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Full text of "Das Substanzproblem in der griechischen Philosophie bis zur Blütezeit : seine geschichtliche Entwicklung in systematischer Bedeutung"

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BOOK     180.B323S   c   1 

BAUCH    f    DAS    SUBSTANZPROBLEM    IN 

DFR    GRIFCHISCMFN    PHILnSOPHIF    BIS 


3    T1S3    000b3M22    5 


Das  Substanzproblem 

in  der  griechischen  Philosophie 
bis  zur  Blütezeit 

(Seine  geschichtliche  Entwicklung  in  systematischer 

Bedeutung) 


Von 

Dr.  Bruno  Bauch 

Privatdozent  an   der  Universität  Halle  a.  S. 


Heidelberg  1910 

Carl   Winter's   Universitätsbuchhandlung 

Verlag« -Nr.  409. 


Alle  Rechte,  besouders  das  Recht  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen, 
werden  vorbehalten. 


Wilhelm  Windelband 


in 


aufrichtiger,  herzlicher  Verehrung. 


Vorwort. 

Die  Anfänge  dieser  Arbeit  liegen  für  mich  schon  sehr  weit 
zurück,  viel  weiter  als  alles,  was  ich  bisher  veröffentlicht  habe. 
Der  Gedanke,  überhaupt  einmal  dem  Substanzprobleme  bei  den 
Griechen  nachzugehen,  kam  mir  vor  mehr  als  einem  Jahrzehnt, 
schon  in  meinen  letzten  Studentenjahren.  Das  war  in  dem 
Platon-Seminar  des  Mannes,  dessen  Namen  dieses  Buch,  wie  ich 
hoffe:  nicht  ganz  unwürdig,  an  der  Spitze  tragen  darf,  und  der 
für  mich  unvergleichlich  viel  mehr  bedeutet,  als  daß  er  mir  ge- 
rade in  jener  Zeit  zuerst  und  eigentlich  das  Verständnis  für  die 
beiden,  nicht  etwa  bloß  hinsichtlich  meiner  persönlichen  Ent- 
wickelung  wichtigsten,  sondern  auch  in  der  Geschichte  meiner 
Wissenschaft  größten  Denker  —  für  Piaton  und  für  Kant  — 
wie  für  diese  Wissenschaft  selbst  und  ihre  Geschichte  erschließen 
half.  — 

Als  ich  in  meiner  Straßburger  Zeit  die  «Entdeckung»  gemacht 
zu  haben  glaubte,  daß  die  «erste  Analogie  der  Erfahrung»  eine 
ganz  merkwürdige  Anwendung  in  Piatons  Unsterblichkeitslehre 
gefunden,  da  ahnte  ich  freilich  in  meiner  naiven  Entdeckerfreude 
noch  nicht,  wie  untergeordnet  dieses  Moment  im  Verhältnis  zur 
ganzen  Fülle  problemgewaltiger  Kraft,  die  der  Substanzbegriff 
im  Systeme  Piatons  als  Ganzem  entfaltet,  ist,  und  daß  ich  später 
einmal  in  einem  Buche  dieses  Moment  in  einer  kurzen  Bemer- 
kung bloß  erwähnen  sollte.  Nur  entdeckte  ich,  —  und  ich  darf 
sagen:  mit  reiner  Freude,  ohne  Neid  —  daß  meine  «Entdeckung» 
—  so  ungefähi-  ein  Jahrhundert  vorher  schon  gemacht  war,  von 
Schleiermacher  nämlich.  Immerhin  befestigte  sich  damals  in  mir 
schon  der  Plan,  meinem  Problem  einmal  nicht  bloß  bei  Piaton, 


"VI  Vorwort. 

sondern,  wenn    möglich,    überhaupt    in   der   griechischen  Philo- 
sophie bis  Aristoteles  nachzuspüren. 

Der  Gründe,  die  die  Fertigstellung  und  den  Abschluß  der 
Arbeit  eine  lange  Reihe  von  Jahren  aufliielten,  waren  mancher- 
lei. Sie  lagen  teils  im  gleichzeitigen  Vorhaben  anderer  Arbeiten, 
teils  in  der  Natur  gerade  dieses  Problems  selbst.  Das  ganze 
Denken  der  Grierhen  —  ich  meine  selbstverständlich:  in  theo- 
retischer Hinsicht  —  rankt  sich  in  gewisser  Weise  um  das  Sub- 
stanzproblem. Die  Gefahr,  der  manchmal  sonst  Problemmono- 
graphien ausgesetzt  sein  mögen,  daß  sie,  wie  ein  witziger  Kopf 
(ich  weiß  nicht,  Avelcher)  gesagt  hat,  leicht  «dicke  Bücher  mit 
viel  Gelehrsamkeit  und  wenig  Gedanken»  abgeben,  bestand  also 
für  meine  Untersuchung  nicht;  und  zwar  ganz  ohne  mein  Ver- 
dienst. Wie  nämlich  die  soeben  erwähnte  Monographiencha- 
rakteristik, soweit  sie  überhaupt  berechtigt  ist,  ihren  Grund 
keineswegs  etwa  weniger  in  denen  findet,  die  die  Probleme  be- 
arbeiten, als  in  den  Problemen  selbst,  so  will  ich  es  umgekehrt 
durchaus  nicht  als  mein  persönliches  Verdienst  in  Anspruch 
nehmen,  wenn  bei  mir  die  Sache  anders  liegen  sollte.  Eben 
diese  Sache,  d.  h.  der  Reichtum  des  griechischen  Geistes,  der 
sich  an  diesem  einen  Problem  entlädt,  mag  dafür  die  Begrün- 
dung hergeben.  Es  ist,  wie  Windelband  es  ausgesprochen  hat, 
«das  Grundproblem  der  griechischen  Philosophie,  wie  hinter  der 
wechselnden  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ein  einheitliches 
und  bleibendes  Sein  zu  denken  sei».  Das  Substanzproblem  in- 
nerhalb der  griechischen  Philosophie  verfolgen  heißt  darum 
nichts  Anderes,  als  die  theoretische  Philosophie  der  Griechen 
unter  dem  Gesichtspunkte  des  Substanzproblems  betrachten.  Da 
war  also  wahrlich  keine  Armut  des  gedanklichen  Stoffes  durch 
Reichtum  an  Gelehrsamkeit  zu  verdecken.  Im  Gegenteil  forderte 
die  Fülle  des  Stoffes,  den  der  griechische  Geist  darzubieten  hat, 
in  Sachen  alles  bloß  gelehrtenhaften  Beiwerkes  die  äußerste 
Beschränkung  auf  das,  was  nun  einmal  für  eine  wissenschaft- 
liche Untersuchung  unerläßlich  ist.  Diese  Beschränkung  war  in 
solchem  Maße  notwendig,  daß  zum  Schluß  die  Mühe,  einst  ge- 
tane Arbeit  wegzuwerfen  (auch  das  muß  man  ja  tun  können), 
manchmal  nicht  geringer  war  als  die,    einst  geleistete  Arbeit  für 


Vorworl.  VII 

die  schriftliche  Darstellung  zu  verwerten.  Darum  habe  ich,  wie 
mir  überhaupt  das  Positive  mehr  gilt,  bei  der  letzten  Ausarbei- 
tung vor  allem  die  literarische  Polemik  auf  ein  Minimum  redu- 
ziert. Die  Auswahl  war  beherrscht  von  dem  Gesichtspunkte, 
daß  sie  überhaupt  lohne,  indem  sie  durch  Klärung  für  das  Ver- 
ständnis wenigstens  positive  Ansatzpunkte  biete.  Dagegen  ist 
aus  der  Literatur  nach  bestem  Wissen  und  Gewissen  nichts  von 
dem  unerwähnt  geblieben,  dem  ich  irgendwie  positiv  zu  Dank 
verpflichtet  bin.  Mit  besonderer  Dankbarkeit  möchte  ich  hier 
der  grundlegenden  philologischen  Arbeiten  von  Diels  für  das 
Gebiet  der  vorsokratischen  Philosophie  gedenken.  Ihnen  schulde 
ich  für  die  Einsicht  in  dieses  Gebiet,  also  für  den  grundlegenden 
Teil  meiner  Untersuchung  und  damit  auch  für  diese,  als  Ganzes 
genommen,  nächst  Wort  und  Schrift  meines  Lehrers  Windel- 
band, am  meisten.  Gerade  weil  mir  die  «Passionsstraße» 
durch  die  Originaltexte  und  der  Stand  von  deren  Ausgaben 
im  Laufe  meiner  Arbeit  nicht  ganz  unbekannt  geblieben  ist, 
ist  mir  vollkommen  klar,  was  Diels'  philologische  Arbeiten 
auch  für  die  philosophiegeschichtliche  Forschung  bedeuten,  so 
wenig  ich  freilich  umgekehrt  meiner  philosophiegeschichtlichen 
Arbeit  auch  nur  den  geringsten  philologischen  Anspruch  zu- 
weisen darf.  Mir  persönlich  waren  jene  auf  dem  Pfade  meiner 
Untersuchung  stete  Begleiter  und  Wegweiser.  Ich  habe  darum  — 
um  auch  dieses  äußere  Moment  hier  nicht  unerwähnt  zu  lassen 
—  nicht  nur  die  eigentlichen  Fragmente  entweder  direkt  nach 
Diels  zitiert  oder  doch  den  Originalstellen  Diels'  Zählung  beige- 
fügt, sondern  auch  bei  dem  Aveiteren  historischen  doxographischen 
Material  an  manchen  Punkten,  die  mir  besonders  wichtig  schienen, 
die  Stellen  bei  Diels  mitangegeben;  und  ZAvar  der  Einheitlichkeit 
wegen  nach  der  Ausgabe  der  Vorsokratiker.  Daß  ich  daneben 
Mullachs  Sammlung  nicht  mehr  verwendet  habe,  wird  mir  der 
Kundige  nicht  als  historische  Ungerechtigkeit  auslegen.  Ich 
brauche  mich  dafür  nicht  besonders  zu  rechtfertigen.  Diels' 
Urteil  darüber  (Fragm.  S.  VI)  ist  Rechtfertigung  genug. 

Vielleicht  erwartet  mancher  zum  Schluß  noch  eine  Erklä- 
rung darüber,  was  ich  mit  meiner  Arbeit  anstrebe,  wenn  ich  sie 
als  eine  Untersuchung  der  geschichtlichen  Entwickelung  des  Sub- 


VIII  Vorwort. 

Stanzproblems  in  systematischer  Bedeutung  auffasse.  Soweit  das 
für  das  Verständnis  meiner  Arbeit  notwendig  ist,  soll  darüber 
die  Einleitung  Aufschluß  geben.  Soweit  diese  das  nicht  tut, 
wäre  eine  besondere  methodologische  Abhandlung  erfordert,  zu 
der  das  Vorwort  nicht  bestimmt  sein  kann.  Hier  sei  nur  soviel 
gesagt,  wie  nötig  ist,  um  Mißverständnissen  vorzubeugen:  Jede 
Erscheinung,  die  der  Geschichte  der  Philosophie  angehört,  hat  eine 
systematische  Bedeutung.  Sonst  wäre  sie  eben  keine  geschicht- 
liche Erscheinung.  Ohne  eine  Bedeutung  wäre  die  Geschichte 
sinnlos,  und  sinnlos  wäre  alle  historische  Arbeit.  Einer  geschicht- 
lichen Erscheinung  innerhalb  der  Philosophie  eine  systematische 
Bedeutung  anerkennen  heißt  darum  aber  nicht:  sie  in  ein  be- 
stimmtes System  zwängen,  sie  in  ein  System  oder  ein  System 
in  sie  hineinprojizieren,  das  ihr  historisch-genetisch  fremd  ist. 
Ohne  systematische  Voreingenommenheit  und  gänzlich  vorur- 
teilslos gilt  es  die  historische  Erscheinung  in  der  Bedeutung  zu 
verstehen,  in  der  sie  sich  selber  darstellt.  Damit  aber,  daß  wir 
einer  Erscheinung,  eben  weil  sie  geschichtlich  ist,  auch  eine  Be- 
deutung zusprechen,  sind  wir  auf  der  anderen  Seite  weit  davon 
entfernt,  die  Geschichte  nach  dem  Rezepte  aufzufassen:  «Die 
Geschichte  nehme  man  hin,  aber  man  mache  sich  keine  Gedan- 
ken über  sie».  Das  ist  eine  oft  zwar  nur  stillschweigend  ge- 
pflogene, manchmal  auch  schamlos  genug  offen  ausgesprochene 
Maxime.  Wenn  einer  so  denkt,  mag  er  nun  der  Geschichte 
überhaupt  in  stolzer  Ignoranz  gegenüberstehen,  mag  er  immer- 
hin im  Troß  bloßer  Geschichtsgepäckträger  mitlaufen  —  wenn 
er  nur  überhaupt  so  denkt,  so  macht  er  sich  ja  schon  über  die 
Geschichte  seine  Gedanken.  Sie  sind  freilich  auch  danach.  Sie 
stehen,  wenn  sie  nicht  gar  innerlich  unwahrhaftig  sind,  zum 
mindesten  logisch  auf  sehr  schwachen  und  kurzen  Beinen.  Ihnen 
ist  die  Welt  der  Geschichte  stumm  geblieben.  Um  des  Himmels 
willen  verwechsele  man  also  nicht  die  historische  Unvoreinge- 
nommenheit  mit  prinzipieller  Gedankenlosigkeit  und  bedenke: 
Wahrhaft  historisch  ist  allein  das,  was  nicht  allein 
historisch  ist.  Denn  wahrhaft  historisch  ist  es  nur  durch 
seine  überhisLorische  Bedeutung,  nicht  deshalb,  weil  es  überhaupt 
eimnal  gewesen  ist. 


Vorwort.  IX 

Also  weder  mit  der  Präokkupation  für  ein  bestimmtes  Sy- 
stem hat  die  Frage  nach  der  systematischen  Bedeutung  einer 
historischen  Tatsaclie  etwas  zu  schaffen,  noch  ist  die  historische 
Tatsächhchkeit  ein  bedeutungsloses  factum  brutum.  Wir  können 
sie  schlechterdings  von  einer  Bedeutung  nicht  trennen.  Ohne 
die  Anerkennung  dieser  Bedeutung  ist  aller  Respekt  vor  den 
historischen  Tatsachen  leere  Phrase.  Nur  liegt  eine  Bedeu- 
tung in  philosophischer  Beziehung  nicht  notwendig  darin,  Be- 
deutung für  ein  System,  sondern  darin,  Bedeutung  für  die  Be- 
ai'beitung  einer  systematischen  Aufgabe,  für  ein  systematisches 
Problem  zu  sein.  Die  Arbeit  am  Substanzproblem  und  ihr  Er- 
trag innerhalb  der  griechischen  Philosophie  —  das  also  ist  es, 
was  seine  geschichtliche  Entwickelung  in  systematischer  Bedeu- 
tung charakterisiert. 

Alles  in  allem  genommen  ist  also  der  Untertitel  meiner 
Arbeit,  unter  logischem  Betracht,  eine  Tautologie.  Ich  bin  mir 
dessen  bewußt,  füge  ihn  aber  trotzdem  hinzu.  Denn  für  das 
geschichtliche  Denken  unserer  Zeit  im  allgemeinen  ist  unsere 
logische  Tautologie  leider  selbst  noch  keine  historische. 

Mit  diesen  Bemerkungen  kann  ich  es  hier  bewenden  lassen. 
Für  jeden,  der  wirklich  historisch  zu  denken  vermag,  der 
in  der  Geschichte  einen  Sinn  erkennt  und  dem,  allein  aus  diesem 
Grunde,  die  geschichtliche  Forschung  mehr  ist,  als  eine  Kurio- 
sitätensammlung, werden  sie  vollkommen  für  eine  Orientierung 
über  die  Absicht  meiner  Arbeit  genügen.  Wer  freilich  in  der 
Geschichte  und  in  geschichtlicher  Arbeit  keinen  Sinn  erkennt, 
den  könnte  ich  zum  Verständnis  nicht  zwingen,  auch  wenn  ich 
noch  ausführlicher  würde.  Darum  lasse  ich  es  mit  dieser  Vor- 
bemerkung genug  sein. 

Es  sei  mir  nur  noch  gestattet,  meinem  verehrten  Verleget-, 
Herrn  0,  Winter  in  Heidelberg,  für  sein  freundliches  Eingehen 
auf  alle  meine  Wünsche  den  besten  Dank  auszusprechen ;  ebenso 
Herrn  Dr.  K.  Bache  in  Halle,  der  die  Freundlichkeit  hatte,  die 
Korrekturen  dieses  Buches  zu  lesen. 

Halle  a.  S.  im  Januar  1910. 

tiruiiu  Bauch. 


XI 


Inhalt. 

Seite 

Einleitung 1 

1.  Kapitel.     Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniem     ....  10 

2.  „            Die  eleatische  Schule 38 

3.  „  Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  inner- 

halb der  Naturphilosophie <J3 

4.  ,           Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung 91 

5.  ,            Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis Iü8 

6.  ,           Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus  .  D'O 

7.  ,            Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems  .  217 


Einleitung. 

«Es  gibt  ein  Etwas,  das  konstant  bleibt.»  So  ist  in  der 
neuesten  Zeit  eine  der  Grundvoraussetzungen  aller  exakten 
Forschung  von  dieser  selbst  formuliert  worden.  Als  was  immer 
nun  sich  dieses  «ein  Etwas»  herausstellen  möchte,  ob  es  sich, 
wie  in  dem  Zusammenhange,  in  dem  hier  bei  Poincare^  der 
Satz  steht,  um  die  Energie  handelt,  ob  man  das  «Etwas 2-  als 
Äther,  als  Materie,  als  Bewegung,  als  Zahl,  als  Geist  oder  als 
Idee  oder  wie  immer  sonst  charakterisiere  und  welchen  Inhalt 
man  auch  immer  jener  allgemeinen  Formel  gebe,  darauf  kommt 
es  uns  zunächst  nicht  an.  Und  gerade  das  ist  das  Entschei- 
dende, daß  sich  für  unser  Problem  zunächst  Form  und  Inhalt 
unterscheiden  müssen,  um  das  Problem  überhaupt  scharf  und 
deutlich  stellen  zu  können.  Das  Problem  eines  überhaupt  kon- 
stanten Etwas  steht  allein  zur  Diskussion.  Wir  untersuchen 
von  vornherein  also  nicht  einen  seiner  möglichen  Inhalte;  nicht 
Energie,  Bewegung,  Zahl,  Geist,  Idee,  oder  Materie,  wie  das 
hinsichtlich  dieser  letzten  ja  für  die  griechische  Philosophie 
Clemens  Bäumker  getan  hat.^  Vielmehr  fragen  wir  erst  nach 
jener  allgemeinen  Bestimmung  dieses  Problems,  um  zu  sehen, 
welche  mannigfachen  Bestimmungen  inhaltlicher  Art  das 
griechische  Denken  für  jene  allgemeine  Form  versucht  hat. 
Bedarf  dafür  jene  an  die  Spitze  gestellte  allgemeine  Formel 
immerhin  noch  in   einer  Hinsicht   eine   exaktere  Präzision,  so 


^  Poincare,  Wissenschaft  und  Hypothese,  deutsch  von  F.  und  L.  Linde- 
mann, S.  134. 

"^  Clemens  Bäumkei-,   Das  Problem  der  Materie  in  der  griechischen  Phi- 
losophie.    Münster  1890. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  1 


2  Einleitung. 

ist  sie  für  unser  Problem  gerade  wegen  ihrer  Allgemeinheit  von 
Bedeutung,  weil,  auch  trotz  der  Notwendigkeit  einer  exakteren 
Bestimmung,  die  wir  bald  an  ihre  Stelle  setzen  werden,  gerade 
an  ihr  die  methodologische  Grundforderung  einer  historischen 
Problemuntersuchung,  einer  problemgeschiclitlichen  Forschung 
überhaupt  deutlich  wird :  Zu  den  Errungenschaften  der  an  der 
kritischen  Philosophie  orientierten  Methodologie  historischer 
Forschung  gehört  die  Einsicht,  daß  die  historisch-genetische  Be- 
trachtungsweise implizite  immer  schon  die  systematisch-kritische 
Fragestellung  zur  logischen  Voraussetzung  hat.  Wenn  der  Histo- 
riker etwas  in  seiner  geschichtlichen  Entstehung  und  Entwickelung 
verstehen  will,  so  muß  er  zunächst  wissen,  was  denn  das  ist,  was 
er  in  seiner  geschichtlichen  Entstehung  und  Entwickelung  ver- 
stehen will.  Er  kann  nicht  Staaten-,  Sitten-,  Rechts-,  Moral-, 
Kunst-,  Wissenschafts-,  Kulturgeschichte  usw.  treiben,  ohne  die 
Begriffe  von  Staat,  Sitte,  Recht,  Moral,  Kunst,  Wissenschaft, 
Kultur  usw.  vorauszusetzen.  So  bedarf  jede  historische  Wissen- 
schaft imphzite  der  begrifflichen  Fundamentierung,  und  die 
Methodenlehre  der  geschichtlichen  Forschung  sucht  in  logischer 
Analyse  die  begrifflichen  Fundamente  selbst  explizite  zu  er- 
mitteln. 

Für  die  Philosophie,  der  die  Methodologie  als  Sonderdis- 
ziplin zuständig  ist,  wird  dies  bedeutsam.  Denn  dadurch  allein 
kann  ihre  eigene  geschichtliche  Disziplin  zur  philosophischen 
DiszipHn  selber  werden,  kann  die  Geschichte  der  Philosophie 
selbst  philosophischen  Gehalt  erlangen.  Sie  hört  auf,  eine 
mehr  oder  minder  interessante  Sammlung  von  «allerlei  Mei- 
nungen über  alles  Mögliche  und  verschiedenes  Anderes»  zu  sein, 
sie  wird  vielmehr  zur  Wissenschaft  von  der  geschichtlichen 
Entwickelung  der  philosophischen  Probleme  selbst,  die  nicht  bloß 
implizite,  sondern  explizite  systematisch-kritisch  orientiert  ist. 
Damit  treten  die  philosophischen  Begriffe  als  solche  in  den 
Vordergrund  der  philosophie-geschichtlichen  Betrachtungsweise. 
Ihre  systematisch-wissenschaftliche  Bedeutung  gilt  es  in  ge- 
schichtlicher Ermittelung  zu  verstehen. 

Diese  Ermittelung  ist  aber  schon  durch  unsere  erste  Über- 
legung, daß  man,  um  etwas  in  seiner  geschichtlichen  Entwicke- 


Einleitung.  3 

luug  zu  verstehen,  bereits  wissen  muß,  was  man  denn  in  dieser 
seiner  geschichtlichen  Entwickelung  verstehen  will,  in  ihrem 
Charakter  logisch  determiniert.  Danach  muß,  sobald  es  sich 
um  die  Geschichte  eines  bestimmten  Begriffes  —  man  erlaube 
mir  einstweilen  noch  diesen  Ausdruck,  ohne  die  eben  jetzt  erst 
in  Angriff  zu  nehmende  genaue  Präzision  —  handelt,  der  Be- 
griff selbst  schon,  um  ihn  geschichtlich  bestimmen  und  durch 
die  Geschichte  verfolgen  zu  können,  vorausgesetzt  sein.  Liegt 
aber  in  dem  Begriff  der  Geschichte  und  der  geschichtlichen 
Entwickelung  nicht  selbst  Wandel  und  Wechsel  eingeschlossen, 
geht  damit  aber  nicht  gerade  jener  bleibende  Richtpunkt,  nach 
dem  die  Entwickelung  geschichtlich  bemessen  werden  soll,  in 
dem  geschichtlichen  Wandel  und  Wechsel  selbst  verloren,  so- 
fern man  mit  einer  wirklich  begriffsgeschichtlichen  Untersuchung 
auch  wirklich  Ernst  macht?  So  wahr  und  sicher  es  sein  mochte, 
daß  wir  etwa  den  Begriff  der  Kultur  voraussetzen  müssen,  um 
die  Geschichte  der  Kultur  verstehen  zu  können,  so  unsicher 
und  schwankend  scheint  doch  unsere  Voraussetzung  zu  w^erden, 
sobald  wir  z.  B.  nun  etwa  den  Begriff  der  Kultur  selbst  in  die 
historische  Betrachtung  einbeziehen.  Wandelt  und  wechselt  er 
nicht  selbst  in  der  Geschichte,  und  geht  uns  damit  nicht  bloß 
der  ruhende  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht  verloren,  sondern 
begehen  wir  damit  nicht  die  Absurdität,  der  Erscheinungen 
Flucht  für  den  ruhenden  Pol  selber  auszugeben,  um  sie  in  einer 
petitio  principii  an  sich  selber  geschichtlich  zu  messen;  eine 
Art  Münchhauseniade,  als  wollte  man  versuchen,  den  Meter- 
stab an  sich  selber  zu  messen? 

Nun,  die  Schwierigkeit  ist  nicht  unüberwindlich.  Ihre 
Überwindung  wird  uns  sogar  gleich  den  Schlüssel  des  Ver- 
ständnisses für  die  begriffsgeschichtliche  Methodik  überhaupt 
geben.  Jedes  Zeitalter  hat  seine  eigene  besondere  Kultur,  und 
darum  ist  zuzugeben,  daß  es,  um  zunächst  noch  bei  unserem 
Beispiele  zu  bleiben,  seine  eigene  Auffassung  vom  Wesen  der 
Kultur  hat,  daß  also  die  Auffassung  vom  Wesen  der  Kultur 
im  Laufe  der  Geschichte  selber  wechseln  mag.  Allein  damit 
man  diese  Auffassung  eben  als  Auffassung  vom  Wesen  der 
Kultur  ansehen  und  beurteilen  kann,  ist  der  Begriff  der  Kultur 


4  Einleitung. 

selbst  schon  als  Kriterium  der  Beurteilung  vorausgesetzt.  Die 
Schwierigkeit  beruhte  nur  auf  einer  vorläufig  nicht  scharf  ge- 
faßten Unterscheidung  zwischen  dem  Begriffe  als  solchem,  und 
der  Art  und  Weise,  wie  sich  das  geschichtliche  Denken  des 
vom  Begriffe  umschlossenen  Wahrheitsgehaltes  bemächtigt. 
Begriffe  als  solche  geschehen  nicht,  sind  keine  geschichthchen 
Ereignisse,  also  an  sich  selbst  überhaupt  nicht  geschichtlich. 
Geschichtlich  ist  in  Rücksicht  auf  sie  immer  nur  die  gedank- 
liche Arbeit,  die  sich  den  Begriffsgehalt  eben  zu  erarbeiten, 
anzueignen  sucht.  In  diesem  Sinn  schied  bereits  Piaton  mit 
aller  Schärfe  und  begrifflicher  Distinktheit  den  X6yo(;  von  der 
geschichtlichen  boHa,  und  der  Wahrheitswert  der  ööHa  bestimmte 
sich  ihm  nach  Maßgabe  des  von  der  böla  umfaßten  Gehaltes 
an  X6yo<;. 

Jetzt  ist  deutlich,  in  welchem  Sinne  man  überhaupt  von 
einer  Geschichte  des  Begriffs  sprechen  darf;  und  wie  gerade 
diese  historische  Methodik  die  Einsicht  erhärtet  und  befestigt, 
daß  die  geschichtliche  Betrachtung  auf  begrifflicher  Voraus- 
setzung bereits  basiert  ist.  Einen  Begriff  in  geschichthcher 
Entwickelung  zu  verfolgen,  fordert  als  Voraussetzung  den  Be- 
griff selbst  schon  in  dem  Sinne,  daß  seine  Sphäre  im  Konti- 
nuum  der  Erkenntnis  distinkt  bestimmt  ist  und  als  Aufgabe 
die  Untersuchung,  in  welcher  Weise  sich  das  geschichtliche 
Denken  des  von  jener  begrifflichen  Sphäre  umschlossenen 
Wahrheitsgehaltes  bemächtigt.  Diese  Unterscheidung  von  Vor- 
aussetzung und  Aufgabe  der  begriffsgeschichtlichen  Unter- 
suchung, die  wohl  nur  der  wissenschaftlich  nicht  bewährte 
Verstand  etwa  mit  der  scholastischen  Unterscheidung  von 
Nominal-  und  Realdefinition  verwechseln  kann,  ist  die  oberste 
Bedingung  der  Untersuchung  selbst. 

In  der  Tat  hat  die  Geschichte  der  Philosophie  von  dem 
Augenblick  an,  da  sie  als  Wissenschaft  auftreten  konnte,  diese 
Methodik  gehandhabt.  Diese  ist  ebenso  charakteristisch  für  die, 
wenn  auch  in  vieler  Hinsicht  noch  ohne  genaue  Einzelkenntnis 
der  geschichtlichen  Gegenstände  verfahrende,  aber  großzügige 
Forschung  Hegels  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Philo- 
sophie, wie  sie  bestimmend  ist  für  die  gerade  mit  philologischer 


Einleilung.  5 

Genauigkeit  liebevoll  dem  Einzelnen  zugewandte  historische 
Arbeit  eines  Schleiermacher  und  eines  Boeckh.  In  der  beide 
Tendenzen  zusammenfassenden  Schule  Hegels  tritt,  soweit  sie 
an  historischer  Forschung  beteiligt  ist  —  und  das  ist  in  der 
Lebensarbeit  eines  Kuno  Fischer  und  eines  Eduard  Zeller  in 
großartiger  Weise  der  Fall  —  dieser  methodische  Zug  mit  voller 
Deutlichkeit  zutage.  Was  seitdem  auch  an  geschichtlicher 
Arbeit  weiter  geleistet  worden  ist,  nirgends  läßt  sich  der  syste- 
matische Grundzug  verkennen.  Und  je  schärfer  er  hervortritt, 
um  so  bedeutsamer  ist  die  Leistung,  mag  es  sich  dabei  um  die 
allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  handeln,  wie  in  Wilhelm 
Windelbands  Lehrbuch,  das  ausdrücklich  eine  Geschichte  der 
Probleme  gibt,  oder  um  die  Behandlung  eines  einzelnen  Denkers, 
wie  etwa  in  Hermann  Cohens  Kant- Werken,  die  gerade  den 
bleibenden  Gehalt  der  Kantischen  Lehre  zu  ermitteln  be- 
strebt sind. 

Die  Methodologie  gibt  darum  auch  die  Rechtfertigung  da- 
für, daß  die  historische  Forschung  geradezu  bestimmte  Begriffe 
zu  ihrem  Gegenstande  wählt.  Eine  solche  spezielle  Unter- 
suchung wird  auch  hier  angestrebt.  Wenn  ich  den  Begriff  der 
Substanz  zum  Gegenstande  einer  besonderen  Untersuchung 
mache,  so  geht  aus  den  bisherigen  Bemerkungen  bereits  der 
allgemeine  Charakter  der  Untersuchung  hervor.  Es  bleibt  zu- 
nächst nur  noch  zu  ermitteln,  was  aus  der  allgemeinen  Be- 
stimmung für  die  Besonderheit  des  vorliegenden  Problems  folgt. 

Dabei  bedarf  es  zunächst  wohl  kaum  der  Restriktion,  daß 
es  sich  für  mich  nicht  um  das  Wort  «Substanz»,  sonderneben 
ganz  allein  um  den  Begriff  der  Substanz  handelt.  Die  all- 
gemeinen Darlegungen  dürften  bisher  schon  zur  Genüge  klar- 
gelegt haben,  daß  ich  eine  begriffsgeschichtliche,  nicht  eine 
sprachgeschichtliche  Untersuchung  anstrebe.  Daß  diese  dabei 
sprachgeschichtlich  für  die  Anfänge  des  philosophischen  Denkens 
wenigstens  für  unseren  Kulturkreis  auf  die  griechische  Philosophie 
verwiesen  ist,  deren  Sprache  doch  das  Wort  «Substanz»  nicht 
angehört,  die  aber  den  Begriff  der  Substanz  entdeckt,  —  schon 
diese  eine  Tatsache  mag  genügen,  um  hierin  wenigstens  jedem 
Mißverständnis  vorzubeugen. 


6  Einleitung. 

Dafür  ist  es  aucli  bemerkenswert,  daß  der  Begriff  der 
Substanz  für  das  philosophische  Denken  bereits  seine  bestim- 
mende Bedeutung  erhält,  noch  ehe  sprachlich  eine  exakte 
Formulierung  erreicht  wird.  Denn  auch  die  Unterscheidung 
zwischen  dem  Begriffe  als  solchem  und  der  Formulierung  des 
Begriffes  ist  nicht  außer  acht  zu  lassen.  Wir  werden  daher 
im  Einzelnen  der  geschichtlichen  Untersuchung,  auch  innerhalb 
der  griechischen  Philosophie,  um  die  allein  es  sich  ja  für  uns 
handelt,  den  impliziten  Gebrauch  des  Begriffes  der  Substanz 
vor  seiner  expliziten  Formulierung  antreffen.  Er  ist  aber  in 
der  formalen  Bedeutung,  die  seine  Sphäre  innerhalb  des  all- 
gemeinen Kontinuums  der  Erkenntnis  umschHeßt,  und  die  ihm 
in  diesem  seine  distinkte  Stellung  anweist,  genau  derselbe  vor 
seiner  exakten  Formulierung,  wie  in  dieser  und  nachdem  diese 
erreicht  ist.  Jene  Bedeutung  ist  es  darum  auch,  die  allein  wir 
voraussetzen  müssen,  um  an  ihrer  Hand  zu  verstehen,  wie  das 
geschichtliche  Denken  sich  des  von  der  Form  umschlossenen 
Wahrheitsgehaltes  im  Laufe  der  geschichtlichen  Entwickelung 
selbst  kontinuierlich  bemächtigt. 

Für  die  historische  Untersuchung  ist  darum,  lediglich  aus 
den  entwickelten  methodologischen  Gründen  die  explizite  For- 
mulierung selbst  notwendig.  Und  lediglich  um  der  Klarheit 
und  Schärfe  der  begrifflichen  Bestimmung  willen,  also  eigent- 
lich nur  aus  didaktisch-technischen  Gründen  tun  wir  gut,  die 
Untersuchung  von  vornherein  an  der  exaktesten  Formulierung 
zu  orientieren.  Diese  aber  ist  erreicht  in  der  kritischen  Phi- 
losophie. Wir  greifen  damit  unserer  eigentlichen  Einzelunter- 
suchung schon  deshalb,  weil  sich  diese  gar  nicht  bis  in  das 
Zeitalter  der  kritischen  Philosophie  erstreckt,  nicht  vor.  Ihr 
dient  vielmehr  diese  Formulierung  nur  als  Orientierungstafel, 
oder,  wenn  man  lieber  will,  als  Richtlinie  der  iLie&obo^,  als 
Wegweiser.  Von  der  geschichtlichen  Erarbeitung  des  Wahr- 
heitsgehaltes wird  damit  noch  nichts  vorw^eggenommen ;  ja  die 
exakte  Gestaltung  der  FormuHerung  müßte  selbst  erst  in  ihrer 
historischen  Bedingtheit  deutlich  werden.  Und  weil  sie  in  der 
Tat  nur  die  genaueste  Präzision  betrifft,  so  dient  sie  nur  dazu, 
gerade  die  formale  Identität  des  Begriffes  im  Laufe  der  für  uns 


Einleitung.  7 

in  Betracht  kommenden  geschichtlichen  Entwickelung  inner- 
halb der  griechischen  Philosophie  festzuhalten,  um  an  seiner 
formalen  Identität  den  Begriff  selbst  immer  wieder  zu  erkennen 
und  so  die  inhaltliche  Bereicherung,  die  das  Denken  geschicht- 
lich aus  der  Analyse  seines  Inhaltes  gewinnt,  zu  verstehen. 

Wenn  wir  uns,  zunächst  in  diesem  rein  formalen  Sinne, 
an  die  präziseste  Fassung  des  Substanzbegriffes  wenden,  so 
können  wir  uns  an  die  bekannte  Formulierung  halten,  daß  die 
Substanz  das  Bleibende  und  Beharrliche  in  allem 
Wechsel  der  Erscheinungen  sei.  Um  diese  logische  Vor- 
aussetzung von  der  Aufgabe  der  Einzeluntersuchung,  wie  vor- 
hin für  die  begriffsgeschichtliche  Forschung  überhaupt,  so 
jetzt  für  unser  bestimmtes  Problem,  scharf  abzugrenzen,  können 
wir  die  Aufgabe  unserer  Arbeit  in  der  F'rage  ausdrücken: 
Was  ergibt  sich  der  geschichtlichen  Denkarbeit  als  das  Beharr- 
liche in  allem  Wechsel?  Hier  wird  deuthch,  daß  wir  von  dem 
Inhalt  dessen,  was  das  Beharrliche  in  allem  Wechsel  denn  nun 
eigentlich  ist,  noch  nichts  vorweggenommen  haben,  daß  wir  also 
vielmehr  mit  der  Bestimmung  der  Substanz  als  des  in  allem 
Wechsel  Beharrenden  in  der  Tat  der  Substanz  im  Erkenntnis- 
zusammenhange überhaupt  nur  jene  diskrete  Stelle  augewiesen 
haben,  die  wir  ihr  logisch-methodologisch  erweise  anweisen 
mußten,  um  im  Einzelnen  der  Untersuchung  von  ihr  aus  die 
inhaltliche  Bestimmtheit  ermitteln  zu  können. 

Und  alles,  was  wir  einleitenderweise  zunächst  noch  über 
jene  Bedeutung  des  Beharrlichen  im  Wechsel  zu  bemerken 
haben  werden,  dient  allein  seiner  formalen  Bestimmung,  nicht 
etwelcher  inhaltlichen  Ermittelung.  Das  heißt:  es  gilt  jetzt 
nur  noch,  die  Beharrlichkeit  im  Wechsel  als  solche,  nicht  das 
«Was»  des  Beharrlichen,  schärfer  zu  präzisieren,  um,  abermals 
wenigstens  in  formaler  Hinsicht,  sie  von  anderem  Beharrlichen  zu 
unterscheiden.  Das  Beharrhche  in  allem  Wechsel  ist  nicht  das 
Einzige  bei  allem  Wechsel  Beharrliche,  dem  Wechsel  Ent- 
rückte. Es  kommt  genau  auf  die  Bestimmung  des  «In  allem 
Wechsel  Beharrlichen»  an;  das  «In»  ist  das  Entscheidende. 
Alle  Grundlagen  des  Wechsels  der  Erscheinungen  wechseln  selbst 
nicht,    weil  sie  eben    schon    für    den  Wechsel  als    Grundlagen 


8  Einleitung. 

vorausgesetzt  sind.  So  wechseln  reiner  Raum  und  reine  Zeit 
nicht,  weil  in  ihnen  der  Wechsel  ist.  Aber  sie  sind  nicht  das 
Beharrliche  im  Wechsel,  sondern  der  Wechsel  ist  in  ihnen. 
Ebenso  wechselt  nicht,  sondern  beharrt  die  Kausalität  als  Ge- 
setz, die  Identität  als  das  Maß  des  Wechsels.  Aber  sie  beharren 
nicht  im  Wechsel,  sondern  über  oder  an  dem  Wechsel,  insofern 
dieser  sich  nach  ihnen  vollzieht.  Das  Spezifische  der  Substanz 
liegt  also  in  ihrer  Bestimmtheit  als  das  i  n  allem  Wechsel  Blei- 
bende. Es  ist  das,  was  in  den  Wechsel  selbst  hineingezogen 
ist,  nicht  bloß  insofern  der  Wechsel  in  ihm  stattfände,  wie  in 
Raum  und  Zeit,  auch  nicht,  insofern  es,  wie  die  Kausalität  das 
Gesetz,  oder  wie  die  Identität  das  Maß  des  Wechsels  wäre, 
sondern  insofern  es  das  Wechselnde  selber  ist.  Aber  es 
ist  das  Wechselnde,  nicht  der  Wechsel.  Es  ist  ebenfalls  all- 
gemeine Grundlage  des  Wechsels.  Als  solche  allgemeine  Grund- 
lage wechselt  es  selber  freilich  nicht.  Aber  es  muß  wechseln, 
da  der  Wechsel  nicht  sein  könnte  ohne  das,  an  dem  er  sich 
vollzöge.  Und  das,  was  wechselt,  muß,  um  wechseln  zu  können, 
selbst  sein,  bleiben  und  beharren.  Das  Beharrliche  in  allem 
Wechsel  beharrt  und  wechselt  zugleich  in  eigentümlicher  lo- 
gischer Dialektik.  Als  allgemeine  Grundlage  des  Wechsels  be- 
harrt es  im  Wechsel  und  wechselt  selbst  nicht.  Insofern  es 
aber  als  allgemeine  Grundlage  auch  die  bestimmte  Bedeutung 
hat,  im  Wechsel  zu  beharren,  muß  es  das  sein,  an  dem  aller 
Wechsel  sich  vollzieht,  zum  Unterschiede  von  dem,  worin  und 
wonach  er  sich  vollzieht.  Es  muß  wechseln;  das  bedeutet 
nicht,  daß  es  wechselte  in  seinem  Beharren,  sondern  beharrt 
in  seinem  Wechsel,  beharrt,  um  wechseln  zu  können. 

Die  im  Begriff  der  Substanz  angelegte  Dialektikt  hat  ge- 
schichtlich zu  den  verschiedensten  Wertbeurteilungen  ge- 
führt. Bald  galt  der  Begriff  als  Universalmittel,  um  alle 
Rätsel  zu  lösen,  bald  als  eben  jenes  charakterlose  philosophische 
Mädchen  für  alles,  das  nichts  zu  leisten  vermag  und  alles  zu 
leisten  verspricht,  und  das  man  je  eher,  desto  besser  aus  dem 
Dienste  entlassen  sollte.  Zu  einer  richtigen  Würdigung  des 
wissenschaftlichen  Wertes  dieses  Begriffes,  wie  der  Grenzen  seiner 
Leistungsfähigkeit  aber  wird  gerade  die  scharfe  Unterscheidung 


Einleitung.  9 

zwischen  dem  Beharren  im  Wechsel  und  dem  Wechsel  im  Be- 
harren verhelfen.  Sie  wird  implizite  bereits  auch  in  den  ersten 
Anfängen  des  philosophischen  Denkens,  freilich  in  der  naivsten 
Weise  gehandhabt,  um  im  steten  Deukfortschritt  weitergeführt 
zu  werden,  bis  sie  rein  begrifflich  gefaßt  und  im  Begriffe  selbst 
befestigt  wird. 

In  diesem  Sinne  verfolgen  wir  den  Begriff  nun  durch  die 
Geschichte  der  griechischen  Philosophie  bis  zu  deren  Blütezeit. 
Die  geschichtlichen  Versuche,  den  Begriffsgehalt  zu  ermitteln, 
sind  unser  Gegenstand.  Ist  der  Begriff  als  solcher  auch,  um 
mit  Piaton  zu  sprechen,  dem  Reiche  der  five(J\q,  entrückt,  so 
verläuft  in  deren  Bereiche  doch  der  kontinuierliche  Fortgang 
der  Erkenntnis.  Unser  Problem  bestimmt  sich  darum  genau 
als  der  Begriff  der  Substanz  in  der  geschichtlichen  Entwicke- 
lung  seiner  Erkenntnis  innerhalb  der  griechischen  Philosophie 
bis  zu  deren  Blütezeit,  in  deren  Epoche  unser  Problem  die 
größte  Vertiefung  innerhalb  des  ganzen  antiken  Denkens  ge- 
funden hat. 


10 


Erstes  Kapitel. 
Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniern. 

Der  SubstanzbegrifF  begegnet  uns  bereits  auf  den  frühesten 
Anfängen  des  philosophischen  Denkens.  Lange  also  vor  der 
geschichtlichen  Erscheinung  des  Sokrates  findet  er  im  Laufe 
der  ersten  vorsokratischen  Entwickelung  der  Philosophie,  deren 
wesentlichster  Gehalt  und  Umfang  uns  jetzt  in  Diels'  Ausgabe 
der  Fragmente  der  Vorsokratiker  in  mustergültiger  und  für  die 
philosophiegeschichtliche  Forschung  richtunggebender  Weise  zu- 
gänglich gemacht  ist,  eine  bereits  wissenschaftlich  brauchbare 
Formuherung.  Zunächst  freilich  hat  der  Begriff  nur  einen 
impliziten  Gebrauch.  Dieser  schreitet  aber  bis  zu  seiner  For- 
mulierung kontinuierhch  fort.  Aus  den  einfachsten  Anfängen, 
da  er  in  der  impliziten  Anwendung  noch  ganz  in  der  Sphäre 
der  Anschauung  verbleibt,  nähert  sich  diese  Anwendung  in 
stetigem  Fortgange  der  begrifflichen  Fassung,  die,  nachdem  die 
Formuherung  bereits  vor  Sokrates  gewonnen,  in  Sokrates'  größerem 
Schüler  Piaton  den  begrifflichen  Höhepunkt  innerhalb  der  Plii- 
losophie  des  Altertums  erreicht,  um  nach  diesem  Höhepunkte 
eine  Weite  der  Anwendung  im  Aristotelischen  Denken  zu  finden, 
die  ihre  beherrschende  Bedeutung  nicht  nur  für  das  ganze  aus- 
gehende Altertum,  sondern  aucli  für  das  Mittelalter  bis  in  die 
neue,  ja  neueste  Zeit  behaupten  sollte. 

Den  ersten  impliziten  Gebrauch  des  Substanzbegriffes  aber 
treffen  wir  in  der  Geschichte  des  Denkens  im  Altertum  da  an, 
wo  uns  überhaupt  die  ersten  Ansätze  zu  naturphiloso})hisc]ier 
Betrachtungsweise  begegnen. 

Das  Eigenartig- Neue  und  Bedeutsame,  das  bei  aller  Naivität 
des  Denkens  dieses  Denken  doch   als  wissenschaftlich  wertvoll 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniern.  11 

charakterisiert,  das  ist,  zunächst  negativ  ausgedrückt,  seine  Los- 
lösung von  der  Welt  der  Mythologie  und,  positiv  ausgedrückt, 
seine  Hinwendung  zur  Welt  der  erfahrbaren  Wirkhchkeit,  zur 
Natur.  In  allem  Phantastischen,  das  der  neuen  Weltanschauung 
anhaften  mag,  ist  ein  tiefer  Natur-  und  Wirklichkeitssinn  le- 
bendig. Das  gilt  es  von  vornherein  zu  beachten,  um  dem  philo- 
sophischen Denken  in  seiner  primitivsten  Form  gerecht  werden 
zu  können.  Über  dem,  was  uns  heute  mit  Recht  als  primitiv 
und  kindlich  anmutet,  übersieht  man  nur  allzuleicht,  was  in 
dem  Primitiven  an  Neuem  und  für  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung  Bedeutsamem  wirksam  ist. 

1.  Wenn  Thaies  lehrt,  daß  das  Wasser  das  Prinzip  der 
Dinge  ist^,  so  mag  uns  das,  wenn  wir  diese  Behauptung  an  der 
heutigen  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  messen,  freilich 
als  eine,  wie  Clemens  Bäumker^  sich  ausdrückt,  «mißglückte 
naturwissenschaftliche  Hypothese»  erscheinen.  Allein,  daß  das 
darum  «nichts  als  eine  mißglückte  naturwissenschaftliche  Hypo- 
these» sei,  das  ist  doch  nicht  zutreffend.  Möchte  es  auch  in 
Hinsicht  auf  das  für  Bäumker  in  Frage  stehende  Problem  der 
Materie  gelten,  für  das  allgemeine  Substanzproblem  ist  die  Ge- 
ringschätzung schon  nicht  mehr  gerechtfertigt.  Denn  ganz  all- 
gemein genommen  kündigt  jene  naive  Ansicht  doch  die  bedeut- 
same Tendenz  des  Denkens  an,  die  natürlichen  Einzeldinge  nicht 
mehr  aus  einer  weit-  und  naturfremden,  übernatürlichen  Welt 
der  Mythologie  verstehen,  sondern  eben  auf  natürlichem  Wege 
erklären  und  begreifen  zu  wollen.  Es  ist  die  Tendenz  des 
Verstehen-  und  Begreifen wollens  überhaupt  zum  Unter- 
schiede von  der  bloß  mythologischen  Erdichtung  des  Weltzu- 
sammenhanges, was  der  scheinbar  so  kindlichen  Ansicht  des 
Thaies  eine  wahrhaft  geschichtliche  Bedeutung  gibt.  Sehr 
treffend  sieht,  im  Gegensatz  zu  Bäumker,  das  Bedeutsame  dieser 
Anschauung  auch  Riehl  in  dem    «Bruch  mit  der  vorangegange- 


'  Arist.  Met.  I,  3,983  b  .  .  .  0aXfi<;  ,udv  ö  rfn;  TOiaürrn;  dpxilTÖ'^  qpiXoao- 
9101;  öbujp  eivai  q)ri(Jiv.  S.  auch  die  S.  13  Anm.  1  zitierten  Stellen  bei  Stob. 
Ekl.  I,  290  und  Plut.  I,  3,2. 

^  Clemens  Bäumker,  Das  Problem  der  Materie  in  der  griefhischen  l'hi- 
losophie.    Eine  historisch-kritische  Untersuchung.  S.  9. 


12  1.  Kapitel. 

neu,  rein  mythologischen  und  allegorischen  Naturbetrachtung» 
und  in  dem  «Beginn  eines  sich  auf  sich  selber  stellenden  Denkens» 

«Statt  auf  einen  von  der  Phantasie  ersonnenen  —  werden 

die  Bildungen  in  der  Natur  auf  einen  den  Sinnen  gegebenen 
und  erforschbaren  Grund,  einen  Grundstoff  zurückgeführt.»^ 
Das  ist  zunächst  im  allgemeinen  das  Bedeutsame  der  Lehre 
des  Thaies,  daß  das  Wasser  die  dpxi'i  der  Dinge  ist.  Ob  nun, 
wie  man  nach  den  vorhin  zitierten  Worten  des  Aristoteles  an- 
nehmen könnte,  Thaies  auch  den  Ausdruck  ,apxn'  schon 
gebraucht  hat,  oder  ob  dieser,  wie  es  nach  Simplikios^  scheint, 
erst  auf  Anaximander  zurückgeht,  das  ist  zunächst  für  die 
begrifi'liche  Bedeutung  der  Sache  irrelevant.  Für  diese  aber 
wird  sodann  weiter  bedeutsam,  daß  es  sich  um  ein  Prinzip 
handelt,  um  eine  einheitliche  Natur,  cpuaiv  luiav^,  um  das  Eine 
schlechthin,  tö  ev.*  In  formaler  Hinsicht  ist  also  schon  die  auf 
ein  Prinzip  gerichtete  Fragestellung  von  Bedeutung,  insofern 
in  ihr  die  Forderung  einer  einheitlichen  Erklärung  enthalten 
ist.  Diese  Bedeutung  des  Thalesschen  Prinzips  hat  man  stets 
allgemein  anerkannt.''  Daß  er  die  dpxri  aber  im  uöuup  erblickt,  das 
heißt :  material  auch  die  Antwort,  die  er  auf  seine  Fragestellung 
gibt,  ist  nicht  minder  bedeutsam.  Dadurch,  daß  er  sich,  wie 
vorhin  ausgeführt,  von  der  mythologischen  Vorstellungsweise 
befreit  und  eine  Antwort  sucht,  durch  die  er  wenigstens  glaubt, 
die  AVeit  der  Wirklichkeit  begreifen  zu  können,  durch  seine 
Tendenz  nach  Begreiflichkeit  der  cpucrig  also,  die  ihm  nun  auch 
eine  physische  Grundlage  vermitteln  soll,  wird  ihm  sein  Einheits- 
prinzip zugleich  zum  logischen  Erklärungsprinzip,  wie  zum 
physischen  Entstehungsprinzip.  Diese  drei  Funktionen  —  Ein- 
heitspnnzip,  Erklärungsprinzip,  Entstehungsprinzip  —  seiner 
dpxn  haben  wir   zu  beachten,  wollen  wir  ihre  ganze  geschicht- 


^  Alois  Rielii,  Zur  Einfiilnung  iii  die  Philosophie  der  Gegenwart,   S.  11. 

2  Simpl.  Phys.  5i4  (zitiert  unten  S.  15,  Anm.  1),  vgl.  Windelband,  Lehr- 
budi  der  Geschichte  der  Philosophie,  S.  27. 

"  Arist.  Met.  ebenda. 

*  Arist.  Met.  I,  H,984a. 

6  Auch  Bäumker,  a.  a.  O.  ol)enda,  der  damit  IVoilicli  die  Ikdoulung  für 
erschöpft  hält. 


Die  Anfänge  der  Nalurphilosophic  bei  den  loniern.  13 

liehe  Bedeutung  ermessen.  Um  die  Leistung  des  Thaies  auf 
einen  kurzen  Ausdruck  zu  bringen,  kann  mau  sagen:  Ihr 
Wert  liegt  in  einer  Forderung,  nämlich  der  Forderung  prinzi- 
piell-einheitlicher Naturerklärung.  Das  Wasser  soll  ihm  diese 
Forderung  erfüllen.  Es  gilt  ihm  als  der  einheitliche  Grund- 
stoff aller  Dinge.  Sie  gehen  aus  ihm  hervor,  und  lösen  sich 
in  das  Wasser  wieder  auf.^  Wie  Thaies  sich  die  Verwandlung  des 
Wassers  in  die  Dinge  und  der  Dinge  in  das  Wasser  gedacht,  darüber 
geben  uns  die  Berichte  keine  Aufklärung.  Die  wechselnden 
Zustände  scheinen  vielmehr  einer  wohl  als  selbstverständlich  an- 
genommenen Aktivität  und  inneren  Lebendigkeit  des  Grund- 
stoffes zugeschrieben  zu  werden,  der  als  solcher  bleibt  und  nur 
eben  in  seinen  Zuständen  kraft  seines  eigenen  Wesens  wechselt, 
insofern  er,  wie  beim  Magneten,  die  Bewegung  auf  eine  innere 
seelisch  gedachte  Kraft  zurückführt.^ 

'  Stob.  Ekl.  I,  290.  dpxriv  tujv  övtoiv  dTTeq)rivaTO  tö  öbujp,  eE  übaroi; 
YÖp  irdvTa  eivai  koI  eiq  übiup  ävaXueaöai;  vgl.  auch  in  genauer  Überein- 
stimmung Plut.  Plac.  I,  3,2. 

^  Arist.  de  an.  I,  2,405  a.  eoiKe  b^  Kai  0a\f|<;  il  luv  duoiiivriiuoveOouöi 
KivrjTiKÖv  Ti  Triv  vuxnv  liiToXaßeiv,  emep  xöv  XiOov  ecpr)  MJUxrjv  ^x^iv,  öxi  töv 
öibrjpov  Kivei. 

Die  Annahme  Cic.  de  nat.  deo.  I,  10,2.5:  aquam  dixit  esse  initium  rerum, 
Deum  autem  eam  mentem  quae  ex  aqua  cuncta  fingeret,  weist  Zeller  (Die 
Philosophie  der  Griechen,  I,  S.  177)  treffend  unter  Hinweis  auf  Arist.  Met.  I, 
3,984  a/b  zurück,  wonach  die  ersten  Naturphilosophen  neben  ihren  Grundstoff 
gerade  nicht  noch  ein  besonderes  Bewegungsprinzip  gestellt.  Es  ist  jedenfalls 
durchaus  richtig,  wenn  Zeller  meint,  daß  Thaies  die  Dinge  aus  seinem  Prin- 
zip «ohne  Dazwischenkunft  eines  weltbildenden  Geistes»  erzeugt  dachte  (a.  a.  0., 
S.  179).  Daß  er  dai-um  aber  den  «Götterglauben  seines  Volkes  noch  geteilt», 
geht  daraus  doch  nicht  hervor;  viel  eher  das  Gegenteil.  Wenn  es  freilich 
Arist.  de  an.  I,  511a  heißt:  Kai  ^v  tlui  öXaii  be  xivei;,  aÖT^v  (seil:  vv^Xnv)  ne- 
laixöai  qpaaiv,  ööev  iovjc,  Kai  QaXY\c,  mr\dr\  ndvTa  irXripri  deüuv  elvai,  so  darf 
man  aber  von  vornherein,  worauf  Bäumker  (a.  a.  0.,  S.  10)  richtig  aufmerksam 
macht,  die  Zurückhaltung,  die  in  dem  «vielleicht»  liegt  und  die  auf  die  Lehre 
des  Thaies  bezogen,  die  aristotehsche  Auffassung  als  «eine  bloße  Vermutung» 
erscheinen  läßt,  nicht  übersehen.  Sodann  dürfte  gerade  die  Ansicht,  daß 
«alles  voll  von  Göttern»  sei,  nicht  mit  dem  «Götterglauben  seines  Volkes» 
zusammenstimmen.  Und  wenn,  wie  Zeller  (ebenda)  annimmt,  Thaies  in  der 
Tat  «von  einer  Weltseele  nichts  gewußt»,  so  ist  doch  der  Begriff  der  «Welt- 
seele» nicht  dazu  ei-fordert,  um  die  Welt  al^  Einheit  zusammenzufassen.     Daß 


14  1.  Kapitel. 

In  dieser  dpxn  liegt  also  implizite  die  erste  und  elementarste 
Anwendung  des  Substanzbegriffes  vor.  Insofern  das  Wasser 
der  Grundstoff  der  Natur  ist,  aus  dem  alle  Dinge  entstehen, 
wird  es  selbst  als  bleibend  und  beharrlich  gedacht.  Insofern 
es  sich  in  die  Dinge  und  die  Dinge  in  es  selbst  zurückver- 
wandeln,  v/ird  es  zugleich  zum  Träger  der  Veränderung  in  der 
Natur,  an  dem  sich  der  Wechsel  des  Geschehens  vollzieht.  Es 
ist  das,  an  dem  das  Geschehen  stattfindet.  Freilich  bleibt  dabei 
der  Substanzbegriff  noch  durchaus  in  der  Sphäre  der  sinnlichen 
Anschauung ;  und  die  logische  Funktion  der  Substanz  muß  das 
AVasser  als  ein  bestimmter  empirischer  Stoff  übernehmen.  Aber 
dieser  Stoff  ist  doch  von  vornherein  nicht  ein  Stoff  unter 
Stoffen,  sondern  aller  einzelnen  stofflichen  Gestaltung  einheitliche 
Grundlage,  und  ausdrücklich  als  der  «allumfassende»  gesetzt.^ 
Er  hat  die  Funktion,  Beharrlichkeit  und  Wechsel  miteinander 
zu  verbinden,  und  so  unzulänglich  die  Denkweise  in  natur- 
wissenschaftHcher  Beziehung  ist,  so  naiv  unter  logischem  Be- 
tracht das  Verbleiben  des  Begriffes  in  der  Sphäre  der  An- 
schauung sein   mag,   in  ebendiesem   logischen  Fehler   verbirgt 


das  möglich  ist  auch  ohne  den  Begriff  der  «Weltseele»,  dafür  wäre  gerade  die 
Lehre  des  Thaies  ein  Beleg,  wenn  er  in  der  Tat  den  Begriff  der  Wellseele 
nicht  gehabt.  Und  daß  er  die  Welt  als  Einheit  gefaßt,  das  eben  liegt  in  seiner 
ganzen  Einheitslehre  und  geht  aus  den  Berichten  des  Arist.  besonders  Met. 
I,  3,983  b  und  984  a  .seilest  hervor.  Wenn  ihm  darum  die  Welt  lebendig  und 
voll  von  Göttern  war,  so  wäre  das  selbst  ganz  allein  im  Sinne  seiner  Einheits- 
ichre, also  pantheistisch,  nicht  im  Sinne  des  Götterglaubens  seines  Volkes, 
polytheistisch,  zu  verstehen.  Sein  eines  Prinzip  ist  von  sich  selbst  aus  bewegt, 
tätig,  göttlich.  Darum  bedarf  es  eines  besonderen  weltbildenden  Gottes  als 
Bewegungsprinzip  nicht.  Ebendeshalb  sind  die  einzelnen  Üinge  «Götter»,  nicht 
als  besondere  weltbildende  Mächte,  sondern  als  Formen  des  einen  göttlichen 
Urprinzips.  —  Was  aber  des  Thaies  Stellung  zur  Volksreligion  anlangt,  so  sei, 
ohne  daß  wir  näher  auf  dieses  Verhältnis  hier  eingehen  können,  im  Voi-bei- 
gehen  doch  soviel  bemerkt,  daß,  was  Edw.  Caird  über  das  Verhältnis  der 
griechischen  Philosophen  überhaupt  zur  Rehgion  ihres  Volkes  bemerkt,  auch 
für  Thaies  gilt,  nämlich:  daß  ihnen  die  Volksreligion  ziemhch  gleichgültig  ge- 
wesen ist.  Vgl.  Edw.  Caird,  The  Evolution  of  Theology  in  the  Grcek  Philo- 
sophers I,  S.  55. 

'  So  ist  das  «-rtdvTa»  in  dem  il  übaroc;  Trävxa  elvm  oben  zu  verstehen. 
Siehe  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  175. 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  hei  den  loniern.  15 

sich  doch  die  für  das  Substanzproblem  gerade  logisch  unge- 
mein wertvolle  Tendenz,  den  Begriff  auf  die  Anschauung  zu 
beziehen.  Mag  der  Wert  auch  immerhin  in  einer  bloßen  Ten- 
denz liegen,  als  solche  ist  diese  doch  von  der  größten  Bedeutung. 
Denn  gerade  sie  ist  es,  auf  Grund  deren  das  Denken  aus  der 
Sphäre  der  bloßen  Phantasie  heraustritt,  um  sich  des  realen 
Gehaltes  der  empirischen  Wirklichkeit  zu  bemächtigen.  Diese, 
wenn  auch  zunächst  nur  implizite  vorliegende,  Beziehung  von 
Anschauung  und  Begriff  ist  das  Bedeutsamste  und  Tiefste,  das 
sich  in  der  Denkweise  des  Thaies  enthüllt,  und  das  auch  den 
tiefsten  Kern  erst  jener  vorhin  besprochenen  Abwendung  vom 
Mythischen  und  der  Hinwendung  zum  Natürlichen  enthält. 
Jene  Abwendung  und  diese  Hinwendung  sind  an  sich  freilich 
schon  bedeutsam  genug,  um  in  der  Auffassung  des  Thaies 
nicht  bloß  eine  verfehlte  Hypothese  zu  sehen.  Sie  bezeichnen 
deren  geschichtlichen  Wert.  Tiefer  und  bedeutsamer  aber  als 
dieser  geschichtliche  Wert  ist  das,  was  den  geschichtlichen  Wert 
erst  gründet.  Das  ist  der  logische  Wert.  Dieser  aber  besteht 
in  der  wie  unvollkommen  auch  immer  vollzogenen  und  nur  im- 
plizite angewandten  Beziehung  des  Begriffes  auf  die  Anschauung, 
wie  sie  in  dem  die  Funktion  der  Substanz  erfüllensollenden 
einheitlichen  Grundstoffe  des  Thaies  vorliegt.  Denn  dieser  ist 
ihm  der  begriffliche  Einheitsgrund  für  die  Totalität  der  in  der 
Wahrnehmung  gegebenen  anschaulichen  Einzeldinge. 

2.  Entrückt  wird  aber  die  Substanz  der  Anschauung  und 
Wahrnehmung,  und  zwar  so,  daß  sie  doch  bestimmend  für 
diese  bleibt,  bei  Anaximauder,  dem,  wie  schon  bemerkt,  Sim- 
plikios^  die  erste  Namengebung  der  dpxn  zuschreibt.  Denn  ihm 
wird  die  dpxn  zum  Unendlichen,  zum  direipov.^  Hier  kündigt 
sich  das  ungemein  bedeutsame  gedankhche  Motiv  an,  die  un- 
endliche Fülle  des  der  Wahrnehmung  gegebenen  Wechsels  der 
Erscheinungen,  aus  einem  im  Wechsel  sich  nicht  erschöpfenden 


1  Simpl.  Phys.  24.  ...  irpOÜTO^  Toüvojaa  KO|nicra^  Tf|^  «PX*!"^;  •  •  •  vgl. 
Hippol.  Ref.  I,  6  .  .  .  upiJjTOC,  Touvo|ua  KaMaaq  Tr\c,  dpxn«;. 

-  Arist.  Phys.  III,  4,203  b.  Siehe  besonders  auch  Stob.  Ekl.  I,  292  und  in 
genauer  Übereinstimmung  Plut.  Plac.  I,  3.  qpriai  Trjv  tujv  ö'vtuuv  äpxnv 
eivai  TÖ  ctTreipov. 


16  1.  Kapitel. 

und  darum  im  unendlichen  Wechsel  selbst  unendlich  beharren- 
den Urgründe  zu  begreifen. 

Wie  bei  Thaies  ist  das  zunächst  das  Bestimmende,  daß  sich 
alles  Geschehen  aus  dem  einen  Urgründe  muß  begreifen  lassen. 
Dieser  ist  alles,  und  alles  ist  doch  aus  ihm.^  Alles  entsteht 
darum  aus  dem  Unendlichen;  aber  da  das  Entstandene  auch 
vergeht,  muß  seine  Vernichtung  nicht  eine  absolute,  sondern 
selbst  eine  Rückkehr  zum  Unendhchen  bedeuten.^  Insofern 
es  also  jegliche  Ursache  alles  Entstehens  und  Vergehens  in 
sich  selbst  hat^,  allem  Entstehen  und  Vergehen  also  schon  zu- 
grunde liegt,  muß  es  selbst  jenseits  aller  Vergänglichkeit  stehen, 
unge worden  und  unvergänglich'^,  «unsterblich  und  uuzerstörlich» 
sein.  In  dieser  Behauptung  der  Ungewordenheit  und  Unzer- 
störlichkeit  des  einheitlichen  Urgrundes  wird  Anaximander  be- 
stimmend auch  für  die  weitere  antike  Naturphilosophie^  über- 
haupt, wie  für  das  Substanzproblem  insbesondere.  Denn  das 
ist  das  Entscheidende,  das  zugleich  auch  seinen  gewaltigen  Fort- 
schritt über  Thaies  hinaus  bezeichnet,  daß  er  die  Forderung 
der  Unendlichkeit  seiner  dpxn  gerade  mit  Rücksicht  auf  das 
Geschehen  stellt.  Das  logische  Motiv  nämlich,  aus  dem  er 
seinen  einigen  Urgrund  als  unendlich  setzt,  ist  gerade  das,  daß 
er  den  Wechsel  und  das  Geschehen  selbst  zu  tragen  hat.  Ist 
er  die  Ursache  alles  Geschehens,  geht  aus  ihm  alles  hervor  und 
kehrt  zu  ihm  alles  zurück,  so  muß  er  unendlich  sein,  damit 
er  sich  im  Prozeß  des  Geschehens  und  damit  das  Geschehen 
selbst  nicht  aufhebe  und  auflöse.*^    In  dem  einen  Unendlichen 


1  Arist.  Phys.  III,  4,!203]i.  äiravTa  Tap  n  ^PXn  n  ^^  «PX»!?- 

-  Stob.  a.  a.  0.  el)enda  und  wörtlich  Plut.  a.  a.  0.  ebenda.  'Ek  y«P 
TOÜTOU  TÖ  TzdvTu  ^i^veobm  Kai  dq  toöto  -ncivTa  cpüeipeööai. 

'^  Plut.  Strom.  12  (Dox  579;  Tliophr.  .s.  Diels,  «Die  Fragmente  der  Vor- 
sokratiker»  I,  S.  13)  .ued'  ov  'Avatijuavbpov  OciXriToq  ^xaTpov  Yevö|nevov  tö 
äireipov  cf)dva\  Tr\v  näoav  aixiav  ^x^iv  xPii;  xou  travxöq  ^evioewq  xe  xal 
cpöopäi;  .  .  . 

■*  Arist.  a.  a.  0.  ebenda,  exi  be  Kai  oY^vrjxov  Kai  acpOapxov  ihc,  öpxn 
xk;  ovoa. 

5  Arist.  ebenda.  äOdvaxov  yäp  Kai  dvübXeOpov,  wc,  qpriöiv  ö  'Ava£i|.iavbpO(; 
Kai  ol  iT\eiöxoi  xuiv  q)uöioXÖYUJv. 

•5  Stob.  a.  a.  0.  ebenda  und  ebenso  Plut.  a.  a.  0.  ebenda.  Xerei  oijv  öxi 
ätreipöv  iOTiv,  Iva  jarjb^v  dXXeitTni  n  yiveaic,  y]  uqpiöOaia^vri. 


Die  Aiilnnge  der  Nalurpliilo.soi»liie  bei  den  loniern.  17 

imd  seiner  unendlichen  Beharrlichkeit  wird  also  der  Wechsel 
des  Entstehens  selbst  verankert  und  gegründet.  Um  bleibende 
Grundlage  alles  Wechsels  zu  sein,  muß  es  unendlich,  allem 
Wechsel  selbst  entrückt  sein.  Ebendarum  weil  es  jeghche 
Ursache  für  diesen  in  sich  hat,  kann  es  keine  Ursache  außer 
sich  und  kein  Prinzip  über  sich  haben. ^  Es  ist  das  schlechthin 
letzte  und  höchste  Prinzip  und  allumfassend. 

Wenn  das  Allumfassen  (TrdvTa  Trepiexeiv)  des  Unendlichen 
darum  kein  Prinzip  über  und  keine  Ursache  außer  diesem  zu- 
läßt, weil  es  «jegliche  Ursache  für  jegliches  Entstehen  und  Ver- 
gehen in  sich  selbst  hat»,  so  ist  seine  Wirksamkeit,  die  eben 
eine  Allwirksamkeit  ist,  folgerichtig  eine  immanent  notwendige. 
Nicht  von  etwas  außer  ihm  bestimmt,  gleichsam  von  außen  ge- 
trieben, sondern  von  innen  heraus,  gleichsam  aus  innerem 
Bedürfnis  ist  es  alles,  ist  alles  aus  ihm,  geht  alles  aus  seiner 
Notwendigkeit  aus  ihm  hervor  und  kehrt  in  es  zurück^.  Also 
wird  nicht  nur  alles  Geschehen,  sowohl  als  Entstehen  wie  auch 
als  Vergehen,  auf  das  d'Treipov  überhaupt  gegründet,  und  nicht  nur 
wird  das  Vergehen  nicht  als  ein  absolutes,  sondern  als  ein 
Wiedereingehen  in  das  Unendliche  gedacht,  vielmehr  alles  Ge- 
schehen wird  sowohl  in  der  Form  des  Entstehens  wie  in  der 
des  Vergehens  auf  immanent  notwendige  Wirksamkeit  des  Un- 
endlichen gegründet.  Das  ixavTa  Ttepiexeiv  und  das  Trdaav  aiiiav 
exeiv  i\]<;  toO  -rraviö^  fevioeujc,  le  Kai  (pöopd(j  wird  durch  das 
Ktttd  TÖ  xpeiJ^v  bestätigt,  erläutert  und  erklärt.  Wenn  das  direipov 
so  als  Grundlage  alles  kosmischen  Geschehens,  der  Welt  und 
der  Ordnungen  in  der  Welt  gedacht  wird^  so  kann  es  selbst 
nicht  kosmisch  sein.  Denn  die  Grundlage  alles  Kosmischen 
und  das  Kosmische  selbst  können  konsequenterweise  nicht  zu- 
sammenfallen. Das  d'Treipov  als  Grundlage  alles  Kosmischen 
muß  also  metakosmisch  gedacht  werden. 

1  Arisl.  a.  a.  ü.  ebenda.  Aio  Kaöciirep  XeYO|Liev,  oü  Tarnte,  apxf],  äW  aürr) 
TiJüv  äWuuv  elvai  boKCv  Kai  irepiexeiv  äiravTa  Kai  ircivTa  Kußepväv,  iX)c,  cpaöiv 
öaoi  |Lir)  TCOioOöi  uapd  tö  äireipov  aWac,  ama^,  oiov  .  .  . 

-  Simpl.  a.  a.  0.  ebenda,  il  ujv  bi  x]  flveoiq  iaxi  toic,  oucri,  Kai  Tiqv 
qpdopäv  de,  Taöxa  Yiveaöai  Kard  tö  xpeibv.     (Man  beachte  das  xpeuuv!) 

^  Simpl.  ebend;!.  .  .  .  qpOaiv  cxTreipov,  It  r\c,  ä-navrac,  f\v(.aba\  tovc,  oOpa- 
voOi;  Kai  iv  aöxoTi;  kögjuou?;  vgl.  Hippol.  Ref.  ebenda. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  2 


1^  1.  Kaiiilel. 

Das  Altertum  aber  kennt  auf  dieser  Stufe  des  Denkens  für 
das  Metakosmische  keine  andere  Form  als  die  religiöse,  hat 
darum  auch  keinen  anderen  Ausdruck  dafür  als  den  religiösen. 
Darum  muß  für  Anaximander  das  allumfassende,  allwirksame 
Unendliche  zur  Gottheit,  zum  Göttlichen  werden.  Es  ist  das 
Göttliche  schlechthin:  tö  ^Tov.'  Damit  erhält  zugleich  der  von 
dem  ungewordenen,  unvergängUchen,  also  ewigen  Unendlichen 
abhängig  gedachte  zeitliche  Prozeß  des  Geschehens  eine  religiöse 
Bedeutung  und  wird  gedacht  als  ein  Prozeß  der  Buße  und 
Vergeltung  nach  der  Ordnung  der  Zeit.^  Diese  religiöse  Be- 
stimmuug  macht  noch  einmal  die  immanente  Notwendigkeit, 
um  die  es  sich  in  der  Allwirksamkeit  des  Unendlichen  handelt, 
so  recht  deutlich.  Das  Kaid  tö  xpeihv  faßt  also  sowohl  die  All- 
ursächlichkeit,  wie  die  religiöse  Weltgerechtigkeit  zusammen. 
Es  bezeichnet,  was  sein  muß  und  sein  soll,  verbindet  das 
Schicksal  mit  dem  Geschehen  zur  Einheit.  Wie  später  expH- 
zite,  so  werden  hier  wenigstens  imphzite  dvdYKri  und  biKn  ver- 
einigt, die  Notwendigkeit  dem  Unendlichen  immanent  und  zu- 
gleich religiös  gedacht. 

Ist  diese  metakosmische  Bedeutung  hier  auch  religiös  be- 
stimmt, so  macht  doch  gerade  diese  religiöse  Bestimmung  nun 
auch  wechselseitig  jene  metakosmische  Bedeutung  selbst  klar 
und  beweist,  daß  es  sich  eben  um  eine  solche  handelt.  Das 
d'TTeipov  hat  auch  logisch  etwas  zu  leisten,  was  kein  der  Wahr- 
nehmung gegebenes  Ding,  kein  Stoff  der  sinnhchen  Welt, 
weder  das  Wasser  noch  sonst  einer  zu  leisten  vermag.  Diesem 
Prinzip  also  kann  sich  kein  bestimmter  kosmischer  Stoff  ver- 
gleichen-^; es  ist  nicht  bloß  ein  Stoff  unter  Stoffen,  oder  auch 
einer  unter  den  übrigen  später  sogenannten,  darum  uns  im 
Kosmos  selbst  gegebenen  Grundstoffen,  sondern  geradezu  eine 
andersartige  Natur,  eben  die  Natur  des  Unendlichen.    Aus  ihm 

'  Arist.  Phys.  ebenda. 

■'  Simpl.  a.  a.  0.  ebenda,  bibövm  yäp  oötü  biKrjv  Kai  ximv  ä\Xr)\OK  Tf\c, 
äbiKiac,  KOTÜ  Tr)v  xoö  xpövou  xdEiv. 

^  Simpl.  ebenda.  X^yei  b'  aürriv  (seil,  apxnv)  mite  öbiup  unre  äWo  Ti 
Tüüv  Kokovixivvjv  aToixeiuüv,  oiW  iTipav  tivü  cpOoiv  ctTreipov  .  .  .  (hierzu  die 
Fortführung  des  Gedankens,  s.  S.  17  Anm.  3). 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniern.  19 

gehen  erst  die  einzelnen  Stoffe  hervor.^  Es  kann  also  selbst 
kein  bestimmter  einzelner  Stoff  sein,  keine  bestimmte  einzelne 
Eigenschaft  haben,  muß  «qualitätslos»  sein,^    Ebendarum  kann 

'  Arist.  Phys.  III,  5,204  b.  dWä  |Lir]v  othi  6v  Kai  äirXouv  ^vb^x^Tai  eivai  tö 
ctTteipov  öu)|Lia,  eure  wq  Xi^ovoi  Tive«;  tö  irapct  xd  öxcixeia,  iZ  oö  raOra  Tevvujaiv, 
oüy  änXüx;.  do'i  ywp  Tweq,  oi  toOto  Troiouai  tö  äireipov,  dW  oök  depa  f]  vbwp, 
lü?  }xr\  TdWa  (pöeipHTai  ijitö  toö  dtreipou  auxiüv.  ix^vai  ydp  tipöq  aXh-\ka 
^vavTiiuaiv,  olov  ö  pev  drjp  vj)uxpö(;,  tö  b"  vbwp  iiypöv,  tö  be  irOp  öepjuöv.  iliv 
ei  riv  ev  direipov,  eqpQapTO  dv  rjbri  TdWa.  vuv  b'  gT€pov  eivai  (paaiv  ii  oö  TauTC. 
—  Mit  Recht  bemerkt  Zeller  zu  dieser  Stelle,  daß,  so  sicher  die  Form  der 
Begründung  hier  aristotelisch  ist,  die  Lehre  selbst,  für  die  der  Grund  an- 
gegeben wird,  «ohne  Zweifel»  Anaximander  angehört  (a.  a.  0.,  S.  210).  In 
aller  Kürze  tritt  der  Gedanke  zutage  bei  Simpl.  ebenda:  ii  ou  (seil.  toO 
dTreipou)  Td  OTOixeia  y^'^vuioiv. 

-  Theophr.  bei  Simpl.  Phys.,  154  .  .  .  niav  eivai  qpüaiv  döpiffTOv  Kai  küt 
eiboc,  Kai  KttTd  lueYeöo?  . .  .,  vgl.  auch  Phys.  24  und  Diog.  Laert.  II,  1.  Wenn 
Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  12  bemerkt,  «daß  die  ganz  aristotelische  Terminologie 
Theophrasts  beweist,  daß  er  hier  nicht  so  sehr  historisch  referiert,  als  viel- 
mehr durch  ein  Ausdenken  der  Gedanken  des  Anaximander  diese  auf  eine 
den  Begriffen  der  eigenen  Schule  entsprechende  Formel  zu  bringen  sucht», 
so  macht  er  entschieden  aus  der  richtig  bemerkten  terminologischen  Situation 
schon  eine  logische  Aktion,  was  nicht  angeht.  Daß  das  Wort  döpiOTOv  aristo- 
telisch (seine  Spuren  weisen  übrigens  schon  auf  Piaton)  ist,  das  ist  zwar  durch- 
aus richtig.  Allein  auf  die  logische  Funktion  folgt  daraus  nichts.  Es  bedurfte 
in  der  Tat  erst  keines  «Weiterdenkens»,  um  die  von  Bäumker  selbst  zu- 
gegebene Konsequenzlage,  d.  h.  die  Tatsache,  daß  die  Qualitätslosigkeit  des 
ÖTteipov  in  der  Konsequenz  des  Anaximandrischen  Grundgedankens  liegt,  zu 
ermitteln.  Da  es  in  Wahrheit  aber  nicht  erst  noch  darauf  ankommt,  daß  aus 
diesem  Grundgedanken  die  Quahtätslosigkeit  des  dTieipov  als  Konsequenz  ge- 
folgert würde,  sondern  diese  eigentlich  unmittelbar  schon  in  der  Auffassung 
Anaximanders  liegt,  daß  alle  besonderen  Dinge  aus  dem  unendlichen  Urgründe 
folgen,  so  scheint  der  logische  Gehalt,  unbeschadet  der  sicher  erst  späteren 
terminologischen  Fassung,  dennoch  bei  Anaximander  zu  suchen  und  die 
später  erfolgte  terminologische  Fassung  nur  eine  besonders  glückliche  Form 
für  den  Anaximandrischen  Begriffsgehalt  zu  sein,  zumal  da  ohne  diese  be- 
grift'lichen  Impulse  von  selten  Anaximanders  seine  Lehre  schwerlich  in  der 
Überlieferung  die  terminologische  Fassung  hätte  erhalten  können.  Viel  eher, 
als  die  spätere  Terminologie  gegen  das  logische  Moment  der  «Qualitätslosig- 
keit» spricht,  läßt  sich  umgekehrt  dieses  für  die  Erklärung  jener  verwenden. 
Dabei  ist  innerhalb  des  Begrifts  der  Qualitätslosigkeit  schai-f  zu  unterscheiden, 
ob  dem  direipov  nicht  bloß  keine  Qualitäten  beigelegt  werden,  oder  ob  sie  ihm 
abgesprochen  werden.  Vgl.  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  l'Jlff.,  auch  J.  Cohn,  Geschichte 
des  Unendlichkeitsproblems  im  abendländischen  Denken  bis  Kant,  S.  14  f. 


i>(l  1.  Kapitel. 

es  auch  nicht  aus  den  einzelnen  Stoffen  erst  zusammengesetzt 
sein\  da  es  ihnen  gegenüber  das  Primäre  ist  und  diese  aus 
ihm  hervorgehen.  Sie  sind  in  ihm  alle  bereits  enthalten.  In 
diesem  Sinne  ist  es  «allumfassend»-  und  nur  in  diesem  Sinne 
kann  es  (s,  u.  Anm.  1  u.  3)  als  «Mischung»  bezeichnet  werden ;  und 
werden  von  ihm  als  solcher  die  «übrigen»  Stoffe  ausgeschieden.'' 
Fassen  wir  die  Ansicht  des  Anaximander,  um  ihre  Be- 
deutung für  das  Substanzproblem  ins  rechte  Licht  zu  setzen, 
kurz  zusammen,  so  können  wir  sagen:  Mit  Thaies  teilt  er  den 


^  Arist.  Phys.  I,  4,187  a  spricht  zwar  von  einem  juiYMa;  was  darauf  hin- 
zudeuten scheint,  daß  er  das  ottteipov  als  Mischung  der  einzelnen  Stoffe  an- 
gesehen. Auch  Sirnpl.  Phys.  1.54  scheint  in  derselben  Weise  darauf  hinzuweisen. 
Allein  dem  steht  entgegen,  daß  damit  der  eigentliche  Einheitsgedanke,  der 
die  ganze  Lehre  Anaximanders  beherrscht,  und  damit  der  Kern  dieser  Lehre 
selbst  aufgehoben  würde.  Weiter  aber  stehen  dem  Aristoteles'  eigene  Zeugnisse 
entgegen.  An  eben  der  Stelle  der  Phys.  spricht  er  von  einem  Enthaltensein  und 
einem  Ausscheiden  der  Gegensätze  aus  dem  Einen.  Ferner  hat  Arist.  Phys. 
III,  4,203  b  das  äueipov  selbst  klar  als  allumfassend  charakterisiert.  Endlich 
zeigt  er  uns,  worauf  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  190  sehr  richtig  aufmerksam  macht, 
De  caelo  III,  3,302  a,  welche  beiden  Momente  er  in  dem  Enthaltensein  und 
Ausscheiden  unterscheidet,  und  damit  fällt  zugleich  ein  Licht  darauf,  wie  wir 
das  luiYiaa  Phys.  I,  4,187  a,  Met.  XII,  2,1069  b  u.a.  zu  verstehen  haben.  Es 
handelt  sich,  wie  Zeller  ebenda  treffend  bemerkt,  um  die  Unterscheidung  eines 
«potentiellen»  und  «aktuellen»  Enthaltenseins.  Die  einzelnen  Stoffe  sind  im 
aireipov  potentiell  entlialten.  Nicht  ist  jenes  aus  diesen  aktuell  gemischt. 
Darum  gehen  sie  aktuell  erst  aus  ihm  hervor  durch  Ausscheidung. 

-  Siehe  S.  17,  besonders  Anm.  1,  das  Zitat  aus  Arist.  Phys.  111,  4,203  b. 

^  Arist.  Phys.  I,  4,187  a.  ol  b'  Ik  toO  ivöq  ivovoac,  Td?  ^vavtiÖTriTaq 
^KKpivecrdai,  löairep  'AvaEi|uavbp6^  (pr\ai  Kai  ööoi  b'  ev  koI  iroWd  qpaoiv  elvai, 
lüöTTep  'EjaueboKXfiq  koi  'AvaEaYÖpa^.  dK  toO  jntYiuaTo?  y«P  Kai  outoi  ^KKpi- 
vouai  ToWa. 

Wie  nun  dieses  Hervorgehen  sich  vollzieht,  und  wie  Anaximander  sich 
die  Entstehung  des  Kosmos  und  der  Welten  im  einzelnen  denkt,  das  zu  unter- 
suchen fällt  aus  unserem  engbegrenzten  Thema  heraus.  Es  gehört  in  die 
Darstellung  der  allgemeinen  Lehre  des  Anaximander  und  insbesondei-e  in  die- 
jenige seiner  Kosmologie.  Darüber  vgl.  man  besonders  P.  Natorj)  (PhiJos. 
Monatshefte  1884,  S.  368  ff.).  Über  das  Prinzip  und  die  Kosmologie  Anaximan- 
ders; auch  die  allgemeinen  historischen  Darstellungen  bei  Zeller,  a.  a.  0., 
S.  207  ff.,  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  40  f.,  Voriänder,  Gesch.  d.  Philos.  I,  S.  22. 
Von  älteren  Arbeiten  siehe  besonders  Schleiermacher,  Über  Anaximandros 
(S.  W.  III,  2,  S.  171  ff.),  Teichmüller,  Stud.  z.  Gesch.  d.  Begr.,  S.  31  ff.  und 
Gruppe,  Kosm.  Syst.  d.  Gr.,  S.  35  ff. 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniern.  21 

Einheitsgedanken,  aber  er  geht  in  fruchtbarer  und  ertrag- 
reicher Weise  über  ihn  hinaus.  Wenn  er  die  Unendhchkeit 
seines  Prinzips  fordert,  so  liegt  in  dieser  Forderung  der  logisch 
bedeutsame  Gedanke,  daß  sich  seine  dpxn  im  Wandel  des 
Geschehens  nicht  auflösen  dürfe,  sodaß  der  Gedanke  der 
Beharrlichkeit  im  Wechsel  des  Geschehens  in  explizite  ver- 
schärfter und  vertiefter  Form  zutage  tritt.  Weiter  aber  wird 
die  metakosmische  Funktion  des  UnendHchen  von  besonderer 
Bedeutung.  Wenn  diese  zunächst  auch  in  religiöser  Form  auf- 
tritt, so  macht  gerade  diese  die  Einsicht  deuthch,  daß  das  un- 
gewordene,  unzerstörliche  unendliche  Prinzip  als  Grundlage  der 
ganzen  erfahrbaren  Wirklichkeit  nicht  in  dieser  erfahrbaren  Wirk- 
lichkeit und  ihren  bestimmten  Gegenständen  zu  suchen  ist,  daß 
wir,  abstrakt  gesprochen,  die  Grundlage  der  Erfahrung  nicht 
selbst  auf  Erfahrung  begründen  können,  weil  das  ein  Zirkel  im  Er- 
klären wäre.  Die  ursprüngliche,  durch  Thaies  bereits  inaugurierte 
Hinwendung  zur  erfahrbaren  Wirklichkeit  wird  also  keineswegs 
aufgegeben.  Nur  wird  erkannt,  daß  deren  Grundlage  nicht  mit 
ihr  selbst  zusammenfällt.  Der  Zusammenhang  mit  ihr  wird 
gewahrt,  und  zwar  der  engste  Zusammenhang,  der  möglich  ist : 
der  der  Grundlegung.  Darum  hat  die  apxn  für  Anaximander 
die  Bedeutung,  alle  Dinge  der  erfahrbaren  Wirkhchkeit  zu  be- 
dingen, ohne  unter  diesen  selbst  angetroffen  werden  zu  können.^ 
Ebendeshalb  muß  sie  von  diesen  und  allen  bestimmten  Stoffen 
prinzipiell  verschieden  sein,  weil  sie  alle  erst  aus  ihr  hervor- 
gehen sollen.  Daß  in  diesem  Sinne  für  Anaximander  das  Un- 
endliche zur  Substanz  der  Wirklichkeit  und  deren  grundlegender 
Bedingung  wird,  das  ist  der  tiefste  logische  Ertrag,  den  sein 
Denken  am  Substanzbegriffe  zeitigt.  Wie  unvollkommen  darum 
auch  immer  der  Begriff  des  Unendlichen  als  solcher  gefaßt 
sein  mag,  so  ist  es  für  unser  Problem  doch  von  der  allergrößten 
Bedeutung,  daß  er  mit  jenem  Begriffe  nicht  nur  eine  vage 
Grenzenlosigkeit  überhaupt  fordert,  sondern  diese  darum  setzt, 
um  seinem  Prinzip  auch  die  ewige  Unerschöpflichkeit  des  ün- 
gewordenen  und  Unvergänglichen  zu  sichern,  wodurch  es  sich 

'  Vgl.  Windelband.  a.  a.  O.,  S.  28. 


;22  I.  Kapitel. 

als  das  Beharrliche  in  allem  Wechsel  allein   und  wirklich  aus- 
zuweisen vermag. 

3.  Bei  Anaximander  erreicht  das  begriffliche  Denken  also 
insofern  bereits  eine  sehr  bedeutsame  Höhe,  als  er  in  dem  der  An- 
schauung selbst  entrückten  Begriffe  des  Unendlichen  die  bleibende 
Grundlage  des  anschaulichen  Seins  zu  gewinnen  sucht.  Wenn 
darum  nun  Anaximenes  wieder  in  einem  bestimmten  Stoffe, 
nämlich  in  der  Luft,  die  dpxV  der  Dinge  erblickt,  so  erscheint 
das  zunächst  als  ein  Rückfall  in  die  Vorstellungsweise  des 
Thaies.  Wieder  scheint  doch  hier  ein  empirischer  Einzelstoff, 
wie  bei  jenem,  die  Funktion  des  beharrlichen  Substrates  der 
Dinge  übernehmen  zu  sollen.  Allein,  näher  besehen,  soll  wohl 
die  These  des  Anaximenes  eher  eine  Synthese  zwischen  Thaies 
und  Anaximander  sein.  Und  in  letzter  Linie  ist  das,  was 
Anaximenes  Luft  nennt,  doch  etwas  anderes  als  das,  was  man 
nicht  bloß  heute  in  wissenschaftlichem  Sinne,  sondern  auch  was 
man  selbst  auf  den  ersten  Anfängen  der  philosophischen  Be- 
sinnung im  Altertum  schon  unter  Luft  verstand.-  Denn  nicht 
allein  legt  Anaximenes  seiner  Luft  das  von  Anaximander  über- 


'  Arist.  Met.  I,  3,984  a. 

-  Zeller,  a.  a.  0.,  I,  S.  rJ20  macht  dagegen  und  auch  gegen  die  Auffassung 
von  Rittei",  Geschichte  der  Philosophie  I,  S,  217  und  Brandis,  Handbuch  der 
Geschichte  der  griechisch-römischen  Philosophie  I,  S.  144  unter  Berufung  auf 
Hippel.  Ref.  I,  217  zwar  geltend,  daß  nach  A.  die  Luft  «im  reinen  Zustande 
unsichtbar,  und  nur  durch  die  Empfindung  ihrer  Kälte,  Wärme,  Feuchtigkeit 
und  Bewegung  wahrnehmbar»  sei,  und  daß  das  «ja  aber  vollkommen  auf  die 
uns  umgebende  Luft  passe».  Allein  darum  paßt  doch,  wenn  auch  einiges  auf 
diese  paßt,  doch  noch  nicht  alles  auf  sie,  was  A.  von  seiner  6pxn-Luft  be- 
hauptet. Die  Attribute  der  Unendlichkeit,  der  Allumfassenheit,  der  seelischen 
Eigentümlichkeit  unterscheiden  A.s  Prinzip  doch  ganz  erheblich  von  unserer 
empirischen  atmosphärischen  Luft.  Nun  ist  ja  freilich  nicht  anzunehmen,  daß 
er  neben  der  empirischen  Luft  noch  eine  besondere  metaphysische  Luft 
gesetzt  hätte.  Allein  um  die  Luft  zur  bleibenden  Grundlage  der  Dinge  zu 
machen,  mußte  er  sie  mit  Oberempirischen,  d.  i.  für  ihn  metaphysischen  Prä- 
dikaten aus.statten.  Zellers  Argument  beweist  also  gegen  Ritter  und  Brandis 
nur  die  Unangängigkeit  der  Annahme  einer  gleichsam  zweifachen  fjuft,  aber 
nicht  die  Ununterschiedenheit  des  Anaximenes.schen  Prinzips  von  der  «uns 
umgebenden  Luft». 


Die  Anfänge  der  Naturphilosopliie  hei  den  loniern.  2n 

nommene  Prädikat  der  Unendlichkeit  bei.^  Vielmehr  setzt  er 
auch  seine  Luft  in  Parallele  zur  Seele:  Wie  die  Seele  Luft 
ist,  und  wie  diese  uns  zusammenhält,  so  wird  auch  die  Welt 
und  das  All  von  der  Luft  umfaßt.^  Die  Luft  wird  so  zum  allum- 
fassenden Weltprinzip,  bei  dem  man  in  der  Tat  an  eine  Art 
von  Weltseele,  die  aus  sich  heraus  zugleich  weltschöpferisch 
ist,  denken  könnte.^ 

Was  ihn  aber  veranlaßte,  der  Luft  diese  entschieden  über- 
empirische Bedeutung  beizulegen,  das  ist  die  für  das  Substanz- 
problem bemerkenswerte  Überlegung,  daß  die  Luft  sich  wegen 
ihrer  leichten  Veränderbarkeit  und  Wandelbarkeit^  besonders  als 


'  Arist.  Phys.  III,  4,!2031);  vgl.  auch  de  caelo  III,  5,304  a/b  und  besonders 
klar  Simpl.  Phys.  24  ...  fiiav  indv  Kai  aÖTÖq  rr]v  üuoKeiiii^vriv  qpüöiv  Kai 
äueipov  cpvow  üjOTrep  ^KeTvoi;  (seil.  'Avati|uavbpO(;)  .  .  . 

'•*  Fr.  2  (Diels  Fragmeute  der  Vorsokratiker,  S.  21 ;  vgl.  Plut.  a.  a.  0. 
I,  3,6  und  Stob.  a.  a.  O.  I,  296).  oiov  i'i  vjjuxr)  f]  iqiaeTepa  dnp  oucia  ouYKparei 
r]|uäq,  Kttl  8\ov  TÖv  kÖ(J]uov  uveöiaa  koi  drip  Tiepiexei. 

■'  Anaximenes  darum  aber,  wie  Roth  (Geschichte  der  abendländischen 
Philosophie  II,  S.  2.50  ff.)  will,  zum  ersten  Vertreter  des  Spiritualismus  zu 
machen,  das  geht,  wie  Zeller,  a.  a.  0.,  I,  S.  22  richtig  bemerkt,  nicht  an.  Da- 
gegen scheint  es  nicht  so  unannehmbar,  wie  Zeller  meint,  daß  Anaximenes 
sein  Prinzip  als  göttüches  angesehen  habe.  Cic.  de  nat.  de.  I,  10,26  ist  freilich 
in  diesem  Punkte  für  Anaximenes  ebensowenig  ein  entscheidendes  Zeugnis, 
wie  früher  (s.  S.  13  Anm.  2),  I,  10,25,  für  Thaies.  Allein  hisloi'isch  wäre  eine 
solche  Ansicht  des  Anaximenes  wohl  verständlich,  sowohl  nach  rückwärts,  d.  h. 
nach  dem  Vorgang  Anaximanders,  sofern  dieser  sein  ötTTeipov  dem  öeiov 
gleichsetzte,  wie  nach  vorwärts,  wo  es  doch  bezeichnend  ist,  daß  von  einem 
späteren  Fortbildner  des  Anaximenes,  von  Diogenes  von  Apollonia,  der  Luft 
vernünftiges  Denken  beigelegt  wird.  —  Diese  Vernunftbestimmung  wird,  wenn- 
gleich nicht  gerade  bei  Diogenes  v.  A.  selbst  (über  diesen  vgl.  P.  Natorp, 
Rhein.  Mus.  1886,  S.  348  ff.)  später  auch  für  das  Substanzproblem  in  hervor- 
ragender Weise  von  Bedeutung.  —  Sachlich  nun  würde  eine  solche  Annahme 
des  Anaximenes  auch  die  Parallelisierung  der  Luft  mit  der  Seele  in  gewisser 
Weise  selbst  nahe  legen.  Und  wenn  er  nach  Hippol.  Ref.  I,  7  auch  Götter 
und  überhaupt  Göttliches  aus  seinem  Prinzip  hervorgehen  lassen  konnte,  so 
drängt  sich  der  Gedanke  der  Götthchkeit  des  Prinzips  selbst  ebenfalls  auf. 
Mögen  wir  immerhin  in  diesem  Punkte  bei  Anaximenes  noch  nicht  über  Ver- 
mutungen hinauskommen,  so  dürfen  diese  doch  nicht  ohne  weiteres  ab- 
geschnitten werden;  vgl.  dazu  auch  Tannery  Anax.  et  l'unite  de  substance 
(Rev.  philos.  1883,  S.  621). 

*  Simpl.  Seh ol.  in  ArisL.,  5!4a.  .  .  .  o(ö|Lievo^  lipKeiv  tö  toO  d^poc;  eüa\- 
XoüuTov  itpöq  jaeTaßoXrjv. 


24  1.  Kapitel. 

Grundlage  aller  Diuge  eigne  und  denken  lasse,  indem  sie  auch 
immer  in  Bewegung  ist.^  Wie  nun  Anaximenes  sich  im  Ein- 
zelnen das  Hervorgehen  der  Dinge  aus  der  Luft  denkt  — 
Verdünnung  und  Verdichtung  und  auf  ihnen  beruhende  Er- 
wärmung und  Abkühlung  werden  für  ihn  die  ding-  und  welt- 
bildenden Faktoren-  —  das  gehört  nicht  in  unseren  Zusammen- 
hang, sondern  wäre  Gegenstand  der  allgemeinen  Geschichte  der 
Philosophie  bezw.  im  speziellen  auch  der  Kosmologie.  Für  unser 
Problem  aber  ist  es  auch  hier  von  Bedeutung,  daß  das  blei- 
bende Substrat  der  Dinge  gerade  mit  Rücksicht  auf  seine  Ver- 
änderlichkeit zu  ermitteln  gesucht  wird.  Und  wenn  den  Be- 
stimmungen Anaximanders  gegenüber  auch  der  positive  Ertrag 
dieser  Anschauungsweise  gering  erscheinen  mag  und  sich  an 
Eigenbedeutung  mit  jenen  vielleicht  nicht  vergleichen  lassen 
darf,  so  wird  sich,  was  sieh  auf  den  ersten  Blick  vielleicht  als 
ein  Rückfall  in  die  Denkweise  des  Thaies  darstellt,  genauerer 
Prüfung  doch  als  etwas  anderes  enthüllen.  Ja,  gerade  unser 
spezielles  Problem  kann  es  deutlich  machen,  daß  sich  hinter 
jener  scheinbaren  Rückständigkeit  ein  ganz  guter  logischer  Sinn 
verbirgt.  Indem  ein  Stoff,  der  zunächst  in  der  Tat  nur  ein 
bestimmter  empirischer  ist,  mit  den  Mitteln  des  Anaximander 
sodann  aber  eine  metaphysische  Erweiterung  und  Umbildung 
erfährt,  liegt  hier  in  dem  Substanzgedanken  des  Anaximenes 
nicht  nur  rein  historisch  eine  Synthese  zwischen  Thaies  und 
Anaximander  vor,  sondern  zugleich  auch  logisch  ein,  wenn 
auch  mit  untauglichen  Mitteln  unternommener  Versuch,  nicht 
bloß  den  Wechsel  der  Erscheinungen  in  einem  bleibenden  durch 
das  reine  Denken  gesuchten  Prinzip  überhaupt  zu  begründen, 
sondern  die  Begründung  so  zu  führen,  daß  sich  auch  umge- 
kehrt das  im  reinen  Denken  gesuchte  Bleibende  an  der  an- 
schaulichen Tatsächlich keit  bewahrheite. 

4.  Bedeutsamer  aber  als  alle  bisher  besprochenen  Denker 
ist  gerade  für  das  Substanzproblem  Heraklit.  Und  wenn  wir 
dafür  auch  nicht  von  allen  Einzelheiten  seiner  Lehre  und  deren 


*  Hippol.  a.  a.  0.  ebenda.     Kivelööai  hi  Kai  äei  •  oü  fäp  jaeTußäWtiv  öaa 
|Li£Taßd\\€i,  ei  ,ur)  kivoito. 

''  Arist.  Phys.  I,  i,  187  a  vgl.  Plut.  Strom  3  (üiels,  Vorsokr.  1,  18). 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  louiern.  25 

Gesamtumfange^  eine  gleiche  Förderung  erhalten,  so  liegt  eine 
solche  gerade  in  seinen  bedeutendsten  Grundbegriffen  vor,  auf 
die  also  unsere  spezielle  Untersuchung  zugleich  angewiesen 
wie  beschränkt  ist:  Wenn  HerakUt  lehrt,  daß  alles  in  Bewegung'^, 
in  stetigem  Fortgang  sei  und  nichts  bleibe-',  in  stetiger  Bewegung 
fließe"*,  sodaß  alles  einem  Flusse  vergleichbar  sei  und  daß  man 
nicht  zweimal  in  denselben  Fluß  steigen  könne",  so  erscheint 
hier  geradezu  das  Problem  der  Substanz  in  dem  Verhältnis  von 
Bleiben  und  Wechseln  formuliert,  gerade  indem  scheinbar  die 
Substanz  mit  dem  Bleiben  geleugnet  und  allein  der  Wechsel 
behauptet  wird.  Das  gerade  ist  das  Paradoxe  der  Heraklitischen 
Lehre,  daß  sie  in  der  Tat  die  Substanz  zum  Problem  macht, 
indem  sie  sie  scheinbar  leugnet.  Und  merkwürdig  genug  gerade 
in  Verbindung  mit  diesem  Fundamente  des  Heraklitischen 
Denkens  begegnet  uns  auch  das  Wort  ouaia  in  der  Bedeutung 
der  Substanz.  Möchte  selbst  dieses  Wort  der  Überlieferung  an- 
gehören —  und  das  ist  wahrscheinlich  —  so  ist  es  doch  immer- 


^  Darüber  sehe  man  außer  den  allgemeinen  historischen  Darstellungen 
von  Hegel,  Gesch.  d.  Philos.  I,  S.  305  ff.,  Zeller,  a.  a.  0. 1,  S.  560 ff.,  Windel- 
band, a.  a.  0.,  S.  30  ff.  und  S.  41  ff.  noch  besonders  die  Spezialdarstellungen 
der  Heraklitischen  Lehre  von  Schleier m acher,  Herakleitos  der  Dunkle, 
S.  W.  HI,  2,  S.  1  ff..  Lassalle,  Die  Philosophie  Herakleitos  des  Dunklen  von 
Ephesos,  Bernays,  Ges.  Abhandlungen  (HeracHtea  und  Herakl.  Stud.). 
Schuster,  Heraklit  von  Ephesos,  Teichmüller,  Herakleitos,  in  Neue  Stud. 
z.  Gesch.  d.  Begr.,  Heft  I,  und  H.  als  Theol.,  Heft  H  d.  n.  Stud.,  M.  Wundt, 
Die  Philosophie  des  Heraklit  von  Ephesus  im  Zusammenhange  mit  der  Kultur 
loniens  (Arch.  für  Gesch.  d.  Philos.  1907,  S.  4,32  ff.).  Speziell  über  die  Hera- 
klitische  Logoslehre,  die  uns  hier  auch  zu  beschäftigen  hat,  vgl.  M.  Heinze, 
Die  Lehre  vom  Logos  in  der  griech.  Phil.,  S.  1  ff.,  Aall,  Gesch.  der  Logosidee 
in  der  griech.  Philos,  und  christl.  Lit.  und  der  Logos  bei  Heraklit.  Zeitschr. 
f.  Philos.  und  philos.  Krit.  1895,  S.  217  ff. 

^  Arist.  de  an.  I,  2,405  a.  dv  Kivqaei  b'  elvai  tu  övxa;  v.nl.  Phys. 
Vm,  3,253  b. 

^>  Piaton,  Kratyl.  401  d.     ...  tu  övxa  ievai  xe  ndvxa  Kai  ju^veiv  oitbiv. 

^  Piaton,  Theait.  160 d.  .  .  .  oiov  peüjuaxi  KiveiaSm  xü  Tiävxa;  vergl.  auch 
181b. 

^  Piaton,  Kratyl.  402  a.  Aljex  ttou  'HpdKkfVioc;,  öxi  ■trdvxa  x^J^P^^  ^ai 
oüb^v  lu^vei,  Kai  iroxaLioO  f)ofii  ÜTteiKdlujv  xä  ovxa  \i'f€\,  ihq  Mc;  ^i;  xöv  aüxöv 
TTOxa|aöv  oÜK  av  ^|ußabi^;  vgl.  Arist.  Met.  HI,  5,1010 a  genau  ebensu  ...  öxi 
biq  xu)i  ouxuii  Troxa|uu)i  oük  ^axiv  ^laßfivai. 


26  1.  Kapitel. 

hin  bezeichnend,  daß  diese  es  als  ein  Bestandstück  der  Hera- 
kh tischen  Lehre  aufweist,  man  könne  «nach  Heraklit  nicht  zwei- 
mal eine  ihrer  Beschaffenheit  nach  identische  vergängliche  Sub- 
stanz berühren»^;  und  wenn  das  nicht  auch  dem  Buchstaben 
nach  Heraklitisch  sein  sollte,  dem  Geiste  nach  ist  es  doch  echt 
Herakhtisch.  In  dem  Kern  der  Lehre  Heraklits  verbirgt  sich 
eine  gedankliche  Tiefe,  die  sie  seiner  Zeit  und  lange  auch  der 
Zeit  nach  ihm  «dunkel»  erscheinen  ließ.  Der  Schein  aber  ent- 
steht allein  daraus,  daß  Heraklit  sich  bereits  in  den  lichten 
Höhen  des  reinen  Denkens  bewegt.  In  der  Tat  muß  es  dem 
naiven  Denken  nicht  nur  schwer  faßlich,  sondern  auch  in  seiner 
Schwierigkeit  unauflöslich  erscheinen,  wenn  nichts  bleiben, 
sondern  alles  wechseln  soll.  Denn  wenn  alles  Bleiben  aufge- 
hoben erscheint,  erscheint  auch  alles  Sein  aufgehoben.  Und 
dennoch,  wenn  alles  wechseln  soll,  so  muß  doch  der  Wechsel 
selber  sein  und  bleiben.  Bleiben  und  Sein  scheinen  auf  der 
einen  Seite  im  Wechsel  und  Werden  aufgehoben,  auf  der  anderen 
Seite  scheinen  Sein  und  Bleiben  gerade  durch  Werden  und 
Wechsel  gesetzt.  Das  ist  in  der  Tat  der  große  Impuls  ge- 
waltiger Dialektik^,  der  das  Denken  Heraklits  bewegt,  und  ver- 

•  Plut.  de  Ei  ap.  Delph.  XVIII,  b.  (Diels,  Fragin.  d.  Vors.  I,  S.  75,  fr.  Ol, 
dem  ich  mit  Absicht  aus  Gründen  der  Objektivität  auch  die  obige  Übersetzung 
entnommen  habe),  ttotoiliüji  YÖtp  oök  lan  ^yßf|vai  b\q  toji  oOtuii  Kod' 
"HpdKXeiTov  oübfe  dviiTfn;  ovaiac,  bii;  a\\io.obm  kotu  eEiv.  Auch  ich  möchte 
also  nicht  damit  behaupten,  datj  diese  Worte  bei  Plut.  schon  Heraklits  eigene 
Worte  seien.  Zeller  deutet  mit  K.  Schuster,  a.  a.  0.,  S.  91,  richtig  auf  die 
.Schwierigkeit  des  'KaTÖ  ?Exv'  hin  und  meint  «von  övriTK)  oOoia  hat  Heraklit 
schwerlich  gesprochen»  (a.  a.  0.  I,  S.  .^76).  Wenn  niclit  überliaupt,  so  scheint 
mir  doch  zum  mindesten  in  der  Bedeutung  der  Substanz  die  oööia  späteren 
Ursprungs,  wenn  ich  mir  darüber  überhaupt  ein  Urteil  erlauben  darf.  Sicher 
aber  möchte  ich  in  dem  'koö'  'HpÖKXeiTov'  einen  Hinweis  darauf  sehen,  dafi 
es  sich  Plut.  mehr  um  ein  Referieren  als  um  ein  Zitieren  handelt,  wenn  auch 
andererseits  freilich  in  dem  ävpaa^ai  die  ganze  echt  Heraklitische  Kritik  des 
bloß  «Greifbaren»  gleichsam  selbst  anschaulich  greifbar  zutage  tritt.  Wie 
man  sich  aber  auch  immer  zum  bloßen  Worte  stelle,  der  Gedanke,  der  nach 
Heraklit  ja  im  Worte  lebt,  ist  sicher  echt  und  ursprünglich  heraklitisch,  wie 
ja  auch  Zeller  gegen  Schuster  nicht  bestreitet. 

-  Aus  dein  dialektischen  Grundmotiv  Heraklits  erklärt  sich  auch  die 
übrigens  wohl  verdiente  Hochschätzung,   die  dieser  Denker  bei  Hegel,   Gesch. 


Die  Antäiit-e  der  Naturphilosophie  bei  den  loniorn.  27 

möge  dessen  er  auch  die  Grundantinomie  aller  Welterkenntnis 
stellt  und  —  wenigstens  im  Prinzip  —  schon  auflöst,  daß  in 
der  Setzung  von  Werden  und  Wechsel  bereits  Sein  und  Bleiben 
im  Sein  und  Bleiben  des  Wechsels  mitgesetzt  ist. 

Die  Auflösung  aber  wird  bedingt  durch  die  scharfe  Unter- 
scheidung zwischen  Sinnen-  und  Vernunfterkenntnis  und  das 
Wertverhältnis,  in  das  beide  zueinander  gebracht  werden,  wo- 
nach die  sinnliche  Erkenntnis  als  unzuverlässig,  die  Vernuuft- 
erkenntnis  als  Kriterium  und  Bürge  der  Wahrheit  erkannt  wird.^ 
Die  Sinne  gelten  ihm  als  «schlechte  Bürgen. »^  Die  Sinnendinge 
«foppen»  den  Menschen^,  sie  wechseln  beständig,  und  ebendarum 

d.  Philos.  1,  S.  305  ff.  findet.  Auch  Lassalle  hat,  um  das  schon  hier  zu  bemerken, 
a.  a.  0.  II,  S.  49  das  dialektische  Moment  trefiend  bezeichnet.  Wenn  er  freilich 
von  der  Identität  der  logischen  Gegensätze  im  Sinne  der  «Einheit  des  Seins 
und  Nichtseins»  a.  a.  0.,  1,  S.  361  und  II,  S.  6  f.  .spricht,  so  ist  das  eine  Um- 
biegung  und  Vergewaltigung  im  Sinne  Hegels.  Die  dialektischen  Tendenzen 
bei  Heraklit  sind  aber  trotzdem  vorhanden,  nur  in  anderer  Art  als  bei  Hegel. 
Sie  liegen  nicht  in  dem  Verhältnis  von  Sein  und  Nichtsein,  wie  Lassalle  sagt, 
sondern,  wie  oben  im  Text  bereits  angedeutet  und  bald  noch  weiter  auszuführen 
ist,  in  d-em  von  Sein  und  Werden,  von  Bleiben  und  Wechsel.  Wenn  Lassalle 
hier  also  auch  nicht  ohne  eine  gewisse  Willkür  verfährt,  so  enthalten  seine 
Ausführungen  doch  einen  durchaus  berechtigten  Kern  und  bleiben  nicht  etwa 
bloß  gei.stvoll,  sondern  auch  wissenschaftlich  wertvoll  und  lehrreich,  wenn  man 
von  seiner  hegelisierenden  Einseitigkeit  absieht.  Sie,  wie  Zeller  das  will,  ein- 
fach als  «wortreich  und  weitschweifig»  (a  a.  0.,  I,  S.  591)  abzutun,  dürfte  also 
doch  nicht  gerecht  sein.  —  Die  etwas  zurückhaltende  Polemik  von  Arist. 
Met.  III,  3,1055  b,  daß  Heraklit  das  Widerspruchsgesetz  aufhöbe,  ist  in  dieser 
Hinsicht  lehrreich.  Und  wenn  Aristoteles  den  Heraklit  nicht  trifft,  so  geschieht 
es  nicht  aus  dem  von  Zeller,  a.  a.  0.,  I,  S.  601  angegebenen  und  von  Heinze, 
a.  a.  0.,  S.  13  akzeptiei'ten  Grunde,  weil  er  nicht  behauptet  hätte,  «entgegen- 
gesetzte Bestimmungen  können  demselben  Subjekt  nicht  bloß  gleichzeitig, 
sondern  auch  in  der  gleichen  Beziehung  zukommen»,  sondern  deshalb,  weil  es 
sich  für  Herakht  gar  nicht  um  das  bloß  formale  Widerspruchsgesetz,  sondern 
um  inhaltliche  logische  Entwicklung  handelt. 

^  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  126.  6  bi  'HpdKXeixoi;,  i-ad  iräXiv  ibÖK(.i 
buaiv  lüpYövojööai  6  ävOpujTTOi;  irpöq  rr]v  ■zf]q  ä\r\Qe[aq  yvojaiv,  maörjaei  xe 
Kai  Xö^uJi,  TOÜTuuv  Triv  |udv  aiaörjOiv  Trupa-rrXriöiuj«;  roic;  iTpoeipri|u^voi<;  (puaiKOi«; 
ÜTtiöTov  eivai  vevöpiicev,  xöv  be  Xöfov  ÖTroTidexai  Kpixripiov.    Vgl.  ebenda  127, 

-  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  126  (Diels,  fr.  107).  KaKoi  ludpxupeq  dvöpii)- 
TTOioiv  öqpöaXpoi  Kai  ujxa  ßapßdpouc;  u^uxü«;  exövxiuv. 

*  Hippol.  Ref.  IX,  9  (Diels.  fr.  56)  dEriTrdxnvxai.  cptiaiv,  oi  uvv>pa)Troi  irpoq 
xnv  f\wa\v  xüJv  qpavepuJv. 


28  1.  Kapitel. 

ist  über  sie  keine  Erkenntnis  möglich.^  Es  ist  schon  charakte- 
ristisch, daß  gerade  der  Wechsel  der  Sinnendinge  mit  deren  Unzu- 
längHchkeit  zur  Erkenntnis  in  Verbindung  gebracht  wird.  Das  ist 
bedeutsam,  um  später  das  Verständnis  für  den  ganzen  Zu- 
sammenhang von  Sein  und  Werden,  Bleiben  und  Wechsel  er- 
schließen zu  helfen.  Der  Schwäche  und  Unzulänghchkeit  der 
Sinnlichkeit  aber  tritt  als  größter  Vorzug  das  vernünftige  Denken 
gegenüber^,  das  allen  gemeinsam  ist-'  und  durch  das  wir  teil- 
haben an  der  allgemeinsamen  Vernunft,  dem  Logos  als  dem 
Kriterium  der  Wahrheit,  der  durch  seine  Allgemeiusamkeit  der 
beschränkten  Einzelansicht  als  göttliche  Vernunft  gegenüber- 
steht, durch  deren  Teilhaben  wir  selbst  erst  vernünftig  werden.* 
Denn  der  Logos  ist  der  Seele  eigen."  Ihm  zu  folgen  ist  Pflicht. 
Er  ist  allen  gemeinsam,  obschon  «die  meisten  so  leben,  als  ob 
sie  eine  eigene  Einsicht  hätten.»*'  Zeller',  und  fast  w^örtlich 
ebenso  Heinze^  bemerken  zu  dieser  Stelle  richtig:  «dem  Koivo(g 
Xoyoq  tritt  entgegen  ibia  qppovricriq»  und  Zeller  erläutert,  «als  ob 
sie  in  ihren  Meinungen  eine  Privat  Vernunft  hätten.»^  Das 
trifft  durchaus  zu.  Das  Bedeutsame  ist  aber  doch  wohl  das, 
daß  Heraklit  eben  die  liebe  eigene  Meinung,  auf  die  die  meisten 
so  pochen,  für  nichts  erachtet.  Der  Unterschied  der  objektiven 
Erkenntnis  und  der  subjektiven  Ansicht  wird  deutlich.  Darum 
fällt    von  hier  erst  das  rechte  Licht  auf  den   Gegensatz    von 

*  Arisl.  Met.  1,  6,987  a.  .  . .  'HpaKXeireioK;  böEai;  wc,  üirdvTUJv  tüjv  ai- 
oötiTUJv  dei  ^eövTUJV  Kai  eTtiOTriiuri^  Trepi  aÜTiiJv  ouk  o\ia)-\q  .  .  .;  vjil.  Pliyp. 
III,  -AßbZh. 

-  Stoli.  Flor.  III,  84  (Diels,  fr.  llii)  tö  9poveiv  dperrj  ^eYiötn  .  .  . 

■'  Ebenda  (Diels,  fr.  113)  Euvöv  iaii  Ttäöi  to  qjpoveiv. 

■*  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  127.  töv  bi  Xo^ov  Kpixtiv  Tf\c,  dXrjöeia? 
äiroqpaivexai  oö  töv  öitoiovbnTioTe,  öXXu  töv  koivöv  Kai  öeiov;  vgl.  131  toötov 
hi]  KOIVÖV  XÖYOv  Kai  Oeiov  Kai  ou  kotü  ^lexoxnv  -f'vöiaeOa  Xoyikoi.  KpiTr'ipiov 
äXriöeiac;  cpriöiv  ö  'HpÖKXeiTot;. 

*  Stob.  Flor.  III,  8.5  (Diels,  Fr.  115)  v}juxn<;  ^öti  Kö-joc,  iamöv  auEuuv. 

6  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  133  (Diels,  Fr.  2).  biö  bei  ^TreaOai  TiJüi 
Koivüji  ■  Euvöq  Y^P  ö  Koivöq.  ToO  Xöyou  bi  ^övxoq  SuvoO  oi  iroXXoi  tljq  ibiav 
^X0VT6(;  9pövriaiv  .... 

7  Zeller  a.  a.  O.  J,  S.  007. 

*  Heinze  a.  a.  O..  S.  55. 
»  Zeller  ebenda. 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  hei  den  loniern.  29 

ai(T&)-|(jiq  und  XoYoq.  Indem  die  wahre  Einsicht  erst  aus  dem 
'Köyoc,  tiießt,  bleibt  in  der  «eigenen  Einsicht»,  die  nicht  in  der 
allgemeinsamen  wurzelt,  von  «Einsicht»  nichts,  und  alles  bleibt 
«eigen».  Dem  einzelnen  Subjekt  gegenüber  bedeutet  der  Logos 
das  allgemeine  Einheitsprinzip  der  Erkenntnis,  auf  das  der  Ein- 
zelne erst  sich  zu  gründen  hat,  wenn  er  selbst  Erkenntnis  er- 
langen will,  eine  allgemeine  Instanz,  zu  der  das  einzelne  Sub- 
jekt sich  erheben  und  erweitern  muß,  wenn  es  aus  seiner  sub- 
jektiv beschränkten  «Eigenheit»  heraustreten  und  seiner  Meinung 
einen  Wert  geben  will,  der  eben  die  Meinung  zum  Wissen  er- 
höht. 

Wie  immer  auch  die  Wahrnehmungsgegenstände  wechseln 
und  die  Sinnlichkeit  mit  ihrer  Subjektivität  in  jenen  keine 
bleibende  Einheit  und  Erkenntnis  zu  ergreifen  vermag,  so  er- 
kennt man  durch  den  allgemeinen  Logos,  wenn  man  nur  auf 
ihn,  nicht  aber  auf  ein  einzelnes  Subjekt  hört,  doch  gerade, 
daß  Alles  Eins  ist,^  aus  Allem  Eines,  Eines  aus  Allem  ist^.  Wie 
der  Logos  also  zunächst  Prinzip  der  Allgemeinheit  und  Einheit 
der  Erkenntnis  überhaupt  ist,  so  wird  er  zugleich  zum  Prinzip 
der  Erkenntnis  der  Einheit  des  Seins,  um  endlich  zum  Prinzip 
der  Einheit  des  Seins  schlechthin  zu  werden.  Die  Schwierig- 
keit, daß  die  Sinne  uns  ein  Bleiben  vortäuschen,  daß  es  trotz- 
dem aber  gerade  die  Sinnenwelt  ist,  die  da  wechselt,  daß  die 
Welt  der  Dinge,  die  sich  den  Sinnen  darbietet,  nicht  beharrt, 
löst  die  Vernunft:  Die  Welt  der  Sinne  ist  in  beständigem 
Wechsel,   auch   wenn  uns   gerade   die  Sinne    ein  Bleiben  vor- 


'  Hippol.  Ref.  IX.  9  (Diels,  Fragm.  I,  S.  69,  Fr.  50)  oük  ^hoO,  äWä  toö 
XÖYOU  oiKOÜaavTa?  öf-ioXoTeiv  öoqpöv  ^otiv  ev  ucivTa  eivai.  Ich  lese  hier  mit 
der  Oxforder  Hippolyt-Ausgahe  und  mit  Diels'  Ausgabe  der  Fragmente  das  letzte 
Wort  eTvm,  was  auch  Lassalle,  a.  a.  0.  I,  S.  339,  annimmt,  nicht  mit  Zeller, 
a.  a.  0. 1,  S.  610,  und  Heinze,  a.  a.  0.,  S.  30  ff.,  eTbevm.  Gerade  weil,  wie  Zeller 
hier  bemerkt,  mit  dem  eib^vai  dem  Kö^oc.  gegenüber  nichts  Neues  gesagt 
würde,  vor  allem  weil  es  sich  auch  im  weiteren  Zusammenhange  dieser  Stelle 
bei  Hippolyt  nicht  mehr  allein  um  das  Wissen,  sondern  auch  um  das  Sein 
handelt,  scheint  mir  die  von  Miller  vorgeschlagene,  schon  von  Lassalle  und 
nun  auch  von  Diels  angenommene  Lesart  die  richtige  zu  sein. 

^  Arist.  de  mundo  V,  396  b.  kuI  ^k  TrdvTuuv  ev,  Kai  il  evöq  ndvTa.  Vgl. 
Sext.  Emp.  Hyp.  Pyrrh.  II,  59. 


30  1.  Kiipitol. 

täuschen.  Die  Diuge  der  Sinnenwelt  wandeln  sich  beständig. 
Sie  sind  das  Wechselnde,  das  nicht  bleibt.  Der  Wechsel  selbst 
aber  bleibt.  Ihn  lehrt  uns  die  Vernunft  kennen  und  so  den 
Wechsel  vom  Wechselnden  unterscheiden,  um  in  dem  selbst 
nicht  wechselnden  Wechsel  auch  das  einheithch  Bleibende  und 
ein  Bleiben  schlechthin  und  das  wahrhafte  Sein  zu  erkennen, 
vom  Vergänglichen,  vom  Schein  der  aTcr^ncTK;  zu  unterscheiden. 
Die  Dinge  der  Sinnenwelt  sind  das  Wechselnde  und  ihr  Bleiben 
ist  selbst  nur  Schein.  Die  Vernunft  durchschaut  den  Schein 
und  erkennt  hinter  den  scheinbar  beharrlichen,  in  Wahrheit 
aber  wechselnden  Sinnendingen  als  einzig  wandel-  und  wechsel- 
los den  Wechsel  selbst.  Der  Welt  des  Sinnenscheins,  die  uns 
ein  Bleiben  vorspiegelt,  in  der  in  Wahrheit  aber  nichts  bleibt, 
tritt  die  Welt  des  wahren  Seins  gegenüber,  die  uns  kein  Bleiben 
vortäuscht,  in  der  wir  aber  durch  die  Vernunft  im  Wechsel 
selber  das  wahre  und  ewige  Sein  und  Bleiben  erkennen.  Denn 
was  da  immer  war,  ist  und  sein  wird,  das  ist  ein  ewig  lebendiges 
Feuer,  nach  Maßen  entglimmend,  nach  Maßen  verlöschend.^ 
Es  ist  das  ewig  Lebendige  und  darum  immer  Bleibende,  das 
in  alles  übergeht,  und  in  das  alles  übergeht,  das  sich  umsetzt 
in  die  Dinge.und  die  Dinge  in  sich,  wie  das  Gold  in  die  Waren, 
die  Waren  in  Gold.^  Es  bleibt  immer  ein  Eines,  sich  selbst 
gleich  (töv  auTÖv),  das  alles  ist  (ev  rrdvia  eivai),  trotzdem  es  in 
alles  übergeht,  verwandelt  sich  nicht  bloß  wie  das  Wasser  bei 
Thaies  und  die  Luft  bei  Anaximenes  in  andere  Stoffe,  die  eben 
dann  nicht  mehr  Wasser  oder  Luft  sind,  und  der  Rückver- 
wandlung bedürfen,  um  Wasser  oder  Luft  zu  werden,  sondern  es 
bleibt  Feuer,  kann  darum  auch  kein  bestimmter  Stoff  sein,  da 
ein  bestimmter  Stoff  doch  nicht  auch  ein  anderer  als  er  selbst 
sein,  d.  h.  in  der  Verwandlung  bleiben  kann,^  sondern  muß  den 

^  Clem.  Strom.  V,  599  b  (Diels,  a.  a.  0.  I,  S.  66.  fr.  :W)  ^v  dei  Kai  eaxiv 
Kai  eaxai  -rrOp  deiZuuov,  äirxöiaevov  lui^rpa  Kai  äiToaTTevvü|Lievov  ju^rpa. 

-  Plut.  De  Ei  ap.  Delph.  VIII,  E.  (Diels,  a.  a.  0.  I,  ö.  75,  fr.  '.)())  nupöq  re 
dvTaiaoißn  Td  irdvTa  Kai  frOp  ditdvnjuv,  ÖKUuöTrep  XPUUoO  xP'lf^ara  Kai  XPIM«- 
Tujv  xp'J<JÖ(;. 

'  Sext.  Emp.  Hyp.  Pyrrh.  III,  116  oub^v  dpa  oüj^a  la^vei.  Es  wäre  die 
^:chlimmste  und  buchstäblichste  Anwendung  des  Rezeptes,  daß  man,  um 
etwas  Lebendiges    zu    erkennen  und    zu    beschreiben,   erst   den  Geist   heraus- 


Die  Anfänge  der  Nalurpliilosopiiie  hei  (icu   loniern.  31 

ewigen  Weltprozeß,  den  Kosmos  selbst  bedeuten,  den  kein  Gott 
und  kein  Mensch  je  erschaffen  haben  kann  und  der  immer  in  sich 
einheitlich  und  derselbe  bleibt\  aus  dem  alles,  was  im  einzelnen 
wird,  eben  wird^  und  Dasein  und  Leben  empfängt.  Es  ist  das 
ewig  Fließende  selbst  und  kann  ebendarum  nicht  stofflich  kör- 
perlich sein.  Vielmehr  muß  es  eher  seelisch  sein,  nicht  seelisch- 
dinglich, sondern  seelisch-prozessual,  Lebensodem  aller  Dinget 

zutreiben  habe,  wollte  man  mit  einigen  Interpreten  das  Heraklitisehe  Feuer 
stofflich  fassen.  In  der  Tat  müßte  hier  wirklich  der  Logos,  der  ja  dem  «ewig- 
lebendigen Feuer»,  wie  wir  sehen  werden,  immanent  sein  soll,  erst  dui'ch  die 
Interpretation  «herausgetrieben»  werden.  Eine  derartig  grob-stoffliche  Auf- 
fassung müßte  einem  schon  der  Respekt  vor  dem  Genius  Heraklits  verbieten. 
Und  wie  U.  v.  Wilamowitz  (Hermes  34.20.5)  mit  Bezug  auf  eine  Deutung  des 
Verhältnisses  der  Metaphysik  des  Parmenides  zu  seiner  Physik,  so  möchte  ich 
auch  in  bezug  auf  eine  solche  Deutung  dieses  Heraklitischen  Problems  sagen: 
«Ich  traue  das  dem  Ehrwürdigen  nicht  zu».  Aber  ganz  abgesehen  von  der 
Persönlichkeit  Heraklits  und  seiner  übrigen  Gedankenentwicklung,  in  die  sich 
eine  solche  Deutung  absolut  nicht  fügt,  ist  sie  aus  rein  sachhchen  Gründen 
ganz  für  sich  selbst  genommen  unmöglich.  Man  hat  keine  einzige  Stelle  an- 
zuführen vermocht,  die  wirklich  für  die  Stoft'lichkeit  des  Feuers  beweiskräftig 
wäre.  Und  jede  der  hier  in  Betracht  kommenden,  von  uns  herangezogenen 
spricht  dagegen:  Das  Gleichbleiben  in  der  Verwandlung,  die  Gleichsetzung 
mit  dem  Kosmos,  die  mit  der  HJUxn  und  endlich  die  Bestimmtheit  durch  den 
Logos  und  dessen  Immanenz.  Es  fehlt  dann  nur,  daß  man  auch  den  Logos 
stofflich  fasse,  wie  es  ja  auch  geschehen  ist,  und  man  hat,  wenn  man  dessen 
Immanenz  zugibt,  buchstäblicli  einen  Stoff  in  einem  anderen  Stoffe.  Etwas 
Sinnwidrigeres  läßt  sich  dem  Heraklit  nicht  mehr  zutrauen.  Das  Feuer  kann 
darum,  wie  auch  Zeller,  a.  a.  Ü.,  I,  S.  .591,  richtig  hervorhebt  —  ohne  freilich  mit 
der  «reinen  Verwandlung»  etwas  Rechtes  anfangen  zu  können,  weil  er  dem  dia- 
lektischen Moment  bei  Heraklit  nicht  zur  Genüge  Rechnung  trägt  —  nicht  als 
Stoff  angesehen  werden.  Es  kann  einzig  und  allein  Prozeß  sein,  wie  neuer- 
dings am  entschiedensten  Windelband,  a.  a.  O.,  S.  3üf.,  folgendermaßen  betont: 
«Heraklit  versteht  unter  seiner  dpxn  nicht  einen  alle  seine  Verwandlungen  über- 
dauernden Stoff,  sondern  eben  die  reine  Verwandlung  selbst,  das  Auf-  und 
Absch weben  des  Werdens  und  Vergebens». 

'  Clem.  Strom,  a.  a.  0.  ebenda  (Diels,  fr.  30).  KÖa.uov  xövbe  töv  auxöv 
äTrdvTUJV  eure  ti?  öeiliv  oüte  dvöpdmujv  ^TToiriöev,  äW  r|v  äei  usw.,  Forts, 
s.  vor.  S.  Anm.  1. 

-'  Piaton,  Kratyl.  4-12  d.     .  .  .  bi'  oü  -irdvTa  tu  'fiTvöiaeva  yvfverai. 

"  Arist.  de  an.  I,  2,405  a.  Kai  'HpdK\eiTO(;  bi  xnv  äpx»iv  eivai  <pri0i 
HJUXV»  e'iitep  Trjv  dvaOu,u{aGiv,  it  fj^  täWa  auviarncri  •  kcü  äadiiaaTov  br\  Kai 
^^ov  dei. 


32  1.  Kapitel. 

Wie  der  Seele  das  Denken  eigen,  durch  das  sie  am  Logos  teil 
hatS  so  erweist  sich  nun  im  Sein  des  prozessualen  Geschehens 
selbst  der  Logos  wirksam. 

Die  Vernunftbestimmung  erhält  so  bei  Heraklit  eine  Be- 
deutung und  Tragweite,  von  der  bei  Diogenes  von  Appolonia 
keine  Spur  vorhanden  ist.  Das  Wechselnde  gehört  der  Sinnen- 
welt an.  In  ihr  ist  kein  Bleiben.  Hier  ist  alles  Bleiben  in  der 
Tat  bloß  Schein.  Das  Bleiben  wird  darum  aber  nicht  geleugnet. 
Es  ist  nur  Gegenstand  der  Vernunfterkenntnis,  die  das  Bleiben 
des  Wechsels  erkennt.  Denn  der  Wechsel  ist  selbst  bleibend. 
Darin  liegt  in  der  Tat  die  dunkle  und  schwierige  Dialektik  der 
Lehre  Heraklits,  daß  in  der  Sinnenerkenntnis  kein  wahrhaft 
Bleibendes  erreicht  wird,  obwohl  uns  gerade  von  ihr  ein  Bleiben 
vorgetäuscht  wird,  und  daß  allein  die  Vernunfterkenntnis  ein 
Bleiben  und  ein  Bleibendes  erreicht,  obwohl  gerade  wieder 
sie  es  ist,  die  erkennt,  daß  «nichts  bleibt,  sondern  alles 
wechselt».  Aber  indem  sie  den  prozessualen  Wechsel  als 
bleibend  erkennt,  löst  sie  die  Antinomie  von  Bleiben  und 
Wechsel  und  vollzieht  die  Synthese  zwischen  beiden  im  Begriffe 
des  bleibenden,  wechsellosen  Wechsels,  des  «ewig  lebendigen 
Feuers»  als  kosmischen  Prozesses.  Darum  aber  muß  die  Ver- 
nunft selber  bleiben,  weil  sie  den  Wechsel  als  bleibend  und 
wechsellos  bestimmt.  Sie  aber  ist  nicht  nur  bleibend,  wie  der 
Wechsel,  sondern  auch  bleibend  als  eben  den  Wechsel  be- 
stimmend. Und  den  Wechsel  bestimmt  sie,  insofern  der  Wechsel 
selbst  nach  der  Vernunft  sich  vollzieht,  so  daß  alles  nach  dem 
Logos  geschieht.^  Als  Schicksal,  Recht  und  Notw^endigkeit^,  die 
den  Samen  jeglichen  Entstehens  bilden,  ist  der  Logos  in  allem 
wirksam   und  verwandelt  erst    das  Feuer   selbst  in  die  Dinge, 


'  Vgl.  S.  28  Anm.  2,  3  u.  5. 

-  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  132  (Diels,  1,  ö.  Gl,  fr.  2)  yiTvoneviuv  Täp 
TTcivTiuv  KOTÜ  TÖv  XÖYov:  vgl.  dazu  A.  Aall,  Der  Logos  bei  Heraklit  a.  a.  0., 
218  ff.,  und  desselben  Gesch.  d.  Logosidee,  S.  40fl', 

3  Stob.  Ekl.  I,  178  und  Clem.  Strom.  V,  599  C.  vgl.  Lassalle,  a.  a.  0. 
I,  350  f.,  und  Heinze,  a.  a.  0.,  S.  20.  —  Hier  wird  von  Heraklit  die  vor  ihm  nur 
implizite  angebahnte  Synthese  von  eljaapiaevn,  äv&{KY\  und  bxKr]  vollzogen;  vgl. 
ausführlicher  Windelband,  a,  a.  0.,  S.  31. 


Die  Anfänge  der  Naturphilosophie  bei  den  loniern.  33 

deren  erstes  das  Wasser  als  Same  jeglicher  Ordnung  bildet.^ 
Sofern  der  Logos  als  schicksalbestimmende  Notwendigkeit,  die 
den  Weltprozeß  zugleich  zum  Weltgericht  macht,  auch  Gottheit 
ist^,  faßt  er  alle  Gegensätze  in  sich  zusammen,  in  ihm  ist  alles 
eins  und  alles  führt  er  zu  allem^;  er  ist  so  zugleich  Einheit 
und  Harmonie  aller  Gegensätze.  Wenn  alles,  was  wird,  aus 
etwas  wird,  das  es  nicht  selbst  war,  zu  ihm  also  im  Gegensatze 
steht,  so  daß  die  öikh  selbst  zum  ttoXciuoi;  und  der  TroXenoi;  zum 
Vater  der  Dinge  wird  und  zu  ihrem  Herrscher^  so  ist  doch 
aller  Gegensatz  der  Dinge  im  Einzelnen  ausgeglichen  zur  ewigen 
unsichtbaren  Harmonie  der  göttlichen  Einheit,  die  herrlicher 
ist  als  alle  sichtbare.^  Der  Krieg  im  Einzelnen  bildet  in  der 
göttlichen  Einheit  selbst  eine  Einheit  mit  dem  Frieden,  wie  der 
Tag  mit  der  Nacht,  der  Winter  mit  dem  Sommer,  der  Über- 
fluß mit  der  Not.''  Wenn  der  Logos  darum  Gott  heißt,  so  teilt 
er  diesen  Namen  mit  dem,  was  man  sonst  so  heißt,  nur  inso- 
weit, als  man  damit  wahrhaft  Göttliches  bezeichnete,  nicht  auch 
soweit  man  damit  dem  Göttlichen  Inadäquates  verband.  «Eines, 
das  allein  Weise  will  nicht  und  will  doch  auch  wieder  mit  Zeus 
Namen  benannt  sein».^  Vor  allem  kann  der  Logos  dem  Kosmos 


'  In  diesem  Verhältnis  stehen  öTtepiua  Tf|(;  Y^veoeuj?  bei  Stob.  Ekl.  I,  178 
und  OTTepiLia  Tfi<;  biaKoa|uriaea)?  bei  Clem.  Strom.  V,  599  G. 

^  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  127.  töv  he  Xöjov  .  .  .  töv  koivöv  Kai 
Oeiov;  vgl.  S.  28  Anm.  4. 

^  Philo.  Leg.  alleg.  III,  1,88  f.  Kai  ev  tö  uäv,  Kai  irdvTa  ot^Gißfii  eiod-fwv. 

•*  Hippol.  Ref.  IX,  9  (Diels,  fr.  53)  itöXeiuoi;  irdvTujv  |nev  Tcaxrip  daxi,  udv- 
Tuuv  be  ßaaiXeix;  .  ,  .  Auch  darin  liegt  das  dialektische  Moment,  daß  für 
Heraklit,  wie  Windelband  das  treffend  formuliert,  «das  Andere  eo  ipso  zum 
Entgegengesetzten  wird»,  a.  a.  0.,  S.  41. 

^  Plut.  de  an.  proer.  27,5.  äpiaoviri  fäp  d.(pavr](;  (pavepr\c,  KpeiXTUJv  KaO" 
'HpdKXeiTOV,  ^v  fii  Täc,  biaqpopdq  Kai  drepöxriTac;  6  |uiyüujv  öeö;  ^Kpui|je  Koi 
KaxebuGev. 

ö  Hippol.  Ref.  IX,  10  (Diels,  fr.  67).  6  beöc,  f]^ipv\  eücppövr),  xeiVidjv  Qipoq, 
Tr6\e|LiO(;  eipi'ivri,  KÖpo(;  hixöq.  Das  Verhältnis,  in  dem  Gott  ebenso  über  dem 
Kriege  der  Dinge  als  Harmonie  steht,  wie  der  Krieg  über  den  Dingen,  kann 
es  noch  einmal  auf  das  Allerevidenteste  deuthch  machen,  daß  es  sich  im 
«ewiglebendigen  Feuer»  ganz  und  gar  um  das  prozessuale  Werden,  nicht  aber 
um  einen  Stoff  handelt. 

'  Übers,  v.  Diels,  fr.  32  (Clem.  Strom.  V,  604).  Unter  den  mannigfachen 
Bauch,  Das  Snbstanzproblem.  3 


34  1.  Kapitel. 

nicht  als  eine  äußere  Ursache  gegenüberstehen,  denn  er  ist  ja 
von  Ewigkeit  her  lebendiges  Feuer\  weder  von  Gott  noch 
von  Menschen  erschaffen^,  wie  es  ausdrücklich  heißt.  Gerade 
als  Schicksal  muß  der  Logos  das  Wesen  von  allem  durchdringen, 
dem  All  also  immanent  sein.^  In  dieser  Immanenz  aber  hat 
Heraklits  Denken  seine  schärfste  Zuspitzung  und  seine  höchste 
Synthese  erhalten.  Denn  jene  Immanenz  will  besagen:  Ge- 
schieht alles  nach  dem  Logos"*  und  durchdringt  der  Logos 
alles  ^,  so  ist  die  sinnliche  Welt  des  Geschehens  keinesw^egs 
bloß  Schein.  Schein  ist  nur  das,  was  der  Sinnenerkenntnis  als 
beharrlich  erscheint,  also  das  scheinbar  Beharrliche,  das  in  Wahr- 
heit ein  Wechselndes  ist,  bestimmt  von  dem  selbst  nicht 
wechselnden,  durch  den  Logos  und  seine  alles  in  allem  lenkende 
Einsicht  geleiteten  Wechsel.^  Insofern  dieses  in  Wahrheit 
Wechselnde  aber    in   eben  seinem  Wechseln  auf  dem  von  der 


Erklärungsversuchen,  die  diese  Stelle  hervorgerufen,  hat  Avohl  den  un- 
gezwungensten und  besten  Zeller,  dem  ich  mich  in  der  Deutung  durchaus  an- 
schheßen  kann,  geliefert,  wenn  er  a.  a.  0.,  S.  608,  die  Stelle  folgendermaßen 
interpretiert:  «Es  will  damit  benannt  sein,  weil  es  in  Wahrheit  das  ist,  was 
man  unter  jenem  Namen  verehrt;  es  will  aber  auch  nicht  damit  benannt 
sein,  weil  sich  mit  diesem  Namen  Vorstellungen  verbinden,  die  auf  jenes  Ur- 
wesen  nicht  passen,  weil  er  (wie  alle  Namen)  eine  unzureichende  Bezeich- 
nung ist». 

1  Vgl.  S.  30. 

2  Vgl.  S.  31. 

^  Stob.  Ekl.  I,  178.  'HpctKXeiTO?  oiiaiav  e!|uap!u^vrii;  dTCeqpm'veTO  Xö^ov  töv 
hm  ToO  ua\TÖc,  birjKOVTa.  Richtig  erkennt  auch  Heinze,  a.  a.  0.,  S.  6  f.,  die 
Immanenz  des  Logos  an  und  bezeichnet  ihn  zutreffend  geradezu  als  «Gesetz 
des  Weltlaufs»,  S.  10.  Um  so  weniger  ist  es  ersichtlich,  warum  auch  er  noch 
an  der  Stofflichkeit  des  Feuers  und  gar  noch  des  Logos  festhält,  S.  24.  Denn 
Stoffe  können  doch  auch  nach  der  Vorstellung  des  Altertums  höchstens  mit 
einander  eine  Mischung,  Verbindung,  vielleicht  auch  schon  eine  Lösung  ein- 
gehen, aber  nimmermehr  einer  dem  anderen  immanent  sein.  Daß  nun  nach 
Clem.  Strom.  V,  599  Xöfoq  und  TrOp  gleichgesetzt  werden,  kann  doch  nicht, 
wie  Heinze,  S.  24,  meint,  für  die  Stofflichkeit  des  Logos  sprechen,  da  es  doch 
gerade  für  die  Unstofflichkeit  des  itöp  spricht. 

*  Sext.  Erap.  adv.  math.  VII,  132,  s.  S.  32,  Anm.  2. 

*  Vgl.  die  vorletzte  Anmerkung. 

«  Diog.  Laert.  IX,  1.  eivai  Yap  ev  tö  aoqpöv  ^niöTaadai  yvöimit^  V  oiH 
(Diels,  fr.  41  bTir\)  ^Kuß^pvriae  TTÜvra  bxä  Trdvxuuv. 


Die  Anfänge  der  Natuiphilosophie  bei  den  loniern.  35 

wahren  Einsicht  des  Logos  bestimmten  Wechsel  beruht,  muß 
es  selbst  wahres  Sein  und  Wirklichkeit  haben.  Wird  auch  die 
Sinnenerkenntnis  als  schlechter  Zeuge  der  Wahrheit  von  der 
allein  die  Wahrheit  verbürgenden  Vernunfterkenntnis  unter- 
schieden, so  tritt  darum  doch  nicht  die  empirische  Wirklich- 
keit als  eine  besondere  Wirklichkeit  neben  das  reine  Sein  der 
Vernunftwirklichkeit,  sondern  ist  eben  deren  Darstellungsweise, 
mit  ihr  eines  und  ebendasselbe  unter  verschiedenen  Gesichts- 
punkten betrachtet.  Der  Weltprozeß  ist  nicht  ohne  den  Logos, 
denn  er  ist  von  ihm  bestimmt,  und  der  Logos  nicht  ohne  den 
Weltprozeß,  denn  der  Logos  ist,  eben  indem  er  den  Weltprozeß 
bestimmt.  Der  das  Geschehen  beherrschende  Logos  ist  Be- 
dingung und  Grundlage  des  Wechselnden,  das  als  Wechselndes 
auch  wahrhaft  ist,  und  das  nur  nicht  beharrlich  ist,  wie  der 
Wechsel  und  der  diesen  bestimmende  Logos,  ob  es  auch  den 
Sinnen  zu  beharren  scheint.  Aber  indem  es  zum  Wesen  des 
Logos  gehört,  daß  er  das  Geschehen  bestimmt  und  zu  dem  des 
Geschehens,  daß  es  vom  Logos  bestimmt  wird,  wird  den  ein- 
zelnen Geschehnissen  selbst  Wirklichkeit  und  Wahrheit  verliehen 
von  der  wahren  Einsicht  des  Logos,  die  sie  leitet  und  lenkt. 
Blicken  wir  von  hier  aus  noch  einmal  auf  das  Ganze  jener 
Heralditischen  Grundgedanken,  die  allein  für  uns  in  Betracht 
kommen,  zurück  und  ziehen  die  Summe,  die  sich  für  unser 
Problem  der  Substanz  als  das  Beharrliche  im  Wechsel  ergibt, 
so  zeigt  sich:  In  dem  ewig  lebendigen  Feuer  als  dem  Gesamt- 
prozesse des  Geschehens  mit  seinem  Wechsel  erreicht  er  selbst 
das  Beharrliche,  insofern  es  «immer  war,  ist  und  sein  wird». 
Hier  wird  deutlich,  wie  scharf  wir  die  Begriflfe  des  Seins  und 
Geschehens  bei  Heraklit  zu  trennen  haben,  und  daß  Heraklit 
so  wenig  das  Sein  leugnet,  daß  er  es  vielmehr  in  dem  ewigen 
Wechsel,    der   ihm  ja  selber  ist,   als  ewig  setzt. ^     Aber  darum 


^  Noch  Zeller  sagt  a.  a.  0.  I,  S.  584:  «Während  demnach  Parmenides 
das  Werden  leugnet,  um  den  Begriff  des  Seins  in  seiner  Reinheit  festzuhalten, 
leugnet  Heraklit  umgekehrt  das  Sein,  um  dem  Gesetz  des  Werdens  nichts  zu 
vergeben».  Daß  damit  das  Verhältnis  zu  Parmenides  unzutreffend  bestimmt 
ist,  wird  sich  später  zeigen.  Die  übliche  Gegenüberstellung  von  Heraklit  und 
Parmenides  hat  aber  Tannery,  Pour  l'histoire  de  la  science  hellene,  S.  74  ff.  (vgl. 

i* 


36  1.  Kapilel. 

kaun  das  Geschehen  nicht  selbst  geschehen.  Nur  Geschehnisse 
und  Vorgänge  können  geschehen,  und  doch  ist  das  Geschehen 
nicht  das  ganze  Sein.  Das  Geschehen  ist  das  Sein  in  seinem 
Wechsel,  wie  es  sich  den  Sinnen  scheinbar  als  bleibend  dar- 
stellt. Das  reine  Sein  ist  das  Sein  in  seinem  Bleiben,  wie  es 
die  Seele  allein  als  Vernunft  erkennt,  —  «denn  der  Seele  ist  das 
Denken  eigen»  —  das  reine  Sein  des  Logos,  das  erst  das  Sein 
in  seinem  Wechsel  bestimmt.  Erreicht  Heraklit  im  Wechsel 
des  Feuers  selbst  das  Beharrliche,  so  ist  es  ihm  doch  beharr- 
lich als  Wechsel,  nicht  im  Wechsel,  beharrlich  als  beharrhcher 
Wechsel.  Das  Beharrliche  im  Wechsel  aber  liegt  in  seiner  Be- 
stimmung, daß  dieser  Wechsel  des  Feuers  sich  «nach  Maßen» 
vollzieht.  Ist  das  Feuer  der  beharrliche  Wechsel  selber,  so  sind 
die  «Maße»  das  Beharrliche  im  Wechsel,  sofern  sie  diesen  be- 


auch  dessen  Abhandlung:  «La  Physique  de  Parmenide»,  Revue  philosophique 
XVIII,  S.  264  ff.)  mit  guten  Gründen  angefochten.  Zwar  deutet  er  beide  stark 
realistisch,  erkennt  aber  doch  wieder  die  idealistische  Tendenz  wenigstens  im 
Verfahren  an.  Mit  besonderer  Feinheit  hat  sodann  Kühnemann,  dessen  Aus- 
führungen ich  freilich,  meiner  eigenen  späteren  Darstellung  gemäß,  nicht  in 
allem  inhaltlich  beistimmen  kann,  die  sachlichen  Beziehungen  zwischen  Heraklit 
und  Parmenides  abgewogen  in  seinen  «Grundlehren  der  Philosophie»,  S.  61. 
Und  neuerdings  deutet  auch  Max  Wundt,  a.  a.  0.,  S.  450,  die  Verwandtschaft 
zwischen  beiden  Denkern,  ohne  ihren  Gegensatz  zu  verkennen,  in  recht  an- 
sprechender Weise  an.  Aber  von  dieser  Gegenüberstellung  beider  hier  noch 
ganz  abgesehen,  ist  die  vielfach  auch  von  Zeller  aufgestellte  Behauptung, 
Heraklit  «leugne  das  Sein»,  um  so  hinfälliger,  als  er  im  Logos  gerade  das 
«Sein  in  seiner  Reinheit»  faßt,  genau  wie  Parmenides  auch  und,  wie  M. Wundt, 
der  ihn  den  «ersten  Logiker  unter  den  Griechen»  (a.  a.  0.,  S.  449)  nennt, 
sehr  treffend  geradezu  sagt:  «schließhch  bis  zur  Idee  eines  Absoluten  gelangt» 
(a.  a.  0.,  S.  443).  Und  mit  dieser  Grundposition  operiert  ja  auch  Zeller  in 
seiner  ganzen  übrigen  Darstellung,  die  freilich  der  Heraklitischen  Lehre  so 
wenig  gerecht  wird,  daß  man  sich,  wäre  sie  so,  wie  sie  Zeller  darstellt, 
wundern  müßte,  sie  eben  vom  Historiker  der  Philosophie  überhaupt  behandelt 
zu  finden.  Mehr  als  er  es  ahnt,  kommt  übrigens  Zeller  durch  jene  Bebaup- 
tung  in  die  sonst  so  sorgfältig  von  ihm  gemiedene  Nähe  Lassalles  (s.  S.  2G 
Anm.  2),  freilich  ohne  dessen  bei  aller  AVillkürliclikeit  offenbare  Schärfe  des 
gedanklichen  Erfassens  der  Heraklitischen  Eigenart  zu  erreichen.  Denn  von 
jener  Behauptung  aus  ist  es  doch  nur  noch  ein  Schritt  bis  zur  Gleichsetzung 
von  Sein  und  Nichtsein,  die  zwar  Zeller  so  peinhch,  aber  im  Sinne  Lassalles 
immer  noch  heraklitischer  wäre  als  eine  Leugnung  des  Seins. 


Die  Anfänge  der  Nalui'])hilosopliie  bei  den  loniern.  37 

stimmeu.  Nun  vollzieht  sich  aber  das  Geschehen  nach  dem 
X6yo(;.  Die  «Maß »-gebende  Funktion  für  das  Geschehen  hegt 
also  im  Logos.  Insofern  also  der  Wechsel  nur  als  Wechsel 
beharrlich  ist,  ist  der  Logos  das  Beharrliche  im  Wechsel,  das 
den  Wechsel  selbst  «Maß»-gebend  bestimmt.  Diese  Bestimmung 
aber  ist  weiterhin  nicht  die  des  Verhältnisses  einer  äußeren 
Ursache  zu  ihrer  Wirkung.  Denn  da  der  Weltprozeß  von  Ewig- 
keit her  ist,  also  aus  keiner  äußeren  Ursache  hervorgegangen 
sein  kann,  so  kann  er  auch  vom  Logos  nicht  als  von  einer 
Ursache  außer  ihm  bestimmt  sein.  Der  Logos  muß  immanent 
im  Wechsel  unmittelbar  diesen  selber  bestimmen.  Er  ist  das 
«Maß »-gebende  Prinzip  der  Weltordnung,  «Weltgesetz»,  wie 
Heinze  sagt;  nicht,  wie  das  Geschehen,  das  Sein  in  seinem 
Wechsel,  sondern  das  Sein  in  seinem  Beharren,  das  Baharrliche 
im  Wechsel,  das  diesen  in  seinem  Sein  als  Wechsel  bestimmt 
und  so  auch  der  empirischen  Wirklichkeit,  insofern  sie  eine 
solche  des  Geschehens,  nicht  des  scheinbaren  Bleibens  ist,  Wahr- 
heit verleiht. 

Das  ist  der  tiefe  Sinn  der  in  der  Tat  dialektisch  verwickel- 
ten Lehre  des  Herakht,  daß  in  ihr  der  Substanzgedanke  aus 
der  Sinnenwelt  in  die  Vernunft  selbst  zurückgenommen  und 
erst  von  hier  aus  der  empirischen  Wirklichkeit  auch  Wahrheit 
verbürgt  wird;  freilich  nicht  in  dem  Sinne,  daß  die  Substanz 
zur  Funktion  der  Vernunft,  sondern  in  dem,  daß  sie  zur  Ver- 
nunft selber  wird.  Sie  ist  der  gemeinsame  Seinsgrund  aller 
Dinge,  in  dem  «Alles  Eines  ist»  und  zugleich  der  allgemeinsame 
Grund  ihrer  Erkenntnis,  der  über  der  persönlichen  subjektiven 
Sphäre  des  Individuums  steht. 


88 


Zweites  Kapitel. 
Die  eleatische  Schule. 


1.  An  die  Spitze  der  Eleaten  pflegt  Xenophanes  gestellt 
zu  werden.  Allein  in  seiner  Physik  liegt,  trotzdem  er  auf  sitt- 
lich-religiösem Gebiete  die  Poesie  und  Mythologie  so  energisch 
abwehrt\  doch  noch  zuviel  Dichtung  und  Mythologie,  —  denn 
er  selbst  ist  Dichter — ,  in  seiner  Philosophie  zu  viel  Theologie, 
als  daß,  so  interessant  an  sich  diese  Faktoren  seiner  Lehre  auch 
sein  mögen,  für  unseren  rein  wissenschaftlichen  Zusammenhang 
und  speziell  für  unser  Sonderproblem  aus  ihnen  eine  starke 
Förderung  hervorgehen  könnte.^     Immerhin  sind  einige  seiner 


'  Xenophanes'  Kampf  gegen  den  Polytheismus  ist  zugleich  ein  Kampf 
gegen  den  mythologischen  Anthropomorphismus  auf  dem  Gebiete  der  Religion. 
Insofern  kann  es  also  gar  keine  Frage  sein,  daß,  so  eingeschränkt  unser  In- 
teresse an  ihm  für  unser  Spezialproblem  ist,  er  doch  eine  allgemeinere  historische 
Bedeutung  besitzt.  Ich  will  also,  wenn  ich  ihn  hier  nur  ganz  kurz,  gleichsam 
nur  einleitenderweise  für  den  Eleatismus  überhaupt  behandle,  dahinter  kein 
allgemeines  Werturteil  verbergen.  Gerade  auf  den  Gebieten  der  Sittlichkeit 
und  Religion,  die  ich  hier  nicht  behandeln  kann,  ist  sein  Kampf  gegen  die 
mythologische  Vorstellungsweise  zugleich  ein  Kampf  für  die  Rechte  der  Ver- 
nunft. So  hat  man  seinen  glänzenden  Spott  anzusehen,  wenn  er  fr.  15  (Diels, 
Fragm.  I,  S.  49)  sagt:  «Wenn  die  Ochsen,  Rosse  und  Löwen  Hände  hätten 
oder  malen  könnten  mit  ihren  Händen  und  Werke  bilden,  wie  die  Menschen, 
so  wtirden  die  Rosse  roßähnliche,  die  Ochsen  ochsenähnliche  Göttergestalten 
malen  und  solche  Körper  bilden,  wie  jede  Art  gerade  selbst  das  Aussehen  hätte». 
(Übersetzung  von  Diels,  vgl.  auch  S.  fr.  11.)  So  mythologisch  Xenophanes  auf 
physikalischem  Gebiete  selbst  noch  denkt,  auf  sittlich-religiösem  Gebiete  ist  er 
einer  der  radikalsten  Überwander  des  Mythologisierens  und  zugleich  der  erste 
Denker,  der  dagegen  theologisch  mit  Gründen  ankämpft. 

^  Daraus  wird  sich  für  jeden  unsere  Anordnung  im  Texte,  d.  h.  die  Be- 
handlung des  Heraklit  ovr  den  Eleaten  verstehen. 


Die  eleatische  Schule.  39 

theologischen  Grundausichten  auch  für  uns  nicht  ohne  Belang, 
insofern  sie  für  die  weitere  Problementwickelung  bestimmend 
werden.  Den  Monismus  der  ersten  Naturphilosophen  —  er  ist 
besonders  von  Anaximander  entschieden  nicht  ganz  unbeein- 
flußt geblieben  —  wendet  er  theologisch  zum  Monotheismus 
oder  genauer  zu  einer  pantheistischen  Alleinheitslehre  \  nach 
der  Alles  Eins  sei.-  Und  was  von  besonderer  Bedeutung  wird, 
das  ist  der  Umstand,  daß  er  zunächst  aus  religiösen  Motiven 
vom  Göttlichen  die  Vorstellungen  des  Werdens  und  Vergehens 
abwehrt^,  die  Begriffe  der  Ungewordenheit  und  Unvergänglich- 
keit  exphzite  scharf  und  klar  faßt,  sie  über  die  Theologie 
selbst  hinauszuführen  und,  wenn  auch  noch  unbestimmt,  doch 
wenigstens  insoweit  auf  das  Sein  überhaupt  zu  erweitern  strebt*, 
als  eben  in  seiner  Alleinheitslehre  die  Einheit  Gottes  zugleich 
als  Einheit  der  Dinge  gefaßt   wird.^     Das   ist    das  Wichtigste, 


^  Nur  so  ist  das  vielzitierte  Fragment  (bei  Diels,  Fragm.  I,  S.  50,  fr.  23) 
zu  verstehen: 

eiq  9eö?,  Iv  T6  deoi0i  Kai  dvöpdbiToiöi  jh^yiöto? 
ouTe  bi\xac,  OvrixoTöiv  öiaoiiO(;  oure  vöriiaa. 
Die  Gegenüberstellung  des  €1?  Oeö^  im  Verhältnis  zu  den  öeoiai  ergibt  hier  in 
der  Tat  allein  Sinn,  wenn  man  bedenkt,  wie  es  dem  Pantheismus,  wie  wir  schon 
früher  sahen  (s.  S.  13),  möglich  ist,   davon  zu   sprechen,   daß   alles    voll  von 
Göttern  sei. 

2  Sext.  Emp.  Hyp.  Pyrrh.  I,  225. 

^  Ai-ist.  Rhet.  II,  23,1399  b.  oTov  Eevoqpdvriq  IXeyev  öxi  ö|aoiu)(;  öaeßoöaiv 
ol  -^evia^ai  cpclaKOVTe(;  toOi;  deoü^  To\q  dirodaveiv  \i.fovaiv. 

■*  Plut.  b.  Eus.  praep,  ev.  I,  8,4  oure  -{iveaiv  out€  cpöopdv  ÖTtoXemei. 
An  und  für  sich  sind  also  die  Begriffe  der  Unentstandenheit  und  Unver- 
gänglichkeit  explizite  deutlich.  Es  fehlt  für  uns  nur  die  explizite  Be- 
ziehung auf  unser  Problem. 

°  Theophr.  b.  Simpl.  Pbys.  22  (Diels,  Dox.  480ff.)  \xiav  bd  rriv  dpxnv  r|Toi 
Iv  TÖ  öv  Kai  Träv  xal  oöre  TreTrepaa^^vov  oure  direipov  ouxe  KivoOnevov  cöre 
fipeiioOv  Eevoqjdvi'iv  töv  KoXoqpüuviov  töv  TTapiaevibou  bibdaKa\ov  ÜTroTiöe- 
oöai  qpficriv  ö  Oeöqppaöxoc;.  Diese  Stelle  wäre  nun  auch  philosophisch  insofern 
von  dem  größten  Belang,  wenn  sie,  wie  F.  Kern,  Quaestionum  Xenophanearum 
capita  duo,  S.  50,  annimmt,  wirkhch  bestimmt  verbürgte,  daß  Xenophanes  das 
AU-Eine  über  die  Sphäre  der  Begrenztheit  wie  der  Unbegrenzlheit,  der  Be- 
wegtheit wie  der  Unbewegtheit  hinausgerückt  habe.  Und  für  Kerns  Auffassung 
spricht  in  der  Tat,  daß,  wie  er  sehr  fein  gesehen  hat,  der  Verbalbegriff  nicht 
negiert  ist,  sondern  die  Negation   sich  auf  das  Prädikat  bezieht.     Zellers  Ar- 


40  -2.  Kapitel. 

daß  hier  neben  dem  Werden  des  Einzelnen  die  Begrifte  der 
Uugewordenheit  und  Unvergänglichkeit  überhaupt  wieder  mit 
distinkter  Schärfe  klar  werden.  Darin  liegt  zwar  nichts  prinzi- 
piell Neues  der  Leistung  des  Anaximauder  gegenüber,  der  diese 
Begriffe  ebenfalls  klar  und  scharf  gefaßt  hatte.  ^    Immerhin  be- 


gument  dagegen,  er  müsse  «bekennen,  dies  nicht  zu  verstellen»  (a.  a.  ().  I, 
S.  473),  ist  doch  so  wenig  ein  Grund  gegen  die  Richtigkeit  von  Kerns  Ansicht, 
wie  das  «Nichtverstehen»  überhaupt  je  einen  Grund  abgeben  kann.  Denn  es 
ist  ebenso  grammatisch  wie  logisch  ein  Unterschied,  wo  die  Negation  liegt, 
ob  er  also  hier  das  AU-Eine  als  weder  unbegrenzt,  noch  als  begrenzt  setzt, 
weder  als  ruhend  noch  als  bewegt,  oder  ob  er  es  weder  als  unbegrenzt 
setzt  noch  als  begrenzt  setzt.  Das  eine  ist  eine  wirklich  vollzogene 
logische  Setzung  von  Etwas,  das  weder  begrenzt  noch  unbegrenzt  ist, 
das  andere  ein  bloß  problematisches  Verhalten,  wo  beide  Möglichkeiten  offen 
bleiben,  und  es  ist  überhaupt  nichts  wirklich  gesetzt.  Kerns  wirklich  feine 
Unterscheidung  wird  also  von  Zeller  gar  nicht  gesehen  und  berührt,  geschweige 
denn  getroffen.  —  Allein  es  ist  ein  anderer  Umstand,  der  diese  «Setzung» 
inakzeptabel  macht.  Bei  Sext.  Emp.  Hyp.  Pyrrh.  I,  225  heißt  es:  '^v  elvai  tö 
TTdv  Ktti  TÖv  Oeöv  auiacpufi  Toii;  iräoiv  ■  eivai  hi  aqpaipoeibfi  Kai  öiraöri  Kai 
ö|ueTäß\i'iTTTov  Kai  Xo-fiKÖv.  Was  uns  hier  in  jenem  Verhältnis  zur  Unbegrenzt- 
heit  bezw.  Begrenztheit  Schwierigkeiten  machen  muß,  das  ist  der  Umstand, 
daß  wir  unter  den  Prädikaten  des  Weltganzen  bei  Sext.  Emp.,  wie  übrigens 
auch  bei  Hippel,  und  Simpl.  das  der  Kugelgestaltigkeiten  aufgezählt  finden. 
Nun  würde  sich  damit  freilich  immer  noch,  was  Zeller  nicht  bemerkt,  die 
Setzung  des  Einen  als  weder  begrenzt  noch  als  unbegrenzt  in  einem  Falle 
vereinigen  lassen,  in  dem  Falle  nämlich,  daß  wir  die  Kugelgestalt  lediglich  als 
Symbol  der  Einheit  und  In-sich-Geschlossenheit  des  Seins  fassen  dürften.  Aber 
dann  wären  wir  in  der  Tat  schon  bei  Parmenides.  Bei  Xenophanes  spricht 
dafür  aber  nichts.  Dai'um  haben  wir  bei  ihm  die  Kugel  wohl  buchstäblich 
realistisch  zu  nehmen  und  dürfen  an  ein  Hinausrücken  des  Seins  über  die 
räumliche  Bestimmung  der  Grenze,  sowohl  im  Sinne  der  Begrenztheit  wie 
der  Grenzenlosigkeit,  nicht  denken.  Hier  trifft  Zeller  das  Richtige  und  behält 
auch  gegen  Kern  recht,  so  sehr  er  dessen  feine  Unterscheidung  verkennt. 
Freilich  darf  man  dabei  auch  nicht  übersehen,  daß  dem  andere  Äußerungen 
des  Xenophanes  entgegenstehen,  indem  er  auch  von  einer  «unermeßlichen» 
Ausdehnung  spricht  (vgl.  fr.  28).  Das  zeigt  nun  freilich  aufs  deutlichste,  daß 
er  das  Sein  noch  anschaulich,  nicht  wie  Parmenides  rein  gedanklich  faßt,  und 
daß  seine  Ansichten,  selbst  wenn  er  das  Sein  als  weder  begrenzt  noch  unbegrenzt 
setzt,  damit  doch  nicht  ins  rein  Gedankliche  weisen,  und  daß  sie  im  An- 
schaulichen zu  unbestimmt  bleiben,  als  daß  sie  für  unser  Problem  weiter  von 
Bedeutung  werden  könnten. 
1  Siehe  S.  IG  ff. 


Die  eleatische  Schule.  41 

deutet  es  für  die  historische  Kontinuität  der  Problementwicke- 
lung Parraenides  gegenüber  einen  wertvollen  gedanklichen  Im- 
puls, freilich  nur  einen  Impuls,  Denn  Parmenides  mußte  diese 
Begriffe  vertiefen,  vor  allem  mußte  er  den  Begriff  des  Seins  in 
unerhörter  Weise  vertiefen,  um  mit  diesem  jene  in  seiner  durch- 
aus originalen  Art  in  Verbindung  bringen  zu  können. 

2.  Was  Xenoplianes  von  seiner  Gottheit  auszumachen 
suchte,  das  erweitert  Parmenides  nun  nicht  bloß  zu  einem  be- 
stimmten Prinzip  des  Seienden,  sondern  —  und  darin  liegt 
seine  größte  Bedeutung  —  zum  Sein  schlechthin.  Gewöhnlich 
sieht  man  in  Parmenides  nur  den  schroffen  Gegensatz  zu 
Heraklit.  Wenn  man  freilich  die  Summe  der  Heraklitischen 
Lehre  darin  erbhckt,  daß  er  behauptet  habe,  es  gebe  kein  Sein, 
sondern  nur  ein  Geschehen,  und  wenn  man  Parmenides'  Lehre 
in  der  Ansicht,  es  gebe  nur  ein  Sein  und  kein  Geschehen,  für 
im  wesenthchen  erschöpft  hält,  so  ließe  sich  freilich  nur  ein 
Gegensatz  zwischen  Heraklit  und  Parmenides  erkennen;  und 
zwar  ein  Gegensatz,  im  Vergleich  mit  dem  ein  größerer  nicht 
auszudenken  wäre.  Daß  Heraklits  Lehre  in  einer  solchen  An- 
sicht nicht  erschöpft  ist,  wird  aus  unserer  früheren  Darstellung 
hervorgegangen  sein.  Und  die  folgenden  Ausführungen  werden 
deutlich  macheu,  daß  auch  in  der  Parmenideischen  Paradoxie 
ein  tieferer  Sinn  enthalten  ist,  als  es  auf  den  ersten  Blick 
scheinen  könnte.  Denn  gerade  Parmenides  fordert,  daß  man 
sich  eben  beim  ersten  Blick  nicht  beruhige. 

Ohne  seinen  Gegensatz  zu  Heraklit  zu  verkennen  oder  zu 
verwischen,  lehrt  uns  diese  Forderung  zugleich  aber  auch,  über 
dem  Gegensatz  die  tiefe  und  großartige  Übereinstimmung  in 
der  Grundrichtung  des  Denkens,  die  zwischen  beiden  besteht, 
nicht  zu  verkennen  und  zu  verwischen.    Mit  Recht  sieht  Diels^ 


^  Diels,  «Bericht  über  die  Literatur  der  Vorsokratiker  1886.  Zweite 
Hälfte».  Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.  I,  S.  245.  Freilich  scheint  mir  Diels  an 
anderer  Stelle  (Parmenides'  Lehrgedicht,  griechisch  und  deutsch)  dem  physika- 
lischen Realismus  doch  wieder  eine  zu  große  Bedeutung  einzuräumen,  als  daß 
mir  ein  restloses  Zusammenstimmen  mit  der  dialektisch-idealistischen  Deu- 
tung recht  ersichtlich  wäre.  Allein  die  Ansichten  der  Historiker  über  Parmenides 
sind  hier  heute  überhaupt  noch  sehr  geteilt.  Ich  komme  später  noch  darauf 
zurück  ... 


42  2.  Kapitel. 

auch  Parmenides  in  erster  Linie  als  «Dialektiker»  an  und  be- 
trachtet das  Realistische  in  seinen  Anschauungen  als  «bedeu- 
tungslose Überbleibsel  der  noch  nicht  völlig  überwundenen 
ionischen  Ph^^sik».  Und,  wie  schon  bemerkt,  haben  Tannery 
Kühnemann  und  Max  Wundt  die  Verwandtschaft  zwischen 
Heraklit  und  Parmenides  ausdrücklich  hervorgehoben.^  Es  ist 
vor  allem  der  ausgesprochene  rationale  Grundzug,  in  dem  sich 
das  Denken  beider  begegnet.  In  genauer  Übereinstimmung 
mit  Heraklit  warnt  auch  Parmenides  davor,  dem  Auge,  dem 
Ohr,  der  Zunge,  kurz  den  Sinnen  zu  vertrauen,  sondern  fordert 
die  kritische  Prüfung  durch  vernünftiges  Denken 
(Kpivai  be  XÖYUJi).  Findet  er  sich  im  Logos  mit  Heraklit,  so  über- 
bietet er  ihn  womöglich  noch  durch  die  schroffe  Ablehnung 
der  vielerfahrenen  Gewohnheit.^  Mit  dieser  Abweisung  von 
Erfahrung  und  Gewohnheit  erhält  seine  rationale  Tendenz  nun 
explizite  noch  eine  geradezu  antiempiristische  Zuspitzung,  die 
bei  Heraklit  eigentlich  nur  implizite  vorhanden  war,  aber  wegen 
seiner  Stellung  zum  Werden  nicht  voll  zur  Entfaltung  gelangen 
konnte.  Diese  volle  Entfaltung  bei  Parmenides  zeigt,  wie  aus 
der  Übereinstimmung  in  der  tiefsten  logischen  Grundtendenz 
selbst  mit  Notwendigkeit  auch  das  trennende  Moment  zwischen 
beiden  her  vor  wächst. 

Vermöge  des  vernünftigen  Denkens  und  im  vernünftigen 
Denken,  in  dessen  Forderung  er  sich  mit  Heraklit  zusammen- 
findet, erreicht  er  den  Begriff,  um  den  sich  seine  ganze  Philo- 
sophie bewegt:  den  Begriff  des  Seins.  Die  Behauptung  des 
Seins,  daß  ein  Sein  ist^,  daß  das  Sein  ist,  das  Nicht-Sein  aber 


»  Vgl.  S.  35,  Anm.  1. 

2  Parm.  I,  V.  33—37   (Diels,   Fragm.  d.  Vors.,  S.  115,    wonach  ich  kurz 
im  Folgenden  stets  die  Zählung  der  Fragm.  des  Parm.  angebe): 
ö.\Xä  au  Tf|öb'  dqp'  6boO  bilrjOio?  elp-fe  vörma 
|ir)b^  o'  Ixioq  TToXOiTeipov  öböv  Kard  Tqvbe  ßidaöiu 
vut|iäv  öaKOTTov  ö[nxa  koI  fixneaaav  äKOÖJiv 
Kai  fXwoaav,  Kpivai  bi  Xöyuji  uoXObripiv  IXeyxov 
il  ^li^öev  ^rjö^vTa. 

^  VI,  1.  ...  loTX  Y"P  elvai. 


Die  eleatische  Schule.  43 

nicht  ist  und  nicht  sein  kann\  steht  so  sehr  im  Mittelpunkte 
seines  ganzen  gedankhchen  Interesses,  daß  sich  von  hier  aus 
ebensoleicht  der  scheinbare  und  der  wirkliche  Gegensatz  zu 
Heraklit,  wie  die  Übereinstimmung  mit  diesem  deutlich  erkennen 
läßt.  Das  Sein  wird  ihm  so  unmittelbar  im  Denken  gesichert, 
daß  seine  Grundthese:  es  ist  ein  Sein,  eines  Beweises  weder  be- 
dürftig noch  fähig  erscheint,  ja  daß  es  fast  scheint,  als  erfasse 
er,  ganz  Descartes  vergleichbar,  im  Sein  des  Denkens  selbst 
das  Sein.-  Doch  ist  es  nicht  dieser  etwa  schon  von  Parme- 
nides  klar  und  deutlich  ausgesprochene  Gedanke,  daß  das 
Denken  ist,  und  daß  es  deshalb  ein  Sein  gebe,  als  eine 
andere,  keineswegs  weniger  bemerkenswerte  Überlegung,  die 
Parmenides  zu  seiner  bald  zu  bestimmenden  definitiven  Be- 
ziehung von  Sein  und  Denken  verhilft.  Auf  der  einen  Seite 
macht  sich  bei  ihm  die  tiefe  und  folgenreiche  Einsicht  geltend, 
daß  im  Denken  darum  das  Sein  gesetzt  ist,  weil  alles  Denken 
ein  Denken  von  etwas  ist,  einen  Inhalt  hat,  den  es  denkt. 
«Nicht  ohne  das  Seiende,  in  dem  es  sich  ausgesprochen  findet, 
kannst  du  das  Denken  antreffen.»^  Daraus  ergibt  sich  aber 
auf  der  andern  Seite  für  Parmenides,  indem  ihm  das  Nicht- 
Sein  eben  deshalb  unmöglich  ist,  weil  es  undenkbar  ist,  die 
nicht  minder  bemerkenswerte  Einsicht,  daß,  was  soll  sein  können, 
auch  denkbar  sein  muß,  daß  also,  was  undenkbar  ist,  auch  — 
Sit  venia  verbo  —  unseibar  ist.*  Denn  ebendarum  ist  ihm  das 
Nicht-Sein  undenkbar,  weil  das  Sein  schon  im  Denken  anse- 
troffen  wird,  und  weil  er  sonst  zu  einem  seienden  Nicht-Sein 
oder  einem  nicht-seieuden  Sein  gelangen  müßte,  was  unmöglich 
ist  und  sich  nicht  in  das  «unerschütterliche  Herz  der  wohlge- 
rundeten Wahrheit»  fügt.^ 


^  IV,  3.  .  .  .  Sttok;  ^(jTiv  T6  Kai  ui;  ouk  Iot\  nn  eivai  und  VII,  1.  oü  yöp 
larjTTOTe  toOto  ba|if|i  eTvai  nn  lövja. 

-  VI,  ebenda.     XPH  tö  X^yeiv  xe  voeiv  t  ^öv  eiajuevai. 
3  Übersetzung  von  Diels,  VIII,  35—36: 

oü  YÖp  civeu  Tou  ^övxoq,  ^v  lui  ireqpaxiaia^vov  ^ativ, 

eüpnöeiq  TÖ  voeiv  ... 
*  Ebenda  8 — 9:   .  .  .  oO  y^P  cpcxröv  oübd  voiixöv 

6(Jxiv  ÖTTiu^  OUK  lajx  .  .  . 
^  I,  29.    ...  'AXrideirii;  eÜKUKAeoq  dxpe|a^^  fixop. 


44  2.  Kapitel. 

Weil  also  auf  der  einen  Seite  das  Denken  nicht  ohne  das 
Sein  angetroffen  wird  und  ebendarum  auf  der  andern  Seite  ein 
Nicht-Sein  undenkbar  ist,  ergibt  sich  für  Parmenides,  indem 
ein  Denken  nicht  ohne  ein  Gedachtes  und  ein  Gedachtes  nicht 
ohne  ein  Denken  sein  kann,  die  engste  Beziehung,  die  zwischen 
Sein  und  Denken  selbst  denkbar  ist,  nämUch  die  Beziehung 
der  Identität:  «Denken  und  Sein  ist  dasselbe».^  Weil  das  Sein 
ijn  Denken  angetroffen  wird  und  außer  dem  Denken  kein  Sein 
angetroffen  werden  kann,  ohne  daß  es  zu  einem  undenkbaren 
Sein,  einem  nicht  denkenden  Denken,  einem  unseibaren  Sein 
würde,  so  daß  es  der  Bedingung  der  Möglichkeit  widerstritte^, 
so  muß  für  ihn  konsequenterweise  jeder  Unterschied  von  Sein 
und  Denken  aufgehoben,  müssen  beide  als  identisch  gesetzt 
werden. 

Weil  im  Denken  das  Sein  also  immer  schon  gesetzt,  ange- 
troffen wird,  ist  das  Sein  kraft  des  Denkens  notwendig,  und  es 
ist  unmöglich,  daß  es  je  nicht  sein  könnte.  Es  kann  also  nie 
je  nicht  gewesen  sein  und  wird  nie  je  nicht  sein,  muß  also  unge- 
worden  und  unvergänghch  sein.  Man  kann  nicht  eigentlich 
sagen,  daß  es  einst  war  und  einst  sein  wird,  weil  es  in  jedem 
Augenblick  ganz  ist,  Eines,  unerschütterlich,  ohne  Ende  und 
allzeit  im  Jetzt  gegenwärtig.^  Die  zeitliche  Allgegenwart  hebt 
es  aber  eigentlich  über  alle  Zeit,  alle  zeitliche  Grenze,  über  jedes 
«Ende»  des  Einst  und  Künftig  hinaus  und  gibt  ihm  im  Jetzt 


'  V,  .  .  .  TÖ  Y"P  auTÖ  voeiv  iaziv  re  kui  elvai. 

-  Es  ist  recht  beachtenswert,  welche  Bedeutung  hier  und  für  die  ganze 
Parmenideische  Seins-Lehre  die  Korrelation  von  Möglichkeit  und  Denkbarkeit 
auf  der  einen  Seite  und  von  Unmöglichkeit  und  Undenkbarkeit  auf  der  anderen 
Seite  hat.  Fi-.  IV,  VII,  VIII  sind  dafür  in  ihrem  Zusammenhange  bezeichnend. 
Es  ist  daher  ebenfalls  ganz  charakteristisch,  welche  Bedeutung  Piaton  Parm. 
127  c  f.,  Zenon  für  die  Bestimmung  des  Widerspruchsgesetzes  beimifst.  Das 
dürfte  historisch  ebenso  richtig  sein,  wie  es  sachlich  auf  Parmenides'  ontologische 
Gesichtspunkte  zurückweist. 
=>  VIII,  3-6: 

.  .  .  ijü<;  (iYtvrjTov  ^6v  Kai  dvdiXeöpöv  ioriv 
oi)\ov  |aouvo-rev^(;  re  Koi  dxpeiu^i;  rjb'  dt^XeOTOV. 
oi)bi  ttot'  r\v  o^jb'  Sarai,  itiei  vOv  Sötiv  öjaoö  ttöv, 
iv,  ouvex^q • 


Die  eleatische  Schule.  45 

«ohne  Ende»  Ewigkeit,  nicht  zeitlich  ausgedehnt  nach  der  Ver- 
gangenheit und  Zukunft.  Das  Sein  hat  immer  das  < Jetzt» 
der  Ewigkeit.^  Gewordenheit  und  Vergänglichkeit  sind  darum 
von  ihm  ausgeschlossen.  Denn  wäre  es  geworden  und  einst 
nicht  gewesen,  so  müßte  es  —  da  es  aus  dem  Sein,  das  ja  nicht 
gewesen  wäre,  und  wenn  es  gewesen  wäre,  nicht  mehr  zu 
werden  brauchte,  nicht  sein  kann  —  aus  dem  Nichts  hervorge- 
gangen sein.  Aus  dem  Nichts  aber  kann  es  nicht  sein,  da  ja 
das  Nichts  selbst  nicht  ist.  Hier  wird  also  mit  aller  Klarheit 
und  Schärfe  das  Axiom,  daß  aus  nichts  auch  nichts  hervor- 
gehe, präzisiert.^ 

Weil  das  Sein  aber  Eines  ist,  weder  neues  Sein  entstehen 
noch  vom  Sein  etwas  vergehen  könnte  und  das  Sein  so  in  sich 
gleichartig  und  ohne  Teile  ist,  kann  zu  ihm  auch  nicht  mehr 
Sein  hinzukommen,  das  seinen  Einheitszusammenhang  von  Ewig- 
keit her  irgendwie  störte,  noch  von  ihm  etwas  hin  weggenommen 
werden^,  das  Sein  kann  nicht  mehr  oder  weniger  sein.  In  der 
Einheit  des  Seins  liegt  sein  Zusammenhang  und  seine  Gleich- 
artigkeit in  jeglicher  Hinsicht,  und  die  Ungewordenheit  und 
Vergänglichkeit  seiner  Einheit  schließt  alles  Mehr  oder  Weniger 
aus.     Damit  ist  eine  für  das  Substanzproblem  neue  und  blei- 


^  Strümpell,  Geschichte  der  theor.  Philos.  der  Griechen,  S.  44,  faßt  diese 
Bestimmung  geradezu  als  Zeitlosigkeit,  weil,  Avenn  die  Zeitlichkeit  vom  Sein 
ausgesagt  würde,  damit  zugleich  etwas  anderes  aufser  dem  Sein  ausgesagt 
würde,  das  aber  als  etwas  anderes  als  das  Sein,  als  ein  Nicht-Seiendes,  gedacht 
werden  müßte  und  das  Nicht-Sein,  nach  Parmenides,  nicht  sein  kann.  Wenn 
nun  in  dem  «duei  vöv  eaiiv  öjuoö  -rrctv»  auch  expUzite  nicht  die  Bestimmung 
der  Zeitlosigkeit  ausgesprochen  ist,  so  dürfte  Strümpell  den  tieferen  Sinn  damit 
doch  durchaus  richtig  getroffen  haben. 

2  VIII,  12—13: 

oiihi  ttot'  ^k  ixii  ^ÖVTOC,  eqpri0ei  iriaTioc;  ioxvc; 
YiTveööai  xi  irap'  auxö  " 
vgl.  7 — 8:       .  .  .  out'  ^k  ixx]  iövToq  Maavj 
<pdaöai  a'  oub^  voeiv. 

3  Ebenda  22—25: 

oi)hi  biaiperöv  ^axiv,  inel  nd-v  döxiv  ö|aoiov  * 
oub^  Ti  Tf|i  |uäX.Xov,  TÖ  Kev  ei'pYoi  |uiv  ouv^xecf^cii/ 
oubd  Ti  xeipörepov,  iräv  b'  ^luirXeöv  ^axiv  ^övxoi;. 
TÜJi  £uvgx^<;  Ttäv  ^axiv  •  iöv  fäp  iövn  TreXctSci. 


46  2.  Kapitel. 

bende  Bedeutung  gewonnen.  Man  hat  darum  geradezu  von 
der  «qualitativen  Konstanz»,  wie  von  der  «quantitativen  Kon- 
stanz»^ und  davon,  daß  nach  Parmenides  «die  Vermehrung  oder 
Verminderung  der  Substanz  unmöglich»  sein  soll,  gesprochen.' 
Allein  die  quantitative  Bestimmung,  soweit  sie  für  die  Substanz 
notwendig  wird,  liegt  bei  Parmenides  noch  nicht  vor.  Aber, 
und  darin  liegt  seine  große  Bedeutung  für  das  Substanzproblem, 
er  legt  in  seinem  SeinsbegrifF,  von  dem  er  das  Mehr  und 
das  Weniger  explizite  ausschließt,  derart  den  logischen  Grund 
für  den  Substanzbegriff',  daß  auch  von  ihm  dann  erst  das 
Mehr  oder  Weniger  ausgeschlossen  werden  kann.  In  dem 
Nicht  Mehr  und  Nicht- Weniger  des  Seins  aber  hat  Parmenides 
erst  die  logische  Grundlage  für  die  weitere  Entfaltung  des  Sub- 
stanzbegriftes  geschaff'en,  und  das  bezeichnet  die  ganze  hohe 
Bedeutung  seiner  Leistung  für  unser  Problem.^ 

Es  ist  damit  nichts  Geringeres  gewonnen,  als  die  In-sich- 
Geschlossenheit  des  Seins,  seine  Identität  und  sein  widerspruchs- 
loses An-und-für-sich-Sein  (koö'  eauTo)  und  Beruhen  in  sich 
selbst.^     Weil  das  Sein  ja   mit  dem  Denken  zusammenfällt,  so 


^  Gomperz,  Griechische  Denker  I,  S.  140,  bezieht  die  «quantitative  Kon- 
stanz», wie  die  «qualitative  Konstanz»  auf  das  Sein  des  Parmenides,  indem  er 
dieses  freilich  als  «Raumwesen»  faßt.  Eine  Auffassung,  die,  wie  sich  später 
zeigen  wird,  ganz  unmöglich  ist,  obschon  sie  von  vielen  Historikern  ver- 
treten wird. 

^  Kühnemann,  a.  a.  0.,  S.  69. 

2  Natorp,  «Aristoteles  und  die  Eleaten»  (Philos.  Monatshefte  XXVI,  S.  13) 
faßt,  wenn  ich  mich  nicht  täusche,  den  Sachverhalt  ebenso  auf,  wenn  er  be- 
tont, daß  «die  Erhaltung  der  Substanz  in  unveränderhcher  Quantität  allerdings 
vorschwebt»,  daß  es  sich  aber  dabei  «um  kein  anderes  Mehr  oder  Weniger 
handelt,  als  um  das  Mehr  und  Weniger  des  Seins».  Denn  in  dem  «Vor- 
schweben» der  Substanz  ist  diese  selbst  noch  nicht  gesetzt.  Vor  allem  wehrt 
Natorp  durchaus  richtig  die  Räumlichkeit  des  Seins  ab.  Damit  ist  die  Unter- 
scheidung des  Seins  und  des  substantiellen  Seins  gewahrt.  Wer  diese  über- 
sieht, der  kommt  freilich  mit  Notwendigkeit  dazu,  im  Sein  des  Parmenides, 
wie  Gomperz  und  Zeller,  ein  ganz  unverständliches  und,  wie  sich  zeigen 
wird,  mit  den  Parmenideischen  Grundüberzeugungen  unverträgliches  «Raum- 
wesen» zu  sehen. 

*  VIII,  39-30: 

TOllTÖV    r     ^V    TOUTÜJl    TC    |U^V0V    KOd'    ^OUTÖ    TE    KeiTOl 

XOÖTiU(;  ?|ittebov  aijOi  f^^vei. 


Die  eleatische  Schule.  47 

muß  die  Bestimmung  des  Denkens  zugleich  Bestimmung  des 
Seins  sein.  Die  Bestimmung  des  Denkens  geht  auf  die  Ein- 
heit der  Wahrheit,  Das  Denken  ist  das  Reich  der  «wohlgerun- 
deten Wahrheit».  «Wohlgerundet»  wie  die  Wahrheit  ist  darum 
auch  das  Sein,  denn  wahrhaft  ist  nur  die  Wahrheit  selbst  als 
das  Reich  des  Denkens,  und  sie  ist  darum  auch  das  Reich  des 
wahren  Seins.  Ebendarum  ist  das  Sein  selbst  wohlgerundet 
und  «der  Masse  einer  wohlgerundeten  Kugel»  vergleichbar.^  Daß 


'  VIII,  43.  .  .  .  cükükXou  öqpai'pr)^  evaXiYKiov  öykuui;  dieses  Bild,  so  wie 
der  Umstand,  daß  im  Zusammenhange  mit  ihm  das  Sein  «überall  hin  abgegrenzt», 
heißt  (42 — 43:  xexeXeaia^vov  ^ötI  TtavTÖOev),  daß  die  starke  Notwendigkeit  es 
überall  umgibt,  in  Banden  und  Schranken  hält,  daß  darum  das  Sein  nicht 
ohne  Abschluß  sein  darf  (VIII,  30—32:  Kparepr)  y^P  'AvdYKrj  ■ndparoq  iv 
öeaiaoiaiv  ^x^i,  tö  |luv  äja^k  ^^pYei.  ouvcKev  ouk  oiT^XeuTOv  tö  ^öv  Qimc,  elvai.), 
daß  es  nach  allen  Seiten  hin  gleich  weit,  darum  auch  in  gleicher  Weise  auf  die 
Grenzen  gerichtet  ist  (49 :  oi  Yoip  iravTÖdev  loov,  oiuuq  iv  ireipaöi  KÜpei)  alles 
das  hat  einen  großen  Teil  der  Historiker  veranlaßt,  das  Sein  des  Parmenides 
nun  selbst  körperlich-massig  zu  denken.  Ohne  nun  hier  auf  die  Mannigfaltig- 
keit aller  einzelnen  Ansichten  auch  im  Einzelnen  eingehen  zu  können,  sei  nur 
kurz  auf  das  Wichtigste  verwiesen.  Zu  dem,  was  oben  im  Texte  bereits  unter 
unmittelbarer  Beziehung  auf  Parmenides'  eigene  und  ausdrückliche  Bestim- 
mungen gesagt  wurde,  sei  vor  allem  verwiesen  auf  die  Tatsache,  daß  eine 
körperlich  materielle  Deutung  des  Parmenideischen  Seins  den  festesten  Grund- 
ansichten des  Parmenides  zuwiderläuft,  ja  sie  geradezu  aufheben  müßte.  Par- 
menides verweist  nicht  nur  die  «Veränderung  des  Ortes  und  den  Wechsel  der 
leuchtenden  Farben»  ausdrücklich  in  das  Reich  des  Scheins  (VIII,  41 :  Kai  töttov 
öWdcraeiv  bid  re  xp6a  qpavöv  äjaeißeiv),  so  daß  man,  wie  Kinkel  unter  Bezug- 
nahme auf  diese  Stelle  mit  Recht  bemerkt  (Gesch.  d.  Philos.  I,  S.  34,  Anm.  16), 
zu  der  sinnwidrigen  und  nicht  einmal  vorstellbaren  Annahme  eines  «Körpers, 
der  nicht  sinnlich  wahrnehmbar,  nicht  gefärbt,  nicht  beweglich  wäre»,  gelangte. 
Und  was,  wenn  man  eine  solche  begrenzte  Kugel  annehme,  die  als  solche  räumlich 
begrenzt  sein  müßte,  ob  man  nun  außer  ihr  noch  Raum  annehmen  wollte 
oder  nicht,  in  jedem  Falle  die  Grundpositionen  des  Parmenides  geradezu  um- 
stoßen müßte,  das  ist  die  Konsequenz,  daß  es  außer  dem  Sein  entweder  noch 
ein  Sein  geben  müßte,  wenn  es  den  Raum  außer  ihm,  das  ja  kugelgestaltig 
wäre,  gebe,  nämlich  das  Sein  des  Raumes,  oder  daß  es,  wenn  es  den  Raum 
nicht  gebe,  dann  neben  dem  Sein  ein  Nichts  gebe.  Das  eine,  wie  das  andere 
widerspricht  Parmenides'  Grundüberzeugungen,  das  eine  der  Einheit  des  Seins, 
das  andere  dem  Nicht-Sein  des  Nichts.  Aus  diesem  Grunde  hat  schon  treffend 
Strümpell,  a.  a.  0.,  S.  44  die  Räumlichkeit  des  Seins  abgelehnt  und  wie  M.  Wundt 
von  Heraklit  (vgl.  S.  35,  Anm.  1),   so  er  von  Parmenides  richtig  bemerkt,   daß 


48  2.  Kapitel. 

es  sich  hier  in  Wahrheit  nur  um  einen  Vergleich  handelt,  folgt 
nicht  bloß  erstens   daraus,   daß  diese  Bestimmung  selbst   aus- 

es  sich  ihm  um  den  «BegrifT  des  absoluten  Seins»  (ö.  54)  handle.  Eine  noch 
schlagendere  und  vollere  Widerlegung  der  Auffassung,  daß  man  in  dem  Bilde 
der  Kugel  mehr  als  ein  Bild  zu  sehen  hätte,  gibt  Natorp,  a.  a.  0.,  S.  11  in  dem 
geradezu  zwingenden  Argument:  «Ist  das  Sein  kugelförmig,  so  ist  es  not- 
wendigbegrenzt, und  zwar  im  Räume;  begrenzt  im  Räume  aber  kann  es  nicht 
sein,  denn  woran  sollte  es  grenzen?  An  ein  Anderes?  Aber  es  gibt  jakein 
Anderes?  An  das  Nichts?  Aber  es  gibt  ja  kein  Nichts.  Oder  soll  man  sich 
etwas  wie  eine  unbegrenzte  Kugel  vorstellen?» 

Wie  wir  heute  einen  guten  Sinn  darin  finden,  daß  Fichte  und  Hegel 
die  Geschlossenheit  des  Denkens  der  «Kreislinie»  vergleichen  —  ich  verdanke 
diese  Erinnerung  an  das  Bild  bei  Fichte  und  Hegel  einem  mündlichen  Hin- 
weise meines  Freundes  Otto  Baensch  —  und  wie  wir  ohne  weiteres  hier  das 
Bild  eben  bildlich  nehmen,  so  schwinden  auch  bei  Parmenides  alle  die  Un- 
gereimtheiten, die  der  buchstäblichen  Kugelauffassung  anhaften,  wenn  man, 
wie  es  Parmenides'  eigenen  Worte  n  entspricht,  das  Bild  eben  bildlich  nimmt. 
Dann  hat  es  den  guten  und  wertvollen  Sinn  der  Einheit  und  begrifflichen  Ge- 
schlossenheit des  Seins,  den  ja  einmal,  warauf  Natorp  richtig  hinweist,  auch 
Aristoteles  Met.  I,  .5,986  b  bezeichnet  hat.  Recht  merkwürdig  ist  in  der  Tat  die 
Unterscheidung  des  Aristoteles  hier:  TTapjLievibri?  |udv  fäp  ^oike  toO  Kaxa  xöv 
XÖYOv  ivö(;  äTrTe0Oai,  MeXiaao?  bi.  tou  Kaxd  t^v  ö\r|v.  Mag  Aristoteles  die 
Auffassung  des  Melissos  richtig  beurteilt  haben  oder  nicht,  soviel  ist  gewiß, 
daß  er  hier  die  Parmenideische  Einheit  als  logische  gerade  der  materiellen 
entgegengestellt.  Wenn  Diels,  obwohl  er  selbst  sonst  manchmal  der  dinglichen 
Seinsauffassung  hier  zuneigt  (Parmenides'  Lehrgedicht,  griech.  und  deutsch, 
S.  .55f.),  sagt:  «Das  Herz  dieses  wahren  Seins,  das  nie  wankende,  bedeutet  also 
den  festen  Kern  seiner  Welt  und  seiner  Weltanschauung,  beides  fällt  für  ihn 
zusammen,  wie  Sein  und  Denken.  Beides  ist  für  ihn  rund  und  ganz  und  ohne 
Fehl  und  Widerspruch»,  so  kann  ich  das  dem  Geiste  des  Parmenides  nicht  so 
zuwider  oder  gar  so  «böotisch  bäuerisch»  linden,  v/ie  Kinkel  es  a.  a.  O.  ebenda 
in  fast  leidenschaftlicher  Polemik  tut.  Sollte  sich  zwischen  Diels  und  Kinkel 
hier  nicht  selbst  eine  gewisse  Übereinstimmung  ergeben,  wenn  man,  was  doch 
wohl  Diels'  Absicht  ist,  für  das  «rund»  die  entsprechende  Ergänzung  in  dem 
«ganz  und  ohne  Fehl  und  Widerspruch»,  in  dem  «Zusammenfallen  von  Sein 
und  Denken»  sucht?  Mir  scheint  gerade  darin  die  widerspruchslose  Ge- 
schlossenheit und  Einheit  des  Seins  zum  Ausdruck  kommen  zu  sollen. 

Zu  bemerken  ist  endlich  noch  das  Eine,  daß  die  materiell-dingliche  Auf- 
fassung des  Parmenideischen  Seins  ebenso  wie  zu  Widersprüchen  innerhalb 
der  Parmenideischen  Lehre,  auch  zu  solchen  innerhalb  deren  Darstellung  von 
Seiten  ihrer  Interpreten  führt.  Anstatt  vieler  seien  nur  einige  wenige  genannt. 
So  kann  Zeller,  wie  schon  bemerkt,  nicht  umhin,  trotz  seiner  realistischen 
Deutung  (a.  a.  0.  I,  S.  51 7  ff.)  zu  behaupten,  daß  Parmenides  «den  Begriff  des 


Die  eleatische  Schule.  49 

drücklich  als  Vergleich  auftritt,  sondern  vor  allem  zweitens  aus 
der  Identität  von  Denken  und  Sein^  und  drittens  daraus,  daß 
die  Wahrheit  genau  so  «wohlgerundet»  heißt,  wie  das  Sein.^ 
Daß  dieses  gelegentlich  auch  das  Volle  genannt  wird,  spricht 
nicht  dagegen,  sondern  dafür,  wenn  man  erstens  wieder  die 
Identität  von  Denken  und  Sein  berücksichtigt,  zweitens  sich 
gegenwärtig  hält  jene  Bestimmung:  «nicht  ohne  das  Sein,  in 
dem  es  sich  ausgesprochen  findet,  kannst  du  das  Denken  an- 
Seins in  seiner  Reinheit»  faßt.  Wie  der  «Begriff  des  Seins  in  seiner  Reinheit» 
gefaßt  sein  soll,  wenn  das  Sein  eben  nicht  begrifflich,  sondern  stofflich  gefaßt 
ist,  das  bleibt  wohl  zum  mindesten  ein  Rätsel.  Es  scheint  mir  ebenso  un- 
verständlich, wie  Bäumkers  Interpretation,  wenn  er  a.  a.  0.,  S.  51  zwar  die 
Materie  richtig  definiert  als  das  «Substrat  des  Wechsels  in  der  Körperwelt», 
und  weil  es  für  Parmenides  keinen  Wechsel  gibt,  es  darum  «für  Parmenides 
also  überhaupt  keine  Materie  im  antiken  Sinne  mehr  gibt»  und  Bäumker  doch 
im  übrigen  das  Sein  des  Parmenides  als  «gleichartige  Masse»  (S.  56)  deutet. 
Eine  interessante  Mittelstellung  nimmt  J.  Cohn,  a.  a.  0.,  S.  20,  ein.  Nach  ihm 
ist  richtig  das  Sein  des  Parmenides  «unräumlich  zu  fassen».  Nur  meint  er 
durch  den  Begriff  der  «Begrenztheit»  werde  das  Sein  bloß  «gewissermaßen 
räumlich  bestimmt»,  was  er  selbst  als  eine  «Inkonsequenz»  ansieht.  Er  hätte 
in  der  Tat  mit  dem  Vorwurf  der  «Inkonsequenz»  durchaus  recht,  wenn  die 
Begrenztheit  selbst  räumlich  gefaßt  werden  müßte.  Faßt  man  sie  aber  als  In- 
sich-Geschlossenheit,  so  fällt  nicht  bloß  die  «Inkonsequenz»  fort,  vielmehr  kann 
auch  die  von  Cohn  selbst  mit  Recht  vertretene  These,  das  Sein  sei  «unräumlich 
zu  fassen»,  erst  dann  ihren  eigenen  Sinn  behaupten.  Mehr  als  seltsam  aber 
mutet  es  an,  wie  Gomperz  seine  materialistische  Pannenides-Auffassung  spiri- 
tualistisch  abzuschwächen  sucht,  wenn  er  a.  a.  0.,  S.  146  bemerkt,  Parmenides 
sei  freihch  nicht  «folgerichtiger»  Materialist  gewesen,  sein  «Allstoff»  sei  zu- 
gleich als  «Allgeist»  aufzufassen.  Wäre  Parmenides  Materialist  gev/esen,  dann 
hätte  ihn  Platon  in  seiner  Materialistenfeindseligkeit  nicht  den  «Großen»  nennen 
können.  Daran  ist  gewiß  so  viel  richtig:  Wäre  Parmenides'  Sein  stofflich- 
körperlich  zu  denken,  «ehrwürdig»  und  «groß»  hätte  ein  Platon  diesen  Denker 
nicht  finden  können.  Aber  wäre  er  der  Gedankenschwächling,  dessen  Sein 
zugleich  «Allgeist»  und  «Allstoff»  sein  sollte,  jene  Kompromißnatur,  die  sich 
aus  Materialismus  und  Spiritualismus  ein  Sein  zurechtfrisiert,  dann  hätte  dejn 
göttlichen  Platon  der  «große»  und  «ehrwürdige»  Parmenides  weder  «groß» 
noch  «ehrwürdig»,  sondern  als  jämmerlicher  Schwachkopf  erscheinen  müssen. 
So  wahr  Parmenides  nach  Piatons  Urteil  groß  ist,  so  wahr  kann  also  sein 
Sein  nicht  «AUstoff»  und  «Allgeist»  zugleich  bedeuten,  sondern  weder  «All- 
stoff» noch  «Allgeist». 

1  V.  (zitiert  S.  44  Anm.  1). 

2  1,  29  (S.  43  Anm.  5). 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  4 


50  2.  Kapitel. 

treflFeu»^  oder  kurz,  daß  das  Denken  einen  Inhalt  hat,  den  es 
eben  denkt,  und  daß  darum  drittens  das  Denken  ebenso  das 
Volle  heißt,  wie  das  Sein.^  Es  ist  nichts  anderes,  als  die  wider- 
spruchslose Geschlossenheit  der  Wahrheit  zur  Einheit,  was  uns 
der  Philosoph  als  Dichter  —  daß  Parmenides  auch  Dichter  ist, 
wird  man  dabei  vielleicht  auch  nicht  übersehen  dürfen  —  zu- 
gleich auch  im  Bilde  (evaXiYKiov)  anschaulich  machen  will,  weil 
es  an  und  für  sich  aller  Anschauung  entrückt  ist:  jene  Ge- 
schlossenheit zur  Einheit,  die  Parmenides,  mit  HerakHt,  als  ein 
«Gemeinsames»  bezeichnet,  zu  dem  er,  wo  er  auch  beginne, 
immer  wieder  zurückkehren  müsse. ^ 

Ist  das  Sein  Eines,  ein  Selbiges  im  Selbigen  von  Ewigkeit 
zu  Ewigkeit,  das  weder  entstanden  ist  noch  vergehen  wird,  so 
kann  vom  Sein  kein  Entstehen  und  Vergehen  ausgesagt  werden. 
Und  —  das  ist  ganz  konsequent,  sofern  Parmenides  sich  in 
der  Sphäre  des  reinen  Seins  hält,  und  beweist  von  neuem,  daß 
er  das  tut  —  damit  muß  er  Entstehen  und  Vergehen  schlecht- 
weg leugnen.  Das  ist  kein  leichtfertiger  Fehlschluß,  sondern 
von  der  Position  des  reinen  Seins  durchaus  konsequent  und 
für  das  reine  Sein  durchaus  gültig,  weil  er  vom  Sein  noch  gar 
nicht  zur  Existenz  weiterführt.  Deim  da  außer  dem  Sein  nichts 
ist,  so  ist  auch  Entstehen  und  Vergehen  nicht  außer  dem  Sein, 
und  von  ihm  selbst  kann  ja  ebenfalls  Entstehen  und  Vergehen 
nicht  ausgesagt  werden.  Also  wird,  entsteht  und  vergeht  weder 
das  Sein  noch  etwas  außer  ihm,  da  es  außer  ihm  nichts  gibt. 
So  ist  also  nur  das  reine  Sein  und  kein  Entstehen  und  Ver- 
gehen.   «So  ist  Entstehen  verlöscht  und  Vergehen  verschollen.»'* 

Parmenides'  Bedeutung  für  das  Substanzproblem  liegt  also 
darin,  daß  er  in  seinem  Seinsbegriff  dafür  die  bedeutsamste 
logische  Grundlegung  schafft,   ohne   aber,  da  er  mit  dem  Ge- 

*  VIII,  35—36  (zitiert  S.  43  Anm.  3). 
2  Vgl.  dazu  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  32. 

^    III.       .    .    .    SUVÖV    hi    ^01    iOTW 

ÖTTTTodev  äpEujj.iai  ■  töOi  yop  ttciXiv  i'Eoiuai  audn;. 
^  VIII,  21 :  Tujq  -fi^eaic,  \xiv  äTt^aßeoTai  Kai  ä-iruaroq  öXeQpoc,.     Vgl.  Arist. 
de  caelo  III,  1,298  b:    ovQiv  -föp  oüxe  YiTvecföat  qpaoiv  oüte  qpöeipeööai   tüjv 
övTiuv,  6\\a  (iövov  boKcTv  f],uiv  oTov  oi  irepi  Mihoaöv  re  Kai  TTap|aevibr|v .  . . 


Die  eleatische  Schule.  51 

scheheu  und  Vergehen  doch  allen  Wechsel  bestreitet,  zu  einem 
eigentlichen  Substanzbegriff  zu  gelangen.  Das  Charakteristische 
des  Verharrens  seines  Seins  liegt  im  Bleiben,  in  der  Beharr- 
lichkeit, dem  ^eveiv'  schlechtweg,  also  gerade  darin,  daß  es  nicht 
im  Wechsel,  sondern  ohne  Wechsel  beharrt.* 

Freilich  könnte  es  scheinen,  als  führe  nun  Parmenides 
selbst  doch  noch  zu  einem  Substanzbegriff.  Denn  trotzdem 
seine  Metaphysik  alle  Physik  eigentlich  unmöglich  macht'^,  trägt 
er  im  zweiten  Teile  seines  Lehrgedichtes  selbst  eine  Physik 
vor,  die  zum  Unterschiede  vom  Reiche  des  wandel-  und  wechsel- 
losen Seins  das  Reich  des  Wechsels  und  Werdens  behandelt. 
Indes  für  das  Substanzproblem  entspringt  daraus  keine  Förderung, 
weil  eben  Wechsel  des  Ortes  und  der  leuchtenden  Farbe  nicht 
für  wahres  Sein  anerkannt,  sondern  dem  Schein  der  sinnlichen 
Erkenntnis  überwiesen  wird*  und  von  vornherein  der  physikalische 
Teil  der  Lehre  als  «sterbliche  Wahnmeinungen  und  seiner  Verse 
trügerischer  Bau»  von  Parmenides  selbst  charakterisiert  wird, 
der  ihm  selbst  nicht  mehr  als  «zuverlässig»  gilt.^  Und  doch, 
mögen  das  immerhin  bloße  Meinungen  sein,  es  sind  doch  Ge- 
danken, die  als  solche  teil  am  Sein  haben.  Daß  sie  Parme- 
nides für  gänzlich  leer  und  nichtig  angesehen  haben  sollte,  um 
sie  dann  doch  noch  zu  berichten,  daß  er  hier  also  bloß  Bericht- 


1  VIII,  30  (s.  S.  46  Anm.  4). 

^  Man  darf  zwar  Substanz  und  Materie  auch  in  der  antiken  Philosophie 
nicht  miteinander  verwechseln  und  identifizieren.  Aber  es  ist  derselbe  Grund, 
nämlich  das  Fehlen  des  Wechseins,  aus  dem  für  das  Problem  der  Materie,  wie 
Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  51  (vgl.  S.  47  Anm.  1),  zugibt,  kein  eigentlicher  Begriff  der 
Materie  sich  für  Parmenides  ergibt,  und  aus  dem  für  das  Substanzproblem 
sich  kein  eigentlicher  Substanzbegriff  ergibt.  Gerade  das  aber  gibt  doch 
wieder  beides  dagegen  zu  denken,  nun  mit  Bäumker  das  Sein  als  «Masse» 
zu  setzen. 

^  Das  eigentlich  «Aphysikalische»  ist  im  Altertum  natürlich  längst  scharf 
und  klar  erkannt  und  besonders  von  Piaton,  öfter  noch  von  Aristoteles  be- 
merkt worden. 

*  S.  S.  47  Anm.  1. 
^  VIII,  50—53: 

^v  Tüji  öoi  Tiaüiu  TTiaTÖv  \ÖY0v  f\be  vöri|ua 
diacpii;  6\rideir|<;  •  böEai;  b'  dirö  ToObe  ßpoTeiac; 
ladvOave  köoihov  d|uüJv  ^tt^uuv  äiraTriXöv  dKOÜuiv. 

4* 


52  2.  Kapitel. 

erstatter  fremder,  von  ihm  selbst  aber  als  wertlos  angesehener 
Meinungen  wäre,  ist  nicht  recht  zu  glauben.  Eine  gewisse  Not- 
wendigkeit muß  er  auch  diesen  «Meinungen»  zuerkannt  haben, 
wenn  ihr  Inhalt  auch  nur  eine  Welt  des  Scheins  gegenüber  der 
Welt  des  Seins  bedeuten  mag.^  Allein  die  Schwierigkeiten,  die 
sich  von  hier  aus  ergeben,  sind  nicht  zu  überwinden.  Mag  es 
sich  in  der  Physik  auch  nur  um  eine  Welt  des  Scheins  handeln, 
ist  sie  dann  nicht  wenigstens  als  eine  Welt  des  Scheins?  Und 
da  die  Physik  nun  doch  wohl,  auch  eben  nach  Parmenides, 
nicht  ganz  nichtig  ist,  verlangt  nicht  gerade  sein  eigenes  be- 
deutsames Drängen  auf  Geschlossenheit  und  Einheitssetzung 
auch  eine  Beziehung  von  Sein  und  Sehein  und  schließt  auf  der 
anderen  Seite  eine  solche  Beziehung  nicht  von  vornherein  gerade 
wieder  der  Gedanke  aus,  daß  die  Welt  des  Scheins  eben  doch 
nicht  wahrhaft  ist?  Man  hat  mannigfache  Erklärungen  für 
diesen  merkwürdigen  Lehrbestand  versucht.^  Am  nächsten  aber 
scheint  Medicus^  dem  Sachverhalt  zu  kommen,  wenn  er  die  Physik 
als  <Mythos»  faßt.  Eine  Erklärung  für  das  Verhältnis  beider 
Bestandteile  zueinander  ist  freilich  auch  damit  nicht  gewonnen. 
Vielleicht  liegt  die  rechte  «Erklärung»  darin,  daß  wir  es  eben 
in  der  Physik  mit  etwas  schlechtweg  Unerklärlichem  zu  tun 
haben,  weil  ihr  Inhalt  eben  nicht  dem  reinen  Sein  der  Ver- 
nunft angehört,  also  ein  irrationaler  ist.  Vielleicht  auch  be- 
deutet er  den  ersten  Schritt  vom  reinen  Sein  zur  Existenz, 
Das  wäre  für  das  Substanzproblem  von  Belang.  Allein  ich  muß 
sagen :  vielleicht.  Und  so  darf  ich  von  der  Physik  des  Parme- 
nides für  den  Substanzbegriif  keine  Schlüsse  wagen. 

Alles,  was  Parmenides'  Lehre  für  das  Substanzproblem  be- 
deutet, liegt  in  seiner  Seinslehre  beschlossen.    Das  Merkwürdige 

'  Vgl.  U.  von  Wilamowilz-Möllendorf  (Herinos  34,205  f.).  Dagegen 
hält  Bäurnker  die  Physik  des  Parmenides  nocli  für  ein  bloßes  «Referat», 
a.  a.  0.,  S.  6.3. 

^  Außer  den  allgemeinen  historischen  Darstellungen  ist  besonders  die 
mehrfach  erwähnte  Abhandlung  von  Tannery,  La  Physique  de  Parmenide, 
a.  a.  0.,  S.  264  ff.  von  Bedeutung. 

'  F.  Medicus,  Zur  Physik  des  Parmenides  (Philos.  Abhandlungen,  Max 
Hoinze  zum  70.  Geburtstage  gewidmet,  S.  137  ff.). 


Die  elealisclie  Schule.  53 

daran  ist,  daß  er  nicht  eigentlich  zu  einem  Substanzbegriffe 
gelangt  und  für  diesen  Begriff  doch  von  größerer  Bedeutung 
ist  als  die  Denker,  die  wir  vor  ihm  kennen  gelernt  haben: 
bedeutender  als  Thaies,  Anaximander,  Anaximenes,  insofern 
er  mit  Heraklit  explizite  im  Denken  das  Sein  faßt,  von  ihm 
unterschieden  aber  durch  die  Stellung  zum  Werden,  Aber  er 
bringt  auch  Heraklit  gegenüber  ein  neues  wertvolles  Moment 
in  die  Entwickelung  des  Substanzproblems,  insofern  er  gerade 
im  Denken  nicht  schon  das  Beharrliche  im  Wechsel  und  damit 
die  Substanz,  sondern  allein  ein  beharrliches,  in  sich  geschlossenes, 
einheitliches,  weder  vermehrbares  noch  verminderbares  Sein 
faßt,  und  damit  die  logische  Grundlegung  vorbereitet  für  das 
Dasein  und  damit  für  die  Substanz.  Heraklits  Größe  lag  darin, 
daß  er  im  Logos,  in  der  Vernunft,  das  Sein  selbst  ergriff  als 
Wechsel  und  die  Vernunft  als  die  bleibende  Bestimmung  des 
Wechsels,  die  Substanz,  erkannte.  In  diesem  unmittelbaren  Er- 
fassen des  Wechsels  wird  ihm  zwar  die  Substanz,  aber  nicht 
eigentlich  das  Sein  zum  Problem.  Da  setzt  nun  sein  Antipode 
Parmenides  ein.  Zwar  ergreift  auch  er  das  Sein  unmittelbar 
in  der  Vernunft,  zunächst  aber  sofort  als  Problem,  indem  er 
es  als  beharrlich,  einheitlich,  unvermehrbar,  unverminderbar 
auf  der  Vernunft  gründet,  indem  er  erkennt,  daß  das  Denken 
selbst  nicht  ohne  dieses  Sein,  in  dem  es  sich  ausgesprochen 
findet,  könne  gedacht  werden.  Dadurch  also,  daß  er  nicht  bloß 
im  Denken  unmittelbar  überhaupt  das  Sein  ergreift,  sondern 
dies  gerade  erst  dadurch  tut,  daß  er  es  aus  dem  Denken  selbst 
ableitet,  es  als  Inhalt  des  Denkens  analysiert,  schafft  er  die 
logische  Grundlage  für  die  Erkenntnis  eines  beharrlichen  Da- 
seienden selbst,  jene  Grundlage,  auf  die  forthin  das  Substanz- 
problem selbst  gestellt  werden  konnte  und  gestellt  werden 
mußte,  um  seine  weitere  Entfaltung  gewinnen  zu  können. 

3.  Wenn  das  überhaupt  möglich  ist,  so  sucht  mit  noch 
größerer  Energie  als  sein  Meister  Parmenides  dessen  Freund 
und  Schüler,  Zenon  von  Elea,  die  Einheit  des  Seins  zu  be- 
haupten. So  viel  Eigenes  und  Wertvolles  aus  seiner  apolo- 
getischen Tendenz  gleichsam  als  ein  Nebeneffekt  resultiert,  so 
führt  er    doch  eerade  unser  Problem  nicht   merklich  über  den 


54  2.  Kapitel. 

von  Parmenides  erreichten  Stand  hinaus.  Bei  seiner  apologeti- 
schen Tendenz  steht  von  vornherein  schon  zu  erwarten,  daß  er 
sich  gerade  im  Zentralbegriff  der  Lehre  mit  Parmenides  decken 
wird,  daß  er  also,  wie  Zeller  richtig  bemerkt,  sich  «das  Seiende 
nicht  anders  gedacht  haben  wird,  als  jener ».^  Daher  haben 
auch  ganz  konsequenterweise  diejenigen  Geschichtsforscher,  die 
das  Sein  bei  Parmenides  idealistisch  gedeutet  haben,  dieses  auch 
bei  Zenon  idealistisch  gefaßt^  und  diejenigen,  die  das  Sein  bei 
Parmenides  stofflich  genommen  haben,  es  auch  bei  Zenon 
stofflich  betrachtet.^  Mir  scheint  freilich  die  Entscheidung  für 
die  eine  oder  die  andere  Auffassung  bei  Zenon  fast  noch  schwie- 
riger zu  sein,  als  bei  Parmenides. 

Zenons  Verfahren  ist,  wie  schon  Piaton*  erkannt  hat,  das 
einer  höchst  entwickelten  Dialektik.  Er  sucht  die  Einheit  des 
Seins  zu  beweisen,  indem  er  die  Vielheit  widerlegt:  «Wenn  es 
Vieles  gibt,  so  muß  es  notwendigerweise  doch  gerade  sovieles 
geben,  als  es  eben  wirklich  gibt,  nicht  mehr  und  nicht  weni- 
ger. Gibt  es  aber  gerade  soviel,  als  es  gibt,  so  ist  es  be- 
stimmt begrenzt.» 

Diesem,  zunächst  nur  die  Konstanz  des  Seins  zum  Aus- 
druck bringenden  Satze  steht  aber  der  Gegensatz  gegenüber: 
«Gibt  es  Vieles,  so  ist  es  unbegrenzt.  Denn  zwischen  dem 
einzelnen  Seienden  liegt  stets  wieder  Seiendes  und  dazwischen 
wieder  anderes.  Also  ist  das  Seiende  unbegrenzt.»^  Ebenso 
muß  es,  wenn  das  Sein  eine  Vielheit  ist,  sowohl  unendlich 
groß,  wie  unendHch  klein  sein:  jenes,  weil  es  zwischen  jedem 
Sein  und  jedem  anderen  Sein,  damit  sie  doch  voneinander 
unterschieden  werden  können,  etwas  geben  muß  und  zwischen 
diesem  wieder  etwas  usf.  ins  Unendhche;  unendlich  klein,  weil 
die  Vielheit  doch  aus  Einheiten  bestehen  muß,  die  Einheit  aber 


1  A.  a.  0.  I,  S.  537. 

2  So  Strümpell,  a.a.O.,  S.  45,  Natorp,  a.a.O.,  ebenda  ff.,  Kinkel,  a.  a.  0. 
I,  S.  145  ff. 

3  So  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  534  ff.,  Windelband,  a.  a.  0.,  ö.  37,  Gomperz, 
a.  a.  0.  I,  S.  156,  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  58. 

*  Vgl.  Phaedr.  201,  d. 

^  Simpl.  Phys.  140  (Diels,  ir.  3,  Fragm.  I,  S.  134). 


Die  eleatische  Schule.  55 

unteilbar,  also  unendlich  klein  sein  muß  und  die  Summe  aus 
Unendlich-Kleinem  keine  Größe  ergibt.^ 

Hier  scheint  nun  das  Sein  auf  jeden  Fall  räumlich  ge- 
dacht zu  sein.  Aber  es  könnte  weiter  ebensogut  scheinen,  als 
suche  Zenon  mit  der  Vielheit  des  räumlichen  Seins  nun  über- 
haupt das  räumliche  Sein  zu  widerlegen,  wie  daß  er  von  vorn- 
herein das  Sein  räumlich  denke,  aber  nur  dessen  Vielheit 
widerlege,  um  die  räumliche  Einheit  des  Seins  zu  behaupten. 
Auch  wenn  er  die  Bewegung  damit  zu  widerlegen  sucht,  daß 
ein  Bewegtes  sich  doch  in  dem  Räume,  den  es  einnimmt,  nicht 
bewegt,  weil  es  ihn  dann  eben  nicht  einnehmen  würde  und  in 
dem  Räume,  in  dem  es  sich  nicht  befinde,  doch  auch  nicht 
bewegen  könne-,    so  ist    auch   damit  weder  gesagt,  daß  er  die 


1  Ebenda  und  139  (Diels,  fr.  1  und  ii,  Fragm.  S.  133  f.).  Man  bemerkt 
hier,  wie  Zenon  ein  ungemein  interessantes  Problem  erwächst,  wenn  er  auch 
nicht  schon  zum  Begriff  einer  stetigen  Summation  infinitesimaler  Momente 
gelangt  und  er  dann,  modern  gesprochen,  noch  das  Differential  mit  Null  ver- 
wechselt. Er  macht  in  der  Sphäre  des  Begriffs  gerade  den  umgekehrten 
Fehler  wie  in  der  der  Anschauung,  wo  er  die  Gi'enzen  selbst  glaubt  real  setzen 
zu  müssen  und  so  zwischen  die  Grenzen  wieder  Grenzen,  die  realiter  immer 
wieder  die  Grenzen  begrenzten,  in  infinitum  einschiebt. 

^  Diog.  Laert.  IX,  72  (Diels,  fr.  4,  Fragm.  I,  S.  ]  35)  tö  Kivoü|aevov  out' 
^v  du  iati  TÖTTUui  Kiveixai  out'  ^v  dii  |uri  eöTi.  Für  das  Substanzproblem  von 
Interesse  ist  dabei,  obwohl  es  ja  von  Zenon  dadurch  auch  weiter  wieder  ab- 
geschnitten wird,  dafä  Zenon  einen  Wechsel  sicher  nur  bei  einer  Vielheit  des 
räumlichen  Seins  für  möglich  hält.  Aber  eben  mit  dieser  Vielheit  muß  ihm 
von  vornherein  auch  der  Wechsel  wegfallen.  Da  ihm  der  Wechsel  der  Viel- 
heit des  räumlichen  Seins  eben  die  Bewegung  ist,  gibt  er  die  oben  bezeichnete 
Widerlegung  der  Bewegung.  Diese  zeitigt  dann  weiter  die  bekannten  und  be- 
sonders seit  Aristoteles  (vgl.  besonders  Phys.  IV,  3,210  und  VI,  9,239)  viel 
besprochenen  Bewegungsaporien.  Sie  gipfeln  in  letzter  Linie  gleicherweise  in 
dem  Gedanken  der  unendlichen  Teilbarkeit  der  Bewegungsstrecke,  deren  ins 
Unendliche  fortgesetzte  Teilbarkeit  für  die  beliebig  kleine  Entfernung  von 
Ausgangspunkt  und  Zielpunkt  keinen  Fortgang  von  jenem  zu  diesem  gestattea 
soll.  Auch  hier  macht  sich  die  hehnhche  Gleichsetzung  von  Null  und  Un- 
endlichkleinem und  der  Mangel  einer  Integrationsmöglichkeit  bemerkbar.  Damit 
taucht  aber,  und  das  ist  das  bleibend  Bedeutsame,  ein  Gedanke  —  wenigstens 
als  Problem  —  auf,  der  seine  Erledigung  freilich  erst  in  der  höheren  Analysis 
finden  sollte,  wie  von  bleibendem  Werte  der  hier  zugleich  entdeckte  Begriff 
der  Relativität  der  Bewegung  ist.  Vgl.  dazu  Wellmann:  Zenons  Beweise  gegen 
die  Bewegung  und  ihre  Widerlegungen  (Gyran.-Progr,  Frankfurt  a.  0.). 


56  2.  Kapitel. 

Räumlichkeit  des  Seins  habe  widerlegen,  noch,  daß  er  sie  da- 
mit habe  behaupten  wollen.  Denn  unbewegt  könnte  Zenon 
sich  das  Sein  ebensogut  gedacht  haben,  wenn  er  es  als  im 
Räume  ruhend,  wie  wenn  er  es  unräumlich  gesetzt  hätte.  Die 
größte  Schwierigkeit  aber  liegt  wohl  darin,  daß  auf  der  einen 
Seite  das  wirklich  Unteilbare,  die  Einheit  nach  dem  zweiten 
Argument,  keine  Größe  haben  soll,  da  ja  nur  so  auch  die 
Summe  der  vielen  Einheiten  nichts  ergeben  kann,  daß  aber 
auf  der  anderen  Seite  das,  was  keine  Größe  haben  soll,  eben 
darum  selbst  nichts  sein  soU.^  Nun  ist  aber  doch  gerade  das 
Sein  des  Parmenides  ein  Eines  und  Unteilbares,  und  diese  Ein- 
heit und  Unteilbarkeit  hat  ohne  Zweifel  auch  Zenon  mit  der 
Verteidigung  des  Parmenideischen  Seins  behauptet.  Auch  er 
setzt  es  als  ev  ouvex^?-^  Wenn  aber  die  Einlieit  keine  Größe 
haben  soll,  das,  was  keine  Größe  haben  soll,  auch  nicht  sein 
soll,  müßte  dann  nicht  folgen,  daß  das  Eine  Sein  auch  des 
Zenon  nicht  sei? 

Alle  diese  Schwierigkeiten  lassen  sich,  soweit  ich  sehe,  nur 
dann  auflösen,  wenn  wir  in  dem  Einen  wahrhaften  Sein  das 
reine  begrifi'liche  Sein  des  Parmenides  anerkennen,  das  keine 
Größe  hat,  in  dem  größenhaften,  teilbaren  Sein  aber  das  Sein 
der  räumlichen  Anschaulichkeit  sehen,  innerhalb  dessen  die 
Größe  die  der  Körperlichkeit^,  das  Sein  von  vornherein  das 
der  anschaulichen  Vielheit  ist,  die  zum  Widerspruch  führt,  also 
nicht  wahrhaftes  Sein  ist,  sondern  der  Sphäre  der  Parmeni- 
deischen Physik  angehört.  Was  in  der  einen  Sphäre  von  der 
Einheit  gilt,  gilt  von  dieser  aber  nicht  in  der  anderen  und 
umgekehrt.  Die  Gegensätze  in  den  oben  bezeichneten  Gegen- 
satzpaaren stünden  darum  nicht  im  Verhältnis  des  Widerspruches, 
sondern  in  dem  der  Antinomie."^    In  der  Tat  scheint  ein  Argu- 


^  Simpl.  Phys.  140  (Diels,  fr.  1,  Fragm.,  S.  133):  ei  nn  ^xo»  M^T^^o?  tö 
öv,  oib'  öv  eir]. 

2  Arist.  Phys.  VI,  2,233  b. 

*  Arisl.  Met.  II,  4,1001b:  icai  ei  h^y^öo?,  auuiuoTiKÖv. 

^  Zeller  bezeichnet  das  durchaus  zutreffend,  wenn  er  a.  a.  0.  I,  S.  541 
ausführt:  «Zenon  redet  hier  zunächst  nicht  von  dem  einen  Seienden,  sondern 
von  der  Voraussetzung   der  Vielheit    ausgehend   sagt   er,   wie  jedes    von   den 


Die  eleatische  Schule.  57 

ment^  gegen  die  RäiimlichkeÄ  des  Einen  Seins  entscheidend 
zu  sein:  Wenn  das  Sein  räumlieh  wäre,  müßte  doch  der  Raum, 
sofern  er  selbst  ist,  wieder  im  Räume,  dieser  wieder  im  Räume 
u.  s.  f.  ins  UnendUche  sein.  Damit  soll  aber  doch  das  räumliche 
Sein  explizite  widerlegt  sein.-    So  bleibt  Zenon  in  letzter  Linie, 

vielen  Dingen  gedacht,  werden  müßte.  Sofern  er  aber  zeigt,  daß  jedes  Ding, 
um  eines  zu  sein,  auch  uuteübar  sein  müßte,  würde  seine  Behauptung  auch 
auf  das  eine  Seiende  Anwendung  finden:  auch  dieses  muß,  um  eins  zu  sein, 
unteilbar,  Iv  auvex^q  sein».  —  So  richtig  das  ist,  so  bleibt  nur  nicht  abzusehen, 
worin  nach  Zeller,  der  das  Sein  des  Parmenides  und  das  des  Zenon  räumlich 
faßt,  dann  der  Unterschied  liegen  soll  zwischen  dem  einen  Sein,  das  wahrhaft 
sein  soll,  und  jenem  einen  Sein,  das  als  Bedingung  der  sicher  räumlich  ge- 
dachten Vielheit  nicht  soll  sein  können. 

'  Arist.  Phys.  IV,  1,209a:  ei  y^P  ttcIv  tö  öv  iv  töttuji,  br|\ov  öti  Kai 
ToO  TÖTTOU  TÖTIOC,  äoitti,  Kai  TOÖTO  ei(;  äireipov  irpöeiaiv. 

-  Es  bliebe  freilich  noch  eine,  und  zwar  die  einzig  konsequente  Mög- 
lichkeit, trotzdem  das  Sein  Zenons  räumlich  zu  fassen,  wenn  man,  wie  Windel- 
band a.  a.  0.,  S.  37  das  tut,  in  jenem  Argument  Zenons  lediglich  eine  Wider- 
legung des  leeren  Raumes,  nicht  des  räumlichen  Seins  überhaupt  erbhckt. 
Man  käme  dann  keineswegs  zu  der  Absurdität  einer  grenzenlosen  Kugel,  denn 
die  Zenonische  Kugel,  wenn  man  an  eine  solche  dächte,  könnte  immerhin  eine 
festbegrenzte  Weltkugel  sein  oder  irgend  sonst  ein  begrenztes  körperliches 
Sein.  Auch  würde  die  Auffassung  Windelbands  der  Einheit  des  Seins  insofern 
nicht  widerstreiten,  als  man  nicht  sagen  könnte,  außer  diesem  Einen  Sein 
müßte  es  ja  noch  ein  Sein  geben,  eben  das  des  Raumes.  Denn  soweit  der 
Raum  wäre,  fiele  er  mit  dem  Einen  Sein  zusammen  und  außer  ihm  gäbe  es 
ja  kein  Sein,  da  der  leere  Raum  nicht  sein  sollte.  Allein  eine  Schwierigkeit, 
die  mir  Windelbands  Auffassung,  obwohl  sie  für  die  körperliche  Deutung  des 
Eleatischen  Seins  die  einzig  konsequente  wäre,  unannehmbar  macht,  besteht 
darin,  daß  die  körperliche  Begrenzung  zwar  kein  Sein  außer  dem  Sein,  aber 
dann  doch  das  Nichts  erforderte  und  damit  die  Begrenzung  wieder  aufhöbe, 
wie  das  Natorp  a.  a.  0.,  S.  11  (vgl.  S.  47  Anrn.  1),  mit  dem  Hinweis  darauf 
gezeigt  hat,  daß  das  körpei'lich  begrenzte  Sein  weder  an  ein  anderes  Sein,  da 
es  ein  solches  ja  nicht  geben  sollte,  noch  an  das  Nichts,  da  es  ja  ein  solches 
ebenfalls  nicht  geben  sollte,  grenzen  könnte.  Wenn  nun  schheßhch  auch 
Zenon  gerade  zu  dem  «Nichts»  so  ausdrücklich,  wie  Parmenides,  eine  ab- 
lehnende Stellung  eingenommen  hat,  so  läßt  sein  inniger  Anschluß  an  seinen 
Lehrer,  seine  apologetische  Tendenz  hinsichtlich  des  Seins  doch  von  vornherein 
vermuten,  daß  er  sich  hinsichtlich  des  Nicht-Seins  ebenfalls  mit  ihm  in  Über- 
einstimmung befunden  habe.  Und  implizite  liegt  der  Beweis  dafür,  daß  er  in 
diesem  Punkte  durchaus  den  Tenor  des  Eleatischen  Denkens  gewahrt  habe,  ja 
auch  darin,  daß  er  die  Vielheit  des  Seins  damit  ablehnte,  daß  er  zeigen  zu 
können  meinte,  sie  könne  nicht  sein. 


58  2.  K&pitel. 

wie  Parmenides,  bei  der  Idee  des  absoluten  Seins  stellen.  Das 
räumliche  Sein  gilt  ihm,  wie  die  Bewegung  im  Räume  als  re- 
lativ, ins  Reich  der  Parmeuideischen  Physik  gehörig.  Insofern 
er  aber  allen  Wechsel  selbst  als  Bewegung  fassen  muß,  zu  einem 
Begriffe  der  reinen  Bewegung  und  des  Wechsels  jedoch  nicht 
gelaugt,  bleibt  er  bei  seinem  Begriffe  des  reinen  Seins  stehen, 
bei  einem  beharrlichen  Sein,  das,  wie  bei  Parmenides,  ohne 
Wechsel,  nicht  im  Wechsel  beharrt,  und  bringt  für  das  Sub- 
stanzproblem keinen  wesentlich  neuen  Beitrag.  Was  trotzdem 
aber  doch  unserem  Probleme  zugute  kommt,  ist  der  Umstand, 
daß  hier,  wie  Windelband  sagt\  «der  Gegensatz  von  Verstand 
und  Anschauung»  zu  lebendiger  Entfaltung  gelangt.  Das  war 
notwendig,  damit  gerade  auch  für  das  Substanzproblem  der 
Gegensatz  in  der  weitereu  Entwickeluug  wieder  zu  einem  Aus- 
gleich- gelangen  konnte.  Exphzite  hat  das  Substanzproblem 
von  Zenon  zwar  keine  Förderung  erhalten.  Aber  seine  ganze 
Dialektik  gibt  implizite  doch  dafür  Impulse,  die  für  die  Weiter- 
bildung nicht  zu  unterschätzen  sind. 

4.  An  Tiefe  des  Denkens  nicht  mit  Parmenides,  an  Schärfe 
des  Denkens  nicht  mit  Zenon  vergleichbar  wird  die  eleatische 
Richtung  durch  Melissos  beschlossen.  Was  von  seiner  philo- 
sophischen Tendenz  für  unser  spezielles  Problem  von  Belang 
ist,  das  weist  durchaus  auf  seine  Vorgänger  zurück.  Da,  wo 
er  von  ihnen  differiert,  tut  er  es  auf  Kosten  der  gedank- 
lichen Strenge;  und  was  sich  ihm  dabei  auch  selbständig  und 
neu  gestaltet,  das  fördert  unser  Problem  darum  nicht  erheblich, 
weil  ihm  die  begriffliche  Ausgeglichenheit  fehlt. ^  Von  Bedeu- 
tung ist  es,  daß  er  mit  Parmenides  die  Einheit  des  Seins  nicht 
auf  der  SinnHchkeit  gründet  und  zeigt,  daß  in  der  sinnlichen 
Vielheit  auch  nicht  einmal  das  viele  Einzelne  mit  sich  selbst 
zur  Einheit  und  Identität  gelange,  indem  «uns  das  Warme  kalt 
und  das  Kalte  warm,  das  Harte  weich  und  das  Weiche  hart 
zu  werden  und  das  Leben  zu  sterben  und  aus  dem  Nicht- 
lebenden   Leben    zu   entstehen  scheint» daß    uns    «also 


^  A.  a.  O.  ebenda. 

^  Vgl.  dazu  besonders  die  treffenden  Ausführungen  von  Kinkel,  a.  a.  0., 
I,  S.  164  f.  und  S.  170. 


Die  eleatische  Schule.  59 

der  AugeDScheiu  auf  Gruud  der  einzelnen  Wahrnehmung» 
täuscht  uiid  daß  «stärker  als  die  wirklich  vorhandene  Wahr- 
heit nichts  ist».^  Daß  er  neben  der  Betonung  der  Einheit  des 
Seins  den  Sätzen,  daß  «aus  nichts  nichts  werden  kann»^  und 
daß  das  Seiende  «weder  vermehrt  noch  vermindert  werden  kann»^, 
eine  besonders  präzise  Fassung  gibt,  ist  für  unseren  Zusammen- 
hang nicht  unwesentlich.  Weniger  stringent  ist  freilich  sein 
Beweis  dafür,  daß  das  Sein  andererseits  auch  nicht  aufhören 
könne  zu  sein,  für  den  er  sich  auf  die  Ungewordenheit  stützt.'^ 
Der  zeitlichen  Unendlichkeit  entspricht  bei  ihm  unvermittelt 
aber  sofort  die  räumliche,  und  die  Gleichheit  und  Identität  des 
Seins  fällt  bei  ihm  gleich  zusammen  mit  der  räumlichen  Un- 
veränderlichkeit  und  Unbewegtheit.^  Zunächst  zwar  könnte  es 
scheinen,  als  ob  Melissos,  wenn  er  von  der  zeithchen  Unend- 
hchkeit,  wie  von  der  Unendlichkeit  der  Größe  nach*^  spricht, 
lediglich  unter  dieser  die  unendliche  Zeitgröße  selbst  meinte, 
und  so  ließe  sich  schließlich  auch  noch  sein  Begriff  der  Grenze 
zeitUch  deuten,  wenn  er  aus  der  Unendlichkeit  die  Unmöglich- 
keit der  Mehrheit  des  Seins  zu  beweisen  unternimmt.'     Allein 


^  Übersetzung  von  Diels,  fr.  8,  Fragm.  I,  S.  148. 

^  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  162  (fr.  1,  Diels  I,  S.  14.3):  .  .  .  oübafiä  äv  Ytvoixo 
oübev  i.K  jLiribevöi;;  vgl.  Arist.  Soph.  el.  5,167  b. 

^  Simpl.  a.  a.  O.,  S.  111  (fr.  7,  Diels  I,  S.^14.5):  jurite  upoaYiTveTai  lurjb^v 
larire  duöXXuxai. 

"  Vgl.  fr.  2. 

^  Diog.  Laert.  IX,  24:  ^bÖKei  be  aüxuji  tö  iräv  aireipov  etvai  Kai  dva\- 
Xoi'ujTov  Kai  dKiviiTOv  Käi  ev  ö|uoiov  eauTUJi  Kai  irXrjpec;.  Kivriöiv  xe  inq  etvai, 
boKeiv  bi  eivai.  Dala  bei  Melissos,  trotz  seiner  Ableugnung  des  Werdens, 
Heraklitische  Momente  wirksam  sind,  das  ist  hier  ebenso  richtig  bemerkt,  wie 
ja  auch  Arist.  außer  Met.  I,  5,986  b  noch  Phys.  I,  3,186  a  und  III,  5,207  a 
deutlich  auf  den  Unterschied  zwischen  Parmenides  und  Melissos  hinweist. 
Denn  gerade  hinsichtlich  der  zeitlichen  Unendlichkeit  wird  das  schon  deutlich. 
Nach  Parmenides  konnte  man  ja  nicht  einmal  sagen,  daß  das  Sein  immer 
war  und  sein  wird,  weil  es  ewig  im  Jetzt  vorhanden  ist,  wodurch  Parmenides 
die  Ewigkeit  des  Seins  eigentlich  schon  über  die  Zeit  hinausrückte.  Melissos 
hingegen  hat  gerade  hier  die  Heraklitische  Wendung,  «daß  es  immer  war  und 
sein  wird»,  genommen  (vgl.  fr.  2). 

«  Vgl.  fr.  3  (Diels,  S.  144). 

'  Vgl.  fr.  5  und  6  (Diels,  ebenda). 


60  2.  Kapitel. 

die  ausdrückliche  Unterscheidung  von  ewig  und  unendlich,  die 
Behauptung,  daß  weder  ewig  noch  unendlich  ist,  was  einen 
Anfang  hat\  spricht  dagegen  und  erlaubt  nur  eine  räumliche 
Auffassung  des  Seins  bei  Mehssos. 

Daß  weiter  von  dem  Sein  die  Bewegung  ausgeschlossen 
ist,  spricht  auch  nicht  gegen  eine  räumliche  Deutung.  Im 
Gegenteil  spricht  die  enge  Beziehung,  die  Bewegung  und  leerer 
Raum  hier  zueinander  haben,  gerade  für  eine  räumliche  Deu- 
tung. Denn  die  Bewegung  ist  nur  deshalb  als  unmöglich  ge- 
dacht, weil  es  nicht  etwa  überhaupt  keinen,  sondern  gerade 
weil  es  keinen  leeren  Raum  gibt,  den  es  aber  geben  müßte, 
wenn  sich  das  Sein  bewegen  sollte,  den  es  aber  nicht  gibt,  weil 
das  Sein  selbst  voll  ist  und  das  Leere  darum  nicht  ist,^  Ein 
Umstand  bereitet  nur  Schwierigkeit.  Obwohl  das  Sein  des 
Melissos  unendlich  raumerfüllend  sein  soll,  soll  es  doch  auch 
unkörperlich  sein.  Denn  weil  es  Eines  ist,  soll  es  keine  Dichte 
haben.  Denn  hätte  es  diese,  so  hätte  es  Teile  und  wäre  nicht 
mehr  Eines.  Also  darf  es,  weil  ein  Körper  Dichte  hätte,  auch 
keinen  Körper  haben. ^    Allein   die   Schwierigkeit  läßt  sich  da- 


^  Simpl.  a.  a.  0.,  110  (fr.  4,  Diels  I,  S.  144):  äpxnv  xe  koi  x^Xoq  Ixov 
ovb^  oüxe  6ibiov  oüxe  äircipöv  daxiv. 

^  Arist.  Phys.  IV,  6,i213b:  Mehaaoc,  \xev  ouv  Kai  beiKvuai  öxi  xö  irciv  dKi- 
vi-jxov  6K  xoüxuuv  '  €1  faß  Kivrioexoi,  dvdYKrj  eivm  (qJiq^^O  kcvöv,  xö  bd  Kevöv 
oü  xujv  övxuuv;  vgl.  auch  fr.  7,  wo  es  heißt,  daß  das  Sein  voll  ist,  also  das 
Leere  nicht  ist,  und  daß  das  Sein  darum  nichts  hätte,  wohin  es  ausweichen 
könnte  und  deshalb  also  unbeweglich  sei. 

*  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  109  (fr.  9,  Diels  I,  S.  149):  ei  ^iv  ovv  eh-\,  bei  auxö 
'dv  elvai  •  ev  bi  öv  bei  aöxö  oüJiaa  |nri  'ix^iv.  ei  hi  '^x^i  Trdxoi;,  ixo\  öv  inöpia, 
Kai  ouK^xi  ev  eirj.  Man  braucht  gar  nicht  in  den  ersten  Worten  ei  |udv  oöv 
für  ouv  etwa  döv  zu  lesen,  um  dennoch  überzeugt  zu  sein,  daß  es  sich  um  das 
eine  Seiende  handelt.  Bäumker  sucht,  da  er,  wie  den  ganzen  Eleatismus, 
so  auch  Melissos  materialistisch  deutet,  diese  Stelle  abzuschwächen,  indem 
er  a.  a.  0.,  S.  .59  f.  zwar  scharfsinnig,  aber  doch  nicht  zutreffend,  gegen  sie 
geltend  macht,  «daß  sich  in  den  Fragmenten  des  Melissos  als  Subjekt 
vierzehnmal  xö  ^öv  mit  Artikel,  kein  einziges  Mal  ohne  denselben  findet».  Er 
meint  deshalb:  «Das  Wort  würde  daher  auch  an  unserer  Stelle  als  Prädiljat 
eines  nicht  mehr  zu  ermittelnden  Subjektsbegriffs  anzusehen  sein;  vgl.  N.  Jahrb. 
f.  Phil.  132,  S.  .545».  Allein,  worum  es  sich  in  dem  nicht  zu  ermitteln  sein 
sollenden  Subjektsbegriff  aliein  handeln  kann,  das  scheint  doch  aus  der  zwei- 
fachen Setzung  des  ev  evident   zu  werden.     Selbst  wenn   das   erste   ev   nicht 


Die  eleatische  Schule.  61 

durch  heben,  daß  wir  die  unendliche  Rauraerfüllung  von  der 
KörperHchkeit  unterscheiden.  Unter  Körperlickeit  hat  Melissos 
■wohl  nicht  die  unendliche  Raumerfüllung  selbst,  sondern  gerade 
die  Begrenztheit  und  Figuration  der  Raumerfüllung  verstanden. 
Darauf  deutet  der  Umstand,  daß  er  das  All  unendhch,  den 
Kosmos  aber  begrenzt  setzt. ^  Sein  Eines  wird  zur  Materie, 
zur  vh-]  im  Aristotelischen  Sinne.^  Deren  Raumerfülluug  ist  ihm 
eine  absolute  und  unendliche,  die  der  Körperlichkeit  als  Dichte 
aber  eine  relative  und  begrenzte.  Darum  mußte  Melissos  von 
dem,  was  unendlich  und  absolut  «voll»  ist,  die  Körperlichkeit 
mit  ihrer  relativen  Dichte,  Begrenztheit  und  Figuration  aus- 
schließen, und  so  widerspricht  die  Behauptung  des  einen 
nicht  nur  nicht  der  Leugnung  des  anderen,  sondern  die  Schwierig- 
keit fällt  vielmehr  dadurch  weg,  daß  eines  das  andere  wechsel- 
entscheidend wäre,  das  zweite  Iv  mit  dem  hi  öv  läßt  keinen  Zweifel  mehr 
aufkommen.  Dennoch  hat  hier  bei  Melissos,  wenn  auch  nicht  mit  der  Be- 
gründung, so  doch  mit  der  materiellen  Deutung  im  allgemeinen  Bäumker 
recht.  Nur  kann  er  das  Recht  nicht  mit  einer  Abschwächung  dieser  Stelle 
erhärten.  Die  Begründung  liegt  an  einer  anderen  Stelle.  Vgl.  die  nächste 
Anmerkung. 

*  Stob.  Ekl.  I,  440:  tö  }xiv  iräv  otTieipov,  töv  bi  KÖai^iov  iretrepaaiLievov. 
Der  Kosmos  kann  hier  zum  Untei'schiede  vom  All  uur  im  Sinne  etwa  der 
Parmenideischen  Physik  verstanden  werden,  wobei  sich  zeigt,  daß  der  ursprüng- 
liche Parmenideische  Standpunkt  in  gewisser  Weise  gerade  umgekehrt  wird. 
Das  All  ist  für  Melissos  das  wahrhaft  seiende  Unendliche,  während  für  Par- 
menides  das  wahrhafte  Sein  in-sich-geschlossen  ist,  aber  im  begrifflichen  Sinne. 
Der  Kosmos  ist  für  Melissos  gerade  das  in  sich  Geschlossene,  das  nicht  wahr- 
haft ist,  sondern  wie  die  Bewegung  und  das  Endliche  überhaupt  der  sinnfälligen 
Welt  der  Scheinbarkeit,  also,  wie  Parmenides  sagen  müßte,  der  Physik  an- 
gehört. Freilich  ist  diese  In-sich-Geschlossenheit  bei  Melissos  nicht  wie  bei 
Parmenides  eine  logische,  sondern  eben  eine  physikalische.  Hier  wird  noch 
einmal  die  Aristotelische  Unterscheidung  zwischen  Pai-menides  und  Melissos, 
wonach  jener  das  Eine  Kaxd  töv  Xöyov,  dieser  Kard  t)"-)v  öXriv  (Met.  I,  5,986  b) 
auffasse,  deutUch  (vgl.  S.  47  Anm.  1).  Es  bleibt  nur  zu  bedauern,  daß  Aristo- 
teles diese  richtige  Erkenntnis  so  wenig  durchgeführt  und  sie  im  übrigen  so 
gut  wie  ganz  wieder  fallen  gelassen  hat.  Die  Art,  wie  Bäumker  vollends 
hier  die  Aristotelische  Unterscheidung  verwertet,  scheint  mir  an  den  Begriff 
des  Xöfoc,  gar  nicht  heranzukommen.  Wenn  nicht  gar  in  der  ü\r|,  so  bleibt  sie 
hier  zum  mindesten  in  der  Sphäre  der  aiaöiiöti;  haften. 

^  Arist.  a.  a.  0.  ebenda,  vgl.  vorige  Anm. 


62  2.  Kapitel. 

seitig  geradezu  fordert.  Freilich  zeigt  sich  hier  gerade  mit  be- 
sonderer DeutHchkeit  das  Unausgeghchene  in  dem  Verhältnis 
von  Denken  und  Anschauung.  Immerhin  könnte  es  scheinen, 
als  komme  Melissos  in  dem  Begriffe  des  Räumlich- Vollen  dem 
Substanzprobleme  mehr  zu  Hilfe,  als  sogar  Parmenides,  indem 
er  nun  von  der  Sphäre  des  reinen  Seins  fortschreitet  zur  seienden 
Substanz,  die  von  ihm  als  materielle  Substanz  gedacht  wäre, 
und  die  nun  die  von  Parmenides  im  Begriffe  des  reinen  Seins 
geforderten  Bedingungen  erfüllte,  ja  mit  ihrer  Unendhchkeit 
über  sie  hinausginge.  Allein  dieses  scheinbare  Fortschreiten 
ist  in  Wahrheit  ein  bloßes  Hinübergleiten  ei^  dXXo  Y^vog,  ohne 
eine  feste  Beziehung  zwischen  dem  einen  und  dem  anderen  zu 
entdecken.  Insofern  nämhch  die  begriffliche  In-sich-Geschlossen- 
heit  des  Parmenideischen  Seins  an  und  für  sich  zwar  zunächst 
eine  andere  Sphäre  bezeichnet,  als  die  räumliche  Unendhchkeit  bei 
Melissos,  und  insofern  auf  der  anderen  Seite  diese  auf  jene  selbst 
zurückweist,  ohne  daß  eben  Melissos  sie  in  eine  rechte  Beziehung 
zu  dieser  zu  setzen  vermochte,  darf  hier  von  einem  eigentlichen 
Weiterführen  des  Problems  doch  noch  nicht  gesprochen  werden. 
Insofern  aber  gerade  das  Räumlich-Volle  gewisse  Bedingungen 
des  Parmenideischen  Seins  erfüllt,  vermag  es  darum  doch  noch 
nicht  die  Forderungen  des  substantiellen  Seins  zu  erfüllen. 
Selbst  wenn  man  das  Räumlich -Volle  als  Materie  ansprechen 
darf,  ist  diese  Materie  doch  noch  nicht  materielle  Substanz  im 
eigentlichen  Sinne,  wie  es  die  der  ersten  Naturphilosophie  war, 
allerdings  ohne  durch  den  Begriff  des  reinen  Seins  hindurch- 
gegangen zu  sein,  wie  es,  freilich  nur  in  gewisser  Hinsicht,  das 
Räumlich- Volle  des  Melissos  ist.  Nur  in  dieser  Hinsicht  streut 
dieser  darum  einen  Samen  für  die  Weiterentwickelung  des 
Problems  aus.  Er  stellt  oder  vielmehr  er  deutet  nur,  ohne  das 
Substanzproblera  im  eigentlichen  Sinne  selbst  weiterzuführen, 
als  es  durch  das  Seinsproblem  bei  Parmenides  geführt  ist, 
ja  ohne  dieses  in  der  bei  seinem  Meister  erlangten  Tiefe  und 
Präzision  zu  erreichen,  nur  eine  Art  von  Programm  an  für  die 
Weiterführung  unseres  Problems.  Und  nur  deshalb  fällt  sein 
philosophisches  Bemühen  überhaupt  in  die  Sphäre  unseres 
Problems  und  war  es  hier  kurz  zu  behandeln. 


63 


Drittes  Kai^itel. 

Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffs- 
bildung innerhalb  der  Naturphilosophie. 

War  auf  den  elementarsten  Anfängen  des  philosophischen 
Denkens  eines  Thaies  der  Substanzbegriff  noch  in  der  Sphäre 
der  bloßen  Anschauung  verblieben,  um  überhaupt  seine  Be- 
ziehung auf  die  anschaulichen  Dinge  wahren  zu  können,  was 
das  logisch  bedeutsame  Motiv  dieser  ersten  von  der  mytho- 
logischen Auffassung  sich  loslösenden  Art  der  Weltbetrachtung 
war,  so  tritt  bereits  bei  Anaximander  das  Problem  aus  der  bloß 
anschauHchen  in  die  begriffliche  Sphäre  des  Denkens  ein,  um 
bei  Anaximenes  zu  dem  zwar  mit  untauglichen  Mitteln,  aber 
immerhin  bemerkenswerten  Versuche  zu  führen,  wenigstens 
implizite,  das  Begriffliche  im  anschaulich  Tatsächlichen  zu  be- 
wahrheiten. Diese  Unzulänglichkeit  mußte  nun  zu  einer  nicht 
bloß,  wie  bei  .Anaximander  impliziten,  sondern  ausdrücklichen 
Befestigung  des  Problems  im  reinen  Denken  führen,  wie  sie,  so 
verschieden  auch  immer,  auf  der  einen  Seite  von  Heraklit,  auf 
der  anderen  von  den  Eleaten  angestrebt  wurde.  So  konnten  auch 
die  auf  jenen  ersten  Anfängen  für  das  Substanzproblem  ent- 
scheidenden Bestimmungen  selbst  erst  im  Denken  fundamentiert 
werden.  Wie  entgegengesetzt  auch  im  übrigen  Heraklitismus 
und  Eleatismus  sein  mögen,  darin  zum  mindesten  sind  sie  ein- 
stimmig, daß  das  wahrhafte  Sein  nicht  durch  die  SinnHchkeit, 
sondern  allein  durch  das  Denken  erfaßt  werden  kann,  und  eben 
darin  sind  sie  auch  für  unser  Problem  von  der  größten  Be- 
deutung. Zwar  ist  dem  einen  das  Sein  der  wechsellose  Wechsel 
selbst,    dem    andern    das  Wechsellose    schlechthin.      Aber    die 


64  3.  Kapitel. 

Vernunft  bestimmt  nach  Heraklit  erst  den  Wechsel  und  ist  das 
Wechsellose  im  Wechsel,  das  Beharrliche  im  Wechsel;  bei  Par- 
menides  dagegen  ist  die  Vernunft  das  ohne  Wechsel  bleibende 
Sein  schlechthin.  Darin  liegt  ihre  Verwandtschaft  und  ihr 
Gegensatz.  Daß  beide  im  Denken  das  Sein  ergreifen,  bezeichnet 
ihre  problematische  Übereinstimmung.  Durch  die  Art,  wie 
er  das  Sein  im  Denken  ergreift,  vertieft  aber  Parmenides  das 
Problem:  er  ergreift  das  Sein  im  Denken  dadurch,  daß  er  es 
aus  ihm  ableitet,  insofern  er  erkennt,  daß  «ohne  das  Sein,  in 
dem  es  sich  ausgesprochen  findet,  das  Denken  nicht  angetroffen 
werden  kann».  Dadurch  wird  ihm  das  vorher,  sei  es  stofflich, 
sei  es,  wie  bei  Heraklit,  prozessual  und  prozessualbestimmend 
vorausgesetzte  Sein  selbst  im  tiefsten  und  eigentlichsten  Sinne 
zugleich  zum  bestimmten  Problem  und  eben  dadurch  zugleich 
zur  festesten  gedanklichen  Grundlage.  Und  was  vorher  von 
dem  beharrlichen  Substrat  alles  Wechsels  nur  bezeichnet  worden 
war,  wie  Uugewordenheit  und  ünvergänglichkeit,  das  wird  jetzt 
erst  eigentlich  im  Begriffe  des  Seins  begründet.  Und  was  vor- 
her in  diesen  Grundbestimmungen  nur  implizite  mit  voraus- 
gesetzt worden  war,  wie  Unvermehrbarkeit  und  Unverminder- 
barkeit,  oder  was  als  Vermehrbarkeit  oder  Verminderbarkeit 
sodann  bei  Heraklit  eigentlich  erst  problematisch  geworden  war, 
das  wird  nun  explizite  als  Unvermehrbarkeit  und  Unverminder- 
barkeit  erst  im  Eleatismus  logisch  erhärtet,  indem  das  bloß 
Vorausgesetzte  auf  seine  logische  Voraussetzung,  die  In-sich- 
Geschlossenheit  des  Parmenideischen  Seins,  basiert  wird. 

Indem  aber  durch  Heraklit,  wie  durch  Parmenides  das 
Sein  in  seiner  Reinheit  erreicht  ist,  kann  die  Entwickelung 
vom  reinen  Sein  fortschreiten  zudem,  was  ist,  und  die  Frage 
Dach  dem,  was  ist,  gestellt  werden,  so  daß  die  verschiedenen 
Versuche  der  Lösung  dieser  Frage  zugleich  die  Gegensätze 
zwischen  Heraklit  und  Parmenides   zu   überbrücken  vermögen. 

1.  Es  ist  bezeichnend,  daß  bereits  Empedokles,  der  an  der 
Spitze  dieser  mit  Recht  als  «Vermittelungs versuche»  charakte- 
risierten^ Bestrebungen  steht,  die  Erkenntnis  nicht  in  den  Sinnen 

1  So  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  33  und  Kinkel,  a.  a.  0.,  I,  S.  171. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  65 

sucht  und  diesen  kein  Vertrauen  glaubt  schenken  zu  dürfen,^ 
Zwar  scheint  es  zunächst^,  als  ob  die  Warnung  vor  dem  Ver- 
trauen zur  Sinnlichkeit  nur  so  gemeint  wäre,  als  sollte  man 
nur  dem  einzelnen  Sinne  nicht  vertrauen,  sondern  jeden  ein- 
zelnen Sinn  nur  durch  den  anderen  ergänzen  und  berichtigen.^ 
Allein  die  Forderung,  mit  der  Vernunft  zu  forschen  und  nicht 
die  Dinge  bloß  mit  den  Augen  anzustaunen^,  ist  zu  bestimmt, 
und  in  ihr  tritt  der  Gegensatz  von  Verstand  und  SinnHchkeit 
zu  deutlich  zutage,  als  daß  wir  den  Verstand  selbst  der  Tota- 
lität  der   Sinne   gleichsetzen   könnten^,    bedürften   diese   doch, 

1  Emp.  fr.  IV,  10—13  (Diels,  Fragm.  I,  S.  174,  wonach  ich  im  Folgenden 
wieder  die  Zählung  angebe) : 

|ui^Te  Ti  öijiiv  Ix^"^  TiiffTei  ttX^ov  f|  kot'  dKOur)v 
f|  dKofiv  IpibouTTOv  ÜTtep  Tpaviu|uaTa  Y^^J^öarii;, 

jn/lTC  Tl  TÜUV  äWlWV,   ÖTTÖffril  TTÖpo^  ^otI   vof|öai, 
Y^ii^v  uiaxiv  ?puK6,  vöei  d'  f|i  bfiXov  eKaaxov. 

2  Vgl.  außer  dem  eben  Zitierten  noch  v.  9: 

äW  ciy'  ädpei  irdorii  TraXdjarii,  iifii  bfiXov  eKaöTOV. 

3  Vgl.  Kinkel,  a.  a.  0.  I,  S.  174. 

■*  S.  außer  dem:  vöei  0'  fii  bfi\ov  eKaöxov  (Anm.  1  oben)  noch  besonders 
fr.  XVII,  21  .  .  .  öu  vöuui  b^pKeu,  larib'  ö|a|aaai  nöo  TedirmJbi;. 

5  Trotz  der  Berufung  auf  Theophr.  de  sensu  23:  «öu|aßaivei  t'  outöv 
dvai  TÖ  cppoveiv  Kai  aiaOdveoöai»  (Diels  I,  S.  171)  kann  ich  Kinkels  Ansicht, 
daß  es  «eigentlich  hier  die  Sinne  selbst  sind,  welche  denken  und  urteilen» 
(a.  a.  0.  I,  S.  174),  um  so  weniger  beistimmen,  als  ich  seine  andere,  daß  sie 
«alle  erst  dem  Richterspruch  des  Verstandes  unterworfen  werden  müssen» 
(S.  173  f.),  für  richtig  halte  und  ich  keinen  Weg  der  Vereinigung  beider  An- 
sichten sehe.  Die  Gleichsetzung  des  Denkens  mit  der  Sinnlichkeit  (selbst  im 
Sinne  Kinkels,  d.  h.  nicht  in  der  Bedeutung  des  einzelnen  Sinnes,  sondern  der 
Totalität  der  Sinne)  ist,  wie  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  427,  durchaus  richtig  bemerkt, 
erst  eine  Folgerung,  die  Aristoteles  Met.  IV,  5,1009  b  gezogen  hat,  die  aber 
Empedokles  nach  Zellers  Urteil  sicher  «abgelehnt  hätte»,  wenn  es  auch  dahin- 
gestellt bleiben  mag,  «ob  mit  Recht  oder  Unrecht».  Bei  der  Berufung  auf 
Theophr.  wird  man  ferner  aber  auch  die  besondere  Betonung  der  Allgemeinheit 
des  vernünftigen  Denkens,  gerade  de  sensu  23:  Kai  fäp  äiravTa  lae^^Eei  toö 
qppoveiv  nicht  zu  übersehen  haben.  Man  vgl.  dazu  auch  Sext.  Emp.  adv.  math. 
VIII,  286,  wonach  ebenfalls  alle  Dinge  am  Denken  teilhaben  sollen.  Im  übrigen 
verkenne  ich  durchaus  nicht,  daß  Kinkel  die  Schwäche  der  Position  des  Empe- 
dokles richtig  durchschaut.  Aber  so  sehr  sie  für  den  Standpunkt  der  modernen 
Erkenntnislehre  auf  der  Hand  liegt,  so  ist  historisch  doch  diese  Position 
nicht  zu  unterschätzen.  Sie  allein  ist  der  geschichthche  Weg  gewesen,  zu  einer 
expliziten  Beziehung  von  gedanklichem  und  anschaulichem  Sein  zu  gelangen. 
Bauch,  Das  Substanzproblem.  5 


66  3.  Kapitel. 

um  auch  nur  miteinander  verglichen  und  durcheinander  er- 
gänzt und  berichtigt  zu  werden  immer  dessen,  das  sie  ver- 
gliche, das  wohl  auch  für  Empodokles  dann  nur  der  Verstand 
sein  könnte. 

Freilich  das  System  des  Empedokles  als  Ganzes  ist  nur, 
wie  Diels  treffend  bemerkt,  «ähnlich  wie  das  des  Diogenes  von 
Apollonia  ein  interessanter  Eklektizismus».^  Er  scheint  hier 
nur  zum  Ganzen  vereinigt  zu  haben,  was  Einzeln  längst  von 
Ansichten  vorlag,  und  mythologischen  und  kosmogonisch-poe- 
tischen  Einflüssen  hat  er  sicher  einen  Einfluß  verstattet^,  der 
dem  Werte  seines  Systems  im  allgemeinen,  wie  insbesondere 
seiner  Kosmogonie^  nicht  gerade  zu  statten  kam.  Allein  so 
gering  der  Wert  seines  Systems  und  seiner  Kosmogonie  sein 
mag,  so  besitzt  er  doch  für  unser  Einzelproblem  keine  ganz 
gewöhnliche  Bedeutung,  ja  sogar  systematische  Kraft  und  recht- 
fertigt gleichsam  im  Konkreten  den  Versuch  einer  monographisch- 
probiemgeschichtlichen  Behandlung  ohne  Rücksicht  auf  das 
System  als  Ganzes.  Und  gerade  Diels'  Erinnerung  an  Dio- 
genes von  Apollonia  ist  insofern  recht  instruktiv,  als,  trotzdem 
Empedokles  wie  Diogenes  als  Systembildner  gleich  wenig  ins 
Gewicht  fallen,  hinsichtlich  unseres  Einzelproblems  zwischen 
beiden  der  große  Unterschied  besteht,  daß  dieser  für  unsere 
Untersuchung  gar  nichts  bedeutet,  während  Empedokles  für 
unseren  speziellen  Begriff  geradezu  von  systematischer  Bedeu- 
tung ist. 

Vom  abstrakten  Sein  der  Eleaten  tritt  er  ein  in  die  Be- 
stimmungen des  Seienden,  das  alle  Bedingungen  des  Seins,  die 
Parmenides  gewiesen,  erfüllen  soll,  bis,  wie  es  zunächst  scheint, 
auf  eine,  und  zwar  die  wichtigste  gerade,  nämlich  die  Einheit 
des  Seins.  Sie  gibt  Empedokles  zunächst  auf,  um  den  Wechsel 
verständlich  zu  machen  und  um  die  Einheit  des  Seins   sodann 


^  Diels,  «Gorgias  und  Empedokles»  (Sitzungsber.  d.  Berl.  Akad.  d.  Wiss. 
1884,  S  343). 

2  Vgl.  0.  Kern,  «Empedokles  und  die  Orpliiker»  (Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos. 
1888,  S.  505). 

'  H.  V.  Arnim,  «Die  Woltperiodcn  hei  Empedokles»  (Festsclir.  f.  Gom- 
perz,  S.  16  ff.). 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  67 

mit  einem  neuen  gedanklichen  Mittel,  wie  wir  bald  sehen  werden, 
wieder  herzustellen.  Das  gilt  es,  um  Empedokles  gerecht  zu 
werden,  genau  festzuhalten,  daß  die  Preisgabe  der  Einheit  nur 
eine  vorläufige  oder,  wenn  man  will,  eine  scheinbare  ist,  die 
ihm  durch  die  Art  seiner  Vielheit  des  Seienden  hinsichtlich 
seines  Systems  das  Ansehen  des  bloßen  Eklektikers  geben 
muß,  daß  er  aber  in  einem  neuen  bleibend  wertvollen  Begriffe 
die  Einheit  endgültig  wiederherstellt,  und  zwar  auf  eine  Art, 
die  doch  wieder  systematische  Kraft  des  Denkens  offenbart. 
Zunächst  tritt  also  freilich  bei  ihm  an  die  Stelle  des  einen 
Eleatischen  Seins  eine  vielfache,  speziell  eine  vierfache  Wurzel 
aller  Dinge.  ^  Diese  vier  Wurzelstoffe  sind  ihm  Feuer,  Wasser, 
Erde  und  Luft.^  Sie  sind,  wie  das  Sein  des  Parmenides,  dessen 
Bestimmung  hier  bereits  entscheidend  wird,  unentstanden  und 
unvergänglich,  weil  aus  dem,  was  nicht  ist,  auch  nichts  werden, 
und  das  was  ist,  nicht  zu  nichts  werden  kann.^  Und  weil  sie 
ungeworden  und  unzerstörlich  sind,  so  kann  etwas  zu  ihnen 
weder  hinzugefügt  noch  von  ihnen  genommen  werden.^  Hier 
wird  die  Konstanz  des  Seins  nun  wirklich  zur  Konstanz  der 
Substanz,  und  zwar  durchaus  im  quantitativen  Sinna  Die 
Substanz  ist  hier  zunächst  die  Totalität  der  vermeintlichen 
Grundstoffe,  die  als  solche  sich  merkwürdigerweise  durch  die 
Jahrhunderte  hindurch  behaupten  sollten  und  in  der  poetischen 
und  auch  volkstümlichen  Vorstellung  auch  heute  noch  als 
solche  fortleben ;  und  daß  deren  Quantum  weder  vermehrt  noch 
vermindert  werden  kann,  das  wird  von  Empedokles  hier  im 
Sinne  des  eigentlichen  Substanzbegriffs  mit  voller  Klarheit 
ausgesprochen. 

Wie  man  oft  bemerkt  hat,    sind  im  Einzelnen  längst  vor 
Empedokles  auch  dessen  einzelne  Elemente  aufgestellt  worden,^ 


^  VI,  1 :  TeoGapa  yöcp  Trdvxujv  piZiiiiuaTa  .  .  . 

2  XVII,  18:  itOp  Kai  iibuup  Kai  ycia  Kai  r\ipoc,  ä-nXerov  (ii|Joq. 

3  XII,  1—2: 

^K  xe  fäp  oijf)d,u'  d6vT0(;  d|Lirixav6v  ^öti  Yeveödai 
Kai  t'  ^öv  ita^zoXiadm  ävrjvuaTov  Kai  ottuotov. 

^*  XVII,  30:  Kai  irpöq  xoiq  out'  ap  Ti  ti  YiTvexai  oOx'  äiTo\r|Ye>- 

*  ^  Vi<l.  0.  Kern,  a.  a.  0.,  S.  .502. 

5* 


68  3.  Kapitel. 

Läge  bei  Empeclokles  nichts  anderes  vor,  als  ihre  nur  sninnia- 
risch  aufgeführte  Enumeration,  so  wäre,  wie  seine  Bedeutung 
für  das  System  der  Philosophie,  so  auch  die  für  unser  Problem 
eine  lediglich  eklektische.  Ja,  sein  Element  des  Feuers  bezeich- 
nete der  Bedeutung  des  Heraklitischen  Urfeuers  gegenüber  so- 
gar einen  plumpen  Rückschritt  und  eine  beklagenswerte  Ver- 
gröberung. Allein  gerade  für  unser  Problem  sind  seine  vier 
Grundstoffe  unvergleichlich  viel  mehr  als  eine  bloß  eklektische 
Summe.  Sie  bilden  eine  Einheit,  und  der  Begriff,  der  die 
Einheit  zwischen  ihnen  herstellt,  ist  der  Begriff  der  Kraft.  Er 
leistet  nun  auch  die  Synthese  von  Beharrlichkeit  und  Wechsel 
und  erhärtet  die  vier  Grundstoffe  als  das  Beharrliche  im 
Wechsel,  und  zwar  in  zweifacher  Funktion:  Als  «Liebe»  und 
«Haß»  ist  die  Kraft  die  Bedingung  des  beständigen  Wechsels, 
in  dem  sich  die  einzelnen  Stoffe  bald  verbinden,  bald  trennen. 
Und  dieser  beständige  Wechsel  hört  niemals  auf:  Bald  ver- 
einigt die  Liebe  alles  zu  Einem,  bald  löst  der  Haß  das  Eine  zu 
Vielem  ruf^;  bald  tritt  durch  die  Liebe  Eines  aus  Mehreren  ins 
Dasein,  bald  tritt  aus  Einem  wieder  die  Mehrheit  der  Elemente : 
Feuer,  Wasser,  Erde,  Luft  einzeln  hervor.^  Die  Grundstoffe 
als  solche  sind  das  bleibend  Seiende,  sie  entstehen  und  ver- 
gehen zwar  nicht  au  sich  selbst.  Aber  aus  ihrer  Verbindung 
entstehen  die  Dinge,  und  aus  ihrer  Trennung  folgt  das  Ver- 
gehen der  Dinge  im  «beständigen  Wechsel»  (Kai  raOt'  aXdo'crovTa 
öiaiHTTepeg  ouöa|ud  'Kx\jei,  vgl.  Anm.  1  unten),  in  dessen  «Kreislauf 
sie  selber  immerdar  verbleiben,  ohne  daß  ihnen  Wechsel  und 
Bewegung  etwas  anhaben  kaun».^  Weil  sie  selbst  ewig  sind 
und  das  Wesen   aller  Einzeldinge    ausmachen,    so   gehen  auch 


1  XVII,  6—8: 

Kai  toOt'  d.\doaovra  biayinepiq  oObaiaä  \r\yei 
ciWore  |ndv  OiXöttiti  auvepxö|aev'  dq  Sv  ütravTa, 
aXXoTe  b'  au  bix'  eKaffra  cpopeüjueva  NeiKeoi;  ^x^^i- 

*  Ebenda  lÖ— 18: 

.  .  .  TÖTe  |uev  Yop  ^v  r|i)tr|Ori  faövov  elvai 

^K  ttXgövuuv,  TÖTe  b"  au  bi^cpu  irX^ov  it  ^vöc,  elvai, 

irOp  Kai  übuup  Kai  Yoti«  Kai  Y]ipoc,  u-nkerov  v\\)oq. 

3  XVII,  13:  TaÜTJii  b"  ai^v  laoiv  ükivtitoi  kütüi  kökXov. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  69 

die  Einzeldinge  bei  ihrer  Auflösung  nicht  schlechtweg  oder 
absolut  verloren.  Denn  die  Elemente,  die  sie  bilden,  bleiben  er- 
halten, wie  sie  von  Ewigkeit  her  bestanden.  Man  kann  darum 
auch  hinsichtlich  der  «sterblichen  Dinge»  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  von  Entstehung  und  Untergang,  sondern  nur  von  Mi- 
schung und  Trennung  sprechen.  Und  «es  gibt  bei  keinem  ein- 
zigen von  allen  sterblichen  Dingen  Entstehung  und  Tod»  im 
eigentlichen  Sinne.  «Nur  Mischung  gibt  es  und  Austausch  des 
Gemischten»,  da,  was  sich  in  ihnen  mischt  und  in  der  Ent- 
mischung austauscht,  selbst  unvermehrbar  und  unverminderbar 
erhalten  bleibt,  so  daß  Entstehung  im  absoluten  Sinne  nur  ein 
bei  Menschen  üblicher  Name  ist.^ 

Wie  unvollkommen  auch  immer  noch  im  Einzelnen  sowohl 
der  Elementbegriff  wie  der  Kraftbegriff  sein  mögen^,  wie  un- 
vollkommen auch  weiter  die  ganze  kosmologische  Anschauung, 
bei  allen  weittragenden  Perspektiven,  die  sie  eröffnet,  unter 
denen    der    Hinblick   auf   den  Entwickelungsbegriff   das  w^ert- 


^  VIII:  .  .  .  cpvaiq  ovbevöq  iaxiv  ctitdvTUJV 

övriTLüv,  o\}bl  xiq  ou\o|ndvou  Oavdxoio  xeXeÜTri, 
dWd  luövov  jLiiHii;  xe  bidWaSii;  xe  uiy^vxuuv 
iari,  (pvaic,  b'  im  toic,  6vo]ud2;exai  dvöpubiroKJiv. 
^  Wie  Arist.  Met.  I,  4,98.5  a  auf  die  sittlich-religiöse  Besiimniung,  die  den 
Kräften   der  Liebe   und    des   Hasses   anhaften,  richtig  aufmerksam    macht,   so 
sind  auch  die  Elemente  nicht   frei  von  mythologisch-rehgiösen  Vorstellungen. 
Das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  sie  auch  unter  den  Namen  von  Göttern  auf- 
treten,  ja  daß  die  vierfache  Wurzel   aller  Dinge   geradezu   auch    als  Vierheit 
von  Göttern  erscheint,  vgl.  fr.  VI: 

Teaoapa  YÖp  Trdvxoiv  picuj|Liaxa  irpujxov  ctKoue  " 
Zeü^  cipYn^  '  HpiT  xe  cpepeaßioq  rib"  'AiboiveO^ 
Ni^axii;  ö'  r\  baKpuoiq  xe^T^i  Kpoiivu-iiiia  ßpoxeiov. 
Wenn  das  freilich  auch  so  zu  verstehen  ist,  daß  die  Elemente  selbst  die  Gott- 
lieiten    und    die  Gottheiten   ledigUch  die  Elemente   sind,   so   mischt  sich  hier 
dennoch   immerhin    der    nüchterne  Forschersinn    mit    der   mythologisch-theo- 
logischen Phantasie  und   die  EinAvirkung  der  «kosmogonischen  Dichtung»    ist, 
wie  0.  Kern,  a.  a.  0.,  S.  505,  treffend  bemerkt,  unverkennbar.     Allein  so  sehr 
das  seinem  System  als  Ganzem  schließlich  zum  Nachteil   gereichen  muß,   daß 
Empedokles,  wie  Arist.  a.  a.  0.,  ebenda,  gleichfalls  treffend  bem.erkt,  überhaupt 
der  erste  ist,   der  hier  auf  jene  beiden  «Ursachen»  hinweist,   das  ist  von  der 
allergrößten  Bedeutung.     Denn  damit  bringi.  er  die  Ursächlichkeilsbetrachtung 
mit  dem  Sub.staiizprohlem  seligst  in  Verbindung. 


70  3.  Kapitel. 

vollste  Moment  ist,  sein  mag  —  im  Einzelnen  darauf  einzu- 
gehen, liegt  nicht  in  unserem  Thema  —  trotz  alledem  liegt  hier 
für  das  Substanzproblem  ein  weitreichender  Fortschritt  vor,  in 
dem  wir  geradezu  die  ersten  Anfänge  der  naturwissenschaft- 
lichen Begriffsbildung  sehen  dürfen.  Die  Einheit  des  Seins 
verbleibt  nicht  mehr  in  der  Sphäre  des  reinen  Begriffs  des 
Seins,  sie  hegt  auch  nicht  mehr  in  einem  einzelnen  Stoffe, 
auch  nicht  bloß  in  der  Vielheit  der  Stoffe  als  solcher.  Unbe- 
schadet der  Vielheit  der  seienden  Stoffe  wird  die  Einheit  nach 
dem  Begriffe  des  Seins,  der  so  erst  Macht  gewinnt  über  die 
rein  begriffliche  Sphäre  hinaus  für  die  empirische  Existenz 
und  diese  so  selbst  bestimmt,  im  Begriffe  der  Kraft  erreicht, 
durch  den  das  Seiende  zugleich  Eines  und  Vieles  ist,  so  daß 
Liebe  und  Haß  in  gleicher  Weise  ein  Verhältnis  zwischen  den 
Elementen  herstellen.^  Das  also  ist  das  Bedeutsame  für  das 
Substanzproblem,  daß  die  Kraft  im  Stoffe  die  Einheit  herstellt, 
innerhalb  der  Vielheit  der  an  sich  sel):)st  ein  beharrliches  kon- 


^  Piaton,  Soph.  242d./e.:  wc,  xö  öv  iroWd  xe  Kai  ev  ^ötiv,  ^x^pm  be 
Kai  cpiXiai  avv^xeTax.  Darauf  in  der  Tat  kommt  es  an,  daß  das  Seiende  Vieles 
und  Eines  ist,  indem  sowohl  Liebe  und  Haß  eine  Beziehung-  zwischen  den 
Elementen  bedeuten.  Die  kosmogoniscbe  Einheit,  die  die  Liebe  im  acpaipo? 
stiftet,  ist  die  eines  bloßen  Aggregates.  Sie  ist  für  unser  Problem  ohne  jedes 
Interesse.  Und  es  heißt  die  Bedeutung  des  Empedokles  sehr  von  der  Außen- 
seite betrachten,  wenn  man  im  kosmogonischen  aqpaipot;,  den  die  Liebe  er- 
zeugt, die  Einheit  des  Empedokleischen  Seins,  oder  diese  allein  in  der  Liebe 
sucht.  Hier  kann  uns  Piatons  tiefer  Blick,  der  auch  rein  historisch  manch- 
mal schon  weiter  gedrungen  ist  als  der  manches  späteren  Historikers,  den 
wahren  Sachverhalt  erschließen  helfen.  Liebe  und  Haß  sind  es,  die  die  Dinge 
zusammenhalten;  freilich  nicht  in  dem  äußerlichen  Sinne  des  Aggregates 
—  denn  der  Haß  aggregiert  nicht,  das  tut  in  der  Tat  allein  die  Liebe  im 
acpaipoi;,  und  der  Haß  trennt  — ,  sondern  in  dem  tieferen  dynamischen  Sinne, 
daß  überhaupt  ein  Kraftzusammenbang  zwischen  den  Grundstoffen  besteht. 
Einen  dynamischen  Zusammenhang  bezeichnet  aber  der  trennende  Haß  wie 
die  vereinigende  Liebe,  genau  ebenso  wie  im  modernen  Sinne  die  Repul- 
sion das  ebenso  tut,  wie  die  Attraktion.  Hier  kann  für  Empedokles,  wenn 
man  dem  Rate  des  Aristoteles  folgt  und  der  «Sache  nachspürt  und  hinter  der 
unbeholfenen  Ausdrucksform  den  gedanklichen  Inhalt  sucht»  (Arist.  a.  a.  0. 
ebenda),  sogar  die  religiös-mythologische  Auffassung  klärend  wirken,  insofern 
der  «Haß»  im  ethischen  Sinne  ebenso  eine  ]iositive  Bnziehunij  bedeutet  wie 
die  Liebe,  wenn  auch  eine  dieser  entgegengesetzte. 


Die  Anfänge  der  naliirwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  71 

ßtantes  Quantum  der  Substanz,  das  weder  vermehrt  noch  ver- 
mmdert  werden  kann,  bildenden  Stoffe  einen  dynamischen  Zu- 
sammenhang stiftet,  und  daß  die  Stoffe  insofern  das  Beharrliche 
im  Wechsel  sind,  als  aller  Wechsel  in  der  durch  die  Kraft  als 
Liebe  bewirkten  Verbindung  und  in  der  durch  die  Kraft  als 
Haß  bewirkten  Trennung  besteht,  wodurch  der  Zusammenhang 
der  Dinge  selbst  ein  allgemeingesetzmäßig  (-rrdvTuuv  v6|ai)uov)^  ge- 
regelter wird. 

2.  Die  für  den  Substanzbegriff  bestimmende  These,  daß 
das  Quantum  der  Substanz  weder  vermehrt  noch  vermindert 
werden  könne,  verfestigt  sich  nun  im  antiken  Denken  mehr 
und  mehr.  Mit  voller  Klarheit  und  Schärfe  spricht  Anaxagoras 
den  Satz  aus,  daß  die  Gesamtheit  der  Stoffe  —  denn  das  ist 
zunächst  auch  ihm  die  Substanz  —  «sich  weder  vermehren 
noch  vermindern  kann».^  Das  ist  unter  den  bisher  betrach- 
teten Formulierungen  fraglos  die  exakteste  und  bündigste.  Mit 
Empedokles  nimmt  Anaxagoras  eine  Vielheit  von  beharrlichen 
Grundstoffen  an,  die  die  Keime  und  Samen  aller  Dinge  sind.^ 
Diese  oirepiaaTa  haben  zunächst  durchaus  die  Funktion  der 
piZ:üuiuaTa  des  Empedokles.  Wie  diese  sind  sie  —  und  darauf 
beruht  ja  schon  ihre  Unvermehrbarkeit  und  Unverminderbar- 
keit  —  unge worden  und  unvergänglich.  Ein  absolutes  Ent- 
stehen und  Vergehen  gibt  es  also  auch  für  Anaxagoras  nicht. 
Der  Schein  für  ein  solches  liegt  nur  in  der  Mischung  und  Ent- 
mischung der  Keimstoffe  selbst.'*  Die  Grundstoffe  selbst  sind 
beharrlich  in  alle  Ewigkeit,  der  Wechsel  des  Entstehens  und 
Vergehens  liegt  nur  in  der  Mischung  und  Trennung;  außer 
diesen   gibt    es    kein  Entstehen   und  Vergehen.^    Man   spricht 


»  cxxxv. 

*  Simpl.  Phys.,  S.  156  (Diels,  fr.  5):  öti  Trävta  oubdv  iXdaao)  ^axiv  oübe 
uXeiuu. 

3  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  34  (Diels,  fr.  4):  airepiuaTa  ttoivtiuv  xpn^äTUUv. 

*  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  27:  ...  dyevriTa  |uev  elvai  Kai  cxqpOapxa,  qpaiveoOai 
bi  jxfvöyieva  Kai  ätroWOfieva  öuyKpiöei  Kai  biaKpiaei  |növov  .  .  . 

5  Arist.  Met.  I,  3,984  a:  .  .  .  oütoi  YiTveaöai  Kai  ctiröWuööai  (pr]Oi  avf- 
Kpiaei  Kai  biaKpioei  |liövov,  äWi-uq  b'  ouxt  ^iTveödai  out'  diröXXuaOai,  dXXd 
biajui^veiv  üibia. 


72  3.  Kapitel. 

darum  eigentlich  nicht  richtig  von  Entstehen  und  Vergehen. 
Streng  genommen  entstehen  die  Dinge  nicht,  sie  bilden  sich 
nur  aus  der  Mischung  der  unentstandenen  Grundstoffe;  und 
streng  genommen  vergehen  sie  auch  nicht,  sie  lösen  sich  nur 
auf  wieder  in  die  unvergänglichen  Grundstoffe.  Und  so  sollte 
man  richtig  statt  «entstehen»  lieber  «sich  mischen»  und  statt 
«vergehen»  lieber  «sich  trennen»  sagen. ^  (Tutkpiö'k;  und  öidKpi- 
aic,  bilden  auch  hier  die  Grundlage  des  Wechsels  an  der  be- 
harrlichen Substanz. 

Allein  hinsichtlich  der  einzelnen  Stoffe  macht  sich  sogleich 
ein  bedeutsamer  Fortschritt  über  Empedokles  hinaus  bemerk- 
bar, der  zu  einer  bleibend  wertvollen  Bestimmung  führt.  Die 
beschränkte  Zahl  der  Grundstoffe  reicht  für  Anaxagoras  nicht 
aus,  um  die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  und  ihrer  Eigenschaften 
zu  erklären.  Dafür  muß  man  annehmen,  daß  in  jeder  Ver- 
bindung selbst  eine  vielfache  Mannigfaltigkeit  enthalten  ist^; 
und  zwar  in  jeder  Verbindung  von  allen  Grundstoffen  etwas. ^ 
Denn  sonst  wäre  es  ja  nicht  möglich,  daß  eine  bestimmte  Mi- 
schung der  Stoffe  in  eine  andere  überginge  und  so  ein  Ding 
aus  einem  anderen  würde.'*  Je  mehr  nun  einem  Ding  von 
einem  bestimmten  Stoffe  beigemischt  ist,  um  so  mehr  ist  das 
Wesen  des  Dinges  von  diesem  Stoffe  bestimmt.  Daraus  er- 
klärt es  sich,  daß  wir  meinen,  es  bestünde  eigentlich  ausschließ- 
lich aus  diesem  Stoffe;  denn  wir  nehmen  die  übrigen  nur 
wegen  ihrer  geringeren  Beimischung  nicht  wahr,  während  sie 
in  Wirklichkeit  darin,  aber  eben  nur  in  geringerem  Quantum 
doch  enthalten  sind.^   Damit  ist  auf  der  einen  Seite  bereits  der 


^  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  16.3  (fr.  17):  tö  bi  ^ivea^ai  Kai  diröWuaöai  oök 
öpOux;  vo|ii3[ouaiv  oi  "EWrjveq'oubev  «fäp  XP^M«  Tivsxai  ovbi  dTTÖWuxai,  dW  dirö 
^övTUJv  XPIMO'TUJV  au|Li|niaYeTai  xe  Kai  biaKpivexai.  Kai  oüxcju?  av  öpdÖK;  KaXoiev 
xö  xe  Yivefföai  öu|Li|LiiaY€(Jöai  Kai  xö  äiröWuaOai  biaKpiveoöai. 

-  Simpl.  a.  a.  Ü.,  S.  34- f.  (fr.  4):  ...  xpn  boKeiv  ^veivai  itoWd  xe  Kai 
Ttavxoia  ^v  irdai  xoi<;  auYKpivo|n^voi(;  .  .  . 

3  Simpl.  Phys.,  S.  164  (fr.  11  j:  ^v  uavxi  Tiuvröq  inoipa  ^veaxi  .  .  . 

*  Arist.  Phys.  III,  4,203  a. 

5  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  27  (Forts,  von  Anm.  4  auf  S.  71):  Trdvxuuv  |n^v  ^v 
udaiv  dvövxuiv,  ^Kdaxou  be  Koxd  xö  ^mKpaxoOv  ^v  aöxoti  x^P^KX^piZof-i^vou. 
XP^-><jÖ(;  -fdp  qpaivexai  ^Keivo,  ^v  dii  ttoAü  xP'Jöiov  iarl  Kairoi  -rrdvxiuv  evövxujv. 


Die  Anfange  der  naluiwissenschaftlichen  BegriffsbiWung-.  73 

Begriff  des  unendlich  Kleinen  gesetzt.  Denn  die  unendliche 
Kleinheit  ist  es  ja,  die  uns  in  der  Mischung  eben  nicht  alle  in 
ihr  enthaltenen  Stoffe  bemerken  läßt.  Auf  der  anderen  Seite 
schließt  Anaxagoras  freilich  auch  gleich  auf  eine  Unendlichkeit 
der  Menge  der  Stoffe.  Und  so  behauptet  er,  daß  seine  Grund- 
stoffe unendlich  sowohl  der  Menge  wie  der  Kleinheit  nach 
seien. ^  Ja,  er  scheint  drittens  wie  die  Teile  eines  jeden  Stoffes 
für  sich  unendlich  klein,  ihre  Menge  aber  unendlich  groß,  so 
auch  das  Gesamtquantum  eines  jeden  Stoffes  als  unendlich 
groß  angenommen  zu  haben,  so  daß  wir,  genau  genommen,  drei 
Ordnungen  des  Unendlichen  bei  ihm  zu  unterscheiden  hätten. 
Wenigstens  deutet  auf  die  Unendlichkeit  des  Quantums  jedes 
einzelnen  Stoffes  neben  dem  unendlich  Kleinen  seiner  Teile  und 
der  Unendlichkeit  der  Menge  aller  Stoffe  die  Ansicht  hin,  daß, 
wie  es  rücksichtlich  der  Teile  beim  Kleinen  ja  kein  Aller- 
kleinstes,  sondern  stets  «ein  noch  Kleineres  gibt»,  so  «auch  beim 
Großen  es  immer  noch  ein  Größeres  gibt»;  und  «dieses  gerade 
so  zahlreich  vertreten  ist,  wie  das  Kleine»,^  womit  in  der  Tat 
die  unendliche  Menge  je  für  sich  unendlicher  Quanta  ausge- 
sprochen ist.  Wenn  aber  jeder  Stoff  für  sich  kontinuierlich 
teilbar  ist,  so  muß  die  Verschiedenheit  der  zu  einem  Dine:  ae- 
mischten  Stoffe  nicht  bloß  eine  mathematische,  sondern  auch 
eine  spezifische  sein.  Das  heißt:  Kein  Stoff  ist  den  übrigen 
gleich.^  Ist  hier  immerhin  auch  das  mathematische  Kontinuum 
ohne  weiteres  noch  physisch  gedacht,  oder  besser:  das  physische 
schon  mathematisch  gedacht,  —  eine  Vermengung,  die  man 
dieser    Stufe    des    Denkens    nicht    gerade    sehr    zum    Vorwurf 


\6Yei  t'  ouv  ^Avaia-föpuq,  öxi  «^v  travTi  Tiavröc,  \.io\pa  eveOTi»  Kai  «öxiuv  uXeiöxa 
evi,  TauTtt  evbriXÖTaxa  ev  e'Kaaxöv  lori  Kai  fiv»;  vgl.  dazu  auch  Arist.  MeL. 
1,  1),991  a.  A.  oxemplifizierl  hier  auf  den  Unterschied  des  «Weiisen»,  insofern 
es  in  der  Mischung  Ursache  ist  für   die  Farbe  des  «weißen  Dinges». 

^  Arist.  Met.  IX,  6,105()b:  .  .  .  'Avato.-{öpaq  emiüv  öxi  6|iou  irdvxa  XPH^ 
,uaxa  riv  ä-rreipa  Kai  TrXridei  Kai  luncpöxj-ixi. 

^  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  164  (fr.  )^):  oüxe  y^P  toö  GmKpoö  daxi  xö  je  iXd~ 
Xiöxov,  äW  ^Waaov  6ei.  .  .  .  äWä  Kai  xoO  ]ue-fc<^ou  oiti  ^öxi  ^eiZ^ov.  Kai  laov 
^öxi  xüji  OjaiKpiJui  irXiiöoi;. 

^  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  34  (fr.  4):  oübt  y«P  füjv  äWujv  oubev  eoiKe  xö  exe- 
pov  xüji  exepiüi;  vgl.  auch  fr.  1-2  iSijnpl.  S.  1.'j7). 


74  3.  Kiipilel. 

machen  darf,  da  es  sich  hier  um  Diuge  handelt,  in  denen  wir 
heute  noch  nach  Distinktheit  zu  streben  haben  —  so  erreicht 
Anaxagoras  doch  hier  den  Begriff  eines  bei  aller  mathematisch 
kontinuierlichen  Teilung  in  sich  gleichartigen  Stoffes.^  Das  ist 
aber  geradezu  der  naturwissenschaftliche  Begriff  des  Elements, 
wenigstens  im  Prinzip,  für  den  der  Empedokleische  Grundstoff- 
begriff nur  eine  vage  Vorahnung  war.  Daß  man  früh  genug 
die  ganze  Bedeutung  des  Anaxagoreischen  Elementbegriffs  richtig 
erkannt,  das  beweist  der  diesem  von  der  späteren  Interpretation 
gegebene,  also  nicht  von  Anaxagoras  stammende  Name  des 
«gleichteiligen  Stoffes»^,  der  wie  kein  anderer  den  Charakter 
des  in  allen  seinen  Teilen  gleichartigen  Stoffes  zum  Ausdruck 
bringt.  In  dem  Begriffe  des  unendlichen  Quantums  unend- 
licher und  in  sich  bis  ins  Unendliche  gleichartiger  Stoffe  ge- 
winnt Anaxagoras  eine  neue  Präzision  des  Substanzbegriffs,  zu- 
nächst nach  einer  Seite  hin,  nämlich  soweit  es  sich  um  die 
Möglichkeit,  den  AVechsel  der  unendlich  mannigfaltigen  Dinge 
bei  der  Beharrlichkeit  der  Grundstoffe  selbst  begreifhch  zu 
machen,  handelt. 

Wie  aber  Empedokles,  um  die  Wirklichkeit  des  Wechsels 
der  Dinge  erklären  zu  können,  der  die  Stoffe  bewegenden  und 
sie  so  in  Einheit  setzenden  Kraft  bedurfte,  so  bedarf  auch  Anaxa- 
goras der  durch  Bewegung  die  Stoffe  mischenden  und  tren- 
nenden und  so  zwischen  ihnen  Einheit  herstellenden  Kraft. 
Diese  aber  ist  prinzipiell  von  den  Grundkräften  der  Liebe  und 
des  Hasses,  wie  sie  Empedokles  aufstellte,  verschieden.  Für 
Anaxagoras  ist  es  nichts  Geringeres  als  die  Vernunft  selbst,  der 


^  Aus  der  Teilbarkeit  ins  Unendliche  der  in  sich  gleichartigen  Stoffe  folgt, 
daß  es  sich  hier  bei  dem  Unendlich-Kleinen  nicht  um  das  Atom  handelt.  Es 
soll  hier  nur  zum  Ausdruck  gelangen,  daß  im  Unterschiede  zu  der  bidKpiai? 
der  in  einem  Dinge  durch  oü^Kpxaic,  verbundenen  Stoffe,  die  eben  immer 
wieder  verschiedene  StolTe  ergibt,  die  Grundstoffe  so  gedacht  sind,  dafa  ihre 
Teilung  immer  zu  gleichartigen  Teilen  führt.  Wir  haben  es  also  hier  nicht 
mit  dem  Begriffe  des  Atoms,  sondern  des  Elements  zu  tun. 

2  Über  die  Namen  der  ö|Lioio|H6pfi  und  ö|Lioio^^peiai  vgl.  Zeller,  a.  a.  0., 
I,  S.  877.  Wenn  ich  soeben  von  dem  Elemenlbegriff  des  Anaxagoras  sprach, 
so  handelt  es  sieh  mir  eben  um  den  Hegriff  und  damit  die  Sache,  nicht 
um  den  Namen. 


Die  Anfänpre  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbilduiig.  75 

vovq,  der  die  Bewegung  der  Stoffe  und  damit  ihre  Mischung 
und  Entmischung  hervorbringt.  Er  ist  es,  der  «dieser  Bewe- 
gung den  Anstoß  gibt».^ 

Wie  in  der  Erkenntnis  die  Vernunft  allein  über  die  Wahrheit 
entscheidet^  und  alle  sinnliche  Erkenntnis  von  den  Sinneswerk- 
zeugen abhängig,  also  von  ihnen  modifiziert  und  relativ  ist^, 
so  daß  in  sie  erst  die  Vernunft  Ordnung  bringt,  so  gewinnt  die 
Vernunft,  wie  für  die  Erkenntnis  der  Dinge,  so  auch  für  die 
Ordnung  der  Dinge  selbst  ihre  entscheidende  Bedeutung  bei 
Anaxagoras.  Auch  er  sucht  das  wahrhafte  Sein  im  vernünf- 
tigen Denken  zu  erfassen,  ohne  daß  das  Sein  mit  der  Vernunft 
schlechtweg  mehr  gleichgesetzt,  ohne  daß  auch,  wie  bei  Empe- 
dokles  trotz  der  höheren  Wertstellung  des  vernünftigen  Denkens, 
dieses  in  seinem  Ursprünge  doch  erst  aus  der  materiellen  Sub- 
stanz abgeleitet  wird.  Vielmehr  tritt  der  voug  bei  Anaxagoras 
selbständig  neben  die  materielle  Substanz  als  ein  besonderes 
Prinzip,  in  dem  aller  Ursprung  selbst  erst  seine  Wurzel  hat,  in- 
dem er  eigentlich  allein  schöpferisch  ist  und  im  Materiellen  das 
Geschehen  erzeugt.*  Denn  die  Ordnung  der  Dinge  verlangt 
ein  vernünftig  ordnendes  Prinzip,  das  sie  hervorbringt.  Es 
mußte  alles  erkennen,  um  alles  ordnen  zu  können.  So  er- 
kannte der  voO^  alles  und  ordnete  alles,  indem  er  Mischung  und 
Entmischung  hervorbrachte,  alles,  wie  es  war,  wie  es  jetzt  ist 
und  künftig  sein  soll.  Und  unendlich  (aTreipov)  wie  die  zu 
mischenden  Stoffe,  genau  so  unendlich  (dtTreipov)  muß  auch  der 
die  unendliche  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  durch  Bewegung 
hervorbringende  voög  sein.^ 

Im  übrigen  ist  aber  das  Verhältnis  des  voOg  zu  den  Ele- 
mentstoffen nicht  leicht  zu  bestimmen.  Auf  der  einen  Seite 
erscheint  der  voög  l)ei  Anaxagoras  selbst  stofflich  gedacht,  in- 


*  Übersetzung  von  Diels,  Simpl.  a.  a.  0.,  S.  1.56  f.  (aus  fr.  12). 

*  Sext.  Enip.  adv,  rnath.  VII,  91:    'AvaSayöpai;  KOiviiJq  töv    Xöyov    ecpr\ 
KpiTripiov  eivai. 

3  Vgl.  Sext.  ebenda,  90  und  Tlieophr.  de  sensu,  29  ff. 
■*  Hippol.  Ref.  I,  S:  oöto<;  'i(pr\  xr]v  -auvröq  äpxnv  voOv  Kai  üXi-jv,  töv  p-iv 
voöv  TTOiouvT«,  Trjv  h€  ü\r\v  Yivo|u^vriv. 

5  Simpl.  a.  a.  0.,  ebenda  (fr.  12),  vgl.  auch  Piaton,  Phaidon  97  b. 


70  3.  Kapitel. 

dem  er  nur  als  «das  dünnste  und  reinste  aller  xP'moiTa»  be- 
zeichnet wird.^  Auf  der  andern  Seite  wird  er  prinzipiell  von  allen 
Xpj'maxa  geschieden,  ihnen  scharf  gegenübergestellt,  als  «selbst- 
herrhch,  ohne  sich  mit  einem  Dinge  zu  vermischen,  ganz  allein 
für  sich  selbst  bestehend».^  Diese  Schwierigkeit^  läßt  sich  wohl 
nur  heben,  wenn  man  anerkennt,  daß  es  sich  hier  bei  Anaxa- 
goras  zum  ersten  Male  in  der  Geschichte  des  Denkens  inner- 
halb unseres  Kulturkreises  um  einen  schroffen  Dualismus  rück- 
sichtlich des  Substanzbegriffes  selber  handelt.  Ihm  ist  weder, 
wie   etwa  bei  Anaximenes   oder  Diogenes   von  Apollonia*,  das 

^  Simpl.  Phys.  ebenda  (fr.  1'2):  eöTi  jap  XeirTÖTaröv  xe  Trdvxuuv  xPHMcifujv 
Kai  KadapujTaTov. 

^  Ebenda:  vovc,  bi  eariv  cxTteipov  Kai  auTOKparei;  Kai  la^iaeiKxai  oöbevi 
Xpniaaxi,  ö\Xä  laövo?  auTÖi;  eir'  diuToO  ^axiv;  vgl.  Piaton,  a.  a,  0.,  ebenda  und 
Arist.  Met.  I,  3,984  a  sowie  de  an.  I,  2,405  a. 

ä  Diese  Schwierigkeit  kommt  in  der  mannigfachen  historischen  teils 
geradezu  gegensätzlichen  Interpretation  deutlich  genug  zum  Ausdruck.  So 
faßt  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  35,  den  voOi;  geradezu  als  «Denkstoff»,  der  «in 
feiner  Verteilung  durch  die  ganze  Welt  ergossen,  aber  von  allen  anderen 
Stoffen  nicht  nur  graduell  als  der  feinste,  leichteste,  beweglichste,  sondern 
auch  wesentlich  darin  verschieden,  daß  er  allein  von  sich  aus  bewegt  ist  und 
vermöge  dieser  Eigenbewegung  auch  die  anderen  Elemente  in  der  zweckmäßigen 
Weise  bewegt,  welche  sich  in  der  Ordnung  der  Welt  zu  erkennen  gibt».  Bäumkcr 
hingegen,  obwohl  er  sonst  allenthalben  dazu  neigt,  das  antike  Denken  auch  da, 
wo  kaum  die  Rede  davon  sein  kann,  im  Sinne  des  «Problems  der  Materie»  zu 
deuten,  meint  a.  a.  0.,  S.  78 f.:  Wer  «den  Nus  des  Anaxagoras  als  einen  Stoff 
glaubt  denken  zu  müssen,  wie  die  übrigen  auch,  nur  feiner  als  diese,  der  ver- 
kennt die  im  Anfang  des  Fragments  deutlich  ausgesprochene  Absicht  des  Philo- 
sophen, den  Geist  in  Gegensatz  zu  stellen  zu  allen  Stoffen».  Allein  Bäumker 
selbst  verkennt,  daß  darin  ja  gerade  die  Schwierigkeit  liegt,  ob  man  den  Nus 
als  Stoff  zu  denken  habe,  aber  gerade  nicht  «wie  die  übrigen  auch»  und  nicht 
bloß  «feiner  als  diese»,  sondern,  wie  Windelband  hervorhebt,  «auch  wesent- 
lich» verschieden.  Wenn  ich  auch  darin  Windelband  selbst  nicht  beistimmen 
kann,  daß  der  vov(;  als  «in  feiner  Verteilung  durch  die  ganze  Welt  ergossen» 
sei,  weil  es  bei  Anaxagoras  heißt,  daß  von  den  xpnnctTa  in  jedem  Ding  «ein 
Teil  von  jedem  enthalten  ist»,  aber  gerade  «mit  Ausnahme  des  voOq»,  obAvohl 
freihch  wieder  «in  einigen  auch  voO?  enthalten»  sein  soll,  so  ist  jener  Dualis- 
mus der  Substanz,  dem  auch  heute  noch  alle  die  anhängen,  die  auch  den 
«Geist»  substantiell  fassen,  bei  Anaxagoras  unverkennbar. 

*  Damit  dürfte  die  Kontroverse  über  die  Priorität  des  Diogenes  v.  Apoll, 
oder  des  Anaxagoras  mm  wirklich  als  müßig  fortfallen,  weil  es  sich  in  der 
«Vernuiid»  für  l)eide  um  etwas  tuLu  coelo  Verschiedenes  handelt. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichon  Begriffsbildung.  77 

Seinsprinzip  bloß  vernünftig,  noch  ist  ihiii,  wie,  freilich  auf  ver- 
schiedene Weise,  Heraklit  und  den  Eleaten,  die  Vernunft 
schlechtweg  das  Seins-Prinzip.  Vielmehr  prägt  er  jenen  Dua- 
hsmus  aus,  der  sich  in  einer  späteren  Gedankenentwickelung 
mehr  und  mehr  verfestigen  sollte,  und  der  heute  noch  von 
allen  denen  vertreten  wird,  denen  die  Substanz  nicht  eine 
Funktion  des  Denkens  ist,  die  umgekehrt  das  Denken  zur 
Funktion  eines  «Geistes»,  der  selber  als  besondere  Substanz,  freihch 
als  besonders  feine,  ja  die  «feinste»  aller  Substanzen  gedacht  ist, 
machen:  den  Duahsmus  von  geistiger  und  materieller  Substanz. 
Beide  sind  für  ihn  beharrlich  in  allem  Wechsel,  der  voOg  als 
bewegendes,  die  Totalität  der  Elemente  als  bewegtes  Prinzip. 
Aus  den  Elementstoffen  ordnet  die  Vernunft  die  Dinge,  bringt 
die  Weltordnuug  hervor. 

Logisch  bedeutsam  bleibt  auch  hier  der  schon  bei  früheren 
Denkern  bemerkte  Impuls,  im  vernünftigen  Denken  sich  der 
Erkenntnis  der  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  zu  bemächtigen. 
Indes  wird  hier  zum  ersten  Male  die  Vernunft  gleich  zur  sub- 
stantiellen Weltvernunft  hypostasiert.  Insofern  es  aber  die  Ver- 
nunft als  weltbewegende  Kraft  ist,  die  die  Einheit  und  Ordnung 
in  das  Mannigfaltige  der  Elementstoffe  bringt,  wird  aucli  hier 
das  vernunftmäßige  Einheitsprinzip  des  Seins  gewahrt.  Zu- 
gleich kündigt  sich  hier  die  für  unser  Problem  bedeutsame, 
wenn  auch  gerade  wegen  der  eigentümlichen  substantiellen 
Bestimmung  unzulängliche  Tendenz  an,  die  Vernunft  gegen- 
über der  materiellen  Substanz  zu  verselbständigen.  Das  bleibt 
aber  hier  nur  Tendenz.  Ehe  sie  sich  zu  begrifflicher  Schärfe 
und  Deutlichkeit  emporbildeu  konnte,  mußte  selbst  noch  eine 
größere  Vereinfachung  des  Mannigfaltigen  angestrebt  werden, 
und  diese  wieder  ist  in  expliziter  Bestimmung  nur  möglich 
durch  eine  explizite  ausgeführte  Kritik  der  Sinnlichkeit,  die  nicht 
nur  unmittelbar,  wie  das  in  den  bisherigen  Versuchen  geschah, 
die  Unzulänglichkeit  der  Sinne  betont  und  der  Vernunft  die 
eigentliche  Erkenntnisinstanz  überweist,  sondern  in  ausführ- 
Hcher  Kritik  das  Vertrauen  in  die  Sinnlichkeit  erschüttert. 

Das  leistet  die  Atomistik.  Wenn  diese  immerhin  auch 
das  Denken  in  seinem  Ursprünge  selbst  wieder  auf  materielle 


78  3.  Kapitel. 

Voraussetzungen  zurückführt,  so  erhärtet  sie  doch  gerade  seine 
Wertprioriät  gegenüber  der  Sinnhchkeit.  Zunächst  zwar  wird 
bei  Leukipp  lediglich  eine  Vereinfachung  des  Mannigfaltigen 
der  stofflich-substantiellen  Bestimmung  intendiert.  Diese  aber 
wird  bei  Demokrit  gerade  streng  rational  und  durch  eine  Kritik 
der  Sinnlichkeit  begründet. 

3.  Die  Vielheit  der  in  sich  gleichartigen  und  darum  im 
Verhältnis  zueinander  ungleichartigen  Grundstofie  des  Anaxa- 
goras  konnte  trotz  der  im  vovq  erreichten  Einheit  doch  der 
eleatischen  Seinsgesetzlichkeit  nicht  genügen.  Um  dem  lo- 
gischen Postulate  im  Realen  noch  vollkommener  Genüge  zu 
tun,  mußte  das  Denken  einen  Weg  zu  noch  größerer  Verein- 
fachung einschlagen.  In  dieser  Richtung  bewegt  sich  zunächst 
das  Denken  Leu  kipp  s.  Die  geschichtliche  Überheferung  stellt 
ihn  —  so  besonders  häufig  Aristoteles,  aber  u.  a.  auch  Simpli- 
kios  —  oft  Demokrit  als  «Gefährten»  im  Sinne  eines  philoso- 
phischen Gesinnungsgefährten  zur  Seite.  Soweit  es  lediglich 
auf  die  Übereinstimmung  in  der  allgemeinen  Grundüberzeugung 
ankommt,  durchaus  mit  Recht.  Was  freilich  die  begriffliche 
Begründung  dieser  Überzeugung  anlangt,  so  ist  Demokrit  so 
unendlich  viel  tiefer  und  schärfer  als  Leukipp,  daß  er  mit 
diesem  kaum  verglichen  werden  darf.^  Für  Leukipp  wird  Par- 
menides'  gedankliches  -nXeov  zum  räumlichen,  aber  nicht  nach 
Melissos'  Art.  Das  räumliche  Volle  ist  ihm  zwar  das  eigentlich 
Seiende,  aber  in  der  Struktur  dieses  Raumerfüllenden  liegt  das 
eigene  Neue  und  Bedeutsame.  Dem  räumlich  Vollen  steht  das 
Leere,  d.  h.  der  leere  Raum  gegenüber,  der  eigentlich  also  im 
Verhältnis  zum  eigentlich  Seienden,  dem  Vollen,  das  Nicht- 
Seiende^,  aber  doch  als  das  Leere,   in   dem   das  Volle  ist  und 


^  Daß  ich  aber,  um  auch  nur  soviel  sagen  zu  können,  Leukipp  als 
historische  Persönlichkeit  und  nicht  bloß  als  eine  mythische  Figur  ansehe, 
versteht  sich  danach  von  selbst.  Das  zu  begründen  liegt  freilich  außerhalb 
meines  Themas.  Darüber  vergleiche  man  Diels'  Auseinandersetzung  mit  Rhode 
in  den  Verhandlungen  der  (34.  und  35.)  Versammlung  deutscher  Philologen 
(Trier  1879  und  Stettin  1880),  sowie  Rhode,  Jahrb.  f.  Philol.  u.  Päd.  (1881)  und 
dagegen  Diels,  Rh.  Mus.  (1881). 

2  Arist.  Met.  I,  4,985  b  und  Diog.  Laert.  IX,  30. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  79 

der  Wechsel  stattfindet,  doch  selbst  wieder  ist.^  Diesen  Wechsel 
nun  erklärt  Leukipp  ähnlich,  wie  Empedokles  und  Anaxagoras, 
als  Mischung  und  Entmischung  des  stoiflich  Vollen,  worauf 
ihm  Entstehen  und  Vergehen  beruht.^  Aber  —  und  darin 
liegt  sein  Fortschritt  gerade  für  das  Substanzproblem  —  er 
geht  von  deren  Auffassung  vom  Wesen  des  Stoffes  insofern  ab, 
als  ihm  für  die  Einheit  des  Seins  nicht  mehr  eine  Vielheit  von 
zwar  in  sich  gleichartigen,  aber  untereinander  verschiedenar- 
tigen Stoffen  genügen  kann.  Mit  der  Raumerfüllung  ist  ihm 
das  Wesen  des  Stoffes  bestimmt.  Darum  entspricht  bei  ihm 
nur  schlechthinige  Gleichartigkeit  des  Stoffes  der  Einheit  des 
Seins.  Was  die  Grundlage  des  Wechsels  bildet,  das  kann  also 
nicht  eine  Mannigfaltigkeit  qualitativ  verschiedener  Stoffe,  son- 
dern allein  ein  gleichartiger  Stofi"  sein,  für  den  es  keine  andere 
als  Unterschiede  der  Raumerfüllung,  also  rein  quantitative 
Unterschiede  gibt.  In  der  Tat  erkennt  er  nur  die  Unterschiede 
der  Größe,  der  Form,  der  Anordnung,  d.  i.  der  Figur  innerhalb 
des  Stofflichen  an^,  die  also  allein  quantitativ,  nicht  aber  der 
Art  nach  verschiedene  stoffliche  Dinge  ergeben,  so  daß  die  rein 
quantitative  Mischung  und  Verbindung  des  Stofflichen  das 
qualitative  Werden  und  die  quantitative  Entmischung  das  Ver- 
gehen bestimmt.  Hier  erscheint  zum  ersten  Male  seit  Anaxi- 
mander,  aber  im  Verhältnis  zu  diesem  in  unvergleichlich  ver- 
schärfter, mehr  expliziter  und  unzweideutiger  Art  der  Versuch 
wieder,  an  der  Hand  des  Substanzbegriffes  das  Qualitative  auf 
Quantitatives  zu  reduzieren.*     Freilich    so   klar   und    bestimmt 


^  Arist.  de  gen.  et  corr.  I,  8,32.5  a.  Vollkommen  deutlich  wird  uns  das, 
was  damit  gemeint  ist,  freilich  erst  bei  Demokrit  werden.  Immerhin  sieht  bei 
Aristoteles  die  Leukippsche  Anschauungsweise  etwas  zu  plump  und  wider- 
spruchsvoll aus.  Ohne  Zweifel  ist  doch  soviel  klar,  daß  Leukipp  das  Nicht- 
Sein  des  Raumes,  wie  auch  Demokrit,  so  faßte,  daf?  er  dem  Räume  nicht 
substantielles  Sein  beilegte,  wie  dem  Vollen.  Nur  insofern  ist  er  nicht.  Und 
dennoch  ist  er  als  das  Leere,  in  dem  das  Volle,  seine  Bewegung  und  sein 
Wechsel  ist. 

^  Arist.  ebenda  I,  1,314  a. 

3  Simpl.  Phys.  36. 

■*  In  diesem  quantifizierenden  Bestreben  darf  man  wohl  Zenonischen 
Einfluß    veriaulen,  auch    wenn    man    kein    eigentliches  Schülerverliältnis   des 


80  3.  Kapitel. 

dieser  Versuch  ist,  es  bleibt  zuiiäcbst  doch  nur  ein  Versuch. 
Die  eigenthche  Begründung  hat  dieser  Tendenz  doch  erst  De- 
mokrit  gegeben.  Soviel  ist  indes  auch  für  Leukipp  schon  deut- 
lich: Die  Mischung  und  Trennung  des  Stoff  heben  setzt  oberste 
stoffliche  Grundlagen  voraus,  innerhalb  deren  es  selbst  nicht 
weiter  Mischung  und  Trennung  gibt.  Sie  sind  gleichsam  die 
letzten  Dinge  oder  besser  die  «ersten  Körper».^  Und  da  sie 
die  Grundlage  des  Entstehens  und  Vergehens,  der  Mischung 
und  Trennung  sind,  sind  sie  selbst  unentstanden,  ungeworden 
und  unvergänglich,  untrennbar,  unteilbar:  dcTOiua.^  Jetzt  ge- 
langen wir  in  der  Tat,  wie  vorher  bei  Empedokles  und  be- 
stimmter bei  Anaxagoras  zum  Elementbegriff,  so  hier  zum  eigent- 
lichen Atombegriff.  Das  in  allem  Wechsel  beharrliche  Substrat 
sind  also  die  Atome,  aus  ihrer  Verbindung  bauen  sich  die  em- 
pirischen Dinge  auf,  wie  diese  sich  durch  ihre  Trennung  wieder 
auflösen.  Nur  die  Atome  selber  beharren.  Wegen  der  unend- 
lichen Mannigfaltigkeit  der  Dinge,  die  sich  aus  ihnen  zusam- 
mensetzen, müssen  die  Atome  selbst  unendlich  an  Zahl  sein, 
und  weil  sie  für  sich  in  keinem  Dinge  wahrgenommen  werden 
können,  müssen  sie  der  Größe  nach  unendlich  klein  sein.^  Die 
Unendlichkeit  der  Menge  nach,  wie  das  unendlich  Kleine 
innerhalb  des  Stofflichen,  teilt  Leukipp  also  mit  Anaxagoras, 
aber  die  mathematisch  mögliche  Teilbarkeit  ins  Unendliche 
weist  er  im  Phj'^sischen  ab;  hier  bedeutet  ihm  das  unendlich 
Kleine  nur  das  unwahrnehmbare  Kleine,  das  aber  eine  weitere 
Teilung  nicht  zuläßt  und  ebendarum  Atom  heißt. 

Die  Bewegung  aber,  auf  der  in  letzter  Linie  ja  Mischung 
und  Trennung  beruhen,  wird  hier  nicht  mehr  durch  äußere 
Kräfte  an  die  Atome  herangebracht,  die  Kraft  der  Bewegung 
wohnt  dem  materiellen  Substrat  der  Dinge  von  Ewigkeit  her 
bei.     Die  Einheit,    die    der  Kraftbegriff   auch    bei  Empedokles 


Leukipp  zu  Zenon  annimmt,  ob  er  gleich  gelegentlicli  dessen  Schüler,  so  von 
Diog.  Laert.  IX,  20  ff.,  genannt  wird.  Vgl.  darüber  Biluinker,  a.  a.  0-,  S.  80, 
woselbst  auch  weitere  Literaturangaben. 

1  Simpl.  ebenda:  upuira  ödj|uaTa. 

2  Simpl.  ebenda;  vgl.  Arist.  Met.  I,  4,98.jb  und  Diog.  Laert.  TX,  30 ff. 
*  Arist.  de  gen.  et  corr.  I,  8,:'ii5a. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  81 

uud  Anaxagoras  zwischen  dem  Mannigfaltigen  der  Stoffe  zu 
vollziehen  hatte,  wodurch  die  für  das  Substanzproblem  so  be- 
deutsame Beziehung  von  Substantiahtät  und  Ursächlichkeit  ge- 
wonnen wurde,  M'ird  hier  noch  verfestigt.  Hier  sind  Stoff  und 
Kraft  einander  analytisch  verbunden  und  bilden  die  höchste 
Einheit.^  Vor  allem  aber  ist  hier  der  Kraftbegriff  ohne  alle 
mythologische  sowohl  wie  ohne  alle  teleologische  Vorstellung, 
sondern  rein  mechanisch  gefaßt.  Wenn  es  hier  heißt,  daß  «kein 
Ding  entsteht  ohne  Ursache,  sondern  alles  aus  einem  bestimmten 
Grunde  und  mit  Notwendigkeit»^,  so  ist  mit  dem  Substanz- 
gesetze das  Kausalgesetz  in  die  innigste  Beziehung,  nämlich 
eben  die  eines  analytischen  Verhältnisses  und  zugleich  auf  die 
streng  wissenschaftliche  Form  der  abstrakten  Bestimmung  ge- 
bracht. 

4.  Die  bedeutendste  Erscheinung  innerhalb  der  aufkei- 
menden Tendenz  zu  naturwissenschaftlicher  Begriffsbildung  und 
eine  der  bedeutendsten  Erscheinungen  innerhalb  der  gesamten 
Philosophie  des  Altertums  ist  Demokrit.  Zu  ihm  verhält  sich, 
was  Tiefe  und  Schärfe  des  Denkens  anlangt,  Leukipp,  wie  sich 
etwa  Empedokles  zu  Anaxagoras  verhält.  Alle  bisherigen 
Denker  aber  überragt  Demokrit  an  Kraft  der  systematischen 
Gestaltung.  Dieser  Umstand  erklärt  uns  auch,  wie  Fr.  A.  Lange 
sehr  treffend  hervorhebt^,  die  an  sich  merkwürdige  geschicht- 


^  Arist.  Met.   ebenda  rechnet   es  freilich  als  Fehler  an,    daß  nicht  noch 
ein  besonderer  Ursprung  der  Bewegung  angenommen  wird. 

^  Aet.  I,  25  (Diels,  Fragm.  S.  350,  fr.  2)  AeÜKiirtro«;  irdvTa  kut'  dvciYKiiv, 
Triv  b'  aÜTnv  ÜTtdpxeiv  ei|uap|advTiv.  Xifei  ^äp  Iv  xOCii  TTepi  voO  • 
oöbev  XPn^ct  |udTr|V  Yivexai,  dWd  itdvTa  in  Xöfov  re  Kai  öir'  dvdYKri(;. 
F.  A.  Lange  (Gesch.  d.  Material.  I,  S.  39  [Reclam])  will  diesen  Salz  freihch  erst 
Demokrit  vorbehalten  wissen.  Aber  da  die  Überlieferung  ihn  dem  Leukipp 
ausdrückUch  zuschreibt  und  er,  nach  Langes  eigener  zutreffender  Deutung,  nur 
die  rein  mechanische  Tendenz  des  Atomismus  zum  Ausdruck  bringt,  die  ja 
von  Leukipp  scharf  gefaßt  ist,  insofern  er  alles  Geschehen  in  Bewegung  auf- 
löst, so  ist  kein  Grund  abzusehen,  warum  wir  dem  Leukipp  den  Satz  nicht 
zutrauen  sollten.  Er  ist  dem  Denken  Leukipps  jedenfalls  ebenso  gemäß,  wie 
demjenigen  Demokrits.  Und  der  weit  über  Leukipp  hinausreichenden  Be- 
deutung Demokrits  geschähe  doch  kaum  Abbruch,  wenn  man  den  Satz  schon 
für  Leukippisch  ansieht. 

'  A.  a.  0.  I,  S.  37.     Weim    wir  den  Ausspruch  Langes  relativ  im  Sinne 
Bauch,  Das  Substanzproblem.  6 


82  3.  Kapitel. 

liehe  Erscheinung,  daß  wir  «über  Demokrits  Lehre  ....  besser 
unterrichtet  sind  als  über  die  Ansichten  manches  Philosophen, 
von  dem  uns  mehr  erhalten  ist.  Wir  dürfen  dies  der  Klarheit 
und  Folgerichtigkeit  seiner  Weltanschauung  zuschreiben,  die 
uns  gestattet,  auch  das  kleinste  Bruchstück  mit  Leichtigkeit 
dem  Ganzen  einzufügen.»  Dieses  Ganze  ist,  als  System  gedacht, 
jener  scharf  ausgebildete  Materialismus,  wie  er  sich  in  der 
Naturwissenschaft  als  wertvolle  Erklärungshypothese  erwiesen 
hat,  und  wie  er  als  Methode,  wenn  auch  nicht,  was  er  bei 
Demokrit  freihch  noch  war,  als  Weltanschauung,  seine  Bedeu- 
tung behaupten  wird:  konsequent  durchgeführter  und  begrün- 
deter mechanischer  Atomismus. 

Einen  der  bedeutsamsten  Faktoren  dieses  Systems  bildet  der 
Satz,  der  zugleich  für  die  Entwickelung  des  Substanzproblems 
von  der  größten  Bedeutung  ist,  daß  aus  nichts  auch  nichts 
werden,  und  daß  nichts  zu  nichts  werden  kann.^  Der  Satz  ist 
freilich  nicht  mehr  absolut  neu.  Er  ist  uns  implizite  wie  ex- 
plizite bereits  früher  begegnet.  Allein  seine  beiden  Seiten  sind 
hier  miteinander  doch  erst  in  den  engsten  Zusammenhang 
und  damit  der  Satz  als  Ganzes  auf  einen  Ausdruck  gebracht, 
daß  er  sich  fortan  als  eine  Grundlage  der  exakten  Forschung 
behaupten  konnte.  Weil  aus  nichts  aber  nichts  wird  und  nichts 
absolut  vernichtet  werden  kann,  so  muß  alles  Entstehen  und 
alles  Vergehen  in  der  Verbindung  und  Trennung  letzter,  nicht 
weiter  teilbarer  Teile,  d.  i.  der  Atome,  bestehen.^    Noch  Lange^ 


des  Verhältnisses  der  Menge  des  Erhaltenen  zu  seiner  Bedeutung  verstehen, 
behält  er  auch  heute  noch  seine  volle  Gültigkeit,  ja  man  kann  sagen,  daß  er 
wenigstens  für  den  für  uns  allein  in  Betracht  kommenden  theoretischen  Teil 
(beim  ethischen  liegt  namentlich  nach  der  Arbeit  Natorj)«  heule  die  Sache  doch 
anders)  seiner  Lehre  durch  Diels'  Fr.-Sammlung  noch  besser  bestätigt  wird  als 
durch  die  frülieren  Untersuchungen  nach  dieser  Richtung  hin. 

»  Diog.  Laert.  IX,  44:  \XY\biv  t'  ^k  toO  jurj  ö'vto?  fiyveaQai,  ixr]b'  elc,  tö 
|Liri  öv  qpdefpeödai. 

^  Simpl.  de  caelo  294:  f]  )aev  flveoic,  öü^KpiGii;  TUJv  dröiuoiv  ioriv,  r)  b^ 
cpOopü  biuKpiGK;;  vgl.  auch  Arist.  de  gen.  et  corr.  I,  ä,31.5  b,  wo  im  übrigen 
freilich  Demokrit  und  Leukipp,  wie  auch  sonst  bei  A.,  etwas  zu  wenig  ge- 
schieden nebeneinander  gestellt  werden. 

*  A.  a.  0.,  ebenda. 


Die  Allfänge  der  nalurwissenscliaftlichen  Begriffsbildung.  83 

sieht  in  dieser  Bestimmung,  ohne  zu  verkennen,  daß  der  Satz 
von  der  Beharrlichkeit  der  Substanz  schon  auf  den  ersten  An- 
fängen der  Philosophie  «zum  Vorschein  kommt,  wenn  auch 
anfangs  etwas  verhüllt»,  die  eigentlich  erste  un verhüllte  For- 
mulierung des  Begriffs  der  Substanz,  wobei  er  ausdrücklich 
und  geradezu  auf  Kants  «erste  Analogie  der  Erfahrung»  hin- 
weist. Wir  können,  nach  unseren  früheren  Ausführungen,  heute 
nicht  mehr  erst  bei  Demokrit  die  erste  genaue  explizite  For- 
mulierung des  Beharrlichkeitsgesetzes  der  Substanz  ansetzen. 
Durchaus  neu  aber  ist  die  wissenschaftliche  Exaktheit  der  For- 
muherung,  aber  nicht  nur  sie;  neu  ist  auch  der  Inhalt,  den 
bei  ihm  die  Form  gewinnt,  neu  vor  allem  aber  ist  die  Begrün- 
dung, durch  die  die  exakte  Formulierung  ihren  neuen  Inhalt 
gewinnt.  In  der  Geschichte  des  Substanzproblems  bedeutet 
darum  Demokrit  nichtsdestoweniger  eine  neue  Epoche.  So  sehr 
es  nun  auch  scheinen  mag,  als  liege  in  der  Ansicht,  daß  die 
Atome  und  der  leere  Raum  das  eigentlich  und  einzige  Reale,  die 
dpxai  der  Dinget  außer  denen  nichts  existiere,  seien,  ja  sogar 
auch  in  der  anderen  Bestimmung,  daß  alles  mit  Notwendigkeit 
geschehe-,  zum  mindesten  Leukipp  gegenüber,  nichts  Neues 
vor,  so  sehr  wird  doch  die  originale  Leistung  Demokrits  gleich 
offenbar,  wenn  man  bemerkt,  in  welcher  Weise  er  diese  Sätze 
begründet  und  zu  welchen  Konsequenzen  er  sie  weiterführt. 

Die  allgemeine  atomistisch-materialistische  Grundtendenz  lag 
freilich  bei  Leukipp  schon  vor.  Auch  er  hatte  die  qualitativ  ver- 
schiedenen empirischen  Dinge  auf  die  Atome  als  auf  letzte 
quantitativ  bestimmte  Dinge  zu  reduzieren  gesucht.  Allein  diese 
Reduktion  war  logisch  höchst  unvollkommen  geblieben.  Die 
empirischen  Qualitäten  scheinen  bei  ihm  mehr  eine  Art  von 
stetiger  Summation  der  Quantitäten  zu  sein.  Dabei  kann  die 
logische  Analyse  nicht  stehen  bleiben,  Sie  muß  die  Dingqua- 
litäten logisch  zerlegen,  als  Sinuesqualitäten  ansprechen  und 
diese  quantitativ  reduzieren.  Das  ist  die  unendlich  fruchtbare 
Tat  Demokrits,  daß  er    das  Problem    von   der   logischen  Seite 


*  Diog.  Laert.  IX,  44:  äpxdi;  eTvai  xiuv  öXujv  äTÖ|nou<;  koX  kcvöv  . 
^  Diog.  Laeit.  IX,  45:  trcivTa  xe  kot'  iväyKiiv  yivecöai  .  .  . 

6* 


84  3.  Kapitel. 

her  erfaßt,  daß  er  dem  Substanzproblem  vom  Problem  des  Er- 
kennens  beizukommen  sucht,  und  daß  er  durch  diese  seine 
logische  Tendenz  zu  einem  logisch  wertvollen,  wissenschaftlich 
verwertbaren  Begriff  der  Materie  gelangt.  Er  macht  eigentlich 
—  und  das  ist  das  fundamental  Bedeutsame  —  die  vermeint- 
lich unmittelbar  gegebenen  Dinge  zum  Problem.  Und  es  ist 
nicht  die  vermeintlich  unmittelbare  Gegebenheit  in  der  Wahr- 
nehmung, die  der  Prüfung  standhält,  sondern  es  ist  allein  das 
Denken,  das  Erkenntnis  zu  stiften  vermag.  Die  Unterscheidung 
zwischen  Sinnlichkeit  und  Vernunfterkenntnis  ist  uns  freilich 
ebenso  schon  früher  begegnet,  wie  die  Höherstellung  der  Ver- 
nuufterkenntnis  gegenüber  der  Sinnlichkeit.  Allein  sowohl  die 
logisch  präzise  Art  der  Unterscheidung,  wie  ihre  verhältnis- 
mäßig exakte  Durchführung,  die  Präzision  der  Begründung, 
wie  endlich  der  scharf  bestimmte  Vollzug  der  Konsequenz 
gibt  dem  Verfahren  Demokrits  eine  vollkommen  eigene  Bedeu- 
tung. Er  unterscheidet  also  zunächst  Wahrnehmen  (aicrddveff&ai) 
und  Denken  (qppoveiv).^  Sie  sind  zwei  Formen  der  Erkenntnis, 
von  denen  eigentliche  Erkenntnis  nur  im  Denken  liegt,  während 
die  andere  nur  dunkel  und  schattenhaft  ist.^  Die  Sinnlichkeit 
als  Gesicht,  Gehör,  Geruch,  Geschmack,  Gefühl  gewährt  uns 
nur  eine  unzulängliche,  dunkle  Erkenntnis.'^  Die  Sinne  liefern 
uns  zwar  die  Empfindungen.  Aber  die  Erkenntnisse  durch  die 
Empfindungen  (Yvujö'eig  öiot  tujv  aia&i'icreuuv)  zeigen  uns  nicht,  wie 
etwas  an  und  für  sich  (erefii)  ist,  sondern  nur,  wie  es  uns  in 
der  Empfindung  erscheint  (xd  (paivöjLieva)S  also  nur,  wie  es  in 
Beziehung  auf  unsere  subjektiven  Sinnesorgane,  d.  i.  nicht  der 
objektiven  Wahrheit,  sondern  nur  unserer  subjektiven  Meinung 
nach  beschaffen  ist.^    In  der  Empfindung  lernen  wir  also  nicht 


^  Theophr.  de  sens.  49  ff.,  58  ff. 

2  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  139  (Diels,  Fragm.  I,  S.  389,  fr.  11)  yviijun«; 
hi  bvo  eiaiv  ib^ai,  f)  |udv  Yvriö{ri,  y]  be  (JKOxiri. 

^  Sext.  ebenda  (Forts,  v.  Anm.  2)  koI  OK0Tir]c,  |udv  Toibe  aüjUTTavTa,  ö\\ii<;, 
ÖKori,  öb,ur|,  YeO(ji<;,  \\ia\)a\q. 

♦  Sext.  a.  a.  0.  VII,  135  (Diels,  Fragm.  I,  S.  388,  fr.  9). 

°  Ebenda:  Xiyex  firibev  qpaiveadai  köt'  d\rideiav,  äWä  |uövov  kotö 
bo^av  .  .  . 


Die  Anfange  der  naturwissenschaftlichen  Begriffshilduncr.  85 

objektive  Eigenschaften  der  Dinge  als  solche  kennen,  sondern 
bloß  Einwirkungen  der  Dinge  auf  unsere  zugleich  rückwir- 
kenden Sinne.  Was  wir  Farben,  Töne,  Geschmäcke  usw. 
nennen,  das  sind  also  keine  wirklich-objektiven  Eigenschaften 
der  Gegenstände,  sondern  Zustände^  unserer  eigenen  subjek- 
tiven Beschaffenheit,  oder  Arten  und  Weisen,  wie  wir  auf  das, 
was  auf  unsere  Leibesverfassung  einfällt,  reagieren  und  darum, 
wie  dieses  unter  unserer  eigenen  sinnlichen  Gegenwirkung  auf 
uns  einwirkt.^  So  nennen  wir  etwas  farbig,  süß,  bitter,  als 
ob  das,  was  wir  so  nennen,  auch  an  sich  so  wäre.  In  Wahr- 
heit ist  das  nur  eine  konventionelle  Ausdrucksweise,  mit  der 
wir  nichts  an  den  Gegenständen,  sondern  bloß  Bestimmtheiten 
unserer  eigenen  subjektiven  Sinnlichkeit  bezeichnen:  also  eine 
Art  von  Vereinbarung.^  Wahrhaft  wirklich  ist  darum  allein 
das,  was  unabhängig  von  den  Bedingungen  der  aioOno'K;  ist 
und  unabhängig  von  diesen  erkannt  wird.  Wenn  wir  aber  von 
aller  Empfindung  absehen,  so  sind  wir  in  der  Erkenntnis  allein 
auf  das  Denken  verwiesen.  Was  also  allein  Gegenstand  des 
Denkens    (vor|Td)*,    und    unabhängig    von    allen    Empfindungs- 

^  Vgl.  Theophr.  a.  a.  0.  ebenda. 

'^  Sext.  Erap.  a.  a.  O.  ebenda  (Diels,  fr.  9):  rmei«;  be  tiüi  luev  ^övxi 
oObev  dxpeKe?  auvie|Liev,  ineTaTTiiTTov  he  Kaxd  xe  aiJujLiaxo^  biadriKriv  Kai  xiuv 
dtreiaiövxuuv  Kai  xüjv  dvxiaxtipiCövxuuv;  vgl.  auch  Arist.  de  gen,  et  corr. 
I,  2,315  b. 

'  Ebenda:  vöjliuui  fdp,  (pr]o\,  yXvKV  Kai  v6|i.ia)i  iriKpöv,  vöiauji  Oepiaöv, 
VÖ|iUJl  vjjuxpöv. 

*  Sext.  Emp.  a.  a.  0.  VIII,  6  —  7.  Diesen  Rationalismus  gilt  es  wohl  zu 
beachten.  Doch  kann  ich  ihn  nicht  mit  Natorp  (Demokrit  in:  Forschungen  z. 
Gesch.  d.  Erkenntnisprobl.  i.  Altert.,  S.  167  ff.)  und  mit  Kinkel  (a.  a.  0.  I,  i^lOff.), 
der  sich  hier  an  Natorp  anschließt,  schon  idealistisch  deuten.  An  der  hier 
erwähnten  Stelle  hat  Sextus  freilich  Piaton  und  Demokrit  nahe  zusammen- 
gestellt, wenn  er  sagt:  ot  bt  irepl  TT\dxuuva  Kai  ArmÖKpixov  |u6va  xd  vorixd 
dXriOii  elvai.  Allein  man  darf,  wenn  man  sich  auf  diese  Vl''orte  (VIII,  6)  als 
Zeugnis  für  den  Demokritischen  vermeintlichen  Idealismus  beruft,  doch  die 
unmittelbar  darauf  folgenden  (VIII,  7),  von  jenen  nur  durch  ein  Komma  ge- 
trennten Worte  nicht  ganz  beiseite  lassen  oder  als  unwesentlich  erachten, 
wenn  man  die  ersten  für  so  wesentlich  hält;  die  Worte  nämlich:  äW  ö  |U€v 
Ari|aÖKpixo(;  bid  xö  unb^v  ÖTTOKeiodai  qpüaei  aiööri™^,  xtliv  xd  udvxa  auYKpi- 
vouöüuv  dxöjaujv  ndaY]c,  aiöör^xti^  iroiöxrixo?  ^priiuov  ixovawv  qpOaiv,  6  bi  TTXdxiuv 
bid  xö  YiTveöOai  [xiv  dei  xd  aioörixd  larjbtiroxe  eivai,  oiöxe  xauxö  jiri  büo  Tovq 


86  3.  Kapitel. 

iiihalten  ist,  das  allein  ist  wirklich.  Nicht  empfunrlen  und  allein 
im  Denken  erfaßt  werden  die  materiellen  Grundlagen  der  Dinge, 
die  beiden  Prinzipien:  der  leere  Raum  und  das  Raumfüllende, 
d.  i.  die  Materie. 

Zunächst  wirkt  hier  befremdlich,  daß  jener  eigentlich  als  das 
Nicht-Seiende,  das  Volle  aber  allein  als  das  Seiende  gefaßt  wird\ 
wo  es  doch  gerade  Prinzip  der  Dinge,  wie  das  Volle,  sein  soll. 
Allein  die  Schwierigkeit  hebt  sich  dadurch,  daß  der  leere  Raum 
eine  besondere  Grundlage  neben  dem  materiellen  Sein  darstellt, 
und  ebendarum  keineswegs  weniger  wahrhaft  ist  als  das  Volle.  ^ 
Denn  das  Leere  muß  notwendig  wahrhaft  sein,  wenn  der  Wechsel 
am  Vollen,   also    das   Geschehen   möghch   sein    soU.^     Es   be- 

d\axi<JT0Ui;  xpövout;  ÜTro|uidveiv  |Lir|be  eiTib^x^'^^«i)  Kadduep  äXefe  Kai  6  'AöKXri- 
iTictbrit;  buo  diTibeiEei^  biet  Trjv  öSÜTr^Ta  r?\q  ^of|q.  VIII,  6  wird  also  bei  Sextus 
gerade  erst  durch  VIII,  7  dahin  ertiänzt,  daß,  wenn  er  sich  auch  einer  positiven 
Beziehung  zwischen  üemokrit  und  Piaton  bewufät  ist,  er  doch  auch  eine 
grundlegende  Differenz  nicht  verkennt,  die  im  Sinne  des  Sextus  eigentlich  an 
beider  Verhältnis  zum  Relativismus  derart  zum  Ausdruck  kommt,  dafs  beide 
zwar  vom  Relativismus  getrennt  bleiben,  aber  so,  daß  Demokrit  diesseits, 
Piaton  aber  jenseits  vom  Relativismus  steht.  Aber  auch  schon  für  sich  läßt  die 
positive  Beziehung,  die  hier  zum  Ausdruck  kommt,  noch  keine  idealistische  Aus- 
deutung zu.  Sie  liegt  lediglich  im  Rationalismus.  Wenn  Demokrit,  wie  Piaton, 
Rationalist  ist,  so  braucht  er  doch  noch  nicht,  wie  dieser,  Idealist  zu  sein.  Wenn 
für  Demokrit  die  Wahrheit  nicht  der  Empfindung,  sondern  allein  dem  Denken  soll 
zukommen  können,  so  kann  freilich  für  ihn  auch  nur  das  Gedankliche,  nicht  das 
Empfindliche  wahr  sein.  Wenn  für  ihn  also  tue  Atome  Gegenstände  des  Denkens, 
nicht  der  Sinne  sind,  so  sind  sie  diese  Gegenstände  doch  nicht  als  «Setzungen»  des 
Denkens  (ob  selbst  für  Piaton  eine  solche  Deutung  zuträfe,  kann  nicht  hier  ent- 
schieden werden ;  vielleicht  wird  sich  das  später  zeigen),  sondern  als  Realitäten  «an 
sich».  Der  idealistische  Atombegriff  ist  gewiß  auch  uns  der  systematisch  allein  an- 
nehmbare. Allein  ihn  schon  Demokrit  zu  vindizieren,  verbietet  hier  die  historische 
Tatsächlichkeit.  So  bedeutsam  Demokrits  Kritik  der  Sinnenerkenntnis  ist,  so  macht 
doch  gerade  ihr  im  Text  dargelegter  eigentümlicher  historischer  Charakter  eine 
solche  Annahme  unmöglich,  insofern  äroiaa  Kai  Kevöv  doch  iTr\i  sein  sollen. 

^  Simpl.  Phys.  "28:  AriiaÖKpiTO^  6  'Aßbripirri^  öpxa?  eöexo  tö  TrXfipe?  Kai 
TÖ  Kevöv,  d)v  TÖ  |Lidv  öv,  TÖ  be  |ur)  ov  ^KoAei;  vgl.  übereinstimmend  auch 
Arist.  Phys.  1,  5,188. 

^  Plut.  adv.  Colot.  IV,  2,1109:  \ir]  laäWov  tö  biv  f\  tö  juribev  eivai.  bdv 
|n^v  övo\xdliuv  TÖ  aCj^xa  \xr\biv  bi  tö  kevöv,  d)(;  koi  toütou  q)ücfiv  Tivd  Kai 
ÜTTÖöTaaiv  ibiav  exovTo^;  vgl.  dazu  auch  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  770. 

^  Arist.  Phys.  IV,  6,213b;  oö  y«P  öv  boKeiv  elvai  Kivnaiv,  ei  }xi-\  e'it] 
Kevöv;  vgl.  auch  Phys.  VIII,  9,265b:  biä  tö  Kevöv  KiveiaOai  9aaiv. 


Die  Anfänge  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  87 

zeichnet  nur  ein  Sein,  das  nicht  selbst  materiell  und  dinglich  ge- 
dacht sein  kann,  weil  in  ihm  die  Materie  und  die  materiellen 
Dinge  mit  ihrer  Bewegung  selbst  schon  sind,  es  selbst  also 
bereits  deren  Voraussetzung  ist,  als  welche  es  doch  immerhin 
dem  wahrhaften  Sein  angehört  und  wahrhaft  (eTefji)^  ist.  In  der 
Bew^egung  kommt  Mischung  und  Entmischung  zustande,  und 
darin  liegt  Entstehen  und  Vergehen  der  Dinge.  ^  Diese  erfordern 
eine  diskrete  Struktur  der  Materie,  d.  h.  ihre  Teilbarkeit.  Die 
Teilung  aber  kann  nicht  ins  Unendliche  gehen,  da  sich  sonst 
nichts  Bleibendes  ergibt.^  Die  letzten  Teile  der  Materie  sind  zwar 
un wahrnehmbar  klein,  ein  für  die  Wahrnehmung  unendlich 
Kleines.  Das  unendlich  Kleine  in  Demokrits  Sinne  ist  also  nicht 
realiter  ins  Unendliche  teilbar,  sondern  unteilbar  schlechthin.'^ 
Und  so  sind  in  letzter  Linie  das  wahrhaft  an  und  für  sich  Seiende 
mit  dem  leeren  Räume  die  Atome.  ^  Diese  sind  das  absolut 
und  ganz  Volle,  in  dem  kein  Leeres  mehr  ist.  Denn,  wäre 
noch  Leeres  in  ihnen,  so  wären  sie  ja  selbst  schon  wieder  aus 
Teilen  zusammengesetzt,  also  keine  Atome.  Darum  müssen  sie 
absolut  ganz  voll  sein.''  Ihr  Wesen  liegt  in  der  Raumerfül- 
lung. Insofern  sind  sie,  obwohl  notwendig  unendlich  an  Zahl, 
um  die  Mannigfaltigkeit  der  Dinge  erklärlich  zu  machen^,  den- 
noch gänzlich  einer  und  derselben  Art  (tö  t^vo?  ev).^  Ver- 
schieden sind  sie  nur  der  Größe^,  ferner  der  Gestalt,  Ordnung 
und  Lage  nach.^"  In  diesen  rein  quantitativen  Bestimmungen 
sind  die  Atome  die  bleibende  Grundlage  der  Dinge  in  allem 
Wechsel,  nicht  nur  insofern  sich  die  sinnlichen  Einzeldinge 
aus    den   Atomen    aufbauen   und   deren  Wirkung  aufeinander 


1  Sext.  Emp.  adv.  malh.  VIT,  13.5  (Diels,  Fragm.,  S.  .388,  fr.  9). 

2  Simpl.  de  caelo.  i>94  (zitiert  S.  82  Anm.  2). 

3  Arist.  a.  a.  0.  I,  3,187  a;  vgl.  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  772  f. 
*  Arist.  de  gen.  et  corr.  I,  8,32.5  a. 

^  Sext.   adv.  matli.  VII,  125  (Forts,  von  Anm.  3,  S.  85):   exeiii   be  ötTOiaa 
Kai  Kevöv. 

^  Arist.  a.  a.  0.,  ebenda. 

7  Ebenda. 

8  Arist.  Phys.  I,  2,184  b. 
»  Ebenda  III,  4,203  a. 

1°  Arist.  Met.  I,  4,985  b. 


88  ?>.  Kapitel. 

nichts  ist  als  Bewegung  von  Atomkomplexen,  sondern  auch 
in  dem  Sinne,  daß  die  quahtativ  bestimmte  Wahrnehmung 
und  Sinnlichkeit  selbst  auf  die  rein  quantitative  Grundlage 
atomistischer  Bewegungen  erst  zurückgeführt  wird,  so  daß  neben 
der  rein  gedanklichen  Erkenntnis  der  Atome  und  ihrer  rein 
quantitativen  Bestimmungen  die  Sinnlickeit  nur  Meinung  bleibt.^ 
So  naiv  nun  im  Einzelnen  auch  der  AVahrnehmungsprozeß 
als  ein  Hinüberwandern  besonders  kleiner  materieller  Bilder  der 
Gegenstände  in  die  Sinne  gedacht  wird,  so  daß  Demokrit,  trotz 
seiner  Kritik  der  Sinnlichkeit,  doch  über  eine  naive  Abbild- 
theorie nicht  recht  hinausgelangt^,  so  liegt  aber  im  Prinzip 
hier  doch  zum  ersten  Male  der  nun  wirklich  durchgeführte, 
logisch  und  überhaupt  wissenschaftlich,  insbesondere  aber  na- 
turwissenschaftlich entscheidende  Versuch  einer  ausdrücklichen 
Reduktion  der  Sinnesqualitäten  auf  quantitative  Beziehungen 
vor.  Es  ist  derselbe  Grundgedanke,  der  später  wieder  in  den 
Anfängen  der  neueren  Philosophie  und  Wissenschaft  durch  deren 
vorzüglichste  Begründer,  Galilei-^  Descartes,  Boyle,  seine  richtung- 
gebende Bedeutung  erhalten  und  im  Prinzip  und  begrifflich, 
bei  wie  auch  immer  verändertem  Bilde  der  Anschauung,  für 
die  exakte  Forschung  behalten  sollte,  und  der  durch  Lockes 
mehr  populär  gerichtete,  wissenschaftlich  aber  auf  Boyle  zu- 
rückgehende Unterscheidung  der  «primären  und  sekundären 
Qualitäten*»  sogar  eine  gewisse  Volkstümlichkeit  erlangt  hat. 
Die  qualitativ  bestimmten  Sinneswahrnehmungen  gehen  ursäch- 
lich zurück  auf  rein  quantitative  Atomverhältnisse,  und  darum 
hat  die  quahtative  Mannigfaltigkeit  ihre  letzte  Grundlage  in 
den  rein  quantitativ  bestimmten,  qualitativ  also  nicht  unter- 
schiedenen,   sondern    gleichartigen   und   einheitlichen    Atomen 

^  Dioi,'.  Laert.  IX,  ebenda  gilt  neben  dem  wahren  Sein  der  Atome  und 
dem  Räume  als  der  öpxai  der  Dinge  nur  xd  b'  äXKa  Trdvxa  boHdZIeaöai. 

2  Vgl.  ausführlicher  Windelband,  a.  a.  0-,  S.  92. 

3  Vgl.  Löwenheim,  Der  Einfluß  D.'s  auf  Galilei  (Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos. 
1894,  S.  230 ff.);  eine  im  ganzen  recht  ansprechende  Untersuchung,  die,  freilich 
trotz  mancher  Willkürlichkeiten  auf  der  einen  Seite,  doch  auf  der  anderen 
zugleich  die  für  derartige  historische  Perspektiven  notwendige  Vorsicht  be- 
kundet. 

*  Windelband,  a.  a.  0.,  ebenda. 


Die  Anfange  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbilduncr.  89 

selbst.^  Darum  aber  muß  die  Wahrnehmung  selbst  konse- 
quenterweise zu  einem  rein  mechanisch-atomistischen  Prozesse 
werden,  und  ebenso  konsequent  muß  der  DuaHsmus  zwischen 
Leib  und  Seele  aufgehoben  werden.  Die  Seele  wird  selbst 
atomistisch  gedacht.  Die  Seelenatome  sind  ebensowenig  von 
den  übrigen  Atomen  qualitativ  unterschieden,  wie  es  überhaupt 
zwischen  den  Atomen  noch  qualitative  Unterschiede  gibt. 
Die  Seelenatome  sind  nur  die  runden,  leichtesten  und  darum 
beweglichsten  unter  den  Atomen ;  es  sind  dieselben  wie  die  des 
Feuers.^  Trotzdem  verfällt  Demokrit  —  und  auch  darin  zeigt 
sich  seine  überragende  Größe  —  nicht  dem  sensualistischen 
Schein.  Die  Bedingungen  der  sinnlichen  dunklen  Erkenntnis 
liegen  ja  für  ihn  gerade  in  den  Gegenständen  der  rationalen 
Erkenntnis,  den  Atomen.  Und  wenn  die  Veruunfterkenntnis 
in  ihrem  Ursprünge  auch  selbst  auf  die  atomistischen  Ver- 
hältnisse zurückgeht,  so  sind  diese  in  ihrem  Erkenntniswerte 
doch  durch  die  Vernunft  verbürgt.  Eben  darum  werden  die 
Sinnesqualitäten  für  ihn  nicht  zum  bloßen  Schein,  sondern  zur 
notwendigen  Erscheinung  (id  qpaivöiueva)  der  an  sich  bestehenden 
(eiefii)  atomistischen  Grundlagen  der  Wirklichkeit,  wenn  sie  diese 
auch  nicht  zeigen,  wie  sie  an  sich  selbst  eben  sind,  sondern 
nur  in  Beziehung  auf  unsere  Sinnlichkeit  und  Meinung.^  Ist 
also  zwar  allein  das  Denken  imstande,  uns  die  substan- 
tielle Grundlage  der  Dinge  selbst  aufzuweisen,  so  sind  die 
Wahrnehmungen  doch  immerhin  die  Einwirkungen  der  an  sich 

^  Vgl.  Arist.  außer  Phys.  1.  c.  noch  de  caelo  I,  7,275  b  und  Theophr.  de 
sens.  61  ff.,  sowie  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  774  ff. 

-  Arist.  de  an.  I,  2,405a  und  Diog.  Laert.  IX,  elienda.  Es  ist  nicht 
nötig,  auf  die  Schwäche  dieser  Wahrnehniungstheorie  nochmals  aufmerksam 
zu  machen.  Bemerkenswert  bleil)t  aber  gerade  hier,  daß  trotz  der  genetischen 
Abhängigkeit  auch  des  Denkens  von  den  materiellen  Grundlagen  und  damit 
selbst  von  den  Bedingungen  der  Sinnlichkeit  dennoch  hinsichtlich  der  Wert- 
entscheidung das  Denken  die  Wertpriorität  behauptet,  so  daß  hier  die  genetische 
und  die  Wertfragestellung  scharf  auseinandertreten.  Die  Wertpriorität  des 
Denkens  bleibt  dabei  also  vollauf  bestehen;  vgl.  dazu  die  Ausführungen  Natorps, 
a.  a.  0.,  S.  1(38  ff.,  die,  wenn  sie  auch  in  der  idealistischen  Deutung  mir  nicht 
annehmbar  sind,  doch  hinsichthch  der  Demokritischen  Kritik  der  Sinnlichkeit 
und  der  Wertstehung  des  Denkens  ganz  vortrefflich  sind. 

3  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  135  (Diels,  Fragm.  I,  S.  388,  fr.  9). 


90  3.  Kapitel. 

nur  dem  DeDken  erreichbaren  substantiellen  atomistischen 
Struktur  der  Dinge,  also  zwar  subjektiv  (Kaid  böSav)S  aber  doch 
nicht  bloß  subjektiv,  sondern  wenn  auch  nicht  an  sich  selbst 
schon  objektiv,  so  doch  objektiv  bedingt.  Die  Wahrnehmungen 
sind  also  selbst  wirklich,  nur  ist  ihre  Wirklichkeit  erst  aus  der 
der  Atome,  deren  Natur  und  Verhcältnisse  abgeleitet,  bleibt  aber 
als  solche  abgeleitete,  phänomenale  Wirklichkeit  bestehen.^ 

Auf  keine  andere  Wirklichkeit  zurückführbar,  darum  in 
allem  Wechsel  beständig  sind  allein  die  Atome  und  ihre  streng 
mechanische  Gesetzmäßigkeit.  Indem  durch  diese  im  Atomismus 
zugleich  ein  besonderes  Zweckprinzip,  wie  ein  solches  der  voög 
des  Anaxagoras  war,  eliminiert  wird,  nimmt  die  atomistische  Er- 
klärung der  Sinnendinge  und  der  Sinneswahrnehmung  eine 
durchaus  wissenschaftliche  Wendung.  Insbesondere  aber  wird 
der  Atomismus  Demokrits  wissenschaftlich  fruchtbar.  Er  be- 
gnügt sich  nicht,  wie  Leukipp,  bei  einer  bloßen  Wendung  zur 
Naturwissenschaft.  In  der  Durchführung  und  Begründung  des 
gemeinsamen  Grundgedankens  steht  Demokrit  unendlich  hoch 
über  seinem  atomistischen  Gefährten.  Denn  in  dieser  Begrün- 
dung und  Durchführung  eliminiert  er  alle  Wahrnehmungs- 
qualität in  ausdrücklicher  logischer  Analyse  vom  Substanzbegrifif, 
so  daß  er  ihn  nun  auf  wirklich  logischem  Wege  der  Dualität 
entkleidet  und  auf  die  Einheit  mechanisch  bestimmten  materiellen 
Seins  beschränkt.  Erst  seine  großartige  Durchführung  begründet 
wirklich  die  von  Leukipp  intendierte  Einheit  von  Stoff  und  Kraft 
im  materiellen  Substanzbegriff,  in  dem_  keine  besondere  Zweck- 
kraft die  Einheit  mehr  herzustellen  braucht. 


^  Ebenda;  vgl.  oben. 

2  Arist.  a.  a.  0.  I,  2,404  a  und  de  gen.  et  corr.  1.  c;  vgl.  dazu  auch 
Windelband,  a.  a.  0.,  S.  90,  der  mit  Recht  den  sensualistisclien  Deutungs- 
versuch Ed.  Johnsons  (Der  Sensualismus  des  Demokritos  und  seiner  Vor- 
gänger, mit  Bezug  auf  verwandte  Erscheinungen  der  neueren  Philosophie, 
Plauener  G.-Pr.)  als  verfehlt  zurückweist.  Johnson  kommt  in  der  Tat  über 
die  Entstehungsfrage  nicht  hinaus  und  geht  am  eigentlichen  Problem  der  Er- 
kenntnis hei  Demokrit  vorbei. 


91 


Viertes  Kapitel. 
Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung. 


Wenn  wir  schon  sehr  früh  die  geschichthche  Bedeutung 
des  Pythagoras  dahin  charakterisiert  finden,  daß  dieser  die 
mathematischen  Theoreme  ohne  Beziehung  auf  die  stoffhche 
Anwendung,  sondern  rein  für  sich  und  rein  gedankhch  er- 
forscht liabe\  so  ist  damit  die  ganze  Pythagoreische  Tendenz 
auf  die  kürzeste  und  glückhchste  Präzision  gebracht.  Sie  wird 
auch  der  begriff Hchen  Bedeutung  des  Substanzproblems  zu- 
gute kommen.  Zunächst  zwar  könnte  es  scheinen,  als  ob  die 
mathematische  Begriffsbildung  nichts  mit  dem  Substanzbegriffe 
zu  tun  habe.  Denn  dieser  ist  doch  kein  jnathematischer  Be- 
griff. Und  gerade  für  die  Philosophie  scheint  sodann  doch 
nicht  die  eigentlich  mathematische  Tendenz  der  Pythagoreer, 
sondern  gerade  bloß  ihr  Symbolismus  in  Betracht  zu  kommen. 
Allein  hält  man  sich  erst  einmal  fest  bewußt,  daß  die  Pytha- 
goreer nicht  bloß  symbolistisch,  sondern  außerdem  eben  noch 
streng  wissenschaftlich  mathematisch  dachten,  so  kann  man 
sich  auch  darüber  klar  werden,  daß  gerade  ihre  mathematische 
Denkweise  für  die  Geschichte  der  Philosophie  von  ganz  be- 
sonderem   Werte    ist.^      Die   Geschichte   der   Mathematik  läßt 

^  Proklos  (ed.  Friedlein),  S.  f>5:  Kai  ävXwc,  Kai  voepoiq  biepeuviüiuevo;. 

-  Das  gilt  schon,  wie  aus  Jambl.  de  vita  Pylli.  erhellt,  von  Pythagoras 
selbst;  vgl.  E.  Rohde,  Zu  Jambl.  d.  v.  P.,  S.  8.  In  breiterer  Ausführlichkeit 
scheinen  sie  mir  bisher  am  besten  und  eingehendsten  von  selten  der  Geschichte 
der  Philosophie  gewürdigt  zu  sein  von  Kinkel,  a.  a.  0.,  S.  101  ff.  Ich  komme 
darauf  zurück.  — ■  Feine  Andeutungen  finden  sich  für  die  Unterscheidung  von 
Symbolismus  und  Wissenschaft  auch  schon  bei  A.  Boeckli,  Philolaos  des  Pytha- 
goreers  Lehre  nebst  den  Bruchstücken  seines  Werkes,  S.  155  f. 


92  4.  Kapitel. 

es  sicli  nicht  nehmen,  sogar  ganz  besthnmte  Einsichten,  «welche 
ganz  besonders  der  Geschichte  der  Mathematik  angehören», 
der  sagenumwobenen  Gestalt  des  «Pythagoras  selbst  zuzu- 
schreiben».^ Das  gilt  z.  B.  auch  von  dem  sogenannten  Pytha- 
goreischen Lehrsatze,  Zu  jenen  Einsichten,  sagt  M.  Cantor, 
«gehört  der  Pythagoreische  Lehrsatz,  den  wir  unter  allen  Um- 
ständen ihm  erhalten  wissen  wollen.»^ 

Die  Deutung  des  philosophischen  Teils  der  Pythagoreischen 
Lehren  ist  größtenteils  von  derjenigen  beherrscht,  die  diese  bei 
Aristoteles  gefunden  hat,  und  dessen  Autorität  ist  für  die  Auf- 
fassung bis  in  die  neueste  Zeit  bestimmend  gewesen.^  Zwar 
hat  man  sich,  so  Brandis"^,  längst  die  Frage  vorgelegt,  ob 
Aristoteles  die  Pythagoreer  auch  wirklich  verstanden  habe, 
aber  im  Grunde  hat  man  die  Frage  doch  meist  im  positiven 
Sinne  entscheiden  zu  müssen  geglaubt.^  Auch  hatte  man  die 
Vieldeutigkeit  der  Aristotehschen  Äußerungen  bei  seiner  Be- 
richterstattung auf  eine  Verschiedenheit  der  Pythagoreischen 
Schulmeinungen  zurückführen  zu  müssen  geglaubt.^  Allein  so 
mannigfach  die  gedanklichen  Tendenzen  der  Pythagoreer  sind, 
so  sind  es  doch  immer  nur  mannigfache  Tendenzen  innerhalb 
der  einen  Schule,  nicht  Ansichten  besonderer  Schulen.  Gewiß 
ihre  Tendenzen  sind  mannigfaltig,  so  mannigfaltig,  daß  für  uns 
nur  ein  verhältnismäßig  kleiner  Ausschnitt  aus  ihrer  Gesamt- 
ansicht in  Betracht  kommen  kann.   Und  doch  bleibt  auch  schon 


^  Moritz  Cantor,  Vorlesungen  zur  Geschichte  der  Mathematik  I,  S.  129. 

2  Cantor,  ebenda. 

ä  Vgl.  zum  Beleg  dafür  z.  B.  nur  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  320 ff.,  350 ff.  u.a.m. 

•*  Brandis,  Über  die  Zahlenlehre  der  Pythagoreer  und  Platoniker  (Rh. 
Mus.  II.  S.  211). 

6  Cohen,  Piatons  Ideenl.  u.  d.  Math.,  S.  16 ff.,  Natorp,  Plat.  Ideenl. 
Eine  Einf.  in  d.  Ideal.,  S.  421  ü'.  und  Kinkel,  a.  a.  0.,  ebenda,  bilden  hier 
eine  Ausnahme.  Am  schlagendsten  scheint  mir  Natorp  den  Nachweis  erbracht 
zu  haben,  daß  Aristoteles  das  eigentlich  mathematische  Verständnis  abging. 
Wie  man  sich  auch  sonst  zu  Naiorps  Ausführungen  stellen  mag,  gegen  dieses 
sein  Verdienst  werden  sich  auf  die  Dauer  auch  diejenigen  nicht  verschließen 
können,  die  für  Aristoteles  mehr  Bewunderung  aufzubi-ingen  vermögen,  als 
Natorp  selbst,  Vorausgesetzt,  daß  sie  eben  ein  positives  Verhältnis  zur  Mathe- 
matik haben. 

®  Brandis,  a.  a.  ü.,  ebenda. 


Die  Anfange  der  mathematischen  Begriffsbildung.  93 

für  unsere  eng  begrenzte  Untersuchung  zu  bedenken,  daß  Ari- 
stoteles, selbst  wenn  er  in  der  Berichterstattung  zuverlässig  ist, 
es  doch  nicht  auch  in  der  Deutung  des  Berichteten  zu  sein 
braucht.  Bericht  und  Deutung  des  Berichtes  sind  doch  scharf 
zu  unterscheiden.  Gerade  Brandis,  der  die  Auffassung  des 
Aristoteles,  trotz  seiner  kritischen  Vorsicht  gegen  sie,  noch  in 
gewisser  Weise  aufrecht  zu  erhalten  sucht,  hat  an  einer  Stelle 
die  Pythagoreische  Grundansicht  in  einer  geradezu  glänzenden 
zutreffenden  Weise  formuliert,  die  sich  aber  mit  den  Aristo- 
telischen Deutungen  selbst  durch  die  größten  Gewaltsamkeiten 
nicht  in  Übereinstimmungen  bringen  läßt.  Brandis  bringt  das 
Wesen  der  Zahl  als  Bestimmung  des  «Bewußtseins  vom  Sein 
der  Dinge»  auf  den  denkbar  glücklichsten  Ausdruck  und  be- 
merkt, daß  die  Zahl  nicht  bloß  ein  «regulatives»  Moment  der 
eigenschaftlicheu  Erkenntnis  der  Dinge,  sondern  ein  konstitu- 
tives Erkenntnismoment  vom  Sein  der  Dinge  selber  ist.^  Das 
aber  ist  der  Punkt,  an  dem  Pythagoreismus  und  Piatonismus 
sich  vereinigen,  es  ist  der  idealistische  Grundzug  dieser  beiden 
Gedankenrichtungen,  und  gerade  weil  Aristoteles  ihn  in  der 
einen  verkannt  hat,  konnte  er  ihn  auch  in  der  anderen  nicht 
recht  erkennen.  Die  Differenz  zu  Piaton  fällt  in  letzter  Linie 
zusammen  mit  der  Differenz  zur  Pythagoreischen  Philosophie 
der  Mathematik,  so  daß  Piatons  Forderung  luribeig  dTeuj^expriTG^ 
eicTiTuu  )uou  Tf]v  OTijiyv  unter  diesem  Gesichtspunkte  eine  einzig- 
artige geschichtliche  Bedeutung  zu  erhalten  scheint.-    Auf  jeden 


^  Brandis,  a.  a.  0.,  S.  216.  Hier  führt  Brandis  als  die  Fundamental- 
erkenntnis der  Pythagoreer  an  die  «Entdeckung,  daß  bei  allem  Wandel  der 
Dinge  und  bei  allem  Streite  der  Meinungen  die  Zahlenlehre  davon  nicht  be- 
rührt und  durch  sie  die  ganze  Größenlehre  bedingt  werde»;  und  er  bemerkt 
ganz  vortrefflich,  daß  darum  die  Pythagoreer  meinten,  in  den  Zahlen  «nicht 
nur  ein  Regulativ  für  die  Erkenntnis  gewisser  beharrlicher  Eigenschaften  der 
Dinge,  sondern  das  Bewußtsein  vom  Sein  der  Dinge  selber  und  ihrer  Prin- 
zipien zu  besitzen». 

^  Um  hier  nicht  mißverstanden  zu  werden,  will  ich  noch  einmal  be- 
sonders hervorheben,  daß  es  sich  hier  um  die  Philosophie  der  Mathematik, 
den  Sinn  und  die  Bedeutung  des  Mathematischen,  nicht  um  mathematische 
Einzelkenntnisse  handelt.     Der   Ansicht   des   Historikers   der  Mathematik,   die 


94  4.  Kapitel. 

Fall  aber  liegt  in  Branclis'  Deutung  ein  viel  tieferer  Sinn,  als 
ihn  die  Aristotelische  zuläßt,  trotzdem  er  sich  aus  Aristoteles' 
Berichten  selbst  herstellen  läßt,  und  zwar  besser,  als  es  dem 
Stagiriteu  selbst  gelungen  ist.  Brandis  selbst  übersieht  freihch 
auch  noch  nicht  die  Tragweite  seiner  Deutung.  Darum  ent- 
schließt er  sich,  vor  die  Alternative  gestellt,  zwischen  der  An- 
nahme widerspruchsvoller  Pythagoreischer  Schulmeinungen,  oder 
der  des  richtigen  Verständnisses  durch  Aristoteles  zu  wählen, 
für  die   letzte   Entscheidung.     Trotz  alledem  hat  er   in  den  zi- 

M.  Cantor  in  seinem  erwähnten  Werke  vertritt,  daß  in  dieser  Hinsicht  Aristo- 
teles selbst  um  die  Geschichte  der  Mathematik  seine  Verdienste  hat,  zu  wider- 
sprechen, wäre  in  der  Tat  ungerecht.  Immerhin  darf  er  auch  hier  Piaton 
kaum  ebenbürtig  zur  Seite  gestellt  werden.  Was  nun  vollends  die  Erkenntnis 
der  philosophischen  Bedeutung  der  Mathematik  anlangt,  so  dürfte  es  nicht 
ungerecht  sein,  den  Aristoteles  geradezu  als  «&YCuu|Li^TpriT0(;»  zu  bezeichnen. 
Daf3  Aristoteles  bei  aller  mathematischen  Einzelerkenntnis  im  Grunde  doch  ein 
unmathematischer  Kopf  war,  das  hat  Natorp  meines  Eraclitens  scharf  und  klar 
bewiesen  (vgl.  a.  a.  0.,  besonders  S.  409 — 436).  Und  das  wird  jeder  malhemathisch 
Denkende  Natorp  zugeben  müssen,  selbst  wenn  er  weder  dessen  Platon-Auf- 
fassung  noch  dessen  Aristoteles-Auffassung  im  ganzen  und  restlos  annimmt. 
Vorgearbeitet  hatte  dieser  historischen  Einsicht  Natorps  nach  Brandis  auch 
schon  Hermann  Cohen  in  seiner  Schrift  über  Piatons  Ideenlehre  und  die 
Mathematik. 

Im  Anschluß  an  Cohen  und  Natorp  hat  neuerdings  Kinkel  (a.  a.  O., 
S.  107  ff.)  in  breiter  Ausführlichkeil  die  Frage  behandelt.  Geht  er  auch  in 
seinem  Verwerfungsurteil  über  Aristoteles  zu  weit,  so  hat  er  doch  in  besonders 
verdienstlicher  Weise  sehr  gute  Winke  für  einen  Vergleich  der  Platonischen 
mit  der  Aristotelischen  Mathemalikauffassung  gegeben,  ein  Thema,  das  für 
sich  einer  besonderen  Behandlung  wert  wäre,  das  ich  natürlich  hier  nicht  in 
meine  ohnehin  schon  spezialisierte  Aufgabe  miteinbeziehen  kann.  Wenn  Kinkel 
darauf  hinweist,  daß  Aristoteles  den  Pythagoreern  «so  gut  wie  Piaton  gegen- 
über kein  verständnisvoller  Berichterstatter  war»  (S.  107),  so  hat  er  gerade 
dadurch,  daß  er  Plalon  und  die  Pythagoreer  miteinander  in  Parallele  und  beide 
dem  Aristoteles  entgegensetzt,  durchaus  das  Richtige  getroffen.  Ich  möchte 
nur  schärfer  als  Kinkel  zwischen  der  immerhin  wertvollen  bloßen  Bericht- 
erstattung und  der  Deutung  des  Berichtes  bei  Aristoteles  untei'scheiden.  Wenn 
ich  nun  freilich  mit  Kinkel  den  Pythagoreismus  auch  nicht  ohne  weiteres  als 
logischen  Idealismus  fassen  kann  (Zahlen  sind  ihm  Gesetze  —  doch  komme  ich 
auf  die  Differenz  zwischen  Kinkels  und  meiner  Ansicht  später  zu  sprechen), 
so  zeigen  doch  seine  Untersuchungen,  ebenso  wie  diejenigen  seiner  Vorgänger, 
daß  die  Aristotelische  Mathemali kauffassung  längst  —  nicht  also  erst  von 
mir  —  in  ihrem  pliilosophischen  Werte  als  reclit  bedenklich  erkannt  worden  ist. 


Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung.  95 

tierten  Sätzen  einen  tieferen  Blick  bewiesen,  als  manche  andere 
au  Aristoteles  sich  anlehnenden  Ausleger,  Zeller  nicht  aus- 
genommen. 

In  philosophischer  Hinsicht  war  es  zunächst  mehr  das 
arithmetische  als  das  geometrische  Gebiet,  das  die  Pythagoreer 
eben  auch  philosophisch  fruchtbar  machten;  und  wir  lernen 
hier  ihre  Anschauungen  am  leichtesten  verstehen,  wenn  wir  von 
einer  prinzipiell  wichtigen  und  bleibend  bedeutsamen,  weil 
logisch  wertvollen  Unterscheidung  ausgehen.  Es  ist  bemerkens- 
wert, daß  sich  die  Pythagoreer  über  den  Unterschied  der  Zahlen 
von  den  zählbaren  Dingen  vollkommen  klar  waren  und  beides 
darum  auch  in  der  Tat  sorgfältig  unterschieden.^  Die  Unter- 
scheidung zwischen  dpidjuoi;  und  dpi&|uriTd  ist  ohne  Zweifel  so 
echt  Pythagoreisch,  daß  mit  der  Aufhebung  dieser  Unterschei- 
dung auch  aller  Sinn  des  ganzen  Pythagoreismus  aufgehoben 
würde.  Denn  die  ganze  Zahlenphilosophie  der  Pythagoreer  ist 
von  dieser  Unterscheidung  beherrscht.  In  der  Tat  setzt  sie  ja 
auch  Arisioteles^  in  dem  Gegensatzpaare  der  abstrakten  Einheit 
und  der  abstrakten  Vielheit  (ev  Kai  TrXiiO-og)  selbst  schon  wieder 
voraus,  wie  sie  auch  vor  ihm  schon  Platon^  nur  mit  viel 
größerer  Klarheit  und  Schärfe  akzeptiert  hatte,  so  daß  bei 
Piaton  für  diesen  prinzipiellen  Gesichtspunkt  ein  schwerwie- 
gendes und  vollgültiges  Zeugnis  vorliegt,  das  die  Forschung 
doch  wahrlich  nicht  geringer  veranschlagen  darf  als  dasjenige 
des  Aristoteles. 

Wie  es  nun  auch  immer  mit  der  iöia  uTTÖcfTacri^,  die  frei- 
lich jener  Unterscheidung  gegenüber  schon   einen   neuen    Ge- 


^  Sext.  Emp.  Hyp.  III,  156:  erepöv  xi  ioziv  6  dpiöf^öq  uapä  to  (ipiöiaiird; 
und  el)enda  157:  ouk  äpa  tu  6pid|ariTd  daxiv  6  äpiö|aö<;,  aW  ibiav  inröoTaaiv 
'Ixei  Trapd  raura,  Kad'  t^v  dinöeaipeiTai  toT<;  dpiOjaoii;  .  .  .  dem  widerspricht 
freilich  Arist.  Met.  I,  G,987a/b;  und  Zeller  gibt  ihm  recht  (a.a.O.,  ebenda). 
Das  heißt  aber  der  Pythagoreischen  Lehre  den  Nerv  abschneiden,  und  sind  doch 
des  Aristoteles  weitere  eigene  Berichte  nur  auf  Grund  dieser  entscheidenden 
Auffassung  selbst  sinnvoll  zu  fassen.  Hier  bleibt  gegen  Zeller  von  den  älteren 
Forschern' Brandis  .und  von  den  neueren  Cohen,  Natorp  und  Kinkel  (s.  S.  93 
Anm.  2)  im  Recht. 

2  Arist.  Met.  I,  .5,986  a;  vgl.  Boeckh,  a.  a.  0.,  S.  -55. 

*  Pkt.  z.  B.  Theaet.  185  A. 


96  4.  Kapitel. 

danken  impliziert,  stehen  mag,  so  ist  soviel  zunächst  klar,  daß 
auch  sie  der  in  jener  Unterscheidung  zutage  tretenden  Grund- 
*  ansieht  der  Pythagoreer  durchaus  gemäß  ist,  indem  das  ibia  von 
vornherein  nur  den  Unterschied  zu  den  dpiö|uriTd  bezeichnet, 
das  «ouK  dpi&jariTd»  nur  erläutert,  mit  ihm  geradezu  gleichbe- 
deutend ist  und  gerade  die  Negation,  den  Gegensatz  der  bloß 
zählbaren  Dinge  bezeichnen  kann.  Der  Begriff  der  iiTTocJTacrK; 
aber  entspricht  zunächst  selbst  durchaus  auch  der  Auffassung 
des  Aristoteles  von  den  Zahlen  als  dpxai  der  Dinge,  soweit  sich 
Aristoteles  hier  nur  berichtend  verhält,  ist  also  der  Sache  nach 
mit  der  objektiven  Berichterstattung,  wenn  auch  nicht  in  allen 
Stücken  mit  der  Deutung  des  Aristoteles  selbst  durchaus  verein- 
bar. Denn  auf  der  einen  Seite  tritt  hier  die  Unabhängigkeit  der 
Zahlen  von  den  zählbaren  Dingen  zutage;  und  das  soll  gerade 
besagen,  daß  die  Zahl  ein  eigenes  und  eigenartiges  Sein  den 
Dingen  gegenüber  hat.  Auf  der  anderen  Seite  soll  ebenso  deutlich 
werden,  daß,  wenn  auch  die  Zahlen  unabhängig  von  den  Dingen 
sind,  doch  nicht  umgekehrt  auch  die  Dinge  unabhängig  von 
den  Zahlen  sind,  daß  die  Zahlen  selbst  zu  den  bleibenden 
Grundlagen,  den  Prinzipien  (dpxai)  der  Dinge  werden,  wie  ja 
Aristoteles  selbst  berichtet.^  In  gewisser  Weise  ist  damit  bereits 
der  Sinn  und  Charakter  der  ganzen  Zahlentheorie  der  Pytha- 
goreer angedeutet,  zugleich  aber  auch  die  mannigfache  Kom- 
plikation, zu  der  sie  führt. 

Darin  scheint  zunächst  zwar  gar  keine  Schwierigkeit  zu 
liegen,  daß  die  Zahlen  den  zählbaren  Dingen  entgegengesetzt 
werden.  Daß  die  1,  die  2,  die  3  usw.  etwas  anderes  ist  als 
ein  Ding,  zwei  Dinge,  drei  Dinge,  die  ich  zähle,  scheint  ohne 
weiteres  einzuleuchten.  Denn  zählen  kann  ich  die  verschieden- 
sten Dinge,  und  doch  muß  ich  alles  Verschiedene  nach  den- 
selben Zahlen  zählen,  nach  denselben  Zalilenverhältnissen 
verbinden.  (Z.  B.  drei  Acker  sind  etwas  ganz  anderes  als  drei 
Pferde,  die  Zahl  drei  aber  drückt  in  gleicher  Weise  das  Ver- 
hältnis der  Zuordnung  von  Einheiten  zu  einer  bestimmten 
Vielheit   oder  Menge  aus  in  dem  einen  Falle  wie  in  dem  an- 

*  Met.  I,  5,986  b. 


Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung.  97 

deren.  Und  selbst  wenn  einstens  die  in  dem  einen  Falle  ge- 
zählten Dinge  ebensowenig  mehr  existieren  wie  die  in  dem  an- 
deren, so  können  doch  immer  wieder  andere  Dinge,  seien  es 
nun  andere  Äcker  oder  andere  Pferde  oder  gänzlich  anderes, 
immer  wieder  gezählt  werden,  nach  denselben  Zahlenverhält- 
nissen einander  zugeordnet  werden.  Welche  wechselnden  Dinge 
auch  gezählt  werden  mögen,  daß  sie  gezählt  werden  können, 
fordert  ein  gleichbleibendes  eigenes  Sein  der  Zahlen  selbst.) 

Insofern  nun  das  gleichbleibende  Sein  der  Zahlen  lediglich 
negativ  bestimmt  wird  als  nicht  zusammenfallend  mit  den  zähl- 
baren Dingen,  liegt  in  dem  Bericht  von  der  ihia  bnöoiaOiq  noch 
keine  Schwierigkeit.  Diese  beginnt  erst  mit  der  Frage  nach 
dem  positiven  Was  dieser  Bedeutung  und  nach  dem  eigen- 
tümlichen Verhältnisse  des  «eigentümlichen»  Seins  der  Zahlen 
zu  dem  Sein  der  Dinge  im  positiven  Sinne.  Das  ist  eine  ob- 
jektive Schwierigkeit,  die  in  der  Geschichte  auch  zu  den  er- 
heblichsten subjektiven  Schwierigkeiten  der  Auffassung  und 
darum  zu  den  schwerwiegendsten  Mißverständnissen  der  Deu- 
tung geführt  hat.  Weil  nun  die  Zählbarkeit  der  Dinge  selbst 
schon  das  eigentümliche  Sein  der  Zahlen  voraussetzt,  und  weil 
das  Sein  der  Dinge  insofern  ein  zahlenmäßig  Bestimmtes  ist, 
als  jedes  Ding  eben  eines,  von  jedem  anderen  darum  unter- 
schiedenes, mit  ihm  zusammen  also  ein  Mehreres  ist,  so  läßt 
sich  zunächst  verstehen,  daß  die  Pythagoreer  im  Sein  der  Zahlen 
zugleich  die  Prinzipien  des  Seins  der  Dinge,  daß  sie  wegen  der 
grundlegenden  Bedeutung  der  Zahlen  für  die  mathematische 
Bestimmung  überhaupt  in  den  Zahlen  selbst  ein  das  Sein  und 
und  das  Werden  der  Dinge  zahlenähnlich  und  urbildlich 
(6)aoiuj)aaTa)  bestimmende  Bedeutung  erbhcken  konnten.  Über 
den  inhaltlichen  Charakter  dieser  Bedeutung  und  Bestimmung 
ist  damit  aber  noch  nichts  ermittelt. 

Gerade  das  «eigene»  Sein  der  Zahlen  neben  und  unabhängig 
von  den  zählbaren^  Dingen  kann  dazu  verführen,  ihnen  ein  den 
zählbaren  Dingen  analoges  Sein  zuzusprechen,  wie  Aristoteles  die 
Pythagoreische  Lehre   wenigstens  teilweise  gedeutet  hat.     Aber 


^  Sext.  Emp.  a.  a.  O.,  156/1.57:  irapä  rd  äpiöjariTcl. 
Banch,  Das  Substanzproblem. 


98  4.  Kapitel. 

wie  immer  man  auch  im  weiteren  jenes  eigene  Sein  verstehen 
mag,  so  gilt  es  doch,  um  sich  überhaupt  eine  verständliche  Vor- 
stellung davon  zu  bilden,  von  vornherein  mit  aller  Energie  fest- 
zuhalten, daß  das  Sein  der  Zahlen  von  dem  der  zählbaren 
Dinge  unterschieden  bleibt.  Ein  physisches,  naturhaftes  Sein, 
wie  das  der  zählbaren  Dinge,  kann  also  das  mathematische 
Sein  der  Zahlen  von  vornherein  nicht  bedeuten;  das  um  so 
weniger,  als  es  sich  bald  als  Grundlage  des  physischen  Seins 
erweisen  soll.^ 

Gerade  nach  des  Aristoteles  Bericht  sind  die  Zahlen  für 
die  Pythagoreer  dpxcu  eben  als  dpxai^  der  Natur,  insofern  sie 
das  Sein  und  Werden  der  Dinge  in  der  Natur  bestimmen,  so 
daß  die  Pythagoreer  die  Natur  selbst  aus  den  Zahlen  «konsti- 
tuieren».^ Insofern  sind  die  Zahlen  schlechtweg  konstitutive 
Prinzipien  der  zählbaren  Naturdinge  selbst,  Grundlage  des 
Kosmos  überhaupt.^  Aber  gerade  darum,  weil  die  Zahlen  be- 
reits Grundlagen  der  ^uaic;  oder  des  K6ö'|ao(g  sind,  kann  ihr  Sein 


*  Hält  man  das  fest,  so  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit  die  Unterscheidung 
zwischen  der  Berichterstattung  als  solcher  und  der  Deutung  des  Aristoteles. 
Es  wäre  ungerecht,  dem  Aristoteles  nichts  als  Absurditäten  in  der  Bericht- 
erstattung zuzumuten.  Unrichtig  aber  wäre  es  auch,  seine  Deutungen  ohne 
weiteres  zu  akzeptieren.  Dazu  war  er  zu  wenig  mathematisch  gesonnen.  Wenn 
er  berichtet,  die  Zahlen  seien  die  bleibenden  Grundlagen,  die  Prinzipien  (&pxai  — 
vgl.  folgende  Anm.)  der  Dinge,  so  dürfen  wir  ihm  das  glauben,  auch  wenn 
wir  ihm  in  der  Deutung  der  Prinzipien  als  wieder  einer  Art  von  Dingen  nicht 
folgen  dürfen.  Und  gerade  hinsichtlich  des  Begriffs  der  dpxai  wird  alles  darauf 
ankommen,  aus  der  bloßen  Deutung  die  eigentliche  und  richtige  Bedeutung 
klar  herauszustellen,  wobei  sich  zeigen  wird,  daß,  soweit  Aristoteles  sich  bloß 
berichtend  verhält,  seine  sachliche  Berichterstattung  besser,  als  es  nach  Aristoteles 
scheint,  sich  auch  mit  anderen  Berichten  in  Übereinstimmung  bringen  läßt. 

^  Arist.  Met.  I,  .5,986  a:  ^v  hi  toütok;  koI  -rrpö  toutudv  ol  Ka\oü|Lievoi 
TTuöaYÖpeioi  xiijv  laaöriiadTuuv  dijjdiaevoi  -rrpOuToi  raOra  'npor\^ayov,  Kai  ^vrpa- 
(pivT^c;  iv  ai)TO\c,  xäq  toütuuv  äpxäc,  tüjv  övtuuv  dpxäq  liiirjöriöav  elvax  TroivTUJv.  ^ttel 
hi  ToÜTLUv  Ol  api9|Lioi  qpüoei  upiuToi  iv  hi  toi<;  6pi0noT(;  ^bÖKOuv  öeujpeiv  ö|uoiiij- 
ILiaia  TToWä  toii;  ouai  kui  YiT^oiu^voiq  .  .  . 

'  Arist.  de  caelo  III,  1,300a:  ^vioi  YÖp  xrjv  qpOöiv  i^  äpiö|.iil)v  ouviötöoi 
djöTrep  TÜJv  TTuöaYopeiuuv  tiv^i;.  (Man  vgl.  die  äußerst  bezeichnende  lat.  Über- 
setzung: ex  numeris  naturam  constituunt.) 

*  Sext.  Emp.  Hyp.  Pyrrh.  III,  152:  axoixeia  xoO  KÖajuou  xoüq  äpiQ- 
|iou(;  elvm. 


Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbikhing.  99 

selbst  nicht  physisch  oder  kosmisch  sein.  Wenn  sie  für  Ar- 
chytas^  wirkhch  als  «Urgestalten  des  Seienden»  gelten,  so  ist  von 
diesen  Gestalten  also,  da  sie  ja  nicht  selbst  physisch  sind, 
jedenfalls  alle  Verkörperlichung  fernzuhalten  und  mit  ihr  auch 
alle  Vorstellung  einer  Gestaltung  nach  Art  jenes  physischen 
Seienden,  für  das  sie  eben  bereits  «Urgestalten»  sind.  Sie  sind 
für  jene  Gestaltung  selbst  schon  als  UrVoraussetzungen  ge- 
fordert, also  als  Prinzipien  der  Gestaltung,  und  in  diesem  Sinne 
allein  können  sie  «Urgestalten»  sein.  Nur  so  hat  der  Begriff 
der  «Urgestalt»  einen  Sinn.  Diese  ist  also  als  solche  so  wenig 
selbst  körperlich  gestaltet,  daß  vielmehr  aus  ihr  erst  die  Kör- 
perlichkeit entspringt,  so  daß  in  der  Tat  nach  Philolaos  es  erst 
die  Zahl  sein  soll,  die  «die  Körperlichkeit  verleiht»  und  dadurch 
sodann  erst  die  zählbaren  seienden  Dinge  «zu  sich  und  zu  an- 
deren in  Verhältnis  bringt».^  Ebendarum  können  die  die 
«Körperlichkeit  verleihenden»  «Urgestalten»  doch  nicht  selbst 
körperlich  gedacht  werden;  denn  Körperlichkeit  und  das,  was 
Körperlichkeit  verleiht,  sind  doch  nicht  dasselbe.  Daraus  aber 
geht  hervor  (um  hier  nun  die  mannigfachen  Überheferungen 
klar  und  deutlich  aufeinander  zu  beziehen),  daß,  wenn  die 
Überlieferung  auch  von  einer  uTioö'Taö'K;  spricht,  wir  diesen  Be- 
griff nicht  in  dem  landläufigen  Sinne  etwa  unseres  Fremd- 
wortes der  «Hypostasierung»  verstehen  dürfen,  obwohl  Aristoteles 
dazu  anleiten  könnte.  Wir  müssen  vielmehr  den  Begriff  philo- 
logisch in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  der  «Grundlage» 
nehmen-^   die   Zahlen    selbst  nicht    wieder  als  zählbare  Dinge, 


^  «Urgestalten  des  Seienden»  ist  Diels'  charakteristische  Übersetzung  von 
ToO  övTo?  TTpiÜTiaxa  .  .  .  e'ibea  in  fr.  1,  Fragm.  I,  S.  2.58. 

2  Diels,  a.  a.  0.  I,  S.  243,  fr.  11  v.  Philolaos. 

^  Der  Begriff  des  ützöaTaaK;  entspricht  ziemlich  genau  dem  des  «sub- 
stratum».  Wie  wenig  man  aber  dabei  an  ein  materielles,  körperlich-dinghaftes 
Substrat  zu  denken  hat,  das  zeigt  eine  Erinnerung  an  den  rein  naturwissen- 
schaftlichen Gedankenkreis.  Für  Demokrit  (vgl.  S.  86  Anm.  2)  wurde  dem 
leeren  Räume  in  wörtlicher  Übereinstimmung  ebenfalls  eine  ibia  v-nöaTaoic, 
zugewiesen.  Dem  Vollen  oder  Körperlichen  gegenüber  aber  bedeutete  das 
Leere  gerade  das  Nicht-Seiende.  Daß  aber  trotzdem  das  Leere  oder  Nicht- 
Seiende  nicht  weniger  wahrhaft  wäre  als  das  Volle  oder  eigentlich  Seiende, 
und  mit  diesem  zusammen  die   zweifache  Grundlage   der  Dinge  sein  konnte, 


100  4.  Kapitel. 

sondern  als  deren  Grundlage  fassen.  Dann  erhält  auch  die 
Aristotelische  Auffassung  der  Begriffe  der  dpxai  und  6|uoidj|uaTa 
selbst  erst  einen  vollen  Sinn  —  trotz  Aristoteles.  Und  was 
wir  bei  Proklos  über  die  Pythagoreische  Methode  bemerkt 
finden  (Kai  düXujg  Kai  voepojg  biepeovuu)iiepo(^,  vgl.  o.  S.  91),  tritt 
alledem  sinnvoll  ergänzend  zur  Seite.  Die  Zahlen  sind  innna- 
terielle,  unkörperliche  Prinzipien,  weil  sie  eben  erst  das  Mate- 
rielle, Körperliche  konstituieren.  Und  allein  durch  das  Denken 
werden  sie  erfaßt.  Darum  werden  sie  aber  nicht  selbst  zu 
denkenden  Wesen.  Ihre  gedankliche  Natur  liegt  allein  in  der 
Erfaßbarkeit  durch  das  Denken.  (Denn  das  Denken  und  die 
Gedanken  wären  selbst  schon  als  ein  ein  Mannigfaltiges  bil- 
dendes und  es  damit  zur  Einheit  Verbindendes  der  Zahl  unter- 
stellt.)^ 


das  war  eben  nur  dadurch  möglich,  daß  dem  leeren  Räume  eine  eigene  Grund- 
legung für  die  Dinge  zugewiesen  wurde  und  er  als  Voraussetzung  für  die 
materiellen  Dinge  und  ihre  Verhältnisse  von  diesen  unabhängig  gedacht  wurde. 
Genau  so  unabhängig  wird  hier  die  Zahl  von  den  körperlichen  Dingen  ge- 
dacht, weil  sie  als  deren  Voraussetzung  bestimmt  wird,  die  erst  Körperlichkeit 
verleiht  und  die  Dinge  in  Verhältnis  miteinander  bringt.  Daß  das  seinem 
Ursprünge  nach  wohl  überhaupt  spätere  Wort  \)Tz6aTaai<;,  wenn  auch  wohl  nie 
in  unserem  Sinne  «Hypostasierung»,  so  doch  aber  sicher  «Hypostase»  bedeutet, 
soll  hier  natürlich  nicht  im  mindesten  bestritten  werden,  denn  «Hypostase» 
würde  ja  selbst  Seinsgrundlage  bedeuten.  Hier  handelt  es  sich  eben  um  die 
«eigene  Seinsweise».  Eine  Bedeutung,  in  der  es  gerade  mit  Rücksicht  auf  die 
Mathematik  —  neben  anderen  Bedeutungen  —  auch  Proklos  gebraucht,  in- 
sofern er  von  der  |aaör||uaTiKri  oööia  (bei  Friedlein,  S.  65  u.  a.)  spricht,  die  ihm 
eben  selbst  eine  ibia  ü-rröaTaan;  bedeutet.  Über  den  Begriff  der  vnöoTaaic, 
bei  Proklos  vgl.  auch  Nicolai  Hartmann,  Des  Proklos  Diad.  philos.  Anfangsgr. 
d.  Mathem.,  S.  7. 

*  Bemerkenswert  ist  es  übrigens  auch,  daß  nach  Philolaos  die  «Zahl 
und  ihr  Wesen»  (oCioia)  auch  «für  die  Seele  das  Zusammenstimmen  (äp|uöZ!ujv) 
der  Empfindungen  mit  den  Dingen  hervorbringen  und  so  alles  erkennbar 
(YvuuöTd)  machen  soll»  (Diels,  Fragm.,  ebenda).  Der  gedankliche  Charakter 
der  Zahl  wird  dadurch  zugleich  als  Denkweise  oder  richtiger  als  Erkenntnis- 
weise deutlich.  Soweit  freiüch  die  ersten  Anfänge  des  Bundes  der  Pytha- 
goreer  durch  ihre  religiöse  Geheimlehre  bestimmt  wurden,  waren  in  ihrer 
Zahlenlehre  noch  andere,  besonders  symbolistische  Momente  wirksam  (vgl. 
darüber  besonders  Zeller,  a.  a.  0.  I,  S.  418  ff.  und  Pythagoras  und  die  Pytha- 
gorassage  in  den  Vortr.  und  Abhandl.,  S.  30  ff.,  ferner  Windelband,  a.  a.  0., 
S.  50ff.;   auch   Newbold,    Philolaos,  Arch.   f.   Gesch.  d.   Philos.  XH,  S.  176  ff. 


Die  Anfange  der  mathematischen  Begriffsbildung-.  101 

Wenn  wir  zunächst  auch  noch  davon  absehen,  wie  nun 
dieses  Verleihen  der  Körperhchkeit  und  die  Konstituierung  der 
materiellen  Dinge  durch  die  immateriellen  Zahlen  zu  bestimmen 
versucht  wird  —  eine  Frage,  mit  der  wir  die  Untersuchung 
abschließen  müssen,  weil  wir  sie  nur  entscheiden  können,  wenn 
mit  genauerer  Bestimmtheit  entschieden  ist,  wie  das  eigentüm- 
liche Sein  der  Zahlen  im  Verhältnis  zu  dem  der  zählbaren 
Dinge  überhaupt  gedacht  wird,  —  so  läßt  sich  doch  schon  er- 
kennen, wie  Brandts'  ideahstische  Deutung^  hier  eine  Rechtfer- 
tigung erhält,  die  dieser  Forscher  ihr  deshalb  nicht  selbst  zu 
geben  vermochte,  weil  er  die  Schwierigkeit,  die  die  Aristotelische 
Deutung  in  der  Tat  macht,  nicht  streng  genug  von  der  eigent- 
hchen  Bedeutung  der  Pythagoreischen  Lehre  unterschied,  son- 
dern sie  in  dieser  selbst  sehen  zu  müssen  glaubte.^  In  Wahr- 
heit haftet  diese  Schwierigkeit  nicht  der  Pythagoreischen  Lehre, 
sondern  der  Aristotelischen  Deutung  an.  Die  Schwierigkeit^, 
die  sich  aus  der  Aristotelischen  Deutung  ergibt,  ob  die  Zahlen 
nun  in  den  Dingen  liegen*  oder  über  den  Dingen  stehen,  in- 
dem die  Dinge  sie  nur  nachahmen  oder,  wie  bei  Piaton,  an 
ihnen  teilhaben,  fällt  weg  und  damit  auch  der  von  Aristoteles 
selbst  ja  nur  als  nominell  angesehene  Gegensatz  zwischen 
jueöeHig  und  laijuriaK^.^  Die  Zahlen  sind  nicht  in  den  zähl- 
baren Dingen  wieder  als  zählbare  Dinge,  aber  sie  liegen  in- 
sofern in   ihnen,  als  das  Wesen  und  Sein  der  zählbaren  Dinge 


und  Unger,  Z.  Gesch.  d.  Pythag.  in  d.  Sitzungsber.  d.  philos.-philol.  u.  bist. 
KI.  d.  K.  b.  Ak.  d.  Wissensch.  z.  München  1883,  S.  140  fT.).  Für  unseren  Zu- 
sammenhang kommt  es  indes  nur  auf  die  wissenschafthchen  Anschauungen  an. 

»  Siehe  S.  93. 

-  Brandis,  a.  a.  0.,  S.  215  ff.  In  dem  xiveq  und  ^vioi  liegen  also  nicht 
blofs  besondere  Schulmeinungen.  Es  läßt  sich  vielmehr  durchaus  eine  ein- 
heithche  Auffassung  erkennen. 

^  Brandis,  ebenda. 

*  Arist.  Met.  I,  5,986  und  987  und  XIII,  3,1090  b:  vgl.  auch  S.  95  Anm  2. 

"  Arist.  Met.  I,  6,987b:  oi  |udv  TTuOaYÖpeioi  imuriaei  xd  övra  qpaaiv  elvai 
Tujv  apiO|ua)v,  TTXdxujv  be  neO^Sei,  xoüvoiaa  |U6xaßa\djv.  DaPs  der  Gegensatz 
von  jiidöeti?  und  luiVriöiq  auch  für  Aristoteles  nur  ein  nomineller  war,  zeigen  am 
besten  wohl  seine  eigenen  unmittelbar  vorangehenden  Worte  in  bezug  auf 
Piaton:  xi^v  b^  |u^deEiv  xouvo|ua  |u6vov  |.iex6ßa\6v. 


102  4.  Kapitel. 

selbst  nach  den  Zahlen  bestimmt  ist.  Und  weil  sie  deren 
ßestimmungsprinzipien  sind,  so  stehen  sie  zugleich  über 
ihnen.  Das  «in  den  Dingen  liegen»  und  das  «über  den 
Dingen  stehen»  schließt  sich  also  nicht  nur  nicht  aus,  sondern 
fordert  sich  wechselseitig:  Die  Zahlen  liegen  insofern  in  den 
Dingen,  als  die  Dinge  nach  der  «Urgestalt»  der  Zahl  urbildlich 
gestaltet  sind  (irpujTiO'Ta  d'bea  —  6|Lioiuj|LiaTa)  und  die  Dinge  sind 
zahlenmäßig  gestaltet,  insofern  die  Zahlen  über  ihnen  als  Prin- 
zipien stehen  (ibia  uTTOcrTaOK^  —  «PX^^O-  -^i^  Zahlen  sind  so  die 
bleibenden  Seinsweisen,  die  eigentliche  Substanz  der  Dinge, 
nicht  im  Sinne  substantieller  Dinge,  sondern  im  Sinne  diese 
erst  «konstituierender»,  ihnen  «Körperlichkeit  verleihender» 
Seinsweisen  (o'uvicrTäai  —  dTrepTa^eiai  ouJiaaTujv).  Insofern  das 
Sein  der  zählbaren  Dinge  selbst  nur  möglich  ist  durch  das  Sein 
der  Zahl,  stehen  sich  beide  nicht  als  zwei  fremde  Welten  gegen- 
über, so  daß  man  sagen  könnte:  hie  Zahl,  hie  zählbare  Dinge. 
Sind  die  Zahlen  zwar  unabhängig  von  diesen,  so  sind  diese  es 
doch  nicht  umgekehrt  auch  von  jenen.  Aber  auch  jene  erste 
Unabhängigkeit  kann  nicht  eine  absolute  Fremdheit  gegenüber 
der  Welt  der  Dinge  bedeuten,  eben  da  diese  durch  die  Zahl 
konstituiert  wird.  Die  Bestimmung  der  Welt  der  zählbaren 
Dinge  durch  die  Zahl  hegt  in  der  «Körperlichkeit  verleihenden» 
oucTia  der  Zahl  selbst.  Die  Zahl  ist  also  immanente  Seinsweise 
der  Dinge  und  in  diesem  Sinne  ihre  Substanz.  Weil  die  zähl- 
baren Dinge  nur  zählbar  und  darum  auch  nur  Dinge  sind  durch 
die  über  ihrem  Wechsel  stehende  beharrliche  Zahl,  so  steht  die 
Zahl  über  den  Dingen  als  das  eigentliche  Wesen  der  Dinge, 
und  da  sie  als  solches  bleibendes  Seinsprhizip  der  Dinge  ist, 
liegt  sie  zugleich  in  ihnen.  In  diesem  Sinne  ist  das  Wesen  der 
Welt  selbst  Zahl,  die  nicht  ist  eine  Welt  neben  der  Welt, 
sondern  eben  das  Wesen  der  Welt  selbst.^ 

*  Es  ist  bemerkensweii,  daß,  freilich  etwas  zurückhaltend,  da  ei'  sonst 
hier  der  Autorität  des  Aristoteles  folgt,  auch  Bäumker  meint,  daß  Simplicius 
«die  innere  Tendenz  der  Pythagoreischen  Lehre  dürfte  richtig'  bezeichnet  haben, 
wenn  er  den  Pythagoreern  die  Lehre  zuschreibt,  die  Zahlen  und  überhaupt 
das  Mathematische  könnten  zwar  für  sich  gedacht  werden,  subsistierten  aber 
nicht  für  sich,  sondern  nur  im  Sinnfälligen»;  s.  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  37.    Diese 


Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung.  103 

Die  Art,  wie  nun  die  Zahlen  als  das  bleibende  Wesen  der 
Dinge  auch  deren  Wechsel  bestimmen  und  die  Art,  wie  sie  so 
Körperlichkeit  verleihen,  mrd  durch  eine  in  sich  freilich  wenig 
ausgeglichene  Verbindung  rein  arithmetischer  mit  geome- 
trischen Bestimmungen  verdeutlicht.  Aus  der  geometrischen 
Begrenzung  des  für  sich  unbegrenzten  Raumes  entspringt  die 
Körperlichkeit.  Aber  jene  geometrische  Begrenzung  geht  selbst 
zurück  auf  die  ursiDrünglich  rein  arithmetisch  gedachten  Prin- 
zipien des  Eudhchen  und  des  Unendlichen.  Denn  wie  die  Zahlen 
Prinzipien  der  Dinge  sind,  so  haben  sie  ihre  eigenen  inneren 
Prinzipien,  vermöge  deren  sie  erst  Prinzipien  der  Dinge  sein 
können.     Solcher  Prinzipien  aber  sind  u.  a.^:  das  Endliche  und 


Auffassung  entspricht  aber  durchaus  nicht  in  allen  Stücken  der  Aristote- 
lischen. Allerdings  hat  Aristoteles  von  der  Pythagoreern  (Phys.  III,  4,  203  a) 
bemerkt:  ou  ^äp  xuupicJTÖv  iroioöcJi  töv  öpiöfxöv.  Allein  er  hat  auch  —  und 
insofern  ist  er  mit  sich  selbst  nicht  ganz  im  Einklang  —  die  Subsistenz  für  sich 
des  Mathematischen  hinsichtlich  der  Geometrie  bei  den  Pythagoreern  bekämpft, 
muß  also  doch  die  Meinung  gehabt  haben,  daß  diese  dem  Mathematischen  Sub- 
sistenz für  sich  beigelegt  hätten.  Unzweideutig  klar  zeigt  besonders  eine  Stelle, 
daß  Aristoteles  die  Synthese  der  beiden,  im  Text  behandelten  Bestimmungen 
nicht  vollziehen  kann,  indem  er  sie  einfach  in  kontradiktorischen  Gegensatz 
bringt.  Eines  der  beiden  Glieder  der  Synthese  stellt  er  dem  andern  als  dieses 
ausschließend  gegenüber.  Weil  er  sich  also  für  das  eine  entschließt,  v^^eist  er 
das  andere  ab  und  verkennt,  wie  die  von  ihm  selbst  akzeptierte  eine  Position 
der  Pjlhagoreer  gerade  die  von  ihm  abgelehnte  zweite  Position  in  logischer 
Korrelation  fordert,  s.  Met.  XIII,  3,1090  b:  ...  Kai  br\Xov  öxi  ou  Kexibpioxai.  rä 
\.iabmjiauKä.  QU  -{äp  äv  Kexu)pia|Li(!vujv  rä  TiäQr]  öirripxev  ^v  toi!;  oüj^aaiv.  ol 
judv  ouv  TTuOaYÖpeioi  Karä  jutv  tö  toioutov  oüöevi  ^voxol  eiaiv.  Kard  ju^vtoi  tö 
TTOieiv  ii  dpiöiaojv  xd  qpuaiKÜ  odb^aTa,  ^k  \xr\  ^xövxuuv  ßdpoq  p-jbe  KouqpÖTriTa 
Sxovxa  Kouq)öxf)xa  Kai  ßdpo;,  doiKaffi  itepl  ctWou  oüpavoü  Xefeiv  Kai  auundxujv 
dW  oO  xuiv  aiaörjxiliv.  oi  bi  x^^piöxöv  uoioövxei;,  öxi  iul  xuJv  aiödrixuiv  ouk 
^öxai  xd  dEiii)|naxa,  d\>-i9fi  bi  xd  Xe^ö^eva  Kai  öaivei  xr)v  ^Juxiiv,  eTvai  xe 
ünoXai^ßdvouöi  Kai  x'Jupiöxd  eivai.  öjaoliuc;  bi  Kai  xd  luey^ö^  fd  |uaOri|aaxiKd, 
bf|\ov  oöv  ÖXI  Kai  6  ^vavxioij|aevo(;  Xöfoq  xdvavxia  ^pei.  Der  logische  Wider- 
spruch, von  dem  Aristoteles  hier  spricht,  dürfte  also  nicht  in  den  mathe- 
matischen Lehrmeinungen  oder  in  verschiedenen  Schulrichtungen,  sondern 
allein  in  der  Auffassung  der  mathematischen  Ansichten  durch  Aristoteles  liegen. 
*  Arist.  Met.  I,  5,986  a  gibt  als  solche  die  bekannten  zehn  Gegensatz- 
paare an.  Für  unsere  spezielle  Untersuchung  kommen  nur  die  oben  genannten 
in  Betracht.  Über  Einheit  und  Vielheit  vgl.  A.  Boeckh,  a.  a.  0.,  ebenda,  wo 
sie  als  Identität  und  Verschiedenheit  uefaßt  werden. 


104  4.  Kapitel. 

das  Unendliche,  das  Gerade  und  das  Ungerade,  die  Einheit  und 
die  Vielheit.  Von  diesen  Prinzipien  sind  aber  die  des  End- 
lichen und  UnendHchen  für  die  Bestimmung  der  Dinge  von  der 
höchsten  Bedeutung.  Denn  aus  Unendlichem  oder  Unbegrenztem 
auf  der  einen  Seite  und  Endlichem  oder  Begrenzendem  auf 
der  anderen  Seite  ist  der  gesamte  Kosmos  und  alle  Dinge  in 
ihm  zusammengefügt^  so  daß  die  unbegrenzte  und  darum  un- 
bestimmte Grundlage  der  Dinge  durch  die  Grenze  ihre  Be- 
stimmtheit erhält.  Dem  Unbegrenzten  auf  arithmetischem 
Gebiete,  der  Unendlichkeit  der  Zahlenreihe,  die  von  den  Pytha- 
goreern  klar  und  scharf  erkannt  wird,  entspricht  auf  geo- 
metrischem Gebiete  der  unendliche  Raum,  der  so  zur  unbe- 
stimmten Grundlage  der  Dinge  wird.  Dem  arithmetisch  Be- 
grenzenden in  den  distinkten  Zahlen  der  kontinuierlichen  Zahlen- 
reihe entsprechen  auf  geometrischem  Gebiete  Punkte,  Linien 
und  Flächen,  die  zu  Prinzipien  der  Begrenzung  und  damit  der 
Körperhchkeit  und  Dinglichkeit  werden.  Und  so  werden  die 
Zahlen  zunächst  nach  des  «Gnomons  Natur»  (Katd  YvuJ|uovo(g 
qpücTiv)^  zu  Prinzipien  geometrischer  Gestaltung  und  vermittels 
dieser  zu  solchen  der  Körperlichkeit.  Damit  treten  rein  mathe- 
matisch bei  den  Pythagoreern  Arithmetik  und  Geometrie  ebenso 
in  systematischen  Zusammenhang,  wie  sich  historisch  arithme- 
tische und  geometrische  Erkenntnisse  bei  ihnen  an-  und  mit- 
einander zusammenhangsvoll  entwickeln,  indem  sich  die  arith- 
metischen Einsichten  ihnen  auch  geometrisch  darstellen.  So  be- 
deutsam nun  dieser  systematische  Zusammenhang  auch  ist,  so 
darf  man  ihn  doch  keineswegs  schon  etwa  im  Sinne  der  späteren 
analytischen  Geometrie  verstehen,  sondern  umgekehrt  im  Sinne 
einer,  wie  M.  Cantor^  das  treffend  formuliert,  «geometrischen 
Versiunüchung  von  Zahlengrößen».  Die  Bestimmung  der  Dinge 
durch  die  Zahlen  nach  des  Gnomons  Art  wird  in  der  Tat  am  Gno- 
mon  eben  nur  veranschaulicht,  nicht  logisch  verständlich  ge- 
macht.   Gerade  die  Spekulationen  am  Gnomon  zeigen  das  deut- 

*  Philolaos  bei  Diels,  ebenda:   ä  cpüaiq  b'   ^v   tuui  KÖö|auji   öpiaöx^n    ^- 

üTTelpuuv  Te  Kai  -rrepaivövTuuv  Kai  öXoc,  ö  KÖaiaoq  köi  ^v  aÖTiui  ircivTa. 

2  Pliilolaos,  fr.  11  (Diels,  r'ragm.  S.  243). 
=>  M.  Cantor,  a.  a.  0.,  S.  138. 


Die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung.  105 

lich.^  Die  Tendenz  als  solche  aber,  die  geometrischen  Gebilde  als 
Begrenzungen  des  für  sich  unbegrenzten  unendlichen  (also  ma- 
thematischen) Raumes  durch  Punkte,  Linien  und  Flächen^  zu 
verstehen  und  mit  arithmetischen  Verhältnissen  in  Verbindung 
zu  bringen,  bleibt  bedeutsam  und  wertvoll.  Hier  bekämpft 
freilich  Aristoteles^  gerade  die  Subsisteuz  für  sich  hinsichthch 
der  Grenzen.  Daraus  geht  doch  hervor,  daß  er  gemeint  haben 
muß,  die  Pythagoreer  schrieben  ihnen  Subsistenz  für  sich  zu, 
daß  er  also  die  Bedeutung  der  ouoia,  die  er  hier  bekämpft, 
anders  verstanden  haben  muß,  als  etwa  Philolaos,  wenn  er  von 
der  oudia  der  Zahl  spricht.'^  Die  Grenzen  sind  aber  auch  schon 
für  die  Anfänge  der  mathematischen  Begriffsbildung  nichts 
anderes  als  Bestimmungen  nach  dem  Prinzip  des  Begrenzenden, 
das  in  letzter  Linie  zahlenmäßig  gedacht  wird.  Insofern  aber 
das  Mathematische  zugleich  das  Prinzip  der  physisch  substan- 
tiellen Dinge,  die  ouaia  der  cpuoiq  ist,  erwächst  dem  Sub- 
stanzbegriff hier  eigentUch  eine  doppelt  bedeutsame  Förderung. 
Zunächst  kann  schon  die  Anwendung  der  mathematischen  Be- 
griffsbildung auf  das  physische  Sein  von  der  größten  Trag- 
weite erscheinen,  insofern  in  ihr  das  Postulat  einer  wirklich 
wissenschaftlichen  Physik  imphziert  ist.  Allein  es  handelt  sich 
hier  nicht  bloß  um  eine  Anwendung  eines  von  zwei  etwa  an 
und  für  sich  getrennten  Seins-Gebieten  auf  das  andere  im 
Denken.  Das  physische  Sein  ist  ja  —  und  darin  liegt  die  In- 
halt- und  folgenreichste  Bedeutung  dieser  Lehre  —  geradezu 
in  seinem  Sein  schon  als  durch  das  mathematische  Sein  bedingt 

1  Die  geometrische  Veranschaulichung  der  Zahlenverhältnisse  gerade  am 
Gnomon  wird  in  sehr  instruktiver  Weise  dargestellt  bei  IM.  Cantor,  a.  a.  O., 
S.  137. 

2  Arisl.  XIII,  3,1090a:  eial  bi  Tive(;  o'i  ^k  toO  -rrepara  elvai  Kai  (.oxara 
Ti]v  OTiYianv  [xiv  •{pa\xiir\(;,  raÜT^v  dTriir^bou,  toöto  hi  tou  arepcoO,  oiovxai 
elvai  dvciTKnv  Toxavxo.c,  (püffeiq  etvai.  Schon  hier  ist  zu  bemei'ken,  wie  der 
richtige  Bericht  in  die  falsche  Deutung  übergeht,  was  in  der  Fortsetzung  der 
Aristotelischen  Darstellung  gleich  vollkommen  dcuthch  wird.  Vgl.  die  folgende 
Anm.,    die   im  Aristotelischen    Texte   kurz   auf  das  hier  gegebene  Zitat  folgt. 

^  Arist.  Met.  ebenda:  cüxe  y"P  oüöiai  eiöi  rd  eaxaxa  äWä  juäWov  Tauxa 
Trepara. 

*  Fr.  11  (Diels,  Fragm.  S.  243). 


106  4.  Kapitel. 

oder  «konstituiert»  gedacht.  Da  dieses  aber  eine  immaterielle 
Bedeutung  hat,  weil  es  Grundlage  alles  Materiellen  ist,  und  da 
weiter  seine  Erkenntnis  gerade  dem  Denken  überwiesen  wird, 
steht  die  Substanz  dem  Denken  weder  als  ein  absolut  Fremdes 
gegenüber,  noch  wird  sie  mit  dem  Denken  schlechtweg  gleich- 
gesetzt. Damit  wird  zwar  nicht  die  Substanz  selbst,  aber  doch 
die  Erkenntnis  der  Substanz  —  und  das  ist  das  positive  phi- 
losophische Ergebnis,  das  aus  den  mathematischen  Spekulationen, 
die  wir  hier  verfolgt  haben,  resultiert  —  abhängig  gedacht  von 
der  rein  gedanklichen  Bestimmung.  Darum  ist  weiter  die  Sub- 
stanz weder  das  Denken  selbst,  noch  ein  dem  Denken  gegen- 
über absolut  Fremdes,  sondern  in  ihrem  Sein  für  die  Er- 
kenntnis ein  einer  Bestimmungsweise  des  Denkens  über- 
wiesenes Sein.^    Soweit  wir  hier  auch  noch  von  der  erkenntnis- 

*  Siehe  S.  99  f.  Hier  darf  ich  vielleiclil  auch  meine  Differenz  zu  der  Auffassung 
Kinkels  bezeichnen.  So  wertvoll  mir  seine  idealistische  Deutung  auch  im 
Grunde  erscheint,  so  kann  ich  doch  den  prinzipiellen  Unterschied  nicht  ver- 
kennen. Kinkel  meint,  dafs  den  Pythagoreern  die  Zahlen  «nichts  anderes  waren 
als  das  formende  erzeugende  Gesetz,  dessen  gedankliche  Natur  sie  freilich  noch 
nicht,  wie  Piaton,  erkannten»  (a.  a.  0.,  S.  108).  Ganz  davon  noch  abgesehen, 
ob  damit  auch  schon  Piatons  Auffassung  richtig  bezeichnet  ist  oder  nicht, 
möchte  ich  hier  nur  sagen,  daß,  hätten  die  Pythagoreer  wirklich  die  Zahlen 
schon  als  «Gesetz»  erkannt,  sie  dann  auch  wohl  hätten  «dessen  gedankliche 
Natur>  gerade  an  den  Zahlen  erkennen  müssen.  Denn  wäre  überhaupt  die 
Reflexion  hier  schon  zu  dem  erkenntnistheoretischen  Begriffe  des  Gesetzes 
vorgedrungen,  so  hätte  sich  gerade  an  diesem  Punkte  zuallererst  der  Charakter 
des  Gesetzes  mit  analytischer  Notwendigkeit  selbst  als  «gedanklich»  enthüllen 
müssen.  Da  aber  nicht  umgekehrt  das  Gedankliche  sich  auch  ohne  weiteres 
als  gesetzlich  enthüllt,  möchte  ich  auch  eher  umgekehrt  sagen :  die  Pythagoreer 
haben  sich  der  Erkenntnis  der  gedanklichen  Natur  der  Zahlen  wenigstens  ge- 
nähert, ohne  sie  aber  geradezu  als  Gesetze  zu  erkennen.  Freilich  faßten  sie 
jene  gedankliche  Natur  nicht  so,  daß  sie  die  Zahlen  in  das  reine  Denken  selbst 
schon  auflösten,  sondern  so,  daß  sie  die  Erkenntnis  der  Zahl  dem  Denken 
zuwiesen,  so  daß  sie,  wie  Brandis  dies  treffend  ausdrückt  (a.  a.  0.,  S.  216,  vgl. 
ö.  93),  in  den  Zahlen  «nicht  nur  ein  Regulativ  für  die  Erkenntnis  gewisser 
beharrlicher  Eigenschaften  der  Dinge,  sondern  das  Bewußtsein  vom  Sein  der 
Dinge  und  ihrer  Prinzipien  zu  besitzen»  meinten.  Gerade  darin  aber  liegt 
historisch  der  idealistische  Grundzug  ihres  Denkens.  So  wichtig  unter  logischem 
Gesichtspunkte  auch  die  Unterscheidung  von  Ding  und  Gesetz  ist,  so  genügt 
sie    doch    nicht,    um    die   Fülle    geschichtlicher  Tatsächhchkeit    disjunktiv    zu 


Die  Anfänge  der  matliematischen  Begriffsbildung.  107 

theoretischen  Ausgeglichenheit  dieses  Gedankens  entfernt  sein 
mögen,  so  bedeutsam  ist  doch  seine  innere  erkenntnistheore- 
tische Tendenz. 


gliedern.  So  wichtig  darum  auch  die  logische  Tendenz  der  Pythagoreer  ist, 
so  läßt  sie  sich  doch  nicht  schon  im  Sinne  eines  rein  logischen  Idealismus 
fassen.  Wenn  die  Zahlen  auch  nicht  zählbare  Dinge  sind,  so  sind  sie  eben- 
darum doch  noch  nicht  Gesetze,  und  wenn  sie  selbst  erzeugende  Prinzipien 
der  Dinge  sind,  so  sind  sie  das  doch  noch  nicht  bloß  als  Gesetze,  sondern  als 
Seinsweisen  der  Dinge.  Und  der  Pythagoreische  Idealismus  ist,  wenn  man 
ihn  spezifisch  differenzieren  will,  noch  nicht  ein  rein  logischer,  sondern  ein 
ontoloffischer  Ideahsmus. 


108 


Fünftes  Kapitel. 
Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis. 

So  verschieden  im  Einzelnen  die  Tendenzen  des  philo- 
sophischen Gedankens,  soweit  wir  sie  bisher  kennen  gelernt 
haben,  auf  den  ersten  oberflächlichen  Blick  auch  erscheinen 
mögen,  so  sehr  zeigen  sie  sich  doch  einer  tiefergehenden 
Überlegung  alle  von  dem  einen  einheitlichen  gedankhchen 
Grundmotiv  beherrscht,  die  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  des 
sinnfälligen  Einzelnen  in  seinem  Sein  zunächst  nur  impli- 
zite, sodann  aber  auch  explizite,  auf  rationale  Grundlagen 
zurückzuführen,  mag  der  Versuch  zunächst  in  rein  spe- 
kulativer, dann  in  dialektischer  Tendenz,  mag  er  endlich  im 
Anschluß  an  die  ersten  naturwissenschaftlichen  und  mathe- 
matischen BegrifFsbildungen  erfolgen.  Hatten  sich  auch  die 
ersten  Naturphilosophen  mit  besonderer  Energie  der  sinnlichen 
Wirklichkeit  zugewandt,  und  lag  darin  gerade  ihre  Bedeutung 
gegenüber  der  mythologischen  Theorie,  so  war  das  doch  ge- 
schehen, um  gerade  zu  einer  einheitlichen  Grundlage  der  sinn- 
lichen Wirklichkeit  zu  gelangen,  die  an  sich  also  selbst  schon 
mehr  als  das  Sinnlich-Einzelne  sein  mußte.  In  den  Gegen- 
sätzen eines  Pleraklit  und  Parmenides  aber  war  das  bei  allem 
Unterschiede  ihnen  Gemeinsame,  daß  sie  in  der  Sinnlichkeit 
keine  Erkenntnis  und  kein  Sein  erschließbar  fanden,  sondern 
das  allein  im  vernünftigen  Denken  verbürgt  glaubten.  Allein 
eine  Kritik  im  eigentlichen  Sinne  übten  sie  nicht  au  der  Sinn- 
lichkeit. Was  sie  leisteten,  war  eine  mehr  unmittelbare  Höher- 
stellung der  Vernunfterkenntnis  über  die  Sinnenerkenntnis,  eine 
Werterhöhung  der  ersten  und  eine  Werteutziehuug  der  zweiten 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  109 

gegenüber.  Zu  einem  eigentlichen  Eingehen  in  kritischer  Ab- 
sicht auf  die  Sinnhchkeit  gelangten  sie  noch  nicht.  Ein  solches 
lag,  wenigstens  nicht  ausgesprochenermaßen,  auch  nicht  einmal 
in  der  Absicht  der  späteren  mathematischen  Untersuchungen, 
obwohl  hier  freilich  auf  der  anderen  Seite  bereits  mehr  geleistet 
wurde,  als  ein  ausgesprochenes  kritisches  Eingehen  auf  die 
Sinnlichkeit,  nämlich  die  Einsicht  in  die  Voraussetzung  des 
Mathematischen  für  das  Sinnliche.  Die  eigentliche  Kritik  der 
Sinnlichkeit  aber  mußte  historisch  in  den  naturwissenschaft- 
lichen Tendenzen  ihre  Ansätze  finden.  Sie  liegt  deshalb 
im  eigenthchen  Sinne  vor  bei  Demokrit.  So  bedeutsam  darum 
auch  immer  die  mannigfachen  Versuche  der  Erkenntnisbegrün- 
dung im  positiven  Sinne  sein  mögen,  für  eine  ausdrückliche 
Erschütterung  des  naiven  Vertrauens  auf  die  Erkenntnismöglich- 
keit ist  die  Kritik  der  Sinnlichkeit  durch  Demokrit  von  der 
entscheidendsten  Bedeutung;  und  das  gerade  darum,  weil  sie 
zu  einer  ausgesprochenen  Substanzkritik  führt.  In  der  nächsten 
Fortführung  unserer  Problemuntersuchung  finden  wir  freilich 
auch  mancherlei  Anknüpfungspunkte  zu  den  übrigen  früheren 
gedanklichen  Strömungen,  insbesondere  zu  den  Heraklitischen. 
Für  den  engeren  Zusammenhang  müssen  wir  aber  auf  Demokrit 
zurückweisen.  Es  zeugt  darum  durchaus  vom  richtigen  histo- 
rischen Blick,  wenn  der  Historiker  des  griechischen  Skeptizis- 
mus^ in  Demokrit  und  seiner  Schule  Vorläufer  der  eigentlichen 
Skepsis  in  Griechenland  sieht.  Denn  es  war  in  erster  Linie 
die  Demokritische  Kritik  der  Sinnlichkeit,  in  der  die  geschicht- 
liche Weiterent Wickelung  zur  Skepsis  der  Sophistik^  ihren  sach- 


*  A.  Goedeckemeyer,  Die  Geschichte  des  griechischen  Skeptizismus,  S.  2  ff. 
Unter  dem  Gesichtspunkte  der  Abhängigkeit  von  Demokrit  behandelt  Goedecke- 
meyer hier  besonders  die  Skepsis  des  Metrodor  aus  Chios  und  des  Anaxarch 
aus  Abdera,  die  freilich  für  unser  spezielles  Thema  nicht  in  Betracht  kommen. 
Über  sie  vgl.  man  die  hier  mit  der  überhaupt  das  ganze  Werk  auszeichnenden 
Sorgfalt  zusammengestellten  Belege.  Etwas  befremdet  hat  es  mich  nur,  daß 
Goedeckemeyer  gerade  die  Epoche  der  Sophistik  nicht  in  seine  Untersuchung 
genauer  einbezieht. 

2  Über  den  Namen  und  die  allgemeine  Charakteristik  der  Sophistik  vgl. 
man  die  philosophie-geschichtlichen  Werke  von  Hegel,  Zeller,  Windelband, 
Kinkel,    Vorländer.     Da   wir   hier   lediglich  ein    spezielles  Problem    historisch 


110  5.  Kapitel. 

liehen  Anknüpfungspunkt  hat.  Die  entscheidende  Bedeutung, 
die  dabei  auch  HerakUts  Lehre  für  die  Sophistik  gewinnt,  dürfen 
wir  freilich  nicht  übersehen.  Allein  diese  liegt  im  Grunde  ge- 
nommen nach  derselben  Richtung  wie  diejenige  Demokrits  und 
bleibt  wie  diese  eine  einseitige.  Das  heißt:  sie  betrifft  nur  die 
physikalische  Seite,  nicht  aber  das  logisch-rationale  und  meta- 
physische Moment,  insbesondere  nicht  das  letzte  und  höchste 
Prinzip  Heraklits,  den  Logos.  Dieser  bildet  die  Grenzscheide, 
die  Heraklitismus  und  Sophistik  in  letzter  Linie  doch  für  immer 
trennt.  Das  konnte  Piaton  nicht  beachten,  da  er  Heraklit 
und  Protagoras  so  nahe  zusammenstellte,  wie  er  es  getan  hat.^ 
Und  wenn  Zeller  von  Protagoras'  Verhältnis  zur  Heraklitischen 
Lehre  bemerkt:  «Ein  wirklicher  Anhänger  jener  Philosophie 
in  ihrem  ganzen  Umfange  und  ihrer  ursprünglichen  Bedeutung 
ist  er  zwar  durchaus  nicht »^,  so  trifft  das  vollkommen  zu;  allein 

behandeln,  ist,  wenigstens  in  extensivem  Sinne,  unser  Interesse  an  iler  Sophistik 
als  Ganzem  beschränkter,  als  an  den  früheren  Problemkonfiguralionen.  Die 
sogenannte  jüngere  Sophistik  schaltet  für  vms  gänzlich  aus;  die  ältere  kommt 
nur,  soweit  sie  selbst  theoretisch  interessiert  ist,  in  Betracht;  in  diesem  Sinne 
aber,  hauptsächlich  in  der  Erscheinung  des  Protagoras,  recht  intensiv. 

'  Es  ist  hier  wohl  bereits  der  Ort,  dieses  eigentümliche  Verhältnis  Piatons 
zur  Sprache  zu  bringen;  nicht  als  ob  dem  Platonischen  Theätet  sein  Wert 
auch  als  Dokument  für  die  geschichtliche  Erforschung  der  Sophistik  irgendwie 
streitig  gemacht  werden  sollte.  Es  ist  dafür  das  sachlich  wertvollste.  Nur 
soll  er  nicht  als  eine  absolute  historische  Urkunde  für  unsere  Frage  angesehen 
werden.  Für  die  historische  Berichtigung  seiner  Darstellung  ist  in  unserem 
Zusammenhange  zu  bemerken,  daß,  wie  schon  im  Text  angedeutet,  einerseits 
Piaton  die  Rolle  des  \öyo<;  bei  Heraklit  nicht  genügend  würdigen  kann  (worüber 
später  mehr),  um  Heraklit  und  Protagoras  so  nahezustellen,  wie  er  es  tut.  Auf 
der  anderen  Seite  muß  er  den  Relativismus  des  Protagoras  nach  seinen  letzten 
Konsequenzen  in  einer  über  Protagoras  selbst  hinausführenden,  originalen 
Weise  zu  Ende  denken,  um  ihn  eben  durch  diese  seine  eigenen  letzten  Kon- 
sequenzen zu  widerlegen.  Trotzdem  läßt  sich,  wie  wir  bald  sehen  werden, 
der  springende  Punkt,  der  das  eigentlich  Historische  in  der  Platonischen  Dar- 
stellung charakterisiert,  leicht  aufdecken;  vgl.  über  Plalons  Darstellung  des 
Relativismus  außer  Ritter,  Geschichte  der  Philosophie  I,  S.  6:32;  Zeller, 
a.  a.  0.,  S.  983;  auch  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  97  (woselbst  auch  weitere  Lite- 
raturangaben) vor  allem  Natorp,  Forschungen  zur  Gesch.  d.  Erkenntnisprobl. 
i.  Alt.,  S.  22,  s.  ebenda  S.  76ff.  und  10:3  ff.  auch  die  Kritik  anderweitigen 
Verkennens  des  Heraklitischen  Systemgehaltes. 

2  Zeller,  a.  a.  0.,  978. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  111 

das,  worin  Zeller  das  Unterscheidende  sieht,  ist  noch  nicht  das 
für  die  Unterscheidung  schlechthin  und  prinzipiell  Entscheidende. 
Zwar  auch  das  ist  richtig:  «Was  Herakht  über  das  Urfeuer, 
über  die  Wandlungsstufen  desselben,  überhaupt  über  die  ob- 
jektive Beschaffenheit  der  Dinge  gelehrt  hatte,  konnte  ein  Skep- 
tiker, wie  er,  sich  nicht  aneignen».^  Indes  so  richtig  auch  dies 
ist,  entscheidend  im  höchsten  Sinne  ist  es  nicht.  Das  allein 
ist  der  Logos,  der  in  Wahrheit  Heraklit  ebenso  sehr  in  die 
Nähe  Piatons  rückt,  wie  er  ihn  in  die  Ferne  von  Protagoras 
stellt.  Denn  dessen  eigentliche  Position  bildet  nicht  der  Xöto(;, 
sondern  gerade  die  aiaöriö'K;. 

1.  Zwar  nimmt  er  an,  daß  jede  Wahrnehmung  sich  auch 
immer  schon  auf  einen  Gegenstand,  der  eben  in  ihr  wahr- 
genommen wird,  beziehe.  Das  will  wohl  zunächst  die  Unter- 
scheidung zwischen  aioörioeiq  und  aiö'&riTd  innerhalb  des  doOd- 
vecjöai  besagen^,  wenn  auch  diese  Beziehung  selbst  eine  immer 
weiter  gehende  Reduktion  durch  den  Fortgang  der  Analyse 
erfährt.  Diese  stetig  umbildende  Reduktion,  die  der  Prota- 
goreischen  Gedankenführung  etwas  Unbestimmtes  und  Viel- 
deutiges gibt,  erschwert  das  geschichtliche  Verständnis  nicht 
unerheblich.  Ist  sie  aber  erst  klar  geworden,  so  enthüllt  sich 
doch  auch  ein  stetig  gedanklicher  Fortschritt  in  dem  Ringen 
mit  dem  Problem,  selbst  wenn  eine  feste  Position  nicht  ge- 
wonnen wird.  Wahrnehmbare  Gegenstände,  die  nicht  die 
Wahrnehmung  selbst  sind,  mag  ihr  Sein  und  ihr  Verhältnis 
zur  Wahrnehmung  auch  noch  so  unbestimmt  bleiben  und  sich 
erst  allmählich,  wenn  auch  nur  annäherungsweise  bestimmen 
lassen,  werden  also  angenommen.  Wenn  darum  Piaton  immer- 
hin zeigt,  daß  man  von  der  bloßen  Wahrnehmung  aus  nicht 
zum  Sein  überhaupt,  wie  nicht  zum  Sein  der  Gegenstände,  wie 
nicht  einmal  zu  dem  der  Wahrnehmung  selber  gelange,  so 
denkt  er  hier  nur  den  positivistischen  Wahrnehmungsstandpunkt 
konsequent  zu  Ende,  um  ihn  zu  widerlegen,^  Protagoras  selbst 
aber  behält  nach  Piatons  eigener  Darstellung  immer  noch  wahr- 

'  Ebenda. 

2  Piaton  Theät.  184  d. 

*  Ebenda. 


112  5.  Kapitel, 

nehmbare  Gegenstände  übrig  und  kann  sie  nur  eigentlich  erst 
auf  Grund  der  Platonischen  Kritik  logischer  weise  nicht  übrig 
behalten  sollen. 

Innerhalb  des  Ganzen  der  verschiedenen  Etappen  der  Pro- 
tao'oreischen  Gedankenentwickelung  bezeichnet  die  erste  charak- 
tcristische  Stufe  also  die  Behauptung,  daß  zwar  Gegenstände  der 
Wahrnehmung  sind,  daß  sie  aber  nicht  in  allgemeingültiger 
Weise  erkennbar  sind.  Nicht  das  Sein  der  Wahrnehmungs- 
gegenstände, sondern  die  allgemeingültige  Erkennbarkeit  der 
Wahrnehmungsgegenstände  durch  die  Wahrnehmung  soll  ge- 
leugnet werden,  und  damit,  weil  er  über  den  Gesichtspunkt 
der  Wahrnehmung  nicht  hinausgelangt,  jede  allgemeingültige 
Erkenntnis  überhaupt.  Unsere  Wahrnehmungen,  Gesichtswahr- 
nehmungen (öqjeK;),  Gehörswahrnehmungen  (otKoai)^  usw.  sind  frei- 
lich nicht,  ohne  daß  auch  etwas  wahrgenommen,  gesehen,  ge- 
hört wird  usw.,  das  also  auch  sein  muß,  um  wahrgenommen 
werden  zu  können;  aber  wie  wir  wahrnehmen,  sehen,  hören 
usw.  (wie  Farben,  Töne  usw.),  ist  das,  was  wir  wahrnehmen,  auch 
nicht,  ohne  daß  wir  es  eben  wahrnehmen. 

Wenn  damit  also  auch  noch  nicht  das  Sein  des  Wahr- 
nehmbaren selbst  bedroht  ist,  so  ist  doch  alles  «Wie»-  bezw. 
«So »-Sein  in  seiner  objektiven  Bedeutung  für  eine  allgemein- 
gültige Erkenntnis  aufgehoben.  Wie  die  Dinge  sind,  diese 
Bestimmung  ist  ganz  in  die  bloße  aiddricTK;  aufgelöst,  und  darum 
ist  die  Beschaffenheit  der  Dinge  (ToiauTa)  eben  von  Moment  zu 
Moment  eine  andere,  nämhch  so,  wie  (oia)^  sie  eben  in  der 
subjektiven  Empfindung  gerade  gegeben  ist.  Wenn  also  auch 
jede  Wahrnehmung  eine  Beziehung  auf  ein  Wahrnehmbares 
ist,  so  erfaßt  sie  dieses  doch  nicht,  wie  es  für  sich  (Kaö'  auTo)^ 
ist,  sondern  immer  nur,  wie  es  eben  für  die  Wahrnehmung  er- 
scheint. Und  alles  «Wie »-Sein  und  alle  Beschaffenheit  ist  ein 
bloßes  Erscheinen  in  der  Wahrnehmung,  ein  bloßes  Wahr- 
genommen-Sein.  Darum  können  wir  etwas  Allgemeingültiges 
über   die    Dinge    nicht  aussagen.     An  unsere  subjektive  Emp- 

1  A.  a.  0.,  156  a/b. 

2  A.  a.  0.,  152  a. 
=>  A.a.O.,  182b. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  113 

findung  gebunden  sind  unserer  Erkenntnis  die  Dinge  also  nur 
in  der  Erscheinungsweise  durch  das  Medium  eben  unserer 
Empfindung  gegeben.  Wie  diese  aber  von  Mensch  zu  Mensch 
und  für  jeden  einzelnen  Menschen  von  Augenblick  zu  Augen- 
blick wechseln^  und  also  verschieden  sind,  so  müssen  darum  auch 
die  Dinge  alle  für  jeden  anders  sein  als  für  jeden  andern,  «so» 
sein,  «wie»  sie  ihm  eben  in  jedem  Momente  seines  subjektiven 
Empfindungszustandes  gerade  «erscheinen».^  Jede  bloße  Vor- 
stellung und  Meinung  ist  darum  ebenso  wahr,  wie  jede  andere, 
da  die  Wahrheit  eben  nur  in  der  subjektiven  Beziehung  der 
Empfindung  auf  das  in  ihr  Erscheinende  liegt.^  Darum  ist 
der  Mensch  das  Maß  aller  Dinge,  der  seienden,  wie  sie  sind, 
der  nicht  seienden,  wie  sie  nicht  sind.  Ein  Ausspruch,  den 
wir  im  Sinne  des  extremsten  Subjektivismus  verstehen  müssen: 
Der  Mensch  nicht  einmal  als  Gattung,  sondern  in  seiner  indi- 
viduellen Verschiedenheit  vom  «Ich»  zum  «Du»,  "um  die  Aus- 
drucksweise der  mannigfachen  und  durchweg  übereinstim- 
menden Berichte  zu  gebrauchen^,  ist  als  Maßstab  gesetzt  und 
muß  konsequenterweise  als  solcher  gesetzt  sein,  konsequenter- 
weise vom  Ausgangspunkte  der  aioörjOig  her;  denn  sonst  wäre 
ja  dieser  Ausgangspunkt  fallen  gelassen.^ 

«Seiende  Dinge»  (xpiiiuaia  övxa)  bleiben  hier  also  zunächst 
immerhin  noch  übrig  und  werden  ausdrücklich  von  den  nicht- 

1  A.a.O.,  182  d. 

^  A.a.O.;  152a.:  oukoOv  oütoi  ttuu^  A^y^'j  ^'i  oia  |li^v  gKaata  ^moI 
qpaiveTm,  Toiaöxa  |uev  eaxiv  ^iiioi,  oia  bi  oo\,  xornOxa  be  au  aoi ;  vgl.  Kratyl.  386  a. 

^  Sext.  Emp.  adv.  rnath.  VII,  60:  cpriai  irdaac;  xä?  qjavxaaia;  Kai  böSaq 
äXT^Oeii;  ijirdpxeiv  Kai  xüJv  TTpö<;  xi  eivai  xriv  dXriOeiav  bid  xö  udv  xö  qpavdv  f] 
böEav  xivi  euOeei;  Ttpöc,  ^Keivov  üirdpxeiv. 

*  Piaton,  Theät.  ebenda:  cpriai  jap  irou  ttüvxujv  xpni-i0''''ujv  |Lidxpov  äv- 
OpuuTtov  elvai,  xAv  |aev  övxuuv,  thq  eaxi,  xujv  hi  \xr[  övxuuv,  ihq  oök  ^öxiv.  Vgl. 
außer  der  vielfachen  Wiederholung  dieses  Gedankens  hei  Piaton  im  Gorg. 
Euthyd.  Kratyl.  und  Arist.  Met.  III,  IV,  X,  XI,  noch:  Sext.  Emp.  Pyrrh.  Hypolh. 
216,  wo  bei  wörtlicher  Übereinstimmung  der  Begriff  des  Maßes  als  «Kriterium» 
erläutert  wird,  und  Diog.  Laert.  IX,  51,  wo  es  statt  xiöv  bd  |an  övxujv  heißt: 
xOöv  b^  oi)K  övxuuv. 

^  Über  die  Zuverlässigkeit  dieser  Deutung  bei  Piaton  vgl.  auch  die  ausführ- 
liche und  mit  durchschlagender  Beweiskraft  geführte  Untersuchung  von  Natorp, 
a.  a.  0.,  S.  22ff. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  8 


114  5.  Kapitel. 

seienden  (tüjv  bk  |U)i  övtüuv  bzw.  tüjv  be  ouk  övtuuv)  nnterschieden, 
wenn  auch  ihr  «Wie »-Sein  lediglich  im  Wahrgenoinmen-Sein 
vorliegen  soll.  Die  Kritik  Demokrits,  an  die  also  das  "Wahr- 
nehmungsproblem bei  Protagoras  offenbar  anknüpft,  erscheint 
hier  weitergeführt.  Allein  es  ist  eigentlich  keine  Kritik  der 
Sinnlichkeit  mehr.  Oder  richtiger  es  ist  eine  bloße  Kritik  der 
Sinnlichkeit,  insofern  diese  als  unzulänglich  erwiesen  wird,  über 
ein  bloßes  Erscheinen  hinauszugelangen,  ohne  daß,  gerade  weil 
der  sinnliche  Mensch  als  Kriterium  der  Dinge^  gefaßt  wird,  er- 
kannt wird,  daß  diese  Kritik  der  Sinnlichkeit  schon  Kriterien 
über  der  SinnHchkeit  voraussetzt,  und  darum  zugleich  ein  Be- 
ruhigen bei  der  kritisierten  in  der  Kritik  selbst  aber  nicht 
durchschauten  Sinnhchkeit.  Während  Demokrit  in  den  Atomen 
nun  die  xpni^otTa  selbst  bestimmte,  sollen  diese  für  Protagoras 
für  sich  gänzlich  unbestimmt  bleiben  und  nur  in  der  Wahr- 
nehmung eine  phänomenale  Bestimmtheit  erlangen. 

Von  der  systematischen  Frage  nun,  ob  solche  gänzlich 
unbestimmte  Dinge  nicht  ein  Widerspruch  in  sich  selber  seien, 
hier  noch  ganz  abgesehen,  ist  es  doch  historisch  jedenfalls  von 
Belang,  daß  das  eigenthche  Wesen  der  Dinge  objektiv  gänzlich 
unerkennbar  und  nur  in  der  Erscheinungsweise  durch  die 
Wahrnehmung  subjektiv  gegeben  sein  soll.  Immerhin  scheint 
in  den  xP^MCtia  ein  bleibendes  Substrat  der  wechselnden  Phä- 
nomene behauptet  zu  sein.  Nur  scheint  diese  eigenthche  Sub- 
stanz ganz  unerkennbar  zu  sein.  Wir  hätten  also,  so  scheint 
es  wenigstens  zunächst,  den  gänzlich  agnostischen  Substanz- 
begriff eines  vollkommenen  Phänomenalisraus  vor  uns.  Wenn 
wir  nun  weiter  auf  die  frühere  Feststellung  rekurrieren,  daß 
Wahrnehmungen  nicht  sind,  ohne  daß  etwas  wahrgenommen 
wird,  das  also  sein  muß,  um  eben  wahrgenommen  zu  werden, 
daß  wir  aber,  was  wir  wahrnehmen,  im  Einzelnen  z.  ß.  was 
wir  etwas  Rotes,  Blaues,  Süßes  usw.  nennen^,  nur  so  wahrnehmen, 
wie  wir  es  eben  wahrnehmen,  so  muß  sich  von  den  letzten 
Feststellungen  aus  jetzt  im  aiaöriTÖv  selbst  ein  Unterschied  er- 
geben.    Man    könnte    also,    um    beim    anschauhchen  Beispiele 

1  Sext.  Emp.  ebenda,  s.  S.  113,  Anm.  2. 
*  Piaton,  a.  a.  0.,  156  a/b,  siehe  S.  112. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  115 

Piatons  zu  bleiben,  Farben,  Töne  usw.  selbst  zwar  Wahr- 
nehmungsgegenstände  nennen,  allein  Gegenstände  wären  sie 
für  die  Wahrnehmung  nicht  in  dem  Sinne,  daß  sie  dieser  un- 
abhängig von  ihr  gegenüberstünden,  sondern  eigentlich  allein 
als  Arten  des  in  der  Wahrnehmung  Erscheinens  der  Dinge. 
Die  Dinge  selbst  wären  also  die  eigentlichen  Gegenstände,  die 
aber  nie  zu  Gegenständen  gerade  der  Wahrnehmung  würden, 
eben  weil  die  Wahrnehmung  nicht  an  sie  selbst  heranreicht, 
sondern  immer  nur  an  ihr  Erscheinen  in  der  Wahrnehmung, 
in  der  wir  also  die  Dinge  immer  nur  unter  dem  Maße  des 
Menschen,  nicht  aber  an  sich  selbst,  besäßen.  Von  den  Farben, 
Tönen  usw.  wären  also  die  farbigen,  tönenden  usw.  Dinge  selbst 
zu  unterscheiden,  nur  daß  wir  von  solchen  farbigen  und  tö- 
nenden Dingen  gar  nicht  einmal  reden  dürften,  weil  Farbigkeit, 
Tönen  etc.  ja  nicht  objektive  Bestimmungen  der  Dinge  sein 
können,  sondern  allein  Arten  und  Weisen  des  Erscheinens  in 
der  Wahrnehmung,  in  der  sie  uns  gegeben  sind.  Die  Gegen- 
stände der  Wahrnehmung  im  eigentlichen  Sinne  —  also  das 
eigentliche  aio^nTov  —  wären  also  nicht  die  eigentlichen  Gegen- 
stände, und  die  eigentlichen  Gegenstände  selbst  wären  umge- 
kehrt nie  Gegenstände  der  Wahrnehmung  im  eigentlichen  Sinne. ^ 
In  dieser  Weise  läßt  sich  die  Zweideutigkeit  des  aiodritöv  in 
ihrer  eigentlichen  Bedeutung  verstehen  und  durch  genauere 
Scheidung  beider  in  ihm  liegender  Momente  eine  sachlich  wert- 
volle Klarstellung  gewinnen.^ 

Immerhin  wäre  mit  alledem  doch  ein  bleibendes  beharr- 
liches Sein  der  Dinge  selbst  gesetzt,  zu  dem  man  von  der  Emp- 
findung aus  nur  nicht  gelangen  könnte.  So  wertvoll  diese 
Position  auch  wäre,  als  Position  wäre  sie  doch  unzulänghch. 
Und  wenn  diese  Unzulänglichkeit  auch  erst  Piaton  zu  vollem 
Bewußtsein  gebracht  hat,  so  hat  offenbar  doch  Protagoras  selbst 


^  Piaton,  a.  a.  0.,  182  a  dürfte  so  mit  dem  Verhältnis  von  aiöör\Td  und 
aiööavö|Lieva  deutlich  werden. 

-  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  980,  hat  merkwürdigerweise  die  in  dem  Begriffe 
liegende  Schwierigkeit  ziemlich  umgangen.  Man  sehe,  wie  bei  ihm  (S.  981) 
die  Bestimmungen  etwa  gerade  des  farbigen  Gegenstandes  und  der  Farbigkeit 
ungeschieden  durcheinander  gehen. 

8* 


116  5.  Kapitel. 

in  Konsequenz  zu  seinem  Wahrnehnuingsstandpunkte  das  in 
der  Beziehung  von  Wahrnehmung  und  Wahrnehmbarem  Hegende 
Sein  des  Beharrhchen  folgerichtig  in  relativistischem  Sinne 
modifiziert:  Der  Substanzcharakter  mußte,  wenn  nicht  über- 
wunden, so  doch  abgeschwächt  werden,  wenn  anders  das  Aus- 
gehen von  der  Wahrnehmung  festgehalten  und  durchgeführt 
werden  sollte.  Dabei  mußten  die  Dinge  selbst  eine  weitere  Re- 
duktion erfahren. 

2.  Das  nun  bezeichnet  die  zweite  logische  Etappe  des  Prota- 
goreischen  Denkens  und  zugleich  den  Punkt,  an  dem  Protagoras 
unzweifelhaft  an  Heraklit  anknüpft,  zwar  nicht  an  den  tiefsten 
Kern  seiner  Lehre,  der  im  Logosbegriff  dem  Empfindungsposi- 
tivismus schnurstracks  entgegen  ist,  sondern  an  dessen  Physik, 
mit  deren  Hilfe  er  die  von  Demokrit  empfangenen  Impulse  in 
derselben  Richtung  weiterführt.  Solange  es  auch  nur  scheinen 
kann,  als  hätten  die  Dinge  ein  ihrem  Erscheinen  zugrunde- 
liegendes Wesen,  das  nur  unerkennbar  wäre,  solange  wären  sie 
immer  noch  —  in  wie  unbestimmter  Weise  auch  immer  — 
irgendwie  aber  doch  beharrlich  gesetzt.  Damit  wäre  aber 
gerade  dem  Wechsel  und  Wandel  der  Empfindung  nicht  Rech- 
nung getragen.  Nun  mag  an  und  für  sich  logisch  dieses  Rech- 
nungtragen jetzt  selbst  dem  eigentlichen  Positivismus  ebenso 
widersprechen,  wie  vorhin  das  Sein  der  Dinge,  so  ist  das  doch 
zum  mindesten  wieder  konsequent,  daß  nun  die  Dinge  aus- 
drücklich allem  Beharren  entrissen  und  in  den  ewigen  Fluß 
des  Sich-Waudelns  gestoßen  werden  sollen.  Die  Dinge  werden 
darum  zwar  nicht  aufgehoben,  aber  doch  aufgelöst  in  stetigen 
Wechsel,  Fluß  und  Bewegung.  Sie  können  nicht  beharrlich, 
nicht  also  substantiell  im  eigentlichen  Sinne,  sondern  bloß 
transitorisch  gedacht  werden.  In  der  Tat  muß  konsequenter- 
weise, wenn  die  Empfindung  der  einzige  Maßstab  der  Erkenntnis 
eines  Gegenstandes  sein  soll,  der  Gegenstand  ebenso  beständig 
wechseln  wie  die  Empfindung.  Darum  ist  es  weiter  konse- 
quent, wenn  Protagoras  behauptet,  daß  die  Dinge  eigentlich 
nie  sind,  sondern  immer  nur  werden.^   Freihch  je  konsequenter 


1  Theät.  157  b,  s.  flgd.  S. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  117 

der  Relativismus  wird,  um  so  mehr  gerät  er  ins  Seh  wanken, 
bis  er  durch  seine  letzte  Konsequenz  überhaupt  zu  Falle  kommt. 
Diese  letzte  Konsequenz  hat  zwar  Protagoras  nicht  gezogen. 
Gerade  darum  aber  verbleibt  seine  Lehre  im  Schwanken,  und 
klar  und  deutlich  hat  er  gerade  seine  letzten  Fundameute, 
wenn  man  bei  ihr  überhaupt  von  solchen  reden  darf,  selbst 
nicht  bestimmt,  eben  weil  er  sie  überhaupt  in  gewisser  Weise 
zu  bestimmen  suchte,  wo  es  doch  in  Gemäßheit  seiner  Lehre 
weder  Fundamente  noch  eine  Bestimmtheit  solcher  eigentlich 
geben  kann. 

Wenn  nun  die  Dinge  nicht  mehr  sind,  sondern  bloß  noch 
werden,  so  ist  ihnen  zwar  der  Charakter  eines  eigenthch  sub- 
stantiellen Seins  genommen;  das  Sein  überhaupt  ist  hier  aber 
tatsächlich  ebensowenig  beseitigt,  wie  es  durch  die  Heraklitische 
Physik  beseitigt  sein  sollte.  Denn  das  Werden  soll  ja  selber 
sein.  Darum  werden  auch  die  Dinge  nicht  etwa  absolut  auf- 
gehoben, sondern  auf  das  Werden  reduziert,  und  im  Werden, 
nicht  in  den  Dingen  läge  nun  das  eigentlich  substantielle 
Sein  selbst. 

Das  Werden  aber  wird  zunächst  gefaßt  als  Bewegung. 
Darin  liegen  nun  die  größten  Schwierigkeiten,  nicht  nur  in  dem 
rein  logischen  Sinne,  daß  das  Werden  nun  doch  nicht  in  der 
gänzlichen  Unbestimmtheit  verbleibt,  in  der  es  konsequenter- 
weise vom  Protagoreischen  Ausgangspunkte  her  verbleiben  müßte, 
und  diesem  zum  Trotz  als  Bewegung  bestimmt  gedacht  wird, 
sondern  auch  hinsichtlich  der  historischen  Auffassung  und  Deu- 
tung. Denn  wenn  behauptet  wird,  öti  TTccvia  Kiveiiai^,  so  scheint, 
wofür  sich  Zeller^  u.  a.^  in  der  Tat  entscheiden,  in  dem  «rrdvia» 
selbst  wieder  etwas,  das  bewegt  wird,  zum  Unterschiede  von 
der  bloßen  Bewegung  gesetzt  und  bewegte  Dinge  angenommen 
zu  sein,  so  daß  die  Dinge  der  Bewegung  gegenüber  doch  wieder 
ihre  Selbständigkeit  erlangten.    Und  diese  Deutung  scheint  noch 


^  Theät.  ISld,    vgl.  auch  156  c:    ßoüXexai  y«P   A^feiv  \ii<;   Tauta  irdvTa 
|iev  uicfTtep  X^YO!-iev  Kiveixai  .  .  . 

2  Zeller,  a.a.O.  I,  S.  978 f. 

3  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  104;  H.  Schmidt,  Jahrbücher  f.  klass,  Philol.  111, 

S.  481  ff.;  Sattig,  Zeitschr.  f.  Philos.  und  philos.  Krit.  86,  S.  283 f. 


118  5.  Kapitel. 

dadurch  eine  besondere  Rechtfertigung  za  erhalten,  daß  Piaton, 
wenn  auch  in  der  polemischen  Absicht  seines  Theätet,  doch 
immerhin  von  icivou^eva  überhaupt  spricht.^  Dann  aber  wären 
wir  gezwungen,  dem  Protagoras  in  der  Tat  die  Annahme  einer 
bewegten  Materie  zum  unterschiede  von  der  bloßen  Bewegung 
zuzuschreiben,  wie  es  Sext.  Emp.  wirkhch  tut,^  Dann  aber 
wäre  ja  der  Protagoreische  Relativismus  nichts  anderes  als 
ein  versteckter  Materialismus,  die  Materie  wäre  die  Substanz 
der  Dinge,  und  der  Substanzbegriff  wäre  ein  materialistischer, 
wie  bei  Demokrit.  Das  «Ttavia»  würde  wieder  xP^M^Ta  und 
zwar  materielle  xpilMC(Ta  bezeichnen,  die  Dinge  wären  nicht  auf 
Bewegung,  sondern  auf  Materie  zurückgeführt.  Nur  bliebe  die 
Materie  unbestimmter  als  im  Materialismus  Demokrits,  der  in 
der  Atomistik  ihre  Struktur  als  diskontinuierhch  bestimmt  hatte. 
Aber  sie  wäre  selbst  ein  letztes,  wenn  auch  noch  so  unbe- 
stimmtes xpf\ixa.  Die  xPnMctTa  wären  zwar  nicht  letzte  xPnMaTa, 
aber  doch  Formen  der  Materie  als  des  letzten  xpr\\xa.  Nun 
weisen  aber  Zeller^,  wie  Bäumker'^  übereinstimmend  selbst  auf 
die  «stoische  Terminologie»  des  Sext.  Emp.  hin,  in  der  dieser 
«wenig  historisch»  dem  Protagoras  jene  «fließende  Materie»  zu- 
schreibt. Überdies  wäre  in  einer  «fließenden  Materie»  doch 
auch  der  Sache  nach  gerade  kein  in  der  Bewegung  Bewegtes 
gewonnen.  Wenn  es  von  Punkt  zu  Punkt  der  Bewegung  ein 
anderes  wäre,  so  ließe  sich  gar  nicht  sägen,  daß  es  eben 
«etwas»  Bewegtes  in  der  Bewegung  wäre,  das  neben  der  Be- 
wegung noch  ein  selbständiges  Sein  als  Bewegtes  hätte. ^  Weiter 
aber  hat  Peipers^  —  und    darin   stimmt    ihm  Bäumker^  selbst 

^  Theät.  181  e. 

^  Sext.  Emp.  Pyrrh.  Hypoth.  I,  217;  qpiiaiv  oiüv  6  ävrjp  xrjv  üXrjv  ()€u- 
OTiiv  cTvai. 

2  A.  a.  0.  I,  979. 

*  A.  a.  0.,  S.  107. 

'  Sext.  Emp.  ebenda :  dj?  büvuööai  t)]v  üXt-jv,  öaov  ^cp' ^autfii  irüvTa  elvai 
6aa  Tiäai  (pai'verai  deutet  doch  wohl  selbst  darauf  hin. 

«  Untersuchungen  über  das  System  Piatos  1,  Die  Erkenninistheoric 
Piatos,  S.  282. 

'  A.  a.  0.,  S.  105.  Bäumker  deutet  übrigens  Protagoras  nicht  materia- 
listisch,  obwohl  er  eine  «substratlose   Bewegung»   bestreitet.     Wie   er  beides 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  119 

ZU,  während  Zeller  trotz  seiner  sorgfältigen  Angaben  der  Pla- 
tonischen Stellen^  dem  philologisch  und  logisch  gleich  bedeutsamen 
Argument  von  Peipers  nicht  die  genügende  Beachtung  schenkt  — 
sehr  richtig  bemerkt,  daß  einfach,  «falls  nicht  in  impersonal 
gesetzten  Verben  wie  eKiveiTo,  Kiveiiai,  yiTveiai  geredet  werden 
sollte,  ....  Subjektsbezeiclmuugen  wie  raura,  rravTa  nicht  zu 
umgehen  waren»,  daß  also  das  Subjekt  in  dem  «alles»  oder 
«dieses  alles  wird  bewegt»  eben  sprachlich  grammatisch  ist 
und  noch  nicht  ein  metaphysisches  Substrat  der  Bewegung  zu 
bedeuten  braucht.  In  der  Tat  bringt  es  auch  die  Wendung 
Piatons  «ujö-rrep  XeTo^ev»^  selbst  zum  Ausdruck,  daß  es  sich 
hier  eben  um  eine  sprachhche  Notwendigkeit  handelt.  Sach- 
lich aber  braucht  darum  jenes  «alles  ist  bewegt»  nichts  anderes 
zu  bedeuten,  als:  «alles  ist  in  Bewegung».  Und  daß  darauf 
in  der  Tat  die  Ansicht  des  Protagoras  geht,  dafür  sprechen 
Platons^  eigene  Worte  ihq  tö  nav  kivkiok;  i^v'^  Kai  d'Wo  rrapa 
TOÖTO  ovbiv.  Wenn  nun  Zeller  diese  Worte  durchaus  richtig 
so  auffaßt,  daß  «alles  seinem  Wesen  nach  Bewegung  sei»,  so  ist 
nicht  abzusehen,  wie  er  noch  außer  der  Bewegung  ein  Bewegtes 
anzunehmen  vermag,  zumal  doch  außer  dem  «alles»,  das  Be- 
wegung ist,  gerade  «daneben  nichts»  sein  soll.  Gerade  die 
an  sich  tautologische  Verstärkung,  daß  es  neben  dem  alles, 
das  Bewegung  ist,  nichts  gibt,  deutet  auf  eine  «reine  Bewe- 
gung» ohne  Bewegtes  hin.  Dann  aber  hätten  wir  in  der  Tat 
die  von  Zeller,  Bäumker  u,  a.  in  Abrede  gestellte  Bewegung 
ohne  Substrat.  Die  Substanz  wäre  von  den  Dingen  in  die  Be- 
wegung zurückgenommen,  die  Bewegung  wäre  die  eigentliche 
Substanz.     Wir    hätten    eine    reine  Bewegung,    wie   sie   in  der 


vereinigen  kann,  wird  aus  seiner  Darstellung  freilich  nicht  ersichtlich.  Wir 
dürfen  doch  innerhalb  des  antiken  Denkens  nicht  etwa  einen  energetischen 
Substanzbegriff  annehmen.  Das  ganze  philosophische  und  naturwissenschaft- 
liche Denken  kann  sich  Bewegtes  eben  immer  nur  stofflich-materiell  denken. 

*  A.  a.  0.,  S.  979  ff. 

2  Theät.  156  c,  zitiert  S.  117,  Anm.  1. 

3  A.  a.  0.,  156  a. 

*  Über  das  Imperfektum  und   die   daran   angeknüpfte    Kontroverse   vgl. 
u.  a.  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  979. 


120  5.  Kapitel. 

Tat  von  einigen  anderen  Forschern  wie  von  Frei^  u.  a.'^  ange- 
nommen worden  ist,  und  damit  einen  rein  kinetischen  Sub- 
stanzbegriff. 

Soviel  nun  auch  schon  in  Konsequenz  zum  Protagoreischen 
Ausgangspunkte  für  den  kinetischen  Substanzbegriff  spricht, 
so  Hegen  darin  doch  noch  so  erhebHche  Schwierigkeiten  der 
Deutung,  daß  die  Geschichte  sie  bisher  hat  nicht  auflösen 
können  und  sie  vielleicht  auch  niemals,  wenigstens  nicht  rest- 
los, wird  auflösen  können.  Nicht  als  ob  sich  nun  doch  noch 
ein  materialistischer  Substanzbegriff  durchsetzen  sollte;  im 
Gegenteil  außer  der  Schwierigkeit  in  dem  Verhältnis  von  reiner 
Bewegung  und  Dingen  erhebt  sich  eher  noch  die  Frage,  ob 
Protagoras  schon  von  seinem  Ausgangspunkte  her  nicht  etwa 
bereits  bei  einem  materialistischen,  sondern  auch  nur  bei  einem 
kinetischen  Substanzbegriffe  habe  stehen  bleiben  können. 

Was  nun  zunächst  das  Verhältnis  der  allgemeinen  Bewe- 
gung zu  den  einzelnen  Dingen  angeht,  so  ist  zwar  soviel  klar, 
daß,  wenn  alles  seinem  Wesen  nach  Bewegung  ist,  die  ein- 
zelnen Dinge  selbst  nur  Bewegungsweisen  sein  können.  Die 
Durchführung  dieses  Gedankens  ist  aber  ziemlich  ins  Dunkel 
gehüllt  und  keineswegs  so  klar  und  durchsichtig,  wie  sie  es 
manchmal  den  allgemeinen  historischen  Darstellungen  nach  zu 
sein  scheint.  Soviel  ist  indes  gewiß,  daß  Protagoras  zwei  Grund- 
formen der  Bewegung  unterschieden  habe,  von  denen  jede  zwar 
quantitativ  unendlich  und  insofern  der  anderen  gleich,  spezifisch 
aber  jede  von  der  anderen,  die  eine  als  aktiv,  die  andere  als 
passiv  verschieden  sei^  und  daß  auf  beide  das  Entstehen  der 
Dinge  zurückgehe.^ 


^  Frei,  Quaestiones  Protagoreae,  S.  79:  Quibus  verbis  [gemeint  sind  die 
soeben  erwähnten  Worte  Piatons,  Theät.  156  a]  plane  apparet,  non  materiam 
qualemcumque  sese  raoventem  a  Protagora  statui  ex  qua  omnia  oriantur,  sed 
meram  motionem.     (Die  Sperrung  ist  von  mir.) 

^  Siehe  besonders  Siebeck,  Geschichte  der  Psychologie  I,  S.  157;  vgl. 
dazu  auch  Peipers,  a.  a.  0.,  S.  282. 

*  Piaton,  ebenda:  Tr\<;  bi  K\vY\oevj(;  bvo  dh)-\,  Tr\ri9ei  |aev  otireipov  dKcxxepov, 
büvamv  be  TÖ  \iiv  TroieTv  '4xov,  tö  bi  irdaxeiv. 

*  Vgl.  ebenda;  auch  181  d. 


Die  Negation  der  mssenschaftlichen  Erkenntnis.  121 

Dabei  wären  nun,  wenn  wir  den  kinetischen  Substanz- 
begriff auf  das  Wahrnehmungsproblem  zurückbeziehen,  um  das 
Protagoreische  Denken,  soweit  sich  das  bisher  und  überhaupt 
tun  läßt,  in  seiner  Ganzheit  zu  fassen,  zwei  Möglichkeiten  zu 
unterscheiden,  wenn  auch  Protagoras  sich  für  keine  von  beiden 
mit  Bestimmtheit  je  ausgesprochen  zu  haben  scheint,  und  sich 
darum  auch  nur  sagen  läßt,  welche  von  beiden  dem  Tenor 
seines  Denkens  überhaupt  gemäßer  ist.  Erstens  könnten  aus 
beiden  Formen  der  Bewegung  zunächst  die  Gegenstände  selbst 
resultieren.  Diese  wären  zwar  nicht  absolute,  weil  immer  schon 
durch  die  Bewegung  bedingte  Gegenstände,  nur  Funktionsweisen 
der  Bewegung.  Aber  der  Wahrnehmung  stünden  sie  immerhin 
als  selbständige  Objekte  gegenüber,  wie  das  wahrnehmende 
Subjekt  selbst  ein  solcher  Gegenstand  wäre.  Nur  bedeutete 
Gegenstand-Sein  niemals  mehr:  eine  Existenz  haben  außer  der 
Bewegung  und  unabhängig  von  dieser.  Das  wahrnehmbare 
Objekt  wie  das  wahrnehmende  Subjekt  und  dessen  Wahr- 
nehmungsorgane wären  selbst  nichts  anderes  als  Bewegungen, 
«Sinne»,  wie  «Gegenstände»  wären  Bewegungs weisen.  Ihr  Zu- 
sammentreffen ergäbe  eine  Resultierende,  die  wir  Wahrnehmung 
nennen.  Deren  Komponenten  wären  also  die  leidende  Sinnen- 
bewegung und  die  tätige  Gegenstandsbewegung,  die  aber,  sofern 
der  «Sinn»  wie  der  «Gegenstand»  selbst  Dinge  sein  sollen, 
selbst  schon  Resultierende  aus  aktiver  und  passiver  Bewegung 
sein  müßten.  Sofern  nun  diese  Bewegungen  die  Wahrnehmung 
als  weitere  Resultierende  zeitigen,  stellt  diese  sich,  wie  Siebeck  das 
treffend  bezeichnet,  im  Sinne  als  Empfindung  im  Gegenstande 
als  Eigenschaft  dar.^  Das  aiö"9nTÖv  spaltete  sich  also  begriff- 
lich auch  hier^  in  den  eigentlichen  Gegenstand,  der,  wenn  auch 


^  Vgl.  Siebeck,  a.  a.  0.,  ebenda. 

2  Analog  wäre  es  übrigens  auch  bei  der  Annahme  eines  Bewegten  in 
der  Bewegung,  das  neben  der  Bewegung  eine  selbständige  materielle  Existenz 
hätte.  Zu  den  beiden  Möglichkeiten  innerhalb  des  kinetischen  Substanzbegriffes 
wäre  also  eine  dritte  Möglichkeit  vom  materialistischen  Substanzbegriffe  her  zu 
unterscheiden.  Der  Unterschied  von  der  hier  in  Rede  stehenden  liegt  darin, 
daß  dort  die  Gegenstände  nicht  bloß  der  Wahrnehmung,  sondern  auch  der 
Bewegung  überhaupt  gegenüber  eine  Selbständigkeit  hätten.  Sie  bheben  also 
zum  Unterschiede  von  den  eigentlichen,  aber  durch  die  Bewegung  bereits  be- 


122  5.  Kapitel. 

kein  absoluter,  weil  erst  durcli  die  Bewegung  bedingter  Gegen- 
stand wäre,  doch  immerhin  ein  eigentlicher  Gegenstand  bliebe, 
ohne  zu  einem  Wahrnehmungsgegenstande  zu  werden  und  den 
eigentlichen  Wahrnehmungsgegenstand,  der  als  solcher  aber 
nicht  an  den  eigentlichen  Gegenstand  selbst  heranreichte.  Dieser 
verhielte  sich  zum  Wahrnehmungsgegenstande  als  die  eine 
Komponente  zur  Resultierenden,  deren  andere  Komponente  die 
Sinnesbewegung  darstellt.  Und  wenn  die  Resultierende  nun 
sich  auch  im  Sinne  als  Empfindung,  im  Gegenstande  als  Eigen- 
schaft darstellt,  so  läßt  sich  darum  doch  weder  jene  etwa  als 
adäquater  Ausdruck  von  dieser  fassen,  noch  läßt  sich  jede  für 
sich  objektivieren,  weil  ja  in  jeder  selbst  beide  Komponenten 
wirksam  sind,  so  daß  sie  nur  als  die  verschiedenen  Seiten  einer 
und  derselben  Resultierenden  erscheinen. 

3,  Immer  aber  wären  in  diesem  Falle  tätige  und  leidende 
Bewegung  im  Wahrnehmen  noch  besondere  Spezifikationen  und 
Komplexionen  von  tätiger  und  leidender  Bewegung  überhaupt. 
Nun  könnten  aber  —  und  das  wäre  die  zweite  disjunktive 
Möglichkeit  innerhalb  des  rein  kinetischen  Standpunktes,  die 
zugleich  sowohl  vom  Protagoreischen  Ausgangspunkte  her  rein 
logisch  die  konsequenteste  wäre,  als  auch  tatsächlich  historisch 
von  Platon^  bezeichnet  wird  —  tätige  und  leidende  Bewegung 
überhaupt  schlechtweg  gleichgesetzt  werden  der  tätigen  und 
leidenden  Bewegung  in  der  Wahrnehmung.^  Das  Zusammen- 
dingten Gegenständen  seilest  absolut  der  Bewegung  gegenüber,  nur  als  Wahr- 
nehmungsgegenslände  resultierten  sie  wie  diese  aus  der  Bewegung.  So  fassen 
Zeller,  a.  a.  0.,  S.  980  und  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  74  den  Sachverhalt  auf 
und  muß  ihn  konsequenterweise  auffassen,  wer  die  Gegenstände  als  Bewegtes 
der  Bewegung  gegenüber  selbständig  denkt. 

'  Piaton,  Theät.  150  a/b.:  ek  bä  rr\c,  toijtujv  öimMa?  xe  Kai  Tpi\\>ewq 
Txpöc,  ciWriXa  y^TveTai  ^kyovo  uXrjöei  ixiv  onreipa,  bibu|aa  bi,  tö  |uev  aiadr\x6v, 
TÖ  bi  aioQr]Oi(;,  dei  öuveKTtiTtTOuffa  Kai  -feYvuJia^vri  toO  aiadriToO. 

^  Vgl.  Schanz,  Beiträge  zur  vorsokratischen  Pliilosophie  aus  Plato,  I.Heft: 
Die  Sophisten,  S.  72,  der  in  bezug  auf  jene  Worte  Piatons  (s.  voi'.  Anm.) 
annimmt,  daß  Protagoras  das  Zusammenwirken  «der  zwei  Bewegungen  nur 
im  Subjekt  und  Objekt,  im  Menschen  und  in  dem  außer  dem  Menschen 
Liegenden  sucht».  Zellers  Argument  gegen  Schanz,  daß  Protagoras  doch  auch 
«eine  gegenseitige  Einwirkung  der  Dinge  aufeinander,  nicht  bloß  eine  Ein- 
wirkung derselben  auf  uns  annehmen»  müßte,  würde  nur  zutreffen,  wenn  das, 


Die  Negation  der  wissenschaftliclien  Erkenntnis.  123 

wirken  der  Bewegungen   wäre  nun  überhaupt  nur   ein  solches 
von  Subjekts-  und  Objekts-Beweguugen.     Weil  nach  der  ersten 
Möglichkeit  wahrnehmbares  Ding  ebenso  in  Bewegung  aufgelöst 
ist  wie  wahrnehmendes  Subjekt  und  Wahrnehmungsorgan  oder 
Sinn,  so  müßte  nun  nicht  bloß  die  Erkenntnis^  sondern  auch 
das  erkennende  Subjekt,  wie  das  zu  erkennende  Objekt,  da  ihre 
Bewegung  auch  «an  sich»  jetzt  nach  der  zweiten  Disjunktions- 
möglichkeit   innerhalb     des    kinetischen    Standpunktes    nichts 
anderes   sein   könnte   als  Wahrnehmuugsbewegung,    sich  selbst 
in    das  Wahrnehmen    auflösen,    in    ihrer   Ganzheit    im  Wahr- 
nehmen aufgehen.    Was  zunächst  das  Subjekt  anlaugt,  so  wäre 
es  nicht  eigentlich  mehr  ein  Wahrnehmendes  neben  und  außer 
den  Wahrnehmungen,    was   es   im    ersten   kinetischen  Falle  ja 
noch  immer  geblieben  war,  weil,  obwohl  selbst  aus  den  beiden 
Grundformen  resultiert,    doch  die  Wahrnehmungen  wieder  erst 
aus  der  Subjekts-  und  Objektsbewegung  selbst  resultieren  könnten. 
Nun  aber    würden    die  Wahrnehmungen    nicht  mehr  aus  ihm 
selbst  als  der  einen  Komponente  resultieren,  es  wäre  jetzt  nichts 
anderes  mehr  als  die  aus   beiden  Grundformen   der  Bewegung 
resultierende  Summe  der  Wahrnehmungen  selbst.    Anstatt  daß 
es  zunächst   erst    selbst    aus    den    beiden  Formen  tätiger  und 
leidender  Bewegung  als  Ding  resultierte,  und  aus  ihm   als  der 
einen   Komponente   in  Verbindung   mit  der  Gegen standsbewe- 
gung    die  Wahrnehmung    erst    als    spezifische    komplexe    Be- 
wegung resultierte,   müßte   es    selbst  aus  leidender  und  tätiger 
Wahrnehmungsbewegung,    die    keine    komplexe,   sondern  nun- 
mehr elementare  Bewegung  wäre,    resultieren    und  wäre  nichts 
anderes  als  die  Summe  von  Resultierenden  der  von  vornherein 


was  zunächst  docli  mindestens  selir  fraglicli  ist,  wirklicli  so  gesichert  wäre, 
wie  Zeller  meint,  nämlich,  dafs  Protagoras  «den  Dingen  ein  objektives  von 
unserer  Vorstellung  unabhängiges  Dasein  zuschrieb»  (a.  a.  0,  I,  S,  980),  wenn 
also  die  Begriffe  des  «Daseins»,  von  «Dingen»,  von  «uns»  nicht  so  problematisch 
geworden  wären,  wie  sie  es  in  der  Tat  schon  geworden  sind,  und  wenn 
Protagoras  nicht  blofi  objektive  Dinge,  sondern  auch  objektive  Verhältnisse 
zwischen  den  Dingen  statuiert  hätte,  was,  wie  Schanz  sehr  richtig  bemerkt, 
eine  Preisgabe  des  für  Protagoras  festesten  Satzes  wäre,  «daß  der  Mensch  das 
Maß  der  Dinge»  sei. 

^  Piaton,  Theät.  151  e:    oök  äWo  ti  Iotw  imaTfwxr]  f\  aiaQr\oi<;. 


IS-l  5.  Kapitel. 

als  solche  gedachten  tätigen  und  leidenden  Wahrnehmungs- 
bewegungen. Was  man  «Subjekt»  oder  «Seele»  nennt,  wäre 
nichts  neben  den  Wahrnehmungen.  In  der  Tat  hat  Protagoras 
diese  Konsequenz  wohl  gezogen.^  Darum  könnte  aber  auch  das 
Objekt  nichts  mehr  außer  seinem  Wahrgenommen-Sein  sein. 
Denn  ohne  ein  Subjekt  der  ai'cr&TicTig  neben  der  a\'ö"v>riö"i';,  das 
wahrnimmt,  auch  kein  Objekt  der  aiddi-icri^  neben  der  ai'a&nö'i?.  das 
von  einem  Subjekte  wahrgenommen  wird.  Das  Objekt  müßte 
genau  so  wie  das  Subjekt  erst  aus  der  aktiven  und  passiven  Wahr- 
nehmungsbewegung resultieren,  nicht  umgekehrt,  sofern  von 
vornherein  aktive  und  passive  Bewegung  als  Wahrnehmungsbe- 
wegung gedacht  sind.  Von  seiner  Dinglichkeit  müßte,  mit  ent- 
gegengesetzten Vorzeichen,  alles  das  gelten,  was  soeben  von  der 
des  Subjekts  ermittelt  wurde.  Es  wäre  nur  die  andere  Seite  der- 
selben Resultierenden.  Die  von  Anfang  an  gesetzte  Beziehung 
der  Wahrnehmung  auf  ein  Wahrnehmbares  bliebe  trotzdem  be- 
stehen; aber  das  Wahrnehmbare  w-äre  in  keinem  Sinne  mehr, 
weder  im  materialistischen,  noch  in  dem  ersten  kinetischen  Sinne, 
ein  eigentlicher  Gegenstand,  sondern  bloßer  Wahrnehmungs- 
gegenstand im  eigentlichen  Sinne,  in  der  Bedeutung  des  eigent- 
lichen aia&riTov :  Inhalt  der  Wahrnehmung.  Wenn  man  von 
diesem  Gegenstande  sagt,  daß  er  erscheine,  so  kann  das  nicht 
mehr  bedeuten,  daß  er  auch  für  sich  noch  etwas  sei,  ohne  daß 
er  wahrgenommen  werde  und  daß  sein  Wahrgenommen-Sein 
nur  eine  Art  zu  erscheinen  wäre,  sondern  sein  Erscheinen 
schlechthin  liegt  in  der  Wahrnehmung,  Hatte  Protagoras  die 
Konsequenz  nach  der  Seite  des  Subjekts  hin  gezogen,  so  mußte 
er  sie  auch  nach  der  des  Objekts  hin  vollziehen.  Daß  er  sie 
nach  beiden  hin  vollzogen,  dafür  spricht  der  Umstand,  daß 
zwei  verschiedene  Berichte  sich  derart  ergänzen,  daß  der  eine 
gerade  die  eine  Konsequenz  vermerkt,  so  Diog.  Laert.,  während 
Piaton  die  andere  verzeichnet.- 

Damit    aber    wäre  Protagoras    am    logischen    Ende    seines 
Philosophierens   wieder   zu   seinem    logischen    Ausgangspunkte 

*  Diog.  Laert.  XI,  51 :  ^Xey^  t€  \xr\bev  elvai  -rrapa  tuc,  aia^r]aex(;. 
^  Diog.  Laert.    IX,    .51,    s.  vor.   Anm.    Plalon    Theät.    152  b.:    tö  bi  f€ 
qpoiveTm  afoödveoOai  eanv;  —  ^axiv  '(dp. 


Die  Negation  der  wissenschaflliclien  Erkenntnis.  125 

zurückgekehrt.  Konsequenterweise  hätte  er  freilich  noch  einen 
weiteren  Schritt  tun  müssen.  Denn  der  Begriff  der  reinen  Be- 
wegung kann  selbst  nie  Wahrnehmungsinhalt  werden.  Daß 
er  aber  den  Begriff  der  Kivncriq  endlich  in  den  einer  bloßen 
dXXoiujö'K;  weiter  aufgelöst  und  rein  im  Sinne  eines  ebenso  sub- 
stratlosen juetaßdWeiv  und  peeiv  gefaßt^  hätte,  was  die  letzte  Kon- 
sequenz gewesen  wäre,  die  freilich  zum  Verhängnis  geführt  hätte, 
wie  das  Piaton  beweist,  dafür  liegen  zu  wenig  Indizien  vor.  Im 
Gegenteil  widerspricht  dem  die  Tatsache,  daß  die  dWoiouaiq  selbst 
nur  als  eine  Art  der  kivhctk;  gedacht  und  innerhalb  dieser  ge- 
rade der  cpopd  entgegengesetzt  wird.^ 

Die  letzten  Ansichten  des  Protagoras  müssen  notwendig 
schwankend  bleiben,  aber  dieses  Schwanken  ist  selbst  nicht 
ohne  Bedeutung.  Es  ist  der  äußere  Ausdruck  einer  innerpro- 
blematischen Reduktion  des  Substanzbegriffs.  Hat  er  diesen 
auch  nicht  eigentlich  positiv  festzulegen  gesucht,  so  hat  er  doch 
die  dogmatische  Auffassung  vom  Wesen  der  Substanz  erschüt- 
tern helfen,  und  das  ist  eine  Leistung,  deren  Wert  nicht  ver- 
kannt werden  darf,  und  die  also  gerade  unser  spezielles  Pro- 
blem zu  illustrieren  vermag.  So  schwierig  wegen  dieses 
Schwankens  auch  die  historische  Deutung  sein  mag,  so  kann, 
wenn  wir  darin  selbst  eine  fortschreitende  Reduktion  des  Sub- 
stanzbegriffes sehen,  nun  auch  den  mannigfachen,  einander 
scheinbar  widersprechenden  Deutungsversuchen  der  Geschichts- 
forschung Rechtens  geschehen.  In  ihrer  Verschiedenheit  treffen 
sie  zu  für  die  verschiedenen  Etappen  des  Protagoreischen 
Denkens.  Diese  Etappen  sind  freilich  nicht  selbst  historische 
Etappen.  Die  geschichtliche  Entwickelung  des  Protagoras  ist 
zu  unbestimmt,  als  daß  wir  sie  in  sichere  Abschnitte  ghedern 
könnten.  Jene  Etappen  sind  logische  Etappen,  Stufen  der  Re- 
duktion. Als  solche  sind  sie  trotz  ihrer  negativen  Tendenz 
doch  bedeutsam:  xP^^aia  als  Gegenstände  werden  angenommen. 
Insofern  ist  es  zunächst  berechtigt,  auch  ein  Etwas  außerhalb 
der  Wahrnehmung  anzunehmen,  auch  wenn  es  in  dieser  nicht 
«an  sich»  erreicht  wird.     Und  wenn  sodann  die  xP^^ctra  auch 


*  Piaton,  a.  a.  0.,  182  d. 
2  A.a.O.,  181  d. 


126  5.  Kapitel. 

in  Bewegung  aufgelöst  werden,  so  bleiben  sie  doch  als  Be- 
wegungen immerhin  seiend,  auch  jetzt  den  Unterschied  tüjv  be 
l^n  övTuuv  wahrend.  Endlich  muß  ihr  Sein  auf  das  Sein  eines 
Wahrnehmungsinhaltes  reduziert  werden,  da  die  Bewegung, 
konsequenterweise  vom  Ausgangspunkte  der  Wahrnehmung  her, 
sich  selbst  reduziert  auf  bloße  Wahrnehmungsbewegung, 

4.  Die  wissenschaftliche  Erkenntnis  ist  mit  alledem  freihch 
aufgehoben,  da  Wissenschaft  eben  allgemeingültige  Erkenntnis, 
nicht  bloße  Wahrnehmung  ist.  Wenn  möghch  noch  schärfer  als 
bei  Protagoras  kommt  das  bei  Gorgias  zum  Ausdruck.  Speziell 
unser  Problem,  das  Substanzproblem,  scheint  bei  ihm  noch 
mehr  explizite  und  ausdrücklich  abgetan  zu  werden.  Allein, 
wenn  auch  gerade  die  neueste  Forschung  seine  persönlich- 
keitsgeschichtliche Entwickelung  in  den  Untersuchungen  von 
Diels  in  manchem  aufgehellt  hat,  so  reicht  er  doch  rein 
sachlich,  weder  im  allgemeinen,  noch  im  besonderen  für  unser 
spezielles  Problem,  an  die  Bedeutung  des  Protagoras  heran. 
Er  setzt  ein  mit  gewissen  eleatischen  und  naturphilosophisch- 
empedokleischen  Bestimmungen  des  Seins^  und  sucht  aus  ver- 
meintlichen Widersprüchen  auf  dialektischem  Wege  die  Mög- 
lichkeit des  Seins  ausdrücklich  zu  widerlegen,  während  Prota- 
goras an  das  Sein,  wie  Piaton  zeigt-,  nicht  heranreicht,  was 
freilich  auch  von  einer  vermeintlichen  Widerlegung  des  Seins 
imphzite  ebenfalls  gilt.  In  den  Argumenten  des  Gorgias  hat 
man  insbesondere  mit  Recht  einerseits  Zenons^,  andererseits  des 
Melissos'^  antithetische  Gedankenführung  bemerkt.  Unrecht 
freilich  wäre  es,  einem  dieser  beiden  Denker  nun  die  eigentlich 
sophistischen  Argumentationen  selbst  zu  vindizieren.  Gorgias 
verwendet  zwar  deren  Gedanken,  aber  er  tut  es  ganz  für 
seine  eigenen  Absichten,  steht  ihnen  also  in  gewisser  Weise 
wieder  frei,  oder  wenn  man  will,  original  gegenüber.  Seine 
Sophismen  lassen  sich  gerade  vom   Standpunkte  jener   Denker 


^  Di  eis,    Gorgias    und    Empedokles.      Sitzungsber.    d.    Berl.    Akad.    d. 
Wissensch.  1884,  I,  S.  343  ff. 
2  Piaton,  Theät.  186  c. 
»  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  108. 
"  Kinkel,  a.  a.  0.,  S.  269. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  127 

SO  leicht  durchschauen,  daß  wir  hier  seine  Argumentationen 
ohne  alle  Weiterungen  in  ihrer  bloßen  Tatsächlichkeit  nur  kurz 
zu  verzeichnen  brauchen:  Wohl  auf  Grund  der  alten  Forde- 
rung der  Unerschöpflichkeit  des  Seins  postuliert  Gorgias  die 
Unendlichkeit  des  Seins,  falls  es  ein  Sein  geben  sollte.  Nun 
sucht  er  zu  beweisen,  daß  es  nicht  unendlich  sein  könne,  weil 
es  dann  uuräumlich  sein  müßte,  da,  was  räumlich  sein  soll, 
auch  im  ßaume  begrenzt,  also  endlich  sein  müßte.  Also  kann 
es  weder  unendlich  noch  endlich  sein,  weil  es,  wenn  es  sein 
sollte,  doch  räumlich  nicht  sein  dürfte,  um  unendlich  sein  zu 
können,  und  auf  der  anderen  Seite,  um  überhaupt  sein  zu 
können,  doch  räumlich,  damit  aber  auch  eben  im  Eaume  be- 
grenzt, also  endlich  sein  müßte.  Also  kann  es,  wenn  es  so- 
wohl endlich,  wie  unendlich,  damit  also,  negativ  ausgedrückt, 
weder  endlich  noch  unendlich  sein  müßte,  überhaupt  nicht 
sein.^  Auch  könnte  es  weder  eines  noch  vieles  sein^:  eines 
nicht,  weil  es  dann  unendlich  sein  müßte,  was  es  nicht  sein 
kann;  vieles  nicht,  weil  die  Vielheit  eine  Vielheit  des  Einen 
sein  müßte,  das  ja  nicht  sein  kann,  und  weil  die  Mehrheit  von 
Nichts  auch  Nichts  ergibt.  Das  besagt  der  erste  seiner  be- 
rühmten Grundsätze:  Es  gibt  kein  Sein.  Mit  vorwiegend 
Protagoreischen  Gedankenmitteln  fügt  er  diesem  die  anderen 
beiden  Sätze  bei.  Zweitens:  Wenn  es  ein  Sein  gäbe,  wäre  es 
nicht  erkennbar,  weil  die  Vorstellung  des  Seins  nicht  das  Sein 
selber  erreichte.  Drittens:  Wenn  es  erkennbar  wäre,  so  wäre 
seine  Erkenntnis  nicht  mitteilbar,  weil  die  Vorstellungen  sub- 
jektiv blieben.  Diese  Sätze^  stehen  beherrschend  an  der  Spitze 
seines  Denkens.  Seine  Grundansicht,  die  in  ihnen  gipfelt,  er- 
scheint so  als  die  Verneinung  der  Wissenschaft  in  vollendeter 
Form.* 


1  Sext.  Emp.  adv.  math.  VII,  68  ff. 

'  Arist.  (Ps.)  de  Xenophane,  Zenone  et  Gorgia  VI,  979  b,  vgl.  Sext.  Emp., 
a.  a.  0.,  VII,  73. 

^  Arist.,  a.  a.  0.,  V,  979  a:  ouic  elvai  qpfiöiv  ovbiv  '  ei  b' eOTiv,  äYvuuaTov 
eTvai  •  ei  be  Kai  eön  Kai  yvokitöv,  äW  ov  bii^iJUTÖv  aWoiq;  vgl.  Sext.  Emp., 
a.  a.  0.,  VII,  65. 

*  Vgl.  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  73. 


128  5.  Kapitel. 

5.  Die  Sophisten  stehen  am  Wendepunkte  einer  neuen  phi- 
losophischen Epoche.  Wie  immer  man  über  den  Relativismus 
der  älteren  großen  Sophisten  denken  mag,  man  wird  nicht  ver- 
kennen dürfen,  daß  sie  selbst  eine  gewisse  epochale  Bedeutung 
haben;  nicht  als  ob  sie  den  Anfang  einer  neuen,  sondern  weil 
sie  das  Ende  einer  alten  Epoche  bezeichnen.  Siebeck^  hat 
darum  durchaus  recht,  wenn  er  sagt:  «es  kann  trotz  der  Tat- 
sache, daß  das  Prinzip  der  Subjektivität  bei  den  Sophisten 
zuerst  durchgreifende  Geltung  bekam,  die  neue  Epoche  der 
Spekulation,  welche  mit  dem  Abschlüsse  der  älteren  Natur- 
philosophie allmählich  eintrat,  nicht  mit  der  Sophistik  begonnen 
werden.  Letztere  bezeichnet  uns  vielmehr  die  Auflösung  und 
das  Ende  des  althergebrachten  Philosophierens  und  würde, 
wenn  sie  nicht  einen  Sokrates  sich  gegenüber  gehabt  hätte, 
das  Ende  des  Philosophierens  überhaupt  bezeichnen.»  Allein, 
sie  bezeichnen  dieses  Ende  dadurch,  daß  sie  ihren  Relativismus 
mit  ehrlicher  Konsequenz  vertreten,  mag  die  Konsequenz  frei- 
lich erst  von  Piaton  zu  Ende  gedacht  sein.  Damit  aber  haben 
sie  selbst  dazu  beigetragen,  jeden  Versuch,  im  Relativismus  eine 
wissenschaftliche  Position  befestigen  zu  wollen,  ad  absurdum 
zu  führen.  Die  ehrliche  Konsequenz,  daß  der  Positivismus 
überhaupt  keine  wissenschaftliche  Position,  daß  wissenschaft- 
licher Positivismus  eine  contradictio  in  adjecto  ist,  erhebt  die 
ältere  Sophistik  unendlich  hoch  über  alle  Schattierungen  des 
relativistischen  Positivismus,  die  die  Geschichte  nach  dem 
Relativismus  der  Sophisten  je  wieder  gezeitigt  hat,  die  aller- 
modernste  Form,  den  Pragmatismus,  nicht  ausgenommen.  Da- 
durch daß  sie  ein  Ende  bezeichnet,  gab  die  Sophistik,  und 
darin  liegt  der  für  eine  gerechte  historische  Beurteilung  nicht 
zu  unterschätzende  Wert,  wenigstens  den  Impuls  zu  einem 
neuen  Anfang,  wenn  auch  nicht  einen  neuen  Anfang  selbst. 
Die  positive  Bedeutung  der  mannigfachen  Richtungen  vor  der 
Sophistik  lag  in  bezug  auf  die  Erkenntnis  darin,  daß  sie  die 
objektive  Bestimmung  der  Vernunft  erkannten.  Aber  sie  ver- 
mochten dieser  Erkenntnis  noch   nicht   die   notwendige  Erhär- 


^  Siebeck,  Untersuchungen  zur  Philosophie  der  Griechen,  S.  14. 


Die  Negation  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis.  129 

timg  und  Bewährung  zu  geben;  so  nahe  selbst  freilich  Demo- 
krit  einer  solchen  kam,  so  fand  doch  auch  er  in  diesem  Be- 
streben an  dem  eTefji  der  Atome  seine  Grenze. 

Mag  nun  im  Gegensatz  dazu  die  Tendenz  der  Sophisten 
darin  liegen,  daß  sie  jede  objektive  Bestimmung  aufzuheben 
suchen,  und  mag  darin  auch  die  ganze  Schranke  ihrer  Bedeu- 
tung zum  Ausdruck  gelangen,  so  liegt  darin  eben  doch  eine  Be- 
deutung: negativ  der  Nachweis  der  Unzulänglichkeit  der  Sinnen- 
erkenntnis zur  Wissenschaft,  weil  die  Sinnenerkenntnis  nie  über 
das  Prinzip  der  Subjektivität  hinausgelangt,  die  Wissenschaft  aber 
allgemeingültige  Erkenntnis  ist;  positiv  der  Umstand,  daß  mit  der 
Leugnung  allgemeingültiger  Erkenntnis  implizite  diese  selbst 
zum  Problem  gemacht  wird.  Man  bleibt  freilich  bei  dem  im- 
pliziten Problem  stehen.  Die  expHzite  Problemstellung  wird 
erst  erreicht  innerhalb  jener  einzigartigen  gedanklichen  Rich- 
tung, die  den  Höhepunkt  des  antiken  Denkens  überhaupt 
bezeichnet,  der  wir  uns  nunmehr  zuwenden.  Euer  liegt  in  der 
Tat  ein  neuer  Anfang  des  Philosophierens  vor.  Aber  wenn 
auch  die  Sophistik  selbst  keinen  solchen  bezeichnet,  daß  sie 
doch,  wie  wir  sagten,  dazu  einen  Impuls  gegeben  hat,  das  gibt 
ihr  in  der  Geschichte,  ob  sie  dieser  schon  ein  Ende  bedeuten 
muß,  doch  eine  bleibende  Stellung. 


Bauch,  Das  Substanzproblem. 


130 


Sechstes  Kapitel. 

Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des 
Idealismus. 


So  hoch  man  immer  auch  das  Verdienst  von  Sokrates' 
Kampf  gegen  die  Sophistik  und  ihren  Relativismus  veran- 
schlagen und  seine  Bedeutung  für  die  allgemeine  Geschichte 
des  Denkens  einschätzen  mag,  so  dürfte  er  doch  für  unseren 
speziellen  Zusammenhang  nicht  sonderlich  in  Betracht  zu 
kommen  scheinen.  Sucht  man  doch  des  Sokrates  Bedeutung 
ausschließlich  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Philosophie, 
während  wir  es  hier  mit  einem  rein  theoretischen  Problem  zu 
tun  haben.  Allein  man  bedenke:  Ist  auch  der  Inhalt  des  phi- 
losophischen Interesses  rein  ethischer  Natur,  so  erzeugt  sich 
aus  ihm  doch  die  theoretische  Grundform  des  echt  wissenschaft- 
lichen Bewußtseins.^  Und  gerade  diese  Gewinnung  der  theo- 
retischen Grundform  ist  es,  in  der  er  seinen  bleibenden  Wert 
und  seine  übergeschichtliche  Bedeutung  besitzt,  durch  die  er 
aber  auch  seine  geschichtliche  Wirksamkeit  für  Piaton  erlangt 
hat,  wohingegen  gerade  der  ethische  Inhalt,  in  dem  man  auch 
heute  noch  vielfach  seine  Bedeutung  erblicken  zu  sollen  meint, 
den  vergänghchen  Teil  seiner  Lehre  bildet. 

Hält  man  zunächst  auch  nur  das  fest,  so  dürfte  es  ohne 
weiteres  auch  für  jede  geschichtlich-theoretische  Untersuchung 
geboten  sein,  nicht  vorschnell  an  der  Erscheinung  des  Sokrates 
vorüberzugehen.     Sieht  man  sich  aber  seinen  Kampf  gegen  die 


'  Vgl.  dazu  Schleiermacher  :  «Über  den  Wert  des  Sokrates  als  Philosophen», 
III,  S.  287 ff.;  ferner  Windelband:  «Sokrates»  in  «Präludien»,  S.  54 ff.,  und 
Gesch.  d.  Pbilos.,  S.  76  ff. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  131 

Sophistik  noch  näher  an,  so  entdeckt  sich  eine  Tendenz,  die  jedem 
theoretischen  Problem  imphzite  zugute  kommen  muß,  auch  wenn 
dieses  nicht  expHzite  zur  Erörterung  bei  ihm  gelangt.  Die  theo- 
retische Kesignation  des  Sokrates  hat  ihre  Bedeutung  nicht  zum 
wenigsten  darin,  daß  er  den  Sophisten  die  Relativität  der  Meinung 
des  Einzelnen  zunächst  wohl  unumwunden  zugesteht,  ja  ihr  Nicht- 
Wissen  wo  möglich  noch  überbietet.  Aber  zugleich  weiß  er 
um  sein  Nicht- Wissen.  Und  dieses  Wissen  seines  Nicht-Wissens 
führt  ihn  derart  über  die  sophistische  Negation  hinaus,  daß  er 
sowohl  ihrem  Nicht- Wissen  sein  Wissen,  wie  ihrem  Wissen  sein 
Nicht- Wissen  entgegenzusetzen  vermag.  Denn  das  Wissen  von 
der  Relativität  ist  doch  von  der  Relativität  selbst  zu  unter- 
scheiden und  ist  doch  selbst  ein  Wissen.  Der  zugestandenen 
Relativität  der  Ansicht  des  Einzelnen,  wie  sie  seine  zufällige 
Lage  ergibt,  stellt  er  so  eine  über  alle  zufällige  Bedingtheit 
erhabene  Notwendigkeit  des  Wissens  gegenüber.  Diese  ist  nicht 
in  den  Dingen  und  Gegenständen  des  Wissens,  die  als  solche 
eben  nichts  als  relative  Bestimmungen  ermöglichen,  sondern 
in  der  Selbsterkenntnis  der  Vernunft  verbürgt.  Und  erst  von 
ihr  aus  erlangen  die  Gegenstände  des  Wissens  selbst  ihre  Be- 
stimmtheit. Daß  er  so  dem  Relativismus  gegenüber  die  Ver- 
nunft in  ihre  Rechte  eingesetzt,  darin  hat  man  von  je  die 
wahre  Bedeutung  des  Sokrates  gesehen.  Allein  an  die  Vernunft 
hatten  auch  Denker  vor  Sokrates  appelliert,  fast  alle  Denker 
vor  den  Sophisten.  Das  Entscheidende  der  einzigartigen  Tat 
des  Sokrates  liegt  darin,  wie  er  das  Recht  der  Vernunft  fordert, 
nicht  also  darin,  daß  er  es  fordert:  Aus  der  Vernunft  soll 
entschieden  werden,  was  jedes  ist.^  In  seinem  Sein  kann  also 
jedes  nur  bestimmt  werden  durch  die  Vernunft.  Von  der  Idee 
der  Vernunft  schreitet  er  also  fort  zur  Bestimmungsweise  durch 
die  Vernunft,  Freilich  könnte  es  scheinen,  als  ob  ihm  hierin 
bereits  die  Pythagoreer  vorangegangen  seien,  die  vom  Denken 
selbst  zu  Bestimmungsweisen  des  Denkens  (als  welche  sie  die 
Zahlen  erkannten)  fortschritten.  Allein  will  man  mit  einem 
Worte    des   Sokrates    eigenen   Fortschritt    über   diese    Position 


'  Siehe  z.  B.  Piaton,  Protag.  313  c,  Phaedr.  262  b. 

9* 


132  6-  Kapitel. 

bezeichneu,  so  liegt  er  darin,  daß  er  diese  Bestimmimgsweise 
des  Denkens  selbst  bestimmt,  und  zwar  bestimmt  als  Begriff. 
Er  entdeckt  den  Begriff  selbst  und  fordert  begriffliches  Wissen, 
als  die  Grundform  aller  Wissenschaft,  als  Instrument  auch  des 
Wissens  vom  Wissen  selbst.  Das  ist  seine  ewige  Bedeutung, 
daß  er  die  zeitliche  Meinung,  die  als  solche  lediglich  relativ  ist, 
an  die  ewige  Gesetzmäßigkeit  des  begrifflichen  Denkens  ver- 
weist, um  in  sich  selbst  Ewiges  wenigstens  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Hatten  auch  die  Denker  vor  Sokrates  das  an- 
schauHche  Sein  auf  das  begriffliche  bezogen,  so  hatten  sie  das 
doch  immer  nur  im  impliziten  Verfahren  gehandhabt.  Sie 
hatten  nicht  den  «Begriff  des  Begriffes»^  und  damit  nie  den 
Begriff  als  solchen  gewonnen.  Ihn  hat  Sokrates  entdeckt,  in 
seiner  tiefsten  Bedeutung  erkannt,  d.  h.  im  «Begriff  des  Be- 
griffes» selbst  erfaßt.  Er  ist  das  Allgemeine  der  Vernunft- 
bestimmung, und  zwar  dies  im  doppelten  Sinne,  nicht  nur  in- 
sofern, als  die  Menschen  gemeinsam  daran  teilhaben  und  nach 
Abzug  der  relativen  und  subjektiven  Meinungen  dazu  psycho- 
logisch gelangen,  sondern  auch  insofern,  als  er  auch  die  Gegen- 
stände der  Erkenntnis  als  solche  gemeinsam  bestimmt;  be- 
stimmt also,  nicht  bloß,  was  wir  gemeinsam  denken,  sondern 
was  jedes  ist,  so  daß  wir  es  gemeinsam  zu  denken  haben. 
Die  Begriffe  sind  Vernunftgrundlagen  der  Erkenntnis,  sind 
XÖYOi  innerhalb  des  XÖYoq  selbst. 

Das  ist  die  epochemachende  Position  des  Sokrates.  Sie 
muß  man  bestimmt  gefaßt  haben,  um  die  Leistung  Flatons 
historisch  zu  verstehen.  Von  ihr  aus  allein  können  wir  uns 
aber  auch  der  Gestaltung  nähern,  die  Piaton  unserem  Problem 
gegeben  hat.  Und  diese  Position  des  Sokrates  ist  es,  die  Piaton, 
wie  keiner  sonst  im  Altertum,  erfaßt,  die  er  in  das  von  ihm 
selbst  entworfene  Bild  auch  der  Persönlichkeit  seines  Lehrers 
getreulichst  einzeichnet  und  zu  seinem  eigenen  Ausgangspunkte 


^  Diese  Gewinnung  des  «Begriffs  des  Begriffes»  ist  mit  seltener  Einmütig- 
keit als  die  Tat  des  Sokrates  in  der  wissenschaftlichen  Geschichte  der  Philo- 
sophie, seit  es  überhaupt  eine  solche  gibt,  von  Hegel  und  Schleiermacher  bis 
auf  unsere  Zeit,  bis  auf  Windelband,  Zeller,  Natorp,  Kinkel  usw.  anerkannt 
worden. 


Der  Substanzliegriff  innerhalb  iles  Systems  des  Idealismus.  133 

macht.  Wenn  Sokrates  «nicht  zu  wissen  glaubt,  was  er  in 
Wahrheit  nicht  weiß»^,  so  weiß  Piaton  dieses  scheinbar  bloß 
persönliche  Bekenntnis  in  seiner  ganzen  sachlichen  Bedeutung 
richtig  einzuschätzen:  als  Besinnung  auf  das  Wissen  selber, 
als  den  ersten  großen  Schritt  zum  Selbstbewußtsein  des  Wissens 
von  seinem  Nichtwissen.^  Zugleich  weiß  er,  daß  damit  Sokrates 
die  ewige  Frage  nach  dem  «Werte»  der  menschhchen  Weis- 
heit überhaupt  aufrollt.  Mag  diese  dem  Lehrer  auch  «sehr 
wenig  wert  oder  gar  nichts»  gelten^,  so  weiß  sein  großer 
Schüler  dieses  Werturteil  doch  in  seinem  tiefsten  Sinne  zu 
deuten  und  richtig  zu  beziehen.  Die  Weisheit  steht  hier  in 
Rede  nur  in  dem  Sinne  des  Wissens  von  den  «Dingen  am 
Himmel  und  unter  der  Erde»^  oder  der  Erforschung  «der  Unter- 
welt».^ Dafür  tut  sich  hier  jene  innere  Weisheit  auf,  die  aus 
der  «Selbstprüfung»  erwächst;  und  daß  Sokrates  gerade  dieser 
«Weisheit  und  Selbstprüfung  sein  Leben  widmet»^,  das  bestimmt 
dem  Bilde,  wie  es  sich  im  Bewußtsein  Piatons  malt,  ausschheß- 
lich  den  Charakter.  Nicht  die  Kenntnis  der  äußeren  sinnfäl- 
ligen Dinge,  sondern  die  innere  notwendige  Bestimmung  des 
Selbstbewußtseins  wird  ihm  zur  Grundlage  der  Entscheidung 
•  über  den  Wert  der  Weisheit  und  damit  zur  Weisheit  selbst. 
Die  Forderung  der  «Selbstbesinnung  und  Wahrheit  für  die 
Seele,  auf  daß  diese  sich  aufs  beste  befinde»^,  gilt  es  zu  erfüllen. 
In  diesem  Sinne  gilt  Sokrates  dem  Piaton  als  «der  unermüdliche 
Erwecker  und  überzeugende  Anreger  für  einen  jeden  Einzelnen»^ 
im  Leben.  Denn  ihm  handelt  es  sich  nicht  bloß  um  das  Leben, 
sondern  um  das  Gutleben. ^    Das  Leben  als  solches  gilt  nichts, 


^  Apol.  21  d:  a  |ar|  olba  oub^  oi'ouai  eib^vm. 

'  Ebenda  22  d:  d|uauTdJi  yäp  Euvqibeiv  oi)hi  imatüixivwi. 

3  Ebenda  23  a:  öti  f]  dvöpuuTCivii  aujqpfa  oAiyou  iivöq  äiia  iajw  Kai 
oObevö?. 

*  Ebenda  23  e:  rd  laeTeuupa  Kai  tö  ijtt6  ^r\q. 

6  Ebenda  29  b:  tujv  dv  "Aibou. 

8  Ebenda  28  e:  cpiXoaoqpoOvra  |u^  bei  lf\v  Kai  dEexdZ^ovxa  diaauröv. 

'  Ebenda  29  e:  q)povnöea)i;  be  Kai  äXrjOeia«;  Kai  rfiq  ^lvxf\c,  ö-nivc,  du; 
ßeXTiöxri  garai. 

^  Ebenda  30 e:  ^YfiP>^v  Kai  iteiduuv  Kai  öveibiZiuv  ^va  ^Kaaxov  oxibi  iraOoiaai. 

®  Kriton.  48  b:  ov  xö  Zr\v  .  .  .  öWä  xö  eO  lr\v. 


134  6.  Kapitel. 

es  hat  nur  Wert,  wenn  es  ein  richtiges  Leben  ist.  Die  Für- 
sorge (um  das  Leben)  ist  nur  dann  viel  wert,  wenn  sie  irgend- 
wie einem  Kriterium  des  Richtigen  gemäß  sein  könnte;  könnte 
sie  das  aber  nicht,  dann  wäre  sie  je  größer,  desto  nichtiger.^ 
Denn  ich  will  «nichts  anderem  von  mir  gehorchen,  als  jenem 
Ausspruch  der  Vernunft  (Xoyuui),  der  sich  meinem  vernünftigen 
Nachdenken  als  der  beste  enthüllt».^  Darum  gilt  es,  daß  man 
nicht  alle  Meinungen  der  Mensehen  respektiert,  sondern  nur 
die  einen;  die  anderen  aber  nicht' :  nämlich  nur  die  wertvollen.* 
Wertvoll  aber  sind  nur  diejenigen  der  Vernünftigen,  der  Selbst- 
besonnenen.^  Das  aber  ist  nicht  die  Menge,  sondern  einzig 
derjenige,  der  sich  auf  Recht  und  Unrecht  versteht,  und  die 
Wahrheit  selbst.*'  Nur  so  gelangt  man  vom  bloßen  Leben  zum 
Gutleben.  Das  ist  «ein  Vernunftsatz,  der  bleibt».'^  Zu  ihm 
führt  «geraeinsame  Überlegung».^ 

2.  Diese  kritische  «Prüfung»  des  «Wertes»  der  Weisheit, 
die  daraus  hervorgehende  Unterscheidung  des  äußeren  Wissens 
und  der  Erkenntnis  des  Selbstbewußtseins,  sowie  diejenige  der 
böHa  und  des  Xöto?,  die  Bestimmungen  der  cppovnJig  und  der 
dXri&eia  werden  für  Piatons  eigenes  Verfahren  im  allgemeinen 
ebenso  bedeutsam,  wie  für  unser  spezielles  Problem,  das  sich 
nur  aus  dem  Geiste  des  ganzen  Piatonismus  in  seiner  tiefsten 
Bedeutung  verstehen  läßt. 

*  Kriton.  4Gb:  f\  upoOuj.ua  öou  ttoWoö  dEi'a,  ei  iiieTd  tivoi;  öp9ÖTriT0(; 
€ir|  •  d  ht  nx],  öauji  lueiZiujv,  ToaoÜTuui  xa^efruuT^pa. 

2  Ebenda:  tüjv  iixwv  larjbevi  äWuui  treiöeadai  f\  tJji  Xöyuji,  Ö(;  äv  |aoi 
XoYiZoii^vuji  ß^XriOTO?  cpaivexai. 

^  A.  a.  0.,  47  a:  öti  ou  TTciöa^  XP'I  tck;  höiaq  TUJv  dvdpiOnujv  tijliöv, 
dWa  Ta?  \iiv,  tö?  böu. 

*  Ebenda:  tö?  xpir^^äq. 

*  Ebenda:  tOuv  qppoviiaiuv.  Hier  liegen  auch  schon  die  ersten  Ansätze 
für  die  später  (Menon  85  c— 86  a  und  Sympos.  202  a)  scharf  hervortretende 
Bestimmung,  daß  der  K6yo<;  es  ist,  der  auch  die  richtige  Meinung,  die  immer- 
hin doch  bloß  Meinung  ist,  von  der  wahren  Erkenntnis  und  Selbstbesonnenheit 
unterscheidet. 

^  A.  a.  0.,  48a:  ol  iroWoi  .  .  .  aW  .  .  .  ö  ^Traiuuv  -rrepi  tüüv  biKaiujv  Kai 
öbiKUiv,  6  ei';  Kai  f\  d\r|96ia. 

'  A.  a.  0.,  48  b:  oötoi;  re  ö  XÖTog  .  .  .  |a^ve\. 

*  A.  a.  0.,  48  d:  OKOiruijiev  Koivi^i. 


Der  Substanzbe^iff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  135 

Wie  Sokrates,  so  geht  freilich  auch  Piaton  zunächst  von 
rein  ethischen  Fragestellungen  aus:  Tugend,  Tapferkeit,  Be- 
sonnenheit, Frömmigkeit,  das  scheinen  die  Themata  zu  sein, 
die  in  erster  Linie  behandelt  werden  sollen.  Allein  der  ethische 
Inhalt  der  Untersuchung  ist  zunächst  wenigstens  so  sehr  von 
der  logischen  Form  beherrscht,  daß  das  «Wie>\  genau  wie  das 
auch  bei  Sokrates  der  Fall  war,  für  unseren  Betracht  das 
«Was»  an  Wert  unendlich  überwiegt;  und  das  wiederum  so 
sehr,  daß  das,  was  sich  in  der  Darstellung  als  Inhalt  gibt,  das 
Ethische  nämlich,  der  Sache  nach  selbst  als  Form  und  Ein- 
kleidung für  einen  Sachgehalt,  das  Logische  nämlich,  erscheinen, 
das  seinerseits  in  darstellerischer  Hinsicht  lediglich  selbst  als  Form 
ansprechen  könnte.  Für  den,  der  nicht  unter  die  Oberfläche  zu 
blicken  vermöchte,  könnte  daher  wohl  die  Frage  nahe  liegen, 
was  denn  das  Substanzproblem  mit  der  Erörterung  darüber, 
ob  die  Tugend  lehrbar  sei  oder  nicht,  eigentlich  zu  schaffen 
habe,  wenn  wir  hier  diese  Erörterung  des  Platonischen  «Pro- 
tagoras»  kurz  berühren.  Allein  dem  Tieferblickenden  wird  es 
nicht  entgehen,  daß  Piaton  gerade  hier  aus  der  Unterscheidung 
von  «Tugendhaft- Werden»  und  «Tugendhaft-Sein»  zunächst 
zwar  in  ganz  elementarer  Weise  und  doch  mit  voller  Schärfe 
überhaupt  die  Unterscheidung  von  Werden  und  Sein  gewinnt.^ 
Wir  scheinen  also  von  Anfang  an  mit  den  Grundbestimmungen 
des  Substanzbegriffes  verflochten  zu  werden.  Zugleich  aber 
werden  schon  von  hier  aus  jene  ersten  richtungweisenden  Im- 
pulse gegeben,  die  in  der  Entwickelung  des  Platonischen  Den- 
kens eine  für  die  Gewinnung  des  begrifflichen  Gehaltes  gerade 
des  Substanzproblems  entscheidende  Entfaltung  erlangen  sollten. 
Wenn  Piaton  hier  betont,  daß  die  «Tugend  nicht  lehrbar  sei»^, 
und  daß  sie  dennoch  ein  Wissen,  eine  Erkenntnis  (emö"Tr|)Lir|) 
sei^,  so  hat  er,  wie  schon  Schleiermacher  richtig  gesehen*,  mit 
voller  Kraft  den  Unterschied  zwischen  dem  praktischen  Wissen 
und  dem  technischen  statuiert.  «In  allem,  was  lehrbar  und  lernbar 


*  Protagr.  340  c:  ^ötiv  bä  ov  toütöv  .  .  .  tö  eivai  Kai  to  fevi^au 
^  A.  a.  O.,  320  a:  oüx  fifoOiaai  biboKTÖv  eivai  dpettiv, 

»  Ebenda  352  b. 

*  Vgl.  Schleiermachers  Einleitung  zum  Charmides,  S.  6. 


136  .  C.  Kapitel. 

ist»S  wird  der  «Facbmaan»  (brijUloOpYo?)  befragt ;  so  hält  mau  es  in 
allen  Dingen  der  Technik.^  In  allen  Dingen  der  dpein  aber  darfein 
jeder  raten,  «ohne  bei  irgendeinem  Lehrmeister  in  die  Schule  ge- 
gangen zu  sein».^  Mit  diesem  Gegensatz  von  lehrbarem  und 
uniehrbarem  Wissen,  von  bloßer  Fertigkeit  (xexvri)  und  Tugend 
(dpetn)  ist  zum  mindesten  eine  gewaltige  Einsicht  gewonnen, 
eben  die  Einsicht,  daß  es  ein  Wissen  gibt,  das  kein  Mensch 
lehren  und  kein  Mensch  erlernen  kann,  das  wir  von  keinem 
anderen  also  bloß  zu  empfangen  und  zu  nehmen  brauchten, 
wie  man  ein  Geschenk  oder  eine  Gabe  annimmt  und  empfängt. 
Damit  ist  zunächst  freilich  nur  eine  Negation  erreicht. 
Aber  die  Position  liegt  schon  nahe:  Gibt  es  ein  Wissen,  das 
du  von  keinem  anderen  erhalten  kannst,  so  siehe  zu,  ob  es 
dir  nicht  kund  wird,  «indem  du  in  dich  selber  schaust».  Und 
diese  Position  ist  bald  gewonnen.*  Dieses  In-sich-selbst-Schauen 
ist  ein  Sich-selbst-Erkennen,  ein  Auf-sich-selbst-Besinnen,  ist 
Selbstbesonnenheit,  auuqppoouvn.  Sie  ist  das  «sich-selbst-Kennen».^ 
Darum  ist  «das  , Erkenne  dich  selbst'  und  das  ,Sei  besonnen' 
dasselbe».^    In  der  auucppocTuvri  ist,  wie  ebenfalls  schon  Schleier- 


*  Protag.  319  c/e:  nadrird  re  Kai  btbaKxa  .  .  . 

^  Ebenda:    trepi    |J^v    ouv    uuv    o'i'ovxai  dv  t^x^I*    e^vai,    outuu    biairpclr- 

TOVTOl. 

ä  A,  a.  0.,  319  d/e:  oübajaööev  juaä-übv;  oübe  övToq  bibaöKdXou  oObevö^ 
auTiüi.  Merkwürdigerweise  hat  man  die  These:  Tugend  sei  Wissen  und  doch 
nicht  lehrbar,  selbst  nachdem  Schleiermacher  sie  bereits  in  der  im  Texte  be- 
zeichneten Weise  richtig  gedeutet,  als  einen  Fall  Sokratischer  Ironie  und  Para- 
doxie  aufgefaßt.  Neuerdings  hat  Natorp  in  seinem  Werke :  Piatons  Ideenlehre. 
Eine  Einführung  in  den  Idealismus  S.  13  sehr  zutreffend  gegen  diese  Auf- 
fassung bemerkt:  «Den  Konflikt  dadurch  wegbringen,  daß  man  die  These  der 
Nichtlehrbarkeit  als  Ironie  deutet,  heißt  dem  Dialog  das  Rückgrat  ausbrechen». 
In  der  Tat  würde  man  dem  Dialog  mit  dieser  Auffassung  allen  Sinn  nehmen. 
Und  die  ganze  Auffassung  wird  selbst  um  so  unverständlicher,  je  verständ- 
licher die  scharfe  Unterscheidung  zwischen  t^x^H  und  dpetr)  den  eigentlichen 
Sinn  ergibt.  —  Später  erhält  der  Begriff  der  t^x^^I  freilich  selbst  eine  höhere 
Bedeutung.  Er  wird  zur  dialektischen  Wissenskunst  im  Unterschiede  vom 
bloßen  Erfahrungswissen,  der  ^i^meipia. 

*  Charmides,  160  d:  dq  aeauxöv  (iTToß\£V4;a(;. 

*  Ebenda  164d:  aötö  toOto  .  .  .  eTvai  öuiqppoöOvriv  tö  Yi^viiiaKeiv 
tauTÖv. 

"  Ebenda  164  e:  tö  fäp  Tviüöi  aauxöv  koi  tö  Zuujppövei  fori  ^iv  toötöv. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  137 

macher  bemerkt,  die  «ethische  Begriffseiiiheit»^  erreicht.  Denn 
ist  Tugend  das  Wissen  des  In-sich-selbst-Schauens,  so  hat  sie 
in  dem  In-sichselbst-Schauen  ihre  Einheit.  Allein  weit  mehr 
als  durch  diese  ethische  Bestimmung  ist  hier  durch  ein  rein 
theoretisches  Problem  erreicht:  Zunächst  freilich  durch  ein 
Problem,  noch  nicht  durch  eine  Lösung  dieses  Problems; 
immerhin  aber  auch  wenigstens  durch  eine  wesentliche  Vor- 
arbeit für  die  Lösung,  Da  die  Tugend  ein  Wissen  ist,  das  in 
der  Selbstbesonnenheit  ermittelt  und  erkannt  wird,  so  ist  diese 
selbst  eine  «Erkenntnis  der  Erkenntnis».^  Damit  ist  das  Fun- 
damentalproblem Piatons  formuliert.  Allein  zunächst  noch  er- 
scheint es  in  seiner  ganzen  Schwierigkeit  und  Komplikation : 
Jede  Erkenntnis  ist  eine  «Erkenntnis  von  etwas »^  eines  Gegen- 
standes, der  erkennbar  ist.  Welches  ist  nun  der  Gegenstand 
der  Erkenntnis  der  Erkenntnis?  Dem  technischen  Wissen, 
das  zugleich  technische  Erzeugnisse  hervorbringen  soll,  wie  die 
Baukunst  und  Webekunst,  ist  jene  nicht  verwandt.  Eher  ist  sie 
der  Mathematik  vergleichbar.  Diese  aber  hat  doch  selbst  immer 
bestimmte  Gegenstände,  wie  das  Gerade,  das  Ungerade,  Größen, 
Mengen  usw.*  Aber  hat  die  Erkenntnis  der  Erkenntnis  nicht 
bloß  sich  selbst  zum  Gegenstande,  und  kann  sie  das  haben, 
ist  das  überhaupt  möglich?  Es  gibt  doch  kein  Hören  des 
Hörens,  kein  Sehen  des  Sehens,  kurz  keine  «Empfindung  der 
Empfindung».^  Und  weiter:  «Wenn  diese  Erkenntnis  sich  nicht 
auf  einen   erkennbaren    Gegenstand»^    bezieht,    dann    muß   sie 

'  Vgl.  Schleiermacher,  a.  a.  0.,  S.  3. 

^  Charmides,  166c:  dW  al  |i^v  äWai  Tcöacti  öWou  eioiv  ^inöTfiiuai 
^auTUJV  b'oö.  'H  hi  \x6vr\  tüjv  re  äX.\u)v  ^iriaTriiniuv  ^TtiöTriiari  ^ati  Kai  ai)rf\  kavTr\q. 

ä  Ebenda  166  a:  tivo?  iaxiv  ^TTiaTnf.iri  ^KötcTTri  toOtujv  tOüv  i.n\OTq\xwv, 
6  xi)fxäv€\  öv  äX\o  auTfi?  Tf|<;  ^maTriiUTii;. 

*  Ebenda. 

^  Ebenda  167  c/d.  Aufaer  der  einzelnen  Entgegensetzung  der  dTri(TTr||Liri 
TÜJV  äWuuv  ^TiiaTriiLiujv  Kai  ^auTf!«;  zu  der  unmöglichen  ^aurfi?  bi  Kai  tiuv 
&X\u)v  öipeujv  ö\])iq  und  der  aöxfii;  bi  Kai  tiuv  äWujv  ökoiuv  ÖKori  wird 
hier  der  prinzipielle  Gegensatz  besonders  scharf  erreicht  gegenüber  der  all- 
gemeinen aiaönöeujv  p.iv  ai'aöriaiq  Kai  aÜTtii;.  Hier  setzt  also  die  prin- 
zipielle Unterscheidung  von  Empfinden  und  Denken  ein. 

8  Ebenda  168  a:  rJTii;  inaörnuaTO?  |li^v  oi)bevö<;  ionv  imaT^^x].  —  Kai  ^x^i 
Tivd  ToiaÖTTiv  büvajaiv  oiOTe  tivö?  elvai  .  .  . 


138  6.  Kapitel. 

doch  immer  auf  sich  selbst  bezogen  bleiben,  und  Gegenstand 
der  Erkenntnis  und  Erkenntnis  selbst,  die  doch  unterschieden 
werden  sollen,  wären  in  einer  bloßen  Selbstbeziehuug  eben  nicht 
mehr  unterschieden.  Eine  solche  Selbstbeziehung  ist  aber  doch 
nicht  möglich.  Denn  jede  Beziehung  setzt  ja  nicht  bloß  etwas 
voraus,  das  bezogen  wird,  sondern  auch  etwas,  auf  das  jenes 
bezogen  wird  und  umgekehrt;  wie  das  Größere  auf  ein  Kleineres 
bezogen  wird  und  umgekehrt.^  Hat  die  dujcppoauvn  aber  keine 
bestimmten  Gegenstände,  wie  die  Medizin  das  Gesunde,  die 
Baukunst  das  zum  Bauen  Gehörige^,  so  ist  sie  doch  bloß  ein 
Wissen,  «daß  man  weiß,  aber  nicht  ein  solches  von  dem,  was 
man  weiß».^  Ein  solches  Wissen  ist  endlich  doch  nicht  bloß 
im  Verhältnis  zu  allem  Einzel  wissen,  dem  es  selbst  hilf-  und 
ratlos  gegenübersteht*,  wertlos,  sondern  auch  an  sich  sinnlos, 
da  man  ja  überhaupt  nicht  wissen  kann,  ohne  etwas  zu  wissen. 
Alle  diese  Schwierigkeiten,  ja  Aporien,  haften  dem  Begriffe 
der  Erkenntnis  der  Erkenntnis  an.  Dennoch  bleibt  er  als  Pro- 
blem bestehen.^     Und  darin  liegt  sein  schlechthin  unvergäng- 


'  Ebenda  b. 

2  Ebenda  170  c.  . 

*  Ebenda  170d:  ouk  äpa  oujqppoveiv  toOt'  öv  eir|,  oObd  auuqppoaüvji, 
eibdvai  öxe  olbe  koI  ä  ^r\  olbev,  ötW,  dx;  tloiKev,  öti  olbe  Kai  öti  oük  dibe  laövov. 

*  Ebenda  171  a/b. 

8  Zum  Unterschiede  von  Natorp  (a.  a.  0.,  S.  25)  möchte  ich  sagen,  daß 
das  Problem  als  Problem  selbst  in  der  Form  bestehen  bleibt,  die  Nikias  ihm 
im  Dialog  gegeben.  Was  dieser  sich  unter  der  «Erlienntnis  der  Erkenntnis» 
denkt,  d.  h.  der  Inhalt  des  Problems  ist  damit  freilich  nicht  bestimmt.  Diesen 
Inhalt  inauguriert  in  der  Tat  erst  Sokrates.  Aber  zu  voller  Entfaltung,  im 
positiven  Sinne  bringt  auch  er  ihn  in  diesem  Dialoge  nicht.  Ich  kann  darum 
die  Ansicht  Natorps  nicht  teilen:  der  «vom  Mitunterredner  aufgestellte  Begriff 
der  Selbsterkenntnis,  wonach  sie,  im  Unterschiede  von  aller  Erkenntnis  eines 
bestimmten  Objektes  und  abseits  von  dieser,  nur  die  Erkenntnis  bedeuten  soll, 
ob  man  erkennt,  oder  nicht,  dieser  wird  nicht  etwa  bloß  zweifelhaft  gemacht, 
sondern  gänzlich  vernichtet».  In  Wahrheit  kann  es  sich  doch  im  Begriffe 
des  Erkennens  des  Erkennens,  der  ja  auch  nach  Natorps  Auffassung  nicht 
«preisgegeben»  (S.  24)  wird,  noch  nicht  um  ein  «bestimmtes  Objekt»  handeln. 
Wenn  das  nun  auch  nach  Natorps  Darstellung  manchmal  so  scheint,  indem  er 
(auch  auf  S.  27)  das  «bestimmte  Objekt»  besonders  betont  wissen  will,  so 
scheint  mir  gerade  die  Ausschaltung  des  bestimmten  Gegenstandes  von  der 
größten  Bedeutung,  weil,  wie  ich  im  Texte  ausführe,  dadurch  Raum  gewonnen 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  139 

lieber  Wert.  Die  cruücppocruvri  als  Erkenntnis  der  Erkenntnis 
hat  keinen  bestimmten  Gegenstand,  Das  unterscheidet  sie 
von  allem  Wissen  der  aicröiiaK;,  an  die  jene  bestimmten  Wissen- 
schaften, wie  Baukunde,  Medizin,  Politik  usw.,  verwiesen  sind. 
Und  doch  wäre  sie  nichts  ohne  einen  Gegenstand  überhaupt. 
Mit  dem  Namen  des  Guten  wird  dieser  zum  Schluß  des  Char- 
mides  bereits  angedeutet.^  Wird  so  die  cjuucppoffuvri  aucli  von  aller 
Einzelinhaltlichkeit  der  Empfindung  entkleidet,  so  bleibt  die 
Forderung  nach  einem  Gegenstande  überhaupt  doch  be- 
stehen.    Denn    nicht   bloß  um    zu  wissen,  was  man  weiß  (im 

wird  für  einen  Gegenstand  überhaupt.  Daß  Piaton  den  Gegenstand  über- 
haupt vom  bestimmten  Gegenstande  bleibend  unterschieden  und  in  der  Tat 
das  Problem  als  Problem  im  kontinuierlichen  Fortgang  sehies  Denkens  bewahrt 
hat,  dafür  spricht  Politeia,  483c  ausdrücklich:  ^triaTrüiri  |li^v  aöin  juaOrmaro^ 
auToö  ^TriöTtTiLiri  ^ötiv  f\  ötou  bei  Oeivai  Tt^v  eiriaTiiiariv,  ^TCiaTr||HTi  b4.  xi?  Kai 
iroid  Tii;  TTOioO  twoc,  Kai  ilvoq,  wo  deutlich  wird,  daß  die  Erkenntnis  über- 
haupt die  Erkenntnis  eines  Erkenntnisgegenstandes  überhaupt  oder  dessen, 
Avorauf  sie  sich  bezieht,  ist,  und  daß  eine  bestimmte  Erkenntnis  aber  die  Er- 
kenntnis eines  bestimmten  Gegenstandes  ist.  Verstehe  ich  Natorp  an  einer 
andern  Stelle  recht,  so  dürfte  meine  Auffassung  vielleicht  aber  dennoch  mit 
einer  andern  von  ihm  gegebenen  Deutung  zusammenstimmen,  die  er  (auf  S.  26) 
folgendermaßen  formuliert:  «Die  Selbsterkenntnis  müsse  zwar  nicht  mit  der 
Erkenntnis  eines  sonstigen  besonderen  Objektes,  wohl  aber  mit  der  eines 
letzten  Objektes ,  des  Guten,  zusammenfallen».  Dieses  «letzte  Objekt»  ist 
offenbar  also  doch  kein  bestimmtes,  sondern  ein  allgemeines,  das  man  eher 
als  bestimmend  bezeichnen  könnte,  oder,  wie  ich  es  mit  Rücksicht  auf  Piatons 
eigene  obige  Worte  nenne,  «Gegenstand  überhaupt».  Wenn  ich  so  vielleicht 
zu  einer  Übereinstimmung  mit  Natorp  glaube  auf  der  einen  Seite  gelangen  zu 
können,  so  ist  mir  nur  auf  der  anderen  Seite  nicht  recht  klar,  ob  und  welchen 
Unterschied  er  zwischen  dem  «besonderen»  und  «bestimmten»  Objekt  macht. 
Unterschieden  müßten  diese  beiden  doch  wohl  werden,  wenn  anders  er  nicht 
das,  was  er  das  «letzte  Objekt»  nennt,  von  dem  «bestimmten»  wieder  unter- 
scheidet. Immerhin  scheint  es  mir  notwendig,  hier  nicht  von  einem  bestimmten 
Objekt,  sondern  vom  Objekt  überhaupt,  oder  von  der  Bestimmtheit  überhaupt, 
die  wir  zunächst  bald  unter  dem  Namen  der  ttoiötth;  kennen  lernen  werden, 
zu  sprechen.  —  Daß  auf  diese  Unterscheidung  aber,  wie  ich  sie  hier  gemacht 
habe,  zwischen  Gegenstand  überhaupt  und  bestimmtem  Gegenstand  zu  dringen 
ist,  das  wird  man  vielleicht  besonders  begreiflich  finden,  wenn  man  bedenkt, 
daß  etwa  in  der  neueren  Zeit  die  Entscheidung  der  viel  gepflogenen  Kontro- 
verse nach  Fichtes  veränderter  Lehre  gerade  an  dieser  Unterscheidung  hängt. 
*  Charm.  174d.  Vergl.  den  in  der  vorigen  Anmerkung  zuletzt  zitierten 
Satz  Natorps. 


140  G.  Kapitel. 

Einzelwissen),  sondern  auch  schon  um  zu  wissen,  daß  man. 
weiß,  dazu  muß  man  auch  wissen,  was  es  heißt,  daß  man  weiß, 
damit  man  eben  die  Erlsenntnis  auch  von  dem,  was  nicht  Er- 
kenntnis ist,  unterscheiden  könne. ^  Es  ist  also  eine  begriflfJiche 
Bestimmung  vom  Erkennen  selbst  schon  vorausgesetzt.  Und 
wenn  sich  von  hier  aus  auch  nur  die  Frage  nach  der  Möglich- 
keit- zu  ergeben  scheint,  so  ist  diese  Frage  für  den  Anfang 
selbst  schon  Ergebnis  genug.  Indem  die  oixxppoavvr]  zu  ihr  führt, 
steht  sie,  als  Problem  wenigstens,  in  der  Tat  allen  ül)rigen  Er- 
kenntnissen vor,  geht  ihnen  logisch  begrifflich  voran, ^  Es  ist  zu- 
nächst genug,  daß  die  Frage  nach  der  Möglichkeit  dieser  Er- 
kenntnis überhaupt  gestellt  wird,  mag  sie  auch  noch  nicht  be- 
antwortet werden.  Denn  daß  sie  auch  nur  gestellt  wird,  das 
muß  als  Ziel  den  Begriff  der  Erkenntnis  involvieren.  Und 
wenn  auch  dieses  Ziel  nicht  etwa  gleich  erreicht  wird,  so  gibt 
es  doch  der  Bewegung  des  Denkens  auf  das  Ziel  schon  eine 
bestimmte  Richtung.  Denn  es  führt  durch  den  Begriff  selbst 
hindurch. 

Darin  liegt  die  rein  logische  Bedeutung  aller  der  zunächst 
ethischen  Fragestellungen,  die  oft  für  die  Darstellung  den 
Mittelpunkt  bilden:  Da  wird  gefragt  nach  dem,  «was  sie  wohl 
ist  und  was  für  ein  Wiebeschaffenes  eben  die  auucppoauvri»'^ 
oder,  «was  sie  wohl  selbst  sei,  die  Tugend»^  und  «was  sie  denn 
sei»*^;  oder  was  die  Tapferkeit',  «welches  Wiebeschaffene  das 
Fromme>^,  sogar  <was  denn  eigentlich  ein  Sophist^  ist».  Alles 
das  gilt  es  «abzugrenzen»^",  wie  der  terminus  technicus  lautet, 

*  Ebenda  170a:  biaipeiv  ...  öti  toütujv  xöbe  |li^v  imaTr\\ir\,  tö  b'oÜK 
^iTiOTriiari. 

*  Ebenda  167  b:  ei  buvaiöv  iarx  toOto  elvai  fj  oö,  xot,  ä  oTbe,  Kai  ä  |iri 
oibev,  dbivax  öti  olbe  koI  öti  ouk  olbev.  —  Und  ausdrücklich  als  offene 
Frage:  169a/b:  et  buvaTÖv  ^öti  toOto  fevioQai,  dTTiaTr||ur|<;  ^niffrr)|aujv  eTvai. 

'  Ebenda  174  e:  aujqppoffüvri  .  .  .  ^maTaTei  bi  Kai  xaT«;  äWai?  dmtJTrinai?. 

*  Ebenda  159  a:  öti  Iot\  Kai  öttoTöv  ti  f]  aa)9poöüvri. 
'  Protag.  360  b:  ti  uot'  ^cJTiv  ainö,  i]  inpexf]. 

«  Laches,  190b:  ö  tI  ttot'  kaxiv  öipeTr|. 

'  Ebenda:  ävbpcia  t(  ttot'  ^ötiv. 

^  Euthj'phron,  b  c/d :  ttoi6v  ti  tö  eöaeß^?  elvai. 

*  Protag.  312  c:  ö  ti  iroxe  6  aoqpiOTr)^  ^ötiv. 
^°  Laches,  194  c :  6piileö9ai  Tr]v  ävbpeiav. 


Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  141 

d,  h.  begrifflich  zu  bestimmen.  Was  nun  auch  immer  im 
Einzelnen  die  Begrififsbestimmung  ergeben  mag,  das  kommt  für 
unseren  Zusammenhang,  so  interessant  es  an  sich  oft  auch  ist, 
nicht  in  Betracht.  Was  sich  daraus  aber  für  den  Begriff  über- 
haupt ergibt,  das  ist  für  uns  von  entscheidender  Bedeutung. 
Denn  durch  ihn  wird  der  noch  unbestimmt  gelassene  Gegen- 
stand der  Erkenntnis  bestimmt.  Weil  er  aber  für  den  Gegen- 
stand eine  bestimmende  Bedeutung  hat,  so  ist  er  selbst  kein 
bestimmter  Gegenstand,  insbesondere  ja  nicht  etwa  ein  ein- 
zelnes Ding. 

Dem  Einzelnen  und  Besonderen  gegenüber  ist  er  ein  All- 
gemeines und  Gemeinsames,  etwas,  das  für  die  Erkenntnis  das 
Einzelne  zu  dem  macht,  was  es  in  der  Erkenntnis  ist.  Und 
so  mannigfaltig  und  verschieden  bloß  für  sich  betrachtet  alles 
Einzelne  unter  sich  sein  mag,  so  verschieden  z.  B.  die  eine 
tapfere  Handlung  von  der  anderen  sein  mag,  so  verschieden 
auch  die  eine  fromme  Handlung  von  der  anderen  sein  mag, 
das,  was  jene  einzelnen  tapferen  Handlungen  eben  als  tapfer, 
diese  einzelnen  frommen  Handlungen  als  fromm  zu  bestimmen 
ermöglicht,  so  daß  wir  sagen  können :  dieses  und  jenes  ist  tapfer, 
dieses  aber  und  jenes  nicht;  oder:  dieses  und  jenes  ist  fromm, 
dieses  aber  und  jenes  nicht,  das  ist  der  Begriff  der  Tapferkeit 
und  der  Begriff  der  Frömmigkeit.  Er  bestimmt  also,  was  seiend 
in  allem  Einzelnen  dasselbe  ist.*  Es  ist  dasselbe  z.  B.  in  jeder 
tapferen  und  in  jeder  frommen  Handlung.  Was  in  allem  Ein- 
zelnen aber  dasselbe  ist,  das  ist  auch  mit  sich  selbst  dasselbe, 
in  sich  eines,  identisch.  Wenn  das  Fromme  in  jeder  einzelnen 
Handlung  mit  sich  selbst  dasselbe  und  das  Ruchlose  zwar  das 
Gegenteil  von  allem  Frommen,  sich  selbst  aber  gleich  ist,  so 
daß  alles  Ruchlose  im  Einzelnen  doch  in  bezug  auf  die  Ruch- 
losigkeit eine  gewisse  Gestalt  (iivd  ibiav)  hat^,  so  wird  die 
Mit-sich-Selbheit,  die  Identität  des  Begriffes  mit  sich  selbst  be- 
sonders durch  seinen  Gegensatz  deutlich.     Zugleich  aber  wird 


1  Laches,  191  e:  t(  öv  iv  -rraai  toütoi?  t'outöv  dariv. 

*  Euthyphron,  5  c/d:  toötöv  ^ötiv  ^v  Tzdar\i  irpctSei  rd  öaiov  aöxo  aÖTiüi. 
—  KOI  TÖ  dvöcnov  au  toO  ixiv  baiov  dvavriov,  aurö  bi  auTÜüi  önoiov  Kai 
2xov  |iiav  Tivä  ibiav  Kaxot  rf]v  dvoöiöxriTa  Tiäv,  öxi  itep  öv  la^Wrii  dvööiov  elvai. 


142  6.  Kapitel. 

er  hier  zur  ddee»  vertieft,  als  der  bestimraeuden  in  sich  selbst 
gleichen  Gestalt,  in  bezug  auf  die  gleich  sein  muß,  was  unter- 
einander gleich  sein  soll,  und  in  bezug  auf  die  uud  zugleich 
ihren  logischen  Gegensatz  verschieden  sein  muß,  was  unter- 
einander verschieden  und  entgegengesetzt  ist. 

Diese  ibea,  das  eibo?,  wie  sie  noch  heißt,  ist  aber  nicht 
Gestalt,  wie  es  dieses  oder  jenes  Ding  ist.  Sie  würde  dann  ja 
wieder  nur  zu  einem  solchen  Einzelnen,  das  durch  sie  selbst 
erst  bestimmbar  wird.  In  der  Idee  der  Frömmigkeit  z.  B. 
handelt  es  sich  nicht  selbst  wieder  um  eine  bestimmte  fromme 
Handlung,  nicht  um  die  frommen  Handlungen,  die  man  etwa 
nacheinander  herzählen  könnte^,  nicht  also  um  «ein  Einzelnes 
oder  Zwei  von  dem  vielen  Frommen,  sondern  um  jene  Gestalt, 
durch  die  alles  Fromme  fromm  ist».^  Sie  ist  nicht  ein  From- 
mes unter  anderem  Frommen,  sondern  das  dboc,  des  Frommen 
selbst,  das  Fromme  überhaupt.  Ein  einzelnes  Fromme  steht 
jedem  anderen  Frommen  selbst  als  etwas  anderes  gegenüber. 
Das  Fromme  selbst  ist  in  allem  Einzelnen  dasselbe,  es  ist  nicht 
eines  neben  anderem,  sondern  Eines  in  allem.  Es  ist  eine 
einzige  Gestalt,  durch  die  alles  Fromme  fromm,  und  wieder 
eine,  durch  die  alles  Unfromme  unfromm  ist.^  Sie  ist  darum 
das  Muster,  auf  das  wir  hinschauen,  und  dessen  wir  uns  als 
Urbild  bedienen^,  um  zu  bestimmen,  was  etwas  ist,  wenn  wir 
dessen  Wesen,  das  sie  ausdrückt,  enthüllen  w^ollen.^  In  ihr 
selbst  liegt  die  ouaia  der  Dinge.  Insofern  sie  so  zur  Bestim- 
mung des  Allgemeinen  und  Wesentlichen  der  Einzeldinge 
wird,  kann  sie  selbst  kein  wesenhaftes  Einzelding  sein,  Sie 
bleibt  ein  Allgemeines  dem  Einzelnen  gegenüber.  Und  wenn 
der  deutsche  Dichter  den  Terminus  ibea  oder  dbo<;  mit  «reine 
Form»  übersetzt,  so  dürfte  er  den  Sinn  dieses  Idealismus  ganz 


^  Ebenda  8d:  irpdEeiJü?  tivoi;  Ttepi  —  tüiv  irpaxö^vTuüv. 

*  Ebenda  6  d :  ?v  ti  fj  buo  .  .  .  tuiv  ttoWüjv   öoiujv,  öW  ^kcivo  outo  tö 
elbo?,  iDi  TrdvTa  xd  baia  öaid  dativ,  vgl.  Meno,  72  a/c. 

'  Ebenda :  ^dp  irou  |li(oi  tb^ai  rd  te  dvöaia  dvöaia  elvm  Kai  tö  öaia  öaia. 

*  Ebenda;   Tr\v   ibiav  ...   de,    ^kcivi^v  dTroßXdTruuv    Kai   xpiJL'Mevo?  aOTf|i 
TTapabefT^otTi  .  .  .     Vgl.  Menon  72  c:  toutöv  iravTaxfi  elböq  iaxw  .  .  . 

*  Ebenda  IIa:  rf]v  fa^v  oömav  .  .  .  br)\Oüaai. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  143 

zutreffend  bezeichnet  haben.  Denn  darin  liegt  zugleich,  daß 
das  Allgemeine  und  Gemeinsame,  wenn  es  auch  mit  kon- 
tradiktorischer Notwendigkeit  kein  Einzelnes  ist,  eine  Auffas- 
sung, die,  wie  wir  sahen,  Piaton  von  Anfang  an  mit  aller 
Energie  abgewehrt  hat,  so  doch  auch  nicht  etwa  ein  bloß 
psychologisches  subjektives  Allgemeines,  das  nur  in  der  ge- 
meinsamen Überlegung  (dem  Koivfji  OKonelv^)  bestünde,  sondern 
ein  sachliches  Allgemeines  ist.  War  doch  das  auch  schon  des 
Sokrates  feste  Position  gewesen,  von  der  aus  allein  er  dem 
bloßen  relativen  Meinungswissen  mit  seinem  Erfolge  entgegen- 
treten konnte,  daß  er  im  Begriffe  nicht  das  suchte,  was  wir 
tatsächlich  gemeinsam  denken,  sondern  das,  worin  wir  bloß  des- 
halb übereinstimmen  können,  weil  es  besagt,  was  etwas  selbst 
ist,  weil  ihm  der  Begriff  immer  schon  die  Form  eines  selbst 
seienden  (outo)  war.  Und  diese  Position  beherrscht  mit  voller 
Festigkeit  auch  Platou  schon  in  den  Schriften  seiner  ersten 
Epoche,  die  mau  wegen  ihrer  engsten  und  innigsten  Beziehung 
zu  Sokrates  mit  vollem  Rechte  gerade  als  «sokratisch»  benannt 
hat*  So  ist  ihm  die  gemeinsame  Untersuchung,  das  aKOTreiv 
KOivfii,  keineswegs  schon  das  Gemeinsame,  das  koivov  selbst,  sie 
dient  ihm,  wie  Sokrates,  vielmehr  lediglich  zu  dessen  Ermitte- 
lung. Nicht  kommt  es  ihm  auf  bloße  Aussagen  an,  sondern 
auf  das,  was  die  «Grundlagen  (uTToöeaei?)»^  dieser  Aussagen 
ausmacht.  Welchen  Wert  diese  haben,  davon  hängt  es  ab, 
was  die  Aussagen  selbst  für  einen  Wert  haben.  Darum  «macht 
es  in  der  Untersuchung  ganz  und  gar  nichts  aus,  wer  etwas 
sagt,  sondern  es  kommt  lediglich  darauf  an,  ob  es  richtig  ge- 
sagt ist  oder  nicht»^;  also  nicht  auf  die  gemeinsame  Unter- 
suchung, sondern  auf  das,  zu  dem  sie  führt,  und  das  ihr  selbst 
erst  Gültigkeit  gibt.    Die  Allgemeinheit  ist  danach  eine  doppelte 


»  Kriton  48  d.  s.  S.  134. 

2  Vgl.  Windelband,  Piaton,  S.  49f. 

^  Euthyphron,  11  c,  das  Moment  der  üixööeöK;,  auf  das  wir  selbst  auch 
noch  zurüclvkommen,  hat  unter  allen  Forschern  am  nachdrückhchsten  P.  Natorp 
betont.    Vergl.  a.a.O.  besonders  S.  2Sf.,  187  ff.,  199  ff.,  236. 

*  Charmides,  161  c:  Tidviujc,  yotp  oö  toOto  OKemiov,  öötk;  aOrö  €{it€iv 
AXXä  TTÖTepov  ö\ridd<;  X^yeTai,  f\  oö. 


144  fi.  Kapitel. 

bezw.  dreifache  freilich.  Sie  liegt  im  Denken  als  Tun  und  im 
Gedachten  auf  der  einen  Seite,  aber  nicht  insofern  dieses  ein 
bloß  Gedachtes  ist,  sondern  insofern  es  ein  richtig,  ein  wahr 
Gedachtes,  also  andererseits  in  der  Bedeutung  des  Gedachten. 
Von  hier  aus  fällt  auf  die  Bedeutung  der  (Tuu(ppoö"iivn  volles 
Licht.  Sie  ist  nicht  etwa  nur  eine  bloß  tatsächliche  Innenschau, 
eine  Versenkung  bloß  in  die  Zustände  der  Seele,  sondern  eine 
Besinnung  auf  das,  was  etwas  an  und  für  sich  ist,  was  es  nach 
einem  Kriterium  der  Richtigkeit  selbst  bedeutet.  So  ist  z.  B. 
das  Fromme  nicht  deshalb  fromm,  weil  es  geliebt  wird.  Diese 
Liebe  wäre  nur  ein  seelischer  Zustand,  aber  nicht  das  Fromme. 
Vielmehr  erhält  umgekehrt  erst  dieser  seelische  Zustand  vom  From- 
men an  und  fürsich  eine  Bedeutung.  Und  «das  Fromme  wird  ge- 
liebt, weil  es  fromm  ist,  nicht  aber  ist  es  fromm,  weil  es  gehebt 
wird».^  Seine  Bedeutung  liegt  nicht  in  dem  bloßen  subjektiven 
Zustande  der  Liebe,  sondern  allein  in  sich  selbst  und  kann  aller- 
erst jenem  Zustande  selbst  eine  Bedeutung  geben  kraft  seines 
eigenen  Wesens,  kraft  seiner  oucria,  falls  überhaupt  jener  Liebe 
eine  Bedeutung  zukommt.  Daher  ist  die  Frage  die,  «was  denn 
an  sich  seiend  das  Fromme  hernach  ....  geliebt  wird,  oder 
was  ihm  sonst  zukommt».^ 

Damit  aber  wird  die  begriffliche  Erkenntnis  allem  Wechsel 
und  Wandel  entrückt  in  stetig  einheithcher  Identität.  Von  ihr 
gilt,  «das,  wovon  es  auch  immer  eine  Erkenntnis  geben  mag, 
davon  es  nicht  eine  besondere  gibt  für  das,  was  geschehen  ist, 
zu  wissen,  wie  es  geschah;  noch  wieder  eine  besondere  für  das, 
was  geschieht,  wie  es  geschieht;  noch  eine  andere  für  das, 
was  noch  nicht  geschehen  ist,  wie  es  wohl  am  besten  geschehen 
könnte,  sondern  eine  und  ebendieselbe».^  Innerhalb  des  Ge- 
schehens   mag    sich  alles   wandeln,   wir  mögen  heute   andere 


*  Euthyphron  10  d:  Aiöti  äpa  öaiöv  ^ffxiv,  cpiXelxai,  äW  oux  8ti  <pi\ei- 
Toi,  btct  toDto  öoiöv  iaiw. 

2  Ebenda  1 1  b  (wörtliche  Übersetzung  Schleiermachers  von) :  t{  irore  öv 
TÖ  6mov  e'ixe  qjiXeixei  .  .  .  eixe  öti  bi]  udöxei. 

3  Laches,  198  d:  ircpi  öauuv  ianv  ^Tnatriiuri,  ouk  äUn  ixiv  elvm  Ttepi 
Y6T0VÖT0?,  eiblvai  öuY\i  T^yovev,  öX\r\  bi  itepl  yitvo|u^vujv,  ötiy\i  fiTveTai,  äX.Xri 
bi  ÖTirii  öv  KciXXiaTa  -fivoxTO  tö  lafiiruj  YtTOvö?,  dXX'  f]  aiiri^. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  145 

Tugenden  pflegen,  als  unsere  Ahnen  sie  gepflegt  haben  und 
spätere  Geschlechter  sie  pflegen  werden,  wir  mögen  auch  eine 
andere  Vorstellung  von  der  Tugend  haben,  als  jene  sie  gehabt 
haben  und  diese  sie  dereinst  haben  werden.  Daß  wir  auch 
nur  von  verschiedenen  Vorstellungen  der  Tugend  und  ver- 
schiedenen Tugenden  sprechen  können,  das  setzt  eine  Erkennt- 
niseinheit voraus,  den  Begriff"  der  Tugend  selbst,  durch  den 
allein  sich  auch  die  verschiedenen  Vorstellungen  von  der  Tugend 
eben  doch  als  Vorstellungen  von  der  Tugend,  die  verschiedenen 
Tugendhandlungen  eben  als  Tugendhandlungen  charakterisieren 
lassen;  und  in  bezug  auf  den  das  einzelne  Verschiedene  doch 
auch  ein  selbiges  ist,  so  daß  umgekehrt,  «in  bezug  auf  diesel- 
bigen  Dinge  auch  dieselbige  Erkenntnis  sowohl  das,  was  sein 
wird,  wie  auch  das  Werdende  und  Gewordene  versteht».^  Denn 
das  «Werdende  selbst  wird  nicht  deshalb,  weil  es  ein  Wer- 
dendes ist,  sondern  weil  es  wird,  ist  es  ein  Werdendes».^  Wie 
also  alles,  was  überhaupt  wird,  im  Begriffe  des  Werdens 
schlechthin  verankert  liegt,  so  muß  alles,  was  dem  Werden 
in  einer  bestimmten  Weise  angehört,  auch  in  einem  in 
sich  einheitlichen  Begriffe  gedacht  werden,  um  in  seiner  eigenen 
Bestimmtheit  begriffen  werden  zu  können.  Ganz  und  gar  den 
Bahnen  des  Sokrates  folgend,  eröffnet  Piaton  hier  doch  schon 
ein  ganz  neues  Ziel.  Er  wandelt  den  Weg  des  Sokrates,  aber 
dessen  Wegziel  ist  nicht  auch  schon  das  seine.  Ihm  erschließen 
sich  neue  Fernen.  Der  sokratische  Teil  seines  Weges  aber  hat 
uns  selbst  allmählich  gerade  durch  diejenigen  Gedankengänge 
hindurchgeführt,  die  unser  spezielles  Problem  bezeichnen.  Wir 
stehen  in  seinem  Zentrum.  Die  Fortsetzung  des  Weges  wird 
uns  nun  auch  der  Lösung  zuführen,  die  es  bei  Piaton  gefunden. 
3.  Das  aber  ist  zunächst  das  für  unsere  Aufgabe  bedeut- 
same erste  Resultat  des  Platonischen  Denkens,  daß  sie  aus  dem 
Begriffe  der  Erkenntnis  der  Erkenntnis  nicht  nur  ganz  all- 
gemein  das   Erkenntnisproblem  im  Sinne   der  Erkenntnislehre 

•  Ebenda  199a:    ircpi  töiv   aOxuiv  Tr]v  aOxnv   ^inaTrmi-iv   Kai  ^öo|a^vujv 
Kttl  YiTvoji^vojv  Kai  y^TOVötujv  diraieiv. 

^  Eutypbron.  10  c:    oux  öti  YiTvöjaevöv  dcTTi,  ^Ifveiax,  äW  ÖTi  -fi-fverax. 
YiTVÖ|Li€vöv  iaxiv. 

Bauch  ,  Das  Substanzpioblcm.  10 


146  6.  Kapitel. 

entrollt,  sondern  auch  die  Forderung  eines  Bleibenden  im  Be- 
griffe trotz  allen  Wechsels  der  Auffassung  ergibt,  und  daß  da- 
mit, anfangs  freilich  nur  implizite,  das  Problem  des  Beharrlichen 
im  Wechsel  im  allgemeinen  Erkenntnisproblem  selbst  ver- 
ankert wird.  Das  ist  der  erste  logische  Ertrag  des  ursprüng- 
lich ethisch  gefaßten  Problems  der  Selbstbesonnenheit.  Ihre 
ethische  Bestimmung  bleibt,  aber  sie  übernimmt  zugleich  eine 
logische  Funktion.  Und  diese  führt  in  den  einzelnen  ethischen 
Fragestellungen  zum  Begriffe,  der  die  allgemeine  Grundlage 
des  Wertes,  der  Bedeutung  und  Geltung  des  Einzelnen 
darstellt  und  als  solche  aller  zeithchen  Genesis  entrückt  wird. 
Damit  kündigt  sich  aber  das  für  den  ganzen  Piatonismus  über- 
haupt wie  für  unser  spezielles  Problem  insbesondere  so  bedeut- 
same und  eigenartige  Verhältnis  des  Ethischen  und  des  Lo- 
gischen schon  an,  um  eine  kontinuierlich  fortschreitende  Ver- 
tiefung zu  entfalten.  Zwar  durften  wir  den  Hauptertrag  bisher 
als  einen  rein  logischen  ansprechen,  und  behaupten :  der  ethische 
Inhalt,  demgegenüber  der  logische  fast  nur  als  Form  der 
Darstellung  erschien,  läßt  sich  umgekehrt  viel  eher  als  Ein- 
kleidungsform des  eigentlich  logischen  Gehaltes  ansehen,  sofern 
man  nicht  auf  die  Darstelluugsform,  sondern  auf  den  in  ihr 
dargestellten  Gehalt  achtet.  Diese"  Behauptung  brauchen  wir 
keineswegs  aufzugeben.  Aber  je  mehr  sich  auch  schon  in  der 
ersten  Epoche  Piatons  das  Bewußtsein  durchringt,  daß  die  Be- 
griffe nicht  bloß  etwa  allgemeine  Meinungen,  sondern  allgemein- 
gültige Wert-  und  Bedeutungsgrundlagen  für  alle  faktische 
Meinungen  sind,  wenn  sie  nicht  bloß  faktisch,  sondern  richtig 
sein  sollen,  desto  deutlicher  wird  es  auch,  daß  der  logische 
Gehalt  wieder  in  einen  ethischen  Gehalt  einbezogen  wird;  zwar 
nicht  in  einen  ethischen  Gehalt  unter  anderen  ethischen  Ge- 
halten, sondern  unter  einen  höchsten  ethischen  Gehalt,  der  zu- 
nächst freilich  unter  dem  Namen  des  Guten  bloß  angedeutet 
war.  Er  wird  sich  mehr  und  mehr  als  die  eigentliche  Substanz 
nicht  bloß  des  Platonischen  Denkens,  sondern  auch  in  dem 
umfassenden  logischen  Sinne,  den  ihm  dieses  Denken  zu  geben 
weiß,  entfalten.  Darin  liegt  die  Kontinuität  der  sys^tematischen 
Kraft  eben   dieses   Denkens,   daß   es  unter   scheinbar  mannig- 


Der  Substaiizbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  147 

facher  Form  ein  einheitliches  Thema  variiert,  und  daß  jede 
Variation  zugleich  einen  Fortschritt  in  der  Lösung  der  Aufgabe 
bezeichnet,  deren  Programm  sie  mit  dem  Namen  des  Guten 
bezeichnet.  Was  an  ethischem  Gehalte  für  den  Anfang  sich 
lediglich  als  Form  dem  logischen  Gehalte  gegenüber  betrachten 
ließ,  das  waren  bloß  einzelne  Tugendbegriffe.  Das  Gute  über- 
haupt, das  dabei  im  Hintergrunde  bheb,  bezeichnet  darum  doch 
schon  den  letzten  und  tiefsten  Gehalt.  Aber  es  bezeichnet 
ihn  nur  für  den  sokratischen  Piaton,  so  daß  für  den  ersten 
Blick  das  Logisch-Theoretische  ganz  im  Dienste  des  Ethisch- 
Praktischen  steht,  genauerer  Prüfung  aber  auf  dieser  Stufe  des 
Denkens  sich  gerade  ein  rein  logisch-theoretischer  Ertrag  ergibt. 
Aber  was  für  diese  Entwickelungsstufe  Piatons  zunächst  nur 
als  Bezeichnung  erscheint,  das  ist  doch  für  die  folgenden  pro- 
grammatisch, und  jetzt  wird  der  Begriff  zum  Wegweiser  der 
Durchführung  des  Programms. 

Praktisch-ethisch  bleibt  die  Grundtendenz  des  Platonischen 
Philosophierens,  auch  wenn  das  Logische  streckenweise  ganz 
zu  dominieren  scheint.  Weil  Tugend  das  Wissen  der  Selbst- 
besonnenheit ist,  ist  sie  aber  immer  zugleich  logisch  gestimmt. 
Wie  die  Erkenntnis  an  den  allgemeingültigen  Begriff  verwiesen 
und  durch  ihn  in  ihrem  Werte  und  ihrer  Bedeutung  gegenüber 
der  bloß  psychologischen  Auffassung  gegründet  war,  so  wird  die 
Erkenntnis  der  Tugend,  des  Guten,  zum  Unterschiede  von  dem 
bloß  Angenehmen  (eiepov  ....  tö  f]b\)  toö  dTa^oö)^  an  allgemein- 
gültige Ordnungen  verwiesen.^  Diese  Ordnungen  aber  sind 
nicht  etwa  bloß  seelische  Zustände.  Es  sind  Wertordnuogen 
und  Vorschriften  für  die  Seele,  auf  Grund  deren  Befolgung  sie 
selbst  erst  gut  und  recht  werden  kann.  Gerechtigkeit  und 
Besonnenheit  kommt  erst  in  die  Seele  hinein^,  wenn  sie  nach 
jenen  höheren  Ordnungen   strebt  und  lebt.     Was  in  der  Seele 


*  Gorgias  497  a,  vgl.  auch  501  b  und  Phaidros  238  a. 

2  Ebenda  504  d:  Tai(;  bi  tfit;  \\>v\r\q  ToiSeöi  re  koI  Koaia/iaeai  v6|ai|növ  te 
Kai  vö|uoq,  ööev  Kai  vömiaoi  Y'Tvovrai  koI  KÖa|.iioi  •  raOra  b'  'Iotx  hiKaxoavvr\ 
xe  Kai  auuqppoaüvri. 

3  A.  a.  0.,  504  e :  biKaioaüvri  ]u^v  ^v  raii;  MJuxai«;  yiTvitoi  .  .  .  Kai 
öuuqppoaüvri  pAv  i'^fifvr]TO.i. 

10* 


148  6.  Kapitel. 

auch  immer  Gutes  entstehen  mag,  daß  dieses  gut  ist  und  einen 
Wert  besitzt,  das  ist  gegründet  in  jenen  höheren  Ordnungen, 
durch  die  erst  «die  Tugend  eines  jeden  gerüstet  und  gefestigt» 
wird^ ;  und  die  darum  über  das  bloße  Entstehen  in  der  Seele 
hinausliegen. 

Sehr  bedeutsam  aber  ist  es,  daß  der  Begriff  der  «Ordnung> 
nicht  nur  zur  ethischen  Wertgrundlage  gemacht  wird,  sondern 
auch  als  das  Konstituens  der  Welt,  des  Kosmos  erkannt  wird. 
Zwar  geschieht  das  zunächst  bloß  vergleichsweise,  aber  dieser 
Vergleich  ist  um  so  bedeutsamer,  als  er  im  Hinblick  auf  die 
Mathematik,  insbesondere  auf  die  geometrische  Gleichheit  voll- 
zogen wird.  Wie  die  Seele,  so  führt  Piaton  aus,  der  Ordnung 
bedarf,  so  kann  auch  das  All,  der  Kosmos  (Kai  tö  öXov  toüto  .... 
k6(T|uov),  nur  durch  Ordnung  bestehen.  Es  ist  besonders  die 
geometrische  Gleichheit,  die  hier  soviel  bei  Göttern  und  Men- 
schen vermag  (öti  v]  laöiri?  Y^'^M^fpiKrj  xai  ev  ^eoxq  Kai  ev  dv- 
dpujTTOK;  juefa  bOvaiai).^ 

Hier  ist  der  Begriff"  des  Begriff's  zu  dem  der  Ordnung  ver- 
tieft und  hat  recht  eigentlich  erst  die  Bedeutung  der  Idee  er- 
langt. Die  Ideen  sind  Ordnungen.  Und  in  dem  Begriff  der 
Ordnung  ist  das  Bleibende  in  allem  Wechsel  schon  erhebhch 
näher  bestimmt,  als  ursprünglich  "in  der  mehr  formalen  Be- 
trachtung des  Begriffs  als  solchen.  Allein  wenn  die  Ideen  als 
bleibende  Ordnungen  auch  Substanz  sind,  so  kann  das  nicht 
heißen,  daß  sie  substantielle  Dinge  sind.  Denn  die  Ordnungen 
der  Dinge  können  nicht  wieder  Dinge  sein.  Und  weiter:  wenn 
sich  so  auch  sagen  läßt,  daß  die  Ideen  Substanz  sind,  so  ist 
doch  die  Idee  der  Substanz  innerhalb  der  Ideen  überhaupt 
eben  selbst  eine  Idee.  Diese  als  solche  ist  aber  noch  nicht 
gewonnen.  Bis  zu  ihrer  Ermittelung  führt  ein  weiter  Weg. 
Er  aber  geht  direkt  durch  das  Erkenntnisproblem  hindurch, 
ja  er  nimmt  von  ihm  her  seinen  Ausgang.  Von  vornherein  — 
das  war  der  für  unser  Problem  so  bedeutsame  logische  Er- 
trag der    Untersuchung    schon    der    ersten   Anfänge  des  Plato- 

^  A.  a.  O.,  506  e :  xciEei  cipa  xexaYM^vov  Kai  KCKOöfiriiLi^vov  iar'w  x]  äpeif] 
2  A.  a.O. ,508  a. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  149 

nischen  Denkens  —  wurde  die  begriffliche  Erkenntnis  auf  ein 
Bleibendes  eben  im  Begriffe  gestellt  und  so  allem  Wechsel  des 
Geschehens  entrückt,  indem  es  keine  besondere  Erkenntnis  für 
vergangenes,  gegenwärtiges  und  künftiges  Geschehen  und 
Werden  der  Dinge  geben  sollte,  sondern  eine  und  ebendieselbe, 
durch  die  sich,  was  wird,  was  werden  wird  und  geworden  ist, 
in  gleicher  Weise  verstehen  lassen  muß,  weil  etwas  ja  selbst 
nur  dadurch  ein  Werdendes  ist,  weil  es  wird.^  Die  Möglichkeit 
der  Erkenntnis  war  somit  auf  ein  Bleibendes  im  Begriff  ver- 
wiesen. Für  die  ethische  Form  der  Erkenntnis  als  der  Selbst- 
besonnenheit hat  sich  das  Bleibende  im  Begriff  zu  bleibenden 
Ordnungen  vertieft;  weil  die  Selbstbesonnenheit  aber  die  Grund- 
form der  Erkenntnis  ist,  die  also  immer  ethisch  tendiert  bleibt, 
muß  der  Begriff  der  bleibenden  Ordnung  zur  letzten  Grundlage 
der  Erkenntnis  überhaupt  werden.  Damit  aber  kann  das  Ver- 
hältnis des  Bleibens  und  Wechsels  nur  aus  dem  Problem  der 
Erkenntnis  selbst  ermittelt  werden.  Das  von  vornherein  invol- 
vierte Problem  der  Erkenntnis  der  Erkenntnis,  d.  h.  der  Erkennt- 
nislehre, muß  sich  nun  in  die  ausdrückliche  Frage,  was  denn 
eigentlich  Erkenntnis  selbst  ist^,  zuspitzen.  Allein  die  Frage 
nach  dem  Begriff  der  Erkenntnis  kann  nicht  entschieden  werden, 
ehe  nicht  die  Paradoxie  alles  erkennenwollenden  Fragens  und 
Suchens  aufgelöst  ist.  Diese  Paradoxie  aber  liegt  darin,  daß 
man  eigentlich  gar  nicht  suchen  könne,  nämlich  weder,  was 
man  weiß,  noch,  was  man  nicht  weiß;  was  man  weiß  deshalb 
nicht,  weil  man  es  weiß  und  darum  des  Suchens  nicht  bedarf; 
was  man  nicht  weiß  deshalb  nicht,  weil  man  ja  nicht  weiß, 
was  man  suchen  soU.^  Die  mathematische  Analysis  zeigt  den 
Weg  zur  Auflösung  der  Schwierigkeit.  Sie  lehrt,  wie  man  et- 
was suchen  kann,  gerade  ohne  daß  man  es  weiß,  indem  man 
sich  zuerst  überzeugt,  daß  man  etwas  nicht  weiß,  was  man  zu 


^  Siehe  oben  S.  144  f.  und  die  dort  zitierten  Stellen  aus  Ladies  198  d, 
199  a  und  Euthyphron  10  c. 

2  Theaitetos  145  e:  duiarriuri,  öti  iroxe  TU-fX^vei  öv.    Vgl.  auch  hier  146  c. 

5  Menon  80  e:  ibg  oük  äpa  ^axi  Z^rjTeiv  dv&pdnruui  eure  ö  olbev,  eure  8 
\xf\  Olbev.  ouxe  y<^P  TC  ö  olbe  Crixoi  ■  (olbe  ^dp  ■  Kai  oüb^v  bei  xüuiYe  xoioüxuui 
Zriiriaeujc,)  oöxe  8  |ari  oibev,  oübe  y^P  olbev  ö,  xi  Z^rjxriaei. 


150  n.  Kapitel. 

wissen  glaubte  und  zu  suchen  strebte,  was  man  zu  wissen 
glaubte,  ohne  es  zu  wissen,  ehe  man  sich  überzeugte,  daß  man 
es  nicht  wisse  und  darum  in  Verlegenheit  geriet,  und  sich  da- 
nach sehnte,  es  zu  wissen.^  Allein  aus  dem  Problem  also  wird 
hier  die  Erkenntnis  ermittelt,  indem  einer,  ohne  daß  ein  anderer 
ihn  belehrt,  sondern  allein  dadurch,  daß  er  ihn  ausfragt,  wissen 
wird  und  er  wird  die  Erkenntnis  aus  sich  selbst  hervorgeholt 
haben.^  In  dem  Nicht- Wissenden  müssen  darum  richtige  An- 
sichten von  dem  sein,  was  er  nicht  wußte^,  und  deren  er  sich 
nur  zu  erinnern,  die  er  nur  aus  sich  selbst  herauszuholen 
brauchte,  um  sie  sich  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  so  daß  dieses 
Aus-sich-selbst-Hervorholen  und  alles  Lernen  und  Suchen  nichts 
anderes  als  ein  Sich-Erinnern  ist.^  Das  Lernen  im  äußerlichen 
Sinne  ist  damit  nun  hinsichtlich  der  Möglichkeit  der  Erkennt- 
nis überhaupt  gänzlich  überwunden.  Das  «In-sich-selbst- 
Blicken»,  von  dem  früher  die  Rede  war,  wird  jetzt  als  ein  «Aus- 
sich-Hervorholen »  genau  bestimmt.  Die  Möglichkeit  dieser 
Selbsterinnerung  und  dieses  «Aus-sich-selbst-Hervorholens»  aber 
vermag  Piaton  nicht  anders  zu  erklären  als  durch  eine  prä- 
existenziale  Erkenntnis  der  Seele  und  damit  durch  deren  Un- 
sterblichkeit.^ Wenn  er  den  Sokrates  im  Dialog  auch  ja  nicht 
eine  nähere  Bestimmung  dieser  präexisteuzialen  Kenntnisnahme 
verfechten  lassen  will,  so  läßt  er  ihn  doch  für  den  Kern  der 
Lehre  von  der  Unsterblichkeit  mit  Wort  und  Tat  (Kai  Xöyuji 
Kai  epYuui)  einstehen.^  Mit  dem  Unsterblichkeitsgedanken  setzt 
aber  eine  doppelte  Betrachtungsweise  ein,  die  für  das  ganze 
Platonische  Denken  bestimmend  wird  und  bleibt,  und  die  für 
unser  spezielles  Problem  selbst  eine  doppelte  Tendenz  involviert. 
Einmal  hat  der  Seelenbegriff  eine  rein  methodologische  Bedeu- 

1  A.  a.  O.,  84  c. 

*  Ebenda  85  d:  oükoöv  oöbevö(;  biböEavToc,  äW  ^pujrrjaavToq,  ^iri- 
oxriaeTai,  dvoXaßüjv  amöc,  il  aöxoö  Tiqv  imaT^ixr]v. 

'  Ebenda  c:  Tilii  oiik  eiböxi  äpa  Trepi  (Lv  ä  [xx]  eiiir\\  ^veiöiv  AXriöeTq 
böHai  Trepi  toOtuuv  Ojv  oök  olbev. 

"•  Ebenda  d:  tö  hk  dva\a|ußdv€iv  aOröv  ^v  auxüji  (?iTi(JTri|uiriv,  oOic  (iva|Lii|u- 
vrjöKCiv  ^ariv;  —  ttüvu  ye.     Vgl.  auch  81  d. 

6  Ebenda  86a/b:  äöävaTo;  öv  n  \\ivxr\  eir];  s.  bes.  Phaidon  92  d/e. 

6  Ebenda  c. 


Der  Subätanzljegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  151 

tung  und  will  nichts  anderes  besagen,  als  die  Einheit  der  Er- 
kenntnis im  Bewußtsein,  so  daß  es  für  diese  Erkenntnis  keines 
besonderen  Organes,  wie  für  die  Empfindungen  bedarf  (oiib' 
eivai  toioOtov  ouöev,  louToiq  öpYOiVov  i'biov  ujCTtep  eKeivoiq)^,  auf 
der  anderen  Seite  ist  sie  ein  unsterbhches  Wesen,  das  vor  dem 
Eintritt  in  den  Leib  (das  Wann  und  Wie  bleibt  dahingestellt) 
die  Ideen  geschaut.  Das  dvaXajußdveiv,  das  Aus-sich-Hervor- 
holen,  hat  darum  selbst  das  eine  Mal  eine  rein  methodologische, 
das  andere  Mal  eine,  weil  auf  die  metaphysische  Präexistenz 
zurückweisende,  selbst  metaphysische  Bedeutung.  Dem  ent- 
spricht genau  eine  doppelte  Bedeutung  auch  der  Ideen.  Das 
eine  Mal  sind  sie  Ordnungen  im  methodologischen  Sinne,  das 
andere  Mal  wirkliche  Ordnungen  im  metaphysischen  Sinne. 
Das  ist  der  von  Piaton  bereits  im  Menon  erreichte  und  im 
Prinzip  nie  wieder  verlassene,  später  nur  vertiefte  und  erweiterte 
Standpunkt,  den  er  auch  da  innehat,  wo  er  die  methodologische 
Bedeutung  schärfer  hervorzukehren  Gelegenheit  hat.  Und  als 
der  tiefste  und  eigentlichste  Sinn  des  Platonischen  Denkens 
enthüllt  sich  mehr  und  mehr  die  Überzeugung,  daß  die  metho- 
dologische Bedeutung  der  Ideen  selbst  nur  möglich  ist  auf 
Grund  ihrer  metaphysischen,  in  der  sie,  den  ewig  bleibenden 
und,  um  ein  modernes  Wort  von  Otto  Liebmann  auf  sie  anzu- 
wenden, «weltbeherrschenden,  weltumfassenden  ordo  ordinans»^ 
darstellen:  die  absolute  Weltsubstanz.  Insofern  aber,  wie  schon 
angedeutet,  die  Substanz,  die  ouaia,  selbst  eine  Idee  ist,  muß 
sich  mit  ihr  zugleich  der  Begriff  der  Idee  selbst,  das  bleibende 
Sein  selbst  enthüllen. 

Nur  auf  Grund  eines  bleibenden  Seins  ist  die  Erkenntnis 
selbst  möglich.  Nicht  nur  das  Aus-sich-selbst-Hervorholen- 
Können  der  Erkenntnis  setzt  dieses  bleibende  Sein  metaphysisch 
voraus,  sondern  dieses  ist  auch  die  logische  Voraussetzimg  der 
Erkenntnis  überhaupt.     Nur   auf  den  Wechsel  verwiesen  wäre 

1  Theaitetos  185  e;  vgl.  Natorp,  a.  a.  0.,  S.  109  f.,  wo  freilich  das  metho- 
dologische Moment  ausschließlich  betont  wird. 

'^  Otto  Liebmann,  Gedanken  und  Tatsachen,  I,  S.  172;  vgl.  auch  den 
Abschnitt  «Piatonismus  und  Darwinismus»  in  der  «Analysis  der  Wirklich- 
keit», S.  317tf. 


152  0.  Kapitel. 

alle  Erkenntnis  unmöglich.  Das  Verhältnis  des  Beharrens 
zum  Wechsel  verschlingt  sich  geradezu  zura  Problem  der  Er- 
kenntnis. Der  Wechsel  und  das  Geschehen  soll  nicht  geleugnet 
werden,  aber  wären  wir  auf  ihn  allein  gestellt,  so  gäbe  es  nicht 
etwas  in  sich  Eines  und  an  und  für  sich  Bestehendes,  sondern 
immer  nur  Etwas  für  Etwas,  wodurch  aber  alles  Sein  ausge- 
stoßen wäre.^  Wir  wären  auf  die  Empfindung  verwiesen.  Er- 
kenntnis müßte  Empfindung  sein,  ja  alles  Sein  müßte  sich  in 
Empfindung  auflösen.  Weil  aber  die  Empfindung  als  solche 
ohne  ein  bleibendes  Sein  nie  selbst  zum  Sein  gelangte,  wäre 
die  Empfindung  weder  überhaupt,  noch  auch  wäre  sie  Erkenntnis. 

Piaton  stellt  hier  Heraklit  und  Protagoras  in  eine  sehr  be- 
denkliche Nähe.  Er  übersieht,  daß  Heraklit  im  XÖYog,  nicht 
in  der  ai(J&n<7i?  <^ie  Erkenntnis  verbürgt  hielt,  wie  nahe  er  also 
seinem  eigenen  Denken  steht.  Immerhin  aber  greift  er  das 
Heraklitische  Problem  auf,  aber  freilich  in  einer  Form,  die 
Protagoras  diesem  nach  Piatons  Darstellung  erst  gegeben,  also 
in  der  Form  des  Relativismus.  Für  Herakht  hatte  das  Ge- 
schehen selbst  aber  ein  vom  Xöyo<;  bestimmtes  Sein.  Erst  Pro- 
tagoras, das  ist  dessen  eigene,  nicht  Heraklits  philosophische 
Art,  «reißt  das  Sein  heraus»  aus  dem  Geschehen,  und  damit 
stößt  er  seinen  eigenen  Standpunkt  um.  Das  ist  es,  was  Piaton 
erhärten  muß,  daß  man  ohne  ein  Sein  auch  von  keinem  Ge- 
schehen sprechen  könne,  daß  es  ohne  ein  Beharrliches  auch 
keinen  Wechsel  geben  könne,  der  sich  irgendwie  in  der  Er- 
kenntnis fassen  ließe. 

Denn  wenn  nichts  beharrt,  dann  könnten  wir  zunächst  gar 
nicht  von  diesem  oder  jenem  sprechen,  sondern  nur  immer  von 
einer  Wirkung  auf  uns,  wie  wir  es  empfinden.  Ein  mit  sich 
selbst  Identisches,  an  und  für  sich  Eines  gäbe  es  nicht,  sondern 
immer  nur  ein  Etwas-für-Et was- Werden.  Man  könnte  nicht 
sagen,  daß  etwas  sich  so  verhalte  (outuu  exeiv),  sondern  immer 
nur,  daß  es  so  werde  (outuu  YiTved&ai).  ^  Aber  dieses  So- Werden 
wäre  selbst  kein  Werden  an  sich,    sondern  nur  ein  Erscheinen 


*  Theait.  157a/b:  oOb^v  elvai  gv  aÜTÖ,  koö'  oütö,  ö.X\d  rivi  äei  '[\yvea- 
Oai,  TÖ  b'  eTvai  uavraxödev  d^aipex^ov. 
2  A.  a.  0.,  153  a. 


Der  Substanzhegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  153 

vermittels  der  Empfindung.  Dieses  «Erscheint»  wäre  ein  bloßes 
«Empfundenwerden j'.^  Alles  Werden  ohne  ein  Sein  wäre  in  ein 
Empfundenwerden  aufgelöst.  Dann  aber  wäre  in  der  Tat  der 
Mensch  das  Maß  aller  Dinge. ^  Immer  aber  hätte  dann  der 
Relativismus,  je  radikaler  er  wäre,  desto  mehr  noch  zu  viel 
Bleibendes  behauptet,  da  einer,  der  in  seiner  Rede  überhaupt 
etwas  Beharrliches  setzt,  leicht  überführt  werden  kann,  wie  wenn 
man  etwa  sowohl  vom  Teil,  als  auch  von  dem  aus  vielem  Zu- 
sammengesetzten reden  muß,  durch  welches  Zusammenfassen 
man  etwas  Mensch  oder  Stein  oder  jegliches  einzelne  Lebe- 
wesen und  seine  Gattung  nennt.^  Also  wäre  hier  selbst  schon 
etwas  Bleibendes  durch  ein  Zusammenfassen  gewonnen  und 
vorausgesetzt.  So  sehr  es  sich  hier  auch  explizite  nur  um  eine 
Widerlegung  des  Relativismus  handelt,  so  ist  es  doch  von  der 
allergrößten  Bedeutung,  daß  wenigstens  implizite  hier  schon  in 
diesem  «Zusammenfassen»  die  idEig  im  Gorgias  jetzt  an  eine 
Ordnung  des  Zusammenfassens  antizipierend  ankhngt.  Und 
wenn  das  auch  zunächst  nur  eine  Antizipation  ist,  so  liegen 
in  dem  Gedanken  doch  auch  schon  sowohl  die  formalen,  wie 
die  materialen  Widersprüche  und  Unmöglichkeiten,  an  denen 
aller  Relativismus  krankt,  angedeutet.  Und  indem  Piaton  sie 
nun  ausdrücklich  aufdeckt,  widerlegt  er  im  Prinzip  allen  und 
jeden  Relativismus,  wie  verschieden  er  sich  auch  im  Ein- 
zelnen gerieren  mag. 

Formal  macht  Piaton  gegen  den  Relativismus  geltend,  was 
seitdem  in  jeder  Auseinandersetzung  mit  dem  Relativismus  aus- 
geführt worden  ist,  und  was  mit  bleibendem  Rechte  immerdar 
gegen  diesen  auszuführen  ist:  «Wenn  die  Wahrheit  des  Pro- 
tagoras  (gemeint  ist  zunächst  des  Protagoras  Schrift)  selbst 
wahr  ist»*,    so    bemerkt   Piaton,    dann    haben  alle  Meinungen 


*  Ebenda  152  c:  Tö  bl  ^e  q)aiveTai  aia9dvea9ai  iaxiv. 
»  Ebenda  152  a. 

^  Ebenda  157  b:  tlji;  i.dv  iiq  a-rriörii  tüöi  Xöyuji,  eu^XeYKTOi;,  ö  toioOto 
iroiiijv.  bei  bi  koi  Kard  tö  in^poq  oütuu  \iye.iv  icai  irepi  uoXXtüv  ddpoiaö^vTuuv, 
ODi  bf]  ccdpoiönaTi  ävapoiTTOv  xe  TiöevToi  Kai  Xidov  Kai  ^Kaarov  ZdJov  tc 
Kai  eiboq. 

*  Theait.  161  e. 


154  G.  Kapitel. 

gleich  recht  und  sind  gleich  wert.  Darum  aber  «muß  er  auch 
zugeben,  daß  die  Meinung  derjenigen,  die  seiner  eigenen  ent- 
gegengesetzt ist  und  diese  seine  eigene  für  falsch  hält,  selbst 
richtig  ist».  Darin  aber  hegt  zugleich  das  Zugeständnis,  daß 
die  relativistische  Ansicht  selbst  falsch  ist  (oukouv  thv  auioO 
äv  vpeubfj  cruYXuupoi).^  In  der  Tat,  wenn  wir  auf  die  Empfin- 
dung verwiesen  bleiben,  wie  der  Relativismus  will,  so  sind  alle 
auf  der  Empfindung  basierten  Meinungen  gleich  wert.  Jede  ist 
so  richtig  wie  ihr  kontradiktorischer  Gegensatz,  und  darum 
ist  sowohl  jede  wahr  und  ihr  Gegensatz  falsch,  aber  weil  dieser 
doch  auch  eine  Meinung  und  als  solche  wahr  ist,  so  ist  sein 
erster  Gegensatz  auch  falsch.  Und  so  ist  jede  Meinung  sowohl 
wahr  wie  falsch.  Darum  aber  stößt  der  Relativismus  nicht 
nur  alle  ihm  entgegengesetzten  Meinungen  um,  sondern,  weil 
er  diese  doch  auch  wieder  als  gültig  anerkennen  muß,  «er 
selbst  auch  sich  selbst»  (dvaipeTriJUV  Kai  ambc,  auTov).^  Damit  hat 
er  sich  selbst  aufgehoben. 

So  bedeutsam  diese  formale  Widerlegung  ist,  noch  bedeut- 
samer sowohl  unter  allgemein  systematischem  Gesichtspunkte, 
wie  für  unseren  speziellen  Zusammenhang  ist  die  inhaltliche 
Widerlegung. 

In  seiner  ganzen  Strenge  genommen  erkennt  der  Rela- 
tivismus, wie  schon  bemerkt,  «nicht  ein  Einheithches  an  und 
für  sich  Sein»  (ev  [ir]hev  Kaö'  auTÖ  eivai)  an  und  kann  keines 
anerkennen,  da  ja  in  der  Empfindung  nichts  bleibt  (fievei),  son- 
dern alles  fließt  und  wechselt  (peei  —  ^eraßdXXei).  ^  Darum  aber 
darf  er  streng  genommen  nun  auch  gar  nicht  mehr  sagen,  nicht 
bloß,  daß  etwas  sich  so  verhalte,  sondern  jetzt  auch  nicht  ein- 
mal, daß  es  so  werde.  Denn  gibt  es  kein  einheitliches  Sein, 
so  gibt  es  auch  keine  einheitliche  Bestimmtheit  (TToiOTri?)*  in 
sich.  Man  kann  also  auch  die  Empfindung  nicht  einmal  be- 
stimmen, denn  das  hieße  ja  sagen,  was  sie  ist.  «Man  darf  also 
nicht  mit  größerem  Rechte    etwas    ein    Sehen    nennen   als  ein 


*  Ebenda  171  a/b. 
2  Euthydem  286  c. 
»  Theait.  18^  b. 

*  Ebenda  181  a. 


Der  Substanzbegriff'  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  155 

Nicht-Sehen,  und  ebenso  mit  jeder  Empfindung  sonst,  da  ja 
alles  auf  alle  Weise  sich  bewegt.»^  Wenn  darum  alle  Erkenntnis 
in  der  Empfindung  beschlossen  wäre,  so  wäre  auch  die  Er- 
kenntnis etwas,  das  nicht  mehr  und  nicht  eigentlicher  Erkenntnis 
wäre  als  Nicht  Erkenntnis.^  Übel  wäre  es  daher  um  unsere 
Erkenntnis  bestellt,  wenn  die  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen 
in  uns,  wie  in  hölzernen  Pferden,  nur  nebeneinander  läge 
und  sich  nicht  in  eine  einheitliche  Idee  zusammenfügte,  mag 
man  es  nun  Seele  oder  sonstwie  nennen,  womit  wir  auch 
unsere  Organe  selbst  erst  wahrnehmen  können  und  das  Wahr- 
nehmbare überhaupt.^ 

Wie  sehr  sieh  also  auch  immer  der  Relativismus  auf  das  Emp- 
finden und  Werden,  das  ja  selbst  im  Empfundenwerden  be- 
schlossen sein  müßte,  zu  beschränken  suchen  mag,  wenn  er 
auch  nur  von  Empfundenwerden  redet,  so  setzt  er  eine  bleibende 
Bestimmtheit  voraus,  ohne  die  er  ja  nicht  einmal  das  Emp- 
fundenwerden als  Empfundenwerden  bestimmen  könnte.  Mag 
er  also  auch  immerhin  sagen,  es  sei  alles  so,  wie  es  mir  oder 
dir  erscheinf^,  so  üegt  in  diesem  «so»  eine  Bestimmtheit,  eine 
TTOioTri?  ausgedrückt,  ohne  die  die  Empfindung  nicht  einmal 
zum  Sein  der  Empfindung,  zum  Empfindung-Sein  gelangt.  Für 
sich  allein  genommen  ist  sie,  darin  hat  der  Relativismus  durch- 
aus recht,  unfähig,  zum  Sein  zu  gelangen,  wie  sie  ja  nicht  fähig 
ist,  zur  Wahrheit  zu  gelangen,  eben  weil  sie  nicht  einmal  zum 
Sein  gelangt.^  Indem  sie  aber  auch  nur  als  Empfindung  an- 
gesehen wird,  verweist  uns  die  Empfindung  selbst  an  eine 
höhere  Instanz,  von  der  aus  wir  sie  aber  als  Empfindung  be- 
urteilen   (xpiveiv)   können.     Je    konsequenter    der   Relativismus 


*  Ebenda  182  e :  oöxe  äpa  6päv  irpocJpriT^ov  ti  iiiäWov  f\  \xf\  6päv,  oöxe 
Tiv'  äWriv  aiGöriöiv  f]  \xr\,  -rrdvTUüv  ye  irdvTuu^  Kivou|aevuuv. 

-  Ebenda:  oubdv  äpa  ^-rriOTniativ  fiiäXXov  f;  uq  ^TTiöTriiuriv. 

'  Ebenda  184d:  Aeivöv  fäp  ttoö  (d)  irai),  €i  iroWai  xiveq  ^v  f][x\v  üja-rrep 
dv  bupeioK;  iiTTroii;,  aiaör|öei?  ^Yt^äörivTai,  äk\a  nr\  ei?  iiilav  ibiav,  eire  H/uxnv 
eire  öti  bei  Ka\eiv,  irdvTa  xaOxa  Suvteivei,  ni  bid  toütujv  oTov  öpYÖvuuv 
aiööavöiaeöa  öaa  aiaörjTd. 

*  Theait.  152  a  und  in  fast  wörtlicher  Übereinstimmung  Kratylos  386  a. 

*  Theait.  186c:  ouk  . . . .  oiöv  xe  ouv  dXti^ctai;  xux^iv,  dJi  ^r\bi  oOaia?. 


156  (j.  Kapitel. 

verfährt,  um  so  schärfer  läßt  er  das  selbst  hervortreten  und 
um  so  konsequenter  muß  er  sich  selbst  aufheben.  Gerade  bei 
seiner  Leugnung  des  identischen  in  sich  einheitlichen  und  blei- 
benden Seins  muß  er  auch  die  Verschiedenheit  der  Sinnes- 
empfindungen behaupten,  z.  B.  «daß  es  unmöglich  ist,  das, 
was  man  durch  ein  Sinnesvermögen  wahrnimmt,  auch  durch 
ein  anderes  wahrzunehmen,  also  das,  was  man  durch  das 
Gehör,  nicht  durch  das  Gesicht,  und  was  durch  das  Gesicht, 
nicht  durch  das  Gehör ».^  Damit  urteilen  wir  aber  schon  über 
die  Sinnesorgane  selbst,  wir  denken  über  sie  und  etwas  von 
ihnen;  können  dieses  also  weder  durch  das  eine  noch  durch 
das  andere  empfunden  haben^;  wie  wenn  wir  denken  eben, 
daß  beide  sind^,  oder  daß  jedes  von  beiden  vom  anderen 
verschieden,  aber  gerade  darum  auch  mit  sich  selbst  dasselbe, 
also  identisch  mit  sich  ist*;  oder  daß  sie  beide  eben  zwei  sind, 
jedes  von  ihnen  aber  eines^;  oder  ob  sie  einander  ähnhch  oder 
unähnlich  sind.^  Kurz,  wenn  man  auch  nur  rücksichtlich  der 
Empfindungen  von  Sein  und  Nicht-Sein,  von  ÄhnUchkeit  und 
Unähnliehkeit,  von  Identität  und  Verschiedenheit,  von  Einheit 
oder  einer  anderen  Zahlenmäßigkeit  spricht',  so  sind  das  Be- 
stimmungen, die  nicht  etwa  selbst  empfunden,  sondern  gedacht 
werden,  die  also  über  die  Sphäre  der' bloßen  Empfindung  hinaus- 
liegen, und  für  die  es  nicht,  wie  für  die  Empfindungen  selbst 
wieder,  ein  besonderes  Organ  gibt^,  sondern  die  die  Seele  durch 


*  A.  a.  0.,  185  a:  ä  bC  iTi.pa<;  öuvclfieuj?  aiaödvci,  dbOvarov  eTvai  bi'  aX\r\c, 
toOt'  aJöö^adm,  oTov  ä  bi'  dKorjc;,  bi'  övijeuji;,  f)  ü  bi'  ö^jeuuc,  bi'  äKof)?.  —  Die 
spezifische  Energie  der  Sinnesorgane  ist  hier  deuthch  ausgesprochen. 

^  Ebenda:  ei  ti  irepi  d|nqpoT^piJUv  biavoei,  oük  ölv  y6  toO  dr^pou  öpYctvou, 
oüb'  au  biä  ToO  ^T^pou  Tcepi  äjucpoT^piuv  aiöddvoi  äv. 
'  Ebenda:  öti  duqpoT^puu  daröv. 

*  Ebenda:  öti  ^KÖTepov  ^Kor^pou  |li^v  ^repov  ^auTiui  bi  raÜTÖv. 
^  Ebenda:  öti  diaqpoT^puu  büo,  ^KcxTepov  bk  '4v. 

^  Ebenda:  eiTe  dvoinoluj  e'iTe  6|lioiuj  dWi'iXoi?. 

^  A.a.O.,  185  c/d:  oöafav  \lfe\<;  Kai  tö  |uiri  eivat,  Kai  6|noiÖT)iTa  Kai 
övo|ioiÖTriTa,  koI  toötöv  tc  Kai  tö  ^Tepov,  ?ti  bi  ?v  te  Kai  töv  äWov  dpiöjuöv 
Trepi  uOtiIiv. 

8  Ebenda  e:  odb'  eTvai  toioötov  obbiv  toütok;  öpYotvov  ibiov  löairep 
dK€lvoi(;,  vgl.  dazu  oben  S.  151. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  157 

sich  erkennt.^  Die  Härte  des  Harten  und  die  Weichheit  des 
Weichen  empfindet  man  freihch  nur  durch  das  Getast.  Allein 
das  Sein  von  beiden,  und  was  sie  sind,  und  ihre  Gegensetzung 
gegeneinander,  sowie  das  Sein  dieser  Entgegensetzung,  ver- 
sucht die  Seele  selbst  durch  Betrachtung  und  Vergleichung 
zu  beurteilen.^  Und  eben  dadurch  gelangen  die  Empfindungen 
selbst  erst  zur  Bestimmtheit,  zur  TTOioxriq  und  zum  Sein. 

Der  ewige  Wechsel  und  Wandel  der  Empfindung  ist  dem 
Relativismus  also  ohne  weiteres  einzuräumen.  Aber  je  kon- 
sequenter er  ihn  festhält  und  zum  Ausdruck  bringt,  um  so 
schärfer  führt  er  sofort  über  sich  selbst  hinaus.  Die  Empfin- 
dung kann  auch  nicht  einmal  als  Empfindung  gefaßt  werden, 
ohne  daß  von  ihr  eine  TTOioTri«;  gedacht  wird.  Sie  kann  nicht 
auch  nur  als  Empfindung  gedacht  werden,  ohne  im  Denken 
beurteilt  zu  werden.  Ihre  Bestimmtheit  als  Empfindung  wird 
also  erreicht  allein  durch  das  Denken,  und  zwar  kraft  gewisser 
Grundlagen  des  Denkens,  wie  Sein,  Identität,  Verschiedenheit, 
Zahlenmäßigkeit,  die  also  die  allgemeinsten  Grundlagen  der 
Wiebeschaff'enheit  auch  schon  der  Empfindung  sind,  insofern 
doch  das  Empfindung-Sein  selbst  schon  eine  Wiebeschaffen- 
heit ist. 

Der  Relativismus  bewegt  sich  also  nicht  bloß  in  formaler 
Hinsicht,  sondern  auch  in  materialer  im  Zirkel,  und  gerade  er 
macht  es,  je  strenger  er  genommen  wird,  klar,  daß  die  Dinge 
an  und  für  sich  ein  eigenes  Wesen  ihrer  selbst  haben  und 
nicht  nur  in  Beziehung  auf  uns  sind  und  nach  unserer  sub- 
jektiven Vorstellung  hin  und  her  gezogen  werden,  sondern  daß 
sie  für  sich  sind  zufolge  des  Wesens  ihrer  selbst.^    Keine  Er- 

*  Ebenda:  aurri  bi'  aütfii;  f\  \\ivxr]  dTnaKoireiv;  vgl.  dazu  auch  186a,  wo 
Sein,  Identität  und  Verschiedenheit  etc.  als  die  von  der  Seele  allein  durch  sich 
selbst  aufgesuchten  Bestimmungen  noch  einmal  ausdrüclinch  bezeichnet  werden. 

^  A.a.O.,  186b:  toö  [xiv  OKXrjpoO  Tf\v  0K\r\p6Tr\Ta  biet  Tfji;  ^iraqpfi; 
madnöeTai,  Kai  toö  |Lia\aKoO  xnv  luaXaKÖxriTa  dicraÜTLUi;  . . .  rriv  bi  fe  oOöiav 
Kai  ÖTi  daröv  Kai  vqv  ^vavxiörriTa  irpöi;  d\\n\uu  Kai  xnv  ouaiav  au  Tr\c,  dvxiö- 
xrixoi;  avTY]  r\  njuxn  ^Travioüaa  Kai  cru|ißd\Xouaa  "npöq  ix\\r\Xa  Kpiveiv  -rreipä- 
xai  rjl^iv. 

3  Kratylos,  386  e:  hr\\ov  hr\  öxi  aijxä  aiixOüv  oOaiav  ^xovtd  tivo 
ß^ßaiöv  ian  xä  TrpdYliaxa,    ou  -apöc;   ^\xd.<;  ovhi  Oqp'  riuiliv,  4\KÖ|aeva  ävuj  Kai 


158  6.  Kai)itel. 

kenntnis,  auch  die  armselige  des  Relativismus  nicht,  kann  er- 
kennen was  sie  erkennt,  wenn  es  sich  nicht  objektiv  irgendwie 
verhält^,  wenn  die  Dinge  nicht  zufolge  eines  objektiven  Seins, 
d.  i.  < eines  Wesens  ihrer  selbst»  bestimmt  werden,  das  also 
die  Grundlage  ihres  Wiebeschaffen seins,  ihrer  TT0i6Tri(g  ausmacht. 
Dadurch  allein  wird  nun  auch  ein  bestimmter  Gegenstand 
der  Erkenntnis  erst  möglich,  und  von  solchen  Grundlagen  der 
Bestimmtheit  überhaupt  kann  auch  die  Empfindung  selbst  erst 
vergegenständlicht  werden.  «Wenn  es  bloß  einen  Wechsel  und 
kein  Beharrliches  in  allem  Wechsel  gäbe,  ließe  sich  auch  nicht 
sagen,  daß  es  überhaupt  eine  Erkenntnis  gäbe.  Denn  wenn 
auch  nur  dieses  selbst,  die  Erkenntnis  von  dem  Erkenntnis- 
Sein  nicht  abweicht,  so  bliebe  sie  doch  immer  Erkenntnis,  und 
es  gäbe  eine  Erkenntnis.  Wenn  aber  auch  einmal  die  Idee 
der  Erkenntnis  wechselte,  so  verwandelte  sie  sich  in  eine  andere 
Idee  als  die  der  Erkenntnis,  und  es  gäbe  keine  Erkenntnis, 
Verwandelte  sie  sich  aber  immer,  so  gäbe  es  auch  immer  keine 
Erkenntnis  und  folglich  auch  kein  erkennendes  Subjekt  und 
keinen  zu  erkennenden  Gegenstand  der  Erkenntnis»  (oiiTe  tö 
YVUücr6)Lievov  oute  tö  YVUDOöriCTOjLievov).^ 

So  führt  die  materiale  Widerlegung  des  Relativismus  po- 
sitiv und  unmittelbar  vom  Problem  der  Erkenntnis  selbst  her 
zu  der  grundlegenden  und  unaufgebbar  bleibenden  Einsicht, 
daß,  wie  immer  man  sich  wende,  in  der  Idee  der  Erkenntnis 
selbst  sich  ein  bleibendes  Sein,  eine  ouaia  über  allem  Wechsel 
erschließt.  Denn  zunächst  setzt  jede  Erkenntnis,  auch  die  des 
Relativismus  eine  bleibende  Wiebeschaffenheit,  eine  Bestimmt- 
heit überhaupt,  TTOiÖTn?,  voraus,  die  allein  auf  der  stets  wech- 
selnden Empfindung  nicht  gegründet  werden  kann,  weil  sie 
vielmehr  selbst  schon  Grundlage  auch  der  wechselnden  Emp- 
findungsbestimmtheit ist,  und  weil  wir  auch  die  Empfindung 
erst  nach  ihr  prüfen  und  beurteilen  (xpiveiv)  können,  so  daß  die 


kcItu»  tOüi  #i|Li€T^puui  qpavTotaiaaTi,  AWd  koö'  outö  irpö^  t^v  «lirüiv  ouöiav  ^xo^xa 
finrep  udqpuKCv. 

'  A.  a.  0.,  44  a:  ■fviwöi?  i>^  brjuou  oubefxfa  yiT^iüökei  ö  Y»Tvii^öKei  ^ti- 
baiuOü?  2xov. 

2  Ebenda  a/b. 


Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  159 

«mannigfaltige  Vielheit  der  Empfindungen»  erst  durch  Beziehung 
zur  «Einheit  der  Idee>^  zur  Erkenntnis  werden  können.  Jene 
bleibende  Bestimmtheit  kann  darum  allein  durch  das  prüfende 
Denken  ermittelt  werden,  und  sie  bedarf  selbst  bleibender 
Grundlagen,  von  denen  aus  eben  alle  Erkenntnis  ein  Wie- 
beschaflfenes,  etwas,  «das  sich  irgendwie  verhält»,  zu  erkennen 
vermag,  die  aber  selbst  kein  bestimmter  Gegenstand  der  Er- 
kenntnis sein  können,  eben  weil  sie  die  Bestimmtheit  überhaupt 
und  damit  erst  den  bestimmten  Gegenstand  ermöglichen,  wie 
das  die  Idee  des  Seins  überhaupt,  der  Identität,  der  Verschieden- 
heit, der  Gleichheit,  der  Einheit,  der  Zahl  usw.  tun.  Wir 
haben  also  genau  zu  unterscheiden  zwischen  dem  bestimmten 
Gegenstand,  der  Bestimmtheit  überhaupt  und  den  Grundlagen 
dieser  Bestimmtheit ;  diese  Grundlagen  sind  es  in  letzter  Linie, 
die  die  oucria  der  Dinge  bleibend  bestimmen  und  in  allem 
Wechsel  beharren.  Besonders  verdichtet  sich  nun  in  den  Ideen 
des  Seins,  der  Identität  und  der  Verschiedenheit,  selbst  das 
Problem  des  in  allem  Wechsel  Beharrlichen. 

4.  Dem,  was  wir  «jetzt  nur  so  wirklich  nennen»,  tritt  ein 
wahres  Sein,  ein  öviiuq  öv,  gegenüber,  die  oiKjia  schlechthin. 
Es  ist  das  über  aller  Empfindungsinhaltlichkeit  und  deren 
Wechsel  hinausliegende  also  «farblose,  gestaltlose,  untastbare 
Wesen  der  Dinge,  das  an  und  für  sich  wahrhaft  ist,  und  das 
nur  der  Seele  Führer,  die  Vernunft,  zum  Beschauer  hat».'  Ihr 
Wissen  ist  «nicht  die  Wissenschaft,  der  eine  Entstehung  zu- 
fällt und  die  eine  andere  ist  für  jedes  andere  der  von  uns  so 
genannten  Wirklichkeit,  sondern  an  sich  wahrhaft  seiende 
Wissenschaft  von  dem,  was  wahrhaft  ist»^;  in  der  die  Seele  eben 
das  wahrhaft  Seiende  erblickt  (öeacrainevri  xd  övxa  övtuu^).* 

ouaia  und  tö  övtuj«;  öv  sind  dasselbe.  Damit  ist  zunächst  der 


1  Theaitetos,   184  d,  vgl.  oben  S.  1.54. 

2  Phaidros,  247  e:  r\  ^ap  dxpüj|aaTÖ<;  re  Kai  &(Jx'1l^ctT0(;  Kai  d.vacpf]c,  o^aia 
ßvTuu?  oucra  vjjuxnc;  Kußepvrjrrii  [uöviui  Oeaxri  vüji. 

3  Ebenda  e:  diriarrmriv,  oiix  ni  t^vcök;  irpöaeaTiv,  oub' fi  ioTX  tiou  ^x^pa 
^v  ^T^puji  ouaa  iLv  ri|uei<;  vOv  övxiuv  KaXoOjuev,  dtWd  rqy  iv  tüji  ö  daxi  öv 
övTüx;  diriOTriiariv  ouaav. 

*  Ebenda. 


160  6.  Kapitel. 

Begrifif  des  allem  Wechsel  und  allem  Entstehen  gegenüber  ewigen 
und  wahren  Seins  erreicht.  Allein  schon  der  konsequent  zu  Ende 
gedachte  Relativismus  hat  gezeigt,  daß  das  reine  Sein,  die  reine 
Gucria  in  der  Identität,  Verschiedenheit,  Einheit,  Vielheit  Spezi- 
fikationen habe.  Sie  alle  bezeichnen  ein  dboc,  des  reinen  Seins. 
Sie  gehören  also  der  Sphäre  des  reinen  Seins  als  besondere 
farblose,  stofiflose,  gestaltlose,  w^ahrhaft  seiende  Formen  des 
reinen  Seins  an.  Die  oucria  bezeichnet  das  reine  Sein  schlechthin 
und  überhaupt.  Sie  istKadapd  ouaia.^  Und  dieses  reine  Sein  spezi- 
fiziert sich  in  die  schlechthin  seienden  Formen  des  reinen  Seins 
schlechthin.  Und  nur  auf  Grund  des  dboq  ist  die  Erkenntnis 
möglich,  gelangt  auch  erst  die  für  sich  selbst  nicht  zum 
Sein  gelangende  Wahrnehmung  zum  Sein.  Das  Sein  liegt  nicht 
in  der  Empfindung  und  ist  von  der  Empfindung  aus  nicht  zu 
erreichen,  und  dennoch,  das  ist  das  dialektische  Moment  der 
Platonischen  Gedankenentwickelung,  setzt  es  die  Empfindung 
schon  voraus,  um  selbst  auch  nur  Empfindung  sein  zu  können. 
Und  gerade  weil  die  Empfindung  schon  das  Sein  voraussetzt, 
ebendarum  kann  das  Sein  nicht  in  der  Empfindung  und  im 
bloßen  Empfunden-Sein  beschlossen  liegen,  weil  das,  was  etwas 
voraussetzt,  und  das,  was  von  diesem  vorausgesetzt  wird,  nicht 
zusammenfallen  können.  Ebendarum  kann  die  Erkenntnis 
nicht  in  der  Empfindung  beschlossen  bleiben.  Erst  die  «Zu- 
sammenfassung der  Empfindungen  durch  den  Verstand  nach 
einem  eiboq»  macht  die  Erkenntnis  aus:  «Man  muß  nach  der 
Idee  Ausgedrücktes  begreifen,  die  als  Eines  hervorgeht  aus  der 
Zusammenfassung  der  Empfindungen  durch  den  Verstand. 
Und  das  ist  die  Erinnerung  von  jenem,  was  einst  unsere  Seele 
geschaut,  Gott  nach  wandelnd  und  das  überblickend,  was  wir 
nun  für  seiend  halten  und  aufblickend  zu  dem  wahrhaft 
Seienden.»^     In  diesen  Sätzen  liegen  drei  schwerwiegende   Be- 


*  Politeia  585  b,  vgl.  auch  Phaidon,  79  d. 

*  A.a.O.,  249b/c:  Suvi^vai  kot'  elboc,  Xvfö^evov,  Ik  ttoXXüjv  löv  aia- 
örjoeujv  ei^  tv  Xoyiö|liü)1  Euvaipouia^voiv.  touto  b'döTiv  ävc/.f.ivriai<;  dxeWujv, 
ä  itot'  eibev  t)|liii)v  f\  vpuxn  aujinTopeuöeiaa  Oeiüi  Kai  Oirepiboüaa  ä  vOv  eivai 
cpa^6v,  Ktti  ävaKOi|JaoOai  dq  tö  övtuj;  öv. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  161 

deutuDgen,  die  wir  genau  voueinandei"  zu  unterscheiden  haben. ^ 
Zunächst  bemerkt  man,  daß  die  spätere  Aristotelische  Unter- 
scheidung zwisclien  dem  -rrpoTepov  ■npbq  r\}iä<;  und  dem  irpotepov 
Tfii  qpücrei  hier  ihren  historischen  Ursprung  hat.  Eine  Unter- 
scheidung, der  auch  in  der  weiteren  gedankhchen  Entwicklung 
von  Piaton  noch  so  sehr  vorgearbeitet  wird,  daß  alle  ihre  lo- 
gischen Keime  bei  Piaton  zu  suchen  sind.  Was  aber  das  ganz 
besonders  Bedeutsame  ist,  das  ist  der  Umstand,  daß  bereits 
hier  die  verschiedenen  Impulse,  die  innerhalb  der  allgemeinen 
Unterscheidung  ausschlaggebend  werden,  mit  voller  Deutlichkeit 
zutage  treten,  so  daß  sich  eben  drei  Unterscheidungsmomente 
ergeben.  Zunächst  wird  der  Unterschied  des  bloß  psychologisch - 
faktischen  und  des  logischen  Momentes  vollkommen  deutlich. 
Einerseits  soll  die  Idee  nur  aus  der  Zusammenfassung  des  Em- 
pfindungsmaterials hervorgehen.  Sie  wäre  dann  also  bloß  ab- 
strahiert. Das  aber  ist  die  bloß  gedachte  Idee.  Denn  das 
Zusammenfassen  der  Empfindung  soll  ja  selbst  schon  nach 
einem  elboq  (Huvievai  kot'  eiboc;  XeYoinevov)  Ausgedrücktes  begreifen. 
Danach  muß  also  das  Zusammenfassen  selbst  schon  die  Grund- 
lage des  aus  der  Mannigfaltigkeit  der  Empfindungen  durch 
Zusammenfassung  hervorgehenden  Einen  (ek  ttoXXujv  iöv  aiff^rj- 
creuuv  ei^  ev  XoyictiliOui  5uvaipou)Lievujv)  sein.  Das  ist  das  eibo<; 
als  övTuuq  öv.  Dies  ist  also  auf  der  anderen  Seite  bereits  für 
die  Zusammenfassung  notwendige  Voraussetzung.  Diese  Vor- 
aussetzung wiederum  ist  auf  der  einen  Seite  rein  logisch,  in- 
sofern die  Zusammenfassung  ihr  selbst  schon  gemäß  sein  muß. 
Auf  der  anderen  Seite  endlich,  das  ist  das  dritte  Moment,  ist 
sie  metaphysisch,  insofern  die  logische  Grundlage  nur  durch 
dvd|uvricri<;  selbst  wieder  ins  psychologische  Bewußtsein  treten 
kann.  Weil  die  Seele  das  wahrhaft  Seiende  geschaut,  eben- 
darum kann  sie  zu  ihm  aufblickend  die  Mannigfaltigkeit  der 
Empfindungen  überblicken  und  nach  dem  e?bo<;  vermitteis  dieses 
Aufblickes  im  Überblick  sie  gestalten.  Dieses  Schauen  läßt 
sich    freilich    selbst    nur   «etwas    dichterisch   in   Worten»    (toi<; 


*  Zugleich  wird  hier  der  Fortschritt  über  die  früher   erreichte  Position 
deutlich,  soweit  diese  bereits  ein  «Zusammenfassen»  kannte. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  11 


162  6.  Kapitel. 

dv6}xao\ ....  noir|TiKoi(;  xiaiv)^  darstellen,  wie  auch  die  Darstellung 
des  epuj?,  der  die  Seele  ergreift  und  in  der  sinnliehen  Existenz 
selbst  wieder  zur  Hinwendung  an  die  Idee  führt,  nur  dichte- 
risch ausführbar  ist.^  Diese  Darstellungsform  ist  der  Mythos. 
Aber  der  Mythos  hat  doch  einen  Wahrheitsgehalt,  und  der  ist 
und  bleibt  das  reine  Sein;  und  das  Wissen  vom  reinen  Sein 
besitzt  allein  die  Seele  aus  sich  selbst  zum  Unterschiede  von 
aller  Sinnenkenntnis,  die  bloß  die  Erfahrung  gibt.^  Das  reine 
Sein  ist  zugleich  das  göttliche  Sein  (ttpÖ(;  oiGnep  ^ebq  uiv).^ 
Was  mit  dem  «öeoc;»  gemeint  ist,  kann  freilich  erst  aus  der 
Weiterentwickelung  der  Lehre  klar  werden.  Daß  Gott  für 
Piaton  kein  besonderer  Geist,  d.  h.  kein  persönliches  Ding  oder 
Wesen  ist,  daran  kann  von  vornherein  kein  Zweifel  sein. 
Zunächst  schimmert  hier  nur  der  ursprüngliche  ethische  Impuls 
seines  Philosophierens  durch  seine  Erkenntnislehre  abermals 
hindurch,  um  die  Kontinuität  seines  Denkens  gleich  wieder 
ins  rechte  Licht  zu  setzen.  Diese  Stetigkeit  und  kontinuierlich 
logische  Entwickelung  zeigt  ein  einfacher  Rückblick,  der  uns 
zugleich  mit  einem  einzigen  Schlaglichte  den  jetzigen  Stand 
unseres  Problems  erhellen  kann:  Das  Bleibende  wurde  zu- 
erst nach  dem  Vorgang  des  Sokrates  im  Begriffe  er- 
reicht, der  sich  für  das  sittlich.e  Gebiet  zur  Idee  als  blei- 


'  A.  a.  0.,  '■207  a  und  Symp.  202  e. 

*  Das  ävaXttfaßäveiv,  das  sich  metaphysisch  zum  dvamiuviTOKeiv  präzisierte, 
wrd  nun  der  hloßen  Erfahrunti;  (^(.i-rreipia)  nusdrückhch  entgegengesetzt;  und 
zwar  geschieht  das  im  Beyriff  der  rexvri  (Phaidr.  270  h).  Damit  mußte  aber 
der  Begriff  der  rexvri,  der  ursprünglich  gerade  im  Sinne  des  bloß  Technischen 
der  vernünftigen  Selbstbesonnenheit  der  Seele  entgegengesetzt  worden,  zu  dieser 
selbst  und  zum  Begriffe  der  r4.\vY\  des  Xö^ou?  bibövai  vertieft  werden,  ver- 
mittels deren  die  Seele  nun  selbst  die  oöaia  muß  aufzeigen  können  (ebenda  e: 
?)f|\ov  ujc,  äv  Tiln  Tiq  T^x^ili  XÖYOU(;  bibiui,  t^v  oüaiav  beiEei  «Kpißüjc;  Tfi<; 
(pvaevjc,  TOÜTOU,  Trpö^  ö  tovc,  Xöyou^  irpcöoiöei  ■  eorai  bi  itou  ^)vxr\  toOto). 
Das  ist  freilich  eine  besondere  Art  der  t^x^I'  (1'e  mit  dem  bloß  Technischen 
nichts  mehr  zu  tun  hat.  Vielmehr  wird  in  ihr  der  für  Piaton  höchste  Sinn 
liier  Kunst  und  alles  Könnens  erreicht,  nämlich  die  Methode  des  Philosophierens 
selbst,  die  Dialektik,  die  biaXcKTiKfi  re'xvri  (ebenda  27fi  e).  Über  die  ersten 
Ansätze  der  Unterscheidung  von  funeipia  und  Xöfoc;  sehe  man  auch  schon 
Gorgias  462 — 465;  vgl.  dazu  auch  Xatorp,  a.  a.  0.,  S.  45. 

■'  Phaidr.  249  c. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  1(53 

bender  Ordnung  (idHi^)  vertiefte.  Dabei  war  zunächst 
nur  im  Bilde  angedeutet  worden,  daß  die  Ordnung 
auch  den  Kosmos  bestimme.  Was  sich  anfänglich 
aber  nur  als  Bild  ankündigte,  das  begann  sich,  frei- 
lich nicht  in  plump  durchsichtiger  Weise,  sondern  in 
der  ganzen  Feinheit,  Großartigkeit  und  Tiefe  des  Pla- 
tonischen Denkens,  bald  zu  sicherer  Erkenntnis  zu  ver- 
festigen durch  das  Problem  der  Erkenntnis  selbst.  Denn 
wenn  aus  diesem  Probleme  ermittelt  wird,  daß  nicht 
in  der  Empfindung,  sondern  allein  vermöge  gewisser 
bleibender  Bedingungen  der  Wiebeschaffenheit  (TToioTiig) 
und  durch  eine  ihnen  gemäße  Beurteilung  (Kpiveiv)  die 
Empfindung  selbst  eben  als  Empfindung  erst  be- 
stimmt und  ein  Subjekt  und  ein  Objekt  der  Erkennt- 
nis (YVuuaö|Li€Vov  —  YVUj(T9ri(JÖ|Lievov)  möglich  werde,  in- 
dem sich  erst  so  ein  bleibendes  Wesen  der  Dinge  selbst 
(auxd  auTÜuv  ouaiav  ^x^vid  xiva  ßeßaiov  eaii  xd  rrpdYlLiaxa) 
ergibt,  so  wird  die  oiicria  selbst  zur  höchsten  bleibenden 
Grundlage  der  Dinge,  weil  zur  Möglichkeit  der  Dinge 
selbst,  indem  eben  die  ouoia,  das  övxuuc;  6v,  selbst  das 
eiboq  des  Zusammenfassens,  also  Prinzip  der  Einheits- 
ordnung der  Empfindungen  selber  ist.  Nicht  dem 
Worte,  aber  doch  der  Sache  nach,  bleibt  der  Begriff 
der  Ordnung  in  Kraft.^  Und  insofern  der  ouaia,  dem 
övxu)?  öv,  alles  Dasein  auf  diese  Weise  überantwortet 
wird,  ist  es  in  der  Tat  Einheitsordnung  auch  des  Kos- 
mischen. Und  in  dieser  überkosmischen,  überempi- 
rischen Bedeutung  darf  es  selbst  als  göttliches  Sein 
wohl  angesprochen  werden.  Ein  Anspruch,  der  frei- 
lich noch  des  genaueren  erhärtet  werden  muß  durch 
die  bisher  noch  nicht  klar  entwickelte  Weise  seiner 
grundlegenden  Bedeutung  für  die  Dinge,  deren  Ord- 
nung es  ist. 


'  Er  wird  aber  auch  nicht  einmal  dem  Namen  nach  aufgegeben;  vgl. 
bes.  Pohteia  587,  Politikos  273  a,  Phileb.  !2ü  b,  Tim.  39  a,  wo  er  überall  .sogar 
in  vertieftem  Sinne  wiederkehrt.  Im  Einzelnen  werden  dies  die  folgenden 
Untersuchungen  zeigen. 

11* 


Iö4  6.  Kapitel. 

5.  Durch  den  Begriff  der  Erkenntnis  werden  wir  zunächst 
zu  einem  sclu'offeu  Duahsmus  von  «Wesen  und  Werden»,  wie 
Windelband  die  Antithese  treffend  bezeichnet^  geführt.  Es  gilt, 
diesen  Dualismus  nicht  zu  ver^nsehen  und  zu  vertuschen,  um 
zu  verstehen,  inwieweit  Piaton  einerseits  selbst  über  ihn  hinaus- 
zuführen und  zu  einer  Einheit  der  antithetischen  Glieder  zu 
gelangen  vermag,  inwieweit  er  aber  andererseits  hinter  dem 
Ziele  der  Einheit  beider  Glieder  zurückbleibt.  Will  man  Piaton 
wirklich  historisch  gerecht  werden,  so  darf  man  weder,  wie 
Aristoteles,  seine  Tendenz  zur  Einheit,  wie  deren  Realisierung 
verkennen.,  noch  diese  beide  überschätzen  und  einen  an  sicli 
freihch  sehr  wünschenswerten,  von  Piaton  aber  nicht  restlos 
geleisteten  Ausgleich  gewaltsam  konstruieren. 

Zwei  Gattungen  des  Seins  (bOo  eibrf  —  biTid  eibrj^)  ent- 
hüllen sich  im  Problem  der  Erkenntnis:  das  Sein  der  Sicht- 
barkeit und  sinnlichen  Gestaltung  auf  der  einen  Seite,  und  das 
Sein  der  gestaltlosen  Denkbarkeit,  das  reine  Sein,  die  Kadapa 
ouoia'^  auf  der  anderen.  Das  Eine  ergreifen  wir  durch  die 
Sinnlichkeit^,  das  andere  durch  reines  Denken  allein,  nicht  durch 
die  Sinne. "^  Diese  freilich  liefern  uns  immer  die  äußere  Ver- 
anlassung, uns  auf  das  reine  Sein  zu  besinnen.  An  den  gleichen 
Dingen,  aus  deren  Sehen  und  Tasten  besinnen  wir  uns  auf  das 
Gleiche  selbst.'  Dieses  Gleiche  selbst  aber  müssen  wir  vor 
aller  Wahrnehmung  bereits  erfaßt  haben,  um  uns  eben  darauf 
besinnen  und  das  verschiedene  Gleiche  in  der  W"ahrnehmung 
selbst  darauf  beziehen,  untereinander  vergleichen  und  eben 
als  gleich  bestimmen  zu  können.'*     Diese  erkenntnistheoretisch 


»  Windelband,  Piaton.  S.  87. 

-  Phaidon,  79  a:  büo  eibn  tOüv  övtujv.  tö  \j.iv  öpaxöv.  xö  be  deibe<;. 

3  Politeia,  509  d:  biTxd  eibr),  öparöv,  voriröv. 

*  Ebenda  585  b,  siehe  S.  IßO,  Anm.  1. 

5  Vgl.  oben  S.  156  ff. 

•^  V^'l.  die  früheren  Ausführungen  und  ferner  besonders  Phaidon,  79  a: 
TÜüi  Tr\c,  biavoiat;  XoYiöm«»,  s.  auch  99  e. 

'  Phaidon,  75  a:  äWä  larjv  Kai  röbe  ö]uoXoYoö|Ltev,  im'i  äWodev  oOtö  ^v- 
voiiKevai  |ar|b^  bOvarov  elvai  ivvof\oai,  dX.\'  r)  ^k  toO  ibeiv  r\  ä\\iaabai,  f\  ^k 
Tivo?  a\\r\<;  rdjv  aia0riö€ujv:  vgl.  auch  ebenda  74  a  und  Politeia  .526  d. 

»  Ebenda  75  1):  irpo  toü  äpa  äpEaadai  f||uäq  öpäv  koi  ÖKoüeiv  Kai  xäWa 


Der  Substanzliegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  165 

SO  ungemein  fruchtbare  Einsicht  erhält  nun  bei  Piaton  den 
metaphysischen  Unterbau  in  der  ünsterblichkeitsiehre :  Um 
vom  reinen  Sein  Kunde  zu  haben,  muß  die  Seele  sein,  noch 
ehe  sie  in  die  sinnliche  Welt  des  Leibes  eingeht,  ebenso  wie 
jenes  Sein,  das  den  Beinamen  dessen  hat,  was  ist,^  Darum 
also  ist  das  Kennenlernen  selbst  ein  Wiedererinnern.^  Die 
Anamnesis-Lehre  Piatons  im  Sinne  der  Spontaneität  zu  deuten, 
dazu  mag  der  unendliche  Reichtum  Piatons  reizen.  Allein  die 
Unsterblichkeit  war  ihm  nicht  bloß  ein  logisches,  sondern  ein 
sittlich-religiöses  Postulat.  Es  ist  Piaton  damit,  nicht  allein  im 
Phaidon,  zu  sehr  ernst,  als  daß  ich  mich  entschließen  könnte, 
den  Unsterblichkeitsbeweis  nur  als  Mythos  zu  fassen.  Er  ist 
Mythos,  aber  nicht  bloß  Mythos,  wenigstens  nicht  für  Piaton, 
der  in  ihm  fraglos  die  objektive  Wahrheit,  die  Wahrheit  in  der 
Form  des  Begriffs,  nicht  bloß  in  der  Form  der  Vorstellung  zu 
besitzen  meinte.  Dafür  spricht  vor  allem  ein  Umstand,  der  für 
das  Substanzproblem  bei  Platou  nicht  ganz  außer  Acht  zu 
lassen  ist,  ob  er  gleich  freihch  ebensowenig,  wie  die  ganze 
Unsterblichkeitslehre  als  solche  für  unseren  eigentlich  wissen- 
schaftlichen Zweck  von  besonderer  Bedeutung  ist:  Im  Phaidon^, 
wie  in  der  Politeia^  wird  ausführlich  eine  quantitative,  d.  i. 
hier  zahlenmäßige  Konstanz  der  Menge  der  Seelen  gelehrt,  die 
weder  geringer  noch  größer  (oüt6  eXairoug  ....  oure  TtXeiouq) 
werden  könne,  da  sie,  wie  leicht  aus  Piatons  sowohl  die  Prä- 
existenz wie  die  Postexistenz  einschließendem  Begriff  der  Un- 
sterblichkeit folgt,  eben  sonst  nicht  unsterblich  wären.  Wir 
hätten  hier  also  eine  Konstanz  der  Seelen  Substanzen,  die  frei- 
lich, wie  aus  der  ferneren  Entwickelung  zu  ersehen  sein  wird, 
nicht  zu  grob  substantiell  gefaßt  werden  darf.  Immerliin  die 
Annahme    der    Unsterblichkeit    wird    auch    dadurch    über   das 


aiöOdveaOai  ruxeiv  ebei  ttou  eiXriqpÖTOc  emöTriuriv  aöxoO  toü  löou,  ö  ti  eaxiv, 
€1  |aAXo|H6v  TÜ  CK  tOjv  aiaOriöeuuv  ioa  tKeioe  dvoiaeiv. 

'  Ebenda  92d/e:  elvai  y]  ^lvxr\  Kai  irpiv  eic,  ouj^a  öqpiK^aöai,  ujoirep 
ouTiii  ^OTiv  r\  oöaia  e'xouöo.  Tqv  ^irujvuiaiov  xqv  toö  ö  eoriv. 

-  Fbenda  70  a  u.  a.  m.  vgl.  oben  S.  1.5Ü. 

3  Phaidon,  71  a/7^2  b. 

*  PolJteia,  611  a/b. 


166  6.  Kapitel. 

Mythische  hinausgerückt.  Endüch  spricht  gegen  die  Deutung 
der  Wiedererinnerung  und  des  Aus-sich-Hervorholens  im  Sinne 
der  Spontaneität  ein  Umstand,  auf  den  Windelband^  aufmerksam 
macht,  wenn  er  von  Piaton  bemerkt,  er  zeige  «die  eigentüm- 
Hche  Gebundenheit  des  gesamten  antiken  Denkens,  welche  die 
Vorstellung  von  einer  schöpferischen  Energie  des  Bewußtseins 
nicht  aufkommen  ließ,  sondern  alles  Erkennen  immer  nur  als 
ein  Abbilden  des  Empfangenen  und  Vorgefundenen  auffassen 
wollte».  In  der  Tat  müssen  wir  bei  aller  Größe  des  Plato- 
nischen Denkens  doch  auch  wieder  bedenken,  daß  es  über  diese 
unbefangene  Auffassung  des  ganzen  antiken  Denkens  in  der 
Anamnesislehre  gerade  nicht  hin  ausgelangt  ist.  Hier  ist  nicht 
wie  bei  Descartes  schon  von  einem  «quasi  reminisci»  die  Rede, 
sondern  von  einem  reminisci  im  strengsten  Sinne. ^  In  der  Er- 
kenntnislehre Piatons  kann  darum  wirklich  nicht  von  einer  «schöp- 
ferischen Energie  des  Bewußtseins»  gesprochen  werden.  Diese 
fehlt  freilich  nicht  ganz,  aber  sie  ist  nicht,  wie  die  Spontaneität, 
erkenntnistheoretisch,  sondern  metaphysisch.  An  die  Stelle  der 
erkenntnistheoretischen  Spontaneität  tritt  aber  zunächst  der  sitt- 
lich-religiöse Glaube  der  dvd|uvricri(5.  Daß  durch  ihn  aber  Piaton 
zu  einer  Verdinglichung  des  reinen  Seins  genötigt  würde,  wird 
man  nicht  glauben,  wenn  man  an  die  theoretische  Zurückhal- 
tung denkt,  die  er  damit  übte,  daß  er  nur  überhaupt  auf  der 
Unsterblichkeit  und  Wiedererinnerung  bestehen  will,  ohne  sich 
der  Täusclmng  einer  vermeintUchen  näheren  Bestimmung  dieser 
präexisteuzialen  Kenntnisnahme  hinzugeben.-'     So  kreuzen  sich 

'  A.  a.  O.,  S.  74. 

2  Trotz  dieses  Unler.schiedc:<  könnte  aber  vielleicht  gerade  ein  Vergleich 
mit  Descai^tes  in  anderer  Hinsicht  auch  eine  tiefere  Venvandtschaft  aufdecken, 
nämlich  zwischen  Piatons  Unsterblichkeitslehre  und  Descartes'  Gotteslehre.  Für 
Piaton  ist  die  Unsterblichkeit  freilich  ebenso  Grundlage  der  Erkenntnis,  wie 
für  Descartes  Gott  dies  ist.  Aber  beide  sind  doch  für  beide  nicht  bloß  Grund- 
lage der  FJrkenntnis;  für  Piaton  ist  die  Unsterblichkeit  ebensowenig  bloß  ein 
rein  logisches  Fundament,  wie  für  Descartes  Gott  bloß  ein  rein  logisches 
Fundament  ist.  Beide  Begriffe  haben  eine  metaphysische  Bedeutung,  mid  das 
gilt  von  der  Unsterblichkeit  bei  Piaton  sogar  in  einem  um  so  strengeren 
Sinne,  wie  von  der  Goltesidee  bei  Descartes,  als  bei  Piaton  das  religiöse  und 
das  theologische  Denken  viel  wirksamer  war,  wie  bei  Desf;artes. 

'  Siehe  oben  S.  150. 


Der  SubätanzbegriÖ'  innerhalb  de»  Systems  des  Idealismus.  167 

in  der  Auamuesislehre  die  mannigfaltigsten  Motive.  Sie  ist 
freilich  Mythos,  aber  doch  nicht  bloß  Mythos,  sie  ist  logisch, 
aber  doch  nicht  reine  Methode,  denn  sie  ist  auch  metaphysisch 
und  zugleich  ist  sie  religiös :  Dogma.  Und  indem  Piaton  gerade 
sich  einer  näheren  Bestimmung  des  präexistenzialen  Erkennens 
enthält,  bewahrt  er  sich  vor  einer  Verdinglichung  des  reinen 
Seins,  der  KaS-apct  ouoia. 

6.  Ehe  ich  das  selbst  weiter  verfolge,  sei  mir  noch  ein 
kurzer  literarischer  Ausblick  gestattet:  Hermann  Lotze  gebührt 
das  Verdienst,  die  Meinung^  «Piaton  habe  den  Ideen,  zu  deren 
Bewußtsein  er  sich  erhoben,  ein  Dasein  abgesondert  von  den 
Dingen,  und  doch,  nach  der  Meinung  derer,  die  ihn  so  ver- 
standen, ähnhch  dem  Sein  der  Dinge  zugeschrieben»,  in  ihrer 
ganzen  Nichtigkeit  bloßgestellt  zu  haben.  Sehr  richtig  be- 
merkt er:  «Es  ist  seltsam,  wie  friedhch  die  hergebrachte 
Bewunderung  des  Platonischen  Tiefsinns  sich  damit  verträgt, 
ihm  eine  so  widersinnige  Meinung  zuzutrauen ;  man  würde  von 
jener  zurückkommen  müssen,  wenn  Piaton  wirklich  diese  ge- 
lehrt und  nicht  nur  einen  begreiflichen  und  verzeihlichen  An- 
laß zu  einem  so  großen  Mißverständnis  gegeben  hätte.»-  In 
der  Tat,  wenn  man,  wie  es  auch,  trotz  Lotze,  heute  immer 
noch  geschieht,  und  wie  es  selbst  in  der  neuesten  Auflage  des 
Grundrisses  von  Überweg  zu  lesen  steht,  Piaton  die  widersinnige 
Tendenz  einer  «Hypostasierung  der  Idee»  zu  «selbständiger 
Einzelexistenz»  zumutet^,  dann  bleibt  nur  die  eine  Konsequenz 
übrig,  die  F.  A.  Lange  gezogen  hat.  Lange  ist  also  wenigstens 
insofern  konsequent,  als  er  anstatt  der  üblichen  Bewunderung 
dem  Piatonismus  zunächst  eine  schroffe  Ablehnung  entgegen- 
bringt, kurzweg  von  dem  «Irrweg  des  Platonischen  Idealismus »% 
von  Piatons  «mystischem  Allgemeinen»^  redet.  Es  ist  nur  zu 
bedauern,    daß    diese  Konsequenz    über   ein   knappes   Dutzend 


1  Logik,  S.  513. 
^  A.  a.  0.,  ebenda. 

^  Friedrich  Überwegs  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  des  Alter- 
tums, S.  1(51. 

*  Geschichte  des  Materialismus  I,  .S.  4ii. 
»  A.  a.  0.,  S.  43. 


168  H.  Kapitel. 

Seiten  nicht  hinausreicht,  da  Lange  die  Ansicht,  die  «Piaton 
für  einen  Mystiker  und  poesievollen  Schwärmer»  hält,  selbst 
zurückzuweisen  sucht \  ein  Versuch,  der  dem  natürlich  nicht 
recht  gelingen  kann,  der  kurz  vorher  den  Platonischen  Idea- 
lismus als  «Irrweg»  einfach  abfertigen  wollte.  Eine  halbe  Kon- 
sequenz ist  aber  selbst  eine  Inkonsequenz.  Wer  darum  kon- 
sequent sein  will,  der  sei  es  ganz.  Entweder  man  sehe  in  Pia- 
tons Allgemeinem  ein  mystisches  Ding,  man  behaupte  die 
Dinghaftigkeit,  Geisterhaftigkeit  und  Gespensthaftigkeit  seines 
«reinen  Seins»,  dann  aber  höre  man  endlich  mit  der  Bewunde- 
rung von  Piatons  Tiefsinn  und  Geistesfülle  auf.  Oder  aber 
man  lasse  sich  wirklich  von  diesem  Geiste  berühren;  das  aber 
kann  man  nur,  wenn  man  sein  «reines  Sein»  zu  verstehen 
sucht.  Die  historische  Forschung  unserer  Zeit,  soweit  sie  den 
entscheidenden  Impulsen  Lotzes  gefolgt  ist,  bietet  dafür  glück- 
licherweise auch  schon  die  beste  Hilfe.  Dem  «An-sich-Sein»  wird 
ja  längst,  besonders  scharf  und  klar  von  Windelband,  das  Ding- 
^:ein  gerade  entgegengesetzt,  wie  es  in  der  Tat  Piaton  gelehrt.^ 
Windelband  hat  Piatons  Ideenlehre  in  erster  Linie  als  «logische 
Theorie»  und  als  «allgemeines  Prinzip  der  erklärenden  Wissen- 
schaft»^ erkannt  und  diese  «Wissenschaftslehre»  oder  «Erkennt- 
nislehre» richtig  als  «Grundlage  aller  Philosophie»  ange- 
sprochen).^ Wie  Lotze,  so  hat  auch  (-ohen^  auf  die  Unver- 
einbarkeit der  üblichen  Bewunderung  der  Tdeenlehre  mit  der 
Auffassung  der  Ideen  als  «aparter  Wesenheiten»  aufmerksam 
gemacht.  Wie  Lotze  die  Wirklichkeit  der  Idee  in  der  «Wirk- 
Hchkeit  der  Geltung»*^  erkennt,  so  sieht  auch  er  das  «wahr- 
hafte Sein»  als  das  «Sein  der  Geltung»  an.^  Und  das  ganze 
schon  mehrfach  herangezogene  Piaton- Werk  Natorps  ist  darauf 
gerichtet,  die  Platonische  Ideenlehre  als  Erkenntnislehre  ein- 
dringlich darzustellen   und   die  Idee,   worin    Lotze  ja  ebenfalls 

>  A.  a.  0.,  S.  54. 

*  Windelband,  a.  a.  0.,  besonders  S.  84. 
»  A.  a.  0.,  S.  64. 

<  A.  a.  0.,  S.  65. 

*  Cohen,  Piatons  Ideenlehre  und  die  Mathematik,  S.  I'2. 
«  Lotze,  a.  a.  0.,  S.  .514. 

'  Cohen,  a.  a.  0.,  .S.  16. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des   Idealismus.  169 

vorangegangen  war,  als  <  Gesetz»  zu  erweisen,^  Und  teilweise 
im  Anschluß  an  ihn,  wenn  auch  in  durchaus  selbständiger 
wissenschaftlicher  Absicht  gelangten  Vorländer^,  Kinkel-^  und 
Hartmann^  zu  derselben  Auffassung.  In  der  Tat,  so  wahr  die 
Ideenlehre  Erkenntnislehre  ist  und  die  Ideen  Grundlagen  der 
Erkenntnis  sind,  so  wahr  wird  man  ihnen  den  Gesetzescharakter 
im  logischen  Sinne  —  Grundlagen  der  Erkenntnis  sind  doch 
wohl  auch  logische  Gesetze  —  nicht  streitig  machen  dürfen, 
wie  ihn  Lotze  selbst  schon  vom  Geltungscharakter  her  gefordert, 
auch  wenn  man  das  «nichts  als  Gesetze»  für  die  Ideen  nicht 
ohne  weiteres  annimmt,  wie  ja  die  Wirklichkeit  oder  das  Sein 
der  Geltung  nicht  bloß  das  Erkennen,  sondern  auch  das  Sein 
der  Dinge  zu  bestimmen  hat.  Aber  gerade  weil  es  auch  Grund- 
lage des  Seins  der  Dinge  ist,  kann  sein  Sein  nicht  selbst  ein 
Sein  der  Dinge  sein. 

Ich  habe  diesen  rein  literarischen  Exkurs  hier  eingeschoben^, 
nicht  etwa  um  bloß  meine  eigene  Darstellung  einer  bestimmten 


'  Natorp,  Piatons  Ideenlehre.  Eine  Einführung  in  den  Idealismus;  vgl. 
bes.  S.  ,36  ff.  und  S.  o51  ff.  Ich  Aveiß  gar  Avohl,  daß  auch  schon  Schleiermacher 
die  Ideen  als  Gesetze,  richtigerweise  als  «Weltgesetze»  angesprochen  hat;  und 
werde  noch  Gelegenheit  haben,  darauf  hinzuweisen.  Weil  das  aber  bei  Schleier- 
macher selbst  nur  gelegentlich  und  nicht  in  der  seit  Lotze  geforderten 
prinzipiellen  Bestimmtheit  geschieht,  ist  es  für  die  Platon-Auffassung  nicht 
historisch  wirksam  geworden. 

2  K.  Voriänder,  a.  a.  0.  I,  S.  9G. 

^  W.Kinkel,  a.  a.  0.  II,  S.  74 ff. 

*  X.  Hartmann,  Piatons  Logik  des  Seins.     Siehe  besonders  S.  227. 

*  Für  den,  den  es  befremden  sollte,  daß  ich  Zeller  im  Texte  an  dieser 
Stelle  nicht  auch  erwähnt  habe,  sei  nun  hier  bemerkt,  daß  das  seinen  Grund 
in  der  unentschiedenen  und  wenig  klaren  Stellung  Zellers  hat.  Zunächst 
nennt  Zeller,  a.  a.  0.  II,  S.  662  die  Ideen  «Substanzen».  Er  will  aber  das 
Wort  nur  in  dem  «ursprünglich  aristotelischen  Sinne»  gebrauchen,  der  aber 
freihch  schon  deswegen  nicht  «ursprünglich  aristotelisch»  sein  könnte,  weil  er 
ja  gerade  nach  Zeller  hier  ursprünglich  platonisch  sein  müßte.  Verstehen 
aber  will  Zeller  vorlrefflicherweise,  das  sei  besonders  anei'kannt,  unter  «Sub- 
stanzen» nichts  anderes,  als  «überhaupt  etwas  Fürsichbestehendes,  keinem 
anderen  als  Teil  oder  Eigenschaft  Inhärierendes»,  nicht  aber  «ein  Ding,  welchem 
mehrere  veränderliche  Eigenschaften  zukommen,  während  es  selbst  im  Wechsel 
dieser  Eigenschaften  beharrt».  Damit  wäre  ja  in  der  Tat  ebenfalls  die  ding- 
liche Auffassung   von   den  Ideen   oder  «Wesenheiten»,   wie  Zeller   sie   nennt, 


170  t>.  Kapitel. 

einheitlicheu  Richtung  der  Platou-Auffassuug  —  von  ganz  ein- 
heitlichen Auffassungen  kann  auch  nicht  einmal  zwischen  zwei 
der  genannten  Forscher  die  Rede  sein  —  einzuordnen  und  zu- 
gleich meine  Differenz  anzudeuten,  sondern  um  überhaupt  die 
beiden  möglichen  Grundrichtungen  zu  illustrieren,  die  in  sich 
selbst  keineswegs  ohne  spezifische  Differenzen  und  vollkommen 
einheitlich  sind,  die  nur  prinzipiell  klar  und  scharf  sich  gegen- 
einander abgrenzen :  die  den  Platonischen  Idealismus  realistisch 
auffassende  Deutung,  die  in  den  Ideen  nicht  eben  Ideen,  son- 
dern Dinge  (res)  sieht,  auf  wie  verschiedene  AVeise  das  immer 
auch  geschehen  mag;  und  die  wahrhaft  ideaUstische  Deutung, 
die,  wie  abermals  verschieden  auch  immer,  den  idealen  Charakter 
der  Idee  zu  wahren  sucht.  Damit  kann  ich  es  rein  literarisch 
für  diesen  Exkurs  bewenden  lassen.  Ich  kehre  nun  zu  Piaton 
selbst  zurück  und  verfolge  an  seiner  Hand  die  weitere  Ent- 
wickelung  unseres  Problems. 

7.  Sein  und  Werden  sind  geschieden  wie  zwei  Welten, 
und  nur  wenn  wir  uns  der  Unterscheidung  in  aller  Strenge 
bewußt  bleiben,  vermögen  wir  auch  nur  zu  fragen,  ob  sie 
überhaupt  auseinanderklaffen  oder  ob  und  welche  Beziehung 
zwischen  ihnen  besteht.  Das  Erkenntnisproblem  Piatons  hat 
zunächst  den  ganzen  Unterschied  zwischen  beiden  aufgetan  und 
nur  von  ihm  aus   werden    wir  auch    die   Frage    nach    der  Be- 


ferngehalten.  Fatal  ist  nur  dreierlei,  erstens  nämlich,  daß  Zeller  nie  und 
nirgends  seine  «Wesenheiten»  wirklich  klar  und  scharf  bestinmil  und  den 
Unterschied  zwischen  Ding  und  Wesen  noch  etwas  präziser  behandelt,  als  es 
in  der  zitierten  Stelle  geschielit,  und  zweitens,  daß  er  a.  a.  0.  II,  S.  671  ff.  so 
grimmig  gegen  Lotze  jjolernisiert,  der  doch  gerade  der  dinglichen  Auffassung 
den  Garaus  gemacht  hat.  Vor  allem  wendet  sich  Zeller  gegen  den  ja  ebenfalls 
von  Lotze  in  die  Diskussion  hier  eingeführten  Begriff"  des  Gesetzes.  Auch 
auf  Cohen,  als  Lotze  nahestehend,  verweist  Zeller  hier,  in  dessen  Augen  natür- 
lich Cohen  nicht  mehr  Gnade  finden  kann  als  Lotze  selbst.  Drittens  aber  ist 
Zeller,  freilich  erst  in  seiner  Aristoteles-Darstellung  (a.  a.  O.,  II,  2,  S.  302)  der 
Meinung,  Aristoteles  habe  die  Platonische  Ideenlehre  «für  immer  widerlegt». 
Diese  «Widerlegung»  faßt  aber,  auch  nach  Zeller,  die  Platonischen  Ideen  ding- 
üch  substantiell.  So  unklar  und  schwankend  also  auch  Zellers  Äußerungen 
über  Piaton  sein  mögen,  .so  läßt  diese  Unklarheit  doch  soviel  gerade  klar  er- 
kennen, daß  Zeller  von  der  dinglichen  Auffassung  nie  ganz  losgekommen   ist. 


Der  Substanz  begriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  171 

Ziehung  eiitsclieiden  können.  Vernunfterkenntnis  einerseits  und 
bloße  auf  Sinnlichkeit  beruhende  Meinung  und  bloße  Vorstel- 
lung andererseits  enthüllen  sich  in  ihrer  Gegensätzlichkeit  durch 
das  Erkenntnisproblem.  Auf  das  Werden  bezieht  sich  die  bloße 
Vorstellung  und  Meinung,  auf  das  Sein  die  Vernunfterkenntnis ; 
und  wie  sich  das  Sein  zum  Werden,  so  verhält  sich  die  Ver- 
nunfterkenntnis zur  bloßen  Ansicht.^  Und  wie  das  Gebiet  der 
reinen  Denkbarkeit  (vor|TÖ<;  TÖTToq)  zum  reinen  Denken  {vovq) 
und  beide  zu  den  Gegenständen  dieses  Denkens  (voou|ueva),  so 
verhält  sich  das  Gebiet  der  Sichtbarkeit  (opaxöv)  zum  Gesicht 
(övjjk;)  und  beide  zu  den  gesehenen  Gegenständen  (6puj|ueva)/' 
Wahrhaft  aber  ist  nur  das  seientlich  Seiende.^  Und  so  w^ahr 
Sein  (cuoia)  und  Werden  (Yeveoig)  voneinander  getrennt  (xujpi?) 
sind\  so  wahr  kann  das  Sein  nicht  durch  das  Werden,  durch 
Entstehen  und  Vergehen  ins  Schwanken  gebracht  werden.^ 
Was  die  Vernunft  erfaßt,  das  sind  ewig  gleich  bleibende  Ord- 
nungen*^, rein  im  Denken  zu  erlangende  unsinnliche,  unkörper- 
hche  Gestalten^  in  denen  es  kein  Entstehen  und  Vergehen, 
wie  in  der  sinnlichen  Körperwelt  des  Werdens  gibt,  in  denen 
allein  Bleibendes  und  Festes  (|uövi|liov  Kai  ßeßaiov)^  liegt.  Und 
auch  da  noch,  wo  die  letzte  Synthese  zwischen  dem  ewig  An- 
sich-Seienden  und  -Bleibenden  einerseits  und  dem  AVechselnden 
und  Werdenden  andererseits  vollzogen  wird,  gerade  da  bleiben 
die  antithetischen  Glieder  in  voller  Kraft,  und  gerade  da  müssen 
sie  in  voller  Kraft  bleiben:  Was  durch  das  Denken  (voncrei) 
vermöge  der  Vernunft  erfaßbar  ist  (jueTd  \6you  irepiXriTTTOv),  das 
ist  das  ewig  an  sich  selbst  dasselbe  Seiende  (dei  Kard  raütd  öv) ; 


^  Politeia,  534  a:  Kai  bötav  |Ltev  Trepi  Y^veöiv.  vörjaiv  be  trepi  oOöiav.  Kai 
ö  Ti  oüaiav  irpöi;  fiveow,  vöy]Oiv  Tipöq  böEav. 

-  Ebenda  508  c. 

3  Soph.  240  c:  tö  ä.\»i\)ivov  övxujq  öv. 

*   Ebenda. 

°  Politeia,  485  b:  eKeivr^i;  Tn<;  ouGia;  ty\c,  dei  oüöiiq  Kai  |ui"i  TTX.avuj|uevri^ 
ÖTTÖ  feviaeujc,  Kai  (pOopä(;. 

*^  Politeia,  .50Üb:  xeraYueva  üttu  Kai  Karä  xaÜTd  üei  exovTa;  vgl.  500c: 
deiuji  bn  Kai  kööihuui  ö  fe  qpiXööoqpoq  ö,ui\u>v  .  .  . 

'  Soph.  246  b:  voiitü  uttu  Kai  dadbuaTa  eibiv 

^  Tim.  29  b. 


172  (i.  Kapitel. 

was  durch  die  bJoße  Meinung  (böEin),  vermittels  der  außerlo- 
gisehen  Emptindung  (iiieT'  aiaOi'iaeujg  dXÖYOu)  gefaßt  wird,  das 
ist  das  immer  bloß  Werdende  und  Vergehende,  das  nie  wahr- 
haft Seiende  ("fiYVOjaevov  kqi  dTToX\u|uevov,  övTuuq  be  oubenoTe  öv)\ 
und  die  Unterscheidung  zwischen  dem  ewig  Seienden,  das  kein 
Werden  hat,  und  dem  ewig  bloß  Werdenden,  das  kein  Sein 
hat^,  bewahrt  ihre  volle  Strenge. 

Und  dennoch,  das  hat  sich  ja  längst  gezeigt  gerade  an 
dem  Problem  der  Erkenntnis:  Das  «Schöne  an  sich»,  das 
«Gute  an  sich»,  das  «Gleiche  an  sich»-',  mit  einem  Worte :  das 
eiöo<;  auTÖ  Ka&'  aÜTo^,  oder  kurz  auTÖ  tö  eibo?^',  die  Idee,  die 
immer  in  sich  Eine  und  Dieselbe*^  kommt  uns  psychologisch 
ebenso  nur  durch  die  Wahrnehmung  der  sinnfälligen  Dinge 
zum  Bewußtsein,  wie  sie  logisch  bereits  die  Voraussetzung  da- 
für ist,  daß  wir  die  Dinge  überhaupt  als  gleich  u.  s.  f.  bestim- 
men können.  So  wenig  die  Idee  also  selbst  ein  Ding  ist,  weil 
sie  die  Voraussetzung  der  Erkenntnis  der  Dinge  ist,  so  wenig 
kann  die  Idee,  damit  diese  Erkenntnis  selbst  gültig  sein  kann, 
bloß  in  uns  liegen.  Denn  dann  könnte  sie  ja  eben  nicht  «an 
sich  sein».^  Wir  bestimmen  also  die  vielen  schönen  (iroXXd 
KttXd)  und  die  vielen  guten  Dinge  (iroXXd  dya^d)  und  jegliches 
sonst,  dem  wir  eine  Beschaffenheit  beilegen,  wirklich  immer 
erst  durch  den  Begriff  (biopiz;o|iev  tuji  Xoyuji).  Das  Schöne  an  sich 
aber  (auiö  br|  KaXöv)  und  das  Gute  an  sich  (autö  äjaböv)  aber 
und  was  wir  sonst  auch  immer  als  Vieles  setzten,  das  setzen 
wir  nach  einer  einheitlichen  Idee  (Kax'  ibeav   ^iav)   selbst  als  ein 

»  Ebenda  27  cl/28  a. 

^  Ebenda:  ti  tö  öv  dei,  Y^^eaiv  be  ouk  e'xov,  Kai  ti  tö  •(■rfvöiiievov  f.iev 
äei,  öv  be  oüb^iroTe. 

3  V^l.  oben  S.   1G4. 

*  Parm.  130  b,  v^l.  aueli  die  ebenso  präzise  Formulierung  Symp.  :^11  a/b: 
cOtö  koö'  aÜTÖ  ued'  aüxoO  .uovoeibd^  dei  öv  und  Phaid.  78  c:  jaovoeibe?  öv 
auTÖ  Kaö'  aÜTÖ. 

^  Parm.  130  c. 

®  Vgl.  außer  dem  Vorhergehenden  abermals  Parm.  bes.  151  d/152a. 

'  Vgl.  Aviederum  auEier  den  früheren  Bestimmungen  besonders  Parm.  133  c: 
oi]Liai  öv  Koi  oe  Kai  äWov.  öotk;  oöttiv  Tiva  Kaö'  aiJTr)v  ^KdOTOu  oöoiav  Tiderai 
€ivai  öuoXo-ffiaai  öv  -rtpuJTov  |li^v  |ur)b6u(av  auTuJv  elvai  ^v  r|,uiv.  TTüji;  yöp  öv 
avrr\  Kad"  aÜTqv  ^Ti  eiiri  ; 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  de?  Idealismus.  173 

einheitliches  Sein  (uj<;  pnäc,  ovar]<;).  Von  den  vielen  Dingen  aber 
sagen  wir,  sie  werden  gesehen,  aber  nicht  gedacht,  von  den 
Ideen  hingegen,  sie  werden  gedacht,  aber  nicht  gesehen.^  «Eine 
Idee  pflegen  wir  also  für  jegliclies  Viele  zu  setzen,  das  wir 
mit  demselben  Namen  belegen.»-  Das  in  sich  Eine  Schöne 
und  das  in  sich  Eine  Gute^  ist  also  nicht  bloß  die  Einheit  der 
Erkenntnis  der  schönen  und  guten  Dinge,  sondern  auch  Ein- 
heit der  schönen  und  guten  Dinge  selbst  (evdbe?  —  luaYdöeg)."^ 
Aber  gerade  von  hier  aus  verschärft  sich  das  Problem:  Da 
die  in  sich  einheitliche  Idee  doch  nicht  bloß  in  uns  liegt, 
und  da  nur  das  Bewußtsein  der  Idee,  nicht  die  Idee  selbst 
aus  der  Wahrnehmung  der  Dinge  stammt,  kann  die  Idee 
nimmermehr  bloß  etwa  eine  aus  den  Dingen  abstrahierte  Vor- 
stellung sein.  Denn  in  diesem  Falle  wäre  sie  ja  gar  nichts 
«Scan  sich  Seiendes»,  ja  sie  wäre  noch  weniger  als  das  Werden, 
das  ja  gar  nicht  einmal  wirklich  ist,  wenn  sie  bloß  ein  abstra- 
hierter Schatten  der  werdenden  und  nicht  einmal  wahrhaft 
wirkhchen  Dinge  wäre.  Anstatt  wahrhaft  wirklich  zu  sein,  wäre 
sie  das  Bild  von  etwas,  das  selbst  nicht  wahrhaft  wirklich  ist. 
Wenn  sie  aber  wahrhaft  wirklich  ist,  ein  övtok;  öv,  dann  scheint 
sich  erst  recht  ein  Rätsel  und  Wunder  aufzutuu.  Wie  ist  es 
denn  möglich,  daß  die  Ideen  überhaupt  als  Einheit  für  eine 
Vielheit  der  Dinge  gesetzt  werden?  Wie  kann  denn  das  ewige 
unsichtbare  Sein  mit  den  sichtbaren  Dingen  des  Werdens  über- 

^  PoliteiHi  507  a. 

-  Ebenda  596  a. 

'  Phileb.  15  a:  tö  Ka\öv  ^v  koI  ä'^aQöv  ev  .  .  .  Aus  der  strengen  Ein- 
heit der  Idee  ganz  allein  würde  schon  folgen,  daß  der  Einwand  des  xpiTOc; 
ävOpaiiToi;,  wie  auch  Zeller  a.  a.  O.,  S.  745  bereits  richtig  bemerkt  hat,  Platon  gar 
nicht  trifft,  selbst  wenn,  wie  Natorp,  a.  a.  O.,  S.  213  mit  Recht  hervorhebt, 
der  Einwand  von  Platon  selbst  nicht  schon  Politeia  597  b/c  mit  dem  Be- 
merken abgetan  wäre,  daß  es  von  Einer  Idee  eines  Vielen  nicht  selbst  wieder 
ein  Vieles  geben  kann,  da  ja  sonst  über  dem  Vielen  der  Idee  immer  wieder  eine 
Idee  u.  s.  f.  in  infinitum  stehen  müßte.  Hier  noch  näher  auf  dieses  Miß- 
verständnis einzugehen,  verlohnt  um  so  weniger,  als  es  von  den  genannten 
Foi-schern  längst  mit  gehörigem  Nachdruck  zurückgewiesen  worden  ist  und 
ein    weiteres  Eingehen   außerhalb  unseres  Problems  liegt. 

■*  Ebenda  und  15  b. 


174  6.  Kapitel. 

haupt  SO  zusammenstimmen,  daß  diese  nach  jenem  benannt 
werden  dürfen?  Allein  dieses  scheinbare  Wunder  besteht  nur, 
solange  man  «Wesen»  und  «Werden»  als  eine  Art  von  zwei 
nebeneinander  absolut  bestehenden,  etwa  parallel  gehenden 
Welten  faßt,  von  denen  die  eine  ein  Bild  der  andern  und  jede 
in  gleicher  Weise  «an  sich»  wäre.  «An  sich»  aber  ist  nur  das 
Sein  der  Idee,  die  Kadapd  ouö"ia,  nicht  die  fiveGxc,.  Das  sinn- 
liche Werden  aber  könnte  nur  dann  mit  dem  ewigen  vernünf- 
tigen Sein  in  dieser  Weise  zusammenstimmen,  wenn  dieses 
nicht  nur  den  Begriff,  d.  i.  den  Erkenntnisgrund  (Xoyo?^)  für  die 
Erkenntnis  der  Dinge  des  Werdens  darböte,  sondern  das  Werden 
der  Dinge  selbst  bestimmte,  wenn  die  Vernunftordnung^  zu- 
gleich Werdens-  und  Weltordnung  wäre.  Dazu  aber  müßte 
das  Werden  selbst  eine  Stelle  in  der  Vernunftordnung  erhalten. 
Es  ist  abermals  das  Problem  der  Erkenntnis,  von  dem  aus 
Piaton  hier  eine  Entscheidung  trifft  und  von  dem  aus  allein 
er  eine  Entscheidung  treffen  kann. 

s.  Daß  die  Empfindung  von  sich  aus  nicht  zum  Sein  ge- 
lange, hatte  sich  gezeigt.  Sie  bleibt  von  sich  aus  allein  auf 
das  Werden  verwiesen.  Aber  um  auch  nur  Empfindung  zu 
sein,  hatte  sie  selbst  das  Sein  gefordert  und  vorausgesetzt,  das 
freilich  nicht  ihr  erreichbar  ist,  sondern  allein  der  Erkenntnis 
des  reinen  Denkens  (tuji  irj^  biavoiaq  \oyicT|uüji).'^  So  kündigt  sich 
von  vornherein  von  Seiten  der  Empfindung  nach  der  Richtung 
des  Seins  eine  erkenntnisproblematische  Verknüpfung  beider 
Sphären  an.  Genau  ebenso  aber,  nur  nach  entgegengesetzter 
Tendenz,  springt  von  seiten  der  reinen  Erkenntnis  nach  der 
Richtung  des  Werdens  eine  Verbindung  hervor,  die  freilich 
nicht  mehr  bloß  erkenntnisproblematisch  bleibt,  sondern  zu- 
letzt in  dem  dialektischen  Vollzug  der  Synthese  gipfelt.     Zwar 


1  Vgl.  S.  172. 

'^  Vgl.  unsere  früheren  Ausführungen  über  den  Begriff  der  rdti?,  sowie 
den  engen  Zusammenhang,  in  dem  Politeia,  587  a,  die  Begriffe  Xöto;,  vö|ho?, 
TfiEic  stehen,  worauf  ausführlich  Natorp,  a.  a.  0.,  S.  211  hinweist. 

■■'  Phaidon,  79  a;  dazu  sind  natürlich  auch  die  früheren  Ergebnisse  zu 
vergleichen. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  175 

hat  sich  auf  der  einen  Seite  gezeigt^  und  dieser  Satz  kann  nicht 
aufgegeben  werden,  daß  wir  durch  die  leibliche  Empfindung 
lediglich  an  dem  Weiden  teilhaben^,  jener  Sinnenwelt,  der  eben 
nie  wahres  Sein  eignet,  sondern  gerade  anstatt  des  Seins  nichts 
als  Wechsel  und  Bewegung  zukommt^,  während  wir  allein  durch 
das  vernünftige  Denken  zum  Sein  Beziehung  haben ' ;  und  daß 
der  bloße  Wechsel  und  die  Bewegung  ohne  ein  beharrliches 
Sein  weder  selbst  sein  noch  erkannt  werden  könnte,  daß  also 
die  Erkenntnis  selbst  nicht  möglich  wäre  ohne  ein  beharrliches 
Sein,  mithin  ein  solches  fordert.  Auf  der  anderen  Seite  aber 
zeigt  sich,  und  dieser  Satz  ist  nicht  weniger  bündig,  daß  das 
'< Erkennen  selbst  ein  Tun»  ist  (TToieiv  ti).  «Ist  aber  das  Erkennen 
ein  Tun,  so  ist  das  Erkannt -Werden  notwendig  ein  Leiden,  so 
daß  also  das  Sein,  das  erkannt  wird,  logischerweise  (Kaid  töv 
XoTOv)  bewegt  wird  vermöge  des  Leidens,  das  dem  Beharr- 
lichen doch  nicht  begegnen  kann.>^  Soll  also  das  Sein  erkannt 
werden,  dann  kann  es  gerade  nicht  beharrlich  sein,  es  muß 
vielmehr  selbst  Bewegung,  Leben,  Seele  und  Vernunft  (Kivrjcriv 
Kai  Z^iJüriv  Km  vj^ux^v  Kai  cppGyncriv)"  haben.  Gerade  um  erkannt 
werden  zu  können,  muß  es  bewegt  sein.  Hier  liegt  eine  voll- 
endete Antinomie  vor:  Das  Erkennen  fordert  seinem  Be- 
griffe nach  ein  beharrliches  Sein  und  schließt  die  Bewegung 
aus.  So  lautet  die  Thesis.  Und :  das  Erkennen  fordert  seinem 
Begriffe  nach  die  Bewegung  und  schließt,  da  diese  dem  Beharr- 
lichen doch  nicht  begegnen  kann,  das  beharrliche  Sein  aus. 
So  lautet  die  Antithesis.  Aber  mit  der  höchsten  Klarheit,  gleich 
als  sollte  das  «ewige  Musterbild»  der  Auflösung  der  Antinomie 
schlechtweg  selbst  in  die  Zeit  eingehen  und  für  alle  Zeit  faß- 
lich bleiben,  werden  Thesis  und  Antithesis  in  der  Synthesis 
eines  höheren  Standortes  aufgehoben  und  vereinigt,  indem  die 


1  Siehe  Theait.  1.  c.  und  Kratyl.  1.  c. 

»  Soph.  248  a:  ödJUOTi  ludv  r]^äc,  -feveaei  bv  aiaOriO€UJ(;  Koivioveiv  .  .  . 

"  Ebenda  246  B :  f ^veoiv  ävr  ouaiaq  qaepoiu^vriv. 

*  Ebenda  248  a  (Forts,  von  Anm.  2)  b\ä  XoTtauoO  b^.   m'vjx^i^   Ttpö^  trjv 
övTUj^  oöaiav. 

^  Ebenda  248  e. 

•  Ebenda. 


176  6.  Kapitel. 

Vereinigung  von  Satz  und  Gegensatz  in  ilu'er  Möglichkeit  da- 
hin erklärt  wird,  daß  wir  etwas  (hier  also  die  Bewegung,  ebenso 
wie  die  Beharrlichkeit)  «nicht  auf  die  gleiche  Weise  bezeichnen, 
wenn  wir  sagen,  es  sei  dasselbe  und  sei  nicht  dasselbe».^  Hier 
handelt  es  sich  also  nicht  bloß  um  das  formale  Widerspruchs- 
gesetz, sondern  um  ein  Inhaltsgesetz  dialektischer  Entwickelung, 
die  sich  ja  selbst  bald  als  ein  Fortgang  (öiaXeKTiKi]  iTopeia)^,  als 
dialektische  Bewegung  des  Denkens  (öiavoiiTiKfi  kiviicjk;)^  ent- 
hüllen wird. 

Wenn  also  im  Erkennen  auch  das  beharrliche  Sein  gesetzt 
ist,  «da  das  Erkennen  seinem  Wesen  nach  selbst  sein  muß, 
um  zu  erkennen,  daß  das  Sein  ist»'^,  so  ist  doch  auch  Werden 
und  Bewegung  in  ihm  gesetzt,  insofern  das  Erkennen  selbst 
«ein  Tun»  ist.  Wenn  aber  auch  damit  im  Erkennen  sowohl 
Bewegung  wie  Beharrlichkeit  logisch  gesetzt  sind,  so  ist  das 
«ine,  die  Bewegung  nämlich,  doch  als  seiend,  nicht  aber  selbst 
als  bewegt  gesetzt;  die  Bewegung  ist,  aber  sie  bewegt  sich  doch 
nicht,  und  ebenso  ist  die  Ruhe  als  seiend,  nicht  aber  selbst 
als  ruhend  gesetzt;  auch  sie  ist,  aber  sie  ruht  doch  nicht  selbst.-' 
Und  sofern  nun  Wechsel  oder  Bewegung  auf  der  einen  Seite, 
Beharrlichkeit  oder  Ruhe  auf  der  anderen  selbst  sind,  so  kann 
doch  das  Sein  selbst  und  als  solches  doch  weder  bloß  Beharr- 
lichkeit noch  bloß  Bewegung  sein,  wie  die  Beharrlichkeit  als 
solche  doch  nicht  Bewegung  und  die  Bewegung  als  solche  doch 
nicht  Beharrlichkeit  ist."  Obwohl  seiend,  ist  die  Beharrlichkeit 
doch  nicht  selbst  bloß  beharrlich,  und  auch  nicht  gar  etwa  das 
Sein  schlechthin,  und  obwohl  seiend,  ist  die  Bewegung  doch 
nicht  selbst  bloß  bewegt  und  auch  nicht  das  Sein  schlechthin, 
wie  alles  sonst,  was  nicht    das    Sein    selbst    ist  und  doch  ist.' 


1  Ebenda  256  a ;  ov  fäp  örav  ei'irujuev  ai)Tr\v  toOtöv  koi  ui]  xauTÖv,  ö|Lioiujq 
€ipriKafiev. 

■^  Politeia,  ö'S'-J,  h.  Über  das  -rropeüeödai  der  bia\eKTiK»'i  lu^^oboi;  vijl. 
aucb  533  c/d.      Wir  kommen  auf  dieso  Dinj^e  bald  ausführlicher  zu  sprechen. 

s  Tim.  89  a. 

*  Politeia,  477  c,  vgl.  auch  478  a. 

5  Soph.  250  a/b. 

^  Ebenda  255  a/b, 

'  Ebenda  250  d. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  177 

So  wird  Bewegung  und  Werden  selbst  im  Ewigen  ver- 
ankert, indem,  und  darin  liegt  letzten  Endes  die  Auflösung 
der  Antinomie,  reine  Bewegung  und  empirische  Bewegung  unter- 
schieden werden  und  diese  zuletzt  auf  jene  gegründet  wird. 
Die  reine  Bewegung  ist  nichts  anderes  als  Bewegung  des  reinen 
Denkens  selbst,  insofern  Denken  selbst  Bewegung  ist:  Bewe- 
gung Kaid  TÖv  XÖYOV.^  Das  ist  nicht  die  Bewegung,  in  der 
der  Wechsel  besteht^,  sondern  die,  auf  der  in  letzter  Linie 
aller  Wechsel  erst  beruht,  die  also  selbst  «nicht  in  der  Zeit  liegt», 
sondern  zwischen  der  zeitlichen  Bewegung  und  Ruhe  sich  selbst 
schon  befindet,  so  daß  darin  erst  «Bewegung  in  Ruhe  und  Ruhe 
in  Bew^egung  übergeht».  Darin  Hegt  die  seltsame  Natur  des 
«Plötzlichen».^ 


1  Vgl.  S.  175. 

2  Parm.  162  c  .  .  .  .;  jueToßoXri  bä  Klvr\oiq. 

^  Ebenda  156  d/e:  f\  iia\(p\Y\<;  aüzr]  f\  (fvaic,  ötTOiTÖi;  tk;  ^YKcxöriTai  faexaEu 
Tr\c,  Kivi'iöeuui;  re  Kai  OTdaenx;,  iv  xpövuui  oöbevi  ovoa,  Kai  de,  raüxriv  br)  Kai 
iK  TaÜTi](;  TÖ  TE  Kivoüiaevov  |ueTaßdX\ei  im  tö  ^axdvai  Kai  xö  k.oxöq  im  x6 
Kiveiadai.  —  Es  ist  das  unschätzbare  Verdienst  Natorps,  den  Sinn  dieser  Stelle 
wirklich  erschlossen  zu  haben,  wenn  er  sie  a.  a.  0.,  S.  255  im  Sinne  des 
Kontinuitätsgesetzes  deutet  und  darin  die  «vorschwebende  Unterscheidung  des 
Diskreten  und  Stetigen»  erblickt,  worin  ihm  jetzt  mit  Recht  auch  Hartmann, 
a.  a.  0.,  S.  355  gefolgt  ist.  Leider  ist  darüber  in  der  Platon-Literatur  zumeist 
hinweggelesen  worden;  oder,  wenn  auch  das  nicht  gerade  geschah,  so  hat  es 
doch  sehr  oft  an  dem  rechten  Verständnis  gefehlt,  gleichsam  zur  Bestätigung 
der  Gültigkeit  der  Platonischen  Forderung;  «Mrjbeii;  dY£<J^M^TpTixoq  etöixu)!» 
Natorp  hingegen  ermittelt  scharf  und  bestimmt  die  Kontinuitätsbedeutung  und 
macht  sie  auch  S.  361  ff.  für  die  Unterscheidung  von  z\veierlei  Bewegungen: 
der  primären  und  der  sekundären  geltend  und  sieht  in  jener  das  Prinzip  von 
dieser.  Allein,  und  darin  kann  ich  ihm  nicht  folgen,  er  verlegt  jene  in  die 
Seele  als  das  «erste  dem  Werden  und  der  Bewegung  nach»,  nicht  als  «Prinzip 
im  Sinne  eines  schlechthin  Unwandelbaren,  wie  die  Idee»,  während  ich  das, 
was  ich  die  «reine  BeAvegung»  nennen  möchte,  geradezu  in  die  «Idee  der 
Idee»,  wie  Natorp  die  Idee  des  Guten  nennt,  in  letzter  Linie  verlege,  vde  es 
sich  oben  bereits  ankündigt  und  später  noch  genauer  zeigen  wird,  wofür  ich 
aber  hier  schon  kurz  die  Gründe  angeben  möchte.  Im  Tim.  34  a  wh-d  dem  Weifall 
die  Bewegung  stehender  Rotation  mitgeteilt  als  der  Vernunft  und  Einsicht  am 
nächsten  kommend  (Kivriaiv  .  .  .  xriv  irepi  voöv  Kai  qppövriaiv  judXiöxa  ouaav). 
Nun  lieißt  es  weiter  36  e  freilich,  daß  die  Seele,  die  selbst  natürlich  dem 
Unsichtbaren  beigezählt  wird  (aöxf]  bi  ööpaxoO,  sich  in  sich  selbst  herum- 
bewegt (aüxr)  xe  ^v  auxfn  axpeqpo|Lidvri).  Daß  wir  es  hier  mit  zweierlei  Be- 
Bauch, Das  Substanzproblem.  12 


178  6.  Kapitel. 

Damit  ist  nun  der  Begriff  des  reinen  Werdens  selbst  im 
Sein  begründet,  ohne  daß  er  aber  das  Sein  selbst  ist,  und  damit 
ist  auch  das  Werdende,  wenn  es  auch  nicht  das  Sein  selbst  ist. 
Was  aber  das  Sein  selbst  nicht  ist,  also  nicht  Sein  ist,  das  ist  doch 
offenbar  Nicht-Sein.  Also  müßte  das  Nicht-Sein  selber  sein, 
und  wir  wären  vor  die  Setzung  eines  seienden  Nicht-Seins  ge- 
stellt. In  der  Tat  muß  logischerweise  auch  das  Nicht-Sein 
sein  eben  als  Nicht-Sein,  insofern  wir  ja  sonst  von  ihm  über- 
haupt nichts  sagen  könnten,  nicht  einmal,  daß  es  nicht  sei. 
Also,  um  auch  nur  sagen  zu  können,  daß  das  Nicht-Sein  nicht 
sei,  muß  es  sein,  so  daß  Sein  und  Nicht-Sein  stetig  aneinander 
Anteil  haben,  das  Nicht-Sein  am  Sein,  insofern  das  Nicht-Sein 
eben  als  Nicht-Sein  ist,  das  Sein  am  Nicht-Sein,  insofern  eben 


wegungen  zu  tun  haben,  das  unterliegt  danach  schon  keinem  Zweifel:  die 
gedankliche  Bewegung  mit  der  in  sich  Geschlossenheit  des  Denkens  fordert  die 
in  sich  geschlossene  Rotationsbewegung  des  Alls.  Allein  wie  Natorp  eben 
selbst  bemerkt,  und  wie  es  aus  Tim.  ebenda  und  besonders  Phileb.  30  ff.  her- 
vorgeht, wird  die  Seele  selbst  dem  Werdenden  beigezählt.  Ihre  Bewegung  ist 
nicht  Bewegung  im  Sinne  des  selbst  nicht  werdenden  Werdens.  Die  Welt  ist 
erst  durch  Gottes  Vorsehung  (biä  xnv  xoö  öeoö  irpövoiav)  ein  beseeltes  und 
vernünftiges  Wesen  (Mov  e|LH|iuxov  Kai  Svvouv),  vgl.  Tim.  30  b.  In  der  Ver- 
nunft allein  aber  hegen  die  obersten  Ursachen  (tök;  Tf|i;  ^uqppovoq  (pxjaeiix; 
airiaq  Tzpvjjac,.  Tim.  46  d/e),  und  so  wird  (Tim.  47  b:  tök;  ^v  oiipavüji  toO  voO 
Tr6piöbou(;)  von  den  Umläufen  der  Vernunft  selbst  gesprochen.  Darum  möchte 
ich  als  reine  Bewegung  oder  als  Prinzip  der  Bewegung  schlechthin  nur  die 
K{vTiöiq  biavoriTiKr)  ansehen.  Wenn  Tim.  89  a  ihr  und  der  Allbewegung  als 
am  meisten  verwandt  die  organische  Eigenbewegung  des  Körpers  bezeichnet 
wird,  so  kommt  darin  wohl  ebenfalls  zum  Ausdruck,  daß  die  «seelische  Bewegung» 
nicht  letztes  Prinzip,  sondern,  wie  auch  nach  Nornoi  890  c  nur  Selbstdarstellung 
der  Vernunftbewegung,  nicht  aber  diese  selbst  ist.  Wenn  sich,  wie  bemerkt,  im 
allgemeinen  hier  auch  Hartmann  an  Natorp  anschließt,  so  scheint  mir  doch 
an  einer  anderen  Stelle  bei  Hartmann,  der  ebenfalls  Denken  als  Bewegung 
faßt,  eine  nicht  uninteressante  Abweichung  vorzuliegen,  indem  er  nämlich, 
a.a.O.,  S.  377 f.  bemerkt,  daß  das  Werden  «als  die  Kivriai?  der  Begriffe 
rational  geworden»  sei.  Freilich  faßt  Hartmann  das  ganz  im  Sinne  der  so- 
genannten «reinen  Logik».  Immerhin  glaube  ich  doch  darin  eine  Überein- 
stimmung mit  der  von  mir  hier  vertretenen  Auffassung  erblicken  zu  dürfen, 
daß  das  Prinzip  der  Bewegung  im  Denken  und  in  der  Vernunft  schlechthin, 
nicht  schon  in  der  Seele,  die  mir  der  Vernunft  gegenüber  selbst  erst  ein  Ab- 
geleitetes zu  sein  scheint,  liege.  Nicht  ohne  Interesse  ist  auch  die  Deutung, 
die  Plotin  in  der  VI.  Enneade  diesem  Gedanken  Piatons  gibt,  Lib.  I— III 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  179 

auch  ein  Sein  ein  Nicht-Sein  ist,  eben  das  Sein  des  Nicht-Seins.^ 
Insofern  nun  aber  das  Nicht-Sein  ist,  ist  das  Sein  selbst  nicht, 
nämlich  nicht  das  Nicht-Sein,  weil  es  von  ihm  verschieden  ist. 
Denn  von  allem  gilt,  daß  die  Natur  des  Verschiedenen  (fj  ^aie- 
pou  qpuö'ig),  welche  es  verschieden  macht  von  dem  Seienden 
ein  jegliches  zu  einem  Nicht-Seienden  macht,  und  alles  insge- 
samt können  wir  gleichermaßen  auf  diese  Weise  mit  Recht 
nicht-seiend  nennen  und  auch  wiederum  seiend,  indem  wir 
sagen,  daß  es  Auteil  hat  am  Seiendem  (e-rremep  toö  övToq  laete- 
Xei).^  So  ist  also  das  Seiende  insofern  selbst  nicht,  als  es  das 
übrige  nicht  ist;  denn  indem  es  dieses  nicht  ist,  ist  es  eben 
selbst  Eines,  das  das  zahllose  Andere  (onrepavTa  öe  töv  dpiöjaöv 
tdWa)  nicht  ist."'^  So  ist  denn  auch  durch  das  Sein  des  Nicht- 
Seins  das  Nicht-Sein  nicht  etwa  als  ein  absolutes  Nichts,  also 
auch  nicht  als  das  Gegenteil  vom  Sein  (TouvavTiov  toö  övTog),  sondern 
ledighch  als  das  «Anders-Sein»'^  erwiesen,  indem  ja  die  Natur 
das  «Anders»  sich  selbst  als  seiend  enthüllt.^  Der  Gegensatz 
von  Sein  und  Nicht-Sein  wird  aufgehoben  und  in  den  der 
dialektischen  Entwickelung  des  «An-sich-Seins»  (auTÖ  KaO^'  auTÖ) 
und  «Anders-Seins»  (Oaxepou  qpümq)  fortgebildet.*'    In  dem  Eines 


1  Farm.  160  b  ff. 

s  Soph.  256  d. 

ä  Ebenda  257  a. 

*  Ebenda  258  e. 

5  Ebenda  258  a:  direitrep  f\  ^azipou  cpxjaic,  dq)dvri  tOjv  övtoiv  ovaa. 

'^  Die  Anwendung  der  Hegeischen  Terminologie  wird  man  um  so  zu- 
lässiger finden,  als  sie  in  der  Tat  nur  eine  wörtliche  Übersetzung  ist  und  die 
Worte  auch  eine  sachliche  Übereinstimmung  ausdrücken.  Ihr  Gebrauch  ist  ja 
auch  hinsichtlich  Piatons  längst  üblich.  Siebeck,  a.a.O.,  S.  79;  Bäumker, 
a.  a.  0.,  S.  190;  Natorp,  a.  a.  0,,  S.  292  u.  a.  m.  haben  sich  dieser  Terminologie 
mit  Recht  bereits  bedient.  Hartmann,  a.  a.  0.,  S.  161  ff.  weist  auch  ausdrück- 
lich auf  Hegel  mit  einer  kurzen  aber  zutreffenden  Andeutung  von  positivem 
Verhältnis  und  Unterscheidung  hin.  Mehr  als  Andeutungen  kann  er  be- 
greiflicherweise in  seinem  Zusammenhange  nicht  geben,  und  es  wäre  ein 
lohnendes  Unternehmen,  einmal  das  ganze  Verhältnis  einer  eingehenderen  Dar- 
stellung zu  würdigen.  Das  wäre  eine  schöne  Aufgabe  für  unsere  jungen 
Hegelianer,  wenn  diese  erst  einmal  soweit  gekommen  sein  sollten,  nicht  bloß 
Hegelisch  zu  sprechen  und  anstatt  die  Hegeische  Lehre  «ganz  und  unzerkaut 
zu  verschlucken»  und  also   auch   nicht   zu   verdauen,    das,   was   wirklich   be- 

12* 


180  6.  Kapitel. 

ist  das  Anders  selbst  enthalten.  Denn  indem  Eines  ist,  tritt 
zu  dem  Eines  selbst  das  Sein,  das  von  dem  Eines  selbst  doch 
zu  unterscheiden  ist,  so  daß  Einheit  und  Mehrheit  und  Sein 
selbst  im  Eines  ergriffen  werden.^  In  bestimmter  Beziehung 
—  so  spricht  sich  die  dialektische  Tendenz  vielleicht  am  reinsten 
aus  —  wird  Eines  als  Verschiedenes  und  in  bestimmter  Be- 
ziehung Verschiedenes  als  Eines  gesetzt,  so  daß  im  Sein  selbst 
Identität,  wie  Verschiedenheit  (bezw.  Einheit  und  Mannigfaltig- 
keit) mitgesetzt  sind.  Insofern  im  Erkennen  aber  sowohl  Bleiben 
wie  Wechsel  und  Bewegung  schon  gesetzt  sind,  enthüllen  sich 
Sein,  Beharrlichkeit,  Bewegung,  Identität,  Verschiedenheit  als 
die  fünf  jik^ioja  tujv  jevAv,  als  die  höchsten  «Gattungen».^ 
Damit  aber  ist  die  Vorbereitung  einer  wahrhaft  logischen  Grund- 
legung des  Substanzproblems  so  gut  wie  geschaffen,  eine  Ar- 
beit, die  aber  aus  dem  bloß  vorbereitenden  Stadium  mehr  und 
mehr  sich  zu  genauerer  Bestimmtheit  vollendet. 

9.  Denn  wenn  im  övtiju(;  öv,  in  der  Kaöapd  oüöia  der  Idee 
auch  das  bleibende  und  beharrliche  Sein  ergriffen  ist,  und  wenn, 
wie  Schleiermacher  bemerkt^,  auch  erkannt  wird,  «daß  nur  die 
ewigen  Formen  das  Beharrliche  sind  zu  dem  Wechselnden  und 
die  wahren  Einheiten  zu  dem  Mannigfaltigen,  und  daß  nur 
auf  sie  und  die  Beziehungen  der  Dinge  zu  ihnen  Erkenntnis 
und  Wissenschaft  von  irgend  etwas  kann  gebaut  werden»,  so 
ist  eben  damit  doch  nicht  der  Wechsel  des  erfahrbaren  Wer- 
dens, wie  es  nach  der  Autorität  des  Aristoteles  und  mancher 
älteren  und  neueren  Platon-Ausleger  sonst  scheinen  könnte, 
einfach  beiseite  geschoben.  Gerade  indem  «die  ewigen  Formen 
das  Beharrliche  sind  zu  dem  Wechselnden  und  die  wahren 
Einheiten    zu    dem   Mannigfaltigen»,    sind    Beharrlichkeit   und 


deutsam  und  bleibend  daran  ist,  zu  verstehen  und  das  Wertlose  auszustoßen, 
womit  sie  freilich  aufhören  würden,  bloße  —  ianer  zu  sein. 

Von  diesem  Moment  Platonischer  Dialektik  fällt  nun  auch  ein  helles 
Licht  auf  Piatons  Verhältnis  zu  Parmenides  und  Heraklit,  sowohl  rücksichtlich 
des  Übereinstimmenden,  wie  des  Trennenden. 

1  Soph.  1244  b  ff. 

*  Ebenda  2.5.5  a/256d;  257  d  und  259  c/d. 

3  Einl.  z.  Übers,  des  Phaidon,  S.  12. 


Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  ISl 

Wechsel  bereits  aufeinander  bezogen.  Aber,  wie  das  Beharr- 
liche, so  wird  auch  der  Wechsel  nicht  einfach  in  dogmatischem 
Sinne  statuiert;  er  muß  im  Problem  der  Erkenntnis  selbst  seine 
Fundaraentierung  erhalten.  Darum  muß  er  selbst  zum  Pro- 
blem gemacht  werden,  und  in  der  Tat  wird  das  Problem  irepi 
Yeveoeuüg  Kai  cpdopdg^  dem  Aristoteles  selbst  eine  besondere 
Abhandlung  widmen  sollte,  nicht  bloß  impHzite,  sondern  auch 
explizite  von  Piaton  gestellt  und  exakt  formuliert.  Weil  das 
aber  exakt  nicht  geschehen  kann,  ohne  daß  der  Wechsel  auf 
das  Sein  bezogen  wird,  muß  das  Problem  des  Wechsels  mit 
dem  des  Seins  selbst  verbunden  werden  in  der  ausdrücklich 
gestellten  Frage  über  «Werden  und  Wesen»,  T^vecreobg  xe  xai 
ouaia^  TTepi.^  Wenn  so  der  Wechsel  zum  Problem  gemacht 
wird,  dann  wird  die  Erfahrung  selbst  erst  auf  Vernunft  ge- 
gründet, und  von  dieser  Problemtendenz  aus  kann  in  der  Tat 
die  Ansicht,  daß  man  erst  vermittels  der  Vernunfteinsicht  allein 
Erfahrung  erlange^,  selbst  ihre  tiefste  logische  Begründung  er- 
halten, indem  eben  durch  Vernunftgründe  selbst  die  kritische 
Entscheidung  zu  treffen  ist.* 

Im  Sein  des  Nicht-Seins  aber  ist  der  Grund  für  das  Wer- 
den vom  Problem  der  Wissenschaftslehre  selbst  her  gelegt,  in- 
dem das  Erkennen  sich  selbst  als  ein  Tun  und  das  Nicht-Sein 
sich  selbst  als  ein  Sein  erwies.  Dies  stellte  sich  heraus  nicht 
als  das  Gegenteil  vom  Sein,  also  nicht  als  absolut  Nichts,  son- 
dern als  das  Anders- Sein.  Wie  das  Eine  selbst  ein  Anderes 
ist  (ev  —  eiepov)^  einem  anderen  Einen  gegenüber,  das  für  sich 
selbst  (KttO-'  auTo)  ein  Eines  ist,  so  ist  nunmehr  der  Begriff  des 
Anders-Seins  schlechthin  erreicht  zum  Unterschiede  vom  Einen 
selbst,  dem  An  sieh-Sein  (auio  KaO^'  auiö)  selbst.  Damit  aber  ist 
dem  Problem  des  Werdens  und  Wechsels  wie  seiner  Lösung 
der  Boden  bereitet.     Es  fragt  sich  jetzt,  wie  denn  Eines  Vieles 


1  Phaidon,  96  a. 

*  Soph.  232  c. 

^  Politeia,    582  c:    Kai    lai'iv    itieToi   fe    q)povri0euu(;    |u6voi;    ^laueipoc;    y^- 
Yovö)^  .  .  . 

*  Ebenda:  bm  \6yu)v  ttou  eqpa|aev  beiv  Kpiveaöai. 

*  Ebenda  524  c. 


182  6.  Kapitel. 

und  Vieles  Eines  sei^  wie  denn  die  Einheiten  (luovdöe?),  da 
jede  von  ihnen  eine  und  ebendieselbe  ist  von  Ewigkeit  und 
selbst  weder  Entstehen  noch  Vergehen  aufnimmt  und  einheit- 
liche Beharrlichkeit  hat,  dennoch  in  den  unendlichen  Gestal- 
tungen des  Werdens  zerstreut  und  selbst  als  vielerlei  geworden 
angenommen  werden  können  und  sie  selbst  ganz  außer- 
halb ihrer  selbst.^  Dies  Problem  ist  gleichsam  nur  eine  neue 
Formulierung  jener  im  ErkenntnisbegrifF  aufgedeckten  anti- 
nomischen  Setzung  von  Beharrlichkeit  und  Wechsel  im  Erkennen 
selbst.  Und  auch  seine  Lösung  bewegt  sich  im  stetigen  Fort- 
gang jener  Bahnen,  deren  Richtung  die  Dialektik  mit  den  Be- 
griffen des  «An-Sich»  und  «Anders»  abgesteckt  hat:  Das  «Anders» 
ist  eben  immer  anders  als  das  «An-sich».  Das  «An-sich»  aber 
ist  das  «Eine»,  in  sich  Bestimmte,  Einheitliche,  das  das  un- 
endlich Viele  Andere  nicht  ist.^  Das  Anders-Sein  liegt  also  in 
dem  Sein  des  nicht-bestimmten  Einheitlichen.  Damit  ist  den 
Begriffen  des  Bestimmten  und  Unbestimmten  ihr  logischer  Ort 
gewiesen,  insofern  eben  das  Anders-Sein  selbst  schon  ein  Sein 
bezeichnet,  das  anders  ist  als  ein  bestimmtes  Sein  und  so  das 
erst  zu  bestimmende  Sein  bedeutet,  das  zum  bestimmten  Sein 
erst  gelangen  soll.  Wie  aber  das  Sein  als  Nicht-Sein  nicht 
schlechthin  nicht  ist,  sondern  als  Nicht-Sein  ist,  so  ist  es  auch 
als  Unbestimmt-Sein  nicht  schlechthin  unbestimmt,  sondern  es 
ist  selbst  als  unbestimmt  bestimmt;  und  das  Unbestimmte  liegt, 
insofern  es  eben  zunächst  bestimmt  ist  als  ein  Unbestimmtes, 
das  erst  bestimmt  werden  soll,  selbst  im  Bereiche  der  Idee,  es 
gibt  die  Idee  des  Unbestimmten:  iriv  be  toO  direipou  ibeav.* 
Sie  ist  die  beharrliche  Grundlage  nicht  der  Bestimmung,  sondern 
der    Bestimmbarkeit.     Denn    wie    aus    der    gegenseitigen   Ver- 


^  Phileb.  14  c:  tv  fäp  bi]  TToWct  eivai  Kai  tö  ?v  iroWd  .  .  . 

^  Ebenda  15  b :  tzvj<;  au  Taurac;,  jniav  iKdoTr]v  ouaav  äei  Tr)v  aörriv  Kai 
lüiriTe  Y^veöiv  |uir|Te  ö\eOpov  irpoöbexou^vriv,  öiuuu«;  elva\  ßeßaiÖTora  |Li{av  raü- 
Trjv  •  lacTÖ  be  toOt'  iv  toT(;  -fijvoixlvoxt;  au  Koi  direipoK;  eire  bieairacriui^vriv  Kai 
TToWä  YCTOvuiav  det^ov,  eid'  öXr|v  auTip  auTf|(;  \<Jjpi(;  .  .  . 

3  Vgl.  S.  179. 

"*  Phileb.  16  d.  Auch  nach  Arist.  Phys.  III,  4,  203  a  tritt  Piatons  äneipov 
«unter  den  Ideen»  als  koö'  oütö  und  als  oüai'a  auf. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  183 

knüpfuDg  der  Ideen  erst  die  logische  Rede  entsteht^  so  besteht 
alle  Bestimmung  in  der  gegenseitigen  Verbindung  der  Gat- 
tungen.^ Die  Bestimmung  aber  fordert  selbst  ein  zu  Bestim- 
mendes und  also  selbst  noch  nicht  Bestimmtes.  Daraus  folgt, 
daß  aus  Einem  und  Vielem  (eH  ivbq  |li4v  Kai  ck  ttoXXüuv)  alles 
sei,  von  dem  überhaupt  gesagt  wird,  daß  es  sei  und  daß  es 
Bestimmung  oder  Begrenzung  auf  der  einen  und  Unbestimmtes 
oder  Unbegrenztes  auf  der  anderen  Seite  (-rrepa^  bk  Kai  dTteipiav) 
in  sich  vereinige.^  Da  dieses  nun  so  geordnet  ist  (toutujv  oütuj 
öiaKeKOOiurmevujv),  müssen  wir  jedesmal  von  Allem  Eine  Idee 
(|uiav  iöeav  TravT6(;)  annehmen  und  suchen,  und  wir  werden  diese 
schon  darin  finden.  Wenn  wir  sie  nun  gefaßt  haben,  müssen  wir 
weiter  sehen,  «ob  außer  diesem  Einen  etwa  zwei  darin  sind,  und 
wenn  nicht  das,  ob  drei  oder  sonst  eine  Anzahl  und^mit  einem 
jeden  von  diesen  ebenso,  bis  man  von  dem  ursprünglichen 
Einen  erkennt,  nicht  bloß,  daß  es  Eines  und  Vieles,  sondern 
auch  Wievieles  es  ist.  Die  Idee  des  Unendlichen  aber  (ti'iv  öe 
Tou  direipou  ibeav)  ist  auf  die  Menge  (tö  TrXfiöo^)  nicht  eher 
zuzulassen,  als  bis  man  deren  Zahl  übersehen  hat,  die  zwischen 
dem  Unendlichen  und  Einen  liegt  (töv  dpiO^inöv  .  .  .  töv  ineiaHu 
Toö  dTteipou  le  Kai  toü  evog) ;  erst  dann  ist  eines  jeglichen  Ein- 
heit in  das  Unendliche  (tö  ev  eKacriov  tüjv  irdviiuv  dq  tö  dnei- 
pov)  einzulassen  und  freiziigeben.»*  Das  zu  bestimmende  Ein- 
zelne bedarf  also  nicht  bloß  des  Einen,  wonach  es  bestimmt 
wird,  sondern  auch  eines  Substrates  der  Bestimmung,  das  als 
solches  schlechtweg  unbestimmt,  die  Idee  des  Unbestimmten 
schlechthin  ist.    Die  Bestimmungen  des  Unbestimmten  nach  den 

'  Soph.  259  e :  bid  y^P  friv  dWriXoiv  tojv  dbujv  0U|LnT\oKt"-)v  6  Kofoc,  ^l- 
yovev  f)|uiv. 

2  Ebenda:  erepov  ^repim  laiYvuaOm,  vgl.  2.59  a:  öxi  au,u)aiYvuTai  öWhXok; 
TÜY^vri.  Besonders  charakteristisch  ist  die  Wechselbeziehung  durch  das  «etepov 
^T^puji»  zum  Ausdruck  gebracht,  da  hier  die  griechische  Sprache  ein  Mittel 
besitzt,  das  im  deutschen  nicht  in  der  Kürze  ausdrückbare  Verhältnis  des 
Einen  zum  Anderen  sofort  dahin  zu  präzisieren,  daß  jedes  Eine  zum  Anderen 
selbst  ein  Anderes,  jedes  Andere  anders  als  ein  Anderes  ist. 

3  Vgl.  dazu  auch  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  106  ff.,  Natorp,  a.  a.  0.,  S.  305  ff., 
Hartmann,  a.  a.  0.,  S.  391  ff. 

*  Phileb.  16  de. 


184  6.  Kapitel. 

Einheiten  der  Ideen  ergeben  nun  erst  die  Bestimmtheiten  des 
Vielen  und  damit  der  Gegenständhchkeit,  in  der  die  Gattungen 
sich  vermischen.  Als  Grundlage  der  Bestimmbarkeit  nun  spitzt 
sich  aber  gerade  das  ctireipov  mehr  und  mehr  auf  das  Problem 
der  Substanz  zu,  um  sich  noch  genauer  zu  diesem  zu  entfalten. 
Wir  haben  nicht  mehr  bloß  in  den  Ideen  in  ihrer  Allgemein- 
heit das  Beharrliche  schlechthin;  wir  nähern  uns  vielmehr  in 
der  besonderen  Idee  des  Unendlichen  einem  im  Wechsel  Be- 
harrlichen, an  dem  sich  nämlich  der  Wechsel  der  Bestim- 
mungen (TTepa^)  vollzieht. 

Um  dies  zu  verstehen,  müssen  wir  scharf  und  bestimmt 
die  Unterscheidungen  festhalten,  die  Piaton  hier  getroffen  hat: 
Er  unterscheidet  als  zwei  Gattungen  zunächst  das  Unendliche 
oder  Unbestimmte  einerseits  und  das  Begrenzte  oder  Bestimmte 
andererseits^  und  als  drittes  eiöo?  das  aus  jenen  beiden  Ge- 
mischte.^ Als  TtTapTov  Yevoq  aber  fordert  Piaton  die  Ursache 
der  Vermischung  dieser  beiden  miteinander.^  Durch  sie  kommt 
mit  der  Begrenzung  Gesetz  und  Ordnung  in  das  zu  Bestim- 
mende, da  ja  Gesetz  und  Ordnung  selbst  Bestimmtheit  be- 
deuten (v6|Liov  Km  rdHiv  Ttepa^  exövTuuv).'*  In  dieser  Bestimmt- 
heit nun,  in  der  sich  das  Erzeugnis  aus  Ttepaq  und  dtreipov 
vollzieht  nach  den  durch  das  Ttepag  herausgearbeiteten  Maßen, 
liegt  das  Werden  zum  Sein.^  Das  Werden,  das  selbst  nicht 
wird,  ist  ja  selbst,  aber  es  ist  andererseits  doch  noch  nicht  das 
Sein  selbst,  wie  wir  bereits  gesehen  haben*^,  es  ist,  wie  Windel- 
band sagt,  «Sein  und  doch  Nicht- Sein».''  Es  ist  yeveoiq  ei<; 
ouffiav.  Was  wird,  ist  doch;  aber  es  ist  nicht,  was  es  wird  oder 
zu  dem  es  wird,  d.  h.  es  ist,  insofern  es  wird,  als  werdend, 
aber  insofern  es  als  werdend   ist,    ist  es   nicht    das    bestimmte 


^  Ebenda  23  c;  tö  h^v  äiteipov  .  .  .  tö  b^  irepac;. 

*  Ebenda:  tö  bi  xpiTOV  ii  diacpoiv  toütoiv  ev  ti  tu|U|Li»aTÖ|aevov. 
^  23  d:  Tf|?  SuniuiSeuu«;  toütuuv  irpö?  äWn^ct  Tr)v  airiav. 

*  Ebenda  26  b,  siehe  PoliLikos  283  ff.,  vgl.  auch  Natorp,  a.  a.  O.,  S.  309. 
6  Phileb.  26  d :  '^v  toOto  xiOevTa  tö  toütuuv    ^kyovov  änav,   fiveaiv  dq 

oööiav  iK  tüjv  jaexd  toO  Tiipa-zoc,  direip-fadii^viuv  ixiipujv. 
6  Vgl.  S.  176fy. 
»  Piaton,  S.  89. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  185 

Sein,  zu  dem  es  erst  gelangen  soll,  insofern  es  wird.  Es  ist 
ein  Fortgehen  vom  Unbestimmten  zur  Bestimmung.  Entstehen, 
wie  Vergehen  sind  selbst  im  Werden  immer  auf  das  Sein  be- 
zogen, das  eine  als  ein  Ergreifen,  das  andere  als  ein  Ver- 
lieren des  Seins. ^  Das  Werdende  wird  ein  Anderes,  als  es 
war  und  war  ein  Anderes,  als  es  wird.  Darum  bewegt  sich 
alles  Werden  in  der  Gegensätzlichkeit^,  die  wir  als  Anders-Sein 
kennen.^  Das,  was  es  wird,  wird  es  erst  durch  die  Bestimmung, 
die  Ordnung  und  Gesetz  in  das  Unbestimmte  bringt.  Das  aber, 
was  alles  ordnet  und  lenkt,  ist  nichts  anderes  als  Vernunft 
und  wunderbare  Einsicht.^  So  wird  die  Vernunft,  die  der 
«König  des  Himmels  und  der  Erde»  ist^,  auch  zur  Grundlage  des 
Werdens  zum  Sein.  An  diesem  Punkte  ist,  wie  leicht  ersicht- 
lich, Piaton  der  Überwindung  des  ursprünglichen  Dualismus 
fast  am  nächsten  gekommen:  Das  Unendliche,  Unbestimmte 
ist  selbst  als  «Idee»  bestimmt*^,  die  Bestimmung  selbst  wird  voll- 
zogen nach  der  Mischung  d.  i.  der  Verbindung  der  bestimmten 
Ideen'',  und  zwar  durch  die  Vernunft  selbst.  Hier  bezeichnet 
das  ttTTeipov  ebenso  wie  früher  das  Nicht-Sein,  nicht  mehr, 
wenigstens  nicht  ganz,  ein  der  Vernunftbestimmung  absolut 
fremd  Gegenüberstehendes^,  sondern  wie  dieses  Nicht-Sein^  eine 
Form  der  Vernunftbestimmung  selbst,  was  hinsichtlich  des 
ctTTeipov  um  so  deutlicher  wird,  als  es  selbst  als  «Idee»  auftritt. 


1  Parm.  163  d:  tö  be  YiTveadm  Kai  diröWuödai  |uri  ti  äWo  rji,  f\  rö  |uev 
ouaiai;  ueraXaiaßdveiv,  tö  b'  diroWüvai  oOaiav. 

'  Phaidon,  71a:  ÖTi  irdvTa  oÜTUi  YiTvexai,  ^E  ^vavxiuuv  Trdvxa  xd  evav- 
xia  irpdYMCTa. 

3  Vgl.  S.  179  ff. 

*  Phileb.  28  d:  voöv  Kai  qppovriaiv  xiva  öaujuaaxrjv  ouvxdxxouaav  bia- 
Kußepvdv. 

^  Ebenda  28  c:    Ojc,  vovq  daxi  ßamXeOq  ri|niv  oüpavoö  xe  Kai  f^q. 

6  Siehe  S  183. 

"  Vgl.  ebenda,  siehe  auch  Siebeck,  a.  a.  0.,  S.  93. 

*  Daß  trotzdem  abermals  unter  religiösem  Betracht  der  Dualismus  den- 
noch bestehen  bleibt  und  dessen  Überwindung  also  keine  restlose,  sondern  nur 
eine  annähernde  ist,  werden  wir  später  zu  bemerken  Gelegenheit  haben. 
Freilich  werden  wir  selbst  dann  die  bedeutsamen  Impulse,  die  über  den  Dualis- 
mus hinausführen,  nicht  verkennen  dürfen. 

^  Darüber  vgl.  in  bezug  auf  das  Nicht-Sein  abermals  Siebeck,  a.  a.  0.,  S.  78. 


186  6.  Kapitel. 

Es  bedeutet  kein  eigenes  selbständiges  Ding  oder  Wesen,  in 
das  sich  das  Denken  nur  zu  versenken  brauchte,  sondern  für 
dieses  selbst,  wie  J.  Cohn  sagt,  «die  unbegrenzte  Möglichkeit 
des  Fortschreitens».^ 

Diese  bewegt  sich  gleichsam  nach  unten  wie  nach  oben 
ins  Grenzenlose;  das  Unbestimmte  ist  das,  was  das  Mehr  und 
das  Weniger  (judWov  t€  Kai  rJTTOv)^  aufnimmt,  das,  wie  Her- 
modor  sagt^,  «in  dem  ,noch  mehr  Größer'  und  ,noch  mehr 
Kleiner',  ins  Unendliche  fortschreiten»  kann.  Es  kann  kaum 
schärfer  und  präziser,  als  es  mit  diesen  Worten  geschieht,  aus- 
gedrückt werden,  daß  es  sich  hier  abermals  um  das  Prinzip  han- 
delt, das  wir  heute  als  das  Prinzip  der  Kontinuität  zu  be- 
zeichnen pflegen:"^  «In  das  Genos  des  Unendlichen,  als  Eines 
(ei?  TÖ  ToO  otTTeipou  fivoc;  ÖJc,  eig  ev)  ist  alles  das  zu  setzen,  was 
offenbar  mehr  und  weniger,  stärker  und  schwächer  wird  und 
alles  dergleichen  aufnimmt.»^  «Was  dagegen  alles  das  nicht 
aufnimmt,  sondern  gerade  das  Gegenteil  davon,  so  zunächst 
das  Gleiche  und  die  Gleichheit  und  dann  das  Doppelte  und 
was 'sonst  eine  Zahl  zur  anderen,  ein  Maß  zum  anderen  wäre, 
das  müssen  wir  zum  Begrenzten  (eiq  tö  Trepag)  rechnen,  wollen 
wir  das  richtig  tun.»^  Das  Wärmere  und  das  Kältere,  das 
Stärkere  und  das  Schwächere,  das  Leichtere  und  das  Schwerere, 
alles  das  hat  einen  Fortgang  und  keinen  Stillstand  (TrpoxujpeT 
Kai  QU  )Lievei).     Erst   die    bestimmte    Größe,    die    da  besagt,  wie 

»  J.  Cohn,  a.  a.  0.,  S.  33. 

''  Phileb.  25  a. 

^  Zitiert  in  der  Übers,  nach  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  203. 

*  Auch  hier  hat  das  wohl  zum  ersten  Male  mit  völliger  Bestimmtheit 
Natorp,  a.  a.  0.,  S.  308  ausgesprochen.  Dem  Sinne  nach  liegt  das  freilich 
bereits  auch  in  der  erwähnten,  recht  scharfen  und  kurzen  Formulierung  von 
J.  Cohn,  wenn  er  die  Unendlichkeit  bei  Piaton  richtig  als  «unbegrenzte 
Möglichkeit  des  Fortschreitens»  erkennt.  Es  fehlt  nur  der  explizite  Hinweis 
auf  das  Kontinuitätsproblem.  —  Ich  selbst  halte  mich  oben  im  Texte  lediglich 
an  die  Darstellung  Piatons  selbst  und  will  nur  zum  Schluiä  den  Sachverhalt 
kurz,  nicht  an  der  Platon-Literatur,  sondern  an  einem  Beispiele  aus  der 
exakten  Wissenschaft  noch  etwas  verdeutlichen.  Ich  hoffe,  so  am  besten  den 
Platonischen  Gedanken  in  aller  Kürze  zu  voller  Darstellung  bringen  zu  können. 

*  Phileb.  2.5  a. 

6  Ebenda  2.5  a/b. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus,  187 

warm,  wie  kalt,  wie  schwer  usw.  kurz,  wie  groß  es  ist,  die 
also  das  Unbestimmte  irgendwie  bestimmt,  bleibt  bestehen  (t6 
hk  TToaöv  la-xr]).  Ohne  sie  aber  ist  keine  Bestimmung  möglich, 
weil  das  Unbestimmte  kein  Ende  haben  kann  {\ir]  teXog  ex^iv).^ 
Wir  haben  früher  gesehen'"*,  daß  die  sinnlichen  Faktoren  von 
sich  aus  nicht  zum  Sein  gelangen  können ;  hier  zeigt  sich,  daß 
die  Zahl  es  ist,  die  ihnen  erst  zum  Sein,  d.  h.  zur  Bestimmt- 
heit verhilft. ^  Sie  nimmt  das  Mehr  und  das  Weniger  insofern 
nicht  auf,  als  sie  eben  dann  nicht  mehr  dieselbe  Zahl,  sondern 
eine  andere  Zahl  wäre,  während  das,  was  das  Mehr  und  das 
Weniger  aufnehmen  kann,  dennoch  trotz  dieses  Aufnehmens 
Dasselbe-Bleiben  bedeutet,  nämlich  das  Unbestimmte.  Darum 
aber  ist  die  Zahl  und  eine  andere  Zahl,  das  Maß  und  ein 
anderes  Maß  bestimmt,  w^eil  hier  das  Mehr  und  das  Weniger 
gleich  eine  andere  Zahl,  ein  anderes  Maß  hervorbringen  müßte, 
weil  hier  die  Anderheit  eben  gleich  eine  andere,  wenn  auch  für 
sich  selbst  wieder  gleiche  Zahl,  ein  anderes,  wenn  auch  für 
sich  selbst  wieder  gleiches  Maß  setzte.  So  ist  die  Zahl  das 
Prinzip  der  Bestimmung  des  Unbestimmten,  fortschreitend  nach 
der  Seite  des  Mehr  oder  der  des  Weniger  und  beiden,  die  für 
sich  unbestimmt  sind,  eine  bestimmte  Grenze  setzend,  in  diesem 
Sinne  irepag.  Für  sich  selbst  gehen  das  Mehr  und  das  Weniger 
ins  Unbestimmte  fort  und  haben  kein  Bleiben  (irpoxaipeT  Kai 
DU  iLievei),  erst  das  Ttepai;  bringt  sie  in  dem  irocrov  d.  i.  der  di- 
stinkten  Größe  zum  Stillstand.^ 


1  Ebenda  24  b. 

"  Siehe  oben  bes.  S.  152  ff.  und  156  ff. 

^  Daß  hier  pythagoreische  Einflüsse  vorliegen,  bedarf  kaum  der  Er- 
wähnung.    Vgl.  dazu  Susemihl,  Die  genet.  Entw.  d.  Plat.  Philos.  II,  S.  413. 

*  Zur  Verdeutlichung  des  Platonischen  Gedankens  diene  zum  Schluß  noch 
eine  kurze  exakte  Anwendung:  Man  denke  sich  ein  Gewicht  G  und  das  für 
unsere  Muskel-  und  Gelenkempfindung  als  eben  merklich  schwei'er  wahr- 
nehmbare Gewicht  G',  so  daß  G'  >  G  sich  darstellt.  Zwischen  beiden  sind 
aber  mathemathisch  unendlich  viele  Zwischenstufen  denkbar,  von  denen  jedoch 
keine  als  von  G  und  G'  verschieden  empfunden  wird,  so  daß  z.  B.  das  zwischen 
G  und  G'  liegende  G"  =  G'  und  =  G  empfunden  wird.     Die  Gleichungen 

G"  =  G  und 
G"  =  G' 


188  6.  Kapitel. 

Insofern  es  aber  die  Vernunft  ist,  die  diese  Ordnung  und 
das  Maß  hervorbringt,  und  insofern  das  Unbestimmte  selbst 
Idee  ist,  wird  in  letzter  Linie  das  ideale  Sein  der  ewigen  Ver- 
nunftbestimmung zur  Grundlage  auch  des  empirischen  Wer- 
dens. Aus  ihrer  dialektischen  Gegensätzlichkeit  und  Spannung 
sind  Sein  und  Werden,  Beharrlichkeit  und  Wechsel  ja  befreit 
durch  die  selbst  dialektische  Entwickelung  des  Gegensatzes  von 
Sein  und  Nicht-Sein  zu  der  ßelation  von  An-sich-Sein  und 
AndersSein.  Insofern  nun  weiter  die  Bestimmung  des  Unbe- 
stimmten selbst  das  Werden  zum  Sein  ermöglicht,  werden  die 
werdenden  Dinge  selbst  erkannt  als  Bestimmtheiten  der  Idee  des 
Unbestimmten  nach  Prinzipien  der  Bestimmung.  Repräsentiert 
sind  sie  zunächst  im  Trepa^  als  der  im  Unendlichen  fortschrei- 
tenden und  dieses  selbst  bestimmenden  Vernunftordnung.  Dieses 
Fortschreiten  ist  aber  selbst  ein  solches  von  Genos  zu  Genos, 
durch  das  die  fivr[  sich  vermischen.  So  werden  die  T£vti  selbst 
d.  i.  die  Ideen  zu  Prinzipien  der  Dinge,  sie  sind  nur  außer 
ihnen  (xuipiq),  sofern  sie  nicht  selbst  die  Dinge  sind,  sie  sind 
aber  in  ihnen  und  gleichsam  «außer  sich  selbst»^,  sofern  die 
Dinge  nicht  ohne  sie  sein  können.  Wie  sie  das  sind,  muß  sich 
alsbald  enthüllen. 


würden  für  die  Empfindung  gelten,  trotzdem  G'  >  G.  Sie  wären  der  Aus- 
druck des  sogenannten  physischen  Kontinuums,  das  aber  den  mathematischen 
Grundsätzen  von  der  Gleichheit  jeder  Gröfse  mit  sich  selbst  und  der  zweier 
Gröisen,  die  einer  dritten  gleich  sind,  widerspräche.  Alle  unendlichen 
Zwischenstufen  zwischen  G  und  G'  wären  also  das  äireipov,  das  das  Mehr  oder 
Weniger  ins  Grenzenlose  aufnimmt  und  dessen  jeder  Stufe  ihre  eigene  Be- 
stimmtheit fehlte,  die  sie  nur  durch  die  diskrete  Zahl,  die  definite  Größe 
(ttoööv)  erhalten  kann,  so  daß  jede  erst  durch  die  Zahl  eine  Bestimmtheit 
erlangt  und  dafür  des  irdpaq  bedarf. 

Jedes  andere  Sinnengebiet  kann  liinlänglich  illustrierende  Beispiele  liefern. 
Recht  bezeichnend  sind  vielleicht  die  Adaptationserscheinungen  auf  dem  Gebiete 
der  Temperaturempfindungen.  Man  wisse,  daß  wir  eine  objektiv  identische 
Temperatur  sowohl  als  Wärme,  wie  als  Kälte  empfinden,  je  nach  der  Adaption 
der  den  Reiz  empfangenden  Stelle  unserer  Haut  an  eine  höhere  oder  niedere 
Temperatur,  daß  wir  aber  jene  objektive  Identität,  wie  das  Steigen  und 
Sinken  der  Temperatur  exakt  und  zahlenmäßig  bestimmen  können. 

^  Pbileb.  15  b:  öXriv  aöxriv  aOrfi?  Xi^pk;  vgl.  S.  182,  Anm.  2. 


Der  Substanzbegriff  innerbalb  des  Systems  des  Idealismus.  189 

10.  Zwar  sind  das  Gleiche  an  sich  und  die  gleichen  Dinge 
nicht  dasselbe.^  Allein  wenn  «wir  ganz  die  Ursache  des  Ent- 
stehens und  Vergehens  durchforschen » ^  dann  ermitteln  wir 
die  Ideen  selbst  als  die  Ursachen  aller  Dinge,  die  da  entstehen 
und  vergehen,  als  Prinzipien  aller  Dinge  des  Werdens.  Dabei 
müssen  wir  freilich  scharf  unterscheiden  zwischen  dem,  was 
wirklich  die  Ursache  für  ein  Ding  ist  und  dem,  ohne  das  bloß 
die  Ursache  nicht  Ursache  sein  könnte^,  also,  wie  wir  vielleicht 
am  kürzesten  sagen  können,  zwischen  condicio  per  quam  und 
condicio  sine  qua  non,*  So  ist  einer,  der  um  einen  Kopf 
größer  als  ein  anderer  oder  um  einen  Kopf  kleiner  als  ein 
anderer  ist,  nicht  auch  durch  den  Kopf  größer  als  ein  anderer 
oder  durch  den  Kopf  kleiner  als  ein  anderer.  Vielmehr  ist 
jegliches,  das  größer  als  ein  anderes  ist,  durch  nichts  anderes 
größer,  als  durch  die  Größe  selbst;  und  nichts,  was  kleiner  ist, 
als  ein  anderes,  ist  durch  etwas  anderes  kleiner,  als  durch  die 
Kleinheit  selbst.^  Immer  findet  man,  wenn  man  den  logischen 
Grund,  der  sich  der  Prüfung  als  der  haltbarste  erweist,  zu- 
grunde legt  (u7T0&e|Li6V0(S  eKdö"T0Te  \6yov,  öv  oiv  Kpivuj  eppuj- 
|Li€veö"TaTov  eivai),  die  wahre  aixia  in  dem  autö,  dem  Selbst,  dem 
«An-sich».*'  Wenn  also  etwas  außer  dem  Schönen  selbst  noch 
schön  ist  (dWo  KaXov  irXriv  auxö  xö  KaXöv),  so  ist  es  aus  keinem 
anderen  Grunde  schön  als  dadurch,  daß  es  an  jenem  Schönen 
selbst  teilhat  (bioxi  |Li6xex€i  xou  KaXoü).^  Nur  weil  das  Schöne 
also  in  ihm  ist,  weil  jenes  ihm  beiwohnt  (-rrapouaia)  und  es  am 
Schönen  selbst  Gemeinschaft  hat  (Koivuuvia),  ist  das  außer  dem 
Schönen    schön,  so  daß  allein    durch    das    Schöne   selbst  alles 


1  Phaidon,  74  c:  ou  Taüxöv  äpa  ^otiv  .  .  .TaOxd  xe  xä  loaKai  aüxö  x6  iffov. 
^  Ebenda  96  a. 

^  Ebenda  99  b.  ...  öxi  äWo  ^iv  xi  iOTi  xö  ai'xiov  xüüi  övxi,  äX\o  bd 
^keTvo,  ÖLveu  oö  xö  amov  ouk  äv  irox'  e'i'ri  a'ixiov. 

4  Auch  Natorp  faßt  die  Mitursache  als  condicio  sine  qua  non;  vgl. 
a.  a.  0.,  S.  149. 

5  Phaidon,  101a:  ...  öxi  xö  ineilov  iräv  gxepov  ex^pou  oubevi  ö.X\uji 
\j.ell6v  daxiv  fi  luex^dei,  Kai  b\ä  xoöxo  neiZov,  b\ä  xö  .ueyedoc,  xö  be  IXaxxov 
oubevi  äWuji  g\axxov  r\  amKpöxnxi,  Kai  biä  xoüxo  eXaxxov,  biet  xr^v  öfAiKpÖTiixa. 

6  Ebenda  100  a/b. 
'  Ebenda  100  c. 


1<J0  6.  Kapitel. 

Einzelne  Schöne  schön  ist.^  Jedes  eiboc,  ist  zwar  für  sich 
etwas,  aber  die  Dinge  sind  nur  durch  das  eiboq  etwas,  an  dem 
sie  teilhaben  und  durch  dessen  Teilhabe  sie  darum  bezeichnet 
werden.^  Sie  sind  das,  was  sie  sind,  durch  das  dhoc;,  durch 
die  Idee.  Diese  ist  außer  ihnen  lediglich  als  das  Prinzip  ihrer 
Bestimmung,  das  ihnen  zugrunde  liegt.  Aber  eben  darum 
sind  die  Dinge  selbst  nichts  ohne  die  Idee  und  außer  der  Idee, 
da  sie  ja  überhaupt  nur  sind,  sofern  sie  nach  der  Idee  bestimmt 
sind.  Sie  entstehen  und  vergehen  ganz  allein  durch  die  Idee. 
Durch  die  reine  Bewegung  der  Idee,  ihr  Kommen  (Trpocrepxea^ai, 
TTpoffievai)  und  Gehen  (dTrepxecr^ai)  ist  auch  die  Bewegung,  ist  Ent- 
stehen und  Vergehen  der  Dinge  bestimmt.^  Dieses  Kommen 
und  Gehen  der  Ideen  ist,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  nichts 
anderes  als  die  Bewegung  des  voOg  selbst,  die  durch  die  Ur- 
sächlichkeit des  Idee-Seins  in  ihrer  ganzen  Bedeutung  klar 
werden  wird. 

Die  Ideen  gründen  das  Sein  der  Dinge,  wie  den  Wert  der 
Erkenntnis.  Allein,  wenn  die  Erkenntnis  auch  einen  Wert  dar- 
stellt und  sich,  wie  wir  das  längst  gesehen  haben,  in  ihrer 
Möglichkeit  auf  der  Wertfrage  gründet,  wenn  sie  also,  sofern 
sie  wahrhaft  Erkenntnis  ist,  auch  wertvoll,  also  gut  ist,  so  ist 
sie  doch  noch  nicht  das  Gute  selbst,  sie  setzt  also  die  Idee  des 
Wertes  selbst,  des  Guten  als  den  höchsten  Wissensgegenstand 
selbst  voraus  (r)  toO  dYaOoO  ibia  \xef\OT0v  |ud&ri|ua).^  Jede  Er- 
kenntnis aber  ist,  das  haben  wir  längst  selbst  erkannt^,  die 
Erkenntnis  eines  zu  erkennenden  Objektes  durch  ein  erken- 
nendes Subjekt.  Ist  nun  in  der  Idee  des  Guten  als  in  der 
Wertvoraussetzung  des  Erkenntniswertes  dieser  selbst  gegründet, 
so  muß  sie  nicht  bloß  dem  Subjekte  der  Erkenntnis  die  Macht 


»  Ebenda  100  d. 

^  Ebenda  102  b:  eivai  ti  ^Koarov  tuiv  elbijuv  Kai  toütuuv  räWa  lieraXaia- 
ßdvovxa  aÖTiDv  toutuuv  thv  dTTujvu|Li(av  i'axeiv. 

3  Ebenda  102e/103a. 

••  Politeia,  .ö05  a,  vgl.  509  a.  Hier  also  erfüllen  sich  in  tiefstem  Sinne 
die  früheren  Andeutungen  Piatons,  die  (siehe  S.  138  ff.)  in  der  Idee  des  Guten 
<len  Erkenntnisgegenstand  überhaupt  zum  Unterschiede  von  bestimmten  Gegen- 
ständen bezeichneten. 

^  Vgl.  y.  158,  Theait.  1.  c. 


Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  191 

zu  erkennen  und  dem  Objekte  der  Erkenntnis  die  Erkennbar- 
keit verleihen^;  sie  muß  vielmehr  auch  dem  Objekte  der  Er- 
kenntnis, da  es  sein  muß,  um  erkennbar  zu  sein,  da  also  in 
seiner  Erkennbarkeit  sein  Sein  gefordert  wird,  sein  Sein  ver- 
leihen.^ «Wie  wir  die  sichtbaren  Gegenstände  nur  sehen,  wenn 
die  Sonne  sie  bescheint,  so  erkennt  die  Seele  nur,  wenn  sie  sich 
auf  das  richtet,  was  Wahrheit  und  Sein  erhellt,  dann  versteht 
sie  es,  und  offenbart  ihre  Vernunft. » ^  Wie  aber  «die  Sonne  den 
sichtbaren  Gegenständen  nicht  bloß  Sichtbarkeit,  sondern  Wer- 
den, Wachstum  und  Nahrung  verleiht,  ohne  daß  sie  selbst 
alles  dieses  ist,  ebenso  muß  man  sagen,  daß  dem  Erkennbaren 
nicht  nur  die  Erkennbarkeit  vom  Guten  verliehen  werde,  son- 
dern auch  Sein  und  Wesen  selbst,  da  doch  das  Gute  selbst 
nicht  bloß  das  Sein  ist,  sondern  an  Wert  und  Würde  noch 
das  Sein  überragt».'^  Hier  gelangt  also  mit  aller  Kraft  die 
Erkenntnis  zum  Durchbruch,  daß  die  Grundlage  des  Seins  ohne 
einen  fehlerhaften  Zirkel  nicht  wieder  in  der  Sphäre  des  Seins 
selber  gesucht  werden  kann,  daß  darum  vielmehr  das  Sein  in 
der  Idee  des  Guten,  des  SoUens^  begründet  ist  oder  daß  wir, 
wie  Lotze*^  sagt,  «in  dem,  was  sein  soll,  den  Grund  dessen 
suchen»  müssen,   «was  ist». 


1  Politeia,  508  e :  Toöto  toivuv  tö  ti'iv  d\r^öeiav  rcap^xov  toT?  YiTvuiaKO- 
la^voic;  Kai  toii  fiT'^tÄJtJKOVTi  rqv  b6va|uiv  dirobiböv,  Trjv  tou  diYaOoö  ibiav 
cpdöi  eivai. 

-  Ebenda  509  b,  ausführlich  zitiert  übernächste  Anmerkung. 

3  Ebenda  508  d. 

••  Ebenda  509  b :  ...  Kai  toii;  y^T'^uuckoih^vok;  toivuv  |ari  luövov  tö 
YiTVÜJCKeadai  qpdvai  dirö  tou  äYaöoO  ttapeivai,  &KKä  Kai  tö  eTvai  t€  kui  thv 
oüaiav  ütt'  ^Keivou  aÜTOic;  irpoöeivai,  oük  oijaiaq  övto(;  tou  dYaöoö,  diW  ^ti 
^TT^Keiva  Tii(;  oüai'aq  irpeaßeiai  Kai  buvä|uei  üiTep^xovTO(;. 

*  Es  ist  wohl  nicht  uninteressant,  zu  bemerken,  dal3  der  Denker,  der 
heute  den  Primat  des  Sollens  vor  dem  Sein  am  nachdrücklichsten  vertritt,  daß 
Heinrich  Rickert  nämlich,  die  soeben  zitierte  Stelle  aus  der  Politeia,  509  b 
seinem  «Gegenstand  der  Erkenntnis»  als  Motto  vorgesetzt  hat. 

*  Metaphysik,  S.  604.  Der  Höheixinkt  des  Lotzeschen  Denkens  liegt  also 
auch  unter  rein  systematischem  Betracht  im  echten  Piatonismus.  Auf  die 
Platon-Interpretation,  die  er  in  der  Logik  gibt,  fällt  von  hier  aus  selbst  ein 
ganz  bedeutsames  Licht.     Wir  kommen  bald  noch  darauf  zurück. 


192  6.  Kapitel. 

Sind  also  die  einzelnen  Ideen  auch  die  Voraussetzungen 
der  Diiige,  so  sind  sie  eben  doch  nur  solche.  Sie  sind  Be- 
dingungen der  Dinge,  aber  darum  noch  nicht  selbst  unbedingt. 
Sie  sind  hypothetische  Voraussetzungen  (uTroö^eaeKj)  für  ein  be- 
stimmtes Ziel  und  Ende  (TeXeuin)  der  Erkenntnis.^  Wenn  wir 
von  jenen  ausgehen,  können  wir  dieses  zwar  auf  ihnen  gründen. 
Allein  jener  Ausgang  ist  noch  nicht  ein  eigentlicher  erster  und 
unbedingter  Anfang,  ein  höchstes  Prinzip.  Sie  sind  nur  An- 
fänge für  die  Einzelwissenschaften,  die  eben  Hypothesen  zu 
Prinzipien  haben  (aiq  ai  urroOeffeK;  dpxai)^i  ^^^  diese  lassen  die 
Einzelwissenschaften  selbst  unbewegt  (otKivriTou?  eujoi^),  weil  sie 
nicht  bis  zur  ctpxn  schlechthin  zurück-  sondern  nur  von  Hy- 
pothesen ausgehen  (öid  öe  t6  nn  in'  dpxnv  dveXOoviag  cyKOireTv 
dXX'  eH  uTTodecJeuuv).'*  Die  dialektische  Methode  ganz  allein  hebt 
alle  hypothetischen  Voraussetzungen  auf  und  schreitet  zum 
Anfang  selbst  zurück,  um  hier  festen  Fuß  zu  fassen.^  Nicht 
von  den  Hypothesen  zu  dem  Ende  (xeXeuTri),  sondern  zum  ersten 
Anfang  schlechthin,  dem  Unhypothetischen,  dem  Unbedingten 
schreitet  sie  vor  {eS  uTTO&eoeuuc;  in  dpxnv  dvuTroöeiov),  in  dem 
sie  die  Ideen  als  Hypothesen  selber  gründet*',  als  dem  eigent- 
hehen  Ziel  und  dem  eigenthchen  Zweck  (TeXoq).^  Sofern  also 
der  wahre  Dialektiker,  und  das  allein  ist  der  wahre  Philosoph, 
den  logischen  Grund  und  Begriff  eines  jeglichen  Seins  faßt^, 
darf  der  Philosoph  nicht  eher  ablassen,  als  bis  er  zur  Erkennt- 
nis des  Guten,  dessen  also,  was  das  Gute  selbst  ist,  gelangt 
ist;  dann  erst  ist  er  am  eigentlichen  Ziele  des  Vernünftigen  an- 
gelangt.^     Das   geschieht    auf    dialektischem    Wege   (öiaXeKiiKri 

1  Polileia,  .510  b. 

2  Ebenda  511c.     Vergl.  hierzu  auch  Natorp,  a.a.O.,  S.  172 ff.  u.  188 ff. 
8  Ebenda  533  c. 

*  Ebenda  511c. 

5  Ebenda  533  c/d:  rj  biaXeKxiKri  |i^dobo<;  laövrji  TaÜTTii  -rropeüeTai  tök;  ütto- 
^ioe\c,  dvaipoOaa  ^tt'  aOxriv  xnv  dpxnv,  i'va  ßeßaidiaiiTai. 

8  Ebenda  510  b. 

7  Ebenda  532  b.     Das  t^Xoi;  ist  also  nicht  TeXeuTn,  sondern  gerade  dpxn- 
»  Ebenda  534  b:    koi  bia\€KTiKÖv  KaXeiq  töv  Xöyov  ^KdöTOU  Xa|ußävovTa 
Tfji;  ovoiac,. 

9  Ebenda  532  b:  .  .  .  -rrpiv  äv  aürö  ö  ^ariv  dyaSöv  aüxrii  vor|öei  Xdßrn, 
TÖte  br]  dir'  aüxiDi  Y^T^tTai  tUji  toO  vor|ToO  T^Xei. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  193 

TTpoeia)\  der  also  die  Ideen  im  Einzelnen  in  der  höchsten  Idee 
des  Guten  gründet.  Sie  ist  das  Unbedingte  schlechthin,  in 
dem  auch  die  Ideen  im  übrigen  ihren  Ursprung  haben.  In- 
sofern ist  sie  selbst  Gott  (öeoq),  Wesensbildner  (qpuroupYoc;),  der 
selbst  die  Ideen  schafft^,  der  als  Schöpfer  des  Weltganzen  unter 
allen  Ursachen  selbst  am  besten  ist  {äpxüTOc,  tujv  aiiiujv^),  und 
in  seiner  Güte  selbst  will,  daß  alles  gut  sei.*  Sofern  aber  die 
Ursache  und  das  Prinzip  aller  Bestimmung  des  Unbestimmten, 
das  selbst  eine  Idee  ist,  die  Vernunft,  der  vovc,  ist,  wie  wir 
gesehen  haben,  und  insofern  alle  obersten  Ursachen  Vernunft- 
ursachen (xäq  T\\q  eiucppovo^  cpuoeujg  aixiag  TrpüÜTag)  sind,  auf  die 
alle  mittelbaren  Bewegungen  zurückgehen  (utt'  aXXuuv  Kivou|uevujv)^, 
ist  im  von^ög  deoq'^  die  Einheit  von  Vernunft  und  Gott  und 
damit  von  der  Idee  des  Guten  mit  Gott  und  mit  der  Vernunft 
vollzogen.     Die  Idee  des  Guten,  Gott  und  Vernunft  sind  Eines 

^  Ebenda. 

2  Ebenda  597  d. 

^  Timaios,  29  a. 

*  Ebenda  30  a.  Aus  diesen  Bestimmungen,  daß  einerseits  die  Idee  des 
Guten  als  Grundlage  alles  Seins,  als  höchste  Ursache  und  den  bestimmten 
Ideen  gegenüber  als  Unbedingtes  auftritt,  daß  andererseits  Gott  als  Wesens- 
bildner und  Schöpfer  der  Ideen  gilt  und  als  letzte  der  Ursachen  will,  daß 
alles  gut  sei,  scheint  mir  die  Identität  von  Gott  und  der  Idee  des  Guten  mit 
einer  so  unwiderstehlichen  Kraft  hervorzugehen,  daß  das  Argument  Susemihls 
für  diese  Identität,  das  er  in  Am. 41  zu  seiner  Übersetzung  des  Timaios,  S.  727,  an- 
führt, obwohl  es  an  sich  richtig  ist,  kaum  noch  etwas  besonderes  zu  besagen  ver- 
mag. Susemihl  bemerkt  hier,  daß  Tim.  29  a  vom  Weltschöpfer,  genau  wie  von  der 
Idee  Gottes  in  der  Politeia  517  d/c,  ausgeführt  wird,  daß  sich  die  unvollkommene  Er- 
kenntnis des  Menschen  zu  diesem  höchsten  Gegenstande  nur  schwer  zu  erheben 
vermöge.  Darum  sei  «schon  hiernach  die  Identität  dieser  Idee  mit  dem  Welt- 
schöpfer kaum  zu  bezweifeln».  In  der  Tat  spricht  ja  auch  der  Umstand,  daß 
beide  als  höchster  Wissensgegenstand  bezeichnet  werden,  für  diese  Identität. 
Doch  sind  wohl  die  anderen  Gründe  zwingender.  —  Das  Mißverständnis,  daß 
die  Idee  des  Guten  ein  Geschöpf  Gottes  wäre,  brauchen  wir  wohl  nicht  noch 
besonders  abzuwehren.  Das  hat  schon  Zeller,  a.  a.  0.  II,  S.  694  mit  genügender 
Deutliclikeit  getan,  wenn  er  bemerkt,  «daß  die  Idee  des  Guten,  welche  die 
Ursache  alles  Seins  ist,  nicht  für  ein  Geschöpf  der  Gottheit,  sondern  nur  für 
identisch  mit  ihr  gehalten  werden»  kann. 

*  Ebenda  46  d/e. 
«  Ebenda  92  c. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  13 


194  6.  Kapitel. 

und  Ebendasselbe.  Gott  ist  also,  wie  Windelband  ^  richtig  be- 
merkt, keine  «geistige  Persönlichkeit»,  sondern  eben  die  Idee 
des  Guten,  und  «das  Gute  ist  der  Sinn  der  Welt  und  die  in 
ihr  waltende  Vernunft  (voög)».^  Wie  in  der  Bestimmung  des 
Unbestimmten,  die  vom  voüq  geleistet  wird,  sich  in  letzter  Linie 
Schönheit,  Verhältnismäßigkeit  und  Wahrheit  enthüllen  und 
die  «Mischung»  bestimmen,  so  weisen  alle  diese  drei  hin  auf 
Eines:  die  Idee  des  Guten,  und  sie  alle  drei  sind  selbst  Eines 
in  dieser  Idee.^  In  der  Vernunft  (voü(;,  XoYoq)  als  dem  letzten 
lubegrifif  aller  Werte  enthüllt  sich  Platou  eine  höchste,  alles 
beherrschende  unkörperliche  Ordnung  (k6(J|uoi;  xiq  dauujuaTo?), 
die  zugleich  göttliche,  weltbildende  Ordnung  ist.'^ 

Freilich  es  bleibt  ein  Unterschied:  Was  an  dem  ewig  in 
sich  Selbigen  und  Gleichen  und  Unsterblichen  und  Wahren 
haftet,  selbst  solches  ist  und  auch  in  ihm  entsteht  (xö  toö 
dei  ojLioiou  exöjuevov  Kai  döavdTou  Kai  dXr|&£ia(g,  Kai  auTÖ  toigOtgv 
ov  Kai  ev  toigutuji  YiTvö^evov),  das  hat  ein  höheres  Sein  (ladWov 
eivai),  als  das  an  dem  nie  Gleichen  und  Sterblichen,  das  selbst 
solches  ist  und  in  solchem  entsteht  {r\  tö  |un^^TTOTe  Ö|lxoiou  Kai 
dvriTOÖ,  Kai  auTÖ  toioOtov  Kai  ev  toigutuji  YiTVÖ|Lievov).^  Das 
Sein  und  Entstehen  des  Ewigen  und  Unsterblichen  muß  eine 
andere  Grundlage  haben  als  das  des  Sterblichen.  Daß  Un- 
sterbliches wird,  deutet  auf  einen  höheren  Ursprung:  es  kann 
nur  von  Ewigkeit  her  selbst  entspringen.  Wenn  das  ewige 
Sein  der  Ideen  einen  Ursprung  hat,  so  kann  er  nie  zeitlich 
gemeint  sein:  es  ist  der  außerzeitliche  teleologische  Ursprung 
aus  dem  höchsten  Prinzip,  dem  über  dem  Sein  liegenden  Ziele 

^  Piaton,  S.  106. 

2  A.  a.  0.,  S.  105.  —  Susemihl  dagegen  macht  a.  a.  0.  II,  S.  196,  trotz- 
dem er  richtig  die  Idee  des  Guten  mit  Gott  identifiziert,  aus  Gott  einen  «Träger 
der  absoluten  Erkenntnis».  Daß  eines  das  andere  ausschließt,  daß  ein  «Träger 
der  absoluten  Erkenntnis»  nicht  Idee  und  gar  Idee  des  Absoluten  selbst  und 
daß  die  Idee  und  vollends  die  Idee  des  Absoluten,  als  was  sich  die  Idee  des  Guten 
daistelli.  nicht  bloß  ein  «Träger  der  absoluten  Erkenntnis»  sein  kann,  scheint 
Susemihl  entgangen  zu  sein. 

3  Phileb.  65  a. 

••  Ebenda  64a/b;  vgl.  Pohtikos,  270 äff. 
^  Politeia,  585  c. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  195 

(t€\o(;)  des  Guten,  dessen  Sein  selbst  ein  höheres  Sein  ist  als 
das  seientliche  Sein,  weil  es  schlechtweg  absolut  ist,  unbedingt 
(dvuTTÖTe^ov)  gilt.  In  ihm  haben  die  Ideen  als  das  wahre  Sein 
ihren  Ursprung,  der  selbst  ein  Zweckursprung  ist,  und  als  be- 
stimmte Zwecke  bestimmen  die  Ideen  die  Dinge,  als  deren 
Ursache,  sind  also  «Zweckursachen» ^;  ein  «Reich  der  Werte»^, 
gegründet  in  dem  höchsten  Werte,  dem  Werte  aller  Werte  und 
Inbegriff  der  Werte  selbst.  Sie  sind  ihm  nicht  fremd,  sie  sind 
die  ewigen  Seinsweisen  seines  Über-Seins,  um  das  Werden  zum 
Sein  als  ein  Unter-Sein  zu  bestimmen,  das  mithin  weder  ihnen 
noch  dem  Absoluten  fremd  ist.  Das  Unter-Sein  ist  im  Sein 
gegründet,  wie  das  Sein  im  Über-Sein.  Die  Ideen  sind  Seins- 
Weisen,  die  den  Grund  im  Guten  haben,  und  selbst  Seins- 
Grundlage  des  Werdens  sind.  So  wird  das  gesamte  Werden 
des  gesamten  Seins  wegen.  ^  Das  Gute  ist  die  höchste  Einheit, 
weil  die  dpxn  des  Seins  und  selbst  also  darum  über  dem  Sein, 
weil  das  Prinzip  des  Seins  nicht  im  Sein  selber  liegen  kann, 
wie  das  Sein  das  höchste  Prinzip  des  Werdens,  so  daß 
das  Werden  seinerseits  vermittels  des  Seins  selbst  im  über- 
seienden Guten  verankert  wird,  so  daß  das,  wegen  dessen  etwas 
Werdendes  selbst  wird,  seinen  letzten  Grund  in  der  Ordnung 
des  Guten   findet/    Gott,  das  Gute,  die  Vernunft,  sie  drei  sind 

'  So  u.  a.  Siebeck,  a.  a.  0.,  S.  93;  vor  allem  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  103  ff. 

^  Eucken,  Die  Lebensanschauungen  der  grofäen  Denker,  S.  25;  freilich 
streift  Eucken  manchmal,  so  S.  24,  hart  an  die  dingliche  Auffassung.  Wenig- 
stens ist  auch  hier  der  Unterschied  zwischen  Dingen  und  «selbständigen 
Wesenheiten»  nicht  ganz  scharf  zu  sehen. 

*  Phileb.  54  c:  Zdixnaaav  bä  -^iveaiv  ovaiac,  ^veKO  yi^veadai  Eu|.tTräan?. 

*  Ebenda:  t6  fe  |aqv  ou  ^vena  tou  •fifvö\xevov  äei  y'Tvoit'  äv,  dv  i?\i 
Toö  ciYaOoD  inoipai  ei<eivö  daxiv. 

Hier  möchte  ich  anmerken,  daß  der  Grund  der  Polemik  Natorps,  a.  a.  0., 
S.  195  f.,  gegen  Lotzes  Auffassung  des  «Geltens»  nicht  recht  ersichtlich  ist.  Es 
mag  wahr  sein,  daß  auch  das  Sollen  sich  als  eine  «Art  des  Seins»  betrachten  läßt. 
Nur  glaube  ich  nicht,  daß  dem  Lotze  widersprochen  haben  würde.  Spricht  er  doch 
sogar  von  der  «Wirklichkeit  der  Geltung»,  wie  Cohen  vom  «Sein  der  Geltung».  Es 
ist  nur  in  letzter  Linie  jenes  Sein,  das,  um  mit  Piaton  zu  reden,  «über  das  Sein» 
hinausliegt.  Denn  das  dürfte  richtig  bleiben,  was  neuerdings  auch  Cassirer, 
Das  Erkenntnisproblem  in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit, 
S.  36,  von  Piaton  bemerkt:  «Indem  er  auf  diese  Weise  gegen  den  Begriff  des 

13* 


196  6.  Kapitel. 

Eines^:  der  absolute  Seinsgriind,  die  Ideen  sind  die  Bedingungen, 
durch  die  das  Unbedingte  die  Dinge  selbst  zweckvoll  bedingt 
und  bestimmt  in  ihrem  Sein,  nicht  bloß  Gesetze  der  Erkennt- 
nis der  Dinge,  sondern  ihre  Seinsgesetze,  oder,  wie  Schleier- 
macher sagt,  «in  der  Idee  des  Guten  begründete  Welt- 
gesetze».^  Wie  aber  gerade  darum  die  Ideen  nichts  sind 
außerhalb  und  unabhängig  von  der  Idee  des  Guten,  getrennt 
nur,  soweit  diese  eben  ihr  Prinzip  ist,  eines  aber,  insofern  sie 
ohne  ihr  Prinzip  selbst  nicht  sein  können,  so  ist  auch  die 
Welt  der  Dinge  nichts  außerhalb  und  unabhängig  von  den 
Ideen  sonst,  getrennt  nur,  sofern  sie  selbst  die  Prinzipien  wieder 
der  Dinge  im  Einzelnen  sind,  eines  aber  wieder  insofern  auch 
diese  Dinge  ohne  ihre  Prinzipien  im  Einzelnen  nicht  sein  können. 
Und  insofern  die  einzelnen  Prinzipien   der  Dinge  bedingt  sind 


Seins  fragen  lehrt,  muß  deutlich  werden,  dafa  keine  Antwort,  die  selbst  dem 
Bereich  des  Seins  entnommen  wäre,  der  Tiefe  des  neuen  Problems  mehr 
gerecht  werden  kann».  Diese  Formulierung  Cassirers  ist  nur  deswegen  nicht 
ganz  einwandsfrei,  weil  sie  bei  ihrer  bloß  negativen  Bestimmung  einen 
Progressus  in  infinitum  nicht  ausschließt,  indem  man  wieder  nach  jenem  «Be- 
reiche» des  SoUens  fragen  könnte,  ohne  die  Antwort  selbst  diesem  «Bereiche» 
entnehmen  zu  dürfen  usf.  in  infinitum.  Dieser  Schwierigkeit  entgehen  wir, 
unter  völliger  Anerkennung  des  Richtigen  jener  negativen  Bestimmung, 
indem  wir  positiv  die  Klimax  des  Seins  schlechthin  bei  Piaton  im  Unbeding- 
ten, ävuirööerov,  gründen.  Der  Begriff  des  Seins  läßt  selbst  eine  Klimax  zu, 
was  aus  dem  liäWov  eTvai  Piatons  deutlich  wird:  Wie  das  Nichtsein  selbst 
sich  als  Sein  erwies  und  ebenso  das  Werden,  obwohl  es  doch  erst  zum  Sein 
gelangen  soll,  so  ist  freilich  in  letzter  Linie  auch  das  Sollen,  das  über  dem 
Sein  hinausliegen  muß,  weil  es  dessen  Prinzip  und  Ursache  ist.  Aber  es  ist 
nicht,  wie  das  seientliche  Sein,  es  ist  über  ihm  als  ein  Über-Sein,  wie 
das  Werden  nicht  das  seientliche  Sein  ist,  zudem  es  erst  werden  soll  und 
im  Verhältnis  zu  dem  es  ein  Unter-Sein  ist.  Vielleicht  ist  es  gut,  wenn 
wir  bei  Piaton  in  letzter  Linie  nicht  bloß  Sein  und  Werden,  sondern,  wie  ich 
es  hier  tue,  Über-Sein,  seientliches  Sein  und  Unter-Sein  scharf  unter- 
scheiden, um  so  am  deutlichsten  zu  verstehen,  wie  sie  sich  vereinen.  Die 
Trennung  liegt  selbst  im  «Anders-Sein»  und  in  der  Reflexion,  die  Einsicht 
wieder  im  «An-sich-Sein». 

^  Vgl.  besonders  Pohteia,  596  äff.,  Tim.  28  a  und  dazu  auch  noch 
Phaidros,  247  a. 

*  Anm.  zu  d.  Übers,  d.  Politeia,  S.  585.  Die  obigen  Worte  sind  von 
mir  gesperrt. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  197 

im  Unbedingten,  sind  auch  die  Dinge  bedingt  im  Unbedingten, 
und  die  Welt  der  Dinge  ist  nichts  außerhalb  der  Idee  des 
Guten  oder  Gottes.  Sie  ist  nur  die  Gottheit  in  ihrer 
Wahrnehmbarkeit  als  Bild  ihrer  Vernünftigkeit. ^  Ver- 
nunftmäßig und  darum  zweckvoll  ist  deshalb  sowohl  das  Be- 
dingt-Sein,  wie  das  Ursache-  oder  Bedingung-Sein  der  aitia. 
Es  ist,  wie  die  öiaXeKTiKri  |Liedobo(;  gezeigt  hat,  rein  rational.^ 

Auf  diesem  Höhepunkte  hat  das  Platonische  Denken  wie- 
derum seinen  Ausgangspunkt,  nur  in  unvergleichlich  vertiefter 
Bedeutung  ergriffen.     Von   ethischen   Fragestellungen   ging  es 


*  Timaios,  92  c.  eiKÖiv  toö  voiitoO  Qeöq  axa^r\TÖ<;.  —  Wir  kommen 
darauf  noch  einmal  zurück.  Hier  aber  sei  noch  soviel  bemerkt,  daß  gerade 
in  dieser  Fassung  Piatons  das  Verhältnis  von  Idee  und  Erscheinung  mit  voller 
Deutlichkeit  zum  Ausdruck  gelangt.  Zeller  hat  durchaus  recht,  wenn  er  von 
Piaton,  a.  a.  0.,  S.  745  sagt:  «Er  braucht  nicht  nach  einem  Dritten  zwischen 
Idee  und  Erscheinung  zu  fragen,  denn  beide  sind  ihm  nicht  verschiedene 
nebeneinander  stehende  Substanzen».  Nur  wenn  er  fortfährt  «sondern  die 
Idee  ist  ihm  das  allein  Substantielle»,  so  ist  bei  der  Unbestimmtheit,  in  der 
Zeller  dieses  «Substantielle»,  wie  wir  das  schon  gesehen  haben,  gelassen  hat, 
dieser  Zuzatz  der  Begründung  nicht  ohne  weiteres  annehmbar.  Besser  dagegen 
ist  die  andere  Form  der  Begründung  Zellers,  daß  die  Ideen  die  «immanente 
Ursache»  der  Erscheinungen  seien  (S.  687). 

-  Siebeck,  a.  a.  0.,  S.  95  bemerkt  richtig,  daß  die  Platonische  aiTia  als 
finale  Kausalität,  und  darum  im  Sinne  des  Verhältnisses  von  Grund  und 
Folge,  nicht  eigentüch  im  gewöhnhchen  mechanischen  Sinne  des  Verhältnisses 
von  Ursache  und  Wirkung  zu  fassen  ist.  Mit  Recht  verweist  deshalb  Siebeck 
hier  auf  Spinoza,  der  insoweit  rücksichtlich  seines  Begriffes  der  causa  mit 
Piaton  auf  der  einen  Seite  die  größte  Verwandtschaft  zeigt.  Diese  heß  sich 
auch  hinsichtUch  des  Gottesbegriffes  im  Verhältnis  zu  den  Ideen  und  Dingen 
bei  Piaton  und  den  Attributen  und  Modi  bei  Spinoza  noch  weiter  ver- 
folgen. Auf  der  anderen  Seite  wird  freilich  ein  von  Siebeck  nicht  ange- 
deuteter Gegensatz  deutUch,  wie  er  größer  nicht  gedacht  werden  kann: 
auf  der  einen  Seite  zum  System  erhobene  Teleologie,  auf  der  anderen  Seite 
prinzipieller  Ausschluß  aller  Teleologie.  Für  Spinoza  ist  das  Sein  eben  nie 
Problem,  sondern  immer  Dogma.  Zu  bemerken  ist  hier  vielleicht  noch  Eines : 
Sofern  die  Idee  des  Guten  Ursache  des  Seins,  zugleich  aber  auch  identisch  ist 
mit  Gott  und  Vernunft,  muß  der  göttlichen  Weltvernunft  Piatons  doch  wohl 
Spontaneität  zugeschrieben  werden.  Aber  gerade  hier  zeigt  sich  nun  wohl  deuthch, 
was  wir  früher  (S.  1 66)  nur  andeuteten,  daß  diese  Spontaneität,  wenn  man  von 
einer  solchen  redet,  doch  keine  rein  erkenntnistheoretische,  sondern  eine 
metaphysische  ist. 


198  6.  Kapitel. 

aus.  Allein  für  diesen  Ausgang  war  die  eigentümliche  Kon- 
stellation die,  daß  zunächst  zwar  das  Theoretische  nur  Form 
schien  für  den  praktischen  Gehalt,  daß  aber  dennoch  der 
eigentliche  Ertrag  und  Inhalt  sich  als  ein  theoretischer  erwies, 
für  den  hinsichtlich  der  Bedeutung  das  Praktische  nur  Form 
war.  So  wurden  die  Ideen  erreicht  als  bleibende  Wertord- 
nungen des  Erkennens.  Insofern  sie  aber  bleiben  und  in  ihnen 
nicht  nur  das  Erkennen,  sondern  mit  dem  Erkennen  das  Sein 
gegründet  wird,  wird  in  der  Idee  des  Guten  als  in  der  Idee 
des  absoluten  Wertes,  mithin  im  Praktischen  zuletzt  doch  das 
Theoretische  gegründet.  Das  zunächst  für  den  Anfang  mehr 
persönlich  scheinende  Interesse  am  Praktischen  erlangt  seine 
objektive  Bedeutung,  der  Ausgangspunkt  erlangt  im  Höhe- 
punkt des  philosophischen  Denkens  bei  Piaton  seine  sachliche 
Rechtfertigung:  Die  Ideen  als  Wertordnungen  sind  im  tief- 
sten Sinne  selbst  Weltordnungen,  begründet  in  der  höchsten 
praktischen  Ordnung  des  Guten,  dem  allumfassenden  ordo  or- 
dinans,  der  jetzt  in  seiner  bedeutsamsten  Tiefe  die  Grundlage 
ist  einer  praktischen  Weltordnung  überhaupt,  so  daß,  während 
am  Ausgange  bei  aller  praktischen  Tendenz  der  inhaltliche  Er- 
trag ein  theoretischer  war,  jetzt  aber  auf  dem  Höhepunkte  des 
Denkens  bei  aller  Tendenz  auf  das  Theoretische,  für  das  Er- 
kennen und  Sein,  doch  das  eigentliche  Fundament  im  Prak- 
tischen gewonnen  wird. 

11.  Wir  hatten  gesehen^  daß  es  das  Prinzip  der  Bestim- 
mung ist,  das  in  das  Unbestimmte  «Gesetz  und  Ordnung» 
bringt,  und  daß  das,  was  alles  ordnet,  die  Vernunft  selber  ist. 
Insofern  das  Unbestimmte,  Unendliche  aber  selbst  als  Idee 
auftrat  (iöea  xoö  diTreipou),  konnten  wir  sagen,  daß  Piaton  hier 
der  Überwindung  des  ursprünglichen  Dualismus  am  nächsten 
komme.  Und  diese  Tendenz  der  Überwindung  wird  noch  ver- 
schärft und  verfestigt  durch  die  Zweckursächlichkeit  der  Ideen, 
die  zur  «unbedingten»  Idee  des  Guten  als  der  letzten  Grund- 
lage alles  Seins  und  Werdens  führt.  Und  dennoch  dürfen  wir 
nur  sagen,  daß    Piaton    der  Überwindung   des    ursprünglichen 


'  Vgl.  oben  S.  182  f. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  199 

Dualismus  am  nächsten  kommt,  nicht  aber,  daß  er  sie  rest- 
los vollzogen  hat.  In  seinem  Denken  durchkreuzen  sich  zu 
verschiedene  Motive,  als  daß  er  es  hinsichtlich  der  erklärenden 
Theorie  des  Werdens  zu  einem  vollkommenen  Ausgleich  ge- 
bracht hätte.  Es  ist  sehr  bemerkenswert,  daß  Piaton  selbst 
auf  dem  Höhepunkte  des  Problems  des  Werdens  wiederum 
gesteht,  daß,  weil  wir  nur  hinsichtlich  des  wahrhaft  beharr- 
lichen Seins  volle  Wahrheit  (dXn&eia)  erreichen,  wir  hinsichtlich 
des  Werdens  der  Welt  noch  auf  den  bloßen  Glauben  (-rriaTK;) 
verwiesen  sind,  und  daß  er  darum  selbst  nicht  imstande  sei, 
in  allen  Punkten  und  in  jeglicher  Hinsicht  durchaus  mit  sich 
übereinstimmende  und  stichhaltige  Gründe  zu  geben/  Unter 
den  verschiedenen  Motiven,  dem  erkenntnistheoretischen,  meta- 
physischen, psychologischen,  mythischen,  künstlerischen,  ethi- 
schen, religiösen,  die  sich  alle  hier  miteinander  durchkreuzen 
und  verschlingen,  ist  es  aber  gerade  das  letzte,  das  religiöse, 
das  Motiv  der  tticti?  im  eminenten  Sinne,  das  den  Philosophen 
in  einem  gewissen  Dualismus  festhält,  ohne  ihn  zum  letzten 
Ausgleich  gelangen  zu  lassen.  Freilich  läßt  sich  nicht  ver- 
kennen, wie  gerade  wieder  in  erkenntnistheoretischer  Hinsicht 
vom  Werdensproblem  aus  das  interessanteste  gedankliche  Auf- 
ringen erwächst  und  speziell  für  das  Substanzproblem  die  be- 
deutsamsten Perspektiven  eröffnet.  Indes,  eine  restlose  Über- 
windung des  Dualismus  für  Piaton  in  Anspruch  nehmen,  heißt 
die  geschichtliche  Sachlage  verkennen. 

Wenn  die  Vernunft  die  letzte  Ursache  von  Gesetz  und 
Ordnung  in  der  Bestimmung  des  Unbestimmten  ist  und  das 
d-rreipov  als  ibea  auftritt,  so  scheint  zwar  die  Überwindung  des 
Dualismus  vollzogen.  Allein  es  heißt  zwar,  daß  Gott,  die  höchste 
Ursache  aller  Ursachen,  die  Idee  des  Guten  selbst  wollte,  daß 
nach  Möglichkeit  alles  gut  und  nichts  schlecht  sei  (dYa^d  iuev 
irdvTa,  qpXaöpov  öe  inribev  eivai  Kaid  öuva|uiv).  Aber  es  heißt 
auch  unmittelbar  weiter:  Weil  nun  alles  Sichtbare  in  Unruhe, 
in  regel-   und  ordnungsloser  Bewegung  war,   führte   er  es   aus 


'  Tim.  29  b :  ....  irdvTrii  irdvTU«;  auxoö^  aüxoi?  ö|lio\oyou|ji^voui;  Xöyoui; 
Kai  dirriKpißuüia^vou?  dnoboüvai. 


200  6.  Kapitel. 

der  Unordnung  zur  Ordnung  über  (Kivoujaevov  T:\ri|ae\(ju?  Kai 
äTÜKnix;,  dq  TctHiv  aÜTÖ  riYaTCV  ek  Tf\q  draSia?),  weil  es  so  besser 
(aiaeivov)  war.^  Hiernach  müßte  also  die  «Unordnung»  der 
göttlichen  «Ordnung»  gegenüber  etwas  Selbständiges  und  Ur- 
sprünghches  bedeuten.  Gott  müßte  die  Welt  der  Bewegung 
schon  vorgefunden  haben,  wo  er  doch  der  Ursprung  aller  Be- 
wegung als  deren  höchster  Zweck  sein  soll.  Der  Grundtendenz 
des  Philosophen,  die  Sein  und  Werden  im  Sollen  verankert, 
widerspricht  das  offenbar.  Allein  gerade  die  Theorie  der  Werte, 
die  er  da  gibt,  kommt  einem  religiösen  Bedürfnis  entgegen, 
das  den  ursprünghchen  Dualismus  wieder  eröffnet.  In  der 
«Ordnung»  liegt  der  Wert.  Die  «Unordnung»  muß  außerhalb 
der  Sphäre  der  Werte  stehen.  Sie  kann  nicht  gut  sein.  Gott 
als  dem  Guten  schlechthin  kann  darum  selbst  nur  Gutes  zu- 
geschrieben werden.  Für  die  Übel  der  Welt  muß  man  daher 
andere  Ursachen  als  Gott  postuheren.  Diese  religiöse  bezw. 
theologische  Ansicht  stellt  Piaton  gerade  da  auf,  wo  er  alles 
Sein  und  Werden  in  der  Idee  des  Guten  begründet  hat.^  So 
ist  für  Piaton  nun  doch  die  Vernunft  nicht  die  einzige 
Ursache  der  Welt,  vielmehr  ist  diese  aus  einem  Zusammen- 
treten von  Vernunft  und  Notwendigkeit  geworden.^  Der  Ver- 
nunft tritt  also  die  Notwendigkeit  als  etwas  Selbständiges  gegen- 


»  Ebenda  30  a. 

2  Politeia,  379  c:  tiIiv  bd  KaKoiv  aW  ötto  Zirixeiv  xd  aiTia,  äW  oO  töv 
öeöv;  vgl.  auch  Poliükos,  273(3.  Ebenso  erklärt  Arist.  Met.  I,  6,987  b,  daß  bei 
Piaton  dem  Einen  Prinzip  des  Guten,  in  dem  die  Ideen  und  wegen  der  Zweck- 
ursächlichkeit  das  Gute  in  der  Welt  seinen  Ursprung  habe,  das  Böse  gegenüber- 
stehe. —  Hier  ganz  allein  liegt  der  Antagonismus  auch  innerhalb  der  Politeia. 
Wenn  dagegen  A.  Krohn,  Der  Platonische  Staat,  S.  102  f.  in  der  Bedeutung 
der  Idee  einmal  als  des  «An-sich»,  das  andere  Mal  als  der  Grundlage  der  empi- 
rischen Reahtät  einen  unausgleichbaren  Antagonismus  sieht,  so  verkennt  er, 
wie  er  ja  überhaupt  Piatons  Dialektik  einfach  zu  einem  «Riß»  im  System 
Piatons  überspannt,  wo  doch  das  System  Piatons  selbst  ein  System  der  Dialek- 
tik ist,  völlig,  daß  das  «An-Sich»  nichts  anderes  bedeuten  kann  als  Grund- 
lage der  empirischen  Realität,  oder  wie  Zeller  sagt,  «immanente  Ursache» 
der  Erscheinungen  sein.  Vgl.  dazu  oben  S.  197  und  für  Zellers  Auffassung 
unsere  Anm.  1  auf  derselben  Seite.  Mit  besonderer  Feinheit  hat  Windelband, 
a.  a.  0.,  S.  109  ff.  diese  antagonistisch-dualistischen  Denkmotive  entwickelt. 

^  Tim.  48  a:  i£  dvctYKnq  xe  Kai  voö  auGxdaeoK;  ^YT^vriOri. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  201 

über.  Und  wenn  bei  Platou  die  «Notwendigkeit»  zunächst  auch 
in  einer  Art  von  mythischer  Personifikation  auftritt,  indem  die 
Vernunft  die  Notwendigkeit  «überreden»,  also  durch  Überredung 
sich  fügsam  machen  und  bestimmen  soll,  so  ist  hier  doch  ein 
außervernünftiger  Faktor  als  solcher  aufgestellt.  Er  verwickelt 
Piaton  in  Schwierigkeiten,  aus  denen  er  sich  gänzlich  nie  zu 
befreien  vermag.  Denn  wenn  auch  das  Böse  nicht  selbst  der 
Ktt&apd  Guoia,  dem  övToug  öv  angehören  kann,  so  kann  doch, 
sofern  das  Nicht-Sein  selbst  ist,  ja  im  direipov,  sogar  im  vovc, 
als  «Idee»  aufgehoben  ist,  nun  das  Böse  nicht  etwa  überhaupt 
nicht  sein.  Es  behält  sein  eigenes  Sein,  Ja  es  müßte  zuletzt, 
wie  das  Nicht-Sein  vermittels  des  dTteipov,  im  voO?  die  dvotTKr) 
und  mit  ihr  die  KaKd  selbst  gesetzt  sein,  was  wieder  dem  Prin- 
zip des  Guten  widerspräche.  Ist  es,  so  muß  es  im  voö<g  sein, 
im  voö?  kann  es  nicht  sein,  weil  der  voög  nur  gut  sein  kann. 
Aus  diesem  Widerspruch  vermag  sich  Piaton  nicht  zu  retten. 
In  letzter  Linie  ist  diese  Schwierigkeit  freilich  im  dtreipov  selbst 
angelegt.^  Denn  trotz  seines  «Idee »-Seins  behält  es  der  Ver- 
nunft gegenüber  als  das  Unbestimmte  zwar  nicht  absolut,  aber 
doch  wenigstens  in  gewisser  Hinsicht  etwas  Fremdes.^ 

12.  Damit  sind  wir  zugleich  wieder  an  dem  Punkte  ange- 
langt, der  für  unser  spezielles  Thema  von  unmittelbarer  Be- 
deutung wird,  und  um  dessentwillen  wir  hier  überhaupt  nur 
den  religiösen  bezw.  theologischen  Antagonismus  in  Piatons 
Denken  berührten,  weil  nämlich  aus  ihm  ein  gerade  in  erkennt- 
nistheoretischer Beziehung  bedeutsames  Motiv  für  unser  Pro- 
blem erwächst.     Im  Philebos  waren  vier  Y^vr)  zunächst  vonein- 

^  Natorp  hat  daher  durchaus  recht,  wenn  er  a.  a.  0,,  S.  340  darauf  auf- 
merksam macht,  daß  sich  töHi?  und  äxaSia  verhalten  wie  irepac;  und  äireipia. 

-  Diese  Fremdheit  möchte  ich  aber,  trotzdem  es  gelegentlich  heißt,  das 
Unendliche  sei  nicht  geschaffen  von  Zeus,  sondern  nur  gebunden,  nicht 
mit  Schleiermacher,  Einl.  z.  Phileb.,  S.  131  f.  als  eine  Art  von  Absolutheit 
Gott  gegenüber  hinsichthch  der  Fruchtbarmachung  des  äireipov  für  den  Be- 
griff der  Materie  ansehen.  Diese  Fremdheit  und  Selbständigkeit  ist  dann  eher 
das  Gegenteil  von  Absolutheit,  weil  das  Gegenteil  von  der  allein  absoluten 
Idee  des  Guten,  so  daß  gerade  dieser  Irrationalismus  noch  ein  bedeutsames 
logisches  Motiv  gegen  jeden  materiellen  Dogmatismus  zeitigen  wird.  Inwiefern 
nichts  absolut  Fremdes  im  äireipov  vorhegt,  s.  oben  S.  185. 


202  6.  Kapitel. 

ander  unterschieden  worden:  das  -rrepaq,  das  ctTreipov,  das  eH 
djuqpoiv  TOUTOiv  ev  ti  E\j|ajuiaY6,uevov  und  viertens  Tfjig  ivnjiiHiJjq 
TOUTUJV  TTpög  d'WriXa  inv  aiTiav.  Diese  aiiia^  aber  stellt  der  voOg 
dar.  Hier  treten  irepaq  und  d'-rreipov  selbst  dem  voO^  gegenüber. 
Nun  könnte  man  ja  zunächst  mit  Hartmann  meinen:  «Sofern 
der  voög  Grund  der  Mischung  sein  soll,  so  muß  notwendig  das, 
was  die  Mischung  eingeht,  beides  innerhalb  seines  Bereichs 
gedacht  sein  und  auf  keinen  Fall  außer  ihm;  er  könnte  das 
dTreipov  nicht  auf  die  \xilic,  hin  dirigieren,  wenn  es  nicht  in  ihm 
selbst  seinen  Ursprung  zusammen  mit  dem  irepa?  hätte.  »^  Allein 
so  richtig  das  unter  rein  systematischen  Gesichtspunkten  sein 
mag,  für  diese  unmittelbare  Ineinssetzung  finden  wir  historisch 
bei  Piaton  noch  keinen  Anhalt.  Erst  mittelbar  sind  wir  zu 
dieser  Ineinssetzung  berechtigt,  insofern  die  Vernunft  das  Prin- 
zip der  OrdnuHg  ist,  das  arreipov  selbst  als  iöea  bezeichnet 
wird  und  insofern  endlich  die  Vernunft  Eines  ist  mit  Gott  und 
der  Idee  des  Guten,  in  der  alles  Sein  und  Werden  seinen  Ur- 
sprung hat.  Aber  gerade  aus  dieser  Ineinssetzung  der  Plato- 
nischen Teleologie  erwuchsen  für  das  Verhältnis  von  Sein  und 
Werden  neue  dualistische  und  antagonistische  Schwierigkeiten, 
denen  wir  uns  nun  noch  von  einer  anderen  Seite  nähern  müssen, 
um  ihre  Auflösung,  w^enn  auch  nicht  restlos  zu  vollziehen,  so 
doch  nach  der  Richtung  ihrer  Lage  zu  bezeichnen.  Sie  gipfeln 
in  letzter  Linie  in  jenem  Moment  höchster  Dialektik,  daß  mit 
der  löea  toO  direipou  im  Absoluten  wie  im  «An-Sich»  etwas  als 
außer  dem  Absoluten  und  dem  «An-Sich»,  das  also,  obwohl 
im  Absoluten  und  «An-Sich»  enthalten,  doch  auch  nicht  im 
Absoluten  und  dem  «An-Sich»  enthalten  sein  soll,  gesetzt  ist. 
Diese  Dialektik  entrollt  sich  in  der  Erneuerung  des  Problems 
des  Werdens:  Hier  müssen  wir  jetzt  zunächst  wieder  zwei 
Gattungen  (öuo  eiöri)  unterscheiden:  die  «Eine  des  als  Urbild 
zugrunde  liegenden  dem  Denken  erfaßlichen  und  ewig  Selbigen» 
und  die  zweite,  «die  des  Nachbildes  des  Urbildes  (|Lii)ani^a  toö 
TTapabeiYiLiaTG?  beuiepov),  die  im  Werden  liegt  und  sichtbar  ist». 


'  Phileb.  23c/d  u.  28d  s.  oben  S.  184. 
»  N.  Hartmann,  a.  a.  0.,  S.  421. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  203 

Allein  das,  was  wird,  erfordert  nicht  bloß  das  Urbild,  nach  dem 
es  wird,  sondern  auch  etwas,  in  dem  es  wird,  also  eine  dritte 
(rpiTov)  Gattung  als  die  «Aufnehmerin  jeglichen  Werdens»  (Trdcrriq 
eivai  yeviaeiijq  uTToboxriv).^ 

Diese  dritte  Gattung  «nimmt  alle  Gestalten  auf».^  Aber 
eben  weil  sie  alle  Gestalten  aufnimmt,  «kann  sie  selbst  nie 
eine  Gestalt  annehmen,  die  dem,  was  in  sie  einginge»,  ähnhch 
wäre.  Vielmehr  liegt  sie  der  ganzen  Natur  als  ein  Bildsames 
(eK^aYBov)^  zugrunde,  das  unter  dem  Einfluß  des  in  sie  Ein- 
tretenden sich  bewegen  und  gestalten  (Kivouiiievov^  le  Kai  öiac^xn- 
fiaTiZ:ö)Lievov)  läßt  und  bald  in  dieser,  bald  in  jener  Weise  er- 
scheint. Was  aber  in  sie  eintritt  und  wieder  aus  ihr  austritt, 
das  sind  die  Nachbilder  des  ewig  Seienden,  die  nach  diesem 
geprägt  (tujv  övtujv  dei  |ui|uri)aaTa,  Tuiriu&evTa  au  auTÜJv)  sind»  .  .  .^. 
Die  Aufnehmerin  des  Werdens  nun  verhält  sich  zum  Werden 
wie  die  Mutter,  während  das,  dessen  Nachbild  das  Werden  ist, 
sich  zu  diesem  verhält,  wie  der  Vater,  so  daß  das  Werden  den 
beiden  anderen  Gattungen  gegenüber  die  Rolle  des  Kindes 
übernimmt.^ 

Aber  diese  «dritte  Gattung»  involviert  eben  jene  dialektische 
Schwierigkeit,    die   wir  vorhin  gelegentlich    des  «TTeipov    bereits 


*  Tim.  48e/49a. 

2  Ebenda  .50  b. 

^  Wir  könnten  auch  mit  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  108  «Bildsamkeit»  über- 
setzen; die  sonst  übliche  Übersetzung  «Bildsame  Masse»  verkehrt  jedenfalls  den 
echten  Sinn  Piatons.  Denn  die  iravTa  bexo|.ievri  öüjjLiaTa  (pvoic,  (50  b)  kann 
als  Voraussetzung  des  Somatischen,  selbst  nicht  somatisch  gedacht  werden. 
Zu  dem  ^KjaoTeTov  vgl.  übrigens  Trendeleiiburg,  Piatonis  de  ideis  et  numeris, 
S.  27  f.,  wo  freilich  auch  nicht  immer  die  erwünschte  Schärfe  der  Begriffs- 
bestimmung erreicht  ist. 

••  Diese  Bewegung  ist  wiederum  als  reine  Bewegung,  d.  i.  als  zweckvolle 
Bestimmung  durch  die  Weltvernunft  selbst  zu  denken,  da  ja  das  «Dritte»,  die 
«Aufnehmerin»  sich  bald  als  Raum  erweisen  soll,  der  im  empirischen  Sinne 
ja  selbst  nicht  bewegt  sein  kann,  weil  er  die  Voraussetzung  der  empirischen 
Bewegung  als  Aufnehmerin  des  Werdens  ist. 

^  Tim.  50b/c:  Die  Unterscheidung  zwischen  Gestalten  aufnehmen  (b^x^" 
oöai)  und  Gestalten  annehmen  (Xaiaßdveiv)  gibt  wohl  in  der  Übersßtzung  ebenso 
deutlich  die  Worte  wie  den  Sinn  Piatons  wieder. 

«  Ebenda  50  d. 


204  6.  Kapitel. 

berührten:  Auf  der  einen  Seite  muß  die  Aufnehmeriu,  weil  sie 
alle  Gattungen  aufnimmt,  selbst  außerhalb  der  Ideen  sein  (öiö 
Ktti  TTdvTUJV  eKTÖ?  cibOuv  eivtti  xptiJ^v  TÖ  Tot  TrdvTa  CKÖexojuevov  iv 
auTuJi  Tfevri).^  Auf  der  anderen  Seite  kann  es  als  Grundlage 
des  Sichtbaren  und  Sinnlichen  selbst  nicht  sichtbar  und  sinn- 
lich sein.  Es  muß  selbst  ein  eiöoq,  und  zwar  ein  unsichtbares 
und  gestaltloses  allumfassendes  dboc,  sein,  das,  so  schwierig  und 
schwerfaßlich  es  auch  sein  mag,  richtigerweise  doch  wieder 
in  irgendeiner  Weise  zum  Gedankhchen,  zu  dem  nur  im 
Denken  Erreichbaren  gerechnet  werden  muß.^  Also  sowohl 
iKToq  eiöujv,  als  auch  selbst  ein  eibog  tritt  zwischen  das  «Eine, 
stets  in  sich  Selbige,  Unerzeugte  und  Unvergängliche,  das  weder 
ein  Anderes  in  sich  aufnimmt,  noch  selbst  in  ein  Anderes  ein- 
geht, das  unsichtbar  und  überhaupt  nicht  den  Sinnen,  sondern 
allein  dem  Denken  erfaßlich  ist»,  auf  der  einen  Seite  und  an- 
dererseits zwischen  «das,  das  nach  jenem  erst  benannt  und  ihm 
ähnhch  ist,  das  Sichtbare,  Gewordene  und  ewig  Wechselnde, 
das  an  einem  Orte  entsteht  und  wieder  vergeht,  und  nur  in 
der  böia  vermittels  der  aia^nc^i*»  faßhch  ist»^  —  zwischen  sie 
beide  also  tritt  als  xpiiov  fivoq  das,  das  selbst  dem  Untergange 
nicht  hingegeben,  allem  Werdenden  erst  einen  Sitz  gewährt, 
selbst  den  Sinnen  nicht  faßlich  ist,  sondern  nur  der  Vernunft, 
freilich  nur  in  einem  unechten  Schluß,  erreichbar  ist:  der 
Raum.^  Sein,  Raum  und  Werden  sind  drei  und  dreifach, 
noch  ehe  die  Welt  war.^  Alle  drei  sind,  aber  sie  sind  nicht 
auf  gleiche  Weise.  Wie  das  Werden,  das  selbst  nicht  wird, 
sondern  als  reines  Werden  allem  Gewordenen  vorausliegt,  nicht 
etwa  nicht  ist,   wie    aber    sein  Sein    darin    liegt.  Werden   zum 

1  Ebenda  50  e. 

-  Ebenda  51a:  .  .  .  .  dW  dvöpaxov  eib6<;  xi  Kai  aiaopqpov,  itavbex^«;, 
|aeTa\a)ißdvov  bi  d-rropiJbTaTov  trrii  xoO  vorjToO  Koi  buöaXdjxaxov  aOxö  X^YOvxe; 
ou  vyeuaöiieda. 

^  Ebenda  .52  a. 

*  Ebenda:  xpixov  be  aO  ^ivoq  öv  xö  xf^q  X'^'P^'?  ^^i,  cpöopdv  oö  irpocrbe- 
XÖU6V0V,  ?bpav  bi  irdpexov  öaa  exei  f^veoiv  iräoiv,  aOxö  bi  |aex'  d.va\adr\olac, 
dTTXöv  XoY«ö|Liii)i  xivi  vööiui. 

■'  Ebenda  51  d:  öv  xe  Kai  y^ibpav  Kai  Y^veöiv,  xpta  xpixni,  Kai  trpiv 
oöpavov  -fev^adai. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  205 

Sein  zu  sein,  so  ist  der  Raum  weder  wie  das  reine  Sein,  noch 
wie  das  reine  Werden,  da  er  diesem  ja  erst  einen  «Sitz»  ge- 
währt, um  zu  jenem  zu  gelangen.  Insofern  er  ist,  ist  er  ein 
dboq,  insofern  er  nicht  reines  Sein  ist,  ist  er  iKibq  eibüuv.  Er 
ist  nur  im  Denken  zu  fassen,  und  doch  nicht  durch  ein  echtes 
Denken,  er  gehört  der  Sphäre  des  Denkens  an,  aber  als  etwas 
außer  dieser  Sphäre.  Das  ist  der  tiefste  Sinn  dieses  XoYi(T|nög 
vo&og,  daß  in  ihm  etwas  im  Xoyo?  gesetzt  wird,  als  außer  dem 
XÖYo^,  etwas  als  seiend,  ohne  doch  övtuj«;  öv  zu  sein:  Zwischen 
Sein  und  Werden  gestellt,  ist  er  mehr  als  die  werdenden  Dinge, 
die  ja  selbst  erst  im  Räume  sind,  und  dennoch  ist  er  kein 
eigenthches  «An-sich-Sein»,  und  damit  sind  alle  adinara^  in 
ihm,  deren  Aufnehmerin  er  ist,  des  «An-sich-Seins»  im  tiefsten 
Sinne  entkleidet,  so  daß  erst  hier  die  letzte  und  tiefste  Zerset- 
zung des  materialistischen  SubstanzbegriiTes  geleistet  wird.* 
Der  Raum  ist,  aber  er  ist  nicht  «an-sich»  und  erst  recht  nicht 
absolut,  «unbedingt»,  avurroöeiGV.  Wie  das  Ünbedingt-Sein  ein 
«Mehr-Sein»  ist  als  das  «An-sich»  oder  « Seien thch-Sein»,  und 
dieses  ein  «Mehr-Sein»  als  das  «Nicht-Sein»,  so  ist  das  Raum- 
Sein  weder  ein  «Unbedingt-Sein»  noch  ein  «An-sich-Sein». 
Hierin  liegt  der  einschneidende  Unterschied  zwischen  dem 
Nicht-Sein  Piatons  und  dem  Demokrits.  Für  diesen  sollte  ja 
das  «Nichts»    nicht   weniger  sein  als  das  «Es».     Darum  sollte 


1  Ebenda  50  b. 

^  Trotzdem  ist  es  mehr  als  kühn,  wenn  Lichtenstädt,  Piatons  Lehren  auf 
d.  Geb.  d.  Naturf.,  S.  55  Piatons  Auffassung  nicht  bloß  hinsichtlich  des 
Raumes,  sondern  auch  hinsichtlich  der  Zeit  mit  derjenigen  Kants  so  ziemlich 
auf  eine  Stufe  stellt.  Es  gehört  schon  eine  ziemliehe  Gewaltsamkeit  dazu, 
um  Kants  Auffassung  mit  der  Platonischen  in  der  Raum-  und  Zeilfrage 
so  gut  wie  restlos  zur  Deckung  bringen  zu  können.  Was  dabei  richtig  sein 
mag,  das  wird  von  Lichtenstädt  aber  sofort  schon  deswegen  ins  Sinnlose  ver- 
kehrt, weil  Raum  und  Zeit  als  «ursprünglich  inwohnend»  gedacht  werden 
sollen,  so  daß  Piaton  wie  Kant  einen  subjektiven  Idealismus  vertreten  haben 
müßte,  der  —  darin  stimmen  beide  freilich  völlig  überein,  nur  hat  gerade 
das  leider  Lichtenstädt  nicht  bemerkt  —  dem  einen  so  fern  lag  wie  dem 
anderen.  Kant  selbst  hat  sich  ja  noch  dagegen  verwahren  können,  daß  sein 
Idealismus  im  subjektiven  Sinne  des  Berkeleyschen  Ideahsmus  mißdeutet 
werde.  Piaton  aber  muß  wenigstens  von  der  objektiven  Historie  gegen  eine 
solche  Unterstellung  geschützt  werden. 


206  6.  Kapitel. 

auch  der  Raum  ebenso  ein  «An-sich»  sein,  wie  die  materiellen 
Dinge,  und  er  mußte  es  sein,  damit  diese  es  sein  konnten.  In 
der  eigentümlichen  Differenz  des  Nicht-Seins  liegt  also  das 
tiefste  Unterscheidungsmerkmal  zwischen  Platonischem  Idealis- 
mus und  Demokritischem  Materialismus,  welch  letzterer  sich 
eben  dadurch  am  deutlichsten  als  Materialismus  erweist.  Was 
dieser  als  beharrliche  Substanz  setzt,  das  zersetzt  gerade  der 
Platonische  Substanzbegriff.  Der  kontinuierliche  Fortgang  des 
dialektischen  Prozesses  von  Sein  und  Nicht-Sein,  An-sich-Sein 
und  Anders-Sein,  Bestimmt-Sein  und  Unbestimmt-Sein  hat  dem 
Problem  des  Seins  des  Nicht-Seins  in  der  ibea  toO  direipou  die 
höchste  Zuspitzung  gegeben.  Sie  ist  die  Idee  des  im  Absoluten 
und  im  «An-sich»  gesetzten  Nicht-Absoluten  und  Nicht-An-sich, 
und  insofern  führt  zu  ihr  der  Weg  abwärts  zur  X'J'JP«-  Der 
Raum  hat  im  arreipov  seine  begriffliche  Grundlage,  und  die 
Xwpa  ist  das  anschaulich  gewandte  dtreipov.  Das  direipov  mischte 
sich,  wie  wir  sahen,  selbst  mit  dem  Tiepa«;,  der  Raum  aber 
mischt  sich  nicht.  Insofern  aber  jene  Mischung  von  uepa?  und 
dneipov  lediglich  die  der  Bestimmung  durch  die  Mischung  der 
Gattungen  war,  ist  in  ihr  die  begriffliche  Voraussetzung  für 
die  «Aufnahme  der  Gestalten»  im  Räume  gewonnen,  und  die 
Ideen  erlangen  den  Sinn  der  d(TiJU|uaTa  ei'bii  jetzt  in  vollster 
Klarheit:  Sie  sind  nicht  Gestalten,  wie  die  (Jüu|uaTa  im  Räume, 
denn  sie  sind  dadjjLiaTa,  sie  sind  vielmehr  Prinzipien  aller 
Gestaltung  überhaupt,  die  das  Werden  in  der  Aufneh- 
merin des  Werdens  zum  Sein  bestimmen. 

Der  Raum  ist  also  das,  «in  dem»  die  Dinge  werden,  nicht 
das,  <aus  dem»  sie  werden.^  Die  irdvia  bexo^evri  aih^xaia  q>\}(S\c,^ 
kann  auch  ihrerseits  nicht  den  (TiLiLiaTa  zugezählt  werden,  son- 


'  Tim.  49e/50a;  Politikos,  286d.  Über  den  Unterschied  des  ^v  iLi  und 
ii.  ou  Vgl.  auch  J.  Baßfreund,  Über  d.  zw.  Prinz,  d.  Sinnl.  u.  d.  Mat.  bei  Fiat., 
S.  31,  sowie  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  166,  woselbst  auch  weitere  Literatur,  neuer- 
dings auch  Hartmanu,  a.  a.  0.,  S.  431.  Im  Einzelnen  gehen  die  Ansichten  der 
Forscher,  so  sehr  sie  sich  über  den  prinzipiellen  Unterschied  klar  sind,  an 
diesem  Funkte  so  auseinander,  daß  eine  Diskussion  im  Rahmen  dieser  Unter- 
suchung eine  Unmöglichkeit  ist. 

2  Tim.  50  b. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  207 

dern  muß  ein  dcTuu^aTOv^  sein.  Das,  worin  die  körperlichen 
Dinge  werden  und  das  also  schon  deren  Voi-aussetzung  ist, 
kann  selbst  nicht  körperlich  sein.  Was  wir  gewöhnlich  die 
Elemente  nennen,  dürfen  wir  also  keineswegs  als  Urgründe 
und  Prinzipien  (dpxd<;)  der  Welt  ansehen.  Sie  sind  nicht  den 
Buchstaben  als  den  Grundelementeu  der  Sprache  (ö'Toixeia),  son- 
dern erst  den  Gebilden  der  Silben  (auXXaßfjq  eiöeoi)  zu  ver- 
gleichen.^ Sie  besehreiben  selbst  einen  Kreislauf  des  Werdens 
und  der  Umsetzung  ineinander^,  keines  von  ihnen  hat  eine 
beharrhche  Festigkeit  (ßeßaioTriTa).  Man  kann  darum  nicht  sagen: 
dies  ist  Wasser,  sondern  immer  nur:  es  ist  etwas  gerade  in 
dieser  Beschaffenheit  Wasser*,  weil  eben  keines  ein  Beharr- 
liches (uTTOiaevov)  ist  und  keinem  etwas  Bleibendes  (fi6vi|Lia)  zu- 
kommt.^ Das  bloß  Wiebeschaffene,  besser  vielleicht  die  bloße 
Qualität*^  als  solche,  das  Warme  oder  Weiße,  wie  deren  Gegen- 


^  Ari.st.  Met.  I,  7,988  a/b.  Hier  unterscheidet  A.  darum  auch  ganz 
richtig  zwischen  Substanz  und  Materie. 

2  Tim.  48  b. 

'^  Ebenda  49  c. 

"  Ebenda  49  d. 

°  Ebenda  49  e. 

®  Susemihl  übersetzt,  Übers,  zum  Timaios,  S.  765  im  Folgenden  geradezu: 
«die  Wärme»  und  «die  Weiße».  Dementsprechend  wtirde  auch  das  tö  b^ 
ÖTToivoOv  Ti  am  besten  kurzweg  mit  Qualität  übersetzt  werden,  und  das  drückt 
auch  das  Folgende  aus,  wonach  es  kein  toOto  und  TÖbe  ist,  da  das  toOto 
und  TÖbe  bereits  die  Voraussetzung  und  das  Substrat  des  öuoivoOv  ist.  Hier 
treten  wir  nun  an  das  bestimmte  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidenz 
heran,  das  wir  aber  im  idealistischen  Sinne  nehmen  müssen,  also  um  den 
Aristotelischen  Terminus  vorwegzunehmen,  als  Kategorie,  wenn  wir  damit 
überhaupt  einen  Sinn  verbinden  wollen.  Es  ist  sehr  interessant  zu  bemerken, 
wie  zwei  Forscher,  Bäumker  und  Baßfreund,  hier  in  Gegensatz  geraten,  weil 
sie  das  Richtige  nur  nach  der  einen  Seite  hin  sehen.  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  157 
erkennt  richtig,  daß  wir  das  Verhältnis  von  toCito  und  öttoivoöv  nicht  im 
materialistischen  Sinne  nehmen  dürfen.  Aber  weil  er,  darin  stimmt  er  mit 
Baßfreund  überein,  sich  das  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidenz  selbst 
nur  materialistisch  zu  denken  vermag,  verkennt  er,  daß  hier  dieses  Verhält- 
nis vorliege.  Baßfreund  umgekehrt  erkennt  a.  a.  O.,  S.  30  ff.  richtig,  daß  es 
sich  hier  um  das  Inhärenzverhällnis  handelt.  Aber  er  verkennt,  was  Bäumker 
erkennt,  daß  wir  es  nicht  materialistisch  nehmen  dürfen,  und  so  deutet  er  es 
selbst  materiahstisch,   weil   auch   er  Substanz   und  Akzidenz   nur  im  materia- 


208  6.  Kapitel. 

teil  (tö  be  ottoivoOv  ti,  ^ep)iöv  r\  XeuKÖv  r\  Kai  ötioOv  tojv  evav- 
Tiujv)  lassen  die  Bezeichnung  des  «Dieses»  und  «Das»  (toOto 
Kai .  .  .  TÖbe)  nicht  zu.  ^  Das  dagegen,  in  dem  alles  hineinwird 
und  zur  Erscheinung  gelaugt,  wie  es  auch  wieder  bei  seinem 
Vergehen  dahin  zurückkehrt  (ev  uji  be  eYTiTv6)Lieva  dei  ^Kadia 
auTuJv  qpavTdZieTai  Kai  rraXiv  eKei^ev  diroXXuTai),  das  allein  darf  als 
«Dieses»  und  «Das»  bezeichnet  werden^,  weil  es  die  Grund- 
lage aller  Bestimmtheit  und  Beschaffenheit  ist,  die  in  ihm  ent- 
stehen durch  göttliche  Ordnung.  Gott  bestimmt  und  begrenzt 
den  Raum  und  gestaltet^  in  ihm  die  werdenden  Dinge  mit 
€ibec5"i  Kai  dpiO|uoT(;  als  den  Prinzipien  der  Gestaltung.  So  werden 
die  körperlichen  Elemente  auf  mathematische  Verhältnisse  zu- 
rückgeführt, und  zwar  sind  alle  körperlichen  Bestimmungen 
geometrischen  Ursprungs,  reguläre  Dreiecke  die  dpxai  aller 
KörperHchkeit ,  insofern  sie  weiter  die  Grundlagen  regulärer 
Polyeder  bilden,  die  die  eigentlichen  Fundamentalkörper  sind.* 
Als  solche  sind  diese  unwahrnehmbar  klein,  und  erst  deren 
vielfache  Anhäufung  ermöglicht  die  sichtbaren  Massen.^  So 
nimmt  der  Raum  die  mathematischen  Gebilde  und  in  diesen 
selbst  die  Körper  auf.  Daß  sie  nichts  ursprünglich  und  Selb- 
ständiges neben  Idee  und  Raum  Bestehendes  sein  können,  lag 
in  der  ganzen  Ausgangsposition  des  Problems.  Die  Durch- 
führung des  Problems  hat  sie  nun  vollends  als  Raumbestimmt- 
heiten erwiesen.     Damit  ist  aber  die   Funktion   des  Ttepa?  und 

listischen  Sinn  zu  fassen  weiß.  Von  demselben  Fehler  aus  kommen  beide 
Forscher  zur  entgegengesetzten  Auffassung,  behauptet  der  eine  richtig,  daß  hier 
das  Substanzverhältnis  vorliege,  während  das  dieser  irrtümlicherweise  leugnet, 
weil  dieser  wieder  richtig  dem  Platonischen  Idealismus  Fiechnung  trägt,  jener 
aber  nicht  —  und  alles  das,  Aveil  sie  Substanz  und  Akzidenz  übereinstimmend 
nur  materiell  fassen.  Das  ist  ganz  lehn-eich,  weil  es  zeigt,  daß  nur  eine 
idealistische  Deutung  die  Schwierigkeit  überwinden  hilft.  Vgl.  dazu  die 
treffenden  Bemerkungen  Windelbands  über  den  Ausdruck  «Materie»  a.  a.  0., 
S.  108,  die  wir  unten  nach  (S.  215)  zitieren. 

1  Tim.  50  a. 

'  Ebenda  49e/o0a. 

^  Ebenda  53a/b:  biecrxrmaTiaaTO. 

*  Ebenda  53d/56d. 

'"  Ebenda  56c:  2uva9poio9^vTUJv  b^  iroXXuJv  -vovq  ö'ykou?  öpäaöai. 


Der  Substaiizbeyriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  209 

ctTTeipov  in  neue  Wirksamkeit  getreten,  sie  wird  zur  Grundlage 
der  geometrischen,  und  diese  zur  Grundlage  der  anschaulichen 
Bestimmung.  In  der  Konstruktion  quantitativer  Raumbestimmt- 
heit erwachsen  die  Dinge,  die  durch  Teilhabe  an  den  Ideen 
der  eigenschaftlichen  Bestimmung  fähig  werden.  In  der  quan- 
titativen Grundlage  eigenschaftlicher  Bestimmungs- 
möglichkeit aber  hat  der  Begriff  der  Substanz  selbst  seine 
tiefste  Bestimmung  gewonnen.  Wir  wären  damit  eigentlich  am 
Ende  der  Untersuchung  und  brauchten  nur  noch  das  Fazit  zu 
ziehen.  Auf  das  öiaaxrmaTiZieö'dai  ei'öecTi  Kai  dpiö^oT^,  durch  das 
Gott  und  Raum  selbst  miteinander  in  Beziehung  treten,  fällt 
aber  hinsichtlich  des  Verhältnisses  von  Gott  und  Welt  noch 
einmal  ein  Licht,  das  Piaton  in  dem  interessantesten  Ringen 
mit  dem  Dualismus  selber  zeigt.  Von  hier  aus  erfährt  auch 
unser  spezielles  Problem  noch  eine  neue  Beleuchtung.  Darum 
wollen  wir  zum  Schluß  noch  mit  einigen  Bemerkungen  darauf 
zurückkommen,  ehe  wir  das  eigentliche  Resultat  unserer  Unter- 
suchung feststellen. 

13.  Welche  Rolle  der  Raum  im  metaphysischen  System 
Piatons  hat,  kann  keine  Frage  sein.  Wenn  Gott  als  Welt- 
schöpfer lediglich  Ursache  des  Guten  in  der  Welt  sein  soll,  das 
ideale  Sein  aber  die  eigentliche  Ursache  sein  soll,  so  kann  Gott 
zum  Räume  sich  nur  verhalten,  wie,  nach  unserer  früheren 
Formulierung^  die  condicio  per  quam  zur  condicio  sine  qua 
non.  Das  ist  der  Dualismus,  der  im  Timaios  in  gleicher  Weise 
wie  in  der  Politeia  nicht  gänzlich  aufgeht.  Aber  es  ist  doch 
recht  bemerkenswert,  daß  sowohl  vor  wie  nach  der  Deduktion 
des  Raumes  im  Timaios  der  Versuch  in  Wirksamkeit  bleibt, 
die  Welt  als  Selbstdarstellung  Gottes  zu  begreifen,  so  daß  hier 
immerhin  wenigstens  das  Bestreben,  über  den  Duahsmus 
hinauszugelangen,  vorliegt,  wenn  es  auch  niemals  an  sein  eigent- 
liches Ziel  gelangen  kann  und  der  Dualismus  nur  mit  Gewalt- 
samkeiten hinwegzuinterpretieren  wäre.  Und  gerade  in  diesem 
Duahsmus  offenbart  sich  ein  interessantes  Ringen  mit  dem 
Substanzproblem,  das  diesem  seine  bedeutendste  Vertiefung  in 


^  Vgl.  auch  Windelband,  a.  a.  0.  ebenda. 
Bauch,  Das  Substanzproblem. 


210  G.  Kapitel. 

der  ganzen  Philosophie  des  Altertums  gibt,  wenn  es  auch  nicht 
seine  restlose  Lösung  bezeichnen  kann,  weil  diese  zuletzt  doch 
jenseits  alles  Dualismus  liegen  müßte. 

Wir  haben  schon  gesehen^  daß  Gott  als  die  «beste  unter 
den  Ursachen»  bezeichnet  wurde,  und  wenn  zugleich  der 
KÖoiaog  als  KotWicrio^  tujv  tctovötujv'^  gilt,  so  liegt  darin  immer- 
hin schon  ein  bedeutsamer  Impuls,  die  Wirksamkeit  der  con- 
dicio,  sine  qua  non  zugunsten  der  condicio,  per  quam  und 
damit  zugleich  die  dualistische  Tendenz  abzuschwächen.  Zwar 
nicht  absolut  schön,  aber  doch  unter  allem  Gewordenen  am 
schönsten  ist  die  Welt.  Und  das  ist  sie ,  weil  der  Wellschöpfer 
auf  das  ewig  in  sich  Selbige  hinblickt  [Txpbq  id  Kaid  lauid  exov 
ßXeTTiuv  dei)  und  sich  dessen  als  Muster  bedient  (toigutuui 
Tivi  TTpocTxpiwMevo^  7TapabeiY|uaTi)'\  d.  h.  nach  seinen  eigenen 
Seins-  und  Wert-Modi  der  Ideen  die  Welt  gestaltet  und  nach 
dem  allein  für  Vernunft  und  Einsicht  Erfaßbaren  und  in  sich 
Selbigen  (Trpöq  t6  Xöyuui  Kai  cppovrjcrei  irepiXriTTTÖv  Kai  Kard  rauid 
exov)'*  schafft.  Und  weil  Vernunftbegabtheit  (voöv  exeiv)  selbst 
besser  und  wertvoller  ist  als  Vernunftlos-Sein  (dvöiiTOv),  Ver- 
nunft aber  nicht  außerhalb  der  Seele  (xujpig  vpux'l's)  sein  konnte, 
schuf  Gott  auf  Grund  dieser  Erwägung  (bid  hr\  töv  Xoyictiliov) 
die  Vernunft  in  die  Seele  und  die  Seele  in  das  Körperhöhe 
und  fügte  aus  ihnen  das  All  (tö  -rrdv),  den  Kosmos  (KocriLlog)  zu- 
sammen, der  also  selbst  ein  beseeltes  und  vernünftiges  Wesen 
(Zuiov  ^juijjuxov  Kai  evvouv)  durch  Gottes  Vorsehung  (öid  triv  toO 
deoö  TTpovoiav)  ist.^  Weil  die  Welt  nicht  ohne  Leben  sein  kann, 
ja  schlechthin  lebendig  ist,  so  muß  auch  die  ihr  zugrunde 
liegende  Idee  die  Idee  des  Vernunftlebendigen  schlechthin  sein, 
die  zugleich  die  Idee  des  Einen  und  Ganzen  selber  ist,  «die 
alles  Vernunftleben  ebenso  in  sich  zusammenschHeßt,  wie  die 
Welt  uns  selber  und  alle  Dinge»  sonst.     Ebendarum  kann  das 


'  Vgl.  üben  S.   198. 
''  Tim.  'i'Ja. 
'  Ebenda  2Sa/b. 
•   Ebenda  2üa. 
=  Ebenda  30b/c. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  211 

Urbild  der  Welt  nicht  «in  der  Idee  des  Teiles  liegen» ^  und 
ebendarum  sind  wir  überhaupt  erst  imstande,  eine  einheitliehe 
Welt  (eva  k6(T|uov)^  anzunehmen.  Denn  es  kann  auch  darum 
nur  eine  solche  höchste  Idee  des  Vernunft-Lebendigen  geben, 
und  dieses  kann  nicht  bloß  eines  neben  einem  anderen  sein 
(|Lieö'  eiepou  öeuiepov  ouk  dv  ttgt'  ei'n),  weil  beide  ja  dann  wieder 
nur  ein  Teil  (iLiepoq)  eines  sie  selbst  umfassenden  Dritten  sein 
müßten,  dem  dann  etwa  die  Welt  nachgebildet  wäre^  usf. 
Darum  also  ist  die  Welt  einheitlich  (^ovoTevri(;),  weil  sie  dem 
schlechthin  Vollkommenen  selber  nachgebildet  ist.  Das  schlecht- 
hin Vollkommene  aber  ist  doch,  wie  wir  wissen,  die  Idee  des 
Guten,  die  Idee  Gottes  selbst.  Urbild  und  Schöpfer  der  Welt 
sind  Eines,  das  höchste  Vernunftlebendige  {l(x)ov  voitöv)^;  die 
Welt  ist,  von  Gott  nach  seinem  Bilde  geschaffen,  Selbstoffen- 
barung Gottes.  Und  diese  Darstellung,  die  uns  vor  der  Raum- 
deduktion Piatons  begegnet,  finden  wir  auch  nach  dieser  im 
Timaios  wieder,  wo  es  heißt,  daß  die  Welt  als  Idjov  opaiöv 
nichts  Anderes  sei  als  das  Bild  des  Vernunft-Lebendigen,  die 
Gottheit  in  ihrer  Sichtbarkeit  als  Bild  ihrer  Vernünftigkeit. ^ 
In  ihrer  Sichtbarkeit  hat  sie  also  die  Vernüuftigkeit  darzustellen. 
Das  Bild  der  Vernünftigkeit  aber  ist  die  Kugelgestaltigkeit 
(acpaipoeiöe(;),  weil  diese  Gestalt  alle  anderen  in  sich  befaßt*^,  und 
die  Bewegung  der  stehenden  Rotation '',  die  der  Vernunft  und 
Einsicht  am  nächsten  steht.^  Es  ist  abermals,  wie  bei  Par- 
menides,  die  Geschlossenheit  des  Denkens,  die  zu  diesem  Po- 
stulate  führt.  Und  das  findet  bei  Platou  seinen  präzisesten 
Ausdruck  dadurch,  daß  die  Geschlossenheit  der  Welt  darin  ge- 
sehen ward,  daß  zur  Welt  nichts  hinzu-  noch  von  ihr  hinweg- 

1  Ebenda  30  c. 
-  Ebenda  31  a. 

^  Ebenda  31  b.    Daß  auch  hier  der  rpixo«;  ävöpuuTro(;  implizite  mit  wider- 
legt ist,  sei  nur  nebenbei  bemerkt.  • 
•'  Ebenda. 

*  Ebenda  92  c,  vgl.  oben  S.  197. 

"  Ebenda  33b:   axy]P-a  tö  uepieiXriqpöi;   ^v  aÜTÜJi  irävTa  ÖTiöaa  oxn.uara. 
'  Ebenda  .34a:  biö  bti  Kaxd  xauTd  ^v  tüüi  aÜTÜJi   Kai  iv  ^auxüji  irepiaYa- 
Yiiiv  aÜTÖ  tuoirioe  kük\uji  Kiveiaöai  OTpeqpö.uevov. 

*  Ebonda  Kivriöiv  .  .  .  inv  irepi  voOv  koi  cppövrjöiv  liöXiöxa  ouaav. 

14* 


:212  (i.  Kapitel. 

kam,  da  außer  ihr  selbst  ja  nichts  war,  also  in  dem  auf  die 
Welt  angewandten  Erhaltuiigs-  oder  Substanzgesetze. ^  Wenn 
nun  die  Geschlossenheit  der  Welt  zugleich  auf  die  in  sich  ge- 
schlossene Selbstbewegung  der  Seele  zurückgeführt  wird^,  so 
bezeichnet  das  zunächst  nichts  Anderes  als  die  Priorität  des 
Seelischen  vor  dem  Körperlichen.^  Der  Ursprung  ist  aber  ledig- 
lich ein  Wertursprung,  und  die  Seele  ist  hier  selbst  nicht  das  Letzte. 
Ihre  Bewegung  ist  zwar  Selbstbewegung,  aber  diese  geht  doch  in 
letzter  Linie  auf  die  Weltvernunft  selbst  zurück,  ist,  wie  wir  sahen, 
deren  Schöpfung,  Die  Umlaufsbewegungen  (trepioboi)  des  vovq^ 
aber  im  Weltall  sind  nichts  anderes  als  die  allgemeine  Zweck- 
wirksamkeit. Das  ist  die  reine  Bewegung  des  Einen,  das  an  sich 
selbst  unbewegt  ist  (tö  be  dei  Kaxd  Tauid  Ixov  dKiviiTuucj).^  Die 
Umlaufsbewegungen  der  Weltvernunft  (xdg  ev  oupavuji  tou  voO 
TTepi6bou(;)  sind  also  Bewegungen  im  reinen  Sinne,  und  als 
Grundlagen  der  empirischen  Bewegung  sind  sie  selbst  unbe- 
wegt :  Die  Seele  aber  ist  nichts  anderes  als  die  mathematische 
Ordnung  der  Welt.  Das  aber  erhält  seine  volle  Klarheit  aus 
dem  Wesen  der  Zeit.  Sie  wird  gefordert  als  Grundlage  des 
Weltgeschehens  oder  des  Geschehens  im  All,  und  zwar  als  der  in 
der  Einheit  und  Selbstheit  beharrenden  Ewigkeit  nach  der 
Zahl  sich  bewegendes  ewiges  Bild.^  «Das  ,War'-  und  das 
,  Wird' -sein  sind  selbst  gewordene  Formen  der  Zeit,  wenn  wir 
sie  auch  unrichtig  dem  ewigen  Sein  selber  beilegen.»''  Wir 
sagen  freihch  von  ihm:  «es  war,  es  ist  und  es  wird  sein». 
Aber  nach  dem  wahren  Grunde  (Kard  töv  dXri^fj  Xotov)  kommt 
ihm  allein  das  «Es  ist»  zu.  Das  «Es  war»  und  das  «Es  wird 
sein»  darf  allein  auf  das  in  der  Zeit  gehende  Werden  (inv   ev 


'  Ebenda  33c:  dirriiei  xe  y"P  ovbiv  oübe  irpooriiei  aüxiii  ttoö^v  ■  oöbd 
Ydp  r|v. 

2  Ebenda  36  e. 

*  Ebenda  34  c:  ifttl  fevlaex  Kai  dpexfii  upox^pav  Kai  irpeaßux^pav  H'uxnv 
auj,uaxo(;. 

»  Ebenda  47  b. 

^  Ebenda  38  a. 

®  Ebenda  37  d:  la^vovxo?  aiiijvoq  ^v  ^vi  köx'  apiönöv  ioöaav  aidiviov 
eiKÖva. 

7  Ebenda  37  e. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  213 

XpövLui  YevecTiv  ioöffav)  angewandt  werden.  Denn  beides  sind 
Bewegungen  (Kivr|crei(;).  Das  ewig  unbewegt  in  sich  Selbige 
aber^  hat  es  nicht  an  sich,  älter  oder  jünger  (oute  TrpeaßuTepov 
oute  veujiepov)  zu  werden  in  der  Zeit,  noch  überhaupt  zu  werden 
oder  geworden  zu  sein  oder  künftig  zu  werden.^  Und  doch 
muß  das  Eine,  das  ja  nichts  Anderes  ist  als  die  Allgemeinheit 
der  Selbigkeit,  auch  älter  und  jünger  werden:  «Weil  das  Sein 
nichts  Anderes  ist  als  das  Sein  an  sich  haben  in  der  gegen- 
wärtigen Zeit,  so  das  ,Es  war'  in  der  vergangenen  und  das 
,Es  wird  sein'  in  der  zukünftigen  Zeit,  so  muß,  weil  die  Zeit 
fortschreitet  und  das  Sein  an  der  Zeit  haftet,  das  Selbige  älter 
werden  als  es  selbst,  und  darum  auch,  weil  das  Jüngere,  im 
Verhältnis  zu  dem  das  Altere  älter  wird,  hier  selbst  das  Selbige 
ist,  auch  das  Jüngerwerdende  sein.»^  Das  Eine  und  Selbige  ist 
also  sowohl  der  Zeit  entrückt,  wie  in  die  Zeit  hineingestellt. 
Diese  Antinomie  löst  sich  auf  mit  der  Auflösung  der  zweiten, 
daß  es  auf  der  einen  Seite  vor  der  Welt  (-rrplv  oupavov)  keine 
Zeit  gab,  sondern  erst  mit  der  Welt  die  Zeit  (xpovoc;  ouv  inei'  ou- 
pavoö  T^Tovev)  entstanden  ist^,  und  daß  auf  der  anderen  Seite 
die  Zeit  selbst  «der  beharrlichen  Ewigkeit  ewiges  Bild»  ist.^ 
Beides  kann  sie  nur  sein,  wenn  sie  die  Bedingung  der  Welt 
selbst  ist,  in  der  das  Eine  und  Ewige  sich  darstellt,  in  der  das 
An-sich  in  die  Erscheinung  tritt.^  Obwohl  an  sich  ewig  im 
«Jetzt»,  ist  es  doch  hier  auch  im  «Es  war»,  wie  im  «Es  wird 
sein»  selbst  gegenwärtig;  obwohl  an  sich  nie  alternd  oder  jünger 
werdend,  wird  es  doch  beides  in  der  Erscheinung.  Es  tritt  in  die 
Bestimmtheiten  ein,  nach  seinem  eigenen  Prinzip  der  Bestimmung. 


1  S.  vor.  S. 

-  Ebenda  37e/38a. 

3  Parm.  151  d/ 152  a.  Hinsichtlich  des  Zeitpi-oblems  wird  man  also  an 
den  Philosophen  Parmenides  nicht  bloß  in  dem  gleichnamigen  Dialoge  Piatons, 
sondern  auch  im  Timaios  und  hier  ganz  besonders  erinnert. 

*  Tim.  37e/38b. 

^  Ebenda,  zitiert  S.  212,  Anm.  6. 

ö  Susemihl  sagt  in  der  Übersetzung  zum  Tiraaios,  S.  742,  .Anm.  85  richtig, 
das  könne  nur  bedeuten,  daß  es  ohne  Zeit  keine  Erscheinungswelt  und  ohne 
Erscheinungswelt  keine  Zeit  geben  könne.  Von  hier  aus  fällt  vielleicht  auch 
erst  das  vollste  Licht  auf  jenes  'c  Plötzliche»  (^taiq)vri(;)  außer  der  Zeit;  vgl.  S.  177  f. 


214  6.  Kapitel. 

Die  Welt  ist  nichts  außer  der  Idee  und  die  Idee  nichts  außer  der 
Welt.  Die  Welt  ist  Selbstdarstellung  der  Idee  und  die  Idee 
das  Wesen  und  «An-sich>  der  Welt,  oder  um  Piatons  eigene 
Worte  noch  einmal  zu  wiederholen:  die  Welt  ist  die  Gottheit 
in  ihrer  Sichtbarkeit  als  Abbild  ihrer  Vernünftigkeit. 

14.  Fassen  wir  jetzt  die  Leistung  Piatons  für  das  Sub- 
stanzproblem zusammen,  so  können  wir  sagen:  sie  stellt  das 
Bedeutsamste  dar,  was  das  ganze  Altertum  —  Piatons  großen 
Nachfolger,  Aristoteles,  nicht  ausgenommen  —  für  unser  Pro- 
blem geleistet  hat.  Ln  Reiche  der  Ideen  wird  zunächst  das 
Beharrliche  schlechthin  ergriffen.  In  der  Idee  des  Unbedingten 
wird  dieses  zur  Grundlage  aller  Bedingung  überhaupt  und 
damit  zu  der  in  allem  von  ihm  selbst  bedingten  Wechsel  be- 
harrlichen Vernunftgrundlage,  die  diesen  nach  den  bestimmten 
Ideen,  als  nach  seinen  eigenen  Ordnungen,  bestimmt.  Wir 
sehen  also :  Aus  dem  vollen  Umfange  der  Vernunft  wird  hier 
der  Gehalt  für  unser  Problem  geschöpft,  aber  das  ist  noch 
nicht  das  Ganze  der  Leistung  Piatons.  Dahin  tendierten  ja 
auch,  wenngleich  ihm  selbst  nicht  an  Tiefe  und  Eindring- 
lichkeit vergleichbar,  Denker  vor  ihm.  Es  ist  das  Moment  der 
Bestimmung,  das  seine  Tendenz  für  unser  Problem  auszeich- 
nend charakterisiert.  Und  hier  wiederum  liegt  die  Bedeutung 
nicht  darin,  daß  er  überhaupt  in  einer  besonderen  Vernunft- 
bestimmung die  Leistung  des  Substanzbegriffes  einfach  festlegt, 
—  das  war  ja  auf  den  Anfängen  der  mathematischen  Begriffs- 
bildung auch  bereits  in  den  Zahlen  geschehen,  —  sondern  darin, 
daß  er  sie  selbst  zum  Problem  macht  in  ganz  ausdrücklicher 
und  exphziter  Weise.  Piaton  entdeckt  die  logische  Notwendig- 
keit eines  Substrates  der  Bestimmbarkeit  überhaupt,  das  mit 
den  Prinzipien  der  Vernuuftbestimmung  belegt  werden  kann, 
indem  es  diese  aufnimmt  und  indem  diese  sich  an  ihm  und 
in  ihm  miteinander  verbinden.  So  können  die  Dinge  bestimmt, 
und  so  kann  die  Welt  der  Erscheinungen  in  ihrem  Entstehen 
und  in  ihrem  Vergehen,  kurz  so  kann  der  Wechsel  der  Er- 
scheinungen erklärt  werden,  da  hier  selbst  das  Substrat  des 
Wechsels  der  Erscheinungen  erwächst.  Dieses  verlegt  Piaton 
in  den  Raum.    Aber  nicht  ist  ihm  der  Raum  als  solcher  schon 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Systems  des  Idealismus.  215 

Substanz,  noch  sind  ihm  dies  etwa  die  körperlichen  Dinge;  das 
ist  ihm  vielmehr  —  darin  liegt,  von  der  metaphysischen  Seite 
jetzt  einmal  ganz  abgesehen,  auch  der  logische  Sinn  der  Welt- 
beseelung —  ganz  allein  die  Bestimmung  des  Raumes  als 
Grundlage  der  Dinge.  Diese  drei  Faktoren  sind  sehr  genau 
von  einander  zu  unterscheiden.  Der  ganze  fruchtlose  Streit 
um  die  sogen,  primäre  und  sekundäre  Materie  beruht  auf  dem 
Mangel  dieser  Unterscheidung.  Piaton  kennt  so  wenig  eine 
primäre  wie  eine  sekundäre  Materie,  er  kennt  nur  Substanz 
zunächst  als  räumliche  Bestimmbarkeit  und  körperliche  Dinge 
als  räumliche  Bestimmtheit,  oder  als  Funktion  der  Substanz, 
so  daß  es  wohl  gut  ist,  Windelbands  Vorschlag  strikte  durch- 
zuführen und  überhaupt  «den  zu  Mißverständnissen  unvermeid- 
lich Anlaß  gebenden  Ausdruck  , Materie'  in  die  Darstellung 
der  Platonischen  Lehre  nicht  erst  einzuführen».^  Jedenfalls 
aber  ist  die  ganze  Diskussion  über  die  sogen,  primäre  und 
sekundäre  Materie  so  unplatonisch  wie  nur  mögüch.  Alles, 
auf  das  es  hier  ankommt,  ist,  daß  in  der  mathematischen 
Raumbestimmung  selbst  die  Dinge  ermöglicht  werden,  die  wir 
dann  mit  Eigenschaften  belegen,  so  daß  wir  die  Grundlage  der 
Vereigenschaftlichung  erreichen.  Dann  können  wir  dem  toOto 
oder  TÖÖe  das  öttoiovouv  beilegen,  wir  können  ihm  «den  Bei- 
namen dessen  geben,  was  ist»,  «jeghches  Viele  mit  dem  Namen 
dessen  belegen»,  das  «in  der  Idee  als  Einheit  gesetzt»  ist  oder 
die  «Aussageweise  des  Seins»  beilegen  und  wie  sonst  die  mannig- 
fachen Bestimmungen,  die  uns  begegnet  sind,  alle  lauten,  die 
jedenfalls  alle  der  Ausdruck  der  Vereigenschaftlichung  sind 
und  in  denen  das  Substanzproblem  bei  Piaton  bereits  mit 
voller  Deutlichkeit  für  die  Aristotelische  Kategorie  der  Substanz 
die  Grundlage  schafft,  als  das  bestimmte  eiboq  der  Substanz 
innerhalb  des  allgemeinen  vovq. 

Wenn  hier  freilich,  wie  wir  sahen,  der  Raum  sowohl  als 
dboq  (wie  das  dneipov  ja  als  ibia)  als  auch  eKT6(;  eiöujv  gesetzt 
wird,  so  scheint  darin  nun  nicht  bloß  für  das  System  Piatons 
als  Ganzes  der  dualistische  Antagonismus  in  ganzer  Strenge 
gewahrt  zu  bleiben,  sondern  auch  für  unser  spezielles  Problem 

'  A.  a.  0.,  S.  108. 


216  6.  Kapitel. 

die  Einheit  der  Lösung  gefährdet.  Und  in  der  Tat  ist  das  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  der  Fall;  aber  gerade  nur,  weil  sich 
darin  zugleich  nicht  bloß  eine  von  Piaton  nicht  gelöste  Schwie- 
rigkeit, sondern  auch  die  tiefste  für  seine  Zeit  überhaupt  mög- 
liche Einsicht  verbirgt.  Der  Raum  mußte  Iktoc,  eiöüjv  gesetzt 
werden,  damit  nicht  die  Dinge  im  Räume  selbst  zum  «An-sich» 
würden  und  der  Substanzbegriff  in  dogmatischen  Materiahsmus 
versänke.  Also  gerade  um  eiboc,  zu  bleiben',  mußte  der 
Raum  cKTÖq  eibOuv  sein.  Das  ist  das  tiefste  dialektische  Motiv, 
das  wir  bereits  im  otTreipov  wirksam  sahen.  Der  Raum  mußte 
selbst  dem  ewigen  Sein  der  Ideen  angehören,  weil  er  die  Voraus- 
setzung des  Werdens  und  der  Dinge  ist,  aber  er  mußte  zugleich 
von  den  Ideen  unterschieden  werden,  da  er  wiederum  Voraus- 
setzung des  Werdens,  das  erst  zum  Sein  gelangen  soll,  ist. 
Das  ist  eine  Schwierigkeit,  die  Piaton  freilich  nicht  gelöst  hat. 
Aber  in  ihr  liegt  die  Einsicht  in  das  gleichsam  mit  Vernunft- 
notwendigkeit folgende  Wesen  «unechter  Vernunft j>.  Wie  in 
der  Vernunft  Außervernünftiges  selbst  gedacht  werden  könne, 
das  ist  die  Frage,  die^sich  hier  entrollt.  Piaton  hat  sie  nicht 
beantwortet.  Aber  daß  er  sie  gerade  am  Substanzproblem  ent- 
hüllt, das  oflfenbart  seine  ganze  Bedeutung.  Es  ist  eine 
Schwierigkeit,  die  kein  Dogmatiker  bis  auf  unsere  Tage  auch 
nur  von  ferne  gesehen  hat:  Das  ewig  beharrliche  Sein 
der  Vernunft  in  ihrer  Totalität  fordert  die  bestimmte 
Idee  des  Beharrlichen  im  Wechsel  der  Erscheinungen 
im  Räume,  das  selbst  nicht  wechselt  und  dennoch 
nicht  «an  sich»  sein  kann,  weil  seine  wechselnden 
Relationen  nicht  «an  sich»  sein  können.  Das  ist  der 
tiefste  und  ewig  wertvolle  Ertrag  für  unser  Problem  innerhalb 
des  Platonischen  Systems.  Und  wenn  ihm  die  restlose  Aus- 
geglichenheit fehlt,  so  wird  man  immerhin  seinen  Wert  recht 
zu  beurteilen  vermögen,  wenn  man  bedenkt,  daß  seine 
Ausgleichung,  soweit  sie  überhaupt  geleistet  worden  ist,  erst 
nach  zwei  Jahrtausenden  geleistet  werden  konnte,  und  daß  die 
gedanklichen  Mittel,  die  dazu  das  Wesentlichste  beigetragen, 
ihre  tiefste  Bedeutung  bereits  erhalten  liatten  gerade  durch  die 
Tat  des  «götthchen  Piaton». 


217 


Siebentes  Kapitel. 

Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen 

Systems. 


1.  Piaton  und  sein  bedeutendster  Schüler  Aristoteles  werden 
heute  vielfach  in  einen  schier  unüberbrückbaren  Gegensatz 
gestellt.  Das  zwar  ist  keine  Frage,  daß  Aristoteles  seinen 
Lehrer  in  wichtigsten  Grundlagen  des  Systems  mißverstan- 
den hat,  und  seit  Lotze  ist  das  gerade  in  den  letzten  De- 
zennien immerund  immer  wieder  betont  worden.  Es  ist  weiter 
richtig,  daß  Aristoteles  jener  Spezialdisziplin,  die  für  Piatons 
System  einen  integrierenden  Faktor  bildet,  der  Mathematik,  ein 
verhältnismäßig  geringes  Verständnis  entgegengebracht  hat. 
Und  dennoch  würde  es  einer  Gesamtdarstellung  und  Gesamt- 
vergleichung der  Systeme  beider,  von  der  wir  in  unserem  Zu- 
sammenhange freilich  absehen  müssen,  möglich  sein  zu  zeigen, 
daß  die  Anschauungen  beider  Denker  inniger  verwandt  sind, 
als  es  auf  den  ersten  Blick  den  Anschein  hat,  als  es  nach  der 
zum  Teil  geradezu  leidenschaftlichen  Polemik  des  Aristoteles 
und  nach  mancherlei  älteren  und  neueren  Deutungen  scheinen 
muß.  Es  mag  schwer  verständlich  erscheinen,  daß  Aristoteles 
trotz  der  zeitlich  recht  umfangreichen  und  ebenso  zeithch  wie 
persönlich  nahen  Beziehung  zu  Piaton  diesen  so  von  Grund 
aus  mißverstanden  haben  sollte.  Aber  das  ist  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  nicht  gerade^ein  absolut  einzig  dastehender  und 
unerhörter  Fall.  Das  Verhältnis  von  Fichte  und  Schelling,  das 
uns  näher  liegt,  macht^uns  etwas  ganz  Analoges  noch  unmittel- 
barer anschaulich:  Auch  hier  wiederholt  sich  engste  persönliche 
Beziehung,  Mißverständnis,    Gegensatz   und  im    Grunde    doch 


'218  7.  Kapitel. 

ein  gerade  beiden  Denkern  und  manchen  ihrer  Interpreten  ver- 
borgenes gar  nicht  oberflächHches  Zusammenstimmen.  Wie 
das  möghch  ist,  mag  psychologiscli  in  der  Tat  schwer  ver- 
ständHch  sein,  aber  es  ist  gerade  bei  stark  ausgeprägten  Per- 
sönhchkeiten  nicht  etwa  absolut  unverständUch.  Und  hin- 
sichtlich Piatons  und  Aristoteles'  scheint  durch  den  sachlichen 
Faktor  der  Mathematik  das  Verständnis  des  Aristotelischen 
Mißverstehen s  noch  erheblich  unterstützt  zu  werden.  So  wenig 
ich  hier  nun  eine  Gesamtdarstellung  des  Platonischen  Denkens 
gegeben  habe,  ebensowenig  kann  ich  jetzt  eine  solche  des  Ari- 
stotelischen Denkens  geben.  Immerhin  möchte  ich  von  vorn- 
herein einen  Gesichtspunkt  bezeichnen,  von  dem  aus,  auch  für 
unser  Problem,  wie  in  letzter  Linie  auch  für  die  Gesamtauf- 
fassung beider  Denker  sich  deren  Anschauungen  doch  nicht  als 
gar  so  gegensätzlich  erweisen,  wie  es  nach  Aristoteles  selbst 
und  namentlich  vieler  Platon-Freunde  und  Aristoteles-Gegner 
scheint.  Wenn  ich  diesen  auch  rückhaltlos  zugebe,  daß  Ari- 
stoteles der  Mathematik  innerlich  fremd  gegenüberstand,  wäh- 
rend Piaton  gerade  in  der  Mathematik  einen  systembildenden 
Faktor  besaß,  so  darf  doch  aus  Gründen  historischer  Gerech- 
tigkeit von  vornherein  nicht  verkannt  werden,  was  gerade  die 
Geschichte  der  Mathematik  aufs  evidenteste  zeigt,  und  was  ich 
selbst  schon  betont  habe,  daß  Aristoteles  eine  reiche  mathe- 
matische Kenntnis  besessen  hat.  Was  ihm  versagt  war,  das 
war  die  Einsicht  in  die  philosophische  Bedeutung  der  Mathe- 
matik. Beides  ist  gar  wohl  voneinander  zu  unterscheiden. 
Und  wer  den  Unterschied  gleichsam  in  aller  Kürze  ad  oculos 
demonstriert  haben  will,  der  findet  bereits  in  der  Schrift  über 
die  Kategorien,  Kap.  6,  wo  die  Kategorie  der  Größe  behandelt 
wird,  wo  die  Begriffe  des  Stetigen  und  Diskreten  (ouvexe?  —  öiujpio- 
,uevov)^  sprachlich    scharf  ausgebildet   erscheinen,   während  die 

^  Categ.  VI,  4  b.  Die  Unterscheidung  Icehrt  sehr  oft  bei  A.  in  fast  allen 
Schriften,  am  häufigsten  in  der  Metaphysik,  Physik  und  de  gen.  et  corr.  wieder. 
Ausführlich  und  doch  ziemlich  konzentriert  geben  uns  die  ersten  neun 
Kapitel  des  XII.  Buches  der  Metaphysik  die  Aristotelische  Mathematikauffassung. 
Im  übrigen  kann  es  hier  nicht  meine  Aufgal)e  sein,  über  Aristoteles'  Verhält- 
nis zur  Mathematik  zu  handeln.     Das  ist  in   der  Geschichte  bereits  mehrfach 


Dei"  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  219 

philosophische  Präzision  an  diejenige  Piatons,  der  sprachlich 
die  Ausprägung  nicht  in  diesem  Maße  hat,  kaum  heranreicht, 
den  sprechendsten  Beleg.  Allein,  ein  so  wichtiger  Faktor  unter 
systematischem  Betracht  die  Mathematik  für  ein  philosophisches 
S3'stem  ist,  der  auch  als  solcher  in  seiner  Wichtigkeit  anzu- 
erkennen ist,  so  ist  er  eben  ein  systematischer  Faktor,  aber  selbst 
noch  kein  System.  Es  wäre  also  äußerst  unbillig,  ein  System 
als  Ganzes  nach  diesem  einen  Faktor  bewerten  zu  wollen.  Ich 
weiß  den  philosophischen  Wert  der  Mathematik  sicherlich  gar 
wohl  zu  schätzen  und  weiß,  daß  er  gar  nicht  überschätzt  werden 
kann.  Auf  der  anderen  Seite  muß  man  freilich  auch  wissen, 
daß  man  ein  System  als  Ganzes  sehr  leicht  überschätzt  oder 
unterschätzt,  wenn  man  seinen  Wert  lediglich  nach  seinem 
Verhältnis  zur  Mathematik  bewertet.  Das  gilt  es  auch  für 
Aristoteles  zu  bedenken,  damit  einen  die  Scharfsichtigkeit  für 
die  Schwäche  seiner  mathematischen  Position  nicht  blind  gegen 
die  Größe  seiner  ganzen  Leistung  macht.  Selbst  wer  ihn  an 
Tiefe  und  Originalität  Piaton  nicht  zur  Seite  zu  stellen  ver- 
mag, wird  nicht  verkennen  dürfen,  daß  seine  Leistung  eben 
eine  Leistung  ist,  auch  wenn  er  sich  aller  Unzulänglichkeit  des 
Aristoteles  in  mathematischen  Dingen  bewußt  ist.  Wir  geben 
diese  also  von  vornherein  zu,  ohne  darum  von  seiner  Philo- 
sophie als  Ganzem  gering  zu  denken.  Ferner  gilt  es  zu  be- 
achten: Wenn  Piaton  auch  die  Philosophie,  indem  er  sie  an 
die  Mathematik  verwies,  streng  rational  intendierte,  so  darf 
man  nun  Aristoteles  aus  der  starken  Tendenz  zur  Empirie  keinen 
Vorwurf  machen.  Im  Gegenteil,  darin  liegt  sein  ganz  unermeß- 
hches  Verdienst.  Nur  hüte  man  sich,  auf  Grund  einer  Verwechse- 
lung von  Empirie  und  Empirismus,  Aristoteles  in  die  Schablone 
eines  erkenntnistheoretischen  Parteistandpunktes  einzuspannen 
und  aus  seinen  Verdiensten  um  die  Empirie  ihm  etwa  gar  den  Vor- 
wurf des  Empirismus  zurechtzudrehen.  Wie  es  immer  bedenklich 
ist,  historischen  Erscheinungen  des  Altertums  moderne  erkenntnis- 
theoretische Schemata  überzuwerfen,  so  hält  das  gerade  hin- 
geschehen, so  unter  vorwiegend  historischem  Betracht  bereits  von  Burja:  Mem. 
de  l'academie  de  Berlin  und  M.  Kantor,  a.  a.  0.,  vorwiegend  kritisch  von 
Natorp,  Plat.  Ideenl.  und  A.  Görland,  Arist.  u.  d.  Matliem. 


220  7.  Kapitel. 

sichtlich  des  Aristoteles  jede  objektiv-historische  Würdigung 
auf.  Einem  Empiristen  hätte  schwerlich  gerade  Hegel  die  Be- 
wunderung gezollt,  die  er  dem  Aristoteles  entgegenbrachte. 
Und  wenn  endlich  bei  den  aristotehschen  Scholastikern  gerade 
die  Empirie  wiederum  nie  und  nirgends  in  ihrer  Bedeutung 
gewürdigt  wurde,  so  trifift  doch  hier  die  Schuld  wiederum  nicht 
den  Aristoteles  selber,  sondern  die  aristotelischen  Scholastiker. 
Das  alles  darf  von  vornherein  für  eine  historische  Gesamtdar- 
stellung des  Aristotelischen  Denkens  ebensowenig  übersehen 
werden,  wie  für  eine  Spezialuntersuchung  im  Sinne  unseres 
Problems.  In  beiden  Fällen  darf  man  von  Parti aldiff e- 
renzen  her,  wie  [sie  ohne  Frage  hinsichtlich  der  Mathematik 
bei  Piaton  und  Aristoteles  vorliegen  und  wie  sie  freilich  in 
gewisser  Hinsicht  für  das  Gesamtsystem  bestimmend  sind, 
ebensowenig  totale  und  radikale  Differenzen  in  jeglicher 
Hinsicht  konstruieren,  wie  man  partielle  Übereinstimmungen  zu 
totalen  umdeuten  darf. 

Es  ist  im  weiteren  nun  nicht  leicht,  unser  Problem  gegen 
die  Gesamtheit  des  Aristotelischen  Denkens  abzugrenzen.  Wenn 
der  verdiente  Herausgeber  des  Index  Aristotelicus  hinsichtlich 
des  Wortes  oucria  bemerkt:  «usum  Aristotelicum  norainis  oucria 
plene  persequi  esset  ipsam  Aristotelis  philosophiam  exponere»\ 
so  bezeichnet  er  damit  die  ganze  Schwierigkeit  unseres  Pro- 
blems.    Nicht   auf  die   Exposition   des  ganzen   Aristotelischen 

^  Index  Aristotelicus,  S.  544.  Aus  dieser  beherrschenden  Stellung  des 
Subslanzproblems  innerhalb  der  Aristotelischen  Philosophie  erklärt  es  sich 
auch,  daß  es  bereits  mehrfach  zum  Gegenstande  besonderer  Untersuchung  ge- 
macht worden  ist,  besonders  von  B.  Weber:  De  oöaiaq  apud  Aristotelem  no- 
tione  eiusque  cognoscendae  ralione  und  H.  Dimmler:  Arist.  Met.  auf  Grund 
der  Usia-Lehre  entwicklungsgeschichtlich  dargestellt.  Auüer  den  Arbeiten  von 
Weber  und  Dimmler  können  in  gewissem  Sinne  auch  die  Schriften  von  Franz 
Brentano,  «Von  der  mannigfachen  Bedeutung  des  Seienden  nach  Aristoteles» 
und  von  Nikolaus  Kaufmann,  «Elemente  der  Aristotehschen  Ontotogie»,  die  den 
bezeichnenden  Untertitel  «Mit  Berücksichtigung  der  Weiterbildung  durch  den 
hl.  Thomas  von  Aquin  und  neuere  Aristoteliker»  führt,  in  diesen  Zusammen- 
hang einbezogen  werden.  Trotzdem  die  drei  zuletzt  genannten  manches  Gute 
bringen,  so  ist  doch  der  Untertitel  Kaufmanns  eigentlich  auf  alle  vier  anzu- 
wenden: Die  Aristoteles-Auffassung  ist  durch  das  katholisch-thomistische  Medium 
getriibl. 


Der  Subslanzbegrilf  ii)iieihall)  des  Arislotelischen  Systems.  2iJl 

Systems  legen  wir  es  hier  an,  sondern  nur  auf  die  systema- 
tische Stellung  des  Substanzbegriffes,  wenn  auch  nicht  den 
Namen  innerhalb  des  Systems.  Daß  diese  eine  beherrschende 
ist,  das  kommt  in  ßonitz'  Satze  voll  und  klar  zum  Ausdruck. 
Aber  ebendarum  läßt  sich  auch  unsere  Aufgabe  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  dominierenden,  also  prinzipiellen  Stellung 
abgrenzen. 

2.  Aristoteles  übernimmt  den  bedeutsamen  Impuls,  den 
Piaton  dem  Substanzproblem  in  der  Funktion  der  Grundlage 
der  Bestimmbarkeit  gegeben.  Darin  lag  bei  Piaton  die  kate- 
goriale  Bedeutung  vorbereitet.  Und  Aristoteles  ist  es,  der  über- 
haupt zum  ersten  Male  eine  explizite  Kategorienlehre  unter- 
nimmt. Implizite  freilich  sind  auch  dafür  von  Piaton  die 
fruchtbarsten  Motive  bereits  gegeben.  Ja,  man  wird  vielleicht, 
ohne  Aristoteles  unrecht  zu  tun,  sagen  dürfen,  daß  die  Kate- 
gorieulehre  Piatons  systematisch  gefestigter  ist  als  die  des  Aristo- 
teles. Allein,  die  Kategorie  qua  Kategorie  bleibt  bei  Piaton 
impliziter  Faktor.  Erst  bei  Aristoteles  wird  das  Kategorien- 
problem explizite  aufgerollt.  So  wird  man  auch  hier  von  vorn- 
herein die  Größe  wie  die  Grenze  der  Bedeutung  beider  Denker 
in  ihrem  Verhältnis  zueinander  richtig  bestimmen  können. 

Aristoteles'  Kategorienlehre  ist  als  Ganzes,  wie  im  Ein- 
zelnen, freilich  in  die  größten  Schwierigkeiten  verwickelt.  Das 
ist  nicht  nur  von  der  allgemeinen  philosophiegeschichtlichen 
Forschung,  sondern  auch  von  der  Einzelforschung,  soweit  diese 
sich  gerade  der  Kategorienlehre  zugewandt  hat,  vielfach  betont 
worden;  darin  liegt  auch  der  Grund  für  die  wenig  einheitliche 
Ausdeutung  dieses  Fundamentalfaktors  der  Aristotelischen  Lehre, 
wie  sie  in  den  Spezialuntersuchungen,  deren  jede  in  ihrer  Art  vor- 
trefflich ist,  etwa  TrendelenburgsS  Bonitz'^  Prantls^,  Schuppes^ 
vorliegt.  Das  Schwankende  und  Variierende  der  Deutung  hat 
seinen  Grund  in  der  mannigfachen  Unstimmigkeit  des  Gedeu- 


^  Geschichte  der  Kategorienlehre  (Histor.  Beiträge  I,  S.  1  ff.). 
^  Über  die  Kategorien  des  Aristoteles  (Sitzungsber.   d.  Wiener  Akad.  X, 
591  ff.;  vgl.  auch  Ind.,  S.  377). 

3  Geschichte  der  Logik  I,  S.  181  ff. 
*  Die  Aristotelischen  Kategorien. 


2-2-2  7.  Kapitel. 

teten,  so  daß  wir  ehrlicherweise  oft  über  bloße  Vermutungen 
nicht  hinauskommen.  So  ist  schon  der  Nameusgeb rauch  von 
«Kategorie»  nicht  einheitlich  gedeutet,  worauf  hier  im  Einzelnen 
indes  nicht  eingegangen  werden  kann.  Im  Grunde  scheint  in- 
des Bonitz\  dem  sich  auch  Zeller ^  angeschlossen  hat,  die  Be- 
stimmung der  Kategorie  richtig  getroffen  zu  haben.  Wie  bei 
Aristoteles  überhaupt  die  logischen  und  grammatikalischen  Ge- 
sichtspunkte nicht  scharf  und  deutlich  von  einander  unter- 
schieden werden,  so  gehen  sie  auch  im  Kategorienproblem 
durcheinander,  was  die  Deutung  leicht  begreiflicherweise  nur 
erschweren  kann.  Hier  könnte  ganz  dahin  gestellt  bleiben,  ob 
die  Aristotelische  Einteilung  der  Logik  richtig  ist  oder  nicht, 
ebenso  vor  allem,  ob  die  Klimax  jener  Einteilung  zu  Recht 
besteht  oder  nicht.  Eines  aber  ist  sicher,  daß  die  Einteilung 
als  solche,  wie  deren  Klimax,  nicht  unter  einem  logischen, 
sondern  ausschließlich  unter  einem  grammatikalischen  Gesichts- 
punkte gewonnen  ist.  Und  sprachliche  Prinzipien  haben  einen 
bestimmenden  Einfluß  auch  auf  das  logische  Kategorien problem. 
Kategorie  bedeutet  ursprünglich  für  Aristoteles  «Aussage»  im 
wörtlichen  Sinne.  ^  Man  wird  den  Plural  des  Wortes,  wie  Bo- 
nitz  es  tut*,  als  Aussageweisen  fassen,  also  KarriTopiai  und  crxn- 
ILiara  Tfjq  KairiTopia?  gleichsetzen  dürfen,  wenn  man  nur  die 
Aussageweisen  richtig  versteht.  Es  ist  zwar  ebenso  für  den  allge- 
meinen philosophischen  Zusammenhang,  wie  für  unser  spezielles 
Problem  von  fundamentaler  Bedeutung,  daß  im  Begriff  der  «Ver- 
bindung» (cru|UTT\oKri)^  das  Grundmittel  der  Erkenntnis  bezeichnet 
wird,  indem  Verbindung   und    Trennung,  Bejahung  und  Ver- 


^  A.  a.  0.,  S.  610.  Was  Scliuppe,  a.  a.  0.,  S.  3,  der  iin  übrigen  sonst 
das  Problem  unter  philosophischem  Gesichtspunkte  am  tiefsten  gefaßt  hat, 
gegen  Bonitz  mit  Beziehunt?  auf  die  Termini  o\r\\xaTa  und  ^ivr\  tiDv  KaTriYopiT 
jidruiv  und  KarrTfopouiatviuv  bemerkt,  scheint  mir  doch  nicht  zwingend,  wie 
Bonitz'  und  Schuppes  Deutung  nicht  unvereinbar. 

2  A.  a.  O.  II,  2,  S.  187. 

^  Categ.  II;  1  b  und  IV,  1  b.  Wir  kommen  auf  diese  Stellen  gleich  ge- 
nauer zurück;  vgl.  auch  Anal.  post.  I,  22,83b;  Top.  I,  9,103b;  de  soph.  el. 
IV,  28,1024b;  siehe  auch  Prantl,  a.  a.  0.  I,  S.  207. 

*  A.  a.  0.  ebenda. 

^  Categ.  IV,  Ib;  vgl.  Met.  VIII,  10,1051b. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  223 

iieinuDg  richtig  als  die  BeziehungeD  erkannt  werden,  die 
allein  die  Bestimmungen  des  «Wahr»  und  «Falsch»  zAilassen; 
es  könnte  darum  scheinen,  als  sollte  den  Kategorien  im  Sinne 
der  «Aussageweise»  nun  die  Funktion  etwa  von  Beziehungs- 
weisen oder  ßeziehungsformen  beigelegt  werden,  und  das  scheint 
mir,  wenn  ich  ihn  recht  verstehe,  der  Grund  Schuppes  gegen  Bonitz' 
Deutung.  Allein,  Beziehungsweisen  sind  freilich  die  Kategorien 
für  Aristoteles  noch  nicht,  wie  sie  es  für  die  moderne  Logik 
sind.  Immerhin  dürften  sie  doch  als  Aussageweisen  ange- 
sprochen werden.  Sprachlich  werden  die  Kategorien,  bei  ihrer 
Aufzählung  schon,  gerade  als  solche  Worte  bezeichnet,  die  keine 
Verbindung  ausdrücken.^  Logisch  wird  von  ihnen  ausgemacht, 
daß  keine  der  Kategorien  an  und  für  sich  schon  eine  Bejahung 
oder  Verneinung  ausdrückt.  Aber  sie  werden  als  dasjenige  er- 
kannt, durch  dessen  Verbindung  Bejahung  und  Verneinung 
möglich  wird,  wodurch  weiter  die  Bestimmungen  von  «Wahr» 
und  «Falsch»  möglich  werden,  während  ohne  Verbindung  Aus- 
gesagtes weder  wahr  noch  falsch  sein  kann.-  In  diesem  Sinne 
werden  die  Kategorien  in  der  Tat  zu  Aussageweisen,  und  zwar 
zu  logischen  Aussageweisen  oder  logischen  Grundmitteln  des 
Urteils.  Wie  immer  man  sonst  über  die  Kategorien  des  Aristo- 
teles denken  mag,  mag  man  schon  die  Grundposition  für  nicht 
einwandsfrei  halten  und  mag  man  den  Zusammenhang  und  die 
Einheit  der  Kategorien  untereinander  vermissen,  mögen  die 
einzelnen  zum  größten  Teil  aufgegeben  werden  müssen,  schon 
der  Versuch,  diese  Grundmittel  in  ihrer  Gesamtheit  ausfindig 
zu  machen,  bleibt  in  seiner  expliziten  Tendenz,  so  mangelhaft 
deren  Durchführung  sein  mag,  wie  Schuppe  sagt,  «eine  Tat 
des  Genies».^     Und    wenn    die  Kategorien    danach  auch  nicht 


^  Ebenda:  tüüv  Katä  |Liribe|Liiav  GuiatrXoKriv  XeYOM^'^iwv  ^Kaarov  ^toi 
ouoiav  oriiaaivei,  r\  troaöv  ri  ttoiöv  etc.;  vgl.  auch  de  interpr.  I,  30a. 

^  Ebenda:  cKaOTOv  h^  tujv  eipriiu^vuuv  aüxö  \x^v  Kaö"  aÜTÖ  dv  oi)be|uiai 
Kaxacpäaei  Xlyejax  f\  ä-rroqpdaei,  tf\\  be  ixpöc;  äWriXa  toütuuv  öUjairXoKfn  Kaxd- 
qpaöK;  Kai  dTTÖqpaaic;  YiTvexm.  äiraoa  jap  boKei  KaxdqpaoK;  Kai  ditöqpaaiq  rjxoi 
ä\riör]q  f\  lyeubri^  eivai.  Die  Fortsetzung  lautet  ähnlich  wie  die  vorige  An- 
merkung. Nur  anstatt  der  Aufzählung  der  bekannten  zehn  Kategorien  folgen 
hier  Beispiele:  oTov  dvöpuj'rTO(;,  XeuKÖv,  xp^x^i,  viköi. 

^  Schuppe,  a.  a.  0.,  S.  62. 


2-24  7.  Kapitel. 

Aussageweisen  im  Sinne  von  Verbiudungsweisen  sind,  so  sind 
sie  es  doch  im  Sinne  von  letzten  Elementareinlieiten  jener 
Verbindungsweisen.  ^ 

Man  bemerkt  hier,  wie  sprachliche  und  logische  Gesichts- 
punkte bei  Aristoteles  sich  verbinden,  indem  das  Sprechen  als 
Ausdruck  des  Denkens  und  das  Denken  als  Inhalt  des  Sprechens 
von  vornherein  in  Korrelation  gesetzt  werden.  Weiter  aber  ist 
alles  Denken  auch  immer  das  Denken  eines  Seins,  wie  das 
Sprechen  das  Bezeichnen  eines  Seins  ist.  Man  spricht  nicht, 
ohne  etwas  zu  sprechen,  und  man  denkt  nicht,  ohne  ein  Sein 
selber  zu  denken.  An  und  für  sich  freilich  sind  Wahrheit  und 
Falschheit  nur  im  verknüpfenden  oder  trennenden  Denken,  nicht 
aber  im  Sein,  da  ja  Verknüpfung  ((Ju|UTTXoKri)  und  Trennung 
(biaipeaig)  im  Denken,  nicht  im  Sein  sind.^  Allein  insofern  das 
Denken  selbst  auf  das  Sein  geht,  haben  Verbinden  und  Tren- 
nen ihrerseits  Verhältnisse  des  Seins  und  Nicht-Seins  auszu- 
drücken. Wie  nun  die  Kategorien  Elementareinheiten  solchen 
Beziehens,  wenngleich  nicht  Beziehungsweisen  selber  sind,  so 
ermöglichen  sie  selbst  auch  die  Seinsbeziehungen  und  bezeichnen 
letzte  elementare  Seins-Einheiten,  stellen  die  Formen  des  Seins 
selber  dar^,  sind  Seins-Kategorien,  KaitiTopiai  toO  övroq*,  das 
Allgemeine,  Koivd°,  Yevji  im  Platonischen  Sinne  als  Yevr)  tujv 
övTuuv^  und  Seinsweisen  selber,  övia^,  so  daß  Sein  wie  Nicht- 
Sein  nach  den  Formen  der  Kategorien  erst  gefaßt  wird.^ 

'  Auf  diese  Weise  scheint  mir  die  Differenz  der  Auffassung  Schuppes, 
a.  a.  0.,  S.  3  und  Bonitz',  a.  a.  O.,  S.  610  ff.  ausgeglichen  werden  zu  können. 

^  Met.  V,  4,1027  b:  rj  ouinttXoKn  iariv  Kai  r^  biaipeaii;  ^v  biavoiai  dW 
ouK  iv  TOi<;  irpoiYiuaai .  . . 

^  Ebenda  IV,  4,  7,1017  a;  KaO'  auxä  hi  eivai  X^yetai  öaairep  0r||iaivei 
TU  oxninaTa  'z?\(;  KarriTopfa^  "  baaxüjq  yäp  X^y^toi,  ToaauxaxuJ«;  tö  elvai 
armaivei. 

*  Ebenda  IV,  28,  1024  b;  Phys.  III,  1,200  b. 

'"  Phys.  ebenda;  Anal.  post.  II,  13,9Gb;   De  an.  I,  1,402a. 
«  De  an.  ebenda. 
7  Met.  VI,  3,1029  b. 

*  Ebenda  VIII,  10,1051b:  .  .  .  tö  öv  X^Yerm  Kai  tö  ^iy\  öv  KOTd  tö  axf]- 
uaTO  Tüjv  KaTr\fop\iX}v .  .  .  Wenn  ich  mit  Trendelenburg,  a.  a.  O.,  S.  24 ff. 
in  der  Aristotehschen  Kategorienlehre  sprachliche  Gesichtspunlite  ausdrücklich 
als  wirksam  anerkenne,   so  will  icli  dns   aber  nicht  in  dem  Sinne  verstanden 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  225 

Wenn  so  die  Kategorien  als  Seins-Bestimmungen  ange- 
sprochen werden,  so  erscheint  der  Aristotelische  Versuch 
einer  Kategorienlehre  erst  hier  in  seiner  ganzen  Großartig- 
keit. Wie  wenig  seine  Durchführung  auch  genügen  kann, 
wie  sehr  die  einzelnen  Kategorien  selbst  diejenigen  unter  der 
bekannten  Zehnzahl,  die  an  und  für  sich  der  Kritik  stand- 
halten, auch  immer  der  scharfen  Grenz-  und  Verhältnisbestim- 
mung zueinander  ermangeln  mögend  die  Tendenz,  die  bei 
Aristoteles  eben  doch  von  vornherein  eine  planmäßig  explizite 
ist,  behält  ihren  Wert.^  FreiHch  liegt  gerade  in  dem  Verhält- 
nis der  Kategorien  zum  Sein  noch  eine  nicht  unerhebliche 
Schwierigkeit.  Auf  der  einen  Seite  sollen,  wie  wir  soeben  sahen, 
die  Kategorien  Seinsweisen,  das  Allgemeine,  ja  einzig  und  allein 
Koivd  sein.^  Auf  der  anderen  Seite  ist  das  Sein  allen  Kate- 
gorien entrückt,  selbst  keine  Kategorie,  sondern  steht  über 
ihnen  allen.*  Aber  gerade  darum  soll  es  allgemein  ausgesagt 
werden  und  erscheint  doch  selbst  als  Kategorie^,  so  daß  die 
Koivd  der  Kategorien,  die  ja  die  einzigen  Koivd  sein  sollen,  eben 
doch  nicht  die  einzigen  Koivd  wären.  Allein  Aristoteles  fordert 
selbst  ausdrücklich  verschiedene  Bedeutungen  des  Seins  zu 
unterscheiden.*^  Sind  die  Kategorien  KaxiiTopiai  loO  övto^,  so 
kann  das  öv,  das  xatd  irdvTUJV  KarriYopeiTai,  nur  das  reine  Sein, 
das  öv  Kay  auto^  sein.  Es  ist  das  Sein  schlechthin,  dessen 
besondere  inhaltliche  Bestimmungen  die  Kategorien  sind,  über 
denen  es  danach  stehen  muß,  ohne  selbst  Kategorie  zu  sein. 
Das  ist  der  idealistische   Grundzug  in  dem  gewöhnlich   als  so 

wissen,  daß  solche  bis  ins  Einzelne  den  Plan  der  Kategorien  bestimmen,  und 
daß  dieser  Plan  überhaupt  ein  einheitlicher  sei,  Avie  außer  Trendelenburg 
auch  Brentano,  a.  a.  0.,  S.  150  behauptet.  Vgl.  dazu  gegen  Trendelenburg 
und  Brentano  besonders  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  264  f. 

•  Categ.  V  wird  das  in  dem  ganzen  Kapitel  am  deutlichsten. 

2  Vgl.  Schuppe,  a.  a.  0.,  S.  62. 

3  Met.  XI,  4,1070b;  Phys.  1.  c. 

*  Met.  IX,  2,1053b;  Top.  IV,  6,127a. 

^  Met.  X,  2,1060  a:  Kaxd  irdvTUJv  tö  6v  KorriYopeiTai.  Es  erscheint  so 
als  die  Kategorie  Ka9ö\ou,  vgl.  auch  IX,  2,1053  b  und  1053  a. 

6  Ebenda  VI,  1,1028  a:  Tö  öv  Xerexai  -troWaxüJ? . . . 

7  Ebenda  X,  1,1059  b. 

Bauch,  Das  Substanzproblem.  15 


226  7.  Kapitel. 

realistisch  bezeichneten  Denken  des  Aristoteles,  daß  das  Sein 
als  reines  Sein  die  Idee  und  Aufgabe  der  Bestimmung  durch 
die  Kategorien  bezeichnet.  Das  freilich  nicht  im  Sinne  des 
Platonischen  Nicht-Seins  und  Anders-Seins  und  Unbestimmten^ 
als  Objekt  der  Bestimmung,  sondern  als  höchstes  Prinzip  der 
Bestimmung,  dessen  Spezifikationen  die  Kategorien  sind,  um 
die  Sphäre  des  Seins  auszumessen. 

3.  Rücksichthch  des  reinen  Seins  nun  nimmt  er,  genau 
wie  Piaton,  Stellung  gegen  den  Relativismus,  der  allein  im 
Sinnlichen  das  Sein  setzt. ^  Die  Erhärtung  des  Seins  schlecht- 
hin ermittelt  er  am  schärfsten  gerade  durch  die  Widerlegung 
der  relativistischen  Theorie.  Das  ist  einer  der  Fundamental- 
faktoren innerhalb  der  Gesamtheit  seines  Denkens,  in  dem 
Aristoteles  sich  so  innig  mit  Piaton  berührt,  daß  wir,  genau 
wie  bei  diesem,  eine  formale  und  eine  inhaltliche  Widerlegung 
des  Relativismus  auch  bei  Aristoteles  unterscheiden  können. 
Am  schärfsten,  schärfer  noch  als  in  den  eigentlich  logischen 
Schriften,  erhält  diese  Widerlegung  des  Relativismus,  sowie  mit 
ihr  die  Erhärtung  des  reinen  Seins  schlechthin  ihre  Darstellung 
in  der  Metaphysik.  Am  Gesetze  des  Widerspruchs  zieht  sich 
hier  die  formale  Widerlegung  in  glänzender  Weise  durch  das 
ganze  dritte  Buch  der  Metaphysik  und  bewegt  sich  im  Prinzip 
durchaus  in  den  Bahnen,  die  wir  bei  Piaton  vorgezeichnet 
fanden  und  erörtert  haben.  In  sie  flicht  sich  ungezwungen  ein 
auch  die  inhalthche  Behandlung  des  Problems.  Wir  halten 
uns  hier  für  eine  kurze  Darstellung  am  einfachsten  an  die 
grundlegenden  Erörterungen  der  Metaphysik.  Wenn  der  Re- 
lativismus nur  im  Sinnlichen  das  Sein  setzt,  so  ist  es  konse- 
quent, die  Erkenntnis  überhaupt  zu  leugnen,  weil  ja  dann 
ebenso  gut  alles  wahr,  wie  alles  falsch  sein  muß,  der  Unter- 
schied von  Wahrheit    und  Falschheit    und    damit    der    Begriff 


^  Schuppe,  a.  a.  0.,  S.  41  scheint  es  diesem  einmal  recht  nahe  zu 
rücken.  Es  ist  nicht  uninteressant  zu  bemerken,  wie  Aristoteles,  Met.  I, 
8,989b  gerade  in  der  Gleichsetzung  des  «Unbestimmten»  mit  dem  «Anderen» 
ausdrücklich  sich  mit  Piaton  identifiziert:  . . .  ^drepov,  oiov  riöenev  tö  döpio- 
Tov  Ttpiv  öpioötivai  Kai  jueroaxeiv  eiboug  tivöc;.  —  Vgl.  auch  III,  4,1007  b. 

2  Met.  III,  5,1010  a. 


Der  SubstaiizbegriiT  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  '227 

der  Erkenntnis  selbst  aufgehoben  wird.  Aus  dem  Problem  der 
Erkenntnis  heraus  soll  also  bei  Aristoteles,  wie  bei  Piaton,  auch 
der  Begriff  des  Seins  schlechthin  erhärtet  werden.  Formal  hebt 
sich  der  Relativismus  deswegen  selbst  auf,  weil  nach  ihm  alles 
sowohl  wahr,  wie  auch  falsch  sein  muß.  Wären  wir,  wie  der 
Relativismus  will,  nur  auf  Wahrnehmung  und  Sinnhchkeit  ver- 
wiesen, dann  wäre  zunächst  freilich  der  Satz  des  Protagoras, 
daß  alles  so  ist,  wie  es  jedem  scheint,  im  Rechte.  Da  tat- 
sächlich aber  die  Menschen  entgegengesetzte  Meinungen  haben, 
so  hätte  nicht  bloß  der  Relativismus  recht,  sondern  auch  die- 
jenige Meinung,  die  der  relativistischen  Meinung  entgegenge- 
setzt wäre.  Mithin  hätte  auch  der  Relativismus  nicht  recht, 
sondern  auch  unrecht.  Er  wäre  falsch,  wenn  ihn  die  entgegen- 
gesetzte Meinung,  weil  diese  nach  ihm  selbst  ja  wahr  sein  sollte, 
für  falsch  hielte.^  Wir  finden  also  in  formaler  Hinsicht  jenes 
in  der  Tat  zwingende  Argument  gegen  den  Relativismus  ins 
Feld  geführt,  das  seit  den  Tagen  Piatons  mit  Recht  immer 
und  immer  wieder  gegen  den  Relativismus  geltend  gemacht 
worden  ist. 

Wie  bei  Piaton,  so  ist  auch  bei  Aristoteles  indes  die  in- 
haltliche Argumentation  für  unser  Problem  von  größerer  Be- 
deutung. Wäre  es  richtig,  daß  nur  das  Sinnliche  sei  (eivai  xa 
aicy^riTd  laovov)^,  so  müßte  sich  abermals  auch  inhalthch  die 
relativistische  Position  selbst  aufheben.  Zwar  das  ist  dem  Rela- 
tivismus abermals  zuzugeben ,~  daß  im  Sinnlichen  es  nur  ewig 
Wechsel  und  Bewegung  gebe,  daß  wir  hier  nur  ein  Werden, 
ein  stetiges  Entstehen  und  Vergehen  ergreifen.  Allein,  daß  es 
darum  nur  Wechsel  und  Bewegung,  Entstehen  und  Vergehen 
gebe,  das  ist  falsch.  Aller  Wechsel,  alles  Entstehen  und  Ver- 
gehen, setzt  schon  ein  Beharrliches  im  Wechsel  voraus.  Im 
Wechsel  ist  nicht  nur  der  Begriff  des  beharrenden  Seins  mitge- 
setzt, insofern  der  Wechsel  selber  ist,  sondern  auch  das  Wech- 
selnde, und  damit  das  Entstehende  und  Vergehende,  insofern  jenes 
selbst  ist  und   aus   etwas   entsteht   und    dieses,   insofern   es  zu 


»  Vgl.  besonders  Met.  III,  5,1009a  und  X,  5,1062a/b,  1063a. 
^  Ebenda  III,  5,1010  a. 

15* 


228  7.  Kapitel. 

etwas  wird,  da  alles  Vergehen  ein  Werden  zu  etwas  ist,  wie 
alles  Entstehen  ein  Werden  aus  etwas.  Es  muß  also  etwas 
sein,  das  wechselt,  dessen  Wechsel  also  in  einem  Verlieren  von 
Eigenschaften  und  einem  Erlangen  anderer  Eigenschaften  be- 
steht.^ Die  Welt  des  Wechsels  und  der  Bewegung  fordert  also 
schon  eine  Welt  des  Wechsellosen  und  Unbewegten.^  Ja,  ohne 
ein  beharrliches  Sein  schlechthin  gäbe  es  nicht  nur  nicht  einen 
sinnlichen  Wechsel,  sondern  dieser  könnte^  selbst,  wenn  es  ihn 
gäbe,  auch  nicht  erkannt  werden.  Ganz  ähnlich  wie  bei  Piaton 
wird  auch  hier  gezeigt,  daß  man  von  der  bloßen  Wahrneh- 
mung aus  nicht  einmal  zu  deren  eigenem  Sein  gelange.  Wenn 
es  nur  Sinnliches  gäbe,  dann  gäbe  es  —  das  ist  jener  innere 
Widerspruch  jeglichen  Relativismus,  der  nun  seine  inhaltliche 
Selbstaufhebung  vollendet,  —  überhaupt  nichts. -"^  Da  es  doch 
keine  Wahrnehmung  der  Wahrnehmung  gibt,  da  die  Wahr- 
nehmung sich  also  nicht  selbst  wieder  wahrnimmt,  so  würden 
wir,  wenn  es  nur  Wahrnehmungen  gäbe,  von  diesen  selbst 
nichts  wissen.  Um  also  auch  nur  etwas  von  der  Wahrnehmung 
zu  wissen,  ist  für  das  Wissen  von  der  Wahrnehmung  selbst 
schon  mehr  als  bloße  Wahrnehmung  vorausgesetzt,'*    Erst  unter 

^  Ebenda:  tö  ye  fäp  äTToßdWov  ^xe\  Ti  xoO  äTroßa\\o|utvou,  Kai  tou  yy- 
•fvoiatvou  f\br\  dvctYKri  ti  elvai.  öXuuq  t6  ei  90eipeTai,  üiidptei  ti  öv.  Kai  ei 
YiTvcTOi,  il  oö  -fifverm  koI  üqp'  ou  Y^wÖTai,  övaTKaTov  eTvai.  Aristoteles 
riclitet  sich  hier,  ebenso  X,  5,1062  a/b,  wie  früher  auch  Piaton,  gegen  Hera- 
klit.  Allein  auch  von  seiner  Polemik  gegen  Heraklit  dürfte  das  gelten,  was 
wir  früher  von  derjenigen  Piatons  bemerkten. 

2  Ebenda:  öti  y«P  ^cttiv  dKivriTÖc;  ti<;  (pvoiq  beiKT^ov . .  . ;  vgl.  auch 
ebenda  8,1012  b.  ^ari  jap  ti  8  äei  Kivei  tu  Kivoüineva,  Kai  tö  irpajTov  kivoöv 
ökIvtitov  aÖTÖ. 

'  Ebenda  III,  .5,1010b:  öXuui;  t'  ei  ndp  ior\  tö  aiG9r|TÖv  laövov,  oCibdv 
öv  etri . . ,  Zunächst  scheint  hier  die  Begründung  eine  psychologische  Wen- 
dung zu  nehmen,  wenn  die  Fortsetzung  der  oben  zitierten  Worte  lautet :  |ur) 
övTUJV  Tiöv  fuviJÜxujv.  Allein  unmittelbar  darauf  folgt:  aiödr|ai(;  y«P  oOk  öv 
ein.  Insofern  nun  das  bloße  Wahrnehmungs-Sein  aber  zum  Sein  als  unzuläng- 
lich erwiesen  wird,  bleibt  Aristoteles  in  der  Tat  keineswegs  beim  bloßen  Wahr- 
nehmungsproblem stehen,  sondern  bezieht  es  sofort  in  das  allgemeine  Erkennl- 
nisproblera  ein.     Das  wird  auch  oben  aus  dem  Texte  sogleich  deutlich  werden. 

*  Ebenda :  ou  yop  bn  x]  y'  o!iadr\a\<;  aOTrj  ^auTf|^  ^cttiv,  äW  ?aTi  ti  Kai 
e'Tepov  TTOpa  t^v  a\abr\aiv,  ö  ävÖYKn  -rrpÖTepov  eivai  Tr\(;  aiaQr\aiwq. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  229 

der  Voraussetzung  eines  Seins  an  sich  (auxd  Ka^'  aurd)^  kann 
auch  der  Relativismus  selbst  ein  Sein  und  einen  Sinn  —  näm- 
lich innerhalb  der  Sphäre  des  Sinnlichen  —  erhalten,  indem 
ja  nur  so  die  relativen  Beziehungen  selbst  als  seiend  gedacht 
werden  können.  Ohne  ein  Sein  an  sich  wären  diese  nichts 
und  wäre  der  Relativismus  selber  nichts.  Beschränkt  er  sich 
auf  die  relativen  Wahrnehmungsbeziehungen,  so  mag  er  das 
tun,  absolut  gesetzt  ist  er  eine  contradictio  in  adjecto.  Wenn 
er  sich  aber  in  dieser  seiner  Selbstbeschränkung  selbst  verstehen 
will,  so  muß  er  auch  verstehen,  daß  er,  um  auch  nur  von 
seinen  relativen  Bestimmungen  reden  zu  können,  selbst  schon 
eine  mehrfache  Bestimmtheit  durch  das  Sein  schlechthin  vor- 
aussetzt, insofern  doch  jene  relativen  Beziehungen  selbst  be- 
stimmte sein  sollen  und  eine  Beziehung  doch  nur  bestimmt 
sein  kann,  durch  an  sich  Bestimmtes,  Bezogenes,  so  daß  auch 
das  als  Beziehung  bestimmte  Sein  immer  schon  das  Sein  schlecht- 
hin voraussetzt,  durch  das  es  als  seiend  bestimmt  wird.^  So 
ist  jegliches  Wissen,  und  auch  das  des  Relativismus,  nur  mög- 
lich unter  Voraussetzung  des  beharrlichen  Seins  schlechthin. 
Wie  immer  man  sich  auch  auf  das  Relative  beschränken 
mag,  selbst  diese  Beschränkung  setzt,  sofern  sie  sich  auch  nur 

1  Ebenda  III,  6,101 1  a. 

^  Ebenda  b.  Hier  wird  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  Zeit,  insbe- 
sondere auf  Vergangenheit  und  Zuliunft  ausgeführt,  daß,  wenn  es  etwas  gibt, 
das  einmal  war,  und  etwas,  das  sein  wird,  damit  zugleich  ein  Sein  außer  dem 
Sein  upö^  bölav  vorausgesetzt  wird.  Soviel  Schwierigkeiten  nun  auch  gerade 
in  dem  Sein  des  Gewesenen,  also  doch  nicht  mehr  Seienden  und  dem  Sein  des 
Künftigen,  also  doch  noch  nicht  Seienden  an  und  für  sich  liegen  mögen,  so 
wird  doch  —  und  das  ist  das  Bedeutsame  des  Arguments,  wie  Aristoteles  deut- 
lich gesehen  haben  muß  —  davon  keine  Theorie  härter  gedrückt  als  die 
relativistische.  Wenn  Aristoteles  nun  unter  Beziehung  auf  diese  Schwierigkeit 
weiter  argumentiert :  Sti  ei  ^v,  itpö^  'dv  f\  'rTpö(;  übpiöiaevov,  so  bezeichnet  er  da- 
mit durchaus  zutreffend  die  irrelative  Seinsvoraussetzung  auch  des  Relativis- 
mus. Adolf  Lasson  übersetzt  hier  in  seiner,  trotz  mancherlei  an  Hegel  orien- 
tierten Freiheiten,  vortreffhchen  Übersetzung  der  Aristotelischen  Metaphysik, 
S.  80:  «Weiter  aber,  ist  es  ein  Relatives,  so  steht  es  in  Relation  zu  einem 
oder  doch  in  bestimmter  Relation  zu  Bestimmtem».  .  .  .  Das  mag  dem  Buch- 
staben nach  sehr  frei  sein,  so  bezeichnet  es  doch  den  Sinn  und  Geist  mit 
völliger  Sicherheit. 


230  7.  Kapitel. 

selbst  verstehen  will,  und  gerade  dadurch,  das  Sein  schlechthin 
voraus. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  es  dabei,  wie  Aristo- 
teles an  dem  Relativen  das  Objektive  gleiclisam  im  konkreten 
Falle  ergreift.  Ich  halte  mich  hier  an  ein  von  ihm  selbst 
gewähltes,  äußerst  instruktives  Beispiel.  Er  führt  aus:  Ein 
und  derselbe  Wein  kann  jetzt  süß  schmecken,  dann  aber  auch 
nicht:  entweder  weil  er  sich  selbst  geändert  hat,  oder  aber  auch, 
weil  in  der  sinnlichen  Organisation  dessen,  der  ihn  trinkt,  sich 
eine  Änderung  eingestellt  hat.  Was  sich  aber  trotzdem  nicht 
verändert  hat,  das  ist  die  Süßigkeit  selbst.  Sie  ist,  was  sie  ist 
und  bleibt  es,  wann  und  wo  sie  auch  auftritt  und  besteht  eben 
jedesmal  als  ein  an  und  für  sich  Beschaffenes.^  Wir  sehen  hier 
noch  ganz  von  der  genaueren  Behandlung  der  Bestimmtheit 
des  Seins  ab,  da  es  uns  zunächst  nur  auf  das  Sein  als  solches 
ankommt.  Immerhin  ist  die  Art  und  Weise,  wie  Aristoteles 
hier  gerade  im  scheinbar  ganz  Relativen,  wie  dem  Geschmack 
des  Süßen,  das  objektive  Sein  des  Süßen  selbst  ergreift,  von 
dem  allergrößten  Interesse.  Denn  von  hier  aus  fällt  ein  helles 
Licht  auf  den  Piatonismus  des  Aristoteles.  Das  zeigt  uns  nicht 
bloß,  wie  innig  im  tiefsten  Kern  des  Denkens  Aristoteles  auch 
da  mit  Piaton  verwandt  bleibt,  wo  er  ihn  aufs  leidenschaft- 
lichste bekämpfen  zu  sollen  glaubt.  Auf  der  anderen  Seite 
wird  von  hier  aus  auch  noch  einmal  das  Wesen  der  Plato- 
nischen Idee  deutlich.  Sie  besagt  eben  nichts  Anderes,  als 
jene  allgemeingültige  Bestimmung,  die  alles  Einzelne  beherrscht. 
Ob  ich  etwas  Süßes  schmecke  oder  nicht,  das  gilt  zunächst 
gleichviel,  —  um  den  Sachverhalt  an  dem  Aristotelischen  Bei- 
spiel zu  verdeutlichen  —  immer  aber  wenn  bestimmte  Be- 
dingungen erfüllt  sind,  unter  denen  irgendein  Ding  in  be- 
stimmter Weise  auf  das  Geschmacksorgan  einwirken  kann,  re- 
sultiert  eine    bestimmte    Empfindung,    die  ich   in  dieser  ihrer 


'  Ebenda  111,  5,1010b:  \iyiu  b'  olov  ö  juev  auröi;  oivoc,  böEeiev  äv  f\ 
MeraßaXdiv  f\  toö  aib^xaroq  jaexaßaXövToq  öt^  [xiv  elvai  YX.uKijq  öxd  bi  oö 
yXuKÜi;.  äW  oi)  xö  fe  fkvKX)  oTöv  dariv  örav  f\i,  oöbeiTuüiroTe  ^erdßaXev, 
&X,X'  del  d\riöeÜ€i  itepi  aOroö,  koI  ^ariv  i.Z  d.vd'fKr\(;  rö  ^aöjuevov  y^ukO  toi- 
oOtov;  vgl.  ebenda  X,  (3,1063  a/b. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  231 

Bestimmtheit  als  süß  bezeichne,  für  welche  Bezeichnung  dieses 
so  beschaffenen  Empfindungsinhaltes  die  Idee  des  Süßen  selbst 
die  Voraussetzung  bildet.  In  diesem  Sinne  hat  auch  Otto 
Liebmann\  an  und  für  sich  freihch  mehr  in  systematischer, 
als  in  historischer  Absicht,  die  Platonische  Idee  als  «Natur- 
gesetz» angesprochen.  Und  wenn  er  auch  zwischen  der  Pla- 
tonischen Ideenlehre  und  der  Aristotelischen  Entelechienlehre 
einen  größeren  Unterschied  zu  konstatieren  sucht,  als  es  histo- 
risch zulässig  ist,  so  verkennt  er  doch  gerade  auch  die  wichtigen 
Momente  der  Übereinstimmung  nicht.  Gerade  dies  Moment  aber 
hebt  er  an  Piaton  hervor,  daß  seine  Idee  sei  ein  alles  Einzelne  be- 
herrschendes Gesetz  als  Inbegriff  bestimmter  Bedingungen  für  be- 
stimmte Erscheinungen,  so  daß  diese  da  auftreten,  wo  jene  erfüllt 
sind,  wie  z.  B.  eine  bestimmte  Art  oder  Gattung  von  Lebewesen 
unter  den  vom  Art-  oder  Gattungsbegriff  umfaßten  Lebensbe- 
dingungen dieser  Art  oder  Gattung,  wann  und  wo  auch  immer  es 
sei.  Daß  aber  gerade  hier  eine  tiefe  Übereinstimmung  zwischen 
Piaton  und  Aristoteles  besteht,  das  lehrt  am  deutlichsten  wohl 
des  Aristoteles  eigene  von  uns  besprochene  Exemplifikation. 

So  wird  mit  zwingender  Klarheit  deutlich,  daß  auf  Grund 
des  Sinnlichen  allein  überhaupt  keine  Wissenschaft  möglich  ist^, 
daß  alle  Wissenschaft  ist  ein  Wissen  vom  ewig  Seienden  und 
Allgemeinen,^  Der  Gegensatz  zu  Piaton  liegt  vielmehr  in  dem 
Verhältnis  des  Allgemeinen  zum  Besonderen.  Ob  mit  Recht 
oder  mit  Unrecht,  das  mag  hier  dahingestellt  bleiben,  weil  da- 
rüber fast  schon  zu  viel  gestritten  worden  ist  und  weil  impli- 
zite die  Entscheidung  eigentlich  schon  in  unseren  Ausführungen 


'  Vgl.  dazu  «Analysis  der  Wirklichkeit»,  besonders  das  ganze  Kapitel  über 
«Plalonismus  und  Darwinismus»  und  «Gedanken  und  Tatsachen»  I,  besonders 
den  Abschnitt  über  «Idee  und  Entelechie»;  vgl.  auch  11,  S.  145. 

2  Anal.  post.  I,  31,87  b:  Oubi  bi'  aiadnaeuuc;  ^otiv  dmOTaööai. 

5  Met.  V,  2,1027a:  ^iTiaTn|iir|  |Liev  ^ap  itciöa  f\  toO  dei  f)  toO  ibq  eui  tö 
TToXü.  Das  «TÖ  ibq  im  tö  ttgXü»  bezeichnet  ohne  Zweifel  aber  doch  keine  bloß 
empirische  Enumeration,  sondern  zum  Unterschiede  von  toö  dei  sicher  das  auf 
diesem  Gegründete.  Das  kann  gerade  aus  der  Analyse  des  oben  besprochenen 
Beispiels  klar  werden.  Und  wenn,  wie  sich  noch  zeigen  wird,  Aristoteles 
dem  «Ungefähr»  noch  eine  Stelle  in  der  Wirklichkeit  läßt,  so  läßt  er  ihm  doch 
keine  solche  in  der  W'isscnschaft.     Vgl.   übrigens   auch  a.  a.  0.  X,   8,1065a. 


232  1.  Kapitel. 

über  Piaton  liegt:  ob  mit  Recht  oder  Unrecht  also,  gleichviel, 
jedenfalls  sieht  Aristoteles  selbst  seinen  Gegensatz  zu  Piaton 
zunächst  darin,  daß  sich  aus  Piatons  Allgemeinem  nicht  das 
Einzelne  erklären  lasse,  und  er  selbst  dringt  gerade  auf  diese 
Erklärung^  Daß  er  dadurch  selbst  ein  innigeres  Verhältnis 
zwischen  dem  Allgemeinen  und  dem  Besonderen  herstellen  zu 
können  meint,  als  er  es  bei  Piaton  vorzufinden  glaubt,  steht 
außer  Frage.  Ebenso  sicher  ist  es,  daß,  so  angesehen,  sein 
Standpunkt  als  Ganzes  vom  Dualismus  weiter  abzurücken 
scheint  als  derjenige  Piatons.  Ob  freilich  gerade  darin  der 
Platonische  Duahsmus  liege,  das  muß  ebenfalls  aus  dem  vo- 
rigen Kapitel  längst  deutlich  geworden  sein.  Ob  aber  Aristo- 
teles selbst  wirklich  so  über  «allen  Dualismus  erhaben»  sei,  wie 
es  mancher  seiner  getreuen  Verehrer  meint^,  ob  bei  ihm  selbst 
nicht  ein  gewisser  dualistischer  Rest  verbleibt  und  er  sich  auch 
gerade  darin  mit  Piaton  berührt,  wird  sich  vielleicht  später 
zeigen.  Verkannt  darf  aber  seine  Tendenz,  über  den  Duahsmus 
hinauszugelangen,  ebensowenig  werden,  wie  sein  subjektives 
Bewußtsein,  über  diesen  hinauszuführen,  obgleich  es  wohl  bei 
ihm  selbst  nicht  ganz  so  stark  entwickelt  gewesen  sein  mag, 
wie  bei  seinen  Hegelischen  Interpreten. 

Diese  Tendenz  wird  aber  vollkommen  deuthch  in  der  Art, 
das  «An-sich>    der   Dinge   auf  die    Dinge    zu   beziehen.     Das 


1  Ebenda  I,  9,992  a;  vgl.  Eucken,  D.  Methode  d.  Arist.  Forsch.,  S.  22  ff. 

^  Anton  Bullinger  hat  in  einer  besonderen  Schrift  «Des  Aristoteles  Er- 
habenheit über  allen  Dualismus  und  die  vermeintlichen  Schwierigkeiten  seiner 
Geistes-  und  Unsterblichkeitslehre»  mit  entschiedenem  Verständnis  und  un- 
verkennbarer Sachkenntnis  behandelt.  Ob  aber  seine  übrigens  durchaus  echte 
Begeisterung  nicht  doch  schon  zu  viel  «Erhabenheit  über  allen  Dualismus»  in 
Aristoteles  hineingelesen  hat,  wird  sich  später  zeigen,  wo  sich  wohl  Gelegen- 
heit bieten  wird,  auf  diese  Schrift  zurückzukommen.  Bullinger  steht  mit 
seiner  Ansicht  natürlich  nicht  allein.  Seit  Hegel  stimmen  alle  an  Hegel  selbst 
sich  systematisch  anlehnende  Denker  auch  in  der  historischen  Beurteilung 
des  Aristoteles  überein.  Der  treffliche  Adolf  Lasson  erklärt  die  Aristotelische 
Philosophie  in  der  Vorrede  (S.  9)  zu  seiner  Metaphysikübersetzung  für  den 
«energischsten  und  konsequentesten  Monismus  des  Geistes,  den  die  Welt  bis 
auf  Hegel  gesehen  hat».  Ed.  Caird  und  mancher  andere  moderne  Hegelianer 
sind  kaum  weniger  energisch  in  der  Vertretung  dieses  historischen  Urteils. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  i233 

«An-sich»  ist  nichts  Anderes  als  gerade  das,  was  die  Dinge 
bestimmt  und  diesen  als  ihre  Bestimmung  innewohnt,  ihr 
«Was»  und  «Wesen»  ausmacht,  ihnen  nicht  bloß  «zufällig» 
und  «akzidentell»,  sondern  «essentiell»  zukommt,  d.  h.  nicht 
eigentlich  das  bloß  «Zukommende»  ist,  sondern  Grundlage  des 
Zukommens,  die  nicht  von  etwas  außer  ihr  ausgesagt,  sondern 
Substrat  auch  der  Aussage  des  Zukommenden  ist,  und  als 
Allgemeines  allem  Einzelnen  innewohnt  und  sein  Wesen  ist.^ 
Diese  —  denen,  die  in  Piatons  Ideen  selbst  Einzeldinge  sehen, 
zum  Trotz  sei  es  nun  doch  herausgesagt  —  echt  Platonische 
Tendenz  gibt  bei  aller  Neigung  zum  Formalen  in  der  Logik 
dieser  dennoch  auch  einen  bedeutsamen  inhaltlichen  Charakter.^ 
Wenn  also  Aristoteles,  wie  er  selbst  meint:  im  Gegensatz 
zu  Piaton,  betont,  das  Allgemeine  sei  nicht  etwas  neben  dem 
Einzelnen^,  so  fordert  er  doch  auch  für  die  echte  Erkenntnis 
des  Einzelnen,  daß  es  aus  dem  Allgemeinen,  auf  Grund  des 
Allgemeinen  erkannt  werde,  in  dem  es  ebenso  logisch 
enthalten  ist*,  wie  das  Allgemeine  reaUter  in  ihm  ent- 
halten ist^,  da  das  Allgemeine  eben  den  Grund  des  Einzelnen 
enthält.^  Wenn  also  auch  das  «Warum»  und  das  «Daß»  nicht 
getrennt  werden  dürfen,  so  gebührt  auch  dem  Wissen,  das  das 
«Warum»  ebenso  enthält  wie  das  «Daß»,  der  Vorzug.''     Denn 


^  Anal.  post.  I,  4,73  a/b.  Ich  habe  mich  oben  im  Ausdruck  möglichst 
eng  an  die  Aristotelische  Bestimmung  der  Beziehungen  von  Kard  ttovtö^,  Kad' 
aÜTÖ  und  koööXou,  des  ^vuirdpxeiv  ^v  tiIji  ti  ^ötiv,  der  oüaia  und  des  Xöyoi; 
gehalten. 

*  Vgl.  Heinrich  Maier,  Die  Syllogistik  des  Aristoteles,  Einltg.  Eigentlich 
kann  das  ganze  eingehende  und  gründliche  Werk  Maiers  als  Bestätigung  dieser 
Behauptung  dienen. 

*  Anal.  post.  I,  24,85  b:  äxi  ei  tö  |uev  KadöXou  |uri  ^öxi  xi  uopdi  xd  Kod' 

iKOÖTd  .  .  . 

*  Ebenda:  djaxe  ö  KaööXou  eibOjc,  indWov  oibev  f|i  UTrdpxei  f)  6  xö  Kaxd 
Hepo?. 

*  Ebenda:  exi  xe  oubeuia  dvÜYKri  üiTo\a,ußdveiv  xi  eTvai  xoöxo  Trapd 
xaöxa,  öxi  '^v  briXoi,  otibiv  laäWov  f|  im  xöiv  äWuiv,  ööa  |uri  xt  ariiuaivei  dW 

f]    TTOIÖV    f|    ItpÖq    XI    f\    TTOieiV. 

ö  Ebenda:  aixiov  dpa  xö  KaööXou. 

'  Ebenda  I,  27,87  b:  dKpißeoxepa  b'  eTtiaxr)|Liri  iTna-:f\^r\<;  Kai  irpox^pa 
f|  xe  xoö  öxi  Kai   biöxi  i\  auxri,  dWd  jur)  x^^Pk  fou  öxi  xfiq  xoO  biöxi,    Kai  fj 


234  7.  Kapitel. 

erst  darin  liegt  eigentliches  und  wissenschaftliches  Wissen. 
Das  Wahrnehmuugswissen,  das  immer  auf  das  Einzelne  geht, 
reicht  dazu  nicht  aus.  Denn  Wissenschaft  ist  begründetes 
Wissen.  Begründung  liefert  aber  nur  das  Allgemeine,  das 
nicht  wahrnehmbar  ist.  Ebendarum  kann  eigentliches  Wissen 
nicht  durch  Wahrnehmung  erlangt  werden.^  Wenn  man  also 
selbst  imstande  wäre,  wahrzunehmen,  daß  die  Winkelsumme 
im  Dreieck  gleich  zwei  Rechten  ist,  so  wäre  das  ohne  Be- 
gründung doch  noch  ebensowenig  eigentliches  Wissen,  wie 
die  bloße  Wahrnehmung  einer  Mondfinsternis,  wenn  man 
nicht  für  das  eine  wie  für  andere  die  Gründe  wüßte. ^ 
Diese  aber  liegen  im  Allgemeinen,  und  ebendarum  hat  das 
Allgemeine  einen  höheren  Wissen  wert.  ^  Das  Allgemeine  ist 
das  Notwendige,  das  sich  nicht  auch  anders  verhalten  kann. 
Und  wenn  auch  das,  was  sich  anders  verhalten  kann, 
sein  kann,  so  kann  es  doch  eben  als  solches  nicht  wissen- 
schaftlich erkannt  werden.  Das  ist  immer  nur  möglich  ver- 
mittels und  auf  Grund  eines  Allgemeinen,  durch  das  sich 
echtes  Wissen  von  bloßer  Meinung  unterscheidet.'^  Wenn  nun 
die  Wahrnehmung  sich  auf  das  Einzelne  bezieht,  so  erfaßt  sie 
in  dem  Einzelnen  doch  nicht  den  Gegenstand  als  solchen, 
sondern  nur  seine  Eigenschaften.  Da  diese  aber  dem  Gegen- 
stande gegenüber,  weil  sie  ja  nicht  ihm  allein  zukommen,  selbst 
ein  Allgemeines  sind,  wenn  sie  auch  von  der  Wahrnehmung 
nicht  als  Allgemeines,  sondern  nur  selbst  als  Einzelnes  erkannt 

juri  KttO'  öiroKEiiidvou  Tfi<;  koö'  ÜTroKeviadvou,  oTov  t\  äpiö|uriTiKrj  dtpi^oviKfi?, 
Kai  iZ  AöTTÖvuuv  Tfi<;  i.K  ttpoabiaeüx;,  otov  feuj\xerpia(;  äpiOnriTiKr). 

'  Ebenda  I,  31,87  b:  ^ttei  ouv  ai  ^iv  änobeileic,  küööXou,  xaDra  b'  oOk 
^OTiv  afaödveaöai,  q)avepöv  öri  oüb'  ^Triaxaaöai  br  aiaörjaeoti;  eaxiv. 

2  Ebenda. 

^  Ebenda  I,  31,88a:  tö  hi  KadöXou  xiiuiov,  öxi  br\\oi  xö  aixiov  •  löaxe 
Ttepi  xoioOxujv  y]  KadöXou  xi.uioix^pa  xdiv  aioQr\ae{X)v  Kai  xfi<;  vorjcreuii;,  8auuv 
exepov  xö  aixiov. 

*  Ebenda  I,  33,88  b/89a.  Daß  hinsichtlich  des  psychologischen  Ur- 
sprungs die  Wahrnehmung  des  Einzelnen  dem  Denken  des  Allgemeinen  vor- 
ausgeht, wie  Aristoteles  besonders  de  an.  II,  8,432 a  betont,  tut  ihrem  lo- 
gischen Verhältnis  keinen  Eintrag.  Auch  darin  stimmt  Aristoteles  mit 
Piaton  überein. 


Der  Substaiizbegrifr  innerhalb  des  Arislotelischen  Systems.  235 

werden,  so  ergreift  das  Denken  unmittelbar  am  einzelnen  Gegen- 
stande selbst  seine  allgemeinen  Bestimmungen.^  Wahrhafte 
Erkenntnis  ist  nur  möglich  vom  wahrhaften  Sein^,  das  allein 
in  den  allgemeinen  Grundlagen  und  Prinzipien  der  Dinge"', 
nicht  aber  in  den  einzelnen  Dingen  als  solchen^,  liegt.  Und 
wenn  auch  die  allgemeinen  Grundlagen  der  Dinge  nicht  außer 
den  Dingen  zu  suchen  sind,  sondern  allein  in  den  Dingen 
wirksam  sind,  so  sind  die  Dinge  doch  nichts  ohne  sie.  Und 
wir  erkennen  das  einzelne  Ding  sowohl  als  Gegenstand  nur 
durch  das  Denken,  wie  wir  auch  seine  zwar  der  Wahrnehmung 
gegebenen,  aber  insofern  sie  selbst  ein  Allgemeines  sind,  in 
ihrer  Bestimmtheit  doch  auf  das  Denken  verwiesen  bleibenden 
Eigenschaften  in  letzter  Linie  nur  durch  das  Denken  erkennen, 
4.  Mit  dem  Verhältnis  von  Gegenstand  und  Eigenschaft 
sind  wir  bereits  an  die  fundamentalsten  Bestimmungen  auch 
des  Verhältnisses  von  Allgemeinem  und  Einzelnem,  sowie  an 
das  Wesen  der  Substanz  herangetreten;  zugleich  ist  von  hier 
aus  die  Anknüpfung  an  unseren  Ausgangspunkt  gewonnen. 
Ist  das  Einzelne  zwar  nichts  ohne  das  Allgemeine,  so  ist  doch 
auch  das  Allgemeine  nichts  neben  dem  Einzelnen.^  Wenn  wir 
in  der  Erkenntnis  und  im  Urteil  etwas  bestimmen,  wenn  wir 
(um  uns  an  des  Aristoteles  eigene  Ausdrucksweise  zu  halten)  im 
Urteil  etwas  erkennend  aussagen,  so  ist  streng  zu  unterscheiden 
zwischen  dem,  was  ausgesagt  wird,  und  dem,  wovon  jenes  aus- 
gesagt wird.  Und  wie  jede  Aussage  neben  dem  Ausgesagten  ein 
Substrat  der  Aussage  fordert,  so  ist  mit  dieser  Unterscheidung  zu- 
gleich noch  die  andere,  mit  der  ersten  selbst  nicht  zu  verwechselnde, 
Unterscheidung  gesetzt  zwischen  dem,  was  das  ist,  das  ausgesagt 
wird,  und  dem,  was  das  ist,  von  dem  es  ausgesagt  wird.  Oder 
mit  anderen  Worten:    Jede  Aussage  erfordert  neben  dem  Aus- 


*  Ebenda  I,  31,88  a. 

2  Ebenda  II,  19,100a,  besonders  deutlich  auch  Met.  III,  2,996  b  und  IV, 
2,1004  b. 

3  Phys.  1,  1,184  a  und  Anal.  post.  I,  2,71b;  vgl.  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  175 f. 

*  Anal.  post.  I,  31,88  a. 

^  Anal.  post.  I,  11,77  a:  e'ibii  ixiv  ouv  eivai  f\  'iv  ti  Ttapd  xd  ttoWä  oük 
dvdYKri,  ei  diröbeiEK;  eotai,  eivai  ja^vTOi  ev  Kaxö  iroXXOuv  dXr)0^q  ei-rrciv  dvdYKr]. 


236  7.  Kapitel. 

gesagten  ein  Substrat  (unoKeiiiievov)  der  Aussage ;  und  damit  ist 
zugleich  zu  unterscheiden  zwischen  dem,  was  das  Substrat 
(u7roKei)Lievov)  des  Seins  selber  von  etwas  ist  und  dem,  was  bloß 
in  und  an  und  durch  dieses  Substrat  selber  sein  kann.^  Von 
hier  aus  enthüllen  sich  zunächst  zwei  Bedeutungen  des  Be- 
griffes der  Substanz,  die  sich  für  Aristoteles  mit-  und  aneinander 
entwickeln  und  die  die  Substanz  einmal  als  Kategorie,  das 
andere  Mal  als  Wesen  zeigen:  Was  nämlich  für  sich  selbst 
weder  ein  Substrat  der  Aussage,  noch  ein  solches  des  Seins 
fordert,  das  muß  und  kann  allein  letztes  Substrat  aller  Aussage 
und  alles  Seins  selber  sein.  Es  ist  Substanz  im  eminenten 
Sinne  des  Wortes,  Substanz  erster  Ordnung  als  Grundlage  alles 
Denkens  oder  Aussagens  und  als  Grundlage  alles  Seins. ^ 

Die  «erste  Substanz»  ist  die  Substanz  im  eigentlichen  Sinne 
nach  Aristoteles,  das  eigentlich  seiende  Wesen  und  entspricht 
streng  der  Substanzkategorie  als  der  eigentlichen  Grundkate- 
gorie. Wie  diese  das  Substrat  aller  übrigen  Kategorien  ist^, 
so  ist  das  substantielle  Wesen  die  Grundform  und  das  Sub- 
strat allesj^  Seins.  Wie  die  Substanzkategorie  als  Grundlage 
aller  Aussage  selbst  nie  ausgesagt  werden,  d.  h.  hier  in  diesem 
Falle  nie  Prädikat*  sein  kann,  so  kann  das  eigentlich  substan- 
tielle Wesen  nie  bloß  an  etwas  anderem,  d.  h.  bloß  relativ  in 
Beziehung  (rrpo?  xi)  auf  etwas  anderes   sein.^     Es  muß  in  sich 


1  Categ.  II,  Ib. 

-  Ebenda  V,  iJa:  oüaia  bi  iarw  f|  KupiiuTaxd  xe  Kai  TtpiJüxuj^  Kai  |Lid- 
Xiaxa  XeYoi-i^vri,  x]  lirjxe  Kad"'  üiroKei|Li^vou  xivö?  X^yerai  larix'  ^v  OtiOKeiia^viui 
xivi  laxiv  .  .  .;  vgl.  ebenda  3a:  r]  |Lidv  yöp  TtpiJuTri  ouafa  ouxe  ^v  ÜTiOKeija^viJui 
daxiv,  ouTe  KaO'  ö-rroKeiu^vou  Xeyexai. 

^  Ebenda. 

•»  Ebenda,  sowie  Anal.  post.  I,  22,83a  und  Met.  IV,  8,1017b.  Man 
hat  darauf  zu  acliten,  daß  hier  von  Aristoteles  «Aussage»  im  Sinne  der 
Prädikation' verstanden  wird,  da  man  ja,  ohne  des  Aristoteles  sonstige  Absicht 
zu  verfehlen,  behaupten  kann,  daß  vom  Sein  überhaupt  auch  die  Substantiali- 
tät  als  Seinsweise  ebenso  gut  ausgesagt  werden  kann,  wie  das  Sein  von  der 
Substanz,  Aber  diese  Aussage  wäre  eben  keine  Prädikationsaussage.  So 
hebt  sich  eine^Schwäerigkeit,  von  der  manchmal  die  Aristoteles-Literatur  (vgl. 
Schuppe,  a.  a.  0.,  S.  4-0  und  Trendelenburg,  a.  a.  0.,  S.  17)    gedrückt  wird. 

8  Met.  XIII,  1,1088  b.  Die  Relationslosigkeit  betrifft  ledighch,  wie  bald 
klar  werden  wird,  die  substantielle  Bestimmtheit,  nicht  eine  absolute  Beharr- 


Der  Substanzbegritr  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  237 

selbständig  sein^  und  Eines  und  Bestimmtes  für  sich  selbst^, 
hat  darum  auch  nicht  eigenthch  ein  Gegenteil,  obwohl  es  Ent- 
gegengesetztes aufnimmt.^  Wenn  es  nun  auch  «weder  Ver- 
mehrung noch  Verminderung  aufnehmen  kann»^,  so  bedeutet 
das  eben,  daß  es  «das,  was  es  ist,  nicht  mehr  und  nicht  we- 
niger sein  kann,  als  es  ist».^  Als  solches,  in  dieser  Bestimmt- 
heit und  einheitlichen  Ganzheit  also  hat  es  keinen  Gegensatz 
und  keine  Intensitätsunterschiede  des  Seins  und  ist  lediglich 
das  konstante  im  Wechsel  seiner  Eigenschaften  beharrende 
Substrat  dieser  seiner  Eigenschaften.  Diese  sind  im  Verhältnis 
zu   ihm   lediglich    ou^ßeßrjKOTa.^     So    wird    vollkommen   deut- 


lichkeit,  die  sonst  und  später  auch  noch  bei  Aristoteles  für  den  Substanz- 
begriff charakteristisch  ist.  Die  Beharrlichkeit  der  «ersten  Substanz»  ist  ledig- 
lich selbst  relative  Konstanz. 

1  Met.  VI,  3,  1028  b  und  1029  a. 

*  Categ.  V,  3b  und  Anal.  post.  I,  4,73  a. 

3  Diese  Beziehung  und  Unterscheidung  ist  von  Wichtigkeit.  Einerseits 
heißt  es  Categ.  ebenda:  ÜTrdpxei  be  raic,  ovaiaic,  Kai  tö  i.ir\biv  auToiq  ^vavxiov 
eTvai  und  ganz  entsprechend  Phys.  I,  6,189  a:  ^xi  ouk  dvai  qpafxev  oüaiav 
^vavTiav  ouaiai.  Auf  der  anderen  Seite  aber  wird  es  als  das  Wesenthchste 
und  Charakteristischste  der  Substanz  angesehen,  daß  sie  als  in  sich  Dasselbe 
und  Einheithche  doch  Entgegengesetztes  aufnehmen  kann.  So  Categ.  ebenda 
4a:  juriXiaxa  he  ibiov  Tf\q  oOoia^  boKei  eTvai  tö  raOröv  Kai  §v  öpi^inuji  öv 
Tüjv  ^vavTiouv  eivai  beKxiKÖv,  .  .  .  Schon  daraus  wird  deutlich,  wie  für  Aristo- 
teles zunächst  die  Substantialität  den  Sinn  der  Realität  oder  Dinglichkeit  an- 
nimmt. Völlig  scharf  tritt  das  hervor,  wenn  wir  zu  den  angeführten  Stellen 
Jetzt  auch  noch  ausdrücklich  hinzunehmen  die  Worte  Anal.  post.  I,  4,73  b 
. .  .  oTov  TÖ  ßabtZiov  ^Tepöv  ti  öv  ßabilov  ^otI  Kai  XeuKÖv,  r]  b'  ouoia,  Kai 
oaa  TÖbe  ti  ariiuaivei,  oüx  STepöv  ti  övTa  ^ötiv  öirep  ^otiv.  So  wird  die  Sub- 
stanz gedacht  als  das,  was,  ohne  noch  etwas  anderes  zu  sein,  als  es  ist, 
eben  gerade  das  ist,  was  es  ist,  wodurch  das  Wesen  der  Realität  selbst  schon 
als  individuell  bestimmt  wird. 

*  Categ.  ebenda, 
s  Ebenda. 

^  Anal.  post.  I.  c.  u.  I,  22,83  b,  sowie  besonders  Met.  IV,  7,1017  a  und 
de  part.  animal.  I,  1,639  a.  Trendelenburg  setzt  a.  a.  O.,  S.  53  durchaus  zu- 
treffend oOaia  und  au|ußeßriKÖTa  in  das  Verhältnis  von  Substanz  und  Akzidenz. 
Und  ebenso  richtig  ist  seine  Bemerkung  S.  70 :  «Die  Substanz  im  ersten  und 
eigentlichen  Simie  ist  keine  Akzidenz,  kein  Prädikat ;  indem  sie  als  solche 
keinen  Gegensatz  und  keine  Unterschiede  des  Grades  hat,  vermag  sie  im 
Wechsel  beharrend  Entgegengesetztes  in  sich  aufzunehmen».    Allein  diese  Be- 


238  7.  Kapitel. 

lieh,  in  welcher  Bedeutung  bei  Aristoteles  die  Substanz  im 
eigentlichen  Sinne  auftritt.  Sie  ist  das  eine  Mal  Aussageform, 
Kategorie.  Weil  aber  das  Seiende  von  allem  ausgesagt  wird, 
(Kaxd  TrdvTUJv  tö  öv  KaTriYopeTTai)\  ebendarum  kann  das  Seiende 
nicht  schlechthin  schon  substantiell  sein,  weil  ja  sonst  alles 
Substanz  sein  müßte  und  weil  die  Substanz  ja  überhaupt  nicht 
im  Sinne  der  Prädikation  ausgesagt  wird.^  Darum  kann  also 
Substanz  das  andere  Mal  lediglich  Ding  oder  Realität  bedeuten. 
Das  liegt  selbst  schon  in  der  Aristotelischen  Fassung  der  Ka- 
tegorie der  Substantialität,  die  für  ihn  immer  schon  mit  der 
Kategorie  der  Realität  oder  Dinglichkeit  zusammenfällt.  Daraus 
folgt  konsequenterweise  und  mit  analytischer  Notwendigkeit, 
daß  das  eigentlich  erste  Wesen  bei  Aristoteles  dem  Allgemeinen 
aufs  strengste  entgegengesetzt  sein  muß.  Denn  allgemein  ist, 
wie  sich  ja  schon  gezeigt  hat,  etwas  ja  gerade  deshalb,  weil  es 
sowohl  an  Anderem  unter  sich  Verschiedenem  gemeinsam  sein 
und  ebendarum  auch  von  ihm  ausgesagt  werden  kann.  Arten 
und  Gattungen  sind  also  ganz  und  gar  nicht  eigentliche  Sub- 
stanzen. Sie  sind  höchstens  «Substanzen  zweiter  Ordnung» 
(beuiepai  ouoiai),  weil  sie  ohne  die  «ersten  Substanzen»  selbst 
nichts  wären.  Freilich,  insofern,  wie  sich  schon  gezeigt,  auch 
das  Einzelne  nichts  ohne  das  Allgemeine  wäre,  ist  die  erste 
Substanz  selbst  Darstellung  der  zweiten  Substanz  und  die  zweite 


harrlichkeit  ist  keine  schlechthinige,  und  die  spezifische  Differenz  der  Aristo- 
telischen «ersten  Substanz»  vom  allgemeinen  Substanzbegriff,  für  den  Tren- 
delenburgs  Formulierung  ja  auch  gelten  müßte,  kommt  hier  nicht  zum  Aus- 
druck. Sie  liegt  in  dem  Verhältnis  des  beharrlichen  Substrates  zum  Wechsel 
der  Eigenschaften.  Vollends  ist  T.'s  Parallele  zu  Spinozas  «in  se  esse»  der 
Substanz  irreführend.  Denn  hier  handelt  es  sich  um  die  allgemeine  Sub- 
stanz, nicht  um  die  dinglich-individuelle.  Gerade  am  Gegensatz  zu  Spinoza 
wird  die  «erste  Substanz»  des  Aristoteles  deutlich.  Die  Substanz  Spinozas  ist 
in  jeder  Hinsicht  für  sich  und  in  sich  selbständig,  alles  Einzelne  geht  aber 
in  ihr  auf.  Die  «erste  Substanz»  des  Aristoteles  ist  gerade  nur  als  Einzelnes 
jedem  Einzelnen  gegenüber  für  sich  und  selbständig.  Spinozas  Substanz  ist 
schlechthin  beharrlich;  die  «erste  Substanz»  des  Aristoteles  nur  den  au|aße- 
ßnKÖTtt  gegenüber. 

'  Met.  X,  2,1060  b. 

2  Vgl.  S.  236,  Anm.  4. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  231) 

Substanz  selbst  Form  und  Inbegriff  der  ersten  Substanz.^  In 
der  Kategorie  der  Substanz  hat  darum  Aristoteles  die  Bedeu- 
tung der  Substanz  im  Sinne  des  Einzelwesens  festgelegt.  Denn 
nur  vom  Einzelwesen,  und  zwar  vom  individuellen  Einzelwesen, 
haben  alle  die  bezeichneten  Bestimmungen  eine  Geltung.  Es  ist 
Sache  der  Individualität,  gerade  das  zu  sein,  was  es  ist,  und 
eben  dieses  auch  nicht  mehr  und  nicht  minder  zu  sein.  Ge- 
rade weil  es  in  sich  selbst  bestimmt  ist,  ist  das  Individuum 
als  solches  einem  anderen  nicht  im  eigentlichen  Sinne  ent- 
gegengesetzt. Alle  Gegensätzlichkeit  liegt  hier  in  den  Eigen- 
schaften, für  die  das  Einzelwesen,  die,  zwar  nicht  schlechthin, 
aber  relativ  konstante  Grundlage  bildet. 

In  diesen  Bestimmungen  kündigt  sich  eine  weittragende 
Erkenntnis  an:  die  Einsicht,  daß  das  eigentlich  Reale  durch- 
gängig individuell  bestimmt,  und  daß  das  individuell  Bestimmte 
auch  das  einzig  Reale  ist.  Freilich  haben  wir,  um  Aristoteles 
gerecht  zu  werden  und  sowohl  seine  weiteren  Bestimmungen 
über  das  Substanzproblem  richtig  zu  verstehen,  wie  auch  seine 
Platon-Kritik  in  ihre  Grenzen  zu  weisen,  streng  zwischen  Sein 
und  Realität  zu  unterscheiden  und  festzuhalten,  daß  auch  nach 
ihm  das  Sein  in  der  Realität  nicht  erschöpft  ist.  Sein  indivi- 
dualistischer Realismus  ist  ein  unschätzbares  Verdienst,  das 
ganz  eigentlich  erst  unsere  Zeit  zu  würdigen  imstande  ist. 
Aber  dieser  individuahstische  Realismus,  und  darin  liegt  viel- 
leicht seine  ganze  Größe,  hindert  nicht  den  prinzipiellen  Idea- 
lismus, sondern  ruht  auf  ihm,  auch  bei  Aristoteles.  Dessen 
Platon-Kritik  wird  darum  gerade  freilich  hinfällig.  Hat  Ari- 
stoteles einmal  die  Bedeutung  der  Substanz  auf  das  Einzelwesen 
festgelegt,  so  muß  er  konsequenterweise  Piaton  bekämpfen,  so- 


^  Am  einfachsten  ist  wohl  das  Verhältnis  von  irpuixai  oüaiai  und  beO- 
repm  ouaim  im  V.  Kapitel  der  «Categ.»  behandelt.  Windelband  hat  es  a.  a. 
0.,  S.  117 f.  ebenso  kurz  wie  treffend  folgendermaßen  zum  Ausdruck  gebracht: 
«Die  Gattung  besteht  nur,  insofern  sie  sich  in  den  einzelnen  Dingen  verwirk- 
licht, und  das  einzelne  Ding  besteht  nur,  indem  in  ihm  die  Gattung  zur  Er- 
scheinung kommt».  Das  Zutreffende  dieser  Formulierung  wird  vielleicht  noch 
deutlicher  werden,  wenn  wr  die  Bedeutung  der  Prinzipien  der  Form  und  der 
Materie  für  das  Substanzproblem  behandeln. 


240  7.  Kapitel. 

bald  er  in  dessen  Ideen  Substanzen  in  seinem  Sinne  sieht.  Aber 
Piatons  ouaiai  sind  eben  nicht  Einzelwesen.  So  bedeutsam  der 
Aristotelische  realistische  Substanzbegriff  auch  ist,  so  ist  er  doch 
weder  für  Aristoteles  selbst  schon  das  letzte  Wort  und  kann 
es  schon  den  früheren  Darlegungen  zufolge  nicht  sein;  noch 
ist  seine  eigentliche  und  erste  Substanz  in  ihrer  relativen  Ding- 
Beharrlichkeit  schon  Substanz  im  eigentlichen  Sinne  des  schlecht- 
hin Beharrlichen,  eben  weil  das  Einzelwesen  nicht  schlechthin, 
sondern  bloß  relativ  beharrlich  ist.  Es  ist  nur  Substanz,  weil 
es  konkrete  Wirklichkeit,  Realität  ist,  und  weil  das  Substan- 
tielle sich  im  Konkreten  darstellt.  Aber  die  Substantialität  als 
solche  ist  immer  schon  Grundlage  der  Realität. 

5.  Daß  Aristoteles  sich  darüber  prinzipiell  klar  gewesen 
ist,  das  folgt  schon  daraus,  daß  auch  bereits  nach  seiner  Ka- 
tegorienlehre das  substantielle  Sein  im  Sinne  des  konkreten 
Wesens  das  Sein  überhaupt  nicht  erschöpft  und  mit  diesem 
nicht  zusammenfällt,  sondern  nur  eine  Form  dieses  Seins  ist. 
Das  aber  wieder  hegt  darin,  daß,  wie  schon  bemerkt,  das  Sein 
von  allem  ausgesagt  und  alles  vom  Sein  ausgesagt  werden 
kann,  daß  eben  darum  das  Sein  nicht  bloß  Substanz  sein 
kann,  weil  ja  sonst  wieder  alles  Substanz  sein  müßte,  die  als 
solche  ja  aber  überhaupt  nicht  im  prädikativen  Sinne  ausge- 
sagt werden  kann.^  Das  Sein,  das  von  allem  ausgesagt  werden 
kann,  und  von  dem  alles  ausgesagt  werden  kann,  insofern  alles, 
was  ist,  eben  ist,  ist  das  Sein  an  und  für  sich,  auiö  Ka^'  eauTO, 
dessen  besondere  Form,  wie  die  übrigen  Kategorien  auch,  so 
die  der  Substanz  im  Sinne  des  substantiellen  Wesens  ist,  und 
im  Verhältnis  zu  dieser  ist  es  selbst  in  einem  höheren  Sinne 
Substanz,  nämlich  im  ideell-logischen  Sinne,  oudia  Kaxd  töv 
XoYov.^     Die  Substanz  im  konkreten  Sinne  ist  jenes  Sein,   dem 

'■  Met.  X,  2,1060  b:  ei  y^  Mii^  TÖbe  xi  Kai  oOaiav  dKdxepov  auxujv  briXoT, 
irdvx'  ^öxiv  oüaiai  xö  övxa "  Kaxd  irdvxuuv  y^P  tö  öv  KaxriYopeixai,  Kax' 
^viiuv  bi  Kai  ^v.  oOaiav  b'  elvai  irdvx«  xd  övxa  vjjeöbo^.  Vgl.  aucii 
S.  236  u.  238. 

2  Met.  ebenda  1059a/b.  Vgl.  dazu  auch  Trendelenburg,  a.  a.  0.,  S.  67 ff. 
Es  ist  unter  diesem  Betracht  auch  von  besonderem  Interesse,  daß,  obwohl 
faktisch  bei  Aristoteles  die  einzelnen  Kategorien  z.  B.  im  V.  Kap.  der  «Categ.» 
etwas  durcheinandergehen,   er  sie  doch  prinzipiell   in  ihrer  besonderen  Seins- 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  241 

das  «Was  ist»  eben  ursprünglich  an  sich  zukommt,  während 
es  allem  übrigen  nur  in  gewissem  Betracht  zukommt,  wie  «das 
Ist»,  das  Sein,  selbst  zwar  allem,  was  ist,  zukommt,  aber  nicht 
allem  in  gleicher  Weise,  sondern  dem  einen  schlechterdings, 
dem  anderen  bedingterweise,  d.  h.  in  der  Folge. '^ 

Diese  Unterscheidung  ist  für  unser  Problem  von  besonderer 
Tragweite.  Indem  das  reine  Sein  eine  größere  Sphäre  umfaßt 
als  das  Sein  substantieller  Dinge,  erschheßt  sich  von  hier  aus 
die  Möglichkeit,  erst  die  bleibenden  Grundlagen  der  Dinge  zu 
ermitteln,  jene  Grundlagen,  die  nicht  bloß  wie  die  Einzelsub- 
stanzen oder  realen  Dinge  im  Wechsel  der  Eigenschaften  re- 
lativ beharren,  sondern  die  im  Wechsel  der  Dinge  selbst  be- 
harren. Sie  sind  eigentlich  erst  die  Substanz  der  Substanzen. 
Zwar  das  bleibt  bestehen:  Die  Substanz  kann  nicht  getrennt 
werden  von  dem,  dessen  Substanz  sie  ist.^  Allein,  die  Un- 
möglichkeit der  realen  Trennung  hindert  zunächst  doch  schon 
nicht  die  logische  Unterscheidung  zwischen  der  Substanz  und 
dem,  dessen  Substanz  sie  ist.  Denn  diese  Unterscheidung  voll- 
zieht ja  Aristoteles  ausdrücklich  und  zwar  in  dem  Moment,  in 
dem  er  die  reale  Trennung  aufhebt,  da  man  ja  nur  eine  Tren- 
nung zwischen  solchem  aufheben  kann,  das  man,  wie  er  es 
richtig  tut,  voneinander  logisch  unterscheidet.  Und  wie  lo- 
gisch die  wahrhafte  Erkenntnis  eben  immer  Erkenntnis  der 
Gründe  und  Prinzipien  ist,  so  ist  die  höchste  Erkenntnis  eben 
«Erkenntnis  der  höchsten  und  allgemeinsten,  alles  Einzelne  um- 
spannenden und  unter  sich  begreifenden  Gründe,  die  die  Wirk- 
lichkeit als  Ganzes  erklären.»^  Haben  wir  sie  auch  nicht  neben 
und  außer  den  einzelnen   substantiellen  Dingen   zu  suchen,    so 


bestimmtheit  streng  geschieden  wissen  will,  und  daß  er  betont,  daß  sie  weder 
ineinander  noch  in  etwas  anderes,  ihnen  einheitlich  Gemeinsames  aufgelöst 
werden  können.  So  Met.  IV,  28.10i>4b:  xd  |udv  '(äp  Ti  Ioti  crrmoivei  tüjv 
övTUJv,  xd  bi  TTOiöv  Ti,  xd  b'  diq  birnprjxai  TrpÖTepov  •  oubd  ydp  xaüxa  dva- 
Xüexoi  oöx''  ei(,  dWriXa  oöx'  eiq  Sv  xi. 

'  Met.  VI,  4,1030a:  O&auep  Y^p  Kai  xö  2öxiv  örrdpxei  udaiv  dW  oiux 
ö|Uo{u)(;,  d\Xd  xüji  |udv  irpiijxujq  xoi?  b'  ^iroia^vu);,  oüxuu  Kai  xö  xi  ^axiv  duXiIjq 
ixiv  xi^i  ouaiai  ttox;  bi  xoic;  dWoiq. 

^  Met.  I,  9,991b:  dbüvaxov  eTvai  x^Pk  ^nv  obaiav  Kai  oO  n  oüaia. 

»  Met.  I,  2,982  b  und  V,  1,1026  a;  vgl.  Zeller,  a.  a.  0,,  S.  273f. 
Bauch,  Das  Substanzproblem.  16 


242  7.  Kapitel. 

fallen  sie  doch  auch  mit  diesen  nicht  restlos  zusammen  und 
können  mit  ihnen  je  so  wenig  restlos  zusammenfallen,  wie  der 
Grund  überhaupt  je  restlos  mit  dem  zusammenfällt,  dessen 
Grund  er  ist.  Damit  ist  für  das  Substanzproblem  eine  neue 
logische  Etappe  bezeichnet:  Die  Einzeldinge  sind  zwar  allein 
und  eigenthch  Substanzen,  aber  sie  sind  nicht  die  Substanz, 
das  im  Wechsel  Beharrhche  schlechthin,  sondern  eben  nur  die 
konkreten,  wahrnehmbaren  Gegenstände,  die  man  eben  so  all- 
gemein Substanzen  nennt. ^  Ihre  Analyse  führt  zu  jenen  zwei 
neuen  Bestimmungen  der  Substanz,  die  zugleich  für  das  ganze 
Aristotelische  System  die  fundamentalen  Tragpfeiler  werden. 
Denn  jene  Gegenstände  sind  einerseits  konstituiert  aus  Stoff 
oder  Materie;  und  so  ist  Substanz  in  einem  weiteren  Sinne 
«einerseits  selbst  jenes  materielle  Substrat,  der  Stoff».  Anderer- 
seits sind  die  Einzelsubstanzen  in  diesem  ihren  materiellen 
Sein  bestimmt  durch  eine  bestimmende  Form,  die  im  Denken 
als  Begriff  gefaßt  werden  kann.  Und  so  ist  Substanz  aber- 
mals in  einem  weiteren  Sinne  auf  der  anderen  Seite  «der  Be- 
griff und  die  Form,  die  im  Denken  als  etwas  für  sich  selbst 
Bestimmtes  begriffen  werden  kann».  Die  aus  beider  Verbin- 
dung bestehenden  Gegenstände  sind  Substanz  also  eigentlich 
in  einer  dritten  Bedeutung,  die  freilich  die  eigentliche  Sub- 
stanzbedeutung, wie  sie  sich  aus  der  ^Kategorie  der  Substanz 
als  vjTroK6i|Lievov  der  Prädikation,  die  also  noch  als  vierte  Be- 
deutung gezählt  werden  müßte,  entwickelt  hat,  bleibt,  insofern 
die  Einzelsubstanzen  als  konkrete  Dinge  die  eigentlich  für  sich 
bestehenden  Realitäten  sind,  denen  aber  als  solchen  Entstehen 
und  Vergehen  zukommt.^ 

*  Met.  VII,  1,1042  a:  vOv  bi  uepi  tüjv  öwoXo-fouudvuuv  ouaiuJv  ^TtdXdai- 
\iev.  aÖTOi  b'  efaiv  ai  aiOT^dai.  Sie  sind  ö|aoXoYOÜ|a€vai  wohl  nur  für  Aristo- 
teles und  die  Seinen.  Denn  er  hat  ja  diese  Bedeutung  der  oOai'a  ei'st  fest- 
gelegt. Sonst  hätte  ja  auch  sein  Kampf  gegen  Piaton  nicht  einmal  einen 
terminologischen  Anhaltspunkt. 

^  Ebenda:  ^öTi  b'  ohala  rö  inroKeiiuevov,  öWuj^  piiv  x]  vXy\  ..  .,  (xWwc, 
b'  ö  XÖY0(;  Kai  ri  laopcpr),  ö  TÖbe  Ti  öv  tüji  Xöyuji  xujpicfföv  iaxw.  Tplrov  bd 
TÖ  iK  TOÜTUuv,  DU  ^Iveoiq  laövou  Kai  cpöopct  doxi,  Kai  x^upiaröv  änXwc;.  Daß 
darum  Aristoteles  gelegentlich  selbst  vier  Bedeutungen  der  Substanz  unter- 
schieden, dazu  vgl.  man  Met.  VI,  3,1028 b/1029a. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  243 

6.  Aber  gerade  dieser  Umstand  ist  es,  der  ihre  weitere 
Reduktion  und  Analyse  fordert.  Denn  wie  das  Erkennen  sich 
nicht  beim  Wahrnehmen  des  Einzelnen  beruhigen  und  darin 
aufgehen  kann,  so  kann  sich  das  Sein  nicht  im  Entständlichen 
und  Vergänglichen  erschöpfen  und  darin  aufgehen.  Dieses 
fordert  selbst  bleibende,  dem  Entstehen  und  Vergehen  ent- 
rückte Grundlagen,  Denn  Entstehen  und  Vergehen  behaftet 
von  vornherein  doch  das,  was  nicht  schlechthin  für  sich  ist, 
obwohl  es  immerhin  im  eigentlichen  Sinne  und  schlechterdings 
real,  als  solches  aber  immer  schon  zusammengesetzt  ist,  wie 
eben  die  konkreten  wahrnehmbaren  Einzelsubstanzen. ^  Ent- 
stehen und  Vergehen  fordern  ihrerseits  aber  zunächst  ein  Sub- 
strat, an  dem  sie  sich  vollziehen,  das  sie  in  ihren  gegensätz- 
lichen Bestimmungen  der  Veränderung,  wie  die  Veränderung 
überhaupt,  aufnimmt,  also  das  Substrat  des  Wechsels  und  der 
Veränderung  ist.  Das  aber  ist  im  eigentlichsten  und  vorzüg- 
lichsten Sinne  der  Stoff.^  Und  in  dieser  Bedeutung  ist  der 
Stoff  offenbar  selbst  Substanz,  ovGia.^  Er  ist  Substanz,  inso- 
fern er  nicht  selbst  an  einem  anderen  Substrate  haftet,  son- 
dern etwas  ist,  an  dem  Anderes  als  an  seinem  Substrate 
haftet.^  Allein,  wie  die  konkreten  Substanzen  zwar  Substanz 
sind,  weil  sie  schlechterdings  für  sich  bestimmt  sind,  wie  sie 
aber  darum  noch  nicht  schlechterdings  die  Substanz  sind,  weil 
sie  nicht  schlechterdings  überhaupt  sind,  so  ist  umgekehrt  der 
Stoff  oder  die  Materie  Substanz,  insofern  sie  zwar  dadurch 
schlechterdings  ist,  daß  sie  lediglich  Substrat  ist  und  nicht  an 
einem  anderen  Substrate  haftet,  daß  sie  darum  aber  noch  nicht 
schlechterdings  für  sich  bestimmt  ist,  so  daß  ihr  Sein  schlechter- 
dings dennoch  nicht  ein  schlechterdings-Bestimmt-Sein,  wie 
auch  ebendeshalb    nicht   ein    schlechthiniges  Sein  und   eigent- 


'  de  gen.  et  corr.  II,  1,329a:  -fiveaiq  ^iv  füp  Kai  qpöopd  -rrdaaiq  xaii; 
(püaei  ouveaTiJüaoii;  oOaiaii;  oök  öveu  xoü  ataöiiTüJv  auuiLiäTuuv. 

^  Ebenda  I,  5,320a:  San  bi  v\r\  \xdX\aTa  \xiv  Kai  Kupiuu<;  t6  ijTroKei|aevov 
feviaeDJC,  koI  qp^opäi;  6eKTiKÖv,  xpöirov  he  Tiva  Kai  tö  xaxq  äXXaii;  |a£Taßo\aT(;, 
ÖTi  TrdvTa  beKTiKÜ  xd  ÜTroKei|ueva  dvavxiiljaedjv  xivuüv. 

2  Met.  1.  c. :  öxi  b'  daxiv  ouaia  Kai  ii  ü\ri,  bi^Xov. 

*  Met.  VI,  1, 2,1028  b/1029a. 

16* 


244  7.  Kapitel. 

liches  Substanz-Sein  ist.  Vielmehr  ist  ihr  schlechterdings-  oder 
Substrat-Sein  selbst  bloß  ein  nur  in -gewisser -Hinsicht-Sein. 
Denn  die  Materie  ist  zwar  das  Substrat  aller  körperlichen  Be- 
stimmungen. Allein,  ohne  diese  Bestimmungen  ist  sie  nicht 
etwa  noch  etwas  für  sich  selbst  Bestimmtes,  sondern  ein  Un- 
bestimmtes. An  sich  selbst  hat  sie  noch  nicht  jene  Bestim- 
mungen, deren  Substrat  sie  ist.  Da  sie  aber  ohne  diese  eben 
nicht  selbst  an  und  für  sich  bestimmt  ist,  ist  sie,  obwohl  sie 
Substanz  dieser  Bestimmungen  ist.  doch  nicht  im  höchsten  und 
eigentlichen  Sinne  Substanz.  Denn  dazu  gehörte,  daß  sie  in 
ihrem  Sein  für  sich  selbst  bestimmt  wäre.^  Immerhin  bleibt 
die  Materie  doch  in  gewisser  Weise  und  nahezu  Substanz.^ 
Denn  als  Grundlage  des  Werdens  der  Einzeldinge  muß  die 
Materie  selber  sein.  Weil  nämlich  aus  nichts  auch  nichts 
werden  kann,  muß  etwas  sein,  aus  dem  das  wird,  was  wird. 
Und  das  ist  die  Materie,  die  so  die  Möglichkeit  des  Werdens 
darstellt.^  Also  muß  die  Materie  selber  sein.  Allein  ihr  Sein 
ist  nicht  ein  in  jeder  Hinsicht  schlechthiniges,  sondern  ein 
solches  nur  hinsichtlich  des  Werde-Substrat-Seins.  Denn  alles 
Werden  ist  sowohl  ein  Werden  aus  Nicht-Seiendem,  wie  aus 
Seiendem:  Aus  Nicht-Seiendem  nicht  im  Sinne  des  «schlecht- 
hin-Nicht-Seienden»,  aus  Seiendem  nicht  im  Sinne  des  «schlecht- 
hin-Seienden»,  sondern  beides  in  gewisser  Hinsicht  das  eine 
Mal  Nicht  Seiendem,  das  andere  Mal  Seiendem:  in  gewisser  Hin- 
sicht Nicht-Seiendem,  insofern  das,  was  wird,  eben  noch  nicht 
das  sein  kann,  was  es  erst  werden  soll,  aber  in  anderer  Hin- 
sicht doch  als  ein  zu  Werdendes  ist,  also  doch  auch  in  ge- 
wisser Hinsiclit  auch  überhaupt  ist,  also  selbst  ein  Seiendes 
ist.     Und  so    ist    das  Werden    aus  dem  Seienden    ein  Werden 


'  Dazu  vergleiche  man  den  ganzen  Passus  ebenda  1029  a/b.  Einige 
weitere  zusammenfassende  Formulierungen  des  Aristoteles  selbst  werden  die 
nächsten  Anmerkungen  bringen. 

2  Phys.  I,  0,192a:  .  .  .  Kai  Tt'iv  [xiv  iffvc,  Kai  oüöiav  -rru)?,  Tt")v  üX^v 
wird  die  Materie  der  axipr]a\(;  gegenübergestellt;  vgl.  die  übernächste  An- 
merkung. 

'  Met.  VI,  7,1032  b:  Ujore  Kaöduep  \^TeTai,  äbOvaxov  Yev^ööai  d  ^xr\biv 
TTpöuTtdpxoi,  und  ebenda  a:  tö  b'  i£  ou  -ffTveTai,  r\v  X^YOiaev  öXrjv.  Vgl. 
ferner  de  caelo  I,  3,270  a  und  Je  gen.  et  coiT.  I,  3,317  a. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  245 

nicht  aus  dem  Sein  schlechthin,  sondern  aus  dem  in  gewisser 
Hinsicht  Seienden.^  Insofern  das,  aus  dem  etwas  wird,  selbst 
nicht  das  ist,  was  wird,  und  das,  was  wird,  nicht  das  ist,  aus 
dem  es  wird,  muß  das,  was  wird,  dem,  aus  dem  es  wird,  fehlen. 
Das,  aus  dem  etwas  wird,  ist  also  das,  dem  eine  Bestimmung 
fehlt,  die  ihm  erst  im  Werden  zukommen  soll.  Das  Fehlen, 
die  Privation,  die  crtepricn^  ist  allein  das  schlechthin  Nicht- 
Seiende im  Werden.  Der  Stoff  aber  ist  lediglich  in  jener  Hin- 
sicht des  Fehlens  —  Stoff  und  Fehlen  aber  sind  voneinander 
selbst  aufs  strengste  zu  unterscheiden  —  nicht  seiend;  und 
wenn  der  Stoff  auch  hinsichtlich  des  Fehlens  der  Bestimmung 
nicht-seiend  ist,  so  ist  er  doch  nicht  schlechthin  nicht-seiend, 
sondern  in  gewisser  Weise  und  nahezu  Substanz,  was  das 
Fehlen  der  Bestimmung  auf  keine  Weise  ist.^  Als  Grundlage 
des  Entstehens  und  Werdens  muß  die  Materie  in  ihrem  In- 
gewisser-Weise-Sein  aber  dem  Entstehen  und  Vergehen  selbst 
entrückt  sein,  sie  muß  unentstanden  und  unvergänghch  sein. 
Denn  wäre  sie  entstanden,  so  müßte  sie  entstanden  sein,  ehe 
sie  entstanden  wäre,  da  aus  ihr  ja  das  Entstehende  entspringt. 
Und  weil  dieses  sich  in  letzter  Linie  auch  wieder  in  sie  auflöst, 
so  müßte  es  sich  analog,  nur  nach  der  entgegengesetzten  Rich- 
tung, auch  mit  ihrem  Vergehen  verhalten.  Sie  müßte  ver- 
gangen sein,  ehe  sie  vergangen  wäre.^  Schon  in  der  Unent- 
standenheit  und  Unvergänglichkeit  des  Stoffes  liegt  in  gewisser 
Weise  seine  Unendlichkeit.    Daß  es  ein  Unendliches  gibt,  folgt 

^  Phys.  I,  8,191  b:  f\\ieic,  bi  Kai  auTOi  qpaiiev  yiTvecrOai  luev  oubev  ärcXiix; 
Ik  }xr]  övToc,  ö|uuü(;  indvxoi  YiTvecfOai  ^k  [xi]  ö\xoq,  oiov  Kaxü  öu|ußeßriKÖ^.  ck 
yöp  tPh;  0Tepriaeuj?,  ö  doxi  Kaö'  aüxö  |Lin  öv,  ouk  ^vuTToipxovToq,  YiT^eTai  xi. 
öau.udcexai  hi  xoOxo  Kai  dbuvaxov  oüxu)  boKei,  fi'fv^odai  xi  Ik  ^r\  övxoi;, 
tbaaüxuü(;  bi  oub'  il  övxo?  oObe  xö  öv  fi'^veodai,  Tz\r\v  Koxd  au|nßeßi"iK6i;. 

^  Ebenda  I,  9,192a:  rwjieic,  [xiv  fäp  vXr\v  Kai  Gx^prjcnv  Sxepöv  qpauev 
eivai,  Kai  xoüxoiv  xö  |a^v  ouk  öv  eTvai  Kaxä  oujußeßiiKÖc,  xrjv  üXriv,  xrjv  bt 
ox^prioiv  Kaö'  aüxnv,  Kai  xrjv  [xiv  ^yT^s  kci  oüaiav  tzwc,,  rf]v  v\r\v,  xi^v  bi 
axdpiTOiv  oübamJüi;. 

3  Ebenda :  .  .  .  ctqiOapxov  Kai  d.-fivr\TOv  ävdfKr\  a\)Tr\v  eivai.  ei'xe  ydp 
^•fiT'v^To,  vjTTOKeiaöai  xi  bei  irpüüxov,  xö  ^2  oO  dvuitdpxovxoi; '  xoOxo  b'  ^axiv 
aöxT]  f]  qpOan;,  tij0x'  'ioxax  irplv  Yev^oöai.  Xi-fiu  fäp  üXrjv  xö  TrpiJuxov  ütto- 
Keiiaevov  ^Kdöxtui,  it  ou  Y^vexai  xi  ^vuTtdpxovxot;  laii  Kaxd  auußeßn.KÖs.  ei'xe 
9Öeipexai,  ei;  xoOxo  dqpiSexai  ^oxaxov,  lüaxe  ^qpöapia^vri  ^axai  irpiv  9Öapfivai. 


246  7.  Kapitel. 

überdies  noch  aus  den  fünf  folgenden  Gründen:  erstens  aus 
der  Unendlichkeit  der  Zeit,  die,  was  auch  noch  in  einer  an- 
deren Hinsicht  sich  als  bedeutsam  erweisen  wird^  weder  An- 
fang noch  Ende  haben  kann;  zweitens  aus  der  mathematischen 
Teilbarkeit  jeder  Größenrelation;  drittens  aus  der  Lückenlosig- 
keit  von  Entstehen  und  Vergehen;  viertens  aus  der  Relativität 
der  Grenzen;  fünftens  —  und  das  ist  das  wichtigste  Argument 
—  aus  der  Lückenlosigkeit  und  Kontinuität  des  Denkens.^ 
Daß  das  Unendliche  ist,  steht  fest.  Noch  aber  fragt  es  sich, 
was  es  genauer  ist.  Und  diese  Frage  ist  von  der  größten 
Bedeutung.  Ihre  richtige  Entscheidung  hilft  allein  die  dem 
Unendlichkeitsbegriffe  sonst  anhangenden  Aporien  lösen  und 
vermag  zugleich  das  Wesen  des  Stoffes  in  letzter  Linie  deutlich 
zu  machen.  Vor  allem  nun  muß  vom  Sein  des  Unendlichen 
die  Vorstellung  abgewehrt  werden,  daß  es  ein  Sein  schlechthin 
bedeute.  Daraus  würde  allerhand  Unmögliches  (rroWd  döuvaia) 
folgen,  das  gerade  jenen  fünf  Argumenten,  die  zur  Annahme 
des  Unendlichen  geführt  haben,  widersprechen  müßte.  Man 
würde,  ohne  es  zu  wissen  und  zu  wollen,  der  Zeit  Anfang  und 
Ende  (dpxnv  xai  leAeuiriv)  setzen,  die  Relativität  der  Größen  und 
der  Grenzen  aufheben^  usf.  Das  Sein  des  Unendlichen  kann 
darum  kein  absolutes  sein.  Es  kann  abermals  nur  in  gewisser 
Weise  sein,  in  gewisser  Weise  nicht  sein.  Es  ist  kein  An-sich- 
Sein,  sondern  ein  Anders-Sein  und  Unbestimmt-Sein;  sein  Sein 
besteht  darin,   daß  es  ein  Anderes  und   immer  wieder  ein  An- 


1  Vgl.  S.  251 ;  auch  Anm.  2  u.  3. 

2  Diese  in  gewisser,  wenigstens  impliziter  Weise  das  ganze  vierte  Ka- 
pitel des  dritten  Buches  der  Physik  durchziehenden  Argumente  sind  ebenda 
203b/204a  kurz  folgendermaßen  zusammengefaßt;  toö  b'  eivai  ti  äiteipov  f] 
irföTiq  ^K  TTevxe  iLiöXiöx'  Stv  öu|aßaivoi  aKOTToö0iv,  ^k  re  tou  xP<^vou  (oöto? 
Top  aTTeipo(;)  Kai  ^k  Tfi<;  dv  toi?  laeY^öecri  biaip^aemq  (xpüjvtai  yöp  Kai  ol  |ua- 
driuaTiKoi  TiiJi  direipiui),  ^ti  tuji  oütuj(;  öv  laövujq  |ufi  ÜTToXeitreiv  y^veoiv 
Kol  q)9opdv,  et  ÖTieipov  e'i'n  ö9ev  dqpaipeitai  tö  YiTvöpevov.  ^xi  tülii  tö  ire- 
Tiepaaiaevov  dei  -apöt;  ti  uepaiveiv,  üjOTe  dvctTKn  inribdv  Ti^pac;,  ei  öei  irepaiveiv 
dvoYKri  ^Tepov  -apöc,  ^Tepov.  |ud\iaTa  köI  KupuJjTaxov,  8  tkjv  KOivriv  iroiei 
ÄTTopiav  TTÖaiv  •  bid  YÖp  TÖ  ^v  Tfji  vonaei  |iri  uTroXemeiv  .  .  . 

'  Man  vergleiche  dazu  die  ganzen  letzten  Abschnitte  des  fünften  und 
den  Anfang  des  sechsten  Kapitels  im  dritten  Buche  der  Physik. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  247 

deres  wird,  wie  der  Tag  und  das  Kampfspiel. ^  Da  es  also  kein 
schlechthiniges  Sein  ist,  sondern  eben  nur  insofern  ist,  als  es 
immer  anders  und  immer  wieder  anders  werden  kann,  so  bleibt 
nur  übrig,  daß  sein  Sein  das  Sein  der  Möglichkeit,  daß  es 
selbst  nur  potentiell  ist  und  im  potentiellen  Sein  sein  Sein  be- 
schlossen ist.^  Es  ist  nicht  etwa  ein  unendliches  Ding  oder 
Wesen,  keine  unendliche  Substanz  im  eigentlichen  Sinne  der 
Substanz,  obwohl  es  im  gewissen  Sinne  auch  Substanz  ist, 
nämlich  als  «unbestimmter  Stoff  für  die  größenhafte  Bestimmt- 
heit», also  lediglich  der  Potenz  nach  ein  Ganzes,  nicht  der 
Wirklichkeit  nach,  da  ja  das  wirkliche  Ganze  eben  immer  ein 
einheitlich  Bestimmtes  sein  müßte.  ^  Und  wenn  es  von  manchen 
als  «das  alles  Umfassende»  bezeichnet  wird,  so  ist  es  das  doch 
ebenfalls  nur  der  Möglichkeit  nach,  insofern  es  alle  Bestim- 
mungen aufzunehmen  vermag;  nicht  der  Wirklichkeit  nach, 
weil  es  ja  für  sich  noch  keine  Bestimmungen  hat.  Vielmehr 
wird  es  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Unbestimmtheit  gerade 
etwas,  das  nicht  selbst  umfaßt,  sondern  umfaßt  wird  (ou  irepi- 
eX£i,  ö^^«  TrepiexeTtti).^  So  führen  die  Ermittelungen  über  das 
Unendliche  zu  genau  demselben  Ergebnis  wie  diejenigen  über 
den  Stoff.  Das  Unendliche  kann  Ursache  oder  Prinzip  der 
Dinge  nur  sein  als  Stoffe ;  und  zwar  kann  das  Unendliche 
überhaupt  nur  sein  als  der  an  sich  unbestimmte  Stoff  der  Be- 
stimmung, der  nichts  Bestimmtes  ist,  aber  alles  werden  kann; 
und  ihr  Stoff  kann  nur  sein  als  die  unendliche  und  darum  an 
sich  unbestimmte  Möglichkeit  aller  Bestimmbarkeit.  Die  Ma- 
terie existiert  also  nicht  der  Wirklichkeit,  sondern  nur  der 
Möghchkeit  nach.  Sie  ist  nicht  etwa  schlechthin  nicht,  aber 
sie  ist  auch  nicht  schlechtliin,  obwohl  sie  ist.  Sie  hat,  wie 
wir  sahen,    als  Grundlage   des   Werdens    sogar    schlechterdings 


'  Phys.  III,  6,206  a:  äW  ^itei  -rroWaxäic;  tö  eivai,  ujcnrep  r\  rmepa  iorl 
Kai  6  dYubv  tuüi  äei  äWo  Kai  äWo  fiYveö&ai,  oütuj  Kai  tö  ä-rreipov. 

^  Ebenda:  Xeiiterai  oüv  buvct.uei  eivai  tö  ätreipov. 

3  Ebenda  207  a:  ^oti  fäp  tö  äneipov  r?\c,  toO  laeY^öoii;  TeXeiÖTrjTo? 
üXy]  Kai  TÖ  buvd,uei  ö\ov,  dvTeXeixai  b'  ou  .  .  . 

*  Ebenda. 

^  Phys.  III,  8,208  a:  9avepöv  öti  dx;  üXri  tö  cüireipöv  döTiv  amov. 


248  7.  Kapitel. 

substantielles  Sein,  aber  nicht  ein  schlechthiniges  und  bestimmtes 
Sein.  An  ihrer  unendlichen  Bestimmbarkeit  erweist  sich  ihr  Sein 
als  ein  Sein  der  Möglichkeit  nach.  Sie  ist  als  Möglichkeit.^  Sie  ist 
das,  «was  nichts  ist,  aber  alles  werden  kann».^  Sie  hat  ein  Sein, 
aber  nicht  ein  Sein  bestimmter  Wirklichkeit  und  wirklicher 
Bestimmtheit,  sondern  ein  solches  der  Möglichkeit  jeglicher 
Bestimmbarkeit.  Darum  ist  sie  w«der  körperlich  noch  auch 
ein  bestimmtes  Element  oder  ein  Grundstoff,  weil  sie  ja  bereits 
die  Grundlage  der  Körperlichkeit  ist  und  ebenso  auch  die 
Voraussetzung  der  Elemente,  die  im  Kreislauf  erst  aus  ihr 
hervorgehen,  und  weil  endlich  Körperlichkeit  und  Elemente 
selbst  schon  Bestimmungen  der  Materie,  und  zwar  sowohl  quan- 
titative (jueYe&ri)?  wie  qualitative  (Trdöri)  Bestimmungen  darstellen, 
während  die  Materie  für  sich  selbst  unbestimmt  bleibt.^ 


1  De  amina  II,  1,412a:  lari  b'  f\  ixiv  vKx]  büva.ui?.  Vgl.  Met.  XI,  5,1071a: 
.  .  .  6uvd|Li6i  bi  f)  öXr). 

2  So  formuliert  Zeller  geradezu  ihren  Begriff,  a.  a.  0.,  S.  320.  Freilich 
darf  dann  das  «nichts»  eben  nur  bedeuten:  «nichts  Bestimmtes». 

s  De  gen.  et  corr.  I,  5,320b  und  II,  10,337  a;  Phys.  III,  6,206  b  und 
III,  7,208 a/b.  Trotzdem  Aristoteles  die  Elementenlehre  Piatons  insbesondere 
rücksichtlich  der  Elementardreiecke  de  gen.  et  corr.  II,  1,329  a;  de  caelo  III, 
1,29'Ja  und  IV,  2,308b  bekämpft,  stellt  er  de  gen.  et  corr.  II,  8,335a  selbst 
eine  freilich  recht  äußerlich  gedachte  Analogie  zwischen  Mathematischem  und 
Körperlichem  auf,  indem  von  den  vier  Elementen  die  Erde  Prinzip  der  räum- 
lichen Lage,  das  Wasser  Prinzip  der  Abgrenzung  sein  soll,  denen  dann  Luft 
und  Feuer  als  Gegensätze  korrespondieren.  Daß  er  neben  die  wandelbaren 
irdischen  Elemente  noch  als  unwandelbares  himmhsches  Element  den  Äther 
setzt  und  dieser  ihm  sogar  als  -rrpuÜTri  oüaia  tujv  aujindriuv  (de  caelo  I,  3,270  b) 
gilt,  das  ist  zwar  ein  charakteristisches  Moment  in  der  Aristotelischen  Kos- 
mogonie,  für  unseren  Zusammenhang  aber  trotz  der  Benennung  einer  irpdÜTri? 
ouoiai;  ziemlich  belanglos.  Denn  die  ganze  Gegenüberstellung  beruht,  wie 
Zeller,  a.  a.  O.,  S.  473  richtig  bemerkt,  auf  einem  ganz  naiven  Ausgehen  vom 
anschaulichen  Sinnenschein. 

Dabei  darf  hinter  aller  Polemik  gegen  Piaton  doch  auch  die  tiefgehende 
Übereinstimmung,  die  sich  gerade  hier  wieder  offenbart,  nicht  verkannt  werden. 
Ganz  zutreffend  bemerkt  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  241  auch  hinsichtlich  der 
Materie  das  Zusammenstimmende  zwischen  Piaton  und  Aristoteles.  Er  sagt 
hier:  «Trotz  der  durchaus  veränderten  Beweisführung  kommt  also  Aristoteles 
bei  der  Beschreibung  der  Materie  in  den  wichtigsten  Punkten  mit  Piaton 
überein».  Mit  dem  Vorbehalt,  den  wir  hinsichtlich  Piatons  bei  dem  Terminus 
Materie   machten,  können   wir   das  zugeben,  Avoraus  freiUch  die  Restriktion 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  24-9 

7.  Die  Materie  ist  das,  aus  dem  (eH  ou)^  die  Dinge  werden. 
Indes,  sie  allein  in  ihrer  bloßen  Möglichkeit  genügt  nicht,  deren 
Wirklichkeit  zu  erklären.  Wir  haben  hinsichtlich  des  Begriffes 
des   Werdens    ein    Mehreres    zu   unterscheiden.     Das   Werden 


folgen  müßte,  daß  auch  der  Aristotelische  Terminus  v\y\  mit  deren  Bedeutung 
bloßer  unendlicher  Möglichkeit  unendlicher  Bestimmbarkeit  und  In-sich-Be- 
stimmungslosigkeit  eben  die  Materie,  wenigstens  in  gewisser  Weise,  mehr 
terminologisch  als  sachlich  charakterisiert.  Die  Differenz,  die  Bäumker  dann  noch 
zwischen  Piaton  und  Aristoteles  statuiert,  «daß  an  die  Stelle  der  unbegrenzten 
Ausdehnung,  mit  der  Piaton  die  Materie  identifiziert,  bei  Aristoteles  der  Be- 
griff der  Möglichkeit,  also  an  Stelle  der  geometrischen  die  dynamische  Be- 
trachtung getreten  ist»  —  diese  Differenz  brauchen  wir  nicht  einmal  im  Sinne 
Bäumkers  zugunsten  des  Aristoteles  anzuerkennen.  Denn  erstens  kann  bei 
Piaton  von  einer  einfachen  Identifikation  von  Materie  und  unbegrenzter  Aus- 
dehnung nicht  die  Rede  sein.  Zweitens  ist,  wenn  auch  vielleicht  nicht  dem 
Buchstaben,  so  doch  dem  Geiste  und  der  Sache  nach  bei  Piaton  der  Begriff 
der  Möglichkeit  in  dem  der  Bestimmbarkeit  des  Unbestimmten  vollkommen 
scharf  entwickelt.  Drittens  aber  fehlt  ebensowenig  das  dynamische  Moment, 
von  dem  Bäumker  spricht,  bei  Piaton;  es  ist  vielmehr  —  und  darin  liegt 
sein  wertvoller  und  echt  wissenschaftlicher  Charakter  —  mathematisch  vertieft. 
Zwar  dürfen  wir  Piatön  nicht  etwa  die  Ansicht  unterschieben,  als  habe  er 
die  Ausdehnung  im  materiellen  Sinne  als  Volumenergie  und  die  Masse  als 
intensive  Größe  gefaßt.  Aber  das  hat  doch  schließlich  auch  wohl  Aristoteles 
nicht  getan.  Wenn  wir,  wie  Bäumker,  überhaupt  von  einer  dynamischen  Be- 
trachtung reden  wollen,  so  müssen  wir  uns  schon  bewußt  bleiben,  daß  in  der 
büvauii;  zunächst  nur  das  Moment  der  Möglichkeit  vorliegt.  Wenn  aber  dar- 
über hinausgegangen  wird,  dann  muß  gerade  in  die  Mathematik  die  ganze 
Wertbetonung  verlegt  werden,  insofern  alles  Dynamische  sich  wissenschaftlich 
selbst  mathematisch  darstellt.  Es  ist  freilich  nicht  zu  verkennen,  daß  Aristo- 
teles in  der  Tat  über  die  öuvaiuii;  als  reine  Möglichkeit  hinausgeht,  wenn  er 
de  caelo  III,  1,299  a  die  Platonische  Konstruktion  der  Elementarkörper  mit 
Rücksicht  auf  das  Moment  der  Schwere,  die  jenen  fehlen  soll,  bekämpft.  Al- 
lein, der  wissenschaftliche  Begriff  der  Schwere  ist,  wie  der  der  Masse,  in 
letzter  Linie  der  Begriff  einer  intensiven  Größe.  Diese  kennt  Aristoteles  so 
wenig  wie  Piaton.  Ohne  Mathematik  läßt  er  sich  aber  nicht  fassen.  Gerade 
darum  behält  Piatons  mathematische  Tendenz,  wenigstens  als  Tendenz,  ihren 
Wert.  Als  eine  so  historisch-bedeutsame  Potenz  sich  also  gerade  unter  diesem 
Betracht  die  Platonische  mathematisierende  Spekulation  darstellt,  —  man  denke 
nur  daran,  wie  verschieden  Galilei  gerade  darum  zu  Piaton  und  'Aristoteles 
Stellung  nahm  —  einen  so  wenig  günstigen  Dienst  würde  Bäumker  nun 
Aristoteles  leisten,  wenn  er  diesem  die  Ausschaltung  des^ Mathematischen  so 
ganz  besonders  anrechnen  wollte. 

1  -Vgl.  S.  244  Anm.  3  und  S.  245  Anm.  1  und  3. 


250  7.  Kapitel. 

fordert  doch  nicht  bloß  das,  aus  dem  etwas  wird,  sondern 
zweitens  auch  das,  was  das  ist,  was  wird;  sie  fordert  drittens 
ein  Ziel,  zu  dem  das  Werden  führt,  und  viertens  endlich  die 
Ursache,  die  zu  diesem  Ziele,  die  von  der  bloßen  Möglichkeit 
zur  Wirklichkeit  führt.  Das  sind  also  eigentlich  vier  Prinzipien 
der  Dinge,  sie  sind  die  höchsten  Prinzipien,  die  letzten  Ur- 
sachen. Die  Materie  ist  das,  woraus  alles  wird.  Das  Was  des 
Werdens  ist  die  Form  oder  der  Begriff;  das  Ziel  des  Werdens 
ist  der  Sinn  und  Zweck,  kurz  das  Gute;  und  was  von  der 
bloßen  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  führt,  ist  die  Bewegung. 
Materie,  Form  oder  Begriff,  Ziel  oder  Zweck  und  Bewegung 
sind  die  vier  Grundlagen  der  Dinge,  die  wir  auch  als  solche 
nur  wahrhaft  kennen,  wenn  wir  ihre  Grundlagen  und  Prin- 
zipien kennen.^  Hier  aber  zeigt  sich  sofort,  daß  das,  was  wird, 
und  das  Ziel  des  Werdens  nicht  auseinanderfallen  können. 
Form  und  Zweck  müssen  Eines  und  Ebendasselbe  sein.^  Es 
bleiben  also  neben  der  Materie  zunächst  noch  —  nicht  Form 
und  Zweck,  sondern,  da  beide  Eines  sind,  —  Form  oder 
Zweck.  Die  Materie  ist  das,  was  für  das  Entständliche  die 
Möglichkeit  zu  sein  oder  nicht  zu  sein  darstellt.^  Als  dasjenige, 
um  dessentwillen  etwas  ist,  ist  die  Form  und  Gestalt  Ursache. 
Sie  ist  gleichbedeutend  mit  dem  Begriff  des  substantiellen 
Wesens,  dem,    was    da   ist.^     Zu  beiden   aber   muß   noch  eine 

^  Met.  I,  3,983  a:  d-nei  bi  qpavepöv  öti  tüiv  ii  äpxr\c,  aiTimv  bei  Xaßeiv 
diTiaTriiuriv  (tötc  y^P  eibdvai  qpain^v  e'Kaaxov,  örav  xr\v  irpüjxriv  airiav  oiiü- 
iLieöa  yvujpiZieiv)  xd  b'  airia  X^y^toi  TeTpa\n}q,  tliv  liiav  la^v  airiav  qpaiu^v  elvai 
Trjv  ouaiav  koI  tö  ti  riv  eivai  (dvÖTeTai  yap  fö  bxä  xi  ei?  töv  Xöyov  ^axaxov, 
aixiov  bi  Ktti  äpxn  xö  b\ä  xi  irpüjxov),  ^xdpav  bk  xrjv  v\r\v  xai  x6  üiTOKei|Lievov, 
xpixrjv  bi  ööev  f\  äpxn  Tr\c,  Kivr]oeaii;,  xexdpxrjv  hi  Tr\v  (ivxiKei|ndviiv  aixiav 
xaüxTii,  xö  ou  gveKa  Kai  xdYaööv  •  jiXoc,  Ydp  feviaewq  Kai  Kivnaeuj(;  irdariq 
xoöx'  döxiv.  Vgl.  Phys.  II,  3,194b:  ?va  [xiv  ouv  xpÖTiov  aixiov  X^Yexai  xö 
li  oö  fifveral  xi  dvuTrdpxovxoi;  .  .  .  Kai  xoüxujv  y^vr)  .  .  .  &kXo  bi  xö  eibo? 
Kai  xö  TtapdbeiTina  ■  xoöxo  b'  doxlv  ö  \6foq  ö  xoO  xi  r\v  elvai  Kai  xd  xouxou 
fi\r\  ...  Kai  xd  \xi.pY\  iv  xu)i  Xötuji-  ?xi  öOev  i't  dpxn  xF)?  laexaßoXfi?  r|  Trpibxri 
fi  xf|(;  r\pepir\ar](;  .  .  .  ^xi  Ob?  xö  xAo?  •  xoöxo  b'  doxlv  xö  xoö  ^veKO  .  .  . 

^  Phys.  II,  7,198a:  xö  |idv  yöp  fi  ia-zi  koI  xö  ou  ^vcko  gv  daxi  .  .  . 

'  De  gen.  et  corr.  II,  9,335  b:  üj?  \iiv  oöv  uXri  xoi«;  y^viitoi?  iariv  ai'xiov 
xö  buvaxöv  eTvai  Kai  }xr\  elvai. 

*  Ebenda :  .  .  .  d)?  bd  xö  ou  ?v€Ka  f]  liopqpri  koI  xö  elbo?  •  xoOxo  b'  daxlv 
6  Xö'fo?  ö  xf)?  ^Kdaxou  oüaia?. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  251 

dritte  Ursache  hinzukommen.^  Das  ist  die  Bewegung.  Freilich 
fällt  auch  sie,  wie  sich  bald  zeigen  wird,  in  gewisser  Weise  mit 
jenen  oder  vielmehr  der  einen  von  ihnen  zusammen.  Die 
Bewegung  ist  das,  was  das  Mögliche  zur  Wirklichkeit  überführt. 
Wie  die  Materie  ist  sie  ewig,  ungeworden  und  unvergänglich. 
Sie  kann  nicht  in  der  Zeit  entstanden  sein  und  kann  nicht  in 
der  Zeit  vergehen,  sondern  muß  immer  gewesen  sein  und  im- 
mer sein,  wie  die  Zeit  selbst,  die  ja  auch  nicht  entstanden  sein 
und  nicht  vergehen  kann,  da  Entstehen  und  Vergehen  immer 
schon  die  Zeit  mit  den  Zeitbestimmungen  des  Früher  und 
Später  voraussetzen,  die  es  ja  nicht  geben  könnte,  wenn  es  die 
Zeit  selbst  nicht  gäbe.^  Weil  aber  die  Zeit  selbst  eine  Art 
von  Bewegung,  nämlich  eben  vom  Früher  zum  Später,  ist  und 
weil  sie  als  solche  eigentlich  nichts  anderes  als  das  Maß  oder 
die  Zahl  der  Bewegung  selbst  bedeutet,  muß  auch  die  Bewe- 
gung von  Ewigkeit  her  sein^;  und  sie  kann  nicht  entstehen 
und  nicht  vergehen,  weil  alles  Entstehen  und  alles  Vergehen 
nicht  bloß  die  Zeit  und  vermittels  dieser  die  Bewegung  voraus- 
setzt, sondern  auch  weil  unmittelbar  Entstehen  und  Vergehen 
notwendig  nicht  ohne  Bewegung  sein  können,  sondern  sich 
durch  und  mit  Bewegung  vollziehen*,  und  die  Bewegung  die 
höchste  und  eigentliche  Ursache  von  Entstehen  und  Vergehen 
selber  ist.^   Ihr  Sein  ist  freilich  schwer  zu  bestimmen.    Insofern 


1  Ebenda:  bet  bi  irpoaeivai  xrjv  Tpf-rriv. 

^  Met.  XI,  6,1070b:  ä\X'  äbOvarov  Kivri<Jiv  f|  fevlabm  f\  (pOapf|vai  •  dei 
YÖp  f|v.  oöbe  xP^^vov  •  ou  fäp  oiöv  xe  xö  irpöxepov  Kai  Ö0xepov  elvm  |uri 
övxo?  xpovou. 

^  Phys.  VIII,  1,251b:  ei  br]  iarw  ö  xpövoq  K\vr\aewi;  dpiö|uö?  f|  Kivriai^ 
xii;,  emep  dei  xpövoi;  döxiv,  dvdYKri  Kai  kiviigiv  dibiov  eivai.  Die  Ewigkeit 
der  Zeit  wird  hier  auch  daraus  bewiesen,  daß  schon  das  «Jetzt»  immer  eine 
Beziehung  auf  einen  Anfang  und  ein  Ende  voraussetze,  ein  Mittleres  sei 
zwischen  dem  Früher  und  Später;  und  da  das  «nach  beiden  Seiten»  hin  von 
jedem  «einzelnen  Jetzt»  gelte,  so  kann  man  nie  zu  einem  ersten  und  nie  zu 
einem  letzten  Jetzt  gelangen;  d.  h.  nie  zu  einem  Anfang  oder  Ende  der  Zeit. 
Also  muß  die  Zeit  selbst  ohne  Anfang  und  ohne  Ende,  ewig  sein. 

*  Ebenda  250  b:  dvaYKaiov  ^dp  xd?  fev^aeic,  Kai  xd<;  qpöopdt;  eivai  |iexd 
Kivrjcreuj?  auxüiv. 

*  Phys.  VIII,  7,260b  werden  die  Veränderungen  im  qualitativen  (Kard 
iidöoO,  wie  im  quantitativen  (naxd  |.i^Yeöo(;)  Sinne  selbst  als  Bewegungsformen 


252  7.  Kapitel. 

sie  das  Mögliche  zum  Wirklichen  überführt,  ist  sie  als  solche 
und  rein  für  sich  genommen,  nicht  bloß  das  Möghche,  wie  die 
Materie,  da  das  Möghche  ja  eben  bloß  das  für  die  Bewegung 
Empfängliche  oder  Bewegbare  ist.  Dieses  ist  ebendarum  auch 
nicht  schon  das  Wirkliche,  da  es  zum  wirkhchen  Sein  ja  erst 
durch  die  Bewegung  gelangen  soll.  Es  ist  darum  noch  nicht 
selbst  das  wirkliche  Sein,  auch  wenn  es  bewegt  wird,  sondern 
das  zum  wirklichen  Sein  in  der  Bewegung  Übergehende,  und 
das  wirkliche  Sein  ist  das  Ziel  der  Bewegung,  die  eben  das 
Mögliche  erst  zu  einem  Möghchen  für  das  Wirkliche  macht, 
Prozeß  der  Verwirklichung  (evepTeia)  ist,  dessen  Ziel  das  Wirk- 
liche (evreXex^i«)  ist.^  Wenn  die  Bewegung  darum,  weil  sie  das 
"Mögliche  erst  zum  Wirklichen  überführt,  selbst  also  nicht  bloß 
ein  Mögliches  sein  kann,  so  kann  sie  ebendarum  für  sich  ge- 
nommen auch  noch  nicht  ein  Wirkliches  selber  sein,  da  ja  das 
Wirkliche  für  sie  erst  Ziel  ist.  Als  weder  dem  Möglichen  noch 
dem  Wirklichen  zuzuzählen  ist  sie  für  sich  selbst  schwer  oder 
gar  nicht  zu  bestimmen  und  kann  in  letzter  Linie  nur  be- 
stimmt werden    durch  das,   was   in  der  Tat  selber  wirklich  ist 


gefaßt  und  die  Kivrioig  kotü  tökov,  die  (popct,  sieht  Aristoteles  als  itpubTriv  an, 
die  den  qualitativen  und  quantitativen  schon  zugrunde  liegt.  Über  die  Zeit  als 
«Maß»  bezw.  als  «Zahl»  der  Bewegung  vgl.  auch  VI,  11,220a  und  12,2-21  a/b. 
Hier  macht  A.  auch  den  Versuch,  nach  Piatons  und  der  Pythagoreer  Vorgang 
die  Zahl  und  das  Zählbare  zu  untersclieiden.  Allein  indem  er  beides  auch 
wieder  als  «Zahl»  bezeichnet,  und  gerade  indem  er  die  Zeit  220  b  und  14,223a 
sowohl  im  Sinne  der  Zahl  wie  des  Zählbaren  nimmt,  zeigt  sich  die  Un- 
exaktheit  seines  Versuches. 

1  Met.  X,  9,1065  b:  biriiprun^vou  bi  Kad'  ^Kaaxov  ^i\oc,  toO  [xiv  buvä|iei 
Toö  b'  dvTe\exe(ai,  xnv  toO  buvä|aei  ni  toioOtöv  ^ötiv  dvepYeiav  Xi^w  Kivriaiv : 
und  ebenda:  f\  br\  toö  buvd|Liei  övxoq  ^vxeXexeiai  6v  dvepYHi  fi  aüxö  f\  äWo 
f)!  KivriTÖv,  KivY\a\c,  döTiv.  Vgl.  auch  Siebeck,  Aristoteles,  S  40,  wo  das  Ver- 
hältnis von  Energie  und  Entelechie  folgendermaßen  ausgedrückt  wird:  «Die 
Energie  als  Bewegung  ist  die  Verwirklichung  als  Prozeß,  die  Entelechie 
dagegen  bezeichnet  das  erreichte  Ziel  des  Prozesses,  das  als  solches  den  Vor- 
gang der  Bewegung  bereits  hinter  sich  hat».  Damit  ist  das  Verhältnis  zwar 
nach  einer  Seite  hin  richtig  charakterisiert,  aber  noch  nicht  allseitig  erschöpft. 
Das  wird  erst  möglich  sein,  wenn  wir  vom  Prinzip  der  Bewegung  handeln. 
Hier  stehen  wir  noch  immer  bei  dem,  was  Siebeck  «den  Vorgang  der  Bewe- 
gung* nennt,  sind  aber  noch  gar  nicht  beim  Prinzip  der  Bewegung  angelangt. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  253 

und  der  Bewegung  selbst  den  Impuls  zum  Ziele  gibt,  also  nicht 
bloß  Bewegung,  sondern  Prinzip  der  Bewegung  selber  ist.^ 

8.  Vom  Begriff  des  Werdens  her  hatten  sich  ursprünglich 
vier  Prinzipien  ergeben:  der  Begriff  dessen,  was  wird,  oder  die 
Form,  der  Zweck  des  Werdens,  die  Bewegung  und  die  Materie. 
Begriff  oder  Form  einerseits  und  Zweck  andererseits  aber  er- 
wiesen sich  als  identisch,  so  daß  Begriff,  Form  und  Zweck  Eines 
und  Ebendasselbe  bezeichnen.  Hinsichtlich  der  beiden  anderen 
aber  hat  sich  gezeigt,  daß  das  eine,  die  Materie,  gar  nicht  der 
Wirklichkeit,  sondern  bloß  der  Möglichkeit  nach  ist,  während 
das  andere,  die  Bewegung,  zwar  nicht  bloß  möglich,  aber  auch 
noch  nicht  wahrhaft  wirklich  ist,  sondern  den  Übergang  von 
der  bloßen  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  darstellt.  Im  eigent- 
lichen Sinne  wirklich  kann  also  nur  der  Begriff  oder  Zweck, 
d.  h.  die  Form  sein.  Sie  muß,  da  ja  sonst  die  werdenden 
Dinge,  auch  wenn  sie  geworden,  nicht  eigentlich  wirklich  sein 
könnten,  wenn  nicht  eines  der  Prinzipien  des  Werdens  selbst 
wahrhaft  wirklich  wäre,  sondern  sie  alle  bloß  möglich  oder  in 
der  Schwebe  zwischen  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  blieben, 
der  Materie  als  der  bloßen  Möglichkeit  nun  als  Wirklichkeit 
im  strengen  Sinne  gegenübertreten  und  eigentliche  Wirklichkeit 
bedeuten.  Sie  ist  es,  was  die  bloße  criepiiaK;  durch  Bestim- 
mung der  unbestimmten  Möglichkeit  überwindet  und  durch 
die  Formung  der  bloß  möglichen  Materie  die  Dinge  gestaltet 
als  w'ahrhafte  Wirklichkeit.^  Ohne  wahrhafte  Wirklichkeit,  die 
nicht  bloß  Möglichkeit  und  Vermögen,  sondern  eigentliche 
Wirksamkeit  ist,  gäbe  es  aber  auch  keine  Bewegung.  Weil, 
was  bloß  die  Möglichkeit  oder  das  Vermögen  hätte  zu  sein, 
auch  nicht  sein  könnte,   so  muß  etwas  schlechthin  Wirkliches 


'■  Über  die  Unbestimmtheit  der  Bewegung  und  ihre  Zwischenstellung 
zwischen  dem  Möglichen  und  Wirklichen  vergleiche  man  den  ganzen  zweiten 
Teil  des  neunten  Kapitels  im  X.  Buche  der  Metaphysik.  Ich  habe  mich  oben 
im  Texte  möglichst  eng  an  die  wichstigsten  Stellen,  auch  dem  Wortlaute  nach, 
gehalten,  da  ich  das  Ganze  hier  unmöghch  anführen  kann. 

*  Met.  XI,  5,1071a:  ^vepYeiai  |utv  yöip  tö  eiboi;,  iäv  r\  xuupiOTÖv,  Kai  tö 
ii  6.ucpoTv,  OT^piiaiq  bi  oTov  öKÖxoq  r\  Kd|Livov,  buvd|uei  bi  r]  v\r\.  Vgl.  dazu 
auch  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  2^2-2  und  Zeller,  a.  a.  0.,  S.  318. 


254  7.  Kapitel. 

und  Wirksames  sein,  aus  dem  die  Bewegung  entspringen  könnte, 
da  sie  ja  selbst  mehr  als  Möglichkeit,  wenn  auch  noch  nicht 
Wirklichkeit  selber,  sein  soll.  Mithin  muß  es  ein  Prinzip  geben, 
dessen  Wesen  in  voller  Wirklichkeit  besteht.^  Es  muß  die 
Ursache  der  Bewegung  selber  sein.  Denn  woher  sollte  die  Be- 
wegung entspringen,  wenn  sie  keine  wahrhaft  wirkliche  Ursache 
hätte?^  Kann  doch  zufällig  und  ohne  Grund,  ohne  etwas  der 
Bewegung  zugrunde  Liegendes  eben  keine  Bewegung  vor- 
handen sein.^  Etwas,  woraus  die  Bewegung  entspringt,  ein 
Prinzip  (dpxn),  ein  ödev  f]  Kivr|criq*  ist  für  die  Bewegung  selbst 
erfordert.  Da  dieses  wahrhaft  wirklich  sein  muß,  so  kann  es 
von  den  vier  Prinzipien  der  Dinge  nur  in  dem  einen,  schlecht- 
hin wirklichen  hegen:  in  der  Form,  Mithin  sind  nicht  bloß 
Form  und  Zweck  untereinander  identisch,  sie  sind  auch  mit 
dem  Prinzip  der  Bewegung  der  dpxn  Kivriaeux^,  dem  ö^ev  r\ 
KivncTi?  identisch.^  Insofern  das  Ziel  oder  der  Zweck  des  Werdens 
eben  das  ist,  was  wirklich  wird,  fallen  Begriff  und  Ziel  oder  Zweck 
zusammen,  insofern  aber  weiter  die  Verwirklichung  dessen, 
was  wird,  sich  in  der  Bewegung  vollzieht,  die  für  die  Verwirk- 
lichung selbst  ein  wirkliches  Prinzip  fordert,  muß  dieses  Prin- 
zip der  Bewegung  selbst  mit  jenen  unter  einander  identischen 
Bestimmungen  des  wahrhaft  Wirkhchen  zusammenfallen.  Die 
vier  Prinzipien  reduzieren  sich  also  in  letzter  Linie  auf  zwei: 
Materie  und  Form.^    Die  Identität  von  Form  und  Zweck  ergab 


^  Met.  XI,  6,1071b:  et  fap  m  ^vspYMöei,  oük  eöTOi  Klvrioi?.  ^ti  oüb'  d 
dvepfncTei,  r)  b'  ouaia  avTr\c;  büva,uii; "  oü  yäp  'ioxai  Kivr\ö\c;  dibioi;  *  dvb^x^Tai 
yap  TÖ  buvd]uei  öv  |a>i  eivai.  bei  äpa  eTvm  äpxriv  ro\avTr\v  fn;  fi  oiiaia 
ivip-^exa. 

"^  Ebenda:  TiAq  ^äp  Kivfi9n0eTai,  ei  \i\-\biv  iozm  ^vep-feiai  aiTiov;  vgl. 
Phys.  VIII,  4,256  a:  ÜTravta  öiv  tu  Kivouiacva  Otto  Tivoq  kivoIto. 

'  Ebenda:  oüdev  yoip  dj?  ^Tuxe  Kiveixai,  dWd  bei  ti  dei  utrdpxeiv  .  .  . 

*  Phys.  II,  7,198  Ji.     Vgl.  dazu  auch  Zeller,  a.  a.  0.,  ebenda. 

*  Ebenda.  Besonders  deutlich  wird  das  ausgesprochen  in  den  Worten: 
TÖ  |i^v  -fäp  Ti  dari  Kai  tö  ou  ^vck«  ^v  ^oti,  tö  b'  6öev  f]  Kivriaiq  irpiuTov 
TÜJi  eibei  toOtö  toütok;. 

e  Vgl.  Zeller  ebenda  und  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  115f.  Vier  Prinzipien 
und  dennoch  nur  zwei  Prinzipien,  dürfte  man  also  wohl  sagen,  aber  nicht 
mit  Bullinger,  a.  a.  0.,  S.  2f.:  «Vier  Prinzipien  und  nur  Ein  Prinzip».  Von 
einer  Reduktion   auch   der  Matei-ie  ist   weder  auch  nur  an  irgendeiner  Stelle 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  255 

sicli  leicht,  ihre  Identität  mit  der  Bewegung  ist  nur  verständ- 
Hch,  wenn  wir  die  bloße  Bewegung,  die  ja,  wenn  auch  nicht  bloß 
möglich,  so  doch  auch  nicht  schon  wirklich,  sondern  den  Über- 
gang von  Möglichkeit  und  Wirklichkeit  bedeutete  und  darum 
eines  Prinzips  bedurfte,  von  ebendiesem  Prinzip,  das  wahrhaft 
wirklich  sein  muß,  um  die  Bewegung  zur  Wirklichkeit  über- 
zuführen, streng  unterscheiden.  Und  erst  in  der  allein  wirk- 
lichen Form  sind  wir  auch  beim  Prinzip  der  Bewegung  ange- 
langt. Es  fragt  sich  nun,  wie  denn  die  Form  als  solche  wir- 
ken und  bewegen  könne.  Als  Prinzip  der  Bewegung  kann  sie 
selbst  nicht  bewegt  sein.  Sie  kann  also  nicht  bewegen,  wie 
ein  Ding,  das  selbst  bewegt  wird,  und  kann  auch  nicht  bloß 
bewegt  werden,  wie  die  Materie,  die  von  sich  aus  eben  über- 
haupt nicht  bewegt  ist,  sondern  erst  durch  die  Form  bewegt 
werden  soll,  indem  sie  ja  allererst  durch  die  Bewegung  von 
ihrer  bloßen  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  gelangt.  Wie  es  also 
etwas  gibt,  das  nur  bewegt  wird,  nämlich  die  Materie,  und  etwas, 
das  sowohl  bewegt  als  auch  selbst  bewegt  wird,  nämlich  die  bewe- 
genden und  bewegten  Dinge,  so  gibt  es  auch  etwas,  das  bewegt,  aber 
nicht  selbst  bewegt  wird,  sondern  reine  Substanz  und  reine  Energie 
oder  Wirksamkeit  ist.^  Diese  drei  Bestimmungen  sind  zugleich 
die  drei  Formen  der  Substanz  (ouJiai  be  ipeiq)^ :  Die  Materie 
ist,  wie  wir  schon  gesehen,  in  ihrem  Möglich-Sein  das  Substrat 
der  Veränderung  und  Bestimmbarkeit,  die  Form  als  bestim- 
mende Wirklichkeit  und  die  Dinge  als  Bestimmungen  des  Be- 
stimmbaren durch  das  Bestimmende,  d.  h.  als  Verbindung  von 
Materie  und  Form.  Alle  drei  sind  freilich  in  anderem  Sinne 
Substanz,  wie    wir    auch    das    schon  gesehen  haben,   und  wie 


irgendeiner  aller  Aristotelischen  Schriften  die  Rede,  obwohl  die  Form  allein 
wahrhaft  wirklich  und  die  Materie  bloß  möglich  sein  soll,  noch  kann,  wie 
sich  noch  zeigen  wird,  dem  ganzen  Tenor  des  Aristotelischen  Denkens  gemäß, 
davon  die  Rede  sein,  weil,  wovon  später,  die  Materie  trotz  ihrer  bloßen  Möglich- 
keit doch  die  Macht  hat,  der  Form  in  der  Verwirklichung  Widerstand  zu  leisten. 

^  Met.  XI,  7,107i2a:  ^öti  toivuv  ti  Kai  8  Kivei.  ^-rrei  bi  tö  KivoOiaevov 
Kai  KivoOv,  Kai  lu^aov  toivuv  döxi  ti  8  oO  Kivoü.uevov  kivcT,  dibiov,  Kai  ouola 
Kai  ^vepYeia  oijoa. 

-  Ebenda  1,1069a;  vgl.  VI,  10,1035a:  .  .  .  koi  oÜGia  n  Te  v\r\  küi  tö 
elbo?  Kai  TÖ  ^k  toutuuv  .  .  .;  ähnlich  auch  3,lU:2ya. 


256  7.  Kapitel. 

das  auch  hier  wieder  deutlich  wird.  Die  eigentlich  realen 
Einzelsubstauzen  sind  in  letzter  Linie  doch  nur  abgeleiteter- 
weise Substanz,  insofern  sie  aus  Materie  und  Form  bestehen,  die 
Materie  ist  mit  ihrer  bloßen  Möglichkeit  nur  Substanz  als  Sub- 
strat des  Werdens  und  der  Veränderung.  Die  Form  aber  ist 
Substanz  im  höchsten  Sinne,  insofern  sie  nicht  nur  ein  höheres 
Sein  hat  als  die  Materie,  sondern  ebendarum  auch  als  die  aus 
beiden  bestehenden  Dinge.  ^  In  tiefster  Bedeutung  ist  nun 
nicht  mehr  das  Einzelding,  obwohl  es  das  eigentlich  Reale  ist, 
erste  und  ursprüngliche  Substanz,  sondern  gerade  das,  was  für 
das  Sein  des  Einzelnen  als  das  eigentlich  Wirkliche  und  Wirk- 
-same  zum  Unterschiede  vom  bloß  Realen  und  als  Grundlage 
des  Realen  selbst  schon  Voraussetzung  ist.^  Vermöge  dieser 
Unterscheidungen  und  Bestimmungen  wird  hinsichtlich  der 
Wirksamkeit  der  Form  freilich  nur  die  negative  Seite  klar. 
Das  höchste  substantielle  Wirken  und  Bewegen  muß  selbst 
außerhalb  des  bloß  Bewegbaren,  wie  auch  dessen,  was  sowohl 
bewegbar  wie  bewegend  ist,  stehen.  Rein  bewegend  ist  seine 
Wirksamkeit.  Aber  wie  etwas  bewegend  im  Sinne  des  Prinzips 
der  Bewegung  sein  könne,  ohne  selbst  bewegt  zu  sein,  —  erst 
mit  der  Entscheidung  dieser  Frage  ist  die  positive  Bedeutung 
der  Wirksamkeit  der  höchsten  Substanz  gewonnen. 

Die  Entscheidung  liegt  implizite  freilich  schon  in  der  Art, 
wie  die  Form  als  solche  erkannt  worden  ist.  Sie  ward  ja 
identisch  gesetzt  mit  dem  Begriff  und  Zweck.  Was  darum  be- 
wegt, ohne  selbst  bewegt  zu  werden,  also  schlechthin  wirksam 
ist,  das  ist  die  Zweckursache  (tö  ou  ev6Ka).^  Sie  ist  das  eigent- 
liche Prinzip,  insofern   eben  Prinzip   das  ist,  um  dessentwillen 


^  Met.  VI,  3,1029  a:  ä/axe  et  tö  iiboc,  Tf\<;  vXr\c,  irpÖTcpov  Kai  luäWov  öv, 
Kai  ToO  il  ÖW90TV  TTpötepov  lorai  b\ä  töv  auTÖv  Xöyov. 

^  Ebenda  7,1032:  e*ibo<;  bi  Xifiu  tö  ri  riv  elvai  ^KdoTou  Kai  xriv  TrpdjTriv 
oöoiav.  Daß  nicht  bloß  die  Einzelsubstanz,  sondern  das  eiboq  selbst  als  irpüjTri 
oöaia  auftritt,  darf  jedenfalls  doch  nicht  ganz  unbeachtet  bleiben.  Ich  glaube: 
wir  können  das  eben  nur  verstehen,  wenn  wir  zwischen  Suhstanz,  Wirklich- 
keit und  Realität  unterscheiden  und  sie  in  das  Verhältnis  bringen,  das  ich  in 
dem  obigen  Salze  des  Textes  zu  bezeichnen  versucht  habe,  durch  den  dann 
auch  das  tö  ti  ?iv  eivai  in  seiner  Bedeutung  deutlich  werden  kann. 

ä  Met.  XI,  7,1072  b. 


Der  Substanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  257 

etwas  geschieht,  und  das  Geschehen  ist  eben  ura  des  Zweckes 
willen.  Der  Zweck  ist  die  eigentliche  Wirklichkeit,  für  die  auch 
schon  die  bloße  Möglichkeit  eben  überhaupt  auch  nur  als  Möglich- 
keit ist.^  Insofern  alles  Geschehen  auf  ihm  beruht,  ist  er  auch 
Prinzip  der  Veränderung,  das  als  solches  selbst  keiner  Ver- 
änderung fähig  ist.-  Weil  dieses  schlechthin  seiend  ist,  ist  es 
notwendig;  und  daß  es  notwendig  ist  [il  dvdtYKri?  öv)^,  darin  liegt 
sein  Wert.  Denn  darum  ist  es  vernünftig.  Als  Begriff  ist  es 
das  vernünftige  Denken  selbst;  und  so  ist  das  vernünftige 
Denken  als  Begriff  und  Form  und  Zweck  selbst  Prinzip  (dpxn 
öe  11  voncTiq).^  Das  vernünftige  Denken  hat  an  und  für  sich 
zum  Inhalte  das  Beste  und  Wertvollste.  Das  aber  ist  die  Vernünftig- 
keit selbst.  In  ihm  denkt  also  die  Vernunft  sich  selbst  (auiöv  he 
voeT  6  voö?)^,  sind  denkende  Vernunft  und  ihr  Vernunftinhalt 
oder  Gegenstand  dasselbe  (üjare  lauTÖv  vov<;  Kai  voriTov).'^  Der 
höchste  Zweck  ist  also  die  Vernunft;  sie  ist  das  Ziel  des  Ge- 
schehens und  zugleich  seine  Ursache,  und  sie  ist  Ursache,  in- 
dem sie  Ziel  ist,  und  Ziel,  indem  sie  Ursache  ist.  Insofern 
bewegt  sie,  wie  das  selbst  nicht  bewegte  Geliebte  den  Liebenden 
bewegt  und  vermittels  dessen,  was  sie  bewegt,  bewegt  sie  auch 
das  Übrige  (kiveT  öe  ihq  epuüiaevov,  Kivou|aevov  be  idXXa  KiveT).^ 
Freilich  das  ist  ein  Bild.  Wenn  die  Vernunft  selbst  zum 
Prinzip  der  Bewegung  wird,  insofern  sie  Zweck  ist  und  alles 
um  des  Zweckes  willen  geschieht,  darum  aber  selbst  nicht  be- 
wegt wird,  so  kann  das  nicht  heißen,  daß  die  höchste  Wirk- 
samkeit in  einer  bloßen  Passivität  aufgehoben  werden  solle, 
weil  ja  der  höchste  Zweck  nur  als  Geliebtes  bewegt.  Denn 
auch  dieses  Bewegen  ist  so  wahrhaft  ein  Tun,  wie  das  ver- 
nünftige Denken,  mit  dem  es  Eines  und  Ebendasselbe  ist,  ein 
Tun  ist.  Es  ist  nur  ein  Tun,  das  keines  Zweckes  über  sich 
bedarf,  das  sich  nicht  auf  einen  Zweck  außer  sich  erstreckt, 
weil  es  selbst  der  höchste  Zweck  ist  und  daram  in  sich  selbst 


*  Met.  VIII,  7,1050a:  öpxn  y«P  tö  ou  fe'vexa,  toö  tAou?  b'  ^vexa  x]  fi- 
veaiq.     T^\o<;  b'  r\  dv^pfeia,  Kai  toütou  \dp\v  r\  biivaiiii;  Xaiaßcivexai. 

'■*  Met.  XI,  7,1072  b:    ^-rrei  b'  ^öti  ti  kivoöv  auxö  dKivrixov  ö'v,    ^vepYciai 
ßv,  TOUTO  oOk  ^vbexefai  äXXvjc,  ^x^w  oüba|iU)?. 

'  Ebenda. 
Bauch,  Das  Substanzproblem.  17 


258  7.  Kapitel.  • 

beschlossen  bleibt,  sich  auf  sich  selbst  richtet,  sich  selbst  zum 
Inhalte  und  Gegenstande  hat,  insofern  in  ihm  das  Denken  sich 
selber  denkt  und  mit  seinem  Gegenstande  identisch  wird.  Weit 
entfernt  also  von  bloßer  Passivität  und  toter  Ruhe  kommt  dem 
höchsten  Zwecke  vielmehr  das  höchste  Leben  zu.  Denn  die 
Wirksamkeit  der  denkenden  Vernunft  ist  gerade  Leben,  und 
zwar  ewiges  Leben.  Lebendige  Wirksamkeit  der  ewigen  leben- 
digen Vernunft,  als  welche  sich  der  höchste  Zweck,  die  wirk- 
same Form  erweist,  aber  bezeichnen  wir  als  Gott.  Und  so  ist 
die  Form  als  höchster,  wirksamer,  zweckvoll  lebendiger,  ewiger 
Grund  selbst:  Gott.^  An  der  Gottheit  hängen  Himmel  und 
Welt^,  die  freilich  selbst  einheitlich  sind.  Weil  Gott  Eines  ist, 
ebendarum  gibt  es  auch  offenbar  nur  eine  Welt.^  Als  höchster 
Zweck  wird  die  Gottheit  bei  Aristoteles  genau  so  wie  bei 
Piaton  zum  höchsten  Prinzip  aller  Dinge.  Denn  als  höchster 
Zweck  und  höchstes  Prinzip  ist  sie  selbst  das  Gute,  und  das 
Gute  ist  selbst  Prinzip.'*  Und  darin  liegt  ihre  lebendige  Wirk- 
samkeit, daß  sie  als  Form  und  Wirklichkeit  die  Materie  als 
das  bloß  Mögliche  derart  zur  Wirklichkeit  überführt,  daß  die 
Dinge  in  der  Natur  stetig  zum  Besseren  streben^  und  Gott  ihr 
Werden  zweckvoll  eingerichtet  hat.^  In  der  Bestimmung  aber, 
daß  Gott  das  Geschehen  in  der  Weise  zweckvoll,   entelechisch 


'  Ebenda:  Kai  Zn)i-\  bi  ye  uirctpxei  ■  r\  yöP  voO  ^v^pYcia  Zw'f],  ^Keivo^  bi 
f\  ^v^p-feia  •  ivipyem  bi  n  köO'  aÜTr'iv  ^kcivou  lvjf\  dpioTi-)  Kai  a'ibioc.  q)a|adv 
b^  TÖv  -öeöv  elvai  Ziüuiov  dibiov  cipiarov,  oiöre  Iwf]  Kai  aiibv  ouvexn?  Kai  dt- 
biO(;  Oiröpxei  toii  öeuji  ■  toOto  y"P  ^  öeö^.  Vtil.  dazu  auch  Bullinger,  a.  a.  ()., 
S.  25. 

2  Ebenda:  ^k  TOiaÜTf);  äpa  dip\f\c,  nprriTai  ö  oüpavöq  koi  i]  cpüoiq. 

^  Met.  XI,  7,1074a:  ÖTi  bi  el<;  oöpavöq,  qpavepöv;  und  rücksichtlicii  der 
Einheit  Gottes  zitiert  A.  10,1076a:    oük  dYOööv  iroXuKoipaviiv    de,    Koipavoq 

?ÖTUJ. 

■*  Ebenda  10,1075a:  koitoi  ^v  «Traai  jaüXiOTa  tö  äyaQöv  dpxr).  Die.se 
Übereinstimmung  mit  Piaton  in  diesem  ungemein  wichtigen  Faictor  der  Lehre 
betont  auch  Wiiidelhand,  Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie,  S.  120, 
wo  es  heißt:  «Die  erste  bewegende  oder  die  reine  Form  bedeutet  also  in  der 
Aristotelischen  Metaphysil?  ganz  dasselbe,  wie  (He  Idee  des  Guten  in  der 
Platonischen». 

'"  De  gen.  et  corr.  II,  10,337a:  toO  ßeXxiovoq  öpi'^eaQax. 

*  Ebenda:  ^vreXexn  -nox^oac,  rr\v  fiveaxv. 


Der  Subslanzbegriff  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  259 

eingerichtet  habe,  daß  die  werdenden  Dinge  stetig  zum  Besseren 
streben  —  auf  diesen  Komparativ  kommt  dabei  sehr  viel,  wenn 
nicht  gar  alles,  an  —  erhält  der  ganze  Energie-  und  Entelechie- 
Gedanke  des  Aristoteles  seine  bestimmteste  Präzision  als 
zweckvolle  Entwickelung.  Man  kann  daher  mit  Windelband 
sagen,  daß  Aristoteles  das  Substauzproblem,  «das  Grundpro- 
blem der  griechischen  Philosophie,  wie  hinter  der  wechselnden 
Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  ein  einheitliches  und  blei- 
bendes Sein  zu  denken  sei,  durch  einen  BeziehungsbegriflF, 
denjenigen  der  Entwickelung  gelöst  hat».^  Es  ist,  um  mit  Goethe 
zu  reden,  der  sich  in  seiner  Weise  ja  den  Aristotelischen  Be- 
griff der  «Entelechie»    zu  eigen  gemacht,  eben   der  Fortschritt 

«aus  dem  simpelsten  Stoff bis  zur  größten  Vollendung», 

der  die  entelechische  Entwickelung  charakterisiert.^  Die  Form 
als  das  wahrhaft  Wirkliche  muß  diese  Entwickelung  ursäch- 
lich bestimmen,  indem  sie  dieser  als  Zweck  das  Ziel  weist,  und 
sie  kann  nur  als  Zweck  und  Ziel  der  Entwickelung  die  Rich- 
tung geben,  indem  sie  diese  ursächlich  bestimmt.  Das  nun 
vermag  sie  durch  die  Bestimmung  des  Stoffes.  Form  und  Stoff 
bestehen  ja  nicht  ohne  einander,  sondern  immer  miteinander. 
Denn  die  Form  für  sich  selbst  schließt  das  Entstehen  von  sich 
aus.  Nur  die  Dinge  entstehen,  die  aus  Form  und  Stoff  be- 
stehen, in  denen  also  nicht  bloß  Form,  sondern  immer  auch 
Stoff  ist,  insofern  ja  dieser  das  Substrat  des  Werdens  und  der 
Veränderung  ist  und  bald  dieses,  bald  jenes  wird.-^  Wie  Form 
und  Stoff  nicht  ohne  einander  sind,  weil  sie  gerade  in  ihrer 
Verbindung  die  Dinge  bestimmen,  so  sind  sie  auch  nicht  außer 
und  neben  den  Dingen,  sondern  in  den  Dingen,  den  Dingen 
immanent.^     Sie  sind  das,  wie  schon  früher  deutlich  wurde,  als 

1  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  115. 

'^  Vgl.  dazu  meine  Antrittsvorlesung:  « Über  Goethes  philosophische  Well- 
anschauung».    (Preußische  Jahrbücher,  Bd.  115,  Heft  3,  bes.  S.  526  f.). 

'  Met.  VI,  8,103.3  b :  qpavepöv  br)  (eK  tuiv  eipriiaevujv)  öti  tö  |aev  di^ 
eibo?  f|  ouaia  \eYO|Li€v  oö  YiTvexai,  Kai  8ti  ^v  -rravTl  tuui  Yevo|n^vuji  ü\r)  ^vea- 
Ti,  Kai  ?öTi  TÖ  |n^v  TÖbe  TÖ  be  TÖbe.  Auch  zahlreiche,  früher  schon  gegebene 
Zitate  können  dafür  als  Beleg  gelten. 

*  Wie  es  von  der  Materie  Met.  VI,  8,1033  b  soeben  hiePs,  ön  ev  Travri 
Ttui  •fevofieviwi  üAr]  eveaxi,  so  heißt  es  ebenda  1037  a  auch  von  der  Form  und 

17* 


260  7.  Kapitel. 

das  Bestimmende  und  Bestimmbare,  als  das  Aufgenommene 
und  das  Aufnehmende.  Indem  die  Materie  die  Bestimmung 
der  Form  aufnimmt  und  die  Form  so  die  Materie  bestimmt, 
erlangen  die  Dinge  ihr  Sein.^  Insofern  aber  diese  Bestimmung 
ihrem  Wesen  nach  Zweckbestimmung  ist,  ist  der  Zweck  der 
Wirklichkeit  selbst  immanent,  ist  eine  «immanente  Zweck- 
mäßigkeit»^ der  Natur   selbst  notwendig.     Da  Form   und   Ma- 


ihrem  Verhältnis  zur  Materie :  ^  oöaia  -fctp  ^öti  tö  elboq  tö  evöv,  iZ  ou  Kai 
rf\c,  üXriq  i'i  öüvoboi;  X^Y^rai  ovoia  .  .  .  Vgl.  dazu  und  zur  vorigen  Bestim- 
mung rücksichtlich  der  Immanenz  der  Materie  auch  Bäumker,  a.  a.  0.,  S.  261  f. 
Diese  Immanenz,  wenn  man  das  Verhältnis  des  dveivai  so  nennen  will,  wo- 
gegen kaum  etwas  einzuwenden  ist,  folgt  unmittelbar  auch  schon  aus  den 
früheren  Erörterungen.  Denn  danach  sollten  ja  die  allgemeinen  Prinzipien 
nicht  neben  dem  Einzelnen  sein,  und  Form  und  Materie  wurden  als  allgemeine 
Prinzipien  betrachtet.  Also  konnton  sie  danach  schon  nicht  außei-  und  neben 
ilem  Einzelnen  sein.  Für  das  Substanzproblem  ist  es  unter  diesem  Betracht 
von  Interesse,  daß  Met.  XI,  5,1071  a  mit  Rücksicht  auf  die  Prinzipien  der 
Form,  Materie,  Steresis  und  Bewegung  von  oömOüv  aiTia  gesprochen  wird. 
Hier  wird  zunächst  wieder  die  mehrfache  Bedeutung  des  Substanzbegriffes  in 
der  Weise  deutlich,  daß  die  Einzelsubstanz  eben  einer  allgemeineren  Ursächlich- 
keit bedarf,  in  der  jene  vier  Prinzipien  zusammenkommen.  Da  die  arlpr\ai(; 
aber  im  positiven  Sinne  ausschaltet,  dagegen  die  Bewegung  zwischen  Materie 
und  Form,  wie  wir  sahen,  derart  vermittelt,  daß  sie  den  Übergang  von  der 
einen  zur  anderen,  als  von  der  Möglichkeit  zur  Wirklichkeit  darstellt,  so 
muß,  da  sie  selbst  eigentlich  nur  eine  Relation  zwischen  beiden  ist  und  ihr 
Prinzip  selbst  in  der  Form  hat,  die  Bewegung  mit  ihren  auf  ihr  beruhenden 
Formen  der  quantitativen  und  qualitativen  Veränderung  ebenfalls  den  Dingen 
immanent  sein.  Diese  Konsequenz  hat  Aristoteles  in  der  Tat  Phys.  II,  1,192  b 
gezogen,  wo  es  heißt:  xd  nev  yöip  qjüaei  övxa  -ncivTa  qpaiverai  ^xovxa  Iv 
^auxoi(;  öpxnv  Kivrioeuui;  Kai  ojdaewq,  xö  ^xiv  Kaxä  xöttov,  xd  bi  Kax'  auErjöiv 
Kui  qpdiaiv,  xd  bi  Kax'  dWoiujoiv.  Das  ist  unter  mehreren  (iesichtspunklen 
von  Bedeutung:  sowohl  dafür,  daß  von  der  dpxn  Kivriöeuji;  in  ihrem  Verhält- 
nis zu  den  cpüaei  övxa  uctvxa  das  ^v  ^auxoi^  ausgesagt  wird,  als  auch  dafür, 
daß  früher  die  |iopq))T  als  öpxn  Tri?  Kivriöeu»?  aufgestellt  worden  ist.  So  wird 
hinsichtlich  der  Dinge  die  Immanenz  der  Bewegung  und  hinsichtlich  der 
Form  als  des  Prinzips  der  Bewegung  die  Immanenz  der  Form  deutlich. 

'  Vgl.,  außer  den  schon  zitierten  Stellen  de  gen.  et  corr.  I,  4,326a  und 
de  caelo  III,  8,306  mit  dem  Hinweis  auf  den  Timaios,  auch  Bäumker,  a.  a.  0., 
S.  362.  Auch  das  oüöiüjv  ai'xia  aus  Met.  XI,  5,1071a,  auf  das  in  der  vorigen 
Anmerkung  schon  hingewiesen  wurde,  ist  dafür  nicht  ohne  Belang. 

2  Worte  Zeüers,  a.  a.  0.,  S.  427.     Siehe  hier  auch  die  zahlreichen  Stellen- 


/ 


Der  Substanzbegriir  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems,  261 

terie  niclit  außer  den  Dingen  sind,  sondern  als  das  zweckbe- 
stimmende und  das  zweckbestimmte  Prinzip  ihnen  imma- 
uieren,  die  Form  aber  allein  wahrhaft  wirklich  ist,  so  kann  das 
Wesen  des  Dinges,  das,  wie  ja  schon  gesagt,  von  dem  Ding, 
dessen  Wesen  es  ist,  nicht  getrennt  werden  darf\  allein  in  der 
Form  liegen.  Die  Form  aber  ist  der  Begriff,  und  die  Begriffe 
sind  Formen  der  Form  überhaupt,^  So  wird  —  durch  diesen 
echt  Platonischen  Zug  des  Aristotelischen  Denkens  —  die  ente- 
lechische  Zweckentwickelung  und  das  «Streben  zum  Besseren» 
ein  stetiger  Fortgang  von  niederen  zu  höheren  Formen,  so  daß 
unter  den  realen  Dingen,  was  für  das  eine  selbst  Form  ist, 
für  ein  höheres  wieder  Stoff  ist,  vom  bloßen  Stoff  bis  zur  reinen 
Form,  und  in  diesem  Sinne  wird  die  Entelechie  zur  Selbstdar- 
stellung «des  Wesens  in  den  Erscheinungen».^ 

Freilich  hatte  Aristoteles  einen  zu  offenen  Blick  für  die 
harte  Wirklichkeit,  um  in  dieser  das  Zwecklose  und  Zweck- 
widrige zu  übersehen.  Wie  Piaton,  so  brauchte  er  auch  für 
die  Erklärung  dessen  einen  Grund;  und,  wie  Piaton,  so  findet 
auch  er  ihn  in  der  Materie.  Zwar  gilt  ihm  diese  nicht,  wie 
seinem  Vorgänger,   selbst  schon   als   das  Böse   und  das  Übel.^ 


belege.  Zu  den  empirischen  Argumenten  des  Aristoteles,  die  besonders  der 
organischen  Natur  entnommen  sind,  sowie  auch  der  Astronomie,  vgl.  S.  4i2,5. 

1  Siehe  oben  S.  241,  Anm.  2  das  Zitat  aus  Met.  I,  9,991b. 

^  Vgl.  de  caelo  I,  den  ganzen  ersten  Teil  bis  Mitte  9,278  a ;  auch  Bäum- 
ker,  a.  a.  0.,  S.  282. 

^  Windelband,  S.  115  f.  Hier  finden  sich  besonders  folgende  vortreffliche 
Formulierungen:  «Aristoteles  aber  bestimmte  das  Seiende  als  das  sich  in 
den  Erscheinungen  selbst  entwickelnde  Wesen».  .  .  .  «und  alle  Er- 
scheinung wird  zur  Verwirklichung  des  Wesens»  (S.  115)  und  «der 
Schwerpunkt  der  Aristotelischen  Philosophie  liegt  also  in  diesem  neuen  Be- 
griff des  Geschehens  als  der  Verwirklichung  des  Wesens  in  der 
Erscheinung»  (S.  116). 

^  Es  geht  trotz  einer  gewissen  Einschränkung  auch  gegen  Piaton,  wenn  es 
Met.  XIII,  4,1091  b  heißt :  dXKä  \xr\v  oütu)  ßoüAerai  TiOexu)  ti^  elvai  ibia(;.  ei  |li6v 
YÜp  TÖiv  ctYaOiJüv  juövov,  ouk  eaovxai  ouaiai  ai  ibeai,  ei  bi  Kai,  tOüv  oöaiujv,  irdvTa 
TÖ  Zma  Koi  xd  qpuTci  ä^aQä  Kai  xä  ixtxixovTa.  xaöxct  xe  hr\  öujjßaivei  äxona, 
Kai  xö  ^vavxiov  oxoixeiov,  ei'xe  TrXfiOoq  öv  eixe  xö  äviaov  Kai  la^Y«  ^ai  mKpöv, 
xö  KaKÖv  avTÖ.  W^onn  auch,  was  hier  über  Einlieit,  Vielheit,  Gleichheit,  Un- 
gleichheil,   Großes   und   Kleines  ausgetührt    wird,  auf  Platon   nicht   zutrifft, 


262  7.  Kapitel. 

Allein  iusofern  der  Form  allein  wahrhaftes  Sein  und  darum 
ein  höheres  Sein  (iiidXXov  eivai)^  zukommt  als  der  Materie,  ist 
auch  diese  weniger  vollkommen  als  die  Form.  Und  sie  muß 
das  ja  auch  sein,  insofern  die  Form  Ziel  und  Zweck  und  das 
Gute  selber  ist.  So  hat  die  Materie  überhaupt  erst  nach  der 
Form  zu  streben.  Sie  bleibt  also,  so  wahr  es  das  Göttliche 
und  Gute  gibt,  diesem  entgegengesetzt,  so  wahr  das  seinem 
Ziele  entgegengesetzt  ist,  das  nicht  das  Ziel  selbst  ist,  sondern 
erst  nach  dem  Ziele  strebt.^  Mag  immerhin  also  der  Zweck 
der  Natur  immanent  wie  der  Kunst  sein  und  die  Natur  einem 
Arzte,  gleichen,  der  sich  selbst  behandelt,  mag  darum  also  die 
Natur  nichts  Anderes  sein,  als  die  Zweckursacbe  selbst^,  so 
sind  doch  in  der  Natur  wie  auch  in  der  Kunst  die  zweckwi- 
drigen Bildungen,  die  dem  Zwecke  gegenüber  zufällig  und  von 
ungefähr  (Kaid  aujußeßriKÖq  —  oittö  TÜxn?)  erscheinen  und  die 
Zweckdarstellung  hindern  (e|LiTToöiZ;eiv)^,  nicht  zu  leugnen.  Der 
Grund  dafür  kann  nur  in  dem  liegen,  was  dem  Zwecke  selbst 
entgegengesetzt  ist,  also  in  der  Materie,  wie  sie  auch  den  Grund 
bilden  muß  für  alle  individuellen,  das  Reale  als  solches  gerade 
kennzeichnenden  Differenzen,  weil  eben  die  Form  der  Begriff 
selbst  ist,  und  weil  der  Begriff  als  das  Allgemeine,  auch  wenn 
es  nicht  neben  und  außer  dem  Einzelnen  ist,  doch  das  Ewige 
und  Unveränderliche  bedeutet,  so  daß  das  von  ihm  befaßte 
Einzelne  nur  verschieden  ist  der  Materie  nach,  nicht  verschieden, 
sondern  Eines  und  Ebendasselbe,   der  Form  nach.^ 

Gelegentlich  spricht    Aristoteles    freilich  auch    von  indivi- 


eine  Spitze  gegen  Piaton    ist  docli   von    rornlierein    (siehe   besonders  Anfg.  4) 

beabsiihtigt. 

'  Vgl.  S.  2.57,  besonders  das  Zitat  aus  Met.  VI,  3,10ii9a  in  Anm.  ± 

2  Phys.  I,  9,l92a:  dvroi;  yöp  Tivoc;  deiou  Kai  dTaöoö  Kai  ^cpeToO,  tö  [xiv 

ivavTiov  auTÜn  q)a,uev  elvai,  tö  bi  8  ir^qpuKev  i(p{(.aQax  Kai  öplf^aQoLi  auToO 

KOTÖ  Tr)v  ^auToö  qpüaiv. 

'  A.  a.  0.  II,  8,l09b:  üjot'  ei  ^v  Tr|i  Texvrji  tö  tvena  tou,  Kai  ^v  qpüaei. 

^(iXiara  bd  brjXov,  ötov  tk;  iaTp6Ür|i  aÜTÖ<;  eauTÖv  •  toütuji  yöp  eoiKCv  i'i  cpüoii;. 

ÖTi  [liv  ouv  aiTia  n  (püaiq,  Kai  ovjtuji;  Ojq  ^veKU  tou,  qpavepöv. 

*  Ebenda. 

*  Met.  VF,  8, 1(»3ia:    Kai   ^Tepov    |uev  biä  Tnv  üXr^v,  ^T^pa  -fäp,  TaÜTÖ  bi 
Tüüi  6'(b€i.     äTO|Liov  Y«P  TÖ  elbo^. 


Der  Substanzbegriff  innerbalb  des  Aristotelischen  Systems.  263 

duellen  Unterschieden  der  Form.^  Dementsprechend  muß  er 
dann  auch  die  Form  mit  Entstehen  und  Vergehen  behafteu. 
So  viel  Schwierigkeit  auch  in  dem  Verhältnis  von  Form  und 
Materie  überhaupt  auch  noch  das  ganze  Aristotelische  S^^stem 
drücken  mögen,  gerade  darin,  daß  auch  individuelle  Unter- 
schiede der  Form  und  damit  für  sie  Entstehen  und  Vergehen 
impliziert  werden,  darf  man  wohl  mit  Bäumker^  keinen  Wider- 
spruch des  Systems  sehen.  Denn  es  handelt  sich,  wie  beson- 
ders die  Aristotelischen  Beispiele  an  jenen  Stellen  beweisen, 
um  bloß  empirische  Verhältnisse.  Der  Unterschied  zum  eibo(; 
selbst  mag  wohl  allein  aus  dem  Grunde  von  Aristoteles  nicht 
besonders  betont  worden  sein,  weil  er  ihm  als  zu  selbstver- 
ständlich erschien.  Die  Schwierigkeit  hebt  sich,  wenn  man 
bedenkt,  daß  Form  und  Materie  weder  ohne  einander,  noch 
ohne  die  Dinge  sind,  sondern  diese  gemeinsam  bestimmen. 
Es  liegt  also  auch  darin  noch  kein  Widerspruch,  wie  ebenfalls 
Bäumker^  und  ähnlich  auch  Siebeck*  meinen,  daß  die  Materie 
als  solche  eben  bloße  Möglichkeit  ist,  die  bestimmte  Materie 
dagegen  sowohl  Möglichkeit  für  ein  höheres  Ding  als  auch 
Wirklichkeit  und  Entelechie  im  Verhältnis  zu  einem  niederen 
Dinge  ist.  Weil  Form  und  Materie  in  den  konkreten  Dingen 
nicht  zu  trennen  und  nur  in  der  Abstraktion  und  Reflexion 
als  die  Prinzipien  der  Dinge  zu  unterscheiden  sind,  würde  man 
in  die  konkreten  Verhältnisse  eine  Abstraktion  liineintragen, 
die  diesen  und  dem  ganzen  Aristotelischen  Denken  fremd  ist, 
wenn  man  hier  einen  Widerspruch  ansetzen  wollte. 

Allein,  eine  Schwierigkeit  bleibt  bestehen:  Die  Materie  soll 
zwar  nur  der  Möglichkeit  nach  sein,  die  Form  allein  der  Wirk- 
lichkeit nach.  Dennoch  aber  soll  das  bloß  Mögliche,  wie  wir 
sahen,  die  Macht  besitzen,  die  restlose  Darstellung  und  Selbst- 
verwirklichung der  Form  oder  des  Wesens  zu  hindern.  Wir 
stoßen  hier  auf  dieselbe  dualistische  Schwierigkeit,  der  wir  bei 
Piaton  begegnet  sind.     Weil  die  Materie  nicht    wahrhaft  wirk- 

'  Ebenda  1033  b,  auch  XI,  5,1071  a  u.  a.  m. 

2  A.  a.  O.,  S.  256  fr. 

ä  Ebenda. 

*  Siebeek,  a.  a.  0.,  S.  38. 


264  7.  Kapitel. 

lieh  ist  und  die  wahrhafte  WirkUchkeit  allein  der  Vernunft  und 
Form  zukommt,  mag  man  immerhin  glauben  können,  wie  Las- 
sen, von  einem  «Monismus  des  Geistes >'  sprechen  zu  dürfen.  Al- 
lein die  Materie  soll  selbst  allgemeines  Prinzip  sein.  Daß  sie  das 
nur  als  Möglichkeit  ist,  mag  die  dualistische  Schwierigkeit  wie 
bei  Piaton  abschwächen,  auflösen  aber  kann  es  sie  ebenso- 
wenig wie  bei  diesem.  Denn  daraus  ergeben  sich  nicht  nur 
neue  Schwierigkeiten  für  das  Einzelwesen,  das  ja  das  eigent- 
lich Substantielle  als  Einzelsubstanz  sein  und  gerade  von  der 
Materie  in  seiner  Individuahtät  bedingt  sein  soll.  Die  Haupt- 
schvvierigkeit  liegt  vielmehr  darin,  wie  das  bloß  Mögliche  das 
Wirkliche  einschränken  und  als  Mitursache  (cruvaiTiov)^  hemmen 
könne.  Die  Unbedingtheit  mag  der  Form  verbleiben,  die  Ma- 
terie mag  bloß  bedingte  Notwendigkeit  (eS  uiToöecreuui;  dvaTKaiov)^ 
haben,  ihre  antientelechische  Eigenbedeutung  wird  damit  doch 
nicht  aufgehoben.  Von  einem  «Monismus  des  Geistes»  dürfen 
wir  also  nicht  sprechen,  wohl  aber  mit  Windelband  von  einem 
«Monotheismus  des  Geistes »."^  Denn  der  schheßt  den  Dualismus 
nicht  aus,  sondern  fordert  ihn.^  Daß  Tendenzen,  über  den 
Dualismus  hinauszuführen,  vorhanden  sind,  ist  freihch  deutlich. 
Sie  liegen  eben  in  der  Bestimmung,  daß  das  wahrhaft  unbe- 
dingt und  Wirkliche  allein  die  Form,  die  Materie  aber  das 
bloß  Möghche  und    bedingt  Notwendige    ist.     Der  Absolutheit 


>  Siehe  oben  S.  23;2,  ähnlich  auch  BuUinger,  a.  a.  0.,  S.  18.  Im  übrigen 
verkenne  ich  —  ich  sage  das  auch  gleich  für  die  folgenden  letzten  Sätze 
dieses  Buches  —  durchaus  nicht,  daß,  wie  bei  Piaton,  Impulse  zur  Überwin- 
dung des  Dualismus  vorhanden  sind.  Aber  jene  Impulse  sind  noch  nicht  diese 
Überwindung  selbst.  So  schön  es  weiter  auch  ist,  aus  lauterer  und  echter 
Liebe  für  den  Hegelschen  «Monismus  des  Geistes»  einen  solchen  auch  in  das 
Aristotelische  System  hineinzulesen,  so  ist  doch  das  nicht  ganz  historisch. 
Und  —  Hegeln  mußte  doch  der  WeUgeist  in  der  Geschichte  auch  noch  eine 
Arbeit  übrig  lassen. 

2  Met.  IV,  5,1015  a/b. 

*  Phys.  II,  9,200a.  Vgl.  dazu  auch  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  119;  Bäum- 
ker,  a.  a.  O.,  S.  268;  ZeUer,  a.  a.  0.,  S.  429. 

*  Windelband,  a.  a.  0.,  S.  120. 

*  Dieser  Dualismus  ist  auch  mit  Ausnahme  der  strikte  hegelisierendeii 
Geschichtsschreibung  von  allen  Historikern,  die  sich  um  die  Entwickelung 
der  Philosophie  bemüht  haben,  einstimmig  anerkannt  worden. 


Der  Substanzbegrifl  innerhalb  des  Aristotelischen  Systems.  2<55 

ist  die  Materie  so  freilich  in  gewisser  Weise  entkleidet,  aber 
eben  nur  in  gewisser  Weise,  nicht  gänzlich  und  restlos.  Ihre 
an ti teleologische  Eigenwirksamkeit  involviert  den  dualistischen 
Rest.  Daß  Aristoteles  über  diesen  nicht  hinausgelangt  ist,  zeigt 
das  Substanzproblem  zur  Evidenz.  Der  Aristotelische  Substauz- 
begriff  bleibt  dualistisch,  ja,  wenn  man  mit  Rücksicht  auf  die 
Einzelsubstanz  und  die  Substanzkategorie  will,  (sit  venia  verbis) 
tertialistisch,  bezw.  quartalistisch.  Das  ist  freihch  auf  dieser 
Stufe  des  Denkens  und  für  die  Kontinuität  der  Problem ent- 
wickelung  kein  Fehler,  sondern  ein  Verdienst:  Hat  Piaton  das 
Substanzproblem  im  Altertum  am  profundesten  aufgegraben, 
so  hat  ihm  Aristoteles  die  weiteste  Fülle  und  Breite  gegeben. 
Tiefer  als  Piaton  und  weiter  als  Aristoteles  konnte  das  Alter- 
tum in  der  Bearbeitung  unseres  Problems  nicht  gehen.  Und 
wer  heute  über  das  Substanzproblem  philosophiert,  als  habe 
Kant  nie  gelebt,  mag  er  die  Substanz  im  Sinne  der  Materie 
oder  des  Geistes  oder  wie  immer  sonst  fassen,  der  ist,  falls  er 
die  Verschlingung  von  Bedingendem  und  Bedingtem,  von  Be- 
stimmendem und  Bestimmtem  nicht  in  dem  Probleme  selbst 
angelegt  erkennt,  über  den  Standpunkt  von  Piaton  und  Ari- 
stoteles sicher  nicht  nur  nicht  hinaus;  er  steht  günstigstenfalls 
auf  dem  prinzipiellen  Boden  Demokrits  oder  Protagoras",  aber 
bei  Piaton  und  Aristoteles  ist  er  noch  nicht  einmal   angelangt. 


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