p.  50,  19  f.  Lang,  wozu  Plot.  enn.  III  6,  19.  p.  243,  25-26 ;  Porphyr,  bei  Euseb. 
praep.  ev.  III  11,  42.  p.  114  D  zu  vgl.),  ahiai  (Aristocles  bei  Eus.  pr.  ev.  XV  14, 
2    p.  817  A),  vis  omnium  seminum  singula  prope  flgurans  (Seneca  epist.  90,  29). 

^)  So  wenigstens  ol  Tztgl  t6v  IwaiQov :  Diog.  VII 159. 

■*)  Simpl.  in  categ.  fol.  78B.  —  Heinze  a.  a.  0.  S.  114  Anm.  3  zieht  zur  Ver- 
gleichung  heran  Hieron.  ad  Pammach.  adv.  errores  Joannis  Hieros.  II,  172 
ed.  Bas.  Doch  ist  zu  bemerken,  dass  dort  (es  ist  T.  II,  p.  432  Vallars.,  T.  II, 
p.  376  D  Migne)  die  Ansicht  des  Origenes  vorgetragen  wird.  Ähnliche 
Stellen  aus  Augustinus  verzeichnen  Güttier,  Lorenz  Oken  u.  s.  Verh.  zur 
modernen  Entwickelungslehre.  Leipzig  1884.  S.  10  Anm.  2,  und  Grassmann, 
Die  Schöpfungslehre  des  hl.  Augustinus  und  Darwin's.  Regensburg  1889,  S.  16  ff. 
—  Natürlich  sind  bei  Hieronymus  und  Augustinus  diese  ,rationes  seminales" 
(im  Unterschiede  von  den  rationes  aeternae  oder  den  göttlichen  Ideen)  ein 
Product  der  schaffenden  göttlichen  Allmacht. 

^)  Seneca  nat.  quaest.  II  6. 

«)  Vgl.  Antonin.  IV  36. 

')  Antonin.  IX  1.  Diogen.  VII  148.  Plut.  comm.  not.  c.  35,  p.  1077  B  (d.izu 
vgl.  Heinze  116). 

«)  Procl.  in  Parm.  IV,  col.  887,  36  ff. 

"j  Vgl.  Procl.  in  Parm.  II,  col.  731,  30. 


358  Vierler  Abschnitl.    Epicureer  und  Stoiker. 

WO  er  platonisierl  i).  Ihre  Gesamtheit  aber  in  ihrem  Verhältnis 
zur  Urvernunft  giebt  das  materielle  Gegenstück  ab  zu  dem  Ent- 
haltensein der  Ideen  im  göttlichen  Verstände,  wie  es  die  spätem 
Platoniker  und  die  Neuplatoniker  lehren. 

Sind  es  die  Keimkräfte,  vermittelst  welcher  die  alles  durch- 
waltende Vernunft  den  Stoff  zu  seiner  wechselnden  Gestaltung 
führt,  so  treten  dieselben  in  die  engste  Beziehung  zu  den  We- 
sensqualitäten, in  denen  wir  oben  das  stoische  Bestimmungs- 
princip  der  Materie  fanden.  Denn  gleichwie  die  Allvernunft 
oder  das  Urpneuma  jene  samenhaften  Einzelbegriffe  in  sich  schliesst, 
so  ist  es  auch  dasselbe  vernünftige  Urpneuma  oder  die  Gottheit, 
welche  sich,  den  Stoff  durchziehend,  in  die  verschiedenen  Quali- 
täten besondert  ^).  Da  nun,  wie  wir  sahen,  die  löyoi  OnsQfxaTixoi 
nicht  über  den  Dingen  stehende  Ideen  vorstellen,  sondern  Kräfte, 
welche  in  den  Stoff  selbst  eingehen  ^),  da  ferner  diese  Samen- 
kräfte, wenn  sie  den  Begriff  in  der  Materie  zur  Entfaltung  ge- 
bracht haben,  nicht  untergehen,  sondern  sogar  noch  nach  der 
Zerstörung  des  Dinges  fortbestehen  ^),  so  bleibt  neben  den  Xöyoi 
OnsQi-iaTixoi  kein  Raum  für  besondere  Wesensqualitäten,  die  von 
jenen  dem  Sein  nach  verschieden  wären.  Der  Unterschied  der 
beiden  Gestaltungsprincipien  kann  sonach  nur  ein  relativer  sein  ^). 
Dasselbe  gestaltende  Pneuma,  welches,  als  fertige  Bestimmtheit 
eines  individuellen  Dinges  gedacht,  Wesenseigenschaft  heisst,  führt 
als  das  Princip  der  Entwickelung  zu  dieser  Bestimmtheit  den 
Namen  eines  Xöyoq  ansQ/xatixög  ^).  Darum  kann  auch  von  den 
Qualitäten  ohne  Widerspruch  gesagt  werden,  bald,  dass  sie  un- 
vergänglich ''),  bald,  dass  sie  vergänglich  sind  s) ;  jenes,  insoweit 
sie  als  bleibende  Keimkräfte  in  der  sich  stets  verjüngenden  Natur 
den  Wandel  der  Individuen    überdauern,    dieses,    insofern  sie  als 


1)  S.  S.  282  f.    Vgl.  auch  Heinze  124-125. 

2)  Themist.  de  an.  I  5,  fol.  72  ^  (p.  64,  25  Spengel).    Diog.  VII  138  f.    Sext. 
Emp.  adv.  math.  IX  81—85. 

3)  S.  S.  357  Anm.  2. 
*)  S.  S.  357  Anm.  8. 

5)  Vgl.  Heinze  a.  a.  0.  S.  112  f. 

^)  Auch  Plotin  setzt  beides  gleich :   enn.  VI   1,  29.  p.  2(30,  23. 
')  Vgl.  Antonin.  V  13,  wo  dies  vom  alntSäts  (=  e^is)  gesagt  wird. 
«)  Arius  Didymus  fr.  27    (Dox.  p.  462)   bei  Stob.    ecl.  I,    p.  436    (nach  Po- 
sidonius). 


Stoiker,    b)  Stoff  u.  Kraft.  —  Qualitäten  u.  löyoi.  359 

Qualitäten   eines    bestimmten   Individuums    mit   diesem  entstehen 
und  vergehen. 

3)  Stoff  und  Kraft.  Die  voraufgehenden  Erörterungen 
haben  uns  gezeigt,  wie  die  platonische  Trilogie:  Gott,  Idee,  Ma- 
terie, und  die  aristotelische:  bewegende  Ursache,  Formalursache, 
Materie,  im  Stoicismus  zu  der  Dichotomie  von  Kraft  und  Stoff 
sich  zusammenzieht, 

Kraft  und  Stoff  aber  sind  nach  den  Stoikern  untrennbar. 
Das  Thätige  kann  so  wenig  ohne  das  Leidende  sein,  wie  dieses 
ohne  jenes  i),  die  Materie  so  wenig  ohne  Qualität  existieren  2), 
wie  die  Qualität  ohne  Materie  3),  Gott  sowenig  abgesondert  vom 
Stoff,  wie  der  Stoff  abgesondert  von  Gott  ^).  Beide  sind  in  ihrem 
Sein  aufeinander    angewiesen.     Die  Kraft    bedarf  des  Stoffes    als 


1)  Lactant.  institut.  christ.  VII  3,  p.  741  A  Migne.  Syrian.  in  met.  II,  p.  841 
a  4 — 5  Usener.  Procl.  in  Alcib.  prior,  col.  422,  34  Cous^  Vgl.  auch  die  stoisch 
gehaltene  Ausführung  bei  Gic.  Acad.  post.  I  6,  !24. 

-)  Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  458)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  324.  Ghalcid.  in  Tim. 
c.  292  Wrobel.     Procl.  a.  a.  0. 

3)  Vgl.  Porphyr,  bei  Simpl.  categ.  12  J  (zum  Texte  vgl.  Heinze  a.  a.  0. 
S.  119  Anm.  2). 

*j  Ghalcid.  c  294  (p.  323,  20  Wrobel).  Asclep.  in  met.  III  1,  p.  146,  13—16 
Hayduck.  Procl.  in  Tim.  81  F.  126  B.     299  G  ;  in  Parm.  IV  col.  921,  13  Gous.^ 

Damit  scheint  es  im  Widerspruch  zu  stehen,  wenn  Tertullian.  adv.  nat. 
II  4  sagt:  Ecce  enim  Zeno  quoque  materiam  mundialem  a  deo  sepa- 
rat vel  eum  per  illam  tamquam  mel  per  favos  transisse  dicit;  itaque 
materia  et  deus  duo  vocabula,  duae  res.  Pro  discrimine  vocabulorum 
etiam  res  separantur,  etiam  materiae  condicio  vocabulum  sequitur.  Stein 
I  64,  88  g.  E.  legt  besondern  Wert  auf  diese  Stelle  als  Beweis  „für  eine 
schärfere  dualistische  Scheidung  Zeno's  von  Gott  und  Materie."  Allein  hier 
weist  das  vel  darauf  hin,  dass  wir  in  dem  ersten  Teile  des  Satzes  nur  eine 
Schlussfolgerung  Tertullian's  aus  den  folgenden  allein  zenonischen  (und  allein 
als  stoisch  auch  durch  adv.  Hermog.  44  bezeugten)  Worten  vor  uns  haben; 
,Zeno  trennt  die  Weltmaterie  von  Gott,  oder  er  sagt  doch  wenigstens, 
dass  er  durch  sie  hindurchgehe,  wie  Honig  durch  die  Waben,  was  doch 
heisst,  Materie  und  Gott  seien  zwei  Wörter,  zwei  Dinge".  Die  wirklich  zeno- 
nischen Worte  aber  sind  nur  ein  treffendes  Bild  für  die  an  zahlreichen  Stellen 
ausgesprochene  allgemein  stoische  Ansicht  vom  Hindurchgang  Gottes  durch 
die  Materie;  vgl.  S.  355  Anm.  1  und  2.  —  Auch  sonst  hat  Tertullian  den  stoi- 
schen Gott  in  unzulässiger  Weise  als  einen  transcendenten  von  der  Welt  ge- 
trennt ;  vgl.  Apolog.  47 :  positum  vero  extra  mundum  Stoici,  qui  figuli  modo  ex- 
trinsecus  torqueat  molem  hanc  —  was  doch  eher  die  aristotelische  Lehre  ist.  Es 
ist  die  sachliche  Gorrectur,  welche  der  christliche  Stoiker  unbewusst  an  der 
Schuldoctrin  vornimmt.     Ganz  verfehlt  ist,    was    Stein    I  34  Anm.  g.  E.  con- 


360  Vierter    Abschnitt.     Epicureer  und  Stoiker. 

ihres  Substrates  {ovoiu),  der  Stoff  der  Kraft  als  des  ihn  zusam- 
menhaltenden Gestaltungsprincipes  ^). 

Durch  eine  solche  Fassung  des  Verhältnisses  von  Gott  und 
Materie  oder  von  Kraft  und  Stoff  wird  der  noch  verbliebene 
Dualismus  sachlich  wieder  zum  Monismus  der  ionischen  Physio- 
logen zurückgeführt.  Dies  in  doppelter  Hinsicht.  Gehen  v/ir 
aus  von  dem  activen  Gliede,  so  ist  Gott  die  Welt.  Die  Materie 
aber,  das  passive  Glied,  erscheint  wieder  als  kraftbegabt  und 
lebendig. 

Gott  ist  die  Welt.  Zunächst  zwar  werden  die  entwickelten 
Voraussetzungen  zu  dem  Satze  führen,  dass  das  Universum  aus 
Gott  und  der  Materie  bestehe,  die  sich  wie  Seele  und  Leib  des 
Menschen  verhalten  2).  W'eil  aber  das  Bewirkende  vor  dem  bloss 
Leidenden  den  Vorrang  behauptet  ^),  so  ist  Gott  „der  bessere 
Teil"  seines  Werkes,  der  Welt  ^).  Und  noch  mehr:  Gott  ist  auch 
die  Dinge.  Denn  nicht  nach  dem  Stoff  werden  die  Dinge  be- 
nannt, sondern  nach  der  wesentlichen  Beschaffenheit.  Diese  we- 
sentliche Beschaffenheit  nun  erhalten  die  Dinge  durch  Gott  oder 
das  vernünftige  Pneuma.  An  sich  ohne  bestimmte  Gestalt,  wan- 
delt sich  Gott  in  was  er  will  und  wird  allem  gleich  •''),  weshalb 
er  denn  nach  der  jedesmaligen  Bestimmung,   die    er    der  Materie 


jiciert,  um  den  Widerspruch  zu  entfernen:  ultra  inundioii,  wobei  „an  jenen 
Gott-Äther  zu  denken,  tler  am  äussersten  Endpunct  des  Himmels  thront." 
Hiergegen  spricht  ganz  entschieden  sowohl  das  exfrinsecus,  wie  was  gleich 
darauf  folgt:  intra  mundum  Platonici,  qui  gubernatoris  exemplo  intra  id  ma- 
neat  quod  regat. 

^)  Wie  die  Kraft  in  ihrem  Bestände  unablöslich  an  die  Materie  gebunden 
ist,  so  ist  auch  ihre  Wirksamkeit  in  jedem  Falle  durch  die  Materie  räum- 
lich localisiert.  Die  Materie  kann  nur  da  wirken,  wo  sie  sich  räumlich  be- 
findet. Die  Stoiker  lassen  darum  keine  andere  Wirkung  zu,  als  die  Nahe- 
wirkung. Berührung  des  Activen  und  Passiven  ist  die  Voraussetzung  alles 
Wirkens;  Stoss  und  Druck  sind  die  Hauptarten  der  Thätigkeit  (vgl.  Sinipl.  incateg. 
77  B — r,  der  dagegen  als  Beispiel  einer  Fernwirkung  die  Resonanz  der  Saiten, 
Entzündung  von  weitem  u.  dgl.  anführen  will).  So  kann  auch  die  Gottheit 
nur  wirken  durch  Berührung  und  Stoss  und  räumliche  Gegenwart  in  allem 
(Procl.  in  Parm.  IV,  col.  955,  27—29;  vgl.  Olympiodor.  prol.  in  Plat.  phil.  c.  9). 

'-)  Seneca  epist.  65,  23. 

•^)  Seneca  a.  a.  0. 

*)  Seneca  nat.  quaest.  VII  30. 

•'*)  Aetius  I  G,  1  (Dox.  p.  292)  bei  Plut.  plat.  I  (5.  Cyrill.  c.  lul.  II,  p.  51 E. 
Vgl.  Aetius  I  7,  19  »Dox.  302  b  22)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  58,  wo  die  I  G  als  ge- 
meinstuisch  bezeichnete  Lehre  dem  Posidonius  beigelegt  wird. 


< 


Stoiker,     b)  Stoff  u.  Kraft.  —  Materie  ii.  Gottheit.  361 

verleiht,  den  Namen  führt  ').  Ist  also  Gott  jedesmal,  als  das  Be- 
stimmende in  dem  Dinge,  das  Einzelding  selbst,  so  ist  Gott,  als 
Gesamtheit  gefasst,  die  AVeit.  Dieser  Satz  wird  an  zahlreichen  Stel- 
len von  Stoikern  ausgesprochen  oder  den  Stoikern  zugeschrieben  ^). 
Er  scheint  in  dieser  vollen  Schärfe  erst  von  Cleanth  formuliert 
zu  sein  ^);  die  pantheistische  Grundanschauung  indes  geht  ent- 
schieden schon  auf  Zeno  zurück*). 


1)  Athenag.  legat.  pro  Christ,  c.  22.  p.  318  B  ed.  Maur.  Aetius  I  7,  33 
(Dox.  306)  bei  Plut.  plac.  I  7,  Stob.  ecl.  I,  p.  64—66  undEuseb.  praep.  ev.  XIV 
16,  9.  p.  755  A  (zum  Text  vgl.  Diels  Dox.  p.  .^>1).  Vgl.  auch  Aet.  III  7,  2  (Dox. 
p.  374)  bei  Plut.  pl.   III  7. 

'-)  Seneca  nat.  quaest.  II  45.  Cic.  de  nat.  deor.  I,  14,  37  und  39  (von 
Cleanth);  II  13,  34.  Diogen.  VII  137.  Aetius  I  7,  24  (Dox.  p.  303)  hei  Stob, 
ecl.  I,  p.  60.  Arius  Didym.  fr.  29  (Dox.  p.  464)  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  15, 
1  und  3.  p.  817  B— C;  fr.  31  (Dox.  p.  465)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  444  Epiphan. 
adv.  haer.  prooem.,  Dox.  p.  587,  15—16.  —  Über  die  Ansicht  des  Stoikers  Boe- 
thus  von  Sidon,  der  von  dem  S.  296  behandelten  Peripatetiker  Boethus  von 
Sidon  zu  unterscheiden  ist,    vgl.  Hirzel  II,  "221  ff. 

*)  Cic.  1.  c.  Vgl.  Stein  I  67,  98,  der  mit  Recht  Hirzel  gegenüber  auf  diese 
Stelle  Gewicht  legt. 

^)  Stein  I,  63  ff  bestreitet,  dass  der  Hylozoismus  und  Pantheismus  bereits 
bei  Zeno  zum  vollen  Durchbruch  gekommen  sei.  Es  finde  sich  keine  einzige 
beglaubigte  zenonische  Notiz,  in  der  eine  Identification  von  Gott  und  Welt 
auch  nur  leise  angedeutet  sei  ;  dagegen  begegne  man  solchen  Wendungen,  die 
einen  gewissen  Gegensatz  zwischen  *foV  und  r?.rj  verraten.  Zeno's  Auffassung  der 
Gottheit  stimme  noch  nicht  mit  jenem  Urpneuma  der  spätem  Stoa  zusammen, 
aus  dem  das  All  geworden  und  in  das  sich  unser  Weltganzes  wieder  auflöse. 
Nur  die  Einzelgötter  oder  Einzelkräfte  lasse  er  bei  dem  periodischen  Welt- 
brand sich  in  den  Eingott  ZfiV  auflösen,  nicht  aber  den  Einzelstoff;  dieser 
sinke   vielmehr  in  die  Urmaterie  zurück. 

Indes  überspannt  Stein  wohl  die  Verschiedenheit  zwischen  Zeno  und  den 
Spätem.  Wenigstens  hören  wir  bei  Arius  Did.  fr.  36  (s.  S.  356  Anm.  4),  dass 
Zeno  gerade  wie  Cleanth  und  Chrysipp  die  <v0t«  beim  AA^eltbrand  in  das  Ur- 
feuer  als  den  Samen  der  neuen  Weltbildung  sich  auflösen  lasse.  Wenn  Stein 
S.  63  Anm.  88  Gewicht  darauf  legt,  dass  bei  Theodoret.  Gr.  äff.  cur.  IV  1"2,  p. 
902  Migne,  Ach.  Tat.  isag.  in  Arat.  3,  p.  124  E,  Diog.  Laert.  VII  134,  Philo  de 
de  provid.  I  12  Aucher.  (wozu  Diels  Dox.  p.  2  zu  vergl.),  Plut.  plac.  phil.  I  4 
(lies:  I  3)  =  Stob.  I  306  (Aet.  Diels.  289)  S^sös  und  vÄi,  als  die  beiden  Princi- 
pien  Zeno's  bezeichnet  würden,  er  also  als  klassischer  Vertreter  jenes  Dualis- 
mus erscheine,  der  in  das  System  der  spätem  Stoa  nur  mit  grossen  Opfern 
hineingefügt  werden  konnte,  so  übersieht  er,  dass  dieser  j.Dualismus"  in  völlig 
gleicher  Weise  auch  den  Stoikern  überhaupt  zugeschrieben  wird  (z.  B.  Sext. 
Emp.  IX  11.  Athenag.  legat.  pro  Christ,  c.  19.  Alex,  de  mixt.  fol.  144  r,  p.  606 
Ideler.  Giern.  Alex,  ström.  V  14,  89  (vol.  III  p.  70,  4  Bind.).  Simpl.phys.  I,  p.  25, 
16—18.    Ghalcid.    in  Tim.  c.  289),    obwohl    sich    doch    der    Pantheismus    der 


362  Vierter  Abschnitt.     E])icureer  und  Stoiker. 

Trotzdem  aber  die  Gottheit  von  den  Stoikern  mit  der  Welt 
identificiert  wird,  so  kann  man  doch  nicht  ohne  Einschränkung 
sagen,  dass  nach  ihnen  auch  die  Materie  ein  Teil  der  Gottheit 
oder  etwas  aus  der  Gottheit  Abgeleitetes  sei.  Gott  als  Individuum 
(idioK  TTOiöv)  ist  identisch  mit  der  Welt,  diese  als  lebendes  Indi- 
viduum gedacht  i);  denn  er  ist  das  Individuum,  welches  die  ge- 
samte Substanz  in  sich  befasst  und  diese  nach  Perioden  ganz  in 
seine  göttliche  Feuernatur  wandelt  und  wieder  aus  dieser  Feuer- 
natur entlässt  2),    Aber  wenn  auch  das  Individuum  (noiov  tJ/wc), 


stoischen  Schule  nicht  bezweifeln  lässt.  Gott  als  Individuum  {tdimq  noiöv) 
besteht  eben,  wie  weiter  unter  (S.  303)  näher  zu  zeigen,  gleich  der  entwickel- 
ten Welt  und  dem  noch  unentwickelten  Urfeuer),  aus  den  zwei  untrennbaren, 
aber  nicht  das  eine  aus  dem  andern  abzuleitenden  Principien:  ß-tog  im  Sinne 
von  Kraft  und  vXt]. 

Recht  befremdend  ist  das  Gitat:  Epiphan.  adv.  haer.  I  6:  tlnt  yäp  noit  (sc. 
Zi'iVMv)  xal  av'/y  Qovov  iivai  zw  it-ew  rr/v  vXriv,  in  welchem  Stein  a.  a.  0.  gleich- 
falls „eine  schärfere  dualistische  Scheidung  Zeno's  von  Gott  und  Materie"  be- 
zeugt findet.  Die  Stelle  (T.  I,  p.  293,  30  Dindorf;  vgl.  Dox.  p.  588,  29,  wo  in 
der  Anm.  auf  die  Parahelstelle  Hippolyt.  refut.  haer.  I  19,  4.  Dox.  p.  5G7,  18 
hingewiesen  ist)  handelt  nämlich  überhaupt  nicht  von  Zeno.  sondern  von 
Plato.  Auf  Zeno  dagegen  geht  die  von  Stein  übersehene  Stelle  Epiphan.  adv. 
haer.  I  5  (T.  I,  p.  291,  29  Dind. ;  Dox.  p.  588,  17):  (fdaxit  ovv  xal  ovto?  ttjv 
vki]v  avyypovov  y.aXmv  tco  ß^ew  l'aa  raii  ukXatg  aiQtaeai.  Allein  auch  hier  ist  &c6g 
nicht  als  ovaia  Miuyg  noiä,  sondern  als  die  tioiöttis  an  der  ovaia  neben  die  Ma- 
terie als  gleich  ursprünglich  gestellt.  —  Dass  ferner  bei  Tertullian.  adv.  nat.  114 
nicht  alles,  was  Stein  a.  a.  0.  als  zenonisch  beansprucht,  wirklich  von  Zeno 
herrührt,  wurde  schon  S.  359  Anm.  4  nachgewiesen. 

Sehr    mit   Unrecht    endlich   beruft   sich   Stein    a.  0.    auf  Ps. -Galen  h.  ph. 

XIX  241   K:    TDmtwv  ,U£V   ovv   xal  Ztjvmv  6  ÜTonxoi  tkqIt-^s  ovo iagrov   S-fov  duXr/Xv&o- 

res  ov  xoa/xov,  äXkd  TiaQo.  ravTa  iftavoij&rjaäv  zt  akXo,  WO  dem  Zeno  der  Pan- 
theismus rundweg  abgesprochen  sei.  Hätte  sich  Stein  nur  nicht  auf  den  jäm- 
merlichen Kühn'schen  Text  beschränken  wollen!  Denn  schon  1870  hat  hier 
Diels  in  seiner  Dissertation  De  Galeni  historia  philosopha  statt  ov  x6a,uov  xzL 
scharfsinnig  conjiciert,  was  die  Handschriften  dann  glänzend  bestätigten  (cf. 
Doxogr.  p.  ()08) ;  ovy  öfioims  7it()l  zavzijs  (havor,d-riaav,  äXX'  6  fiiv  FlXäzüJv  ■d-eov 
daohiazov,  Zrjvwv  (fe  aöißa.  Nicht  Über  die  Identität  von  Gott  und  Welt  also 
handelt  die  Stelle,  sondern  nur  über  die  Körperlichkeit  oder  Unkörperlichkeit 
der  Gottheit. 

')  Über  diese  Bedeutung  von  x6a/xos  vgl.  Diog.  VII  138.  Arius  Didym.  fr. 
29  (Dox.  p.  464,  14)  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV,  15, 1.  p.  817  G  mit  der  Diels'schen 
Ergänzung.     Clemens  Alex,  ström.  V  14,  105  (vol.  III,  p.85,  7  Dind.). 

■^)  Diog.  VII  137  (Ghrysipp.  fr.  17  Gercke).  Arius  Didym.  fr.  29  (Dox.  464, 
13  f.  u.  17  f.)  bei  Euseb.  pr.  ev.  XV  15,  1.  3.  p.  817  G. 


Stoiker,     b^  Stoff  u.  Kraft.  —  Materie  u.  Gottheit.  363 

und  sein  Substrat  (die  ovüi'a)  nicht  verschiedene  Dinge  sind, 
so  sind  sie  doch  auch  nicht  dasselbe  ^).  Gott  und  sein  Sub- 
strat sind  darum  nicht  geschieden,  wohl  aber  unterschieden.  Als 
oifOitt  idmq  noiä  schliesst  er  das  Substrat  oder  die  Materie  ein; 
als  blosser  rroiög  (sc.  Xöyog)  gedacht,  steht  er  dagegen  dieser  als 
zweites  Princip  gegenüber  2).  Freilich  kehrt  auch  hier  eine  schon 
von  den  antiken  Kritikern  ^)  hervorgehobene  Schwierigkeit  wieder, 
die  nun  einmal  von  dem  stoischen  System,  in  dem  nur  für  Kör- 
per Raum  bleibt,  unabtrennbar  ist.  Wie  die  Stoiker  auf  dem 
physikalischen  Gebiete  keine  Qualität  am  Körper  denken  können, 
die  nicht  selbst  wieder  ein  feinerer  Körper  wäre  ^),  so  ist  ihnen 
auch  die  Gottheit  für  sich  Körper,  müsste  also  neben  der  Materie, 
welche  ihr  Substrat  bildet,  consequenter  Weise  noch  eine  eigene 
Materie  einschliessen,  durch  die  ihre  Körperlichkeit  in  sich  con- 
stituiert  wird. 

Aber  nicht  nur  der  Stoff  ist  nach  stoischer  Lehre  von  der 
Kraft,  die  Welt  von  Gott  unabtrennbar;  es  kann  auch  ebensowenig 
die  Kraft  von  der  JMaterie  genommen  werden.  Trotz  der  logi- 
schen Unterscheidung  beider  Principien  bleibt  doch  physisch  die 
Materie  stets  mit  der  Kraft  zur  Einheit  verbunden.  So  kehrt  der 
Stoicismus,  wie  schon  die  Alten  hervorheben,  vom  aristotelischen 
Duahsmus  der  Sache  nach  auf  den  Standpunct  des  Hylozois- 
mus  zurück^).  Wenn  nicht  mehr  eine  erste  Ursache  ausser 
der  Materie  angenommen  wird,  so  hört  die  Materie  auf,  in  Wahr- 


^)  Arius  Didym.  fr.  27  (Dox.  p.  463)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  43ti  (nacb  Posido- 
nixis) :  obgleich  nicht  ravTÖ,  sind  noiov  Idi'oyg  und  ovaia  doch  nicht  fzt^a,  da  sie 
ja  denselben  Raum  einnehmen  und  da  das  noiov  Idicos  einen  Teil  der  oi'ala 
bildet  (der  Teil  ist  nämlich  nach  stoischer  Lehre  weder  verschieden  vom  Gan- 
zen, noch  identisch  mit  ihm:  Sext.  Enip.  adv.  math.  1X336;  XI  24).  Letztere 
Bestimmung  gilt  natürlich  nur  von  den  Kinzelindividuen,  die  einen  Tei  der 
allgemeinen  Substanz  ausmachen.  Der  All-Gott  als  das  die  gesamte  Welt- 
substanz in  sich  befassende  Individuum  muss  die  ganze,  dui'cli  den  Aoyoc  be- 
stimmte ovaia  sein. 

2)  Vgl.  über  dies  Verhältnis  der  stoischen  Kategorien  Trendelen  bürg,  Gesch. 
d.  Kategorienlehre,  S.  220  f. 

3)  Vgl.  Plut.  de  cornm.  not.  48,  p.  1085  G.  Plot.  enn.  VI  1,  '2i5  27.  p.  257, 
19.  258,  19 — 20  Müller  (an  ersterer  Stelle  ist  or  nach  aäifia  zu  stellen).  Al- 
binus,  öiäaaxalixos,  c.  10  Schi. 

*)  S.  S,  349. 

*)  Vgl.  Simpl.  in  categ.  fol.  78  B  und  die  in  den  folgenden  Anmerkungen 
citierten  Stellen. 


SM  Viertor  Absclinitt.     Epicuroer  und  Stoiker. 

holt  (logen  st  and  ciiior  göltliclieii  Thüligkeit  zu  sein.  Sie  bildet 
dann  nach  einer  treffenden  Bemerkung  Plotin's  alles  aus  sich, 
wie  der  Tänzer  aus  sich  selbst  heraus  die  verschiedenen  Tanz- 
liguren  formt  ^).  Sie  ist  es,  die  auf  sich  selbst  wirkt  und  sich 
selbst  vollendet  ^).  Die  von  den  Keimkräften  durchzogene  Materie 
der  Stoiker  verhält  sich  nicht  mehr,  wie  die  platonische  und 
aristotelische,  als  das  Aufnehmende  gegenüber  den  Formen,  gleich 
dem  Wachs,  in  welches  das  »Siegel  eingedrückt  wird;  sie  lässt 
vielmehr  selbst  aus  ihrem  Schoogse  die  Formen  hervor- 
spriessen  ^). 

Unter  diesen  Verhältnissen  konnten  die  Stoiker  um  so  weni- 
ger an  der  Folgerung  festhalten,  in  welcher  der  platonisch-aristo- 
telische Dualismus  seinen  schärfsten  Ausdruck  fand  ^),  dass  die 
Materie  als  das  Unvernünftige,  blinder  Notwendigkeit  Unterliegende 
für  die  Vernunft  den  Widerpart  bilde,  dass  sie  das  erst  zu  über- 
windende Unvollkommene,  der  Ursprung  mancherlei  Übels, 
sei.  Sie  bestreiten  dieses  in  physischer,  wie  in  ethischer  Bezie- 
hung. Weder  setzt  die  Materie  der  gestaltenden  Vernunft  einen 
Widerstand  entgegen,  infolge  dessen  diese  den  unfolgsamen  Stoff 
nur  unvollkommen  bewältigen  kann,  noch  ist  sie  als  Grund  einer 
Trübung  des  Geistes,  den  die  Stoiker  ja  selbst  körperlich  fassen, 
Urquell  des  Bösen.  Freilich  ist  die  Materie,  die  in  sich  ja  noch 
aller  Gestaltung  entbehrt,  auch  noch  nichts  positiv  Gutes;  viel- 
mehr ist  sie  als  das  noch  Unbestimmte  weder  gut  noch  böse, 
sondern  indifferent  •\).  Aber  dieser  unbestimmte  Weltstoff  ist 
bildungsfähig  und  folgsam  gegen  die  aihvaltende  Vernunft,  die 
als  gute  nur  Gutes  aus  ihm  hervorbringen  kann  ^).  Spricht  auch 
Seneca  gelegentlich  sich  dahin  aus,  dass  Gott  nichtalle  Übel  zu  be- 
seitigen vermöge,  weil  er  die  xMaterie  nicht  habe  umwandeln  können "'), 


1)  Plot.  enn.  VI   1,  27.  p.  2.i8,  20—2.59,  (!. 

2)  Procl.  in  Alcib.  pr.  col.  422,  31—34  Cous^. 

«)  Ghaicid.  in  Tim.  c.  321,  p.  34.5,  13 -IG  Wrobel. 

*)  S.  S.  205.  207.  2(;3.  279  ff. 

^)  Plut.  de  comm.  not.  c.  34,  p.  1076  G — D.  Numenius  (Thedinga  p.  50 f.) 
bei  Chalcid.  c.  296.  p.  325,  8—10  Wrobel;     c.  297,  p.  325,  17—19;    326,  2—3. 

")  Antonin.  VII  1.     Seneca  epist.  65,  2. 

')  Seneca  de  prov.  5,  9  (vgl.  6,  6);  nat.  quaest.  I  pro].  16.  Anders  Ghrysipp 
hei  Plut.  de  Stoic.  rep.  c.  36.  p.  1051  B  und  l)ei  Gell.  noct.  Att.  VII  [VI]  1,  10; 
s.  d.  folg.  Anm. 


1 


Stoiker,     b)  Stoff  u.  Kraft.     Stoischer  Hylozoisnius.    Die  Materie  u.  d.  Böse.     365 

SO    ist   das    ein  vorübergehendes  Platonisieren  i),    das   gegenüber 
der  festen  Schuldoctriii  nicht  ins  Gewicht  fällt  ^). 

So  schliesst  die  Durchführung  der  stoischen  Lehre  von  Stoff 
und  Kraft  mit  dem  vollen  Durchbruch  des  naiven  pantheistischen 
Hylozoisnius  durch  alle  dem  aristotelischen  Dualisnms  entlehnten 


'}  Heinze  a.  a.  0.  S.   138. 

*)  Die  Fragenach  dem  Ursprung  des  Übels  und  des  Bösen  liat  für  die  Stoiker 
überhaupt  nicht  die  Wichtigkeit,  wie  für  die  mehr  auf  das  Religiöse  gerichteten 
Platoniker  und   Neuplatoniker.      Um    ihren    Pantheismus   und  sittlichen  Deter- 
minismus nicht  Lügen  strafen  zu  müssen,  suchen  sie  durch    eine    oft  seltsame 
Teleologie  die  Wirklichkeit  desselben  möglichst  wegzudisputieren  (Zeller  III*  a, 
171  ff.).    Da  dieses  nun  aber  doch  nicht  vollständig  gelingen  konnte,  sahen  sie 
sich  genötigt,   zu  zeigen,  wie  die  Existenz  des  Bösen  mit  der  vernünftigen  Ein- 
richtung der  Welt  im  Einklänge  stehe  (Flut,  de    comm.    not.  c.  13,  p.  1065  B  ; 
de  rep.  Stoic.  c.  35,   p.    1050  F).     Namentlich    Ghrysipp    hatte    sich    in    seiner 
Schrift  über  die  Vorsehung  mit  diesem  Problem  beschäftigt  (die  einschlägigen 
Fragmente  bei    A.   Gercke,    Ghrysippea.    Jahrb.    f.  class.  Phil.    XIV.  Suppl.-Bd. 
1885.  S.  712  f.).     Er  sucht  die  Notwendigkeit  des  Bösen    daraus    zu     erweisen, 
dass  das  Gute  ohne  diesen  seinen  Gegensatz  nicht  existieren    könne.      So     sei 
die  Gerechtigkeit  anschaulich  nur  denkbar  als  Negation  der  Ungerechtigkeit,  die 
Tapferkeit  als  Negation  der  Feigheit  u.  s.  w.  (Ghrysipp  bei  Gellius,  noct.  Att.  VII 
[VI]  1,  3-4;  vgl.  Plut.  de  rep.  Stoic.  c.  36,  p.  1051  B;  de  comm.  not.  c.  13,  p. 
1065  B;  c.  16,  p.  1066  D.  Schon  Plutarch  hat  richtig  hervorgehoben,  dass  hier 
die  Notwendigkeit  des  Denkens  und  die    Notwendigkeit  des  Seins    verwechselt 
werde  ;  vgl.  die  von  ihm  de  comm.  not.  c.  13,  p.  1065  B  gegebenen  Beispiele). 
Ferner  erinnert  Ghrysipp  daran,  dass,  was  vom  Standpuncte  des  Einzelnen  aus 
übel  und  böse  erscheint,  doch  für  das  Ganze  seine  Bedeutung  habe    (Plut.    de 
Stoic.  rep.  c.  44,  p.  1054  F;    c.  47,  p.    10.i6  E);    wie   ein  Komödientitel  oft  an 
sich  lächerlich    erscheine,     mit    dem    Ganzen    zusammengehalten    aber   dessen 
ästhetischen  Eindruck  steigere  i^Plut.  de  comm.  not.  c.    14,  p.    1065    D).     Aber 
woher  kommt  denn  dieses  Übel,  welches  in  der  Welt    einen    notwendigen  Be- 
standteil   bildet?     Denn    dass    die   göttliche  Vorsehung  es  positiv  verursache, 
durfte  auch  Ghrysipp  nicht  zugeben.    Der  von  Eudemus  dem  Plato  beigelegten 
(Plut.  de  an.  in  Tim.  proer.  c.  7,  p.  1015  D;   s.  oben  8.  205  Anm.    2)  Ansicht, 
dass  die  bestimmungslose  Materie  Grund  der  Unvollkommenheit    sei,    wider- 
spricht   Ghrysipp ;    denn    das    Bestimmungslose  könne  nicht  bestimmende  Ur- 
sache sein  (de  Stoic.  rep.  c.  34,  p.  1076  G— D;    mit  Unrecht  will  Zeller  IIU^  b, 
170  aus  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6, 4  f.  p.  1014  f.  folgern,  dass  auch  die  Stoiker  jene  an- 
geblich platonische  Anschauung  geteilt    hätten).    Er    selbst    fasst    die    Un Voll- 
kommenheiten in  den  Wirkungen  der  Natur  als    etwas,    was    nicht    in    deren 
Absicht  liegt,  sondern  nur  als  Nebenerfolg  (xarü  na(iay.oXov&r,an-,  Gell.  noct.  Att. 
VII  [VI]  1,  9  —  Ghrys.  fr.  28  Gercke;    vgl.  Plut.  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6,  p. 
1015  B)  ihr  "W  erk   begleitet.     Daraus  z.  B.,    dass   die  Natur  manche   Knochen 
des  Kopfes,  um  sie  für  die  hohen  Functionen  desselben    geeignet   zu    machen, 


3(')()  Vierler  Abschnitt.    Epicureer  und  Stoiker. 

Begriffe.  Noch  bestimm Icr  zeigt  sicli  dieser  Rückschlag  in  der 
stoischen  Kosmogonic  und  der  Stellung,  welche  die  Materie 
in  dieser  einnimmt. 

c.   Die  Materie  im  Weltprocess. 

Da  den  Stoikern  ein  Werden  aus  nichts  so  unmöglic?i  er- 
scheint, wie  ein  Vergehen  in  nichts,  so  muss  die  Materie  in 
gleicher  Weise  unentstanden  und  unvergänglich  sein,  wie 
die  Kraft  i).  Denn  der  Ausweg,  dass  Gott  die  Materie  bilde, 
den  Seneca  einmal  als  eine  mögliche  Annahme  streift  2),  ist  der 
Stoa  als  solcher  gänzlich  fremd. 

So  wenig  die  Materie  im  Ganzen  entsteht  oder  vergeht,  so 
wenig  ein  Teil  derselben.  Die  Menge  des  Stoffes,  d.  h.  der  Sub- 
stanz   nach   stoischer  Kategorienlehre,  bleibt  daher  stets  dieselbe. 


sehr  fein  und  klein  gestaltete,  ergiebt  sich  als  Nebenfolge  die  leichte  Verletz- 
barkeit derselben  (Gell.  a.  a.  0.  c.  1,  7—13).  Für  das  moralisch  Böse  war 
damit  indes  noch  keine  Erklärung  gegeben.  Hier  gilt  der  Vorwurf  des  Chal- 
cidius  (in  Tim.  c.  297;  vgl.  c.  298),  die  Stoiker  sähen  in  der  , Verkehrtheit" 
(perversitas)  die  Brutstätte  alles  Übels;  woher  aber  diese  Verkehrtheit  käme, 
zeigten  sie  nicht.  —  Wenn  nun  aber  jener  „Nebenerfolg"  weder  aus  der  Ab- 
sicht der  bewirkenden  Ursache,  noch  aus  der  Natur  des  Stoffes  (was  nur 
Seneca  lehrte;  s.  o.  S.  364  Anin.  7j  sich  ergiebt,  so  hat  er  überhaupt  kei- 
nen Grund.  Nach  der  realistischen  Anschauung  des  Altertums  ausgedrückt, 
hiess  das:  die  Stoiker  suchen  den  Grund  des  Bösen  im  Nichtseienden  (Plut. 
de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6,  p.  1015  B;  de  comm.  not.  c.  84.  p.  107G  D).  Machte 
man  Ernst  aus  dieser  Anschauung,  so  führte  dieselbe  durch  leicht  zu  verfol- 
gende Zwischenglieder  zu  der  Lehre,  dass  das  Böse  überhaupt  etwas  Negatives, 
die  Beraubung  des  Guten,  sei.  Diese  Ansicht  liegt  zugrunde,  wenn  die  Stoiker 
nach  Simplicius  in  categ.  fol.  58A^B  das  Wesen  des  Bösen  in  eine  Kraft- 
losigkeit, ein  Unvermögen  {ailrvu/Lun)  setzten.  Freilich  wird  Hoyer  (De  An- 
tiocho  Ascalonita.  Bonnae  1883.  p.  55)  Becht  haben  mit  der  Behauptung,  dass 
diese  Bestimmung  des  Bösen  auf  die  spätere  Entwicklung  der  Stoa  von  Anti- 
pater  ab  zu  beschränken  sei,  wo  die  Schule  sich  mehr  dem  Piatonismus  näherte. 

1)  Ghalcid.  in  Tim.  c.  289.  292.  293.  Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  457)  bei 
Stob.  ecl.  I,  p.  322  (von  Zeno);  fr.  37  (Dox.  p.  4G9)  bei  Euseb.  praep.  ev. 
XV  19,  2—3.  p.  821  A— B.  Antonin.  V  13.  Galen,  qu.  qualit.  s.  incorp.  c.  6. 
XIX  478  med.  Kühn. 

-)  Seneca.  nat.  quaest.  1  prol.  g.  E.:  quam  utile  existimas  ista  cognoscere 
.  .  .  quantum  deus  possit,  materiam  ipse  sibi  formet,  an  data  utatur. 
Vgl.  Baur,  Drei  Abhandlungen  zur  Gesch.  d.  alten  Philos.,  hrsg.  v.  Zeller  Leip- 
zig 1875.     S.  457. 


Stoiker,     c)  Die  Materie  im  Weltprocess.  367 

Was  ZU-  oder  abnimmt,    sind   nur   die   Individuen;    die   Gesamt- 
substanz dagegen  bleibt  in  allem  Wechsel  constant  i). 

Bleibt  aber  auch  die  Materie  ihrer  Masse  nach  unveränder- 
lich, so  sind  ihre  Zustände  doch  in  fortwährendem  Wechsel  be- 
griffen 2).  Das  gilt  für  das  Einzelne  innerhalb  unserei-  Weltzeit,  wie 
für  den  Wechsel  der  Weltperioden.  Den  Ausgang  der  jedesma- 
ligen Weltentwicklmig  bildet  das  Urfeuer  oder  Urpneuma,  wel- 
ches die  beiden  Principien,  die  gestaltende  Kraft  oder  die  Gott- 
heit und  den  bildsamen  Stoff  oder  die  Materie,  als  Einheit  in  sich 
einschliesst  ^).  In  diesem  Zustande  ist  der  gesamte  Weltstoff 
Feuer  und  insofern  in  die  Gottheit  zurückgezogen.  Das  Urpneu- 
ma bildet,  wie  die  stoische  Kosmogonie,  teilweise  wenigstens  in 
Viberraschendem  Anklang  an  moderne  Theorien,  annimmt,  eine 
ungeheure  feurige  Dunstmasse,  welche  an  Ausdehnung  die  des 
jetzigen  Weltgebäudes  um  viele  tausend  mal  übertrifft,  indem  sie 
sich  weithin  auch  durch  den  Raum  erstreckt,  der  jetzt  als  Leeres 
unsere  Welt  umgiebt*).  Aus  dem  Urfeuer  bildet  sich  die  Welt, 
indem  dasselbe,  wie  die  Stoiker  ganz  in  der  Weise  der  alten 
Physiologen  erzählen,  zuerst  in  Luft^  dann  in  Wasser  sich  wandelt. 
Aus  dem  Wasser,  welches  durch  die  darin  verbliebenen,  dem 
Urfeuer  entstammenden  Keimkräfte  befruchtet  war,  haben  sich  dann 
die  vier  Elemente  unserer  Welt  gebildet,  indem  das  Schwerste 
als  Erde  niedersank,  während  von  dem  Übrigbleibenden  ein  Teil 
als  Wasser  verblieb,  ein  anderer  zu  Luft  verdunstete^  und  diese 
wieder  durch  teilweise  Verdünnung  zu  Feuer  sich  entzündete  •"'). 
Durch    die  Verbindungen    der  Elemente   unter  einander  und  ihre 


•)  Diog.  VII  150.  Arius  Didym.  fr.  20  (Dox.  p.  457  f.)  bei  Stob.  ecl.  I,  p. 
322—324  (von  Zeno  und  Chrysippj,  fr.  27  (Dox.  p.  462)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  434— 438 
(vonPosidon  und  Mne.sarch).  Piut.de  comm.  not.  c.  44,  p.  1083G  (wozu  vgl.  Zeller 
IIP  a,  95  Anm.).  Ghalcid.  in  Tim.  c.  29ä.  Vgl.  aucb  Aetius  II  4,  14  (Dox.  p. 
332)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  44:2;  Alex.  Aphrod.  nat.  quaest.  I  5. 

-)  S.  S.  339  f. 

^)  Aristodes  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  14,  1.  p.  816  D.  Vgl.  Epiphan.  adv. 
haer.  I  5  (s.  S.  364  Anm.  4). 

■•j  Gleomedes  meteor.  13,  p.  4  ed,  Bake.  Plut.  de  comm.  not.  c.  35,  p. 
1077  B.  Vgl.  Aet.  U  4,  14  (Dox.  p.  332  b  14)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  442.  Ebd. 
II  9,  2-3  (Dox.  p. 338)  bei  Plut.  pl.  II  9;  Stob.  ecl.  J,p.  390;  Euseb. pr.  ev.  XV,  40, 
2-3.  p.  844  D.  Arius  Didym.  fr.  37  (Dox.  p.  469)  bei  Eus.  pr.  ev.  XV  19,  1, 
p.  820  B.     Ps.-Galen.    bist.  pbil.  c.   17.  XIX  242  Kühn  (Dox.  p.  6(l9). 

^;  Zeller  IIF  a,  149  ff. 


iiG8  Viertel-  Al)scliiiitt.     Epicureer  und  Stoiker. 

Waiidlimf,'on  sind  die  übrigen  Stoffe  der  Dinge  entstanden  i).  Nur 
ein  liest  des  Ürieuers  gelit  nicht  in  diesen  Wandlungsprocess 
ein.  Er  bleibt  als  Äther  am  Umfang  der  Welt  und  bildet  das 
i]y{-liorix6r  dieser  ^). 

Gehen  wir  nälio-  auf  die  Art  des  Hervorgangs  des  Einzelnen 
aus  dem  Urfeuer  ein,  so  zeigt  sich  hier  ein  unverkennbares 
Schwanken  zwischen  der  alten  physiologischen  und  der  aristote- 
lischen Anschauiuig.  Der  alten  Naturphilosophie  entspricht  es, 
wenn  das  Feuer  als  das  Element  x«i'  e'^oxr^v  bezeichnet  wird, 
aus  dem  alles  geworden  sei  2),  dem'  aristotelischen  Dualismus 
von  Form  und  Materie,  wenn  es  heisst,  durch  Wandlung  der 
Substanz  (ovoi'a),  d.  h.  der  qualitätslosen  Materie^),  bildeten 
sich  aus  dem  Feuer  die  vier  Elemente  ^).     Ebenso  gehört  es  wie- 


')  Stein  I  30  vgl.  aucli  S.  32)  nimmt  an,  das  Elementarfeuer 
sei  nacti  stoisclier  Lelire  die  erste  Wandlungsform  des  künstlerischen  Feuers. 
Es  gehe  das  ("Anrn.  34)  ganz  unzweideutig  aus  einer  bisher  nicht  beachteten 
Stelle  hervor,  Origenes  philosophum.  p.  311  ed.  Miller:    dnoiov  /xev  oi-v  xui  iv6g 

aiöauTog  ti]v  r/nv  ö).'nv  arvfom'jauvio  ytvfaiv  ol  Zrcuy.ol.  apy-ij  yaQ  tmv  okuiv  xut' 
uvtovg  iOTiv  (Stein    mit   Miller  aiiors  tariv)  r/   anniog  vkri    y.al   äi    oXoyp  rQenei  '  /x(- 

Taßa?J.or'a7]g  d'i  avrrjg  yivfrai  tttq  m]Q  rätDQ  yij.  Auf  die  Vertrautheit  des  Orige- 
nes aber  mit  der  stoischen  Pliilosophie  und  Terminologie  mache  auch  Eucken, 
Gesch.  d  phil.  Terminol.  S  45,  aufmerksam.  —  Diese  Anmerkung  Stein's  ent- 
hält mehreie  Ungenauigkeiten.  Denn  1)  hat  die  fragliche  Schrift,  von  der 
übrigens  nur  das  erste  Buch  den  Namen  „Philosophumena"  führte  (Diels, 
Doxogr.  p.  144,  1),  jedenfalls  nicht  Origenes,  sondern  wahrscheinlich  Hippoly- 
tus  zum  Verfasser,  weshalb  "J  ilie  Berufung  auf  die  Vertrautheit  des  Origenes 
mit  der  stoischen  Philosophie  und  Terminologie  ohne  Belang  ist.  Ferner  ist 
3)  die  betreffende  Stelle,  wie  auch  Miller  in  der  Anmerkung  bemerkt,  nichts 
als  ein  Excerpt  aus  Sextus  Emp.  adv.  math.  X  312  (nach  dem  i^  dnoior  und 
TQSTTTri  zu  verbessern),  in  dieser  Gestalt  aber  4)  nicht  „bisher  nicht  beachtet", 
sondern  z.  B.  von  Zeller  IIP  a,  130,2  gehörigen  Orts  vermerkt.  Endlich 
folgt  5)  aus  derselben  überhaupt  nicht,  was  Stein  aus  ihr  ableitet.  Denn  wie 
wir  von  vorn  herein  als  möglich  und  gegenüber  den  ausdrücklichen  Angaben 
von  Arius  Didym.  fr.  38  als  wirklich  annehmen  müssen,  soll  bei  Hippolyt  die 
Beihenfolge  der  Elemente  nicht  eine  genetische  sein,  sondern  die  Elemente 
sind  ihrer  innern  Verwnndtschaft  nach  logisch  geordnet. 

-)  Vgl.  Zeller  IW    a,  151,  1.     Stein  I  33  f. 

')  Arius  Didym.  fr.  21  (Dox.  p.  458,  15-17)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  312  (nach 
Ghrysipp).  Die  Alhetese  auch  dieser  Stelle  bei  Hirzel  II,  740  f.  wird  mit  Recht 
von  Wachsmuth  in  seiner  Ausgabe  verworfen. 

*)  die  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  312  (vor  dem  S.  3G7  Anm.  5  Gitiertenj 
ausdrücklich  genannt  wird. 

'')  Diogen.  VII  136.  142.     Zeno  bei  Arius  Didym.  fr.  38;    vgl.    Aet.   I  7,  i24 


Stoiker,     c)  Die  Materie  im  \\'eltprocess.  ä69 

derum  ganz  in  den  Kreis  der  alten  naturphilosophischen  Anschau- 
ungen, wenn  die  Bildung  der  Erde  als  Verdichtungs-,  die  der 
Luft  und  des  elementarischen  Feuers  als  Verdünnungsprocess  ge- 
fasst  wird  ^).  Zugleich  fügt  sich  beides  der  stoischen  Tonuslehre 
aufs  beste  ein.  Von  den  zwei  Bewegungen  des  Pneuma,  der 
contractiven  und  expansiven  2),  wiegt  im  Urzustände  die  letztere 
durchaus  über  und  giebt  dem  Urpneuma  jene  ungeheure  Ausdeh- 
nung ^).  Ein  Nachlassen  derselben  muss  eine  w^enigstens  teilweise 
Gontraction  und  infolge  dessen  eine  teilweise  Umbildung  in  die 
dichteren  und  schwereren  Elemente  herbeiführen  *).  Wenn  so 
die  Bildung  der  Elemente  in  der  Weise  des  Anaximenes  und  an- 
derer Physiologen  durch  Verdichtung  und  Verdünnung  eines  qua- 
litativ bestimmten  Urstofts  erklärt  wird,  so  ist  die  dem  Aristote- 
les entnommene  qnalitätslose  Materie  eigentlich  überflüssig.  Auf 
diesem  Standpuncte  gewannt  der  Gegensatz  von  Form  und  Mate- 
rie reale  Bedeutung  erst  in  in  dem  Gegenspiel  der  schon  gebil- 
deten Elemente,  von  denen  Feuer  und  Luft  als  die  activen,  ge- 
staltenden erscheinen,  Wasser  und  Erde  als  die  passiven,  die  da- 
her jenen  als  die  Materie  gegenüberstehen  •^). 

Aus  dem  Zustande  der  Gontraction  und  der  Entfaltung  kehrt 
der  Stoff  dereinst  beim  Weltenbrand  [sxnvQwaig)  in  den  ursprüng- 
lichen Feuerzustand  zurück  ^).  Diese  Katastrophe  tritt  ein,  wenn 
der  Stoff'  für  Neubildungen  versagt  und  auch  die  Kraft  dazu  nicht 
reicht  ').  So  verlangt  es  wenigstens  das  stoische  Schuldogma, 
mochte  auch  immerhin  Panaetius  mit  einigen  Andern  ^)  dem  ent- 


(Dox.  p.  303)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  60,  auch  wohl  Epiphan.  adv.  haer.  prooem. 
(T.  I,  p.  275,  19  Dindorf;  Dox.  p.  587,  16). 

1)  Arius  Didym.  fr.  38.     Gornut.  theol.  c.  17,  p.  28,  13—15  Lang. 

^)  S.  S.  351. 

»)  S.  S.  367. 

*)  Gensorin.  fr.  c.  1.  p.  l'^  Jahn  (citiert  S.  355.  Anm.  4).  Zum  Ganzen 
vgl.  Stein  I  50  f. 

°)  S.  S.  349  f. 

^)  Über  die  ixnvQwais  s.  Zeller  IIP  a,  1.52  ff. 

'•)  Ps. -Galen,  bist.  phil.  c.  17,  XIX  242  Kühn  (Dox.  p.  609,  15-18). 

")  Boethus  aus  Sidon  und  Diogenes  von  Babylon  in  seinem  Alter  (nicht 
in  seiner  Jugend,  wie  Stein  I  79  will);  vgl.  Ps.-Philo  de  incorrupt.  mundi 
p.  248  Bernays.  Auch  Zeno  von  Tarsus  war  zweifelhaft:  Arius  Didym.  fr.  36 
(Dox.  p.  469j  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  18,  3.  p.  820  B. 

Biieumkei':  Da«  Problem  der  Materie  etc.  24 


370  Vierter  Abschnitt.    Epicureer  und  Stoiker. 

gegengesetzten  platonischen  ')  Dogma  von  der  Ewigkeit  der  Welt 
zustimmen  -).  Indem  die  Weltverbrennung  wieder  zu  einer  un- 
geheuren explosiven  Ausdehnung  führt,  wird  die  Uhr  aufs  neue 
aufgezogen.  Darum  versagt  in  der  ryihniischen  Abwechslung 
von  (lontraction  und  Expansion  des  Alls  ^)  niemals  die  Spannung, 
durch  w^elche  die  Entfaltung  der  VVellsubstanz  oder  der  Materie 
bewerkstelligt  wird  *). 


')  Über  die  Abliängigkeit  des  Panaetius  von  Plato  vgl  Hirzel  II  2.")7  f. 
33:3  ff.  —  Wenn  aber  Proclus  in  Tim.  I,  p.  b(>  B  schreibt:  TlavaiTiot;  /xh  x<d 
alloi  xivii  TiZv  nXarmvixinv,  SO  rechnet  er  den  Panaetius  nicht  zu  den  Plat  ni- 
kern,  wie  Stein  II  218,  Anm.  212  anzunehmen  scheint  (.,das  aXloi  nvf;  t^iv 
nXarwvixinv  wirft  ein  grelles  Schlaglicht  auf  das  Verhältnis  des  Panaetius  zu 
Plato").  Vielmehr  ist  hier  nach  Krüger,  Gr.  Gr.  i;.  50,  4,  11  zu  übersetzen: 
Panaetius  und  ausserdem  einige  der   Platoniker. 

*)  Van  Lynden,  Disp.  hist.-crit.  de  l'anuetio  lihodio,  Lugd.  Bat.  1802,  p. 
68;  Zeller  IIP  a,  500  ff.;  Stein  I  78  ff.  (der  aber  den  S.  80  Anm.  121  als  Zeu- 
gen angeführten  Epiphanius  nicht  zum  Epiphanes  hätte  machen  sollen). 

')  Vgl.  Aet.  II  4,  14  (Dox.  p.  332  b  14)  bei  Stob.  ed.  I,  p.  442. 

•')  Die  Belege  S.  350,  Anm.  2. 


rüiifter  Abschnitt. 

Der  leuplatoDisinus  und  dessen  Vorläufer. 

1.  Die  Vorläufer  des  Neuplatouismns. 

So  kräftig  die  mittlere  Academie  mit  ihrer  kühlen,  halb- 
skeptischen Kritik  der  dogmatischen  Systeme  auf  der  einen,  ihrer 
Theorie  der  Wahrscheinlichkeit  auf  der  andern  Seite  in  die  Ent- 
wicklung der  Erkenntniskritik  eingegriffen  hat,  so  hat  sie  für 
die  positive  Weiterführung  des  Problems  der  Materie  doch  so 
wenig  geleistet,  wie  die  volle  Skepsis  der  alten  in:id  neuen  Pyrrho- 
neer  und  die  Erfahrungslehre  der  Empiriker.  Aber  auch  selbst 
die  negative  Kritik  dieser  Schulen  hat  beim  Begriffe  der  Materie 
noch  nicht  eingesetzt  ';.  Für  unsere  Darstellung  kommen  diesel- 
ben  daher  nicht  inbetracht. 

Innerhalb  der  platonischen  Schule  vollendet  sich  die  durch 
Philo  von  Larissa  vorbereitete  Abkehr  vom  Skepticismus  durch 
Antiochus  von  Ascalon.  Gegenüber  der  skeptischen  Taktik, 
welche  das  eine  System  durch  das  andere  bestritt  und  so  diesel- 
ben sich  gegenseitig  aufheben  liess,  sucht  er  die  positive  Wahr- 
heit in  der  Übereinstimumng  der  Systeme  ^).  Dieser  zerfahrene 
Eklekticismus,  bei  dem  factisch  der  in  den  zeitgenössischen  Schu- 
len noch  lebende  Stoicismus  obenan  bleibt  ^),  giebt  auch  seiner 
Lehre  von  der  Materie  den  Character.     Nach  der  Darstellung  des 


*)  In  den  beiden  Werken  des  Sext  us  Empirien s  z.  B.  findet  sich  kein 
Ansatz  zu  einer  eigentlich  erkenntnistheoretischen  Kritik  dieses  Begriffes  im 
allgemeinen,  die  über  einzelne  Bemerkungen  gegen  specielle  Behauptungen  der 
verschiedenen  dogmatischen  Schulen  hinausginge. 

ä)  Zeiler  IIP  a,  602  1  und  2. 

•\)  Gic.  Acad.  prior.  II  43,  132. 

24  * 


372        Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

Varro  bei  Cicero  ')  unterscheidet  Antiochus  ganz  in  stoischer 
Weise  die  thätige  und  die  leidende  Natur  oder  Kraft  und  Materie. 
Beide  werden,  gemäss  dem  stoischen  Materiahsmus,  aber  sehr 
unplatonisch,  als  untrennbar  betrachtet;  denn  wie  die  Materie 
ohne  Kraft  keinen  Zusammenhalt^  so  habe  die  Kraft  ohne  Materie 
keinen  Ort,  würde  also  nirgendwo,  d.  h.  nicht  wirklich  sein. 
Hinsichtlich  der  vier  Elemente,  die  in  bewegende  und  leidende 
unterschieden  werden,  schliesst  sich  Antiochus  ganz  an  die  zeit- 
genössische stoische  Lehre  —  über  deren  Beziehung  zu  Aristote- 
les oben  2)  gehandelt  wurde  —  an.  Ebenso  hinsichtlich  der  nä- 
hern Bestimmung  der  Materie,  die  als  das  allem  Besondern  zu- 
grundeliegende, an  sich  form-  und  qualitätslose,  unvergängliche, 
ins  Unendliche  teilbare  Substrat  gefasst  wird,  aus  dem  durch  die 
hin  und  her  sich  bewegende  Kraft  (vis)  oder  Qualität  (qualitas) 
die  qualitativ  bestimmten  Körper  (qualia)  gebildet  werden.  In 
der  so  entstandenen  Welt,  wird  mit  den  Stoikern  gelehrt,  ist 
aller  Stoff  beschlossen  und  zu  ununterbrochenem  Zusammenhan- 
ge verbunden  (Continuität  der  Materie);  sie  ist  darum  in  Wahr- 
heit Eine  Welt. 

Das  Wenige,  was  in  diesen  Ausführungen  des  Antiochus  mit 
Plato  sich  berührt,  dürfte  der  Hauptsache  nach  von  den  Stoikern 
übernommen  sein,  die  jene  Lohrbestandteile  ihrerseits  durch  die 
Vermittelung  des  Aristoteles  empfangen  hatten.  Die  specifisch 
platonischen  Gedanken  traten  erst  dann  aufs  neue  mehr  in  den 
Vordergrund,  als  ein  eifrigeres  Studium  der  platonischen  Werke 
selbst,  welches  in  der  Abfassung  von  zahlreichen  Erläuterungs- 
schriften zu  platonisclien  Dialogen,  speciell  auch  zum  Timaeus, 
seinen  Ausdruck  fand,  die  ursprünglichen  platonischen  Anschau- 
ungen wieder  in  ihrer  Reinheit  kennen  lehrte. 

a.  Die    Platouiker. 

Im  allgemeinen  haben  auch  diejenigen  Vorläufer  des  Neupla- 
tonismus, welche  man  im  engern  Sinne  die  „Platoniker"  nennt  2),  ein 
Eudorus,  Albinus,  Atticus,  Taurus ,  Plutarch,  Maximus, 
Apul ejus  und  Andere,  es  über  einen  synkretistischen  Eklekticismus 


1)  Acad.  post.  I  (3,  24—7,  28. 
■'')  S.  349  f. 

■')  Über  ihre  Lehre  von  der  Materie  vgl.  auch  Möller,  Gesch.  d.  Kosmologie 
in  d.  griech.  Kirche  bis  auf  Origenes.     Halle  18G0.  S.  36  if. 


I 


Antiochus  von  Ascalon.  —  Die  Platoniker.     Charakteristik.  373 

nicht  hinausgebracht.  Auch  bei  ihnen  verbinden  sich  mit  den 
platonischen  peripatetische  und  stoische  Anschauungen,  zu  denen 
sich  mehrfach  auch  neupythagoreische  Elemente  gesellen.  Selbst 
denjenigen  unter  ihnen,  welche,  wie  Atticus,  gegen  die  Vermen- 
gung peripatetischer  und  platonischer  Lehren  eifern,  ist  der  Ver- 
such, sich  vom  Eklekticismus  wirklich  frei  zu  machen,  in  Wirk- 
lichkeit doch  nicht  völlig  gelungen  '). 

Für  das  Problem  der  Materie  indessen,  welches  uns  hier  be- 
schäftigt, tritt  jener  eklektische  Standpunct  nicht  so  stark  hervor, 
wie  anderswo.  Hier  wird  im  ganzen  die  Lehre  des  platonischen 
Timaeus  wiederholt.  Betrachten  wir  zunächst  die  wirklichen 
oder  scheinbaren  Abweichungen. 

Wenn  von  jenen  Piatonikern  die  Ausdrücke  „Materie"  (t'Ary) 
und  Form  {ndog)  ganz  in  der  Weise  des  Aristoteles  gebraucht 
werden  2),  so  liegt  darin  noch  nichts  der  Sache  nach  Unplatoni- 
sches^).  Wohl  aber  ist  dieses  der  Fall,  wenn  sie,  wie  schon  bei 
Besprechung  der  „primären"  Materie  des  Timaeus  hervorge- 
hoben *),  das  Verhältnis  der  Materie  zum  Raum  im  platonischen 


1)  Zeller  III »  a,  809  f. 

'-)  Z.  B.  Albinus,  (li^aay.ahxo?  c.  10,  p.  166,  3  Hermann  (Vgl.  Freuden- 
thal, Hellenistische  Studien.  Heft  3:  Der  Platoniker  Albinos  u.  d.  falsche  Al- 
kinoos.  Berlin  1871t.  S.  279).  Plutarch.  de  def.  orac.  c.  35,  p.  429  A;  de  an. 
proer.  in  Tim.  c.  3,  p.  1013  G,  u.  ö. 

■')  Der  Gebrauch  des  Wortes  f/Vlo?  im  Gegensatz  zu  vh^  führt,  wie  zuge- 
!>tanden  werden  muss,  bei  Albinus  allerdings  zu  einer  Modiflcation  auch  des 
Gedankens.  Dieselbe  betrifft  indes  nicht  so  sehr  die  Lehre  von  der  Materie, 
als  die  Ideenlehre.  Denn  während  Plato  Mia  und  ti(io?  synonym  gebraucht, 
will  Albinus  unter  ersterer  die  —  als  Gedanken  der  Gottheit  gefasste  (a.  a.  0. 
c.  9,  p.  163,  29 — 31)  -  Idee,  unter  n'i)'og  dagegen  die  von  der  Materie  untrenn- 
bare, im  Artsbegriff  erfasste  Form  vei  stehen  (,a.  a.  0.  c.  3,  p.  155,  34:  ziZv 
voijroSv  TU  fifv  TiQuna  vndQyti,  o'is  at  Ifi's'at,  ra  (fi  (feviiQa,  oog  rä  f  i'(fi]  td  ini 
Tji  vXj]  d)[o')piaTa  ovia  rijs  ('Aj;?).  Ähnlich  auch  Philo  (s.  Heinze,  Lehre  vom  Logos, 
222,  3),  Seneca,  ep.  18,  18  ff.,  der  angebliche  Locrer  Timaeus  (s.  S.390  Anm.  5) 
und  manche  Neuere.  Vgl.  Zeller  II  ^  552,  2,  der  das  Unplatonische  dieser  Un- 
terscheidung nachweist. 

■*)  S.  S.  152.  Auch  bei  Albinus  a.  a.  0.  c.  10  ff.  findet  sich  keine 
Spur  von  einer  Einsicht  in  den  tiefern  Sinn  der  platonischen  Lehre.  Es  ist 
das  um  so  auffallender,  als  er  c.  13,  p.  1()8,  10  ff^  die  geometrische  Construction 
der  Elementarkörperchen  aus  Flächen  (s.  o.  S.  167 — 174)  in  ganz  dogmatischem 
Tone  wiedergiebt.  Die  Abweichung  von  Plato  ist  auch  Simplicius  nicht  ent- 
gangen, vgl.  phys.  IV,  p.  601,  17—23  (über  den  Begriff  der  dort  genannten 
„Platoniker"  bei  Simplicius  s.  S.  37.^)  Anm.  1). 


374         Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

System  verkennen  und  in  derselben  vielmehr  den  noch  formlosen 
raumfüllenden  Stoff  erblicken.  Sie  tragen  damit  stoische  An- 
schauungen in  die  platonische  Lehre  hinein.  Dem  entspricht  es 
auch,  dass  Plutarch  gelegentlich  nach  stoischem  Sprachge- 
brauch Materie  (vhj)  und  Sub.stanz  (oiiüi'a)  gleichbedeutend  setzt  '). 
Hier  bleiben  Albinus  und  Apulejus  dem  platonischen  Gedanken 
treuer,  wenn  sie,  im  Anschluss  an  die  aristotelische  Terminologie  2), 
die  Materie  wieder  körperlich,  noch  unkörperlich,  sondern  der 
Möglichkeit  nach  Körper  nennen  wollen  ^).  Dem  Stoicismus 
macht  Plutarch  übrigens  noch  ein  anderes  Zugeständnis.  Ob- 
schon  er  im  ganzen  an  der  platonischen  Ideenlehre  festhält  und 
ein  wahres  Sein  nur  dem  Ewigen  und  Unveränderlichen  *),  dem 
Veränderlichen  und  stets  Werdenden  dagegen  einen  blossen 
Schein  des  Seins  zuschreibt  ^),  so  erklärt  er  doch  andererseits 
dieses  Werden  in  der  Materie,  das  Bild  und  die  Nachahmung  des 
Seins  ß),  analog  den  stoischen  ^öyoi  oneQf.iarixoi ')  durch  ein  Hin- 
eintreten befruchtender  Ausflüsse  aus  der  Gottheit  in  die  Materie  ^). 
Gleichwohl  hindern  diese  Zugeständnisse  den  Plutarch  nicht,  dass 
er  an  anderer  Stelle  wieder  die  abstracteste  Fassung,  welche  der 
Begriff  der  ^(aterie  gefunden,  zu  der  seinen  macht.  In  Überein- 
stimmung mit  der  spätem  Form  der  platonischen  Lehre  und  im 
Anschluss  an  die  Neupythagoreer,  denen  er  ja  auch  sonst  in 
manchem  folgt,  bezeichnet  er  die  Materie  als  die  unbestimmte 
Zweiheit,  welche  als  das  Princip  der  Unbestimmtheit,  Formlo- 
sigkeit, Teilbarkeit,  der  Unordnung  u.  s.  w,  dem  Einen  als  dem 
Princip  der  Form  und  Ordnung  entgegengesetzt  ist "). 

»)  Plut.  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  5,  p.  1014  B.  D  (vgl.  c.  3,  p.  1013  C);  de 
def.  orac.  c.  25,  p.  424  A;  s.  o.  S.  152  Anm.S.  Vgl.  auch  Möller  a.  a.O.  S. 37— 40. 
Zu  bemerken  ist  indes,  dass  die  Materie,  von  der  Plutarch  hier  spricht,  schon 
als  beseelt  durch  die  Weltseele  gedacht  ist;   s.  S.  145  f.  und  u.  S.  378  f. 

2)  S.  S    239  Anm.  6. 

3j  Albin.  a.  ?.  0.  c.  8,  p.  1G3,  7.  Apul.  de  dogm.  Plat.  I  5,  p.  67,  10  Gold- 
bacher: ideo  non  putat  corpus,  .  .  .  sed  vi  et  ratione  .  .  corpoream. 

*)  de  EI  Delphico  c.  19,  p.  392  E. 

s)  ebd.  c.  18,  p.  392  A. 

6)  de  Is.  c.  53,  p.  372  F. 

■>)  Zeller  IIF  b,  172. 

*)  de  Is.  c.  53,  p.  372  F  (damit  vgl.  die  Erklärung,  vv^elche  Ghrysipp  von 
dem  Herabilde  zu  Samos  gab:  Orig.  c.  Gels.  IV  48 ;  s.  o.  S.  356  Anm.  5); 
c.  54,  p.  373  A. 

»;  Plut.  de  def.  orac.  c.  35,  p.  428  F  tf. 


Die  Platoniker.    Begriff  der  Materie.  375 

Wenn  sonach  die  Platoniker  mit  den  Stoikern  den  Stoff  und 
den  —  als  obj^ctiv  real  gedachten  —  Raum  unterscheiden,  so 
folgen  sie  diesen  auch  in  der  Ansicht,  dass  der  Raum,  d.  h.  der 
Abstand  {didoii-f.ia)  innerhalb  des  Weltganzen,  niemals  ohne  Kör- 
per sei.  Innerhalb  der  Welt,  behaupten  sie  mit  den  Stoikern 
gegen  die  Epicureer,  giebt  es  kein  Leeres  i).  In  diesem  Satze 
treffen  sie  zugleich  wieder  mit  der  Lehre  des  Timaeus  zusammen  2), 
welche  sie,  wie  nunmehr  zu  zeigen,  auch  im  übrigen  aufnehmen 
und  dem  Neuplatonismus  zuführen. 

Als  echte  Schüler  Plato's  und  Vorläufer  der  Neuplatoniker 
zeigen  sich  diese  Philosophen  in  dem  Kampfe  gegen  alle  Ansich- 
ten, welche  der  Materie  im  Gebiete  des  Seienden  mehr  als  den 
untersten  Platz  einräumen.  Dem  Materialismus  der  Stoiker, 
den  noch  Antiochus  von  Ascalon  unbedenklich  übernommen 
hatte  ^),  treten  sie  mit  aller  Entschiedenheit  entgegen.  Weder  ist 
Gott  körperhch  zu  denken,  führt  Albinus  aus,  da  er  dann  ja 
aus  Materie  und  Form  bestehen  müsste,  also  etwas  Abgeleitetes 
und  nicht  mehr  Princip  wäre  ^),  noch  die  Qualitäten  (TroiÖTrjTsg), 
da  dann  ausser  andern  Widersprüchen  ein  Körper  in  einem  an- 
dern als  seinem  Substrate  wäre  •'•).  Vielmehr  ist,  wie  der  Stoff 
als  qualitätslos,  so  die  Qualität  als  stofflos  zu  denken  ^). 

Aufgrund  des  Timaeus  '')  entwickeln  die  Platoniker  die  gleich- 
falls von  den  Neuplatonikern  aufgenommene  Lehre,  dass  die  Ma- 
terie bei  allem  Wechsel  der  von  ihr  aufgenommenen  Formen 
doch  unwandelbar  {argsmog)  bleibe.  Diese  Aufnahme  sich 
ablösender  Formen  bringe  nicht  auch  für  die  Materie  eine  Ver- 
änderung {ccXXoiuiOig)  herbei,  wie  eine  solche  die  Peripatetiker  ^) 
annahmen.     Denn  wie   solle    das  Qualitätsiose  seine  Qualität  än- 


»)  Simpl.  in  phys.  IV,  p.  571,  29—31;  vgl.  p.  601,  22-23.  Kann  hier  der 
Ausdruck  n?Mtwvty-oi  auch  weiter  gefasst  sein  (lambl.  I>ei  Stob.  ecl.  I,  p.  898 
rechnet  z.  B.  den  Porphyr  dazu;,  so  zeigt  doch  Albinus  a.  a.  0.  c.  13,  p.  169, 
10 — 11,  dass  damit  auch  die  Platoniker  in  unserni  Sinne  mitgemeint  sind. 

2)  S.  S.  179  f, 

3)  S.  S.  372. 

*)  Albinus  a.  a.  0.  c.  10  Ende. 

5)  A.  a.  0.  c.  11. 

6)  A.  a.  0.  c.  11,  p.  166,  21—23.  S.  oben  S.  353  Anm.  3. 
')  Plat.  Tim.  50  B.    Vgl.  oben  S.  130  Anm.  3. 

*)  Vgl.  das  S.  298  unten  über  Alexander  von  Aphrodisias  Angeführte. 


876  Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonisnius  und  dessen  Vorläufer. 

dem  1)?  Darum  wollten  sie  auch  nicht,  wie  die  Peripatetiker, 
sagen,  der  zusammengesetzte  Körper  bestehe  aus  Materie  und 
Form,  da  ja  nicht  beides  mit  einander  sich  verändere.  Er  be- 
stehe vielmehr  aus  der  Form  in  der  Materie  ^). 

Nur  zu  Wiederholungen  würde  es  führen,  wenn  alles  im 
einzelnen  aufgezählt  werden  sollte,  was  die  Platoniker  ohne  wei- 
tere Veränderung  aus  dem  Timaeus  übernonunen  haben,  wie  den 
Vergleich  der  qualitätslosen  Materie  mit  dem  geruchlosen  Öl,  das 
zur  Salbenbereitung  dient,  oder  mit  den  Stoffen  des  Bildners, 
Wachs  und  Thon  ^)  u.  dgl.  Selb-st  die  platonische  Gonstruction 
der  Elementarkörperchen  aus  dreieckigen  Flächen  wird  ganz  dog- 
matisch wiederholt  ^). 

Kommen  in  diesen  Dingen,  soweit  wir  sehen,  alle  Platoniker 
untereinander  überein,  so  bestehen,  wie  schon  bei  Besprechung 
der  platonischen  Lehre  berührt  wurde  •^),  verschiedene  Meinungen 
hinsichtlich  der  Frage,  ob  die  Darstellung  des  Timaeus  von  der 
zeitlichen  Bildung  der  Welt  aus  einer  voraufgehenden  chao- 
tischen Masse  im  eigentlichen  Sinne,  wie  die  Meisten  annahmen, 
oder  ob  sie  als  Mythus  zu  fassen  sei,  was  Eudorus  als  wahr- 
scheinlich  betrachtete  ^).    Dieselbe,    jedenfalls   aus   einer    Hinnei- 

^)  Simpl.  in  phys.  II,  p.  320,  20—30,  wo  auch  die  betr.  Tiniaeusstelle 
citiert  ist. 

^)  Simpl.  1.  c  Z.  30—32.  Dazu  stimmt  freilich  nicht  Albinus  a.  a.  0. 
c.  10,  p.  166,  3,  wo  es  ganz  aristotelisch  heisst:  nav  aöi/ja  acv()'iiaafiä  xi  ilvui  ix 
ze  vXijs  xai  zov  avv  avrfj   ei'dovg. 

3)  Albinus  a.  a.  0.  c.  8,  p.  162,  37—163,  2.  Plut.  consol.  ad  Apoll,  c.  10, 
p.  106  E  (vgl.  oben  S.  330  Anm.  4). 

*)  Albinus  a.  a.  0.  c.  13  (s.  oben  S.  373  Anm.  4).  Plutarch.  de  an. 
proer.  in  Tim.  c.  22,  p.  1023  C;  de  def.  orac.  c.  22,  p  422  B;  c.  31—34,  p.  426 
F  ff.;  c.  37,  p.  430  A— B.  Apuleius  de  dogm.  Plat.  1  7.  —  Plutarch  fügt 
übrigens  im  Gegensatz  zu  Atticus  (bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  7,  p  469  B  ff.)  den  vier 
von  Plato  angenommenen  Elementen  mit  Aristoteles  als  fünftes  den  Äther  hinzu 
und  baut  auf  diese  Fünfzahl  der  Elemente  eine  wunderliche  Theorie  von  fünf 
Welten,  deren  jede  je  einem  Elemente  entspreche;  vgl.  Zeller  III'*  b,  180  f.; 
Volkmann,  Leben,  Schriften  u.  Philos.  des  Plutarch  v.  Ghaeronea.  Berhn  1869. 
Bd.  II,  S.  274  f^-.  Nach  de  def.  orac.  c.  34,  p.  428  B-E  entsprechen  die  fünf 
geometrischen  Grundformen  der  sinnfälligen  Substanz  den  fünf  von  Plato  im 
Sophistes  aufgestellten  Principien  der  intelligibeln  Substanz,  der  Gubus  der 
Piuhe,  die  Pyramide  der  Bewegung,  das  Dodecaeder  dem  Seienden,  das  Icosaeder 
dem  Andern  und  das  Octaeder  dem  Selben. 

")  S.  S.  143. 

^)  Vgl.  meinen  Aufsatz  über  die  Ewigkeit  der  Welt  bei  Plato,  Philos.  Monatsh. 


I 


Die  Platoniker.     Bildung  der  Materie.  377 

gung  zum  Neupythagoreismus  hervorgehende  Sonderstellung  des 
Eudorus  tritt  auch  hinsichtlich  der  Frage  nach  der  Herkunft  der 
Materie  hervor.  Die  überwiegende  Mehrzahl  der  Platoniker  teilt 
die  dualistische  Voraussetzung  des  Timaeus,  dass  die  Materie  un- 
geworden  sei  ').  Nur  Eudorus  scheint,  hiervon  abweichend, 
nach  der  Weise  eines  Teils  der  Neupythagoreer  in  dem  Ur-Einen 
oder  der  Gottheit  den  gemeinsamen  Grund  der  Ideen  und  der 
Materie  gesehen  zu  haben  2). 

Auch  darüber  herrscht  keine  Einigkeit,  welche  Stellung  der 
Materie  bei  der  Frage  nach  dein  Ursprung  des  Üblen  in  der 
Welt  zuzuweisen  sei.  Den  Grund  des  Bösen  sieht  z.  B.  Harpo- 
cratio  im  Körper  ^).  Maximus  der  Tyrier  leitet  das  physische 
Übel  ab  aus  der  Materie,  aus  der  bei  der  Einwirkung  des  Welt- 
bildners auf  sie  mit  Notwendigkeit  Nebenwirkungen  sich  ergeben, 
die,  wenn  man  sich  nicht  auf  den  Standpunct  der  Gesamtheit 
erhebt,  als  Übel  erscheinen  ^).  Das  moralische  Übel  dagegen  (die 
lnox^r]Qia)  soll  sich  von  einem  Überwiegen  der  Begierlichkeit  oder 
des  Zornes,  also  der  sinnlichen,  vom  Körper  abhängigen  Natur, 
über  die  Vernunft  und  den  freien  Willen  herschreiben  ^).  In  der 
Materie  sieht  die  Wurzel  aller  Vergänglichkeit  und  alles  Übels 
auch  der  gewiss  nicht  den  Epicureern,  sondern  den  Piatonikern 
beizuzählende  Ghristenfeind  Gelsus  ^),  gegen  den  Origenes  eine 
Verteidigung  des  Christentums  geschrieben  hat. 

Alles  dieses  bevvegt  sich  im  echt  platonischen  Gedankenkreis  '). 
Eine    durchaus    verschiedene    Ansicht    dagegen    stellt    Plutarch 


XXIII,  1887,  S.  518.  Den  dort  gegebenen  Nachweisungen  ist  hinzuzufügen : 
Schol.  zu  Procl.  in  Plat.  rempubl ,  ed.  Schoell  (in:  Anecdota  varia  Graeca  et 
Latina,  ediderunt  Rud.  Schoell  et  Guil.  Studeniund,  Vol.  II.  Berol.  1886),  p.  18, 
26  (über  Atticus  und  Harpocratio),  wodurch  auch  Zeller  IIP  b,  223  f.  er- 
gänzt wird. 

')  So  Alticus  (Procl.  in  Tim.  p.  87  A),  Plutarch  ,de  an.  proer.  in  Tim.  c. 
5,  p.  1014  B)  u.  a. 

■}  S.  Zeller  IIP  a,  612,  3.     Vgl.  unten  S.  395. 

■')  lamblich.  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  896.  912. 

■*)  Maxim,  dissert.  XLI,  4.  Dazu  vgl,  was  S.  365  Anm.  über  C.hrysipp  aus- 
geführt wurde. 

'")  A.  a.  0.  §.  5.  Das  dort  gebrauchte  Bild  des  Wagenlenkers  nach  Plat. 
Phaedr.  246  A  ff. 

^)  Orig.  c.  Gels.  IV  65.  Über  Gelsus'  Lehre  von  der  Materie  vgl.  Rede- 
pennig,  Origenes.  Bd.  II.  Bonn  1846.  S.  135. 

')  S.  S.  205—207. 


378         Fünfter  Al)srhnitt.     Der  Neu])lalonismus  und  dessen  Vorläufer. 

auf  ^).  Einmal  zwar  macht  er  die  Materie,  welche  in  der  Priva- 
tion bestehe,  dafür  verantwortlich,  dass  sie  oft  das,  was  von  einer 
bessern  Ursache  vollbracht  werden  solle,  wieder  verjage  und  auf- 
löse 2).  Aber  w'o  er  den  Gegenstand  tiefer  untersucht,  stinmit  er 
den  Stoikern  •')  darin  bei,  dass  die  eigenschaftslose  Materie,  die 
jeder  Kraft  entbehrt,  eben  deshalb  auch  nicht  Ursache  des  Üblen 
sein  könne  ^).  Noch  weniger  könne  der  Weltbildner  Ursache 
des  Üblen  sein;  denn  er  ist  selbst  gut  und  sucht  alles  nach  Mög- 
lichkeit sich  zu  veriihnlichen  ^).  Auch,  kann  man  das  Übel  nicht 
mit  den  Stoikern  ^)  aus  dem  Nichtseienden  ableiten.  Wie  sollte 
es  denkbar  sein,  dass  so  viel  Böses  und  Übles,  so  viele  Unvoll- 
kommenheiten  in  der  Körperwelt  in  keiner  realen  Ursache  be- 
gründet seien,  sondern  nur  so  nebenbei  erfolgen  '')?  Deshalb  ist 
neben  Gott  und  der  Materie  ein  drittes  Princip  als  Ursache  des 
Üblen  anzunehmen,  wie  dieses  auch  Plato  nicht  übersehen  habe  ^), 
nämlich  die  bewegende  Kraft,  welche  in  der  noch  ungeordneten 
Materie  herrscht  und  sie  regellos  hin-  und  herbewegt.  Diese  ist 
es,  welche  der  Timaeus  als  „Notwendigkeit"  einführt,  auf  die  der 
Politicus  hinweist,  wenn  er  von  einem  zum  Unrechten  verleitenden 
Verhängnis  und  einer  eingeborenen  Begierde  der  Welt  redet,  und 
die  der  gereifte  Plato  in  den  Gesetzen  klar  und  deutlich  als  Welt- 
seele  bezeichnet  ^).     Schon    früher   ist    nachgewiesen,   wie  wenig 


')  Gerade  diese  ethisch-religiöse  Seite  des  Prohlems  der  Materie  hat  für 
Plutarch,  seiner  ganzen  Richtung  gemäss  idie  u.  a.  von  Hausrath,  Neutesta- 
mentl.  Zeitgesch.  2.  Aufl.  Heidelberg  1877.  IV,  309  ff.  in  lebendigen  Zügen  ge- 
zeichnet ist),  ein  besonderes  Interesse.  Wie  gleichgiltig  er  sonst  jener  Theorie 
gegenübersteht,  verrät  er  einmal  unwillkürlich.  Diejenigen,  bemerkt  er  de  def. 
orac.c.lO,  p. 414 F— 415  A,  die  entdeckt  haben,  dass  ein  Geschlecht  von  Dämonen 
zwischen  Menschen  und  Göttern  in  der  Mitte  steht  und  beide  mit  einander 
verbindet  und  im  Zusammenhange  erhält  (mag  nun  diese  Lehre  aus  der  Schule 
Zoroaster's,  von  Orpheus,  aus  Aegypten  oder  Phrygien  stammen)  haben  mehr 
und  grössere  Schwierigkeiten  gelöst,  als  Plato  durch  seine  Theorie  von 
der  Materie. 

2)  Plut.  de  def.  orac.  c.  9,  p.  414  D. 

3)  de  comm.  not.  c.  34,  p.  1076  G— D;  vgl.  S.  365  Anm. 
*)  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6—7,  p.  1015  A-B.  D. 

*)  ebd.  c.  6,  p.  1015  B. 

«)  S.  S.  364. 

')  S.  oben  S.  365  Anm. 

*)  de  an.  proer.  in  Tim.  c.  6,  p.  1015  B. 

")  S.  oben  S.  145.  Volkmann  a.  a.  0.  Bd.  II,  S.  65  f. 


Die  Platonlker.     Die  Materie  und  das  Üble.  379 

dem  Sinne  Plato's  gemäss  die  Auffassung  ist,  welche  Plutarch 
—  mit  dem  hinsichtlich  der  Annahme  einer  bösen  Weltseele 
Atticus  1)  und  Numenius  2)  übereinstimmen  —  hier  von  dem  Ur- 
sprung der  Unordnung  in  der  Körper-  und  Sinnenwelt  entwickelt  ^). 
Noch  weniger  als  diese,  immerhin  in  philosophischen  Begriffen 
sich  bewegende  Erklärung  entsprechen  dem  Geiste  nüchterner 
Forschung  die  orientalisierenden  Speculaiionen  Plutarch's  über 
den  Ursprung  des  Bösen.  Jenen  Streit  eines  guten  und  eines 
bösen  Principes  in  dieser  sublunarischen  Welt  will  Plutarch,  wie 
in  allen  Systemen  der  Philosophen,  so  auch  in  allen  Beligionen  aus- 
gedrückt finden.  Ormuzd  und  Ahriman  bei  den  Persern,  der 
olympische  Zeus  und  Hades  bei  den  Griechen,  Osiris  und  Typho 
bei  den  Ägyptern  besagen  nichts  anders,  als  was  Heraclit  andeu- 
tet, wenn  er  vom  Krieg  als  dem  Vater  aller  Dinge  redet,  was 
Empedocles  als  Liebe  und  Hass,  die  Pythagoreer  als  Gutes  und 
Böses,  als  das  Eine  und  die  Zweiheit  u.  s.  w.,  was  Anaxagoras 
als  Vernunft  und  Bestimmungsloses,  Aristoteles  als  Form  und 
Beraubung,  Plato  als  das  Selbe  und  das  Andere  oder  deutlicher 
als  gute  und  böse  Weltseele  bezeichnet"^).  Dieser  Streit  aber  spielt 
sich  ab  in  der  Materie,  die  Plato  als  Wärterin  und  Aufnehme- 
rin von  allem  bezeichnet.  Sie  fällt  zusammen  mit  der  ägyptischen 
Isis  ^);  ebenso  mit  der  Penia  des  platonischen  ^)  Mythus  von  der 
Geburt  des  Eros  '),  in  welcher  auch  die  Neuplatoniker  ein  Bild 
der  Materie  sehen  ^).  Natürlich  ist  es  nicht  der  seelenlose,  aller 
Eigenschaften  bare,  unthätige,  von  der  Vernunft  nicht  erfassbare 
Körperstoff  der  Philosophen,  den  Plutai-ch  hier  unter  dem  Bilde 
einer    Gottheit    vorstellt  ^).     Sie   ist    ihm    ,,das   Weibliche   in   der 


')  S.  S.  145  Anm.  7. 

')  S.  S.  146  Anm.  1. 

')  S.  S.  146  ff. 

*)  de  Is.  c.  45—48. 

ä)  de  Is.  c.  53,  p.  372  E.  Mit  der  Isis  —  neben  vielen  andern  Göttinnen  — 
verglich  die  (fvd;  oder  die  Materie  auch  Nicomachus  von  Gerasa  in  seiner 
Theologia  arithmetica;  Phot.  cod.  187,  p.  143  b  10  Bekker.  Vgl.  Anatolius  bei 
lambl.  theologum.  arithm.  II,  p.  12  o.  Ast.;  lambl.  in  Nicom.  arithm.  introd. 
p.  14  D  Tennul. 

«)  Fiat,  conviv.  203  B. 

')  Plut.  de  Is.  c.  57,  p.  374  G. 

»)  Plotin.  enn.  IIL  5,  c.  8  ff.,  bes.  c.  10  Schi.  Vgl.  III  6,  14.  p.  237,  12  ff. 
II  4,  16.  p.  117,  18. 

")  Plut.  de  Is.  c.  58,  p.  374  E. 


380  Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

Natur,  welches  alles  Werden  in  sich  aufnimmt"  i),  mit  andern 
Worten,  die  persönlich  gedachte  fruchtbare  Natur.  Obwohl  diese 
i\laterie  sowohl  der  Ort  des  Bösen  wie  der  des  (iuten  ist  2),  so 
ist  sie  doch  weder  an  sich  böse,  noch  führt  sie  zum  Bösen. 
Vielmehr  ist  ihr,  wie  es  ja  dem  Isis-Mythus  sowohl  wie  dem  pla- 
tonischen von  der  Penia  entspricht,  die  Liebe  und  Sehnsucht 
nach  dem  Guten  eingeboren  ^).  Bedürftig  des  Guten,  flieht  sie 
das  Böse  und  wendet  sich  dem  guten  Principe  —  Osiris,  Porös 
—  zu,  um  von  diesem  selbst  mit  dem  Guten  erfüllt  zu  werden  '*), 
Nur  in  den  letzten  Teilen  der  Materie,  den  irdischen  Stoffen, 
herrscht  der  Einfluss  des  zerstörenden  Princips;  Nephthys  ist  dem 
Typho  vermahlt  und  kann  nur  heimlich  vom  Osiris  besucht  wer- 
den ^).  —  Ihrer  Grundidee  nach  nehmen  diese  Ausführungen  Plu- 
tarch's  von  dem  Begehren  der  Materie  nach  dem  Guten  den 
schönen  aristotelischen  Gedanken  von  der  Sehnsucht  der  Materie 
nach  der  Form  wieder  auf,  infolge  derer  die  ganze  Welt  sich  der 
lautern  Form  oder  der  Gottheit  als  dem  obersten  Gut  zubewegen 
soll  ö).  Aber  was  bei  Aristoteles,  wenn  es  auch  nicht  ganz  frei 
ist  von  personißcierender  Anschauung,  im  ganzen  doch  auf  klare 
Begriffe  gestützt  wird,  das  erscheint  bei  Plutarch,  der  so  ganz 
verschiedenen  Gemütsart  beider  Männer  entsprechend,  verhüllt 
durch  den  mysteriösen  Schleier  einer  exotischen  Mythologie. 

b.  Philo. 

Einen    verwandten    Standpunct    nimmt    der    alexandrinische 
Jude  Philo  ')  ein.     Nur  ist  bei  diesem  Syncretisten,  derauf  dem 


1)  ebd.  c.  53,  p.  372  E. 

*)    dfKfOiV  fifv   ovaa   yc'iQa   xal  vXrj^   ebd.    C.    53,   p.   372  F. 

■■)  avuqivTog  fquis,  ebd.  c.  53,  p.  372  F. 

*)  ebd.  c.  53,  p.  372  F;  c.  57,  p.  374  D. 

5)  ebd.  c.  59,  p.  375  B. 

«)  S.  S.  263. 

'')  Über  Philo's  Lehre  von  der  Materie  geben,  ausser  den  mehr  gelegent- 
lichen Bemerkungen  in  den  bekannten  Werken  von  Gförer  (Kritische  Gesch. 
d.  Urchristenthums.  I.  Philo  u.  d.  Alex.  Theosophie.  Stuttgart  1831),  Keferstein 
(Philo's  Lehre  von  den  göttl.  Mittelwesen.  Leipzig  184G)  und  Siegfried  (Philo 
von  Alexandrien  als  Ausleger  des  A.  T.,  Jena  1875).  ausführliche  Darstellun- 
gen Zeller  IIP  b,  386  ff.  Dähne,  Geschichtl.  Darstellung  der  jüdisch-alexandr. 
Religionsphilos.  Bd.  I  Halle  1834.  S.  170-202.  James  Drummond,  Philo  Ju- 
daeus;  or,  The  Jewish-Alexandrian  Philosophy  in  its  development  and  comple- 
tion.     Vol.  I   London  1888,  p.  297-313. 


. 


Die  Platoniker.  —  Philo.    Begriff  der  Materie.  S81 

Wege  allegorischer  Schritterklärung  iiellenische  Gedanken  mit 
Moyses'  Wort  zu  vereinen  trachtet,  neben  den  platonischen  Ele- 
menten der  Einfluss  der  Stoa  ein  noch  weiter  gehender. 

Stoisch  ist  gleich  die  Unterscheidung,  von  welcher  Philo  bei 
der  Darstellung  des  Schöpfungswerkes  in  der  diesem  gewidmeten 
Schrift  ausgeht.  Moyses,  heisst  es  dort,  der  sowohl  in  der  Phi- 
losophie den  höchsten  Gipfel  erstiegen  hat,  als  auch  durch  gött- 
liche Inspiration  über  die  meisten  und  tiefsten  Fragen  der  Natur 
belehrt  war,  hat  erkannt,  dass  es  für  das  Seiende  eine  thätige 
und  eine  leidende  Ursache  geben  müsse:  die  Vernunft  und  die 
Materie  ^).  Das  Wesen  der  Materie  bestimmt  der  alexandrinische 
Philosoph  sonach  durch  diejenige  Ableitung,  welche  gerade  den 
Stoikern  eigentümlich  ist  ^).  Sie  ist  das  Leidende,  im  Gegensatz 
zu  Gott  oder  der  Vernunft  als  der  thätigen  Ursache  ^).  Von  dem 
aristotelischen  Begriffe  der  Materie  dagegen  als  dem  Möglichen, 
in  Potenz  zu  allem  Befindlichen,  finden  sich  bei  Philo  nur  Spu- 
ren *).  Die  weitere  Beschreibung  der  Materie  bei  Philo  schliesst 
sich  an,  einmal  an  die  Schilderung,  welche  der  platonische  Ti- 
maeus  von  der  secundären  Materie  giebt,  dann  an  die  stoische 
Auffassung  der  Materie  als  eines  unbestimmten  Stoffes.  Beiden 
Quellen  gemein  ist  die  Bestimmung  der  Materie  als  des  Eigen- 
schafts-, Form-  und  GestaUlosen  °).  Auf  den  Timaeus  allein  geht 
es  zurück,  wenn  die  Materie  als  ungeordnete,  unharmonische, 
regellos  zusammengemischte,  tote  und  unbeseelte  Masse  geschil- 
dert   wird  ß),    welche    erst    durch    die   weltbildende  Kraft  Gottes 


1)  Philo  de  mundi  opif.  §.2  ed.  Richter  (T.I,  p.  2  Mangey,p.  2, 15-23  Cohn). 
*)  S.  S.  331. 

•^)  Über  die  stoische  Gleichsetzung  der  Gottheit  und  der  wirkenden  Kraft 
bei  PhUo  vgl.  Zeller  II r'  b,  358. 

■*)  de  mundi  opif.  5  (I,  5  M.,  p.  G,  11  Cohn)    heisst    es    von    der   Materie: 

fir,(ffv  (^  avziii  iyovOTj  y.a/.or,  Avvauevri    ti'i    ndvza.  y  i  v  ta  0  at. 

^)  anoios  de  m.  opif.  5  (I,  5  M.,  p.  ß.  12  C);  de  creat.  princ.  7  (II,  3G7) ;  de 
prof.  2  (1, 547) ;  quisrer.div.  haer.  27  Schi.  (1,492);  de  somn.  II  6  (I,  665).  a>0(- 
voff:  de  sacrif.  I  3  {11,  261);  qu.  rer.  div.  haer.  27  Schi.  (I,  492).  äveühog:  De 
mutat.  nom.  23  (I,  598);  de  prof.  2  (1,  547).  daxr,,uäTtaTos  -.  de  prof.  1.  c;  de 
somn.  II  6  (I,  665).     aivTiunog:  de  somn.  1.  c.    aar,fj,oi  :  de  prof.  1   c. 

^)  ornxrof:  de  m.  opif.  5(1,  5M..p.6,  12C.);  de  plantat.  Noe  1  (1,329).  «V/).««/«?: 
qu.  rer.  div.  haer.  32  (I,  49ö).  avtaos :  qu.  rer.  div.  haer.  1.  c. ;  de  creat.  princ.  7 
(II,  367).  dv6,uotoi:  de  creat.  pr.  1.  c.  ^t /.?,,« «^Ar/?:  qu.  rer.  div.  hAer.l.c.  äräp/.ioaToi: 
de  creat.  pr,  1.  c. ;  de  mundi  opif.  ")  (T,  5M.,  p.  6,  13  C).  nKf^vQixhr,:  de  sacrif.  13 


B82  Füiiltor  Ahsclinitt.     L)er  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

aus  der  Unordnung  zur  Ordnung,  aus  der  Unbestimmtheit  zur 
Bestimmung,  aus  der  Entzweiung  zur  Selbigkeit,  aus  der  Zwie- 
tracht zur  Harmonie,  aus  dem  Dunkel  zum  Lichte  geführt  Avird  ^). 


(II,  261).  av'/y.fyivfievri:  de  plant.  Noe  1  (I,  329).  Untifios:  de  sacrif.  1.  c.  axpv^og: 
de  m.  opif.  1.  c.    vtxgov.  de  prof.  36  \\,  57b). 

')  de  mundi  opif.  5  (I,  5  M.,  p.  6,  13-16  C);  de  creat.  princ.  7(11,  367); 
de  somn.  IIG  (1,665);  de  plantat.  Noe  1  (I,  329);  de  sacrif.  13  (II,  261). 

Dass  die  Materie  bei  Philo  auch  als  das  Nichtseiende  bezeichnet  werde, 
kann  ich  Dähne  (a.  a.  0. 1, 185)  und  Zeller  (IIU'  b  387,  5;  vgl. auch Keferstein,  S.5; 
ebensowenig  zugeben,  wie  ich  Zeller  hinsichtlich  der  Deutung  des  fir]  ov  der 
platonischen  Republik  auf  die  Materie  (dort  freilich  aus  andern.  Grunde)  zustim- 
men konnte;  s.  o.  S.  189  ff.  An  den  von  Zeller  angeführten  Stellen  de  m.  opif.  26 
(I,19M.,p.30,  9Gohn);  leg.  alleg.  III  3  (I,  89);  de  creat.  princ.  7  (II,  367)  —  es 
konnte  auch  auf  die  gleichartigen  Stellen  de  mutat.  nom.  5  (1,  .585);  de  somn. 
I  13  Schi.  (I,  632);  de  vita  Moys.  III  8  (II,  1.50)  und  III  36  (II,  176)  hingewie- 
sen weiden  —  ist  nämlich  nichts  weiter  gesagt,  als  dass  Goit  Dinge  ins  Sein 
rief,  die  zuvor  nicht  waren.  Ebenso  heisst  es  im  zweiten  Macchabäerbuche 
(VII  28):  fl  ovx  ovTiitv  inokjatv  avrv.  Dass  nun  Philo  (während  das  Maccha- 
bäerbuch  hiervon  nichts  lehrt)  die  Materie  als  einen  schon  vorhandenen  Stoff 
der  Weltbildung  voraufgehen  lässt  (s.  u.  S.  384),  beweist  nicht,  dass  er  diese  Ma- 
terie als  „das  Nichtseiende"  betrachtet.  Denn  Philo  sagt  überhaupt  nicht, 
dass  Gott  die  Dinge  „aus  dem  Nichtseienden"  bildete,  derart,  dass  dieses  Nicht- 
seiende als  die  Materie  der  Weltbildung  bezeichnet  werden  soll.  Es  heisst 
vielmehr  bei  ihm,  Gott  habe  „das  Nichtseiende"  (rä  iw^  ovia,  d.  h.  die  nichtseien- 
den Dinge,  de  creat.  pr.  7;  de  vit.  Moys.  III  8;  de  mut.  nom.  5;  de  m.  op.  26), 
„das  was  vorher  nicht  war"  (a  nQÖTtgov  ovx  r/v,  de  somn.  I  13)  gemacht,  ins 
Sein  gerufen  oder  dgl.,  er  habe  die  gesamten  Dinge  „aus  nichtseienden"  {ix 
ui]  ovTwv —  man  beachte  den  Plural  — ,  leg.  all.  III  3)  zum  Bestehen  gebracht 
Das  Nichtsein  bezieht  sich  also  nicht  auf  die  der  Weltbildung  voraufgehende 
Materie  als  deren  Eigenschaft,  sondern  auf  die  vor  ihrer  Bildung  noch  nicht 
bestehenden  bestimmten  Dinge.  Die  einzige  Stelle,  welche  anders  gedeutet 
werden  könnte,  ist  de  vit.  Moys.  III  36  (II,  176):  ix  rov  fxr]  ovzos  tlg  t6 
eirai  t6  Tekfiöraiov  eQ-/ov  rov  xüafiov  dviifqvf.  Gegenüber  der  grossen  Zahl  völlig 
übereinstimmender  Aussprüche  wird  indes  auch  diese  Stelle  ohne  Zweifel  so 
zu  verstehen  sein,  dass  bei  ix  rov  /j?]  ovtos  nicht  an  die  Materie,  sondern  an 
das  Nichtsein  der  Welt  gedacht  ist.  —  Gegen  Zeller's  Auffassung  spricht  auch 
noch  ein  anderer  Giund.  Nach  stoischer  Weise,  aber  ganz  im  Gegensatz  zu 
Plato,  bezeichnet  Philo  die  Materie  gewöhnlich  als  ovaia  (s.  u.  S.  383  Anm.  4). 
Nun  sind  bei  jenem  nicht  eben  hervorragend  klaren  Syncretisten  zwar  Unaus- 
geglichenheiten, ja  Widersprüche,  nicht  gerade  allzu  selten ;  der  Widerspruch 
aber,  dass  die  ovaia  ein  //i;  or  genannt  würde,  dürfte  doch  selbst  ihm 
nicht  zuzutrauen  sein. 

Ebenso  scheint  Zeller's  Behauptung,  dass  Philo  die  Materie  auch  wohl 
als  das  Leere  und  Bedürftige  schildere,    obwohl  sie  sich    von    dem    Geiste 


Philo.    Begriff  der  Materie.  383 

Dass  aber  dieses  Gestaltlose  als  eine  ungeordnete  Masse  ge- 
fasst  wird,  hat  seinen  Grund  zunächst  darin,  dass  Philo,  gleich 
Plutarch,  Attieus  und  andern  Piatonikern  i),  die  „secundäre  Ma- 
terie" des  Timaeus  unter  Verkennung  ihres  bloss  mythischen 
Characters  im  dogmatischen  Sinne  in  sein  System  aufnimmt. 
Noch  wichtiger  aber  war  es  für  ihn,  dass  er  für  jene  Vor- 
stellung an  dem  stoischen  Begriff  der  Materie  als  des  unbestimm- 
ten körperlichen  Stoffes  eine  Anknüpfung  fand.  Obgleich  ihm  der 
aristotelische  Ausdruck  vXrj  nicht  fremd  ist  2),  so  bezeichnet  er 
doch  an  zahlreichen  Stellen  —  wiederum  in  Übereinstimmung 
mit  Plutarch  ^)  —  die  Materie  mit  den  Stoikern  als  Substanz 
{ovaio)  ■i).  Nun  ist  freilich  beides,  der  stoische  Begriff  der  Sub- 
stanz wie  die  den  mythischen  Bestandteilen  des  Timaeus  ange- 
hörende Vorstellung  einer  chaotischen  Masse,  mit  dem  platonisch- 
aristotelischen  Begriff  eines  gänzlich  qualitätslosen,  unkörperlichen 
Substrats  als  der  blossen  Vorbedingung  der  Körperwelt  nicht 
vereinbar.  Aus  dieser  Unausgeglichenheit  erklären  sich  manche 
Schwankungen  der  philonischen  Darstellung  ">). 


der  philonischen  Philosophie,  nicht  entfernt,  doch  historisch  nicht  ganz  ge- 
rechtfertigt zu  sein.  Denn  leg.  alleg.  I  14  (I,  52  M.),  worauf  Zeller  III''  b, 
387,  6  verweist,  ist  nicht  speciell  von  der  Materie  die  Rede,  sondern  allgemein 
von  der  Welt. 

1)  S.  S.  143.  376. 

-)  So  steht  v?.ri  de  plantal.  Noe  2  (I,  330);  de  sacrif.  13  (II,  261);  de  provid. 
18;  II  48  (materia)  u.  s.  \v. 

3)  S   S.  374  Anm.  1. 

*)  de  m.  opit.  5  (I,  5  M.,  p.  6,  11  C);  de  plantat.  Noe  1  (I,  329;  §.  2  steht 
r/f/;  de  creat.  princ.  7  (II,  .367);  qu.  rer.  div.  haer.  27  (I,  492,  zweimal):  de 
prof.  2  (1,  547);  de  somn.  II  6  (I,  665);  de  sacrif.  13  (II,  241,  Z.  42;  Z.  45  steht 
gleichbedeutend  v/.ij) ;  de  prov.  I  8,  u.  viele  a.  SL. 

^)  Vgl.  unten  S.  386  u.  387.  —  Ein  ähnliches  Schwanken  hinsichtlich  des 
Begriffs  der  Materie  liegt  auch  vor,  wenn  Philo,  wie  die  Stoiker  (s.  S.  334 
Anm.  1)  bei  mehr  populärer  Ausdrucksweise  die  vier  Elemente  als  den  Stoff 
der  Weltbildung  bezeichnet;  de  Cherub.  35  (I  162):  v?.r,v  'i'i  tu  xeoaaQa  atoiy/^eia. 
Philo's  eigentliche  Ansicht  erhellt  aus  de  sacrif.  13  (11,  261):  ngog  ttjv  dvm- 
vigav  ziov  oioi-itiixiv  oi'aiav,  iriv  u.uoQifiav  (zum  Text  Vgl.  Mangey's  Note). 
Es  ist  indes  nicht  nötig,  mit  Dähne  (I,  189  ff.)  und  Siegfried  (a,  a.  0.  S.  232) 
hier  einen  eigentlichen  Widerspruch  anzunehmen.  Vielmehr  wird  mit  Zeller 
IIF  b,  387,  1  und  Drummond  I,  307—309  zu  sagen  sein,  dass  Philo  an  der  er 
sten  Stelle  bei  dem  Näherliegenden  stehen  geblieben  und  seine  letzte  philoso- 
phische Meinung  nicht  ausgesprochen  hat.    —    Interessant    ist  es  es  übrigens, 


Ö84  Fünfler  i^bschnitt.     Der  Neuplatonisiiius  und  dessen  Vorläufer. 

Die  Materie  der  Woltbildung  fasst  Philo  mit  Plato  ^)  und  der 
Stoa  2)  als  ungeworden.  Zwei  Gründe  füiiren  ihn  dazu,  diesen 
iinbibhschen  und  unjüdischen  Duahsmus  zweier  Principien  aus 
der  hellenischen  Philosopliie  ohne  weitere  Reflexion  hinüber  zu 
nehmen.  Einmal  kann  Philo  mit  der  Stoa  die  thätige  Ursache 
nicht  ohne  eine  leidende  denken.  Die  göttliche  w'eltbildende  Thä- 
tigkeit  setzt  darum  eine  bereits  vorhandene  Materie  als  Object 
ihrer  Wirksamkeit  voraus  ^).  Dann  aber  ist  durch  die  Annahme 
Philo's,  dass  Golt  als  der  Selige  mit  der  unreinen  Materie  nicht 
in  unmittelbare  Berührung  treten  köhne  *),  die  Annahme  einer 
Schöpfung  der  Ur-Materie  durch  Gott  ausgeschlossen.  Denn  ver- 
mittelnde Annahmen,  wie  die  eines  dunklen  Grundes  in  Gott, 
aus  dem  die  Materie  entsprungen  wäre,  oder  von  stufenweisen 
Emanationen,  deren  Vollkommenheit  so  lange  stets  abnimmt,  bis 
die  letzte,  der  obersten  Ursache  fernste,  die  Materie,  erscheint, 
sind  dem  Philo  fremd  ">).     Selbst  auf  den  „Weltbildner",  der  doch 


aus  der  Erzählung  Augustin's  (confess.  XII,  c.  4  ff.)  zu  hören,  welche  Mühe  es 
auch  diesem  grossen  Denker  gekostet,  sich  von  der  Vorstellung  des  Chans 
zu  dem  wahren  platonischen  Begriff  der  materia  informis  durchzuringen. 

>)  S.  S.  187  f. 

2)  S.  S.  359  ff.  366. 

•■')  Vgl.  de  m.  opif.  2  (I,  2  M.,  p.  2,  15  ff.  C).  Auch  an  zahlreichen  andern 
Stellen  ist  nur  von  dem  Ordnen  der  schon  vorhandenen  Materie  durch  den  Welt- 
bildner die  Rede.  So  de  plantat.  Noel(I,  329);  2(1,330);  quoddet.  pot.  ins.  sol.  4'2 
I,  220);  qu.  rer.  div.  haer.  27  (I,  492);  de  deo  6  (p.  616  Auch.).  Mehr  aristotehsch 
heisst  es  de  Cherub.  35  (1, 100—161) :  zur  Entstehung  eines  Dinges  müssen  viele 
Ursachen  zusammentreten:  t6  vf  otf,  to  4|  ov,  t6  di  ov,  t6  th'  ö.  Das  Erste 
ist  die  bewirkende  Ursache  {t6  ahiov),  das  Zweite  die  Materie  (vAij),  d^s  Dritte 
die  Instrumentalursache,  das  Vierte  der  Beweggrund  [ahla;  Drummond  a.  a.  0. 
I,  3(X.)  giebt  es  ungenau  mit  purpose  statt  mit  motive  wieder).  Für  den 
Kosmos  nun  ist  bewirkende  Ursache  Gott,  Materie  die  vier  Elemente  (s.  o. 
S.  383  Anm.  5),  Instrumentalursache  der  göttliche  Logos,  Beweggrund  die  Güte 
des  Weltbildners.  —  Auch  hier  ist  die  Materie  also  der  bewirkenden  Ursache 
neb  engeordnet. 

*)  de  sacrif.  13  (II,  261). 

")  Es  finden  sich  zwar  mancherlei  Ausdrücke  bei  Philo,  welche  anschei- 
nend eine  Schöpfung  aus  Nichts,  wie  die  Möglichkeit  eines  Untergangs  ins 
Nichts,  voraussetzen.  So  heisst  es  qu.  rer.  div.  haer.  32  (I,  495),  dass  Gott  am 
siebenten  Tage  gelobt  habe  ov  njr  ärj fiiovQytjd^sTaav  v?.7]v,  rt^v  aipvx"^  '""' 
7i?.r/,u/utl'^    xttl    thähinov,    (tt   lU    (fi&aQTijv  i^  eavTije.    Ebenso    wird    de  sornn. 

II   38   (I,   692)    gegenübergestellt   &eöi  und     t;    ytvijTi]    xal     (f^a^iij      ovaia     naaa. 

Man  wird  indes  Drummond  a.  a.  0.  I,  301  f.  recht  geben    müssen,    dass    nach 


Philo.    Die  Materie  ungeworden.  385 

an  Würde  unter  Gott  steht,  wird  von  Philo  nur  das  Vollkommne 
in  der  Welt,  ihre  Ordnung,  zurückgeführt,  nicht  aber  das  Unvoll- 
kommne  und  nach  Philo's  Ansicht  Unreine,  die  Materie. 

Diese  ist  etwas  durchaus  Ausser-  und  Widergöttliches,  Als 
solches  ist  sie  der  göttlichen  Vollko  mmenheit  entgegenge- 
setzt. Philo  bezeichnet  sie  als  das  Dunkle,  Tote,  als  eine  in 
stetem  Streit  befindliche,  ungeregelte,  übel  gemischte  Masse  i). 
Während  Gott    der   absolut  Freie   ist,  herrscht  in  ihr  eine  blinde 


dem  ganzen  Zusammenhange  der  philonischen  Lehre  hier  nicht  an  jene  erste 
Bedingung  alles  Werdens  und  Vergehens  gedacht  sein  kann,  sondern  an  die 
Gesamtheit  der  in  dieser  Form  erst  bei  der  Weltbildung  entstandenen  und  in 
stetem  Flusse  befindlichen  bestimmten  Stoffe.  —  Wenn  ferner  Philo  an 
mehreren,  schon  oben  S.  382  Anm.  1  gesammelten  Stellen  die  weltbildende 
Thätigkeit  Gottes  dahin  bestimmt,  dass  er  durch  dieselbe  das  Nichtseiende  ins 
Sein  rief,  so  ist  auch  damit  nach  seiner  Ansicht  das  Vorhandensein  jener  Be- 
dingung alles  Werdens  bestimmter  Dinge,  der  Materie,  nicht  ausgeschlossen. 
Es  erhellt  das  klar  aus  de  creat.  princ.  7  (II,  367):  „Denn  das  Nichtseiende 
rief  er  ins  Sein,  indem  er  Ordnung  aus  Unordnung,  aus  dem  Eigen- 
schafts losen  bestimmte  Eigenschaften,  aus  dem  Unähnlichen  Ähnlichkeiten, 
aus  den  Verschiedenheiten  Selbigkeiten,  aus  dem  Gemeinschaftslosen  und 
Zwieträchtigen  Gemeinschaft  und  Harmonie,  aus  der  Ungleichheit  Gleichheit, 
aus  dem  Dunkel  Licht  schaffte".  Weiteres  bei  Drummond,  S.  302  f.  —  Dass 
Philo,  wenigstens  gelegentlich,  eine  eigentliche  Schöpfung  aus  Nichts  annehme, 
haben  mehrei'e  Gelehrte  (Keferstein,  S.  5  f.  Siegfried,  S.  232.  Heinze,  Lehre  vom 
Logos,  S.  210,  1.  Dähne  I,  199  f.)  auch  aus  de  somn.  I  13  (I,  632)  und  de 
monarch.  I  3  (II,  216)  gefolgert,  wo  von  der  Thätigkeit  des  d'ruxiovgyüg  die  des 
xxiatr,e  (an  der  ersten  Stelle  recht  scharf)  unterschieden  wird.  Allein  auch 
hier  bieten  sich  andere  Erklärungen.  Drummond  (I,  304)  und  wohl  auch  schon 
Vacherot  (Histoire  critique  de  l'ecole  d'Alexandrie.  Paris  1846.  I,  S.  151  f.)  be- 
ziehen ö'TjfiiovQyoe  auf  die  Bildung  der  sichtbaren,  y.ziartjs  auf  die  Begründung 
der  urbildlichen  Welt.  Anderes  bei  H.  Soulier.  La  doctrine  du  Logos  chez  Philon 
d'Alexandrie.  Turin  1876.  p.  23  f.  Dem  Zusammenhange  der  ersten  Stelle  ist  es  viel- 
leicht noch  angemessener,  das  eine  Wort  auf  die  Bildung  der  zusammengesetzten 
Dinge  aus  den  Elementen,  das  andere  auf  die  Bildung  der  Elemente,  die  den 
unmittelbaren  Stoff  für  die  körperlichen  Dinge  abgeben,  aus  der  Urmaterie  zu 
beziehen.  Durch  diese  Erklärung  würden  sich  gleichfalls  die  Stellen  aus  den  ar- 
menisch erhaltenen  Schriften  am  einfachsten  erledigen,  auf  die  Grossmann  (Quae- 
stionesPhiloneae.  I.Lipsiae  1829.  p.  90)  zuerst  aufmerksam  gemacht  hat,  deprovid.II 
§.48—50  (§.  50  im  Urtext  bei  Euseb.  praep.  ev.  VII  21,  p.  336  Bflf.);  §.  55,  besonders 
§.49:  non  solum  creare  et  edere  materiam  proprium  est  providentiae,  verum 
etiam  conservare  moderarique,  und  de  deo  6  (II,  616  Aucher.) :  natura  qua  creatur 
formaturque  materia.  Drummond  I,  304 — 307,  wo  namentlich  auf  den  bloss  hypo- 
thetischen Charakter  der  ganzen  Ausführung  de  provid.  II 48  ff.  Gewicht  gelegt  ist. 
')  S.  S.  381  Anm.  5  u.  6.  Vgl.  auch  de  creat.  princ.  7  (II,  367  :  r,  ^fie^'v  uraia^ 

Baeumker:    Das  Problem  der  Materie  ete  25 


386        Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

Notwendigkeit  ^).  Was  in  der  materiellen  Welt  Gutes  sich  findet, 
hat  die  Materie  durch  Gott  erhalten.  Die  göttliche  Weltbildung 
besteht  in  der  Überwindung  jener,  der  Materie  aus  sich  eigenen 
Unordnung  durch  die  Gestallung  nach  dem  Vorbilde  der  gött- 
lichen Ideen  ^).  Denn  obgleich  dieselbe  aus  sich  nichts  Gutes 
hat,  so  ist  sie  doch  für  die  göttliche  Einwirkung  empfänglich. 
Wie  Philo  mit  Aristoteles  und  den  Stoikern,  der  Sache  nach  auch 
schon  mit  Plato,  lehrt,  ist  sie  in  der  Potenz  zu  allem  Guten  '^). 
—  Auch  in  diesen  Ausführungen  Philo 's  ^)  führt  die  Vermengung 
der  ersten  und  der  zweiten  Materie  des  Timaeus  zu  einer  unleug- 
baren Verwirrung.  Unordnung,  wirre  Vermischung  und  dgl.  kön- 
nen nur  einer  chaotischen  Masse,  der  secundären  Materie  des 
Timaeus,  beigelegt  werden,  nicht  aber  der  letzten  Grundlage  des 
Körperlichen.  Denn  da  diese  noch  aller  Bestimmungen  entbehrt, 
so  kann  sie  auch  keinen  Kampf  dieser  Bestimmungen  unter 
einander  kennen^).  Dagegen  ist  es  umgekehrt  jene  erste  Materie,  der 
die  Möglichkeit  zu  allem  ursprünglich  zugeschrieben  werden  muss. 
Weil  so  der  Stoff  für  Philo  etwas  Widergöttliches  ist,  so  er- 
scheint er  ihm  mit  den  Neupythagoreern  und  vielen  Piatonikern 
zugleich  als  das  Unreine.  Darum  darf  Gott  nicht  unmittelbar  mit 
der  Materie  in  Verbindung  treten  *5).  Weitere  Anwendung  findet  jene 
Auffassung  von  der  Materie  auf  psychologischem  und  ethischem 
Gebiet.  Hierher  gehört  alles,  was  Philo  im  Anschluss  an  die 
Pythagoreer  und  an  Plato,  sowie  an  den  allegorisch  gedeuteten 
biblischen  Bericht  vom  Sündenfall  über  die  Befleckung  der  Seele 
durch  das  Hinabsteigen  in  den  Körper  lehrt;  ebenso  seine  ganze 
Bestimmung  des  Verhältnisses  von  Geist  und  Sinnhchkeit  ''). 


1)  de  somn.  II  38  (I,  692).    —    •')  S.  S.  382  Anm.  1. 

■'')  de  m.  op.  5  (I,  5  M.,  p.  6,  11  Cohn):  ovai'a  /nrjö'tv  i^  aviijs  i';fo^•(T;;  y.aXöv, 
(fvva/jevj]  li'i   nävra   yiveaiyai. 

*)  S.  schon  oben  S.  383  mit  Anm.  5. 

^)  Drummond,  I  310  ff.  führt  dieses  mit  Recht  gegen  Dähne  I,  196  (ebenso 
Grimm,  Gommentar  über  das  Buch  der  Weisheit.  Leipzig  1837.  S.  266)  aus, 
nach  dem  Philo  die  Materie  als  „die  wirkende  Ursache"  der  Un- 
vollkommenheiten  in  der  Welt  betrachtet.  Nur  tritt  bei  Drummond  nicht  ge- 
nügend hervor,  dass  Philo  in  der  That  durch  den  Mangel  einer  scharfen  Un- 
terscheidung zwischen  jener  chaotisch  ungeordneten  Masse  und  der  ersten  Ma- 
terie zu  dieser  Auffassung  allen  Grund  gegeben  hat. 

«)  de  sacrif.  13  (II,  261);  s.  o.  S.  384  und  unten  S.  387, 

')  Vgl.  Zeller  IIP  b,  393  f.  399  ff.    Heinze,  261.   265.      Auch   diese   Bezie- 


Philo.    Die  Materie  und  das  Böse.  387 

Die  Art  und  Weise,  wie  Philo  die  Gestaltung  der  Welt  aus 
dem  ursprünglichen  Chaos  mi  einzelnen  schildert,  ist  wichtiger 
für  seine  Lehre  vom  Logos,  als  für  die  von  der  Materie.  — '^Ba 
Gott  als  der  über  alles  Erhabene  und  Selige  mit  der  unreinen  Materie 
nicht  in  unmittelbare  Berührung  treten  kann  i),  wird  ihre  Gestal- 
tung durch  den  Logos  vollzogen,  in  dem  die  platonischen  Ideen 
und  die  weltordnende  vernünftige  Kraft  der  Stoiker,  unter  Aus- 
scheidung des  materialistischen  2)  und  pantheistischen  ^)  Elements 
der  stoischen  Lehre,  zu  einer  Einheit  verbunden  erscheinen  *). 
Entsprechend  seiner  Anschauung  von  der  Weltmaterie  als  einer 
ungeordneten,  wirr  gemengten  Masse  schildert  er  die  Bildung  der 
Welt  durch  den  Logos  als  eine  Scheidung  oder  Trennung  der 
Gegensätze  ^).  Der  Begriff  der  Materie  erscheint  hier,  noch  über 
den  Mythos  des  Timaeus  hinaus,  aufs  höchste  verdichtet.  Den 
nächsten  Anlass  zu  jener  Fassung  mochten  die  Worte  der  Gene- 
sis bieten,  nach  denen  Gott  bei  der  Weltschöpfung  die  Wasser 
von  den  Wassern  schied  ^).  Aber  mit  dem  philosophischen  Be- 
griff des  Plato  und  Aristoteles  von  der  materia  prima  ist  jene 
Auffassung  so  unverträglich,  wie  mit  dem  stoischen.  —  Durch  eine 
solche  Scheidung  nun  werden  zuerst  die  vier  Elemente  gebildet, 
deren  Qualitäten  nach  den  Stoikern  bestimmt  werden  '');  aus  die- 
sen das  Weltgebäude.  Die  Menge  der  Materie  ist  eine  dem  Be- 
dürfnis genau  angemessene,  so  dass  sie  niemals  im  Überfluss 
vorhanden  ist  und  niemals  ausgeht  8). 


hungen  der  Materie  zum  Ursprung  des  Übels  sind  von  Drummond  a.  a.  0.  mit 
Unrecht  bei  Seite  gelassen.    —     i)  S.  S.  386  Anm.  6. 

^)  Über  unausgeschiedene  Reste  des  stoischen  Materialismus  auch  in  der 
philonischen  Logoslehre  vgl.  Zeller  III  ^  b,  385,  1;   Heinze,  241  f. 

^)  Fi'eilich  bezeichnet  auch  Philo  Gott  gelegentlich  als  \pvxii  (leg.  alleg.  I 
29,  T.  I,  62  M.)  oder  povg  tmv  Uoov  (de  m.  opif.  2,  I,j2  M.,  p.  2,  18  C;  de  migr. 
Abr.  .35  (I,  466  M.).    Vgl.  Heinze,  208  f.  280.  Siegfried  a.  a.  0.  S.  205. 

■*)  Schon  der  Stoiker  Boethus  (vgl.  ZeUer  IIP  a,  554  f.)  und  die  pseudo- 
aristotelische Schrift  ufQi  xoafiov  (vgl.  ZellerUIF  a,  637  f.)  lassen  die  ausser- 
weltliche  Gottheit  nur  vermittelst  ihrer  Kraft  die  Welt  durchdringen,  vFobei 
ihnen  aber  die  philonische  Fassung  dieser  Kraft  als  einer  dem  Wesen  nach 
göttlichen  Hypostase  noch  fremd  ist. 

')  qu.  rer.  div.  haer.  27  (I,  492).    Vgl.  quaest.  in  Gen.  I  64  (II  44  Auch.). 

*=)  Gen.  J,  6.  7.     —     ')  qu.  rer.  div.  haer.  a.  a.  0. 

•*)  de  provid.  II  50  (T.  II,  p.  79  Aucher. ;  griechisch  bei  Euseb.  praep.  ev. 
VII  21,  1-4.  p.  336  C— 337A).  Vgl.  das  S.  227  und  404  über  Aristoteles  und 
Plotin  gesagte. 

25  * 


388  Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonisinus  und  dessen  Vorläufer. 

Die  Qualitäten  der  Dinge  führt  Philo  wiederum  mit  den 
Stoikern  auf  Strömungen  des  Pneuma  zurück,  welche.s  in  der 
Doppelbewegung  von  aussen  nach  innen  und  von  innen  nach 
aussen  den  Stoff  durchdringt  und  so  den  Dingen  Zusammenhalt 
giebt  1),  So  natürlich  diese  Anschauung  sich  aus  der  materiali- 
stischen Pneuma-Lehre  der  Stoiker  ergab,  so  seltsam  stellt  sich 
die  Entlehnung  zu  dem  aus  der  platonischen  Ideenlehre  geflosse- 
nen Spiritualismus  der  philonischen  Logoslehre.  Die  stoische 
Lehre  von  den  Keimkräften  {Xöyoi  arciQf.iaTixoi)  dagegen  hat 
Philo,  wenigstens  auf  naturphilosophischem  Gebiete,  nicht  ver- 
wertet 2).  Hier  mochte  auch  ihm  der  materialistische  Charakter 
zu  deutlich  entgegentreten.  Für  eine  Umbildung  im  spiritualisti- 
schen  Sinne  aber,  wie  er  sie  sonst  mit  der  stoischen  Logoslehre 
im  Anschluss  an  die  Ideenlehre  Plato's  vorgenommen,  fehlte  ihm 
hier  der  Vorgänger,  an  den  er  sich  hätte  anlehnen  können  ^). 

So  bietet  uns  Philo's  Lehre  von  der  Materie  ein  ziemlich 
verworrenes  Bild,  aus  dem  nur  wenige  von  Schwanken  freie 
Puncte  mit  Bestimmtheit  heraustreten.  Vor  allem  sticht  der  Ge- 
danke hervor,  in  dem  die  hiteressen  der  Kosmologie  und  der 
Ethik  sich  begegnen,  dass  nur  durch  die  göttliche  Kraft  der  aus 
sich  regellose  Stoff  zur  Ordnung  geführt  werden  kann.  Neben 
ihm  tritt  die  metaphysische  Durchführung  des  Begriffs  der  Ma- 
terie selbst  ganz  und  gar  in  den  Hintergrund. 


^)  Die  Stellen  s.  oben  S.  351  Anm.  2;  S.  352  Anm.  3.  Vgl.  auch  Kefer- 
stein,  S.  1G2.    Heinze,   S.  242  f. 

-)  wie  Däline,  I,  2(34  Anm.  204  Schi,  irriger  Weise  angieljt. 

^)  Über  den  l6yos  anfg/janyö?  auf  ethischem  Gebiete  vgl.  Heinze,  240. 
Für  die  Verwertung  des  Begriffs  auf  naturphilosophischem  Gebiete  dagegen  findet 
sich  nur  eine  einzige  Andeutung  bei  Philo,  de  m.  op.  13  (1,9  M.,  p.  13,  IOC).  Hier 
heisst  es,  dass  in  den  von  den  Früchten  eingeschlossenen  Samen  (aviffjfiarixal 
ovai'ai)  die  kdyoi  der  ganzen  Pflanze  unsichtbar  enthalten  seien,  welche  zu  der 
Zeit  der  Entwicklung  offenbar  würden.  Also  auch  hier  ist  der  Ausdruck 
lü'yoi  antQfiuiixoi  vermieden.  Nichts  beweisend  dagegen  ist  legat.  ad  Gai.  8 
(II,  553  f.),  wo  gesagt  wird,  vermittelst  der  Xöyoi  antQuarixal,  die  mit  den  phy- 
sischen Samenbestandteilen  identificiert  werden,  würden  die  Ähnlichkeiten  des 
Leibes  und  der  Seele  in  Gestalt,  Hallung,  Bewegungen,  Neigungen  und  Thaten 
von  den  Eltern  auf  die  Kinder  vererbt,  und  so  auch  die  Ähnlichkeit  in  der 
Herrscheranlage.  Diesen  Gedanken  nämlich  legt  Philo  dem  Caligula  in  den 
Mund,  der  durch  denselben  beweisen  will,  dass  er  als  geborener  Herrscher  sich 
von  keinem  Untergebenen  brauche  belehren  zu  lassen.  Für  Philo's  eigene  An- 
sicht lässt  sich  aus  dieser  Satire  in  keinem  Sinne  etwas  folgern. 


Philo.    Pneuma  und  Xöyoi.  —  Neupythagoreer.     Zwei  Gruppen  derselben.      389 

c.  Die  Xeupytliagoreer. 

Nicht  so  ausschliesslich  auf  das  Religiös-Ethische  gerichtet 
sind  die  Speculationen    der  Neupythagoreer  über  die  Materie. 

Wir  können  die  Neupythagoreer  für  unsern  Zweck  in  zwei 
(Truppen  sondern.  Die  erste  befasst  einige,  unter  altpythagore- 
ischeni  Namen  gehende,  aber  erst  der  neupythagoreischen  Zeit 
entstammende  Schriften  kosmologischen  Inhalts.  Es  gehören 
hieher  die  Abhandlung  von  der  Weltseele,  welche  dem  Locrer 
Timaeus  beigelegt  wird,  sowie  die  Schrift  des  angeblichen 
Ocellus  über  das  Weltganze.  Auch  Einzelnes,  was  dem  Archy- 
tas  zugeschrieben  wird,  fällt  in  diesen  Gedankenkreis  ■).  —  Hin- 
sichtlich der  Lehre  von  der  Materie  linden  wir  bei  diesen  Män- 
nern einen  Eklekticismus,  der  sich  neben  Plato  auf  Aristoteles 
und  die  Stoa  stützt.  Die  pythagoreische  Zahlenlehre  dagegen 
ist  hier  mit  dem  Problem  der  Materie  noch  nicht  in  Verbindung 
gebracht. 

Zu  einer  zweiten,  grössern,  Gruppe  ziehen  wir  diejenigen 
Schriften,  welche  das  Problem  der  Materie  auf  dem  Grunde  der 
pythagoreischen  Zahlenspeculation  erörtern. 

Wenig  Gharacteristisches  bieten  die  Schriftsteller  der  ersten 
Gruppe.  Aus  dem  platonischen  Timaeus  wird  die  Schilderung 
der  Materie  als  einer  form-  und  eigenschaftslosen  2),  bildsamen 
Masse  {äxfiayeioi)  '^)  übernommen,  welche  die  bestimmten  Gestal- 
tungen in  sich  aufnimmt  und  so  die  Mutter  und  Wärterin  der 
sinnfälligen  Körperwelt  darstellt  ^).  Die  platonische  Benennung 
der  Materie  als  «Ort"  oder  „Raum"  wird  von  dem  angebhchen 
Locrer  Timaeus  wiederholt,  aber  in  einer  Form,  aus  der  man 
ersieht,  wie  wenig  er  sich  über  das  Gewicht  dieser  platonischen 
Bezeichnung  klar  war  ^).  Vielmehr  scheint  schon  er  die  Materie 
in  der  durch  die  Stoiker  verbreiteten  Weise  als  Substanz  {oram) 
zu  denken  ^).  Freilich  knüpft  sein  xA.usdruck  zunächst  bei  Aristo- 
teles an,  nämlich  an  dessen  Dreiteilung  der  Substanz,  wie  denn 
überhaupt  eine   Einwirkung   der  Stoa    neben   der  des  Aristoteles 


')  Über  diese  Schriften  vgl.  Zeller  IS  266  f.  IIP  b,  99  ff. 

2)  Tim.  Locr.  94  A.  Archyt.  bei  Stob.  ecl.  I,  714. 

')  Tim.  Locr.  94  A.  Ocell.  de  univ.  nat.  2,  3. 

*)  a.  a.  0. 

^)  Tim.  Locr    94  B:   n  ot  w/  cgt  vo  v  t  i  de  tüv  vXav   lonov    xai  ^toQav. 

*')  Tiia.  Locr.  94  A  ist  das  Sinnfälliue  als  dritte  ovaia  bezeichnet. 


390        Fünfter  Abschnitt.     Der  Neiiplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

bei  ihm  mit  Sicherheit  noch  nicht  nachzuweisen  ist.  Ein  ent- 
schiedener Anschluss  an  die  stoische  Vorstellung  findet  sich  da- 
gegen bei  Ocellus.  Ihm  ist  die  Materie,  ganz  wie  jenen,  der  un- 
bestimmte Körper  >).  Wieder  auf  Aristoteles  werden  wir  aucli 
bei  Ocellus  zurückgeführt,  wenn  derselbe  die  gegensätzlichen  Be- 
stimmungen, durch  welche  die  Elemente  und  die  übrigen  Dinge 
ihr  bestimmtes  Sein  erhalten,  der  Potenz  nach  in  der  Materie 
enthalten  denkt  2).  Diese  der  Materie  innewohnenden  Potenzen 
(dvrdßfig)  aber  werden  von  ihm  dann  zugleich  in  der  Weise  der 
stoischen  Xöyoi  oneQfxarixol  als  Kräfte  gefasst,  die,  im  Unterschied 
von  den  actuellen  Eigenschaften  selbst,  weder  werden  noch  ver- 
gehen. Dabei  sollen  dieselben  indessen  nicht,  wie  die  stoischen  Xoyoi^ 
als  etwas  Körperliches  gedacht  werden,  sondern  gleich  den  aristote- 
lischen löyoi^  d.  h.  begrifflichen  Formen,  als  etwas  Unkörperliches  ^). 
Der  gleiche  weitere  Fortgang  zu  einem  verwickeiteren  Eklekticisnius 
zeigt  sich  auch  sonst  im  Verhältnis  des  Ocellus  zu  dem  Locrer. 
Während  der  letztere  an  der  platonischen  Dreiheit  der  Idee,  der 
Materie  und  dem  Product  beider,  dem  Sinnfälligen,  im  ganzen 
festhält  *)  und  nur  Anklänge  an  die  aristotelische  Auffassung 
hat  5),  schiebt  Ocellus  (und  ebenso  auch  Pseudo- Archytas)  an 
deren  Stelle  die  aristotelische  Dreiheit  Materie,  Form  und  (zusam- 
mengesetzte) Substanz  ein^).  Ebenso  zeigt  die  Elementenlehre 
des  Ocellus  sich  gänzlich  von  Aristoteles  und  der  Stoa  abhängig "'). 
Aristotelisch  ist  die  Lehre  des  Ocellus  von  der  Ewigkeit  der 
Welt  *).  Aristotelisch  und  zugleich  stoisch  ist  es  ferner,  wenn 
Ocellus,  entsprechend  der  aristotelischen  Unterscheidung  von  erster 
und    zweiter     Materie,     neben    der    Materie    „im     ersten    Sinn" 


1)  odSfia,  Ocell.  de  univ.  nat.  2,  3;  tiqmtov  acZ/na  ebd.  2,  7;  vnoxtliitvov  aöofia 
ebd.  2, 12. 

")  a.  a.  0.  2,  3;  2,  7.     Der  Begriff  der  dvvuuig  ausserdem  2,  6  und  2,  12. 
^)  loyoi  dacofiaroi,  a.  a.   0.  2,  5. 
*)  Tim.  Locr.  93  B. 

^)  Tim.  Locr.  97  E:  oig-^al  /uev  lav  tiHv  yevv'i)fi£Vüav  cag  ixiv  vnoxtißtvov  a  vka, 
wg  (fe  Xöyoi  fiogipac  ro  sidos'  aTioyevvä/uaTa  rfe  xovretov  iml  rd  autfiaTce.  Auch 
94  B  gebraucht  derselbe  tMo?,  wo  von  der  Verbindung  mit  der  Materie  die 
Rede  ist,  während  er  die  Idee  als  Urbild  uh'a  nennt  (93  B ;  94  B — C  u.  ö.). 
Doch  ist  der  Unterschied  bei  ihm  nicht  so  ausgeprägt  wie  bei  Albinus  (vgl. 
S.  373  Anm.  3). 

")  Ocell.  de  univ.  nat.  2,  3 — 5.  6.    Archyt.  bei  Simpl.  in  cat.  f.  23  F. 

')  a.  a.  0.  2,  6  ff.    Die  Qualitäten  2,  6  stoisch,  2,  11.  16  aristotelisch. 

8)  Ocell.  de  nat.  univ.  1,  2  ff. 


Neupythagoreer.     Erste  Gruppe.     Fehlen  der  Zahlenspeculation.        391 

[irgoiTcog  vX7])  auch  eine  qualitativ  schon  bestimmte  Materie  kennt, 
die  Elemente  des  Wassers  und  der  Erde  nämlich,  welche  sich  zu 
denen  des  Feuers  und  der  Luft  wie  der  Stoff  zur  Form,  wie  das 
Leidende  zum  Thätigcn  und  zur  bewegenden  Ursache  verhalten  *). 
Auch  die  Frage,  wie  die  Materie  durch  die  Formelemente 
bestimmt  werde,  Vv'ird  von  jenen  Schriftstellern  nicht  aufgrund  der 
pythagoreischen  Zahlenlehre,  sondern  aufgrund  platonischer  und 
stoischer  Anschauungen  beantwortet.  Neben  der  Idee  und  der 
Materie  stellt  der  Locrer  Timaeus  als  dritte  der  Weltbildung  vor- 
aufgehende Ursache  mit  dem  platonischen  Dialog  den  Demiurgen 
auf  2).  Schon  vor  dem  Eingreifen  dieses  hatte  die  Materie  —  so 
lehrt  der  Locrer  in  einer  seltsamen  Verkennung  des  platonischen 
Timaeus,  die  freilich  von  modernen  Missverständnissen  nicht  allzu 
weit  absteht  ^)  —  zwar  in  ungeordneter  Weise  an  den  Ideen  teil, 
die  einen  regellosen  Wechsel  in  ihr  hervorbrachten.  Das  Werk 
des  Demiurgen  ist  es,  aus  diesem  willkürlichen  Schweifen  sie  zu 
einem  geordneten  Wechsel  der  Verbindungen  geführt  zu  haben*). 
Mit  den  Stoikern  dagegen  unterscheidet  Pseudo-Archytas  das 
Wirkende  und  das  Leidende  in  der  Natur,  Gott  und  die  jMaterie^). 
In  mehr  naturalistischer  Weise  wendet  Ocellus,  im  Anschluss  an 
gewisse  Elemente  der  immanenten  aristotelischen  Naturbetrach- 
tung, die  gleiche  Unterscheidung  an  auf  das  Verhältnis  der  un- 
veränderlichen supralunarischen  und  der  wandelbaren  subluna- 
rischen  Welt  ^'). 

Ganz  anders  die  zweite  Gruppe '').  Zu  derselben  zählen,  ausser 
manchen  Andern,  die  gelegentlich  zu  berücksichtigen  sind,  na- 
mentUch  die  Pythagoreer  des  Alexander  Polyhistor^)  und 


')  Ocell.  a.  a.  0.  2,  6.     Vgl.  oben  S.  349.  369. 

2)  Tim.  Locr.  93  B— C. 

s)  S.  S.  149. 

*)  a.  a.  0.  93  G. 

*)  Archyt.  bei  Simpl.  in  cat.   84  B. 

*)  Ocell.  de  univ.  nat.  2,  1.  23.  Die  stoische  Gleichsetzung  des  Wirken- 
den und  Leidenden  mit  Gott  und  der  Materie,  die  Zeller  IIP  b,  115,  3  dem 
Ocellus  aufgrund  dieser  Stellen  zuschreibt,  ist  darin  nicht  ausgesprochen. 

')  Bei  der  Lückenhaftigkeit  unserer  Überlieferung  empfiehlt  sich  auch  hier 
eine  concordistische  Darstellung,  aus  der  wir  nur  im  Falle  grösserer  Abwei- 
chungen die  Einzelnen  besonders  hervorheben. 

")  bei  Diog.  Laert.  VIII  24  ff.     Vgl.  Zellor  I^  337,  1.    III ^  b,  88—93. 


392        Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

des  Sextus  Empiriciis  ^);  ferner  Moderatus,  Nicomachus 
und  was  lamblichus  und  Philoponus  in  ihren  Erläuterungs- 
schriften zu  den  Werken  des  letztern  als  pythagoreisch  beibrin- 
gen ;  endlich  Numenius^),  Gronius,  die  aber  dem  Plato  noch 
mehr  entnehmen,  als  der  neupythagoreischen  Schule,  sowie  der 
schon  oben  behandelte  Platoniker  Plutarch  von  Ghaeronea  hin- 
sichtlich einzelner  Bestimnuuigen,  in  denen  er  den  Neupythago- 
reern  folgt.  In  weiterer  Entfernung  schliessen  sich  auch  die 
sogen,  hermetischen  Schriften  diesem  Kreise  an  3). 

Wohl  der  bedeutsamste  Zug  der  '  neupythagoreischen  Welt- 
hetrachtung,  soweit  dieselbe  theoretischer  Art  ist,  ein  Zug,  der 
zugleich  auch  ihre  Lehre  von  der  Materie  bestimmt,  liegt  darin, 
dass  sie  die  Gesamtheit  des  Seienden  aus  den  selben  gedanklichen 
Principien  ableiten  wollen.  Schon  die  alten  Pythagoreer,  und 
ebenso  Plato,  namentlich  in  seiner  spätem  Zeit,  ferner  die  alte 
Academie,  sind  ihnen  hierin  vorangegangen;  ebenso  in  materia- 
listischer Wendung  die  Stoiker.  Aber  die  straffe  Durchführung 
jenes  logischen  Monismus  scheint  als  ihr  Eigentum  betrachtet  wer- 
den zu  müssen.  Sie  haben  hierdurch  in  einem  wichtigen  Puncle 
die  neuplatonische  Lehre  vorbereitet. 

Mit  der  überwiegenden  Mehrzahl  ihrer  Vorgänger  stimmen 
unsere  Neupythagoreer  darin  überein,  dass  die  Principien  der 
uns  umgebenden  Erscheinungswelt  nicht  in  etwas  Sinnfälligem 
gesucht  werden  dürfen  ^).  Auch  die  Annahme  von  Atomen,  Ho- 
moeomerien  u.  s.  w.  genügt  noch  nicht,  da  derartige  Principien, 
obgleich  nur  durch  das  Denken  erfassbar,  doch  noch  körperlicher 
Natur  wären.  Denn  wie  die  Elemente  der  Wörter  sebst  keine 
Wörter,    so    dürfen   auch    die    Elemente   der   Körper  selbst  keine 


')  adv.  math.  X  250  ff.  Pyrrh.  hyp.  III   152  K    Vgl.  Zeller  I*,  337,  1. 

■^)  Die  Fragmente  des  Numenius  bei  Thedinga,  de  Numenio  philosopho. 
Bonnae  1871.  Über  seine  Lehre,  ausser  Zeller  IIP  b,  216  ff.:  Möller,  Gesch. 
der  Kosmologie  i.  d.  griech.  Kirche  bis  auf  Origenes.  Halle  1860.  S.  91—108. 
—  Dass  der  nach  Miller's  Catalogue  des  manuscrits  grecs  de  la  bibliotheque 
de  l'Escurial,  p.  158,  in  der  Bibliothek  des  Escorial  befindliche  angebliche 
Tractat  des  Numenius  nt^l  vXt^g  in  Wahrheit  ein  Stück  aus  Plotin.  enn.  III  6 
sei,  habe  ich  in:  Hermes  XXII.  1887.  S.  1.5ß  ff.  („Eine  angebt.  Schrift  u.  ein 
vermeintl.  Fragment  des  Numenius")  gezeigt. 

^)  Zwar  nicht  die  Bezeichnung  der  Materie  als  der  äd^iaios  (fväs,  aber  doch 
die  Gottes  als  der  Monas  ist  ihnen  eigen ;  vgl.  Zeller  III  ^  b,  226. 

^)  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  250;     Pyrrh.  hyp.  III  152. 


Neupythagoreer.  Zweite  Gruppe.  Begriff  der  Mal.  aufgrund  d.  Zahlenspeculation.    393 

Körper  mehr  sein  ^).  Selbst  die  platonischen  Ideen  erfüllen  noch 
nicht  die  Aufgabe  letzter  Principien.  Jede  Idee  nämlich  ist  für 
sich  Eines,  mit  andern  Ideen  verbunden  Zwei  oder  Drei  oder  Vier. 
Die  Zahlen  also,  folgert  man  hieraus,  stehen  noch  über  den 
Ideen  2).  Unter  den  Zahlen  aber  ist  wieder  die  Eins  das  Oberste, 
da  die  Zwei  eine  Zwei,  die  Drei  eine  Drei  u.  s.  w.  ist  3). 

Die  letztern  Bemerkungen,  deren  hohe  Bedeutung  für  die 
Würdigung  der  neupythagoreischen  Lehre  in  den  bisherigen  Ge- 
schichtsdarstellungen nicht  genügend  hervortritt,  führen  uns  über 
die  arithmetischen  Spielereien,  bei  deren  Seltsamkeit  die  geschicht- 
liche Betrachtung  so  leicht  haften  bleibt,  hinaus  tief  in  die  ei- 
genthche  Absicht  der  Schule.  —  Aus  dem  Grunde  soll,  wie  wir 
sahen,  den  Ideen  nicht  der  Rang  von  Principien  zukommen,  weil 
sich  die  Zahlen  von  ihnen  prädicieren  lassen ;  ebenso  darum 
nicht  sämtlichen  Zahlen,  weil  sich  die  Einheit  von  allen  andern 
aussagen  lässt.  Eine  Bestimmung  aber,  die  von  einem  andern 
ausgesagt  wird,  verhält  sich  zu  diesem,  wie  das  Allgemeine  zum 
Besondern,  wie  die  Gattung  zur  Art.  Wenn  also  die  Neupytha- 
goreer die  Einheit  deshalb  als  oberstes  Princip  aufstellen, 
weil  sie  das  allgemeinste  Prädicat  von  allem  bildet,  so  liegt  dem, 
wie  wir  nunmehr  sehen,  die  Anschauung  zugrunde,  dass  das 
höchste  Princip  in  dem  allgemeinsten  Begriffe  gesucht  werden 
müsse.  Es  ist  ein  verwandter  Standpunct,  wie  der  der  hegel'schen 
Logik,  die  in  dem  allgemeinsten  Begriffe  des  Seins  das  oberste 
Princip  der  Gottes-  und  Weltentwicklung  erblickt. 

Mit  der  hegel'schen  Logik  geht  der  Neupythagoreismus 
auch  darin  zusammen,  dass  er  die  Gesamtheit  der  Dinge  als  eine 
Selbstentwicklung  des  allgemeinsten  Anfanges  fasst,  zuerst  in 
dem  Gebiete  des  Gedankenhaften,  dann  in  dem  des  Körperlich- 
Concreten.  Diese  Entwicklung  aber  kommt  dadurch  zustande, 
dass  an  der  ursprünglichen  Einheit  sich  ein  Moment  des  Anders- 


1)  Sext.  adv.  math.  X  252  f.     Pyrrh.  hyp.  III  152. 

-')  Sext.  adv.  math.  X  258;  Pyrrh.  hyp.  III  153. 

^/  Sext.  adv.  math.  X  258—260.  Der  Gedanke  wird  von  Pythagoreern  und 
Neuplatonikern  oft  vi^iederholt;  vgl.  z.  B.  lainbl.  theologum.  arithm.  c.  1,  p.  4 
ed.  Ast.  Ders.  in  Nicomach,  arith.  introd.  p.  104  A  ed.  Tennulius  (Arnheim 
1668.  Zum  stark  vernachlässigten  Texte  der  Schrift  vgl.  Horcher,  Hermes  VI. 
1872.  S.  59—67).  Procl.  in  Eucl.  def.  I,  p.  96,  4  Friedlein.  Damasc.  de  princ. 
c.  53.  p.  140,  u.  s.  w. 


394         Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

seins  {StsQÖTrjc)  oder  der  Entzweiung  zeigt  —  denn  „Anderssein" 
heisst:  ein  Zweites  sein.  Es  ist  die  unbestimmte  Zwei- 
heil (dögiOTog  Jrac),  der  wir  auch  bei  Plato  i)  und  in  der  altern 
Academie  2)  als  dem  zweiten  Princip  begegneten.  Sie  verhält  sich 
als  Grund  des  Auseinander  und  der  Entzweiung  zu  der  fest- 
gestaltenden Einheit  wie  die  Materie  3)  zur  Form 4)  oder  zur 
bewirkenden  Ursache^)  —  zwei  Ausdrücke,  welche  dem  An- 
schluss,  der  eine  an  die  aristotelische,  der  andere  an  die  stoische 
Auffassung  entstammen.  Da  jene  Einheit  als  oberste  Gattung, 
und  darum  auch  jene  Materie,  das  Anderssein,  als  das  differen- 
zierende Moment  an  der  Gattung  zunächst  noch  ganz  der  begriff- 
lichen Sphäre  angehören,  so  haben  wir  in  dieser  Materie  zu- 
nächst die  Erneuerung  der  intelligibelen  Materie,  zu  deren 
Aufstellung  Plato  bei  der  pythagoreischen  Umbildung  seiner 
Ideenlehre  gelangte  '^),  und  von  der  auch  bei  Aristoteles  die  Nach- 
wirkungen zu  bemerken  waren '').  Sie  ist  dann,  gewiss  nicht 
ohne  den  Einfluss  des  Neupythagoreismus,  auch  von  den  Neu- 
platonikern  beibehalten. 

Ob  die  unbestimmte  Zweiheit  oder  die  (intelligibele)  Materie 
als  gleich  ursprüngliches  Princip  neben  der  Einheit  zu  betrachten 
sei,  über  diese  Frage  sind  die  Neupythagoreer  sich  nicht  einig. 
Die  Einen  nämlich,  denen  auch  Numenius  beistimmte,  bleiben 
bei  dem  hergebrachten  DuaUsmus  von   Einheit  und  unbestimmter 


')  S.  201. 

2)  S.  207. 

^)  Aristides  Quintil.  de  music,  Mus.  Graec.  III  p.  121  Meibom.  Numenius 
fr.  14  Thed.  bei  Chalc.  in  Tim.  c.  295,  p.  324,  3-4  Wrobel.  lambl.  theol. 
arithm.  c.  1,  p.  7  Ast.  Anatolius  bei  lambl.  ebd.  c.  2,  p.  9.  Numen.  fr.  26  bei 
Euseb.  praep.  ev.  XI  18,  3.  p.  537  A.    Asciep.  in  met.  I,  p.  35,  8  Hayduck. 

^)  Eudor.  bei  Simpl.  phys.  I,  p.  181,  18.  lambl.  in  Nicom.  arith.  intr.  p.  109 
G.  110  G.  Vgl.  Asdep.  in  met.  I,  p.  137,  34.  Ebenso  Plut.  de  def.  orac.  c.  35, 
p.  428  F  tf.,  s.  0.  S.  374. 

5)  Alex.  Polyhist.  bei  Diog.  VIII,  25.  Sext.  adv.  math.  X  277.  Aet.  I  3,  8 
(Dox.  p.  281)  bei  Plut.  plac.  1 3  und  Stob.  ed.  I,  p.  300  (wo  beide  Gegensätze,  der 
stoische  des  tioii^tixov  ahiuv  und  des  na&rjTixöv  und  der  aristotelische  des 
eldixov  und  des  vXixöv,  verbunden  sind).     Asciep.  in  met.  I,  p.  43    16. 

«)  S.  S.  198  ff. 

')  S.  S.  291  ff.  Die  Bezeichnung  <hd?  wird  übrigens  in  völlig  gleicher 
Weise  wie  auf  die  inteUigibele,  so  auch  auf  die  körperUche  Materie  angewen- 
det, weshalb  bei  den  Quellenbelegen  Anm.  3—5  die  Belege  für  Beides  unge- 
schieden zusammengestellt  smd. 


\ 


Neupythagoreer.     Intelligibele  Materie.    Ihr  Ursprung.  395 

Zweiheit  stehen.  Wenngleich  die  Zweiheit  durch  Verdoppelung 
der  Zahl  Eins  gebildet  werde  i),  so  setze  doch  der  Begriff  einer 
solchen  Verdoppelung  den  Begriff  der  Zweiheit  schon  voraus. 
Wenn  also  auch  nicht  die  Zahl  Zwei,  so  müsse  doch  die  unbe- 
stimmte Zweiheit  bereits  als  ursprüngliches  Princip  vorhanden 
sein  2).  —  Andere  wollen  auch  jenes  zweite  Princip  überhaupt 
aus  der  ursprünglichen  Einheit  ableiten.  Aus  der  Monas,  berichtet 
Alexander  Polyhistor  als  neupythagoreische  Lehre,  schlage 
sich  die  unbestimmte  Zweiheit  als  Materie  für  die  Monas  nieder, 
welche  Jetztere  die  bewirkende  Ursache  sei  ^).  Einen  ähnlichen 
Bericht  finden  wir  bei  Eudorus-*).  Die  Einheit  wird  deshalD  von 
Nicomachus,  wie  als  Form,  so  auch  in  gewissem  Sinne  als  Ma- 
terie bezeichnet  ^).  Anderswo  heisst  sie  das  unerzeugte  Princip, 
dem  die  Zweiheit  und  die  übrigen  Zahlen  als  das  erzeugte  Prin- 
cip gegenüberstehen  ^).  Die  Art  jenes  Hervorganges  der  3Iaterie 
aus  der  Einheit  wird  genauer  von  Moderatus  beschrieben.  Die 
(intelhgibele)  Materie  entsteht  dadurch,  dass  die  Einheit  sich  selbst 
der  bestimmten  Quantität  beraube  und  so  die  unbestimmte  Quan- 
tität   von   sich   sondere,    die  ihr  als  Materie  diene  '^).     Denselben 


^)  wie  das  auch  bei  Sext.  adv.  math.  X  261  als  pythagoreische  Lehre  ange- 
geben ist. 

2)  Sext.  adv.  math.  X  276.  282.  Ebenso  meint  Numenius  (fr.  14Thedinga) 
bei  Chalcid.  in  Plat.  Tim.  c.  295  (p.  324,  11  ff.  Wrobel) :  nonnuHos  Pythagoreos, 
vim  sententiae  non  recte  adsecutos,  putasse  dici  etiam  illam  indeterminatam 
et  immensam  duitatem  ab  unica  singularitate  institutam,  recedente  a  natura 
sua  singularitate,  et  in  duitatis  habitum  migrante:  non  recte,  ut  quae  erat 
singularitas  esse  desineret,  quae  non  erat  duitas  subsisterel,  atque  ex  deo  silva 
et  ex  singularitate  immensa  et  indeterminata  duitas  converteretur.  S.  auch 
S.  399  Anm.  4. 

3)  Diog.  Laert.  VI II  25. 

*)  Eudor.  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  181,  10—30.  Vgl.  ferner  die  schon 
Anm.  1  citierte  Stelle  des  Sextus  Empiricus,  adv.  math.  X  261. 

*)  Nicom.  theologum.  arithm.  bei  Photius  cod.  187,  p.  143  a  22.  31  Bekker. 

6)  Hippol.    refut.  VI  23. 

')  Moderat.  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  5  ff.  (nach  Porphyr.).  Zeller  IIP  b, 
126,  2  bestreitet  gegen  Vacherot,  Histoire  de  l'ecole  d'Alexandrie  (Paris  1846) 
I,  309,  dass  diese  wichtige  Stelle,  p.  231,  7  ff.,  sowie  auch  das  voraufgehende 
Gitat  p.  230,  36  ff.  Worte  des  Moderatus  enthalte.  Er  will  in  ihnen  die  eigene 
Auffassung  des  Porphyr  erblicken.  Hinsichtlich  der  Stelle  p.  230,  36  fif.  ist  zu- 
zugeben, dass  hier  ein  Referat  des  Porphyrius  über  die  platonische,  mit 
der  pythagoreischen  als  gleichbedeutend  gefasste  Lehre  vorliegt,  welches  zwar 
auf  Moderatus  zurückgehen  dürfte  (wie  auch  Zeller  S    128  Anm.  2  mit  einigen 


39ß         Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplalonismus  und  dessen  Vorläufer. 

Standpunct  finden  wir  auf  einem  begrenzteren  Gebiete  bei 
derjenigen  Partei  der  Pythagoreer,  welche  die  Körper  ohne  Zu- 
hilfenahme der  Zweilicit  allein  aus  der  Puncteinheit  ableiten  woll- 
ten. Nach  diesen  sollte  der  Punct  allein  durch  seine  Bewegung 
die  Linie,  dann  diese  durch  ihre  Bewegung  d  e  Fläche,  endlich  die 
letztere  auf  gleiche  Weise  den  Körper  hervorbringen  i). 

Eine  weitere  Folge  dieser  Ableitung  der  Zweiheit  aus  der 
Einheit,  der  Materie  (zunächst  der  intelligibelen)  aus  der  Form 
war  es,  dass  man  anfing,  zwischen  der  noch  nicht  gespaltenen 
Ureinheit  und  der  Einheit  als  Gegensatz  der  Zweiheit  zu  unter- 
scheiden 2).  Jene  über  den  Gegensatz  der  Principien  hinaus- 
gerückte Ursache  wird  dann  mit  der  Gottheit  identificiert  ^). 

Wenngleich  so  über  das  Verhältnis  von  Monas  und  unbe- 
stimmter Zweiheit  bei  den  Neupythagoreern  keine  Einigkeit  be- 
steht, so  gehen  doch  auch  bereits  diejenigen,  welche  die  Zweiheit 


Einschränkungen  einräumt),  aber  schwerlich  in  allem  die  Worte  desselben 
wiedergiebt.  Für  p.  231,  7  ff.  dagegen  kann  ich,  nach  dem  Bekanntwerden 
eines  bessern  Textes  als  Vacherot  und  Zeller  ihn  hatten.  Zeller  nicht  zustim- 
men. Zeller  wendet  gegen  Vacherot  ein,  dass  man,  um  die  fraglichen  Worte 
dem  Moderatus  beilegen  zu  können,  p.  221,  5:  xal  lama  rff  6  nogtf.vpio?  iv  ru7 
(fevrtQii)  rJe^l  v^r/s  tu  tov  Mod'fQurov  nnQa&eßfvoc  yt''/()aqfv  erklären  müsse:  „Und 
auch  diese  Worte  des  Moderatus  beifügend,  schreibt  Porphyrius",  was  eine 
unnatürliche  Ausdrucksweise  und  auch  deshalb  unzulässig  sei,  weil  in  diesem 
Falle  statt  na^a&lufvoi  vielmehr  das  Präsens  na(>aTi&s,utvos  stehen  müsse.  Es 
sei  deshalb  zu  übersetzen:  „Und  auch  dieses  schreibt  Porphyr  im  zweiten  Buche 
von  der  Materie,  nachdem  er  die  Aussage  des  Moderatus  beigefügt  hat".  — 
Allein  jenes  naQa&epifvos  Z.  6  ist  irrige  Lesart  der  Aldina,  für  welche  Diels  als 
die  Lesart  der  Handschriften  eben  das  Präsens  TiapuTi&i/nevog  wieder  hergestellt 
hat.  Ich  übersetze  den  Satz:  „Und  auch  dieses  schreibt  Porphyrius,  die  Worte 
des  Moderatus  beifügend".  Zum  Gedanken  des  Moderatus  vgl.  die  S.  395  Anm.  2 
citierte  Stelle  des  Numenius,  auch  die  einigermaassen  verwandten  Ausführun- 
gen des  lamblichus  in  Nicom.  arithm.  intr.  p.  310  A. 

1)  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  281.     Vgl.  lambl.  in  Nie.  ar.  intr.  p.  80  G. 

2)  wobei  bald  das  h\  bald  die  fioväg  als  das  Obei-ste  gefasst  wird ;  vgl.  Theo 
Smyrn.  expos.  rer.  math.  c.  3,  p.  19,  18—22;  c.  4,  p.  20,  19-20;  21,  7—14. 
lambl.  in  Nie.  ar.  intr.  p.  12  A.  Syrian.  in  met.  XIII,  p.  917  b  3—7.  XIV, 
p.  927  b  28  ff.  Us.  Asclep.  in  met.  I,  p.  35,  16  Hayduck.  Damasc.  de  princ. 
C.43.  p.  115  f.  Kopp;    c.  46,  p.  121  f.;  c.  52,  p.  138  m.,  und  v.  a.  St. 

^)  Simpl.  in  phys.  I,  p.  181,  8.  Eudorus  ebd.  p.  181,  10—13.  17-19.  22—23. 
27—29.  Syrian.  in  met.  XIV,  p.  927  b  28.  Damascius  an  den  in  der  vor. 
Anm.  citierten  Stellen.  Weiteres  bei  Zeller  I*,  334  f.  (bei  Hippol.  refut.  1,2,6, 
Dox.  p.  556,  8  ff.  ist  aber  der  Text  unsicher.) 


Neupythagoreer.     Intelli^ibele  Materie.     Ihr  Ursprung.  397 

als  zwar  untergeordnetes,  aber  doch  gleich  ursprüngliches  Princip 
neben  der  Einheit  festhalten,  so  gut  über  den  Standpunct  des 
alten  Pythagoreismus  hinaus,  wie  diejenigen,  welche  sie  aus  der 
Einheit  ableiten.  Denn  wie  schon  Moderatus  und  Theo  bemerk- 
ten, haben  die  alten  Pythagoreer  als  Principien  nicht  nur  die  Ein- 
und  Zweizahl,  sondern  alle  Zahlenreihen  betrachtet,  durch  deren 
Heraussetzung  sich  das  Gerad-  und  Ungeradzahlige  im  Denken  ab- 
leiten lässt  ^). 

Aus  der  (Jr-Monas  nun  und  der  unbestimmten  Zweiheit  oder 
der  (intelligibelen)  Materie  entwickeln  sich  die  Zahlen  von  der 
Zahl  Eins  an ;  dann  die  mathematischen  Figuren,  endlich  die 
festen  Körper  ^).  In  der  Monas  nämlich^  so  sagen  die  Neupytha- 
goreer in  Übereinstimmung  mit  der  stoischen  Ausdrucksweise 
und  nach  Analogie  der  stoischen  Lehre  vom  Urfeuer,  sind  alle 
weitern  Bestimmungen  samenhaft  enthalten  ^),  Zuerst  entwickeln 
sich  im  Denken  der  Gottheit  oder  der  Ur-Monas  die  Zahlen  als 
Musterbilder  oder  vorbildliche  Gedanken*).  Aus  den  arithmeti- 
schen Zahlen  werden  dadurch  die  geometrischen  Figuren,  dass 
die  unbestinunte  Zweiheit  als  Ausdehnung,  die  Einheit  als  Punct 
gefasst  wird.  Aber  woher  diese  neue  Gestalt  der  Unbestimmtheit 
und  damit  der  Einheit?  Woher  die  Lage,  durch  deren  Hinzu- 
nahme der  Punct  sich    von    der   Einheit    unterscheidet  ^)  ?     Eine 


^)  Moderatus  (fr.  2  Mullach)  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  20.  Theo  Srnyrn.  expos. 
rar.  math.  c.  4,  p.  20,  5—8  Hiller.  Ebenso  Ps.-Alexander  in  met.  XIV,  p.  775, 
29.  776,  9  Bon.  Syrian  zu  ders.  Stelle,  p.  926  a  1.5—17  Usener.  Zu  dem  Aus- 
drucke ai  rwv  oQü)v  t/.&iaeiQ  bei  Moderatus  und  Theo  vergleicht  Wachsmuth 
(adn.  in  Stob.)  Nicomach,  arithm.  intr.  I  8,  10.  p.  81  Ast. 

^J  Sext.  Emp.  adv.  math.  X  283. 

^)  Nicomach,  theol.  arithm.  bei  Photius  cod.  187,  p.  143,  32  Bekker  {antg- 
ixariTiü  loyos).  lambl.  theol.  arithm.  c.  1,  p.  3  Ast ;  in  Nicom.  ar.  intr.  p.  11 A 
(vgl.  12B).  Nach  Syrian.  in  met.  XIII,  p.  912  b  8  Usener  sind  in  der  Einheit 
die  Zahlen  (T;r£(^,«ar«xwf,   als  aTHQUariy.oi  löyoi. 

*)  Nicom.  ar.  intr.  I  4,  2.  G,  1.  —  Über  diese  neupythagoreische  Lehre, 
welche  von  der  altpythagoreischen  dadurch  abweicht,  dass  sie  die  Zahlen  nicht 
als  die  Substanz  der  Dinge,  sondern  als  deren  Mustei'bilder  fasst,  während  sie 
sich  von  der  platonischen  Ideenlehre  dadurch  unterscheidet,  dass  die  Idealzah- 
len —  wie  die  Ideen  bei  Albinus,  s.  S.  37oAnm.3  —  aus  für  sich  subsistierenden 
Wesenheiten  zu  Gedanken  der  Gottheit  geworden  sind,  vgl.  ZeUerU,  320;  III ',  b 
120—122. 

°)  Procl.  in  Euch  def.  I,  p.  95,  22  Friedlein,  u.  v.  a.  St. 


398        Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonisnius   und  dessen  Vorläufer. 

apriorische  Erklärung  dafür  haben  che  Neupythagoreer  nicht  ge- 
geben, Ihr  Apriorismus  kann  eben,  gerade  wie  der  Spinoza's 
und  Hegel's,  nicht  anders  vorankommen,  als  durch  fortwährende 
Anleihen  bei  der  Empirie. 

Eine  gleiche  stillschweigende  Aufnahme  neuer  empirisch  ge- 
gebener Bestimmungen,  wie  hier  bei  der  geometrischen  Materie, 
finden  wir  abermals  bei  der  Erklärung  der  physischen,  körper- 
lichen Natur.  Das  geordnete  Weltganze  ist  entstanden  dadurch, 
dass  die  iMaterie  der  körperlichen  Dinge  i),  welche  in  sich  durch 
und  durch  wandelbar  und  veränderlich  2)  und  dadurch  auch  der 
Grund  des  unablässigen  Flusses  der  körperlichen  Dinge  ist  ^), 
durch  die  Teilnahme  an  den  Zahlen,  welche  hier  die  Stelle  der 
platonischen  Ideen  einnehmen,  zu  bestimmter  Gestaltung  geführt 
wird  ^).  Mehr  dem  Wortlaut  des  platonischen  Timäus  gemäss 
setzen  die  hermetischen  Schriften  dafür  ein  Formen  der  gestalt- 
losen Materie  durch  die  Gottheit  5).  Der  formlose  Zustand  der 
Materie  geht  der  Gestaltung  indes  nur  der  Natur^  nicht  auch  der 
Zeit  nach  voran.  Nach  dem  Voraufgange  des  Ocellus  ^)  überneh- 
men auch  die  übrigen  Neupythagoreer  die  aristotelische  Lehre 
von  der  Ewigkeit  der  Welt  ■*).    Nur  vereinzelte  Ausnahmen  finden 


^)  ij  T(2v  ao},udzMv  vXv,  Moderatus  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  17. 

2)  Nicom.  ar.  intr.  I  1,  3.  Ebenso  Aet.  19,2  (Dox.  p.  307)  bei  Plut.  plac. 
I  7,  Stob.  ecl.  I,p.  318  und  Euseb.  praep.  ev.  XV  i44,  2.  p.  845  D.  Numen.  fr.  11 
bei  Euseb.  praep.  ev.  XV,  17,  2.  p.  819  B;  fr.  26,  ebd.  XI,  18,  3.  p.  537  B  (vgl. 
Chalcid.  in  Tim.  c.  296,  p.  325,  7—8  Wrobel).  So  hatte  schon  Xenocrates  die 
stets  fiiessende  Natur  als  Gegensatz  des  Einen  aufgestellt;    s.  S.  207. 

^)  Nicom.  ar.  intr.  I  1,  3. 

■')  Nicom.  ar.  intr.  I  1,  2.  Nunienius  fr.  14  Thed.  bei  Chalcid.  in  Tim.  c. 
295,  p.  324,  4—11.  325,  3—5  Wrobel.    lambl.  in  Nie.  ar.  intr.  p.  105  A-B. 

»)  Stob.  ecl.  I,  p.  316-318.  Poem.  c.  8,  3.  Vgl.  Asclep.  c.  17,  p.  39,  32 
Goldbacher  lin:  Apulei  opusc.  quae  sunt  de  philos.  Rec.  Goldbacher.  Vindobon. 
1876).  Derselbe  Asclepius  stellt  im  Anschlüsse  an  die  Stoiker  das  Pneuma 
(Spiritus I  als  den  Träger  auf,  der  die  Formen  in  die  Welt  einführt  (c.  17  Anf.). 
Gleichfalls  mit  den  Stoikern  (s.  S.  364  Anm.  2)  legt  er  dieser  vom  Pneuma 
durchzogenen  Materie  Fruchtbarkeit  und  Zeugekraft  bei  (c.  16,  p.  38, 24  ff.  39,  7). 
Andererseits  erscheint  die  Materie  nach  dem  Timaeus  als  receptaculum  (c.  17, 
p.  39,  33),  das  nur  durch  die  in  ihm  ausgeprägten  Formen  sichtbar  wird,  an 
sich  aber  unsichtbar  ist  (c.  17,  p.  40,  9—12). 

«)  s.  S.  390. 

')  Vgl.  Zeller  III'''  b,  131  f. 


Neupythagoreer.     Die  Materie  in  der  Körperwelt.  S90 

sich.     So  wenn  in  den  hermetischen  Schriften  der  Weit   ein 
zeitlicher  Anfang,  aber  eine  ewige  Dauer  beigelegt  wird  ^). 

Diese  Materie  der  Icörperlichen  Dinge  wird  von  Moderatus 
als  Abbild  der  idealen  Materie  gefasst.  Sie  ist,  wie  die  letztere, 
Quantität  —  d.  h.  nicht  Quantität  als  eine  bestimmte  Form,  son- 
dern als  Auflösung,  Ausspannung,  Zerstreuung  ^)  —  und  geht, 
wie  jene,  aus  der  Ur-Monas  auf  dem  Wege  der  Negation  aller 
Bestimmtheit  hervor  3).  Andere  leugnen  diesen  Hervorgang  und 
betrachten  sie  als  ursprüngliches  Princip  *).  Viele  Mühe  geben 
sich  die  Neupythagoreer,  zu  zeigen,  dass  auch  die  körperliche 
Materie  auf  den  Begriff  der  unbestimmten  Zweiheit  (üÖQiaiog  6väg) 
zurückzuführen  sei^). 


')  Poem.  c.  8,  3.  10,  10.  Asclep.  c.  15,  p.  39,  5  Goldb.  —  Eine  scheinbare 
Abweichung  findet  Zeller  IIP  b,  228,  3  bei  Asclep.  c.  '26,  p.  49,  13  Goldb.,  wo  es 
heisst:  genilura  uiundi  .  .  .  quae  est  et  fuit  sine  initio  sempiterna.  Indes  ist  die 
Beziehung  des  Kelativsatzes  auf  genitura  mundi  jedenfalls  unrichtig ,  da  geni- 
tura  hier  im  Sinne  von  nu?.iyyiviaca  steht  {renaissance  übersetzt  Mesnard,  Her- 
mes Trismegiste.  -J.  ed.  Paris  1867,  p.  150,  Wiedergeburt  ßernays,  Apuleius' 
Dialog  Asclepius.  Ges.  Abb.  S.  335).  Bernays  a.  a.  0.  bezieht  ihn  auf  das  vor- 
aufgehende  natura.  Allen  Anstoss  beseitigt  Goldbacher's  Einschiebung  von  vo- 
luntate,  durch  die  der  Satz  eine  mit  dem  Folgenden  übereinstimmende  Bezie- 
hung gefunden  hat. 

'■')  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  19 — 20.  22 — 24.  Vgl.  232,  25:  zu  dJ^-iaiuv  nuaüv. 

^)  Moderatus  (s.  o.  S.  395  Anm.  7)  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  15 — 21. 

*)  lambl.  in  Nie.  ar.  intr.  p.  111  C;  vgl.  o.  S.  395  Anm.  2. 

")  Es  möge  genügen,  von  diesen  wunderlichen  Zahlenspeculalionen  eine 
Probe  zu  geben.  —  So  finden  wir  bei  lamblichus  in  seiner  Erläuterungsschrift  zur 
arithmetica  introductio  des  Nicomachus  Folgendes  als  pythagoreische  Lehre. 
Alles  in  der  Weit  ist  von  Gegensätzen  beherrscht,  die  durch  die  Harmonie 
zur  Einheit  geführt  werden  (,p.  103  B— Gj.  So  Beschaffenes  aber  lässt  sich 
nicht  durch  die  Quadratzahlen  {rttQÜywva.;  das  Wort  steht  hier  zugleich  im 
geometrischen  und  im  arithmetischen  Sinne)  ausdrücken,  sondern  nur  durch 
die  im  engern  Sinne  so  genannten  Rechteckszahlen  {itfQofxily.-i,),  d.  h.  durch 
die  Producte  zweier  Seilen,  von  denen  die  eine  um  eine  Einheit  länger  ist 
als  die  andere  (p.  105  B-GJ.  Denn  nicht  die  Quadrate,  die  ja  aus  gleichmal 
gleich  bestehen,  sondern  die  Rechteckszahlen  enthalten  Entgegengesetztes, 
nämlich  Parzählig  und  Unparzählig,  zur  harmonischeu  Einheit  des  Productes 
verbunden.  Nun  entstehen  zwar  die  Quadrate  aus  der  Einheit  allein,  jene 
Rechlecke  dagegen,  deren  Seilen  um  eine  Einheit  verschieden  sind,  kommen 
dadurch  zustande,  dass  die  Einheit  sich  in  die  Zweizahl  verliert,  lamblich 
zeigt  dieses  auf  doppelte  Art:  geometrisch    und    aritiinielijch.     Freieres 


4()()  Fünfter  Altsrlinitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 


Als  das  Unbestimmte  ist  die  Materie,  wie  in  Übereinstimmung 
mit   Piato     gelelirt     wird,     an    sich    für    das    Denken    unerfass- 


a 

b 

b 

l 

a  =  fxovag 


h  4-  b  +  1)  =  ■/" 


a         b 
a  b 

b  b 


b  -(-  b  -|-  b  -}-  b  =  yvc) fiu>v 


ist    die   Bildung  der  Quadrate  und    Rechtecke    durch    Gnomonen,    letzteres  die 
durch    Zusammenzählung  [iTnaiDQfi'a). 

Um  das  Quadrat 4  (=  2X  2)  geom  etrisch  durch  den  Gnomon  3  zu  bilden,  ist 
ein  Quadrat  —  also  die  ^or«?  —  erforderlich,  an  welches  jener  Gnomon,  der 
aus  3  jenem  ersten  Quadrate  glei- 
chen und  in  der  Form  eines  Winkel- 
hakens verbundenen  Quadraten  be- 
steht, dann  angelegt  werden  kann 
(107  A).  Um  dagegen  z.  B.  das 
Rechteck  6  mit  den  Seiten  2  und  3  durch  Umlegung  eines  solchen  Gnomons 
(mit     ungleich     langen     Schenkeln) 

bilden    zu     können,    müssen    zuvor  *         ^        a  -|-  a  =  <)-üas 

'i    aneinandergesetzte     Quadrate   — 
also  die  rf««'?    —    hingelegt    werden 
(p.  109    A.)     Dasselbe    ergiebt   sich 
bei  der    arithmetischen   Bildung 
jener  Quadrat-  und  Kechteckszahlen 
durch  Zusammenzählung.     lamblichus  vergleicht  dieses  Verfahren  dem  Doppel- 
lauf in  der  Rennbahn.     Bei  demse'ben  gleicht    die  Eins,    von    der   ab    gezählt 
wird,  den  Schranken.     Von  der  Eins  geht  die  Zählung  weiter  bis  zu  der  Zahl, 
um  deren  Quadrat,  resp.  bis  zu  den  Zahlen,    um    deren   Product  es    sich  han- 
delt.    Diese  Zahl,  resp.  diese    Zahlen,    werden    der    Säule    verglichen,    an    der 
beim  Doppellauf  die  Wendung  stattfindet.    Ist  dieses  Ziel  erreicht,    so    beginnt 
der    zweite,    rückläufige     Teil    der    Zahlenreihen.     Er   i^t   verschieden  für  die 
Quadrat-    und    für    die    Rechteckszahlen.     Bei    jenen    langt  er  wieder  bei  der 
Eins,    bei    diesen    bei    der    Zweizahl    an.     So    entsteht   z.    B.    das    Quadrat    4 
(=2X2)  durch  die  Suniniierung  {IniauiQdu)    folgender    Reihe:"  1  +  2  -)-  1, 
das  Quadrat  IG  (=4X4)  aus    der   Reihe :     l  +  2  +  3  +  4  +  3-f2  +  l 
(pag.  107  B-108  D).    Die  Rechteckszahl  12  (=  3  X  4)  entsteht  aus  1  +  2  +  3 
+  4  +  2,  die  Rechteckszahl  20  (=4X5)  aus  1  +  2  +  3  +  4  +  5+3+2 
(pag.  109  A — B).     Dass  in  den   beiden    letztern    Fällen    nicht  das    vollkommne 
Quadrat,  sondern    das    unvollkommne ,    mangelhafte    Rechteck    entstand,    liegt 
darin  begründet,  dass  der  zweite  Teil  der   Reihe  nicht  zu  der    Einheit   zurück- 
kehrte, von    welcher   der    erste    ausgegangen   war,     sondern  bei  der  Zweizahl 
stehen  blieb  (p.  109  C).     Da  nun  die  vollkommne  Hälfte  der  Reihe  bis   zu  der 
höchsten  Ziffer  dieser  aus  der  Einheit    durch    deren    successive    Selbstaddition 
entsteht  (2=  1  +  1,  3=2  +  1  u.s.w.),  so  ist  die  Einheit  in  der  Natur  der 
Grund    der    Vollkommenheit    und    giebt    allem    die    Form  (ftd'o?).    Grund  der 
Auflösung  aber,  d.  h.  die  Ursache,    we.shalb    die   zweite  Hälfte   der   Reihe    im 
Vergleich  mit  der  ersten  als  trümmerhaft  und  unvollständig   erscheint,    Grund 
der  Ungleichheit  und  Unbestimmtheit  ist  die  Zweiheit.     Sie    ist    darum    der 
Ausdruck  für  die  bestimmungslose  Materie  der  Naturdinge   (p.  109  C— 111  G. 


e  Neupythagoreer.    Unerkennbarkeit  der  Materie.     Die   Mat.  das  Ül)le.      401 

bar  1).  Sie  ist  nur  vorzustellen  als  das  Leere,  was  nach  Abs- 
traction  von  allen  bestimmten  Formen  und  Körpern  übrig  bleibt  2). 
Weil  die  Materie  Ursache  der  Unbeständigkeit  und  der  Ent- 
zweiung ist,  so  ist  sie  der  Grund  des  Bösen  *).  In  diesem  Puncto 
treffen  die  Neupythagoreer  mit  den  Piatonikern  aller  Schattierun- 
gen zusammen.  Nur  die  hermetischen  Schriften  nähern  sich 
auch  hier  mehr  der  stoischen  Auffassung  ^).  Dagegen  führt  jenen 
Gedanken  in  voller  Schärfe  und  zugleich  in  bewusstem  Anschluss 
an  Plato  der  für  die  Entwicklung  des  Neuplatonismus  auch 
sonst    nicht    unwichtige    Numenius    durch  •'^) ,     der    hierin     an 


(Ähnlicher  pseudo-mathem atischer  Aberwitz  bei  Proclus  in  Eucl.  elem.,  def.  26, 
p.  168,  20  -22,  wo  die  Materie  für  die  Ungleichheit  des  ungleichschenkligen 
Dieiecks    verantwortlich  gemacht  wird). 

^)  Num.  fr.  12  bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  17,  3. 

»)  Num.  fr.  18  bei  Chalcid.  c.  299,  p.  328,  3—8  Wrobel. 

^)  Moderat.  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  21 ;  vgl.  ders.  bei  Porphyr,  vit. 
Pyth.  §.  50.  Eudorus  bei  Simpl.  in  phys.  I,  p.  181,  14-15.  25-27.  Theo 
Smyrn.  expos.  rer.  math.  c.  5,  p.  22,  13- 15  Hiller.  Aetius  I  7,  18  (Dox.  p.  302) 
bei  Plut.  plac.  I  7  und  Stob.  ecl.  I,  p.  58.  Ps.-Archyt.  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  712. 
Ps.-Plut.  de  Vit.  et  poes.  Hom.  c.  145.  p.  1183  B.  Porphyr,  vit.  Pyth.  §.  38 
(nach  Antonius  Diogenes;  vgl.  E.  Rohde,  die  Quellen  lamblich's  in  s.  Biogr. 
d.  Pyth.,  Rh.  Mus.  XXVI,  1871,  S.  574)  u.  v.  a.  Stellen. 

*)  Die  Materie,  lehrt  der  Trismegistos  den  Asclepius,  ist,  wie  an  Gutem, 
so  auch  an  Schlimmem  fruchtbar  (malignitatis  fecunda,  c.  15  Schi.).  Auf- 
gabe des  Menschen  ist  es,  sich  durch  die  vom  höchsten  Gott  ihm  verliehene 
Vernunft  vor  der  Verwicklung  in  das  Böse  zu  hüten    (c.  16). 

^)  Die  Materie  ist  nicht,  wie  die  Stoiker  wollen,  indifferent,  sondern  gänz- 
lich böse  (fr.  15.  16.  17.  bei  Chalcid.  in  Tim.  c.  296.  297.  298,  p.  325,  10.  14 ; 
326,  7.  23  ;  327,  9  Wrobel)  und  daher  auch  Ursache  des  Bösen  in  der  Welt, 
wie  Gott  Ursache  des  Guten  in  ihr  (fr.  15,  Ghalc.  1.  c.  c.  296,  p.  325,  12).  Der 
göttlichen  Vernunft  steht  sie  als  die  Notwendigkeit  gegenüber  (fr.  15,  Ghalc. 
c.  296,  p.  325,  14-16.  fr.  18,  ebend.  c.  299,  p.  328,  8;  vgl.  oben  S.  117  ff.), 
während  anderswo  der  blinde  Zufall  auf  sie  zurückgeführt  wird  (fr.  17,  Ghalc- 
c.  298,  p.  327,  9 — 13).  Die  Bewegung,  welche  schon  vor  der  Weltbildung  in 
ihr  herrschte,  lässt  sich  nur  aus  einem  seelischen  Princip  ableiten,  welches  we- 
gen der  Ordnungslosigkeit  der  von  ihm  hervorgebrachten  Fluctuationen  als 
böse  Wehseele  zu  denken  ist  (fr.  16,  Ghalc.  c.  297,  p.  326,  13—17.  Ebenso 
Plutarch  und  Atticus ;  s.  S.  146  Anm.  1.  S.  378  f.).  Wegen  der  Schlechtigkeit 
der  Materie  konnte  der  höchste  Gott  bei  der  Weltbildung  nicht  unmittell^ar 
mit  ihr  in  Berührung  treten;  darym  ist  die  Weltbildung  das  Werk  des  vom 
höchsten  Gott  verschiedenen  zweiten  Gottes,  des  Demiurgen  (fr.  26.  27  bei 
Euseb.  praep.  ev.XI  18,3.  8f.  p.  537  A.  G.  Vgl.  das  S.  384  u.  386  über  Philo  Ausge- 
führte).     Durch  das    ordnende    Eingreifen    des    Demiurgen    kann    das    aus  der 

ßaeuiukur:    Das  Problem  der  Materie  etc.  2t) 


402        Fiinfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 
Gronius  einen  Gefährten  hatte  i). 

2.  Die  Neiiplatoniker. 
a.  Plotiii. 

Plotin's  Lehre  von  der  Materie  2),  deren  allgemeiner  Gharacter 
schon  oben  gezeichnet  wurde  ^),  können  wir  nach  folgenden  Ge- 
sichtspiincten  betrachten  : 

1)  Notwendigkeit  und  Natur  der  Materie; 

2)  die  sinnfällige  und  die  intelligibele  Materie; 

3)  Ursprung  der  Materie; 

4)  die  Materie  und  das  Böse. 

1.  Die  Notwendigkeit,  als  Substrat  der  sinnfälligen  Körper 
eine  gemeinsame  Materie  anzunehmen,  ergiebt  sich  für  Plolin  aus 
einer  doppelten  Gedankenreihe.  Die  eme  wiederholt  aristote- 
lische Gründe,  die  andere  führt  auf  Plato  zurück. 

Mit  Aristoteles  erschliesst  Plotin  aus  dem  Übergange  der  Ele- 
mente in  einander,  dass  sie   aus    der    wechselnden    Form  ^)    und 


Materie  entspringende  Übel  wohl  eingeschränkt,  aber  nicht  ausgerottet  wer- 
den ;  denn  sonst  würde  die  Natur  der  Materie  selbst  vernichtet  (fr  17.  18, 
Chalcid.  c.  298.  299,  p.  327,  13-17.  18—20).  Deshalb  ist  das  Übel  notwendig 
in  der  Welt  (fr.  16,  Ghalc.  297,  p.  326,  3—7:  vgl.  das  S.  206  über  Plato  Ge- 
sagte). Nichts  Gewordenes  ist  frei  von  Fehlern,  sei  es  nun  durch  Menschen- 
kunst oder  von  Natur  entstanden  (fr.  18,  c.  299,  p.  327,  25—328,  3).  Durch  die 
böse  Weltseele  wohnt  der  Materie  die  Begierlichkeit  inne  (fr.  26,  Euseb.  praep. 
ev.  XI,  18,  3,  p.  537B).  Darum  stammt  auch  für  unsere  Seele  alles  Böse  aus  der 
Materie  (fr.  49,  Stob.  ecl.  I,  p.  896.  Vgl.  oben  S.  377.  386  f.),  und  ist  es  über- 
haupt ein  Unglück  für  die  Seele,  mit  dem  Leibe  bekleidet  zu  sein  (die  fvarnfiä- 
rwair,  fr.  50,  Stob.  ecl.  1,  p.  910). 

1)  An  den  beiden  in  der  vor.  Anm.  zuletzt  cifierten  Stellen  wird  neben 
Numenius  auch  Gronius,  an  der  letzten  daneben  auch  Harpocratio  angeführt 
(über  diesen  vgl.  S.  376  Anm.  (i.   S.  377). 

^)  Über  Plotin's  Lehre  von  der  Materie  handeln  H.  F.  Müller,  Plotin's  For- 
schung nach  der  Materie,  im  Zusammenhang  dargestellt.  Berlin  1882.  Jules 
Simon,  Histoire  de  l'ecole  d'Alexandrie.  Bd.  I.  Paris  1845.  S.  390—429. 
E.  Vacherot,  Histoire  critique  de  l'ecole  d'Alexandrie.  B.  I.  Paris  1846.  S.  445 — 
458.  481  ff.  G.  H.  Kirchner,  Die  Philosophie  des  Plotin.  Halle  1854.  S.  106  ff. 
Bouillet,  Les  Enneades  de  Plotin.  Bd.  I.  Paris  1857.  S.  4H1  ff.  Heinze,  Lehre 
vom  Logos,  S.  314  ff.     Zeller  III  ^  b,  .',25  f.  544  ff. 

■')  s.  S.  301  f. 

•*)  .Ausser  den  aristotelischen  Ausdrücken  fxoQtfi  und  fuUg  und  dem  aristo- 
telisch-stoisclien   köyog  hat  Plotin    dafür   auch    die    in   diesem  Sinne  specifisch 


Die  Neuplatoniker.     flotin.     Notwendigkeit  und  Natur  der  Materie.    40S 

deren  bleibendem  Substrate,  der  Materie ,  zusammengesetzt 
seien  1). 

Mit  Plato  ist  Plotin  davon  überzeugt,  dass  das  Sinnfällige 
nur  einen  Wiederschein  des  wahrhaft  Seienden,  d.  h.  der  intelli- 
gibeln  Welt,  darstelle  2).  Dieser  Wiederschein  aber  bedarf  zu 
seiner  Entstehung  eines  andern,  in  dem  er  sich  zeigt,  wie  das 
Spiegelbild  im  Spiegel  3).  Jener  Spiegel  ist  nicht  etwa  der  er- 
kennende Geist.  Ein  solcher  subjectiver  Idealismus  liegt  dem 
Plotin  so  fern,  wie  dem  Plato  *).  Er  ist  etwas  Objectives,  ausserhalb 
des  Geistes  Bestehendes,  nämlich  die  Materie. 

Bei  der  nähern  Entwicklung  des  Wesens  der  Materie  lässt 
es  Plotin  sich  vor  allem  angelegen  sein,  die  völlige  Bestimmungs- 
losigkeit  derselben,  den  Mangel  aller  positiven  Merkmale  an  ihr, 
zu  wahren.  Seine  Ausführungen  erscheinen  als  die  rückhaltlose 
Gonsequenz  der  platonischen  und  aristotelischen  Lehre.  Sie 
haben  dazu  mitgewirkt,  dass  sich  namentlich  auch  von  der  ari- 
stotelischen Lehre  ein  schärferes  und  einheitlicheres  Bild  in  der 
Auffassung  der  Folgezeit  festsetzte,  als  wir  es  in  den  Schriften 
des  Aristoteles  selber  fanden. 

Vor  allem  tritt  Plotin  der  Auffassung  der  Stoiker  entgegen, 
als  sei  die  Materie  der  qualitätslose  Körper.  Der  Körper  muss 
vielmehr  mit  Aristoteles  schon  als  Zusammensetzung  aus  Form 
und  Materie  betrachtet  werden  '"*).  Natürlich  findet  auch  die  Ato- 
mistik Democrit's  und  Epicur's  seinen  Beifall  nicht.     Mit  Aristo- 


stoische  Bezeichnung  t^is  (enn.  114,16.  p.  117,  3  Müller,  wo  der  Ausdruck  aller- 
dings durch  die  Rücksicht  auf  den  Gegensatz  aTSQr,aie  mitbedingt  wird). 

1)  enn.  H  4,  G.   p.  107,  10  ff. 

■')  S.  o.  S.  113. 

=>)  enn.  III  6,  7.  t).  13.  14.  p.  229,  9.  230,  15.  236,  16.  ii37,  4.  Vgl.  Plat. 
Tim.  52  G. 

')  Es  kann  nur  irre  führen,  wenn  man  mit  Müller  (a.  a.  0.  S.  11.  19.  25,  1 
u.  ö.)  von  einem  ,subjectiven  Idealismus"  bei  Plotin  spricht;  vgl.  oben  S.  3ff. 
Mit  Leibniz,  dem  Müller  Plotin's  Ansicht  von  der  Materie  ziemlich  nahe  bringt, 
hat  diese  so  gut- wie  nichts  gemein. 

'•')  enn.  II  4,  1.  8.  9.  12.  p.  104,  1  ff.  108,  24  f.  109,  27.  113,  24  ff.  III  6,  7. 
p.  2-28,  3  ff.  IV  7,  9.  p.  114,  18.  VI  1,  26.  p.  257,  25  fi'.  Vgl.  oben  S.  333. 335. 353  f. 
363,  2.  Simpl.  in  phys.  I,  p.  229,  11  ff.  nimmt  mehrfach  auf  diese  Ausführungen 
des  Plotin  Bezug. —  Natürlich  ist  hier  von  der  auXing  t-Aij  die  Rede;  materiase- 
cunda  ist  ein  bestimmter  Körper,  wie  z.B.  der  Lehm  für  den  Töpfer:  enn.  II 
4,  8.  p.  108,  25—28. 

26* 


404    *  Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

teles  und  den  Stoikern  hält  er  ihr  entgegen,  dass  es  für  die  Tei- 
lung des  Körpers  keine  Grenze  gebe  i).  —    'Aber  auch  die  blosse 
Grösse  an  sich  darf  nicht    als   die    aller  bestimmten    Umgren- 
zung zugrunde  liegende  Materie  gefasst  werden.     Der    Neupytha- 
goreer  Moderatus  hatte,  vvie  wir  sahen,  sich  dieser  Ansicht  genä- 
hert 2)  und  auch  Numenius  sie  berücksichtigt  3).   Die  Grösse,  wen- 
det Plotin  dagegen  ein,    ist,    da  sie  Maass   und    Zahl   ist,    bereits 
eine  Form,  und  daher  nicht   das   Aufnehmende  ^).      Der    Materie 
in  ihrer  Ganzheit  kommt  sie  dadurch  zu,  dass  die  Grösse  an  sich 
in  ihr  sich  wiederspiegelt  ^),  während  die  bestimmte  Grösse  eines 
materiellen  Einzeldinges,  z.  B.  die  des  Menschen,  Pferdes  u.  s.  w., 
wie  mit  Aristoteles  gelehrt  wird  '*),    ihr   durch  die  Form  gegeben 
wird').  Erst  durch  die  Form  wird  die  Materie  zur  Masse  (oyxoc). 
Weil  sie  sich  immer  unter  einer  Grössenbestimmung  darstellt,  so 
hat  es  freilich  den  Schein,  als  sei  die  Materie  selbst  schon  Masse; 
aber  dieser  Schein  ist,  weil  er  ihr  nicht  aus  ihr  selber  zukommt, 
nur  ein  erborgter  und  darum  lügenhafter  **).    Nur  insofern  ist  der 
Materie  eine  Beziehung  zur    Quantität    eigen,    als    sie   nirgendwo, 
weder  im  Ganzen,  noch  in  irgend  einem    Teile,   der  Form,    wenn 
diese  von  ilir  Besitz  ergreifen  will,  ausgeht  ■').     Weil    sie    sonach 
immer     in     hinreichender     Menge  vorhanden    ist    un(i     sich,    als 
in     sich     grösselos,     keiner     Expansion     oder    Gontraction     ent- 
zieht, vielmehr  unter  der    grösseverleihenden    Form    jede    Grösse 
durchläuft,    konnte    sie    Plato  als   das  Gross-  und  -Kleine    be- 
zeichnen ^''). 

So  ist  die  Materie  an  sich  körperlos,  grösselos,  und  na- 
türlich auch  eigenschaftslos  1^). 


1)  enn.  II  4,  7.  p.  108,  14  ff. 

'^)  S.  S.  395.  399.  Nach  Moderatus  sohle  jenes  noaov  freihch  kein  eu^og 
sein  ;  s.  S.  399  Anm.  2. 

3)  S.  S.  395  Anm.  2. 

*)  enn.  III  6,  17.  p.  240,  6  ff.   II  4,  8.  p.  109,  12—14. 

5)  enn.  III  6,  17.  p.  240,  21  (mil  E.  Seidel,  De  usu  praepositionum  Ploti- 
niano.     Dissert.  Breslau  1886,  p.  33  isl  hier  zu  lesen  tiqü^  avroi  xov  /xe'ya). 

«)  S.  S.  264. 

')  enn.  II  4,  8.  p.  109,  15—19.  III  6,  l(i.  17.  p.  239,  9—16.  240,  19-20. 
Vgl.  auch  Simpl.  in  phys.  I,  p.  229,  27  ff. 

«)  enn.  II  4,  11.  p.  112,  4.   III  6,  7.  17.  18.  p.  228,  13.  240,  11-16.241,24-27. 

»)  enn.  III  6,  18.  p.  241,  27  ff.  Vgl.  Aristoteles  (S.  237)  und  Philo  (S.  387). 
■")  enn.  li  4,  11.  p.  112,  6—21.  Vgl.  III  6,  7.  p.  228,  17.  VI  6,  3.  p.  350,  14. 
")  Für  das  letzere  vgl.  enn.  I  8,  10.  p.  67,  5.  II,  4,  8.  13  u.  ö. 


Plotin.     Natur  der  Materie.  405 

Weil  jeder  Form  entbehrend,  ist  die  Materie  das  Unbe- 
stimmte oder  Maas s lose  {äneiQov,  doQiori'a),  die  Beraubung 
{OTSQyoig)  1).  Beides  knüpft  an  Plato,  zum  Teil  schon  an  die 
Pythagoreer  an.  Maasslosigkeit  und  Beraubung  sind  indessen 
nicht  als  Accidentien  der  Materie  zu  fassen,  sondern  machen  ihre 
Natur,  ihr  Wesen  aus,  soweit  bei  dem  Wesenlosen  von  einem 
Wesen  gesprochen  werden  kann  2).  Denn  Accidens  kann  nur 
sein,  was  ein  bestimmtes  positives  Merkmal  (Aoyoc)  enthält.  Und 
ferner:  wenn  die  Unbestimmtheit  erst  als  Accidens  zu  der  Materie 
käme,  so  müsste  diese  in  sich  etwas  Begrenztes  sein.  Das  aber 
widerspricht  ihrem  Begriff  ^). 

Als  Beraubung  und  Unbestimmtheit  ist  die  Materie  das 
Nichtseiende  [jir]  or)^).  Die  Bezeichnung  enthält  ihren  Sinn 
durch  den  Gegensatz.  Nicht  in  dem  Sinne  ist  die  Materie  ein 
Nichtseiendes,  als  ob  sie  überhaupt  nicht  wäre,  sondern  weil  sie 
von  dem  Seienden  —  d.  h.  dem  in  Wahrheit  Seienden  oder  dem 
Unveränderhchen,  auf  welches  schon  die  Eleaten  den  Begriff  des 
Seienden  beschränkt  hatten  —  verschieden  ist  ^).  Indes  ist  die 
Materie  auch  nicht  etwa  bloss  in  der  Weise  ein  Nichtseiendes, 
wie  die  Bewegung,  welche  sich  als  das  noch  nicht  Seiende,  als 
Übergang  zum  Sein  darstellt  und  von  Plotin  als  ein  in  acciden- 
teller  Weise  Seiendes  ^)  bezeichnet  wird.  Sie  ist  ganz  aus  dem 
Sein  hinausgeschleudert,  nur  ein  Bild  des  Seienden,  ja  noch  we- 
niger als  ein  solches  '').  Sie  wird  dai'um  auch  mit  der  P  e  n  i  a 
des  platonischen  Mythos  von  der  Geburt  des  Eros  zusammen- 
gestellt, welche  schon  Plutarch  auf  die  Materie  deutete  ^). 

Diese  ihre  negative  Natur  bewahrt  die  Materie  auch  unter 
den  Formen,  die  in  sie  eintreten.  Sie  wird  durch  dieselben  nicht 
innerlich  erfüllt,  sondern  bleibt  auch  unter   jenen   Bestimmungen 


1)  enn.  II  4,  13—16  u.  ö. 
*)  enn.  II  4,  13—15. 
■')  enn.  II  4,  15.  p.  116,  4-10. 
")  enn.  I  8,  3.  II  5,  4.  5.   III  3,  6.  7.  17  u.  ö. 

")  enn.  I  8,  3.  p.  58,  22  :  .teij  Sv  di  ovrt  t6  navreXöäs  ^17  ov,  dXX^  eregov  juövov 
rov  ovTOs. 

6)  enn.  II  6,  1.  p.  123,  4. 

')  enn.  I  8,  3.  p.  58,  24—25.   II  5,  4.  5.  p,  121,  17—29.   122,  5—10.  III  6,  7. 
p.  228,  11-14. 

8)  S.  S.  379.     Die  Citate  aus  Plotin  ebd.  Anm.  8. 


f06        Fünfter   Abschnitt.     Der  Neuplatonisnius  und  dessen  Vorläufer. 

in  sich  unbestimmt  und  blo?se  Beraubung^).  Jene  Formen  näm- 
lich sind,  da  das  Seiende  kein  Seiendes  aus  sich  fort  entlässt,  nur  der 
Wiederschein  des  wahrhaft  Seienden.  Der  Wiederschein  muss  in 
etwas  anderm  aufgefangen  werden,  da  in  sich  selber  nur  das 
wahrhaft  Seiende  Bestand  hat.  Aber  dieses  Aufnehmende  hat 
dem  Bilde  nur  Raum  zu  gewähren.  Es  wird  durch  dasselbe  in 
sich  so  wenig  bestimmt,  wie  der  Spiegel  durch  die  Bilder  in  ihm, 
wie  der  Fels  durch  das  Echo,  das  von  seiner  glatten  Fläche  ab- 
gleitet 2).  Wenn  die  Materie  durch  den  Eintritt  der  Form  in  sich 
eine  Veränderung  {aXloibcOic)  erführe,  'so  würde  sie  ihr  AVesen 
verlieren  und  nicht  mehr  die  alles  Aufnehmende  {navStyriig)  sein, 
die  sie  nicht  bloss  accidenteller  Weise,  sondern  ihrem  Wesen  nach 
ist  ^)  und  als  welche  sie  Plato  im  Timaeus  beschreibt  ^).  So  wenig  aber 
die  Ideen  ihre  Natur  als  wesenhafte  Substanzen  {ovoicci\  so  wenig 
kann  auf  der  andern  Seite  die  Materie  jene  ihr  eigentümliche 
Natur  verändern  ^).  Plotin  legt  besonderes  Gewicht  auf  diesen 
Punct,  den  wir  schon  als  eine  Unterscheidungslehre  zwischen 
Peripatetikern  und  Piatonikern  kennen  lernten  ß),  und  der  sich 
ausserdem  wohl  auch  gegen  die  stoische  Gegenüberstellung  von 
Materie  und  Ursache  als  des  Leidenden  und  des  Wirkenden 
richtet 'i.  Er  drückt  den  Gedanken  auch  in  dem  Satze  aus,  dass 
die  Materie  unafficierbar  {äjiad-ric)  sei.  Weil  dieselbe  den  in 
sie  eindringenden  Formen  nur  Raum  gewährt,  nicht  durch  sie 
innerlich  bestimmt  wird;  so  kann  sie  durch  den  Gegensatz  dieser 
Formen  auch  nichts  erleiden.  Nur  die  Gegensätze  selber,  d.  h. 
die  entgegengesetzten  Qualitäten,  oder  auch  die  Gomposita  aus 
Form  und  Materie,  die  Körper,  bekämpfen  und  zerstören  einan- 
der. Die  Materie  dagegen  wird  durch  diesen  gegenseitigen  Kampf 
der  in  ihr  befindlichen  Spiegelbilder  so  wenig  betroffen,  als  die 
Kämpfer  das  Haus  oder  die  Luft  verwunden,  worin  sie  fechten  ^). 
Bleiben  so  die  Formen,    welche  in  die  Materie    eintreten,    da 


•)  enn.  II  4,  16.  p.  117,  1  ff. 

*)  enn.  III  6,  14.     Vgl.  III  6,  7.  11. 

^)  So  hatte  Alexander  von  Aphrosidias  auch  die  aristotelische  Lehre 
präcisiert ;    s.  S.  297  f. 

*)  enn.  III  G,  10.  p.  231,  12—30.     —     »)  enn.  III  6,  10.  p.  232,  1—6. 

•')  S.  S.  298  u.  375.  Die  entgegengesetzte  Meinung  des  Aristoteles  s.  S.  221. 
265  Anm.  2.    —     ')  S.  S.  331. 

^)  enn.  III  6,  7—10.  19.  Plotin  giebt  sich  viele  Mühe,  zu  zeigen,  dass  die- 
ses auch  Plato's  wahre  Meinung  sei  :  enn.  III,  6,  11 — 13. 


Plotin.     Natur  der  Materie.  407 

sie  dieselbe  nicht  innerlich  erfüllen,  in  Wahrheit  ausser  ihr,  so 
ist  auch  die  Teilnahme  der  Materie  an  dem  Sein  in  Wahrheit 
keine  Teilnahme.  Nicht  teilhabend  hat  sie  teil  ').  Selbst  Plotin 
findet  diesen  Satz  einigermaassen  verwunderlich  '^). 

Aber  wie  kann  die  Materie  überhaupt  noch  gedacht  werden, 
wenn  ihr  Begriff  nur  durch  negative  Bestimmungen  umschrieben 
wird?  Plotin  und  mit  ihm  andere  Neuplatoniker  greifen  hierauf 
das  Auskunftsmittel  zurück,  dessen  schon  Plato  im  Timaeus  sich 
bedient  hatte.  Es  ist  ein  „unechtes  Denken"  {GvXXoyiOfxog  vö^og), 
ein  „nichtdenkendes  Denken",  durch  welches  die  Vernunft  die 
Materie  erfasst,  d.  h.  die  Vernunft  ist  hier  thätig,  ohne  dass  sie 
ein  Seiendes  zu  ihrem  Objecte  hätte,  gleich  dem  Auge,  wenn  es 
die  Finsternis  sieht  ^).  Wie  die  Empfindung  der  Finsternis  näm- 
lich, obwohl  nicht  durch  einen  positiven  äussern  Reiz  verursacht, 
doch  eine  wirkliche  Empfindung  ist,  sehr  verschieden  etwa  von 
der  Blindheit  der  Hand,  so  bleibt  auch  jene  aller  Bestimmtheit 
entkleidete  Denkthätigkeit  doch  inmier  noch  ein  wirklicher  Ge- 
danke, sehr  verschieden  von  dem  Nichtdenken  im  Sinne  der  völ- 
ligen Unthätigkeit. 

Soweit  steht  die  Lehre  Plotin's  durchaus  auf  platonischer 
Grundlage.  Damit  aber  wird  zugleich  der  Begriff  in  Verbindung 
gesetzt,  welcher  den  Mittelpunct  der  aristotelischen  Lehre  von  der 
Materie  bildet:  der  Begriff  der  Möglichkeit.  —  Plotin  unter- 
scheidet mit  scharfer  Fixierung  aristotelischer  Begriffe  ^)  zwischen 
dem  Vermögen  {Svvafiic)  und  dem  der  Möglichkeit  nach  Seienden 
{t6  dvväfiei).  Ersteres  ist  die  Kraft  zur  Thätigkeit,  als  die  active 
Potenz;  letzteres  wird  von  dem  gesagt,  was  eine  —  sei  es  ver- 
vollkommnende oder  zerstörende  —  Form  in  sich  aufnehmen 
kann,  also  von  der  passiven,  bloss  receptiven  Potenz  ^).  Ebenso 
ist  zu  unterscheiden  zwischen  dem  Act  [svagyeia)  und  dem  im 
Act  Befindlichen    {z6  sregyeia).     Ersteres  ist   die    Form,    letzteres 


')  enn.  III  6,  14,  p.  237,  23  ff. 

^)  a    a.   0.    d-rtvjxa  To    XQ'tjßa    yivsTUL. 

^)  Vgl.  üben  S.  138,  wo  auch  Anm.  4  die  Citate  aus  Plotin,  Sirnplicius, 
Ghalcidius  und  Damascius  gegeben  sind.  Über  die  abweichende  Auffassung 
des  avkkoyia/uüs  vod-os  bei  Proclus  ebend. 

*)  S.  S.  224. 

°)  enn.  II  5,  1. 


408        Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

das  Compositum  aus  dem  Subject  ^)  und  der  darin  befindlichen 
Form  2).  Das  in  der  Potenz  Befindliche  kann  wieder  ein  dop- 
peltes Verhalten  zeigen.  Das  Subject  einer  Form  nämlich,  wel- 
ches in  Rücksicht  auf  die  Aufnahme  dieser  sich  in  der  Potenz 
befindet,  kann  in  anderer  Beziehung  etwas  Actuelles  sein,  wie 
das  Erz,  welches  actuelles  Erz,  aber  der  Möglichkeit  nach  eine 
Bildsäule  ist  '^).  Das  trifft  zu  für  alle  bestimmten  Stoffe.  Nur 
die  (erste)  Materie,  welche  nicht  bloss  dieses  oder  jenes,  sondern 
alles  der  Möglichkeit  nach  ist,  ist  der  Wirklichkeit  nach  nichts 
aus  dem  Gebiete  des  Seienden-*).  Sie  "ist  nicht  ein  Seiendes  in 
Möglichkeit  zu  einem  andern  Sein,  sondern  sie  ist  schlechtweg 
in  der  Möglichkeit  zum  Sein,  welches  sie  erst  aufnimmt.  Oder  bild- 
lich ausgedrückt:  sie  ist  das  blosse  Verlangen  nach  dem  Sein  •'^). 
In  sich  ist  und  bleibt  sie  das  Nichtseiende. 

Als  blosse  Möglichkeit  ist  die  Materie  endlich  das  absolut 
Unkräftige  ").  Sie  tritt  dadurch  in  den  contradictorischen  Ge- 
gensatz zu  dem  Urwesen  und  zu  den  Ideen,  welche  von  Plotin 
mit  der  gleichen  Aimäherung  an  stoische  Begriffe,  wie  wir  sie  bei 
Philo  fanden ''),  vorwiegend  als  wirkende  Kräfte  gefasst  werden  ^). 
Um  nun  die  Widerstandsfähigkeit  und  Festigkeit  der  Körper,  ihr 
Gewicht  und  ihren  Druck,  ihre  Gewalt  beim  Stoss  u.  s.  w.  nicht 
als  einen  Beweis  dafür  gelten  lassen  zu  müssen,  dass  der  Materie 
eigenes  Wirken  und  demnach  wahres  Sein  zukomme,  erklärt  er 
diese  Erscheinungen  nicht  für  Kraft,  sondern  für  Unkraft,  für  das 
Unvermögen,  sich  in  sich  selbst  zu  halten.  Darum  sei  das  be- 
wegliche Feuer,  welches  sich  der  Natur  des  Körperlichen  beinahe 
entziehe,  weit  mehr  ein  Seiendes,  als  die  nur  leidende  Erde  ^). 

So  gelingt  es  der  plotinischen  Dialektik,  den  platonischen 
und  den  aristotelischen  Begriff  der  Materie  mit   einander   zu  ver- 


^)  vnoxiißtvov,  t6  dvvdfisi. 

2)  enn.  II  5,  2.  p.  119,  26  ff. 
■•')  enn.  II  5,  2.  p.  119,  3  ff. 
')  enn.  II  5,  4.  5.     S.  auch  S.  403  Anm.  5. 
^)  vnoaiäattüi  Itftau,  enn.  III  6,  7.  p.  228,  14. 
«)  enn.  II  9,  8.  p.  142,  30-31. 
')  S.  S.  381. 

^)  Vgl.  Zeller  IIP  b,  528  f. 

9)  enn.  III  6,  6.  p.  226,  21  ff.     Vgl.   übrigens  schon  Arist.    de    gen.  et  corr. 
I  3,  318  b  29—33;     II  8,  335  a  18  ff. 


Plotin.     Natur  der  Materie.     Die  sinnfällige  u.  d.  intelligibele  Materie.     409 

einigen.  Freilich  fallen  alle  die  sachlichen  Bedenken,  welche 
gegen  den  aristotelischen  Begriff  der  Materie  erhoben  wurden  i), 
diesem  plotin ischen  gegenüber  doppelt  schwer  in  das  Gewicht. 
Hatte  Aristoteles,  durch  das  Bedürfnis  einer  concreten  Natur- 
erklärung gezwungen,  den  Begriff  einer  absoluten  Potenz,  einer 
Vorbedingung,  die,  ohne  wirklich  zu  sein,  doch  etwas  Anderes 
bedingt,  bei  der  Einzeldurchführung  wesentlich  modificiert  ^),  so 
tritt  an  Plotin  jenes  Bedürfnis  überhaupt  nicht  heran.  Der  wissen- 
schaftlichen Naturforschung  völlig  fremd,  ringt  er  ausschliesslich 
mit  dem  Probleme,  die  Stellung  des  Endlichen  zum  Unendlichen  und 
den  Hervorgang  des  Sinnfälligen  aus  dem  Intelligibeln  zu  bestim- 
men. Darum  ist  er  zufrieden,  wenn  er  die  vermeintliche  sub- 
stantiale  Wirklichkeit  der  körperhchen  Natur,  in  welcher  Materia- 
lismus und  Sensualismus  das  einzige  Sein  erblickten,  möglichst 
aller  Beahtät  entkleidet  hat.  Dass  die  eigentümliche  Wirkungs- 
weise der  sinnlich  erscheinenden  Körper  auch  in  der  Eigentüm- 
lichkeit ihres  materiellen  Substrates  begründet  sein  müsse,  dieser 
Gedanke  liegt  ihm  um  so  ferner,  da  er  diese  ganze  Körperwelt 
zu  einem  blossen  Schattenspiel  verflüchtigt.  Noch  deutlicher 
wird  dieses  werden,  wenn  wir  die  Art  des  Hervorganges  der  Ma- 
terie betrachten.  Zuvor  indes  möge  die  Lehre  Plotin's  von  der 
intelligibeln  Materie  kurz  gestreift  werden.  Im  Systeme  Plotin's 
ist  die  Bedeutung  der  intelligibeln  Materie  eine  weit  höhere,  als  im 
ursprünglichen  Piatonismus  oder  bei  Aristoteles.  Sie  verträgt 
darum  nicht  eine  bloss  anhangsweise  Betrachtung. 

2.  Wie  Plato,  die  ältere  Academie  und  die  Neupythagoreer 
in  den  Ideen  bezw.  Idealzahlen,  Aristoteles  in  den  Begriffen  ein 
unbestimmtes  und  ein  beslimmtes  Element  unterschieden  und 
beide  als  Materie  und  Form  entgegensetzten ,  so  unterscheidet 
auch  Plotin  in  der  intelligibeln  Welt  das  Unbestimmte  und 
Gemeinsame  oder  die  Materie  und  das  Besondere  oder  die  Form  ^). 
Jene  ist  das  Unbestimmte  und  Ungeformte,  welches  übrig  bleibt, 
wenn  wir  von  der  Vielförmigkeit  der  Idealwelt  abstrahieren,  und 
welches  daher  diesen  Formen  als  das  zwar  nicht  zeitlich,  wohl 
aber  der  Natur  nach  Frühere  vorangeht  *).  Wie  überhaupt  die 
intelligibele  Welt  Urbild  der   Sinnenwelt  ist,    so    muss   auch   die 


1)  S.  S.  250  ff.    —    2)  S.  S.  257  ff.    —     «)  enn.  II  4,  4. 

■*)  enn.  II  4,  4,  p.   105,  31 :  rd   tzqo  tovtoüv  afj.og'fov  y.al  dögiazov. 


410        Fünfter  Absclinitt.     Der  Neuplalonismus  unJ  dessen  Vorläufer. 

diesseitige  Materie  in  einer  jenseitigen  ihr  Vorbild  haben  i).  Es 
ist  dieselbe  Auffassung,  zu  der  man  von  den  gleichen  Voraus- 
setzungen aus  schon  in  der  neupythagoreischen  Schule  gelangt 
war  2).  Auch  die  Fassung  der  Materie  in  den  Ideen  und  (Ideal-) 
Zahlen  als  der  unbestimmten  Zweiheit,  der  Form  in  ihnen  als  des 
Einen,  ist  dem  Plotin  nicht  fremd  ^). 

Beide  Materien  zeigen  im  übrigen  die  Unterschiede  des 
Idealbildes  und  der  Nachahmung.  Jener  dunkle  Grund*)  der 
Idealwelt  ist  im  Gegensatz  zu  der  Materie  des  Sinnfälligen  in 
Wahrheit  seiend.  Denn  was  der  Materie  des  Diesseits  voraufgeht, 
ist  das  Seiende;  sie  selbst  als  verschieden  vom  Seienden,  und 
zwar  nach  unten  hin  verschieden,  ist  darum  ein  Nichtseiendes. 
Was  dagegen  der  intelligibeln  Materie  voraufgeht,  ist  ein  Über- 
seiendes, jenseits  des  Seienden  Liegendes,  sie  selbst  als  das  dem 
Range  nach  Nächstfolgende  darum  ein  Seiendes  ^).  Ebenso 
ist  nur  die  diesseitige  Materie  Substrat  des  Wandels  und  der 
Veränderung,  die  jenseitige  dagegen  ist  in  wandelloser  Ruhe  von 
den  idealen  Formen  erfüllt,  denen  sie  sich  ganz  hingegeben  hat, 
und  die  ihr  selbst  intelligibeles  Leben  verleihen  ").  Eine  Tren- 
nung der  Form  von  der  Materie  ist  bei  ihr  nur  durch  die  Abs- 
traction  des  Denkens  möglich.  Dort  findet  nicht,  wie  im  Dies- 
seits, eine  Überführung  d(!r  Möglichkeit  in  die  Wirklichkeit  statt, 
sondern  alles  ist  ewiges  Leben,  ewige  Energie  ^).  An  dieser  in- 
telligibeln Materie  haben  auch  die  Dämonen,  wie  Eros,  Anteil, 
die  von  den  groben  Körperstoffen  frei  sind  ^).  Damit  berührt  es 
sich,   wenn   Plotin    auch    der  Seele    eine  Art    von  Lichthülle  zu- 


1)  enn.  II  4,  4.  15.  p.  105,  19-21.  116,  15.      —    ')  S.  S.  394. 

")  enn.  V  4,  2.  p.  179,  10.  Über  die  Zahlenlehre  des  Plotin  vgl.  Zeller 
IIP  b,  52Gf.     —    ■*)  enn    II  4,  5.  p.  106,  4—12. 

")  enn.  II  4,  1(5.  p.  117,  22 — 25  (statt  ertpov  Sv  ngSs  rw  xaXw  ist  mit  Seidel 
a.  a.  0.  S.  37  f.  zu  lesen :  uqos  t6  xätm).  Die  intelligibele  Materie  ist  darum 
oiaia,  was  die  Stoiker  fälschlich  von  der  Materie  der  Körperwelt  behaupteten : 
enn.  II  4,  5.  p.  106,  20—23. 

6)  enn.  II  4,  3.  5.  p.  104,  27-31.   106,  15—19.  23—28. 

')  enn.  II  5,  3.  Wenn  es  enn.  III  8,  11.  p.  275,  16  heisst,  der  Nus  sei  eine 
ifvvaiuis  eci;  ivc'gyeiav  sX&ovaa,  SO  ist  das  zunächst  nur  von  der  menschlichen 
Veriiunft  gesagt,  wie  der  Vergleich  mit  dem  Sehvermögen  zeigt,  und  findet 
auf  den  absoluten  Nus  nur  im  Sinne  einer  logischen  Zerlegung  Anwendung. 
Ausserdem  ist  hier  der  von  Plotin  zwischen  rfvvafiie  und  tu  dwäfiti  gemachte 
Unterschied  (S.  S.  407)  zu  beachten. 

8)  enn.  III  5,  6.  p.  213,  27—214,  10  (vgl.  auch  III  5,  7). 


Plotin.     Die  sinnfällige  u.  die  inteUigibele  Materie.   Ursprung  der  Materie.    411 

schreibt,  die  leuchtend  und  wärmend  aus  ihr  ausstrahle  und  den 
materiellen  Körper  gestalte.  Der  moderne  Spiritismus  hat  hier  für 
eine  seiner  Grundansichten  antike  Vorgänger  an  den  Neuplato- 
nikern ;  noch  mehr  freilich  als  an  Plotin  an  den  gleich  zu  behan- 
delnden spätem  Anhängern  der  Schule  ^). 

3.  Die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Materie  beant- 
wortet Plotin  abweichend  von  Plato  und  Aristoteles.  Sein  Sy- 
stem des  dynamischen  Emanatismus  2)  bietet,  wie  das  System 
der  Stoiker  und  das  der  Neupythagorcer,  auch  für  die  Ablei- 
tung der  Materie  aus  dem  Einen  Platz.  Aus  dem  obersten 
Einen  stammt  als  dessen  erstes  Erzeugnis  der  Nus,  in  welchem 
an  die  Stelle  der  ewigen  Ruhe  des  Ersten,  welches,  über  das  geteilte 
Denken  erhaben,  sich  gewissermaassen  in  sich  selbst  fühlt,  eine 
in  bewusstem  Denken  sich  vollziehende  Erfa.ssung  des  Ursprungs 
tritt  3).  Aus  dem  Einen  müssen  daher  auch  die  beiden  Elemente 
der  Idealwelt,  die  unbestimmte  Materie  und  die  Vielförmigkeit 
dieser,  als  Entfaltung  des  dort  in  absoluter  Einheit  Verbundenen 
stammen.  Wir  brauchen  hier  nicht  weiter  zu  verfolgen^  wie 
Plotin  den  unendlichen  Reichtum  der  idealen  Formen  aus  dem 
Abgrunde  des  ersten  Ursprungs  hervorgehen  lässt.  Für  uns 
kommt  nur  seine  Lehre  vom  Ursprung  der  Materie  inbetracht. 
Die  Unbegrenztheit  des  Seins,  welche  das  Wesen  der  idealen 
Materie  ausmacht,  erscheint  ihm  als  das  Erzeugnis  der  Unbe- 
grenztheit der  flacht  und  Ewigkeit  des  Einen ^).  Aus  dem  Nus  geht 
auf  dem  Stufenwege  vom  VoUkommnen  zum  UnvoUkommneren  ^) 
die  Weltseele,  aus  dieser  die  Sinnenwelt  hervor  *').  Jede  Kraft 
jnuss  durch  eine  notwendige  Naturwirkung '^)  eine  minder  mächtige 
Kraft  erzeugen.  Das  Erzeugnis  wnrd  um  so  unkräftiger  sein,  je 
weiter  es  von  der  obersten  Ursache  absteht.  So  wird  die  letzte 
Stufe  absolute  Unkraft  sein,  unter  der  es  kein  Schwächeres  mehr 
giebt  und  bei  der  deshalb  das  Hinabsteigen  ein  Ende  findet  ^). 
Oder  in  einem,  auch  andern  emanatistischen  Systemen  geläufigen 
Bilde  :    wie  das  Licht,  das  rings  um  eine   Lichtquelle  aufleuchtet. 


')  enn.  I  1,  6.  p.  7,  28-8,  2.  ebd.  c.  8,  p.  9,3— G.  VI,  4,  15.  p.  322,  32-31. 
S.  unten  S.  418.     —     -)  vgl.  Zeller  IIP  b,  506  ff. 

=*)  enn.  V  4,  2.     —    *)  enn.  II  4,  15.  p.  IIG,  11—13. 

*)  ein  Grundprincip  der  neuplatonischen  Weltanschauung,  das  sich  im 
Keime  schon  bei  Aristoteles  findet;  vgl.  de  gen.  et  corr.  II  10,  .3.36  b  26  ff. 

^)  die  ja  auch  bei  Plato  der  Seele  gegenüber  das  Spätere  ist  ;  Tim.  p.  36  D. 

')  vgl.  enn.  II  D,  8.  p.  142,  31-32.    —    «)  enn.  II  U,  8.  p.  142,  30-31. 


412         Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonianus  und  dessen  Vorläufer. 

mit  der  zunehmenden  Entfernung  innner  mehr  an  Helligkeit  ab- 
nimmt, bis  es  zuletzt  in  Finsternis  übergeht,  so  muss  auch  das 
letzte  Erzeugnis  in  der  Entwicklung  des  Seienden  Finsternis,  d.  h. 
völlige  Be.stimmungslosigkeit,  sein  i).  Diese  absolute  Unkraft, 
diese  Finsternis,  ist  die  Materie  der  Sinnenwelt. 

Der  Process,  durch  den  die  Materie  aus  der  Weltseele  hervor- 
geht, hat  aber  seinen  Grund  in  dem  Verlangen  der  Seele,  sich  einen 
Körper  zu  erzeugen.  Denn  da  sie,  von  der  Einheit  noch  weiter 
entfernt  als  der  Nus,  der  Vielheit  zustrebt,  so  begehrt  sie  nach 
einem  körperlichen  Ort,  in  welchem  sie  sein  und  das  in  ihr  Ent- 
haltene auch  räumlich  auseinander  legen  könne.  Je  weiter  näm- 
lich die  Entwicklung  sich  von  dem  Einen  entfernt,  desto  grösser 
wird  der  Trieb  zur  Vielheit  und  zur  Zerleilung.  Nachdem  diese 
Mannigfaltigkeit  auf  dem  Gebiete  des  intellectuellen  Seins 
ihren  höchsten  Grad  in  der  Seele  erlangt  hat,  ist  eine  weitere 
Zerteilung  nur  noch  dadurch  möglich,  dass  die  Begriffe  räum- 
lich ausgedehnt  und  räumlich  vervielfältigt  werden.  Darum  muss 
jetzt  aus  der  Seele  die  Körperwelt  hervorgehen.  Um  diesen  Über- 
gang des  Immateriellen  in  das  Materielle  noch  mehr  zu  vermit- 
teln und  über  den  Widerspruch  hinwegzutäuschen,  der  darin  liegt, 
dass  blosse  Intensitätsunterschiede  eine  qualitative  Verschieden- 
heit bewirken  sollen,  unterscheidet  Plotin  eine  doppelte  Seele,  die 
obere,  die  dem  Nus  zugewandt  ist,  und  die  niedere  oder  die  Na- 
tur {(fvOiq),  von  der  die  Körperwelt  ausgeht  2).  —  Körper  aber 
sind  nicht  möglich  ohne  die  Materie  als  ihr  Substrat.  Nur  an 
der  Materie  können  die  Formen  in  räumlicher  Ausdehnung 
erscheinen ;  ohne  sie  würden  dieselben  unräumliche  Begriffe 
bleiben  ^). 

So  bringt  das  Verlangen  der  Natur  zuerst  —  in  unzeitlichem 
Prius  ^)  —  die  Materie  als  den  Ort  ihrer  Wirksamkeit  hervor.  In- 


^)  enn.  IV  3,  9.  p.  18,  21—23.    Vgl.  III  6,  18.  p.  242,  16  u.  ö. 

')  Vgl.  Zeller  IIP  b,  539  ff. 

3)  Vgl.  enn.  IV  3,  9.  p.  18,  17  ff.,  ferner  enn.  II  4,  12.  p.  112,32  ff.  II  7,3. 
p.  1.30,  14  ff.  III  6,  17.  18.  p.  240,  8  ff.  242,  9  tf.  IV  7,  18.  p.  122,  16  ff.  u.  s.  w. 
Der  Gedanke  des  Plotin  wird  erläutert  durch  Simpl.  in  phys.  I,  p.  231,  30. 
Der  Begriff  einer  Grösse  von  drei  Ellen,  heisst  es  dort,  ist  nicht  selbst  schon 
gross,  der  der  Dreizahl  nicht  discontinuierlich.  Masse  und  das  Auseinander 
kommt  jenen  Xöyoi  erst  durch  den  Fortgang  {yniäoAug)  zum  Werden  und  zur 
äussersten  Stufe  zu,  d.  h.  durch  den  Eintritt  in  die  Materie. 

')  enn.  IV  3,  9.  p.  18,  14, 


Plotin.     Ursprung  der  Materie.  4l3 

dem  sie  dann  das  Dunkel  des  Stoffes  durch  ihr  Licht  erhellt, 
entsteht  die  Sinnenwelt.  Die  Natur  nämlich,  als  ein  vernünftiges 
Wesen  {löync)  ^),  sucht  zu  schauen.  Da  sie  aber  schwächer  ist 
als  die  Seele,  kann  sie  nicht,  wie  diese,  durch  die  reine  Betrach- 
tung {!){-MQia)  zum  Schauen  gelangen ;  sie  schaut,  indem  sie 
schafft  {rrga^ic),  wie  wenn  der  Mathematiker  dadurch  betrachtet, 
dass  er  die  Umrisse  der  Figur  im  Betrachten  zieht  2).  Dieses 
Bilden  und  Schauen  der  Natur  ist  nicht,  wie  das  Schauen  der 
Seele,  ein  helles  Denken.  Es  gleicht  der  Traumphantasie  des 
Schlafenden  ^).  Bei  demselben  geht  die  Natur  nicht  aus  sich 
heraus,  sondern  bei  ihrem  Schauen  gleiten  die  Umrisse  der  Kör- 
per von  selbst  ins  Dasein  *j,  wie  denn  überhaupt  nach  Plotin's 
Lehre  das  Niedere  aus  dem  Höhern  hervorgeht,  nicht  dadarch, 
dass  dieses  aus  sich  herausgeht,  sondern  als  dessen  mit  Notwen- 
digkeit zum  Bestände  kommender  Wiederschein. 

Durch  jene  schaffende  Thätigkeit  der  Natur  nun  werden  die 
Begriffe  in  der  Materie  verwirkhcht  ^).  Diese  in  der  Materie  be- 
findlichen, von  den  abstracten  Verstandesbegriffen,  welche  in  den 
Definitionen  auseinandergelegt  werden,  verschiedenen  ^)  schaffen- 
den Begriffe  ')  entsprechen  im  ganzen  den  /.öyoi  öttsqucctixoi  der 
Stoiker  ^).  Nur  erscheinen  sie  bei  Plotin  minder  wesenhaft,  als  bei 
jenen  und  werden  nicht  körperlich,  sondern  unkörperlich  gefasst. 
Als  Spiegelbilder  nämhch  bestehen  sie  nicht  in  sich,  sondern  nur 
durch  die  stets  erneute  Ausstrahlung  der  Ideen.  Unkörperlich 
aber  sind  sie,  da  nach  Plotin  auch  die  Körper  durch  unkörper- 
liche Kräfte  wirken  ^j.  Denn  jene  Begriffe  und  Kräfte,  obgleich 
an  der  Materie,  schliessen  doch  nicht  selbst  wieder  Materie  in 
sich  ein,  wie  die  Pneumaströmungen,  in  denen  die  Stoiker  das 
Wesen  der  Kraft  sahen. 


')  enn.  III  8,  2.  p.  265,  1.5.    —    ^)  enn.  III  8,  4.  p.  26ß,  19. 

^)  enn.  III  8,  4.  p.  267,  1—3.  Moderne  Analogien  drängen  sich  von  selbst 
auf.     Sie  sind  zumeist  direct  oder  indirect  vom  Neuplatonismus  beeinflusst. 

*j  enn.  IV  8,  4.  p.  2m,  20—21. 

*)  enn,  IV  3,  11.  p.  20,  31  fi". 

«)  enn.  II  7,  3.  p.  130,  14-16. 

')  '/evvr,Ttxol  köyoi  enn.  11  3,  16.  p.  100,  3-2  f.  Auch  von  den  h  anegi-iaai 
Xöyoi  (i.B.  IV  3,  10.  p.  19,  27),  dem  Xoyog  anfQßUTixos  (z.  B.  V  9,  9.  p.  224,  31) 
u.  dergl.    ist  bei  Plotin  die  Rede,  doch  mit  Beschränkung  auf  das  Organische. 

«)  Vgl.  Zeller  III  ^  b,  555  f.  Heinze,  S.  315— 321.' Bouillet  I  101,  1.  188.  189. 

«)  enn.  iV  7,  9.  p.  114,  1  ff. 


414  Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  desser  Vorläufer. 

Weil  so  die  Welt  aus  der  Weltseele  entsprungen  ist^  so  ruht 
sie  in  ihr,  die  sie  trägt.  Nicht  die  Welt  beherrscht  die  Seele, 
sondern  diese  jene  ^).  Die  nach  ewigem  Gesetze  erfolgende  Ent- 
wicklung der  Seelenwelt  bleibt  in  Harmonie  mit  der  Entwicklung 
der  Körperwelt  ^). 

Auch  in  der  Lehre  Plotin's  von  dem  Hervorgange  der  Materie 
zeigt  sich  dasselbe  Unvermögen  des  Rationalismus,  mit  den  Mit- 
teln der  menschlichen  Vernunft  aus  dem  einen  Princip  alles  als 
notwendige  Entwicklung  desselben  zu  deducieren,  welches  wir 
schon  beim  Neupythagoreismus  constatieren  mussten  ^).  Dass 
über  die  Vielheit  der  Begriffe  hinaus  noch  die  an  die  Materie  ge- 
bundene räumliche  Ausdehnung  und  individuelle  Vielheit  möglich 
sei,  ist  eine  Thatsache,  die  Plotin  stillschweigend  aus  der  Erfah- 
rung herübernimmt  und  für  sein  System  verwertet,  ohne  dass  es 
ihm  gelänge,  ihre  innere  Notwendigkeit  a  priori  abzuleiten.  Und 
dass  nun  gar  infolge  des  Verlangens  der  Seele  oder  der  Natur, 
sich  mit  ihrem  Formeninhalt  räumlich  auszudehnen,  die  Materie 
als  Aufnahmeort  plötzlich  da  ist,  erinnert  einigermaassen  an  jene 
Theorien,  denen  die  Lunge  die  Objectivation  des  Atmungs- 
bedürfnisses, der  Magen  die  Objectivation  des  Verdauungsbedürf- 
nisses ist.  Zu  solchen  Auskunftsmitteln  nmsste  Plotin  greifen, 
weil  er  die  Schöpfung  nur  als  Naturnotwendigkeit^),  nicht  als 
Wirkung  der  bewussten  und  freien  Thätigkeit  Gottes  zu  fassen 
weiss.  Von  dem  innerlich  Widersprechenden  des  so  gewonnenen 
BegrüTes  der  Materie,  auf  das  schon  oben  hingewiesen  wurde, 
soll  hier  nicht  weiter  geredet  werden. 

4.  Aus  der  Stellung,  welche  die  Materie  in  der  Entwicklung 
des  Seienden  einnimmt,  erklärt  sich  das  Wertverhältnis,  welches 
ihr  bei  Plotin  zugelegt  wird.  Weil  sie,  verschieden  vom  Seienden, 
das  Nichtseiende  ist,  so  muss  sie,  da  das  Gute  mit  dem  Sei- 
enden identisch  ist,   ja  noch    über  ihm   steht,    das    Böse  sein  ^). 


1)  enn.  IV  3,  9.  p.  18,  33  ff. 

2)  enn.  IV  3,  12.  p.  21,  28  ff. 
=*)  S.  S.  397  f. 

*)  Vgl.  Zeller  III  ^  b,  496  f. 

")  enn.  I  8,  3.  p.  58,   16  ff.   VI  7,  28.    Zum    Folgenden   vgl.   auch  Harle.ss, 
Das  Buch  von  den  ägyptischen  Mysterien.  München  1858.  S  127  ff. 


Plotin.     Urspruni,'  der  Materie      Die  Materie  und  das  Böse.  415 

Und  da  nur  das  Gestaltete  schön  ist,  so  ist  die  Materie  das 
Hässliche  ^). 

Das  Böse  nämlich  sieht  Plotin  in  dem  Maasslosen  und  Unbe- 
ständigen, in  dem  Mangel  und  der  Bedürftigkeit,  in  dem  Fehlen 
einer  festen  Begründung  in  sich,  wie  sie  dem  wahrhaft  Seienden 
eigen  ist  und  durch  die  völlige  Selbsthingabe  an  jenes  auch  von 
dem  Niedrigerstehenden  gewonnen  wird  ^).  Die  Materie,  die  ihrem 
Wesen  nach  Maasslosigkeit  und  Unbeständigkeit  ist,  ist  darum 
auch  ihrem  Wesen  nach  böse.  Das  Böse  ist  keine  Eigenschaft 
an  ihr,  sondern  ihre  Natur  ^).  Darum  bleibt  die  Materie,  die  auch 
unter  der  Form  ihre  Natur  als  Maasslosigkeit  und  Beraubung  bei- 
behält^), auch  unter  der  Form  böse  und  hässlich  '"). 

Aus  der  Materie  als  dem  Urbösen  stammt  alles  Üble  und 
Böse,  wie  aus  der  Gottheit  alles  Gute.  Während  sie  das  Böse 
ist,  sagen  wir,  dass  das  Andere  durch  sie  böse  werde '^),  indem 
es  von  ihr  Maasslosigkeit  und  Unbestimmtheit  annimmt,  von 
ihrem  Dunkel  verdunk(>lt  wird  "').  Darum  ist  die  Materie  der 
Grund  des  Übels  und  des  Bösen  zunächst  in  der  Körperwelt  ^). 
Durch  ihre  Schwäche  verdirbt  sie  die  begrifflichen  Formen,  welche 
aus  der  Weltseele  in  sie  eintreten  ^)  Ebenso  hat  in  der  Seele 
das  Böse  nicht  ursprünglich  seinen  Sitz.  Reine  Geistessünden, 
wie  z.  B.  den  Hochmut,  kennt  Plotin  nicht,  behandelt  sie  wenig- 
stens nicht  und  sucht  sie  nicht  zu  erklären.  Auch  der  Seele  er- 
wächst das  Böse  nur  durch  die  Hinneigung  zur  Körperwelt  ^"). 
Die  Materie  behindert  und  schwächt  die  Seele  und  lässt  sie  nicht 
zur  vollen  Entfaltung  ihrer  Kräfte  kommen  ^^).  Wir  sind  nicht 
böse  durch  uns  selbst,  sondern  das  Böse  ist  vor  uns  da  ^^). 


')  enn.  I  6,  2.  p.  45,  33  ff. 

•")  enn.  I  8,  3.  p.  58,  29  ff.   I  8,  5.  p.  61,  6  ff.  u.  ö. 

ä)  enn.  I  8,  3.  10.  p.  59,  2-4.  67,   15—20. 

*)  S.  S.  405  f. 

'")  enn.  II  4,  16.  p.  117,  13-22. 

«)  enn.  I  8,  3.  p.  59,  4-6. 

')  enn.  I  8,  8.  p.  66,  1—5. 

*)  enn.  I  8,  4.  p.  59,  27  ff.,  wo  die  Worte  ov  ngolrov  von  Müller  und  Volk- 
mann mit  Unrecht  als  interpoliert  betrachtet  werden. 

8)  enn.  II  3,  16.  p.  101,  8-9. 

")  enn.  I  8,  4.  8.  12.  p.  60,  1  ff.  66,  5-8.  68,  13-14. 

")  enn.  I  8,  14.  p.  70,  19—29.     Über  den  anscheinenden  Widerspruch  damit 
in  der  Abhandlung  gegen  die  Gnostiker  (enn.  II  9,  4)  vgl.  Zeller  IIP  b,  552,  6, 
1^)  I  8,  5.  p.  61,  25-27.    Vgl.  I  8,  14.  p.  70,  29  f, 


4lß  Der  Neiiplatonisiiius  und  dessen  Vorliiufer. 

Durch  das  Böse  in  der  Welt  aber  wird  deren  Vollkommen- 
lieit,  die  Plotin  gegen  die  Gnostiker  ausführlich  verteidigt  ^), 
nicht  aufgehoben.  Denn  ohne  Gegensätze  wäre  die  Welt  nicht 
möglich.  Darum  muss  sie  gemischt  sein  aus  der  Vernunft^  die 
das  Gute,  und  der  Notwendigkeit  oder  der  Materie,  die  das  Üble 
bringt  '^).  Und  ferner,  wenn  das  Gute  nicht  allein  sein  will,  so 
muss  es  aus  sich  herausgehen;  dieses  Herausgehen  aber  muss 
wieder  bei  dem  Bösen,  der  Materie,  enden,  da  ja  auf  jedes  Erste 
ein  Letztes  folgen  muss  ^).  Jener  den  Göttern  verhasste  *)  Ab- 
grund des  Bösen  und  Hässlichen,  die  Materie,  liegt  ja  auch  nicht 
offen  vor  Augen.  Er  ist  überdeckt  durch  die  Formen,  die  aus 
dem  Guten  gekommen  sind.  Das  Böse  ist  so,  wie  ein  Gefange- 
ner, mit  goldenen  Fesseln  umgeben,  damit  die  Götter  es  nicht 
sehen,  die  Menschen  aber  durch  die  Bilder  des  Schönen  zur  Er- 
innerung an  das  Schöne  erhoben  werden  ^).  So  strebt  doch 
alles  nach  dem  Guten.  Ja  die  Materie  selbst,  wenn  sie  em- 
pfinden könnte^  würde  nach  dem  Guten  und  damit  nach  ihrer 
Selbstvernichtung  verlangen  ^). 

Die  Lehre  Plotin's  von  der  Materie  als  dem  Urbösen  bestimmt 
nun  auch  seine  ganze  Ethik.  .,Das  Entscheidende  für  den  sitt- 
lichen Zustand  des  Menschen  ist  die  Abkehr  vom  Sinnlichen ;  mit 
dieser  ist  die  Hinwendung  zum  Übersinnlichen  unmittelbar, 
als  ihre  natürliche  Folge,  gegeben,  und  es  bedarf  keiner  beson- 
dern Einwirkung  des  Willens  auf  sich  selbst,  keines  weitern  In- 
nern Processes,  um  dieselbe  hervorzubringen,  sondern  sobald  das 
Hindernis  Aveggeräumt  wird,  welches  die  sinnliche  Neigung  der 
naturgemässen  Thätigkeit  der  Seele  in  den  Weg  legt,  so  tritt 
diese  wieder  ein,  und  die  Seele  nimmt  die  Richtung  auf's  Über- 
sinnliche mit  der  gleichen  Sicherheit  und  Notwendigkeit,  mit  der 
etwa  ein  Luftballon  in  die  Höhe  steigt,  wenn  man  die  Stricke 
löst,  welche  ihn  zurückhielten"  '^). 


1)  enn.  II  9. 

^)  enn.  I  8,  7.  p.  64,  1  ff.  ^nach  Plat.  Theaet.  17G  A  und  Tim.  48  A). 
«)  enn.  I  8,  7.  p.  64,  17-23. 
*)  enn.  V  1,  2.  p.  143.  4—5. 
"•)  enn.  I  8,  15  Schi. 

•*)  enn.  VI  7,  28.  p.  399,  17  ff.     Es  ist    eine   poetische  Ausmalung  aristote- 
lischer Gedanken;  vgl.  ohen  S.  2G3  und  die  Ausführungen  Plutarch's,  S.  380. 
')  Zeller  III"  b,  599. 


Plotin.    Die  Materie  u.  d.  Böse.  —  Die  spätem  Neuplatoniker.    Porphyr.      417 

So  ist  die  ethische  Betrachtung  der  Materie,  welche  wir  bei 
Plato  begonnen,  bei  Philo,  den  Piatonikern  und  Neupythagoreern 
fortgeführt  fanden,  bei  Plotin  zu  ihrer  vollen  Entfaltung  gelangt, 
ohne  dass  indes  bei  ihm,  wie  bei  Philo  und  dessen  Geistesver- 
wandten, die  metaphysische  Durcharbeitung  des  Begriffes  vernach- 
lässigt würde. 

b.  Die  spätem  Xeiiplatouiker. 

Über  Plotin  ist  die  neuplatonische  Schule  im  wesentlichen 
nicht  hinausgekommen.  Die  Begriffsmythologie  der  Emanations- 
stufen zwar  und  die  trübe  Beimischung  theurgischen  Aberwitzes 
sind  von  den  Spätem  bekanntlich  immer  weiter  auf  die  Spitze 
getrieben  ;  aber  neue  grundlegende  philosophische  Gedanken  su- 
chen   wir  bei  diesen  vergebens. 

Über  den  Begriff  der  Materie  hatte  Porphyrius,  der  Lieb- 
lingssehüler  Plotin's,  ein  eigenes  Werk  in  sechs  Büchern  geschrie- 
ben 1).  Er  scheint  darin  seinen  Gegenstand,  wie  Aristoteles  und 
zum  Teil  auch  Plotin  es  liebten,  nicht  nur  systematisch,  sondern 
auch  historisch-kritisch  behandelt  zu  haben.  So  weit  wir  aus  den 
unbedeutenden  Trümmern  dieser  Schrift  und  aus  sonstigen  gele- 
gentlichen Bemerkungen  ersehen,  beschränkte  sich  Porphyr  auch 
hier  darauf,  die  Ansichten  seines  Lehrers  schlicht  und  klar  aus- 
einanderzusetzen 2).     Wenn    Plotin    den   Dämonen  Anteil  an   der 


^)  Suidas  s.  v.  Ilop^rgios.  —  Aus  der  Schrift  ist  uns  bei  Simpl.  phys.  I, 
p.  230,  3G  ff.  und  231,  7— 24  Einiges  teils  auszüglich,  teils  wörtlich  erhalten,  letz- 
teres, wie  schon  oben  S.  395  Anm.  7  gezeigt  wurde,  ein  Gitat  des  Porphyrius  aus 
Moderatus.  Aus  unserer  Schrift  ist  wohl  auch  die  Anführung  des  Porphyrius  über 
die  platonische  Materie  bei  Simpl.  in  phys.  III,  p.  453,  31 — 454,  1(3  entnommen 
(wo  aber  die  Worte  iv  tü>  <Pihjßw  schon  in  das  Gitat  zu  ziehen  sind). 

*)  Vgl.  Zeller  IIP  b,  646.  Eine  kurze  Zusammenfassung  der  plotinischen  Lehre 
von  der  Materie  giebt  Porphyr,  sent.  ad  intell.  duc.  21,  wozu  Greuzer  (Vorrede 
zur  Didot'schen  Plotin-Ausgabe,  S.  XXVIII)  die  hauptsächlichsten  Parallelen 
aus  Plotin  zusammengestellt  hat.  Gegen  Atticus  suchte  Porphyr  zu  beweisen, 
dass  Gott  nicht  erst  in  der  Zeit  eine  ungeordnete  Materie  geordnet  habe 
(Procl.  in  Tim.  119  B  fi.;  vgl.  116  G.  Philopon.  de  aetern.  mund.  VI  8. 10. 
14.  25.  Vgl.  Schäfers,  Über  ein  Fragment  nus  dem  Gommentar  des  Por- 
phyrius zu  Plato's  Timaeus.  Progr.  von  Hedingen.  Sigmaringen  1884.)  Die- 
selbe stammt  vielmehr  aus  dem  voijtöv  als  dessen  letzter  Niederschlag  (Procl. 
a.  a.  0.  133  F);  Gott  ist  Ursache  auch  der  Materie  (Procl.  a.  a.  0.  139  A. 
119  B  ff,).  Diese  Materie  des  Sinnfälligen  ist  ein  Schatten  der  intelligibeln 
Materie;  sie  hat  nicht  mehr,  wie  jene,  wahrhaft  teil  an  dem  Einen  und  den 
Ideen,  sondern  ist  nur  durch  die  Abspiegelung  der  letztern  geschmückt  (^Simpl.  in 

Baeumker:    Das  Problem  der  Materie  etc.  ^  ' 


418  Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

intelligibeln  Materie  zuschrieb  ')  und  auch  die  Seele  durch  Licht- 
und  Wärmeausstrahlung  den  Körper  formen  Hess,  so  kommt 
Porphyr  zu  der  Vorstellung  von  einem  pneumatischen  Licht- 
leib, welcher  unsere  Seelen  umgebe,  und  den  dieselben  bei 
ihrem  hinabsteigen  aus  den  Sternsphären  mitgebracht  haben 
sollen  2).  lamblich  3),  Hierocles*),  Syrian  •''),  Proclus  ^)  u.a. 
sind  ihm  hierin  gefolgt. 

Mit  der  plotinischen  Lehre  von  der  Materie  verbindet  lam- 
blich  den  Neupythagoreismus ').  Wie  dieser,  führt  er  die  Ma- 
terie des  Sinnfälligen  auf  die  Zweiheit  -zurück  »).  Von  der  sinn- 
lichen Materie  unterscheidet  er,  wie  Porphyr  •'),  neben  der  intelli- 
gibeln auch  eine  mathematische  Materie  i"),  welcher  gleichfalls  die 
Prädicate    des  Bösen    und    Hässlichen    noch  nicht  zukommen "). 


phys.  I,  p.  231,  2 — 5).  Durch  die  formlose  Materie  ist  auch  die  Welt  dunkel, 
durch  die  Verbindung  mit  den  Ideen  schön  und  begehrenswert  (de  antro 
nymph.  5—0).  In  den  Begriffen  verhält  sich  die  Gattung  zur  Differenz,  wie  die 
Materie  zur  Form  (Porphyr,  isag.  p.  11,  12—17.  15,  6—7  Busse.  Vgl.  Philopon. 
in  phys.  I,  p.  130,  11 — 12  Vitelli).  Auch  über  die  mathematische  Materie  hatte 
Porphyr  gehandelt  (Procl.  in  Euch  elem.,  prol.  II,  p.  5G,  -li  Friedlein). 

'j  S.  S.  411.  Vgl.  auch  schon  Plutarch  de  fac.  in  orb.lun.  c.  28,  p.  943  A, 
wo  als  Teile  des  Menschen  Geist,  Seele  und  Leib    unterschieden    werden,    von 
denen  der  letztere  der  Erde,  die  zweite  dem  Monde    und    der    erste   der  Sonne 
entstammt.     Über  jene  ätherischen  Mondbewohner  ebd.  c.  ^5,  p.  940  B  ff. 
)  Porphyr,  sent.  32.  Procl.  in  Tim.  311  A. 

■')  Procl.  in  Tim.  311  B.  321  A.  321  D. 

*)  Hierocl.  in  carm.  aur.  c.  26  u.  27,  bei  Mullach.  Fragm.  phil.  Graec.  I, 
p.  478  f.  483.     —    *)  Syrian.  in  met.  XIII,  881  a  36— b  13.  b  28-32. 

•-)  Vgl.  Zeller  lir'  b,  814. 

')  in  Nicom.  arithm.  intr.  p.  4  D  Tennul.  versichert  lamblich,  er  wolle 
nichts  Neues  bringen,  sondern  nur  die  alle  pythagoreische  Weisheit.  —  Vgh 
Zeller  IIP  b,  700  ff.  -    «;  Vgl.  oben  S.  399  Anm.  5.  —  ■')  S.S. 417  Anm.2Schl. 

'")   lambl.    negi  rij;  xoivrjs  fialti]/j.aTtx-ijs  tntarij/JTji    köyoe    tqizoi   bei    Villoison, 

Anecdot.  Graec.  II  (Venet.  1781),  p.  190  o.  (hier  ist  zwar  vom  mntQaa^ivov 
und  aneiQov  im  Intelhgibeln,  Mathematischen  und  Sinnfälligen  die  Rede;  aber 
wenigstens  das  mathematische  Unbegrenzte  wird  p.  191  und  192  auch  als  vir) 
bezeichnet).  Über  die  unsichere  Stellung  des  Mathematischen  hei  lamblich 
vgl.  Zeher  III  ^  b,  701. 

")  lambl.  a.  a.  0.  p.  191.  192:  das  Princip  der  Vieüieit  in  den  Zahlen  ist 
nicht  böse  oder  hässlich,  ebensowenig  wie  das  Eine,  das  über  dem  Schönen 
und  Guten  sowie  über  dem  Seienden  steht.  Alles  dieses  tritt  erst  in  dem  auf, 
was  von  diesen  Princijien  abgeleitet  ist;  zuerst  das  Sein  in  den  Zahlen,  dann 
Schönheit  und  Güte  in  den  geometrischen  Wesenheilen,  die  xaxia  endlich  erst 
in  dem,  was  an  vierter  und  fünfter  Stelle  folgt    (es  ist    niclit  klar,    ob    damit 


Die  spätem Neuplatoniker.    Porphyr.    lamblich.    Die  Schrift  v.  d.  Mysterien.   419 

Den  Ursprung  der  sinnlichen  Materie  scheint  lamblich  nicht  mit 
Plotin  aus  einer  Abschwächung  der  untersten  geistigen  Kraft, 
sondern,  wie  später  Proclus,  unmiltolbar  aus  dem  obersten  intel- 
ligibeln  Sein  herzuleiten  i).  Dieselbe  Auffassung  vom  Ursprung 
der  Materie  begegnet  uns  in  der  Schrift  von  den  ägyptischen 
Mysterien,  welche  von  Proclus  dem  lamblich  zugeschrieben 
wird  '^).     Diese  Sclirift    redet    auch    von    einer   reinen   und    gött- 


Seele  und  Körper  gemeint  sind,  oder  die  Zahlen  in  der  Musik  und  der  Astro- 
nomie, die  a.  a.  0.  p.  192  unten,  193  m.,  in  Nicom.  ar.  intr.  p.  8  A  ff.  auf  die 
der  Arithmetik  und  der  Geometrie  folgen).  —  Dagegen  ist  der  materielle  Kör- 
per eine  Fessel  der  Seele:  protrept.  c.  21,  p.  358  Kiessling  (das  Fragment  des 
lambl.  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  882  ff.  berichtet  p.  89G  nur  über  die  Ansichten  des 
Numenius  u.  s.  w.,    ohne    die    eigene    Meinung   des    lamblich  anzugeben). 

*)  Das  ergiebt  sich  aus  folgender  Gombination.  lambl.  in  Nicom.  ar.  intr. 
p.  111  G  leugnet,  dass  der  Demiurg  (über  denselben  vgl.  Zeller  III  ^  b,  692,  2) 
die  Materie  erzeugt  habe;  vielmehr  habe  er  dieselbe,  die  gleichfalls  ewig  sei, 
übernommen  und  nach  dem  Vorbild  der  Zahlen  durch  Formen  und  Begriffe 
gestaltet  (d.  h.  von  Ewigkeit  her;  vgl.  Procl.  in  Tim.  116  G).  Andererseits  aber 
ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  lamblich,  wie  alle  Neuplatoniker,  auch  die  Ma- 
terie zu  dem  rechnet,  was  aus  dem  Ersten  hervorgegangen  ist.  Ist  also  die 
Materie  nach  lamblich  nicht,  eine  spätere  Entwicklungsstufe  als  der  Demiurg, 
andererseits  aber  doch  dem  wahi'haft  Seienden  entstammt,  so  kann  er  sie  nur 
aus  den  allgemeinen  Principien  des  Intelligibeln  abgeleitet  haben.  —  Ihre  volle 
Bestätigung  würde  diese  Ansicht  finden,  wenn  wir  die  Schrift  von  den  Myste- 
rien   mit   Proclus   wirklich    dem     lamblich  zuschreiben  dürften;  s.  folg.  Anm. 

■')  De  myster.  VIII  3,  p.  265,  5—10  Parihey  (vgl.  VIII  1,  p.  260,  8): 
flDie  Materie  hat  der  Gott  hervorgebracht,  indem  er  von  der  ovai.üxi,g  die 
vköjia  abspaltete.  Diese  übernalmi  dann  der  Demiurg  und  bildete  von  ihr, 
der  Itbensfähigen,  zum  Teil  die  einfachen  und  leidenslosen  Gestirnsphären, 
während  er  den  äussersten  Teil  derselben  zu  den  dem  Werden  und  Ver- 
gehen unterworfenen  Körpern  formte."  So  der  angebliche  ägyptisclie  Hermes. 
Nun  berichtet  Proclus  in  Tim.  117  F,  lamblich  erzähle,  dass  auch  Hermes 
die  ovainTr,g  von  der  rX6tr,s  ableite.  Neben  der  von  Thomas  Gale  in  seiner 
Ausgabe  (Oxford  1678)  zu  Anfang  der  Testimonia  abgedruckten  handschrift- 
lichen Notiz  (die  sich  aber  nicht  bloss  in  Einer  Handschrift  findet,  wie  Zeller 
IIP  b,  715,  1  annimmt,  sondern  nach  Bandini  I,  p.  496  b  im  cod.  Laur.  plut. 
X,  82  —  A  bei  Parthey  — ,  nach  Parthey  p.  VI  seiner  Ausgabe  im  Voss.  22, 
nach  Fabricius  Bibl.  Lat.  ed.  Harless  V,  p  762  Note  r  im  Taurinensis  und  Vin- 
dobonensis,  und  so  wahrscheinlich  auch  noch  in  andern),  nach  welcher  Proclus 
in  seinem  Gommentar  zu  den  Enneaden  des  Plotin  das  fragliche  Werk  dem 
lamblich  beilegte,  haben  wir  hier  also  ein  neues,  übrigens  schon  von  Ghristoph 
Meiners  (der  freilich  lamblich's  Urheberschaft  bekämpft)  in  den  Gomment.  soc 
Heg.  Gottingens.  IV  (1782)  p.  77  beachletes  Zeugnis  dafür,  dass  Proclus  wirklich 

ene  Ansicht  über  die  Provenienz  der  Schrift  hegte. 

27* 


420         Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

liehen  Materie  in  der  Welt,  die  von  dem  Vater  des  Alls  her- 
stammt und  darum  —  in  Tempeln  und  Opfergaben  —  einen 
würdigen"  Aufenthalt  der  Götter  abgiebt  ').  Gegenüber  der  An- 
sicht Plotin's  von  der  Materie  als  dem  Urbösen  zeigt  sich  hier 
eine  Wendung  in  der  Wertschätzung  der  Materie,  welche  die 
Ansicht  des  Proclus  vorbereitet. 

In  vereinfachter  Gestalt,  auf  die  Grundzüge  beschränkt,  be- 
gegnet uns  die  neuplatonische  Lehre  von  der  Materie  bei  dem 
Alexandriner  Hierocles,  dem  Schüler  Plutarch's  von  Athen  2). 
Hierocles  bekämpft  vor  allem  die  dualistische  Ansicht  mancher 
Platoniker,  dass  der  Weltbildner  die  Welt  aus  einer  neben  ihm 
von  Ewigkeit  her  vorhandenen  Materie  in  der  Zeit  geformt  habe  ^). 
Die  Welt  mit  Einschluss  der  Materie  ist  ihm  ein  ewiges  Erzeugnis 
Gottes.  Folgt  er  hierin  der  gewöhnlichen  neuplatonischen  An- 
sicht, so  geht  er  über  diese  hinaus  durch  die  Bestimmung,  dass 
der  Bestand  der  Welt  und  also  auch  der  Materie  ein  Werk  des 
göttlichen  Willens  sei*).  Principiell  freilich  verwirft  auch  er 
nicht  die  Anschauung  Plotin's  ■'^),  welcher  die  Schöpfung  als  einen 
naturnotwendigen  Act  betrachtet  ^).  Im  übrigen  legt  Hierocles 
besonderes  Gewicht  auf  die  ethische  Seite  der  Lehre.  Durch 
Wahrheit  und  Tugend  sollen  wir  unsere  Seele  und  den  dieselbe 
umgebenden  Lichtleib  ')  reinigen  von  dem  irdischen  Rost,  der 
sich  infolge  der  Berührung  mit  der  Materie  ansetzt  ^). 


')  de  myster.  V  23,  p.  232,  16—233,  9.  Natürlich  hält  auch  unsere  Schrift 
im  übrigen  an  der  Ansicht  fest,  dass  Vergänglichkeit  und  Unvollkommenheil 
von  dem  Eintritt  in  die  Materie  herrühre;     vgl.  l  18.  p.  55,  3-56,  5. 

^)  Dass  Plutarch  mit  vielen  andern  neuplatonischen  Interpreten  auch  die 
Lehre  von  der  Materie  im  platonischen  Parmenides  dargestellt  fand,  ist  schon 
S.  193  Anm.  1  bemerkt  vs^orden. 

ä)  in  der  Schrift  über  die  Vorsehung,  PLot.  cod.  214,  p.  172  a  22-26.  cod. 
251,  p.  460  b  23—461  a  23.  461  b  6—9.  463  b  34—38  Bekker;  in  carm.  aur. 
c.  1,  p.  419  b  f.  Mullach.     S.  oben  S.  144. 

^)  Phot.  cod.  214,  p.  172  a  25  -  26.  cod.  251,  p.  4()1  b  8—9.  Hierocl.  in 
carm.  aur.  c.  1  p.  419  b  oben. 

«)  S.  S.  414. 

")  Das  ergiebt  sich  aus  den  Gründen,  die  Hierocles  bei  Phot.  cod.  251 
p.  461  a  8—14  gegen  die  Zeitlichkeit  der  Welttiildung  anführt,  die  eine  Ver- 
änderung in  dem  Willen  Gottes  voraussetze. 

')  S.  S.  418  Anm.  4. 

^)  in  carm.  aur.  prooem.  p.  416  a.  417  a;  c.  £6,  p.  478  b  u.  ö. 


Die  spätem  Neuplatoniker.  Plutarcli  von  Athen.  Hierocles.  Syrian.  Proclus.     421 

Ihren  formalen  Abschluss  erhält  die  neiiplatonische  Lehre  durch 
Proclus,  den  Schüler  Syrian's  i).  Seine  Theorie  der  Mate- 
rie 2)  schliesst  sich  im  ganzen  an  die  Plotin's  an.  Doch  vertritt  er  in 
Einzelnem  diesem  gegenüber  eine  abweichende  Stellung.  Frei- 
lich ist  er  auch  hier  nicht  völhg  selbständig,  sondern  hat 
seine  Vorgänger  teils  an  den  spätem  Neuplatonikern,  teils  an 
Aristoteles. 

Mit  Plotin  nimmt  Proclus  auch  im  Intelligibeln  eine  Ma- 
terie an.  Er  identificiert  dieselbe  mit  dem  Unbegrenzten  des  Phi- 
lebus, welchem  er  den  Sitz  in  der  ersten  intelligibeln  Trias  an- 
weist 3).  Wenn  aber  jenes  Unbegrenzte  als  intelligibele  Materie 
bezeichnet  ward,  so  soll  das  Missverständnis  ferngehalten  werden, 
als  gebe  es  in  der  intelligibeln  Substanz  ein  form-  und  gestalt- 
loses Substrat,  wie  in  der  sinnfälligen  Welt.  Das  Unbegrenzte 
bezeichnet  dort  nicht  etwas  der  Möglichkeit  nach  Seiendes  (ro 
dncqitt),  sondern,  wie  schon  Plotin  sagte,  die  unendliche  Kraft  *), 
die  —  für  sich  bestehende  —  Allmacht,  durch  deren  Begrenzung 
das  Sein  entsteht  ^),  und  die  darum  unbegrenzt  heisst,  weil  sie 
niemals  ausgehen  kann  ^).  Es  geht  hindurch  auch  durch  die 
beiden  andern  intelligibeln  Triaden  ')  und  so  weiter  hinab  durch 
alle  Entwicklungen  aus  dem  Urwesen  bis  zu  der  Materie  der 
Sinnenwelt  ^).  Natürlich  ist  das  Unbegrenzte  ebensowenig  ein 
ursprüngliches  Princip,  wie  die  Grenze.  Es  ist,  wie  diese,  aus 
dem  Einen  %  oder,    wie  es  anderswo  heisst,   aus  Gott  lo)  hervor- 


^)  Dass  Syrian  eine  Hypothesis  des  platonischen  ParmeniJes  (die  letzte 
der  von  ihm  angenommenen  fünf)  auf  die  Materie  bezog  —  welche,  der  ide- 
alen Henaden  unteilhaftig,  doch  von  der  überwesentHchen  und  einzigen  Mo- 
nade ihren  Bestand  erhalten  habe  und  erleuchtet  werde  (Procl.  in  Parm.  VI, 
col.  1064,  7 — 12  Cous."^)  —  wurde  schon  S.  193  Anm.  1  angemerkt.  —  Über  den 
„Lichtleib"   s.  S.  418   Anm.  5. 

'')  Über  dieselbe  vgl.  Jules  Simon,  Histoire  de  l'ecole  d'Alex.  11,  438,  569  f. 
Vacherot  II,  282  ff.  344  ff.  Berger  bei  Bouillet,  Les  enneades  de  Plotin,  I,  484  f. 
Zeller  IIP  b,  798  f.  808  f. 

3)  Zeller  III J*  b,  798. 

*)  in  Eucl.  elem.  def.  I,  p.  88,  21—22.  25—26  Friedlein.    Vgl.   ob.n  S.  410. 

5)  instit.  theol.  92;  in  Plat.  theol.  111  9,  p.  137  u.  138  o.  Portus;  in  Eucl. 
1.  c.  p.  88,  22—24.    —    6)  Vgl.  instit.  theol.  94. 

■)  in  Plat.  theol.  III  21   Anf.,  p.  157.    —  «)  in  Tim.  117  C.  instit.  theol.  89  ff. 

")  de  malor.    subsist.  col.  234,  13—15  Cousin  ^ 

•")  in  Tim.  117  B;  in  Plat.  theol.  ill  7,  p.  132  m.  Vgl.  de  malor.  subsist. 
col.  235,  25. 


422  Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufei'. 

gegangen.  Durch  eine  gekünstelte  Exegese  suchte  Proclus  diese 
Auffassung  auch  in  den  platonischen  Philebus  hineinzuinter- 
pretieren 1). 

Ist  das  Unbegrenzte  innerhalb  der  Idealwelt  nur  im  analogi- 
schen Sinne  als  Materie  zu  bezeichnen  2),  so  findet  diese  Bezeich- 
nung im  eigentlichen  Sinne  Anwendung  auf  die  intelligibele 
Materie  der  Mathematik  3),  der  Proclus,  wie  schon  Porphyr 
und  lamblich,  eine  besondere  Beachtung  schenkt.  Hinsichtlich 
ihrer  schliesst  er  sich  im  ganzen  an  Aristoteles  *)  an,  doch  mit 
denjenigen  Veränderungen,  welche  sich  aus  der  abweichenden  pla- 
tonischen Ansicht  über  die  mittlere  Stellung  des  Mathematischen 
und  den  Ursprung  der  mathematischen  Formen  in  unserm  Den- 
ken ergeben.  Gegen  Aristoteles  nämlich  behauptet  er,  dass  die 
geometrischen  Figuren  nicht  durch  Abstraction  von  den  sinnfälli- 
gen Dingen  gewonnen  seien  ^).  Dem  widerspreche  ausser  andern 
Gründen  ^)  die  absolute  Genauigkeit  der  mathematischen  Figuren, 
im  Gegensatz  zu  der  bloss  annähernden  Richtigkeit  körperlicher 
Dreiecke,  Kreise  u.  s.  w. ;  ferner  die  apodiktische  Gewissheit  ma- 
thematischer Sätze  '').  Noch  weniger  seien  Linien,  Puncte  u.  s.  w. 
mit  den  Stoikern  als  leere  Gedankengebilde  zu  fassen;  vielmehr 
beweise  die  Rolle,  welche  das  Weltcentrum,  die  Weltachse,  die 
Himmelspole  spielten,  handgreiflich  ihre  objective  Natur  und  wir- 
kende Kraft  ^).  Die  mathematischen  Gebilde,  und  zwar  sov^ohl 
die  in  unserm  Denken  befindlichen,  wie  die  in  der  Körperwelt 
verwirklichten,  müssen  darum  als  Producte  der  idealen  Ver- 
standesbegriffe gefasst  werden.  Die  Seele  enthält  in  sich  die 
Fülle  der  Begriffe,  die  von    den    intellectuellen  Urbildern    in   sie 


1)  S.  S.  188. 

^)  in  Plat.  theol  III  9,  p.  137  u. 

3)  vo^jr^  vkij-.  in  Eucl.  p.  5.3,  1.  '21;  78,  19;  87,  13;  96,  8;  142,  15;  yewMf- 
TQiy.y]  vXri :  ebd.  p.  50,  7 ;  56,  23  (vgl.  48,  16) ;  (favTaaTixr,  vXri :  ebd,  55.  5  ;  vkij 
Twv  (pavtaaTÖiv :  p.  51,  16 ;  86,  12.  —  Ich  spreche  etwas  ausführlicher  über  diese 
mathematische  Materie,  weil  dieselbe  bei  Zeller  keine  Berücksichtigung  ge- 
funden hat. 

"1  S.  S.  291  ff. 

5j  in  Eucl.  p.  12,  9 ;  139,  24. 

6)  Vgl.  z.  B.  a.  a.  0.  p.  49,  7—12. 

")  ebd.  p.  12,  14;  49,  17;  140,  4.  Man  beachte  die  Übereinstimmung  des 
Grundgedankens  mit  Kant. 

8)  ebd.  p.  89,  15-90,  11;    91,  21-23.  S.  oben  S.  333.   Anm.  2  Schi. 


Die  spätem  Neuplatoniker.     Pioclus.  423 

gelangt  sind  ^).  Sie  ist  keine  leere  Tafel,  sondern  immer  be- 
schrieben, indem  sie  selbst  schreibt  und  vom  Nus  beschrieben 
wird  2 .  Aber  diese  Begriffe  sind  noch  nicht  die  Figm^en  der 
Geometrie.  Während  der  Begriff  des  Kreises  einer  und  in  Ein- 
heit ist,  unausgedehnt  und  unteilbar,  sind  die  geometrischen 
Kreise  viele  an  Zahl ,  verschieden  an  Grösse,  ausgedehnt  und 
teilbar  ^).  Woher  diese  Zerteilung  ?  Sie  ist  nur  dadurch  mög- 
lich, dass  der  einheitliche  Begriff  in  eine  Materie  als  das  indivi- 
duierende  Princip  der  Vielheit  und  Zerteilung  eingetreten  ist.  Da 
diese  Materie  innerhalb  des  Denkens  —  d.  h.  hier  allgemein  der 
innern  Seelenthätigkeit  im  Gegensatz  zur  äussern  Wahrnehmung 
—  sich  findet,  so  ist  sie  intelligibele  Materie.  Andererseits 
kann  sie  nicht  dem  höhern  Denkvermögen,  dem  Verstände,  ange- 
hören ;  denn  in  diesem  giebt  es  keine  bloss  numerische  Verviel- 
fältigung und  keine  Zerlegung  in  räumliche  Teile.  So  kommen 
wir  auf  diejenige  Seelenkraft,  welche  zwischen  Verstand  und  sinn- 
licher Wahrnehmung  vermittelt,  die  Phantasie.  Weil  diese 
nicht,  wie  der  Verstand,  unabhängig  vom  Körper  besteht,  son- 
dern ihr  Sein  im  Körper  hat,  so  ist  ihr  Object  ausgedehnt,  hat 
Teile  und  räumhche  Umgrenzung  *).  Dabei  ist  das  Verhältnis 
von  Verstand  und  Phantasie  folgendes.  Der  Verstand  hat  die 
Begriffe  des  Kreises  u.  s.  w.  in  sich,  aber  noch  unentwickelt  und 
compliciert  {ovv£mvy(.isvoig).  Er  kann  dieselben  darum  noch 
nicht  anschauen.  Deshalb  führt  er  sie,  um  sie  zu  entwickeln 
{drsh'TTfiv),  in  die  Phantasie  ein,  die  „an  seiner  Schwelle  liegt", 
d.  h.  in  Einem  Bewusstsein  mit  ihm  verbunden  ist.  Hier  bleiben 
die  Begriffe  zwar  von  der  Materie  des  Sinnfälligen  noch  abge- 
trennt, finden  aber  in  der  (farraOTixij  vkrj  Vervielfältigung  und 
Ausdehnung  '"). 

Proclus  hat  uns  nicht  näher  ausgeführt,   worin   jene  Materie 
innerhalb    der  Phantasie    oder,    wie    er   sich    ausdrückt  ^),   jener 


1)  ebd.  p.  16,  4-9;  55,  18. 

2)  ebd.  p.  16,  9—13.    Vgl.  in  Alcib.  pr.  col.  542,  20-23. 

^)  ebd.  p.  49,  24  ff.  54,  21 — 22.    Der  Gedanke  ist,    wie   auch  die  folgenden 
Ausführungen,  aristotelisch ;    s.  oben  S.  292. 
")  ebd.  p.  51,  20—52,  8;  52,  22  ff. 
6)  ebd.  p.  54,  27  ff".    Vgl.  52,  22  ff.  55,  8  ff. 
«)  ebd.  p.  141,  5  ff. 


424  Fünfter  Abschnitt.    Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

Spiegel  in  ihr,  der  die  mathematischen  Begriffe  auffängt,  bestehe. 
Wenn  wir  es  aber  versuchen,  seinen  Gedanken  uns  nahe  zu  brin- 
gen, so  können  wir  darin  nur  die  leere  Form  der  Ausdehnung 
sehen.  Da  nun  nach  Proclus  diese  blosse  Form  der  Ausdehnung 
nicht  von  den  ausgedehnten  Objecten  der  Sinnenwelt  genommen, 
sondern  dem  anschaulichen  Vorstellen  der  Phantasie  aus  sich 
eigen  ist,  so  erscheint  sie  als  antikes  Seitenstück  zu  der  Lehre 
Kant's  von  der  Raumanschauung  als  apriorischer  Form  unseres 
anschauenden  Bewusstseins.  Freilich  mit  vielen  einschneidenden, 
hier  nicht  weiter  zu  verfolgenden  Unterschieden,  die  zuletzt  alle 
darin  wurzeln,  dass  dem  Proclus  trotz  seines  Apriorisinus  doch 
jede  Form  des  subjectiven  Idealismus  fremd,  das  Erkennen 
vielmehr  im  Parallelismus  zur  objectiven   Wirklichkeit  bleibt. 

Die  sinnfällige  Materie  endlich  bildet  die  unterste  Stufe 
des  Unbegrenzten.  Sie  wird  von  Proclus  nicht,  wie  von  Plotin, 
als  das  letzte  Ghed  einer  Stufenleiter  gefasst,  in  der  bei  steter 
Abnahme  der  Vollkommenheit  das  jedesmal  niedere  Glied  aus 
dem  nächst  höhern  hervorgeht.  Nach  dem  Vorgange  des  lamblich, 
wie  es  scheint  ^),  zieht  er  vielmehr  aus  der  von  Plotin  aufge- 
stellten Proportion  zwischen  der  sinnfälligen  und  der  intelligibeln 
Materie  die  Gonsequenz,  dass,  wie  die  Formen  innerhalb  der  Er- 
scheinungswelt dem  begrenzenden  Elemente  der  intelligibeln  Welt, 
so  ihre  Materie  dem  Unbegrenzten  in  jener  entstammen  müsse. 
Aus  der  Unbegrenztheit,  welche  in  der  obersten  intelligibeln  Trias 
ihren  Sitz  hat,  resultiert,  wie  alle  Unbestimmtheit,  so  auch  die 
letzte  Unbestimmtheit  oder  die  Materie  des  Sinnfälligen  ^).  Gleich 
der  intelligibeln  Materie  ist  darum  auch  die  aus  jener  hervor- 
gegangene Materie  der  Sinnnenwelt  ein  Werk  Gottes  ;  aber  nicht 
des  Demiurgen,  sondern  eines  höhern  Gottes,  der  noch  über  dem 
Begrenzten  und  dem  Unbegrenzten  steht.  Der  Demiurg  findet  ja 
nach  dem  Timaeus  die  Materie  zur  Weltbildung  bereits  vor  '^).  — 
So  hat  Proclus  den  Philebus  und  den  Timaeus  mit  einander  in 
Einklang  gesetzt.  Deutlich  verrät  sich  hier  die  unfreie  Art  seines 
Philosophierens,  welches  im  künstlichen  Ausgleich  selbstgewählter 
Autoritäten  die  Wahrheit  zu  finden  vermeint. 


1)  S.  S.  419  Anm.  1. 

■')  in  Tim.   117  A.  B.  C.  119  D;    in    Pann.  IV,  col.  845,    2  ff. ;     de  malor. 
subsist.  col.  234,  13  ff. 

ä)  in  Tim.  117  A;  in  Parm.  IV,  col.  844,  14—15. 


Die  spätem  Neuplatoniker.     Proclus.  42r) 

Das  Bestreben  des  Proclus,  allen  Mythen,  nicht  nur  des 
Volksglaubens,  sondern  auch  der  platonischen  Dialoge,  unter  den 
Begriffen  seines  Systems  eine  Stelle  anzuweisen,  führt  zu  einer 
weitern  Begriffsspaltung,  welche  den  Hervorgang  der  Materie  aus 
der  Gottheit  näher  bestimmen  soll.  Es  wird  innerhalb  der  bewir- 
kenden, erzeugenden  Urkraft  unterschieden:  der  unsagbare  in- 
telligibele  Vater,  der  Vater  und  Schöpfer,  der  Schöpfer  und  Vater, 
der  Schöpfer  schlechtweg  ^).  Dem  erstem  entstammt  die  Materie, 
welche  vor  aller  Formung  als  das  Allesaufnehmende,  Formlose  da  war 
(die  primäre  Materie  desTimaeus) ;  von  dem  zweiten  kommt  die  un- 
regelmässig bewegte  Materie  (die  secundäre  Materie  des  Timaeus) ;  von 
dem  dritten  der  Gesamtbau  der  Welt ;  von  dem  vierten  ihre  Erfüllung 
mit  den  verschiedensten  Arten  der  Lebewesen  ^).  Was  nämlich 
innerhalb  der  Sinnenwelt  am  weitesten  sich  erstreckt,  das  muss 
von  der  höchsten  Ursache  herrühren,  deren  Kraft  am  weitesten 
reicht.  So  ahmt  die  Materie,  welche  alles  durchzieht  und  in  der 
Potenz  zu  allem  ist,  das  unsagbare  Sein  der  höchsten  Ursache 
nach  ,  deren  Kraft  über  alles  geht  ^).  —  Von  dieser  Darstellung 
weicht  eine  andere  nur  scheinbar  ab.  Da  jene  vier  Ursachen  von 
einander  nicht  getrennt  sind,  so  kann  Proclus  an  einer  andern 
Stelle  sagen,  der  Weltbildner  sei  Ursache  der  Materie  kraft  der 
Ur-Einheif,  die  in  ihm  ist  und  durch  die  er  auch  Gott  sei;  durch 
seine  weltbildende  Kraft  dagegen  sei  er  nicht  Ursache  der  Materie, 
sondern  nur  der  aus  der  Materie  gebildeten  Körper*). 

Entschiedenen  Widerspruch  erhebt  Proclus  gegen  die  ploti- 
nische  Lehre  von  der  Materie  als  dem  Urbösen.  Hier  steht  er 
dem  Tyrier  Maximus  ^)  näher  als  dem  Plotin.  Jene  Ansicht  führe 
dazu,  entweder  zwei  erste  Principien  anzunehmen,  was  dem  Be- 
griffe des  Ersten  widerstreite,  oder  Gott  zur  Ursache  des  Bösen 
zu  machen  ß).  Da  die  Materie  aus  Gott  stammt  und  zur  Welt- 
bildung notwendig  ist,  so  ist  sie  nicht  böse.  Andererseits  ist  sie, 
welche  die  unterste  Stelle  von  allem  einnimmt  und  daher  für  nichts 
Gegenstand  des  Strebens  bilden    kann,    auch   kein    Gut.     Sie    ist 

^)  Diese  Unterscheidungen  sind  durch    Ausdeutung    von    Plat.    Tim.  18  G: 
TÖv   noiT/T'^v  xal  narega  Tov(h  tov  navröc  gewonnen. 

2)  in  Parm.  IV,  col.  844,  13—21. 

^)  in  Parm.  IV,  col.  845,    2 — 15.     Über    jenen    allgemeinen    Satz   von    der 
Wirkung  des  Höhern  vgl.  in  Tim.  117  E— F.   Zelter  III''  b,  791. 
*)  in  Tim.  117  E.    —    ^)  S.  S.  377. 
^)  de  malor.  subsist.  col.  230,  27—231,  24. 


426  Fünfter  Abschnitt.     Der  Neuplatonismus  und  dessen  Vorläufer. 

mithin  —  nach  der  stoischen  Formel  —  weder  böse  noch  gut; 
sie  gehört  vieln;ehr  zu  dem  Notwendigen  ').  Denn  ohne  die 
Materie  wäre  eine  Weltbildung  nicht  mtigiich,  weshalb  sie  auch 
Plato  als  Mutter,  Wärterin  und  Mitursache  bezeichne  2).  Die 
Maasslosigkeit  der  Materie  aber  macht  sie  nicht  zu  einem  Bö- 
sen, weil  dieselbe,  obgleich  selbst  des  Maasses  entbehrend,  sich 
diesem  doch  nicht  widersetzt,  vielmehr  nach  ihm  verlangt  ^)- 
Dieses  Verlangen  der  Materie  nach  der  Form  oder  dem  Guten, 
diese  unendliche  Mannigfaltigkeit  ihrer  Aufnahmefähigkeit,  eignet 
der  Materie  von  ihrem  Ursprünge  her,  in  welchem  die  Überfülle 
der  schöpferischen  Kräfte  sich  findet  *).  Gerade  dadurch  ist  die- 
selbe neben  der  weltbildenden  Kraft  der  Ideen  —  Proclus  geht, 
gleich  Plotin  ^),  durch  die  Fassung  dieser  als  wirkender  Kräfte, 
über  Plato  hinaus  —  und  neben  der  Güte,  welche  als  Ursache 
der  Einung  das  Wirkende  und  das  Aufnehmende  zusammenbringt, 
eine  der  drei  Ursachen,  welche  die  Teilnahme  der  Sinnenwelt  an 
den  Ideen  herbeiführen  ^).  So  erklärt  sich  auch  der  Wechsel  in 
den  sinnfälligen  Dingen;  denn  da  die  Materie,  die  der  MögHchkeit 
nach  alles  Seiende  ist,  nach  allem  Seienden  verlangt,  gleichwohl 
aber  nicht  überall  an  allem  wirklich  teilhaben  kann,  so  nimmt  sie 
bald  diese,  bald  jene  Gestaltung  an^).  —  Die  Ursache  des  Üblen 
aber  ist  überhaupt  nicht  eine,  wie  Gott  die  eine  Ursache  alles 
Guten  ist;  sie  ist  verschieden  für  die  Seelen  und  die  Kör- 
per 8).  Die  Schwäche  und  der  Fall  der  Seelen  aber  rühren,  ob- 
wohl nach  Proclus  alle  Übel  der  Seele  von  aussen  kommen 
sollen  ^),  doch  nicht  von  der  Materie  her.  Jener  Fall  erfolgte  vor 
der  Verbindung  mit  der  Materie  ^^).  —  Diese  Bestimmungen  hin- 
dern indes  den  Proclus  nicht,  nach  der  gewöhnhchen  neuplatoni- 


0  in  rempuhl.  p..'158  unten,  ed.  Grynaeus;  de  malor.  subsist.  col.  231,  24  ff. 
234,  13  ff.  23ß,  f)     12;  233,  4  ff.  239,  19  ff. 

')  de  malor.  subsist.  col.  234,  1.  Damit  vsjl.  man  die  Abschwächung  dieser 
platonischen  Ausdrücke  bti  Plotin.  enn.  III  6,  19.  p.  243,  15  ff. 

»)  de  malor.  subsist.  col.  232,  8-31. 

*)  in  Parm.  IV,  col.  845,  10—15.    -    ^)  S.  S.  408. 

*)  in  Parm.  IV,  col.  845,  25—29.  Vgl.  die  ganze  col.  842,  15"  anhebende 
Ausführung.    -      ')  in  Parm.  IV,  col.  843,  18  ff. 

*)  de  malor.  subsist.  col.  250,  G  ff. ;  in  rempubl.  p.  359  oben,  ed.  Gryn.  Das 
Weitere  über  das  Übel  bei  Zeller  IIP  b,  811  f. 

9)  in  .\lcib.  pr.   col.  544,  21—23. 

1»)  de  malor.  subsist.  col.  232,  32—233,  15. 


Die  spätem  Neuplatoniker.     Proclus.     Pcricles.     Damascius.  427 

sehen  Auffassung  in  der  Materie,  deren  Hässlichkeit  nur  durch  erborg- 
ten Schmuck  überkleidet  isli),  doch  auch  wieder  die  Ursache  der 
Schwächung  und  Verunreinigung  der  reinen  Formen  zu  erblicken  '^). 

Hatte  sich  Proclus  durch  diese  naturalistische  Rehabilitierung 
der  Materie  gegenüber  der  ganz  vorn  ethischen  Interesse  be- 
herrschten Auffassung  Plotin's  einigermaassen  dem  Stoicismus  ge- 
nähert, so  erscheint  es  begreiflich,  dass  auch  der  physische 
Begriff  des  Stoicismus  von  der  Materie  unter  seinen  Schülern  einen 
Anhänger  fand.  Es  ist  der  schon  früher  genannte  Pericles  der 
Lyder,  welcher  die  Materie  mit  den  Stoikern  als  qualitätslosen 
Körper  fasst  und  darin  auch  die  Meinung  des  Plato  und  des 
Aristoteles  erblickt^).  Doch  steht  derselbe  mit  dieser  Ansicht 
ganz  vereinzelt  in  der  neuplatonischen  Schule. 

Den  Gedanken  des  Proclus,  dass  der  Demiurg  nur  durch  das 
Eine  in  ihm  die  Materie  hervorbringe  *),  finden  wir  variiert  bei 
Damascius.  Nach  diesem  ist  die  über  dem  Demiurgen  stehende 
„vorbildliche  Ursache"  Princip  der  Materie  kraft  des  Einen  in  ihr  •''). 

Der  Widerspruch  des  Proclus  gegen  die  Lehre  von  der  Ma- 
terie als  dem  Urbösen  wirkt  auch  auf  die  Folgezeit  nach.  We- 
nigstens die  dualistische  Gegenüberstellung  Gottes  als  des  guten, 
der  Materie  als  des  bösen  Prineips   wird    auf   das    entschiedenste 


»)  de  mal.  subsist.  col.  226,  25-28  (vgl.  Plot.  enn.  I  8,  15;  s.  o.  S.416). 

^)  in  rempubl.  p.  .S8,  35;  39,  30  Scholl  (in:  Anecdota  varia  Graeca  et  La- 
tina,  ediderunt  Rud.  Schoell  et  Guil.  Studemund.  Vol.  IL  Berol.  1886) ;  in  Euch 
p.  130,  3  u.  ö. 

8)  Simpl.  in  phys.  I,  p.  227,  23  ff.     S.  S.  152,  1.    —     *)  S.  S.  152   238. 

*)  Damasc.  dnoglai  y.ai  iniXvang  (s.  S.  193  Anm  1)  bei  Eyssenhardt,  Mit- 
theilungen aus  der  Stadtbibliothek  zu  Hamburg  I  (1884)  S.  25  (vgl.  de  princ. 
c.  36,  p.  100  Kopp.  c.  86,  p.  249).  —  Von  den  sonstigen  Ausführungen  des 
Damascius  über  die  Materie  möge  ausser  dem  S.  193  Anm.  1  Berichteten  noch 
Folgendes  angemerkt  sein.  Die  Materie  ist,  als  unterste  Einheit,  der  Gegen- 
satz der  obersten,  über  alles  erhabenen  (de  princ.  c.  7,  p.  20;  c.  91,  p.  281). 
Obwohl  in  sich  bestimmungslos,  ist  sie  doch  von  der  Form  verschieden,  da 
die  letztere  eine  unterscheidende  Bestimmung  einschliesst  (ebd.  c.  28,  p.  70 — 
71.  c.  38,  p.  1Q3.  Vgl.  Plotin.  enn.  I  8,  6).  Wegen  dieser  ihrer  Beziehung  zur 
Form  geht  sie  als  Grundlage  der  letztern  aus  derselben  Ordnung  hervor,  wie 
jene  (ebd.  c.  40,  p.  109;  vgl.  c.  38,  p.  100)  —  wenn  auch  nicht  aus  der 
gleichen  formalen  Seite  dieser,  wie  die  zu  .\nfang  dieser  Anm.  citierte 
Stelle  lehrt.  Der  Syncretismus  dieses  Ausläufers  des  Neuplatonismus  zeigt  sich, 
wenn  er  zwischen  den  Bezeichnungen  der  Principien  als  aovä;  und  <fväg  dÖQioTos 
oder  ntQai  und  antigor  oder  i'v  und  no/lä  beliebig  wählen  lässt  (ebd.  c  43, 
p.  115  und  c  51   p.  136). 


428  Fünfter  Alischnitt.     Der  Neuplatonismiis  und  dessen  Vorläufer. 

bekämpft.  Mitgewirkt  hat  dabei  der  Gegensatz  gegen  orientalische 
Religionssysteme.  War  schon  Plotin  den  gnostischen  Neigungen 
einiger  seiner  neuplatonischen  Freunde  entgegengetreten^  so  eifert 
Ammonius,  der  Schüler  des  Proclus,  auf  das  lebhafteste  gegen 
die  „unseligen",  „gottverhassten"  Manichäer,  die  neben  dem 
guten  ein  böses  Princip  in  der  Welt  annahmen  ^).  Ist  hier  nicht 
ausdrücklich  die  Ansicht  angegriffen,  dass  gerade  die  Materie  das 
Urböse  sei,  so  richtet  sich  gegen  diese  mit  aller  Deutlichkeit  die 
Polemik  des  Simplicius.  Dieser  bekämpft  die  „Heterodoxen", 
welche,  indem  sie  ihre  eigenen  gottlosen  Meinungen  mit  den  Leh- 
ren der  Alten  verquicken,  die  Materie  als  das  ungewordene,  dem 
•Guten  sich  entgegenstemmende  und  es  bekämpfende  Princip  des 
Bösen  betrachten  ^).  Mit  Proclus  und  gegen  Plotin  betont  er, 
dass  das  letzte  in  der  Entwicklung  des  Guten  nicht  ein  Böses  sei, 
sondern  ein  Notwendiges.  Obwohl  nicht  an  sich  begehrenswert, 
seien  Materie  und  Beraubung  für  das  Ganze  doch  ebenso  notwendig, 
wie  unter  Umständen  Schröpfen  und  Brennen  für  die  Gesundheit  3). 
Innerhalb  der  westlichen  Hälfte  des  Römerreiches  dagegen 
bleibt  der  Neuplatonismus  bei  der  innerhalb  des  Piatonismus  her- 
gebrachten Auffassung  von  der  Materie  als  dem  Grunde  des  Bö- 
sen stehen.  So  Macrobius-*)  und  Ghalcidius  5).  Es  lag  das 
um  so  näher,  als  jene  Männer  ß),  ebenso  wie  Marcianus  Ga- 
pella ^)  und  Boethius  ^),  mit  dem  neuplatonischen  ein  starkes 
neupythagoreisches  Element  verbinden. 


M  Asclep.  in  met.  IV,  p.  292,  37  Hayduck.    Vgl.  ebd.  p.  271,  33. 

■')  Simpl.  in  phys.  I,  p.  249,  14-250,  5;   p.  256,  25—28. 

=>)  Ebd.  p.  249,  19—26. 

*)  Macrob.  in  somn.  Scip.  I  6,  9;   12,  7.  10.    12. 

^)  Chalcid.  in  Tim.  c.  297,  p.  325  Wrobel. 

«)  Macrob.  in  somn.  Scip.  I  6,  7  ff.     Ghalcid.  in  Tim.  295  fif. 

')  Marc.  Gap.  lib.  VII  (de  arithm.)  §.  733. 

*)  Boeth.  de  arithm.  an  zahlreichen  Stellen.  —  Eigentümliches  bietet  die 
Lehre  des  Boethius  von  der  Materie  nicht.  Mit  Aristoteles  lehrt  er,  dass  die 
Materie  nichts  actu,  alles  potestate  sei  {jitgi  igfi.  ed.  secund.  III 9,  T.  II,  p.238, 
10  Meiser).  Daher  kommt  aus  ihr,  was  an  den  Dingen  Potentielles  ist  (ebd. 
p.  238,  21—22  229,  14).  Nicht  durch  einen  eigentlichen  Begriff  ist  sie  zu  er- 
fassen, sondern,  wie  Gott,  nur  aliquo  modo,  nämlich  ceterarum  rerum  priva- 
tione  (contr.  Eutychen  et  Nestorium  c.  1,  p.  189,  12— 14  Peiper.  MitUsenerund 
Krieg  halte  ich  die  Schrift  für  echt).  Den  Neupythagoreern  folgt  er,  wenn  er 
de  arithm.  I  27  aus  dem  Unbegrenzten  (infinitum)  alles  Üble  ableitet. 


Verzeichnis 

einiger  kritisch  oder  exegetisch  behandelten  Stellen. 


Anaxag'oras 

fr.  13  Schorn 
fr.  16 

Aristocles 

bei  Euseb.  praep.  ev.  XV  14, 1. 
p.  816  D. 

Aristoteles 

phys.  IV  6,  213  b  22—25 

de  caelo  III  1,  299  b  31  ff. 
,       „      III  1,  300  a  15-17 

de    gen.    et   corr.   I  5,  322  a 
19 -"22 

de  an.  I  2,  404  a  17—19 
„  ,  12,  405  a  19-21 
,     „     I  5,  411  a  7—8 

metaph.  XII  3,  1070  a  9-13 

Arius  Didymus 

fr.  28  bei  Stob.  ed.  I,  p.  374 
fr.  36  bei  Stob.  ecl.  I,  p.  414 


S.    77,3. 
,  102,5. 


332, 


Dioffenes  Laert. 


VII  133 
VII  134 


Empedocles 

V.  61   Karsten 


38,3. 

165,3. 

36„. 

228,3. 
10„. 


231,.,. 

3.51,2. 
356,1. 

353,1. 
332,3. 

67,3. 


Melissus 


fr.  16  Brandis 


S.  59,e 


Parmenides 

V.  97  Karsten  101  Stein  ,     54,4. 

Plato 

Theaetet.  156  A     S.  101.  102,5.  103  ff. 
Tim.  47  E  ff.  S.  117  ff. 


,    51  E 

,  137  ff. 

„     56  A 

,  16:>,3. 

Plotiu 

enn.    I    8,  4.   T.    I,   p.  59,  28 

Müller 

.  415,8. 

enn.  VI  1,  26.  T.  II.  p.  257, 

20  Müller 

,  363,3. 

Simplleius 

in  Arist.  categ.  57  E 

.  347,4. 

in  phys.  in.  p.  453,  31 

,  417,1. 

Tertullian 


Apolog.  47 
adv.  nat.  II  4 


Xenonhaues 


fr.  4  Karsten 
fr.  8 


359,,. 


47,,. 
49,5. 


Kamen-  und  Sacli-Register. 


Academie,  die  ältere  3G.  115.  206— 
207.  392. 

—  die  mittlere  371. 

—  die  jüngere  371—372. 
Act  6  f.  407.     s.  auch  Potenz. 

'Aegyptische  Mysterien.  Die  Schrift  von 
den  418—419. 

Aetius  8.  182. 

Albinus  143.  353,3.   372  ff. 

Alexander  von  Aphrodisias  172.  173. 
181.  213,1.  296-300. 

Alexander  Polyhistor,  über  die  Pytha- 
goreer  391.  395. 

Ammonius  57,0.  428. 

Anaxagoras.  Lehre  von  der  Materie 
73 — 79.  Von  Aristoteles  den  Phy- 
sikern zugerechnet  80.  Verhältnis 
zu  den  Eleaten  51.  (33.  zu  Empe- 
docles  70.  73.  Verhältnis  der  Ate. 
miker  82,  des  Protagoras  99,2  und 
des  Socrates  zu  ihm  110.  115.  120. 
Von  Epicur  (Lucrez)  bekämpft  311. 
Urheber  des  Dualismus  66.  77  ff.  95. 
Homoeomerienlehre,  s.  unter  Hö- 
rn oeomerien. 

Ananimander  11 — 15.  18,  o.  19. 

Anaximenes  13.  15—18.  18,2.  75,  g. 
12G,3.  369. 

Antiochus  von  Ascalon  371—372. 

Antipater  365,8  Schi. 

Antislhenes  97,2  100.  209. 

Antonin  340.  353,2. 

Apollodor  345,  e. 

Aratus  10,  j. 

Archytas,  (Pseudo-)  389—391. 

Aristipp  100  f.  20 S. 

Aristoteles.  Seine  Lehre  von  der  Ma- 
terie 6  f.  45.  75.  210—293.  Gegner 
des  Anaxagoras  76.  Über  Democrit 
hO.  310.  317.  über  Plato  122,,.  180. 
197  ff.     Verhältnis  zu  Plato  185.  230. 


238.  241.  270  f.  281  ff.  291.  Ver- 
hältnis der  peripatetischen  Schule 
294—300,  der  Stoiker  —  s.  unter 
Stoiker  — ,  der  Platoniker  373  ff.,  der 
Neupythagoreer389-391. 394.  Philo's 
381.  Plotin's  zu  ihm  402f.  407.  411,  j. 
Sein  Dualismus  45.  83.  196.  215  ff. 
237.  261  ff.  Über  die  Notwendig- 
keit 122,2.  268  ff.  Vgl.  Act,  Ele- 
mente, Materie,  Potenz. 

Aristoteles  aus  Rhodos  193,  i. 

Asclepiades  aus  Bithynien  71,  i.  303,4. 
325,. 

Athanasius  143. 

Athenagoras  143.  , 

Atom  65.  82  K  306  ff.  Unterschied 
des  antiken  und  des  modernen  Be- 
griffs 83  ff.  91.  318  f.  Bewegung  der 
Atome  82.  94  f.  318  ff. 

Atomiker.  Leucipp's  und  Democrit's 
Lehre  von  der  Materie  79 — 95.  Ver- 
hältnis zu  den  Eleaten  51.  80  f. 
zu  Empedocles  70.  71 — 72.  zu  Ana- 
xagoras 77,3.  Verhältnis  Epicur's  zu 
ihnen,  s.  Epicur. 

Atticus  139,4  Schi.  143.  145.  150.  152. 
372.  379.  383. 

Augustinus  144.  383, 5. 

Ausdehnung,  bei  den  Pythagoreern 
38  ff.  60.  bei  den  Eleaten  60  f.  bei 
Plato  177  ff.  bei  Epicur  308  f.  den 
Stoikern  334  ff.  den  Neupythagoreern 
397.     bei  Proclus  424. 

Basilius   144. 

Boethius  428. 

Boethus  aus  Sidon,  der  Peripatetiker 
296.  298. 

Boethus  aus  Sidon,  der  Stoiker  361,0. 
369, G.  387,5. 

Celsus  377 


Namen-  und  Sach-Register. 


481 


Chalcidius  57,2.  154,3   428. 

Chrysipp,  heschräiikt  den  Gebrauch 
des  Terminus  r/.ij  338.  Continuität 
der  Materie  340,  e.  Unendliclie  Teil- 
barkeil derselben  340,6-  342.  345, «. 
Leeres  ausserhalb  der  Welt  341,4. 
Das  Pneuma  ov  354, 4.  Verhalten  der 
Materie  beim  Weltbrand  361 4.  Ur- 
sprung des  Üblen  365  Anm. 

Cicero  322  Anm. 

Gleanth  356,2.  361. 

Clemens  von  Alexandrien  143. 

Cratylus  23. 

Cronius  392.  402. 

Cyniker  208  f. 

Cyrenaiker  208. 

öalton  83. 

Damascius  193, 1.  427. 

Democrit  6.3.  G6.  79—95.  168.  s.  auch 
Atomiker. 

Descartes  187. 

Diodor  342, 5. 

Diogenes  von  Apollonia  17  —  19. 

Diogenes,  der  Atomiker,  18,2. 

Diogenes  von  Babylon  369,  e- 

Du  Bois-Reymond  85, j. 

Duns  Scotus  251,3  Schi. 

Ecphantus  325  Anm.  4  g.  E. 

Eleaten.  Lehre  von  der  Materie  46— 
62.  Begritf  des  Seienden  nach  ihnen 
.50  ff.  40.\  Verhältnis  zu  den  Pytha- 
goreern  44.  60  f.  Verhältnis  der 
Jüngern  Naturphilosophen  63.  64 — 
65,  speciell  der  Atomiker,  zu  den 
Eleaten  80—82.  84.  87. 

Elemente,  bei  Philolaus  39 f.  43.  44. 
179.  Empedocles  12,3.  17. 3.  65.  66. 
69—70.  311.  Plalo70.  117.  li>6-127. 
164  flf.  167  ff.  179.  Aristoteles  70. 
230.  242.  ^250.  260.  273  tf.  Alexan- 
der von  Aplirosidias  297.  bei  den 
Stoikern  349.  367  f.  bei  Antiochus 
von  Ascalon  372.  Albinus  373,4. 
Plutarch  376,4-.  Philo  383,5.  3S4,5g.E. 
387.     Ocellus  300.     Plotin  402  f. 

Empedocles  67  —  72.  Von  Aristoteles 
zu  den  Physikern  gezählt  80.  Ver- 
hältnis zu  Diogenes  von  Apollonia 
17.  zu.  den  Eleaten  51.  61.  63  t. 
67  f.    zu    Anaxagoras   73.    75.     zur 


Atomistik  71  f.  77  mit  Anm.  3.  82. 
zu  Asclepiades  aus  Bithvnien  325,4 
g.  E. 

Empiriker  371. 

Epicur,  Lehre  von  der  Materie  7.  303 — 
325.  Verhältnis  zur  democritischen 
Atomistik  82.  301.  303.  304.  308. 
312, 5.  314  f.  316.  317.  321.  Verhält- 
nis zu  den  Stoikern,  s.  Stoiker.  Vgl. 
auch    unter  Leeres,  Raum. 

Epiphanius  143. 
I   Eristik  52.  55, ,. 

Euclid,  der  Mathematiker  .334,.,. 

Euclid  von  Megara  20S  -  209. 

Eudemus  204.  205,2.  295.   365  Anm. 

Eudorus  372.  376  f.   395. 

Fechner  84,4. 

Form,  s.  Materie. 

Gassend,  Pierre  83.  303, 1. 

Geist  3.  66.  78  f.  305. 

Gorgias  62.  96.  108—109.    187-. 

Gregor  von  Nyssa  143. 

Harpocratio  376,6.   377.  402, 1. 

Hegel  393,  398. 

Heinrich  von  Gent  251,:,   Schi. 

Helmholtz  319. 

Heraclides  der  Pontiker  71, 1.  325, 4. 

Heraclit  19—33.  45,5  g- E.  54.  55,.^.  62. 

Der    angebliche    Heraclitismus     des 

Protagoras    96  ff.        Verhältnis     der 

Stoiker  zu  ihm,  s.  Stoiker. 
Hermes  Trismegistos    392.    .398  f.  401 
Herrn  odor  203  f. 
Hesiod  117,  j.   182,i. 
Hierocles  144.  418.  420. 
Hieronymus  3.^7,4. 
Homoeomerien  65.    70.   74 — 76.  82. 

115i.  311.  .392. 
Hylozoismus,  beiden  loniern  8.  10. 

11.    19.    20.    65.      bei    den   Stoikern 

363  f. 
lambhch,    über   Plato  144.  169.    über 

die  Pythagoreer  392.  Lehre  von  der 

Materie  418—419.  Lichtleib  418. 
Idealismus  4.  55.  52. 
Inder  69, 3. 
Ionische  Naturphilosophie,  ältere   8— 

33.  52.  58,4.  ö3.  126,3.  213.  239. 
irenaeus  143. 
.Jus  Linus  143. 


432 


Namen-  und  Sacli-Hegister. 


Kant  422,7.  424. 

Körper,  sein  Begriff' nach  Aristoteles 

239  f.  Epicur  3()G.  312  f.  den  Stoikern 
332,:,.  334.  Verwechslung  von  ma- 
thematischem und  physischem  Kör- 
per bei  den  Pythagoreern  37  f.  43. 
187.  beiPlatü  K!.'),,,.  179.  186  f.  Ver- 
hältnis beider  bei  den  Stoikern  335. 
Die  Materie  bei  Plato  nicht  die  qua- 
litätslose körperliche  Substanz  156ff. 
336.  ebensowenig  bei  Aristoteles  238. 
336 ,  Albinus  und  Apuleius  374. 
wohl  bei  den  Stoikern  332  ff.  Pole- 
mik Alexander's  298.     und  Plotin's 

,  dagegen  403  f.  Lichtleib  bei  den 
Neuplatonikern  410  f.  418. 

Kraft  65.  77.  267  ff.  319.  346  ff.  360. 
381,3. 

liactantius  143. 

Leeres  bei  den  Pythagoreern  38  f. 
58  f.  den  Eleaten  ö8  f.  bei  Ernpedo- 
cles  53,3.  68.  bei  Anaxagoras  77  mit 
Anm  3.  den  Atomikern  81  f.  90.  bei 
Plato  179  f.  Aristoteles  307,,.  Strato 
307,.,.  bei  den  Epicureern  304  ff. 
Stoikern  341  f.  345.  Piatonikern  375. 

Leibniz  3.  155.  309,3.  403,4. 

Leucipp  18,,.  63.  64.  66    79—95. 

Locke  92  mit  Anm.  5. 

L  o  g  0  s  und  A  07  o ;  bei  den  Stoikern  356  ff. 
364.  374.  390.  bei  Philo  388.  den 
Neupythagoreern  397,;!.     Plotin  413. 

Lotze  2.")1,3. 

Lucretius  Carus  303  ff.  gegen  Hera- 
clit  311,2.  gegen  Empedocles  und 
Anaxagoras  311. 

Lycophro  55,2. 

Macrobius  428. 

Marcianus  Gapella  428. 

Materialismus  46.  209.  302.  323  f. 
327  f.  353.  375.  409. 

Materie.  Der  Terminus  114,i.  210,2. 
306, V.  330.     Ihr  Begriff  1.  223.  231. 

240  f.  230  ff.  247  ff.  Verschiedene 
Auffassungen  1  ff.  Fassung  in  der 
alten  Philosophie  5.  210.  Die  Ma- 
terie als  unbegrenzte  Ausdehnung 
37  ff.  174.  177  ff.  389.  als  das  Unbe- 
grenzte, Unbestimmte  37  ff.  196.  197. 
405.  426.    als  das  Gross-  und  Kleine 


196  ff.  404.  als  Möglichkeit  6  f.  114,i. 
175  f.  185.196.  213.  233  ff.  232ff.251flF. 
257  ff.  261.  407.  als  Substrat  entgegen- 
gesetzter Zustände  215  ff.  235.  als  unbe- 
stimmte körperliche  Substanz  156  ff. 
238.  298.  3,32  ff.  372.  373  f.  390.  403  f. 
alsdasNichtseiende  201  ff.  382,i.405. 
als  das  Üble  206  f.  207.  279  ff.  298. 
364.  385  ff.  401. 414  ff.  420.  425  ff.  428. 
als  das  Leidende   265.  331.  339.  372. 

381.  als  unbe.stimmte  Zweiheit,  s. 
unter  Zweiheit.  Atomistische  Con- 
stitution 82  ff.  306  ff.  Materie  und 
Form  83.  196.  249  f.  2.59.f.  261—263. 
282  ff.  297.  299.  310.  329.  348.  350. 
369.  373.  376.  394.  402  f.  427,6. 
Materie  und  Qualität  und  Quantität 
75.   87  ff.    264.    312  fif.    332  ff.   346  ff. 

382.  388.  404.  Materie  und  Körper, 
s.  unter  Körper.  Gontinuität  oder 
Discontinuität  der  Materie  43.  56. 
60  f.  68.  77.  81.  90.  179  f.  .306  ff.  340ff. 
372.  Materie  und  Substanz  254  ff. 
33(3  ff.  346  f.  374.  383.  389.  Materie 
und  Wesen  289  f.  Materie  und  Kraft 
65.  268  ff.  319.  346.  .359  ff.  372.; 
Die  Materie  als  Individuationsprincip 
281  ff.  Ihre  Teilbarkeit  77.  307  ff. 
342  ff.  372.  404  Ihre  Erkennbarkeit 
137  ff.  -238.  400  f.  Substantiale  und 
accidentale  Materie  226  ff.  229  ff.  Pri- 
märe und  secundäre  Materie  bei  Plato 
136  f.  139  f.  142  ff.  151  ff.  160.  3a3. 
386  f.  Aristoteles  241  f.  258  f.  den 
Stoikern  .330 ff.  Neupythagoreern  390  f. 
bei  Plotin  4035.  408.  Materie  der 
Gestirne  245  f.  Gonstanz  der  Ma- 
terie 66.  227.  367.  404.  Ursprung  der 
Materie  187  ff.  237.  362.  366.  376  f. 
384  f.  394  ff.  399.  411  ff.  Materie  und 
Geist  2  f.  78  f.  305.  Materie  u.  Gottheit 
bei  den  Stoikern  362  f.  Intelligibele 
Materie  198  ff.  238,4.  293.  297.  336. 
394.  399.  409  ff.  Mathematische  Ma- 
terie 291  ff.  397  f.  417,2  Schi.  418. 
422 — 424.  Schriften  über  die  Materie, 
von  Stoikern  330,2.  von  Porphyrius 
417.     angebliche  des  Numenius  392, o. 

Maximus  143.  372.  377. 
Mayer,  Robert  319. 


Namen-  uml  Sacli-Ret^i^ter. 


433 


Megariker  208. 

Melissus  47.  55,  o.  57-59. 80—82.  mi. 

Moderatus  392.  395.  397.  399.  4ü4. 

K^aturphilosophie,  die  ältere:  s.  loni- 
nische  Naturphilosophie. 

Naturphilosophie,  die  jüngere  51.  63 — 
95.  117.  12G.  213.  239. 

Neuplatoniker    7.   115.  144.  154.  156. 
175.   183.   186.    192.    193.    206.    301. 
402—428.  Verhältnis    zu  den  Plato- 
nikern  375.  zu  den  Neupythagoreern 
392.  393,3.  394. 

Neupythagoreer  115. 377. 389-402.  Zwei 
Gruppen  unter  ihnen  389.  Verhält- 
nis zu  den  Altpythagoreern  392.  397,4. 
zu  Plato  389.  393.  398.  zu  Aristote- 
les 389— 391.  394.  398.  den  Stoikern 
389  tl  394.  397.  zu  den  Neuplatoni- 
kern,  s.  diese. 

Nicomachus  vonGerasa  379,5.  392.395. 

Nüumenalismus  4.  45.  52flf.  109. 
18G.  302. 

Numenius.  Angebliche  Schrift  tk^I  vhj? 
392,..,.  Zweiheit  nicht  aus  der  Ein- 
heit hervorgegangen  394  f.  Böse  Welt- 
seele 14(), ,.  379.  401,5.  Materie  das 
Böse  401. 

Ocellus  der  Lucanier  33,2  g.  E.  126,3  m. 
389—391.  398. 

Origenes  143.  354, 4. 

Panaetius  369. 

Parmenides 47.  50—57.  59.  62.  Stellung 
der  Jüngern  Naturphilosophie  63,  im 
besondern  des  Empedocles  67  ff.  71, 
Anaxagoras  77  ,3  und  der  Atomiker 
zu  ihm  80—82. 

Pericles  der  Lyder  152.   154.  238.  427. 

Peripatetiker  294—300.  339.  375. 

Philipp  von  Opus  147. 

Philo  von  Alexandrien.  Lehre  von  der 
Materie  380—390.  Die  Ideen  373,3 
Verhältnis  zu  Plato  381  ff.  Aristote- 
les 381.  den  Stoikern  381.  383  f.  386 
388.  408. 

Philo  von  Larissa  371. 

Philolaus  34.  35.  39f.  42.  43.  44.  46. 179. 

PhilopoDus  57,.,.  181.  392. 

Plato.  Seine  Lehre  von  der  Materie 
6.  75.  110—206.  Verhältnis  zu  He- 
raclit   22.       zu    den    Pythagoreern 

Baeuniker:  Das  Problem  der  Materie  elc. 


36.  45.  zu  Parmenides  52.  zu  den 
Sophisten  109.  zu  Aristoteles  230. 
231,2  238.  241.  270  f.  281  ff.  291.  zu 
den  Stoikern  152.  334  f.  357.  364.  zu 
den  Piatonikern  373  ff.  zu  Philo 
381  ff.  zu  den  Neupythagoreern  389. 
393.  zu  Plotin,  s.  diesen.  Bewegung 
durch  das  Volle  59.  S.  auch  unter  Aus- 
dehnung, Leeres,  Materie,  Raum. 

Platoniker  143.  372—380. 

Plotin.  Lehre  von  der  Materie  7.  402— 
417.  Über  Parmenides  57,2.  Gegen 
die  Atomistik  403.  gegen  die  Neu- 
pythagoreer 404.  Verhältnis  zu  Plato 
403.  405.  408.  zu  Aristoteles  402  f. 
407  mit  Anm.  9.  411, 5.  zu  den  Stoi- 
kern 408.  Polemik  gegen  die  letztern 
333.  335,1  «.3.  353  f.  403. 

Plutarch  aus  Athen  193, j.  420,,. 

Plutarch  aus  Ghaeronea.  Lehre  von  der 
Materie  372—380.  Über  Parmenides 
57,0.  über  die  „secundäre"  Materie 
Plato's  143.  145  f.  150.  152.  383.  Ma- 
terie als  Isis  379  f.  als  Penia  des 
platonischen  Mythus  379.  405.  Über 
die  böse  Weltseele  145  f.  378  ff.  Mond- 
bewohner 418,,.  Gegen  die  Stoiker 
343,6.  353,3.  365  Anm.  378.  Neupy- 
thagoreisches bei  ihm   392. 

Pneuma,  bei  den  Stoikern  349  ff. 
354  f.  367.  bei  Philo  388.  Hermes 
Trismegistos  398,5. 

Porphyrius  144.  417—418. 

Posidonius  336,6-  338.   341.  350. 

Potenz  6  f.  223 f.  294.  407. 

Proclus.  Seine  Lehre  von  der  Materie 
420-427.  die  „secundäi-e"  Materie 
Plato's  mythisch  zu  verstehen  144. 150. 
Er  fasst  die  Elementenlehre  Plato's 
bildlich  169.  verkennt  die  platonische 
Gleichsetzung  von  Materie  und  Raum 

182.  Proclus'  Auffassung  vom  Raum 

183.  Mathematische  Materie  293, 1. 
4-22—424.  Lichtleib  418.  Über  Par- 
menides 57,  2U.3.  über  den  platoni- 
schen Philebus  188  und  Parmenides 
193, 1. 

Protagoras  18,2.  62.  89.  96— lOS.  187. 

Pyrrhoneer  371. 

Pythagoreer,  die  alten.  Lehre  von  der 

28 


434 


Namen-    und  Sach-Register. 


Materie  33—46.  405.  Gegensatz  der 
Pythagoreer  und  Eleaten  r)2.  60  f.  63. 
Verhältnis  der  Atomiker  82  und 
Plato's  zu  ihnen  126, 3.  170.  174.  201. 
Verhältnis  zu  den  Neupythagoreern 
392.  Die  Materie  das  Böse  205.  Ver- 
wechslung des  physischen  und  ma- 
thematischen   Körpers  37  f.    43.  187. 

Pythagoreeer,  die  Jüngern,  s.  Neu- 
pythagoreer. 

Raum,  bei  den  Pythagoreern  38  ff. 
Indern  69, 3.  Eleaten  56  f.  61.  Plato 
151fr.  177  ff.  Aristoteles  334,3-  Eu- 
demus  2953.  Epicur  304.  309.  beiden 
■  Stoikern  334.  Neupythagoreern  389. 
Proclus  183. 

Realismus  4.  45.  113.  2.o2ff. 

Seneca  364.  .366.  373.3. 

Sextus  Empiricus  371, j.  392. 

Simplicius  428.  Über  Parmenides  57,9. 
über  Anaxagoras  74  f.  über  die  pla- 
tonische Materie  163.  181.  185.  373,4. 
die  platonische  Elementenlehre  169. 
über  die  aristotelische  Materie  213.,. 
239.  über  Epicur  309,3.  310,4. 

Skeptiker  89.  371. 

Socrates  110.  115,  j. 

Sophisten  52.  ()2.  S7.  95—109. 

Hpeusipp  207. 

Spinoza  187.  398. 

Stoiker.  Lehre  von  der  Materie  7.  .301 
,303.  326-370.  Verhältnis  zu  Hera- 
clit  301.  327-329.  340.  .349  und  zur 
aUen  Naturphilosophie  im  allgemei- 
nen 327— 329. 3()8  f.  zu  Anaxagoras  75. 
Plato  152.  334  f.  357.  364.  Antisthe- 
nes  209.  Ai-istoteles  238.  310.  327. 
3301.  336.  339  f.  346  f.  349.  355.  357. 


364.  369.  zu  den  Epicureern  327. 
329.  340  ff.  .354.  den  Pia  tonikern  358- 
.374  f.  Philo  .381.  383  f.  386.  388.  408. 
den  Neupythagoreern  389  ff.  394. 397. 
401,5.  und  Neuplatonikern  302.  .358. 
408. 

Strato  von  Lampsacus  295.  .307, 2. 

Suarez  251,3  Schi. 

Syrian  57,,.  192.  193,,.  418.   421i. 

Tatian  143. 

Taurus  372. 

Tertullran  143.  359,4.  361,4. 

Thaies  9-10.  12,3.  126,3. 

Themistius  1S2. 

Theo  397. 

Theophilus  143. 

Theophrast  8.  76.  182.  294-295. 

Thomas  von  Aquino  343,6. 

Timaeus  der  Locrer  389  -391. 

Varro  372. 

Wundt  85„. 

Xenocrates  42, 1.  205.  207. 

Xenophanes  46 — 49.  52. 

Zeit  309. 

Zeno  von  Gitium,  Schrift  über  die  Ma  t  e 
rie3o0,2.  Er  beschränkt  den  Gebrauch 
des  Terminus  v)-i\  338.  Die  Materie 
Substanz  336,6.  Leeres  ausserhalb 
der  Welt  341,4.  Farben  die  ursprüng- 
lichen Qualitäten  348.  Gottheit  und 
Materie  355, 1.  359,4.  Pantheismus  861 
mit  Anm.  4. 

Zeno,  der  Eleat44.  52.  60-62.  108. 

Zeno  von  Tarsus  .369,,;. 

Zweiheit,  unbestimmte,  bei  Plato 
201.  207.  Plutarch  374,  379.  den 
Neupythagoreern  379,3.  .392,3.  394  ff. 
399.-,.     bei  Plotin410.    Iamblich4l8. 


Vcrbesseningen  und  Zusätze. 

S.  XI  Z.  9  statt  Doxographie  lies:  Doxographi. 

„  XV  T,  4  V.  u.  hinter  „Syiian"  setze  ein  Punctum. 

„  6  Z.  12  V.  u.  statt:   bestimmten  lies:  bestimmte. 

„  16  Anm.  1  Z.  3  statt  Anaximander  lies:  Anaximenes;  letzte  Z.  statt; 
Anaximander's  lies:  des  Anaximenes. 

,  17  Z.  3  T.  u.  statt:  ^)  lies:  ^). 

,40    ,  1  V.  u.  statt:  al.  lies:  anal. 

,  48  Anm.  1  zu  dem  Gitat  aus  Asciepius  füge  hinzu:  p.  41,  30  ed.  Hayduck 
(Berol.  -888). 

„  50  Anm.  Z.  3  v.  o.  Hinter  , geboten  werden"  ist  die  Schlussklammer  aus- 
gefallen. 

„  58  Anm.  3.  Z.  5  statt:  Letztere  lies:  Erstere;  Z.  6  statt:  ersteren 
lies  :   letzteren. 

„  .59  Z.  1  hinter  , dieses''  ergänze:    bedeute. 

,59    ,9  hinter  ,Plato"  ergänze:  und  den  Stoikern. 

,  64  Anm.  1  lies:  v.  20—23  Stein. 

„  67  Z.  1  V.  u.  lies:  ä?J.'. 

,  73  Überschrift  lies:  Verhältnis  zu  Empedocles 

„  77  Z.  10  V.  u.    lies:    Vorstellung. 

,  94  Anm.  3.  Vgl.  dazu  auch  S.  321  Anm.  2. 

„  110  ,  6.  Zu  den  Litteraturangaben  ist  jetzt  hinzuzufügen  J.  A.  Kilb, 
Platon's  Lehre  von  der  Materie.  Marburg  1887.  Die  Aufstellungen 
dieser  Schrift  haben  bereits  von  Zeller,  Archiv  f.  Gesch.  d. 
Philos.  II.  1889.  S.  700-702  ihre  Widerlegung  erfahren. 

„  114  ,  1.  Auch  Plutarch.  de  def.  orac.  c.  10,  p.  414  F  bemerkt,  dass 
der   Name    v/.r]   erst    nachplatonisch    ist    (ö    vtv    v).r,v  /.al  tfvaiv 

xaXovai). 

„  128  Z.  1  V.  u.  statt:  calumm.  lies:  calumn. 

r,  152  „  17  V.  o.  statt:  vierte  lies:  dritte;   Z.  19  statt:  dritte  lies:  vierte. 

„  169.    Auch  Syrian  wollte  die  platonische  Theorie  der  Elementarkörper  nicht 

mathematisch  gefasst,  sondern  auf  die    schöpferischen  Naturki'äfte 

bezogen  wissen;  vgl.  Syrian.  in  Arist.  metaph.  XIII,  p.  881  b  24 — 

27  Usener. 
„  181  Anm.  1.     Zu  dem  Gitat    aus    Philoponus   füge  hinzu:    p.  516,  3  Vitelli 

(Berol.  1888).    Ebd.  Anm.  3  füge  hinzu:    p.  524,  13  Vitelh,  ebenso 

Anm.  5:  p.  516,  7.  518.  15.  524,  15  Vitelli. 
.  187  Z.  17  v.  0.  muss  die  Überschritt  die  Bezeichnung  d  haben. 


36  ^  \)  v^  '}•   X  J.         Verbesserungen  und  Zusätze. 


436 

S.  187  Z.  21  V.  o.  statt:  es  es   lies:  er  es. 

,    189   „   2  V.  0.  statt:  4.  lies:  5. 

„    193  Anm.  1.  Z.  5  statt:  p.  310  lies:  p.  31. 

„  21(t  ,  1.  Zu  den  Litteraturangaben  kann  noch  nachgetragen  werden: 
Jüh.  Scher  1er,  Darstellung  und  Würdigung  des  Begriffs  der  Ma- 
terie bei  Aristoteles.     Dissert.  von  Jena.  Potsdam  1873. 

„   241    Anm.  1  letzte  Z.  statt:  ausgeführt  lies:  aufgeführt. 

,   245  Z.  IG  V.  0.  statt:  sublunasischen  lies:  sul)lunarischen. 

„   272  Anm.   1    .statt:  237  lies:  236. 

,    30.0       ,       3   Z.  1  lies:  r6. 

,   30;')       ,,      9,1  ist  das  Punctum  hinter  fr.  39(;  zu  streichen. 
.  ,   307       ,       8    ,.    2  ist  das  Punctum  hinter  (hiai}r}i:  zu  streichen. 

„   318       ,       1    „    2  V.  u.  lies:  ek. 

%  325  ,  4  ,  6  V.  u.  hinter  ^iCoteler."  füge  hinzu:  ed  Glericus.  .\m- 
stel.  1724. 

,341        ,8  statt:  S.  295  Anm.  1  lies:  Anm.  4. 

,    352       ,       3  Z.  1  statt:  p.  1053  r  lies  :    p.  1053  F. 

„      ,         „       „    „    2  statt:  f.  55  E    lies  :  f.  55  r 

,  356  ,  5  Z.  1.  V.  u.  ist  dieselbe  Ausgabe  der  Cotelier'schen  Arbeit  ge- 
meint, wie  S.  325  Anm.  4. 

„  402  „  2.  Bei  den  Litteraturangaben  ist  ausgefallen:  Arthur  Bichter, 
Neuplatonische  Studien.  Darstellung  des  Lebens  und  der  Philosophie 
des  Plotin.  1867.  Heft  II.  S.  42—43;  Heft  III  S.  94—103;  Heft  V 
S.  16—20. 


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3^ 


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9 


Baeumker  6  -  Das  roblem  der  Materie 
.in  der  griechischen  Philoroühia. 


pont^ical  m.;...  of  ^Acd;aev^l  S.udies 

113  ST.  JOSEPH  GTRE^ 
TORONTO.  ONT.,  GANADA   M5S  1J4 


332^