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BOOK 180.B323S c 1
BAUCH f DAS SUBSTANZPROBLEM IN
DFR GRIFCHISCMFN PHILnSOPHIF BIS
3 T1S3 000b3M22 5
Das Substanzproblem
in der griechischen Philosophie
bis zur Blütezeit
(Seine geschichtliche Entwicklung in systematischer
Bedeutung)
Von
Dr. Bruno Bauch
Privatdozent an der Universität Halle a. S.
Heidelberg 1910
Carl Winter's Universitätsbuchhandlung
Verlag« -Nr. 409.
Alle Rechte, besouders das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen,
werden vorbehalten.
Wilhelm Windelband
in
aufrichtiger, herzlicher Verehrung.
Vorwort.
Die Anfänge dieser Arbeit liegen für mich schon sehr weit
zurück, viel weiter als alles, was ich bisher veröffentlicht habe.
Der Gedanke, überhaupt einmal dem Substanzprobleme bei den
Griechen nachzugehen, kam mir vor mehr als einem Jahrzehnt,
schon in meinen letzten Studentenjahren. Das war in dem
Platon-Seminar des Mannes, dessen Namen dieses Buch, wie ich
hoffe: nicht ganz unwürdig, an der Spitze tragen darf, und der
für mich unvergleichlich viel mehr bedeutet, als daß er mir ge-
rade in jener Zeit zuerst und eigentlich das Verständnis für die
beiden, nicht etwa bloß hinsichtlich meiner persönlichen Ent-
wickelung wichtigsten, sondern auch in der Geschichte meiner
Wissenschaft größten Denker — für Piaton und für Kant —
wie für diese Wissenschaft selbst und ihre Geschichte erschließen
half. —
Als ich in meiner Straßburger Zeit die «Entdeckung» gemacht
zu haben glaubte, daß die «erste Analogie der Erfahrung» eine
ganz merkwürdige Anwendung in Piatons Unsterblichkeitslehre
gefunden, da ahnte ich freilich in meiner naiven Entdeckerfreude
noch nicht, wie untergeordnet dieses Moment im Verhältnis zur
ganzen Fülle problemgewaltiger Kraft, die der Substanzbegriff
im Systeme Piatons als Ganzem entfaltet, ist, und daß ich später
einmal in einem Buche dieses Moment in einer kurzen Bemer-
kung bloß erwähnen sollte. Nur entdeckte ich, — und ich darf
sagen: mit reiner Freude, ohne Neid — daß meine «Entdeckung»
— so ungefähi- ein Jahrhundert vorher schon gemacht war, von
Schleiermacher nämlich. Immerhin befestigte sich damals in mir
schon der Plan, meinem Problem einmal nicht bloß bei Piaton,
"VI Vorwort.
sondern, wenn möglich, überhaupt in der griechischen Philo-
sophie bis Aristoteles nachzuspüren.
Der Gründe, die die Fertigstellung und den Abschluß der
Arbeit eine lange Reihe von Jahren aufliielten, waren mancher-
lei. Sie lagen teils im gleichzeitigen Vorhaben anderer Arbeiten,
teils in der Natur gerade dieses Problems selbst. Das ganze
Denken der Grierhen — ich meine selbstverständlich: in theo-
retischer Hinsicht — rankt sich in gewisser Weise um das Sub-
stanzproblem. Die Gefahr, der manchmal sonst Problemmono-
graphien ausgesetzt sein mögen, daß sie, wie ein witziger Kopf
(ich weiß nicht, Avelcher) gesagt hat, leicht «dicke Bücher mit
viel Gelehrsamkeit und wenig Gedanken» abgeben, bestand also
für meine Untersuchung nicht; und zwar ganz ohne mein Ver-
dienst. Wie nämlich die soeben erwähnte Monographiencha-
rakteristik, soweit sie überhaupt berechtigt ist, ihren Grund
keineswegs etwa weniger in denen findet, die die Probleme be-
arbeiten, als in den Problemen selbst, so will ich es umgekehrt
durchaus nicht als mein persönliches Verdienst in Anspruch
nehmen, wenn bei mir die Sache anders liegen sollte. Eben
diese Sache, d. h. der Reichtum des griechischen Geistes, der
sich an diesem einen Problem entlädt, mag dafür die Begrün-
dung hergeben. Es ist, wie Windelband es ausgesprochen hat,
«das Grundproblem der griechischen Philosophie, wie hinter der
wechselnden Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ein einheitliches
und bleibendes Sein zu denken sei». Das Substanzproblem in-
nerhalb der griechischen Philosophie verfolgen heißt darum
nichts Anderes, als die theoretische Philosophie der Griechen
unter dem Gesichtspunkte des Substanzproblems betrachten. Da
war also wahrlich keine Armut des gedanklichen Stoffes durch
Reichtum an Gelehrsamkeit zu verdecken. Im Gegenteil forderte
die Fülle des Stoffes, den der griechische Geist darzubieten hat,
in Sachen alles bloß gelehrtenhaften Beiwerkes die äußerste
Beschränkung auf das, was nun einmal für eine wissenschaft-
liche Untersuchung unerläßlich ist. Diese Beschränkung war in
solchem Maße notwendig, daß zum Schluß die Mühe, einst ge-
tane Arbeit wegzuwerfen (auch das muß man ja tun können),
manchmal nicht geringer war als die, einst geleistete Arbeit für
Vorworl. VII
die schriftliche Darstellung zu verwerten. Darum habe ich, wie
mir überhaupt das Positive mehr gilt, bei der letzten Ausarbei-
tung vor allem die literarische Polemik auf ein Minimum redu-
ziert. Die Auswahl war beherrscht von dem Gesichtspunkte,
daß sie überhaupt lohne, indem sie durch Klärung für das Ver-
ständnis wenigstens positive Ansatzpunkte biete. Dagegen ist
aus der Literatur nach bestem Wissen und Gewissen nichts von
dem unerwähnt geblieben, dem ich irgendwie positiv zu Dank
verpflichtet bin. Mit besonderer Dankbarkeit möchte ich hier
der grundlegenden philologischen Arbeiten von Diels für das
Gebiet der vorsokratischen Philosophie gedenken. Ihnen schulde
ich für die Einsicht in dieses Gebiet, also für den grundlegenden
Teil meiner Untersuchung und damit auch für diese, als Ganzes
genommen, nächst Wort und Schrift meines Lehrers Windel-
band, am meisten. Gerade weil mir die «Passionsstraße»
durch die Originaltexte und der Stand von deren Ausgaben
im Laufe meiner Arbeit nicht ganz unbekannt geblieben ist,
ist mir vollkommen klar, was Diels' philologische Arbeiten
auch für die philosophiegeschichtliche Forschung bedeuten, so
wenig ich freilich umgekehrt meiner philosophiegeschichtlichen
Arbeit auch nur den geringsten philologischen Anspruch zu-
weisen darf. Mir persönlich waren jene auf dem Pfade meiner
Untersuchung stete Begleiter und Wegweiser. Ich habe darum —
um auch dieses äußere Moment hier nicht unerwähnt zu lassen
— nicht nur die eigentlichen Fragmente entweder direkt nach
Diels zitiert oder doch den Originalstellen Diels' Zählung beige-
fügt, sondern auch bei dem Aveiteren historischen doxographischen
Material an manchen Punkten, die mir besonders wichtig schienen,
die Stellen bei Diels mitangegeben; und ZAvar der Einheitlichkeit
wegen nach der Ausgabe der Vorsokratiker. Daß ich daneben
Mullachs Sammlung nicht mehr verwendet habe, wird mir der
Kundige nicht als historische Ungerechtigkeit auslegen. Ich
brauche mich dafür nicht besonders zu rechtfertigen. Diels'
Urteil darüber (Fragm. S. VI) ist Rechtfertigung genug.
Vielleicht erwartet mancher zum Schluß noch eine Erklä-
rung darüber, was ich mit meiner Arbeit anstrebe, wenn ich sie
als eine Untersuchung der geschichtlichen Entwickelung des Sub-
VIII Vorwort.
Stanzproblems in systematischer Bedeutung auffasse. Soweit das
für das Verständnis meiner Arbeit notwendig ist, soll darüber
die Einleitung Aufschluß geben. Soweit diese das nicht tut,
wäre eine besondere methodologische Abhandlung erfordert, zu
der das Vorwort nicht bestimmt sein kann. Hier sei nur soviel
gesagt, wie nötig ist, um Mißverständnissen vorzubeugen: Jede
Erscheinung, die der Geschichte der Philosophie angehört, hat eine
systematische Bedeutung. Sonst wäre sie eben keine geschicht-
liche Erscheinung. Ohne eine Bedeutung wäre die Geschichte
sinnlos, und sinnlos wäre alle historische Arbeit. Einer geschicht-
lichen Erscheinung innerhalb der Philosophie eine systematische
Bedeutung anerkennen heißt darum aber nicht: sie in ein be-
stimmtes System zwängen, sie in ein System oder ein System
in sie hineinprojizieren, das ihr historisch-genetisch fremd ist.
Ohne systematische Voreingenommenheit und gänzlich vorur-
teilslos gilt es die historische Erscheinung in der Bedeutung zu
verstehen, in der sie sich selber darstellt. Damit aber, daß wir
einer Erscheinung, eben weil sie geschichtlich ist, auch eine Be-
deutung zusprechen, sind wir auf der anderen Seite weit davon
entfernt, die Geschichte nach dem Rezepte aufzufassen: «Die
Geschichte nehme man hin, aber man mache sich keine Gedan-
ken über sie». Das ist eine oft zwar nur stillschweigend ge-
pflogene, manchmal auch schamlos genug offen ausgesprochene
Maxime. Wenn einer so denkt, mag er nun der Geschichte
überhaupt in stolzer Ignoranz gegenüberstehen, mag er immer-
hin im Troß bloßer Geschichtsgepäckträger mitlaufen — wenn
er nur überhaupt so denkt, so macht er sich ja schon über die
Geschichte seine Gedanken. Sie sind freilich auch danach. Sie
stehen, wenn sie nicht gar innerlich unwahrhaftig sind, zum
mindesten logisch auf sehr schwachen und kurzen Beinen. Ihnen
ist die Welt der Geschichte stumm geblieben. Um des Himmels
willen verwechsele man also nicht die historische Unvoreinge-
nommenheit mit prinzipieller Gedankenlosigkeit und bedenke:
Wahrhaft historisch ist allein das, was nicht allein
historisch ist. Denn wahrhaft historisch ist es nur durch
seine überhisLorische Bedeutung, nicht deshalb, weil es überhaupt
eimnal gewesen ist.
Vorwort. IX
Also weder mit der Präokkupation für ein bestimmtes Sy-
stem hat die Frage nach der systematischen Bedeutung einer
historischen Tatsaclie etwas zu schaffen, noch ist die historische
Tatsächhchkeit ein bedeutungsloses factum brutum. Wir können
sie schlechterdings von einer Bedeutung nicht trennen. Ohne
die Anerkennung dieser Bedeutung ist aller Respekt vor den
historischen Tatsachen leere Phrase. Nur liegt eine Bedeu-
tung in philosophischer Beziehung nicht notwendig darin, Be-
deutung für ein System, sondern darin, Bedeutung für die Be-
ai'beitung einer systematischen Aufgabe, für ein systematisches
Problem zu sein. Die Arbeit am Substanzproblem und ihr Er-
trag innerhalb der griechischen Philosophie — das also ist es,
was seine geschichtliche Entwickelung in systematischer Bedeu-
tung charakterisiert.
Alles in allem genommen ist also der Untertitel meiner
Arbeit, unter logischem Betracht, eine Tautologie. Ich bin mir
dessen bewußt, füge ihn aber trotzdem hinzu. Denn für das
geschichtliche Denken unserer Zeit im allgemeinen ist unsere
logische Tautologie leider selbst noch keine historische.
Mit diesen Bemerkungen kann ich es hier bewenden lassen.
Für jeden, der wirklich historisch zu denken vermag, der
in der Geschichte einen Sinn erkennt und dem, allein aus diesem
Grunde, die geschichtliche Forschung mehr ist, als eine Kurio-
sitätensammlung, werden sie vollkommen für eine Orientierung
über die Absicht meiner Arbeit genügen. Wer freilich in der
Geschichte und in geschichtlicher Arbeit keinen Sinn erkennt,
den könnte ich zum Verständnis nicht zwingen, auch wenn ich
noch ausführlicher würde. Darum lasse ich es mit dieser Vor-
bemerkung genug sein.
Es sei mir nur noch gestattet, meinem verehrten Verleget-,
Herrn 0, Winter in Heidelberg, für sein freundliches Eingehen
auf alle meine Wünsche den besten Dank auszusprechen ; ebenso
Herrn Dr. K. Bache in Halle, der die Freundlichkeit hatte, die
Korrekturen dieses Buches zu lesen.
Halle a. S. im Januar 1910.
tiruiiu Bauch.
XI
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
1. Kapitel. Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniem .... 10
2. „ Die eleatische Schule 38
3. „ Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung inner-
halb der Naturphilosophie <J3
4. , Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung 91
5. , Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis Iü8
6. , Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus . D'O
7. , Der Subslanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems . 217
Einleitung.
«Es gibt ein Etwas, das konstant bleibt.» So ist in der
neuesten Zeit eine der Grundvoraussetzungen aller exakten
Forschung von dieser selbst formuliert worden. Als was immer
nun sich dieses «ein Etwas» herausstellen möchte, ob es sich,
wie in dem Zusammenhange, in dem hier bei Poincare^ der
Satz steht, um die Energie handelt, ob man das «Etwas 2- als
Äther, als Materie, als Bewegung, als Zahl, als Geist oder als
Idee oder wie immer sonst charakterisiere und welchen Inhalt
man auch immer jener allgemeinen Formel gebe, darauf kommt
es uns zunächst nicht an. Und gerade das ist das Entschei-
dende, daß sich für unser Problem zunächst Form und Inhalt
unterscheiden müssen, um das Problem überhaupt scharf und
deutlich stellen zu können. Das Problem eines überhaupt kon-
stanten Etwas steht allein zur Diskussion. Wir untersuchen
von vornherein also nicht einen seiner möglichen Inhalte; nicht
Energie, Bewegung, Zahl, Geist, Idee, oder Materie, wie das
hinsichtlich dieser letzten ja für die griechische Philosophie
Clemens Bäumker getan hat.^ Vielmehr fragen wir erst nach
jener allgemeinen Bestimmung dieses Problems, um zu sehen,
welche mannigfachen Bestimmungen inhaltlicher Art das
griechische Denken für jene allgemeine Form versucht hat.
Bedarf dafür jene an die Spitze gestellte allgemeine Formel
immerhin noch in einer Hinsicht eine exaktere Präzision, so
^ Poincare, Wissenschaft und Hypothese, deutsch von F. und L. Linde-
mann, S. 134.
"^ Clemens Bäumkei-, Das Problem der Materie in der griechischen Phi-
losophie. Münster 1890.
Bauch, Das Substanzproblem. 1
2 Einleitung.
ist sie für unser Problem gerade wegen ihrer Allgemeinheit von
Bedeutung, weil, auch trotz der Notwendigkeit einer exakteren
Bestimmung, die wir bald an ihre Stelle setzen werden, gerade
an ihr die methodologische Grundforderung einer historischen
Problemuntersuchung, einer problemgeschiclitlichen Forschung
überhaupt deutlich wird : Zu den Errungenschaften der an der
kritischen Philosophie orientierten Methodologie historischer
Forschung gehört die Einsicht, daß die historisch-genetische Be-
trachtungsweise implizite immer schon die systematisch-kritische
Fragestellung zur logischen Voraussetzung hat. Wenn der Histo-
riker etwas in seiner geschichtlichen Entstehung und Entwickelung
verstehen will, so muß er zunächst wissen, was denn das ist, was
er in seiner geschichtlichen Entstehung und Entwickelung ver-
stehen will. Er kann nicht Staaten-, Sitten-, Rechts-, Moral-,
Kunst-, Wissenschafts-, Kulturgeschichte usw. treiben, ohne die
Begriffe von Staat, Sitte, Recht, Moral, Kunst, Wissenschaft,
Kultur usw. vorauszusetzen. So bedarf jede historische Wissen-
schaft imphzite der begrifflichen Fundamentierung, und die
Methodenlehre der geschichtlichen Forschung sucht in logischer
Analyse die begrifflichen Fundamente selbst explizite zu er-
mitteln.
Für die Philosophie, der die Methodologie als Sonderdis-
ziplin zuständig ist, wird dies bedeutsam. Denn dadurch allein
kann ihre eigene geschichtliche Disziplin zur philosophischen
DiszipHn selber werden, kann die Geschichte der Philosophie
selbst philosophischen Gehalt erlangen. Sie hört auf, eine
mehr oder minder interessante Sammlung von «allerlei Mei-
nungen über alles Mögliche und verschiedenes Anderes» zu sein,
sie wird vielmehr zur Wissenschaft von der geschichtlichen
Entwickelung der philosophischen Probleme selbst, die nicht bloß
implizite, sondern explizite systematisch-kritisch orientiert ist.
Damit treten die philosophischen Begriffe als solche in den
Vordergrund der philosophie-geschichtlichen Betrachtungsweise.
Ihre systematisch-wissenschaftliche Bedeutung gilt es in ge-
schichtlicher Ermittelung zu verstehen.
Diese Ermittelung ist aber schon durch unsere erste Über-
legung, daß man, um etwas in seiner geschichtlichen Entwicke-
Einleitung. 3
luug zu verstehen, bereits wissen muß, was man denn in dieser
seiner geschichtlichen Entwickelung verstehen will, in ihrem
Charakter logisch determiniert. Danach muß, sobald es sich
um die Geschichte eines bestimmten Begriffes — man erlaube
mir einstweilen noch diesen Ausdruck, ohne die eben jetzt erst
in Angriff zu nehmende genaue Präzision — handelt, der Be-
griff selbst schon, um ihn geschichtlich bestimmen und durch
die Geschichte verfolgen zu können, vorausgesetzt sein. Liegt
aber in dem Begriff der Geschichte und der geschichtlichen
Entwickelung nicht selbst Wandel und Wechsel eingeschlossen,
geht damit aber nicht gerade jener bleibende Richtpunkt, nach
dem die Entwickelung geschichtlich bemessen werden soll, in
dem geschichtlichen Wandel und Wechsel selbst verloren, so-
fern man mit einer wirklich begriffsgeschichtlichen Untersuchung
auch wirklich Ernst macht? So wahr und sicher es sein mochte,
daß wir etwa den Begriff der Kultur voraussetzen müssen, um
die Geschichte der Kultur verstehen zu können, so unsicher
und schwankend scheint doch unsere Voraussetzung zu w^erden,
sobald wir z. B. nun etwa den Begriff der Kultur selbst in die
historische Betrachtung einbeziehen. Wandelt und wechselt er
nicht selbst in der Geschichte, und geht uns damit nicht bloß
der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht verloren, sondern
begehen wir damit nicht die Absurdität, der Erscheinungen
Flucht für den ruhenden Pol selber auszugeben, um sie in einer
petitio principii an sich selber geschichtlich zu messen; eine
Art Münchhauseniade, als wollte man versuchen, den Meter-
stab an sich selber zu messen?
Nun, die Schwierigkeit ist nicht unüberwindlich. Ihre
Überwindung wird uns sogar gleich den Schlüssel des Ver-
ständnisses für die begriffsgeschichtliche Methodik überhaupt
geben. Jedes Zeitalter hat seine eigene besondere Kultur, und
darum ist zuzugeben, daß es, um zunächst noch bei unserem
Beispiele zu bleiben, seine eigene Auffassung vom Wesen der
Kultur hat, daß also die Auffassung vom Wesen der Kultur
im Laufe der Geschichte selber wechseln mag. Allein damit
man diese Auffassung eben als Auffassung vom Wesen der
Kultur ansehen und beurteilen kann, ist der Begriff der Kultur
4 Einleitung.
selbst schon als Kriterium der Beurteilung vorausgesetzt. Die
Schwierigkeit beruhte nur auf einer vorläufig nicht scharf ge-
faßten Unterscheidung zwischen dem Begriffe als solchem, und
der Art und Weise, wie sich das geschichtliche Denken des
vom Begriffe umschlossenen Wahrheitsgehaltes bemächtigt.
Begriffe als solche geschehen nicht, sind keine geschichthchen
Ereignisse, also an sich selbst überhaupt nicht geschichtlich.
Geschichtlich ist in Rücksicht auf sie immer nur die gedank-
liche Arbeit, die sich den Begriffsgehalt eben zu erarbeiten,
anzueignen sucht. In diesem Sinn schied bereits Piaton mit
aller Schärfe und begrifflicher Distinktheit den X6yo(; von der
geschichtlichen boHa, und der Wahrheitswert der ööHa bestimmte
sich ihm nach Maßgabe des von der böla umfaßten Gehaltes
an X6yo<;.
Jetzt ist deutlich, in welchem Sinne man überhaupt von
einer Geschichte des Begriffs sprechen darf; und wie gerade
diese historische Methodik die Einsicht erhärtet und befestigt,
daß die geschichtliche Betrachtung auf begrifflicher Voraus-
setzung bereits basiert ist. Einen Begriff in geschichthcher
Entwickelung zu verfolgen, fordert als Voraussetzung den Be-
griff selbst schon in dem Sinne, daß seine Sphäre im Konti-
nuum der Erkenntnis distinkt bestimmt ist und als Aufgabe
die Untersuchung, in welcher Weise sich das geschichtliche
Denken des von jener begrifflichen Sphäre umschlossenen
Wahrheitsgehaltes bemächtigt. Diese Unterscheidung von Vor-
aussetzung und Aufgabe der begriffsgeschichtlichen Unter-
suchung, die wohl nur der wissenschaftlich nicht bewährte
Verstand etwa mit der scholastischen Unterscheidung von
Nominal- und Realdefinition verwechseln kann, ist die oberste
Bedingung der Untersuchung selbst.
In der Tat hat die Geschichte der Philosophie von dem
Augenblick an, da sie als Wissenschaft auftreten konnte, diese
Methodik gehandhabt. Diese ist ebenso charakteristisch für die,
wenn auch in vieler Hinsicht noch ohne genaue Einzelkenntnis
der geschichtlichen Gegenstände verfahrende, aber großzügige
Forschung Hegels auf dem Gebiete der Geschichte der Philo-
sophie, wie sie bestimmend ist für die gerade mit philologischer
Einleilung. 5
Genauigkeit liebevoll dem Einzelnen zugewandte historische
Arbeit eines Schleiermacher und eines Boeckh. In der beide
Tendenzen zusammenfassenden Schule Hegels tritt, soweit sie
an historischer Forschung beteiligt ist — und das ist in der
Lebensarbeit eines Kuno Fischer und eines Eduard Zeller in
großartiger Weise der Fall — dieser methodische Zug mit voller
Deutlichkeit zutage. Was seitdem auch an geschichtlicher
Arbeit weiter geleistet worden ist, nirgends läßt sich der syste-
matische Grundzug verkennen. Und je schärfer er hervortritt,
um so bedeutsamer ist die Leistung, mag es sich dabei um die
allgemeine Geschichte der Philosophie handeln, wie in Wilhelm
Windelbands Lehrbuch, das ausdrücklich eine Geschichte der
Probleme gibt, oder um die Behandlung eines einzelnen Denkers,
wie etwa in Hermann Cohens Kant- Werken, die gerade den
bleibenden Gehalt der Kantischen Lehre zu ermitteln be-
strebt sind.
Die Methodologie gibt darum auch die Rechtfertigung da-
für, daß die historische Forschung geradezu bestimmte Begriffe
zu ihrem Gegenstande wählt. Eine solche spezielle Unter-
suchung wird auch hier angestrebt. Wenn ich den Begriff der
Substanz zum Gegenstande einer besonderen Untersuchung
mache, so geht aus den bisherigen Bemerkungen bereits der
allgemeine Charakter der Untersuchung hervor. Es bleibt zu-
nächst nur noch zu ermitteln, was aus der allgemeinen Be-
stimmung für die Besonderheit des vorliegenden Problems folgt.
Dabei bedarf es zunächst wohl kaum der Restriktion, daß
es sich für mich nicht um das Wort «Substanz», sonderneben
ganz allein um den Begriff der Substanz handelt. Die all-
gemeinen Darlegungen dürften bisher schon zur Genüge klar-
gelegt haben, daß ich eine begriffsgeschichtliche, nicht eine
sprachgeschichtliche Untersuchung anstrebe. Daß diese dabei
sprachgeschichtlich für die Anfänge des philosophischen Denkens
wenigstens für unseren Kulturkreis auf die griechische Philosophie
verwiesen ist, deren Sprache doch das Wort «Substanz» nicht
angehört, die aber den Begriff der Substanz entdeckt, — schon
diese eine Tatsache mag genügen, um hierin wenigstens jedem
Mißverständnis vorzubeugen.
6 Einleitung.
Dafür ist es aucli bemerkenswert, daß der Begriff der
Substanz für das philosophische Denken bereits seine bestim-
mende Bedeutung erhält, noch ehe sprachlich eine exakte
Formulierung erreicht wird. Denn auch die Unterscheidung
zwischen dem Begriffe als solchem und der Formulierung des
Begriffes ist nicht außer acht zu lassen. Wir werden daher
im Einzelnen der geschichtlichen Untersuchung, auch innerhalb
der griechischen Philosophie, um die allein es sich ja für uns
handelt, den impliziten Gebrauch des Begriffes der Substanz
vor seiner expliziten Formulierung antreffen. Er ist aber in
der formalen Bedeutung, die seine Sphäre innerhalb des all-
gemeinen Kontinuums der Erkenntnis umschHeßt, und die ihm
in diesem seine distinkte Stellung anweist, genau derselbe vor
seiner exakten Formulierung, wie in dieser und nachdem diese
erreicht ist. Jene Bedeutung ist es darum auch, die allein wir
voraussetzen müssen, um an ihrer Hand zu verstehen, wie das
geschichtliche Denken sich des von der Form umschlossenen
Wahrheitsgehaltes im Laufe der geschichtlichen Entwickelung
selbst kontinuierlich bemächtigt.
Für die historische Untersuchung ist darum, lediglich aus
den entwickelten methodologischen Gründen die explizite For-
mulierung selbst notwendig. Und lediglich um der Klarheit
und Schärfe der begrifflichen Bestimmung willen, also eigent-
lich nur aus didaktisch-technischen Gründen tun wir gut, die
Untersuchung von vornherein an der exaktesten Formulierung
zu orientieren. Diese aber ist erreicht in der kritischen Phi-
losophie. Wir greifen damit unserer eigentlichen Einzelunter-
suchung schon deshalb, weil sich diese gar nicht bis in das
Zeitalter der kritischen Philosophie erstreckt, nicht vor. Ihr
dient vielmehr diese Formulierung nur als Orientierungstafel,
oder, wenn man lieber will, als Richtlinie der iLie&obo^, als
Wegweiser. Von der geschichtlichen Erarbeitung des Wahr-
heitsgehaltes wird damit noch nichts vorw^eggenommen ; ja die
exakte Gestaltung der FormuHerung müßte selbst erst in ihrer
historischen Bedingtheit deutlich werden. Und weil sie in der
Tat nur die genaueste Präzision betrifft, so dient sie nur dazu,
gerade die formale Identität des Begriffes im Laufe der für uns
Einleitung. 7
in Betracht kommenden geschichtlichen Entwickelung inner-
halb der griechischen Philosophie festzuhalten, um an seiner
formalen Identität den Begriff selbst immer wieder zu erkennen
und so die inhaltliche Bereicherung, die das Denken geschicht-
lich aus der Analyse seines Inhaltes gewinnt, zu verstehen.
Wenn wir uns, zunächst in diesem rein formalen Sinne,
an die präziseste Fassung des Substanzbegriffes wenden, so
können wir uns an die bekannte Formulierung halten, daß die
Substanz das Bleibende und Beharrliche in allem
Wechsel der Erscheinungen sei. Um diese logische Vor-
aussetzung von der Aufgabe der Einzeluntersuchung, wie vor-
hin für die begriffsgeschichtliche Forschung überhaupt, so
jetzt für unser bestimmtes Problem, scharf abzugrenzen, können
wir die Aufgabe unserer Arbeit in der F'rage ausdrücken:
Was ergibt sich der geschichtlichen Denkarbeit als das Beharr-
liche in allem Wechsel? Hier wird deuthch, daß wir von dem
Inhalt dessen, was das Beharrliche in allem Wechsel denn nun
eigentlich ist, noch nichts vorweggenommen haben, daß wir also
vielmehr mit der Bestimmung der Substanz als des in allem
Wechsel Beharrenden in der Tat der Substanz im Erkenntnis-
zusammenhange überhaupt nur jene diskrete Stelle augewiesen
haben, die wir ihr logisch-methodologisch erweise anweisen
mußten, um im Einzelnen der Untersuchung von ihr aus die
inhaltliche Bestimmtheit ermitteln zu können.
Und alles, was wir einleitenderweise zunächst noch über
jene Bedeutung des Beharrlichen im Wechsel zu bemerken
haben werden, dient allein seiner formalen Bestimmung, nicht
etwelcher inhaltlichen Ermittelung. Das heißt: es gilt jetzt
nur noch, die Beharrlichkeit im Wechsel als solche, nicht das
«Was» des Beharrlichen, schärfer zu präzisieren, um, abermals
wenigstens in formaler Hinsicht, sie von anderem Beharrlichen zu
unterscheiden. Das Beharrhche in allem Wechsel ist nicht das
Einzige bei allem Wechsel Beharrliche, dem Wechsel Ent-
rückte. Es kommt genau auf die Bestimmung des «In allem
Wechsel Beharrlichen» an; das «In» ist das Entscheidende.
Alle Grundlagen des Wechsels der Erscheinungen wechseln selbst
nicht, weil sie eben schon für den Wechsel als Grundlagen
8 Einleitung.
vorausgesetzt sind. So wechseln reiner Raum und reine Zeit
nicht, weil in ihnen der Wechsel ist. Aber sie sind nicht das
Beharrliche im Wechsel, sondern der Wechsel ist in ihnen.
Ebenso wechselt nicht, sondern beharrt die Kausalität als Ge-
setz, die Identität als das Maß des Wechsels. Aber sie beharren
nicht im Wechsel, sondern über oder an dem Wechsel, insofern
dieser sich nach ihnen vollzieht. Das Spezifische der Substanz
liegt also in ihrer Bestimmtheit als das i n allem Wechsel Blei-
bende. Es ist das, was in den Wechsel selbst hineingezogen
ist, nicht bloß insofern der Wechsel in ihm stattfände, wie in
Raum und Zeit, auch nicht, insofern es, wie die Kausalität das
Gesetz, oder wie die Identität das Maß des Wechsels wäre,
sondern insofern es das Wechselnde selber ist. Aber es
ist das Wechselnde, nicht der Wechsel. Es ist ebenfalls all-
gemeine Grundlage des Wechsels. Als solche allgemeine Grund-
lage wechselt es selber freilich nicht. Aber es muß wechseln,
da der Wechsel nicht sein könnte ohne das, an dem er sich
vollzöge. Und das, was wechselt, muß, um wechseln zu können,
selbst sein, bleiben und beharren. Das Beharrliche in allem
Wechsel beharrt und wechselt zugleich in eigentümlicher lo-
gischer Dialektik. Als allgemeine Grundlage des Wechsels be-
harrt es im Wechsel und wechselt selbst nicht. Insofern es
aber als allgemeine Grundlage auch die bestimmte Bedeutung
hat, im Wechsel zu beharren, muß es das sein, an dem aller
Wechsel sich vollzieht, zum Unterschiede von dem, worin und
wonach er sich vollzieht. Es muß wechseln; das bedeutet
nicht, daß es wechselte in seinem Beharren, sondern beharrt
in seinem Wechsel, beharrt, um wechseln zu können.
Die im Begriff der Substanz angelegte Dialektikt hat ge-
schichtlich zu den verschiedensten Wertbeurteilungen ge-
führt. Bald galt der Begriff als Universalmittel, um alle
Rätsel zu lösen, bald als eben jenes charakterlose philosophische
Mädchen für alles, das nichts zu leisten vermag und alles zu
leisten verspricht, und das man je eher, desto besser aus dem
Dienste entlassen sollte. Zu einer richtigen Würdigung des
wissenschaftlichen Wertes dieses Begriffes, wie der Grenzen seiner
Leistungsfähigkeit aber wird gerade die scharfe Unterscheidung
Einleitung. 9
zwischen dem Beharren im Wechsel und dem Wechsel im Be-
harren verhelfen. Sie wird implizite bereits auch in den ersten
Anfängen des philosophischen Denkens, freilich in der naivsten
Weise gehandhabt, um im steten Deukfortschritt weitergeführt
zu werden, bis sie rein begrifflich gefaßt und im Begriffe selbst
befestigt wird.
In diesem Sinne verfolgen wir den Begriff nun durch die
Geschichte der griechischen Philosophie bis zu deren Blütezeit.
Die geschichtlichen Versuche, den Begriffsgehalt zu ermitteln,
sind unser Gegenstand. Ist der Begriff als solcher auch, um
mit Piaton zu sprechen, dem Reiche der five(J\q, entrückt, so
verläuft in deren Bereiche doch der kontinuierliche Fortgang
der Erkenntnis. Unser Problem bestimmt sich darum genau
als der Begriff der Substanz in der geschichtlichen Entwicke-
lung seiner Erkenntnis innerhalb der griechischen Philosophie
bis zu deren Blütezeit, in deren Epoche unser Problem die
größte Vertiefung innerhalb des ganzen antiken Denkens ge-
funden hat.
10
Erstes Kapitel.
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniern.
Der SubstanzbegrifF begegnet uns bereits auf den frühesten
Anfängen des philosophischen Denkens. Lange also vor der
geschichtlichen Erscheinung des Sokrates findet er im Laufe
der ersten vorsokratischen Entwickelung der Philosophie, deren
wesentlichster Gehalt und Umfang uns jetzt in Diels' Ausgabe
der Fragmente der Vorsokratiker in mustergültiger und für die
philosophiegeschichtliche Forschung richtunggebender Weise zu-
gänglich gemacht ist, eine bereits wissenschaftlich brauchbare
Formuherung. Zunächst freilich hat der Begriff nur einen
impliziten Gebrauch. Dieser schreitet aber bis zu seiner For-
mulierung kontinuierhch fort. Aus den einfachsten Anfängen,
da er in der impliziten Anwendung noch ganz in der Sphäre
der Anschauung verbleibt, nähert sich diese Anwendung in
stetigem Fortgange der begrifflichen Fassung, die, nachdem die
Formuherung bereits vor Sokrates gewonnen, in Sokrates' größerem
Schüler Piaton den begrifflichen Höhepunkt innerhalb der Plii-
losophie des Altertums erreicht, um nach diesem Höhepunkte
eine Weite der Anwendung im Aristotelischen Denken zu finden,
die ihre beherrschende Bedeutung nicht nur für das ganze aus-
gehende Altertum, sondern aucli für das Mittelalter bis in die
neue, ja neueste Zeit behaupten sollte.
Den ersten impliziten Gebrauch des Substanzbegriffes aber
treffen wir in der Geschichte des Denkens im Altertum da an,
wo uns überhaupt die ersten Ansätze zu naturphiloso})hisc]ier
Betrachtungsweise begegnen.
Das Eigenartig- Neue und Bedeutsame, das bei aller Naivität
des Denkens dieses Denken doch als wissenschaftlich wertvoll
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniern. 11
charakterisiert, das ist, zunächst negativ ausgedrückt, seine Los-
lösung von der Welt der Mythologie und, positiv ausgedrückt,
seine Hinwendung zur Welt der erfahrbaren Wirkhchkeit, zur
Natur. In allem Phantastischen, das der neuen Weltanschauung
anhaften mag, ist ein tiefer Natur- und Wirklichkeitssinn le-
bendig. Das gilt es von vornherein zu beachten, um dem philo-
sophischen Denken in seiner primitivsten Form gerecht werden
zu können. Über dem, was uns heute mit Recht als primitiv
und kindlich anmutet, übersieht man nur allzuleicht, was in
dem Primitiven an Neuem und für die geschichtliche Entwicke-
lung Bedeutsamem wirksam ist.
1. Wenn Thaies lehrt, daß das Wasser das Prinzip der
Dinge ist^, so mag uns das, wenn wir diese Behauptung an der
heutigen naturwissenschaftlichen Begriffsbildung messen, freilich
als eine, wie Clemens Bäumker^ sich ausdrückt, «mißglückte
naturwissenschaftliche Hypothese» erscheinen. Allein, daß das
darum «nichts als eine mißglückte naturwissenschaftliche Hypo-
these» sei, das ist doch nicht zutreffend. Möchte es auch in
Hinsicht auf das für Bäumker in Frage stehende Problem der
Materie gelten, für das allgemeine Substanzproblem ist die Ge-
ringschätzung schon nicht mehr gerechtfertigt. Denn ganz all-
gemein genommen kündigt jene naive Ansicht doch die bedeut-
same Tendenz des Denkens an, die natürlichen Einzeldinge nicht
mehr aus einer weit- und naturfremden, übernatürlichen Welt
der Mythologie verstehen, sondern eben auf natürlichem Wege
erklären und begreifen zu wollen. Es ist die Tendenz des
Verstehen- und Begreifen wollens überhaupt zum Unter-
schiede von der bloß mythologischen Erdichtung des Weltzu-
sammenhanges, was der scheinbar so kindlichen Ansicht des
Thaies eine wahrhaft geschichtliche Bedeutung gibt. Sehr
treffend sieht, im Gegensatz zu Bäumker, das Bedeutsame dieser
Anschauung auch Riehl in dem «Bruch mit der vorangegange-
' Arist. Met. I, 3,983 b . . . 0aXfi<; ,udv ö rfn; TOiaürrn; dpxilTÖ'^ qpiXoao-
9101; öbujp eivai q)ri(Jiv. S. auch die S. 13 Anm. 1 zitierten Stellen bei Stob.
Ekl. I, 290 und Plut. I, 3,2.
^ Clemens Bäumker, Das Problem der Materie in der griefhischen l'hi-
losophie. Eine historisch-kritische Untersuchung. S. 9.
12 1. Kapitel.
neu, rein mythologischen und allegorischen Naturbetrachtung»
und in dem «Beginn eines sich auf sich selber stellenden Denkens»
«Statt auf einen von der Phantasie ersonnenen — werden
die Bildungen in der Natur auf einen den Sinnen gegebenen
und erforschbaren Grund, einen Grundstoff zurückgeführt.»^
Das ist zunächst im allgemeinen das Bedeutsame der Lehre
des Thaies, daß das Wasser die dpxi'i der Dinge ist. Ob nun,
wie man nach den vorhin zitierten Worten des Aristoteles an-
nehmen könnte, Thaies auch den Ausdruck ,apxn' schon
gebraucht hat, oder ob dieser, wie es nach Simplikios^ scheint,
erst auf Anaximander zurückgeht, das ist zunächst für die
begrifi'liche Bedeutung der Sache irrelevant. Für diese aber
wird sodann weiter bedeutsam, daß es sich um ein Prinzip
handelt, um eine einheitliche Natur, cpuaiv luiav^, um das Eine
schlechthin, tö ev.* In formaler Hinsicht ist also schon die auf
ein Prinzip gerichtete Fragestellung von Bedeutung, insofern
in ihr die Forderung einer einheitlichen Erklärung enthalten
ist. Diese Bedeutung des Thalesschen Prinzips hat man stets
allgemein anerkannt.'' Daß er die dpxri aber im uöuup erblickt, das
heißt : material auch die Antwort, die er auf seine Fragestellung
gibt, ist nicht minder bedeutsam. Dadurch, daß er sich, wie
vorhin ausgeführt, von der mythologischen Vorstellungsweise
befreit und eine Antwort sucht, durch die er wenigstens glaubt,
die AVeit der Wirklichkeit begreifen zu können, durch seine
Tendenz nach Begreiflichkeit der cpucrig also, die ihm nun auch
eine physische Grundlage vermitteln soll, wird ihm sein Einheits-
prinzip zugleich zum logischen Erklärungsprinzip, wie zum
physischen Entstehungsprinzip. Diese drei Funktionen — Ein-
heitspnnzip, Erklärungsprinzip, Entstehungsprinzip — seiner
dpxn haben wir zu beachten, wollen wir ihre ganze geschicht-
^ Alois Rielii, Zur Einfiilnung iii die Philosophie der Gegenwart, S. 11.
2 Simpl. Phys. 5i4 (zitiert unten S. 15, Anm. 1), vgl. Windelband, Lehr-
budi der Geschichte der Philosophie, S. 27.
" Arist. Met. ebenda.
* Arist. Met. I, H,984a.
6 Auch Bäumker, a. a. O. ol)enda, der damit IVoilicli die Ikdoulung für
erschöpft hält.
Die Anfänge der Nalurphilosophic bei den loniern. 13
liehe Bedeutung ermessen. Um die Leistung des Thaies auf
einen kurzen Ausdruck zu bringen, kann mau sagen: Ihr
Wert liegt in einer Forderung, nämlich der Forderung prinzi-
piell-einheitlicher Naturerklärung. Das Wasser soll ihm diese
Forderung erfüllen. Es gilt ihm als der einheitliche Grund-
stoff aller Dinge. Sie gehen aus ihm hervor, und lösen sich
in das Wasser wieder auf.^ Wie Thaies sich die Verwandlung des
Wassers in die Dinge und der Dinge in das Wasser gedacht, darüber
geben uns die Berichte keine Aufklärung. Die wechselnden
Zustände scheinen vielmehr einer wohl als selbstverständlich an-
genommenen Aktivität und inneren Lebendigkeit des Grund-
stoffes zugeschrieben zu werden, der als solcher bleibt und nur
eben in seinen Zuständen kraft seines eigenen Wesens wechselt,
insofern er, wie beim Magneten, die Bewegung auf eine innere
seelisch gedachte Kraft zurückführt.^
' Stob. Ekl. I, 290. dpxriv tujv övtoiv dTTeq)rivaTO tö öbujp, eE übaroi;
YÖp irdvTa eivai koI eiq übiup ävaXueaöai; vgl. auch in genauer Überein-
stimmung Plut. Plac. I, 3,2.
^ Arist. de an. I, 2,405 a. eoiKe b^ Kai 0a\f|<; il luv duoiiivriiuoveOouöi
KivrjTiKÖv Ti Triv vuxnv liiToXaßeiv, emep xöv XiOov ecpr) MJUxrjv ^x^iv, öxi töv
öibrjpov Kivei.
Die Annahme Cic. de nat. deo. I, 10,2.5: aquam dixit esse initium rerum,
Deum autem eam mentem quae ex aqua cuncta fingeret, weist Zeller (Die
Philosophie der Griechen, I, S. 177) treffend unter Hinweis auf Arist. Met. I,
3,984 a/b zurück, wonach die ersten Naturphilosophen neben ihren Grundstoff
gerade nicht noch ein besonderes Bewegungsprinzip gestellt. Es ist jedenfalls
durchaus richtig, wenn Zeller meint, daß Thaies die Dinge aus seinem Prin-
zip «ohne Dazwischenkunft eines weltbildenden Geistes» erzeugt dachte (a. a. 0.,
S. 179). Daß er dai-um aber den «Götterglauben seines Volkes noch geteilt»,
geht daraus doch nicht hervor; viel eher das Gegenteil. Wenn es freilich
Arist. de an. I, 511a heißt: Kai ^v tlui öXaii be xivei;, aÖT^v (seil: vv^Xnv) ne-
laixöai qpaaiv, ööev iovjc, Kai QaXY\c, mr\dr\ ndvTa irXripri deüuv elvai, so darf
man aber von vornherein, worauf Bäumker (a. a. 0., S. 10) richtig aufmerksam
macht, die Zurückhaltung, die in dem «vielleicht» liegt und die auf die Lehre
des Thaies bezogen, die aristotehsche Auffassung als «eine bloße Vermutung»
erscheinen läßt, nicht übersehen. Sodann dürfte gerade die Ansicht, daß
«alles voll von Göttern» sei, nicht mit dem «Götterglauben seines Volkes»
zusammenstimmen. Und wenn, wie Zeller (ebenda) annimmt, Thaies in der
Tat «von einer Weltseele nichts gewußt», so ist doch der Begriff der «Welt-
seele» nicht dazu ei-fordert, um die Welt al^ Einheit zusammenzufassen. Daß
14 1. Kapitel.
In dieser dpxn liegt also implizite die erste und elementarste
Anwendung des Substanzbegriffes vor. Insofern das Wasser
der Grundstoff der Natur ist, aus dem alle Dinge entstehen,
wird es selbst als bleibend und beharrlich gedacht. Insofern
es sich in die Dinge und die Dinge in es selbst zurückver-
wandeln, v/ird es zugleich zum Träger der Veränderung in der
Natur, an dem sich der Wechsel des Geschehens vollzieht. Es
ist das, an dem das Geschehen stattfindet. Freilich bleibt dabei
der Substanzbegriff noch durchaus in der Sphäre der sinnlichen
Anschauung ; und die logische Funktion der Substanz muß das
AVasser als ein bestimmter empirischer Stoff übernehmen. Aber
dieser Stoff ist doch von vornherein nicht ein Stoff unter
Stoffen, sondern aller einzelnen stofflichen Gestaltung einheitliche
Grundlage, und ausdrücklich als der «allumfassende» gesetzt.^
Er hat die Funktion, Beharrlichkeit und Wechsel miteinander
zu verbinden, und so unzulänglich die Denkweise in natur-
wissenschaftHcher Beziehung ist, so naiv unter logischem Be-
tracht das Verbleiben des Begriffes in der Sphäre der An-
schauung sein mag, in ebendiesem logischen Fehler verbirgt
das möglich ist auch ohne den Begriff der «Weltseele», dafür wäre gerade die
Lehre des Thaies ein Beleg, wenn er in der Tat den Begriff der Wellseele
nicht gehabt. Und daß er die Welt als Einheit gefaßt, das eben liegt in seiner
ganzen Einheitslehre und geht aus den Berichten des Arist. besonders Met.
I, 3,983 b und 984 a .seilest hervor. Wenn ihm darum die Welt lebendig und
voll von Göttern war, so wäre das selbst ganz allein im Sinne seiner Einheits-
ichre, also pantheistisch, nicht im Sinne des Götterglaubens seines Volkes,
polytheistisch, zu verstehen. Sein eines Prinzip ist von sich selbst aus bewegt,
tätig, göttlich. Darum bedarf es eines besonderen weltbildenden Gottes als
Bewegungsprinzip nicht. Ebendeshalb sind die einzelnen Üinge «Götter», nicht
als besondere weltbildende Mächte, sondern als Formen des einen göttlichen
Urprinzips. — Was aber des Thaies Stellung zur Volksreligion anlangt, so sei,
ohne daß wir näher auf dieses Verhältnis hier eingehen können, im Voi-bei-
gehen doch soviel bemerkt, daß, was Edw. Caird über das Verhältnis der
griechischen Philosophen überhaupt zur Rehgion ihres Volkes bemerkt, auch
für Thaies gilt, nämlich: daß ihnen die Volksreligion ziemhch gleichgültig ge-
wesen ist. Vgl. Edw. Caird, The Evolution of Theology in the Grcek Philo-
sophers I, S. 55.
' So ist das «-rtdvTa» in dem il übaroc; Trävxa elvm oben zu verstehen.
Siehe Zeller, a. a. 0., S. 175.
Die Anfänge der Naturphilosophie hei den loniern. 15
sich doch die für das Substanzproblem gerade logisch unge-
mein wertvolle Tendenz, den Begriff auf die Anschauung zu
beziehen. Mag der Wert auch immerhin in einer bloßen Ten-
denz liegen, als solche ist diese doch von der größten Bedeutung.
Denn gerade sie ist es, auf Grund deren das Denken aus der
Sphäre der bloßen Phantasie heraustritt, um sich des realen
Gehaltes der empirischen Wirklichkeit zu bemächtigen. Diese,
wenn auch zunächst nur implizite vorliegende, Beziehung von
Anschauung und Begriff ist das Bedeutsamste und Tiefste, das
sich in der Denkweise des Thaies enthüllt, und das auch den
tiefsten Kern erst jener vorhin besprochenen Abwendung vom
Mythischen und der Hinwendung zum Natürlichen enthält.
Jene Abwendung und diese Hinwendung sind an sich freilich
schon bedeutsam genug, um in der Auffassung des Thaies
nicht bloß eine verfehlte Hypothese zu sehen. Sie bezeichnen
deren geschichtlichen Wert. Tiefer und bedeutsamer aber als
dieser geschichtliche Wert ist das, was den geschichtlichen Wert
erst gründet. Das ist der logische Wert. Dieser aber besteht
in der wie unvollkommen auch immer vollzogenen und nur im-
plizite angewandten Beziehung des Begriffes auf die Anschauung,
wie sie in dem die Funktion der Substanz erfüllensollenden
einheitlichen Grundstoffe des Thaies vorliegt. Denn dieser ist
ihm der begriffliche Einheitsgrund für die Totalität der in der
Wahrnehmung gegebenen anschaulichen Einzeldinge.
2. Entrückt wird aber die Substanz der Anschauung und
Wahrnehmung, und zwar so, daß sie doch bestimmend für
diese bleibt, bei Anaximauder, dem, wie schon bemerkt, Sim-
plikios^ die erste Namengebung der dpxn zuschreibt. Denn ihm
wird die dpxn zum Unendlichen, zum direipov.^ Hier kündigt
sich das ungemein bedeutsame gedankhche Motiv an, die un-
endliche Fülle des der Wahrnehmung gegebenen Wechsels der
Erscheinungen, aus einem im Wechsel sich nicht erschöpfenden
1 Simpl. Phys. 24. ... irpOÜTO^ Toüvojaa KO|nicra^ Tf|^ «PX*!"^; • • • vgl.
Hippol. Ref. I, 6 . . . upiJjTOC, Touvo|ua KaMaaq Tr\c, dpxn«;.
- Arist. Phys. III, 4,203 b. Siehe besonders auch Stob. Ekl. I, 292 und in
genauer Übereinstimmung Plut. Plac. I, 3. qpriai Trjv tujv ö'vtuuv äpxnv
eivai TÖ ctTreipov.
16 1. Kapitel.
und darum im unendlichen Wechsel selbst unendlich beharren-
den Urgründe zu begreifen.
Wie bei Thaies ist das zunächst das Bestimmende, daß sich
alles Geschehen aus dem einen Urgründe muß begreifen lassen.
Dieser ist alles, und alles ist doch aus ihm.^ Alles entsteht
darum aus dem Unendlichen; aber da das Entstandene auch
vergeht, muß seine Vernichtung nicht eine absolute, sondern
selbst eine Rückkehr zum Unendhchen bedeuten.^ Insofern
es also jegliche Ursache alles Entstehens und Vergehens in
sich selbst hat^, allem Entstehen und Vergehen also schon zu-
grunde liegt, muß es selbst jenseits aller Vergänglichkeit stehen,
unge worden und unvergänglich'^, «unsterblich und uuzerstörlich»
sein. In dieser Behauptung der Ungewordenheit und Unzer-
störlichkeit des einheitlichen Urgrundes wird Anaximander be-
stimmend auch für die weitere antike Naturphilosophie^ über-
haupt, wie für das Substanzproblem insbesondere. Denn das
ist das Entscheidende, das zugleich auch seinen gewaltigen Fort-
schritt über Thaies hinaus bezeichnet, daß er die Forderung
der Unendlichkeit seiner dpxn gerade mit Rücksicht auf das
Geschehen stellt. Das logische Motiv nämlich, aus dem er
seinen einigen Urgrund als unendlich setzt, ist gerade das, daß
er den Wechsel und das Geschehen selbst zu tragen hat. Ist
er die Ursache alles Geschehens, geht aus ihm alles hervor und
kehrt zu ihm alles zurück, so muß er unendlich sein, damit
er sich im Prozeß des Geschehens und damit das Geschehen
selbst nicht aufhebe und auflöse.*^ In dem einen Unendlichen
1 Arist. Phys. III, 4,!203]i. äiravTa Tap n ^PXn n ^^ «PX»!?-
- Stob. a. a. 0. el)enda und wörtlich Plut. a. a. 0. ebenda. 'Ek y«P
TOÜTOU TÖ TzdvTu ^i^veobm Kai dq toöto -ncivTa cpüeipeööai.
'^ Plut. Strom. 12 (Dox 579; Tliophr. .s. Diels, «Die Fragmente der Vor-
sokratiker» I, S. 13) .ued' ov 'Avatijuavbpov OciXriToq ^xaTpov Yevö|nevov tö
äireipov cf)dva\ Tr\v näoav aixiav ^x^iv xPii; xou travxöq ^evioewq xe xal
cpöopäi; . . .
■* Arist. a. a. 0. ebenda, exi be Kai oY^vrjxov Kai acpOapxov ihc, öpxn
xk; ovoa.
5 Arist. ebenda. äOdvaxov yäp Kai dvübXeOpov, wc, qpriöiv ö 'Ava£i|.iavbpO(;
Kai ol iT\eiöxoi xuiv q)uöioXÖYUJv.
•5 Stob. a. a. 0. ebenda und ebenso Plut. a. a. 0. ebenda. Xerei oijv öxi
ätreipöv iOTiv, Iva jarjb^v dXXeitTni n yiveaic, y] uqpiöOaia^vri.
Die Aiilnnge der Nalurpliilo.soi»liie bei den loniern. 17
imd seiner unendlichen Beharrlichkeit wird also der Wechsel
des Entstehens selbst verankert und gegründet. Um bleibende
Grundlage alles Wechsels zu sein, muß es unendlich, allem
Wechsel selbst entrückt sein. Ebendarum weil es jeghche
Ursache für diesen in sich hat, kann es keine Ursache außer
sich und kein Prinzip über sich haben. ^ Es ist das schlechthin
letzte und höchste Prinzip und allumfassend.
Wenn das Allumfassen (TrdvTa Trepiexeiv) des Unendlichen
darum kein Prinzip über und keine Ursache außer diesem zu-
läßt, weil es «jegliche Ursache für jegliches Entstehen und Ver-
gehen in sich selbst hat», so ist seine Wirksamkeit, die eben
eine Allwirksamkeit ist, folgerichtig eine immanent notwendige.
Nicht von etwas außer ihm bestimmt, gleichsam von außen ge-
trieben, sondern von innen heraus, gleichsam aus innerem
Bedürfnis ist es alles, ist alles aus ihm, geht alles aus seiner
Notwendigkeit aus ihm hervor und kehrt in es zurück^. Also
wird nicht nur alles Geschehen, sowohl als Entstehen wie auch
als Vergehen, auf das d'Treipov überhaupt gegründet, und nicht nur
wird das Vergehen nicht als ein absolutes, sondern als ein
Wiedereingehen in das Unendliche gedacht, vielmehr alles Ge-
schehen wird sowohl in der Form des Entstehens wie in der
des Vergehens auf immanent notwendige Wirksamkeit des Un-
endlichen gegründet. Das ixavTa Ttepiexeiv und das Trdaav aiiiav
exeiv i\]<; toO -rraviö^ fevioeujc, le Kai (pöopd(j wird durch das
Ktttd TÖ xpeiJ^v bestätigt, erläutert und erklärt. Wenn das direipov
so als Grundlage alles kosmischen Geschehens, der Welt und
der Ordnungen in der Welt gedacht wird^ so kann es selbst
nicht kosmisch sein. Denn die Grundlage alles Kosmischen
und das Kosmische selbst können konsequenterweise nicht zu-
sammenfallen. Das d'Treipov als Grundlage alles Kosmischen
muß also metakosmisch gedacht werden.
1 Arisl. a. a. ü. ebenda. Aio Kaöciirep XeYO|Liev, oü Tarnte, apxf], äW aürr)
TiJüv äWuuv elvai boKCv Kai irepiexeiv äiravTa Kai ircivTa Kußepväv, iX)c, cpaöiv
öaoi |Lir) TCOioOöi uapd tö äireipov aWac, ama^, oiov . . .
- Simpl. a. a. 0. ebenda, il ujv bi x] flveoiq iaxi toic, oucri, Kai Tiqv
qpdopäv de, Taöxa Yiveaöai Kard tö xpeibv. (Man beachte das xpeuuv!)
^ Simpl. ebend;!. . . . qpOaiv cxTreipov, It r\c, ä-navrac, f\v(.aba\ tovc, oOpa-
voOi; Kai iv aöxoTi; kögjuou?; vgl. Hippol. Ref. ebenda.
Bauch, Das Substanzproblem. 2
1^ 1. Kaiiilel.
Das Altertum aber kennt auf dieser Stufe des Denkens für
das Metakosmische keine andere Form als die religiöse, hat
darum auch keinen anderen Ausdruck dafür als den religiösen.
Darum muß für Anaximander das allumfassende, allwirksame
Unendliche zur Gottheit, zum Göttlichen werden. Es ist das
Göttliche schlechthin: tö ^Tov.' Damit erhält zugleich der von
dem ungewordenen, unvergängUchen, also ewigen Unendlichen
abhängig gedachte zeitliche Prozeß des Geschehens eine religiöse
Bedeutung und wird gedacht als ein Prozeß der Buße und
Vergeltung nach der Ordnung der Zeit.^ Diese religiöse Be-
stimmuug macht noch einmal die immanente Notwendigkeit,
um die es sich in der Allwirksamkeit des Unendlichen handelt,
so recht deutlich. Das Kaid tö xpeihv faßt also sowohl die All-
ursächlichkeit, wie die religiöse Weltgerechtigkeit zusammen.
Es bezeichnet, was sein muß und sein soll, verbindet das
Schicksal mit dem Geschehen zur Einheit. Wie später expH-
zite, so werden hier wenigstens imphzite dvdYKri und biKn ver-
einigt, die Notwendigkeit dem Unendlichen immanent und zu-
gleich religiös gedacht.
Ist diese metakosmische Bedeutung hier auch religiös be-
stimmt, so macht doch gerade diese religiöse Bestimmung nun
auch wechselseitig jene metakosmische Bedeutung selbst klar
und beweist, daß es sich eben um eine solche handelt. Das
d'TTeipov hat auch logisch etwas zu leisten, was kein der Wahr-
nehmung gegebenes Ding, kein Stoff der sinnhchen Welt,
weder das Wasser noch sonst einer zu leisten vermag. Diesem
Prinzip also kann sich kein bestimmter kosmischer Stoff ver-
gleichen-^; es ist nicht bloß ein Stoff unter Stoffen, oder auch
einer unter den übrigen später sogenannten, darum uns im
Kosmos selbst gegebenen Grundstoffen, sondern geradezu eine
andersartige Natur, eben die Natur des Unendlichen. Aus ihm
' Arist. Phys. ebenda.
■' Simpl. a. a. 0. ebenda, bibövm yäp oötü biKrjv Kai ximv ä\Xr)\OK Tf\c,
äbiKiac, KOTÜ Tr)v xoö xpövou xdEiv.
^ Simpl. ebenda. X^yei b' aürriv (seil, apxnv) mite öbiup unre äWo Ti
Tüüv Kokovixivvjv aToixeiuüv, oiW iTipav tivü cpOoiv ctTreipov . . . (hierzu die
Fortführung des Gedankens, s. S. 17 Anm. 3).
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniern. 19
gehen erst die einzelnen Stoffe hervor.^ Es kann also selbst
kein bestimmter einzelner Stoff sein, keine bestimmte einzelne
Eigenschaft haben, muß «qualitätslos» sein,^ Ebendarum kann
' Arist. Phys. III, 5,204 b. dWä |Lir]v othi 6v Kai äirXouv ^vb^x^Tai eivai tö
ctTteipov öu)|Lia, eure wq Xi^ovoi Tive«; tö irapct xd öxcixeia, iZ oö raOra Tevvujaiv,
oüy änXüx;. do'i ywp Tweq, oi toOto Troiouai tö äireipov, dW oök depa f] vbwp,
lü? }xr\ TdWa (pöeipHTai ijitö toö dtreipou auxiüv. ix^vai ydp tipöq aXh-\ka
^vavTiiuaiv, olov ö pev drjp vj)uxpö(;, tö b" vbwp iiypöv, tö be irOp öepjuöv. iliv
ei riv ev direipov, eqpQapTO dv rjbri TdWa. vuv b' gT€pov eivai (paaiv ii oö TauTC.
— Mit Recht bemerkt Zeller zu dieser Stelle, daß, so sicher die Form der
Begründung hier aristotelisch ist, die Lehre selbst, für die der Grund an-
gegeben wird, «ohne Zweifel» Anaximander angehört (a. a. 0., S. 210). In
aller Kürze tritt der Gedanke zutage bei Simpl. ebenda: ii ou (seil. toO
dTreipou) Td OTOixeia y^'^vuioiv.
- Theophr. bei Simpl. Phys., 154 . . . niav eivai qpüaiv döpiffTOv Kai küt
eiboc, Kai KttTd lueYeöo? . . ., vgl. auch Phys. 24 und Diog. Laert. II, 1. Wenn
Bäumker, a. a. 0., S. 12 bemerkt, «daß die ganz aristotelische Terminologie
Theophrasts beweist, daß er hier nicht so sehr historisch referiert, als viel-
mehr durch ein Ausdenken der Gedanken des Anaximander diese auf eine
den Begriffen der eigenen Schule entsprechende Formel zu bringen sucht»,
so macht er entschieden aus der richtig bemerkten terminologischen Situation
schon eine logische Aktion, was nicht angeht. Daß das Wort döpiOTOv aristo-
telisch (seine Spuren weisen übrigens schon auf Piaton) ist, das ist zwar durch-
aus richtig. Allein auf die logische Funktion folgt daraus nichts. Es bedurfte
in der Tat erst keines «Weiterdenkens», um die von Bäumker selbst zu-
gegebene Konsequenzlage, d. h. die Tatsache, daß die Qualitätslosigkeit des
ÖTteipov in der Konsequenz des Anaximandrischen Grundgedankens liegt, zu
ermitteln. Da es in Wahrheit aber nicht erst noch darauf ankommt, daß aus
diesem Grundgedanken die Quahtätslosigkeit des dTieipov als Konsequenz ge-
folgert würde, sondern diese eigentlich unmittelbar schon in der Auffassung
Anaximanders liegt, daß alle besonderen Dinge aus dem unendlichen Urgründe
folgen, so scheint der logische Gehalt, unbeschadet der sicher erst späteren
terminologischen Fassung, dennoch bei Anaximander zu suchen und die
später erfolgte terminologische Fassung nur eine besonders glückliche Form
für den Anaximandrischen Begriffsgehalt zu sein, zumal da ohne diese be-
grift'lichen Impulse von selten Anaximanders seine Lehre schwerlich in der
Überlieferung die terminologische Fassung hätte erhalten können. Viel eher,
als die spätere Terminologie gegen das logische Moment der «Qualitätslosig-
keit» spricht, läßt sich umgekehrt dieses für die Erklärung jener verwenden.
Dabei ist innerhalb des Begrifts der Qualitätslosigkeit schai-f zu unterscheiden,
ob dem direipov nicht bloß keine Qualitäten beigelegt werden, oder ob sie ihm
abgesprochen werden. Vgl. Zeller, a. a. 0., S. l'Jlff., auch J. Cohn, Geschichte
des Unendlichkeitsproblems im abendländischen Denken bis Kant, S. 14 f.
i>(l 1. Kapitel.
es auch nicht aus den einzelnen Stoffen erst zusammengesetzt
sein\ da es ihnen gegenüber das Primäre ist und diese aus
ihm hervorgehen. Sie sind in ihm alle bereits enthalten. In
diesem Sinne ist es «allumfassend»- und nur in diesem Sinne
kann es (s, u. Anm. 1 u. 3) als «Mischung» bezeichnet werden ; und
werden von ihm als solcher die «übrigen» Stoffe ausgeschieden.''
Fassen wir die Ansicht des Anaximander, um ihre Be-
deutung für das Substanzproblem ins rechte Licht zu setzen,
kurz zusammen, so können wir sagen: Mit Thaies teilt er den
^ Arist. Phys. I, 4,187 a spricht zwar von einem juiYMa; was darauf hin-
zudeuten scheint, daß er das ottteipov als Mischung der einzelnen Stoffe an-
gesehen. Auch Sirnpl. Phys. 1.54 scheint in derselben Weise darauf hinzuweisen.
Allein dem steht entgegen, daß damit der eigentliche Einheitsgedanke, der
die ganze Lehre Anaximanders beherrscht, und damit der Kern dieser Lehre
selbst aufgehoben würde. Weiter aber stehen dem Aristoteles' eigene Zeugnisse
entgegen. An eben der Stelle der Phys. spricht er von einem Enthaltensein und
einem Ausscheiden der Gegensätze aus dem Einen. Ferner hat Arist. Phys.
III, 4,203 b das äueipov selbst klar als allumfassend charakterisiert. Endlich
zeigt er uns, worauf Zeller, a. a. 0., S. 190 sehr richtig aufmerksam macht,
De caelo III, 3,302 a, welche beiden Momente er in dem Enthaltensein und
Ausscheiden unterscheidet, und damit fällt zugleich ein Licht darauf, wie wir
das luiYiaa Phys. I, 4,187 a, Met. XII, 2,1069 b u.a. zu verstehen haben. Es
handelt sich, wie Zeller ebenda treffend bemerkt, um die Unterscheidung eines
«potentiellen» und «aktuellen» Enthaltenseins. Die einzelnen Stoffe sind im
aireipov potentiell entlialten. Nicht ist jenes aus diesen aktuell gemischt.
Darum gehen sie aktuell erst aus ihm hervor durch Ausscheidung.
- Siehe S. 17, besonders Anm. 1, das Zitat aus Arist. Phys. 111, 4,203 b.
^ Arist. Phys. I, 4,187 a. ol b' Ik toO ivöq ivovoac, Td? ^vavtiÖTriTaq
^KKpivecrdai, löairep 'AvaEi|uavbp6^ (pr\ai Kai ööoi b' ev koI iroWd qpaoiv elvai,
lüöTTep 'EjaueboKXfiq koi 'AvaEaYÖpa^. dK toO jntYiuaTo? y«P Kai outoi ^KKpi-
vouai ToWa.
Wie nun dieses Hervorgehen sich vollzieht, und wie Anaximander sich
die Entstehung des Kosmos und der Welten im einzelnen denkt, das zu unter-
suchen fällt aus unserem engbegrenzten Thema heraus. Es gehört in die
Darstellung der allgemeinen Lehre des Anaximander und insbesondei-e in die-
jenige seiner Kosmologie. Darüber vgl. man besonders P. Natorj) (PhiJos.
Monatshefte 1884, S. 368 ff.). Über das Prinzip und die Kosmologie Anaximan-
ders; auch die allgemeinen historischen Darstellungen bei Zeller, a. a. 0.,
S. 207 ff., Windelband, a. a. 0., S. 40 f., Voriänder, Gesch. d. Philos. I, S. 22.
Von älteren Arbeiten siehe besonders Schleiermacher, Über Anaximandros
(S. W. III, 2, S. 171 ff.), Teichmüller, Stud. z. Gesch. d. Begr., S. 31 ff. und
Gruppe, Kosm. Syst. d. Gr., S. 35 ff.
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniern. 21
Einheitsgedanken, aber er geht in fruchtbarer und ertrag-
reicher Weise über ihn hinaus. Wenn er die Unendhchkeit
seines Prinzips fordert, so liegt in dieser Forderung der logisch
bedeutsame Gedanke, daß sich seine dpxn im Wandel des
Geschehens nicht auflösen dürfe, sodaß der Gedanke der
Beharrlichkeit im Wechsel des Geschehens in explizite ver-
schärfter und vertiefter Form zutage tritt. Weiter aber wird
die metakosmische Funktion des UnendHchen von besonderer
Bedeutung. Wenn diese zunächst auch in religiöser Form auf-
tritt, so macht gerade diese die Einsicht deuthch, daß das un-
gewordene, unzerstörliche unendliche Prinzip als Grundlage der
ganzen erfahrbaren Wirklichkeit nicht in dieser erfahrbaren Wirk-
lichkeit und ihren bestimmten Gegenständen zu suchen ist, daß
wir, abstrakt gesprochen, die Grundlage der Erfahrung nicht
selbst auf Erfahrung begründen können, weil das ein Zirkel im Er-
klären wäre. Die ursprüngliche, durch Thaies bereits inaugurierte
Hinwendung zur erfahrbaren Wirklichkeit wird also keineswegs
aufgegeben. Nur wird erkannt, daß deren Grundlage nicht mit
ihr selbst zusammenfällt. Der Zusammenhang mit ihr wird
gewahrt, und zwar der engste Zusammenhang, der möglich ist :
der der Grundlegung. Darum hat die apxn für Anaximander
die Bedeutung, alle Dinge der erfahrbaren Wirkhchkeit zu be-
dingen, ohne unter diesen selbst angetroffen werden zu können.^
Ebendeshalb muß sie von diesen und allen bestimmten Stoffen
prinzipiell verschieden sein, weil sie alle erst aus ihr hervor-
gehen sollen. Daß in diesem Sinne für Anaximander das Un-
endliche zur Substanz der Wirklichkeit und deren grundlegender
Bedingung wird, das ist der tiefste logische Ertrag, den sein
Denken am Substanzbegriffe zeitigt. Wie unvollkommen darum
auch immer der Begriff des Unendlichen als solcher gefaßt
sein mag, so ist es für unser Problem doch von der allergrößten
Bedeutung, daß er mit jenem Begriffe nicht nur eine vage
Grenzenlosigkeit überhaupt fordert, sondern diese darum setzt,
um seinem Prinzip auch die ewige Unerschöpflichkeit des ün-
gewordenen und Unvergänglichen zu sichern, wodurch es sich
' Vgl. Windelband. a. a. O., S. 28.
;22 I. Kapitel.
als das Beharrliche in allem Wechsel allein und wirklich aus-
zuweisen vermag.
3. Bei Anaximander erreicht das begriffliche Denken also
insofern bereits eine sehr bedeutsame Höhe, als er in dem der An-
schauung selbst entrückten Begriffe des Unendlichen die bleibende
Grundlage des anschaulichen Seins zu gewinnen sucht. Wenn
darum nun Anaximenes wieder in einem bestimmten Stoffe,
nämlich in der Luft, die dpxV der Dinge erblickt, so erscheint
das zunächst als ein Rückfall in die Vorstellungsweise des
Thaies. Wieder scheint doch hier ein empirischer Einzelstoff,
wie bei jenem, die Funktion des beharrlichen Substrates der
Dinge übernehmen zu sollen. Allein, näher besehen, soll wohl
die These des Anaximenes eher eine Synthese zwischen Thaies
und Anaximander sein. Und in letzter Linie ist das, was
Anaximenes Luft nennt, doch etwas anderes als das, was man
nicht bloß heute in wissenschaftlichem Sinne, sondern auch was
man selbst auf den ersten Anfängen der philosophischen Be-
sinnung im Altertum schon unter Luft verstand.- Denn nicht
allein legt Anaximenes seiner Luft das von Anaximander über-
' Arist. Met. I, 3,984 a.
- Zeller, a. a. 0., I, S. rJ20 macht dagegen und auch gegen die Auffassung
von Rittei", Geschichte der Philosophie I, S, 217 und Brandis, Handbuch der
Geschichte der griechisch-römischen Philosophie I, S. 144 unter Berufung auf
Hippel. Ref. I, 217 zwar geltend, daß nach A. die Luft «im reinen Zustande
unsichtbar, und nur durch die Empfindung ihrer Kälte, Wärme, Feuchtigkeit
und Bewegung wahrnehmbar» sei, und daß das «ja aber vollkommen auf die
uns umgebende Luft passe». Allein darum paßt doch, wenn auch einiges auf
diese paßt, doch noch nicht alles auf sie, was A. von seiner 6pxn-Luft be-
hauptet. Die Attribute der Unendlichkeit, der Allumfassenheit, der seelischen
Eigentümlichkeit unterscheiden A.s Prinzip doch ganz erheblich von unserer
empirischen atmosphärischen Luft. Nun ist ja freilich nicht anzunehmen, daß
er neben der empirischen Luft noch eine besondere metaphysische Luft
gesetzt hätte. Allein um die Luft zur bleibenden Grundlage der Dinge zu
machen, mußte er sie mit Oberempirischen, d. i. für ihn metaphysischen Prä-
dikaten aus.statten. Zellers Argument beweist also gegen Ritter und Brandis
nur die Unangängigkeit der Annahme einer gleichsam zweifachen fjuft, aber
nicht die Ununterschiedenheit des Anaximenes.schen Prinzips von der «uns
umgebenden Luft».
Die Anfänge der Naturphilosopliie hei den loniern. 2n
nommene Prädikat der Unendlichkeit bei.^ Vielmehr setzt er
auch seine Luft in Parallele zur Seele: Wie die Seele Luft
ist, und wie diese uns zusammenhält, so wird auch die Welt
und das All von der Luft umfaßt.^ Die Luft wird so zum allum-
fassenden Weltprinzip, bei dem man in der Tat an eine Art
von Weltseele, die aus sich heraus zugleich weltschöpferisch
ist, denken könnte.^
Was ihn aber veranlaßte, der Luft diese entschieden über-
empirische Bedeutung beizulegen, das ist die für das Substanz-
problem bemerkenswerte Überlegung, daß die Luft sich wegen
ihrer leichten Veränderbarkeit und Wandelbarkeit^ besonders als
' Arist. Phys. III, 4,!2031); vgl. auch de caelo III, 5,304 a/b und besonders
klar Simpl. Phys. 24 ... fiiav indv Kai aÖTÖq rr]v üuoKeiiii^vriv qpüöiv Kai
äueipov cpvow üjOTrep ^KeTvoi; (seil. 'Avati|uavbpO(;) . . .
'•* Fr. 2 (Diels Fragmeute der Vorsokratiker, S. 21 ; vgl. Plut. a. a. 0.
I, 3,6 und Stob. a. a. O. I, 296). oiov i'i vjjuxr) f] iqiaeTepa dnp oucia ouYKparei
r]|uäq, Kttl 8\ov TÖv kÖ(J]uov uveöiaa koi drip Tiepiexei.
■' Anaximenes darum aber, wie Roth (Geschichte der abendländischen
Philosophie II, S. 2.50 ff.) will, zum ersten Vertreter des Spiritualismus zu
machen, das geht, wie Zeller, a. a. 0., I, S. 22 richtig bemerkt, nicht an. Da-
gegen scheint es nicht so unannehmbar, wie Zeller meint, daß Anaximenes
sein Prinzip als göttüches angesehen habe. Cic. de nat. de. I, 10,26 ist freilich
in diesem Punkte für Anaximenes ebensowenig ein entscheidendes Zeugnis,
wie früher (s. S. 13 Anm. 2), I, 10,25, für Thaies. Allein hisloi'isch wäre eine
solche Ansicht des Anaximenes wohl verständlich, sowohl nach rückwärts, d. h.
nach dem Vorgang Anaximanders, sofern dieser sein ötTTeipov dem öeiov
gleichsetzte, wie nach vorwärts, wo es doch bezeichnend ist, daß von einem
späteren Fortbildner des Anaximenes, von Diogenes von Apollonia, der Luft
vernünftiges Denken beigelegt wird. — Diese Vernunftbestimmung wird, wenn-
gleich nicht gerade bei Diogenes v. A. selbst (über diesen vgl. P. Natorp,
Rhein. Mus. 1886, S. 348 ff.) später auch für das Substanzproblem in hervor-
ragender Weise von Bedeutung. — Sachlich nun würde eine solche Annahme
des Anaximenes auch die Parallelisierung der Luft mit der Seele in gewisser
Weise selbst nahe legen. Und wenn er nach Hippol. Ref. I, 7 auch Götter
und überhaupt Göttliches aus seinem Prinzip hervorgehen lassen konnte, so
drängt sich der Gedanke der Götthchkeit des Prinzips selbst ebenfalls auf.
Mögen wir immerhin in diesem Punkte bei Anaximenes noch nicht über Ver-
mutungen hinauskommen, so dürfen diese doch nicht ohne weiteres ab-
geschnitten werden; vgl. dazu auch Tannery Anax. et l'unite de substance
(Rev. philos. 1883, S. 621).
* Simpl. Seh ol. in ArisL., 5!4a. . . . o(ö|Lievo^ lipKeiv tö toO d^poc; eüa\-
XoüuTov itpöq jaeTaßoXrjv.
24 1. Kapitel.
Grundlage aller Diuge eigne und denken lasse, indem sie auch
immer in Bewegung ist.^ Wie nun Anaximenes sich im Ein-
zelnen das Hervorgehen der Dinge aus der Luft denkt —
Verdünnung und Verdichtung und auf ihnen beruhende Er-
wärmung und Abkühlung werden für ihn die ding- und welt-
bildenden Faktoren- — das gehört nicht in unseren Zusammen-
hang, sondern wäre Gegenstand der allgemeinen Geschichte der
Philosophie bezw. im speziellen auch der Kosmologie. Für unser
Problem aber ist es auch hier von Bedeutung, daß das blei-
bende Substrat der Dinge gerade mit Rücksicht auf seine Ver-
änderlichkeit zu ermitteln gesucht wird. Und wenn den Be-
stimmungen Anaximanders gegenüber auch der positive Ertrag
dieser Anschauungsweise gering erscheinen mag und sich an
Eigenbedeutung mit jenen vielleicht nicht vergleichen lassen
darf, so wird sich, was sieh auf den ersten Blick vielleicht als
ein Rückfall in die Denkweise des Thaies darstellt, genauerer
Prüfung doch als etwas anderes enthüllen. Ja, gerade unser
spezielles Problem kann es deutlich machen, daß sich hinter
jener scheinbaren Rückständigkeit ein ganz guter logischer Sinn
verbirgt. Indem ein Stoff, der zunächst in der Tat nur ein
bestimmter empirischer ist, mit den Mitteln des Anaximander
sodann aber eine metaphysische Erweiterung und Umbildung
erfährt, liegt hier in dem Substanzgedanken des Anaximenes
nicht nur rein historisch eine Synthese zwischen Thaies und
Anaximander vor, sondern zugleich auch logisch ein, wenn
auch mit untauglichen Mitteln unternommener Versuch, nicht
bloß den Wechsel der Erscheinungen in einem bleibenden durch
das reine Denken gesuchten Prinzip überhaupt zu begründen,
sondern die Begründung so zu führen, daß sich auch umge-
kehrt das im reinen Denken gesuchte Bleibende an der an-
schaulichen Tatsächlich keit bewahrheite.
4. Bedeutsamer aber als alle bisher besprochenen Denker
ist gerade für das Substanzproblem Heraklit. Und wenn wir
dafür auch nicht von allen Einzelheiten seiner Lehre und deren
* Hippol. a. a. 0. ebenda. Kivelööai hi Kai äei • oü fäp jaeTußäWtiv öaa
|Li£Taßd\\€i, ei ,ur) kivoito.
'' Arist. Phys. I, i, 187 a vgl. Plut. Strom 3 (üiels, Vorsokr. 1, 18).
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den louiern. 25
Gesamtumfange^ eine gleiche Förderung erhalten, so liegt eine
solche gerade in seinen bedeutendsten Grundbegriffen vor, auf
die also unsere spezielle Untersuchung zugleich angewiesen
wie beschränkt ist: Wenn HerakUt lehrt, daß alles in Bewegung'^,
in stetigem Fortgang sei und nichts bleibe-', in stetiger Bewegung
fließe"*, sodaß alles einem Flusse vergleichbar sei und daß man
nicht zweimal in denselben Fluß steigen könne", so erscheint
hier geradezu das Problem der Substanz in dem Verhältnis von
Bleiben und Wechseln formuliert, gerade indem scheinbar die
Substanz mit dem Bleiben geleugnet und allein der Wechsel
behauptet wird. Das gerade ist das Paradoxe der Heraklitischen
Lehre, daß sie in der Tat die Substanz zum Problem macht,
indem sie sie scheinbar leugnet. Und merkwürdig genug gerade
in Verbindung mit diesem Fundamente des Heraklitischen
Denkens begegnet uns auch das Wort ouaia in der Bedeutung
der Substanz. Möchte selbst dieses Wort der Überlieferung an-
gehören — und das ist wahrscheinlich — so ist es doch immer-
^ Darüber sehe man außer den allgemeinen historischen Darstellungen
von Hegel, Gesch. d. Philos. I, S. 305 ff., Zeller, a. a. 0. 1, S. 560 ff., Windel-
band, a. a. 0., S. 30 ff. und S. 41 ff. noch besonders die Spezialdarstellungen
der Heraklitischen Lehre von Schleier m acher, Herakleitos der Dunkle,
S. W. HI, 2, S. 1 ff.. Lassalle, Die Philosophie Herakleitos des Dunklen von
Ephesos, Bernays, Ges. Abhandlungen (HeracHtea und Herakl. Stud.).
Schuster, Heraklit von Ephesos, Teichmüller, Herakleitos, in Neue Stud.
z. Gesch. d. Begr., Heft I, und H. als Theol., Heft H d. n. Stud., M. Wundt,
Die Philosophie des Heraklit von Ephesus im Zusammenhange mit der Kultur
loniens (Arch. für Gesch. d. Philos. 1907, S. 4,32 ff.). Speziell über die Hera-
klitische Logoslehre, die uns hier auch zu beschäftigen hat, vgl. M. Heinze,
Die Lehre vom Logos in der griech. Phil., S. 1 ff., Aall, Gesch. der Logosidee
in der griech. Philos, und christl. Lit. und der Logos bei Heraklit. Zeitschr.
f. Philos. und philos. Krit. 1895, S. 217 ff.
^ Arist. de an. I, 2,405 a. dv Kivqaei b' elvai tu övxa; v.nl. Phys.
Vm, 3,253 b.
^> Piaton, Kratyl. 401 d. ... tu övxa ievai xe ndvxa Kai ju^veiv oitbiv.
^ Piaton, Theait. 160 d. . . . oiov peüjuaxi KiveiaSm xü Tiävxa; vergl. auch
181b.
^ Piaton, Kratyl. 402 a. Aljex ttou 'HpdKkfVioc;, öxi ■trdvxa x^J^P^^ ^ai
oüb^v lu^vei, Kai iroxaLioO f)ofii ÜTteiKdlujv xä ovxa \i'f€\, ihq Mc; ^i; xöv aüxöv
TTOxa|aöv oÜK av ^|ußabi^; vgl. Arist. Met. HI, 5,1010 a genau ebensu ... öxi
biq xu)i ouxuii Troxa|uu)i oük ^axiv ^laßfivai.
26 1. Kapitel.
hin bezeichnend, daß diese es als ein Bestandstück der Hera-
kh tischen Lehre aufweist, man könne «nach Heraklit nicht zwei-
mal eine ihrer Beschaffenheit nach identische vergängliche Sub-
stanz berühren»^; und wenn das nicht auch dem Buchstaben
nach Heraklitisch sein sollte, dem Geiste nach ist es doch echt
Herakhtisch. In dem Kern der Lehre Heraklits verbirgt sich
eine gedankliche Tiefe, die sie seiner Zeit und lange auch der
Zeit nach ihm «dunkel» erscheinen ließ. Der Schein aber ent-
steht allein daraus, daß Heraklit sich bereits in den lichten
Höhen des reinen Denkens bewegt. In der Tat muß es dem
naiven Denken nicht nur schwer faßlich, sondern auch in seiner
Schwierigkeit unauflöslich erscheinen, wenn nichts bleiben,
sondern alles wechseln soll. Denn wenn alles Bleiben aufge-
hoben erscheint, erscheint auch alles Sein aufgehoben. Und
dennoch, wenn alles wechseln soll, so muß doch der Wechsel
selber sein und bleiben. Bleiben und Sein scheinen auf der
einen Seite im Wechsel und Werden aufgehoben, auf der anderen
Seite scheinen Sein und Bleiben gerade durch Werden und
Wechsel gesetzt. Das ist in der Tat der große Impuls ge-
waltiger Dialektik^, der das Denken Heraklits bewegt, und ver-
• Plut. de Ei ap. Delph. XVIII, b. (Diels, Fragin. d. Vors. I, S. 75, fr. Ol,
dem ich mit Absicht aus Gründen der Objektivität auch die obige Übersetzung
entnommen habe), ttotoiliüji YÖtp oök lan ^yßf|vai b\q toji oOtuii Kod'
"HpdKXeiTov oübfe dviiTfn; ovaiac, bii; a\\io.obm kotu eEiv. Auch ich möchte
also nicht damit behaupten, datj diese Worte bei Plut. schon Heraklits eigene
Worte seien. Zeller deutet mit K. Schuster, a. a. 0., S. 91, richtig auf die
.Schwierigkeit des 'KaTÖ ?Exv' hin und meint «von övriTK) oOoia hat Heraklit
schwerlich gesprochen» (a. a. 0. I, S. .^76). Wenn niclit überliaupt, so scheint
mir doch zum mindesten in der Bedeutung der Substanz die oööia späteren
Ursprungs, wenn ich mir darüber überhaupt ein Urteil erlauben darf. Sicher
aber möchte ich in dem 'koö' 'HpÖKXeiTov' einen Hinweis darauf sehen, dafi
es sich Plut. mehr um ein Referieren als um ein Zitieren handelt, wenn auch
andererseits freilich in dem ävpaa^ai die ganze echt Heraklitische Kritik des
bloß «Greifbaren» gleichsam selbst anschaulich greifbar zutage tritt. Wie
man sich aber auch immer zum bloßen Worte stelle, der Gedanke, der nach
Heraklit ja im Worte lebt, ist sicher echt und ursprünglich heraklitisch, wie
ja auch Zeller gegen Schuster nicht bestreitet.
- Aus dein dialektischen Grundmotiv Heraklits erklärt sich auch die
übrigens wohl verdiente Hochschätzung, die dieser Denker bei Hegel, Gesch.
Die Antäiit-e der Naturphilosophie bei den loniorn. 27
möge dessen er auch die Grundantinomie aller Welterkenntnis
stellt und — wenigstens im Prinzip — schon auflöst, daß in
der Setzung von Werden und Wechsel bereits Sein und Bleiben
im Sein und Bleiben des Wechsels mitgesetzt ist.
Die Auflösung aber wird bedingt durch die scharfe Unter-
scheidung zwischen Sinnen- und Vernunfterkenntnis und das
Wertverhältnis, in das beide zueinander gebracht werden, wo-
nach die sinnliche Erkenntnis als unzuverlässig, die Vernuuft-
erkenntnis als Kriterium und Bürge der Wahrheit erkannt wird.^
Die Sinne gelten ihm als «schlechte Bürgen. »^ Die Sinnendinge
«foppen» den Menschen^, sie wechseln beständig, und ebendarum
d. Philos. 1, S. 305 ff. findet. Auch Lassalle hat, um das schon hier zu bemerken,
a. a. 0. II, S. 49 das dialektische Moment trefiend bezeichnet. Wenn er freilich
von der Identität der logischen Gegensätze im Sinne der «Einheit des Seins
und Nichtseins» a. a. 0., 1, S. 361 und II, S. 6 f. .spricht, so ist das eine Um-
biegung und Vergewaltigung im Sinne Hegels. Die dialektischen Tendenzen
bei Heraklit sind aber trotzdem vorhanden, nur in anderer Art als bei Hegel.
Sie liegen nicht in dem Verhältnis von Sein und Nichtsein, wie Lassalle sagt,
sondern, wie oben im Text bereits angedeutet und bald noch weiter auszuführen
ist, in d-em von Sein und Werden, von Bleiben und Wechsel. Wenn Lassalle
hier also auch nicht ohne eine gewisse Willkür verfährt, so enthalten seine
Ausführungen doch einen durchaus berechtigten Kern und bleiben nicht etwa
bloß gei.stvoll, sondern auch wissenschaftlich wertvoll und lehrreich, wenn man
von seiner hegelisierenden Einseitigkeit absieht. Sie, wie Zeller das will, ein-
fach als «wortreich und weitschweifig» (a a. 0., I, S. 591) abzutun, dürfte also
doch nicht gerecht sein. — Die etwas zurückhaltende Polemik von Arist.
Met. III, 3,1055 b, daß Heraklit das Widerspruchsgesetz aufhöbe, ist in dieser
Hinsicht lehrreich. Und wenn Aristoteles den Heraklit nicht trifft, so geschieht
es nicht aus dem von Zeller, a. a. 0., I, S. 601 angegebenen und von Heinze,
a. a. 0., S. 13 akzeptiei'ten Grunde, weil er nicht behauptet hätte, «entgegen-
gesetzte Bestimmungen können demselben Subjekt nicht bloß gleichzeitig,
sondern auch in der gleichen Beziehung zukommen», sondern deshalb, weil es
sich für Herakht gar nicht um das bloß formale Widerspruchsgesetz, sondern
um inhaltliche logische Entwicklung handelt.
^ Sext. Emp. adv. math. VII, 126. 6 bi 'HpdKXeixoi;, i-ad iräXiv ibÖK(.i
buaiv lüpYövojööai 6 ävOpujTTOi; irpöq rr]v ■zf]q ä\r\Qe[aq yvojaiv, maörjaei xe
Kai Xö^uJi, TOÜTuuv Triv |udv aiaörjOiv Trupa-rrXriöiuj«; roic; iTpoeipri|u^voi<; (puaiKOi«;
ÜTtiöTov eivai vevöpiicev, xöv be Xöfov ÖTroTidexai Kpixripiov. Vgl. ebenda 127,
- Sext. Emp. adv. math. VII, 126 (Diels, fr. 107). KaKoi ludpxupeq dvöpii)-
TTOioiv öqpöaXpoi Kai ujxa ßapßdpouc; u^uxü«; exövxiuv.
* Hippol. Ref. IX, 9 (Diels. fr. 56) dEriTrdxnvxai. cptiaiv, oi uvv>pa)Troi irpoq
xnv f\wa\v xüJv qpavepuJv.
28 1. Kapitel.
ist über sie keine Erkenntnis möglich.^ Es ist schon charakte-
ristisch, daß gerade der Wechsel der Sinnendinge mit deren Unzu-
längHchkeit zur Erkenntnis in Verbindung gebracht wird. Das ist
bedeutsam, um später das Verständnis für den ganzen Zu-
sammenhang von Sein und Werden, Bleiben und Wechsel er-
schließen zu helfen. Der Schwäche und Unzulänghchkeit der
Sinnlichkeit aber tritt als größter Vorzug das vernünftige Denken
gegenüber^, das allen gemeinsam ist-' und durch das wir teil-
haben an der allgemeinsamen Vernunft, dem Logos als dem
Kriterium der Wahrheit, der durch seine Allgemeiusamkeit der
beschränkten Einzelansicht als göttliche Vernunft gegenüber-
steht, durch deren Teilhaben wir selbst erst vernünftig werden.*
Denn der Logos ist der Seele eigen." Ihm zu folgen ist Pflicht.
Er ist allen gemeinsam, obschon «die meisten so leben, als ob
sie eine eigene Einsicht hätten.»*' Zeller', und fast w^örtlich
ebenso Heinze^ bemerken zu dieser Stelle richtig: «dem Koivo(g
Xoyoq tritt entgegen ibia qppovricriq» und Zeller erläutert, «als ob
sie in ihren Meinungen eine Privat Vernunft hätten.»^ Das
trifft durchaus zu. Das Bedeutsame ist aber doch wohl das,
daß Heraklit eben die liebe eigene Meinung, auf die die meisten
so pochen, für nichts erachtet. Der Unterschied der objektiven
Erkenntnis und der subjektiven Ansicht wird deutlich. Darum
fällt von hier erst das rechte Licht auf den Gegensatz von
* Arisl. Met. 1, 6,987 a. . . . 'HpaKXeireioK; böEai; wc, üirdvTUJv tüjv ai-
oötiTUJv dei ^eövTUJV Kai eTtiOTriiuri^ Trepi aÜTiiJv ouk o\ia)-\q . . .; vjil. Pliyp.
III, -AßbZh.
- Stoli. Flor. III, 84 (Diels, fr. llii) tö 9poveiv dperrj ^eYiötn . . .
■' Ebenda (Diels, fr. 113) Euvöv iaii Ttäöi to qjpoveiv.
■* Sext. Emp. adv. math. VII, 127. töv bi Xo^ov Kpixtiv Tf\c, dXrjöeia?
äiroqpaivexai oö töv öitoiovbnTioTe, öXXu töv koivöv Kai öeiov; vgl. 131 toötov
hi] KOIVÖV XÖYOv Kai Oeiov Kai ou kotü ^lexoxnv -f'vöiaeOa Xoyikoi. KpiTr'ipiov
äXriöeiac; cpriöiv ö 'HpÖKXeiTot;.
* Stob. Flor. III, 8.5 (Diels, Fr. 115) v}juxn<; ^öti Kö-joc, iamöv auEuuv.
6 Sext. Emp. adv. math. VII, 133 (Diels, Fr. 2). biö bei ^TreaOai TiJüi
Koivüji ■ Euvöq Y^P ö Koivöq. ToO Xöyou bi ^övxoq SuvoO oi iroXXoi tljq ibiav
^X0VT6(; 9pövriaiv ....
7 Zeller a. a. O. J, S. 007.
* Heinze a. a. O.. S. 55.
» Zeller ebenda.
Die Anfänge der Naturphilosophie hei den loniern. 29
ai(T&)-|(jiq und XoYoq. Indem die wahre Einsicht erst aus dem
'Köyoc, tiießt, bleibt in der «eigenen Einsicht», die nicht in der
allgemeinsamen wurzelt, von «Einsicht» nichts, und alles bleibt
«eigen». Dem einzelnen Subjekt gegenüber bedeutet der Logos
das allgemeine Einheitsprinzip der Erkenntnis, auf das der Ein-
zelne erst sich zu gründen hat, wenn er selbst Erkenntnis er-
langen will, eine allgemeine Instanz, zu der das einzelne Sub-
jekt sich erheben und erweitern muß, wenn es aus seiner sub-
jektiv beschränkten «Eigenheit» heraustreten und seiner Meinung
einen Wert geben will, der eben die Meinung zum Wissen er-
höht.
Wie immer auch die Wahrnehmungsgegenstände wechseln
und die Sinnlichkeit mit ihrer Subjektivität in jenen keine
bleibende Einheit und Erkenntnis zu ergreifen vermag, so er-
kennt man durch den allgemeinen Logos, wenn man nur auf
ihn, nicht aber auf ein einzelnes Subjekt hört, doch gerade,
daß Alles Eins ist,^ aus Allem Eines, Eines aus Allem ist^. Wie
der Logos also zunächst Prinzip der Allgemeinheit und Einheit
der Erkenntnis überhaupt ist, so wird er zugleich zum Prinzip
der Erkenntnis der Einheit des Seins, um endlich zum Prinzip
der Einheit des Seins schlechthin zu werden. Die Schwierig-
keit, daß die Sinne uns ein Bleiben vortäuschen, daß es trotz-
dem aber gerade die Sinnenwelt ist, die da wechselt, daß die
Welt der Dinge, die sich den Sinnen darbietet, nicht beharrt,
löst die Vernunft: Die Welt der Sinne ist in beständigem
Wechsel, auch wenn uns gerade die Sinne ein Bleiben vor-
' Hippol. Ref. IX. 9 (Diels, Fragm. I, S. 69, Fr. 50) oük ^hoO, äWä toö
XÖYOU oiKOÜaavTa? öf-ioXoTeiv öoqpöv ^otiv ev ucivTa eivai. Ich lese hier mit
der Oxforder Hippolyt-Ausgahe und mit Diels' Ausgabe der Fragmente das letzte
Wort eTvm, was auch Lassalle, a. a. 0. I, S. 339, annimmt, nicht mit Zeller,
a. a. 0. 1, S. 610, und Heinze, a. a. 0., S. 30 ff., eTbevm. Gerade weil, wie Zeller
hier bemerkt, mit dem eib^vai dem Kö^oc. gegenüber nichts Neues gesagt
würde, vor allem weil es sich auch im weiteren Zusammenhange dieser Stelle
bei Hippolyt nicht mehr allein um das Wissen, sondern auch um das Sein
handelt, scheint mir die von Miller vorgeschlagene, schon von Lassalle und
nun auch von Diels angenommene Lesart die richtige zu sein.
^ Arist. de mundo V, 396 b. kuI ^k TrdvTuuv ev, Kai il evöq ndvTa. Vgl.
Sext. Emp. Hyp. Pyrrh. II, 59.
30 1. Kiipitol.
täuschen. Die Diuge der Sinnenwelt wandeln sich beständig.
Sie sind das Wechselnde, das nicht bleibt. Der Wechsel selbst
aber bleibt. Ihn lehrt uns die Vernunft kennen und so den
Wechsel vom Wechselnden unterscheiden, um in dem selbst
nicht wechselnden Wechsel auch das einheithch Bleibende und
ein Bleiben schlechthin und das wahrhafte Sein zu erkennen,
vom Vergänglichen, vom Schein der aTcr^ncTK; zu unterscheiden.
Die Dinge der Sinnenwelt sind das Wechselnde und ihr Bleiben
ist selbst nur Schein. Die Vernunft durchschaut den Schein
und erkennt hinter den scheinbar beharrlichen, in Wahrheit
aber wechselnden Sinnendingen als einzig wandel- und wechsel-
los den Wechsel selbst. Der Welt des Sinnenscheins, die uns
ein Bleiben vorspiegelt, in der in Wahrheit aber nichts bleibt,
tritt die Welt des wahren Seins gegenüber, die uns kein Bleiben
vortäuscht, in der wir aber durch die Vernunft im Wechsel
selber das wahre und ewige Sein und Bleiben erkennen. Denn
was da immer war, ist und sein wird, das ist ein ewig lebendiges
Feuer, nach Maßen entglimmend, nach Maßen verlöschend.^
Es ist das ewig Lebendige und darum immer Bleibende, das
in alles übergeht, und in das alles übergeht, das sich umsetzt
in die Dinge.und die Dinge in sich, wie das Gold in die Waren,
die Waren in Gold.^ Es bleibt immer ein Eines, sich selbst
gleich (töv auTÖv), das alles ist (ev rrdvia eivai), trotzdem es in
alles übergeht, verwandelt sich nicht bloß wie das Wasser bei
Thaies und die Luft bei Anaximenes in andere Stoffe, die eben
dann nicht mehr Wasser oder Luft sind, und der Rückver-
wandlung bedürfen, um Wasser oder Luft zu werden, sondern es
bleibt Feuer, kann darum auch kein bestimmter Stoff sein, da
ein bestimmter Stoff doch nicht auch ein anderer als er selbst
sein, d. h. in der Verwandlung bleiben kann,^ sondern muß den
^ Clem. Strom. V, 599 b (Diels, a. a. 0. I, S. 66. fr. :W) ^v dei Kai eaxiv
Kai eaxai -rrOp deiZuuov, äirxöiaevov lui^rpa Kai äiToaTTevvü|Lievov ju^rpa.
- Plut. De Ei ap. Delph. VIII, E. (Diels, a. a. 0. I, ö. 75, fr. '.)()) nupöq re
dvTaiaoißn Td irdvTa Kai frOp ditdvnjuv, ÖKUuöTrep XPUUoO xP'lf^ara Kai XPIM«-
Tujv xp'J<JÖ(;.
' Sext. Emp. Hyp. Pyrrh. III, 116 oub^v dpa oüj^a la^vei. Es wäre die
^:chlimmste und buchstäblichste Anwendung des Rezeptes, daß man, um
etwas Lebendiges zu erkennen und zu beschreiben, erst den Geist heraus-
Die Anfänge der Nalurpliilosopiiie hei (icu loniern. 31
ewigen Weltprozeß, den Kosmos selbst bedeuten, den kein Gott
und kein Mensch je erschaffen haben kann und der immer in sich
einheitlich und derselbe bleibt\ aus dem alles, was im einzelnen
wird, eben wird^ und Dasein und Leben empfängt. Es ist das
ewig Fließende selbst und kann ebendarum nicht stofflich kör-
perlich sein. Vielmehr muß es eher seelisch sein, nicht seelisch-
dinglich, sondern seelisch-prozessual, Lebensodem aller Dinget
zutreiben habe, wollte man mit einigen Interpreten das Heraklitisehe Feuer
stofflich fassen. In der Tat müßte hier wirklich der Logos, der ja dem «ewig-
lebendigen Feuer», wie wir sehen werden, immanent sein soll, erst dui'ch die
Interpretation «herausgetrieben» werden. Eine derartig grob-stoffliche Auf-
fassung müßte einem schon der Respekt vor dem Genius Heraklits verbieten.
Und wie U. v. Wilamowitz (Hermes 34.20.5) mit Bezug auf eine Deutung des
Verhältnisses der Metaphysik des Parmenides zu seiner Physik, so möchte ich
auch in bezug auf eine solche Deutung dieses Heraklitischen Problems sagen:
«Ich traue das dem Ehrwürdigen nicht zu». Aber ganz abgesehen von der
Persönlichkeit Heraklits und seiner übrigen Gedankenentwicklung, in die sich
eine solche Deutung absolut nicht fügt, ist sie aus rein sachhchen Gründen
ganz für sich selbst genommen unmöglich. Man hat keine einzige Stelle an-
zuführen vermocht, die wirklich für die Stoft'lichkeit des Feuers beweiskräftig
wäre. Und jede der hier in Betracht kommenden, von uns herangezogenen
spricht dagegen: Das Gleichbleiben in der Verwandlung, die Gleichsetzung
mit dem Kosmos, die mit der HJUxn und endlich die Bestimmtheit durch den
Logos und dessen Immanenz. Es fehlt dann nur, daß man auch den Logos
stofflich fasse, wie es ja auch geschehen ist, und man hat, wenn man dessen
Immanenz zugibt, buchstäblicli einen Stoff in einem anderen Stoffe. Etwas
Sinnwidrigeres läßt sich dem Heraklit nicht mehr zutrauen. Das Feuer kann
darum, wie auch Zeller, a. a. Ü., I, S. .591, richtig hervorhebt — ohne freilich mit
der «reinen Verwandlung» etwas Rechtes anfangen zu können, weil er dem dia-
lektischen Moment bei Heraklit nicht zur Genüge Rechnung trägt — nicht als
Stoff angesehen werden. Es kann einzig und allein Prozeß sein, wie neuer-
dings am entschiedensten Windelband, a. a. O., S. 3üf., folgendermaßen betont:
«Heraklit versteht unter seiner dpxn nicht einen alle seine Verwandlungen über-
dauernden Stoff, sondern eben die reine Verwandlung selbst, das Auf- und
Absch weben des Werdens und Vergebens».
' Clem. Strom, a. a. 0. ebenda (Diels, fr. 30). KÖa.uov xövbe töv auxöv
äTrdvTUJV eure ti? öeiliv oüte dvöpdmujv ^TToiriöev, äW r|v äei usw., Forts,
s. vor. S. Anm. 1.
-' Piaton, Kratyl. 4-12 d. . . . bi' oü -irdvTa tu 'fiTvöiaeva yvfverai.
" Arist. de an. I, 2,405 a. Kai 'HpdK\eiTO(; bi xnv äpx»iv eivai <pri0i
HJUXV» e'iitep Trjv dvaOu,u{aGiv, it fj^ täWa auviarncri • kcü äadiiaaTov br\ Kai
^^ov dei.
32 1. Kapitel.
Wie der Seele das Denken eigen, durch das sie am Logos teil
hatS so erweist sich nun im Sein des prozessualen Geschehens
selbst der Logos wirksam.
Die Vernunftbestimmung erhält so bei Heraklit eine Be-
deutung und Tragweite, von der bei Diogenes von Appolonia
keine Spur vorhanden ist. Das Wechselnde gehört der Sinnen-
welt an. In ihr ist kein Bleiben. Hier ist alles Bleiben in der
Tat bloß Schein. Das Bleiben wird darum aber nicht geleugnet.
Es ist nur Gegenstand der Vernunfterkenntnis, die das Bleiben
des Wechsels erkennt. Denn der Wechsel ist selbst bleibend.
Darin liegt in der Tat die dunkle und schwierige Dialektik der
Lehre Heraklits, daß in der Sinnenerkenntnis kein wahrhaft
Bleibendes erreicht wird, obwohl uns gerade von ihr ein Bleiben
vorgetäuscht wird, und daß allein die Vernunfterkenntnis ein
Bleiben und ein Bleibendes erreicht, obwohl gerade wieder
sie es ist, die erkennt, daß «nichts bleibt, sondern alles
wechselt». Aber indem sie den prozessualen Wechsel als
bleibend erkennt, löst sie die Antinomie von Bleiben und
Wechsel und vollzieht die Synthese zwischen beiden im Begriffe
des bleibenden, wechsellosen Wechsels, des «ewig lebendigen
Feuers» als kosmischen Prozesses. Darum aber muß die Ver-
nunft selber bleiben, weil sie den Wechsel als bleibend und
wechsellos bestimmt. Sie aber ist nicht nur bleibend, wie der
Wechsel, sondern auch bleibend als eben den Wechsel be-
stimmend. Und den Wechsel bestimmt sie, insofern der Wechsel
selbst nach der Vernunft sich vollzieht, so daß alles nach dem
Logos geschieht.^ Als Schicksal, Recht und Notw^endigkeit^, die
den Samen jeglichen Entstehens bilden, ist der Logos in allem
wirksam und verwandelt erst das Feuer selbst in die Dinge,
' Vgl. S. 28 Anm. 2, 3 u. 5.
- Sext. Emp. adv. math. VII, 132 (Diels, 1, ö. Gl, fr. 2) yiTvoneviuv Täp
TTcivTiuv KOTÜ TÖv XÖYov: vgl. dazu A. Aall, Der Logos bei Heraklit a. a. 0.,
218 ff., und desselben Gesch. d. Logosidee, S. 40fl',
3 Stob. Ekl. I, 178 und Clem. Strom. V, 599 C. vgl. Lassalle, a. a. 0.
I, 350 f., und Heinze, a. a. 0., S. 20. — Hier wird von Heraklit die vor ihm nur
implizite angebahnte Synthese von eljaapiaevn, äv&{KY\ und bxKr] vollzogen; vgl.
ausführlicher Windelband, a, a. 0., S. 31.
Die Anfänge der Naturphilosophie bei den loniern. 33
deren erstes das Wasser als Same jeglicher Ordnung bildet.^
Sofern der Logos als schicksalbestimmende Notwendigkeit, die
den Weltprozeß zugleich zum Weltgericht macht, auch Gottheit
ist^, faßt er alle Gegensätze in sich zusammen, in ihm ist alles
eins und alles führt er zu allem^; er ist so zugleich Einheit
und Harmonie aller Gegensätze. Wenn alles, was wird, aus
etwas wird, das es nicht selbst war, zu ihm also im Gegensatze
steht, so daß die öikh selbst zum ttoXciuoi; und der TroXenoi; zum
Vater der Dinge wird und zu ihrem Herrscher^ so ist doch
aller Gegensatz der Dinge im Einzelnen ausgeglichen zur ewigen
unsichtbaren Harmonie der göttlichen Einheit, die herrlicher
ist als alle sichtbare.^ Der Krieg im Einzelnen bildet in der
göttlichen Einheit selbst eine Einheit mit dem Frieden, wie der
Tag mit der Nacht, der Winter mit dem Sommer, der Über-
fluß mit der Not.'' Wenn der Logos darum Gott heißt, so teilt
er diesen Namen mit dem, was man sonst so heißt, nur inso-
weit, als man damit wahrhaft Göttliches bezeichnete, nicht auch
soweit man damit dem Göttlichen Inadäquates verband. «Eines,
das allein Weise will nicht und will doch auch wieder mit Zeus
Namen benannt sein».^ Vor allem kann der Logos dem Kosmos
' In diesem Verhältnis stehen öTtepiua Tf|(; Y^veoeuj? bei Stob. Ekl. I, 178
und OTTepiLia Tfi<; biaKoa|uriaea)? bei Clem. Strom. V, 599 G.
^ Sext. Emp. adv. math. VII, 127. töv he Xöjov . . . töv koivöv Kai
Oeiov; vgl. S. 28 Anm. 4.
^ Philo. Leg. alleg. III, 1,88 f. Kai ev tö uäv, Kai irdvTa ot^Gißfii eiod-fwv.
•* Hippol. Ref. IX, 9 (Diels, fr. 53) itöXeiuoi; irdvTujv |nev Tcaxrip daxi, udv-
Tuuv be ßaaiXeix; . , . Auch darin liegt das dialektische Moment, daß für
Heraklit, wie Windelband das treffend formuliert, «das Andere eo ipso zum
Entgegengesetzten wird», a. a. 0., S. 41.
^ Plut. de an. proer. 27,5. äpiaoviri fäp d.(pavr](; (pavepr\c, KpeiXTUJv KaO"
'HpdKXeiTOV, ^v fii Täc, biaqpopdq Kai drepöxriTac; 6 |uiyüujv öeö; ^Kpui|je Koi
KaxebuGev.
ö Hippol. Ref. IX, 10 (Diels, fr. 67). 6 beöc, f]^ipv\ eücppövr), xeiVidjv Qipoq,
Tr6\e|LiO(; eipi'ivri, KÖpo(; hixöq. Das Verhältnis, in dem Gott ebenso über dem
Kriege der Dinge als Harmonie steht, wie der Krieg über den Dingen, kann
es noch einmal auf das Allerevidenteste deuthch machen, daß es sich im
«ewiglebendigen Feuer» ganz und gar um das prozessuale Werden, nicht aber
um einen Stoff handelt.
' Übers, v. Diels, fr. 32 (Clem. Strom. V, 604). Unter den mannigfachen
Bauch, Das Snbstanzproblem. 3
34 1. Kapitel.
nicht als eine äußere Ursache gegenüberstehen, denn er ist ja
von Ewigkeit her lebendiges Feuer\ weder von Gott noch
von Menschen erschaffen^, wie es ausdrücklich heißt. Gerade
als Schicksal muß der Logos das Wesen von allem durchdringen,
dem All also immanent sein.^ In dieser Immanenz aber hat
Heraklits Denken seine schärfste Zuspitzung und seine höchste
Synthese erhalten. Denn jene Immanenz will besagen: Ge-
schieht alles nach dem Logos"* und durchdringt der Logos
alles ^, so ist die sinnliche Welt des Geschehens keinesw^egs
bloß Schein. Schein ist nur das, was der Sinnenerkenntnis als
beharrlich erscheint, also das scheinbar Beharrliche, das in Wahr-
heit ein Wechselndes ist, bestimmt von dem selbst nicht
wechselnden, durch den Logos und seine alles in allem lenkende
Einsicht geleiteten Wechsel.^ Insofern dieses in Wahrheit
Wechselnde aber in eben seinem Wechseln auf dem von der
Erklärungsversuchen, die diese Stelle hervorgerufen, hat Avohl den un-
gezwungensten und besten Zeller, dem ich mich in der Deutung durchaus an-
schheßen kann, geliefert, wenn er a. a. 0., S. 608, die Stelle folgendermaßen
interpretiert: «Es will damit benannt sein, weil es in Wahrheit das ist, was
man unter jenem Namen verehrt; es will aber auch nicht damit benannt
sein, weil sich mit diesem Namen Vorstellungen verbinden, die auf jenes Ur-
wesen nicht passen, weil er (wie alle Namen) eine unzureichende Bezeich-
nung ist».
1 Vgl. S. 30.
2 Vgl. S. 31.
^ Stob. Ekl. I, 178. 'HpctKXeiTO? oiiaiav e!|uap!u^vrii; dTCeqpm'veTO Xö^ov töv
hm ToO ua\TÖc, birjKOVTa. Richtig erkennt auch Heinze, a. a. 0., S. 6 f., die
Immanenz des Logos an und bezeichnet ihn zutreffend geradezu als «Gesetz
des Weltlaufs», S. 10. Um so weniger ist es ersichtlich, warum auch er noch
an der Stofflichkeit des Feuers und gar noch des Logos festhält, S. 24. Denn
Stoffe können doch auch nach der Vorstellung des Altertums höchstens mit
einander eine Mischung, Verbindung, vielleicht auch schon eine Lösung ein-
gehen, aber nimmermehr einer dem anderen immanent sein. Daß nun nach
Clem. Strom. V, 599 Xöfoq und TrOp gleichgesetzt werden, kann doch nicht,
wie Heinze, S. 24, meint, für die Stofflichkeit des Logos sprechen, da es doch
gerade für die Unstofflichkeit des itöp spricht.
* Sext. Erap. adv. math. VII, 132, s. S. 32, Anm. 2.
* Vgl. die vorletzte Anmerkung.
« Diog. Laert. IX, 1. eivai Yap ev tö aoqpöv ^niöTaadai yvöimit^ V oiH
(Diels, fr. 41 bTir\) ^Kuß^pvriae TTÜvra bxä Trdvxuuv.
Die Anfänge der Natuiphilosophie bei den loniern. 35
wahren Einsicht des Logos bestimmten Wechsel beruht, muß
es selbst wahres Sein und Wirklichkeit haben. Wird auch die
Sinnenerkenntnis als schlechter Zeuge der Wahrheit von der
allein die Wahrheit verbürgenden Vernunfterkenntnis unter-
schieden, so tritt darum doch nicht die empirische Wirklich-
keit als eine besondere Wirklichkeit neben das reine Sein der
Vernunftwirklichkeit, sondern ist eben deren Darstellungsweise,
mit ihr eines und ebendasselbe unter verschiedenen Gesichts-
punkten betrachtet. Der Weltprozeß ist nicht ohne den Logos,
denn er ist von ihm bestimmt, und der Logos nicht ohne den
Weltprozeß, denn der Logos ist, eben indem er den Weltprozeß
bestimmt. Der das Geschehen beherrschende Logos ist Be-
dingung und Grundlage des Wechselnden, das als Wechselndes
auch wahrhaft ist, und das nur nicht beharrlich ist, wie der
Wechsel und der diesen bestimmende Logos, ob es auch den
Sinnen zu beharren scheint. Aber indem es zum Wesen des
Logos gehört, daß er das Geschehen bestimmt und zu dem des
Geschehens, daß es vom Logos bestimmt wird, wird den ein-
zelnen Geschehnissen selbst Wirklichkeit und Wahrheit verliehen
von der wahren Einsicht des Logos, die sie leitet und lenkt.
Blicken wir von hier aus noch einmal auf das Ganze jener
Heralditischen Grundgedanken, die allein für uns in Betracht
kommen, zurück und ziehen die Summe, die sich für unser
Problem der Substanz als das Beharrliche im Wechsel ergibt,
so zeigt sich: In dem ewig lebendigen Feuer als dem Gesamt-
prozesse des Geschehens mit seinem Wechsel erreicht er selbst
das Beharrliche, insofern es «immer war, ist und sein wird».
Hier wird deutlich, wie scharf wir die Begriflfe des Seins und
Geschehens bei Heraklit zu trennen haben, und daß Heraklit
so wenig das Sein leugnet, daß er es vielmehr in dem ewigen
Wechsel, der ihm ja selber ist, als ewig setzt. ^ Aber darum
^ Noch Zeller sagt a. a. 0. I, S. 584: «Während demnach Parmenides
das Werden leugnet, um den Begriff des Seins in seiner Reinheit festzuhalten,
leugnet Heraklit umgekehrt das Sein, um dem Gesetz des Werdens nichts zu
vergeben». Daß damit das Verhältnis zu Parmenides unzutreffend bestimmt
ist, wird sich später zeigen. Die übliche Gegenüberstellung von Heraklit und
Parmenides hat aber Tannery, Pour l'histoire de la science hellene, S. 74 ff. (vgl.
i*
36 1. Kapilel.
kaun das Geschehen nicht selbst geschehen. Nur Geschehnisse
und Vorgänge können geschehen, und doch ist das Geschehen
nicht das ganze Sein. Das Geschehen ist das Sein in seinem
Wechsel, wie es sich den Sinnen scheinbar als bleibend dar-
stellt. Das reine Sein ist das Sein in seinem Bleiben, wie es
die Seele allein als Vernunft erkennt, — «denn der Seele ist das
Denken eigen» — das reine Sein des Logos, das erst das Sein
in seinem Wechsel bestimmt. Erreicht Heraklit im Wechsel
des Feuers selbst das Beharrliche, so ist es ihm doch beharr-
lich als Wechsel, nicht im Wechsel, beharrlich als beharrhcher
Wechsel. Das Beharrliche im Wechsel aber liegt in seiner Be-
stimmung, daß dieser Wechsel des Feuers sich «nach Maßen»
vollzieht. Ist das Feuer der beharrliche Wechsel selber, so sind
die «Maße» das Beharrliche im Wechsel, sofern sie diesen be-
auch dessen Abhandlung: «La Physique de Parmenide», Revue philosophique
XVIII, S. 264 ff.) mit guten Gründen angefochten. Zwar deutet er beide stark
realistisch, erkennt aber doch wieder die idealistische Tendenz wenigstens im
Verfahren an. Mit besonderer Feinheit hat sodann Kühnemann, dessen Aus-
führungen ich freilich, meiner eigenen späteren Darstellung gemäß, nicht in
allem inhaltlich beistimmen kann, die sachlichen Beziehungen zwischen Heraklit
und Parmenides abgewogen in seinen «Grundlehren der Philosophie», S. 61.
Und neuerdings deutet auch Max Wundt, a. a. 0., S. 450, die Verwandtschaft
zwischen beiden Denkern, ohne ihren Gegensatz zu verkennen, in recht an-
sprechender Weise an. Aber von dieser Gegenüberstellung beider hier noch
ganz abgesehen, ist die vielfach auch von Zeller aufgestellte Behauptung,
Heraklit «leugne das Sein», um so hinfälliger, als er im Logos gerade das
«Sein in seiner Reinheit» faßt, genau wie Parmenides auch und, wie M. Wundt,
der ihn den «ersten Logiker unter den Griechen» (a. a. 0., S. 449) nennt,
sehr treffend geradezu sagt: «schließhch bis zur Idee eines Absoluten gelangt»
(a. a. 0., S. 443). Und mit dieser Grundposition operiert ja auch Zeller in
seiner ganzen übrigen Darstellung, die freilich der Heraklitischen Lehre so
wenig gerecht wird, daß man sich, wäre sie so, wie sie Zeller darstellt,
wundern müßte, sie eben vom Historiker der Philosophie überhaupt behandelt
zu finden. Mehr als er es ahnt, kommt übrigens Zeller durch jene Bebaup-
tung in die sonst so sorgfältig von ihm gemiedene Nähe Lassalles (s. S. 2G
Anm. 2), freilich ohne dessen bei aller AVillkürliclikeit offenbare Schärfe des
gedanklichen Erfassens der Heraklitischen Eigenart zu erreichen. Denn von
jener Behauptung aus ist es doch nur noch ein Schritt bis zur Gleichsetzung
von Sein und Nichtsein, die zwar Zeller so peinhch, aber im Sinne Lassalles
immer noch heraklitischer wäre als eine Leugnung des Seins.
Die Anfänge der Nalui'])hilosopliie bei den loniern. 37
stimmeu. Nun vollzieht sich aber das Geschehen nach dem
X6yo(;. Die «Maß »-gebende Funktion für das Geschehen hegt
also im Logos. Insofern also der Wechsel nur als Wechsel
beharrlich ist, ist der Logos das Beharrliche im Wechsel, das
den Wechsel selbst «Maß»-gebend bestimmt. Diese Bestimmung
aber ist weiterhin nicht die des Verhältnisses einer äußeren
Ursache zu ihrer Wirkung. Denn da der Weltprozeß von Ewig-
keit her ist, also aus keiner äußeren Ursache hervorgegangen
sein kann, so kann er auch vom Logos nicht als von einer
Ursache außer ihm bestimmt sein. Der Logos muß immanent
im Wechsel unmittelbar diesen selber bestimmen. Er ist das
«Maß »-gebende Prinzip der Weltordnung, «Weltgesetz», wie
Heinze sagt; nicht, wie das Geschehen, das Sein in seinem
Wechsel, sondern das Sein in seinem Beharren, das Baharrliche
im Wechsel, das diesen in seinem Sein als Wechsel bestimmt
und so auch der empirischen Wirklichkeit, insofern sie eine
solche des Geschehens, nicht des scheinbaren Bleibens ist, Wahr-
heit verleiht.
Das ist der tiefe Sinn der in der Tat dialektisch verwickel-
ten Lehre des Herakht, daß in ihr der Substanzgedanke aus
der Sinnenwelt in die Vernunft selbst zurückgenommen und
erst von hier aus der empirischen Wirklichkeit auch Wahrheit
verbürgt wird; freilich nicht in dem Sinne, daß die Substanz
zur Funktion der Vernunft, sondern in dem, daß sie zur Ver-
nunft selber wird. Sie ist der gemeinsame Seinsgrund aller
Dinge, in dem «Alles Eines ist» und zugleich der allgemeinsame
Grund ihrer Erkenntnis, der über der persönlichen subjektiven
Sphäre des Individuums steht.
88
Zweites Kapitel.
Die eleatische Schule.
1. An die Spitze der Eleaten pflegt Xenophanes gestellt
zu werden. Allein in seiner Physik liegt, trotzdem er auf sitt-
lich-religiösem Gebiete die Poesie und Mythologie so energisch
abwehrt\ doch noch zuviel Dichtung und Mythologie, — denn
er selbst ist Dichter — , in seiner Philosophie zu viel Theologie,
als daß, so interessant an sich diese Faktoren seiner Lehre auch
sein mögen, für unseren rein wissenschaftlichen Zusammenhang
und speziell für unser Sonderproblem aus ihnen eine starke
Förderung hervorgehen könnte.^ Immerhin sind einige seiner
' Xenophanes' Kampf gegen den Polytheismus ist zugleich ein Kampf
gegen den mythologischen Anthropomorphismus auf dem Gebiete der Religion.
Insofern kann es also gar keine Frage sein, daß, so eingeschränkt unser In-
teresse an ihm für unser Spezialproblem ist, er doch eine allgemeinere historische
Bedeutung besitzt. Ich will also, wenn ich ihn hier nur ganz kurz, gleichsam
nur einleitenderweise für den Eleatismus überhaupt behandle, dahinter kein
allgemeines Werturteil verbergen. Gerade auf den Gebieten der Sittlichkeit
und Religion, die ich hier nicht behandeln kann, ist sein Kampf gegen die
mythologische Vorstellungsweise zugleich ein Kampf für die Rechte der Ver-
nunft. So hat man seinen glänzenden Spott anzusehen, wenn er fr. 15 (Diels,
Fragm. I, S. 49) sagt: «Wenn die Ochsen, Rosse und Löwen Hände hätten
oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden, wie die Menschen,
so wtirden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten
malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst das Aussehen hätte».
(Übersetzung von Diels, vgl. auch S. fr. 11.) So mythologisch Xenophanes auf
physikalischem Gebiete selbst noch denkt, auf sittlich-religiösem Gebiete ist er
einer der radikalsten Überwander des Mythologisierens und zugleich der erste
Denker, der dagegen theologisch mit Gründen ankämpft.
^ Daraus wird sich für jeden unsere Anordnung im Texte, d. h. die Be-
handlung des Heraklit ovr den Eleaten verstehen.
Die eleatische Schule. 39
theologischen Grundausichten auch für uns nicht ohne Belang,
insofern sie für die weitere Problementwickelung bestimmend
werden. Den Monismus der ersten Naturphilosophen — er ist
besonders von Anaximander entschieden nicht ganz unbeein-
flußt geblieben — wendet er theologisch zum Monotheismus
oder genauer zu einer pantheistischen Alleinheitslehre \ nach
der Alles Eins sei.- Und was von besonderer Bedeutung wird,
das ist der Umstand, daß er zunächst aus religiösen Motiven
vom Göttlichen die Vorstellungen des Werdens und Vergehens
abwehrt^, die Begriffe der Ungewordenheit und Unvergänglich-
keit exphzite scharf und klar faßt, sie über die Theologie
selbst hinauszuführen und, wenn auch noch unbestimmt, doch
wenigstens insoweit auf das Sein überhaupt zu erweitern strebt*,
als eben in seiner Alleinheitslehre die Einheit Gottes zugleich
als Einheit der Dinge gefaßt wird.^ Das ist das Wichtigste,
^ Nur so ist das vielzitierte Fragment (bei Diels, Fragm. I, S. 50, fr. 23)
zu verstehen:
eiq 9eö?, Iv T6 deoi0i Kai dvöpdbiToiöi jh^yiöto?
ouTe bi\xac, OvrixoTöiv öiaoiiO(; oure vöriiaa.
Die Gegenüberstellung des €1? Oeö^ im Verhältnis zu den öeoiai ergibt hier in
der Tat allein Sinn, wenn man bedenkt, wie es dem Pantheismus, wie wir schon
früher sahen (s. S. 13), möglich ist, davon zu sprechen, daß alles voll von
Göttern sei.
2 Sext. Emp. Hyp. Pyrrh. I, 225.
^ Ai-ist. Rhet. II, 23,1399 b. oTov Eevoqpdvriq IXeyev öxi ö|aoiu)(; öaeßoöaiv
ol -^evia^ai cpclaKOVTe(; toOi; deoü^ To\q dirodaveiv \i.fovaiv.
■* Plut. b. Eus. praep, ev. I, 8,4 oure -{iveaiv out€ cpöopdv ÖTtoXemei.
An und für sich sind also die Begriffe der Unentstandenheit und Unver-
gänglichkeit explizite deutlich. Es fehlt für uns nur die explizite Be-
ziehung auf unser Problem.
° Theophr. b. Simpl. Pbys. 22 (Diels, Dox. 480ff.) \xiav bd rriv dpxnv r|Toi
Iv TÖ öv Kai Träv xal oöre TreTrepaa^^vov oure direipov ouxe KivoOnevov cöre
fipeiioOv Eevoqjdvi'iv töv KoXoqpüuviov töv TTapiaevibou bibdaKa\ov ÜTroTiöe-
oöai qpficriv ö Oeöqppaöxoc;. Diese Stelle wäre nun auch philosophisch insofern
von dem größten Belang, wenn sie, wie F. Kern, Quaestionum Xenophanearum
capita duo, S. 50, annimmt, wirkhch bestimmt verbürgte, daß Xenophanes das
AU-Eine über die Sphäre der Begrenztheit wie der Unbegrenzlheit, der Be-
wegtheit wie der Unbewegtheit hinausgerückt habe. Und für Kerns Auffassung
spricht in der Tat, daß, wie er sehr fein gesehen hat, der Verbalbegriff nicht
negiert ist, sondern die Negation sich auf das Prädikat bezieht. Zellers Ar-
40 -2. Kapitel.
daß hier neben dem Werden des Einzelnen die Begrifte der
Uugewordenheit und Unvergänglichkeit überhaupt wieder mit
distinkter Schärfe klar werden. Darin liegt zwar nichts prinzi-
piell Neues der Leistung des Anaximauder gegenüber, der diese
Begriffe ebenfalls klar und scharf gefaßt hatte. ^ Immerhin be-
gument dagegen, er müsse «bekennen, dies nicht zu verstellen» (a. a. (). I,
S. 473), ist doch so wenig ein Grund gegen die Richtigkeit von Kerns Ansicht,
wie das «Nichtverstehen» überhaupt je einen Grund abgeben kann. Denn es
ist ebenso grammatisch wie logisch ein Unterschied, wo die Negation liegt,
ob er also hier das AU-Eine als weder unbegrenzt, noch als begrenzt setzt,
weder als ruhend noch als bewegt, oder ob er es weder als unbegrenzt
setzt noch als begrenzt setzt. Das eine ist eine wirklich vollzogene
logische Setzung von Etwas, das weder begrenzt noch unbegrenzt ist,
das andere ein bloß problematisches Verhalten, wo beide Möglichkeiten offen
bleiben, und es ist überhaupt nichts wirklich gesetzt. Kerns wirklich feine
Unterscheidung wird also von Zeller gar nicht gesehen und berührt, geschweige
denn getroffen. — Allein es ist ein anderer Umstand, der diese «Setzung»
inakzeptabel macht. Bei Sext. Emp. Hyp. Pyrrh. I, 225 heißt es: '^v elvai tö
TTdv Ktti TÖv Oeöv auiacpufi Toii; iräoiv ■ eivai hi aqpaipoeibfi Kai öiraöri Kai
ö|ueTäß\i'iTTTov Kai Xo-fiKÖv. Was uns hier in jenem Verhältnis zur Unbegrenzt-
heit bezw. Begrenztheit Schwierigkeiten machen muß, das ist der Umstand,
daß wir unter den Prädikaten des Weltganzen bei Sext. Emp., wie übrigens
auch bei Hippel, und Simpl. das der Kugelgestaltigkeiten aufgezählt finden.
Nun würde sich damit freilich immer noch, was Zeller nicht bemerkt, die
Setzung des Einen als weder begrenzt noch als unbegrenzt in einem Falle
vereinigen lassen, in dem Falle nämlich, daß wir die Kugelgestalt lediglich als
Symbol der Einheit und In-sich-Geschlossenheit des Seins fassen dürften. Aber
dann wären wir in der Tat schon bei Parmenides. Bei Xenophanes spricht
dafür aber nichts. Dai'um haben wir bei ihm die Kugel wohl buchstäblich
realistisch zu nehmen und dürfen an ein Hinausrücken des Seins über die
räumliche Bestimmung der Grenze, sowohl im Sinne der Begrenztheit wie
der Grenzenlosigkeit, nicht denken. Hier trifft Zeller das Richtige und behält
auch gegen Kern recht, so sehr er dessen feine Unterscheidung verkennt.
Freilich darf man dabei auch nicht übersehen, daß dem andere Äußerungen
des Xenophanes entgegenstehen, indem er auch von einer «unermeßlichen»
Ausdehnung spricht (vgl. fr. 28). Das zeigt nun freilich aufs deutlichste, daß
er das Sein noch anschaulich, nicht wie Parmenides rein gedanklich faßt, und
daß seine Ansichten, selbst wenn er das Sein als weder begrenzt noch unbegrenzt
setzt, damit doch nicht ins rein Gedankliche weisen, und daß sie im An-
schaulichen zu unbestimmt bleiben, als daß sie für unser Problem weiter von
Bedeutung werden könnten.
1 Siehe S. IG ff.
Die eleatische Schule. 41
deutet es für die historische Kontinuität der Problementwicke-
lung Parraenides gegenüber einen wertvollen gedanklichen Im-
puls, freilich nur einen Impuls, Denn Parmenides mußte diese
Begriffe vertiefen, vor allem mußte er den Begriff des Seins in
unerhörter Weise vertiefen, um mit diesem jene in seiner durch-
aus originalen Art in Verbindung bringen zu können.
2. Was Xenoplianes von seiner Gottheit auszumachen
suchte, das erweitert Parmenides nun nicht bloß zu einem be-
stimmten Prinzip des Seienden, sondern — und darin liegt
seine größte Bedeutung — zum Sein schlechthin. Gewöhnlich
sieht man in Parmenides nur den schroffen Gegensatz zu
Heraklit. Wenn man freilich die Summe der Heraklitischen
Lehre darin erbhckt, daß er behauptet habe, es gebe kein Sein,
sondern nur ein Geschehen, und wenn man Parmenides' Lehre
in der Ansicht, es gebe nur ein Sein und kein Geschehen, für
im wesenthchen erschöpft hält, so ließe sich freilich nur ein
Gegensatz zwischen Heraklit und Parmenides erkennen; und
zwar ein Gegensatz, im Vergleich mit dem ein größerer nicht
auszudenken wäre. Daß Heraklits Lehre in einer solchen An-
sicht nicht erschöpft ist, wird aus unserer früheren Darstellung
hervorgegangen sein. Und die folgenden Ausführungen werden
deutlich macheu, daß auch in der Parmenideischen Paradoxie
ein tieferer Sinn enthalten ist, als es auf den ersten Blick
scheinen könnte. Denn gerade Parmenides fordert, daß man
sich eben beim ersten Blick nicht beruhige.
Ohne seinen Gegensatz zu Heraklit zu verkennen oder zu
verwischen, lehrt uns diese Forderung zugleich aber auch, über
dem Gegensatz die tiefe und großartige Übereinstimmung in
der Grundrichtung des Denkens, die zwischen beiden besteht,
nicht zu verkennen und zu verwischen. Mit Recht sieht Diels^
^ Diels, «Bericht über die Literatur der Vorsokratiker 1886. Zweite
Hälfte». Arch. f. Gesch. d. Philos. I, S. 245. Freilich scheint mir Diels an
anderer Stelle (Parmenides' Lehrgedicht, griechisch und deutsch) dem physika-
lischen Realismus doch wieder eine zu große Bedeutung einzuräumen, als daß
mir ein restloses Zusammenstimmen mit der dialektisch-idealistischen Deu-
tung recht ersichtlich wäre. Allein die Ansichten der Historiker über Parmenides
sind hier heute überhaupt noch sehr geteilt. Ich komme später noch darauf
zurück ...
42 2. Kapitel.
auch Parmenides in erster Linie als «Dialektiker» an und be-
trachtet das Realistische in seinen Anschauungen als «bedeu-
tungslose Überbleibsel der noch nicht völlig überwundenen
ionischen Ph^^sik». Und, wie schon bemerkt, haben Tannery
Kühnemann und Max Wundt die Verwandtschaft zwischen
Heraklit und Parmenides ausdrücklich hervorgehoben.^ Es ist
vor allem der ausgesprochene rationale Grundzug, in dem sich
das Denken beider begegnet. In genauer Übereinstimmung
mit Heraklit warnt auch Parmenides davor, dem Auge, dem
Ohr, der Zunge, kurz den Sinnen zu vertrauen, sondern fordert
die kritische Prüfung durch vernünftiges Denken
(Kpivai be XÖYUJi). Findet er sich im Logos mit Heraklit, so über-
bietet er ihn womöglich noch durch die schroffe Ablehnung
der vielerfahrenen Gewohnheit.^ Mit dieser Abweisung von
Erfahrung und Gewohnheit erhält seine rationale Tendenz nun
explizite noch eine geradezu antiempiristische Zuspitzung, die
bei Heraklit eigentlich nur implizite vorhanden war, aber wegen
seiner Stellung zum Werden nicht voll zur Entfaltung gelangen
konnte. Diese volle Entfaltung bei Parmenides zeigt, wie aus
der Übereinstimmung in der tiefsten logischen Grundtendenz
selbst mit Notwendigkeit auch das trennende Moment zwischen
beiden her vor wächst.
Vermöge des vernünftigen Denkens und im vernünftigen
Denken, in dessen Forderung er sich mit Heraklit zusammen-
findet, erreicht er den Begriff, um den sich seine ganze Philo-
sophie bewegt: den Begriff des Seins. Die Behauptung des
Seins, daß ein Sein ist^, daß das Sein ist, das Nicht-Sein aber
» Vgl. S. 35, Anm. 1.
2 Parm. I, V. 33—37 (Diels, Fragm. d. Vors., S. 115, wonach ich kurz
im Folgenden stets die Zählung der Fragm. des Parm. angebe):
ö.\Xä au Tf|öb' dqp' 6boO bilrjOio? elp-fe vörma
|ir)b^ o' Ixioq TToXOiTeipov öböv Kard Tqvbe ßidaöiu
vut|iäv öaKOTTov ö[nxa koI fixneaaav äKOÖJiv
Kai fXwoaav, Kpivai bi Xöyuji uoXObripiv IXeyxov
il ^li^öev ^rjö^vTa.
^ VI, 1. ... loTX Y"P elvai.
Die eleatische Schule. 43
nicht ist und nicht sein kann\ steht so sehr im Mittelpunkte
seines ganzen gedankhchen Interesses, daß sich von hier aus
ebensoleicht der scheinbare und der wirkliche Gegensatz zu
Heraklit, wie die Übereinstimmung mit diesem deutlich erkennen
läßt. Das Sein wird ihm so unmittelbar im Denken gesichert,
daß seine Grundthese: es ist ein Sein, eines Beweises weder be-
dürftig noch fähig erscheint, ja daß es fast scheint, als erfasse
er, ganz Descartes vergleichbar, im Sein des Denkens selbst
das Sein.- Doch ist es nicht dieser etwa schon von Parme-
nides klar und deutlich ausgesprochene Gedanke, daß das
Denken ist, und daß es deshalb ein Sein gebe, als eine
andere, keineswegs weniger bemerkenswerte Überlegung, die
Parmenides zu seiner bald zu bestimmenden definitiven Be-
ziehung von Sein und Denken verhilft. Auf der einen Seite
macht sich bei ihm die tiefe und folgenreiche Einsicht geltend,
daß im Denken darum das Sein gesetzt ist, weil alles Denken
ein Denken von etwas ist, einen Inhalt hat, den es denkt.
«Nicht ohne das Seiende, in dem es sich ausgesprochen findet,
kannst du das Denken antreffen.»^ Daraus ergibt sich aber
auf der andern Seite für Parmenides, indem ihm das Nicht-
Sein eben deshalb unmöglich ist, weil es undenkbar ist, die
nicht minder bemerkenswerte Einsicht, daß, was soll sein können,
auch denkbar sein muß, daß also, was undenkbar ist, auch —
Sit venia verbo — unseibar ist.* Denn ebendarum ist ihm das
Nicht-Sein undenkbar, weil das Sein schon im Denken anse-
troffen wird, und weil er sonst zu einem seienden Nicht-Sein
oder einem nicht-seieuden Sein gelangen müßte, was unmöglich
ist und sich nicht in das «unerschütterliche Herz der wohlge-
rundeten Wahrheit» fügt.^
^ IV, 3. . . . Sttok; ^(jTiv T6 Kai ui; ouk Iot\ nn eivai und VII, 1. oü yöp
larjTTOTe toOto ba|if|i eTvai nn lövja.
- VI, ebenda. XPH tö X^yeiv xe voeiv t ^öv eiajuevai.
3 Übersetzung von Diels, VIII, 35—36:
oü YÖp civeu Tou ^övxoq, ^v lui ireqpaxiaia^vov ^ativ,
eüpnöeiq TÖ voeiv ...
* Ebenda 8 — 9: . . . oO y^P cpcxröv oübd voiixöv
6(Jxiv ÖTTiu^ OUK lajx . . .
^ I, 29. ... 'AXrideirii; eÜKUKAeoq dxpe|a^^ fixop.
44 2. Kapitel.
Weil also auf der einen Seite das Denken nicht ohne das
Sein angetroffen wird und ebendarum auf der andern Seite ein
Nicht-Sein undenkbar ist, ergibt sich für Parmenides, indem
ein Denken nicht ohne ein Gedachtes und ein Gedachtes nicht
ohne ein Denken sein kann, die engste Beziehung, die zwischen
Sein und Denken selbst denkbar ist, nämUch die Beziehung
der Identität: «Denken und Sein ist dasselbe».^ Weil das Sein
ijn Denken angetroffen wird und außer dem Denken kein Sein
angetroffen werden kann, ohne daß es zu einem undenkbaren
Sein, einem nicht denkenden Denken, einem unseibaren Sein
würde, so daß es der Bedingung der Möglichkeit widerstritte^,
so muß für ihn konsequenterweise jeder Unterschied von Sein
und Denken aufgehoben, müssen beide als identisch gesetzt
werden.
Weil im Denken das Sein also immer schon gesetzt, ange-
troffen wird, ist das Sein kraft des Denkens notwendig, und es
ist unmöglich, daß es je nicht sein könnte. Es kann also nie
je nicht gewesen sein und wird nie je nicht sein, muß also unge-
worden und unvergänghch sein. Man kann nicht eigentlich
sagen, daß es einst war und einst sein wird, weil es in jedem
Augenblick ganz ist, Eines, unerschütterlich, ohne Ende und
allzeit im Jetzt gegenwärtig.^ Die zeitliche Allgegenwart hebt
es aber eigentlich über alle Zeit, alle zeitliche Grenze, über jedes
«Ende» des Einst und Künftig hinaus und gibt ihm im Jetzt
' V, . . . TÖ Y"P auTÖ voeiv iaziv re kui elvai.
- Es ist recht beachtenswert, welche Bedeutung hier und für die ganze
Parmenideische Seins-Lehre die Korrelation von Möglichkeit und Denkbarkeit
auf der einen Seite und von Unmöglichkeit und Undenkbarkeit auf der anderen
Seite hat. Fi-. IV, VII, VIII sind dafür in ihrem Zusammenhange bezeichnend.
Es ist daher ebenfalls ganz charakteristisch, welche Bedeutung Piaton Parm.
127 c f., Zenon für die Bestimmung des Widerspruchsgesetzes beimifst. Das
dürfte historisch ebenso richtig sein, wie es sachlich auf Parmenides' ontologische
Gesichtspunkte zurückweist.
=> VIII, 3-6:
. . . ijü<; (iYtvrjTov ^6v Kai dvdiXeöpöv ioriv
oi)\ov |aouvo-rev^(; re Koi dxpeiu^i; rjb' dt^XeOTOV.
oi)bi ttot' r\v o^jb' Sarai, itiei vOv Sötiv öjaoö ttöv,
iv, ouvex^q •
Die eleatische Schule. 45
«ohne Ende» Ewigkeit, nicht zeitlich ausgedehnt nach der Ver-
gangenheit und Zukunft. Das Sein hat immer das < Jetzt»
der Ewigkeit.^ Gewordenheit und Vergänglichkeit sind darum
von ihm ausgeschlossen. Denn wäre es geworden und einst
nicht gewesen, so müßte es — da es aus dem Sein, das ja nicht
gewesen wäre, und wenn es gewesen wäre, nicht mehr zu
werden brauchte, nicht sein kann — aus dem Nichts hervorge-
gangen sein. Aus dem Nichts aber kann es nicht sein, da ja
das Nichts selbst nicht ist. Hier wird also mit aller Klarheit
und Schärfe das Axiom, daß aus nichts auch nichts hervor-
gehe, präzisiert.^
Weil das Sein aber Eines ist, weder neues Sein entstehen
noch vom Sein etwas vergehen könnte und das Sein so in sich
gleichartig und ohne Teile ist, kann zu ihm auch nicht mehr
Sein hinzukommen, das seinen Einheitszusammenhang von Ewig-
keit her irgendwie störte, noch von ihm etwas hin weggenommen
werden^, das Sein kann nicht mehr oder weniger sein. In der
Einheit des Seins liegt sein Zusammenhang und seine Gleich-
artigkeit in jeglicher Hinsicht, und die Ungewordenheit und
Vergänglichkeit seiner Einheit schließt alles Mehr oder Weniger
aus. Damit ist eine für das Substanzproblem neue und blei-
^ Strümpell, Geschichte der theor. Philos. der Griechen, S. 44, faßt diese
Bestimmung geradezu als Zeitlosigkeit, weil, Avenn die Zeitlichkeit vom Sein
ausgesagt würde, damit zugleich etwas anderes aufser dem Sein ausgesagt
würde, das aber als etwas anderes als das Sein, als ein Nicht-Seiendes, gedacht
werden müßte und das Nicht-Sein, nach Parmenides, nicht sein kann. Wenn
nun in dem «duei vöv eaiiv öjuoö -rrctv» auch expUzite nicht die Bestimmung
der Zeitlosigkeit ausgesprochen ist, so dürfte Strümpell den tieferen Sinn damit
doch durchaus richtig getroffen haben.
2 VIII, 12—13:
oiihi ttot' ^k ixii ^ÖVTOC, eqpri0ei iriaTioc; ioxvc;
YiTveööai xi irap' auxö "
vgl. 7 — 8: . . . out' ^k ixx] iövToq Maavj
<pdaöai a' oub^ voeiv.
3 Ebenda 22—25:
oi)hi biaiperöv ^axiv, inel nd-v döxiv ö|aoiov *
oub^ Ti Tf|i |uäX.Xov, TÖ Kev ei'pYoi |uiv ouv^xecf^cii/
oubd Ti xeipörepov, iräv b' ^luirXeöv ^axiv ^övxoi;.
TÜJi £uvgx^<; Ttäv ^axiv • iöv fäp iövn TreXctSci.
46 2. Kapitel.
bende Bedeutung gewonnen. Man hat darum geradezu von
der «qualitativen Konstanz», wie von der «quantitativen Kon-
stanz»^ und davon, daß nach Parmenides «die Vermehrung oder
Verminderung der Substanz unmöglich» sein soll, gesprochen.'
Allein die quantitative Bestimmung, soweit sie für die Substanz
notwendig wird, liegt bei Parmenides noch nicht vor. Aber,
und darin liegt seine große Bedeutung für das Substanzproblem,
er legt in seinem SeinsbegrifF, von dem er das Mehr und
das Weniger explizite ausschließt, derart den logischen Grund
für den Substanzbegriff', daß auch von ihm dann erst das
Mehr oder Weniger ausgeschlossen werden kann. In dem
Nicht Mehr und Nicht- Weniger des Seins aber hat Parmenides
erst die logische Grundlage für die weitere Entfaltung des Sub-
stanzbegriftes geschaff'en, und das bezeichnet die ganze hohe
Bedeutung seiner Leistung für unser Problem.^
Es ist damit nichts Geringeres gewonnen, als die In-sich-
Geschlossenheit des Seins, seine Identität und sein widerspruchs-
loses An-und-für-sich-Sein (koö' eauTo) und Beruhen in sich
selbst.^ Weil das Sein ja mit dem Denken zusammenfällt, so
^ Gomperz, Griechische Denker I, S. 140, bezieht die «quantitative Kon-
stanz», wie die «qualitative Konstanz» auf das Sein des Parmenides, indem er
dieses freilich als «Raumwesen» faßt. Eine Auffassung, die, wie sich später
zeigen wird, ganz unmöglich ist, obschon sie von vielen Historikern ver-
treten wird.
^ Kühnemann, a. a. 0., S. 69.
2 Natorp, «Aristoteles und die Eleaten» (Philos. Monatshefte XXVI, S. 13)
faßt, wenn ich mich nicht täusche, den Sachverhalt ebenso auf, wenn er be-
tont, daß «die Erhaltung der Substanz in unveränderhcher Quantität allerdings
vorschwebt», daß es sich aber dabei «um kein anderes Mehr oder Weniger
handelt, als um das Mehr und Weniger des Seins». Denn in dem «Vor-
schweben» der Substanz ist diese selbst noch nicht gesetzt. Vor allem wehrt
Natorp durchaus richtig die Räumlichkeit des Seins ab. Damit ist die Unter-
scheidung des Seins und des substantiellen Seins gewahrt. Wer diese über-
sieht, der kommt freilich mit Notwendigkeit dazu, im Sein des Parmenides,
wie Gomperz und Zeller, ein ganz unverständliches und, wie sich zeigen
wird, mit den Parmenideischen Grundüberzeugungen unverträgliches «Raum-
wesen» zu sehen.
* VIII, 39-30:
TOllTÖV r ^V TOUTÜJl TC |U^V0V KOd' ^OUTÖ TE KeiTOl
XOÖTiU(; ?|ittebov aijOi f^^vei.
Die eleatische Schule. 47
muß die Bestimmung des Denkens zugleich Bestimmung des
Seins sein. Die Bestimmung des Denkens geht auf die Ein-
heit der Wahrheit, Das Denken ist das Reich der «wohlgerun-
deten Wahrheit». «Wohlgerundet» wie die Wahrheit ist darum
auch das Sein, denn wahrhaft ist nur die Wahrheit selbst als
das Reich des Denkens, und sie ist darum auch das Reich des
wahren Seins. Ebendarum ist das Sein selbst wohlgerundet
und «der Masse einer wohlgerundeten Kugel» vergleichbar.^ Daß
' VIII, 43. . . . cükükXou öqpai'pr)^ evaXiYKiov öykuui; dieses Bild, so wie
der Umstand, daß im Zusammenhange mit ihm das Sein «überall hin abgegrenzt»,
heißt (42 — 43: xexeXeaia^vov ^ötI TtavTÖOev), daß die starke Notwendigkeit es
überall umgibt, in Banden und Schranken hält, daß darum das Sein nicht
ohne Abschluß sein darf (VIII, 30—32: Kparepr) y^P 'AvdYKrj ■ndparoq iv
öeaiaoiaiv ^x^i, tö |luv äja^k ^^pYei. ouvcKev ouk oiT^XeuTOv tö ^öv Qimc, elvai.),
daß es nach allen Seiten hin gleich weit, darum auch in gleicher Weise auf die
Grenzen gerichtet ist (49 : oi Yoip iravTÖdev loov, oiuuq iv ireipaöi KÜpei) alles
das hat einen großen Teil der Historiker veranlaßt, das Sein des Parmenides
nun selbst körperlich-massig zu denken. Ohne nun hier auf die Mannigfaltig-
keit aller einzelnen Ansichten auch im Einzelnen eingehen zu können, sei nur
kurz auf das Wichtigste verwiesen. Zu dem, was oben im Texte bereits unter
unmittelbarer Beziehung auf Parmenides' eigene und ausdrückliche Bestim-
mungen gesagt wurde, sei vor allem verwiesen auf die Tatsache, daß eine
körperlich materielle Deutung des Parmenideischen Seins den festesten Grund-
ansichten des Parmenides zuwiderläuft, ja sie geradezu aufheben müßte. Par-
menides verweist nicht nur die «Veränderung des Ortes und den Wechsel der
leuchtenden Farben» ausdrücklich in das Reich des Scheins (VIII, 41 : Kai töttov
öWdcraeiv bid re xp6a qpavöv äjaeißeiv), so daß man, wie Kinkel unter Bezug-
nahme auf diese Stelle mit Recht bemerkt (Gesch. d. Philos. I, S. 34, Anm. 16),
zu der sinnwidrigen und nicht einmal vorstellbaren Annahme eines «Körpers,
der nicht sinnlich wahrnehmbar, nicht gefärbt, nicht beweglich wäre», gelangte.
Und was, wenn man eine solche begrenzte Kugel annehme, die als solche räumlich
begrenzt sein müßte, ob man nun außer ihr noch Raum annehmen wollte
oder nicht, in jedem Falle die Grundpositionen des Parmenides geradezu um-
stoßen müßte, das ist die Konsequenz, daß es außer dem Sein entweder noch
ein Sein geben müßte, wenn es den Raum außer ihm, das ja kugelgestaltig
wäre, gebe, nämlich das Sein des Raumes, oder daß es, wenn es den Raum
nicht gebe, dann neben dem Sein ein Nichts gebe. Das eine, wie das andere
widerspricht Parmenides' Grundüberzeugungen, das eine der Einheit des Seins,
das andere dem Nicht-Sein des Nichts. Aus diesem Grunde hat schon treffend
Strümpell, a. a. 0., S. 44 die Räumlichkeit des Seins abgelehnt und wie M. Wundt
von Heraklit (vgl. S. 35, Anm. 1), so er von Parmenides richtig bemerkt, daß
48 2. Kapitel.
es sich hier in Wahrheit nur um einen Vergleich handelt, folgt
nicht bloß erstens daraus, daß diese Bestimmung selbst aus-
es sich ihm um den «BegrifT des absoluten Seins» (ö. 54) handle. Eine noch
schlagendere und vollere Widerlegung der Auffassung, daß man in dem Bilde
der Kugel mehr als ein Bild zu sehen hätte, gibt Natorp, a. a. 0., S. 11 in dem
geradezu zwingenden Argument: «Ist das Sein kugelförmig, so ist es not-
wendigbegrenzt, und zwar im Räume; begrenzt im Räume aber kann es nicht
sein, denn woran sollte es grenzen? An ein Anderes? Aber es gibt jakein
Anderes? An das Nichts? Aber es gibt ja kein Nichts. Oder soll man sich
etwas wie eine unbegrenzte Kugel vorstellen?»
Wie wir heute einen guten Sinn darin finden, daß Fichte und Hegel
die Geschlossenheit des Denkens der «Kreislinie» vergleichen — ich verdanke
diese Erinnerung an das Bild bei Fichte und Hegel einem mündlichen Hin-
weise meines Freundes Otto Baensch — und wie wir ohne weiteres hier das
Bild eben bildlich nehmen, so schwinden auch bei Parmenides alle die Un-
gereimtheiten, die der buchstäblichen Kugelauffassung anhaften, wenn man,
wie es Parmenides' eigenen Worte n entspricht, das Bild eben bildlich nimmt.
Dann hat es den guten und wertvollen Sinn der Einheit und begrifflichen Ge-
schlossenheit des Seins, den ja einmal, warauf Natorp richtig hinweist, auch
Aristoteles Met. I, .5,986 b bezeichnet hat. Recht merkwürdig ist in der Tat die
Unterscheidung des Aristoteles hier: TTapjLievibri? |udv fäp ^oike toO Kaxa xöv
XÖYOv ivö(; äTrTe0Oai, MeXiaao? bi. tou Kaxd t^v ö\r|v. Mag Aristoteles die
Auffassung des Melissos richtig beurteilt haben oder nicht, soviel ist gewiß,
daß er hier die Parmenideische Einheit als logische gerade der materiellen
entgegengestellt. Wenn Diels, obwohl er selbst sonst manchmal der dinglichen
Seinsauffassung hier zuneigt (Parmenides' Lehrgedicht, griech. und deutsch,
S. .55f.), sagt: «Das Herz dieses wahren Seins, das nie wankende, bedeutet also
den festen Kern seiner Welt und seiner Weltanschauung, beides fällt für ihn
zusammen, wie Sein und Denken. Beides ist für ihn rund und ganz und ohne
Fehl und Widerspruch», so kann ich das dem Geiste des Parmenides nicht so
zuwider oder gar so «böotisch bäuerisch» linden, v/ie Kinkel es a. a. O. ebenda
in fast leidenschaftlicher Polemik tut. Sollte sich zwischen Diels und Kinkel
hier nicht selbst eine gewisse Übereinstimmung ergeben, wenn man, was doch
wohl Diels' Absicht ist, für das «rund» die entsprechende Ergänzung in dem
«ganz und ohne Fehl und Widerspruch», in dem «Zusammenfallen von Sein
und Denken» sucht? Mir scheint gerade darin die widerspruchslose Ge-
schlossenheit und Einheit des Seins zum Ausdruck kommen zu sollen.
Zu bemerken ist endlich noch das Eine, daß die materiell-dingliche Auf-
fassung des Parmenideischen Seins ebenso wie zu Widersprüchen innerhalb
der Parmenideischen Lehre, auch zu solchen innerhalb deren Darstellung von
Seiten ihrer Interpreten führt. Anstatt vieler seien nur einige wenige genannt.
So kann Zeller, wie schon bemerkt, nicht umhin, trotz seiner realistischen
Deutung (a. a. 0. I, S. 51 7 ff.) zu behaupten, daß Parmenides «den Begriff des
Die eleatische Schule. 49
drücklich als Vergleich auftritt, sondern vor allem zweitens aus
der Identität von Denken und Sein^ und drittens daraus, daß
die Wahrheit genau so «wohlgerundet» heißt, wie das Sein.^
Daß dieses gelegentlich auch das Volle genannt wird, spricht
nicht dagegen, sondern dafür, wenn man erstens wieder die
Identität von Denken und Sein berücksichtigt, zweitens sich
gegenwärtig hält jene Bestimmung: «nicht ohne das Sein, in
dem es sich ausgesprochen findet, kannst du das Denken an-
Seins in seiner Reinheit» faßt. Wie der «Begriff des Seins in seiner Reinheit»
gefaßt sein soll, wenn das Sein eben nicht begrifflich, sondern stofflich gefaßt
ist, das bleibt wohl zum mindesten ein Rätsel. Es scheint mir ebenso un-
verständlich, wie Bäumkers Interpretation, wenn er a. a. 0., S. 51 zwar die
Materie richtig definiert als das «Substrat des Wechsels in der Körperwelt»,
und weil es für Parmenides keinen Wechsel gibt, es darum «für Parmenides
also überhaupt keine Materie im antiken Sinne mehr gibt» und Bäumker doch
im übrigen das Sein des Parmenides als «gleichartige Masse» (S. 56) deutet.
Eine interessante Mittelstellung nimmt J. Cohn, a. a. 0., S. 20, ein. Nach ihm
ist richtig das Sein des Parmenides «unräumlich zu fassen». Nur meint er
durch den Begriff der «Begrenztheit» werde das Sein bloß «gewissermaßen
räumlich bestimmt», was er selbst als eine «Inkonsequenz» ansieht. Er hätte
in der Tat mit dem Vorwurf der «Inkonsequenz» durchaus recht, wenn die
Begrenztheit selbst räumlich gefaßt werden müßte. Faßt man sie aber als In-
sich-Geschlossenheit, so fällt nicht bloß die «Inkonsequenz» fort, vielmehr kann
auch die von Cohn selbst mit Recht vertretene These, das Sein sei «unräumlich
zu fassen», erst dann ihren eigenen Sinn behaupten. Mehr als seltsam aber
mutet es an, wie Gomperz seine materialistische Pannenides-Auffassung spiri-
tualistisch abzuschwächen sucht, wenn er a. a. 0., S. 146 bemerkt, Parmenides
sei freihch nicht «folgerichtiger» Materialist gewesen, sein «Allstoff» sei zu-
gleich als «Allgeist» aufzufassen. Wäre Parmenides Materialist gev/esen, dann
hätte ihn Platon in seiner Materialistenfeindseligkeit nicht den «Großen» nennen
können. Daran ist gewiß so viel richtig: Wäre Parmenides' Sein stofflich-
körperlich zu denken, «ehrwürdig» und «groß» hätte ein Platon diesen Denker
nicht finden können. Aber wäre er der Gedankenschwächling, dessen Sein
zugleich «Allgeist» und «Allstoff» sein sollte, jene Kompromißnatur, die sich
aus Materialismus und Spiritualismus ein Sein zurechtfrisiert, dann hätte dejn
göttlichen Platon der «große» und «ehrwürdige» Parmenides weder «groß»
noch «ehrwürdig», sondern als jämmerlicher Schwachkopf erscheinen müssen.
So wahr Parmenides nach Piatons Urteil groß ist, so wahr kann also sein
Sein nicht «AUstoff» und «Allgeist» zugleich bedeuten, sondern weder «All-
stoff» noch «Allgeist».
1 V. (zitiert S. 44 Anm. 1).
2 1, 29 (S. 43 Anm. 5).
Bauch, Das Substanzproblem. 4
50 2. Kapitel.
treflFeu»^ oder kurz, daß das Denken einen Inhalt hat, den es
eben denkt, und daß darum drittens das Denken ebenso das
Volle heißt, wie das Sein.^ Es ist nichts anderes, als die wider-
spruchslose Geschlossenheit der Wahrheit zur Einheit, was uns
der Philosoph als Dichter — daß Parmenides auch Dichter ist,
wird man dabei vielleicht auch nicht übersehen dürfen — zu-
gleich auch im Bilde (evaXiYKiov) anschaulich machen will, weil
es an und für sich aller Anschauung entrückt ist: jene Ge-
schlossenheit zur Einheit, die Parmenides, mit HerakHt, als ein
«Gemeinsames» bezeichnet, zu dem er, wo er auch beginne,
immer wieder zurückkehren müsse. ^
Ist das Sein Eines, ein Selbiges im Selbigen von Ewigkeit
zu Ewigkeit, das weder entstanden ist noch vergehen wird, so
kann vom Sein kein Entstehen und Vergehen ausgesagt werden.
Und — das ist ganz konsequent, sofern Parmenides sich in
der Sphäre des reinen Seins hält, und beweist von neuem, daß
er das tut — damit muß er Entstehen und Vergehen schlecht-
weg leugnen. Das ist kein leichtfertiger Fehlschluß, sondern
von der Position des reinen Seins durchaus konsequent und
für das reine Sein durchaus gültig, weil er vom Sein noch gar
nicht zur Existenz weiterführt. Deim da außer dem Sein nichts
ist, so ist auch Entstehen und Vergehen nicht außer dem Sein,
und von ihm selbst kann ja ebenfalls Entstehen und Vergehen
nicht ausgesagt werden. Also wird, entsteht und vergeht weder
das Sein noch etwas außer ihm, da es außer ihm nichts gibt.
So ist also nur das reine Sein und kein Entstehen und Ver-
gehen. «So ist Entstehen verlöscht und Vergehen verschollen.»'*
Parmenides' Bedeutung für das Substanzproblem liegt also
darin, daß er in seinem Seinsbegriff dafür die bedeutsamste
logische Grundlegung schafft, ohne aber, da er mit dem Ge-
* VIII, 35—36 (zitiert S. 43 Anm. 3).
2 Vgl. dazu Windelband, a. a. 0., S. 32.
^ III. . . . SUVÖV hi ^01 iOTW
ÖTTTTodev äpEujj.iai ■ töOi yop ttciXiv i'Eoiuai audn;.
^ VIII, 21 : Tujq -fi^eaic, \xiv äTt^aßeoTai Kai ä-iruaroq öXeQpoc,. Vgl. Arist.
de caelo III, 1,298 b: ovQiv -föp oüxe YiTvecföat qpaoiv oüte qpöeipeööai tüjv
övTiuv, 6\\a (iövov boKcTv f],uiv oTov oi irepi Mihoaöv re Kai TTap|aevibr|v . . .
Die eleatische Schule. 51
scheheu und Vergehen doch allen Wechsel bestreitet, zu einem
eigentlichen Substanzbegriff zu gelangen. Das Charakteristische
des Verharrens seines Seins liegt im Bleiben, in der Beharr-
lichkeit, dem ^eveiv' schlechtweg, also gerade darin, daß es nicht
im Wechsel, sondern ohne Wechsel beharrt.*
Freilich könnte es scheinen, als führe nun Parmenides
selbst doch noch zu einem Substanzbegriff. Denn trotzdem
seine Metaphysik alle Physik eigentlich unmöglich macht'^, trägt
er im zweiten Teile seines Lehrgedichtes selbst eine Physik
vor, die zum Unterschiede vom Reiche des wandel- und wechsel-
losen Seins das Reich des Wechsels und Werdens behandelt.
Indes für das Substanzproblem entspringt daraus keine Förderung,
weil eben Wechsel des Ortes und der leuchtenden Farbe nicht
für wahres Sein anerkannt, sondern dem Schein der sinnlichen
Erkenntnis überwiesen wird* und von vornherein der physikalische
Teil der Lehre als «sterbliche Wahnmeinungen und seiner Verse
trügerischer Bau» von Parmenides selbst charakterisiert wird,
der ihm selbst nicht mehr als «zuverlässig» gilt.^ Und doch,
mögen das immerhin bloße Meinungen sein, es sind doch Ge-
danken, die als solche teil am Sein haben. Daß sie Parme-
nides für gänzlich leer und nichtig angesehen haben sollte, um
sie dann doch noch zu berichten, daß er hier also bloß Bericht-
1 VIII, 30 (s. S. 46 Anm. 4).
^ Man darf zwar Substanz und Materie auch in der antiken Philosophie
nicht miteinander verwechseln und identifizieren. Aber es ist derselbe Grund,
nämlich das Fehlen des Wechseins, aus dem für das Problem der Materie, wie
Bäumker, a. a. 0., S. 51 (vgl. S. 47 Anm. 1), zugibt, kein eigentlicher Begriff der
Materie sich für Parmenides ergibt, und aus dem für das Substanzproblem
sich kein eigentlicher Substanzbegriff ergibt. Gerade das aber gibt doch
wieder beides dagegen zu denken, nun mit Bäumker das Sein als «Masse»
zu setzen.
^ Das eigentlich «Aphysikalische» ist im Altertum natürlich längst scharf
und klar erkannt und besonders von Piaton, öfter noch von Aristoteles be-
merkt worden.
* S. S. 47 Anm. 1.
^ VIII, 50—53:
^v Tüji öoi Tiaüiu TTiaTÖv \ÖY0v f\be vöri|ua
diacpii; 6\rideir|<; • böEai; b' dirö ToObe ßpoTeiac;
ladvOave köoihov d|uüJv ^tt^uuv äiraTriXöv dKOÜuiv.
4*
52 2. Kapitel.
erstatter fremder, von ihm selbst aber als wertlos angesehener
Meinungen wäre, ist nicht recht zu glauben. Eine gewisse Not-
wendigkeit muß er auch diesen «Meinungen» zuerkannt haben,
wenn ihr Inhalt auch nur eine Welt des Scheins gegenüber der
Welt des Seins bedeuten mag.^ Allein die Schwierigkeiten, die
sich von hier aus ergeben, sind nicht zu überwinden. Mag es
sich in der Physik auch nur um eine Welt des Scheins handeln,
ist sie dann nicht wenigstens als eine Welt des Scheins? Und
da die Physik nun doch wohl, auch eben nach Parmenides,
nicht ganz nichtig ist, verlangt nicht gerade sein eigenes be-
deutsames Drängen auf Geschlossenheit und Einheitssetzung
auch eine Beziehung von Sein und Sehein und schließt auf der
anderen Seite eine solche Beziehung nicht von vornherein gerade
wieder der Gedanke aus, daß die Welt des Scheins eben doch
nicht wahrhaft ist? Man hat mannigfache Erklärungen für
diesen merkwürdigen Lehrbestand versucht.^ Am nächsten aber
scheint Medicus^ dem Sachverhalt zu kommen, wenn er die Physik
als <Mythos» faßt. Eine Erklärung für das Verhältnis beider
Bestandteile zueinander ist freilich auch damit nicht gewonnen.
Vielleicht liegt die rechte «Erklärung» darin, daß wir es eben
in der Physik mit etwas schlechtweg Unerklärlichem zu tun
haben, weil ihr Inhalt eben nicht dem reinen Sein der Ver-
nunft angehört, also ein irrationaler ist. Vielleicht auch be-
deutet er den ersten Schritt vom reinen Sein zur Existenz,
Das wäre für das Substanzproblem von Belang. Allein ich muß
sagen : vielleicht. Und so darf ich von der Physik des Parme-
nides für den Substanzbegriif keine Schlüsse wagen.
Alles, was Parmenides' Lehre für das Substanzproblem be-
deutet, liegt in seiner Seinslehre beschlossen. Das Merkwürdige
' Vgl. U. von Wilamowilz-Möllendorf (Herinos 34,205 f.). Dagegen
hält Bäurnker die Physik des Parmenides nocli für ein bloßes «Referat»,
a. a. 0., S. 6.3.
^ Außer den allgemeinen historischen Darstellungen ist besonders die
mehrfach erwähnte Abhandlung von Tannery, La Physique de Parmenide,
a. a. 0., S. 264 ff. von Bedeutung.
' F. Medicus, Zur Physik des Parmenides (Philos. Abhandlungen, Max
Hoinze zum 70. Geburtstage gewidmet, S. 137 ff.).
Die elealisclie Schule. 53
daran ist, daß er nicht eigentlich zu einem Substanzbegriffe
gelangt und für diesen Begriff doch von größerer Bedeutung
ist als die Denker, die wir vor ihm kennen gelernt haben:
bedeutender als Thaies, Anaximander, Anaximenes, insofern
er mit Heraklit explizite im Denken das Sein faßt, von ihm
unterschieden aber durch die Stellung zum Werden, Aber er
bringt auch Heraklit gegenüber ein neues wertvolles Moment
in die Entwickelung des Substanzproblems, insofern er gerade
im Denken nicht schon das Beharrliche im Wechsel und damit
die Substanz, sondern allein ein beharrliches, in sich geschlossenes,
einheitliches, weder vermehrbares noch verminderbares Sein
faßt, und damit die logische Grundlegung vorbereitet für das
Dasein und damit für die Substanz. Heraklits Größe lag darin,
daß er im Logos, in der Vernunft, das Sein selbst ergriff als
Wechsel und die Vernunft als die bleibende Bestimmung des
Wechsels, die Substanz, erkannte. In diesem unmittelbaren Er-
fassen des Wechsels wird ihm zwar die Substanz, aber nicht
eigentlich das Sein zum Problem. Da setzt nun sein Antipode
Parmenides ein. Zwar ergreift auch er das Sein unmittelbar
in der Vernunft, zunächst aber sofort als Problem, indem er
es als beharrlich, einheitlich, unvermehrbar, unverminderbar
auf der Vernunft gründet, indem er erkennt, daß das Denken
selbst nicht ohne dieses Sein, in dem es sich ausgesprochen
findet, könne gedacht werden. Dadurch also, daß er nicht bloß
im Denken unmittelbar überhaupt das Sein ergreift, sondern
dies gerade erst dadurch tut, daß er es aus dem Denken selbst
ableitet, es als Inhalt des Denkens analysiert, schafft er die
logische Grundlage für die Erkenntnis eines beharrlichen Da-
seienden selbst, jene Grundlage, auf die forthin das Substanz-
problem selbst gestellt werden konnte und gestellt werden
mußte, um seine weitere Entfaltung gewinnen zu können.
3. Wenn das überhaupt möglich ist, so sucht mit noch
größerer Energie als sein Meister Parmenides dessen Freund
und Schüler, Zenon von Elea, die Einheit des Seins zu be-
haupten. So viel Eigenes und Wertvolles aus seiner apolo-
getischen Tendenz gleichsam als ein Nebeneffekt resultiert, so
führt er doch eerade unser Problem nicht merklich über den
54 2. Kapitel.
von Parmenides erreichten Stand hinaus. Bei seiner apologeti-
schen Tendenz steht von vornherein schon zu erwarten, daß er
sich gerade im Zentralbegriff der Lehre mit Parmenides decken
wird, daß er also, wie Zeller richtig bemerkt, sich «das Seiende
nicht anders gedacht haben wird, als jener ».^ Daher haben
auch ganz konsequenterweise diejenigen Geschichtsforscher, die
das Sein bei Parmenides idealistisch gedeutet haben, dieses auch
bei Zenon idealistisch gefaßt^ und diejenigen, die das Sein bei
Parmenides stofflich genommen haben, es auch bei Zenon
stofflich betrachtet.^ Mir scheint freilich die Entscheidung für
die eine oder die andere Auffassung bei Zenon fast noch schwie-
riger zu sein, als bei Parmenides.
Zenons Verfahren ist, wie schon Piaton* erkannt hat, das
einer höchst entwickelten Dialektik. Er sucht die Einheit des
Seins zu beweisen, indem er die Vielheit widerlegt: «Wenn es
Vieles gibt, so muß es notwendigerweise doch gerade sovieles
geben, als es eben wirklich gibt, nicht mehr und nicht weni-
ger. Gibt es aber gerade soviel, als es gibt, so ist es be-
stimmt begrenzt.»
Diesem, zunächst nur die Konstanz des Seins zum Aus-
druck bringenden Satze steht aber der Gegensatz gegenüber:
«Gibt es Vieles, so ist es unbegrenzt. Denn zwischen dem
einzelnen Seienden liegt stets wieder Seiendes und dazwischen
wieder anderes. Also ist das Seiende unbegrenzt.»^ Ebenso
muß es, wenn das Sein eine Vielheit ist, sowohl unendlich
groß, wie unendHch klein sein: jenes, weil es zwischen jedem
Sein und jedem anderen Sein, damit sie doch voneinander
unterschieden werden können, etwas geben muß und zwischen
diesem wieder etwas usf. ins Unendhche; unendlich klein, weil
die Vielheit doch aus Einheiten bestehen muß, die Einheit aber
1 A. a. 0. I, S. 537.
2 So Strümpell, a.a.O., S. 45, Natorp, a.a.O., ebenda ff., Kinkel, a. a. 0.
I, S. 145 ff.
3 So Zeller, a. a. 0. I, S. 534 ff., Windelband, a. a. 0., ö. 37, Gomperz,
a. a. 0. I, S. 156, Bäumker, a. a. 0., S. 58.
* Vgl. Phaedr. 201, d.
^ Simpl. Phys. 140 (Diels, ir. 3, Fragm. I, S. 134).
Die eleatische Schule. 55
unteilbar, also unendlich klein sein muß und die Summe aus
Unendlich-Kleinem keine Größe ergibt.^
Hier scheint nun das Sein auf jeden Fall räumlich ge-
dacht zu sein. Aber es könnte weiter ebensogut scheinen, als
suche Zenon mit der Vielheit des räumlichen Seins nun über-
haupt das räumliche Sein zu widerlegen, wie daß er von vorn-
herein das Sein räumlich denke, aber nur dessen Vielheit
widerlege, um die räumliche Einheit des Seins zu behaupten.
Auch wenn er die Bewegung damit zu widerlegen sucht, daß
ein Bewegtes sich doch in dem Räume, den es einnimmt, nicht
bewegt, weil es ihn dann eben nicht einnehmen würde und in
dem Räume, in dem es sich nicht befinde, doch auch nicht
bewegen könne-, so ist auch damit weder gesagt, daß er die
1 Ebenda und 139 (Diels, fr. 1 und ii, Fragm. S. 133 f.). Man bemerkt
hier, wie Zenon ein ungemein interessantes Problem erwächst, wenn er auch
nicht schon zum Begriff einer stetigen Summation infinitesimaler Momente
gelangt und er dann, modern gesprochen, noch das Differential mit Null ver-
wechselt. Er macht in der Sphäre des Begriffs gerade den umgekehrten
Fehler wie in der der Anschauung, wo er die Gi'enzen selbst glaubt real setzen
zu müssen und so zwischen die Grenzen wieder Grenzen, die realiter immer
wieder die Grenzen begrenzten, in infinitum einschiebt.
^ Diog. Laert. IX, 72 (Diels, fr. 4, Fragm. I, S. ] 35) tö Kivoü|aevov out'
^v du iati TÖTTUui Kiveixai out' ^v dii |uri eöTi. Für das Substanzproblem von
Interesse ist dabei, obwohl es ja von Zenon dadurch auch weiter wieder ab-
geschnitten wird, dafä Zenon einen Wechsel sicher nur bei einer Vielheit des
räumlichen Seins für möglich hält. Aber eben mit dieser Vielheit muß ihm
von vornherein auch der Wechsel wegfallen. Da ihm der Wechsel der Viel-
heit des räumlichen Seins eben die Bewegung ist, gibt er die oben bezeichnete
Widerlegung der Bewegung. Diese zeitigt dann weiter die bekannten und be-
sonders seit Aristoteles (vgl. besonders Phys. IV, 3,210 und VI, 9,239) viel
besprochenen Bewegungsaporien. Sie gipfeln in letzter Linie gleicherweise in
dem Gedanken der unendlichen Teilbarkeit der Bewegungsstrecke, deren ins
Unendliche fortgesetzte Teilbarkeit für die beliebig kleine Entfernung von
Ausgangspunkt und Zielpunkt keinen Fortgang von jenem zu diesem gestattea
soll. Auch hier macht sich die hehnhche Gleichsetzung von Null und Un-
endlichkleinem und der Mangel einer Integrationsmöglichkeit bemerkbar. Damit
taucht aber, und das ist das bleibend Bedeutsame, ein Gedanke — wenigstens
als Problem — auf, der seine Erledigung freilich erst in der höheren Analysis
finden sollte, wie von bleibendem Werte der hier zugleich entdeckte Begriff
der Relativität der Bewegung ist. Vgl. dazu Wellmann: Zenons Beweise gegen
die Bewegung und ihre Widerlegungen (Gyran.-Progr, Frankfurt a. 0.).
56 2. Kapitel.
Räumlichkeit des Seins habe widerlegen, noch, daß er sie da-
mit habe behaupten wollen. Denn unbewegt könnte Zenon
sich das Sein ebensogut gedacht haben, wenn er es als im
Räume ruhend, wie wenn er es unräumlich gesetzt hätte. Die
größte Schwierigkeit aber liegt wohl darin, daß auf der einen
Seite das wirklich Unteilbare, die Einheit nach dem zweiten
Argument, keine Größe haben soll, da ja nur so auch die
Summe der vielen Einheiten nichts ergeben kann, daß aber
auf der anderen Seite das, was keine Größe haben soll, eben
darum selbst nichts sein soU.^ Nun ist aber doch gerade das
Sein des Parmenides ein Eines und Unteilbares, und diese Ein-
heit und Unteilbarkeit hat ohne Zweifel auch Zenon mit der
Verteidigung des Parmenideischen Seins behauptet. Auch er
setzt es als ev ouvex^?-^ Wenn aber die Einlieit keine Größe
haben soll, das, was keine Größe haben soll, auch nicht sein
soll, müßte dann nicht folgen, daß das Eine Sein auch des
Zenon nicht sei?
Alle diese Schwierigkeiten lassen sich, soweit ich sehe, nur
dann auflösen, wenn wir in dem Einen wahrhaften Sein das
reine begrifi'liche Sein des Parmenides anerkennen, das keine
Größe hat, in dem größenhaften, teilbaren Sein aber das Sein
der räumlichen Anschaulichkeit sehen, innerhalb dessen die
Größe die der Körperlichkeit^, das Sein von vornherein das
der anschaulichen Vielheit ist, die zum Widerspruch führt, also
nicht wahrhaftes Sein ist, sondern der Sphäre der Parmeni-
deischen Physik angehört. Was in der einen Sphäre von der
Einheit gilt, gilt von dieser aber nicht in der anderen und
umgekehrt. Die Gegensätze in den oben bezeichneten Gegen-
satzpaaren stünden darum nicht im Verhältnis des Widerspruches,
sondern in dem der Antinomie."^ In der Tat scheint ein Argu-
^ Simpl. Phys. 140 (Diels, fr. 1, Fragm., S. 133): ei nn ^xo» M^T^^o? tö
öv, oib' öv eir].
2 Arist. Phys. VI, 2,233 b.
* Arisl. Met. II, 4,1001b: icai ei h^y^öo?, auuiuoTiKÖv.
^ Zeller bezeichnet das durchaus zutreffend, wenn er a. a. 0. I, S. 541
ausführt: «Zenon redet hier zunächst nicht von dem einen Seienden, sondern
von der Voraussetzung der Vielheit ausgehend sagt er, wie jedes von den
Die eleatische Schule. 57
ment^ gegen die RäiimlichkeÄ des Einen Seins entscheidend
zu sein: Wenn das Sein räumlieh wäre, müßte doch der Raum,
sofern er selbst ist, wieder im Räume, dieser wieder im Räume
u. s. f. ins UnendUche sein. Damit soll aber doch das räumliche
Sein explizite widerlegt sein.- So bleibt Zenon in letzter Linie,
vielen Dingen gedacht, werden müßte. Sofern er aber zeigt, daß jedes Ding,
um eines zu sein, auch uuteübar sein müßte, würde seine Behauptung auch
auf das eine Seiende Anwendung finden: auch dieses muß, um eins zu sein,
unteilbar, Iv auvex^q sein». — So richtig das ist, so bleibt nur nicht abzusehen,
worin nach Zeller, der das Sein des Parmenides und das des Zenon räumlich
faßt, dann der Unterschied liegen soll zwischen dem einen Sein, das wahrhaft
sein soll, und jenem einen Sein, das als Bedingung der sicher räumlich ge-
dachten Vielheit nicht soll sein können.
' Arist. Phys. IV, 1,209a: ei y^P ttcIv tö öv iv töttuji, br|\ov öti Kai
ToO TÖTTOU TÖTIOC, äoitti, Kai TOÖTO ei(; äireipov irpöeiaiv.
- Es bliebe freilich noch eine, und zwar die einzig konsequente Mög-
lichkeit, trotzdem das Sein Zenons räumlich zu fassen, wenn man, wie Windel-
band a. a. 0., S. 37 das tut, in jenem Argument Zenons lediglich eine Wider-
legung des leeren Raumes, nicht des räumlichen Seins überhaupt erbhckt.
Man käme dann keineswegs zu der Absurdität einer grenzenlosen Kugel, denn
die Zenonische Kugel, wenn man an eine solche dächte, könnte immerhin eine
festbegrenzte Weltkugel sein oder irgend sonst ein begrenztes körperliches
Sein. Auch würde die Auffassung Windelbands der Einheit des Seins insofern
nicht widerstreiten, als man nicht sagen könnte, außer diesem Einen Sein
müßte es ja noch ein Sein geben, eben das des Raumes. Denn soweit der
Raum wäre, fiele er mit dem Einen Sein zusammen und außer ihm gäbe es
ja kein Sein, da der leere Raum nicht sein sollte. Allein eine Schwierigkeit,
die mir Windelbands Auffassung, obwohl sie für die körperliche Deutung des
Eleatischen Seins die einzig konsequente wäre, unannehmbar macht, besteht
darin, daß die körperliche Begrenzung zwar kein Sein außer dem Sein, aber
dann doch das Nichts erforderte und damit die Begrenzung wieder aufhöbe,
wie das Natorp a. a. 0., S. 11 (vgl. S. 47 Anrn. 1), mit dem Hinweis darauf
gezeigt hat, daß das körpei'lich begrenzte Sein weder an ein anderes Sein, da
es ein solches ja nicht geben sollte, noch an das Nichts, da es ja ein solches
ebenfalls nicht geben sollte, grenzen könnte. Wenn nun schheßhch auch
Zenon gerade zu dem «Nichts» so ausdrücklich, wie Parmenides, eine ab-
lehnende Stellung eingenommen hat, so läßt sein inniger Anschluß an seinen
Lehrer, seine apologetische Tendenz hinsichtlich des Seins doch von vornherein
vermuten, daß er sich hinsichtlich des Nicht-Seins ebenfalls mit ihm in Über-
einstimmung befunden habe. Und implizite liegt der Beweis dafür, daß er in
diesem Punkte durchaus den Tenor des Eleatischen Denkens gewahrt habe, ja
auch darin, daß er die Vielheit des Seins damit ablehnte, daß er zeigen zu
können meinte, sie könne nicht sein.
58 2. K&pitel.
wie Parmenides, bei der Idee des absoluten Seins stellen. Das
räumliche Sein gilt ihm, wie die Bewegung im Räume als re-
lativ, ins Reich der Parmeuideischen Physik gehörig. Insofern
er aber allen Wechsel selbst als Bewegung fassen muß, zu einem
Begriffe der reinen Bewegung und des Wechsels jedoch nicht
gelaugt, bleibt er bei seinem Begriffe des reinen Seins stehen,
bei einem beharrlichen Sein, das, wie bei Parmenides, ohne
Wechsel, nicht im Wechsel beharrt, und bringt für das Sub-
stanzproblem keinen wesentlich neuen Beitrag. Was trotzdem
aber doch unserem Probleme zugute kommt, ist der Umstand,
daß hier, wie Windelband sagt\ «der Gegensatz von Verstand
und Anschauung» zu lebendiger Entfaltung gelangt. Das war
notwendig, damit gerade auch für das Substanzproblem der
Gegensatz in der weitereu Entwickeluug wieder zu einem Aus-
gleich- gelangen konnte. Exphzite hat das Substanzproblem
von Zenon zwar keine Förderung erhalten. Aber seine ganze
Dialektik gibt implizite doch dafür Impulse, die für die Weiter-
bildung nicht zu unterschätzen sind.
4. An Tiefe des Denkens nicht mit Parmenides, an Schärfe
des Denkens nicht mit Zenon vergleichbar wird die eleatische
Richtung durch Melissos beschlossen. Was von seiner philo-
sophischen Tendenz für unser spezielles Problem von Belang
ist, das weist durchaus auf seine Vorgänger zurück. Da, wo
er von ihnen differiert, tut er es auf Kosten der gedank-
lichen Strenge; und was sich ihm dabei auch selbständig und
neu gestaltet, das fördert unser Problem darum nicht erheblich,
weil ihm die begriffliche Ausgeglichenheit fehlt. ^ Von Bedeu-
tung ist es, daß er mit Parmenides die Einheit des Seins nicht
auf der SinnHchkeit gründet und zeigt, daß in der sinnlichen
Vielheit auch nicht einmal das viele Einzelne mit sich selbst
zur Einheit und Identität gelange, indem «uns das Warme kalt
und das Kalte warm, das Harte weich und das Weiche hart
zu werden und das Leben zu sterben und aus dem Nicht-
lebenden Leben zu entstehen scheint» daß uns «also
^ A. a. O. ebenda.
^ Vgl. dazu besonders die treffenden Ausführungen von Kinkel, a. a. 0.,
I, S. 164 f. und S. 170.
Die eleatische Schule. 59
der AugeDScheiu auf Gruud der einzelnen Wahrnehmung»
täuscht uiid daß «stärker als die wirklich vorhandene Wahr-
heit nichts ist».^ Daß er neben der Betonung der Einheit des
Seins den Sätzen, daß «aus nichts nichts werden kann»^ und
daß das Seiende «weder vermehrt noch vermindert werden kann»^,
eine besonders präzise Fassung gibt, ist für unseren Zusammen-
hang nicht unwesentlich. Weniger stringent ist freilich sein
Beweis dafür, daß das Sein andererseits auch nicht aufhören
könne zu sein, für den er sich auf die Ungewordenheit stützt.'^
Der zeitlichen Unendlichkeit entspricht bei ihm unvermittelt
aber sofort die räumliche, und die Gleichheit und Identität des
Seins fällt bei ihm gleich zusammen mit der räumlichen Un-
veränderlichkeit und Unbewegtheit.^ Zunächst zwar könnte es
scheinen, als ob Melissos, wenn er von der zeithchen Unend-
hchkeit, wie von der Unendlichkeit der Größe nach*^ spricht,
lediglich unter dieser die unendliche Zeitgröße selbst meinte,
und so ließe sich schließlich auch noch sein Begriff der Grenze
zeitUch deuten, wenn er aus der Unendlichkeit die Unmöglich-
keit der Mehrheit des Seins zu beweisen unternimmt.' Allein
^ Übersetzung von Diels, fr. 8, Fragm. I, S. 148.
^ Simpl. a. a. 0., S. 162 (fr. 1, Diels I, S. 14.3): . . . oübafiä äv Ytvoixo
oübev i.K jLiribevöi;; vgl. Arist. Soph. el. 5,167 b.
^ Simpl. a. a. O., S. 111 (fr. 7, Diels I, S.^14.5): jurite upoaYiTveTai lurjb^v
larire duöXXuxai.
" Vgl. fr. 2.
^ Diog. Laert. IX, 24: ^bÖKei be aüxuji tö iräv aireipov etvai Kai dva\-
Xoi'ujTov Kai dKiviiTOv Käi ev ö|uoiov eauTUJi Kai irXrjpec;. Kivriöiv xe inq etvai,
boKeiv bi eivai. Dala bei Melissos, trotz seiner Ableugnung des Werdens,
Heraklitische Momente wirksam sind, das ist hier ebenso richtig bemerkt, wie
ja auch Arist. außer Met. I, 5,986 b noch Phys. I, 3,186 a und III, 5,207 a
deutlich auf den Unterschied zwischen Parmenides und Melissos hinweist.
Denn gerade hinsichtlich der zeitlichen Unendlichkeit wird das schon deutlich.
Nach Parmenides konnte man ja nicht einmal sagen, daß das Sein immer
war und sein wird, weil es ewig im Jetzt vorhanden ist, wodurch Parmenides
die Ewigkeit des Seins eigentlich schon über die Zeit hinausrückte. Melissos
hingegen hat gerade hier die Heraklitische Wendung, «daß es immer war und
sein wird», genommen (vgl. fr. 2).
« Vgl. fr. 3 (Diels, S. 144).
' Vgl. fr. 5 und 6 (Diels, ebenda).
60 2. Kapitel.
die ausdrückliche Unterscheidung von ewig und unendlich, die
Behauptung, daß weder ewig noch unendlich ist, was einen
Anfang hat\ spricht dagegen und erlaubt nur eine räumliche
Auffassung des Seins bei Mehssos.
Daß weiter von dem Sein die Bewegung ausgeschlossen
ist, spricht auch nicht gegen eine räumliche Deutung. Im
Gegenteil spricht die enge Beziehung, die Bewegung und leerer
Raum hier zueinander haben, gerade für eine räumliche Deu-
tung. Denn die Bewegung ist nur deshalb als unmöglich ge-
dacht, weil es nicht etwa überhaupt keinen, sondern gerade
weil es keinen leeren Raum gibt, den es aber geben müßte,
wenn sich das Sein bewegen sollte, den es aber nicht gibt, weil
das Sein selbst voll ist und das Leere darum nicht ist,^ Ein
Umstand bereitet nur Schwierigkeit. Obwohl das Sein des
Melissos unendlich raumerfüllend sein soll, soll es doch auch
unkörperlich sein. Denn weil es Eines ist, soll es keine Dichte
haben. Denn hätte es diese, so hätte es Teile und wäre nicht
mehr Eines. Also darf es, weil ein Körper Dichte hätte, auch
keinen Körper haben. ^ Allein die Schwierigkeit läßt sich da-
^ Simpl. a. a. 0., 110 (fr. 4, Diels I, S. 144): äpxnv xe koi x^Xoq Ixov
ovb^ oüxe 6ibiov oüxe äircipöv daxiv.
^ Arist. Phys. IV, 6,i213b: Mehaaoc, \xev ouv Kai beiKvuai öxi xö irciv dKi-
vi-jxov 6K xoüxuuv ' €1 faß Kivrioexoi, dvdYKrj eivm (qJiq^^O kcvöv, xö bd Kevöv
oü xujv övxuuv; vgl. auch fr. 7, wo es heißt, daß das Sein voll ist, also das
Leere nicht ist, und daß das Sein darum nichts hätte, wohin es ausweichen
könnte und deshalb also unbeweglich sei.
* Simpl. a. a. 0., S. 109 (fr. 9, Diels I, S. 149): ei ^iv ovv eh-\, bei auxö
'dv elvai • ev bi öv bei aöxö oüJiaa |nri 'ix^iv. ei hi '^x^i Trdxoi;, ixo\ öv inöpia,
Kai ouK^xi ev eirj. Man braucht gar nicht in den ersten Worten ei |udv oöv
für ouv etwa döv zu lesen, um dennoch überzeugt zu sein, daß es sich um das
eine Seiende handelt. Bäumker sucht, da er, wie den ganzen Eleatismus,
so auch Melissos materialistisch deutet, diese Stelle abzuschwächen, indem
er a. a. 0., S. .59 f. zwar scharfsinnig, aber doch nicht zutreffend, gegen sie
geltend macht, «daß sich in den Fragmenten des Melissos als Subjekt
vierzehnmal xö ^öv mit Artikel, kein einziges Mal ohne denselben findet». Er
meint deshalb: «Das Wort würde daher auch an unserer Stelle als Prädiljat
eines nicht mehr zu ermittelnden Subjektsbegriffs anzusehen sein; vgl. N. Jahrb.
f. Phil. 132, S. .545». Allein, worum es sich in dem nicht zu ermitteln sein
sollenden Subjektsbegriff aliein handeln kann, das scheint doch aus der zwei-
fachen Setzung des ev evident zu werden. Selbst wenn das erste ev nicht
Die eleatische Schule. 61
durch heben, daß wir die unendliche Rauraerfüllung von der
KörperHchkeit unterscheiden. Unter Körperlickeit hat Melissos
■wohl nicht die unendliche Raumerfüllung selbst, sondern gerade
die Begrenztheit und Figuration der Raumerfüllung verstanden.
Darauf deutet der Umstand, daß er das All unendhch, den
Kosmos aber begrenzt setzt. ^ Sein Eines wird zur Materie,
zur vh-] im Aristotelischen Sinne.^ Deren Raumerfülluug ist ihm
eine absolute und unendliche, die der Körperlichkeit als Dichte
aber eine relative und begrenzte. Darum mußte Melissos von
dem, was unendlich und absolut «voll» ist, die Körperlichkeit
mit ihrer relativen Dichte, Begrenztheit und Figuration aus-
schließen, und so widerspricht die Behauptung des einen
nicht nur nicht der Leugnung des anderen, sondern die Schwierig-
keit fällt vielmehr dadurch weg, daß eines das andere wechsel-
entscheidend wäre, das zweite Iv mit dem hi öv läßt keinen Zweifel mehr
aufkommen. Dennoch hat hier bei Melissos, wenn auch nicht mit der Be-
gründung, so doch mit der materiellen Deutung im allgemeinen Bäumker
recht. Nur kann er das Recht nicht mit einer Abschwächung dieser Stelle
erhärten. Die Begründung liegt an einer anderen Stelle. Vgl. die nächste
Anmerkung.
* Stob. Ekl. I, 440: tö }xiv iräv otTieipov, töv bi KÖai^iov iretrepaaiLievov.
Der Kosmos kann hier zum Untei'schiede vom All uur im Sinne etwa der
Parmenideischen Physik verstanden werden, wobei sich zeigt, daß der ursprüng-
liche Parmenideische Standpunkt in gewisser Weise gerade umgekehrt wird.
Das All ist für Melissos das wahrhaft seiende Unendliche, während für Par-
menides das wahrhafte Sein in-sich-geschlossen ist, aber im begrifflichen Sinne.
Der Kosmos ist für Melissos gerade das in sich Geschlossene, das nicht wahr-
haft ist, sondern wie die Bewegung und das Endliche überhaupt der sinnfälligen
Welt der Scheinbarkeit, also, wie Parmenides sagen müßte, der Physik an-
gehört. Freilich ist diese In-sich-Geschlossenheit bei Melissos nicht wie bei
Parmenides eine logische, sondern eben eine physikalische. Hier wird noch
einmal die Aristotelische Unterscheidung zwischen Pai-menides und Melissos,
wonach jener das Eine Kaxd töv Xöyov, dieser Kard t)"-)v öXriv (Met. I, 5,986 b)
auffasse, deutUch (vgl. S. 47 Anm. 1). Es bleibt nur zu bedauern, daß Aristo-
teles diese richtige Erkenntnis so wenig durchgeführt und sie im übrigen so
gut wie ganz wieder fallen gelassen hat. Die Art, wie Bäumker vollends
hier die Aristotelische Unterscheidung verwertet, scheint mir an den Begriff
des Xöfoc, gar nicht heranzukommen. Wenn nicht gar in der ü\r|, so bleibt sie
hier zum mindesten in der Sphäre der aiaöiiöti; haften.
^ Arist. a. a. 0. ebenda, vgl. vorige Anm.
62 2. Kapitel.
seitig geradezu fordert. Freilich zeigt sich hier gerade mit be-
sonderer DeutHchkeit das Unausgeghchene in dem Verhältnis
von Denken und Anschauung. Immerhin könnte es scheinen,
als komme Melissos in dem Begriffe des Räumlich- Vollen dem
Substanzprobleme mehr zu Hilfe, als sogar Parmenides, indem
er nun von der Sphäre des reinen Seins fortschreitet zur seienden
Substanz, die von ihm als materielle Substanz gedacht wäre,
und die nun die von Parmenides im Begriffe des reinen Seins
geforderten Bedingungen erfüllte, ja mit ihrer Unendhchkeit
über sie hinausginge. Allein dieses scheinbare Fortschreiten
ist in Wahrheit ein bloßes Hinübergleiten ei^ dXXo Y^vog, ohne
eine feste Beziehung zwischen dem einen und dem anderen zu
entdecken. Insofern nämhch die begriffliche In-sich-Geschlossen-
heit des Parmenideischen Seins an und für sich zwar zunächst
eine andere Sphäre bezeichnet, als die räumliche Unendhchkeit bei
Melissos, und insofern auf der anderen Seite diese auf jene selbst
zurückweist, ohne daß eben Melissos sie in eine rechte Beziehung
zu dieser zu setzen vermochte, darf hier von einem eigentlichen
Weiterführen des Problems doch noch nicht gesprochen werden.
Insofern aber gerade das Räumlich-Volle gewisse Bedingungen
des Parmenideischen Seins erfüllt, vermag es darum doch noch
nicht die Forderungen des substantiellen Seins zu erfüllen.
Selbst wenn man das Räumlich -Volle als Materie ansprechen
darf, ist diese Materie doch noch nicht materielle Substanz im
eigentlichen Sinne, wie es die der ersten Naturphilosophie war,
allerdings ohne durch den Begriff des reinen Seins hindurch-
gegangen zu sein, wie es, freilich nur in gewisser Hinsicht, das
Räumlich- Volle des Melissos ist. Nur in dieser Hinsicht streut
dieser darum einen Samen für die Weiterentwickelung des
Problems aus. Er stellt oder vielmehr er deutet nur, ohne das
Substanzproblera im eigentlichen Sinne selbst weiterzuführen,
als es durch das Seinsproblem bei Parmenides geführt ist,
ja ohne dieses in der bei seinem Meister erlangten Tiefe und
Präzision zu erreichen, nur eine Art von Programm an für die
Weiterführung unseres Problems. Und nur deshalb fällt sein
philosophisches Bemühen überhaupt in die Sphäre unseres
Problems und war es hier kurz zu behandeln.
63
Drittes Kai^itel.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung innerhalb der Naturphilosophie.
War auf den elementarsten Anfängen des philosophischen
Denkens eines Thaies der Substanzbegriff noch in der Sphäre
der bloßen Anschauung verblieben, um überhaupt seine Be-
ziehung auf die anschaulichen Dinge wahren zu können, was
das logisch bedeutsame Motiv dieser ersten von der mytho-
logischen Auffassung sich loslösenden Art der Weltbetrachtung
war, so tritt bereits bei Anaximander das Problem aus der bloß
anschauHchen in die begriffliche Sphäre des Denkens ein, um
bei Anaximenes zu dem zwar mit untauglichen Mitteln, aber
immerhin bemerkenswerten Versuche zu führen, wenigstens
implizite, das Begriffliche im anschaulich Tatsächlichen zu be-
wahrheiten. Diese Unzulänglichkeit mußte nun zu einer nicht
bloß, wie bei .Anaximander impliziten, sondern ausdrücklichen
Befestigung des Problems im reinen Denken führen, wie sie, so
verschieden auch immer, auf der einen Seite von Heraklit, auf
der anderen von den Eleaten angestrebt wurde. So konnten auch
die auf jenen ersten Anfängen für das Substanzproblem ent-
scheidenden Bestimmungen selbst erst im Denken fundamentiert
werden. Wie entgegengesetzt auch im übrigen Heraklitismus
und Eleatismus sein mögen, darin zum mindesten sind sie ein-
stimmig, daß das wahrhafte Sein nicht durch die SinnHchkeit,
sondern allein durch das Denken erfaßt werden kann, und eben
darin sind sie auch für unser Problem von der größten Be-
deutung. Zwar ist dem einen das Sein der wechsellose Wechsel
selbst, dem andern das Wechsellose schlechthin. Aber die
64 3. Kapitel.
Vernunft bestimmt nach Heraklit erst den Wechsel und ist das
Wechsellose im Wechsel, das Beharrliche im Wechsel; bei Par-
menides dagegen ist die Vernunft das ohne Wechsel bleibende
Sein schlechthin. Darin liegt ihre Verwandtschaft und ihr
Gegensatz. Daß beide im Denken das Sein ergreifen, bezeichnet
ihre problematische Übereinstimmung. Durch die Art, wie
er das Sein im Denken ergreift, vertieft aber Parmenides das
Problem: er ergreift das Sein im Denken dadurch, daß er es
aus ihm ableitet, insofern er erkennt, daß «ohne das Sein, in
dem es sich ausgesprochen findet, das Denken nicht angetroffen
werden kann». Dadurch wird ihm das vorher, sei es stofflich,
sei es, wie bei Heraklit, prozessual und prozessualbestimmend
vorausgesetzte Sein selbst im tiefsten und eigentlichsten Sinne
zugleich zum bestimmten Problem und eben dadurch zugleich
zur festesten gedanklichen Grundlage. Und was vorher von
dem beharrlichen Substrat alles Wechsels nur bezeichnet worden
war, wie Uugewordenheit und ünvergänglichkeit, das wird jetzt
erst eigentlich im Begriffe des Seins begründet. Und was vor-
her in diesen Grundbestimmungen nur implizite mit voraus-
gesetzt worden war, wie Unvermehrbarkeit und Unverminder-
barkeit, oder was als Vermehrbarkeit oder Verminderbarkeit
sodann bei Heraklit eigentlich erst problematisch geworden war,
das wird nun explizite als Unvermehrbarkeit und Unverminder-
barkeit erst im Eleatismus logisch erhärtet, indem das bloß
Vorausgesetzte auf seine logische Voraussetzung, die In-sich-
Geschlossenheit des Parmenideischen Seins, basiert wird.
Indem aber durch Heraklit, wie durch Parmenides das
Sein in seiner Reinheit erreicht ist, kann die Entwickelung
vom reinen Sein fortschreiten zudem, was ist, und die Frage
Dach dem, was ist, gestellt werden, so daß die verschiedenen
Versuche der Lösung dieser Frage zugleich die Gegensätze
zwischen Heraklit und Parmenides zu überbrücken vermögen.
1. Es ist bezeichnend, daß bereits Empedokles, der an der
Spitze dieser mit Recht als «Vermittelungs versuche» charakte-
risierten^ Bestrebungen steht, die Erkenntnis nicht in den Sinnen
1 So Windelband, a. a. 0., S. 33 und Kinkel, a. a. 0., I, S. 171.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 65
sucht und diesen kein Vertrauen glaubt schenken zu dürfen,^
Zwar scheint es zunächst^, als ob die Warnung vor dem Ver-
trauen zur Sinnlichkeit nur so gemeint wäre, als sollte man
nur dem einzelnen Sinne nicht vertrauen, sondern jeden ein-
zelnen Sinn nur durch den anderen ergänzen und berichtigen.^
Allein die Forderung, mit der Vernunft zu forschen und nicht
die Dinge bloß mit den Augen anzustaunen^, ist zu bestimmt,
und in ihr tritt der Gegensatz von Verstand und SinnHchkeit
zu deutlich zutage, als daß wir den Verstand selbst der Tota-
lität der Sinne gleichsetzen könnten^, bedürften diese doch,
1 Emp. fr. IV, 10—13 (Diels, Fragm. I, S. 174, wonach ich im Folgenden
wieder die Zählung angebe) :
|ui^Te Ti öijiiv Ix^"^ TiiffTei ttX^ov f| kot' dKOur)v
f| dKofiv IpibouTTOv ÜTtep Tpaviu|uaTa Y^^J^öarii;,
jn/lTC Tl TÜUV äWlWV, ÖTTÖffril TTÖpo^ ^otI vof|öai,
Y^ii^v uiaxiv ?puK6, vöei d' f|i bfiXov eKaaxov.
2 Vgl. außer dem eben Zitierten noch v. 9:
äW ciy' ädpei irdorii TraXdjarii, iifii bfiXov eKaöTOV.
3 Vgl. Kinkel, a. a. 0. I, S. 174.
■* S. außer dem: vöei 0' fii bfi\ov eKaöxov (Anm. 1 oben) noch besonders
fr. XVII, 21 . . . öu vöuui b^pKeu, larib' ö|a|aaai nöo TedirmJbi;.
5 Trotz der Berufung auf Theophr. de sensu 23: «öu|aßaivei t' outöv
dvai TÖ cppoveiv Kai aiaOdveoöai» (Diels I, S. 171) kann ich Kinkels Ansicht,
daß es «eigentlich hier die Sinne selbst sind, welche denken und urteilen»
(a. a. 0. I, S. 174), um so weniger beistimmen, als ich seine andere, daß sie
«alle erst dem Richterspruch des Verstandes unterworfen werden müssen»
(S. 173 f.), für richtig halte und ich keinen Weg der Vereinigung beider An-
sichten sehe. Die Gleichsetzung des Denkens mit der Sinnlichkeit (selbst im
Sinne Kinkels, d. h. nicht in der Bedeutung des einzelnen Sinnes, sondern der
Totalität der Sinne) ist, wie Zeller, a. a. 0. I, S. 427, durchaus richtig bemerkt,
erst eine Folgerung, die Aristoteles Met. IV, 5,1009 b gezogen hat, die aber
Empedokles nach Zellers Urteil sicher «abgelehnt hätte», wenn es auch dahin-
gestellt bleiben mag, «ob mit Recht oder Unrecht». Bei der Berufung auf
Theophr. wird man ferner aber auch die besondere Betonung der Allgemeinheit
des vernünftigen Denkens, gerade de sensu 23: Kai fäp äiravTa lae^^Eei toö
qppoveiv nicht zu übersehen haben. Man vgl. dazu auch Sext. Emp. adv. math.
VIII, 286, wonach ebenfalls alle Dinge am Denken teilhaben sollen. Im übrigen
verkenne ich durchaus nicht, daß Kinkel die Schwäche der Position des Empe-
dokles richtig durchschaut. Aber so sehr sie für den Standpunkt der modernen
Erkenntnislehre auf der Hand liegt, so ist historisch doch diese Position
nicht zu unterschätzen. Sie allein ist der geschichthche Weg gewesen, zu einer
expliziten Beziehung von gedanklichem und anschaulichem Sein zu gelangen.
Bauch, Das Substanzproblem. 5
66 3. Kapitel.
um auch nur miteinander verglichen und durcheinander er-
gänzt und berichtigt zu werden immer dessen, das sie ver-
gliche, das wohl auch für Empodokles dann nur der Verstand
sein könnte.
Freilich das System des Empedokles als Ganzes ist nur,
wie Diels treffend bemerkt, «ähnlich wie das des Diogenes von
Apollonia ein interessanter Eklektizismus».^ Er scheint hier
nur zum Ganzen vereinigt zu haben, was Einzeln längst von
Ansichten vorlag, und mythologischen und kosmogonisch-poe-
tischen Einflüssen hat er sicher einen Einfluß verstattet^, der
dem Werte seines Systems im allgemeinen, wie insbesondere
seiner Kosmogonie^ nicht gerade zu statten kam. Allein so
gering der Wert seines Systems und seiner Kosmogonie sein
mag, so besitzt er doch für unser Einzelproblem keine ganz
gewöhnliche Bedeutung, ja sogar systematische Kraft und recht-
fertigt gleichsam im Konkreten den Versuch einer monographisch-
probiemgeschichtlichen Behandlung ohne Rücksicht auf das
System als Ganzes. Und gerade Diels' Erinnerung an Dio-
genes von Apollonia ist insofern recht instruktiv, als, trotzdem
Empedokles wie Diogenes als Systembildner gleich wenig ins
Gewicht fallen, hinsichtlich unseres Einzelproblems zwischen
beiden der große Unterschied besteht, daß dieser für unsere
Untersuchung gar nichts bedeutet, während Empedokles für
unseren speziellen Begriff geradezu von systematischer Bedeu-
tung ist.
Vom abstrakten Sein der Eleaten tritt er ein in die Be-
stimmungen des Seienden, das alle Bedingungen des Seins, die
Parmenides gewiesen, erfüllen soll, bis, wie es zunächst scheint,
auf eine, und zwar die wichtigste gerade, nämlich die Einheit
des Seins. Sie gibt Empedokles zunächst auf, um den Wechsel
verständlich zu machen und um die Einheit des Seins sodann
^ Diels, «Gorgias und Empedokles» (Sitzungsber. d. Berl. Akad. d. Wiss.
1884, S 343).
2 Vgl. 0. Kern, «Empedokles und die Orpliiker» (Arch. f. Gesch. d. Philos.
1888, S. 505).
' H. V. Arnim, «Die Woltperiodcn hei Empedokles» (Festsclir. f. Gom-
perz, S. 16 ff.).
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 67
mit einem neuen gedanklichen Mittel, wie wir bald sehen werden,
wieder herzustellen. Das gilt es, um Empedokles gerecht zu
werden, genau festzuhalten, daß die Preisgabe der Einheit nur
eine vorläufige oder, wenn man will, eine scheinbare ist, die
ihm durch die Art seiner Vielheit des Seienden hinsichtlich
seines Systems das Ansehen des bloßen Eklektikers geben
muß, daß er aber in einem neuen bleibend wertvollen Begriffe
die Einheit endgültig wiederherstellt, und zwar auf eine Art,
die doch wieder systematische Kraft des Denkens offenbart.
Zunächst tritt also freilich bei ihm an die Stelle des einen
Eleatischen Seins eine vielfache, speziell eine vierfache Wurzel
aller Dinge. ^ Diese vier Wurzelstoffe sind ihm Feuer, Wasser,
Erde und Luft.^ Sie sind, wie das Sein des Parmenides, dessen
Bestimmung hier bereits entscheidend wird, unentstanden und
unvergänglich, weil aus dem, was nicht ist, auch nichts werden,
und das was ist, nicht zu nichts werden kann.^ Und weil sie
ungeworden und unzerstörlich sind, so kann etwas zu ihnen
weder hinzugefügt noch von ihnen genommen werden.^ Hier
wird die Konstanz des Seins nun wirklich zur Konstanz der
Substanz, und zwar durchaus im quantitativen Sinna Die
Substanz ist hier zunächst die Totalität der vermeintlichen
Grundstoffe, die als solche sich merkwürdigerweise durch die
Jahrhunderte hindurch behaupten sollten und in der poetischen
und auch volkstümlichen Vorstellung auch heute noch als
solche fortleben ; und daß deren Quantum weder vermehrt noch
vermindert werden kann, das wird von Empedokles hier im
Sinne des eigentlichen Substanzbegriffs mit voller Klarheit
ausgesprochen.
Wie man oft bemerkt hat, sind im Einzelnen längst vor
Empedokles auch dessen einzelne Elemente aufgestellt worden,^
^ VI, 1 : TeoGapa yöcp Trdvxujv piZiiiiuaTa . . .
2 XVII, 18: itOp Kai iibuup Kai ycia Kai r\ipoc, ä-nXerov (ii|Joq.
3 XII, 1—2:
^K xe fäp oijf)d,u' d6vT0(; d|Lirixav6v ^öti Yeveödai
Kai t' ^öv ita^zoXiadm ävrjvuaTov Kai ottuotov.
^* XVII, 30: Kai irpöq xoiq out' ap Ti ti YiTvexai oOx' äiTo\r|Ye>-
* ^ Vi<l. 0. Kern, a. a. 0., S. .502.
5*
68 3. Kapitel.
Läge bei Empeclokles nichts anderes vor, als ihre nur sninnia-
risch aufgeführte Enumeration, so wäre, wie seine Bedeutung
für das System der Philosophie, so auch die für unser Problem
eine lediglich eklektische. Ja, sein Element des Feuers bezeich-
nete der Bedeutung des Heraklitischen Urfeuers gegenüber so-
gar einen plumpen Rückschritt und eine beklagenswerte Ver-
gröberung. Allein gerade für unser Problem sind seine vier
Grundstoffe unvergleichlich viel mehr als eine bloß eklektische
Summe. Sie bilden eine Einheit, und der Begriff, der die
Einheit zwischen ihnen herstellt, ist der Begriff der Kraft. Er
leistet nun auch die Synthese von Beharrlichkeit und Wechsel
und erhärtet die vier Grundstoffe als das Beharrliche im
Wechsel, und zwar in zweifacher Funktion: Als «Liebe» und
«Haß» ist die Kraft die Bedingung des beständigen Wechsels,
in dem sich die einzelnen Stoffe bald verbinden, bald trennen.
Und dieser beständige Wechsel hört niemals auf: Bald ver-
einigt die Liebe alles zu Einem, bald löst der Haß das Eine zu
Vielem ruf^; bald tritt durch die Liebe Eines aus Mehreren ins
Dasein, bald tritt aus Einem wieder die Mehrheit der Elemente :
Feuer, Wasser, Erde, Luft einzeln hervor.^ Die Grundstoffe
als solche sind das bleibend Seiende, sie entstehen und ver-
gehen zwar nicht au sich selbst. Aber aus ihrer Verbindung
entstehen die Dinge, und aus ihrer Trennung folgt das Ver-
gehen der Dinge im «beständigen Wechsel» (Kai raOt' aXdo'crovTa
öiaiHTTepeg ouöa|ud 'Kx\jei, vgl. Anm. 1 unten), in dessen «Kreislauf
sie selber immerdar verbleiben, ohne daß ihnen Wechsel und
Bewegung etwas anhaben kaun».^ Weil sie selbst ewig sind
und das Wesen aller Einzeldinge ausmachen, so gehen auch
1 XVII, 6—8:
Kai toOt' d.\doaovra biayinepiq oObaiaä \r\yei
ciWore |ndv OiXöttiti auvepxö|aev' dq Sv ütravTa,
aXXoTe b' au bix' eKaffra cpopeüjueva NeiKeoi; ^x^^i-
* Ebenda lÖ— 18:
. . . TÖTe |uev Yop ^v r|i)tr|Ori faövov elvai
^K ttXgövuuv, TÖTe b" au bi^cpu irX^ov it ^vöc, elvai,
irOp Kai übuup Kai Yoti« Kai Y]ipoc, u-nkerov v\\)oq.
3 XVII, 13: TaÜTJii b" ai^v laoiv ükivtitoi kütüi kökXov.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 69
die Einzeldinge bei ihrer Auflösung nicht schlechtweg oder
absolut verloren. Denn die Elemente, die sie bilden, bleiben er-
halten, wie sie von Ewigkeit her bestanden. Man kann darum
auch hinsichtlich der «sterblichen Dinge» nicht im eigentlichen
Sinne von Entstehung und Untergang, sondern nur von Mi-
schung und Trennung sprechen. Und «es gibt bei keinem ein-
zigen von allen sterblichen Dingen Entstehung und Tod» im
eigentlichen Sinne. «Nur Mischung gibt es und Austausch des
Gemischten», da, was sich in ihnen mischt und in der Ent-
mischung austauscht, selbst unvermehrbar und unverminderbar
erhalten bleibt, so daß Entstehung im absoluten Sinne nur ein
bei Menschen üblicher Name ist.^
Wie unvollkommen auch immer noch im Einzelnen sowohl
der Elementbegriff wie der Kraftbegriff sein mögen^, wie un-
vollkommen auch weiter die ganze kosmologische Anschauung,
bei allen weittragenden Perspektiven, die sie eröffnet, unter
denen der Hinblick auf den Entwickelungsbegriff das w^ert-
^ VIII: . . . cpvaiq ovbevöq iaxiv ctitdvTUJV
övriTLüv, o\}bl xiq ou\o|ndvou Oavdxoio xeXeÜTri,
dWd luövov jLiiHii; xe bidWaSii; xe uiy^vxuuv
iari, (pvaic, b' im toic, 6vo]ud2;exai dvöpubiroKJiv.
^ Wie Arist. Met. I, 4,98.5 a auf die sittlich-religiöse Besiimniung, die den
Kräften der Liebe und des Hasses anhaften, richtig aufmerksam macht, so
sind auch die Elemente nicht frei von mythologisch-rehgiösen Vorstellungen.
Das geht schon daraus hervor, daß sie auch unter den Namen von Göttern auf-
treten, ja daß die vierfache Wurzel aller Dinge geradezu auch als Vierheit
von Göttern erscheint, vgl. fr. VI:
Teaoapa YÖp Trdvxoiv picuj|Liaxa irpujxov ctKoue "
Zeü^ cipYn^ ' HpiT xe cpepeaßioq rib" 'AiboiveO^
Ni^axii; ö' r\ baKpuoiq xe^T^i Kpoiivu-iiiia ßpoxeiov.
Wenn das freilich auch so zu verstehen ist, daß die Elemente selbst die Gott-
lieiten und die Gottheiten ledigUch die Elemente sind, so mischt sich hier
dennoch immerhin der nüchterne Forschersinn mit der mythologisch-theo-
logischen Phantasie und die EinAvirkung der «kosmogonischen Dichtung» ist,
wie 0. Kern, a. a. 0., S. 505, treffend bemerkt, unverkennbar. Allein so sehr
das seinem System als Ganzem schließlich zum Nachteil gereichen muß, daß
Empedokles, wie Arist. a. a. 0., ebenda, gleichfalls treffend bem.erkt, überhaupt
der erste ist, der hier auf jene beiden «Ursachen» hinweist, das ist von der
allergrößten Bedeutung. Denn damit bringi. er die Ursächlichkeilsbetrachtung
mit dem Sub.staiizprohlem seligst in Verbindung.
70 3. Kapitel.
vollste Moment ist, sein mag — im Einzelnen darauf einzu-
gehen, liegt nicht in unserem Thema — trotz alledem liegt hier
für das Substanzproblem ein weitreichender Fortschritt vor, in
dem wir geradezu die ersten Anfänge der naturwissenschaft-
lichen Begriffsbildung sehen dürfen. Die Einheit des Seins
verbleibt nicht mehr in der Sphäre des reinen Begriffs des
Seins, sie hegt auch nicht mehr in einem einzelnen Stoffe,
auch nicht bloß in der Vielheit der Stoffe als solcher. Unbe-
schadet der Vielheit der seienden Stoffe wird die Einheit nach
dem Begriffe des Seins, der so erst Macht gewinnt über die
rein begriffliche Sphäre hinaus für die empirische Existenz
und diese so selbst bestimmt, im Begriffe der Kraft erreicht,
durch den das Seiende zugleich Eines und Vieles ist, so daß
Liebe und Haß in gleicher Weise ein Verhältnis zwischen den
Elementen herstellen.^ Das also ist das Bedeutsame für das
Substanzproblem, daß die Kraft im Stoffe die Einheit herstellt,
innerhalb der Vielheit der an sich sel):)st ein beharrliches kon-
^ Piaton, Soph. 242d./e.: wc, xö öv iroWd xe Kai ev ^ötiv, ^x^pm be
Kai cpiXiai avv^xeTax. Darauf in der Tat kommt es an, daß das Seiende Vieles
und Eines ist, indem sowohl Liebe und Haß eine Beziehung- zwischen den
Elementen bedeuten. Die kosmogoniscbe Einheit, die die Liebe im acpaipo?
stiftet, ist die eines bloßen Aggregates. Sie ist für unser Problem ohne jedes
Interesse. Und es heißt die Bedeutung des Empedokles sehr von der Außen-
seite betrachten, wenn man im kosmogonischen aqpaipot;, den die Liebe er-
zeugt, die Einheit des Empedokleischen Seins, oder diese allein in der Liebe
sucht. Hier kann uns Piatons tiefer Blick, der auch rein historisch manch-
mal schon weiter gedrungen ist als der manches späteren Historikers, den
wahren Sachverhalt erschließen helfen. Liebe und Haß sind es, die die Dinge
zusammenhalten; freilich nicht in dem äußerlichen Sinne des Aggregates
— denn der Haß aggregiert nicht, das tut in der Tat allein die Liebe im
acpaipoi;, und der Haß trennt — , sondern in dem tieferen dynamischen Sinne,
daß überhaupt ein Kraftzusammenbang zwischen den Grundstoffen besteht.
Einen dynamischen Zusammenhang bezeichnet aber der trennende Haß wie
die vereinigende Liebe, genau ebenso wie im modernen Sinne die Repul-
sion das ebenso tut, wie die Attraktion. Hier kann für Empedokles, wenn
man dem Rate des Aristoteles folgt und der «Sache nachspürt und hinter der
unbeholfenen Ausdrucksform den gedanklichen Inhalt sucht» (Arist. a. a. 0.
ebenda), sogar die religiös-mythologische Auffassung klärend wirken, insofern
der «Haß» im ethischen Sinne ebenso eine ]iositive Bnziehunij bedeutet wie
die Liebe, wenn auch eine dieser entgegengesetzte.
Die Anfänge der naliirwissenschaftlichen Begriffsbildung. 71
ßtantes Quantum der Substanz, das weder vermehrt noch ver-
mmdert werden kann, bildenden Stoffe einen dynamischen Zu-
sammenhang stiftet, und daß die Stoffe insofern das Beharrliche
im Wechsel sind, als aller Wechsel in der durch die Kraft als
Liebe bewirkten Verbindung und in der durch die Kraft als
Haß bewirkten Trennung besteht, wodurch der Zusammenhang
der Dinge selbst ein allgemeingesetzmäßig (-rrdvTuuv v6|ai)uov)^ ge-
regelter wird.
2. Die für den Substanzbegriff bestimmende These, daß
das Quantum der Substanz weder vermehrt noch vermindert
werden könne, verfestigt sich nun im antiken Denken mehr
und mehr. Mit voller Klarheit und Schärfe spricht Anaxagoras
den Satz aus, daß die Gesamtheit der Stoffe — denn das ist
zunächst auch ihm die Substanz — «sich weder vermehren
noch vermindern kann».^ Das ist unter den bisher betrach-
teten Formulierungen fraglos die exakteste und bündigste. Mit
Empedokles nimmt Anaxagoras eine Vielheit von beharrlichen
Grundstoffen an, die die Keime und Samen aller Dinge sind.^
Diese oirepiaaTa haben zunächst durchaus die Funktion der
piZ:üuiuaTa des Empedokles. Wie diese sind sie — und darauf
beruht ja schon ihre Unvermehrbarkeit und Unverminderbar-
keit — unge worden und unvergänglich. Ein absolutes Ent-
stehen und Vergehen gibt es also auch für Anaxagoras nicht.
Der Schein für ein solches liegt nur in der Mischung und Ent-
mischung der Keimstoffe selbst.'* Die Grundstoffe selbst sind
beharrlich in alle Ewigkeit, der Wechsel des Entstehens und
Vergehens liegt nur in der Mischung und Trennung; außer
diesen gibt es kein Entstehen und Vergehen.^ Man spricht
» cxxxv.
* Simpl. Phys., S. 156 (Diels, fr. 5): öti Trävta oubdv iXdaao) ^axiv oübe
uXeiuu.
3 Simpl. a. a. 0., S. 34 (Diels, fr. 4): airepiuaTa ttoivtiuv xpn^äTUUv.
* Simpl. a. a. 0., S. 27: ... dyevriTa |uev elvai Kai cxqpOapxa, qpaiveoOai
bi jxfvöyieva Kai ätroWOfieva öuyKpiöei Kai biaKpiaei |növov . . .
5 Arist. Met. I, 3,984 a: . . . oütoi YiTveaöai Kai ctiröWuööai (pr]Oi avf-
Kpiaei Kai biaKpioei |liövov, äWi-uq b' ouxt ^iTveödai out' diröXXuaOai, dXXd
biajui^veiv üibia.
72 3. Kapitel.
darum eigentlich nicht richtig von Entstehen und Vergehen.
Streng genommen entstehen die Dinge nicht, sie bilden sich
nur aus der Mischung der unentstandenen Grundstoffe; und
streng genommen vergehen sie auch nicht, sie lösen sich nur
auf wieder in die unvergänglichen Grundstoffe. Und so sollte
man richtig statt «entstehen» lieber «sich mischen» und statt
«vergehen» lieber «sich trennen» sagen. ^ (Tutkpiö'k; und öidKpi-
aic, bilden auch hier die Grundlage des Wechsels an der be-
harrlichen Substanz.
Allein hinsichtlich der einzelnen Stoffe macht sich sogleich
ein bedeutsamer Fortschritt über Empedokles hinaus bemerk-
bar, der zu einer bleibend wertvollen Bestimmung führt. Die
beschränkte Zahl der Grundstoffe reicht für Anaxagoras nicht
aus, um die Mannigfaltigkeit der Dinge und ihrer Eigenschaften
zu erklären. Dafür muß man annehmen, daß in jeder Ver-
bindung selbst eine vielfache Mannigfaltigkeit enthalten ist^;
und zwar in jeder Verbindung von allen Grundstoffen etwas. ^
Denn sonst wäre es ja nicht möglich, daß eine bestimmte Mi-
schung der Stoffe in eine andere überginge und so ein Ding
aus einem anderen würde.'* Je mehr nun einem Ding von
einem bestimmten Stoffe beigemischt ist, um so mehr ist das
Wesen des Dinges von diesem Stoffe bestimmt. Daraus er-
klärt es sich, daß wir meinen, es bestünde eigentlich ausschließ-
lich aus diesem Stoffe; denn wir nehmen die übrigen nur
wegen ihrer geringeren Beimischung nicht wahr, während sie
in Wirklichkeit darin, aber eben nur in geringerem Quantum
doch enthalten sind.^ Damit ist auf der einen Seite bereits der
^ Simpl. a. a. 0., S. 16.3 (fr. 17): tö bi ^ivea^ai Kai diröWuaöai oök
öpOux; vo|ii3[ouaiv oi "EWrjveq'oubev «fäp XP^M« Tivsxai ovbi dTTÖWuxai, dW dirö
^övTUJv XPIMO'TUJV au|Li|niaYeTai xe Kai biaKpivexai. Kai oüxcju? av öpdÖK; KaXoiev
xö xe Yivefföai öu|Li|LiiaY€(Jöai Kai xö äiröWuaOai biaKpiveoöai.
- Simpl. a. a. Ü., S. 34- f. (fr. 4): ... xpn boKeiv ^veivai itoWd xe Kai
Ttavxoia ^v irdai xoi<; auYKpivo|n^voi(; . . .
3 Simpl. Phys., S. 164 (fr. 11 j: ^v uavxi Tiuvröq inoipa ^veaxi . . .
* Arist. Phys. III, 4,203 a.
5 Simpl. a. a. 0., S. 27 (Forts, von Anm. 4 auf S. 71): Trdvxuuv |n^v ^v
udaiv dvövxuiv, ^Kdaxou be Koxd xö ^mKpaxoOv ^v aöxoti x^P^KX^piZof-i^vou.
XP^-><jÖ(; -fdp qpaivexai ^Keivo, ^v dii ttoAü xP'Jöiov iarl Kairoi -rrdvxiuv evövxujv.
Die Anfange der naluiwissenschaftlichen BegriffsbiWung-. 73
Begriff des unendlich Kleinen gesetzt. Denn die unendliche
Kleinheit ist es ja, die uns in der Mischung eben nicht alle in
ihr enthaltenen Stoffe bemerken läßt. Auf der anderen Seite
schließt Anaxagoras freilich auch gleich auf eine Unendlichkeit
der Menge der Stoffe. Und so behauptet er, daß seine Grund-
stoffe unendlich sowohl der Menge wie der Kleinheit nach
seien. ^ Ja, er scheint drittens wie die Teile eines jeden Stoffes
für sich unendlich klein, ihre Menge aber unendlich groß, so
auch das Gesamtquantum eines jeden Stoffes als unendlich
groß angenommen zu haben, so daß wir, genau genommen, drei
Ordnungen des Unendlichen bei ihm zu unterscheiden hätten.
Wenigstens deutet auf die Unendlichkeit des Quantums jedes
einzelnen Stoffes neben dem unendlich Kleinen seiner Teile und
der Unendlichkeit der Menge aller Stoffe die Ansicht hin, daß,
wie es rücksichtlich der Teile beim Kleinen ja kein Aller-
kleinstes, sondern stets «ein noch Kleineres gibt», so «auch beim
Großen es immer noch ein Größeres gibt»; und «dieses gerade
so zahlreich vertreten ist, wie das Kleine»,^ womit in der Tat
die unendliche Menge je für sich unendlicher Quanta ausge-
sprochen ist. Wenn aber jeder Stoff für sich kontinuierlich
teilbar ist, so muß die Verschiedenheit der zu einem Dine: ae-
mischten Stoffe nicht bloß eine mathematische, sondern auch
eine spezifische sein. Das heißt: Kein Stoff ist den übrigen
gleich.^ Ist hier immerhin auch das mathematische Kontinuum
ohne weiteres noch physisch gedacht, oder besser: das physische
schon mathematisch gedacht, — eine Vermengung, die man
dieser Stufe des Denkens nicht gerade sehr zum Vorwurf
\6Yei t' ouv ^Avaia-föpuq, öxi «^v travTi Tiavröc, \.io\pa eveOTi» Kai «öxiuv uXeiöxa
evi, TauTtt evbriXÖTaxa ev e'Kaaxöv lori Kai fiv»; vgl. dazu auch Arist. MeL.
1, 1),991 a. A. oxemplifizierl hier auf den Unterschied des «Weiisen», insofern
es in der Mischung Ursache ist für die Farbe des «weißen Dinges».
^ Arist. Met. IX, 6,105()b: . . . 'Avato.-{öpaq emiüv öxi 6|iou irdvxa XPH^
,uaxa riv ä-rreipa Kai TrXridei Kai luncpöxj-ixi.
^ Simpl. a. a. 0., S. 164 (fr. )^): oüxe y^P toö GmKpoö daxi xö je iXd~
Xiöxov, äW ^Waaov 6ei. . . . äWä Kai xoO ]ue-fc<^ou oiti ^öxi ^eiZ^ov. Kai laov
^öxi xüji OjaiKpiJui irXiiöoi;.
^ Simpl. a. a. 0., S. 34 (fr. 4): oübt y«P füjv äWujv oubev eoiKe xö exe-
pov xüji exepiüi; vgl. auch fr. 1-2 iSijnpl. S. 1.'j7).
74 3. Kiipilel.
machen darf, da es sich hier um Diuge handelt, in denen wir
heute noch nach Distinktheit zu streben haben — so erreicht
Anaxagoras doch hier den Begriff eines bei aller mathematisch
kontinuierlichen Teilung in sich gleichartigen Stoffes.^ Das ist
aber geradezu der naturwissenschaftliche Begriff des Elements,
wenigstens im Prinzip, für den der Empedokleische Grundstoff-
begriff nur eine vage Vorahnung war. Daß man früh genug
die ganze Bedeutung des Anaxagoreischen Elementbegriffs richtig
erkannt, das beweist der diesem von der späteren Interpretation
gegebene, also nicht von Anaxagoras stammende Name des
«gleichteiligen Stoffes»^, der wie kein anderer den Charakter
des in allen seinen Teilen gleichartigen Stoffes zum Ausdruck
bringt. In dem Begriffe des unendlichen Quantums unend-
licher und in sich bis ins Unendliche gleichartiger Stoffe ge-
winnt Anaxagoras eine neue Präzision des Substanzbegriffs, zu-
nächst nach einer Seite hin, nämlich soweit es sich um die
Möglichkeit, den AVechsel der unendlich mannigfaltigen Dinge
bei der Beharrlichkeit der Grundstoffe selbst begreifhch zu
machen, handelt.
Wie aber Empedokles, um die Wirklichkeit des Wechsels
der Dinge erklären zu können, der die Stoffe bewegenden und
sie so in Einheit setzenden Kraft bedurfte, so bedarf auch Anaxa-
goras der durch Bewegung die Stoffe mischenden und tren-
nenden und so zwischen ihnen Einheit herstellenden Kraft.
Diese aber ist prinzipiell von den Grundkräften der Liebe und
des Hasses, wie sie Empedokles aufstellte, verschieden. Für
Anaxagoras ist es nichts Geringeres als die Vernunft selbst, der
^ Aus der Teilbarkeit ins Unendliche der in sich gleichartigen Stoffe folgt,
daß es sich hier bei dem Unendlich-Kleinen nicht um das Atom handelt. Es
soll hier nur zum Ausdruck gelangen, daß im Unterschiede zu der bidKpiai?
der in einem Dinge durch oü^Kpxaic, verbundenen Stoffe, die eben immer
wieder verschiedene StolTe ergibt, die Grundstoffe so gedacht sind, dafa ihre
Teilung immer zu gleichartigen Teilen führt. Wir haben es also hier nicht
mit dem Begriffe des Atoms, sondern des Elements zu tun.
2 Über die Namen der ö|Lioio|H6pfi und ö|Lioio^^peiai vgl. Zeller, a. a. 0.,
I, S. 877. Wenn ich soeben von dem Elemenlbegriff des Anaxagoras sprach,
so handelt es sieh mir eben um den Hegriff und damit die Sache, nicht
um den Namen.
Die Anfänpre der naturwissenschaftlichen Begriffsbilduiig. 75
vovq, der die Bewegung der Stoffe und damit ihre Mischung
und Entmischung hervorbringt. Er ist es, der «dieser Bewe-
gung den Anstoß gibt».^
Wie in der Erkenntnis die Vernunft allein über die Wahrheit
entscheidet^ und alle sinnliche Erkenntnis von den Sinneswerk-
zeugen abhängig, also von ihnen modifiziert und relativ ist^,
so daß in sie erst die Vernunft Ordnung bringt, so gewinnt die
Vernunft, wie für die Erkenntnis der Dinge, so auch für die
Ordnung der Dinge selbst ihre entscheidende Bedeutung bei
Anaxagoras. Auch er sucht das wahrhafte Sein im vernünf-
tigen Denken zu erfassen, ohne daß das Sein mit der Vernunft
schlechtweg mehr gleichgesetzt, ohne daß auch, wie bei Empe-
dokles trotz der höheren Wertstellung des vernünftigen Denkens,
dieses in seinem Ursprünge doch erst aus der materiellen Sub-
stanz abgeleitet wird. Vielmehr tritt der voug bei Anaxagoras
selbständig neben die materielle Substanz als ein besonderes
Prinzip, in dem aller Ursprung selbst erst seine Wurzel hat, in-
dem er eigentlich allein schöpferisch ist und im Materiellen das
Geschehen erzeugt.* Denn die Ordnung der Dinge verlangt
ein vernünftig ordnendes Prinzip, das sie hervorbringt. Es
mußte alles erkennen, um alles ordnen zu können. So er-
kannte der voO^ alles und ordnete alles, indem er Mischung und
Entmischung hervorbrachte, alles, wie es war, wie es jetzt ist
und künftig sein soll. Und unendlich (aTreipov) wie die zu
mischenden Stoffe, genau so unendlich (dtTreipov) muß auch der
die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge durch Bewegung
hervorbringende voög sein.^
Im übrigen ist aber das Verhältnis des voOg zu den Ele-
mentstoffen nicht leicht zu bestimmen. Auf der einen Seite
erscheint der voög l)ei Anaxagoras selbst stofflich gedacht, in-
* Übersetzung von Diels, Simpl. a. a. 0., S. 1.56 f. (aus fr. 12).
* Sext. Enip. adv, rnath. VII, 91: 'AvaSayöpai; KOiviiJq töv Xöyov ecpr\
KpiTripiov eivai.
3 Vgl. Sext. ebenda, 90 und Tlieophr. de sensu, 29 ff.
■* Hippol. Ref. I, S: oöto<; 'i(pr\ xr]v -auvröq äpxnv voOv Kai üXi-jv, töv p-iv
voöv TTOiouvT«, Trjv h€ ü\r\v Yivo|u^vriv.
5 Simpl. a. a. 0., ebenda (fr. 12), vgl. auch Piaton, Phaidon 97 b.
70 3. Kapitel.
dem er nur als «das dünnste und reinste aller xP'moiTa» be-
zeichnet wird.^ Auf der andern Seite wird er prinzipiell von allen
Xpj'maxa geschieden, ihnen scharf gegenübergestellt, als «selbst-
herrhch, ohne sich mit einem Dinge zu vermischen, ganz allein
für sich selbst bestehend».^ Diese Schwierigkeit^ läßt sich wohl
nur heben, wenn man anerkennt, daß es sich hier bei Anaxa-
goras zum ersten Male in der Geschichte des Denkens inner-
halb unseres Kulturkreises um einen schroffen Dualismus rück-
sichtlich des Substanzbegriffes selber handelt. Ihm ist weder,
wie etwa bei Anaximenes oder Diogenes von Apollonia*, das
^ Simpl. Phys. ebenda (fr. 1'2): eöTi jap XeirTÖTaröv xe Trdvxuuv xPHMcifujv
Kai KadapujTaTov.
^ Ebenda: vovc, bi eariv cxTteipov Kai auTOKparei; Kai la^iaeiKxai oöbevi
Xpniaaxi, ö\Xä laövo? auTÖi; eir' diuToO ^axiv; vgl. Piaton, a. a, 0., ebenda und
Arist. Met. I, 3,984 a sowie de an. I, 2,405 a.
ä Diese Schwierigkeit kommt in der mannigfachen historischen teils
geradezu gegensätzlichen Interpretation deutlich genug zum Ausdruck. So
faßt Windelband, a. a. 0., S. 35, den voOi; geradezu als «Denkstoff», der «in
feiner Verteilung durch die ganze Welt ergossen, aber von allen anderen
Stoffen nicht nur graduell als der feinste, leichteste, beweglichste, sondern
auch wesentlich darin verschieden, daß er allein von sich aus bewegt ist und
vermöge dieser Eigenbewegung auch die anderen Elemente in der zweckmäßigen
Weise bewegt, welche sich in der Ordnung der Welt zu erkennen gibt». Bäumkcr
hingegen, obwohl er sonst allenthalben dazu neigt, das antike Denken auch da,
wo kaum die Rede davon sein kann, im Sinne des «Problems der Materie» zu
deuten, meint a. a. 0., S. 78 f.: Wer «den Nus des Anaxagoras als einen Stoff
glaubt denken zu müssen, wie die übrigen auch, nur feiner als diese, der ver-
kennt die im Anfang des Fragments deutlich ausgesprochene Absicht des Philo-
sophen, den Geist in Gegensatz zu stellen zu allen Stoffen». Allein Bäumker
selbst verkennt, daß darin ja gerade die Schwierigkeit liegt, ob man den Nus
als Stoff zu denken habe, aber gerade nicht «wie die übrigen auch» und nicht
bloß «feiner als diese», sondern, wie Windelband hervorhebt, «auch wesent-
lich» verschieden. Wenn ich auch darin Windelband selbst nicht beistimmen
kann, daß der vov(; als «in feiner Verteilung durch die ganze Welt ergossen»
sei, weil es bei Anaxagoras heißt, daß von den xpnnctTa in jedem Ding «ein
Teil von jedem enthalten ist», aber gerade «mit Ausnahme des voOq», obAvohl
freihch wieder «in einigen auch voO? enthalten» sein soll, so ist jener Dualis-
mus der Substanz, dem auch heute noch alle die anhängen, die auch den
«Geist» substantiell fassen, bei Anaxagoras unverkennbar.
* Damit dürfte die Kontroverse über die Priorität des Diogenes v. Apoll,
oder des Anaxagoras mm wirklich als müßig fortfallen, weil es sich in der
«Vernuiid» für l)eide um etwas tuLu coelo Verschiedenes handelt.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichon Begriffsbildung. 77
Seinsprinzip bloß vernünftig, noch ist ihiii, wie, freilich auf ver-
schiedene Weise, Heraklit und den Eleaten, die Vernunft
schlechtweg das Seins-Prinzip. Vielmehr prägt er jenen Dua-
hsmus aus, der sich in einer späteren Gedankenentwickelung
mehr und mehr verfestigen sollte, und der heute noch von
allen denen vertreten wird, denen die Substanz nicht eine
Funktion des Denkens ist, die umgekehrt das Denken zur
Funktion eines «Geistes», der selber als besondere Substanz, freihch
als besonders feine, ja die «feinste» aller Substanzen gedacht ist,
machen: den Duahsmus von geistiger und materieller Substanz.
Beide sind für ihn beharrlich in allem Wechsel, der voOg als
bewegendes, die Totalität der Elemente als bewegtes Prinzip.
Aus den Elementstoffen ordnet die Vernunft die Dinge, bringt
die Weltordnuug hervor.
Logisch bedeutsam bleibt auch hier der schon bei früheren
Denkern bemerkte Impuls, im vernünftigen Denken sich der
Erkenntnis der Mannigfaltigkeit der Dinge zu bemächtigen.
Indes wird hier zum ersten Male die Vernunft gleich zur sub-
stantiellen Weltvernunft hypostasiert. Insofern es aber die Ver-
nunft als weltbewegende Kraft ist, die die Einheit und Ordnung
in das Mannigfaltige der Elementstoffe bringt, wird aucli hier
das vernunftmäßige Einheitsprinzip des Seins gewahrt. Zu-
gleich kündigt sich hier die für unser Problem bedeutsame,
wenn auch gerade wegen der eigentümlichen substantiellen
Bestimmung unzulängliche Tendenz an, die Vernunft gegen-
über der materiellen Substanz zu verselbständigen. Das bleibt
aber hier nur Tendenz. Ehe sie sich zu begrifflicher Schärfe
und Deutlichkeit emporbildeu konnte, mußte selbst noch eine
größere Vereinfachung des Mannigfaltigen angestrebt werden,
und diese wieder ist in expliziter Bestimmung nur möglich
durch eine explizite ausgeführte Kritik der Sinnlichkeit, die nicht
nur unmittelbar, wie das in den bisherigen Versuchen geschah,
die Unzulänglichkeit der Sinne betont und der Vernunft die
eigentliche Erkenntnisinstanz überweist, sondern in ausführ-
Hcher Kritik das Vertrauen in die Sinnlichkeit erschüttert.
Das leistet die Atomistik. Wenn diese immerhin auch
das Denken in seinem Ursprünge selbst wieder auf materielle
78 3. Kapitel.
Voraussetzungen zurückführt, so erhärtet sie doch gerade seine
Wertprioriät gegenüber der Sinnhchkeit. Zunächst zwar wird
bei Leukipp lediglich eine Vereinfachung des Mannigfaltigen
der stofflich-substantiellen Bestimmung intendiert. Diese aber
wird bei Demokrit gerade streng rational und durch eine Kritik
der Sinnlichkeit begründet.
3. Die Vielheit der in sich gleichartigen und darum im
Verhältnis zueinander ungleichartigen Grundstofie des Anaxa-
goras konnte trotz der im vovq erreichten Einheit doch der
eleatischen Seinsgesetzlichkeit nicht genügen. Um dem lo-
gischen Postulate im Realen noch vollkommener Genüge zu
tun, mußte das Denken einen Weg zu noch größerer Verein-
fachung einschlagen. In dieser Richtung bewegt sich zunächst
das Denken Leu kipp s. Die geschichtliche Überheferung stellt
ihn — so besonders häufig Aristoteles, aber u. a. auch Simpli-
kios — oft Demokrit als «Gefährten» im Sinne eines philoso-
phischen Gesinnungsgefährten zur Seite. Soweit es lediglich
auf die Übereinstimmung in der allgemeinen Grundüberzeugung
ankommt, durchaus mit Recht. Was freilich die begriffliche
Begründung dieser Überzeugung anlangt, so ist Demokrit so
unendlich viel tiefer und schärfer als Leukipp, daß er mit
diesem kaum verglichen werden darf.^ Für Leukipp wird Par-
menides' gedankliches -nXeov zum räumlichen, aber nicht nach
Melissos' Art. Das räumliche Volle ist ihm zwar das eigentlich
Seiende, aber in der Struktur dieses Raumerfüllenden liegt das
eigene Neue und Bedeutsame. Dem räumlich Vollen steht das
Leere, d. h. der leere Raum gegenüber, der eigentlich also im
Verhältnis zum eigentlich Seienden, dem Vollen, das Nicht-
Seiende^, aber doch als das Leere, in dem das Volle ist und
^ Daß ich aber, um auch nur soviel sagen zu können, Leukipp als
historische Persönlichkeit und nicht bloß als eine mythische Figur ansehe,
versteht sich danach von selbst. Das zu begründen liegt freilich außerhalb
meines Themas. Darüber vergleiche man Diels' Auseinandersetzung mit Rhode
in den Verhandlungen der (34. und 35.) Versammlung deutscher Philologen
(Trier 1879 und Stettin 1880), sowie Rhode, Jahrb. f. Philol. u. Päd. (1881) und
dagegen Diels, Rh. Mus. (1881).
2 Arist. Met. I, 4,985 b und Diog. Laert. IX, 30.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 79
der Wechsel stattfindet, doch selbst wieder ist.^ Diesen Wechsel
nun erklärt Leukipp ähnlich, wie Empedokles und Anaxagoras,
als Mischung und Entmischung des stoiflich Vollen, worauf
ihm Entstehen und Vergehen beruht.^ Aber — und darin
liegt sein Fortschritt gerade für das Substanzproblem — er
geht von deren Auffassung vom Wesen des Stoffes insofern ab,
als ihm für die Einheit des Seins nicht mehr eine Vielheit von
zwar in sich gleichartigen, aber untereinander verschiedenar-
tigen Stoffen genügen kann. Mit der Raumerfüllung ist ihm
das Wesen des Stoffes bestimmt. Darum entspricht bei ihm
nur schlechthinige Gleichartigkeit des Stoffes der Einheit des
Seins. Was die Grundlage des Wechsels bildet, das kann also
nicht eine Mannigfaltigkeit qualitativ verschiedener Stoffe, son-
dern allein ein gleichartiger Stofi" sein, für den es keine andere
als Unterschiede der Raumerfüllung, also rein quantitative
Unterschiede gibt. In der Tat erkennt er nur die Unterschiede
der Größe, der Form, der Anordnung, d. i. der Figur innerhalb
des Stofflichen an^, die also allein quantitativ, nicht aber der
Art nach verschiedene stoffliche Dinge ergeben, so daß die rein
quantitative Mischung und Verbindung des Stofflichen das
qualitative Werden und die quantitative Entmischung das Ver-
gehen bestimmt. Hier erscheint zum ersten Male seit Anaxi-
mander, aber im Verhältnis zu diesem in unvergleichlich ver-
schärfter, mehr expliziter und unzweideutiger Art der Versuch
wieder, an der Hand des Substanzbegriffes das Qualitative auf
Quantitatives zu reduzieren.* Freilich so klar und bestimmt
^ Arist. de gen. et corr. I, 8,32.5 a. Vollkommen deutlich wird uns das,
was damit gemeint ist, freilich erst bei Demokrit werden. Immerhin sieht bei
Aristoteles die Leukippsche Anschauungsweise etwas zu plump und wider-
spruchsvoll aus. Ohne Zweifel ist doch soviel klar, daß Leukipp das Nicht-
Sein des Raumes, wie auch Demokrit, so faßte, daf? er dem Räume nicht
substantielles Sein beilegte, wie dem Vollen. Nur insofern ist er nicht. Und
dennoch ist er als das Leere, in dem das Volle, seine Bewegung und sein
Wechsel ist.
^ Arist. ebenda I, 1,314 a.
3 Simpl. Phys. 36.
■* In diesem quantifizierenden Bestreben darf man wohl Zenonischen
Einfluß veriaulen, auch wenn man kein eigentliches Schülerverliältnis des
80 3. Kapitel.
dieser Versuch ist, es bleibt zuiiäcbst doch nur ein Versuch.
Die eigenthche Begründung hat dieser Tendenz doch erst De-
mokrit gegeben. Soviel ist indes auch für Leukipp schon deut-
lich: Die Mischung und Trennung des Stoff heben setzt oberste
stoffliche Grundlagen voraus, innerhalb deren es selbst nicht
weiter Mischung und Trennung gibt. Sie sind gleichsam die
letzten Dinge oder besser die «ersten Körper».^ Und da sie
die Grundlage des Entstehens und Vergehens, der Mischung
und Trennung sind, sind sie selbst unentstanden, ungeworden
und unvergänglich, untrennbar, unteilbar: dcTOiua.^ Jetzt ge-
langen wir in der Tat, wie vorher bei Empedokles und be-
stimmter bei Anaxagoras zum Elementbegriff, so hier zum eigent-
lichen Atombegriff. Das in allem Wechsel beharrliche Substrat
sind also die Atome, aus ihrer Verbindung bauen sich die em-
pirischen Dinge auf, wie diese sich durch ihre Trennung wieder
auflösen. Nur die Atome selber beharren. Wegen der unend-
lichen Mannigfaltigkeit der Dinge, die sich aus ihnen zusam-
mensetzen, müssen die Atome selbst unendlich an Zahl sein,
und weil sie für sich in keinem Dinge wahrgenommen werden
können, müssen sie der Größe nach unendlich klein sein.^ Die
Unendlichkeit der Menge nach, wie das unendlich Kleine
innerhalb des Stofflichen, teilt Leukipp also mit Anaxagoras,
aber die mathematisch mögliche Teilbarkeit ins Unendliche
weist er im Phj'^sischen ab; hier bedeutet ihm das unendlich
Kleine nur das unwahrnehmbare Kleine, das aber eine weitere
Teilung nicht zuläßt und ebendarum Atom heißt.
Die Bewegung aber, auf der in letzter Linie ja Mischung
und Trennung beruhen, wird hier nicht mehr durch äußere
Kräfte an die Atome herangebracht, die Kraft der Bewegung
wohnt dem materiellen Substrat der Dinge von Ewigkeit her
bei. Die Einheit, die der Kraftbegriff auch bei Empedokles
Leukipp zu Zenon annimmt, ob er gleich gelegentlicli dessen Schüler, so von
Diog. Laert. IX, 20 ff., genannt wird. Vgl. darüber Biluinker, a. a. 0-, S. 80,
woselbst auch weitere Literaturangaben.
1 Simpl. ebenda: upuira ödj|uaTa.
2 Simpl. ebenda; vgl. Arist. Met. I, 4,98.jb und Diog. Laert. TX, 30 ff.
* Arist. de gen. et corr. I, 8,:'ii5a.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 81
uud Anaxagoras zwischen dem Mannigfaltigen der Stoffe zu
vollziehen hatte, wodurch die für das Substanzproblem so be-
deutsame Beziehung von Substantiahtät und Ursächlichkeit ge-
wonnen wurde, M'ird hier noch verfestigt. Hier sind Stoff und
Kraft einander analytisch verbunden und bilden die höchste
Einheit.^ Vor allem aber ist hier der Kraftbegriff ohne alle
mythologische sowohl wie ohne alle teleologische Vorstellung,
sondern rein mechanisch gefaßt. Wenn es hier heißt, daß «kein
Ding entsteht ohne Ursache, sondern alles aus einem bestimmten
Grunde und mit Notwendigkeit»^, so ist mit dem Substanz-
gesetze das Kausalgesetz in die innigste Beziehung, nämlich
eben die eines analytischen Verhältnisses und zugleich auf die
streng wissenschaftliche Form der abstrakten Bestimmung ge-
bracht.
4. Die bedeutendste Erscheinung innerhalb der aufkei-
menden Tendenz zu naturwissenschaftlicher Begriffsbildung und
eine der bedeutendsten Erscheinungen innerhalb der gesamten
Philosophie des Altertums ist Demokrit. Zu ihm verhält sich,
was Tiefe und Schärfe des Denkens anlangt, Leukipp, wie sich
etwa Empedokles zu Anaxagoras verhält. Alle bisherigen
Denker aber überragt Demokrit an Kraft der systematischen
Gestaltung. Dieser Umstand erklärt uns auch, wie Fr. A. Lange
sehr treffend hervorhebt^, die an sich merkwürdige geschicht-
^ Arist. Met. ebenda rechnet es freilich als Fehler an, daß nicht noch
ein besonderer Ursprung der Bewegung angenommen wird.
^ Aet. I, 25 (Diels, Fragm. S. 350, fr. 2) AeÜKiirtro«; irdvTa kut' dvciYKiiv,
Triv b' aÜTnv ÜTtdpxeiv ei|uap|advTiv. Xifei ^äp Iv xOCii TTepi voO •
oöbev XPn^ct |udTr|V Yivexai, dWd itdvTa in Xöfov re Kai öir' dvdYKri(;.
F. A. Lange (Gesch. d. Material. I, S. 39 [Reclam]) will diesen Salz freihch erst
Demokrit vorbehalten wissen. Aber da die Überlieferung ihn dem Leukipp
ausdrückUch zuschreibt und er, nach Langes eigener zutreffender Deutung, nur
die rein mechanische Tendenz des Atomismus zum Ausdruck bringt, die ja
von Leukipp scharf gefaßt ist, insofern er alles Geschehen in Bewegung auf-
löst, so ist kein Grund abzusehen, warum wir dem Leukipp den Satz nicht
zutrauen sollten. Er ist dem Denken Leukipps jedenfalls ebenso gemäß, wie
demjenigen Demokrits. Und der weit über Leukipp hinausreichenden Be-
deutung Demokrits geschähe doch kaum Abbruch, wenn man den Satz schon
für Leukippisch ansieht.
' A. a. 0. I, S. 37. Weim wir den Ausspruch Langes relativ im Sinne
Bauch, Das Substanzproblem. 6
82 3. Kapitel.
liehe Erscheinung, daß wir «über Demokrits Lehre .... besser
unterrichtet sind als über die Ansichten manches Philosophen,
von dem uns mehr erhalten ist. Wir dürfen dies der Klarheit
und Folgerichtigkeit seiner Weltanschauung zuschreiben, die
uns gestattet, auch das kleinste Bruchstück mit Leichtigkeit
dem Ganzen einzufügen.» Dieses Ganze ist, als System gedacht,
jener scharf ausgebildete Materialismus, wie er sich in der
Naturwissenschaft als wertvolle Erklärungshypothese erwiesen
hat, und wie er als Methode, wenn auch nicht, was er bei
Demokrit freihch noch war, als Weltanschauung, seine Bedeu-
tung behaupten wird: konsequent durchgeführter und begrün-
deter mechanischer Atomismus.
Einen der bedeutsamsten Faktoren dieses Systems bildet der
Satz, der zugleich für die Entwickelung des Substanzproblems
von der größten Bedeutung ist, daß aus nichts auch nichts
werden, und daß nichts zu nichts werden kann.^ Der Satz ist
freilich nicht mehr absolut neu. Er ist uns implizite wie ex-
plizite bereits früher begegnet. Allein seine beiden Seiten sind
hier miteinander doch erst in den engsten Zusammenhang
und damit der Satz als Ganzes auf einen Ausdruck gebracht,
daß er sich fortan als eine Grundlage der exakten Forschung
behaupten konnte. Weil aus nichts aber nichts wird und nichts
absolut vernichtet werden kann, so muß alles Entstehen und
alles Vergehen in der Verbindung und Trennung letzter, nicht
weiter teilbarer Teile, d. i. der Atome, bestehen.^ Noch Lange^
des Verhältnisses der Menge des Erhaltenen zu seiner Bedeutung verstehen,
behält er auch heute noch seine volle Gültigkeit, ja man kann sagen, daß er
wenigstens für den für uns allein in Betracht kommenden theoretischen Teil
(beim ethischen liegt namentlich nach der Arbeit Natorj)« heule die Sache doch
anders) seiner Lehre durch Diels' Fr.-Sammlung noch besser bestätigt wird als
durch die frülieren Untersuchungen nach dieser Richtung hin.
» Diog. Laert. IX, 44: \XY\biv t' ^k toO jurj ö'vto? fiyveaQai, ixr]b' elc, tö
|Liri öv qpdefpeödai.
^ Simpl. de caelo 294: f] )aev flveoic, öü^KpiGii; TUJv dröiuoiv ioriv, r) b^
cpOopü biuKpiGK;; vgl. auch Arist. de gen. et corr. I, ä,31.5 b, wo im übrigen
freilich Demokrit und Leukipp, wie auch sonst bei A., etwas zu wenig ge-
schieden nebeneinander gestellt werden.
* A. a. 0., ebenda.
Die Allfänge der nalurwissenscliaftlichen Begriffsbildung. 83
sieht in dieser Bestimmung, ohne zu verkennen, daß der Satz
von der Beharrlichkeit der Substanz schon auf den ersten An-
fängen der Philosophie «zum Vorschein kommt, wenn auch
anfangs etwas verhüllt», die eigentlich erste un verhüllte For-
mulierung des Begriffs der Substanz, wobei er ausdrücklich
und geradezu auf Kants «erste Analogie der Erfahrung» hin-
weist. Wir können, nach unseren früheren Ausführungen, heute
nicht mehr erst bei Demokrit die erste genaue explizite For-
mulierung des Beharrlichkeitsgesetzes der Substanz ansetzen.
Durchaus neu aber ist die wissenschaftliche Exaktheit der For-
muherung, aber nicht nur sie; neu ist auch der Inhalt, den
bei ihm die Form gewinnt, neu vor allem aber ist die Begrün-
dung, durch die die exakte Formulierung ihren neuen Inhalt
gewinnt. In der Geschichte des Substanzproblems bedeutet
darum Demokrit nichtsdestoweniger eine neue Epoche. So sehr
es nun auch scheinen mag, als liege in der Ansicht, daß die
Atome und der leere Raum das eigentlich und einzige Reale, die
dpxai der Dinget außer denen nichts existiere, seien, ja sogar
auch in der anderen Bestimmung, daß alles mit Notwendigkeit
geschehe-, zum mindesten Leukipp gegenüber, nichts Neues
vor, so sehr wird doch die originale Leistung Demokrits gleich
offenbar, wenn man bemerkt, in welcher Weise er diese Sätze
begründet und zu welchen Konsequenzen er sie weiterführt.
Die allgemeine atomistisch-materialistische Grundtendenz lag
freilich bei Leukipp schon vor. Auch er hatte die qualitativ ver-
schiedenen empirischen Dinge auf die Atome als auf letzte
quantitativ bestimmte Dinge zu reduzieren gesucht. Allein diese
Reduktion war logisch höchst unvollkommen geblieben. Die
empirischen Qualitäten scheinen bei ihm mehr eine Art von
stetiger Summation der Quantitäten zu sein. Dabei kann die
logische Analyse nicht stehen bleiben, Sie muß die Dingqua-
litäten logisch zerlegen, als Sinuesqualitäten ansprechen und
diese quantitativ reduzieren. Das ist die unendlich fruchtbare
Tat Demokrits, daß er das Problem von der logischen Seite
* Diog. Laert. IX, 44: äpxdi; eTvai xiuv öXujv äTÖ|nou<; koX kcvöv .
^ Diog. Laeit. IX, 45: trcivTa xe kot' iväyKiiv yivecöai . . .
6*
84 3. Kapitel.
her erfaßt, daß er dem Substanzproblem vom Problem des Er-
kennens beizukommen sucht, und daß er durch diese seine
logische Tendenz zu einem logisch wertvollen, wissenschaftlich
verwertbaren Begriff der Materie gelangt. Er macht eigentlich
— und das ist das fundamental Bedeutsame — die vermeint-
lich unmittelbar gegebenen Dinge zum Problem. Und es ist
nicht die vermeintlich unmittelbare Gegebenheit in der Wahr-
nehmung, die der Prüfung standhält, sondern es ist allein das
Denken, das Erkenntnis zu stiften vermag. Die Unterscheidung
zwischen Sinnlichkeit und Vernunfterkenntnis ist uns freilich
ebenso schon früher begegnet, wie die Höherstellung der Ver-
nuufterkenntnis gegenüber der Sinnlichkeit. Allein sowohl die
logisch präzise Art der Unterscheidung, wie ihre verhältnis-
mäßig exakte Durchführung, die Präzision der Begründung,
wie endlich der scharf bestimmte Vollzug der Konsequenz
gibt dem Verfahren Demokrits eine vollkommen eigene Bedeu-
tung. Er unterscheidet also zunächst Wahrnehmen (aicrddveff&ai)
und Denken (qppoveiv).^ Sie sind zwei Formen der Erkenntnis,
von denen eigentliche Erkenntnis nur im Denken liegt, während
die andere nur dunkel und schattenhaft ist.^ Die Sinnlichkeit
als Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl gewährt uns
nur eine unzulängliche, dunkle Erkenntnis.'^ Die Sinne liefern
uns zwar die Empfindungen. Aber die Erkenntnisse durch die
Empfindungen (Yvujö'eig öiot tujv aia&i'icreuuv) zeigen uns nicht, wie
etwas an und für sich (erefii) ist, sondern nur, wie es uns in
der Empfindung erscheint (xd (paivöjLieva)S also nur, wie es in
Beziehung auf unsere subjektiven Sinnesorgane, d. i. nicht der
objektiven Wahrheit, sondern nur unserer subjektiven Meinung
nach beschaffen ist.^ In der Empfindung lernen wir also nicht
^ Theophr. de sens. 49 ff., 58 ff.
2 Sext. Emp. adv. math. VII, 139 (Diels, Fragm. I, S. 389, fr. 11) yviijun«;
hi bvo eiaiv ib^ai, f) |udv Yvriö{ri, y] be (JKOxiri.
^ Sext. ebenda (Forts, v. Anm. 2) koI OK0Tir]c, |udv Toibe aüjUTTavTa, ö\\ii<;,
ÖKori, öb,ur|, YeO(ji<;, \\ia\)a\q.
♦ Sext. a. a. 0. VII, 135 (Diels, Fragm. I, S. 388, fr. 9).
° Ebenda: Xiyex firibev qpaiveadai köt' d\rideiav, äWä |uövov kotö
bo^av . . .
Die Anfange der naturwissenschaftlichen Begriffshilduncr. 85
objektive Eigenschaften der Dinge als solche kennen, sondern
bloß Einwirkungen der Dinge auf unsere zugleich rückwir-
kenden Sinne. Was wir Farben, Töne, Geschmäcke usw.
nennen, das sind also keine wirklich-objektiven Eigenschaften
der Gegenstände, sondern Zustände^ unserer eigenen subjek-
tiven Beschaffenheit, oder Arten und Weisen, wie wir auf das,
was auf unsere Leibesverfassung einfällt, reagieren und darum,
wie dieses unter unserer eigenen sinnlichen Gegenwirkung auf
uns einwirkt.^ So nennen wir etwas farbig, süß, bitter, als
ob das, was wir so nennen, auch an sich so wäre. In Wahr-
heit ist das nur eine konventionelle Ausdrucksweise, mit der
wir nichts an den Gegenständen, sondern bloß Bestimmtheiten
unserer eigenen subjektiven Sinnlichkeit bezeichnen: also eine
Art von Vereinbarung.^ Wahrhaft wirklich ist darum allein
das, was unabhängig von den Bedingungen der aioOno'K; ist
und unabhängig von diesen erkannt wird. Wenn wir aber von
aller Empfindung absehen, so sind wir in der Erkenntnis allein
auf das Denken verwiesen. Was also allein Gegenstand des
Denkens (vor|Td)*, und unabhängig von allen Empfindungs-
^ Vgl. Theophr. a. a. 0. ebenda.
'^ Sext. Erap. a. a. O. ebenda (Diels, fr. 9): rmei«; be tiüi luev ^övxi
oObev dxpeKe? auvie|Liev, ineTaTTiiTTov he Kaxd xe aiJujLiaxo^ biadriKriv Kai xiuv
dtreiaiövxuuv Kai xüjv dvxiaxtipiCövxuuv; vgl. auch Arist. de gen, et corr.
I, 2,315 b.
' Ebenda: vöjliuui fdp, (pr]o\, yXvKV Kai v6|i.ia)i iriKpöv, vöiauji Oepiaöv,
VÖ|iUJl vjjuxpöv.
* Sext. Emp. a. a. 0. VIII, 6 — 7. Diesen Rationalismus gilt es wohl zu
beachten. Doch kann ich ihn nicht mit Natorp (Demokrit in: Forschungen z.
Gesch. d. Erkenntnisprobl. i. Altert., S. 167 ff.) und mit Kinkel (a. a. 0. I, i^lOff.),
der sich hier an Natorp anschließt, schon idealistisch deuten. An der hier
erwähnten Stelle hat Sextus freilich Piaton und Demokrit nahe zusammen-
gestellt, wenn er sagt: ot bt irepl TT\dxuuva Kai ArmÖKpixov |u6va xd vorixd
dXriOii elvai. Allein man darf, wenn man sich auf diese Vl''orte (VIII, 6) als
Zeugnis für den Demokritischen vermeintlichen Idealismus beruft, doch die
unmittelbar darauf folgenden (VIII, 7), von jenen nur durch ein Komma ge-
trennten Worte nicht ganz beiseite lassen oder als unwesentlich erachten,
wenn man die ersten für so wesentlich hält; die Worte nämlich: äW ö |U€v
Ari|aÖKpixo(; bid xö unb^v ÖTTOKeiodai qpüaei aiööri™^, xtliv xd udvxa auYKpi-
vouöüuv dxöjaujv ndaY]c, aiöör^xti^ iroiöxrixo? ^priiuov ixovawv qpOaiv, 6 bi TTXdxiuv
bid xö YiTveöOai [xiv dei xd aioörixd larjbtiroxe eivai, oiöxe xauxö jiri büo Tovq
86 3. Kapitel.
iiihalten ist, das allein ist wirklich. Nicht empfunrlen und allein
im Denken erfaßt werden die materiellen Grundlagen der Dinge,
die beiden Prinzipien: der leere Raum und das Raumfüllende,
d. i. die Materie.
Zunächst wirkt hier befremdlich, daß jener eigentlich als das
Nicht-Seiende, das Volle aber allein als das Seiende gefaßt wird\
wo es doch gerade Prinzip der Dinge, wie das Volle, sein soll.
Allein die Schwierigkeit hebt sich dadurch, daß der leere Raum
eine besondere Grundlage neben dem materiellen Sein darstellt,
und ebendarum keineswegs weniger wahrhaft ist als das Volle. ^
Denn das Leere muß notwendig wahrhaft sein, wenn der Wechsel
am Vollen, also das Geschehen möghch sein soU.^ Es be-
d\axi<JT0Ui; xpövout; ÜTro|uidveiv |Lir|be eiTib^x^'^^«i) Kadduep äXefe Kai 6 'AöKXri-
iTictbrit; buo diTibeiEei^ biet Trjv öSÜTr^Ta r?\q ^of|q. VIII, 6 wird also bei Sextus
gerade erst durch VIII, 7 dahin ertiänzt, daß, wenn er sich auch einer positiven
Beziehung zwischen üemokrit und Piaton bewufät ist, er doch auch eine
grundlegende Differenz nicht verkennt, die im Sinne des Sextus eigentlich an
beider Verhältnis zum Relativismus derart zum Ausdruck kommt, dafs beide
zwar vom Relativismus getrennt bleiben, aber so, daß Demokrit diesseits,
Piaton aber jenseits vom Relativismus steht. Aber auch schon für sich läßt die
positive Beziehung, die hier zum Ausdruck kommt, noch keine idealistische Aus-
deutung zu. Sie liegt lediglich im Rationalismus. Wenn Demokrit, wie Piaton,
Rationalist ist, so braucht er doch noch nicht, wie dieser, Idealist zu sein. Wenn
für Demokrit die Wahrheit nicht der Empfindung, sondern allein dem Denken soll
zukommen können, so kann freilich für ihn auch nur das Gedankliche, nicht das
Empfindliche wahr sein. Wenn für ihn also tue Atome Gegenstände des Denkens,
nicht der Sinne sind, so sind sie diese Gegenstände doch nicht als «Setzungen» des
Denkens (ob selbst für Piaton eine solche Deutung zuträfe, kann nicht hier ent-
schieden werden ; vielleicht wird sich das später zeigen), sondern als Realitäten «an
sich». Der idealistische Atombegriff ist gewiß auch uns der systematisch allein an-
nehmbare. Allein ihn schon Demokrit zu vindizieren, verbietet hier die historische
Tatsächlichkeit. So bedeutsam Demokrits Kritik der Sinnenerkenntnis ist, so macht
doch gerade ihr im Text dargelegter eigentümlicher historischer Charakter eine
solche Annahme unmöglich, insofern äroiaa Kai Kevöv doch iTr\i sein sollen.
^ Simpl. Phys. "28: AriiaÖKpiTO^ 6 'Aßbripirri^ öpxa? eöexo tö TrXfipe? Kai
TÖ Kevöv, d)v TÖ |Lidv öv, TÖ be |ur) ov ^KoAei; vgl. übereinstimmend auch
Arist. Phys. 1, 5,188.
^ Plut. adv. Colot. IV, 2,1109: \ir] laäWov tö biv f\ tö juribev eivai. bdv
|n^v övo\xdliuv TÖ aCj^xa \xr\biv bi tö kevöv, d)(; koi toütou q)ücfiv Tivd Kai
ÜTTÖöTaaiv ibiav exovTo^; vgl. dazu auch Zeller, a. a. 0. I, S. 770.
^ Arist. Phys. IV, 6,213b; oö y«P öv boKeiv elvai Kivnaiv, ei }xi-\ e'it]
Kevöv; vgl. auch Phys. VIII, 9,265b: biä tö Kevöv KiveiaOai 9aaiv.
Die Anfänge der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 87
zeichnet nur ein Sein, das nicht selbst materiell und dinglich ge-
dacht sein kann, weil in ihm die Materie und die materiellen
Dinge mit ihrer Bewegung selbst schon sind, es selbst also
bereits deren Voraussetzung ist, als welche es doch immerhin
dem wahrhaften Sein angehört und wahrhaft (eTefji)^ ist. In der
Bew^egung kommt Mischung und Entmischung zustande, und
darin liegt Entstehen und Vergehen der Dinge. ^ Diese erfordern
eine diskrete Struktur der Materie, d. h. ihre Teilbarkeit. Die
Teilung aber kann nicht ins Unendliche gehen, da sich sonst
nichts Bleibendes ergibt.^ Die letzten Teile der Materie sind zwar
un wahrnehmbar klein, ein für die Wahrnehmung unendlich
Kleines. Das unendlich Kleine in Demokrits Sinne ist also nicht
realiter ins Unendliche teilbar, sondern unteilbar schlechthin.'^
Und so sind in letzter Linie das wahrhaft an und für sich Seiende
mit dem leeren Räume die Atome. ^ Diese sind das absolut
und ganz Volle, in dem kein Leeres mehr ist. Denn, wäre
noch Leeres in ihnen, so wären sie ja selbst schon wieder aus
Teilen zusammengesetzt, also keine Atome. Darum müssen sie
absolut ganz voll sein.'' Ihr Wesen liegt in der Raumerfül-
lung. Insofern sind sie, obwohl notwendig unendlich an Zahl,
um die Mannigfaltigkeit der Dinge erklärlich zu machen^, den-
noch gänzlich einer und derselben Art (tö t^vo? ev).^ Ver-
schieden sind sie nur der Größe^, ferner der Gestalt, Ordnung
und Lage nach.^" In diesen rein quantitativen Bestimmungen
sind die Atome die bleibende Grundlage der Dinge in allem
Wechsel, nicht nur insofern sich die sinnlichen Einzeldinge
aus den Atomen aufbauen und deren Wirkung aufeinander
1 Sext. Emp. adv. malh. VIT, 13.5 (Diels, Fragm., S. .388, fr. 9).
2 Simpl. de caelo. i>94 (zitiert S. 82 Anm. 2).
3 Arist. a. a. 0. I, 3,187 a; vgl. Zeller, a. a. 0. I, S. 772 f.
* Arist. de gen. et corr. I, 8,32.5 a.
^ Sext. adv. matli. VII, 125 (Forts, von Anm. 3, S. 85): exeiii be ötTOiaa
Kai Kevöv.
^ Arist. a. a. 0., ebenda.
7 Ebenda.
8 Arist. Phys. I, 2,184 b.
» Ebenda III, 4,203 a.
1° Arist. Met. I, 4,985 b.
88 ?>. Kapitel.
nichts ist als Bewegung von Atomkomplexen, sondern auch
in dem Sinne, daß die quahtativ bestimmte Wahrnehmung
und Sinnlichkeit selbst auf die rein quantitative Grundlage
atomistischer Bewegungen erst zurückgeführt wird, so daß neben
der rein gedanklichen Erkenntnis der Atome und ihrer rein
quantitativen Bestimmungen die Sinnlickeit nur Meinung bleibt.^
So naiv nun im Einzelnen auch der AVahrnehmungsprozeß
als ein Hinüberwandern besonders kleiner materieller Bilder der
Gegenstände in die Sinne gedacht wird, so daß Demokrit, trotz
seiner Kritik der Sinnlichkeit, doch über eine naive Abbild-
theorie nicht recht hinausgelangt^, so liegt aber im Prinzip
hier doch zum ersten Male der nun wirklich durchgeführte,
logisch und überhaupt wissenschaftlich, insbesondere aber na-
turwissenschaftlich entscheidende Versuch einer ausdrücklichen
Reduktion der Sinnesqualitäten auf quantitative Beziehungen
vor. Es ist derselbe Grundgedanke, der später wieder in den
Anfängen der neueren Philosophie und Wissenschaft durch deren
vorzüglichste Begründer, Galilei-^ Descartes, Boyle, seine richtung-
gebende Bedeutung erhalten und im Prinzip und begrifflich,
bei wie auch immer verändertem Bilde der Anschauung, für
die exakte Forschung behalten sollte, und der durch Lockes
mehr populär gerichtete, wissenschaftlich aber auf Boyle zu-
rückgehende Unterscheidung der «primären und sekundären
Qualitäten*» sogar eine gewisse Volkstümlichkeit erlangt hat.
Die qualitativ bestimmten Sinneswahrnehmungen gehen ursäch-
lich zurück auf rein quantitative Atomverhältnisse, und darum
hat die quahtative Mannigfaltigkeit ihre letzte Grundlage in
den rein quantitativ bestimmten, qualitativ also nicht unter-
schiedenen, sondern gleichartigen und einheitlichen Atomen
^ Dioi,'. Laert. IX, ebenda gilt neben dem wahren Sein der Atome und
dem Räume als der öpxai der Dinge nur xd b' äXKa Trdvxa boHdZIeaöai.
2 Vgl. ausführlicher Windelband, a. a. 0-, S. 92.
3 Vgl. Löwenheim, Der Einfluß D.'s auf Galilei (Arch. f. Gesch. d. Philos.
1894, S. 230 ff.); eine im ganzen recht ansprechende Untersuchung, die, freilich
trotz mancher Willkürlichkeiten auf der einen Seite, doch auf der anderen
zugleich die für derartige historische Perspektiven notwendige Vorsicht be-
kundet.
* Windelband, a. a. 0., ebenda.
Die Anfange der naturwissenschaftlichen Begriffsbilduncr. 89
selbst.^ Darum aber muß die Wahrnehmung selbst konse-
quenterweise zu einem rein mechanisch-atomistischen Prozesse
werden, und ebenso konsequent muß der DuaHsmus zwischen
Leib und Seele aufgehoben werden. Die Seele wird selbst
atomistisch gedacht. Die Seelenatome sind ebensowenig von
den übrigen Atomen qualitativ unterschieden, wie es überhaupt
zwischen den Atomen noch qualitative Unterschiede gibt.
Die Seelenatome sind nur die runden, leichtesten und darum
beweglichsten unter den Atomen ; es sind dieselben wie die des
Feuers.^ Trotzdem verfällt Demokrit — und auch darin zeigt
sich seine überragende Größe — nicht dem sensualistischen
Schein. Die Bedingungen der sinnlichen dunklen Erkenntnis
liegen ja für ihn gerade in den Gegenständen der rationalen
Erkenntnis, den Atomen. Und wenn die Veruunfterkenntnis
in ihrem Ursprünge auch selbst auf die atomistischen Ver-
hältnisse zurückgeht, so sind diese in ihrem Erkenntniswerte
doch durch die Vernunft verbürgt. Eben darum werden die
Sinnesqualitäten für ihn nicht zum bloßen Schein, sondern zur
notwendigen Erscheinung (id qpaivöiueva) der an sich bestehenden
(eiefii) atomistischen Grundlagen der Wirklichkeit, wenn sie diese
auch nicht zeigen, wie sie an sich selbst eben sind, sondern
nur in Beziehung auf unsere Sinnlichkeit und Meinung.^ Ist
also zwar allein das Denken imstande, uns die substan-
tielle Grundlage der Dinge selbst aufzuweisen, so sind die
Wahrnehmungen doch immerhin die Einwirkungen der an sich
^ Vgl. Arist. außer Phys. 1. c. noch de caelo I, 7,275 b und Theophr. de
sens. 61 ff., sowie Zeller, a. a. 0. I, S. 774 ff.
- Arist. de an. I, 2,405a und Diog. Laert. IX, elienda. Es ist nicht
nötig, auf die Schwäche dieser Wahrnehniungstheorie nochmals aufmerksam
zu machen. Bemerkenswert bleil)t aber gerade hier, daß trotz der genetischen
Abhängigkeit auch des Denkens von den materiellen Grundlagen und damit
selbst von den Bedingungen der Sinnlichkeit dennoch hinsichtlich der Wert-
entscheidung das Denken die Wertpriorität behauptet, so daß hier die genetische
und die Wertfragestellung scharf auseinandertreten. Die Wertpriorität des
Denkens bleibt dabei also vollauf bestehen; vgl. dazu die Ausführungen Natorps,
a. a. 0., S. 1(38 ff., die, wenn sie auch in der idealistischen Deutung mir nicht
annehmbar sind, doch hinsichthch der Demokritischen Kritik der Sinnlichkeit
und der Wertstehung des Denkens ganz vortrefflich sind.
3 Sext. Emp. adv. math. VII, 135 (Diels, Fragm. I, S. 388, fr. 9).
90 3. Kapitel.
nur dem DeDken erreichbaren substantiellen atomistischen
Struktur der Dinge, also zwar subjektiv (Kaid böSav)S aber doch
nicht bloß subjektiv, sondern wenn auch nicht an sich selbst
schon objektiv, so doch objektiv bedingt. Die Wahrnehmungen
sind also selbst wirklich, nur ist ihre Wirklichkeit erst aus der
der Atome, deren Natur und Verhcältnisse abgeleitet, bleibt aber
als solche abgeleitete, phänomenale Wirklichkeit bestehen.^
Auf keine andere Wirklichkeit zurückführbar, darum in
allem Wechsel beständig sind allein die Atome und ihre streng
mechanische Gesetzmäßigkeit. Indem durch diese im Atomismus
zugleich ein besonderes Zweckprinzip, wie ein solches der voög
des Anaxagoras war, eliminiert wird, nimmt die atomistische Er-
klärung der Sinnendinge und der Sinneswahrnehmung eine
durchaus wissenschaftliche Wendung. Insbesondere aber wird
der Atomismus Demokrits wissenschaftlich fruchtbar. Er be-
gnügt sich nicht, wie Leukipp, bei einer bloßen Wendung zur
Naturwissenschaft. In der Durchführung und Begründung des
gemeinsamen Grundgedankens steht Demokrit unendlich hoch
über seinem atomistischen Gefährten. Denn in dieser Begrün-
dung und Durchführung eliminiert er alle Wahrnehmungs-
qualität in ausdrücklicher logischer Analyse vom Substanzbegrifif,
so daß er ihn nun auf wirklich logischem Wege der Dualität
entkleidet und auf die Einheit mechanisch bestimmten materiellen
Seins beschränkt. Erst seine großartige Durchführung begründet
wirklich die von Leukipp intendierte Einheit von Stoff und Kraft
im materiellen Substanzbegriff, in dem_ keine besondere Zweck-
kraft die Einheit mehr herzustellen braucht.
^ Ebenda; vgl. oben.
2 Arist. a. a. 0. I, 2,404 a und de gen. et corr. 1. c; vgl. dazu auch
Windelband, a. a. 0., S. 90, der mit Recht den sensualistisclien Deutungs-
versuch Ed. Johnsons (Der Sensualismus des Demokritos und seiner Vor-
gänger, mit Bezug auf verwandte Erscheinungen der neueren Philosophie,
Plauener G.-Pr.) als verfehlt zurückweist. Johnson kommt in der Tat über
die Entstehungsfrage nicht hinaus und geht am eigentlichen Problem der Er-
kenntnis hei Demokrit vorbei.
91
Viertes Kapitel.
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung.
Wenn wir schon sehr früh die geschichthche Bedeutung
des Pythagoras dahin charakterisiert finden, daß dieser die
mathematischen Theoreme ohne Beziehung auf die stoffhche
Anwendung, sondern rein für sich und rein gedankhch er-
forscht liabe\ so ist damit die ganze Pythagoreische Tendenz
auf die kürzeste und glückhchste Präzision gebracht. Sie wird
auch der begriff Hchen Bedeutung des Substanzproblems zu-
gute kommen. Zunächst zwar könnte es scheinen, als ob die
mathematische Begriffsbildung nichts mit dem Substanzbegriffe
zu tun habe. Denn dieser ist doch kein jnathematischer Be-
griff. Und gerade für die Philosophie scheint sodann doch
nicht die eigentlich mathematische Tendenz der Pythagoreer,
sondern gerade bloß ihr Symbolismus in Betracht zu kommen.
Allein hält man sich erst einmal fest bewußt, daß die Pytha-
goreer nicht bloß symbolistisch, sondern außerdem eben noch
streng wissenschaftlich mathematisch dachten, so kann man
sich auch darüber klar werden, daß gerade ihre mathematische
Denkweise für die Geschichte der Philosophie von ganz be-
sonderem Werte ist.^ Die Geschichte der Mathematik läßt
^ Proklos (ed. Friedlein), S. f>5: Kai ävXwc, Kai voepoiq biepeuviüiuevo;.
- Das gilt schon, wie aus Jambl. de vita Pylli. erhellt, von Pythagoras
selbst; vgl. E. Rohde, Zu Jambl. d. v. P., S. 8. In breiterer Ausführlichkeit
scheinen sie mir bisher am besten und eingehendsten von selten der Geschichte
der Philosophie gewürdigt zu sein von Kinkel, a. a. 0., S. 101 ff. Ich komme
darauf zurück. — ■ Feine Andeutungen finden sich für die Unterscheidung von
Symbolismus und Wissenschaft auch schon bei A. Boeckli, Philolaos des Pytha-
goreers Lehre nebst den Bruchstücken seines Werkes, S. 155 f.
92 4. Kapitel.
es sicli nicht nehmen, sogar ganz besthnmte Einsichten, «welche
ganz besonders der Geschichte der Mathematik angehören»,
der sagenumwobenen Gestalt des «Pythagoras selbst zuzu-
schreiben».^ Das gilt z. B. auch von dem sogenannten Pytha-
goreischen Lehrsatze, Zu jenen Einsichten, sagt M. Cantor,
«gehört der Pythagoreische Lehrsatz, den wir unter allen Um-
ständen ihm erhalten wissen wollen.»^
Die Deutung des philosophischen Teils der Pythagoreischen
Lehren ist größtenteils von derjenigen beherrscht, die diese bei
Aristoteles gefunden hat, und dessen Autorität ist für die Auf-
fassung bis in die neueste Zeit bestimmend gewesen.^ Zwar
hat man sich, so Brandis"^, längst die Frage vorgelegt, ob
Aristoteles die Pythagoreer auch wirklich verstanden habe,
aber im Grunde hat man die Frage doch meist im positiven
Sinne entscheiden zu müssen geglaubt.^ Auch hatte man die
Vieldeutigkeit der Aristotehschen Äußerungen bei seiner Be-
richterstattung auf eine Verschiedenheit der Pythagoreischen
Schulmeinungen zurückführen zu müssen geglaubt.^ Allein so
mannigfach die gedanklichen Tendenzen der Pythagoreer sind,
so sind es doch immer nur mannigfache Tendenzen innerhalb
der einen Schule, nicht Ansichten besonderer Schulen. Gewiß
ihre Tendenzen sind mannigfaltig, so mannigfaltig, daß für uns
nur ein verhältnismäßig kleiner Ausschnitt aus ihrer Gesamt-
ansicht in Betracht kommen kann. Und doch bleibt auch schon
^ Moritz Cantor, Vorlesungen zur Geschichte der Mathematik I, S. 129.
2 Cantor, ebenda.
ä Vgl. zum Beleg dafür z. B. nur Zeller, a. a. 0. I, S. 320 ff., 350 ff. u.a.m.
•* Brandis, Über die Zahlenlehre der Pythagoreer und Platoniker (Rh.
Mus. II. S. 211).
6 Cohen, Piatons Ideenl. u. d. Math., S. 16 ff., Natorp, Plat. Ideenl.
Eine Einf. in d. Ideal., S. 421 ü'. und Kinkel, a. a. 0., ebenda, bilden hier
eine Ausnahme. Am schlagendsten scheint mir Natorp den Nachweis erbracht
zu haben, daß Aristoteles das eigentlich mathematische Verständnis abging.
Wie man sich auch sonst zu Naiorps Ausführungen stellen mag, gegen dieses
sein Verdienst werden sich auf die Dauer auch diejenigen nicht verschließen
können, die für Aristoteles mehr Bewunderung aufzubi-ingen vermögen, als
Natorp selbst, Vorausgesetzt, daß sie eben ein positives Verhältnis zur Mathe-
matik haben.
® Brandis, a. a. ü., ebenda.
Die Anfange der mathematischen Begriffsbildung. 93
für unsere eng begrenzte Untersuchung zu bedenken, daß Ari-
stoteles, selbst wenn er in der Berichterstattung zuverlässig ist,
es doch nicht auch in der Deutung des Berichteten zu sein
braucht. Bericht und Deutung des Berichtes sind doch scharf
zu unterscheiden. Gerade Brandis, der die Auffassung des
Aristoteles, trotz seiner kritischen Vorsicht gegen sie, noch in
gewisser Weise aufrecht zu erhalten sucht, hat an einer Stelle
die Pythagoreische Grundansicht in einer geradezu glänzenden
zutreffenden Weise formuliert, die sich aber mit den Aristo-
telischen Deutungen selbst durch die größten Gewaltsamkeiten
nicht in Übereinstimmungen bringen läßt. Brandis bringt das
Wesen der Zahl als Bestimmung des «Bewußtseins vom Sein
der Dinge» auf den denkbar glücklichsten Ausdruck und be-
merkt, daß die Zahl nicht bloß ein «regulatives» Moment der
eigenschaftlicheu Erkenntnis der Dinge, sondern ein konstitu-
tives Erkenntnismoment vom Sein der Dinge selber ist.^ Das
aber ist der Punkt, an dem Pythagoreismus und Piatonismus
sich vereinigen, es ist der idealistische Grundzug dieser beiden
Gedankenrichtungen, und gerade weil Aristoteles ihn in der
einen verkannt hat, konnte er ihn auch in der anderen nicht
recht erkennen. Die Differenz zu Piaton fällt in letzter Linie
zusammen mit der Differenz zur Pythagoreischen Philosophie
der Mathematik, so daß Piatons Forderung luribeig dTeuj^expriTG^
eicTiTuu )uou Tf]v OTijiyv unter diesem Gesichtspunkte eine einzig-
artige geschichtliche Bedeutung zu erhalten scheint.- Auf jeden
^ Brandis, a. a. 0., S. 216. Hier führt Brandis als die Fundamental-
erkenntnis der Pythagoreer an die «Entdeckung, daß bei allem Wandel der
Dinge und bei allem Streite der Meinungen die Zahlenlehre davon nicht be-
rührt und durch sie die ganze Größenlehre bedingt werde»; und er bemerkt
ganz vortrefflich, daß darum die Pythagoreer meinten, in den Zahlen «nicht
nur ein Regulativ für die Erkenntnis gewisser beharrlicher Eigenschaften der
Dinge, sondern das Bewußtsein vom Sein der Dinge selber und ihrer Prin-
zipien zu besitzen».
^ Um hier nicht mißverstanden zu werden, will ich noch einmal be-
sonders hervorheben, daß es sich hier um die Philosophie der Mathematik,
den Sinn und die Bedeutung des Mathematischen, nicht um mathematische
Einzelkenntnisse handelt. Der Ansicht des Historikers der Mathematik, die
94 4. Kapitel.
Fall aber liegt in Branclis' Deutung ein viel tieferer Sinn, als
ihn die Aristotelische zuläßt, trotzdem er sich aus Aristoteles'
Berichten selbst herstellen läßt, und zwar besser, als es dem
Stagiriteu selbst gelungen ist. Brandis selbst übersieht freihch
auch noch nicht die Tragweite seiner Deutung. Darum ent-
schließt er sich, vor die Alternative gestellt, zwischen der An-
nahme widerspruchsvoller Pythagoreischer Schulmeinungen, oder
der des richtigen Verständnisses durch Aristoteles zu wählen,
für die letzte Entscheidung. Trotz alledem hat er in den zi-
M. Cantor in seinem erwähnten Werke vertritt, daß in dieser Hinsicht Aristo-
teles selbst um die Geschichte der Mathematik seine Verdienste hat, zu wider-
sprechen, wäre in der Tat ungerecht. Immerhin darf er auch hier Piaton
kaum ebenbürtig zur Seite gestellt werden. Was nun vollends die Erkenntnis
der philosophischen Bedeutung der Mathematik anlangt, so dürfte es nicht
ungerecht sein, den Aristoteles geradezu als «&YCuu|Li^TpriT0(;» zu bezeichnen.
Daf3 Aristoteles bei aller mathematischen Einzelerkenntnis im Grunde doch ein
unmathematischer Kopf war, das hat Natorp meines Eraclitens scharf und klar
bewiesen (vgl. a. a. 0., besonders S. 409 — 436). Und das wird jeder malhemathisch
Denkende Natorp zugeben müssen, selbst wenn er weder dessen Platon-Auf-
fassung noch dessen Aristoteles-Auffassung im ganzen und restlos annimmt.
Vorgearbeitet hatte dieser historischen Einsicht Natorps nach Brandis auch
schon Hermann Cohen in seiner Schrift über Piatons Ideenlehre und die
Mathematik.
Im Anschluß an Cohen und Natorp hat neuerdings Kinkel (a. a. O.,
S. 107 ff.) in breiter Ausführlichkeil die Frage behandelt. Geht er auch in
seinem Verwerfungsurteil über Aristoteles zu weit, so hat er doch in besonders
verdienstlicher Weise sehr gute Winke für einen Vergleich der Platonischen
mit der Aristotelischen Mathemalikauffassung gegeben, ein Thema, das für
sich einer besonderen Behandlung wert wäre, das ich natürlich hier nicht in
meine ohnehin schon spezialisierte Aufgabe miteinbeziehen kann. Wenn Kinkel
darauf hinweist, daß Aristoteles den Pythagoreern «so gut wie Piaton gegen-
über kein verständnisvoller Berichterstatter war» (S. 107), so hat er gerade
dadurch, daß er Plalon und die Pythagoreer miteinander in Parallele und beide
dem Aristoteles entgegensetzt, durchaus das Richtige getroffen. Ich möchte
nur schärfer als Kinkel zwischen der immerhin wertvollen bloßen Bericht-
erstattung und der Deutung des Berichtes bei Aristoteles untei'scheiden. Wenn
ich nun freilich mit Kinkel den Pythagoreismus auch nicht ohne weiteres als
logischen Idealismus fassen kann (Zahlen sind ihm Gesetze — doch komme ich
auf die Differenz zwischen Kinkels und meiner Ansicht später zu sprechen),
so zeigen doch seine Untersuchungen, ebenso wie diejenigen seiner Vorgänger,
daß die Aristotelische Mathemali kauffassung längst — nicht also erst von
mir — in ihrem pliilosophischen Werte als reclit bedenklich erkannt worden ist.
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung. 95
tierten Sätzen einen tieferen Blick bewiesen, als manche andere
au Aristoteles sich anlehnenden Ausleger, Zeller nicht aus-
genommen.
In philosophischer Hinsicht war es zunächst mehr das
arithmetische als das geometrische Gebiet, das die Pythagoreer
eben auch philosophisch fruchtbar machten; und wir lernen
hier ihre Anschauungen am leichtesten verstehen, wenn wir von
einer prinzipiell wichtigen und bleibend bedeutsamen, weil
logisch wertvollen Unterscheidung ausgehen. Es ist bemerkens-
wert, daß sich die Pythagoreer über den Unterschied der Zahlen
von den zählbaren Dingen vollkommen klar waren und beides
darum auch in der Tat sorgfältig unterschieden.^ Die Unter-
scheidung zwischen dpidjuoi; und dpi&|uriTd ist ohne Zweifel so
echt Pythagoreisch, daß mit der Aufhebung dieser Unterschei-
dung auch aller Sinn des ganzen Pythagoreismus aufgehoben
würde. Denn die ganze Zahlenphilosophie der Pythagoreer ist
von dieser Unterscheidung beherrscht. In der Tat setzt sie ja
auch Arisioteles^ in dem Gegensatzpaare der abstrakten Einheit
und der abstrakten Vielheit (ev Kai TrXiiO-og) selbst schon wieder
voraus, wie sie auch vor ihm schon Platon^ nur mit viel
größerer Klarheit und Schärfe akzeptiert hatte, so daß bei
Piaton für diesen prinzipiellen Gesichtspunkt ein schwerwie-
gendes und vollgültiges Zeugnis vorliegt, das die Forschung
doch wahrlich nicht geringer veranschlagen darf als dasjenige
des Aristoteles.
Wie es nun auch immer mit der iöia uTTÖcfTacri^, die frei-
lich jener Unterscheidung gegenüber schon einen neuen Ge-
^ Sext. Emp. Hyp. III, 156: erepöv xi ioziv 6 dpiöf^öq uapä to (ipiöiaiird;
und el)enda 157: ouk äpa tu 6pid|ariTd daxiv 6 äpiö|aö<;, aW ibiav inröoTaaiv
'Ixei Trapd raura, Kad' t^v dinöeaipeiTai toT<; dpiOjaoii; . . . dem widerspricht
freilich Arist. Met. I, G,987a/b; und Zeller gibt ihm recht (a.a.O., ebenda).
Das heißt aber der Pythagoreischen Lehre den Nerv abschneiden, und sind doch
des Aristoteles weitere eigene Berichte nur auf Grund dieser entscheidenden
Auffassung selbst sinnvoll zu fassen. Hier bleibt gegen Zeller von den älteren
Forschern' Brandis .und von den neueren Cohen, Natorp und Kinkel (s. S. 93
Anm. 2) im Recht.
2 Arist. Met. I, .5,986 a; vgl. Boeckh, a. a. 0., S. -55.
* Pkt. z. B. Theaet. 185 A.
96 4. Kapitel.
danken impliziert, stehen mag, so ist soviel zunächst klar, daß
auch sie der in jener Unterscheidung zutage tretenden Grund-
* ansieht der Pythagoreer durchaus gemäß ist, indem das ibia von
vornherein nur den Unterschied zu den dpiö|uriTd bezeichnet,
das «ouK dpi&jariTd» nur erläutert, mit ihm geradezu gleichbe-
deutend ist und gerade die Negation, den Gegensatz der bloß
zählbaren Dinge bezeichnen kann. Der Begriff der iiTTocJTacrK;
aber entspricht zunächst selbst durchaus auch der Auffassung
des Aristoteles von den Zahlen als dpxai der Dinge, soweit sich
Aristoteles hier nur berichtend verhält, ist also der Sache nach
mit der objektiven Berichterstattung, wenn auch nicht in allen
Stücken mit der Deutung des Aristoteles selbst durchaus verein-
bar. Denn auf der einen Seite tritt hier die Unabhängigkeit der
Zahlen von den zählbaren Dingen zutage; und das soll gerade
besagen, daß die Zahl ein eigenes und eigenartiges Sein den
Dingen gegenüber hat. Auf der anderen Seite soll ebenso deutlich
werden, daß, wenn auch die Zahlen unabhängig von den Dingen
sind, doch nicht umgekehrt auch die Dinge unabhängig von
den Zahlen sind, daß die Zahlen selbst zu den bleibenden
Grundlagen, den Prinzipien (dpxai) der Dinge werden, wie ja
Aristoteles selbst berichtet.^ In gewisser Weise ist damit bereits
der Sinn und Charakter der ganzen Zahlentheorie der Pytha-
goreer angedeutet, zugleich aber auch die mannigfache Kom-
plikation, zu der sie führt.
Darin scheint zunächst zwar gar keine Schwierigkeit zu
liegen, daß die Zahlen den zählbaren Dingen entgegengesetzt
werden. Daß die 1, die 2, die 3 usw. etwas anderes ist als
ein Ding, zwei Dinge, drei Dinge, die ich zähle, scheint ohne
weiteres einzuleuchten. Denn zählen kann ich die verschieden-
sten Dinge, und doch muß ich alles Verschiedene nach den-
selben Zahlen zählen, nach denselben Zalilenverhältnissen
verbinden. (Z. B. drei Acker sind etwas ganz anderes als drei
Pferde, die Zahl drei aber drückt in gleicher Weise das Ver-
hältnis der Zuordnung von Einheiten zu einer bestimmten
Vielheit oder Menge aus in dem einen Falle wie in dem an-
* Met. I, 5,986 b.
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung. 97
deren. Und selbst wenn einstens die in dem einen Falle ge-
zählten Dinge ebensowenig mehr existieren wie die in dem an-
deren, so können doch immer wieder andere Dinge, seien es
nun andere Äcker oder andere Pferde oder gänzlich anderes,
immer wieder gezählt werden, nach denselben Zahlenverhält-
nissen einander zugeordnet werden. Welche wechselnden Dinge
auch gezählt werden mögen, daß sie gezählt werden können,
fordert ein gleichbleibendes eigenes Sein der Zahlen selbst.)
Insofern nun das gleichbleibende Sein der Zahlen lediglich
negativ bestimmt wird als nicht zusammenfallend mit den zähl-
baren Dingen, liegt in dem Bericht von der ihia bnöoiaOiq noch
keine Schwierigkeit. Diese beginnt erst mit der Frage nach
dem positiven Was dieser Bedeutung und nach dem eigen-
tümlichen Verhältnisse des «eigentümlichen» Seins der Zahlen
zu dem Sein der Dinge im positiven Sinne. Das ist eine ob-
jektive Schwierigkeit, die in der Geschichte auch zu den er-
heblichsten subjektiven Schwierigkeiten der Auffassung und
darum zu den schwerwiegendsten Mißverständnissen der Deu-
tung geführt hat. Weil nun die Zählbarkeit der Dinge selbst
schon das eigentümliche Sein der Zahlen voraussetzt, und weil
das Sein der Dinge insofern ein zahlenmäßig Bestimmtes ist,
als jedes Ding eben eines, von jedem anderen darum unter-
schiedenes, mit ihm zusammen also ein Mehreres ist, so läßt
sich zunächst verstehen, daß die Pythagoreer im Sein der Zahlen
zugleich die Prinzipien des Seins der Dinge, daß sie wegen der
grundlegenden Bedeutung der Zahlen für die mathematische
Bestimmung überhaupt in den Zahlen selbst ein das Sein und
und das Werden der Dinge zahlenähnlich und urbildlich
(6)aoiuj)aaTa) bestimmende Bedeutung erbhcken konnten. Über
den inhaltlichen Charakter dieser Bedeutung und Bestimmung
ist damit aber noch nichts ermittelt.
Gerade das «eigene» Sein der Zahlen neben und unabhängig
von den zählbaren^ Dingen kann dazu verführen, ihnen ein den
zählbaren Dingen analoges Sein zuzusprechen, wie Aristoteles die
Pythagoreische Lehre wenigstens teilweise gedeutet hat. Aber
^ Sext. Emp. a. a. O., 156/1.57: irapä rd äpiöjariTcl.
Banch, Das Substanzproblem.
98 4. Kapitel.
wie immer man auch im weiteren jenes eigene Sein verstehen
mag, so gilt es doch, um sich überhaupt eine verständliche Vor-
stellung davon zu bilden, von vornherein mit aller Energie fest-
zuhalten, daß das Sein der Zahlen von dem der zählbaren
Dinge unterschieden bleibt. Ein physisches, naturhaftes Sein,
wie das der zählbaren Dinge, kann also das mathematische
Sein der Zahlen von vornherein nicht bedeuten; das um so
weniger, als es sich bald als Grundlage des physischen Seins
erweisen soll.^
Gerade nach des Aristoteles Bericht sind die Zahlen für
die Pythagoreer dpxcu eben als dpxai^ der Natur, insofern sie
das Sein und Werden der Dinge in der Natur bestimmen, so
daß die Pythagoreer die Natur selbst aus den Zahlen «konsti-
tuieren».^ Insofern sind die Zahlen schlechtweg konstitutive
Prinzipien der zählbaren Naturdinge selbst, Grundlage des
Kosmos überhaupt.^ Aber gerade darum, weil die Zahlen be-
reits Grundlagen der ^uaic; oder des K6ö'|ao(g sind, kann ihr Sein
* Hält man das fest, so ergibt sich mit Notwendigkeit die Unterscheidung
zwischen der Berichterstattung als solcher und der Deutung des Aristoteles.
Es wäre ungerecht, dem Aristoteles nichts als Absurditäten in der Bericht-
erstattung zuzumuten. Unrichtig aber wäre es auch, seine Deutungen ohne
weiteres zu akzeptieren. Dazu war er zu wenig mathematisch gesonnen. Wenn
er berichtet, die Zahlen seien die bleibenden Grundlagen, die Prinzipien (&pxai —
vgl. folgende Anm.) der Dinge, so dürfen wir ihm das glauben, auch wenn
wir ihm in der Deutung der Prinzipien als wieder einer Art von Dingen nicht
folgen dürfen. Und gerade hinsichtlich des Begriffs der dpxai wird alles darauf
ankommen, aus der bloßen Deutung die eigentliche und richtige Bedeutung
klar herauszustellen, wobei sich zeigen wird, daß, soweit Aristoteles sich bloß
berichtend verhält, seine sachliche Berichterstattung besser, als es nach Aristoteles
scheint, sich auch mit anderen Berichten in Übereinstimmung bringen läßt.
^ Arist. Met. I, .5,986 a: ^v hi toütok; koI -rrpö toutudv ol Ka\oü|Lievoi
TTuöaYÖpeioi xiijv laaöriiadTuuv dijjdiaevoi -rrpOuToi raOra 'npor\^ayov, Kai ^vrpa-
(pivT^c; iv ai)TO\c, xäq toütuuv äpxäc, tüjv övtuuv dpxäq liiirjöriöav elvax TroivTUJv. ^ttel
hi ToÜTLUv Ol api9|Lioi qpüoei upiuToi iv hi toi<; 6pi0noT(; ^bÖKOuv öeujpeiv ö|uoiiij-
ILiaia TToWä toii; ouai kui YiT^oiu^voiq . . .
' Arist. de caelo III, 1,300a: ^vioi YÖp xrjv qpOöiv i^ äpiö|.iil)v ouviötöoi
djöTrep TÜJv TTuöaYopeiuuv tiv^i;. (Man vgl. die äußerst bezeichnende lat. Über-
setzung: ex numeris naturam constituunt.)
* Sext. Emp. Hyp. Pyrrh. III, 152: axoixeia xoO KÖajuou xoüq äpiQ-
|iou(; elvm.
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbikhing. 99
selbst nicht physisch oder kosmisch sein. Wenn sie für Ar-
chytas^ wirkhch als «Urgestalten des Seienden» gelten, so ist von
diesen Gestalten also, da sie ja nicht selbst physisch sind,
jedenfalls alle Verkörperlichung fernzuhalten und mit ihr auch
alle Vorstellung einer Gestaltung nach Art jenes physischen
Seienden, für das sie eben bereits «Urgestalten» sind. Sie sind
für jene Gestaltung selbst schon als UrVoraussetzungen ge-
fordert, also als Prinzipien der Gestaltung, und in diesem Sinne
allein können sie «Urgestalten» sein. Nur so hat der Begriff
der «Urgestalt» einen Sinn. Diese ist also als solche so wenig
selbst körperlich gestaltet, daß vielmehr aus ihr erst die Kör-
perlichkeit entspringt, so daß in der Tat nach Philolaos es erst
die Zahl sein soll, die «die Körperlichkeit verleiht» und dadurch
sodann erst die zählbaren seienden Dinge «zu sich und zu an-
deren in Verhältnis bringt».^ Ebendarum können die die
«Körperlichkeit verleihenden» «Urgestalten» doch nicht selbst
körperlich gedacht werden; denn Körperlichkeit und das, was
Körperlichkeit verleiht, sind doch nicht dasselbe. Daraus aber
geht hervor (um hier nun die mannigfachen Überheferungen
klar und deutlich aufeinander zu beziehen), daß, wenn die
Überlieferung auch von einer uTioö'Taö'K; spricht, wir diesen Be-
griff nicht in dem landläufigen Sinne etwa unseres Fremd-
wortes der «Hypostasierung» verstehen dürfen, obwohl Aristoteles
dazu anleiten könnte. Wir müssen vielmehr den Begriff philo-
logisch in seiner ursprünglichen Bedeutung der «Grundlage»
nehmen-^ die Zahlen selbst nicht wieder als zählbare Dinge,
^ «Urgestalten des Seienden» ist Diels' charakteristische Übersetzung von
ToO övTo? TTpiÜTiaxa . . . e'ibea in fr. 1, Fragm. I, S. 2.58.
2 Diels, a. a. 0. I, S. 243, fr. 11 v. Philolaos.
^ Der Begriff des ützöaTaaK; entspricht ziemlich genau dem des «sub-
stratum». Wie wenig man aber dabei an ein materielles, körperlich-dinghaftes
Substrat zu denken hat, das zeigt eine Erinnerung an den rein naturwissen-
schaftlichen Gedankenkreis. Für Demokrit (vgl. S. 86 Anm. 2) wurde dem
leeren Räume in wörtlicher Übereinstimmung ebenfalls eine ibia v-nöaTaoic,
zugewiesen. Dem Vollen oder Körperlichen gegenüber aber bedeutete das
Leere gerade das Nicht-Seiende. Daß aber trotzdem das Leere oder Nicht-
Seiende nicht weniger wahrhaft wäre als das Volle oder eigentlich Seiende,
und mit diesem zusammen die zweifache Grundlage der Dinge sein konnte,
100 4. Kapitel.
sondern als deren Grundlage fassen. Dann erhält auch die
Aristotelische Auffassung der Begriffe der dpxai und 6|uoidj|uaTa
selbst erst einen vollen Sinn — trotz Aristoteles. Und was
wir bei Proklos über die Pythagoreische Methode bemerkt
finden (Kai düXujg Kai voepojg biepeovuu)iiepo(^, vgl. o. S. 91), tritt
alledem sinnvoll ergänzend zur Seite. Die Zahlen sind innna-
terielle, unkörperliche Prinzipien, weil sie eben erst das Mate-
rielle, Körperliche konstituieren. Und allein durch das Denken
werden sie erfaßt. Darum werden sie aber nicht selbst zu
denkenden Wesen. Ihre gedankliche Natur liegt allein in der
Erfaßbarkeit durch das Denken. (Denn das Denken und die
Gedanken wären selbst schon als ein ein Mannigfaltiges bil-
dendes und es damit zur Einheit Verbindendes der Zahl unter-
stellt.)^
das war eben nur dadurch möglich, daß dem leeren Räume eine eigene Grund-
legung für die Dinge zugewiesen wurde und er als Voraussetzung für die
materiellen Dinge und ihre Verhältnisse von diesen unabhängig gedacht wurde.
Genau so unabhängig wird hier die Zahl von den körperlichen Dingen ge-
dacht, weil sie als deren Voraussetzung bestimmt wird, die erst Körperlichkeit
verleiht und die Dinge in Verhältnis miteinander bringt. Daß das seinem
Ursprünge nach wohl überhaupt spätere Wort \)Tz6aTaai<;, wenn auch wohl nie
in unserem Sinne «Hypostasierung», so doch aber sicher «Hypostase» bedeutet,
soll hier natürlich nicht im mindesten bestritten werden, denn «Hypostase»
würde ja selbst Seinsgrundlage bedeuten. Hier handelt es sich eben um die
«eigene Seinsweise». Eine Bedeutung, in der es gerade mit Rücksicht auf die
Mathematik — neben anderen Bedeutungen — auch Proklos gebraucht, in-
sofern er von der |aaör||uaTiKri oööia (bei Friedlein, S. 65 u. a.) spricht, die ihm
eben selbst eine ibia ü-rröaTaan; bedeutet. Über den Begriff der vnöoTaaic,
bei Proklos vgl. auch Nicolai Hartmann, Des Proklos Diad. philos. Anfangsgr.
d. Mathem., S. 7.
* Bemerkenswert ist es übrigens auch, daß nach Philolaos die «Zahl
und ihr Wesen» (oCioia) auch «für die Seele das Zusammenstimmen (äp|uöZ!ujv)
der Empfindungen mit den Dingen hervorbringen und so alles erkennbar
(YvuuöTd) machen soll» (Diels, Fragm., ebenda). Der gedankliche Charakter
der Zahl wird dadurch zugleich als Denkweise oder richtiger als Erkenntnis-
weise deutlich. Soweit freiüch die ersten Anfänge des Bundes der Pytha-
goreer durch ihre religiöse Geheimlehre bestimmt wurden, waren in ihrer
Zahlenlehre noch andere, besonders symbolistische Momente wirksam (vgl.
darüber besonders Zeller, a. a. 0. I, S. 418 ff. und Pythagoras und die Pytha-
gorassage in den Vortr. und Abhandl., S. 30 ff., ferner Windelband, a. a. 0.,
S. 50ff.; auch Newbold, Philolaos, Arch. f. Gesch. d. Philos. XH, S. 176 ff.
Die Anfange der mathematischen Begriffsbildung-. 101
Wenn wir zunächst auch noch davon absehen, wie nun
dieses Verleihen der Körperhchkeit und die Konstituierung der
materiellen Dinge durch die immateriellen Zahlen zu bestimmen
versucht wird — eine Frage, mit der wir die Untersuchung
abschließen müssen, weil wir sie nur entscheiden können, wenn
mit genauerer Bestimmtheit entschieden ist, wie das eigentüm-
liche Sein der Zahlen im Verhältnis zu dem der zählbaren
Dinge überhaupt gedacht wird, — so läßt sich doch schon er-
kennen, wie Brandts' ideahstische Deutung^ hier eine Rechtfer-
tigung erhält, die dieser Forscher ihr deshalb nicht selbst zu
geben vermochte, weil er die Schwierigkeit, die die Aristotelische
Deutung in der Tat macht, nicht streng genug von der eigent-
hchen Bedeutung der Pythagoreischen Lehre unterschied, son-
dern sie in dieser selbst sehen zu müssen glaubte.^ In Wahr-
heit haftet diese Schwierigkeit nicht der Pythagoreischen Lehre,
sondern der Aristotelischen Deutung an. Die Schwierigkeit^,
die sich aus der Aristotelischen Deutung ergibt, ob die Zahlen
nun in den Dingen liegen* oder über den Dingen stehen, in-
dem die Dinge sie nur nachahmen oder, wie bei Piaton, an
ihnen teilhaben, fällt weg und damit auch der von Aristoteles
selbst ja nur als nominell angesehene Gegensatz zwischen
jueöeHig und laijuriaK^.^ Die Zahlen sind nicht in den zähl-
baren Dingen wieder als zählbare Dinge, aber sie liegen in-
sofern in ihnen, als das Wesen und Sein der zählbaren Dinge
und Unger, Z. Gesch. d. Pythag. in d. Sitzungsber. d. philos.-philol. u. bist.
KI. d. K. b. Ak. d. Wissensch. z. München 1883, S. 140 fT.). Für unseren Zu-
sammenhang kommt es indes nur auf die wissenschafthchen Anschauungen an.
» Siehe S. 93.
- Brandis, a. a. 0., S. 215 ff. In dem xiveq und ^vioi liegen also nicht
blofs besondere Schulmeinungen. Es läßt sich vielmehr durchaus eine ein-
heithche Auffassung erkennen.
^ Brandis, ebenda.
* Arist. Met. I, 5,986 und 987 und XIII, 3,1090 b: vgl. auch S. 95 Anm 2.
" Arist. Met. I, 6,987b: oi |udv TTuOaYÖpeioi imuriaei xd övra qpaaiv elvai
Tujv apiO|ua)v, TTXdxujv be neO^Sei, xoüvoiaa |U6xaßa\djv. DaPs der Gegensatz
von jiidöeti? und luiVriöiq auch für Aristoteles nur ein nomineller war, zeigen am
besten wohl seine eigenen unmittelbar vorangehenden Worte in bezug auf
Piaton: xi^v b^ |u^deEiv xouvo|ua |u6vov |.iex6ßa\6v.
102 4. Kapitel.
selbst nach den Zahlen bestimmt ist. Und weil sie deren
ßestimmungsprinzipien sind, so stehen sie zugleich über
ihnen. Das «in den Dingen liegen» und das «über den
Dingen stehen» schließt sich also nicht nur nicht aus, sondern
fordert sich wechselseitig: Die Zahlen liegen insofern in den
Dingen, als die Dinge nach der «Urgestalt» der Zahl urbildlich
gestaltet sind (irpujTiO'Ta d'bea — 6|Lioiuj|LiaTa) und die Dinge sind
zahlenmäßig gestaltet, insofern die Zahlen über ihnen als Prin-
zipien stehen (ibia uTTOcrTaOK^ — «PX^^O- -^i^ Zahlen sind so die
bleibenden Seinsweisen, die eigentliche Substanz der Dinge,
nicht im Sinne substantieller Dinge, sondern im Sinne diese
erst «konstituierender», ihnen «Körperlichkeit verleihender»
Seinsweisen (o'uvicrTäai — dTrepTa^eiai ouJiaaTujv). Insofern das
Sein der zählbaren Dinge selbst nur möglich ist durch das Sein
der Zahl, stehen sich beide nicht als zwei fremde Welten gegen-
über, so daß man sagen könnte: hie Zahl, hie zählbare Dinge.
Sind die Zahlen zwar unabhängig von diesen, so sind diese es
doch nicht umgekehrt auch von jenen. Aber auch jene erste
Unabhängigkeit kann nicht eine absolute Fremdheit gegenüber
der Welt der Dinge bedeuten, eben da diese durch die Zahl
konstituiert wird. Die Bestimmung der Welt der zählbaren
Dinge durch die Zahl hegt in der «Körperlichkeit verleihenden»
oucTia der Zahl selbst. Die Zahl ist also immanente Seinsweise
der Dinge und in diesem Sinne ihre Substanz. Weil die zähl-
baren Dinge nur zählbar und darum auch nur Dinge sind durch
die über ihrem Wechsel stehende beharrliche Zahl, so steht die
Zahl über den Dingen als das eigentliche Wesen der Dinge,
und da sie als solches bleibendes Seinsprhizip der Dinge ist,
liegt sie zugleich in ihnen. In diesem Sinne ist das Wesen der
Welt selbst Zahl, die nicht ist eine Welt neben der Welt,
sondern eben das Wesen der Welt selbst.^
* Es ist bemerkensweii, daß, freilich etwas zurückhaltend, da ei' sonst
hier der Autorität des Aristoteles folgt, auch Bäumker meint, daß Simplicius
«die innere Tendenz der Pythagoreischen Lehre dürfte richtig' bezeichnet haben,
wenn er den Pythagoreern die Lehre zuschreibt, die Zahlen und überhaupt
das Mathematische könnten zwar für sich gedacht werden, subsistierten aber
nicht für sich, sondern nur im Sinnfälligen»; s. Bäumker, a. a. 0., S. 37. Diese
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung. 103
Die Art, wie nun die Zahlen als das bleibende Wesen der
Dinge auch deren Wechsel bestimmen und die Art, wie sie so
Körperlichkeit verleihen, mrd durch eine in sich freilich wenig
ausgeglichene Verbindung rein arithmetischer mit geome-
trischen Bestimmungen verdeutlicht. Aus der geometrischen
Begrenzung des für sich unbegrenzten Raumes entspringt die
Körperlichkeit. Aber jene geometrische Begrenzung geht selbst
zurück auf die ursiDrünglich rein arithmetisch gedachten Prin-
zipien des Eudhchen und des Unendlichen. Denn wie die Zahlen
Prinzipien der Dinge sind, so haben sie ihre eigenen inneren
Prinzipien, vermöge deren sie erst Prinzipien der Dinge sein
können. Solcher Prinzipien aber sind u. a.^: das Endliche und
Auffassung entspricht aber durchaus nicht in allen Stücken der Aristote-
lischen. Allerdings hat Aristoteles von der Pythagoreern (Phys. III, 4, 203 a)
bemerkt: ou ^äp xuupicJTÖv iroioöcJi töv öpiöfxöv. Allein er hat auch — und
insofern ist er mit sich selbst nicht ganz im Einklang — die Subsistenz für sich
des Mathematischen hinsichtlich der Geometrie bei den Pythagoreern bekämpft,
muß also doch die Meinung gehabt haben, daß diese dem Mathematischen Sub-
sistenz für sich beigelegt hätten. Unzweideutig klar zeigt besonders eine Stelle,
daß Aristoteles die Synthese der beiden, im Text behandelten Bestimmungen
nicht vollziehen kann, indem er sie einfach in kontradiktorischen Gegensatz
bringt. Eines der beiden Glieder der Synthese stellt er dem andern als dieses
ausschließend gegenüber. Weil er sich also für das eine entschließt, v^^eist er
das andere ab und verkennt, wie die von ihm selbst akzeptierte eine Position
der Pjlhagoreer gerade die von ihm abgelehnte zweite Position in logischer
Korrelation fordert, s. Met. XIII, 3,1090 b: ... Kai br\Xov öxi ou Kexibpioxai. rä
\.iabmjiauKä. QU -{äp äv Kexu)pia|Li(!vujv rä TiäQr] öirripxev ^v toi!; oüj^aaiv. ol
judv ouv TTuOaYÖpeioi Karä jutv tö toioutov oüöevi ^voxol eiaiv. Kard ju^vtoi tö
TTOieiv ii dpiöiaojv xd qpuaiKÜ odb^aTa, ^k \xr\ ^xövxuuv ßdpoq p-jbe KouqpÖTriTa
Sxovxa Kouq)öxf)xa Kai ßdpo;, doiKaffi itepl ctWou oüpavoü Xefeiv Kai auundxujv
dW oO xuiv aiaörjxiliv. oi bi x^^piöxöv uoioövxei;, öxi iul xuJv aiödrixuiv ouk
^öxai xd dEiii)|naxa, d\>-i9fi bi xd Xe^ö^eva Kai öaivei xr)v ^Juxiiv, eTvai xe
ünoXai^ßdvouöi Kai x'Jupiöxd eivai. öjaoliuc; bi Kai xd luey^ö^ fd |uaOri|aaxiKd,
bf|\ov oöv ÖXI Kai 6 ^vavxioij|aevo(; Xöfoq xdvavxia ^pei. Der logische Wider-
spruch, von dem Aristoteles hier spricht, dürfte also nicht in den mathe-
matischen Lehrmeinungen oder in verschiedenen Schulrichtungen, sondern
allein in der Auffassung der mathematischen Ansichten durch Aristoteles liegen.
* Arist. Met. I, 5,986 a gibt als solche die bekannten zehn Gegensatz-
paare an. Für unsere spezielle Untersuchung kommen nur die oben genannten
in Betracht. Über Einheit und Vielheit vgl. A. Boeckh, a. a. 0., ebenda, wo
sie als Identität und Verschiedenheit uefaßt werden.
104 4. Kapitel.
das Unendliche, das Gerade und das Ungerade, die Einheit und
die Vielheit. Von diesen Prinzipien sind aber die des End-
lichen und UnendHchen für die Bestimmung der Dinge von der
höchsten Bedeutung. Denn aus Unendlichem oder Unbegrenztem
auf der einen Seite und Endlichem oder Begrenzendem auf
der anderen Seite ist der gesamte Kosmos und alle Dinge in
ihm zusammengefügt^ so daß die unbegrenzte und darum un-
bestimmte Grundlage der Dinge durch die Grenze ihre Be-
stimmtheit erhält. Dem Unbegrenzten auf arithmetischem
Gebiete, der Unendlichkeit der Zahlenreihe, die von den Pytha-
goreern klar und scharf erkannt wird, entspricht auf geo-
metrischem Gebiete der unendliche Raum, der so zur unbe-
stimmten Grundlage der Dinge wird. Dem arithmetisch Be-
grenzenden in den distinkten Zahlen der kontinuierlichen Zahlen-
reihe entsprechen auf geometrischem Gebiete Punkte, Linien
und Flächen, die zu Prinzipien der Begrenzung und damit der
Körperhchkeit und Dinglichkeit werden. Und so werden die
Zahlen zunächst nach des «Gnomons Natur» (Katd YvuJ|uovo(g
qpücTiv)^ zu Prinzipien geometrischer Gestaltung und vermittels
dieser zu solchen der Körperlichkeit. Damit treten rein mathe-
matisch bei den Pythagoreern Arithmetik und Geometrie ebenso
in systematischen Zusammenhang, wie sich historisch arithme-
tische und geometrische Erkenntnisse bei ihnen an- und mit-
einander zusammenhangsvoll entwickeln, indem sich die arith-
metischen Einsichten ihnen auch geometrisch darstellen. So be-
deutsam nun dieser systematische Zusammenhang auch ist, so
darf man ihn doch keineswegs schon etwa im Sinne der späteren
analytischen Geometrie verstehen, sondern umgekehrt im Sinne
einer, wie M. Cantor^ das treffend formuliert, «geometrischen
Versiunüchung von Zahlengrößen». Die Bestimmung der Dinge
durch die Zahlen nach des Gnomons Art wird in der Tat am Gno-
mon eben nur veranschaulicht, nicht logisch verständlich ge-
macht. Gerade die Spekulationen am Gnomon zeigen das deut-
* Philolaos bei Diels, ebenda: ä cpüaiq b' ^v tuui KÖö|auji öpiaöx^n ^-
üTTelpuuv Te Kai -rrepaivövTuuv Kai öXoc, ö KÖaiaoq köi ^v aÖTiui ircivTa.
2 Pliilolaos, fr. 11 (Diels, r'ragm. S. 243).
=> M. Cantor, a. a. 0., S. 138.
Die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung. 105
lich.^ Die Tendenz als solche aber, die geometrischen Gebilde als
Begrenzungen des für sich unbegrenzten unendlichen (also ma-
thematischen) Raumes durch Punkte, Linien und Flächen^ zu
verstehen und mit arithmetischen Verhältnissen in Verbindung
zu bringen, bleibt bedeutsam und wertvoll. Hier bekämpft
freilich Aristoteles^ gerade die Subsisteuz für sich hinsichthch
der Grenzen. Daraus geht doch hervor, daß er gemeint haben
muß, die Pythagoreer schrieben ihnen Subsistenz für sich zu,
daß er also die Bedeutung der ouoia, die er hier bekämpft,
anders verstanden haben muß, als etwa Philolaos, wenn er von
der oudia der Zahl spricht.'^ Die Grenzen sind aber auch schon
für die Anfänge der mathematischen Begriffsbildung nichts
anderes als Bestimmungen nach dem Prinzip des Begrenzenden,
das in letzter Linie zahlenmäßig gedacht wird. Insofern aber
das Mathematische zugleich das Prinzip der physisch substan-
tiellen Dinge, die ouaia der cpuoiq ist, erwächst dem Sub-
stanzbegriff hier eigentUch eine doppelt bedeutsame Förderung.
Zunächst kann schon die Anwendung der mathematischen Be-
griffsbildung auf das physische Sein von der größten Trag-
weite erscheinen, insofern in ihr das Postulat einer wirklich
wissenschaftlichen Physik imphziert ist. Allein es handelt sich
hier nicht bloß um eine Anwendung eines von zwei etwa an
und für sich getrennten Seins-Gebieten auf das andere im
Denken. Das physische Sein ist ja — und darin liegt die In-
halt- und folgenreichste Bedeutung dieser Lehre — geradezu
in seinem Sein schon als durch das mathematische Sein bedingt
1 Die geometrische Veranschaulichung der Zahlenverhältnisse gerade am
Gnomon wird in sehr instruktiver Weise dargestellt bei IM. Cantor, a. a. O.,
S. 137.
2 Arisl. XIII, 3,1090a: eial bi Tive(; o'i ^k toO -rrepara elvai Kai (.oxara
Ti]v OTiYianv [xiv •{pa\xiir\(;, raÜT^v dTriir^bou, toöto hi tou arepcoO, oiovxai
elvai dvciTKnv Toxavxo.c, (püffeiq etvai. Schon hier ist zu bemei'ken, wie der
richtige Bericht in die falsche Deutung übergeht, was in der Fortsetzung der
Aristotelischen Darstellung gleich vollkommen dcuthch wird. Vgl. die folgende
Anm., die im Aristotelischen Texte kurz auf das hier gegebene Zitat folgt.
^ Arist. Met. ebenda: cüxe y"P oüöiai eiöi rd eaxaxa äWä juäWov Tauxa
Trepara.
* Fr. 11 (Diels, Fragm. S. 243).
106 4. Kapitel.
oder «konstituiert» gedacht. Da dieses aber eine immaterielle
Bedeutung hat, weil es Grundlage alles Materiellen ist, und da
weiter seine Erkenntnis gerade dem Denken überwiesen wird,
steht die Substanz dem Denken weder als ein absolut Fremdes
gegenüber, noch wird sie mit dem Denken schlechtweg gleich-
gesetzt. Damit wird zwar nicht die Substanz selbst, aber doch
die Erkenntnis der Substanz — und das ist das positive phi-
losophische Ergebnis, das aus den mathematischen Spekulationen,
die wir hier verfolgt haben, resultiert — abhängig gedacht von
der rein gedanklichen Bestimmung. Darum ist weiter die Sub-
stanz weder das Denken selbst, noch ein dem Denken gegen-
über absolut Fremdes, sondern in ihrem Sein für die Er-
kenntnis ein einer Bestimmungsweise des Denkens über-
wiesenes Sein.^ Soweit wir hier auch noch von der erkenntnis-
* Siehe S. 99 f. Hier darf ich vielleiclil auch meine Differenz zu der Auffassung
Kinkels bezeichnen. So wertvoll mir seine idealistische Deutung auch im
Grunde erscheint, so kann ich doch den prinzipiellen Unterschied nicht ver-
kennen. Kinkel meint, dafs den Pythagoreern die Zahlen «nichts anderes waren
als das formende erzeugende Gesetz, dessen gedankliche Natur sie freilich noch
nicht, wie Piaton, erkannten» (a. a. 0., S. 108). Ganz davon noch abgesehen,
ob damit auch schon Piatons Auffassung richtig bezeichnet ist oder nicht,
möchte ich hier nur sagen, daß, hätten die Pythagoreer wirklich die Zahlen
schon als «Gesetz» erkannt, sie dann auch wohl hätten «dessen gedankliche
Natur> gerade an den Zahlen erkennen müssen. Denn wäre überhaupt die
Reflexion hier schon zu dem erkenntnistheoretischen Begriffe des Gesetzes
vorgedrungen, so hätte sich gerade an diesem Punkte zuallererst der Charakter
des Gesetzes mit analytischer Notwendigkeit selbst als «gedanklich» enthüllen
müssen. Da aber nicht umgekehrt das Gedankliche sich auch ohne weiteres
als gesetzlich enthüllt, möchte ich auch eher umgekehrt sagen : die Pythagoreer
haben sich der Erkenntnis der gedanklichen Natur der Zahlen wenigstens ge-
nähert, ohne sie aber geradezu als Gesetze zu erkennen. Freilich faßten sie
jene gedankliche Natur nicht so, daß sie die Zahlen in das reine Denken selbst
schon auflösten, sondern so, daß sie die Erkenntnis der Zahl dem Denken
zuwiesen, so daß sie, wie Brandis dies treffend ausdrückt (a. a. 0., S. 216, vgl.
ö. 93), in den Zahlen «nicht nur ein Regulativ für die Erkenntnis gewisser
beharrlicher Eigenschaften der Dinge, sondern das Bewußtsein vom Sein der
Dinge und ihrer Prinzipien zu besitzen» meinten. Gerade darin aber liegt
historisch der idealistische Grundzug ihres Denkens. So wichtig unter logischem
Gesichtspunkte auch die Unterscheidung von Ding und Gesetz ist, so genügt
sie doch nicht, um die Fülle geschichtlicher Tatsächhchkeit disjunktiv zu
Die Anfänge der matliematischen Begriffsbildung. 107
theoretischen Ausgeglichenheit dieses Gedankens entfernt sein
mögen, so bedeutsam ist doch seine innere erkenntnistheore-
tische Tendenz.
gliedern. So wichtig darum auch die logische Tendenz der Pythagoreer ist,
so läßt sie sich doch nicht schon im Sinne eines rein logischen Idealismus
fassen. Wenn die Zahlen auch nicht zählbare Dinge sind, so sind sie eben-
darum doch noch nicht Gesetze, und wenn sie selbst erzeugende Prinzipien
der Dinge sind, so sind sie das doch noch nicht bloß als Gesetze, sondern als
Seinsweisen der Dinge. Und der Pythagoreische Idealismus ist, wenn man
ihn spezifisch differenzieren will, noch nicht ein rein logischer, sondern ein
ontoloffischer Ideahsmus.
108
Fünftes Kapitel.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis.
So verschieden im Einzelnen die Tendenzen des philo-
sophischen Gedankens, soweit wir sie bisher kennen gelernt
haben, auf den ersten oberflächlichen Blick auch erscheinen
mögen, so sehr zeigen sie sich doch einer tiefergehenden
Überlegung alle von dem einen einheitlichen gedankhchen
Grundmotiv beherrscht, die Fülle und Mannigfaltigkeit des
sinnfälligen Einzelnen in seinem Sein zunächst nur impli-
zite, sodann aber auch explizite, auf rationale Grundlagen
zurückzuführen, mag der Versuch zunächst in rein spe-
kulativer, dann in dialektischer Tendenz, mag er endlich im
Anschluß an die ersten naturwissenschaftlichen und mathe-
matischen BegrifFsbildungen erfolgen. Hatten sich auch die
ersten Naturphilosophen mit besonderer Energie der sinnlichen
Wirklichkeit zugewandt, und lag darin gerade ihre Bedeutung
gegenüber der mythologischen Theorie, so war das doch ge-
schehen, um gerade zu einer einheitlichen Grundlage der sinn-
lichen Wirklichkeit zu gelangen, die an sich also selbst schon
mehr als das Sinnlich-Einzelne sein mußte. In den Gegen-
sätzen eines Pleraklit und Parmenides aber war das bei allem
Unterschiede ihnen Gemeinsame, daß sie in der Sinnlichkeit
keine Erkenntnis und kein Sein erschließbar fanden, sondern
das allein im vernünftigen Denken verbürgt glaubten. Allein
eine Kritik im eigentlichen Sinne übten sie nicht au der Sinn-
lichkeit. Was sie leisteten, war eine mehr unmittelbare Höher-
stellung der Vernunfterkenntnis über die Sinnenerkenntnis, eine
Werterhöhung der ersten und eine Werteutziehuug der zweiten
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 109
gegenüber. Zu einem eigentlichen Eingehen in kritischer Ab-
sicht auf die Sinnhchkeit gelangten sie noch nicht. Ein solches
lag, wenigstens nicht ausgesprochenermaßen, auch nicht einmal
in der Absicht der späteren mathematischen Untersuchungen,
obwohl hier freilich auf der anderen Seite bereits mehr geleistet
wurde, als ein ausgesprochenes kritisches Eingehen auf die
Sinnlichkeit, nämlich die Einsicht in die Voraussetzung des
Mathematischen für das Sinnliche. Die eigentliche Kritik der
Sinnlichkeit aber mußte historisch in den naturwissenschaft-
lichen Tendenzen ihre Ansätze finden. Sie liegt deshalb
im eigenthchen Sinne vor bei Demokrit. So bedeutsam darum
auch immer die mannigfachen Versuche der Erkenntnisbegrün-
dung im positiven Sinne sein mögen, für eine ausdrückliche
Erschütterung des naiven Vertrauens auf die Erkenntnismöglich-
keit ist die Kritik der Sinnlichkeit durch Demokrit von der
entscheidendsten Bedeutung; und das gerade darum, weil sie
zu einer ausgesprochenen Substanzkritik führt. In der nächsten
Fortführung unserer Problemuntersuchung finden wir freilich
auch mancherlei Anknüpfungspunkte zu den übrigen früheren
gedanklichen Strömungen, insbesondere zu den Heraklitischen.
Für den engeren Zusammenhang müssen wir aber auf Demokrit
zurückweisen. Es zeugt darum durchaus vom richtigen histo-
rischen Blick, wenn der Historiker des griechischen Skeptizis-
mus^ in Demokrit und seiner Schule Vorläufer der eigentlichen
Skepsis in Griechenland sieht. Denn es war in erster Linie
die Demokritische Kritik der Sinnlichkeit, in der die geschicht-
liche Weiterent Wickelung zur Skepsis der Sophistik^ ihren sach-
* A. Goedeckemeyer, Die Geschichte des griechischen Skeptizismus, S. 2 ff.
Unter dem Gesichtspunkte der Abhängigkeit von Demokrit behandelt Goedecke-
meyer hier besonders die Skepsis des Metrodor aus Chios und des Anaxarch
aus Abdera, die freilich für unser spezielles Thema nicht in Betracht kommen.
Über sie vgl. man die hier mit der überhaupt das ganze Werk auszeichnenden
Sorgfalt zusammengestellten Belege. Etwas befremdet hat es mich nur, daß
Goedeckemeyer gerade die Epoche der Sophistik nicht in seine Untersuchung
genauer einbezieht.
2 Über den Namen und die allgemeine Charakteristik der Sophistik vgl.
man die philosophie-geschichtlichen Werke von Hegel, Zeller, Windelband,
Kinkel, Vorländer. Da wir hier lediglich ein spezielles Problem historisch
110 5. Kapitel.
liehen Anknüpfungspunkt hat. Die entscheidende Bedeutung,
die dabei auch HerakUts Lehre für die Sophistik gewinnt, dürfen
wir freilich nicht übersehen. Allein diese liegt im Grunde ge-
nommen nach derselben Richtung wie diejenige Demokrits und
bleibt wie diese eine einseitige. Das heißt: sie betrifft nur die
physikalische Seite, nicht aber das logisch-rationale und meta-
physische Moment, insbesondere nicht das letzte und höchste
Prinzip Heraklits, den Logos. Dieser bildet die Grenzscheide,
die Heraklitismus und Sophistik in letzter Linie doch für immer
trennt. Das konnte Piaton nicht beachten, da er Heraklit
und Protagoras so nahe zusammenstellte, wie er es getan hat.^
Und wenn Zeller von Protagoras' Verhältnis zur Heraklitischen
Lehre bemerkt: «Ein wirklicher Anhänger jener Philosophie
in ihrem ganzen Umfange und ihrer ursprünglichen Bedeutung
ist er zwar durchaus nicht »^, so trifft das vollkommen zu; allein
behandeln, ist, wenigstens in extensivem Sinne, unser Interesse an iler Sophistik
als Ganzem beschränkter, als an den früheren Problemkonfiguralionen. Die
sogenannte jüngere Sophistik schaltet für vms gänzlich aus; die ältere kommt
nur, soweit sie selbst theoretisch interessiert ist, in Betracht; in diesem Sinne
aber, hauptsächlich in der Erscheinung des Protagoras, recht intensiv.
' Es ist hier wohl bereits der Ort, dieses eigentümliche Verhältnis Piatons
zur Sprache zu bringen; nicht als ob dem Platonischen Theätet sein Wert
auch als Dokument für die geschichtliche Erforschung der Sophistik irgendwie
streitig gemacht werden sollte. Es ist dafür das sachlich wertvollste. Nur
soll er nicht als eine absolute historische Urkunde für unsere Frage angesehen
werden. Für die historische Berichtigung seiner Darstellung ist in unserem
Zusammenhange zu bemerken, daß, wie schon im Text angedeutet, einerseits
Piaton die Rolle des \öyo<; bei Heraklit nicht genügend würdigen kann (worüber
später mehr), um Heraklit und Protagoras so nahezustellen, wie er es tut. Auf
der anderen Seite muß er den Relativismus des Protagoras nach seinen letzten
Konsequenzen in einer über Protagoras selbst hinausführenden, originalen
Weise zu Ende denken, um ihn eben durch diese seine eigenen letzten Kon-
sequenzen zu widerlegen. Trotzdem läßt sich, wie wir bald sehen werden,
der springende Punkt, der das eigentlich Historische in der Platonischen Dar-
stellung charakterisiert, leicht aufdecken; vgl. über Plalons Darstellung des
Relativismus außer Ritter, Geschichte der Philosophie I, S. 6:32; Zeller,
a. a. 0., S. 983; auch Bäumker, a. a. 0., S. 97 (woselbst auch weitere Lite-
raturangaben) vor allem Natorp, Forschungen zur Gesch. d. Erkenntnisprobl.
i. Alt., S. 22, s. ebenda S. 76ff. und 10:3 ff. auch die Kritik anderweitigen
Verkennens des Heraklitischen Systemgehaltes.
2 Zeller, a. a. 0., 978.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 111
das, worin Zeller das Unterscheidende sieht, ist noch nicht das
für die Unterscheidung schlechthin und prinzipiell Entscheidende.
Zwar auch das ist richtig: «Was Herakht über das Urfeuer,
über die Wandlungsstufen desselben, überhaupt über die ob-
jektive Beschaffenheit der Dinge gelehrt hatte, konnte ein Skep-
tiker, wie er, sich nicht aneignen».^ Indes so richtig auch dies
ist, entscheidend im höchsten Sinne ist es nicht. Das allein
ist der Logos, der in Wahrheit Heraklit ebenso sehr in die
Nähe Piatons rückt, wie er ihn in die Ferne von Protagoras
stellt. Denn dessen eigentliche Position bildet nicht der Xöto(;,
sondern gerade die aiaöriö'K;.
1. Zwar nimmt er an, daß jede Wahrnehmung sich auch
immer schon auf einen Gegenstand, der eben in ihr wahr-
genommen wird, beziehe. Das will wohl zunächst die Unter-
scheidung zwischen aioörioeiq und aiö'&riTd innerhalb des doOd-
vecjöai besagen^, wenn auch diese Beziehung selbst eine immer
weiter gehende Reduktion durch den Fortgang der Analyse
erfährt. Diese stetig umbildende Reduktion, die der Prota-
goreischen Gedankenführung etwas Unbestimmtes und Viel-
deutiges gibt, erschwert das geschichtliche Verständnis nicht
unerheblich. Ist sie aber erst klar geworden, so enthüllt sich
doch auch ein stetig gedanklicher Fortschritt in dem Ringen
mit dem Problem, selbst wenn eine feste Position nicht ge-
wonnen wird. Wahrnehmbare Gegenstände, die nicht die
Wahrnehmung selbst sind, mag ihr Sein und ihr Verhältnis
zur Wahrnehmung auch noch so unbestimmt bleiben und sich
erst allmählich, wenn auch nur annäherungsweise bestimmen
lassen, werden also angenommen. Wenn darum Piaton immer-
hin zeigt, daß man von der bloßen Wahrnehmung aus nicht
zum Sein überhaupt, wie nicht zum Sein der Gegenstände, wie
nicht einmal zu dem der Wahrnehmung selber gelange, so
denkt er hier nur den positivistischen Wahrnehmungsstandpunkt
konsequent zu Ende, um ihn zu widerlegen,^ Protagoras selbst
aber behält nach Piatons eigener Darstellung immer noch wahr-
' Ebenda.
2 Piaton Theät. 184 d.
* Ebenda.
112 5. Kapitel,
nehmbare Gegenstände übrig und kann sie nur eigentlich erst
auf Grund der Platonischen Kritik logischer weise nicht übrig
behalten sollen.
Innerhalb des Ganzen der verschiedenen Etappen der Pro-
tao'oreischen Gedankenentwickelung bezeichnet die erste charak-
tcristische Stufe also die Behauptung, daß zwar Gegenstände der
Wahrnehmung sind, daß sie aber nicht in allgemeingültiger
Weise erkennbar sind. Nicht das Sein der Wahrnehmungs-
gegenstände, sondern die allgemeingültige Erkennbarkeit der
Wahrnehmungsgegenstände durch die Wahrnehmung soll ge-
leugnet werden, und damit, weil er über den Gesichtspunkt
der Wahrnehmung nicht hinausgelangt, jede allgemeingültige
Erkenntnis überhaupt. Unsere Wahrnehmungen, Gesichtswahr-
nehmungen (öqjeK;), Gehörswahrnehmungen (otKoai)^ usw. sind frei-
lich nicht, ohne daß auch etwas wahrgenommen, gesehen, ge-
hört wird usw., das also auch sein muß, um wahrgenommen
werden zu können; aber wie wir wahrnehmen, sehen, hören
usw. (wie Farben, Töne usw.), ist das, was wir wahrnehmen, auch
nicht, ohne daß wir es eben wahrnehmen.
Wenn damit also auch noch nicht das Sein des Wahr-
nehmbaren selbst bedroht ist, so ist doch alles «Wie»- bezw.
«So »-Sein in seiner objektiven Bedeutung für eine allgemein-
gültige Erkenntnis aufgehoben. Wie die Dinge sind, diese
Bestimmung ist ganz in die bloße aiddricTK; aufgelöst, und darum
ist die Beschaffenheit der Dinge (ToiauTa) eben von Moment zu
Moment eine andere, nämhch so, wie (oia)^ sie eben in der
subjektiven Empfindung gerade gegeben ist. Wenn also auch
jede Wahrnehmung eine Beziehung auf ein Wahrnehmbares
ist, so erfaßt sie dieses doch nicht, wie es für sich (Kaö' auTo)^
ist, sondern immer nur, wie es eben für die Wahrnehmung er-
scheint. Und alles «Wie »-Sein und alle Beschaffenheit ist ein
bloßes Erscheinen in der Wahrnehmung, ein bloßes Wahr-
genommen-Sein. Darum können wir etwas Allgemeingültiges
über die Dinge nicht aussagen. An unsere subjektive Emp-
1 A. a. 0., 156 a/b.
2 A. a. 0., 152 a.
=> A.a.O., 182b.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 113
findung gebunden sind unserer Erkenntnis die Dinge also nur
in der Erscheinungsweise durch das Medium eben unserer
Empfindung gegeben. Wie diese aber von Mensch zu Mensch
und für jeden einzelnen Menschen von Augenblick zu Augen-
blick wechseln^ und also verschieden sind, so müssen darum auch
die Dinge alle für jeden anders sein als für jeden andern, «so»
sein, «wie» sie ihm eben in jedem Momente seines subjektiven
Empfindungszustandes gerade «erscheinen».^ Jede bloße Vor-
stellung und Meinung ist darum ebenso wahr, wie jede andere,
da die Wahrheit eben nur in der subjektiven Beziehung der
Empfindung auf das in ihr Erscheinende liegt.^ Darum ist
der Mensch das Maß aller Dinge, der seienden, wie sie sind,
der nicht seienden, wie sie nicht sind. Ein Ausspruch, den
wir im Sinne des extremsten Subjektivismus verstehen müssen:
Der Mensch nicht einmal als Gattung, sondern in seiner indi-
viduellen Verschiedenheit vom «Ich» zum «Du», "um die Aus-
drucksweise der mannigfachen und durchweg übereinstim-
menden Berichte zu gebrauchen^, ist als Maßstab gesetzt und
muß konsequenterweise als solcher gesetzt sein, konsequenter-
weise vom Ausgangspunkte der aioörjOig her; denn sonst wäre
ja dieser Ausgangspunkt fallen gelassen.^
«Seiende Dinge» (xpiiiuaia övxa) bleiben hier also zunächst
immerhin noch übrig und werden ausdrücklich von den nicht-
1 A.a.O., 182 d.
^ A.a.O.; 152a.: oukoOv oütoi ttuu^ A^y^'j ^'i oia |li^v gKaata ^moI
qpaiveTm, Toiaöxa |uev eaxiv ^iiioi, oia bi oo\, xornOxa be au aoi ; vgl. Kratyl. 386 a.
^ Sext. Emp. adv. rnath. VII, 60: cpriai irdaac; xä? qjavxaaia; Kai böSaq
äXT^Oeii; ijirdpxeiv Kai xüJv TTpö<; xi eivai xriv dXriOeiav bid xö udv xö qpavdv f]
böEav xivi euOeei; Ttpöc, ^Keivov üirdpxeiv.
* Piaton, Theät. ebenda: cpriai jap irou ttüvxujv xpni-i0''''ujv |Lidxpov äv-
OpuuTtov elvai, xAv |aev övxuuv, thq eaxi, xujv hi \xr[ övxuuv, ihq oök ^öxiv. Vgl.
außer der vielfachen Wiederholung dieses Gedankens hei Piaton im Gorg.
Euthyd. Kratyl. und Arist. Met. III, IV, X, XI, noch: Sext. Emp. Pyrrh. Hypolh.
216, wo bei wörtlicher Übereinstimmung der Begriff des Maßes als «Kriterium»
erläutert wird, und Diog. Laert. IX, 51, wo es statt xiöv bd |an övxujv heißt:
xOöv b^ oi)K övxuuv.
^ Über die Zuverlässigkeit dieser Deutung bei Piaton vgl. auch die ausführ-
liche und mit durchschlagender Beweiskraft geführte Untersuchung von Natorp,
a. a. 0., S. 22ff.
Bauch, Das Substanzproblem. 8
114 5. Kapitel.
seienden (tüjv bk |U)i övtüuv bzw. tüjv be ouk övtuuv) nnterschieden,
wenn auch ihr «Wie »-Sein lediglich im Wahrgenoinmen-Sein
vorliegen soll. Die Kritik Demokrits, an die also das "Wahr-
nehmungsproblem bei Protagoras offenbar anknüpft, erscheint
hier weitergeführt. Allein es ist eigentlich keine Kritik der
Sinnlichkeit mehr. Oder richtiger es ist eine bloße Kritik der
Sinnlichkeit, insofern diese als unzulänglich erwiesen wird, über
ein bloßes Erscheinen hinauszugelangen, ohne daß, gerade weil
der sinnliche Mensch als Kriterium der Dinge^ gefaßt wird, er-
kannt wird, daß diese Kritik der Sinnlichkeit schon Kriterien
über der SinnHchkeit voraussetzt, und darum zugleich ein Be-
ruhigen bei der kritisierten in der Kritik selbst aber nicht
durchschauten Sinnhchkeit. Während Demokrit in den Atomen
nun die xpni^otTa selbst bestimmte, sollen diese für Protagoras
für sich gänzlich unbestimmt bleiben und nur in der Wahr-
nehmung eine phänomenale Bestimmtheit erlangen.
Von der systematischen Frage nun, ob solche gänzlich
unbestimmte Dinge nicht ein Widerspruch in sich selber seien,
hier noch ganz abgesehen, ist es doch historisch jedenfalls von
Belang, daß das eigenthche Wesen der Dinge objektiv gänzlich
unerkennbar und nur in der Erscheinungsweise durch die
Wahrnehmung subjektiv gegeben sein soll. Immerhin scheint
in den xP^MCtia ein bleibendes Substrat der wechselnden Phä-
nomene behauptet zu sein. Nur scheint diese eigenthche Sub-
stanz ganz unerkennbar zu sein. Wir hätten also, so scheint
es wenigstens zunächst, den gänzlich agnostischen Substanz-
begriff eines vollkommenen Phänomenalisraus vor uns. Wenn
wir nun weiter auf die frühere Feststellung rekurrieren, daß
Wahrnehmungen nicht sind, ohne daß etwas wahrgenommen
wird, das also sein muß, um eben wahrgenommen zu werden,
daß wir aber, was wir wahrnehmen, im Einzelnen z. ß. was
wir etwas Rotes, Blaues, Süßes usw. nennen^, nur so wahrnehmen,
wie wir es eben wahrnehmen, so muß sich von den letzten
Feststellungen aus jetzt im aiaöriTÖv selbst ein Unterschied er-
geben. Man könnte also, um beim anschauhchen Beispiele
1 Sext. Emp. ebenda, s. S. 113, Anm. 2.
* Piaton, a. a. 0., 156 a/b, siehe S. 112.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 115
Piatons zu bleiben, Farben, Töne usw. selbst zwar Wahr-
nehmungsgegenstände nennen, allein Gegenstände wären sie
für die Wahrnehmung nicht in dem Sinne, daß sie dieser un-
abhängig von ihr gegenüberstünden, sondern eigentlich allein
als Arten des in der Wahrnehmung Erscheinens der Dinge.
Die Dinge selbst wären also die eigentlichen Gegenstände, die
aber nie zu Gegenständen gerade der Wahrnehmung würden,
eben weil die Wahrnehmung nicht an sie selbst heranreicht,
sondern immer nur an ihr Erscheinen in der Wahrnehmung,
in der wir also die Dinge immer nur unter dem Maße des
Menschen, nicht aber an sich selbst, besäßen. Von den Farben,
Tönen usw. wären also die farbigen, tönenden usw. Dinge selbst
zu unterscheiden, nur daß wir von solchen farbigen und tö-
nenden Dingen gar nicht einmal reden dürften, weil Farbigkeit,
Tönen etc. ja nicht objektive Bestimmungen der Dinge sein
können, sondern allein Arten und Weisen des Erscheinens in
der Wahrnehmung, in der sie uns gegeben sind. Die Gegen-
stände der Wahrnehmung im eigentlichen Sinne — also das
eigentliche aio^nTov — wären also nicht die eigentlichen Gegen-
stände, und die eigentlichen Gegenstände selbst wären umge-
kehrt nie Gegenstände der Wahrnehmung im eigentlichen Sinne. ^
In dieser Weise läßt sich die Zweideutigkeit des aiodritöv in
ihrer eigentlichen Bedeutung verstehen und durch genauere
Scheidung beider in ihm liegender Momente eine sachlich wert-
volle Klarstellung gewinnen.^
Immerhin wäre mit alledem doch ein bleibendes beharr-
liches Sein der Dinge selbst gesetzt, zu dem man von der Emp-
findung aus nur nicht gelangen könnte. So wertvoll diese
Position auch wäre, als Position wäre sie doch unzulänghch.
Und wenn diese Unzulänglichkeit auch erst Piaton zu vollem
Bewußtsein gebracht hat, so hat offenbar doch Protagoras selbst
^ Piaton, a. a. 0., 182 a dürfte so mit dem Verhältnis von aiöör\Td und
aiööavö|Lieva deutlich werden.
- Zeller, a. a. 0., S. 980, hat merkwürdigerweise die in dem Begriffe
liegende Schwierigkeit ziemlich umgangen. Man sehe, wie bei ihm (S. 981)
die Bestimmungen etwa gerade des farbigen Gegenstandes und der Farbigkeit
ungeschieden durcheinander gehen.
8*
116 5. Kapitel.
in Konsequenz zu seinem Wahrnehnuingsstandpunkte das in
der Beziehung von Wahrnehmung und Wahrnehmbarem Hegende
Sein des Beharrhchen folgerichtig in relativistischem Sinne
modifiziert: Der Substanzcharakter mußte, wenn nicht über-
wunden, so doch abgeschwächt werden, wenn anders das Aus-
gehen von der Wahrnehmung festgehalten und durchgeführt
werden sollte. Dabei mußten die Dinge selbst eine weitere Re-
duktion erfahren.
2. Das nun bezeichnet die zweite logische Etappe des Prota-
goreischen Denkens und zugleich den Punkt, an dem Protagoras
unzweifelhaft an Heraklit anknüpft, zwar nicht an den tiefsten
Kern seiner Lehre, der im Logosbegriff dem Empfindungsposi-
tivismus schnurstracks entgegen ist, sondern an dessen Physik,
mit deren Hilfe er die von Demokrit empfangenen Impulse in
derselben Richtung weiterführt. Solange es auch nur scheinen
kann, als hätten die Dinge ein ihrem Erscheinen zugrunde-
liegendes Wesen, das nur unerkennbar wäre, solange wären sie
immer noch — in wie unbestimmter Weise auch immer —
irgendwie aber doch beharrlich gesetzt. Damit wäre aber
gerade dem Wechsel und Wandel der Empfindung nicht Rech-
nung getragen. Nun mag an und für sich logisch dieses Rech-
nungtragen jetzt selbst dem eigentlichen Positivismus ebenso
widersprechen, wie vorhin das Sein der Dinge, so ist das doch
zum mindesten wieder konsequent, daß nun die Dinge aus-
drücklich allem Beharren entrissen und in den ewigen Fluß
des Sich-Waudelns gestoßen werden sollen. Die Dinge werden
darum zwar nicht aufgehoben, aber doch aufgelöst in stetigen
Wechsel, Fluß und Bewegung. Sie können nicht beharrlich,
nicht also substantiell im eigentlichen Sinne, sondern bloß
transitorisch gedacht werden. In der Tat muß konsequenter-
weise, wenn die Empfindung der einzige Maßstab der Erkenntnis
eines Gegenstandes sein soll, der Gegenstand ebenso beständig
wechseln wie die Empfindung. Darum ist es weiter konse-
quent, wenn Protagoras behauptet, daß die Dinge eigentlich
nie sind, sondern immer nur werden.^ Freihch je konsequenter
1 Theät. 157 b, s. flgd. S.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 117
der Relativismus wird, um so mehr gerät er ins Seh wanken,
bis er durch seine letzte Konsequenz überhaupt zu Falle kommt.
Diese letzte Konsequenz hat zwar Protagoras nicht gezogen.
Gerade darum aber verbleibt seine Lehre im Schwanken, und
klar und deutlich hat er gerade seine letzten Fundameute,
wenn man bei ihr überhaupt von solchen reden darf, selbst
nicht bestimmt, eben weil er sie überhaupt in gewisser Weise
zu bestimmen suchte, wo es doch in Gemäßheit seiner Lehre
weder Fundamente noch eine Bestimmtheit solcher eigentlich
geben kann.
Wenn nun die Dinge nicht mehr sind, sondern bloß noch
werden, so ist ihnen zwar der Charakter eines eigenthch sub-
stantiellen Seins genommen; das Sein überhaupt ist hier aber
tatsächlich ebensowenig beseitigt, wie es durch die Heraklitische
Physik beseitigt sein sollte. Denn das Werden soll ja selber
sein. Darum werden auch die Dinge nicht etwa absolut auf-
gehoben, sondern auf das Werden reduziert, und im Werden,
nicht in den Dingen läge nun das eigentlich substantielle
Sein selbst.
Das Werden aber wird zunächst gefaßt als Bewegung.
Darin liegen nun die größten Schwierigkeiten, nicht nur in dem
rein logischen Sinne, daß das Werden nun doch nicht in der
gänzlichen Unbestimmtheit verbleibt, in der es konsequenter-
weise vom Protagoreischen Ausgangspunkte her verbleiben müßte,
und diesem zum Trotz als Bewegung bestimmt gedacht wird,
sondern auch hinsichtlich der historischen Auffassung und Deu-
tung. Denn wenn behauptet wird, öti TTccvia Kiveiiai^, so scheint,
wofür sich Zeller^ u. a.^ in der Tat entscheiden, in dem «rrdvia»
selbst wieder etwas, das bewegt wird, zum Unterschiede von
der bloßen Bewegung gesetzt und bewegte Dinge angenommen
zu sein, so daß die Dinge der Bewegung gegenüber doch wieder
ihre Selbständigkeit erlangten. Und diese Deutung scheint noch
^ Theät. ISld, vgl. auch 156 c: ßoüXexai y«P A^feiv \ii<; Tauta irdvTa
|iev uicfTtep X^YO!-iev Kiveixai . . .
2 Zeller, a.a.O. I, S. 978 f.
3 Bäumker, a. a. 0., S. 104; H. Schmidt, Jahrbücher f. klass, Philol. 111,
S. 481 ff.; Sattig, Zeitschr. f. Philos. und philos. Krit. 86, S. 283 f.
118 5. Kapitel.
dadurch eine besondere Rechtfertigung za erhalten, daß Piaton,
wenn auch in der polemischen Absicht seines Theätet, doch
immerhin von icivou^eva überhaupt spricht.^ Dann aber wären
wir gezwungen, dem Protagoras in der Tat die Annahme einer
bewegten Materie zum unterschiede von der bloßen Bewegung
zuzuschreiben, wie es Sext. Emp. wirkhch tut,^ Dann aber
wäre ja der Protagoreische Relativismus nichts anderes als
ein versteckter Materialismus, die Materie wäre die Substanz
der Dinge, und der Substanzbegriff wäre ein materialistischer,
wie bei Demokrit. Das «Ttavia» würde wieder xP^M^Ta und
zwar materielle xpilMC(Ta bezeichnen, die Dinge wären nicht auf
Bewegung, sondern auf Materie zurückgeführt. Nur bliebe die
Materie unbestimmter als im Materialismus Demokrits, der in
der Atomistik ihre Struktur als diskontinuierhch bestimmt hatte.
Aber sie wäre selbst ein letztes, wenn auch noch so unbe-
stimmtes xpf\ixa. Die xPnMctTa wären zwar nicht letzte xPnMaTa,
aber doch Formen der Materie als des letzten xpr\\xa. Nun
weisen aber Zeller^, wie Bäumker'^ übereinstimmend selbst auf
die «stoische Terminologie» des Sext. Emp. hin, in der dieser
«wenig historisch» dem Protagoras jene «fließende Materie» zu-
schreibt. Überdies wäre in einer «fließenden Materie» doch
auch der Sache nach gerade kein in der Bewegung Bewegtes
gewonnen. Wenn es von Punkt zu Punkt der Bewegung ein
anderes wäre, so ließe sich gar nicht sägen, daß es eben
«etwas» Bewegtes in der Bewegung wäre, das neben der Be-
wegung noch ein selbständiges Sein als Bewegtes hätte. ^ Weiter
aber hat Peipers^ — und darin stimmt ihm Bäumker^ selbst
^ Theät. 181 e.
^ Sext. Emp. Pyrrh. Hypoth. I, 217; qpiiaiv oiüv 6 ävrjp xrjv üXrjv ()€u-
OTiiv cTvai.
2 A. a. 0. I, 979.
* A. a. 0., S. 107.
' Sext. Emp. ebenda : dj? büvuööai t)]v üXt-jv, öaov ^cp' ^autfii irüvTa elvai
6aa Tiäai (pai'verai deutet doch wohl selbst darauf hin.
« Untersuchungen über das System Piatos 1, Die Erkenninistheoric
Piatos, S. 282.
' A. a. 0., S. 105. Bäumker deutet übrigens Protagoras nicht materia-
listisch, obwohl er eine «substratlose Bewegung» bestreitet. Wie er beides
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 119
ZU, während Zeller trotz seiner sorgfältigen Angaben der Pla-
tonischen Stellen^ dem philologisch und logisch gleich bedeutsamen
Argument von Peipers nicht die genügende Beachtung schenkt —
sehr richtig bemerkt, daß einfach, «falls nicht in impersonal
gesetzten Verben wie eKiveiTo, Kiveiiai, yiTveiai geredet werden
sollte, .... Subjektsbezeiclmuugen wie raura, rravTa nicht zu
umgehen waren», daß also das Subjekt in dem «alles» oder
«dieses alles wird bewegt» eben sprachlich grammatisch ist
und noch nicht ein metaphysisches Substrat der Bewegung zu
bedeuten braucht. In der Tat bringt es auch die Wendung
Piatons «ujö-rrep XeTo^ev»^ selbst zum Ausdruck, daß es sich
hier eben um eine sprachhche Notwendigkeit handelt. Sach-
lich aber braucht darum jenes «alles ist bewegt» nichts anderes
zu bedeuten, als: «alles ist in Bewegung». Und daß darauf
in der Tat die Ansicht des Protagoras geht, dafür sprechen
Platons^ eigene Worte ihq tö nav kivkiok; i^v'^ Kai d'Wo rrapa
TOÖTO ovbiv. Wenn nun Zeller diese Worte durchaus richtig
so auffaßt, daß «alles seinem Wesen nach Bewegung sei», so ist
nicht abzusehen, wie er noch außer der Bewegung ein Bewegtes
anzunehmen vermag, zumal doch außer dem «alles», das Be-
wegung ist, gerade «daneben nichts» sein soll. Gerade die
an sich tautologische Verstärkung, daß es neben dem alles,
das Bewegung ist, nichts gibt, deutet auf eine «reine Bewe-
gung» ohne Bewegtes hin. Dann aber hätten wir in der Tat
die von Zeller, Bäumker u, a. in Abrede gestellte Bewegung
ohne Substrat. Die Substanz wäre von den Dingen in die Be-
wegung zurückgenommen, die Bewegung wäre die eigentliche
Substanz. Wir hätten eine reine Bewegung, wie sie in der
vereinigen kann, wird aus seiner Darstellung freilich nicht ersichtlich. Wir
dürfen doch innerhalb des antiken Denkens nicht etwa einen energetischen
Substanzbegriff annehmen. Das ganze philosophische und naturwissenschaft-
liche Denken kann sich Bewegtes eben immer nur stofflich-materiell denken.
* A. a. 0., S. 979 ff.
2 Theät. 156 c, zitiert S. 117, Anm. 1.
3 A. a. 0., 156 a.
* Über das Imperfektum und die daran angeknüpfte Kontroverse vgl.
u. a. Zeller, a. a. 0., S. 979.
120 5. Kapitel.
Tat von einigen anderen Forschern wie von Frei^ u. a.'^ ange-
nommen worden ist, und damit einen rein kinetischen Sub-
stanzbegriff.
Soviel nun auch schon in Konsequenz zum Protagoreischen
Ausgangspunkte für den kinetischen Substanzbegriff spricht,
so Hegen darin doch noch so erhebHche Schwierigkeiten der
Deutung, daß die Geschichte sie bisher hat nicht auflösen
können und sie vielleicht auch niemals, wenigstens nicht rest-
los, wird auflösen können. Nicht als ob sich nun doch noch
ein materialistischer Substanzbegriff durchsetzen sollte; im
Gegenteil außer der Schwierigkeit in dem Verhältnis von reiner
Bewegung und Dingen erhebt sich eher noch die Frage, ob
Protagoras schon von seinem Ausgangspunkte her nicht etwa
bereits bei einem materialistischen, sondern auch nur bei einem
kinetischen Substanzbegriffe habe stehen bleiben können.
Was nun zunächst das Verhältnis der allgemeinen Bewe-
gung zu den einzelnen Dingen angeht, so ist zwar soviel klar,
daß, wenn alles seinem Wesen nach Bewegung ist, die ein-
zelnen Dinge selbst nur Bewegungsweisen sein können. Die
Durchführung dieses Gedankens ist aber ziemlich ins Dunkel
gehüllt und keineswegs so klar und durchsichtig, wie sie es
manchmal den allgemeinen historischen Darstellungen nach zu
sein scheint. Soviel ist indes gewiß, daß Protagoras zwei Grund-
formen der Bewegung unterschieden habe, von denen jede zwar
quantitativ unendlich und insofern der anderen gleich, spezifisch
aber jede von der anderen, die eine als aktiv, die andere als
passiv verschieden sei^ und daß auf beide das Entstehen der
Dinge zurückgehe.^
^ Frei, Quaestiones Protagoreae, S. 79: Quibus verbis [gemeint sind die
soeben erwähnten Worte Piatons, Theät. 156 a] plane apparet, non materiam
qualemcumque sese raoventem a Protagora statui ex qua omnia oriantur, sed
meram motionem. (Die Sperrung ist von mir.)
^ Siehe besonders Siebeck, Geschichte der Psychologie I, S. 157; vgl.
dazu auch Peipers, a. a. 0., S. 282.
* Piaton, ebenda: Tr\<; bi K\vY\oevj(; bvo dh)-\, Tr\ri9ei |aev otireipov dKcxxepov,
büvamv be TÖ \iiv TroieTv '4xov, tö bi irdaxeiv.
* Vgl. ebenda; auch 181 d.
Die Negation der mssenschaftlichen Erkenntnis. 121
Dabei wären nun, wenn wir den kinetischen Substanz-
begriff auf das Wahrnehmungsproblem zurückbeziehen, um das
Protagoreische Denken, soweit sich das bisher und überhaupt
tun läßt, in seiner Ganzheit zu fassen, zwei Möglichkeiten zu
unterscheiden, wenn auch Protagoras sich für keine von beiden
mit Bestimmtheit je ausgesprochen zu haben scheint, und sich
darum auch nur sagen läßt, welche von beiden dem Tenor
seines Denkens überhaupt gemäßer ist. Erstens könnten aus
beiden Formen der Bewegung zunächst die Gegenstände selbst
resultieren. Diese wären zwar nicht absolute, weil immer schon
durch die Bewegung bedingte Gegenstände, nur Funktionsweisen
der Bewegung. Aber der Wahrnehmung stünden sie immerhin
als selbständige Objekte gegenüber, wie das wahrnehmende
Subjekt selbst ein solcher Gegenstand wäre. Nur bedeutete
Gegenstand-Sein niemals mehr: eine Existenz haben außer der
Bewegung und unabhängig von dieser. Das wahrnehmbare
Objekt wie das wahrnehmende Subjekt und dessen Wahr-
nehmungsorgane wären selbst nichts anderes als Bewegungen,
«Sinne», wie «Gegenstände» wären Bewegungs weisen. Ihr Zu-
sammentreffen ergäbe eine Resultierende, die wir Wahrnehmung
nennen. Deren Komponenten wären also die leidende Sinnen-
bewegung und die tätige Gegenstandsbewegung, die aber, sofern
der «Sinn» wie der «Gegenstand» selbst Dinge sein sollen,
selbst schon Resultierende aus aktiver und passiver Bewegung
sein müßten. Sofern nun diese Bewegungen die Wahrnehmung
als weitere Resultierende zeitigen, stellt diese sich, wie Siebeck das
treffend bezeichnet, im Sinne als Empfindung im Gegenstande
als Eigenschaft dar.^ Das aiö"9nTÖv spaltete sich also begriff-
lich auch hier^ in den eigentlichen Gegenstand, der, wenn auch
^ Vgl. Siebeck, a. a. 0., ebenda.
2 Analog wäre es übrigens auch bei der Annahme eines Bewegten in
der Bewegung, das neben der Bewegung eine selbständige materielle Existenz
hätte. Zu den beiden Möglichkeiten innerhalb des kinetischen Substanzbegriffes
wäre also eine dritte Möglichkeit vom materialistischen Substanzbegriffe her zu
unterscheiden. Der Unterschied von der hier in Rede stehenden liegt darin,
daß dort die Gegenstände nicht bloß der Wahrnehmung, sondern auch der
Bewegung überhaupt gegenüber eine Selbständigkeit hätten. Sie bheben also
zum Unterschiede von den eigentlichen, aber durch die Bewegung bereits be-
122 5. Kapitel.
kein absoluter, weil erst durcli die Bewegung bedingter Gegen-
stand wäre, doch immerhin ein eigentlicher Gegenstand bliebe,
ohne zu einem Wahrnehmungsgegenstande zu werden und den
eigentlichen Wahrnehmungsgegenstand, der als solcher aber
nicht an den eigentlichen Gegenstand selbst heranreichte. Dieser
verhielte sich zum Wahrnehmungsgegenstande als die eine
Komponente zur Resultierenden, deren andere Komponente die
Sinnesbewegung darstellt. Und wenn die Resultierende nun
sich auch im Sinne als Empfindung, im Gegenstande als Eigen-
schaft darstellt, so läßt sich darum doch weder jene etwa als
adäquater Ausdruck von dieser fassen, noch läßt sich jede für
sich objektivieren, weil ja in jeder selbst beide Komponenten
wirksam sind, so daß sie nur als die verschiedenen Seiten einer
und derselben Resultierenden erscheinen.
3, Immer aber wären in diesem Falle tätige und leidende
Bewegung im Wahrnehmen noch besondere Spezifikationen und
Komplexionen von tätiger und leidender Bewegung überhaupt.
Nun könnten aber — und das wäre die zweite disjunktive
Möglichkeit innerhalb des rein kinetischen Standpunktes, die
zugleich sowohl vom Protagoreischen Ausgangspunkte her rein
logisch die konsequenteste wäre, als auch tatsächlich historisch
von Platon^ bezeichnet wird — tätige und leidende Bewegung
überhaupt schlechtweg gleichgesetzt werden der tätigen und
leidenden Bewegung in der Wahrnehmung.^ Das Zusammen-
dingten Gegenständen seilest absolut der Bewegung gegenüber, nur als Wahr-
nehmungsgegenslände resultierten sie wie diese aus der Bewegung. So fassen
Zeller, a. a. 0., S. 980 und Windelband, a. a. 0., S. 74 den Sachverhalt auf
und muß ihn konsequenterweise auffassen, wer die Gegenstände als Bewegtes
der Bewegung gegenüber selbständig denkt.
' Piaton, Theät. 150 a/b.: ek bä rr\c, toijtujv öimMa? xe Kai Tpi\\>ewq
Txpöc, ciWriXa y^TveTai ^kyovo uXrjöei ixiv onreipa, bibu|aa bi, tö |uev aiadr\x6v,
TÖ bi aioQr]Oi(;, dei öuveKTtiTtTOuffa Kai -feYvuJia^vri toO aiadriToO.
^ Vgl. Schanz, Beiträge zur vorsokratischen Pliilosophie aus Plato, I.Heft:
Die Sophisten, S. 72, der in bezug auf jene Worte Piatons (s. voi'. Anm.)
annimmt, daß Protagoras das Zusammenwirken «der zwei Bewegungen nur
im Subjekt und Objekt, im Menschen und in dem außer dem Menschen
Liegenden sucht». Zellers Argument gegen Schanz, daß Protagoras doch auch
«eine gegenseitige Einwirkung der Dinge aufeinander, nicht bloß eine Ein-
wirkung derselben auf uns annehmen» müßte, würde nur zutreffen, wenn das,
Die Negation der wissenschaftliclien Erkenntnis. 123
wirken der Bewegungen wäre nun überhaupt nur ein solches
von Subjekts- und Objekts-Beweguugen. Weil nach der ersten
Möglichkeit wahrnehmbares Ding ebenso in Bewegung aufgelöst
ist wie wahrnehmendes Subjekt und Wahrnehmungsorgan oder
Sinn, so müßte nun nicht bloß die Erkenntnis^ sondern auch
das erkennende Subjekt, wie das zu erkennende Objekt, da ihre
Bewegung auch «an sich» jetzt nach der zweiten Disjunktions-
möglichkeit innerhalb des kinetischen Standpunktes nichts
anderes sein könnte als Wahrnehmuugsbewegung, sich selbst
in das Wahrnehmen auflösen, in ihrer Ganzheit im Wahr-
nehmen aufgehen. Was zunächst das Subjekt anlaugt, so wäre
es nicht eigentlich mehr ein Wahrnehmendes neben und außer
den Wahrnehmungen, was es im ersten kinetischen Falle ja
noch immer geblieben war, weil, obwohl selbst aus den beiden
Grundformen resultiert, doch die Wahrnehmungen wieder erst
aus der Subjekts- und Objektsbewegung selbst resultieren könnten.
Nun aber würden die Wahrnehmungen nicht mehr aus ihm
selbst als der einen Komponente resultieren, es wäre jetzt nichts
anderes mehr als die aus beiden Grundformen der Bewegung
resultierende Summe der Wahrnehmungen selbst. Anstatt daß
es zunächst erst selbst aus den beiden Formen tätiger und
leidender Bewegung als Ding resultierte, und aus ihm als der
einen Komponente in Verbindung mit der Gegen standsbewe-
gung die Wahrnehmung erst als spezifische komplexe Be-
wegung resultierte, müßte es selbst aus leidender und tätiger
Wahrnehmungsbewegung, die keine komplexe, sondern nun-
mehr elementare Bewegung wäre, resultieren und wäre nichts
anderes als die Summe von Resultierenden der von vornherein
was zunächst docli mindestens selir fraglicli ist, wirklicli so gesichert wäre,
wie Zeller meint, nämlich, dafs Protagoras «den Dingen ein objektives von
unserer Vorstellung unabhängiges Dasein zuschrieb» (a. a. 0, I, S, 980), wenn
also die Begriffe des «Daseins», von «Dingen», von «uns» nicht so problematisch
geworden wären, wie sie es in der Tat schon geworden sind, und wenn
Protagoras nicht blofi objektive Dinge, sondern auch objektive Verhältnisse
zwischen den Dingen statuiert hätte, was, wie Schanz sehr richtig bemerkt,
eine Preisgabe des für Protagoras festesten Satzes wäre, «daß der Mensch das
Maß der Dinge» sei.
^ Piaton, Theät. 151 e: oök äWo ti Iotw imaTfwxr] f\ aiaQr\oi<;.
IS-l 5. Kapitel.
als solche gedachten tätigen und leidenden Wahrnehmungs-
bewegungen. Was man «Subjekt» oder «Seele» nennt, wäre
nichts neben den Wahrnehmungen. In der Tat hat Protagoras
diese Konsequenz wohl gezogen.^ Darum könnte aber auch das
Objekt nichts mehr außer seinem Wahrgenommen-Sein sein.
Denn ohne ein Subjekt der ai'cr&TicTig neben der a\'ö"v>riö"i';, das
wahrnimmt, auch kein Objekt der aiddi-icri^ neben der ai'a&nö'i?. das
von einem Subjekte wahrgenommen wird. Das Objekt müßte
genau so wie das Subjekt erst aus der aktiven und passiven Wahr-
nehmungsbewegung resultieren, nicht umgekehrt, sofern von
vornherein aktive und passive Bewegung als Wahrnehmungsbe-
wegung gedacht sind. Von seiner Dinglichkeit müßte, mit ent-
gegengesetzten Vorzeichen, alles das gelten, was soeben von der
des Subjekts ermittelt wurde. Es wäre nur die andere Seite der-
selben Resultierenden. Die von Anfang an gesetzte Beziehung
der Wahrnehmung auf ein Wahrnehmbares bliebe trotzdem be-
stehen; aber das Wahrnehmbare w-äre in keinem Sinne mehr,
weder im materialistischen, noch in dem ersten kinetischen Sinne,
ein eigentlicher Gegenstand, sondern bloßer Wahrnehmungs-
gegenstand im eigentlichen Sinne, in der Bedeutung des eigent-
lichen aia&riTov : Inhalt der Wahrnehmung. Wenn man von
diesem Gegenstande sagt, daß er erscheine, so kann das nicht
mehr bedeuten, daß er auch für sich noch etwas sei, ohne daß
er wahrgenommen werde und daß sein Wahrgenommen-Sein
nur eine Art zu erscheinen wäre, sondern sein Erscheinen
schlechthin liegt in der Wahrnehmung, Hatte Protagoras die
Konsequenz nach der Seite des Subjekts hin gezogen, so mußte
er sie auch nach der des Objekts hin vollziehen. Daß er sie
nach beiden hin vollzogen, dafür spricht der Umstand, daß
zwei verschiedene Berichte sich derart ergänzen, daß der eine
gerade die eine Konsequenz vermerkt, so Diog. Laert., während
Piaton die andere verzeichnet.-
Damit aber wäre Protagoras am logischen Ende seines
Philosophierens wieder zu seinem logischen Ausgangspunkte
* Diog. Laert. XI, 51 : ^Xey^ t€ \xr\bev elvai -rrapa tuc, aia^r]aex(;.
^ Diog. Laert. IX, .51, s. vor. Anm. Plalon Theät. 152 b.: tö bi f€
qpoiveTm afoödveoOai eanv; — ^axiv '(dp.
Die Negation der wissenschaflliclien Erkenntnis. 125
zurückgekehrt. Konsequenterweise hätte er freilich noch einen
weiteren Schritt tun müssen. Denn der Begriff der reinen Be-
wegung kann selbst nie Wahrnehmungsinhalt werden. Daß
er aber den Begriff der Kivncriq endlich in den einer bloßen
dXXoiujö'K; weiter aufgelöst und rein im Sinne eines ebenso sub-
stratlosen juetaßdWeiv und peeiv gefaßt^ hätte, was die letzte Kon-
sequenz gewesen wäre, die freilich zum Verhängnis geführt hätte,
wie das Piaton beweist, dafür liegen zu wenig Indizien vor. Im
Gegenteil widerspricht dem die Tatsache, daß die dWoiouaiq selbst
nur als eine Art der kivhctk; gedacht und innerhalb dieser ge-
rade der cpopd entgegengesetzt wird.^
Die letzten Ansichten des Protagoras müssen notwendig
schwankend bleiben, aber dieses Schwanken ist selbst nicht
ohne Bedeutung. Es ist der äußere Ausdruck einer innerpro-
blematischen Reduktion des Substanzbegriffs. Hat er diesen
auch nicht eigentlich positiv festzulegen gesucht, so hat er doch
die dogmatische Auffassung vom Wesen der Substanz erschüt-
tern helfen, und das ist eine Leistung, deren Wert nicht ver-
kannt werden darf, und die also gerade unser spezielles Pro-
blem zu illustrieren vermag. So schwierig wegen dieses
Schwankens auch die historische Deutung sein mag, so kann,
wenn wir darin selbst eine fortschreitende Reduktion des Sub-
stanzbegriffes sehen, nun auch den mannigfachen, einander
scheinbar widersprechenden Deutungsversuchen der Geschichts-
forschung Rechtens geschehen. In ihrer Verschiedenheit treffen
sie zu für die verschiedenen Etappen des Protagoreischen
Denkens. Diese Etappen sind freilich nicht selbst historische
Etappen. Die geschichtliche Entwickelung des Protagoras ist
zu unbestimmt, als daß wir sie in sichere Abschnitte ghedern
könnten. Jene Etappen sind logische Etappen, Stufen der Re-
duktion. Als solche sind sie trotz ihrer negativen Tendenz
doch bedeutsam: xP^^aia als Gegenstände werden angenommen.
Insofern ist es zunächst berechtigt, auch ein Etwas außerhalb
der Wahrnehmung anzunehmen, auch wenn es in dieser nicht
«an sich» erreicht wird. Und wenn sodann die xP^^ctra auch
* Piaton, a. a. 0., 182 d.
2 A.a.O., 181 d.
126 5. Kapitel.
in Bewegung aufgelöst werden, so bleiben sie doch als Be-
wegungen immerhin seiend, auch jetzt den Unterschied tüjv be
l^n övTuuv wahrend. Endlich muß ihr Sein auf das Sein eines
Wahrnehmungsinhaltes reduziert werden, da die Bewegung,
konsequenterweise vom Ausgangspunkte der Wahrnehmung her,
sich selbst reduziert auf bloße Wahrnehmungsbewegung,
4. Die wissenschaftliche Erkenntnis ist mit alledem freihch
aufgehoben, da Wissenschaft eben allgemeingültige Erkenntnis,
nicht bloße Wahrnehmung ist. Wenn möghch noch schärfer als
bei Protagoras kommt das bei Gorgias zum Ausdruck. Speziell
unser Problem, das Substanzproblem, scheint bei ihm noch
mehr explizite und ausdrücklich abgetan zu werden. Allein,
wenn auch gerade die neueste Forschung seine persönlich-
keitsgeschichtliche Entwickelung in den Untersuchungen von
Diels in manchem aufgehellt hat, so reicht er doch rein
sachlich, weder im allgemeinen, noch im besonderen für unser
spezielles Problem, an die Bedeutung des Protagoras heran.
Er setzt ein mit gewissen eleatischen und naturphilosophisch-
empedokleischen Bestimmungen des Seins^ und sucht aus ver-
meintlichen Widersprüchen auf dialektischem Wege die Mög-
lichkeit des Seins ausdrücklich zu widerlegen, während Prota-
goras an das Sein, wie Piaton zeigt-, nicht heranreicht, was
freilich auch von einer vermeintlichen Widerlegung des Seins
imphzite ebenfalls gilt. In den Argumenten des Gorgias hat
man insbesondere mit Recht einerseits Zenons^, andererseits des
Melissos'^ antithetische Gedankenführung bemerkt. Unrecht
freilich wäre es, einem dieser beiden Denker nun die eigentlich
sophistischen Argumentationen selbst zu vindizieren. Gorgias
verwendet zwar deren Gedanken, aber er tut es ganz für
seine eigenen Absichten, steht ihnen also in gewisser Weise
wieder frei, oder wenn man will, original gegenüber. Seine
Sophismen lassen sich gerade vom Standpunkte jener Denker
^ Di eis, Gorgias und Empedokles. Sitzungsber. d. Berl. Akad. d.
Wissensch. 1884, I, S. 343 ff.
2 Piaton, Theät. 186 c.
» Bäumker, a. a. 0., S. 108.
" Kinkel, a. a. 0., S. 269.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 127
SO leicht durchschauen, daß wir hier seine Argumentationen
ohne alle Weiterungen in ihrer bloßen Tatsächlichkeit nur kurz
zu verzeichnen brauchen: Wohl auf Grund der alten Forde-
rung der Unerschöpflichkeit des Seins postuliert Gorgias die
Unendlichkeit des Seins, falls es ein Sein geben sollte. Nun
sucht er zu beweisen, daß es nicht unendlich sein könne, weil
es dann uuräumlich sein müßte, da, was räumlich sein soll,
auch im ßaume begrenzt, also endlich sein müßte. Also kann
es weder unendlich noch endlich sein, weil es, wenn es sein
sollte, doch räumlich nicht sein dürfte, um unendlich sein zu
können, und auf der anderen Seite, um überhaupt sein zu
können, doch räumlich, damit aber auch eben im Eaume be-
grenzt, also endlich sein müßte. Also kann es, wenn es so-
wohl endlich, wie unendlich, damit also, negativ ausgedrückt,
weder endlich noch unendlich sein müßte, überhaupt nicht
sein.^ Auch könnte es weder eines noch vieles sein^: eines
nicht, weil es dann unendlich sein müßte, was es nicht sein
kann; vieles nicht, weil die Vielheit eine Vielheit des Einen
sein müßte, das ja nicht sein kann, und weil die Mehrheit von
Nichts auch Nichts ergibt. Das besagt der erste seiner be-
rühmten Grundsätze: Es gibt kein Sein. Mit vorwiegend
Protagoreischen Gedankenmitteln fügt er diesem die anderen
beiden Sätze bei. Zweitens: Wenn es ein Sein gäbe, wäre es
nicht erkennbar, weil die Vorstellung des Seins nicht das Sein
selber erreichte. Drittens: Wenn es erkennbar wäre, so wäre
seine Erkenntnis nicht mitteilbar, weil die Vorstellungen sub-
jektiv blieben. Diese Sätze^ stehen beherrschend an der Spitze
seines Denkens. Seine Grundansicht, die in ihnen gipfelt, er-
scheint so als die Verneinung der Wissenschaft in vollendeter
Form.*
1 Sext. Emp. adv. math. VII, 68 ff.
' Arist. (Ps.) de Xenophane, Zenone et Gorgia VI, 979 b, vgl. Sext. Emp.,
a. a. 0., VII, 73.
^ Arist., a. a. 0., V, 979 a: ouic elvai qpfiöiv ovbiv ' ei b' eOTiv, äYvuuaTov
eTvai • ei be Kai eön Kai yvokitöv, äW ov bii^iJUTÖv aWoiq; vgl. Sext. Emp.,
a. a. 0., VII, 65.
* Vgl. Windelband, a. a. 0., S. 73.
128 5. Kapitel.
5. Die Sophisten stehen am Wendepunkte einer neuen phi-
losophischen Epoche. Wie immer man über den Relativismus
der älteren großen Sophisten denken mag, man wird nicht ver-
kennen dürfen, daß sie selbst eine gewisse epochale Bedeutung
haben; nicht als ob sie den Anfang einer neuen, sondern weil
sie das Ende einer alten Epoche bezeichnen. Siebeck^ hat
darum durchaus recht, wenn er sagt: «es kann trotz der Tat-
sache, daß das Prinzip der Subjektivität bei den Sophisten
zuerst durchgreifende Geltung bekam, die neue Epoche der
Spekulation, welche mit dem Abschlüsse der älteren Natur-
philosophie allmählich eintrat, nicht mit der Sophistik begonnen
werden. Letztere bezeichnet uns vielmehr die Auflösung und
das Ende des althergebrachten Philosophierens und würde,
wenn sie nicht einen Sokrates sich gegenüber gehabt hätte,
das Ende des Philosophierens überhaupt bezeichnen.» Allein,
sie bezeichnen dieses Ende dadurch, daß sie ihren Relativismus
mit ehrlicher Konsequenz vertreten, mag die Konsequenz frei-
lich erst von Piaton zu Ende gedacht sein. Damit aber haben
sie selbst dazu beigetragen, jeden Versuch, im Relativismus eine
wissenschaftliche Position befestigen zu wollen, ad absurdum
zu führen. Die ehrliche Konsequenz, daß der Positivismus
überhaupt keine wissenschaftliche Position, daß wissenschaft-
licher Positivismus eine contradictio in adjecto ist, erhebt die
ältere Sophistik unendlich hoch über alle Schattierungen des
relativistischen Positivismus, die die Geschichte nach dem
Relativismus der Sophisten je wieder gezeitigt hat, die aller-
modernste Form, den Pragmatismus, nicht ausgenommen. Da-
durch daß sie ein Ende bezeichnet, gab die Sophistik, und
darin liegt der für eine gerechte historische Beurteilung nicht
zu unterschätzende Wert, wenigstens den Impuls zu einem
neuen Anfang, wenn auch nicht einen neuen Anfang selbst.
Die positive Bedeutung der mannigfachen Richtungen vor der
Sophistik lag in bezug auf die Erkenntnis darin, daß sie die
objektive Bestimmung der Vernunft erkannten. Aber sie ver-
mochten dieser Erkenntnis noch nicht die notwendige Erhär-
^ Siebeck, Untersuchungen zur Philosophie der Griechen, S. 14.
Die Negation der wissenschaftlichen Erkenntnis. 129
timg und Bewährung zu geben; so nahe selbst freilich Demo-
krit einer solchen kam, so fand doch auch er in diesem Be-
streben an dem eTefji der Atome seine Grenze.
Mag nun im Gegensatz dazu die Tendenz der Sophisten
darin liegen, daß sie jede objektive Bestimmung aufzuheben
suchen, und mag darin auch die ganze Schranke ihrer Bedeu-
tung zum Ausdruck gelangen, so liegt darin eben doch eine Be-
deutung: negativ der Nachweis der Unzulänglichkeit der Sinnen-
erkenntnis zur Wissenschaft, weil die Sinnenerkenntnis nie über
das Prinzip der Subjektivität hinausgelangt, die Wissenschaft aber
allgemeingültige Erkenntnis ist; positiv der Umstand, daß mit der
Leugnung allgemeingültiger Erkenntnis implizite diese selbst
zum Problem gemacht wird. Man bleibt freilich bei dem im-
pliziten Problem stehen. Die expHzite Problemstellung wird
erst erreicht innerhalb jener einzigartigen gedanklichen Rich-
tung, die den Höhepunkt des antiken Denkens überhaupt
bezeichnet, der wir uns nunmehr zuwenden. Euer liegt in der
Tat ein neuer Anfang des Philosophierens vor. Aber wenn
auch die Sophistik selbst keinen solchen bezeichnet, daß sie
doch, wie wir sagten, dazu einen Impuls gegeben hat, das gibt
ihr in der Geschichte, ob sie dieser schon ein Ende bedeuten
muß, doch eine bleibende Stellung.
Bauch, Das Substanzproblem.
130
Sechstes Kapitel.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des
Idealismus.
So hoch man immer auch das Verdienst von Sokrates'
Kampf gegen die Sophistik und ihren Relativismus veran-
schlagen und seine Bedeutung für die allgemeine Geschichte
des Denkens einschätzen mag, so dürfte er doch für unseren
speziellen Zusammenhang nicht sonderlich in Betracht zu
kommen scheinen. Sucht man doch des Sokrates Bedeutung
ausschließlich auf dem Gebiete der praktischen Philosophie,
während wir es hier mit einem rein theoretischen Problem zu
tun haben. Allein man bedenke: Ist auch der Inhalt des phi-
losophischen Interesses rein ethischer Natur, so erzeugt sich
aus ihm doch die theoretische Grundform des echt wissenschaft-
lichen Bewußtseins.^ Und gerade diese Gewinnung der theo-
retischen Grundform ist es, in der er seinen bleibenden Wert
und seine übergeschichtliche Bedeutung besitzt, durch die er
aber auch seine geschichtliche Wirksamkeit für Piaton erlangt
hat, wohingegen gerade der ethische Inhalt, in dem man auch
heute noch vielfach seine Bedeutung erblicken zu sollen meint,
den vergänghchen Teil seiner Lehre bildet.
Hält man zunächst auch nur das fest, so dürfte es ohne
weiteres auch für jede geschichtlich-theoretische Untersuchung
geboten sein, nicht vorschnell an der Erscheinung des Sokrates
vorüberzugehen. Sieht man sich aber seinen Kampf gegen die
' Vgl. dazu Schleiermacher : «Über den Wert des Sokrates als Philosophen»,
III, S. 287 ff.; ferner Windelband: «Sokrates» in «Präludien», S. 54 ff., und
Gesch. d. Pbilos., S. 76 ff.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 131
Sophistik noch näher an, so entdeckt sich eine Tendenz, die jedem
theoretischen Problem imphzite zugute kommen muß, auch wenn
dieses nicht expHzite zur Erörterung bei ihm gelangt. Die theo-
retische Kesignation des Sokrates hat ihre Bedeutung nicht zum
wenigsten darin, daß er den Sophisten die Relativität der Meinung
des Einzelnen zunächst wohl unumwunden zugesteht, ja ihr Nicht-
Wissen wo möglich noch überbietet. Aber zugleich weiß er
um sein Nicht- Wissen. Und dieses Wissen seines Nicht-Wissens
führt ihn derart über die sophistische Negation hinaus, daß er
sowohl ihrem Nicht- Wissen sein Wissen, wie ihrem Wissen sein
Nicht- Wissen entgegenzusetzen vermag. Denn das Wissen von
der Relativität ist doch von der Relativität selbst zu unter-
scheiden und ist doch selbst ein Wissen. Der zugestandenen
Relativität der Ansicht des Einzelnen, wie sie seine zufällige
Lage ergibt, stellt er so eine über alle zufällige Bedingtheit
erhabene Notwendigkeit des Wissens gegenüber. Diese ist nicht
in den Dingen und Gegenständen des Wissens, die als solche
eben nichts als relative Bestimmungen ermöglichen, sondern
in der Selbsterkenntnis der Vernunft verbürgt. Und erst von
ihr aus erlangen die Gegenstände des Wissens selbst ihre Be-
stimmtheit. Daß er so dem Relativismus gegenüber die Ver-
nunft in ihre Rechte eingesetzt, darin hat man von je die
wahre Bedeutung des Sokrates gesehen. Allein an die Vernunft
hatten auch Denker vor Sokrates appelliert, fast alle Denker
vor den Sophisten. Das Entscheidende der einzigartigen Tat
des Sokrates liegt darin, wie er das Recht der Vernunft fordert,
nicht also darin, daß er es fordert: Aus der Vernunft soll
entschieden werden, was jedes ist.^ In seinem Sein kann also
jedes nur bestimmt werden durch die Vernunft. Von der Idee
der Vernunft schreitet er also fort zur Bestimmungsweise durch
die Vernunft, Freilich könnte es scheinen, als ob ihm hierin
bereits die Pythagoreer vorangegangen seien, die vom Denken
selbst zu Bestimmungsweisen des Denkens (als welche sie die
Zahlen erkannten) fortschritten. Allein will man mit einem
Worte des Sokrates eigenen Fortschritt über diese Position
' Siehe z. B. Piaton, Protag. 313 c, Phaedr. 262 b.
9*
132 6- Kapitel.
bezeichneu, so liegt er darin, daß er diese Bestimmimgsweise
des Denkens selbst bestimmt, und zwar bestimmt als Begriff.
Er entdeckt den Begriff selbst und fordert begriffliches Wissen,
als die Grundform aller Wissenschaft, als Instrument auch des
Wissens vom Wissen selbst. Das ist seine ewige Bedeutung,
daß er die zeitliche Meinung, die als solche lediglich relativ ist,
an die ewige Gesetzmäßigkeit des begrifflichen Denkens ver-
weist, um in sich selbst Ewiges wenigstens zum Ausdruck zu
bringen. Hatten auch die Denker vor Sokrates das an-
schauHche Sein auf das begriffliche bezogen, so hatten sie das
doch immer nur im impliziten Verfahren gehandhabt. Sie
hatten nicht den «Begriff des Begriffes»^ und damit nie den
Begriff als solchen gewonnen. Ihn hat Sokrates entdeckt, in
seiner tiefsten Bedeutung erkannt, d. h. im «Begriff des Be-
griffes» selbst erfaßt. Er ist das Allgemeine der Vernunft-
bestimmung, und zwar dies im doppelten Sinne, nicht nur in-
sofern, als die Menschen gemeinsam daran teilhaben und nach
Abzug der relativen und subjektiven Meinungen dazu psycho-
logisch gelangen, sondern auch insofern, als er auch die Gegen-
stände der Erkenntnis als solche gemeinsam bestimmt; be-
stimmt also, nicht bloß, was wir gemeinsam denken, sondern
was jedes ist, so daß wir es gemeinsam zu denken haben.
Die Begriffe sind Vernunftgrundlagen der Erkenntnis, sind
XÖYOi innerhalb des XÖYoq selbst.
Das ist die epochemachende Position des Sokrates. Sie
muß man bestimmt gefaßt haben, um die Leistung Flatons
historisch zu verstehen. Von ihr aus allein können wir uns
aber auch der Gestaltung nähern, die Piaton unserem Problem
gegeben hat. Und diese Position des Sokrates ist es, die Piaton,
wie keiner sonst im Altertum, erfaßt, die er in das von ihm
selbst entworfene Bild auch der Persönlichkeit seines Lehrers
getreulichst einzeichnet und zu seinem eigenen Ausgangspunkte
^ Diese Gewinnung des «Begriffs des Begriffes» ist mit seltener Einmütig-
keit als die Tat des Sokrates in der wissenschaftlichen Geschichte der Philo-
sophie, seit es überhaupt eine solche gibt, von Hegel und Schleiermacher bis
auf unsere Zeit, bis auf Windelband, Zeller, Natorp, Kinkel usw. anerkannt
worden.
Der Substanzliegriff innerhalb iles Systems des Idealismus. 133
macht. Wenn Sokrates «nicht zu wissen glaubt, was er in
Wahrheit nicht weiß»^, so weiß Piaton dieses scheinbar bloß
persönliche Bekenntnis in seiner ganzen sachlichen Bedeutung
richtig einzuschätzen: als Besinnung auf das Wissen selber,
als den ersten großen Schritt zum Selbstbewußtsein des Wissens
von seinem Nichtwissen.^ Zugleich weiß er, daß damit Sokrates
die ewige Frage nach dem «Werte» der menschhchen Weis-
heit überhaupt aufrollt. Mag diese dem Lehrer auch «sehr
wenig wert oder gar nichts» gelten^, so weiß sein großer
Schüler dieses Werturteil doch in seinem tiefsten Sinne zu
deuten und richtig zu beziehen. Die Weisheit steht hier in
Rede nur in dem Sinne des Wissens von den «Dingen am
Himmel und unter der Erde»^ oder der Erforschung «der Unter-
welt».^ Dafür tut sich hier jene innere Weisheit auf, die aus
der «Selbstprüfung» erwächst; und daß Sokrates gerade dieser
«Weisheit und Selbstprüfung sein Leben widmet»^, das bestimmt
dem Bilde, wie es sich im Bewußtsein Piatons malt, ausschheß-
lich den Charakter. Nicht die Kenntnis der äußeren sinnfäl-
ligen Dinge, sondern die innere notwendige Bestimmung des
Selbstbewußtseins wird ihm zur Grundlage der Entscheidung
• über den Wert der Weisheit und damit zur Weisheit selbst.
Die Forderung der «Selbstbesinnung und Wahrheit für die
Seele, auf daß diese sich aufs beste befinde»^, gilt es zu erfüllen.
In diesem Sinne gilt Sokrates dem Piaton als «der unermüdliche
Erwecker und überzeugende Anreger für einen jeden Einzelnen»^
im Leben. Denn ihm handelt es sich nicht bloß um das Leben,
sondern um das Gutleben. ^ Das Leben als solches gilt nichts,
^ Apol. 21 d: a |ar| olba oub^ oi'ouai eib^vm.
' Ebenda 22 d: d|uauTdJi yäp Euvqibeiv oi)hi imatüixivwi.
3 Ebenda 23 a: öti f] dvöpuuTCivii aujqpfa oAiyou iivöq äiia iajw Kai
oObevö?.
* Ebenda 23 e: rd laeTeuupa Kai tö ijtt6 ^r\q.
6 Ebenda 29 b: tujv dv "Aibou.
8 Ebenda 28 e: cpiXoaoqpoOvra |u^ bei lf\v Kai dEexdZ^ovxa diaauröv.
' Ebenda 29 e: q)povnöea)i; be Kai äXrjOeia«; Kai rfiq ^lvxf\c, ö-nivc, du;
ßeXTiöxri garai.
^ Ebenda 30 e: ^YfiP>^v Kai iteiduuv Kai öveibiZiuv ^va ^Kaaxov oxibi iraOoiaai.
® Kriton. 48 b: ov xö Zr\v . . . öWä xö eO lr\v.
134 6. Kapitel.
es hat nur Wert, wenn es ein richtiges Leben ist. Die Für-
sorge (um das Leben) ist nur dann viel wert, wenn sie irgend-
wie einem Kriterium des Richtigen gemäß sein könnte; könnte
sie das aber nicht, dann wäre sie je größer, desto nichtiger.^
Denn ich will «nichts anderem von mir gehorchen, als jenem
Ausspruch der Vernunft (Xoyuui), der sich meinem vernünftigen
Nachdenken als der beste enthüllt».^ Darum gilt es, daß man
nicht alle Meinungen der Mensehen respektiert, sondern nur
die einen; die anderen aber nicht' : nämlich nur die wertvollen.*
Wertvoll aber sind nur diejenigen der Vernünftigen, der Selbst-
besonnenen.^ Das aber ist nicht die Menge, sondern einzig
derjenige, der sich auf Recht und Unrecht versteht, und die
Wahrheit selbst.*' Nur so gelangt man vom bloßen Leben zum
Gutleben. Das ist «ein Vernunftsatz, der bleibt».'^ Zu ihm
führt «geraeinsame Überlegung».^
2. Diese kritische «Prüfung» des «Wertes» der Weisheit,
die daraus hervorgehende Unterscheidung des äußeren Wissens
und der Erkenntnis des Selbstbewußtseins, sowie diejenige der
böHa und des Xöto?, die Bestimmungen der cppovnJig und der
dXri&eia werden für Piatons eigenes Verfahren im allgemeinen
ebenso bedeutsam, wie für unser spezielles Problem, das sich
nur aus dem Geiste des ganzen Piatonismus in seiner tiefsten
Bedeutung verstehen läßt.
* Kriton. 4Gb: f\ upoOuj.ua öou ttoWoö dEi'a, ei iiieTd tivoi; öp9ÖTriT0(;
€ir| • d ht nx], öauji lueiZiujv, ToaoÜTuui xa^efruuT^pa.
2 Ebenda: tüjv iixwv larjbevi äWuui treiöeadai f\ tJji Xöyuji, Ö(; äv |aoi
XoYiZoii^vuji ß^XriOTO? cpaivexai.
^ A. a. 0., 47 a: öti ou TTciöa^ XP'I tck; höiaq TUJv dvdpiOnujv tijliöv,
dWa Ta? \iiv, tö? böu.
* Ebenda: tö? xpir^^äq.
* Ebenda: tOuv qppoviiaiuv. Hier liegen auch schon die ersten Ansätze
für die später (Menon 85 c— 86 a und Sympos. 202 a) scharf hervortretende
Bestimmung, daß der K6yo<; es ist, der auch die richtige Meinung, die immer-
hin doch bloß Meinung ist, von der wahren Erkenntnis und Selbstbesonnenheit
unterscheidet.
^ A. a. 0., 48a: ol iroWoi . . . aW . . . ö ^Traiuuv -rrepi tüüv biKaiujv Kai
öbiKUiv, 6 ei'; Kai f\ d\r|96ia.
' A. a. 0., 48 b: oötoi; re ö XÖTog . . . |a^ve\.
* A. a. 0., 48 d: OKOiruijiev Koivi^i.
Der Substanzbe^iff innerhalb des Systems des Idealismus. 135
Wie Sokrates, so geht freilich auch Piaton zunächst von
rein ethischen Fragestellungen aus: Tugend, Tapferkeit, Be-
sonnenheit, Frömmigkeit, das scheinen die Themata zu sein,
die in erster Linie behandelt werden sollen. Allein der ethische
Inhalt der Untersuchung ist zunächst wenigstens so sehr von
der logischen Form beherrscht, daß das «Wie>\ genau wie das
auch bei Sokrates der Fall war, für unseren Betracht das
«Was» an Wert unendlich überwiegt; und das wiederum so
sehr, daß das, was sich in der Darstellung als Inhalt gibt, das
Ethische nämlich, der Sache nach selbst als Form und Ein-
kleidung für einen Sachgehalt, das Logische nämlich, erscheinen,
das seinerseits in darstellerischer Hinsicht lediglich selbst als Form
ansprechen könnte. Für den, der nicht unter die Oberfläche zu
blicken vermöchte, könnte daher wohl die Frage nahe liegen,
was denn das Substanzproblem mit der Erörterung darüber,
ob die Tugend lehrbar sei oder nicht, eigentlich zu schaffen
habe, wenn wir hier diese Erörterung des Platonischen «Pro-
tagoras» kurz berühren. Allein dem Tieferblickenden wird es
nicht entgehen, daß Piaton gerade hier aus der Unterscheidung
von «Tugendhaft- Werden» und «Tugendhaft-Sein» zunächst
zwar in ganz elementarer Weise und doch mit voller Schärfe
überhaupt die Unterscheidung von Werden und Sein gewinnt.^
Wir scheinen also von Anfang an mit den Grundbestimmungen
des Substanzbegriffes verflochten zu werden. Zugleich aber
werden schon von hier aus jene ersten richtungweisenden Im-
pulse gegeben, die in der Entwickelung des Platonischen Den-
kens eine für die Gewinnung des begrifflichen Gehaltes gerade
des Substanzproblems entscheidende Entfaltung erlangen sollten.
Wenn Piaton hier betont, daß die «Tugend nicht lehrbar sei»^,
und daß sie dennoch ein Wissen, eine Erkenntnis (emö"Tr|)Lir|)
sei^, so hat er, wie schon Schleiermacher richtig gesehen*, mit
voller Kraft den Unterschied zwischen dem praktischen Wissen
und dem technischen statuiert. «In allem, was lehrbar und lernbar
* Protagr. 340 c: ^ötiv bä ov toütöv . . . tö eivai Kai to fevi^au
^ A. a. O., 320 a: oüx fifoOiaai biboKTÖv eivai dpettiv,
» Ebenda 352 b.
* Vgl. Schleiermachers Einleitung zum Charmides, S. 6.
136 . C. Kapitel.
ist»S wird der «Facbmaan» (brijUloOpYo?) befragt ; so hält mau es in
allen Dingen der Technik.^ In allen Dingen der dpein aber darfein
jeder raten, «ohne bei irgendeinem Lehrmeister in die Schule ge-
gangen zu sein».^ Mit diesem Gegensatz von lehrbarem und
uniehrbarem Wissen, von bloßer Fertigkeit (xexvri) und Tugend
(dpetn) ist zum mindesten eine gewaltige Einsicht gewonnen,
eben die Einsicht, daß es ein Wissen gibt, das kein Mensch
lehren und kein Mensch erlernen kann, das wir von keinem
anderen also bloß zu empfangen und zu nehmen brauchten,
wie man ein Geschenk oder eine Gabe annimmt und empfängt.
Damit ist zunächst freilich nur eine Negation erreicht.
Aber die Position liegt schon nahe: Gibt es ein Wissen, das
du von keinem anderen erhalten kannst, so siehe zu, ob es
dir nicht kund wird, «indem du in dich selber schaust». Und
diese Position ist bald gewonnen.* Dieses In-sich-selbst-Schauen
ist ein Sich-selbst-Erkennen, ein Auf-sich-selbst-Besinnen, ist
Selbstbesonnenheit, auuqppoouvn. Sie ist das «sich-selbst-Kennen».^
Darum ist «das , Erkenne dich selbst' und das ,Sei besonnen'
dasselbe».^ In der auucppocTuvri ist, wie ebenfalls schon Schleier-
* Protag. 319 c/e: nadrird re Kai btbaKxa . . .
^ Ebenda: trepi |J^v ouv uuv o'i'ovxai dv t^x^I* e^vai, outuu biairpclr-
TOVTOl.
ä A, a. 0., 319 d/e: oübajaööev juaä-übv; oübe övToq bibaöKdXou oObevö^
auTiüi. Merkwürdigerweise hat man die These: Tugend sei Wissen und doch
nicht lehrbar, selbst nachdem Schleiermacher sie bereits in der im Texte be-
zeichneten Weise richtig gedeutet, als einen Fall Sokratischer Ironie und Para-
doxie aufgefaßt. Neuerdings hat Natorp in seinem Werke : Piatons Ideenlehre.
Eine Einführung in den Idealismus S. 13 sehr zutreffend gegen diese Auf-
fassung bemerkt: «Den Konflikt dadurch wegbringen, daß man die These der
Nichtlehrbarkeit als Ironie deutet, heißt dem Dialog das Rückgrat ausbrechen».
In der Tat würde man dem Dialog mit dieser Auffassung allen Sinn nehmen.
Und die ganze Auffassung wird selbst um so unverständlicher, je verständ-
licher die scharfe Unterscheidung zwischen t^x^H und dpetr) den eigentlichen
Sinn ergibt. — Später erhält der Begriff der t^x^^I freilich selbst eine höhere
Bedeutung. Er wird zur dialektischen Wissenskunst im Unterschiede vom
bloßen Erfahrungswissen, der ^i^meipia.
* Charmides, 160 d: dq aeauxöv (iTToß\£V4;a(;.
* Ebenda 164d: aötö toOto . . . eTvai öuiqppoöOvriv tö Yi^viiiaKeiv
tauTÖv.
" Ebenda 164 e: tö fäp Tviüöi aauxöv koi tö Zuujppövei fori ^iv toötöv.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 137
macher bemerkt, die «ethische Begriffseiiiheit»^ erreicht. Denn
ist Tugend das Wissen des In-sich-selbst-Schauens, so hat sie
in dem In-sichselbst-Schauen ihre Einheit. Allein weit mehr
als durch diese ethische Bestimmung ist hier durch ein rein
theoretisches Problem erreicht: Zunächst freilich durch ein
Problem, noch nicht durch eine Lösung dieses Problems;
immerhin aber auch wenigstens durch eine wesentliche Vor-
arbeit für die Lösung, Da die Tugend ein Wissen ist, das in
der Selbstbesonnenheit ermittelt und erkannt wird, so ist diese
selbst eine «Erkenntnis der Erkenntnis».^ Damit ist das Fun-
damentalproblem Piatons formuliert. Allein zunächst noch er-
scheint es in seiner ganzen Schwierigkeit und Komplikation :
Jede Erkenntnis ist eine «Erkenntnis von etwas »^ eines Gegen-
standes, der erkennbar ist. Welches ist nun der Gegenstand
der Erkenntnis der Erkenntnis? Dem technischen Wissen,
das zugleich technische Erzeugnisse hervorbringen soll, wie die
Baukunst und Webekunst, ist jene nicht verwandt. Eher ist sie
der Mathematik vergleichbar. Diese aber hat doch selbst immer
bestimmte Gegenstände, wie das Gerade, das Ungerade, Größen,
Mengen usw.* Aber hat die Erkenntnis der Erkenntnis nicht
bloß sich selbst zum Gegenstande, und kann sie das haben,
ist das überhaupt möglich? Es gibt doch kein Hören des
Hörens, kein Sehen des Sehens, kurz keine «Empfindung der
Empfindung».^ Und weiter: «Wenn diese Erkenntnis sich nicht
auf einen erkennbaren Gegenstand»^ bezieht, dann muß sie
' Vgl. Schleiermacher, a. a. 0., S. 3.
^ Charmides, 166c: dW al |i^v äWai Tcöacti öWou eioiv ^inöTfiiuai
^auTUJV b'oö. 'H hi \x6vr\ tüjv re äX.\u)v ^iriaTriiniuv ^TtiöTriiari ^ati Kai ai)rf\ kavTr\q.
ä Ebenda 166 a: tivo? iaxiv ^TTiaTnf.iri ^KötcTTri toOtujv tOüv i.n\OTq\xwv,
6 xi)fxäv€\ öv äX\o auTfi? Tf|<; ^maTriiUTii;.
* Ebenda.
^ Ebenda 167 c/d. Aufaer der einzelnen Entgegensetzung der dTri(TTr||Liri
TÜJV äWuuv ^TiiaTriiLiujv Kai ^auTf!«; zu der unmöglichen ^aurfi? bi Kai tiuv
&X\u)v öipeujv ö\])iq und der aöxfii; bi Kai tiuv äWujv ökoiuv ÖKori wird
hier der prinzipielle Gegensatz besonders scharf erreicht gegenüber der all-
gemeinen aiaönöeujv p.iv ai'aöriaiq Kai aÜTtii;. Hier setzt also die prin-
zipielle Unterscheidung von Empfinden und Denken ein.
8 Ebenda 168 a: rJTii; inaörnuaTO? |li^v oi)bevö<; ionv imaT^^x]. — Kai ^x^i
Tivd ToiaÖTTiv büvajaiv oiOTe tivö? elvai . . .
138 6. Kapitel.
doch immer auf sich selbst bezogen bleiben, und Gegenstand
der Erkenntnis und Erkenntnis selbst, die doch unterschieden
werden sollen, wären in einer bloßen Selbstbeziehuug eben nicht
mehr unterschieden. Eine solche Selbstbeziehung ist aber doch
nicht möglich. Denn jede Beziehung setzt ja nicht bloß etwas
voraus, das bezogen wird, sondern auch etwas, auf das jenes
bezogen wird und umgekehrt; wie das Größere auf ein Kleineres
bezogen wird und umgekehrt.^ Hat die dujcppoauvn aber keine
bestimmten Gegenstände, wie die Medizin das Gesunde, die
Baukunst das zum Bauen Gehörige^, so ist sie doch bloß ein
Wissen, «daß man weiß, aber nicht ein solches von dem, was
man weiß».^ Ein solches Wissen ist endlich doch nicht bloß
im Verhältnis zu allem Einzel wissen, dem es selbst hilf- und
ratlos gegenübersteht*, wertlos, sondern auch an sich sinnlos,
da man ja überhaupt nicht wissen kann, ohne etwas zu wissen.
Alle diese Schwierigkeiten, ja Aporien, haften dem Begriffe
der Erkenntnis der Erkenntnis an. Dennoch bleibt er als Pro-
blem bestehen.^ Und darin liegt sein schlechthin unvergäng-
' Ebenda b.
2 Ebenda 170 c. .
* Ebenda 170d: ouk äpa oujqppoveiv toOt' öv eir|, oObd auuqppoaüvji,
eibdvai öxe olbe koI ä ^r\ olbev, ötW, dx; tloiKev, öti olbe Kai öti oük dibe laövov.
* Ebenda 171 a/b.
8 Zum Unterschiede von Natorp (a. a. 0., S. 25) möchte ich sagen, daß
das Problem als Problem selbst in der Form bestehen bleibt, die Nikias ihm
im Dialog gegeben. Was dieser sich unter der «Erlienntnis der Erkenntnis»
denkt, d. h. der Inhalt des Problems ist damit freilich nicht bestimmt. Diesen
Inhalt inauguriert in der Tat erst Sokrates. Aber zu voller Entfaltung, im
positiven Sinne bringt auch er ihn in diesem Dialoge nicht. Ich kann darum
die Ansicht Natorps nicht teilen: der «vom Mitunterredner aufgestellte Begriff
der Selbsterkenntnis, wonach sie, im Unterschiede von aller Erkenntnis eines
bestimmten Objektes und abseits von dieser, nur die Erkenntnis bedeuten soll,
ob man erkennt, oder nicht, dieser wird nicht etwa bloß zweifelhaft gemacht,
sondern gänzlich vernichtet». In Wahrheit kann es sich doch im Begriffe
des Erkennens des Erkennens, der ja auch nach Natorps Auffassung nicht
«preisgegeben» (S. 24) wird, noch nicht um ein «bestimmtes Objekt» handeln.
Wenn das nun auch nach Natorps Darstellung manchmal so scheint, indem er
(auch auf S. 27) das «bestimmte Objekt» besonders betont wissen will, so
scheint mir gerade die Ausschaltung des bestimmten Gegenstandes von der
größten Bedeutung, weil, wie ich im Texte ausführe, dadurch Raum gewonnen
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 139
lieber Wert. Die cruücppocruvri als Erkenntnis der Erkenntnis
hat keinen bestimmten Gegenstand, Das unterscheidet sie
von allem Wissen der aicröiiaK;, an die jene bestimmten Wissen-
schaften, wie Baukunde, Medizin, Politik usw., verwiesen sind.
Und doch wäre sie nichts ohne einen Gegenstand überhaupt.
Mit dem Namen des Guten wird dieser zum Schluß des Char-
mides bereits angedeutet.^ Wird so die cjuucppoffuvri aucli von aller
Einzelinhaltlichkeit der Empfindung entkleidet, so bleibt die
Forderung nach einem Gegenstande überhaupt doch be-
stehen. Denn nicht bloß um zu wissen, was man weiß (im
wird für einen Gegenstand überhaupt. Daß Piaton den Gegenstand über-
haupt vom bestimmten Gegenstande bleibend unterschieden und in der Tat
das Problem als Problem im kontinuierlichen Fortgang sehies Denkens bewahrt
hat, dafür spricht Politeia, 483c ausdrücklich: ^triaTrüiri |li^v aöin juaOrmaro^
auToö ^TriöTtTiLiri ^ötiv f\ ötou bei Oeivai Tt^v eiriaTiiiariv, ^TCiaTr||HTi b4. xi? Kai
iroid Tii; TTOioO twoc, Kai ilvoq, wo deutlich wird, daß die Erkenntnis über-
haupt die Erkenntnis eines Erkenntnisgegenstandes überhaupt oder dessen,
Avorauf sie sich bezieht, ist, und daß eine bestimmte Erkenntnis aber die Er-
kenntnis eines bestimmten Gegenstandes ist. Verstehe ich Natorp an einer
andern Stelle recht, so dürfte meine Auffassung vielleicht aber dennoch mit
einer andern von ihm gegebenen Deutung zusammenstimmen, die er (auf S. 26)
folgendermaßen formuliert: «Die Selbsterkenntnis müsse zwar nicht mit der
Erkenntnis eines sonstigen besonderen Objektes, wohl aber mit der eines
letzten Objektes , des Guten, zusammenfallen». Dieses «letzte Objekt» ist
offenbar also doch kein bestimmtes, sondern ein allgemeines, das man eher
als bestimmend bezeichnen könnte, oder, wie ich es mit Rücksicht auf Piatons
eigene obige Worte nenne, «Gegenstand überhaupt». Wenn ich so vielleicht
zu einer Übereinstimmung mit Natorp glaube auf der einen Seite gelangen zu
können, so ist mir nur auf der anderen Seite nicht recht klar, ob und welchen
Unterschied er zwischen dem «besonderen» und «bestimmten» Objekt macht.
Unterschieden müßten diese beiden doch wohl werden, wenn anders er nicht
das, was er das «letzte Objekt» nennt, von dem «bestimmten» wieder unter-
scheidet. Immerhin scheint es mir notwendig, hier nicht von einem bestimmten
Objekt, sondern vom Objekt überhaupt, oder von der Bestimmtheit überhaupt,
die wir zunächst bald unter dem Namen der ttoiötth; kennen lernen werden,
zu sprechen. — Daß auf diese Unterscheidung aber, wie ich sie hier gemacht
habe, zwischen Gegenstand überhaupt und bestimmtem Gegenstand zu dringen
ist, das wird man vielleicht besonders begreiflich finden, wenn man bedenkt,
daß etwa in der neueren Zeit die Entscheidung der viel gepflogenen Kontro-
verse nach Fichtes veränderter Lehre gerade an dieser Unterscheidung hängt.
* Charm. 174d. Vergl. den in der vorigen Anmerkung zuletzt zitierten
Satz Natorps.
140 G. Kapitel.
Einzelwissen), sondern auch schon um zu wissen, daß man.
weiß, dazu muß man auch wissen, was es heißt, daß man weiß,
damit man eben die Erlsenntnis auch von dem, was nicht Er-
kenntnis ist, unterscheiden könne. ^ Es ist also eine begriflfJiche
Bestimmung vom Erkennen selbst schon vorausgesetzt. Und
wenn sich von hier aus auch nur die Frage nach der Möglich-
keit- zu ergeben scheint, so ist diese Frage für den Anfang
selbst schon Ergebnis genug. Indem die oixxppoavvr] zu ihr führt,
steht sie, als Problem wenigstens, in der Tat allen ül)rigen Er-
kenntnissen vor, geht ihnen logisch begrifflich voran, ^ Es ist zu-
nächst genug, daß die Frage nach der Möglichkeit dieser Er-
kenntnis überhaupt gestellt wird, mag sie auch noch nicht be-
antwortet werden. Denn daß sie auch nur gestellt wird, das
muß als Ziel den Begriff der Erkenntnis involvieren. Und
wenn auch dieses Ziel nicht etwa gleich erreicht wird, so gibt
es doch der Bewegung des Denkens auf das Ziel schon eine
bestimmte Richtung. Denn es führt durch den Begriff selbst
hindurch.
Darin liegt die rein logische Bedeutung aller der zunächst
ethischen Fragestellungen, die oft für die Darstellung den
Mittelpunkt bilden: Da wird gefragt nach dem, «was sie wohl
ist und was für ein Wiebeschaffenes eben die auucppoauvri»'^
oder, «was sie wohl selbst sei, die Tugend»^ und «was sie denn
sei»*^; oder was die Tapferkeit', «welches Wiebeschaffene das
Fromme>^, sogar <was denn eigentlich ein Sophist^ ist». Alles
das gilt es «abzugrenzen»^", wie der terminus technicus lautet,
* Ebenda 170a: biaipeiv ... öti toütujv xöbe |li^v imaTr\\ir\, tö b'oÜK
^iTiOTriiari.
* Ebenda 167 b: ei buvaiöv iarx toOto elvai fj oö, xot, ä oTbe, Kai ä |iri
oibev, dbivax öti olbe koI öti ouk olbev. — Und ausdrücklich als offene
Frage: 169a/b: et buvaTÖv ^öti toOto fevioQai, dTTiaTr||ur|<; ^niffrr)|aujv eTvai.
' Ebenda 174 e: aujqppoffüvri . . . ^maTaTei bi Kai xaT«; äWai? dmtJTrinai?.
* Ebenda 159 a: öti Iot\ Kai öttoTöv ti f] aa)9poöüvri.
' Protag. 360 b: ti uot' ^cJTiv ainö, i] inpexf].
« Laches, 190b: ö tI ttot' kaxiv öipeTr|.
' Ebenda: ävbpcia t( ttot' ^ötiv.
^ Euthj'phron, b c/d : ttoi6v ti tö eöaeß^? elvai.
* Protag. 312 c: ö ti iroxe 6 aoqpiOTr)^ ^ötiv.
^° Laches, 194 c : 6piileö9ai Tr]v ävbpeiav.
Der Subslanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 141
d, h. begrifflich zu bestimmen. Was nun auch immer im
Einzelnen die Begrififsbestimmung ergeben mag, das kommt für
unseren Zusammenhang, so interessant es an sich oft auch ist,
nicht in Betracht. Was sich daraus aber für den Begriff über-
haupt ergibt, das ist für uns von entscheidender Bedeutung.
Denn durch ihn wird der noch unbestimmt gelassene Gegen-
stand der Erkenntnis bestimmt. Weil er aber für den Gegen-
stand eine bestimmende Bedeutung hat, so ist er selbst kein
bestimmter Gegenstand, insbesondere ja nicht etwa ein ein-
zelnes Ding.
Dem Einzelnen und Besonderen gegenüber ist er ein All-
gemeines und Gemeinsames, etwas, das für die Erkenntnis das
Einzelne zu dem macht, was es in der Erkenntnis ist. Und
so mannigfaltig und verschieden bloß für sich betrachtet alles
Einzelne unter sich sein mag, so verschieden z. B. die eine
tapfere Handlung von der anderen sein mag, so verschieden
auch die eine fromme Handlung von der anderen sein mag,
das, was jene einzelnen tapferen Handlungen eben als tapfer,
diese einzelnen frommen Handlungen als fromm zu bestimmen
ermöglicht, so daß wir sagen können : dieses und jenes ist tapfer,
dieses aber und jenes nicht; oder: dieses und jenes ist fromm,
dieses aber und jenes nicht, das ist der Begriff der Tapferkeit
und der Begriff der Frömmigkeit. Er bestimmt also, was seiend
in allem Einzelnen dasselbe ist.* Es ist dasselbe z. B. in jeder
tapferen und in jeder frommen Handlung. Was in allem Ein-
zelnen aber dasselbe ist, das ist auch mit sich selbst dasselbe,
in sich eines, identisch. Wenn das Fromme in jeder einzelnen
Handlung mit sich selbst dasselbe und das Ruchlose zwar das
Gegenteil von allem Frommen, sich selbst aber gleich ist, so
daß alles Ruchlose im Einzelnen doch in bezug auf die Ruch-
losigkeit eine gewisse Gestalt (iivd ibiav) hat^, so wird die
Mit-sich-Selbheit, die Identität des Begriffes mit sich selbst be-
sonders durch seinen Gegensatz deutlich. Zugleich aber wird
1 Laches, 191 e: t( öv iv -rraai toütoi? t'outöv dariv.
* Euthyphron, 5 c/d: toötöv ^ötiv ^v Tzdar\i irpctSei rd öaiov aöxo aÖTiüi.
— KOI TÖ dvöcnov au toO ixiv baiov dvavriov, aurö bi auTÜüi önoiov Kai
2xov |iiav Tivä ibiav Kaxot rf]v dvoöiöxriTa Tiäv, öxi itep öv la^Wrii dvööiov elvai.
142 6. Kapitel.
er hier zur ddee» vertieft, als der bestimraeuden in sich selbst
gleichen Gestalt, in bezug auf die gleich sein muß, was unter-
einander gleich sein soll, und in bezug auf die uud zugleich
ihren logischen Gegensatz verschieden sein muß, was unter-
einander verschieden und entgegengesetzt ist.
Diese ibea, das eibo?, wie sie noch heißt, ist aber nicht
Gestalt, wie es dieses oder jenes Ding ist. Sie würde dann ja
wieder nur zu einem solchen Einzelnen, das durch sie selbst
erst bestimmbar wird. In der Idee der Frömmigkeit z. B.
handelt es sich nicht selbst wieder um eine bestimmte fromme
Handlung, nicht um die frommen Handlungen, die man etwa
nacheinander herzählen könnte^, nicht also um «ein Einzelnes
oder Zwei von dem vielen Frommen, sondern um jene Gestalt,
durch die alles Fromme fromm ist».^ Sie ist nicht ein From-
mes unter anderem Frommen, sondern das dboc, des Frommen
selbst, das Fromme überhaupt. Ein einzelnes Fromme steht
jedem anderen Frommen selbst als etwas anderes gegenüber.
Das Fromme selbst ist in allem Einzelnen dasselbe, es ist nicht
eines neben anderem, sondern Eines in allem. Es ist eine
einzige Gestalt, durch die alles Fromme fromm, und wieder
eine, durch die alles Unfromme unfromm ist.^ Sie ist darum
das Muster, auf das wir hinschauen, und dessen wir uns als
Urbild bedienen^, um zu bestimmen, was etwas ist, wenn wir
dessen Wesen, das sie ausdrückt, enthüllen w^ollen.^ In ihr
selbst liegt die ouaia der Dinge. Insofern sie so zur Bestim-
mung des Allgemeinen und Wesentlichen der Einzeldinge
wird, kann sie selbst kein wesenhaftes Einzelding sein, Sie
bleibt ein Allgemeines dem Einzelnen gegenüber. Und wenn
der deutsche Dichter den Terminus ibea oder dbo<; mit «reine
Form» übersetzt, so dürfte er den Sinn dieses Idealismus ganz
^ Ebenda 8d: irpdEeiJü? tivoi; Ttepi — tüiv irpaxö^vTuüv.
* Ebenda 6 d : ?v ti fj buo . . . tuiv ttoWüjv öoiujv, öW ^kcivo outo tö
elbo?, iDi TrdvTa xd baia öaid dativ, vgl. Meno, 72 a/c.
' Ebenda : ^dp irou |li(oi tb^ai rd te dvöaia dvöaia elvm Kai tö öaia öaia.
* Ebenda; Tr\v ibiav ... de, ^kcivi^v dTroßXdTruuv Kai xpiJL'Mevo? aOTf|i
TTapabefT^otTi . . . Vgl. Menon 72 c: toutöv iravTaxfi elböq iaxw . . .
* Ebenda IIa: rf]v fa^v oömav . . . br)\Oüaai.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 143
zutreffend bezeichnet haben. Denn darin liegt zugleich, daß
das Allgemeine und Gemeinsame, wenn es auch mit kon-
tradiktorischer Notwendigkeit kein Einzelnes ist, eine Auffas-
sung, die, wie wir sahen, Piaton von Anfang an mit aller
Energie abgewehrt hat, so doch auch nicht etwa ein bloß
psychologisches subjektives Allgemeines, das nur in der ge-
meinsamen Überlegung (dem Koivfji OKonelv^) bestünde, sondern
ein sachliches Allgemeines ist. War doch das auch schon des
Sokrates feste Position gewesen, von der aus allein er dem
bloßen relativen Meinungswissen mit seinem Erfolge entgegen-
treten konnte, daß er im Begriffe nicht das suchte, was wir
tatsächlich gemeinsam denken, sondern das, worin wir bloß des-
halb übereinstimmen können, weil es besagt, was etwas selbst
ist, weil ihm der Begriff immer schon die Form eines selbst
seienden (outo) war. Und diese Position beherrscht mit voller
Festigkeit auch Platou schon in den Schriften seiner ersten
Epoche, die mau wegen ihrer engsten und innigsten Beziehung
zu Sokrates mit vollem Rechte gerade als «sokratisch» benannt
hat* So ist ihm die gemeinsame Untersuchung, das aKOTreiv
KOivfii, keineswegs schon das Gemeinsame, das koivov selbst, sie
dient ihm, wie Sokrates, vielmehr lediglich zu dessen Ermitte-
lung. Nicht kommt es ihm auf bloße Aussagen an, sondern
auf das, was die «Grundlagen (uTToöeaei?)»^ dieser Aussagen
ausmacht. Welchen Wert diese haben, davon hängt es ab,
was die Aussagen selbst für einen Wert haben. Darum «macht
es in der Untersuchung ganz und gar nichts aus, wer etwas
sagt, sondern es kommt lediglich darauf an, ob es richtig ge-
sagt ist oder nicht»^; also nicht auf die gemeinsame Unter-
suchung, sondern auf das, zu dem sie führt, und das ihr selbst
erst Gültigkeit gibt. Die Allgemeinheit ist danach eine doppelte
» Kriton 48 d. s. S. 134.
2 Vgl. Windelband, Piaton, S. 49f.
^ Euthyphron, 11 c, das Moment der üixööeöK;, auf das wir selbst auch
noch zurüclvkommen, hat unter allen Forschern am nachdrückhchsten P. Natorp
betont. Vergl. a.a.O. besonders S. 2Sf., 187 ff., 199 ff., 236.
* Charmides, 161 c: Tidviujc, yotp oö toOto OKemiov, öötk; aOrö €{it€iv
AXXä TTÖTepov ö\ridd<; X^yeTai, f\ oö.
144 fi. Kapitel.
bezw. dreifache freilich. Sie liegt im Denken als Tun und im
Gedachten auf der einen Seite, aber nicht insofern dieses ein
bloß Gedachtes ist, sondern insofern es ein richtig, ein wahr
Gedachtes, also andererseits in der Bedeutung des Gedachten.
Von hier aus fällt auf die Bedeutung der (Tuu(ppoö"iivn volles
Licht. Sie ist nicht etwa nur eine bloß tatsächliche Innenschau,
eine Versenkung bloß in die Zustände der Seele, sondern eine
Besinnung auf das, was etwas an und für sich ist, was es nach
einem Kriterium der Richtigkeit selbst bedeutet. So ist z. B.
das Fromme nicht deshalb fromm, weil es geliebt wird. Diese
Liebe wäre nur ein seelischer Zustand, aber nicht das Fromme.
Vielmehr erhält umgekehrt erst dieser seelische Zustand vom From-
men an und fürsich eine Bedeutung. Und «das Fromme wird ge-
liebt, weil es fromm ist, nicht aber ist es fromm, weil es gehebt
wird».^ Seine Bedeutung liegt nicht in dem bloßen subjektiven
Zustande der Liebe, sondern allein in sich selbst und kann aller-
erst jenem Zustande selbst eine Bedeutung geben kraft seines
eigenen Wesens, kraft seiner oucria, falls überhaupt jener Liebe
eine Bedeutung zukommt. Daher ist die Frage die, «was denn
an sich seiend das Fromme hernach .... geliebt wird, oder
was ihm sonst zukommt».^
Damit aber wird die begriffliche Erkenntnis allem Wechsel
und Wandel entrückt in stetig einheithcher Identität. Von ihr
gilt, «das, wovon es auch immer eine Erkenntnis geben mag,
davon es nicht eine besondere gibt für das, was geschehen ist,
zu wissen, wie es geschah; noch wieder eine besondere für das,
was geschieht, wie es geschieht; noch eine andere für das,
was noch nicht geschehen ist, wie es wohl am besten geschehen
könnte, sondern eine und ebendieselbe».^ Innerhalb des Ge-
schehens mag sich alles wandeln, wir mögen heute andere
* Euthyphron 10 d: Aiöti äpa öaiöv ^ffxiv, cpiXelxai, äW oux 8ti <pi\ei-
Toi, btct toDto öoiöv iaiw.
2 Ebenda 1 1 b (wörtliche Übersetzung Schleiermachers von) : t{ irore öv
TÖ 6mov e'ixe qjiXeixei . . . eixe öti bi] udöxei.
3 Laches, 198 d: ircpi öauuv ianv ^Tnatriiuri, ouk äUn ixiv elvm Ttepi
Y6T0VÖT0?, eiblvai öuY\i T^yovev, öX\r\ bi itepl yitvo|u^vujv, ötiy\i fiTveTai, äX.Xri
bi ÖTirii öv KciXXiaTa -fivoxTO tö lafiiruj YtTOvö?, dXX' f] aiiri^.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 145
Tugenden pflegen, als unsere Ahnen sie gepflegt haben und
spätere Geschlechter sie pflegen werden, wir mögen auch eine
andere Vorstellung von der Tugend haben, als jene sie gehabt
haben und diese sie dereinst haben werden. Daß wir auch
nur von verschiedenen Vorstellungen der Tugend und ver-
schiedenen Tugenden sprechen können, das setzt eine Erkennt-
niseinheit voraus, den Begriff" der Tugend selbst, durch den
allein sich auch die verschiedenen Vorstellungen von der Tugend
eben doch als Vorstellungen von der Tugend, die verschiedenen
Tugendhandlungen eben als Tugendhandlungen charakterisieren
lassen; und in bezug auf den das einzelne Verschiedene doch
auch ein selbiges ist, so daß umgekehrt, «in bezug auf diesel-
bigen Dinge auch dieselbige Erkenntnis sowohl das, was sein
wird, wie auch das Werdende und Gewordene versteht».^ Denn
das «Werdende selbst wird nicht deshalb, weil es ein Wer-
dendes ist, sondern weil es wird, ist es ein Werdendes».^ Wie
also alles, was überhaupt wird, im Begriffe des Werdens
schlechthin verankert liegt, so muß alles, was dem Werden
in einer bestimmten Weise angehört, auch in einem in
sich einheitlichen Begriffe gedacht werden, um in seiner eigenen
Bestimmtheit begriffen werden zu können. Ganz und gar den
Bahnen des Sokrates folgend, eröffnet Piaton hier doch schon
ein ganz neues Ziel. Er wandelt den Weg des Sokrates, aber
dessen Wegziel ist nicht auch schon das seine. Ihm erschließen
sich neue Fernen. Der sokratische Teil seines Weges aber hat
uns selbst allmählich gerade durch diejenigen Gedankengänge
hindurchgeführt, die unser spezielles Problem bezeichnen. Wir
stehen in seinem Zentrum. Die Fortsetzung des Weges wird
uns nun auch der Lösung zuführen, die es bei Piaton gefunden.
3. Das aber ist zunächst das für unsere Aufgabe bedeut-
same erste Resultat des Platonischen Denkens, daß sie aus dem
Begriffe der Erkenntnis der Erkenntnis nicht nur ganz all-
gemein das Erkenntnisproblem im Sinne der Erkenntnislehre
• Ebenda 199a: ircpi töiv aOxuiv Tr]v aOxnv ^inaTrmi-iv Kai ^öo|a^vujv
Kttl YiTvoji^vojv Kai y^TOVötujv diraieiv.
^ Eutypbron. 10 c: oux öti YiTvöjaevöv dcTTi, ^Ifveiax, äW ÖTi -fi-fverax.
YiTVÖ|Li€vöv iaxiv.
Bauch , Das Substanzpioblcm. 10
146 6. Kapitel.
entrollt, sondern auch die Forderung eines Bleibenden im Be-
griffe trotz allen Wechsels der Auffassung ergibt, und daß da-
mit, anfangs freilich nur implizite, das Problem des Beharrlichen
im Wechsel im allgemeinen Erkenntnisproblem selbst ver-
ankert wird. Das ist der erste logische Ertrag des ursprüng-
lich ethisch gefaßten Problems der Selbstbesonnenheit. Ihre
ethische Bestimmung bleibt, aber sie übernimmt zugleich eine
logische Funktion. Und diese führt in den einzelnen ethischen
Fragestellungen zum Begriffe, der die allgemeine Grundlage
des Wertes, der Bedeutung und Geltung des Einzelnen
darstellt und als solche aller zeithchen Genesis entrückt wird.
Damit kündigt sich aber das für den ganzen Piatonismus über-
haupt wie für unser spezielles Problem insbesondere so bedeut-
same und eigenartige Verhältnis des Ethischen und des Lo-
gischen schon an, um eine kontinuierlich fortschreitende Ver-
tiefung zu entfalten. Zwar durften wir den Hauptertrag bisher
als einen rein logischen ansprechen, und behaupten : der ethische
Inhalt, demgegenüber der logische fast nur als Form der
Darstellung erschien, läßt sich umgekehrt viel eher als Ein-
kleidungsform des eigentlich logischen Gehaltes ansehen, sofern
man nicht auf die Darstelluugsform, sondern auf den in ihr
dargestellten Gehalt achtet. Diese" Behauptung brauchen wir
keineswegs aufzugeben. Aber je mehr sich auch schon in der
ersten Epoche Piatons das Bewußtsein durchringt, daß die Be-
griffe nicht bloß etwa allgemeine Meinungen, sondern allgemein-
gültige Wert- und Bedeutungsgrundlagen für alle faktische
Meinungen sind, wenn sie nicht bloß faktisch, sondern richtig
sein sollen, desto deutlicher wird es auch, daß der logische
Gehalt wieder in einen ethischen Gehalt einbezogen wird; zwar
nicht in einen ethischen Gehalt unter anderen ethischen Ge-
halten, sondern unter einen höchsten ethischen Gehalt, der zu-
nächst freilich unter dem Namen des Guten bloß angedeutet
war. Er wird sich mehr und mehr als die eigentliche Substanz
nicht bloß des Platonischen Denkens, sondern auch in dem
umfassenden logischen Sinne, den ihm dieses Denken zu geben
weiß, entfalten. Darin liegt die Kontinuität der sys^tematischen
Kraft eben dieses Denkens, daß es unter scheinbar mannig-
Der Substaiizbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 147
facher Form ein einheitliches Thema variiert, und daß jede
Variation zugleich einen Fortschritt in der Lösung der Aufgabe
bezeichnet, deren Programm sie mit dem Namen des Guten
bezeichnet. Was an ethischem Gehalte für den Anfang sich
lediglich als Form dem logischen Gehalte gegenüber betrachten
ließ, das waren bloß einzelne Tugendbegriffe. Das Gute über-
haupt, das dabei im Hintergrunde bheb, bezeichnet darum doch
schon den letzten und tiefsten Gehalt. Aber es bezeichnet
ihn nur für den sokratischen Piaton, so daß für den ersten
Blick das Logisch-Theoretische ganz im Dienste des Ethisch-
Praktischen steht, genauerer Prüfung aber auf dieser Stufe des
Denkens sich gerade ein rein logisch-theoretischer Ertrag ergibt.
Aber was für diese Entwickelungsstufe Piatons zunächst nur
als Bezeichnung erscheint, das ist doch für die folgenden pro-
grammatisch, und jetzt wird der Begriff zum Wegweiser der
Durchführung des Programms.
Praktisch-ethisch bleibt die Grundtendenz des Platonischen
Philosophierens, auch wenn das Logische streckenweise ganz
zu dominieren scheint. Weil Tugend das Wissen der Selbst-
besonnenheit ist, ist sie aber immer zugleich logisch gestimmt.
Wie die Erkenntnis an den allgemeingültigen Begriff verwiesen
und durch ihn in ihrem Werte und ihrer Bedeutung gegenüber
der bloß psychologischen Auffassung gegründet war, so wird die
Erkenntnis der Tugend, des Guten, zum Unterschiede von dem
bloß Angenehmen (eiepov .... tö f]b\) toö dTa^oö)^ an allgemein-
gültige Ordnungen verwiesen.^ Diese Ordnungen aber sind
nicht etwa bloß seelische Zustände. Es sind Wertordnuogen
und Vorschriften für die Seele, auf Grund deren Befolgung sie
selbst erst gut und recht werden kann. Gerechtigkeit und
Besonnenheit kommt erst in die Seele hinein^, wenn sie nach
jenen höheren Ordnungen strebt und lebt. Was in der Seele
* Gorgias 497 a, vgl. auch 501 b und Phaidros 238 a.
2 Ebenda 504 d: Tai(; bi tfit; \\>v\r\q ToiSeöi re koI Koaia/iaeai v6|ai|növ te
Kai vö|uoq, ööev Kai vömiaoi Y'Tvovrai koI KÖa|.iioi • raOra b' 'Iotx hiKaxoavvr\
xe Kai auuqppoaüvri.
3 A. a. 0., 504 e : biKaioaüvri ]u^v ^v raii; MJuxai«; yiTvitoi . . . Kai
öuuqppoaüvri pAv i'^fifvr]TO.i.
10*
148 6. Kapitel.
auch immer Gutes entstehen mag, daß dieses gut ist und einen
Wert besitzt, das ist gegründet in jenen höheren Ordnungen,
durch die erst «die Tugend eines jeden gerüstet und gefestigt»
wird^ ; und die darum über das bloße Entstehen in der Seele
hinausliegen.
Sehr bedeutsam aber ist es, daß der Begriff der «Ordnung>
nicht nur zur ethischen Wertgrundlage gemacht wird, sondern
auch als das Konstituens der Welt, des Kosmos erkannt wird.
Zwar geschieht das zunächst bloß vergleichsweise, aber dieser
Vergleich ist um so bedeutsamer, als er im Hinblick auf die
Mathematik, insbesondere auf die geometrische Gleichheit voll-
zogen wird. Wie die Seele, so führt Piaton aus, der Ordnung
bedarf, so kann auch das All, der Kosmos (Kai tö öXov toüto ....
k6(T|uov), nur durch Ordnung bestehen. Es ist besonders die
geometrische Gleichheit, die hier soviel bei Göttern und Men-
schen vermag (öti v] laöiri? Y^'^M^fpiKrj xai ev ^eoxq Kai ev dv-
dpujTTOK; juefa bOvaiai).^
Hier ist der Begriff" des Begriff's zu dem der Ordnung ver-
tieft und hat recht eigentlich erst die Bedeutung der Idee er-
langt. Die Ideen sind Ordnungen. Und in dem Begriff der
Ordnung ist das Bleibende in allem Wechsel schon erhebhch
näher bestimmt, als ursprünglich "in der mehr formalen Be-
trachtung des Begriffs als solchen. Allein wenn die Ideen als
bleibende Ordnungen auch Substanz sind, so kann das nicht
heißen, daß sie substantielle Dinge sind. Denn die Ordnungen
der Dinge können nicht wieder Dinge sein. Und weiter: wenn
sich so auch sagen läßt, daß die Ideen Substanz sind, so ist
doch die Idee der Substanz innerhalb der Ideen überhaupt
eben selbst eine Idee. Diese als solche ist aber noch nicht
gewonnen. Bis zu ihrer Ermittelung führt ein weiter Weg.
Er aber geht direkt durch das Erkenntnisproblem hindurch,
ja er nimmt von ihm her seinen Ausgang. Von vornherein —
das war der für unser Problem so bedeutsame logische Er-
trag der Untersuchung schon der ersten Anfänge des Plato-
^ A. a. O., 506 e : xciEei cipa xexaYM^vov Kai KCKOöfiriiLi^vov iar'w x] äpeif]
2 A. a.O. ,508 a.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 149
nischen Denkens — wurde die begriffliche Erkenntnis auf ein
Bleibendes eben im Begriffe gestellt und so allem Wechsel des
Geschehens entrückt, indem es keine besondere Erkenntnis für
vergangenes, gegenwärtiges und künftiges Geschehen und
Werden der Dinge geben sollte, sondern eine und ebendieselbe,
durch die sich, was wird, was werden wird und geworden ist,
in gleicher Weise verstehen lassen muß, weil etwas ja selbst
nur dadurch ein Werdendes ist, weil es wird.^ Die Möglichkeit
der Erkenntnis war somit auf ein Bleibendes im Begriff ver-
wiesen. Für die ethische Form der Erkenntnis als der Selbst-
besonnenheit hat sich das Bleibende im Begriff zu bleibenden
Ordnungen vertieft; weil die Selbstbesonnenheit aber die Grund-
form der Erkenntnis ist, die also immer ethisch tendiert bleibt,
muß der Begriff der bleibenden Ordnung zur letzten Grundlage
der Erkenntnis überhaupt werden. Damit aber kann das Ver-
hältnis des Bleibens und Wechsels nur aus dem Problem der
Erkenntnis selbst ermittelt werden. Das von vornherein invol-
vierte Problem der Erkenntnis der Erkenntnis, d. h. der Erkennt-
nislehre, muß sich nun in die ausdrückliche Frage, was denn
eigentlich Erkenntnis selbst ist^, zuspitzen. Allein die Frage
nach dem Begriff der Erkenntnis kann nicht entschieden werden,
ehe nicht die Paradoxie alles erkennenwollenden Fragens und
Suchens aufgelöst ist. Diese Paradoxie aber liegt darin, daß
man eigentlich gar nicht suchen könne, nämlich weder, was
man weiß, noch, was man nicht weiß; was man weiß deshalb
nicht, weil man es weiß und darum des Suchens nicht bedarf;
was man nicht weiß deshalb nicht, weil man ja nicht weiß,
was man suchen soU.^ Die mathematische Analysis zeigt den
Weg zur Auflösung der Schwierigkeit. Sie lehrt, wie man et-
was suchen kann, gerade ohne daß man es weiß, indem man
sich zuerst überzeugt, daß man etwas nicht weiß, was man zu
^ Siehe oben S. 144 f. und die dort zitierten Stellen aus Ladies 198 d,
199 a und Euthyphron 10 c.
2 Theaitetos 145 e: duiarriuri, öti iroxe TU-fX^vei öv. Vgl. auch hier 146 c.
5 Menon 80 e: ibg oük äpa ^axi Z^rjTeiv dv&pdnruui eure ö olbev, eure 8
\xf\ Olbev. ouxe y<^P TC ö olbe Crixoi ■ (olbe ^dp ■ Kai oüb^v bei xüuiYe xoioüxuui
Zriiriaeujc,) oöxe 8 |ari oibev, oübe y^P olbev ö, xi Z^rjxriaei.
150 n. Kapitel.
wissen glaubte und zu suchen strebte, was man zu wissen
glaubte, ohne es zu wissen, ehe man sich überzeugte, daß man
es nicht wisse und darum in Verlegenheit geriet, und sich da-
nach sehnte, es zu wissen.^ Allein aus dem Problem also wird
hier die Erkenntnis ermittelt, indem einer, ohne daß ein anderer
ihn belehrt, sondern allein dadurch, daß er ihn ausfragt, wissen
wird und er wird die Erkenntnis aus sich selbst hervorgeholt
haben.^ In dem Nicht- Wissenden müssen darum richtige An-
sichten von dem sein, was er nicht wußte^, und deren er sich
nur zu erinnern, die er nur aus sich selbst herauszuholen
brauchte, um sie sich zum Bewußtsein zu bringen, so daß dieses
Aus-sich-selbst-Hervorholen und alles Lernen und Suchen nichts
anderes als ein Sich-Erinnern ist.^ Das Lernen im äußerlichen
Sinne ist damit nun hinsichtlich der Möglichkeit der Erkennt-
nis überhaupt gänzlich überwunden. Das «In-sich-selbst-
Blicken», von dem früher die Rede war, wird jetzt als ein «Aus-
sich-Hervorholen » genau bestimmt. Die Möglichkeit dieser
Selbsterinnerung und dieses «Aus-sich-selbst-Hervorholens» aber
vermag Piaton nicht anders zu erklären als durch eine prä-
existenziale Erkenntnis der Seele und damit durch deren Un-
sterblichkeit.^ Wenn er den Sokrates im Dialog auch ja nicht
eine nähere Bestimmung dieser präexisteuzialen Kenntnisnahme
verfechten lassen will, so läßt er ihn doch für den Kern der
Lehre von der Unsterblichkeit mit Wort und Tat (Kai Xöyuji
Kai epYuui) einstehen.^ Mit dem Unsterblichkeitsgedanken setzt
aber eine doppelte Betrachtungsweise ein, die für das ganze
Platonische Denken bestimmend wird und bleibt, und die für
unser spezielles Problem selbst eine doppelte Tendenz involviert.
Einmal hat der Seelenbegriff eine rein methodologische Bedeu-
1 A. a. O., 84 c.
* Ebenda 85 d: oükoöv oöbevö(; biböEavToc, äW ^pujrrjaavToq, ^iri-
oxriaeTai, dvoXaßüjv amöc, il aöxoö Tiqv imaT^ixr]v.
' Ebenda c: Tilii oiik eiböxi äpa Trepi (Lv ä [xx] eiiir\\ ^veiöiv AXriöeTq
böHai Trepi toOtuuv Ojv oök olbev.
"• Ebenda d: tö hk dva\a|ußdv€iv aOröv ^v auxüji (?iTi(JTri|uiriv, oOic (iva|Lii|u-
vrjöKCiv ^ariv; — ttüvu ye. Vgl. auch 81 d.
6 Ebenda 86a/b: äöävaTo; öv n \\ivxr\ eir]; s. bes. Phaidon 92 d/e.
6 Ebenda c.
Der Subätanzljegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 151
tung und will nichts anderes besagen, als die Einheit der Er-
kenntnis im Bewußtsein, so daß es für diese Erkenntnis keines
besonderen Organes, wie für die Empfindungen bedarf (oiib'
eivai toioOtov ouöev, louToiq öpYOiVov i'biov ujCTtep eKeivoiq)^, auf
der anderen Seite ist sie ein unsterbhches Wesen, das vor dem
Eintritt in den Leib (das Wann und Wie bleibt dahingestellt)
die Ideen geschaut. Das dvaXajußdveiv, das Aus-sich-Hervor-
holen, hat darum selbst das eine Mal eine rein methodologische,
das andere Mal eine, weil auf die metaphysische Präexistenz
zurückweisende, selbst metaphysische Bedeutung. Dem ent-
spricht genau eine doppelte Bedeutung auch der Ideen. Das
eine Mal sind sie Ordnungen im methodologischen Sinne, das
andere Mal wirkliche Ordnungen im metaphysischen Sinne.
Das ist der von Piaton bereits im Menon erreichte und im
Prinzip nie wieder verlassene, später nur vertiefte und erweiterte
Standpunkt, den er auch da innehat, wo er die methodologische
Bedeutung schärfer hervorzukehren Gelegenheit hat. Und als
der tiefste und eigentlichste Sinn des Platonischen Denkens
enthüllt sich mehr und mehr die Überzeugung, daß die metho-
dologische Bedeutung der Ideen selbst nur möglich ist auf
Grund ihrer metaphysischen, in der sie, den ewig bleibenden
und, um ein modernes Wort von Otto Liebmann auf sie anzu-
wenden, «weltbeherrschenden, weltumfassenden ordo ordinans»^
darstellen: die absolute Weltsubstanz. Insofern aber, wie schon
angedeutet, die Substanz, die ouaia, selbst eine Idee ist, muß
sich mit ihr zugleich der Begriff der Idee selbst, das bleibende
Sein selbst enthüllen.
Nur auf Grund eines bleibenden Seins ist die Erkenntnis
selbst möglich. Nicht nur das Aus-sich-selbst-Hervorholen-
Können der Erkenntnis setzt dieses bleibende Sein metaphysisch
voraus, sondern dieses ist auch die logische Voraussetzimg der
Erkenntnis überhaupt. Nur auf den Wechsel verwiesen wäre
1 Theaitetos 185 e; vgl. Natorp, a. a. 0., S. 109 f., wo freilich das metho-
dologische Moment ausschließlich betont wird.
'^ Otto Liebmann, Gedanken und Tatsachen, I, S. 172; vgl. auch den
Abschnitt «Piatonismus und Darwinismus» in der «Analysis der Wirklich-
keit», S. 317tf.
152 0. Kapitel.
alle Erkenntnis unmöglich. Das Verhältnis des Beharrens
zum Wechsel verschlingt sich geradezu zura Problem der Er-
kenntnis. Der Wechsel und das Geschehen soll nicht geleugnet
werden, aber wären wir auf ihn allein gestellt, so gäbe es nicht
etwas in sich Eines und an und für sich Bestehendes, sondern
immer nur Etwas für Etwas, wodurch aber alles Sein ausge-
stoßen wäre.^ Wir wären auf die Empfindung verwiesen. Er-
kenntnis müßte Empfindung sein, ja alles Sein müßte sich in
Empfindung auflösen. Weil aber die Empfindung als solche
ohne ein bleibendes Sein nie selbst zum Sein gelangte, wäre
die Empfindung weder überhaupt, noch auch wäre sie Erkenntnis.
Piaton stellt hier Heraklit und Protagoras in eine sehr be-
denkliche Nähe. Er übersieht, daß Heraklit im XÖYog, nicht
in der ai(J&n<7i? <^ie Erkenntnis verbürgt hielt, wie nahe er also
seinem eigenen Denken steht. Immerhin aber greift er das
Heraklitische Problem auf, aber freilich in einer Form, die
Protagoras diesem nach Piatons Darstellung erst gegeben, also
in der Form des Relativismus. Für Herakht hatte das Ge-
schehen selbst aber ein vom Xöyo<; bestimmtes Sein. Erst Pro-
tagoras, das ist dessen eigene, nicht Heraklits philosophische
Art, «reißt das Sein heraus» aus dem Geschehen, und damit
stößt er seinen eigenen Standpunkt um. Das ist es, was Piaton
erhärten muß, daß man ohne ein Sein auch von keinem Ge-
schehen sprechen könne, daß es ohne ein Beharrliches auch
keinen Wechsel geben könne, der sich irgendwie in der Er-
kenntnis fassen ließe.
Denn wenn nichts beharrt, dann könnten wir zunächst gar
nicht von diesem oder jenem sprechen, sondern nur immer von
einer Wirkung auf uns, wie wir es empfinden. Ein mit sich
selbst Identisches, an und für sich Eines gäbe es nicht, sondern
immer nur ein Etwas-für-Et was- Werden. Man könnte nicht
sagen, daß etwas sich so verhalte (outuu exeiv), sondern immer
nur, daß es so werde (outuu YiTved&ai). ^ Aber dieses So- Werden
wäre selbst kein Werden an sich, sondern nur ein Erscheinen
* Theait. 157a/b: oOb^v elvai gv aÜTÖ, koö' oütö, ö.X\d rivi äei '[\yvea-
Oai, TÖ b' eTvai uavraxödev d^aipex^ov.
2 A. a. 0., 153 a.
Der Substanzhegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 153
vermittels der Empfindung. Dieses «Erscheint» wäre ein bloßes
«Empfundenwerden j'.^ Alles Werden ohne ein Sein wäre in ein
Empfundenwerden aufgelöst. Dann aber wäre in der Tat der
Mensch das Maß aller Dinge. ^ Immer aber hätte dann der
Relativismus, je radikaler er wäre, desto mehr noch zu viel
Bleibendes behauptet, da einer, der in seiner Rede überhaupt
etwas Beharrliches setzt, leicht überführt werden kann, wie wenn
man etwa sowohl vom Teil, als auch von dem aus vielem Zu-
sammengesetzten reden muß, durch welches Zusammenfassen
man etwas Mensch oder Stein oder jegliches einzelne Lebe-
wesen und seine Gattung nennt.^ Also wäre hier selbst schon
etwas Bleibendes durch ein Zusammenfassen gewonnen und
vorausgesetzt. So sehr es sich hier auch explizite nur um eine
Widerlegung des Relativismus handelt, so ist es doch von der
allergrößten Bedeutung, daß wenigstens implizite hier schon in
diesem «Zusammenfassen» die idEig im Gorgias jetzt an eine
Ordnung des Zusammenfassens antizipierend ankhngt. Und
wenn das auch zunächst nur eine Antizipation ist, so liegen
in dem Gedanken doch auch schon sowohl die formalen, wie
die materialen Widersprüche und Unmöglichkeiten, an denen
aller Relativismus krankt, angedeutet. Und indem Piaton sie
nun ausdrücklich aufdeckt, widerlegt er im Prinzip allen und
jeden Relativismus, wie verschieden er sich auch im Ein-
zelnen gerieren mag.
Formal macht Piaton gegen den Relativismus geltend, was
seitdem in jeder Auseinandersetzung mit dem Relativismus aus-
geführt worden ist, und was mit bleibendem Rechte immerdar
gegen diesen auszuführen ist: «Wenn die Wahrheit des Pro-
tagoras (gemeint ist zunächst des Protagoras Schrift) selbst
wahr ist»*, so bemerkt Piaton, dann haben alle Meinungen
* Ebenda 152 c: Tö bl ^e q)aiveTai aia9dvea9ai iaxiv.
» Ebenda 152 a.
^ Ebenda 157 b: tlji; i.dv iiq a-rriörii tüöi Xöyuji, eu^XeYKTOi;, ö toioOto
iroiiijv. bei bi koi Kard tö in^poq oütuu \iye.iv icai irepi uoXXtüv ddpoiaö^vTuuv,
ODi bf] ccdpoiönaTi ävapoiTTOv xe TiöevToi Kai Xidov Kai ^Kaarov ZdJov tc
Kai eiboq.
* Theait. 161 e.
154 G. Kapitel.
gleich recht und sind gleich wert. Darum aber «muß er auch
zugeben, daß die Meinung derjenigen, die seiner eigenen ent-
gegengesetzt ist und diese seine eigene für falsch hält, selbst
richtig ist». Darin aber hegt zugleich das Zugeständnis, daß
die relativistische Ansicht selbst falsch ist (oukouv thv auioO
äv vpeubfj cruYXuupoi).^ In der Tat, wenn wir auf die Empfin-
dung verwiesen bleiben, wie der Relativismus will, so sind alle
auf der Empfindung basierten Meinungen gleich wert. Jede ist
so richtig wie ihr kontradiktorischer Gegensatz, und darum
ist sowohl jede wahr und ihr Gegensatz falsch, aber weil dieser
doch auch eine Meinung und als solche wahr ist, so ist sein
erster Gegensatz auch falsch. Und so ist jede Meinung sowohl
wahr wie falsch. Darum aber stößt der Relativismus nicht
nur alle ihm entgegengesetzten Meinungen um, sondern, weil
er diese doch auch wieder als gültig anerkennen muß, «er
selbst auch sich selbst» (dvaipeTriJUV Kai ambc, auTov).^ Damit hat
er sich selbst aufgehoben.
So bedeutsam diese formale Widerlegung ist, noch bedeut-
samer sowohl unter allgemein systematischem Gesichtspunkte,
wie für unseren speziellen Zusammenhang ist die inhaltliche
Widerlegung.
In seiner ganzen Strenge genommen erkennt der Rela-
tivismus, wie schon bemerkt, «nicht ein Einheithches an und
für sich Sein» (ev [ir]hev Kaö' auTÖ eivai) an und kann keines
anerkennen, da ja in der Empfindung nichts bleibt (fievei), son-
dern alles fließt und wechselt (peei — ^eraßdXXei). ^ Darum aber
darf er streng genommen nun auch gar nicht mehr sagen, nicht
bloß, daß etwas sich so verhalte, sondern jetzt auch nicht ein-
mal, daß es so werde. Denn gibt es kein einheitliches Sein,
so gibt es auch keine einheitliche Bestimmtheit (TToiOTri?)* in
sich. Man kann also auch die Empfindung nicht einmal be-
stimmen, denn das hieße ja sagen, was sie ist. «Man darf also
nicht mit größerem Rechte etwas ein Sehen nennen als ein
* Ebenda 171 a/b.
2 Euthydem 286 c.
» Theait. 18^ b.
* Ebenda 181 a.
Der Substanzbegriff' innerhalb des Systems des Idealismus. 155
Nicht-Sehen, und ebenso mit jeder Empfindung sonst, da ja
alles auf alle Weise sich bewegt.»^ Wenn darum alle Erkenntnis
in der Empfindung beschlossen wäre, so wäre auch die Er-
kenntnis etwas, das nicht mehr und nicht eigentlicher Erkenntnis
wäre als Nicht Erkenntnis.^ Übel wäre es daher um unsere
Erkenntnis bestellt, wenn die Mannigfaltigkeit der Empfindungen
in uns, wie in hölzernen Pferden, nur nebeneinander läge
und sich nicht in eine einheitliche Idee zusammenfügte, mag
man es nun Seele oder sonstwie nennen, womit wir auch
unsere Organe selbst erst wahrnehmen können und das Wahr-
nehmbare überhaupt.^
Wie sehr sieh also auch immer der Relativismus auf das Emp-
finden und Werden, das ja selbst im Empfundenwerden be-
schlossen sein müßte, zu beschränken suchen mag, wenn er
auch nur von Empfundenwerden redet, so setzt er eine bleibende
Bestimmtheit voraus, ohne die er ja nicht einmal das Emp-
fundenwerden als Empfundenwerden bestimmen könnte. Mag
er also auch immerhin sagen, es sei alles so, wie es mir oder
dir erscheinf^, so üegt in diesem «so» eine Bestimmtheit, eine
TTOioTri? ausgedrückt, ohne die die Empfindung nicht einmal
zum Sein der Empfindung, zum Empfindung-Sein gelangt. Für
sich allein genommen ist sie, darin hat der Relativismus durch-
aus recht, unfähig, zum Sein zu gelangen, wie sie ja nicht fähig
ist, zur Wahrheit zu gelangen, eben weil sie nicht einmal zum
Sein gelangt.^ Indem sie aber auch nur als Empfindung an-
gesehen wird, verweist uns die Empfindung selbst an eine
höhere Instanz, von der aus wir sie aber als Empfindung be-
urteilen (xpiveiv) können. Je konsequenter der Relativismus
* Ebenda 182 e : oöxe äpa 6päv irpocJpriT^ov ti iiiäWov f\ \xf\ 6päv, oöxe
Tiv' äWriv aiGöriöiv f] \xr\, -rrdvTUüv ye irdvTuu^ Kivou|aevuuv.
- Ebenda: oubdv äpa ^-rriOTniativ fiiäXXov f; uq ^TTiöTriiuriv.
' Ebenda 184d: Aeivöv fäp ttoö (d) irai), €i iroWai xiveq ^v f][x\v üja-rrep
dv bupeioK; iiTTroii;, aiaör|öei? ^Yt^äörivTai, äk\a nr\ ei? iiilav ibiav, eire H/uxnv
eire öti bei Ka\eiv, irdvTa xaOxa Suvteivei, ni bid toütujv oTov öpYÖvuuv
aiööavöiaeöa öaa aiaörjTd.
* Theait. 152 a und in fast wörtlicher Übereinstimmung Kratylos 386 a.
* Theait. 186c: ouk . . . . oiöv xe ouv dXti^ctai; xux^iv, dJi ^r\bi oOaia?.
156 (j. Kapitel.
verfährt, um so schärfer läßt er das selbst hervortreten und
um so konsequenter muß er sich selbst aufheben. Gerade bei
seiner Leugnung des identischen in sich einheitlichen und blei-
benden Seins muß er auch die Verschiedenheit der Sinnes-
empfindungen behaupten, z. B. «daß es unmöglich ist, das,
was man durch ein Sinnesvermögen wahrnimmt, auch durch
ein anderes wahrzunehmen, also das, was man durch das
Gehör, nicht durch das Gesicht, und was durch das Gesicht,
nicht durch das Gehör ».^ Damit urteilen wir aber schon über
die Sinnesorgane selbst, wir denken über sie und etwas von
ihnen; können dieses also weder durch das eine noch durch
das andere empfunden haben^; wie wenn wir denken eben,
daß beide sind^, oder daß jedes von beiden vom anderen
verschieden, aber gerade darum auch mit sich selbst dasselbe,
also identisch mit sich ist*; oder daß sie beide eben zwei sind,
jedes von ihnen aber eines^; oder ob sie einander ähnhch oder
unähnlich sind.^ Kurz, wenn man auch nur rücksichtlich der
Empfindungen von Sein und Nicht-Sein, von ÄhnUchkeit und
Unähnliehkeit, von Identität und Verschiedenheit, von Einheit
oder einer anderen Zahlenmäßigkeit spricht', so sind das Be-
stimmungen, die nicht etwa selbst empfunden, sondern gedacht
werden, die also über die Sphäre der' bloßen Empfindung hinaus-
liegen, und für die es nicht, wie für die Empfindungen selbst
wieder, ein besonderes Organ gibt^, sondern die die Seele durch
* A. a. 0., 185 a: ä bC iTi.pa<; öuvclfieuj? aiaödvci, dbOvarov eTvai bi' aX\r\c,
toOt' aJöö^adm, oTov ä bi' dKorjc;, bi' övijeuji;, f) ü bi' ö^jeuuc, bi' äKof)?. — Die
spezifische Energie der Sinnesorgane ist hier deuthch ausgesprochen.
^ Ebenda: ei ti irepi d|nqpoT^piJUv biavoei, oük ölv y6 toO dr^pou öpYctvou,
oüb' au biä ToO ^T^pou Tcepi äjucpoT^piuv aiöddvoi äv.
' Ebenda: öti duqpoT^puu daröv.
* Ebenda: öti ^KÖTepov ^Kor^pou |li^v ^repov ^auTiui bi raÜTÖv.
^ Ebenda: öti diaqpoT^puu büo, ^KcxTepov bk '4v.
^ Ebenda: eiTe dvoinoluj e'iTe 6|lioiuj dWi'iXoi?.
^ A.a.O., 185 c/d: oöafav \lfe\<; Kai tö |uiri eivat, Kai 6|noiÖT)iTa Kai
övo|ioiÖTriTa, koI toötöv tc Kai tö ^Tepov, ?ti bi ?v te Kai töv äWov dpiöjuöv
Trepi uOtiIiv.
8 Ebenda e: odb' eTvai toioötov obbiv toütok; öpYotvov ibiov löairep
dK€lvoi(;, vgl. dazu oben S. 151.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 157
sich erkennt.^ Die Härte des Harten und die Weichheit des
Weichen empfindet man freihch nur durch das Getast. Allein
das Sein von beiden, und was sie sind, und ihre Gegensetzung
gegeneinander, sowie das Sein dieser Entgegensetzung, ver-
sucht die Seele selbst durch Betrachtung und Vergleichung
zu beurteilen.^ Und eben dadurch gelangen die Empfindungen
selbst erst zur Bestimmtheit, zur TTOioxriq und zum Sein.
Der ewige Wechsel und Wandel der Empfindung ist dem
Relativismus also ohne weiteres einzuräumen. Aber je kon-
sequenter er ihn festhält und zum Ausdruck bringt, um so
schärfer führt er sofort über sich selbst hinaus. Die Empfin-
dung kann auch nicht einmal als Empfindung gefaßt werden,
ohne daß von ihr eine TTOioTri«; gedacht wird. Sie kann nicht
auch nur als Empfindung gedacht werden, ohne im Denken
beurteilt zu werden. Ihre Bestimmtheit als Empfindung wird
also erreicht allein durch das Denken, und zwar kraft gewisser
Grundlagen des Denkens, wie Sein, Identität, Verschiedenheit,
Zahlenmäßigkeit, die also die allgemeinsten Grundlagen der
Wiebeschaff'enheit auch schon der Empfindung sind, insofern
doch das Empfindung-Sein selbst schon eine Wiebeschaffen-
heit ist.
Der Relativismus bewegt sich also nicht bloß in formaler
Hinsicht, sondern auch in materialer im Zirkel, und gerade er
macht es, je strenger er genommen wird, klar, daß die Dinge
an und für sich ein eigenes Wesen ihrer selbst haben und
nicht nur in Beziehung auf uns sind und nach unserer sub-
jektiven Vorstellung hin und her gezogen werden, sondern daß
sie für sich sind zufolge des Wesens ihrer selbst.^ Keine Er-
* Ebenda: aurri bi' aütfii; f\ \\ivxr] dTnaKoireiv; vgl. dazu auch 186a, wo
Sein, Identität und Verschiedenheit etc. als die von der Seele allein durch sich
selbst aufgesuchten Bestimmungen noch einmal ausdrüclinch bezeichnet werden.
^ A.a.O., 186b: toö [xiv OKXrjpoO Tf\v 0K\r\p6Tr\Ta biet Tfji; ^iraqpfi;
madnöeTai, Kai toö |Lia\aKoO xnv luaXaKÖxriTa dicraÜTLUi; . . . rriv bi fe oOöiav
Kai ÖTi daröv Kai vqv ^vavxiörriTa irpöi; d\\n\uu Kai xnv ouaiav au Tr\c, dvxiö-
xrixoi; avTY] r\ njuxn ^Travioüaa Kai cru|ißd\Xouaa "npöq ix\\r\Xa Kpiveiv -rreipä-
xai rjl^iv.
3 Kratylos, 386 e: hr\\ov hr\ öxi aijxä aiixOüv oOaiav ^xovtd tivo
ß^ßaiöv ian xä TrpdYliaxa, ou -apöc; ^\xd.<; ovhi Oqp' riuiliv, 4\KÖ|aeva ävuj Kai
158 6. Kai)itel.
kenntnis, auch die armselige des Relativismus nicht, kann er-
kennen was sie erkennt, wenn es sich nicht objektiv irgendwie
verhält^, wenn die Dinge nicht zufolge eines objektiven Seins,
d. i. < eines Wesens ihrer selbst» bestimmt werden, das also
die Grundlage ihres Wiebeschaffen seins, ihrer TT0i6Tri(g ausmacht.
Dadurch allein wird nun auch ein bestimmter Gegenstand
der Erkenntnis erst möglich, und von solchen Grundlagen der
Bestimmtheit überhaupt kann auch die Empfindung selbst erst
vergegenständlicht werden. «Wenn es bloß einen Wechsel und
kein Beharrliches in allem Wechsel gäbe, ließe sich auch nicht
sagen, daß es überhaupt eine Erkenntnis gäbe. Denn wenn
auch nur dieses selbst, die Erkenntnis von dem Erkenntnis-
Sein nicht abweicht, so bliebe sie doch immer Erkenntnis, und
es gäbe eine Erkenntnis. Wenn aber auch einmal die Idee
der Erkenntnis wechselte, so verwandelte sie sich in eine andere
Idee als die der Erkenntnis, und es gäbe keine Erkenntnis,
Verwandelte sie sich aber immer, so gäbe es auch immer keine
Erkenntnis und folglich auch kein erkennendes Subjekt und
keinen zu erkennenden Gegenstand der Erkenntnis» (oiiTe tö
YVUücr6)Lievov oute tö YVUDOöriCTOjLievov).^
So führt die materiale Widerlegung des Relativismus po-
sitiv und unmittelbar vom Problem der Erkenntnis selbst her
zu der grundlegenden und unaufgebbar bleibenden Einsicht,
daß, wie immer man sich wende, in der Idee der Erkenntnis
selbst sich ein bleibendes Sein, eine ouaia über allem Wechsel
erschließt. Denn zunächst setzt jede Erkenntnis, auch die des
Relativismus eine bleibende Wiebeschaffenheit, eine Bestimmt-
heit überhaupt, TTOiÖTn?, voraus, die allein auf der stets wech-
selnden Empfindung nicht gegründet werden kann, weil sie
vielmehr selbst schon Grundlage auch der wechselnden Emp-
findungsbestimmtheit ist, und weil wir auch die Empfindung
erst nach ihr prüfen und beurteilen (xpiveiv) können, so daß die
kcItu» tOüi #i|Li€T^puui qpavTotaiaaTi, AWd koö' outö irpö^ t^v «lirüiv ouöiav ^xo^xa
finrep udqpuKCv.
' A. a. 0., 44 a: ■fviwöi? i>^ brjuou oubefxfa yiT^iüökei ö Y»Tvii^öKei ^ti-
baiuOü? 2xov.
2 Ebenda a/b.
Der Subslanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 159
«mannigfaltige Vielheit der Empfindungen» erst durch Beziehung
zur «Einheit der Idee>^ zur Erkenntnis werden können. Jene
bleibende Bestimmtheit kann darum allein durch das prüfende
Denken ermittelt werden, und sie bedarf selbst bleibender
Grundlagen, von denen aus eben alle Erkenntnis ein Wie-
beschaflfenes, etwas, «das sich irgendwie verhält», zu erkennen
vermag, die aber selbst kein bestimmter Gegenstand der Er-
kenntnis sein können, eben weil sie die Bestimmtheit überhaupt
und damit erst den bestimmten Gegenstand ermöglichen, wie
das die Idee des Seins überhaupt, der Identität, der Verschieden-
heit, der Gleichheit, der Einheit, der Zahl usw. tun. Wir
haben also genau zu unterscheiden zwischen dem bestimmten
Gegenstand, der Bestimmtheit überhaupt und den Grundlagen
dieser Bestimmtheit ; diese Grundlagen sind es in letzter Linie,
die die oucria der Dinge bleibend bestimmen und in allem
Wechsel beharren. Besonders verdichtet sich nun in den Ideen
des Seins, der Identität und der Verschiedenheit, selbst das
Problem des in allem Wechsel Beharrlichen.
4. Dem, was wir «jetzt nur so wirklich nennen», tritt ein
wahres Sein, ein öviiuq öv, gegenüber, die oiKjia schlechthin.
Es ist das über aller Empfindungsinhaltlichkeit und deren
Wechsel hinausliegende also «farblose, gestaltlose, untastbare
Wesen der Dinge, das an und für sich wahrhaft ist, und das
nur der Seele Führer, die Vernunft, zum Beschauer hat».' Ihr
Wissen ist «nicht die Wissenschaft, der eine Entstehung zu-
fällt und die eine andere ist für jedes andere der von uns so
genannten Wirklichkeit, sondern an sich wahrhaft seiende
Wissenschaft von dem, was wahrhaft ist»^; in der die Seele eben
das wahrhaft Seiende erblickt (öeacrainevri xd övxa övtuu^).*
ouaia und tö övtuj«; öv sind dasselbe. Damit ist zunächst der
1 Theaitetos, 184 d, vgl. oben S. 1.54.
2 Phaidros, 247 e: r\ ^ap dxpüj|aaTÖ<; re Kai &(Jx'1l^ctT0(; Kai d.vacpf]c, o^aia
ßvTuu? oucra vjjuxnc; Kußepvrjrrii [uöviui Oeaxri vüji.
3 Ebenda e: diriarrmriv, oiix ni t^vcök; irpöaeaTiv, oub' fi ioTX tiou ^x^pa
^v ^T^puji ouaa iLv ri|uei<; vOv övxiuv KaXoOjuev, dtWd rqy iv tüji ö daxi öv
övTüx; diriOTriiariv ouaav.
* Ebenda.
160 6. Kapitel.
Begrifif des allem Wechsel und allem Entstehen gegenüber ewigen
und wahren Seins erreicht. Allein schon der konsequent zu Ende
gedachte Relativismus hat gezeigt, daß das reine Sein, die reine
Gucria in der Identität, Verschiedenheit, Einheit, Vielheit Spezi-
fikationen habe. Sie alle bezeichnen ein dboc, des reinen Seins.
Sie gehören also der Sphäre des reinen Seins als besondere
farblose, stofiflose, gestaltlose, w^ahrhaft seiende Formen des
reinen Seins an. Die oucria bezeichnet das reine Sein schlechthin
und überhaupt. Sie istKadapd ouaia.^ Und dieses reine Sein spezi-
fiziert sich in die schlechthin seienden Formen des reinen Seins
schlechthin. Und nur auf Grund des dboq ist die Erkenntnis
möglich, gelangt auch erst die für sich selbst nicht zum
Sein gelangende Wahrnehmung zum Sein. Das Sein liegt nicht
in der Empfindung und ist von der Empfindung aus nicht zu
erreichen, und dennoch, das ist das dialektische Moment der
Platonischen Gedankenentwickelung, setzt es die Empfindung
schon voraus, um selbst auch nur Empfindung sein zu können.
Und gerade weil die Empfindung schon das Sein voraussetzt,
ebendarum kann das Sein nicht in der Empfindung und im
bloßen Empfunden-Sein beschlossen liegen, weil das, was etwas
voraussetzt, und das, was von diesem vorausgesetzt wird, nicht
zusammenfallen können. Ebendarum kann die Erkenntnis
nicht in der Empfindung beschlossen bleiben. Erst die «Zu-
sammenfassung der Empfindungen durch den Verstand nach
einem eiboq» macht die Erkenntnis aus: «Man muß nach der
Idee Ausgedrücktes begreifen, die als Eines hervorgeht aus der
Zusammenfassung der Empfindungen durch den Verstand.
Und das ist die Erinnerung von jenem, was einst unsere Seele
geschaut, Gott nach wandelnd und das überblickend, was wir
nun für seiend halten und aufblickend zu dem wahrhaft
Seienden.»^ In diesen Sätzen liegen drei schwerwiegende Be-
* Politeia 585 b, vgl. auch Phaidon, 79 d.
* A.a.O., 249b/c: Suvi^vai kot' elboc, Xvfö^evov, Ik ttoXXüjv löv aia-
örjoeujv ei^ tv Xoyiö|liü)1 Euvaipouia^voiv. touto b'döTiv ävc/.f.ivriai<; dxeWujv,
ä itot' eibev t)|liii)v f\ vpuxn aujinTopeuöeiaa Oeiüi Kai Oirepiboüaa ä vOv eivai
cpa^6v, Ktti ävaKOi|JaoOai dq tö övtuj; öv.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 161
deutuDgen, die wir genau voueinandei" zu unterscheiden haben. ^
Zunächst bemerkt man, daß die spätere Aristotelische Unter-
scheidung zwisclien dem -rrpoTepov ■npbq r\}iä<; und dem irpotepov
Tfii qpücrei hier ihren historischen Ursprung hat. Eine Unter-
scheidung, der auch in der weiteren gedankhchen Entwicklung
von Piaton noch so sehr vorgearbeitet wird, daß alle ihre lo-
gischen Keime bei Piaton zu suchen sind. Was aber das ganz
besonders Bedeutsame ist, das ist der Umstand, daß bereits
hier die verschiedenen Impulse, die innerhalb der allgemeinen
Unterscheidung ausschlaggebend werden, mit voller Deutlichkeit
zutage treten, so daß sich eben drei Unterscheidungsmomente
ergeben. Zunächst wird der Unterschied des bloß psychologisch -
faktischen und des logischen Momentes vollkommen deutlich.
Einerseits soll die Idee nur aus der Zusammenfassung des Em-
pfindungsmaterials hervorgehen. Sie wäre dann also bloß ab-
strahiert. Das aber ist die bloß gedachte Idee. Denn das
Zusammenfassen der Empfindung soll ja selbst schon nach
einem elboq (Huvievai kot' eiboc; XeYoinevov) Ausgedrücktes begreifen.
Danach muß also das Zusammenfassen selbst schon die Grund-
lage des aus der Mannigfaltigkeit der Empfindungen durch
Zusammenfassung hervorgehenden Einen (ek ttoXXujv iöv aiff^rj-
creuuv ei^ ev XoyictiliOui 5uvaipou)Lievujv) sein. Das ist das eibo<;
als övTuuq öv. Dies ist also auf der anderen Seite bereits für
die Zusammenfassung notwendige Voraussetzung. Diese Vor-
aussetzung wiederum ist auf der einen Seite rein logisch, in-
sofern die Zusammenfassung ihr selbst schon gemäß sein muß.
Auf der anderen Seite endlich, das ist das dritte Moment, ist
sie metaphysisch, insofern die logische Grundlage nur durch
dvd|uvricri<; selbst wieder ins psychologische Bewußtsein treten
kann. Weil die Seele das wahrhaft Seiende geschaut, eben-
darum kann sie zu ihm aufblickend die Mannigfaltigkeit der
Empfindungen überblicken und nach dem e?bo<; vermitteis dieses
Aufblickes im Überblick sie gestalten. Dieses Schauen läßt
sich freilich selbst nur «etwas dichterisch in Worten» (toi<;
* Zugleich wird hier der Fortschritt über die früher erreichte Position
deutlich, soweit diese bereits ein «Zusammenfassen» kannte.
Bauch, Das Substanzproblem. 11
162 6. Kapitel.
dv6}xao\ .... noir|TiKoi(; xiaiv)^ darstellen, wie auch die Darstellung
des epuj?, der die Seele ergreift und in der sinnliehen Existenz
selbst wieder zur Hinwendung an die Idee führt, nur dichte-
risch ausführbar ist.^ Diese Darstellungsform ist der Mythos.
Aber der Mythos hat doch einen Wahrheitsgehalt, und der ist
und bleibt das reine Sein; und das Wissen vom reinen Sein
besitzt allein die Seele aus sich selbst zum Unterschiede von
aller Sinnenkenntnis, die bloß die Erfahrung gibt.^ Das reine
Sein ist zugleich das göttliche Sein (ttpÖ(; oiGnep ^ebq uiv).^
Was mit dem «öeoc;» gemeint ist, kann freilich erst aus der
Weiterentwickelung der Lehre klar werden. Daß Gott für
Piaton kein besonderer Geist, d. h. kein persönliches Ding oder
Wesen ist, daran kann von vornherein kein Zweifel sein.
Zunächst schimmert hier nur der ursprüngliche ethische Impuls
seines Philosophierens durch seine Erkenntnislehre abermals
hindurch, um die Kontinuität seines Denkens gleich wieder
ins rechte Licht zu setzen. Diese Stetigkeit und kontinuierlich
logische Entwickelung zeigt ein einfacher Rückblick, der uns
zugleich mit einem einzigen Schlaglichte den jetzigen Stand
unseres Problems erhellen kann: Das Bleibende wurde zu-
erst nach dem Vorgang des Sokrates im Begriffe er-
reicht, der sich für das sittlich.e Gebiet zur Idee als blei-
' A. a. 0., '■207 a und Symp. 202 e.
* Das ävaXttfaßäveiv, das sich metaphysisch zum dvamiuviTOKeiv präzisierte,
wrd nun der hloßen Erfahrunti; (^(.i-rreipia) nusdrückhch entgegengesetzt; und
zwar geschieht das im Beyriff der rexvri (Phaidr. 270 h). Damit mußte aber
der Begriff der rexvri, der ursprünglich gerade im Sinne des bloß Technischen
der vernünftigen Selbstbesonnenheit der Seele entgegengesetzt worden, zu dieser
selbst und zum Begriffe der r4.\vY\ des Xö^ou? bibövai vertieft werden, ver-
mittels deren die Seele nun selbst die oöaia muß aufzeigen können (ebenda e:
?)f|\ov ujc, äv Tiln Tiq T^x^ili XÖYOU(; bibiui, t^v oüaiav beiEei «Kpißüjc; Tfi<;
(pvaevjc, TOÜTOU, Trpö^ ö tovc, Xöyou^ irpcöoiöei ■ eorai bi itou ^)vxr\ toOto).
Das ist freilich eine besondere Art der t^x^I' (1'e mit dem bloß Technischen
nichts mehr zu tun hat. Vielmehr wird in ihr der für Piaton höchste Sinn
liier Kunst und alles Könnens erreicht, nämlich die Methode des Philosophierens
selbst, die Dialektik, die biaXcKTiKfi re'xvri (ebenda 27fi e). Über die ersten
Ansätze der Unterscheidung von funeipia und Xöfoc; sehe man auch schon
Gorgias 462 — 465; vgl. dazu auch Xatorp, a. a. 0., S. 45.
■' Phaidr. 249 c.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 1(53
bender Ordnung (idHi^) vertiefte. Dabei war zunächst
nur im Bilde angedeutet worden, daß die Ordnung
auch den Kosmos bestimme. Was sich anfänglich
aber nur als Bild ankündigte, das begann sich, frei-
lich nicht in plump durchsichtiger Weise, sondern in
der ganzen Feinheit, Großartigkeit und Tiefe des Pla-
tonischen Denkens, bald zu sicherer Erkenntnis zu ver-
festigen durch das Problem der Erkenntnis selbst. Denn
wenn aus diesem Probleme ermittelt wird, daß nicht
in der Empfindung, sondern allein vermöge gewisser
bleibender Bedingungen der Wiebeschaffenheit (TToioTiig)
und durch eine ihnen gemäße Beurteilung (Kpiveiv) die
Empfindung selbst eben als Empfindung erst be-
stimmt und ein Subjekt und ein Objekt der Erkennt-
nis (YVuuaö|Li€Vov — YVUj(T9ri(JÖ|Lievov) möglich werde, in-
dem sich erst so ein bleibendes Wesen der Dinge selbst
(auxd auTÜuv ouaiav ^x^vid xiva ßeßaiov eaii xd rrpdYlLiaxa)
ergibt, so wird die oiicria selbst zur höchsten bleibenden
Grundlage der Dinge, weil zur Möglichkeit der Dinge
selbst, indem eben die ouoia, das övxuuc; 6v, selbst das
eiboq des Zusammenfassens, also Prinzip der Einheits-
ordnung der Empfindungen selber ist. Nicht dem
Worte, aber doch der Sache nach, bleibt der Begriff
der Ordnung in Kraft.^ Und insofern der ouaia, dem
övxu)? öv, alles Dasein auf diese Weise überantwortet
wird, ist es in der Tat Einheitsordnung auch des Kos-
mischen. Und in dieser überkosmischen, überempi-
rischen Bedeutung darf es selbst als göttliches Sein
wohl angesprochen werden. Ein Anspruch, der frei-
lich noch des genaueren erhärtet werden muß durch
die bisher noch nicht klar entwickelte Weise seiner
grundlegenden Bedeutung für die Dinge, deren Ord-
nung es ist.
' Er wird aber auch nicht einmal dem Namen nach aufgegeben; vgl.
bes. Pohteia 587, Politikos 273 a, Phileb. !2ü b, Tim. 39 a, wo er überall .sogar
in vertieftem Sinne wiederkehrt. Im Einzelnen werden dies die folgenden
Untersuchungen zeigen.
11*
Iö4 6. Kapitel.
5. Durch den Begriff der Erkenntnis werden wir zunächst
zu einem sclu'offeu Duahsmus von «Wesen und Werden», wie
Windelband die Antithese treffend bezeichnet^ geführt. Es gilt,
diesen Dualismus nicht zu ver^nsehen und zu vertuschen, um
zu verstehen, inwieweit Piaton einerseits selbst über ihn hinaus-
zuführen und zu einer Einheit der antithetischen Glieder zu
gelangen vermag, inwieweit er aber andererseits hinter dem
Ziele der Einheit beider Glieder zurückbleibt. Will man Piaton
wirklich historisch gerecht werden, so darf man weder, wie
Aristoteles, seine Tendenz zur Einheit, wie deren Realisierung
verkennen., noch diese beide überschätzen und einen an sicli
freihch sehr wünschenswerten, von Piaton aber nicht restlos
geleisteten Ausgleich gewaltsam konstruieren.
Zwei Gattungen des Seins (bOo eibrf — biTid eibrj^) ent-
hüllen sich im Problem der Erkenntnis: das Sein der Sicht-
barkeit und sinnlichen Gestaltung auf der einen Seite, und das
Sein der gestaltlosen Denkbarkeit, das reine Sein, die Kadapa
ouoia'^ auf der anderen. Das Eine ergreifen wir durch die
Sinnlichkeit^, das andere durch reines Denken allein, nicht durch
die Sinne. "^ Diese freilich liefern uns immer die äußere Ver-
anlassung, uns auf das reine Sein zu besinnen. An den gleichen
Dingen, aus deren Sehen und Tasten besinnen wir uns auf das
Gleiche selbst.' Dieses Gleiche selbst aber müssen wir vor
aller Wahrnehmung bereits erfaßt haben, um uns eben darauf
besinnen und das verschiedene Gleiche in der W"ahrnehmung
selbst darauf beziehen, untereinander vergleichen und eben
als gleich bestimmen zu können.'* Diese erkenntnistheoretisch
» Windelband, Piaton. S. 87.
- Phaidon, 79 a: büo eibn tOüv övtujv. tö \j.iv öpaxöv. xö be deibe<;.
3 Politeia, 509 d: biTxd eibr), öparöv, voriröv.
* Ebenda 585 b, siehe S. IßO, Anm. 1.
5 Vgl. oben S. 156 ff.
•^ V^'l. die früheren Ausführungen und ferner besonders Phaidon, 79 a:
TÜüi Tr\c, biavoiat; XoYiöm«», s. auch 99 e.
' Phaidon, 75 a: äWä larjv Kai röbe ö]uoXoYoö|Ltev, im'i äWodev oOtö ^v-
voiiKevai |ar|b^ bOvarov elvai ivvof\oai, dX.\' r) ^k toO ibeiv r\ ä\\iaabai, f\ ^k
Tivo? a\\r\<; rdjv aia0riö€ujv: vgl. auch ebenda 74 a und Politeia .526 d.
» Ebenda 75 1): irpo toü äpa äpEaadai f||uäq öpäv koi ÖKoüeiv Kai xäWa
Der Substanzliegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 165
SO ungemein fruchtbare Einsicht erhält nun bei Piaton den
metaphysischen Unterbau in der ünsterblichkeitsiehre : Um
vom reinen Sein Kunde zu haben, muß die Seele sein, noch
ehe sie in die sinnliche Welt des Leibes eingeht, ebenso wie
jenes Sein, das den Beinamen dessen hat, was ist,^ Darum
also ist das Kennenlernen selbst ein Wiedererinnern.^ Die
Anamnesis-Lehre Piatons im Sinne der Spontaneität zu deuten,
dazu mag der unendliche Reichtum Piatons reizen. Allein die
Unsterblichkeit war ihm nicht bloß ein logisches, sondern ein
sittlich-religiöses Postulat. Es ist Piaton damit, nicht allein im
Phaidon, zu sehr ernst, als daß ich mich entschließen könnte,
den Unsterblichkeitsbeweis nur als Mythos zu fassen. Er ist
Mythos, aber nicht bloß Mythos, wenigstens nicht für Piaton,
der in ihm fraglos die objektive Wahrheit, die Wahrheit in der
Form des Begriffs, nicht bloß in der Form der Vorstellung zu
besitzen meinte. Dafür spricht vor allem ein Umstand, der für
das Substanzproblem bei Platou nicht ganz außer Acht zu
lassen ist, ob er gleich freihch ebensowenig, wie die ganze
Unsterblichkeitslehre als solche für unseren eigentlich wissen-
schaftlichen Zweck von besonderer Bedeutung ist: Im Phaidon^,
wie in der Politeia^ wird ausführlich eine quantitative, d. i.
hier zahlenmäßige Konstanz der Menge der Seelen gelehrt, die
weder geringer noch größer (oüt6 eXairoug .... oure TtXeiouq)
werden könne, da sie, wie leicht aus Piatons sowohl die Prä-
existenz wie die Postexistenz einschließendem Begriff der Un-
sterblichkeit folgt, eben sonst nicht unsterblich wären. Wir
hätten hier also eine Konstanz der Seelen Substanzen, die frei-
lich, wie aus der ferneren Entwickelung zu ersehen sein wird,
nicht zu grob substantiell gefaßt werden darf. Immerliin die
Annahme der Unsterblichkeit wird auch dadurch über das
aiöOdveaOai ruxeiv ebei ttou eiXriqpÖTOc emöTriuriv aöxoO toü löou, ö ti eaxiv,
€1 |aAXo|H6v TÜ CK tOjv aiaOriöeuuv ioa tKeioe dvoiaeiv.
' Ebenda 92d/e: elvai y] ^lvxr\ Kai irpiv eic, ouj^a öqpiK^aöai, ujoirep
ouTiii ^OTiv r\ oöaia e'xouöo. Tqv ^irujvuiaiov xqv toö ö eoriv.
- Fbenda 70 a u. a. m. vgl. oben S. 1.5Ü.
3 Phaidon, 71 a/7^2 b.
* PolJteia, 611 a/b.
166 6. Kapitel.
Mythische hinausgerückt. Endüch spricht gegen die Deutung
der Wiedererinnerung und des Aus-sich-Hervorholens im Sinne
der Spontaneität ein Umstand, auf den Windelband^ aufmerksam
macht, wenn er von Piaton bemerkt, er zeige «die eigentüm-
Hche Gebundenheit des gesamten antiken Denkens, welche die
Vorstellung von einer schöpferischen Energie des Bewußtseins
nicht aufkommen ließ, sondern alles Erkennen immer nur als
ein Abbilden des Empfangenen und Vorgefundenen auffassen
wollte». In der Tat müssen wir bei aller Größe des Plato-
nischen Denkens doch auch wieder bedenken, daß es über diese
unbefangene Auffassung des ganzen antiken Denkens in der
Anamnesislehre gerade nicht hin ausgelangt ist. Hier ist nicht
wie bei Descartes schon von einem «quasi reminisci» die Rede,
sondern von einem reminisci im strengsten Sinne. ^ In der Er-
kenntnislehre Piatons kann darum wirklich nicht von einer «schöp-
ferischen Energie des Bewußtseins» gesprochen werden. Diese
fehlt freilich nicht ganz, aber sie ist nicht, wie die Spontaneität,
erkenntnistheoretisch, sondern metaphysisch. An die Stelle der
erkenntnistheoretischen Spontaneität tritt aber zunächst der sitt-
lich-religiöse Glaube der dvd|uvricri(5. Daß durch ihn aber Piaton
zu einer Verdinglichung des reinen Seins genötigt würde, wird
man nicht glauben, wenn man an die theoretische Zurückhal-
tung denkt, die er damit übte, daß er nur überhaupt auf der
Unsterblichkeit und Wiedererinnerung bestehen will, ohne sich
der Täusclmng einer vermeintUchen näheren Bestimmung dieser
präexisteuzialen Kenntnisnahme hinzugeben.-' So kreuzen sich
' A. a. O., S. 74.
2 Trotz dieses Unler.schiedc:< könnte aber vielleicht gerade ein Vergleich
mit Descai^tes in anderer Hinsicht auch eine tiefere Venvandtschaft aufdecken,
nämlich zwischen Piatons Unsterblichkeitslehre und Descartes' Gotteslehre. Für
Piaton ist die Unsterblichkeit freilich ebenso Grundlage der Erkenntnis, wie
für Descartes Gott dies ist. Aber beide sind doch für beide nicht bloß Grund-
lage der FJrkenntnis; für Piaton ist die Unsterblichkeit ebensowenig bloß ein
rein logisches Fundament, wie für Descartes Gott bloß ein rein logisches
Fundament ist. Beide Begriffe haben eine metaphysische Bedeutung, mid das
gilt von der Unsterblichkeit bei Piaton sogar in einem um so strengeren
Sinne, wie von der Goltesidee bei Descartes, als bei Piaton das religiöse und
das theologische Denken viel wirksamer war, wie bei Desf;artes.
' Siehe oben S. 150.
Der SubätanzbegriÖ' innerhalb de» Systems des Idealismus. 167
in der Auamuesislehre die mannigfaltigsten Motive. Sie ist
freilich Mythos, aber doch nicht bloß Mythos, sie ist logisch,
aber doch nicht reine Methode, denn sie ist auch metaphysisch
und zugleich ist sie religiös : Dogma. Und indem Piaton gerade
sich einer näheren Bestimmung des präexistenzialen Erkennens
enthält, bewahrt er sich vor einer Verdinglichung des reinen
Seins, der KaS-apct ouoia.
6. Ehe ich das selbst weiter verfolge, sei mir noch ein
kurzer literarischer Ausblick gestattet: Hermann Lotze gebührt
das Verdienst, die Meinung^ «Piaton habe den Ideen, zu deren
Bewußtsein er sich erhoben, ein Dasein abgesondert von den
Dingen, und doch, nach der Meinung derer, die ihn so ver-
standen, ähnhch dem Sein der Dinge zugeschrieben», in ihrer
ganzen Nichtigkeit bloßgestellt zu haben. Sehr richtig be-
merkt er: «Es ist seltsam, wie friedhch die hergebrachte
Bewunderung des Platonischen Tiefsinns sich damit verträgt,
ihm eine so widersinnige Meinung zuzutrauen ; man würde von
jener zurückkommen müssen, wenn Piaton wirklich diese ge-
lehrt und nicht nur einen begreiflichen und verzeihlichen An-
laß zu einem so großen Mißverständnis gegeben hätte.»- In
der Tat, wenn man, wie es auch, trotz Lotze, heute immer
noch geschieht, und wie es selbst in der neuesten Auflage des
Grundrisses von Überweg zu lesen steht, Piaton die widersinnige
Tendenz einer «Hypostasierung der Idee» zu «selbständiger
Einzelexistenz» zumutet^, dann bleibt nur die eine Konsequenz
übrig, die F. A. Lange gezogen hat. Lange ist also wenigstens
insofern konsequent, als er anstatt der üblichen Bewunderung
dem Piatonismus zunächst eine schroffe Ablehnung entgegen-
bringt, kurzweg von dem «Irrweg des Platonischen Idealismus »%
von Piatons «mystischem Allgemeinen»^ redet. Es ist nur zu
bedauern, daß diese Konsequenz über ein knappes Dutzend
1 Logik, S. 513.
^ A. a. 0., ebenda.
^ Friedrich Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie des Alter-
tums, S. 1(51.
* Geschichte des Materialismus I, .S. 4ii.
» A. a. 0., S. 43.
168 H. Kapitel.
Seiten nicht hinausreicht, da Lange die Ansicht, die «Piaton
für einen Mystiker und poesievollen Schwärmer» hält, selbst
zurückzuweisen sucht \ ein Versuch, der dem natürlich nicht
recht gelingen kann, der kurz vorher den Platonischen Idea-
lismus als «Irrweg» einfach abfertigen wollte. Eine halbe Kon-
sequenz ist aber selbst eine Inkonsequenz. Wer darum kon-
sequent sein will, der sei es ganz. Entweder man sehe in Pia-
tons Allgemeinem ein mystisches Ding, man behaupte die
Dinghaftigkeit, Geisterhaftigkeit und Gespensthaftigkeit seines
«reinen Seins», dann aber höre man endlich mit der Bewunde-
rung von Piatons Tiefsinn und Geistesfülle auf. Oder aber
man lasse sich wirklich von diesem Geiste berühren; das aber
kann man nur, wenn man sein «reines Sein» zu verstehen
sucht. Die historische Forschung unserer Zeit, soweit sie den
entscheidenden Impulsen Lotzes gefolgt ist, bietet dafür glück-
licherweise auch schon die beste Hilfe. Dem «An-sich-Sein» wird
ja längst, besonders scharf und klar von Windelband, das Ding-
^:ein gerade entgegengesetzt, wie es in der Tat Piaton gelehrt.^
Windelband hat Piatons Ideenlehre in erster Linie als «logische
Theorie» und als «allgemeines Prinzip der erklärenden Wissen-
schaft»^ erkannt und diese «Wissenschaftslehre» oder «Erkennt-
nislehre» richtig als «Grundlage aller Philosophie» ange-
sprochen).^ Wie Lotze, so hat auch (-ohen^ auf die Unver-
einbarkeit der üblichen Bewunderung der Tdeenlehre mit der
Auffassung der Ideen als «aparter Wesenheiten» aufmerksam
gemacht. Wie Lotze die Wirklichkeit der Idee in der «Wirk-
Hchkeit der Geltung»*^ erkennt, so sieht auch er das «wahr-
hafte Sein» als das «Sein der Geltung» an.^ Und das ganze
schon mehrfach herangezogene Piaton- Werk Natorps ist darauf
gerichtet, die Platonische Ideenlehre als Erkenntnislehre ein-
dringlich darzustellen und die Idee, worin Lotze ja ebenfalls
> A. a. 0., S. 54.
* Windelband, a. a. 0., besonders S. 84.
» A. a. 0., S. 64.
< A. a. 0., S. 65.
* Cohen, Piatons Ideenlehre und die Mathematik, S. I'2.
« Lotze, a. a. 0., S. .514.
' Cohen, a. a. 0., .S. 16.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 169
vorangegangen war, als < Gesetz» zu erweisen,^ Und teilweise
im Anschluß an ihn, wenn auch in durchaus selbständiger
wissenschaftlicher Absicht gelangten Vorländer^, Kinkel-^ und
Hartmann^ zu derselben Auffassung. In der Tat, so wahr die
Ideenlehre Erkenntnislehre ist und die Ideen Grundlagen der
Erkenntnis sind, so wahr wird man ihnen den Gesetzescharakter
im logischen Sinne — Grundlagen der Erkenntnis sind doch
wohl auch logische Gesetze — nicht streitig machen dürfen,
wie ihn Lotze selbst schon vom Geltungscharakter her gefordert,
auch wenn man das «nichts als Gesetze» für die Ideen nicht
ohne weiteres annimmt, wie ja die Wirklichkeit oder das Sein
der Geltung nicht bloß das Erkennen, sondern auch das Sein
der Dinge zu bestimmen hat. Aber gerade weil es auch Grund-
lage des Seins der Dinge ist, kann sein Sein nicht selbst ein
Sein der Dinge sein.
Ich habe diesen rein literarischen Exkurs hier eingeschoben^,
nicht etwa um bloß meine eigene Darstellung einer bestimmten
' Natorp, Piatons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus; vgl.
bes. S. ,36 ff. und S. o51 ff. Ich Aveiß gar Avohl, daß auch schon Schleiermacher
die Ideen als Gesetze, richtigerweise als «Weltgesetze» angesprochen hat; und
werde noch Gelegenheit haben, darauf hinzuweisen. Weil das aber bei Schleier-
macher selbst nur gelegentlich und nicht in der seit Lotze geforderten
prinzipiellen Bestimmtheit geschieht, ist es für die Platon-Auffassung nicht
historisch wirksam geworden.
2 K. Voriänder, a. a. 0. I, S. 9G.
^ W.Kinkel, a. a. 0. II, S. 74 ff.
* X. Hartmann, Piatons Logik des Seins. Siehe besonders S. 227.
* Für den, den es befremden sollte, daß ich Zeller im Texte an dieser
Stelle nicht auch erwähnt habe, sei nun hier bemerkt, daß das seinen Grund
in der unentschiedenen und wenig klaren Stellung Zellers hat. Zunächst
nennt Zeller, a. a. 0. II, S. 662 die Ideen «Substanzen». Er will aber das
Wort nur in dem «ursprünglich aristotelischen Sinne» gebrauchen, der aber
freihch schon deswegen nicht «ursprünglich aristotelisch» sein könnte, weil er
ja gerade nach Zeller hier ursprünglich platonisch sein müßte. Verstehen
aber will Zeller vorlrefflicherweise, das sei besonders anei'kannt, unter «Sub-
stanzen» nichts anderes, als «überhaupt etwas Fürsichbestehendes, keinem
anderen als Teil oder Eigenschaft Inhärierendes», nicht aber «ein Ding, welchem
mehrere veränderliche Eigenschaften zukommen, während es selbst im Wechsel
dieser Eigenschaften beharrt». Damit wäre ja in der Tat ebenfalls die ding-
liche Auffassung von den Ideen oder «Wesenheiten», wie Zeller sie nennt,
170 t>. Kapitel.
einheitlicheu Richtung der Platou-Auffassuug — von ganz ein-
heitlichen Auffassungen kann auch nicht einmal zwischen zwei
der genannten Forscher die Rede sein — einzuordnen und zu-
gleich meine Differenz anzudeuten, sondern um überhaupt die
beiden möglichen Grundrichtungen zu illustrieren, die in sich
selbst keineswegs ohne spezifische Differenzen und vollkommen
einheitlich sind, die nur prinzipiell klar und scharf sich gegen-
einander abgrenzen : die den Platonischen Idealismus realistisch
auffassende Deutung, die in den Ideen nicht eben Ideen, son-
dern Dinge (res) sieht, auf wie verschiedene AVeise das immer
auch geschehen mag; und die wahrhaft ideaUstische Deutung,
die, wie abermals verschieden auch immer, den idealen Charakter
der Idee zu wahren sucht. Damit kann ich es rein literarisch
für diesen Exkurs bewenden lassen. Ich kehre nun zu Piaton
selbst zurück und verfolge an seiner Hand die weitere Ent-
wickelung unseres Problems.
7. Sein und Werden sind geschieden wie zwei Welten,
und nur wenn wir uns der Unterscheidung in aller Strenge
bewußt bleiben, vermögen wir auch nur zu fragen, ob sie
überhaupt auseinanderklaffen oder ob und welche Beziehung
zwischen ihnen besteht. Das Erkenntnisproblem Piatons hat
zunächst den ganzen Unterschied zwischen beiden aufgetan und
nur von ihm aus werden wir auch die Frage nach der Be-
ferngehalten. Fatal ist nur dreierlei, erstens nämlich, daß Zeller nie und
nirgends seine «Wesenheiten» wirklich klar und scharf bestinmil und den
Unterschied zwischen Ding und Wesen noch etwas präziser behandelt, als es
in der zitierten Stelle geschielit, und zweitens, daß er a. a. 0. II, S. 671 ff. so
grimmig gegen Lotze jjolernisiert, der doch gerade der dinglichen Auffassung
den Garaus gemacht hat. Vor allem wendet sich Zeller gegen den ja ebenfalls
von Lotze in die Diskussion hier eingeführten Begriff" des Gesetzes. Auch
auf Cohen, als Lotze nahestehend, verweist Zeller hier, in dessen Augen natür-
lich Cohen nicht mehr Gnade finden kann als Lotze selbst. Drittens aber ist
Zeller, freilich erst in seiner Aristoteles-Darstellung (a. a. O., II, 2, S. 302) der
Meinung, Aristoteles habe die Platonische Ideenlehre «für immer widerlegt».
Diese «Widerlegung» faßt aber, auch nach Zeller, die Platonischen Ideen ding-
üch substantiell. So unklar und schwankend also auch Zellers Äußerungen
über Piaton sein mögen, .so läßt diese Unklarheit doch soviel gerade klar er-
kennen, daß Zeller von der dinglichen Auffassung nie ganz losgekommen ist.
Der Substanz begriff innerhalb des Systems des Idealismus. 171
Ziehung eiitsclieiden können. Vernunfterkenntnis einerseits und
bloße auf Sinnlichkeit beruhende Meinung und bloße Vorstel-
lung andererseits enthüllen sich in ihrer Gegensätzlichkeit durch
das Erkenntnisproblem. Auf das Werden bezieht sich die bloße
Vorstellung und Meinung, auf das Sein die Vernunfterkenntnis ;
und wie sich das Sein zum Werden, so verhält sich die Ver-
nunfterkenntnis zur bloßen Ansicht.^ Und wie das Gebiet der
reinen Denkbarkeit (vor|TÖ<; TÖTToq) zum reinen Denken {vovq)
und beide zu den Gegenständen dieses Denkens (voou|ueva), so
verhält sich das Gebiet der Sichtbarkeit (opaxöv) zum Gesicht
(övjjk;) und beide zu den gesehenen Gegenständen (6puj|ueva)/'
Wahrhaft aber ist nur das seientlich Seiende.^ Und so w^ahr
Sein (cuoia) und Werden (Yeveoig) voneinander getrennt (xujpi?)
sind\ so wahr kann das Sein nicht durch das Werden, durch
Entstehen und Vergehen ins Schwanken gebracht werden.^
Was die Vernunft erfaßt, das sind ewig gleich bleibende Ord-
nungen*^, rein im Denken zu erlangende unsinnliche, unkörper-
hche Gestalten^ in denen es kein Entstehen und Vergehen,
wie in der sinnlichen Körperwelt des Werdens gibt, in denen
allein Bleibendes und Festes (|uövi|liov Kai ßeßaiov)^ liegt. Und
auch da noch, wo die letzte Synthese zwischen dem ewig An-
sich-Seienden und -Bleibenden einerseits und dem AVechselnden
und Werdenden andererseits vollzogen wird, gerade da bleiben
die antithetischen Glieder in voller Kraft, und gerade da müssen
sie in voller Kraft bleiben: Was durch das Denken (voncrei)
vermöge der Vernunft erfaßbar ist (jueTd \6you irepiXriTTTOv), das
ist das ewig an sich selbst dasselbe Seiende (dei Kard raütd öv) ;
^ Politeia, 534 a: Kai bötav |Ltev Trepi Y^veöiv. vörjaiv be trepi oOöiav. Kai
ö Ti oüaiav irpöi; fiveow, vöy]Oiv Tipöq böEav.
- Ebenda 508 c.
3 Soph. 240 c: tö ä.\»i\)ivov övxujq öv.
* Ebenda.
° Politeia, 485 b: eKeivr^i; Tn<; ouGia; ty\c, dei oüöiiq Kai |ui"i TTX.avuj|uevri^
ÖTTÖ feviaeujc, Kai (pOopä(;.
*^ Politeia, .50Üb: xeraYueva üttu Kai Karä xaÜTd üei exovTa; vgl. 500c:
deiuji bn Kai kööihuui ö fe qpiXööoqpoq ö,ui\u>v . . .
' Soph. 246 b: voiitü uttu Kai dadbuaTa eibiv
^ Tim. 29 b.
172 (i. Kapitel.
was durch die bJoße Meinung (böEin), vermittels der außerlo-
gisehen Emptindung (iiieT' aiaOi'iaeujg dXÖYOu) gefaßt wird, das
ist das immer bloß Werdende und Vergehende, das nie wahr-
haft Seiende ("fiYVOjaevov kqi dTToX\u|uevov, övTuuq be oubenoTe öv)\
und die Unterscheidung zwischen dem ewig Seienden, das kein
Werden hat, und dem ewig bloß Werdenden, das kein Sein
hat^, bewahrt ihre volle Strenge.
Und dennoch, das hat sich ja längst gezeigt gerade an
dem Problem der Erkenntnis: Das «Schöne an sich», das
«Gute an sich», das «Gleiche an sich»-', mit einem Worte : das
eiöo<; auTÖ Ka&' aÜTo^, oder kurz auTÖ tö eibo?^', die Idee, die
immer in sich Eine und Dieselbe*^ kommt uns psychologisch
ebenso nur durch die Wahrnehmung der sinnfälligen Dinge
zum Bewußtsein, wie sie logisch bereits die Voraussetzung da-
für ist, daß wir die Dinge überhaupt als gleich u. s. f. bestim-
men können. So wenig die Idee also selbst ein Ding ist, weil
sie die Voraussetzung der Erkenntnis der Dinge ist, so wenig
kann die Idee, damit diese Erkenntnis selbst gültig sein kann,
bloß in uns liegen. Denn dann könnte sie ja eben nicht «an
sich sein».^ Wir bestimmen also die vielen schönen (iroXXd
KttXd) und die vielen guten Dinge (iroXXd dya^d) und jegliches
sonst, dem wir eine Beschaffenheit beilegen, wirklich immer
erst durch den Begriff (biopiz;o|iev tuji Xoyuji). Das Schöne an sich
aber (auiö br| KaXöv) und das Gute an sich (autö äjaböv) aber
und was wir sonst auch immer als Vieles setzten, das setzen
wir nach einer einheitlichen Idee (Kax' ibeav ^iav) selbst als ein
» Ebenda 27 cl/28 a.
^ Ebenda: ti tö öv dei, Y^^eaiv be ouk e'xov, Kai ti tö •(■rfvöiiievov f.iev
äei, öv be oüb^iroTe.
3 V^l. oben S. 1G4.
* Parm. 130 b, v^l. aueli die ebenso präzise Formulierung Symp. :^11 a/b:
cOtö koö' aÜTÖ ued' aüxoO .uovoeibd^ dei öv und Phaid. 78 c: jaovoeibe? öv
auTÖ Kaö' aÜTÖ.
^ Parm. 130 c.
® Vgl. außer dem Vorhergehenden abermals Parm. bes. 151 d/152a.
' Vgl. Aviederum auEier den früheren Bestimmungen besonders Parm. 133 c:
oi]Liai öv Koi oe Kai äWov. öotk; oöttiv Tiva Kaö' aiJTr)v ^KdOTOu oöoiav Tiderai
€ivai öuoXo-ffiaai öv -rtpuJTov |li^v |ur)b6u(av auTuJv elvai ^v r|,uiv. TTüji; yöp öv
avrr\ Kad" aÜTqv ^Ti eiiri ;
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems de? Idealismus. 173
einheitliches Sein (uj<; pnäc, ovar]<;). Von den vielen Dingen aber
sagen wir, sie werden gesehen, aber nicht gedacht, von den
Ideen hingegen, sie werden gedacht, aber nicht gesehen.^ «Eine
Idee pflegen wir also für jegliclies Viele zu setzen, das wir
mit demselben Namen belegen.»- Das in sich Eine Schöne
und das in sich Eine Gute^ ist also nicht bloß die Einheit der
Erkenntnis der schönen und guten Dinge, sondern auch Ein-
heit der schönen und guten Dinge selbst (evdbe? — luaYdöeg)."^
Aber gerade von hier aus verschärft sich das Problem: Da
die in sich einheitliche Idee doch nicht bloß in uns liegt,
und da nur das Bewußtsein der Idee, nicht die Idee selbst
aus der Wahrnehmung der Dinge stammt, kann die Idee
nimmermehr bloß etwa eine aus den Dingen abstrahierte Vor-
stellung sein. Denn in diesem Falle wäre sie ja gar nichts
«Scan sich Seiendes», ja sie wäre noch weniger als das Werden,
das ja gar nicht einmal wirklich ist, wenn sie bloß ein abstra-
hierter Schatten der werdenden und nicht einmal wahrhaft
wirkhchen Dinge wäre. Anstatt wahrhaft wirklich zu sein, wäre
sie das Bild von etwas, das selbst nicht wahrhaft wirklich ist.
Wenn sie aber wahrhaft wirklich ist, ein övtok; öv, dann scheint
sich erst recht ein Rätsel und Wunder aufzutuu. Wie ist es
denn möglich, daß die Ideen überhaupt als Einheit für eine
Vielheit der Dinge gesetzt werden? Wie kann denn das ewige
unsichtbare Sein mit den sichtbaren Dingen des Werdens über-
^ PoliteiHi 507 a.
- Ebenda 596 a.
' Phileb. 15 a: tö Ka\öv ^v koI ä'^aQöv ev . . . Aus der strengen Ein-
heit der Idee ganz allein würde schon folgen, daß der Einwand des xpiTOc;
ävOpaiiToi;, wie auch Zeller a. a. O., S. 745 bereits richtig bemerkt hat, Platon gar
nicht trifft, selbst wenn, wie Natorp, a. a. O., S. 213 mit Recht hervorhebt,
der Einwand von Platon selbst nicht schon Politeia 597 b/c mit dem Be-
merken abgetan wäre, daß es von Einer Idee eines Vielen nicht selbst wieder
ein Vieles geben kann, da ja sonst über dem Vielen der Idee immer wieder eine
Idee u. s. f. in infinitum stehen müßte. Hier noch näher auf dieses Miß-
verständnis einzugehen, verlohnt um so weniger, als es von den genannten
Foi-schern längst mit gehörigem Nachdruck zurückgewiesen worden ist und
ein weiteres Eingehen außerhalb unseres Problems liegt.
■* Ebenda und 15 b.
174 6. Kapitel.
haupt SO zusammenstimmen, daß diese nach jenem benannt
werden dürfen? Allein dieses scheinbare Wunder besteht nur,
solange man «Wesen» und «Werden» als eine Art von zwei
nebeneinander absolut bestehenden, etwa parallel gehenden
Welten faßt, von denen die eine ein Bild der andern und jede
in gleicher Weise «an sich» wäre. «An sich» aber ist nur das
Sein der Idee, die Kadapd ouö"ia, nicht die fiveGxc,. Das sinn-
liche Werden aber könnte nur dann mit dem ewigen vernünf-
tigen Sein in dieser Weise zusammenstimmen, wenn dieses
nicht nur den Begriff, d. i. den Erkenntnisgrund (Xoyo?^) für die
Erkenntnis der Dinge des Werdens darböte, sondern das Werden
der Dinge selbst bestimmte, wenn die Vernunftordnung^ zu-
gleich Werdens- und Weltordnung wäre. Dazu aber müßte
das Werden selbst eine Stelle in der Vernunftordnung erhalten.
Es ist abermals das Problem der Erkenntnis, von dem aus
Piaton hier eine Entscheidung trifft und von dem aus allein
er eine Entscheidung treffen kann.
s. Daß die Empfindung von sich aus nicht zum Sein ge-
lange, hatte sich gezeigt. Sie bleibt von sich aus allein auf
das Werden verwiesen. Aber um auch nur Empfindung zu
sein, hatte sie selbst das Sein gefordert und vorausgesetzt, das
freilich nicht ihr erreichbar ist, sondern allein der Erkenntnis
des reinen Denkens (tuji irj^ biavoiaq \oyicT|uüji).'^ So kündigt sich
von vornherein von Seiten der Empfindung nach der Richtung
des Seins eine erkenntnisproblematische Verknüpfung beider
Sphären an. Genau ebenso aber, nur nach entgegengesetzter
Tendenz, springt von seiten der reinen Erkenntnis nach der
Richtung des Werdens eine Verbindung hervor, die freilich
nicht mehr bloß erkenntnisproblematisch bleibt, sondern zu-
letzt in dem dialektischen Vollzug der Synthese gipfelt. Zwar
1 Vgl. S. 172.
'^ Vgl. unsere früheren Ausführungen über den Begriff der rdti?, sowie
den engen Zusammenhang, in dem Politeia, 587 a, die Begriffe Xöto;, vö|ho?,
TfiEic stehen, worauf ausführlich Natorp, a. a. 0., S. 211 hinweist.
■■' Phaidon, 79 a; dazu sind natürlich auch die früheren Ergebnisse zu
vergleichen.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 175
hat sich auf der einen Seite gezeigt^ und dieser Satz kann nicht
aufgegeben werden, daß wir durch die leibliche Empfindung
lediglich an dem Weiden teilhaben^, jener Sinnenwelt, der eben
nie wahres Sein eignet, sondern gerade anstatt des Seins nichts
als Wechsel und Bewegung zukommt^, während wir allein durch
das vernünftige Denken zum Sein Beziehung haben ' ; und daß
der bloße Wechsel und die Bewegung ohne ein beharrliches
Sein weder selbst sein noch erkannt werden könnte, daß also
die Erkenntnis selbst nicht möglich wäre ohne ein beharrliches
Sein, mithin ein solches fordert. Auf der anderen Seite aber
zeigt sich, und dieser Satz ist nicht weniger bündig, daß das
'< Erkennen selbst ein Tun» ist (TToieiv ti). «Ist aber das Erkennen
ein Tun, so ist das Erkannt -Werden notwendig ein Leiden, so
daß also das Sein, das erkannt wird, logischerweise (Kaid töv
XoTOv) bewegt wird vermöge des Leidens, das dem Beharr-
lichen doch nicht begegnen kann.>^ Soll also das Sein erkannt
werden, dann kann es gerade nicht beharrlich sein, es muß
vielmehr selbst Bewegung, Leben, Seele und Vernunft (Kivrjcriv
Kai Z^iJüriv Km vj^ux^v Kai cppGyncriv)" haben. Gerade um erkannt
werden zu können, muß es bewegt sein. Hier liegt eine voll-
endete Antinomie vor: Das Erkennen fordert seinem Be-
griffe nach ein beharrliches Sein und schließt die Bewegung
aus. So lautet die Thesis. Und : das Erkennen fordert seinem
Begriffe nach die Bewegung und schließt, da diese dem Beharr-
lichen doch nicht begegnen kann, das beharrliche Sein aus.
So lautet die Antithesis. Aber mit der höchsten Klarheit, gleich
als sollte das «ewige Musterbild» der Auflösung der Antinomie
schlechtweg selbst in die Zeit eingehen und für alle Zeit faß-
lich bleiben, werden Thesis und Antithesis in der Synthesis
eines höheren Standortes aufgehoben und vereinigt, indem die
1 Siehe Theait. 1. c. und Kratyl. 1. c.
» Soph. 248 a: ödJUOTi ludv r]^äc, -feveaei bv aiaOriO€UJ(; Koivioveiv . . .
" Ebenda 246 B : f ^veoiv ävr ouaiaq qaepoiu^vriv.
* Ebenda 248 a (Forts, von Anm. 2) b\ä XoTtauoO b^. m'vjx^i^ Ttpö^ trjv
övTUj^ oöaiav.
^ Ebenda 248 e.
• Ebenda.
176 6. Kapitel.
Vereinigung von Satz und Gegensatz in ilu'er Möglichkeit da-
hin erklärt wird, daß wir etwas (hier also die Bewegung, ebenso
wie die Beharrlichkeit) «nicht auf die gleiche Weise bezeichnen,
wenn wir sagen, es sei dasselbe und sei nicht dasselbe».^ Hier
handelt es sich also nicht bloß um das formale Widerspruchs-
gesetz, sondern um ein Inhaltsgesetz dialektischer Entwickelung,
die sich ja selbst bald als ein Fortgang (öiaXeKTiKi] iTopeia)^, als
dialektische Bewegung des Denkens (öiavoiiTiKfi kiviicjk;)^ ent-
hüllen wird.
Wenn also im Erkennen auch das beharrliche Sein gesetzt
ist, «da das Erkennen seinem Wesen nach selbst sein muß,
um zu erkennen, daß das Sein ist»'^, so ist doch auch Werden
und Bewegung in ihm gesetzt, insofern das Erkennen selbst
«ein Tun» ist. Wenn aber auch damit im Erkennen sowohl
Bewegung wie Beharrlichkeit logisch gesetzt sind, so ist das
«ine, die Bewegung nämlich, doch als seiend, nicht aber selbst
als bewegt gesetzt; die Bewegung ist, aber sie bewegt sich doch
nicht, und ebenso ist die Ruhe als seiend, nicht aber selbst
als ruhend gesetzt; auch sie ist, aber sie ruht doch nicht selbst.-'
Und sofern nun Wechsel oder Bewegung auf der einen Seite,
Beharrlichkeit oder Ruhe auf der anderen selbst sind, so kann
doch das Sein selbst und als solches doch weder bloß Beharr-
lichkeit noch bloß Bewegung sein, wie die Beharrlichkeit als
solche doch nicht Bewegung und die Bewegung als solche doch
nicht Beharrlichkeit ist." Obwohl seiend, ist die Beharrlichkeit
doch nicht selbst bloß beharrlich, und auch nicht gar etwa das
Sein schlechthin, und obwohl seiend, ist die Bewegung doch
nicht selbst bloß bewegt und auch nicht das Sein schlechthin,
wie alles sonst, was nicht das Sein selbst ist und doch ist.'
1 Ebenda 256 a ; ov fäp örav ei'irujuev ai)Tr\v toOtöv koi ui] xauTÖv, ö|Lioiujq
€ipriKafiev.
■^ Politeia, ö'S'-J, h. Über das -rropeüeödai der bia\eKTiK»'i lu^^oboi; vijl.
aucb 533 c/d. Wir kommen auf dieso Dinj^e bald ausführlicher zu sprechen.
s Tim. 89 a.
* Politeia, 477 c, vgl. auch 478 a.
5 Soph. 250 a/b.
^ Ebenda 255 a/b,
' Ebenda 250 d.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 177
So wird Bewegung und Werden selbst im Ewigen ver-
ankert, indem, und darin liegt letzten Endes die Auflösung
der Antinomie, reine Bewegung und empirische Bewegung unter-
schieden werden und diese zuletzt auf jene gegründet wird.
Die reine Bewegung ist nichts anderes als Bewegung des reinen
Denkens selbst, insofern Denken selbst Bewegung ist: Bewe-
gung Kaid TÖv XÖYOV.^ Das ist nicht die Bewegung, in der
der Wechsel besteht^, sondern die, auf der in letzter Linie
aller Wechsel erst beruht, die also selbst «nicht in der Zeit liegt»,
sondern zwischen der zeitlichen Bewegung und Ruhe sich selbst
schon befindet, so daß darin erst «Bewegung in Ruhe und Ruhe
in Bew^egung übergeht». Darin Hegt die seltsame Natur des
«Plötzlichen».^
1 Vgl. S. 175.
2 Parm. 162 c . . . .; jueToßoXri bä Klvr\oiq.
^ Ebenda 156 d/e: f\ iia\(p\Y\<; aüzr] f\ (fvaic, ötTOiTÖi; tk; ^YKcxöriTai faexaEu
Tr\c, Kivi'iöeuui; re Kai OTdaenx;, iv xpövuui oöbevi ovoa, Kai de, raüxriv br) Kai
iK TaÜTi](; TÖ TE Kivoüiaevov |ueTaßdX\ei im tö ^axdvai Kai xö k.oxöq im x6
Kiveiadai. — Es ist das unschätzbare Verdienst Natorps, den Sinn dieser Stelle
wirklich erschlossen zu haben, wenn er sie a. a. 0., S. 255 im Sinne des
Kontinuitätsgesetzes deutet und darin die «vorschwebende Unterscheidung des
Diskreten und Stetigen» erblickt, worin ihm jetzt mit Recht auch Hartmann,
a. a. 0., S. 355 gefolgt ist. Leider ist darüber in der Platon-Literatur zumeist
hinweggelesen worden; oder, wenn auch das nicht gerade geschah, so hat es
doch sehr oft an dem rechten Verständnis gefehlt, gleichsam zur Bestätigung
der Gültigkeit der Platonischen Forderung; «Mrjbeii; dY£<J^M^TpTixoq etöixu)!»
Natorp hingegen ermittelt scharf und bestimmt die Kontinuitätsbedeutung und
macht sie auch S. 361 ff. für die Unterscheidung von z\veierlei Bewegungen:
der primären und der sekundären geltend und sieht in jener das Prinzip von
dieser. Allein, und darin kann ich ihm nicht folgen, er verlegt jene in die
Seele als das «erste dem Werden und der Bewegung nach», nicht als «Prinzip
im Sinne eines schlechthin Unwandelbaren, wie die Idee», während ich das,
was ich die «reine BeAvegung» nennen möchte, geradezu in die «Idee der
Idee», wie Natorp die Idee des Guten nennt, in letzter Linie verlege, vde es
sich oben bereits ankündigt und später noch genauer zeigen wird, wofür ich
aber hier schon kurz die Gründe angeben möchte. Im Tim. 34 a wh-d dem Weifall
die Bewegung stehender Rotation mitgeteilt als der Vernunft und Einsicht am
nächsten kommend (Kivriaiv . . . xriv irepi voöv Kai qppövriaiv judXiöxa ouaav).
Nun lieißt es weiter 36 e freilich, daß die Seele, die selbst natürlich dem
Unsichtbaren beigezählt wird (aöxf] bi ööpaxoO, sich in sich selbst herum-
bewegt (aüxr) xe ^v auxfn axpeqpo|Lidvri). Daß wir es hier mit zweierlei Be-
Bauch, Das Substanzproblem. 12
178 6. Kapitel.
Damit ist nun der Begriff des reinen Werdens selbst im
Sein begründet, ohne daß er aber das Sein selbst ist, und damit
ist auch das Werdende, wenn es auch nicht das Sein selbst ist.
Was aber das Sein selbst nicht ist, also nicht Sein ist, das ist doch
offenbar Nicht-Sein. Also müßte das Nicht-Sein selber sein,
und wir wären vor die Setzung eines seienden Nicht-Seins ge-
stellt. In der Tat muß logischerweise auch das Nicht-Sein
sein eben als Nicht-Sein, insofern wir ja sonst von ihm über-
haupt nichts sagen könnten, nicht einmal, daß es nicht sei.
Also, um auch nur sagen zu können, daß das Nicht-Sein nicht
sei, muß es sein, so daß Sein und Nicht-Sein stetig aneinander
Anteil haben, das Nicht-Sein am Sein, insofern das Nicht-Sein
eben als Nicht-Sein ist, das Sein am Nicht-Sein, insofern eben
wegungen zu tun haben, das unterliegt danach schon keinem Zweifel: die
gedankliche Bewegung mit der in sich Geschlossenheit des Denkens fordert die
in sich geschlossene Rotationsbewegung des Alls. Allein wie Natorp eben
selbst bemerkt, und wie es aus Tim. ebenda und besonders Phileb. 30 ff. her-
vorgeht, wird die Seele selbst dem Werdenden beigezählt. Ihre Bewegung ist
nicht Bewegung im Sinne des selbst nicht werdenden Werdens. Die Welt ist
erst durch Gottes Vorsehung (biä xnv xoö öeoö irpövoiav) ein beseeltes und
vernünftiges Wesen (Mov e|LH|iuxov Kai Svvouv), vgl. Tim. 30 b. In der Ver-
nunft allein aber hegen die obersten Ursachen (tök; Tf|i; ^uqppovoq (pxjaeiix;
airiaq Tzpvjjac,. Tim. 46 d/e), und so wird (Tim. 47 b: tök; ^v oiipavüji toO voO
Tr6piöbou(;) von den Umläufen der Vernunft selbst gesprochen. Darum möchte
ich als reine Bewegung oder als Prinzip der Bewegung schlechthin nur die
K{vTiöiq biavoriTiKr) ansehen. Wenn Tim. 89 a ihr und der Allbewegung als
am meisten verwandt die organische Eigenbewegung des Körpers bezeichnet
wird, so kommt darin wohl ebenfalls zum Ausdruck, daß die «seelische Bewegung»
nicht letztes Prinzip, sondern, wie auch nach Nornoi 890 c nur Selbstdarstellung
der Vernunftbewegung, nicht aber diese selbst ist. Wenn sich, wie bemerkt, im
allgemeinen hier auch Hartmann an Natorp anschließt, so scheint mir doch
an einer anderen Stelle bei Hartmann, der ebenfalls Denken als Bewegung
faßt, eine nicht uninteressante Abweichung vorzuliegen, indem er nämlich,
a.a.O., S. 377 f. bemerkt, daß das Werden «als die Kivriai? der Begriffe
rational geworden» sei. Freilich faßt Hartmann das ganz im Sinne der so-
genannten «reinen Logik». Immerhin glaube ich doch darin eine Überein-
stimmung mit der von mir hier vertretenen Auffassung erblicken zu dürfen,
daß das Prinzip der Bewegung im Denken und in der Vernunft schlechthin,
nicht schon in der Seele, die mir der Vernunft gegenüber selbst erst ein Ab-
geleitetes zu sein scheint, liege. Nicht ohne Interesse ist auch die Deutung,
die Plotin in der VI. Enneade diesem Gedanken Piatons gibt, Lib. I— III
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 179
auch ein Sein ein Nicht-Sein ist, eben das Sein des Nicht-Seins.^
Insofern nun aber das Nicht-Sein ist, ist das Sein selbst nicht,
nämlich nicht das Nicht-Sein, weil es von ihm verschieden ist.
Denn von allem gilt, daß die Natur des Verschiedenen (fj ^aie-
pou qpuö'ig), welche es verschieden macht von dem Seienden
ein jegliches zu einem Nicht-Seienden macht, und alles insge-
samt können wir gleichermaßen auf diese Weise mit Recht
nicht-seiend nennen und auch wiederum seiend, indem wir
sagen, daß es Auteil hat am Seiendem (e-rremep toö övToq laete-
Xei).^ So ist also das Seiende insofern selbst nicht, als es das
übrige nicht ist; denn indem es dieses nicht ist, ist es eben
selbst Eines, das das zahllose Andere (onrepavTa öe töv dpiöjaöv
tdWa) nicht ist."'^ So ist denn auch durch das Sein des Nicht-
Seins das Nicht-Sein nicht etwa als ein absolutes Nichts, also
auch nicht als das Gegenteil vom Sein (TouvavTiov toö övTog), sondern
ledighch als das «Anders-Sein»'^ erwiesen, indem ja die Natur
das «Anders» sich selbst als seiend enthüllt.^ Der Gegensatz
von Sein und Nicht-Sein wird aufgehoben und in den der
dialektischen Entwickelung des «An-sich-Seins» (auTÖ KaO^' auTÖ)
und «Anders-Seins» (Oaxepou qpümq) fortgebildet.*' In dem Eines
1 Farm. 160 b ff.
s Soph. 256 d.
ä Ebenda 257 a.
* Ebenda 258 e.
5 Ebenda 258 a: direitrep f\ ^azipou cpxjaic, dq)dvri tOjv övtoiv ovaa.
'^ Die Anwendung der Hegeischen Terminologie wird man um so zu-
lässiger finden, als sie in der Tat nur eine wörtliche Übersetzung ist und die
Worte auch eine sachliche Übereinstimmung ausdrücken. Ihr Gebrauch ist ja
auch hinsichtlich Piatons längst üblich. Siebeck, a.a.O., S. 79; Bäumker,
a. a. 0., S. 190; Natorp, a. a. 0,, S. 292 u. a. m. haben sich dieser Terminologie
mit Recht bereits bedient. Hartmann, a. a. 0., S. 161 ff. weist auch ausdrück-
lich auf Hegel mit einer kurzen aber zutreffenden Andeutung von positivem
Verhältnis und Unterscheidung hin. Mehr als Andeutungen kann er be-
greiflicherweise in seinem Zusammenhange nicht geben, und es wäre ein
lohnendes Unternehmen, einmal das ganze Verhältnis einer eingehenderen Dar-
stellung zu würdigen. Das wäre eine schöne Aufgabe für unsere jungen
Hegelianer, wenn diese erst einmal soweit gekommen sein sollten, nicht bloß
Hegelisch zu sprechen und anstatt die Hegeische Lehre «ganz und unzerkaut
zu verschlucken» und also auch nicht zu verdauen, das, was wirklich be-
12*
180 6. Kapitel.
ist das Anders selbst enthalten. Denn indem Eines ist, tritt
zu dem Eines selbst das Sein, das von dem Eines selbst doch
zu unterscheiden ist, so daß Einheit und Mehrheit und Sein
selbst im Eines ergriffen werden.^ In bestimmter Beziehung
— so spricht sich die dialektische Tendenz vielleicht am reinsten
aus — wird Eines als Verschiedenes und in bestimmter Be-
ziehung Verschiedenes als Eines gesetzt, so daß im Sein selbst
Identität, wie Verschiedenheit (bezw. Einheit und Mannigfaltig-
keit) mitgesetzt sind. Insofern im Erkennen aber sowohl Bleiben
wie Wechsel und Bewegung schon gesetzt sind, enthüllen sich
Sein, Beharrlichkeit, Bewegung, Identität, Verschiedenheit als
die fünf jik^ioja tujv jevAv, als die höchsten «Gattungen».^
Damit aber ist die Vorbereitung einer wahrhaft logischen Grund-
legung des Substanzproblems so gut wie geschaffen, eine Ar-
beit, die aber aus dem bloß vorbereitenden Stadium mehr und
mehr sich zu genauerer Bestimmtheit vollendet.
9. Denn wenn im övtiju(; öv, in der Kaöapd oüöia der Idee
auch das bleibende und beharrliche Sein ergriffen ist, und wenn,
wie Schleiermacher bemerkt^, auch erkannt wird, «daß nur die
ewigen Formen das Beharrliche sind zu dem Wechselnden und
die wahren Einheiten zu dem Mannigfaltigen, und daß nur
auf sie und die Beziehungen der Dinge zu ihnen Erkenntnis
und Wissenschaft von irgend etwas kann gebaut werden», so
ist eben damit doch nicht der Wechsel des erfahrbaren Wer-
dens, wie es nach der Autorität des Aristoteles und mancher
älteren und neueren Platon-Ausleger sonst scheinen könnte,
einfach beiseite geschoben. Gerade indem «die ewigen Formen
das Beharrliche sind zu dem Wechselnden und die wahren
Einheiten zu dem Mannigfaltigen», sind Beharrlichkeit und
deutsam und bleibend daran ist, zu verstehen und das Wertlose auszustoßen,
womit sie freilich aufhören würden, bloße — ianer zu sein.
Von diesem Moment Platonischer Dialektik fällt nun auch ein helles
Licht auf Piatons Verhältnis zu Parmenides und Heraklit, sowohl rücksichtlich
des Übereinstimmenden, wie des Trennenden.
1 Soph. 1244 b ff.
* Ebenda 2.5.5 a/256d; 257 d und 259 c/d.
3 Einl. z. Übers, des Phaidon, S. 12.
Der Subslanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. ISl
Wechsel bereits aufeinander bezogen. Aber, wie das Beharr-
liche, so wird auch der Wechsel nicht einfach in dogmatischem
Sinne statuiert; er muß im Problem der Erkenntnis selbst seine
Fundaraentierung erhalten. Darum muß er selbst zum Pro-
blem gemacht werden, und in der Tat wird das Problem irepi
Yeveoeuüg Kai cpdopdg^ dem Aristoteles selbst eine besondere
Abhandlung widmen sollte, nicht bloß impHzite, sondern auch
explizite von Piaton gestellt und exakt formuliert. Weil das
aber exakt nicht geschehen kann, ohne daß der Wechsel auf
das Sein bezogen wird, muß das Problem des Wechsels mit
dem des Seins selbst verbunden werden in der ausdrücklich
gestellten Frage über «Werden und Wesen», T^vecreobg xe xai
ouaia^ TTepi.^ Wenn so der Wechsel zum Problem gemacht
wird, dann wird die Erfahrung selbst erst auf Vernunft ge-
gründet, und von dieser Problemtendenz aus kann in der Tat
die Ansicht, daß man erst vermittels der Vernunfteinsicht allein
Erfahrung erlange^, selbst ihre tiefste logische Begründung er-
halten, indem eben durch Vernunftgründe selbst die kritische
Entscheidung zu treffen ist.*
Im Sein des Nicht-Seins aber ist der Grund für das Wer-
den vom Problem der Wissenschaftslehre selbst her gelegt, in-
dem das Erkennen sich selbst als ein Tun und das Nicht-Sein
sich selbst als ein Sein erwies. Dies stellte sich heraus nicht
als das Gegenteil vom Sein, also nicht als absolut Nichts, son-
dern als das Anders- Sein. Wie das Eine selbst ein Anderes
ist (ev — eiepov)^ einem anderen Einen gegenüber, das für sich
selbst (KttO-' auTo) ein Eines ist, so ist nunmehr der Begriff des
Anders-Seins schlechthin erreicht zum Unterschiede vom Einen
selbst, dem An sieh-Sein (auio KaO^' auiö) selbst. Damit aber ist
dem Problem des Werdens und Wechsels wie seiner Lösung
der Boden bereitet. Es fragt sich jetzt, wie denn Eines Vieles
1 Phaidon, 96 a.
* Soph. 232 c.
^ Politeia, 582 c: Kai lai'iv itieToi fe q)povri0euu(; |u6voi; ^laueipoc; y^-
Yovö)^ . . .
* Ebenda: bm \6yu)v ttou eqpa|aev beiv Kpiveaöai.
* Ebenda 524 c.
182 6. Kapitel.
und Vieles Eines sei^ wie denn die Einheiten (luovdöe?), da
jede von ihnen eine und ebendieselbe ist von Ewigkeit und
selbst weder Entstehen noch Vergehen aufnimmt und einheit-
liche Beharrlichkeit hat, dennoch in den unendlichen Gestal-
tungen des Werdens zerstreut und selbst als vielerlei geworden
angenommen werden können und sie selbst ganz außer-
halb ihrer selbst.^ Dies Problem ist gleichsam nur eine neue
Formulierung jener im ErkenntnisbegrifF aufgedeckten anti-
nomischen Setzung von Beharrlichkeit und Wechsel im Erkennen
selbst. Und auch seine Lösung bewegt sich im stetigen Fort-
gang jener Bahnen, deren Richtung die Dialektik mit den Be-
griffen des «An-Sich» und «Anders» abgesteckt hat: Das «Anders»
ist eben immer anders als das «An-sich». Das «An-sich» aber
ist das «Eine», in sich Bestimmte, Einheitliche, das das un-
endlich Viele Andere nicht ist.^ Das Anders-Sein liegt also in
dem Sein des nicht-bestimmten Einheitlichen. Damit ist den
Begriffen des Bestimmten und Unbestimmten ihr logischer Ort
gewiesen, insofern eben das Anders-Sein selbst schon ein Sein
bezeichnet, das anders ist als ein bestimmtes Sein und so das
erst zu bestimmende Sein bedeutet, das zum bestimmten Sein
erst gelangen soll. Wie aber das Sein als Nicht-Sein nicht
schlechthin nicht ist, sondern als Nicht-Sein ist, so ist es auch
als Unbestimmt-Sein nicht schlechthin unbestimmt, sondern es
ist selbst als unbestimmt bestimmt; und das Unbestimmte liegt,
insofern es eben zunächst bestimmt ist als ein Unbestimmtes,
das erst bestimmt werden soll, selbst im Bereiche der Idee, es
gibt die Idee des Unbestimmten: iriv be toO direipou ibeav.*
Sie ist die beharrliche Grundlage nicht der Bestimmung, sondern
der Bestimmbarkeit. Denn wie aus der gegenseitigen Ver-
^ Phileb. 14 c: tv fäp bi] TToWct eivai Kai tö ?v iroWd . . .
^ Ebenda 15 b : tzvj<; au Taurac;, jniav iKdoTr]v ouaav äei Tr)v aörriv Kai
lüiriTe Y^veöiv |uir|Te ö\eOpov irpoöbexou^vriv, öiuuu«; elva\ ßeßaiÖTora |Li{av raü-
Trjv • lacTÖ be toOt' iv toT(; -fijvoixlvoxt; au Koi direipoK; eire bieairacriui^vriv Kai
TToWä YCTOvuiav det^ov, eid' öXr|v auTip auTf|(; \<Jjpi(; . . .
3 Vgl. S. 179.
"* Phileb. 16 d. Auch nach Arist. Phys. III, 4, 203 a tritt Piatons äneipov
«unter den Ideen» als koö' oütö und als oüai'a auf.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 183
knüpfuDg der Ideen erst die logische Rede entsteht^ so besteht
alle Bestimmung in der gegenseitigen Verbindung der Gat-
tungen.^ Die Bestimmung aber fordert selbst ein zu Bestim-
mendes und also selbst noch nicht Bestimmtes. Daraus folgt,
daß aus Einem und Vielem (eH ivbq |li4v Kai ck ttoXXüuv) alles
sei, von dem überhaupt gesagt wird, daß es sei und daß es
Bestimmung oder Begrenzung auf der einen und Unbestimmtes
oder Unbegrenztes auf der anderen Seite (-rrepa^ bk Kai dTteipiav)
in sich vereinige.^ Da dieses nun so geordnet ist (toutujv oütuj
öiaKeKOOiurmevujv), müssen wir jedesmal von Allem Eine Idee
(|uiav iöeav TravT6(;) annehmen und suchen, und wir werden diese
schon darin finden. Wenn wir sie nun gefaßt haben, müssen wir
weiter sehen, «ob außer diesem Einen etwa zwei darin sind, und
wenn nicht das, ob drei oder sonst eine Anzahl und^mit einem
jeden von diesen ebenso, bis man von dem ursprünglichen
Einen erkennt, nicht bloß, daß es Eines und Vieles, sondern
auch Wievieles es ist. Die Idee des Unendlichen aber (ti'iv öe
Tou direipou ibeav) ist auf die Menge (tö TrXfiöo^) nicht eher
zuzulassen, als bis man deren Zahl übersehen hat, die zwischen
dem Unendlichen und Einen liegt (töv dpiO^inöv . . . töv ineiaHu
Toö dTteipou le Kai toü evog) ; erst dann ist eines jeglichen Ein-
heit in das Unendliche (tö ev eKacriov tüjv irdviiuv dq tö dnei-
pov) einzulassen und freiziigeben.»* Das zu bestimmende Ein-
zelne bedarf also nicht bloß des Einen, wonach es bestimmt
wird, sondern auch eines Substrates der Bestimmung, das als
solches schlechtweg unbestimmt, die Idee des Unbestimmten
schlechthin ist. Die Bestimmungen des Unbestimmten nach den
' Soph. 259 e : bid y^P friv dWriXoiv tojv dbujv 0U|LnT\oKt"-)v 6 Kofoc, ^l-
yovev f)|uiv.
2 Ebenda: erepov ^repim laiYvuaOm, vgl. 2.59 a: öxi au,u)aiYvuTai öWhXok;
TÜY^vri. Besonders charakteristisch ist die Wechselbeziehung durch das «etepov
^T^puji» zum Ausdruck gebracht, da hier die griechische Sprache ein Mittel
besitzt, das im deutschen nicht in der Kürze ausdrückbare Verhältnis des
Einen zum Anderen sofort dahin zu präzisieren, daß jedes Eine zum Anderen
selbst ein Anderes, jedes Andere anders als ein Anderes ist.
3 Vgl. dazu auch Windelband, a. a. 0., S. 106 ff., Natorp, a. a. 0., S. 305 ff.,
Hartmann, a. a. 0., S. 391 ff.
* Phileb. 16 de.
184 6. Kapitel.
Einheiten der Ideen ergeben nun erst die Bestimmtheiten des
Vielen und damit der Gegenständhchkeit, in der die Gattungen
sich vermischen. Als Grundlage der Bestimmbarkeit nun spitzt
sich aber gerade das ctireipov mehr und mehr auf das Problem
der Substanz zu, um sich noch genauer zu diesem zu entfalten.
Wir haben nicht mehr bloß in den Ideen in ihrer Allgemein-
heit das Beharrliche schlechthin; wir nähern uns vielmehr in
der besonderen Idee des Unendlichen einem im Wechsel Be-
harrlichen, an dem sich nämlich der Wechsel der Bestim-
mungen (TTepa^) vollzieht.
Um dies zu verstehen, müssen wir scharf und bestimmt
die Unterscheidungen festhalten, die Piaton hier getroffen hat:
Er unterscheidet als zwei Gattungen zunächst das Unendliche
oder Unbestimmte einerseits und das Begrenzte oder Bestimmte
andererseits^ und als drittes eiöo? das aus jenen beiden Ge-
mischte.^ Als TtTapTov Yevoq aber fordert Piaton die Ursache
der Vermischung dieser beiden miteinander.^ Durch sie kommt
mit der Begrenzung Gesetz und Ordnung in das zu Bestim-
mende, da ja Gesetz und Ordnung selbst Bestimmtheit be-
deuten (v6|Liov Km rdHiv Ttepa^ exövTuuv).'* In dieser Bestimmt-
heit nun, in der sich das Erzeugnis aus Ttepaq und dtreipov
vollzieht nach den durch das Ttepag herausgearbeiteten Maßen,
liegt das Werden zum Sein.^ Das Werden, das selbst nicht
wird, ist ja selbst, aber es ist andererseits doch noch nicht das
Sein selbst, wie wir bereits gesehen haben*^, es ist, wie Windel-
band sagt, «Sein und doch Nicht- Sein».'' Es ist yeveoiq ei<;
ouffiav. Was wird, ist doch; aber es ist nicht, was es wird oder
zu dem es wird, d. h. es ist, insofern es wird, als werdend,
aber insofern es als werdend ist, ist es nicht das bestimmte
^ Ebenda 23 c; tö h^v äiteipov . . . tö b^ irepac;.
* Ebenda: tö bi xpiTOV ii diacpoiv toütoiv ev ti tu|U|Li»aTÖ|aevov.
^ 23 d: Tf|? SuniuiSeuu«; toütuuv irpö? äWn^ct Tr)v airiav.
* Ebenda 26 b, siehe PoliLikos 283 ff., vgl. auch Natorp, a. a. O., S. 309.
6 Phileb. 26 d : '^v toOto xiOevTa tö toütuuv ^kyovov änav, fiveaiv dq
oööiav iK tüjv jaexd toO Tiipa-zoc, direip-fadii^viuv ixiipujv.
6 Vgl. S. 176fy.
» Piaton, S. 89.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 185
Sein, zu dem es erst gelangen soll, insofern es wird. Es ist
ein Fortgehen vom Unbestimmten zur Bestimmung. Entstehen,
wie Vergehen sind selbst im Werden immer auf das Sein be-
zogen, das eine als ein Ergreifen, das andere als ein Ver-
lieren des Seins. ^ Das Werdende wird ein Anderes, als es
war und war ein Anderes, als es wird. Darum bewegt sich
alles Werden in der Gegensätzlichkeit^, die wir als Anders-Sein
kennen.^ Das, was es wird, wird es erst durch die Bestimmung,
die Ordnung und Gesetz in das Unbestimmte bringt. Das aber,
was alles ordnet und lenkt, ist nichts anderes als Vernunft
und wunderbare Einsicht.^ So wird die Vernunft, die der
«König des Himmels und der Erde» ist^, auch zur Grundlage des
Werdens zum Sein. An diesem Punkte ist, wie leicht ersicht-
lich, Piaton der Überwindung des ursprünglichen Dualismus
fast am nächsten gekommen: Das Unendliche, Unbestimmte
ist selbst als «Idee» bestimmt*^, die Bestimmung selbst wird voll-
zogen nach der Mischung d. i. der Verbindung der bestimmten
Ideen'', und zwar durch die Vernunft selbst. Hier bezeichnet
das ttTTeipov ebenso wie früher das Nicht-Sein, nicht mehr,
wenigstens nicht ganz, ein der Vernunftbestimmung absolut
fremd Gegenüberstehendes^, sondern wie dieses Nicht-Sein^ eine
Form der Vernunftbestimmung selbst, was hinsichtlich des
ctTTeipov um so deutlicher wird, als es selbst als «Idee» auftritt.
1 Parm. 163 d: tö be YiTveadm Kai diröWuödai |uri ti äWo rji, f\ rö |uev
ouaiai; ueraXaiaßdveiv, tö b' diroWüvai oOaiav.
' Phaidon, 71a: ÖTi irdvTa oÜTUi YiTvexai, ^E ^vavxiuuv Trdvxa xd evav-
xia irpdYMCTa.
3 Vgl. S. 179 ff.
* Phileb. 28 d: voöv Kai qppovriaiv xiva öaujuaaxrjv ouvxdxxouaav bia-
Kußepvdv.
^ Ebenda 28 c: Ojc, vovq daxi ßamXeOq ri|niv oüpavoö xe Kai f^q.
6 Siehe S 183.
" Vgl. ebenda, siehe auch Siebeck, a. a. 0., S. 93.
* Daß trotzdem abermals unter religiösem Betracht der Dualismus den-
noch bestehen bleibt und dessen Überwindung also keine restlose, sondern nur
eine annähernde ist, werden wir später zu bemerken Gelegenheit haben.
Freilich werden wir selbst dann die bedeutsamen Impulse, die über den Dualis-
mus hinausführen, nicht verkennen dürfen.
^ Darüber vgl. in bezug auf das Nicht-Sein abermals Siebeck, a. a. 0., S. 78.
186 6. Kapitel.
Es bedeutet kein eigenes selbständiges Ding oder Wesen, in
das sich das Denken nur zu versenken brauchte, sondern für
dieses selbst, wie J. Cohn sagt, «die unbegrenzte Möglichkeit
des Fortschreitens».^
Diese bewegt sich gleichsam nach unten wie nach oben
ins Grenzenlose; das Unbestimmte ist das, was das Mehr und
das Weniger (judWov t€ Kai rJTTOv)^ aufnimmt, das, wie Her-
modor sagt^, «in dem ,noch mehr Größer' und ,noch mehr
Kleiner', ins Unendliche fortschreiten» kann. Es kann kaum
schärfer und präziser, als es mit diesen Worten geschieht, aus-
gedrückt werden, daß es sich hier abermals um das Prinzip han-
delt, das wir heute als das Prinzip der Kontinuität zu be-
zeichnen pflegen:"^ «In das Genos des Unendlichen, als Eines
(ei? TÖ ToO otTTeipou fivoc; ÖJc, eig ev) ist alles das zu setzen, was
offenbar mehr und weniger, stärker und schwächer wird und
alles dergleichen aufnimmt.»^ «Was dagegen alles das nicht
aufnimmt, sondern gerade das Gegenteil davon, so zunächst
das Gleiche und die Gleichheit und dann das Doppelte und
was 'sonst eine Zahl zur anderen, ein Maß zum anderen wäre,
das müssen wir zum Begrenzten (eiq tö Trepag) rechnen, wollen
wir das richtig tun.»^ Das Wärmere und das Kältere, das
Stärkere und das Schwächere, das Leichtere und das Schwerere,
alles das hat einen Fortgang und keinen Stillstand (TrpoxujpeT
Kai QU )Lievei). Erst die bestimmte Größe, die da besagt, wie
» J. Cohn, a. a. 0., S. 33.
'' Phileb. 25 a.
^ Zitiert in der Übers, nach Bäumker, a. a. 0., S. 203.
* Auch hier hat das wohl zum ersten Male mit völliger Bestimmtheit
Natorp, a. a. 0., S. 308 ausgesprochen. Dem Sinne nach liegt das freilich
bereits auch in der erwähnten, recht scharfen und kurzen Formulierung von
J. Cohn, wenn er die Unendlichkeit bei Piaton richtig als «unbegrenzte
Möglichkeit des Fortschreitens» erkennt. Es fehlt nur der explizite Hinweis
auf das Kontinuitätsproblem. — Ich selbst halte mich oben im Texte lediglich
an die Darstellung Piatons selbst und will nur zum Schluiä den Sachverhalt
kurz, nicht an der Platon-Literatur, sondern an einem Beispiele aus der
exakten Wissenschaft noch etwas verdeutlichen. Ich hoffe, so am besten den
Platonischen Gedanken in aller Kürze zu voller Darstellung bringen zu können.
* Phileb. 2.5 a.
6 Ebenda 2.5 a/b.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus, 187
warm, wie kalt, wie schwer usw. kurz, wie groß es ist, die
also das Unbestimmte irgendwie bestimmt, bleibt bestehen (t6
hk TToaöv la-xr]). Ohne sie aber ist keine Bestimmung möglich,
weil das Unbestimmte kein Ende haben kann {\ir] teXog ex^iv).^
Wir haben früher gesehen'"*, daß die sinnlichen Faktoren von
sich aus nicht zum Sein gelangen können ; hier zeigt sich, daß
die Zahl es ist, die ihnen erst zum Sein, d. h. zur Bestimmt-
heit verhilft. ^ Sie nimmt das Mehr und das Weniger insofern
nicht auf, als sie eben dann nicht mehr dieselbe Zahl, sondern
eine andere Zahl wäre, während das, was das Mehr und das
Weniger aufnehmen kann, dennoch trotz dieses Aufnehmens
Dasselbe-Bleiben bedeutet, nämlich das Unbestimmte. Darum
aber ist die Zahl und eine andere Zahl, das Maß und ein
anderes Maß bestimmt, w^eil hier das Mehr und das Weniger
gleich eine andere Zahl, ein anderes Maß hervorbringen müßte,
weil hier die Anderheit eben gleich eine andere, wenn auch für
sich selbst wieder gleiche Zahl, ein anderes, wenn auch für
sich selbst wieder gleiches Maß setzte. So ist die Zahl das
Prinzip der Bestimmung des Unbestimmten, fortschreitend nach
der Seite des Mehr oder der des Weniger und beiden, die für
sich unbestimmt sind, eine bestimmte Grenze setzend, in diesem
Sinne irepag. Für sich selbst gehen das Mehr und das Weniger
ins Unbestimmte fort und haben kein Bleiben (irpoxaipeT Kai
DU iLievei), erst das Ttepai; bringt sie in dem irocrov d. i. der di-
stinkten Größe zum Stillstand.^
1 Ebenda 24 b.
" Siehe oben bes. S. 152 ff. und 156 ff.
^ Daß hier pythagoreische Einflüsse vorliegen, bedarf kaum der Er-
wähnung. Vgl. dazu Susemihl, Die genet. Entw. d. Plat. Philos. II, S. 413.
* Zur Verdeutlichung des Platonischen Gedankens diene zum Schluß noch
eine kurze exakte Anwendung: Man denke sich ein Gewicht G und das für
unsere Muskel- und Gelenkempfindung als eben merklich schwei'er wahr-
nehmbare Gewicht G', so daß G' > G sich darstellt. Zwischen beiden sind
aber mathemathisch unendlich viele Zwischenstufen denkbar, von denen jedoch
keine als von G und G' verschieden empfunden wird, so daß z. B. das zwischen
G und G' liegende G" = G' und = G empfunden wird. Die Gleichungen
G" = G und
G" = G'
188 6. Kapitel.
Insofern es aber die Vernunft ist, die diese Ordnung und
das Maß hervorbringt, und insofern das Unbestimmte selbst
Idee ist, wird in letzter Linie das ideale Sein der ewigen Ver-
nunftbestimmung zur Grundlage auch des empirischen Wer-
dens. Aus ihrer dialektischen Gegensätzlichkeit und Spannung
sind Sein und Werden, Beharrlichkeit und Wechsel ja befreit
durch die selbst dialektische Entwickelung des Gegensatzes von
Sein und Nicht-Sein zu der ßelation von An-sich-Sein und
AndersSein. Insofern nun weiter die Bestimmung des Unbe-
stimmten selbst das Werden zum Sein ermöglicht, werden die
werdenden Dinge selbst erkannt als Bestimmtheiten der Idee des
Unbestimmten nach Prinzipien der Bestimmung. Repräsentiert
sind sie zunächst im Trepa^ als der im Unendlichen fortschrei-
tenden und dieses selbst bestimmenden Vernunftordnung. Dieses
Fortschreiten ist aber selbst ein solches von Genos zu Genos,
durch das die fivr[ sich vermischen. So werden die T£vti selbst
d. i. die Ideen zu Prinzipien der Dinge, sie sind nur außer
ihnen (xuipiq), sofern sie nicht selbst die Dinge sind, sie sind
aber in ihnen und gleichsam «außer sich selbst»^, sofern die
Dinge nicht ohne sie sein können. Wie sie das sind, muß sich
alsbald enthüllen.
würden für die Empfindung gelten, trotzdem G' > G. Sie wären der Aus-
druck des sogenannten physischen Kontinuums, das aber den mathematischen
Grundsätzen von der Gleichheit jeder Gröfse mit sich selbst und der zweier
Gröisen, die einer dritten gleich sind, widerspräche. Alle unendlichen
Zwischenstufen zwischen G und G' wären also das äireipov, das das Mehr oder
Weniger ins Grenzenlose aufnimmt und dessen jeder Stufe ihre eigene Be-
stimmtheit fehlte, die sie nur durch die diskrete Zahl, die definite Größe
(ttoööv) erhalten kann, so daß jede erst durch die Zahl eine Bestimmtheit
erlangt und dafür des irdpaq bedarf.
Jedes andere Sinnengebiet kann liinlänglich illustrierende Beispiele liefern.
Recht bezeichnend sind vielleicht die Adaptationserscheinungen auf dem Gebiete
der Temperaturempfindungen. Man wisse, daß wir eine objektiv identische
Temperatur sowohl als Wärme, wie als Kälte empfinden, je nach der Adaption
der den Reiz empfangenden Stelle unserer Haut an eine höhere oder niedere
Temperatur, daß wir aber jene objektive Identität, wie das Steigen und
Sinken der Temperatur exakt und zahlenmäßig bestimmen können.
^ Pbileb. 15 b: öXriv aöxriv aOrfi? Xi^pk; vgl. S. 182, Anm. 2.
Der Substanzbegriff innerbalb des Systems des Idealismus. 189
10. Zwar sind das Gleiche an sich und die gleichen Dinge
nicht dasselbe.^ Allein wenn «wir ganz die Ursache des Ent-
stehens und Vergehens durchforschen » ^ dann ermitteln wir
die Ideen selbst als die Ursachen aller Dinge, die da entstehen
und vergehen, als Prinzipien aller Dinge des Werdens. Dabei
müssen wir freilich scharf unterscheiden zwischen dem, was
wirklich die Ursache für ein Ding ist und dem, ohne das bloß
die Ursache nicht Ursache sein könnte^, also, wie wir vielleicht
am kürzesten sagen können, zwischen condicio per quam und
condicio sine qua non,* So ist einer, der um einen Kopf
größer als ein anderer oder um einen Kopf kleiner als ein
anderer ist, nicht auch durch den Kopf größer als ein anderer
oder durch den Kopf kleiner als ein anderer. Vielmehr ist
jegliches, das größer als ein anderes ist, durch nichts anderes
größer, als durch die Größe selbst; und nichts, was kleiner ist,
als ein anderes, ist durch etwas anderes kleiner, als durch die
Kleinheit selbst.^ Immer findet man, wenn man den logischen
Grund, der sich der Prüfung als der haltbarste erweist, zu-
grunde legt (u7T0&e|Li6V0(S eKdö"T0Te \6yov, öv oiv Kpivuj eppuj-
|Li€veö"TaTov eivai), die wahre aixia in dem autö, dem Selbst, dem
«An-sich».*' Wenn also etwas außer dem Schönen selbst noch
schön ist (dWo KaXov irXriv auxö xö KaXöv), so ist es aus keinem
anderen Grunde schön als dadurch, daß es an jenem Schönen
selbst teilhat (bioxi |Li6xex€i xou KaXoü).^ Nur weil das Schöne
also in ihm ist, weil jenes ihm beiwohnt (-rrapouaia) und es am
Schönen selbst Gemeinschaft hat (Koivuuvia), ist das außer dem
Schönen schön, so daß allein durch das Schöne selbst alles
1 Phaidon, 74 c: ou Taüxöv äpa ^otiv . . .TaOxd xe xä loaKai aüxö x6 iffov.
^ Ebenda 96 a.
^ Ebenda 99 b. ... öxi äWo ^iv xi iOTi xö ai'xiov xüüi övxi, äX\o bd
^keTvo, ÖLveu oö xö amov ouk äv irox' e'i'ri a'ixiov.
4 Auch Natorp faßt die Mitursache als condicio sine qua non; vgl.
a. a. 0., S. 149.
5 Phaidon, 101a: ... öxi xö ineilov iräv gxepov ex^pou oubevi ö.X\uji
\j.ell6v daxiv fi luex^dei, Kai b\ä xoöxo neiZov, b\ä xö .ueyedoc, xö be IXaxxov
oubevi äWuji g\axxov r\ amKpöxnxi, Kai biä xoüxo eXaxxov, biet xr^v öfAiKpÖTiixa.
6 Ebenda 100 a/b.
' Ebenda 100 c.
1<J0 6. Kapitel.
Einzelne Schöne schön ist.^ Jedes eiboc, ist zwar für sich
etwas, aber die Dinge sind nur durch das eiboq etwas, an dem
sie teilhaben und durch dessen Teilhabe sie darum bezeichnet
werden.^ Sie sind das, was sie sind, durch das dhoc;, durch
die Idee. Diese ist außer ihnen lediglich als das Prinzip ihrer
Bestimmung, das ihnen zugrunde liegt. Aber eben darum
sind die Dinge selbst nichts ohne die Idee und außer der Idee,
da sie ja überhaupt nur sind, sofern sie nach der Idee bestimmt
sind. Sie entstehen und vergehen ganz allein durch die Idee.
Durch die reine Bewegung der Idee, ihr Kommen (Trpocrepxea^ai,
TTpoffievai) und Gehen (dTrepxecr^ai) ist auch die Bewegung, ist Ent-
stehen und Vergehen der Dinge bestimmt.^ Dieses Kommen
und Gehen der Ideen ist, wie sich bald zeigen wird, nichts
anderes als die Bewegung des voOg selbst, die durch die Ur-
sächlichkeit des Idee-Seins in ihrer ganzen Bedeutung klar
werden wird.
Die Ideen gründen das Sein der Dinge, wie den Wert der
Erkenntnis. Allein, wenn die Erkenntnis auch einen Wert dar-
stellt und sich, wie wir das längst gesehen haben, in ihrer
Möglichkeit auf der Wertfrage gründet, wenn sie also, sofern
sie wahrhaft Erkenntnis ist, auch wertvoll, also gut ist, so ist
sie doch noch nicht das Gute selbst, sie setzt also die Idee des
Wertes selbst, des Guten als den höchsten Wissensgegenstand
selbst voraus (r) toO dYaOoO ibia \xef\OT0v |ud&ri|ua).^ Jede Er-
kenntnis aber ist, das haben wir längst selbst erkannt^, die
Erkenntnis eines zu erkennenden Objektes durch ein erken-
nendes Subjekt. Ist nun in der Idee des Guten als in der
Wertvoraussetzung des Erkenntniswertes dieser selbst gegründet,
so muß sie nicht bloß dem Subjekte der Erkenntnis die Macht
» Ebenda 100 d.
^ Ebenda 102 b: eivai ti ^Koarov tuiv elbijuv Kai toütuuv räWa lieraXaia-
ßdvovxa aÖTiDv toutuuv thv dTTujvu|Li(av i'axeiv.
3 Ebenda 102e/103a.
•• Politeia, .ö05 a, vgl. 509 a. Hier also erfüllen sich in tiefstem Sinne
die früheren Andeutungen Piatons, die (siehe S. 138 ff.) in der Idee des Guten
<len Erkenntnisgegenstand überhaupt zum Unterschiede von bestimmten Gegen-
ständen bezeichneten.
^ Vgl. y. 158, Theait. 1. c.
Der Subslanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 191
zu erkennen und dem Objekte der Erkenntnis die Erkennbar-
keit verleihen^; sie muß vielmehr auch dem Objekte der Er-
kenntnis, da es sein muß, um erkennbar zu sein, da also in
seiner Erkennbarkeit sein Sein gefordert wird, sein Sein ver-
leihen.^ «Wie wir die sichtbaren Gegenstände nur sehen, wenn
die Sonne sie bescheint, so erkennt die Seele nur, wenn sie sich
auf das richtet, was Wahrheit und Sein erhellt, dann versteht
sie es, und offenbart ihre Vernunft. » ^ Wie aber «die Sonne den
sichtbaren Gegenständen nicht bloß Sichtbarkeit, sondern Wer-
den, Wachstum und Nahrung verleiht, ohne daß sie selbst
alles dieses ist, ebenso muß man sagen, daß dem Erkennbaren
nicht nur die Erkennbarkeit vom Guten verliehen werde, son-
dern auch Sein und Wesen selbst, da doch das Gute selbst
nicht bloß das Sein ist, sondern an Wert und Würde noch
das Sein überragt».'^ Hier gelangt also mit aller Kraft die
Erkenntnis zum Durchbruch, daß die Grundlage des Seins ohne
einen fehlerhaften Zirkel nicht wieder in der Sphäre des Seins
selber gesucht werden kann, daß darum vielmehr das Sein in
der Idee des Guten, des SoUens^ begründet ist oder daß wir,
wie Lotze*^ sagt, «in dem, was sein soll, den Grund dessen
suchen» müssen, «was ist».
1 Politeia, 508 e : Toöto toivuv tö ti'iv d\r^öeiav rcap^xov toT? YiTvuiaKO-
la^voic; Kai toii fiT'^tÄJtJKOVTi rqv b6va|uiv dirobiböv, Trjv tou diYaOoö ibiav
cpdöi eivai.
- Ebenda 509 b, ausführlich zitiert übernächste Anmerkung.
3 Ebenda 508 d.
•• Ebenda 509 b : ... Kai toii; y^T'^uuckoih^vok; toivuv |ari luövov tö
YiTVÜJCKeadai qpdvai dirö tou äYaöoO ttapeivai, &KKä Kai tö eTvai t€ kui thv
oüaiav ütt' ^Keivou aÜTOic; irpoöeivai, oük oijaiaq övto(; tou dYaöoö, diW ^ti
^TT^Keiva Tii(; oüai'aq irpeaßeiai Kai buvä|uei üiTep^xovTO(;.
* Es ist wohl nicht uninteressant, zu bemerken, dal3 der Denker, der
heute den Primat des Sollens vor dem Sein am nachdrücklichsten vertritt, daß
Heinrich Rickert nämlich, die soeben zitierte Stelle aus der Politeia, 509 b
seinem «Gegenstand der Erkenntnis» als Motto vorgesetzt hat.
* Metaphysik, S. 604. Der Höheixinkt des Lotzeschen Denkens liegt also
auch unter rein systematischem Betracht im echten Piatonismus. Auf die
Platon-Interpretation, die er in der Logik gibt, fällt von hier aus selbst ein
ganz bedeutsames Licht. Wir kommen bald noch darauf zurück.
192 6. Kapitel.
Sind also die einzelnen Ideen auch die Voraussetzungen
der Diiige, so sind sie eben doch nur solche. Sie sind Be-
dingungen der Dinge, aber darum noch nicht selbst unbedingt.
Sie sind hypothetische Voraussetzungen (uTroö^eaeKj) für ein be-
stimmtes Ziel und Ende (TeXeuin) der Erkenntnis.^ Wenn wir
von jenen ausgehen, können wir dieses zwar auf ihnen gründen.
Allein jener Ausgang ist noch nicht ein eigentlicher erster und
unbedingter Anfang, ein höchstes Prinzip. Sie sind nur An-
fänge für die Einzelwissenschaften, die eben Hypothesen zu
Prinzipien haben (aiq ai urroOeffeK; dpxai)^i ^^^ diese lassen die
Einzelwissenschaften selbst unbewegt (otKivriTou? eujoi^), weil sie
nicht bis zur ctpxn schlechthin zurück- sondern nur von Hy-
pothesen ausgehen (öid öe t6 nn in' dpxnv dveXOoviag cyKOireTv
dXX' eH uTTodecJeuuv).'* Die dialektische Methode ganz allein hebt
alle hypothetischen Voraussetzungen auf und schreitet zum
Anfang selbst zurück, um hier festen Fuß zu fassen.^ Nicht
von den Hypothesen zu dem Ende (xeXeuTri), sondern zum ersten
Anfang schlechthin, dem Unhypothetischen, dem Unbedingten
schreitet sie vor {eS uTTO&eoeuuc; in dpxnv dvuTroöeiov), in dem
sie die Ideen als Hypothesen selber gründet*', als dem eigent-
hehen Ziel und dem eigenthchen Zweck (TeXoq).^ Sofern also
der wahre Dialektiker, und das allein ist der wahre Philosoph,
den logischen Grund und Begriff eines jeglichen Seins faßt^,
darf der Philosoph nicht eher ablassen, als bis er zur Erkennt-
nis des Guten, dessen also, was das Gute selbst ist, gelangt
ist; dann erst ist er am eigentlichen Ziele des Vernünftigen an-
gelangt.^ Das geschieht auf dialektischem Wege (öiaXeKiiKri
1 Polileia, .510 b.
2 Ebenda 511c. Vergl. hierzu auch Natorp, a.a.O., S. 172 ff. u. 188 ff.
8 Ebenda 533 c.
* Ebenda 511c.
5 Ebenda 533 c/d: rj biaXeKxiKri |i^dobo<; laövrji TaÜTTii -rropeüeTai tök; ütto-
^ioe\c, dvaipoOaa ^tt' aOxriv xnv dpxnv, i'va ßeßaidiaiiTai.
8 Ebenda 510 b.
7 Ebenda 532 b. Das t^Xoi; ist also nicht TeXeuTn, sondern gerade dpxn-
» Ebenda 534 b: koi bia\€KTiKÖv KaXeiq töv Xöyov ^KdöTOU Xa|ußävovTa
Tfji; ovoiac,.
9 Ebenda 532 b: . . . -rrpiv äv aürö ö ^ariv dyaSöv aüxrii vor|öei Xdßrn,
TÖte br] dir' aüxiDi Y^T^tTai tUji toO vor|ToO T^Xei.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 193
TTpoeia)\ der also die Ideen im Einzelnen in der höchsten Idee
des Guten gründet. Sie ist das Unbedingte schlechthin, in
dem auch die Ideen im übrigen ihren Ursprung haben. In-
sofern ist sie selbst Gott (öeoq), Wesensbildner (qpuroupYoc;), der
selbst die Ideen schafft^, der als Schöpfer des Weltganzen unter
allen Ursachen selbst am besten ist {äpxüTOc, tujv aiiiujv^), und
in seiner Güte selbst will, daß alles gut sei.* Sofern aber die
Ursache und das Prinzip aller Bestimmung des Unbestimmten,
das selbst eine Idee ist, die Vernunft, der vovc, ist, wie wir
gesehen haben, und insofern alle obersten Ursachen Vernunft-
ursachen (xäq T\\q eiucppovo^ cpuoeujg aixiag TrpüÜTag) sind, auf die
alle mittelbaren Bewegungen zurückgehen (utt' aXXuuv Kivou|uevujv)^,
ist im von^ög deoq'^ die Einheit von Vernunft und Gott und
damit von der Idee des Guten mit Gott und mit der Vernunft
vollzogen. Die Idee des Guten, Gott und Vernunft sind Eines
^ Ebenda.
2 Ebenda 597 d.
^ Timaios, 29 a.
* Ebenda 30 a. Aus diesen Bestimmungen, daß einerseits die Idee des
Guten als Grundlage alles Seins, als höchste Ursache und den bestimmten
Ideen gegenüber als Unbedingtes auftritt, daß andererseits Gott als Wesens-
bildner und Schöpfer der Ideen gilt und als letzte der Ursachen will, daß
alles gut sei, scheint mir die Identität von Gott und der Idee des Guten mit
einer so unwiderstehlichen Kraft hervorzugehen, daß das Argument Susemihls
für diese Identität, das er in Am. 41 zu seiner Übersetzung des Timaios, S. 727, an-
führt, obwohl es an sich richtig ist, kaum noch etwas besonderes zu besagen ver-
mag. Susemihl bemerkt hier, daß Tim. 29 a vom Weltschöpfer, genau wie von der
Idee Gottes in der Politeia 517 d/c, ausgeführt wird, daß sich die unvollkommene Er-
kenntnis des Menschen zu diesem höchsten Gegenstande nur schwer zu erheben
vermöge. Darum sei «schon hiernach die Identität dieser Idee mit dem Welt-
schöpfer kaum zu bezweifeln». In der Tat spricht ja auch der Umstand, daß
beide als höchster Wissensgegenstand bezeichnet werden, für diese Identität.
Doch sind wohl die anderen Gründe zwingender. — Das Mißverständnis, daß
die Idee des Guten ein Geschöpf Gottes wäre, brauchen wir wohl nicht noch
besonders abzuwehren. Das hat schon Zeller, a. a. 0. II, S. 694 mit genügender
Deutliclikeit getan, wenn er bemerkt, «daß die Idee des Guten, welche die
Ursache alles Seins ist, nicht für ein Geschöpf der Gottheit, sondern nur für
identisch mit ihr gehalten werden» kann.
* Ebenda 46 d/e.
« Ebenda 92 c.
Bauch, Das Substanzproblem. 13
194 6. Kapitel.
und Ebendasselbe. Gott ist also, wie Windelband ^ richtig be-
merkt, keine «geistige Persönlichkeit», sondern eben die Idee
des Guten, und «das Gute ist der Sinn der Welt und die in
ihr waltende Vernunft (voög)».^ Wie in der Bestimmung des
Unbestimmten, die vom voüq geleistet wird, sich in letzter Linie
Schönheit, Verhältnismäßigkeit und Wahrheit enthüllen und
die «Mischung» bestimmen, so weisen alle diese drei hin auf
Eines: die Idee des Guten, und sie alle drei sind selbst Eines
in dieser Idee.^ In der Vernunft (voü(;, XoYoq) als dem letzten
lubegrifif aller Werte enthüllt sich Platou eine höchste, alles
beherrschende unkörperliche Ordnung (k6(J|uoi; xiq dauujuaTo?),
die zugleich göttliche, weltbildende Ordnung ist.'^
Freilich es bleibt ein Unterschied: Was an dem ewig in
sich Selbigen und Gleichen und Unsterblichen und Wahren
haftet, selbst solches ist und auch in ihm entsteht (xö toö
dei ojLioiou exöjuevov Kai döavdTou Kai dXr|&£ia(g, Kai auTÖ toigOtgv
ov Kai ev toigutuji YiTvö^evov), das hat ein höheres Sein (ladWov
eivai), als das an dem nie Gleichen und Sterblichen, das selbst
solches ist und in solchem entsteht {r\ tö |un^^TTOTe Ö|lxoiou Kai
dvriTOÖ, Kai auTÖ toioOtov Kai ev toigutuji YiTVÖ|Lievov).^ Das
Sein und Entstehen des Ewigen und Unsterblichen muß eine
andere Grundlage haben als das des Sterblichen. Daß Un-
sterbliches wird, deutet auf einen höheren Ursprung: es kann
nur von Ewigkeit her selbst entspringen. Wenn das ewige
Sein der Ideen einen Ursprung hat, so kann er nie zeitlich
gemeint sein: es ist der außerzeitliche teleologische Ursprung
aus dem höchsten Prinzip, dem über dem Sein liegenden Ziele
^ Piaton, S. 106.
2 A. a. 0., S. 105. — Susemihl dagegen macht a. a. 0. II, S. 196, trotz-
dem er richtig die Idee des Guten mit Gott identifiziert, aus Gott einen «Träger
der absoluten Erkenntnis». Daß eines das andere ausschließt, daß ein «Träger
der absoluten Erkenntnis» nicht Idee und gar Idee des Absoluten selbst und
daß die Idee und vollends die Idee des Absoluten, als was sich die Idee des Guten
daistelli. nicht bloß ein «Träger der absoluten Erkenntnis» sein kann, scheint
Susemihl entgangen zu sein.
3 Phileb. 65 a.
•• Ebenda 64a/b; vgl. Pohtikos, 270 äff.
^ Politeia, 585 c.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 195
(t€\o(;) des Guten, dessen Sein selbst ein höheres Sein ist als
das seientliche Sein, weil es schlechtweg absolut ist, unbedingt
(dvuTTÖTe^ov) gilt. In ihm haben die Ideen als das wahre Sein
ihren Ursprung, der selbst ein Zweckursprung ist, und als be-
stimmte Zwecke bestimmen die Ideen die Dinge, als deren
Ursache, sind also «Zweckursachen» ^; ein «Reich der Werte»^,
gegründet in dem höchsten Werte, dem Werte aller Werte und
Inbegriff der Werte selbst. Sie sind ihm nicht fremd, sie sind
die ewigen Seinsweisen seines Über-Seins, um das Werden zum
Sein als ein Unter-Sein zu bestimmen, das mithin weder ihnen
noch dem Absoluten fremd ist. Das Unter-Sein ist im Sein
gegründet, wie das Sein im Über-Sein. Die Ideen sind Seins-
Weisen, die den Grund im Guten haben, und selbst Seins-
Grundlage des Werdens sind. So wird das gesamte Werden
des gesamten Seins wegen. ^ Das Gute ist die höchste Einheit,
weil die dpxn des Seins und selbst also darum über dem Sein,
weil das Prinzip des Seins nicht im Sein selber liegen kann,
wie das Sein das höchste Prinzip des Werdens, so daß
das Werden seinerseits vermittels des Seins selbst im über-
seienden Guten verankert wird, so daß das, wegen dessen etwas
Werdendes selbst wird, seinen letzten Grund in der Ordnung
des Guten findet/ Gott, das Gute, die Vernunft, sie drei sind
' So u. a. Siebeck, a. a. 0., S. 93; vor allem Windelband, a. a. 0., S. 103 ff.
^ Eucken, Die Lebensanschauungen der grofäen Denker, S. 25; freilich
streift Eucken manchmal, so S. 24, hart an die dingliche Auffassung. Wenig-
stens ist auch hier der Unterschied zwischen Dingen und «selbständigen
Wesenheiten» nicht ganz scharf zu sehen.
* Phileb. 54 c: Zdixnaaav bä -^iveaiv ovaiac, ^veKO yi^veadai Eu|.tTräan?.
* Ebenda: t6 fe |aqv ou ^vena tou •fifvö\xevov äei y'Tvoit' äv, dv i?\i
Toö ciYaOoD inoipai ei<eivö daxiv.
Hier möchte ich anmerken, daß der Grund der Polemik Natorps, a. a. 0.,
S. 195 f., gegen Lotzes Auffassung des «Geltens» nicht recht ersichtlich ist. Es
mag wahr sein, daß auch das Sollen sich als eine «Art des Seins» betrachten läßt.
Nur glaube ich nicht, daß dem Lotze widersprochen haben würde. Spricht er doch
sogar von der «Wirklichkeit der Geltung», wie Cohen vom «Sein der Geltung». Es
ist nur in letzter Linie jenes Sein, das, um mit Piaton zu reden, «über das Sein»
hinausliegt. Denn das dürfte richtig bleiben, was neuerdings auch Cassirer,
Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit,
S. 36, von Piaton bemerkt: «Indem er auf diese Weise gegen den Begriff des
13*
196 6. Kapitel.
Eines^: der absolute Seinsgriind, die Ideen sind die Bedingungen,
durch die das Unbedingte die Dinge selbst zweckvoll bedingt
und bestimmt in ihrem Sein, nicht bloß Gesetze der Erkennt-
nis der Dinge, sondern ihre Seinsgesetze, oder, wie Schleier-
macher sagt, «in der Idee des Guten begründete Welt-
gesetze».^ Wie aber gerade darum die Ideen nichts sind
außerhalb und unabhängig von der Idee des Guten, getrennt
nur, soweit diese eben ihr Prinzip ist, eines aber, insofern sie
ohne ihr Prinzip selbst nicht sein können, so ist auch die
Welt der Dinge nichts außerhalb und unabhängig von den
Ideen sonst, getrennt nur, sofern sie selbst die Prinzipien wieder
der Dinge im Einzelnen sind, eines aber wieder insofern auch
diese Dinge ohne ihre Prinzipien im Einzelnen nicht sein können.
Und insofern die einzelnen Prinzipien der Dinge bedingt sind
Seins fragen lehrt, muß deutlich werden, dafa keine Antwort, die selbst dem
Bereich des Seins entnommen wäre, der Tiefe des neuen Problems mehr
gerecht werden kann». Diese Formulierung Cassirers ist nur deswegen nicht
ganz einwandsfrei, weil sie bei ihrer bloß negativen Bestimmung einen
Progressus in infinitum nicht ausschließt, indem man wieder nach jenem «Be-
reiche» des SoUens fragen könnte, ohne die Antwort selbst diesem «Bereiche»
entnehmen zu dürfen usf. in infinitum. Dieser Schwierigkeit entgehen wir,
unter völliger Anerkennung des Richtigen jener negativen Bestimmung,
indem wir positiv die Klimax des Seins schlechthin bei Piaton im Unbeding-
ten, ävuirööerov, gründen. Der Begriff des Seins läßt selbst eine Klimax zu,
was aus dem liäWov eTvai Piatons deutlich wird: Wie das Nichtsein selbst
sich als Sein erwies und ebenso das Werden, obwohl es doch erst zum Sein
gelangen soll, so ist freilich in letzter Linie auch das Sollen, das über dem
Sein hinausliegen muß, weil es dessen Prinzip und Ursache ist. Aber es ist
nicht, wie das seientliche Sein, es ist über ihm als ein Über-Sein, wie
das Werden nicht das seientliche Sein ist, zudem es erst werden soll und
im Verhältnis zu dem es ein Unter-Sein ist. Vielleicht ist es gut, wenn
wir bei Piaton in letzter Linie nicht bloß Sein und Werden, sondern, wie ich
es hier tue, Über-Sein, seientliches Sein und Unter-Sein scharf unter-
scheiden, um so am deutlichsten zu verstehen, wie sie sich vereinen. Die
Trennung liegt selbst im «Anders-Sein» und in der Reflexion, die Einsicht
wieder im «An-sich-Sein».
^ Vgl. besonders Pohteia, 596 äff., Tim. 28 a und dazu auch noch
Phaidros, 247 a.
* Anm. zu d. Übers, d. Politeia, S. 585. Die obigen Worte sind von
mir gesperrt.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 197
im Unbedingten, sind auch die Dinge bedingt im Unbedingten,
und die Welt der Dinge ist nichts außerhalb der Idee des
Guten oder Gottes. Sie ist nur die Gottheit in ihrer
Wahrnehmbarkeit als Bild ihrer Vernünftigkeit. ^ Ver-
nunftmäßig und darum zweckvoll ist deshalb sowohl das Be-
dingt-Sein, wie das Ursache- oder Bedingung-Sein der aitia.
Es ist, wie die öiaXeKTiKri |Liedobo(; gezeigt hat, rein rational.^
Auf diesem Höhepunkte hat das Platonische Denken wie-
derum seinen Ausgangspunkt, nur in unvergleichlich vertiefter
Bedeutung ergriffen. Von ethischen Fragestellungen ging es
* Timaios, 92 c. eiKÖiv toö voiitoO Qeöq axa^r\TÖ<;. — Wir kommen
darauf noch einmal zurück. Hier aber sei noch soviel bemerkt, daß gerade
in dieser Fassung Piatons das Verhältnis von Idee und Erscheinung mit voller
Deutlichkeit zum Ausdruck gelangt. Zeller hat durchaus recht, wenn er von
Piaton, a. a. 0., S. 745 sagt: «Er braucht nicht nach einem Dritten zwischen
Idee und Erscheinung zu fragen, denn beide sind ihm nicht verschiedene
nebeneinander stehende Substanzen». Nur wenn er fortfährt «sondern die
Idee ist ihm das allein Substantielle», so ist bei der Unbestimmtheit, in der
Zeller dieses «Substantielle», wie wir das schon gesehen haben, gelassen hat,
dieser Zuzatz der Begründung nicht ohne weiteres annehmbar. Besser dagegen
ist die andere Form der Begründung Zellers, daß die Ideen die «immanente
Ursache» der Erscheinungen seien (S. 687).
- Siebeck, a. a. 0., S. 95 bemerkt richtig, daß die Platonische aiTia als
finale Kausalität, und darum im Sinne des Verhältnisses von Grund und
Folge, nicht eigentüch im gewöhnhchen mechanischen Sinne des Verhältnisses
von Ursache und Wirkung zu fassen ist. Mit Recht verweist deshalb Siebeck
hier auf Spinoza, der insoweit rücksichtlich seines Begriffes der causa mit
Piaton auf der einen Seite die größte Verwandtschaft zeigt. Diese heß sich
auch hinsichtUch des Gottesbegriffes im Verhältnis zu den Ideen und Dingen
bei Piaton und den Attributen und Modi bei Spinoza noch weiter ver-
folgen. Auf der anderen Seite wird freilich ein von Siebeck nicht ange-
deuteter Gegensatz deutUch, wie er größer nicht gedacht werden kann:
auf der einen Seite zum System erhobene Teleologie, auf der anderen Seite
prinzipieller Ausschluß aller Teleologie. Für Spinoza ist das Sein eben nie
Problem, sondern immer Dogma. Zu bemerken ist hier vielleicht noch Eines :
Sofern die Idee des Guten Ursache des Seins, zugleich aber auch identisch ist
mit Gott und Vernunft, muß der göttlichen Weltvernunft Piatons doch wohl
Spontaneität zugeschrieben werden. Aber gerade hier zeigt sich nun wohl deuthch,
was wir früher (S. 1 66) nur andeuteten, daß diese Spontaneität, wenn man von
einer solchen redet, doch keine rein erkenntnistheoretische, sondern eine
metaphysische ist.
198 6. Kapitel.
aus. Allein für diesen Ausgang war die eigentümliche Kon-
stellation die, daß zunächst zwar das Theoretische nur Form
schien für den praktischen Gehalt, daß aber dennoch der
eigentliche Ertrag und Inhalt sich als ein theoretischer erwies,
für den hinsichtlich der Bedeutung das Praktische nur Form
war. So wurden die Ideen erreicht als bleibende Wertord-
nungen des Erkennens. Insofern sie aber bleiben und in ihnen
nicht nur das Erkennen, sondern mit dem Erkennen das Sein
gegründet wird, wird in der Idee des Guten als in der Idee
des absoluten Wertes, mithin im Praktischen zuletzt doch das
Theoretische gegründet. Das zunächst für den Anfang mehr
persönlich scheinende Interesse am Praktischen erlangt seine
objektive Bedeutung, der Ausgangspunkt erlangt im Höhe-
punkt des philosophischen Denkens bei Piaton seine sachliche
Rechtfertigung: Die Ideen als Wertordnungen sind im tief-
sten Sinne selbst Weltordnungen, begründet in der höchsten
praktischen Ordnung des Guten, dem allumfassenden ordo or-
dinans, der jetzt in seiner bedeutsamsten Tiefe die Grundlage
ist einer praktischen Weltordnung überhaupt, so daß, während
am Ausgange bei aller praktischen Tendenz der inhaltliche Er-
trag ein theoretischer war, jetzt aber auf dem Höhepunkte des
Denkens bei aller Tendenz auf das Theoretische, für das Er-
kennen und Sein, doch das eigentliche Fundament im Prak-
tischen gewonnen wird.
11. Wir hatten gesehen^ daß es das Prinzip der Bestim-
mung ist, das in das Unbestimmte «Gesetz und Ordnung»
bringt, und daß das, was alles ordnet, die Vernunft selber ist.
Insofern das Unbestimmte, Unendliche aber selbst als Idee
auftrat (iöea xoö diTreipou), konnten wir sagen, daß Piaton hier
der Überwindung des ursprünglichen Dualismus am nächsten
komme. Und diese Tendenz der Überwindung wird noch ver-
schärft und verfestigt durch die Zweckursächlichkeit der Ideen,
die zur «unbedingten» Idee des Guten als der letzten Grund-
lage alles Seins und Werdens führt. Und dennoch dürfen wir
nur sagen, daß Piaton der Überwindung des ursprünglichen
' Vgl. oben S. 182 f.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 199
Dualismus am nächsten kommt, nicht aber, daß er sie rest-
los vollzogen hat. In seinem Denken durchkreuzen sich zu
verschiedene Motive, als daß er es hinsichtlich der erklärenden
Theorie des Werdens zu einem vollkommenen Ausgleich ge-
bracht hätte. Es ist sehr bemerkenswert, daß Piaton selbst
auf dem Höhepunkte des Problems des Werdens wiederum
gesteht, daß, weil wir nur hinsichtlich des wahrhaft beharr-
lichen Seins volle Wahrheit (dXn&eia) erreichen, wir hinsichtlich
des Werdens der Welt noch auf den bloßen Glauben (-rriaTK;)
verwiesen sind, und daß er darum selbst nicht imstande sei,
in allen Punkten und in jeglicher Hinsicht durchaus mit sich
übereinstimmende und stichhaltige Gründe zu geben/ Unter
den verschiedenen Motiven, dem erkenntnistheoretischen, meta-
physischen, psychologischen, mythischen, künstlerischen, ethi-
schen, religiösen, die sich alle hier miteinander durchkreuzen
und verschlingen, ist es aber gerade das letzte, das religiöse,
das Motiv der tticti? im eminenten Sinne, das den Philosophen
in einem gewissen Dualismus festhält, ohne ihn zum letzten
Ausgleich gelangen zu lassen. Freilich läßt sich nicht ver-
kennen, wie gerade wieder in erkenntnistheoretischer Hinsicht
vom Werdensproblem aus das interessanteste gedankliche Auf-
ringen erwächst und speziell für das Substanzproblem die be-
deutsamsten Perspektiven eröffnet. Indes, eine restlose Über-
windung des Dualismus für Piaton in Anspruch nehmen, heißt
die geschichtliche Sachlage verkennen.
Wenn die Vernunft die letzte Ursache von Gesetz und
Ordnung in der Bestimmung des Unbestimmten ist und das
d-rreipov als ibea auftritt, so scheint zwar die Überwindung des
Dualismus vollzogen. Allein es heißt zwar, daß Gott, die höchste
Ursache aller Ursachen, die Idee des Guten selbst wollte, daß
nach Möglichkeit alles gut und nichts schlecht sei (dYa^d iuev
irdvTa, qpXaöpov öe inribev eivai Kaid öuva|uiv). Aber es heißt
auch unmittelbar weiter: Weil nun alles Sichtbare in Unruhe,
in regel- und ordnungsloser Bewegung war, führte er es aus
' Tim. 29 b : .... irdvTrii irdvTU«; auxoö^ aüxoi? ö|lio\oyou|ji^voui; Xöyoui;
Kai dirriKpißuüia^vou? dnoboüvai.
200 6. Kapitel.
der Unordnung zur Ordnung über (Kivoujaevov T:\ri|ae\(ju? Kai
äTÜKnix;, dq TctHiv aÜTÖ riYaTCV ek Tf\q draSia?), weil es so besser
(aiaeivov) war.^ Hiernach müßte also die «Unordnung» der
göttlichen «Ordnung» gegenüber etwas Selbständiges und Ur-
sprünghches bedeuten. Gott müßte die Welt der Bewegung
schon vorgefunden haben, wo er doch der Ursprung aller Be-
wegung als deren höchster Zweck sein soll. Der Grundtendenz
des Philosophen, die Sein und Werden im Sollen verankert,
widerspricht das offenbar. Allein gerade die Theorie der Werte,
die er da gibt, kommt einem religiösen Bedürfnis entgegen,
das den ursprünghchen Dualismus wieder eröffnet. In der
«Ordnung» liegt der Wert. Die «Unordnung» muß außerhalb
der Sphäre der Werte stehen. Sie kann nicht gut sein. Gott
als dem Guten schlechthin kann darum selbst nur Gutes zu-
geschrieben werden. Für die Übel der Welt muß man daher
andere Ursachen als Gott postuheren. Diese religiöse bezw.
theologische Ansicht stellt Piaton gerade da auf, wo er alles
Sein und Werden in der Idee des Guten begründet hat.^ So
ist für Piaton nun doch die Vernunft nicht die einzige
Ursache der Welt, vielmehr ist diese aus einem Zusammen-
treten von Vernunft und Notwendigkeit geworden.^ Der Ver-
nunft tritt also die Notwendigkeit als etwas Selbständiges gegen-
» Ebenda 30 a.
2 Politeia, 379 c: tiIiv bd KaKoiv aW ötto Zirixeiv xd aiTia, äW oO töv
öeöv; vgl. auch Poliükos, 273(3. Ebenso erklärt Arist. Met. I, 6,987 b, daß bei
Piaton dem Einen Prinzip des Guten, in dem die Ideen und wegen der Zweck-
ursächlichkeit das Gute in der Welt seinen Ursprung habe, das Böse gegenüber-
stehe. — Hier ganz allein liegt der Antagonismus auch innerhalb der Politeia.
Wenn dagegen A. Krohn, Der Platonische Staat, S. 102 f. in der Bedeutung
der Idee einmal als des «An-sich», das andere Mal als der Grundlage der empi-
rischen Reahtät einen unausgleichbaren Antagonismus sieht, so verkennt er,
wie er ja überhaupt Piatons Dialektik einfach zu einem «Riß» im System
Piatons überspannt, wo doch das System Piatons selbst ein System der Dialek-
tik ist, völlig, daß das «An-Sich» nichts anderes bedeuten kann als Grund-
lage der empirischen Realität, oder wie Zeller sagt, «immanente Ursache»
der Erscheinungen sein. Vgl. dazu oben S. 197 und für Zellers Auffassung
unsere Anm. 1 auf derselben Seite. Mit besonderer Feinheit hat Windelband,
a. a. 0., S. 109 ff. diese antagonistisch-dualistischen Denkmotive entwickelt.
^ Tim. 48 a: i£ dvctYKnq xe Kai voö auGxdaeoK; ^YT^vriOri.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 201
über. Und wenn bei Platou die «Notwendigkeit» zunächst auch
in einer Art von mythischer Personifikation auftritt, indem die
Vernunft die Notwendigkeit «überreden», also durch Überredung
sich fügsam machen und bestimmen soll, so ist hier doch ein
außervernünftiger Faktor als solcher aufgestellt. Er verwickelt
Piaton in Schwierigkeiten, aus denen er sich gänzlich nie zu
befreien vermag. Denn wenn auch das Böse nicht selbst der
Ktt&apd Guoia, dem övToug öv angehören kann, so kann doch,
sofern das Nicht-Sein selbst ist, ja im direipov, sogar im vovc,
als «Idee» aufgehoben ist, nun das Böse nicht etwa überhaupt
nicht sein. Es behält sein eigenes Sein, Ja es müßte zuletzt,
wie das Nicht-Sein vermittels des dTteipov, im voO? die dvotTKr)
und mit ihr die KaKd selbst gesetzt sein, was wieder dem Prin-
zip des Guten widerspräche. Ist es, so muß es im voö<g sein,
im voö? kann es nicht sein, weil der voög nur gut sein kann.
Aus diesem Widerspruch vermag sich Piaton nicht zu retten.
In letzter Linie ist diese Schwierigkeit freilich im dtreipov selbst
angelegt.^ Denn trotz seines «Idee »-Seins behält es der Ver-
nunft gegenüber als das Unbestimmte zwar nicht absolut, aber
doch wenigstens in gewisser Hinsicht etwas Fremdes.^
12. Damit sind wir zugleich wieder an dem Punkte ange-
langt, der für unser spezielles Thema von unmittelbarer Be-
deutung wird, und um dessentwillen wir hier überhaupt nur
den religiösen bezw. theologischen Antagonismus in Piatons
Denken berührten, weil nämlich aus ihm ein gerade in erkennt-
nistheoretischer Beziehung bedeutsames Motiv für unser Pro-
blem erwächst. Im Philebos waren vier Y^vr) zunächst vonein-
^ Natorp hat daher durchaus recht, wenn er a. a. 0,, S. 340 darauf auf-
merksam macht, daß sich töHi? und äxaSia verhalten wie irepac; und äireipia.
- Diese Fremdheit möchte ich aber, trotzdem es gelegentlich heißt, das
Unendliche sei nicht geschaffen von Zeus, sondern nur gebunden, nicht
mit Schleiermacher, Einl. z. Phileb., S. 131 f. als eine Art von Absolutheit
Gott gegenüber hinsichthch der Fruchtbarmachung des äireipov für den Be-
griff der Materie ansehen. Diese Fremdheit und Selbständigkeit ist dann eher
das Gegenteil von Absolutheit, weil das Gegenteil von der allein absoluten
Idee des Guten, so daß gerade dieser Irrationalismus noch ein bedeutsames
logisches Motiv gegen jeden materiellen Dogmatismus zeitigen wird. Inwiefern
nichts absolut Fremdes im äireipov vorhegt, s. oben S. 185.
202 6. Kapitel.
ander unterschieden worden: das -rrepaq, das ctTreipov, das eH
djuqpoiv TOUTOiv ev ti E\j|ajuiaY6,uevov und viertens Tfjig ivnjiiHiJjq
TOUTUJV TTpög d'WriXa inv aiTiav. Diese aiiia^ aber stellt der voOg
dar. Hier treten irepaq und d'-rreipov selbst dem voO^ gegenüber.
Nun könnte man ja zunächst mit Hartmann meinen: «Sofern
der voög Grund der Mischung sein soll, so muß notwendig das,
was die Mischung eingeht, beides innerhalb seines Bereichs
gedacht sein und auf keinen Fall außer ihm; er könnte das
dTreipov nicht auf die \xilic, hin dirigieren, wenn es nicht in ihm
selbst seinen Ursprung zusammen mit dem irepa? hätte. »^ Allein
so richtig das unter rein systematischen Gesichtspunkten sein
mag, für diese unmittelbare Ineinssetzung finden wir historisch
bei Piaton noch keinen Anhalt. Erst mittelbar sind wir zu
dieser Ineinssetzung berechtigt, insofern die Vernunft das Prin-
zip der OrdnuHg ist, das arreipov selbst als iöea bezeichnet
wird und insofern endlich die Vernunft Eines ist mit Gott und
der Idee des Guten, in der alles Sein und Werden seinen Ur-
sprung hat. Aber gerade aus dieser Ineinssetzung der Plato-
nischen Teleologie erwuchsen für das Verhältnis von Sein und
Werden neue dualistische und antagonistische Schwierigkeiten,
denen wir uns nun noch von einer anderen Seite nähern müssen,
um ihre Auflösung, w^enn auch nicht restlos zu vollziehen, so
doch nach der Richtung ihrer Lage zu bezeichnen. Sie gipfeln
in letzter Linie in jenem Moment höchster Dialektik, daß mit
der löea toO direipou im Absoluten wie im «An-Sich» etwas als
außer dem Absoluten und dem «An-Sich», das also, obwohl
im Absoluten und «An-Sich» enthalten, doch auch nicht im
Absoluten und dem «An-Sich» enthalten sein soll, gesetzt ist.
Diese Dialektik entrollt sich in der Erneuerung des Problems
des Werdens: Hier müssen wir jetzt zunächst wieder zwei
Gattungen (öuo eiöri) unterscheiden: die «Eine des als Urbild
zugrunde liegenden dem Denken erfaßlichen und ewig Selbigen»
und die zweite, «die des Nachbildes des Urbildes (|Lii)ani^a toö
TTapabeiYiLiaTG? beuiepov), die im Werden liegt und sichtbar ist».
' Phileb. 23c/d u. 28d s. oben S. 184.
» N. Hartmann, a. a. 0., S. 421.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 203
Allein das, was wird, erfordert nicht bloß das Urbild, nach dem
es wird, sondern auch etwas, in dem es wird, also eine dritte
(rpiTov) Gattung als die «Aufnehmerin jeglichen Werdens» (Trdcrriq
eivai yeviaeiijq uTToboxriv).^
Diese dritte Gattung «nimmt alle Gestalten auf».^ Aber
eben weil sie alle Gestalten aufnimmt, «kann sie selbst nie
eine Gestalt annehmen, die dem, was in sie einginge», ähnhch
wäre. Vielmehr liegt sie der ganzen Natur als ein Bildsames
(eK^aYBov)^ zugrunde, das unter dem Einfluß des in sie Ein-
tretenden sich bewegen und gestalten (Kivouiiievov^ le Kai öiac^xn-
fiaTiZ:ö)Lievov) läßt und bald in dieser, bald in jener Weise er-
scheint. Was aber in sie eintritt und wieder aus ihr austritt,
das sind die Nachbilder des ewig Seienden, die nach diesem
geprägt (tujv övtujv dei |ui|uri)aaTa, Tuiriu&evTa au auTÜJv) sind» . . .^.
Die Aufnehmerin des Werdens nun verhält sich zum Werden
wie die Mutter, während das, dessen Nachbild das Werden ist,
sich zu diesem verhält, wie der Vater, so daß das Werden den
beiden anderen Gattungen gegenüber die Rolle des Kindes
übernimmt.^
Aber diese «dritte Gattung» involviert eben jene dialektische
Schwierigkeit, die wir vorhin gelegentlich des «TTeipov bereits
* Tim. 48e/49a.
2 Ebenda .50 b.
^ Wir könnten auch mit Windelband, a. a. 0., S. 108 «Bildsamkeit» über-
setzen; die sonst übliche Übersetzung «Bildsame Masse» verkehrt jedenfalls den
echten Sinn Piatons. Denn die iravTa bexo|.ievri öüjjLiaTa (pvoic, (50 b) kann
als Voraussetzung des Somatischen, selbst nicht somatisch gedacht werden.
Zu dem ^KjaoTeTov vgl. übrigens Trendeleiiburg, Piatonis de ideis et numeris,
S. 27 f., wo freilich auch nicht immer die erwünschte Schärfe der Begriffs-
bestimmung erreicht ist.
•• Diese Bewegung ist wiederum als reine Bewegung, d. i. als zweckvolle
Bestimmung durch die Weltvernunft selbst zu denken, da ja das «Dritte», die
«Aufnehmerin» sich bald als Raum erweisen soll, der im empirischen Sinne
ja selbst nicht bewegt sein kann, weil er die Voraussetzung der empirischen
Bewegung als Aufnehmerin des Werdens ist.
^ Tim. 50b/c: Die Unterscheidung zwischen Gestalten aufnehmen (b^x^"
oöai) und Gestalten annehmen (Xaiaßdveiv) gibt wohl in der Übersßtzung ebenso
deutlich die Worte wie den Sinn Piatons wieder.
« Ebenda 50 d.
204 6. Kapitel.
berührten: Auf der einen Seite muß die Aufnehmeriu, weil sie
alle Gattungen aufnimmt, selbst außerhalb der Ideen sein (öiö
Ktti TTdvTUJV eKTÖ? cibOuv eivtti xptiJ^v TÖ Tot TrdvTa CKÖexojuevov iv
auTuJi Tfevri).^ Auf der anderen Seite kann es als Grundlage
des Sichtbaren und Sinnlichen selbst nicht sichtbar und sinn-
lich sein. Es muß selbst ein eiöoq, und zwar ein unsichtbares
und gestaltloses allumfassendes dboc, sein, das, so schwierig und
schwerfaßlich es auch sein mag, richtigerweise doch wieder
in irgendeiner Weise zum Gedankhchen, zu dem nur im
Denken Erreichbaren gerechnet werden muß.^ Also sowohl
iKToq eiöujv, als auch selbst ein eibog tritt zwischen das «Eine,
stets in sich Selbige, Unerzeugte und Unvergängliche, das weder
ein Anderes in sich aufnimmt, noch selbst in ein Anderes ein-
geht, das unsichtbar und überhaupt nicht den Sinnen, sondern
allein dem Denken erfaßlich ist», auf der einen Seite und an-
dererseits zwischen «das, das nach jenem erst benannt und ihm
ähnhch ist, das Sichtbare, Gewordene und ewig Wechselnde,
das an einem Orte entsteht und wieder vergeht, und nur in
der böia vermittels der aia^nc^i*» faßhch ist»^ — zwischen sie
beide also tritt als xpiiov fivoq das, das selbst dem Untergange
nicht hingegeben, allem Werdenden erst einen Sitz gewährt,
selbst den Sinnen nicht faßlich ist, sondern nur der Vernunft,
freilich nur in einem unechten Schluß, erreichbar ist: der
Raum.^ Sein, Raum und Werden sind drei und dreifach,
noch ehe die Welt war.^ Alle drei sind, aber sie sind nicht
auf gleiche Weise. Wie das Werden, das selbst nicht wird,
sondern als reines Werden allem Gewordenen vorausliegt, nicht
etwa nicht ist, wie aber sein Sein darin liegt. Werden zum
1 Ebenda 50 e.
- Ebenda 51a: . . . . dW dvöpaxov eib6<; xi Kai aiaopqpov, itavbex^«;,
|aeTa\a)ißdvov bi d-rropiJbTaTov trrii xoO vorjToO Koi buöaXdjxaxov aOxö X^YOvxe;
ou vyeuaöiieda.
^ Ebenda .52 a.
* Ebenda: xpixov be aO ^ivoq öv xö xf^q X'^'P^'? ^^i, cpöopdv oö irpocrbe-
XÖU6V0V, ?bpav bi irdpexov öaa exei f^veoiv iräoiv, aOxö bi |aex' d.va\adr\olac,
dTTXöv XoY«ö|Liii)i xivi vööiui.
■' Ebenda 51 d: öv xe Kai y^ibpav Kai Y^veöiv, xpta xpixni, Kai trpiv
oöpavov -fev^adai.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 205
Sein zu sein, so ist der Raum weder wie das reine Sein, noch
wie das reine Werden, da er diesem ja erst einen «Sitz» ge-
währt, um zu jenem zu gelangen. Insofern er ist, ist er ein
dboq, insofern er nicht reines Sein ist, ist er iKibq eibüuv. Er
ist nur im Denken zu fassen, und doch nicht durch ein echtes
Denken, er gehört der Sphäre des Denkens an, aber als etwas
außer dieser Sphäre. Das ist der tiefste Sinn dieses XoYi(T|nög
vo&og, daß in ihm etwas im Xoyo? gesetzt wird, als außer dem
XÖYo^, etwas als seiend, ohne doch övtuj«; öv zu sein: Zwischen
Sein und Werden gestellt, ist er mehr als die werdenden Dinge,
die ja selbst erst im Räume sind, und dennoch ist er kein
eigenthches «An-sich-Sein», und damit sind alle adinara^ in
ihm, deren Aufnehmerin er ist, des «An-sich-Seins» im tiefsten
Sinne entkleidet, so daß erst hier die letzte und tiefste Zerset-
zung des materialistischen SubstanzbegriiTes geleistet wird.*
Der Raum ist, aber er ist nicht «an-sich» und erst recht nicht
absolut, «unbedingt», avurroöeiGV. Wie das Ünbedingt-Sein ein
«Mehr-Sein» ist als das «An-sich» oder « Seien thch-Sein», und
dieses ein «Mehr-Sein» als das «Nicht-Sein», so ist das Raum-
Sein weder ein «Unbedingt-Sein» noch ein «An-sich-Sein».
Hierin liegt der einschneidende Unterschied zwischen dem
Nicht-Sein Piatons und dem Demokrits. Für diesen sollte ja
das «Nichts» nicht weniger sein als das «Es». Darum sollte
1 Ebenda 50 b.
^ Trotzdem ist es mehr als kühn, wenn Lichtenstädt, Piatons Lehren auf
d. Geb. d. Naturf., S. 55 Piatons Auffassung nicht bloß hinsichtlich des
Raumes, sondern auch hinsichtlich der Zeit mit derjenigen Kants so ziemlich
auf eine Stufe stellt. Es gehört schon eine ziemliehe Gewaltsamkeit dazu,
um Kants Auffassung mit der Platonischen in der Raum- und Zeilfrage
so gut wie restlos zur Deckung bringen zu können. Was dabei richtig sein
mag, das wird von Lichtenstädt aber sofort schon deswegen ins Sinnlose ver-
kehrt, weil Raum und Zeit als «ursprünglich inwohnend» gedacht werden
sollen, so daß Piaton wie Kant einen subjektiven Idealismus vertreten haben
müßte, der — darin stimmen beide freilich völlig überein, nur hat gerade
das leider Lichtenstädt nicht bemerkt — dem einen so fern lag wie dem
anderen. Kant selbst hat sich ja noch dagegen verwahren können, daß sein
Idealismus im subjektiven Sinne des Berkeleyschen Ideahsmus mißdeutet
werde. Piaton aber muß wenigstens von der objektiven Historie gegen eine
solche Unterstellung geschützt werden.
206 6. Kapitel.
auch der Raum ebenso ein «An-sich» sein, wie die materiellen
Dinge, und er mußte es sein, damit diese es sein konnten. In
der eigentümlichen Differenz des Nicht-Seins liegt also das
tiefste Unterscheidungsmerkmal zwischen Platonischem Idealis-
mus und Demokritischem Materialismus, welch letzterer sich
eben dadurch am deutlichsten als Materialismus erweist. Was
dieser als beharrliche Substanz setzt, das zersetzt gerade der
Platonische Substanzbegriff. Der kontinuierliche Fortgang des
dialektischen Prozesses von Sein und Nicht-Sein, An-sich-Sein
und Anders-Sein, Bestimmt-Sein und Unbestimmt-Sein hat dem
Problem des Seins des Nicht-Seins in der ibea toO direipou die
höchste Zuspitzung gegeben. Sie ist die Idee des im Absoluten
und im «An-sich» gesetzten Nicht-Absoluten und Nicht-An-sich,
und insofern führt zu ihr der Weg abwärts zur X'J'JP«- Der
Raum hat im arreipov seine begriffliche Grundlage, und die
Xwpa ist das anschaulich gewandte dtreipov. Das direipov mischte
sich, wie wir sahen, selbst mit dem Tiepa«;, der Raum aber
mischt sich nicht. Insofern aber jene Mischung von uepa? und
dneipov lediglich die der Bestimmung durch die Mischung der
Gattungen war, ist in ihr die begriffliche Voraussetzung für
die «Aufnahme der Gestalten» im Räume gewonnen, und die
Ideen erlangen den Sinn der d(TiJU|uaTa ei'bii jetzt in vollster
Klarheit: Sie sind nicht Gestalten, wie die (Jüu|uaTa im Räume,
denn sie sind dadjjLiaTa, sie sind vielmehr Prinzipien aller
Gestaltung überhaupt, die das Werden in der Aufneh-
merin des Werdens zum Sein bestimmen.
Der Raum ist also das, «in dem» die Dinge werden, nicht
das, <aus dem» sie werden.^ Die irdvia bexo^evri aih^xaia q>\}(S\c,^
kann auch ihrerseits nicht den (TiLiLiaTa zugezählt werden, son-
' Tim. 49e/50a; Politikos, 286d. Über den Unterschied des ^v iLi und
ii. ou Vgl. auch J. Baßfreund, Über d. zw. Prinz, d. Sinnl. u. d. Mat. bei Fiat.,
S. 31, sowie Bäumker, a. a. 0., S. 166, woselbst auch weitere Literatur, neuer-
dings auch Hartmanu, a. a. 0., S. 431. Im Einzelnen gehen die Ansichten der
Forscher, so sehr sie sich über den prinzipiellen Unterschied klar sind, an
diesem Funkte so auseinander, daß eine Diskussion im Rahmen dieser Unter-
suchung eine Unmöglichkeit ist.
2 Tim. 50 b.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 207
dern muß ein dcTuu^aTOv^ sein. Das, worin die körperlichen
Dinge werden und das also schon deren Voi-aussetzung ist,
kann selbst nicht körperlich sein. Was wir gewöhnlich die
Elemente nennen, dürfen wir also keineswegs als Urgründe
und Prinzipien (dpxd<;) der Welt ansehen. Sie sind nicht den
Buchstaben als den Grundelementeu der Sprache (ö'Toixeia), son-
dern erst den Gebilden der Silben (auXXaßfjq eiöeoi) zu ver-
gleichen.^ Sie besehreiben selbst einen Kreislauf des Werdens
und der Umsetzung ineinander^, keines von ihnen hat eine
beharrhche Festigkeit (ßeßaioTriTa). Man kann darum nicht sagen:
dies ist Wasser, sondern immer nur: es ist etwas gerade in
dieser Beschaffenheit Wasser*, weil eben keines ein Beharr-
liches (uTTOiaevov) ist und keinem etwas Bleibendes (fi6vi|Lia) zu-
kommt.^ Das bloß Wiebeschaffene, besser vielleicht die bloße
Qualität*^ als solche, das Warme oder Weiße, wie deren Gegen-
^ Ari.st. Met. I, 7,988 a/b. Hier unterscheidet A. darum auch ganz
richtig zwischen Substanz und Materie.
2 Tim. 48 b.
'^ Ebenda 49 c.
" Ebenda 49 d.
° Ebenda 49 e.
® Susemihl übersetzt, Übers, zum Timaios, S. 765 im Folgenden geradezu:
«die Wärme» und «die Weiße». Dementsprechend wtirde auch das tö b^
ÖTToivoOv Ti am besten kurzweg mit Qualität übersetzt werden, und das drückt
auch das Folgende aus, wonach es kein toOto und TÖbe ist, da das toOto
und TÖbe bereits die Voraussetzung und das Substrat des öuoivoOv ist. Hier
treten wir nun an das bestimmte Verhältnis von Substanz und Akzidenz
heran, das wir aber im idealistischen Sinne nehmen müssen, also um den
Aristotelischen Terminus vorwegzunehmen, als Kategorie, wenn wir damit
überhaupt einen Sinn verbinden wollen. Es ist sehr interessant zu bemerken,
wie zwei Forscher, Bäumker und Baßfreund, hier in Gegensatz geraten, weil
sie das Richtige nur nach der einen Seite hin sehen. Bäumker, a. a. 0., S. 157
erkennt richtig, daß wir das Verhältnis von toCito und öttoivoöv nicht im
materialistischen Sinne nehmen dürfen. Aber weil er, darin stimmt er mit
Baßfreund überein, sich das Verhältnis von Substanz und Akzidenz selbst
nur materialistisch zu denken vermag, verkennt er, daß hier dieses Verhält-
nis vorliege. Baßfreund umgekehrt erkennt a. a. O., S. 30 ff. richtig, daß es
sich hier um das Inhärenzverhällnis handelt. Aber er verkennt, was Bäumker
erkennt, daß wir es nicht materialistisch nehmen dürfen, und so deutet er es
selbst materiahstisch, weil auch er Substanz und Akzidenz nur im materia-
208 6. Kapitel.
teil (tö be ottoivoOv ti, ^ep)iöv r\ XeuKÖv r\ Kai ötioOv tojv evav-
Tiujv) lassen die Bezeichnung des «Dieses» und «Das» (toOto
Kai . . . TÖbe) nicht zu. ^ Das dagegen, in dem alles hineinwird
und zur Erscheinung gelaugt, wie es auch wieder bei seinem
Vergehen dahin zurückkehrt (ev uji be eYTiTv6)Lieva dei ^Kadia
auTuJv qpavTdZieTai Kai rraXiv eKei^ev diroXXuTai), das allein darf als
«Dieses» und «Das» bezeichnet werden^, weil es die Grund-
lage aller Bestimmtheit und Beschaffenheit ist, die in ihm ent-
stehen durch göttliche Ordnung. Gott bestimmt und begrenzt
den Raum und gestaltet^ in ihm die werdenden Dinge mit
€ibec5"i Kai dpiO|uoT(; als den Prinzipien der Gestaltung. So werden
die körperlichen Elemente auf mathematische Verhältnisse zu-
rückgeführt, und zwar sind alle körperlichen Bestimmungen
geometrischen Ursprungs, reguläre Dreiecke die dpxai aller
KörperHchkeit , insofern sie weiter die Grundlagen regulärer
Polyeder bilden, die die eigentlichen Fundamentalkörper sind.*
Als solche sind diese unwahrnehmbar klein, und erst deren
vielfache Anhäufung ermöglicht die sichtbaren Massen.^ So
nimmt der Raum die mathematischen Gebilde und in diesen
selbst die Körper auf. Daß sie nichts ursprünglich und Selb-
ständiges neben Idee und Raum Bestehendes sein können, lag
in der ganzen Ausgangsposition des Problems. Die Durch-
führung des Problems hat sie nun vollends als Raumbestimmt-
heiten erwiesen. Damit ist aber die Funktion des Ttepa? und
listischen Sinn zu fassen weiß. Von demselben Fehler aus kommen beide
Forscher zur entgegengesetzten Auffassung, behauptet der eine richtig, daß hier
das Substanzverhältnis vorliege, während das dieser irrtümlicherweise leugnet,
weil dieser wieder richtig dem Platonischen Idealismus Fiechnung trägt, jener
aber nicht — und alles das, Aveil sie Substanz und Akzidenz übereinstimmend
nur materiell fassen. Das ist ganz lehn-eich, weil es zeigt, daß nur eine
idealistische Deutung die Schwierigkeit überwinden hilft. Vgl. dazu die
treffenden Bemerkungen Windelbands über den Ausdruck «Materie» a. a. 0.,
S. 108, die wir unten nach (S. 215) zitieren.
1 Tim. 50 a.
' Ebenda 49e/o0a.
^ Ebenda 53a/b: biecrxrmaTiaaTO.
* Ebenda 53d/56d.
'" Ebenda 56c: 2uva9poio9^vTUJv b^ iroXXuJv -vovq ö'ykou? öpäaöai.
Der Substaiizbeyriff innerhalb des Systems des Idealismus. 209
ctTTeipov in neue Wirksamkeit getreten, sie wird zur Grundlage
der geometrischen, und diese zur Grundlage der anschaulichen
Bestimmung. In der Konstruktion quantitativer Raumbestimmt-
heit erwachsen die Dinge, die durch Teilhabe an den Ideen
der eigenschaftlichen Bestimmung fähig werden. In der quan-
titativen Grundlage eigenschaftlicher Bestimmungs-
möglichkeit aber hat der Begriff der Substanz selbst seine
tiefste Bestimmung gewonnen. Wir wären damit eigentlich am
Ende der Untersuchung und brauchten nur noch das Fazit zu
ziehen. Auf das öiaaxrmaTiZieö'dai ei'öecTi Kai dpiö^oT^, durch das
Gott und Raum selbst miteinander in Beziehung treten, fällt
aber hinsichtlich des Verhältnisses von Gott und Welt noch
einmal ein Licht, das Piaton in dem interessantesten Ringen
mit dem Dualismus selber zeigt. Von hier aus erfährt auch
unser spezielles Problem noch eine neue Beleuchtung. Darum
wollen wir zum Schluß noch mit einigen Bemerkungen darauf
zurückkommen, ehe wir das eigentliche Resultat unserer Unter-
suchung feststellen.
13. Welche Rolle der Raum im metaphysischen System
Piatons hat, kann keine Frage sein. Wenn Gott als Welt-
schöpfer lediglich Ursache des Guten in der Welt sein soll, das
ideale Sein aber die eigentliche Ursache sein soll, so kann Gott
zum Räume sich nur verhalten, wie, nach unserer früheren
Formulierung^ die condicio per quam zur condicio sine qua
non. Das ist der Dualismus, der im Timaios in gleicher Weise
wie in der Politeia nicht gänzlich aufgeht. Aber es ist doch
recht bemerkenswert, daß sowohl vor wie nach der Deduktion
des Raumes im Timaios der Versuch in Wirksamkeit bleibt,
die Welt als Selbstdarstellung Gottes zu begreifen, so daß hier
immerhin wenigstens das Bestreben, über den Duahsmus
hinauszugelangen, vorliegt, wenn es auch niemals an sein eigent-
liches Ziel gelangen kann und der Dualismus nur mit Gewalt-
samkeiten hinwegzuinterpretieren wäre. Und gerade in diesem
Duahsmus offenbart sich ein interessantes Ringen mit dem
Substanzproblem, das diesem seine bedeutendste Vertiefung in
^ Vgl. auch Windelband, a. a. 0. ebenda.
Bauch, Das Substanzproblem.
210 G. Kapitel.
der ganzen Philosophie des Altertums gibt, wenn es auch nicht
seine restlose Lösung bezeichnen kann, weil diese zuletzt doch
jenseits alles Dualismus liegen müßte.
Wir haben schon gesehen^ daß Gott als die «beste unter
den Ursachen» bezeichnet wurde, und wenn zugleich der
KÖoiaog als KotWicrio^ tujv tctovötujv'^ gilt, so liegt darin immer-
hin schon ein bedeutsamer Impuls, die Wirksamkeit der con-
dicio, sine qua non zugunsten der condicio, per quam und
damit zugleich die dualistische Tendenz abzuschwächen. Zwar
nicht absolut schön, aber doch unter allem Gewordenen am
schönsten ist die Welt. Und das ist sie , weil der Wellschöpfer
auf das ewig in sich Selbige hinblickt [Txpbq id Kaid lauid exov
ßXeTTiuv dei) und sich dessen als Muster bedient (toigutuui
Tivi TTpocTxpiwMevo^ 7TapabeiY|uaTi)'\ d. h. nach seinen eigenen
Seins- und Wert-Modi der Ideen die Welt gestaltet und nach
dem allein für Vernunft und Einsicht Erfaßbaren und in sich
Selbigen (Trpöq t6 Xöyuui Kai cppovrjcrei irepiXriTTTÖv Kai Kard rauid
exov)'* schafft. Und weil Vernunftbegabtheit (voöv exeiv) selbst
besser und wertvoller ist als Vernunftlos-Sein (dvöiiTOv), Ver-
nunft aber nicht außerhalb der Seele (xujpig vpux'l's) sein konnte,
schuf Gott auf Grund dieser Erwägung (bid hr\ töv Xoyictiliov)
die Vernunft in die Seele und die Seele in das Körperhöhe
und fügte aus ihnen das All (tö -rrdv), den Kosmos (KocriLlog) zu-
sammen, der also selbst ein beseeltes und vernünftiges Wesen
(Zuiov ^juijjuxov Kai evvouv) durch Gottes Vorsehung (öid triv toO
deoö TTpovoiav) ist.^ Weil die Welt nicht ohne Leben sein kann,
ja schlechthin lebendig ist, so muß auch die ihr zugrunde
liegende Idee die Idee des Vernunftlebendigen schlechthin sein,
die zugleich die Idee des Einen und Ganzen selber ist, «die
alles Vernunftleben ebenso in sich zusammenschHeßt, wie die
Welt uns selber und alle Dinge» sonst. Ebendarum kann das
' Vgl. üben S. 198.
'' Tim. 'i'Ja.
' Ebenda 2Sa/b.
• Ebenda 2üa.
= Ebenda 30b/c.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 211
Urbild der Welt nicht «in der Idee des Teiles liegen» ^ und
ebendarum sind wir überhaupt erst imstande, eine einheitliehe
Welt (eva k6(T|uov)^ anzunehmen. Denn es kann auch darum
nur eine solche höchste Idee des Vernunft-Lebendigen geben,
und dieses kann nicht bloß eines neben einem anderen sein
(|Lieö' eiepou öeuiepov ouk dv ttgt' ei'n), weil beide ja dann wieder
nur ein Teil (iLiepoq) eines sie selbst umfassenden Dritten sein
müßten, dem dann etwa die Welt nachgebildet wäre^ usf.
Darum also ist die Welt einheitlich (^ovoTevri(;), weil sie dem
schlechthin Vollkommenen selber nachgebildet ist. Das schlecht-
hin Vollkommene aber ist doch, wie wir wissen, die Idee des
Guten, die Idee Gottes selbst. Urbild und Schöpfer der Welt
sind Eines, das höchste Vernunftlebendige {l(x)ov voitöv)^; die
Welt ist, von Gott nach seinem Bilde geschaffen, Selbstoffen-
barung Gottes. Und diese Darstellung, die uns vor der Raum-
deduktion Piatons begegnet, finden wir auch nach dieser im
Timaios wieder, wo es heißt, daß die Welt als Idjov opaiöv
nichts Anderes sei als das Bild des Vernunft-Lebendigen, die
Gottheit in ihrer Sichtbarkeit als Bild ihrer Vernünftigkeit. ^
In ihrer Sichtbarkeit hat sie also die Vernüuftigkeit darzustellen.
Das Bild der Vernünftigkeit aber ist die Kugelgestaltigkeit
(acpaipoeiöe(;), weil diese Gestalt alle anderen in sich befaßt*^, und
die Bewegung der stehenden Rotation '', die der Vernunft und
Einsicht am nächsten steht.^ Es ist abermals, wie bei Par-
menides, die Geschlossenheit des Denkens, die zu diesem Po-
stulate führt. Und das findet bei Platou seinen präzisesten
Ausdruck dadurch, daß die Geschlossenheit der Welt darin ge-
sehen ward, daß zur Welt nichts hinzu- noch von ihr hinweg-
1 Ebenda 30 c.
- Ebenda 31 a.
^ Ebenda 31 b. Daß auch hier der rpixo«; ävöpuuTro(; implizite mit wider-
legt ist, sei nur nebenbei bemerkt. •
•' Ebenda.
* Ebenda 92 c, vgl. oben S. 197.
" Ebenda 33b: axy]P-a tö uepieiXriqpöi; ^v aÜTÜJi irävTa ÖTiöaa oxn.uara.
' Ebenda .34a: biö bti Kaxd xauTd ^v tüüi aÜTÜJi Kai iv ^auxüji irepiaYa-
Yiiiv aÜTÖ tuoirioe kük\uji Kiveiaöai OTpeqpö.uevov.
* Ebonda Kivriöiv . . . inv irepi voOv koi cppövrjöiv liöXiöxa ouaav.
14*
:212 (i. Kapitel.
kam, da außer ihr selbst ja nichts war, also in dem auf die
Welt angewandten Erhaltuiigs- oder Substanzgesetze. ^ Wenn
nun die Geschlossenheit der Welt zugleich auf die in sich ge-
schlossene Selbstbewegung der Seele zurückgeführt wird^, so
bezeichnet das zunächst nichts Anderes als die Priorität des
Seelischen vor dem Körperlichen.^ Der Ursprung ist aber ledig-
lich ein Wertursprung, und die Seele ist hier selbst nicht das Letzte.
Ihre Bewegung ist zwar Selbstbewegung, aber diese geht doch in
letzter Linie auf die Weltvernunft selbst zurück, ist, wie wir sahen,
deren Schöpfung, Die Umlaufsbewegungen (trepioboi) des vovq^
aber im Weltall sind nichts anderes als die allgemeine Zweck-
wirksamkeit. Das ist die reine Bewegung des Einen, das an sich
selbst unbewegt ist (tö be dei Kaxd Tauid Ixov dKiviiTuucj).^ Die
Umlaufsbewegungen der Weltvernunft (xdg ev oupavuji tou voO
TTepi6bou(;) sind also Bewegungen im reinen Sinne, und als
Grundlagen der empirischen Bewegung sind sie selbst unbe-
wegt : Die Seele aber ist nichts anderes als die mathematische
Ordnung der Welt. Das aber erhält seine volle Klarheit aus
dem Wesen der Zeit. Sie wird gefordert als Grundlage des
Weltgeschehens oder des Geschehens im All, und zwar als der in
der Einheit und Selbstheit beharrenden Ewigkeit nach der
Zahl sich bewegendes ewiges Bild.^ «Das ,War'- und das
, Wird' -sein sind selbst gewordene Formen der Zeit, wenn wir
sie auch unrichtig dem ewigen Sein selber beilegen.»'' Wir
sagen freihch von ihm: «es war, es ist und es wird sein».
Aber nach dem wahren Grunde (Kard töv dXri^fj Xotov) kommt
ihm allein das «Es ist» zu. Das «Es war» und das «Es wird
sein» darf allein auf das in der Zeit gehende Werden (inv ev
' Ebenda 33c: dirriiei xe y"P ovbiv oübe irpooriiei aüxiii ttoö^v ■ oöbd
Ydp r|v.
2 Ebenda 36 e.
* Ebenda 34 c: ifttl fevlaex Kai dpexfii upox^pav Kai irpeaßux^pav H'uxnv
auj,uaxo(;.
» Ebenda 47 b.
^ Ebenda 38 a.
® Ebenda 37 d: la^vovxo? aiiijvoq ^v ^vi köx' apiönöv ioöaav aidiviov
eiKÖva.
7 Ebenda 37 e.
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 213
XpövLui YevecTiv ioöffav) angewandt werden. Denn beides sind
Bewegungen (Kivr|crei(;). Das ewig unbewegt in sich Selbige
aber^ hat es nicht an sich, älter oder jünger (oute TrpeaßuTepov
oute veujiepov) zu werden in der Zeit, noch überhaupt zu werden
oder geworden zu sein oder künftig zu werden.^ Und doch
muß das Eine, das ja nichts Anderes ist als die Allgemeinheit
der Selbigkeit, auch älter und jünger werden: «Weil das Sein
nichts Anderes ist als das Sein an sich haben in der gegen-
wärtigen Zeit, so das ,Es war' in der vergangenen und das
,Es wird sein' in der zukünftigen Zeit, so muß, weil die Zeit
fortschreitet und das Sein an der Zeit haftet, das Selbige älter
werden als es selbst, und darum auch, weil das Jüngere, im
Verhältnis zu dem das Altere älter wird, hier selbst das Selbige
ist, auch das Jüngerwerdende sein.»^ Das Eine und Selbige ist
also sowohl der Zeit entrückt, wie in die Zeit hineingestellt.
Diese Antinomie löst sich auf mit der Auflösung der zweiten,
daß es auf der einen Seite vor der Welt (-rrplv oupavov) keine
Zeit gab, sondern erst mit der Welt die Zeit (xpovoc; ouv inei' ou-
pavoö T^Tovev) entstanden ist^, und daß auf der anderen Seite
die Zeit selbst «der beharrlichen Ewigkeit ewiges Bild» ist.^
Beides kann sie nur sein, wenn sie die Bedingung der Welt
selbst ist, in der das Eine und Ewige sich darstellt, in der das
An-sich in die Erscheinung tritt.^ Obwohl an sich ewig im
«Jetzt», ist es doch hier auch im «Es war», wie im «Es wird
sein» selbst gegenwärtig; obwohl an sich nie alternd oder jünger
werdend, wird es doch beides in der Erscheinung. Es tritt in die
Bestimmtheiten ein, nach seinem eigenen Prinzip der Bestimmung.
1 S. vor. S.
- Ebenda 37e/38a.
3 Parm. 151 d/ 152 a. Hinsichtlich des Zeitpi-oblems wird man also an
den Philosophen Parmenides nicht bloß in dem gleichnamigen Dialoge Piatons,
sondern auch im Timaios und hier ganz besonders erinnert.
* Tim. 37e/38b.
^ Ebenda, zitiert S. 212, Anm. 6.
ö Susemihl sagt in der Übersetzung zum Tiraaios, S. 742, .Anm. 85 richtig,
das könne nur bedeuten, daß es ohne Zeit keine Erscheinungswelt und ohne
Erscheinungswelt keine Zeit geben könne. Von hier aus fällt vielleicht auch
erst das vollste Licht auf jenes 'c Plötzliche» (^taiq)vri(;) außer der Zeit; vgl. S. 177 f.
214 6. Kapitel.
Die Welt ist nichts außer der Idee und die Idee nichts außer der
Welt. Die Welt ist Selbstdarstellung der Idee und die Idee
das Wesen und «An-sich> der Welt, oder um Piatons eigene
Worte noch einmal zu wiederholen: die Welt ist die Gottheit
in ihrer Sichtbarkeit als Abbild ihrer Vernünftigkeit.
14. Fassen wir jetzt die Leistung Piatons für das Sub-
stanzproblem zusammen, so können wir sagen: sie stellt das
Bedeutsamste dar, was das ganze Altertum — Piatons großen
Nachfolger, Aristoteles, nicht ausgenommen — für unser Pro-
blem geleistet hat. Ln Reiche der Ideen wird zunächst das
Beharrliche schlechthin ergriffen. In der Idee des Unbedingten
wird dieses zur Grundlage aller Bedingung überhaupt und
damit zu der in allem von ihm selbst bedingten Wechsel be-
harrlichen Vernunftgrundlage, die diesen nach den bestimmten
Ideen, als nach seinen eigenen Ordnungen, bestimmt. Wir
sehen also : Aus dem vollen Umfange der Vernunft wird hier
der Gehalt für unser Problem geschöpft, aber das ist noch
nicht das Ganze der Leistung Piatons. Dahin tendierten ja
auch, wenngleich ihm selbst nicht an Tiefe und Eindring-
lichkeit vergleichbar, Denker vor ihm. Es ist das Moment der
Bestimmung, das seine Tendenz für unser Problem auszeich-
nend charakterisiert. Und hier wiederum liegt die Bedeutung
nicht darin, daß er überhaupt in einer besonderen Vernunft-
bestimmung die Leistung des Substanzbegriffes einfach festlegt,
— das war ja auf den Anfängen der mathematischen Begriffs-
bildung auch bereits in den Zahlen geschehen, — sondern darin,
daß er sie selbst zum Problem macht in ganz ausdrücklicher
und exphziter Weise. Piaton entdeckt die logische Notwendig-
keit eines Substrates der Bestimmbarkeit überhaupt, das mit
den Prinzipien der Vernuuftbestimmung belegt werden kann,
indem es diese aufnimmt und indem diese sich an ihm und
in ihm miteinander verbinden. So können die Dinge bestimmt,
und so kann die Welt der Erscheinungen in ihrem Entstehen
und in ihrem Vergehen, kurz so kann der Wechsel der Er-
scheinungen erklärt werden, da hier selbst das Substrat des
Wechsels der Erscheinungen erwächst. Dieses verlegt Piaton
in den Raum. Aber nicht ist ihm der Raum als solcher schon
Der Substanzbegriff innerhalb des Systems des Idealismus. 215
Substanz, noch sind ihm dies etwa die körperlichen Dinge; das
ist ihm vielmehr — darin liegt, von der metaphysischen Seite
jetzt einmal ganz abgesehen, auch der logische Sinn der Welt-
beseelung — ganz allein die Bestimmung des Raumes als
Grundlage der Dinge. Diese drei Faktoren sind sehr genau
von einander zu unterscheiden. Der ganze fruchtlose Streit
um die sogen, primäre und sekundäre Materie beruht auf dem
Mangel dieser Unterscheidung. Piaton kennt so wenig eine
primäre wie eine sekundäre Materie, er kennt nur Substanz
zunächst als räumliche Bestimmbarkeit und körperliche Dinge
als räumliche Bestimmtheit, oder als Funktion der Substanz,
so daß es wohl gut ist, Windelbands Vorschlag strikte durch-
zuführen und überhaupt «den zu Mißverständnissen unvermeid-
lich Anlaß gebenden Ausdruck , Materie' in die Darstellung
der Platonischen Lehre nicht erst einzuführen».^ Jedenfalls
aber ist die ganze Diskussion über die sogen, primäre und
sekundäre Materie so unplatonisch wie nur mögüch. Alles,
auf das es hier ankommt, ist, daß in der mathematischen
Raumbestimmung selbst die Dinge ermöglicht werden, die wir
dann mit Eigenschaften belegen, so daß wir die Grundlage der
Vereigenschaftlichung erreichen. Dann können wir dem toOto
oder TÖÖe das öttoiovouv beilegen, wir können ihm «den Bei-
namen dessen geben, was ist», «jeghches Viele mit dem Namen
dessen belegen», das «in der Idee als Einheit gesetzt» ist oder
die «Aussageweise des Seins» beilegen und wie sonst die mannig-
fachen Bestimmungen, die uns begegnet sind, alle lauten, die
jedenfalls alle der Ausdruck der Vereigenschaftlichung sind
und in denen das Substanzproblem bei Piaton bereits mit
voller Deutlichkeit für die Aristotelische Kategorie der Substanz
die Grundlage schafft, als das bestimmte eiboq der Substanz
innerhalb des allgemeinen vovq.
Wenn hier freilich, wie wir sahen, der Raum sowohl als
dboq (wie das dneipov ja als ibia) als auch eKT6(; eiöujv gesetzt
wird, so scheint darin nun nicht bloß für das System Piatons
als Ganzes der dualistische Antagonismus in ganzer Strenge
gewahrt zu bleiben, sondern auch für unser spezielles Problem
' A. a. 0., S. 108.
216 6. Kapitel.
die Einheit der Lösung gefährdet. Und in der Tat ist das bis
zu einem gewissen Grade der Fall; aber gerade nur, weil sich
darin zugleich nicht bloß eine von Piaton nicht gelöste Schwie-
rigkeit, sondern auch die tiefste für seine Zeit überhaupt mög-
liche Einsicht verbirgt. Der Raum mußte Iktoc, eiöüjv gesetzt
werden, damit nicht die Dinge im Räume selbst zum «An-sich»
würden und der Substanzbegriff in dogmatischen Materiahsmus
versänke. Also gerade um eiboc, zu bleiben', mußte der
Raum cKTÖq eibOuv sein. Das ist das tiefste dialektische Motiv,
das wir bereits im otTreipov wirksam sahen. Der Raum mußte
selbst dem ewigen Sein der Ideen angehören, weil er die Voraus-
setzung des Werdens und der Dinge ist, aber er mußte zugleich
von den Ideen unterschieden werden, da er wiederum Voraus-
setzung des Werdens, das erst zum Sein gelangen soll, ist.
Das ist eine Schwierigkeit, die Piaton freilich nicht gelöst hat.
Aber in ihr liegt die Einsicht in das gleichsam mit Vernunft-
notwendigkeit folgende Wesen «unechter Vernunft j>. Wie in
der Vernunft Außervernünftiges selbst gedacht werden könne,
das ist die Frage, die^sich hier entrollt. Piaton hat sie nicht
beantwortet. Aber daß er sie gerade am Substanzproblem ent-
hüllt, das oflfenbart seine ganze Bedeutung. Es ist eine
Schwierigkeit, die kein Dogmatiker bis auf unsere Tage auch
nur von ferne gesehen hat: Das ewig beharrliche Sein
der Vernunft in ihrer Totalität fordert die bestimmte
Idee des Beharrlichen im Wechsel der Erscheinungen
im Räume, das selbst nicht wechselt und dennoch
nicht «an sich» sein kann, weil seine wechselnden
Relationen nicht «an sich» sein können. Das ist der
tiefste und ewig wertvolle Ertrag für unser Problem innerhalb
des Platonischen Systems. Und wenn ihm die restlose Aus-
geglichenheit fehlt, so wird man immerhin seinen Wert recht
zu beurteilen vermögen, wenn man bedenkt, daß seine
Ausgleichung, soweit sie überhaupt geleistet worden ist, erst
nach zwei Jahrtausenden geleistet werden konnte, und daß die
gedanklichen Mittel, die dazu das Wesentlichste beigetragen,
ihre tiefste Bedeutung bereits erhalten liatten gerade durch die
Tat des «götthchen Piaton».
217
Siebentes Kapitel.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen
Systems.
1. Piaton und sein bedeutendster Schüler Aristoteles werden
heute vielfach in einen schier unüberbrückbaren Gegensatz
gestellt. Das zwar ist keine Frage, daß Aristoteles seinen
Lehrer in wichtigsten Grundlagen des Systems mißverstan-
den hat, und seit Lotze ist das gerade in den letzten De-
zennien immerund immer wieder betont worden. Es ist weiter
richtig, daß Aristoteles jener Spezialdisziplin, die für Piatons
System einen integrierenden Faktor bildet, der Mathematik, ein
verhältnismäßig geringes Verständnis entgegengebracht hat.
Und dennoch würde es einer Gesamtdarstellung und Gesamt-
vergleichung der Systeme beider, von der wir in unserem Zu-
sammenhange freilich absehen müssen, möglich sein zu zeigen,
daß die Anschauungen beider Denker inniger verwandt sind,
als es auf den ersten Blick den Anschein hat, als es nach der
zum Teil geradezu leidenschaftlichen Polemik des Aristoteles
und nach mancherlei älteren und neueren Deutungen scheinen
muß. Es mag schwer verständlich erscheinen, daß Aristoteles
trotz der zeitlich recht umfangreichen und ebenso zeithch wie
persönlich nahen Beziehung zu Piaton diesen so von Grund
aus mißverstanden haben sollte. Aber das ist in der Geschichte
der Philosophie nicht gerade^ein absolut einzig dastehender und
unerhörter Fall. Das Verhältnis von Fichte und Schelling, das
uns näher liegt, macht^uns etwas ganz Analoges noch unmittel-
barer anschaulich: Auch hier wiederholt sich engste persönliche
Beziehung, Mißverständnis, Gegensatz und im Grunde doch
'218 7. Kapitel.
ein gerade beiden Denkern und manchen ihrer Interpreten ver-
borgenes gar nicht oberflächHches Zusammenstimmen. Wie
das möghch ist, mag psychologiscli in der Tat schwer ver-
ständHch sein, aber es ist gerade bei stark ausgeprägten Per-
sönhchkeiten nicht etwa absolut unverständUch. Und hin-
sichtlich Piatons und Aristoteles' scheint durch den sachlichen
Faktor der Mathematik das Verständnis des Aristotelischen
Mißverstehen s noch erheblich unterstützt zu werden. So wenig
ich hier nun eine Gesamtdarstellung des Platonischen Denkens
gegeben habe, ebensowenig kann ich jetzt eine solche des Ari-
stotelischen Denkens geben. Immerhin möchte ich von vorn-
herein einen Gesichtspunkt bezeichnen, von dem aus, auch für
unser Problem, wie in letzter Linie auch für die Gesamtauf-
fassung beider Denker sich deren Anschauungen doch nicht als
gar so gegensätzlich erweisen, wie es nach Aristoteles selbst
und namentlich vieler Platon-Freunde und Aristoteles-Gegner
scheint. Wenn ich diesen auch rückhaltlos zugebe, daß Ari-
stoteles der Mathematik innerlich fremd gegenüberstand, wäh-
rend Piaton gerade in der Mathematik einen systembildenden
Faktor besaß, so darf doch aus Gründen historischer Gerech-
tigkeit von vornherein nicht verkannt werden, was gerade die
Geschichte der Mathematik aufs evidenteste zeigt, und was ich
selbst schon betont habe, daß Aristoteles eine reiche mathe-
matische Kenntnis besessen hat. Was ihm versagt war, das
war die Einsicht in die philosophische Bedeutung der Mathe-
matik. Beides ist gar wohl voneinander zu unterscheiden.
Und wer den Unterschied gleichsam in aller Kürze ad oculos
demonstriert haben will, der findet bereits in der Schrift über
die Kategorien, Kap. 6, wo die Kategorie der Größe behandelt
wird, wo die Begriffe des Stetigen und Diskreten (ouvexe? — öiujpio-
,uevov)^ sprachlich scharf ausgebildet erscheinen, während die
^ Categ. VI, 4 b. Die Unterscheidung Icehrt sehr oft bei A. in fast allen
Schriften, am häufigsten in der Metaphysik, Physik und de gen. et corr. wieder.
Ausführlich und doch ziemlich konzentriert geben uns die ersten neun
Kapitel des XII. Buches der Metaphysik die Aristotelische Mathematikauffassung.
Im übrigen kann es hier nicht meine Aufgal)e sein, über Aristoteles' Verhält-
nis zur Mathematik zu handeln. Das ist in der Geschichte bereits mehrfach
Dei" Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 219
philosophische Präzision an diejenige Piatons, der sprachlich
die Ausprägung nicht in diesem Maße hat, kaum heranreicht,
den sprechendsten Beleg. Allein, ein so wichtiger Faktor unter
systematischem Betracht die Mathematik für ein philosophisches
S3'stem ist, der auch als solcher in seiner Wichtigkeit anzu-
erkennen ist, so ist er eben ein systematischer Faktor, aber selbst
noch kein System. Es wäre also äußerst unbillig, ein System
als Ganzes nach diesem einen Faktor bewerten zu wollen. Ich
weiß den philosophischen Wert der Mathematik sicherlich gar
wohl zu schätzen und weiß, daß er gar nicht überschätzt werden
kann. Auf der anderen Seite muß man freilich auch wissen,
daß man ein System als Ganzes sehr leicht überschätzt oder
unterschätzt, wenn man seinen Wert lediglich nach seinem
Verhältnis zur Mathematik bewertet. Das gilt es auch für
Aristoteles zu bedenken, damit einen die Scharfsichtigkeit für
die Schwäche seiner mathematischen Position nicht blind gegen
die Größe seiner ganzen Leistung macht. Selbst wer ihn an
Tiefe und Originalität Piaton nicht zur Seite zu stellen ver-
mag, wird nicht verkennen dürfen, daß seine Leistung eben
eine Leistung ist, auch wenn er sich aller Unzulänglichkeit des
Aristoteles in mathematischen Dingen bewußt ist. Wir geben
diese also von vornherein zu, ohne darum von seiner Philo-
sophie als Ganzem gering zu denken. Ferner gilt es zu be-
achten: Wenn Piaton auch die Philosophie, indem er sie an
die Mathematik verwies, streng rational intendierte, so darf
man nun Aristoteles aus der starken Tendenz zur Empirie keinen
Vorwurf machen. Im Gegenteil, darin liegt sein ganz unermeß-
hches Verdienst. Nur hüte man sich, auf Grund einer Verwechse-
lung von Empirie und Empirismus, Aristoteles in die Schablone
eines erkenntnistheoretischen Parteistandpunktes einzuspannen
und aus seinen Verdiensten um die Empirie ihm etwa gar den Vor-
wurf des Empirismus zurechtzudrehen. Wie es immer bedenklich
ist, historischen Erscheinungen des Altertums moderne erkenntnis-
theoretische Schemata überzuwerfen, so hält das gerade hin-
geschehen, so unter vorwiegend historischem Betracht bereits von Burja: Mem.
de l'academie de Berlin und M. Kantor, a. a. 0., vorwiegend kritisch von
Natorp, Plat. Ideenl. und A. Görland, Arist. u. d. Matliem.
220 7. Kapitel.
sichtlich des Aristoteles jede objektiv-historische Würdigung
auf. Einem Empiristen hätte schwerlich gerade Hegel die Be-
wunderung gezollt, die er dem Aristoteles entgegenbrachte.
Und wenn endlich bei den aristotehschen Scholastikern gerade
die Empirie wiederum nie und nirgends in ihrer Bedeutung
gewürdigt wurde, so trifift doch hier die Schuld wiederum nicht
den Aristoteles selber, sondern die aristotelischen Scholastiker.
Das alles darf von vornherein für eine historische Gesamtdar-
stellung des Aristotelischen Denkens ebensowenig übersehen
werden, wie für eine Spezialuntersuchung im Sinne unseres
Problems. In beiden Fällen darf man von Parti aldiff e-
renzen her, wie [sie ohne Frage hinsichtlich der Mathematik
bei Piaton und Aristoteles vorliegen und wie sie freilich in
gewisser Hinsicht für das Gesamtsystem bestimmend sind,
ebensowenig totale und radikale Differenzen in jeglicher
Hinsicht konstruieren, wie man partielle Übereinstimmungen zu
totalen umdeuten darf.
Es ist im weiteren nun nicht leicht, unser Problem gegen
die Gesamtheit des Aristotelischen Denkens abzugrenzen. Wenn
der verdiente Herausgeber des Index Aristotelicus hinsichtlich
des Wortes oucria bemerkt: «usum Aristotelicum norainis oucria
plene persequi esset ipsam Aristotelis philosophiam exponere»\
so bezeichnet er damit die ganze Schwierigkeit unseres Pro-
blems. Nicht auf die Exposition des ganzen Aristotelischen
^ Index Aristotelicus, S. 544. Aus dieser beherrschenden Stellung des
Subslanzproblems innerhalb der Aristotelischen Philosophie erklärt es sich
auch, daß es bereits mehrfach zum Gegenstande besonderer Untersuchung ge-
macht worden ist, besonders von B. Weber: De oöaiaq apud Aristotelem no-
tione eiusque cognoscendae ralione und H. Dimmler: Arist. Met. auf Grund
der Usia-Lehre entwicklungsgeschichtlich dargestellt. Auüer den Arbeiten von
Weber und Dimmler können in gewissem Sinne auch die Schriften von Franz
Brentano, «Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles»
und von Nikolaus Kaufmann, «Elemente der Aristotehschen Ontotogie», die den
bezeichnenden Untertitel «Mit Berücksichtigung der Weiterbildung durch den
hl. Thomas von Aquin und neuere Aristoteliker» führt, in diesen Zusammen-
hang einbezogen werden. Trotzdem die drei zuletzt genannten manches Gute
bringen, so ist doch der Untertitel Kaufmanns eigentlich auf alle vier anzu-
wenden: Die Aristoteles-Auffassung ist durch das katholisch-thomistische Medium
getriibl.
Der Subslanzbegrilf ii)iieihall) des Arislotelischen Systems. 2iJl
Systems legen wir es hier an, sondern nur auf die systema-
tische Stellung des Substanzbegriffes, wenn auch nicht den
Namen innerhalb des Systems. Daß diese eine beherrschende
ist, das kommt in ßonitz' Satze voll und klar zum Ausdruck.
Aber ebendarum läßt sich auch unsere Aufgabe unter dem
Gesichtspunkte der dominierenden, also prinzipiellen Stellung
abgrenzen.
2. Aristoteles übernimmt den bedeutsamen Impuls, den
Piaton dem Substanzproblem in der Funktion der Grundlage
der Bestimmbarkeit gegeben. Darin lag bei Piaton die kate-
goriale Bedeutung vorbereitet. Und Aristoteles ist es, der über-
haupt zum ersten Male eine explizite Kategorienlehre unter-
nimmt. Implizite freilich sind auch dafür von Piaton die
fruchtbarsten Motive bereits gegeben. Ja, man wird vielleicht,
ohne Aristoteles unrecht zu tun, sagen dürfen, daß die Kate-
gorieulehre Piatons systematisch gefestigter ist als die des Aristo-
teles. Allein, die Kategorie qua Kategorie bleibt bei Piaton
impliziter Faktor. Erst bei Aristoteles wird das Kategorien-
problem explizite aufgerollt. So wird man auch hier von vorn-
herein die Größe wie die Grenze der Bedeutung beider Denker
in ihrem Verhältnis zueinander richtig bestimmen können.
Aristoteles' Kategorienlehre ist als Ganzes, wie im Ein-
zelnen, freilich in die größten Schwierigkeiten verwickelt. Das
ist nicht nur von der allgemeinen philosophiegeschichtlichen
Forschung, sondern auch von der Einzelforschung, soweit diese
sich gerade der Kategorienlehre zugewandt hat, vielfach betont
worden; darin liegt auch der Grund für die wenig einheitliche
Ausdeutung dieses Fundamentalfaktors der Aristotelischen Lehre,
wie sie in den Spezialuntersuchungen, deren jede in ihrer Art vor-
trefflich ist, etwa TrendelenburgsS Bonitz'^ Prantls^, Schuppes^
vorliegt. Das Schwankende und Variierende der Deutung hat
seinen Grund in der mannigfachen Unstimmigkeit des Gedeu-
^ Geschichte der Kategorienlehre (Histor. Beiträge I, S. 1 ff.).
^ Über die Kategorien des Aristoteles (Sitzungsber. d. Wiener Akad. X,
591 ff.; vgl. auch Ind., S. 377).
3 Geschichte der Logik I, S. 181 ff.
* Die Aristotelischen Kategorien.
2-2-2 7. Kapitel.
teten, so daß wir ehrlicherweise oft über bloße Vermutungen
nicht hinauskommen. So ist schon der Nameusgeb rauch von
«Kategorie» nicht einheitlich gedeutet, worauf hier im Einzelnen
indes nicht eingegangen werden kann. Im Grunde scheint in-
des Bonitz\ dem sich auch Zeller ^ angeschlossen hat, die Be-
stimmung der Kategorie richtig getroffen zu haben. Wie bei
Aristoteles überhaupt die logischen und grammatikalischen Ge-
sichtspunkte nicht scharf und deutlich von einander unter-
schieden werden, so gehen sie auch im Kategorienproblem
durcheinander, was die Deutung leicht begreiflicherweise nur
erschweren kann. Hier könnte ganz dahin gestellt bleiben, ob
die Aristotelische Einteilung der Logik richtig ist oder nicht,
ebenso vor allem, ob die Klimax jener Einteilung zu Recht
besteht oder nicht. Eines aber ist sicher, daß die Einteilung
als solche, wie deren Klimax, nicht unter einem logischen,
sondern ausschließlich unter einem grammatikalischen Gesichts-
punkte gewonnen ist. Und sprachliche Prinzipien haben einen
bestimmenden Einfluß auch auf das logische Kategorien problem.
Kategorie bedeutet ursprünglich für Aristoteles «Aussage» im
wörtlichen Sinne. ^ Man wird den Plural des Wortes, wie Bo-
nitz es tut*, als Aussageweisen fassen, also KarriTopiai und crxn-
ILiara Tfjq KairiTopia? gleichsetzen dürfen, wenn man nur die
Aussageweisen richtig versteht. Es ist zwar ebenso für den allge-
meinen philosophischen Zusammenhang, wie für unser spezielles
Problem von fundamentaler Bedeutung, daß im Begriff der «Ver-
bindung» (cru|UTT\oKri)^ das Grundmittel der Erkenntnis bezeichnet
wird, indem Verbindung und Trennung, Bejahung und Ver-
^ A. a. 0., S. 610. Was Scliuppe, a. a. 0., S. 3, der iin übrigen sonst
das Problem unter philosophischem Gesichtspunkte am tiefsten gefaßt hat,
gegen Bonitz mit Beziehunt? auf die Termini o\r\\xaTa und ^ivr\ tiDv KaTriYopiT
jidruiv und KarrTfopouiatviuv bemerkt, scheint mir doch nicht zwingend, wie
Bonitz' und Schuppes Deutung nicht unvereinbar.
2 A. a. O. II, 2, S. 187.
^ Categ. II; 1 b und IV, 1 b. Wir kommen auf diese Stellen gleich ge-
nauer zurück; vgl. auch Anal. post. I, 22,83b; Top. I, 9,103b; de soph. el.
IV, 28,1024b; siehe auch Prantl, a. a. 0. I, S. 207.
* A. a. 0. ebenda.
^ Categ. IV, Ib; vgl. Met. VIII, 10,1051b.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 223
iieinuDg richtig als die BeziehungeD erkannt werden, die
allein die Bestimmungen des «Wahr» und «Falsch» zAilassen;
es könnte darum scheinen, als sollte den Kategorien im Sinne
der «Aussageweise» nun die Funktion etwa von Beziehungs-
weisen oder ßeziehungsformen beigelegt werden, und das scheint
mir, wenn ich ihn recht verstehe, der Grund Schuppes gegen Bonitz'
Deutung. Allein, Beziehungsweisen sind freilich die Kategorien
für Aristoteles noch nicht, wie sie es für die moderne Logik
sind. Immerhin dürften sie doch als Aussageweisen ange-
sprochen werden. Sprachlich werden die Kategorien, bei ihrer
Aufzählung schon, gerade als solche Worte bezeichnet, die keine
Verbindung ausdrücken.^ Logisch wird von ihnen ausgemacht,
daß keine der Kategorien an und für sich schon eine Bejahung
oder Verneinung ausdrückt. Aber sie werden als dasjenige er-
kannt, durch dessen Verbindung Bejahung und Verneinung
möglich wird, wodurch weiter die Bestimmungen von «Wahr»
und «Falsch» möglich werden, während ohne Verbindung Aus-
gesagtes weder wahr noch falsch sein kann.- In diesem Sinne
werden die Kategorien in der Tat zu Aussageweisen, und zwar
zu logischen Aussageweisen oder logischen Grundmitteln des
Urteils. Wie immer man sonst über die Kategorien des Aristo-
teles denken mag, mag man schon die Grundposition für nicht
einwandsfrei halten und mag man den Zusammenhang und die
Einheit der Kategorien untereinander vermissen, mögen die
einzelnen zum größten Teil aufgegeben werden müssen, schon
der Versuch, diese Grundmittel in ihrer Gesamtheit ausfindig
zu machen, bleibt in seiner expliziten Tendenz, so mangelhaft
deren Durchführung sein mag, wie Schuppe sagt, «eine Tat
des Genies».^ Und wenn die Kategorien danach auch nicht
^ Ebenda: tüüv Katä |Liribe|Liiav GuiatrXoKriv XeYOM^'^iwv ^Kaarov ^toi
ouoiav oriiaaivei, r\ troaöv ri ttoiöv etc.; vgl. auch de interpr. I, 30a.
^ Ebenda: cKaOTOv h^ tujv eipriiu^vuuv aüxö \x^v Kaö" aÜTÖ dv oi)be|uiai
Kaxacpäaei Xlyejax f\ ä-rroqpdaei, tf\\ be ixpöc; äWriXa toütuuv öUjairXoKfn Kaxd-
qpaöK; Kai dTTÖqpaaic; YiTvexm. äiraoa jap boKei KaxdqpaoK; Kai ditöqpaaiq rjxoi
ä\riör]q f\ lyeubri^ eivai. Die Fortsetzung lautet ähnlich wie die vorige An-
merkung. Nur anstatt der Aufzählung der bekannten zehn Kategorien folgen
hier Beispiele: oTov dvöpuj'rTO(;, XeuKÖv, xp^x^i, viköi.
^ Schuppe, a. a. 0., S. 62.
2-24 7. Kapitel.
Aussageweisen im Sinne von Verbiudungsweisen sind, so sind
sie es doch im Sinne von letzten Elementareinlieiten jener
Verbindungsweisen. ^
Man bemerkt hier, wie sprachliche und logische Gesichts-
punkte bei Aristoteles sich verbinden, indem das Sprechen als
Ausdruck des Denkens und das Denken als Inhalt des Sprechens
von vornherein in Korrelation gesetzt werden. Weiter aber ist
alles Denken auch immer das Denken eines Seins, wie das
Sprechen das Bezeichnen eines Seins ist. Man spricht nicht,
ohne etwas zu sprechen, und man denkt nicht, ohne ein Sein
selber zu denken. An und für sich freilich sind Wahrheit und
Falschheit nur im verknüpfenden oder trennenden Denken, nicht
aber im Sein, da ja Verknüpfung ((Ju|UTTXoKri) und Trennung
(biaipeaig) im Denken, nicht im Sein sind.^ Allein insofern das
Denken selbst auf das Sein geht, haben Verbinden und Tren-
nen ihrerseits Verhältnisse des Seins und Nicht-Seins auszu-
drücken. Wie nun die Kategorien Elementareinheiten solchen
Beziehens, wenngleich nicht Beziehungsweisen selber sind, so
ermöglichen sie selbst auch die Seinsbeziehungen und bezeichnen
letzte elementare Seins-Einheiten, stellen die Formen des Seins
selber dar^, sind Seins-Kategorien, KaitiTopiai toO övroq*, das
Allgemeine, Koivd°, Yevji im Platonischen Sinne als Yevr) tujv
övTuuv^ und Seinsweisen selber, övia^, so daß Sein wie Nicht-
Sein nach den Formen der Kategorien erst gefaßt wird.^
' Auf diese Weise scheint mir die Differenz der Auffassung Schuppes,
a. a. 0., S. 3 und Bonitz', a. a. O., S. 610 ff. ausgeglichen werden zu können.
^ Met. V, 4,1027 b: rj ouinttXoKn iariv Kai r^ biaipeaii; ^v biavoiai dW
ouK iv TOi<; irpoiYiuaai . . .
^ Ebenda IV, 4, 7,1017 a; KaO' auxä hi eivai X^yetai öaairep 0r||iaivei
TU oxninaTa 'z?\(; KarriTopfa^ " baaxüjq yäp X^y^toi, ToaauxaxuJ«; tö elvai
armaivei.
* Ebenda IV, 28, 1024 b; Phys. III, 1,200 b.
'" Phys. ebenda; Anal. post. II, 13,9Gb; De an. I, 1,402a.
« De an. ebenda.
7 Met. VI, 3,1029 b.
* Ebenda VIII, 10,1051b: . . . tö öv X^Yerm Kai tö ^iy\ öv KOTd tö axf]-
uaTO Tüjv KaTr\fop\iX}v . . . Wenn ich mit Trendelenburg, a. a. O., S. 24 ff.
in der Aristotehschen Kategorienlehre sprachliche Gesichtspunlite ausdrücklich
als wirksam anerkenne, so will icli dns aber nicht in dem Sinne verstanden
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 225
Wenn so die Kategorien als Seins-Bestimmungen ange-
sprochen werden, so erscheint der Aristotelische Versuch
einer Kategorienlehre erst hier in seiner ganzen Großartig-
keit. Wie wenig seine Durchführung auch genügen kann,
wie sehr die einzelnen Kategorien selbst diejenigen unter der
bekannten Zehnzahl, die an und für sich der Kritik stand-
halten, auch immer der scharfen Grenz- und Verhältnisbestim-
mung zueinander ermangeln mögend die Tendenz, die bei
Aristoteles eben doch von vornherein eine planmäßig explizite
ist, behält ihren Wert.^ FreiHch liegt gerade in dem Verhält-
nis der Kategorien zum Sein noch eine nicht unerhebliche
Schwierigkeit. Auf der einen Seite sollen, wie wir soeben sahen,
die Kategorien Seinsweisen, das Allgemeine, ja einzig und allein
Koivd sein.^ Auf der anderen Seite ist das Sein allen Kate-
gorien entrückt, selbst keine Kategorie, sondern steht über
ihnen allen.* Aber gerade darum soll es allgemein ausgesagt
werden und erscheint doch selbst als Kategorie^, so daß die
Koivd der Kategorien, die ja die einzigen Koivd sein sollen, eben
doch nicht die einzigen Koivd wären. Allein Aristoteles fordert
selbst ausdrücklich verschiedene Bedeutungen des Seins zu
unterscheiden.*^ Sind die Kategorien KaxiiTopiai loO övto^, so
kann das öv, das xatd irdvTUJV KarriYopeiTai, nur das reine Sein,
das öv Kay auto^ sein. Es ist das Sein schlechthin, dessen
besondere inhaltliche Bestimmungen die Kategorien sind, über
denen es danach stehen muß, ohne selbst Kategorie zu sein.
Das ist der idealistische Grundzug in dem gewöhnlich als so
wissen, daß solche bis ins Einzelne den Plan der Kategorien bestimmen, und
daß dieser Plan überhaupt ein einheitlicher sei, Avie außer Trendelenburg
auch Brentano, a. a. 0., S. 150 behauptet. Vgl. dazu gegen Trendelenburg
und Brentano besonders Zeller, a. a. 0., S. 264 f.
• Categ. V wird das in dem ganzen Kapitel am deutlichsten.
2 Vgl. Schuppe, a. a. 0., S. 62.
3 Met. XI, 4,1070b; Phys. 1. c.
* Met. IX, 2,1053b; Top. IV, 6,127a.
^ Met. X, 2,1060 a: Kaxd irdvTUJv tö 6v KorriYopeiTai. Es erscheint so
als die Kategorie Ka9ö\ou, vgl. auch IX, 2,1053 b und 1053 a.
6 Ebenda VI, 1,1028 a: Tö öv Xerexai -troWaxüJ? . . .
7 Ebenda X, 1,1059 b.
Bauch, Das Substanzproblem. 15
226 7. Kapitel.
realistisch bezeichneten Denken des Aristoteles, daß das Sein
als reines Sein die Idee und Aufgabe der Bestimmung durch
die Kategorien bezeichnet. Das freilich nicht im Sinne des
Platonischen Nicht-Seins und Anders-Seins und Unbestimmten^
als Objekt der Bestimmung, sondern als höchstes Prinzip der
Bestimmung, dessen Spezifikationen die Kategorien sind, um
die Sphäre des Seins auszumessen.
3. Rücksichthch des reinen Seins nun nimmt er, genau
wie Piaton, Stellung gegen den Relativismus, der allein im
Sinnlichen das Sein setzt. ^ Die Erhärtung des Seins schlecht-
hin ermittelt er am schärfsten gerade durch die Widerlegung
der relativistischen Theorie. Das ist einer der Fundamental-
faktoren innerhalb der Gesamtheit seines Denkens, in dem
Aristoteles sich so innig mit Piaton berührt, daß wir, genau
wie bei diesem, eine formale und eine inhaltliche Widerlegung
des Relativismus auch bei Aristoteles unterscheiden können.
Am schärfsten, schärfer noch als in den eigentlich logischen
Schriften, erhält diese Widerlegung des Relativismus, sowie mit
ihr die Erhärtung des reinen Seins schlechthin ihre Darstellung
in der Metaphysik. Am Gesetze des Widerspruchs zieht sich
hier die formale Widerlegung in glänzender Weise durch das
ganze dritte Buch der Metaphysik und bewegt sich im Prinzip
durchaus in den Bahnen, die wir bei Piaton vorgezeichnet
fanden und erörtert haben. In sie flicht sich ungezwungen ein
auch die inhalthche Behandlung des Problems. Wir halten
uns hier für eine kurze Darstellung am einfachsten an die
grundlegenden Erörterungen der Metaphysik. Wenn der Re-
lativismus nur im Sinnlichen das Sein setzt, so ist es konse-
quent, die Erkenntnis überhaupt zu leugnen, weil ja dann
ebenso gut alles wahr, wie alles falsch sein muß, der Unter-
schied von Wahrheit und Falschheit und damit der Begriff
^ Schuppe, a. a. 0., S. 41 scheint es diesem einmal recht nahe zu
rücken. Es ist nicht uninteressant zu bemerken, wie Aristoteles, Met. I,
8,989b gerade in der Gleichsetzung des «Unbestimmten» mit dem «Anderen»
ausdrücklich sich mit Piaton identifiziert: . . . ^drepov, oiov riöenev tö döpio-
Tov Ttpiv öpioötivai Kai jueroaxeiv eiboug tivöc;. — Vgl. auch III, 4,1007 b.
2 Met. III, 5,1010 a.
Der SubstaiizbegriiT innerhalb des Aristotelischen Systems. '227
der Erkenntnis selbst aufgehoben wird. Aus dem Problem der
Erkenntnis heraus soll also bei Aristoteles, wie bei Piaton, auch
der Begriff des Seins schlechthin erhärtet werden. Formal hebt
sich der Relativismus deswegen selbst auf, weil nach ihm alles
sowohl wahr, wie auch falsch sein muß. Wären wir, wie der
Relativismus will, nur auf Wahrnehmung und Sinnhchkeit ver-
wiesen, dann wäre zunächst freilich der Satz des Protagoras,
daß alles so ist, wie es jedem scheint, im Rechte. Da tat-
sächlich aber die Menschen entgegengesetzte Meinungen haben,
so hätte nicht bloß der Relativismus recht, sondern auch die-
jenige Meinung, die der relativistischen Meinung entgegenge-
setzt wäre. Mithin hätte auch der Relativismus nicht recht,
sondern auch unrecht. Er wäre falsch, wenn ihn die entgegen-
gesetzte Meinung, weil diese nach ihm selbst ja wahr sein sollte,
für falsch hielte.^ Wir finden also in formaler Hinsicht jenes
in der Tat zwingende Argument gegen den Relativismus ins
Feld geführt, das seit den Tagen Piatons mit Recht immer
und immer wieder gegen den Relativismus geltend gemacht
worden ist.
Wie bei Piaton, so ist auch bei Aristoteles indes die in-
haltliche Argumentation für unser Problem von größerer Be-
deutung. Wäre es richtig, daß nur das Sinnliche sei (eivai xa
aicy^riTd laovov)^, so müßte sich abermals auch inhalthch die
relativistische Position selbst aufheben. Zwar das ist dem Rela-
tivismus abermals zuzugeben ,~ daß im Sinnlichen es nur ewig
Wechsel und Bewegung gebe, daß wir hier nur ein Werden,
ein stetiges Entstehen und Vergehen ergreifen. Allein, daß es
darum nur Wechsel und Bewegung, Entstehen und Vergehen
gebe, das ist falsch. Aller Wechsel, alles Entstehen und Ver-
gehen, setzt schon ein Beharrliches im Wechsel voraus. Im
Wechsel ist nicht nur der Begriff des beharrenden Seins mitge-
setzt, insofern der Wechsel selber ist, sondern auch das Wech-
selnde, und damit das Entstehende und Vergehende, insofern jenes
selbst ist und aus etwas entsteht und dieses, insofern es zu
» Vgl. besonders Met. III, 5,1009a und X, 5,1062a/b, 1063a.
^ Ebenda III, 5,1010 a.
15*
228 7. Kapitel.
etwas wird, da alles Vergehen ein Werden zu etwas ist, wie
alles Entstehen ein Werden aus etwas. Es muß also etwas
sein, das wechselt, dessen Wechsel also in einem Verlieren von
Eigenschaften und einem Erlangen anderer Eigenschaften be-
steht.^ Die Welt des Wechsels und der Bewegung fordert also
schon eine Welt des Wechsellosen und Unbewegten.^ Ja, ohne
ein beharrliches Sein schlechthin gäbe es nicht nur nicht einen
sinnlichen Wechsel, sondern dieser könnte^ selbst, wenn es ihn
gäbe, auch nicht erkannt werden. Ganz ähnlich wie bei Piaton
wird auch hier gezeigt, daß man von der bloßen Wahrneh-
mung aus nicht einmal zu deren eigenem Sein gelange. Wenn
es nur Sinnliches gäbe, dann gäbe es — das ist jener innere
Widerspruch jeglichen Relativismus, der nun seine inhaltliche
Selbstaufhebung vollendet, — überhaupt nichts. -"^ Da es doch
keine Wahrnehmung der Wahrnehmung gibt, da die Wahr-
nehmung sich also nicht selbst wieder wahrnimmt, so würden
wir, wenn es nur Wahrnehmungen gäbe, von diesen selbst
nichts wissen. Um also auch nur etwas von der Wahrnehmung
zu wissen, ist für das Wissen von der Wahrnehmung selbst
schon mehr als bloße Wahrnehmung vorausgesetzt,'* Erst unter
^ Ebenda: tö ye fäp äTToßdWov ^xe\ Ti xoO äTroßa\\o|utvou, Kai tou yy-
•fvoiatvou f\br\ dvctYKri ti elvai. öXuuq t6 ei 90eipeTai, üiidptei ti öv. Kai ei
YiTvcTOi, il oö -fifverm koI üqp' ou Y^wÖTai, övaTKaTov eTvai. Aristoteles
riclitet sich hier, ebenso X, 5,1062 a/b, wie früher auch Piaton, gegen Hera-
klit. Allein auch von seiner Polemik gegen Heraklit dürfte das gelten, was
wir früher von derjenigen Piatons bemerkten.
2 Ebenda: öti y«P ^cttiv dKivriTÖc; ti<; (pvoiq beiKT^ov . . . ; vgl. auch
ebenda 8,1012 b. ^ari jap ti 8 äei Kivei tu Kivoüineva, Kai tö irpajTov kivoöv
ökIvtitov aÖTÖ.
' Ebenda III, .5,1010b: öXuui; t' ei ndp ior\ tö aiG9r|TÖv laövov, oCibdv
öv etri . . , Zunächst scheint hier die Begründung eine psychologische Wen-
dung zu nehmen, wenn die Fortsetzung der oben zitierten Worte lautet : |ur)
övTUJV Tiöv fuviJÜxujv. Allein unmittelbar darauf folgt: aiödr|ai(; y«P oOk öv
ein. Insofern nun das bloße Wahrnehmungs-Sein aber zum Sein als unzuläng-
lich erwiesen wird, bleibt Aristoteles in der Tat keineswegs beim bloßen Wahr-
nehmungsproblem stehen, sondern bezieht es sofort in das allgemeine Erkennl-
nisproblera ein. Das wird auch oben aus dem Texte sogleich deutlich werden.
* Ebenda : ou yop bn x] y' o!iadr\a\<; aOTrj ^auTf|^ ^cttiv, äW ?aTi ti Kai
e'Tepov TTOpa t^v a\abr\aiv, ö ävÖYKn -rrpÖTepov eivai Tr\(; aiaQr\aiwq.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 229
der Voraussetzung eines Seins an sich (auxd Ka^' aurd)^ kann
auch der Relativismus selbst ein Sein und einen Sinn — näm-
lich innerhalb der Sphäre des Sinnlichen — erhalten, indem
ja nur so die relativen Beziehungen selbst als seiend gedacht
werden können. Ohne ein Sein an sich wären diese nichts
und wäre der Relativismus selber nichts. Beschränkt er sich
auf die relativen Wahrnehmungsbeziehungen, so mag er das
tun, absolut gesetzt ist er eine contradictio in adjecto. Wenn
er sich aber in dieser seiner Selbstbeschränkung selbst verstehen
will, so muß er auch verstehen, daß er, um auch nur von
seinen relativen Bestimmungen reden zu können, selbst schon
eine mehrfache Bestimmtheit durch das Sein schlechthin vor-
aussetzt, insofern doch jene relativen Beziehungen selbst be-
stimmte sein sollen und eine Beziehung doch nur bestimmt
sein kann, durch an sich Bestimmtes, Bezogenes, so daß auch
das als Beziehung bestimmte Sein immer schon das Sein schlecht-
hin voraussetzt, durch das es als seiend bestimmt wird.^ So
ist jegliches Wissen, und auch das des Relativismus, nur mög-
lich unter Voraussetzung des beharrlichen Seins schlechthin.
Wie immer man sich auch auf das Relative beschränken
mag, selbst diese Beschränkung setzt, sofern sie sich auch nur
1 Ebenda III, 6,101 1 a.
^ Ebenda b. Hier wird besonders mit Rücksicht auf die Zeit, insbe-
sondere auf Vergangenheit und Zuliunft ausgeführt, daß, wenn es etwas gibt,
das einmal war, und etwas, das sein wird, damit zugleich ein Sein außer dem
Sein upö^ bölav vorausgesetzt wird. Soviel Schwierigkeiten nun auch gerade
in dem Sein des Gewesenen, also doch nicht mehr Seienden und dem Sein des
Künftigen, also doch noch nicht Seienden an und für sich liegen mögen, so
wird doch — und das ist das Bedeutsame des Arguments, wie Aristoteles deut-
lich gesehen haben muß — davon keine Theorie härter gedrückt als die
relativistische. Wenn Aristoteles nun unter Beziehung auf diese Schwierigkeit
weiter argumentiert : Sti ei ^v, itpö^ 'dv f\ 'rTpö(; übpiöiaevov, so bezeichnet er da-
mit durchaus zutreffend die irrelative Seinsvoraussetzung auch des Relativis-
mus. Adolf Lasson übersetzt hier in seiner, trotz mancherlei an Hegel orien-
tierten Freiheiten, vortreffhchen Übersetzung der Aristotelischen Metaphysik,
S. 80: «Weiter aber, ist es ein Relatives, so steht es in Relation zu einem
oder doch in bestimmter Relation zu Bestimmtem». . . . Das mag dem Buch-
staben nach sehr frei sein, so bezeichnet es doch den Sinn und Geist mit
völliger Sicherheit.
230 7. Kapitel.
selbst verstehen will, und gerade dadurch, das Sein schlechthin
voraus.
Von ganz besonderem Interesse ist es dabei, wie Aristo-
teles an dem Relativen das Objektive gleiclisam im konkreten
Falle ergreift. Ich halte mich hier an ein von ihm selbst
gewähltes, äußerst instruktives Beispiel. Er führt aus: Ein
und derselbe Wein kann jetzt süß schmecken, dann aber auch
nicht: entweder weil er sich selbst geändert hat, oder aber auch,
weil in der sinnlichen Organisation dessen, der ihn trinkt, sich
eine Änderung eingestellt hat. Was sich aber trotzdem nicht
verändert hat, das ist die Süßigkeit selbst. Sie ist, was sie ist
und bleibt es, wann und wo sie auch auftritt und besteht eben
jedesmal als ein an und für sich Beschaffenes.^ Wir sehen hier
noch ganz von der genaueren Behandlung der Bestimmtheit
des Seins ab, da es uns zunächst nur auf das Sein als solches
ankommt. Immerhin ist die Art und Weise, wie Aristoteles
hier gerade im scheinbar ganz Relativen, wie dem Geschmack
des Süßen, das objektive Sein des Süßen selbst ergreift, von
dem allergrößten Interesse. Denn von hier aus fällt ein helles
Licht auf den Piatonismus des Aristoteles. Das zeigt uns nicht
bloß, wie innig im tiefsten Kern des Denkens Aristoteles auch
da mit Piaton verwandt bleibt, wo er ihn aufs leidenschaft-
lichste bekämpfen zu sollen glaubt. Auf der anderen Seite
wird von hier aus auch noch einmal das Wesen der Plato-
nischen Idee deutlich. Sie besagt eben nichts Anderes, als
jene allgemeingültige Bestimmung, die alles Einzelne beherrscht.
Ob ich etwas Süßes schmecke oder nicht, das gilt zunächst
gleichviel, — um den Sachverhalt an dem Aristotelischen Bei-
spiel zu verdeutlichen — immer aber wenn bestimmte Be-
dingungen erfüllt sind, unter denen irgendein Ding in be-
stimmter Weise auf das Geschmacksorgan einwirken kann, re-
sultiert eine bestimmte Empfindung, die ich in dieser ihrer
' Ebenda 111, 5,1010b: \iyiu b' olov ö juev auröi; oivoc, böEeiev äv f\
MeraßaXdiv f\ toö aib^xaroq jaexaßaXövToq öt^ [xiv elvai YX.uKijq öxd bi oö
yXuKÜi;. äW oi) xö fe fkvKX) oTöv dariv örav f\i, oöbeiTuüiroTe ^erdßaXev,
&X,X' del d\riöeÜ€i itepi aOroö, koI ^ariv i.Z d.vd'fKr\(; rö ^aöjuevov y^ukO toi-
oOtov; vgl. ebenda X, (3,1063 a/b.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 231
Bestimmtheit als süß bezeichne, für welche Bezeichnung dieses
so beschaffenen Empfindungsinhaltes die Idee des Süßen selbst
die Voraussetzung bildet. In diesem Sinne hat auch Otto
Liebmann\ an und für sich freihch mehr in systematischer,
als in historischer Absicht, die Platonische Idee als «Natur-
gesetz» angesprochen. Und wenn er auch zwischen der Pla-
tonischen Ideenlehre und der Aristotelischen Entelechienlehre
einen größeren Unterschied zu konstatieren sucht, als es histo-
risch zulässig ist, so verkennt er doch gerade auch die wichtigen
Momente der Übereinstimmung nicht. Gerade dies Moment aber
hebt er an Piaton hervor, daß seine Idee sei ein alles Einzelne be-
herrschendes Gesetz als Inbegriff bestimmter Bedingungen für be-
stimmte Erscheinungen, so daß diese da auftreten, wo jene erfüllt
sind, wie z. B. eine bestimmte Art oder Gattung von Lebewesen
unter den vom Art- oder Gattungsbegriff umfaßten Lebensbe-
dingungen dieser Art oder Gattung, wann und wo auch immer es
sei. Daß aber gerade hier eine tiefe Übereinstimmung zwischen
Piaton und Aristoteles besteht, das lehrt am deutlichsten wohl
des Aristoteles eigene von uns besprochene Exemplifikation.
So wird mit zwingender Klarheit deutlich, daß auf Grund
des Sinnlichen allein überhaupt keine Wissenschaft möglich ist^,
daß alle Wissenschaft ist ein Wissen vom ewig Seienden und
Allgemeinen,^ Der Gegensatz zu Piaton liegt vielmehr in dem
Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen. Ob mit Recht
oder mit Unrecht, das mag hier dahingestellt bleiben, weil da-
rüber fast schon zu viel gestritten worden ist und weil impli-
zite die Entscheidung eigentlich schon in unseren Ausführungen
' Vgl. dazu «Analysis der Wirklichkeit», besonders das ganze Kapitel über
«Plalonismus und Darwinismus» und «Gedanken und Tatsachen» I, besonders
den Abschnitt über «Idee und Entelechie»; vgl. auch 11, S. 145.
2 Anal. post. I, 31,87 b: Oubi bi' aiadnaeuuc; ^otiv dmOTaööai.
5 Met. V, 2,1027a: ^iTiaTn|iir| |Liev ^ap itciöa f\ toO dei f) toO ibq eui tö
TToXü. Das «TÖ ibq im tö ttgXü» bezeichnet ohne Zweifel aber doch keine bloß
empirische Enumeration, sondern zum Unterschiede von toö dei sicher das auf
diesem Gegründete. Das kann gerade aus der Analyse des oben besprochenen
Beispiels klar werden. Und wenn, wie sich noch zeigen wird, Aristoteles
dem «Ungefähr» noch eine Stelle in der Wirklichkeit läßt, so läßt er ihm doch
keine solche in der W'isscnschaft. Vgl. übrigens auch a. a. 0. X, 8,1065a.
232 1. Kapitel.
über Piaton liegt: ob mit Recht oder Unrecht also, gleichviel,
jedenfalls sieht Aristoteles selbst seinen Gegensatz zu Piaton
zunächst darin, daß sich aus Piatons Allgemeinem nicht das
Einzelne erklären lasse, und er selbst dringt gerade auf diese
Erklärung^ Daß er dadurch selbst ein innigeres Verhältnis
zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen herstellen zu
können meint, als er es bei Piaton vorzufinden glaubt, steht
außer Frage. Ebenso sicher ist es, daß, so angesehen, sein
Standpunkt als Ganzes vom Dualismus weiter abzurücken
scheint als derjenige Piatons. Ob freilich gerade darin der
Platonische Duahsmus liege, das muß ebenfalls aus dem vo-
rigen Kapitel längst deutlich geworden sein. Ob aber Aristo-
teles selbst wirklich so über «allen Dualismus erhaben» sei, wie
es mancher seiner getreuen Verehrer meint^, ob bei ihm selbst
nicht ein gewisser dualistischer Rest verbleibt und er sich auch
gerade darin mit Piaton berührt, wird sich vielleicht später
zeigen. Verkannt darf aber seine Tendenz, über den Duahsmus
hinauszugelangen, ebensowenig werden, wie sein subjektives
Bewußtsein, über diesen hinauszuführen, obgleich es wohl bei
ihm selbst nicht ganz so stark entwickelt gewesen sein mag,
wie bei seinen Hegelischen Interpreten.
Diese Tendenz wird aber vollkommen deuthch in der Art,
das «An-sich> der Dinge auf die Dinge zu beziehen. Das
1 Ebenda I, 9,992 a; vgl. Eucken, D. Methode d. Arist. Forsch., S. 22 ff.
^ Anton Bullinger hat in einer besonderen Schrift «Des Aristoteles Er-
habenheit über allen Dualismus und die vermeintlichen Schwierigkeiten seiner
Geistes- und Unsterblichkeitslehre» mit entschiedenem Verständnis und un-
verkennbarer Sachkenntnis behandelt. Ob aber seine übrigens durchaus echte
Begeisterung nicht doch schon zu viel «Erhabenheit über allen Dualismus» in
Aristoteles hineingelesen hat, wird sich später zeigen, wo sich wohl Gelegen-
heit bieten wird, auf diese Schrift zurückzukommen. Bullinger steht mit
seiner Ansicht natürlich nicht allein. Seit Hegel stimmen alle an Hegel selbst
sich systematisch anlehnende Denker auch in der historischen Beurteilung
des Aristoteles überein. Der treffliche Adolf Lasson erklärt die Aristotelische
Philosophie in der Vorrede (S. 9) zu seiner Metaphysikübersetzung für den
«energischsten und konsequentesten Monismus des Geistes, den die Welt bis
auf Hegel gesehen hat». Ed. Caird und mancher andere moderne Hegelianer
sind kaum weniger energisch in der Vertretung dieses historischen Urteils.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. i233
«An-sich» ist nichts Anderes als gerade das, was die Dinge
bestimmt und diesen als ihre Bestimmung innewohnt, ihr
«Was» und «Wesen» ausmacht, ihnen nicht bloß «zufällig»
und «akzidentell», sondern «essentiell» zukommt, d. h. nicht
eigentlich das bloß «Zukommende» ist, sondern Grundlage des
Zukommens, die nicht von etwas außer ihr ausgesagt, sondern
Substrat auch der Aussage des Zukommenden ist, und als
Allgemeines allem Einzelnen innewohnt und sein Wesen ist.^
Diese — denen, die in Piatons Ideen selbst Einzeldinge sehen,
zum Trotz sei es nun doch herausgesagt — echt Platonische
Tendenz gibt bei aller Neigung zum Formalen in der Logik
dieser dennoch auch einen bedeutsamen inhaltlichen Charakter.^
Wenn also Aristoteles, wie er selbst meint: im Gegensatz
zu Piaton, betont, das Allgemeine sei nicht etwas neben dem
Einzelnen^, so fordert er doch auch für die echte Erkenntnis
des Einzelnen, daß es aus dem Allgemeinen, auf Grund des
Allgemeinen erkannt werde, in dem es ebenso logisch
enthalten ist*, wie das Allgemeine reaUter in ihm ent-
halten ist^, da das Allgemeine eben den Grund des Einzelnen
enthält.^ Wenn also auch das «Warum» und das «Daß» nicht
getrennt werden dürfen, so gebührt auch dem Wissen, das das
«Warum» ebenso enthält wie das «Daß», der Vorzug.'' Denn
^ Anal. post. I, 4,73 a/b. Ich habe mich oben im Ausdruck möglichst
eng an die Aristotelische Bestimmung der Beziehungen von Kard ttovtö^, Kad'
aÜTÖ und koööXou, des ^vuirdpxeiv ^v tiIji ti ^ötiv, der oüaia und des Xöyoi;
gehalten.
* Vgl. Heinrich Maier, Die Syllogistik des Aristoteles, Einltg. Eigentlich
kann das ganze eingehende und gründliche Werk Maiers als Bestätigung dieser
Behauptung dienen.
* Anal. post. I, 24,85 b: äxi ei tö |uev KadöXou |uri ^öxi xi uopdi xd Kod'
iKOÖTd . . .
* Ebenda: djaxe ö KaööXou eibOjc, indWov oibev f|i UTrdpxei f) 6 xö Kaxd
Hepo?.
* Ebenda: exi xe oubeuia dvÜYKri üiTo\a,ußdveiv xi eTvai xoöxo Trapd
xaöxa, öxi '^v briXoi, otibiv laäWov f| im xöiv äWuiv, ööa |uri xt ariiuaivei dW
f] TTOIÖV f| ItpÖq XI f\ TTOieiV.
ö Ebenda: aixiov dpa xö KaööXou.
' Ebenda I, 27,87 b: dKpißeoxepa b' eTtiaxr)|Liri iTna-:f\^r\<; Kai irpox^pa
f| xe xoö öxi Kai biöxi i\ auxri, dWd jur) x^^Pk fou öxi xfiq xoO biöxi, Kai fj
234 7. Kapitel.
erst darin liegt eigentliches und wissenschaftliches Wissen.
Das Wahrnehmuugswissen, das immer auf das Einzelne geht,
reicht dazu nicht aus. Denn Wissenschaft ist begründetes
Wissen. Begründung liefert aber nur das Allgemeine, das
nicht wahrnehmbar ist. Ebendarum kann eigentliches Wissen
nicht durch Wahrnehmung erlangt werden.^ Wenn man also
selbst imstande wäre, wahrzunehmen, daß die Winkelsumme
im Dreieck gleich zwei Rechten ist, so wäre das ohne Be-
gründung doch noch ebensowenig eigentliches Wissen, wie
die bloße Wahrnehmung einer Mondfinsternis, wenn man
nicht für das eine wie für andere die Gründe wüßte. ^
Diese aber liegen im Allgemeinen, und ebendarum hat das
Allgemeine einen höheren Wissen wert. ^ Das Allgemeine ist
das Notwendige, das sich nicht auch anders verhalten kann.
Und wenn auch das, was sich anders verhalten kann,
sein kann, so kann es doch eben als solches nicht wissen-
schaftlich erkannt werden. Das ist immer nur möglich ver-
mittels und auf Grund eines Allgemeinen, durch das sich
echtes Wissen von bloßer Meinung unterscheidet.'^ Wenn nun
die Wahrnehmung sich auf das Einzelne bezieht, so erfaßt sie
in dem Einzelnen doch nicht den Gegenstand als solchen,
sondern nur seine Eigenschaften. Da diese aber dem Gegen-
stande gegenüber, weil sie ja nicht ihm allein zukommen, selbst
ein Allgemeines sind, wenn sie auch von der Wahrnehmung
nicht als Allgemeines, sondern nur selbst als Einzelnes erkannt
juri KttO' öiroKEiiidvou Tfi<; koö' ÜTroKeviadvou, oTov t\ äpiö|uriTiKrj dtpi^oviKfi?,
Kai iZ AöTTÖvuuv Tfi<; i.K ttpoabiaeüx;, otov feuj\xerpia(; äpiOnriTiKr).
' Ebenda I, 31,87 b: ^ttei ouv ai ^iv änobeileic, küööXou, xaDra b' oOk
^OTiv afaödveaöai, q)avepöv öri oüb' ^Triaxaaöai br aiaörjaeoti; eaxiv.
2 Ebenda.
^ Ebenda I, 31,88a: tö hi KadöXou xiiuiov, öxi br\\oi xö aixiov • löaxe
Ttepi xoioOxujv y] KadöXou xi.uioix^pa xdiv aioQr\ae{X)v Kai xfi<; vorjcreuii;, 8auuv
exepov xö aixiov.
* Ebenda I, 33,88 b/89a. Daß hinsichtlich des psychologischen Ur-
sprungs die Wahrnehmung des Einzelnen dem Denken des Allgemeinen vor-
ausgeht, wie Aristoteles besonders de an. II, 8,432 a betont, tut ihrem lo-
gischen Verhältnis keinen Eintrag. Auch darin stimmt Aristoteles mit
Piaton überein.
Der Substaiizbegrifr innerhalb des Arislotelischen Systems. 235
werden, so ergreift das Denken unmittelbar am einzelnen Gegen-
stande selbst seine allgemeinen Bestimmungen.^ Wahrhafte
Erkenntnis ist nur möglich vom wahrhaften Sein^, das allein
in den allgemeinen Grundlagen und Prinzipien der Dinge"',
nicht aber in den einzelnen Dingen als solchen^, liegt. Und
wenn auch die allgemeinen Grundlagen der Dinge nicht außer
den Dingen zu suchen sind, sondern allein in den Dingen
wirksam sind, so sind die Dinge doch nichts ohne sie. Und
wir erkennen das einzelne Ding sowohl als Gegenstand nur
durch das Denken, wie wir auch seine zwar der Wahrnehmung
gegebenen, aber insofern sie selbst ein Allgemeines sind, in
ihrer Bestimmtheit doch auf das Denken verwiesen bleibenden
Eigenschaften in letzter Linie nur durch das Denken erkennen,
4. Mit dem Verhältnis von Gegenstand und Eigenschaft
sind wir bereits an die fundamentalsten Bestimmungen auch
des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem, sowie an
das Wesen der Substanz herangetreten; zugleich ist von hier
aus die Anknüpfung an unseren Ausgangspunkt gewonnen.
Ist das Einzelne zwar nichts ohne das Allgemeine, so ist doch
auch das Allgemeine nichts neben dem Einzelnen.^ Wenn wir
in der Erkenntnis und im Urteil etwas bestimmen, wenn wir
(um uns an des Aristoteles eigene Ausdrucksweise zu halten) im
Urteil etwas erkennend aussagen, so ist streng zu unterscheiden
zwischen dem, was ausgesagt wird, und dem, wovon jenes aus-
gesagt wird. Und wie jede Aussage neben dem Ausgesagten ein
Substrat der Aussage fordert, so ist mit dieser Unterscheidung zu-
gleich noch die andere, mit der ersten selbst nicht zu verwechselnde,
Unterscheidung gesetzt zwischen dem, was das ist, das ausgesagt
wird, und dem, was das ist, von dem es ausgesagt wird. Oder
mit anderen Worten: Jede Aussage erfordert neben dem Aus-
* Ebenda I, 31,88 a.
2 Ebenda II, 19,100a, besonders deutlich auch Met. III, 2,996 b und IV,
2,1004 b.
3 Phys. 1, 1,184 a und Anal. post. I, 2,71b; vgl. Zeller, a. a. 0., S. 175 f.
* Anal. post. I, 31,88 a.
^ Anal. post. I, 11,77 a: e'ibii ixiv ouv eivai f\ 'iv ti Ttapd xd ttoWä oük
dvdYKri, ei diröbeiEK; eotai, eivai ja^vTOi ev Kaxö iroXXOuv dXr)0^q ei-rrciv dvdYKr].
236 7. Kapitel.
gesagten ein Substrat (unoKeiiiievov) der Aussage ; und damit ist
zugleich zu unterscheiden zwischen dem, was das Substrat
(u7roKei)Lievov) des Seins selber von etwas ist und dem, was bloß
in und an und durch dieses Substrat selber sein kann.^ Von
hier aus enthüllen sich zunächst zwei Bedeutungen des Be-
griffes der Substanz, die sich für Aristoteles mit- und aneinander
entwickeln und die die Substanz einmal als Kategorie, das
andere Mal als Wesen zeigen: Was nämlich für sich selbst
weder ein Substrat der Aussage, noch ein solches des Seins
fordert, das muß und kann allein letztes Substrat aller Aussage
und alles Seins selber sein. Es ist Substanz im eminenten
Sinne des Wortes, Substanz erster Ordnung als Grundlage alles
Denkens oder Aussagens und als Grundlage alles Seins. ^
Die «erste Substanz» ist die Substanz im eigentlichen Sinne
nach Aristoteles, das eigentlich seiende Wesen und entspricht
streng der Substanzkategorie als der eigentlichen Grundkate-
gorie. Wie diese das Substrat aller übrigen Kategorien ist^,
so ist das substantielle Wesen die Grundform und das Sub-
strat allesj^ Seins. Wie die Substanzkategorie als Grundlage
aller Aussage selbst nie ausgesagt werden, d. h. hier in diesem
Falle nie Prädikat* sein kann, so kann das eigentlich substan-
tielle Wesen nie bloß an etwas anderem, d. h. bloß relativ in
Beziehung (rrpo? xi) auf etwas anderes sein.^ Es muß in sich
1 Categ. II, Ib.
- Ebenda V, iJa: oüaia bi iarw f| KupiiuTaxd xe Kai TtpiJüxuj^ Kai |Lid-
Xiaxa XeYoi-i^vri, x] lirjxe Kad"' üiroKei|Li^vou xivö? X^yerai larix' ^v OtiOKeiia^viui
xivi laxiv . . .; vgl. ebenda 3a: r] |Lidv yöp TtpiJuTri ouafa ouxe ^v ÜTiOKeija^viJui
daxiv, ouTe KaO' ö-rroKeiu^vou Xeyexai.
^ Ebenda.
•» Ebenda, sowie Anal. post. I, 22,83a und Met. IV, 8,1017b. Man
hat darauf zu acliten, daß hier von Aristoteles «Aussage» im Sinne der
Prädikation' verstanden wird, da man ja, ohne des Aristoteles sonstige Absicht
zu verfehlen, behaupten kann, daß vom Sein überhaupt auch die Substantiali-
tät als Seinsweise ebenso gut ausgesagt werden kann, wie das Sein von der
Substanz, Aber diese Aussage wäre eben keine Prädikationsaussage. So
hebt sich eine^Schwäerigkeit, von der manchmal die Aristoteles-Literatur (vgl.
Schuppe, a. a. 0., S. 4-0 und Trendelenburg, a. a. 0., S. 17) gedrückt wird.
8 Met. XIII, 1,1088 b. Die Relationslosigkeit betrifft ledighch, wie bald
klar werden wird, die substantielle Bestimmtheit, nicht eine absolute Beharr-
Der Substanzbegritr innerhalb des Aristotelischen Systems. 237
selbständig sein^ und Eines und Bestimmtes für sich selbst^,
hat darum auch nicht eigenthch ein Gegenteil, obwohl es Ent-
gegengesetztes aufnimmt.^ Wenn es nun auch «weder Ver-
mehrung noch Verminderung aufnehmen kann»^, so bedeutet
das eben, daß es «das, was es ist, nicht mehr und nicht we-
niger sein kann, als es ist».^ Als solches, in dieser Bestimmt-
heit und einheitlichen Ganzheit also hat es keinen Gegensatz
und keine Intensitätsunterschiede des Seins und ist lediglich
das konstante im Wechsel seiner Eigenschaften beharrende
Substrat dieser seiner Eigenschaften. Diese sind im Verhältnis
zu ihm lediglich ou^ßeßrjKOTa.^ So wird vollkommen deut-
lichkeit, die sonst und später auch noch bei Aristoteles für den Substanz-
begriff charakteristisch ist. Die Beharrlichkeit der «ersten Substanz» ist ledig-
lich selbst relative Konstanz.
1 Met. VI, 3, 1028 b und 1029 a.
* Categ. V, 3b und Anal. post. I, 4,73 a.
3 Diese Beziehung und Unterscheidung ist von Wichtigkeit. Einerseits
heißt es Categ. ebenda: ÜTrdpxei be raic, ovaiaic, Kai tö i.ir\biv auToiq ^vavxiov
eTvai und ganz entsprechend Phys. I, 6,189 a: ^xi ouk dvai qpafxev oüaiav
^vavTiav ouaiai. Auf der anderen Seite aber wird es als das Wesenthchste
und Charakteristischste der Substanz angesehen, daß sie als in sich Dasselbe
und Einheithche doch Entgegengesetztes aufnehmen kann. So Categ. ebenda
4a: juriXiaxa he ibiov Tf\q oOoia^ boKei eTvai tö raOröv Kai §v öpi^inuji öv
Tüjv ^vavTiouv eivai beKxiKÖv, . . . Schon daraus wird deutlich, wie für Aristo-
teles zunächst die Substantialität den Sinn der Realität oder Dinglichkeit an-
nimmt. Völlig scharf tritt das hervor, wenn wir zu den angeführten Stellen
Jetzt auch noch ausdrücklich hinzunehmen die Worte Anal. post. I, 4,73 b
. . . oTov TÖ ßabtZiov ^Tepöv ti öv ßabilov ^otI Kai XeuKÖv, r] b' ouoia, Kai
oaa TÖbe ti ariiuaivei, oüx STepöv ti övTa ^ötiv öirep ^otiv. So wird die Sub-
stanz gedacht als das, was, ohne noch etwas anderes zu sein, als es ist,
eben gerade das ist, was es ist, wodurch das Wesen der Realität selbst schon
als individuell bestimmt wird.
* Categ. ebenda,
s Ebenda.
^ Anal. post. I. c. u. I, 22,83 b, sowie besonders Met. IV, 7,1017 a und
de part. animal. I, 1,639 a. Trendelenburg setzt a. a. O., S. 53 durchaus zu-
treffend oOaia und au|ußeßriKÖTa in das Verhältnis von Substanz und Akzidenz.
Und ebenso richtig ist seine Bemerkung S. 70 : «Die Substanz im ersten und
eigentlichen Simie ist keine Akzidenz, kein Prädikat ; indem sie als solche
keinen Gegensatz und keine Unterschiede des Grades hat, vermag sie im
Wechsel beharrend Entgegengesetztes in sich aufzunehmen». Allein diese Be-
238 7. Kapitel.
lieh, in welcher Bedeutung bei Aristoteles die Substanz im
eigentlichen Sinne auftritt. Sie ist das eine Mal Aussageform,
Kategorie. Weil aber das Seiende von allem ausgesagt wird,
(Kaxd TrdvTUJv tö öv KaTriYopeTTai)\ ebendarum kann das Seiende
nicht schlechthin schon substantiell sein, weil ja sonst alles
Substanz sein müßte und weil die Substanz ja überhaupt nicht
im Sinne der Prädikation ausgesagt wird.^ Darum kann also
Substanz das andere Mal lediglich Ding oder Realität bedeuten.
Das liegt selbst schon in der Aristotelischen Fassung der Ka-
tegorie der Substantialität, die für ihn immer schon mit der
Kategorie der Realität oder Dinglichkeit zusammenfällt. Daraus
folgt konsequenterweise und mit analytischer Notwendigkeit,
daß das eigentlich erste Wesen bei Aristoteles dem Allgemeinen
aufs strengste entgegengesetzt sein muß. Denn allgemein ist,
wie sich ja schon gezeigt hat, etwas ja gerade deshalb, weil es
sowohl an Anderem unter sich Verschiedenem gemeinsam sein
und ebendarum auch von ihm ausgesagt werden kann. Arten
und Gattungen sind also ganz und gar nicht eigentliche Sub-
stanzen. Sie sind höchstens «Substanzen zweiter Ordnung»
(beuiepai ouoiai), weil sie ohne die «ersten Substanzen» selbst
nichts wären. Freilich, insofern, wie sich schon gezeigt, auch
das Einzelne nichts ohne das Allgemeine wäre, ist die erste
Substanz selbst Darstellung der zweiten Substanz und die zweite
harrlichkeit ist keine schlechthinige, und die spezifische Differenz der Aristo-
telischen «ersten Substanz» vom allgemeinen Substanzbegriff, für den Tren-
delenburgs Formulierung ja auch gelten müßte, kommt hier nicht zum Aus-
druck. Sie liegt in dem Verhältnis des beharrlichen Substrates zum Wechsel
der Eigenschaften. Vollends ist T.'s Parallele zu Spinozas «in se esse» der
Substanz irreführend. Denn hier handelt es sich um die allgemeine Sub-
stanz, nicht um die dinglich-individuelle. Gerade am Gegensatz zu Spinoza
wird die «erste Substanz» des Aristoteles deutlich. Die Substanz Spinozas ist
in jeder Hinsicht für sich und in sich selbständig, alles Einzelne geht aber
in ihr auf. Die «erste Substanz» des Aristoteles ist gerade nur als Einzelnes
jedem Einzelnen gegenüber für sich und selbständig. Spinozas Substanz ist
schlechthin beharrlich; die «erste Substanz» des Aristoteles nur den au|aße-
ßnKÖTtt gegenüber.
' Met. X, 2,1060 b.
2 Vgl. S. 236, Anm. 4.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 231)
Substanz selbst Form und Inbegriff der ersten Substanz.^ In
der Kategorie der Substanz hat darum Aristoteles die Bedeu-
tung der Substanz im Sinne des Einzelwesens festgelegt. Denn
nur vom Einzelwesen, und zwar vom individuellen Einzelwesen,
haben alle die bezeichneten Bestimmungen eine Geltung. Es ist
Sache der Individualität, gerade das zu sein, was es ist, und
eben dieses auch nicht mehr und nicht minder zu sein. Ge-
rade weil es in sich selbst bestimmt ist, ist das Individuum
als solches einem anderen nicht im eigentlichen Sinne ent-
gegengesetzt. Alle Gegensätzlichkeit liegt hier in den Eigen-
schaften, für die das Einzelwesen, die, zwar nicht schlechthin,
aber relativ konstante Grundlage bildet.
In diesen Bestimmungen kündigt sich eine weittragende
Erkenntnis an: die Einsicht, daß das eigentlich Reale durch-
gängig individuell bestimmt, und daß das individuell Bestimmte
auch das einzig Reale ist. Freilich haben wir, um Aristoteles
gerecht zu werden und sowohl seine weiteren Bestimmungen
über das Substanzproblem richtig zu verstehen, wie auch seine
Platon-Kritik in ihre Grenzen zu weisen, streng zwischen Sein
und Realität zu unterscheiden und festzuhalten, daß auch nach
ihm das Sein in der Realität nicht erschöpft ist. Sein indivi-
dualistischer Realismus ist ein unschätzbares Verdienst, das
ganz eigentlich erst unsere Zeit zu würdigen imstande ist.
Aber dieser individuahstische Realismus, und darin liegt viel-
leicht seine ganze Größe, hindert nicht den prinzipiellen Idea-
lismus, sondern ruht auf ihm, auch bei Aristoteles. Dessen
Platon-Kritik wird darum gerade freilich hinfällig. Hat Ari-
stoteles einmal die Bedeutung der Substanz auf das Einzelwesen
festgelegt, so muß er konsequenterweise Piaton bekämpfen, so-
^ Am einfachsten ist wohl das Verhältnis von irpuixai oüaiai und beO-
repm ouaim im V. Kapitel der «Categ.» behandelt. Windelband hat es a. a.
0., S. 117 f. ebenso kurz wie treffend folgendermaßen zum Ausdruck gebracht:
«Die Gattung besteht nur, insofern sie sich in den einzelnen Dingen verwirk-
licht, und das einzelne Ding besteht nur, indem in ihm die Gattung zur Er-
scheinung kommt». Das Zutreffende dieser Formulierung wird vielleicht noch
deutlicher werden, wenn wr die Bedeutung der Prinzipien der Form und der
Materie für das Substanzproblem behandeln.
240 7. Kapitel.
bald er in dessen Ideen Substanzen in seinem Sinne sieht. Aber
Piatons ouaiai sind eben nicht Einzelwesen. So bedeutsam der
Aristotelische realistische Substanzbegriff auch ist, so ist er doch
weder für Aristoteles selbst schon das letzte Wort und kann
es schon den früheren Darlegungen zufolge nicht sein; noch
ist seine eigentliche und erste Substanz in ihrer relativen Ding-
Beharrlichkeit schon Substanz im eigentlichen Sinne des schlecht-
hin Beharrlichen, eben weil das Einzelwesen nicht schlechthin,
sondern bloß relativ beharrlich ist. Es ist nur Substanz, weil
es konkrete Wirklichkeit, Realität ist, und weil das Substan-
tielle sich im Konkreten darstellt. Aber die Substantialität als
solche ist immer schon Grundlage der Realität.
5. Daß Aristoteles sich darüber prinzipiell klar gewesen
ist, das folgt schon daraus, daß auch bereits nach seiner Ka-
tegorienlehre das substantielle Sein im Sinne des konkreten
Wesens das Sein überhaupt nicht erschöpft und mit diesem
nicht zusammenfällt, sondern nur eine Form dieses Seins ist.
Das aber wieder hegt darin, daß, wie schon bemerkt, das Sein
von allem ausgesagt und alles vom Sein ausgesagt werden
kann, daß eben darum das Sein nicht bloß Substanz sein
kann, weil ja sonst wieder alles Substanz sein müßte, die als
solche ja aber überhaupt nicht im prädikativen Sinne ausge-
sagt werden kann.^ Das Sein, das von allem ausgesagt werden
kann, und von dem alles ausgesagt werden kann, insofern alles,
was ist, eben ist, ist das Sein an und für sich, auiö Ka^' eauTO,
dessen besondere Form, wie die übrigen Kategorien auch, so
die der Substanz im Sinne des substantiellen Wesens ist, und
im Verhältnis zu dieser ist es selbst in einem höheren Sinne
Substanz, nämlich im ideell-logischen Sinne, oudia Kaxd töv
XoYov.^ Die Substanz im konkreten Sinne ist jenes Sein, dem
'■ Met. X, 2,1060 b: ei y^ Mii^ TÖbe xi Kai oOaiav dKdxepov auxujv briXoT,
irdvx' ^öxiv oüaiai xö övxa " Kaxd irdvxuuv y^P tö öv KaxriYopeixai, Kax'
^viiuv bi Kai ^v. oOaiav b' elvai irdvx« xd övxa vjjeöbo^. Vgl. aucii
S. 236 u. 238.
2 Met. ebenda 1059a/b. Vgl. dazu auch Trendelenburg, a. a. 0., S. 67 ff.
Es ist unter diesem Betracht auch von besonderem Interesse, daß, obwohl
faktisch bei Aristoteles die einzelnen Kategorien z. B. im V. Kap. der «Categ.»
etwas durcheinandergehen, er sie doch prinzipiell in ihrer besonderen Seins-
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 241
das «Was ist» eben ursprünglich an sich zukommt, während
es allem übrigen nur in gewissem Betracht zukommt, wie «das
Ist», das Sein, selbst zwar allem, was ist, zukommt, aber nicht
allem in gleicher Weise, sondern dem einen schlechterdings,
dem anderen bedingterweise, d. h. in der Folge. '^
Diese Unterscheidung ist für unser Problem von besonderer
Tragweite. Indem das reine Sein eine größere Sphäre umfaßt
als das Sein substantieller Dinge, erschheßt sich von hier aus
die Möglichkeit, erst die bleibenden Grundlagen der Dinge zu
ermitteln, jene Grundlagen, die nicht bloß wie die Einzelsub-
stanzen oder realen Dinge im Wechsel der Eigenschaften re-
lativ beharren, sondern die im Wechsel der Dinge selbst be-
harren. Sie sind eigentlich erst die Substanz der Substanzen.
Zwar das bleibt bestehen: Die Substanz kann nicht getrennt
werden von dem, dessen Substanz sie ist.^ Allein, die Un-
möglichkeit der realen Trennung hindert zunächst doch schon
nicht die logische Unterscheidung zwischen der Substanz und
dem, dessen Substanz sie ist. Denn diese Unterscheidung voll-
zieht ja Aristoteles ausdrücklich und zwar in dem Moment, in
dem er die reale Trennung aufhebt, da man ja nur eine Tren-
nung zwischen solchem aufheben kann, das man, wie er es
richtig tut, voneinander logisch unterscheidet. Und wie lo-
gisch die wahrhafte Erkenntnis eben immer Erkenntnis der
Gründe und Prinzipien ist, so ist die höchste Erkenntnis eben
«Erkenntnis der höchsten und allgemeinsten, alles Einzelne um-
spannenden und unter sich begreifenden Gründe, die die Wirk-
lichkeit als Ganzes erklären.»^ Haben wir sie auch nicht neben
und außer den einzelnen substantiellen Dingen zu suchen, so
bestimmtheit streng geschieden wissen will, und daß er betont, daß sie weder
ineinander noch in etwas anderes, ihnen einheitlich Gemeinsames aufgelöst
werden können. So Met. IV, 28.10i>4b: xd |udv '(äp Ti Ioti crrmoivei tüjv
övTUJv, xd bi TTOiöv Ti, xd b' diq birnprjxai TrpÖTepov • oubd ydp xaüxa dva-
Xüexoi oöx'' ei(, dWriXa oöx' eiq Sv xi.
' Met. VI, 4,1030a: O&auep Y^p Kai xö 2öxiv örrdpxei udaiv dW oiux
ö|Uo{u)(;, d\Xd xüji |udv irpiijxujq xoi? b' ^iroia^vu);, oüxuu Kai xö xi ^axiv duXiIjq
ixiv xi^i ouaiai ttox; bi xoic; dWoiq.
^ Met. I, 9,991b: dbüvaxov eTvai x^Pk ^nv obaiav Kai oO n oüaia.
» Met. I, 2,982 b und V, 1,1026 a; vgl. Zeller, a. a. 0,, S. 273f.
Bauch, Das Substanzproblem. 16
242 7. Kapitel.
fallen sie doch auch mit diesen nicht restlos zusammen und
können mit ihnen je so wenig restlos zusammenfallen, wie der
Grund überhaupt je restlos mit dem zusammenfällt, dessen
Grund er ist. Damit ist für das Substanzproblem eine neue
logische Etappe bezeichnet: Die Einzeldinge sind zwar allein
und eigenthch Substanzen, aber sie sind nicht die Substanz,
das im Wechsel Beharrhche schlechthin, sondern eben nur die
konkreten, wahrnehmbaren Gegenstände, die man eben so all-
gemein Substanzen nennt. ^ Ihre Analyse führt zu jenen zwei
neuen Bestimmungen der Substanz, die zugleich für das ganze
Aristotelische System die fundamentalen Tragpfeiler werden.
Denn jene Gegenstände sind einerseits konstituiert aus Stoff
oder Materie; und so ist Substanz in einem weiteren Sinne
«einerseits selbst jenes materielle Substrat, der Stoff». Anderer-
seits sind die Einzelsubstanzen in diesem ihren materiellen
Sein bestimmt durch eine bestimmende Form, die im Denken
als Begriff gefaßt werden kann. Und so ist Substanz aber-
mals in einem weiteren Sinne auf der anderen Seite «der Be-
griff und die Form, die im Denken als etwas für sich selbst
Bestimmtes begriffen werden kann». Die aus beider Verbin-
dung bestehenden Gegenstände sind Substanz also eigentlich
in einer dritten Bedeutung, die freilich die eigentliche Sub-
stanzbedeutung, wie sie sich aus der ^Kategorie der Substanz
als vjTroK6i|Lievov der Prädikation, die also noch als vierte Be-
deutung gezählt werden müßte, entwickelt hat, bleibt, insofern
die Einzelsubstanzen als konkrete Dinge die eigentlich für sich
bestehenden Realitäten sind, denen aber als solchen Entstehen
und Vergehen zukommt.^
* Met. VII, 1,1042 a: vOv bi uepi tüjv öwoXo-fouudvuuv ouaiuJv ^TtdXdai-
\iev. aÖTOi b' efaiv ai aiOT^dai. Sie sind ö|aoXoYOÜ|a€vai wohl nur für Aristo-
teles und die Seinen. Denn er hat ja diese Bedeutung der oOai'a ei'st fest-
gelegt. Sonst hätte ja auch sein Kampf gegen Piaton nicht einmal einen
terminologischen Anhaltspunkt.
^ Ebenda: ^öTi b' ohala rö inroKeiiuevov, öWuj^ piiv x] vXy\ .. ., (xWwc,
b' ö XÖY0(; Kai ri laopcpr), ö TÖbe Ti öv tüji Xöyuji xujpicfföv iaxw. Tplrov bd
TÖ iK TOÜTUuv, DU ^Iveoiq laövou Kai cpöopct doxi, Kai x^upiaröv änXwc;. Daß
darum Aristoteles gelegentlich selbst vier Bedeutungen der Substanz unter-
schieden, dazu vgl. man Met. VI, 3,1028 b/1029a.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 243
6. Aber gerade dieser Umstand ist es, der ihre weitere
Reduktion und Analyse fordert. Denn wie das Erkennen sich
nicht beim Wahrnehmen des Einzelnen beruhigen und darin
aufgehen kann, so kann sich das Sein nicht im Entständlichen
und Vergänglichen erschöpfen und darin aufgehen. Dieses
fordert selbst bleibende, dem Entstehen und Vergehen ent-
rückte Grundlagen, Denn Entstehen und Vergehen behaftet
von vornherein doch das, was nicht schlechthin für sich ist,
obwohl es immerhin im eigentlichen Sinne und schlechterdings
real, als solches aber immer schon zusammengesetzt ist, wie
eben die konkreten wahrnehmbaren Einzelsubstanzen. ^ Ent-
stehen und Vergehen fordern ihrerseits aber zunächst ein Sub-
strat, an dem sie sich vollziehen, das sie in ihren gegensätz-
lichen Bestimmungen der Veränderung, wie die Veränderung
überhaupt, aufnimmt, also das Substrat des Wechsels und der
Veränderung ist. Das aber ist im eigentlichsten und vorzüg-
lichsten Sinne der Stoff.^ Und in dieser Bedeutung ist der
Stoff offenbar selbst Substanz, ovGia.^ Er ist Substanz, inso-
fern er nicht selbst an einem anderen Substrate haftet, son-
dern etwas ist, an dem Anderes als an seinem Substrate
haftet.^ Allein, wie die konkreten Substanzen zwar Substanz
sind, weil sie schlechterdings für sich bestimmt sind, wie sie
aber darum noch nicht schlechterdings die Substanz sind, weil
sie nicht schlechterdings überhaupt sind, so ist umgekehrt der
Stoff oder die Materie Substanz, insofern sie zwar dadurch
schlechterdings ist, daß sie lediglich Substrat ist und nicht an
einem anderen Substrate haftet, daß sie darum aber noch nicht
schlechterdings für sich bestimmt ist, so daß ihr Sein schlechter-
dings dennoch nicht ein schlechterdings-Bestimmt-Sein, wie
auch ebendeshalb nicht ein schlechthiniges Sein und eigent-
' de gen. et corr. II, 1,329a: -fiveaiq ^iv füp Kai qpöopd -rrdaaiq xaii;
(püaei ouveaTiJüaoii; oOaiaii; oök öveu xoü ataöiiTüJv auuiLiäTuuv.
^ Ebenda I, 5,320a: San bi v\r\ \xdX\aTa \xiv Kai Kupiuu<; t6 ijTroKei|aevov
feviaeDJC, koI qp^opäi; 6eKTiKÖv, xpöirov he Tiva Kai tö xaxq äXXaii; |a£Taßo\aT(;,
ÖTi TrdvTa beKTiKÜ xd ÜTroKei|ueva dvavxiiljaedjv xivuüv.
2 Met. 1. c. : öxi b' daxiv ouaia Kai ii ü\ri, bi^Xov.
* Met. VI, 1, 2,1028 b/1029a.
16*
244 7. Kapitel.
liches Substanz-Sein ist. Vielmehr ist ihr schlechterdings- oder
Substrat-Sein selbst bloß ein nur in -gewisser -Hinsicht-Sein.
Denn die Materie ist zwar das Substrat aller körperlichen Be-
stimmungen. Allein, ohne diese Bestimmungen ist sie nicht
etwa noch etwas für sich selbst Bestimmtes, sondern ein Un-
bestimmtes. An sich selbst hat sie noch nicht jene Bestim-
mungen, deren Substrat sie ist. Da sie aber ohne diese eben
nicht selbst an und für sich bestimmt ist, ist sie, obwohl sie
Substanz dieser Bestimmungen ist. doch nicht im höchsten und
eigentlichen Sinne Substanz. Denn dazu gehörte, daß sie in
ihrem Sein für sich selbst bestimmt wäre.^ Immerhin bleibt
die Materie doch in gewisser Weise und nahezu Substanz.^
Denn als Grundlage des Werdens der Einzeldinge muß die
Materie selber sein. Weil nämlich aus nichts auch nichts
werden kann, muß etwas sein, aus dem das wird, was wird.
Und das ist die Materie, die so die Möglichkeit des Werdens
darstellt.^ Also muß die Materie selber sein. Allein ihr Sein
ist nicht ein in jeder Hinsicht schlechthiniges, sondern ein
solches nur hinsichtlich des Werde-Substrat-Seins. Denn alles
Werden ist sowohl ein Werden aus Nicht-Seiendem, wie aus
Seiendem: Aus Nicht-Seiendem nicht im Sinne des «schlecht-
hin-Nicht-Seienden», aus Seiendem nicht im Sinne des «schlecht-
hin-Seienden», sondern beides in gewisser Hinsicht das eine
Mal Nicht Seiendem, das andere Mal Seiendem: in gewisser Hin-
sicht Nicht-Seiendem, insofern das, was wird, eben noch nicht
das sein kann, was es erst werden soll, aber in anderer Hin-
sicht doch als ein zu Werdendes ist, also doch auch in ge-
wisser Hinsiclit auch überhaupt ist, also selbst ein Seiendes
ist. Und so ist das Werden aus dem Seienden ein Werden
' Dazu vergleiche man den ganzen Passus ebenda 1029 a/b. Einige
weitere zusammenfassende Formulierungen des Aristoteles selbst werden die
nächsten Anmerkungen bringen.
2 Phys. I, 0,192a: . . . Kai Tt'iv [xiv iffvc, Kai oüöiav -rru)?, Tt")v üX^v
wird die Materie der axipr]a\(; gegenübergestellt; vgl. die übernächste An-
merkung.
' Met. VI, 7,1032 b: Ujore Kaöduep \^TeTai, äbOvaxov Yev^ööai d ^xr\biv
TTpöuTtdpxoi, und ebenda a: tö b' i£ ou -ffTveTai, r\v X^YOiaev öXrjv. Vgl.
ferner de caelo I, 3,270 a und Je gen. et coiT. I, 3,317 a.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 245
nicht aus dem Sein schlechthin, sondern aus dem in gewisser
Hinsicht Seienden.^ Insofern das, aus dem etwas wird, selbst
nicht das ist, was wird, und das, was wird, nicht das ist, aus
dem es wird, muß das, was wird, dem, aus dem es wird, fehlen.
Das, aus dem etwas wird, ist also das, dem eine Bestimmung
fehlt, die ihm erst im Werden zukommen soll. Das Fehlen,
die Privation, die crtepricn^ ist allein das schlechthin Nicht-
Seiende im Werden. Der Stoff aber ist lediglich in jener Hin-
sicht des Fehlens — Stoff und Fehlen aber sind voneinander
selbst aufs strengste zu unterscheiden — nicht seiend; und
wenn der Stoff auch hinsichtlich des Fehlens der Bestimmung
nicht-seiend ist, so ist er doch nicht schlechthin nicht-seiend,
sondern in gewisser Weise und nahezu Substanz, was das
Fehlen der Bestimmung auf keine Weise ist.^ Als Grundlage
des Entstehens und Werdens muß die Materie in ihrem In-
gewisser-Weise-Sein aber dem Entstehen und Vergehen selbst
entrückt sein, sie muß unentstanden und unvergänghch sein.
Denn wäre sie entstanden, so müßte sie entstanden sein, ehe
sie entstanden wäre, da aus ihr ja das Entstehende entspringt.
Und weil dieses sich in letzter Linie auch wieder in sie auflöst,
so müßte es sich analog, nur nach der entgegengesetzten Rich-
tung, auch mit ihrem Vergehen verhalten. Sie müßte ver-
gangen sein, ehe sie vergangen wäre.^ Schon in der Unent-
standenheit und Unvergänglichkeit des Stoffes liegt in gewisser
Weise seine Unendlichkeit. Daß es ein Unendliches gibt, folgt
^ Phys. I, 8,191 b: f\\ieic, bi Kai auTOi qpaiiev yiTvecrOai luev oubev ärcXiix;
Ik }xr] övToc, ö|uuü(; indvxoi YiTvecfOai ^k [xi] ö\xoq, oiov Kaxü öu|ußeßriKÖ^. ck
yöp tPh; 0Tepriaeuj?, ö doxi Kaö' aüxö |Lin öv, ouk ^vuTToipxovToq, YiT^eTai xi.
öau.udcexai hi xoOxo Kai dbuvaxov oüxu) boKei, fi'fv^odai xi Ik ^r\ övxoi;,
tbaaüxuü(; bi oub' il övxo? oObe xö öv fi'^veodai, Tz\r\v Koxd au|nßeßi"iK6i;.
^ Ebenda I, 9,192a: rwjieic, [xiv fäp vXr\v Kai Gx^prjcnv Sxepöv qpauev
eivai, Kai xoüxoiv xö |a^v ouk öv eTvai Kaxä oujußeßiiKÖc, xrjv üXriv, xrjv bt
ox^prioiv Kaö' aüxnv, Kai xrjv [xiv ^yT^s kci oüaiav tzwc,, rf]v v\r\v, xi^v bi
axdpiTOiv oübamJüi;.
3 Ebenda : . . . ctqiOapxov Kai d.-fivr\TOv ävdfKr\ a\)Tr\v eivai. ei'xe ydp
^•fiT'v^To, vjTTOKeiaöai xi bei irpüüxov, xö ^2 oO dvuitdpxovxoi; ' xoOxo b' ^axiv
aöxT] f] qpOan;, tij0x' 'ioxax irplv Yev^oöai. Xi-fiu fäp üXrjv xö TrpiJuxov ütto-
Keiiaevov ^Kdöxtui, it ou Y^vexai xi ^vuTtdpxovxot; laii Kaxd auußeßn.KÖs. ei'xe
9Öeipexai, ei; xoOxo dqpiSexai ^oxaxov, lüaxe ^qpöapia^vri ^axai irpiv 9Öapfivai.
246 7. Kapitel.
überdies noch aus den fünf folgenden Gründen: erstens aus
der Unendlichkeit der Zeit, die, was auch noch in einer an-
deren Hinsicht sich als bedeutsam erweisen wird^ weder An-
fang noch Ende haben kann; zweitens aus der mathematischen
Teilbarkeit jeder Größenrelation; drittens aus der Lückenlosig-
keit von Entstehen und Vergehen; viertens aus der Relativität
der Grenzen; fünftens — und das ist das wichtigste Argument
— aus der Lückenlosigkeit und Kontinuität des Denkens.^
Daß das Unendliche ist, steht fest. Noch aber fragt es sich,
was es genauer ist. Und diese Frage ist von der größten
Bedeutung. Ihre richtige Entscheidung hilft allein die dem
Unendlichkeitsbegriffe sonst anhangenden Aporien lösen und
vermag zugleich das Wesen des Stoffes in letzter Linie deutlich
zu machen. Vor allem nun muß vom Sein des Unendlichen
die Vorstellung abgewehrt werden, daß es ein Sein schlechthin
bedeute. Daraus würde allerhand Unmögliches (rroWd döuvaia)
folgen, das gerade jenen fünf Argumenten, die zur Annahme
des Unendlichen geführt haben, widersprechen müßte. Man
würde, ohne es zu wissen und zu wollen, der Zeit Anfang und
Ende (dpxnv xai leAeuiriv) setzen, die Relativität der Größen und
der Grenzen aufheben^ usf. Das Sein des Unendlichen kann
darum kein absolutes sein. Es kann abermals nur in gewisser
Weise sein, in gewisser Weise nicht sein. Es ist kein An-sich-
Sein, sondern ein Anders-Sein und Unbestimmt-Sein; sein Sein
besteht darin, daß es ein Anderes und immer wieder ein An-
1 Vgl. S. 251 ; auch Anm. 2 u. 3.
2 Diese in gewisser, wenigstens impliziter Weise das ganze vierte Ka-
pitel des dritten Buches der Physik durchziehenden Argumente sind ebenda
203b/204a kurz folgendermaßen zusammengefaßt; toö b' eivai ti äiteipov f]
irföTiq ^K TTevxe iLiöXiöx' Stv öu|aßaivoi aKOTToö0iv, ^k re tou xP<^vou (oöto?
Top aTTeipo(;) Kai ^k Tfi<; dv toi? laeY^öecri biaip^aemq (xpüjvtai yöp Kai ol |ua-
driuaTiKoi TiiJi direipiui), ^ti tuji oütuj(; öv laövujq |ufi ÜTToXeitreiv y^veoiv
Kol q)9opdv, et ÖTieipov e'i'n ö9ev dqpaipeitai tö YiTvöpevov. ^xi tülii tö ire-
Tiepaaiaevov dei -apöt; ti uepaiveiv, üjOTe dvctTKn inribdv Ti^pac;, ei öei irepaiveiv
dvoYKri ^Tepov -apöc, ^Tepov. |ud\iaTa köI KupuJjTaxov, 8 tkjv KOivriv iroiei
ÄTTopiav TTÖaiv • bid YÖp TÖ ^v Tfji vonaei |iri uTroXemeiv . . .
' Man vergleiche dazu die ganzen letzten Abschnitte des fünften und
den Anfang des sechsten Kapitels im dritten Buche der Physik.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 247
deres wird, wie der Tag und das Kampfspiel. ^ Da es also kein
schlechthiniges Sein ist, sondern eben nur insofern ist, als es
immer anders und immer wieder anders werden kann, so bleibt
nur übrig, daß sein Sein das Sein der Möglichkeit, daß es
selbst nur potentiell ist und im potentiellen Sein sein Sein be-
schlossen ist.^ Es ist nicht etwa ein unendliches Ding oder
Wesen, keine unendliche Substanz im eigentlichen Sinne der
Substanz, obwohl es im gewissen Sinne auch Substanz ist,
nämlich als «unbestimmter Stoff für die größenhafte Bestimmt-
heit», also lediglich der Potenz nach ein Ganzes, nicht der
Wirklichkeit nach, da ja das wirkliche Ganze eben immer ein
einheitlich Bestimmtes sein müßte. ^ Und wenn es von manchen
als «das alles Umfassende» bezeichnet wird, so ist es das doch
ebenfalls nur der Möglichkeit nach, insofern es alle Bestim-
mungen aufzunehmen vermag; nicht der Wirklichkeit nach,
weil es ja für sich noch keine Bestimmungen hat. Vielmehr
wird es unter dem Gesichtspunkte der Unbestimmtheit gerade
etwas, das nicht selbst umfaßt, sondern umfaßt wird (ou irepi-
eX£i, ö^^« TrepiexeTtti).^ So führen die Ermittelungen über das
Unendliche zu genau demselben Ergebnis wie diejenigen über
den Stoff. Das Unendliche kann Ursache oder Prinzip der
Dinge nur sein als Stoffe ; und zwar kann das Unendliche
überhaupt nur sein als der an sich unbestimmte Stoff der Be-
stimmung, der nichts Bestimmtes ist, aber alles werden kann;
und ihr Stoff kann nur sein als die unendliche und darum an
sich unbestimmte Möglichkeit aller Bestimmbarkeit. Die Ma-
terie existiert also nicht der Wirklichkeit, sondern nur der
Möghchkeit nach. Sie ist nicht etwa schlechthin nicht, aber
sie ist auch nicht schlechtliin, obwohl sie ist. Sie hat, wie
wir sahen, als Grundlage des Werdens sogar schlechterdings
' Phys. III, 6,206 a: äW ^itei -rroWaxäic; tö eivai, ujcnrep r\ rmepa iorl
Kai 6 dYubv tuüi äei äWo Kai äWo fiYveö&ai, oütuj Kai tö ä-rreipov.
^ Ebenda: Xeiiterai oüv buvct.uei eivai tö ätreipov.
3 Ebenda 207 a: ^oti fäp tö äneipov r?\c, toO laeY^öoii; TeXeiÖTrjTo?
üXy] Kai TÖ buvd,uei ö\ov, dvTeXeixai b' ou . . .
* Ebenda.
^ Phys. III, 8,208 a: 9avepöv öti dx; üXri tö cüireipöv döTiv amov.
248 7. Kapitel.
substantielles Sein, aber nicht ein schlechthiniges und bestimmtes
Sein. An ihrer unendlichen Bestimmbarkeit erweist sich ihr Sein
als ein Sein der Möglichkeit nach. Sie ist als Möglichkeit.^ Sie ist
das, «was nichts ist, aber alles werden kann».^ Sie hat ein Sein,
aber nicht ein Sein bestimmter Wirklichkeit und wirklicher
Bestimmtheit, sondern ein solches der Möglichkeit jeglicher
Bestimmbarkeit. Darum ist sie w«der körperlich noch auch
ein bestimmtes Element oder ein Grundstoff, weil sie ja bereits
die Grundlage der Körperlichkeit ist und ebenso auch die
Voraussetzung der Elemente, die im Kreislauf erst aus ihr
hervorgehen, und weil endlich Körperlichkeit und Elemente
selbst schon Bestimmungen der Materie, und zwar sowohl quan-
titative (jueYe&ri)? wie qualitative (Trdöri) Bestimmungen darstellen,
während die Materie für sich selbst unbestimmt bleibt.^
1 De amina II, 1,412a: lari b' f\ ixiv vKx] büva.ui?. Vgl. Met. XI, 5,1071a:
. . . 6uvd|Li6i bi f) öXr).
2 So formuliert Zeller geradezu ihren Begriff, a. a. 0., S. 320. Freilich
darf dann das «nichts» eben nur bedeuten: «nichts Bestimmtes».
s De gen. et corr. I, 5,320b und II, 10,337 a; Phys. III, 6,206 b und
III, 7,208 a/b. Trotzdem Aristoteles die Elementenlehre Piatons insbesondere
rücksichtlich der Elementardreiecke de gen. et corr. II, 1,329 a; de caelo III,
1,29'Ja und IV, 2,308b bekämpft, stellt er de gen. et corr. II, 8,335a selbst
eine freilich recht äußerlich gedachte Analogie zwischen Mathematischem und
Körperlichem auf, indem von den vier Elementen die Erde Prinzip der räum-
lichen Lage, das Wasser Prinzip der Abgrenzung sein soll, denen dann Luft
und Feuer als Gegensätze korrespondieren. Daß er neben die wandelbaren
irdischen Elemente noch als unwandelbares himmhsches Element den Äther
setzt und dieser ihm sogar als -rrpuÜTri oüaia tujv aujindriuv (de caelo I, 3,270 b)
gilt, das ist zwar ein charakteristisches Moment in der Aristotelischen Kos-
mogonie, für unseren Zusammenhang aber trotz der Benennung einer irpdÜTri?
ouoiai; ziemlich belanglos. Denn die ganze Gegenüberstellung beruht, wie
Zeller, a. a. O., S. 473 richtig bemerkt, auf einem ganz naiven Ausgehen vom
anschaulichen Sinnenschein.
Dabei darf hinter aller Polemik gegen Piaton doch auch die tiefgehende
Übereinstimmung, die sich gerade hier wieder offenbart, nicht verkannt werden.
Ganz zutreffend bemerkt Bäumker, a. a. 0., S. 241 auch hinsichtlich der
Materie das Zusammenstimmende zwischen Piaton und Aristoteles. Er sagt
hier: «Trotz der durchaus veränderten Beweisführung kommt also Aristoteles
bei der Beschreibung der Materie in den wichtigsten Punkten mit Piaton
überein». Mit dem Vorbehalt, den wir hinsichtlich Piatons bei dem Terminus
Materie machten, können wir das zugeben, Avoraus freiUch die Restriktion
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 24-9
7. Die Materie ist das, aus dem (eH ou)^ die Dinge werden.
Indes, sie allein in ihrer bloßen Möglichkeit genügt nicht, deren
Wirklichkeit zu erklären. Wir haben hinsichtlich des Begriffes
des Werdens ein Mehreres zu unterscheiden. Das Werden
folgen müßte, daß auch der Aristotelische Terminus v\y\ mit deren Bedeutung
bloßer unendlicher Möglichkeit unendlicher Bestimmbarkeit und In-sich-Be-
stimmungslosigkeit eben die Materie, wenigstens in gewisser Weise, mehr
terminologisch als sachlich charakterisiert. Die Differenz, die Bäumker dann noch
zwischen Piaton und Aristoteles statuiert, «daß an die Stelle der unbegrenzten
Ausdehnung, mit der Piaton die Materie identifiziert, bei Aristoteles der Be-
griff der Möglichkeit, also an Stelle der geometrischen die dynamische Be-
trachtung getreten ist» — diese Differenz brauchen wir nicht einmal im Sinne
Bäumkers zugunsten des Aristoteles anzuerkennen. Denn erstens kann bei
Piaton von einer einfachen Identifikation von Materie und unbegrenzter Aus-
dehnung nicht die Rede sein. Zweitens ist, wenn auch vielleicht nicht dem
Buchstaben, so doch dem Geiste und der Sache nach bei Piaton der Begriff
der Möglichkeit in dem der Bestimmbarkeit des Unbestimmten vollkommen
scharf entwickelt. Drittens aber fehlt ebensowenig das dynamische Moment,
von dem Bäumker spricht, bei Piaton; es ist vielmehr — und darin liegt
sein wertvoller und echt wissenschaftlicher Charakter — mathematisch vertieft.
Zwar dürfen wir Piatön nicht etwa die Ansicht unterschieben, als habe er
die Ausdehnung im materiellen Sinne als Volumenergie und die Masse als
intensive Größe gefaßt. Aber das hat doch schließlich auch wohl Aristoteles
nicht getan. Wenn wir, wie Bäumker, überhaupt von einer dynamischen Be-
trachtung reden wollen, so müssen wir uns schon bewußt bleiben, daß in der
büvauii; zunächst nur das Moment der Möglichkeit vorliegt. Wenn aber dar-
über hinausgegangen wird, dann muß gerade in die Mathematik die ganze
Wertbetonung verlegt werden, insofern alles Dynamische sich wissenschaftlich
selbst mathematisch darstellt. Es ist freilich nicht zu verkennen, daß Aristo-
teles in der Tat über die öuvaiuii; als reine Möglichkeit hinausgeht, wenn er
de caelo III, 1,299 a die Platonische Konstruktion der Elementarkörper mit
Rücksicht auf das Moment der Schwere, die jenen fehlen soll, bekämpft. Al-
lein, der wissenschaftliche Begriff der Schwere ist, wie der der Masse, in
letzter Linie der Begriff einer intensiven Größe. Diese kennt Aristoteles so
wenig wie Piaton. Ohne Mathematik läßt er sich aber nicht fassen. Gerade
darum behält Piatons mathematische Tendenz, wenigstens als Tendenz, ihren
Wert. Als eine so historisch-bedeutsame Potenz sich also gerade unter diesem
Betracht die Platonische mathematisierende Spekulation darstellt, — man denke
nur daran, wie verschieden Galilei gerade darum zu Piaton und 'Aristoteles
Stellung nahm — einen so wenig günstigen Dienst würde Bäumker nun
Aristoteles leisten, wenn er diesem die Ausschaltung des^ Mathematischen so
ganz besonders anrechnen wollte.
1 -Vgl. S. 244 Anm. 3 und S. 245 Anm. 1 und 3.
250 7. Kapitel.
fordert doch nicht bloß das, aus dem etwas wird, sondern
zweitens auch das, was das ist, was wird; sie fordert drittens
ein Ziel, zu dem das Werden führt, und viertens endlich die
Ursache, die zu diesem Ziele, die von der bloßen Möglichkeit
zur Wirklichkeit führt. Das sind also eigentlich vier Prinzipien
der Dinge, sie sind die höchsten Prinzipien, die letzten Ur-
sachen. Die Materie ist das, woraus alles wird. Das Was des
Werdens ist die Form oder der Begriff; das Ziel des Werdens
ist der Sinn und Zweck, kurz das Gute; und was von der
bloßen Möglichkeit zur Wirklichkeit führt, ist die Bewegung.
Materie, Form oder Begriff, Ziel oder Zweck und Bewegung
sind die vier Grundlagen der Dinge, die wir auch als solche
nur wahrhaft kennen, wenn wir ihre Grundlagen und Prin-
zipien kennen.^ Hier aber zeigt sich sofort, daß das, was wird,
und das Ziel des Werdens nicht auseinanderfallen können.
Form und Zweck müssen Eines und Ebendasselbe sein.^ Es
bleiben also neben der Materie zunächst noch — nicht Form
und Zweck, sondern, da beide Eines sind, — Form oder
Zweck. Die Materie ist das, was für das Entständliche die
Möglichkeit zu sein oder nicht zu sein darstellt.^ Als dasjenige,
um dessentwillen etwas ist, ist die Form und Gestalt Ursache.
Sie ist gleichbedeutend mit dem Begriff des substantiellen
Wesens, dem, was da ist.^ Zu beiden aber muß noch eine
^ Met. I, 3,983 a: d-nei bi qpavepöv öti tüiv ii äpxr\c, aiTimv bei Xaßeiv
diTiaTriiuriv (tötc y^P eibdvai qpain^v e'Kaaxov, örav xr\v irpüjxriv airiav oiiü-
iLieöa yvujpiZieiv) xd b' airia X^y^toi TeTpa\n}q, tliv liiav la^v airiav qpaiu^v elvai
Trjv ouaiav koI tö ti riv eivai (dvÖTeTai yap fö bxä xi ei? töv Xöyov ^axaxov,
aixiov bi Ktti äpxn xö b\ä xi irpüjxov), ^xdpav bk xrjv v\r\v xai x6 üiTOKei|Lievov,
xpixrjv bi ööev f\ äpxn Tr\c, Kivr]oeaii;, xexdpxrjv hi Tr\v (ivxiKei|ndviiv aixiav
xaüxTii, xö ou gveKa Kai xdYaööv • jiXoc, Ydp feviaewq Kai Kivnaeuj(; irdariq
xoöx' döxiv. Vgl. Phys. II, 3,194b: ?va [xiv ouv xpÖTiov aixiov X^Yexai xö
li oö fifveral xi dvuTrdpxovxoi; . . . Kai xoüxujv y^vr) . . . &kXo bi xö eibo?
Kai xö TtapdbeiTina ■ xoöxo b' doxlv ö \6foq ö xoO xi r\v elvai Kai xd xouxou
fi\r\ ... Kai xd \xi.pY\ iv xu)i Xötuji- ?xi öOev i't dpxn xF)? laexaßoXfi? r| Trpibxri
fi xf|(; r\pepir\ar](; . . . ^xi Ob? xö xAo? • xoöxo b' doxlv xö xoö ^veKO . . .
^ Phys. II, 7,198a: xö |idv yöp fi ia-zi koI xö ou ^vcko gv daxi . . .
' De gen. et corr. II, 9,335 b: üj? \iiv oöv uXri xoi«; y^viitoi? iariv ai'xiov
xö buvaxöv eTvai Kai }xr\ elvai.
* Ebenda : . . . d)? bd xö ou ?v€Ka f] liopqpri koI xö elbo? • xoOxo b' daxlv
6 Xö'fo? ö xf)? ^Kdaxou oüaia?.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 251
dritte Ursache hinzukommen.^ Das ist die Bewegung. Freilich
fällt auch sie, wie sich bald zeigen wird, in gewisser Weise mit
jenen oder vielmehr der einen von ihnen zusammen. Die
Bewegung ist das, was das Mögliche zur Wirklichkeit überführt.
Wie die Materie ist sie ewig, ungeworden und unvergänglich.
Sie kann nicht in der Zeit entstanden sein und kann nicht in
der Zeit vergehen, sondern muß immer gewesen sein und im-
mer sein, wie die Zeit selbst, die ja auch nicht entstanden sein
und nicht vergehen kann, da Entstehen und Vergehen immer
schon die Zeit mit den Zeitbestimmungen des Früher und
Später voraussetzen, die es ja nicht geben könnte, wenn es die
Zeit selbst nicht gäbe.^ Weil aber die Zeit selbst eine Art
von Bewegung, nämlich eben vom Früher zum Später, ist und
weil sie als solche eigentlich nichts anderes als das Maß oder
die Zahl der Bewegung selbst bedeutet, muß auch die Bewe-
gung von Ewigkeit her sein^; und sie kann nicht entstehen
und nicht vergehen, weil alles Entstehen und alles Vergehen
nicht bloß die Zeit und vermittels dieser die Bewegung voraus-
setzt, sondern auch weil unmittelbar Entstehen und Vergehen
notwendig nicht ohne Bewegung sein können, sondern sich
durch und mit Bewegung vollziehen*, und die Bewegung die
höchste und eigentliche Ursache von Entstehen und Vergehen
selber ist.^ Ihr Sein ist freilich schwer zu bestimmen. Insofern
1 Ebenda: bet bi irpoaeivai xrjv Tpf-rriv.
^ Met. XI, 6,1070b: ä\X' äbOvarov Kivri<Jiv f| fevlabm f\ (pOapf|vai • dei
YÖp f|v. oöbe xP^^vov • ou fäp oiöv xe xö irpöxepov Kai Ö0xepov elvm |uri
övxo? xpovou.
^ Phys. VIII, 1,251b: ei br] iarw ö xpövoq K\vr\aewi; dpiö|uö? f| Kivriai^
xii;, emep dei xpövoi; döxiv, dvdYKri Kai kiviigiv dibiov eivai. Die Ewigkeit
der Zeit wird hier auch daraus bewiesen, daß schon das «Jetzt» immer eine
Beziehung auf einen Anfang und ein Ende voraussetze, ein Mittleres sei
zwischen dem Früher und Später; und da das «nach beiden Seiten» hin von
jedem «einzelnen Jetzt» gelte, so kann man nie zu einem ersten und nie zu
einem letzten Jetzt gelangen; d. h. nie zu einem Anfang oder Ende der Zeit.
Also muß die Zeit selbst ohne Anfang und ohne Ende, ewig sein.
* Ebenda 250 b: dvaYKaiov ^dp xd? fev^aeic, Kai xd<; qpöopdt; eivai |iexd
Kivrjcreuj? auxüiv.
* Phys. VIII, 7,260b werden die Veränderungen im qualitativen (Kard
iidöoO, wie im quantitativen (naxd |.i^Yeöo(;) Sinne selbst als Bewegungsformen
252 7. Kapitel.
sie das Mögliche zum Wirklichen überführt, ist sie als solche
und rein für sich genommen, nicht bloß das Möghche, wie die
Materie, da das Möghche ja eben bloß das für die Bewegung
Empfängliche oder Bewegbare ist. Dieses ist ebendarum auch
nicht schon das Wirkliche, da es zum wirkhchen Sein ja erst
durch die Bewegung gelangen soll. Es ist darum noch nicht
selbst das wirkliche Sein, auch wenn es bewegt wird, sondern
das zum wirklichen Sein in der Bewegung Übergehende, und
das wirkliche Sein ist das Ziel der Bewegung, die eben das
Mögliche erst zu einem Möghchen für das Wirkliche macht,
Prozeß der Verwirklichung (evepTeia) ist, dessen Ziel das Wirk-
liche (evreXex^i«) ist.^ Wenn die Bewegung darum, weil sie das
"Mögliche erst zum Wirklichen überführt, selbst also nicht bloß
ein Mögliches sein kann, so kann sie ebendarum für sich ge-
nommen auch noch nicht ein Wirkliches selber sein, da ja das
Wirkliche für sie erst Ziel ist. Als weder dem Möglichen noch
dem Wirklichen zuzuzählen ist sie für sich selbst schwer oder
gar nicht zu bestimmen und kann in letzter Linie nur be-
stimmt werden durch das, was in der Tat selber wirklich ist
gefaßt und die Kivrioig kotü tökov, die (popct, sieht Aristoteles als itpubTriv an,
die den qualitativen und quantitativen schon zugrunde liegt. Über die Zeit als
«Maß» bezw. als «Zahl» der Bewegung vgl. auch VI, 11,220a und 12,2-21 a/b.
Hier macht A. auch den Versuch, nach Piatons und der Pythagoreer Vorgang
die Zahl und das Zählbare zu untersclieiden. Allein indem er beides auch
wieder als «Zahl» bezeichnet, und gerade indem er die Zeit 220 b und 14,223a
sowohl im Sinne der Zahl wie des Zählbaren nimmt, zeigt sich die Un-
exaktheit seines Versuches.
1 Met. X, 9,1065 b: biriiprun^vou bi Kad' ^Kaaxov ^i\oc, toO [xiv buvä|iei
Toö b' dvTe\exe(ai, xnv toO buvä|aei ni toioOtöv ^ötiv dvepYeiav Xi^w Kivriaiv :
und ebenda: f\ br\ toö buvd|Liei övxoq ^vxeXexeiai 6v dvepYHi fi aüxö f\ äWo
f)! KivriTÖv, KivY\a\c, döTiv. Vgl. auch Siebeck, Aristoteles, S 40, wo das Ver-
hältnis von Energie und Entelechie folgendermaßen ausgedrückt wird: «Die
Energie als Bewegung ist die Verwirklichung als Prozeß, die Entelechie
dagegen bezeichnet das erreichte Ziel des Prozesses, das als solches den Vor-
gang der Bewegung bereits hinter sich hat». Damit ist das Verhältnis zwar
nach einer Seite hin richtig charakterisiert, aber noch nicht allseitig erschöpft.
Das wird erst möglich sein, wenn wir vom Prinzip der Bewegung handeln.
Hier stehen wir noch immer bei dem, was Siebeck «den Vorgang der Bewe-
gung* nennt, sind aber noch gar nicht beim Prinzip der Bewegung angelangt.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 253
und der Bewegung selbst den Impuls zum Ziele gibt, also nicht
bloß Bewegung, sondern Prinzip der Bewegung selber ist.^
8. Vom Begriff des Werdens her hatten sich ursprünglich
vier Prinzipien ergeben: der Begriff dessen, was wird, oder die
Form, der Zweck des Werdens, die Bewegung und die Materie.
Begriff oder Form einerseits und Zweck andererseits aber er-
wiesen sich als identisch, so daß Begriff, Form und Zweck Eines
und Ebendasselbe bezeichnen. Hinsichtlich der beiden anderen
aber hat sich gezeigt, daß das eine, die Materie, gar nicht der
Wirklichkeit, sondern bloß der Möglichkeit nach ist, während
das andere, die Bewegung, zwar nicht bloß möglich, aber auch
noch nicht wahrhaft wirklich ist, sondern den Übergang von
der bloßen Möglichkeit zur Wirklichkeit darstellt. Im eigent-
lichen Sinne wirklich kann also nur der Begriff oder Zweck,
d. h. die Form sein. Sie muß, da ja sonst die werdenden
Dinge, auch wenn sie geworden, nicht eigentlich wirklich sein
könnten, wenn nicht eines der Prinzipien des Werdens selbst
wahrhaft wirklich wäre, sondern sie alle bloß möglich oder in
der Schwebe zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit blieben,
der Materie als der bloßen Möglichkeit nun als Wirklichkeit
im strengen Sinne gegenübertreten und eigentliche Wirklichkeit
bedeuten. Sie ist es, was die bloße criepiiaK; durch Bestim-
mung der unbestimmten Möglichkeit überwindet und durch
die Formung der bloß möglichen Materie die Dinge gestaltet
als w'ahrhafte Wirklichkeit.^ Ohne wahrhafte Wirklichkeit, die
nicht bloß Möglichkeit und Vermögen, sondern eigentliche
Wirksamkeit ist, gäbe es aber auch keine Bewegung. Weil,
was bloß die Möglichkeit oder das Vermögen hätte zu sein,
auch nicht sein könnte, so muß etwas schlechthin Wirkliches
'■ Über die Unbestimmtheit der Bewegung und ihre Zwischenstellung
zwischen dem Möglichen und Wirklichen vergleiche man den ganzen zweiten
Teil des neunten Kapitels im X. Buche der Metaphysik. Ich habe mich oben
im Texte möglichst eng an die wichstigsten Stellen, auch dem Wortlaute nach,
gehalten, da ich das Ganze hier unmöghch anführen kann.
* Met. XI, 5,1071a: ^vepYeiai |utv yöip tö eiboi;, iäv r\ xuupiOTÖv, Kai tö
ii 6.ucpoTv, OT^piiaiq bi oTov öKÖxoq r\ Kd|Livov, buvd|uei bi r] v\r\. Vgl. dazu
auch Bäumker, a. a. 0., S. 2^2-2 und Zeller, a. a. 0., S. 318.
254 7. Kapitel.
und Wirksames sein, aus dem die Bewegung entspringen könnte,
da sie ja selbst mehr als Möglichkeit, wenn auch noch nicht
Wirklichkeit selber, sein soll. Mithin muß es ein Prinzip geben,
dessen Wesen in voller Wirklichkeit besteht.^ Es muß die
Ursache der Bewegung selber sein. Denn woher sollte die Be-
wegung entspringen, wenn sie keine wahrhaft wirkliche Ursache
hätte?^ Kann doch zufällig und ohne Grund, ohne etwas der
Bewegung zugrunde Liegendes eben keine Bewegung vor-
handen sein.^ Etwas, woraus die Bewegung entspringt, ein
Prinzip (dpxn), ein ödev f] Kivr|criq* ist für die Bewegung selbst
erfordert. Da dieses wahrhaft wirklich sein muß, so kann es
von den vier Prinzipien der Dinge nur in dem einen, schlecht-
hin wirklichen hegen: in der Form, Mithin sind nicht bloß
Form und Zweck untereinander identisch, sie sind auch mit
dem Prinzip der Bewegung der dpxn Kivriaeux^, dem ö^ev r\
KivncTi? identisch.^ Insofern das Ziel oder der Zweck des Werdens
eben das ist, was wirklich wird, fallen Begriff und Ziel oder Zweck
zusammen, insofern aber weiter die Verwirklichung dessen,
was wird, sich in der Bewegung vollzieht, die für die Verwirk-
lichung selbst ein wirkliches Prinzip fordert, muß dieses Prin-
zip der Bewegung selbst mit jenen unter einander identischen
Bestimmungen des wahrhaft Wirkhchen zusammenfallen. Die
vier Prinzipien reduzieren sich also in letzter Linie auf zwei:
Materie und Form.^ Die Identität von Form und Zweck ergab
^ Met. XI, 6,1071b: et fap m ^vspYMöei, oük eöTOi Klvrioi?. ^ti oüb' d
dvepfncTei, r) b' ouaia avTr\c; büva,uii; " oü yäp 'ioxai Kivr\ö\c; dibioi; * dvb^x^Tai
yap TÖ buvd]uei öv |a>i eivai. bei äpa eTvm äpxriv ro\avTr\v fn; fi oiiaia
ivip-^exa.
"^ Ebenda: TiAq ^äp Kivfi9n0eTai, ei \i\-\biv iozm ^vep-feiai aiTiov; vgl.
Phys. VIII, 4,256 a: ÜTravta öiv tu Kivouiacva Otto Tivoq kivoIto.
' Ebenda: oüdev yoip dj? ^Tuxe Kiveixai, dWd bei ti dei utrdpxeiv . . .
* Phys. II, 7,198 Ji. Vgl. dazu auch Zeller, a. a. 0., ebenda.
* Ebenda. Besonders deutlich wird das ausgesprochen in den Worten:
TÖ |i^v -fäp Ti dari Kai tö ou ^vck« ^v ^oti, tö b' 6öev f] Kivriaiq irpiuTov
TÜJi eibei toOtö toütok;.
e Vgl. Zeller ebenda und Windelband, a. a. 0., S. 115f. Vier Prinzipien
und dennoch nur zwei Prinzipien, dürfte man also wohl sagen, aber nicht
mit Bullinger, a. a. 0., S. 2f.: «Vier Prinzipien und nur Ein Prinzip». Von
einer Reduktion auch der Matei-ie ist weder auch nur an irgendeiner Stelle
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 255
sicli leicht, ihre Identität mit der Bewegung ist nur verständ-
Hch, wenn wir die bloße Bewegung, die ja, wenn auch nicht bloß
möglich, so doch auch nicht schon wirklich, sondern den Über-
gang von Möglichkeit und Wirklichkeit bedeutete und darum
eines Prinzips bedurfte, von ebendiesem Prinzip, das wahrhaft
wirklich sein muß, um die Bewegung zur Wirklichkeit über-
zuführen, streng unterscheiden. Und erst in der allein wirk-
lichen Form sind wir auch beim Prinzip der Bewegung ange-
langt. Es fragt sich nun, wie denn die Form als solche wir-
ken und bewegen könne. Als Prinzip der Bewegung kann sie
selbst nicht bewegt sein. Sie kann also nicht bewegen, wie
ein Ding, das selbst bewegt wird, und kann auch nicht bloß
bewegt werden, wie die Materie, die von sich aus eben über-
haupt nicht bewegt ist, sondern erst durch die Form bewegt
werden soll, indem sie ja allererst durch die Bewegung von
ihrer bloßen Möglichkeit zur Wirklichkeit gelangt. Wie es also
etwas gibt, das nur bewegt wird, nämlich die Materie, und etwas,
das sowohl bewegt als auch selbst bewegt wird, nämlich die bewe-
genden und bewegten Dinge, so gibt es auch etwas, das bewegt, aber
nicht selbst bewegt wird, sondern reine Substanz und reine Energie
oder Wirksamkeit ist.^ Diese drei Bestimmungen sind zugleich
die drei Formen der Substanz (ouJiai be ipeiq)^ : Die Materie
ist, wie wir schon gesehen, in ihrem Möglich-Sein das Substrat
der Veränderung und Bestimmbarkeit, die Form als bestim-
mende Wirklichkeit und die Dinge als Bestimmungen des Be-
stimmbaren durch das Bestimmende, d. h. als Verbindung von
Materie und Form. Alle drei sind freilich in anderem Sinne
Substanz, wie wir auch das schon gesehen haben, und wie
irgendeiner aller Aristotelischen Schriften die Rede, obwohl die Form allein
wahrhaft wirklich und die Materie bloß möglich sein soll, noch kann, wie
sich noch zeigen wird, dem ganzen Tenor des Aristotelischen Denkens gemäß,
davon die Rede sein, weil, wovon später, die Materie trotz ihrer bloßen Möglich-
keit doch die Macht hat, der Form in der Verwirklichung Widerstand zu leisten.
^ Met. XI, 7,107i2a: ^öti toivuv ti Kai 8 Kivei. ^-rrei bi tö KivoOiaevov
Kai KivoOv, Kai lu^aov toivuv döxi ti 8 oO Kivoü.uevov kivcT, dibiov, Kai ouola
Kai ^vepYeia oijoa.
- Ebenda 1,1069a; vgl. VI, 10,1035a: . . . koi oÜGia n Te v\r\ küi tö
elbo? Kai TÖ ^k toutuuv . . .; ähnlich auch 3,lU:2ya.
256 7. Kapitel.
das auch hier wieder deutlich wird. Die eigentlich realen
Einzelsubstauzen sind in letzter Linie doch nur abgeleiteter-
weise Substanz, insofern sie aus Materie und Form bestehen, die
Materie ist mit ihrer bloßen Möglichkeit nur Substanz als Sub-
strat des Werdens und der Veränderung. Die Form aber ist
Substanz im höchsten Sinne, insofern sie nicht nur ein höheres
Sein hat als die Materie, sondern ebendarum auch als die aus
beiden bestehenden Dinge. ^ In tiefster Bedeutung ist nun
nicht mehr das Einzelding, obwohl es das eigentlich Reale ist,
erste und ursprüngliche Substanz, sondern gerade das, was für
das Sein des Einzelnen als das eigentlich Wirkliche und Wirk-
-same zum Unterschiede vom bloß Realen und als Grundlage
des Realen selbst schon Voraussetzung ist.^ Vermöge dieser
Unterscheidungen und Bestimmungen wird hinsichtlich der
Wirksamkeit der Form freilich nur die negative Seite klar.
Das höchste substantielle Wirken und Bewegen muß selbst
außerhalb des bloß Bewegbaren, wie auch dessen, was sowohl
bewegbar wie bewegend ist, stehen. Rein bewegend ist seine
Wirksamkeit. Aber wie etwas bewegend im Sinne des Prinzips
der Bewegung sein könne, ohne selbst bewegt zu sein, — erst
mit der Entscheidung dieser Frage ist die positive Bedeutung
der Wirksamkeit der höchsten Substanz gewonnen.
Die Entscheidung liegt implizite freilich schon in der Art,
wie die Form als solche erkannt worden ist. Sie ward ja
identisch gesetzt mit dem Begriff und Zweck. Was darum be-
wegt, ohne selbst bewegt zu werden, also schlechthin wirksam
ist, das ist die Zweckursache (tö ou ev6Ka).^ Sie ist das eigent-
liche Prinzip, insofern eben Prinzip das ist, um dessentwillen
^ Met. VI, 3,1029 a: ä/axe et tö iiboc, Tf\<; vXr\c, irpÖTcpov Kai luäWov öv,
Kai ToO il ÖW90TV TTpötepov lorai b\ä töv auTÖv Xöyov.
^ Ebenda 7,1032: e*ibo<; bi Xifiu tö ri riv elvai ^KdoTou Kai xriv TrpdjTriv
oöoiav. Daß nicht bloß die Einzelsubstanz, sondern das eiboq selbst als irpüjTri
oöaia auftritt, darf jedenfalls doch nicht ganz unbeachtet bleiben. Ich glaube:
wir können das eben nur verstehen, wenn wir zwischen Suhstanz, Wirklich-
keit und Realität unterscheiden und sie in das Verhältnis bringen, das ich in
dem obigen Salze des Textes zu bezeichnen versucht habe, durch den dann
auch das tö ti ?iv eivai in seiner Bedeutung deutlich werden kann.
ä Met. XI, 7,1072 b.
Der Substanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 257
etwas geschieht, und das Geschehen ist eben ura des Zweckes
willen. Der Zweck ist die eigentliche Wirklichkeit, für die auch
schon die bloße Möglichkeit eben überhaupt auch nur als Möglich-
keit ist.^ Insofern alles Geschehen auf ihm beruht, ist er auch
Prinzip der Veränderung, das als solches selbst keiner Ver-
änderung fähig ist.- Weil dieses schlechthin seiend ist, ist es
notwendig; und daß es notwendig ist [il dvdtYKri? öv)^, darin liegt
sein Wert. Denn darum ist es vernünftig. Als Begriff ist es
das vernünftige Denken selbst; und so ist das vernünftige
Denken als Begriff und Form und Zweck selbst Prinzip (dpxn
öe 11 voncTiq).^ Das vernünftige Denken hat an und für sich
zum Inhalte das Beste und Wertvollste. Das aber ist die Vernünftig-
keit selbst. In ihm denkt also die Vernunft sich selbst (auiöv he
voeT 6 voö?)^, sind denkende Vernunft und ihr Vernunftinhalt
oder Gegenstand dasselbe (üjare lauTÖv vov<; Kai voriTov).'^ Der
höchste Zweck ist also die Vernunft; sie ist das Ziel des Ge-
schehens und zugleich seine Ursache, und sie ist Ursache, in-
dem sie Ziel ist, und Ziel, indem sie Ursache ist. Insofern
bewegt sie, wie das selbst nicht bewegte Geliebte den Liebenden
bewegt und vermittels dessen, was sie bewegt, bewegt sie auch
das Übrige (kiveT öe ihq epuüiaevov, Kivou|aevov be idXXa KiveT).^
Freilich das ist ein Bild. Wenn die Vernunft selbst zum
Prinzip der Bewegung wird, insofern sie Zweck ist und alles
um des Zweckes willen geschieht, darum aber selbst nicht be-
wegt wird, so kann das nicht heißen, daß die höchste Wirk-
samkeit in einer bloßen Passivität aufgehoben werden solle,
weil ja der höchste Zweck nur als Geliebtes bewegt. Denn
auch dieses Bewegen ist so wahrhaft ein Tun, wie das ver-
nünftige Denken, mit dem es Eines und Ebendasselbe ist, ein
Tun ist. Es ist nur ein Tun, das keines Zweckes über sich
bedarf, das sich nicht auf einen Zweck außer sich erstreckt,
weil es selbst der höchste Zweck ist und daram in sich selbst
* Met. VIII, 7,1050a: öpxn y«P tö ou fe'vexa, toö tAou? b' ^vexa x] fi-
veaiq. T^\o<; b' r\ dv^pfeia, Kai toütou \dp\v r\ biivaiiii; Xaiaßcivexai.
'■* Met. XI, 7,1072 b: ^-rrei b' ^öti ti kivoöv auxö dKivrixov ö'v, ^vepYciai
ßv, TOUTO oOk ^vbexefai äXXvjc, ^x^w oüba|iU)?.
' Ebenda.
Bauch, Das Substanzproblem. 17
258 7. Kapitel. •
beschlossen bleibt, sich auf sich selbst richtet, sich selbst zum
Inhalte und Gegenstande hat, insofern in ihm das Denken sich
selber denkt und mit seinem Gegenstande identisch wird. Weit
entfernt also von bloßer Passivität und toter Ruhe kommt dem
höchsten Zwecke vielmehr das höchste Leben zu. Denn die
Wirksamkeit der denkenden Vernunft ist gerade Leben, und
zwar ewiges Leben. Lebendige Wirksamkeit der ewigen leben-
digen Vernunft, als welche sich der höchste Zweck, die wirk-
same Form erweist, aber bezeichnen wir als Gott. Und so ist
die Form als höchster, wirksamer, zweckvoll lebendiger, ewiger
Grund selbst: Gott.^ An der Gottheit hängen Himmel und
Welt^, die freilich selbst einheitlich sind. Weil Gott Eines ist,
ebendarum gibt es auch offenbar nur eine Welt.^ Als höchster
Zweck wird die Gottheit bei Aristoteles genau so wie bei
Piaton zum höchsten Prinzip aller Dinge. Denn als höchster
Zweck und höchstes Prinzip ist sie selbst das Gute, und das
Gute ist selbst Prinzip.'* Und darin liegt ihre lebendige Wirk-
samkeit, daß sie als Form und Wirklichkeit die Materie als
das bloß Mögliche derart zur Wirklichkeit überführt, daß die
Dinge in der Natur stetig zum Besseren streben^ und Gott ihr
Werden zweckvoll eingerichtet hat.^ In der Bestimmung aber,
daß Gott das Geschehen in der Weise zweckvoll, entelechisch
' Ebenda: Kai Zn)i-\ bi ye uirctpxei ■ r\ yöP voO ^v^pYcia Zw'f], ^Keivo^ bi
f\ ^v^p-feia • ivipyem bi n köO' aÜTr'iv ^kcivou lvjf\ dpioTi-) Kai a'ibioc. q)a|adv
b^ TÖv -öeöv elvai Ziüuiov dibiov cipiarov, oiöre Iwf] Kai aiibv ouvexn? Kai dt-
biO(; Oiröpxei toii öeuji ■ toOto y"P ^ öeö^. Vtil. dazu auch Bullinger, a. a. ().,
S. 25.
2 Ebenda: ^k TOiaÜTf); äpa dip\f\c, nprriTai ö oüpavöq koi i] cpüoiq.
^ Met. XI, 7,1074a: ÖTi bi el<; oöpavöq, qpavepöv; und rücksichtlicii der
Einheit Gottes zitiert A. 10,1076a: oük dYOööv iroXuKoipaviiv de, Koipavoq
?ÖTUJ.
■* Ebenda 10,1075a: koitoi ^v «Traai jaüXiOTa tö äyaQöv dpxr). Die.se
Übereinstimmung mit Piaton in diesem ungemein wichtigen Faictor der Lehre
betont auch Wiiidelhand, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, S. 120,
wo es heißt: «Die erste bewegende oder die reine Form bedeutet also in der
Aristotelischen Metaphysil? ganz dasselbe, wie (He Idee des Guten in der
Platonischen».
'" De gen. et corr. II, 10,337a: toO ßeXxiovoq öpi'^eaQax.
* Ebenda: ^vreXexn -nox^oac, rr\v fiveaxv.
Der Subslanzbegriff innerhalb des Aristotelischen Systems. 259
eingerichtet habe, daß die werdenden Dinge stetig zum Besseren
streben — auf diesen Komparativ kommt dabei sehr viel, wenn
nicht gar alles, an — erhält der ganze Energie- und Entelechie-
Gedanke des Aristoteles seine bestimmteste Präzision als
zweckvolle Entwickelung. Man kann daher mit Windelband
sagen, daß Aristoteles das Substauzproblem, «das Grundpro-
blem der griechischen Philosophie, wie hinter der wechselnden
Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ein einheitliches und blei-
bendes Sein zu denken sei, durch einen BeziehungsbegriflF,
denjenigen der Entwickelung gelöst hat».^ Es ist, um mit Goethe
zu reden, der sich in seiner Weise ja den Aristotelischen Be-
griff der «Entelechie» zu eigen gemacht, eben der Fortschritt
«aus dem simpelsten Stoff bis zur größten Vollendung»,
der die entelechische Entwickelung charakterisiert.^ Die Form
als das wahrhaft Wirkliche muß diese Entwickelung ursäch-
lich bestimmen, indem sie dieser als Zweck das Ziel weist, und
sie kann nur als Zweck und Ziel der Entwickelung die Rich-
tung geben, indem sie diese ursächlich bestimmt. Das nun
vermag sie durch die Bestimmung des Stoffes. Form und Stoff
bestehen ja nicht ohne einander, sondern immer miteinander.
Denn die Form für sich selbst schließt das Entstehen von sich
aus. Nur die Dinge entstehen, die aus Form und Stoff be-
stehen, in denen also nicht bloß Form, sondern immer auch
Stoff ist, insofern ja dieser das Substrat des Werdens und der
Veränderung ist und bald dieses, bald jenes wird.-^ Wie Form
und Stoff nicht ohne einander sind, weil sie gerade in ihrer
Verbindung die Dinge bestimmen, so sind sie auch nicht außer
und neben den Dingen, sondern in den Dingen, den Dingen
immanent.^ Sie sind das, wie schon früher deutlich wurde, als
1 Windelband, a. a. 0., S. 115.
'^ Vgl. dazu meine Antrittsvorlesung: « Über Goethes philosophische Well-
anschauung». (Preußische Jahrbücher, Bd. 115, Heft 3, bes. S. 526 f.).
' Met. VI, 8,103.3 b : qpavepöv br) (eK tuiv eipriiaevujv) öti tö |aev di^
eibo? f| ouaia \eYO|Li€v oö YiTvexai, Kai 8ti ^v -rravTl tuui Yevo|n^vuji ü\r) ^vea-
Ti, Kai ?öTi TÖ |n^v TÖbe TÖ be TÖbe. Auch zahlreiche, früher schon gegebene
Zitate können dafür als Beleg gelten.
* Wie es von der Materie Met. VI, 8,1033 b soeben hiePs, ön ev Travri
Ttui •fevofieviwi üAr] eveaxi, so heißt es ebenda 1037 a auch von der Form und
17*
260 7. Kapitel.
das Bestimmende und Bestimmbare, als das Aufgenommene
und das Aufnehmende. Indem die Materie die Bestimmung
der Form aufnimmt und die Form so die Materie bestimmt,
erlangen die Dinge ihr Sein.^ Insofern aber diese Bestimmung
ihrem Wesen nach Zweckbestimmung ist, ist der Zweck der
Wirklichkeit selbst immanent, ist eine «immanente Zweck-
mäßigkeit»^ der Natur selbst notwendig. Da Form und Ma-
ihrem Verhältnis zur Materie : ^ oöaia -fctp ^öti tö elboq tö evöv, iZ ou Kai
rf\c, üXriq i'i öüvoboi; X^Y^rai ovoia . . . Vgl. dazu und zur vorigen Bestim-
mung rücksichtlich der Immanenz der Materie auch Bäumker, a. a. 0., S. 261 f.
Diese Immanenz, wenn man das Verhältnis des dveivai so nennen will, wo-
gegen kaum etwas einzuwenden ist, folgt unmittelbar auch schon aus den
früheren Erörterungen. Denn danach sollten ja die allgemeinen Prinzipien
nicht neben dem Einzelnen sein, und Form und Materie wurden als allgemeine
Prinzipien betrachtet. Also konnton sie danach schon nicht außei- und neben
ilem Einzelnen sein. Für das Substanzproblem ist es unter diesem Betracht
von Interesse, daß Met. XI, 5,1071 a mit Rücksicht auf die Prinzipien der
Form, Materie, Steresis und Bewegung von oömOüv aiTia gesprochen wird.
Hier wird zunächst wieder die mehrfache Bedeutung des Substanzbegriffes in
der Weise deutlich, daß die Einzelsubstanz eben einer allgemeineren Ursächlich-
keit bedarf, in der jene vier Prinzipien zusammenkommen. Da die arlpr\ai(;
aber im positiven Sinne ausschaltet, dagegen die Bewegung zwischen Materie
und Form, wie wir sahen, derart vermittelt, daß sie den Übergang von der
einen zur anderen, als von der Möglichkeit zur Wirklichkeit darstellt, so
muß, da sie selbst eigentlich nur eine Relation zwischen beiden ist und ihr
Prinzip selbst in der Form hat, die Bewegung mit ihren auf ihr beruhenden
Formen der quantitativen und qualitativen Veränderung ebenfalls den Dingen
immanent sein. Diese Konsequenz hat Aristoteles in der Tat Phys. II, 1,192 b
gezogen, wo es heißt: xd nev yöip qjüaei övxa -ncivTa qpaiverai ^xovxa Iv
^auxoi(; öpxnv Kivrioeuui; Kai ojdaewq, xö ^xiv Kaxä xöttov, xd bi Kax' auErjöiv
Kui qpdiaiv, xd bi Kax' dWoiujoiv. Das ist unter mehreren (iesichtspunklen
von Bedeutung: sowohl dafür, daß von der dpxn Kivriöeuji; in ihrem Verhält-
nis zu den cpüaei övxa uctvxa das ^v ^auxoi^ ausgesagt wird, als auch dafür,
daß früher die |iopq))T als öpxn Tri? Kivriöeu»? aufgestellt worden ist. So wird
hinsichtlich der Dinge die Immanenz der Bewegung und hinsichtlich der
Form als des Prinzips der Bewegung die Immanenz der Form deutlich.
' Vgl., außer den schon zitierten Stellen de gen. et corr. I, 4,326a und
de caelo III, 8,306 mit dem Hinweis auf den Timaios, auch Bäumker, a. a. 0.,
S. 362. Auch das oüöiüjv ai'xia aus Met. XI, 5,1071a, auf das in der vorigen
Anmerkung schon hingewiesen wurde, ist dafür nicht ohne Belang.
2 Worte Zeüers, a. a. 0., S. 427. Siehe hier auch die zahlreichen Stellen-
/
Der Substanzbegriir innerhalb des Aristotelischen Systems, 261
terie niclit außer den Dingen sind, sondern als das zweckbe-
stimmende und das zweckbestimmte Prinzip ihnen imma-
uieren, die Form aber allein wahrhaft wirklich ist, so kann das
Wesen des Dinges, das, wie ja schon gesagt, von dem Ding,
dessen Wesen es ist, nicht getrennt werden darf\ allein in der
Form liegen. Die Form aber ist der Begriff, und die Begriffe
sind Formen der Form überhaupt,^ So wird — durch diesen
echt Platonischen Zug des Aristotelischen Denkens — die ente-
lechische Zweckentwickelung und das «Streben zum Besseren»
ein stetiger Fortgang von niederen zu höheren Formen, so daß
unter den realen Dingen, was für das eine selbst Form ist,
für ein höheres wieder Stoff ist, vom bloßen Stoff bis zur reinen
Form, und in diesem Sinne wird die Entelechie zur Selbstdar-
stellung «des Wesens in den Erscheinungen».^
Freilich hatte Aristoteles einen zu offenen Blick für die
harte Wirklichkeit, um in dieser das Zwecklose und Zweck-
widrige zu übersehen. Wie Piaton, so brauchte er auch für
die Erklärung dessen einen Grund; und, wie Piaton, so findet
auch er ihn in der Materie. Zwar gilt ihm diese nicht, wie
seinem Vorgänger, selbst schon als das Böse und das Übel.^
belege. Zu den empirischen Argumenten des Aristoteles, die besonders der
organischen Natur entnommen sind, sowie auch der Astronomie, vgl. S. 4i2,5.
1 Siehe oben S. 241, Anm. 2 das Zitat aus Met. I, 9,991b.
^ Vgl. de caelo I, den ganzen ersten Teil bis Mitte 9,278 a ; auch Bäum-
ker, a. a. 0., S. 282.
^ Windelband, S. 115 f. Hier finden sich besonders folgende vortreffliche
Formulierungen: «Aristoteles aber bestimmte das Seiende als das sich in
den Erscheinungen selbst entwickelnde Wesen». . . . «und alle Er-
scheinung wird zur Verwirklichung des Wesens» (S. 115) und «der
Schwerpunkt der Aristotelischen Philosophie liegt also in diesem neuen Be-
griff des Geschehens als der Verwirklichung des Wesens in der
Erscheinung» (S. 116).
^ Es geht trotz einer gewissen Einschränkung auch gegen Piaton, wenn es
Met. XIII, 4,1091 b heißt : dXKä \xr\v oütu) ßoüAerai TiOexu) ti^ elvai ibia(;. ei |li6v
YÜp TÖiv ctYaOiJüv juövov, ouk eaovxai ouaiai ai ibeai, ei bi Kai, tOüv oöaiujv, irdvTa
TÖ Zma Koi xd qpuTci ä^aQä Kai xä ixtxixovTa. xaöxct xe hr\ öujjßaivei äxona,
Kai xö ^vavxiov oxoixeiov, ei'xe TrXfiOoq öv eixe xö äviaov Kai la^Y« ^ai mKpöv,
xö KaKÖv avTÖ. W^onn auch, was hier über Einlieit, Vielheit, Gleichheit, Un-
gleichheil, Großes und Kleines ausgetührt wird, auf Platon nicht zutrifft,
262 7. Kapitel.
Allein iusofern der Form allein wahrhaftes Sein und darum
ein höheres Sein (iiidXXov eivai)^ zukommt als der Materie, ist
auch diese weniger vollkommen als die Form. Und sie muß
das ja auch sein, insofern die Form Ziel und Zweck und das
Gute selber ist. So hat die Materie überhaupt erst nach der
Form zu streben. Sie bleibt also, so wahr es das Göttliche
und Gute gibt, diesem entgegengesetzt, so wahr das seinem
Ziele entgegengesetzt ist, das nicht das Ziel selbst ist, sondern
erst nach dem Ziele strebt.^ Mag immerhin also der Zweck
der Natur immanent wie der Kunst sein und die Natur einem
Arzte, gleichen, der sich selbst behandelt, mag darum also die
Natur nichts Anderes sein, als die Zweckursacbe selbst^, so
sind doch in der Natur wie auch in der Kunst die zweckwi-
drigen Bildungen, die dem Zwecke gegenüber zufällig und von
ungefähr (Kaid aujußeßriKÖq — oittö TÜxn?) erscheinen und die
Zweckdarstellung hindern (e|LiTToöiZ;eiv)^, nicht zu leugnen. Der
Grund dafür kann nur in dem liegen, was dem Zwecke selbst
entgegengesetzt ist, also in der Materie, wie sie auch den Grund
bilden muß für alle individuellen, das Reale als solches gerade
kennzeichnenden Differenzen, weil eben die Form der Begriff
selbst ist, und weil der Begriff als das Allgemeine, auch wenn
es nicht neben und außer dem Einzelnen ist, doch das Ewige
und Unveränderliche bedeutet, so daß das von ihm befaßte
Einzelne nur verschieden ist der Materie nach, nicht verschieden,
sondern Eines und Ebendasselbe, der Form nach.^
Gelegentlich spricht Aristoteles freilich auch von indivi-
eine Spitze gegen Piaton ist docli von rornlierein (siehe besonders Anfg. 4)
beabsiihtigt.
' Vgl. S. 2.57, besonders das Zitat aus Met. VI, 3,10ii9a in Anm. ±
2 Phys. I, 9,l92a: dvroi; yöp Tivoc; deiou Kai dTaöoö Kai ^cpeToO, tö [xiv
ivavTiov auTÜn q)a,uev elvai, tö bi 8 ir^qpuKev i(p{(.aQax Kai öplf^aQoLi auToO
KOTÖ Tr)v ^auToö qpüaiv.
' A. a. 0. II, 8,l09b: üjot' ei ^v Tr|i Texvrji tö tvena tou, Kai ^v qpüaei.
^(iXiara bd brjXov, ötov tk; iaTp6Ür|i aÜTÖ<; eauTÖv • toütuji yöp eoiKCv i'i cpüoii;.
ÖTi [liv ouv aiTia n (püaiq, Kai ovjtuji; Ojq ^veKU tou, qpavepöv.
* Ebenda.
* Met. VF, 8, 1(»3ia: Kai ^Tepov |uev biä Tnv üXr^v, ^T^pa -fäp, TaÜTÖ bi
Tüüi 6'(b€i. äTO|Liov Y«P TÖ elbo^.
Der Substanzbegriff innerbalb des Aristotelischen Systems. 263
duellen Unterschieden der Form.^ Dementsprechend muß er
dann auch die Form mit Entstehen und Vergehen behafteu.
So viel Schwierigkeit auch in dem Verhältnis von Form und
Materie überhaupt auch noch das ganze Aristotelische S^^stem
drücken mögen, gerade darin, daß auch individuelle Unter-
schiede der Form und damit für sie Entstehen und Vergehen
impliziert werden, darf man wohl mit Bäumker^ keinen Wider-
spruch des Systems sehen. Denn es handelt sich, wie beson-
ders die Aristotelischen Beispiele an jenen Stellen beweisen,
um bloß empirische Verhältnisse. Der Unterschied zum eibo(;
selbst mag wohl allein aus dem Grunde von Aristoteles nicht
besonders betont worden sein, weil er ihm als zu selbstver-
ständlich erschien. Die Schwierigkeit hebt sich, wenn man
bedenkt, daß Form und Materie weder ohne einander, noch
ohne die Dinge sind, sondern diese gemeinsam bestimmen.
Es liegt also auch darin noch kein Widerspruch, wie ebenfalls
Bäumker^ und ähnlich auch Siebeck* meinen, daß die Materie
als solche eben bloße Möglichkeit ist, die bestimmte Materie
dagegen sowohl Möglichkeit für ein höheres Ding als auch
Wirklichkeit und Entelechie im Verhältnis zu einem niederen
Dinge ist. Weil Form und Materie in den konkreten Dingen
nicht zu trennen und nur in der Abstraktion und Reflexion
als die Prinzipien der Dinge zu unterscheiden sind, würde man
in die konkreten Verhältnisse eine Abstraktion liineintragen,
die diesen und dem ganzen Aristotelischen Denken fremd ist,
wenn man hier einen Widerspruch ansetzen wollte.
Allein, eine Schwierigkeit bleibt bestehen: Die Materie soll
zwar nur der Möglichkeit nach sein, die Form allein der Wirk-
lichkeit nach. Dennoch aber soll das bloß Mögliche, wie wir
sahen, die Macht besitzen, die restlose Darstellung und Selbst-
verwirklichung der Form oder des Wesens zu hindern. Wir
stoßen hier auf dieselbe dualistische Schwierigkeit, der wir bei
Piaton begegnet sind. Weil die Materie nicht wahrhaft wirk-
' Ebenda 1033 b, auch XI, 5,1071 a u. a. m.
2 A. a. O., S. 256 fr.
ä Ebenda.
* Siebeek, a. a. 0., S. 38.
264 7. Kapitel.
lieh ist und die wahrhafte WirkUchkeit allein der Vernunft und
Form zukommt, mag man immerhin glauben können, wie Las-
sen, von einem «Monismus des Geistes >' sprechen zu dürfen. Al-
lein die Materie soll selbst allgemeines Prinzip sein. Daß sie das
nur als Möglichkeit ist, mag die dualistische Schwierigkeit wie
bei Piaton abschwächen, auflösen aber kann es sie ebenso-
wenig wie bei diesem. Denn daraus ergeben sich nicht nur
neue Schwierigkeiten für das Einzelwesen, das ja das eigent-
lich Substantielle als Einzelsubstanz sein und gerade von der
Materie in seiner Individuahtät bedingt sein soll. Die Haupt-
schvvierigkeit liegt vielmehr darin, wie das bloß Mögliche das
Wirkliche einschränken und als Mitursache (cruvaiTiov)^ hemmen
könne. Die Unbedingtheit mag der Form verbleiben, die Ma-
terie mag bloß bedingte Notwendigkeit (eS uiToöecreuui; dvaTKaiov)^
haben, ihre antientelechische Eigenbedeutung wird damit doch
nicht aufgehoben. Von einem «Monismus des Geistes» dürfen
wir also nicht sprechen, wohl aber mit Windelband von einem
«Monotheismus des Geistes »."^ Denn der schheßt den Dualismus
nicht aus, sondern fordert ihn.^ Daß Tendenzen, über den
Dualismus hinauszuführen, vorhanden sind, ist freihch deutlich.
Sie liegen eben in der Bestimmung, daß das wahrhaft unbe-
dingt und Wirkliche allein die Form, die Materie aber das
bloß Möghche und bedingt Notwendige ist. Der Absolutheit
> Siehe oben S. 23;2, ähnlich auch BuUinger, a. a. 0., S. 18. Im übrigen
verkenne ich — ich sage das auch gleich für die folgenden letzten Sätze
dieses Buches — durchaus nicht, daß, wie bei Piaton, Impulse zur Überwin-
dung des Dualismus vorhanden sind. Aber jene Impulse sind noch nicht diese
Überwindung selbst. So schön es weiter auch ist, aus lauterer und echter
Liebe für den Hegelschen «Monismus des Geistes» einen solchen auch in das
Aristotelische System hineinzulesen, so ist doch das nicht ganz historisch.
Und — Hegeln mußte doch der WeUgeist in der Geschichte auch noch eine
Arbeit übrig lassen.
2 Met. IV, 5,1015 a/b.
* Phys. II, 9,200a. Vgl. dazu auch Windelband, a. a. 0., S. 119; Bäum-
ker, a. a. O., S. 268; ZeUer, a. a. 0., S. 429.
* Windelband, a. a. 0., S. 120.
* Dieser Dualismus ist auch mit Ausnahme der strikte hegelisierendeii
Geschichtsschreibung von allen Historikern, die sich um die Entwickelung
der Philosophie bemüht haben, einstimmig anerkannt worden.
Der Substanzbegrifl innerhalb des Aristotelischen Systems. 2<55
ist die Materie so freilich in gewisser Weise entkleidet, aber
eben nur in gewisser Weise, nicht gänzlich und restlos. Ihre
an ti teleologische Eigenwirksamkeit involviert den dualistischen
Rest. Daß Aristoteles über diesen nicht hinausgelangt ist, zeigt
das Substanzproblem zur Evidenz. Der Aristotelische Substauz-
begriff bleibt dualistisch, ja, wenn man mit Rücksicht auf die
Einzelsubstanz und die Substanzkategorie will, (sit venia verbis)
tertialistisch, bezw. quartalistisch. Das ist freihch auf dieser
Stufe des Denkens und für die Kontinuität der Problem ent-
wickelung kein Fehler, sondern ein Verdienst: Hat Piaton das
Substanzproblem im Altertum am profundesten aufgegraben,
so hat ihm Aristoteles die weiteste Fülle und Breite gegeben.
Tiefer als Piaton und weiter als Aristoteles konnte das Alter-
tum in der Bearbeitung unseres Problems nicht gehen. Und
wer heute über das Substanzproblem philosophiert, als habe
Kant nie gelebt, mag er die Substanz im Sinne der Materie
oder des Geistes oder wie immer sonst fassen, der ist, falls er
die Verschlingung von Bedingendem und Bedingtem, von Be-
stimmendem und Bestimmtem nicht in dem Probleme selbst
angelegt erkennt, über den Standpunkt von Piaton und Ari-
stoteles sicher nicht nur nicht hinaus; er steht günstigstenfalls
auf dem prinzipiellen Boden Demokrits oder Protagoras", aber
bei Piaton und Aristoteles ist er noch nicht einmal angelangt.
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